KLEINE
BIBLIOTHEK
DES
WISSENS
LUX-LESEBOGEN NATUR- UND K U L I D R K ÜNDLICHE HEFTE
ALEXANDER SUDER
NICOLO PAGANI...
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KLEINE
BIBLIOTHEK
DES
WISSENS
LUX-LESEBOGEN NATUR- UND K U L I D R K ÜNDLICHE HEFTE
ALEXANDER SUDER
NICOLO PAGANINI KÖNIG DER GEIGER
VERLAG SEBASTIAN
LUX
MURNAU•MÜNCHEN•INNSBRUCK•BASEL
Unter väterlicher Obhut Jf'hantastisch, faszinierend und hintergründig wirkte auf alle Zeitgenossen die Erscheinung Paganinis, und auch heute noch stehen wir in mancher Beziehung vor einem Rätsel, wenn wir uns mit ihm befassen. Sein Leben, seine Gestalt, seine Kunst reizen immer wieder zu romanhafter Darstellung, zumal der Kern seiner Gesamtpersönlichkeit und seines Künstlertums nicht mit der Wiedergabe seines Lebenslaufes erfaßbar ist, sondern stets etwas Unwägbares bleiben wird. Einige Jahre seiner Laufbahn sind ohnehin in Zwielicht getaucht, der Schleier des Geheimnisvollen breitet sich über diese Zeit genauso wie über einige Einzelheiten seiner Geigentechnik. Über Paganinis Geburtsdatum sind wir unterrichtet: Nicolö kam am 18. Februar 1784 im Passo di Gatta Mora, einer schmalen Gasse Genuas, zur Welt. Sein Vater Antonio, ein kleiner Geschäftsmann, galt als hart und geizig, und eine sonnige, unbeschwerte Jugend war dem so begabten Sohn nicht beschieden. Mit spätestens sechs Jahren bekam der träumerische Knabe die erste Violine in die Hand, und mit eiserner Energie, mit unbeugsamer Strenge und wohl auch mancher Strafe wußte der Vater die Übungsstunden immer mehr auszudehnen. Stundenlang mußten die gleichen Passagen und Griffe geübt werden, unermüdlich liefen die kleinen biegsamen Fingerchen am Griffbrett auf und ab, ohne Rast strich der Arm den Bogen über die Saiten. Diese dauernde Anstrengung erklärt es auch, daß Paganinis Haltung ungewöhnlich wurde: Er hielt den rechten Oberarm eng an den Körper gepreßt und führte den Bogen fast nur mit dem Unterarm und dem Handgelenk. Die gehemmte Beweglichkeit des Armes ist wahrscheinlich auf die ständige über2
müdung des Kindes zurückzuführen, das einfach nicht mehr die Kraft zur lebendigen Bogenführung aus dem Oberarm heraus aufbringen konnte. Der Ehrgeiz Antonios wird im allgemeinen auf Habgier zurückgeführt, auf sein Bestreben, möglichst rasch durch die Fähigkeiten des Sohnes zu Reichtümern zu gelangen. Diesem Ziel diente auch die andere, unablässig weiterverfolgte Marotte, auf magische Weise zu einer glücklichen Lotteriezahl zu kommen. Dem Vernehmen nach hat Antonio dabei keinen Erfolg gehabt, dafür kam ihm und seinen Neigungen das geigerische Talent des Sohnes um so mehr entgegen, als er selbst leidlich Mandoline gespielt haben soll. So konnte man oft im Stübchen der allmählich wachsenden Familie Paganini die Duette hören, wobei anfangs der Vater mit der Mandoline den Takt angab, schon bald aber Nicolo die führende Rolle übernahm. Aus der Freude am Geigen und dem unerbittlichen Antreiben durch den Vater gewann Nicolo schon nach einigen Jahren ein erhebliches technisches Können. Von nun an bestimmte und überwachte Vater Antonio nur noch die Übungszeit — die violinistische Ausbildung hatten berufenere Hände übernommen: zunächst der Orchestergeiger Giovanni Servetto, später der genuesische Orchesterdirektor Giacomo Costa, der beste Violinspieler der Stadt. Ihm hat Paganini ein liebevolles Andenken bewahrt. Offenbar konnte der streng konservative Musiker dem heißblütigen Jungen viel Neues mit weniger drakonischen Maßnahmen beibringen als der Vater. Natürlich hatte Meister Costa viel an der Bogenführung auszusetzen, auch suchte er den unentwickelten künstlerischen Sinn seines Zöglings zu entfalten. Merkwürdigerweise endete der Unterricht Costas schon nach sechs Monaten. Inzwischen hatten sich für Nicolo zwei Gönner gefunden, die noch lange ihre schützende Hand über den Jungen hielten, Marchese di Negro und der Opernkomponist Francesco Gnecco. Antonios wacher Ehrgeiz aber ließ den Knaben kaum zur Ruhe kommen. Nur für den Anfang war er damit zufrieden, daß der achtjährige Junge die Soli während des Gottesdienstes in der San Lorenzo-Kirche spielen durfte. Bald führten die Mäzene den Kleinen in Privatgesellschaften ein, und endlich, 1793, kam die große Stunde des ersten Auftretens im Konzertsaal. Er durfte in 3
einem Konzert des Sängers Marchesi mitwirken, und das Publikum von Genua klatschte stürmisch, als das Wunderkind Nicolö selbstkomponierte Variationen über das französische Volkslied „Carmagnola" vortrug. Schon vorher hatte er eine Violinsonate geschrieben, die aber verlorengegangen ist. Der Vater spürte jedoch, daß die Frucht noch nicht reif war, daß der junge Geiger und Komponist für sein Alter zwar schon Überraschendes leistete, aber noch unendlich viel bis zur wahren Meisterschaft zu lernen hatte. Genuas Meister waren ihm nicht mehr gut genug. Die beiden Paganinis bestiegen also den Reisewagen nach Parma, um den bekannten Maestro Alessandro Rolla, einen hervorragenden Vertreter klassischer italienischer Geigenkunst, aufzusuchen. Nach der Darstellung Paganinis, wie er sie in späteren Jahren seinem ersten Biographen Schottky in Prag gab, soll sich die erste Begegnung überraschend genug abgespielt haben. Rolla lag kränklich zu Bett, seine Frau wollte die beiden Besucher abweisen. Antonio blieb aber hartnäckig, und so wurden sie ins Musikzimmer geführt. Die Gäste blickten neugierig in die herumliegenden Manuskripte, Nicolö entdeckte am Flügel die Solostimme des neuesten Violinkonzerts von Rolla — schnell war die Geige ausgepackt, und vom Blatt weg musizierte der Junge das schwierige Werk. Rolla im Nebenzimmer horchte auf und wollte nicht glauben, daß ein Neunjähriger sein mit technischen Kunststücken gespicktes Konzert ohne Vorübung spielen könne und überzeugte sich nun doch selbst von der unglaublichen Geschicklichkeit Paganinis. Damit war die Aufnahme des Schülers gesichert. Sehr viel aber scheint der Neunjährige nicht angenommen zu haben, zu stark schon war seine Eigenart ausgeprägt, zu lange war er Autodidakt gewesen. Dagegen lernte er viel und eifrig von einem anderen klassischen Meister, von dem berühmten Opernkomponisten Ferdinando Paer und dessen Lehrmeister Ghiretti. Nun galt es Fugen zu schreiben und die strengen Gesetze der Stimmführung zu beherrschen, kurz, sich das Handwerk der Komponisten anzueignen. In Parma blieb Nicolö nicht allzulange, nach einigen Monaten intensiven theoretischen Arbeitens kehrte er in die häusliche Enge väterlicher Aufsicht zurück. Erst 1797 hielt ihn der Vater für würdig, 4
eine große Tournee durch Oberitalien mit ihm zu unternehmen, Beifallumrauscht bereiste er alle größeren Städte, stets geführt, umsorgt und bewacht von Antonios unerbittlichen Anordnungen. Immer stärker wuchs in dem Knaben die Sehnsucht nach Freiheit, der Drang, sich den väterlichen Fesseln zu entwinden, der Wille, selbständig sein Leben zu gestalten. Und bald sollte sich die Gelegenheit dazu ergeben.
Frei Sankt Martinstag in Lucca! Zum alljährlichen großen Musikfest strömt alle Welt in die traditionsreiche alte Stadt. Feierliches Hochamt, Volksfesttrubel und überfüllte Konzerte vor einem Publikum voll südländischer Begeisterung geben ein farbenfrohes Bild festlicher Stimmung. Paganini hat dem Vater die Erlaubnis abgerungen, in Begleitung des älteren Bruders nach Lucca zu fahren. Auch hier bezwingt er die Zuhörer, auf manche wirkt schon jetzt das Spiel des Sechzehnjährigen mit dämonischer Gewalt, seine Gaben erscheinen übernatürlich. Dazu tragen die hochaufgeschossene, hagere Gestalt, das bleiche Antlitz und sein glühendes Auge viel bei. Er soll mit dem Teufel im Bunde stehen, flüstert man sich zu, und gelegentlich macht einer noch rasch vorsorglich das Kreuzzeichen. Paganini erobert Lucca, so wie er später alle Städte erobern wird. Aber noch ist er am Anfang, noch gilt es zunächst, sich der Obhut und Tyrannei des Vaters zu entziehen. Es gelingt ihm, dem aufpassenden Bruder zu entwischen, drei Tage forscht der Bruder nach Nicolö — vergeblich. Jetzt winkt die goldene Freiheit, jetzt endlich beginnt für ihn das Leben nach so langen Jahren qualvollen Zwangs. Paganini. ist sehr empfänglich für Frauenschönheit, und die Frauen werden von seiner Erscheinung magisch angezogen, das Seltsame, Außerordentliche reizt an diesem Manne, der außerhalb gewöhnlicher Maßstäbe bleibt. So spinnt sich manche Romanze an in diesen Jahren bis 1805, die eine Lücke in Paganinis Biographie bilden. Er scheint das Leben zu genießen, gewinnt viel Geld durch Konzerte — es rinnt ihm durch die Finger. Der Spielteufel hält ihn in seinen Krallen, er verspielt sogar sein Instrument, bis er eines Tages genug hat und für immer dem Spieltisch entsagt. Und dazwischen, 5
einer schönen Dame wegen, entdeckt er die Reize des Gitarrespiels. „Natürlich" ist er auch hier bald virtuoser Meister. In späteren Jahren wurde der Meister oft nach diesem Zeitraum bis 1805 gefragt, stets jedoch wich er aus oder verweigerte die Antwort. So hielt sich hartnäckig das Gerücht, er habe wegen gefährlicher Händel im Gefängnis gesessen, habe dort das Spiel auf der G-Saite allein geübt, ja er habe sich, um wieder frei zu werden, dem Leibhaftigen verschrieben! Kein Wunder, daß den braven Bürger Angst beschlich — und doch, von unwiderstehlicher Neugier getrieben, eilte er zum nächsten Konzert, eilte, um den Hexenmeister selbst zu hören und zu sehen. Und wieder der gleiche erregende Eindruck: Paganinis schleppender Gang, sein bleiches, oft hohlwangiges Gesicht, die merkwürdige Haltung und gar erst sein Spiel! Alle Teufelskünste schienen sich in den glitzernden Passagen, in wirbelnden Trillern und gestochenen Pizzicati auszutoben — der Mann m u ß t e mit dem Gottseibeiuns im Bunde stehen! Und immer war das Publikum hingerissen, stets vermochte Nicolö die Massen in seinen Bann zu ziehen, die Menge lag ihm zu Füßen. Dem jungen Mann von kaum einundzwanzig Jahren stand jedoch die Entwicklung zu künftigem Weltruhm noch bevor. Wohl war er bereits ein unvergleichlicher Geiger, aber er mußte sich erst mit den Besten seines Faches messen, mußte erst alle persönlichen Besonderheiten seines Virtuosentums voll ausbilden. Die ungehemmte Freude am Dasein überwucherte zunächst die letzte künstlerische Zielsetzung, der Glanz des Lebens lockte mehr als die einsame Höhe unerreichten Geigenspiels.
In fürstlichen Diensten Seine fast triebhafte Freiheitsliebe hat Paganini am 14. September 1805 für einige Jahre an die Kette gelegt. Im selben Lucca, das 1799 für ihn die Pforte zur Ungebundenheit bedeutet hatte, entschied sich ein zweites Mal sein Schicksal. Das Provinzstädtchen war zur Residenz erhoben worden, Napoleons Schwester Maria Anna Elise regierte mit ihrem Gatten Feiice Bacciocchi das Fürstentum Piombino. Ein Hofstaat mit vielerlei Intrigen hatte sich gebildet, rauschende Feste jagten einander, und die Fürstin, eine 6
sinnenfrohe und anspruchsvolle Persönlichkeit, lenkte das lustige Treiben. Erwartungsvoll harrte das höfische und städtische Publikum an jenem 14. September auf Paganinis Auftreten im Konzert. Lösten das seltsam linkische Gebaren des Meisters, seine eckigen Verbeugungen bei der hohen Gesellschaft zunächst verwundertes Lächeln aus, so wurden seine Zuhörer mit jeder Darbietung mehr von Nicolos Geige hingerissen, seine Künste faszinierten selbst die Fürstin. Sie spürte sofort das Geniale in diesem Mann und beschloß, ihn an sich zu fesseln. Kaum hatte sich Paganini von den Strapazen des Konzerts etwas erholt, nahm er in einer Audienz von der Fürstin seine Bestallung als Kammervirtuos und Hofkapellmeister der Oper entgegen. Um auch bei Hofe einen offiziellen Rang einzunehmen, wurde er zum Offizier der Leibwache „befördert". Damit begann nun eine angespannte Tätigkeit, die ihn musikalisch ungemein förderte, hatte er doch zahlreiche Opernaufführungen zu leiten, zweimal während eines Monats in Konzerten solistisch aufzutreten und auch noch bei Kammermusikabenden am Hofe mitzuwirken. Für den jungen Geiger bedeuteten die neuen Aufgabenbereiche das Hineinwachsen in ein umfassendes Musikertum; über den Spezialisten erhob sich der in allen Sätteln gerechte Meister, der ebenso gut ein Quartett anzuführen wußte, wie er mit Temperament und Geschick eine Oper durch alle Fährnisse steuern konnte. Welche Gewandtheit er gerade in diesem Fach schon bald erreicht hatte, zeigt die glatt gewonnene Wette, in welcher er sich anheischig machte, eine Oper von Panesi geigend zu dirigieren, aber dabei nur die beiden unteren Saiten zu verwenden. In späteren Jahren, in Rom, rettete er eine Premiere seines Freundes Rossini, als er am Tage vor der Aufführung für den plötzlich gestorbenen Kapellmeister einsprang und das Werk — die Violinstimme eine Oktave höher mitspielend — glänzend über die Bühne brachte. In Lucca kam aber vor allem der Komponist Paganini zu ersten Ehren. Nicht nur, daß er ein Konzert für Violine und Englischhorn mit Orchesterbegleitung in der fabelhaften Zeit von zwei Stunden komponierte; auf Grund seiner Stellung war er auch genötigt, seiner erlauchten Gönnerin und dem Publikum immer wieder neue Stücke zu bieten. Meist schrieb er lediglich die Begleitung flüchtig auf, die Solo7
stimme hatte er im Kopf und improvisierte nach Lust und Laune. Dadurch sind uns nur wenig Kompositionen aus dieser Zeit erhalten. In Lucca entwickelte Paganini seine unglaubliche Fähigkeit, auf einer einzigen Saite seiner Geige Stücke großen Tonumfangs wiederzugeben. Es kam ihm dabei ;seine ungeheuer gelenkige Hand mit ihrer übergroßen Spannweite zugute, zum Teil eine Folge des unablässigen Übens in frühester Jugend. Außerdem hatte er die Technik der linken Hand so weit ausgebildet, daß er zwei Töne so rasch hintereinander greifen konnte, daß sie dem Zuhörer wie ein Doppelgriff erschienen. Durch das Aufziehen nur der tiefsten Saite mit ihrer besonders sonoren Klangfarbe vermochte er auch den Charakter des Instruments weitgehend , zu ändern, klingen doch dieselben Töne auf verschiedenen Saiten durchaus nicht gleich. Fürstin Marie Elise hat , durch ihr künstlerisches Interesse und ihre persönliche Gunst und Neigung nachhaltig Einfluß auf Paganini genommen. Wahrscheinlich dürfte Nicolö, der ja aus sehr einfachen Verhältnissen stammte — vom Besuch irgendwelcher Schulen spricht keine Biographie —, am Hof zu Lucca sich auch jene gesellschaftliche Gewandtheit angeeignet'haben,- die ihn befähigte, sich ohne Hemmungen in jedgli. Kreise, geschickt und selbstbewußt zu bewegen. ' „ , ......^ . Aber das Idyll dauerte nicht allzulange. Im Bewußtsein neuer Kraft drängte es den Künstler, sein Können auch in weiterem Umkreis hören zu lassen, er bat um Urlaub. Schon 1808 sehen wir ihn auf Reisen, ein Jahr später übersiedelt er dann mit dem gesamten Hofstaat nach Florenz, da Marie Elise Herzogin von Toscana geworden ist. Und wieder ein Jahr später führen ihn Konzertfahrten in die Lombardei und in die Romagna. Die Bindungen zur Herzogin scheinen sich zu lockern, und im Frühjahr 1813 erfolgt endgültig der Bruch. Paganini ist wieder frei — und niemals wieder hat er die Bürde eines Amtes, den Zwang einer Stellung angenommen.
Paganini erobert Italien Franz Xaver Süßmayer, Mozarts Schüler und Vollender seines Requiems, hatte eine Ballettmusik, „Die Hochzeit zu Benevent", geschrieben. Zehn Jahre nach seinem Tode wurde das Werk in 8
Der „Hexenmeister". (Nach einer Lithographie von Karl Begas.) Mailand aufgeführt — und hier, in dieser Aufführung holte sich Paganini aus einem Oboenthema, das Hexen symbolisierte, die Anregung zu seinen späterhin -weltberühmten Variationen „Le streghe" — die Hexen. Jetzt, im Vollbesitz unvergleichlicher Meisterschaft, hatte er für seine Programme das „Zugstück", womit er sich, seine Person und sein Spiel, in Szene setzen konnte. Schon das erste Erklingen der „Hexen" in der Mailänder Scala versetzte das Publikum in Ekstase, und nicht weniger als zehnmal mußte er 9
sein Konzert wiederholen, er hatte die Stadt im Sturm genommen. Seit dieser Zeit sprach man auch außerhalb Italiens Grenzen über Paganini. Die Leipziger Musikalische Zeitung brachte einige Monate später einen ausführlichen Bericht aus Mailand. „Sein Spiel ist wahrhaft unbegreiflich", schreibt der Musikkritiker der Zeitung. „Er hat gewisse Gänge, Sprünge und Doppelgriffe, die man noch von keinem Violinspieler, wer er auch sei, gehört hat; er spielt (mit einem ganz eigenen Fingersatz) die schwersten zwei-, drei- und vierstimmigen Sätze; ahmt viele Blasinstrumente nach; er gibt in den allerhöchsten Tönen ganz dicht am Steg die chromatische Scala so rein zu hören, daß es beinahe unglaublich scheint; er spielt zum Erstaunen die schwierigsten Sätze auf einer Saite, kneipt auch wohl, im Scherze, auf den anderen den Baß dazu; oft überzeugt man sich kaum, daß man nicht mehrere Instrumente höre; kurz, er ist einer der künstlichsten Violinspieler, die je die Welt gehabt h a t . . . " Mailand, seine Atmosphäre, seine schönen Frauen, das dankbare Publikum liebte Paganini besonders unter den italienischen Städten, immer wieder kehrte er dorthin zurück. Allerdings litt er dort auch unter Krankheitsanfällen, die sich schon mehrmals bemerkbar gemacht hatten. Schon jetzt rächten sich die Überanstrengung in der Jugend und die Reisestrapazen bei den damals nicht gerade komfortablen Verkehrsmitteln. Auch wissen wir, daß Paganini nach jedem Konzert völlig erschöpft war und leer, ausgebrannt, am ganzen Körper schweißgebadet und totenblaß das Podium mit letzter Kraft verließ. Dieses ständige Angespanntsein forderte seinen Tribut am Körper. Der Meister ertrug bis zu seinem Lebensende schwere körperliche Qualen. Nur sein eiserner Wille besiegte immer wieder die Krankheiten, gab ihm die Kraft zu erneuten Reisen, zu neuen Konzerten, zu neuen Erfolgen. Rossini, den „Schwan von Pesaro", lernt der Künstler 1814 in Bologna kennen, es wird eine Freundschaft fürs Leben. Noch ist der Opernkomponist nicht im Zenit seiner Laufbahn, erst zwei Jahre später geht der „Barbier von Sevilla" in Rom über die Bühne, aber schon ist auch Rossini ein gefeierter Mann. Jeder der Beiden erkannte die Größe des anderen an, und sie förderten sich gegenseitig. Die von Paganini geleitete Premiere einer Rossini-Oper in 10
Rom haben wir schon kurz gestreift — aber auch lustige Streiche verübten sie in freundschaftlicher Eintracht. Im römischen Karneval z. B. verkleideten sie sich (Rossini staffierte sich noch rundlicher aus, Paganini wirkte durch Frauenkleidung noch hagerer) und zogen, durch Freund und Freundin zum Quartett ergänzt, als „Blinde Künstler" singend und spielend durch Roms Straßen, ständig mit einem RossiniLied um milde Gaben bettelnd — für die Armen. Sie sollen am Abend vor Lachen und Singen recht heiser gewesen sein . . . Ein anderes Erlebnis des Virtuosen hätte sich beinahe gefährlich ausgewirkt: Zu einem Konzert in Ferrara sagte eine berühmte Sängerin ihre Mitwirkung in letzter Stunde ab, Paganini mußte sich rasch nach Ersatz umsehen und schien auch Glück zu haben. Die mit der Gitarre begleitete Arie der Sängerin war zu Ende, das Publikum klatschte — nur ein Pfiff störte den Applaus. Der Meister kochte vor Zorn und beschloß, sich zu rächen. In der letzten Programm-Nummer führte er einige Tierstimmen-Imitationen als besonderes Kunststückchen vor und, zum Publikum gewandt: „Dies für den Pfeifer", ahmte er zum Schluß das I—A des Esels nach. Das Publikum indessen lachte nicht, sondern wütete und begann, das Podium zu stürmen. Mühsam rettete er sich zu seinem Gasthof und erfuhr dort zu seinem Staunen, daß er die Städter tödlich beleidigt habe. Die Ferraresen galten bei den Landbewohnern der Gegend als dumm, als Esel, und kehrte jemand aus der Stadt zurück, so antwortete er auf die Frage „Wo warst du?" nur mit „I—A". Der Vorfall schien Ferraras Ehre aufs tiefste getroffen zu haben, denn der Magistrat verhängte ein lebenslängliches Auftrittsverbot! Ein Ereignis muß des Künstlers Begegnung mit Charles Philippe Lafont, Frankreichs bedeutendstem Geiger dieser Zeit, gewesen sein. In Mailand trafen sie aufeinander, und Lafont machte sofort den Vorschlag eines gemeinsamen Konzertes. Paganini sagte nur sehr zögernd zu, er wollte einen öffentlichen Wettkampf mit Sieg und Niederlage vermeiden. Es war für das Mailänder Publikum ein unvergleichlicher Genuß, zwei derartige Geiger zusammen in einem Doppelkonzert von Kreutzer und einzeln in Violinkonzerten eigener Komposition zu hören. Lafont, als Vertreter der französischen Geigenschule, soll vor allem im getragenen Spiel voller Tonschönheit geglänzt haben, während Paganini in seiner kühnen Virtuosi11
tat und seinem leidenschaftlichen Temperament der Stärkere war. Noch zwei anderen Meistern auf der Violine begegnete Pagamm in diesen Jahren: Ludwig Spohr und Karl Joseph Lipinski. Spohr bewunderte zwar die unerhörte Technik, fand jedoch am Geschmack des Italieners einiges auszusetzen, während der Pole Lipinski eigens die Reise von Warschau nach dem Süden angetreten hatte, um Paganini zu hören, um von ihm zu lernen, und wirklich seine hochgespannten Erwartungen bestätigt fand. Immer wieder wurde der Hexenmeister aus Genua zwischen den Konzerten von der Krankheit gepackt, besonders heftig, als er sich anschickte, auch das südliche Italien zu erobern. In Neapel erging es ihm 1819 besonders schlecht, wurde er doch von seinem groben Hausherrn, der die ansteckende Schwindsucht fürchtete, kurzerhand samt seinem Bett auf die Straße gesetzt. Glücklicherweise befreite ihn ein befreundeter Cellist aus seiner mißlichen Lage, nicht ohne dem brutalen Neapolitaner eine derbe Tracht Prügel zu verabreichen. Die glühende Leidenschaft Neapels bereitete Paganini immer überwältigende Erfolge, während er merkwürdigerweise in Palermo das erstemal viel weniger Furore machte. Unter den verschiedenen Mailänder Aufenthalten ragt seine Tätigkeit im Jahre 1820 besonders hervor. „Gli Orfei" nannte sich eine Vereinigung von Kunstfreunden, die sich die Aufführung und Verbreitung von guter Musik zum Ziele gesetzt hatte. Paganini nahm lebhaften Anteil daran und stellte sich als Geiger und Dirigent in den Dienst der Sache. Er trat damit nachdrücklich den Vorwürfen kalten Eigennutzes und gewissenloser Geldgier entgegen; denn schon längst galt Paganini als kühler Rechner, der sich seines Wertes wohl bewußt war. Sicher haben ihn die häufigen Krankheitsanfälle daran gemahnt, daß er vielleicht eines allzufrühen Tages nicht mehr zu konzertieren in der Lage sein könnte. In Mailand bewies er aber, daß zu seinen vielfältigen Charakterzügen unbedingt jene Fähigkeit gehörte, das gewohnte Denken zu verlassen und sich ungehemmt und voll Energie einer bestimmten Aufgabe — künstlerischer oder persönlicher Art — zu widmen. Neben dem nüchtern überlegenden Menschen steht die spontane Leidenschaft, die im gegebenen Augenblick durchaus echter Großmut fähig ist. 12
Neue Bindung In etwas mehr als zehn Jahren, seit 1813, hatte sich der Meister die italienische Halbinsel unterworfen. Kreuz und quer war die verhangene Kutsche — er haßte das grelle Licht — mit dem wortkargen, fremdartig wirkenden Mann gezogen, vielhundertmal waren die Pferde gewechselt worden, immer wieder prangten die Plakate „Paganini farä sentire il suo Violino" — „Paganini wird seine Geige ertönen lassen" in den Städten, allerorten jubelte ihm nicht nur das große Publikum zu — stets winkte ihm auch die Gunst der schönsten und vornehmsten Frauen. Antonia Bianchi aber war eine kleine Choristin, als sie 1824 in Venedig unseren Meister gefangennahm. Bei Paganini war das an sich kein ungewöhnlicher Vorgang, eigentümlich nur, daß sich aus der flüchtigen Begegnung eine tiefe Leidenschaft entwickelte, daß er, der die Fürstenpaläste so gut kannte wie die Boudoirs der bürgerlichen Welt, an diesem einfachen Menschenkind ohne überdurchschnittliche Gaben oder ausgesprochene Schönheit Gefallen fand. Vielleicht reizte ihn ihre natürliche Anmut und ihre Kindlichkeit, vielleicht auch liebte er ihre hübsche Stimme. Vielleicht aber fand er eine große Genugtuung darin, bei diesem Mädchen der allein gebende Teil zu sein, sie zu sich heraufzuziehen, ihr ebenso zum Aufstieg zu verhelfen, wie er selbst einst aus schlichten Verhältnissen sich zur Größe emporgereckt hatte. Alles dies wissen wir nicht, wir erkennen nur, daß Antonia entscheidend Paganinis Leben beeinflußt hat. Zunächst bildete er mit großem Geschick die Stimme der Kleinen aus, so daß sie schon im Frühjahr mit Erfolg neben ihm auftreten konnte. Doch dann zogen sich die Liebenden nach Sizilien zurück, am 23. Juli 1825 kommt Achilles Cyrus Alexander Paganini zur Welt. Von nun an hat der Meister ein fest umrissenes Ziel vor Augen; hatte er bisher das Leben als reisender Virtuose um des Ruhmes willen auf sich genommen, so lebte er fortan für sein Kind. Der Wert klingender Münze wird ihm noch kostbarer, sein Geiz übertrieben — alle Schätze werden für Achillino aufbewahrt. Er ist ein besorgter Vater, mit geradezu rührender Geduld umhegt er den Kleinen, vor allem, seit er allein die Verantwortung für den Jungen trägt und mit ihm durch die Lande zieht. Die Beziehungen zu Antonia lockerten sich nämlich, sie wurde 13
— manchmal sogar grundlos — von wütender Eifersucht ergriffen, machte in ihren Zornesausbrüchen nicht einmal vor Paganinis kostbarsten Instrumenten halt und stellte immer größere persönliche Ansprüche. Der Meister ertrug indessen alle Launen seiner Antonia im Hinblick auf Achille, er fühlte, daß das Kind wenigstens in den ersten Lebensjahren die Mutter nicht entbehren konnte. Nach einem herrlichen Jahr der Ruhe und Erholung auf Sizilien nahm Paganini 1826 wieder seine Tourneen durch Italien auf. Wieder begleiteten ihn die Ovationen seiner Landsleute, und stärker wuchs der Wunsch in ihm, nun auch den Sprung über die Alpen zu wagen. Schon häufig hatten ihn Einladungen von dort erreicht, aber der bereits vor zehn Jahren gefaßte Plan einer Europareise wurde immer aufgeschoben, die angegriffene Gesundheit ließ derartige Strapazen nicht zu. In Rom dekorierte ihn 1827 der Papst mit dem Orden „Ritter zum Goldenen Sporn" — eine Auszeichnung, die Paganini äußerst willkommen war, denn seine sagenumwobenen Beziehungen zum Teufel wurden stets herangezogen, wenn man seine ungeheuren Fähigkeiten nicht mit natürlichen Mitteln, mit Fleiß und Arbeit, mit Genie und Begabung, erklären wollte. Aber trotz der kirchlichen Auszeichnung galt er auch weiterhin vielen als der dämonische Hexenmeister — seine Erscheinung und sein Spiel waren zu ungewöhnlich, als daß jener Aberglaube verstummen konnte.
Europa Mit vierundvierzig Jahren zog Paganini nach Norden, um endlich ganz Europa wissen zu lassen, daß der begnadetste Geiger der Welt nicht nur in Italien Geltung beanspruchte. Auf der Reise begleitete ihn, wie immer, Achille mit seiner Mutter, es sollte die letzte gemeinsame Fahrt sein. Die Meinungsverschiedenheiten hatten ein solches Ausmaß erreicht, daß an ein Zusammenleben nicht mehr zu denken war. In Wien verabschiedete sich Antonia Bianchi, mit einer großen Summe endgültig und notariell abgefunden. Am 16. März 1828 traf der Virtuose in der Donaumetropole ein, bald darauf fand das erste Konzert statt. In meisterhafter Regie hatte es der Künstler verstanden, durch geschickte Pressenotizen, durch umherschwirrende Gerüchte, durch sonderbares persönliches 14
Gebaren die Neugier der Wiener aufs höchste zu steigern. Alles fieberte dem Auftritt des Meisters entgegen — und nach dem Spiel löste sich die Spannung in einen orkanartigen Beifallssturm, wie ihn Paganini selbst bei seinen temperamentvollen Landsleuteh selten verzeichnet hatte. Wien lebte wieder einmal in einem Begeisterungsrausch; stärker noch als der Rossini-Taumel 1822 hatte die Stadt jetzt das Paganini-Fieber ergriffen. In zwanzig Konzerten riß der unheimliche Spieler aus Genua die Menge hin, arm und reich war in gleichem Maße verzaubert, monatelang war er allein das Gesprächsthema, und trotz höchster Eintrittspreise konnten die Säle die andrängenden Massen nicht aufnehmen. Der Geiger selbst war auf Schritt und Tritt von Bewunderern umgeben, die Paganini-Mode machte die Stadt verrückt. Die absurdesten Dinge wurden mit ihm in Verbindung gebracht, von den Paganini-Semmeln bis zu Paganini-Handschuhen war alles dieser Sucht unterworfen. Der Meister ließ sich die Ehrungen wohl gefallen, wuchs doch damit sein Konto in erfreulicher Weise, und Achillino brauchte dann später keine Sorgen zu h a b e n . . . Er selbst lebte wahrhaft bescheiden, aß und trank sehr mäßig, sein Reisegepäck war geradezu dürftig — und Trinkgelder gab er sowieso nie. Aber seine Begabung, sich selbst in Szene zu setzen, hatte mitunter recht merkwürdige Folgen. So mußte er ernstlich dem Glauben entgegentreten, daß er vom Satan persönlich abstamme! Und seine Entgegnung auf die Anspielungen, er habe im Gefängnis gesessen, faßte er so vorsichtig und unbestimmt ab, daß er diesem Gerücht dadurch nur neue Nahrung gab. Das wieder erhöhte den Reiz bei den Wienern — und damit seine Einnahmen. Franz Schubert hat in diesen seinem letzten Lebensjahr Paganini zweimal gehört und war ergriffen von seinem getragenen Spiel („Ich habe einen Engel in Paganinis Adagio singen gehört"), gepackt von seinen technischen Bravourstücken. Grillparzer geriet ebenfalls in seinen Zauberbann, aber in dichterischem Scharfblick erkannte er die gespaltene Persönlichkeit des Meisters, die leidenschaftliche Hingebung des ganzen Menschen während des Spiels und danach die Ausschaltung der künstlerischen Seele, wobei nur der kalt berechnende Verächter der Massen zutage trat, der die von ihm selbst im Publikum hervorgerufene Gemütsbewegung verhöhnt. 15
Für das Wiener Abschiedskonzert hatte Paganini ein neues Violinkonzert geschrieben (Es-Dur), es fand Zustimmung, auch bei der Kritik, während eine ebenfalls aufgeführte achtsätzige „Dramatische Sonate für das ganze Orchester, bei analoger Dekoration mit Solos und Variationen" von einem gewissen Herrn Panny nur durch Paganinis Schlußgestaltung gefiel. Nach einer Erholungspause in Karlsbad betrat der Geiger Prager Boden, jene Stadt, die Mozart so sehr geliebt und die ihm den in Wien versagten Erfolg beschieden hatte. Die Mozart-Tradition wurde an der Moldau noch lange gepflegt, die alte Rivalität in künstlerischen Fragen mit Wien war geblieben. Paganini war in Wien enthusiastisch gefeiert worden — demzufolge fanden die Prager Anlaß, ihn entsprechend negativ zu bewerten. In mehreren Blättern waren recht gehässige Berichte zu lesen, wie der folgende eines Redakteurs: „O närrische Welt, o wunderbarer Geschmack, o enthusiastische Wiener! Nie bin ich so plötzlich aus allen meinen Himmeln gestürzt worden, als durch diesen Virtuosen! Ich begreife nicht, wenn man Romberg, Rode, Spohr, Lafont usw. gehört hat, wie man solchen Harlekinaden nur einen Augenblick sein Ohr leihen kann. Ich war einmal in seinem Konzert und nie mehr sieht er mich wieder. Er hat eine große Fertigkeit in der linken Hand, wozu man durch Übung kommen kann, ohne Talent, Genie, Geist, Gefühl und Verstand zu besitzen — es ist eine rein mechanische Fertigkeit. Die Hauptsachen, die sich immer wiederholen, sind ein unausstehliches widerliches Quieken am Steg, was gar keine geregelten Töne, sondern ein Spatzengezwitscher ist, und dann am Ende jeder Variation ein schnelles Pizzicato mit der linken Hand von sechs Tönen. Sein Vortrag ist weder großartig noch geschmackvoll; sein Ton ist unkräftig ohne Fülle, und wenn er sich ungewöhnlich anstrengt, rauh; die Flageolettöne gehen nicht selten ins Zischen und Quietschen über; seine Verzierungen und Kadenzen sind im hohen Grade geschmacklos, zum Teil ganz altmodisch. Eine wahre Künstelei ist das Spiel auf der G-Saite, da er dazu meist nur e i n e n Finger gebraucht, so entsteht durch das unaufhörliche Auf- und Abfahren desselben ein ganz abscheuliches Miauen und Heulen, an welchem Herr Paganini ein besonderes Wohlgefallen zu haben scheint. Seine
Programm zu einem Konzert, das Paganini in der Aula Leopoldina in Breslau im Jahre 1829 veranstaltete. Hauptschwäche: Mangelhafter Vortrag des Adagio ..." In dieser Tonart geht es weiter. Bewußt schrieb man in Prag das Gegenteil von dem, was die Wiener Presse berichtet hatte. Dies hinderte das Publikum jedoch nicht, zu allen sechs Konzerten in Scharen herbeizuströmen und Paganini mit klingendem Lohn zu überhäufen. Die Zeitungsartikel verbreiteten sich jedoch in Deutschland und schadeten dem Künstler sehr. Zu diesem Übel gesellte sich eine neue lästige und schmerzhafte Krankheit: Durch eine verfehlte Zahnoperation entzündete sich der Unterkiefer, und er verlor alle 17
unteren Zähne. Und dann hören wir zum erstenmal von einer Kehlkopfentzündung, die sich, zwar im Moment geheilt, zu einem bösartigen chronischen Leiden entwickeln sollte. Doch bot Prag nicht nur Unerquickliches: Professor Schottky, ein begeisterter Verehrer seiner Kunst, entwarf den Plan zu einer Biographie des Meisters; sie erschien im Jahre 1830 und ist eine der Hauptquellen für alle späteren Arbeiten geworden. Schottky verdanken wir auch folgende lebhafte Schilderung, die er unmittelbar nach einem Konzert aufgezeichnet hatte: „Er ist so mager, daß man füglich nicht magerer sein kann; dabei hat er eine blaßgelbe Farbe, eine große weit hervorstehende Adlernase und lange knochige Finger. Kaum scheint er in der Kleidung zusammenzuhängen, und macht er seine Verbeugungen, so bewegt sich der Körper auf eine so sonderbare Art, daß man alle Augenblicke fürchtet, die Füße könnten sich vom Rumpfe trennen und der ganze Mensch würde in einen Knochenhügel zusammenstürzen. Beim Spiel ist der rechte Fuß vorgeschoben, der, wenn die Passagen lebhafter werden, mit ans Komische grenzender Heftigkeit den Takt angibt, ohne daß aber das Gesicht etwas von seiner Abgestorbenheit verlöre, außer wenn es sich für den Beifallsdonner zum sonderbaren Lächeln verzieht, wo sich allmählich die Lippen wunderlich verschieben und die Augen, zwar mit innigem Selbstgefühl, aber doch nicht ohne Gutmütigkeit, nach allen Seiten blinzeln. Bei schwierigen Stellen bildet sein Körper eine Art Dreieck, da sich der Leib dann übermäßig einbiegt, während der Kopf und der rechte Fuß voranstehen . . . " In dieser Schilderung steht der dämonische Zauberer vor uns, der nicht nur die leicht entflammbaren Wiener mitreißt, sondern — ein Jahr später — sogar die nüchternen Berliner zu vorher nie gekanntem Jubel zwingt. „Ich war wieder in Wien", soll er selbst ausgerufen haben, als ihm nun auch Berlin zu Füßen lag und dieselben Modetorheiten eine zweite Auflage erfuhren. Zehnmal trat der Meister in Konzerten auf, das Spielen in Wohltätigkeitskonzerten steigerte noch die Sympathie der Berliner. Zum österreichischen „k. u. k.-Kammervirtuosen-" gesellt sich der preußische „Kammermusikus"-Titel, ungezählte Würden, Ehrungen und Orden folgten in den nächsten zehn Jahren. 18
Von Mai bis Juli 1829 weilt Paganini in Warschau — und hier vollzieht sich eine musikgeschichtliche Begegnung, wie sie in dieser Bedeutung noch zweimal stattfinden sollte: Junge Künstler am Scheidewege ihrer Laufbahn, am entscheidenden Punkt ihrer künstlerischen Zielsetzung, hören den Teufelsgeiger, sind fasziniert von den Möglichkeiten des Instruments und von der Ausstrahlung des Virtuosen. Chopin hört in Warschau Paganini. Er ist als Pianist schon ein Vollendeter, auch seine Kompositionsstudien hat er gerade abgeschlossen, da trifft ihn, den so empfindsamen, für die leisesten Schwingungen so besonders empfänglichen Künstler, das PaganiniErlebnis. Der romantische Eindruck der Persönlichkeit ist vielleicht noch stärker, als der der überwältigenden Virtuosität. Paganinis Verwachsensein mit dem Instrument, sein Nur-Musikertum, sein Leben für den diesseitigen, momentan greifbaren und stets neu zu erkämpfenden Erfolg, seine Fähigkeit, die Grenzen des Instruments auszuweiten, all das berührt in Chopin verwandte Anlagen. So wie Paganini für die Violine, ist Chopin für das Klavier geboren — durch den Geiger wird dem 19jährigen Pianisten der Weg gewiesen. Bei aller Verschiedenheit der Charaktere und der Geisteshaltung haben beide ein ähnliches Ideal: das des gefeierten, beglückenden Künstlers, der in der Einheit von Schöpferkraft und Interpretation die Menschen bezwingt und entrückt. Nur mit dem bedeutsamen Unterschied, daß Chopins Werke sowohl die Tore zur Zukunft aufstoßen, als auch die Gegenwart überdauern, während Paganinis Kompositionen zu sehr an ihren Schöpfer gebunden sind, um nach seinem Tode Allgemeinbesitz zu werden. Noch entscheidender als auf Chopin war Paganinis Wirkung auf Robert Schumann. Ebenfalls noch keine zwanzig Jahre alt, schwankte Schumann zwischen dem empfohlenen Jurastudium, seiner geliebten Musik und seiner Neigung zur Dichtkunst. Ihm, der in der romantischen Welt eines Jean Paul lebte, mußte Paganini, den er in Frankfurt im Frühjahr 1830 erlebte, als die Verkörperung des Virtuosentraums schlechthin erscheinen. Tatsächlich beeindruckte ihn der Wundergeiger so stark, daß von da ab sein Entschluß feststand, ein „Paganini des Klaviers" zu werden. Daß durch seine spätere Handverletzung dieser Entschluß in eine andere, die 19
schöpferische Richtung gelenkt wurde, bedeutete für die deutsche Kunst des 19. Jahrhunderts einen besonderen Glücksfall. Denn das Schicksal hatte einem anderen Meister die Aufgabe, ein „Paganini des Klaviers" zu werden, gestellt. Franz Liszt, das pianistische Wunderkind, der Liebling der Pariser Salons schon als Jüngling, war ebenfalls ein vollendeter Klavierspieler, als er mit 19 Jahren Paganini in der Seinestadt zum ersten Male hörte. Hier erblickt man am deutlichsten die Wandlung, die der König der Violine in einem jungen Künstler hervorrufen konnte. Bisher war Liszt ein Virtuose von einem Format, wie es in der Welt deren mehrere gab — wie Herz, Kalkbrenner, Moscheies, Thalberg und andere. Paganini erst öffnete Liszt die Augen, welche Möglichkeiten das Klavier noch in sich barg, Paganini erst brachte ihn auf den Gedanken, alle die brillanten technischen Erweiterungen auf den Flügel zu übertragen. Und nun begann Liszt erneut mit dem Studium und übte konsequent so lange, bis er als unerreichter Meister auf dem Pianoforte gelten konnte. Auch darin, daß er sich künftig in zunehmendem Maße die Kompositionen selbst schrieb und für sein eigenes Können einrichtete, war ihm der Hexenmeister ein Vorbild. Doch versuchte er mehr und mehr, seine Virtuosität in den Dienst des musikalischen Ausdrucks zu stellen. Alle drei Meister haben in ihren Werken Paganini Tribut gezollt, Chopin in einem Variationenwerk „Souvenirs de Paganini", Schumann in einigen Klavierwerken nach Capricen des Geigers, wobei ihn vor allem die Verdeutlichung des „poetischen Gehalts" beschäftigte. Liszt übertrug ebenfalls Paganini-Capricen auf das Tasteninstrument, ihn reizte mehr das bravouröse Element. Und noch ein weiterer Komponist höchsten Ranges ließ sich von Nicolo gefangennehmen: Johannes Brahms. In seinen Paganini-Variationen vereinte er pianistische Virtuosität mit seinem persönlichen, eigenwilligen Stil. Er war es auch, der von Paganini behauptete, seine Capricen „lassen eine ebenso starke Begabung zur Komposition im allgemeinen, wie für die Violine im besonderen erkennen." Fürwahr, aus dem Munde des kritischen Brahms ein gewichtiges Wort. Schumann äußerte: „Paganini ist der Wendepunkt der Virtuosität", und Chopin stellte bündig fest: „Paganini ist die Vollkommenheit." Alle diese Zeugnisse von berufener Seite lassen den ungeheuren 20
Einfluß des Italicners auf Zeitgenossen und Nachwelt erkennen. Wir dürfen sagen, daß die Musikgeschichte ohne die Gestalt Paganinis nicht nur um ein äußerst reizvolles, schillerndes Element ärmer wäre, sondern sich wahrscheinlich sogar anders entwickelt hätte. Viele der romantischen und virtuosen Zielsetzungen, die um 1830 im Verborgenen lagen, sozusagen unter der Oberfläche schwelten, hat Paganini durch sein Auftreten in mancherlei Beziehung erst freigelegt; durch direkte und indirekte Anregungen gab er neuen Strömungen lebhaften Auftrieb.
Brief Paganinis, in dem er den Komponisten Berlioz bittet, als seine Huldigung zwanzigtausend Francs anzunehmen. (Übersetzung s. S. 23). 21
Die Europatourn^e Paganinis hatte bis Warschau geführt. Von hier aus wandte er sich wieder nach Deutschland und reiste fast zwei Jahre lang kreuz und quer durch das Land. Seine Geige erklang in Hamburg wie in München, in Städten wie Coburg, Kassel oder Koblenz. Stets begleitete ihn Achille, unermüdlich sorgte der Vater für ihn. Der Kleine war ihm schon bald von großem Nutzen, sprach er doch bereits mit sieben Jahren drei Sprachen fließend und bewährte sich in Deutschland als Dolmetscher; denn der Vater konnte sich nur italienisch und französisch ausdrücken. In der Reisekutsche saß meist noch ein Impresario, der dem Künstler die geschäftlichen Verhandlungen abnahm und lästige Organisationsfragen löste. In den Orchesterproben deutete der Meister seine Soli nur kurz an, auch die Musiker sollten am Abend überrascht werden. Um jede Möglichkeit unerlaubter Verbreitung seiner Werke zu unterbinden, legte er die handgeschriebenen Noten erst unmittelbar vor Probenbeginn auf und sammelte sie nachher sofort wieder ein. Die Proberäume mußten auch menschenleer sein — dafür im Konzert umso voller; er konnte bei mangelhaft besuchten Abenden rasend werden. Seiner Technik und künstlerischen Kraft war er übrigens seit langem schon völlig sicher, während der jahrelangen Europareisen hat ihn niemand üben hören. Schon in Italien waren Berichte von Mund zu Mund gegangen, die seine unglaubliche Sicherheit in der Intonation spiegelten, oft soll er mit verstimmter Geige vollkommen rein gespielt haben. In seinen Konzerten wandte er hierbei bewußt einen Trick an: Bei seinem Violinkonzert in Es-Dur z. B. stimmte er das ganze Instrument einen halben Ton höher (das gab der Geige einen glänzenderen Klang) und führte seine Soli auf diese Weise griffmäßig in D-Dur aus, während das Orchester in Es-Dur spielte. Der Kapellmeister Karl Guhr hatte während Paganinis mehrmonatigem Aufenthalt in Frankfurt, wo Achille krank daniederlag, Gelegenheit, ausgiebig seine Technik zu studieren. Entgegen früheren Behauptungen bestreitet Guhr, daß der Meister seine Violine auch mitten im Spiel umgestimmt habe, erzählt aber, daß das Instrument bei besonderen Anlässen nicht in der normalen Stimmung erklungen sei. Auch erwähnt er die ungewöhnlich dünnen Saiten, die zwar eine geringere Tonfülle zur Folge haben, dafür jedoch bei 22
schnellen Passagen leichter ansprechen. An Paganinis Bogentechnik bewunderte Guhr vor allem die Elastizität, der Bogen springe sozusagen von selbst über die Saiten, bei größter Exaktheit audi der kürzesten Notenwerte. Guhrs Schrift „Über Paganinis Kunst, die Violine zu spielen", gibt uns das genaueste Bild von der fast unglaublichen Beherrschung des Technischen, gibt uns zugleich ein Bild von den einmaligen Vorzügen, die die Natur dem Meister für sein Geigenspiel mitgegeben hatte.
Höchster Triumph und Abschied Deutschland bedeutete für den Meister letzten Endes, bei allen Erfolgen, nur eine Zwischenstation, nur die Vorbereitung für seinen endgültigen europäischen Sieg. In Paris versammelten sich damals alle Künstler von Rang und Namen, in Paris, der eigentlichen Hauptstadt Europas jener Zeit, entschied sich der Weltruhm. Von hier gingen ständig neue Impulse in künstlerischer Beziehung aus, die Pariser Salons mit ihrem regen geistigen Leben galten als die erstrebenswerten Vorbilder. Paganini betrat am 24. Februar 1831 die Stadt und gab in zwei Monaten elf Konzerte, die den Parisern endlich Gelegenheit boten, sich selbst von den märchenhaften Glanzleistungen des Teufelsgeigers zu überzeugen, von dem sie schon die unwahrscheinlichsten Berichte vernommen hatten. Und auch hier brach wieder das Paganini-Fieber aus, ergriff alle Kreise — Paris war hingerissen. Erneut bemächtigte sich die Mode der Gestalt des Geigers, er wurde das Tagesgespräch. Doch der Taumel zeigte auch hier bald unliebsame Auswirkungen: Unter den zahlreichen Paganini-Porträts, die überall zur Schau gestellt waren, befand sich auch ein Bild „Paganini im Gefängnis". Der Künstler setzte sich dagegen in einem offenen Brief heftig zur Wehr, ohne jenen Zeitraum von 1800 bis 1805 befriedigend und stichhaltig zu belegen. So konnten die bösartigen Gerüchte nicht verstummen. Seine ungeheuren Einnahmen erregten bald den Neid, und als er sich weigerte, in einem „Wohltätigkeitsballfest" mitzuwirken, entrüstete sich die Öffentlichkeit. Zwar spielte er bald darauf zugunsten der Armen, aber Paris war ihm jetzt verleidet, er brach seinen Aufenthalt ab und wandte sich England zu. 23
In London bereitete ihm die Presse einen unfreundlichen Empfang, sie verübelte dem Künstler die ungewöhnlich hohen Eintrittspreise, die er für sein Konzert fordern wollte. Er lenkte jedoch noch rechtzeitig ein, und so endete das erste Auftreten auf der Insel mit einem beispiellosen Triumph. Während des Sommers war Paganini im Londoner „Theatre Royal" fünfzehnmal zu hören, die Einnahmen beliefen sich auf etwa 260 000 Francs, Paris hatte ihm „nur" 165 000 Francs gebracht. Auch in vielen privaten Gesellschaften ließ der Meister seine Violine ertönen, nicht ohne beträchtliche Honorare zu nehmen; er gab, die Modeströmung ausnutzend, mehr oder weniger begabten Mitgliedern der Aristokratie einzelne Unterrichtsstunden — ebenfalls zu einem märchenhaften Preis. Unter diesen Umständen ist die Klage der englischen Zeitungen über den „Ausbeuter" nicht ganz unverständlich, allein seine nicht nachlassende Virtuosität übte noch genug Anziehungskraft aus, um nach London auch die englischen Provinzen und Irland zu bereisen. Innerhalb von neun Monaten hat Paganini auf angelsächsischem Boden 132 Konzerte gegeben, rein körperlich schon eine bewundernswerte Leistung, wenn man die recht strapaziösen Reisen in der Postkutsche in Betracht zieht. Der genuesische Hexenmeister befand sich auf dem Gipfel seiner Laufbahn; nun hatte er wirklich ganz Europa in Begeisterung versetzt, hatte Stürme des Beifalls entfacht, hatte die musikalische Welt überwältigt. Durch seine so sehr vom Herkömmlichen abweichende Erscheinung hatte sich ein Kranz von Legenden um seine Person gewoben, die seinen durch das Spiel erworbenen Nimbus noch verstärkte. Er konnte es sich jetzt erlauben, den englischen König mit einigen hingeworfenen Zeilen auf seiner lilafarbenen Visitenkarte mit Goldrand zu brüskieren und ihm zu sagen, daß „Paganini nicht mit sich feilschen lasse" — er war sich der Macht seines ungekrönten Virtuosentums sicher. Neue Ideen hatte er seiner Geige eingehaucht, neue Impulse in jungen Musikern erweckt, neue Methoden wandte er nun auch zur Durchführung seiner englischen Tourneen an: Zum ersten Male schloß ein Künstler mit einem Manager einen Vertrag, der Paganini eine bestimmte Summe garantierte, während der Manager, eine etwas zweifelhafte Figur namens Watson, auf Gewinn spekulierte, 24
dafür aber auch das Risiko zu tragen hatte. Diese Form der Partnerschaft, heute längst üblich geworden, erregte damals die Leute; sie fanden es unerhört, daß sich der Künstler verkaufte, seine Freiheit mit materieller Sicherheit vertauschte und dadurch der Sklave seines Vertrages wurde; denn die Termine diktierte der Manager, bei Paganinis anfälliger Gesundheit ein schwerwiegender Nachteil. Aber des Künstlers Schwäche für Francs und Pfunde war schon sprichwörtlich, er lebte in der beständigen Sorge, dem Jungen nicht genügend Geld und Gut hinterlassen zu können. Nach wie vor hing er mit fast abgöttischer Liebe an dem Kleinen, Berichte von Zeitgenossen wie auch einige wenige Briefe an Achillino legen ein rührendes Zeugnis ab für die zärtliche Sorge des Vaters, für die vielleicht sympathischste menschliche Seite des Meisters. Auch seine Mutter Teresa verehrte er zeitlebens, ihr Tod 1831 erfüllt ihn mit tiefem Schmerz, während er das Ableben seines Vaters einige Jahre früher gleichgültig hingenommen haben soll — zu sehr hatten dessen Härte und Habgier wohl ihre Spuren ins Herz Paganinis gegraben, der König der Geiger konnte seine freudlose Jugend nicht vergessen, weshalb er auch sein Kind so gänzlich anders erzog. Nach den England-Erfolgen des Jahres 1831 begab er sich wieder nach Paris, wagte der Cholera Trotz zu bieten und spielte auch füt die Kranken; die Überwindung der allgemeinen Angst vor der schrecklichen Seuche durch den Geiger glich einer Sensation. Bis 1833 konzertierte er abwechselnd in Frankreich und England, immer noch von den Massen umjubelt; aber schon spürte er ein allmähliches Nachlassen der ursprünglichen Begeisterung; denn selbst ein so außergewöhnliches Ereignis wie das Auftreten Paganinis mußte durch die vielen Wiederholungen an Reiz einbüßen. Er selbst hatte die Maßstäbe für sein virtuoses Können gesetzt, er konnte sich nicht steigern, und so wurde sein Auftreten zum gewohnten Bild innerhalb der Saison. Dazu kam die feindselige Einstellung der Presse, die immer mehr den Geizhals Paganini kommentierte, den „Ausplünderer Englands", und über sein Spiel nichts mehr Neues zu sagen wußte. 1833 erhielt sein Ruf auch in Paris einen schweren Stoß; denn alle Welt nahm es ihm übel, daß er sich weigerte, in einem Konzert zu Gunsten der Schauspielerin Harriet Smithson mitzuwirken, der Braut Hector Berlioz', die unverschuldet 25
in Not geraten war. und der viele Pariser Künstler ihre Hilfe zugesagt hatten. Diese Weigerung zehrte an dem moralischen Kredit des Virtuosen auch in Frankreich. Doch es sollte noch schlimmer kommen: Ein Jahr später reiste er nach Belgien; dort hetzte ein Teil der Presse gegen den „Scharlatan", warnte vor dem „Verdammten", versuchte sein Können mit dem Begriff „Hexenkünste" abzutun. Sein Geiz wurde als die allein interessante Eigenschaft seiner Persönlichkeit charakterisiert — mit dem Erfolg, daß in den kleinen Städten die Säle halbleer waren und ihn in Brüssel sogar ein Mißerfolg erwartete. Mit Hohngelächter wurde er empfangen, beleidigende Zurufe schallten zum Podium herauf. Und hier versagte zum ersten Mal die Wunderkraft seines Geigentons, die Triller und DoppelgriffPassagen, die Flageoletts und Pizzicati verhallten wirkungslos, das Publikum höhnte weiter. Fluchtartig verließ er Belgien, versuchte erneut an der Themse sein Heil, aber die Engländer waren gleichgültig geworden. Er kehrte nach Paris zurück, aber auch hier stellte sich die Presse gegen ihn. Im „Journal des Debats" schrieb Jules Janin: „Wie empfing man zuerst dieses groteske Etwas, diesen lebenden Leichnam Paganini bei uns! Man hätte die Mauern von Paris gestürmt, wenn die Tore nicht weit genug gewesen wären! . . . U m ihn zu hören, überwand man sogar die Furcht vor der Cholera. Und heute? Jetzt ist er für uns tot! Als Künstler ist er tot! Der Geizhals hat den Künstler in ihm getötet. An jenem Tag, an dem Paganini, goldbeladen aus London zurückgekehrt, sich weigerte, in dem Wohltätigkeitkonzert für einige arme englische Schauspieler, deren letzte Hilfsquellen erschöpft waren, zu spielen, verlor er bei uns jeden Kredit. Er kann reisen in Frankreich, wohin er will, seine Geige wird überall in ihrem Kasten bleiben müssen, zu unnützem Schweigen verdammt!" Paganini hatte dem nichts zu entgegnen, sein Stolz verbot ihm überdies die Annahme von Janins Vorschlag, ein Konzert zu Gunsten der Opfer einer Überschwemmungskatastrophe zu geben. In diesem Falle hätte die Presse dem Künstler sein Publikum wieder zugeführt. Janin verstärkte noch seine Angriffe —• und Paganini wehrte sich nicht mehr. Er hatte nicht mehr die Kraft zu wirkungsvoller 26
Verteidigung, Krankheit schwächte seinen Körper, und durch die Konzertreisen war er müde geworden. Und er fühlte, daß er seinen stärksten Bundesgenossen, die kunstbeflissenen Konzertbesucher, die beifallswilligen Massen, nicht mehr in seinen Bann ziehen konnte. Welch ein Bogen hatte sich in den sechs Jahren seiner EuropaTournee vollendet! In steilem Aufstieg hatte er seine Triumphe in Österreich, Deutschland, Frankreich und England steigern können; langsam hatte er an Beliebtheit eingebüßt, bis er schließlich als der geizige Scharlatan aus Italien angeprangert worden war. Freilich waren nicht nur die veränderten Verhältnisse, die Presse, die allgemeine Sensationslust schuld an diesem Niedergang, er selbst hatte an seinem eigenen Sturz heftig mitgearbeitet. Vor allem beging er den Fehler, sein Auftreten zu sehr als „Schau" zu inszenieren, die außerkünstlerischen Effekte erschienen ihm von jeher äußerst wichtig, die Regie mußte alle Register der Reklame beherrschen. Die Überbewertung des Materiellen und eine oft rücksichtslose Härte im Durchsetzen eigener Interessen ließen dann im Lauf der Zeit seine ungewöhnlichen Fähigkeiten vergessen, die Kritiker übersteigerten das Negative gegenüber dem Künstlertum — sie sahen bei ihm nur üble Spekulation, wovor das Publikum gewarnt werden müsse. Paganini zog sich zurück, er verließ die Stätten seiner einstigen Siege und fuhr in sein Heimatland. Italien bereitete ihm einen grandiosen Empfang, er galt als Nationalheros. Doch der Fünfzigjährige bedurfte der Ruhe; in der Nähe von Parma erwarb er die prächtige Villa Gaiona, um sich von der Mühsal der Jahre zu erholen. Andere Pläne gingen ihm durch den Kopf: Er wollte seine Kompositionen veröffentlichen und eine Violinschule herausgeben, worin er das Geheimnis seiner Kunst preiszugeben beabsichtigte. Leider blieben beide Vorhaben unausgeführt, offenbar konnte er dem Auftreten in Konzerten noch nicht völlig entsagen und hütete sich deshalb, der Konkurrenz seine eigenen Waffen in die Hand zu drücken. Am Hofe zu Parma übernahm er musikalische Aufgaben, genoß hohe Ehren und erfreute sich der Gunst der Großherzogin Marie Luise; in Turin spielte er wieder für die Cholerakranken. Sogar ein Angebot für Amerika lag vor, es kam von Mister Watson, mit dem 27
Paganini jedoch nichts mehr zu tun haben wollte. Zudem war sein Körper zu angegriffen, um noch einmal anstrengende Konzertreisen zu ertragen. Zu seinem alten Leiden gesellte sich jene Kehlkopfkrankheit, die ihm schon in Prag zu schaffen gemacht hatte und jetzt seine Stimme bedrohte. Und immer noch kreisten die Gerüchte um ihn, Meldungen von seinem Tod gingen um, in Paris verfaßte man 1837 schon die Nachrufe. Er selbst widerlegte die Berichte durch seine Anwesenheit recht nachdrücklich — aber sogleich war wieder eine Skandalgeschichte im Umlauf: Der Meister hatte sich als Geschäftsmann betätigt und war an einem äußerlich angesehenen, in Wahrheit aber einem recht zweifelhaften Unternehmen „Casino Paganini" beteiligt. Die Polizei hob das Spielernest mit Amüsierbetrieb aus — und Paganinis Ruf war erneut schwer angeschlagen; er wurde zu 50 000 Francs Schadenersatz verurteilt. Wenige Monate später stand wieder eine blamable, diesmal private Geldgeschichte in der Zeitung, und Paganinis Name wurde in Paris nur noch mit Spott oder Verachtung genannt. Wieder einige Monate später wandelte sich jedoch dieses Bild durch ein Ereignis, das in seinen Hintergründen und in seinem Wahrheitsgehalt bis heute nicht ganz geklärt ist. Hector Berlioz, der hochromantische Künstler, hatte mit seiner Oper „Benvenuto Cellini" Schiffbruch erlitten. Um den Verzweifelten wieder aufzurichten, veranstalteten seine Freunde kurz vor Weihnachten 1838 zwei Konzerte — und nun lassen wir wieder, gekürzt, die gewandte Feder Jules Janins sprechen: „Diesmal war Berlioz an seinem gewohnten Posten und führte das Orchester selbst an; doch man brauchte ihn nur anzusehen, um sofort seine verzagte Mutlosigkeit zu erkennen . . . Doch allmählich, beim Anhören der ,Phantastique', jenes erschütternden Werkes, in dem er all seine Freuden und Schmerzen geborgen, kehrte ihm der Lebensmut zurück, seine Augen füllten sich mit Tränen, sein Herz schlug höher, und die Zuhörer, gleich ihm ergriffen, spornten seine Kraft immer stärker an. Doch dies alles trat augenblicklich zurück vor einer überraschenden Erscheinung: In einer Ecke des düsteren Saales sah er einen schwarzhaarigen, allgemein als herzlos verschrieenen Mann, der zu weinen schien. Wahrhaftig, er hatte dicke Tränen in den Augen, sein eisiges, italienisches Lächeln war verschwunden; 28
es war in der Tat Paganini, der hier seinen Gefühlen freien Lauf
ließ . . . Diesen Menschen — diesen wandelnden Schatten entdeckte nun Berlioz in seinem Konzert, wie er in tiefster Ergriffenheit den Schicksalen seines ,Harold' Beifall spendete. Als das Stück beendet der letzte Seufzer des Orchesters verhallt war, näherte sich Paganini unerwartet Berlioz und ließ sich in Gegenwart aller vor ihm auf die Knie fallen. Sprechen kann er ja nicht mehr, seine Stimme ist bereits erloschen, aber nicht sein Enthusiasmus. Und dieser hat sich wohl nie elementarer geäußert.. . Zum erstenmal haben wir begriffen, daß Paganini in der Tat ein Mensch wie andere ist, daß ihm wirklich ein warmes Herz im Busen schlägt, daß sein Auge weinen, seine Seele fühlen kann, und daß also an dem Talent dieses Sonderlings nichts übernatürlich ist als eben sein Talent selbst..." Das Überraschendste an dieser Geschichte ereignete sich zwei Tage darauf: Paganini ließ Hector Berlioz einen Scheck über 20 000 Franks mit folgendem Briefchen überbringen: „Mein lieber Freund! Beethoven ist tot, und nur Berlioz konnte ihn wiedererwecken; und ich, der ich Ihre himmlischen Kompositionen, würdig des Genies, das Sie sind, genossen habe, ich erachte es als meine Pflicht, Sie zu bitten, als meine Huldigung 20 000 Francs anzunehmen." Berlioz war gerettet, sein Ansehen ungeheuer gestiegen, und er selbst bewahrte Paganini tiefe Dankbarkeit und Freundschaft. Die Pariser indessen waren nicht so ohne weiteres von der Großherzigkeit des Virtuosen überzeugt, man mutmaßte Machenschaften von dritter Seite. Auf jeden Fall wird wohl das Journal des Debats seine Hände im Spiel gehabt haben, sei es, daß es den Geiger zwang, den Betrag zu zahlen, sei es, daß Paganini nur als Strohmann auftrat und das Geld tatsächlich von der Zeitung stammte, Berlioz aber die wirklichen Geber nicht kennen sollte. Interessant bleibt, daß in Paganinis berühmtem „rotem Buch", das er immer bei sich zu tragen pflegte und das genaueste Aufstellungen über Einnahmen und Ausgaben enthielt, keine Notiz über jene 20 000 Francs zu finden ist. Wie nun diese geheimnisvolle Angelegenheit sich in Wahrheit abgespielt hat, läßt sich nicht mehr ergründen, es bleibt die Tatsache, daß Paganinis Name jetzt wieder ohne Makel glänzte — und wieder eine neue Legende den Meister umgab. 29
Der große Geiger musizierte nur nodi selten, und wenn er es tat, dann meist nur in privatem Kreis, wie Berlioz berichtet: „ . . . In seltenen Augenblicken des Wohlbefindens ergriff er seine Geige, um, wie es der Zufall gab, Trios oder Quartette von Beethoven, die er glühend liebte, mit einigen Genossen, die zugleich die einzigen Zuhörer waren, vorzutragen. Ein anderes Mal, wenn ihn das Violinspiel zu sehr ermüdete, zog er eine allen unbekannte Sammlung selbstverfaßter Duette für Violine und Gitarre hervor, übernahm selbst die Gitarrepartie und entlockte dem Instrument unerhörte Wirkungen . . . " Paganinis Gesundheitszustand verschlechterte sich — und jetzt fand der Mensch Paganini die größte menschliche Genugtuung in seinem Leben. So wie er in zärtlicher Liebe seinen Sohn aufgezogen, ihm vielleicht als Einzigem sein Herz aufgeschlossen hatte —, so dankte ihm nun Achillino diese Liebe mit der treuesten Paganini Hingabe und Pflege. Nicolö konnte nicht Silhouette von Albert Edouard mehr sprechen, oft wurde er von wütenden Schmerzen gepeinigt, aber Achille war immer da, der Junge lebte nur für ihn. Der Vater wollte sogar eine Gespielin für Achille adoptieren — es kam nicht mehr dazu. Anfang 1839 reiste er nach Südfrankreich, immer voller Hoffnung auf Genesung. Jedoch weder die klare Luft, noch Schwefelbäder und alle möglichen Medikamente bewirkten die Heilung. Der Herbst sah ihn wieder in seiner geliebten Villa Gaiona, noch hatte er nicht alle Pläne begraben. Vor der Winterkälte floh er im Dezember nach Nizza, der letzten Station seiner Lebensreise. Die Kehlkopfschwindsucht ließ ihn nicht mehr aus ihren Krallen, sein Leiden wurde immer qualvoller, ständig hatte er mit Atemnot zu kämpfen und empfand doch zugleich die Luft als zu rauh, kaum konnte er noch Nahrung zu sich nehmen. Seit Anfang 30
Mai mußte er ständig liegen, und am Abend des 27. Mai 1840 erlosch sein Leben — ein letztes Mal hatte er nach der neben ihm liegenden Geige gegriffen, bei ihrem Anblick soll er noch einmal gelächelt haben, ehe er verschied. Paganinis Reise aber war noch nicht zu Ende. Der im Leben unentwegt Gehetzte fand auch im Tode noch keine Ruhe, unerbittlich hing dem toten Körper wahnwitziger Aberglaube und dämonischer Wahn nach. Erneut flammte das gehässige Gerede von seiner gotteslästerlichen Beziehung zum Satan auf; Dummheit, Neid und Bosheit triumphierten. Man verweigerte ihm die Bestattung in geweihter Erde. Achille, der Alleinerbe des riesigen Vermögens, und Freunde Paganinis verhandelten über drei Jahre, bis der Leichnam endlich bei Genua in die Erde gesenkt werden durfte. Nach zwei weiteren Jahren wurde Paganini nahe der Villa Gaiona in einem Dorffriedhof beigesetzt. Abseits von den Zentren der Kunst mußten die Verehrer des Wundergeigers weit pilgern, um zu der Grabstätte des Meisters zu gelangen. 1876 überführte man die sterbliche Hülle nach Parma, aber erst zwanzig Jahre danach fand Paganini endgültig seinen Platz in einem Ehrengrab auf dem neuen Friedhof zu Parma. Der größte Geiger der Welt ist tot, aber noch lebt er in der Gegenwart als eine Gestalt, deren Wirklichkeit man kaum fassen kann. Alle Lebensbeschreibungen und zeitgenössischen Berichte können das Geheimnis dieses Hexenmeisters nicht bis ins Letzte ergründen. Die Mischung südländischen Temperaments mit eiskalter Berechnung, glühender Liebe zur Musik mit naivem Egoismus, die Meinung endlich von hohem Künstlertum mit der Neigung zu billiger Effekthascherei — alles dies sind festzustellende Charaktereigentümlichkeiten. Worin aber das wahrhaft Einmalige seines Virtuosentums lag, diese Fähigkeit, zeitlebens ohne Rivalen zu bleiben, ja im eigentlichen Sinne ohne Nachfolger bis auf den heutigen Tag, ferner die Fähigkeit, Musiker wie das Publikum der Masse in gleicher Weise in seinen Bann zu ziehen — das wird Geheimnis bleiben, das Geheimnis des Genies Paganini. Umsehlaggestaltung: Karlheinz Dobsky L u x - L e s e b o g e n 329 (Musik) H e f t p r e i s 25 Pfg. Natur- und kulturkundliehe Hefte - Bestellungen (vierteljährl. 6 Hefte DM 1.50) durch jede Buchhandlung und jede Postanstalt. — Alle früher erschienenen Lux-Lesebogen sind in jeder guten Buchhandlung vorrätig. — Druck: Hieronymus Mühlberger, Augsburg. — Verlag: Sebastian Lux, Murnau vor München. — Herausgeber: Antonius Lux.
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