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William Tenn
HEYNE-BUCH Nr. 3349 im Wilhelm Heyne Verlag, München Titel der amerikanischen Originalausgabe THE WOODEN STAR Deutsche Übersetzung von Yoma Cap Redaktion und Lektorat: Günter M. Schelwokat Copyright © 1968 by William Tenn Copyright © 1973 der deutschen Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München Printed in Belgium 1973 Umschlagentwurf: Atelier Frank & Zaugg, Wabern/BE, Schweiz Umschlaggestaltung: Atelier Heinrichs, München Gesamtherstellung: Gérard & Cie, Verviers INHALT
Null-P (NULL-P) Noahs Kinder (GENERATION OF NOAH) Der Marsflug (THE DARK STAR) Das freie Land (EASTWARD HO !) Der Deserteur (THE DESERTER ) Besuch von Beteigeuze (BETELGEUSE BRIDGE ) Das Angebot (»WILL YOU WALK A LITTLE FASTER «) Die bessere Welt (IT ENDS WITH A FLICKER) Paradies der Spione (LISBON CUBED )
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Einige Monate nach Beendigung des zweiten atomaren Weltkriegs, als noch ein gutes Drittel des Planeten völlig unbewohnbar war, machte der Arzt der Kleinstadt Fillmore im amerika nischen Bundesstaat Wis consin eine folgenschwere Entdeckung, die der Menschheit den Höhe punkt ihrer soziologischen Entwicklung bescheren sollte. Wie Kolumbus, der sich in Verkennung der Tatsachen in Indien glaub te, wie Nobel, der die wenig menschenfreundlichen Konsequenzen sei ner explosiven Erfindung nicht abschätzen konnte, so hatte Dr. Daniel Glurt nicht die leiseste Ahnung, wozu seine Entdeckung schließlich füh ren würde. Jahre später meinte er zu einem Historiker: »Also wirklich, damals hätte ich nie gedacht, daß es so kommen wür de. Sie erinnern sich, der Krieg war kaum vorbei, und wir waren alle ziemlich am Boden… beide Küsten der Vereinigten Staaten verbrannt, verwüstet… Na ja, eines Tages kam also diese Anordnung vom neuen Regierungssitz in Topeka, Kansas, daß alle Bürger untersucht werden müßten – auf Strahlungsverbrennungen vor allem, und dann hofften sie wohl auch, den Ausbruch einer dieser verrückten Krankheiten, mit denen die Militärs gegen Kriegsende spielten, rechtzeitig zu erkennen. Ja und das, sehen Sie, war alles, was ich tat. George Abnego selber kannte ich schon seit gut dreißig Jahren – habe ihn unter anderem bei Blattern, Lungenentzündung und Lebensmittelvergif tung behandelt. Und dann sowas!« George Abnego hatte sich, der vom amtlichen Ausrufer verkündeten Regierungsverordnung Folge leistend, sofort nach der Arbeit zur Ordi nation Dr. Glurts begeben. Nachdem er geduldig eineinhalb Stunden gewartet hatte, wurde er endlich in das kleine Behandlungszimmer ein gelassen, gründlich beklopft, behorcht, durchleuchtet und analysiert. Dann setzte man ihn vor einen fünfhundert-Punkte-Fragebogen, den das Gesundheitsministerium im verzweifelten Versuch zusammenge stellt hatte, alle Symptome jener neuesten Krankheiten zu erfassen. Dann zog sich George Abnego wieder an und ging heim zu dem kärgli chen Abendessen, das die Rationierungskommission dem Durc h schnittsbürger bewilligte. Dr. Glurt heftete die Untersuchungsergebnis se und den Fragebogen unter ›Aa-Al‹ ab und rief den nächsten Patien ten herein. Noch war ihm nichts, aber auch gar nichts aufgefallen – und doch begann in diesem Augenblick die Abnegitenrevolution. Vier Tage später, als die Gesundheitsüberprüfungen von Fillmore , Wis consin, komplett waren, schickte der Arzt die Unterlagen nach Topeka.
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Bevor er den Bericht über Abnego unterschrieb, warf er noch einen flüchtigen Blick darauf , sah noch einmal hin und zog die Brauen hoch. Dann schrieb er als Schlußkommentar: »Trotz der Tendenz zu Zahnka ries und Plattfüßen muß dieser Mann als durchschnittlich gesund be zeichnet werden. Physisch entspricht er der Norm von Fillmore.« Dieser letzte Satz entlockte dem Regierungsmediziner ein Grinsen und brachte ihn dazu, den Bericht nochmals zu überfliegen. Das machte ihn nachdenklich, und als er die Daten mit den medizinischen Standardwe r ten verglichen hatte, grinste er nicht mehr. Er schrieb mit Rotstift ein paar Worte in die rechte obere Ecke des Be richts und schickte ihn an die Forschungsabteilung. In der Forschungsabteilung wunderte man sich zunächst , warum der Bericht über George Abnego überhaupt gekommen war, da Abnego ke i ne der mittlerweile bekannten Symptome zeigte, die auf so exotische medizinische Neuerungen wie Zerebralma sern oder Arterientrichinose hinwiesen. Dann bemerkte man die Rotstiftanmerkung und Dr. Glurts Kommentar. Die Forschungsabteilung setzte ein paar Statistiker auf die Sache an. Ein Resultat von deren Feststellungen war, daß eine Woche später ein Team von neun medizinischen Spezialisten nach Fillmore aufbrach. Ge orge Abnego wurde auf Herz und Nieren – und beileibe nicht nur das – untersucht und vermessen. Dann interviewten sie Dr. Glurt und ließen ihm auf seinen Wunsch eine Kopie ihrer Untersuchungsergebnisse zu rück. Die offizielle Kopie des Berichts ging durch eine Ironie des Zufalls ei nen Monat später verloren – in den Unruhen der Eisernen Baptisten, die letztlich Dr. Glurt dazu anregten, das unbeabsichtigte Startzeichen für die Abnegitenrevolution zu geben. Die Baptisten waren zu dieser Zeit , infolge der bedauerlichen Bevölke rungsverminderung durch atomare und bakteriologische Vernic htungs methoden, als größte religiöse Gemeinschaft der Vereinigten Staaten übriggeblieben. Die Konfession wurde von einer Fanatike rgruppe kon trolliert, die sich die Errichtung einer Baptisten-Theokratie zum Ziel gesetzt hatte. Nach umfangreichen Zerstörungen und dem üblichen Blutvergießen wurde die Revolte schließlich unterdrückt, und der An führer der Gruppe, Reverend Hemingway T. Gaunt – der geschworen hatte, weder die Pistole aus der Linken, noch die Bibel aus der Rechten zu legen, bevor nicht die Regierung Gottes geschaffen war – , wurde zum Tode verurteilt.
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Die Tageszeitung von Fillmore , der Bugle-Herald, zog trauernd Para lle len zwischen den Straßenkämpfen in Topeka und dem jüngsten atoma ren Konflikt und seinen weltweiten Auswirkungen. ›Da die internationalen Transport- und Nachrichtenverbindungen völlig zusammengebrochen sind‹, fuhr der Artikel trübsinnig fort , ›können wir nur Vermutungen darüber anstellen, wie es in anderen Teilen der Welt aussieht. Wir wissen wenig mehr, als daß Australien völlig in den Fluten des Ozeans verschwunden ist und daß Mitteleuropa eine radioaktive Wüste ist. Mit Trauer müssen wir feststellen, daß unser mißhandelter Planet sich heute ebenso drastisch von seinem Aussehen vor zehn Jah ren unterscheidet, wie die schrecklichen Mißgeburten, die allerorts zur Welt kommen, sich infolge der Strahlung schmerz lich von ihren Eltern unterscheiden. Fürwahr, in diesen Tagen des Unheils , der drohenden Veränderungen, können wir in unserer Hoffnungslosigkeit und Nie dergeschla genheit nur den Himmel um ein Zeichen anflehen, ein Zeichen, daß alles wieder normal wird, so wie es einstens war, daß die Fluten der Verheerung zu rückweichen und wir wieder den festen Boden der Normalität unter unseren Füßen spüren.‹ Als Dr. Glurt diesen Artikel las, leistete er sich ein sarkastisches Schul terzucken ob dieses Pathos, aber dann erregte der letzte Satz seine Aufmerksamkeit. Am gleichen Abend warf er den Bericht des Medizinerteams in den Postschlitz des Zeitungsverlags. Auf den Rand der ersten Seite hatte er die lakonische Bemerkung gekritzelt: ›Vielleicht von Interesse für Sie.‹ Der nächste Bugle-Herald trompetete mit einer fünfspaltigen Schlag zeile: BÜRGER VON FILLMORE DAS ZEICHEN?
Normalmann von Fillmore als Antwort des Himmels – Stadtarzt enthüllt
medizinisches Regierungsgeheimnis
Der nachfolgende Artikel war großzügig mit Zitaten gewürzt , die etwa zu gleichen Teilen aus dem Regierungsbericht und aus den Psalmen entlehnt waren. Die verdatterten Bürger von Fillmore erfuhren, daß einer ihre r Mitbürger, ein gewisser George Abnego, eine lebende Abs traktion war. Durch eine Reihe von mehr als unwahrscheinlichen Zufäl len entsprach Abnego physisch, psychisch und auch in allen sonstigen Belangen haargenau jenem hypothetischen Wesen, dem statistischen
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Durc hschnittsmenschen. Wie aus der letzten Vorkriegsstatistik der US- Bevölkerung hervorging, hatte George Abnego gerade die Körpergröße und das Gewicht des durchschnittlichen amerikanischen Mannes. Er hatte genau in dem Alter geheiratet – Jahr, Monat und Tag –, in dem laut Statistik der Durch schnittsamerikaner heiratete. Seine Frau war um die durchschnittliche Anzahl von Jahren jünger als er; sein Einkommen war, nach der letzten Steuererklä rung zu schließen, genau das Durchschnittseinkommen. Und endlich entsprachen sogar seine Zähne nach Zahl und Zustand genau dem Gebiß, das der Amerikanische Zahnärzteverband dem Durchschnittsbürger zuschrieb. Abnegos Stoffwechsel, Blutdruck, Körpermaße, geheimste Neurosen und Komplexe, alles entsprach dem Mittel aus den neuesten zu Verfü gung stehenden Daten. Auch tiefenpsychologische Tests konnten nichts anderes zeigen: George Abnego war nicht nur normal, sondern absolut durc hschnittlich. Und schließlich war Mrs. Abnego vor kurzem von ihrem dritten Kind entbunden worden. Nicht nur war dieses Kind, ein Junge, genau zu der Zeit auf die Welt gekommen, die die Familienstatistik angab, sondern es war auch – im Gegensatz zu den meisten anderen Babys im ganzen Land – ein völlig normales Exemplar der Spezies Mensch. Der Bugle-Herald feierte das Ereignis mit geradezu biblischen Ergüs sen und fügte ein etwas überbelichtetes Foto der Familie bei, auf dem die versammelten Abnegos dem Leser gläsernen Auges entgegenstarr ten und, wie manch einer es formulierte, scheußlich mittelmäßig aus sahen. Der Artikel wurde den Zeitungen in den anderen Bundesländern ange boten. Anfangs verhielten sich die Nachrichtenmedien noch zurückhaltend, aber dann kam ansteckende Begeisterung für dieses Symbol des nor malen Lebens wie eine Lawine ins Rollen, das öffentliche Interesse konnte intensiver nicht mehr werden, und die Zeitungen flossen über vor enthusiastischen Hymnen auf den ›Normalmann von Fillmore‹. An der staatlichen Universität von Nebraska bemerkte der Biologiepro fessor Roderick Klingmeister, daß viele seiner Hörer große Ansteckpla ketten mit dem Bild George Abnegos trugen. »Bevor ich mit meiner Vorlesung beginne«, sagte der Professor schmunzelnd, »möchte ich Sie doch darauf hinweisen, daß dieser Ihr ›Normalmann‹ kein Messias ist. Ich bedauere feststellen zu müssen, daß er eben nur fleischgewordenes
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Mittelmaß ist, denn, sehen Sie, der Medianwert einer Verteilungskurve ist…« Er beendete seine Ausführungen unfreiwillig, als man ihm mit dem Demonstrationsmikroskop in bedauerlicher Zweckentfremdung dieses Instruments den Schädel einschlug. Schon in diesem frühen Stadium fiel es einigen aufmerksamen Politi kern auf, daß niemand für diese betrüblich emotionelle Handlung vor Gericht gestellt wurde. Der Vorfall ähnelte einer Reihe anderer, die sich in der Folgezeit in der ganzen Nation zutrugen. Da gab es zum Beispiel den unglückseligen, namentlich nicht bekannten Bürger von Duluth, der am Höhepunkt der Abnego-Parade dieser Stadt harmlos erstaunt bemerkt hatte »Verrückt – der Kerl ist doch auch nichts anderes als wir alle, ‘n ganz gewöhnli cher Mensch!« Worauf ihn die empörte Menge lynchte. Derartige Entwicklungen wurden mit Interesse verfolgt und eingehend diskutiert, insbesondere von jenen Leuten, deren Macht vom Volke stammte. George Abnego repräsentie rte, so schlossen diese Kreise, die Erfüllung eines nationalen Mythos, der schon seit etwa hundert Jahren als kultu reller Trend verfolgt werden konnte, aber erst durch die Massenmedien zur vollen Blüte herangereift war. Dieser Mythos begann mit der allen Amerikanern schon im zartesten Alter gestellten Forderung, ja nicht anders zu sein als die Nachbarskin der, sondern eben ›normale, gesunde amerika nische Buben und Mäd chen‹. Auf höchster politischer Ebene trat der Trend als hemdsärmeli ger Wahlkandidat zu Tage, der mit patriotisch geschwellter Brust ver kündete: »Schaut, Leute, mich kennt doch jeder, jeder weiß, was ich bin, ein ganz gewöhnlicher Durchschnittsbürger!« Und aus diesem Mythos entstanden solche liebenswerte Bräuche wie das Küssen von Babys durch Politiker (vorzugsweise vor Wahlen), der Kult des gesellschaftlichen Status, sowie alle die überspannten Mode torheiten, die die Bevölkerung mit der mo notonen Regelmäßigkeit ei nes Scheibenwischers durchmachte. Der Mythos der Klubs und Vereine und Brüderschaften und Verbindungen. Der Mythos des guten, weil durchschnittlichen Bü rgers. In diesem Jahr fand eine Präsidentenwahl statt. Da von den Vereinigten Staaten praktisch nur der Mittelwesten übrig geblieben war, gab es so gut wie keine Demokratische Partei mehr.
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Ihre kümmerlichen Reste wurden von einer Gruppe absorbiert, die sich ›Alte-Garde- Republikaner‹ nannte und die bei den herrschenden Ver hältnissen noch am ehesten als ame rikanische Linke bezeichnet werden konnte. Die Partei an der Macht waren die ›Konservativen Republika ners die so extrem rechts standen, daß schon royalistische Tendenzen zu verzeichnen waren. Diese Seite war sich der Stimmen der Theokra ten und damit des Wahlausgangs sehr sicher. Die Republikaner der Alten Garde suchten verzweifelt nach einem ge eigneten Präsidentschaftskandidaten. Nachdem sie mit Bedauern von einer Nominierung des jugendlichen Epileptikers, der im Widerspruch zu sämtlichen Gesetzen zum Gouverneur von Süddakota gewählt wor den war, absehen mußten, und auch die psalmensingende Großmutter aus Oklahoma nicht in Frage kam, die ihre Reden im Senat durch reli giöse Banjo-Musik auffrischte, hatte ein Parteistratege eine grandiose Idee. Und so stieg eines schönen Sommernachmittags die Nominie rungskommission in Fillmore aus der seit kurzem wieder verkehrenden Dampfeisenbahn. Von dem Augenblick an, da man Abnego zur Kandidatur überredet und seinen letzten wohlmeinenden Einwand niedergebügelt hatte (daß er nämlich Mitglied der Oppositionspartei sei), war für die Alte Garde alles in Butter. Aufmerksame Wahlpro gnostiker vernahmen bald das erste leise Beben des einsetzenden Erdrutsches. Abnegos Wahlkampagne stand unter dem Motto: ›Mit dem Normal mann zurück zu einer normalen Welt!‹ Als man sich auf Seite der Konservativen Republikaner auf gerappelt hatte und hastig einen Parteikonvent anberaumte, um sich der Lawine entgegenzustellen, war es zu spät. Dennoch versuchte man mit ent sprechend geänderter Taktik einen Frontalangriff. Die Konservativen nominierten einen Buckligen für die Prä sidentschaft, der noch unter dem Nachteil litt, ein als Genie ver schriener Jura-Professor an einer Snob-Universität zu sein. Er hatte eine kinderlose Ehe geführt und war geschieden, und zu guter Letzt hatte er vor einem Untersuchungskomitee zugegeben, surrealistische Gedichte verfaßt und veröffentlicht zu haben. Pla kate im ganzen Land ließen ihn dämonisch ins Volk grinsen, den Buckel in doppelter Lebens größe abgebildet: ›Ein abnormaler Mann für eine abnormale Welt!‹ Trotz dieses brillanten Einfalls stand der Ausgang der Wahl von vorn herein fest. Die Sehnsucht nach der guten, alten, normalen Zeit besiegte den
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zweifelsohne realistischeren Slogan der Konservativen im Verhältnis drei zu eins; vier Jahre später lautete das Wahlergebnis für dieselben Opponenten schon fünfeinhalb zu eins, und als sich Abnego für eine dritte Amtsperiode bewarb, gab es keinerlei organisierte Opposition mehr… Nicht, daß er etwa seine Gegner unterdrückt hätte. Unter Abnegos Präsidentschaft war die politische Meinungsfreiheit so wenig einge schränkt wie nie zuvor, und doch – oder vielleicht gerade deshalb – wurde sie weniger denn je wahrgenommen. Wo immer es anging, vermied Abnego Entscheidungen, und wenn sie nicht zu umgehen waren, entschied er immer nach Präzedenzfällen. Er sprach selten über problematische Themen und engagierte sich nie. Seine einzigen tieferen Gefühlsregungen betrafen seine Familie. ›Wie kann man ein Vakuum durch den Kakao ziehen?‹ hatten sich Oppositionszeitungen und Karikaturisten in den ersten Jahren der Ab negistenrevolution beschwert, als sich noch Gegenkandidaten fanden. Wiederholt versuchte man, ihm lächerliche Bemerkungen oder Einges tändnisse zu entlocken, aber Abnego war einfach nicht fähig, etwas zu sagen, das einer Mehrheit der Bevölkerung komisch vorgekommen wä re. Krisen? »Nun«, hatte Abnego erklärt – jedes Schulkind kannte die Ge schichte – »ich habe festgestellt, daß selbst die größten Waldbrände eines Tages von selbst verlöschen, wenn man sie in Ruhe läßt. Das Wichtigste ist jedenfalls, sich nicht unnötig aufzuregen.« Und so hielt George Abnego den Blutdruck der ganzen Nation auf ei nem vernünftigen Mittelwert. Nach Jahren der Angst, nach Zerstörung und Zusammenbruch und immer mörderischeren Kriegen waren Ruhe und Ereignislosigkeit vielen willkommen, und sie waren dankbar dafür. Es schien tatsächlich, als wäre vom ersten Amtsantritt Abnegos an das Chaos langsam zurückgewichen und herrliche, ersehnte Stabilität an seine Stelle getreten. In mancher Hinsicht, so etwa beim Rückgang der Mißgeburten, hatte das nichts mit dem Normalmann von Fillmore zu tun. Auf anderen Gebieten aber wurde die ausgleichende und beruhi gende Wirkung der phlegmatischen Einstellung der Abnegisten offen sichtlich. So stellten erstaunte Lexikographen fest, daß die Slangaus drücke, die bei den Jugendlichen während Abnegos erster Amtsperiode beliebt gewesen waren, von ihren Kindern achtzehn Jahre später wäh rend seiner fünften Präsidentschaft noch immer und mit der gleichen Bedeutung verwendet wurden.
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Typische Beispiele für die unemotionelle Geisteshaltung, die für den Abnegismus so charakteristisch war, lieferte natürlich vor allem der Präsident. Eines der frühesten historisch überlie ferten Musterstücke entstand nach einer Aufführung von Romeo und Julia: »Es ist wohl bes ser, überhaupt nicht geliebt zu haben, als zu lieben und alles zu verlie ren«, soll der Präsident angesichts des morbiden Endes bemerkt ha ben. Zu Beginn der sechsten Amtsperiode Abnegos – als sein ältester Sohn als Vizepräsident amtierte – wurde die Verbindung mit Europa durch eine Gruppe von Leuten wiederhergestellt, die mit einem Frachtschiff andampften, das aus den geborgenen Teilen von drei versenkten Zer störern und einem Flugzeugträger zusammengeflickt war. Sie wurden überall mit abnegistisch verhaltener Herzlichkeit willko m men geheißen und im ganzen Lande herumgereicht. Die Europäer wa ren verblüfft über die politische und militärische Interesselosigkeit, die schläfrige Zufriedenheit allerorts und den rapiden technologischen Rückschritt. Einer der Delegierten warf sein diplomatisches Taktgefühl so weit über Bord, daß er sich vor der Abreise folgende Bemerkung erlaubte: »Wir kamen nach Amerika, diesem Mekka der Industrie und Technik, weil wir hofften, Hilfe bei der Lösung schwieriger technischer Probleme zu finden – etwa die Anwendung der Atomenergie in Fabriken oder für Handfeuerwaffen betreffend. An diesen Problemen scheitert ein Auf schwung unserer Nachkriegsindustrie. Aber die Überlebenden der Ver einigten Staaten verstehen nicht einmal, was uns, den Überlebenden Europas, so dringlich erscheint. Es tut mir leid, aber diese ganze Nation befindet sich in einer Art Trance!« Seine amerikanischen Gastgeber waren keineswegs gekränkt. Man lä chelte höflich und zuckte die Schultern. Der Gesandte kehrte in seine Heimat zurück und berichtete seinen Landsleuten, daß die verrückten Amerikaner sich schließlich auf nationalen Kretinismus spezialisiert hät ten. Ein anderer europäischer Delegierter jedoch, der sich aufmerksam al les angesehen und viele neugierige Fragen gestellt hatte, machte sich nach seiner Heimkehr daran, die philosophischen Grundlagen der Ab negistenrevolution zu definieren. In einem weltweit Interesse findenden Buch stellte Michel Gaston Fouffnique, ehemals Professor für Geschichte an der Sorbonne, fest, daß der Mensch des 20. Jahrhunderts zwar die klassisch starre Denk
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weise der alten Griechen insoweit abgelegt hatte, daß er eine nicht aristotelische Logik und eine nicht-euklidische Geometrie schaffen konnte – andererseits aber nicht genügend geistigen Wagemut beses sen hatte, um ein nicht-platonisches System der Politik zu formulieren. Nicht vor Abnego. ›Seit Sokrates’ Zeiten‹, schrieb Monsieur Fouffnique, ›standen sämtli che politischen Ideologien unter dem Bann der Vorstellung, daß die Besten regieren müßten. Wie diese ›Besten‹ zu finden sind, welcher Wertmaßstab dabei anzulegen ist – daran entzünden sich seit nahezu drei Jahrtausenden die Feuer politischer Kontroversen. Ob nun eine Aristokratie der Geburt oder eine des Intellekts herrschen soll, ist eine Frage der Wertbeurteilung; ob die Machthaber durch den Willen eines Gottes bestimmt werden sollen, den man etwa aus den Innereien eines Schweines herauszulesen glaubte, oder durch den Willen des ganzen Volkes mittels einer Wahl – das liegt nur daran, welche Methode man vorzieht. Bis vor kurzem ist jedoch kein einziges politisches System von dem grundlegenden und nie in Frage gestellten Prinzip abgewichen, das erstmalig in Platos Staat, seinem hypothetischen Musterbild einer Ge sellschaftsordnung, zum Ausdruck kam. Nun endlich hat Amerika die Gültigkeit dieses Axioms in Zweifel gezo gen. Diese junge Demokratie des Westens, die als erste die Menschen rechte in ihrer Rechtsprechung durchsetzte, schenkt nun einer kranken Welt die Doktrin des kleinsten gemeinsamen Nenners in der Regierung. Wie ich nach umfangreichen Beobachtungen feststellen konnte, regie ren nach dieser Doktrin nicht die Schlechtesten, wie manche nicht vor urteilsfreie De legierte wahrhaben wollen – sondern die Mittelmäßigen: die Null-Persönlichkeiten mit keinerlei individualistischen Abwei chungen.« In den radioaktiven Trümmern des modernsten aller Kriege hausend, lauschten Europas Überlebende gebannt Rundfunklesungen von Fouff niques Arbeit. Die friedvolle Monotonie, die in den Vereinigten Staaten herrschen sollte, ließ sie sehnsüchtig auf horchen. Wie Theoretiker al lenthalben darlegten, tendierte eine aus ›Null-Persönlichkeiten‹ zu sammengesetzte Regierung zwangsläufig dazu, Unruhen, Streitigke i ten, schwierige Entscheidungen etcetera zu vermeiden, da solche Um stände zielstrebigen und fantasievollen Individuen höchst gefährliche Möglichkeiten boten, während die Abnegisten selbst längst zu kämpfen verlernt hatten, da sie als echtes Mittelmaß eben nie auf einer be stimmten Seite standen, nie Partei ergriffen… Die verschiedenen anderen Nachkriegsregierungen blieben noch eine
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Weile an der Macht. Aber die Lehre des Abnegismus wurde verbreitet. Straßenprediger traten auf. Sie waren immer ganz gewöhnliche Leute, für die sich mit der Zeit die Bezeichnung ›Abnegos‹ durchsetzte. Die zu dieser Zeit in der Welt häufigste Re gierungsform – verschiedene Abar ten dessen, was man früher als totalitär bezeichnet hatte – hatte ihre Schwierigkeiten mit den Abnegos, da jedesmal ein neuer da war, wenn man einen eliminierte, weil diese Leute immer den Medien einer be stimmten Bevölkerungsgruppe darstellten und der Abnego so lange lebte, wie seine Bevölkerungsgruppe existierte. So wurde die Philoso phie des Abnegismus in alle Länder der Erde verbreitet und fand viele Anhänger. Oliver Abnego wurde der erste Präsident der Welt. Gleichzeitig war er der sechste Präsident der Vereinigten Staaten dieses Namens. Sein Sohn war Vizepräsident und Vorsitzender eines Senats, der fast zur Gänze aus seinen Onkeln, Tanten und Vettern bestand. Der Lebens standard dieser Abnego-Generation war unmerklich niedriger als der zu Zeiten des Begründers der Dy nastie. Als Weltpräsident ließ sich Oliver Abnego nur eine einzige legislative Maßnahme zuschulden kommen: die Ausschreibung staatlicher Stipen dien für diejenigen Studenten, deren Noten dem Durchschnitt ihrer Altersgruppe in der ganzen Welt am nächsten kamen. Doch konnte man dem Präsidenten wenigstens nicht eine für sein hohes Amt unge bührliche Originalität vorhalten, da schon seit geraumer Zeit alle Be wertungssysteme in Wissenschaft, Sport und sogar in der Industrie darauf hinausliefen, daß die durchschnittlichste Leistung am höchsten anerkannt wurde, während die besten wie die schlechtesten Leistungen gleichermaßen scheel angesehen wurden. Als nach einiger Zeit die Erdöl Vorräte der Welt erschöpft waren, wandten sich die Menschen gleichmütig aufs neue der Kohle zu. Und bald wurden die letzten Turbinen in Museen untergebracht, obwohl sie durchaus noch funktionierten: niemand wollte jedoch elektrischen Strom haben, wenn es nicht für alle möglich war – ein derartig indiv i dualistischer Luxus widersprach den Prinzipien des Abnegismus. Literarisch gesehen, zeichnete sich diese Zeit durch exakt gereimte Gedichte in starrer Metrik aus, die der Lieblichkeit der eigenen Ehefrau oder der Ehrwürdigkeit einer Großmutter gewidmet waren. Und wäre nicht die Anthropologie wie so manch andere Wissenschaft längst eines friedlichen Todes entschlafen, dann hätte man festgestellt, daß die Tendenz zur Gleichförmigkeit auf der ganzen Welt erstaunliche Ausma ße erreichte; nicht nur was Knochenbau, Gesichtszüge, Haut- und
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Haarfarbe betraf, sondern auch auf dem Gebiet von Intelligenz und Persönlichkeit. Die Menschheit betrieb unbewußt Inzucht in Richtung auf das absolute Mittelmaß. Und diese Entwicklung ging relativ schnell. Kurze Zeit bevor der Menschheit auch die Kohle ausging und niemand sich um neue Energiequellen Gedanken machte, fand ein letztes ver zweifeltes Aufflackern von Intellekt statt, als sich eine Gruppe von In dividualisten in der Nähe von Kairo zusammenschloß. Diese Leute, die – soweit man sie überhaupt beachtete – als Niliten bezeichnet wurden, waren zumeist von ihrer Umgebung als zu sehr vom Mittel abweichend ausgestoßen worden: Genies und Geisteskranke, Fanatiker und Krüp pel. Zu ihrer Blütezeit standen den Niliten umfangreiche technische Mittel sowie zahllose Bücher zur Verfügung, die aus den verfallenden Museen und Bibliotheken der ganzen Welt gerettet worden waren. Die von ihren Mitmenschen bald vergessenen Niliten debattierten und stritten eifrig, während sie ihre schlammigen Felder gerade nur so weit bebauten, als es zum Überleben nötig war. In langen Diskussionen ka men sie zu der Überzeugung, daß sie die Alleinerben der Gattung Homo sapiens waren, während die übrige Weltbevölkerung zu einer minderen Spezies, dem Homo abnegus, degeneriert waren. Der Vorsprung, den der Mensch in der Evolution lange Zeit besessen hatte, meinten die Niliten, sei vor allem seiner Vielseitigkeit und Anpas sungsfähigkeit zuzuschreiben gewesen. Während andere Lebewesen durch die Umweltbedingungen auf eine bestimmte enge Entwicklungs bahn gezwungen worden waren, hatte der Mensch die Fähigkeit entwi ckelt, seine Umwelt selbst zu gestalten und damit die Möglichkeit ge habt, seine Persönlichkeit frei zu entwickeln. Bis sich die Umwelt dann gerächt hatte: Um in einer überbevölkerten Welt Kriege zu vermeiden, mußten die Menschen immer mehr ihrer persönlichen Freiheiten aufge ben. Diese rückläufige Entwicklung führte zwangsläufig zur NullPersönlichkeit, zum Ausgleich aller Gegensätze und damit zum Ende aller Konflikte. Also sprachen die Niliten. Dann aber wurden sie sich uneinig darüber, welche der alten Waffen verwendet werden sollten, um den Homo ab negus vor sich selbst zu retten, und welche Umerziehungsmethoden wohl die wirksamsten wären. In dem folgenden blutigen Konflikt wen deten sie die zur Diskussion stehenden Waffen schließlich gegeneinan der an, was zur völligen Zerstörung ihrer Niederlassung führte und das Ende der Niliten war. Etwa zu dieser Zeit waren auch die letzten Kohlelager erschöpft, und die Menschheit zog sich in die weiten Wälder zurück, aus denen sie
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einst gekommen war. Die Herrschaft des Homo abnegus dauerte noch eine runde Viertelmil lion Jahre, dann aber löste ihn endgültig eine neue Spezies als Beherr scher des Planeten ab: Ganis sapiens, Nachfahre einer Ladung Neufundländer-Hunde, die damals im 20. Jahrhundert auf einer Insel in der Hudson-Bay gestrandet waren, als das Frachtschiff sank, das sie zu neuen Besitzern bringen sollte. Diese zähen und intelligenten Hunde verbrachten gezwungenermaßen mehrere hunderttausend Jahre in ihrer eigenen Gesellschaft und lern ten aus vermutlich dem gleichen Grund sprechen, der die Menschen dazu geführt hatte: aus Langeweile. Das harte Klima und die trostlose Umgebung schärfte ihren Geist im Kampf ums Überleben, die Kälte regte ihre Findigkeit an, und so hatten die Neufundländer in der Arktis bereits eine bemerkenswerte Zivilisation aufgebaut, bevor sie nach Süden vorstie ßen und die Menschen zu ihren Sklaven und schließlich zu ihren Haustieren machten. So wurden Menschen bald vor allem wegen ihrer Fähigkeit gehalten, Stöckchen und andere Gegenstände zu werfen, da Apportieren bei den neuen Herren des Planeten imme r noch ein höchst beliebter Sport war, wenn auch manche Gelehrtentypen ein beklagenswert seßhaftes Leben vorzuziehen schienen. Besonders beliebte Haustiere waren Züchtungen von Menschen mit extrem langen, dünnen Armen. Andere Hunde bevorzugten, je nach individuellem Geschmack, eher muskulöse Menschenrassen mit zwar kurzen, aber sehr kräftigen Armen; mit unter erzielte man recht inte ressante Ergebnisse durch die Inzucht rachitischer Exemplare: die Ar me dieser Haustiere waren so geschmeidig, als hätten sie nahezu keine Knochen. Obwohl diese Sonderzüchtung vom ästhetischen und wissen schaftlichen Standpunkt bemerkenswert war, wurde sie doch allgemein als ein Zeichen der Dekadenz des Besitzers abgelehnt und von den Tierschutzvereinen als ein Mißbrauch des Geschöpfes angeprangert. Mit der Zeit entwickelte die Hundezivilisation natürlich Maschinen, die Stöcke weiter, schneller und öfter werfen konnten; nur in höchst rück ständigen Gebieten wurden noch Haustiere für den Sport verwendet. Daraufhin starb die Spezies Mensch aus.
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Noahs Kinder
Es war an dem Tag, da Plunkett seine Frau unterdrückt nach ihrem jüngsten Sohn rufen hörte. Er ließ die Tür des Legehauses hinter sich zufallen, ohne von dem nervösen Aufgackern der Hühner Notiz zu nehmen. Sie hatte, sah er jetzt, die Hände wie ein Sprachrohr vor den Mund gelegt in der Hoff nung, nur der Junge würde sie hören. »Saul! Komm sofort zurück! Sofort, hörst du! Soll dich dein Vater auf der Straße erwischen? Saul!« Der letzte Ruf war schrill und deutlich, so als wüßte sie, daß der Mann sie schon gehört hatte. Arme Ann! Leise, aber flink schlich sich Plunkett durch die durcheinander laufenden Hühner zurück zum Seitenausgang. Draußen fiel er in einen schweren Trab. Er hörte die anderen Kinder aus dem Futterschuppen stürzen. Gut! Nach Ann und mir haben sie die Verantwortung, dachte Plunkett. Soll ten sie sehen und lernen, immer wieder. »Saul!« schrie seine Frau verzweifelt. »Saul, dein Vater kommt!« Sie stand auf der Türschwelle und holte tief Luft. »Elliot«, rief sie sei nem Rücken zu, als er um die Ecke bog und über den Betondeckel des Brunnens sprang. »Bitte! Ich fühle mich nicht gut!« Eine recht unangenehme Schwangerschaft diesmal; und sie war im sechsten Monat. Aber mit Saul, dachte er, hat das nichts zu tun. Saul hätte es besser wissen müssen. Als er die letzte hartgefrorene Lehmfurche des Hofes erreicht hatte, blieb er einen Augenblick stehen und schnappte nach Luft. Früher wäre er nach einem so kurzen Lauf – vom mittleren Hühnerhaus bis zum Ende des Gemüsebeets – nicht außer Atem gewesen. Kümmerliche hundert Meter! Und wenn man bedachte, wieviel Übung er in letzter Zeit gehabt hatte! Er konnte sehen, wie der Junge spielerisch einen Stock hob und ihn für den Hund fortschleuderte. Saul befand sich weit außerhalb der di cken weißen Linie, die sein Vater über die Straße gezogen hatte. »Elliot!« rief seine Frau wieder. »Er ist doch erst sechs! Er…« Plunkett riß den Mund auf und brüllte aus vollem Halse: »Saul! Saul
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Plunkett! Lauf los!« Er wußte, daß es laut genug gewesen war. Er drückte den Knopf sei ner Stoppuhr und hob den rechten Arm hoch, hieb die verrinnenden Sekunden mit der Faust in die Luft. Der Junge hatte gehört. Er fuhr herum und ließ den Stock fallen, als er den erhobenen Arm auf und ab schwenken sah: die Stoppuhr lief. Einen Augenblick lang stand er bewegungsunfähig da. Acht Sekunden. Plunkett hob den Blick. Saul war losgerannt, aber Rusty, der ihm verspielt kläffend vor die Füße lief, brachte ihn aus dem Rhythmus. Ann war mühselig durch den Garten zu ihm herüber gekommen und stand nun neben ihm, besorgt über seinen Ellbogen auf die Stoppuhr starrend. Immer wieder warf sie ihrem Mann einen unsicher bittenden Blick zu. Sie hätte jetzt im November nicht in dem dünnen Hauskleid herauskommen sollen. Aber auch sie mußte lernen. Plunkett sah un verwandt auf den Sekundenzeiger. Eine Minute vierzig Sekunden. Er hörte nun das begeisterte Bellen des Hundes näherkommen, aber es folgte noch kein Echo laufender Füße. Zwei Minuten. Er würde es nicht schaffen. Die alten bitteren Gedanken begannen wieder in Plunketts Hirn zu brennen. Ein Vater, der seinen sechsjährigen Sohn unbarmherzig tra i nierte’ – mit der besten Stoppuhr, die es gab. Das waren also die wis senschaftlichen Erziehungsmethoden dieser fortschrittlichsten aller Zei ten… Zweieinhalb Minuten. Rustys Kläffen klang nun ganz nahe, und Plun kett konnte das gehetzte Klatschen der rennenden Füße auf der Straße hören. Vielleicht würde es der Junge doch schaffen! Wenn er es doch schaffte! »Schnell, Saul«, keuchte die Mutter. »Du kannst’s!« Plunkett sah auf, als der Junge an ihnen vorbeijagte. Seine Jeans wa ren bereits dunkel vor Schweiß. »Warum atmet er nicht richtig, so wie ich’s ihm beigebracht hab’?« murmelte der Mann. »So ist er gleich er schöpft.« Kurz vor dem Haus stolperte Saul über eine Unebenheit und fiel der Länge nach hin. Ann stieß einen erschrockenen Seufzer aus. »Das gilt nicht, Elliot. Er ist gefallen!«
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»Steh auf, Kleiner!« brüllte Herbie, der ältere Bruder, von der Garage her, wo er mit Josephine Dawkins stand, einen Kübel voll Eier in der Hand. »Steh auf und renn! Hier herum – du schaffst es!« Der Junge raffte sich auf und stürzte los. Plunkett hörte sein schluch zendes Keuchen. Er erreichte die Kellertreppe und machte einen ver zweifelten Satz hinunter. Plunkett drückte wieder auf den Knopf. Der Sekundenzeiger hielt an. Drei Minuten, dreizehn Sekunden. Er hielt die Stoppuhr seiner Frau entgegen. »Dreizehn Sekunden, Ann.« Ihr Gesicht fiel ein. Er ging zum Haus. Saul kam nach Atem ringend die Kellertreppe her auf gestolpert; er ließ den Blick nicht von seinem Vater. »Komm her, Saul. Schau auf die Uhr. Was siehst du?« Der Junge starrte unsicher auf das Zifferblatt. Sein Mund verzog sich, und aus den erschrocken aufgerissenen Augen begannen Tränen über das staubige Gesicht hinunterzukollern. »M- mehr als drei Minuten, Paps?« »Mehr als drei Minuten, Saul. Also, Saul – wein nicht, mein Junge, das hat keinen Sinn – Saul, was war gewesen, wenn du im Ernstfall länger als drei Minuten bis zum Keller gebraucht hättest?« Leise und unsicher, verzweifelt um Fassung ringend: »Die großen Tü ren wären zu.« »Die großen Türen wären geschlossen. Und du könntest nicht mehr hinein. Was würde dann mit dir geschehen? Hör auf zu heulen. Antwor te!« »Wenn die Bomben kommen, dann, d-dann hätt ic h keinen Schutz. Ich tat verbrennen wie ein Zündholz. Und – und das einzige, was von mir übrigblieb’ war ein schwarzer Fleck am Boden. Und – und…« »Und der radioaktive Staub«, half sein Vater nach. »Elliot…« schluchzte Ann hinter ihm. »Ich möcht…« »Ann – bitte! Und der radioaktive Staub, mein Junge?« »Und wenn die Bomben mich nicht treffen, dann der radioaktive Staub. Und meine Haut tät verbrennen, und meine Lungen – bitte, Paps, ich werd’s nie mehr tun!« »Und deine. Augen? Was würde mit Deinen Augen geschehen?«
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Eine müde Kinderfaust rieb über eines der Augen. »U-und meine Au gen würden rausfallen, und meine Zähne würden rausfallen, und alles tat mir schrecklich weh…« »Ja, alles. Das würde passieren, wenn du bei einem Alarm zu spät zum Keller kommst, wenn die Türen geschlossen sind. Nach drei Minu ten legen wir die Hebel um, und egal wer noch draußen ist – es werden die vier großen Ecktüren zuschwingen und den Keller völlig absiegeln. Verstehst du das, Saul?« Die beiden Dawkins-Kinder standen mit offenem Mund und weißem Gesicht da und hörten zu. Ihre Eltern hatten sie aus der Stadt gebracht und Elliot Plunkett gebeten, ihr Andenken an eine alte Freundschaft, ihre Kinder so zu schützen wie die seinen. Nun, genau das tat er. Auf die einzig mögliche Weise. »Ja, Paps. Ich werd’s nie mehr tun. Nie mehr.« »Das hoffe ich. Nun geh mal in die Scheune voraus.« Plunkett zog seinen Ledergürtel aus den Schlaufen. »Elliot! Meinst du nicht, er versteht diese schreckliche Angelegenheit jetzt? Prügel machen es nicht deutlicher!« Er wandte sich zurück, bevor er dem weinenden Jungen folgte, der zur Scheune stolperte. »Nein, Ann, Prügel machen’s nicht deutlicher. Aber so wird er vielleicht nicht so schnell vergessen, was er jetzt verstanden hat. Jedes Lebewesen vergißt Unangenehmes so rasch wie möglich – steckt den Kopf in den Sand. Aber wir sieben hier werden binnen drei Minuten nach dem Alarm im Keller sein, und wenn dieser Gürtel drauf geht!« Als Plunkett später mit seinen schweren Arbeitsstiefeln in die Küche stolperte seufzte er. Ann fütterte Dinah. Ihre Augen nicht von dem Baby wendend fragte sie: »Kein Nachtmahl für ihn, Elliot?« »Kein Nachtmahl.« Er seufzte wieder. »Ach, Ann, manchmal ist es furchtbar schwer.« »Ja – leicht hattest du’s nicht. Und nur wenige Männer würden mit fünfunddreißig noch Farmer werden wollen. Noch weniger würden ihren letzten Pfennig in einen unterirdischen Bunker mit Generatoranlage stecken, nur für den Fall des Falles… Aber du hast recht damit.« »Ich wünschte nur«, sagte er unruhig, »ich fände noch eine Möglic h keit, das Kalb von Nancy in den Keller zu kriegen. Wenn der Eierpreis nur noch einen Monat oben bleibt, kann ich den Tunnel zum Generator
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raum ausbauen. Und dann der Brunnen. Nur eine Wasserquelle, wenn sie auch noch so tief unter Be ton ist…« »Aber wie wir vor sieben Jahren hier rauskamen«, sie war nun aufge standen und berührte den groben Stoff seines Arbeitshemdes leicht mit den Lippen, »da hatten wir nur den bloßen Boden. Heute besitzen wir drei Hühnerhäuser mit tausend Fleischhühnern und ich weiß nicht wie vielen Leg- und Bruthennen.« Sie verstummte, als sein Körper sich anspannte und er sie bei den Schultern packte. »Ann, Ann! Wenn du so denkst, dann handelst du danach! Und wie kann ich da von den Kindern erwarten, daß sie… Ann, alles, was wir besitzen, ist ein Keller mit fünf Räumen unter dicken Beton mauern, den wir in ein paar Sekunden abdichten können, einen abge deckten Brunnen, der von einem unterirdischen Wasserlauf gespeist wird, einen Windgenerator für Elektrizität und einen unterirdischen Die selgenerator für Notfälle. Wir haben Vorräte für einige Zeit, Geigerzäh ler, um die Strahlung messen zu können, und bleigepanzerte Anzüge, wenn wir hinauswollen – nachher. Ich hab’ dir schon hundertmal ge sagt, daß diese Dinge unser Rettungsboot sind, während die Farm und alles andere nur ein sinkendes Schiff ist.« »Natürlich, Schatz.« Plunkett biß hilflos die Zähne zusammen, als sei ne Frau scheinbar unbeeindruckt wieder daranging, das Kind zu füttern. »Du hast ja vollkommen recht. Runterschlucken, Dinah. So-o-o. Diese letzte Veröffentlichung vom Klub der Überlebenden muß wohl jedem zu denken geben.« Ann hatte erkannt, daß er aus dem Oktoberheft von Überleben zitiert hatte. Nun gut, wenigsten taten sie etwas, die ›Überlebenden‹ – sich fieberhaft in die Erde wühlen: mit vereinten Kräften versuchen, sich und ihre Familien durch die militärische Phase des Atomzeitalters zu bringen… Der grellgrüne Umschlag des Heftes auf dem Küchentisch stach ins Auge. Er griff danach und schlug es auf der abgegriffenen Seite fünf auf, bei einem offensichtlich oft gelesenen Artikel, und schüttelte den Kopf. »Denk nur mal«, sagte er laut, »da haben diese armen Narren sich mit der Regierung wieder über die Sicherheitsspanne geeinigt. Sechs Minuten! Wie können sie – wie kann eine Organisation wie der Klub der Überlebenden das zu ihrer offiziellen Ansicht machen! Schon allein die
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Schrecksekunden…« »Es ist lächerlich«, murmelte Ann und kratzte den Rest des Breis aus der Schüssel. »Wir haben zwar automatische Detektoren, aber trotzdem! Es muß immer noch ein Mensch das Radarbild interpretieren, sonst würden wir bei jedem Meteoritenschauer in die Keller stürzen.« Er wanderte an dem großen Tisch entlang und schlug rhythmisch mit der Faust in die andere Hand. »Zuerst sind sie nicht sicher, zögern. Klar, wer mochte eine Degradierung riskieren, mit einem falschen A larm, der die ganze Nation unter die Erde schickt, der unsere eigenen Raketenstützpunkte in Angriffsbereitschaft versetzt? Und dann, wenn sie endlich sicher sind, dann erstarren sie vor Schreck. Während die Fernlenkgeschosse auf ihr Ziel zurasen, überwinden die Männer den Schrecken, stürzen durcheinander, kopflos, sind einander im Wege. Dann erst drücken sie auf den Knopf. Dann erst wird im ganzen Land über Funk das Alarmsignal betätigt.« Plunkett drehte sich zu seiner Frau um und breitete mit ernstem Nachdruck die Arme aus. »Und dann, Ann, wenn wir das Signal hören, erstarren wir! Schließlich rennen wir los. Wer weiß, wer kann wissen, wieviel dann noch von der Sicherheitsspanne übrig ist? Wenn sie offi ziell sechs Minuten angeben, dann müssen wir die Hälfte davon für das Alarmsystem rechnen. Womit drei Minuten für uns bleiben.« »Nur noch einen Löffel«, drängte Ann das Baby. »Nur noch einen. Und ru-u-unter damit!« Josephine Dawkins und Herbie waren beim Reinigen des Futterkarrens in dem Schuppen neben dem ersten Hü hnerhaus. »Alles fertig, Pa«, rief der Junge seinem Vater fröhlich zu. »Wir haben auch alle Eier. Wann holt sie Mr. Whitin ab?« »Um neun. Hast du auch im letzten Hühnerhaus fertig gefüt tert?« »Hab’ doch gesagt, alles ist fertig, oder?« meinte Herbie mit jugendli chem Unmut. »Wenn ich was sage, dann stimmt’s auch!« »Schon gut. Und jetzt, ihr zwei, schaut, daß ihr zu euren Bü chern kommt. Man weiß nie, welche Kenntnisse man später brauchen wird. Und dann sind vielleicht nur mehr Mutter und ich da, um euch etwas beizubringen.« »Ha!« bemerkte Herbie zu Josephine gewandt. »Stell dir das bloß mal vor!«
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Sie zupfte an ihrem Pullover, wo er ihr um die aufblühenden Brüst chen langsam zu eng wurde, und steckte dann einen blonden Zopf wie der fest. »Was wird aus meinen Eltern, Mr. Plunkett? Werden sie nicht…« »Nöh!« Herbie lachte das laute, rauhe Cowboy lachen, das er seit ei niger Zeit eifrig übte. »Die kannst du abschreiben. Sie wohnen doch in der Stadt, nicht? Sie werden einfach…« »… ein bißchen Asche auf einer pilzförmigen Wolke sein«, schloß er. »Au, tut mir leid«, sagte er, als sein Blick von seinem zornigen Vater auf das zitternde Mädchen fiel. Er fuhr in einem gewollt sachlichen, belehrenden Tonfall fort: »Glaub mir, es hat keinen Sinn, sich andere Hoffnungen zu machen. Es ist die Wahrheit. Deshalb haben sie ja dich und Lester zu uns herausgebracht. – Ich denke, ich werde dich heira ten, nachher. Und du solltest dir angewöhnen, ihn Pa zu nennen. Weil er dann dein Vater sein wird.« Josephine schloß verzweifelt die Augen, um die aufsteigenden Tränen zurückzuhalten, und stieß die Schuppentür auf. »Ich hasse dich, Herbie Plunkett«, rief sie, bevor sie hinausstürzte. »Du bist ein gemeines Biest!« Herbie sah seinen Vater an und schnitt eine Grimasse. Diese Weiber! Dann lief er ihr nach. »Heh, Jo, so hör doch!« Die Schwierigkeit lag darin, dachte Plunkett besorgt, als er die Reser veglühlampen für den Hydroponikgarten in den Keller trug, daß er He r bie durch dauernde Wiederholung vor allem eines eingebleut hatte: wichtig war nur das Überleben, und alles andere, wie Takt und Mitge fühl, waren ein Luxus. Selbständigkeit und Verantwortungsbewußtsein – schon vor Jahren hatte Plunkett seinen Kindern diese Tugenden anerzogen, schon als er noch in der Stadt in vollklimatisierten Büros saß und Bilanzen rechnete, immer mit einem Auge auf dem Kalender. »Trotzdem«, murmelte Plunkett, »trotzdem, verdammt noch mal, soll te Herbie nicht so…« Er schüttelte den Kopf. Im Keller inspizierte er die Brutschränke neben den langen, feucht dampfenden Hydroponikwannen. Hm, der eine Schub da würde bald ausschlüpfen. Sie mußten morgen gleich anfangen, neue Eier für den Austausch zu sammeln. Er blie b im dritten Raum stehen und stellte ein Buch in die riesige Stellage zurück an seinen Platz. »Hoffe, daß Josephine dem Jungen in punkto Lernen ein gutes Beispiel
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ist. Wenn er bei der nächsten Prüfung durchfällt, müßte ich ihn regel mäßig in die Stadt schicken. Ah ja, der Gedanke wird Herbie nicht pas sen!« Er merkte, daß er mit sich selbst gesprochen hatte, eine Ange wohnheit, die er schon seit einigen Monaten zu unterdrücken suchte. »Muß auf mich aufpassen«, murmelte er. »Verdammt – schon wie der!« Das schrille Klingeln des Telefons oben war wegen der offenstehenden Türen deutlich zu hören. Er hörte auch, wie Ann mit dem ruhigen, gle i tenden Schritt, den alle Schwangeren zu haben schienen, hinging. »Elliot! Es ist Nat Medarie!« »Sag ihm, ich komme gleich, Ann!« Er schloß die schwere Tür des Gewölbes sorgfältig hinter sich, starrte sie einen Augenblick an und stieg dann die Steintreppen hinauf. »Hallo, Nat. Was gibt’s?« »Tag, Plunk. Hab’ heute eine Postkarte von Fitzgerald gekriegt. Erin nerst du dich an ihn? – Der mit der aufgelassenen Silbermine in Monta na? Ja. Also er behauptet, wir müßten damit rechnen, daß sie die Li thiumbombe verwenden!« Plunkett lehnte sich gegen die Wand und klemmte den Hörer mit der hochgezogenen Schulter gegen das Ohr, um sich eine Zigarette anzu zünden. »Fitzgerald kann sich auch mal irren.« »Hmm. Kann er. Aber du weißt, was es heißt, wenn sie die Lithium bombe verwenden?« »Es heißt«, sagte Plunkett und starrte durch die Mauern seines Hau ses auf eine kochende Erde, »daß durch eine genügende Anzahl von Bomben eine Kettenreaktion in der Atmosphäre ausgelöst werden kann, durch die die Luft… Aber wenn sie vielleicht nur eine…« »Mensch, laß das«, unterbrach Medarie. »Das ist sinnlos, in dem Fall überlebt niemand. Da können wir’s gleich so machen wie mein Schwa ger in Chicago: zwischen Kirche und Bar hin- und herpendeln. Ich hab’ Fred immer schon gesagt… Aber hör zu, Plunk. Das heißt, daß ich recht hatte. Du bist nicht tief genug gegangen!« »Nicht tief genug! Für meinen Geschmack schon. Wenn die Schicht aus Blei und Beton und Erde nicht dick genug ist, um uns zu schützen – schau, Nat, wenn mein Schutzpanzer nichts hilft, dann kannst du, falls du weiter unten überlebt hast, ohnehin nicht an die Oberfläche zurück,
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bevor du verhungert bist. Nein – ich hab’ meine Moneten lieber in eine anständige Kraftanlage gesteckt. Wenn du keinen Strom mehr hast, kannst du die verbrauchte Luft mit der Hand in die leeren Sauerstoff behälter pumpen!« Der andere lachte kurz. »Na gut. Ich hoffe, ich seh dich mal wieder.« »Und ich hoffe, ich seh…« Plunkett verrenkte den Hals, um durchs vordere Fenster blicken zu können, als er einen alten Laster über die Löcher im Hof rumpeln hörte. »Warte mal, Nat. Eben ist Charlie Whi ting aufgetaucht. Ist heute denn nicht Sonntag?« »Schon. Er ist heute früh auch bei mir vorbeigekommen. Es gibt in der Stadt irgendeine politische Versammlung, und er möchte hingehen. Nicht genug damit, daß die Diplomaten und Generäle einander bei die ser Konferenz die Zähne zeigen. Nein, ein paar der hiesigen Philoso phen geht’s mit der totalen Vernichtung zu langsam, und sie kommen zusammen, um ihre Ideen für eine Beschleunigung zu diskutieren.« »Sei nicht so ein lausiger Pessimist«, grinste Plunkett. »Naja, laßt uns beten… Grüß Ann von mir, Plunk. « Plunkett legte den Hörer nachdenklich auf die Gabel und schlenderte in den Hof. Draußen sah er zu, wie Charlie Whiting behutsam die Tür seines Lasters öffnete, die schon seit Urzeiten nur mehr an einem äch zenden Scharnier hing. »Eier verstaut, Mr. Plunkett«, meldete Charlie. »Ladeschein unter schrieben. Hier. Sie kriegen den Scheck am Mittwoch.« »Danke, Charlie. He, Kinder, zurück zu den Schulbüchern! Los, Her bie. Du hast heute abend eine Englischprüfung. Geht der Eierpreis im mer noch rauf, Charlie?« »Klar.« Der alte Mann schob sich auf den rissigen Ledersitz und zog die Tür mit altgewohnter Vorsicht zu. Auf den Ellbogen gestützt, lehnte er sich durchs offene Fenster. »Jawohl – und ich kann euch Möchtegern-Überlebenden immer mehr abknöpfen, weil ihr zu feige seid, euer Zeug selber in die Stadt zu bringen.« »Gut, gut, das ist Ihr gutes Recht«, sagte Plunkett und fragte unbe haglich: »Was ist mit dieser Versammlung in der Stadt heute abend?« »Ein paar Leute, die diese neueste Gipfelkonferenz diskutie ren wollen. Ich bin dafür, daß wir mit dieser dämlichen Sache einfach Schluß ma chen, jawoll. Dieses Land hat noch nie was von einer Konferenz ge habt, ‘zig Konferenzen letztes Jahr, und dabei wissen wir alle ver dammt genau, was früher oder später passieren wird. Blödsinnige Zeit
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Verschwendung, sage ich. Wir müssen als erste zuschlagen.« »Vielleicht tun wir das. Vielleicht tun es die anderen. Oder vielleicht kriegen mehrere Nationen gleichzeitig diese gute Idee.« Charlie Whiting stieg heftig aufs Gaspedal und betätigte den Anlasser. »Was reden Sie da? Wenn wir sie zuerst treffen, wie können sie da noch das gleiche tun? Wenn wir zuerst und heftig genug losschlagen, erholen sie sich nie rechtzeitig, um zurückzuschlagen. Das ist meine Meinung. Aber ihr Angsthasen…« Er schüttelte ergrimmt seine weiße Mähne und ließ den Wagen mit einem Satz anfahren. »Heh!« brüllte er zurück, als er auf die Straße einbog. »Heh, schauen Sie doch!« Plunkett sah über die Schulter. Charlie Whiting schwenkte den linken Arm, zeigte zum Himmel. »Schauen Sie, Mr. Plunkett!« rief der alte Mann. »Bumm! Bumm! Bumm!« Er gackerte hysterisch und hielt sich am Lenkrad fest. Rusty kam um die Hausecke gesaust und japste kläffend hinter dem Auto her, wie es alter Hofhundtradition entsprach. Plunkett sah dem Laster nach, bis er in einer Staubwolke um die ent fernteste Kurve bog. Er starrte den Hund an, der mit dem stolzen Be wußtsein, das Auto verjagt zu haben, zurückgeschlendert kam. Armer Whiting. Armer Mensch, der wie die meisten anderen Sie ein fach für übergeschnappt hielt. Wie kannst du einem geldgierigen alten Krämer wie Whiting erlauben, deine Ware zu kaufen, bloß damit du und deine Familie nicht die Fahr ten in die Stadt riskieren mußt? Aber er hatte es schon vor Jahren begriffen: Die Welt war voll von Narren, die sich einbildeten, mit ihren Waffen schneller am Zug zu sein als sonst jemand. Und dann die Leute, die glaubten, zwei kleine Jungen könnten jeder auf seiner Straßenseite Schneebälle anhäufen und dann heimgehen, ohne auch nur einen geworfen zu haben. Leute, die sach lich über die relativen Vorteile von Plastikleitschienen gegenüber Draht zäunen diskutierten, während ihr Auto schon über den Klippenrand rutschte. Leute, die sich über Prinzipien aufplusterten. Gleichgültige Leute. Diese letzte Sorte von Narren, erinnerte sich Plunkett, hatte ihn schließlich davon abgebracht, seine Mitmenschen aufrütteln zu wollen. Man wurde es müde, den Weltuntergangspropheten zu spielen, und kam bald zu dem Punkt, wo man der menschlichen Rasse zwar alles
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Gute wünschte, aber nur mehr daran dachte, sich und die Seinen vor den mörderischen Spielen der Spezies zu retten. Nur das individuelle Überleben war… Klanng-klangg-klang-ng-ng-ng! Plunkett drückte automatisch auf den Knopf der Stoppuhr. Komisch. Für heute war doch kein Übungsalarm vorgesehen. Und die Kinder wa ren alle draußen, außer Saul – aber der traute sich wohl kaum aus sei nem Zimmer und würde schon gar nicht mit der Warnanlage herum spielen. Vielleicht hatte Ann… Er ging in die Küche. Ann war zur Tür unterwegs, laufend, stolpernd, das Baby auf dem Arm. Ihr Gesicht sah sonderbar fremd aus. »Saulie!« rief sie schrill. »Saulie! Schnell, Saulie!« »Komm schon, Mama.« Der Junge kam die Stiegen heruntergepoltert. »So schnell ich kann. Diesmal schaff ich’s!« Plötzlich verstand Plunkett. Er stützte sich mit einer Handfläche schwer gegen die Wand unter der Küchenuhr. Er sah zu, wie seine Frau hastig, schwerfällig die Stufen hinunterstieg. Saul rannte an ihm vorbei. »Ich schaff es, Paps! Ich schaff es!« Plunkett fühlte einen Stich in seinem Innern. Er schluckte trocken und flüsterte: »Brauchst dich nicht mehr beeilen, Sohn. Heute ist der Tag des Gerichts.« Er richtete sich auf und sah auf die Uhr, bemerkte, daß seine Hand ei nen feuchten Abdruck auf der Wand hinterlassen hatte. Eine Minute zwölf Sekunden. Nicht schlecht. Wirklich nicht schlecht – er hatte mit drei Minuten gerechnet. Klanngg-klangg-klang-ng-ng-ng! Ein Zittern durchlief ihn, und er konnte es nicht unterdrücken.
Was war los? Er wußte, was er tun mußte. Er mußte noch die Hand
drechselmaschine auspacken, die in der Scheune lag. »Elliot!« rief seine Frau. Es wurde ihm bewußt, daß er die Kellerstiegen hinunterstolperte, auf Füßen, die irgendwie seinem Willen nicht mehr gehorchten. Als er durch die offene Tür kam, starrten ihm fremde, angsterfüllte Gesichter entgegen. »Alle da, Paps«, sagte Saul von seinem Platz neben der Luft erneuerungsanlage. »Lester und Herbie sind im hinteren Raum, beim zweiten Schalthebel. Warum weint Josephine? Lester weint nicht und
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ich auch nicht.« Plunkett nickte dem schluchzenden Mädchen ausdruckslos zu und leg te seine Hand auf den großen Hebel, der aus der Betonmauer ragte. Er warf einen Blick auf die Uhr. Zwei Minuten, zehn Sekunden. Nicht schlecht. »Mr. Plunkett!« Lester Dawkins kam aus dem Gang hereingestürzt. »Mr. Plunkett! Herbie ist hinten hinausgerannt, um Rusty zu holen! Ich hab’ ihm…« Zwei Minuten zwanzig Sekunden, dachte Plunkett, als er die Stufen hinaufhetzte. Herbie rannte quer durch den Gemüsegarten und schnalzte mit den Fingern, um Rusty mitzulocken. Als er seinen Vater sah, preßte er erschrocken den Mund zusammen und zögerte einen Augenblick wie gelähmt. Der Hund fuhr ihm zwischen die Beine, freudig aufgeregt wedelnd. Herbie fiel. Plunkett machte ein paar Sprünge auf ihn zu. Zwei Minuten vierzig Sekunden. Jetzt hatte Herbie sich aufgerappelt und rannte wie noch nie in seinem Leben. War dieser undeutliche Donner eine ferne Explosion? Da – noch ein mal. Wie das Rülpsen eines Giganten. Wer hatte angefangen? War das noch wichtig – jetzt? Drei Minuten. Rusty trottete schwanzwedelnd die Treppe hinunter. Herbie keuchte heran. Plunkett packte ihn beim Kragen und sprang. Und als er sprang, sah er aus dem Augenwinkel, wie am südlichen Ho rizont die tödliche Phalanx der Rauchpilze aufmarschierte. Riesige Wol kenschirme, grelle Lichtblitze. Einer neben dem anderen… Er schleuderte den Jungen durch die Kellertür und stürzte hinterdrein. Drei Minuten fünf Sekunden. Er warf den Hebel herum und war schon nach hinten unterwegs, als die Tür mit einem Zischen der Hydraulik zuschwang. Der hintere Schalter war für die beiden anderen Türen. Er erreichte den Hebel, legte ihn herum. Er sah auf die Uhr. Drei Minuten zwanzig Sekunden. »Die Bomben«, stammelte Josephine tränener stickt. »Die Bomben.« Ann drückte im Hauptraum Herbie wild an sich, hielt ihn, streichelte ihn und brach wieder in Tränen aus. »Herbie, o Herbie!« »Pa – ich weiß, daß ich Prügel krieg. Ich – ich wollt dir nur sagen, daß ich weiß, ich verdien’s.« »Ich werde dich nicht bestrafen, mein Junge.«
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»Nicht? Aber, aber ich verdien’ die Haue, wirklich…« »Mag sein«, sagte Plunkett und beobachtete die wild tanzenden Zei ger der Geigerzähler an der Wand, »mag sein, daß du Prügel ver dienst«, wiederholte er so laut, daß alle zu ihm herumfuhren, »aber ich werde dich nicht bestrafen, heute nicht, nie mehr! Und wie ich dir ver gebe, so wirst auch du deinen Kindern vergeben! Verstanden?« »Ja«, antworteten sie weinend im Chor. »Wir verstehen!« »Schwört! Schwört, daß ihr und eure Kinder und die Kinder eurer Kin der niemals die Hand gegen einen anderen Menschen erheben werdet, auf keine Weise – was immer er euch getan hat!« »Wir schwören!« riefen sie. »Wir schwören!« Dann setzten sie sich al le hin. Und warteten.
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Der Marsflug
Nun ist also wieder ein Jahr vergangen, und der Tag ist da. Der Tag. Nur ist es diesmal das fünfzigste Jahr, daß wir ihn feiern. Ihre Redak teure und Programmgestalter werden morgen das Jubiläum wohl ge bührend ausschlachten. Feiern in jeder grö ßeren Stadt der Erde, ein Festtag auf jeder bewohnten Welt des Sonnensystems, na – und erst auf dem Mars! Feuerwerke, Festreden, Bankette, Paraden – da haben Sie schon was zu beric hten. Aber setzen Sie sich doch, machen Sie sich’s bequem. Ich hab’ Sie erwartet; ich fürchte nur, ich kann Ihnen nicht viel Neues erzählen – genaugenommen wird’s die gleiche alte Geschichte sein, die ich die letzten 49 Jahre den Journalisten vorgesetzt habe – und irgendwie scheint ihr nicht genug davon zu kriegen, oder? Die menschliche Seite, sagen Ihre Redakteure. Der Hintergrund zu ei nem historischen Ereignis. Jaja, genau das bin ich: die rein menschli che Seite des heutigen Feiertages. Wenn jemand von Ihnen eine Erfrischung möchte, bitte sich zu bedie nen. Diesen marsianischen Weinbrand kann ich Ihnen wärmstens emp fehlen. Wirklich durchaus trinkbar, was da heutzutage in New Quebec produziert wird. – Nein, danke, junger Mann, aber dabei kann ich Ihnen nicht Gesellschaft leisten; in meinem Alter verkraften das die Innereien nicht mehr so ganz. Aber ich seh’ Ihnen gern zu, also trinkt nur alle! Der fünfzigste Jahrestag. Wie die Zeit vergeht! Damals war ich so jung und tatendurstig und begeistert wie Sie hier – und heute bin ich ein sinnlos daherschwatzender alter Mann. Und in den Jahren dazwischen hat die Menschheit ein neues Kapitel ihrer Geschichte geschrieben, ei nes, das beispiellos ist seit den Zeiten, da wir von den Bäumen herun terstiegen. Und auf der ersten Seite dieses Kapitels, an seinem allerersten An fang, stehe ich! Ich und Caldicott und Bresh, McGuire und Stefano. Nur wir fünf – fünf verzweifelte, entschlossene Konkurrenten, alle, die von einem guten Hundert nicht weniger entschlossener, höchst intelligenter Männer üb riggeblieben waren. Wir waren physisch und psychisch untersucht wor den; man hatte unsere Begabungen, unsere Nerven und Reaktionen getestet und dann ausgesiebt und wieder ausgesiebt. Manche waren zu groß gewesen, andere zu langsam, zu schwer, zu gesellig veranlagt, hatten zuviel oder zu wenig Fantasie gehabt… bis dann nur mehr wir
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fünf da waren: stolz und freudig erregt und vor Spannung zappelnd. Denn dann begannen die entscheidenden Stunden. Stellen Sie sich das mal vor: fünf junge Männer in einem Flugzeug un terwegs zum Forschungszentrum Arizona, die einander unentwegt be lauern und sich den Kopf zerbrechen, wer es wohl sein würde. Wer der Pilot des ersten Sternenschiffes sein würde. Jeder von uns wollte der Kolumbus des Raumzeitalters sein, der als erster Mensch den Fuß auf einen anderen Planeten, auf den roten Stern, auf den Mars, setzen würde. Diese Reise würde nicht bloß eine neue Hemisphäre erschließen wie die des Kolumbus – nein, einer von uns würde durch seinen Flug zum ersten ›Stern‹, den die Menschheit je eroberte, das ganze Son nensystem, ja das unendliche Universum dem Menschen eröffnen. Und wir alle hatten förmlich Bauchweh von dem brennenden Wunsch, der erste interplanetarische Reisende zu sein. Denken Sie daran, in was für einer Zeit wir aufgewachsen waren. Die ersten unbemannten Raketen, die kaum aus der Erdatmosphäre tauch ten. Dann Menschen, die die Erde umkreisten. Und dann der erste Schritt über die Türschwelle unserer Heimatwelt: die Landung auf dem Mond. Und Raumstationen. Aber weiter kamen wir für eine ganze Weile nicht: wenn Sie je ein maßstabgetreues Modell des Sonnensystems gesehen haben, werden Sie verstehen, warum ich den Mond als unsere Türschwelle bezeichnet habe. Erst weit draußen die anderen Planeten und unvorstellbar viel weiter andere Sonnensysteme. Das Universum lockte… Wer würde der erste Astronaut, in der buchstäblichen Bedeutung des Wortes, sein? Es gab genau fünf Möglichkeiten: Caldicott, Bresh, McGuire, Stefano – und ich. Das Marsschiff war gebaut und startbereit und wartete auf seinen Piloten. Auf einen von uns. Ich erinnere mich, wie ich damals im Flugzeug die Gesichter um mich herum musterte und überlegte, daß wir Brüder hätten sein können. Vettern zumindest. Das Schiff war, was seine Masse betraf, bis aufs letzte Gramm genau estens auskalkuliert worden. Höhere Masse – geringere Ge schwindigkeit bei gleichem Schub. Deshalb mußte der Pilot dazu pas sen wie ein Maschinenteil, mußte verschiedene Geräte ersetzen kön nen, mußte ganz bestimmte Charaktereigenschaften besitzen, um das Alleinsein, die Beengtheit in der winzigen Ka bine zu ertragen, und mußte außerdem in ausgezeichneter körperlicher Verfassung sein.
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Wir alle erfüllten diese Anforderungen gleichermaßen. Wir hatten die gleiche geistige und körperliche Ausbildung durchgemacht, und unsere Hirne funktionierten anscheinend sehr ähnlich. Alles, unsere Bewegun gen, unser Auffassungsvermögen, ja die Art, wie wir sprachen, alles bemerkenswert, beunruhigend ähnlich – und dabei stammten wir aus völlig verschiedenen Gegenden des Landes. Jeder von uns wäre gut genug gewesen. Aber die Entwicklung und der Bau des Marsschiffes hatten Milliarden verschlungen, und so war es verständlich, daß ihnen ›gut genug‹ eben doch nicht genügte: sie woll ten das hundertprozentig Beste. Erst kurz bevor wir beim Raumfahrtzentrum landeten, begannen wir miteinander zu sprechen. Nicht zur freundschaftlichen Unterhaltung, o nein! Vorsichtig und mißtrauisch suchten wir einander auszuhorchen, die Schwächen der anderen herauszukriegen. Glauben Sie mir, die Un terschiede zwischen uns fünf waren wirklich minimal. Stefano zum Beispiel. Er hatte eine Mathematikvorlesung mehr als ich. Theorie der Gleichungen war’s, glaub ich. Und wie ich mir im Ge is te die Haare raufte, daß ich sie wegen des Klubabends am Dienstag nicht gehört hatte! Andererseits aber hieß es, daß er sich beim Rugby in der Oberschule eine leichte Rückenverletzung zugezogen hatte – längst ausgeheilt, natürlich. Und doch – alles wurde bewertet! Und wie würde wohl unser Sexualleben beurteilt werden? Darüber zerbrachen wir uns den Kopf, als wir auf dem hitzeflimmern den Flugfeld des Zentrums landeten. McGuire war jung verheiratet. Caldicott und ich waren mehr oder weniger verlobt, Während Stefano und Bresh auf Abwechslung Wert legten und unbekümmert nahmen, was sich ihnen bot. Auf der einen Seite deuteten Verlobung und Ehe auf ein geordnetes Gefühlsleben hin – etwas, auf das sehr großer Wert gelegt wurde. Und wenn der Pilot jemanden hatte, zu dem er zurückkehren wollte, so mochte ihm das gerade das zusätzliche bißchen Antrieb geben, das ihm bei mageren Überlebenschancen doch noch über die Runden half. Andererseits aber waren McGuires Frau, meine Irene und Caldicotts Edna nach Ansicht der maßgeblichen Leute vielleicht eher psychologi scher Ballast, zusätzliche Verantwortung und Sorge für den Piloten. Ich hörte schon die Kopfjäger in den weißen Kitteln argumentieren, daß Stefano und Bresh sich nur um sich und das Schiff Sorgen zu machen brauchten… Ich kann Ihnen verraten, ich begann ernste Zweifel zu he gen, was Irene betraf. Na gut, sagte ich mir, du liebst das Mädchen,
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aber warum mußtest du dich unbedingt gleich verloben? Aber es hatte keinen Zweck. Niemand wußte, wie es bewertet würde. Einmal in die Routine eingespannt, blieb uns jedoch kaum mehr Zeit, Gedanken zu wälzen. Jeden Morgen wurden wir unbarmherzig aus den Betten geholt, worauf wir, den halben Vormittag verstohlen gähnend, die erste Serie von Tests durchzumachen hatten. Jeden Nachmittag kamen eingehende Instruktionen über die Bedienung des Marsschiffs und lange Trainingsstunden an einem Übungsmodell der Steuerkabine. Abends setzte sich der Stundenplan nach einem leichten Nachtmahl mit weiteren Tests fort: Untersuchungstests, Wertungstests, Wiederho lungstests – die uns bis in unsere Träume verfolgten, wenn man uns endlich in Ruhe ließ. So drehten sie uns praktisch das Innerste nach außen und suchten zäh nach jenem winzigen Unterschied, nach dem Tausendstel, um das einer vielleicht besser war als die anderen. Und dann, als wir im Wachen und Träumen nichts anderes mehr ta ten, als das Schiff zu starten, zu steuern, zu landen, als unsere Reflexe zu Rasiermesserschärfe zugeschliffen waren und wir in der Kantine un sere Mahlzeiten in der festen Überzeugung schluckten, daß wir auch dabei beobachtet, überprüft, getestet wurden – da gab es unvermutet eine Pause von sechs Stunden. Dann wurden die Ergebnisse verkündet. Ich war um Haaresbreite der Beste, dicht gefolgt von Bresh. Dann kamen McGuire, Caldicott und Stefano. Ich war der erste! Ich würde der Pilot des Marsschiffes sein! Ich würde der zweite Ko lumbus sein, der Menschheit das Sonnensystem eröffnen! Irgendwie fühlte ich mich wie ein kleiner Junge, dem man sagt, so – morgen kannst du in den Wilden Westen gehen und Cowboy werden! Ich würde auf der ganzen Welt als Held gefeiert werden, mein Name würde nicht nur in die Geschichte der Raumfahrt eingehen, sondern in die der Menschheit. Man würde sich an mich erinnern, solange es eine Menschheit gab, an mich, Emmanuel Mengild. Den anderen wurde zum Trost mitgeteilt, daß sie natürlich immer noch Chancen hätten. Wenn ich im Lauf der nächsten Wochen tot um fiele oder verrückt würde oder mich weigerte, dann würde Bresh dran kommen. Und nach ihm natürlich McGuire, Caldicott und Stefano, in
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dieser Reihenfolge. Sie können sich vorstellen, was für Blicke ich von ihnen erntete! Als ich den Befehl erhielt, mich bei Colonel Graves, dem Kom mandanten des Zentrums, zu melden, stolzierte ich förmlich los. Bislang hatte ich jedesmal, wenn ich ihm unter die Augen kam, ein gutes Stück Eifer und Begeisterung zugeschaltet, was immer ich gerade tat, weil er als Komma ndant natürlich Mitglied der Bewertungskommis sion war – und vermutlich das wichtigste. Wenn e r mich etwa dabei er tappte, daß ich nach dem Frühstück etwas länger gähnte als die ande ren, mochte das einen Minuspunkt bedeuten, der dann letzten Endes den Ausschlag gab… Aber jetzt! Jetzt war er ganz einfach George Johnstown Gra ves, ein älterer Pilot aus jener Zeit, da man das Umrunden des Mondes noch als heroische Tat ansah, ebenso veraltet wie die chemischen Raketenan triebe von damals. Er war ja mutig und tüchtig und all das, aber zu seinem Pech ein bißchen zu früh auf die Welt gekommen. Er war mittelgroß, nur um weniges größer als ich und saß zu rückgelehnt in seinem Drehsessel, als ich eintrat. Sein Kragen stand offen, er hatte die Ärmel hochgerollt und sah mich mit einem sonderbar abwesenden Blick an, in dem ich Neid zu lesen glaubte. Gespannt setz te ich mich auf den Stuhl, auf den er mit dem Kinn wies. Er sagte »Mhm« zur gegenüberliegenden Wand, als hätte er mit ihr gesprochen. Dann sah er mich an. »Mengild«, sagte er, »Sie sind verlobt, nicht wahr? Eine Miß Rass?« »Jawohl, Sir«, antwortete ich eifrig. Wir fünf waren zwar alle Zivilis ten, aber wir hatten uns angewöhnt, zu allen ›Sir‹ zu sagen, sogar zu den Leuten, die unsere Betten machten. Wußte man denn, wer schließ lich zu der letzten Entscheidung beitragen würde? Er warf einen flüchtigen Blick auf seinen Schreibtisch. Auf der Platte lag nichts außer einer dicken Mappe, die jedoch geschlossen war. Ich bekam den Eindruck, daß er alles in diesem Akt ohnehin auswendig wußte. »Sie haben für sie um einen Zivilistenpassierschein angesucht, für vier Stunden heute abend?« Ich wurde unruhig. »Ja, das stimmt, Sir. Als die Ergebnisse heraus kamen, würde uns mitgeteilt, daß wir sechsunddreißig Stunden dienst frei hätten und für heute abend uns jemand einladen könnten. Ich habe Irene – Miß Rass – angerufen, und sie fliegt heute nachmittag von Des
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Meines herunter. Ich hoffe, ich habe damit nichts…« Colonel Graves schüttelte heftig den Kopf. »Absolut in Ordnung, Men gild. Sagen Sie, Sie werden die junge Dame wohl nicht noch vor dem Start heiraten?« »N-nein. Wir haben es anders vor, Sir. Nämlich, falls ich gewählt wer de und in einem Stück zurückkomme, wollten wir an dem Tag heiraten, an dem ich wieder auf der Erde lande. Sie wollte zwar lieber vorher heiraten, aber das hab’ ich ihr ausgeredet.« »Weiß sie, daß Ihre Chance, in einem Stück zurückzukommen, wie Sie’s ausdrücken, nur ein bißchen höher als fünfzig Prozent ist?« Ich war erleichtert, denn nun glaubte ich zu wissen, worauf er hin auswollte. »Ja, Sir. Aber sie will trotzdem, daß ich fliege. Sie weiß, daß ich die letzten zehn Jahre nur dafür gelebt habe. Irene versteht das.« Der Kommandant stützte sein Kinn auf die miteinander verflochtenen Finger und starrte mich an. »Miß Rass ist mehr ein häuslicher Typ, nicht? Sie hat wohl so die üblichen Wünsche – gemütliches Heim, Ba bys?« »Ich glaube schon. Sie ist ein einfaches, normal veranlagte Mädchen, Sir.« »Und Ihre Wünsche?« Ich wandte meinen Blick ab und überlegte. »Sehen Sie, Sir, ich habe mir eine Sache gewünscht, seit ich ein kleiner Junge war, und eine zweite seit etwa drei Jahren: einen Raumflug und Irene. Und ich glau be, wenn ich zurück bin, wenn ich’s geschafft habe, dann werde ich die gleichen Wünsche wie Irene haben.« Er musterte wieder die gegenüberliegende Wand, als wollte er ihre Ansicht ergründen. Dann begann er ruhig und freundlich zu sprechen. Es klang überhaupt nicht militärisch. »Also gut. Hören Sie, Mengild, ich werde es kurz machen. Wie Sie wissen, ist der Antrieb des Marsschiffes atomar und ist natürlich abge schirmt. Einmal gegen kosmische Strahlung, andernteils gegen die Ka bine hin, zu Ihrem Schutz. Gut. Bis jetzt hatten wir abgesehen von ein paar unglücklichen und vermeidbaren Unfällen keine Schwierigkeiten. Die Strahlungsabschirmung ist in Ordnung. Aber Ihr Flug wird der läng ste sein, den je ein Mensch unter diesen Bedingungen unternommen hat, und die Laborleute befürchten nun, daß die Abschirmung aller Wahrscheinlichkeit nach für diese lange Zeit nicht ausreicht.« Meine Stimmbänder schienen nicht mehr ganz funktionieren zu wol
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len. »Heißt… heißt das, Sir, daß…« »Es heißt, daß der Pilot des ersten Erde-Mars-Schiffes spätestens auf dem Rückflug durch die akkumulierte Strahlungsdosis vollkommen ste rilisiert wird. Oder seine Kinder – bestenfalls - Mutanten sein werden. Wir können natürlich die Abschirmung verstärken und werden das auch tun – später. Müßten wir es jetzt tun, so ergäbe sich im günstigsten Fall eine lange Verzögerung. Schlimmstenfalls müßte das gesamte Schiff neu entworfen und gebaut werden. Sie wissen, daß wir schon jetzt sehr knapp kalkuliert haben zwischen der Ausrüstung, die mitge führt werden kann, und dem Reaktorbrennstoff. Der alte Teufelskreis: Mehr Masse bedingt mehr Treibstoff und mehr Treibstoff ist wieder zu sätzliche Masse! Und Sie wissen auch, daß jetzt schon die Abschirmung der größte Posten auf dieser Rechnung ist. Wir haben uns daher ent schlossen, es diesmal noch so zu versuchen und dem Betroffenen die Entscheidung zu überlassen.« Ich dachte nach, nur einen Augenblick lang, in dem Gefühle und Ge danken wild in meinem Hirn durcheinanderwirbelten. »Ich hab’ mich schon entschieden, Sir. Ich habe mein Leben lang davon geträumt…« Er sagte wieder »Mhm« zur Wand. »Lassen Sie sich lieber vierund zwanzig Stunden Zeit. Wir können es erwarten. Bespre chen Sie es mit Ihrem Mädchen, und überlegen Sie es sich gut.« »Ich habe nichts zu überlegen, Sir. Ich weiß, was ich will. Für mich gibt es nichts Wichtigeres als diesen Flug. Und Irene wird der gleichen Meinung sein. Wenn nicht – nun, ich hab’ schon gesagt, nichts ist mir wichtiger. Glauben Sie wirklich – glauben Sie denn tatsächlich, Sir, ich würde mir nach all den Jahren jetzt noch etwas dazwischenkommen lassen? Kein Risiko wird mich hindern, der erste Mensch zu sein, der einen anderen Planeten betritt!« Sie können sich vorstellen, daß ich ziemlich erregt war. Colo nel Gra ves jedoch setzte sich unbeeindruckt auf, zog seine Kra watte zu und rollte sich die Hemdärmel hinunter. Dann sagte er zur Wand: »Lassen Sie sich vierundzwanzig Stunden Zeit, Mengild.« Kaum war ich bei der Tür hinaus, als ich begriff, weshalb er darauf be stand. Diesen Abend kam Irene. Und ich würde nicht vor drei Wochen starten. Wir hatten also mehr als genug Zeit, um vorher zu heiraten – wie sie es ja zuerst gewollt hatte –, und die Nachwuchsfrage zu regeln. Natürlich. Das hatte mir Colonel Graves raten wollen. Bresh und McGuire standen vor dem Verwaltungsgebäude, als ich hin unterkam, und bedachten mich mit dem Blick enttäuschter Aasgeier.
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»Nein, meine Guten«, sagte ich, »sie haben nicht eben heraus gekriegt, daß meinem Großvater bei seinem ersten Flug schlecht wurde oder so was. Ich bin immer noch derjenige welcher.« Bresh pochte mit dem Fingerknöchel an seine Stirn unter dem roten Bürstenschnitt. »Naja«, grinste er, »aber wie war’s mit Kopfweh oder Schwindelgefühlen? Verspüren Sie nicht vielleicht so ein leichtes Ste chen im Hinterkopf?« Ich schob die beiden Möchtegern-Leichenfledderer aus dem Weg und ging in mein Quartier, weil ich noch duschen und mich rasieren wollte. Dort erwarteten mich Caldicott und Stefano, deren Wünsche für mein Wohlbefinden aber nicht ganz so schwarz waren, da die beiden in der Reihung ohnedies die letzten waren. Als Irene am Tor aus einem staubbedeckten Taxi stieg, zog ich sie in meine Arme, kaum daß sie beim Posten durch war. Dann hielten wir uns für eine Weile wortlos aneinander fest. Sie fühlte sich wundervoll an, und ihr Anblick war pure Labsal nach den letzten Wochen… Wir aßen eine Kleinigkeit in der Cafeteria, während sie mich aufs lau fende brachte, über die Gicht ihrer Mutter und über die schulischen Erfolge ihres kleinen Bruders… Dann drückte sie meine Hand und be glückwünschte mich zu meinem Erfolg. »Ich möchte es dir gern zeigen«, meinte ich, »denn das nächstemal siehst du das Schiff erst beim Start im Fernsehen.« Arm in Arm gingen wir an den nüchternen Betonblocks der Labors vorbei zum Startplatz. Wachtposten schritten auf und ab. Als wir das Schiff erreicht hatten, war es bereits dunkel. Irene stieß einen leisen Seufzer der Bewunderung aus. Das Schiff wies wie ein rie siger schlanker Finger unbeirrt zu den Sternen hinauf. Die Scheinwer fer, die es anstrahlten, ließen lange schimmernde Lichtreflexe auf dem Metall entstehen, die das Schiff aufzuheben, hinaufzudrängen schienen, hinauf, HINAUF! »Das erste Sternenschiff«, flüsterte sie. »Und du bist sein Pilot.« Ich hielt die Gelegenheit für günstig. Ich hob sie also auf die unterste Stufe der Startrampe, zündete ihr eine Zigarette an – und begann zu reden. Ich brauchte für die ganze Sache einschließlich Heiratsantrag gar nicht lange; sie hatte kaum ein Drittel ihrer Zigarette geraucht, als ich alles gesagt hatte. Schweigend rauchte sie weiter, zog den Rauch tief ein, bis ihr die Glut die Finger verbrannte. Dann ließ sie den Stummel fal
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len. Ich bohrte ihn mit der Fußspitze in den Sand und sagte: »Nun?« Ihre Antwort war nur: »Nun was?« »Wir werden doch so bald wie möglich heiraten, nicht?« fragte ich er staunt. »Nein«, sagte sie. »Irene! Verstehst du denn nicht – wenn ich zurückkomme, können wir keine Kinder mehr bekommen. Und du willst doch Kinder?« Sie schwieg einige Minuten. Ich verwünschte die Dunkelheit: ich konn te ihr Gesicht nicht sehen. »Ja. Ich möchte Kinder haben. Deshalb werden wir nicht heiraten. Weder vor dem Start, noch wenn du zurückkommst.« Ich verstand sie nicht mehr. Am liebsten hätte ich sie gepackt und ge schüttelt, bis sie wieder meine vernünftige, liebevolle Irene wäre. Statt dessen trat ich zurück und versuchte, meine Gedanken in Ordnung zu bringen. »Hör zu«, sagte ich endlich. »Verbessere mich, wenn ich etwas Fal sches sage. Du wußtest von vorneherein, welche Risiken ich auf mich nahm, als ich mich für den Flug bewarb, und du hattest keine Einwän de. Du wußtest, was mir diese Reise bedeutet. Du warst bereit, dich damit abzufinden, daß ich vielleicht hier zurückkäme oder nur als Inhalt von verschiedenen Plastiksäckchen. Die Sache mit der Strahlung gehört mit zu den Berufsrisiken.« »Nein.« Ihre Stimme klang, als ob sie weinte. »Mit den Gefahren hab’ ich mich irgendwie abgefunden, weil ich wußte, daß du es dir so wünschtest, daß du dich auf diesen Augenblick vorbereitet hattest, seit du ein Junge warst. Aber das – das ist etwas anderes, Mannie.« »Wieso? Wieso ist das anders?« Sie wischte sich die Nasenspitze. »Das ist eben so. Vielleicht kann ein Mann das nicht so verstehen, aber für eine Frau ist das ein großer Un terschied.« »Schatz, Liebste«, flüsterte ich tröstend und wollte sie in die Arme nehmen, aber sie machte eine leicht abwehrende Bewegung, also ließ ich es sein. »Ich will ein Kind. Dein Kind. Möchtest du mir bitte erklä ren, warum wir nicht heute, morgen früh, so bald wie möglich, heiraten und für ein Baby sorgen können?« »Und wenn ich vor dem Start nicht schwanger werde? Und falls das
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klappt – wenn ich eine Fehlgeburt hab’?« »Schau, Irene«, sagte ich verzweifelt, »ich könnte dir den besten Arzt der Welt besorgen, das wäre in meiner Situation das Allerleichteste. Und wenn wirklich etwas schiefginge, könnten wir ein Baby adoptieren. Das ist natürlich nicht das gleiche, aber es könnte ja auch einer von uns beiden sowieso unfruchtbar sein. Viele Ehepaare adoptieren Kinder und werden auch glücklich!« »Ach, Mannie, wir würden nicht glücklich werden, nicht unter diesen Voraussetzungen! Außerdem ist das nicht der wahre Grund, ich meine die Möglichkeit einer Fehlgeburt und so…« Ich schob mein Gesicht dicht an das ihre heran und sagte energisch: »Also würdest du mir nicht doch endlich den wahren Grund verraten?« Sie bat um eine neue Zigarette. Ich zündete eine an und reichte sie ihr. »Ich weiß nicht, Mannie, ob ich es dir klarmachen kann – aber ich werde es versuchen. Ich kann nicht einen Mann heiraten, der bereit ist, freiwillig auf die Möglichkeit zu verzichten, Vater zu werden, der sich bewußt und absichtlich zu einem – einem Krüppel macht.« Das mußte ich erst verdauen. »Und was würdest du von einem Mann halten«, fragte ich dann nachdenklich, »der auf die Möglichkeit verzic h tet, als erster eine Welt zu betreten, die die Menschheit bis jetzt nur als Stern am Himmel sah?« »Ich weiß nicht«, flüsterte sie und fing wieder zu weinen an. »Aber – aber es ist nicht das gleiche! Für eine Frau ist Leben wichtiger als die Befriedigung von Neugier und Abenteuerlust. Ich kann nicht – bitte glaub mir!« »Du möchtest also, Irene, daß ich einen Traum aufgebe, den ich seit…« »Nein! Von mir aus brauchst du überhaupt nichts aufgeben, Emmanu el Mengild! Ich hab’ nur gesagt, was ich tue und was ich nicht tun kann. Ich, nicht du. Du – du kannst mit deiner verdammten Rakete fliegen, wohin du willst!« Da gab ich es auf. Ich führte sie zurück, und als die Besuchszeit um war, führte ich sie zum Tor. Wir umarmten einander nicht zum Ab schied. Ich starrte nur dem Taxi nach, bis die roten Schlußlichter in einer Sandwolke verschwanden. Dann führte ich meine Gedanken spazieren.
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Wie die Dinge standen, hatte ich meine Verlobte gegen einen Marsflug eingetauscht. Heim und Kinder gegen Ruhm und Ehre. So konnte man die Sache ansehen. Ich konnte aber auch wütend auf Irene werden, daß sie mich im ers ten Augenblick, wo Probleme auftauchten, im Stich ließ. Ich wurde wü tend. Und beruhigte mich wieder. Irgendwie konnte ich sie ja verstehen. Es war für eine Frau etwas an deres. Ein Mann hat seine Arbeit, seine Erfolge; eine Frau ihre Kinder. Die meisten Frauen wachsen mit dem Traum von einer Familie auf, so wie ich mit dem Traum von den Sternen großgeworden war. Und auch wenn eine Frau sich nicht explizit Kinder wünschte, so war ihre Bindung zum Leben an sich viel tiefer und stärker als die unsere. Wir Männer haben schon immer gerne um eines Abenteuers willen den Hals ris kiert. War es Feigheit, das Leben über das Erlebnis zu stellen? Aber das konnte ich wieder nicht. Oder? Nach und nach, während ich und meine Gedanken im Kreise marschierten, begriff ich, wie sehr ich mich auf Irene verlassen hatte. Ich wünschte mir Kinder – ich hatte mich nur nie festgelegt auf zwei oder fünf. Ich wäre mit einem zufrieden gewesen. Aber gar keine Kinder? Niemals? Ich hatte mich darauf verlassen, daß Irene zustimmen würde, mich sofort heiraten würde, womit die Möglichkeit ›gar keine Kinder‹ aus der Welt geschafft wäre. Deshalb war ich meiner selbst so sicher gewesen, als mich Colonel Graves mit dem Problem konfrontierte. Ich hatte auf eine einfache Lösung gebaut. Jetzt sah die Sache anders aus. Milliarden Jahre hatte es gedauert, bis die Evolution schließlich mich hervorgebracht hatte. Millionen Vorfahren hatten dazu beigetragen: in Schlamm, in Wasser lebende Vorfahren, luftatmende Vorfahren, Vor fahren, die im Wasser trieben und schwammen, an Land krochen, lie fen, kletterten und schließlich gingen. Und alle diese Vorfahren, vom Urtierchen bis zum Neandertaler, bis zu meinen Eltern hatten eines gemeinsam: Sie alle hatten lange genug gelebt, um sich fortzupflanzen. Anderen Rassen war dies nicht gelungen, ihre Entwicklung hatte in einer Sack gasse geendet, und ein paar versteinerte Knochen waren alles, was von ihnen übrig war. Wie schlecht aber die Zeiten auch immer waren, wie hart der Kampf um Nahrung, gegen Feinde, gegen die Natur selbst
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war, meine Vorfahren hatten sich durchgeschlagen und hatten Kinder gehabt. Nur deshalb existierte ich. Wenn ich nun aufgab, würde ich ihre jahrmillionenlangen An strengungen zunichte machen. Ich würde der Schlußpunkt einer langen Entwicklung sein. Ich hätte genausogut nie gelebt haben können. Und das war nur ein Aspekt, dachte ich, als ich auf meinem Rundgang das zehnte Mal das Tor passierte. Denn was wußte ich schon über Sinn und Zweck des menschlichen Lebens – meines Lebens –, was von der Welt, vom Universum? Soviel ich auch gelernt hatte, von den wichtigen Dingen wußte ich verdammt wenig. Irgendwann einmal würden die Menschen eine Antwort auf viele die ser Fragen finden, und ich würde an diesen Erkenntnis sen nur teilhaben können oder dazu beitragen, wenn ich Nachkommen hätte. Oder war es zu egoistisch, unbedingt in der Zukunft mitmischen zu wollen? War nicht ein großartiger Erfolg der Menschheit wie der erste interplanetarische Flug doch wichtiger, als Fortpflanzung des Indiv i duums? War es wichtiger, daß ich das tat, wozu ich mich berufen fühl te, oder daß ich meine Aufgabe als ein winziges Glied in einer unendli chen Kette erfüllte, in einer Kette, die abriß, wenn ich ohne Kinder starb? Wenn ich ehrlich war, mußte ich zugeben, daß ich für den Marsflug nicht unentbehrlich war. Die Menschheit würde ihren Erfolg auch ohne mich haben, da die vier anderen als Piloten genauso geeignet waren; und wenn es dieses Schiff nicht schaffte, dann eben das nächste. Hier war ich nicht wichtig. Ic h wollte aber wichtig sein. Wieder war ich beim Tor angelangt. Ich winkte dem Posten zu und ging weiter. Ich hatte schon einen ric htigen Pfad in den Sand getreten. Mein Mund brannte wie vom Salz ungeweinter Tränen, als ich mich am nächsten Morgen bei Colonel Graves meldete. Ich sah, daß er mein Gesicht forschend musterte, als ich mich setzte. »Es war doch nicht so einfach, Mengild?« »Nein, Sir«, sagte ich unglücklich, »das war’s nicht. Aber ich habe mich entschieden und werde dabei ble iben.« Er sagte nichts und wartete. »Ich habe beschlossen – vielleicht werde ich das für den Rest meines
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Lebens bereuen, aber ich bleibe bei meiner Entscheidung –, ich habe beschlossen, nicht zu fliegen.« »Hm. Das Sterilisationsrisiko?« »Ja, Sir.« »Ich vermute, die junge Dame hat nein gesagt.« Ich wischte mir den Schweiß vom Gesicht und zuckte die Schultern. »Sie hat nein gesagt, aber das war nicht ausschlaggebend. Ich hab’ die ganze Nacht über die Sache nachgedacht, und das ist meine persönli che Entscheidung. Ich möchte lieber Kinder als den Marsflug.« Er balancierte seinen Sessel auf zwei Beinen und kippte ihn dann wie der abrupt nach vorn. »Schauen Sie, Mengild, Sie wis sen doch, daß es künstliche Befruchtung gibt. Sie könnten also auf jeden Fall Vater wer den, indem Sie vor dem Start als Samenspender fungieren.« »Ich seh mich schon mit einem Teströhrchen in der Hand rumlaufen«, murmelte ich, »um eine Frau zu finden, die mich unter diesen Umstän den haben will.« »Wenn Sie’s so formulieren – gut, es ist nicht sonderlich ro mantisch, aber es würde Scharen von Frauen geben, die Sie heiraten würden. Denken Sie dran, Mengild, Sie werden ein Held sein!« »Mal angenommen, eine Frau würde mich heiraten wollen und künst lich befruchtet werden: was ist, wenn sie eine Fehlgeburt hat? Oder sonst etwas nicht stimmt? Und das eingefrorene Sperma bleibt nur et wa ein Jahr lebensfähig.« Ich sah ihn an und fügte mit Nachdruck hin zu: »Sir, diese Risiken sind nicht der eigentliche Grund. Der Grund für meine Entscheidung ist, daß ich nicht freiwillig und für immer verzic h ten kann, ein funktio nierendes Glied in der unendlichen Kette des Le bens zu sein.« Colonel Graves stand auf. »Nun, das ist Ihre Sache. Und Ihre Ent scheidung, natürlich. Aber ich mußte Sie doch auf diese Möglichkeit hinweisen, weil wir es, offen gesagt, vorzögen, wenn Sie das Schiff führten. Sie sind um Haaresbreite besser als Ihre Kollegen, und um dieses Haar wären die Chancen für einen Erfolg mit Ihnen höher. Wir hoffen sehr auf einen Erfolg.« Sie boten dem nächsten in der Wertung die Gelegenheit, und er schnappte begierig danach. Sie erklärten ihm den Haken bei der Sache. Er lachte. Sie sagten ihm, er solle es sich vierundzwanzig Stunden ü berlegen. Er tat das und kam zurück und sagte, er sei noch immer da bei.
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Bresh natürlich. Er startete drei Wochen später und landete, wie Sie ja wissen, sicher auf dem Mars. Auch mit dem Rückflug klappte alles. Man bereitete ihm einen Empfang, wie ihn die Welt noch nicht gesehen hatte. So kam es, daß wir heute im ganzen Sonnensystem den Paul-Bresh-Tag feiern. Und deshalb seid ihr Burschen heute bei mir, um für eure Geschichten zum Tagesthema ein bißchen menschlichen Hintergrund zu kriegen… Ich kann heute auch nichts anderes erzählen als in den vergangenen Jahren. Nein, das stimmt nicht ganz. Eine kleine Neuigkeit ist vor kurzem da zugekommen. Sie wissen ja, daß ich Irene dann doch nicht geheiratet habe. Ich hei ratete ein Jahr später Frances, als ich den Job als Instand haltungsmechaniker im Zentrum bekam. Das blieb alles, was ich je für den interplanetarischen Raumflug tat – ich sorgte dafür, daß bei den Schiffen alles hundertprozentig funktionierte. Ich verdiente ganz gut und machte mir auch als Chef des Bodenpersonals einen Namen. Jetzt bin ich natürlich in Pension. Das einzige, was ich wirklich bedauere, ist, daß ich keinen Raumflug unternahm, als ich noch jünger war. Jetzt bin ich zu alt, und mein Herz ist zu müde – man läßt mich nicht einmal auf eines dieser Luxuspassa gierschiffe. Paul Bresh jedoch war der geborene Eroberer des Raumes. Nicht nur, daß er als der erste Mensch auf dem Mars gewesen war, er nahm auch an einem der ersten Venusflüge teil und kam auch noch ein zweites Mal auf den Mars; bei dieser Gelegenheit verschwand er ir gendwie in der roten Staub wüste und wurde nie mehr gesehen. Und ich? Nun, alles, was ich heute noch habe, ist mein Sohn David und seine Frau in New Quebec auf dem Mars, meine Tochter Ann und ihre Familie auf Ganymed, meine Tochter Mildred und ihre Familie auf Titan und – ja, die Neuigkeit. Ich erfuhr letzte Woche, daß mein Enkel Aaron und seine Frau Phyllis an Bord des Schiffes sind, das vom Pluto startete und jetzt das Son nensystem längst verlassen hat auf seinem Wege nach Alpha Centauri. Man sagt, die Reise würde dreißig Jahre dauern, also wird mir wahr scheinlich unterwegs ein Urenkel geboren werden. Das ist meine Seite der Geschichte. Ich bin nicht ein zweiter Kolumbus geworden, nur ein Vater. Paul Bresh hat seinen Tag – ich habe durch
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meine Kinder die Zukunft.
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Das freie Land
Die New-Jersey-Autobahn hatte die Pferde arg hergenommen. Südlich von New Brunswick waren die Schlaglöcher so zahlreich und tief gewe sen, daß die beiden Männer ihre Pferde in Schritt fallen ließen, um die kostbaren Tiere zu schonen. Natürlich gab es so weit im Süden keine Farmen mehr, und sie mußten auf den Trockenproviant in den Sattelta schen zurückgreifen. Die letzte Nacht hatten sie in einer Tankstelle verbracht, die Hängematten zwischen den verbeulten, verrosteten Pumpsäulen aufgespannt. Aber es war trotzdem, wie Jerry Franklin recht gut wußte, der einzig brauchbare Weg nach Süden. Die Autobahn war eine Regierungsstraße. Man räumte dort wenigstens jedes halbe Jahr die größten Felsbrocken weg. Sie waren doch ziemlich schnell vorwärtsgekommen, und glückli cherweise lahmte keines der drei Pferde. Als sie sich dem Ziel ihrer Reise näherten, an dem zersplitterten Baumstumpf vorbei, in den ›Aus fahrt Trenton‹ geschnitzt war, atmete Jerry auf. Bis jetzt war alles gut gegangen – sein Vater, und die Kollegen seines Vaters würden stolz auf ihn sein. Und er war stolz auf sich selbst. Gleich darauf kehrte seine mißtrauische Aufmerksamkeit wieder; er trieb sein Pferd vorwärts und holte seinen Begleiter ein, einen jungen Mann etwa in seinem Alter. »Protokoll«, erinnerte er ihn. »Ich bin der Anführer. Du weißt sehr gut, daß es sich nicht gehört, so kurz vor Trenton vor mir zu reiten!« Es war ihm unangenehm, auf seinen Rang pochen zu müssen, aber wenn ein Untergebener sich zuviel herausnahm, war es besser, ihn gleich zurechtzustutzen. Schließlich und endlich war er der älteste Sohn des Senators von Idaho; Sam Rutherfords Vater dagegen war bloß Un terstaatssekretär, und die Familie von Sams Mutter hatte Generationen zurück nie etwas Besseres als Postbeamte aufzuweisen. Sam ließ schuldbewußt den Kopf hängen und zügelte sein Pferd, bis er im vorgeschriebenen Abstand hinter Jerry ritt. »Ich dachte nur, ich hät te etwas Sonderbares gesehen«, erklärte er dann. »Ich glaube, es wa ren Späher neben der Straße – und ich könnte schwören, sie trugen Büffellederröcke.« »Die Seminolen tragen aber nicht Büffelleder, Sammy. Hast du denn alles vergessen, was man dir im Politologiekurs beigebracht hat?« »Ich hab’ überhaupt keine politischen Kurse gehabt, Mr. Franklin. Mein Hauptfach war Technologie – ich hab’ mich besonders auf Ausgra
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bungen in den Cities spezialisiert. Aber soviel hab’ ich schon gewußt, daß die Seminolen keine Lederkleidung tragen. Darum war ich ja so…« »Kümmere dich lieber um das Packpferd«, schnitt ihm Jerry das Wort ab. »Verhandlungen sind meine Aufgabe.« Während er sprach, tastete er vorsichtig nach der Ledertasche auf seiner Brust. In dieser steckte sein Beglaubigungsschreiben, ein Doku ment, das sorgfältig auf eines der letzten Stücke Regierungsbriefpapier getippt und vom Präsidenten eigenhändig – mit Tinte! – unterschrieben worden war. (Die Tatsache, daß die Rückseite des Blattes vor langen Jahren einmal einem Beamten als Notizzettel gedient hatte, tat der Wichtigkeit und Würde des Dekrets keinen Abbruch.) Dokumente wie dieses waren für die Karriere eines Mannes sehr wic h tig. Er würde es vermutlich im Laufe der Verhandlungen übergeben müssen, aber die darin ausgedrückte Ernennung stand natürlich in den Akten vermerkt, die daheim im Norden in der Hauptstadt aufbewahrt wurden. Wenn sein Vater einmal starb und er den einen der ehrwürdi gen Senatssitze von Idaho einnahm, würde ihm diese Ernennung vie l leicht sogar den Weg in die Zuteilungskommission ebnen. Oder könnte er es wagen und sich gleich um die Mitgliedschaft in der Regelungs kammer bewerben? Noch nie war ein Senator Franklin in der Rege lungskammer gesessen… Die zwei Gesandten wußten, daß sie die Außenbezirke von Trenton er reicht hatten, als sie an den ersten Sklaventrupps von JerseyEingeborenen vorbeikamen, die an der Straße arbeiteten. Ängstliche Blicke folgten ihnen kurz, wandten sich hastig wieder der Arbeit zu. Die Trupps wurden allem Anschein nicht beaufsichtigt. Offenbar waren die Seminolen sicher, daß einfache Anweisungen ausreichten. Als sie jedoch in die Stadt mit ihren säuberlich vom Schutt befreiten Ruinen einritten und ihnen immer noch niemand begegnet war, abge sehen von unbedeutendem weißen Volk, da kam Jerry eine andere Er klärung in den Sinn. Es sah alles ganz danach aus, als befände sich diese Stadt noch im Kriegszustand. Wo aber waren die Kämpfenden? Höchstwahrscheinlich verteidigten sie auf der anderen Seite der Stadt die Ufer des Delaware – denn nur aus dieser Richtung konnte den neu en Beherrschern von Trenton ein Angriff drohen: nicht von Norden, wo es ja nur die Vereinigten Staaten von Amerika gab. Aber gegen wen mußten sie (wenn diese Vermutung stimmte) die Stadt verteidigen? Südlich des Flusses lebten auch Seminolen! War es denkbar, daß sich die Seminolen schließlich untereinander in die Haare
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geraten waren? Oder hatte Sam Rutherford doch recht gesehen? Unvorstellbar. Büffel röcke in Trenton! Die nächsten ledertragenden Indianer mußten min destens hundert Meilen weiter im Westen sein. Als sie jedoch auf die State-Capitol-Straße einbogen, biß sich Jerry er bittert auf die Lippen. Sam hatte richtig’ gesehen, und es war unange nehm, wenn dem Sonderbevollmächtigten der Vereinigten Staaten von einem Untergebenen derart eins ausgewischt wurde. Über den weiten Rasen des demolierten Regierungsgebäudes standen Dutzende Wigwams verstreut. Und die sehnigen, kupferbraunen Ges talten, die würdevoll vor den Zelten saßen oder stolz umherwanderten, trugen allesamt Büffellederröcke. Er brauchte sich nicht einmal seinen Politologiekurs ins Gedächtnis rufen, um die Kriegsbemalung dieser Gesichter identif izieren zu können: Das waren eindeutig Sioux. Also waren die Informationen, die seine Regierung auf allerlei Umw e gen erreicht hatten, wieder einmal falsch gewesen. Nun, bei diesen Entfernungen klappte es mit der Nachrichtenübermittlung verständli cherweise selten. Diese Fehlinformation in bezug auf die Identität des nordwärts vordringenden Stammes konnte ihm seine Aufgabe sehr er schweren: seine Ernennung war vielleicht ungültig, weil das Beglaubi gungsschreiben direkt an Osceola VII. den Obersten Häuptling aller Seminolen, gerichtet war. Und wenn Sam Rutherford das zum Anlaß nahm, frech zu werden… Er warf einen unheilverkündenden Blick zurück. Nein – Sam würde ihm keine Schwierigkeiten machen. Er würde nicht einmal die Andeu tung eines »Ich hab’s ja gesagt« wagen. Der bloße Blick seines Vorge setzten ließ den Sohn des Unterstaatssekretärs sofort demütig die Au gen senken. Befriedigt ging Jerry daran, sein Gedächtnis nach Informa tionen über politische Beziehungen mit den Sioux zu durchkra men. Es fiel ihm nicht allzuviel ein – lediglich die Bestimmungen der letzten paar Verträge. Das würde genügen müssen. Er hielt sein Pferd vor einem wichtig aussehenden Krieger an und stieg eilig ab. Man konnte es sich vielleicht leisten, vom Pferd herab mit ei nem Seminole-India ner zu reden, aber es war gesünder, das bei einem Sioux nicht zu versuchen. Die Sioux waren Weißen gegenüber in Proto kollfragen sehr empfindlich. »Wir kommen in Frieden«, sagte er zu dein Krieger, der ihn unbeein druckt musterte. »Wir kommen mit einer wichtigen Botschaft und vie
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len Geschenken an euren Häuptling. Wir kommen von New York, dem Sitz unseres Häuptlings.« Er überlegte einen Moment und fügte dann, als der Indianer nicht reagierte, hinzu: »Ihr wißt, der Große Weiße Va ter?« Er bereute das sofort. Der Krieger schmunzelte kurz, seine Augen fun kelten amüsiert auf, bevor sein Gesicht wieder ausdruckslos wurde und er sich auf die ernste Würde besann, die einem Mann geziemte, der zahlreiche Kämpfe siegreich bestritten hatte. »Ja«, sagte er. »Ich habe von ihm gehört. Wer hat nicht schon vom Reichtum, von der Macht und den weiten Ländern des Großen Weißen Vaters gehört? Komm. Ich bring dich zu unserem Häuptling. Folge mir, weißer Mann.« Jerry wies Sam Rutherford an, bei den Pferden zu warten. Am Eingang eines großen, reich verzierten Zeltes trat der Indianer zur Seile und bedeutete Jerry mit einer gleichgültigen Handbewegung, er möge eintreten. Im Zelt war es dämmrig, aber die luxuriöse Beleuchtung benahm Jer ry dennoch den Atem. Öllampen! Drei Öllampen! Die se Leute konnten sich etwas leisten… Vor hundert Jahren, bevor der letzte große Krieg die Welt so grundle gend geändert hatte, hatte sein Volk auch viele Öllampen besessen. Vielleicht sogar Besseres als Öllampen, wenn man den Geschichten Glauben schenke n konnte, die die Technologen am abendlichen Feuer erzählten. Man freute sich an solchen Geschichten, obwohl sie nur von längst vergangener Größe berichteten. Da gab es Geschichten von vol len Scheunen und vom Reichtum der sagenhaften Supermärkte, von Fahrzeugen, die schneller waren als das beste Rennpferd eines indiani schen Adeligen – diese Dinge machten einen stolz auf die Vergangen heit seines Volkes, aber sonst hatte man nichts davon, höchstens, daß einem mitunter das Wasser im Mund zusammenlief… In der viel wichtigeren Gegenwart waren es die Indianer, die die vol len Scheunen, die Öllampen besaßen. Die Indianer, deren Stammes verbände sich am schnellsten den neuen Bedingungen angepaßt hat ten, weil sie schon immer fast ausschließlich von der Natur und mit der Natur gelebt hatten. Und die Indianer waren es, die… Zwei verängstigte Weiße waren dabei, einer am Boden kauernden Gruppe Essen vorzusetzen. Da saß ein alter Mann, der Häuptling, wie ein brauner, verwitterter Baumstamm. Und drei Krieger, der eine sehr jung für den Häuptlingsrat. Am Rande ein älterer Neger, der wie Frank
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lin in Lumpen gehüllt war, nur sahen die Lumpen ein bißchen sauberer und neuer aus. Jerry verbeugte sich tief vor dem Häuptling und breitete die Arme mit den Handflächen nach unten aus. »Ich komme von New York, von unserem Häuptling«, murmelte er. Obwohl es ihm gelang, sich äußerlich beherrscht zu zeigen, war sein Magen verkrampft vor Angst. Wenn er wenigstens die Namen der Ratsmitglieder gekannt hätte – dann hätte er eher gewußt, was er von ihnen zu erwarten hatte. Er konnte sich zwar ungefähr vorstellen, wie die Namen lauten mochten – die Sioux, die Seminolen, alle die jetzt so mächtigen Indianerstämme gebrauchten Namen aus der Vergangen heit. Wie sie ja überhaupt viele anachronistische Bräuche in die Ge genwart übernommen hatten. Obwohl sie ausgezeichnete Gewehre besaßen, trug jeder Krieger im Andenken an die Helden der Vorzeit noch Speer oder Pfeil und Bogen. Und dann die Verwendung von Wig wams bei Kriegszügen – wo sich doch selbst der ärmste indianische Adelige von seinen Sklaven ein trockenes, zugsicheres Heim bauen lassen konnte, ein Heim, von dem der Präsident der Vereinigten Staa ten nicht einmal zu träumen wagte. Und die kriegsbemalten Gesichter, die sich über wiedererfundene Mikroskope beugten… Wie sah ein Mikro skop aus? Jerry versuchte, sich an seinen Einführungskurs in Technolo gie zu erinnern – aber da hatte man ihm das auch nicht beibringen können. Ja, die Indianer hatten schon wunderliche Angewohnheiten, und doch waren sie so – so ehrfurchtgebietend und stark… Manchmal schien es, als seien sie zu Eroberern geboren, mit der für Eroberer ty pischen, unbekümmerten Inkonsequenz… »Von unserem Häuptling«, wiederholte er hastig. »Ich komme mit ei ner wichtigen Botschaft und vielen Geschenken.« »Iß mit uns«, sagte der Alte, »Dann kannst du uns die Ge schenke und deine Botschaft übergeben.« Dankbar hockte sich Jerry in einigem Abstand von den Krie gern hin. Er war hungrig, und er hatte unter den Früchten in dem flachen Korb etwas entdeckt, das eine Orange sein mußte. Was hatte er schon ver schiedenartigste Ansichten darüber gehört, wie eine Orange schmecken mußte! Nach einer Weile sagte der alte Indianer: »Ich bin Häuptling Drei Wasserstoffbomben. Das« – er zeigte auf den jüngsten Krie ger – »ist mein Sohn, Macht Viel Strahlung. Und dies« – auf den älteren Neger weisend – »ist sozusagen ein Landsmann von dir.«
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Auf Jerrys fragenden Blick hin stellte sich der Neger vor, nachdem der Häuptling mit einer Handbewegung die Erlaubnis erteilt hatte. »Sylves ter Thomas, Botschafter der Konföderierten Staaten von Amerika bei den Sioux.« »Mein Gott, also gibt es die Konföderierten noch? Wir hörten das letz temal vor zehn Jahren…« »O ja, Sir, es gibt uns noch. Jedenfalls die westlichen Konföderie rten Staaten mit der Hauptstadt Jackson, Mississippi. Die östlichen Staaten sind samt und sonders von den Seminolen erobert worden. Wir haben es besser getroffen. Die Cheyenne und« – mit einem höflichen Kopfni cken zum Häuptling – »insbesondere die Sioux sind sehr freundlich zu uns gewesen, wenn ich das so sagen darf, Sir. Sie gestatten uns, fried lich für uns zu leben, solange wir unsere Felder bebauen und unseren Zehent zahlen.« »Wissen Sie vielleicht, Mr. Thomas, wie es Texas ergangen ist?« frag te Jerry begierig. »Oder ist es auch…« Mr. Thomas sah unglücklich zum Zelteingang hinaus. »Tja – das gro ße, herrliche Texas ist, als ich noch ein Junge war, den Kiowa und Ko mantschen in die Hände gefallen. Ich kann mich im Moment nicht an das genaue Jahr erinnern, aber es war doch, bevor Kalifornien von den Apachen und Navajo-Stämmen in Besitz genommen wurde…« Macht Viel Strahlung reckte seine Schultern und ließ die Armmuskeln spielen. »So viel Gerede«, knurrte er. »Bleichgesichtergeschwätz. Kotzt mich an.« »Mr. Thomas ist kein Bleichgesicht«, wies ihn sein Vater scharf zu recht. »Benimm dich! Er ist unser Gast und akkreditierter Botschafter – du hast ihm Achtung zu erweisen und in seiner Gegenwart nicht Aus drücke wie Bleichgesicht zu verwenden!« Einer der älteren Krieger ergriff das Wort. »In den alten Tagen, den Tagen der Helden, hätte es ein Knabe im Alter von Macht Viel Strah lung niemals gewagt, im Rat seine Stimme zu erheben, und schon gar nicht, so zu sprechen! Wenn ich zu diesem Punkt aus der Arbeit Robert Lowies, Die Crow-Indianer, oder aus Lessers wunderbarem anthropolo gischen Werk über die Sioux-Stämme zitieren darf – das klassische Stammesmodell nach Lesser haben wir zwar nicht…« »Dein Fehler, Bunter Buchumschlag«, unterbrach ihn der Krieger zu seiner Linken, »ist, daß du immer das Goldene Zeitalter heraufbe schwören möchtest, wie wenig es auch mit den modernen Sioux zu tun hat. Es hat keinen Sinn, andauernd aus klassischen Arbeiten zu zitie
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ren, wenn klassische Stammesmodelle für das heutige Leben un brauchbar sind.« »Genug davon«, bestimmte der Häuptling. »Genug, Ende der Ge schichte, und das gilt auch für dich, Bunter Buchumschlag. Das sind stammesinterne Angelegenheiten. Immerhin erinnern uns diese Bü cher, daß das Bleichgesicht einst groß war, bevor es krank und korrupt und feige wurde. Denn waren nicht die Männer, deren berühmte Werke uns erst die vergessenen Bräuche der Sioux wieder lehrten, waren nicht Lesser und Lowie Bleichgesichter? Und sollten wir nicht im Ge denken an sie Toleranz beweisen?« »Pah«, fauchte Macht Viel Strahlung ungeduldig. »Für mich ist nur ein totes Bleichgesicht ein gutes Bleichgesicht. Jawohl.« Er überlegte einen Moment. »Das heißt, mit Ausnahme der Weiber vielleicht. Sie sind recht unterhaltsam, wenn man mal Spaß haben möchte.« Häuptling Drei Wasserstoffbomben funkelte seinen Sohn wortlos an. Dann wandte er sich Jerry Franklin zu. »Deine Botschaft und deine Ge schenke. Erst die Botschaft.« »Nein, Häuptling«, berichtigte ihn Bunter Buchumschlag re spektvoll, aber entschieden. »Nein: zuerst die Geschenke, dann die Botschaft. So pflegten es die Alten zu machen.« »Ich muß sie holen. Bin sofort wieder da.« Jerry ging rückwärts schreitend aus dem Zelt und rannte dann zu Sam Rutherford, der bei den Pferden wartete. »Die Geschenke«, keuchte er. »Schnell, die Ge schenke für den Häuptling!« Die beiden zerrten hastig an den Packriemen. Voll beladen kehrte Jer ry zu den Kriegern zurück, die ihm ruhig und hoheitsvoll entgegensa hen. Er trat ins Zelt, legte die Geschenke auf den Boden und neigte sich wieder tief. »Bunte Steine für den Häuptling«, sagte er und überreichte zwei Sternsaphire und einen großen weißen Diamanten (die schönsten Stü cke, die die Technologen in den letzten zehn Jahren aus den Ruinen New Yorks ausgegraben hatten). »Tuch für den Häuptling«, er übergab eine Rolle Leinen und eine Rolle Wollstoff, die man eigens für diese Gelegenheit mühevoll gewebt und unter komplizierten Sicherheitsvorkehrungen nach New York transpor tiert hatte. »Hübsches Spielzeug für den Häuptling.« Er überreichte einen großen, nur leicht verrosteten Wecker und eine kostbare Schreibmaschine. Be i
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des war durch die vereinten Kräfte einer Reihe von Technologen und Ingenieuren in Ordnung gebracht worden (die Technologen hatten da bei vor allem den Ingenieuren die alten brüchigen Dokumente auslegen müssen), wozu man zweieinhalb Monate gebraucht hatte. »Waffen für den Häuptling«, sagte er und hielt einen prachtvoll ver zierten Kavalleriesäbel hoch, das eifersüchtig gehütete Erbstück des Stabschefs der Luftwaffe der Vereinigten Staaten, der sich gegen die Requirierung erbittert gewehrt hatte. Drei Wasserstoffbomben inspizierte die Geschenke, vor allem die Schreibmaschine, mit Interesse. Dann verteilte er sie feierlich an die Ratsmitglieder und behielt nur die Schreibmaschine und einen der Sa phire für sich. Den Säbel gab er seinem Sohn. Macht Viel Strahlung tippte mit dem Fingernagel gegen die Klinge. »Schäbig«, stellte er fest. »Ausgesprochen schäbig. Mr. Thomas hat für die Pubertätsfeier meiner Schwester von den Konföderierten Staaten von Amerika weitaus Besseres gebracht.« Er ließ die Waffe gleichgültig fallen. »Aber was kann man schon von einem Haufen fauler, nichtsnut ziger weißer Stinker erwarten?« Der letzte Satz ließ Jerry Franklin erstarren. Das hieß, daß er mit Macht Viel Strahlung würde kämpfen müssen – und diese Aussicht ließ ihm das Blut gefrieren. Die Alternative war, daß er bei den Sioux völlig das Gesicht verlöre. ›Stinker‹ wurde zu dieser Zeit jeder weiße Leibeigene bezeichnet, der auf den Feldern oder in Fabriken für den indianischen Adel schuftete. Ein Stinker war etwas noch Niedrigeres als ein Leibsklave, dem man wenigstens zugute halten konnte, daß er durch seine Arbeit seinen He r ren ermöglichte, sich den Tätigkeiten zu widmen, die sich für einen freien Krieger ziemten: Jagen, Kämpfen, Denken. Wenn man sich von jemandem ›Stinker‹ nennen ließ und ihn nicht da für umbrachte, dann war man ein Stinker – sehr einfach. »Ich bin beglaubigter Vertreter und Bevollmächtigter der Vereinigten Staaten von Amerika«, sagte Jerry langsam und deutlich, »und der älteste Sohn des Senators von Idaho. Wenn mein Vater stirbt, werde ich seinen Platz im Senat einnehmen. Ich bin ein freier Mann und habe eine angesehene Stellung im Rat meines Volkes, und jeder, der mich Stinker nennt, ist ein dreckiger, lausiger, gemeiner Lügner!« Es war gesagt. Er wartete starr, während Macht Viel Strahlung lang sam aufstand. Als er den gutgenährten, muskulösen jungen Krieger ansah, überschwemmte ihn Hoffnungslosigkeit. Gegen den hatte er ja
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nicht die geringste Chance. Schon gar nicht im Nahkampf – und den würde es jedenfalls geben. Macht Viel Strahlung hob das Schwert auf und richtete es auf Jerry Franklin. »Ich könnte dich auf der Stelle in die Hälfte hacken wie eine dicke Zwiebel«, meinte er verächtlich. »Oder dir auf dem Kampfplatz mit dem Messer den Bauch aufschlitzen. Ich habe Seminolen getötet, ich habe Apachen besiegt, ja ich habe sogar mit Komantschen ge kämpft. Aber ich habe mir nie die Hände mit dem Blut von Bleichge sichtern beschmutzt, und ich habe nicht die Absicht, heute damit anzu fangen. Solche niedere Schlächterarbeit überlasse ich den Sklavenauf sehern unserer Besitzungen. Vater, ich gehe fort, bis das Gesindel draußen ist.« Er warf das Schwert Jerry vor die Füße und ging. Im Eingang drehte er sich noch einmal um und bemerkte über die Schulter: »Der älteste Sohn des Senators von Idaho. Ha! Idaho gehört seit fünfundvierzig Jahren zu den Ländereien der Familie meiner Mut ter! Wann werden diese Narren endlich aus ihren größenwahnsinnigen Träumen aufwachen?« »Ach, mein Sohn«, murmelte der alte Häuptling. »Diese jungen Leute sind so intolerant und wild. Aber er meint es nicht so, wirklich.« Er winkte zwei weißen Sklaven, eine buntbemalte Truhe herzubringen. Während der Häuptling darin herumkramte, gewann Jerry Franklin langsam seine Fassung zurück. Er holte erleichtert Luft. Es war zu schön, um wahr zu sein – er mußte nicht mit Macht Viel Strahlung kämpfen und hatte auch nicht sein Gesicht verloren. Alles in allem war die ganze Angelegenheit bisher wirklich besser als erhofft gegangen. Und was die Bemerkung des Häuptlingssohns betraf: Nun, man konn te von einem Indianer sicherlich nicht erwarten, daß er den Traditions gehalt glorreicher Symbole verstand. Senator von Idaho… nicht des besiegten, unterjochten elenden Idaho unter indianischer Herrschaft. Nein – Senator des alten, herrlichen reichen Idaho… »Wir haben euch nicht erwartet, deshalb können wir nicht viel als Ge gengeschenk anbieten«, erklärte Drei Wasserstoffbomben. »Aber da ist wenigstens eine Kle inigkeit für dich.« Jerry schnappte nach Luft, als er das Geschenk entgegennahm. Es war eine Pistole, eine richtige, brandneue Pistole! Und eine Schachtel Patronen! Offenbar aus den Sklavenwerkstätten, die die Sioux im Mit telwesten betrieben, und von denen er schon so viel gehört hatte. Und sie gehörte ihm! Ihm allein!
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Es war eine Crazy Horse Kaliber 45, die, wie man sich erzählte, der Geronimo 32, der im Westen verbreiteten Apachen-Waffe, weit überle gen war. Das war eine Waffe, wie sie sich kein General, kein Präsident jemals erhoffen konnte – eine echte Pistole! »Oh – nein – ich, wirklich, ich kann nicht…« »Schon gut«, sagte der Häuptling freundlich. »Wirklich. Mein Sohn würde es nicht billigen, Feuerwaffen an Bleichgesichter zu geben, aber für mich sind Bleichgesichter auch nicht schlechtere Menschen als wir – es kommt eben immer auf das Individuum an. Und für ein Bleichgesicht siehst du mir recht vernünftig aus. So, und jetzt deine Botschaft.« Jerry riß sich zusammen und öffnete den Lederbeutel an seinem Hals. Ehrfürchtig zog er das kostbare Dokument hervor und überreichte es dem Häuptling. Drei Wasserstoffbomben überflog es rasch und gab es an seine Krie ger weiter. Der letzte, Bunter Buchumschlag, las es stirnrunzelnd, knüllte es zusammen und warf es dem Weißen hin. »Elender Stil«, sagte er. »Und die Rechtschreibung! Außerdem – was hat der Wisch mit uns zu tun? Er ist an den Seminolenhäuptling Osceo la VII. gerichtet, fordert ihn auf, sich in die vertraglich festgelegten Grenzen zurückzuziehen oder die Geiseln herauszugeben. Na und? Wir sind keine Seminolen.« Während Jerry Franklin den Papierknäuel aufhob und sorgfältig glätte te, begann der Botschafter der Konföderierten zu sprechen. »Wenn die Herrschaften gestatten«, sagte Sylvester Thomas nach einem fragen den Blick in die Runde, »dann könnte ich das erklären. Das Miß verständnis ist begreiflich: das Nachrichtensystem der Amerikanischen Staaten, der Vereinigten wie der Konföderierten, ist« – er gestattete sich die Andeutung eines diplo matischen Lächelns – »nicht so gut, wie es einmal war. Die Regierung, die dieser junge Mann so fähig vertritt, hat offensichtlich nur gehört, daß ein Indianerstamm Trenton einge nommen hat – und man nahm das Naheliegendste an: daß es Semi nolen seien. Es hatte wohl niemand eine Ahnung davon, daß die Sioux Seiner Majestät Osceola VII zuvorgekommen sind.« »Das stimmt«, bestätigte Jerry eifrig. »Ganz genau. Und nun, als be glaubigter Botschafter des Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika ist es meine Pflicht, die Sioux aufzufordern, sich auf die Gren zen zurückzuziehen, die in dem Vertrag vor fünfzehn Jahren – ich glau be, es waren fünfzehn Jahre festgelegt wurden. Ich erinnere mich dar an, daß die Sioux gelobten, uns kein Land mehr zu nehmen, als wir uns
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zuletzt aus der Gegend von Pittsburgh zurückzogen. Ich bin sicher, die Sioux wünschen, als ehrliche Vertragspartner zu gelten.« Drei Wasserstoffbomben warf einen fragenden Blick auf Bunten Buch umschlag und Ende Der Geschichte. Dann stützte er die Ellbogen auf die gekreuzten Beine und musterte Jerry. »Du sprichst gut, junger Mann; du kannst für deinen Häuptling Ehre einlegen… Nun also: natürlich wünschen die Sioux als ehrliche Ver tragspartner angesehen zu werden. Und so weiter. Aber unsere Bevöl kerung nimmt zu. Eure nicht. Wir brauchen mehr Land. Ihr könnt einen Großteil eures Landes nicht nutzen. Sollen wir dasitzen und zusehen, wie das Land verkommt – oder schlimmer, wie es von den Seminolen erobert wird, die ohnehin schon die Ostküste von Florida bis herauf nach Phila delphia besitzen? Nehmt doch Vernunft an. Ihr könnt anders wo hinziehen. Schließlich habt ihr noch einen Großteil von Neuengland und vom Staat New York. Ihr könnt also wirklich auf New Jersey ver zichten.« In Jerry brach etwas los. Völlig undiplomatisch brüllte er: »Worauf sol len wir denn noch verzichten? Von den Vereinigten Staaten von Ameri ka sind uns nur mehr ein paar Quadratmeilen geblieben, und die sollen wir auch noch hergeben! Zur Zeit meiner Vorväter waren wir eine gro ße Nation, die das Land von einer Küste zur anderen beherrschte, so berichten die Legenden meines Volkes – jetzt sind wir auf einem elen den Rest unseres Landes zusammengedrängt, hungrig, krank, schmut zig und eingeschüchtert. Im Norden fallen die Odjibwah und Cree über uns her, im Süden drängen die Seminolen heran, im Westen nehmen uns die Sioux ein Stück Land ums andere weg! Was wird aus uns – wohin sollen wir gehen?« Der alte Mann rückte unbehaglich hin und her, weil er den Schmerz und die Verzweiflung in Jerrys Stimme spürte. »Es ist schwer für euch, das gebe ich zu. Aber das Leben ist nun einmal so – die schwächeren Völker gehen unter, früher oder später… Nun, was den zweiten Teil deines Auftrags betrifft: Wenn wir uns nicht wie gefordert zurückzie hen, sollst du, Botschafter, die Herausgabe der Geiseln verlangen. Klingt vernünftig – irgend etwas muß ja für euch herausschauen. Aber ich kann mich um die Welt nicht an eine Geisel von euch erinnern. Ha ben wir eine Geisel von euch?« Mit hängendem Kopf, erschöpft durch seinen Ausbruch, murmelte Jer ry niedergeschlagen: »Ja. Alle indianischen Völker an unseren Gre nzen haben Geiseln. Als Unterpfand unseres guten Willens und unserer fried lichen Absichten.«
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Bunter Buchumschlag schnippte mit den Fingern. »Dieses Mädchen da. Sarah Cameron – Canton – wie heißt sie doch gleich.« Jerry sah auf. »Calvin?« fragte er. »Könnte es Calvin sein? Sarah Cal vin? Die Tochter des Präsidenten des Obersten Ge richts der Vereinigten Staaten?« »Sarah Calvin, ja, das stimmt. Ist seit fünf, sechs Jahren bei uns. Du erinnerst dich, Häuptling? Das Mädchen, mit dem dein Sohn herumtän delt?« Drei Wasserstoffbomben blickte erstaunt. »Ach – die ist eine Geisel? Ich dachte immer, sie sei eine Bleichgesichtfrau, die er sich von seinen Gütern im südlichen Ohio mitgebracht hat. Hm ja – der Apfel fällt eben nicht weit vom Stamm…« Er wurde plötzlich wieder ernst. »Dieses Mädchen wird aber niemals zurückgehen. Sie hat sehr viel übrig für unsere Art von Liebe. Wirklich. Und sie träumt davon, daß mein Sohn sie eines Tages heiratet. Glaube ich jedenfalls.« Er musterte Jerry Franklin nachdenklich. »Höre, junger Mann – wie wäre es, wenn du draußen wartest, während wir die Sache bespre chen? Und nimm den Säbel mit. Behalte ihn. Mein Sohn scheint ihn nicht zu wollen.« Jerry hob den Säbel auf und stolperte aus dem Wigwam. Dumpf und gleichgültig wurde er gewahr, daß sich eine Gruppe von Kriegern um Sam Rutherford versammelt hatte. Dann teilte sich der Ring der Indianer einen Augenblick, und Jerry konnte Sam sehen – mit einer Flasche in der Hand! Tequila! Der verdammte Narr hatte von den Indianern Schnaps angenommen und war betrunken wie ein Schwein. Wußte er denn nicht, daß ein weißer Mann nicht trinken durfte, nicht trinken konnte? Wo jedes Zipfelchen Land bebaut wurde, und sie das auch nur knapp vor dem Verhungern bewahrte, war die Herstellung alkoholischer Getränke ein Luxus, den sie sich nicht erlauben konnten. Kein Weißer bekam in seinem ganzen Leben auch nur ein Glas voll. Eine ganze Flasche Tequila machte einen zu einem kotzenden Häufchen Elend. Und das war Sam jetzt. Er wankte im Kreise, hielt die Flasche am Hals und schwenkte sie unsicher. Die Sioux grinsten, stießen sich gegensei tig an und genossen das Schauspiel. Sam erbrach sich auf die Lumpen, die seine Kle idung waren, versuchte noch einen Schluck zu nehmen und kippte dabei rücklings um. Die Flasche ergoß gluckernd den restli chen Schnaps über sein Gesicht. Er schnarchte nun laut. Die Sioux schüttelten die Köpfe, verzogen angewidert das Gesicht und gingen.
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Jerry sah alles, und es tat ihm weh. Wohin konnten sie gehen? Was tun? Und hatte es überhaupt noch einen Sinn? Wahrscheinlich war es noch die beste Lösung, sich wie Sammy zu besaufen. Das betäubte wenigstens den Schmerz. Er starrte den Säbel in seiner Hand an, die blinkende Pistole in der anderen. Er sollte sie wohl besser wegwerfen – wozu war es denn gut, als Weißer Waffen zu tragen? Pathetischer Unsinn. Sylvester Thomas kam aus dem Zelt gehastet. »Machen Sie Ihre Pfer de fertig, Sir«, flüsterte er. »Bereiten Sie sich auf den Aufbruch vor – sobald ich zurückkomme. Schnell!« Der junge Mann schlurfte zu den Pferden hinüber und befolgte die In struktionen – es war ja so verdammt egal, was er tat. Aufbrechen – wohin? Wozu? Er hob Sam auf sein Pferd und band ihn fest. Zurück nach Hause? Zu rück in die Hauptstadt der Vereinigten Staaten von Amerika? Thomas kam mit einem gefesselten und geknebelten Mädchen unterm Arm zurück. Sie wehrte sich wild. Ihre Augen sprühten vor Wut und Abwehr. Sie versuchte immer wieder, dem Botschafter der Konföderie r ten Staaten von Amerika einen Tritt zu versetzen. Sie trug die kostbaren Gewänder einer indianischen Prinzessin. Ihr Haar war nach der bei den Sioux-Damen im Augenblick beliebten Mode in Zöpfe geflochten. Und ihr Gesicht war sorgfältig mit einer bräunli chen Farbe dunkel getönt. Sarah Calvin. Tochter des Obersten Richters. Sie banden sie auf dem Packpferd fest. »Häuptling Drei Wasserstoffbomben«, erklärte der Neger, »ist der An sicht, sein Sohn hätte zuviel Ablenkung. Er meint, er sollte sich lieber auf seine zukünftige Stellung vorbereiten, als mit Bleichgesichtfrauen herumzuspielen. Deshalb möchte er die da los sein. Und noch was. Der Alte mag Sie offensichtlich. Ich soll Ihnen etwas von ihm ausrichten.« »Ich bin dankbar – dankbar für alles, was die Rothäute mir geben, wie demütigend es auch sein mag…« Sylvester Thomas schüttelte mißbilligend den Kopf. »Seien Sie nicht so bitter, junger Mann. Wenn Sie weiterleben wollen, ist jede Art von Selbstmitleid nachteilig. Der Häuptling läßt Ihnen sagen, Sie sollten lieber nicht nach Hause zurückkehren. Er konnte vor den Ratsmitglie dern nicht offen mit Ihnen reden, aber die Sioux haben Trenton nicht wegen der Seminolen im Süden, sondern wegen der Odjibwah im No r
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den besetzt. Die Nordstämme haben beschlossen, sich die gesamte Ostküste einzuverleiben – und das betrifft auch den Rest Ihres Landes. Augenblicklich sind sie wahrscheinlich schon in New York City, und Ihre Regierung wird es in wenigen Stunden nicht mehr geben. Der Häuptling erfuhr von diesen Plänen und wollte den Sioux den Zugang zur Küste sichern sowie eine Vereinigung der Seminolen und Odjibwah verhin dern. Dies ist ihm nun gelungen. Aber wie gesagt, er hat etwas für Sie übrig und warnt Sie davor, zurückzugehen.« »Schön – und w ohin soll ich? In den Erdboden versinken? Einen Re genbogen hinaufklettern?« »Nein«, meinte Thomas ernst. Er half Jerry aufs Pferd. »Sie könnten mit mir in die Konföderierten Staaten kommen -«, er machte eine ab wartende Pause, und als sich Jerrys stumpf verzweifelter Gesichtsaus druck nicht veränderte, fuhr er fort: »Oder Sie könnten – und das ist mein Rat, nicht der des Häuptlings - Sie könnten nach Ashbury Park gehen. Das ist nicht sehr weit, wenn Sie sich beeilen, sollten Sie es noch schaffen, bevor die Ostküste zur Gänze unterjocht ist. Es soll dort nach Berichten, die ich zufällig mitbekam, eine Einheit der Marine der Vereinigten Staaten liegen. Genauer gesagt, die Zehnte Flotte.« »Sagen Sie mir«, bat Jerry und beugte sich im Sattel vor, »haben Sie sonst noch etwas zu hören bekommen? Irgend etwas über die restliche Welt? Was ist mit diesem Volk, den Russkis oder Sowjetskis, oder wie sie immer hießen, mit denen die Vereinigten Staaten damals so viel zu tun hatten?« »Aus Äußerungen einiger Ratsmitglieder habe ich nur entnommen, daß die Sowjetrussen ziemliche Schwierigkeiten mit einem Volk haben, das sich Tataren nennt. Ja, das war der Name, glaube ich. Aber Sie sollten sich auf den Weg machen, junger Mann.« Jerry beugte sich noch weiter hinunter und ergriff die Hand des ande ren. »Danke«, sagte er. »Sie haben viel für mich getan. Ich bin Ihnen sehr dankbar.« »Ist schon gut«, erwiderte Thomas ernst. »Wir waren schließlich einst eine Nation, bevor…« Jerry brach auf, die beiden anderen Pferde am Zügel führend. Er schlug ein schnelles Tempo an, dem nur der Straßenzustand und die Rücksicht auf die Pferde eine Grenze setzten. Als sie die ehemalige Bundesstraße Nr. 33 erreichten, hatte sich Sam Ru therford so weit er holt, daß er sich im Sattel halten konnte, so scheußlich er sich auch noch fühlte. Sie banden dann Sarah Calvin los und nahmen sie in die
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Mitte. Sie schimpfte und heulte. »Dreckiges Bleichgesicht! Häßliche stinken de Weißhäute! Ich bin Indianerin, seht ihr das nicht, ihr Stinker? Meine Haut ist braun, nicht weiß!« Sie ritten weiter. Ashbury Park war ein riesiges Flüchtlingslager, in dem Hunger und Gewalt und Chaos herrschten. Da gab es Leute aus dem Norden, aus dem Westen, aus dem Süden. Die drei Pferde wurden gierig angestarrt: sie bedeuteten Nahrung für die Hungrigen, das schnellstmögliche Transportmittel für die Fliehen den. Jerry fand den Säbel sehr nützlich. Und die Pistole leistete noch bessere Dienste – er brauchte sie nur offen zu tragen. Die wenigsten der Flüchtlinge hatten jemals eine Pistole in Funktion gesehen und heg ten eine abergläubische Furcht vor Feuerwaffen. Nachdem ihm das klargeworden war, behielt Jerry die Pistole in der Rechten, als sie den Marinestützpunkt betraten. Sam Ru therford ging an seiner Seite, Sarah Calvin folgte, immer noch schmollend. Er stellte sich und die anderen Admiral Milton Chester vor. Der Sohn des Unterstaatssekretärs. Die Tochter des Obersten Richters. Der ältes te Sohn des Senators von Idaho. »Und nun – anerkennen Sie die Auto rität, die mir dieses Dokument verleiht?« Admiral Chester las das zerknitterte Beglaubigungsschreiben sorgfäl tig, wobei er die schwierigeren Wörter halblaut buchstabierte. Als er fertig war, nickte er respektvoll und sah zuerst auf das Siegel der Ver einigten Staaten auf dem Papier vor ihm und dann auf die blitzende Pistole in Jerrys Hand. Er fuhr sich mit dem Finger unter den Kragen. »Ja.« sagte er schließlich. »Ich erkenne Ihre Autorität an. Ist das eine echte Pistole?« Jerry nickte. »Eine Crazy Horse 45, letztes Modell. Inwie fern erkennen Sie die Autorität an?« Der Admiral breitete unentschlossen die Arme aus. »Hier geht alles drunter und drüber. Die letzten Nachrichten, die ich bekam, besagten, daß die Odjibwahs Manhattan überrannt haben. Und daß es keine Re gierung der Vereinigten Staat en mehr gibt. Also ist das hier« – er beugte sich nochmals über das Dokument -»die letzte offizielle Ernen nung, die der Präsident der Vereinigten Staaten noch vorgenommen hat.« Er streckte die Hand aus und berührte die Pistole vorsichtig und neu
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gierig. Da nn schien er zu einer Entscheidung gekommen zu sein. Er stand auf und salutierte zackig. »Hiermit erkenne ich Sie als den letzten gesetzlichen Bevollmächtigten der Regierung der Vereinigten Staaten an und stelle Ihnen meine Flotte zur Verfügung!« »Gut!« Jerry steckte die Pistole in den Gürtel und gestikulierte mit dem Säbel. »Haben Sie genügend Lebensmittel und Wasser an Bord für eine längere Reise?« »Nein, Sir«, antwortete Admiral Chester. »Aber das kann ich veran lassen – dauert höchstens ein paar Stunden. Darf ich Sie an Bord brin gen, Sir?« Stolz zeigte er über den Strand, wo außerhalb der Brandung drei 45Fuß-Gaffelschoner vor Anker lagen. »Die Zehnte Flotte der US-Marine, Sir. Wir erwarten Ihre Befehle.« Mehrere Stunden später, als sich die drei Schiffe bereits auf See be fanden, kam der Admiral in die enge Hauptkabine, wo sich Jerry Frank lin ausruhte. Sam Rutherford und Sarah Calvin schliefen in den beiden oberen Kojen. »Ihre Befehle, Sir…?« Jerry Franklin kletterte an Deck und sah zu den geflickten Segeln auf. »Kurs nach Osten.« »Osten, Sir? Genau Osten?« »Genau nach Osten. Zu den legendären Gestaden Europas. Wo es auch für einen weißen Mann noch Freiheit gibt. Wo er keine Verfolgung, keine Sklaverei mehr zu fürchten braucht. Segeln Sie nach Osten, Ad miral – bis wir ein freies Land finden!«
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Der Deserteur 10. November 2039 Auszug aus dem Kommunique Nr. 18-673 des terranischen Ober kommandos für die Zeitspanne Sonntag 0900 Uhr bis Montag 0900 Uhr (Terra-Zentralzeit): …worauf von der Satellitenfestung 5 für diesen Sektor der strategische Rückzug aller Abfangjäger-Einheiten befohlen wur de. Der Rückzug ver lief reibungslos und mit nur geringen Verlusten. Das einzige ansonsten bemerkenswerte Ereignis in diesen vierund zwanzig Stunden war die Kapitulation eines feindlichen Soldaten unbe kannten Ranges. Er ist das erste Jupiterwesen, das von unseren Streit kräften lebend gefangengenommen werden konnte. Im Zuge eines Ver teidigungsmanövers gegen eine feindliche Kommandoeinheit, die Co chabamba in Bolivien angriff, wurden vier Jovianer getötet, worauf der fünfte die Waffen nie derlegte und um sein Leben bat; nach der Gefan gennahme durch unsere Streitkräfte behauptete der Jovianer dann, ein Deserteur zu sein und bat um freies Geleit zum… Mardin war von dem Offizier der Militärpolizei, der ihn in die Höhle führte, zwar auf den Anblick vorbereitet worden, aber der riesige Eis block des Tanks – längst waren die Wände mit einer dicken Reifschicht bedeckt – weckte eine Erinnerung in ihm, die ihm einen Schauder über den Rücken jagte. Der Tank war etwa zwanzig Meter lang und fünfzehn Meter breit und ragte vom Felsboden zu doppelter Mannshöhe auf. Ein kalter Hauch entströmte ihm und brachte den faulig-dump fen Geruch des Methans mit, der Mardins Augen tränen ließ. Die Kälte prickelte in seiner Nase, und er dachte daran, daß die Körpertemperatur der Jovianer etwa mi nus 130 Grad betrug. Er hatte diese Kälte schon einmal zu spüren bekommen… Er fröstelte und zog den Reißverschluß des pelzgefütterten Overalls, den man ihm draußen gegeben hatte, bis zum Hals zu. »Muß recht schwierig gewesen sein, das Ding hierherein zu bekommen.« Der unbe teiligte Ton seiner Stimme überraschte ihn einigermaßen, und er fühlte sich etwas besser. »Ach, das war nicht weiter schlimm, ein Trupp Spezialtechnike r hat es in – lassen Sie mich überlegen -«, der MP-Leutnant, eine junge Chine sin, spitzte nachdenklich weiche Korallenlippen und streifte Mardins graues Haar mit einem Blick jugendlicher Herablassung, »in weniger als
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fünf Stunden geschafft. Das einzige Problem dabei war, einen geeigne ten Ort zu finden. Diese Höhle ist ideal.« Mardin blickte zu der natürlichen Felsgalerie hinauf, die an drei Wän den der Höhle entlanglief. Alle paar Meter drei Posten, mit schußbere i ten Waffen. Atomkanonen. Dem- Dem- Granaten. Junge Offiziere, die mit grimmigen Gesichtern auf- und abstampften und sich der sehr ho hen Tiere ungemütlich bewußt waren, die auf der Plattform beim Tank herumstanden. Neben dem Höhleneingang waren fünf CäsarStrahlenkanonen aufgebaut, deren schlanke blitzende Kristallstäbe mit ungeheuren Energien vibrierten und mit ihren Blitzen den Jovianer bin nen Sekundenbruchteilen kochen konnten. Und zwischen den klobigen Felsvorsprüngen der Höhlendecke hing über dem Tank eine schlanke Bombe neben der anderen. Die Halterun gen der Bomben würden sich alle gleichzeitig lösen, wenn ein bestimm ter Offizier einen bestimmten grünen Knopf drückte… »Wenn unser Freund im Tank da eine falsche Bewegung macht«, murmelte Mardin, »dann geht halb Südamerika mit drauf.« Das Mädchen wollte zuerst darüber lächeln, überlegte es sich dann aber und preßte die Lippen zusammen. »Es tut mir leid, Major Mardin. Aber ich kann es nicht hören, wenn jemand diese Bestien als Freund bezeichnet – nicht einmal im Scherz. Mehr als eineinhalb Millionen Menschen – davon dreihunderttausend von meinem Volk – sind von diesen, diesen Ammoniakwürmern umgebracht worden!« »Und die ersten fünfzig dieser Toten«, erinnerte er sie zornig, »waren meine Verwandten und Nachbarn. Aber vermutlich ist Ihnen der Mars krieg und das Drei-Wassertanks-Massaker kein Begriff!« Sie schluckte und schien sich entschuldigen zu wollen, aber Mardin ließ sie erbost stehen und marschierte auf die Plattform zu. Er hatte nichts übrig für Leute, die ihren Haß nur durch alberne Symbole auf recht erhielten, die Äußerlichkeiten haßten – es war noch gar nicht so lange her, daß sich Menschen untereinander wegen ihrer Hautfarbe erschlagen hatten – und die unfähig waren, gezielt und intelligent das individuelle Böse zu hassen. Nein, er konnte solche Leute nicht ausste hen. Wie oft hatte er beobachtet, wie alte Leute in der Uniform der Se niorenarmee oder des Pensionistenkorps bei jeder Erwähnung der Fein de vom Jupiter mit angeekeltem Gesicht den Absatz in den Bo den bohrten, als zerträten sie einen Wurm – eine Geste, die in der ganzen Welt üblich war. Er verzog das Gesicht, als er an den riesigen lebenden Teppich dachte
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– groß genug, um einen Häuserblock zuzudecken –, der da in dem eis bedeckten Tank seinen fremden Gedanken nachhing, in dem fremde biologische Prozesse abliefen. »Möchte bloß sehen, wie ihr das mit der Ferse zerquetscht!« knurrte er dem verblüfften Mädchen zu, das ihn wieder eingeholt hatte. Zur Hölle mit diesen naiven Narren. Denen soll te einmal ein Jovianer eine Woche lang – nur eine Woche lang – im Tiefenverhör das Gehirn aussaugen. Das würde ihnen vielleicht klarma chen, wie verrückt kompliziert das Universum sein konnte, und daß es auch mit dem Hassen nicht so einfach war. Das erinnerte ihn daran, weshalb er hier war. Die runde Narbe auf seiner Stirn begann zu brennen; er atmete tief, um sein hämmerndes Herz zu beruhigen, und trocknete sich die schweißnassen Hände am Overall, bevor er die Stufen zu der provisorischen Plattform hinauf stieg. Colonel Lin, Mardins unmittelbarer Vorgesetzter, verließ die Gruppe, die vorne beisammen stand und kam ihm mit ausgebreiteten Armen entgegen. »Gut, daß Sie da sind, Mardin«, sagte er eilig. »Hören Sie: der alte Raketenschädel ist selber da – Sie wissen, was das bedeutet. Also reißen Sie sich zusammen beim Salutieren, und nehmen Sie gefäl ligst Haltung an, wenn Sie mit ihm reden. Sie verstehen, warum, ja? Er pflegt uns vom militärischen Geheimdienst immer als halbe Zivilisten herunterzuputzen und – Mardin, hören Sie mir überhaupt zu?! Das ist sehr wichtig!« Mardin konnte den Blick nur mit Mühe von der durchsichtigen, eisfrei gehaltenen Tankoberfiäche abwenden. »Tut mir leid, Sir«, murmelte er. »Ich werde mich zusammennehmen.« »Ist das endlich der Dolmetscher, Colonel Lin? Major Mardin, ha?« brüllte ein großer hagerer Mann mit auffallend steifer Haltung vom vor deren Geländer. Er trug die juwelenbesetzte Uniform eines Marschalls der Raumstreitkräfte. »Bringen Sie ihn rüber. Na los doch!« Colonel Lin packte Mardin am Ärmel und zog ihn hastig über die Platt form nach vorne. Raketenschädel Billingsley schnitt dem Colonel rüde das Wort ab, als dieser Mardin vorstellen wollte. »Major Igor Mardin, nicht? Klingt Russisch. Sie sind doch nicht etwa Russe? Ich hasse Rus sen.« Mardin bemerkte, wie ein breitschultriger Vizemarschall hinter Bil lingsley vor Empörung erstarrte. »Nein, Sir«, antwortete er, »Mardin ist ein kroatischer Name. Meine Familie stammt teils vom Balkan, teils aus Frankreich. Irgendwo ist vermutlich auch ein Araber dabei.«
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Der Weltraummarschall nickte kurz mit dem pelzbemützten Kopf. »Gut! Könnte Sie nicht ausstehen, wenn Sie Russe wären. Ich hasse die Russen, hasse die Chinesen, hasse die Portugiesen. Obwohl die Chinesen wohl die widerlichsten von allen sind. Also – bereit, diesen Plattwurm vom Jupiter auszuquetschen? Kommen Sie mit, und ein biß chen dalli!« Als Mardin folgte, bemerkte er mit bitterer Belustigung, daß nun fast alle Anwesenden eine starre erboste Haltung zeigten. Colonel Lin preß te düster die Lippen zusammen, und der junge MP-Leutnant, der ihn hergebracht hatte, hämmerte wütend mit einer schmalen Faust in die offene Handfläche. Der Marschall der Raumstreitkräfte, Rudolfe Bil lingsley, sah Takt offensichtlich als eine für seinen hohen Rang ent behrliche Eigenschaft an. »Ein Schädel, dick wie Raketenwände, ein dreckiges Maul, das einem ausgebrannten Abgasrohr in nichts nach steht – aber er kann die Verluste eines Gefechts bis auf den letzten Mann genau voraussagen.« Das war die Meinung seines Stabes. Und das war wohl auch die Sorte Mann, dachte Mardin, die die Erde nach achtzehnjähriger Belagerung durch die Jovianer brauchte. Traurig, aber wahr. Er selbst war diesem Mann zu besonderem Dank verpflic h tet… »Sie werden sich wahrscheinlich nicht mehr an mich erinnern, Sir«, begann er zögernd, als sie neben einem metallenen Schalensitz ste henblieben, der an einer Laufschiene an der Decke aufgehängt war. »Wir sind einander nämlich schon einmal begegnet, vor etwa sechzehn Jahren. Ich war an Bord Ihres Raumschiffs, der Euphrates, nachdem…« »Die Euphrates war kein Raumschiff, sie war ein Abfangjäger dritter Klasse. Sie werden verdammt noch mal die Terminologie lernen, wenn Sie schon in einer Majorsuniform stecken, Mister! Und schließen Sie diesen Reißverschluß gefälligst richtig! Elende Schlamperei! – Natürlich, Sie waren einer von diesen Jammerlappen von Zivilisten, die ich den Jovianern bei Drei-Wassertanks unter der Nase wegholte. Ja: dieser junge Archäologe, oder? Hätten sich damals wohl nie träumen lassen, daß aus die sem Zwischenfall ein erstklassiger Krieg würde? Ha! Sie dachten wohl, Sie hätten sich für die Zukunft weich gebettet! Hätten nie vermutet, daß Sie den Rest Ihres Lebens in Uniform verbringen würden und Befehlen gehorchen müßten, eh? Dieser Krieg hat aus ei ner Menge Schlappschwänze wie Ihnen Männer gemacht.« Mardin nickte gezwungen und stellte sardonisch fest, daß auch er sich jetzt wütend versteift hatte. Er fragte sich, wie oft es wohl einer aus Billingsleys persönlichem Stab nicht mehr aushielt und wegen Insubor
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dination vors Kriegsgericht kam. »Na los, Mann, klettern Sie rauf!« Mardin begriff nicht sofort, was die ihm entgegengehaltenen verschränkten Hände zu bedeuten hatten. Ein Marschall der Weltraumstreitkräfte wollte ihn hinaufheben! Billingsley war der Oberzeugung, daß niemand irgend etwas besser konnte als Billingsley. Vorsichtig stieg Mardin auf die Leitersprosse der Marschalls hände und wurde angehoben, so daß er den Sitz erreichte. Automatisch legte er die Sicherheitsgurte um und setzte die Kopfhörer des Sprech geräts auf, befestigte das Mikrofon. Unten legte der alte Raketenschädel die Halteklammern um Mardins Fußgelenke und rief dann hinauf: »Sie wurden instruiert? Arkhnatta hat mit Ihnen gesprochen?« »Ja. Ich meine, ja, Sir. Professor Arkhnatta hat mich den ganzen Flug vom Stützpunkt Melbourne bis her begleitet. Er hat mir alles erklärt, aber natürlich nicht so detailliert, wie er es gerne hätte.« »Zur Hölle mit Details. Hören Sie gut zu, Major Mardin. Da vor Ihnen schwimmt der einzige Jupiterwurm, den wir je mals lebend erwischt haben. Ich weiß nicht, wie lange wir ihn noch am Leben erhalten kön nen – in einem anderen Teil der Höhle bauen die Ingenieure ein Me thanwerk, damit ihm die Stinksuppe zum Atmen nicht ausgeht, und die Chemiker kühlen Ammoniak zum Trinken für das Biest – aber ich habe die Absicht, jedes Stäubchen militärischer Information aus ihm rauszu kriegen, bevor er abkratzt. Verstanden? Und Ihr Gehirn ist mein einzi ges Werkzeug. Hoffe, daß das Werkzeug nicht dabei draufgeht, aber meiner Meinung nach sind Sie kaum mehr wert als eine Raumflotten einheit. Und ich habe erst vorgestern eine geopfert – und zweitausend Männer –, um die Absichten des Feindes herauszufinden. Also, Mister, Sie passen jetzt gut auf und stellen die Fragen. Und die Antworten laut und deutlich, damit die Recorder alles mitbekommen! Ziehen Sie ihn raus, Colonel! Haben Sie nicht gehört? Verdammt, wie lang dauert das noch!« Als der Sitz von der Plattform weg und über den Tank gezogen wurde, spürte Mardin, wie sich in seinem Innern eine eis ige Leere breitmachte, wie sein Geist in den hintersten Winkel des Gehirns zu fliehen versuc h te. In wenigen Minuten – als er daran dachte, was er in ein paar Minu ten tun müßte, wurde er wieder ein Kind, das fest die Augen schließt und das Ungeheuer eines bösen Traumes fortwünscht. Er hätte schon in Melbourne tun sollen, wozu ihn alle seine Instinkte gedrängt hatten. Desertieren. Desertieren, in dem Augenblick, da er
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den Befehl erhielt und erkannte, was er bedeutete. Aber wohin deser tierte man in einer kriegführenden Welt, in der jedes Kind schon seinen militärischen Verantwortungsbereich hatte? Aber er hätte etwas tun sollen. Irgend etwas. Kein Mensch sollte das ein zweites Mal durchmachen müssen. Für den alten Raketenschädel war das Leben höchst einfach. Genau genommen ideal, denn dafür war er geschaffen, für Ge walt und Ver nichtung und Tod. Dafür lebte er. Das hatte der Weltraummarschall Billingsley bereits einmal bewiesen. Diese schönen, geflügelten Wesen der Venus – die Griggodon –, die die Sprache der Menschen gelernt hatten und dann die Kolonisten dieses Planeten mit tausenden Fragen gequält hatten. Ihre hohen, ohrenbetäubenden Stimmen waren schwer zu ertragen gewesen. Mit ihrer lauten Neugier machten sie die Nächte zur Qual. Da sie sich weigerten fortzugehen, und die schwer arbei tenden Kolonisten kaum mehr Schlaf fanden, hatte man das Pro blem auf die planetarische Militärbehörde abgeschoben. Mardin erinnerte sich an die überall aufflammende Empörung, als ein lakonischer Tages befehl – »auf der Venus wurde endgültig. Ruhe hergestellt. Komman dant R. Billingsley« – verkündete, daß die erste intelligente extrater restrische Lebensform, mit der die Menschheit zusammengetroffen war, bis zur letzten krabbelnden Larve durch ein neues Insektizid ausge löscht worden war. Kaum sechs Monate später hatte der Angriff auf den noch dünn besie delten Mars anhand einer Reihe massakrierter Kolo nisten nachdrücklich die Existenz einer weiteren intelligenten Rasse im Sonnensystem be wiesen – einer weitaus mächtigeren Rasse. Wer dachte noch an die unbedeutenden Griggodon, als Kommandant Rudolfo Billingsley in die vom Feind besetzte Hauptstadt des Südmars eindrang und die wenigen Überlebenden des ersten Jupiterangriffs herausholte? Und dann war der Sieger des Drei-Wassertanks-Gefechtes nochmals zurückgekehrt und hatte einen der Männer gerettet, die die Jupiter-Ungeheuer le bend ge fangengenommen halten – einen gewissen Igor Mardin, stolzen Träger des ersten, und wie sich herausstellte, auch des letzten Doktortitels in marsianischer Archäologie. Nein, für den alten Raketenschädel war dieser scheußliche Krieg nicht nur die Erfüllung seines Lebenszwecks, nicht nur eine prächtige Gele genheit, seinen Beruf bis in die letzte Konsequenz auszuüben: der Krieg war seine Rettung. Wäre die Menschheit nicht im Asteroidengür tel über die Außenposten der Jovianer gestolpert, dann hätte Billings leys Karriere mit dem Griggodon-Fiasko geendet. Er wäre für den Rest
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seines Lebens auf einen unbedeutenden Posten abgeschoben worden. Und bei Gesellschaften, wenn er sich je bei einer hätte blicken lassen, würde sicher irgendeine fette alte Schachtel ihren Begleiter in em pörtem Bühnenflüsterton informiert haben, daß dies die berüchtigte ›Bestie von der Venus‹ sei – und allen anwesenden Uniformierten wäre äußerst unangenehm zumute gewesen. Die Bestie von der Venus, hätte es geheißen, nicht: der Sieger von Drei-Wassertanks, Verteidiger des Mondes, Vater der Satellitenfestungen. Und er selbst – nun, Dr. Mardin hätte friedlich seinen For schungsarbeiten nachgehen können, ein Gelehrter unter anderen, ver mutlich nicht der gescheiteste oder tüchtigste – jedenfalls aber ein Mann, der von seinen Kollegen geachtet wurde, der eine Arbeit tat, für die er geeignet war und die er gern hatte. Statt dessen war die PopaAusgrabungsstätte dem Erdboden gleichgemacht, die einstmalige menschliche Hauptstadt des Südmars lag in Trümmern, und Major Mardins Zivilberuf war noch von geringerem Wert als der eines auf Saurier spezialisierten Tierarz tes. Er war nun ein mittelmäßiger Offizier in einer unbedeutenden Abteilung des militärischen Geheimdienstes, dessen nicht sehr erfolgreiche Bemühungen um ein militärisches Ver halten seine Untergebenen amüsierte und seinen Vorgesetzten ein ste ter Dorn im Auge war. Er mochte die Aufträge nicht, die er erhielt, und des öfteren verstand er sie nicht einmal. Seine einzige Bedeutung lag in den zwei Jahren psychologischer Hölle, die er als Ge fangener der Jovianer durchgemacht hatte, und selbst das kam nur bei seltenen günstigen Gelegenheiten wie jetzt zum Tragen. Für die tüchtige, kampferprobte und zielstrebige Generation, die in den Jahren eines unbarmherzigen interplanetarischen Krieges aufgewachsen war, konnte er nie mehr als ein Objekt mitleidiger Verachtung sein. Mardin merkte, daß er den riesigen, wellenschlagenden Fleischlappen unter ihm anstarrte und daß seine Panik etwas abgebbt war. Dieser friedliche, dunkelrote Teppich, auf dem ab und zu ein blauweißer Knö del aus der Oberfläche hervortrat und wie der zurückschrumpfte – das war eines der Wesen, die ihm sein Leben kaputtgemacht hatten und ihn in das Fegefeuer einer militaristischen Welt gestürzt hatten. Und wozu? Nur damit ihre eigene Vorherrschaft gewahrt bliebe und keine andere Rasse das Imperium der Äußeren Planeten bedrohe. Ke ine Vermittlungsbereitschaft, kein Versuch zu Friedensverhandlungen, kein Ansatz zu irgendeiner Art von Verständigung. Nur ein unprovozierter, gnadenloser Vernichtungsangriff. Ein schlanker silbriger Tentakel tauchte aus dem Tank zu ihm herauf.
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Der Sitz kam schaukelnd zu Stillstand. Mardin zog in einem plötzlichen Schauder den Kopf ein, als wollte er ihn zwischen den Schultern ver bergen – wie er es so oft in der Gefängniszelle getan hatte, die einst die öffentliche Bibliothek von Drei-Wassertanks gewesen war. Beim Anblick des so entsetzlich vertrauten, suchenden Tentakels ü berschwemmte ihn achtzehn Jahre alte Panik und verkrampfte seine Eingeweide. Es wird schmerzen, weinte sein Hirn, das zuckend in sich zu sammenschrumpfte. Deine Gedanken werden aneinander aufgerieben und wund sein und weh tun… Der Tentakel stoppte vor seinem Gesicht und krümmte fra gend die Spitze. Mardin verkroch sich in den Sessel, preßte sich gegen die Leh ne. Nein! Diesmal könnt ihr mich nicht dazu zwingen! Diesmal bist du der Gefangene – ihr könnt mich nicht zwingen – ihr könnt nicht… »Mardin!« bellte Billingsleys Stimme im Kopfhörer. »Setzen Sie das verdammte Ding an und beginnen Sie endlich! Los, Mann, los!« Und automatisch, bevor er es richtig begriff, so automatisch, wie er gelernt hatte, auf das Gebrüll von Aaach-tunng! Haltung anzunehmen, langte Mardin nach dem Tentakel und setzte seine Spitze auf die alte Narbe auf seiner Stirn. Da war es wieder, das altbekannte Gefühl einer lautlosen Explosion, die seinen Geist ausdehnte, ergänzte, ihm ein fremdes Bewußtsein auf drängte, das doch irgendwie sein eigenes war. Da waren die verwirren den Doppelerinnerungen: ein Fluß aus grünem Feuer, der über pech schwarze bebende Klippen Hunderte von Meilen tief hinunterdonnert, und dieser Eindruck vermischt sich mit der freudigen Erregung über einen Baseballhandschuh, den du gerade zum Geburtstag bekommen hast; das Bild einer sehr hübschen, sehr eifrigen jungen Physikerin, die dir erklärt, wie jemand namens Albert Fermi Vannevar die Formel E=mc 2 abgeleitet hat, verschwimmt mit der Erinnerung an die Zeit der duftenden Tänze, als du begannst, zur Oberfläche auszusteigen, weil Myriaden herrlich weicher Flecken auf deinem Rücken es so beschlos sen hatten. Aber diesmal, bemerkte Mardin erstaunt im letzten ihm allein verblie benen Winkel seines Gehirns, diesmal war es anders. Diesmal fühlte er kein Entsetzen über den Eindringling in seinem Hirn, nicht mehr die namenlose Furcht eines Geistes, der spürt, wie hungrige Tentakel seine Gedanken sezieren, in schreiende Fragmente zerreißen, während das
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Ich in einen dunklen Winkel der Psyche verkrochen zitternd zusieht. Diesmal wurde sein Geist von einem anderen besucht, nicht vergewal tigt. Natürlich, diesmal war er der Verhörende. Und der Jovianer war es, der hilflos der Sondierung, den Waffen, der gleichgültigen Unbarmher zigkeit einer fremden Rasse ausgeliefert war. Diesmal mußte ein Jovia ner, und nicht Igor Mardin, die richtigen Antworten auf die bohrenden Fragen finden – mußte die geeigneten Symbole finden, um diese Ant worten auszudrücken. All dies machte einen ungeheuren Unterschied aus. Mardin entspannte sich und genoß mit einer gewissen Belustigung das Machtgefühl, das ihn durchströmte. Aber es war eben noch etwas anderes. Diesmal stand er mit einer völ lig anderen Persönlichkeit in Verbindung. Dieses Wesen von einer Welt, deren Schwerkraft und ungeheurer at mosphärischer Druck Mardin in eine dünne feuchte Schicht über den Boden ausgewalzt hätten, war irgendwie freundlich. Nicht einfach Takt gefühl oder Schüchternheit – aber eine gewisse warme Sanftheit. Mardin gab es auf, das näher zu analysieren. Der Unterschied zwi schen diesem Jovianer und seinem Inquisitor vom Mars war jedenfalls so ausgeprägt wie der zwischen verschiedenen Rassen. Es war wirklich eine Fre ude, dachte er angenehm berührt, mit einem solchen Wesen für kurze Zeit seinen Geist zu teilen! Undeutlich hallte die Antwort des Jovianers durch sein Gehirn, daß diese Freude gegenseitig sei. Instink tiv begriff er, daß sie irgendwie geistig viel gemeinsam hatten. Und das würde nur gut sein, wenn Billingsley die gewünschten Infor mationen erhalten sollte. Man mochte zwar meinen, daß die direkte Nervenverbindung das ideale Kommunikationsmittel zwischen zwei so verschiedenen Rassen wie Menschen und Jovianern sei. Aus der Zeit der Drei-Wassertanks-Gefangenschaft, wo man ihn gezwungen hatte, seine Vorstellungskraft bis zur Verzweiflung zu beanspruchen, wußte Mardin, daß die Pra xis ganz anders aussah. Individuen denken in Sym bolen, die durch ihre Anlagen und Erfahrungen bestimmt sind – und wenn zwei Individuen keinerlei Anlagen und Erfahrungen gemeinsam haben, dann resultiert selbst der engste geistige Kontakt in totaler Verwirrung. Es hatte Mardin damals Wochen unvorstellbarer Mühen gekostet, bloß um festzustellen, daß etwa der menschliche Verdau ungsprozeß für ein Jupiterwesen ungefähr eine Kombination von At mung und schwerer körperlicher Anstrengung darstellte und daß für
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seine Bezwinger die Tätigkeit des Badens eine so unanständige und peinliche Vorstellung war, daß Mardins Inquisitor sich nach Erwähnung des Themas fünf Wochen nicht hatte blicken lassen und ihn danach mit der angeekelten Reserve behandelt hatte, die ein Mensch vielleicht ei nem intelligenten Fäkalienklumpen entgegenbringen mochte. Aber schließlich halten sich in endlosen Befragungen doch für beide Seiten verständliche Symbole herauskristallisiert – und dann war Mar din gerettet worden, und man hatte ihn sich für eine Gelegenheit wie diese aufgehoben. »Mardin!« schnaubte die Stimme des Marschalls aus dem Kopfhörer. »Schon Kontakt hergestellt?« »Ja, ich denke schon, Sir.« »Gut. Erinnert Sie an die guten alten Zeiten, eh? Fertig zum Fragen? Oder macht der Plattwurm Schwierigkeiten, Antworten Sie, Mardin! Sitzen Sie nicht da und starren Sie ihn an!« »Ja, Sir«, sagte Mardin hastig. »Alles bereit.« »Gut also. Fragen Sie ihn als erstes nach Namen, Rang und Einheit.« Mardin schüttelte den Kopf. Diese pedantische Eingleisigkeit des mili tärischen Denkens! Man fragte einen japanischen Kriegsgefangenen nach Namen, Rang und Einheit – also war es ganz klar, daß man mit einem jovianischen Gefangenen genauso verfuhr! Er wandte sich an den riesigen lebenden Teppich unter ihm und stellte die Frage in möglichst allgemein gehaltenen Symbolen. Wo wohl die Antwort formuliert wurde? Manche Wissenschaftler behaupteten auf grund von Untersuchungen an toten Jovianern, daß sie zu den Wirbel tieren gehörten, nur daß sie eben neun einzelne Gehirne und Wirbel säulen besaßen. Andere Exobiologen vertraten die Meinung, daß diese ›Gehirne‹ nur den Ganglien der Wirbellosen entsprach und daß sich die Denkprozesse der Jovianer auf der fein verschnörkelten Oberfläche ihrer Körper abspielten. Und man hatte nie etwas entdeckt, das auch nur im entferntesten ein Mund oder Augen oder Glieder zur Fortbewe gung sein konnte. Plötzlich fand sich Mardin am Grunde eines turbulenten Ammoniak meeres wieder, in einem Schwarm Dutzender Neugeborener um die geschlechtslose ›Mutter‹; einer brach aus dem Schwarm aus, er folgte. Sie trafen sich am vorbestimmten Kristallisationspunkt und verschmo l zen zu einem einzigen Individuum. Der Stolz, den er über diese Ver mehrung des Selbst emp fand, machte die Anstrengung wett.
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Dann floß er über eine unangenehm bucklige Oberfläche. Er war nun viel größer, und das Selbst hatte sich vervielfacht. Der Rat der Ungebo renen bat ihn um seine Entscheidung. Er entschied sich für das männli che Geschlecht. Er wurde in eine neugeformte Bruderschaft aufge nommen. Später verschmolz er sich mit winzigen stummen weiblichen Partnern und den riesigen, aktiven Geschlechtslosen. Er erhielt zu die sem Anlaß eine Menge Geschenke. Noch viel später gab es ein Lieder fest in einer tropfenden Höhle, das durch eine Kampf szene mit revoltie renden Sklaven von einem der Saturnmonde unterbrochen wurde. Da r aufhin mußte er sich mit großem Be dauern für einige Zeit in die Stille gung seiner Lebensfunktionen fügen. War er verwundet? riet Mardin. Zum Schluß nahm er an einer Führung durch unterseeische Brutstät ten teil, die mit einem bunten Erdbeben endete. Mardin baute langsam die gewonnenen Informationen in menschliche Symbole um. »Also, Sir«, sagte er schließlich zögernd ins Mikrofon, »was Ihre Frage nach Rang und Namen betrifft, so haben sie da kein genau zutreffendes Äquivalent, aber man konnte den Gefangenen Hopar XV nennen. Er hat zuerst der Garnison auf Titan angehört und war dann zeitweilig Adju tant des Kommandanten von Ganymed.« Mardin schwieg einen Mo ment und fuhr dann fort: »Er legt Wert darauf, daß wir wissen, daß ihm fünfmal die Ehre zuteil wurde, sich fortpflanzen zu dürfen – zweimal bei öffentlichen Anlässen.« Billingsley grunzte. »Quatsch! Finden Sie lieber ‘raus, warum er nicht bis zum Tode gekämpft hat wie die anderen vier Angreifer. Ich persön lich bin der Ansicht, daß die Jovianer viel zu gute Soldaten sind für so etwas, Plattwürmer oder nicht, ich kann mir schlecht vorstellen, daß einer von denen zum Feind überläuft.« Mardin stellte dem Gefangenen die Frage… Wieder befand er sich plötzlich auf Welten, wo er in Wirklichkeit nicht einen Moment hätte überleben können. Er beaufsichtigte einen Arbeitstrupp wunderbarer Staubkugel-Wesen, die von den Jovianern vor langer Zeit unterworfen worden waren. Und diese Situation löste in ihm das gleiche Gefühl aus wie die Ausrottung der Griggodon vor achtzehn Jahren: diese Wesen waren so eigenartig und einzig – und doch dem Untergang geweiht. Er spürte Trauer und Mitleid und Auflehnung und merkte dann, daß diese Gefühle nicht seine eigenen waren, sondern die des mitfühlenden Ge is tes, aus dem diese Erinnerung kam. Dann folgten neue Welten, neue Pflichten…
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Als Mardin diesmal die Antwort erkannte, schnappte er überrascht nach Luft. »Er sagt, alle fünf Jovianer waren Deserteure! Sie haben jahrelang gemeinsam Fluchtpläne gemacht – sie gehörten nicht nur der gleichen Bruderschaft, sondern auch der gleichen Brut an. Er sagt, daß sie – man könnte sagen, daß sie zusammen abgesprungen sind; keiner hatte eine Waffe. Jeder versuchte auf verschiedene Weise seine Kapitu lation auszudrücken, wie sie es vorher abgemacht hatten – aber nur Hopar XV konnte sich verständlich machen. Er bringt uns die Grüße noch nicht kristallisierter Schwärme.« »Halten Sie sich an die Tatsachen, Mardin. Keine Schwärme rei. Wa rum sind sie desertiert?« »Ich halte mich ja an die Tatsachen, Sir. Und Hopar XV sagt, sie seien desertiert, weil sie alle überzeugte Antimilitaristen wären.« »Waas-s-s?!« »Das behauptet er – so genau ich das in menschliche Begriffe über tragen kann. Er meint, daß der Militarismus seine Rasse zugrunde ric h tet, weil er zum Beispiel die Jungen verwirrt, so daß sie sich nicht das richtige Geschlecht aussuchen, wenn sie das Erwachsenenstadium er reichen (diesen Teil verstehe ich selbst kaum, Sir); auch hätte der Mili tarismus das Degenerieren einer Kunstrichtung bewirkt, die eine Mi schung aus Kartographie und Gartenbau zu sein scheint und die nach Hopars Ansicht von großer Bedeutung für die Zukunft seiner Rasse ist. Und die Streitkräfte und Besatzungsbehörden haben durch ihr Verhal ten den intelligenten Lebensformen von Ganymed, Titan und Europa gegenüber allen Jovianern eine schwere moralische Schuld aufgebür det. Und natürlich auch die Vernichtung der halbintelligenten Blasen des Saturnkerns…« »Zum Teufel mit den Saturnkernblasen!« schnaubte Billingsley. »Hopar XV vertritt die Ansicht«, fuhr der Mann in dem Hängesitz un gerührt und mit einem gewissen boshaften Vergnügen fort, »daß den Militärs seiner Rasse um ihrer selbst und anderer Lebensformen des Sonnensystems willen das Handwerk gelegt werden müßte.« Mardin sah freudig bewegt auf den dunkelroten Teppich hinunter, dessen so wundervoll vernünftige, friedfertige Gedanken er zu formulieren suchte. »Er meint, daß alle für den Krieg lebenden Geschöpfe ›Antileben‹ sind, wie er es ausdrückt. Die Kriegsgegner seines Volkes hatten schon jede Hoffnung aufgegeben, daß den Eroberungen Jupiters je eine Grenze gesetzt würde, als die Menschheit den Asteroidengürtel durchbrach. Das einzige Problem ist, daß wir den Jovianern nicht gewachsen sind,
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so daß eine weitere Lebensform ihrer Ausrottung oder Versklavung entgegensieht. Wir denken und bewegen uns zwar etwa dreimal so rasch wie sie, aber die weiblichen Jovianer – die so ungefähr das dar stellen, was wir theoretische Naturwissenschaftler nennen würden – wissen mehr und können mehr, weil sie anders, tiefer denken als wir. Sie werden uns deshalb wie bisher eine Schlappe nach der anderen beibringen. Hopar XV und seine Brutbrüder beschlossen nach der dies jährigen Riechsitzung der Flotte, das zu ändern oder es zumindest zu versuchen. Sie meinten, daß wir mit unserem rascheren Metabolismus imstande sein müßten, eine neue Waffe, von der die Jovianer selbst erst ein paar Prototypen haben, schnell genug herzustellen, um einen kleinen…« In diesem Augenblick erklirrten die Membrane des Kopfhörers mit dem Krach, den der alte Raketenschädel unten machte, und erst nach einer Weile wurde seine Stimme wieder verständlich: »… und wenn Sie nicht augenblicklich diese Waffe beschreiben, genau beschreiben, Sie lausiger Hundesohn, dann werde ich Ihnen persönlich in den Hintern treten und dafür sorgen, daß Sie unter den niedersten Rang degradiert werden, den es gibt, Sie stinkender Feigling! Also los jetzt!« Major Mardin wischte sich die Schweißperlen von der Oberlippe und begann die Waffe zu beschreiben. Was denkt der, mit wem er redet? fragte sein Hirn bitter. Ich bin kein grüner Re krut, daß man mich so anbrüllt in dieser dreckigen Tonart! Die Panterranische Archäologische Gesellschaft hat mir nach meinem letzten Vortrag eine begeisterte Ovation bereitet, und Dr. Emmanuel Hozzne selbst hat mir zu der Ar beit gratuliert! Aber sein Mund beschrieb die Waffe, wie sehr sich sein Gehirn auch auflehnte, sein Mund faßte die komplizierten Ideen in Worte, die Hopar XV und seine Gesinnungsgenossen mühevoll in vage menschliche Beg riffe übersetzt hatten. Pflichtgetreu hörte sein Mund nicht auf, mathe matische und physikalische Begriffe darzulegen, und der schwarze Ke gel des Mikrofons nahm alles gierig auf. Sein Mund erfüllte seine Pflicht, gehorchte den Befehlen – sein Geist aber wehrte sich gegen diese Niederträchtigkeit. Und dann tauchte in einem Gebiet seines Gehirns, das sozusagen gemeinsam bewohnt wur de, eine vorsichtige, verwunderte Frage auf, die eine mitfühlende und hochintelligente Persönlichkeit gestellt hatte. Mardin verstummte mitten im Satz, erschrocken über das, was er dem Fremden beinahe verraten hätte. Er versuchte, es zu vertuschen, sein Hirn mit zufriedenen, beruhigenden, nichtssagenden Gedanken zu fül
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len als psychologische Tarnung. Wie konnte er nur vergessen, daß er in seinem Gehirn nicht allein war! Da wurde die Frage wiederholt. Bist du nicht der Vertreter deiner Ras se? Sind die anderen – die anderen nicht so wie du? Aber nein! antwortete Mardin verzweifelt. Deine Verwirrung beruht einzig und allein auf den fundamentalen Unterschieden im Denken der Jovianer und Terraner… »Mardin! Reißen Sie sich zusammen, Sie Scheißkerl! Reden Sie weiter, und quetschen Sie den Rest aus dem Plattwurm raus!« Welche fundamentalen Unterschiede? fragte sich Mardin abrupt, und weißglühender Zorn explodierte in seinem Schädel. Es bestanden mehr, viel mehr, fundamentale Unterschiede zwischen Billingsley und ihm selber als zwischen ihm und diesem sanftmütigen Geschöpf, das To desgefahr auf sich genommen hat te und zum Verräter an seiner eige nen Rasse geworden war, um die Würde des Lebens bewahren zu hel fen. Was hatte er selbst schon gemein mit diesem allmächtig geworde nen Kain, diesem ordenbehängten Barbaren, der sich brüstete, alle Feinheiten des Denkens auf die starre, haßerfüllte Alternative des ›Töte oder werde getötet‹ reduziert zu haben. Das Ungeheuer, das gefühllos, endlos seinen Geist gequält und erniedrigt hatte, damals auf dem Mars, das hätte in Raketenschädel Billingsley viel eher einen Freund und Ge sinnungsgenossen gefunden als in Hopar XV. So ist es, das ist wahr! Die Gedanken des Jovianers tönten deutlich durch Mardins Hirn. Und nun sage mir, Freund, Bruder in Blut und Ge danken, wie immer du dich nennen magst, bitte laß mich wissen, wel cher Art das Wesen ist, dem ich diese Waffe gegeben habe. Sage mir, wie er die Macht genützt hat in vergangenen Zyklen und was er in zu künftigen tun wird. Laß es mich wissen durch dein Denken, durch deine Erinnerungen und Ge fühle denn du und ich, wir verstehen einander. Mardin ließ es ihn wissen. … zum nächsten gesetzlichen Vertreter der gesamten Menschheit. Im Laufe eines ersten Verhörs durch die Militärbehörden konnte über das Leben und die Gewohnheiten des Feindes eine Menge in Erfahrung ge bracht werden. Unglücklicherweise schien der Jovianer während einer weiteren Befragung plötzlich seine Kapitulation zu bereuen. Er öffnete die Ventile des riesigen Tanks, der ihm als Raumanzug diente, und be ging so Selbstmord. Diese Handlung führte auch zum Tod des mensch lichen Dolmetschers, der in einer dichten Methanwolke erstickte. Major Igor Mardin, der Dolmetscher, erhielt posthum den Silbernen Mondkreis
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mit Doppelstrahl verliehen. Der Selbstmord des Jovianers wird nun von Psychologen der Streitkräfte näher untersucht werden, um festzustel len, ob diese Handlung auf eine eventuelle geistige Labilität des Fein des hindeutet, die unserer Raumflotte zukünftig von Nutzen sein könn te…
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Besuch von Beteigeuze
Sie werden es ihnen beibringen, Alvarez. Sie nämlich, mein Guter, wissen, wie man mit der Sorte Leute redet. Public Relations dieser Art sind nicht mein Fall. Mir liegt nur daran, daß Sie ihnen die Angelegen heit in allen Einzelheiten klar machen. Erzählen Sie ihnen, wie es wirk lich war. Es ist mir höchst gleichgültig, ob das denen unangenehm ist oder nicht. Lassen Sie sie jammern, Alvarez, aber erzählen Sie alles. Sie könnten vielleicht mit dem Tag beginnen, an dem das Raumschiff ganz in der Nähe unserer Hauptstadt landete, in einem der wenigen dünner besiedelten Gebiete, die es hier im Osten noch gibt. Und wie wir das nichtsahnend als besonders glücklichen Zufall ansahen. Der Gedanke macht Sie heute noch krank, nicht wahr, Alvarez? Erklären Sie, warum es für uns ein glücklicher Zufall war: weil es die Geheimhaltung ermöglichte. Erzählen Sie, wie der Farmer, der die Lan dung gemeldet hatte, in höchst luxuriösen Staatsgewahrsam genom nen wurde und man ihm alles gewährte, was er sich wünschte – nur heimgehen durfte er nicht mehr. Und wie die Nationalgarde fünf Quad ratmeilen Land einfach abriegelte, die bereits ein paar Stunden später zu allgemeinem Sperrgebiet erklärt wurden, wie der Kongreß zu einer Geheimsitzung einberufen wurde und wie man es fertigbrachte, die Sa che vor den Nachrichtenmedien geheimzuhalten. Und wie und warum man Trowson, meinen alten Soziologie professor, beizog, sobald man das Problem erkannt hatte. Wie er die Militärs und Politiker anblinzelte und die Lösung vorschlug. Mich. Ich war die Lösung. Erzählen Sie, wie ich und mein gesamter Mitarbeiterstab vom FBI un auffällig aus unseren Büroräumen in New York abgeholt, wo wir dabei waren, Millionen zu scheffeln, und auf dem Luftwege zum Landeplatz verfrachtet wurden. Ehrlich, Alvarez, mir war mehr als sonderbar zu mute, selbst als der gute Trowson mir die Sache erklärt hatte. Geheime Regierungsangelegenheiten verursachen mir immer eine Gänsehaut. Obwohl ich später über die Geheimhaltung verdammt froh war – aber das brauche ich Ihnen nicht erst zu sagen. Das Raumschiff selbst war eine Überraschung, die mich so aus der Fassung brachte, daß ich nicht einmal blinzelte, als der erste der Fre m den herausglitt. Nach all den Jahren, die uns die Utopisten schlanke, stromlinienförmige Raketen verfüttert hatten, sah das pastellfarbene,
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verschnörkelte Gebilde inmitten eines Roggenfeldes in Maryland kaum wie ein interstellares Raumschiff aus, eher wie eine verrückte Tischde koration. »Hier ist ihr Job.« Der Professor wies auf die beiden Besucher. Sie standen auf einer rosa Metallplattform, umringt von den höchsten Tieren unserer Nation. Ein drei Meter hoher, schleimiggrüner Rumpf, der sich von einer breiten Fußplatte nach oben verjüngte und von ei nem winzigen, weiß-rosa Schneckenhaus gekrönt wurde. Zwei musku löse, geschmeidige Augenstiele, die hierhin und dorthin schwenkten und mir ganz danach aussahen, als könnten sie einen Menschen er drosseln. Und ein weiter feuchter Schlitz von Mund, der sichtbar wurde, wenn ein Teil der Fußplatte sich vom Boden hob. »Schnecken«, sagte ich. »Schnecken!« »Aber ja«, meinte Trowson. »Auf jeden Fall Gastropoden. Mollusken. Hören Sie, Dick, diese rudimentären Schneckenhäuschen sind noch viel weniger ein evolutionäres Relikt als dies«, – er wies auf die wirren wei ßen Haarbüschel, die aus seinem Schädel sprossen – »denn sie gehö ren einer viel älteren – und schlaueren – Rasse an als wir.« »Schlauer?« Er nickte. »Als unsere Technologen und Wissenschaftler neugierig wurden, bat man sie höflich an Bord und ließ sie das Schiff untersu chen. Sie kamen verdattert und mit langen Gesichtern wieder heraus.« Mir wurde ungemütlich. Ich knabberte ein Stückchen lose Na gelhaut vom Daumen und meinte zögernd: »Ja aber, Prof, wenn sie doch so fremdartig sind, ist es kein Wunder…« »Nicht nur das. Überlegen sind sie uns. Das müssen Sie begreifen, Dick, weil es für Ihre Aufgabe sehr wichtig ist. Die besten Wissen schaftler, die dieses Land aufbieten kann, stehen da wie eine Horde Wilde, die zum erstenmal eine Feuerwaffe in Aktion erleben. Diese Fremden gehören einer galaktischen Zivilisation an, die aus Rassen besteht, die mindestens so fortgeschritten sind wie sie; wir sind nur ein Haufen Hinterwäldler in einem wenig besuchten Raumgebiet, das jetzt offensichtlich erforscht werden soll. Und nicht bloß erforscht, sondern ausgebeutet, wenn wir nicht sehr aufpassen. Wir müssen einen guten Eindruck machen, und wir müssen sehr schnell nachlernen.« Ein würdevoll aussehender Beamter löste sich aus der Gruppe um die Fremden und kam auf uns zu. »Ist mir klar«, behauptete ich. »Sonst geht’s uns wie den Indianern
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nach 1492.« Ich versuchte, ein wenig Ordnung in meine Gedanken zu bringen. »Wenn dem so ist, warum wird dann um mich so ein Hokus pokus gemacht? Ich bin technisch eine solche Niete, wie man so bald keine mehr findet. Und erst, was die Technik von – von…« »Von Beteigeuze. Der neunte Planet des Sterns Beteigeuze, Nein, Dick. Wir haben dafür schon andere Leute. Dr. Warbury zum Beispiel. Sie lernten binnen zwei Stunden Englisch von ihm, während er in drei Tagen nicht ein einziges Wort ihrer Sprache entschlüsseln konnte. Und Wissenschaftler wie Lopez und Mainzer werden einfach verrückt: bei der fruchtlosen Suche nach ihrer Energiequelle. Sie kriegen nicht mal heraus, welches Antriebsprinzip dieses Zuckergußschiff hat. Wir haben schon die besten Gehirne des Landes hergeholt. Ihre Aufgabe, Dick, als Spitzenmann der Werbungs- und Public -Relations-Branche, wird der gute Eindruck sein.« Der Beamte zupfte nun an meinem Ärmel, aber ich beachtete ihn nicht. »Wäre das nicht eher eine Sache der Propagandafritzen der Re gierung?« fragte ich Trowson. »Nein. Erinnern Sie sich, was Sie sagten, als Sie unsere Gäste das er stemal sahen? Schnecken! Wie, glauben Sie wohl, wird dieses Land auf Schnecken – Riesenschnecken – reagieren, die unsere Wolkenkratzer städte herablassend mustern, als wären es Eingeborenendörfer, die unsere fortgeschrittensten Wissenschaften mitleidig belächeln? Wir sind eine sehr von sich selbst überzeugte Sorte Affen. Und wir fürchten uns vor allem Unbekannten.« Meine Schulter wurde von amtlicher Hand sanft angetippt. Ich sagte ungeduldig: »Bitte!« und sah Trowson nachdenklich an. Seine Augen waren gerötet, und er schien in den Kleidern geschlafen zu haben. »Grausige Ungeheuer aus dem Weltraum! Schlagzeilen in die ser Ric h tung, Prof?« »Mhm. Überhebliche Schnecken. Dreckige Schnecken, höchst wahrscheinlich. Wir können froh sein, daß sie in diesem Land und so nahe bei Washington gelandet sind. In ein paar Tagen müssen wir die anderen Staatsoberhäupter informieren. Und dann wird es nicht mehr lange dauern, bis die Katze – hm, die Schnecke aus dem Sack ist. Wir wollen nicht, daß unsere Besucher von einem hysterischen Mob ange griffen werden, der von Aberglauben und Ekel angeheizt ist. Wir wollen nicht, daß sie bei sich zu Hause erzählen, wie ein hemdsärmeliger Fa natiker mit der Schrotflinte auf sie losging und dabei brüllte: ›Haut ab, widerliches Gewürm, ihr!‹ Wir möchten bei ihnen den Eindruck erwe
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cken, daß wir eine annehmbar freundliche, annehmbar intelligente Ras se sind, mit der es sich gut auskommen läßt.« Ich nickte. »Klar. Damit sie Handelsstationen und nicht Mili tärstützpunkte auf unserem Planeten errichten. Aber mir ist noch im mer nicht ganz klar, was gerade ich dabei verloren habe.« Er stieß mir die Faust sanft vor die Brust. »Sie, Dick – Sie sorgen für die Public -Relations-Seite. Sie werden das amerika nische Volk für diese graugrünen, schleimigen, widerlichen Rie senschnecken erwärmen!« Der Beamte war nicht von unserer Seite gewichen. Als ich ihn nun das erstemal bewußt ansah, erkannte ich den Unterstaatssekretär. »Würden Sie bitte mitkommen?« sagte er. »Ich möchte Sie mit unse ren Gästen bekannt machen.« Also kam ich bitte mit, und wir stapften alle durchs Feld hinüber zu der metallenen Plattform und stellten uns vor den GastropodenBesuchern auf. »Ahem«, sagte der Unterstaatssekretär höflich. Die eine Schnecke bog einen Augenstiel zu uns herüber, während sie mit dem anderen ihrem Begleiter einen Blick zuwarf. Dann neigte sich die schleimige Spitze des Kopfes zu uns herunter. Die Schnecke hob, wie man sagen müßte, die eine Backe ihres Fußes vom Boden und sag te mit der weichen hohlen Stimme eines Blasbalgs: »Könnte es sein, daß Sie mit meinem unwürdigen ich zu kommunizieren wünschen, ver ehrter Herr?« Ich wurde vorgestellt. Das Ding richtete beide Augenstiele auf mich. Dann senkte sich der Körperteil, der sein Kinn hätte sein sollen, zu meinen Füßen herunter und betastete sie kurz. Dann sagte es: »Sie, Hochgeehrter, sind unser Fußstein, die Verbindung zu allen Großen Ihrer edlen Rasse. Ihre Herablassung ehrt uns über Gebühr.« All dies dröhnte unter dem angehobenen Fuß hervor, während ich »Freut mich« murmelte und unsicher meine Hand ausstreckte. Die Schnecke legte einen Augapfel in meine Handfläche, den anderen auf den Handrücken und zog sie nach einem Augenblick wieder fort. Ich war immerhin so gescheit, mir nicht die Hand an der Hose abzuw i schen, was mein erster Impuls war. Die Augäpfel waren keineswegs der trockenste Körperteil unserer Besucher. Ich erwiderte: »Schon gut. Sagen Sie – sind Sie – äh – Bot schafter oder so? Oder einfach Forschungsreisende?« »Unsere niedrige Stellung rechtfertigt diese Titel nicht«, sagte mein
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Gegenüber. »Und doch sind wir beides; jegliche Art von Kommunikati on bedarf in gewissem Sinne eines Botschafters, und jeder Wissensu chende kann Forscher genannt werden.« Der zweite Fremde glitt zu mir herüber und beäugte mich. »Sie kön nen unserer Ergebenheit sicher sein«, sagte er demütig. »Wir verste hen ihre ehrfurchtgebietende Funktion und wünschen sehnlichst, Ihrer bewundernswerten Rasse angenehm zu sein. « »Bleibt bei dieser Einstellung, und wir werden gut miteinander aus kommen«, murmelte ich. Im großen und ganzen war die Arbeit mit ihnen angenehm. Ich meine, keine Starallüren, keine Extrawünsche und Be schwerden, wie ich es von meinen üblichen PR-Kunden gewöhnt war. Auf der anderen Seite war es fast unmöglich, mit ihnen zu reden. Gut, sie befolgten bereitwillig alle Anweisungen. Aber man brauchte ihnen nur eine Frage zu stellen. Irgendeine: »Wie lange brauchten Sie für Ihre Reise?« »›Wie lange‹ weist in Ihrer ausdrucksvollen Sprache auf die Heranzie hung eines zeitlichen Bezugsrahmens hin. Ich zögere, ein so gelehrtes Wesen wie Sie auf die Komplexizität dieses Pro blems hinzuweisen: die in Frage stehenden Geschwindigkeiten erfordern eine in relativen Beg riffen formulierte Antwort. Unser armseliger und uninteressanter Planet entfernt sich von die sem Ihrem herrlichen System während eines Ab schnittes seiner Orbitalbewegung und nähert sich ihm während eines anderen. Auch müssen wir den Geschwindigkeitsvektor unseres Sterns relativ zur kosmischen Expansion dieses Teils des Kontinuums in Be tracht ziehen. Kämen wir indessen von einem System im Cygnus oder Bootes, so wäre eine eindeutigere Beantwortung Ihrer Frage gewisser maßen eher möglich, da diese Sterngruppen sich in einem tangentialen Bogen von der Ekliptik entfernen, dessen Neigungswinkel zur Ekliptik ebene selbst so beschaffen ist, daß…« Oder eine andere Frage: »Ist Ihre Regierung eine Demokra tie?« »Wie Ihre so informative Etymologie uns belehrt, ist eine Demokratie eine Regierung des Volkes durch das Volk. In unserer armseligen Spra che hätten wir dies nie so zutreffend und erhebend ausdrücken können. Man muß sich irgendwie regieren, natürlich. Der Grad der Kontrolle, die von der Regierung auf das Individuum ausgeübt wird, muß selbstver ständlich von Individuum zu Individuum variieren und ebenso im Falle eines einzigen Individuums zeitlich variieren. Sie werden mir, Geehrter, diese banalen Äußerungen gewißlich vergeben, wenn auch ein hochin
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telligenter Geist wie der Ihre diese Dinge als Selbstverständlichkeiten ansieht, die keiner Erwähnung mehr bedürfen. Die Allgemeingültigkeit dieses Prinzips steht außer Frage, eine Tatsache, der sich auch unsere niedrige Spezies nicht verschließen kann. Andererseits hingegen…« Sie verstehen, was ich meine? Nur sehr wenig von dieser Sorte be wirkte eine Art glasigen Blick bei mir wie bei allen anderen, die mit den Schnecken zu tun hatten. Also gab ich es sehr bald auf und kümmerte mich nur mehr um meinen Job. Die Regierung hatte mir für die vorbereitende Propaganda einen Mo nat bewilligt. Anfänglich wollten sie ja die Sache nach zwei Wochen publik machen, aber als ich sie kniefällig beschwor, daß die Öffentlic h keit nicht in der fünffachen Zeit dafür reif wäre, gaben sie mir einen Monat. Und das, Alvarez, müssen Sie sehr ausführlich erzählen. Ich will, daß sie genau verstehen, was für eine ungeheure Aufgabe ich zu bewälti gen hatte. All die Umschläge von Science-Fiction-Heftchen mit höchst begehrenswerten Mädchen, die von Sortimenten gar greulicher Unge heuer bedrängt werden, all die Horrorfilme, die Invasion-aus-demWeltraum- Romane – die ganzen ausgefahrenen psychologischen Gele i se, die ich umleiten mußte. Und erst die Ekelgefühle, die die bloße Er wähnung von ›Würmern‹ oder ›Schnecken‹ in den meisten Leuten her vorrief, selbst wenn es sich um das kleine Viehzeug von unserer guten alten Erde handelte. Und das so weitverbreitete Mißtrauen der Men schen Fremden gegenüber, gar nicht zu reden von solchen Fremden. Reiben Sie ihnen das unter die Nase, Alvarez! Trowson half mir, die Verfasser für die wissenschaftlichen Artikel zu sammenzukriegen, und ich besorgte die Leute, die sie geschickt auf populär umbauten. Illustrierte und Zeitschriften wußten nicht, wie ih nen geschah, als sie zunehmend Beiträge bekamen, die etwa darüber philosophierten, wie verschieden von uns außerirdische Intelligenzen sein könnten, und um wieviel höherstehend die Ethik einer älteren Ras se sein müßte, und wie imaginäre siebenköpfige Geschöpfe genauso die Bergpredigt verstehen könnten. Die Presseagenturen bekamen so viel über ›Die kleinen Kreaturen in unserem Garten‹, ›Schneckenren nen, ein neuer beliebter Sports und schließlich ›Die grundlegende Ein heit alles Lebenden‹, daß ich mir schon bei einem rein vegetarischen Essen wie ein Mörder vorkam. Ich erinnere mich, daß Mineralwässer und Vitaminpillen eine merkliche Umsatzsteigerung erfuhren… Und das Ganze natürlich, wie Sie ja wissen, ohne daß auch nur ein Wort der echten Story ruchbar wurde. Irgendein Ko lumnist verfaßte
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zwar einen spöttisch-geheimnisvoll klingenden Artikel mit der Andeu tung, man hätte endlich Fleisch und Blut in einer der fliegenden Unter tassen gefunden, aber er wurde dann doch zu der Überzeugung ge bracht, daß weitere Spekula tionen in dieser Richtung ungesund sein könnten. Das Schwierigste waren die Zeichentrickfilme und die Comic Strips. Ich glaube nicht, daß wir die Arbeit rechtzeitig bewältigt hätten, hätten uns nicht die finanziellen Mittel und der gesamte Einfluß der Regierung zu Verfügung gestanden. Ich glaube, vierzehn – es können aber auch mehr gewesen sein – der besten Humoristen des Landes arbeiteten an dem Projekt mit, gar nicht zu reden von den Scharen Zeichnern und Psychologen, die schwitzend die Zeichnungen ausbrüteten: aber es war ein großer Erfolg. Ich glau be, seit der Mickymaus war kaum je mals eine Trickfilmfigur so bekannt und beliebt beim Publikum wie ›Andy und Dandy‹. Diese beiden fantasievoll aufgemachten Schnecken krochen beinahe über Nacht in die Herzen der Amerikaner. Ba ld sprach jeder von ihren so menschlichen Eigenschaften, ihren amüsanten Streichen und ihren witzigen Bemerkungen. Die Leute drängten einander, nur ja nicht die nächste Folge zu versäumen. Die wichtigsten Zeitungen brachten täg lich den Andy-und-Dandy-Comic-Strip; und selbstverständlich hatte ich auch für die üblichen Werbungsrequisiten gesorgt: Andy-und-DandyPuppen für die Mädchen, schneckenförmige Tretroller für die Jungen, alles, von Schneckenhausschlüsseln bis zu Abziehbildern für die Auto stoßstangen. Natürlich wurden viele dieser Sachen erst nach der Gro ßen Verlautbarung auf den Markt gebracht. Als die Story für die Zeitungen freigegeben wurde, stellten wir ihnen zehn verschiedene Überschriften ›zur Wahl‹. Sogar die New York Times mußte peinlich berührt die Schlagzeile hinausposaunen: ECHTER ANDY UND DANDY VON BETEIGEUZE HEREINGESCHNEIT!! Darunter ein vie r spaltiges Foto der blondgelockten Baby Ann Joyce mit den beiden Schnecken. Man hatte Baby Ann für dieses Foto eigens aus Hollywood geholt. Sie war darauf zwischen den beiden Besuchern zu sehen, vertrauensvoll in jedem Patschhändchen einen Augenstiel ihres Nachbarn haltend. Die Spitznamen blieben an ihnen hängen. Die beiden schleimigen In tellektuellen von einer anderen Welt ließen das Interesse selbst an den üppigsten Skandalen verblassen. Andy und Dandy machten Furore am Broadway. Andy und Dandy er
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klärten sich zuvorkommend bereit, den Grundstein der neuen Universi tätsbibliothek von Chicago zu legen. Sie waren die Stars jeder Wochen schau. Sie eröffneten Ausstellungen, besuchten Premieren, gastierten bei Fernsehshows, kurzum, sie waren die populärsten Lebewesen des ganzen Landes. Manchmal hätte ich gerne gewußt, was sie von uns dachten. Kein Ge sichtsausdruck verriet ihre Gedanken, was nur logisch war, weil sie kein Gesicht besaßen. Ihre Augenstengel schwenkten nur hierhin und dorthin, und mitunter hob sich ihre Gelatine-Fußplatte, und der darun terliegende Mund ließ ein hohles Schmatzen hören, aber sie sagten immer genau das, was man von ihnen hören wollte – dies trug ver ständlicherweise nicht wenig zu ihrer Popularität bei. Das ganze Land hatte sie ins Herz geschlossen. »Wir können sie aber nicht hierbehalten«, entschied Trowson. »Haben Sie nicht über die letzte Debatte der UNO-Vollversammlung gelesen? Wo uns vorgeworfen wurde, wir verbündeten uns mit nichtmenschli chen Aggressoren zum Nachteil unserer eigenen Rasse?« Ich zuckte die Schultern. »Na gut, schicken wir sie ins Ausland. Ich glaube kaum, daß man anderswo die beiden mit mehr Erfolg ausfragen wird als hier.« Professor Trowson schob seine etwas kurzgeratene Gestalt auf die Kante seines Schreibtisches und blätterte angewidert in einem umfang reichen maschinengeschriebenen Bericht. »Vier Monate Interviews«, fauchte er. »Vier Monate intensivster Be fragung durch die gerissensten Psychologen und Sozio logen! Vier Mo nate sorgsamer Auswertung aller Daten – ha!« Er klatschte den Ordner zornig auf den Tisch. »Und wir wissen mehr über die Gesellschafts struktur von Atlantis als über die von Beteigeuze IX.« »Und Lopez und Vinthe und Mainzer, wie geht’s denen?« »Auch nicht viel besser, fürchte ich.« Er hob seufzend die Schultern. »Zumindest schließe ich das aus der trübseligen Art, in der Mainzer in seinen Suppenteller schnauft. Sie wissen ja, daß man hier im Pentagon die Kontakte zwischen den einzelnen Forschungsgruppen nicht gerade ermutigt… Aber ich kenne Mainzer. Er hat in der Universitätscafeteria auf genau die gleiche Weise in die Suppe gepustet, wie er mit seinem Solarmotor nicht mehr weiterkam.« »Glauben Sie, daß Andy und Dandy unsere Rasse vielleicht als zu jung ansehen, um ihr irgendwelche gefährlichen Spielzeuge zu erlauben?
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Oder vielleicht sind wir Affengestalten zu abstoßend, um in ihren fein sinnigen, hochkultivierten Kreisen verkehren zu dürfen?« »Ich weiß es einfach nicht, Dick.« Der Professor wanderte zum Fens ter, sah hinaus, wanderte zum Schreibtisch und blätterte wieder gereizt in seinen soziologischen Notizen. »Wenn etwas Derartiges zuträfe, würden sie uns dann freien Zugang in ihr Schiff gestatten? Und warum sollten sie in diesem Fall alle unsere Fragen so ernst und höflich beant worten? Wenn ihre Ant worten nur nicht so scheußlich vage wären! Aber sie sind so komplizierte und künstlerische, so gefühlvolle und zuvor kommende Geschöpfe, daß ihre gedrechselten, weitschweifigen Ant worten, aus denen wir absolut nicht klug werden, zu ihnen passen wie ihr Schiff, das mich an diese Jadeschnitzereien aus dem Fernen Osten erinnert…« Er murmelte noch einiges in der Richtung und verstummte dann. Ich empfand irgendwie Mitleid mit ihm, wie er da aus sanften, müden Au gen die Berichte anstarrte. »Nehmen Sie sich’s nicht zu Herzen, Prof. Vielleicht haben Sie, bis der alte Schleimfuß und sein Genosse von ihrer Weltreise zurückkommen, das Geheimnis geknackt, und wir befinden uns nicht mehr in der Situa tion von Wilden, die die Waren eines weißen Händlers begierig anglot zen, Sie wissen schon: ›Du mächtiger Mann – ich Freund – du geben Donnerbüchse!‹« Sehen Sie, Alvarez, so nahe war ich dran, damals. Ich, ein einfacher Reklamebursche, kein Soziologe. Ich glaube, Sie hätten mir nicht ein fach wie Trowson mit »Ich hoffe sehr, Dick« geantwortet. Aber damals waren wir alle vernagelt, Trowson und Warbury, Lopez und Vinthe und Mainzer. Und ich. Während Andy und Dandy unterwegs waren, konnte ich mich etwas erholen – meine Aufgabe war zwar noch keineswegs beendet, aber bei uns hatten sich alle PR-Angelegenheiten eingespielt und liefen nun wie geschmiert. Hauptsächlich war ich damit beschäftigt, meinen Kollegen im Ausland Ratschläge zu erteilen, wie die beiden Beteigeuzer den Leu ten verkauft werden müßten. Sie mußten dabei natürlich noch auf ihre nationalen Eigenheiten und speziellen Massenphobien achtgeben, aber alles in allem hatten sie es sehr viel leichter als ich. Ic h hatte die Sache aufziehen müssen, ohne zu wissen, wie sich unsere Besucher in der Öffentlichkeit verhalten würden. Als ich mit meiner Arbeit begann, war ich nicht mal sicher gewesen, daß die beiden Schnecken stubenrein waren.
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Ich verfolgte ihre Reise in den Zeitungen und schnitt mir die Bilder aus. Ihren Empfang beim Mikado klebte ich neben die Besichtigung des Tadsch Mahal, das es den beiden sehr angetan hatte. Ihr Kommentar war noch blumiger als sonst. Zum Akhund von Swat waren sie nicht so nett wie gewohnt, aber wenn man bedachte, was der Akhund über sie gesagt hatte… Sie schienen überall mehr zu geben, als sie bekamen. Als ihnen zum Beispiel auf dem Roten Platz in Moskau feierlich die neugeschaffenen Orden verliehen wurden (Dandy erhielt den Orden der Extraterrestri schen Freunde der Sowjetischen Werktätigen, während man Andy aus unerfindlichen Gründen mit dem Orden eines Interstellaren Heros des Sowjetischen Volkes ehrte), da hielten sie eine Rede über die wissen schaftliche Fundierung des Kommunismus, die den Politbürotschiks wie Schmierseife einging, in den Vereinigten Staaten jedoch begreiflicher weise für eine gewisse Abkühlung der Gefühle sorgte. Bevor ich noch mit dem Wiederanheizen begonnen hatte, machten die beiden in Bern Station und erzählten den Schweizern, daß nur durch den freien Wettbewerb und die Demokra tie ein Volk den Emmentaler, die Uhrenindustrie und das Bankgeheimnis zu solch hehren Höhen füh ren konnte – Demokratie über alles, jodelten die Schnecken. Als sie in Paris ankamen, hatte ihre Popularität bei uns fast wieder den alten Stand erreicht, wobei ich sehr wenig nachgeholfen hatte. Nur ab und zu wurde noch nachträgerisch in der Spätausgabe irgendwel cher Blättchen die wetterwendische Inkonsequenz der Beteigeuzer be klagt. Und dann machten die beiden mal wieder Schlagzeilen. Ich frage mich noch heute, ob sie an de Rogets jüngster Abstrusität wirklich Ge fallen fanden. Denn sie kauften die mehr als abstrakte Schnörkelplastik und bezahl ten, da sie keinerlei Devisen besaßen, mit einem daumengroßen Gerät, das durch bloße Berührung Marmor so wie jeden anderen Stein schmolz – mit fantastischer Exaktheit und jeder gewünschten Oberflä chenbeschaffenheit. De Roget warf beseligt seine Meißel weg, und sechs der Spitzenwissenschaftler Frankreichs erlitten einen Nervenzu sammenbruch, nachdem sie sich eine Woche vergeblich bemüht hat ten, das Funktionsprinzip des Geräts herauszukriegen. Auch hierzulande wurde das Ereignis groß aufgemacht: ANDY UND DANDY groß im Kunsthandel Beteigeuze-Gäste zeigen den richtigen Geschäftsgeist
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Sie wurden also bei uns, nachdem sie noch am englischen Kö nigshof empfangen worden waren, mit großem Tamtam wieder begrüßt. Und obwohl sich die Leute langsam an sie gewöhnten, schafften sie es doch, immer auf Seite eins zu bleiben. Da brachte sie zum Beispiel eine gewisse Möbelpoliturfirma dazu, fröhlich zu verkünden, der Saft mache ihre Schneckenhäuschen besonders glatt und glänzend; und die durc h aus nicht magere finanzielle Ausbeute davon verwendeten sie zum An kauf von zehn besonders seltenen Orchideen, die sie sich in Kunstharz eingießen lie ßen. Und dann gab es die Geschic hte, wie sie… Die Fernsehshow, bei der die Bombe platzte, sah ich selbst nicht. Ich war an dem Abend ins Kino gegangen, um mir einen alten Chaplin-Film nochmals anzusehen – und für das hysterische Getue im Prominenten salon hatte ich sowieso nie viel Be geisterung aufbringen können. Ich weiß nicht, wie lange der Moderator der Show, Bill Bancroft, darauf gewartet hatte, Andy und Dandy in seinen Zirkus zu kriegen, und wie viel es ihn gekostet hatte. Als der große Abend kam, wollte er natürlich alles dabei herausholen. In der Rekonstruktion und minus neunzig Prozent von Bancrofts Ge schwafel schien folgendes passiert zu sein: Bancroft fragte sie (honigsüß), ob sie nicht Sehnsucht nach Frau und Kinderchen zu Hause hätten. Andy erklärte (geduldig) zum vielleicht vierunddreißigsten Mal, daß sie, da sie Herma phroditen seien, keinerlei Familie in unserem Sinn hätten. Bancroft unterbrach ihn (teilnahms voll): Welche Bindungen sie denn dann besäßen? Oh, die zu ihrem Re vitalisator, meinte Andy. Revitalisator? Was das sei? Ach, eine Maschine, bei der sie alle zehn Jahre oder so zur Behandlung müßten, sagte Dandy. In jeder größeren Stadt ihres Planeten gäbe es einen Revitalisator. Pause. Bancroft läßt einen billigen Witz vom Stapel, wartet, bis sich der Konservenapplaus gelegt hat und fragt dann: Also – dieser Revitali sator, was macht der genau? Andy stürzt sich in eine langatmige Erklä rung, die darauf hinausläuft, daß der Revitalisator das Zytoplasma in allen tierischen Zellen anregt, was sehr erfrischend ist. Aha, meint Bancroft. Und was bei der Erfrischung herausschaue? »Ach«, plaudert Dandy, »man könnte sagen, die Erfrischung bewahrt uns vor allen Erkrankungen, die mit der Zelldegeneration im weitesten Sinne zusammenhängen, zum Beispiel Krebs. Auch wird dadurch, daß wir uns dem Revitalisator in regelmäßigen Zeitabständen aussetzen und so unsere Körperzellen beleben, unsere Lebenserwartung verfünf
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facht. Wir leben fünfmal so lange, als es ohne Revitalisator der Fall wä re. Ja, das ist so ungefähr alles, was beim Revitalisator herausschaut, wie Sie es so bildhaft ausgedrückt haben«, sagt Dandy. Und Andy stimmt nach kurzem Überlegen zu. »ja, das ist es in etwa.« Pandämonium, und nicht zu schwach. Extraausgaben bei allen Zeitun gen. Sondernachrichten in Rundfunk und Fernsehen. Und Nachtarbeit im UNO-Hauptquartier. Als der Präsident der Vollversammlung fragte, warum sie Revitalisato ren noch nie erwähnt hätten, vollführten sie das Schneckenäquivalent von Schulterzucken und äußerten das Beteigeuze-Äquivalent von »niemand hat uns je gefragt«. Präsident Ranvi räusperte sich, fegte mit schlanken braunen Fingern jedes Protokoll beiseite und sagte: »Das ist jetzt nicht wichtig. Wir müssen Revitalisatoren bekommen.« Die beiden brauchten ein Weilchen, bis sie das begriffen hatten. Als ihnen klargeworden war, daß wir, die gesamte Spezies, Feuer und Flamme für eine Lebenserwartung von zwei- bis vierhundert Jahren statt fünfzig bis siebzig Jahren waren, berieten sie sich flüsternd. Dann erklärten sie bedauernd, ihre Rasse erzeuge diese Maschinen aber nicht für den Export. Nur für ihren eigenen Be darf. Und obwohl sie einsähen, daß wir diese Geräte sehr gerne hätten und sie selbstredend auch verdienten, so hätten sie einfach keine übrig. Ranvi brauchte erst keine Meinungsumfrage. »Was möchte euer Volk haben?« fragte er. »Was möchten eure Leute haben im Austausch für solche Maschinen? Wir zahlen jeden Preis, der in der Macht des gesam ten Planeten steht.« Ein begieriges, hungriges ›Ja‹ in den verschie densten Sprachen rollte wie verhaltener Donner durch den Saal. Andy und Dandy fiel nichts ein. Ranvi bat sie nachzudenken. Er gelei tete sie persönlich in ihr Raumschiff, das jetzt in einem abgesperrten Teil des Central Park lag. »Gute Nacht, meine Herren«, sagte der Prä sident der UNO-Vollversammlung, »und bitte denken Sie gut nach. Bit te, finden Sie ein Tauschobjekt.« Sie blieben beinahe sechs Tage in ihrem Schiff, während die Mensch heit fast verrückt, wurde vor Ungeduld. Wenn ich mir vorstelle, wieviele Fingernägel in dieser Woche von vier Milliarden Menschen angekaut wurden… »Denken Sie nur!« flüsterte Trowson und marschierte durch den Raum, als wollte er sich zu Fuß zum Beteigeuze begeben. »Bei fünffa
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cher Lebenserwartung wären wir jetzt reine Kinder, Dick. All mein Wis sen, meine Erfolge wären genauso wie die Ihren nur ein Anfang! Ein Mensch könnte fünf Berufe erlernen in einem solchen Leben – und den ken Sie, was manche mit einem erreicht haben!« Ich nickte leicht betäubt. Ich dachte an die Bücher, die ich le sen könn te, an die Bücher, die ich schreiben könnte, wenn ich noch den Großteil meines Lebens vor mir hätte und das Werbefach nur eine Art Kinder gartenbeschäftigung gewesen wäre. Und dann – irgendwie war ich nie dazugekommen zu heiraten, eine Familie zu gründen. Nicht genug Fre i zeit. Jetzt mit Vierzig hatte ich mich schon damit abgefunden. Aber was kann man nicht alles nachholen in einem Jahrhundert oder zwei… Nach sechs Tagen kamen die Schnecken heraus. Und nannten ihren Preis. Sie glaubten, ihre Leute dazu überreden zu können, uns Revitalisato ren zu bauen, wenn… ein sehr großes WENN war es. Ihr Planet besäße beklagenswert wenig radioaktive Minerale, erklärten sie entschuldigend. Unbewohnte Welten mit Radium, Uran und Thorium gab es zwar, aber die waren schon von anderen Rassen mit Beschlag belegt worden, und ihre ethischen Prinzipien verböten es den Bürgern von Beteigeuze IX, einen Aggressionskrieg aus Gewinnsucht zu führen. Wir hätten große Mengen radioaktiver Elemente, die wir hauptsächlich für militärische Zwecke und biologische Forschung verwendeten. Das erstere sei an sich wenig erstrebenswert, und das zweite erübrige sich größtenteils durch die Revitalisatoren. Sie wollten als Tauschobjekt unsere radioaktiven Minerale. Alle, sag ten sie bescheiden. Gut, wir waren überrascht, beinahe erschrocken. Aber wenn es ir gendwo irgendeinen Protest gab, so wurde der im Keim erstickt. Ein überwältigender Chor von begeisterten Zusagen kam aus allen vier Enden der Welt. Ein paar Generäle hier, ein paar militaristische Staatsmänner dort hatten kaum düster warnend den Zeigefinger erho ben, als sie auch schon abserviert waren. Ein paar Kernphysiker erho ben ein Geschrei wegen ihrer vereitelten Forschungspläne, aber die Völker der Erde schrien lauter. »Forschung?! Wieviel werdet ihr in einem dreihundertjährigen Leben forschen können!!« Von heute auf morgen wurde das UNO-Gebäude das Haupt quartier ei ner weltumfassenden Schürfgesellschaft. Staatsgrenzen fielen, wenn es um Pechblendelager ging, und allenthalben wurden Schwerter in Berg
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mannshacken umgeschmiedet. Praktisch jeder, der einen funktionsfä higen Arm besaß, arbeitete ein oder zwei Monate im Jahr als Freiwilli ger in einem Bergbautrupp. Die Menschen lebten in einem Taumel ka meradschaftlicher Begeisterung. Andy und Dandy boten zuvorkommend ihre Hilfe an. Sie zeichneten in Spezial-Schichtlinienkarten genau an, wo abgebaut werden sollte: da waren Gebiete dabei, in denen wir niemals radioaktives Gestein vermu tet hätten. Und sie gaben uns höchst komplizierte Konstruktionszeic h nungen für Geräte, mit denen radioaktive Elemente leicht und vollstän dig aus den betreffenden Gesteinen und Erzen herausgeholt und sepa riert werden konnten. Sie lehrten uns die Handhabung, nicht aber das Funktionsprinzip dieser Geräte, die zur Verblüffung unserer Ingenieure, die sie gebaut hatten, tatsächlich funktionierten. Sie hatten es ernst gemeint. Sie wollten alles. Als dann alles gut im Fluß war, machten sie sich auf, heim nach Betei geuze IX, um ihren Teil des Handels zu erfüllen. Diese zwei Jahre waren die aufregendsten und schönsten meines Le bens. Ich glaube, die meisten Leute sind der gleichen Ansicht, was meinen Sie, Alvarez? Das Bewußtsein, daß die gesamte Menschheit für ein einziges großes Ziel zusammenarbeitete, war berauschend. Wir arbeiteten für das Leben selbst. Ich zum Beispiel hab’ mein Jahr am Großen Sklavensee abgeleistet, und ich glaube kaum, daß jemand in me inem Alter mehr Pechblende schaufelte als ich damals. Andy und Dandy kamen in zwei riesigen Raumschiffen zurück, die mit fantastischen – hm – schneckoiden Robotern bemannt waren. Die Ro boter taten die ganze Arbeit, während Andy und Dandy sich aufs neue feiern ließen. Die beiden Schiffe reichten fast von einem Horizont zum anderen, aber das interessierte uns nicht. Nur die Ladung: Tag für Tag brachten die Ro boter in verrückten spiralförmigen Luftfähren Revitali satoren in alle Länder der Erde und flogen schwer beladen mit radio aktiven Elementen wieder zurück. Und wir scherten uns den Teufel um ihre sicher sehr interessante Me thode, Elemente in Sekundenschnelle aus einem Mineral vollko mmen rein auszusondern. Nur ein Gedanke bewegte uns alle: die Revitalisato ren. Sie funktionierten. Das genügte den meisten von uns vollauf. Die Revitalisatoren funktionierten. Krebs gab es nicht mehr. Herz- und Nierenerkrankungen verschwanden. Insekten, die man in einen der zimmergroßen Revitalisatoren brachte, lebten Jahre statt Monate. Und
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Menschen – nun, die Ärzte kamen aus dem Kopfschütteln nicht heraus, wenn sie die Behandelten untersuchten. Auf der ganzen Welt, in der Nähe jeder größeren Stadt standen gedul dig wartende, langsam weiterrückende Menschenschlangen vor den Revitalisatoren, die sehr bald noch etwas anderes wurden. »Tempel!« schnaubte Mainzer. »Die Leute sehen sie als Tempel an! Jeder Wissenschaftler, der ihre Funktionsweise untersuchen will, wird wie ein gefährlicher Irrer behandelt, der ein Heiligtum schänden will. Nicht, daß ich glaube, wir könnten aus diesen lächerlich winzigen Moto ren Schlüsse ziehen – ich frage mich nicht einmal mehr, was ihre Ener giequelle sein könnte: Ich frage mich, ob sie überhaupt eine Energie quelle haben!« »Die Revitalisatoren sind jetzt anfangs ungeheuer kostbar«, beruhigte ich Trowson, »aber nach einiger Zeit, wenn sich der erste Ansturm ge legt hat, bekommen Sie sicher Gelegenheit, einen zu untersuchen. – Könnte es Sonnenenergie sein?« »Nein!« Mainzer schüttelte entschieden den Riesenschädel. »O nein – diese, diese Revitalisatoren werden nicht mit Sonnenenergie betrieben, das ist ganz leicht festzustellen. Bei den Raumschiffen habe ich’s auf gegeben, nach der Energiequelle zu suchen, aber bei den Revitalisato ren glaube ich draufkommen zu können. Aber diese Narren lassen mich ja an keinen ran, aus Sorge, ich könnte ihn beschädigen und sie müß ten dann für ihr Elixier in die nächste Stadt fahren!« Wir klopften ihm beruhigend auf die Schulter, aber seine Sorgen gin gen uns nicht im mindesten nahe. Andy und Dandy reisten diese Wo che ab, nachdem sie uns in der ihnen eigenen, höflich gedrechselten Weise alles Gute gewünscht hatten. Tausende winkten dankbar den bis zum Rand beladenen Schiffen zum Abschied zu. Sechs Monate nach ihrer Abreise hörten die Revitalisatoren auf zu funktionieren. »Ob das sicher ist?« fauchte Trowson. »Fragen Sie doch bloß mal ei nen Arzt; einen, der es mit seinem UNO-Sicherheitseid nicht so genau nimmt! Mein Gott, Dick, wenn das herauskommt, gibt es einen Auf stand!« »Aber warum?« fragte ich. »Warum? Haben wir etwas falsch ge macht?« Er lachte – ein Lachen, das mit einem Zähneklappern endete. Er stand auf und ging zum Fenster hinüber und starrte in den mit schadenfroh
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blinzelnden Sternen übersäten Himmel hinauf. »Ja – wir haben etwas falsch gemacht. Wir haben ihnen vertraut. Wir haben denselben Fehler gemacht wie alle Eingeborenen, wenn sie das erstemal mit einer über legenen Rasse zusammentreffen. Mainzer und Lopez haben den Ma schinenteil eines Revitalisators auseinandergenommen: diesmal fanden sie die Energiequelle, obwohl nur mehr Spuren davon übrig waren. Dick, mein Junge, diese Revitalisatoren, was glauben Sie wohl – wur den mit reinen radioaktiven Stoffen betrieben!« Ich brauchte eine Weile, um diese Ungeheuerlichkeit ganz zu begrei fen. Dann ließ ich mich langsam, sehr langsam in den Lehnstuhl sinken. Ich gab einige unartikulierte Krächzer von mir, bis mir meine Stimme wieder gehorchte: »Prof, glauben Sie, die wollten das Zeug für sich selbst, für ihre eigenen Revitalisatoren? Und daß alles, was sie bei uns unternahmen, Teil einer planetaren Bauernfängerei war? Daß sie uns mit ihrer Freundlichkeit nur eingewickelt haben, um uns dann übers Ohr zu hauen? Das ist – ich kann nicht verstehen – mit ihrer überlege nen Technolo gie hätten sie die Erde doch einfach erobern können! Sie hätten…« »Sie hätten gar nichts«, unterbrach Trowson scharf. Er drehte sich um und sah mich an. »Sie sind eine dekadente, sterbende Rasse; sie hät ten nie gewagt, uns anzugreifen. Nicht aus ethischen Gründen – dieser ungeheure, gemeine Schwindel zeigt, was von ihrer Ethik zu halten ist – , sondern weil sie nicht mehr die Energie, die Zielstrebigkeit und Tat kraft dafür haben. Andy und Dandy gehören vermutlich zu den weni gen, die sich noch so weit aufraffen können, ein rückständiges Volk zu betrügen, um den lebenswichtigen Betriebsstoff für ihre Revitalisatoren zu bekommen.« Mir begannen erst jetzt langsam die ganzen Folgen zu dämmern. Ich hatte die riesigste Popularitätskampagne der Geschichte veranstaltet – oh, ich konnte mir recht gut vorstellen, wie populär ich sein würde, wenn die Sache herauskam. »Und, Prof, ohne Atomenergie – wie können wir da je zu den Sternen gelangen?« Er nickte erbittert. »Ja, wir sind ganz gehörig reingefallen – die ge samte Menschheit. Ich weiß, wie Ihnen zumute ist, aber versetzen Sie sich mal an meine Stelle! Ich bin der Versager, ich bin verantwortlich. Ich bin der Soziologe – wie konnte ich nur so blind sein! Wie? Alle An zeichen waren vorhanden: ihre Interesselosigkeit der eigenen Kultur gegenüber, ihr überästhetisiertes Gehabe, ihre verschnörkelte Denk weise und Sprache, die übertriebene Etikette, ja das allererste, was wir
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von ihnen zu Gesicht bekamen – ihr Schiff –, war zu stilisiert, zu filig ran verziert, um von einer jungen, tatkräftigen Rasse entworfen zu sein. Sie mußten ganz einfach dekadent und schwach sein – alles und jedes deutete darauf hin. Und dann natürlich diese hinterhältige Methode, um zu Betriebsstoff für die Revitalisatoren zu kommen: Was hätten wir an ihrer Stelle, mit ihrer Wissenschaft alles getan, um einen Ersatz zu fin den! Kein Wunder, daß sie uns ihre Technik nie erklärt haben; ich be zweifle, daß sie sie selbst noch verstehen. Sie sind nur die herunterge kommenen, verweichlichten, diebischen Nachkommen einer einstmals großen Rasse!« Ich konnte ihm nur beistimmen und bemerkte trübsinnig: »Und wir sind die Hinterwäldler, denen ein paar Bauernfänger vom Beteigeuze das Äquivalent der Brooklynbrücke oder des Eiffelturms angedreht ha ben.« Trowson nickte. »Oder ein Haufen Wilder, die ihr Land euro päischen Entdeckungsreisenden verkauft haben – für eine Handvoll bunte Glas perlen.« Aber wir waren natürlich beide zu pessimistisch, wie Sie ja wissen, Al varez. Weder Trowson noch ich hatte mit Mainzer und Lopez und den anderen gerechnet. Wie Mainzer sagte, wenn uns das ein paar Jahr zehnte früher passiert wäre (und was sind schon zehn Jahre in unserer Geschichte – wir hatten also großes Glück), dann wäre es aus gewe sen. Aber das Atomzeitalter hatte noch vor dem Jahre 1945 begonnen, und wir hatten seitdem, solange wir noch radioaktive Elemente besa ßen, eine Menge gelernt. Leute wie Mainzer und Vinthe hatten damals Kernforschung betrieben: wir besaßen die notwendigen Kenntnisse, wir besaßen Zyklotrone, Betatrone und Brüter-Reaktoren. Und wir waren und sind eine junge und tatkräftige Rasse, Alvarez – ich hoffe, ich trete damit den Anwesenden nicht zu nahe… Wir brauchten eigentlich nur mehr wenig tun. Und das taten wir. Mit einer wirklich funktionierenden Weltregierung und einer Bevölkerung, die nicht nur auf eine Lösung des Problems brannte, sondern auch gerade erst den Erfolg einer weltweiten Zu sammenarbeit erlebt hatte, schafften wir es recht schnell. Wo ein Wille ist, Alvarez… Wir stellten künstlich radioaktive Stoffe her und brachten die Revitali satoren wieder in Gang. Mit den künstlichen radioaktiven Elementen entwickelten wir einen atomaren Antrieb für unser Sternenschiff. Wir
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wollten nämlich nicht bloß bis zum Mars oder zum Pluto – wir wollten weiter! Und wir wollten es so sehr, daß wir auch das schafften. Und deshalb sind wir hier. Erklären Sie ihnen die Sachlage, Alvarez, in allen Einzelheiten, so wie ich’s Ihnen erzählt habe, aber in einer Spra che, die sie verstehen: mit all den blumenreichen Schnörkeln und ge zierten Phrasen, die ein gebürtiger Lateinamerikaner mit zwanzigjähri ger Erfahrung im Ostasienhandel zusammenbringt. Sie, als halber Ori entale, können am ehesten so reden; ich kann es nicht. Und uns allen liegt daran, daß sie uns sehr genau verstehen, diese schlüpfrigen Schnecken, diese dekadenten, diebischen Weichtiere. Sagen Sie’s h i nen, Alvarez. Und vergessen Sie nicht, diesen faulen Austern beizu bringen, daß die radioaktiven Elemente, die sie uns abgeluchst haben, nicht ewig reichen. Reiben Sie ihnen das unter die nicht vorhandenen Nasen! Und dann teilen Sie ihnen mit, daß wir radioaktive Stoffe künstlich herstellen können und daß wir an verschiedenen Dingen interessiert sind, daß wir einiges von ihnen haben wollen. Sagen Sie ihnen, Alvarez, wir seien gekommen, um für die BrooklynBrücke, die sie uns verkauft haben, Maut zu erheben.
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Das Angebot Also gut – vielleicht sollte ich mich schämen. Aber ich bin nun mal Schriftsteller, und augenblicklich fällt mir aber auch gar keine gute Geschichte ein. Meine Fantasie liegt darnieder. Deshalb bleibt mir nichts anderes übrig, als die Wahrheit zu schreiben. Außerdem wird ja ohnedies früher oder später mal jemand die Katze aus dem Sack lassen – wie Gabelbart ganz richtig bemerkte, liegt das in unserer Natur –, also sehe ich nicht ein, warum ich nicht noch vorher ein bißchen davon profitieren sollte. Überhaupt – vielleicht ist die Milchlieferung für das Weiße Haus schon… Also die Sache war so: Letzten Sommer, genauer gesagt im August, saß ich eben schwitzend an meiner Schreibmaschine und kaute an ei ner recht lauen Geschichte herum, die ich besser nie angefangen hätte, als die Türglocke ging. Ich sah auf und brüllte »Herein!« Die Türangeln quietschten ein wenig, wie sie das in Wohnungen, in denen ich lebe, immer zu tun scheinen. Dann hörte ich Füße den lan gen Gang herauftappen. Ich konnte das Tappen nicht als das irgendei nes Bekannten identifizieren, deshalb wartete ich, die Finger auf den Tasten, und verdrehte den Hals nach der Zimmertür. Nach einigen Augenblicken bogen die Füße um die Ecke. Ein kleiner – ein sehr kleiner – Mann kam herein. Er war kaum siebzig Zentimeter groß, trug eine knielange, grüne Tunika und eine spitze grüne Mütze auf dem Kopf. In seinem Gesicht sproß ein roter Spitzbart. Und er re dete mit sich selbst. In der rechten Hand hielt er irgendein goldenes Schreibwerkzeug, in der linken eine Rolle Pergament – zumindest sah es mir danach aus. »Also Sie«, grunzte er und wies mit Bart und Bleistift auf mich, »Sie müssen ein Schriftsteller sein.« Ich machte langsam den Mund wieder zu und nickt e verdattert. »Gut.« Er schwenkte den Stift und hakte eine Zeile gegen Ende der Rolle ab. »Damit ist die Besetzung für diesmal komplett. Kommen Sie bitte mit.« Er packte meinen Arm, den ich eben zur Behebung meiner Sprachlo sigkeit in einer beredten Geste hatte einsetzen wollen, und hielt ihn mit der unwiderstehlichen Gewalt eines zugeschnappten Fangeisens fest.
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Dann grinste er mich wohlwollend an und zog mich durch den Flur. Alle paar Schritte schien er in die Luft hinaufzusteigen, worauf er – so als hätte er seinen Irrtum bemerkt – ungerührt wieder auf den Boden zu rückkam. »Was – wer…«, sagte ich, stolpernd und mitunter mit der Wand in Konflikt kommend, wenn er meinen Arm schlenkerte, »he, was soll das – wer – wer…?« »Ich muß Sie ersuchen, sich nicht so sinnlos zu wiederholen«, er mahnte er mich. »Sie bezeichnen sich als zivilisiertes Wesen. Also fra gen Sie bitte erst, wenn Sie Ihre Sätze richtig beisammen haben.« Ich überlegte mir das, während er die Tür meiner Wohnung hinter sich zuschnappen ließ und mich die Treppe hinaufzerrte. Er mußte ungeach tet seiner Minigröße mit dem Herz eines Ele fanten gesegnet sein, weil er mich mit dem Tempo eines gereiz ten Stiers hinaufbeförderte. »Wir gehen hinauf?« kommentierte ich scharfsinnig, als wir den näch sten Treppenabsatz erreichten. »Selbstverständlich. Aufs Dach. Wo wir geparkt haben.« »Geparkt?!« Ich dachte an einen Hubschrauber, zuerst, aber dann schlich sich das Bild eines an einen Kamin gelehnten Besenstiels in mein Hirn – Sie wissen ja, diese alten Hexenbesen? Mrs. Fingelmann, die oberhalb von mir wohnte, trat aus ihrer Tür und wollte sich eben mit dem vollen Müllkübel in der Hand zum Aufzug be geben, als sie mich sah, zu einem Gruß ansetzte und dann meinen Be gleiter erblickte. »Ja, geparkt. Unsere fliegende Untertasse natürlich.« Er stellte fest, daß Mrs. Fingelmann ihn anstarrte, und reckte ihr den Bart entgegen: »Jawohl, ich sagte fliegende Untertasse!« schnaubte er. Mrs. Fingelmann zog sich wortlos und mit dem vollen Müllkübel in ihre Wohnung zurück und schloß die Tür sehr sorgfältig hinter sich. Vermutlich ist meine Vorstellungswelt durch das Zeug, das ich schrei be, ohnehin ein bißchen verbogen. Aber als er ›fliegende Untertasse‹ sagte, fühlte ich mich gleich irgendwie zu Hause. Kleine grüne Männ chen und fliegende Untertassen, ja, das paßte. Solange er mich nicht wohin führte, wo es heiß war und nach Schwefel roch, war ich nicht beunruhigt. Als wir aufs Dach kamen, bedauerte ich, keine Jacke mitgenommen zu haben. Es würde eine recht zugige Reise werden, da die Untertasse eine Kabriolet-Untertasse war.
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Sie hatte einen Durchmesser von etwa zehn Metern und schien – im Gegensatz zu den Ausgeburten unserer Fantasie – keineswegs nur ei ner Besichtigungstour kleiner grüner Touristen zu dienen. In der Mitte, in der größten Vertiefung der Tasse, war eine Unmenge Kisten und Kartons aufgestapelt und mit schimmernden Kabeln festgezurrt. Dazwi schen sah ich auch unverpackte Maschinenteile unbekannter Bauart und Funktion. Mein spezieller Grüner benutzte immer noch me inen Arm als prakt i schen Handgriff für meinen restlichen Korpus. Er schwenkte mich ein-, zweimal probeweise hin und her und beförderte mich dann mit einem exakten Wurf sieben Meter durch die Luft auf die übrige Ladung hinauf. Noch bevor ich landete, schossen mir goldglänzende Kabel entgegen, fingen mich weich auf und wickelten mich sicherer ein als ein Hausierer seine Kunden. Mein zielsicherer Freund grunzte befriedigt und kletterte an Bord. Plötzlich drehte er sich nochmals um und blickte suchend über das Dach. »Irngl«, röhrte er in einem Ton, dessen sich ein Nebelhorn nicht geschämt hätte. »Irngl! Bordge modgunk!« Ein hastiges Tappeln von Füßen auf dem Dach, und ein DreißigZentimeter-Ebenbild meines Freundes – allerdings ohne Bart – stieg über den Tassenrand herein. Das war der junge Irngl, der folgsam bordge modgunkte. Sein Vater (?) warf ihm einen mißtrauischen Blick zu und begab sich dann in die Richtung, aus der das Dreißig-Zentimeter-Exemplar ge kommen war. Nach einigen Schritten drehte er sich um und schüttelte zornentbrannt die Faust. Der Junge neben mir duckte sich. Gleich hinter dem nächsten Kamin stand ein Wäldchen Fern sehantennen. Aber die Dipole dieser Antennen waren nicht mehr paral lel. Manche waren sorgfältig zu Zöpfen geflochten, andere zu exakten Maschen geknüpft. Knurrend band der Alte die Antennenäste auseinan der und bog die Dipole – nur so mit den Fingern – sorgfältig gerade. Sein Bart wedelte wütend auf und ab. Dann, als alles wieder in Ord nung war, beugte er leicht die knochigen Knie und sprang mit einem rekordwürdigen Satz aus dem Stand an Bord. Und im gleichen Moment startete die Untertasse. Senkrecht nach o ben. Als ich mich so weit erholt hatte, daß meine Innereien wieder ihre üb lichen Plätze eingenommen hatten, bemerkte ich, daß er die U-Tasse mittels eines eiförmigen Metallgegenstands in seiner Hand lenkte. So
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bald wir hoch genug waren, drehte er das Ei nach Süden, und sofort flogen wir in diese Richtung. Eine Strahlensteuerung? grübelte ich mit erwachendem Fachinteresse und war etwas gekränkt, daß man mir als einzigem Passagier über haupt nichts erklärte. Dann fiel mir ein, daß ich ja nichts gefragt hatte. Klar – wo man mich mitten aus frohem Schaffen von der Schreibma schine gerissen hatte und das ›man‹ außerdem ein diminutiver Herku les und Frachtuntertassenkapitän war: in dieser Situation hätten wohl nur sehr wenige sofort intelligente Fragen produzieren können. Jetzt aber… »Wenn Sie mal im Augenblick nichts zu tun haben«, begann ich leichthin, »und da Sie ja Englisch sprechen, mö chte ich Ihnen ein paar kleine, wohlformulierte Fragen stellen, die für mich einigermaßen von Interesse wären. Zum Beispiel…« »Ihre Fragen werden später beantwortet. Bis dahin werden Sie den Mund halten.« Goldene Fäden verbreiteten den Geschmack von Anti septika in meinem Mund, und ich stellte fest, daß ich meine Kinnbacken nicht mehr auseinanderbrachte. Rotbart starrte mich an. Ich grunzte hilflos. »Wie widerwärtig diese Menschen doch sind!« bemerkte er zu frieden. »Und wie gut für uns, daß sie so sind!« Der Rest des Fluges verlief ereignislos, wenn man davon absieht, daß wir der Kursmaschine nach Miami begegneten: die fuchtelten aufgeregt herum, schienen durcheinanderzurufen; ein sein Fenster zur Gänze ausfüllender Dicker hob eine teure Ka mera und machte in rascher Folge sechs Fotos von uns. Wie ich sah, hatte er jedoch leider vergessen, den Linsenschutz abzunehmen. Der U-Tassenkapitän schwenkte sein Metallei, ein momentanes Gefühl heftiger Beschleunigung – und das Flugzeug war ein entfernter kleiner Punkt. Irngl kletterte auf etwas, das wie eine riesige Espressomaschine aussah, und streckte mir die Zunge heraus. Ich bedachte ihn mit einem finsteren Blick. Es fiel mir auf, daß der Kleine alle die seit alters her bekannten Cha rakterzüge eines Kobolds aufzuweisen schien – seine spitzbübische Bosheit etwa. Sein Papa – mittlerweile war diese Verwandtschaft offen kundig genug – dagegen war eher der typische böse Zwerg aus dem Märchen. Hieß das vielleicht, daß – daß… Ich ließ meinem Gehirn volle zehn Minuten Zeit, sich was einfallen zu lassen, dann gab ich es auf. Sonst hatte ich mit dieser meiner Spezialmethode, die ich Deduktion mittels selbsthypnotischen Anstoßes nannte, durchaus Erfolg –
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manchmal. Mir war kalt, aber sonst war ich’s menden Ereignissen mit Interesse, einziger meiner Spezies von dieser ten Zweck auserwählt worden. Ich nicht etwa Vivisektion war.
ganz zufrieden und sah den ko m ja mit Stolz entgegen. Ich war als fremden Rasse zu einem bestimm hoffte natürlich, daß dieser Zweck
Er war’s nicht. Nach einiger Zeit erreichten wir unser Ziel, das man seiner Größe und Form nach wohl am ehesten als fliegenden Suppenteller bezeichnen mußte. Ich vermutete, daß unter den dicken weißen Wolkenbäuschen unter uns Südkarolina lag. Außerdem vermutete ich, daß die Wolken nicht echt waren. Unsere gesamte Untertasse glitt durch eine Schleuse an der Unterseite in den Suppenteller; dieser war mit einem zweiten riesigen Teller zugedeckt; beide bildeten so eine flache, hohle Scheibe mit einem halben Kilometer Durchmesser. In dem weiten Innenraum standen scharenweise fliegende Untertassen herum, die mit Waren und Leuten beladen waren. Dazwischen ragten schimmernde Maschinenteile bis zur Decke. Offensichtlich war meine Vermutung, man hätte mich als eine Art Mu sterexemplar mitgenommen, falsch. Ich sah viele Menschen, Frauen wie Männer, je einen pro Untertasse. Aha, eine Art Konferenz zwischen zwei großen Rassen, dachte ich. Aber warum hatten sie sich dann nicht an die UNO gewandt? Als mir Rotbarts Bemerkung über die Menschen einfiel, begann ich mir Sorgen zu machen. Rechts von mir kaute ein Offizier an dem Bleistift, mit dem er sich No tizen gemacht hatte. Links von mir schob ein Mann in einem ko rrekten grauen Geschäftsanzug die Manschette zurück, sah auf die Uhr und schnaufte ungeduldig. Weiter vorne beugten sich zwei Frauen über die Ränder ihrer Untertassen und unterhielten sich mit eifrigem Kopfni cken. Sie sprachen beide gleichzeitig. Auf jeder der Untertassen befand sich auch ein Gegenstück zu mei nem Rotbart. Mir fiel auf, daß auch das weibliche Geschlecht Bärte trug, ansonsten aber durc haus… Plötzlich erschien das Bild eines kleinen Mannes auf einem Schirm an der Decke. Sein Bart war rosa und gegabelt. Er zog an den beiden Zin ken und grinste auf uns herunter. »Um die Vorstellungen, die viele von Ihnen hegen, zu korrigieren«, meinte er leutselig, »möchte ich Ihren großen Dichter Shakespeare etwas frei zitieren: Ich bin hier, die Menschheit zu begraben, nicht um
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sie zu preisen.« Verwirrtes Gemurmel ringsum. »Mars«, hörte ich den Oberst neben mir sagen. »Möchte wetten, daß sie vorn Mars sind. H. G. Wells hat’s ja vorausgesagt. Dreckige kleine rote Marsianer. Na, die sollen’s nur wa gen.« »Rot«, wiederholte der Mann im grauen Anzug, »rot?« »Farbenblind«, urteilte eine der beiden Frauen bestimmt. (Ich hätte ihr sagen können, daß die Wells’schen Marsianer eben rot waren.) »Und ist das denn eine Art, uns anzureden? Keine Manieren. Diese Ausländer!« »Um jedoch«, fuhr Gabelbart an der Decke unbeirrt fort, »die Menschheit richtig begraben zu können, brauche ich Ihre Hilfe. Nicht nur die Ihre, sondern auch die anderer, die in diesem Augenblick in ähnlichen Schiffen eine ähnliche Erklärung hören – in einem Dutzend Sprachen in der ganzen Welt. Wir brauchen Ihre Hilfe, und da wir Ihre spezielle Veranlagung recht gut kennen, sind wir ziemlich sicher, sie auch zu bekommen!« Er wartete, bis sich der nächste Entrüstungssturm gelegt hatte. Bis jeder der Zuhörer ihn, Gabelbart, als verkapptes Exemplar der jeweili gen Lieblingsfeinde erkannt und verunglimpft hatte. Als es dann verhältnismäßig ruhig geworden war, bekamen wir fol gende brutale Erklärung, die in recht verächtlichem Ton vorgetragen wurde: Eine mächtige komplizierte galaktische Zivilisation umgab unser arm seliges Neun-Planeten-System. Diese Zivilisation, getragen von den verschiedensten intelligenten Rassen der Galaxis, hatte eine friedliche Vereinigung der Welten zum Zwecke des Handels und Wissensaustau sches geschaffen. Eine eigene Behörde dieser Föderation hatte die Aufgabe, sich um die Interessen intellektueller Neugeburten unter den Rassen zu kümmern. So war vor einigen Jahrtausenden die Erde von Beamten dieser Behör de besucht worden, um Touristenberichte von einem bemerkenswert schlauen Tier auf dieser Welt zu verifizieren. Nachdem dieses Tier als embryonal intelligent mit hohem Kulturpotential eingestuft worden war, hatte man die Erde für den Touristenverkehr gesperrt, und Soziologen der Födera tion begannen mit der üblichen genauen Untersuchung. »Als Resultat dieser Untersuchungen stellten die Spezialisten fest, daß Ihre Rasse nicht lebensfähig ist.« Der rosa Gabelbart wackelte ver
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gnügt. »Es ist zwar das Individuum mit einem ausgeprägten Selbster haltungstrieb ausgestattet, doch die Rasse als Ganzes hat einen nicht weniger ausgeprägten selbstmörderischen Trieb.« »Selbstmörderisch!« hörte ich mich wie alle anderen erschrocken aus rufen. »Jawohl. Die ehrlicheren unter Ihnen werden das kaum widerlegen können. Eine hohe Zivilisation ist das Produkt einer Massengesellschaft, und en masse zeigte der Mensch schon immer selbstzerstörerische Tendenzen. Tatsächlich beruht ja ein Großteil Ihrer technologischen Fortschritte auf den Nebenergebnissen der Entwicklung von Massen vernichtungswaffen.« »Wir hatten aber auch friedliche Zeiten«, rief eine heisere Stimme von der anderen Seite des Schiffes. Er schüttelte bedächtig den großen Kopf. Seine Augen waren ganz schwarz, bemerkte ich plötzlich. »Nein, das hatten Sie nicht. Sie haben zwar mitunter eine Insel der Kultur hier, einen Hafen friedlicher Zu sammenarbeit dort geschaffen, die aber ausnahmslos früher oder spä ter durch Kontakt mit den wahren Herren ihres Planeten, den kriegeri schen Völkern, zerstört wurden. Und wenn selten genug ein kriegeri sches Volk einmal besiegt wurde, so wurden seine Besieger daraufhin nicht weniger krie gerisch. So wurde die selbstmörderische Erbanlage der Spezies durch dauernde Erfolge schließlich zu einem dominanten Faktor. Ihre Vergangenheit spricht Ihrer Rasse das Urteil, und die Ge genwart – die Gegenwart wird seine Vollstreckung sein. Aber genug davon – sprechen wir von Völkern, die auch eine Zukunft haben. Sie haben keine.« Er erklärte weiter, daß die Föderation der Ansicht sei, einer auf Selbstvernichtung erpichten Rasse sollten keinerlei Hindernisse in den Weg gelegt werden, ja es sei sogar erlaubt, ihr zu ihrem Untergang zu verhelfen, solange diese Hilfe passiv bliebe. »Die Natur verabscheut Selbstvernichtung noch mehr als ein Vakuum, weshalb beides zu exis tieren aufhört, kaum daß es entstanden ist.« Die Soziologen bestimmen durch Extrapolation jenen Zeitpunkt, bis zu dem sich die Menschheit wahrscheinlich vernichtet haben würde, und der Planet wurde den Bewohnern einer erdähnlichen Welt zugespro chen, die auf der Erde – sobald sie frei wäre – ihren Bevölkerungsüber schuß unterbringen könnten. Das waren die Rotbärte. »Wir schickten Agenten her, die sich um unser zukünftiges Eigentum kümmern sollten. Vor ungefähr 900 Jahren, als ihr noch ungefähr 5000
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Jahre zu leben hattet, entschlossen wir uns, den Prozeß ein wenig zu beschleunigen, da der Bevölkerungszuwachs auf unserem eigenen Pla neten stärker als erwartet anstieg. Wir erhielten die volle Genehmigung der Galaktischen Födera tion, Ihre technologische Entwicklung so anzu kurbeln, daß ein früherer Selbstmord Ihrer Rasse daraus resultieren würde. Die Föderation verlangte jedoch, daß für jeden Fortschritt ein geeigneter Vertreter Ihrer Rasse die moralische Verantwortung tra gen müsse, und wir ihm die Zusammenhänge erklären müßten. Das taten wir: Wir suchten uns ein Individuum aus und ließen es Entdecker eines revolutionären technischen oder wissenschaftlichen Prinzips werden. Wir legten ihm sowohl die Vorteile seiner ›Erfindung‹ dar wie auch de ren Nachteile im Hinblick auf eine Beschleunigung der Massenvernic h tung.« Ich fand es schwer, ihm in die großen, verächtlich blickenden Augen zu sehen. »In jedem Fall« – die dröhnende Stimme klang nun wieder schärfer – »in jedem einzelnen Fall hat das betreffende Individuum die Entdeckung als seine eigene veröffentlicht und hat in den meisten Fäl len davon profitiert. Ganz selten wurden mit diesem Gewinn Stiftungen geschaffen, die diejenigen belohnten, die für Frieden und Freundschaft zwischen den Völkern arbeiteten. Der Erfolg dieser gewissensberuhi genden Aktionen war praktisch gleich null. Wir stellten fest, daß die Individuen sich immer dafür entschieden, auf Kosten ihrer Rasse zu profitieren.« Zwerge, Kobolde, Heinzelmännchen: nicht boshafte Geister, nicht die Hüter sagenhafter Schätze, sondern technische Berater der Menschheit mit ganz privaten Motiven – sie zeigten uns, wie man Metalle schmilzt und Maschinen baut, zeigten uns in einem Teil der Welt, wie man den binomischen Lehrsatz ableitet und in einem anderen, wie man ein Feld besser pflügt… Nur damit die Menschen früher von der Erde verschwänden… »Unglücklicherweise ist dann – äh – ein neuer Faktor aufgetreten.« Das ließ uns aus unserem Grübeln, unserer hilflosen Wut aufhorchen, uns alle, Hausfrauen und Handwerker, Prediger und Professoren. Wir hofften. Als der vorausberechnete Tag näher kam, packten diejenigen Kobol de, die auswandern wollten, ihr Hab und Gut in ihre flie genden Unter tassen. Sie reisten in riesigen Suppentellerschiffen quer durch den Raum und warteten dann in der Stratosphäre darauf, von der Erde Be sitz ergreifen zu können, sobald deren gegenwärtige Bewohner sich
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selbst das Grab geschaufelt hätten. Die Ungeduldigeren unter den prospektiven Einwanderern kamen bald herunter, um sich ihre zukünftigen Heimstätten auszusuchen. Dabei kamen sie zu ihrer Enttäuschung darauf, daß sich in die reine Mathe matik extrapolierter Soziologie ein peinlicher Fehler eingeschlichen hat te. Die Menschheit hätte sich laut Berechnung kurz nach Erfindung der Gift- und Nervengase im Laufe des zweiten Weltkriegs mittels dieser auslöschen sollen. Offensichtlich aber hatte man uns mit ein wenig zu viel wissenschaftlicher Information versorgt. Die Physik erlebte einen großartigen Aufschwung, als die Kernspaltung entdeckt wurde, und wir entwickelten nicht nur die Atombombe, sondern in der Folge auch die Wasserstoffbombe, die Lithiumbombe, die Kobaltbombe. Sie hatten unseren Selbst mordtrieb gewaltig unterschätzt. Das war ziemlich unangenehm. Ein mit Giftgasen herbeigeführtes Jüngstes Gericht hätte die Menschheit nämlich relativ sauber erledigt, da fast alle diese Gase nur dem Menschen schadeten. Die Explosion von genügend Kernwaffen, um die gesamte Menschheit umzubringen, würde die Erde jedoch zu einer radio aktiven Wüste machen, in der es mehrere Millionen Jahre keinerlei Leben mehr geben könnte, da durch eine uns noch nicht bekannte Reaktion ein Atomkrieg auch die Atmo sphäre der Erde vernichten würde. Diese Situation war für die Kobolde mehr als ärgerlich. Das Galakt i sche Gesetz verbot ihnen, sich zum Schutze ihres Erbes aktiv einzumi schen. Deshalb hätten sie uns einen Vorschlag zu machen… Jede Nation, die sich verpflichtete, keine atomaren Waffen mehr her zustellen sowie die bereits vorhandenen zu vernichten (die Rotbärte behaupteten, sie hätten eine wirksame Methode, die Einhaltung eines solchen Versprechens zu garantieren), würde von ihnen eine fantasti sche neue Waffe bekommen. Diese Waffe sei äußerst einfach anzuwen den und könne so eingestellt werden, daß sie an jedem beliebigen Ort der Erde jede gewünschte Anzahl von Menschen bis zu einer Million augenblicklich und schmerzlos töte. »Die Vorteile einer solchen Waffe gegenüber den instabilen Atombom ben, die auf höchst unsichere Art auch noch ins Zielgebiet befördert werden müssen«, erklärte Gabelbart vom Pla fond her, »liegen auf der Hand. Das werden nicht nur Ihre Militärs, sondern auch Sie selbst ein sehen! Was uns betrifft, so zie hen wir selbstredend eine Waffe vor, die die Menschheit auslöscht, ohne dabei die Erde für…« Daraufhin erhob sich ein solch empörtes Geschrei, daß ich kein Wort
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mehr verstand. Ich beteiligte mich ja auch aus Leibeskräften an unse ren Unmutskundgebungen. »… auslöscht, ohne dabei die Erde für vernünftige und le bensfähige Rassen unbrauchbar zu machen und…« »Ohohh«, brüllte ein dicker braungebrannter Mann in einem geblüm ten roten Sporthemd, »die Erde gehört verdammt noch mal uns, also können wir damit machen, was uns paßt! Schert ihr euch heim!« »Ja!« stimmte ein anderer zornig zu. »Schert euch fort! Wir brauchen euch nicht! Halt dein Maul, du Zwerg!« »Mörder«, kommentierte eine der Frauen vor mir mit zittriger Stim me. »Das seid ihr. Gemeine Mörder, die unschuldige Leute umbringen wollen.« Der Oberst schüttelte gewichtig den Zeigefinger. »Wir kommen allein zurecht«, begann er mit hochrotem Gesicht, machte eine Pause, um Luft zu kriegen, und fuhr vehement fort, »wir brauchen euch nicht, sage ich! Wir haben es nicht nötig, daß – daß…« Gabelbart wartete, bis sich die Empörung zu legen begann. »Schaut es doch einmal so an«, begann er mit einschmeichelnder, überredender Stimme, »ihr werdet euch sowieso umbringen – ihr wißt es, wir wissen es, und alle anderen Völker der Galaxis wissen es auch. Es kann euch doch wirklich gleichgültig sein, auf welche Weise ihr das tut. Mit unserer Methode schadet ihr wenigstens niemand anderem. Ihr ruiniert nicht unser wertvolles Erbteil, die Erde. Und ihr sterbt durch eine Waffe, die euren Vernichtungsgelüsten weit mehr Ehre macht als alle bisher entwickelten Waffen, einschließlich dieser verdammten Kernwaffen.« Er hob beschwichtigend seine knorrigen Hände, als wir ihn haßerfüllt anstarrten. »Stellt euch doch nur vor – stellt euch das vor«, sagte er begeistert. »Eine Million Tote auf einen Knopfdruck – problemlos! Wel che andere Waffe wäre dazu fähig?« Als ich mit Rotbart und Irngl zurück nach Norden sauste, wies ich auf die übrigen fliegenden Untertassen, die sich durch den sanftblauen Sommerhimmel in alle Richtungen entfernten. »Die se Leute sind alle vernünftige Bürger mit Verantwortungsbewußtsein. Es ist doch idio tisch, anzunehmen, sie würden Reklame für eine Methode machen, mit der sie selbst wirksamer um die Ecke gebracht werden können!« Er zuckte die grünbekleideten Schultern. »Das würde für jede andere Spezies zutreffen, ja. Nicht für euch. Sehen Sie, die Ga la ktische Föde
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ration besteht ja darauf, daß eine neue Waffe der Öffentlichkeit oder einer Regierung nur durch einen angemessen intelligenten Angehörigen eurer Rasse enthüllt werden darf, dem die Sachlage mit allen Konse quenzen bekannt ist.« »Und ihr denkt, wir tun es? Trotzdem?« »O ja«, sagte der kleine Mann mit ruhiger Überzeugung. »Zum Bei spiel wurden Sie alle im Hinblick auf den persönlichen Vorteil ausge wählt, den Sie aus einer solchen Enthüllung ziehen können. Früher o der später wird die Versuchung grö ßer als alle Ihre Hemmungen. Wie Shulmr erklärt hat, trägt jedes Mitglied einer selbstmörderischen Rasse zur Vernichtung aller bei, auch wenn es noch so sehr auf seine eigene Sicherheit bedacht ist. Unverständliche Kreaturen, die Menschen, aber wenigstens kurz lebig!« »Eine Million«, überlegte ich laut. »Das ist eine so willkürliche Zahl. Ich wette, wir werden…« »Aber sicher. Ihr seid eine erfinderische Rasse. Wenn Sie jetzt aber bitte aussteigen würden? Wir haben es etwas eilig, Irngl und ich, und wir müssen noch zur Desinfektion -. Ich danke Ihnen.« Von meinem Dach aus beobachtete ich, wie die Untertasse in eine Wolke eintauchte. Dann stolperte ich zur Stiege und bemerkte dabei eine Fernsehantenne, die Irngls Vater offensichtlich übersehen hatte: sie war zu einer Henkersschlinge geknüpft. Eine Zeitlang war ich noch wütend. Dann war ich niedergeschlagen. Später wieder empört. Ich habe seit August eine Menge darüber nach gedacht. Mir sind seitdem einige Artikel über fliegende Untertassen begegnet, aber nichts darüber, daß wir eine fantastische Waffe geschenkt bekä men, wenn wir unsere Atomwaffen verschrotteten. Aber wie sollte ich es auch erfahren, wenn jemand geredet hätte? So steht die Sache. Da sitze ich nun, ein Schriftsteller, zudem noch ein Science Fiction-Schriftsteller, mit einer prächtigen Story, die ich aber nicht veröffentlichen dürfte. Leider brauche ich im Moment gerade ziemlich dringend Geld. Und wie gesagt, mir fällt einfach nichts mehr ein. Wie lange soll ich mich noch für dumm verkaufen lassen? Denn ziemlich wahrscheinlich hat schon jemand ausgepackt. Wenn nicht in diesem Land, dann in einem anderen. Und ich bin nun mal Schriftsteller und muß leben. Außerdem, wer wird schon eine Science Fiction-Story für bare Münze nehmen?
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Nur – nur hatte ich die Absicht, wenigstens das Zeichen nicht an zugeben. Das Zeichen, durch das eine Regierung die Kobolde verstän digen kann, daß sie zu dem Handel bereit ist, an der Waffe interessiert ist. Ja, ich wollte das Zeichen weglassen. Aber ich habe für diese Geschichte einfach keinen guten Schluß. Ich brauche noch einen richtigen netten Knalleffekt. Das Zeichen wäre ei ner. Ich glaube – wirklich, wenn ich ohnehin schon sonst alles… und da wahrscheinlich bereits ein anderer… Das Zeichen ist das seit Urzeiten übliche Verständigungssignal zwi schen Menschen und Kobolden: Wir brauchen nur abends eine Schale Milch vor die Tür des Weißen Hauses zu stellen.
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Die bessere Welt
Es war ein guter Job, und Max Alben wußte, wem er ihn zu verdanken hatte: seinem Urgroßvater. »Guter alter Giovanni Albeni«, murmelte er, als er das riesige Labora torium ein paar Schritte vor den Technikern betrat. Trotz der Erregung dieses großartigen Augenblicks vergaß keiner von ihnen, höflich erge ben dem halben Dutzend hartgesichtiger, wohlgenährter Männer zuzu nicken, die auf den weichen Sitzbänken lümmelten, die man rund um die Zeitmaschine auf gestellt hatte. Er stieg hastig aus seinen zerlumpten Kleidern, wie man ihn angewie sen hatte, und kletterte in das Gehäuse des großen Mechanismus. Dies war das erstemal, daß er die Maschine sah, da er die Bedienung an einer Attrappe geübt hatte. Er starrte respektvoll die hohen durchsic h tigen Spiralen und die surrende dicke Energieblase an. Diese Maschine war der Stolz und die Hoffnung des Jahres 2089, ob wohl Max Alben nur vage Ahnungen hatte, was sie eigentlich tat. Er wußte jedoch, daß dies der erste längere Rückwärtssprung sein würde und daß der dabei noch nie erprobte Mechanismus sehr wohl seinen Tod herbeiführen konnte. »Guter alter Giovanni Albeni«, murmelte er nochmals. Hätte sein Urgroßvater sich nicht damals in den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts freiwillig für die ersten Zeitreiseversuche geme l det, damals vor der Seuche, so wäre man niemals darauf gekommen, daß er und seine Nachkommen gegen die Extratemporalkrankheit weit gehend immun waren. Und hätte man das nicht festgestellt, dann wäre Max Alben niemals von den Machthabern dieser Welt für diesen fantastisch bezahlten Job auserwählt worden. Er wäre immer noch ein kleiner Staatsangestellter, Wachbeamter in der Nordamerikanischen Hühnerreservation, und würde das Stachel drahtgehege umrunden, in dem die drei weißen Leghornhennen und zwei Hähne lebten, die etwa ein Sechstel des gesamten Nutztierbe standes der westlichen Hemisphäre darstellten. Er würde an jedem Zahltag glücklich den halben Eimer getrockneter Aprikosen heimtragen, die sein Lohn waren. Nein, wenn sein Urgroßvater nicht vor mehr als einem Jahrhundert seine einzigartige Fähigkeit bewiesen hätte, während einer Zeitreise bei Bewußtsein zu bleiben, dann würde Max Alben jetzt nicht in einem phy
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sikalischen Labor von einem Fuß auf den anderen treten und die Schwarzmarktkönige der Welt mit einem dankbaren und erwartungs vollen Lächeln anschauen. Würden Männer wie O’Hara, der den Pilzmarkt kontrollierte, Levney, der Heidelbeerkönig, Sorgasso, der Boß des Trockenwürmerhandels, würden Schwarzmarktkaufleute von solcher Macht normalerweise auch nur einen Blick auf Max Alben verschwenden, geschweige denn seiner Frau und seinen fünf Kindern eine lebenslängliche Pension im Ausmaß von einem vollen Löffel echten Zucker pro Person und Tag gewähren? Auch wenn er nicht mehr zurückkam, für seine Familie war gesorgt wie für sonst kaum eine auf der ganzen Erde. Es war wirklich ein guter Job, und er war sehr glücklich darüber. Albin sah, daß Abd Sadha von einem gewöhnlichen Sessel etwas ab seits aufgestanden war und nun mit einem versiegelten Metallzylinder in der Hand auf ihn zukam. »Wir haben im letzten Moment noch eine zusätzliche Sicher heitsvorkehrung getroffen«, sagte der alte Mann. »Das heißt die Wis senschaftler haben das vorgeschlagen, und ich habe, äh – habe es ge billigt.« Diese letzte Bemerkung erfolgte in etwas unsicherem Ton, und der Generalsekretär der Vereinten Nationen blickte hastig zu den Schwarzmarktfürsten. Da sie ihn kalt anstarrten, aber keine Einwände erhoben, hüstelte er erleichtert und wandte sich wieder an Alben. »Ich bin sicher, junger Mann, daß ich nicht nochmals auf die Details Ihrer Aufgabe eingehen muß. Sie betreten die Zeitma schine und reisen die eingestellte Zeitspanne, 113 Jahre, in die Vergangenheit zurück bis zu dem Tag im Jahre 1976, an dem jenes fatale Fernlenkgeschoß ge startet wurde. – Es war 1976, nicht wahr?« fragte er, plötzlich unsi cher. »Ja, Sir«, bestätigte einer der Techniker neben der Maschine respekt voll. »Der Versuch mit dem Fernlenkgeschoß mit Atomsprengkopf, durch den die Seuche herbeigeführt wurde, fand hier an dieser Stelle am 18. April statt.« Er äugte stolz zu den ungerührt dasitzenden Män nern hinüber, ganz wie ein kleiner Junge, der vor dem Schulinspektor fehlerlos ein Gedicht aufgesagt hat. »Stimmt, ja.« Abd Sadha nickte. »18. April 1976. Und hier. Sie, jun ger Mann, werden somit genau in dem Augenblick und genau an dem Ort materialisieren, wo die Kontro llstation das Geschoß kontrollierte. Sie werden genau in der Position sein, ganz genau, die Sie in die Lage
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versetzt, den Kurs des Geschosses zu korrigieren und die Geschichte der Menschheit zum Besseren zu verä ndern. Ja.« Er verstummte. Er hatte augenscheinlich den Faden verloren. »Und er legt den roten Schalter nach unten um«, erinnerte Gomez, der Löwenzahnmagnat, ungeduldig. »O ja, der rote Schalter. Er kippt den roten Schalter nach unten. Dan ke, Mr. Gomez, danke vielmals, Sir. Er kippt den kleinen roten Schalter auf der grünen Instrumentenwand herunter und verhindert damit den Fehler, der dazu führte, daß das Geschoß im brasilianischen Urwald explodierte. Es wird dann wie vorgesehen irgendwo im Pazifik landen.« Der Generalsekretär der Vereinten Nationen strahlte: »Damit wird die Seuche verhindert, es wird sie nie gegeben haben, und unsere Welt wird so werden, wie sie es ohne die Seuche geworden wäre. Das stimmt doch, nicht wahr, meine Herren?« fragte er, neuerlich unsicher und besorgt. Keiner der großen Männer würdigte ihn einer Antwort. Albens Blicke hingen wie die aller anderen im Raum an der Gruppe auf den Sofas. Er wußte, alle wußten, wer die Welt regierte – diese gesunden, gutge nährten Männer in sauberen Kleidern, die nur wenig Flicken hatten… Sadha mochte zwar Generalsekretär der Vereinten Nationen sein, aber das war trotzdem ein Angestelltenjob, der nur einige gesellschaftliche Sprossen höher stand als der eines Hühnerwächters. Seine Kleider wa ren genauso zerlumpt, mit zahllosen bunten Flicken, wie die Albens. »Es ist Ihnen wohl klar, junger Mann, daß Sie, falls auch nur das ge ringste schiefgeht«, sagte Abd Sadha bittend, »unverzüglich zurück kehren müssen? Daß Sie das Experiment sofort abbrechen müssen, falls etwas Unerwartetes geschieht?« »Er versteht alles, was nötig ist«, sagte Gomez kurz. »Schauen Sie lieber zu, daß es endlich losgeht!« Der alte Mann lächelte zittrig. »Gewiß, selbstverständlich, Mr. Go mez.« Er trat zu Alben, der am Eingang der Zeitmaschine stand, und gab ihm den versiegelten Metallzylinder. »Das ist die Vorsichtsma ß nahme, die die Wissenschaftler im letzten Augenblick beschlossen ha ben. Wenn Sie an Ihrem Ziel sind, müssen Sie dies in das umgebende Temporalmedium hinausstoßen, bevor Sie materialisieren. Unsere Ab sicht ist, damit eine unter Umständen mögliche…« Levney setzte sich auf seiner Couch auf und schnippte herrisch mit den Fingern. »Hat Ihnen Gomez nicht gerade gesagt, Sie sollten zu
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schauen, daß es losgeht, Sadha? Und es ist noch nicht losgegangen. Wir haben viel zu tun, und Sie haben schon genug Zeit verschwendet.« »Ich wollte ihm nur eine letzte wichtige Erklärung geben«, ent schuldigte sich der Generalsekretär. »Eine Erklärung, die aus schlaggebend sein kann, wenn…« »Sie haben schon genug erklärt.« Levney wandte sich zu dem Mann in der Zeitmaschine. »He, Bursche. Ja, Sie. Los!« Max Alben nickte und schluckte heftig. Er stürzte zur Rückwand der Zeitkammer und drehte den Hebel herum, der sie einschaltete. Klick! Es war ein guter Job, und Max Albin wußte, wem er ihn zu verdanken hatte: seinem Urgroßvater. »Guter alter Giovanni Albeni«, lächelte er, als er die trübsinnigen Ge sichter seiner beiden Kollegen sah. Bob Skeat und Hugo Honek hatten nicht weniger getan als er, um die winzige Zeitmaschine zu bauen, hier in dem kleinen geheimen Labor unter der Koptergarage, und sie hätten genausogerne die Reise gemacht, aber sie stammten eben leider nicht vom richtigen Urgroßvater ab. Langsam zog er den Reißverschluß der reich bestickten Robe auf, die er als Vater von zwei Kindern tragen durfte, ließ das Gewand zu Boden gleiten und kroch in das Gehäuse des kleinen komplizierten Mechanis mus. Es war keineswegs das erstemal, daß er die Maschine sah, da er ja geholfen hatte, sie zu bauen – von jenem Augenblick an, da Honek zufrieden nickend vom Zeichenbrett aufgestanden war. So warf er kaum einen Blick auf die winzigen durchsichtigen Spiralen und die mik roskopische Energieblase. Diese Maschine war die letzte Hoffnung des Jahres 2089, obwohl die Welt von 2089 keine Ahnung von ihrer Existenz hatte und das Experi ment sicher nicht billigte. Für ihn war es jedoch mehr als der Versuch, eine Welt zu retten. Es war ein Abenteuer, das sehr wohl seinen Tod bedeuten konnte. »Guter alter Giovanni Albeni«, murmelte er nochmals vergnügt. Hätte sein Urgroßvater sich nicht damals in den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts freiwillig für die ersten Zeitreiseversuche geme l det, damals vor der Epidemie, so wäre man niemals daraufgekommen, daß er und seine Nachkommen gegen die Extratemporalkrankheit weit gehend immun waren. Und hätte man das nicht festgestellt, dann wären die Albins nicht Phy
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siker geworden, als die Vereinten Nationen das Gesetz erließen, daß jeder Erdenbürger sich irgendein naturwissenschaftliches Forschungs gebiet aussuchen und sich darin spezialisieren müßte. In der verweic h lichten, vorsichtigen, über jedes Leben besorgt wachenden Welt von heute wäre er dann niemals von seinen Kollegen für dieses verbotene, weil gefährliche Experiment auserwählt worden. Nein, wenn sein Urgroßvater nicht vor mehr als einem Jahrhundert seine einzigartige Fähigkeit bewiesen hätte, während einer Zeitreise bei Bewußtsein zu bleiben, dann würde Max Albin jetzt vermutlich seine Zeit in einem biologischen Labor vertrö deln wie der Großteil seiner Zeitgenossen und würde langweilige genetische Untersuchungen durc h führen müssen, anstatt vor dem größten Abenteuer zu stehen, das der Mensch jemals unternommen hatte. Auch wenn er nicht mehr zurückkam, so war er wenigstens seinen ge netischen Verpflichtungen der Menschheit im allgemeinen und seiner Familie im besonderen entkommen. Es war wirklich ein guter Job, und er war sehr glücklich darüber. »Wart einen Augenblick, Mac«, sagte Skeat und ging auf die andere Seite des engen Labors. Albin und Honek sahen zu, wie er mehrere beschriebene Blätter in ei ne kleine Metallkassette legte und sie zuklappte, ohne sie zu versper ren. »Du wirst auf dich aufpassen, ja, Mac?« sagte Hugo Honek bittend. »Falls du drauf und dran bist, irgendwelche Risiken einzugehen, denk bitte dran, daß Bob und ich zur Verantwortung gezogen werden, wenn du nicht zurückkommst. Wir können zur Aberkennung unseres wissen schaftlichen Status verurteilt werden und müßten den Rest unseres Lebens als Aufseher in Roboterfabriken verbringen.« »Wird schon nicht so schlimm werden«, meinte Albin geistesabwesend und blickte aus seiner unbequemen Stellung in der engen Zeitkammer neugierig auf, als Skeat mit der Kassette zurückkam. Honek zuckte die Schultern. »Es könnte sehr viel schlimmer werden, und du weißt das auch. Das Verschwinden eines doppelten Vaters be deutet einen verdammt großen Verlust für die Menschheit. Einmalige wie Bob und mich gibt’s in rauhen Mengen, unser Verschwinden würde keinen solchen Aufruhr auslösen.« »Aber ihr habt es ja beide versucht – du bist schon nach einem Tem poralsprung von fünfzehn Sekunden umgekippt«, erinnerte ihn Albin. »Somit bin ich der einzige, der die Menschheit vor dem Aussterben ret
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ten kann, vor einem langsamen, luxuriösen Dahinsiechen ohne Zu kunft, gegen das diese Langeweiler vom Sicherheitsrat aber auch nichts unternehmen!« »Reg dich ab, Mac«, sagte Bob Skeat, als er Albin die Metallkassette gab. »Der Sicherheitsrat versucht eben das Problem mit konservativen Methoden zu lösen – durch weltweite Intensivierung der genetischen Forschung und weitestgehenden Schutz des vorhandenen Lebens, vor allem jener Personen mit hohem Reproduktionspotential. Wir drei billi gen diese Methode nicht, oder sagen wir lieber, wir finden, daß das nicht genug ist. Wir haben uns hier nächtelang vergraben, um das Pro blem auf unsere Weise zu lösen – aber es ist eine ziemlich radikale und riskante Methode. Deshalb diese Kassette – eine letzte Vorsichts maßnahme für eine recht folgenschwere Eventualität.« Albin wog die Kassette neugierig in der Hand. »Wieso das?« »Ich habe die ganze letzte Nacht an dem Manuskript geschrie ben, das hier drin ist. Schau mal, Mac, wenn du während des 1976-Experiments materialisierst und den kleinen roten Schalter nach oben kippst, dann hat das eine ganze Reihe von Ereignissen zufolge, nicht nur, daß das Geschoß abgelenkt wird und die Bombe, statt planmäßig im Pazifik, im brasilianischen Urwald explodiert.« »Ja – und wenn sie im Dschungel explodiert, gibt es keine Epidemie.« Skeat verzog ungeduldig das runde Gesicht. »Das meine ich nicht! Gut, es gibt keine Epidemie, aber dafür entsteht eine neue Welt, ein anderes Jahr 2089 in einem Alternativzweig der Zeit. Es wird sicher eine Welt sein, in der die Menschen bessere Chancen zum Überleben haben, aber sie wird auch nic ht ohne Probleme sein. Vielleicht ernste Probleme. Vielleicht hat sie so ernste, daß man auch in der Alternativ welt auf die Idee kommt, die Gegenwart durch eine kleine Änderung der Vergangenheit zu verbessern.« Albin lachte. »Du bist vielleicht ein Schwarzseher!« »Mag sein, aber das ist meine Aufgabe. Hugo hat die Maschine ent worfen, du bedienst sie, aber ich bin der Theoretiker in unserem Team. Ich muß alle Möglichkeiten, auch die unangenehmen, in Betracht zie hen. Ich habe also kurz die Ereignisse beschrieben, seit jenem Augen blick am 18. April 1976, da das Geschoß im Pazifik explodierte. Daraus wird klar, daß die unsere die schlechteste von allen möglichen Welten ist. Dieser Bericht liegt in der Kassette.« »Gut, gut. Und was tu’ ich damit – meinem Alternativexemplar aus dem Alternativ-2089 in die Alternativhand drücken?«
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Der kleine dicke Mann schlug verärgert mit der Faust in die fleischige Handfläche. »Hör mit dem Unsinn auf, Mac – du weißt so gut wie ich, daß es keine Alternativwelt gibt bis zu dem Augenblick, da du den ro ten Schalter auf dem grünen Instrumentenbord umlegst. Erst dann – genau dann – hört unsere dahinsterbende Welt auf zu existieren, und eine andere, hoffentlich bessere, entsteht. Wie zwei elektrische Lampen mit Wechselschalter. Wir und alles, was wir geschaffen haben, ver schwindet. Auch diese Zeitmaschine. Wir müssen nur verhindern, daß auch dieses Manuskript verschwindet. Wenn meine Theorien stimmen, dann brauchst du dazu bloß die Kas sette in das umgebende Temporalmedium hinausstoßen, bevor du ma terialisierst. Dieses Temporalmedium, in dem du dich bewegst, existiert unabhängig von allen möglichen Zeitvarianten. Ich nehme an, daß et was passiv darin Schwebendes durch eine neue Zeitvariante nicht ver ändert wird.« »Sag ihm, er soll vorsichtig sein, Bob«, brummte Honek. »Er hält sich für einen tollen Helden, der auf Abenteuer auszieht!« Albin grinste schief. »Ja – es ist ein Abenteuer für mich. Endlich kann ich wirklich etwas tun, statt mit langweiligen Theorien mein Leben zu verschlafen. – Aber ich weiß, daß es hier ums Ganze geht – ehrlich, Hugo, ich bin nicht so dumm, daß ich nicht sehr gut wüßte, wenn ir gend etwas Unvorhergesehenes passiert, muß ich zurückko mmen.« »Ich hoffe, du tust das wirklich«, seufzte Bob Skeat. »Ich hoffe es sehr. Ein Dichter des 20. Jahrhunderts hat mal etwas in der Richtung geschrieben, daß die Welt nicht mit einem Knall, sondern mit einem Wimmern zugrunde gehen würde. Unsere Welt geht unter Wimmern zugrunde. Sieh du zu, daß sie nicht mit einem Knall endet.« »Das verspreche ich euch«, sagte Albin leicht indigniert, »die Welt wird weder mit einem Knall noch mit einem Wimmern untergehen. Wiedersehen, Hugo. Wiedersehen, Bob.« Er drehte sich mühsam um, bis er den Hebel über seinem Kopf er reichte, der die Zeitmaschine einschaltete. Klick! Es war wirklich wunderbar, dachte Max Alben, daß so ein Zeitausflug, der alle anderen aus den Socken kippte, bei ihm nur ein bißchen Übel keit hervorrief. Der Grund dafür war seine Abstammung von Giovanni Albeni, wie man ihm erklärt hatte. Es mußte irgendeine komplizierte wissenschaftliche Erklärung dafür geben, überlegte er – aber solche Dinge waren nichts für ihn und seinesgle ichen. Besser, man vergaß es.
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Die Zeitmaschine sauste durch ein trübes graues Nichts, in dem ab und zu schemenhafte Objekte auftauchten, die weniger real als Schat ten waren. Max Alben erinnerte das an Wachrunden um die Nordameri kanische Hühnerreservation bei dichtem Ne bel. Die Skala zeigte nun an, daß er sich im Jahr 1976 befand. Er vermin derte die Geschwindigkeit, bis er den letzten Apriltag erreicht hatte, und ließ sich dann rückwärts treiben bis zum Achtzehnten, dem Tag des fatalen Raketenversuchs. Aufmerksam, sehr aufmerksam beobach tete er die über die Skala gleitende Nadel, bis sie genau bei der dünnen eingeritzten Linie zur Ruhe kam, die den Augenblick markierte. Dann zog er die Bremse an und verankerte die Maschine in dem Zeitpunkt. So, jetzt brauchte er nur noch materialisieren, hinausflitzen und den roten Schalter nach unten kippen – und ein gutbezahlter Auftrag war erfüllt. Aber da war doch… Er blieb stehen und kratzte sich den schmutzverkrusteten Schädel. Er hatte doch vor der Materialisation noch etwas tun sollen? Ah ja, dieser verkalkte alte Schwätzer Sadha hatte ihm noch etwas aufgetragen. Er ergriff den Metallzylinder, ging zur Luke der Maschine und schob ihn hinaus in das graue Nichts. Ein gleich neben der Öffnung treibendes Objekt erregte seine Aufmerksamkeit. Er langte hinaus – puh, das war kalt – und holte es herein. Eine kleine Metallschachtel. Komisch. Wie kam die hierher? Hastig öff nete er sie in der Hoffnung, irgend etwas Wertvolles darin zu finden. Nichts außer ein paar Papierblättern, stellte er enttäuscht fest. Er be gann das Manuskript langsam und mühevoll zu lesen, denn es enthielt viele lange schwierige Wörter, wie ein Brief so eines BücherwurmWissenschaftlers an einen anderen. Das Problem nahm seinen Anfang mit dem Raketenversuch von 1976, las Alben. Es hatte schon eine ganze Reihe solcher Experimente mit Atomsprengköpfen gegeben, aber der im Jahre 1976 bewirkte schließ lich die Katastrophe, vor der die Biologen immer gewarnt hatten. Das Geschoß und seine Bombe explo dierten wie vorgesehen im Pazifischen Ozean, und die Physiker und Militärs gingen befriedigt heim, um ihre Aufzeichnungen zu überarbeiten. Die Welt schauderte vor dem erneut drohenden Krieg, und die Menschheit steckte den Kopf in den Sand. Der radioaktive Niederschlag der Bombe war nicht stärker als voraus berechnet, aber der Staub trieb nach Norden und fiel als radioaktiver Regen genau über einer kleinen Fischerflotte aus. Die Radioaktivität
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des Regenwassers war nicht so hoch, daß sie merkliche körperliche Schäden bewirkt hatte. Alles, was sie bewirkte, war eine Mutation der Mumpsviren, die einige der Fischer in sich trugen, weil die Kinder in ihrem Heimathafen gerade eine leichte Mumpsepidemie durchmachten. Die Fischerflotte kehrte in die Hafenstadt zurück, worauf deren Be wohner nahezu lückenlos an der neuen Mumpsvariante erkrankten. Dr. Llewellyn Shapiro, der einzige Arzt des Städtchens, war der erste, der bemerkte, daß diese neue Abart zwar einerseits schwächere Krank heitssymptome hervorrief als das unmutierte Muttervirus, daß aber andererseits niemand dagegen immun war, und daß die Auswirkungen auf die menschliche Fortpflanzungsfähigkeit einfach katastrophal wa ren. Die meisten Menschen wurden durch die Krankheit völlig sterili siert. Die wenigen Glücklicheren erfuhren eine schwere Einschränkung ihrer Fähigkeit, Kinder zu zeugen oder zu empfangen. In den nächsten Jahren verbreitete sich der Shapiro-Mumps über die ganze Erde. Die Viren überwanden früher oder später alle Quarantäne schranken und widerstanden allen Impfstoffen, mit denen man die Epi demie zu stoppen versuchte. Als dann schließlich doch ein wirksames Serum entdeckt wurde, war es zu spät. Die Menschheit erkannte ent setzt, daß ihre Reproduktivität endgültig und irreparabel geschädigt war. Irgend etwas war mit dem Plasma der Keimzellen geschehen. Ein ho her Prozentsatz von Menschen war von Geburt an steril, und von den übrigen konnte höchstens ein Kind erwartet werden, zwei Kinder waren sehr selten, drei etwas nahezu Unbekanntes. Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen führte strenge eugenische Kontrollmaßnahmen ein, so daß fruchtbare Männer und Frauen nicht an unfruchtbare Partner verschwendet wurden. Fruchtbarkeit war der wichtigste Schlüssel zu gesellschaftlichem Ansehen, erfolgreiche gene tische Forschungen der zweitwichtigste. Die Gescheitesten und Tüchtigsten hatten sich zwangsweise mit gene tischer Forschung zu beschäftigen, die weniger Gescheiten konnten andere Wissenschaften wählen. Jeder Mensch auf der Erde war zu ei nem bestimmten Grade mit naturwissenschaftlicher Forschung beschäf tigt. Da die Bevölkerungszahl relativ zu den umfangreichen Mitteln, die die Erde bot, bald sehr niedrig war, hatte man schon seit langem alle körperliche Arbeit Robotern übertragen. Die Regierung sorgte dafür, daß jeder alles bekam, was er brauchte und mehr: als Gegenle istung wurde nur verlangt, daß jeder auf sein Leben aufpaßte – jedes mensch liche Leben war nun eine kostbare, behütete Seltenheit.
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2089 waren weniger als hunderttausend übrig. Diese Zahl lag nach allen Schätzungen unter jenem Limit, unter dem eine Rasse durch eine neuerliche Katastrophe völlig ausgelöscht würde. Aber eine weitere Katastrophe war dazu gar nicht nötig: nach der Epidemie war die Ge burtenrate immer mehr hinter die Todesrate zurückgefallen. Die Menschheit starb langsam aus… Deshalb wurde der verzweifelte, geheime Versuch unternommen, die Vergangenheit zu verändern. Diese Welt war dem Untergang geweiht. Max Alben hatte das Dokument fertiggelesen. Er seufzte. Was für eine herrliche Welt! Welch angenehmes Leben! Er ging zu den Drehschaltern an der Rückwand und bereitete sich auf die Materialisation im entscheidenden Augenblick des 18. April 1976 vor. Klick! Es war wirklich wunderbar, dachte Mac Albin, daß so eine Temporal reise, die bei allen anderen Koma hervorrief, ihn selbst nur leicht schwindlig machte. Der Grund dafür war seine Abstammung von Gio vanni Albeni, wie er wußte. Vielleicht war das genetisch gekoppelt mit seiner überdurchschnittlichen Fruchtbarkeit, überlegte er – er würde nach seiner Rückkehr den einen oder anderen Biologen darauf hinwei sen. Wenn er zurückkehrte. Die Zeitmaschine sauste durch ein trübes graues Nichts, in dem ab und zu schemenhafte Objekte auftauchten, die weniger real als Schat ten waren. Mac Albin erinnerte das an einen Abend mit dichtem Nebel, als er den Kopter im Finstern landen mußte, weil er vergessen hatte, dem Robo-Butler Befehl zum Einschalten der Landelichter zu geben. Der Temporalindikator zeigte nun an, daß er sich im Jahr 1976 be fand. Er drosselte die Geschwindigkeit und ließ sich langsam bis zum 18. April treiben, dem Tag des fatalen Raketenversuchs. Aufmerksam, sehr aufmerksam beobachtete er den über den kalibrierten Schirm gle i tenden Lichtpunkt, bis er genau bei der leuchtenden roten Linie zur Ruhe kam, die den Augenblick markierte. Dann drückte er auf einen Knopf und ließ die Maschine in dem Zeitpunkt erstarren. So, jetzt brauchte er nur noch materialisieren, hinausflitzen und den roten Schalter nach oben kippen – und ein aufregendes Abenteuer war vorüber. Aber da war doch…
Er hielt in der Bewegung inne und strich sich über das glatte Kinn. Er
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hatte doch vor der Materialisation noch etwas tun sollen? Ach ja, dieser ängstliche Theoretiker. Bob hatte noch einen Wunsch gehabt. Er ergriff die Metallkassette, verdrehte sich so, daß er die Luke der Maschine erreichte, und schob sie hinaus in das graue Nichts. Ein gleich neben der Öffnung treibendes Objekt erregte seine Aufmerksamkeit. Er langte hinaus – die Umgebung war sehr kalt, wie sie vermutet hatten – und holte es herein. Ein versiegelter Metallzylinder. Komisch. Wie kam der hierher? Hastig öffnete er ihn in der schwachen Hoffnung, darin irgendein Dokument zu finden. Ja, genau das, stellte er aufgeregt fest. Er begann das Manu skript schnell und mühelos zu le sen, begierig, als wäre es eine neu er schienene Arbeit über Neutrinik. Außerdem war das Dokument in ent setzlich einfacher Sprache abgefaßt, wie ein Lesebuch für Ha lbidioten. Das Problem begann mit dem Raketenversuch von 1976, las Albin. Es hatte schon eine ganze Reihe solcher Versuche mit Atomsprengköpfen gegeben, aber der im Jahre 1976 bewirkte genau die Katastrophe, vor der die Biologen immer gewarnt hatten. Das Geschoß und seine Bombe explodierten durch einen schrecklichen Irrtum im brasilianischen Dschungel, die Techniker der Kontrollstation, die das Unglück verschul det hatten, wurden zur Verantwortung gezogen, und Brasilien wurde eine ansehnliche Wiedergutmachung gezahlt. Der Schaden war aber größer, als man anfangs erkannte. Ein Pflan zenvirus, verwandt mit dem Tabakmosaikvirus, war durch die Radioak tivität mutiert; fünf Jahre später brachen die Viren aus dem Dschungel aus, und bald existierte nicht eine einzige Reispflanze mehr auf der Erde. Japan und ein Großteil Asiens wurden zu toter Wüste, in der nur mehr ein paar hungrige No maden herumzogen. Dann stellten sich die Viren auf Weizen und Mais um – und der Hunger nahm den ganzen Planeten in seinen Würgegriff. Alle Versuche der Bo taniker, der Seuche Einhalt zu gebieten, schlugen fehl, weil sie sich rasend schnell ausbreitete. Und wenn eine Pflanzengattung vernichtet war, verschlang die Seuche die nächste und nächste und nächste. Die Tiere der Erde wurden fast alle als Nahrung für die Menschen ge schlachtet, bevor sie verhungerten. Selbst Insekten wurden gegessen, bevor sie ausstarben, weil ihnen ihre speziellen Nahrungspflanzen fehl ten. Der Lebensmittelvorrat der Erde nahm mit erschreckender geometri scher Progression ab. Bald mußte man feststellen, daß auch das Plank ton in den Ozeanen immer weniger wurde – und an den Küsten began
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nen sich tote Fische anzuhäufen, da das Leben in den Ozeanen vom Plankton abhing wie das der Säugetiere von Getreide und Gräsern. Die Menschen hatten in alle Richtungen verzweifelte Anstrengungen unternommen, aber nichts hatte genützt. Selbst die übrigen Planeten des Sonnensystems, die man – soweit sie überhaupt Chancen für Le ben boten – unter ungeheuren Kosten erreicht und erforscht hatte, besaßen keinerlei eßbare Pflanzen. Synthetische Nahrungsmittel konn ten die abgrundtiefe Bedarfslücke nicht auffüllen. Der zunehmende Hunger überall hatte bald die bestehenden Gesell schaftssysteme aufgelöst und die staatlichen Kontrollen hinweggefegt. Zaghaft versuchte man noch hier und da, Ratio nierungen durchzufüh ren – aber dann wurden die Schwarzmarkte zu den einzigen Märkten, und die Schwarzhändler wurden Könige der Welt. Der Hungertod raffte die Schwächsten und Untüchtigsten, die Alten und Kinder hinweg, und nur die Schlauesten und Wendigsten hatten ein halbwegs angenehmes Leben. Gerechtigkeit gab es nur für den, der dafür bezahlen konnte, und die Kinder armer Familien wurden für ein paar Bissen Nahrung auf dem Markt feilgeboten. Und die Seuche dehnte sich weiter auf andere Pflanzen aus, und die Nahrungsproduktion der Erde nahm rapide ab. Die Menschheit verhun gerte langsam… Deshalb wurden die Mächtigen dieser Welt zu dem verzweifelten Ver such überredet, die Vergangenheit zu verändern. Diese Welt war dem Untergang geweiht. Mac Albin hatte das Dokument fertiggelesen. Er seufzte. Was für eine aufregende Welt! Welch interessantes Leben! Er legte die Hand auf den Hebel an der Seitenwand und bereitete sich auf die Materialisation im entscheidenden Augenblick des 18. April 1976 vor. Klick! Als sich die Einrichtung der Kontrollstation rund um ihn zu ver schwommener Realität verdichtete, verspürte Max Alben einen Angst schauder über das, was er tat. Die Techniker, der Generalsekretär, ja sogar die Schwarzmarktkönige hatten ihn ermahnt, den Auftrag sofort abzubrechen, wenn etwas Unvorhergesehenes geschah. Lauter mächti ge Leute, denen er nicht gehorchte. Er wußte, daß er mit dieser neuen Information zurückkehren müßte, damit fähigere Gehirne darüber be raten könnten.
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Aber die mit ihrem guten Leben, was wußten die schon, was das Le ben ihm bot: Hunger, niemals aufhörender, nagender Hunger, Kampf ums Weiterleben. Demütigungen und wieder Hunger – und jedesmal, wenn die Lage wirklich ernst wird, musterst du die Kinder und fragst dich, welches wohl den besten Preis bringen würde, damit die anderen für eine Weile genug haben. Aber in dieser anderen Welt, dem anderen 2089, da gab es genug zu essen, da sorgte der Staat für die Menschen, und Kinder waren eine große Kostbarkeit! Ein Mann wie er, mit fünf Kindern – er wäre groß und mächtig und angesehen in dieser Welt! Und er hätte Roboter, die für ihn arbeiteten, und viel, viel zu essen. Das vor allem – jede Menge Essen! Er würde sogar ein Wissenschaftler sein – war dort nicht jeder Wis senschaftler? –, und er hätte ein großes Labor für sich allein. Diese andere Welt hatte ihre Nachteile, aber sie war doch um vieles angenehmer als die seine. Er würde nicht zurückkehren. Er würde den Auftrag ausführen! Die Angst fiel von ihm ab und zum erstenmal in seinem Leben ver spürte Max Alben das erregende Gefühl der Macht. Er materialisierte die Maschine neben der grünen Instrumentenwand und schwitzte ein bißchen, als er die vielen Techniker und Militärs in dem Raum erblickte (obwohl man ihm versichert hatte, daß sie ihn nicht sehen könnten, weil für sie alles viel zu schnell ginge). Er ent deckte den kleinen roten Schalter, der nach oben zeigte. Der Schalter, der den Kurs des Geschosses bestimmte! Jetzt! Für eine halbwegs an genehme Welt! Max Alben kippte den kleinen roten Schalter nach unten. Klick! Als sich die Einrichtung der Kontrollstation rund um ihn zu diffuser Realität kondensierte, verspürte Mac Albin ein leichtes Gefühl der Scham über das, was er tat. Bob und Hugo hatten ihn beschworen, das Experiment sofort abzubrechen, wenn etwas Unvorhergesehenes ge schah. Er wußte, daß er mit dieser neuen Information zurückkehren müßte, damit sie alle drei darüber beraten könnten. Aber was würden sie schon dazu sagen können, diese beiden mit ihrer wohlangepaßten, zufriedenen, geregelten Existenz? Wenigstens hatte man ihnen Frauen zugeteilt, mit denen sie auskamen; ihm aber hatte man die Ehe mit einer Frau befohlen, mit der er sich einzig und allein in
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genetischer Hinsicht vertrug. Genetik! Er hatte die Genetik und die He i ligkeit und Kostbarkeit des menschlichen Lebens satt! Er war die Untä tigkeit satt! Satt bis in die Spitzen seiner weichen Finger, bis in die letzte Faser seiner schlaffen ungenützten Muskeln. Und ein einfaches Abenteuer mußte man wie ein Dieb bei Nacht und Nebel unternehmen! Aber in dieser anderen Welt, dem anderen 2089, würde jemand wie er ein König des Schwarzmarktes sein, ein Herrscher über das Chaos, der seine eigenen Gesetze schreibt, der sich selbst seine Frauen wählt. Was machte es schon, wenn die Schwachen und Untüchtigen untergingen? Er würde es nicht – er würde endlich leben! Er hatte aus dem Dokument ein recht gutes Bild von den Mächtigen dieser andere n Welt gewonnen. Er würde mit ihnen fertig werden. Die se Narren hatten es ja nicht einmal gelesen – sie hatten keine Ahnung, daß eine andere Zeitvariante ihr eigenes Nichtexistieren bedeutete. Diese andere Welt hatte ihre Nachteile, aber sie war doch um vieles interessanter als die seine, man mußte ihr die Chance zu existieren geben. Seine Welt dämmerte einem trüben Ende entgegen. Er würde nicht zurückkehren. Er würde das Experiment durchführen! Mac Albin verspürte zum erstenmal in seinem Leben das erhebende Gefühl des Verzichts, des Verzichts auf Annehmlichkeiten um des Aben teuers willen. Er materialisierte die Maschine unmittelbar an der grünen Instrumen tenwand und kümmerte sich nicht um die vielen Techniker und Militärs im Kontrollraum, da er genau wußte, daß sie ihn nicht sehen konnten. Der kleine rote Schalter zeigte nach unten. Der Schalter, der den Kurs des Geschosses bestimmte! Jetzt! Für eine halbwegs interessante Welt! Mac Albin kippte den kleinen roten Schalter nach oben. Klick! Jetzt! Für eine halbwegs angenehme Welt! Max Alben kippte den klei nen roten Schalter nach unten. Klick! Jetzt! Für eine halbwegs interessante Welt! Mac Albin kippte den klei nen roten Schalter nach oben. Klick! …kippte den kleinen roten Schalter nach unten. Klick! …kippte den kleinen roten Schalter nach oben.
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Klick! …nach unten. Klick! …nach oben. Klick!
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Paradies der Spione
Das Telefon klingelte. Alfred Smith, eben im Begriff, seine Wäsche auf die verschiedenen Fächer in seinem Hotelzimmer zu verteilen, sah er staunt auf. »Also wer…«, begann er kopfschüttelnd. Niemand wußte doch, daß er in New York war und in diesem Hotel. Oder nein, der Empfangschef wußte es natürlich; es war wohl irgendeine Hotelangelegenheit. Das Telefon läutete nochmals. Er ließ seine Reservesocken aufs Bett fallen und hob ab. »Ja?« sagte er. »Mr. Smith?« fragte eine kehlige Stimme. »Am Apparat.« »Hier ist Mr. Jones. Mr. Cohen und Mr. Kelly sind hier bei mir in der Halle. Und Jane Doe natürlich. Sollen wir zu Ihnen hinaufkommen oder hier auf Sie warten?« »Wie bitte?« »Also wir kommen rauf. 504, nicht?« »Ja – aber Moment mal! Wer spricht?« Er bemerkte, daß der andere bereits eingehängt hatte. Alfred Smith legte seinerseits den Hörer auf und kratzte sich verblüfft die Bürstenfrisur. Er war ein durchschnittlich gut aussehender junger Mann, mittelgroß, mittelschwer, mit einem schwachen Anflug von Fett an Kinn und Bauch, ein Zeichen noch nicht sehr alten Wohlstands. »Mr. Jones? Cohen? Kelly? Und Jane Doe? Was zum Kuckuck?« Es mußte ein Scherz sein. Jeder Smith war es gewohnt, Zielscheibe von Scherzen zu sein. Umfangreiche Verwandtschaft haben Sie, Mr. Smith. Wie lange heißen Sie denn schon Smith? Was, Sie heißen nicht John Smith? Da fiel ihm ein, daß der Anrufer ihn nur als Mr. Smith angeredet hatte. Und Smith war nun einmal leider ein sehr häufiger Name. Er hob den Telefonhörer erneut ab. »Rezeption«, verlangte er. »Rezeption«, sagte eine glatte Stimme nach einigen Augenblicken. »Hier ist Smith aus Zimmer 504. Hat vor mir hier auch ein Smith ge wohnt?« Lange Pause. Dann: »Haben Sie irgendwelche Beschwerden Sir?«
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Alfred Smith verzog ungeduldig das Gesicht. »Davon habe ich kein Wort gesagt. Hat ein Smith hier gewohnt oder nicht?« »Nun, Sir, falls Sie etwa Ungelegenheiten haben…« Smith verlor die Geduld. »Ich habe Ihnen eine ganz einfache Frage gestellt!« fauchte er. »Hat vor mir in diesem Zimmer ein Smith ge wohnt? – Was ist los, hat er sich umgebracht oder was?« »Wir dürfen keineswegs annehmen, daß er Selbstmord beging, Sir!« sagte der Empfangschef nachdrücklich. »Es gibt noch viele, viele ande re Umstände, unter denen ein Gast verschwinden kann.« Jemand klopfte heftig an die Tür. Alfred Smith grunzte eilig: »Gut – mehr wollte ich nicht wissen«, und legte auf. Er öffnete die Tür, und bevor er den Mund aufbrachte, waren vier Leu te hereingekommen. Drei Männer und eine mittelhübsche Frau. »Also bitte…«, begann er. »Tag, Gar Pitha«, sagte einer der Männer. »Ich bin Jones, das ist Co hen und das Kelly. Und natürlich Jane Doe.« »Sie machen einen Fehler«, bemerkte Alfred. »Und ob!« sagte Cohen und versperrte die Tür sorgfältig hinter sich. »Jones, Sie haben Smith mit seinem richtigen Na men angeredet! Wäh rend die Tür offen war! Das ist unverantwortlicher Leichtsinn!« Jane Doe nickte. »Ja, wir müssen immer daran denken, daß wir auf der Erde sind. Wir dürfen nur Eingeborenennamen verwenden. Dienst vorschriften Absätze XIV bis XXII.« Alfred warf ihr einen durchdringenden Blick zu. »Auf der Erde?« Sie lächelte beschämt. »Da, jetzt bin ich selbst ins Fettnäpfchen ge treten. Sie haben recht: in Amerika. Oder genauer und unauffälliger ausgedrückt, in New York.« Mr. Kelly war um Alfred herumgegangen und hatte ihn eingehend ge mustert. »Sie sind einfach vollkommen«, sagte er schließlich. »Bis aufs i-Tüpfelchen perfekt. Muß große Mühe gemacht haben, diese Verkle i dung.« Wer zum Teufel waren diese Leute? fragte sich Alfred verzweifelt. Ir re? Nein – Spione! Aber warte mal, vielleicht sind es auch Detektive, die hinter irgendwelchen Spionen her sind und sich geirrt haben. Über leg dir gut, was du sagst – du bist in New York, nicht in deinem hei matlichen Kaff in Illinois.
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Dabei fiel ihm eine andere Erklärung ein. New York. Stadt gerissener Bauernfänger. Vielleicht war das Ganze nur ein neuer Trick, um einen Tölpel vom Land einzuwickeln? Wenn das stimmte… Seine Besucher hatten sich gesetzt. Mr. Kelly öffnete seinen Aktenkof fer einen Spalt und langte hinein. Ein tiefes Summen erfüllte den Raum. »Nicht genügend Energie«, entschuldigte sich Mr. Kelly. »Das hier ist schließlich eine ziemlich kleine Sonne. Aber in ein paar Minuten hat es sich angewärmt.« Mr. Jones beugte sich vor. »Hören Sie, haben Sie was dagegen, wenn ich meine Verkleidung ablege? Mir ist so heiß.« »Sie dürften das eigentlich nicht tun«, ermahnte ihn Jane Doe. »Wir müssen die Uniform immer tragen, wenn wir im Dienst sind!« »Ich weiß, ich weiß, aber Sten Durok – ‘tschuldigung, Cohen, hat die Tür versperrt. Und auf dieser Welt kommt niemand durch Fenster her ein. Also könnte ich mir’s doch ein bißchen gemütlich machen.« Alfred hockte auf der Kante des Nachttischchens und musterte Mr. Jo nes höchst amüsiert. Der kleine Mann trug einen billigen grauen Fla nellanzug. Er hatte eine Glatze. Er trug keine Brille, keinen Bart, nicht einmal einen Schnurrbart. Verkleidung, hm? »Ich meine, warum nicht – soll er doch«, schlug Alfred mit erwar tungsvollem Grinsen vor. »Wir sind unter uns – bitte, Jones, legen Sie nur Ihre Verkleidung ab!« »Danke«, meinte Jones erleichtert. »Ich ersticke in dem Ding.« Alfred grinste wieder in sich hinein. Diesen New Yorkern würde er es schon zeigen. Verkleidung, hah! Jones knöpfte sein Jackett auf. Dann knöpfte er das weiße Hemd dar unter auf. Dann fuhr er mit beiden Zeigefingern in seinen Brustkorb, tief hinein, und klappte ihn auseinander. Er zog die beiden Hälften mit den Fingern auf, bis die dunkle Öffnung etwa zwanzig Zentimeter breit war. Eine schwarze Spinne krabbelte eilig aus diesem Loch. Ihr runder Kör per war etwa faustgroß, die Beine zwei Finger lang und dünn und haa rig. Sie plazierte sich in die Gegend von Jones’ Schlüsselbeinen, wäh rend der Körper, aus dem sie herausgekrochen war, in versteinerter
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Stellung verharrte: die Finger hielten starr und steif die Brust ausein ander. »A-a-a-h«, sagte die Spinne. »So ist es angenehm!« Alfred stellte fest, daß ihm das Grinsen auf dem Gesicht eingefroren war und daß in seinem Gehirn etwas kicherte, über das er keine Macht hatte. Er glotzte die Spinne an, den steifen Körper, aus dem sie ge kommen war – und die anderen im Zimmer, Cohen, Kelly, Jane Doe. Sie hätten nicht unbeeindruckter dreinschauen können. Das Summen des Aktenkoffers auf Kellys Knien wurde plötzlich zu Worten. Alfreds Besucher vertauschten ihre gelangweilte Haltung mit der größten Aufmerksamkeit. »Gruß den Sonderbeauftragten«, sagte eine ölige Stimme. »Hier spricht die Kommandozentrale. Sie nennen mich Robinson. Haben Sie etwas zu berichten?« »Ich nicht«, teilte Jane Doe dem Aktenkoffer mit. »Ich auch nicht«, meldete sich Kelly. Die Spinne streckte sich wohlig. »Bei mir auch nichts Neues.« »Jones«, befahl die Stimme aus dem Aktenkoffer streng, »sofort zu rück in Ihre Uniform!« »Aber Chef, es ist so heiß hier! Und wir sind ganz unter uns, und die Tür ist versperrt – da kann doch nichts passieren!« »Ich werde Ihnen gleich mitteilen, was passieren wird! In die Uniform, Jones! Oder sind Sie vielleicht Ihres Ranges als Sonderbeauftragter müde? Möchten Sie wieder Sub-Beauftragter werden?« Die Spinne zuckte schicksalsergeben ihre zehn Schultern und kroch langsam in das Loch zurück. Der Brustkorb schloß sich hinter ihr. Der Körper von Jones erwachte wieder zum Leben und knöpfte Hemd und Jackett zu. »So ist es schon besser«, sagte der Aktenkoffer, »aber tun Sie das im Dienst ja nicht wieder!« »Jawohl, Chef, ist gut. Aber könnten wir diesen Planeten nicht ein biß chen kühler machen? Eine neue Eiszeit verursachen? Das würde die Arbeit hier sehr viel angenehmer machen.« »Und sehr verdächtig sein, Sie Narr. Kümmern Sie sich um die wichti gen Dinge wie Tagungen und Schönheitskonkurrenzen. Wir von der Kommandozentrale werden uns um Nebensächlichkeiten wie eine neue
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Eiszeit kümmern. So. Und nun, was ist mit Ihnen, Smith? Was haben Sie zu berichten?« Alfred Smith fühlte sein Hirn zu Watte werden. Er rutschte vom Nacht tischchen herunter und kam auf die Beine. Nicht sehr zuverlässige Be i ne. Er sah sich in ratloser Panik um. »B-b-berichten?« Er holte Luft. »N-nichts. – Ich habe nichts zu beric h ten.« »Soso. Sie verschweigen uns doch nichts?« Alfred schluckte. »N-nein.« »Möchte ich Ihnen geraten haben. Eine Schönheitskonkurrenz überse hen und es ist aus mit Ihnen, Smith. Wir haben Ihre Nachlässigkeit bei der Zagreb-Sache nicht vergessen.« »Oh, Chef«, mischte sich Jane Doe ein, »das war doch nur so eine lo kale Veranstaltung, um das größte KP-Mitglied Kroatiens zu ermitteln. Sie können Smith nicht vorwerfen, daß er das übersehen hat!« »Und ob. Es war eine Schönheitskonkurrenz im Rahmen der Definiti on, die wir Ihnen geben. Wenn nicht Cohen einen Kurz bericht darüber in der Prawda entdeckt hätte, wer weiß, was passiert wäre. Denken Sie daran, Smith. Und nennen Sie mich nicht Chef. Mein Name ist Robin son. Das gilt für alle.« Sie nickten. Auch Alfred, der Jane Doe einen unsicher-dankbaren Blick zuwarf. »Nun gut«, fuhr der Aktenkoffer in etwas milderem Ton fort, »Sie sol len sehen, daß ich nicht nur kritisieren, sondern auch lo ben kann – ich möchte Smith zu seiner Verkleidung gratulieren. Wenn sich alle solche Mühe mit ihrer Uniform gäben, wäre alles in Butter für uns.« Die Stim me machte eine kurze Pause und fügte dann in glattem, affektierten Tonfall hinzu: »Und die anderen hätten ihr Fett weg!« Sie lachten alle höflich über das. Auch Alfred. »Sie meinen also, daß die Uniform von Smith besonders gut ist, ja, Chef – ich meine, Mr. Robinson?« fragte Jane Doe eifrig, als wünschte sie eine nochmalige Bestätigung des offiziellen Lobes. »Gewiß. Schauen Sie ihn doch an: nicht irgendein Anzug, sondern ein Sportjackett und Flanellhosen. Nicht irgendein Kinn, sondern ein Kinn mit Kerbe. Und so weiter. Er sieht echt aus. Das ist das Wichtigste. Manche lernen es nie, sich der Bevölke rung des Planeten anzupassen, auf dem sie arbeiten. Smith hat das hundertprozentig fertiggebracht.
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Gute Arbeit, Smith.« »Danke«, murmelte Alfred. »Ja, schon gut, äh – Robinson«, meldete sich Jones ungeduldig. »Es ist ja eine ganz nette Uniform. Aber unsere Arbeit ist ja wohl wichtiger als unsere Verkleidung.« »Ihre Verkleidung ist Ihre Arbeit. Wenn Sie richtig aussehen, dann ar beiten Sie gut. Sie selbst, Jones: Ich habe selten einen so schlampig und fantasielos zusammengestellten menschlichen Körper gesehen.« Mr. Jones blickte zutiefst verletzt. »Ich soll ein Drogist aus Brooklyn sein, und dafür ist die Uniform mehr als gut genug. Sie sollten bloß manche dieser Drogisten sehen!« »Manche. Aber nicht die Norm. Um wie der Durchschnitt auszusehen, bedarf es einer gewissen Sorgfalt. Erst die Kleinigkeiten machen die Uniform perfekt, Jones!« Ein Räuspern ertönte aus der Richtung von Mr. Cohen. »Ich möchte Sie nicht unterbrechen, Robinson, aber wir sollten nicht zu lange hier bei Smith bleiben.« »Richtig, Cohen. Also dann, Ihre Instruktionen. Cohen, Sie halten wie bisher Ausschau nach Schönheitskonkurrenzen, besonderes Augenmerk auf New York. Kelly: das gleiche mit allen Sorten von Tagungen. Jane Doe und John Smith werden weiter auf getarnte Kontaktversuche auf passen.« »Haben Sie da etwas Besonderes im Auge?« fragte Jane Doe. »Nicht für Sie. Sie machen weiter die Runde in Kosmetiksalons und halten die Augen offen. Smith, für Sie gibt es etwas Besonderes: die Installateure der Stadt New York veranstalten einen Maskenball. Gehen Sie hin und sehen Sie sich um. Verständigen Sie uns sofort, falls das ein Treffer wird. Sofort!« Alfred bemühte sich um einen pflichteifrigen Ton. »Worauf soll ich im Speziellen aufpassen, Robinson?« »Also wenn Sie das jetzt noch nicht wissen…!« Die Stimme aus der Aktentasche hob sich gereizt. »Preise, Auszeichnungen für das beste Kostüm, Prämiierung des besten Installateurs von 1921 oder welches Jahr die Erde jetzt gerade hat, alles – die Wahl einer Miß Rohrzange oder etwas Ähnliches nicht zu vergessen. Obwohl letzteres für uns wahrscheinlich uninteressant ist, weil das denn doch zu auffällig wäre, und bis jetzt haben sie alles Auffällige vermieden.«
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»Was ist mit mir?« wollte Jones wissen. »Für Sie gibt es in Bälde Sonderinstruktionen. Unter Umständen ha ben wir nämlich mit einer bestimmten Sache Erfolg.« Das ließ alle interessiert aufblicken, aber der Aktenkoffer schien weite ren Erklärungen abgeneigt zu sein. »Das ist alles«, sagte er bestimmt. »Sie können jetzt gehen.« Mr. Kelly klappte den Aktenkoffer zu, nickte grüßend in die Runde und brach auf. Einige Augenblicke später folgte ihm Cohen. Dann gähnte Jones laut und sagte: »Also dann, auf Wiedersehen, ihr beiden.« Er schloß die Tür hinter sich. Jane Doe war aufgestanden, aber sie ging nicht. Sie kam auf Alfred Smith zu, der mit einem ziemlich fassungslosen Blick noch immer die Tür anstarrte, durch die die anderen verschwunden waren. »Nun, John?« sagte sie sanft. Alfred fiel auf das keine andere Entgegnung ein als: »Nun, Jane?« »Endlich können wir wieder miteinander arbeiten. Ist das nicht herr lich?« Er nickte vorsichtig. »Ja. Herrlich.« »Und wenn wir diesmal Erfolg haben und diesen schwierigen Fall ab schließen können, dann fahren wir zusammen nach Hause!« »Und dann?« Ihre Augen glänzten. »Du weißt schon, Liebster. Ein ruhiges kleines Netz für uns beide. Du und ich ganz allein. Und Berge von Eiern.« Alfred würgte es; trotz größter Selbstbeherrschung mußte er sich ab wenden. »Oh, bitte verzeih mir, Liebling«, rief sie schuldbewußt und nahm sei ne Hand. »Ich bin dumm – ich habe doch wieder nicht an die Uniform gedacht! Also gut, ich will’s anders sagen: ein nettes kleines Häuschen auf dem Land, nur für uns beide, goldene Zweisamkeit und dann ein Baby, um unser Glück vollkommen zu machen. Bis daß der Tod uns scheidet. – Ist es so besser?« »Viel«, krächzte er, »viel besser.« Sie schlang die Arme um ihn. Er begriff, daß von ihm darauf eine Re aktion erwartet wurde, und drückte sie an sich.
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»Ach, ich pfeife auf die ganze Disziplin«, flüsterte sie ihm ins Ohr, »wenn ich dir so nahe bin! Es ist mir egal, ob es die Kommandozentrale hört. Weißt du, was ich mir jetzt wünsche?« Alfred seufzte. Der Gedanke an das Kommende ließ ihn schaudern. »Nein, was denn? Was wünschst du dir?« »Daß wir beide ohne Uniform beisammen sind, übereinander krabbeln können an einem herrlich feuchten, dunklen Platz irgendwo. Ich möch te deine Klauen auf mir spüren, das Streicheln deiner Fühler auskosten. Ich – nicht diese unbeholfene, gefühllose Verkleidung, die ich trage.« Alfred unterdrückte sein Zähneklappern und sagte tröstend: »Das – das werden wir bald tun können. Hab Geduld, mein Schatz.« Sie ließ ihn los und kam wieder zur Sache. »Ja. Ich sollte jetzt auch lieber gehen. Hier ist eine Liste von Telefonnummern, über die du uns erreichen kannst. Denk daran, daß dieser Auftrag streng nach Vor schrift ausgeführt werden muß. Das heißt, Fuhumpfen ist absolut ver boten, ausgenommen in echten Notfällen. Ansonsten dürfen wir nur Telefone verwenden.« »Telefone?« wiederholte er leeren Blicks. »Ja.« Sie zeigte auf den schwarzen Apparat neben dem Bett. »Diese Dinger.« »Ach, diese Dinger«, meinte er und widerstand der Versuchung, durch heftiges Kopfschütteln die Watte von seinem Hirn zu entfernen. »Ah ja, diese Dinger. Natürlich. Und kein – wie hast du gesagt?« »Kein Fuhumpfen. Vergiß das nicht. Du darfst dir keine solche Pleite mehr leisten wie in Zagreb, sonst werfen sie dich raus, feuern dich, kündigen dich fristlos und so weiter. Und das wäre das Ende unserer gemeinsamen Pläne, Liebling.« »Ich werde mir Mühe geben.« Alfred musterte sie. Unter dem an nehmbar weiblichen Äußeren, das durfte er nicht vergessen, saß eine dicke, schwarze Spinne, die wie ein Kranführer die Kontrollinstrumente dieses Körpers bediente. »Bitte! Ich könnte nie einen entlassenen Agenten heiraten – unser Be ruf ist unsere Berufung. Also reiß dich zusammen, Liebling, spuck in die Hände, kremple die Ärmel hoch, bleib am Ball, halt die Augen offen!« Nicht ganz überzeugt, versicherte er ihr: »Ich will mein Be stes tun.« »Mein süßer Krabbler«, flüsterte sie liebevoll und küßte ihn aufs Ohr. Dann ging sie.
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Alfred tastete sich zum Bett. Nach einer Weile merkte er, daß es da nicht sehr bequem war. Er stellte fest, daß er auf einer halb ausgepackten Reisetasche saß. Geistesabwesend schubste er sie hinun ter. In was war er da hineingeraten? Spionage. Soviel war klar. Aber solche Spione? Spione von einem anderen Planeten. Und sie spionierten in Schön heitskonkurrenzen, Tagungen, Installateursmaskenbällen?! Was in aller Welt – was im Universum, besser gesagt, suchten sie? Etwas war jedenfalls offenkundig – ihre Absichten waren nicht die bes ten. Waren sie die Vorhut einer Invasion? Das wäre möglich. Aber warum dann Schönheitskonkurrenzen und Maskenbälle? Was konnte man bei solchen Veranstaltungen erfahren, was einen Spion interessieren mochte? Wenn sie eine Invasion vorbereiteten, würden sie doch eher Kernfor schungslabors, Raketenversuchsgelände, das Pentagon im Auge ha ben? Alfred kam zu dem Schluß, daß es sinnlos war, die Gedankengänge dieser völlig fremden Rasse enträtseln zu wollen: wer konnte wissen, welche Art von Informationen für sie wichtig war? Aber sie waren unbezweifelbar Spione, die die Erde für eine zukünftige Invasion erkundeten. »Widerliches Spinnenungeziefer«, knurrte er in einem berechtigten Anfall von Xenophobie. Und eine von ihnen liebte ihn. Eine von ihnen wollte ihn heiraten. Was hatte sie gesagt – Berge von Eiern? Wie romantisch. Eine Gänsehaut überlief ihn. Aber sie glaubten, er sei dieser andere Smith, John Smith. Die Erde hatte noch eine Chance. Die Erde besaß einen Gegenspion. Alfred Smith. Er hatte Angst, fühlte aber trotzdem einen gewissen Stolz. Ein Gegen spion war er. Als erstes mußte er sich nach diesem John Smith erkundigen. Er griff nach dem Telefon. »Rezeption!« Der Empfangschef wußte seinen früheren Mitteilungen über John
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Smith nur wenig hinzuzufügen. John Smith hatte sich vor zwei Wochen als Gast eingetragen. Eines Nachmittags war er ausgegangen und nicht mehr zurückgekommen. »Aha. Danke Ihnen.« Alfred Smith legte auf. Hm – dieser andere Smith hatte offensichtlich hier ein Zimmer als Treffpunkt für die ganze Gruppe gemietet. Und da die Verkleidungen veränderbar waren, hatten die Spione ihn für ihren Kollegen angese hen. Wahrscheinlich war ihnen das zeitweilige Fehlen eines Smith gar nicht aufgefallen. Was war mit John Smith geschehen? Er konnte tot sein, ertrunken vielleicht – was erklären würde, warum man ganz offensichtlich seinen Körper nicht gefunden hatte. Oder war er von irgendeinem Auftrag noch nicht zurück? Von der Untersuchung eines Kameltreiberwettbe werbes in Timbuktu? Was würde mit ihm, Alfred, passieren, wenn John zurückkam? Die Möglichkeit ließ ihn frösteln. Spione, erinnerte sich der junge Mann auf dem Bett, hatten laut einschlägiger Literatur äußerst unangenehme Gewohnheiten, wenn man ihnen in die Quere kam. Sie würden einen Erdenbürger, der von ihrer Existenz erfahren hatte, selbstredend nicht weiterleben lassen. Das hieß, er brauchte Hilfe. Aber von wem? Von der Polizei, vom FBI? Er konnte sich die Situation lebhaft vorstellen – wie er etwas verschämt und stotternd seine Ge schichte einem nüchternen, kühl dreinblickenden Beamten vortrug. Eine interplanetarische Invasion, Mr. Smith? Etwa vom Mars? Was, nicht vom Mars? Von wo dann? – Ach, das wissen Sie nicht, Mr. Smith? Ich verstehe. Und wie haben Sie von dieser drohenden Invasion erfah ren, an ihrem ersten Tag in New York? – Ah, vier Leute kamen in Ihr Hotelzimmer und erzählten Ihnen davon? Sehr interessant. Sehr inte ressant. Und die Leute hießen Cohen, Kelly, Jones und Jane Doe? Und Ihr Name ist Smith, nicht wahr? Wir brauchen also bloß einer dieser Telefonnummern nachgehen und den Besitzer des betreffenden Tele fons aufschneiden, weil eine große schwarze Spinne in ihm wohnt… »Nein!« stöhnte Alfred laut. »So – so geht es nicht!« Er brauchte Beweise, dachte er schwitzend. Echte Beweise. Und Tat sachen. Wo die Spinnen herkamen, was sie planten, welche Waffen sie hatten - derartige Informationen. Wie kam man dazu? Fragen konnte man natürlich nicht – das würde
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einen als echten Menschen bloßstellen, der nichts in seiner Brust trug als ein bißchen Innereien. Aber sie hatten ihm einen Auftrag gegeben. Irgend etwas mit einem Maskenball der Installateure. Da ließe sich vielleicht etwas herausbe kommen. Er griff nach dem Telefon. »Rezeption? Hier Smith von 504. Ja, schon wieder. Hören Sie, wie fin de ich die New Yorker Installateure?« »Falls die sanitären Einrichtungen Ihres Zimmers irgendwie schadhaft sind, Sir«, erklärte die glatte, höfliche Stimme, »so wird das Hotel selbstverständlich…« »Nein, nein! Ich will keinen Installateur. Ich will alle Installateure von New York erreichen! Wie mache ich das?« Er hörte ein Schlucken am anderen Ende der Leitung, dann einen ge flüsterten Kommentar an einen Nebenstehenden: »Ja, 504, schon wie der. Diesmal haben wir uns wahrhaftig was eingebrockt! Ich beneide den Nachtportier heute nicht, sag’ ich dir.« Laut und deutlich, alle r dings nicht mehr ganz so höflich, kam dann die Antwort: »Ich darf das Branchenverzeichnis in Ihrem Telefonbuch empfehlen, Sir. Es liegt un ter dem Telefon. Darin finden Sie die Installateure unter I, Sir. Die meisten Installateure von Manhattan sind darin verzeichnet. Die Instal lateure von Brooklyn, Bronx, Queens und Staten Island müßten…« »Ich will keine Installateure in Brooklyn oder Bronx! Oder sonstwo! Ich will…« Alfred Smith holte tief Atem. Er mußte sich zusammenneh men. Mit einem hysterischen Anfall kam er nicht weiter. Er wartete, bis ihm seine Stimme wieder gehorchte. »Ich habe folgendes Problem«, begann er dann langsam und ruhig. »Heute abend findet ein Maskenball der Installateure New Yorks statt. Ich müßte hingehen, aber ich habe leider meine Einladung verlören, auf der die Adresse angegeben war. Wie könnte ich herausfinden, wo der Ball ist?« Das hatte er doch gut hingekriegt. Er war wirklich kein schlechter Gegenspion! Schweigen. Dann: »Ich könnte dahingehend Erkundigungen einzie hen, Sir, und Sie dann zurückrufen.« Beiseite: »Jetzt will er auf einen Maskenball gehen. Wirklich, in diesem Beruf…« Und zu Alfred Smith: »Wäre das zufriedenstellend, Sir?« »Ja, ausgezeichnet«, gezeichnet!«
sagte
Alfred
Smith
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enthusiastisch.
»Aus
Er legte auf. Er fand sich wirklich schon prima zurecht im Spionagege schäft! Wie gut, daß er als erstklassiger Vertreter Übung im schnellen Denken und schnellen Reden hatte. Bei seiner Firma mußte er sich erst morgen melden. Somit hatte er zur Rettung der Menschheit den Nachmittag und Abend frei. Wer hätte gedacht, daß er schon am ersten Tag in New York um einen derartig hohen Einsatz spielen würde? Natürlich, seine Firma (Black Seam Strumpf- und Wäschewaren: Jeder Strumpf ein Trumpf mit Black Seam!) kannte seine Qualitäten, sonst hätte man ihm nicht eben erst die aussichtsreiche Manhattan-Ost-Vertretung zugeteilt… Die Rezeption meldete sich wieder. »Ich habe festgestellt, Sir, daß heute tatsächlich ein Ball der Installateure stattfindet, und zwar im Menschevik-Saal, Tenth Avenue, um acht Uhr abends. Das Motto ist das Ancien régime Frankreichs, und es haben nur Gäste in vorrevoluti onären Kostümen Zutritt. Soll ich Ihnen den Namen eines Kostümver leihs angeben, der Ihnen ein solches besorgen kann?« »Ja«, rief Alfred Smith begeistert, »ja, ja!« Nun kam Leben in die Sa che. Er war den extraterrestrischen Spionen hart auf den Fersen! Er begab sich sofort zu dem Maskenverleih und wählte aufs Gerate wohl ein Richelieu- Kostüm aus. Da einige Änderungen nötig waren, konnte er noch essen gehen, bevor ihm das Kostüm ins Hotel geliefert wurde. In Erwartung eines anstrengenden Abends aß er reichlich und blätterte dabei eine Broschüre des Maskenverleihs durch, in der der historische Hintergrund zu allen Kostümen der betreffenden Periode, des 16. bis 19. Jahrhunderts in Frankreich, beschrieben wurde. Viel leicht brauchte er das – die kleinste Kleinigkeit konnte wic htig sein. Als er schließlich in seinem Hotelzimmer das Kostüm anzog, war er zuerst recht enttäuscht über das Ergebnis. Er sah nicht sehr wie eine Graue Eminenz aus. Eher wie ein junger Protestant in den Kleidern ei nes Kardinals. Dann fand er jedoch unten in der Schachtel noch einen Streifen grauen Bart und klebte ihn an. Jetzt war’s schon besser. Überhaupt Verkleidungen. Sein Körper sollte eine Verkleidung sein, die Uniform des Spionagedienstes der Fremden. Und jetzt verkleidete er die vermeintliche Verkleidung – und stellte den außerirdischen Su perspionen damit eine Falle. Alfred Smith – die Ein-Mann-Spionageabwehr! »Auf daß die Herrschaft des Menschen auf der Erde nicht untergehe«, flüsterte er ergriffen. Das Telefon. Diesmal war es Jones.
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»Habe eben von Robinson Nachricht erhalten, Smith. Es wird heute abend sein, höchstwahrscheinlich.« »H-heute?« Alfred Smith spürte, wie ihm des Kardinals Spitzenkragen die Kehle einschnürten. »Ja – sie werden heute abend einen Kontaktversuch machen. Wir wis sen noch nicht wo, nur, daß es in New York sein wird. Ich soll in Bereit schaft bleiben. Wenn einer von uns den Kontakt aufspürt, soll ich ihm beispringen. Sie verstehen – ihm zu Hilfe eilen, unter die Arme greifen, eine hilfreiche Hand leihen, ihn aus der Patsche ziehen, ihm den Rü cken decken. Und so weiter. Sie sind auf dem Installateursball, nicht? Wo ist der?« Alfred schüttelte sich – diese abgedroschenen Phrasen. Die meinten wohl, daß das zur Verkleidung gehörte. »Menschevik-Saal, Tenth Ave nue. Was – was soll ich tun, wenn ich den Kontakt aufspüre?« »Dann fuhumpfen Sie, was das Zeug hält. Und ich komme angewetzt. In diesem Fall dürfen Sie Telefone vergessen. Und Telegramme, Son derpost und Brieftauben. Das Aufspüren des Kontakts fällt laut Dienst vorschriften XXIII bis einschließlich XLIX unter Notlagen! Also fu humpfen Sie, alter Junge, bis Ihnen der Kopf runterfällt.« »In Ordnung! Nur Jones…« Ein Klicken kam durch die Leitung. Jones hatte eingehängt. Heute, dachte Alfred Smith mit einem Schauder. Heute ist der Abend! Wofür? Der Menschevik-Saal lag im ersten Stock eines grauen Gebäudes im schäbigeren Teil der Tenth Avenue. Im Erdgeschoß befand sich eine Bar mit ziemlich schmutzigen Fenstern. Oben war alles hell erleuchtet. Musik und Stimmengewirr kam aus of fenen Fenstern. An der Tür zum Barraum hing ein Plakat mit Pfeil zum Treppenhaus: HALBJÄHRLICHER MASKENBALL DER INSTALLATEURE VON NEW YORK CITY Kein Einlaß ohne Kostüm Alfred Smith stieg die knarrenden Holzstiegen hinauf und beäugte sorgenvoll den gewichtigen General Montcalm, der oben den Eingang bewachte. Zu seiner Erleichterung verlangte man aber keine Einla dungskarte zu sehen: sein Kostüm war Ausweis genug. Der rotgesichti ge General warf ihm kaum einen Blick zu.
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Drinnen war es ziemlich voll. Haufenweise Ludwigs, von Nr. XIII bis XVI, die mit Annas von Österreich und Marie Antoinettes Rumba tanz ten. Nun ja. Wo sollte er anfangen? Er sah zu den Musikern hinüber, die als einzige unmaskiert waren. Die Aufschrift auf der Baßtrommel verkündete, daß dies ›Ole Olsen and The Latin Five‹ waren. Aber keiner von ihnen sah wie ein interstellarer Spion aus. Aber das taten auch Jones und Genossen nicht. Einer plötzlichen Eingebung folgend, ging er in den Waschraum. Wa ren nicht Toiletten ein beliebter Treffpunkt von Spio nen? Na also. Im Vorraum stand ein halbes Dutzend Musketiere herum, die an di cken Zigarren herumkauten und sich unterhielten. Er schlängelte sich dazwischen und lauschte aufmerksam. Es ging um so anregende Themen wie Großhandelspreise von pastell farbenen Klosetts und um Installationsprobleme in einem nichtkanali sierten Gebiet von Long Island. »Ich hab’ dem Baumeister da eins geblasen«, verkündete ein etwas kleingeratener Musketier und streifte die Asche seiner Zigarre am Griff seines Degens ab. »Ja, das hab’ ich. Joe, hab’ ich gesagt, wie soll ich Abflußrohre in Häuser legen, wenn ich keine Ahnung hab’, welche Ka pazität die Kanalrohre haben werden? Das ist genauso, Joe, wie wenn ich von dir ein Haus gebaut haben will, und ich kann dir nicht sagen, ob der Boden drunter Fels oder Beton oder Sand oder Sumpf ist. Wie tät dir das gefallen, hab’ ich gefragt. Joe meint, es tat ihm nicht gefallen.« Zustimmendes Murmeln. Ein dünner, düster dreinblickender Musketier schneuzte sich und bemerkte dann seufzend: »Das ist das Problem. Alle Leute denken, wir Intallateure können Wunder tun. Sie müssen einfach mal kapieren, daß wir auch nur Menschen sind!« »Da kann ich nicht beistimmen«, sagte ein eben dazugekommener rundlicher Hugenottenführer. »Nein wirklich – ich bin der Ansicht, daß wir Intallateure Wunder wirken können. Wir brauchen nur unsere ame rikanische Tüchtigkeit, unser amerika nisches Know-how und unser klu ges amerikanisches Köpfchen zu gebrauchen. Ich möchte das zukünfti ge Kanalisationssystem sehen, dessen Kapazität ich nicht aufs Haar vorausberechnen kann!« »Nein – wie denn?« wollte der kleingeratene Musketier erbost wissen. »Sagen Sie mir doch, wie Sie das fertigbringen!« »Ich sage es Ihnen«, entgegnete der Hugenotte. »Mit Vergnügen! In
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dem ich meine amerikanische Tüchtigkeit, mein amerika nisches Know how und mein kluges amerikanisches Köpfchen anwende! So mache ich das.« »Entschuldigen Sie«, unterbrach Alfred Smith hastig, als er den klein geratenen Musketier zu einer heftigen Entgegnung Luft holen sah, »a ber weiß einer der Herren vielleicht, ob heute abend irgendwelche Pre i se verliehen werden? Für das beste Kostüm oder so?« Schweigen. Alle kauten an ihren Zigarren und musterten ihn abschät zend. Dann beugte sich der Hugenotte vor und tippte Alfred vor die Brust. »Wenn Sie so eine Frage haben, mein Junge, dann ist es wohl sonnenklar, daß der Portier der richtige Mann für Sie ist. Er spielt Ge neral Montcalm, sie werden ihn schon finden. Dann quetschen Sie ihn aus über Preise. Ziehen Sie ihm die Würmer aus der Nase.« Dann wandte er sich an seinen erzürnten Gegner: »Bevor Sie den Mund auf tun, mein Lieber – ich weiß haarscharf, was Sie auf dem Herzen haben. Und ich will Ihnen gleich auseinandersetzen, warum Ihre Einstellung falsch ist.« Der Unmut des Publikums wuchs. Alfred drängte sich langsam zur Tür durch. Am Rande der Gruppe stand ein Scharfrichter mit schwarzer Kapuze und murrte: »Wer ist denn dieser windige Schwätzer?« Das über die Schulter gelegte Henkersbeil aus Gummi flappte empört hin und her. »Weiß nichts über Preise«, stellte der Portier fest und kippte seinen Campingstuhl gegen die Eingangstür. »Wichtige Sachen sagt mir doch keiner. Aber gehen Sie doch runter in die Bar. Da sitzen die großen Bosse. « Im Installateurshandwerk mußte es eine Menge Bosse geben, dachte Alfred, als er die von Reifröcken, Turmfrisuren, Spitzenplastrons, Zie r degen, gepuderten Perücken und hohen Schnallenschuhen strotzende Bar betrat. Die paar gewöhnlichen Gäste in schäbigen Alltagsanzügen und abgetragenen Windjacken schienen die Kostümierten zu sein, arm selige Anachronismen, die sich in das Gepränge von Versailles oder den Tuilerien verirrt hatten. An der Bar lehnte ein Mann in der Eisernen Maske und bedachte die brokat- und seidengekleidete Zuhörerschaft mit seinen Ansichten über Plastikabflußrohre und die neuesten Duscharma turen. Von Zeit zu Zeit warf er dem Bartender, einem breitgebauten, finsterdreinblickenden Mann mit schaufelförmigem Bart, ein paar Banknoten und den Befehl »Noch ‘ne Runde!« zu.
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Alfred stellte mit Bedauern fest, daß er nicht zu ihm durchkam. Er fragte andere über ›Preise‹, und wurde ignoriert. Es war klar, daß er sich um kleinere Bosse umsehen mußte. Da zupfte jemand an seinem Kardinalsrock. Er wandte sich erstaunt zu der etwas hageren Madame Dubarry um, die allein in einer Nische saß. Sie schenkte ihm ein Lächeln, und die Augen in ihrer schwarzen Halbmaske blickten ihn schmelzend an. »Drink, Schatz?«, schlug sie vor. Dann, als sie seinen keineswegs begeisterten Gesichtsausdruck gewahrte, erläuterte sie: »Nur wir zwei Kleinen, Schatzi, ganz unter uns.« Alfred schüttelte den Kopf. »Nein, Schatzi, äh – ich meine, ich danke Ihnen. Aber – aber ich hab’ zu tun. Später vielleicht.« Er wollte gehen, stellte aber dann fest, daß sein Ärmel nicht mitging. Madame Dubarry hielt ihn zwischen zwei Fingern – sanft, schelmisch, aber unnachgiebig. »Oh«, schmollte sie, »schaut euch doch den geschäftigen Ge schäftsmann an. Keine Zeit für Drinks, keine Zeit für Schatzi, nur Ge schäfte, den ganzen lieben langen Tag.« Alfred gab nach, obwohl sie ihn irritierte. Er konnte ohnehin nichts un ternehmen. Er setzte sich ihr gegenüber an den Tisch. Dann, erst dann ließen die zarten Finger seinen Ärmel los. Der finster dreinblickende Schaufelbart tauchte an der Nische auf. »Njaah« grunzte er, was offensichtlich als »Ja, bitte?« verstanden wer den sollte. »Ich möchte Scotch on the rocks«, sagte sie zu Alfred. »Mein absolu ter allereinziger Lieblingsdrink, Schatzi.« »Zweimal«, befahl Alfred, und der Bartender grunzte wieder sein »Njaah« mit anderer Intonation. »Ich hab’ gehört, wie Sie nach Wettbewerben und Preisen gefragt ha ben. Ich hab’ mal einen Preis gewonnen. Mögen Sie mich jetzt ein kle i nes bißchen mehr?« »Ah ja?« meinte Alfred geistesabwesend und musterte sie. Unter der Maske steckte ein etwas knochiges, ziemlich gewöhnliches Gesicht. Ganz hübsch. Aber was hatte er hier verloren? »Mmh – äh, ich gratuliere recht herzlich; wirklich interessant.« Schaufelbart kam zurück und stellte Gläser vor sie hin. »Njaaah!« verkündete er dann, was eindeutig hieß: »Sie zahlen jetzt. So wird das
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hier gemacht!« Er nahm das Geld, sah es durchbohrend an, dann die beiden und trabte zur Bar zurück. »Möchten Sie mir nicht sagen, für welche Art von Preisen Sie sich in teressieren? Ich weiß nämlich eine Menge über eine Menge Dinge, die eine Menge Leute nicht wissen. Hm, Schatzi?« »Och, eigentlich nichts Spezielles. Preise, Wettbewerbe eben.« Er sah sich um, entschied, daß er hier seine Zeit verschwendete, und goß sei nen Whisky ohne weiteres Zeremoniell hinunter. »Ich muß gehen.« »Was, schon?« gurrte sie enttäuscht. »Wo wir uns gerade getroffen haben? Und wo wir uns so gut verstehen?« »Was soll das heißen, gut verstehen«, fragte er sie irritiert, »wo wir uns doch, wie Sie richtig bemerkten, gerade erst getroffen haben?« »Aber ich mag dich so gern. Ich bin ganz verrückt nach dir, ich brenne vor Sehnsucht, bin bis über die Ohren verliebt, verzehre mich nach dir, liebe dich aus tiefstem Herzen – Schatzi.« Sie holte Luft. »Gah«, sagte Alfred, der seinen Ohren nicht traute. Er begann aufzustehen. »Das – das ist nett von Ihnen, aber ich muß…« Dann setzte er sich sehr schnell wieder hin. Ihre Art zu reden! Wie Jane Doe, wie Jones, wenn sie etwas Nachdruck verleihen woll ten… Er hatte den Kontakt aufgespürt! »Also Sie mögen mich sehr?« fragte er, um Zeit zu gewinnen, um sei nen nächsten Schritt überlegen zu können. »O ja!« versicherte sie. »Ich bete dich an, verehre dich, lebe nur für dich. Sterbe ohne dich…« »Gut!« schrie er fast, um ihr die Liebesphrasen abzuschneiden. »Gut, gut, gut! Also wenn das so ist, dann würde ich vorschlagen, daß wir uns irgendwohin begeben, wo wir für uns sind, und wo wir deine Ge fühle für mich näher diskutieren können.« Er bemühte sich, seinem Gesicht einen lüsternen Ausdruck zu verleihen. »Mein Hotelzimmer o der deine Wohnung, hm?« Madame Dubarry nickte begeistert. »Meine Wohnung. Das ist näher.« Als sie an seinem Arm aus der Bar trippelte, mußte Alfred sich nach drücklich ins Gedächtnis rufen, daß dies kein Mensch war, der liebevoll seinen Arm drückte, keine gewöhnliche Frau, die verlangend die Hüfte an seine Seite preßte. Neben ihm ging eine intelligente Spinne, die eine Maschine zur Fortbewegung bediente. Nichts anderes. Und das war die
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Gelegenheit für ihn, herauszubekommen, was die Fremden auf der Er de wollten. Es konnte der erste Schritt zur Rettung der Menschheit durch ihn, Alfred Smith, sein. Ein Taxi hielt neben ihnen. Sie stiegen ein, und seine Begleiterin rief dem Fahrer eine Adresse zu. Dann wendete sie sich an Alfred. »Küß mich jetzt«, befahl sie. Er küßte sie. »Umarme mich, streichle mich«, sagte sie. Er umarmte sie. Dann hielt das Taxi vor einem großen alten Wohnhaus. Alfred zahlte und geleitete Madame Dubarry zum Eingang. Als er ihr die Lifttür aufhielt, flatterte sie mit den Wimpern und warf ihm verhei ßungsvolle Blicke zu. Im Lift drückte sie auf den Knopf ›K‹. »Warum Keller?« fragte er. »Ist deine Wohnung im Keller?« Statt einer Antwort zielte sie mit einem dünnen roten Zylinder auf sei nen Magen. Er bemerkte, daß oben auf dem Zylinder ein Knopf war. Ihr Daumen lag leicht darauf. »Kümmern Sie sich nicht darum, was im Keller ist, Sie vaklittinischer Spitzel. Und keine Bewegung – zu Ihrer Informa tion, ich weiß genau, wo Sie sitzen und wo Ihre Kontrollkammer ist, also machen Sie sich keine Hoffnungen, daß Sie mit einer beschädigten Uniform davonko m men!« Alfred blickte an sich hinunter und sah, wohin die Waffe zielte. Er schluckte – sie irrte sich zwar, was die Lage seiner Kontrollkammer betraf, aber schließlich und endlich, was würde er ohne Magen anfan gen? »Keine Sorge«, beschwor er sie. »Ich werde mich nicht bewegen!« »Das wäre klug. Und kein Fuhumpfen, wenn Sie wissen, was gut für sie ist. Ein einziger schwacher Fuhumpfer, und Sie haben ein paar Lö cher. Ich stanze ein Sieb aus Ihnen, Mister, ich laß Ihnen die Luft aus, ich…« »Schon klar«, unterbrach Alfred hastig. »Kein Fuhumpfen. Absolut keines. Ich geh’ Ihnen mein Ehrenwort.« »Ihr Ehrenwort!« wiederholte sie verächtlich. Der Aufzug war stehen geblieben. Sie drückte sich rücklings aus der Tür und winkte ihn mit
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der Waffe heraus. Alfred starrte ihre kostbare Robe an, die hohe Perü cke. Er erinnerte sich mit Genugtuung daran, daß man, als Madame Dubarry im Jahre 1793 zum Schafott geführt wurde, weder im Volk noch von seiten des Revolutionstribunals ihren Bitten um Gnade auch nur das geringste Gehör geschenkt hatte. Im feuchten, weißgetünchten Keller wartete jemand. Alfred war nicht sehr überrascht, als der Jemand sich als der Hugenotte mit dem ameri kanischen Know-how herausstellte. »Hat er Schwierigkeiten gemacht?« »Nein, es war ein Kinderspiel«, sagte sie. »Er ist auf meinen Trick mit dem drei Jahre alten Miß-Wettbewerb reingefallen. Er hat zwar zuerst recht schlau Interesselosigkeit geheuchelt, aber er hatte angebissen. Kaum hab’ ich ihm gesagt, daß ich ihn liebe, wollte er mich schon in sein Hotel mitnehmen!« Sie kicherte. »Dieser arme Narr. Ein echter Menschenmann wäre nie so mit der Tür ins Haus gefallen, ohne nicht wenigstens ein paar Be merkungen wie: ›du bist süß, Baby‹, und ›wie war’s mit noch einem Drink, Baby?‹ anzubringen.« Der Hugenotte kaute zweifelnd an der Unterlippe. »Seine UniformVerkleidung sieht aber nicht wie die eines untüchtigen Narren aus«, bemerkte er. »Na und? Sein Verhalten ist unter aller Kritik! Der hat ja keine Ahnung von menschlichem Benehmen. Selbst wenn ich nicht vorher über ihn informiert gewesen wäre, ich hätte ihn durch seine Ungeschicklichkeit im Taxi entlarvt, als er mich umarmte – er tut mir bloß leid, wenn er mal mit dieser tolpatschigen Tour an eine echte Frau gerät!« Alfreds Selbstgefühl hatte Löcher bekommen, durch die seine gerech te Empörung jeden Moment auszubreiten drohte. Als ob sie vie lleicht…! Aber er entschied sich, seine Kritik lieber für sich zu behalten, da sie ja eine Waffe hatte – und er wußte nicht, was der rote Zylinder mit ihm anstellen konnte. »Na schön«, sagte der Hugenotte, »stecken wir ihn also zu dem ande ren.« Von dem roten Zylinder angeschoben, marschierte Alfred den Keller gang entlang, bog folgsam um etliche Ecken und blieb schließlich vor einer bloßen Mauer stehen. Der Hugenotte strich mit den Händen mehrmals über die Oberfläche, worauf ein Teil der Wand aufschwang wie eine große Tür. Auch noch Geheimtüren! dachte Alfred ergriffen. Alles war da: ein
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weiblicher Lockvogel, ein Planungschef in Gestalt eines Hu genotten, geheime Kontakte… Das einzige, was fehlte, war ein Grund für die gan ze verdammte Sache. – Wie hatte sie ihn genannt? Einen – einen vaklittinischen Spitzel? Ja. Das hieß, daß es zwei Gruppen extraterrest rischer Spione gab. Was wollten die nur alle auf der Erde? Das würde seine Aufgabe komplizieren. Und falls er je zur Polizei kommen sollte, so war die Ankündigung von zwei interplanetarischen Invasionen… Und er hatte sich für den Gegenspion bei der Geschichte gehalten… Der Raum hinter der Geheimtür war groß und leer. Nur in einer Ecke stand ein durchsichtiger Würfel mit einer Kantenlänge von rund drei Metern. Auf dem Boden des Würfels saß ein älterer Mann in einem braunen Einreiher und sah ihnen ziemlich niedergeschlagen entgegen. Der Hugenotte sah Madame Dubarry nachdenklich an. »Ist Ihnen je mand gefolgt?« Sie wurde unsicher. »Ich – ich hab’ nicht so auf gepaßt, ich weiß nicht.« »Und da reden Sie über Untüchtigkeit! Na – ist egal, wir werden allen ein Schnippchen schlagen und den Planeten in etwa einer Stunde ver lassen, um unsere Gefangenen zum Hauptquartier zu bringen.« Wieder rieb er mit den Händen über die Wand. In dem durchsichtigen Material öffnete sich ein Loch. Alfred wurde mit vorgehaltenem Zylinder hinein geschoben. »Geben Sie ihm eine milde Dosis«, hörte er den Hugenotten flüstern. »Nicht zu viel – er darf nicht sterben, bevor er verhört wird. Gerade nur, um ihn zu betäuben, damit er nicht mit dem anderen sprechen kann.« Hinter Alfred klickte es leise. Ein rosa Leuchten erfüllte den Würfel, den ganzen Kellerraum. Er spürte, wie von seinem Magen langsam eine Gasblase hochstieg. Nach einigen Sekunden mußte er rülpsen. Als er sich umsah, hatte sich das Loch im Würfel wieder geschlossen. Der Hugenotte schoß böse Blicke auf Madame Dubarry, die verwundert ihre Waffe untersuchte. »Hab’ ich nicht gesagt, Sie sollen ihn betäuben? Betäuben, nicht kit zeln!« »Aber, aber ich hab’ genau auf seine Kontrollkammer gezielt und den mittleren Vaklitt-Index eingestellt – ich weiß nicht, wie er…« Der Hugenotte gestikulierte ungeduldig. »Wenn wir heute heimko m men, werde ich die Kommandozentrale um einen anderen weiblichen
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Assistenten bitten. Einen, der sich vielleicht nicht so gut mit menschli chen Sexualgewohnheiten auskennt, aber dafür den mittleren VaklittIndex und ein Loch im Zylinder auseinanderhalten kann!« Madame Dubarry ließ den Kopf hängen und folgte ihm hinaus. Die Ge heimtür schloß sich hinter ihnen. Alfred berührte vorsichtig eine Wand des Würfels. Das Zeug war sehr fest, durchsichtig wie Glas, aber leicht klebrig wie heißes Plastik. Er drehte sich um und musterte seinen Mitgefangenen, der in der hin teren Ecke des Würfels hockte, kaum einen Meter entfernt. Der Mann sah ihn mißtrauisch und unsicher an. Er hatte eigenartig unausgeprägte, gewöhnliche Züge, so gewöhnlich, daß es schon fast auffiel. Natürlich! Er sah genauso übertrieben durchschnittlich aus wie Jones, wie Cohen, wie Kelly und – in ihrer unauffällig weiblichen Art – wie Ja ne Doe. Alfred wußte nun, wer der Mann war. »John Smith?« fragte er vorsichtig. »Ich meine«, fügte er hinzu, als ihm Jones’ Fauxpas einfiel, »äh – Gar Pitha?« Der andere stand mit einem erleichterten Lächeln auf. »Ich hatte kei ne blasse Ahnung, wer Sie sein konnten. Sie mußten einer von uns sein – oder ein verkappter Spitzel, der mich aushorchen sollte. Aber da Sie me inen echten Namen kennen? Wie lautet Ihr er denn?« Alfred schüttelte geheimnisvoll den Kopf. »Den darf ich nicht nennen. Bin in einem Spezialauftrag der Kommandozentrale, ich meine, von Robinson, unterwegs.« John Smith nickte zustimmend. »Selbstverständlich nennen Sie ihn nicht. Robinson weiß, was er tut. Spezialauftrag, hm? Sie werden ihn kaum ausführen können. Wir sitzen hier schön in der Tinte!« »Tinte?« echote Alfred. »Und ob. Sie haben ja gehört, was diese dreckigen Lidsgallianer sag ten – sie bringen uns bald auf ihren Heimatplaneten; na und dann, dann können sie uns in aller Ruhe in die Arbeit nehmen. Aus mir wer den sie nichts rauskriegen, und ich hoffe um des Ansehens der Akade mie willen, daß auch Sie nicht zusammenbre chen werden, junger Freund! Aber diese elenden Lidsgallianer haben nun mal sehr gut ein gerichtete Folterkammern.« Alfred erbleichte. »Folterkammern?«
Der ältere Mann legte ihm tröstend die Hand auf die Schulter. »Nur
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Mut, mein Junge«, sagte er. »Nicht das Herz in die Ho sen fallen lassen, keine kalten Füße kriegen, nicht wie Espenlaub zittern – laß uns die Zähne zusammenbeißen: süß ist es, fürs Vaterland zu sterben.« Da Alfred schwieg, legte John Smith dies als Einverständnis mit seinen heldenmütigen Prinzipien aus und fuhr fort: »Aus dieser Zelle kommen wir nämlich nicht raus – das ist ein Gewebe aus reinem Chrok, pra k tisch unzerstörbar, und leider isoliert es sehr gut. Man kann nicht fu humpfen durch Chrok. Ich hab’s versucht, bis ich mir fast einen Fühler verbogen hab’ – nichts! Deshalb brauchen uns die Lidsgallianer auch nicht weiter bewachen. Und deshalb hab’ ich mir nicht die Mühe ge nommen, die Uniform abzulegen, um mit Ihnen zu reden. Wenn wir schon nicht fuhumpfen können, dann genügt es, wenn wir uns mittels die ser Sprechwerkzeuge in unseren Uniformen verständigen.« Alfred war ihm dafür nicht wenig dankbar. »Vielleicht – wenn wir mit diesen – diesen Sprech Werkzeugen um Hilfe rufen? Schall geht durch Chrok, nicht?« »Und wer würde uns hören? Doch bloß Menschen! Das würde viel nüt zen!« Alfred hob schüchtern den Kopf: »Ja, aber Menschen können doch manchmal recht brauchbar sein…« »Nein, nein, vergessen. Sie das. Außerdem sind die Kellermauern so dick, daß kein Schall durchdringt. Wir haben keine Chance mehr. – Wirklich, wenn ich je durch irgendein Wunder in einem Stück nach Vaklitt heimkomme, dann werde ich versuchen, die Kommandozentrale zu einer lebenswichtigen Abänderung unserer Uniform zu bewegen. Statt dieses Luftbeutels, Sie wissen schon, gleich oberhalb der Kon trollkammer, sollte eine Waffe eingebaut werden. Wie oft braucht ein Sonderbeauftragter schon diese Luftreserve? Nie, sage ich. Aber eine ehrliche, mit den Klauen bedienbare Waffe…« In dieser Art ging es weiter. Alfred hörte aus zwei Gründen beinahe dankbar zu. Erstens half ihm das, den Gedanken an die lidsgallianische Folterkammer zu verbannen, und zweitens erfuhr er von dem alten Schwätzer vielleicht noch etwas Wichtiges. Dies war die letzte Gele genheit, um herauszufinden, wer die grö ßere Bedrohung für die Erde darstellte: ›seine‹ Vaklittier oder die Lidsgallianer. Obwohl Leute, die etwas für Folterkammern übrig hatten, sicher auch sonst nicht sehr nett waren… Er mußte seine Fragen sehr vorsichtig formulieren. Darauf gefaßt sein, einen Patzer sofort zu vertuschen.
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»Warum, glauben Sie wohl«, fragte er schließlich leichthin, »hassen uns die Lidsgallianer eigentlich? Oh – ich kenne die üblichen Antworten, aber ich würde gerne Ihre Meinung dazu hören. Sie scheinen eine recht vernünftige Einstellung zu haben.« John Smith brummte geschmeichelt und dachte einen Augenblick nach. Dann zuckte er die Schultern. »In diesem Fall ist aber die übliche Antwort die einzige mögliche. Der Krieg ist schuld, natürlich.« »Bloß der Krieg?« »Was soll das heißen, bloß der Krieg? Wie kann ein interstellarer Krieg, der seit mehr als zwei Jahrhunderten in drei Vierteln der Galaxis wütet, bloß der Krieg sein? Ihr jungen Leute heutzutage seid wirklich verdammt zynisch!« »I-ich hab’ das nicht so gemeint«, sagte Alfred beschwichtigend. »Na türlich – eine schreckliche Sache, der Krieg. Entsetzlich. Abscheulich. Und unser Feind, diese gemeinen Lidsgallianer…« John Smith sah wie vom Schlag getroffen drein. »Was? Feinde? Die Lidsgallianer sind nicht unsere Feinde, sie sind unsere Verbündeten!« Das wiederum traf Alfred wie ein Schlag. »U-unsere Verbündeten?« wiederholte er schwach und überlegte zum ersten Male im Lauf der ganzen Sache, ob er vielleicht übergeschnappt war. »Wirklich, ich weiß nicht, was aus der Akademie geworden ist!« mur melte John Smith im Selbstgespräch. »Zu meiner Zeit wurde dort für eine umfassende Allgemeinbildung gesorgt! Spezialisiert hat man sich dann später. Heute – heute geht alles sofort auf Spezialisierung aus. Das gibt’s Akademiabsolventen, die zwar jeden Code im Universum knacken können, aber keine Ahnung von terroristischen Prinzipien ha ben. Und grüne Jungen, die zwar wahre Meisterwerke von UniformVerkleidungen zusammenbasteln können, aber den Unterschied zwi schen einem Lidsgallianer und einem Pharsedder nicht kennen… Wirk lich, diese Überspezialisierung ist noch das Ende der Akademie!« »O ja, da haben Sie ganz recht«, bemerkte Alfred n i zutiefst über zeugtem Ton. Er überlegte einen Moment und beschloß, seine Identität noch etwas zu untermauern. »Jawohl. Jung gelernt, alt gekonnt. Schu ster, bleib bei deinem Leisten. Was ein Häkchen werden will, krümmt sich beizeiten. Handwerk hat goldenen Boden. Verschiebe nicht auf morgen…« Er merkte, daß er vom Thema abkam. »Ich glaube, man hofft in der Akademie heutzutage, daß wir Jungen durch die Zusam menarbeit mit erfahrenen Agenten wie Ihnen lernen. Nun, ich wußte natürlich gewissermaßen, daß unsere eigentlichen Feinde die Pharsed
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Pharsedder…« »Aber die Pharsedder sind die einzigen Neutralen! Hören Sie mal, mein Junge, so geht das nicht: Wie wollen Sie ein guter Spion sein, wenn Sie keine Ahnung von den Hintergründen haben? Also, zuerst wurden die Lidsgallianer von den Garuniern angegriffen, stimmt’s?« Alfred nickte eifrig. »Gewiß ja, das weiß jedes Schulkind.« »Gut. Wir mußten uns natürlich mit den Lidsgallianern verbünden, nicht, weil wir viel für sie übrig hatten, sondern weil die Garunier im Falle eines Sieges die Mairunier unterworfen hätten, die aber unsere einzigen potentiellen Verbündeten gegen die Ischpoler waren.« »Natürlich«, murmelte Alfred. »Unter diesen Umständen gab es wohl keine Alternative.« »Ja, und dies bewog die Garunier, sich mit den Ossfoliern zusammen zutun, die einen Beistandspakt mit den Kerziasch der Rigel-Gegend geschlossen hatten. Dann kam die Schlacht im neunten Sektor, in der die Ossfolier viermal die Seiten wechselten, und die die Menyemer, die Kazkaver, die Doxadier und sogar die Kenziasch der Prokyon- und Kanopus- Regionen eingreifen ließ. Damit wurde der Krieg natürlich lang sam kompliziert.« Alfred fuhr sich mit dem Finger unter den Spitzenkragen. »N natürlich. Dann wurde er kompliziert.« Er beschloß um seiner geistigen Gesundheit willen das Thema wieder auf näherliegende Dinge zu brin gen. »Und inzwischen arbeiten hier auf der Erde die Spione von – von – entschuldigen Sie, aber wieviele der kriegführenden Parteien unterhal ten Ihrer Meinung nach einen regelmäßigen Spionagedie nst auf der Erde?« »Alle natürlich! Alle – selbst die Pharsedder, die natürlich wissen müs sen, was vorgeht, wenn sie neutral bleiben wollen. Die Erde ist, wie Sie sich hoffentlich aus Ihrem Einführungskurs in Militärgeographie erin nern, für die Geheimdienstarbeit geradezu ideal: außerhalb der Kriegs zone, aber von allen leicht erreichbar. Die einzige Welt, wo noch Infor mationen ausgetauscht, Nachrichten übermittelt und Verträge ausge handelt werden können. Deshalb wird auch die Neutralität der Erde von allen streng respektiert! Wie Sie wissen, sind wir damit beschäftigt, auf unsere alten Verbündeten, die Lidsgallianer, aufzupassen, weil sie pla nen, Kontakt mit den Garuniern aufzunehmen, um einen Se paratfrieden zu schließen. Ich habe Ort und Zeit der Kontaktaufnahme herausgekriegt, aber dann bin ich über diese Badewannenmiß gestol pert und wurde gefangengesetzt.«
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»Der Kontakt sollte bei einer Schönheitskonkurrenz oder so was her gestellt werden, ja?« Der ältere Mann blickte irritiert. »Was denn sonst? Natürlich bei einer Schönheitskonkurrenz! Wo sonst würde man ein Volk wie die Garunier treffen?« Alfred schwirrte der Kopf. Also die Garunier waren es. Wenigstens das wußte er nun. Die Situation, die John Smith beschrieben hatte, erinner te ihn an das, was er über Lissabon während des zweiten Weltkrieges gehört hatte. Die ganze Erde war ein Paradies der Spione wie damals Lissabon. Es wimmelte geradezu von Spionen. Spione, Gegenspione, Gegengegenspione… Er fragte sich plötzlich, was denn nun die wahre Bevölkerungszahl der Erde war. Der menschlichen Bevölkerung. Gab es mehr echte Men schen oder – oder mehr solche wandelnde Uniformen? Bei Black Seam war das Leben einfacher, sagte er sich, und das war genaugenommen die einzige Erkenntnis dieses Tages. John Smith stieß ihn an. »Sie kommen. Jetzt geht es ab nach Lids gall!« Sie standen auf, als sich die Kellerwand öffnete. Zwei Männer und ei ne Frau kamen herein; sie trugen Straßenkleidung. Jeder hatte einen kleinen, augenscheinlich schweren Koffer in der einen und einen roten Zylinder in der anderen Hand. Alfred schielte auf die Zylinder und begann, kühne Pläne zu machen. Der Schuß, der ihn betäuben sollte, hatte ihn nicht weiter gestört. Vermutlich hielten die Vaklittier weit weniger aus als ein Mensch. Und vermutlic h konnte die Waffe, da die Erde ja eine so streng geschützte Neutralwelt war, einen Menschen überhaupt nicht verletzen. Höchst wahrscheinlich waren Waffen, die einen Eingeborenen töten konnten, auf der Erde tabu… Hoffentlich irrte er sich da nur nicht – aber eine Alternative zu der lidsgallianischen Folterkammer bot der Plan immerhin… Einer der Männer hantierte an seinem Koffer, und der durchsichtige Würfel um Alfred und John Smith löste sich auf. Dem Befehl der her umschwenkenden Waffen folgend, gingen sie langsam zur Wandöff nung. Alfred erkannte Madame Dubarry und den Hugenotten kaum ohne die Masken und Kostüme. Beide sahen wie der neue Mann in ihrer Begle i tung absolut durchschnittlich aus. Gesichter in der Menge. Unauffällig
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wie beabsichtigt. Sein Augenblick war gekommen, als sie alle fünf gemeinsam durch die Geheimtür gingen, in enger Tuchfühlung. Er packte die Frau am Arm und schleuderte sie gegen den Hu genotten, der darauf zu Boden taumelte. Dann raffte er seine Kardi nalsrobe hoch und rannte los – glücklicherweise befand sich John Smith in der Schußlinie des letzten Mannes. Er lief durch Gänge und um E cken und erreichte endlich eine Stiege, die hinauf auf die Straße führte. Hinter sich hörte er zuerst etwas Kampfgetümmel, dann eilige Verfol gerschritte. Und John Smith’s entfernte Stimme: »Los, mein Junge! Nimm die Beine unter die Arme! Zeig’s ihnen! Volle Kraft voraus!« Dann ein atemloser Grunzer: der Vaklittier war zum Schweigen ge bracht worden. Ein rosa Lichtstrahl streifte ihn, tanzte herum und traf schließlich sei ne Mitte. Er rülpste. Das Leuchten wurde hellrot, tiefrot, dann bösarti ges Purpur. Er rülpste heftiger. Er erreichte die Stiegen, raste hinauf und war bereits auf der Straße, als sich das Leuchten zu einem blauro ten Pulsieren verstärkt hatte. Zehn Minuten später stieg er auf der Sixth Avenue in ein Taxi. Er hat te ein ziemlich unangenehmes Gefühl im Magen, das je doch rasch nachließ. Er sah mehrmals durchs Rückfenster. Keine Verfolger. Sehr gut – die Lidsgallianer hatten ja keine Ahnung, wo er wohnte. Ob sie wohl wie die Vaklittier aussahen? Spinnen? Wohl kaum, über legte er. Diese zahllosen Völker und komplizierten galaktischen Feind schaften deuteten auf viele verschiedene Lebensformen hin. Natürlich mußten sie klein genug sein, um in einen menschlichen Körper zu pas sen. Vielleicht schneckenähnliche Wesen? Wurmähnliche? Krabbenwe sen oder Quallen? Oder wie war’s mit Ratten? Alles in allem war es eine verdammt unangenehme Angelegenheit. Jetzt aber brauchte er dringend Schlaf; morgen mußte er bei Black Se am anfangen. Und dann konnte er sich’s noch überlegen: ob er zum FBI gehen sollte oder was er sonst tun konnte. Eventuell würde ein ernstzunehmender Journalist mehr Verständnis zeigen und vermutlich auch mehr ausrichten können. Er hatte ja kaum Beweise: die Lidsgalli aner waren wohl schon auf der Heimreise. Aber da waren noch seine Spione, die Vaklittier. Cohen und Kelly und Jones. Und Jane Doe. Er würde sie ein paar Tage noch an der Nase herumführen und dann als Beweismaterial verwenden. Es war hoch an der Zeit, daß die Mensch
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heit erfuhr, was auf der Erde los war. Seine eigenen Spione warteten im Hotelzimmer auf ihn. Cohen und Kelly und Jones. Und Jane Doe. Jane Doe sah drein, als hätte sie ge weint. Mr. Kelly saß auf dem Bett, den aufgeklappten Aktenkoffer auf den Knien. »So, da sind Sie ja endlich!« kam Robinsons Stimme aus dem Koffer. »Ich hoffe nur, Sie haben eine Erklärung, Smith!« »Wofür?« fragte Alfred gereizt. Er wollte das Kostüm loswerden, eine heiße Dusche nehmen und ins Bett fallen. Diese Spio niererei wurde langsam anstrengend. »Wofür, fragt er!« brüllte Robinson. »Wofür? Kelly, sagen Sie ihm, wofür!« »Sagen Sie, Smith«, befahl Kelly, »haben Sie nun den Emp fangschef hier über den Installateursmaskenball ausgefragt oder nicht?« »Hab' ich. Natürlich. Er gab mir alle nötigen Informationen.« Der Aktenkoffer kreischte auf: »Er hat mir alle nötigen Informationen besorgt! Sechs Jahre Ausbildung in der besten Spionageakademie der Galaxis, und da haben Sie die Frechheit, mir mit gelassen verschränk ten Klauen zu erklären, daß Sie diesen dämlichen Maskenball durch einen Rezeptionisten aufspüren ließen! Einen gewöhnlichen Menschen!« Alfred stellte fest, daß die anderen sehr ernste Gesichter machten. Er versuchte also trotz seiner zunehmenden Gleichgültigkeit zu besch wichtigen: »Nun, wenn es ein gewöhnlicher Mensch war, sehe ich nicht ein, was das schaden…« »Als ob Sie das gewußt hätten, Sie Niete!« heulte der Koffer. »Er hät te der garunische Kriegsminister sein können! Nicht, daß das noch ei nen Unterschied gemacht hätte! Nachdem er bei den verschiedenen Stellen herumgefragt und mit seinen Bekannten darüber gesprochen hatte, war längst jeder einzelne Agentendienst der Galaxis alamiert! Sie erfuhren alles – was wir beabsichtigten und wo und wann – fünf undsechzig Jahre geduldiger Planung im Eimer! Was haben Sie dazu zu sagen?« Alfred richtete sich tapfer auf und sagte ernst: »Nur das: es tut mir leid. Sehr leid!« »Es tut ihm leid!« explodierte der Aktenkoffer und fiel fast von Kellys Knien. Jane Doe sagte abrupt: »Ich halte das nicht mehr aus! Ich werde
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draußen warten.« Als sie an Alfred vorbeikam, flüsterte sie mit tränen erfüllten Augen: »Liebster, wie konntest du nur?« Der Aktenkoffer hatte sich etwas beruhigt. »Smith, ich gebe Ihnen ei ne letzte Chance. Weil es mir weh tut, einen Sonderbeauftragten für immer aus dem Dienst zu stoßen, ohne ihm jede Gelegenheit zur Rechtfertigung zu geben. Also. Haben Sie irgendeine Entschuldigung für Ihre Handlungsweise?« Alfred überlegte. Für die war das offensichtlich eine ernste Sache, a ber ihn langweilte es nachgerade. Es war alles so kompliziert, und er war sehr müde. Und er war Alfred Smith, nicht John Smith. Außerdem hatte er nicht mehr sehr viel Respekt vor diesen Leuten. Sie konnten ihm nicht mehr antun, als ein bißchen Na triumbikarbonat zuwege brachte. Ihre Superwaffen konnten zumindest auf der Erde nichts ausrichten. Er schüttelte den Kopf und spürte, wie ihm das Genick vor Müdigkeit schmerzte. »Nein, ich habe schon gesagt, daß es mir leid tut.« Der Aktenkoffer seufzte. »Smith, das schmerzt mich mehr als Sie. A ber Strafe muß sein. Kelly, das Urteil.« Kelly legte den Koffer aufs Bett und stand auf. Cohen und Jones nah men Haltung an. Offensichtlich würde es irgendein Zeremoniell geben, dachte Alfred, mit dem Schlaf kämpfend. »Kraft meines Amtes als Leiter dieser Agentengruppe«, sprach Kelly feierlich, »und gemäß den Dienstvorschriften XCVII, XCVIII und XCVIX entlasse ich Sie, Gar Pitha von Vaklitt, aus dem Dienst als Sonderbe auftragter und degradiere Sie zum SubBeauftragten vorbehaltlich wei terer Entscheide der Kommandozentrale. Ihr Name wird aus den Bü chern der Akademie getilgt, der Sie Schande bereitet haben. Und schließlich entkleide ich Sie im Namen dieser Gruppe unserer Freund schaft und Achtung für immer.« Für jemanden, den das wirklich betraf, mußte dieses Zeremo niell sehr eindrucksvoll sein, dachte Alfred. Aber ihm war diese pathetische Ex kommunikation ziemlich gleic hgültig… Und dann schritten Cohen und Jones zum letzten, dramatischen Teil des Zeremoniells. Sie waren schnell und sehr gründlich. Sie zogen dem Verurteilten die Uniform aus… Ende
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