Oh, Mandy!
Peggy Moreland
Baccara 1105 18-2/00
Gescannt von almutK
1. KAPITEL
Die drei Frauen standen Schulter ...
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Oh, Mandy!
Peggy Moreland
Baccara 1105 18-2/00
Gescannt von almutK
1. KAPITEL
Die drei Frauen standen Schulter an Schulter und starrten auf das Porträt ihres Vaters, das seit mehr als zwanzig Jahren über dem Kamin im Arbeitszimmer hing. Das Bild zeigte Lucas Mc-Cloud lässig auf seinem Hengst Satan sitzend, und es sah aus, als wäre er im Sattel geboren worden. Vor dem Panorama des blauen Himmels von Texas, den zerklüfteten Bergen und den grünen Weiden, die das Bild der Double-Cross-Heart-Ranch bestimmten, wirkten Pferd und Reiter unbezwingbar. Man konnte die Wildheit des Hengstes geradezu spüren, so gut hatte der Maler sie eingefangen. Die Ohren gespitzt, mit hoch erhobenem Kopf, begegnete das Pferd dem Blick des Betrachters mit einer Arroganz, Muskelkraft und Dominanz, die der des Mannes auf seinem Rücken in nichts nachstand. Und keiner kannte dessen Züge besser als die drei Frauen, die das Porträt betrachteten. Seit elf Jahren versammelten sie sich jedes Jahr an diesem Datum hier zu einer stillen Andacht. Doch niemand, der sie zusammen sah, hätte vermutet, dass sie Schwestern waren - die drei Töchter von Lucas McCloud, in ihrem Wesen genauso verschieden wie in ihrem Äußeren. Mandy, die Älteste, stand links von dem Bild und hielt einen Becher mit Kaffee in der Hand. Ihre fast zerbrechlich wirkende Gestalt verbarg eine innere Kraft und einen Willen, der dem des Mannes glich, der sie gezeugt hatte. Volles rotbraunes Haar fiel ihr auf die Schultern, ein Beweis ihrer Weiblichkeit, während Jeanshemd und ausgeblichene Jeans, ihre übliche Kleidung, die weichen Kurven verbargen. Ihr Kinn war beinahe trotzig vorgestreckt, während ein leichtes Zittern ihrer Lippen die Gefühle verriet, die sie beim Betrachten des Bildes ihres Vaters überkamen. Samantha, die von ihrer Familie nur Sam genannt wurde, weil es ein viel passenderer Name für diesen Wildfang war, stand in der Mitte und hatte die Hände in die Taschen ihrer Jeans gesteckt. Rabenschwarzes Haar, zusammengebunden zu einem Pferdeschwanz, reichte ihr fast bis zur Mitte des Rückens. Obwohl Tränen in ihren Augen brannten, presste sie die Lippen fest aufeinander und schaute regungslos auf den Mann, der ihr Leben bis zu seinem Tod dominiert hatte. Merideth stand auf der rechten Seite. In ihren langen schlanken Händen hielt sie lässig ein kristallenes Weinglas. Sie überragte die beiden anderen und wurde deshalb häufig für die Älteste gehalten - doch ein Blick auf ihren Schmollmund und den gelangweilten Gesichtsausdruck, und man wusste, dass sie die Jüngste in der Familie war. Ihre Schwestern, die Haushälterin der McClouds und alle anderen, von denen sie umgeben war, hatten Merideth total verzogen, nachdem ihre Mutter bei einem Autounfall viel zu früh ums Leben gekommen war. Lucas war der Einzige gewesen, der hart geblieben war und sich ihren Wün schen und Launen widersetzt hatte. Vor allem hatte er sich geweigert, ihr das zu erlauben, wonach sie sich am meisten gesehnt hatte - die Double-Cross-Heart-Ranch zu verlassen. Seufzend wandte Merideth sich vom Porträt ab und strich sich eine Locke ihres blonden Haares hinter das Ohr. „Nun, ich bin ehrlich gesagt froh, dass er nicht mehr da ist." Entsetzt wirbelte Mandy herum und starrte sie an. „Merideth!" Merideth zuckte mit den Schultern und sank graziös auf das Ledersofa. Sie verzog ihren Mund zu dem berühmten Schmollen, das ihr laut „Soap Opera Digest" den Spitznamen „die Frau, die Amerika am liebsten hasst" eingebracht hatte. „Na ja, ist doch wahr", sagte sie grimmig. „Er war gemein, tyrannisch und hat uns unser Leben diktiert, bis zu dem Tag, an dem er gestorben ist." Sie begegnete trotzig Mandys entsetztem Blick. „Du solltest das doch wohl am besten wissen." Obwohl ihr das Blut in die Wangen schoss, umklammerte Mandy ihren Becher fester und schaffte es, in ruhigem Ton zu antworten. „Er war unser Vater", entgegnete sie. „Er hat uns geliebt - auf seine Weise. Außerdem war es sein Vermögen, das es uns allen ermöglichte, uns unsere Träume zu erfüllen. Wenigstens dafür solltest du dankbar sein."
Merideth zog eine Augenbraue in die Höhe. „Unsere Träume?" wiederholte sie und bedachte Mandy mit einem Blick, der Regisseure und Maskenbildner in Angst und Schrecken versetzte. „Lass das, Merideth", warnte Sam sie und wandte sich ebenfalls vom Bild ab. „Oh, du meine Güte!" rief Merideth verärgert. „Es ist doch wahr, und du weißt es. Du konntest endlich Tierärztin werden, etwas, was Daddy dir nie erlaubt hätte, und ich konnte mir eine Fahrkarte nach New York kaufen und besitze jetzt die Mittel, um so zu leben, wie ich es möchte und dabei das zu tun, was ich schon immer tun wollte, nämlich schauspielern. Aber was hat Mandy bekommen? Hm?" fragte sie spitz. „Ich habe die Ranch", murmelte Mandy und drehte sich weg. „Wir alle haben die Ranch bekommen", erinnerte Merideth sie. „Aber du warst die Einzige, die hier bleiben und die Ranch bewirtschaften wollte. Was ich wissen möchte, ist, was Daddys Vermögen dir gebracht hat. Hat es dir ermöglicht, dir deinen Traum zu erfüllen?" Mandy verspannte sich, weil Merideths Worte alte, nie verheilte Wunden berührte. „Ich habe das Geld. Ich habe nur noch nichts davon ausgegeben ... bis jetzt." Merideth setzte sich abrupt auf. „Bis jetzt?" wiederholte sie, bevor sie schnell den Kopf schüttelte und eine Hand hob, um Mandy von einer Antwort abzuhalten. „Nein. Bitte erzähl mir nicht, dass du irgendwelche neuen, exotischen Rinder züchten willst oder noch so eine riesige Scheune bauen willst." Mandy wandte sich wieder zu ihren Schwestern. „Nein, ich werde die Circle-Bar-Ranch kaufen." Merideth sprang auf, während Sam erschrocken die Augen aufriss. Beide waren mehr als vertraut mit der Circle-Bar-Ranch, die an ihre eigene grenzte, und mit dem Streit, der inzwischen seit vier Generationen zwischen den Ranches herrschte. Sam fand als Erste die Sprache wieder. „Du willst die Circle-Bar-Ranch kaufen? Aber warum?" stotterte sie. „Weil ich gehört habe, dass sie vielleicht zum Verkauf steht", entgegnete Mandy und hob trotzig ihr Kinn, in der Hoffnung, dass ihre Schwestern es dabei belassen würden. Doch sie hätte es besser wissen müssen. Vor allem Merideth ließ sich mit solch einer vagen Antwort nicht abspeisen. „Das wäre vielleicht ein Grund, wenn du sie gebrauchen könntest - was du aber nicht tust." Merideth kniff misstrauisch die Augen zusammen. „Was ist also der wirkliche Grund? Glaubst du, dass es Jes..." „Nein!" Mandy schrie fast, um Merideth davon abzuhalten, den Namen laut auszusprechen. „Ich will sie für Jaime kaufen. Er hat ein Recht auf sein väterliches Erbe." Sam, die ruhigste und häufig die weichherzigste der drei Schwestern, kam zu Mandy und legte ihr voller Mitgefühl einen Arm um die Schultern. „Jaime braucht die Circle-Bar-Ranch nicht", meinte sie tröstend. „Er hat dich und die Double-Cross-Heart-Ranch. Er braucht nichts von den Barristers." Obwohl sie Sams Argumente verstand und dankbar für ihre Unterstützung war, befreite Mandy sich aus dem Arm ihrer Schwester und umklammerte ihren Becher noch fester. „Ich glaube trotzdem, dass dieses väterliche Erbe wichtig für ihn ist... oder es zumindest irgendwann sein wird. Ich kann ihm zwar seinen Vater nicht geben, aber so wenigstens eine Verbindung zu seiner Vergangenheit." Merideth hob die Arme zur Decke und ließ sie dann frustriert wieder sinken. „Es ist gut, dass Daddy nicht mehr bei uns ist, denn wenn ihm dieser Unsinn zu Ohren käme, würde er dich für den Rest deines Lebens in deinem Zimmer einsperren!" Mandy schaute ihre Schwester gelassen an. „Aber das ist es ja. Daddy ist nicht mehr da. Er kann mich nicht mehr davon abhalten, das zu tun, was ich möchte." Sie stellte den Becher auf den Schreibtisch und setzte sich neben Merideth auf das Sofa. „Seit dem Tod von Wade
Barrister gibt es Gerüchte, dass die Circle-Bar-Ranch verkauft werden soll. Wenn jemand sie verdient hat, dann Jaime." „Ob das stimmt oder nicht, ist völlig bedeutungslos", erklärte Merideth. „Du weißt genauso gut wie ich, dass Margo Barrister die Circle-Bar-Ranch niemals an eine McCloud verkaufen würde." Mandy lächelte listig. „Sie wird es erst erfahren, wenn es schon zu spät ist." Verblüfft starrte Merideth Mandy an. „Und wie willst du die Ranch kaufen, ohne dass Margo es erfährt? Schließlich ist sie Wades Witwe." „Ich habe mir das genau überlegt. Morgen werde ich mit meinem Anwalt darüber sprechen. Er soll eine Pseudofirma gründen, die nicht mit mir in Verbindung gebracht werden kann. Diese Firma wird den Besitz kaufen, und dann, wenn Jaime erwachsen ist, werde ich ihm die Ranch überschreiben. Auf diese Weise bekommt er sein väterliches Erbe. Etwas, was ihm niemand nehmen kann." Merideth, die stolz darauf war, jede Situation zu ihrem Vorteil zu nutzen, klatschte Mandy Beifall für ihre List und rieb sich voller Schadenfreude die Hände. „Margo wird rasen vor Wut!" Mandy lachte. „Ja, das wird sie, nicht wahr?" Merideth lehnte sich schallend lachend zurück und meinte: „Ich hoffe, ich bin dabei, wenn sie es erfährt. Diese eingebildete Ziege. Es geschieht ihr nur recht." Sam reagierte nicht so euphorisch auf Mandys Neuigkeiten. Sie setzte sich ebenfalls auf das Sofa und schaute sie besorgt an. „Bist du sicher, dass du weißt, was du tust? Manchmal ist es besser, die Vergangenheit ruhen zu lassen. Du könntest dir viel Ärger einhandeln, wenn du das durchziehst. Margo wird die Sache nicht auf sich beruhen lassen." Mandy griff nach Sams Hand und drückte sie. „Aber wenn sie es erfährt, wird es zu spät sein, um etwas daran zu ändern." Merideth setzte sich auf und legte die Hand auf die ihrer Schwestern. „Ich stehe auf jeden Fall hinter dir. Auch wenn ich die Gründe, warum du die Circle-Bar-Ranch kaufen willst, nicht ganz einsehe, denke ich, dass du das Recht hast, mit dem Geld, das Daddy dir hinterlassen hat, das zu tun, was du möchtest. Es kommt mir fast wie ausgleichende Gerechtigkeit vor, findest du nicht auch?" Sie warf einen Blick auf das Porträt ihres Vaters und lächelte. „Wahrscheinlich dreht er sich gerade im Grabe um." Mandy kam aus dem Büro ihres Anwalts. Tief durchatmend blieb sie vor der Tür stehen. Sie hatte es getan. Sie hatte die Sache ins Rollen gebracht. Alle notwendigen Papiere waren unterzeichnet, um die Pseudofirma zu gründen, und sie hatte ihrem Anwalt Generalvollmacht erteilt. Jetzt konnte sie nur noch warten. Sie biss sich auf die Unterlippe, als ihr die ganze Tragweite ihrer Tat bewusst wurde. Hatte sie wirklich das Richtige getan? Oder handelte sie sich nur viel Ärger ein, so wie Sam es vorausgesagt hatte? Sie unterdrückte den Gedanken und machte einen Schritt in Richtung Fahrstuhl. Nein, sagte sie sich entschlossen. Jaime verdient die Circle-Bar-Ranch. Ihm war in seinem kurzen Leben schon genug entgangen. Er hatte ein Anrecht auf sein väterliches Erbe, das ihm als uneheliches Kind sonst versagt bleiben würde. Gedankenversunken schaute Mandy auf, als die Fahrstuhltüren sich öffneten. Sie erstarrte, als sie einen Mann heraustreten sah. Er wandte sich nach links, ohne in ihre Richtung zu schauen - sie stand gut zehn Meter vom Fahrstuhl entfernt -, doch sie erhaschte einen Blick auf sein Gesicht, auf das markante Profil, das von einem schwarzen Stetson beschattet wurde, und auf das kräftige Kinn. Außerdem erkannte sie diesen zielgerichteten Gang, der jeden abschreckte, der die Absicht hatte, diesem Mann entgegenzutreten.
Jesse Barrister! Oh, nein! Mandy stöhnte leise auf und ballte die Hände zu Fäusten. Was tat er hier? Und warum war er gerade jetzt hier? Er verlangsamte seinen Schritt, und seine Schultern drehten sich leicht, so als wollte er kehrtmachen. Mandy schnappte nach Luft und versteckte sich hastig in einem Gang. Gegen die Wand gedrückt und mit angehaltenem Atem horchte sie. Doch ihr Herzschlag dröhnte ihr in den Ohren und übertönte alle anderen Geräusche. Sie schloss die Augen und hoffte inständig, dass Jesse in die andere Richtung weiterging und sie ungesehen blieb. Die schweißnassen Hände an die kalte Wand gepresst, stand sie da und wartete. Die Minuten vergingen; Mandy hatte das Gefühl, auf einem Pulverfass zu stehen. Doch sie konnte nicht für immer hier stehen bleiben, also warf sie ängstlich einen Blick den Flur entlang. Er war leer. Erleichtert sackte sie wieder gegen die Wand. Dann riss sie sich mit aller Kraft zusammen, huschte um die Ecke, eilte fort von den Fahrstühlen und zur Treppe am Ende des Ganges. Zehn Stockwerke hinunterzulaufen war harmlos im Vergleich zu ihrer Angst vor Entdeckung. „Bist du sicher, dass er es war?" Mandy wirbelte herum und stützte sich mit den Händen auf dem Schreibtisch ab. Ihre grünen Augen funkelten, als sie Merideths zweifelnden Blick sah. „Ja, ich bin sicher! Er stand keine zehn Meter von mir entfernt." Sam kam um den Schreibtisch herum und legte einen Arm um Mandys Schultern. „Es ist bestimmt nur ein Zufall, dass er zurückgekommen ist", murmelte sie beruhigend. „Vielleicht hat es gar nichts mit Jaime zu tun." „Es ist mir egal, warum er zurück ist", flüsterte Mandy zitternd und unverändert aufgeregt. „Ich muss meinen Sohn beschützen." Sam und Merideth blickten sich an. Merideth kam heran und schob ihren Arm unter Mandys Ellenbogen. Trotz ihres Egoismus war Merideth eine McCloud, und zusammen würden sie und Sam, so wie in der Vergangenheit auch, ihrer Schwester zur Seite stehen. „Er kann Jaime nichts tun, Mandy", versicherte Merideth mit einer Zuversicht, die Mandy nicht teilen konnte. „Wir werden es nicht zulassen. Außerdem weiß Jesse doch nicht einmal, dass er einen Sohn hat." Mandy schaute Merideth mit Tränen in den Augen an. „Aber was ist, wenn er es herausfindet? Was ist, wenn er versucht, mir Jaime wegzunehmen?" Merideth unterdrückte ein Schaudern und verbot sich, der Angst nachzugeben, die Mandys Fragen in ihr hervorriefen. Von ihrem Vater hatte sie gelernt, dass es ein Zeichen von Schwäche war, wenn man Angst zeigte - und sie, Merideth McCloud, hatte ihre Lektion gut gelernt. Sie legte immer eine unbezwingbare Selbstsicherheit an den Tag, die ihr geholfen hatte, sich gegen andere ehrgeizige Schauspieler durchzusetzen und eine der Hauptrollen in einer Seifenoper zu bekommen. Mandy hatte die gleiche Lektion gelernt, doch im Moment war sie zu durcheinander, um daran zu denken. Merideth wusste, dass es an ihr war, sie wieder daran zu erinnern. „Also, was willst du tun?" fragte sie scharf. Sie wusste, dass sie hart klang, aber ihrer Meinung nach erforderte die Situation es. „Willst du ihm Jaime aushändigen, ohne um ihn zu kämpfen?" Mandy wirbelte entsetzt herum. „Natürlich nicht!" „Dann hör auf, darüber nachzudenken, was passieren könnte, und konzentrier dich auf die Tatsachen. Jaime ist dein Sohn. Du hast ihn geboren, du hast ihn allein aufgezogen - ohne die Hilfe von Jesse oder sonst jemandem." „Aber wenn er vor Gericht geht? Was ist, wenn er das Sorgerecht einklagt?"
„Und welcher Richter würde ihm das Sorgerecht zusprechen?" Merideth nahm Mandys Hände und drückte sie. „Es ist dein Sohn, Mandy. Jesse hat nichts weiter als seinen Samen gegeben." Mandy klammerte sich an den Rettungsring, den Merideth ihr bot. „Ich weiß das. Aber wenn er das mit Jaime herausfindet?" „Komm mit mir nach New York. Du kannst mit Jaime bei mir bleiben, bis sich der Wirbel gelegt hat und wir wissen, was Jesse vorhat." Langsam straffte Mandy die Schultern und entzog Merideth ihre Hände. „Nein. Dann würde ich ja davonlaufen. Und eine McCloud läuft niemals davon!" Merideth warf den Kopf zurück und lachte. „So ist es richtig! Ich wusste doch, dass du Mumm in den Knochen hast." Mandy runzelte die Stirn und betrachtete ihre Schwester misstrauisch. Zu spät erkannte sie, dass Merideth ihr etwas vorgespielt hatte, um sie zur Vernunft zu bringen. „Du bist ein schreckliches Gör, das weißt du, oder?" grollte Mandy. „Das warst du schon immer." Merideth lächelte selbstzufrieden. „Das sagt man mir öfter", meinte sie stolz. Sie ging zu dem Ledersofa und ließ sich darauf fallen. „Keine Angst, ich bleibe noch ein bisschen hier, falls du jemanden brauchst, der dich daran erinnert, dass du eine McCloud bist." Mandy zog die Augenbrauen in die Höhe. „Das geht doch nicht. Du musst nach New York zu deinem Job!" Merideth zuckte lässig mit den Schultern. „Der ist auch noch da, wenn ich zurückkomme", erwiderte sie, voller Vertrauen in ihre Wichtigkeit für die Serie, in der sie mitwirkte. „Du brauchst nicht zu bleiben", warf Sam ein. „Ich bin ja hier, falls Mandy Hilfe braucht." Merideth wandte sich zu Sam. Langsam verzogen sich ihre Lippen zu einem Lächeln. „Ich hatte vergessen, dass die frisch gebackene und begabte Tierärztin Dr. Samantha McCloud ja ihre Praxis hier auf der Ranch einrichtet. Na, dann werden meine Dienste ja nicht mehr benötigt." Sie drehte sich zu Mandy um. „Du wirst bei Sam in guten Händen sein, und ich bin schließlich nur einen Telefonanruf weit weg." Gemächlich stand sie auf, hob die Arme über den Kopf und streckte sich mit katzengleicher Anmut, bevor sie ihre beiden Schwestern in die Arme schloss. Dann trat sie einen Schritt zurück und streckte die Hand aus, mit dem Handteller nach oben. „Einer für alle, und alle für einen!" rief sie. „Die drei Musketiere!" Lachend schlugen Sam und Mandy ein. „Für immer!" antworteten sie. Jesse bog vom Highway ab und fuhr durch das Eisentor, das den Eingang zur Circle-BarRanch markierte, zum „großen Haus". So wurde das Heim der Barristers von denen genannt, die auf der Circle-Bar-Ranch lebten und arbeiteten. Obwohl er geglaubt hatte, gegen die Erinnerungen an die Vergangenheit gefeit zu sein, merkte Jesse, dass sich sein Magen verkrampfte und ihm der Schweiß ausbrach. Fluchend wischte er sich über das Gesicht und starrte durch die Windschutzscheibe auf die Straße vor sich. Er nahm den Fuß vom Gas und trat auf die Bremse, um den Wagen auf dem Hügel zum Stehen zu bringen. Von der strahlenden Sommersonne beschienen, wirkte das zweistöckige Herrenhaus genauso deplatziert, wie Jesse sich immer gefühlt hatte, während er auf der Circle-Bar-Ranch gelebt hatte. Doch statt sorgfältig gepflegter Rasenflächen mit Sümpfen und Magnolien und riesigen Eichen voller Moos, die man bei solch einem Haus erwarten würde, umgaben Wiesen mit grasenden Kühen, steinige Hügel und Zedern und Kakteen das Anwesen. Margo Barrister hatte Wade, ihren Mann, nach ihrer Hochzeit vor mehr als vierzig Jahren zwar nicht davon überzeugen können, nach Atlanta zu ziehen, aber sie hatte ihn schließlich dazu gebracht, das ursprüngliche Haus der Barristers niederzureißen und es durch dieses Monstrum zu ersetzen - ein unübersehbares Zeugnis von Margos Wurzeln im vornehmen Süden.
Bei dem Gedanken an Margo umwölkte sich Jesses Stirn. Mrs. Barrister. Sie hatte darauf bestanden, dass er sie so nannte. Nicht Mutter - nie im Leben hätte sie zugegeben, dass er Wades Sohn war. Margo hatte nichts anderes als unpersönliche Förmlichkeit von ihm verlangt. Hass stieg in ihm auf, als er sich daran erinnerte. Er hatte sie niemals Mrs. Barrister genannt. Er hatte sich überhaupt nie an sie gewandt. Das war nicht schwierig gewesen, da sie ihm den Zutritt zu ihrem Haus bei seiner Ankunft auf der Ranch verboten hatte. Seine Miene wurde noch grimmiger, als Jesse an den Tag damals dachte. Margo hatte geflucht und getobt, als Wade seinen vierzehnjährigen, unehelichen Sohn mitgebracht hatte. Sie hatte ihm nicht erlaubt, ihre Türschwelle zu übertreten, sondern verlangt, dass Wade ihn in die Unterkunft brachte, in dem die Rancharbeiter wohnten. Und genau dort hatte er bis zu dem Tag vor fast dreizehn Jahren gelebt, als er die Circle-Bar-Ranch und Texas so überstürzt verlassen hatte. Ja, damals war es einfach gewesen, Margo aus dem Weg zu gehen. Aber die Konfrontation, die ihn jetzt unten im Tal erwartete, die konnte er nicht vermeiden. Jesse schüttelte die unangenehmen Erinnerungen ab, legte den Gang ein und machte sich auf den Weg hinab zum „großen Haus". Durch das Fenster ihres Wohnzimmers erhaschte Margo einen Blick auf eine Staubwolke, die über den Hügel wirbelte. Zusammenzuckend stellte sie langsam die Vase auf den Tisch und ging ans Fenster, um zum Hügel zu sehen. „Verflixt!" fluchte sie leise. Obwohl sie den schwarzen Transporter, der die Staubwolke verursachte, nicht kannte, ahnte sie, wer darin saß. Jesse. Er war gekommen, um sein Erbe anzutreten. Ihre Lippen zitterten vor unterdrückter Wut. Er war hier, um die Circle-Bar-Ranch zu übernehmen. Wade hatte ihr zwar das Haus hinterlassen, aber nicht das Land, auf dem es stand. Das hatte er dem Sohn seiner mexikanischen Hure vererbt! Dass Wade es gewagt hatte, sie in aller Öffentlichkeit so zu beleidigen, indem er sein uneheliches Kind anerkannte und ihr das Land, die Dynastie wegnahm, die ihr alle Türen der guten Gesellschaft von Austin öffnete, war ungeheuerlich. Margo legte eine Hand auf ihr Herz und zwang sich, tief Luft zu holen. Jesse brauchte ihren Widerwillen, ihre Wut... ihre Verzweiflung nicht zu sehen. Sie brauchte ihn, ob sie es zugeben wollte oder nicht. Sie kannte seine Pläne nicht. Noch nicht. Er hatte sich nicht mit ihr in Verbindung gesetzt, seit Wades Anwalt ihn über Wades Tod und das Erbe unterrichtet hatte. Würde er die Ranch verkaufen? Oder würde er wieder hierher ziehen und sie selbst bewirtschaften, so wie Wade es gehofft hatte? Ihr Magen verkrampfte sich. Allein die Vorstellung, zusehen zu müssen, wie dieser elende Bastard auf ihrem Land herumging, war einfach zu entsetzlich, um darüber nachzudenken. Sie hoffte, dass er plante zu verkaufen. Wenn dem so war, dann würde sie das Land kaufen, und die Barrister-Dynastie würde so wie in der Vergangenheit fortbestehen, nur dass dann sie, Margo, an der Spitze stehen würde. Aber würde er an sie verkaufen? Sie ballte die Hände zu Fäusten, so dass die manikürten Fingernägel sich in das Fleisch der Handflächen gruben, während sie zusah, wie der Wagen vor dem Haus zum Stehen kam. Augenblicklich zwang sie sich, die Finger wieder zu entspannen. Sie war Jesse Barrister gewachsen. Hatte sie es nicht auch geschafft, Wade jahrelang zu manipulieren? Als Jesse aus dem Auto stieg, war sie erneut verblüfft über der Ähnlichkeit zwischen ihm und ihrem verstorbenen Mann. Das hat Wade mit Absicht gemacht, dachte Margo bitter. Er hatte sein Land diesem unehelichen Sohn vermacht, um sie ein letztes Mal dafür zu bestrafen, dass sie ihm keinen Erben geschenkt hatte.
Die Türglocke erklang. Margo holte tief Luft, richtete sich auf und strich über ihren Leinenrock, um sich für die bevorstehende Auseinandersetzung zu wappnen. Leise ging sie über den dicken Teppich zur Haustür, zwang sich zu einem Lächeln und öffnete. „Jesse!" rief sie aus, als wäre sie erstaunt über seine Ankunft. „Was für eine nette Überraschung! Bitte komm herein", meinte sie höflich und schwang die Tür weit auf. Jesse Barrister war kein Dummkopf. Er erkannte einen Wolf im Schafspelz. Seine Miene verzog sich nicht, als er Margo anschaute. „Ich kann die Sache genauso gut hier erledigen", sagte er knapp. „Die Sache?" wiederholte sie, während sie einen Schritt zurücktrat. „Was für eine Sache?" „Mein Erbe, um genau zu sein." Jesse starrte Margo an, die sich krampfhaft bemühte, ihr falsches Lächeln aufrechtzuerhalten. „Dann hast du also mit Wades Anwalt gesprochen?" „Ich komme gerade aus seinem Büro. Er hat mir das Testament des alten Herrn gezeigt." Selbst jetzt brachte Jesse es nicht über sich, den Namen seines Vaters auszusprechen. „Ich weiß, dass es schwer für dich ist", murmelte Margo, „nach all den Jahren zurückzukehren. Ich weiß, wie unglücklich du hier warst. Wenn du willst, kann ich dir das Land abkaufen und dich damit von aller Verantwortung und allen Verpflichtungen befreien, die Wade dir aufgebürdet hat. Auf diese Weise kannst du unbelastet mit deinem Leben fortfahren." Jesse betrachtete sie misstrauisch. Er wusste zwar nicht, was Margo vorhatte, aber es war gewiss nichts Gutes. Dafür kannte er sie zu genau. Obwohl er nach dem Anwaltsbesuch vorgehabt hatte, das Land zu verkaufen, zögerte er jetzt. „Ich weiß nicht", erwiderte er langsam. Er drehte sich herum und schaute auf das weite Land, das grasende Vieh, die fernen Hügel, die Pferdekoppeln, auf denen er mit den anderen Cowboys hart gearbeitet hatte. Er hatte jede Minute gehasst, die er hier auf dieser Ranch verbracht hatte, und war nur widerstrebend hergekommen. Er hatte Margo von seinen Plänen unterrichten und dann aus der Stadt verschwinden wollen, um die Vergangenheit und all die unangenehmen Erinnerungen wieder hinter sich lassen zu können. Aber nun war er sich nicht mehr so sicher. Langsam wandte er sich wieder zu Margo um. „Ich werde eine Zeit lang hier bleiben. Bis ich entschieden habe, was ich mit der Ranch tun werde." Margo hob einladend die Hand. „Dann musst du hier wohnen. Ich werde Maria sagen, sie soll ein Zimmer für dich fertig machen." „Das ist nicht nötig. Die Unterkunft der Arbeiter reicht mir völlig", wehrte Jesse ab. „Unsinn", versicherte Margo hastig. „Hier im Haus hast du es doch viel angenehmer. Außerdem bin ich sicher, dass Wade es so gewollt hätte." „Wirklich?" Jesse verzog verächtlich den Mund. „Irgendwie bezweifle ich das." Margo suchte krampfhaft nach einer Antwort. „Nun ... wenn du meinst..." Sie hob die Hand, um ihm den Weg zu weisen. „Das Haus der Rancharbeiter ist ..." Jesse wandte ihr den Rücken zu und unterbrach sie. „Ich kenne den Weg." Margo ging zum Fenster und beobachtete mit zusammengekniffenen Lippen, wie Jesse zurück zu seinem Transporter ging. Groß, breitschultrig und mit aufreizend stolzem Gang. Sie erschauderte bei dem Anblick. Abgesehen von der etwas dunkleren Hautfarbe und dem leicht spanischen Akzent hätte er als Wade Barrister in jungen Jahren durchgehen können. Und das allein reichte, um Margo wütend zu machen. Sie hatte Wade Barrister vor vierzig Jahren geheiratet. Geblendet von seinem guten Aussehen und seinem Reichtum, hatte sie geglaubt, ihn zu lieben. Doch die Ernüchterung war schnell gekommen. Wade war von seiner eigenen Wichtigkeit besessen gewesen und davon, einen Erben zu produzieren, um den Namen Barrister fortzuführen. Als zehn Jahre vergangen
waren und es offensichtlich wurde, dass sie unfruchtbar war, hatte er nie wieder mit ihr geschlafen. Margo war sich sicher, dass Wade schon vor Jahren die Scheidung eingereicht hätte, um mit einer anderen Frau den gewünschten Sohn zu zeugen, wenn er nicht so geizig gewesen wäre. Die Gesetze in Texas verlangten, dass bei einer Scheidung der Besitz gerecht zwischen den Eheleuten geteilt wurde, und Wade hätte niemals wissentlich jemandem etwas gegeben, was er als Seins betrachtete. Schon gar nicht die Circle-Bar-Ranch. Also hatte er sein Vergnügen bei anderen Frauen gesucht, die sie insgeheim alle als seine Huren bezeichnete. Und es war eine spezielle mexikanische Hure, die ihm schließlich den lang ersehnten Erben geboren hatte. Bei dem Gedanken an Jesse verzog Margo erneut das Gesicht. Ihr erstes Treffen war nicht so verlaufen, wie sie es geplant hatte. Sie hatte gehofft, dass Jesse genauso begierig darauf sein würde, die Ranch zu verkaufen, wie sie darauf erpicht war, sie zu kaufen. Sein Zögern bereitete ihr Angst. Margo ließ die Gardine fallen und wandte sich von Jesses Anblick ab. Nun, versicherte sie sich, ich habe vielleicht eine Schlacht verloren, aber nicht den Krieg. Jesse stand im Zentrum des kleinen Tals, die Hände in die Hüften gestemmt, und kämpfte mit den Erinnerungen, die ihn überfielen. Dunkelheit umgab ihn und schien ihn zu verhöhnen mit Schatten aus der Vergangenheit, die er geglaubt hatte, schon vor Jahren begraben zu haben. Er holte tief Luft, um die unangenehmen Bilder zu verscheuchen, und genoss die Düfte der Nacht. Den süßen Geruch von frisch geschnittenem Heu, den würzigen Duft des Geißblatts und den modrigen Geruch von feuchtem Laub. Seufzend hob er das Gesicht zum Himmel und schloss die Augen. Doch obwohl er dagegen ankämpfte, waren die Bilder aus der Vergangenheit plötzlich allgegenwärtig ... Eine auf dem Boden ausgebreitete Decke. Mandy, die unter ihm lag, ihr Körper heiß und feucht an seinen gedrückt. Mit einem Ausdruck voller Leidenschaft in den Augen schaute sie zu ihm auf, während ein kleines Lächeln auf ihrem üppigen und sinnlichen Mund erschien ... Fast konnte er ihre Hände auf seinem Rücken spüren, als wäre es jetzt, dass sie seine glühende Haut liebevoll streichelte. Wütend presste er die geballten Fäuste auf seine Augen, doch anstatt dass die Bilder verschwanden, tauchte eine neue Erinnerung auf... Lucas McCloud, der mit einem Gewehr auf ihn zielte. Der Geruch von Schießpulver, der durch die Nachtluft drang. Sein Körper, der zuckte, von der Wucht der Explosion, die ihn erschütterte ... Jesse hob die Hand zu der Schulter, wo die Kugel ihn vor so vielen Jahren getroffen hatte, und der heftige Schmerz, der ihn zu Boden geworfen hatte, war wieder gegenwärtig. Aber dieser Schmerz war harmlos, verglichen mit dem Schmerz, der durch sein Herz fuhr, als er an die Worte dachte, die Mandy damals gesagt hatte, nachdem ihr Vater ihn niederge schossen hatte. Nein, Jesse, ich kann nicht mit dir kommen ... Jesse hob die Fäuste zum Himmel und schüttelte sie. „Fahr zur Hölle, Mandy!" brüllte er. „Wie konntest du deinen Vater mir vorziehen!"
2. KAPITEL
Jesse brachte sein Pferd neben Petes zum Halten und holte eine Schachtel Zigaretten aus seiner Hemdtasche. Er schüttelte eine heraus und bot sie Pete, Vorarbeiter der Circle-BarRanch, an. Pete betrachtete ihn skeptisch. „Ich drehe sie mir lieber selbst", brummte er, nahm sich dann aber doch eine. Allerdings kniff er den Filter ab, bevor er sich die Zigarette zwischen die Lippen steckte. Jesse unterdrückte ein Lächeln, während er in seiner Jeans nach dem Feuerzeug suchte. Er hatte Pete Dugan schon immer gemocht. In gewisser Weise war Pete eher ein Vater für ihn, als Wade Barrister es je gewesen war. Es war Pete, der ihn aufgelesen hatte, nachdem er bei seinem ersten Versuch, ein Wildpferd zuzureiten, abgeworfen worden war. Es war Pete, der seinen Kopf in eine Pferdetränke gesteckt hatte, als er als Teenager zum ersten Mal betrunken nach Hause gekommen war. Und Pete war es auch, der ihn in jener Nacht im Stall gefunden hatte, als Lucas McCloud ihm eine Kugel durch die Schulter geschossen hatte. Obwohl Pete fluchend versucht hatte, ihn davon zu überzeugen, einen Arzt aufzusuchen, hatte er die Wunde gesäubert und so gut er konnte verbunden, bevor er, Jesse, noch in der Dunkelheit davongefahren war. Jesse verscheuchte die ungewollten Erinnerungen und zündete seine Zigarette an, bevor er das Feuerzeug an Pete weitergab. „Sieht so aus, als hättet ihr ein paar gute Kälber dieses Jahr", meinte Jesse und deutete zu den Tieren, die auf der Weide unter ihnen grasten. „Kann mich nicht beschweren." Jesse nickte, als er den Stolz aus dieser schlichten Antwort heraushörte. „Wer hat denn jetzt hier das Sagen, seit der alte Herr nicht mehr da ist?" Pete schnaubte. „Was glaubst du wohl?" „Und du gehorchst?" wollte Jesse erstaunt wissen. „Ich hör zu, sag brav Ja und Amen und mach dann, was ich will." Jesse lachte und beugte sich hinüber, um Pete auf den Rücken zu klopfen. „Deine Art hat mir schon immer gefallen." „Hab mir noch nie was von einem Frauenzimmer sagen lassen. Schon gar nicht von einer, die einen Bullen nicht von einem Ochsen unterscheiden kann." Pete drehte den Kopf, um Jesse anschauen zu können. „Willst du hier jetzt die Zügel übernehmen?" Jesse zuckte mit den Schultern und drückte die heruntergebrannte Zigarette zwischen zwei Fingern aus, bevor er sie auf den Boden warf. „Vermutlich. Jedenfalls so lange, bis ich entschieden habe, was ich mit der Ranch machen werde." „Soll das heißen, du hast vor, sie zu verkaufen?" „Ich weiß es nicht", erwiderte Jesse unbestimmt. „Ich habe jetzt meine eigene Ranch in Oklahoma. Es wäre ein bisschen schwierig, beide zu bewirtschaften." Pete schüttelte den Kopf und schaute wieder auf die Weide. „Kann mir gar nicht vorstellen, dass die Circle-Bar-Ranch jemand anderem als einem Barrister gehört. Sie besitzen dieses Land, solange ich denken kann." Sie schwiegen einen Moment. Dann erzählte Jesse: „Die alte Dame hat angeboten, mir das Land abzukaufen." Obwohl Pete den Blick nicht von dem grasenden Vieh wandte, bemerkte Jesse, dass er sich anspannte, als Pete von Margos Angebot hörte. „Sie sagt, sie wolle mich von aller Verantwortung und allen Verpflichtungen, die Wade mir aufgebürdet habe, befreien. Sehr großzügig von ihr, findest du nicht?" Pete antwortete nicht, sondern starrte weiterhin mit grimmigem Gesicht geradeaus. „Hältst du sie nicht für großzügig?" hakte Jesse nach. Langsam drehte Pete sich zu ihm herum. „Margo Barrister hat in ihrem ganzen Leben noch niemandem außer sich selbst etwas Gutes getan, was soll also deine dumme Frage?"
Jesse schmunzelte und schnalzte dann kurz, bevor er sein Pferd den schmalen Pfad entlangtrieb, der hinunter zur Weide führte. „Ich wollte nur sichergehen, dass sie über die Jahre nicht weich geworden ist", rief er über die Schulter zurück. „Margo Barrister?" knurrte Pete verächtlich und folgte Jesse. „Eher friert die Hölle zu, als dass das diese Frau weich wird." Pete und Jesse waren auf dem Weg zurück, als Pete plötzlich sein Pferd zügelte und eine Hand hob, um auch Jesse zum Anhalten zu bewegen. „Schau mal dort drüben", murmelte Pete und nickte zu dem See, der sich Richtung Westen erstreckte. Jesse konnte nichts Besonderes erkennen. „Was denn?" „Am Ufer, unter der Trauerweide." In dem Moment sah Jesse etwas Rotes durch die Luft fliegen und mit einem leisen Platsch ins Wasser fallen. „Glaubst du, da hat sich ein Unbefugter auf unser Land geschlichen?" fragte er. „Scheint so." „Dann wollen wir ihn mal daran erinnern, dass er auf Privatbesitz herumstreunt." „Diese verdammten Jungs", fluchte Pete verärgert und ritt weiter. „Ich hab ihnen schon hundertmal gesagt, sie sollen von unserem Land wegbleiben. Und dabei hab ich das Loch im Zaun erst letzte Woche eigenhändig geflickt." Schmunzelnd folgte Jesse ihm und hatte bereits Mitleid mit dem armen Kerl, der an Petes bevorzugter Stelle angelte. Wenn Pete ihn durch die Mangel gedreht hatte, würde er nichts mehr zu lachen haben. „Hey! Du da!" rief Pete und hielt sein Pferd kurz vor der Trauerweide an. Ein Junge, Jesse schätzte ihn auf ungefähr zwölf, wirbelte überrascht herum. Sofort fing er an, seine Angelsachen zusammenzusuchen, um sich davonzumachen. Aber noch ehe der Junge drei Schritte machen konnte, war Jesse aus dem Sattel geglitten und hatte ihn am Kragen gepackt. „Halt stopp", warnte er den Jungen, als der sich zu winden begann, um sich loszumachen. Als seine Warnung nicht beachtet wurde, packte er den Jungen um die Taille und zog ihn kräftig an sich. „Verdammt, ich sagte halt!" Der Junge hörte auf zu zappeln, doch Jesse spürte die Spannung in seinem Körper. Er wollte ihm nicht noch mehr Angst einjagen, als sie es ohnehin schon getan hatten, also sagte er ruhig: „Pass auf, ich werde dir nicht wehtun. Ich will nur mit dir reden, okay?" Als der Junge langsam nickte, lockerte er seinen Griff und drehte den Jungen herum, so dass er ihm ins Gesicht schauen konnte. Der Junge hob trotzig den Kopf und hielt seinem Blick stand. Jesse konnte nicht umhin, seinen Mumm zu bewundern. Der Junge erinnerte ihn ein wenig an ihn selbst im gleichen Alter. Und er wusste, dass er dem Jungen einen gehörigen Schrecken einjagen musste, damit der nicht glaubte, die Circle-Bar-Ranch würde jedem einfach so offen stehen. „Weißt du, dass du dich auf Privatbesitz befindest?" fragte Jesse streng. „Ich hab nichts Falsches getan", erwiderte der Junge störrisch. „Ich hab nur ein bisschen geangelt und sogar alles wieder reingeworfen, wenn ich etwas gefangen hatte." „Darum geht es nicht. Du bist unbefugt auf das Land der Barristers eingedrungen, und hier sind ungebetene Gäste nicht willkommen. " Der Junge streckte herausfordernd sein Kinn vor, so dass die kleine Kerbe darin deutlicher sichtbar wurde. „Die Barristers machen mir keine Angst", meinte er verächtlich. Jesse musste sich sehr beherrschen, um nicht laut zu lachen. „Tun sie nicht? So, so." „Nein. Außerdem gibt es keine Barristers mehr, außer Mrs. Barrister, und die ist nichts weiter als eine alte Zieg..." Er verschluckte den Rest des Wortes, und Jesse überlegte, ob der
Junge das aus Angst davor getan hatte, dass seine Mutter Wind von seinem ... Abstecher bekam. „Nichts weiter als eine alte Frau", sagte er stattdessen. Jesse unterdrückte ein Grinsen. „Ist sie das?" „Ja, Sir, das ist eine Tatsache." „Nun gut, aber was ist, wenn ich dir sage, dass ich ein Barrister bin?" Der Junge riss erstaunt die Augen auf, bevor er sie misstrauisch zusammenkniff. „Es gibt keine Barristers mehr. Wade war der Letzte, und der ist vor mehr als einem Monat gestorben." „Das stimmt schon ... jedenfalls dass Wade tot ist." Jesse musterte den Jungen einen Moment lang. „Wenn ich dich loslasse, versprichst du dann, nicht wegzulaufen?" Der Junge nickte, während er anscheinend noch immer überlegte, ob sein Gegenüber wohl wirklich ein Barrister war. Er ließ ihn los, und als der Junge nicht ausriss, seufzte er erleichtert auf. „Ich bin Jesse Barrister, und wer bist du?" „Jaime. Jaime McCloud", fügte der Junge hinzu und richtete sich stolz auf. Jesse schnappte nach Luft. Ein McCloud? War er Sams oder Merideths Sohn? War er womöglich ... Er schaute den Jungen noch einmal genauer an ... die kleine Kerbe im Kinn, der dunkle Hautton, die Haartolle über der Stirn. Nein, sagte er sich. Das kann nicht sein. Die Augenfarbe ist falsch ... Nein, sie ist genau richtig, stellte er fest, während ihm fast das Herz stehen blieb. Die Augen des Jungen funkelten in dem gleichen, einzigartigen Grün wie Mandys. Jesse hob abrupt den Kopf, um Pete anzuschauen, der noch immer im Sattel saß. Aber Petes Gesichtsausdruck war unergründlich. Der alte Vorarbeiter sah nicht danach aus, als würde er ihm seine stumme Frage beantworten. „Was werden Sie mit mir machen?" fragte Jaime und brachte damit Jesse dazu, ihm wieder ins Gesicht zu blicken. Jesse kam sich vor, als ob er in einen Spiegel schauen würde -oder besser gesagt, auf ein Foto von sich im gleichen Alter. „Ich ..." Jesse musste sich räuspern, bevor er antworten konnte. „Ich werde dich nach Hause zu deinen Eltern bringen." Der Junge ließ die Schultern hängen. „Stellt das ein Problem dar?" „Nein, Sir. Nur dass ich diesmal wohl eine Tracht Prügel bekommen werde", murmelte der Junge. „Und wer wird dich schlagen?" wollte Jesse wissen. Sollte Lucas McCloud Hand an den Jungen legen, würde er ihn persönlich dafür büßen lassen. „Meine Mum. Sie wird mir bestimmt das Fell über die Ohren ziehen." „Macht sie das häufiger?" „Nein, Sir. Aber ich bin ja auch noch nie auf dem Land der Barristers geschnappt worden." Jesse runzelte die Stirn. Anscheinend hatten sich einige Dinge im Lauf der Jahre nicht im Geringsten geändert. Der Streit zwischen den Barristers und den McClouds dauerte unvermin dert an. Mandy warf die letzte Gabel Heu in die Krippe und schloss dann die Gattertür hinter sich. Wütend ging sie hinaus aus dem Stall. Sobald sie ihn gefunden hatte, würde sie ein ernstes Wörtchen mit ihrem Sohn reden. Das war schon das dritte Mal in dieser Woche, dass er seinen Pflichten nicht nachgekommen war. Sie beschattete ihre Augen gegen das gleißende Sonnenlicht und blickte sich um, in der Hoffnung ein Zeichen von Jaime zu entdecken. Leider sah sie nur Gabe, ihren Vorarbeiter, der gerade von der Pferdekoppel kam. „Hey, Gabe!" rief sie und ging zu ihm. „Hast du Jaime gesehen?" „Nein, Ma'am. Jedenfalls nicht kürzlich", fügte er vage hinzu.
Mandy verschränkte die Arme vor der Brust und schaute ihn grimmig an. Sie war es gewohnt, dass er und die anderen Cowboys, die auf der Double-Cross-Heart-Ranch arbeiteten, die Eskapaden ihres Sohnes zu vertuschen suchten. „Okay, wann hast du ihn zuletzt gesehen?" Gabe nahm seinen abgewetzten Cowboyhut ab und kratzte sich am Kopf. „Na ja, ich glaube, das war heute Morgen", erwiderte er. „Und wo war er?" „Im Stall. Hat sich ein Pferd gesattelt." „Und wohin wollte er?" Gabe kratzte sich noch einmal. „Weiß nicht genau, aber er hatte eine Angel dabei." Mandy ließ die Arme sinken und verdrehte die Augen. „Ich schwöre, ich werde diesen Jungen noch ans Haus fesseln, wenn er nicht aufhört, sich einfach so davonzumachen, ohne erst seine Pflichten zu erledigen." „Aber, Miss Mandy", begann Gabe. „Hör auf", schimpfte sie. „Du weißt genauso gut wie ich, dass die Pflichten Vorrang haben, und es wird höchste Zeit, dass Jaime sich verantwortungsbewusster verhält. Er ist schließlich schon zwölf, und ihr müsst aufhören, ihn zu decken." „Der Junge ist nur abenteuerlustig. Er hat ein Recht darauf, ab und zu ein wenig umherzuschweifen. Er ist ein guter Junge." Wenn die Nichterfüllung seiner Pflichten der einzige Grund für ihren Ärger gewesen wäre, hätte Mandy Gabe wahrscheinlich zugestimmt, denn Jaime war wirklich ein ordentlicher Junge. Aber ihrem Ärger lag eine schreckliche Angst zugrunde. Sie wollte ihren Sohn so nah wie möglich am Haus behalten, um ihn vor möglichem Schaden zu bewahren, bis sie sicher wusste, dass Jesse Barrister die Stadt wieder verlassen hatte. Sie hakte Gabe unter und ging mit ihm in Richtung Scheune. „Du hast ja Recht. Es ist nur so, dass ..." In diesem Moment hörte Mandy das Geräusch von Pferdehufen. Als sie über die Schulter zurückschaute, sah sie, dass sich zwei Reiter näherten. Jaimes Fuchsstute erkannte sie sofort, und Erleichterung überkam sie. Sie kniff die Augen zusammen, um herauszufinden, wer der andere Reiter war. „Oh, nein!" stieß sie hervor und vergrub die Finger in Gabes Arm. „Es ist Jesse!" „Keine Sorge, Miss Mandy", versicherte Gabe ihr hastig. „Ich kümmere mich darum." „Nein", murmelte sie und ließ seinen Arm los. „Das muss ich alleine durchstehen." Obwohl sie sehen konnte, dass Gabe damit nicht einverstanden war, gab er seufzend nach. „Ich bin in der Scheune", sagte er im Weitergehen. „Wenn du mich brauchst, musst du nur rufen." „Danke, Gabe", flüsterte Mandy, bevor sie wieder zu ihrem Sohn schaute. Angespannt beobachtete sie ihn, um zu sehen, ob er in Ordnung war. Doch seine geröteten Wangen und die niedergeschlagenen Augen verrieten nichts anderes als Schuldbewusstsein. Dagegen sagte ihr ein Blick auf Jesses Gesicht, dass er ihr Geheimnis erraten hatte. Anklagend und wütend betrachtete er sie unter dem Rand seines schwarzen Stetsons. Hastig wandte sie den Blick ab und schaute wieder zu ihrem Sohn, als die beiden Reiter vor ihr zum Stehen kamen. „Gibt es ein Problem?" fragte sie. Jaime behielt den Kopf gesenkt und antwortete nicht. „Ich habe den Jungen auf dem Land der Barristers erwischt", entgegnete Jesse knapp. Mandy war sekundenlang sprachlos. „Jaime McCloud! Was, in Teufels Namen, hast du auf der Circle-Bar-Ranch zu suchen?" Jaime zog den Kopf ein. „Ich hab mir nichts Böses dabei gedacht", erwiderte er kläglich. „Ich hab nur ein bisschen geangelt."
„Anscheinend hast du gar nicht nachgedacht. Auf jeden Fall hast du die Regeln nicht eingehalten. Weder die der Barristers noch meine." Mandy presste die Lippen zusammen, damit sie nicht zitterten, weil sie die Auswirkungen des Ungehorsams ihres Sohnes bereits zu fürchten begann. „Bring dein Pferd in den Stall und bitte Gabe, es für dich zu versorgen. Und dann möchte ich, dass du ins Haus gehst und dort auf mich wartest." „Ja", murmelte Jaime niedergeschlagen und ritt in Richtung Stall. Mandy schaute ihm nach und spürte dabei Jesses Blick im Rücken spürte. Sie schluckte und wandte sich um. Es fiel ihr schwer, Jesse anzuschauen, denn er hatte sich während der vergangenen Jahre kaum verändert. Sein gut aussehendes Gesicht war wie ein Spiegelbild ihres Sohnes als junger Mann. All die Erinnerungen und die widersprüchlichen Gefühle, die er in ihr hinterlassen hatte, kamen an die Oberfläche und wühlten sie auf. „Ich entschuldige mich für das Verhalten meines Sohnes und versichere dir, dass das nicht noch einmal vorkommt." „Er ist mein Sohn, oder?" Die eiskalten Worte sandten einen Schauer über Mandys Rücken. Obwohl sie diese Konfrontation befürchtet hatte, auch wenn sie alles getan hatte, um ihr aus dem Weg zu gehen, war sie nicht auf den Hass vorbereitet, den sie in Jesses Augen erblickte. In diesem Moment ahnte sie, dass sie Jaime verlieren könnte. Aber Jesse zu belügen würde auch nichts nützen. „Jaime ist ein McCloud", erklärte sie fest. „Ich habe ihn auf die Welt gebracht und ohne die Hilfe von dir oder sonst jemandem groß gezogen." Das beantwortete immerhin eine der Fragen, die Jesse auf dem Ritt zur Double-CrossHeart-Ranch geplagt hatten. Mandy hatte nie geheiratet. „Was nicht meine Schuld ist", entgegnete Jesse. Er schwang sich aus dem Sattel und baute sich wütend vor Mandy auf. „Warum hast du mir nie gesagt, dass ich einen Sohn habe?" „Es dir sagen?" wiederholte Mandy ungläubig und trat einen Schritt zurück. „Du warst nicht hier, wie du dich vielleicht erinnerst. Du bist verschwunden, ohne jemandem mitzuteilen, wohin du gehen würdest." Zu wissen, dass sie Recht hatte, machte Jesse noch wütender. „Jetzt bin ich aber hier", stellte er klar. „Und ich habe die Absicht, den Jungen als meinen Sohn anzuerkennen." Als er sich in Richtung Scheune wandte, griff Mandy nach seinem Arm. „Jesse, warte!" Er fuhr herum und starrte böse auf ihre Finger. Mandy ließ hastig die Hand sinken. „Bitte", flehte sie ihn an. „Tu es nicht." „Warum?" entgegnete Jesse scharf. „Schämst du dich dafür, dass der Vater deines Sohnes halb Mexikaner ist?" Mandy stiegen Tränen in die Augen. „Nein, das ist es nicht. Er ist nur noch zu jung und würde es nicht verstehen." „Was würde er nicht verstehen? Dass ich sein Vater bin oder dass seine Mutter es jahrelang vor ihm geheim gehalten hat?" Jesse kam bedrohlich nah. „Was davon ist es, Mandy? Oder hat der Junge nie nach seinem Vater gefragt?" Mandy schloss die Augen und presste ihre zitternden Finger gegen die Schläfen. „Natürlich hat er Fragen gestellt", murmelte sie. „Ich habe ihm von seinem mexikanischen Erbe erzählt, aber behauptet, dass sein Vater gestorben sei, bevor er auf die Welt kam." „Ich wäre jetzt auch tot, wenn Lucas besser gezielt hätte." Mandy erblasste, als sie an jene schreckliche Nacht dachte. „Aber ich bin nicht gestorben, Mandy. Und jetzt bin ich wieder hier, und ich werde meinen Sohn anerkennen, ob es dir gefällt oder nicht." Jesse ging zu seinem Pferd und schwang sich in den Sattel. „Ich gebe dir vierundzwanzig Stunden Zeit. Du kannst dir den Ort aussuchen, aber wir werden es dem Jungen sagen. Wenn du dich entschieden hast, kannst du mich in der Unterkunft der Arbeiter auf der Circle-Bar-Ranch erreichen."
Nach diesem Ultimatum wendete Jesse sein Pferd und galoppierte davon. „Wusstest du, dass er mein Sohn ist?" Pete hängte das Zaumzeug über einen Haken und schaute Jesse seufzend an. „Ich hab es mir gedacht, war mir aber nie ganz sicher. Die McClouds sind ziemlich verschwiegen, wenn es um ihre persönlichen Angelegenheiten geht." „Also weiß niemand davon?" Pete zuckte mit den Schultern, bevor er seinen Sattel vom Rücken des Pferdes hievte. „Kurz nachdem du abgehauen bist, hat Lucas dafür gesorgt, dass Mandy zu einem seiner Cousins an die Ostküste verschwand. Sie war über ein Jahr lang weg, und als sie zurückkam, hatte sie ein Baby dabei. Es hieß, sie habe während ihrer Abwesenheit eine Affäre gehabt, doch der Typ sei gestorben, ehe er dem Kind seinen Namen geben konnte." „Und die Leute haben die Geschichte geglaubt?" „Warum nicht? Niemand außer mir hat gewusst, dass ihr zwei euch hinter Lucas' Rücken getroffen habt." Bei der Erwähnung von Lucas runzelte Jesse die Stirn. „Ich habe ihn nicht gesehen, als ich drüben war, obwohl ich die ganze Zeit gefürchtet habe, gleich einen Gewehrlauf im Rücken zu spüren." Pete schaute überrascht auf. „Redest du von Lucas?" „Ja", brummte Jesse. „Ist ein bisschen schwierig vom Grab aus." Jesse fuhr herum und starrte Pete an. „Soll das heißen, dass Lucas tot ist?" „Schon seit elf Jahren. Kurz nachdem das Mädchen mit ihrem Baby zurück auf die Ranch kam, hatte er einen Herzinfarkt." Sprachlos schüttelte Jesse den Kopf. „Wenn Lucas nicht mehr da ist, wer leitet denn dann die Ranch?" „Mandy. Mit Gabes Hilfe natürlich." Jesse ließ sich auf einen Ballen Heu fallen, weil seine Beine unter ihm nachgaben. Lucas war seit elf Jahren tot! Stöhnend vergrub Jesse den Kopf in den Händen. Wenn er damals doch nur geblieben wäre, statt spurlos zu verschwinden! Ohne ihren Vater, der sich zwischen sie gestellt hatte, hätten er und Mandy vielleicht wieder zusammenfinden können. Nein, Jesse, ich kann nicht mit dir kommen ... Mandys Worte in jener schrecklichen Nacht kamen ihm in den Sinn und versetzten ihm einen Stich. Es war Mandy gewesen, die das Ende ihrer Beziehung besiegelt hatte, nicht Lucas, ihr Vater. Mühsam kam Jesse wieder auf die Füße. „Ich gehe ins Haus", meinte er zu Pete. „Kommst du mit?" Pete starrte traurig auf Jesses Rücken. „Ja, gleich. Sobald ich hier fertig bin." „Vielleicht sollten wir Merideth anrufen", meinte Sam ruhig. Mandy, die am Fenster gestanden und in die Dunkelheit gestarrt hatte, wirbelte herum. „Und was, bitte schön, sollte Merideth tun?" „Dir ein Versteck bieten. Du hättest schon letzte Woche mit ihr nach New York fahren sollen, so wie sie es dir vorgeschlagen hat. Aber es ist ja noch nicht zu spät. Du könntest mit Jaime ins nächste Flugzeug steigen und für eine Weile bei ihr bleiben." „Damit würde ich das Unausweichliche nur hinausschieben." „Also willst du Jaime die Wahrheit sagen?" Mandy hob ergeben die Hände. „Was soll ich sonst tun? Du weißt genauso gut wie ich, dass Jesse ein Recht auf seinen Sohn hat. Wenn ich weglaufe, wird ihn das nicht daran hindern, sich dieses Recht zu nehmen." Sam stieß einen Seufzer aus. „Wie willst du das Jaime alles erklären?"
Mandy wandte sich wieder zum Fenster. „Ich weiß es nicht", sagte sie müde. „Ich weiß es wirklich nicht." Nachdem Sam ins Bett gegangen war, suchte Mandy im Telefonbuch unter Circle-Bar-Ranch, bis sie die Telefonnummer der Unterkunft der Arbeiter fand. Mit zitternden Fingern tippte sie die Nummer ein. Jesse antwortete nach dem dritten Klingeln. Beim Klang seiner verschlafenen Stimme verlor Mandy fast den Mut. Als er zum zweiten Mal „Hallo" sagte, brachte sie ein leises „Jesse?" heraus. „Ja?" Nervös wickelte sie sich die Telefonschnur um die Finger. „Ich würde gern mit dir reden, wenn es geht." „Nur zu", brummte er. „Ich höre." Mandy schüttelte frustriert den Kopf. „Nein, ich meine persönlich. Können wir uns irgendwo treffen?" Es entstand eine lange Pause, während der Mandy angespannt den Atem anhielt. „Wo?" fragte Jessie schließlich. Erleichtert überlegte Mandy, wo sie sich treffen konnten. Irgendwo auf neutralem Boden, wo sie weder gesehen noch belauscht werden konnten. Doch bevor ihr ein geeigneter Platz einfiel, machte Jesse einen Vorschlag. „Im Tal", sagte er knapp. „Ich treffe dich dort um Mitternacht." Die Verbindung wurde unterbrochen, bevor Mandy ablehnen konnte.
3. KAPITEL
Mandy hatte gehofft, vor Jesse anzukommen, um noch ein wenig Zeit zu haben, sich dem Ort zu stellen, der einst ihr geheimer Treffpunkt gewesen war. Aber Jesse war schon dort, lässig an einen entwurzelten Baum gelehnt, lag er da, die Hände hinter dem Kopf verschränkt und den Hut tief ins Gesicht gezogen, so als würde er schlafen. Obwohl dieser Mann das Schicksal ihres Sohnes in den Händen hielt, spürte Mandy, dass bei seinem Anblick ihr Herz aufgeregt zu klopfen begann. Er war ihre erste große Liebe gewesen -und ihre bisher einizige. Auch wenn sie es während der vergangenen Jahre verzweifelt versucht hatte, es war ihr nicht gelungen, ihn zu vergessen. „Jesse?" flüsterte sie, um ihn nicht zu erschrecken. „Ja?" Mandy rang die Hände, bis sie bemerkte, was sie da tat. Hastig löste sie sie voneinander. „Ich bin hier." Jesse zog eine Hand unter dem Kopf hervor, schob den Hut aus dem Gesicht und wandte sich zu ihr um. „Das sehe ich." Er richtete sich auf. „Und? Sind wieder irgendwelche Gewehre auf mich gerichtet?" Sie riss überrascht die Augen auf. „Natürlich nicht!" „Ich wollte nur sichergehen." Er kam auf die Füße und reckte sich. „Wo ist Jaime?" „Zu Hause. Im Bett. Ich wollte allein mit dir reden." Er stemmte die Hände in die Hüften. „Dann fang an." Mandy schaute sich unruhig um, so als fürchtete sie, dass ein Geist aus der Vergangenheit auftauchen würde und nach ihr schnappen könnte. „Macht es dich nervös, hier mit mir allein zu sein?" fragte Jesse. „Nein", log sie. „Obwohl ich mich gewundert habe, warum du dir ausgerechnet diesen Ort für unser Treffen ausgesucht hast." Jesse schob seinen schwarzen Stetson noch weiter aus der Stirn. Mondlicht erhellte sein Gesicht, auf dem ein spöttisches Lächeln erschien. „Aber hier hat doch alles begonnen, Mandy. Hier wurde Jaime gezeugt. Ich finde, dies ist der ideale Platz, um über seine Zukunft zu reden." Er nickte zur Mitte des kleinen Tals, und Mandy schaute hinter sich. Im Mondlicht wirkte das grüne Gras, das dort wuchs, wie eine silberne Flüche. „Genau dort ist es geschehen", murmelte Jesse in einem Ton, der wie ein Streicheln klang. „Ich hatte eine Decke ausgebreitet und wartete auf dich, während du in der Dunkelheit aus dem Haus deines Vaters geschlichen bist, um deinen mexikanischen Liebhaber zu treffen." Tränen traten Mandy in die Augen, und sie ballte die Hände zu Fäusten, um zu verhindern, dass sie anfing zu weinen. Bitte, Jesse, flehte sie innerlich, bitte hör auf. Aber Jesse war noch nicht fertig. Mandy hatte ihn tief verletzt, als sie sich für ihren Vater und nicht für ihn entschieden hatte, und er wollte, dass sie den gleichen Schmerz empfand, den er damals empfunden hatte. Er trat vor sie wickelte sich eine Locke, die ihr ins Gesicht gefallen war, um den Finger und hob sie hoch. Und dann glitt er mit den Lippen über ihren Hals. Ein Schauer fuhr Mandy den Rücken entlang, aber sie presste die Augen zusammen und versuchte, gar nichts zu fühlen. Das lange unterdrückte Verlangen durchströmte dennoch ihren ganzen Körper. Mit beiden Händen packte Jesse sie um die Schultern und drückte sie leicht, während sein heißer Atem über ihre Haut glitt. „Jedes Mal kamst du dort zwischen den Bäumen herausgelaufen, total atemlos, mit glänzenden Augen, und bist mir um den Hals gefallen. Erinnerst du dich daran, Mandy? Erinnerst du dich an die Liebesschwüre, die du mir zugeflüstert hast? Erinnerst du dich an all die Versprechen, die du mir gegeben hast?"
„Ja", flüsterte sie. Die Erinnerungen hatten ihr viele Jahre lang den Schlaf geraubt. „Ja, ich erinnere mich." „Es waren alles Lügen, nicht wahr, Mandy?" sagte er leise und grub seine Finger fast schmerzhaft in ihren Schultern. „Nichts als Lügen. So wie die Lügen, die du meinem Sohn erzählt hast." Mandy befreite sich aus seinem Griff. Sie wollte nichts mehr davon hören. „Was willst du von mir?" rief sie. „Meinen Sohn." „Du kannst ihn nicht bekommen." „Ich will ihn dir ja nicht wegnehmen - wenn es nicht sein muss. Ich möchte ja nur teilhaben an seinem Leben, und das kann ich mit deiner Hilfe erreichen, aber auch ohne sie." Diese eindeutige Drohung ernüchterte Mandy und erinnerte sie daran, wie wichtig es war, Jesse davon zu überzeugen, diese Frage in ihrem Sinn zu lösen. „Ich weiß", sagte sie, bemüht um einen ruhigen Tonfall. „Und ich habe auch darüber nachgedacht, dass wir Jaime sagen müssen, dass du sein Vater bist. Du hast Recht", erklärte sie hastig, bevor er sie unterbrechen konnte. „Du hast ein Anrecht darauf, an seinem Leben teilzunehmen." „Wo liegt denn dann das Problem?" Mandy senkte den Kopf, weil es ihr schwer fiel, Jesses durchdringendem Blick zu begegnen. „Es ist nur so ... ich weiß nicht, wie Jaime diese Neuigkeit aufnehmen wird." Sie hob den Kopf und schaute Jesse flehentlich an. „Kannst du dir denn nicht vorstellen, was für ein Schock das für ihn sein wird?" „Nicht schlimmer als der Schock, den es mir versetzt hat, dass ich einen Sohn habe." „Ja." Mandy begriff erst jetzt, was für ein Schlag das für Jesse gewesen sein musste. „Aber Jaime glaubt, sein Vater sei tot. Stell dir vor, wie schwierig es für ihn sein wird, wenn du ihm plötzlich mitteilst, du wärst sein Vater. Hast du daran gedacht, welche Auswirkungen das auf einen Jungen seines Alters haben kann?" „Ich habe dem Jungen diese Lügen nicht erzählt. Das warst du." Mandy hob herausfordernd das Kinn. „Ja, aber was hatte ich denn für eine Wahl, als er anfing, Fragen zu stellen? Du warst nicht hier, und ich hatte nicht die leiseste Ahnung, wo du stecken könntest. Da lag es näher zu behaupten, sein Vater sei gestorben, als zu versuchen, seine Abwesenheit zu erklären." „Dann sagst du ihm jetzt einfach die Wahrheit und gibst zu, dass du ihn die ganze Zeit über angelogen hast." Mandys Augen schossen Blitze. „Oh, ich merke schon, was du vorhast! Du versuchst, mir den schwarzen Peter in die Schuhe zu schieben, während du voller Unschuld als der Gute dastehen willst." Sie drehte sich um, verschränkte die Arme vor der Brust und entfernte sich ein paar Schritte, bevor sie Jesse über die Schulter anschaute. „Anscheinend hast du das aber nicht zu Ende gedacht. Denn sonst wüsstest du, wie falsch du damit liegst." „Dann klär mich auf", meinte Jesse sarkastisch. „Jaime wird wissen wollen, warum du nicht hier warst, als er geboren wurde. Er wird es dir übel nehmen, dass du während seiner Kindheit nicht da warst. Vielleicht wird er dich dafür sogar hassen. Hast du das auch bedacht, Jesse?" Die Tatsache, dass er nicht antwortete, sprach Bände. „Dachte ich es mir doch", meinte Mandy ebenso sarkastisch wie er eben. Jesse presste die Lippen zu einer dünnen Linie zusammen. „Ich weide nicht einfach wieder verschwinden, falls du das gehofft haben solltest. Er ist auch mein Sohn, Mandy. Ich habe ein Recht darauf, an seinem Leben teilzunehmen." „Das will ich dir ja auch gar nicht verwehren", erwiderte sie. „Ich versuche nur, einen Weg zu finden, der Jaime nicht wehtut." „Was schlügst du also vor?"
„Er muss dich erst einmal kennen lernen. Muss eine Beziehung zu dir aufbauen. Dann werden wir es ihm erzählen." Jesse hob frustriert die Hände. „Und wie, zum Teufel, soll ich eine Beziehung zu einem Jungen aufbauen, der zwanzig Jahre jünger ist als ich? Außerdem bin ich ein Barrister, und er ist ein McCloud. Es ist ziemlich unwahrscheinlich, dass sich unsere Wege kreuzen." „Ich habe darüber nachgedacht und glaube, dass ich eine Lösung gefunden habe." Jesse betrachtete sie misstrauisch. „Welche?" „Wir haben einen Hengst, den niemand auf der Ranch reiten kann. Ich werde Jaime sagen, dass ich dich engagiert hätte, um ihn zuzureiten. Das wird deine Anwesenheit auf der DoubleCross-Heart-Ranch erklären und dir die Möglichkeit geben, Zeit mit Jaime zu verbringen." Jesse schaute sie ungläubig an. „Und du meinst, Jaime wird dir glauben, dass du einen Barrister angeheuert hast, um ein Pferd für dich zuzureiten?" Mandy hob ihr Kinn. „Er wird mir glauben. Der Rest ist deine Sache." Jesse ließ sich auf den Baumstumpf fallen und vergrub den Kopf in den Händen, während Mandy atemlos auf seine Antwort wartete. Schließlich hob er den Kopf. „Wann fange ich an?" Jesse brauchte eine Weile, bevor er Mandys Plan in die Tat umsetzte. Und es war nicht der wilde Hengst, der ihn zögern ließ. Der Gedanke, die Freundschaft eines Zwölfjährigen gewinnen zu wollen machte ihm Angst - vor allem, weil dieser Zwölfjährige sein Sohn war. Er hatte kaum Erfahrung mit Kindern und keine Ahnung davon, wie man ihre Freundschaft gewann. Aber mir bleibt gar keine andere Wahl, sagte er sich immer wieder. Alles in allem vergingen drei Tage, bevor er den Mut aufbrachte, zur Double-Cross-HeartRanch zu fahren. Es war um die Mittagszeit, als er seinen Transporter auf das Land der McClouds lenkte und vor der Pferdekoppel anhielt. Noch immer nervös, aber bestrebt, die Sache ins Rollen zu bringen, stieß Jesse die Wagentür auf. Noch bevor seine Stiefel den Boden berührten, war er umringt von den Cowboys der Double-Cross-Heart-Ranch. Ihr Misstrauen war deutlich spürbar, und ihre Entschlossenheit, sowohl Mandy als auch die Double-Cross-Heart-Ranch zu schützen, zeigte sich in den hastig gegriffenen Waffen, die sie in den Händen hielten - eine Schaufel, eine Forke, ein Tau. Herausfordernd trat Jesse ihnen gegenüber. „Was willst du hier", wollte der alte Gabe grimmig wissen. Bevor Jesse antworten konnte, durchbrach Mandy den Kreis von Männern. „Hallo, Jesse", begrüßte sie ihn und ließ ihre Leute damit wissen, dass er ein willkommener Gast war. „Ich hoffe, du bist bereit, um mit dem Hengst zu arbeiten." „Ja, das bin ich", entgegnete er, ohne den Blick von den Männern zu nehmen, die ihn noch immer misstrauisch betrachteten. „Gut. Er ist im Stall. Komm mit, dann zeig ich ihn dir." Jesse schnappte sich seinen Hut vom Beifahrersitz und setzte ihn auf. Nachdem er die Wagentür hinter sich zugeschlagen hatte, stand er da und wartete, bis die Cowboys widerwillig zur Seite traten, um ihn durchzulassen. Als er Mandy dann folgte, spürte er ihre bohrenden Blicke im Rücken. Im Stall entspannte er sich ein wenig. „Offenbar hast du deinen Männern nicht gesagt, dass ich komme." Mandy blieb stehen und drehte sich zu ihm herum. „Ich war mir ja selbst nicht einmal sicher, ob du überhaupt kommst." Jesse gefiel die Gleichmütigkeit, mit der sie ihn anschaute, gar nicht. Mit ihrer Jeans, dem weichen Baumwollhemd und dem Pferdeschwanz sah sie aus wie siebzehn und ähnelte sehr dem unschuldigen Mädchen, in das er sich damals verliebt hatte. Er war versucht, ihr das Band aus den Haaren zu ziehen, mit beiden Händen in diesen langen, rotbraunen Locken zu greifen und Mandy zu küssen, bis sie ihre Gleichmut verlor und dahinschmolz.
Stattdessen verzog er verächtlich den Mund und schaute weg. „Als wenn ich eine Wahl gehabt hätte." Er hob ein Stück Seil vom Boden auf und zog es durch seine Hände. „Wo ist Jaime?" „Irgendwo hier", meinte sie vage. „Er wird schon auftauchen." „Und in der Zwischenzeit?" Mandy deutete ans andere Ende des langen Ganges. „Kannst du den Hengst, zureiten." Jesse ging mit ihr zu der Box, in der ein schwarzer Hengst stand. Seine Ohren waren gespitzt, und er rollte mit seinen dunklen, gefährlich blickenden Augen, als Mandy und er näher kamen. „Wie heißt er?" „Judas", antwortete Mandy, und ihre Stimme klang stolz. „Judas?" wiederholte Jesse verwirrt. „Ist das nicht ein etwas merkwürdiger Name für einen Hengst?" Lächelnd schaute Mandy zu dem Hengst. „Sein Name passt ausgezeichnet zu ihm." Noch immer lächelnd drehte sie sich zu Jesse herum, doch er bemerkte, dass das Lächeln nicht bis zu ihren Augen drang. „Und ich kann dir nur empfehlen, seinen Namen ernst zu nehmen", warnte sie ihn. „Bessere Männer als du haben bereits gelernt, dass es klüger ist, ihm nicht den Rücken zuzuwenden." Jesse saß auf dem Zaun der Pferdekoppel, ein Lasso auf den Knien. Der schwarze Hengst lief schnaubend und wiehernd zwischen den Zäunen hin und her. Jesse wusste, dass er mit diesem Pferd so einiges zu tun haben würde. Bisher hatte er es nicht geschafft, sich ihm auch nur bis auf zehn Schritte zu nähern. „Hey! Was machen Sie hier?" Jesse schaute hinter sich und sah Jaime aufgebracht heranlaufen. Er musste grinsen. „Deine Mum hat mich angeheuert, damit ich diesen Hengst für sie zureite." Jaime blieb abrupt stehen. „Ehrlich?" rief er überrascht und grinste dann ebenfalls, woraus Jesse erkannte, dass Mandy Recht gehabt hatte, als sie annahm, dass Jaime seine Anwesenheit auf der Double-Cross-Heart-Ranch nicht in Frage stellen würde. „Hey, das ist ja cool!" stellte Jaime fest und kletterte auf den Zaun, um sich neben Jesse zu setzen. „Haben Sie ihn schon geritten?" wollte er aufgeregt wissen. Jesse lachte. „Nein. Ich nehme ihn erst einmal in Augenschein. " Jaime legte den Kopf zur Seite. „Was heißt das?" Jesse deutete auf den Hengst. „Ich beobachtete ihn, um zu sehen, wie er sich aufführt. Bevor man ein Pferd besteigt, sollte man wissen, wie es reagiert." Jaime nickte verständnisvoll. „Gabe meint, das wäre ein Witwenmacher und dass Mum ihn lieber erschießen lassen sollte, bevor er noch jemanden umbringt." Jesse starrte Jaime überrascht an. „Ach, ja? Wirklich? Und was hat deine Mutter daraufhin gesagt?" Jaime grinste verlegen. „Ich weiß nicht. Sie hat mich beim Lauschen erwischt, und ich musste verschwinden, damit ich nicht noch mehr hören konnte." Lachend streckte Jesse die Hand aus und fuhr Jaime durchs Haar. „Es ist nicht besonders höflich, einer Unterhaltung zuzuhören, die nicht für deine Ohren bestimmt ist." Jaime schaute auf seine Stiefel und trat mit dem Absatz gegen den Zaun. „Ja, das hat Mum auch gesagt." „Deine Mutter hat Recht. Sie haben meistens Recht, weißt du." Jaime verdrehte die Augen. „Ja, aber sie können auch ganz schön nerven", murmelte er. Jesse hatte das Gefühl, dass er Mandy und Mütter im Allgemeinen verteidigen müsste, überlegte es sich dann aber. Schließlich war er hier, um Jaimes Vertrauen zu gewinnen und nicht um Mandys Partei zu ergreifen. „Sie hält dich ganz schön kurz, stimmt's?" Jaime seufzte. „Das kann man wohl behaupten. Vor allem in letzter Zeit."
Jesse überlegte, ob das wohl etwas mit ihm zu tun haben könnte. Glaubte Mandy etwa, er würde den Jungen entführen oder so etwas? Er schüttelte den Kopf. Er wollte Mandy nichts wegnehmen, und bestimmt nicht die Liebe ihres Sohnes. Er wollte einfach nur seinen Sohn kennen lernen und ihm sagen, dass er sein Vater sei. In der Hoffnung, jetzt noch etwas mehr Zeit mit ihm zu verbringen, zog Jesse ein Tuch aus der Tasche und wischte sich über den Nacken. „Ganz schön heiß heute." Jaime blinzelte in die Sonne. „Ja, das stimmt. Ich wünschte, ich könnte jetzt unten am Bach ein wenig angeln." Jesse nickte zustimmend. „Ein paar nette kleine Fische am Angelhaken wären nicht schlecht." Jaime betrachtete ihn erstaunt. „Gehen Sie auch gern angeln?" „Na klar. Du bist nicht der einzige Junge, der im Nachbarteich ... wildert. Als Teenager bin ich immer auf die Double-Cross-Heart-Ranch geschlichen und habe in dem alten Teich ge angelt, der auf diesem flachen Stück Land liegt. Weißt du, welchen ich meine?" „Ja! Da gibt es ein paar entwurzelte Bäume, unter denen sich die Fische immer verstecken. Wollen wir dorthin angeln gehen?" fragte Jaime und fiel fast vom Zaun in seinem Eifer, diese Einladung auszusprechen. Obwohl es genau das war, worauf Jesse aus gewesen war, erwiderte er unsicher: „Ich weiß nicht. Was glaubst du, wird deine Mutter dazu sagen, dass du dich mitten am Tag davonmachst?" „Ich wette, dass sie nichts dagegen hat, wenn Sie mitgehen!" Jaime kletterte schon vom Zaun. „Kommen Sie, wir fragen sie." Jesse versuchte seine Freude darüber, den Nachmittag womöglich mit seinem Sohn zu verbringen, zu verbergen und folgte ihm zum Haus. Aber an der Hintertür zögerte er, weil er sich nicht sicher war, ob Mandys Einladung sich auch auf das Haus erstreckte. „Kommen Sie!" ermunterte Jaime ihn. „Mum arbeitet wahrscheinlich in ihrem Büro." Jesse zog den Hut vom Kopf und folgte Jaime durch die Küche und einen langen Flur entlang. Vor der offenen Tür zum Büro blieb er stehen und spürte, dass sich ihm die Nackenhaare sträubten. Jaime bezeichnete dies zwar als das Büro seiner Mutter, aber überall waren noch Zeichen von Lucas McCloud zu erkennen. Hinter dem schweren Schreibtisch saß nun Mandy und schaute Jesse misstrauisch an. Bevor sie ihn angreifen konnte, erklärte er: „Jaime hat mich eingeladen, mit ihm angeln zu gehen, aber ich habe ihm gesagt, dass wir erst dich fragen müssen." Langsam erhob Mandy sich aus dem Lederstuhl und umklammerte den Stift in ihrer Hand wie eine Waffe, mit der sie sich verteidigen wollte. „Ich verstehe." Sie schaute zu ihrem Sohn. „Hast du deine Pflichten erledigt?" „Ja, Ma'am", sagte er stolz. „Was ist mit dem Mülleimer in der Küche? Ist der leer?" Jaime ließ die Schultern hängen. „Nein. Den hab ich vergessen." „Du sollst alle deine Aufgaben erledigen, bevor du spielen kannst." „Oh, Mum", jammerte er. „Kann das nicht bis nachher warten?" „Du kennst die Regeln", erinnerte sie ihn streng. Jaime schaute zu Jesse. Anscheinend wusste der Junge, dass es sinnlos war, mit seiner Mutter zu streiten. „Warten Sie einen Moment? Ich bin sofort wieder da." Er rannte davon und ließ Jesse mit dem Hut in der Hand vor dem Schreibtisch stehen. „Gilt das auch für mich?" Mandy sah Jesse fragend an. „Was?" „Muss ich auch erst meine Aufgabe erledigen?" Mandy runzelte die Stirn, sank wieder auf den Stuhl und beugte sich über ihre Arbeit. „Meine Regeln gelten nur für meinen Sohn."
Jesse kam einen Schritt näher und spähte in das Haushaltsbuch, das auf dem Schreibtisch lag. „Soweit ich gehört habe, gelten diese Regeln auch für die Männer, die auf der DoubleCross-Heart-Ranch arbeiten." Mandy fuhr mit ihren Eintragungen fort und meinte, ohne aufzuschauen: „Ja, obwohl ich vermute, dass ein paar von ihnen nur sehr ungern Befehle von einer Frau entgegennehmen." Dass seine Gegenwart sie nervös machte, war offensichtlich und verleitete Jesse dazu, Mandy noch ein wenig mehr zu reizen. Er setzte sich auf die Schreibtischkante. „Woran arbeitest du?" „Nicht, dass es dich etwas angeht", entgegnete sie, „aber ich notiere die Geburten der neuen Fohlen." Grinsend beugte Jesse sich weiter vor und musste fast lachen, als er bemerkte, dass Mandy den Stift krampfhaft umklammerte. „Sieht so aus, als wenn deine Stuten dieses Jahr eine Menge Fohlen geworfen hätten", meinte er träge. „Du musst ja einen ausgezeichneten Zuchthengst haben." Seine Betonung der Worte „du" und „Zuchthengst" trieb ihr die Röte in die Wangen. „Wir haben zwei", erwiderte sie knapp. „Ist Judas einer von ihnen?" „Ja. Er hat einen ausgezeichneten Stammbaum. Er ist ein Sohn von Satan." Jesse erinnerte sich noch gut an Satan - den schwarzen Hengst, den nur Lucas McCloud geritten hatte. „Jaime sagt, dass Judas ein Witwenmacher sei. Hast du deshalb mich engagiert, um ihn zuzureiten? Hoffst du, mich auf diese Weise loszuwerden, damit ich dir nicht deinen Sohn wegnehmen kann?" Erbost sprang Mandy auf und warf ihren Stift auf den Schreibtisch. „Natürlich nicht! Ich würde niemals jemanden ein Pferd zureiten lassen, wenn ich nicht genau wüsste, dass er sehr gut fähig ist, diese Aufgabe zu meistern." Jesse stand ebenfalls auf und kam um den Schreibtisch herum zu ihr. „Du hältst mich also für ... sehr fähig?" Mit einem Finger berührte er ihren Hals, wo ihr Puls heftig pochte. Als sie zusammenzuckte, lächelte er zufrieden. Auch wenn sie versuchte, sich gelassen zu geben, merkte er genau, dass er sie aus dem Gleichgewicht brachte. Wütend stieß Mandy seine Hand zur Seite. „Wenn ich nicht genau wüsste, dass du mit, Judas fertig wirst, hätte ich nicht vorgeschlagen, dass du ihn zureitest." Jesse ließ den Blick herausfordernd über ihren Hals und die geröteten Wangen gleiten, bevor er ihr in die Augen schaute. Überrascht stellte er fest, dass Verlangen ihnen einen tiefen Glanz verlieh - und in diesem Moment wusste er, wie er Mandy dafür bestrafen konnte, was sie ihm angetan hatte. „Das ist ja nett zu wissen", sagte er langsam. Er kam noch einen Schritt näher, bis ihre Körper sich berührten. „Aber ich kann nicht nur wilde Pferde bändigen", murmelte er viel sagend. „Ich kann..." „Ich bin fertig!" Die Mitteilung kam aus dem Flur und ließ Jesse gerade noch genügend Zeit, um von Mandy wegzutreten und so zu tun, als würde er ein Bild an der Wand bewundern, bevor Jaime zur Tür hereingestürmt kam. Er drehte sich um und lächelte den Jungen an. „Ich auch, mein Sohn." Er schlang einen Arm um Jaimes Schulter und zwinkerte Mandy vieldeutig zu, so dass sie noch tiefer errötete. „Bis später." Mit einem Kloß im Hals sah Mandy ihnen nach, als sie lachend und redend wie zwei alte Freunde ihr Büro verließen. Zitternd sank sie dann auf ihren Stuhl und presste die Hände auf die glühenden Wangen. Wie kann er mir das nur antun? überlegte sie. Und warum tut er mir das an? Er versuchte ganz eindeutig, sie herauszufordern, als wollte er irgendeine Reaktion aus ihr herauslocken. Genau so hatte er sich auch vor ein paar Tagen im Tal verhalten, als sie sich
nachts getroffen hatten. Aber warum? Seine Gefühle für sie hatte er ihr doch ziemlich klar gemacht. Er hasste sie - oder zumindest nahm er ihr übel, dass sie ihm Jaime vorenthalten hatte. Die Tatsache, dass sie jedes Mal auf seine Berührung reagiert hatte, machte sie wütend und beschämte sie. Sie hob den Kopf und presste ihre zitternden Finger an die Lippen, während sie auf die Tür schaute, hinter der Jesse verschwunden war. Wie sehr hatte sie seine Berührungen vermisst!
4. KAPITEL
Mandy hörte Jaime und Jesse heimkehren, noch bevor sie sie sah. Auf die gleiche Weise, wie sie das Haus verlassen hatte, kamen sie wieder, lachend und scherzend wie zwei alte Freunde. Sie wusste, sie sollte eigentlich dankbar dafür sein, dass ihr Sohn Jesse so schnell akzeptiert hatte - schließlich war das der Grund für Jesses Anwesenheit auf der Ranch. Trotzdem verspürte sie einen Stich. Zwölf Jahre lang war sie der einzige Elternteil für Jaime gewesen, die wichtigste Bezugsperson in seinem Leben - und jetzt fühlte sie diese Beziehung durch Jesse bedroht. Sie versuchte, gegen die Eifersucht anzukämpfen, und ging zur Hintertür und hinaus in den Hof. „Hallo!" rief sie lächelnd. „Da sind ja die fleißigen Angler. Habt ihr etwas gefangen?" Grinsend hielt Jaime ihr eine Reihe Fische unter die Nase. „Oho!" meinte sie voller Anerkennung. „Das sieht ja so aus, als wäre es genug fürs Abendessen." „Das haben mein Amigo und ich auch gedacht", sagte Jaime und reichte ihr die Fische. Mandy zog die Augenbrauen hoch. „Dein Amigo?" Jaime grinste. „Das ist Spanisch und bedeutet Freund. Jesse hat mir ein paar spanische Worte beigebracht, während wir geangelt haben. Und er hat mir erlaubt, ihn zu duzen." „So, so", murmelte Mandy und schaute zu Jesse, der sie warnend ansah. „Jesse isst mit uns, okay?" Mandy schaute hastig wieder zu ihrem Sohn. Obwohl sie liebend gern Nein gesagt hätte, konnte sie Jaimes hoffnungsvollen Blick nicht ignorieren - und auch nicht Jesses herausfordernden Blick. Also lächelte sie honigsüß und reichte die Fische an Jesse weiter. „Sicher, warum nicht? Er kann den Fisch säubern, während du duschen gehst." „Ich soll jetzt duschen? Aber ..." „Kein Aber, junger Mann. Du riechst, als hättest du dich in den Fischködern gewälzt." Der unnachgiebige Ausdruck auf dem Gesicht seiner Mutter ließ Jaime erkennen, dass er diesen Kampf nur verlieren konnte. Also verzog er sich schmollend ins Haus, und Mandy und Jesse waren allein. Mandy, die Jesse schnell entkommen wollte, wies zu einem gemauerten Tisch. „Du kannst den Fisch dort ausnehmen. Messer und Schüsseln sind unter dem Tisch, und du kannst den Schlauch nehmen, der beim Küchenfenster hängt, um Wasser zu bekommen." Sie wollte sich gerade abwenden, als Jesses Stimme sie. aufhielt. „Danke." Aufgrund seines Tonfalls und des Blicks, den er ihr zuwarf, wusste sie, dass Jesse ihr für weit mehr dankte als für den Hinweis darauf, wo er alles finden konnte. Er bedankte sich dafür, dass sie ihm erlaubte, mehr Zeit mit Jaime zu verbringen. „Ich versuche nur, fair zu sein", antwortete Mandy leise und ging dann schnell in die Küche, bevor er noch mehr sagen konnte. Vom Küchenfenster aus hatte Mandy einen guten Blick auf Jesse. Wobei sie sich versicherte, dass sie ihn gar nicht beobachtete. Er war nur einfach jedes Mal in ihrem Blickfeld, wenn sie von den Kartoffeln, die sie pellte, hochschaute. Aufgrund der Hitze hatte er sein Hemd ausgezogen, und bei jedem Messerschnitt, den er machte, um die Fische auszunehmen, streckten und dehnten sich die Muskeln auf seinem Rücken, während ihm der Schweiß bis hinunter zum Bündchen seiner Jeans lief. Seine Schultern waren genauso breit, wie sie sie erinnerte, seine Taille und seine Hüften genauso schmal und fest. Mandy ließ die Hände sinken. Sein Körper war ihr einmal ebenso vertraut gewesen wie ihr eigener. Sie hatte jede Narbe und deren Ursache gekannt, jede empfindliche Stelle, und sie hatte gewusst, ob ihre Berührung ein ausgelassenes Lachen oder ein erregtes Stöhnen
hervorrufen würde. Sie hatte ihn an den intimsten Stellen berührt, und zwar ohne Scham oder Angst. Sie hatte ihn geliebt, und er hatte sie geliebt - auf die gleiche allumfassende Weise. Während sie ihn gedankenverloren beobachtete, stellte Jesse die Schüssel mit den filetierten Fischen beiseite und griff noch einmal nach dem Schlauch. Er senkte den Kopf und hielt ihn unter den Wasserstrahl. Anschließend klemmte er sich den Schlauch zwischen die Knie und ließ das Wasser in seine Hände laufen, damit er sich das Gesicht waschen konnte. Spontan legte Mandy ihr Messer weg, holte ein Handtuch aus dem Schrank und ging nach draußen. „Ich denke, dass du das hier brauchen könntest." Jesse schaute auf und blinzelte das Wasser aus seinen Augen. Überrascht stellte er fest, dass Mandy vor ihm stand und ihm ein Handtuch reichte. Und erneut erkannte er den Glanz von Verlangen in ihren Augen. „Danke." Er fuhr sich mit dem Handtuch über das Gesicht. Als er es wieder wegzog, sah er, dass Mandy auf seine Brust schaute. Sie hob die Hand und legte zitternd einen Finger an die Narbe, die die Kugel ihres Vaters verursacht hatte. Als sie den Blick wieder hob, bemerkte er, dass ihre Augen feucht waren. „Es tut mir so Leid", flüsterte sie rau. Der Ausdruck in Mandys Augen veranlasste Jesse, spontan nach ihrer Hand zu greifen. Er drückte ihre Fingerspitzen auf die Narbe. „Du hast nicht abgedrückt", erinnerte er sie, „sondern dein Vater." „Ja, aber..." Ohne ihre Hand loszulassen, kam er näher. „Ich habe dich nie dafür verantwortlich gemacht, dass dein Vater auf mich geschossen hat." „Aber du hast mir niemals vergeben, stimmt's? Dafür, dass ich mich weigerte ..." „Hallo! Wo seid ihr?" Jesse ließ Mandys Hand fallen, als er Jaime hörte, und griff nach der Schüssel mit dem Fisch. „Hier draußen!" rief er. „Bist du hungrig?" Die Tür wurde aufgestoßen, und Jaime kam herausgerannt. Sein nasses Haar glänzte im Abendlicht genauso schwarz wie das von Jesse. „Darauf kannst du wetten! Ist alles fertig?" Jesse saß auf der Veranda vor der Unterkunft der Arbeiter und hatte die Stiefel auf das Geländer gelegt. Dunkelheit umgab ihn, nur das Surren der Mücken drang an sein Ohr. Gereizt scheuchte er sie mit der Hand weg, während er sich innerlich einen Dummkopf nannte. Er hätte ihre Hand wegschlagen sollen, als Mandy es gewagt hatte, ihn zu berühren. Aber nein, er musste es ja unbedingt zulassen! Er war so dumm gewesen, auf ihre tränennassen Augen hereinzufallen. Er wusste sehr gut, wenn Jaime nicht aufgetaucht wäre, hätte er Mandy in die Arme gezogen, die verräterischen Tränen weggeküsst und seine Hände über ihre verführerischen Kurven gleiten lassen. Dabei wollte er sie auf diese Weise gar nicht berühren. Er hatte schon vor langer Zeit gelernt, Mandy nicht zu trauen. Sie machte Versprechungen, die sie nicht einhielt, und er hatte nicht vor, noch einmal in diese Falle zu tappen. Jetzt hatte er einen Sohn. Und dieser Sohn war alles, was er von Mandy McCloud wollte. Margo trat in den Stall und blinzelte, bis ihre Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten. In der Mitte des Stalls stand Pete und sattelte sein Pferd. „Wo ist er?" fragte Margo ungeduldig. Pete wandte den Kopf. „Wenn Sie Jesse meinen, der ist nicht hier." „Das sehe ich. Wo ist er?" Pete drehte sich wieder zu seinem Pferd und zog die Steigbügel fest. „Wohin er geht und was er tut, ist seine Sache, nicht meine."
Margo verschränkte die Arme vor der Brust und starrte auf Petes Rücken. „Ich hätte mir denken können, dass Sie mir nicht sagen, wo er sich herumtreibt." „Warum fragen Sie dann erst?" brummte Pete. Wütend schnappte Margo nach Luft, weil Pete so offensichtlich ihre Stellung als Herrin der Circle-Bar-Ranch missachtete. Solange Wade noch am Leben war, hätte er sich niemals getraut, so mit ihr zu reden. Aber anscheinend hatte er das Gefühl, dass er ihr nicht länger den nötigen Respekt zu zeigen brauchte, seit Jesse gekommen war, um seine Erbschaft anzutreten. „Sie haben schon immer versucht, ihn in Schutz zu nehmen", meinte sie bitter. „Selbst damals, als er noch ein Kind war." „Irgendjemand musste sich ja um den Jungen kümmern", entgegnete Pete. „Weder Sie noch Wade wollten diesen Job übernehmen." „Es war nicht meine Aufgabe, mich um ihn zu kümmern. Er war Wades Bastard, nicht meiner!" Bei dem Wort „Bastard" drehte Pete sich langsam herum. „Sie sollten Ihre Worte vorsichtiger wählen, Margo", warnte er sie. „Der Bastard, wie Sie ihn eben nannten, ist jetzt der Besitzer dieser Ranch." Margo wirbelte wütend herum. „Nicht, wenn ich es vermeiden kann." Und wenn sie herausfinden wollte, wo Jesse seine Zeit verbrachte ... nun, da hatte sie auch noch andere Quellen. Jesse stand in der Mitte der Pferdekoppel auf der Double-Cross-Heart-Ranch und richtete seinen Blick aufmerksam auf den nervös tänzelnden Hengst. Seit vier Tagen arbeitete er nun schon mit Judas und war nicht näher dran, ihm einen Sattel aufzulegen, als am ersten Tag. „Ruhig, Junge", murmelte er beschwichtigend. „Ganz ruhig." Als Antwort stellte der Hengst sich auf die Hinterbeine. „Ist ja gut. Du bist der King. Niemand streitet das ab." Jesse machte einen Schritt auf ihn zu und streckte die Hand aus. „Aber selbst der King kann gezähmt werden", murmelte er. „Und, mein Lieber, genau das werde ich tun. Also kannst du ebenso gut gleich aufgeben, damit wir beide hier aus der Hitze verschwinden können." Der Hengst schien das nicht so zu sehen, denn er hob den Kopf und wieherte laut, bevor er den Kopf wieder senkte und direkt auf ihn zukam. Jesse schaffte es gerade noch rechtzeitig bis zum Zaun, schwang sich hinüber und landete etwas unsanft auf dem Po. „Netter Abgang." Jesse öffnete ein Auge und sah Gabe über sich stehen. Stöhnend schloss er das Auge wieder und versuchte - ohne sich zu bewegen - festzustellen, ob er sich etwas gebrochen hatte. „Alles in Ordnung?" fragte Gabe leicht besorgt. „Ja, ich glaube schon." Jesse stützte sich auf und betrachtete den schwarzen Teufel auf der anderen Seite des Zauns. „Wenn es nach ihm ginge, würde ich jetzt nicht wieder aufstehen können." „Judas ist durch und durch gemein", erklärte Gabe. „Ich habe Mandy gesagt, sie sollte die Sache mit dem Zureiten einfach vergessen und ihn stattdessen zu den Stuten lassen, damit er das tun kann, wozu er geboren wurde. Aber sie will unbedingt ein Reitpferd aus ihm machen." „Willst du damit andeuten, dass Mandy vorhat, dieses Pferd selbst zu reiten?" Gabe schüttelte den Kopf, so als könnte er es selbst nicht glauben. „Das hat sie jedenfalls gesagt." Jesse kam auf die Füße und setzte sich seinen Hut wieder auf, nachdem er ihn kräftig abgeklopft hatte. „Na, das werden wir ja sehen", brummte er ärgerlich. Als er Sekunden später an der Hintertür war, klopfte er gar nicht erst, sondern stürmte geradewegs durch die Küche, dann den Flur entlang und in Mandys Büro. Erst vor ihrem
Schreibtisch blieb er stehen. Er stützte beide Hände auf und beugte sich vor, bis sein Gesicht nur Zentimeter von ihrem entfernt war. „Warum hast du mir nicht gesagt, dass du vorhast, diesen schwarzen Teufel zu reiten?" Mandy sprang auf, um möglichst viel Abstand zwischen sich und Jesse zu schaffen. „Ich vermute, dass du von Judas sprichst." „Verdammt! Von wem sollte ich wohl sonst reden? Du hast auf dem Rücken dieses Hengstes nichts zu suchen. Er ist verrückt, ein Killer, und selbst wenn es mir gelingen sollte, ihn zuzureiten, werde ich es niemals schaffen, sein Wesen zu ändern, und das weißt du auch ganz genau." „Ich habe dir nicht gesagt, dass du sein Wesen ändern sollst", erwiderte sie. „Das möchte ich gar nicht, selbst wenn du es könntest." Jesse kam um den Schreibtisch herum. „Also gibst du zu, dass er ein Killer ist." Anklagend richtete er einen Finger auf sie. Mandy stieß seine Hand zur Seite. „Ich gebe gar nichts zu. Ich habe nur festgestellt, dass Judas ausgesprochen temperamentvoll ist." „Ein Killer ist er. Und ich will verdammt sein, wenn ich zusehe, wie du auf seinen Rücken kletterst." „Was gibt dir das Recht, mir zu sagen, was ich tun oder lassen soll?" „Du bist die Mutter meines Sohnes, das gibt mir das Recht. Jaime braucht dich. Er braucht seine Mutter, und du hast kein Recht, dein Leben und Jaimes Glück aufs Spiel zu setzen, nur um etwas zu beweisen." Mandys grüne Augen blitzten gefährlich auf. „Ich will gar nichts beweisen." „Ach, nein?" gab Jesse scharf zurück. „Versuchst du nicht, dir und jedem, der für dich arbeitet, zu beweisen, dass du genauso willensstark bist, wie dein Vater es war, indem du den Sohn des Hengstes reitest, den er bezwungen und geritten hat?" Mandys Wangen röteten sich, weil Jesses Vorwurf der Wahrheit gefährlich nah kam. „Das ist lächerlich", murmelte sie und wollte an ihm vorbei. Doch Jesse packte sie am Arm und wirbelte sie herum „Wirklich?" Mandy versuchte nicht, sich zu befreien, sondern bemühte sich um eine gelassene Haltung, als sie erwiderte: „Sei vorsichtig, Jesse. Sonst fange ich noch an zu glauben, dass du um mich besorgt bist." Die ganze Wut, die ganze Frustration, die sich seit Jahren in Jesse angestaut hatten, veranlassten ihn, Mandy an sich zu reißen. Als ihr Körper gegen seinen prallte, fiel sein Hut zu Boden, doch Jesse kümmerte sich nicht darum. Die Angst in ihren Augen und dass Mandy sich versteifte, brachten ihn nur noch mehr auf. Mit einem wilden Knurren presste er seinen Mund auf ihren und bestrafte sie mit einem rauen Kuss, während er die Arme um sie schlang, um sie am Davonlaufen zu hindern. Er spürte ihre Fingernägel, die sich in seinen Rücken gruben, doch er ignorierte Mandys Bemühen, sich zu befreien, denn er wollte sie für all das büßen lassen, was sie ihm angetan hatte. Sekunden später erkannte er seinen Fehler. Statt die Rache zu genießen, merkte er, dass er sich auf das Gefühl von Mandys Brüsten an seinem Oberkörper konzentrierte. Auf ihre weichen Lippen und ihren Geschmack, von dem er geglaubt hatte, ihn längst vergessen zu haben. Langsam wurde sein Kuss sanfter, und er strich mit der Zunge über ihre Lippen, bis sie schließlich nachgab und sie stöhnend für ihn öffnete. Er drückte Mandy noch fester an sich und erkundete das Innere ihres Mundes. Ihre Zungen begannen einen sinnlichen Tanz. Mandy hatte das Gefühl, die Hitze, die ihren Körper durchströmte, würde sie versengen. Ich will das nicht, sagte sie sich, doch im selben Augenblick hob sie die Hände, fuhr mit den Fingern durch Jesses dichtes Haar und zog ihn noch näher an sich heran. Sie wollte dieses heiße Verlangen nach ihm nicht noch einmal spüren. Aber es war da und breitete sich in ihrem ganzen Körper aus, bis es sie zu überwältigen drohte.
Jesse schien ihre Schwäche zu spüren, denn er glitt mit den Händen ihren Rücken hinunter bis zu ihrem Po und drückte sie hart an seine Hüften. Ein Stöhnen drang aus seiner Kehle. Jesse! Oh, Jesse! rief Mandy innerlich. Ich habe das so sehr vermisst. Und sie umfasste hingerissen seinen Kopf und streichelte sein Gesicht, glücklich über die Vertrautheit mit jeder Linie, bevor sie nun mit den Händen über seine Brust fuhr. Doch plötzlich, genauso unvermittelt wie er sie an sich gerissen hatte, ließ er sie wieder los, und ihre Hände hingen in der Luft. Keuchend öffnete Mandy die Augen und sah, dass Jesse ihr den Rücken zuwandte. Er hatte den Kopf gesenkt und atmete tief durch. Verletzt von seiner Abkehr, flüsterte sie unsicher: „Tu das nie wieder." Jesse bückte sich, um seinen Hut aufzuheben. „Keine Angst", sagte er und ging zur Tür. „Ich habe nicht die Absicht." „Hey! Pass doch auf!" Die Warnung verhallte unbeachtet, weil Jesse nichts sah und hörte, während er - noch immer zornentbrannt - den Weg entlangstürmte, so dass er mit voller Wucht gegen die Frau prallte, die die Warnung ausgestoßen hatte. Überrascht ächzte er auf und griff instinktiv nach der Frau. Er erwischte sie bei der Taille und zog sie mit sich, als er taumelte. Im nächsten Augenblick knallte er mit dem Rücken auf den harten Boden, und eine schwarze Tasche wurde gegen seinen Kopf geschleudert. „Lass mich gefälligst los!" Jesse tat es sofort und riss die Augen auf. Vor sich sah er zwei wütend funkelnde braune Augen. „Sam?" fragte er unsicher, als er in das Gesicht von Mandys jüngerer Schwester schaute. Sie drückte sich von seiner Brust ab und bemühte sich, auf die Füße zu kommen. Ihre Wangen waren gerötet. „Nun, immerhin bist du nicht völlig blind", erklärte sie, während sie sich den Staub von der Jeans klopfte. „Du hast mich ja wenigstens wieder erkannt." Jesse stützte sich auf und zuckte zusammen. Als er sich hingesetzt hatte, untersuchte er die Verletzung am Ellenbogen. „Tut mir Leid", murmelte er, während er die Stelle betupfte, an der das Blut bereits durch den Stoff sickerte. „Ich habe nicht aufgepasst, wohin ich ging." „Ach, ja?" Ungeduldig bückte Sam sich, um ihre Tasche aufzuheben. „Darauf wäre ich gar nicht gekommen." Als sie sich wieder aufrichtete, bemerkte sie Jesses vorsichtige Bewegungen. „Bist du verletzt?" „Nur ein kleiner Kratzer", antwortete er, obwohl er seinen Arm fest an den Körper drückte, während er die andere Hand benutzte, um aufzustehen. Sam griff nach seinem Handgelenk und schob das zerrissene Hemd beiseite, damit sie die Wunde besser sehen konnte. „Komm mit in die Scheune. Ich mache dir einen Verband." Es war ein ehrlich gemeintes Angebot, auch wenn es grimmig vorgetragen wurde, aber Jesse wollte schnell von der Ranch verschwinden, um eine möglichst große Distanz zwischen sich und Mandy zu schaffen. „Das ist nicht nötig, ich kann ..." „Nun sei nicht so kindisch", fuhr Sam ihn ungeduldig an, bevor sie herumwirbelte und ihm keine andere Wahl ließ, als ihr zu folgen. In dem abgetrennten Raum, in dem die tierärztlichen Materialien gelagert wurden, warf Sam ihre Tasche auf den Tisch und rollte die Ärmel hoch. „Du solltest deinen Arm aus dem Hemd ziehen", schlug sie vor, ohne Jesse anzusehen. Dann ging sie zum Waschbecken und wartete, bis er soweit war. „Halt den Arm hier drunter, damit ich die Wunde säubern kann." Widerstrebend gehorchte Jesse, und Sam berührte vorsichtig die Verletzung. „Nicht allzu tief", murmelte sie. „Ein wenig Salbe und ein kleiner Verband dürften reichen." „Ist das eine medizinische Diagnose oder nur eine Vermutung?"
„Eine medizinische Diagnose. Ich bin Tierärztin", fügte Sam hinzu, als sie die Sachen heraussuchte, die sie brauchte. „Und falls du dir Sorgen machen solltest, Menschen sind in vielerlei Hinsicht den Tieren sehr ähnlich." Da er sich damit abgefunden hatte, die Double-Cross-Heart-Ranch doch nicht so schnell verlassen zu können, lehnte Jesse sich gegen die Arbeitsplatte. „Tierärztin also." Dieser Beruf schien ihm für den Wildfang, an den er sich erinnerte, ideal zu passen. Er drehte seinen Arm, so dass Sam besser herankam. „Ja, mir gefällt's." Sie drückte Salbe auf ihren Finger und zögerte dann, als traute sie sich nicht, Jesse zu berühren. „Ich beiße nicht", neckte er sie. Sam blickte hoch. Doch sie ging auf seine Neckerei nicht ein, sondern stellte ihm eine Frage. „Warum hattest du es so eilig?" Jesse runzelte die Stirn, als er unwillkürlich an sein Zusammentreffen mit Mandy dachte. „Ich wollte nur schnell nach Hause", meinte er vage. Sam unterbrach ihre Tätigkeit einen Moment, um ihn anzuschauen. Doch sofort blickte sie wieder weg. „Hast du Jaime irgendwo gesehen?" „Nein. Ich glaube, er ist mit einem Freund unterwegs." Sam nickte. „Ach ja, das wird Davie sein. Die beiden sind fast unzertrennlich und verbringen jeden Freitag zusammen." Dass Sam mehr über die Aktivitäten seines Sohnes wusste als er, versetzte Jesse einen Stich. „Ich vermute, dass du den Jungen ziemlich gut kennst, richtig?" Sam sah ihn an. „Ich weiß, dass er dein Sohn ist, und ich weiß auch, warum du hier bist." „Und was hältst du davon? Davon dass ich ihm sagen möchte, dass er mein Sohn ist?" Sam senkte den Blick und kümmerte sich weiter um die Wunde. „Was ich denke, ist nicht wichtig." „Aber du hast doch eine Meinung, oder?" Sam wickelte vorsichtig einen Verband um den Ellenbogen. „Ich möchte nicht, dass einer von ihnen Schaden nimmt. Weder Jaime noch Mandy." „Denkst du wirklich, dass das meine Absicht ist? Dass ich ihnen wehtun würde?" „Manchmal verletzen wir Menschen, ohne es zu wollen", erwiderte sie. Jesse fragte sich, ob Sam wohl aus eigener Erfahrung sprach. Mandy war nicht die einzige Tochter, die Lucas herumkommandiert hatte. Mandy hatte ihm damals erzählt, dass ihr Vater auch ihre Schwestern bevormundete. Aber etwas in Sams Stimme ließ ihn überlegen, ob sie vielleicht jemanden anderen als ihren Vater meinte. Er schob den Gedanken beiseite. Sam hatte ein Recht auf ihre kleinen Geheimnisse. „Hat euer Vater es Mandy sehr schwer gemacht, als er herausfand, dass sie schwanger war?" Obwohl Sam lediglich mit den Schultern zuckte, während sie ihre Sachen wieder in die Tasche räumte, nahm Jesse ihre Anspannung sehr wohl wahr. „Man kann sagen, dass der Gedanke, einen Enkel zu haben, in dessen Adern Barrister-Blut fließt, ihm nicht gerade gefiel." „Musste der Junge darunter leiden?" „Nein", erwiderte sie, ohne zu zögern. „Jaime war noch ein Baby, als Dad starb, und noch zu jung, um seine Abneigung zu merken." „Und was war mit Mandy?" Sam schaute Jesse zurückhaltend an, ohne etwas preiszugeben. „Diese Frage musst du Mandy stellen. Es steht mir nicht an, etwas darüber zu sagen." Diese Frage musst du Mandy stellen. Es steht mir nicht an, etwas darüber zu sagen ... Während des ganzen Weges zurück zur Circle-Bar-Ranch dachte Jesse über Sams merkwürdige Bemerkung nach. Offensichtlich hatte Lucas McCloud es Mandy ziemlich
schwer gemacht, sonst hätte Sam die Frage direkt beantwortet. Und obwohl er sich immer wieder sagte, dass es ihm egal sein könne, verspürte er ein tiefes Schuldbewusstsein, wenn er daran dachte, dass er Mandys Leiden mit verursacht hatte. Dieses Schuldbewusstsein wiederum erinnerte ihn an das letzte Zusammentreffen mit ihr vor gut einer Stunde. Während er mit zitternder Hand über seinen Mund fuhr, dachte er an den Kuss und wie gern er mehr daraus hätte werden lassen. Bei dieser Vorstellung trat er das Gaspedal weiter durch, als könnte er damit der Versuchung entkommen. Mandy bedeutet nur Ärger, versicherte er sich. Nicht nur, dass sie bei ihrem Vater geblieben war, statt mit ihm zu gehen, sie hatte ihm auch noch seinen Sohn vorenthalten - und das würde er ihr nie verzeihen. Aber wenn er gedacht hatte, seinen Problemen zu entkommen, indem er die Double-CrossHeart-Ranch verließ, dann hatte er sich gründlich getäuscht. Als er seinen Wagen vor der Scheune auf der Circle-Bar-Ranch parkte, sah er Margo und Pete in eine hitzige Diskussion vertieft. Seufzend öffnete er die Wagentür und vernahm Margos schrille Stimme. „Gibt es hier ein Problem?" fragte Jesse, der ahnte, dass er wohl die unangenehme Aufgabe des Schiedsrichters übernehmen musste. Margo wirbelte wütend zu ihm herum. „Ich möchte, dass dieser Mann sofort gefeuert wird!" Jesse warf einen Blick zu Pete, der vor Wut gerötete Wangen hatte, bevor er sich wieder an Margo wandte. „Darf ich auch wissen, warum?" „Er weigert sich, meine Befehle auszuführen! Ich habe ihm schon vor zwei Wochen gesagt, dass er diese Kühe auf der West-Weide verkaufen soll. Und jetzt stelle ich fest, dass er meine Anweisungen einfach ignoriert hat. Er ist nichts weiter als ein alter, sturer Dummkopf, der darauf besteht, die Dinge auf seine Weise zu machen." Jesse schaute zu Pete. „Was hast du dazu zu sagen?" Der empörte Laut, den Margo ausstieß, verriet Jesse, dass er sie beleidigt hatte, indem er Pete um seine Meinung bat, statt ihn auf der Stelle zu feuern. Pete warf Margo einen letzten wütenden Blick zu, bevor er seine Aufmerksamkeit auf Jesse richtete. „Sie meint diese Färsen, die ich dir letzte Woche gezeigt habe. Wade und ich haben sie extra ausgesucht, um die Horde zu ergänzen, und ich werde sie nicht verkaufen, denn wir brauchen sie für die Zucht. Sonst müsste ich losgehen und neue Kühe kaufen, und das halte ich für Quatsch, wenn du mich fragst." „Und wer hat Sie gefragt?" fuhr Margo dazwischen. „Ich", entgegnete Jesse und schaute sie an. „Und da ich derjenige bin, der hier das Sagen hat, stimme ich Petes Entscheidung zu. Die Färsen bleiben hier." Margo wich das Blut aus dem Gesicht, und ihre Lippen begannen vor Wut zu zittern. Wortlos drehte sie sich um und stolzierte davon. „Tut mir Leid für dich, dass du unsere kleine Auseinandersetzung mitbekommen hast", murmelte Pete. „Denn dafür wird sie dich zahlen lassen." Jesse schaute Pete erstaunt an. „Inwiefern?" Pete nahm seinen Hut ab und wischte sich mit dem Arm über die Stirn. „Ich weiß nicht. Aber sie wird sich schon was ausdenken. Das macht sie immer." Jesse schlug ihm auf die Schulter. „Zerbrich dir nicht deinen kahlen Kopf über Margo", neckte er ihn und versuchte, die Situation zu entspannen, obwohl er annahm, dass Pete Recht hatte. „Ich werde mit dem Ärger schon fertig, den sie mir machen will." Pete setzte seufzend seinen Hut wieder auf. „Das hoffe ich, mein Sohn."
5. KAPITEL
Jesse erwog, Mandy und die Double-Cross-Heart-Ranch zu meiden und sich stattdessen um die Probleme auf der Circle-Bar-Ranch zu kümmern. Aber am Montagmorgen schob er diesen Gedanken wieder beiseite. Er wollte den Beginn seiner Beziehung zu Jaime nicht gefährden. Die Circle-Bar-Ranch bedeutete ihm nichts, während sein Sohn ihm alles bedeutete, wie er langsam erkannte. Als er erneut auf der Double-Cross-Heart-Ranch ankam, sah er Jaime auf dem Zaun der Pferdekoppel sitzen. „Hallo, Jesse!" rief Jaime und sprang herunter. „Hallo", erwiderte Jesse und beugte sich in den Wagen, um ein Lasso herauszuholen. „Was machst du gerade?" „Ehrlich gesagt, habe ich auf dich gewartet." „Tatsächlich?" fragte Jesse freudig überrascht. „Ja. Mum hat mich gebeten, dir auszurichten, dass du heute nicht mit Judas arbeiten kannst." Diese Mitteilung dämpfte Jesses Freude ein wenig. „Aha. Und warum nicht?" „Er ist zum Decken. Mr. Phillips aus San Antonio hat ihn gestern mitgenommen. In ein paar Tagen wird er ihn wohl wieder zurückbringen." Jesse runzelte die Stirn. Warum hatte Mandy ihn nicht angerufen und ihm den Weg erspart? Doch dann fiel ihm ein, dass sie wahrscheinlich genauso wenig Wert darauf legte, mit ihm zu sprechen wie er mit ihr. Nicht nachdem, was neulich zwischen ihnen geschehen war. Er zog das Lasso durch die Hände und stellte auf einmal fest, dass er keine Entschuldigung hatte, Zeit mit seinem Sohn zu verbringen, wenn Judas nicht hier war. „Kannst du damit umgehen?" fragte Jaime und wies auf das Lasso. „Ein wenig. Warum?" „Na ja, jetzt wo Judas nicht da ist, dachte ich ..." Jaime senkte den Kopf und bohrte mit der Spitze seines Stiefels im Boden. „Was dachtest du?" hakte Jesse nach. „Ich ... ich dachte, ob du vielleicht Zeit hast, mir beizubringen, das Lasso richtig zu werfen." Jesse hätte Jaime fast jeden Wunsch erfüllt. So sehr hatte er den Jungen inzwischen in sein Herz geschlossen. „Ich denke, das lässt sich einrichten." Er schlang einen Arm um Jaimes Schultern und ging mit ihm zur Scheune. „Glaubst du, wir können einen Ballen Heu auftreiben, mit dem wir üben können?" Jaime strahlte ihn an. „Klar doch!" Zusammen schleppten sie einen Ballen aus der Scheune hinaus auf den Hof. Aus seinem Wagen holte Jesse einen Plastikstierkopf und band ihn an einem Ende des Heuballens fest. Anschließend rollte er das Lasso auf und demonstrierte Jaime, wie man es halten und lösen musste. Dann trat er zurück, um Jaime die Chance zu geben, ein Gespür für das Lasso zu bekommen. Als Jaime das Seil über seinen Kopf schwang und es ihm sofort an die Stirn schlug, unterdrückte Jesse ein Grinsen. „Ein bisschen höher", meinte er. „Außerdem musst du es von dir weiter weghalten, bevor du es drehst und hochziehst." Jaime biss sich auf die Unterlippe und versuchte es erneut, und schaffte es diesmal, ohne seinen Kopf zu treffen. Er drehte sich um und grinste. „Meinst du so?" Jesse lachte und klopfte ihm auf den Rücken. „Genau so. Bist du bereit, den Stier einzufangen?" fragte er und deutete auf den Heuballen.
Jaime schluckte nervös. „Ja, ich denke schon." Er nahm das Seil wieder richtig in die Hände, schwang es über seinen Kopf, so wie Jesse es ihm gesagt hatte und ließ es dann durch die Luft sausen. Das Lasso flog davon und landete mehr als zwei Meter vor dem Heuballen. Das Ende des Seils schlug zwei Meter dahinter auf. Jesse warf den Kopf zurück und lachte. „Ich glaube, ich habe vergessen zu erwähnen, dass du das Ende des Lassos festhalten musst." Jaime drehte sich herum und grinste verlegen. „Scheint mir auch so." Jesse rollte das Seil geschickt wieder auf und gab es Jaime. „Willst du es noch einmal versuchen?" „Ja, sicher." Jesse machte einen Schritt zurück, während Jaime das Lasso richtig in die Hand nahm. „Hast du Kinder?" Die Frage kam aus heiterem Himmel und nahm Jesse den Atem. Unbewusst griff er nach der Schachtel den Zigaretten in seiner Brusttasche und schüttelte mit zitternden Fingern eine heraus. „Warum fragst du?" wollte er wissen, während er sein Feuerzeug suchte. „Nur so." Jaime wandte sich um, als er das Schnappen des Feuerzeugs hörte. Er grinste. „Mum meint, diese Dinger hemmen das Wachstum." Als er bemerkte, was er getan hatte, riss Jesse sich die Zigarette aus dem Mund, warf sie zu Boden und trat sie aus. „Sie hat Recht", murmelte er. Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass er ein gutes Vorbild für seinen Sohn abgeben musste. „Es ist eine schlechte Angewohnheit." Jaime konzentrierte sich wieder auf das Lasso. „Ja, das sagt Mum auch." Er hob das Seil und drehte es einige Male über seinem Kopf. „Allerdings behauptet sie das von allem, was Spaß macht." Er ließ das Lasso fliegen und traf den Stierkopf, bevor das Seil zu Boden fiel. Frustriert ließ er die Schultern hängen. „Das war doch schon ganz nah am Ziel", sagte Jesse aufmunternd. Mandy schaute aus ihrem Bürofenster und stöhnte. Wollte Jesse denn überhaupt nicht mehr verschwinden? Nach einem Blick auf ihre Armbanduhr wusste sie, dass sie es nicht länger vor sich herschieben konnte hinauszugehen. In einem letzten Versuch, Jesse nicht gegenübertreten zu müssen, blieb sie an der Hintertür stehen und rief: „Jaime!" Sie wartete vergeblich auf seine Antwort und schalt sich dann ob ihrer eigenen Feigheit. Ihr blieb nichts anderes übrig, als ihren Sohn persönlich hereinzuholen. Mandy straffte die Schultern und ging hinüber zur Scheune, wo sie ihren Sohn und Jesse den ganzen Nachmittag beim Lassowerfen gesehen hatte. Sie wusste, eigentlich sollte sie froh darüber sein, dass Jesse so geduldig mit Jaime übte, aber sie konnte es nicht. Da Judas weg war, hatte sie gehofft, ein paar Tage Zeit zu haben, bevor sie Jesse wieder sehen würde. Ihre letzte Begegnung hatte sie allzu sehr aus dem Gleichgewicht gebracht. „Jaime!" rief sie noch einmal, als sie nahe genug war, um gehört zu werden. Er wandte den Kopf zu ihr herum. „Hier, Mum! Komm und sieh mal, wie ich den Stier mit dem Lasso fangen kann." Mandy hätte es lieber gesehen hätte, wenn er zu ihr gekommen wäre. Aber sie wollte ihm nicht das Vergnügen nehmen, ihr zu zeigen, was er gelernt hatte. Seufzend ging sie weiter. „Schau mal, Mum." Gekonnt wirbelte Jaime das Lasso und ließ es direkt über dem Stierkopf niedersausen. „Klasse gemacht, mein Sohn", sagte sie und klatschte. „Doch jetzt wird es Zeit, dass du hereinkommst." „Aber, Mum ...", begann er.
„Kein Aber, Jaime. Ich gehe heute Abend aus, und Sam hat versprochen, auf dich aufzupassen. Leider ist sie noch unterwegs, also muss ich dich zu ihr bringen. Du kannst bei ihr bleiben, bis sie mit der Arbeit fertig ist." Zu jedem anderen Zeitpunkt wäre Jaime froh gewesen, seine Tante Sam bei einer Visite begleiten zu dürfen, aber im Moment fand er Lassowerfen mit Jesse viel interessanter. „Ach, Mum, kann ich nicht allein bleiben? Ich brauche keinen Babysitter." „Nein, denn dann würde ich mir nur Sorgen machen." Sie bedeutete ihm ungeduldig, ihr zu folgen. „Nun komm schon. Ich bin sowieso schon spät dran." „Ich könnte bei dem Jungen bleiben", bot Jesse an. Mandy hatte versucht, seine Anwesenheit zu ignorieren, doch jetzt war sie praktisch gezwungen, auf ihn zu reagieren. „Danke, aber du brauchst nicht noch mehr Zeit mit Jaime zu verschwenden. Er hat dich heute genug mit Beschlag belegt." Jesse kam heran und stellte sich zwischen Jaime und sie, so dass sie ihn anschauen musste. Die Tatsache, dass allein sein Anblick ihren Pulsschlag verdoppelte, zeigte ihr, dass es richtig war, ihm aus dem Weg zu gehen. „Es ist meine Zeit, und ich verbringe sie gern mit Jaime", murmelte er. Ohne auf den trotzigen Ausdruck in Mandys Gesicht zu achten, drehte Jesse sich zu Jaime herum. „Wie ist es mit dir, mein Junge? Willst du mich noch ein wenig länger ertragen, bis deine Tante Sam wiederkommt?" Jaimes Strahlen war eine eindeutige Antwort. „Cool! Dann kann ich noch ein bisschen länger Lassowerfen üben." Um ihren Sohn nicht neugierig darauf zu machen, warum sie ihn mit Jesse nicht allein lassen wollte, versuchte Mandy, ihre Niederlage so gelassen wie möglich hinzunehmen. „Danke. Sam wird wohl nicht mehr lange weg sein. Das Abendessen ist im Herd. Es ist reichlich für euch beide da." Sie trat um Jesse herum und ging zu Jaime, um ihm über das Haar zu streichen. Sofort duckte er sich, um ihrer mütterlichen Geste zu entgehen. „Oh, Mum", beschwerte er sich und ging schnell zum Heuballen, um das Lasso aufzuheben. Mandy ließ die Hand sinken, ein bisschen traurig, weil ihr Sohn jetzt schon zu groß für solche Liebesbeweise war. „Und tu, was Jesse sagt", rief sie ihm hinterher. „Ja, Ma'am", murmelte er brummig. „Und vergiss nicht zu duschen, bevor du ins Bett gehst." „Ja, ja." Widerstrebend drehte Mandy sich zu Jesse um. Er hatte seinen Hut weit zurückgeschoben und die Hände in die Hüften gestemmt. Seine Lippen waren zusammengepresst, und obwohl sie sich vorhin gesträubt hatte, ihm überhaupt gegenüberzutreten, wünschte sie jetzt, sie könnte einen Finger oder noch besser ihren Mund auf diese Lippen drücken, um Jesses Ärger zu vertreiben. Sofort senkte sie den Blick und konzentrierte sich stattdessen auf einen unsichtbaren Fleck auf ihrem Rock. „Falls Sam doch später kommen sollte, Jaimes Bettzeit ist zehn Uhr." „Ja, Ma'am." Als sie den Sarkasmus in seiner Stimme hörte, hob Mandy den Kopf. „Es sollte nicht so klingen, als würde ich dir Befehle erteilen", sagte sie verteidigend. „Ich wollte dich nur mit seinen Gewohnheiten vertraut machen." „Es ist eine verdammte Schande, dass mir die Bettgehzeit meines Sohnes überhaupt gesagt werden muss." Entsetzt sah Mandy zu ihrem Sohn, weil sie befürchtete, dass er Jesses Bemerkung gehört haben könnte. Doch Jaime übte immer noch fleißig Lassowerfen und schenkte ihrer Unterhaltung glücklicherweise keine Beachtung.
Sie blickte wieder zu Jesse und sagte leise, aber nachdrücklich: „Wehe, du nutzt meine Abwesenheit aus und erzählst ihm, dass du sein Vater bist. Wenn du das tust, dann schwöre ich dir, dass ich alles daran setzen werde, dass du ihn nie wieder siehst." Jesse starrte sie ohne mit der Wimper zu zucken an. „Willst du mir drohen, Mandy?" „Nein", erwiderte sie knapp. „Es ist nur eine Warnung, die du lieber befolgen solltest." Jesse verzog den Mund zu einem verächtlichen Lächeln. „Warnung zur Kenntnis genommen." Als Mandy um ihn herumgehen wollte, machte er einen Schritt zur Seite und blockierte ihr den Weg. Langsam ließ er den Blick über ihren weiten Rock, die luftige Seidenbluse und die Westernstiefel gleiten. „Schick, schick", murmelte er. Er hakte einen Finger in den V-Ausschnitt ihrer Bluse und zog Mandy näher. Sie versteifte sich, und ihre Augen funkelten wütend. „Viel Spaß wünsch ich dir", flüsterte er rau. „Und mach dir keine Sorgen", fügte er hinzu, während er ihr sanft über den Hals strich. „Jaime und ich kommen gut miteinander aus." Mandy riss sich von ihm los und ging mit glühenden Wangen zum Haus. Hinter sich hörte sie Jesse leise lachen. Jaime übte noch immer Lassowerfen, als das Geräusch eines Autos Jesse veranlasste, über die Schulter zu schauen. Ein kleiner Sportwagen raste die Auffahrt hinauf. Jesse gab das Lasso, das er gerade aufgehoben hatte, an Jaime weiter. „Hier, versuch es noch einmal", murmelte er. Er sah zu, als der Wagen mit quietschenden Reifen vor dem Haus hielt. Auf der Fahrerseite wurde die Tür geöffnet, und ein Baum von einem Mann zwängte sich heraus. „Du meine Güte!" raunte Jesse. Er erkannte sofort, dass der kräftige Nacken, die breiten Schultern und die muskulösen Arme und Beine zu John Lee Carter gehörten. „Was macht der denn hier?" Jaime ließ das Lasso sinken und schaute sich um. „Oh, das ist nur John Lee Carter. Er und Mum sind heute verabredet." In diesem Moment kam Mandy aus dem Haus gelaufen und stellte sich auf die Zehenspitzen, um John Lee auf die Wange zu küssen. Lachend hakte sie sich bei ihm unter, ging mit ihm zum Wagen und ließ sich von ihm hineinhelfen. Jesse war nicht auf den Eifersuchtsanfall gefasst, der ihn mit voller Wucht traf, als er Mandy mit einem anderen Mann sah. Wütend ballte er die Hände zu Fäusten. „Er war früher Profi-Footballspieler", meinte Jaime, der neben ihn trat. „Aber dann hat er Probleme mit seinem Knie bekommen und musste aufhören." Jesse hatte darüber gelesen. Aber in keiner Zeitung hatte gestanden, dass John Lee wieder nach Hause gezogen war und schon gar nicht, dass er und Mandy ein Paar waren. Fotomodelle und Schauspielerinnen waren im Zusammenhang mit John Lee häufig erwähnt worden, auch eine Affäre mit einer Prinzessin. Doch niemals hatte etwas über Mandy und den Ex-Football-Star in den einschlägigen Blättern gestanden. Jaime schaute verstohlen zu Jesse und dachte an die Idee, die ihm schon seit Tagen im Kopf herumschwirrte. „Mum sieht richtig gut aus, oder?" Jesse verzog das Gesicht und verbot sich zu antworten. Der Rock und die süße Bluse, die er vorhin noch bewundert hatte, verloren plötzlich ihren Reiz, als er erkannte, dass sie sie für John Lee trug. John Lee Carter ist viel zu erfahren für Mandy, sagte er sich. Eine Beziehung mit solch einem Frauenhelden konnte nur damit enden, dass Mandy verletzt wurde. Doch er würde nicht zulassen, dass irgendjemand Mandy wehtat. Sie hatte schon genug unter ihrem Vater gelitten.
Jesse hatte bereits einen Schritt in Richtung Haus gemacht, um John Lee hinauszuwerfen, als er erkannte, was er da tat. Fluchend schnappte er Jaime das Lasso aus der Hand, wirbelte es über dem Kopf und warf es. Es landete genau über dem Stierkopf, und Jesse zog es mit einem so wütenden, heftigen Ruck zusammen, dass der Heuballen umkippte. „Wow!" rief Jaime. „Kannst du mir das auch beibringen?" Jesse marschierte vor dem Fenster auf und ab und blieb nur gelegentlich stehen, um wütend nach draußen auf die dunkle Auffahrt zu schauen. Als sich dort nichts rührte, nahm er fluchend seine Wanderung wieder auf. Kurz nachdem Jaime ins Bett gegangen war, hatte Sam angerufen, um Jesse zu sagen, dass sie die Nacht bei einem kranken Pferd verbringen müsse. Sie hatte gefragt, ob es ihm etwas ausmachen würde, bei Jaime zu bleiben, bis Mandy zurückkam. Natürlich hatte es ihm nichts ausgemacht, aber es störte ihn gewaltig, dass es jetzt fast ein Uhr war und Mandy noch immer nicht in Sicht war. „Wo, zum Teufel, steckt sie nur?" brummte er, als er die Vorhänge erneut zurückzog, um nach draußen zu spähen. Aber das Einzige, was er sah, waren die Bilder in seinem Kopf die ihn seit einer Stunde verfolgten: John Lee und Mandy, wie sie sich nackt und voller Leidenschaft auf dem riesigen, maßgefertigten Bett von John Lee tummelten. Während er blicklos hinausstarrte, bemerkte er auf einmal zwei kleine helle Punkte, die langsam größer wurden, bis Jesse den Sportwagen erkannte, der kurz darauf auf der Auffahrt hielt. Aufgebracht ließ Jesse die Gardine fallen. „Wird ja auch Zeit, dass sie nach Hause kommt", murmelte er, schnappte sich seinen Hut und setzte ihn auf. Mandy kam lächelnd, mit geröteten Wangen und zerzausten Haaren ins Haus. Ihr Lächeln schwand ein wenig, als sie Jesses anklagendem Blick begegnete. „Oh", meinte sie erschrocken. „Ich dachte, Sam wäre inzwischen hier." „Sie hat angerufen. Sie muss über Nacht bei einem kranken Pferd bleiben. Sie hat mich gebeten, hier zu bleiben, bis du zurück bist." Mandy warf ihre Handtasche auf den Tisch in der Eingangshalle. „Ich bin zurück, du kannst also gehen." Obwohl es genau das war, was Jesse vorgehabt hatte, veranlasste ihre lässige Verabschiedung ihn, sich vor Mandy aufzubauen und die Hände in die Hüften zu stemmen. „Was, zum Teufel, denkst du dir dabei, die ganze Nacht mit solchen Typen wie John Lee Carter herumzuhängen?" Dass Jesse Rechenschaft von ihr darüber verlangte, wie lange und mit wem sie unterwegs war, machte Mandy wütend. „John Lee ist ein Freund von mir, und er war auch mal deiner oder hast du das vergessen?" „Ich habe überhaupt nichts vergessen, schon gar nicht John Lees wildes Benehmen." „Was willst du damit andeuten?" „Schau dich doch an!" entgegnete Jesse und zeigte empört auf sie. „Du siehst aus, als wärst du direkt aus seinem Bett gekommen, verflixt noch mal!" Mandys Wangen röteten sich vor Zorn. Ihr zerzaustes Aussehen lag daran, dass John Lee das Verdeck seines Wagens heruntergelassen hatte. Aber Mandy war nicht gewillt, Jesse dies zu erklären. John Lee war ein Freund von ihr, ein sehr guter Freund, aber mehr nicht. Doch auch das würde sie Jesse nicht erklären. Wozu auch? Mühsam bemühte sie sich darum, die Fassung zu bewahren. „Was ich tue und mit wem ich es tue, geht dich gar nichts an." „Oh, doch!" murmelte Jesse, während er sich den Hut vom Kopf riss und ihn durch den Raum warf. Mit zwei langen Schritten war er bei Mandy und hatte sie in die Arme gezogen,
um sie eines Besseren zu belehren. Er presste den Mund auf ihren und unterdrückte damit ihren Protestschrei. Mandy stemmte die Hände gegen seine Brust, weil sie ihn wegschieben wollte. Doch stattdessen krallte sie nun die Finger in sein Hemd und hielt sich an ihm fest. Hart und fordernd drang Jesse mit der Zunge in Mandys Mund vor - und verspürte eine Hitze, die nichts mehr mit Wut, dafür umso mehr mit Leidenschaft zu tun hatte. „Sag mir, dass er dir nichts bedeutet", verlangte er, während er mit den Lippen über ihren Hals glitt. „Sag mir, dass er dich nicht so berührt hat." Während er die Hände um ihre Taille legte und Mandy ganz nah an sich zog, hinterließ sein Mund eine heiße Spur auf ihrer Haut. Er wärmte ihre in Seide gehüllten Brüste mit seinem Atem und schloss nun die Lippen um eine der aufgerichteten Knospen. „Nein, das hat er nicht", flüsterte Mandy und griff in sein Haar. Ihr blieb vor Erregung gar nichts anderes übrig, als Jesse die Wahrheit zu sagen. „Es hat nie jemand anderen gegeben als dich." Angefeuert von ihrem Geständnis, schob Jesse ihren Ausschnitt auseinander und umkreiste spielerisch die Brustspitze mit der Zunge, bevor er daran zu knabbern begann. Mandy hielt erschauernd seinen Kopf fest. „Jesse. Oh, Jesse!" rief sie hilflos. Er tastete nach den Knöpfen ihrer Bluse. Um sie zu öffnen, war er zu ungeduldig. Er riss daran, die Knöpfe sprangen ab und kullerten zu Boden, während die Bluse auseinander fiel und Mandys Brüste entblößte. Hastig schob Jesse ihr die Bluse von den Schultern. Der Stoff glitt die Arme hinunter bis zu den Handgelenken, so dass Mandy praktisch gefesselt war. Sie schauten sich in die Augen, und Mandy schnappte nach Luft, als sie die wilde Leidenschaft in Jesses Blick erkannte, bevor er mit den Lippen erneut ihre Brüste zu liebkosen begann. Verlangen durchströmte ihren ganzen Körper, und sie warf den Kopf zurück und drängte sich noch dichter an Jesse. Da ihre Hände jedoch gefangen waren, konnte sie ihr dringendes Bedürfnis, ihn ebenfalls zu berühren, nicht befriedigen. „Jesse, bitte", flehte sie. „Bitte, was?" wollte er wissen. „Bitte, lass mich dich auch berühren." Er hob den Kopf und starrte sie mit seinen braunen Augen an, zog dann die Bluse von ihren Handgelenken und warf sie beiseite. Doch bevor Mandy ihn anfassen konnte, hatte Jesse sie hochgehoben. „Wo ist dein Zimmer?" fragte er. „Nein, nicht dort. Jaime könnte ..." „Wo dann?" „Die Scheune", sagte Mandy leise. „Dort sind wir ungestört." Mandy drückte ihr Gesicht an Jesses Hals, und ihr heißer Atem war wie Feuer auf seiner Haut. Vor dem Scheunentor blieb Jesse stehen und zögerte. „Dort hinein", flüsterte Mandy und wies auf eine kleine Nebentür. Mit dem Stiefel stieß Jesse die Tür auf, ging hinein und schloss sie wieder mit dem Fuß. Der Mond warf einen schwachen Lichtstrahl durch ein hoch gelegenes Fenster und erhellte ein schmales Bett. Jesse marschierte dorthin und ließ Mandy langsam darauf -gleiten. Er machte einen Schritt zurück und starrte auf ihr gerötetes Gesicht, ihre vollen leicht geöffneten Lippen, ihre prallen Brüste, die sich unter seinem Blick immer schneller hoben und senkten. „Wen siehst du, Mandy?" flüsterte er rau. „Wen willst du?" Mandy keuchte auf. „Dich, Jesse. Nur dich." Zufrieden mit ihrer Antwort, beugte Jesse sich herab und zog ihr die Stiefel aus. Hastig griff er nach dem Gummiband ihres Rocks und streifte ihn ihr zusammen mit der Strumpfhose
und dem Slip aus. Er warf alles achtlos auf den Boden, bevor er wieder nach Mandys Fuß griff und ihn mit seiner starken Hand umschloss. Mit dem Daumen zog er langsam kleine Kreise über den Spann, bis Mandys Atem nur noch stoßweise kam. Jesse, der am Fußende des Bettes stand, ließ sich auf ein Knie nieder und presste statt des Daumens nun seine Lippen auf die empfindliche Haut. Glühende Hitze durchströmte Mandys Bein und sammelte sich in ihrem Schoß. Sie hob die Arme über den Kopf und klammerte sich an die Eisenstäbe am Kopfende des Bettes. Die Augen geschlossen, genoss sie die wunderbaren Empfindungen, die inzwischen ihren ganzen Körper ergriffen hatten. Als sie das Gefühl hatte, es nicht länger aushalten zu können, bewegte Jesse seinen Mund langsam aufwärts. Ganz sacht küsste er ihren Knöchel, strich dann mit der Zunge an ihrer festen Wade entlang und immer höher und über die Innenseite ihrer Oberschenkel, während er gleichzeitig mit den Händen ihre glühende Haut streichelte. Es war eine Qual - die wunderbarste Qual, die Mandy je erlebt hatte. Schließlich hob Jesse den Kopf und begegnete Mandys sehnsüchtigem Blick. Vorsichtig umschloss er ihren Venushügel und massierte ihn sanft, und Mandy drückte sich bebend an seine Hand. „Jesse", flüsterte sie heiser. „Bitte." Er stand auf, zog sich Stiefel und Socken aus und griff nach dem obersten Hemdknopf. Mandy kam hoch und streckte die Hand aus. „Nein, lass mich das machen." Er ließ die Arme sinken, und mit zitternden Fingern öffnete Mandy einen Knopf nach dem anderen. Jede Berührung ihrer Fingerspitzen elektrisierte ihn noch mehr, brachte seinen Puls noch mehr zum Rasen, bis Jesse fast verrückt vor Verlangen seinen Gürtel aufhakte, die Jeans öffnete und sie hastig zusammen mit dem Slip auszog. Mandy hatte sich aufs Bett zurückfallen lassen, und Jesse beugte sich nun über sie, stützte sich rechts und links von ihr ab und schaute ihr in die Augen. „Du gehörst mir, Mandy", sagte er eindringlich und eroberte ihren Mund, als wollte er es ihr beweisen. Leidenschaftlich küsste er sie, bevor er sich auf sie sinken ließ. Mit einer schnellen Bewegung drehte er sich herum und nahm sie mit sich, so dass sie nun auf ihm lag. Zärtlich glitt er mit den Händen an ihrem Rücken hinab, umschloss ihren Po und drang langsam in sie ein. Mandy lehnte sich zurück, stützte sich auf seiner Brust ab und nahm ihn noch tiefer in sich auf. „Du gehörst mir", wiederholte Jesse keuchend. „Für immer." „Ja." Mandy schnappte nach Luft, als die erste Welle höchster Lust sie überrollte. „Jaaa!" rief sie ekstatisch, und gemeinsam erklommen sie den Gipfel.
6. KAPITEL
Mandy wachte langsam auf und lächelte, als ihr einfiel, wo sie war. Sie rollte sich auf den Rücken und strich sich das zerzauste Haar aus dem Gesicht. „Jesse?" Als er nicht antwortete, stützte sie sich auf einen Ellenbogen und schaute sich in dem halb dunklen Raum um. Plötzlich verspürte sie einen Stich. Jesse war weg. Er war gegangen, ohne sich von ihr zu verabschieden. Gekränkt von seiner Abweisung, stieg sie aus dem schmalen Bett, hob ihren Rock auf und schlüpfte hinein. Als ihr einfiel, dass ihre Bluse im Hausflur lag, sank sie wieder auf das Bett und ließ den Tränen freien Lauf. „Oh, Jesse", schluchzte sie und vergrub das Gesicht in den Händen. „Wie konntest du mir das antun?" Aber tief in ihrem Innern wusste sie, dass es ihre eigene Schuld war. Er hatte sich nur genommen, was sie ihm angeboten hatte. Aber hatte er es aus dem gleichen Grund getan wie sie? Aus Liebe? Kopfschüttelnd stand sie auf, wischte sich die Tränen aus den Augen - und sah sein blaues Hemd am Fußende des Bettes liegen. Erneut strömten ihr die Tränen über die Wangen, als sie erkannte, dass Jesse es für sie dagelassen hatte. Hastig zog sie es an, bückte sich, um ihre anderen Sachen aufzusammeln und schlich dann leise hinaus. In der Morgendämmerung lief sie über den Hof, darauf bedacht, so schnell wie möglich ins Haus zu verschwinden, bevor die Cowboys aufstanden und sie nur halb bekleidet erwischten. In der dunklen Küche stellte sie die Stiefel ab und drehte sich herum, um die Tür hinter sich zu schließen. „Mandy?" Sie zuckte zusammen, wirbelte herum und sah Sam amüsiert grinsend vor dem geöffneten Kühlschrank stehen. „Sam! Du hast mich zu Tode erschreckt." „Tut mir Leid." Sam schloss den Kühlschrank und trank von der Milch, die sie sich gerade eingeschenkt hatte, Ihre Augen weiteten sich, als sie nun bemerkte, wie Mandy angezogen war. Langsam senkte sie das Glas. „Liege ich richtig mit meiner Vermutung, dass John Lee deine Bluse trägt, da du sein Hemd anhast?" Mandy errötete. „Es ist nicht John Lees Hemd", murmelte sie und ging um ihre Schwester herum und an den Kühlschrank. Sam spähte über die Kühlschranktür zu Mandy. „Wem gehört es dann?" „Jesse", drang es leise halb aus dem Kühlschrank. „Jesse?" wiederholte Sam geschockt. Mandy, die eine Flasche Saft herausgeholt hatte, trat einen Schritt zurück, schloss den Kühlschrank und schaute ihre Schwester mit Tränen in den Augen an. „Ja, Jesse." Sam stellte sofort ihr Milchglas beiseite und umfasste Mandys Schultern. „Hat er dir wehgetan?" Mandy schüttelte den Kopf und ließ den Tränen freien Lauf. „Nein, er ... Oh, Sam, ich liebe ihn noch immer", schluchzte sie. Sam schloss sie in die Arme. „Ich weiß", murmelte sie beruhigend. „Ich weiß." Nachdem die Schleusen einmal geöffnet waren, konnte Mandy die Worte nicht mehr zurückhalten, die aus ihr heraussprudelten. „Als ich heute Nacht nach Hause kam, wartete er auf mich und fing an, mich anzuschreien, weil ich so lange weg war. Und ehe ich mich versah, zog er mich in die Arme und küsste mich." Sie holte tief Luft. „Ich wollte ihn abwehren, aber es ging nicht ... weil ich doch mit ihm schlafen wollte. Ich wollte es seit dem Tag, an dem er Jaime nach Hause gebracht hat." „Also hast du es getan?" fragte Sam unsicher.
„Ja. In der Scheune." Mandy löste sich aus Sams Umarmung. „Aber als ich aufwachte, war er weg", erklärte sie empört. „Er ist gegangen, ohne ein Wort zu sagen." Nicht ganz sicher, was von ihr erwartet wurde, fragte Sam vorsichtig: „Und was hätte er sagen sollen?" Blicklos schaute Mandy hinaus in die Morgendämmerung. „Ich weiß nicht", murmelte sie unglücklich. Sam trat hinter sie und legte ihr tröstend eine Hand auf die Schulter. „Vielleicht wusste er nicht, was er sagen sollte", meinte sie sanft. „Vielleicht ist das alles für ihn genauso verwirrend wie für dich." Sie spürte Mandy erschauern. „Nein, ich glaube es ist noch etwas anderes", flüsterte Mandy. „Es ist fast so, als wollte er mich für irgendetwas bestrafen." „Dafür, dass du ihm Jaime vorenthalten hast?" „Zum Teil", erwiderte Mandy langsam und begann jetzt die Wut zu verstehen, die hinter Jesses Leidenschaft gesteckt hatte. „Aber zum größten Teil will er mich wohl deswegen bestrafen, weil ich damals nicht mit ihm gegangen bin, als er mich darum gebeten hat. Ich glaube, das hat er mir nie verziehen." „Hast du ihm vergeben, dass er ohne dich gegangen ist?" fragte Sam nach. Mandy wandte sich um und schaute Sam an. „Ich weiß es nicht", sagte sie traurig. „Ich weiß es wirklich nicht." Als Mandy in ihr Bett kroch, um wenigstens noch ein paar Stunden Schlaf zu bekommen, war Jesse auf dem besten Weg, sturzbetrunken zu werden. Nachdem er Mandy in dem kleinen Nebenraum der Scheune zurückgelassen hatte, war er zurück zur Circle-Bar-Ranch gefahren und hatte aus Petes Versteck dessen Whiskey hervorgeholt. Ausgestreckt auf dem Boden, rutschte Jesse mit den Schultern gegen die raue Scheunenwand, ohne die Splitter zu bemerken, die sich in seinen nackten Rücken gruben. Erneut hob er die Flasche an die Lippen, und der Whiskey brannte ihm in der Kehle, so dass er sich einmal schüttelte, bevor er sich mit dem Handrücken über den Mund fuhr. Ich hätte sie niemals berühren sollen, sagte er sich zum hundertsten Mal. Ich hätte in dem Moment verschwinden sollen, als sie das Haus betrat. Und das wäre ich auch, versicherte er sich, wenn sie nicht ausgesehen hätte, als wäre sie direkt aus John Lees Bett gekommen. Dieser beunruhigende Gedanke veranlass-te ihn, noch einen großen Schluck zu nehmen. Gerötete Wangen, zerzaustes Haar und ein Lächeln, das ein wenig zu zufrieden für seinen Geschmack gewesen war. Er schnaubte und stellte die Flasche neben sich auf den Boden. Nein, da hatte er nicht verschwinden können. Nicht ohne vorher diesen sinnlichen Mund zu küssen. Nicht ohne ihr etwas zu geben, woran sie sich erinnern würde. Ein selbstgefälliges Lächeln erschien auf seinem Gesicht. Ja, er hatte ihr wirklich etwas gegeben, woran sie denken konnte. Und sie hatte ihn ja regelrecht angefleht, sie zu lieben. Als sie in der Scheune angekommen waren, war sie erregt und bereit für ihn gewesen - nur für ihn. Und als sie danach in seinen Armen eingeschlafen war, hatte sie seinen Namen geflüstert. Er hatte sie bestraft, genau wie er es vorgehabt hatte. Wenn das so ist, warum betrinkst du dich dann sinnlos? Er runzelte die Stirn, weil ihm die Frage seines Gewissens nicht gefiel. Weil es mir schmeckt, redete er sich ein und nahm noch einen Schluck, um es sich zu beweisen. Ja, und die Kopfschmerzen nachher werden dir auch schmecken. Warum gestehst du es dir nicht einfach ein, du bist noch immer in diese Frau verliebt. Jesse umschloss den Flaschenhals. Ich liebe sie nicht, sagte er sich. Er hasste sie. Sie hatte ihn angelogen. Sie hatte Liebesschwüre geflüstert, von Hochzeit und ewiger Liebe geredet und ihm dann den Rücken gekehrt, als ihr alter Herr sie gezwungen hatte, zwischen ihm, ihrem Vater, und ihm, Jesse, ihrem mexikanischen Liebhaber zu wählen. Und sie hatte ihm
zwölf Jahre lang seinen Sohn vorenthalten. Allein das war Grund genug, sie zu hassen. Und sicherlich Grund genug, um sich an ihr rächen zu wollen. Rache? Ist es wirklich das, was du willst? Hast du daran gedacht, als du sie in den Armen gehalten hast, während sie geschlafen hat? Jesse fluchte bei der Erinnerung daran. Ja, versicherte er sich dann, das war genau das, was ich gewollt habe - Rache. Warum presst du dann die Hand auf dein Herz? Jesse schaute hinab und bemerkte erst jetzt diese unbewusste Geste und den Schmerz, den er dort verspürte. Seufzend zog er die Beine an, schlang die Arme um die Knie und ließ den Kopf darauf sinken. „Weil es wehtut", murmelte er unglücklich. „Nach all diesen Jahren tut es immer noch weh." Von ihrem Küchenfenster aus beobachtete Margo, wie Jesse aus der Scheune zu einem Wassertrog torkelte. Er beugte sich hinunter, stützte sich mit den Händen ab und tauchte den Kopf unter Wasser. Wenige Sekunden später kam er wieder hoch, keuchte und fuhr sich mit den Händen durch das tropfnasse Haar, während ihm das Wasser über seinen nackten Rücken rann. Betrunken, dachte Margo angewidert. Wie typisch. Und wo war er überhaupt die ganze Nacht gewesen? Sie wusste genau, dass er nicht vor zwei Uhr nach Hause gekommen war, denn sie hatte wach gelegen und gelauscht. „Diese McCloud-Schlampe", murmelte Margo. „Ich wette, dort verbringt er seine ganze Zeit." Etwas später am Vormittag stoppte Margo ihren Wagen auf der Tankstelle am Ortsausgang und drückte ihren manikürten Finger auf einen Schalter, um die getönte Scheibe herunterzulassen. An der Zapfsäule stand ein Laster mit dem Logo der Double-Cross-HeartRanch. Ein Cowboy war gerade dabei, Treibstoff einzufüllen. Unter dem Rand seines alten Hutes blickte er zu Margo. „Haben Sie irgendwelche Neuigkeiten für mich?" fragte sie leise, um keine Aufmerksamkeit zu erregen. Der Cowboy stellte den Zapfhahn auf Automatik und kam zu Margo hinüber. „Vielleicht", sagte er und beugte sich in den Wagen. Er grinste, wobei eine Reihe gelblicher Zähne zum Vorschein kamen. Angewiderte von dem Anblick und dem Geruch, der durch ihr Fenster strömte, fuhr Margo zurück. Stirnrunzelnd langte sie in ihre Handtasche und zog einen Geldschein heraus. Sie drückte ihn dem Cowboy in die Hand. Er betrachtete den Schein. „Ich denke, dass die Information, die ich habe, etwas mehr wert ist als mickrige fünfzig Mäuse. Eine reiche Frau wie Sie kann doch sicherlich ein bisschen mehr locker machen." „Oh, verflixt", sagte Margo ärgerlich, griff aber erneut in ihre Tasche und zog einen weiteren Schein heraus, den sie ihm gab. „Aber das ist alles. Keinen Cent mehr." Grinsend stopfte der Cowboy die Scheine in seine Hemdtasche. „Er ist wirklich da", erzählte er dann. „Kommt fast jeden Tag. Sagt, er käme, um einen Hengst zuzureiten, aber wenn Sie mich fragen, verbringt er mehr Zeit mit dem Sohn der Chefin als mit dem verrückten Pferd." Margo schaffte es, die Wut, die sie bei dieser Neuigkeit überkam, nicht zu zeigen. „Was ist mit dieser McCloud? Verbringt er auch Zeit mit ihr?" Der Cowboy schüttelte den Kopf. „Wollen Sie wissen, ob er mit ihr schläft? Das kann ich nicht sagen." „Können oder wollen Sie nicht?" fuhr Margo ihn an.
„Kann ich nicht", wiederholte er. „Ich brauche nämlich ab und zu auch mal Schlaf. Vielleicht stehlen sie sich davon, während ich ein Nickerchen mache." Margo kniff die Lippen zusammen. „Ich bezahle Sie nicht dafür, dass Sie schlafen, sondern damit Sie mir Informationen geben." „Ja, da haben Sie Recht", meinte der Cowboy gedehnt. Aufgebracht legte Margo den Gang ein. „Wenn Sie etwas Wesentliches zu berichten haben, dann wissen Sie ja, wie Sie mich erreichen können." Der Cowboy trat zurück, als der Wagen anfuhr. „Ja, Ma'am, sicher", murmelte er grinsend. Das Dröhnen im Kopf, mit dem Jesse aufgewacht war, hielt den ganzen Vormittag, während er mit Judas arbeitete, an. Er hatte es geschafft, dem Hengst ein Halfter mit einer langen Leine daran umzulegen. Das Ende der Leine hielt er fest in der Hand. Er trieb das Pferd mit dem Knallen einer langen Peitsche vorwärts, während er sich langsam drehte, um den Hengst nicht aus den Augen zu lassen. Schweiß bedeckte Jesses Rücken und tropfte ihm von der Stirn, aber er wollte nicht aufgeben, denn er wusste, dass nur die Zeit seinen Kater und das Dröhnen im Kopf heilen würde. „Hey, Jesse!" Er zuckte bei Jaimes lautem Ruf zusammen, nahm die Augen aber nicht von dem Hengst. „Hier bin ich", rief er. Hinter sich hörte er Jaimes Stiefel, als der auf den Zaun kletterte. „Wo hast du dich den ganzen Morgen versteckt?" fragte er den Jungen. „Meine Aufgaben erledigt." Jesse bemerkte den Widerwillen im Ton seines Sohnes und grinste. Er warf Jaime einen Blick über die Schulter zu. „Und? Alles erledigt?" „Ja. Hab sogar daran gedacht, den Müll rauszubringen." Jaime schlug sich mit den Händen auf die Schenkel und beugte sich so weit vor, dass er fast vom Zaun gefallen wäre. „Hey! Du hast ihm ja ein Halfter umgebunden!" rief er aus. „Ja", erwiderte Jesse. „Er ist zwar immer noch das reinste Dynamit, das jede Sekunde explodieren kann, aber wenigstens gehorcht er meinen Befehlen." „Willst du ihn heute reiten?" „Nein, das wäre noch zu früh." Mit wachsamem Blick auf den Hengst zog Jesse an der Leine, um ihn zu stoppen. Judas tänzelte ein paar Schritte und zerrte an der Leine, doch Jesse rammte die Hacken in den Boden und gab nicht nach. Der Hengst blieb mit zitternden Flanken stehen. „Ganz ruhig, mein Junge", murmelte Jesse und machte einen Schritt auf Judas zu. Der drehte den Kopf und beobachtete ihn mit gefährlich funkelnden Augen. „Ganz ruhig", fuhr Jesse fort, ihn zu besänftigen, während er die Hand ausstreckte. Der Hengst warf den Kopf zurück und versuchte, sich auf die Hinterbeine zu stellen. Erneut stemmte Jesse die Füße in den Boden und ließ die Peitsche fallen, um das Seil mit beiden Händen greifen zu können. Doch er war machtlos gegen die Kraft des Tieres. Der Hengst richtete sich auf, und Jesse flog nach vorn. Er landete auf den Knien, gerade in dem Moment, als Judas herumwirbelte und mit den Hinterbeinen ausschlug. Der Hengst traf Jesse am Kopf und am Rücken, bevor er ans andere Ende der Koppel galoppierte. „Jesse!" Er hörte noch Jaimes erschrockenen Aufschrei, bevor es um ihn herum dunkel wurde. „Wird er wieder in Ordnung kommen?" Jesse bemerkte die Unsicherheit in Jaimes geflüsterter Frage, doch er hatte nicht die Kraft, um seinen Sohn zu beruhigen. Flach auf dem Rücken liegend, mit vor Schmerzen geschlosse nen Augen, hatte er Mühe, überhaupt zu atmen.
Fingerspitzen strichen sanft über seine Schläfen. Waren es Mandys? „Er wird bestimmt bald wieder okay sein. Du wirst sehen." Ja, die Stimme verriet ihm, dass es Mandy war, die sich um ihn sorgte. Aber trotz ihrer beruhigenden Worte hörte Jesse die Zweifel in ihrer Stimme, und er wollte den beiden ihre Angst nehmen. Aber sosehr er sich auch bemühte, er konnte seine Augen nicht öffnen, geschweige denn, die Worte hervorbringen, die nötig waren, um die zwei zu beruhigen. „Geh ins Haus und hol etwas Eis zum Kühlen." Jaime zögerte anscheinend, denn Mandy fügte strenger hinzu: „Jetzt, Jaime. Wir brauchen das Eis für diese Beule auf seinem Kopf." Eine Tür wurde geöffnet und leise wieder geschlossen. Dann herrschte Stille. Die Fingerspitzen strichen ihm das Haar aus der Stirn. „Jesse?" flüsterte Mandy. „Jesse? Kannst du mich hören?" Er blinzelte, doch das grelle Sonnenlicht, das durch das Fenster über ihm hineinschien, veranlasste ihn, die Augen hastig wieder zu schließen. Aber der kurze Moment hatte genügt, um ihn erkennen zu lassen, wo er sich befand. In der Scheune. In dem kleinen Nebenraum. Auf dem schmalen Bett, das er letzte Nacht mit Mandy geteilt hatte. Stöhnend hob er eine Hand, um Mandys Finger fortzustoßen, doch stattdessen umschloss er sie schwach. „Ja", krächzte er. „Ich höre dich." „Erinnerst du dich daran, was geschehen ist?" Jesse runzelte die Stirn und zuckte dann zusammen, als das Pochen in seinem Kopf sich bei dieser kleinen Bewegung verstärkte. Er erinnerte sich daran, dass Judas sich aufgerichtet hatte und dass er gefallen war. Und an den stechenden Schmerz, als Judas Huf gegen seinen Kopf geschlagen war. Aber danach waren die Erinnerungen nur noch verschwommen. „So ziemlich", erwiderte er und hörte, dass Mandy erleichtert aufseufzte. „Wie bin ich hierher gekommen?" „Gabe und ein paar andere Cowboys haben ein Brett unter dich geschoben und dich hierher getragen." Sie drückte kurz seine Finger. „Kannst du dich bewegen?" Er versuchte den Kopf zu heben, doch als der Raum anfing sich zu drehen, zuckte Jesse zusammen. Stöhnend ließ er den Kopf wieder auf das Bett sinken. „Ich glaube nicht. Jedenfalls im Moment noch nicht." „Hast du das Gefühl, dass irgendetwas gebrochen ist?" „Nein, ich glaube nicht." „Hier ist eine ziemlich große Beule an deinem Kopf und ein kleiner Kratzer an der Schläfe. Was tut dir noch weh?" „Mein Rücken." „Denkst du, du kannst dich so weit herumdrehen, dass ich ihn mir ansehen kann?" Sie war so lieb und nett, und Jesse fragte sich, warum - angesichts der Art und Weise, wie er sie in der letzten Nacht behandelt hatte. Er öffnete die Augen und schaute blinzelnd zu ihr. Die Sorge, die er in ihrem Gesicht sah, verstärkte sein Schuld-bewusstsein noch. Hastig schaute er weg, ließ ihre Hand los und umklammerte die Bettkante, damit er sich auf die Seite rollen konnte. Vorsichtig zog Mandy sein Hemd aus der Jeans und versuchte es hochzuziehen. „Wir müssen das ausziehen", murmelte sie. Jesse öffnete die Knöpfe, so dass Mandy seinen Arm aus dem Hemd ziehen und sich den Rücken anschauen konnte. Sie erschrak bei dem Anblick, der sich ihr bot. „Oh, Jesse!" rief sie und berührte zaghaft sein Kreuz, wo Judas Huf einen perfekten Abdruck hinterlassen hatte. Blut klebte an der Wunde. „Sieht es sehr schlimm aus?"
Mandy schluckte. „Ich bin nicht sicher. Die Wunde muss erst gesäubert werden." Sie wandte sich schnell ab, nahm eine Flasche Desinfektionsmittel, die sie schon bereitgestellt hatte, und spülte die Wunde aus. Jesse zuckte zurück. „Es tut mir Leid", murmelte Mandy, während sie das Blut abtupfte. „Brennt es?" „Nein", brachte Jesse mühsam heraus. „Es ist kalt." Mandy lächelte. „Kälte tut dir nichts." „Das kann ich wohl am besten entscheiden", erwiderte er trocken. Als sie das Blut und den Schmutz weggewischt hatte, sah Mandy, dass die Wunde nicht sehr tief war, aber bereits zu schwellen anfing und blau wurde. „Wir müssen dich ins Kran kenhaus bringen." Jesse tastete nach der Beule auf seinem Kopf und versuchte zu entscheiden, ob das Dröhnen in seinem Kopf von dem Whiskey kam, den er letzte Nacht getrunken hatte, oder von Judas gut gezieltem Tritt. „Ich will nicht ins Krankenhaus", entschied er. „Es ist nur ein Kratzer." „Jesse ..." „Nein. Ich will nicht, dass irgendwelche Knochensäger an mir herumdoktern." Mandy seufzte. „Du bist so stur. Du musst von einem Arzt untersucht werden." „Ich weiß, wann ich einen Arzt brauche. Pete kann sich um mich kümmern, wenn ich wieder zu Hause bin." Er wollte sich auf den Rücken zurückrollen, doch Mandy legte eine Hand gegen seine Wirbelsäule. „Lass mich wenigstens ein Pflaster draufkleben, damit kein Schmutz in die Wunde kommt." Jesse wollte so schnell wie möglich aus diesem Bett und aus diesem Raum herauskommen, was er wahrscheinlich am ehesten erreichen konnte, wenn er Mandy ihren Willen ließ. „Okay, aber mach schnell." Stirnrunzelnd nahm Mandy ein Pflaster aus der Schachtel und klebte es ihm auf den Rücken. Als sie sich gerade abwenden wollte, sah sie noch einen Kratzer und schaute genauer hin. Beim näheren Betrachten fand sie weitere rote Stellen. „Jesse! Dein ganzer Rücken ist voller Splitter." Jesse dachte daran, wie sich die raue Scheunenwand in seinen Rücken gedrückt hatte, als er dabei gewesen war, seine Probleme mit Alkohol zu ertränken. „Es ist nichts weiter", sagte er, während Mandy über seinen Rücken strich. „Pete wird sie mir herausziehen." Doch Mandy fuhr fort, mit den Fingerspitzen über seinen Rücken zu gleiten, und Jesse schloss die Augen in dem Versuch, die Erinnerung daran, wie diese Hände ihn in der letzten Nacht gestreichelt hatten, zu vertreiben. Aber es gelang ihm nicht, also wollte er sich aufsetzen, doch Mandy drückte ihn einfach wieder zurück. „Pete wird bald sechzig und braucht wahrscheinlich längst eine Brille", erklärte sie. „Er wird gar nicht in der Lage sein, diese ganzen Splitter zu sehen. Ich habe hier eine Pinzette. Es wird keine Minute dauern, bis ich die Splitter entfernt habe." Jesse unterdrückte ein Stöhnen. Es war sinnlos, mit Mandy zu streiten. Aber das Gefühl ihrer Finger auf seinem Körper war genauso beunruhigend wie dieser Raum, in dem sie sich geliebt hatten. Er wollte nur noch raus. Die Tür wurde quietschend aufgemacht. „Hey, du bist ja wach!" Jaimes Gesicht tauchte vor Jesse auf. Er lächelte gequält. „Ja, ich bin wieder unter den Lebenden." Jaime schaute zu seiner Mutter. „Was machst du da?" Konzentriert auf ihre Aufgabe, murmelte Mandy: „Ich hole Splitter aus seinem Rücken."
„Splitter?" Jaime blickte Jesse fragend an. „Wie hast du denn Splitter in deinen Rücken gekriegt?" Jesse wurde rot. „Ich ... äh ..." Mandy beugte sich vor und nahm Jaime den Eisbeutel aus der Hand. Dabei drückten sich ihre Brüste an Jesses Rücken und raubten ihm fast den Atem. Sie legte ihm den Eisbeutel auf die Beule. „Jaime", befahl sie. „Leg deine Hand auf den Beutel und halt ihn fest." Jaime gehorchte und grinste Jesse an. „Sie ist ganz schön herrisch, was?" flüsterte er. Jesse drehte den Kopf, um über die Schulter zu Mandy schauen zu können. „Ja, das ist sie." Dann schrie er auf, als Mandy erneut einen Splitter herauszog. „Du meine Güte! So schlimm kann es nun auch wieder nicht sein." Mandy neigte sich vor und berührte den nächsten Splitter mit dem Fingernagel. „Wie hast du dir denn nun diese ganzen Splitter eingehandelt?" Jesse sog frustriert die Luft ein und glaubte, dieses Thema am ehesten beenden zu können, wenn er Mandy ein bisschen reizte. „Na ja, ich habe mein Hemd, das ich gestern anhatte, in ..." Sofort fuhr Mandy hoch. „Ist ja auch nicht so wichtig", unterbrach sie ihn und langte nach der Flasche mit dem Desinfektionsmittel. Sie spritzte ihm etwas davon auf den Rücken, in der Hoffnung, Jesse damit zum Schweigen zu bringen. Sie wollte nicht, dass ihr Sohn erfuhr, dass Jesse das Hemd für sie hier in diesem Raum zurückgelassen hatte, damit sie es anziehen konnte. Jesse schnappte nach Luft, als die kalte Flüssigkeit über seinen Rücken rann. „Verdammt! Du hättest mich wenigstens vorwarnen können!" rief er empört aus. Er sah, dass sein Sohn frech lächelte und seufzte auf. „Tut mir Leid. Ich wollte nicht fluchen." „Oh, das macht nichts", versicherte Jaime ihm. „Mum lässt manchmal auch Flüche los, dass dir die Ohren klingen würden." Mandy blickte ungläubig zu ihrem Sohn. „Jaime McCloud! Das tue ich nicht." Jaime stand auf. „Doch, manchmal schon." Er grinste sie keck an. „Du hast anscheinend nur nicht gewusst, dass ich in Hörweite war." Mit geröteten Wangen begann Mandy die Verbandssachen zusammenzusammeln. „Ich habe alle Splitter herausgeholt, die ich sehen konnte. Du kannst jetzt gehen, Jesse." Erleichtert, dass er endlich entkommen konnte, rollte Jesse sich auf den Rücken und setzte sich eilig auf. Übelkeit stieg in ihm hoch, ihm wurde schwindlig, und stöhnend senkte er den Kopf zwischen die Knie. Mandy hockte schon neben ihm und stützte ihn an der Schulter, noch ehe er einmal tief durchgeatmet hatte. „Was ist los?" „Es ist nichts weiter ... ehrlich. Ich hab mich wohl nur zu schnell bewegt." Sie stand auf, behielt die Hand jedoch auf seiner Schulter, damit er nicht wegkippte. „Du hast wahrscheinlich eine Gehirnerschütterung ... Jaime", befahl sie, „geh und such Gabe. Sag ihm, dass er herkommen soll, damit wir Jesse ins Haus bringen können." Jesse riss ruckartig den Kopf hoch, um Mandy zu sagen, dass er nicht in ihr Haus gehen würde, sondern zurück zur Circle-Bar-Ranch, wo er hingehörte und Pete sich um ihn kümmern würde. Doch sofort ließ er den Kopf wieder sinken, als eine neue Welle der Übelkeit ihn überkam. „Nein", keuchte er. „Hilf mir nur zu meinem Wagen. Ich schaff es schon zur Circle-BarRanch." „Willst du dich umbringen? Wie kannst du nur so unvernünftig sein?" murmelte Mandy gereizt. Sie winkte ihren Sohn mit einer ungeduldigen Handbewegung weg. „Beil dich, und such Gabe. Wir müssen Jesse ins Bett bringen."
7. KAPITEL
Jesse öffnete die Augen und blinzelte mehrere Male, um herauszufinden, wo er sich befand. Schatten bewegten sich im Mondlicht, das durch das Fenster links von ihm hereinschien. Er erkannte einen Frisiertisch an der Wand, einen Kleiderschrank auf der anderen Seite ... und einen blumigen Duft, der seine Nase umwehte. Was, zum Teufel...? Dann erinnerte er sich. Stöhnend schloss er die Augen wieder. Er war auf der DoubleCross-Heart-Ranch. Aber nicht für lange, schwor er sich. Er rollte sich herum und setzte sich auf die Bettkante. Sofort begann sich in seinem Kopf wieder alles zu drehen. Als Jesse sicher war, dass er aufstehen konnte, ohne hinzufallen, tat er es und griff nach seiner Jeans, die über dem Bettpfosten hing. Während er sie anzog, sah er seine Stiefel vor der Kommode stehen. Ohne den Reißverschluss der Jeans hochzuziehen, ging er hinüber und bückte sich. Erneut wurde ihm schwindelig. Er stützte eine Hand auf die Kommode, und als er sich langsam wieder aufrichtete, sah er vor sich ein Foto von Mandy. Weil er im Mondlicht kaum etwas erkennen konnte, nahm er es hoch, um es genauer zu betrachten. Auf dem Foto saß Mandy strahlend lächelnd in einem Schaukelstuhl und hatte ein Kind an der Brust. Der Anblick des engelsgleichen Babygesichts schnitt Jesse ins Herz. Er lehnte sich mit der Hüfte gegen die Kommode, während er das Bild umklammerte. Jaime? Vorsichtig berührte er mit dem Finger das abgebildete Gesicht des Kindes. Mein Sohn, dachte er. Das Bild in der Hand, stolperte er zurück zum Bett. Dort schaltete er die Nachttischlampe an, bevor er auf die Matratze sank. Während er das Foto betrachtete, stiegen ihm Tränen in die Augen. Er hatte sich Jaime bis jetzt noch nie als Baby vorgestellt. Wenn er an ihn dachte, dann immer als den zwölfjährigen Jungen, als den er ihn kennen gelernt hatte. Das Bild verschwamm ihm vor den Augen, während er nun an all die Jahre dachte, die ihm entgangen waren. „Jesse?" Er hob den Blick. Mandy stand in der Tür und beobachtete ihn. Dabei hielt sie krampfhaft mit einer Hand ihren Bademantel über den Brüsten zusammen. Jesse wies auf den Bilderrahmen auf seinen Knien. „Ich wollte nicht herumschnüffeln, aber dann sah ich dieses Foto. Ich ..." Er brach ab, weil die Gefühle ihn zu überwältigen drohten. Mandy kam herein und ging zu ihm, ohne zu wissen, was sie tun sollte. „Ich habe ihn nie so erlebt", sagte Jesse mit rauer Stimme. „Er wirkt so winzig, so zerbrechlich." Mandy setzte sich neben ihn auf das Bett. „Ja, das war er auch. Er hat bei seiner Geburt ziemlich wenig gewogen." Sie nahm Jesse das Bild aus der Hand und lächelte, als sie sich erinnerte. „Aber er hatte eine unglaublich schwarze Mähne. Und die blausten Augen, die du je gesehen hast." Jesse sah sie verblüfft an. „Blau? Aber er hat doch grüne Augen. Genau wie du." Mandy lachte leise. „Ja. Jetzt sind sie grün. Aber als er ein Baby war, hatten sie die Farbe eines Sommerhimmels." Jesse nahm ihr das Foto wieder aus der Hand und starrte darauf. „Ich habe so viel versäumt." Mandy hörte das Bedauern in seiner Stimme und fühlte mit ihm. Sie hatte Jaime vom ersten Moment an gehabt, aber Jesse hatte diese wunderbare Zeit nicht erlebt. „Ich habe ganz viele Fotoalben", sagte sie. „Möchtest du sie dir ansehen?" Ohne den Blick von dem Bild zu nehmen, murmelte Jesse: „Ja, das würde ich sehr gern."
Mandy ging hinüber zum Schrank, holte mehrere Alben heraus und kehrte zum Bett zurück. Sie legte die Alben zur Seite, bis auf eins, das sie sich auf die Knie legte und öffnete. „Diese Bilder wurden alle in dem Krankenhaus aufgenommen, in dem er geboren wurde." „Im Osten", murmelte Jesse, ohne nachzudenken. Mandy schaute ihn überrascht an. „Woher weißt du das?" Jesse seufzte. „Pete hat es mir erzählt. Er sagte, dass Lucas dich weggeschickt hat, nachdem er herausfand, dass du schwanger warst." Mandy senkte den Kopf und konzentrierte sich wieder auf die Fotos, konnte sie aber vor Tränen kaum sehen. „Ja, das stimmt. Er hat mich zu meiner Tante Mildred in Raleigh geschickt." Jesse griff nach ihrer Hand. „Es tut mir Leid, Mandy. Ich weiß, wie sehr dich das verletzt haben muss ..." Sie schüttelte langsam den Kopf. „Es ist nicht mehr wichtig." Mandy schniefte einmal kurz und zeigte dann auf ein Foto. „Siehst du diese Mähne? Die Krankenschwestern meinten, Jaime wäre das niedlichste Baby, das sie je gesehen hätten." „Gut aussehend", korrigierte Jesse sie. „Mädchen sind niedlich. Jungs sind gut aussehend." Mandy lachte. „Nein, Jaime war niedlich." Sie blätterte weiter. „Hier ist er bei Tante Mildred und erleidet sein erstes Bad." Jesse beugte sich vor, um besser sehen zu können und berührte dabei Mandys Schulter. Keiner von ihnen zuckte zurück. „Sein Gesicht ist so rot wie eine Tomate." „Er hat Baden schon immer gehasst." Mandy blätterte langsam weiter und teilte Jaimes Leben mit Jesse. In gewisser Weise wurde durch die Fotos von dem Kind, das sie gemeinsam geschaffen hatten, das Band zwischen ihnen gefestigt. Sie schloss das erste Album und griff nach dem nächsten. „Diese Fotos wurden an seinem ersten Tag im Kindergarten aufgenommen", sagte Mandy und zeigte mit dem Finger darauf. „Sam hat die Bilder gemacht. Ich weiß nicht, wer mehr geheult hat." Jesse schaute genauer hin. „Er sieht gar nicht so aus, als würde er weinen. Er grinst doch von einem Ohr zum anderen." Mandy lachte und presse ihre Schulter freundschaftlich gegen seine. „Ich habe nicht ihn gemeint. Ich sprach von Sam und mir." Noch immer lächelnd, blätterte Mandy weiter, während Jesse sie anschaute. „Sie sind ein wichtiger Teil in seinem Leben, oder?" Mandy blickte auf. „Meinst du Sam und Merideth?" Jesse nickte. „Ja, das sind sie. Ich fürchte, wir drei haben ihn furchtbar verwöhnt. " Jesse griff nach der Haarsträhne, die Mandy ins Gesicht gefallen war, als sie wieder auf das Album schaute, und strich sie ihr hinters Ohr. Statt die Hand dann wegzuziehen, streichelte er gedankenverloren Mandys Hals. „Er scheint keinen Schaden genommen zu haben. Er ist ein feiner Junge. Du hast deine Sache gut gemacht." Mandy spürte, dass ihre Wangen zu glühen begannen, und war sich nicht sicher, ob es an Jesses Berührung oder an seinem Kompliment lag. „Danke, ich habe mein Möglichstes getan", murmelte sie. „Zu welchem Preis?" Sie fuhr auf. „Was meinst du damit?" „Dein Vater wird wohl kaum sehr glücklich darüber gewesen sein, dass du meinen Sohn zur Welt gebracht hast." Mandy senkte den Blick wieder, weil sie das Mitgefühl, das aus Jesses Augen sprach, nicht ertragen konnte. „Nein, das war er wirklich nicht. Aber das war mir egal. Ich wollte Jaime, und niemand hätte ihn mir wegnehmen können. Nicht einmal mein Vater." „Soll das heißen, dass er es versucht hat?"
Mandy ließ die Schultern sinken, als die schmerzlichen Erinnerungen sie überkamen. „Nicht mit körperlicher Gewalt, aber er hat versucht, mich zu einer Abtreibung zu überreden, beziehungsweise Jaime zur Adoption freizugeben." „Aber das hast du nicht getan." Mandy schüttelte den Kopf und sah Jesse immer noch nicht wieder an. Sie fürchtete, er würde sonst die Wahrheit in ihren Augen erkennen - dass sie sich den Forderungen ihres Vaters deshalb widersetzt hatte, weil sie sich verzweifelt danach gesehnt hatte, einen Teil von Jesse für immer in ihrem Leben zu haben. „Nein, das habe ich nicht. Und ich habe meine Entscheidung auch nie bereut." „Danke." Überrascht schaute Mandy auf. „Wofür?" „Dass du dich deinem Vater widersetzt hast und mir Jaime gegeben hast." Mandy starrte ihn sprachlos an und erschauerte dann, denn Jesse glitt mit der Hand von ihrem Nacken über ihren Rücken bis zu ihrer Taille, um sie näher an sich zu ziehen. „Ich hätte niemals weggehen sollen", sagte er mit rauer Stimme. „Warum hast du es denn getan?" flüsterte sie. Jesse verspannte sich, als er an jene Nacht dachte. „Du hast damals deine Wahl getroffen. Erinnerst du dich? Du hast deinen Vater mir vorgezogen." „Nein!" rief Mandy. „Das habe ich nicht!" Jesse runzelte die Stirn. „Warum bist du dann nicht mit mir gegangen?" Mandy wandte sich zu ihm herum, und das Album rutschte unbeachtet von ihren Knien. „Wäre ich mit dir gegangen, wäre mein Vater total durchgedreht. Er hätte niemals zugelassen, dass du das Tal lebend verlässt. Ich wollte nur Zeit für uns gewinnen, bis wir einen Weg gefunden hätten, zusammen zu sein." Jesse wandte den Kopf zur Seite und stöhnte. „Aber ich dachte immer ..." Mandy presste einen Finger auf seine Lippen und drehte seinen Kopf wieder zu ihr. „Nein, Jesse. Das Einzige, was ich immer wollte, war, mit dir zusammen zu sein." Er griff nach ihrer Hand. „Oh, Mandy. Wenn ich doch nur nicht so stur gewesen wäre. Ich hätte hier sein können, für dich und für Jaime da sein können." Sie lächelte. „Du bist jetzt ja für ihn da." Jesse seufzte und drückte ihre Hand an sein Herz. „Ja. Und ich bin auch für dich da." Mandy spürte das Pochen seines Herzens, und auch ihr Herz schlug schneller „Jesse?" „Ja?" „Warum bist du letzte Nacht aus der Scheune verschwunden, ohne dich von mir zu verabschieden? Jesse schloss die Augen und holte tief Luft, weil die Frage ihn unerwartet traf. Als er sie wieder öffnete, schaute Mandy ihn mit ihren grünen Augen erwartungsvoll an. „Ich weiß nicht", sagte er unglücklich. „Aus Angst, vermute ich." „Angst vor mir?" „Nein. Vor mir selbst. Vor den Gefühlen, die du in mir hervorrufst." „Was sind das für Gefühle?" Die Intensität ihres Blickes nahm Jesse gefangen, und er erkannte, dass es keine Ausflucht für ihn gab. „Es war so, als hätte sich nichts geändert... als wären nicht Jahre vergangen, seit ich dich das letzte Mal in den Armen gehalten hatte." „Aber es hat sich etwas verändert, Jesse. Du hattest mich vorher noch nie so geliebt wie in der letzten Nacht. Es war, als würdest du mich für etwas bestrafen wollen." Dass Mandy seine ursprüngliche Absicht so genau benennen konnte, erschütterte Jesse. „Es tut mir Leid. Ich wollte dich nicht verletzen." Sie beugte sich zu ihm. „Das hast du auch nicht. Jedenfalls nicht wirklich." Der Duft, den er vorhin schon bemerkt hatte, verstärkte sich und hüllte ihn ein, bis Jesse nur noch die Frau wahrnahm, deren Hand auf seinem Herzen lag.
„Mandy", murmelte er rau. „Oh, Mandy", seufzte er, bevor er ihre Lippen mit seinen berührte. Mandy spürte den Unterschied sofort. Jesse küsste sie sacht und fragend und sehr, sehr zärtlich. Es war nicht zu vergleichen mit seinem ersten Kuss gestern Abend, der fordernd und herrisch gewesen war, mit dem er Wiedergutmachung von ihr verlangt hatte, für etwas, das sie nicht begangen hatte. Dies hier war der wahre Jesse. Ihr Jesse. Der Mann, in den sie sich als Teenager verliebt hatte. Und sie schlang beide Arme um seinen Nacken. Er stöhnte auf, bevor er sich herumdrehte und sie mit seiner Brust auf das Bett drückte. Willig ließ sie es geschehen, während sie seinen Kopf zwischen den Händen hielt, die Finger tief in seinem dichten schwarzen Haar. Sie wollte Jesse nicht mehr loslassen. Nicht jetzt, nachdem sie diese Nacht vor so vielen Jahren, in der sie beide gedacht hatten, den anderen für immer verloren zu haben, endlich aufgearbeitet hatten, Mit der Hand glitt Jesse unter ihren Bademantel, und Mandy bog sich ihm sehnsüchtig entgegen. Sie schloss die Augen, als er ihre Brüste umfasste, und gab sich seinen wundervollen Berührungen hin. Die Zärtlichkeit und Sanftheit, mit der er sie streichelte, schürten ihre Sehnsucht, und genau wie damals konnte sie es kaum erwarten, ihn ebenfalls zu berühren. Sie strich mit den Händen über seinen breiten Rücken und ertastete die kräftigen Muskeln. Als sie dabei unbeabsichtigt gegen das Pflaster stieß, zuckte Jesse zusammen, und sie hielt inne. „Es tut mir Leid. Ich wollte dir nicht wehtun." Er hob den Kopf und schaute sie mit einem so leidenschaftlichen Ausdruck in den Augen an, dass ihr erneut ein Schauer durch den Körper fuhr. „Die Stelle ist nur ein wenig empfindlich, das ist alles. Du hast mir nicht wehgetan." Lächelnd glitt sie mit den Händen wieder hinauf und legte sie an seine Wangen. „Ich liebe dich, Jesse", sagte sie leise. „Ich habe nie aufgehört, dich zu lieben." „Querida", flüsterte er in seiner Muttersprache, und das hieß „Liebste". Er drehte sich ein wenig, um aus seinen Jeans herauszukommen. Gleichzeitig begann er, Mandy erneut zu küssen. Und das Spiel seiner Zunge war eine Verheißung auf das, was folgen würde. Nachdem er sich ausgezogen hatte, schob er sich über Mandy, stützte sich ab und senkte sich langsam zu ihr hinunter. Er schaute ihr tief in die Augen, und mit einer Zärtlichkeit, die ihr fast die Tränen in die Augen trieb, drang er vorsichtig in sie ein und steigerte dann seinen Rhythmus, dass sie vor Erregung nach Atem rang. Er beschleunigte das Tempo und brachte sie in immer Schwindel erregendere Höhen, bis ihre Körper schweißbedeckt waren. Jesse spürte ihre wachsende Anspannung, als Mandy die Fingernägel in seine Schultern grub. Er packte sie um die Hüften und zog sie hart an sich, bevor er mit einem tiefen Stoß noch einmal ganz zu ihr kam. In diesem Moment erbebte Mandy in höchster Verzückung. Erst jetzt erlaubte auch er sich die Erfüllung, nach der er sich so sehr gesehnt hatte. Erschöpft schloss er Mandy danach in die Arme und drehte sich mit ihr herum, bis sie auf ihm lag. Ihr Bademantel verhedderte sich zwischen seinen Beinen, und ein stechender Schmerz schoss durch seinen Rücken, als er ihr ganzes Gewicht auf sich spürte. Doch es machte ihm nichts aus. Mandy liebte ihn, und das war alles, was zählte. Jesse drückte sie noch fester an sich und murmelte: „Schlaf, querida. Schlaf." Als der Morgen dämmerte, wachte Mandy ohne Reue auf. Viel Schlaf hatten weder sie noch Jesse in dieser Nacht bekommen, weil sie sich noch ein paarmal und jedes Mal sehr sanft geliebt hatten. Die Beule an Jesses Kopf war ein wenig abgeschwollen, verfärbte sich aber bereits in allen erdenklichen Blautönen. Zärtlich küsste Mandy die Stelle, weil sie sich nicht ganz unschuldig an seiner Verletzung fühlte. „Wofür war das denn?"
Mandy lächelte über die Schläfrigkeit seiner Stimme. „Nur ein kleiner Kuss aus medizinischen Gründen." Gähnend schlang Jesse einen Arm um ihre Taille und zog Mandy näher heran. „Medizinisch, so so", murmelte er und schloss die Augen wieder. Mandy, die dieses morgendliche Geplänkel genoss, schmiegte sich an ihn. „Fühlt es sich besser an?" „Meinst du mit ,es' die Beule auf meinem Kopf?" „Ja", erwiderte sie und lachte auf. „Was dachtest du denn sonst?" „Na ja, du hättest ja auch nach meinem Rücken fragen können." Mandy hob besorgt den Kopf. „Tut dir dein Rücken wieder weh?" „Nein, aber da gibt es etwas anderes, was anfängt sich wieder zu regen." Als sie den neckenden Ton seiner Stimme wahrnahm, schlug Mandy Jesse spielerisch auf die Brust. „Du Schuft!" Jesse lachte und schnappte sich ihre Hand. „Einen Augenblick lang warst du besorgt, was?" Sie legte sich wieder hin. „Aber nur einen Augenblick." „Lass uns heiraten." Mandy fuhr hoch. „Was hast du gesagt?" Jesse war sich nicht sicher, wann ihm die Idee gekommen war oder warum er so damit herausgeplatzt war. Aber auf jeden Fall war es ihm sehr damit. Sie waren schon immer füreinander bestimmt gewesen. Mandys Erschrecken veranlasste ihn jedoch, sich auf einen Ellenbogen zu stützen, um sie anzuschauen. „Ich sagte, lass uns heiraten." Langsam setzte Mandy sich auf und strich sich mit beiden Händen die Haare aus dem Gesicht. „Heiraten?" fragte sie fassungslos. „Ja, heiraten. Du weißt schon, diese Sache, wo zwei Menschen Ringe tauschen und sich ewige Treue schwören." Mandy atmete tief durch. „Jesse, das können wir nicht tun." „Wir können es nicht?" wiederholte er ungläubig. „Aber du hast gesagt, dass du mich liebst, und ich liebe dich. Ist das nicht das Einzige, das nötig ist, wenn ein Mann und eine Frau beschließen, den Rest ihres Lebens miteinander zu verbringen?" Mandy, die sah, dass sie Jesse verletzt hatte, legte eine Hand auf seine Wange. „Ja, aber ... aber, was ist mit Jaime?" „Was soll mit ihm sein? Er ist mein Sohn, und es wird allerhöchste Zeit, dass ich ihn auch als solchen anerkenne." „Aber, Jesse, Jaime weiß doch nicht, dass wir schon vor Jahren ein Verhältnis hatten. Wenn wir jetzt verkünden, dass wir heiraten wollen und ihm dann auch noch erzählen, dass du sein Vater bist..." Sie schüttelte den Kopf, als sie daran dachte, was das für ein Schock für ihren Sohn sein würde. „Wir können es einfach nicht tun", wiederholte sie. „Es ist noch zu früh." „Für wen? Für dich oder Jaime?" Mandy ließ die Hand sinken, überrascht von der Bitterkeit in Jesses Stimme. „Für Jaime", sagte sie. „Es ist Jaime, um den ich mir Sorgen mache. Wir müssen seine Gefühle in dieser ganzen Sache mit bedenken." Jesse wirkte über ihre Entscheidung zwar nicht glücklich war, aber sie merkte, dass er sich wieder entspannte. „Okay. Aber wir werden es nicht ewig hinauszögern", erklärte sie. „Wir haben ohnehin schon genug Zeit verschwendet." „Er ist letzte Nacht nicht nach Hause gekommen, oder?"
Pete hob einen Block Salz auf den Laster. „Keine Ahnung", erwiderte er und wischte sich die Hände ab. „Ich kümmere mich im Gegensatz zu Ihnen nicht darum, was der Junge so treibt." Margo kniff die Lippen zusammen. „Aber Sie müssen doch wissen, ob er nach Hause gekommen ist oder nicht. Schließlich schlafen Sie im selben Haus." „Ja, das stimmt." Pete schob seinen Hut zurück und grinste, was Margo noch wütender machte. „Aber ich schlafe wie ein Toter. Wenn ich schlafe, könnte sogar eine Herde wild gewordener Büffel durch das Haus rasen, und ich würde es nicht merken." „Ich vermute, Sie finden das auch noch lustig", fuhr Margo ihn an. „Nein, Ma'am. Ehrlich gesagt nicht." Pete beugte sich hinab, um noch einen Block Salz aufzuheben. Dann wandte er sich noch einmal grinsend an Margo. „Aber ich finde es amüsant, dass Sie sich so sehr darum sorgen, wo und wie Jesse seine Zeit verbringt. Ihnen scheint seine Sicherheit ja sehr am Herzen zu liegen." Er hievte den Block auf den Laster. „Aber natürlich wissen wir beide, dass das nicht stimmt, nicht wahr, Margo?" Später am Morgen blickte Mandy aus ihrem Bürofenster, als sie einen Laster auf den Hof fahren sah. Der Pferdeanhänger, den der LKW hinter sich herzog, war eine Spezialanfertigung. Mandy stand hastig auf und trat dicht ans Fenster, um den Schriftzug auf dem Anhänger besser lesen zu können. Barristers Farm. Noble, Oklahoma. „Was, zum Teufel ...?" murmelte sie. Sie warf ihren Stift auf den Schreibtisch und ging schnell den Flur entlang, um herauszufinden, was der Wagen hier auf der Double-CrossHeart-Ranch machte. Vor der Scheune blieb sie atemlos stehen, als sie Jesse hinter dem Anhänger sah, der mit dem Fahrer sprach und gleichzeitig die Tür öffnete. „Jesse?" Er wandte sich um und strahlte, als er sie sah. Sie spürte die Wärme seines Lächelns bis in die Zehenspitzen. „Guten Morgen", sagte er mit rauer Stimme. „Guten Morgen", erwiderte sie und kam näher. Sie zeigte mit der Hand auf den Anhänger. „Was hat das alles zu bedeuten?" Jesse wurde rot. „Eine kleine Überraschung für Jaime. Ich hoffe, du hast nichts dagegen?" Mandy holte nervös Luft. „Bevor ich dir sagen kann, ob ich etwas dagegen habe oder nicht, solltest du mir vielleicht erst einmal sagen, worin die Überraschung besteht." Jesse warf dem Mann neben ihm einen Blick zu. „Mandy, ich möchte dir den Vorarbeiter meiner Ranch in Oklahoma, Jim Bonner, vorstellen. Jim, das ist Mandy McCloud." Der Mann zog den Hut vom Kopf und streckte seine Hand aus. „Freut mich, Sie kennen zu lernen, Ma'am." Überrascht, dass Jesse eine Ranch in Oklahoma besaß, schüttelte Mandy seinem Vorarbeiter die Hand. „Ich freue mich ebenfalls, Mr. Bonner." Nachdem er ihre Hand wieder losgelassen hatte, wandte sie sich an Jesse. „Erzählst du mir jetzt vielleicht, was hier vorgeht?" Jesse lachte. „Na ja, da Jaime diesen Heuballen doch schon so gut mit dem Lasso einfangen kann, dachte ich, er braucht vielleicht ein Pferd, mit dem er sein neu erworbenes Können testen kann. Also habe ich eins von meinen herbringen lassen." Er trat zur Seite und deutete auf den Anhänger. „Möchtest du es einmal sehen?" Mandy konnte nicht widerstehen und schaute durch die geöffnete Hängertür hinein. Ein Schecke drehte den Kopf und starrte sie an. „Oh", murmelte sie, „ist der schön." „Ja, das ist er wirklich." „Züchtest du Pferde auf deiner Ranch in Oklahoma?"
Jesse nickte. „Und ich reite sie auch zu. Dieser Schecke war eins von meinen ersten Fohlen." Er ließ die Rampe herunter und kletterte in den Anhänger. Leise und beruhigend auf das Pferd einredend, machte er das Seil los und führte den Schecken rückwärts aus dem Hänger. Mandy trat zur Seite, um dem Pferd Platz zu machen, und ging dann zu Jesse. „Oh, er ist wundervoll", sagte sie und streichelte die Nüstern des Schecken. „Weiß Jaime es schon?" „Nein, ich wollte ihn überraschen." Sie schaute Jesse an. „Das wird dir bestimmt gelingen", sagte sie trocken. „Ich kann froh sein, wenn er in diesem Sommer überhaupt noch eine von seinen Aufgaben erledigt." „Wir könnten ihm ja ein paar Bedingungen stellen", meinte Jesse und kraulte das Pferd zwischen den Ohren. Bei dem Wort „wir", spürte Mandy, dass sich ihr Puls beschleunigte. Der Gedanke, sich die elterliche Verantwortung mit Jesse zu teilen, beunruhigte sie nicht, sondern gefiel ihr ausgezeichnet. „Und welche Bedingungen wären das?" wollte sie wissen. „Nun, wie wäre es, wenn wir ihm sagen, dass er immer erst dann reiten darf, wenn er alle seine Pflichten erledigt hat?" „Und wenn er diese Regel nicht einhält?" Jesse lachte. „Dann muss er die Konsequenzen tragen." Fasziniert von der Leichtigkeit, mit der Jesse in seine neue Rolle als Vater schlüpfte, schaute Mandy ihn neugierig an. „Was wären die Konsequenzen?" Jesse kratzte sich am Kinn. „Ich vermute, wir müssten ihn um das berauben, was ihm am meisten Spaß bringt. Und das wäre wohl, dass wir ihm für ein, zwei Tage das Reiten verbieten." Noch unerfahren mit Kindern und Disziplin, fragte er: „Wäre das angemessen?" Mandy lächelte. „Perfekt. Aber ich denke, es wäre auch angemessen, wenn du ihm diese Konsequenzen aufzeigst und sie auch durchziehst, da du ja derjenige bist, der ihm das Pferd gibt." „Feigling", neckte Jesse sie. Mandy grinste ihn an. „Vielleicht, aber ich bin schon oft genug die Böse. Ich finde, es wird Zeit, dass er auch mal dir den schwarzen Peter zuschiebt." „Hey! Wem gehört das Pferd?" Sie wandten sich um und sahen Jaime über den Hof auf sie zulaufen. Mandy verschränkte die Arme vor der Brust und unterdrückte ein Lächeln. „Und welcher Zeitpunkt wäre geeigneter als jetzt sofort?" murmelte sie gerade laut genug, dass Jesse sie hören konnte. Margo legte den Telefonhörer auf, fluchte laut, bevor sie ihn wieder hochhob und eine neue Nummer wählte. „Den Abgeordneten Gaines, bitte. Hier ist Margo Barrister." Sie brauchte nur wenige Sekunden zu warten, bevor eine dröhnende Stimme in der Leitung erklang. „Margo, wie geht es dir?" „Gut, Matthew, danke, und dir?" „Jetzt, wo ich mit dir spreche, noch besser", antwortete er fröhlich. „Was kann ich für dich tun?" Margo wickelte sich das Telefonkabel um den Finger und drehte den Stuhl, um aus Wades Bürofenster zu schauen - aus meinem Bürofenster, erinnerte sie sich schnell. „Ich wollte nur kurz hören, ob du den Scheck erhalten hast, den ich dir für deine Kampagne geschickt habe." „Ja, ich habe ihn. Das war wirklich eine großzügige Spende von dir. Vielen Dank." „Du brauchst mir nicht zu danken, Matthew. Ich betrachte meine Beiträge zu deiner Kampagne immer als eine gute Investition." Margo beugte sich in ihrem Stuhl vor, als sie Jesses Wagen vorbeifahren sah. „Ich möchte dich um einen kleinen Gefallen bitten, Matthew", murmelte sie und kniff die Augen zusammen, während sie Jesse beobachtete, der aus dem Transporter stieg.
„Wie immer, Margo, stehe ich dir gern zu Diensten. Nicht nur als der Abgeordnete deines Bezirks, sondern auch als guter Freund." Margo runzelte die Stirn angesichts dieser honigsüßen Antwort. Sie hasste Politiker, aber andererseits hatte sich ihre Verbindung zu ihnen im Lauf der Jahre immer mal wieder ausge zahlt. „Mir ist da ein Gerücht zu Ohren gekommen, dass jemand ein Angebot für die CircleBar-Ranch machen will." Matthews Stimme nahm einen teilnehmenden Klang an. „Es tut mir so Leid, Margo. Ich habe gehört, dass Wade dir die Ranch nicht hinterlassen hat." Margo musste sich beherrschen, um nicht laut loszuschreien. Der Gedanke, dass ihre Angelegenheiten wie Hinterhoftratsch in der ganzen Stadt Gesprächsthema waren, machte sie genauso wütend wie Wades Testament. Sie umklammerte den Hörer noch fester und erwiderte vorsichtig: „Danke für deine Fürsorge, Matthew." Margo zwang sich zu einem Lachen. „Aber was sollte ich auch mit der Ranch? Ich finde es schon schwierig genug, Zeit für meine eigenen Investitionen zu finden." Sie holte tief Luft. „Aber meine Sorge um die Ranch hat mich zu diesem Anruf veranlasst. Du weißt, wie sehr Wade daran gelegen war, dass die Ranch in der Familie bleibt", erklärte sie. „Darum hat er sie Jesse vererbt." Margo schüttelte sich bei dem bitteren Geschmack, den der Name dieses Bastards in ihrem Mund hinterließ. „Wo ist also das Problem?" fragte Matthew. „Nun", entgegnete Margo geheimnisvoll. „Jesse hat angedeutet, dass er sie verkaufen will." „Oh, das ist aber schade. Ich bin sicher, dass Wade sehr enttäuscht darüber wäre." „Ja, das wäre er. Aber das Schlimmste ist, ich fürchte, dass die McClouds beabsichtigen, die Circle-Bar-Ranch zu kaufen. Wade hätte niemals gewollt, dass die Ranch in die Hände dieser Familie fällt. Und deshalb rufe ich an. Aus einer Quelle, die ich nicht nennen kann, weiß ich, dass Mandy McCloud anscheinend eine Pseudofirma ins Leben gerufen hat, die den Kauf tätigen soll, damit niemand von ihrer Rolle in der Sache erfährt, bevor der Kauf perfekt ist." „Und?" „Ich möchte, dass du für mich herausfindest, ob diese Information korrekt ist. Kannst du ein paar Anrufe tätigen? Vielleicht kannst du mit dem Staatssekretär reden und hören, was für Firmengründungen es gegeben hat, und wer die Geschäftsführer sind." „Natürlich, Margo. Das mache ich doch gern für dich." Ein zufriedenes Lächeln erschien auf Margos Gesicht. „Danke, Matthew. Ich wusste, dass ich auf dich zählen kann."
8. KAPITEL
Jesse schlenderte ins Haus, schnappte sich seine Reisetasche und schüttete den Inhalt auf sein Bett. Pete, der in einem Schaukelstuhl saß und Zeitung las, schaute auf. „Willst du irgendwohin?" fragte er. Jesse stopfte eine Jeans und ein sauberes T-Shirt zurück in die Tasche. „Ja. Ich mache mit Jaime und Mandy einen Camping-Ausflug." Er drehte sich um und nahm sein Rasierzeug und einen Kamm vom Regal über dem Waschbecken und tat es ebenfalls in die Tasche. Pete legte die Zeitung auf die Knie. „Aha, ein Camping-Ausflug. Ihr drei scheint ja mächtig dicke Freunde zu werden." Ein Lächeln huschte über Jesses Gesicht, als er den Kopf neigte und seinen alten Freund anschaute. „Das kann man wohl so ausdrücken." Pete nickte zustimmend, runzelte dann aber die Stirn. „Margo hat dich heute Morgen gesucht. Sie wollte wissen, ob du letzte Nacht nach Hause gekommen bist." Jesse hielt in der Bewegung inne. „Was hast du ihr gesagt?" Pete schnaubte, nahm die Zeitung wieder in die Hand und verschwand dahinter. „Dass ich schlafe wie ein Toter und es nicht einmal merken würde, wenn eine Herde wild gewordener Büffel durchs Haus rasen würde." Jesse lachte und stieß mit seinem Stiefel freundschaftlich gegen Petes. „Immerhin hast du nicht gelogen, so fest wie du immer schläfst." Pete knurrte: „Das denkst du auch nur." Er senkte die Zeitung und grinste Jesse viel sagend an. „Wo hast du denn nun letzte Nacht geschlafen?" Verlegen schaute Jesse weg, obwohl er sich ein Lächeln verkneifen musste. Er stopfte noch ein Paar Socken in die Tasche und zog dann den Reißverschluss zu. „Drücken wir es mal so aus, ich habe nicht allein geschlafen." Petes Grinsen verschwand schnell wieder, als er sich vorbeugte und Jesse musterte. „Was ist denn mit deinem Kopf passiert?" Jesse fuhr sich mit der Hand über die Beule. Nach allem, was in der Zwischenzeit geschehen war, hatte er seinen Zusammenprall mit Judas fast völlig vergessen. „Ich hatte eine Auseinandersetzung mit einem Hengst." „Und du hast verloren?" Jesse lächelte schief. „Die erste Runde. Aber der Kampf ist noch nicht zu Ende." „Hat er dich abgeworfen?" „Nein. Getreten." „Getreten!" Pete setzte sich auf und zog die Augenbrauen hoch. „Ich dachte, ich hätte dich besser unterrichtet. Du sollst immer Abstand zum Hinterteil eines Pferdes halten. Hab ich dir das nicht beigebracht?" „Ja, Sir, das hast du. Aber er hat mich zu Boden gezerrt und dann zugetreten, bevor ich eine Chance hatte, ihm zu entwischen. " Pete versetzte der Zeitung einen Schlag und zog sie dann erneut vor sein Gesicht. „Ich nehme an, ich muss selbst rüberfahren und dieses Pferd zureiten, bevor du dich umbringen lässt." Jesse warf sich seine Reisetasche über die Schulter und kämpfte gegen die Gefühle an, die ihn überkamen. Pete war zwar grantig, aber er wusste, dass er damit nur seine Sorge um ihn verbergen wollte. Und es gab nur wenige Menschen in seinem Leben, die sich je um ihn gesorgt hatten. Pete. Seine Mutter. Mandy. Auf dem Weg zur Tür blieb Jesse noch einmal stehen und legte Pete eine Hand auf den Arm. „Danke, Pete." Der schluckte und schüttelte dann hastig Jesses Hand ab. „Verschwinde", brummte er. „Sonst erzähl ich Margo von deinen Plänen."
Dreißig Minuten später schnappte Jesse sich fröhlich pfeifend seine Reisetasche aus dem Wagen und ging zur Scheune, wo er sich mit Mandy und Jaime zu ihrem Camping-Ausflug treffen wollte. Bereits auf halbem Wege dorthin hörte er die wütende Stimme eines Mannes. „Du verdammtes Halbblut! Was, zum Teufel, tust du hier?" Bei dem Wort „Halbblut" zuckte Jesse zusammen. Er war häufig genug selbst mit solchen und schlimmeren Ausdrücken bedacht worden und fragte sich, wem diese rassistische Äußerung diesmal galt. Aufgebracht schloss er die Finger fester um den Riemen seiner Tasche. „Nichts, ehrlich", antwortete jemand leise. Jaime? Die Angst in der Stimme des Jungen veranlasste Jesse, den Rest des Weges zu laufen. In der Scheune warf er seine Tasche beiseite. „Was ist hier los?" fragte er wütend den Cowboy, der Jaime gegen die Wand drückte. Der Cowboy schaute nicht einmal auf. „Kümmere dich um deinen eigenen Kram", knurrte er und verstärkte den Griff um Jaimes Kragen. „Ich hab dir gesagt, du sollst von meinen Sachen wegbleiben, oder nicht?" fuhr er zornig fort. „Oder nicht?" wiederholte er noch lauter wurde, als Jaime nicht sofort antwortete. Jaime schluckte. „Ja, Sir," „Nun, jetzt wirst du für deinen Ungehorsam büßen." Der Cowboy ließ Jaime los und griff nach seiner Gürtelschnalle, öffnete sie und zog den Gürtel aus den Schlaufen. Er legte ihn einmal zusammen und ließ ihn zischend knallen. Er hatte den Gürtel bereits über den Kopf gehoben, als Jesse seinen Arm abfing und festhielt. Der Cowboy wirbelte herum und starrte Jesse wütend an. „Ich hab dir gesagt, du sollst dich um deine eigenen Angelegenheiten kümmern", stieß er hervor. Obwohl Jesse ihm am liebsten geantwortet hätte, er solle gefälligst die Finger von seinem Sohn lassen, konnte er das nicht. Stattdessen erklärte er: „Jaime ist meine Angelegenheit." Mit seiner freien Hand versuchte der Cowboy, Jesse einen Faustschlag zu verpassen, doch Jesse war schneller und stärker. Er packte die Hand des Mannes, bevor der sein Ziel erreichen konnte, und presste den Cowboy gegen die Wand. „Das hätte ich mir denken können", zischte der Cowboy. „Du bist ja auch so ein Halbblut, und ihr haltet doch immer zusammen." Die heiße Wut, die Jesse verspürte, ließ ihn seine Umgebung vergessen und nur noch das Gesicht des Mannes vor sich sehen. Er ballte eine Hand zur Faust und schlug ihm in den Magen. Einmal. Zweimal. Und ein drittes Mal. Der Cowboy stöhnte vor Schmerzen auf, bevor er sich nach Luft schnappend krümmte. „Jesse! Du meine Güte ! Was machst du da?" Es war Mandy. Sie packte seinen Arm, doch Jesse schüttelte sie ab und schlug noch einmal zu. Diesmal traf er das Kinn des Cowboys, so dass dieser rückwärts gegen die Wand geschleudert wurde. Entsetzt drängte Mandy sich zwischen die Männer und presste die Hände gegen Jesses Brust. „Hör auf!" rief sie. „Hör sofort auf!" Jesse ließ die Hand sinken, mit der er den Cowboy aufrecht gehalten hatte, und Mandy musste zur Seite springen, als er stöhnend zu Boden sackte. Sie stemmte die Hände in die Hüften und wirbelte zu Jesse herum. „Was ist hier los?", wollte sie wütend wissen. Jesse bückte sich, um seinen Hut aufzuheben. „Er hat Jaime ,Halbblut' genannt", brummte er. „Und wollte ihn auspeitschen." „Ihn auspeitschen?" Mandy drehte sich zu Jaime herum. „Oh, Baby!" rief sie und zog ihn in die Arme. Dann schob sie ihn auf Armeslänge von sich fort, um ihn anzuschauen. „Hat er dir wehgetan?" Jaime, noch immer blass und zitternd, lächelte zaghaft. „Nein, Jesse hat ihn sich geschnappt, bevor er eine Chance dazu hatte."
Mandy ließ ihren Sohn los und wirbelte erneut herum, diesmal, um den Cowboy wütend anzustarren. „Sie sind entlassen", sagte sie knapp. „Packen Sie Ihre Sachen und verschwinden Sie. Und wagen Sie es nicht, sich auf der Double-Cross-Heart-Ranch noch einmal blicken zu lassen. Haben Sie mich verstanden?" Der Cowboy kam mühsam auf die Beine. Seine Augen funkelten bösartig. „Klar und deutlich." Er fuhr sich mit dem Handrücken über den Mund und wischte sich dadurch das Blut über die Wange. „Ich mochte sowieso nie für eine Frau arbeiten." Die drei Pferde trotteten langsam über die Wiese und begannen einen kleinen Hügel hinaufzuklettern. Mandy und Jesse, deren Sohn zwischen ihnen ritt, waren sehr schweigsam aufgrund der hässlichen Szene, die sich in der Scheune abgespielt hatte. Jaime schien ihre düstere Stimmung nicht zu teilen. „Du warst klasse, Jesse!" Jaime machte eine Faust und schlug dreimal in die Luft. „Zack! Zack! Zack!" Er warf den Kopf zurück und lachte. „Und hast du Rubes Gesicht gesehen? Er hatte echt keine Chance. Oh, Mann! Wenn ich das Davie erzähle!" Obwohl er den Stolz in der Stimme seines Sohnes hörte, war Jesse beschämt darüber, dass Jaime Zeuge seines gewaltsamen Ausbruchs gewesen war. „Sich zu schlagen ist falsch, Jaime. Ein Mann sollte sich zusammenreißen können." Jaime drehte sich im Sattel zu Jesse herum und schaute ihn erstaunt an. „Aber er hat es herausgefordert! Er hat mich Halbblut' genannt und dich auch!" Jesse und Mandy tauschten über den Kopf ihres Sohnes hinweg einen Blick aus. Mandy sah besorgt aus, während Jesse einen Ausdruck des Bedauerns auf dem Gesicht hatte. „Das ist nur ein Wort, mein Sohn, und Worte können uns nicht wehtun", sagte Jesse. „Du musst lernen, sie an dir abgleiten zu lassen." „Aber macht es dich nicht wütend, wenn jemand dich beschimpft?" Jesse seufzte. „Doch, das tut es. Aber das gibt mir nicht das Recht, ihn zu schlagen. Damit begebe ich mich auf sein Niveau. Einige Leute haben halt Vorurteile - zum Glück nicht alle und beurteilen die Menschen nach ihrer Hautfarbe oder ihrer Nationalität. Aber das ist ihr Problem, nicht unseres." Jaime schaute Jesse weiterhin an und runzelte die Stirn. „Was tust du denn dann, wenn Leute dich mit Schimpfnamen bewerfen?" „Ich ignoriere diese Leute. Ich habe gelernt, wenn ich sie ignoriere, dann nehme ich ihnen die Macht über mich." Jesse wollte gern das Thema wechseln. „Hast du deine Angel eingepackt?" fragte er. Jaime langte hinter sich und deutete auf seinen Schlafsack. „Hab ich. Glaubst du, dass wir etwas fangen?" Jesse grinste und beugte sich dann vor, um seinem Sohn durchs Haar zu zausen. „Das hoffe ich, sonst werden wir hungrig ins Bett gehen müssen." Jesse saß an einen Baumstumpf gelehnt und balancierte eine Angel zwischen den Knien. Mandy lag links von ihm auf einer Decke und sonnte sich, während Jaime an einer engen Stelle am entlegenen Ende des Sees angelte. „Ich möchte mich entschuldigen", sagte Jesse. Mandy hob den Kopf, um Jesse anzuschauen. „Wofür?" Jesse senkte den Blick und nahm einen kleinen Stein auf. „Für das, was in der Scheune geschehen ist." Mandy setzte sich hin und versuchte, ihn zu beruhigen. „Du wolltest doch nur Jaime beschützen." Jesse warf ihn und sah zu, wie er über das Wasser sprang. „Ja, aber ich hätte ihn ins Haus schicken sollen, bevor ich die Sache mit Rube klärte. Es war nicht nötig, dass Jaime Zeuge dieser gewaltsamen Auseinandersetzung wurde."
„Er hat schon öfter Faustkämpfe gesehen." Jesse schaute zu Mandy und runzelte die Stirn. Mandy zuckte mit der Schulter, stand dann auf und setzte sich neben Jesse. „Du weißt, wie schnell so etwas passieren kann, wenn eine Horde Männer auf einer Ranch zusammenarbeitet. Allzu häufig enden Unstimmigkeiten in einer Schlägerei." Jesses Gesichtsausdruck wurde noch düsterer. „Ja, aber er hat vorher noch nie gesehen, dass ich mich mit jemanden schlage." Mandy legte eine Hand auf seinen Oberschenkel und drückte ihn. „Sei nicht so hart zu dir. Jaime selbst auch schon den einen oder anderen Faustkampf hinter sich." Jesse starrte sie an. „Hat er?" Mandy nickte. „Obwohl ich das alles andere als gutheiße. Und einige dieser Faustkämpfe begannen aus dem gleichen Grund wie der heute in der Scheune." „Er ist schon öfter ,Halbblut' genannt worden?" „Ja, und nicht nur das." Sie schüttelte resigniert den Kopf. „Er hat all das zu hören bekommen, womit man dich auch schon beleidigt hat." Seufzend nahm Jesse ihre Hand in seine und verschränkte seine Finger mit ihren. „Ich hatte gehofft, dass es für Jaime einfacher sein würde, schließlich ist er ein McCloud." „Der Name ändert nichts daran, dass er auch mexikanische Vorfahren hat." Jesse schwieg lange. „Nein", meinte er schließlich. „Der Name Barrister hat es auch mir nicht einfacher gemacht." Von der Stelle weiter unten am See schaute Jaime über die Schulter und sah, dass seine Mutter von der Decke aufgestanden war und sich neben Jesse gesetzt hatte. Und Jesse hielt sogar ihre Hand! Jaime machte einen Freudensprung - und wäre fast in den See gefallen. Er rettete sich gerade noch ans Ufer und grinste, als er an all die Male dachte, als Jesse ihn „Sohn" genannt hatte. Sohn, überlegte Jaime und entschied, dass ihm der Klang dieses Wortes durchaus gefiel, wenn Jesse es sagte. Er hatte sich immer einen Dad gewünscht, es vor seiner Mutter aber nie ausgesprochen, weil er fürchtete, es würde ihr damit ein schlechtes Gewissen bereiten. „Mum und Jesse", flüsterte er andächtig. „Das wäre ja fast zu schön, um wahr zu sein." „Mum, erzähl doch noch einmal die Geschichte, wie die Double-Cross-Heart-Ranch ihren Namen bekommen hat." Mandy lächelte ihren Sohn über das Lagerfeuer hinweg an. Obwohl Jaime die Geschichte schon zigmal gehört hatte, konnte er nie genug von ihr bekommen. „Nun", begann sie. „Mitte des neunzehnten Jahrhunderts entschlossen sich zwei Freunde, ihr Geld zusammenzulegen und sich ein großes Stück Land in den texanischen Bergen zu kaufen. Sie hießen..." „Bart McCloud und Blade Barrister", unterbrach Jaime sie. Mandy lachte. „Ja, genau. Und sie nannten ihre Ranch die Circle-Bar-Ranch." Jaime wandte sich an Jesse und erklärte: „Die Barristers behielten den Namen bei, als die Ranch geteilt wurde, aber die Mc-Clouds nannten ihren Teil des Besitzes die Double-CrossHeart-Ranch." Jesse unterdrückte ein Lächeln. Er kannte die Geschichte, wollte seinem Sohn aber nicht den Spaß verderben. „Tatsächlich?" „Ja." Jaime drehte sich wieder zu Mandy. „Nun mach schon, Mum, und erzähle weiter." Mandy zog eine Augenbraue in die Höhe. „Möchtest du die Geschichte vielleicht lieber erzählen?" Jaime schüttelte den Kopf. „Nein, du kannst das besser. Aber mach schon, komm zu der tollen Stelle, wo sie den großen Streit hatten."
Mandy fuhr fort. „Als Bart einmal in Kansas City war, um Vieh zu verkaufen, hat er sich in eine hübsche junge Frau verliebt, die ..." „Amanda Grayson hieß", unterbrach Jaime sie erneut. Er wandte sich stolz lächelnd erneut an Jesse. „Mum ist nach ihr benannt. Meine Großmutter hielt das für romantisch." Mandy schaute ihren Sohn ein bisschen böse an. „Bist du ganz sicher, dass du die Geschichte nicht doch erzählen willst?" Er grinste verlegen. „Nein. Ich verspreche, jetzt auch ruhig zu sein." „Na gut." Mandy betrachtete ihren Sohn einen Moment lang skeptisch und erzählte dann weiter. „Bart heiratete Amanda und brachte sie mit nach Hause nach Texas, um mit ihr auf der Circle-Bar-Ranch zu leben. Da er und Blade sich das Haus teilten, lebte jetzt auch Amanda dort. Eines Tages kam Bart unerwartet früher nach Hause und fand Blade und Amanda in einer kompromittierenden Situation." Jaime kicherte und stupste Jesse in die Rippen. „Er hat sie dabei ertappt, wie sie es miteinander getrieben haben." Jesse verbiss sich das Lachen, als er Mandys Stirnrunzeln sah. „Wie ich schon sagte", fuhr Mandy spitz fort, „Bart hat sie erwischt und war so wütend und enttäuscht von der Untreue seiner Frau, dass er fortging und nie zurückkam. Er baute sich ein Lager am anderen Ende der Ranch auf und ließ Blade mitteilen, dass er die Ranch in zwei Teile geteilt haben wolle. Bart nahm die nördliche und ließ Blade die südliche Hälfte." „Und war Amanda mit Blade glücklich?" fragte Jaime nach. „Nein", erwiderte Mandy und lächelte traurig. „Sie bedauerte ihren Fehler bis zu ihrem Todestag. Denn Blade war ein gemeiner Mann. Er liebte Amanda gar nicht wirklich, so wie Bart sie geliebt hatte. Er wollte sie nur, weil Bart sie hatte und weil er es nicht ertragen konnte, dass der etwas besaß, was er nicht hatte. Nachdem er Amanda verführt hatte, wollte Blade sie gar nicht mehr. Als Amanda ihren Fehler erkannte, ging sie zu Bart und versuchte, ihn zu überreden, ihr zu vergeben, doch das wollte Bart nicht. Sie hatte ihm das Herz gebrochen." Mandy schüttelte den Kopf. „Bart ist weder über den Verlust von Amanda hinweggekommen noch darüber, dass Blade sein Vertrauen missbraucht hat. Also hat er seine Ranch ,Double-Cross-Heart-Ranch-Heart' genannt, als ständige Mahnung an Blade und alle anderen." Jaime wandte sich an Jesse. „Und deshalb liegen die Barristers und die McClouds die ganze Zeit über im Streit", schloss er stolz. „Und bis heute sind die Barristers noch immer ein Haufen dreckiger, elender Lügner und Diebe." Sobald die Worte heraus waren, senkte Jaime betreten den Kopf und wurde rot. „Ach herrje, Jesse. Es tut mir Leid. Ich habe vergessen, dass du ja auch ein Barrister bist." Jesse warf den Kopf zurück und lachte schallend. Er stellte seinen Picknickteller beiseite, so dass er hinüberlangen und Jaime spielerisch auf die Schulter schlagen konnte. „Mach dir nichts draus, Junge, es gab Zeiten, da habe ich sie genauso genannt." „Iss jetzt, Jaime", befahl Mandy. „Ich glaube, für heute haben wir genug Geschichten erzählt." Jesse, der sah, dass Mandy sich ebenso für Jaimes Bemerkung schämte wie der Junge selbst, versuchte die Stimmung wieder zu entspannen. „Hm", murmelte er und wies auf seinen leeren Teller. „Das war der beste gebratene Fisch, den ich je gegessen habe. Und diese Muffins, einfach köstlich." Er steckte sich noch eins in den Mund und kaute genüsslich. Jaime leckte sich den letzten Rest Ketchup aus dem Mundwinkel und grinste dann. „Meine Mum ist die beste Köchin auf der ganzen Welt. Und hübsch ist sie auch, oder?" Jesse blickte Mandy über das Lagerfeuer hinweg an. „Ja, das ist sie wirklich." „Oh, hört schon auf, ihr beiden", meinte Mandy verlegen. „Ich habe doch gesagt, dass ich den Abwasch machen werde. Ihr braucht mich also nicht mit Komplimenten zu bestechen."
„Ich wasche ab", bot Jaime schnell an, sprang auf und griff nach dem Teller seiner Mutter. „Warum macht ihr zwei nicht noch einen Spaziergang, bevor es dunkel wird?" Mandy und Jesse sahen sich überrascht an. „In Ordnung", antwortete Jesse langsam. Er streckte eine Hand aus. „Mandy?" Mandy schaute verblüfft zu ihrem Sohn verblüfft, bevor sie um das Lagerfeuer herumging und Jesses Hand nahm. „Sei vorsichtig mit dem Feuer", warnte sie Jaime. „Natürlich. Genießt ihr nur den Mondschein. Ihr braucht euch auch nicht zu beeilen", fügte Jaime hinzu. „Ich glaube, ich lege mich schlafen, wenn ich den Abwasch erledigt habe." „Genießt den Mondschein?" flüsterte Mandy, als sie mit Jesse den Pfad zum See hinunterging. „Und was, um alles in der Welt, meinte er damit, dass wir uns nicht zu beeilen brauchten?" Jesse ließ ihre Hand los und legte ihr stattdessen den Arm um die Schulter. „Ich glaube, unser Sohn übt sich im Verkuppeln." Mandy blieb so abrupt stehen, dass Jesse fast gestolpert wäre. „Er will uns verkuppeln?" rief sie entgeistert. „Du meinst...." Jesse schloss sie lachend in die Arme. „Ja, das ist genau das, was ich meine." Er gab ihr einen Kuss. Mit weit aufgerissenen Augen starrte Mandy ihn an. „Er hat nie ... Aber ich habe auch nie ..." Sie legte ihre Stirn gegen Jesses Kinn und stöhnte. „Ich habe nicht einmal gewusst, dass er über so etwas nachdenkt." Jesse lachte leise. „Du willst wahrscheinlich auch gar nicht wissen, was er für Gedanken hat. Ich erinnere mich, in seinem Alter war ich ..." Mandy lehnte sich zurück und legte Jesse eine Hand auf den Mund. „Nein", bat sie ihn. „Sag es nicht. Ich möchte mir meinen Sohn lieber noch ein Weilchen als unschuldigen, kleinen Jungen vorstellen." Jesse nahm ihre Hand von seinem Mund und schmunzelte. Er verschränkte seine Finger mit ihren, und sie gingen weiter Richtung See. „Er kann nicht für ewig dein kleiner Junge bleiben." Mandy seufzte und blieb am Ufer stehen. „Ich weiß. Aber ich kann den Gedanken nicht ertragen, dass er erwachsen wird und mich eines Tages verlässt." „Hast du je daran gedacht, noch mehr Kinder zu bekommen?" „Ich wollte es, aber ..." Sie beendete den Satz nicht. „Aber ... was?" Obwohl es sie Überwindung kostete, schaute Mandy Jesse in die Augen. „Du warst der einzige Mann, von dem ich jemals Kinder haben wollte, und du bist fortgegangen." „Jetzt bin ich wieder hier", sagte Jesse leise. Langsam erschien ein Lächeln auf Mandys Gesicht, als sie die Hoffnung und die Aufrichtigkeit in seinen Augen sah. „Jaime hat sich immer einen Bruder oder eine Schwester gewünscht." Jesse zog Mandy fest an sich. „Warum versuchen wir dann nicht, ihm ein Geschwisterchen zu geben?" Margo fuhr auf die Tankstelle und ließ das Fenster herunter, bevor sie sich nervös umschaute. Gerade als sie aufgeben und wieder wegfahren wollte, trat Rube aus dem Schatten des Gebäudes. Sie runzelte die Stirn, als er auf sie zukam. „Was denken Sie sich eigentlich, mich mitten in der Nacht anzurufen?" fragte sie ihn wütend. „Und ich habe Ihnen doch gesagt, dass Sie auf keinen Fall eine Nachricht bei meiner Haushälterin hinterlassen sollen. Ich will nicht, dass irgendjemand von unserer Verbindung weiß." Rube steckte den Kopf durch das Fenster und stützte sich mit den Ellenbogen ab. „Nun, das ist aber zu schade, gnädige Frau", meinte er sarkastisch.
Margo roch die Alkoholfahne sofort und zuckte zurück. „Sie haben getrunken", sagte sie angewidert. „Ein Mann hat ein Recht darauf, ab und zu einen zu heben." Margo legte eine Hand auf das Lenkrad, die andere auf die Schaltung. „Rufen Sie mich an, wenn Sie wieder nüchtern sind. Ich weigere mich, mit Ihnen in diesem Zustand zu reden." Rube umklammerte ihre Hand auf dem Lenkrad. „Ich wäre an Ihrer Stelle nicht so voreilig", sagte er leise. Margo hörte den drohenden Tonfall und versuchte vergeblich, sich aus Rubes Griff zu befreien. Sie bereute es, dass sie so impulsiv auf seinen späten Anruf reagiert hatte. Herausfordernd hob sie ihr Kinn. „Wenn Sie Informationen für mich haben, dann reden Sie. Ich muss zurück zur Ranch, bevor jemand merkt, dass ich weg bin." Rubes eiserner Griff lockerte sich ein wenig. „Oh, ich habe Informationen, aber die sind teuer." „Wie viel?" „Doppelt so viel, wie Sie mir letztes Mal gegeben haben." Margo entriss ihm ihre Hand und öffnete ihre Handtasche. Hastig zog sie ein paar Scheine aus dem Portemonnaie und reichte sie ihm. Rube nahm das Geld und wedelte es einmal unter seiner Nase, bevor er es einsteckte. „Ich liebe den Duft des Geldes, Sie nicht auch?" „Die Information", erinnerte Margo ihn knapp. „Was haben Sie mir zu berichten?" „In diesem Augenblick sind Jesse, der Junge und diese Mc-Cloud-Schlampe auf einem Camping-Ausflug. Sie haben die Pferde genommen und wollen ein bisschen angeln, bevor sie ihr Zelt am Double-Cross-Heart-Ranch-Sea aufschlagen." Margo kniff die Augen zusammen und überlegte fieberhaft. Die Umstände waren perfekt. Auf diese Weise könnte sie nicht nur Jesse beseitigen, sondern auch noch diese McCloud und ihren unehelichen Sohn ausschalten. Es wäre nicht ungewöhnlich, dass Camper im Schlaf ermordet wurden. Sie schaute verstohlen zu Rube und verwarf ihre Idee sofort wieder. Sie konnte ihm bei solch einer heiklen Angelegenheit nicht vertrauen, schon gar nicht in diesem Zustand. „Wann wollen sie zurückkommen?" fragte sie. „Morgen gegen Mittag." „Geben Sie mir auf der Stelle Bescheid, wenn sie wieder da sind. Rufen Sie bei mir an und lassen Sie es einmal klingeln. Dann weiß ich, was los ist." „Und wie viel werden Sie mir dafür zahlen, dass ich noch mal für Sie spioniere?" „Darüber reden wir später. Befolgen Sie erst einmal meine Instruktionen." Bevor er reagieren konnte, legte Margo den Gang ein und trat das Gaspedal. Rube torkelte zur Seite, gerade rechtzeitig, damit sein Fuß nicht überrollt wurde. „Hexe", murmelte er. „Du wirst schon noch zahlen. Und vielleicht mit mehr als mit Geld." Er spuckte auf den Boden, drehte sich um und verschwand in der Dunkelheit. „Musst du jetzt weg?" Jesse hörte die Enttäuschung in Jaimes Stimme und lächelte in sich hinein. Die Tatsache, dass sein Sohn ihn um sich haben wollte, gefiel ihm außerordentlich gut. „Ich muss mich nur um ein paar Dinge auf der Circle-Bar-Ranch kümmern. Es wird nicht lange dauern." „Wie lange?" Jesse lachte und warf seine Reisetasche in den Wagen. „Ein, zwei Stunden. Vielleicht auch noch etwas länger." Er kletterte in den Transporter und schloss die Tür, bevor er noch einmal den Kopf aus dem Fenster steckte. „Kommt darauf an, was alles anliegt." Jaime seufzte und trat vom Wagen zurück, als Jesse den Motor anließ. „Beeil dich", rief er. „Ich möchte mit dem neuen Pferd Lassowerfen üben."
Lachend winkte Jesse ihm zu und fuhr davon. Als er am Haus vorbeikam, drückte er kurz auf die Hupe. Mandy erschien am Bürofenster. Er warf ihr eine Kusshand zu, die sie fröhlich erwiderte. Lächelnd fuhr er davon.
9. KAPITEL
Margo war seit fünf Uhr wach und lief in ihrem Büro auf und ab. Um acht Uhr hängte sie sich ans Telefon. Um zehn war sie nahe daran, sich die Haare auszureißen. Irgendjemand muss doch etwas über die Angelegenheiten der McClouds wissen, sagte sie sich, während sie den Telefonhörer auf die Gabel knallte. Während sie überlegte, wen sie als Nächsten anrufen könnte, klingelte es an der Haustür. „Ich gehe schon, Maria", rief sie, als sie durch den Flur ging. Sie öffnete die Tür und sah einen Kurier auf der Veranda stehen. „Kann ich Ihnen helfen?" „Ich habe eine Sendung für Jesse Barrister. Ist er da?" Margo kniff verärgert die Lippen zusammen. „Nein, er ist weg." Als sie die Tür gerade wieder schließen wollte, erhaschte sie einen Blick auf den Absender des großen Umschlags, den der Mann in den Händen hielt: Brickle & Stanton, Rechtsanwälte. Schnell öffnete Margo die Tür wieder und gab sich sehr zuvorkommend. „Aber er müsste jeden Moment zurück sein. Wenn Sie mir das Päckchen geben wollen ... Ich werde persönlich dafür sorgen, dass er es bekommt." Erleichtert, dass er nicht noch einmal hier herauskommen musste, reichte der Kurier Margo ein Clipbord. „Unterschreiben Sie bitte hier", bat er sie und zeigte auf eine bestimmte Stelle. Mit Schwung unterzeichnete Margo mit ihrem Namen und reichte ihm das Clipbord zurück. Der Kurier übergab ihr den Umschlag. „Vielen Dank, junger Mann", murmelte sie freundlich. „Sie können sicher sein, dass er die Sachen sofort erhält, wenn er zurückkommt." Sobald sie die Haustür geschlossen hatte, eilte Margo in ihr Büro und machte die Tür hinter sich zu. Langsam drehte sie den Umschlag herum und schaute sich an, wie er verschlossen war. „Dieses verdammte Klebeband", murmelte sie. „Wenn sie das nicht benutzt hätten, könnte ich ihn einfach mit Wasserdampf öffnen, die Sachen lesen und dann alles wieder in den Umschlag tun, ohne dass Jesse etwas merken würde." Sie wusste, dass dieses Verfahren funktionierte, denn sie hatte jahrelang Wades Post gelesen. Margo ließ sich in ihren Stuhl fallen und warf den Umschlag wütend auf den Schreibtisch. Doch dann kam ihr eine Idee. Wie sollte Jesse jemals erfahren, dass der Brief an ihn gerichtet gewesen war und nicht ganz allgemein an die Ranch? Noch dazu, wenn sie den Umschlag vernichtete. Sie holte eine Schere aus der Schublade und schnitt den Klebestreifen auf. Mit angehaltenem Atem zog sie einen Stapel Dokumente aus dem Umschlag. Nachdem sie die ersten Seiten überflogen hatte, wurde ihr klar, dass sie ein Kaufangebot für die Circle-Bar-Ranch in den Händen hielt. Hastig blätterte sie zur letzten Seite und suchte nach dem Namen des Käufers. Das stand es: JM Enterprises. Sie griff nach dem Telefonhörer und wählte. „Hier ist Margo Barrister. Ich muss sofort mit dem Abgeordneten Gaines sprechen." „Es tut mir Leid, Mrs. Barrister, aber er ist in einer Besprechung. Kann ich ihm etwas ausrichten?" fragte eine Frauenstimme „Sagen Sie ihm, ich muss ihn sofort sprechen", fuhr Margo sie ungeduldig an. Margo wartete einen Moment, während beruhigende Musik an ihr Ohr drang. „Entschuldige, dass ich dich warten ließ, Margo", ertönte plötzlich die Stimme des Abgeordneten, förmlich triefend vor Charme. „Ich hatte einen Wähler in meinem Büro. Du weißt, wie anstrengend ..." „Ich habe einen Namen", unterbrach Margo ihn. „Die Firma nennt sich ,JM Enterprises'. Kannst du nachforschen, ob die McClouds dahinter stecken?" „Sicherlich. Ich sage dir gleich morgen früh Bescheid." „Ich brauche jetzt eine Antwort", verlangte Margo.
„Natürlich. Ich rufe dich innerhalb der nächsten Stunde zurück." Sie warf den Hörer auf. Eine Stunde, dachte sie nervös. Was war, wenn Jesse zurückkam, bevor sie diese wichtige Information erhalten hatte? Margo nahm den Umschlag in die Hand und versuchte sich zu beruhigen. Es ist egal, wann er wiederkommt, sagte sie sich. Wenn er mich fragt, wann der Brief gekommen ist, erzähle ich ihm einfach, er sei gerade erst gebracht worden. Lächelnd drehte sie ihren Stuhl herum und stopfte den Umschlag in den Aktenvernichter. Von ihrem Wohnzimmer aus konnte Margo die Straße, die zum Haus führte, besonders gut überblicken. Sie saß in einem gemütlichen Sessel, eine Zeitschrift auf den Knien ausgebreitet, als würde sie darin lesen, und wartete auf Jesses Rückkehr. Das Telefon klingelte, und sie wollte aufstehen, weil sie dachte, es wäre vielleicht Matthew Gaines mit der Auskunft, um die sie ihn gebeten hatte. Doch noch bevor sie stand, stoppte das Klingeln. Sie wartete mit angehaltenem Atem. Als kein zweites Klingeln ertönte, sank sie zurück auf den Sessel und umklammerte mit den Händen die Lehne. Er ist also zurück von seinem kleinen Camping-Ausflug, dachte sie zufrieden. Danke, Rube, für die Warnung. Das Telefon klingelte erneut, und Margo stand auf. Schnell ging sie in den Flur, um den Anruf dort entgegenzunehmen. „Margo Barrister", meldete sie sich. Gaines verlor keine Zeit. „Du hattest Recht", sagte er. „Die Firma wurde von Mandy McCloud gegründet. Natürlich taucht ihr Name nirgends auf, aber ich habe den Namen der McCloud-Rechtsanwälte gesehen ..." „Brickle & Stanton", fuhr Margo dazwischen. „Ja. Brickle & Stanton. Ich kenne eine der Sekretärinnen in der Kanzlei, also habe ich sie angerufen und herausgefunden, dass Mandy die Firma vor ein paar Wochen gegründet hat, mit dem einzigen Ziel, die Circle-Bar-Ranch zu kaufen." „Verdammt", murmelte Margo. „Kann ich sonst noch etwas für dich tun?" fragte Gaines. Margo presste die Lippen aufeinander und dachte einen Moment lang nach. „Nein", sagte sie schließlich. „Jetzt kann ich die Sache selbst in die Hand nehmen. Aber vielen Dank, Matthew. Du hast mir sehr geholfen." Nachdem sie den Hörer aufgelegt hatte, ging Margo zurück ins Wohnzimmer und setzte sich wieder in den Sessel, den Blick starr auf die Straße gerichtet. Jetzt war es nur noch eine Frage der Zeit. Die Circle-Bar-Ranch würde ihr gehören. Dessen war sie sich sicher. Jesse warf seine Reisetasche auf das Bett und unterdrückte den Wunsch, sich ebenfalls aufs Bett fallen zu lassen. Laut gähnend hob er die Arme über den Kopf und streckte sich, in dem Bemühen, die Verspannungen in Schultern und Rücken zu lösen. Stöhnend presste er die Hände dann in sein Kreuz. Sollte er in Zukunft öfter zum Zelten fahren, würde er sich etwas Bequemeres zum Übernachten kaufen. Er lachte reuevoll. Vielleicht brauchte er aber auch nur aufzuhören, sich mit wilden Hengsten abzuplagen. Eine schöne warme Dusche, entschied er. Das war genau das Richtige, um seine verspannten Muskeln zu lockern. Aber noch bevor er seinen Entschluss in die Tat umsetzen konnte, klingelte das Telefon. Er nahm den Hörer ab. „Jesse Barrister." „Jesse, hier ist Margo. Wenn du einen Moment Zeit hast, wäre es nett, wenn du ins Haus kommen könntest. Es gibt hier etwas, was dich betrifft." Jesse unterdrückte einen Fluch. „Kann das nicht warten? Ich wollte gerade unter die Dusche gehen."
„Nein. Es ist äußerst wichtig." Jesse seufzte und schaute sehnsüchtig auf die Dusche hinter der geöffneten Badezimmertür. „In Ordnung", meinte er widerwillig. „Ich komme sofort." Kurz darauf klingelte er an Margos Haustür. Die Tür wurde aufgerissen, und Margo begrüßte ihn. Wie immer war sie untadelig gekleidet. Ihr Verhalten ließ in keiner Weise auf die Dringlichkeit schließen, mit der sie Jesse herübergebeten hatte. „Guten Morgen, Jesse", sagte sie und schaute dann demonstrativ auf ihre Armbanduhr. „Oder besser gesagt, guten Tag", korrigierte sie sich spitz. „Was gibt es zu besprechen?" Sie öffnete die Tür noch weiter. „Bitte komm herein. Es ist angenehmer, wenn wir diese Sache in Wades Büro besprechen." Angenehmer für wen? überlegte Jesse. Er hatte die Schwelle dieses Hauses nie überschritten und wollte es auch jetzt nicht. Doch in der Hoffnung, die Sache schneller hinter sich zu bringen, wenn er auf Margos Bitte einging, seufzte er und trat ein. Margo schloss die Tür und bedeutete ihm, ihr zu folgen. „Vorhin ist ein Päckchen von einem Kurier gebracht worden", erklärte sie, als sie in das Büro ging und hinter den Schreibtisch trat. Sie nahm die sorgfältig zusammengelegten Dokumente und reichte sie Jesse. „Da du der Besitzer der Circle-Bar-Ranch bist, musst du auf dieses Angebot reagieren." Jesse schaute sie überrascht an. „Ein Angebot?" „Ja", bestätigte Margo. „Jemand ist daran interessiert, die Circle-Bar-Ranch zu kaufen." Jesse nahm ihr die Papiere ab und ließ sich auf einen Stuhl fallen. Er beäugte Margo misstrauisch. „Du hast das Angebot gelesen?" Margo streckte ihr Kinn vor. „Natürlich habe ich das. Wenn etwas von einem Kurier gebracht wird, ist es normalerweise sehr wichtig. Da du nicht hier warst, um dich um die Sache zu kümmern", fügte sie anklagend hinzu, „dachte ich, es wäre in unserem Interesse, wenn ich nachsehe, was in dem Umschlag ist." „In unserem Interesse?" wiederholte Jesse. „Dir gehört vielleicht die Circle-Bar-Ranch", entgegnete sie eisig, „aber das hier ist mein Zuhause, und Dinge, die die Circle-Bar-Ranch betreffen, betreffen auch mich. Und ich habe vor, meine Interessen zu schützen." Weil er wusste, dass es sinnlos war, mit ihr zu streiten, und seine Rückkehr zur DoubleCross-Heart-Ranch nur verzögern würde, beugte Jesse sich über die Papiere. Er überflog die Seiten und pfiff leise, als er den Betrag sah, der für die Ranch angeboten wurde. „Das sieht nach einem fairen Preis aus", murmelte er. „Fair?" wiederholte Margo anscheinend geschockt von seiner Einschätzung. „Das hängt davon ab, wer das Angebot macht und was dahinter steckt." Jesse blätterte weiter. „JM Enterprises", las er. Er schaute zu Margo, die noch immer hinter dem Schreibtisch stand. „Noch nie gehört." „Kannst du auch nicht", erwiderte sie sarkastisch. „Es ist eine neu gegründete Firma." Jesse ließ frustriert die Dokumente auf die Knie sinken. „Du weißt anscheinend mehr über die Sache als ich. Warum teilst du mir dein Wissen nicht einfach mit und ersparst uns damit viel Zeit." „Ich habe ein paar Nachforschungen angestellt", gab Margo vorsichtig zu. „Nur ein paar Anrufe, um herauszufinden, wer dahintersteckt." „Und?" fragte Jesse nach, begierig, die Sache zu erledigen, damit er zurück zur DoubleCross-Heart-Ranch fahren konnte, wo Jaime und Mandy ihn erwarteten. „Und", wiederholte Margo theatralisch, „es ist nur eine Pseudofirma, gegründet von Amanda McCloud." Jesse zuckte zusammen. „Von Mandy?" flüsterte er ungläubig. „Ja, von Mandy", bestätigte Margo und schürzte die Lippen.
Jesse schüttelte den Kopf und wollte ihr nicht glauben. „Nein, du irrst dich bestimmt. Mandy hat keinen Bedarf an der Circle-Bar-Ranch. Sie hat genug mit der Double-CrossHeart-Ranch zu tun." „Das mag schon sein, aber es ist Mandy, die ihre Anwälte damit beauftragt hat, diese Firma zu gründen und ein Angebot zu unterbreiten. Ich habe Beweise." „Aber warum? Warum macht sie sich die Mühe, eine Firma zu gründen, nur um die CircleBar-Ranch zu kaufen? Warum hat sie mich nicht einfach gefragt?" „Das ist doch offensichtlich." Margo verschränkte die Arme vor der Brust. „Sie will nicht, dass du oder sonst jemand von ihren Plänen erfährt, bevor die Sache abgewickelt ist. Sie ist schließlich eine McCloud, und die McClouds würden alles tun, um sich die Circle-Bar-Ranch unter den Nagel zu reißen." Jesses Gedanken überschlugen sich. Das würde Mandy nicht tun, sagte er sich. Verdammt, sie liebt mich! Und sie würde nicht hinter seinem Rücken versuchen, die Circle-Bar-Ranch zu kaufen. Das brauchte sie doch gar nicht. Sie würden heiraten, sobald Mandy glaubte, dass Jaime die Neuigkeit verkraften konnte. Warum sollte sie die Circle-Bar-Ranch kaufen, wenn sie ihr nach der Hochzeit sowieso gehören würde? Margo kam um den Schreibtisch herum und nahm ihm den Vertrag aus den Händen. „Sie hat dich zum Narren gehalten, Jesse. Wieder einmal", fügte sie gehässig hinzu. Jesse hob den Kopf und starrte sie an. „Was soll das heißen?" „Sie hat dich benutzt, um ihrem Vater eins auszuwischen, und jetzt benutzt sie dich wieder, um Rache an den Barristers zu üben." Ein Muskel zuckte in Jesses Wange. „Das ist nicht wahr." Margo hob eine Augenbraue. „Nicht? Du weißt, wie sehr Mandy und ihre Schwestern unter der Dominanz ihres Vaters gelitten haben. Du warst ihre Möglichkeit, sich gegen Lucas aufzulehnen und zu beweisen, dass er sie nicht völlig unter Kontrolle hatte." Margo legte die Papiere wieder ordentlich zusammen. „Das Kind war vielleicht Teil ihres Plans, vielleicht auch nur Zufall, da bin ich mir nicht sicher." Jesses überraschter Blick brachte ein zufriedenes Lächeln auf Margos Gesicht. „Du hast nicht geahnt, dass ich es weiß, oder?" „Aber wie ..." Margos Lächeln verschwand schnell wieder. „Man braucht den Jungen nur anzuschauen, um die Ähnlichkeit mit dir und Wade zu erkennen. Andere mögen vielleicht blind sein, aber das war ich nie", sagte sie mit einem gefährlichen Unterton. „Ich wusste vom ersten Moment an, als ich ihn sah, dass er dein Sohn ist, egal, was für Lügen die McClouds auch erzählten." Jesse holte tief Luft. Lügen, alles Lügen, sagte er sich. Margo erfand das alles. Mandy hatte ihn nicht benutzt... sie liebte ihn, genau wie er sie liebte und es immer getan hatte. „Und was glaubst du, will sie diesmal bezwecken?" fragte er knapp. Margo neigte den Kopf und schaute ihn verblüfft an. „Aber das ist doch offensichtlich. Mandy wird immer eine McCloud bleiben, und die McClouds hassen die Barristers. Die Circle-Bar-Ranch zu besitzen, den Barristers das Land, das sie jahrzehntelang bearbeitet und um das sie gekämpft haben, direkt vor der Nase wegzuschnappen, würde bedeuten, den Barristers den endgültigen Schlag zu versetzen." Margo schaffte es nicht, ihren Widerwillen zu verbergen. „Du bist genau wie dein Vater. Eine leichte Beute für eine ehrgeizige Frau. Diese McCloud hat dich so in Atem gehalten, dass du nicht mehr ans Geschäft gedacht hast. Das war ein Fehler, für den du bitter bezahlen wirst, wenn du nicht aufpasst." Jesse stand auf, weil er sich das nicht länger anhören wollte. Er riss Margo den Vertrag aus der Hand und stopfte ihn in seine hintere Jeanstasche. Dann drehte er sich um und ging zur Tür. „Wohin willst du?" rief Margo hinter ihm her.
Jesse blieb stehen und stützte sich mit den Händen an den Türrahmen, weil er fürchtete, seine Knie würden nachgeben. „Ich werde zur Double-Cross-Heart-Ranch fahren und mit Mandy reden." „Die Double-Cross-Heart-Ranch!" Margo warf den Kopf zurück und lachte gehässig. „Ein passender Name, nicht wahr? Wenn man an die hinterhältige Art und Weise denkt, wie sie die Circle-Bar-Ranch kaufen wollen?" Jesse atmete tief durch und versuchte sich gegen die Zweifel, die Margo in ihm gesät hatte, zu wappnen. Er musste mit Mandy sprechen. Er musste aus ihrem eigenen Mund hören, dass alles, was Margo gesagt hatte, eine Lüge war. Ohne sich umzudrehen, stürmte er hinaus. Mandy saß an ihrem Schreibtisch, die Stiefel auf die polierte Tischplatte gelegt und den Telefonhörer zwischen Schulter und Ohr geklemmt. „Es ist kaum zu glauben, nicht wahr? Nach all diesen Jahren ..." Sie seufzte verträumt. „Mach dir Notizen. Vielleicht können unsere Texter das in einem der nächsten Drehbücher verwenden." Mandy lachte über den spöttischen Unterton in Merideths Stimme. „Es hört sich tatsächlich wie eine Seifenoper an, oder?" „Vermutlich, obwohl ich selbst nicht darin mitspielen möchte. Ich habe genug von Cowboys und dem ländlichen Amerika. Da ziehe ich New York bei weitem vor." Lachend schwang Mandy in ihrem Stuhl zurück und stellte die Füße auf den Boden. „Ich werde dich im nächsten Januar daran erinnern, wenn du dir die Füße abfrierst, weil du durch den Schnee stapfen musst." „Ich gehe lieber durch Schnee als durch Kuhmist." Mandy konnte sich genau vorstellen, wie Merideth herrisch das Kinn hob. Ihre Schwester hatte die Ranch immer gehasst, während sie und Sam sie liebten. Aber trotz der Unterschiede zwischen den drei Schwestern verband sie eine starke Zuneigung. Jede von ihnen würde alles tun, um den anderen beiden zu helfen. „Wann besuchst du uns mal wieder?" fragte Mandy. „Himmel!" rief Merideth aus. „Ich war doch gerade erst da!" „Das stimmt", erwiderte Mandy lächelnd. „Aber ich möchte, dass du Jesse kennen lernst." „Ich kenne ihn", erinnerte Merideth sie. „Ja, sicher, aber das ist Jahre her. Ich möchte, dass du ihn jetzt triffst. Ihn besser kennen lernst." „Damit ich meinen Segen erteilen kann, bevor meine große Schwester ihren Cowboy heiratet und mit ihm in den Sonnenuntergang reitet, um bis an ihr Lebensende glücklich zu werden?" Mandy verdrehte die Augen. „Du bist furchtbar, Merideth." Ein temperamentvolles Lachen drang durch die Leitung und erwärmte Mandys Herz. „Ja, ich weiß." „Du kommst aber, oder nicht?" „Das weißt du doch. Sobald ich es einrichten kann. Aber jetzt muss ich los. Ich habe um drei Uhr diesen Öffentlichkeitstermin und muss mir noch schnell etwas ganz Aufreizendes anziehen, um reich, sexy und erfolgreich auszusehen." Mandy lachte. „Danke, Merideth. Bis bald." Sie beugte sich vor und legte den Hörer auf, als sie die Hintertür zuknallen hörte. „Jaime?" rief sie. „Bist du das?" Sie stand auf, um ihren Sohn direkt unter die sicher dringend benötigte Dusche zu schicken. „Nein, ich bin es." Zu ihrer Überraschung war es Jesse. Seine angespannte Stimme ließ Mandys Lächeln ein wenig schwinden. Es verschwand völlig, als er in das Büro kam und sie den ärgerlichen Ausdruck auf seinem Gesicht sah. „Ist etwas nicht in Ordnung?" fragte sie.
„Wo ist Jaime?" „Er ist mit Gabe unterwegs, um vermisste Kälber aufzuspüren. Er hat uns alle verrückt gemacht, weil er auf dich gewartet hat." Mandy machte einen Schritt um den Schreibtisch herum, blieb aber stehen, als Jesse ein paar Papiere aus seiner Hosentasche zog und sie auf den Tisch warf. Sie hob den Blick von den Papieren zu seinen wütenden braunen Augen. „Jesse, du machst mir Angst. Was ist los?" Er zeigte mit dem Finger auf die Dokumente. „Weißt du etwas davon?" Langsam griff Mandy nach den Papieren und fragte sich, was, in alles in der Welt, über Jesse gekommen war. Sie setzte sich und strich die Blätter glatt. Der Briefkopf mit den Namen ihrer Rechtsanwälte Brickle & Stanton stach ihr in die Augen. Ihr Magen zog sich zusammen, und das Blut wich ihr aus dem Gesicht. „Oh, nein", stöhnte sie. „Du weißt also davon!" Die Anschuldigung in seiner Stimme machte Mandy genauso viel Angst wie die Wut, die sie in seinen Augen sah, als sie den Mut fand aufzuschauen. „Ja." Jesse schlug so hart mit der Faust auf den Tisch, dass der Hörer des Telefons wackelte. „Warum hast du mir nichts davon gesagt? Warum hast du mich nicht einfach gefragt, ob ich dir die Circle-Bar-Ranch verkaufe? Warum musstest du das alles hinter meinem Rücken machen?" Mandy stand auf und erkannte, dass Jesse das alles als eine gemeine, gegen ihn gerichtete Intrige betrachtete. „Ich hatte es vergessen." Sobald die Worte heraus waren, sah Mandy ein, wie dumm und unangemessen sie klangen. „Vergessen?" wiederholte Jesse fassungslos. „Wie, zum Teufel, kann eine Frau vergessen, dass sie Millionen von Dollar für den Kauf von Land aufs Spiel gesetzt hat?" Seine Anschuldigung machte nun auch Mandy wütend. „Das war ganz einfach", erwiderte sie erbost. „Erst bist du mit Jaime im Schlepptau hier aufgetaucht, entschlossen, ihn als deinen Sohn anzuerkennen. Das allein hat mich schon genug beschäftigt. Die Sicherheit meines Sohnes ist mir weitaus wichtiger als der Kauf von irgendwelchem Land. Dann warst du jeden Tag hier, eine ständige Mahnung an all das, was ich für immer verloren geglaubt hatte. Und dann ..." Ihre Stimme versagte, und Mandy musste erst einmal tief Luft holen, bevor sie weiterreden konnte. „Dann haben wir uns wieder geliebt. Und ob du mir glaubst oder nicht, all das hat mich den Kauf der Circle-Bar-Ranch völlig vergessen lassen." Jesse wollte Mandy glauben. Doch Margo hatte gute Arbeit geleistet. Sie hatte sein Urteilsvermögen mit ihren Anspielungen und Vorwürfen geschwächt. „Du hast mich benutzt, nicht wahr?" warf er Mandy vor, als er um den Schreibtisch herum kam. „Damals, um gegen deinen Vater zu rebellieren, und diesmal hast du mich abgelenkt, damit ich nicht herausfinde, dass du diejenige bist, die die Circle-Bar-Ranch kaufen will." Da Jesse so dicht vor ihr stand, war Mandy gezwungen, zu ihm aufzuschauen. „Nein", flüsterte sie. „Ich habe dich nie benutzt." Sie griff mit beiden Händen nach seinen Armen und presste ihre Finger in seine Haut, als wollte sie ihren Worten Nachdruck verleihen. „Ich liebe dich. Ich habe dich immer geliebt. Ich wollte die Circle-Bar-Ranch nicht für mich, sondern für Jaime kaufen. Seinen Vater konnte ich ihm nicht geben, aber ich wollte, dass er sein väterliches Erbes bekommt, das man ihm verwehrt hatte, weil er ein uneheliches Kind ist". Hastig erklärte sie: „Ich wusste nicht einmal, dass Wade dir die Ranch hinterlassen hat. Ich dachte, dass Margo alles geerbt hätte. Und ich wusste, dass sie die Ranch niemals einer McCloud verkaufen würde. Also habe ich meine Anwälte angewiesen, diese Firma zu gründen, damit meine Identität geheim bleibt." Jesse schaute sie misstrauisch an. „Wenn das der Fall ist, warum sind die Verträge dann auf mich als den Besitzer der Ranch ausgestellt?" „Ich habe von der Existenz dieses Vertrages erst jetzt erfahren, als du ihn mir auf den Schreibtisch geworfen hast."
Jesse verzog geringschätzig den Mund. „Natürlich." „Es ist wahr! Ich schwöre es! Meine Anwälte haben mir nichts von dem Angebot erzählt. Es bestand auch keinerlei Veranlassung dazu, denn ich hatte ihnen eine Generalvollmacht er teilt. " Mandy umklammerte seine Arme noch fester, in dem verzweifelten Versuch, Jesse zu überzeugen. „Ich würde niemals etwas tun, was dir schaden könnte, Jesse. Ich würde dich auch nie hintergehen. Das musst du mir glauben." Jesse spürte ihre Nägel, die sich in sein Fleisch bohrten. Aber der Schmerz war nichts verglichen mit dem Schmerz, der sein Herz ergriff, als er auf die Frau schaute, die er liebte, der er vertraut hatte. Durfte er ihr glauben? Wie gern wollte er es, aber es gab so viele Punkte, die gegen sie sprachen. Er hatte ihr schon einmal geglaubt - ihren Liebesschwüren, ihrem Versprechen auf eine gemeinsame Zukunft. Nein, Jesse, ich kann nicht mit dir kommen ... Die verhasste Erinnerung an Mandys letzte Worte in jener unseligen Nacht drang erneut in sein Bewusstsein. Er packte Mandys Hände und löste sie von seinen Armen. „Ich will meinen Sohn, Mandy. Und zwar jetzt. Er kann die Circle-Bar-Ranch haben, aber ich, Jesse Barrister, werde derje nige sein, der sie ihm gibt. Keine McCloud." Jaime blieb hinter der geöffneten Bürotür seiner Mutter stehen und drückte sich gegen die Wand. Er schluckte. Ich will meinen Sohn ... Hatte Jesse das wirklich so gemeint? Jaime schluckte erneut und lauschte auf die erhobenen Stimmen, die aus dem Büro drangen. „Ich bin Jaimes Vater!" hörte er Jesse brüllen. „Und ich habe ein Recht darauf, ihn als meinen Sohn anzuerkennen, und nichts, was du tust oder sagst, wird mich diesmal davon abhalten, ihm die Wahrheit zu sagen." Jesse war sein Vater? Tränen brannten Jaime in den Augen. Das konnte nicht wahr sein! Sein Vater war tot! Das hatte seine Mutter ihm selbst gesagt, und seine Mutter log nie. Jaime drückte sich von der Wand ab und rannte unbemerkt in sein Zimmer. Nachdem er die Sicherheit seines Zimmers erreicht hatte, schloss er die Tür hinter sich und lehnte sich dagegen. Nein! Das kann nicht sein! Er ist nicht mein Vater! dachte er verzweifelt. Wütend ging er hinüber zur Kommode. Er beugte sich vor und betrachtete ausgiebig sein Gesicht im Spiegel. Das Grübchen am Kinn, den dunklen Ton der Haut. Selbst die Tolle über seiner Stirn, die sich immer wieder aufrichtete, egal wie viel Gel er hineintat. Er verglich jeden Gesichtszug mit Jesses. Tief Luft holend, machte er ungläubig einen Schritt zurück und starrte auf das, was sich als Wahrheit herauskristallisierte. Er, Jaime McCloud, war der Sohn von Jesse Barrister. „Mandy!" Sam schlug die Hintertür zu und machte zwei Schritte in die Küche, bevor sie innehielt und beschämt grinste. Sie schaute auf ihre schlammbedeckten Stiefel und murmelte ein schuldbewusstes „Oh", bevor sie die Stiefel auszog. „Mandy!" rief sie erneut. „Ist jemand zu Hause?" „Ich bin hier", erklang Mandys gedämpfte Antwort. Sam schnappte sich eine Banane aus der Obstschüssel und pellte sie auf dem Weg zum Büro. „Hey, ich dachte, du wärst heute dran mit Abendessen machen", beschwerte sie sich, als sie ins Zimmer trat. „Ich bin am Verhungern."
Mandy hob den Kopf von ihrem Schreibtisch und blickte ihre Schwester mit rot geweinten Augen an. „Was ist passiert?" fragte Sam, ließ die Banane fallen und rannte an Mandys Seite. „Ist Jaime etwas geschehen?" Mandy schüttelte den Kopf und presste die Handflächen gegen ihre Schläfen. „Nein. Es ... es ist Jesse. Er ... er ..." Erneut brach sie in Schluchzen aus. „Mandy!" rief Sam frustriert. „Erzähl mir, was passiert ist!" „Je...Jesse hat herausgefunden, dass ich die Circle-Bar-Ranch kaufen will", stammelte sie schluchzend. Sam sank neben ihr auf die Knie. „Ach, du meine Güte! Das hatte ich ja völlig vergessen", murmelte sie. „Ich auch. Aber Jesse glaubt mir das nicht. Er ist furchtbar wütend. Er glaubt, ich ...ich hätte ihn nur benutzt, damit die McClouds die Circle-Bar-Ranch bekommen." Sam riss die Augen erstaunt auf. „Das kann ich mir von ihm nicht vorstellen." Mandy wischte sich mit der Hand über das Gesicht. „Ich weiß. Es klingt verrückt, aber das ist es, was er glaubt." Sam stand wieder auf. Ihre Wangen glühten vor Wut. „Wo ist er? Ich werde ihn mir mal vorknöpfen." „Ich weiß es nicht. Nachdem er mir alle seine Anschuldigungen an den Kopf geworfen und meinen Erklärungen keinen Glauben geschenkt hat, ist er wütend davongestürmt." Mandy schniefte. „Aber er will wiederkommen. Er hat geschworen, dass er Jaime sagen wird, dass er sein Vater ist, ob ich es will oder nicht." Sam straffte die Schultern. „Nun, da muss er erst an mir vorbei." Mandy erhob sich ebenfalls und griff nach Sams Arm. „Nein, Sam. Ich glaube, er hat Recht. Es wird Zeit, das Jaime die Wahrheit erfährt."
10. KAPITEL
Nachdem sie ihr Gesicht gewaschen hatte, ging Mandy in die Küche, um Essen zu machen. Sie brauchte diese Rückkehr zur Normalität, und sie versuchte, nicht an Jesse und seine Anschuldigungen zu denken, während sie an der Spüle stand und Kartoffeln schälte. Durch das Küchenfenster erhaschte sie einen Blick auf Gabe, der in seinen Transporter stieg. Wo will Gabe denn hin? überlegte sie und erstarrte dann. Jaime! Er sollte doch bei Gabe sein! Sie ließ das Messer und die Kartoffel fallen und rannte zur Hintertür, die sie mit beiden Händen aufstieß. „Gabe!" rief sie. „Gabe! Warte!" Gabe fuhr langsamer und hielt an. Er beugte sich aus dem Wagenfenster. „Brauchst du etwas, Mandy?" Mandy kam zum Transporter. „Wo ist Jaime?" fragte sie atemlos. Gabe runzelte die Stirn. „Ich dachte, er wäre bei dir im Haus." Nein!" rief Mandy. „Er war doch mit dir unterwegs." „Ja, aber wir sind schon seit über einer Stunde zurück. Ich habe ihn gleich ins Haus geschickt, so wie du gesagt hast." „Aber er ist nicht da." „Bist du sicher?" „Natürlich bin ich das! Ich ..." Mandy hielt inne und wurde blass. „Bleib hier!" befahl sie Gabe. „Ich bin sofort zurück." Sie riss die Hintertür wieder auf, raste durch das Haus und rief Jaimes Namen. Mandy rannte an ihrem Büro vorbei bis zu seinem Zimmer. Eine Hand aufs Herz gepresst, flehte sie, dass sie Jaime schlafend auf seinem Bett finden würde und öffnete dann die Tür. Das Bett war leer, genau wie das Zimmer. Mit zitternden Knien trat Mandy ein. Der Rucksack, der immer über einem Bettpfosten hing, war nicht mehr da. Aufgeregt wirbelte Mandy herum - und prallte gegen Sam. Sam griff nach dem Arm ihrer Schwester und stützte sie, als sie die Angst in deren Augen sah. „Was ist los?" Mandy machte sich frei. „Jaime ist weg!" rief sie und stürmte an ihr vorbei. „Weg?" Sam eilte hinter ihr her. „Wohin?" „Das weiß ich nicht", schrie Mandy, die wieder hinauslief. Sie rannte zu Gabes Transporter. „Er ist nicht im Haus", stieß sie keuchend hervor. „Schau im Stall nach, ob sein Pferd da ist und sag mir dann Bescheid." „Wohin könnte er gegangen sein?" fragte Gabe besorgt. „Keine Ahnung. Aber ich werde Jesse anrufen." Sie wandte sich um und lief zurück zum Haus. Sam wartete in der Küche auf sie. „Würdest du mir bitte erzählen, was hier los ist?" Mandy drängte sich an ihr vorbei und griff nach dem Telefon. Hastig wählte sie und fuhr sich mit den Fingern durchs Haar, während sie ungeduldig auf das Klingeln lauschte. Niemand nahm ab. Sie knallte den Hörer auf, nur um ihn sofort wieder hochzuheben und erneut eine Nummer einzugeben. Sie wartete mit angehaltenem Atem. „Margo Barrister." Mandy erschauderte beim Klang dieser hochnäsigen Stimme und dachte an ein anderes Mal, als sie gezwungen gewesen war, Margo Barrister anzurufen, weil sie auf der Suche nach Jesse gewesen war. „Hier ist Mandy McCloud. Ich muss mit Jesse sprechen." „Es tut mir Leid, er ist nicht hier." „Wissen Sie, wann er zurückkommt oder wie ich ihn erreichen kann?" „Leider nicht. Er war vor knapp einer Stunde hier, hat seine Sachen gepackt und ist weggefahren, ohne mich in seine Pläne einzuweihen."
Eisige Furcht überkam Mandy. War Jesse erneut verschwunden und hatte er Jaime mitgenommen? „Danke", murmelte sie und legte den Hörer auf. „Erzählst du mir jetzt bitte endlich, was los ist?" verlangte Sam wütend. „Jesse ist auch weg. Margo sagt, er habe seine Sachen gepackt und sei vor knapp einer Stunde verschwunden." Sams Augen wurden groß. „Du glaubst doch nicht ..." Mandy fuhr sieh erneut durchs Haar und versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen. „Ich weiß nicht, was ich denken soll", flüsterte sie unglücklich. Die Hintertür ging auf, und Mandy riss den Kopf hoch, gerade als Gabe hereintrat. „Sein Pferd ist auch weg", sagte er und nahm den Hut ab. „Die Fuchsstute. Nicht der Schecke, den Jesse ihm gegeben hat." Mandy atmete erleichtert auf. Wenn er mit dem Pferd unterwegs war, dann bedeutete das, dass Jaime vermutlich allein war und nicht bei Jesse. Aber warum? überlegte sie fieberhaft. Warum sollte er davonlaufen? War es möglich, dass er ihren Streit mit Jesse belauscht hatte? Allein der Gedanke war schrecklich. Doch was auch immer geschehen war, das Wichtigste war jetzt, ihn zu finden. „Sattle mein Pferd, Gabe. Ich werde ihn suchen." Gabe runzelte die Stirn. „Es wird bald dunkel. Warum bleibst du nicht hier und lässt mich und die Jungs nach ihm suchen?" Mandy hob ihr Kinn und begegnete trotzig seinem besorgten Blick. „Nein. Er ist mein Sohn. Ich reite mit." Schnell überlegte sie. „Sag den Männern, sie sollen aufsatteln, und dann sucht ihr die Hügel ab, die zwischen der Double-Cross-Heart-Ranch und der Ranch der Carters liegen. Ich übernehme den Abschnitt, der zur Circle-Bar-Ranch führt." Gabe senkte den Kopf und verbarg seine Missbilligung darüber, dass Mandy allein reiten wollte. „Dein Pferd ist fertig, wenn du auch soweit bist." Er wandte sich um, setzte seinen Hut wieder auf und verschwand. „Ich komme mit dir." Mandy schüttelte den Kopf. „Nein, Sam. Bleib hier. Er kommt vielleicht nach Hause, und dann möchte ich, dass du für ihn da bist." Sie sehen konnte, dass Sam die Idee nicht gefiel, und war erleichtert, als ihre Schwester schließlich nickte. „Okay. Aber sei vorsichtig, Mandy." Sie griff nach Sams Hand und drückte sie. „Das werde ich. Und wenn Jaime vor mir zurückkommen sollte, lass Jesse nicht in seine Nähe, bis ich wieder da bin." Die Dämmerung senkte sich bereits über die Landschaft, als Mandy ihre Suche begann. Nach Spuren Ausschau zu halten war völlig sinnlos, da jeden Tag unzählige Pferde über das Gelände ritten. Sie überlegte fieberhaft, wohin Jaime geritten sein könnte. Aber ihr fiel nichts ein. Sie presste die Schenkel gegen die Flanken ihres Pferdes und ermunterte es so zu einem leichten Trab. Immer wieder rief sie Jaimes Namen, während sie über die Wiesen und Hügel ritt, bis ihre Stimme heiser und ihre Kehle wund war. Bis Sterne den Himmel übersäten. Sie unterdrückte ein Schluchzen, als sie an die Gefahren dachte, die nachts in dieser Wildnis drohten. „Jaime. Mein Baby", flüsterte sie mit Tränen in den Augen. „Wo bist du?" Jesse fuhr nördlich in Richtung Oklahoma, zurück nach Hause. Er wusste, dass manche ihm vorwerfen würden, dass er schon wieder davonliefe. Aber er lief nicht weg. Dieses Mal nicht. Er wollte sich nur etwas Zeit nehmen, um vernünftig nachdenken zu können, ohne dass Mandys Gegenwart ihn ständig ablenkte. Und ohne dass Margos gehässige Bemerkungen ihn beeinflussten. Sie hat dich zum Narren gehalten, Jesse. Wieder einmal... Narr. Narr. Narr.
Margos Worte hallten im Rhythmus der Fahrgeräusche durch seinen Kopf. Je länger er fuhr, desto unangenehmer wurde das Pochen in seinen Schläfen, bis er vor Schmerz kaum noch aus den Augen schauen konnte. Aber viel unangenehmer war der Schmerz, der sich in sein Herz bohrte. Mandy. Er verließ sie erneut. Und Jaime, seinen Sohn. Das Kind, von dem er nichts gewusst hatte, bis Wades Testament ihn veranlasst hatte, zurück nach Texas und auf die Circle-Bar-Ranch zu kommen. Auch ihn verließ er. Man braucht den Jungen nur anzuschauen, um die Ähnlichkeit mit dir und Wade zu erkennen. Andere mögen vielleicht blind sein, aber das war ich nie. Ich wusste vom ersten Moment an, als ich ihn sah, dass er dein Sohn ist, egal, was für Lügen die McClouds auch erzählten ... Genau wie Margo hätte auch er schnell erkannt, dass Jaime sein Sohn war. Wenn er damals hier geblieben wäre. Aber er war davongelaufen, hatte die Erinnerungen hinter sich lassen wollen, ebenso wie die Frau, die ihm für immer ihre Liebe geschworen hatte, denn er hatte es nicht ertragen können, Mandy zu verlieren. Er schlug mit der Hand auf das Lenkrad. „Verdammt! Es sind nicht nur Versprechungen gewesen." Mandy hatte ihn wirklich geliebt. Sie tat es noch immer. Tief in seinem Herzen wusste er, dass sie ihn niemals belogen hatte. Damals nicht und auch jetzt nicht. Warum verlässt du sie dann? fragte ihn eine innere Stimme. Jesse starrte auf die Straße vor sich. „Das tue ich nicht", murmelte er und riss das Lenkrad nach rechts, um die Ausfahrt nach Georgetown zu nehmen. Er überquerte den Highway und fuhr in südlicher Richtung wieder zurück. Zurück nach Austin. Zurück zu Mandy. Zurück zu seinem Sohn. Er hielt nicht mehr an, bis er auf der Double-Cross-Heart-Ranch war. Er parkte hinter dem Haus und stürmte zur Hintertür. Noch bevor er sie erreicht hatte, wurde die Tür aufgerissen. Doch es war Sam und nicht Mandy, die herauskam. Ihr Gesichtsausdruck ließ darauf schließen, dass er auf der Double-Cross-Heart-Ranch nicht länger willkommen war. „Wo ist Mandy?" fragte er. Sam kniff den Mund zusammen und stemmte die Hände in die Hüften. „Hast du ihr nicht schon genug wehgetan?" „Ich muss mit ihr reden." „Meinst du nicht, dass du schon mehr als genug gesagt hast?" „Sam, bitte." Jesse nahm seinen Hut ab und fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. Sam sah, dass seine Finger zitterten, und geriet in ihrem Entschluss ins Wanken. „Ich liebe sie, Sam. Ich muss ihr das sagen." Sam zögerte nur eine Sekunde, bevor sie hervorstieß: „ Jaime ist weggelaufen." Jesse umklammerte entsetzt seinen Hut. „Wann?" „Ich weiß es nicht. Mandy ist vor einer Stunde losgeritten, um nach ihm zu suchen." „Ich brauche ein Pferd." Sam hoffte, dass Mandy ihr vergeben würde. „Du kannst meins nehmen. Die erste Box auf der linken Seite. Mandy ist in Richtung Circle-Bar-Ranch unterwegs." Jesse wirbelte herum, rief aber über die Schulter zurück: „Danke, Sam. Du hast etwas gut bei mir." Innerhalb weniger Minuten hatte Jesse Sams Pferd gesattelt und galoppierte über die Wiesen. Nur der Mond und die Sterne erhellten seinen Weg. Mandy hatte eine Stunde Vorsprung, doch er war entschlossen, sie einzuholen, bevor sie Jaime fand. Er wollte da sein, wenn sie ihn fanden, und sie würden ihn finden. Eine andere Möglichkeit wollte er gar nicht in Betracht ziehen.
Er ritt und ritt, und schaute sich um und lauschte, während die Angst um seinen Sohn mit jeder Minute wuchs. Plötzlich vernahm er ein gedämpftes Geräusch, und sofort hielt er sein Pferd an. Er stellte sich in den Steigbügeln auf und lauschte. „Jaime!" Mandys Stimme, die vor ihm erklang, brachte ihn dazu, seinem Pferd die Sporen zu geben und weiterzureiten, ohne auf die Zweige zu achten, die seine Arme und sein Gesicht zerkratzten. Endlich sah er sie auf einem Felsvorsprung stehen, während ihr Pferd nicht weit entfernt angebunden war. „Mandy!" rief er. „Mandy!" Der Mondschein erhellte sie, als Mandy sich herumdrehte und Jesse anstarrte. Ihr niedergeschlagener Blick schnitt ihm ins Herz. Er zügelte sein Pferd und schwang sich aus dem Sattel. „Ich kann ihn nicht finden", murmelte sie unglücklich. „Ich habe überall nachgeschaut. An den Stellen, wo er manchmal zeltet, an allen seinen bevorzugten Angelplätze." „Oh, Mandy." Jesse zog sie in seine Arme. „Wir werden ihn finden. Ich verspreche dir, wir finden ihn." „Es ist so dunkel", schluchzte sie und klammerte sich an ihn. „Was ist, wenn er verletzt ist?" „Jaime ist kein Greenhorn mehr, Mandy. Er weiß, wie er sich in der Wildnis verhalten muss." „Aber wo ist er?" rief sie. „Hast du auch auf der Circle-Bar-Ranch gesucht?" Mandy machte sich frei und schaute Jesse mit großen Augen an. „Nein, er würde niemals ..." Jesse nahm ihre Hand und führte Mandy zu den Pferden. „Es gibt da eine Höhle", sagte er, während er vorsichtig mit ihr über den steinigen Weg ging. „Als ich klein war, habe ich mich dort auch versteckt. So wie ich Jaime kenne, hat er diese Höhle schon längst entdeckt." Sie stiegen wieder auf und ritten in Richtung Circle-Bar-Ranch. Es kam Mandy ewig vor, bis Jesse stoppte und die Hand hob. Er rutschte aus dem Sattel und wandte sich an Mandy. „Den Rest des Weges gehen wir besser zu Fuß. Es ist zu gefährlich auf diesem Stück zu reiten." Nachdem sie die Pferde an einen Baum gebunden hatten, nahm Jesse Mandy wieder bei der Hand und zog sie hinter sich her. Plötzlich blieb er stehen, und Mandy prallte auf ihn. „Was ist?" fragte sie ängstlich. Jesse presste einen Finger auf ihre Lippen und zeigte zu Jaimes Pferd, das vor ihnen graste. „Er ist hier", flüsterte er und verstärkte den Griff um ihre Hand. Eine Zeder verbarg den Eingang der Höhle, aber Jesse kannte das Versteck. Er schob die Zweige zur Seite und hielt sie zurück, damit Mandy vor ihm hineingehen konnte. „Ich kann nichts sehen", flüsterte sie. Jesse ging an ihr vorbei. „Hier. Ich habe ein Feuerzeug." Er zündete es an, und eine kleine Flamme leuchtete auf. Jesse machte einen Schritt, dann noch einen, Mandy war direkt hinter ihm. Er blieb stehen. Im Schein des Feuerzeuges sah er Jaime in seinem Schlafsack liegen. Aufseufzend lief Mandy an ihm vorbei, während Jesse sich bückte, um die Petroleumlampe anzuzünden, die Jaime neben die Schlafstelle gestellt hatte. „Jaime", murmelte Mandy und ließ sich neben ihrem Sohn auf die Knie fallen. „Oh, Jaime." Er hob blinzelnd den Kopf. „Mum?" fragte er schlaftrunken. „Ja, Jaime. Ich bin es." Sie strich ihm über die Wange, als wollte sie sich vergewissern, dass er unverletzt war. „Oh, Liebling, warum bist du weggelaufen?"
Jaime setzte sich auf und entzog sich ihrer Berührung. „Du hast mich angelogen. Du hast gesagt, mein Vater sei tot." Bedauern erfasste Mandy, als ihr klar wurde, dass er ihre Unterhaltung mit Jesse tatsächlich belauscht hatte. „Ja, Jaime", gab sie zu. „ Ich habe gelogen. Aber nicht um dir wehzutun, sondern um dich zu beschützen." Jesse kam näher, nicht sicher, wie er sich verhalten sollte, und stellte die Lampe ab, bevor er sich neben Mandy hockte. Er legte eine Hand auf ihre Schulter und drückte sie. Jaime starrte ihn an. „Du bist mein Vater, oder?" Mandy blickte zu Jesse, der sie fragend anschaute. „Es ist okay", murmelte sie. „Er muss die Wahrheit erfahren." Seufzend wandte Jesse sich an seinen Sohn. „Ja, Jaime. Ich bin dein Vater." Jaime legte die Hände hinter sich auf den Schlafsack und stemmte sich mit den Hacken ab, um möglichst viel Distanz zwischen sich und Jesse zu schaffen. „Ich hasse dich!" rief er. Mandy schnappte erschrocken nach Luft. „Jaime! Das meinst du doch gar nicht." „Doch!" brüllte er und fuhr Jesse an: „Du hast nur so getan, als würdest du mich mögen. Wenn du mich und meine Mum wirklich gern hättest, dann wärst du hier gewesen, als wir dich brauchten. Jetzt wollen wir dich nicht mehr hier haben. Geh wieder dorthin, wo du hergekommen bist, und lass uns in Ruhe." Die Verzweiflung, die Jesse gepackt hatte, als Jaime gerufen hatte „Ich hasse dich!", vertiefte sich. Langsam stand er auf und wandte sich traurig ab. Mandy griff nach seiner Hand und hielt ihn auf. „Nein! Warte!" Jesse festhaltend, schaute sie ihren Sohn an. „Er mag dich, Jaime. Es ist nicht Jesses Schuld, dass er nicht da war, als du geboren wurdest." Jaime blickte sie noch finsterer an. „Ist es doch! Wenn er sich etwas aus uns gemacht hätte, wäre er da gewesen. Er hätte nicht zugelassen, dass Grandpa dich so gemein behandelte." Mandy riss erstaunt die Augen auf. „Du warst noch ein Baby, als Grandpa starb. Du kannst doch gar nicht wissen, wie er mich behandelt hat." Jaime verzog trotzig den Mund. „Doch, das weiß ich. Ich habe dich und Tante Sam und Tante Merideth reden gehört, wenn ihr dachtet, ich wäre nicht da. Ich weiß, er wollte mich nicht und hat dich dafür gehasst, dass du mich auf die Double-Cross-Heart-Ranch gebracht hast." Instinktiv streckte Mandy die Hand nach ihm aus, doch Jaime zuckte zurück. Sie faltete die Hände im Schoß und sagte mit tränenerstickter Stimme: „Oh, Jaime. Es tut mir so Leid. Ich wollte nie, dass du das alles erfährst." Mandy ließ den Kopf sinken und holte tief Luft, bevor sie Jaime wieder ansah. „Aber es war nicht dein Fehler, dass Grandpa uns nicht um sich haben wollte. Und meiner auch nicht. Es war Grandpas eigene Schuld. Erinnerst du dich, dass Jesse mit dir über Vorurteile gesprochen hat?" Obwohl Mandy sah, dass es ihm nicht behagte, dass sie Jesse wieder ins Spiel brachte, fuhr sie fort: „Nun, Grandpa war ein Mensch voller Vorurteile. Er mochte Jesse nicht. Erstens, weil er ein Barrister ist und zweitens, weil er Halbmexikaner ist." Sie schaute Jaime ernst an. „Findest du, dass es fair von Grandpa war, ihm seinen Namen und seine Herkunft vorzuhalten?" Jaime senkte betreten den Kopf. „Nein", murmelte er. Mandy seufzte. „Ich fand das auch nicht fair. Also habe ich mich gegen meinen Vater aufgelehnt, als er mir verbot, Jesse zu sehen. Ich bin nachts herausgeschlichen und habe mich heimlich mit ihm getroffen." Sie blickte zu Jesse hoch und griff wieder nach seiner Hand, um ihn zu sich zu ziehen. „Ich habe das gemacht, weil ich Jesse geliebt habe. Ich wollte ihn heiraten. Aber mein Vater hat uns eines Nachts erwischt und gedroht, Jesse umzubringen, wenn er ihn hier jemals wieder sehen würde. Und ich hatte Angst. Solche Angst, wie noch nie in meinem Leben, denn ich
war sicher, dass mein Vater seine Drohung wahr machen würde. Also habe ich mich geweigert, mit Jesse zu gehen, und bin stattdessen bei meinem Vater geblieben." Mandy schaute erneut zu Jesse. „Aber das habe ich nur getan, um Zeit zu gewinnen. Dann hätten Jesse und ich einen Weg finden können, um zusammen zu sein." Sie drückte Jesses Hand und wandte sich wieder an Jaime. „Aber Jesse verstand nicht, was ich bezwecken wollte. Er dachte, ich würde meinen Vater ihm vorziehen. Er ging in jener Nacht fort, ohne zu wissen, dass ich dich bereits in mir trug. Er zog weg, ohne jemandem zu sagen, wohin. Ich habe ihn erst wieder gesehen, als er dich neulich nach Hause brachte, nachdem er dich beim Angeln auf der Circle-Bar-Ranch erwischt hatte. Er wusste bis zu dem Tag überhaupt nicht, dass du existierst." Während ihrer Erklärung hatte Jaime aufrecht dagesessen und zugehört, aber als Mandy nun eine Pause machte, schaute er noch immer wütend und unversöhnlich zu Jesse. „Woher wusstest du, dass ich dein Sohn bin?" Weil er ahnte, wie wichtig seine Antwort war, wie sehr seine Zukunft davon abhing, wählte Jesse seine Worte sehr sorgfältig. „Zuerst wusste ich es nicht, aber als du mir sagtest, dass du Mc-Cloud heißt, begann ich eins und eins zusammenzuzählen. Du siehst aus wie ich. Dein Alter, soweit ich das schätzen konnte, war auch genau richtig." „Warum hast du es mir dann nicht gesagt?" rief Jaime und schlug mit der Hand auf den Schlafsack. „Ich..." Mandy legte Jesse eine Hand auf den Arm, um ihn zu unterbrechen. „Er wollte es, Jaime", sagte sie leise. „Aber ich habe ihn nicht gelassen." „Warum nicht?" fragte Jaime wütend. „Ich hatte ein Recht darauf zu erfahren, dass mein Dad lebt und wer er ist." „Ja", entgegnete Mandy geduldig. „Das hattest du. Aber ich hatte Angst, dass diese Neuigkeit zu viel für dich sein könnte. Du kanntest Jesse ja nicht einmal. Er war für dich ein Fremder. Ich dachte, wenn du und Jesse euch erst einmal besser kennen gelernt habt, wäre die Neuigkeit für dich leichter zu verkraften." „Ich bin kein Baby mehr. Ich hätte es verstanden." Mandy griff nach seiner Hand, und diesmal ließ Jaime es zu. „Jetzt sehe ich das auch so, obwohl es mir schwer fällt zuzugeben, dass mein Sohn groß wird. Ich werde dich wohl immer als meinen kleinen Jungen ansehen." Jaime verdrehte die Augen. „Oh, Mum, hör auf, mich wie ein Baby zu behandeln." Mandy lachte trotz der Tränen in ihren Augen. „Ich werde es versuchen, das verspreche ich." Sie schaute zu Jesse, weil sie wusste, dass noch nicht alles geklärt war. „Jesse wollte dir vom ersten Augenblick an sagen, dass du sein Sohn bist, und es tut mir Leid, dass ich ihn daran gehindert habe." Jaime wandte sich an Jesse, als wollte er dessen Bestätigung. „Es ist wahr, mein Sohn", murmelte Jesse, und seine Stimme war rau vor Gefühl. „Ich war zwar nicht da, als du geboren wurdest, aber das bedeutet nicht, dass ich dich nicht liebe oder dich nicht will. Im Gegenteil, ich möchte dich als meinen Sohn anerkennen. Genau genommen...", er warf Mandy einen Blick zu, weil er ihre Zustimmung suchte, bevor er weitersprach, „genau genommen möchte ich dir meinen Namen geben. Ich kann dich adoptie ren, wenn das rechtlich notwendig ist, und wir können deinen Namen in Jaime Barrister ändern lassen." „Jaime ... Barrister!" rief Mandy erschrocken. Der Name war seit so langer Zeit in ihrer Familie wie ein Schimpfwort gebraucht worden, dass es ihr wie ein Fluch vorkam, ihn im Zusammenhang mit ihrem Sohn zu hören. Jesse verteidigte sich. „Ich mag nicht gerade stolz auf den Mann sein, der mir diesen Namen gab, aber trotzdem ist es mein Name." Mandy sah, dass sie ihn beleidigt hatte. „Entschuldige. Es ist nur so, dass ..."
Jesse drückte ihre Hand. „Ich weiß", sagte er verständnisvoll. „Aber findest du nicht, dass es an der Zeit ist, diesen alten Streit endlich beizulegen?" Mandy schluckte. „Ich vermute, du hast Recht." Jesse richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf seinen Sohn. „Ich schäme mich nicht für dich, das sollst du wissen, und ich werde stolz sein, allen zu sagen, dass du mein Sohn bist. Ich weiß, dass du dich erst daran gewöhnen musst, mich als Vater zu haben. Aber ich hoffe, du gibst mir die Chance, dir zu beweisen, wie sehr ich dich mag." Er wandte sich an Mandy und sah sie zärtlich an. „Ich liebe auch deine Mutter. Das habe ich schon immer getan. Und wenn es dir Recht ist, möchte ich sie fragen, ob sie mich heiraten will." Weil es genau das war, was er sich gewünscht hatte, seit er Jesse kannte, grinste Jaime. „Ich denke, das ist in Ordnung." „Mandy?" Mandy starrte Jesse an und konnte kaum glauben, dass sie nicht nur träumte. „Ja?" „Willst du meine Frau werden?" Es dauerte keine Sekunde, bevor Mandy ihre Entscheidung getroffen hatte. Sie warf sich gleichzeitig lachend und weinend in Jesses Arme. „Ja, ich werde dich heiraten" Jesse zog sie ganz fest an sich und bedeckte ihre Lippen mit seinen, um ihr Versprechen mit einem Kuss zu besiegeln. „Ach, du meine Güte!" rief Jaime aus und machte ein paar schmatzende Geräusche. „Hört auf ihr beiden, oder ich hau wirklich ab!" Jesse und Mandy lösten sich voneinander und lachten. Dann wurden sie wieder ernst, als ihnen bewusst wurde, welch weiten Weg sie zurückgelegt hatte und was ihnen noch bevorstand, bis sie die Vergangenheit endgültig begraben konnten. „Barrister", murmelte Mandy und starrte Jesse an. „Mandy McCloud Barrister." Sie musste erneut lachen. „Ich frage mich, was die McClouds und die Barristers wohl davon halten werden?" „Zum Teufel mit ihnen", flüsterte Jesse und zog sie wieder in die Arme. „Nur das, was wir wollen, ist wichtig. Du, ich und unser Sohn." „Ich glaube, ich fange gleich zu heulen an." Die Augen auf die Braut und den Bräutigam gerichtet, die hinter einer riesigen Hochzeitstorte standen und sich gegenseitig damit fütterten, schlang Merideth einen Arm um Sams zarte Schultern und zog ihre Schwester an sich. „Und das ganze Makeup ruinieren, das ich aufgetragen habe? Untersteh dich!" Sam zog eine Grimasse, als sie an das stundenlange Prozedur dachte, der sie sich dank Merideth vor der Hochzeit hatte unterziehen müssen. Sie verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich komme mir vor wie ein billiges Flittchen." Merideth wandte langsam den Kopf, zog eine Augenbraue in die Höhe und schaute ihre Schwester von oben herab an. „Billig? Kleines, ich schaffe nichts Billiges. Nur das Beste, first class, das ist mein Motto." „Leicht gesagt für dich. Du schminkst dich ja auch gern." Stirnrunzelnd sah Sam an dem Kleid herab, das Merideth ihr aus New York mitgebracht hatte, und zog sofort den Ausschnitt etwas höher über ihre Brust. „Und dieses Kleid! Himmel! Ein Taschentuch hätte mich großzügiger bedeckt." Merideth nahm den Arm von Sams Schulter und zog den Ausschnitt wieder zurecht. „Wenn ich mich nicht darum gekümmert hätte, dann wärst du in abgetragenen Jeans und schlammbedeckten Stiefeln zur Hochzeit deiner Schwester gekommen." „Darin hätte ich mich sehr viel wohler gefühlt, da kannst du sicher sein." Merideth lächelte und schaute zu den Hochzeitsgästen. „Ja, aber denk nur an all die Komplimente, die du bekommen hast." „Ja, natürlich", murmelte Sam. „Alle an meine Brüste gerichtet."
Merideth lachte ihr tiefes, sinnliches Lachen. Sam bemerkte, dass mehr als ein Mann zu ihrer Schwester schaute. In den Augen der Männer war eine Mischung aus Neugier und Verlangen. Sam war sich sicher, dass das sinnliche Lächeln, das Merideth jedem einzelnen schenkte, den Männern eine schlaflose Nacht voller sündiger Phantasien bescheren würde, während sie neben ihrer schlafenden Ehefrau lagen. „Du meine Güte, Merideth. Hör auf damit!" „Womit, Sam?" fragte Merideth unschuldig. Sam verdrehte die Augen. „Schalt deinen Charme ab, bevor einer dieser armen Kerle noch einen Herzinfarkt bekommt." Erneut lachte Merideth und warf ihr Haar über die Schulter. „Das ist doch nur harmloses Flirten. Du solltest es auch einmal versuchen." „Nein, danke." Sam schaute sich suchend um. „Hast du Jaime gesehen?" „Seit ich ihn mit einem Glas Champagner in der Hand erwischt habe, nicht mehr." Sam ließ den Blick über die Menge schweifen. „Ich habe Mandy versprochen, ein Auge auf ihn zu haben. Oh, schau", sagte sie, und ihre Augen leuchteten auf. „Da ist John Lee Carter. Ich habe ihn während der Trauung gar nicht gesehen." Meridth folgte dem Blick ihrer Schwester, und ihr Herz machte einen kleinen Satz, als sie John Lees eindringlichem Blick begegnete. Augen so blau wie der Himmel von Texas schienen geradewegs bis in ihr geheimstes Innerstes zu blicken. Gegen den prickelnden Schauer ankämpfend, der durch ihren Körper strömte, schürzte sie die Lippen und warf John Lee spielerisch einen Kuss zu, bevor sie sich abwandte. Obwohl die Versuchung groß war, hütete sie sich davor, John Lees Blick ernst zu nehmen. Dieser Mann und sie waren sich einfach zu ähnlich. Merideth richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf den Tisch, an dem die Braut und der Bräutigam ihre Champagnergläser zu einem stummen Toast hoben, und verbannte John Lee Carter aus ihren Gedanken. Gegen ihren Willen verspürte sie einen kleinen Stich im Herzen, als sie den Blick sah, den die beiden Frischvermählten sich zuwarfen. „Sie sind füreinander bestimmt", sagte sie seufzend. „Ja, das sind sie", gab Sam ihr Recht. „Es ist wirklich vollkommen, nicht wahr?" meinte Merideth gedankenverloren. „Jesse und Mandy haben sich endlich gefunden. Jaime bekommt einen Dad und die Erbschaft, die ihm zusteht. Und die Circle-Bar-Ranch und die Double-Cross-Heart-Ranch werden wieder zu einem Besitz, so wie es früher einmal war." Plötzlich warf sie den Kopf zurück und lachte. „Was ist?" fragte Sam und betrachtete sie misstrauisch. „Ich wette, Daddy dreht sich gerade im Grabe um." Sam musste grinsen. „Ja, und ich wette, dass Wade das auch tut." Ihr Grinsen verwandelte sich in ein Lächeln, als sie sah, dass Jesse Mandy in die Arme nahm und küsste. Er beugte sich zu ihrem Ohr und flüsterte ihr etwas zu, was Mandy dazu brachte, ihn anzustrahlen und ihren Arm durch seinen zu schieben. Sam beobachtete, wie sie davongingen. „Wohin die beiden wohl wollen?" fragte sie neugierig. Mandy war diesen Weg während der letzten Jahre viele Male gegangen, aber selten mitten am Tag und niemals zusammen mit Jesse. Sie drückte Jesses Arm, als sie aus dem Schatten der Bäume in das sonnendurchflutete Tal traten. „Hierher bin ich immer gekommen, wenn ich mich dir nah fühlen wollte", flüsterte sie, als sie den Blick über ihren ehemaligen geheimen Treffpunkt gleiten ließ. Jesse legte einen Arm um ihre Schulter und zog Mandy an seine Seite. „Ich wünschte, ich wäre für dich da gewesen."
Als sie das Bedauern in seiner Stimme hörte, drehte Mandy sich zu ihm herum, schlang die Arme um seine Taille und schaute ihm lächelnd in die Augen. „Aber das warst du doch. Immer. Ich bin hierher gekommen und habe mit dir geredet. Habe dir von meinen Ängsten erzählt und dir von meinen Freuden berichtet. Ich habe deine Gegenwart und deinen Trost immer gespürt, obwohl ich nicht wusste, wo du warst." Seufzend drückte Jesse sie liebevoll an sich. „Oh, Mandy", flüsterte er. „Wir haben so viele Jahre versäumt, so viel..." Sie lehnte sich zurück und presste einen Finger auf seine Lippen. „Aber jetzt sind wir zusammen. Und vor uns liegt unsere gemeinsame Zukunft." Jesse nahm ihre Hand und küsste ihre Fingerspitzen, bevor er ihre Hand lächelnd auf sein Herz legte. „Ich bin wirklich ein Glückspilz." Das Schlagen seines Herzens und die Hitze seines Körpers, der sich an ihren schmiegte, erinnerten Mandy an Zeiten, als sie hier genauso gestanden hatten. „Jesse?" begann sie vorsichtig. „Ja, querida?" „Ich weiß, dass du unsere Hochzeitsnacht an einem ganz besonderen Ort verbringen wolltest, und ich weiß das auch sehr zu schätzen, aber würde es dir etwas ausmachen, wenn wir ..." Jesse wunderte sich über ihr Zögern. „Wenn wir ... was?" Mandy errötete und senkte den Blick. „Nun, wenn es dir Recht ist, würde ich unsere erste Nacht als Mann und Frau am liebsten hier verbringen." Jesse warf den Kopf zurück und lachte, bevor er Mandy umfasste, sie herumwirbelte und ihr einen Kuss auf den Mund drückte. „Oh, querida! Ich kann mir keinen vollkommeneren Ort vorstellen, um die Nacht mit meiner Frau zu verbringen." -ENDE -