RAINER HACHFELD – REINER LÜCKER
THIENEMANN
CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Hachfeld, Rainer: Pancho /...
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RAINER HACHFELD – REINER LÜCKER
THIENEMANN
CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Hachfeld, Rainer: Pancho / Rainer Hachfeld; Reiner Lücker. Stuttgart: Thienemann, 1984 ISBN 3 522 13810 4
NE: Lücker, Reiner Umschlaggestaltung: Jürgen Reichert in Stuttgart unter Verwendung eines Fotos von Ferdinand Anton in München Schrift: Times Antiqua Satz: Utesch Satztechnik GmbH in Hamburg Offsetreproduktion: Repro GmbH in Kornwestheim Druck und Bindung: Welsermühl in Wels © 1984 by K. Thienemanns Verlag in Stuttgart Printed in Austria 54321
Der Indiojunge Pancho lebt in einem kleinen südamerikanischen Küstenort. Seine Welt ist für ihn in Ordnung, bis er Cornelia trifft, das Mädchen aus Deutschland, deren Vater in der Hauptstadt Santa Basura die allmächtige BananenCompany leitet. Sie erzählt ihm Wunderdinge von der Hauptstadt, und Pancho macht sich auf den Weg, um in Santa Basura sein Glück zu versuchen. Aber dort ist alles ganz anders, als er es erwartet hatte...
Señorita Mercedes Volkswagen
Pancho versteckte sich hinter einer Palme und beobachtete den Strand vor dem Hotel. Heute war überhaupt nichts los. Die Liegestühle standen verlassen unter den Sonnenschirmen. Die Touristen saßen jetzt hinter den getönten Scheiben des Hotelpalasts und nippten eiskalte Getränke aus beschlagenen Gläsern, während sie auf ihr Mittagessen warteten. Keiner ging um diese heiße Tageszeit an den Strand. Dabei hatte Pancho nur noch sechs Bananen, die er verkaufen mußte. Aber bevor die Sonne nicht tiefer stand und es kühler wurde, würde sich niemand blicken lassen. Ins Hotel durfte er nicht. Nicht einmal auf das Hotelgelände ließen sie ihn. Er mußte immer aufpassen, daß er nicht erwischt wurde, wenn er am Strand oder im Park oder an der Auffahrt seine Bananen anbot. Unter der breiten Markise, die die Hotelterrasse beschattete, bemerkte Pancho ein kleines, blondes Mädchen, das sich auf einem Liegestuhl räkelte und in bunten Heften blätterte. Die würde ihm bestimmt keine Banane abkaufen, da kannte Pancho sich aus. Die besten Kunden waren ältere Frauen mit großen Hüten und Sonnenbrillen. Manchmal hatten sie Papier auf der Nase gegen den Sonnenbrand. Diese Damen
brauchte er nur mit ganz traurigen Augen anzusehen, dann kauften sie Panchos Bananen, auch wenn sie die gar nicht mochten. Pancho verstand zwar nicht, was sie zu ihm sagten, fühlte aber, daß er den Frauen leid tat. Und sie hatten ein schlechtes Gewissen, daß sie faul in der Sonne lagen und ein kleiner, zerlumpter Junge mit schwarzem Wuschelkopf und traurigen braunen Augen Bananen verkaufen mußte. Wenn die wüßten! Mit seinen neun Jahren war Pancho fast schon zu alt für das Geschäft. Die kleinen Geschwister würden bald den Bananenverkauf übernehmen. Die hätten bestimmt noch mehr Erfolg als er. Schließlich war Pancho fast schon ein Mann. Er beschloß, im Hotelpark nach Kundschaft zu suchen. Dort gab es Schatten, Springbrunnen und bequeme Bänke. Vielleicht machte jemand einen Spaziergang nach dem Mittagessen oder ruhte sich aus. Die sechs Bananen mußte er einfach noch loswerden. Das wäre ja gelacht. Durch ein Loch im Zaun, das Pancho im Lauf der Jahre stets vergrößert hatte, schlüpfte er auf das Hotelgelände und lief geduckt am Gebäude entlang zum Park.
Cornelia langweilte sich. Ärgerlich schob sie die Comic-Hefte vom Liegestuhl. Sie wollte nicht mehr lesen. Sie wollte nicht mehr faul herumliegen, sie wollte vor allem nicht mehr allein sein und sich langweilen. Plötzlich sehnte sie sich nach
Deutschland. Dabei war sie extra eine Woche früher zurückgekommen, um mit ihrem Vater hierher ans Meer zu fahren. «Wir beide ganz allein!» – Pustekuchen! Den ganzen Tag hing er am Telefon und machte seine blöden Geschäfte, ohne sich um seine Tochter zu kümmern. Und im Hotel gab es außer Cornelia nur alte Leute. Die meisten waren Amerikaner, die sie «honey» nannten, was «Honig» heißt, und was Cornelia nicht ausstehen konnte. Schön, die Kellner und Zimmermädchen behandelten sie ganz besonders zuvorkommend und respektvoll. Sie versuchten, Cornelia jeden Wunsch von den Augen abzulesen. Aber das taten sie ja doch nur, weil ihr Vater, Direktor Friedrich Groteberg, der Chef der Bananencompany in diesem südamerikanischen Land war. Und die Company war hier mächtiger als die Regierung. Doch was nützte Cornelia die Vorzugsbehandlung? Wenn jemand mit ihr spielen würde, wäre es ihr lieber gewesen. Aber das durften die Hotelangestellten nicht. Auch ihr Vater wollte das nicht. «Laß dich nicht mit den Eingeborenen ein, da weiß man nie, woran man ist!» hatte Direktor Groteberg seiner Tochter eingeschärft. Langsam begann Cornelia das Land zu hassen. Dabei hatte sie sich so gefreut und vor ihren Klassenkameraden geprahlt, als es vor zwei Jahren hieß, sie gingen nach Südamerika. Alles war so neu und aufregend. Immer war es warm, das ganze
Jahr über. Im feinsten Viertel der Stadt wohnten sie in einer riesigen Luxusvilla mit Park und Swimmingpool, mit Chauffeur, Köchin, Putzfrau und Kindermädchen. Aber das waren für Cornelia nur die lästigen Aufpasser, denn in der Stadt durfte sie keinen Schritt alleine tun. Sie kam sich bald vor wie ein wertvolles Vögelchen in einem großen, goldenen Luxuskäfig – aber Käfig war Käfig. Selbst zur Schule wurde sie im Auto gefahren und wieder abgeholt. Und dort paßten sogar uniformierte Wächter auf, daß keins der wertvollen Kinder in der Pause abhanden kam. Was hatte sie denn gesehen von diesem «Land der Gegensätze», wie sie es in einem Reiseprospekt gelesen hatte, dem «Land des undurchdringlichen Dschungels, der einsamen Berge, der Seen und Wasserfälle, der endlosen Sandstrände, der fröhlichen Menschen», und was da noch alles geschrieben stand? Sie kannte ihre Villa, ihre Schule, das Zentrum der Hauptstadt Santa Basura, wo sie mit Kindermädchen und Chauffeur Einkäufe machte, ein paar vornehme Clubs, in die nur Ausländer wie sie hineinkamen, und das Strandhotel bei Puerte Pobre. Aber nicht einmal dieses Dorf durfte sie besuchen. «Das ist nur ein Haufen Dreck», hatte ihr Vater abgewinkt und dann gesagt: «Ich weiß gar nicht, was du willst. Hier im Hotel hast du doch alles.» Wenn sie wenigstens ihn hätte, wie er es ihr versprochen hatte. Ganz für sie allein würde er da sein, hatte es geheißen. Und nun telefonierte er den lieben langen
Tag mit seinem Büro in Santa Basura oder mit Geschäftsleuten im Ausland. Oder er diktierte einer Hotelsekretärin Briefe und Telegramme. Es war nicht anders als zu Hause. In der Stadt bekam Cornelia ihren Vater auch selten zu sehen, nur abends manchmal und an den Wochenenden. Wenn wenigstens die Mutter noch da wäre. Aber die war nach Deutschland zurückgekehrt, wo Cornelia sie eben in den Ferien besucht hatte. Weil sie das Klima nicht verträgt, hatte der Vater ihr erklärt. Dabei wußte Cornelia längst, daß ihre Eltern sich scheiden lassen wollten. Aber die Erwachsenen halten einen ja für blöd. «Hab ich dich endlich erwischt!» Pancho drehte sich erschrocken um. Der Mann, der das Hotel bewachte, damit Leute wie Pancho nicht die Touristen störten, kam auf ihn zugelaufen. Pancho packte seine sechs Bananen und rannte los. Dem Wächter war es diesmal ernst. Er wollte dem Jungen eine Abreibung verpassen, die der nie vergessen würde. Es war so lästig, ihn immer wieder aufs neue vom Strand und aus dem Park wegzuscheuchen. Pancho merkte zu spät, daß er direkt auf die hohe Mauer zulief, die den Hotelpark von der Straße trennte. Klettern konnte er gut. Aber dann müßte er seine Bananen wegwerfen. Das ging natürlich nicht. Der Wachmann kam schimpfend und keuchend näher. Seine Uniform war zu eng für sportliche Übungen, und der Knüppel, den er am Gürtel trug, schlug ihm
gegen die dicken Beine. Pancho machte eine schnelle Drehung und lief quer durch die Büsche zu der asphaltierten Auffahrt, die durch den Park vom Hotel auf die Straße führte. Sein Verfolger kannte sich aber auch gut aus. Der Wächter schnitt Pancho den Weg ab und kam ihm plötzlich entgegen. Jetzt half nur noch Trick. Pancho wich zurück, riß eine Banane von seinem Büschel und warf sie dem anderen vor die Füße. Der Dicke bremste unwillkürlich und kam ins Stolpern. Dieser kurze Moment genügte Pancho. Er flitzte um den fluchenden Mann herum und rannte aus dem Park. PRIVATGELÄNDE DURCHGANG NUR FÜR HOTELGÄSTE Pancho kannte das Schild. Lesen konnte er es nicht, aber er wußte, was draufstand. Immer wieder hatten es ihm die Wächter und Kellner des Hotels in die Ohren gebrüllt. Aber wo sollte er sonst seine Bananen verkaufen? In Puerto Pobre hatten die Leute entweder selbst eine Bananenstaude hinter der Hütte, wie Panchos Familie, oder sie hatten keinen Peso dafür übrig. Im Dorf tauschte man. Der Nachbar, bei dem ein Mangobaum im Garten stand, gab Mangos für Bananen, ein anderer pflanzte Chilischoten und versorgte das ganze Dorf mit dem scharfen Gewürz, wofür er Obst und Kartoffeln bekam. Aber alles konnte man nicht kaufen. Fleisch und Fisch waren
knapp und nur für Geld zu bekommen, genau wie die Milch für das Baby. Und Geld für seine Bananen bekam Pancho nur von den Touristen, die entweder im Hotel wohnten oder sich eine Strandvilla gemietet hatten oder die für einen Tagesausflug zum Strand bei Puerto Pobre kamen. Der Strand in dieser Gegend war bekannt für den besonders feinen Sand. Pancho beschloß, noch einmal zum Hotelstrand zu gehen. Außer dem kleinen blonden Mädchen auf der Terrasse war immer noch kein Mensch zu sehen. Pancho steckte zwei Finger in den Mund und pfiff. Das Mädchen sah zu ihm herüber. Er hielt seine Bananen hoch und winkte. Das Mädchen winkte zurück. Wollte sie ihm doch eine Banane abkaufen? Pancho schaute sich um. Er konnte niemanden vom Personal entdecken. So schnell er konnte, rannte er durch den heißen Sand auf das Mädchen zu. «Bananen, Señorita! Die besten Bananen von ganz Puerto Pobre!» Cornelia lachte. Sie fand den Jungen lustig. Er bot ihr die fünf Bananen an, als seien sie aus purem Gold. Ausgerechnet Bananen! Claudio, der Kellner, kam auf die Terrasse und schrie Pancho an: «Hau ab! Ich hab dir doch schon tausendmal gesagt, daß du hier nichts zu suchen hast!» «Lassen Sie ihn doch!» rief Cornelia. «Er darf auf dem Hotelgelände nichts verkaufen», erklärte ihr der Kellner.
«Er wollte mir die Bananen schenken», behauptete Cornelia. «Er darf hier überhaupt nicht sein, Señorita», sagte der Kellner. «Wenn ich es will, darf er», bestimmte Cornelia. Claudio, der Kellner, war wütend. Trotzdem sagte er nichts. Wenn sich dieses kleine Biest über ihn beschweren würde, wäre das sehr unangenehm. So zog er es vor, ohne Kommentar ins Hotel zurückzugehen. Pancho war unsicher geworden. Das ausländische, blonde Mädchen sprach fließend spanisch, der Kellner gehorchte ihr, und seine Bananen sollte er ihr schenken. Aber das könnte ihr so passen. «Ich habe nichts zu verschenken, Señorita», sagte er. «Verkaufen darfst du hier nichts. Hast du ja gehört.» Pancho machte sein trauriges Bananenverkäufergesicht, mit dem er bei den älteren Damen immer Erfolg hatte. «Bitte, Señorita. Ich habe drei hungrige Geschwister. Das jüngste ist noch ein Baby…» Cornelia ließ sich nicht beeindrucken. «Ich brauch keine Bananen.» «Zehn Pesos», bettelte Pancho, «das ist ein Freundschaftspreis, weil du mir gegen den Kellner geholfen hast.» «Fünf», sagte Cornelia. Pancho staunte. Die kleine Señorita wollte mit ihm handeln. Das war ihm bei Touristen noch nie
vorgekommen. Na schön. Wenn sie es so wollte, würde er mitspielen. «Fünf Pesos?» jammerte er. «Da zahl ich ja drauf! Da verdien ich ja gar nichts mehr. Acht Pesos, Señorita. Darunter kann ich wirklich nicht gehen.» Bis fünf würde er schlimmstenfalls heruntergehen, sagte er sich. Fünf Pesos für fünf Bananen war gerade noch ein annehmbarer Preis. Aber natürlich wollte er lieber mehr herausholen. Cornelia versuchte ernst zu bleiben, obwohl sie innerlich kicherte. «Sieben Pesos sind genug für eine Banane. Das sind ja fast zehn Pfennig.» Pancho hatte keine Ahnung von Pfennigen, war aber trotzdem verblüfft. «Ach, für ei-eine?» stotterte er. Jetzt staunte Cornelia. «Du meintest für alle fünf?» Pancho schaltete schnell. «Nein, nein. Alle kosten natürlich mehr. Zwanzig Pesos.» Aber Cornelia ließ sich nichts vormachen. «Du spinnst ja. Eben wolltest du mir noch alle fünf für zehn Pesos geben.» Pancho war wütend, daß er sich verraten hatte. «Ich geb dir alle für fünfzehn», schlug er vor. Aber Cornelia hatte keine Lust mehr zu handeln. «Ich mag doch gar keine Bananen», sagte sie. «Auch wenn du sie mir schenken willst. Außerdem sind die viel zu billig. In der Stadt kostet eine Banane zehn Pesos.»
Pancho starrte sie ungläubig an. «In der Stadt? In Santa Basura?» «Wo denn sonst?» «Zehn Pesos für eine Banane?» «Na klar!» Pancho war beeindruckt. Er versuchte sich vorzustellen, wieviel Geld er in der Stadt verdienen könnte. Cornelia unterbrach seine Gedanken. «Weißt du was? Wenn du mit mir im Wasser spielst, geb ich dir zwanzig Pesos.» Pancho dachte, das blonde Mädchen wollte ihn veralbern. Aber Cornelia meinte es ernst. Sie konnte sich zwar vorstellen, wie sauer ihr Vater werden würde, wenn sie mit diesem Jungen spielte, aber das war ihr jetzt egal. Der Vater war selbst dran schuld. Was ließ er sie auch ständig allein? Außerdem fand sie den Jungen nett. Aber der begriff nicht und wollte gehen. «He, bleib doch da. Oder bist du wasserscheu?» Pancho wußte nicht, was Cornelia meinte. Natürlich hatte er keine Angst vor dem Wasser. Aber baden und schwimmen, dazu hatte er nie Zeit gehabt. Das war etwas für die Touristen, die den ganzen Tag faul am Strand herumliegen konnten. Aus dem Dorf ging niemand ins Wasser, wenn er nicht gerade beim Fischfang aus dem Boot fiel. «Was soll ich im Wasser?» sagte Pancho. «Ist dir was reingefallen?» Cornelia nahm ihren großen, bunten Ball und warf ihn, so weit sie konnte, in die Wellen. «Da, mein
Ball!» rief sie. «Hol ihn mir wieder raus!» Der Ball tanzte auf dem Wasser und entfernte sich mit jeder Welle weiter vom Strand. «Zwanzig Pesos», sagte Cornelia. Pancho hielt die Hand auf. «Gib her.» Cornelia zeigte auf den Ball. «Die mußt du dir erst verdienen.» Pancho war die Sache nicht geheuer. Zwanzig Pesos wollte ihm das Mädchen geben, nur wenn er ins Wasser ging? Den Ball hatte sie doch absichtlich ins Meer geworfen. Aber bei diesen verrückten Ausländern konnte man auf alles gefaßt sein. Vorsichtig legte er seine fünf Bananen in den Schatten des Liegestuhls und lief zum Meer. Cornelia folgte ihm. «Mach schnell! Sonst schwimmt er immer weiter raus.» Pancho watete ins flache Wasser. Erst als ihm die Wellen gegen den Bauch klatschten, fiel Cornelia auf, daß der Junge in Hemd und Hose im Nassen stand. «Hast du keine Badehose?» rief sie. «Deine Sachen werden ja ganz naß.» «Die werden auch wieder trocken», meinte Pancho und griff sich den Ball. Er wollte ihn wieder an Land tragen. Aber gerade das wollte Cornelia nicht. Sie hechtete in die Wellen. «Wirf ihn hierher zu mir!» Pancho warf ihr den Ball zu. Cornelia schlug ihn wie einen Volleyball zurück, verfehlte Pancho aber um einige Meter. Bei dem Versuch, den Ball zu fangen, klatschte Pancho der Länge nach ins Wasser. Cornelia
bekam einen Schreck. Was, wenn der Junge nicht schwimmen konnte? Da, wo der Ball hingefallen war, wurde das Wasser plötzlich tief. Aber da tauchte Pancho schon wieder auf. Er umklammerte den großen Ball und strampelte mit den Beinen, bis er wieder Grund hatte. Cornelia schwamm ihm entgegen. «Wie heißt du eigentlich?» «Pancho», sagte er. «Und was ist mit meinen zwanzig Pesos?»
Ein paar hundert Meter vom Hotel entfernt lag ein kleines Strandrestaurant. Eigentlich mehr ein Kiosk mit ein paar Tischen, die von einem Sonnendach überschattet waren. An einem der Tische saß ein älteres Ehepaar in bunter Strandkleidung. Der Mann, dessen Schultern und Gesicht von Sonnenbrand krebsrot waren, stopfte sich unlustig Schinkenhäppchen in den Mund und trank viel kaltes Bier. Er bemühte sich, den dunkelhäutigen halbwüchsigen Jungen mit dem ausgefransten Strohhut zu übersehen, der neben ihrem Tisch Gitarre spielte und dazu ein temperamentvolles Lied sang. Die Frau, deren sommersprossiges Gesicht unter einem nagelneuen Riesensombrero, wie man sie an den Souvenirständen kaufen kann, fast verschwand, lächelte. «Sag ihm, er soll verschwinden», brummte der Mann. «Wieso? Ich finde ihn niedlich.»
Die Frau warf dem Sänger einen aufmunternden Blick zu. Aber der Mann schien südamerikanische Musik nicht zu mögen. «Er ist zu laut.» Die Frau zuckte ergeben mit den Schultern. «Dann gib ihm wenigstens ein Trinkgeld. Er muß davon leben, der arme Junge.» Der Mann klaubte eine Münze vom Tisch und warf sie, ohne aufzublicken, vor dem Musiker in den Sand. «Bettler!» knurrte er, «überall Bettler!» Ernesto, so hieß der Straßensänger, bückte sich nach dem Geld. Er hatte das Gespräch der beiden Ausländer nicht verstehen können, weil sie englisch redeten. Und Ernesto sprach und sang natürlich nur spanisch, wie die meisten Südamerikaner. Dankbar für das FünfPeso-Stück, wollte er noch ein Lied singen. Doch kaum hatte er die ersten Akkorde angeschlagen, als ihn der Mann anfuhr: «Du sollst verschwinden! Schluß! Basta!» «Basta», das verstand Ernesto. Das war Spanisch. Und eindeutig war es auch. «Die verstehen eben nichts von richtiger Musik, diese Yankees, diese vollgefressenen Nordamerikaner», dachte er. Ernesto ließ sich nichts anmerken und stapfte erhobenen Hauptes durch den Sand davon. Er ging am Wasser entlang in Richtung Hotel. Schon aus der Ferne sah er vor dem Hotelstrand zwei Kinder im Wasser mit einem Ball spielen.
«Verrückte», dachte Ernesto verächtlich. «Alle gleich, diese Ausländer.» Er mochte die Ausländer nicht. Die kamen her und taten so, als gehöre alles ihnen. Als Ernesto näher kam, erkannte er, daß eines der beiden Kinder, die da im Wasser kreischten, gar kein Ausländer war. Das war doch Pancho, sein kleiner Bruder! «Pancho!» rief Ernesto. «Bist du verrückt geworden? Bist du ein Fisch? Ein Wasserschwein? Oder ein Gringo? Komm da raus, du Hampelmann!» Ernesto war wirklich sauer. Er sang sich die Kehle heiser für ein paar Pesos, und sein Bruder spielte, statt Bananen zu verkaufen! «Wo sind die Bananen?» Pancho ließ sich nicht stören. Er wollte vor Cornelia beweisen, daß er sich von niemand herumkommandieren ließ. «Unter dem Liegestuhl auf der Terrasse!» schrie er fröhlich zurück. «Was?! Du hast sie noch nicht mal verkauft? Und da hoppst du mit diesem YankeeMädchen im Wasser rum?» Ernesto konnte nicht wissen, daß Cornelia ihn genau verstanden hatte. Sie wußte, daß die Südamerikaner zu den Leuten aus Nord-Amerika, aus den USA, Yankee sagten. Sie protestierte: «Ich bin aus Deutschland!» Ernesto stakste durch das flache Wasser um den Zaun herum. Er verbeugte sich übertrieben. «Oh! Señorita Mercedes Volkswagen persönlich! Welche Ehre!»
Ernesto war fast sechzehn und hatte nie eine Schule besucht. Aber soviel wußte er: Deutschland war irgendein Land auf der anderen Seite der Erde. Dort kamen diese Luxus-Autos her, die manchmal vor dem Hotel standen. Die hießen Mercedes. Mercedes ist ein spanischer Mädchenname. Und Volkswagen hatte er auch schon gesehen, diese komischen Autos, die aussahen wie große, eiserne Eier auf Rädern. Die stammten aus demselben Land. Pancho war aus dem Wasser gekommen. Die großen Männerhosen und das löchrige Unterhemd klatschten ihm an den Leib. Ernesto begann, ihn zu beschimpfen. «Santa Maria! Was hast du eigentlich im Kopf?!» Er patschte Pancho mit der flachen Hand vor die Stirn. «Hohl wie eine Kokosnuß! Sollen wir verhungern? Was soll Mama sagen?» Pancho wich ihm aus. «Ich hab doch verdient. Zwanzig Pesos! Die krieg ich fürs ins Wasser gehen.» Er lief zu Cornelia, die sich auf der Terrasse abtrocknete. Ernesto starrte ihm entgeistert hinterher. «Jetzt hat er einen Sonnenstich», dachte er, «oder das Wasser hat sein Gehirn aufgeweicht.» Aber da sah er, wie das blonde Mädchen seinem Bruder Geld in die ausgestreckte Hand legte. Immer noch ungläubig, näherte er sich den beiden. Stolz hielt ihm Pancho die Hand entgegen. Tatsächlich: zwanzig Pesos! Pancho grinste. «Was sagst du nun?» Das war
zu hoch für Ernesto. Cornelia streckte sich auf dem Liegestuhl aus. «Wenn du morgen wieder mit mir badest, kriegst du nochmal zwanzig Pesos», sagte sie zu Pancho. Eins war Ernesto klar. Die kleine Blonde schwamm nicht nur im Wasser, sondern auch im Geld. Das mußte er ausnutzen. Er schlug seine Gitarre an. «He! Señorita Volkswagen. Ich spiel dir, was du willst: lustige Lieder, traurige Lieder, Liebeslieder…» Er grinste. «Nur zwanzig Pesos das Lied.» Cornelia hatte die Augen geschlossen und antwortete nicht. Pancho wollte seinem Bruder helfen. «Wirklich, Cornelia, das mußt du dir anhören! Ernesto ist der beste Straßensänger der ganzen Welt!» Doch Cornelia ließ sich nicht erweichen. «Musik kann ich umsonst hören.» Sie drückte auf die Taste ihres Kofferradios, das neben ihr auf dem Tisch stand. Aus dem Lautsprecher plärrte ein Reklamelied für irgendeine Zahnpasta, die die Zähne weißer macht als weiß und den Atem duften läßt wie alle Wohlgerüche des tropischen Regenwaldes. Jedenfalls behauptete das der Sänger in seinem Lied. Ernesto verzog schmerzlich sein Gesicht und ließ die Gitarre sinken. Aus dem Halbdunkel der Hotelhalle trat der Kellner auf die Terrasse. Ernesto zog Pancho beiseite. Aber der Kellner beachtete die Brüder überhaupt nicht. Er baute sich vor Cornelia auf und machte einen förmlichen Diener.
«Señorita Cornelia, Ihr Vater bittet Sie zu Tisch.» Cornelia zog sich einen Bademantel über und folgte dem Kellner ins Hotel. In der Tür drehte sie sich noch einmal um und winkte Pancho zu. «Also bis morgen.» Kaum war Cornelia im Hotel verschwunden, als Claudio, der Kellner, wieder herausgeschossen kam und die Brüder anfauchte: «Jetzt macht ihr aber, daß ihr abhaut, ihr Lumpengesindel, sonst…» Pancho und Ernesto wußten aus Erfahrung, daß es besser war, jetzt das Feld zu räumen.
Ein Millionär in der Familie
Auf dem Weg durchs Dorf plapperte Pancho wie aufgezogen. Die Neuigkeiten, die er von Cornelia erfahren hatte, sprudelten aus ihm heraus. «Das mußt du dir vorstellen, Ernesto, die Stadt ist voller Riesenhäuser mit mehreren Stockwerken. Wie das Hotel, nur viel größer. Und nachts ist alles hell. Elektrisch. Und alles voller Autos. Die Leute haben alle Schuhe an und schwarze Anzüge aus feinem Stoff…» «Klar! Die Gringos», knurrte Ernesto. Er war verstimmt. Keiner wußte seine Musik zu schätzen. Jedenfalls keiner, der Geld hatte. Und der Kleine verdiente zwanzig Pesos fürs Planschen! Pancho war zu aufgeregt, um auf die schlechte Laune seines Bruders zu achten. «Nicht nur die Ausländer! In der Hauptstadt werden alle reich. Da zahlen sie zehn Pesos für eine Banane! Für eine!» Er hielt Ernesto seine fünf Bananen unter die Nase. «Da sind das hier fünfzig Pesos!» «Diese Mercedes hat dir ja total den Kopf verdreht!» «Cornelia», verbesserte Pancho. «Ob Cornelia oder Mercedes oder Volkswagen. Wen kümmert’s? Hier in Puerto Pobre kriegst du für die
Banane einen Peso, wenn du jemand findest, der sie kauft. Und die Stadt ist weit weg», sagte Ernesto nüchtern. Aber Pancho ließ sich nicht entmutigen. «Ich geh in die Stadt. Du wirst sehen. Und ich werde reich. Und dann komm ich zurück mit einem Berg von Geschenken. Ein schönes Kleid für Mama. Und dir bring ich eine weiße Jacke mit, wie sie die Kellner im Hotel anhaben, ganz vornehm. Juanita kriegt eine wunderschöne Puppe, und der kleine Pepito…» «…braucht Milchpulver!» unterbrach ihn Ernesto trocken. Sie waren vor der Tienda angelangt, dem kleinen Dorfladen. Ernesto hielt die Hand auf. Widerspruchslos gab Pancho dem Bruder seine zwanzig Pesos. Die Mutter hatte ihnen aufgetragen, Milchpulver mitzubringen für das Baby, wenn sie genug verdienen würden. Milch gab es in Puerto Pobre kaum. Und wenn, war sie zu teuer. Deshalb bekam der Kleinste in Wasser angerührtes Milchpulver, damit er nicht krank wurde. Stumm verschwand Ernesto im Laden. Pancho starrte ihm hinterher, ohne ihn zu sehen. Vor seinen Augen tanzten die bunten Lichter der Stadt. Pancho träumte, trotz gleißender Sonne.
Ihre Hütte stand etwas außerhalb des Dorfes direkt am Hang. Dahinter stiegen die vom Urwald
überwucherten Berge steil an. Jetzt war es still. Die Papageien und Affen, deren Schreien und Schnattern am frühen Morgen und im Schatten des Nachmittags die Luft erfüllte, waren verstummt. Eigentlich bestand die Hütte, in der Pancho und Ernesto mit der Mutter, den beiden kleineren Geschwistern und der alten Großmutter lebten, nur aus einem Raum. Die Wände waren aus alten Brettern und geflochtenen Zweigen. Das Dach aus getrockneten Palmenblättern schützte nur unvollkommen gegen die heftigen Güsse in der Regenzeit. Aber die war glücklicherweise nur kurz. Meist lebte die Familie draußen. In die Hütte ging man nur zum Schlafen. Unter dem Vordach saß die weißhaarige Großmutter und schaukelte Pepito, den Kleinsten, auf den Knien. Juanita, Panchos jüngere Schwester, war nicht zu sehen. Die Mutter hockte vor der Feuerstelle aus übereinandergeschichteten Steinen. Im eisernen Topf brodelten dicke, rote Bohnen. Auf einem Stück Blech daneben brieten Tortillas, brotähnliche Fladen aus Maismehl. Als sie ihre beiden Söhne näherkommen sah, runzelte die Mutter besorgt die Stirn. Sie hatte die Bananen in Panchos Hand entdeckt und befürchtete, daß er nichts eingenommen hatte. Die Familie war angewiesen auf die wenigen Pesos, die die Jungen verdienen konnten. Zwar nahm auch die Mutter jede Gelegenheitsarbeit an, die sie bekommen konnte, aber es gab nicht viel Arbeit in
Puerto Pobre. Ihr Mann war vor langer Zeit losgezogen, um irgendwo Arbeit zu finden. Seitdem hatten sie nichts mehr von ihm gehört. Der kleine Pepito hatte seinen Vater noch nie gesehen. Er war jetzt zwei Jahre alt. Als ihr Ernesto das Milchpulver gab, hellte sich das Gesicht der Mutter wieder auf. Und als Pancho ihr von Cornelia erzählte und von den zwanzig Pesos fürs Baden, lächelte sie sogar. Sie häufte einen großen Löffel scharf gewürzter Bohnen auf eine Tortilla und gab sie Pancho. Ernesto bediente sich selbst. Bohnen und Tortillas. Das war das übliche Essen. Manchmal ein Fisch, den Ernesto fing, aber in der Bucht gab es wenig Fische. Da mußte man schon weiter rausfahren. Pancho schlang sein Essen heißhungrig herunter, hörte aber nicht auf zu reden. «In der Stadt krieg ich zehn Pesos für eine Banane! Da werden wir reich!» Ernesto lachte ihn aus: «Na endlich ein Millionär in der Familie!» Aber Pancho ließ sich nicht beirren. Er war entschlossen, in der Stadt sein Glück zu versuchen. Die anderen ließen ihn reden. Er würde schon wieder zur Vernunft kommen. Die Mutter wußte, daß sie ihre Söhne eines Tages ziehen lassen mußte. Auch die Kleinsten würden größer werden. Wie sollte sie sechs ausgewachsene Mägen füllen? Aber daran wollte sie jetzt nicht denken. Noch nicht.
«Schluß jetzt!» unterbrach sie Panchos Redeschwall und drückte ihm einen Plastikkanister in die Hand. «Geh Wasser holen und hör auf zu träumen!»
Cornelia saß mit ihrem Vater auf der Hotelterrasse beim Abendessen. Sie hatte sich feingemacht und ihr hellblaues Sommerkleid angezogen. Ihr Vater trug einen weißen Anzug. Seit sie in Südamerika wohnten, mußte sich Cornelia immer zu den Mahlzeiten umziehen. «Das ist hier so üblich», hatte der Vater behauptet. Sie mußte an Pancho denken und gluckste. Der zog sich noch nicht mal um, wenn er ins Wasser ging. Erst hatte es Schildkrötensuppe gegeben, dann einen Salat aus tropischen Früchten. Zu einem riesigen Steak mit scharfer Soße hatte es gebackene Bananen gegeben – die Cornelia nicht mochte – und Reis mit Mandeln. Dazu Tomatenscheiben in Zitronensaft und Öl. Jetzt rührte Cornelia wütend in ihrem Nachtisch herum: eine Riesenportion Eis mit Sahne und Früchten. Der Vater zog ärgerlich an seiner Zigarre und nippte an seinem Kaffee. «Laß das», sagte er schließlich. Cornelia warf den Löffel auf den Tisch und lehnte sich zurück. «Du hast gesagt, wir bleiben eine Woche! Jetzt sind wir gerade drei Tage hier, und du willst schon wieder weg!» Cornelia sah ihren Vater böse an. Direktor
Groteberg versuchte, seiner Stimme einen freundlichen Klang zu geben. «Sieh das doch ein», warb er bei seiner Tochter um Verständnis. «Von wollen kann doch keine Rede sein. Was kann ich dafür, wenn in diesem Land die Telefonverbindungen so saumäßig sind? Heute habe ich vier Stunden auf eine Verbindung nach Hamburg gewartet. So geht das nicht. Das kann ich vor der Firma nicht verantworten. Wir müssen zurück nach Santa Basura.» Cornelia blieb bockig. «Du hast aber gesagt, wir bleiben eine Woche!» Herr Groteberg holte tief Luft und bemühte sich, ruhig zu bleiben. «Sag mal, hörst du mir überhaupt zu? Ich habe dir doch gerade erklärt…» «Aber gerade jetzt, wo es anfängt Spaß zu machen», maulte Cornelia dazwischen. Ihrem Vater riß der Geduldsfaden. «Wir fliegen morgen früh, und damit basta!» polterte er. «Die Arbeit geht nun mal vor. Du kannst auch zu Hause baden!» «Ja, alleine! In unserem Scheiß-Swimmingpool!» Direktor Groteberg stand auf und stieß heftig den Stuhl zurück. «Jetzt langt’s mir aber! – Servieren Sie mir noch einen Kaffee und einen Cognac in der Halle!» rief er im Vorbeigehen einem Kellner zu und verschwand im Hotel, ohne seine Tochter noch einmal anzusehen.
Cornelia wollte vor Wut heulen. Aber das verschob sie auf später, weil zu viele Kellner um sie herumstanden. Zur selben Zeit saßen Pancho, Juanita, die Mutter und die Großmutter mit dem kleinen Pepito vor der Hütte. Sie klatschten im Takt der Musik, die Ernesto auf seiner Gitarre spielte. Einige Nachbarn waren gekommen und begleiteten ihn auf selbstgebastelten Musikinstrumenten; auf Trommeln aus Kisten und Eimern oder Rasseln aus Konservendosen. Ernesto sang die Strophen eines bekannten Liedes, und alle fielen in den Refrain ein. Die untergehende Sonne färbte den Himmel hinter den Bergen rot. Die Schatten wurden länger und krochen zum Meer hinunter. Die Musik zauberte Fröhlichkeit auf die braun gegerbten Gesichter, und alle Sorgen des Tages schienen weit weg. Nur Pancho saß stumm an den Stamm einer Palme gelehnt und schnitzte versunken an einer Bambusflöte. Mit seinen Gedanken war er in der Stadt. Immer wieder rechnete er. Wenn er zehn mal zehn Bananen hätte, und für jede bekam er zehn Pesos… So weit konnte Pancho gar nicht rechnen. Solche Summen waren in seinem Leben noch nicht vorgekommen. Er wußte nur, daß es ein Haufen Geld sein mußte. Und daß er die ganze Familie damit ernähren würde. Hinter der Hütte standen zwei kräftige Bananenstauden. An einer hing ein großes Büschel
halbreifer Bananen. Das waren mindestens zehn mal zehn Stück. Die würden nachreifen auf dem Weg in die Stadt. Wie weit mochte es wohl sein nach Santa Basura? Ein Tag, zwei, drei? Oder eine ganze Woche? Vielleicht fand er sogar ein Auto, das ihn mitnahm? Und wo verkauft man Bananen in einer so großen Stadt? Sicher gab es da auch Wächter und Polizisten, die einen vertreiben wollten. Er mußte Cornelia noch viel fragen. Morgen würde er für zwanzig Pesos mit ihr baden und sie aushorchen. So würde sie ihm sogar helfen, seine Zukunft zu planen. Pancho fand, daß er ein Glückspilz sei. Der Strand vor dem Hotel war wie leergefegt. Es war noch früh am Morgen, aber Pancho hatte gehofft, daß Cornelia schon auf ihn wartete. Jetzt war die schönste Zeit zum Baden, fand er. Ob im Hotel noch alle schliefen? Claudio, der Kellner, stand auf der Hotelterrasse und wiegte sich gelangweilt auf den Zehenspitzen. Pancho faßte sich ein Herz und rief über den Zaun: «He, Señor! Ist die Señorita aus Deutschland schon auf?» Der Kellner lachte schadenfroh. «Auf die kannst du lange warten!» Er wandte hochmütig seinen Blick ab. Aber Pancho ließ nicht locker. «Wieso? Wo ist sie denn?» Claudio genoß es, sich für die Abfuhr zu rächen, die ihm Cornelia vor Pancho erteilt hatte. «Weg ist sie! Sie reisen gerade ab. Aus der Traum! Und jetzt
verdufte hier, sonst mach ich dir Beine!» Pancho fühlte die Enttäuschung in sich aufsteigen. Sein ganzer schöner Plan zerplatzte wie eine Seifenblase. Claudio kostete seinen Sieg aus. «Wenn du dich beeilst, siehst du sie noch ins Flugzeug steigen. Kannst ihr ja winken!» Er verzog sein Gesicht zu einem höhnischen Grinsen. Pancho drehte sich wortlos um und rannte los. Das war seine letzte Chance! Er kannte den kleinen Flugplatz am anderen Ende des Dorfes. Er hatte oft am Zaun gestanden und beobachtet, wie die kleinen, schnittigen Flugzeuge landeten. Sie brachten Gäste fürs Hotel. Denn den meisten Fremden war die Autofahrt von Santa Basura nach Puerto Pobre zu beschwerlich. Die Gäste kamen im eigenen oder gemieteten Flugzeug und mit Hubschraubern.
Als Pancho beim Flugplatz ankam, klopfte sein Herz bis zum Hals. Er lief am Zaun entlang und suchte nach Cornelia. Der Flugplatz war nicht mehr als ein glatter Sandstreifen, der als Landebahn diente. Am Eingang stand eine Wellblechbaracke und daneben ein Unterstellplatz für die Flugzeuge. Die Maschinen durften nicht zu lange in der Sonne stehen, sonst heizte sich ihr Innenraum auf wie ein Backofen. An einem Mast hing ein gestreifter Luftsack, der den Piloten anzeigen sollte, woher der Wind wehte. Pancho erreichte das Tor. Es war verschlossen. Vor
der Baracke parkte eine schwarze amerikanische Limousine mit verhängten Fenstern. Pancho kannte das Auto. Es gehörte dem Hotel. An der Startbahn stand ein kleines, rot-weißes Flugzeug. Die surrenden Propeller blinkten in der Sonne. Der Hotelchauffeur stieg mit zwei Koffern eine kleine Treppe hinauf und verschwand durch die Luke im Bauch des Flugzeugs. Wahrscheinlich saßen Cornelia und ihr Vater schon drin und warteten auf den Abflug. Pancho ließ mutlos den Kopf sinken. Er war wohl doch zu spät gekommen. Doch da trat ein Mann in einem weißen Anzug aus der Baracke und eilte zielstrebig auf das Flugzeug zu. Unwillig folgte ihm Cornelia. Pancho stieß einen kurzen scharfen Pfiff aus. Cornelia blickte sich um und entdeckte Pancho. Der winkte ihr aufgeregt zu. «Cornelia! Nun beeil dich ein bißchen!» drängte Direktor Groteberg. Pancho war zur Seite gesprungen, als Cornelias Vater sich umdrehte. Er kauerte im Schatten der Baracke, so daß Herr Groteberg ihn nicht sehen konnte. Cornelia kniff die Beine zusammen. «Ich muß mal, bin gleich wieder da.» «Aber dann mach schnell!» Cornelias Vater lief weiter zum wartenden Flugzeug. Cornelia rannte um die Baracke herum zum Zaun. Hier konnte ihr Vater sie nicht sehen. «Dabei hat er mir versprochen, daß wir eine Woche bleiben», erzählte sie Pancho sauer.
Pancho wußte nicht, was er sagen sollte. Er seufzte. «Schade.» Cornelia nickte. «Ja, schade.» Sie sahen sich verlegen an. Pancho kramte in seinen weiten Hosen und zog die Flöte hervor, die er gestern abend aus Bambus geschnitzt hatte. Er blies ein paar traurige Töne. Dann steckte er die Flöte durch den Maschendraht. «Hier, die ist für dich. Hab ich selbst gemacht.» Cornelia lächelte Pancho an und nahm die Flöte. Sie setzte sie an die Lippen und pustete kräftig hinein. Es kam ein häßlicher, hoher Piepston heraus. «Nicht so stark! Du mußt ganz zart pusten», verriet ihr Pancho. Cornelia versuchte es, aber es gelang ihr nicht. Sie versprach zu üben. «Jedenfalls ist das ganz lieb von dir. Danke», sagte sie. Da platzte Pancho heraus: «Du, ich komm’ auch in die Stadt!» Cornelia machte ein erstauntes Gesicht. «Du? Wann denn?» Pancho strahlte sie an. «Morgen früh geh ich los.» «Zu Fuß?» «Was sonst?» Cornelia konnte sich das schlecht vorstellen. Aber Pancho ließ sich nicht beirren. «Können wir uns treffen in Santa Basura?» Cornelia gefiel die Idee, Pancho in der Stadt wiederzusehen.
«Klar!» sagte sie. «Am besten, du kommst zu mir nach Hause. Avenida Franklin, Nummer hundert.» Pancho wiederholte die Adresse ein paarmal, um sie sich fest einzuprägen. «Aber nachmittags. Vormittags bin ich in der Schule», erklärte Cornelia. Sie hatte zwar noch ein paar Tage Ferien. Aber sie glaubte nicht, daß Pancho so schnell kommen würde. Pancho sah sie bewundernd an. «Du gehst zur Schule?» Cornelia wurde ungeduldig. «Du, ich muß jetzt los. Mein Vater wartet. Also dann: bis bald, ja?» Sie winkte Pancho zum Abschied zu. «Hasta luego, bis bald!» rief ihr Pancho hinterher. Er beobachtete noch, wie Cornelia über den Platz lief und im Flugzeug verschwand, dann machte er sich auf den Heimweg. «Avenida Franklin, Nummer hundert», murmelte er vor sich hin. «Avenida Franklin, Nummer hundert…»
Als Pancho am nächsten Morgen leise aus der Hütte kroch, war die Sonne noch nicht aufgegangen. Nur über dem Meer kündigte ein heller Streifen am Horizont den kommenden Tag an. Pancho schlich sich hinter die Hütte und säbelte mit einem großen Messer ein mächtiges Büschel Bananen von der Staude. Vorsichtig wickelte er es in einen alten Sack ein. Da hörte er ein Geräusch.
Behutsam ließ er das schwere Bananenbüschel zu Boden und ging leise um die Hütte, um nachzusehen. Fast stieß er mit Ernesto zusammen, der ihm entgegenkam. «Ach, du bist es», brummelte Ernesto schlaftrunken. «Ich dachte, Monos.» Manchmal wagten sich die kleinen Affen, die man hier Monos nannte, am frühen Morgen bis an die Hütte heran und machten sich über die Bananen her. «Nein, nein, alles in Ordnung!» beruhigte Pancho den Bruder. «Was kriechst du eigentlich so früh schon hier rum?» fragte Ernesto verwundert. «Pssst!» Pancho hatte Angst, daß Ernesto die anderen aufwecken würde. «Ich geh in die Stadt», verriet er flüsternd dem Bruder. Ernesto lachte auf. «Na, großartig!» Er mußte gähnen. «Sei aber pünktlich zum Essen zurück!» spottete er. «Ich hau mich jedenfalls noch mal hin.» Ernesto verschwand in der Hütte. Pancho war ganz froh, daß er ihm nicht geglaubt hatte. Sonst hätte er womöglich die Mutter alarmiert. Das schwere Bananenbündel auf seinen mageren Schultern, marschierte Pancho los. Auch im Dorf war niemand auf den Beinen. Nur zwei Hunde hefteten sich bettelnd an seine Fersen. Doch als Pancho sie anzischte, suchten sie mit eingezogenem Schwanz das Weite. Als Pancho das Dorf verließ, sah er, wie
gerade die Sonne wie ein gewaltiger Feuerball aus dem Meer zu steigen begann.
Die Bananen schienen immer schwerer zu werden. Pancho wußte nicht, wie lange er schon gelaufen war. Die Sonne stand schon ziemlich hoch. Es mußte bald Mittag sein. An einem zerfallenen Reklameschild machte Pancho Halt und setzte die Bananen ab. Die riesengroße, lächelnde Señora auf der verblaßten Werbetafel streckte Pancho ein Glas mit einem roten Getränk entgegen, in dem Eiswürfel schwammen. Er merkte, wie durstig er war. Die Sonne brannte ihm auf den Kopf. Pancho zog sein Hemd aus und wickelte es sich zu einer Art Turban. Tapfer schulterte er seine Bananen und setzte seinen Weg fort. Plötzlich stach ihn ein widerlicher Geruch in die Nase. Ein paar Meter vom Straßenrand sah er zwei Geier auf einem Kadaver hocken. Wahrscheinlich ein verendeter Hund oder ein Schwein. Pancho hielt sich die Nase zu und beeilte sich. In der Ferne brummte ein Motor. Pancho drehte sich um. Erst sah er nur eine Staubwolke. Als sie näherkam, erkannte Pancho einen Lieferwagen, der durch die Schlaglöcher rumpelte. Pancho schickte ein Stoßgebet zur Heiligen Jungfrau und winkte. Er schloß die Augen. Er wollte nicht mit ansehen, wie das Auto vorbeifuhr. Da quietschten die Bremsen neben ihm. Überglücklich riß Pancho die
Augen wieder auf. Der bärtige Fahrer beugte sich aus dem Führerhaus. «Wo soll’s denn hingehen, Kleiner?» «Nach Santa Basura!» «Da hast du dir ja was vorgenommen.» Der Bärtige schmunzelte. «Ein Stück kann ich dich mitnehmen. Los, steig auf.» Der Beifahrersitz war ausgebaut. Pancho mußte auf die Ladefläche klettern. Er bedankte sich überschwenglich. Der Fahrer winkte ab. «Schon gut.» Mit einem Ruck fuhr der Wagen an. Pancho hielt seine Bananen mit beiden Armen im Schoß, um sie vor Stößen zu bewahren. Die Landschaft schien rasend schnell vorüberzufliegen. Pancho war noch nie in einem Auto gefahren und wollte jede Sekunde dieses neuen Abenteuers genießen. Aber das Schaukeln des Wagens und das eintönige Brummen des Motors machten ihn immer müder. Schließlich fielen ihm die Augen zu, und er schlief ein.
«Ich kann ihn nicht finden, Mama. Im Dorf ist er nicht. Und beim Hotel auch nicht. Keine Spur von ihm.» Ernesto machte eine hilflose Handbewegung. Die Mutter stand mit geschürztem Rock im seichten Fluß. Im Wasser weichten Wäschestücke. Sie fischte ein Hemd heraus und klatschte es zornig auf einen Felsen, der aus dem Wasser ragte. Dann richtete sie sich auf, hielt sich ihren schmerzenden Rücken und
funkelte Ernesto an. «Dann ist er wirklich in die Stadt. Wie konntest du ihn nur gehen lassen?! Hast du denn nur Stroh in deinem unseligen Dickschädel?!» Ernesto verteidigte sich kleinlaut: «Ich hab gedacht, er macht nur Spaß.» «Spaß? Findest du das etwa spaßig?» Die Sorge der Mutter um Pancho entlud sich in einem lautstarken Wortschwall, der sich wie ein Tropengewitter über Ernesto ergoß. Die Mutter wischte sich mit dem Unterarm über die Augen, dann sah sie Ernesto ernst an. «Du wirst ihn zurückholen!» «Aber wie denn, Mama?» jammerte Ernesto schuldbewußt. «Lauf ihm nach und bring ihn wieder her. Los, worauf wartest du noch?» Ernesto ließ den Kopf hängen. «Und wenn er in der Stadt ist?» Die Mutter blieb hart. «Wenn er es bis in die Stadt schafft, wirst du es ja wohl auch können.» Unlustig trottete Ernesto los. Dann drehte er sich noch einmal um. «Und wie soll ich ihn da finden?» Die Mutter stand breitbeinig mit den nackten Füßen im Wasser und hatte die Fäuste in die Hüften gestemmt. Ihr Gesicht war unnachgiebig. «Ohne ihn brauchst du gar nicht erst zurückzukommen.» Ernesto seufzte und schlurfte mutlos durch den Sand zur Hütte.
Ohne das Geschnatter der kleinen Geschwister zu beachten, hängte er sich die Gitarre um und schnitt sich ein paar Bananen von der Staude als Reiseproviant. Dann machte er sich auf den Weg. «Na warte, Brüderchen!» brummte er in sich hinein. «Wenn ich dich erwische, reiß’ ich dir den Kopf ab!»
Mach die Augen zu – was du dann siehst, ist deins
Der Lastwagen hielt mit einem Ruck. Pancho erwachte unsanft. Automatisch griff er nach seinen Bananen, die ihm von den Knien gerutscht waren. Schlaftrunken schaute er sich um. Der Lieferwagen stand vor einem flachen Holzhaus. Im Schatten des leicht überhängenden Daches hockten ein paar Männer und lachten. «Endstation», rief der Fahrer Pancho zu und verschwand durch die Tür. «Heilige Jungfrau, steh mir bei!» rief einer der Männer. Er war dünn wie eine Bohnenstange und hatte nur zwei Schneidezähne. Einen unten und einen oben. «Bananen!» brüllte er. «Ich werd’ verrückt, Bananen!» Die anderen brüllten vor Lachen. Ein kleiner Dicker mit einem schwarzen Schnauzbart und einem ausgefransten Sombrero, japste nach Luft. «Lange keine Bananen mehr gesehn», kicherte er. «Wo hast du denn die geklaut?» Pancho umklammerte verständnislos seine Bananen. «Das sind meine.»
Die Männer antworteten mit schallendem Gelächter. «Natürlich», rief der Dünne mit den zwei Zähnen. «Dann gehört dir wohl die Plantage.» Er machte eine komische Verbeugung vor Pancho und grinste seinen Kollegen zu. «Leute, vor euch steht die Company!» Pancho kletterte von dem Lieferwagen herunter. Er verstand nicht, worüber die Männer lachten. «Ich heiße Pancho», sagte er unsicher. «Ach so», blökte der Dünne. «Also: Pancho Company!» Ein alter Weißhaariger, der neben ihm saß, wackelte grinsend mit dem Kopf. «Und da sagen die Leute immer, die Company gehört den Ausländern. Da seht ihr selbst: alles Lüge! Oder ist Pancho etwa keiner von uns?» Wieder wieherten die anderen los. Nur ein junger Indio lachte nicht mit. Er war etwa in Ernestos Alter. Durch die Löcher in seinem Hemd sah Pancho, daß er sehr stark sein mußte. Er hatte ein dunkelbraunes Gesicht und blauschwarzes, glattes Haar. Aus seinen schwarzen Augen warf er Pancho einen freundlichen Blick zu. «Laßt ihn in Ruhe!» sagte er zu seinen Kameraden, die sofort verstummten. Dann fragte er Pancho: «Zu wem willst du denn?» «Ich will in die Stadt», antwortete Pancho erleichtert. «Nach Santa Basura.» Er wies auf den Lastwagen. «Er hat mich ein Stück mitgenommen. Wo bin ich hier überhaupt?»
«Auf einer Bananenplantage.» Erst jetzt sah Pancho, daß der Wald hinter der Baracke ein Bananenwald war. Endlose Reihen von Bananenstauden, bis zum Horizont. Rechts, links, vor ihm, hinter ihm: Bananen, Bananen, Bananen. Pancho hatte noch nie so eine Pflanzung gesehen. Der Indio lächelte. «Und ausgerechnet hierher bringst du deine Bananen.» Pancho konnte es nicht fassen. «Könnt ihr denn die alle verkaufen, eure Bananen?» «Unsere Bananen?» Die Männer lachten. Aber es klang gar nicht fröhlich. «Kommst du vom Mond, Kleiner? Hier gehört alles der Company.» «Und ihr?» fragte Pancho verwirrt. «Wir auch.» Pancho mußte lachen. «Aber das geht doch nicht.» Doch der Dunkelhäutige lachte nicht mit. Er erklärte Pancho, daß sie alle für die Bananen-Gesellschaft arbeiteten, die sie nur kurz: ‹die Company› nannten. Pancho dachte, daß sie doch froh sein mußten, Arbeit zu haben. Aber dann hörte er, daß die meisten auch auf der Plantage in einem Hüttenlager wohnten. Immer zu zehnt in einer Hütte. Für die Unterkunft mußten die Männer an die Company zahlen. Weit und breit gab es kein Dorf, und die Arbeiter kamen aus allen Teilen des Landes. Der Laden, vor dem sie standen, gehörte auch der Company und war teurer als die Geschäfte anderswo. So mußten sie das Geld, das sie bei der Company verdienten, gleich wieder bei der Company ausgeben.
«Da bleibt nicht viel übrig», sagte der Indio. «Meistens reicht es nur für ein paar Tage, bei dem Hungerlohn, den die uns zahlen. Da müssen wir eben Schulden machen im Laden. Also bei der Company. Um die Schulden zu bezahlen, müssen wir wieder arbeiten für die Company. Das dreht sich immer im Kreis. So kommt hier fast keiner mehr weg.» Pancho verstand langsam, was der andere gemeint hatte, als er sagte, sie gehörten der Company. Aber alles verstand er trotzdem nicht. «Was arbeitet ihr denn? Die Bananen wachsen doch von alleine.» Der Indio sah ihn etwas mitleidig aus seinen schwarzen Augen an. «Das ist aber auch das einzige, was von selbst geht, Kleiner.» Pancho reckte sich. Er konnte es nicht leiden, wenn man ihn ‹Kleiner› nannte. «Ich heiße Pancho.» Er versuchte, möglichst erwachsen zu klingen. Der Starke klopfte ihm auf die Schulter. «Ich bin Ramon. Komm mit, Pancho, ich zeig dir was.» Pancho trottete hinter Ramon her, der um das Holzhaus herumlief. «Laß deine Bananen hier liegen, Pancho. Hinter dieser Bude sucht keiner danach.» Pancho wollte sich nicht von seiner Last trennen. Aber Ramon bestand darauf: «Wenn du mit deinen
Bananen auf dem Buckel durch die Plantage latschst, was meinst du, was das für ein Geschrei gibt.» Pancho legte sein Büschel dicht an das Holzhaus und deckte es mit Blättern zu. Dann folgte er Ramon in den Bananenwald. Bananen, Bananen, Bananen! Pancho sank das Herz in die Hose. «Wenn die Bananen alle in Santa Basura verkauft werden, steh ich mit meinem einen Büschel ganz schön blöd da.» Ramon beruhigte ihn. «Von den Bananen hier triffst du in Santa Basura keine einzige wieder. Die gehen alle nach U. S.A. und Europa.» Sie kamen jetzt an Stauden vorbei, an denen die Bananenbüschel in durchsichtigen Plastikhüllen hingen. Pancho riß erstaunt die Augen auf. «Die haben ja Kleider an!» «Das kriegen alle Bananen hier verpaßt, damit sie keine Flecken bekommen oder von Käfern angeknabbert werden.» Ein Stück weiter schlugen Arbeiter die Bananenbüschel mit großen Messern ab und trugen sie ganz vorsichtig zu einer Drahtseilbahn, die durch die Plantage führte. Die Büschel wurden an Haken gehängt und schwebten davon. Pancho kam aus dem Staunen nicht heraus. «Das ist ja irre! Wo fliegen die denn hin?»
«Komm mit. Dann siehst du es.» Ramon und Pancho liefen der Bananenschwebebahn hinterher. Als ein freier Haken vorbeikam, hängte sich Ramon daran, zog die Beine an und ließ sich ziehen. Pancho erwischte auch einen leeren Haken und machte es Ramon nach. Rechtzeitig vor der Endstation sprangen sie ab. «Ist natürlich verboten, sich da anzuhängen», sagte Ramon. «Was Bananen dürfen, dürfen wir noch lange nicht.» Die Endstation der Bananenbahn war ein langgestrecktes Gebäude. Ramon zog Pancho hinein. «Komm, das mußt du dir ansehen.» Hier wurden die Bananen abgehängt, von den Plastikhüllen befreit und auf ein Fließband gelegt. Auf beiden Seiten standen Männer und Frauen, die die einzelnen Bananenhände – so nennt man die im Halbkreis zusammengewachsenen Bananen – von den Büscheln abtrennten. Diese Hände zogen auf dem Fließband weiter vorbei an ein paar Mädchen und Frauen, die einige Bananen herausgriffen und hinter sich in Körbe warfen. «Was machen die da?» wunderte sich Pancho. Ramon erklärte: «Die sortieren die schlechten aus.» «Wieso schlechte? Ich seh keine schlechten.» «Schlecht heißt hier: zu reif. Wenn die jetzt schon gelb sind, dann kommen sie in Europa als Matsch und Pampe an. Verstehst du?»
Pancho hörte kaum zu. Er war weitergelaufen, um zu sehen, wie die Bananen in ein Becken mit Wasser rutschten. Etwas weiter wurden die gewaschenen Früchte automatisch aus dem Bad gehoben und in der warmen Luft getrocknet. Dann kamen sie zu einigen Arbeiterinnen, die ihnen Papiermarken mit dem Namen der Company aufklebten. Ramon sagte: «Siehst du, Pancho, erst wenn eine Banane den Company-Orden bekommt, ist sie eine richtige Banane. Und schön grün muß sie sein. Deine gelben Dinger kannst du vergessen.» Pancho mußte lachen. Daß man mit Bananen soviel Getue machen konnte! Aber das war ja noch nicht alles. Die gewaschenen, getrockneten und beklebten Bananen wurden vom Fließband genommen und in Kartons verpackt. «Hier kommen sie ins weiche Bettchen, und ab geht die Reise.» Ramon belud einen Schubkarren mit vollen Bananenkartons. Die schob er zu einem Güterwagen vor dem Haus. Die Gleise der Bahn begannen direkt vor dem Ausgang. Pancho lief neben Ramon her. «Und jetzt?» rief er. «Was passiert jetzt?» «Jetzt fahren die Bananen mit der Eisenbahn in den Hafen von Santa Basura. Da kommen sie auf Kühlschiffe und schwimmen ab.» «Eine Eisenbahn nach Santa Basura?» fragte Pancho. «Ja. Aber glaub bloß nicht, daß du da mitfahren kannst. Die ist nur für Bananen da.»
«Banane müßte man sein», sagte Pancho. Ramon grinste. «Ja, aber ‘ne Company-Banane.» Ramon belud seinen Karren wieder mit Bananenkartons. «Ich muß jetzt wieder ran, Pancho. Mach’s gut. Findest du zurück?» «Klar. Adios, Ramon.» Pancho zog los. Es wurde ja auch Zeit, nach Santa Basura zu kommen. Mit jeder Stunde wurden seine Bananen reifer. Bis sie ganz reif waren, mußte er sie in der Stadt verkauft haben. Als Ramon am späten Nachmittag wieder zum Laden kam, fand er Pancho noch immer dort herumsitzen. «Nanu, bist ja immer noch da, Kleiner.» Pancho zuckte die Schultern. «Der Mann mit dem Auto will mich noch ein Stück mitnehmen, wenn ich auf ihn warte. Ich weiß auch nicht, wo die Straße nach Santa Basura ist. Ich hab doch geschlafen, als wir abgebogen sind.» Ramon fächelte sich mit seinem Strohhut Kühlung zu. Er schwitzte von der Arbeit. «Na schön, Panchito. Bis dahin trinken wir noch was. Komm, ich geb’ einen aus.» Ramon ging zum Laden. Der Verwalter stand in der Tür und sah ihn ärgerlich an. «Hier kriegst du nichts mehr, Ramon. Zahl erst mal seine Schulden.»
«Halt’s Maul, Pepe», sagte Ramon gleichgültig und schob den Mann beiseite. Er trat in den Laden. Der Verwalter lief hinterher. Pancho folgte den beiden. Im Laden öffnete Ramon eine Kiste, in der Bier- und Colabüchsen zwischen Eiswürfeln lagen. Ramon holte zwei Büchsen heraus. Pepe wollte sie ihm wegnehmen. «Du hast schon zwei Wochenlöhne Schulden bei mir», fuhr er Ramon an. Doch der sagte ganz ruhig: «Bei dir doch nicht. Bei der Company. Und der kannst du einen schönen Gruß von mir bestellen. Wenn sie mich besser bezahlt, muß ich nicht anschreiben lassen.» Ramon ging aus dem Laden und zog Pancho mit sich. Pepe kam ihnen nach. «Halt!» rief er. «Das laß ich mir nicht bieten. Das ist Diebstahl!» Ramon setzte sich in den Schatten und gab Pancho eine Büchse Cola. Er selbst riß sich die Bierbüchse auf. Dem wütenden Ladenverwalter rief er zu: «Du hast einen Sonnenstich, Pepe.» Inzwischen waren mehr Arbeiter zum Laden gekommen. Und als Pepe auf Ramon und Pancho losging, stellten sie sich zwischen die Streitenden. «Ramon hat gestohlen!» schrie er sie an. «Er hat’s ja noch in der Hand, und der kleine Strolch neben ihm auch.»
«Ein Bier und eine Cola», sagte Ramon, «die soll er anschreiben.» Jetzt kam ein Aufseher auf den Platz geritten. Pepe winkte ihn heran. «Alfonso! Die beiden haben im Laden gestohlen!» Ramon stand auf. «Komm, Pancho, laß uns lieber abhauen.» «Moment!» sagte der Aufseher. «Was ist hier los?» Er ritt zu Pancho und Ramon, wobei er mit der Reitpeitsche an seine Stiefel schlug. «Nichts ist los, Don Alfonso», rief Ramon. «Ich hab gesagt, Pepe soll’s anschreiben.» Er nahm Pancho die Cola aus der Hand und hielt die zwei leeren Büchsen Pepe hin. «Bitte sehr. Geben wir sie zurück.» «Auch noch frech werden?» schrie der Aufseher. «Und wer von euch hat die Bananen geklaut?» Pancho umklammerte sein Bananenbündel in der Decke. «Das sind meine Bananen, Señor.» Der Aufseher lachte. «Mach mal die Augen zu. Was du dann siehst, das ist deins. Ihr kommt beide mit. Los!» Ramon wurde wütend. Er riß dem Aufseher die Peitsche aus der Hand und hieb sie dem Pferd auf den Hintern. Das Tier machte einen überraschten Satz. Der Aufseher fiel herunter. «Schnell, Pancho, nichts wie weg!» Ramon zog Pancho in die Bananenstauden. Sie konnten gerade
noch sehen, wie der Aufseher den Revolver zog. Dann hetzten sie durch die Plantage. Drei Schüsse peitschten durch die Luft. «Warum – warum hast du das gemacht?» keuchte Pancho. «Ach, dieser verdammte Sklaventreiber. Irgendwann hat jeder mal die Schnauze voll. Sogar ich.» Der Aufseher hatte mit seinen Schüssen für Aufregung gesorgt. Zwei weitere Reiter kamen herangaloppiert. Auch ein Jeep mit drei bewaffneten Männern fuhr vor. Der Aufseher erteilte Befehle. «Wir werden ihnen den Weg abschneiden. Ihr fahrt auf dem kürzesten Weg zur Straße. Wir reiten durch die Plantage und kämmen sie durch.» Die Arbeiter, die immer noch vor dem Laden herumstanden, wurden zornig. «Was soll diese alberne Verfolgungsjagd wegen einem Bier und einer Cola?» fragte einer. «Die Bananen gehören dem Jungen. So was sieht doch ein Blinder mit dem Krückstock. Die waren doch schon gelb!» Wieder zog der Aufseher seine Pistole. «Mischt euch nicht ein! Macht, daß ihr an die Arbeit kommt! Sonst könnt ihr was erleben!» Pancho und Ramon konnten kaum noch japsen, als sie die Straße nach Santa Basura erreichten. «So, da sind wir erst einmal», schnaufte Ramon. «Und da geht’s in die Stadt.»
«Ob sie uns nachkommen?» fragte Pancho. «Ich hoffe nicht.» In der Ferne hörten sie das Brummen eines Autos. Pancho dachte an den Bärtigen im Lieferwagen. «Vielleicht nimmt uns das Auto mit.» Er stellte sich an die Straße und winkte. «Verdammt! Laß das!» schrie Ramon plötzlich. «Das ist der Jeep von der Plantage. Hau ab, Kleiner. Los! Renn, so schnell du kannst, und versteck’ dich!» Pancho sah sich um. Weit und breit gab es nichts, wo er sich verstecken konnte. Er rannte einfach los. Als er nicht mehr konnte, ließ er sich ins Gras fallen. Er sah vorsichtig auf. Ramon war in eine andere Richtung gelaufen. Der Jeep verfolgte ihn über das holprige Gelände neben der Straße. Das Auto machte einen Bogen um Ramon und verstellte ihm den Weg. Zwei Aufseher sprangen vom Wagen, packten den um sich schlagenden Ramon, prügelten auf ihn ein und warfen ihn in den Jeep. Dann fuhren sie los. Pancho preßte sich so flach wie möglich an den Boden. Das Motorengeräusch wurde leiser. Pancho hob den Kopf. Der Jeep fuhr zurück zur Plantage. Pancho schossen die Tränen in die Augen. Er drückte seinen Bananen-Schatz fest an die Brust und stolperte blindlings durch das Gras. Auf die Straße traute er sich nicht zurück. In seinem Kopf hämmerte es: nur weg von hier! Seine Beine rannten wie von alleine. Plötzlich, fast übergangslos, wurde es dunkel. Pancho hielt keuchend an. Er zitterte, und
seine Füße waren auf einmal schwer wie Steine. Durch den Tränenschleier sah er einen Schatten vor sich liegen. Schleppend ging er darauf zu. Es war eine verfallene Bretterbude. Pancho kroch hinein, bettete vorsichtig seine Bananen in das struppige Unkraut und ließ sich erschöpft fallen. Sein Magen knurrte. Aber Pancho bemerkte es kaum noch. Er versank in einen tiefen, traumlosen Schlaf. Die Straße von Puerto Pobre nach Santa Basura führt durch das Städtchen San Barro. Als Pancho am nächsten Vormittag dort ankam, war gerade Markttag. In Puerto Pobre gab es keinen Markt. Nur einzelne Händler kamen ab und zu durch das Dorf. So etwas wie den Markt von San Barro hatte Pancho noch nie gesehen. Da gab es Stände mit allen Früchten, die er sich nur vorstellen konnte. Eine Frau bot sechs verschiedene Sorten von getrockneten Bohnen an. An einem Fleischstand hingen abgehackte Schweineköpfe, die aussahen, als würden sie Pancho zublinzeln. Gleich daneben war ein Stapel von Käfigen mit gackernden Hühnern. Es gab aber nicht nur eßbare Dinge auf diesem Markt. Da war ein Mann, der mechanisches Spielzeug verkaufte, Autos, die man aufziehen konnte, und Blechäffchen, die auf kleine Trommeln schlugen. Luftballons in allen Größen, Formen und Farben gab es und Girlanden aus buntem Papier, Fächer und Masken. Es gab auch Kleider, Hosen und Hüte, Schuhe und Sandalen, Töpfe und Pfannen, Musikinstrumente, Radios und
Kassettenrecorder. Auf einer einfachen Bühne aus rohen Brettern stand eine Gruppe von Musikern, die mit Trompeten, Gitarren, Trommeln und anderen Rhythmusinstrumenten eine Rumba spielten. Eine junge Frau in einem knallbunten Kleid und mit großen Ohrgehängen tanzte dazu. Die Leute standen um sie herum, klatschten nach dem Takt der Musik und sangen mit. An einer Straßenecke stand ein Feuerschlucker und ließ Stichflammen aus seinem Mund lodern. Am stärksten zog Pancho aber ein bestimmter Teil des Marktes an. Dort duftete es nach gedünstetem Fleisch, nach kräftiger Suppe, nach Hühnern vom Grill, nach gebratenen Fischen und Empanadas, diesen mit Fleisch oder Käse gefüllten Teigtaschen, die Pancho so sehr mochte. Aber wovon sollte er sie bezahlen? Vielleicht konnte er ein Tauschgeschäft machen. Pancho nahm seinen ganzen Mut zusammen und sprach den Empanadaverkäufer an: «Bananen, Señor?» Der Verkäufer sah auf Panchos Bananenbüschel, lachte und rief einem anderen Händler zu: «He, Eduardo, du hast Konkurrenz bekommen.» Dieser Eduardo hatte einen Stand, an dem er alle möglichen Bananen verkaufte. Bei ihm gab es auch die kleinen, besonders süßen und die mit der roten Schale, aber auch die großen, dicken, die man kochen muß und die dann wie Kartoffeln schmecken. Es paßte Eduardo überhaupt nicht, daß da ein Junge
hergelaufen kam und auch noch Bananen verkaufen wollte. Seine Geschäfte gingen schlecht genug, fand er. Er nahm eine verfaulte Banane aus dem Abfallkorb und warf sie Pancho ins Gesicht. «Hau ab, Drecksack!» schrie er. Die Banane zerplatzte, und der süßlich stinkende Brei lief Pancho über Backen und Kinn. Die Leute, die dabeistanden, lachten. Am lautesten lachte der Empanadaverkäufer. Pancho wischte sich das Gesicht ab. Dann schnappte er sich blitzschnell eine Empanada vom Teller des Händlers und rannte davon. Der Verkäufer lief ihm schimpfend hinterher. «Halt! Gib das zurück, du Dieb! Haltet ihn!» Ein paar Männer schlossen sich der Verfolgungsjagd an. Im Laufen stopfte sich Pancho die heiße Empanada in den Mund. Die sollte ihm niemand mehr wegnehmen. Die Männer kamen bedrohlich näher. Pancho sah sich um und entdeckte eine Kirche. Das große Portal stand weit und einladend offen. Mit ein paar schnellen Schritten flüchtete sich Pancho in den großen kühlen Kirchensaal. Die Männer, die ihm gefolgt waren, blieben am Portal stehen und berieten sich aufgeregt, aber mit gedämpften Stimmen, weil sie es gewohnt waren, in der Kirche nur zu flüstern. Pancho duckte sich zwischen zwei Holzbänke.
Er hörte Schritte aus der Richtung des Altars. Ein Priester in einem schwarzen Gewand, das ihm bis zu den Knöcheln reichte, kam auf die Gruppe der Männer zu. Der Empanandahändler schien ihn zu kennen. «Pater Vicente», rief er nun doch ziemlich laut durch die Kirche, «da ist ein Dieb. Er hat sich in die Kirche geflüchtet.» Pater Vicente sah sich um und schaute auch zwischen die Bänke. Schließlich entdeckte er Pancho. «Komm da raus!» befahl er. Pancho packte seine Bananen und ging langsam auf den Priester zu. «Gib zurück, was du gestohlen hast!» forderte der Pater ihn auf. Pancho schluckte. «Das geht nicht – ich habe – ich hatte Hunger.» «Er hat sie aufgefressen», stellte der Empanadaverkäufer wütend fest. «Wen?» fragte der Pater. «Meine Empanada. Er hat sie gestohlen und einfach aufgefressen. Er muß sie bezahlen.» Der Priester sah Pancho streng an. «Also?» «Ich hab kein Geld.» Der Händler versuchte, Pancho am Hemd zu packen. «Los, zur Polizei, du Dreckskerl!» Pancho riß sich los und lief einem zweiten Priester, der eben in die Kirche gekommen war, direkt in die Arme. Dieser Priester war älter als der andere und trug eine grüne
Schürze über seinem langen schwarzen Gewand. «Was ist denn los?» rief er. «Sind wir hier in einer Räuberhöhle?» «Man sollte es fast denken, Bruder Enrique», antwortete Pater Vicente und zeigte auf Pancho. «Dieser Dieb wollte sich in der Kirche verstecken.» «So? Was hat er denn getan?» Der Verkäufer begann wieder zu lamentieren: «Gestohlen! Empanadas! Entweder ich bringe ihn zur Polizei, oder ich nehme mir seine Bananen.» Pancho bekam einen Schreck. Er klammerte sich an den Priester, den der andere Enrique genannt hatte. «Bitte, Padre, nicht meine Bananen! Ich muß sie in die Stadt bringen.» «Wieviel Epanandas hat er denn genommen?» wollte Pater Enrique vom Empanadahändler wissen. «Genommen? Gestohlen hat er sie. – Eine.» «Das kostet?» «Fünfzehn Pesos.» Der Pater zog zwei Münzen aus der Schürzentasche und gab sie dem Händler. «Hier sind zwanzig. Und jetzt raus hier!» Der Verkäufer marschierte – gar nicht zufrieden, sondern ziemlich ärgerlich – aus der Kirche, gefolgt von seinen Freunden. Auch Pater Vicente ärgerte sich über seinen Kollegen. «Wie konnten Sie diese Leute so behandeln? Die waren doch im Recht. Und es sind unsere Gemeindemitglieder.»
«Was für ein Recht? Recht wäre es gewesen, einem hungernden Jungen die Empanada zu schenken.» «Aber er hat sie gestohlen. Das siebente Gebot…» «Bruder Vicente, er hungert, weil man ihn bestohlen hat, ihn wie unser ganzes Volk. Man nimmt diesen Menschen den ganzen Reichtum ihres Landes und bringt sie um die Früchte ihrer Arbeit.» Pancho verstand nicht, was der Priester meinte. «Arbeit?» erboste sich nun Pater Vincente. «Dieser kleine Straßenräuber und Arbeit?» «Lasset die Kindlein zu mir kommen…», hörte Pancho Pater Enrique noch antworten, als er aus der Kirche auf die Straße trat. Er machte nun einen großen Bogen um den Marktplatz und stieß erst weit hinter San Barro wieder auf die Straße nach Santa Basura.
Das soll die Stadt sein?
Staunend sah Pancho chromglänzende Straßenkreuzer fast lautlos vorbeirauschen. Ein knallbunt bemalter Lastwagen, dessen Kühler und Führerhaus mit Scheinwerfern und trompetenähnlichen Hupen bespickt war, bahnte sich unter vielstimmigem Hornklang seinen Weg. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite zuckelte ein Pritschenwagen vorüber, der so hoch mit Zuckerrohr beladen war, daß Pancho fürchtete, er würde jeden Augenblick umfallen. Obwohl Pancho winkte und schrie, hielt keiner an, um ihn mitzunehmen. Der Hunger meldete sich erneut, jetzt schon mit schmerzhaften Magenkrämpfen, doch Pancho kämpfte die Versuchung nieder, von seinen Bananen zu essen. Zehn Pesos würde er in der Stadt für eine Banane bekommen! Da wäre es Verschwendung, auch nur eine zu opfern. Weit konnte es nach Santa Basura nicht mehr sein. Und nach dem Verkauf seiner Bananen würde er sich den Bauch vollschlagen können. Plötzlich peitschte ein Schuß. Pancho fuhr herum. Hatten ihn die Plantagenaufseher etwa bis hierher verfolgt? Er wollte schon voller Panik querfeldein rennen, als ein zweiter Schuß knallte, diesmal näher.
Pancho wirbelte herum und sah ein uraltes Auto herankriechen. Er lachte erleichtert auf. Was er für Schüsse gehalten hatte, kam von diesem komischen Vehikel, dessen Motor hustete und spuckte. Durch den Auspuff entluden sich die Fehlzündungen wie Pistolenschüsse. Das abenteuerliche Gefährt mußte einmal ein Personenwagen gewesen sein. Doch jetzt war das hintere Oberteil abgesägt und eine Ladefläche aus Brettern aufgeschraubt. Die Windschutzscheibe fehlte, und wo die Scheinwerfer einmal gewesen waren, entdeckte Pancho nur rostige Löcher. Türen hatte das Monstrum auch keine mehr, aber es fuhr, wenn auch widerwillig. Als das Auto nun bockend vor ihm hielt, dachte Pancho erst: «Jetzt hat er seinen Geist aufgegeben», und lachte unwillkürlich. «Was lachst du denn so blöd?» brummte ihn der alte Mann hinter dem Lenkrad an. Er hatte ein sonnenverbranntes Gesicht mit tief eingegrabenen Falten, die aussahen, als kämen sie vom vielen Lachen. Pancho versuchte, ein ernstes Gesicht zu machen. «Ich lach doch gar nicht!» Jetzt grinste der Mann. «Nun steig schon ein.» Pancho kletterte schnell auf den Beifahrersitz. «Ich will in die Stadt.» Der Alte sah ihn einen Augenblick prüfend an, dann seufzte er: «Da wollen sie alle hin.»
Das Getriebe krachte, als er den Gang einlegte. Mit einem scharfen Ruck fuhr der Wagen an, und Pancho mußte sich festhalten, um nicht auf die Straße zu fallen. Mit der freien Hand umklammerte er seine Bananen. Mit großen Augen betrachtete Pancho die vorbeiziehende Landschaft. Die Straße führte durch eine ausgedörrte Steppe. Braunes, verbranntes Gras, soweit das Auge reichte. Nur einige mannshohe Kakteen unterbrachen hier und da das öde Einerlei. Dann fuhren sie über einen ausgetrockneten Fluß. An den Ufern des Flusses war es grüner. Bambus wuchs hier und dichtes Gestrüpp mit großen, dunkelroten Blüten. In der Ferne entdeckte Pancho sogar ein Dorf mit einer kleinen weißen Kirche. Das Dorf war halb hinter Bäumen und Palmen versteckt. Pancho mußte an Puerto Pobre denken, an die Mutter und die Geschwister. Auf der anderen Straßenseite erstreckte sich ein großer grüner Wald. Pancho stieß aufgeregt den Fahrer an. «Eine Bananenplantage!» Doch der alte Mann sah gar nicht hin. Er zerdrückte einen Fluch zwischen den Zähnen. «Gehört die Plantage auch der Company?» fragte Pancho. Der Mann spuckte aus. «Das ganze Land gehört der Company», antwortete er grimmig und sah starr vor sich auf die Straße. Nach einer Weile veränderte sich die Landschaft. Aber was
hieß da Landschaft? Die Gegend sah jetzt mehr aus wie eine breit gestreute Müllkippe: Ausgebrannte Autowracks, Berge von leeren Konservendosen und Plastiktüten mit Abfall, in denen halbverhungerte Hunde wühlten. Dazwischen standen erbärmliche Hütten, aus Autoteilen, Plastikplanen und plattgeschlagenem Blech zusammengeflickt. Vor einer dieser Hütten stand eine alte Frau und hängte löchrige Wäsche auf eine Leine. Je weiter sie fuhren, desto dichter standen die armseligen Hütten. Bis sie schließlich zusammenwuchsen zu einem trostlosen Meer von rostigen Dächern, das sich bis zum Horizont erstreckte, der in einer bräunlichen Dunstglocke verschwamm. Dann erkannte Pancho in der dunstigen Ferne erst schemenhaft, dann immer deutlicher, Hochhäuser. Schlanke Türme wie aus Kristall, die stolz das schmutzige Gewühl der Elendshütten überragten. «Die Stadt!» rief Pancho aufgeregt. «Ich seh die Stadt!» Fast wäre er aus dem Auto gefallen, das gerade in dem Augenblick durch ein Schlagloch rumpelte. «Die Stadt? Wir sind längst in der Stadt. Das da vorn ist nur das Zentrum.» Pancho forschte ungläubig in dem runzligen Gesicht des Fahrers. Wollte der ihn verkohlen? Diese elenden Bruchbuden sollten die Stadt sein? Die Hauptstadt? Santa Basura? Der alte Mann lächelte nachsichtig. «Das hier ist das eigentliche Santa Basura. Hier leben
die meisten Menschen. Das Glitzerding da vorne, das ist für die anderen.» Pancho verstand nicht. Er musterte zweifelnd die Gestalten zwischen den traurigen Holz- und Blechbuden. Sie standen oder hockten tatenlos herum und schienen Löcher in die Luft zu starren. Nur die kleinsten Kinder tobten quiekend und schreiend durch das Gerumpel. «Arbeiten die denn nicht?» Pancho dachte daran, wie Cornelia ihm die Stadt beschrieben hatte. Davon hatte sie ihm nichts gesagt. «Arbeiten?» Der Mann lachte, aber seine Augen blieben ernst. «Hier gibt’s keine Arbeit.» «Aber…» stotterte Pancho, «… aber was wollen sie denn dann hier?» «Du bist doch auch hergekommen.» «Ich hab ja auch etwas zu verkaufen. Meine Bananen!» Pancho schlug die Decke zurück und ließ den Mann die gelben Früchte sehen. Der Mann schaute sie kaum an. «Träume hast du.» Er zeigte auf die Hütten am Straßenrand. «Genau wie die hier, als sie kamen.» Pancho zuckte mit den Achseln. «Dann haben die eben Pech gehabt.» Der alte Mann spuckte verächtlich aus dem Fenster. «Pech! Du hast ja keine Ahnung!» Ernesto hatte Glück gehabt. Ein Wagen aus Santa Basura, der das Hotel mit Fleisch belieferte, nahm ihn auf dem Rückweg mit in die Stadt.
Sie waren fast den ganzen Tag gefahren. Ernesto hatte gespielt und gesungen, und die Fahrt in dem Lieferwagen war schnell vergangen. Zum Abschied hatte der Fahrer ihm sogar noch einen Peso in die Hand gedrückt. Für die Musik. Nach einer ungemütlichen Nacht in einem Hauseingang war Ernesto durch die Stadt geirrt, um Pancho zu finden. Der Verkehrslärm ließ seinen Schädel brummen. Er hatte sich durchgefragt, Märkte abgesucht und bei Straßenhändlern Erkundigungen eingezogen. Aber keine Spur von Pancho. Jetzt saß Ernesto im Hafenviertel auf einem Rinnstein. Die Beine taten ihm weh. Seine nackten Füße waren das Pflaster nicht gewohnt. Ernesto hatte Hunger und Durst. Der Peso des Lieferwagenfahrers war längst verbraucht. Touristen schien es hier nicht zu geben. Niemand hatte seiner Musik zugehört. Die, die auf den Straßen und Plätzen herumlungerten und Zeit hatten, seine Musik zu genießen, waren Leute wie er. Sie hatten selbst keinen Peso in der Tasche. Ernesto rappelte sich auf. Er ging an kleinen Hotels vorbei, Spielhallen, Bars und billigen Restaurants. Aus einer Kneipe kam ein lautes Gegröle. Ein Betrunkener versuchte, einen bekannten Schlager zu singen. Vielleicht könnte er hier ein paar Pesos verdienen. Ernesto trat ein. Er brauchte einige Augenblicke, um in dem dunklen, verqualmten Raum etwas zu erkennen. An vier oder fünf groben Holztischen saßen
wild aussehende Männer, die gestikulierend durcheinanderredeten, lachten und braunen Rum tranken. «Das müssen Seeleute sein», dachte Ernesto. Einer stand mit ausgebreiteten Armen auf einem Stuhl und gröhlte mißtönend die ersten Worte von ‹La cucaracha›. Ernesto verzog schmerzlich das Gesicht. Mehr als die ersten beiden Zeilen des Liedes kannte der Betrunkene nicht. Stumpfsinnig fing er immer wieder von vorn an. Ernesto lehnte sich gegen die Wand, schlug seine Gitarre an und sang das Lied weiter. «Genau, Kumpel! So geht’s!» brüllte der auf dem Stuhl und versuchte, mitzusingen. «Halt’s Maul, Borracho!» rief einer der Gäste. «Der Junge kann das besser als du!» Als Ernesto geendet hatte, stieg der Betrunkene schwankend von seinem Stuhl. «Weiter, Kumpel!» dröhnte er. «Wir wollen mehr hören.» Ernesto sang Lieder, die er schon von klein auf kannte, aber auch andere, die er sich selbst ausgedacht hatte. Die Männer klatschten begeistert mit. Ernesto beendete sein kleines Konzert mit einem wirbelnden Akkord und streckte seinen Hut aus. Während die anderen noch Beifall klatschten, griff der Betrunkene eine Rumflasche vom Tisch und wankte auf Ernesto zu. «Phantastisch, chico! Du bist ein großer Künstler! Ein Lump, wer sich da lumpen läßt.»
Unter dem Gebrüll der anderen ließ er den Rum aus seiner Flasche in Ernestos Hut laufen. Ein großer Matrose mit einem dichten, grauen Bart schob ihn beiseite und schüttelte Ernestos Hut aus. «Laß den Quatsch, Borracho!» bremste er den Schwankenden. «Du bist ein besoffener Esel! Das ist unsere Musik, verstehst du? Unsere Musik!» «Klar! Unsere Musik», lallte der andere. «Meine Musik, deine Musik, seine Musik…» «Ja, auch deine Musik!» sagte der Große. «Die Musik wenigstens hat man uns noch nicht wegnehmen können! Laßt unsere Musiker nicht verhungern, Leute!» Der Betrunkene starrte ihn aus schwimmenden Augen an. «Verflucht», blökte er beifallheischend in die Runde. «Ich will kein Seemann sein, wenn du nicht redest wie ein verdammter Priester, Practico!» Aber der andere kümmerte sich nicht um ihn. Er ging zwischen den Tischen hindurch und hielt den Männern den Hut hin. «Also, Compañeros! Gebt euch einen Ruck!» Einige wandten sich schnell ab, aber andere ließen Münzen verschiedener Größe in den Hut klimpern. Dankbar nahm Ernesto seinen Hut mit dem Geld zurück. Da schlug ihn der Trunkenbold hart auf den Rücken. «Und jetzt gibt uns der große Künstler einen aus!» Doch der Große mit dem Bart drängte ihn ab. «Du hast genug gesoffen!»
Er schob Ernesto zur Tür. «Hau jetzt lieber ab, Kleiner!»
Sie kamen jetzt auf eine asphaltierte Straße und ließen die Hütten hinter sich. Der Verkehr wurde immer dichter. Die Autos schoben sich im Zentimeterabstand durch die Straßen. Dabei hupten die Fahrer, machten mit den Armen wilde Bewegungen aus den Fenstern heraus oder brüllten sich gegenseitig Gemeinheiten zu. Auch der Mann neben Pancho war völlig verändert im Stadtverkehr. Er fluchte, hupte und schrie und hatte für alle anderen Autofahrer Namen wie «Blödmann», «Idiot», «Affenkopp», oder «Stinker». An vielen Straßenecken und auch mitten im Verkehr standen Polizisten in weißen Hemden, mit weißen Helmen und mit schweren Revolvern am Gürtel. Sie pfiffen auf ihren Trillerpfeifen und fuchtelten mit Holzknüppeln in der Luft herum. Pancho verstand nicht, warum sie das taten. Die Autofahrer schienen sich um die Polizisten nicht zu kümmern. Es war ein furchtbarer Lärm, wie ihn der Junge vom Land noch nie erlebt hatte. Ab und zu konnte er die Glocken der Eisverkäufer und die Schreie der Zeitungsjungen und Losverkäufer durch den Krach hören. Auf den Bürgersteigen gab es das gleiche Durcheinander wie auf der Fahrbahn. Die Fußgänger drängten sich hintereinander und
gegeneinander an den Läden vorbei. Niemand schien zu wissen, wo er eigentlich hin wollte. Pancho kam es vor, als würden die Menschen in den Straßen herumlaufen ohne bestimmtes Ziel, nur um zu laufen. Mitten im Gedränge standen dann plötzlich Tische unter Sonnenschirmen. Dort saßen Leute, die etwas tranken oder aßen, so ruhig, als seien sie zu Hause. Das Geschrei und der Lärm der Autos störte sie nicht, auch nicht der Benzingestank. Die Läden hatten ihre Türen weit geöffnet. Die Waren standen oder hingen auf der Straße. Da gab es Tücher, Hemden und Röcke, die vor einem Kleiderladen im Wind wehten. Riesige Trauben knallbunter Plastikspielsachen – Bälle, Puppen, Autos – hingen vor einem Spielwarengeschäft. Und wenn nichts draußen hing, dann hatte man große farbige Bilder von den Sachen aufgestellt, die es drinnen zu kaufen gab. Vor einem Cafe standen Bilder mit Kaffeetassen und Saftbechern, mit Kuchenstücken, riesigen Eisbechern und grünen Kokosnüssen bemalt. Pancho kriegte wieder Hunger, als er das sah. Zwischen all den Geschäften ragten immer wieder die riesigen Gebäude heraus, die Pancho schon von weitem gesehen hatte. Er konnte sich nicht vorstellen, wozu diese Häuser gut sein sollten. Es wohnte wohl niemand darin. Alle Fenster waren zu. Sie sahen aus wie eine einzige glatte Mauer aus Glas. Hineinschauen konnte er nicht. Die Scheiben waren entweder ganz dunkel oder spiegelten den Himmel.
Es gingen nur wenige Leute in diese unheimlichen Riesenhäuser, und wenige kamen heraus. Aber immer standen Polizisten vor den Toren. Diese Polizisten hielten Maschinenpistolen in ihren Händen. Sie fuhren über einen Platz. In der Mitte stand ein Denkmal: ein großer dünner Mann auf einem Pferd. Um ihn herum waren Buden aufgebaut. Händler verkauften Luftballons und lebende Tiere, Spielzeug und Strohhüte, Obst und Gemüse. An einer Ecke des Platzes spielte eine Musikgruppe. Pancho hörte beim Vorbeifahren die Trommeln. Hier muß ich meine Bananen verkaufen, dachte er. Aber der Fahrer war schon in eine Nebenstraße eingebogen und bahnte sich schimpfend seinen Weg durch Eselskarren und Lastwagen, die den Händlern auf dem Platz gehörten. «Kann ich aussteigen?» fragte Pancho. Der Mann hatte ihn durch die Schimpferei völlig vergessen. «Warum? Weißte denn, wo du hinwillst?» «Na, da, wo ich meine Bananen verkaufen kann. Auf dem Markt da hinten.» «Ach, die ganze Stadt ist ein Markt. Auf dich und deine Bananen haben die hier gerade gewartet.» «Und wo fährst du hin?» wollte Pancho wissen. «Auf die Müllkippe», sagte der Mann. Pancho dachte an die Vorstadt, durch die sie vor einer Stunde gekommen waren, und die ihm wie eine riesige Müllkippe erschienen war. «Bä!» machte er.
Der Mann grinste: «Nix bä. Das ist die Müllkippe, wo die Ausländer ihren Dreck lassen. Komm doch mit.» «Nee. Warum denn?» «Du kannst mir helfen.» «Nee, ich steig hier aus.» «Ich geb dir zwanzig Pesos.» Für zwanzig Pesos war Pancho schon mit Cornelia zum Spielen ins Wasser gegangen. Für zwanzig Pesos konnte er auch mit dem Mann auf die Müllkippe fahren. Der Mann, mit dem Pancho nach Santa Basura gekommen war, hieß Pedro. Er war ein geschickter Bastler und konnte aus Dingen, die eigentlich nicht mehr zu gebrauchen waren, immer noch irgend etwas machen. Sein komisches Auto hatte er sich auch von einem Schrottplatz geholt und wieder soweit zurechtgemacht, daß er damit fahren konnte. Pedro fuhr regelmäßig zu dem Müllplatz von Santa Basura, wo der Müll der Ausländer abgeladen wurde. Er hatte herausgefunden, daß die Fremden viele Sachen wegwarfen, die er noch verwenden konnte. Jetzt stiefelte er mit wachsamen Augen über die Müllberge. Pancho folgte ihm. Sie waren nicht allein. Überall gruben Männer, Frauen und Kinder im Müll, wo sie irgend etwas zu finden hofften, und sei es nur eine Packung Cornflakes, die noch nicht ganz leer war. Die Geier, die die Müllkippe als ihr Revier ansahen, waren erbost über die Konkurrenz. Sie schrien, hüpften aufgeregt um die Menschen herum
oder flatterten ihnen dicht über die Köpfe. Pedro entdeckte etwas. «Da. Das kann ich gebrauchen. Faß mal mit an.» Zusammen mit Pancho zog er einen Kühlschrank hervor, der unter dem Müll halb vergraben war. Pancho bekam große Augen. «Und so was schmeißen die weg?» «Sag ich doch. Wird zwar kaputt sein, aber trotzdem. Komm. Auf den Wagen damit.» Sie wuchteten das weiße Monstrum auf die Ladefläche. «Wo ist der denn kaputt?» fragte Pancho. «Bestimmt die Elektrizität. Aber wer hat schon Elektrizität. Ist ein guter Vorratsschrank. Können die Ratten nicht rein.» Dann entdeckte Pancho etwas. «Hier! Guck mal. Was ist das denn?» «Ein Fernsehapparat. Gut. Den nehmen wir auch mit.» Pancho hatte vom Fernsehen bis jetzt nur gehört. «Ich weiß. Da sieht man bewegte Bilder drin, nicht?» «In dem bestimmt nicht mehr. Der ist total kaputt. Macht aber nichts. Kann man sich auch so hinstellen.» «Warum denn? Wenn er nicht geht?» «Wenn du einen Fernseher hast, bist du etwas besseres. Kann ja keiner sehen, daß der im Eimer ist.» Sie fanden noch einen Karton mit vollen, verschlossenen Konservendosen, auf denen irgendetwas geschrieben stand.
«Das ist englisch», behauptete Pedro. «Versteh ich leider nicht.» In Wahrheit konnte er ebensowenig lesen wie Pancho. Sie beluden den Wagen noch mit ein paar hundert verbogenen Drahtkleiderbügeln, den runden Stahlfedern aus einer alten Matratze und drei abgefahrenen Autoreifen, aus denen Pedro «Schuhe» machen wollte. Dann ging es zurück in die Stadt.
Diesmal fuhr Pedro eine andere Strecke. Sie kamen durch ein Viertel, wo wenig Verkehr war. Die Straßen waren breit und sauber. An den Seiten wuchsen hohe Palmen. Hinter hohen Mauern oder geschmiedeten Gitterzäunen sah Pancho weite Grünflächen. Der Rasen sah aus, als werde er jeden Tag gebügelt. Dahinter lagen prächtige Paläste mit Türmen, Erkern und Balkons oder moderne einstöckige Glaspaläste, lang wie ein Güterzug. Rasensprenger machten leise «Tock-tock-tock», sonst war es still. Nur ein paar Vögel zwitscherten. Und dazu dann das kranke Husten und Keuchen von Pedros Auto! Pancho sah den Mann groß an, aber Pedro schien nicht zu denken, daß er hier jemanden stören könnte. «Wo sind wir hier?» fragte ihn Pancho schließlich. «Hier wohnen die Ausländer.» «Hinter den Mauern und Zäunen? Sind die eingesperrt?» Pedro lachte.
«Nee, Kleiner. Hier sind wir ausgesperrt.» Pancho fiel die Adresse ein, die Cornelia ihm gegeben hatte. «Gibt’s hier eine Avenida Franklin?» «Auf der fahren wir doch gerade.» «Ich muß hier aussteigen.» Pedro sah den Jungen an, als hätte der einen Sonnenstich. «Was willst du hier? Wir sind gleich im Zentrum.» «Nee. Hier ist es schon richtig. Ich muß jemanden besuchen.» «Red keinen Quatsch. Du bist hier nie im Leben richtig, Dummkopf. Du solltest dich mal im Spiegel sehen.» Pedro sah auf seine nackten, schmutzigen Füße. Seine Hände sahen nach der Wühlerei im Müll auch nicht besser aus. «Na und? Was meinst du, wie du aussiehst.» «Ich will ja auch niemanden hier besuchen.» «Aber ich. Bitte halt an.» «Na, von mir aus. Mach, was du willst.» Pedro fuhr an den Straßenrand. Pancho sprang vom Sitz und griff nach seinen Bananen. Pedro half ihm. «Hier», sagte er und drückte dem Jungen zwei Münzen in die Hand. «Hoffentlich bringt dir’s Glück.» Pancho spuckte auf das Geld und schob es in die Tasche. «Danke! Und adios!» «Mach bloß keinen Unsinn, Kleiner. Alles Gute!» Als sich Pedros Fuhre in Bewegung setzte, sah sich Pancho nach der Hausnummer um. Wenn er auch
nicht lesen konnte – die Zahlen kannte er. Schließlich war er Bananenhändler. Nach einigem Auf- und Ab- und Hin- und Hergelaufe fand er die große, golden schimmernde Hundert über einem eisernen Tor, das halb offenstand. Davor schlenderten zwei mit Gummiknüppeln und Revolvern bewaffnete Männer herum. Pancho tat so, als wolle er am Tor vorbeilaufen. Als er davor ankam, machte er schnell eine halbe Drehung und ging einen Schritt auf das Tor zu. Weiter kam er nicht. Einer der Wachmänner stieß ihn mit der Faust vor die Brust. «He, du Strolch, hier geht’s nicht weiter.» Pancho wagte noch einen Schritt zum Tor. «Ich will zur Señorita Cornelia», sagte er schnell. «Die wohnt hier.» Der Wachmann lachte und rief den anderen zu sich. «Jorge! Komm mal her! Sieh dir den an. Dieser junge Herr will seine Señorita bei uns besuchen.» Jetzt lachten beide Wächter. Aber einer stellte sich vor das Tor. Pancho sah an sich herunter. Er sah ja wirklich ziemlich schlimm aus. Mit der Hand versuchte er, sich den Dreck von der Hose zu wischen. «Ich – ich – hab gearbeitet – hab ich», stotterte er verlegen. Der Mann vor dem Tor grinste breit. «Hast du gehört, Jorge? Er hat gearbeitet. Und ich dachte, sein Schneider ist in Urlaub.» Der Wachmann, der Jorge hieß, lachte nicht mehr. «Verschwinde, du Ratte!» schnauzte er Pancho an.
Pancho nahm seinen ganzen Mut zusammen. «Aber es stimmt. Señorita Cornelia hat gesagt, ich soll sie hier besuchen. Wirklich!» «Sag mal, hörst du schwer?» schrie jetzt der andere Wächter. «Wir haben gesagt, du sollst verschwinden. Aber pronto!» Drohend ging er auf Pancho zu. «Oder wir probieren mal deine Bananen. Stimmt’s Jorge? Du ißt doch so gern Bananen.» «Stimmt», sagte Jorge. «Ich liebe Bananen.» Auch er ging jetzt auf Pancho zu. Der drehte sich um und rannte davon. Die beiden Wachmänner lachten ihm hinterher.
Straßenhandel mit Bananen ist verboten
Ernesto lief suchend die breite Geschäftsstraße hinunter. Einige Male hatte er schon geglaubt, Pancho entdeckt zu haben. Doch jedes Mal war es ein Irrtum. Es gab hier tausende von Jungen wie Pancho. Kinder in jedem Alter. Sie boten Kaugummis an oder Bonbons, schrien sich die Seele aus dem Leib, um Lose zu verkaufen, oder liefen mit kleinen Holzkisten durch die Gegend und versuchten, die Passanten zum Anhalten zu bewegen, damit sie ihnen die Schuhe putzen konnten. Wenn an der Kreuzung der Verkehr zu stehen kam, stürzten sich ganze Trauben von Kindern auf die Autos. Sie priesen Schonbezüge an, Putzmittel und Radkappen, oder sie putzten ungefragt die Windschutzscheiben, wischten Stoßstangen und Türgriffe ab, in der Hoffnung auf ein Trinkgeld. Aber nur selten ergatterte einer einen Peso. «Was kosten die?» fragte Ernesto einen Jungen, der kleine Tüten mit Nüssen verkaufte. «Drei Pesos.» Ernesto lachte den Bengel aus. «Bist du verrückt? Seh ich aus wie ein Millionär?» «Also gut, zwei.» Ernesto schüttelte den Kopf. Er nahm sich eine Tüte und gab dem Jungen einen Peso. Der Verkäufer protestierte, steckte den Peso aber schnell ein.
«Hast du einen Jungen gesehen, ungefähr so alt wie du, mit einem großen Büschel Bananen?» Der Junge machte ein abweisendes Gesicht. «Straßenhandel mit Bananen ist verboten.» Ernesto musterte den Jungen mißtrauisch. «So? Warum denn?» «Damit die Company-Bananen kein Ungeziefer kriegen, behaupten die.» «Wer behauptet das?» Der andere machte eine gleichgültige Geste. «Die Company, denk ich mir. Bist wohl neu hier, was?» Ernesto nickte. «Tust du mir einen Gefallen?» Der Junge sah ihn wach an. «Kommt drauf an, was dabei herausspringt.» Ernesto schnippte einen Peso in die Luft und fing ihn geschickt wieder auf. «Ich suche meinen kleinen Bruder. Pancho heißt er. Das ist der mit den Bananen.» «Tut mir leid, kenn ich nicht.» Der Junge schielte enttäuscht nach dem Peso in Ernestos Hand. «Wenn du ihn siehst, sag ihm, daß ich ihn suche. Ich bin Ernesto. Ich werde jeden Mittag auf dem Bolivarplatz sein. Kapiert?» Der Kleine wurde eifrig.
«Klar! Wenn er was verkaufen will, landet er früher oder später auf jeden Fall hier. Ich sag’s ihm, Ehrenwort!» Ernesto warf ihm den Peso zu. Der Nuß-Verkäuf er griff die Münze aus der Luft und ließ sie in seinen weiten Taschen verschwinden. «Jeden Mittag Bolivarplatz! Geht in Ordnung, Ernesto!»
Pancho war wütend auf Cornelia. Warum gab sie ihm erst ihre Adresse, wenn sie ihn da nicht reinließen? Hatte sie etwa gedacht, er könnte sich fein machen, um sie zu besuchen? Diese blöden Ausländer! Aber er würde es auch ohne Cornelia schaffen, so wahr er der beste Bananenverkäufer von Puerto Pobre war. Er kam in eine belebte Geschäftsstraße. Überall sah er Straßenverkäufer. Auch Jungen wie er selbst. Das mußte eine gute Stelle hier sein. Keiner schien Bananen zu verkaufen. Das war seine Chance. Pancho lud das Büschel ab und packte es aus. Die Früchte waren jetzt gerade richtig. Herrlich gelb, aber nicht zu reif. Morgen oder übermorgen würden sie die ersten braunen Flecken bekommen. Also nichts wie ran. «Bananen! Riesengroße, süße Bananen, kauft Bananen!» Kaum hatte Pancho begonnen, seine Werbesprüche zu rufen, kam ein Junge angelaufen und baute sich großspurig vor ihm auf.
«He, du!» schrie er Pancho an. «Was machst du da?» «Siehst du doch. Bananen verkaufen!» «Das ist verboten», schrie der Junge. «Wer sagt das?» «Ich.» «Geh zum Teufel!» sagte Pancho. Der Junge blieb stehen. «Hier hat jeder sein Revier», schrie er. «Aber dich kenn’ ich nicht, du haust hier ab!» «Du kannst mich mal», sagte Pancho und tat, als sei der Junge Luft. Eine ältere Dame kam vorbei. «Bananen, Señora, wunderschöne Bananen!» rief Pancho ihr zu. Da wurde er von dem Jungen gepackt und nach hinten gerissen. Die Dame, die schon stehengeblieben war, machte, daß sie weiterkam. «Laß mich los!» schrie Pancho und schlug um sich. Der Junge mußte loslassen, versetzte Pancho aber einen Boxhieb auf die Nase. Pancho wurde wütend. Und wenn Pancho wütend wurde, war er nicht so leicht zu stoppen. Er bearbeitete den Jungen mit Fäusten und Füßen und stieß ihm seinen Kopf ins Gesicht. Der andere fiel zu Boden. Seine Nase blutete, und sein rechtes Auge verfärbte sich. «Jetzt hau du ab!» sagte Pancho. Der Junge steckte zwei Finger in den Mund und stieß einen schrillen Pfiff aus. «Jetzt kannst du was erleben, du Bauerntrampel!» Pancho sah um sich. Zehn oder zwölf Jungen kamen
angerannt. Pancho packte seine Bananen und flüchtete. Zwei der Straßenjungen, die ihm am nächsten standen, hätte er fast umgerannt. Eine ganze Horde nahm jetzt seine Verfolgung auf. Panchos nackte Füße klatschten auf das Pflaster. Geschickt rannte er zwischen den vielen Menschen hindurch, fast ohne einen anzustoßen. Aber lange würde er diese Jagd nicht durchhalten. Die Bananen waren einfach zu schwer. Er sah sich kurz um. Seine Verfolger waren durch die Fußgänger verdeckt. Also konnten sie ihn auch nicht sehen. Mit einem Satz sprang Pancho in eine Toreinfahrt und preßte sich flach an die Wand. Die Jungen rannten vorbei, ohne ihn zu sehen. Pancho lief in der entgegengesetzten Richtung davon. Ein Junge, der am Straßenrand saß, rief ihn an. «He, du!» Pancho erschrak. Gehörte der auch zu der Bande? Nichts wie weg hier. «Warte doch! – Heißt du Pancho?» rief der Junge. Pancho erstarrte. Woher wußte der seinen Namen? «Du kennst mich?» «Nee», sagte der Junge. «Aber dein Bruder sucht dich. Ernesto. Richtig?» «Ernesto? Hier in der Stadt?» «Ja doch. Jeden Mittag ist er auf dem Bolivarplatz, hat er gesagt.» «Bolivarplatz?»
«Ja. Das ist der große. – He! Sag mal, wollen die was von dir?» Der Junge zeigte hinter Pancho. Der drehte sich um und sah die Meute der Straßenjungen, die ihn wieder entdeckt hatten. «Danke, Mann!» rief er dem Jungen am Straßenrand zu und floh. Er kam auf eine Kreuzung, auf der auch wieder so ein weiß Behelmter stand und mit seinem Knüppel in der Luft herumfuchtelte. Die Autos, die aus der einen Richtung kamen, blieben plötzlich alle stehen. Pancho rannte an ihnen vorbei auf die andere Straßenseite. Ein Trillerpfiff gellte ihm in den Ohren. Kaum hatte er den anderen Bürgersteig erreicht, fuhren die Autos wieder an. Pancho sah, wie seine Verfolger ihm über die Dächer der fahrenden Wagen mit Fäusten drohten. Erleichtert wollte Pancho in der Menge untertauchen, als er auf den Bauch eines Polizisten prallte, der sich ihm in den Weg stellte. «Pardon, Señor», sagte Pancho und wollte an dem Mann vorbei. Doch der Polizist hielt ihn fest. «Na, vor wem rennst du denn weg, kleiner Gauner?» Pancho sah sich um. Seine Verfolger hatten ihn eingeholt, standen jetzt aber unschlüssig herum. «Die anderen», keuchte Pancho, «die wollten mich – ich bin nur…» «Wo hast du denn die Bananen geklaut?» fragte der Polizist. «Das sind meine Bananen, Señor, von zu Hause.»
«Ach so? Und warum ißt du sie dann nicht auf?» Der Polizist brach eine Banane vom Büschel und hielt es Pancho hin. «Los, friß!» «Ich will sie verkaufen, Señor.» «Verkaufen? Tatsächlich? An wen denn?» «An die Leute hier auf der Straße.» Der Polizist sah sich um. An der nächsten Ecke stand ein zerlumpter Junge. «He, Tuerto!» rief der Polizist. Der Junge kam sofort angehumpelt. Er hatte ein steifes Bein und nur ein Auge. Die andere Augenhöhle war ein leeres Loch. «Sargento?» sagte der Junge. Der Polizist aß die Banane, die er von Panchos Büschel abgerissen hatte. Kauend fragte er den Einäugigen. «Tuerto, sieh dir den hier mal genau an. Ist das einer von deinen Leuten?» Das Auge des Jungen sah Pancho prüfend ins Gesicht. «Nein, Sargento, bestimmt nicht.» «Dein Glück», sagte der Polizist. «Wie viele Jungen arbeiten für dich, Tuerto?» «Achtzig ungefähr.» Tuerto trat verlegen von einem Fuß auf den anderen. «Ich hab dir achtzig erlaubt. Genau achtzig!» sagte der Polizist streng. «Es sind achtzig.» «Gut. Und wer beschützt dich in deinem Revier?»
«Sie, Sargento.» Der Polizist wandte sich zufrieden wieder an Pancho. «Siehst du, Bananendieb, Tuerto weiß, wer sein Freund ist.» Eine aufgeregte Menge hatte sich um das Denkmal auf dem Bolivarplatz versammelt. Ernesto stellte sich auf die Zehenspitzen. Über die Köpfe der dicht gedrängten Menschen versuchte er, den Grund für die Versammlung zu erkennen. Aber er sah nur eine Gruppe von Männern, die unter dem beifälligen Gemurmel der Umstehenden leidenschaftlich aufeinander einredeten. Plötzlich schwang sich einer auf den marmornen Sockel des eisernen Reiterstandbildes. «Wer pflanzt die Bananen?» rief der Mann in die Menge. «Wir!» antwortete ihm ein vielstimmiger Chor. «Und wer hat die Bananen gepflegt?» «Wir!» «Wer pflückt die Bananen?» «Wir!» schrie es aus allen Kehlen. «Wer wäscht und verpackt die Bananen?» «Wir!» Die Antwort der Menge wurde zorniger. «Wer transportiert die Bananen in die Stadt?» «Wir!» «Wer belädt die Bananendampfer?» «Wir!»
Der Redner machte eine kleine Pause und ließ seinen Blick über die Köpfe der Versammlung schweifen. Alle hingen erwartungsvoll an seinen Lippen. «Wem also gehören die Bananen?» «Uns!» Die Menge jubelte. «Uns!» riefen sie immer wieder. «Uns!» «Uns!» schrie auch Ernesto aus Leibeskräften. Er fühlte sich auf einmal stark und sicher. Ihm war, als wären diese vielen Menschen um ihn herum eine einzige Familie, seine Familie. Ohne zu wissen warum, spürte Ernesto, daß er dazugehörte. Der Mann am Denkmal brachte mit einer Handbewegung die Menge zum Schweigen. «Aber wer bekommt das Geld für unsere Bananen?» rief er und beantwortete seine Frage selbst. «Die Company.» Durch die Versammlung ging ein wütender Aufschrei. Dann riefen alle durcheinander «Pfui» und «Buh». Einige schüttelten drohend ihre Fäuste. Eine kleine Gruppe begann, rhythmisch zu klatschen und rief dazu: «Nieder – mit – der – Com-pa-ny! Nieder – mit – der – Com-pa-ny!» Nach und nach fielen alle in den Sprechchor ein. Ernesto hatte sich durch das Menschengewühl nach vorn gedrängelt. Jetzt stand er vor dem Denkmal. Der Redner versuchte, den Lärm zu übertönen, aber nur vorn, wo Ernesto stand, war er zu verstehen, als er auf den eisernen Reiter zeigte und rief: «Bolivar hat Südamerika von der
Fremdherrschaft befreit. Wir müssen unser Land von der Company befreien!» Jetzt begriff Ernesto, daß das Denkmal Bolivar darstellte. Natürlich! Deshalb hieß der Platz auch Bolivarplatz. Man erzählte sich heute noch Geschichten von dem Nationalhelden. Er hatte vor fast zweihundert Jahren ihr Land und viele andere von der Herrschaft der Spanier befreit. Ernesto kannte auch einige Lieder, die von ihm handelten. «Yankees raus!» rief ein Mann neben Ernesto. «Sie pressen unser Land aus wie eine Zitrone, diese Yankees und Gringos.» «Schlimmer!» ereiferte sich ein anderer, «ihre Company ist wie ein Polyp – ein Krake, der uns alle im Würgegriff hat. Und dieses Mistviech wird immer fetter.» «Hackt ihm die Greifarme ab!» schrie sein Nachbar. Der Redner war vom Denkmal heruntergestiegen und mischte sich ein: «Das nützt nichts, die wachsen immer wieder nach. Auf den Kopf muß man los!» «Wie soll denn das gehen?» fragte einer der Umstehenden. «Der Kopf ist im Ausland und nicht hier.» Ernesto hörte aufmerksam zu.
Der Polizist nahm Pancho das Bananenbüschel weg und drückte es dem Einäugigen in die Arme. «Wie viele Bananen sind das, Tuerto?» fragte er ihn. «Na,
hundert vielleicht», sagte Tuerto. «Über hundert», stellte der Polizist fest. «Die müssen weg, ich laß’ sie dir für die Hälfte vom Normalpreis. Sagen wir: fünfhundertzwanzig Pesos.» Der Einäugige grinste unsicher. «Straßenhandel mit Bananen ist doch verboten, Sargento.» «Stimmt», sagte der Polizist, «deswegen geb ich sie dir doch. Du sollst sie nicht verkaufen. Du sollst sie vernichten. Aufessen. So!» Der Polizist schob sich eine Banane in den Mund. Der Einäugige sah hilflos auf das große Bananenbüschel in seinen Händen. «So viele? Wie denn?» Der Polizist wurde ungeduldig. «Stell dich nicht so blöd!» schnauzte er den Jungen an. «Du hast achtzig Leute. Laß jeden eine Banane essen oder zwei, und das Zeug ist weg. Und jetzt das Geld her!» «Okay, Sargento», sagte der Einäugige kleinlaut. «Geht in Ordnung.» Er legte die Bananen auf den Boden und zog einen Packen Geldscheine aus der Hosentasche. Er blätterte die Scheine durch und gab dem Polizisten fast alle. Der sah sich um, ob ihn jemand beobachtete, und steckte das Geld schnell ein. Pancho stand in ohnmächtiger Wut dabei. «Na bitte», sagte der Polizist gönnerhaft zum Einäugigen.
«Sei froh, daß du einen Freund wie mich hast. Und: guten Appetit. Wenn ich einen von euch beim Verkaufen erwische, kann er was erleben. Hau jetzt ab!» Der Einäugige lief mit Panchos Bananen davon. «Halt!» schrie Pancho, «das sind meine Bananen!» Er wollte dem Einäugigen nachlaufen, aber der Polizist hielt ihn fest. «Halt die Klappe, hier ist dein Geld!» Der Polizist warf Pancho zwei Münzen vor die Füße. Pancho hob das Geld auf. Zwanzig Pesos! Wütend ballte er die Faust um die Geldstücke. «Zwanzig Pesos?!» schrie er den Polizisten an. «Sie sind ein Dieb! Ein Bandit! Sie haben meine Bananen gestohlen!» Der Polizist stemmte beide Hände in die Hüften und ging langsam auf Pancho zu. «Sag das noch mal!» Vor Wut heulend, lief Pancho davon.
Das Geschiebe und Gedrängel der vielen Menschen machte ihm auf einmal Angst. Pancho fühlte sich nackt und wehrlos. Ziellos irrte er durch die Straßen. Wo sollte er hin? Nach Hause wagte er sich nicht mehr. Was sollte er der Mutter sagen? Und Ernesto, der in der Stadt nach ihm suchte? Am liebsten würde er sich in ein tiefes Loch verkriechen und schlafen. Und wenn er aufwachte, müßte alles nur ein böser Traum gewesen sein. Tränenblind ließ Pancho sich treiben, schwamm in einem Strom von Menschen.
Als er die Fahrbahn überqueren wollte, wurde er fast von einem Auto angefahren. Erschrocken sprang Pancho beiseite. Eine schwarze Limousine glitt haarscharf an ihm vorbei. Auf dem Rücksitz saß ein blondes Mädchen. Pancho wachte auf. «Cornelia!» rief er und lief dem Auto nach. Der Mercedes kam im dichten Verkehr nur mühsam voran. Pancho folgte dem Wagen rennend durch einige Straßen. Sein Herz klopfte bis zum Hals. Von weitem sah er, wie der Wagen anhielt. Das Mädchen stieg aus. Kein Zweifel, das war sie. «Cornelia!» schrie Pancho in den Straßenlärm. Aber Cornelia hörte ihn nicht. Sie lief eilig eine steinerne Treppe hinauf und verschwand in einem Gebäude aus Glas und Beton. Der schwarze Mercedes fädelte sich in den Verkehr ein. Atemlos erreichte Pancho die Treppe und stürmte hinauf. Ein Uniformierter versperrte ihm den Weg. «Stopp!» Der Mann wirbelte spielerisch seinen weißen Holzknüppel in der Hand. Pancho stolperte zwei Stufen rückwärts. Durch die breiten Glastüren sah er in die Halle. In einem pflanzenbewachsenen Springbrunnen sprudelte eine Wasserfontäne. Sauber gekleidete Mädchen mit Büchern unter dem Arm verschwanden eilig in den Gängen. «Mach, daß du wegkommst!» herrschte der Wärter Pancho an. «Was ist das hier?» «Eine Schule, nichts für dich. Hau ab!» Pancho beschloß zu warten und setzte sich auf die unterste
Stufe. Doch der Uniformierte duldete das nicht. Seine Stiefel knallten scharf auf den Steinstufen, als er die Treppe herunterkam. Pancho sprang auf. «Ich warte auf meine Freundin, die ist da drin.» Der Wachmann verzog sein Gesicht zu einem höhnischen Grinsen. «Gratuliere!» «Wann kommen die denn wieder da raus?» erkundigte sich Pancho. «Das geht dich einen Dreck an!» Der Wachmann packte seinen Knüppel fest. «Du sollst verschwinden, verflucht noch mal!» Pancho steckte die Hände in die Hosentaschen und schlenderte betont langsam die Straße hinab.
Ein Strolch kennt Cornelias Namen
Die Menge auf dem Bolivarplatz hatte Zulauf bekommen. Auch viele Companyarbeiter drängten sich um das Denkmal. Die Menschen standen in Grüppchen und diskutierten hitzig miteinander. Jemand versuchte, einen Sprechchor in Gang zu bringen: «Weg mit der Company! Weg mit der Company!…» Ein Teil der Leute machte mit. Der Ruf schwoll an, doch dann verebbte er wieder. Ernesto stand bei der Statue und spielte auf seiner Gitarre. Ein paar Umstehende klatschten im Takt dazu. Einer tanzte. Halblaut probierte Ernesto einen neuen Text aus, den er für die bekannte Melodie aus dem Stegreif erfunden hatte. Der Mann, der vorher zu der Versammlung gesprochen hatte, hörte die Verse: «Genau, Hombre! Das ist großartig! Das mußt du für alle singen, Junge!» Er schob Ernesto zum Denkmal und half ihm aufs Podest. Dann schrie er in die Menge: «Ruhe! Hört mal zu! Ruhe!» Zögernd probierte Ernesto sein neues Lied aus. Doch die Zustimmung seines Publikums machte ihn schnell sicher. Kräftig schallte seine Stimme über den Platz: «Die Company ist ein Krake, der tausend schleimige Arme hat…»
Die Männer johlten. Ernesto mußte eine kleine Pause machen, bis er weitersingen konnte. Jetzt wurden auch die weiter weg Stehenden auf den Sänger aufmerksam. «… mit Saugnäpfen über Land und Stadt, zum Greifen und zum Würgen», sang Ernesto. Als wieder einige zu johlen anfingen, zischten die anderen sie nieder. Sie wollten das Lied ganz hören. «Dieses Ungeheuer kommt uns zu teuer. Kommt, wir werden es uns kaufen, und dann hört ihr’s nur noch schnaufen! Haha haha, haha, das ist die Company…» «Die Company», sang die Menge mit, «die Company…»
Pancho war die Straße hinuntergegangen bis zu einem großen Kreisverkehr. Von hier aus konnte er den Eingang von Cornelias Schule im Auge behalten, ohne von dem Wächter gesehen zu werden. Plötzlich hörte er durch das Verkehrsgetöse hindurch Gesang. Es klang wie der Gesang von vielen hundert Stimmen. Pancho schaute sich suchend um. Das Singen kam von der großen Insel inmitten des Kreisverkehrs. An dem eisernen Reiter erkannte Pancho die Parkanlage wieder, an der er im Auto des alten Müllsammlers vorbeigekommen war. Um die Statue herum war ein riesiger Menschenauflauf. Und auf dem Sockel des Denkmals stand ein Mann mit einer Gitarre.
«Ernesto», schoß es Pancho durch den Kopf. «Vielleicht ist das Ernesto.» Auf einmal war es ihm egal, was der Bruder zu dem Verlust der Bananen sagen würde. Sollte er doch schimpfen oder lachen, oder beides. Hauptsache, er war nicht mehr so allein in dieser gemeinen Stadt. Pancho drängelte sich durch den stockenden Verkehr. Er achtete nicht auf das Hupen und Brüllen der Autofahrer. Auf der anderen Seite rannte er quer über den Rasen. Dann kam er nicht weiter. Eine Mauer von Menschen versperrte ihm den Weg. Und sehen konnte er auch nichts. Er war zu klein. «Sein Atem verpestet die Luft! Sein fetter Wanst das Land erstickt…» «Die Stimme!» Pancho lauschte. «Das ist Ernesto. Das ist ganz bestimmt Ernesto!» «Damit es uns nicht ganz erdrückt, müssen wir uns wehren…», sang Ernesto. Die Leute jubelten und klatschten. «Weg mit der Company!» riefen sie. «Gringos raus!» Neben Pancho stand ein Mann, der nichts rief. Er hatte einen Schreibblock in der Hand, auf den er etwas kritzelte. Pancho versuchte, sich einen Weg zu bahnen, aber vergeblich. «Nur vom Schädelspalten, ist was zu halten. Doch der Kopf von diesem Tier, ist im Ausland und nicht hier…» Die letzten Zeilen wurden von Sirenengeheul übertönt. Von mehreren Seiten kamen Polizeiwagen und Jeeps. Rücksichtslos rasten sie durch die Blumenbeete auf die Menge zu. Die Menschen rannten kopflos durcheinander. Behelmte Polizisten
sprangen mit gezogenen Gummiknüppeln von den Fahrzeugen. Einer schoß mehrmals in die Luft. Die Polizisten schlugen sich den Weg zum Denkmal frei. Ein Mann verteilte hastig Zettel nach allen Seiten und rief beschwörend: «Behaltet die Nerven, Brüder! Bleibt friedlich! Sie warten nur auf einen Vorwand, um zu schießen.» Zwei Polizisten schleppten Ernesto vorbei. Er strampelte und schrie. «Laßt mich los! Was wollt ihr von mir?! Was hab ich denn getan?» Pancho erschrak. «Ernesto!» Er rannte zu seinem Bruder und wollte sich an ihn klammern. Ein Polizist stieß ihn weg. «Hau ab, Kleiner!» rief Ernesto. «Schnell, lauf weg! Mir passiert schon nichts!» Einer der Polizisten drehte sich nach Pancho um. «Der gehört wohl dazu.» Er wollte auf Pancho los. Plötzlich fiel ihm der Zettelverteiler vor die Füße und hielt sich haltsuchend an dem Polizisten fest. Die Zettel regneten zu Boden. Pancho entwischte. «Blöder Hund!» Der Polizist gab dem Gestürzten einen Tritt. Ernesto wand sich in dem Griff des anderen Polizisten. Der rief seinen Kollegen zu Hilfe. «Laß doch den Kleinen! Pack lieber hier zu!» Pancho sah, wie sein Bruder in einen Polizeiwagen gestoßen wurde. Der Zettelverteiler hatte seine Blätter wieder aufgeklaubt und zwinkerte Pancho im Vorbeigehen fröhlich zu. Da begriff Pancho. Der Mann war mit
Absicht hingefallen, um ihn zu schützen. Ein Freund. «Señor!» rief Pancho hinter ihm her, «bitte, Señor!…» Aber der Señor war schon in der Menge untergetaucht. Pancho bückte sich nach einem der liegengebliebenen Zettel. Er starrte auf die Schrift. Wenn er doch bloß lesen könnte! Automatisch steckte er das Papier in die Tasche und blickte ohnmächtig dem Polizeiwagen hinterher, der seinen Bruder Ernesto und die anderen Festgenommenen entführte. Er mußte Ernesto helfen! Aber wie? Vielleicht wußte Cornelia einen Rat. Sie war seine letzte Hoffnung. Er kannte doch sonst niemanden hier. Pancho trieb sich bei der Schule herum. Er sah große Autos ankommen, die vor dem Eingang hielten. Die Chauffeure stiegen aus und plauderten miteinander. Schließlich glitt auch der Mercedes heran, mit dem Pancho Cornelia hatte zur Schule kommen sehen. Er parkte am Ende der Schlange. Pancho fürchtete, Cornelia würde im Auto verschwinden, ohne daß er sie sprechen konnte. Unauffällig schob er sich in die Nähe des Eingangs. Er hatte fast den Fuß der Treppe erreicht, als eine Klingel losschrillte. Panchos Herz machte einen Satz. Was war das? Hatte er einen Alarm ausgelöst? Eilig flüchtete er in den Schatten einer Palme am Straßenrand. Doch alles blieb ruhig. Dann wurden plötzlich die Glastüren aufgestoßen, und ein Schwarm fröhlich schwatzender Mädchen quoll aus dem Gebäude. Einige stiegen in die Autos. Die größeren
gingen paarweise oder in Grüppchen die Straße hinunter. Endlich erschien Cornelia auf dem Treppenabsatz und sah sich um. Sie entdeckte den Mercedes, sprang die Stufen hinunter und ging auf den Wagen zu. Als sie an der Palme vorbeikam, pfiff Pancho leise durch die Zähne. «Pssst, Cornelia!» Cornelia blickte sich überrascht um. «Pancho, du?!» Pancho zog Cornelia hinter den dicken Palmenstamm. «Komm, sie dürfen mich nicht sehen.» «Warum? Hast du was ausgefressen?» «Sie jagen mich überall weg.» «Wie hast du mich gefunden? Warst du bei uns zu Hause?» «Ich hab dich im Auto gesehen. Bei dir zu Hause haben sie mich auch weggejagt.» Cornelia sah an Pancho herunter. «Vielleicht hättest du dir etwas anderes anziehen sollen.» Dann biß sie sich auf die Lippen. Das war dumm von ihr gewesen. «Entschuldige», sagte sie leise. «Psst», Pancho zog sie dichter hinter den Stamm. Cornelias Chauffeur ging an ihnen vorbei und stieg die Steinstufen der Treppe zur Schule hinauf. Cornelia kicherte leise in sich hinein. «Roberto sucht mich.» Pancho erzählte ihr flüsternd, wie ihm seine Bananen gestohlen wurden, und von Ernesto. «Dein Bruder, ist der auch hier?»
«Ja, im Gefängnis wahrscheinlich, verhaftet.» Pancho schluckte. «Weil er gesungen hat.» Cornelia sah ihn aus großen Augen an. «Versteh ich nicht.» «Denkste, ich? Was soll ich jetzt tun? Ich muß ihm helfen.» Cornelia zuckte ratlos mit den Schultern. Pancho kramte den Zettel aus seiner Hosentasche. «Kannst du mir das wenigstens vorlesen?» «Was ist das?» «Das will ich ja von dir wissen!» «Kannst du nicht lesen?!» Pancho sah sie böse an. Cornelia fiel ein, daß die meisten Menschen in diesem Land nicht lesen konnten. Nur wenige gingen zur Schule. Leute wie Pancho konnten sich das nicht leisten. Ohne es zu wollen, hatte sie Pancho ein zweites Mal beleidigt. Verlegen nahm sie ihm den Zettel aus der Hand und las vor. «Jesus Christus liebte die Armen. Wir wollen ihm nachfolgen und gemeinsam mit euch für die Gerechtigkeit streiten. Hilfe durch Selbsthilfe. Kommt zur Kirche der Armen.» Pancho dachte an den Zettelverteiler. Wie ein Priester hatte der nicht ausgesehen. «Wo ist denn diese Kirche?» Cornelia schüttelte den Kopf. «Weiß ich nicht.» «Steht denn da keine Adresse drauf?» «Warte mal, doch, hier unten: Kirche der Armen, Calle Camucho 25. Los Papines.»
«Und wo ist das?» «Los Papines? Auf der anderen Seite vom Boliyarplatz. Das ist der große Platz da vorn…» «Da haben sie Ernesto gefangengenommen.» Cornelia machte eine hilflose Bewegung. «Dahinter, wo die kleinen Häuser anfangen, das ist Los Papines.» Cornelias Fahrer hatte sie entdeckt. «Señorita Cornelia…!» Cornelia winkte ab. «Reg dich nicht auf, Roberto. Das ist ein Freund!» Roberto musterte Pancho mißtrauisch. «Ich muß jetzt los.» Cornelia gab Pancho die Hand. «Komm doch morgen wieder her. Du mußt mir erzählen, was aus Ernesto geworden ist.» «Adios, Cornelia.» Pancho war enttäuscht. Wozu sollte er noch mal herkommen? Roberto zog Cornelia zum Auto. «Der Strolch kennt ja Ihren Namen. Das ist nicht gut, Señorita, gar nicht gut.» Cornelia ließ ihn reden. Sie mußte nachdenken. Es gab so viel, worüber sie nachdenken mußte. Pancho stand vor einer großen, weißgetünchten Kirche und blickte an ihr empor. Hoch oben im Turm hingen drei Glocken übereinander. Das mußte sie sein, die Kirche der Armen. Auf der breiten Treppe, die zum Portal hinaufführte, hockten Händler, die Rosenkränze anboten, kleine Marienfiguren und Heiligenbilder. Immer zwei Stufen auf einmal
nehmend, stieg Pancho zwischen ihnen die Treppe hinauf zur Kirche. Eine alte Frau rief ihn an. «Na, chico? Willst du mit leeren Händen vor die Heilige Jungfrau treten?» Lockend hielt sie ihm eine dicke Kerze hin. «Fünfzig Pesos, und Santa Maria wird deine Gebete erhören.» Pancho wehrte ab. «Ich hab kein Geld. Ist das die Kirche der Armen?» Die Alte lachte aus einem zahnlosen Mund. «Da bist du hier ganz falsch, Söhnlein. Dort geht’s zu Pater Emiliano.» Sie zeigte vage in Richtung einiger Gassen, die gegenüber der Kirche in die Straße mündeten. Pancho wollte nachfragen, aber die alte Händlerin hatte sich schon einer neuen Kundin zugewandt, der sie ihre Opferkerzen anpries. Pancho ging aufs Geratewohl in eine der dunklen Gassen hinein. Eine Kirche konnte er nirgends entdecken. Auf dem schmalen Bürgersteig kam ihm eine Frau entgegen. Entschlossen ging Pancho auf sie zu und sprach sie an: «Entschuldigen Sie, Señora…» Die Frau riß ihre Handtasche an die Brust und drückte sich an die Hauswand. Sie sah Pancho feindselig an. «Was willst du?» «Ist das hier die Calle Camucho?» Die Frau nickte stumm. «Ich suche eine Kirche hier, die Kirche der Armen.» Die Frau entspannte sich und wurde freundlicher.
«Zu Pater Emiliano willst du? Das ist nicht mehr weit. Komm, ich bring dich hin.» Sie nahm Pancho an die Hand. «Aber ich seh nirgends eine Kirche.» «Das ist auch keine richtige Kirche. Jedenfalls keine mit Glocken und Turm.» Die Frau blieb vor einer Toreinfahrt stehen. «Hier ist es.» Sie zeigte in den Hinterhof. «Geh nur hinein.» Zögernd betrat Pancho den finsteren Hof und sah sich um.
Der Wagen bog in die Avenida Franklin ein. Da hatte Cornelia einen Entschluß gefaßt. «Halt!» sagte sie zu Roberto. «Wir müssen noch mal umkehren. Zurück ins Zentrum.» Roberto drehte sich mürrisch zu ihr um. «Aber Señorita Cornelia…» Cornelia schnitt im das Wort ab. «Ins Central-Kaufhaus. Ich muß etwas besorgen für meinen Vater.» Roberto seufzte und wendete ergeben den Wagen. Vor dem Kaufhaus sprang Cornelia aus dem Auto. «Warte hier!» rief sie dem Fahrer zu und verschwand im Eingang. Cornelia hatte ein schlechtes Gewissen wegen Pancho. Sie wollte etwas für ihn tun, ihm eine Freude machen. Sie ging in die Abteilung
für Kinderbekleidung. Unentschlossen wühlte sie in Clubjacken und Hosen, die an Ständern hingen. Ob Pancho sich darüber freuen würde? Sie betrachtete eine Ausstellungspuppe mit blonder Perücke und blauen Augen, die einen eleganten blauen Anzug trug und ein Seidenhemd mit Fliege. Cornelia mußte lachen. Darin konnte sie sich Pancho nicht vorstellen. Die Hüte und Mützen, die nebenan auf einem Tisch lagen, paßten auch nicht auf seinen schwarzen Strubbelkopf. Da fielen ihr Panchos nackte Füße ein. Schuhe! Das war’s! Cornelia nahm die Rolltreppe zur Schuhabteilung. Sie überlegte. Was für eine Größe hatte Pancho? Das wußte er sicher selbst nicht. Bestimmt hatte er noch nie Schuhe gehabt. Sie beschloß, eine Nummer größer zu nehmen, als sie trug. Unschlüssig ging Cornelia an den Ausstellungsregalen vorbei. Schwarze Schuhe, braune Schuhe, weiße Schuhe, spitze Kappen, runde Kappen, dicke Sohlen, dünne Sohlen… Da entdeckte sie einen Tisch, auf dem sich Sandalen türmten. Sandalen waren genau richtig. Da kam’s auch nicht so auf die genaue Größe an. Cornelia suchte ein Paar heraus und befahl der Verkäuferin, es einzupacken. Geld brauchte Cornelia nicht. Das Kaufhaus gehörte der Company, und ihr Vater hatte ein Kundenkonto hier. Es genügte, daß Cornelia ihre Kennkarte zeigte und unterschrieb. Cornelia rannte hinunter zum Ausgang. Plötzlich blieb sie wie angewurzelt stehen und überlegte. Es war vielleicht besser, sie ließ Roberto
aus dem Spiel. Sollte er doch warten. Das war er ja gewohnt. Sie machte auf dem Absatz kehrt und schlüpfte durch einen Nebenausgang in eine Seitenstraße. Los Papines, Calle Camucho. Das hatte sie behalten. War gar nicht weit von hier. Sie freute sich auf Panchos überraschtes Gesicht. Pancho stand verwirrt im Hof und öffnete die große Tür. Die Frau hatte ihn reingelegt. Das hier war bestimmt keine Kirche. Ihm kam es eher vor, als würde in dem Saal ein Fest gefeiert. Eine Frau übte mit etwa einem Dutzend Kinder ein Volkslied ein, das Pancho von Ernesto kannte. In der Ecke links vor der Tür saß eine Gruppe junger Frauen und nähte an bunten Tüchern. Dabei steckten sie die Köpfe zusammen, tuschelten und brachen plötzlich in helles Gelächter aus. Niemand beachtete Pancho. An der Stirnseite des Saales hing ein einfaches, großes Holzkreuz, aber daneben mit Kreideschrift vollgekritzelte Tafeln. Und Bilder, die Szenen vom Land zeigten, mit Bananenarbeitern. Da entdeckte Pancho einen Priester. Er saß an einem Tisch vor einer Maschine. Um ihn herum standen Männer, die ihm etwas zuriefen. Der Priester hörte zu, nickte und tippte mit zwei Fingern auf der merkwürdigen Maschine herum. Ein verführerischer Geruch zog Pancho in die Nase. Er sah sich um. Der Duft schien aus einem Nebenraum zu kommen. Pancho drückte sich an der Wand entlang und warf einen Blick durch die Tür. Er
sah einige Frauen mit verschiedenen Töpfen und Schüsseln hantieren. Es roch aus dem Raum so appetitlich nach Essen, daß sich Pancho der Magen vor Hunger zusammenkrampfte. «Na, hast du Hunger?» Pancho fuhr herum. Vor ihm stand der Priester. Trotz seines schwarzen Rocks erkannte Pancho ihn wieder. Das war der Zettelverteiler vom Platz. Der Priester hatte Pancho auch erkannt und lächelte ihn freundlich an. «Welche Überraschung! Wie hast du uns denn gefunden?» Pancho hielt ihm stumm den Zettel entgegen. «Du kannst lesen?» Der Pater machte ein verblüfftes Gesicht. «Nee, hab ich mir vorlesen lassen.» In Panchos Bauch rumpelte es laut. «Sind Sie Pater Emiliano?» Emiliano nickte, legte Pancho den Arm um die Schultern und schob ihn in die Küche. «Zuerst wollen wir mal etwas gegen den Lärm in deinem Bauch tun…»
Das stinkt nach Entführung
Ernesto wartete nun schon Stunden im Polizeigefängnis. Er war mit etwa vierzig anderen Männern in einer engen Zelle eingepfercht. Man hatte die Festgenommenen durchsucht und ihnen alles abgenommen. Ernesto trauerte seinen Pesos nach, aber wenigstens hatten sie ihm seine Gitarre gelassen. Den anderen hatten sie sogar die Uhren weggenommen und die Eheringe. Anfangs hatten die Gefangenen noch trotzig Witze gemacht und gelacht, sogar gesungen. Aber dann waren die ersten herausgeholt worden. Als die Polizisten sie zurückbrachten, waren die Männer übel zugerichtet. Sie bluteten aus Mund und Nase oder hatten zugeschwollene Augen. Einem fehlten nach dem Verhör sogar die Vorderzähne. Und nicht alle kamen zurück. Jetzt brüteten alle schweigend vor sich hin. Da wurde die Zellentür aufgerissen. Ein Polizist winkte Ernesto, ihm zu folgen. Ernesto war vor Angst ganz steif. Sein Bewacher stieß ihn vorwärts zu einer Tür am Ende des Ganges. Der Polizist öffnete die Tür und schob Ernesto unsanft in den kahlen Raum. An einem Schreibtisch saß ein Polizeioffizier und blätterte in Papieren. Ihm gegenüber stand ein Hocker. Ernesto
wurde auf den Schemel gedrückt. Ohne aufzublicken, las der Offizier laut aus den Papieren: «Ernesto Hernandez Diaz. Aufruhr, Anstiftung zur Gewalt, Verbreitung von Hetzliedern…» Er sah Ernesto an, als wäre er ein ekliges Insekt. «So, so, ein Sänger also.» Der Offizier lehnte sich zurück. «Und wer schreibt dir deine schönen Texte?»
Direktor Groteberg saß an seinem mächtigen Schreibtisch und trommelte nervös mit den Fingerspitzen auf die Schreibtischunterlage. Sein weiträumiges Büro lag im obersten Stockwerk des Company-Hochhauses. Eine Seite des komfortablen, klimatisierten Raumes war ganz aus Glas. Vom Schreibtisch aus konnte Cornelias Vater aufs offene Meer schauen. Er stieß den Schreibtischsessel zurück und stand auf. Mit einem Blick auf die Armbanduhr trat er an einen großen Frachtplan, der fast die ganze Wand gegenüber dem Schreibtisch einnahm. Er hatte sich nicht geirrt: Der Zug war überfällig. Wenn es bloß nicht wieder Ärger gab! Das Schiff mußte in acht Stunden auslaufen! Und eine ganze Zugladung fehlte! Über hunderttausend Bananenkartons zu zwölf Kilo das Stück! Herr Groteberg ging hinüber zu der Fensterfront und schaute auf den Hafen hinab. Am Kai 2 lag die ‹John Christopher Fowley›. Fließbänder führten vom Ladeschuppen, in dem die Früchte noch
einmal überprüft werden mußten, in den Bauch des Schiffes. Jeder einzelne Karton wurde vor der Verschiffung noch einmal geöffnet. Ein einziger mit faulen Bananen konnte die ganze Schiffsladung verderben! Nichts regte sich da unten. Die Fließbänder standen still, und die Hafenarbeiter dösten vor dem Schuppen in der Sonne. Herr Groteberg seufzte. Es war nicht leicht, in diesem Land für die Konzerngeschäfte verantwortlich zu sein. «Alle gleich», murmelte er verdrossen. «Gleichgültig, faul und verantwortungslos!» Böse schaute er auf die Verladearbeiter hinab, die es sich beim Warten auf den Zug bequem gemacht hatten. Endlich, da kam er! Von einer dampfenden Lokomotive gezogen, wand sich die lange Schlange von Kühlwaggons über die verzweigte Gleisanlage des Hafengeländes. Die Arbeiter sprangen auf. Die ersten Wagen verschwanden im Schuppen, die Fließbänder liefen an. Direktor Groteberg atmete auf. Das war noch einmal gutgegangen! Einen Augenblick starrte er auf das große weiße Schiff, die ‹John Christopher Fowley›. Der Bananenfrachter war nach einem der ganz großen Company-Direktoren benannt. Ob es einmal ein Schiff geben würde, das seinen Namen trug? Eine ‹Friedrich Groteberg›? Er verscheuchte den Gedanken und schimpfte sich einen Träumer. Energisch ging er zum Schreibtisch und hob den Telefonhörer ab. Seine Sekretärin
meldete sich. «Bestellen Sie Domingo, er soll ein bißchen Dampf machen da unten. Die ‹Fowley› läuft in genau acht Stunden aus. Für jede Minute Verzögerung steht er mir persönlich gerade!» Die Sekretärin versprach, den Befehl weiterzuleiten, und wollte auflegen. «Halt! Moment noch! Verbinden Sie mich mit meinem Haus.» Herr Groteberg wartete. «Bei Direktor Groteberg», meldete sich Ana, das Kindermädchen. «Ana, sagen Sie Cornelia, wir essen heute zusammen im Country-Club. Roberto soll sie herbringen, sobald sie sich umgezogen hat. Ich warte.» Ana druckste. «Sie sind noch nicht zurück, Señor.» Herr Groteberg sah auf die Uhr. «Die Schule ist doch längst aus. Fährt sie spazieren?» «Sie wissen ja, wie sie ist», antwortete Ana vorsichtig. «Rufen Sie Roberto an. Sie soll sich beeilen. Ich erwarte sie in spätestens einer Stunde.»
Der Motor des Mercedes schnurrte im Leerlauf. Die Klimaanlage fächelte kühle Luft in den Innenraum des Wagens, und das Stereo-Gerät war voll aufgedreht. Roberto lehnte sich bequem schräg über den Vordersitz, die Beine ausgestreckt, die Mütze ins Gesicht geschoben. So war sein Job auszuhalten, fand er. Da schreckte ihn ein lautes Rasseln auf. Roberto
blickte zum Kaufhaus hinüber und sah, wie gerade die Gitter vor dem Eingang heruntergelassen wurden. Elektrisiert sprang Roberto aus dem Wagen. «He, Sie, was machen Sie denn da?!» «Das siehst du doch, Kumpel», antwortete der Pförtner gleichmütig durch das Gitter. «Schließen. Siesta! Mittagspause!» «Aber… aber…», stotterte Roberto. «Da muß doch noch Kundschaft drin sein.» Der Kaufhausangestellte ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. «Keine Maus mehr drin. Wie leergefegt.» Roberto geriet in Panik. «Aber die Tochter von meinem Chef! Die Kleine von Direktor Groteberg. Ich bin der Fahrer.» Bei dem Namen Groteberg horchte der andere auf. Sofort wurde er hilfsbereiter. «Und die soll hier drin sein?» «Na klar! Sie wollte was einkaufen. Ich warte schon eine Weile.» «Moment», sagte der Pförtner höflich. «Ich laß nachsehen.» Roberto tigerte nervös auf und ab. Das hatte ihm gerade noch gefehlt. Dieses verdammte kleine Biest. Endlich kam jemand. «Ich bin der Geschäftsführer», stellte er sich vor. «Und?» Roberto krallte nervös seine Hände ins Gitter. «Nichts. Ich hab überall nachsehen lassen.»
«Aber das ist doch unmöglich!» Roberto begann zu schwitzen. Der Geschäftsführer hob bedauernd die Schultern und zog sich ins Innere zurück. Roberto schwirrte der Kopf. Was sollte er jetzt tun? Geknickt ging er zum Wagen und ließ sich in den Sitz fallen. «Ruhig bleiben, Roberto», befahl er sich. «Nicht den Kopf verlieren.» Das Autotelefon summte. Auch das noch. Schicksalsergeben nahm Roberto den Hörer ab. Es war Ana. Roberto unterbrach sie. «Hör zu, Ana, ich kann nichts dafür. Sie hat mich verladen, das Miststück. Das Kaufhaus ist geschlossen. Sie haben überall nachgesehen. Sie hat gesagt, ich soll warten…» Es dauerte eine Weile, bis sich Ana einen Reim machen konnte auf Robertos Redeschwall. Als sie begriffen hatte, stieß sie einen spitzen Schrei aus. Roberto beschwor sie: «Sag ihm, ich kann wirklich nichts dafür! Ich warte hier. Sie kommt bestimmt zurück. Nein, noch besser, ich fahr’ die Straßen ab, ich suche sie.» Als Roberto auflegte, klebte sein Hemd am Körper trotz der Klimaanlage.
Pancho kaute auf beiden Backen. Soviel hatte er schon seit einer Ewigkeit nicht mehr gegessen. Zwei Schalen mit Bohnen, und sogar Fleisch war drin! Und ein Glas Milch. Er hatte das Gefühl, er würde gleich
platzen. Aber den letzten Rest mußte er auch noch schaffen. Wer weiß, wann es wieder was zu essen gab. Er nahm einen Löffel Bohnen und spülte ihn mit Milch hinunter. Pater Emiliano stand neben ihm. Pancho hatte ihm beim Essen seine ganze Geschichte erzählt. «Hektor, Armando!» rief der Priester zwei Männern zu, «kommt mal her.» Hektor und Armando traten an den Tisch. «Wir müssen etwas unternehmen. Sie haben den Bruder des Jungen eingesperrt.» Hektor brummte. «Es sind viele eingesperrt.» Aber Emiliano ließ sich nicht beirren. «Es ist der Sänger von heute morgen am Bolivarplatz.» Armando pfiff durch die Zähne. «Heilige Dreifaltigkeit! Das war dein Bruder?!» Er klopfte Pancho anerkennend auf die Schulter, daß der sich fast verschluckte. «Ein tolles Lied. Wart mal, den Anfang weiß ich noch.» Armando sang. «Die Company ist ein Krake der tausend schleimige Arme hat…» Emiliano sang weiter. «Mit Saugnäpfen über Land und Stadt zum Greifen und zum Würgen…» «Was soll das?» unterbrach Hektor mißmutig. «Glaubt ihr, ihr könnt die Company mit Liedchen vertreiben?» «Auch Lieder können eine Waffe sein», sagte der Priester, «genau wie Worte.» «Echte Waffen sind wirkungsvoller. Die Company singt auch nicht. Sie verläßt sich auf Polizei und
Soldaten.» Hektor wandte sich ab. Armando hielt ihn am Arm fest. «Und warum haben sie den Sänger dann verhaftet? Wenn ihnen Lieder nichts anhaben können?» «Aus Gewohnheit», erwiderte Hektor finster. Emiliano machte eine ungeduldige Handbewegung. «Nun streitet euch nicht schon wieder. Ich jedenfalls wünschte, wir könnten das Lied im ganzen Land verbreiten…» Pancho wurde eifrig. «Soll Ernesto im Radio singen? Das hat er sich schon immer gewünscht.» Jetzt mußte sogar der knurrige Hektor lachen. Er strich Pancho über den Kopf. «Im Radio singt nur die Company, chico. Immer dasselbe Lied.» «Also, wer kümmert sich um Ernesto?» fragte der Priester. Hektor reagierte nicht. «Ich mach das schon», bot sich Armando an. «Möglicherweise lassen sie ihn ja auch so wieder laufen», sagte Pater Emiliano. «Aber wenn nicht, weißt du, an wen du dich im Gefängnis wenden mußt. Leg ihm ein paar Scheine auf den Tisch.» Hektor spuckte aus. «Käuflich sind sie alle. Die ganze verdammte Bande!» «Okay», verabschiedete sich Armando. «Ich ruf euch an, sobald ich was weiß.»
In der Tür stieß Armando fast mit einem blonden Mädchen zusammen. Verwundert blickte er sich im Hinausgehen nach ihm um. Pancho schrie auf. «Cornelia!» Cornelia schwenkte ein Paket in der Hand und strahlte zufrieden. «Da staunst du, was?» Hektor sah erstaunt zu Emiliano, dann zu Pancho. «Donnerwetter, du hast aber wirklich eine vornehme Freundin!»
Direktor Groteberg lief ruhelos in seinem Büro auf und ab. Er hatte es kommen sehen. Dieses verdammte Land! Dieses verfluchte Drecknest Santa Basura! Wie lange wollte er hier schon weg. Aber bis jetzt gab es keine Anzeichen für die ersehnte Versetzung in die New Yorker Zentrale. Der Summer der Sprechanlage ertönte. Groteberg drückte auf den Knopf. «Ja.» «Ein Herr vom Polizeipräsidium.» «Ich lasse bitten.» Ein ordenbesäter Polizeioffizier betrat den Raum. Herr Groteberg lud ihn mit einer Handbewegung zum Sitzen ein. Er beherrschte sich mühsam. «Nun, was haben Sie unternommen?» «Aber Señor Direktor… Es ist gerade eine Stunde her. Vermutlich ist alles ganz harmlos…» Direktor Groteberg schlug donnernd mit der Faust auf den Schreibtisch.
«Sie wissen nicht, wovon Sie reden. Sie war im Kaufhaus! Das Kaufhaus ist seit einer Stunde geschlossen. Meinen Sie, sie hat sich in Luft aufgelöst?! Vor der Schule ist sie von einem verdächtigen Strolch angesprochen worden. Das hat mir mein Chauffeur berichtet. Was wollen Sie denn noch?! Sie ist meine einzige Tochter!» Der Polizeioberst nickte beruhigend. «Wir lassen die Gegend absuchen. Ein paar Streifenwagen sind schon unterwegs…» «Ein paar Streifenwagen?!» brüllte Cornelias Vater. «Das stinkt nach Entführung! Will das nicht in Ihren verdammten Dickschädel? Denken Sie an meinen Vorgänger! Seine Frau…» «Aber Señor Groteberg…», unterbrach ihn der Oberst bittend. «Bisher gibt es keinerlei Hinweise, daß…» Direktor Groteberg stand abrupt auf. Seine Stimme war auf einmal gefährlich leise. «Wenn ihr nur ein Haar gekrümmt wird, dann gnade Ihnen Gott. Es ist wohl besser, Sie machen sich an die Arbeit, statt hier herumzusitzen.» Der Offizier erhob sich schwer aus dem Sessel und ging zur Tür. Kalt rief ihm Direktor Groteberg hinterher. «Ich werde das Fernsehen einschalten und die Presse. Bestellen Sie das dem Polizeipräsidenten.» Der Oberst legte grüßend seine Hand an die Mütze und ging. Groteberg massierte sich die Schläfen. Dann drückte er auf einen Knopf. Sekunden später stand eine Sekretärin vor ihm. Er gab ihr das Foto von Cornelia,
das immer auf seinem Schreibtisch stand. Die Sekretärin sah das Bild erstaunt an. «Ihre Tochter, Herr Direktor, was…?» «Sie ist verschwunden.» Herrn Grotebergs Stimme klang heiser. Die Sekretärin schrie erschrocken auf. Der Direktor räusperte sich. «Nehmen Sie sich zusammen, Lucia. Schicken Sie das Bild zum Fernsehsender. Dann rufen Sie Rundfunk und Fernsehen an. Ich will die Direktion sprechen. Den Schlafmützen von der Polizei werde ich Beine machen. Alles, was meine Tochter betrifft, stellen Sie sofort durch. Ich bleibe im Büro. Beeilen Sie sich!» Die Sekretärin lief bleich hinaus.
Ein harter Tritt riß Ernesto vom Schemel. Sein Kopf schlug auf dem Steinfußboden auf. Der Polizist beugte sich über ihn und zog ihn an den Haaren zurück auf den Hocker. Ernestos Nase blutete. Vor ihm klatschten dicke, dunkle Tropfen auf den Fußboden. Ernesto legte den Kopf in den Nacken, um das Nasenbluten zu stoppen. Der Offizier am Schreibtisch lächelte grausam. «Das ist gut gegen schlechtes Gedächtnis, Singvogel. Wir haben alles mitschreiben lassen. Hier steht es schwarz auf weiß: ‹Die Company ist ein Krake, der tausend schleimige Arme hat.› Ich versteh ja nicht viel von Reimen, vielleicht klingt es mit Musik besser. Augusto.» Der
Polizist knallte Ernesto die Gitarre vor den Bauch. «Sing!» «So ging das aber nicht, Señor», beteuerte Ernesto. «Nicht? Da muß sich da wohl einer verhört haben.» Der Offizier grinste breit. «Also, ich warte.» Ernesto spürte, wie sich ihm der Polizist von hinten näherte. Schnell schlug er die Gitarre an. «Nicht: Company! Oh, komm Marie, hab ich gesungen.» Ernesto begann, mit zitternder Stimme zu singen. «Oh, komm Marie, laß dir sagen, wenn ich dich in meinen Armen hab…» Der Offizier lachte gehässig. «Auf die Tour also, das hältst du nicht durch, Sänger, du nicht!» Er blätterte in den Papieren. «Und hier? ‹Dieses Ungeheuer kommt uns zu teuer…› Auch ein Mißverständnis, was?» «Ja, Señor», antwortete Ernesto matt. «Dieses Liebesfeuer brennt ungeheuer.» Plötzlich heulte eine Sirene los. Über der Tür des Vernehmungszimmers blinkte hektisch eine rote Lampe. Der Offizier sah den Polizisten überrascht an und griff zum Telefon. Die Tür wurde aufgerissen. Ein Behelmter im Kampfanzug rief in den Raum: «Raus, Ausnahmezustand! Nach Plan ‹Rot›.» Der Offizier sprang auf und stürzte zur Tür. Dabei stolperte er über Ernestos Gitarre. Wütend trat er auf sie ein.
Der Polizist stieß Ernesto, der auch aufgesprungen war, zurück auf den Hocker. «Du bleibst hier und rührst dich nicht vom Fleck!» Die Tür schlug zu, und Ernesto war allein.
Ich will nicht nach Deutschland
In der Kirche der Armen saß Cornelia mit baumelnden Beinen auf einem Tisch. Die jungen Näherinnen beobachteten sie verstohlen. Die Kinder hatten ihre Chorübung abgebrochen und standen mit offenen Mündern um das blonde Mädchen herum. Sie starrten sie an wie eine Erscheinung. In dieser Umgebung wirkte Cornelia wie ein Goldfasan im Hühnerhof. Pancho hatte die neuen Sandalen an den Füßen, und übte damit zu gehen. Er konnte es immer noch nicht fassen. «Und die sind wirklich für mich?» Cornelia lachte zufrieden. «Für wen denn sonst? Du kannst doch nicht dein Leben lang barfuß gehen.» «Millionen müssen das», sagte Pater Emiliano sanft. «Und das ist nicht einmal das Schlimmste.» Cornelia sah ihn ungläubig an. «Aber Pancho soll Schuhe haben!» erwiderte sie trotzig. Hektor lachte unfroh. «Du hast ja keine Ahnung, Goldkindchen. Wir haben andere Sorgen. Die Company saugt unser Land aus, daß es für die meisten nicht mal zum Fressen reicht. Und wer aufmuckt, landet im Knast oder noch schlimmer. Hast ja gehört, was dem Bruder von deinem kleinen Freund hier passiert ist.»
Cornelia sprang von der Tischkante. «Ihr lügt!» rief sie empört. «Mein Vater sagt, die Company ist ein Segen für das Land. Wir entwickeln euch überhaupt erst! Mein Vater ist Direktor der Company. Der muß das doch besser wissen als ihr!» Ein Raunen ging durch den Saal. Die Tochter vom Company-Direktor! Pater Emiliano beobachtete, wie Hektor die Fäuste ballte und die Zähne zusammenbiß. Er warf ihm einen mahnenden Blick zu. «Sie ist nur ein Kind, sie kann doch nichts dafür.» Pancho sah sich unsicher um. Er spürte, daß sich die Stimmung im Raum verändert hatte. Aber Cornelia war seine Freundin. Er legte seinen Arm um ihre Schultern und blickte herausfordernd in die Runde. «Cornelia ist nicht so. Nicht so wie die anderen Gringos», verteidigte er sie. Doch Cornelia war beleidigt. Sie stieß Panchos Arm weg. «Ich muß jetzt gehen, Roberto wartet.» Da wurde die Eingangstür aufgerissen. Ein Mann mit blauer Arbeitsschürze stürzte in den Saal. «Schon gehört? Die spielen mal wieder verrückt. Diesmal soll es eine Entführung sein!» Er sah Cornelia und erstarrte. «Heilige Mutter Gottes!» Cornelia sah dem Mann spöttisch ins Gesicht. «Ich heiße Cornelia.» Doch der Mann hörte sie gar nicht. «Das ist sie. Ihr Bild kam im Fernsehen. Sie soll entführt worden sein!» Einen Augenblick herrschte drückende Stille. Dann redeten und schrien alle wild durcheinander. Pater
Emiliano packte den Mann beim Arm und schüttelte ihn. «Bist du sicher, Raul?» Raul trat vor Cornelia, die überhaupt nichts begriff. «Wie heißt du?» «Cornelia, sag ich doch. Cornelia Groteberg.» Raul wurde weiß wie die Wand. «Kein Zweifel. Die Stadt ist ein Hexenkessel. Sie stellen alles auf den Kopf. Polizei und Soldaten. Sie suchen sie.» Cornelia schimpfte: «Roberto ist ein blöder Affe!» Hektor kniete sich vor sie. «Wer ist Roberto?» fragte er drängend. «Unser Chauffeur. Er sollte vor dem Zentral-Kaufhaus auf mich warten. Ich ruf meinen Vater an.» Sie sah sich nach einem Telefon um. Pater Emiliano schüttelte den Kopf. «Nicht von hier. Die warten nur auf einen Vorwand, um gegen die Kirche der Armen vorzugehen.» Cornelia sah den Priester verständnislos an. «Aber wieso denn?» Hektor winkte ungeduldig ab. «Das erzähl’ ich dir im Auto. Du mußt von hier verschwinden.» Cornelia stampfte mit dem Fuß auf. «Aber ich bin doch nicht entführt worden.» Pater Emiliano versuchte, sie zu beruhigen. «Das macht jetzt leider keinen Unterschied mehr. Wir müssen dich von hier wegbringen.» Pancho war wie betäubt. Er starrte auf seine Füße. Die Sandalen drückten.
Ernesto hatte eine Weile regungslos auf dem Schemel gewartet. Aber keiner kümmerte sich um ihn. Im Gang hatte er Stiefelgetrampel gehört. Gebrüllte Befehle. Es klang wie ein wildes Durcheinander. Aber jetzt war es ruhig geworden. Ernesto schlich zur Tür, drückte die Klinke. Es war nicht abgeschlossen. Er öffnete die Tür einen Spalt und sah vorsichtig den Flur hinunter. Kein Mensch zu sehen. Er griff sich seine demolierte Gitarre, trat auf den Gang und schloß leise die Tür hinter sich. Möglichst harmlos schlenderte er zur Treppe. Er eilte die Stufen hinab und erreichte die Eingangshalle, ohne jemandem zu begegnen. Nur noch ein paar Schritte ins Freie! Da legte sich eine Hand auf seine Schulter. «Wo willst du hin?» fragte ein dicker Uniformierter. Ernesto stotterte: «Ich wollt’… äh… ich suche…» Der Polizist bemerkte seine blutverkrustete Nase. «Abhauen wolltest du, was Freundchen?» Jetzt schaltete Ernesto blitzschnell. «Nein, wieso? Ich bin doch gerade erst gekommen. Man hat mich überfallen…» Der Dicke blieb mißtrauisch. Ernesto versuchte, ehrlich empört zu klingen. «Eine Anzeige wollte ich machen, aber hier hat ja keiner Zeit für mich. Sehen Sie, was sie mit meiner Gitarre gemacht haben. Die muß man mir ersetzen.» Der Polizist tippte sich an die Stirn.
«Du hast wohl einen Vogel! Eine Anzeige! Wir haben Wichtigeres zu tun.» Er schob Ernesto zum Ausgang. «Mach bloß, daß du wegkommst!» Ernesto stolperte ins Freie und mischte sich schnell unter die Passanten. «Bist du Ernesto?» Ein Unbekannter sprach ihn an. Ernesto antwortete nicht und wich dem Mann aus. Doch der hielt ihn fest. «Keine Angst, ich bin Armando, ein Freund von Pancho. Ich habe dich gesucht.» «Wir haben hier keine Freunde.» Ernesto versuchte, sich loszumachen. Doch der andere ließ nicht locker. «Hör mir doch erst mal zu.» Cornelia saß auf dem Rücksitz des alten Ford, den Hektor steuerte. Der Priester war mitgekommen. Sie hofften, seine Soutane würde sie weniger verdächtig machen. Cornelia preßte die Nase ans Fenster. «Wollt ihr mich jetzt richtig entführen? Das ist doch nie und nimmer der Weg zur Avenida Franklin.» «Verdammt noch mal! Duck dich!» blaffte Hektor sie an. Pater Emiliano drehte sich nach ihr um. «Wir können nicht durchs Zentrum, da wimmelt es von Polizei. Wir fahren einen Umweg.» Cornelia kauerte sich gehorsam auf die Bank, aber so, daß sie noch etwas erkennen konnte. Diese Gegend hatte sie
noch nie gesehen. Das sah überhaupt nicht aus wie Santa Basura. Diese zusammengeflickten Bruchbuden. Und die Menschen! Die erinnerten sie an die Bettler, die in der Innenstadt auf den Bürgersteigen hockten. «Das ist doch nicht mehr Santa Basura!» platzte sie heraus. «Das sieht ja furchtbar aus!» Pater Emiliano antwortete ihr in den Rückspiegel. «Und ob! Das ist viel mehr Santa Basura als das, was du kennst. So wohnen die meisten Menschen. Die Company ist gefräßig. Sie kauft ihnen ihr bißchen Land ab für ein paar Pesos und dann landen sie hier, um in der Stadt ihr Glück zu versuchen. Siehst ja, was das für ein Glück ist.» Cornelia schüttelte eigensinnig den Kopf. «Sind sie doch selber schuld. Sie müssen ihr Land ja nicht verkaufen.» Hektor wollte aufbrausen, doch Emiliano hielt ihn zurück. «Sie müssen», erklärte er geduldig. «Die Company ist stark. Sie findet immer einen Weg, damit sie müssen.» Cornelia vergrub ihr Gesicht in den Armen. «Ich will nach Hause», maulte sie unglücklich. Hektor warf einen kurzen Blick nach hinten. Jetzt tat ihm das Mädchen fast leid. Sie konnte ja wirklich nichts dafür. Aber ihr Vater war auch mal ein Kind gewesen. Und wenn sie nichts begriff, würde sie später genauso weitermachen wie er.
«Wir sind gleich da», brummte er versöhnlich. «Wir lassen dich dann bei eurer Villa raus. Und geh sofort ins Haus, kapiert? Damit dieser Spuk bald vorbei ist.»
Pancho saß unbeweglich auf seinem Stuhl und brütete vor sich hin. Die letzten Tage waren zuviel für ihn gewesen. Er hatte so viel erlebt und so wenig verstanden. Er mußte lernen, viel lernen. Im Saal herrschte eine gespannte Stimmung. Die Menschen redeten nur leise miteinander, fast flüsternd. Wenn sich eine Polizeisirene näherte, wurde es mucksmäuschenstill. Erst wenn sich das bedrohliche Jaulen wieder entfernte, entspannten sich die Gesichter. Eine mollige Frau setzte sich zu Pancho und nahm ihn aufmunternd in den Arm. Pancho dachte an seine Mutter. Eine dicke Träne kullerte ihm die Backe herunter. «Und was wird nun aus Ernesto?» schniefte er. «Nicht weinen, hombre. Die kleine Gringa ist bestimmt schon zu Hause. Bald wird sich auch die Aufregung legen. Und dann holen wir Ernesto raus. Bestimmt. Armando tut, was er kann.» «Ich hasse die Stadt!» «Die Stadt kann nichts dafür, Kleiner. Es sind die Menschen.» «Ich denk’, die Company?» «Die gehört auch Menschen. Aber die sind weit weg von hier.»
Die Tür öffnete sich, Armando trat ein. Pancho forschte ängstlich in seinem Gesicht. «Wo ist Ernesto?» Armando beruhigte ihn. «Alles in Ordnung, chico. Er ist draußen.» «Warum kommt er nicht rein?» Armando hob die Arme. «Weiß nicht, er ist mißtrauisch. Er wartet auf dich.» Pancho stürmte hinaus. Im Hof stand Ernesto. Pancho warf sich dem Bruder in die Arme. Beide lachten und weinten gleichzeitig. Pancho zog Ernesto zum Haus. «Komm mit rein.» Ernesto sträubte sich. «Nicht da rein, ich hab genug von solchen Häusern.» «Aber das sind Freunde! Sie haben mir geholfen! Und dich haben sie aus dem Gefängnis geholt.» Ernesto schüttelte den Kopf. «Niemand hat mich rausgeholt. Ich bin abgehauen. Sie werden mich bestimmt bald suchen.» «Sie finden alle dein Lied ganz toll», schmeichelte Pancho. «Sie wollen es alle hören.» Ernesto blieb fest. «Das wollten die Polizisten auch. Komm, laß uns weggehen.» Er nahm den widerstrebenden Pancho bei der Hand und zog ihn behutsam mit sich. Auf der Straße bemerkte er die Sandalen an Panchos Füßen. «Wo hast du denn die her?» «Von Cornelia. Hat sie mir geschenkt.» «Gut», sagte Ernesto nüchtern. «Die können wir verkaufen. Wir brauchen was zu essen.»
«Ich hab gegessen», erzählte Pancho eifrig. «Bei Pater Emiliano. Die geben dir bestimmt auch was.» Er wollte Ernesto zurückziehen. Aber der war nicht zu erweichen. «Vielleicht morgen, Panchito. Vielleicht gehen wir morgen hin. Erst mußt du mir alles erzählen.» Pancho bemerkte die eingetretene Gitarre. «Kannst du die wieder reparieren?» «Ich muß es versuchen.» «Du siehst schlimm aus», sagte Pancho leise. Doch Ernesto grinste nur. «Ich hab noch Glück gehabt.»
Der Polizeioberst schüttelte Direktor Groteberg die Hand. «Gratuliere. Na, sehen Sie», triumphierte er. «Alles in bester Ordnung.» Herr Groteberg ließ sich in seinen Sessel fallen. «Ihr Verdienst ist das nicht.» Der Offizier protestierte. «Wir haben getan, was wir konnten.» Der Direktor verzog spöttisch den Mund. «Bloß gut, daß es keine Entführung war.» «Darüber wollte ich mit Ihnen reden», hakte der Ordengeschmückte ein. «Wir wollten Sie bitten, noch für sich zu behalten, daß Ihre Tochter wieder in Sicherheit ist. Sie verstehen?» Cornelias Vater sah ihn fest an. «Nichts verstehe ich.» Der andere wand sich. «Nun, dieser Großalarm ist eine gute Gelegenheit, noch ein paar Widerstandsnester auszuheben. Sie brauchen nur zu schweigen. Verstehen Sie mich
jetzt?» Direktor Groteberg zündete sich eine Zigarre an. «Das geht mich nichts an. Machen Sie, was Sie wollen.» Der Oberst sah zufrieden aus. «Also, ich verlaß mich auf Sie. Kann ich mal telefonieren?» Herr Groteberg zog schweigend an seiner Zigarre und deutete mit dem Kopf zum Telefon. Der Offizier wählte, dann bellte er ins Telefon: «Alles in Ordnung. Der Einsatz geht weiter.» Cornelia war froh, daß der Krach vorüber war. Noch nie hatte sie ihren Vater so wütend erlebt. Sogar zu einer Ohrfeige hatte er ausgeholt. Aber geschlagen worden war sie noch nie und auch diesmal nicht. Die Brüllerei war schlimm genug. Nie wieder dürfe sie allein ins Kaufhaus und überhaupt nirgendwohin gehen. Keinen Schritt sollte sie unbewacht tun, und jeder Kontakt mit den «Latinos» war streng verboten – mit Ausnahme des Hauspersonals natürlich. Den armen Chauffeur Roberto hatte ihr Vater nicht nur entlassen, sondern auch noch der Polizei übergeben. Der neue Chauffeur war selbst Polizist. Cornelia hätte das alles noch geschluckt. Irgendwie und irgendwann würde sie die Erwachsenen doch austricksen und ihre neuen Freunde wiedertreffen. Aber dann kam die schlimmste Neuigkeit. Nach endlosen Ferngesprächen mit ihrer Mutter hatte der Vater Cornelia eröffnet, daß sie so schnell wie möglich nach Deutschland zurückfliegen würde, und zwar für immer. Außerdem sollte sie da in ein Internat
gesteckt werden. Vor ein paar Tagen hätte sie sich darüber vielleicht noch gefreut, es wäre ihr wenigstens egal gewesen. Aber jetzt war sie neugierig geworden. Durch Pancho hatte sie zum ersten Mal Menschen von hier kennengelernt, die weder Dienstboten noch Polizisten waren, sondern ganz normale Bürger. Cornelia begann zu ahnen, welche Rolle die Company hier tatsächlich spielte, und sie schämte sich dafür. Wenigstens sie wollte Pancho und seinen Freunden sagen, daß nicht alle Ausländer in diesem Land auf der Seite von Polizei, Militär und Company standen. Aber dazu hatte sie nun keine Zeit mehr. Pancho, Ernesto, Emiliano, der brummige Hektor und die anderen würden nie erfahren, welche Gedanken sich Cornelia in den letzten Tagen gemacht hatte. Statt dessen mußte sie in ein deutsches Internat mit gleichaltrigen Mädchen, die von Südamerika bestimmt keinen Schimmer hatten und sich auch nicht dafür interessierten. Für Cornelia würde alles wieder genauso langweilig werden wie früher, bevor sie nach Santa Basura gekommen war. Zur Mutter sollte sie auch nicht gehen. Der paßte es angeblich überhaupt nicht, daß Cornelia ständig bei ihr leben wollte. Wahrscheinlich hat sie schon einen neuen Freund, dachte Cornelia. Immerhin sollte sie ihre Mutter «regelmäßig» besuchen, wie ihr Vater gesagt hatte. Den Vater selbst würde sie in den Ferien sehen. Aber wo? Es schien
nicht so, als ob er Cornelia erlauben würde, wieder nach Santa Basura zurückzukommen, und sei es für ein paar Ferienwochen. Ihr Südamerikaabenteuer war wohl für immer zu Ende. Cornelia saß in ihrem Zimmer auf dem Teppich. Das Kindermädchen Ana eilte lautlos zwischen dem Wandschrank und drei geöffneten Koffern hin und her, die auf dem Bett standen. Sie packte. «Brauchst dich gar nicht zu beeilen, Ana», maulte Cornelia über die Schulter. «Ich bleib ja doch hier.» Wütend blätterte sie in einer Zeitung. Auf der ersten Seite war ein Bild von ihr. Und noch dazu so ein blödes. Wie ein kleines Mädchen sah sie darauf aus. Cornelia begann zu lesen. Plötzlich brüllte sie los: «So eine Schweinerei! Lauter Lügen!» Ihr Vater steckte den Kopf ins Zimmer. «Was brüllst du hier rum? Mach lieber, daß du fertig wirst.» Cornelia lief zu ihm und hielt ihm zornig die Zeitung unter die Nase. «Hast du gelesen, was hier steht?!» fuhr sie ihren Vater an. «Daß ich von der Polizei befreit worden bin… Da! Hier unten: ‹aus den Händen brutaler Entführer› – Lügen! Lauter gemeine Lügen!» Direktor Groteberg zuckte unbeteiligt mit den Achseln. «Zeitungen sind nun mal so.» «Aber die Zeitung schreibt doch nur, was die Company will.» «Woher willst du denn das wissen?» «Das weiß doch jeder!»
Cornelia hatte einen ganz roten Kopf vor Wut. Ana schlich sich aus dem Zimmer. Herr Groteberg lachte Cornelia aus. «Seit wann verstehst du denn was davon?! Pack lieber dein Handgepäck zusammen. Das Flugzeug fliegt in drei Stunden.» «Soll es eben ohne mich fliegen. Ich will nicht nach Deutschland.» Der Vater wurde energisch. «Nun benimm dich nicht wie ein Baby, wir haben das alles durchgesprochen. Es ist für dich zu gefährlich hier. Und nach dieser Entführung…» Cornelia brüllte ihrem Vater ins Gesicht: «Ich bin nicht entführt worden!!»
Auf der Hauptgeschäftsstraße war Hochbetrieb. Die Leute stießen und schubsten sich und machten gehetzte Gesichter, als hätten sie Angst, zu spät zu kommen. Die Autohupen lärmten durcheinander, und die Straßenhändler schrien um die Wette. Auf der Stufe eines Hauseinganges saßen Ernesto und Pancho. Ernestos Gitarre war über und über mit Leukoplast-Streifen beklebt. Sie sah aus, als hätte sie einen Unfall gehabt. Und gewissermaßen war das ja auch so. Ernesto stimmte die Saiten. Pancho lachte seinen Bruder an. «Klingt doch schon wieder ganz gut.» Ernesto zupfte an einer Saite und drehte den Knebel fester.
«Na ja, es geht.» Leise begann er, zur Gitarre zu singen. «Die Company ist ein Krake der tausend schleimige Arme hat…» Pancho zog seine Sandalen aus. «Dann werd’ ich mal fürs Essen sorgen.» Er streckte den Vorüberhastenden seine Sandalen entgegen. «Sandalen, Señores und Señoras, wunderschöne Sandalen…»
Cornelia stand mürrisch mit ihrem Vater vor der Paßkontrolle im Flughafengebäude. «Und wann kann ich wiederkommen?» «Hierher? Nie mehr!» antwortete der Vater kurz angebunden. «Dann will ich wenigstens zu Mutti.» Direktor Groteberg schaute auf die Uhr. «Nun fang nicht wieder an. Die Sache ist entschieden. Das Internat wird dir guttun.» «Achtung, Achtung!» tönte es aus dem Lautsprecher in Spanisch. «Die Passagiere für den Lufthansaflug 519 nach Frankfurt bitte zum…» Cornelia hielt sich die Ohren zu. Herr Groteberg nahm ihr die Hände von den Ohren. «Sei nicht albern. In deinen Ferien komm ich nach Deutschland. Dann fahren wir irgendwo zusammen hin.» Cornelia glaubte ihm nicht.
«Wenn du mich in diesem Internat verschimmeln läßt…» «Nun bleib doch bitte sachlich.» «… dann erzähl’ ich in Deutschland, was hier los ist.» Die Durchsage wurde jetzt in Englisch wiederholt. Herr Groteberg schob seine Tochter zum Durchgang. «Was ist denn hier los, deiner Meinung nach?» «Daß die Company das Land auspreßt. Daß wegen der Company die Kinder hungern. Daß eure Zeitungen hier lügen. Daß ihr Angst habt. Und daß sie euch längst rausgeschmissen hätten ohne eure Polizei und Soldaten.» Direktor Groteberg schaute seine Tochter an, als sähe er sie zum ersten Mal. Dann lachte er gekünstelt. «Erzähl’ doch, was du willst. Das glaubt dir in Deutschland ja doch keiner. Und jetzt komm, die Stewardeß wartet auf dich!»