KLEINE
BIBLIOTHEK
DES
WISSENS
LUX-LESEBO.GEN NATUR-
UND KU LT U R K U N D L I C H E HEFTE
R I C H A R D KATZ
PAP...
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KLEINE
BIBLIOTHEK
DES
WISSENS
LUX-LESEBO.GEN NATUR-
UND KU LT U R K U N D L I C H E HEFTE
R I C H A R D KATZ
PAPAGEIEN EIN T I E R F R E U N D ERZÄHLT
VERLAG SEBASTIAN
LUX
MURNAU-MÜNCHEN-INNSBRUCK-BASEL
„Da lobte und pries man des Papageien Weisheit, Schläue und Treue und bereute herzlich, vorher eine schlechte Meinung von ihm gehabt zu haben." Tuti-Nahmeh „Papageienbuch" I H / r biß mich in den Finger und lachte herzlich. Daraufhin wollte ich ihn kaufen, denn solches Lachen braucht man in dieser Zeit. „Was kostet der Papagei?" fragte ich den Eigentümer der etwas yirren Tierhandlung in der Rua Assemblea, die ich aufgesucht hatte. Der alte Brasilianer gab die Frage an seine Enkelin weiter, die mit einer Hand Ameiseneier in ein Aquarium streute, während sie mit der andern ein Wolläffchen aus ihrem flaumweichen Blondhaar entwirrte. Das vogelhaft zarte und behende Mädchen, das offenbar die kaufmännischen Entscheidungen traf, hüpfte heran und entschied: „Hundert Cruzeiros." Das sind fünf Dollar und ein bescheidener Preis für einen Papagei, der so bunt ist, als hätte der liebe Gott nach beendeter Schöpfung alle seine Pinsel an ihm abgewischt. Also erbat ich gleich einen passenden Käfig. „Er spricht auch", sagte der alte Mann. „Was denn?" „Allerhand, nicht wahr Papagei?" Aber der hielt den Schnabel. Er schien anzunehmen, für hundert Cruzeiros genug geleistet zu haben. „Sprich doch! Sprich! Rrr — Papagei — Loro!" zwitscherte das junge Mädchen. Aber er sprach weder noch lachte er, sondern er plusterte sich auf und schloß gelangweilt die goldbraun funkelnden Augen. „Er wird sich an Sie gewöhnen", tröstete der Alte. „Aber Sie müssen sich stets mit ihm befassen", mahnte seine Enkelin, während sie zwischen einem Taubenschlag und einer Kiste mit jungen Angorakatzen einen Käfig hervorkramte. „Der paßt!" „Und kostet?" „Zweihundertfünfzig Cruzeiros", bestimmte sie, offenbar bestrebt, die Billigkeit des Papageis mit dieser Forderung auszugleichen. 2
„Ist das nicht zu viel?" fragte ich. Sie zuckte die schmalen Achseln, als wollte sie fortfliegen, und stellte den Käfig hinter einen zahmen Truthahn. Die Angelegenheit war erledigt. So sind Verkäufer hier in Rio de Janeiro. Sie drängen einem ihre Ware nicht auf. Wer kaufen will, kauft, und wer nicht kaufen will, läßt es bleiben. Nur Stammkunden werden freundlicher bedient; sie sind eben Freunde. Freund ist ein wichtiges Wort in Brasilien. Ein bloßer Gelegenheitskunde hat zu warten, bis die Unterhaltung mit dem Stammkunden beendet ist, obschon der, mag sein, nichts kaufen, sondern nur ein wenig plaudern will. Hier überschätzt man Geld nicht, und ein Verkäufer hält sich nicht für geringer, weil er auf der anderen Seite des Ladentisches steht. Ich bezahlte den Papagei und ließ ihn einstweilen im Geschäft. Dann brachte ich einen halben Tag damit zu, einen Papageien^ käfig in Rio zu finden, der Dreimillionen-Weltstadt des Landes, in dem die meisten Papageien der Erde leben. Käfige für Harzer Kanarienvögel hätte ich in jeder beliebigen Menge kaufen können, auch Käfige für Flamingos, Enten und sogar einen mit einem jungen Jaguar. Aber einen Käfig für Papageien? Man staunte. Später stellte ich den Grund fest: Papageien werden hier halb frei gehalten, sei es mit gestutzten Flügeln im Garten oder auf einer Sitz^ stange in der Veranda. Ich war eben noch zu sehr Europäer, um mir einen Papagei anders vorstellen zu können als in einem Käfig. Schließlich fand ich den Käfig dort, wo ich bisher das meiste gefunden habe, was sonst nirgendwo aufzutreiben war: auf dem alten Markt im Geschäft „Zum Angelhaken". Zwischen Regenschirmen, Strohhüten, Kaffeefiltern, Angelruten, Besen und Spaten baumelten auch Papageienkäfige von seiner Decke. Ein Angestellter von erstaunlicher Geschicklichkeit angelte einen mit dem ersten Schwung einer langen Bambusstange aus jenen verwirrenden Regionen herunter. „Dreißig Cruzeiros", sagte er, indem er die weitere Geschäftsabwicklung dem Lehrjungen überließ. Auf Schwieriges spezialisiert, wandte er sich einem dicken Herrn zu, der einen Angelköder besonderer Art begehrte und alle Köder von sich wies, die der Verkäufer fingerfertig hervorkramte: aus Nickel, aus Glas, aus Perlmutt, eng3
lische, schwedische und brasilianische. Ich lernte eine Menge über Köder, während mein Käfig umständlich und gänzlich überflüssigerweise verpackt wurde. Ein einpackender Lehrjunge ist so wenig aufzuhalten wie eine Lawine. — So sind Angler! dachte ich geringschätzig. Daß ich einen heißen Nachmittag daran gewandt hatte, einen Papageienkäfig zu besorgen, kam mir bei weitem vernünftiger vor. Der Tierhändler übersiedelte den gewandt um sich beißenden Papagei von der Sitzstange, an die er mit einem Bein angekettet gewesen war, in meinen Käfig und verabschiedete mich mit jener Eile, die Rios Kaufleute vor sechs Uhr abends entwickeln. Denn die Polizei achtet auf die Sperrstunde, und ein Strafzettel kostet mehr als ein Papagei. Ich hätte meine gewohnte Fähre nach der Gouverneursinsel, auf der ich wohnte, eben noch erreicht, wenn der Papagei nicht gerade an der Sperre in Kreischen ausgebrochen wäre. „Bischo!" („Tier!") vermerkte strafend das Fräulein am Drehkreuz und wies zum Nebeneingang, in dem ein Transport-Sachverständiger hinter umständlichen Tabellen saß. Man muß nämlich einen Tiertransportschein haben, wenn man mit einem Papagei von Rio zur Insel hinüberfährt. Als er die Fracht meines „Bischo" berechnet und mir den Schein ausgehändigt hatte, war die Fähre ausgelaufen, und ich hatte zwei Wartestunden vor mir. Das war die erste, aber keineswegs die letzte Bosheit, die mir der Papagei angetan hat. II Am nächsten Morgen betrachtete ich meinen Papagei und mein Papagei betrachtete mich. Ich fürchte, sein Eindruck war minder günstig, denn sein Goldtopas-Auge blinzelte abschätzig. Ich hingegen mußte die bunte lebensfrische Grazie des kleinen Tieres bewundern. Seltsam: sein Kopf scheint kaum einen Teelöffel Gehirn zu fassen und enthält dabei mehr Verstand als der Riesenschädel eines Büffels. Auf die Größe des Gehirns kommt es demnach nicht an. Der Grund 4
Einer aus den Millionenscharen der Amazonas-Papageien.
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muß anderswo liegen. Mag sein, es kommt auf die Gehirnwindungen an. Obgleich dann wiederum eine Ameise — ach, wohin gerät [ man, wenn man einen Papagei betrachtet . . . Sein intelligentes und boshaftes Auge flimmert von Braun ins Rötliche, und bisweilen huscht ein heller Reflex darüber hin, als funke es. Es ist von Wimpern umsäumt, nicht von Federn, von rieh- i tigen Borsten. Der Papagei sieht mich mit nur einem Auge an, das Gesicht von der Seite, das Auge von vorn, wie die ägyptischen Götter in Sakkara am Nil; einen vogelköpfigen gibt es dort, der meinem Papagei ähnlich sieht, vor allem um den Schnabel herum. Die Hälfte seines wie des Papageien Kopfes besteht aus Schnabel; krumm, massig, mehr Beil als Maul. Dem Oberschnabel meines Papageis ist die Spitze abgefeilt; eine weise Maßnahme, die mir oft zugutekommt. Leider wächst sie allmählich nach. Dafür sind seine Flügel nicht gestutzt und zeigen dunkelblaue Spitzen, die ihr Saftgrün überraschend hervorheben. Das Papageienauge fixiert mich geradezu höhnisch. Es drückt aus: \ dieses Herumgerede um die richtige Beschreibung! . .. Gelangweilt blendet er sein Blinkauge mit einer grauen Runzelhaut ab. Aus. Nun, ich kann dich auch sachlicher beschreiben: ein kräftiger und dabei anmutiger Vogel von Dohlen-Größe; Hauptfarbe: Grün, vom hellen Saftgrün des Beinflaums bis zum schwärzlichen Dunkelgrün der Flügeldecke; leuchtend gelb die Backen; türkisblau die Stirn — „Blaustirn-Amazonas" heißt er deshalb —; er ist nur eine unter den achtzig Gattungen und dreihundertsechzehn Papageienarten der Erde und wird von allem wegen seiner Farbenpracht am meisten gehandelt. Grellrot getupft sind seine Schultern und rot auch die Spitzen der unteren Schwungfedern; dunkelblau abgesetzt sind Oberschwingen und Schwanz. So, das wären die Farben. Nein, das wären sie noch nicht! Boshaft wie er ist, hat er sich aufgeplustert und dabei unter seiner gelbgrünen Kehle orangefarbenen Flaum vorgewiesen. Seine grasgrüne Brust enthüllt, gesträubt, weichgraue Daunen. Schluß! Adieu, Papagei, ich gehe an meinen Schreibtisch! Wie ich die Tür hinter mir schließe, höre ich ihn lachen, so laut lachen wie damals, als er mich gebissen hatte. Ich kehre um und sehe, wie er seinen Fuß ausstreckt, den zu beschreiben ich tatsächlich vergessen hatte, den seltsam beweglichen Fuß, bleigrau ge6
schuppt, mit dem er nicht nur geht und klettert, sondern auch Nahrung zum Schnabel führt. Bisweilen stützt er auch, nachdenklich, den Kopf auf einen Fuß. Ja, diesen Fuß hatte ich vergessen, obschon er das Charakteristische ist. Krummschnabel und buntes Gefieder haben auch andere Vögel; kein anderer Vogel aber als ein Papagei gebraucht seinen Fuß wie eine Hand. Der Papagei lacht nicht mehr; er schreit. Er schreit aus vollem Halse. Welch eine Stimme! Heiser, scharf, durchdringend. Er schreit wie mit einem Glasscherben auf einer Schiefertafel. Durch alle Wände hindurch schreit er. Nicht einzusehen, weshalb er schreit. Er hat Wasser, er hat Sonnenblumenkerne, er hat ein Stück Banane und er hat einen Käfig. Vielleicht schreit er, weil er einen Käfig hat. Im Laden war er auf einer Stange gesessen. Aber ich habe kein Kettchen, um ihn an eine Stange zu fesseln. Vielleicht fliegt er auch ohne Kette nicht fort. Vielleicht ist er in Gefangenschaft geboren und kann gar nicht fliegen. Ach, bei dem Geschrei kann man nicht denken, geschweige denn einen so bunten Papagei beschreiben. Komm Papagei! Ich lege einen Besen über zwei Stühle und halte die offene Käfigtür daran. Schon klettert er heraus. Schon ist er ruhig. Behaglich aufgeplustert blickt er mich an: Hast du es endlich verstanden? Ich lasse ihn auf dem Besenstiel. Ins Arbeitszimmer nehme ich zwei Federn mit, die ihm beim Aufplustern fortgeweht sind, eine Flügel- und eine Flaumfeder. Die Flaumfeder ist nur obenauf hellgrün, ihre Mitte schimmert wie mit Goldstaub bepudert — tatsächlich: golden ist er auch! —; dann kommt ein kleiner gelber Abschnitt und die untersten Fähnchen sind schiefergrau. Der Himmel weiß, wo er die stecken hatte! Die steife Feder ist etwas einfacher: oben mittelgrün, unten graubraun und an der Spitze pfauenblau, ihre Pose, ihr Kiel, beginnt schwarzbraun und endet reinweiß. Ein Papagei ist so schwierig zu beschreiben wie ein Sonnenuntergang. Ach was, Sonnenuntergang — jetzt kracht es wie Weltuntergang! Ich stürze in die Küche zurück. Der Papagei hat den Besen und sich selbst von den Stuhllehnen auf den Zementboden geschaukelt. Ich habe den Besen festgebunden. 7
Kurze Zeit darauf belehrt mich ein neuer Krach, daß ein Papagei auch Knoten aufknüpfen kann. Was könnte ein Papagei nicht!
III Ich nahm an, mein Papagei könne nicht fliegen. Also nagelte ich ihm an die Loggia ein Gerüst aus Bambus und alten Besenstielen, auf dem er wenigstens klettern kann. Es gibt sonnige Stellen darin und andere, die von den lila Blätterbüscheln einer blühenden Bougainvillea beschattet sind. Die freilich hat sein zerstörungssüchtiger Schnabel bald ausgerottet. Er klettert vorzüglich, zieht mit dem Schnabel sein Körpergewicht hoch oder schaukelt kopfab, mit nur einem Fuß sich festhaltend, von einem schwanken Zweig zum andern. Dabei fühlt er vorsichtig .vor, bevor er weiterrutscht. Im Gerüst fühlt er sich wohl wie auf den Bäumen seiner Urwaldheimat am Amazonas. Er hat Eß- und Trinknapf darin und sieht weiter über Land und Meer. Gesprochen hat er noch nicht; bisweilen lacht er oder bellt. Den jungen Hunden der Tierhandlung hat er ein so natürliches Bellen abgelauscht, daß ich zuerst einen Besuch Zumbis vermutete, des nachbarlichen Terriers, der die Bewachung meines Grundstücks mitübernommen hat und dafür einige Erkenntlichkeit erwartet. Als ich aber diesmal mit einem Kotelettknochen in den Garten kam, lachte der Papagei laut auf. Er hat Humor — oder doch eine Mischung von Humor und Bosheit. Darin erinnert er mich an einen Bekannten, der noch als Greis alte Zeitungen in neue steckte und über das verwunderte Gesicht der Leser lachte. Bisweilen hat mein Papagei entgegen dem jugendlichen Glanz seines Gefieders etwas Altmännerhaftes an sich; denn im Charakter dieser Vögel liegt schon von klein an ein Zug ärgerlichen Mißtrauens, der sich mit zärtlicher Treue mischt. " Mein Zahnarzt besitzt einen Blaustirn-Amazonas namens Manoel, der ihm zugetan ist wie ein treuer Hund. Überall flattert und läuft er ihm nach. Wird er ausgesperrt, klettert er über Büsche und Fensterläden immer wieder ins Zimmer. Fährt sein Herr morgens an 8
Der Unterschied der Temperamente: dem Gefährten paßt etwas nicht, und er beginnt ein lautes Gezeter. 9
den Strand, sitzt Manoel auf dem Lenkrad des Autos und bewacht es, während sein Herr badet. Der darf mit ihm spielen, ihn überall berühren — sogar auf dem Rücken, was Papageien sonst nicht leiden mögen —, und er grunzt dabei wie ein gekraulter Hund. Wehe aber jedem andern, der sich solche Vertraulichkeit herausnimmt! Sogleich hackt Manoel zu, und da ihm der Schnabel nicht abgefeilt ist, fließt Blut. Besonders scharf geht er die Frau des Hauses an, denn er stammt noch aus der Junggesellenzeit seines Herrn und steckt voll Eifersucht wie eine alte Wirtschafterin. Vergeblich hat sich die junge Frau um seine Gunst bemüht; sie kann nicht in den Garten gehen, ohne sich mit einem Besen zu bewaffnen. Kaum wird Manoel ihrer ansichtig, so flattert er auch schon vom Ast herab und watschelt ihr mit drohend gesträubtem Kragen entgegen. Papageien gehen schlecht auf ebenem Boden, weil ihre langen, krallenbewehrten Zehen dazu geschaffen sind, sich um Äste zu krümmen. Deshalb wirkt Manoel etwas lächerlich, wenn er, zornig aufgeplustert, auf seinen stämmigen, grünbehosten O-Beinen herangewackelt kommt. Aber das Lachen vergeht einem, wenn man die funkelnden Augen des wütenden Vogels beobachtet. Mit seinem dicken, doch nadelspitzen Krummschnabel hackt er so rasch zu, daß die Bewegung kaum wahrnehmbar ist. Welch ein Ingrimm! Welch toller Mut! Dieses kleine Tier greift bedenkenlos einen Menschen an, der viel hundertmal gewichtiger ist und es ohne weiteres zertreten könnte! Die Hausfrau muß richtig fechten, um sich ihn vom Leibe zu halten. Minder geübte Besucher künden sich schon vom Gartentor her mit dem Angstruf „Manoel" an. Immer wieder bluten sie unter seinen Schnabelhieben. Dennoch vermag sich sein Herr nicht von ihm zu trennen. Nur nimmt er ihn nicht mehr zur Arbeit mit. Dort genügt der Zahnbohrer. Obschon Manoel seinen Herrn so liebt, ist er ihm doch einmal fortgeflogen. Zu Zeiten wird der Freiheitsdrang unüberwindlich. Wie auch ein treuer Hund seinem Herrn entläuft, wenn er eine Hündin wittert, so entfliegt ein Papagei auch einem geliebten Pfleger, wenn Trieb und Gelegenheit zusammenfallen. Seit seinem Fluchtversuch sind Manoel die Flügel beschnitten worden, was er der gesamten Menschheit verübelt, mit Ausnahme seines Herrn, obschon gerade der sie gestutzt hat. 10
Manni Hesse
Digital unterschrieben von Manni Hesse DN: cn=Manni Hesse, c=DE Datum: 2006.12.29 13:09:02 +01'00'
Der Gelbhaubenkakadu, der Philosoph unter den Papageien. 11
Mein Papagei hatte unversehrte Flügel, ohne daß er zu wissen schien, wozu sie dienen. Bis ich ihn eines heißen Mittags mit Wasser überbrauste. Erst spreitete er die Flügel, als wolle er sie der Kühlung öffnen. Dann aber flatterte er und, ehe ich wußte, was vorging, war er schon, heftig rudernd, davongeflogen. Der Himmel weiß, wer ihm das Fliegen beigebracht hat. Vielleicht die Spatzen, die unter seinem Gerüst darauf zu warten pflegen, daß er ein Vielfaches dessen, was er selber frißt, verschwenderisch vim sich streut. Mag auch sein, daß es der „Bentevi" war, der im Mimosenbaum nistet, ein gelbbrauner, behender Starmatz, dem seine weißen Bakkenstreifen und ein Büschel hochgespreizter Stirnfedern ein verschmitztes Aussehen geben. Hell und durchdringend schallt sein Schrei: „Bern te vi" („Ich sah dich gut!"). So hat er denn seinen Namen, gleich unserm Kuckuck, von seinem Ruf. Vielleicht hat mein Papagei bei ihm Flugstunden genommen. Bei einem Papagei weiß man nie recht, woran man ist, und auch ein Bentevi ist ein vielseitiger Vogel. Ich habe ihn schon Würmer fressen sehen, Brosamen, eine kleine Eidechse, Schmetterlinge und Mimosenblüten; außerdem fängt er mehr Sardinen als der angelnde Bub meines Nachbarn. Er ist ein betriebsames Tier, dem ich schon zutrauen möchte, daß er gegen Sonnenblumenkerne Flugunterricht erteilt. Verhielte sich das so, hätte mein Papagei freilich kein gutes Geschäft gemacht, denn er flog unzulänglich. Mein Haus steht etwa sechs Meter über dem Meer auf einer Felsklippe der Gouverneursinsel. Zwischen Fels und Wasser läuft eine schmale von Hochspannungsdrähten begleitete Uferstraße. Der davonfliegende Papagei kam knapp über die Drähte und flatterte noch einige zwanzig Meter in die Bai hinaus. Zum Glück war Ebbe, und so konnte ich ihn, rasch hinauswatend, bergen. Sein Herz schlug beängstigend gegen meine Hand. So jämmerlich naß und erschrocken war er, daß er mich nicht einmal biß, als ich ihm das Salzwasser aus den Federn.wusch. Erst als ich nach der Schere griff — denn nun mußte ich ihn doch stutzen —, hackte er zu, und ich habe nachher viel Jod verpinseln müssen. Denn hierzulande neigen Wunden zum Eitern. 12
Da ich ein Anhänger milden Strafvollzuges bin, habe ich ihm vorläufig nur einen Flügel gestutzt. Ist doch schon Gefangenschaft Strafe für einen Papagei. Dazu noch bei einem Fremden! Indianer verstehen sich besser auf Papageien und halten sie halbzahm wie Tauben um ihre Hütten. Solche Papageien fliegen manchmal mit den Scharen der wilden in den Wald, kehren aber abends zu den Indianern zurück. Indianer stehen eben der Natur näher als wir. So halten sie sich große Abgottschlangen als Rattenfänger, während unsereiner mit allen Schlangen auf Kriegsfuß steht. Freilich leiden die Indianer auch weniger als Weiße unter der Freßgier der Papageien. Der Schaden, den Papageien in Maisfeldern anrichten, ist außerordentlich. Es gibt Landstriche, in denen sie durchschnittlich ein Viertel der Ernte beanspruchen und manchmal die ganze auffressen. Indianer, die in der Hauptsache von Jagd und Fischfang leben und nur kleine, leicht zu überwachende Felder anlegen, kommen besser davon. Papageien sind von klein auf ihre Spielgefährten. Die Stammeslegende der mittelbrasilianischen Indianer geht geradezu auf einen Papagei zurück, der so hübsch und gescheit war, daß die Frauen zweier Brüder nicht aufhörten, um ihn zu streiten. Ihr Gezanke wurde schließlich so arg, daß die Brüder weit von einander fortzogen: der eine nach Süden, wo er der Stammvater der Guaram-Indianer wurde, und der andere nach Norden, wo er den Stamm der Tupf gründete.
IV Bei meinem nächsten Besuch im Tierladen fand ich einen andern Papagei an Stelle des meinen. Nur einen. Papageien sind hier wenig gesucht. Der beliebteste Vogel Brasiliens ist der Harzer Kanarienvogel. Mit dem treibt man einen wahren Kult. Kürzlich gab es in einer Straße gleich zwei Ausstellungen feiner Kanarienvögel, pedikürter Tierchen mit gekräuselten Federn — etlichen hatte man auch Halskrausen onduliert —, dotter- und schwefelgelber, grüner, weißer und gescheckter. Die schmetterten und pfiffen und rollten 13
und trillerten, daß man es von einer Ausstellung bis zur andern hörte. An jedem Bauer hing ein Preis, dessen billigster erheblich höher war als der meines Papageis. Die allerbesten aber kosteten fünftausend Cruzeiros oder zweihundertfünfzig Dollar, was viel mehr ist, als man für einen kobaltblauen Hyazinth-Papagei verlangt, der wunderschön und leider eben manchmal einheimisch ist — „national" heißt das hier mit abfälligem Unterton. Brasilianer neigen zur Unterschätzung ihrer eigenen Waren. Vermouth, der in Säo Paulo aus italienischem Wein und nach italienischem Rezept hergestellt wird, kostet zehn Cruzeiros, während dieselbe Marke, importiert, vierzig kostet und bevorzugt wird, obschon sie genauso schmeckt. Ähnlich verhält es sich mit Wäsche, Krawatten, Werkzeugen, Schuhen und manchem andern, worin Brasilien ebenso Gutes und gelegentlich — wie etwa in Schuhen und Papageien — sogar Besseres leistet als das Ausland. Doch „Nationales" hat weniger Wert. Kürzlich besichtigte ich nahe Rio eine Farm, die kanadische Ochsenfrösche züchtet. Die Anlage war einfach: ein umzäunter Teich, in der Mitte ein Floß mit einer Bogenlampe. Die Frösche saßen im Kreise herum und schnappten die Insekten, die das Licht umschwirrten. Bisweilen griff der Mulatte, der mich führte, einen Frosch am Hinterbein und warf ihn über den Zaun, wobei er verächtlich bemerkte: „National." Solche Überbewertung des Auslands hatte früher auch Menschen eingeschlossen. Wer aus Europa kam, galt für feiner, und Brasilien hielt das Einwanderungstor sperrangelweit offen. Matrosen und Stewards fremder Schiffe wurden mit guten Stellen an Land geschmeichelt. Das ist anders geworden. Ganz anders. „Ausländer" ist durchaus kein Ehrentitel mehr. Einmal, weil mit der Zeit auch wenig erfreuliches Volk ins Land gekommen ist, und dann, weil im Kriege sich politische Flüchtlinge zudrängten. Jetzt gehören Brasiliens Einwanderungsvisen zu den höchstkarätigen, und manche Berufe sind „geborenen Brasilianern" vorbehalten. Bei Vögeln aber bevorzugen die Brasilianer noch das Ausland, und so fand ich denn in dem von Kanarienvögeln durchzwitscherten Tierladen nur einen Papagei, und der war nicht so hübsch wie meiner: nur grasgrün mit ein bißchen Zinnober auf dem Kopf. Hinge14
gen war er gutmütiger, denn er gestattete mir, ihn zu kraulen. Ich tat das nicht lange, denn der Laden war voll Leute, die ihn auch kraulen wollten. Zufolge ihrer portugiesischen Herkunft sind Brasilianer tierliebend, finden aber wenig Gelegenheit, dies zu betätigen. Der Zoologische Garten in Rio kränkelte seit seiner Gründung. Vor fünfzig Jahren wollte ihn sein Direktor, Baron Drummond, durch eine Lotterie sanieren und erfand damit das brasilianische Glücksspiel, das „Bischo" („Tier") heißt. Obschon es polizeilich verboten ist, fröhnen ihm immer noch Hoch und Niedrig. Dem Zoo aber hat das Bischo-Spiel nur vorübergehend geholfen, und so sind die Tierfreunde Rios auf die Tierläden angewiesen, die ein Kunterbunt von Kanarienvögeln, jungen Hunden, Schildkröten, Turteltauben, Goldfischen, Rassehühnern, Faultieren, Angorakatzen, Flamingos und manchem andern feilhalten. Seit ich jenen andern Papagei seinen etwas mottigen Nacken so vielen kraulenden Händen mit verdrossener Ergebenheit überlassen sah, habe ich meinem Papagei manches abgebeten. Wie hätte er schließlich nicht nach Fingern hacken sollen, die ihm tagaus tagein von morgens acht bis abends sechs ihre Zärtlichkeit aufdrängten. Wenn ein Tier — oder ein Mensch — bissig wird, liegt die Schuld meist an der Umgebung. Im übrigen war ich nicht gekommen, um Betrachtungen anzustellen, sondern um Sonnenblumenkerne zu kaufen. Mein Papagei macht sich zwar wenig aus ihnen, wie er denn überhaupt ungern das frißt, was ich ihm in den Napf tue. Lieber sind ihm Butterbrot — oder doch die Butter vom Brot —, Bindfaden, grüne Schoten, Spinnen oder Holzspäne vom Besenstiel, auf dem er sitzt. Sonnenblumenkerne verschleudert er den Spatzen, aber da sie nun einmal als gesundes Papageienfutter gelten, setzte ich sie ihm mit der gleichen Beharrlichkeit vor, mit der mir meine Mutter Milchreis vorgesetzt hat, den ich auch nicht leiden kann. Der alte Herr, dem der Laden gehört, war damit beschäftigt, einer Dame ein Tier zu verkaufen, das wie ein hochbeiniges Wiesel aussah, aber wahrscheinlich etwas anderes war. Er beteuerte, es sei völlig zahm, und stülpte ihm zum Beweis dessen einen Sack über. Mir wandte sich das vogelhafte junge Mädchen zu, nachdem sie 15
einem Kunden Makropoden — „ein Männchen und drei Weibchen" — in ein Einmachglas gefischt hatte. Ich bewunderte ihren Scharfblick und knüpfte hier an. „Ist", fragte ich, „mein Papagei ein Männchen oder ein Weibchen? Ich möchte ihm einen Namen geben", begründete ich. „Achten Sie darauf, wen er lieber hat. Männer: dann ist er ein Weibchen; Frauen: ein Männchen. Ich denke, er ist ein Männchen, weil er so viel schwatzt." „Ist das bei Papageien umgekehrt wie bei den Menschen?" fragte ich. „Ja, so ist es!" erwiderte sie spitz. „Aber mein Papagei spricht gar nicht, er lacht nur und er bellt." „Der? Der spricht eine Menge. Mit mir hat er immer gesprochen. ,Papagaio' sagt er, und ,garoto' sagt er" („garoto" liegt halbwegs zwischen „Junge" und „Lausbub"), „und ,rrr' macht er und ,Halloh' ruft er und pfeifen kann er auch. Nur spricht er nicht mit jedem." „Mir wollte er fortfliegen", beklagte ich mich. „Sie sollten ihn an der Kette halten." „Ich habe ihm einen Flügel gestutzt." „Einen? Sie sollten ihn an der Kette halten. Er wird auch dann noch fortfliegen, aber später. Es dauert eine Weile, bis er sie durchbeißt." „Genügt nicht der gestutzte Flügel?" Sie lächelte: „Wir haben einem Papagei beide Flügel gestutzt und ihn an die Kette gelegt. Und er ist doch davon." „Wieso?" staunte ich. „Ein Papagei .. ." schloß sie ab, als sei damit alles gesagt.
V Nachdem er etwa zwei Wochen bei mir gewesen war, ohne etwas anderes geäußert zu haben als Lachen, Bellen und mißtönige Schreie, hörte ich ihn eines Morgens „Garoto!" rufen, und er rief es so natürlich, daß ein Bub, der gegenüber angelte, aufsprang. Der Papagei lachte hell auf. Seither ruft er vorübergehende Jungen so an. Auch den Neger, der mir das Haus sauber macht, nicht aber die 16
Der Ära öffnet eine Nuß. Als einziger Vogel kann der Papagei seinen Fuß als „Hand" gebrauchen. 17
Wäscherin oder andere Mädchen. Sinngemäß bezieht er das Wort auf Männliches. Da er bisweilen „Garoto Papagaio" sagt, halte ich auch ihn für ein Männchen und rufe Tommy. Das Wort „Papagaio" sagte er mir zum erstenmal ins erzürnte Gesicht, nachdem er mich schmerzlicher als sonst in den Finger gebissen hatte. Er beißt mit Vorliebe ins empfindliche Fingergelenk und knackt daran wie an einer Nuß. Von dieser üblen Gewohnheit seiner überkraulten Jugend habe ich ihn nicht abbringen können. Schimpfen nimmt er nicht ernst und Schlagen . .. Wie könnte man ein so kleines Tier schlagen? Mit einem Strohhalm? Damals tat er mir besonders weh und ich schrie ihn wenigstens an. — „Papagaio!" erwiderte er wegwerfend, als wollte er sagen: „Was sonst erwartest du von einem Papagei?" Er weiß, was er spricht. Ein Bekannter erzählte mir, daß sein Papagei „Guten Tag!" und „Guten Abend!" nur zur passenden Tageszeit sagt. Ich, Zerstreuter, kann das nicht von mir erzählen. Das Lachen, die hübscheste Nummer seines kleinen Repertoires, wandelt mein Papagei je nach Gelegenheit von Schadenfreude über Schalkhaftigkeit und Heiterkeit bis zur Zärtlichkeit ab. Sein Ohr für Übergänge ist sehr fein. Er hat sich das „Hailoh! Hailoh!" meines Telephonierens gemerkt und ruft es herausfordernd laut; dann setzt er mit einem „Kokaruko tatu koko" in einem Tonfall fort, der klingt, als telephoniere er in einer zwar fremden aber sinnvollen Sprache. Als er an einem großen glatten Kern herumknabberte, der ihm immer wieder vom Schnabel rutschte, rief er dasselbe, was ich ihm zurufe, wenn er sich nicht fangen lassen will: „Vem cd!", lockte er, „Komm her!" In Prag kannte ich einen Papagei, der fluchen konnte wie ein Matrose, und er hatte es ihn wohl auch gelehrt. Die meisten Papageien erhalten ihren ersten Sprachunterricht auf der Überfahrt. Vom Amazonas, von Afrika oder gar von Australien her haben sie viel Zeit, zu lernen. Tommy kann nicht fluchen. Einstweilen spricht er mir anderes nach. Als er wieder einmal von seinem Gerüst in die Bougainvillea geklettert war und den 18
Kies mit lila Blättern bestreute, rief ich „Tommy!" und er bestätigte von oben „Tommy!" Weniger Erfolg hatte ich mit dem einen Lied vom Kuckuck, bei dem ich ihn über die ersten Takte noch nicht hinausgebracht habe; die singt er ebenso falsch wie ich. Sonst hat er nur noch Pfeifen von mir gelernt, wobei er den Schnabel nicht spitzt sondern spreizt. Anderen Vögeln ist wie uns Menschen der Oberkiefer mit dem Schädel verwachsen und nur der Unterkiefer gelenkig. Ein Papagei aber kann bei unbewegtem Kopf den Oberschnabel heben, was aussieht, als stülpe er ihn vor. Mein Papagei macht das nur beim Pfeifen und Gähnen. Ich bin mit Tommy ganz zufrieden. Er ist noch nicht lange bei mir, und da Papageien achtzig Jahre alt werden können, bin ich nur für seine erste Schulung verantwortlich. Ums übrige sollen sich künftige Geschlechter bemühen. VI Die Langlebigkeit des Papageis ist ein Grund mehr, sich mit ihm anzufreunden. Sie reicht zwar kaum so weit, wie die jenes steinalten von Curtius besungenen Aturen-Papageis, der eine so ausgestorbene Indianersprache gesprochen haben soll, daß ihn nicht einmal der sprachkundige Alexander v. Humboldt verstanden hat, doch werden Papageien im allgemeinen älter als Menschen. Aller Voraussicht nach wird Tommy mich um ein halbes Jahrhundert überleben. Das ist eine Beruhigung. Wer je seinen treuen Hund hat sterben sehen, wird mich verstehen. Meinen letzten, „Rio", habe ich selbst töten lassen. Das tat weh. Als ich von Locarno fortfuhr, war „Rio" zwölf Jahre alt, fast blind, mit vereiterten Ohren, und ich hätte weder ihm die Reise noch jemand anderen seine Gesellschaft zumuten können. Also ließ ich ihn erschießen. Als ihn der Bauer, der das besorgte, an der Leine hinter sich herzog, sah sich das Tier noch im Gartentor nach mir um. In seine Augen, die milchig geworden waren wie Mondsteine, lag kein Vorwurf; nur ein trübes Nichtbegreifen. Er heulte nicht, denn Sealyhams sind tapfere kleine Kerle, die Schmerz zu 19
verbeißen wissen; er blickte sich nur um, als er gesenkten Schwanzes durch die Tür humpelte, die er so lange bewacht hatte . . . Ach nein, keinen Hund mehr! habe ich mir damals vorgenommen, und es war mir ernst damit. Aber kaum war ich in Brasilien, hatte ich wieder einen Hund. Den Hund „Recki", den ich auf der Insel Paqueta hatte, bin ich übrigens bald wieder losgeworden — ein Hund wie „Rio" war er nicht. Jetzt habe ich also einen Papagei statt eines Hundes. Hundefreunde werden das nicht verstehen; ich selbst hätte es früher auch nicht verstanden. Doch nun weiß ich, daß die Beziehung zwischen Mensch und Papagei der zwischen Mensch und Hund ähnlich und kaum weniger erfreulich ist. Der Mensch erzieht, das Tier paßt sich an; Zuneigung wächst wechselseitig; unmerkbar erzieht auch das Tier, und der Mensch paßt sich an. Denn Freundschaft ist nicht Herrschaft sondern gegenseitiges Anpassen. Mensch und Tier lernen von einander, und vielleicht läßt uns nur Eitelkeit annehmen, daß das Tier mehr von uns lernt als wir von ihm. Daß sich ein Papagei gegen den Menschen eigenwilliger verhält als ein Hund, spricht nicht gegen ihn. Je mehr ich mich mit meinem Papagei befasse, um so interessanter erscheint mir dieser Umgang, und ich gewinne den bunten Vogel in gleichem Maße lieber, in dem aus seiner scheuen Bosheit Vertrauen wird. Gewiß folgt einem ein Papagei nie so wie ein guter Hund (obwohl mich in diesem Punkte meine Sealyhams nicht verwöhnt haben); auch kann er einem nur zu Hause Gesellschaft leisten. Da ich aber auf der Gouverneursinsel mein Haus nicht so oft verlasse, sehe ich den Papagei fast so viel wie früher meine Hunde. Auch in die Arbeitsstube nehme ich ihn mit. Er watschelt dann auf dem Schreibtisch herum, zerpickt Briefe, die zu beantworten ohnedies nicht lohnen würde, und läßt gelegentlich einen Klecks auf ein Buch fallen, womit er vielleicht auch recht hat. Doch zur Ordnung! Wovon sind wir ausgegangen? Von der Langlebigkeit der Papageien. Daß sie länger leben als Menschen. Warum tun sie das eigentlich? Warum lebt ein Vogel, sagen wir ein Huhn, nur ein paar Jahre, ein anderer, eine Gans, ein Jahrzehnt, und wieder ein anderer, ein Papagei, fast ein Jahrhundert? 20
Warum überlebt der Papagei das Huhn so lange? Warum der Mensch den Hund? Warum der Karpfen sie alle? Warum die Schildkröte auch noch den Karpfen? Warum? Was ist der Grund? So wichtig er ist: wir kennen ihn nicht. Den biologischen Grund finden — es mag eine Kleinigkeit sein, eine nachahmbare Kleinigkeit — bedeutete, mag sein, das Menschenleben, an dem jetzt so unbefriedigend herumgedoktert wird, weithin zu verlängern .. . Bisher aber hat die Wissenschaft unsere Lebensdauer nur festzustellen, kaum aber zu verlängern vermocht. Immer noch gilt die Frist des Davidpsalms: „Unser Leben währet siebzig Jahre, und wenn's hoch kommt, so sind's achtzig Jahre . . . Und wenn's köstlich gewesen ist, so ist es Mühe und Arbeit gewesen." Ja, auch das gilt immer noch. An den Gründen rät nur die Sage herum. Grimm hat eine nachdenkliche aufgezeichnet. Da ich Grimm nicht zur Hand habe, muß ich aus meinem Gedächtnis zitieren, das in Brasilien nicht so funktioniert, wie es sollte. Annähernd also: Gott hatte den Esel erschaffen und der Esel fragte: wie lange werde ich leben? „Dreißig Jahre", erwiderte der Herr. „Dreißig Jahre sind zu viel!" stöhnte der Esel. „Dreißig Jahre Arbeit, Prügel und Disteln!" Da strich der Barmherzige dem Esel fünfzehn von den dreißig Jahren, die er ihm zugemessen hatte. Dann kam der Hund: „Wie lange werde ich leben?" „Dreißig Jahre." „Dreißig Jahre?", heulte der Hund. „Mach es gnädiger, Herr! Dreißig Jahre Undank für Treue! Dreißig Jahre ein Hundeleben! Es ist zu viel!" Da nahm Gott auch dem Hunde fünfzehn Lebensjahre ab. Zuletzt erschuf Gott den Menschen. „Wie lange werde ich leben?" „Dreißig Jahre." „Nur dreißig Jahre?", klagte der Mensch. „Da fange ich doch erst an, das Leben zu genießen." Da schenkte Gott dem Menschen die fünfzehn Jahre des Hundes und, als er selbst dann noch jammerte, die fünfzehn des Esels dazu. Seither lebt der Mensch sechzig Jahre. 21
VII Bei Sonnenuntergang schreit Tommy scharf und sehnsüchtig. Die Schreie kenne ich . . . Ich schließe die Augen und bin wieder im malaiischen Rasthaus am Strand von Flores, zwischen dem riesigen Napfkuchen des Vulkans und den schirmwipfeligen Strandbäumen, in die sich Wolken rosaroter Kakadus mit eben diesem durchdringenden, krächzenden Schrei stürzen. So dicht aneinander hocken sie, daß das Laubwerk nur oben grün bleibt und überkupfert ist vom Abendrot, während es innen hellrosa geworden ist von all den Kakadu-Papageien, die sich aufplustern und die Helmfedern aus dem Genick spreizen. Tommy schreit wie sie. Er schreit wie . . . Ich erinnere mich an die peruanische Hazienda tief im Quellgebiet des Amazonas. Die Sonne versinkt hinter dem dunkeln, bösen Wald, und aus dem Wald krächzt dieser selbe Schrei zu uns auf die Veranda. Der Pflanzer rafft sich von Liegestuhl und Abendtrunk auf und droht mit der Faust: „Verfluchte Bestien! Gestern waren sie im Mais! — Kommen Sie mit, Papageien schießen?" Nein, ich schieße nicht gern; ich bin nicht mitgekommen... Durchdringend schreit Tommy. Nun schreit er mich in Gedanken nach Neuseeland zurück, zu den milanstarken braunen Nestorpapageien, den Kakas und Keas. Stundenlang begleitete mich ein einzelner Kea durch den felsigen Milford-Sund der Südinsel, flog voran und wartete geduldig, bis ich herangekommen war. Die Keas sind neugierig, und dann sagt man ihnen etwas nach, dessentwegen die Farmer sie bitter hassen. Der Kea kralle sich weidenden Schafen in den Rücken und hacke ihnen das Nierenfett heraus. Deshalb ist eine hohe Prämie auf seinen Kopf gesetzt, und bloß im Milford-Sund, der Schutzgebiet aller Tiere ist, wagt er sich noch in Menschennähe. Immer wieder flog mir der große braune Papagei voran, und immer wieder schrie er scharf auf, wenn er von einem Felsbrocken aufflatterte .. . So verschieden Papageien an Größe und Farbe und Gehaben sind: Der Schrei ist ihnen gemeinsam. Auch die wilden •— oder, mag sein, nur verwilderten — Papageien, die diese Gouverneursinsel bewohnen, schreien so, wenn sie sich über 22
Einer der Größten aus dem Papageienvolk der Sittiche: ein RiesenWellensittich mit überlangem Schwanz. 23
die Gemüsegärten der Strandhügel hergemacht haben und satt landein auf ihren Schlafbäumen landen. Diesen Schwärm bekommt man nur aus weiter Entfernung zu Gesicht, denn er ist sehr scheu und das Innere der Gouverneursinsel, wo er sich tagsüber aufhält, ist unzugänglich verdschungelt. Vor zwei, drei Jahrhunderten, zur Kolonialzeit, war diese größte Insel der Bucht von Rio de Janeiro von Jesuiten gänzlich gerodet und angebaut worden. Später aber zog sich die Besiedlung ins Festland hinein, und die Insel verödete. Erst seit verhältnismäßig kurzer Zeit haben Landaufkäufer ihren Strand aufgeteilt, und jetzt fahren Kaufleute u n i Beamte von der Stadtarbeit in die hübschen Dreizimmerhäuschen am Inselstrand, zu Frau und Kindern und Radio und Kühlschrank, während weiter innen in der Insel noch dicke Schlangen kriechen und Papageien nisten, die — weiß man es denn wirklich? — vielleicht noch indianisches Tupf sprechen. Tommy ist still geworden, weil das Säo Paulo-Flugzeug heranbrummt. Vor Flugzeugen hat er Angst. Wenn er Propeller hört, duckt er sich zitternd und legt den Kopf waagrecht, um mit einem Auge nach oben zu starren. Halte ich ihm die Hand hin, schmiegt er, statt zu beißen, den Kopf hinein. Auch die „Urubus" fürchtet er, die kleinen schwarzen Geier, die hoch kreisend nach Aas späherl. Nicht der Lärm des Flugzeugs erschreckt ihn also — denn die stillen Geier erschrecken ihn ebenso — und auch nicht wahre Gefahr ängstigt ihn —, denn Flugzeuge tun ihm nichts und Urubüs greifen nichts Lebendes an —, sondern ererbter Instinkt läßt ihn vor großem Schwebenden schaudern. Flugzeug wie Urubu bestätigen ihm täglich ihre Harmlosigkeit. Deswegen nimmt aber seine Angst vor ihnen nicht ab. Denn Aberglaube ist so stark wie Glaube und Vorurteil so mächtig wie Erfahrung. Weil nämlich Aberglaube irgend einmal Glaube-gewesen ist und Vorurteil in Erfahrung wurzelt. VIII In meinen Garten oberhalb von Locarno hatte ich eine australische Myrthe gepflanzt, deren rote von goldenen Staubfäden über24
schwankte Blüten jedes Jahr erfroren. Nicht, als ob ihr das Klima Locarnos zu hart gewesen wäre — es ist nicht härter als das ihrer Heimat Australien —, sondern weil sie ihre Blüten zur Weihnachtszeit erschloß. Weihnachten nämlich ist in Australien Sommerbeginn. Daß es in Europa Winterbeginn ist, nahm die Myrthe nicht zur Kenntnis. Ihr saß der australische Kalender im Saft und der galt. Lieber erfrieren als nachgeben! So zwingend wirkte ihr Vorurteil . .. Die brasilianischen Hähne krähen nicht wie die unsern vor Sonnenaufgang, sondern schon um ein bis zwei Uhr nachts. Warum? Weil sie, genau besehen, eben deshalb so krähen wie die unsern. Sie alle stammen von europäischen Hühnerhöfen, und wenn es in Europa vier oder fünf Uhr morgens ist, dann ist es hier eben erst ein oder zwei Uhr nachts. So krähen sie denn — und wecken leider auch — nach der europäischen Uhr in ihrem Blute, obwohl diese Uhr hier ein Vor-Urteil von drei, vier Stunden ist. Mit meinem Papagei verhält es sich ähnlich. Er mag in Gefangenschaft aufgewachsen sein, in den Urwäldern des Amazonas, die seine Heimat sind: Dennoch wird ihn deren ferne Stimme auch dann wecken, wenn es hier an der Rio-Bai noch finster ist, sie wird ihn mittags in den Schatten rufen, auch wenn hier eine kühle Winterbrise weht — denn die Tageszeit äquatorialer Hitze verbringt ein Amazonas-Papagei in Schattenwipfeln. Und sie wird ihn am Spätnachmittag mahnen, daß es Essenszeit sei, denn um diese Stunde fliegen seine freien Artgenossen in Fruchtbäume und Felder. Und so wie jene aus tropischem Überfluß schleckerhaft wählen können und mehr verwüsten als verzehren, so wird auch er aus seinem kleinen Futternapf ein Mehrfaches der Körner, die er frißt, um sich streuen und eine Banane spielerisch zerhacken, bevor er einen Bissen von ihr genießt. Er wird sich benehmen — und das ist ihm nicht abzugewöhnen —, als säße er nicht auf einem Besenstiel, sondern auf einer Liane des Amazonas-Urwaldes. Auch sein Streben nach Gesellschaft ist wohl aus seinem Herkunftsland zu erklären. Ständig will er, daß sich jemand mit ihm befaßt, und schreit und zürnt und wirft seine Näpfe um, wenn er allein bleibt. Auch hierin folgte er der Stimme seiner Heimat, denn dort bleibt ein Papagei kaum je allein. Im lockeren Schwärm der anderen 25
fliegt und frißt und schläft er, und im Schwärm wiederum lebt er in enger Gemeinschaft mit seinem Weibchen. Ein Papagei will durchaus nicht allein sein, was wohl der Grund ist, dessentwegen er sich, wenn ihm keine andere Wahl bleibt, sogar dem Menschen anschließt. Um sich so Wesensfremdem anzupassen, tut er ein Äußerstes und lernt sogar ihre Sprache. So baut sich der kleine bunte Urwaldvogel eine Brücke der Verständigung zu uns grobschlächtigen Herren der Erde, und es ist rührend zu beobachten, mit welchem Eifer er sich um diese schwierige Beziehung bemüht, wie aufmerksam er schrägen Kopfes Worten lauscht, die ihm so entfernt sind, wie geduldig sich sein schwarzer Zungenklöppel um sie abmüht. Selbst seinen Urwaldschrei setzt er zum Menschen in Beziehung, auf dessen Gesellschaft er angewiesen ist. Denn seit Tommy beobachtet hat, daß ich um so schneller zu ihm komme, je lauter er kreischt, erpreßt er meine Gegenwart mit immer abscheulicheren Schreien. Eile ich dann ärgerlich heran, gurrt er zärtlich, um zu zeigen, daß es nicht schlimm gemeint gewesen war, und sagt „Papagaio", als erkläre das alles. Und das tut es ja auch, seit ich ihn verstehe.
IX Die Wißbegier des Papageis ist groß. Erst betrachtet er seine Umgebung, dann schmeckt er sie mit seiner dicken, doch mit empfindlichsten Nervenenden geladenen Zunge ab und schließlich zerstört er sie, als ob sie ihn stören. Die Kraft seines Schnabels ist erstaunlich. Tommy hat einem tönernen Trinknapf den Rand abgeknabbert und selbst einen aus Eisenblech leck gebissen. Augenblicklich knackt er .. . Ei, was knackt er denn? Während ich die wenigen Sätze über die Kraft seines Schnabels notierte, hat er sie bestätigt, indem er meiner Sonnenbrille einen Bügel aufgeknackt hat wie eine Nuß. Der Zellhornstab ist durchbissen, und die metallne Einlage darin baumelt an ihrem letzten Draht. Mühsam nehme ich ihm die Brille ab — was er einmal hat, gibt er ungern 26
wieder her — und besehe den Schaden: Selbst der Optiker, der meine Bücher schätzt, wird mir zehn Cruzciros dafür abnehmen. So billig, wie ich gedacht hatte, ist mein Papagei nicht. Auch in anderen Punkten habe ich meine Meinung über ihn zu ändern. Was hatte ich mich früher bemüht, den störrischen Vogel vertraulich zu machen! Und nun ist er in einem Maße zutraulich geworden, daß ich ihn störrischer wünschte. Zanke ich, lacht er. Er nimmt mich nicht mehr ernst. Seine Überlegenheit ist ihm früher zum Bewußtsein gekommen als je einem meiner Hunde. Spreche einer von „Vogelgehirn"! Es kann anderen Gehirnen Punkte vorgeben . . . In Ermangelung der Brille beschäftigte er sich mit einem Bleistift. Es regnet Späne und Krümel. Leichte Arbeit für die Greifhacke seines Ober- und für die Schneide seines Unterschnabels! Auch mit Ästen, die ich ihm zum Zernagen gebe, wird er rasch fertig. Er zieht Herzhafteres vor: das Telephon z. B. Nun, mit dem Hartgummi wird er nicht fertig werden. Es ist —. Da liegt schon die angeknackste Hörmuschel! Nun betrachtet er die kleine Maschine, die er bloßgelegt hat. Seine Kopf federn sind gesträubt; es sieht aus, als runzele er seine blaue "Stirn in angestrengtem Nachdenken. Noch einmal zehn Cruzeiros Schaden! Mindestens . . . „Tommy, kannst du nicht einen Moment ruhig bleiben?" Er gluckst befriedigt, weil ich mit ihm spreche und läßt — klack! - etwas aufs Manuskript fallen. Eine herbe Kritik.
X Ich habe mir aus einer Buchhandlung in Rio den Brehm angeschafft. Eine alte Auflage. Da stehen also die zehn dicken Bände vor mir, und mit einigem Befangen stelle ich fest, daß Vater Brehm den Papageien einhundertachtundreißig große Textseiten nebst vier Tafeln gewidmet hat. Hätte ich ihn vorher zu Rate ziehen sollen? Dann wäre dieser Papageien-Lesebogen ungeschrieben geblieben. 27
Auch auf meinen Reisen habe ich keine Fachliteratur gelesen, weil ich sonst den Mut verloren hätte, Reisebücher zu schreiben. Nur mit unbefangenem Auge kann ich schildern. Dem Schriftsteller sollte sein Thema neu sein. Nicht darauf kommt es vor allem an, was er beschreibt, sondern wie er es tut; nicht der Inhalt eines Buches entscheidet seinen Wert, sondern die Form. Auf sie kommt es an, bei der Beschreibung eines großen Landes oder eines kleinen Papageis. Ich habe ihn beschrieben, wie ich ihn sehe, und nun schlage ich nach, wie Brehm ihn sah. Tommys Art ist im Abschnitt über die „Amazonen- oder Grünpapageien (Androglossa)" enthalten, man hat dort zwischen drei volkstümlichen und sieben wissenschaftlichen Namen die Auswahl: „Amazonenpapagei, Kurika und Papagaio der Kreolen (Androglossa amazonica, Chrysotis amazonica, Psittacus amazonicus, luteus, luteolus und aourou, Amazona amazonica)." An Tommys Stelle würde ich mich für das aparte „aourou" entscheiden, aber wer kennt seinen Geschmack — einmal ißt er nur Butterbrot, ein andermal wirft er es auf die Erde und schreit sich nach einer Orange heiser, von der er aber nur die Kerne ißt. Auf Tommy ist kein Verlaß. Brehm zufolge sollte er fünfunddreißig Zentimeter lang sein, doch beim Nachmessen — er findet sich damit nur ab, wenn er ein Ende des Meßbandes im Schnabel halten darf — stelle ich fest, daß er nur vierunddreißig mißt. Mit gerecktem Hals bringt er es allerdings auf siebenunddreißig, entfernt sich aber damit noch weiter von der Norm, die Brehm genannt hat.
XI Brehms Beobachtung der Papageien ergibt das widerspruchsvolle Charakterbild eines launenhaften, anhänglichen, boshaften, gescheiten, zerstörerischen und alles in allem liebenswerten Tieres. Als Grundeigenschaft tritt Treue hervor. Die meisten Papageien leben in zärtlicher Einehe, die nur der Tod trennt. Gegen die Gefährten ihres Schwarms benehmen sie sich verträglich und hilfsbereit. Wird einer von ihnen geschossen, lassen ihn die andern nicht im Stich, sondern umflattern ihn schmerzlich schreiend. Das 28
machen sich dann die Jäger zunutze und töten sie in Menge. Dessenungeachtet können sich Papageien dem Menschen so eng anschließen, daß Fälle verbürgt sind, in denen ein Papagei aus Kummer eingeht, wenn sein Herr stirbt. Besonders anhänglich und zärtlich sind die großen, leuchtend bunten Araras. Tommys Gattung rühmt Brehm jene Treue nach, die ich bei Manoel, dem Papagei meines Zahnarztes, bestätigt gefunden habe. „Wenn seine Herrin abwesend war", heißt es von einem AmazonasPapagei, „gebärdete er sich traurig, saß ruhig auf einer Stelle, fraß gewöhnlich nicht und war mit einem Worte ein ganz anderer geworden als sonst. . . " Doch trägt ein Papagei seine Treue nicht so zur Schau wie ein Hund. Er ist verschlossener und launischer. Mag seine Hingabe an den Herrn auch von gleicher Stärke sein, so tritt sie doch minder hervor. Schalkhaftigkeit, Schadenfreude, Bosheit, ja Tücke durchwirken ihre Zuneigung ähnlich wie unsere eigene. Denn wie oft quälen auch wir jene, die wir lieben! So weit der Papagei sich körperlich auch vom Menschen unterscheidet: Nach seinem Charakter ist er das menschenähnlichste Tier. Manchmal kann er fast so boshaft werden wie ein Mensch. Wenn Tommy haarscharf vorbei am Futter, das ich ihm reiche, in meinen Finger beißt und dabei tut, als sei das ein Versehen — beißt er doch gleich danach ins Futter! —, so erinnert mich das wehmütig an manchen Menschen, der mir nahegestanden ist. Aus Brehms Papageienkapitel blinken menschenähnliche Eigenheiten des Papageiencharakters häufig hervor. Hier Schalkhaftigkeit: „Ein Amazonenpapagei, der einem Engländer entflogen war und sich drei Monate lang im Garten umhertrieb, bis der herannahende Winter ihn veranlaßte, das gastliche Dach des Hauses wieder aufzusuchen, ergötzte nach seiner Rückkehr allgemein durch genaueste Wiederholung der von verschiedenen Stubenmädchen in ängstlichem Tone an ihn ergangenen Einladungen, doch zurückkehren zu wollen." List: „Ergötzlich ist, die frei lebenden Papageien bei ihren diebischen Oberfällen auf Fruchtbäume und Felder zu beobachten." Sie zeigen sich hierin, wie überhaupt in der Art und Weise, sich zu ernähren, gewissermaßen als befiederte Affen. „Die List und Verschlagenheit, mit welcher sie ihre Räubereien betreiben, fällt jedem 29
Beobachter auf . . . Nicht leicht vermag der Jäger . . . die schlauen Diebe zu beschleichen; denn stets bleiben ein paar der ältesten als Wachen auf den höchsten Bäumen ausgestellt." Tücke: „Papageien- zeigen sich Fremden gegenüber oft launisch und selbst tückisch; sie verlangen daher immer eine vorsichtige Behandlung." „ . . . Ein Papagei beschlich . . . junge Sperlinge oder andere vor kurzem ausgeflogene Vögel, fing sie, rupfte sie sehr hübsch, fraß sie an und warf sie dann weg." Schließlich die Hauptsache, Verstand: „Sie bewahren sich empfangene Eindrücke jahrelang", rühmt Brehm. „Sie erfassen einen Begriff, erlernen ein Wort; zu dem einen erwerben sie sich mehrere und ihre Fähigkeit wächst, je mehr sie diese üben . . ; Sein" (des Papageien) „hoher Verstand bekundet sich jedoch noch anderweitig, ich möchte sagen, bei jeder Gelegenheit. Er unterscheidet genau, nicht allein, wie so manche andere Vögel auch, Männer und Frauen oder Hausgenossen und Fremde, sondern verschiedene Menschen überhaupt . . . In den meisten Fällen prüft er, bevor er urteilt und handelt." (Nicht alle Menschen sind so klug!) „Oft muß man seine Menschenkenntnis bewundern." Von einem Jako-Papagei, der in Amsterdam lebte, berichtet Levaillant: „Karl — so hieß dieser Papagei — sprach fast so gut wie Cicero; denn ich würde einen ganzen Band mit den schönen Redensarten ausfüllen können, die er hören ließ und die er mir, ohne eine Silbe zu vergessen, wiederholte. Dem Befehl gehorsam, brachte er die Nachtmütze und die Pantoffeln seines Herrn und rief die Magd herbei, wenn man sie im Zimmer brauchte." Von einem andern Jako zitiert Brehm sechsundzwanzig Zeilen Rufe, Redensarten und Lieder, und einem Artgenossen meines Tommy bestätigt er: „Einer meiner Amazonenpapageien singt anmutende, melodienreiche Lieder ohne Worte und geht dazu im Takte und mit halbgeöffneten Flügeln auf seiner Stange hin und her. Erfahrene Leute, die ihn singen hörten, sagten mir, daß er Negerlieder vorträgt, wie man sie in Brasilien hört. Über ein halbes Jahr hatte der Vogel geschwiegen und erst nach Ablauf dieser Frist trat er mit seiner Kunstfertigkeit hervor." Wer weiß, womit Tommy mich noch überraschen wird! Seiner derben Art gemäß habe ich allerhand Negerlieder zu erwarten. 30
Über die Zerstörungswut der Papageien legt meine Küche betrübliches Zeugnis ab. Brehm schreibt vom „nur zu häufigen Mißbrauch des zerstörungsfähigen Schnabels, der, so unglaublich das auch klingen mag, nicht einmal das Eisen verschont." Dabei gönnte ich Tommy Eisen lieber als Aluminium. Aluminiumgeschirr ist hier nur schwer zu ersetzen. Holz zerstört er mit der Beharrlichkeit eines Termitenvolks, aber um vieles rascher. Im Garten hatte ich ihn manchmal auf den untersten Ast eines alten Mynhenbaums gesetzt. Ich darf das nicht wieder tun, wenn der Baum nicht eingehen soll; schon fehlen alle Blätter und halb um den Stamm herum auch die Rinde. In Freiheit benehmen sich Papageien nicht besser. „Unglaublich groß und die ernsteste Abwehr des Menschen rechtfertigend", schreibt Brehm, „sind die Verwüstungen, die Papageien im Felde und Garten anrichten. Vor ihnen ist wenig sicher, nichts eigentlich geschützt." „In manchen Gegenden werden die Papageien zur wirklichen Landplage; hier und da machen sie den Anbau mancher Feldfrüchte geradezu unmöglich", vermerkt der Weltreisende Prinz von Wied. „Die einen haben für diese, die anderen für jene Feld- oder Gartenfrucht besondere Vorliebe; gefährdet ist also alles, was der Mensch zu eignen Gunsten säet und pflanzt, und an Freundschaft zwischen ihm und den Vögeln ist selbstverständlich nicht zu denken." Zwischen Mensch und freilebendem Papagei, versteht sich. Wird nämlich der Papagei gefangen, entsteht bald eine wechselseitige Freundschaft, die mit der zwischen Mensch und Hund verglichen werden kann und ihr übrigens auch darin gleicht, daß der Mensch mit Wildhunden — Wölfen, Schakalen und Dingos — wie mit Wildpapageien in Feindschaft lebt. In den Indianerdörfern des östlichen Peru waren mir zahme Papageien aufgefallen, die um die Hütten der Eingeborenen flatterten und sich mit Vorliebe zu spielenden Kindern gesellten. „Bewunderungswürdig und uns nicht recht verständlich ist die Fertigkeit der Indianer, Papageien binnen kürzester Frist zu zähmen", stellt Brehm fest, und zum Beweis dafür berichtet er von einem Papagei, der sich, frisch eingefangen, ungebärdig betragen hatte. „Eine alte Indianerin, die den Ruf einer ausgezeichneten Papageienzähmerin besaß, übernahm die Pflege des Wildlings und brachte ihn 31
binnen zwei Tagen vollkommen gezähmt wieder. Von nun an war er das liebenswürdigste Geschöpf unter der Sonne, lernte sprechen und hatte seine früheren Unarten gänzlich vergessen . . . Ein Bekannter versicherte . . ., daß die rasche Zähmung durch den Speichel bewirkt worden sei, den die Frau dem Papagei gegeben habe." Humboldt schreibt: „Schon Kolumbus war die Sitte der Eingeborenen aufgefallen, Papageien, Vögel aus einer dem Hühnergeschlecht so fern stehenden Familie, aufzuziehen; und gleich bei der Entdeckung Amerikas hatte er beobachtet, daß die Eingeborenen auf den Antillen statt Hühnern Araras oder große Papageien essen." — Doch zähmen die Indios Papageien kaum des Fleisches wegen, das zäh und nur für Suppe brauchbar sein soll — oder nur wegen der bunten Schmuckfedern. Da spricht doch auch die unterhaltsame Gesellschaft dieses launisch-kecken und dennoch grundgescheiten Vogels mit, seine ironische Zärtlichkeit und seine bissige Treue. . Die ist es auch, die mich veranlaßt, ihm so viel von meiner Zeit — und der des Lesers — zu widmen. Hier ist kein flinkes und flaches Schwarz-Weiß-Urteil möglich wie über eine Viper oder einen Hund, sondern hier mischen sich auf menschliche Art die verschiedensten Eigenschaften. Sein bunter Charakter im bunten Gefieder macht den Papagei zu einem Meisterstück der Schöpfung. „Nicht wahr, Tommy?" Er blinzelt überlegen.
Umschlaggestaltung: Karlheinz Dobsky Fotos: Kurt Schaarschuch, Carl Zwillkl, Bavaria-Bilderdienst; Ullstein-Bilderdienst. L u x - L e s e b o g e n 3 4 8 (Tierkunde) H e f t p r e i s 3 0 P f g . Natur- und kulturkundliehe Hefte - Bestellungen (vierteljährl. 6 Hefte DM 1.80) durch jede Buchhandlung und jede Postanstalt. — Alle früher erschienenen Lux-Lesebogen sind in jeder guten Buchhandlung vorrätig. — Druck: Hieronymus Mühlberger, Augsburg. — Verlag: Sebastian Lux, Murnau vor München. — Herausgeber: Antonius Lux*
Aus dem Leben der Tiere berichten noch viele andere Lesebogen. Folgende natur- und tierkundlichen Hefte können zum Preise von 25 Pfg je Heft (30 Pfg ab Heft 333) nachbestellt werden (Postkarte genügt): 8 Anguis — der Aal 9 Gefiederte Freunde 13 A u g e n - aull 18 H a g e n b e c k h a n d e l t mit T i e r e n 21 W a l e 23/24 D e r R ä u b e r I s e g r i m (Doppelheft)
103 W u n d e r d e r Vererbung
219 V o g e l v o l k
108 V o m Pilz z u m Penicillin 118 D i e W e s p e n k ö n i g i n
223 W u n d e r in u n s
222 T i e r - R ä t s e l 231 E u l e n v o l k 236 T i e r g e s c h i c h t e n
119 L e b e n d e K r i s t a l l e / Aus der W e l t der Viren
241 Der B a u m
123 Der Kuckuck
248 B e r n h a r d i n e r
246 P f l a n z e n w u n d e r
32 N a c h t g e s p e n s t e r
132 K l e i n e s T i e r v o l k
253 Der Habicht
36 I n s e k t e n - R ä t s e l 38 T i e r e u n d T i e r b i l d e r des H ö h l e n m e n s c h e n
137 D i e
254 W e t t e r b a l l o n e
45 A u g e n auf! (2)
154 Im
47 D a s ü b e r l i s t e t e T i e r
155 P i n g u i n e 162 V o g e l w e l t
52 T i e r - R i e s e n Urwelt
der
53 D a s v e r w a n d e l t e Tier 57 T i e r v ö l k e r w a n d e r n 62 ü b e r W a l d und Heide 64 R i n g v o g e l B 32 521 70 T i e r l e b e n 74 H y d r a 78 G r i m b a c k — der Hamster 88 U n s i c h t b a r e F e i n d e 92 H e r d e n u n t e r d e r Mitternachtssonne 93 M e i n F r e u n d — der Igel 98 M e r k w ü r d i g e T i e r e 102 B e r g m a n n d e s Ackers
letzten
Biber
142 Der Dachs
260 R o b b e n
152 F a m i l i e Specht
263 Affenvolk 268 T i e r e , w i e s i e keiner kennt 269 A m e i s e n 276 W e r k s t a t t der N a t u r 277 V ö g e l am F e n s t e r 279 Kaffee 285 Der H o n i g v o g e l 288 Das b l ü h e n d e J a h r 290 U r a l t e s T i e r v o l k 296 A l e x a n d e r v o n Humboldt 299 Der S p e r b e r 308 Das M a m m u t 312 H u n d e 314 In d e r W ü s t e Gobi 319 U r w i l d d e r A r k t i s 322 B i e n e n v o l k 324 E i s b ä r e n 338 L e m m i n g - Z ü g e 339 P f e r d e 341 W u n d e r w e l t d e r Insekten 344 Spinnen
Zoo im Zoo
163 F a b e l t i e r e 165 Sieg ü b e r d i e Kälte 168 S e l t s a m e K ä u z e 171 G r a u e R i e s e n 173 Türili — d i e H e i d e lerche 178 Ritter im Teich / Der Stichling 181 B a u m e i s t e r d e r Vogelwelt 187 V o m I n s t i n k t d e r Tiere 192 T i e r e im W i n t e r schlaf 194 T i e r e h i n t e r G i t t e r n 197 D i e g r o ß e n R ä u b e r 199 M a u e r s e g l e r 202 Der h e i l i g e Käfer Der Skarabäus 216 Elche
V e r l a g S e b a s t i a n Lux, M u r n a u v