Fred Breinersdorfer
Notwehr
Ein Fall für Abel Mit einem Nachwort von Fred Breinersdorfer
PENDRAGON
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Fred Breinersdorfer
Notwehr
Ein Fall für Abel Mit einem Nachwort von Fred Breinersdorfer
PENDRAGON
Unsere Bücher im Internet: www.pendragon.de
Vom Autor vollkommen neu überarbeitete Ausgabe
Veröffentlicht im Pendragon Verlag
Günther Butkus, Bielefeld 2005
© by Pendragon Verlag Bielefeld 2005
Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Kendra Taktak, Birke Vöhringer
Umschlag: Bakus Mediendesign
Umschlagfoto: Uta Zeißler
Satz: Pendragon Verlag auf Macintosh
ISBN 3-86532-025-2
Printed in Germany
Gretchen, die kleine Tochter von Käthe Lauer erkrankt nach einem Zeckenbiss an Meninghitis, der Zustand des Mädchens verschlechtert sich rapide. Käthe ist verzweifelt. Sie hört, dass es ein neues Medikament geben soll, das Gretchen helfen könnte, doch es ist noch nicht auf dem Markt. Es läuft aber schon eine Versuchsserie in einer Klinik. Dort lehnen die Ärzte es ab, dem Mädchen zu helfen, weil Gretchen nicht in das Forschungssprofil passt. Käthe beginnt, um das Leben ihrer Tochter zu kämpfen. Sie setzt alle Mittel ein, um an das Medikament zu gelangen, auch juristische. Abel vertritt sie, doch seine Bemühungen scheinen fehlzuschlagen. Käthe hingegen lässt sich nicht abspeisen. Sie wird dieses Medikament für Gretchen besorgen, auf welchem Weg auch immer. – Abel muss versuchen, das Schlimmste zu verhindern. Der Roman wurde 1988 mit Uwe Ochsenknecht als Abel von der ARD verfilmt. Die Kritik schrieb über den Film: »In den spannendsten Momenten herrscht hier nicht betriebsame Hektik mit hysterischen Ausbrüchen, sondern einfühlsame Ruhe, die das Maß der Spannung ins fast unerträgliche steigert.« (Süddeutsche Zeitung) Fred Breinersdorfer führt seit vielen Jahren eine Doppelexistenz als Anwalt und Autor. Seine Drehbücher und Filme, darunter fünfzehn Tatort-Krimis, wurden mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Adolf Grimme Preis mit Gold und der Goldenen Kamera. Zuletzt schrieb er das Drehbuch zu dem deutschen Kino-Welterfolg »Sophie Scholl – die letzten Tage«. Weitere Krimis des Autors werden im Pendragon Verlag erscheinen.
Mittwoch, 12. September
Käthe pendelte nervös auf dem Flur der Kinderklinik hin und her. Ein Doktor lehnte im Türrahmen, der Kittel, offen, hing ihm von den schmächtigen Schultern. Er rauchte. Das geht schon lange so, so mager wie er ist, dachte Käthe. Das Arztgesicht wirkte wie eine braune Zitrone. Sonnenbank. Der Doktor sagte hinter sich in den Flur hinein, dass er noch rüber in die Gynäkologie müsse. Risikogeburt. Aus dem Flur kam keine Antwort zurück. Der Doktor zog seinen Kittel über der Hühnerbrust zusammen, steckte die Kippe in ein Sandbecken und ging zu der Risikogeburt. Mein Gott, wie stolz sie gewesen war in dem Moment, als Gretchen ihren Körper verlassen hatte, ein eigenes Leben begann, als sie Gretchen geboren hatte. Sie wusste von Berufs wegen, dass das mit den Hormonen zusammenhängt, die der weibliche Körper bei Geburt eines Kindes ausschüttet. Trotzdem, welch ein Gefühl! Nebenan, hinter einem Plastikparavent, hatte eine Ausländerin in den Wehen gelegen und gebrüllt wie eine Kuh beim Kalben. Käthe hatte die Frau nie gesehen. Gesehen vielleicht, aber nicht erkannt. Jedenfalls waren die Schreie und das Stöhnen im Gedächtnis geblieben, immer unsynchron mit den eigenen Wehen, die sie gehabt hatte. Und Käthe war es trotz der unerträglichen Schmerzen peinlich gewesen, selbst lauter zu stöhnen, als notwendig in den Presswehen. Waren das Scheißschmerzen gewesen! Aber kaum, dass Gretchen draußen war, ist es schlagartig besser geworden. Wahrscheinlich sind es außer den Hormonen die Restinstinkte der Natur, die den Frauen erlauben, trotz einer fast übermenschlichen Anstrengung voll da zu sein, wenn das
Kind geboren ist, damit man mit dem Baby fliehen kann, schnell weg, falls was passiert. »Kommen Sie jetzt, Frau Lauer?« Eine weibliche Stimme. Käthe zuckte herum und nahm ihre Handtasche fester über die Schulter. Das war so eine Bewegung, die einfach saß. Ihre Hände schwitzten, ihre Achseln schwitzten, und sie hastete hinter der Krankenschwester her in den Untersuchungsraum. Auf der Liege hatte sich ihre kleine Tochter Margarete, die sie Gretchen nannte, wie ein Bogen ausgestreckt. Ihr Kopf war weit in den Nacken gebogen, der winzige Körper seltsam starr. Glücklicherweise hatte Gretchen die Augen geschlossen. Aber über den Wangen lag ein leichter roter Hauch. Fieber! Der Mund war etwas offen und die Zunge, die sonst nie stillstand, lag regungslos und trocken zwischen den Lippen. Käthe rupfte nervös an einem Taschentuch und schaute sich um. Von der Wand grinsten Kaspergesichter, die kranke Kinder auf der Station gemalt hatten. Die Tür fiel zu. Sie war mit ihrem Kind und einem Arzt alleine. Wie gut sie das alles kannte, den Geruch, die Geräte, die Floskeln. Käthe war selbst vom Fach. Krankenschwester. Sie kannte die Symptome aus der Grundausbildung. Trotzdem wollte sie die Diagnose von dem jungen Arzt hören, sozusagen amtlich. »Meningitis, Sie wissen…«, sagte der Doktor. Käthe nickte. Der Arzt referierte: »Meningitis ist eine schwere entzündliche Erkrankung der Hirn- und Rückenmarkshäute. Ihre Erreger, fast immer Bakterien, werden auf verschiedenste Art übertragen. Wir haben das Rückenmark von Gretchen punktieren müssen, um Liquor zu entnehmen, damit wir den Erreger bestimmen konnten. Wahrscheinlich wurde er in diesem Fall durch den Biss einer Zecke übertragen. Tückische, kleine Blutsauger, die an Blättern von Bäumen und Büschen hängen und sich auf Mensch und Tier herunterfallen lassen,
um deren Blut zu saugen. Dabei gelangen die Bakterien in die Blutbahn.« Es gab keinen Grund ihn zu unterbrechen, obwohl sie das alles schon hundert Mal in ihrem Kopf durchgespielt hatte – nur mit anderen Worten – seit sie vor fünf Tagen morgens in Gretchens Bett eine mit Blut vollgesogene, mehr als erbsengroße Zecke gefunden hatte. Sie lag mit prallem Hinterleib auf dem Kopfkissen. Zuerst hatte sie mit dem ekligen Ding nichts anzufangen gewusst, bis ihr bei näherem Hinsehen aufgefallen war, dass sich vorne an dieser sonderbaren Erbse winzige, schwarze Beinchen bewegten. Angewidert hatte sie das Ungeziefer mit dem Taschentuch genommen und im Klo hinuntergespült. An eine akute Gefahr hatte sie nicht gedacht, obwohl seit Jahren Warnplakate in der Klinik hingen, wo sie arbeitete. Man gewöhnt sich an Warnungen. Und sie war in Eile gewesen. Sie war spät dran. Aber nun musste sie mit ihrem Versagen fertig werden. Ausgerechnet ihr hätte das nicht passieren dürfen.
Der Doktor sah Käthe Lauer an, zögerte und sagte dann, dass man nicht wisse, wie man diese Hirnhautinfektion in den Griff bekommen sollte. Er saß auf einem Schemel neben der Untersuchungsliege, die Knie gespreizt, die Ellbogen auf den Oberschenkeln. Er war müde, das konnte ihr geübtes Auge erkennen. Immerhin war es mitten in der Nacht, und er hatte heute schon operiert, Visite gemacht, endlos mit Eltern geredet, getröstet, aufgeklärt, ermuntert. Vielleicht hatte er ebenfalls Kinder zu Hause. Die lagen im Bett und hatten schlimmstenfalls einen unruhigen Schlaf. Gretchen bewegte sich nicht, lag starr. »Warum gibt man ihr denn nicht Penicillin?« »Ein virulenter Verlauf.«
»Wie?« »Ungewöhnlich virulent«, sagte der Arzt und stieß sich mit den Ellbogen von den Oberschenkeln ab. Er erhob sich vom Hocker und faltete sich zu voller Größe auf. Ein langer Mensch. Er hatte junge, blaue Augen, die Melancholie ausstrahlten. »Dass sie Penicillin in hohen Dosen bekommt, habe ich sofort verordnet. Routine«, sagte er und bekreuzigte sich. Dass er ein Kreuz schlug, fiel Käthe auf, weil sie in ihrer Klinik noch nie einen Arzt gesehen hatte, der seine Religiosität zeigte, wenn überhaupt einer religiös war. »Das muss doch anschlagen, das Penicillin«, sagte Käthe, und Tränen stiegen ihr in die Augen. Sie streichelte Gretchen übers Haar. Normalerweise, wenn sie schlafen würde, ja, wenns bloß eine verzerrte Haltung im Tiefschlaf wäre, wie der Kopf so im Nacken hing, dann hätte das Kind sich bewegt, irgendwie reagiert, vielleicht die Lider aufgeschlagen und sie leer angesehen, sich umgedreht und das Kinn vorn auf die Brust fallen lassen, sich eingerollt und weitergeschlafen. Doch Gretchen lag da, verbogen, steif, und der Kopf wollte nicht mehr vor. Die Muskeln in dem kleinen Körper waren angespannt. Gretchens Haut brannte heiß in der Hand ihrer Mutter. Hohes Fieber. »Wie viel?« fragte sie den Arzt und sah ihm ins Gesicht. »Temperatur?« »Ja.« »Vierzig acht.« »Vierzig acht! Aber Kinder haben ja auch schnell eine hohe Temperatur, das geht genauso schnell wieder zurück!« sagte sie verzweifelt. »Ja, ja«, antwortete der Arzt, »im Normalfall schon. Wo arbeiten Sie?« Er wusste, dass Käthe Krankenschwester war. »In der Geriatrie. Wenig Leute, ewige Hetzerei. Und die Alten sind oft unerträglich.«
»Soso, praktisch in der Gegenwelt.« Er verzog die Lippen zu einem geschwungenen Lächeln und zeigte dabei die Zähne. »Und in welchem Haus?« Käthe nannte den Namen der Krankenanstalt, in der sie als Schwester arbeitete. »Auch ein Mistladen«, bemerkte der Arzt. Sein Gesicht war wieder ernst. »Jesses, hier ist auch ewig Hetzerei. Wir können ja nicht hexen. Jesses«, sagte der Arzt wieder und schlug ein Kreuz. Aber wenn das Penicillin wirke, dann, okay, dann sei alles paletti. Und man habe gleich ein Breitspektrum genommen. So was wirke. Normalerweise. »Normalerweise«, wiederholte Käthe. Wie oft hatte sie das selbst schon zu den Patienten und Angehörigen gesagt. Aber in der Geriatrie war »normal« etwas anderes. »Normal ist normal, wenn ich’s sage.« Der Arzt gähnte und beugte sich vor, stützte die Arme wieder auf und sah zu dem verbogenen, überspannten Kinderleib hinüber. »Ein virulenter Verlauf kann vorkommen«, er zeigte wieder seine Zähne »muss nichts heißen, reden wir deswegen nicht drüber.« Käthe wusste, was das bedeutete, eine Gehirnhautentzündung bei einem Kind von vier Jahren. Schlimm auf alle Fälle! Wenn sie die Sache nicht in den Griff bekamen, konnte es Schäden geben, die man ein Leben lang nicht mehr wegbekam. »Ein behindertes Kind ist nicht einfach«, sagte Käthe. Man sah ihr die Angst an. Deshalb sagte der Arzt in burschikosem Ton: »Noch isses nix.« »Und wenn…?« fragte sie nach einer Pause und sah dem Mann ins Gesicht. Die blauen Augen des Doktors wichen ihr aus. »Ab wann treten Hirnschäden auf?« wiederholte sie. »Sie brauchen mir nichts vorzumachen.« »Kann keiner sagen. Lassen Sie das Penicillin erstmal wirken. Morgen früh kommen Sie gegen acht wieder vorbei.
Die Schwester bringt Gretchen gleich auf Station.« Der Arzt erhob sich, winkte mit der Hand und verließ leise den Raum. Natürlich ging Käthe nicht. Sie nahm den Tragriemen ihrer Tasche von der Schulter und setzte sich auf den Schemel, der noch warm war, unmittelbar neben der Untersuchungsliege und sie betrachtete den Körper und das Gesicht mit dem rötlichen Fieberschatten. So begann ihre Nacht.
Unterdessen war der Rechtsanwalt Jean Abel aus München zu Hause angelangt. Er kam gerade aus dem Urlaub. Unten im Süden war er gewesen. Aber jetzt war leider Schluss damit. Die Arbeit rief. Er warf die Tür seines Wagens zu und ging die drei Stufen in seine Kanzlei hinauf. Den Hörer zwischen Schulter und Ohr wühlte er mit der Linken in einem Aktenstoß, den ihm Jane Münster, seine Anwaltsgehilfin, säuberlich neben den vielen anderen aufgetürmt hatte, damit der Meister bei der Bearbeitung die Übersicht nicht verliere. Nun suchte er die Übersicht. Dort, ja, das war’s. Er zerrte die schmale Akte heraus, blätterte, fand die Telefonnummer, wählte und hörte das Freizeichen. Sein Blick wanderte zu der noch offenen Kanzleitür hinaus. Im weichen Licht der Laterne wirkte der Straßenasphalt gelblich. Ein Kater ging vorbei, den Schwanz stolz in die Höhe gestreckt. Sein langer Schatten folgte ihm und wanderte über die Schwelle. Abels Hund Paul Schmitz bellte aus dem Auto herüber. Es knackte in der Leitung. Eine Männerstimme sagte: »Waldmüller hier.« »Abel.«
»Endlich«, man konnte die Erleichterung des Mannes hören als er ausatmete. »Ich war schon drauf und dran, beim Notdienst anzurufen.« »Der ist nur für Strafsachen«, sagte Abel nüchtern. Der Hund bellte weiter. Der Kater war nicht mehr zu sehen. »Kann ich vorbeikommen?«, fragte die Männerstimme. Abel nickte und antwortete: »Wenn Sie sich nicht an der Unordnung auf dem Schreibtisch stören.« Waldmüllers Probleme waren anderer Natur. Abel legte auf und ging den Hund und den Koffer holen. »Jetzt ist Schluss mit dem Schlendrian und dem Rumgetreibe«, sagte er zu Paul Schmitz, scheuchte ihn auf die Straße und lächelte in sich hinein. Der Hund ging zur Wand und hob sein Bein, und sein Herr schaffte das Gepäck in die Küche. Er öffnete die Tür, damit der Mief von anderthalb Wochen rausziehen konnte. Hinter der ehemaligen Papierhandlung, wo Abels Kanzlei untergebracht war, breitete sich ein wild zugewachsener Hof aus, Brutstätte für Stechmücken und Oase mitten in Lehel. Abel schnüffelte ein wenig Hinterhofluft, hörte, wie ein Paar lautstark auf einem Balkon stritt, den man halb einsehen konnte. Abel ging in die Kanzlei zurück und setzte sich an seinen Schreibtisch. Die Deckenbeleuchtung war an. Ein helles, warmes Licht strömte aus den Strahlern. Jetzt hatte jeder sein Büro, Abel und Jane. Sie hatten renoviert, Tapeten geklebt, gegipst und gestrichen. Jetzt roch es frisch. Früher hatten sie in einem Raum zusammen gesessen, das war unangenehm für die Mandanten, wenn sie über intime Dinge reden mussten. Intim kann bei einem Anwalt auch der Grund für einen Meineid oder fortgesetzte Schwarzfahrerei sein. Einen Teppichboden gab es jetzt auch. Nur der Besucherstuhl und der Schreibtisch waren die alten geblieben und wirkten nun ein wenig deplatziert, abgeschabt,
zwar noch nicht popelig, aber das würde noch kommen. An der Wand hing eines der blau-weißen abstrakten Bilder, die bis vor kurzem noch fast jede Wand in der Kanzlei geziert hatten. Der Maler war einer von Abels Freunden, der bei ihm in der Kanzlei Bilder auslagerte. Jetzt hatte sie der Maler wieder abgeholt. Er machte schon seit langem auf Yves Klein, bloß dass er zum Blau noch Weiß tat. Jetzt hatte er es geschafft, dass auch andere seine Verwandtschaft mit dem Franzosen entdeckt hatten. Heute gingen die Bilder gut. Also war für Abel nur das Dankbarkeitsexemplar geblieben, das er liebte, weil er immer andere neue Formen darin erkannte, wenn er beim Nachdenken darauf starrte. Nun schien ihm das Gemälde mit seinem neuen schmalen, silberfarbenen Rahmen richtig kostbar. Abel hatte im Urlaub Bilder von eben jenem Yves Klein in Nizza gesehen. Jetzt weiß man, was man zu Hause hat, dachte er und blätterte in dem Aktenstück, um den letzten Brief zu lesen, der in der Sache Waldmüller contra Quast GmbH & Co. eingegangen war. Dann starrte er wieder auf das Bild hinüber. Waldmüller hatte ihn mit drei Anrufen aufgescheucht und von der überfüllten Cote zurück nach München gejagt. Abel hatte während der Fahrt vor sich hin gegrübelt. War er denn der Lakai? Brach seinen Urlaub ab. Weiß der Himmel, wie lange es her war, seit er zum letzten Mal im Urlaub war. Und nach zehn Tagen diese drei Anrufe! Abel hatte seine Klamotten in den Koffer geworfen, den Hund ins Auto gelockt, die Frau geküsst, die sein Zimmer geteilt hatte, und war weggefahren. Genua, Mailand, Brenner. Zurück zur Arbeit. Home, home, sweet home. Er lachte. Wehe dem Waldmüller, wenn er ihn nur zum Spaß im Urlaub aufgescheucht hatte! Dann würde er ihm eine Rechnung schreiben, dass ihm die Augen tränten. Soweit, so gut. Wars aber nicht gerade die Aussicht darauf, Waldmüller zur
gegebenen Zeit, wenn der Fall glücklich zu Ende gebracht worden war, wirklich eine satte Rechnung schreiben zu können, die ihn seinen Urlaub hatte abbrechen lassen? War es nicht die Gewissheit, dass einer wie Waldmüller so eine Rechnung auch bezahlen konnte? Abels Klientel bestand nicht aus Geschäftsleuten wie Waldmüller, sondern aus Studenten, einfachen Leuten, armen Schluckern und kleinen Kriminellen. Die Renovierung hatte einen Batzen Geld verschlungen. Da kam ein solcher Fall wie Waldmüller gegen Quast & Co. wie gerufen. Trotzdem fühlte sich Abel ein wenig käuflich. Waldmüller winkte mit dem Scheckbuch, und Abel sprang. Das war normalerweise nicht so bei ihm. Und wenn er sprang, dann weils nötig war und nicht wegen des Geldes. Es klopfte. Waldmüller trat ein. »Gut sehen Sie aus«, sagte er zu Abel. »Danke.« Abel zeigte ihm den Sessel und lehnte sich zurück. Der Mandant setzte sich und legte sein Lederköfferchen auf die Knie. Waldmüller war ein schmaler Mann, elegant gekleidet, und trug sogar nachts noch einen Schlips zum Zweireiher. Wenn er sprach, hatte seine Stimme einen hellen, heiseren Klang. Ein blauweißer Schatten huschte über die Fenster. Ein Streifenwagen war vorbeigeglitten. Das Horn brauchte er nicht, weil niemand auf der Straße war. Waldmüller sah sich um, dann wandte er sich zurück zu Abel. Er sprach mit seiner merkwürdig hohen Stimme. »Die gehen über die Wupper«, sagte er. Abel machte die Geste der römischen Kaiser, wenn ein Gladiator im Zirkus das Leben verlieren sollte. Daumen nach unten. »Insolvenz?« »Scheiße, ja«, sagte Waldmüller und schüttelte sich.
»Ist das sicher?«, fragte Abel, und als Waldmüller nickte, erkundigte sich der Anwalt nach der Quelle der Information. »Der Prokurist. Er hat einen Freund, und dem hat er gesagt, dass sie morgen um neun Gesellschafterversammlung haben, da wird man entscheiden, ob man sofort zum Konkursrichter geht.« Mit einer kurzen Geste streckte Waldmüller den Arm vor und schaute auf die silbrig schimmernde Sportuhr mit römischen Ziffern. Die Uhr sah nicht aus, als wäre sie eine Imitation. Waldmüller hatte die Zeitanzeige nicht wahrgenommen. Es war nur so eine Angewohnheit. Abel zog seine Hemdmanschette ein wenig nach vorne, aber nicht, weil er sich für die alte Uhr schämte, die er am Handgelenk trug, sie tat ihren Dienst, wenn man sie alle paar Tage nachstellte, aber Uhren waren heute nicht nur zum Zeitmessen da. Unterdessen sprach Waldmüller über die Bilanzverluste, die durch fehlerhafte Abgrenzungen entstehen könnten. Er hob die Hand und zählte an den Fingern ab, wo im Falle der Firma Quast die Verluste hergekommen sein könnten. Abel interessierte das nicht. Nur, dass Insolvenz drohte, war wichtig. Er sagte: »Und als Sie die Maschine geliefert haben, haben Sie nichts geahnt?« »Exakt! Sonst wär’ ich…« »Ja, ja.« Abel wollte die Verträge und Lieferscheine sehen. Waldmüller packte aus. Sein bordeauxroter Koffer riss das Maul auf und gab die Papiere frei. Es roch für einen kurzen Augenblick nach Leder. Abel sagte: »Mal sehen, wie wir an die Maschine rankommen.« An Geld wagte in einer wirtschaftlichen Situation wie dieser keiner zu glauben. Man musste den Eigentumsvorbehalt an der Maschine geltend machen. Abel begann die Dokumente zu lesen, und Waldmüller klopfte sich einen Zigarillo zurecht, schlug die Beine
übereinander und ließ den Blick in der Kanzlei umherschweifen. Er begann zu rauchen, ohne Abel zu fragen.
Sie hatten Gretchen für die Nacht fertig gemacht, es nicht gewaschen, aber ihm eines von den Krankenhausnachthemden übergestreift. Zur Kreislaufkontrolle war Gretchen an einen Monitor angeschlossen. Sie schlief jetzt, gegessen hatte sie nichts, nur apathisch alles mit sich geschehen lassen. Der kleine Körper lag nun auf der Seite, die Bogenspannung hielt an. Natürlich konnte jetzt noch keine Wirkung der Medikamente festgestellt werden. Käthe saß auf einem hölzernen Besucherstuhl und blätterte in zerlesenen Zeitschriften, die uralt waren, deren Inhalt vergessen und verjährt war. Wie schnell die Zeit oft wegflutschte, dachte sie. Und wenn dem Kind was passierte? Was dann? Vier Jahre hatte Käthe ihr Gretchen schon gehabt. Wie das Kind jetzt gebogen und fiebrig da lag! Aber es konnte alles wieder normal werden. Alles. Und wenn nicht? Ob die Erinnerung an Gretchen auch mal verjährte? So ein Menschengedächtnis reicht nicht sehr weit. Aber das Herz? Käthe begann, verstohlen zu weinen, verstohlen, obwohl sich niemand in der Nähe befand. Sie sagte sich, dass sie sich zusammennehmen müsse. Was sollte es denn helfen, wenn sie jetzt den Kopf verlor? Sie musste an Gretchens Vater denken, wie er geschaut hatte, als sie ihm erzählt hatte, dass da was Kleines unterwegs war. Sie hatte es so sachlich zu sagen versucht, wie es bei großer Anstrengung möglich war, in einem Stadtbistro im Glockenbachviertel mit hellem Licht und mäßig besetzten Tischen. Vormittags. Es war eine nüchterne Stunde voller ängstlicher Nervosität. Einer anderen Nervosität als jetzt. Ja, ich bin schwanger, hatte sie gesagt, und dann gleich darauf,
dass sie jetzt mit dem Rauchen aufhören würde. Nicht nur, weils der Arzt geraten hatte, sondern auch dem Kind zuliebe. »Von wem?«, hatte er gefragt. Sofort kamen ihr Zweifel. »Von dir«. Ein langer Blick, den Käthe aushielt. Knut Singer wusste, dass Käthe keine Frau war, die sich mit einem anderen Mann einlässt, wenn sie verliebt ist. Nicht, dass er von ihr weggerückt wäre oder dass er ihr vorgeworfen hätte, dass sie, Krankenschwester zumal, unfähig gewesen war, gegen so einen Fall Vorsorge zu treffen. Aber sie hatte es seinen Augen angesehen, wie er im Kopf schnell durchkalkuliert hatte, wie er am besten aus dieser Sache herauskommen könnte, und was bestenfalls und schlechtestenfalls die Folgen wären. Knut war gut im Rechnen, das hatte Käthe immer an ihm gefallen. Ein nüchterner Mann, Prüfingenieur für Aufzuganlagen beim TÜV Bayern. Als er fertig war und die Resultate bewertet hatte, sagte er: »Ich zahle die Abtreibung. Geh in eine gute Klinik. Egal was es kostet, ich zahl’s.« »Nein«, hatte sie urplötzlich geantwortet, spontan und ohne noch einmal gründlich nachzudenken, obwohl sie schon einen Termin gehabt hatte, um das Kind abtreiben zu lassen. »Nein, ich behalte es.« »Und ich finanziert dann?« Es war eine Knut-Singer-Frage gewesen. »So kann man doch nicht entscheiden!« »Doch«, hatte Käthe aus Trotz geantwortet. Der Kellner war gekommen und hatte gefragt, ob man noch was trinken wolle. »Nein«, hatten sie beide abgewunken. So hatten sie eine Zeit lang dagesessen, hatten hinausgestarrt durch die klargeputzten Scheiben auf den grauen Straßenverkehr, das ständige Aneinandervorbeihasten, und Käthe hatte geglaubt, dass alles geklärt wäre. Dabei hatte sie sich über sich selbst gewundert, dass sie den unwiderruflichen Entschluss gefasst hatte, dass das Kind bleiben solle. Sie war im Sternbild des Widders geboren worden, und man wusste ja,
dass Widder ihre Entschlüsse durchbrachten. Sie sah Knut in die Augen. Er wich ihr nicht aus. »Überlege es dir, dein ganzes Leben ist verpfuscht.« »Mein Leben?« »Ja.« Klarer konnte ein Mann in einer solchen Situation nicht zum Ausdruck bringen, dass er außer Alimente keine Verantwortung für ein Kind übernehmen würde. So war die Existenz Gretchen, als sie noch äußerst zerbrechlich gewesen war, beschlossene Sache. Singer hatte später noch auf sie eingeredet. Natürlich hatte das keinen Zweck mehr gehabt. Sie hatte dann so getan, als müsse sie mal raus aufs Klo, hatte aber beim Kellner die Frühstücksrechnung beglichen. Für beide. Dann war sie ohne Gruß hinaus auf die Straße gegangen. Und Knut hatte es noch nicht einmal bemerkt, weil er am Zigarettenautomat stand und in der Hosentasche nach Kleingeld suchte. Käthe hatte nicht mit dem Rauchen aufgehört. Sie hatte Singer noch einige wenige Male getroffen. Förmliche Termine mit förmlichen Fragen nach dem Wohlbefinden beider. Mutter und Kind. Die Zahlungen nach der Geburt kamen pünktlich. Und zu jedem Geburtstag Spielsachen und eine Karte von Singers Mutter.
Käthe verließ Gretchens Zimmer und trat auf den Balkon am Flurende hinaus. Sie blickte über die nächtlich ruhige Straße und die kurze Schlange mit Taxis vor dem Haupteingang. Die Zigarette tat ihr jetzt gut, besänftigte ein wenig die Angst. Im blauen Nachthimmel flackerte der Mond zwischen den dahinziehenden Wolkenrudeln. In den Ästen der Pappeln im Krankenhauspark wühlte der warme Südwestwind. Es rauschte und wehte überall. Die Glut an der Spitze ihrer Zigarette
funkelte hellrot. Hinter sich hörte sie ein Kind schreien und wimmern. Obwohl sie wusste, dass es nicht Gretchen sein konnte, schnippte sie die Kippe über das Balkongeländer und eilte zurück.
Abel erläuterte dem Mandanten Waldmüller die Rechtslage: Die Maschine sei so lange Waldmüllers Eigentum, bis der Kaufpreis vollständig bezahlt worden wäre. Definitiv. »Weiß ich«, knurrte Waldmüller dazwischen. »Dafür braucht man keinen Anwalt.« »Bloß kann man mit seinem Eigentum in so einem Fall nicht so verfahren, wie man will«, fuhr Abel ungerührt fort, »der Käufer hat ein Recht zum Besitz und zur Benutzung…« »…wenn er zahlt.« »Ja«, antwortet Abel, »aber zahlen muss man erst bei Fälligkeit. Und im Augenblick ist nichts fällig. Das ist der Casus!« »Und meine Maschine bin ich los?«, fragte Waldmüller. Man konnte Panik in seiner Stimme hören. »Wenn erst der Konkursverwalter seine Geierkrallen in die Firma schlägt, ist es aus.« Rolf Waldmüller rückte seine Seidenkrawatte zurecht und ließ sie durch die Finger laufen. »Nein«, sagte Abel. Er erklärte, dass der Eigentumsvorbehalt auch gegenüber dem Konkursverwalter gelte. Der müsse respektieren, dass die Maschine noch nicht bezahlt sei, und müsse sie rausgeben. »Wie lange dauert so was?« »Ist fraglich.« »Ich sag’ Ihnen was«, begann nun Waldmüller. Er stützte sich mit dem Unterarm auf den Schreibtisch und sein Gesicht kam vor. Mit der linken Hand hielt er sein Köfferchen fest. Das Gesicht wirkte nun noch schmaler, passend zu der
Stimme, die ein wenig schrill klang. Abel konnte riechen, dass der Mann eine leichte Fahne hatte. Alkohol und Knoblauch. Abel holte eine Flasche Weinbrand aus dem Schreibtisch und zwei Gläser aus der Küche, während Waldmüller sprach. »Meine Lage ist die, Herr Abel«, rief Waldmüller, »dass ich auch fertig bin, wenn die Maschine nicht sofort zurückkommt. Fertig. Kaputt. Aus. Verstehen Sie? Diese Maschine hab ich auf eigene Rechnung gekauft, das war eine günstige Gelegenheit. Wert ‘ne dreiviertel Million. Da hängt mein ganzes Vermögen drin, und jede Menge Kredite. Jetzt im Moment kann ich sie gerade noch mal an einen anderen Kunden verkaufen, achthundertfünfzig, cash. Ich muss in drei Tagen den Vertrag unterschreiben und sofort liefern. Sonst springt der ab, verstehen Sie? Rohertrag hundert, wenn es klappt. Wenn nicht, bin ich kaputt.« »Dann gibt’s wieder einen Käufer«, warf Abel dazwischen. Er kam mit den Gläsern und schenkte ein. Prosit! Waldmüller trank das Glas auf einen Zug aus. Er atmete tief durch. »So eine Fertigungsmaschine ist kein gebrauchtes Auto, für das es theoretisch Hunderte von Interessenten gibt. Diese Maschinen sind in der ganzen Welt nur für eine Handvoll Käufer interessant, mehr nicht. Die habe ich alle durch. Ein einziger, ein Holländer in Den Haag will kaufen. Aber der hat keine Zeit, stellt gerade seine Produktion um, der entscheidet in exakt drei Tagen, ob er meine gebrauchte Maschine nimmt, oder sich eine neue beim Hersteller holt. Lieferzeit drei Monate. Wenn ich meine Maschine nächste Woche abbauen und liefern kann, zahlt er achthundertfünfzig cash.« »Die Zeiten sind schlecht, wie stehts mit der Solvenz des Käufers?« »Kein Problem.« »Na ja«, sagte Abel und schenkte nach.
Es war oft so, dass sich die Menschen von unverhältnismäßig hohen Gewinnen locken ließen, alles aufs Spiel zu setzen. Klar doch, für eine bescheidene Rendite lohnte kein Risiko, da konnte man Pfandbriefe kaufen. Allein das schnelle Geld lockte. Da war der Glaube an die Solvenz so inbrünstig und unerschütterlich! »Solvenz, kein Problem«, sagte Waldmüller noch einmal, als müsse er sich in die Tasche lügen. Genau dasselbe wird er gesagt haben, als er mit Freunden das Geschäft mit der Gießerei Quast erörtert hatte, nun musste er sich darum sorgen, dass er seine Maschine nicht schnell genug wieder an die Hand bekam. Wenn nicht, hatte er einen Ladenhüter für viele hunderttausend Euro da stehen, der nur Lagerhaltungskosten produzierte. Ein fein ausgeklügeltes Monstrum aus Stahl und Elektronik, knapp dreißig Tonnen schwer, wie aus dem Lieferschein hervorging, den Abel gerade noch einmal überflog. Dabei tüftelten die Ingenieure bei uns, und die Japaner, Amis und vielleicht sogar die Chinesen schon an der nächsten Generation dieser Art von Maschinen. Auflagen von weniger als dreihundert Stück. Die neuen kamen und die alten waren nur noch ein bizarres, buntes Gebilde aus Stahl und Lack mit Kabeln, Führungsschienen und Greifarmen. Ein Schrotthändler würde ein paar Tausender bieten, weil hochwertiges Material zum Bau verwendet worden war. Die paar Tausender deckten jedoch noch nicht einmal die Zinsen ab, die Waldmüller bei seiner Bank bezahlen musste. Sein eigenes Kapital würde er abschreiben können, wenn die Sache platzte. Zweihundertfünfzigtausend würden fort sein. Und dazu musste er die halbe Million, die er sich gepumpt hatte, an die Bank zurückbezahlen. So wird aus einem wohlhabenden jungen Kaufmann ein schuldenbeladener armer Hund, für den es sich nicht mehr zu arbeiten lohnt! Denn wie will man eine
halbe Million je wieder verdienen, wenn man kein Startkapital besitzt? Durch Arbeit geht das kaum. Waldmüller war durch den Alkohol kaum ruhiger geworden. Er saß Abel gegenüber und starrte vor sich hin, irritiert, weil sein Anwalt den Mund hielt und in einem dicken roten Band mit unzähligen Gesetzen blätterte. Waldmüllers Finger trommelten herum, er räusperte sich und rieb sich mit der Hand die Nasenwurzel. Dann sagte er, dass er zu Abel gekommen war mit seinem Problem, weil Abel ein Anwalt war, der nicht bloß ein großes Maul hat, sondern einer, der auch was anpacken konnte. Waldmüller hatte Abel von einem Freund empfohlen bekommen, dem Abel den Führerschein in einer energisch geführten Verhandlung gerettet hatte. »Ja, ja«, brummte Abel und nickte. Es tat gut, wenn ein Mandant so was sagte. Das war so ähnlich wie bei Fußballtrainern, deren Mannschaft gewonnen hatte. Abel ließ die Katze aus dem Sack: »Wir probieren’s mit einer Einstweiligen Verfügung.« Waldmüller war skeptisch. »Das dauert«, rief er. Wieder schaute er symbolisch auf seine Armbanduhr. »Die Justiz pennt sich doch immer einen ab.« »Es kann dauern, muss aber nicht«, sagte Abel und stand auf. »Ganz wie der Richter will. Wenn wir Glück haben, kommen wir an einen, der uns einen Beschluss in einer Stunde macht. Ohne nähere Begründung, nur zur Sicherung Ihrer Rechte, Herr Waldmüller.« So einen sollte man finden, brummte Waldmüller, als ob man sich auf die Justiz verlassen könnte. Überhaupt und vor allem in so einem Fall. Ein Ausdruck hilfloser Skepsis flog über sein Gesicht. Abel stand auf und sagte: »Feierabend.« »Feierabend? Gibt’s denn keinen Bereitschaftsdienst oder so was?«
»Doch«, Abel nickte und sortierte im Stehen Waldmüllers Papiere so, wie er sie brauchte. »Aber für uns reicht es, wenn wir morgen ganz früh in der Geschäftsverteilung einen ausgeschlafenen Kollegen bekommen. Sie können sich doch lebhaft vorstellen, wie ein Richter drauf ist, den man wegen einer Maschine aus dem Bett holt. Oder er muss vom Stammtisch weg… es gibt Tausende von Möglichkeiten, sich die Chancen zu versauen, Nachtbereitschaft bei der Justiz ist eine davon«, lachte Abel. Waldmüllers Nervosität war durch diese taktischen Erwägungen eher verstärkt als gemildert worden. Er sprang auf, lief herum und fragte sich, ob er den Holländer für die gebrauchte Maschine schon anrufen und ihm signalisieren sollte, dass alles klar gehe. »Abwarten.« Waldmüller fragte Abel nach den Erfolgsaussichten. »So Pi mal Daumen.« Abel zuckte mit den Schultern und sagte: »So lala.« »Wann morgen?« »Um sieben bei mir«, Abel pochte mit dem Knöchel auf seinen Schreibtisch, »dann setzen wir die Antragsschrift gleich auf. Paletti?« »Und warum setzen wir das nicht sofort auf?« »Weil ich jetzt erst mal die Rechtsprechung durchsehen muss«, sagte Abel und steckte die Hände in die Taschen, wartend, ob sich der Mandant dazu entschließen würde, die Kanzlei zu verlassen. Die zwei Cognacs rumorten in seinem Magen. Er brauchte was zwischen die Zähne nach fast zehn Stunden Fahrt. Waldmüller ließ die Armbanduhr wieder herausflutschen. »Und Sie meinen, es steht gut?«, fragte er. »Auch zeitmäßig, damit wir noch rechtzeitig hinkommen und die Maschine holen können?«
»Drücken wir die Daumen.« »Sagen Sie doch ja oder nein«, Waldmüllers Stimme überschlug sich fast, war wieder schrill und unangenehm. Abel blieb so stehen, wie er stand. Er sagte sich, dass man Geduld haben müsse mit seinen Mandanten. Wenn einer die Nerven verliert, wird es nicht dadurch besser, dass sein Anwalt ebenfalls durchdreht. Deshalb schwieg Abel und starrte Rolf Waldmüller ins Gesicht. Der hielt dem Blick nicht stand, lief zur Tür, drehte sich herum, wollte wieder etwas schreien, davon, dass einer wie der andere sei bei diesen Juristen. Alle immer einen schwammigen Spruch nach dem anderen auf den Lippen. Abel schien zu ahnen, was Waldmüller durch den Kopf ging. »Was hilfts Ihnen, wenn ich behaupte, alles klar, Aussichten bestens, und dann fallen wir auf den Hintern? Was dann? Dann würden Sie sich mit Recht hinterher beschweren.« »Ich könnte wenigstens heute Nacht besser schlafen.« »Bis um sieben«, sagte Abel und hob die Hand. Sie hatten Käthe endlich ein Bett gemacht. Rooming in. Mütter konnten in der Kinderklinik die Nacht verbringen, um sie zu beruhigen und damit man sie gleich da hatte, wenn was war. Das Bett stand in einem schmalen Raum neben Gretchens Zimmer, der keinen Schmuck aufwies, nur ein Kruzifix ohne den Heiland hing an der Wand. Käthe saß auf der Bettkante, ihre Handtasche vor den Füßen, den Kopf in die Hände gestützt und starrte das Kruzifix an. Ein Kruzifix sind zwei unterschiedlich lange Holzleisten, die sich im rechten Winkel kreuzen. Mehr nicht. Sie hatte mit dem Christentum nichts mehr zu tun. Kinder lernten den Glauben von den Eltern. Doch oft war Beten nur leere Routine. Aber noch nicht einmal das war bei Käthe zu Hause gebräuchlich gewesen. Nur in der Schule hatte sie Religionsunterricht gehabt, weil der Vater
nicht aus der Kirche ausgetreten war. Doch vom Unterricht war nichts unter die Haut, geschweige denn ins Herz gelangt. Wenn Käthe selbst einmal die Augen zumachen wird… die endgültige Finsternis. Sie machte sich keinerlei Illusionen. Und was von ihr zurückbleiben würde? Ein paar Gegenstände, die verteilt werden würden, die eine oder andere Anekdote, zwei, drei Sprichwörter, die sie häufiger benutzt hatte. Trauer und Tränen? Wenn Gretchen sie überlebt, bestimmt. Sonst bleibt nur der Name Käthe Lauer auf einem Grabstein. Aber dafür lebte man ja schließlich nicht. Für Gretchen schon. Und zwar egal, ob sie hinterher um ihre Mutter trauerte. Käthe liebte ihr Gretchen ganz einfach. Und deswegen hatte sie würgende Angst davor, das Kind wegen eines Zeckenbisses zu verlieren. Sie blickte wieder zu dem Kruzifix auf, das im kalten Licht einer Neonröhre an der Wand hing. Wie jeder hatte sie schon ein paarmal, als es Spitz auf Knopf stand, ein Geschäft mit dem Göttlichen machen wollen. Früher, als sie noch klein gewesen war, handelte sie mit dem Heiland, denn der war körperlicher, gegenwärtiger, später liefen diese Verhandlungen dann mit einem abstrakten Gott. Dieser Gott war für sie nicht allwissend, sondern allvermögend gewesen. Das war wichtig, denn er konnte mit einem Griff alles herumwerfen. Oft hatten die Geschäfte mit dem Allvermögenden geklappt und Käthe hatte als Kind ihren Teil der Vereinbarung pingelig eingehalten. Also gut, sagte sich die erwachsene Käthe, wieder ein Handel. Gelang es Gott, dass sich Gretchen entspannte, die Röte aus dem Gesichtchen verschwand und nur noch die Backen glühten, die Nase lief, dann sollte was fällig sein. Es kostete Gott in seiner Herrlichkeit doch nichts, dachte sie, wenn er mit einer Geste die Normalität wieder herstellte, oder wenigstens so viel, dass am folgenden Morgen das Fieber
sinken und das Penicillin seinen Siegeszug antreten würde. Aber warum sollte er sich auf einen Handel mit Käthe Lauer aus München einlassen? Käthe stand auf, trat an das Kreuz heran, verschränkte die Arme vor der Brust und starrte auf die beiden braungebeizten Holzlatten. Nein, sie war nicht gläubig, jetzt aber bereit, auf ein Zeichen zu reagieren. Sie sprach kein Gebet. Das Händefalten war Kinderhänden vorbehalten. Sie stand aufrecht. Sie hatte sich in ihrem Leben angewöhnt, aufrecht zu stehen. Gott konnte doch diese Haltung nicht verwerflich finden und darauf bestehen, dass man kniete. Also stand Käthe aufrecht und bat für ihr Kind vor dem Kreuz in der weißgestrichenen Rooming-in-Zelle. Und sie versprach Gott etwas, wenn’s klappte. Was, wusste sie noch nicht. Aber es würde was sein, das sie schmerzte. Warum eigentlich musste so was schmerzen, fuhr es ihr durch den Kopf. So, als wäre was Schmerzliches für Gott eine Wohltat, als zähle für ihn nur, was durch Verzicht und Qual erkauft werden musste. Schaffte er denn nicht aus einer wohlwollenden Gleichgültigkeit heraus alles, was so vorkam, und obendrein noch die Wunder? War für ihn Gretchens Leiden nicht genauso fern wie der Tod der Kinder damals in Auschwitz? Seien wir doch ehrlich, er kann doch nur so weiterexistieren, der abstrakte Gott, wenn er so weit draußen ist, so weit weg. Wie könnte er das Leid sonst ertragen? Käthe kam sich ungerecht vor, gegenüber dem, mit dem sie einen Handel machen wollte, weil sie ihn so kalt einschätzte. Doch dann dachte sie, egal, wenn’s hilft, verspreche ich was Schmerzliches. Dann löschte sie das Licht und legte sich in den Kleidern für einen Dämmerschlaf hin. Von wegen sofortiges Studium der Rechtsprechung! Kaum dass Waldmüller endlich die Kanzlei verlassen hatte, ging Abel in seine Küche, gab dem Hund zu saufen und machte sich was zu Essen. Steinhartes Vollkornbrot war das einzige, was er
fand. Die Butter war ranzig und roch obendrein nach Kühlschrank. Er holte eine Büchse Sardinen aus der Speisekammer, Verfallsdatum war gerade noch okay. Bei Fisch war Abel pingelig. Die Heimat hatte ihn wieder. Wie hatte er da in Frankreich gegessen, und welche Weine hatte er getrunken! Wie hatte er gelebt! Er musste lächeln, war versucht, mit seinem Hund zu sprechen. Er dachte an das Postkartenmeer, mit Segeln gespickt. Das Gewusel an Land hatte nachgelassen. Krethi und Plethi aus Paris waren gerade fort. Retours jours difficiles! Die Campingplätze nicht mehr zum Bersten voll. Das Land hatte durchzuatmen begonnen. Träger Südwind hatte die Wellen kräuseln lassen. Windsurfer hatten am Strand gelegen und neben den in der Brise wehenden bunten Segeln gefachsimpelt. Schöne Frauen waren vorbeigegangen, die Schuhe in der Hand, manche mit einem Lächeln auf den Lippen. Kinder hatten sich mit Sand beworfen. »Und du schaust dich auch wieder um, wenns bald hier in München regnet«, sagte er zu Paul Schmitz und warf ihm ein Stück Brot zu. Abel schüttelte die Sentimentalitäten ab und ging in sein Büro. Er löschte das Deckenlicht, knipste die Tischlampe an und stellte den Teller mit Brot und Sardinen auf die Schreibunterlage. Er goss sich noch einen großen Weinbrand ein, dann zog er das Telefon herüber und wählte Frankreich. 0033-493-286877. Er wollte seiner Carol sagen, dass er gut angekommen war. Doch keiner nahm ab. Sie war ausgegangen. Was sollte sie auch zu Hause im Ferienhaus hocken und auf seinen Anruf warten? Er legte achselzuckend wieder auf. In zwei Tagen war er wieder unten. So viel Zeit gab er sich in dieser Sache. Dann sollte Waldmüller seine Maschine verscherbeln und Abel
würde einen namhaften Betrag an Honorar einnehmen. Dann würde er mit der Ferienliebe gut essen gehen. Was heißt gut, exzellent! »Und der Hund bekommt einen großen Kalbsknochen!«, sagte er zu Schmitz, der das trockene Brot mit der Nase auf dem Boden herumschubste. Abel machte Musik. Carmen McRae, Septembergirl und dann Mel Torme, Swings Shubert Alley. Er aß seine Sardinen und trank Weinbrand dazu. Alles kam ihm interimsmäßig vor. Zwei Tage auf Arbeit zu Hause. Juristische Montage an einem Eilfall. Er versuchte noch einmal unten im Ferienhaus anzurufen. Keiner nahm ab. Na ja, es würde schon alles in Ordnung sein. Jetzt nahm er sich den Kommentar zur Zivilprozessordnung vor und suchte nach passenden Argumenten, um die Sache Waldmüller in Sack und Tüten zu bekommen.
Abels Klient Waldmüller war in ein Lokal gegangen. Er wusste, dass er dort seinesgleichen treffen würde. Sie kamen so um zwölf in der Nacht hereingeschneit, wenn sie bei der gerade aktuellen Freundin ihre Nummer geschoben hatten und dem Gequatsche von der gemeinsamen Zukunft und deren Modalitäten entkommen wollten. Ein Longdrink oder ein Whisky. Die Bar war dunkel. Die Musik war so leise wie in einem Supermarkt, unverbindlich waberte sie herum wie die bläulichen Zigarettenqualmschichten. Nur eine Frau war da. Sie saß in einer Ecke und wartete auf ihren Begleiter, der zum Pinkeln draußen war. Sie nippte an einem Glas Orangensaft und gab sich so verschlossen wie möglich, so allein in einer Ecke dieser Bar. Der Barmann lächelte hinüber, weil lächeln das Geschäft fördert. Die Frau trug eine Spitzenbluse aus Synthetik zum schwarzen Kaminrock.
Waldmüller nahm seinen Zigarillo raus und setzte sich auf einen Barhocker neben Ritchie. Damit die Hosenfalten nicht litten, hob er die Beine vorsichtig an. Er kannte Ritchie vom Tennis. Ritchie hatte eine brutal gute Vorhand, ums präzise zu sagen, einen knallharten Topspin. Ritchie war braun, hatte dunkle Haare und einen winzigen Silberblick. Dass Ritchie immer braun war, hatte einen beruflichen Grund. Er vertrieb Einrichtungen für Bräunungsstudios. Er wäre gesund, sagte man von ihm. Man meinte das in den Waldmüllerschen Kreisen gewöhnlich in finanzieller Hinsicht. Waldmüller bestellte was zu Trinken für sich und Ritchie. Denn Waldmüller hatte ein Problem, es hatte ihm nicht gefallen, wie Abel seinen Fall anging. Okay, der Anwalt war extra aus dem Urlaub gekommen, aber diese passive Haltung: »Was hast’n du für’n Anwalt?« fragte er. Ritchie war betrunken. Dann kugelten ihm die Augäpfel immer unkontrolliert herum. Er schaute zu Waldmüller hinüber und sagte, dass alle Anwälte Gauner seien. Soweit deckten sich die Vorstellungen der beiden Gesprächspartner. »Und wen nimmst du?«, wollte Waldmüller wissen. »Sie heißt Maller«, sagte Ritchie, »so eine ganz Stille mit einer Brille«. Ritchie erzählte Fälle aus dem Leben, schilderte, wie Armanda Maller für ihn die Kohlen aus dem Feuer geholt hatte, und wie er, der Ritchie, der Anwältin Maller sagte, was zu machen wär’ und was roger wär’. Absolut! Und sie nimmt auch Cash. Nimm die, wenn du einen Anwalt brauchst. Trotzdem war Waldmüller skeptisch. Er zog die Wangen zwischen die Zähne. Das machte ihn noch schmaler. Der Barmann servierte noch einen Drink. Waldmüller nippte. Er wusste, dass es nicht möglich war, seinem Tennisfreund klaren Wein einzuschenken. Man stelle sich vor, der Ritchie tratscht herum, dass man in Schwierigkeiten ist. Dann nimmt kein
Hund mehr ein Stück Brot von einem. Unterdessen redete der Ritchie von Armanda Maller. »Wie alt ist die?«, fragte Waldmüller. »Unklar. Irgendwas vor scheintot«, sagte Ritchie. Er bohrte sich mit dem Finger in die Schläfe und sagte, dass die Maller eine unheimliche Nummer sei. »Da oben hat sie’s, und Erfahrung, okay?« »Ja.« Waldmüller ließ sich die Adresse und Telefonnummer der Rechtsanwältin Maller geben. »Probleme?« »Immer«, sagt Waldmüller obenhin. »Ein Typ schuldet mir drei Mille«. »Okay«, nickte Ritchie und es klang verständnisvoll. Dreitausend sind auch Geld. Das Pärchen ging. Beim Ausgang schob der Mann seine gepflegten Hände zwischen die Rüschen der Nylonbluse und zog das Mädchen an sich. Waldmüller hatte das gesehen. Er wandte sich Ritchie zu, dem er eine Antwort schuldig zu sein glaubte. »Es geht ums Prinzip«, sagte er, »verstehst du?«
Donnerstag, 13. September
Sieben Uhr morgens in München. Für viele hatte die Arbeit gerade begonnen. Die Sonne hangelte sich über die Stadt in den Himmel, der matt und silberblau war. Das schräge Licht machte benommen. Lange Autokolonnen flossen wie Sturzbäche über den Mittleren Ring. Gurgelnd verteilten sie sich über die Kreuzungen, versickerten in den großen Parkgaragen und den Eingeweiden der Bürohäuser. Jetzt kamen allmählich die Angestellten in die Stadt und reihten sich in den Dienstleistungs-, Produktions- und Distributionsprozess ein. Aber München sah trotzdem an schönen Tagen aus, als würde niemand außer Kellnerinnen arbeiten. Keine Wolke am Himmel. Am Eisbach im Englischen Garten platzierten sich die ersten Faulenzer in der Sonne. Ein schöner Tag begann. Abel pfiff durch die Finger nach Paul Schmitz. Der Hund war eine Promenadenmischung. Deshalb hatte er einen leidlich guten Charakter und war nur selten krank. Ein mächtiges Tier, groß und stark wie ein Bernhardiner, dabei wendig und schnell. Nur hören wollte er nicht richtig, dachte Abel und pfiff noch einmal. Das Tier trottete mit einem seltsam seitlich versetzten Trabschritt herüber. Waldmüllers Wagen bog um die Ecke. Ein amerikanisches Modell, hellblaumetallic mit imitierten Alufelgen. Es lief leise, das Fahrzeug. Beim Einparken brummte der Motor für einen Augenblick guttural, das Auto setzte zurück und fädelte in die Parklücke ein. Die Männer begrüßten sich und gingen die Stufen hinauf in die Kanzlei. Abel hatte lange provisorisch hinter den breiten Schaufenstern gelebt und gearbeitet. Dort wollte er mal seine
Robe und ein paar Gesetzbücher ausstellen. Aber das war natürlich nur so ein Einfall. In Geschäftsauslagen durften Anwälte nicht werben. Letzthin waren die Schaufenster ein wenig zurückgebaut worden, so dass die Kanzlei büromäßiger aussah. Abel schloss die Glastür am Eingang und erklärte: »Meine Sekretärin kommt erst um neun. Ich tippe selber.« Das sei dann am Ende auch am ehesten fehlerfrei und am schnellsten. »Wir gehen um halb neun ins Gericht. Vorher muss ich allerdings den Gerichtsvollzieher benachrichtigen und bei ihm einen Termin machen.« Abel sprach unentwegt, während er den Computer hochfuhr, Papier in den Drucker legte und die Akten herbeischaffte. Er war gut gelaunt und in Angriffsstimmung. Diese Betriebsamkeit vermochte Waldmüllers Bedenken nicht zu beseitigen. Für wichtige Sachen sollte stets eine Sekretärin bereitstehen. In seinen Augen war dieses Ärmelaufkrempeln und Selbstzupacken eher ein Zeichen für berufliche Insuffizienz als ein Beleg für Erfolg – und einen erfolgreichen Anwalt brauchte er. Es ging nicht nur um den Führerschein. Ob die Anwältin Maller auch selber tippte? Waldmüller warf sich vor, gestern nicht schon »basta« gesagt zu haben, obwohl Abel für ihn aus dem Urlaub gekommen war. Mal sehen, was der frühe Vormittag brachte. Waldmüller blieb schweigsam und nahm sich vor, schon beim ersten Anzeichen eines Fehlers das Mandat zu quittieren. Für ihn ging es um ein kleines Vermögen, das er in einigen Jahren mehr oder weniger legal zusammengekratzt hatte. Alles stand auf dem Spiel! Ein erfolgreicher Anwalt hatte nach Waldmüllers Meinung eine Büroetage in der Münchner Innenstadt, lichtdurchflutet, sauber, aufgeräumt. Adrette Sekretärinnen wieselten schon um sieben durch die klimatisierten Räume, lächelten, waren gut ausgebildet, verbindlich, immer gleich temperiert wie der Kaffee, der in
diesen Büroetagen serviert wurde, egal, ob sie ihre Periode oder Liebeskummer hatten. Dort tippte keiner der Anwälte selber. Sicher nicht. Waldmüller lehnte im Türrahmen, sein spitzes Gesicht lief in den Zigarillo aus, an dem er lutschte, den er nur aus dem Mund nahm, wenn er seinem Anwalt eine Frage beantworten musste. Er wartete auf den ersten Anschein einer Unsicherheit. Abel schrieb, mit seinem breiten Rücken über den Computer gebeugt. Er blickte nicht auf, wenn er etwas fragte oder gegen eine Antwort Einwände erhob. Endlich hatte er den Sachverhalt fertig. Er streckte sich kurz, dann ging’s weiter. In seiner rechtlichen Würdigung schrieb Abel, dass dem Antragsteller – Waldmüller – ein außerordentliches Kündigungsrecht zustehe, weil die Rechtsordnung nicht verlangen könne, dass formale Fälligkeitsfristen geduldig abgewartet würden, wenn die Überschuldung des Geschäftspartners augenfällig und der juristische Tod des Unternehmens, der Konkurs, schon klare Sache sei. Die Werkzeugmaschinen verglich Abel mit verderblicher Ware, wie Eier oder Kopfsalat, deren Weiterverwertung keinen Aufschub dulde. Zu Kopfsalat und zu Eiern gab es eine einschlägige, für Abels Mandanten günstige Rechtsprechung, allerdings nur des Reichsgerichts, was Abel bei der Lektüre des Standardkommentars bedauernd festgestellt hatte. Im Lichte einer umfangreichen, kräftig wuchernden Judikatur des Bundesgerichtshofs hatten die Reichsgerichtsentscheidungen schon etwas Antiquiertes an sich. So was zitierte man nicht so gerne. Hinzu kam, dass manche, zu denen auch Abel gehörte, das Reichsgericht, zumal wenn es sich um Entscheidungen nach der Machtergreifung der Nazis handelte, nicht für ein objektives Gericht hielten, dessen Erkenntnisse beispielgebend waren. Bei Kopfsalat und Eiern indessen mochte das
Reichsgericht noch angehen, dachte Abel, zudem, wenn es dem Mandanten nützte. Wie das Reichsgericht entschieden habe, schrieb er, sei es grob unbillig und vom Ergebnis her nicht zu rechtfertigen – er bewunderte die Leerformeln, die ihm von den Fingerspitzen in den Computer glitten – den Antragsteller Waldmüller auf das laufende Zahlungsziel zu verweisen, zumal die Antragsgegnerin der antragstellenden Partei nicht bei Vertragsschluss erklärt habe, dass Solvenzschwierigkeiten zu erwarten seien. »Wer macht’n so was?«, fragte Waldmüller und zündete sich einen Zigarillo an. »Säbelrasseln«, sagte Abel. Dann schrieb er, dass er in Stempelmarken den Gerichtskostenvorschuss anfüge und angesichts der Eilbedürftigkeit der Angelegenheit dringend um eine sofortige Entscheidung bitte, damit der Gerichtsvollzieher die Maschine bei der Antragsgegnerin herausnehmen und als Treuhänder vorerst verwahren könne. Waldmüller sagte: »Was soll das? Ich muss die Maschine verkaufen, über sie verfügen können, Sie verstehen?« »Das ist nur der erste Akt des Dramas«, sagte Abel und legte den Bogen zur Anfertigung der Eidesstattlichen Versicherung in den Drucker. »Haben wir erst gewonnen, beantragen wir auf dem Wege der Einstweiligen Verfügung die Freigabe der Maschine vom Gerichtsvollzieher. Dann kann sie vorläufig nach Holland geliefert werden.« »Vorläufig?«, fragte Waldmüller. »Ja.« »Das bringt mir nichts. Ich kann doch keine Maschine nur vorläufig verkaufen.« »Sie müssen’s versuchen, Herr Waldmüller«, sagte Abel und begann, die Einleitungsfloskel für die Eidesstattliche Versicherung zu schreiben: »In Kenntnis der Bedeutung einer
Eidesstattlichen Versicherung sowie belehrt über die strafrechtlichen Folgen einer falschen Versicherung an Eides statt versichere ich an Eides statt…« »Vorläufig…?«, wiederholte Waldmüller, und seine hohe Stimme klang jetzt energisch, ausgeputzt und klar. »Was soll ich damit anfangen?« Er stand straff neben dem Schreibtisch und zupfte an seinem karierten Leinenjackett. Jetzt zu dieser Maller gehen? »Hören Sie!« Abel beugte sich zurück. Er sah seinem Mandanten ins Gesicht. »Ich könnte jetzt in Antibes am Hafen in einer Kneipe sitzen, die Le Rouff heißt, und einen Kaffee trinken und mir die Frauen ansehen, die vorbei schlendern und warten, ob sie mir einen Blick zuwerfen, wenn ich überhaupt schon auf wäre! Statt dessen sitze ich auf dem Stuhl meiner Sekretärin und tippe für Sie, und zwar um das Optimum unter den gegebenen Bedingungen herauszuholen, allein darum. Klar? Mehr als vorläufig geht nicht. Ich mache die Entscheidungen nicht, die macht der Richter und der schaut ins Gesetz! Kann ich jetzt weitermachen?« »Ja«, sagte Waldmüller. Es war die Einsicht in das von Abel behauptete Notwendige, keinesfalls die Überzeugung, dass alles richtig wäre, die ihn akzeptieren ließ. Waldmüller schwieg jetzt. Wenn er nach Fakten gefragt wurde, gab er spärliche Antworten, stand da, die Hände in den Taschen und rauchte mit einem zugekniffenen Auge. Als Abel den Text der Eidesstattlichen Versicherung beendet hatte, unterschrieb Waldmüller ohne durchzulesen. Abel kramte eine der handlichen Taschengebührenordnungen aus dem Schreibtisch seiner Sekretärin und ermittelt an Hand des Streitwerts die vorzuschießenden Gerichtskosten: »5012 Euro«, sagte er. »Bar oder Scheck?«, fragte Waldmüller erschrocken.
»Angesichts der Lage ist mir bar lieber, weil ichs mit eigenem Scheck an der Gerichtskasse vorstrecken muss«, sagte Abel. Waldmüller ahnte in diesem Augenblick, wie es sein würde, wenn auch nur der geringste Schatten der Zahlungsunfähigkeit über ihn hinweghuschen würde. Schecks waren dann nur Papier, Bargeld dagegen alles. Er selbst hatte immer in ähnlichen Fällen auf Bargeld bestanden, deshalb hegte er keinen Groll gegen seinen Anwalt, der auch nur um sein Geld kämpfte. Aber das mit dem Schatten der Insolvenz gab ihm zu denken, und er beschloss, zukünftig noch vorsichtiger zu sein, wenn es um Andeutungen finanzieller Schwierigkeiten ging. Er nahm den Geldbeutel heraus und zählte Scheine auf den Tisch. Es reichte nicht. »Ich muss zur Bank«, sagte Waldmüller und sah auf die Uhr. »Nicht für mich, nur fürs Gericht«, stellte Abel klar, schrieb einen eigenen Scheck aus und schloss die Anzahlung seines Mandanten weg. Die beiden gingen gerade als Abels Sekretärin Jane kam. Sie war perplex, Abel mitten in seinem Urlaub anzutreffen, dazu noch mit einem fremden Klienten. »Hi Babyjane«, rief Abel im Vorbeigehen. »Hat sie dich vor die Tür gesetzt?«, rief sie zurück und hielt sich sofort den Mund zu, weil man vor Klienten nicht über Beziehungen des Chefs herumflachste – schon gar nicht vor unbekannten. Abel nahms gelassen und gab zurück: »Sie würde es anders machen.« Ein verwirrter Blick Waldmüllers streifte den Anwalt. Abel sagte: »Meine Tante Leopoldine.« »Aha.« »Gehen wir.«
Der Klinikalltag hatte viel früher begonnen. Türen flogen auf, Medikamente, Essen und Fieberthermometer wurden verteilt. Die Kinder fingen an zu schnattern und zu spielen, sofern sie in einem Zustand waren, der Zerstreuung zuließ. Viele Kinder schrien, weil ihnen mit dem neuen Tag ihre Schmerzen und ihre Verlassenheit wieder in den Sinn kamen. Der Himmel vor den Scheiben war noch grau und Tau glänzte auf den in der Morgendämmerung schwarzen Blättern der Bäume. Käthe hatte die Vorhänge zurückgezogen und flüchtig hinausgesehen. Die letzten beiden Stunden, so lange mag’s gewesen sein, hatte sie traumlos und tief geschlafen. Es kam ihr vor, als wären es nur wenige Minuten gewesen. Der Hals schmerzte vom Rauchen und im Kopf zog ein dumpfes Gefühl hoch. Es war wie vor einer Prüfung. Man ist konzentriert, aber voll ängstlicher Erwartung. Man möchte viel lieber fliehen, aufgeben, aber es geht nicht. Der Schlaf war nur ein sehr kurzer Augenblick des Luftschöpfens beim Übergang von der Nacht in den Tag gewesen, vor der Konfrontation mit der Realität. Sie wandte sich vom Fenster ab. Nun hatte sie alles beisammen, was sie brauchte: die angespannte Aufmerksamkeit, den Instinkt und das Gefühl. Ein-, zweimal war sie sich noch durch die Haare gefahren, als sie einen Blick in den Spiegel über dem weißen Porzellanbecken geworfen hatte. Nur nicht genau hinsehen in dieses Gesicht, das Müdigkeit und Furcht gezeichnet hatten. Rüber zu Gretchen. Gretchen hatte sich nicht bewegt, war starr und fieberrot. Käthe ließ eine Minute oder zwei ihre Hand auf dem Gesichtchen liegen, zur Beruhigung, damit Gretchen spürte, dass Käthe wieder bei ihr war. Dann ging sie hinaus auf den Flur. Die Schwester, die Käthe aufgescheucht hatte, war weg und nicht mehr zu sehen. Käthe spürte ein Verlangen nach Kaffee und Zigaretten. Nebenbei fiel ihr auf, dass es auf einer solchen Kinderstation
viel lauter, ja man konnte fast sagen, fröhlicher zuging als bei ihren Alten. Aus den Zimmern mit bunt beklebten Türen tönten Kinderstimmen. Ein Junge mit kahlem Schädel radelte eifrig auf einem Dreirad vorbei. Kinder bekamen totalen Haarausfall bei einer Chemotherapie, einer fast endlosen Quälerei, um den Krebs niederzuringen. Dieser kleine Mann hier schien darüber weg zu sein. Aber wie lange? Ein schwacher Flaum wuchs auf der Kopfhaut nach. Er strampelte um die Ecke. Eine Frauenstimme schimpfte. Als Käthe auf dem Balkon stand und rauchte, fragte sie sich, ob ihr Alltag später auch von einer Art medizinischer Hypothek belastet sein würde wie bei den Eltern dieses kleinen Jungen? Ein virulenter Verlauf einer Meningitis konnte schnell zum Schwachsinn führen. Doch dabei behielt man sein Kind. Es drohte nicht der qualvolle Tod. Die wenigen körperlichen und vor allem geistigen Reserven, die nach der Krankheit blieben, musste man dann ausbauen, behutsam, mit Energie und Geduld. Fast war Käthe in diesem Augenblick froh, dass es ihr Kind und sie nicht schlimmer erwischt hatte. Hätte auch was wirklich Schlimmes sein können, sagte sie sich und inhalierte tief. In den Spiegelungen der Glastür sah sie den Arzt auf Gretchens Zimmer zugehen. Sie warf die Kippe über die Balkonbrüstung und rannte in Gretchens Zimmer zurück. Als sie in das Zimmer von Gretchen kam, schüttelte gerade die Schwesternhelferin das Thermometer herunter. Der Doktor war anscheinend in ein anderes Zimmer gegangen. »Sind Sie die Mutter?« fragte das Mädchen, das Käthe noch nicht kennen konnte. »Ja.« »Sieht besser aus«, sagte das Mädchen, »das Fieber ist ein wenig gesunken.«
Sie zeigte das Thermometer vor, doch es war schon heruntergeschüttelt. Käthe wusste ja, wie die Schwesternhelferinnen arbeiteten. Tagtäglich sah sie das! Käthe nahm die Sache in die eigenen Hände, maß, wartete bange Minuten. Endlich: ja, tatsächlich, die rote Säule im Thermometer zeigte an, dass die Temperatur etwas gesunken war. Erst jetzt kam Käthe dazu, Gretchen über die Haare zu streicheln, es zu liebkosen, mit ihm zu flüstern, obwohl es noch apathisch war und nicht auf die Nähe der Mutter reagieren konnte. Dass es nun gut werde, flüsterte sie Gretchen ins Ohr, klar doch, bald gehn wir zusammen nach Hause, und dann bekommst du was geschenkt, weil du so tapfer warst und gegen die Krankheit so tüchtig gekämpft hast. Und weil sie gerade dabei war, freigebig zu sein, versprach Käthe Gott, den sie zwar nicht unmittelbar für die Besserung verantwortlich sah, sein Mitwirken andererseits nicht ausschließen mochte, dass sie mit dem Rauchen aufhören würde. Zwar war dies eine Geste, die nach dem Stand der medizinischen Erkenntnisse ausschließlich ihr selbst zugute kam, aber so was schmerzte und passte deshalb ins Schema eines Geschäfts mit dem Abstrakten. Der Arzt von gestern Abend kam herein. Nach einer langen, schweren Nacht hatte er nur noch einige fachmännische Handgriffe für diesen Fall übrig. »Temperatur?« »Besser, viel besser«, sagte Käthe und lachte. Der Doktor ließ sich den Wert geben, verglich schweigend, sah sich noch einmal die Verordnung an und sagte: »Naja.« Was sollte er der Mutter auch sagen? Dass morgens die Temperatur physiologisch in solchen Fällen oft niedriger war als abends? Er war sicher, dass sie das als Krankenschwester wusste, aber verdrängte. Er sah, wie ihre Augen strahlten, bloß weil die Temperatur ein paar Striche gefallen war. Erst gegen
Abend wird sich zeigen, was mit dem Kind los war, dachte der Arzt. »Wir geben das Penicillin weiter so wie bisher«, sagte er. Dabei nahm er in Kauf, dass man ihn so interpretierte, als sei dies nur noch eine Vorsichtsmaßnahme. »Schaffen wir es?« »Wir tun unser Bestes. Gehen Sie zur Arbeit, das lenkt ab.« Mütter störten eh nur den Klinikalltag. Der Piepser in seiner Tasche begann zu pfeifen. »Ich muss«, sagte er. »Warum bekreuzigen Sie sich immer?«, fragte Käthe. »Ich habe mich nicht bekreuzigt«, antwortete der Arzt. »Gestern Abend«, präzisierte Käthe. »Ich habe das noch nie bei einem Arzt gesehen.« Der Mann lachte unsicher und hängte sein Stethoskop ab. Den Piepser hatte er mit einem Griff beruhigt. »Ich bin halt gläubig, das ist alles.« »Ich hab mit Ihrem Gott gestern einen Handel abgemacht«, erwiderte Käthe, und ihr fiel auf, dass es für sie der Gott der anderen war, mit dem sie ins Geschäft hatte kommen wollen. Da sagte der Arzt prompt, dass es der Gott aller Menschen sei, an den er glaube, und dass dieser Gott sich auf Handel nicht einlasse. Jesus habe die Händler bekanntlich aus dem Tempel vertrieben. »Was für ein harter und strenger Mann Ihr Gott ist«, sagte Käthe, und dann fügte sie hinzu, »wo er sich durch eine beiläufige Geste wie das Bekreuzigen bestechen lässt?« »Das schon gar nicht«, sagte der Arzt und ging, weil der Piepser wieder anschlug. Für einen Laien ist der Organismus eines großen Stadtgerichts unüberschaubar, allein schon die vielfältigen Bezeichnungen: Kammern, Geschäftsstellen, Dezernate, Senate verwirren ebenso wie die Funktionstypen der Urkundsbeamten, Einzelrichter, Rechtspfleger,
Berichterstatter, Vorsitzenden, Präsidialrichter und was dem Erfindungsgeist der Bürokraten in den Justizministerien noch an Amtsnamen entsprungen ist. Wer zu Gericht geht, sucht sein Recht. Dass es nur durch eine mächtige, minuziös organisierte Institution hergestellt wird, ist ein Symbol der modernen Zeit. Allerdings wäre es falsch zu glauben, die Gerichtsbarkeit der früheren Tage sei offener, direkter und warmherziger für den Menschen gewesen. Der Dorfrichter Adam, korrupt und durchschaubar, folglich mit menschlichen Zügen ausgestattet, ist kein Archetypus, er ist eine Erfindung des Dichters. Justiz war immer hart, oft willkürlich, forderte Respekt. Respekt setzt Einschüchterung voraus. Darin sind die Juristen von alters her Meister. Einschüchternd in Sprache und Riten, die kaum einer versteht. Roben werden noch heute getragen, schwarz wie die der Priester, zugleich als Farbe des Todes in den unteren Instanzen, bei den Bundesgerichten rot, die Farbe der Warnsignale, der aggressivste Ton im Spektrum. Rot sind die Kommunisten, und der Teufel ist rot. Nur in manchen Bundesländern kleiden sich die Verwaltungsrichter in ein melancholisches Blau. Zur Einschüchterung gehört auch immer schon eine labyrinthische Organisation gesetzlich vorgezeichneter Zuständigkeiten und Pfade, die zu der für die Entscheidung des Falles zuständigen Instanz führen. Der Grund dafür liegt darin, dass durch diese Vorgaben der Fall nur zufällig an einen der Richter oder der Spruchkörper gelangt: das Prinzip des gesetzlichen Richters. Nichts soll vorher abgesprochen erscheinen. Andere behaupten, das System sei allenfalls dazu da, die Arbeit gleichmäßig zu verteilen, damit keiner das Gefühl habe, er arbeite mehr als sein Kollege. Es mag sein, wie es will. Die Partei im Prozess hat ihren Anwalt, damit man sich zurechtfindet. Damit ist diesem Berufsstand eine Pfadfinderfunktion zugewachsen, die über die
Interessenvertretung und die Fürsprache weit hinausgeht. Wer sich auf dem Instanzenweg einen Fehltritt leistet, kann mit seinem Klienten abstürzen wie ein Bergführer, der einen Tritt im Felsen verfehlt. Dort kostet es das Leben, hier verliert man sein Recht aus rein formalen Gründen, ohne dass über die Berechtigung des Anspruchs gestritten worden ist. Zudem trägt man die Gerichtskosten und bezahlt die Anwälte, wenn man sich vor einem Regressprozess wegen schlechter Erfahrungen fürchtet. Waldmüller konnte an diesem Morgen selbst verfolgen, wie Abel mit seinen Schriftstücken bewaffnet das Gericht betrat, zielsicher auf eine der vielen Türen, die sich in nichts von den anderen unterschied, zustrebte, sich dort einen Stempel und einen Eintrag im Prozessregister abholte, dann in eine andere Amtsstube wechselte, wo man eine Akte anlegte, um schließlich mit der Geschäftsstellenbeamtin, die das Aktenstück nun amtlich trug, zum Zimmer des Amtsrichters zu gehen. Waldmüller hatte geschwiegen. Für ihn waren diese Präliminarien nicht wichtig, es zählte nur das Ergebnis. Waldmüller spürte unangenehmen Schweiß auf den Händen und seiner Brust. Er nahm es als gegeben hin, dass ein Anwalt persönlich die Botengänge übernahm. Für ihn war, wie übrigens für jeden Mandanten, sein eigener Fall der wichtigste und deshalb das Beste gerade gut genug. Abels Attacke vorhin im Büro hatte ihren Zweck verfehlt, Rolf Waldmüller wirklich nachdenklich zu machen. Ob die ihm unbekannte Rechtsanwältin Maller auch Botengänge machte, erwog Waldmüller nicht. Er hatte Zweifel, ob Abels Klageziele ausreichend waren, deshalb wartete er in einer lauernden, nervösen Haltung ab. Die Kündigung des Mandats hing über Abel wie das berühmte Schwert des Damokles. Abel spürte die Skepsis seines Mandanten. Aber was soll’s?
Die Beamtin klopfte an eine Tür. Daneben hing ein Schild: »Dr. Kehrmeister, Ri. a. AG.« Es kam keine Antwort. »Sonst ist er immer gegen neun hier«, sagte die Frau. »Dann nehmen wir einen anderen.« Waldmüller hatte die Hände in der Tasche. Er schaute Abel an. So, jetzt zeig, was du kannst, sollte der Blick bedeuten. »Wir müssen warten, er ist alleine zuständig«, entschied Abel und zeigte auf eine Bank auf dem Flur schräg gegenüber der Zimmertür. Waldmüller nahm es widerwillig hin und setzte sich neben seinen Anwalt. Er kalkulierte im Kopf durch und kam zu dem Ergebnis, dass Abel sich sicher aus gutem Grund diesen Dr. Kehrmeister gesucht hatte. Davon, dass die Geschäftsverteilung Kehrmeister zum Richter bestimmt hatte, wusste er nichts. Sie warteten und schwiegen. Abel hing in Gedanken seinem Urlaub nach. Das kleine Haus würde nun sicher schon voll von der Morgensonne beschienen sein, trotzdem war es bestimmt noch kühl hinter den Klappläden. Durch die Ritzen fiel ein Netzwerk von Lichtstrahlen auf den Kachelboden. Carol schlief sicher noch, lag nackt auf dem Bauch und hatte sicher mit einem schläfrigen Griff ihre dunklen, langen Haare aus dem Nacken über den Kopf gelegt. Abel stellte sich ihren Nacken vor, Schweißperlchen am Haaransatz. Draußen schrien Zikaden. Gegen zehn würde die Müllabfuhr erscheinen und mit den Abfalleimern lärmen. Dann war auch in dem kleinen Haus die Nacht vorbei. Abel sah an Waldmüller vorüber, weil wieder jemand den Korridor herunterging. Es war nicht der Richter Kehrmeister. Abel kannte ihn flüchtig und wusste, wie er aussah. Waldmüller sah Abel fragend an. Der Anwalt schüttelte den Kopf. Abel sparte sich die Frage, wie Waldmüller geschlafen hatte. Der Klient war wieder sehr gut angezogen, alle modischen Akzente waren dort, wo sie hingehörten, nichts war
übertrieben. Seine eingefallenen Wangen waren pedantisch glatt rasiert. Er roch angenehm nach Puder und Aftershave. Abels Kleidung dagegen war eher durchschnittlich, was Carol des öfteren sehr bemängelt hatte. Ihm fehlte das Gespür für die richtige Zusammenstellung der Farben und die Auswahl der aktuellen Schnitte. Carol half ihm zwar beim Einkaufen, seit sie zusammen waren, aber das war noch nicht so lange her, und Abel kombinierte die Kleidungsstücke wahllos miteinander, suchte sie sich eher danach aus, was nicht zwickte – des kleinen Bauches wegen – und was gerade nicht in der Reinigung war. Er vertrat die Theorie, dass man über kurz oder lang ohnehin merkte, ob ein Mann in den Kleidern steckte oder nur ein Darsteller. Kleider machten möglicherweise Leute, aber kaum Charaktere. Als Kehrmeister endlich kam, war es schon fast halb zehn. Waldmüller hatte immer öfter auf die Uhr gesehen. Da kam der Richter, begrüßte die beiden Männer kurz, schloss auf und winkte sie in sein Amtszimmer, dessen spärliche Einrichtung auf einen spröden Bewohner schließen ließ. Auf der Geschäftsstelle hatte man ihm die Akte schon ausgehändigt und ihm erklärt, der Anwalt warte mit der Partei. Kehrmeister, der von rascher Auffassungsgabe war, bot den beiden Platz auf einfachen Holzstühlen an, noch im Hinsetzen schlug er das Dossier auf und begann, konzentriert und schnell zu lesen. Hie und da hielt er inne, blätterte zurück, verglich und las dann weiter, ohne aufzusehen oder den Anwalt um Erläuterung zu bitten. Endlich war er fertig. »Gestatten Sie eine Frage, Herr Waldmüller?«, sagte er. Waldmüller nickte. »Weiß die Beklagte schon etwas von ihrem Glück?« Darauf hatte Waldmüller gerade gewartet. »Sicher nicht«, sagte er stolz.
Der Richter streifte Abel mit einem Seitenblick, der keineswegs überheblich war oder lehrerhaft wirkte, eher ein wenig besorgt. Abel biss sich auf die Lippe, mit den Fingern kniff er in die Nasenwurzel. Er begann nervös zu schwitzen. Wie hatte er die Benachrichtigung nur vergessen können? Der Richter fuhr fort: »Ihre Informationen über die Zahlungseinstellung bei der Beklagten, sind die seriös?« »Natürlich«, antwortete Waldmüller. Er begann zu erklären, dass Geschäftsfreunde wie auch seine Hausbank ihn gewarnt hätten. Auch in der Zeitung habe gestanden, dass die Firma bedroht sei. »Ja«, sagte der Richter, das habe er auch gelesen, »bedroht ist aber noch nicht Konkurs.« »So was steht vor dem Konkursantrag in keiner Zeitung«, sagte Abel dazwischen, »die Presse fürchtet sich vor Schadensersatzansprüchen.« »Andere täten gut daran, auch vorsichtig zu sein«, bemerkte der Richter Kehrmeister lakonisch. Waldmüller bezog das auf sich, wollte kontern, doch Abel griff besänftigend nach dem Oberarm seines Klienten. »Mal anders gefragt, Herr Waldmüller«, fuhr Kehrmeister fort, »kann denn die Beklagte einigermaßen weiterproduzieren, wenn Sie Ihre Maschine abbauen lassen?« Waldmüller überlegte. Er war vorsichtig genug, um zu erkennen, dass seine Antwort auf der Feinwaage gewogen werden würde. Sagte er – wahrheitswidrig – dass es kein Problem für die Firma sei, musste er sich fragen lassen, was das ganze Theater sollte, räumte er Schwierigkeiten ein, war der Richter vielleicht nicht mehr bereit, die Verfügung zu erlassen. »Es fallen Kapazitäten aus«, sagte er zögernd. »Wie viel? Prozentzahlen?« »Weiß nicht.« Waldmüllers schmaler Brustkorb hob sich regelmäßig unter den Atemzügen. Abel fiel auf, wie gut der
Mann pokern konnte. Dabei war er selbst fiebernd damit beschäftigt, sich etwas auszudenken, damit der Antrag nicht schon über den Mangel einer vorher gegenüber Quast & Co. ausgesprochenen Kündigung stürzte. Denn daran, eine formelle Kündigung an die Firma Quast zu schicken, hatte Abel in der Eile nicht gedacht. Ohne Kündigung war der Vertrag jedoch noch nicht aufgelöst, es bestand folglich kein Anspruch auf die Herausgabe der Maschine. Da schwafelte er in seinem Schriftsatz auf zwei Seiten über Grund und Folgen einer außerordentlichen Kündigung und vergaß, die Kündigung auszusprechen! Abels Nervosität steigerte sich, weil der Richter diesen wunden Punkt nicht wieder berührte, obwohl er ganz offenbar sofort die Schwäche des Schriftsatzes erkannt hatte. Ein klärender Hinweis des Dr. Kehrmeister vor dem Mandanten, und Abel war den Fall los. Statt Honorar hätte er einen Haftpflichtfall in eigener Sache am Hals. Ende mit Urlaub! Bravo! Abel spürte, wie ihn die Wut auf sich selbst lähmte. Waldmüller redete unterdessen davon, dass er Handelsvertreter für Produktionsmaschinen war und nicht Produktionsleiter bei der Firma. Doch Kehrmeister insistierte. Einen ungefähren Anhaltspunkt brauchte er. »Vielleicht fällt die Hälfte aus«, sagte Waldmüller. Das war ein Kompromiss. »Gut.« Kehrmeister nickte, dann sah er vom Anwalt zur Partei und wieder zurück, wie vor einer Urteilsverkündung. Es war ein Blick, mit dem sich der Richter der Aufmerksamkeit der Betroffenen vergewisserte. Doch er fällte keine Entscheidung, sondern bat Waldmüller, kurz vor die Tür zu gehen. Der Mandant erhob sich und schloss sorgfältig sein Jackett. Man erkannte, dass es ihm unwohl war, wenn er nun die zwei Juristen allein verhandeln lassen musste. Warum der
Abel nur alles so über sich ergehen ließ, nicht dazwischenfunkte, plädierte, fragte er sich. Um zu beurteilen, ob das Verhalten des Anwalts falsch war, müsste er wissen, wie die Sache stand. Da er das nicht abschätzen konnte, war er noch unsicherer. Er ging hinaus. Abel wartete auf die Ohrfeige. Der Richter Dr. Kehrmeister klappte die Akte zu und sagte nur ein Wort: »Unschlüssig.« Abel nickte. Unschlüssig nennen die Juristen einen Vortrag, der den geltend gemachten Anspruch nicht rechtfertigt. Wer beispielsweise behauptete, er bekomme kraft eines Mietvertrages Mieter, musste den Vertrag vorlegen. Wer eine Kündigung behauptet, muss sie genauso selbstverständlich nachweisen. Da halfen alle klugen Analogien zu Kopfsalatund Eierfällen des Reichsgerichts nicht weiter. Abel war einen Augenblick lang versucht, die Kündigung zu behaupten und zu lügen, dass er ein entsprechendes Schreiben abgefasst und abgesendet hatte, lediglich vergessen habe, die Kopie beizufügen. Abel schwieg besser. »Heute Mittag um zwei«, sagte Kehrmeister. Er sah auf die Uhr. Sie zeigte halb elf. Um zwei werde er hier im Zimmer versuchen, einen Erörterungstermin mit allen Beteiligten zustande zu bekommen. Die Beklagte werde er telefonisch laden, falls niemand komme, könne man dann aber auch ohne Anhörung der Gegenpartei entscheiden. Er machte sich auf einem Schmierzettel Notizen. »Ich hasse es, auch in den dringendsten Fällen, wenn ich ohne Anhörung beider Seiten entscheiden muss.« Abel nickte. Galgenfrist bis 14 Uhr. Kehrmeister hatte ihm eine Chance gegeben. Bis um zwei konnte er das Kündigungsschreiben der Beklagten zustellen. Kehrmeister sah nicht mehr hoch, er entwarf handschriftlich einen Beschluss. Abel betrachtete ihn. Ein bulliger Mann, Mitte Fünfzig, mit dichten, grauschwarzen Haaren und einem Gesicht, das hart
wirkte, weil tiefe Falten es in Sektoren aufteilte, die kantig zueinander standen. »Danke«, sagte Abel. »Die Beklagte nimmt normalerweise den Rechtsanwalt Dr. Gawliczek. Machen Sie sich auf was gefasst.« »Ich habe von ihm gehört«, sagte Abel. »Und noch was.« Jetzt kommt die Ohrfeige, die persönliche Anspielung auf den Fehler, dachte Abel. Er sah es dem Gesicht des Mannes ihm gegenüber an. »Wenn ich diese Einstweilige Verfügung erlasse, liegt der halbe Betrieb lahm, wie Ihr Mandant einräumt. Dann geht die Firma endgültig baden. Weiß Ihr Mandant, dass er sich schadensersatzpflichtig macht, wenn die Verfügung später dort oben« – ein Finger zeigte zur Decke, als säße unmittelbar dort die nächste Instanz – »aufgehoben wird?« »Der Herr Waldmüller ist auch pleite, wenn wir die Verfügung nicht bekommen,« antwortete Abel. »Er kennt sein Risiko.« Heute taugte Käthe nichts für ihren Arbeitgeber. Sie lief im Haus herum, erkundigte sich bei den Internisten und den Neurologen, fragte sich durch die Lehrmeinungen und wurde unruhiger, je mehr Details sie von der Krankheit und ihren Folgen erfuhr, die auf der Geriatrischen Abteilung keine Rolle spielte. Auf der eigenen Station ließ Käthe sich kaum sehen, eine Schwesternhelferin übernahm einige ihrer Aufgaben. Die Alten waren geduldig. Sie hatten ohnehin nichts mehr zu sagen, wenn sie unter das Kuratel der Klinikverwaltung gekommen waren. Sie lagen da wie einsame Tiere in der Versuchsstation eines pharmazeutischen Forschungsbetriebes. Sie wurden leidlich sauber gehalten, und man war höflich zu ihnen, wenn sie keine Schwierigkeiten bereiteten und im Schlupfloch ihrer abgekapselten Persönlichkeit blieben. Weil Schwester Käthe ohnehin zu den korrekteren gehörte, wurde
sie bei den Alten nicht vermisst. Die junge Schwesternhelferin war zwar nicht so hübsch wie Käthe, was einige der rüstigeren alten Herren auf der Station bedauerten, dafür lächelte sie öfter und war auch mal für einen anzüglichen Spruch zu haben, wie er alten Knaben besonders gut gefiel. Schwester Käthe pflegte auf diese harmlosen Scherze eher abweisend zu reagieren. Heute wirkte sie zerstreut und sogar aggressiv, wenn sie falsch angeredet wurde. Sie telefonierte schon zum dritten Mal mit dem Doktor in der Kinderklinik. Keine Veränderung, hieß es. Man müsse eben warten. Der Ton des Arztes kam ihr abweisend und unbeteiligt vor. Natürlich störte Käthe mit den Telefonaten. Natürlich wusste sie selbst am besten, wie sehr es nervt, wenn einen die Angehörigen laufend belästigten. Aber es war doch ein Unterschied, ob es um einen akuten Fall ging oder um den Blutdruck eines senilen Greises, und deshalb brauchte sie nicht viel Überwindung, auch noch ein viertes Mal anzurufen. Nun wurde sie gar nicht mehr verbunden. Sie redete mit der Stationsschwester und fragte, ob sie nicht besser kommen sollte? »Nein«, antwortete die Kollegin, »Sie können eh nicht helfen.« »Ist immer noch alles unverändert?« »Ja.« »Wirklich nicht schlechter?« »Nein.« Käthe zögerte noch. Sie erinnerte sich an den Tipp, den ihr ein junger Internist vorhin gegeben hatte und fragte, ob man Immunal auf der Station habe. »Immunal?« »Ja, ein neues Medikament. Es soll gegen Krebs helfen«, sagte Käthe, »es ist aber noch unklar, ob das stimmt«.
Die Kollegin unterbrach sie und wies mit geduldiger Stimme darauf hin, dass Gretchen keinen Krebs habe, sondern eine akute Infektion der Hirnhaut. »Richtig«, sagte Käthe beschwörend, »aber sie nehmen es auch bei schweren Infektionen. Es soll sogar selbst dann noch mit Erfolg einsetzbar sein, wenn das Immunsystem des Körpers zusammenbricht.« Die Kollegin am anderen Ende fragte jemanden, der in der Nähe stand, ob man Immunal da habe. Käthe verstand den kurzen Wortwechsel nicht. Sie hörte nur eine Männerstimme lachen. »Nein«, sagte die Kollegin jetzt ins Telefon, »Immunal gibt es noch nicht im Handel. Es ist erst im klinischen Versuch… wenn überhaupt.« Es hört sich bei denen wie eine Zumutung an, wenn eine Mutter wegen ihres kranken Kindes um Rat fragt, dachte Käthe und legte den Hörer auf. Sie verfluchte schon seit vorgestern diesen Ausflug, den sie mit ihrem Gretchen gemacht hatte. Sie hatte sich an diesem Sonntag mal wieder ausführlich um Gretchen kümmern wollen. Das war fest eingeplant. Eine Mutter, die für den Unterhalt selbst aufkommt und arbeitet, hat immer zu wenig Zeit. Das bekommt man manchmal sehr deutlich im Verhalten des Kindes zu spüren, dachte sie. Käthes Schuldgefühle wurden etwas besänftigt, wenn sie ihrer Tochter Zeit zuteilte. Daneben wollte sie ja auch selbst noch etwas vom Leben mit dem Kind genießen. Neunundzwanzig ist kein Alter. Und eigentlich ist ein Kind heute kein Handicap. Sein Essen hat es, seine Kleider und seine Spielsachen, und auch die Liebe, die es braucht. Gretchen war manchmal viel zu sehr von ihrer Mutter umtüttelt, fand Käthe. Trotzdem! Hätte Käthe sich doch nur nicht so von ihren Schuldgefühlen plagen lassen und gerade an diesem Sonntagnachmittag etwas anderes unternommen, als in einem vor Hitze flimmernden Wald mit Gretchen spazieren zu gehen und Pilze zu sammeln, die man nicht kannte und deshalb
abends wegwerfen musste. Alles wäre in Ordnung gewesen, normal. Sie hatte blöderweise darauf verzichtet, auf die BarbecueParty bei dem Zahnarzt zu gehen, zu der sie eingeladen worden war und dessen Frau sich wegen Kindern bekanntermaßen pingelig anstellte. Warum hatte sie auf diese blöde Kuh Rücksicht genommen? Käthe hatte auf die Gefühle dieser kühlen Frau auch keinen Wert gelegt, als sie vor einem halben Jahr eine Affäre mit dem Zahnarzt hatte. Heutzutage sind auf solchen Festen immer Kinder. Bei dem Zahnarzt aber eher nicht. Ganz abgesehen davon, dass der Zahnarzt kein sehr herzliches Verhältnis zu Gretchen hatte. Genauer gesagt, er hatte Käthes Kind gemieden. Sie hatten beide immer genau darauf geachtet, dass Gretchen nicht mitbekam, dass dieser Mann gelegentlich nächtliche Stunden in Käthes Schlafzimmer verbrachte. Käthe hatte davor zwei andere Männer näher kennen gelernt. Die beiden hatten Gretchen allenfalls freundlich geduldet. Geliebt hatte sie keiner. Wie auch, wenn diese Männer nicht einmal Käthe zu lieben vermocht hatten? Naja, vielleicht wurde es eines Tages besser in dieser Hinsicht. Es gab ja einen neuen Mann in Käthes Leben, der von Anfang an keine Heimlichtuerei vor Gretchen verlangt hatte. Man wird schon sehr bescheiden in den Ansprüchen, dachte Käthe. Sie schickte die Helferin ins Zimmer 324, weil der Alte mit der künstlichen Hüfte unentwegt klingelte, und machte sich zur Krankenhausapotheke auf, um sich dort nach dem Wirkstoff Immunal zu erkundigen, dessen Eigenschaften ein junger Internist im Hause in so glühenden Farben geschildert hatte. Abel war Waldmüller ohne viel Fragerei losgeworden. Darüber war er froh. Er war nicht ins Schwimmen geraten, als sein Mandant anwesend war, aber er hatte dessen Misstrauen deutlich gespürt. Schon seit heute nacht. Er wusste jedoch nicht, wo die Wurzeln dafür zu suchen sein könnten.
Verdammt noch mal, dachte er, als er zurück ins Lehel fuhr. Da kommt man extra aus dem Urlaub, setzt sich ein wie ein Berserker und dann dieses nicht greifbare Misstrauen! Abel verdrängte seinen Fehler. Er fand, welch eine Rarität, in der Pfarrstraße einen Parkplatz und machte sich eilig auf den Weg in seine Kanzlei, wo er Janes Fragen nach der plötzlichen Anwesenheit mit ein paar Stichworten erklärte und das Kündigungsschreiben an die Firma Quast diktierte. Abels Auto rollte kurz darauf stadtauswärts in ein Industriegebiet am Frankfurter Ring. Er fand schnell das Produktionsgelände der Firma Quast. Eine hohe Betonmauer umsäumte es. Sie hatte langgezogene Rostflecken von schadhaften Armierungen. Ein breites Tor gähnte. Der Schlagbaum verschloss den Zugang. Dahinter, zwischen roten Backsteinfluchten, eine unbelebte Werksstraße. Es schien als ruhe der Betrieb. Abel parkte, stieg aus und ging zum Pförtner. Erst auf mehrfaches Klopfen an der Scheibe rührte sich das alte Gesicht und sah herüber. »Was ist los?«, wollte eine Stimme aus dem Lautsprecher wissen. »Ich möchte zur Geschäftsleitung«, sagte Abel. »Geht nicht. Betriebsversammlung. Alles auf den Beinen.« »Egal, ich will nur einen Brief abgeben«, sagte Abel und schob das Schriftstück im Kuvert durch einen Schlitz hinter die Glasscheibe. Ob der Pförtner der Ordnung halber quittieren könnte? Der alte Mann betrachtete den Absender. »So, jetzt werden also die Anwaltsschreiben schon von Boten gebracht, soweit ist’s schon«, sagte er in schleppendem bayrischem Tonfall, »wo quittieren?« Abel schob ein vorbereitetes Blatt Papier nach. Der Pförtner las und unterschrieb mit der Linken, tief über den Zettel gebeugt.
»Worum geht es denn bei der Betriebsversammlung?«, fragte Abel. »Um nix, wos Sie wos angehen tät«, antwortete der Pförtner kurz und schaltete den knisternden Lautsprecher ab.
In der Mittagspause konnte Käthe ihren neuen Bekannten erreichen. Sie hatte es schon ein paar Mal vergeblich versucht. Seine Sekretärin hatte sie stets vertröstet. Dabei brauchte sie gerade jetzt jemanden, dem sie erzählen konnte, wie fertig sie war und wie dreckig es ihr ging. Von ihren Sorgen hatte seit gestern Abend noch keiner wirklich was hören wollen. Ja, der Chef sei gerade gekommen, sagte die Sekretärin und stellte durch. »Waldmüller«, sagte die heiser und hoch klingende Männerstimme am anderen Ende. Käthe meldete sich und begann zu erzählen, dass Gretchen im Krankenhaus lag. Doch schon nach ein paar Sätzen wurde sie unterbrochen. »Schlimm?«, fragte Rolf Waldmüller. »Es steht auf der Kippe«, antwortete sie. »Wenn, dann scheißt der Teufel gleich zweimal auf denselben Haufen«. »Wieso?« Waldmüller sprach über sein Problem und erkundigte sich dann, was eine Meningitis ist. Käthe erklärte, verhaspelte sich, stockte, weil sie spürte, dass Waldmüller finanziell das Wasser bis zum Hals stand und sie verstehen konnte, dass er nur mit halbem Ohr zuhörte. Deshalb konnte er auch bald unterbrechen, um seine eigenen Neuigkeiten loszuwerden. Dann redete er eine Viertelstunde lang über seine Aussichten, nun doch an die Maschine zu kommen und sie losschlagen zu können. »Der Profit wäre was für meiner Mutter Sohn«, sagte
er. Selbst wenn man die Anwaltskosten abziehe, die an ihm hängen blieben, weil der Gegner in Konkurs gehe. Das wäre nur ein Muckenschiss. Dann könnten sie endlich mal raus, Tapetenwechsel, Urlaub. Dorthin, wo die Strände weiß und sauber waren, wo man allein war und wo mans am Strand auch mal machen konnte, wenns einem danach war. Er lachte. Käthe riss sich zusammen und lachte auch. »Gretchen ist doch in guten Händen in der Klinik, oder?« »Schon, aber sie können nichts machen. Momentan jedenfalls.« »Wird schon gut gehen«, tröstete Waldmüller. »Und dann feiern wir richtig. Weil jeder was zu feiern hat. Okay?« »Und Gretchen?« »Gretchen kannst du bequem zu deiner Freundin tun, wenn sie gesund ist«, sagte Waldmüller. Doch da wurde Käthe stur, fast hysterisch. »Nein, Gretchen kommt mit.« »Schaun wir mal«, sagte Waldmüller. »Sie ist ja ganz lieb. Klappt schon irgendwie.« »Mal sehen wie es Gretchen geht…« Bisher hatte sie keine Zigarette gebraucht. So absurd das für einen Raucher auch klingen musste, bei dem bisher alle Tätigkeiten stets von einer qualmenden Zigarette begleitet worden waren. Aber bei dem Gespräch mit Rolf, da stieg ihr eine unbezähmbare Gier in den Hals. Ja, die Gier nach dem Nikotin saß fest, war verknüpft mit einem tiefen Zug, dem Einatmen des Rauchs. Drüben auf dem Sessel lag ihre Handtasche. Da hatte sie sicher noch ein Päckchen drin, zumindest aber Eurostücke für den Automaten. Doch im Moment war die Bindung an den Handel mit Gott noch stärker. Weil sie sicher war, dass er alles kontrollieren konnte, wenn er wollte, hielt sie sich an ihre Abmachung, auch
wenn sie selbst keinerlei Kontrolle über sein Wirken hatte. Allenfalls das Ergebnis konnte sie beurteilen. Unterdessen redete Waldmüller über seinen Fall, immer wieder unterbrochen mit kleinen höflichen Bemerkungen, die Sorge um Käthes Tochter zum Ausdruck bringen sollten. Er erwog die Frage, ob man sich seitens der ohnehin bankrotten Firma überhaupt zur Wehr setzen würde. Käthe trank ihre Tasse Pfefferminztee dabei aus. Sie fühlte sich klebrig und dachte, sie müsse eigentlich duschen. Nichts half ihr über die Gier nach Nikotin hinweg. Sie schaukelte auf dem Stuhl in ihrem verglasten Dienstzimmer, den Hörer in der Hand und die Lider halb geschlossen, die Zungenspitze zwischen den Zähnen. Als Waldmüller eine kleine Pause einlegte, fragte sie halbherzig, was denn mit der Einladung zu Rolfs Geschäftsessen heute Abend sei. Sie fragte in der vagen Hoffnung, dass Gretchen bis acht über den Berg sein und es Grund zum Feiern geben könnte. Das ewige Warten laugte sie aus. Sie konnte nicht immer zu Hause bleiben. »Von mir aus«, antwortete er. »Aber packst du das nach dem mit Gretchen?« »Ja, ja, klar doch, ich bin doch übers Handy zu erreichen«, sagte sie. »Ich hol dich ab«, sagte Waldmüller. »Ich hupe. Dreimal lang, zweimal kurz, wie gehabt.«
»Die beiden Geschäftsführer werden dringend im Werk gebraucht«, sagte der Rechtsanwalt Gawliczek, deshalb habe er den Prokuristen mitgebracht. Er nannte den Namen Boese und erläuterte dessen innerbetriebliche Funktion. Der Prokurist Boese war ein höflicher Mann mit ältlichem Gesicht. Er hatte einen unauffälligen Konfektionsanzug an. Er stand auf und
verbeugte sich gegenüber dem Richter am Amtsgericht, Dr. Kehrmeister, der die Verhandlung kurz nach zwei begonnen hatte. Gawliczek sagte mit verbindlichem Ausdruck, dass er sich bei dem Kollegen Abel dafür bedanken müsse, dass dieser so freundlich gewesen sei, der Beklagten mit dem Kündigungsschreiben sogleich eine Kopie des Verfügungsgesuchs zu überbringen, so habe man sich sachdienlicherweise ein wenig vorbereiten können. Er beugte sich vor, weil alle Beteiligten eng nebeneinander in einer Reihe an der Wand vor dem Richterschreibtisch im Büro von Kehrmeister saßen. Nur so konnte er den Kollegen ansehen. Er lächelte. »Besten Dank, Herr Abel«, sagte er. Bei Abel gingen alle Warnlampen an, wenn ein Gegner ihm so kam. Das ist er also, der bekannte Rechtsanwalt Gawliczek! Er hatte ihn bisher noch nie gesehen, wie auch, wenn Anwälte wie dieser Kollege nur in den seltensten Fällen selbst zu Gericht gingen? Er hatte nur über ihn reden hören. Das war er also: klein, mit einem gewissen Fettansatz um die Hüfte und einem freundlichen, für sein Alter von fast siebzig glatten Gesicht mit roten Bäckchen. Das schwarze Brillengestell wirkte viel zu groß. Außerdem hatte er so weiße Haare, wie sie sich jeder bei seinem eigenen Großvater wünschen würde. Egal wie: Vorsicht! Der Alte galt als glatt und aggressiv wie eine Kobra. Gawliczek lehnte sich zurück und blätterte in seinen Papieren. Mit bedauerndem Tonfall sagte er, dass die Zeit bis um zwei freilich nicht ausreichend gewesen sei, selbst bei größtem Bemühen, um sich eine Meinung zu bilden. Er selbst habe, wenn er das in aller Bescheidenheit hinzufügen dürfe, bisher auf die Mittagsmahlzeit verzichtet, dennoch sei er bisher zu keinem Ergebnis gekommen. Achselzucken. Freundliches Lächeln.
Abel war sich über die Taktik des Gawliczek nicht klar. Doch das hier roch nach Verschleppung. »Herr Kollege«, sagte er und versuchte ebenfalls, verbindlich zu klingen. Aber das misslang bei einem wie dem Abel. »Mein Mandant hat, wenn man es richtig sieht, schon lange genug gewartet.« »Verbindlichen Dank, wir wissen das zu schätzen«, antwortete Gawliczek. »In der Krise hat man keine Freunde, da ist man für ein wenig Vernunft dankbar. Immerhin hängen über fünfhundert Arbeitsplätze am Sein oder Nichtsein der Firma Quast. Da macht man sich jede Entscheidung schwer.« »Als würden nicht die Interessen der Kapitalseite auch…« »Gewiss, gewiss«, erwiderte Gawliczek und wandte sich an den Richter, »der Herr Kollege weist zu Recht auch auf diese Interessen hin. Sie existieren ohne Frage. Aber es entspricht einer völlig unzeitgemäßen Betrachtungsweise, würde man dem Unternehmer unterstellen, allein der Profit sei eine Perspektive. Nein, die gesamtgesellschaftliche Verantwortung zwingt…« Kehrmeisters Finger huschten ungeduldig über die Akte. Abel sagte: »Meine Güte, Herr Kollege, das hier ist keine politische Veranstaltung, hier geht’s, bitte sehr, um die Fakten. Und Fakt ist, dass der Verfügungskläger behauptet, dass seine Forderung notleidend wird.« Ein Blick zum Richter, der knapp nickte und hinzufügte: »Der Rest, Kaufvertrag, Lieferung, Zahlungsvereinbarung, wird dann wohl nicht bestritten, wenn ich’s richtig sehe?« »Völlig richtig«, bestätigte Gawliczek und lächelte fast heiter. »Bloß, gerade bei der angeblich drohenden Insolvenz liegt der Haken an der Sache. Gerüchte sind keine Fakten.« »Sie haben doch eben selbst das Wort Krise benutzt!« »Krise ist keine drohende Insolvenz, das muss man sauber auseinanderhalten.«
Gelang es den Leuten von Quast hier vor dem Schreibtisch des Amtsrichters, die drohende Insolvenz fragwürdig erscheinen zu lassen, musste Waldmüller mit seinem Antrag scheitern, und sein Anwalt hatte vergebens den Urlaub abgebrochen. Bitter wäre allerdings, wenn am Ende der Konkursverwalter doch in die Räume der Geschäftsleitung einzog und sich dort breit machte. Firmen mit akuten Zahlungsschwierigkeiten sind wie Ertrinkende, die sich an alles klammern. Hauptsächlich daran, die laufenden Aufträge ausführen zu können, um Geld zu bekommen. »Es fällt fast die ganze Produktion aus. Die Folgen sind verheerend. Es muss sofort Kurzarbeit beantragt werden. Der einzige Auftrag, der uns« – ja, der Rechtsanwalt Gawliczek sagte »uns«, soweit ging seine Identifikation mit dem Unternehmen; seine Stimme nahm an Schärfe zu – »der einzige Auftrag, der uns über Wasser hält, momentan, der wäre nicht nur gefährdet, den könnten wir dann abschreiben.« Er pausierte kurz, schaute dem Richter Kehrmeister ins Gesicht und dann auf dessen Finger. Abel drehte die Münze um und legte dar, dass sein Mandant ebenfalls vor einer existenziellen Entscheidung stand. Fiele die Maschine in die Konkursmasse, so würde Waldmüller finanziell am Ende sein. Er sprach ruhig und sachlich, immerhin, denn sonst war er ein Hitzkopf, der schnell am Gegner hinauffuhr. Er hatte in den ersten Berufsjahren gelernt, wie man sich auf einen Kontrahenten einstellte, und vor allem hatte er gelernt, wie gefährlich es war, einen zu unterschätzen. Die Idioten waren seltener, als man gemeinhin annahm. Gawliczek beharrte auf seinem Standpunkt und stellte Arbeitsplätze gegen ein Einzelschicksal. Er sagte: »Würde der Gerichtsvollzieher jetzt die streitbefangene Maschine herausholen – der Abbau dauert stundenlang – fällt fast die ganze Produktion aus.«
Da lachte Waldmüller laut und hell heraus. »Knapp die Hälfte und noch nicht einmal das!« »Wir haben wegen der geringsten Verzögerung in der Produktion eine Vertragsstrafe zu bezahlen, die das Unternehmen umwirft. Aus, Schluss, Ende«, beharrte Rechtsanwalt Gawliczek. Er machte eine Geste mit dem Zeigefinger um den Hals. Dann fuhr er fort: »Wenn wir allerdings weiterproduzieren, dann besteht eine reale Aussicht, dass wir überleben.« »Sicherheiten?« fragte Abel. Er streckte die Hand vor, wie ein Bittsteller, den Handteller ein wenig nach innen gekrümmt, als könnte der schweigsame Prokurist mit dem ältlichen Gesicht als Vertreter der Firma dieses Bakschisch von achthunderttausend Euro hineinblättern, womit die Maschine bezahlt wäre und damit Eigentum von Quast. Waldmüller würde noch drei Prozent Skonto gewähren, sofort und ohne eine Frage. »Können Sie wenigstens eine Anzahlung leisten?«, fragte Kehrmeister. Gawliczek schaute den Prokuristen nicht an, er zögerte nicht, stotterte nicht, sein rotwangiges Gesicht zog sich breit auseinander, und er lachte: »Wir haben doch nicht ohne Grund vereinbart, dass die Maschine erst in einem Vierteljahr zu zahlen ist. Das weiß der Verfügungskläger recht gut,«, ein kleiner Nicker Richtung Waldmüller zierte diesen Satz, »denn man hat werksseitig ausprobieren müssen, wie es nach der Umstellung auf die neue Schleifmaschine läuft.« »Es läuft doch. Da gibt’s doch nichts«, warf Abel dazwischen. »Nix gibt’s da«, bestätigte Waldmüller. »Ich habe auf eigene Kosten noch die Feinjustierung durchführen lassen. Die Produktion rennt wie am Schnürchen, vorher hat die Firma Quast nicht einmal annähernd halb so effizient gearbeitet.
Neuster Stand der Technik. So schnell macht das keiner besser als wir.« Abel versuchte Waldmüller mit einer verstohlenen Geste zu bremsen, weil er im Begriff war, sich um Kopf und Kragen zu reden. Er hörte wie Waldmüller über die Vorteile seiner Maschine schwadronierte, als käme nichts Besseres nach. Vertretergeschwätz. Dabei hatte Abel in dem Fall vorgetragen, dass die technische Entwicklung schon weitergegangen sei und die Maschine gerade noch mit Hängen und Zappeln rentabel verkauft werden könnte. Auf dem von feinen roten Äderchen durchzogenen Gesicht des Rechtsanwalts Gawliczek machte sich ein wohlgefälliges Lächeln breit. Akkurat an jedem Satzende des Vortrags von Waldmüller nickte er. Benutzte Waldmüller die Vokabel »ich«, brummte Gawliczek zustimmend. Alle Anwälte, die ein wenig psychologisch geschult waren, wussten, dass ein Mensch, den man bei dem Wort »ich« pointiert und deutlich bejaht, ins Schwafeln gerät und viel mehr über sich verrät, als er eigentlich will. Abel saß neben seinem Mandanten, steif, als hätte er ein Rückenleiden, versuchte Waldmüller zu unterbrechen und stieß ihn jetzt sogar mit den Knien an. Doch Waldmüller hatte nur Augen für Gawliczek, der immer so freundlich nickte und ja sagte, und fühlte sich vom eigenen Anwalt behindert. Kehrmeister kannte solche Situationen. Seine Hände spielten mit dem schmalen Aktendeckel. Er schaute nicht herüber, war aber voll auf Empfang. Endlich traute sich Abel, seinem Mandanten mit dem Ellbogen einen rohen Rippenstoß zu verpassen. Waldmüller geriet aus der Konzentration und verhaspelte sich. Er sah Abel ins Gesicht und bemerkte dessen zusammengezogene Augenbrauen und die schmalen Lippen. Schließlich schwieg er.
Kehrmeister sagte: »Wenn man dem Verfügungskläger glaubt, dann steckt in der Maschine die größte Chance für das Unternehmen, über die Runden zu kommen und damit den Konkurs zu vermeiden?« Endlich begriff Waldmüller. »Fünfhundert Arbeitsplätze.« Gawliczek konnte sich mit einer Schlagzeile begnügen. Ein strahlendes Gesicht. Aber genau dieses Strahlen ging dem Richter Dr. Kehrmeister anscheinend gegen den Strich. Er zog die Hände zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. Seine Züge waren verschlossen. Keiner redete. »Da ist aber immer noch die Frage nach einer Sicherheit unbeantwortet«, sagte Abel schließlich. Der Prokurist zuckte mit den Schultern. »Können Sie Sicherheit leisten oder können Sie nicht?«, fragte Kehrmeister. Er erhielt keine Antwort. Konnte eine Firma Hypotheken und Bürgschaften beibringen, lieh man ihr gerne Geld für Zins und Zinseszins. Wenn Sicherheiten fehlten, begann stets das Abrutschen in den wirtschaftlichen Ruin. Der Prokurist hatte mit gesenkter Stimme zu sprechen begonnen. Boese war ein vernünftiger Mann, ein alter Hase im Gießereigeschäft. Er wusste, wovon er sprach. »Sie, Herr Richter«, sagte er, »haben einen garantierten Arbeitsplatz. Und wenn der Herr Gawliczek, der schon lange unser Anwalt ist, von den fünfhundert Arbeitsplätzen spricht, die auf Messers Schneide stehen, dann hat er meinen auch mitgerechnet. Ich sage das, weil vorhin das Wort Einzelschicksal fiel.« »Fünfhundert Einzelschicksale«, sekundierte Gawliczek. Boese fuhr fort: »Wenn ich mit Ihrer Entscheidung zurück ins Büro komme und wir müssen abbauen…«, er atmete tief durch
und sah den Richter an. Es entstand eine Pause. Endlich fuhr er fort zu sprechen: »Dann muss ich rüber zum Konkursrichter, dann melden wir Konkurs an. Die Gesellschafter werden es psychisch nicht durchstehen. Dann bin ich auch noch der Todesbote für einen alten Familienbetrieb.« Noch eine Pause, ein Lächeln erschien auf seinen Zügen, das von der Melancholie der möglichen Niederlage geprägt war: »Ich geh dann gleich weiter zum Arbeitsamt und melde mich arbeitslos… in meinem Alter…« Dem Richter Kehrmeister war das alles zu emotional. Man konnte es auf seinem Gesicht ablesen. Er war es gewohnt, über Geld zu entscheiden. Abel begann: »Das Gericht kennt die Konsequenzen, wenn Geld fehlt. Täglich spricht es Summen zu, mal dem Kläger, mal dem Beklagten, indem es die Klage abweist. Jeder, der unterliegt, muss damit fertig werden. Ich habe auch schon Parteien vertreten, für die 800 Euro zum finanziellen Exitus geführt hätten. 800 Euro. Und die Folgen für diese Leute haben in der Realität schlimmer ausgesehen als, bei allem Respekt Herr Boese, die Arbeitslosigkeit eines Prokuristen.« Der Richter Kehrmeister schüttelte die Emotionalität der Argumente ab. »Bleiben wir bei den Fakten des Falles und der juristischen Seite.« Es hätte noch gefehlt, dass Waldmüller begonnen hätte, vor dem Richter Kehrmeister die Folgen der eigenen Existenzvernichtung zu schildern, unterbrochen vom zustimmenden Brummen des Kollegen Gawliczek, dachte Abel. Abel begann deswegen sofort zu sprechen, zitierte das Reichsgericht und handelte die Frage der Berechtigung Waldmüllers zu einer Kündigung des Zahlungsziels aus wichtigem Grund ab. Und so weiter. Er redete mit ruhiger, klarer Stimme.
Das Vorbringen formaler Argumentation ist für Juristen das wichtigste Mittel zur Verdrängung jeder Form von persönlichen Problemen in einem Fall. Ohne diesen Schutz wären sie bei der Entscheidung ausschließlich auf ihr Gefühl angewiesen. Ob gut oder schlecht ausgebildet, Gefühl ist den Juristen unheimlich, weil man ihnen beigebracht hat, dass es eine quasi objektive Rechtsfindung – als müsse man nur genügend intensiv suchen, um das Recht definitiv zu finden – gäbe. Der Glaube an die Fähigkeit, durch objektive Argumente eine sachgerechte Lösung ermitteln zu können, ist bei den Juristen ebenso tief verwurzelt und unausrottbar wie bei den Medizinern der Glaube an die Zuverlässigkeit der Heilmethoden oder bei den Priestern der Glaube an Gott. Gawliczek spürte, dass es gegen ihn lief, seine Züge verrieten Aufmerksamkeit. Er würde unterbrechen, sobald ihm etwas einfiel, was rechtlich gegen das Reichsgericht sprach. Der Prokurist war desorientiert, ruhig. Waldmüllers Augen zeigten, dass er irritiert war. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte man an dieser Stelle weiter zum bösen Schicksal vortragen müssen, das dem Verfügungskläger drohte. Alles andere war Advokatengeschwätz. Allerdings sah er wie der Richter aufmerksam zuhörte. Also ließ er seinen Anwalt reden, nicht ohne innerlich Vergleiche mit der Rechtsanwältin Maller zu ziehen, die er nicht kannte, deren Strategie aber sicher so aussähe, wie Waldmüller sie sich ausmalte. Der Richter hatte begonnen, sich Notizen zu machen. Seine Augen verfolgten beiläufig die Gesten Abels. Es war kein flammendes Plädoyer, sondern ein emotionsloser Vortrag, nüchterne Stimme, Wiederholung der sattsam bekannten Position. Man konnte sehen, wie sich der Richter dabei entspannte. Kehrmeister fühlte sich auf sicherem Terrain. Plötzlich die Unterbrechung durch Gawliczek. Sie kam wütend, zu diesem Zeitpunkt unvorhergesehen. »Verdammt
noch mal, ich kenne die Entscheidungen nicht. Ich muss sie lesen, studieren, ehe ich antworten kann. Ich brauche Zeit. Drei, vier Tage. Das muss alles genau analysiert werden. Der Verfügungskläger muss sich gedulden.« Es wirkte nicht beherrscht, was Gawliczek vortrug. Genau das verprellte den Richter Kehrmeister erneut. Sein Körper drückte es aus: Spannung, Starre, aber auch Beherrschung. Er ließ sich selbst nicht gehen, natürlich nicht, dann sollte sich auch der Anwalt beherrschen. Kehrmeister war nicht beteiligt, hatte lediglich zu entscheiden, keinen gerechten Spruch musste er ablegen, nur dem Recht zu seiner Geltung verhelfen. »Keine Verzögerung«, beharrte Abel. »Das Gericht kann in solch einer Situation auch ohne Anhörung des Gegners entscheiden. Ich habe die Auffassung des Reichsgerichts schriftlich und auch mündlich ausreichend dargelegt, darauf müssen Sie sich einlassen, Herr Gawliczek. Sie sind ja nicht umsonst wegen Ihrer juristischen Schlagfertigkeit berühmt.« Gawliczek stand auf. Er hatte viel Erfahrung und wusste deshalb, dass man besser beachtet wurde, wenn man vor Gericht im Stehen sprach. Dabei beugte er sich ein wenig zu Waldmüller hinunter. »Sie wissen«, sagte er, »Herr Verfügungskläger, dass Sie sich schadensersatzpflichtig machen.« Dabei nannte er den Paragraphen der Zivilprozessordnung, der für diesen Schadensersatzanspruch als Grundlage diente. Er ging davon aus, dass dies einen Laien beeindruckte. »Wenn also die nächste Instanz«, auch er zeigte mit dem Finger an die Decke, »anderer Auffassung ist als Ihr Anwalt und den Antrag ablehnt, dann haften Sie für den Betriebsausfall. Sie ganz persönlich. Mit Haut und Haaren, notfalls auch dem Konkursverwalter gegenüber.« Gawliczek faltete die Hände und kostete die Wirkung seiner Worte auf Waldmüller aus. Doch Waldmüller blieb ruhig. Er hatte mit Abel diesen Punkt besprochen und sofort verdrängt. Gawliczek
setzte sich wieder und akzeptierte diese kleine Niederlage. Er sprach mit sachlicher Stimme weiter: »Wir ersuchen das Gericht um eine schnelle Entscheidung. Wir bitten um die Gelegenheit, schnellstens das Rechtsmittel einlegen zu können.« »Sie gehen davon aus, dass Sie unterliegen?«, fragte Abel. »Ich gehe davon aus, dass wir mit allem um unser Recht kämpfen, was uns zu Gebote steht«, antwortete Gawliczek kalt.
Es war fast fünf, als Abel, in seiner Kanzlei sitzend, beim Diktat durch einen Anruf vom Amtsgericht unterbrochen wurde. Jane stellte sofort durch. Eine Geschäftsstellenbeamtin teilte ihm mit, dass auf sein Gesuch hin die folgende Entscheidung ergangen sei: »Dem Verfügungsbeklagten wird auf dem Wege der Einstweiligen Verfügung aufgegeben, die Maschine«, es folgten die genauen Daten, damit der Gerichtsvollzieher später nicht die falsche Maschine mitnahm, »an den Gerichtsvollzieher als Treuhänder herauszugeben. Dem Verfügungskläger wird aufgegeben, binnen einer Frist von vier Tagen Klage zu erheben.« Abel bedankte sich und fragte, wann er die vollstreckbare schriftliche Entscheidungsausfertigung abholen könne? »So schnell wie möglich, denn das Gericht will Feierabend machen.« Klare Ansage. Abel bedankte sich und legte auf. Dann rief er zu Jane hinüber: »Babyjane, bitte sofort den Gerichtsvollzieher und Waldmüller anrufen und die Männer mit dem Kran, damit wir losschlagen können.« »Okay… Glückwunsch«, rief Jane. Schon rannte Abel zur Tür hinaus. Diesen Beschluss wollte er persönlich abholen.
Fast zur gleichen Zeit kam Käthe endlich aus dem eigenen Betrieb weg. Sie hastete in die Kinderklinik und fand ihr Gretchen unverändert, verspannt, gerötet und apathisch. Sie hatte einen Schlafanzug mitgebracht, damit das Kind endlich aus dem Anstaltshemdchen herauskam. Gretchen war an noch mehr Monitore angeschlossen und atmete flach. Das Herz war in Ordnung, soweit Käthes Kenntnisse der vorbeiflimmernden grünlichen Kurven auf dem Bildschirm reichten. Aber es ging bei Gretchen nicht um das Herz, es ging um den Kopf. Ein EEG konnte man im Augenblick nicht machen, hieß es. Man würde nichts erkennen, außer der ohnehin bekannten entzündlichen Störung. Käthe saß voller Angst und Mitgefühl auf einem Schemel vor dem dahindämmernden Kind. Sie hatte alle neuen Eindrücke gesammelt und ausgewertet. Nicht besser, nicht schlechter. Eine Ärztin trat ein. Eine ältere Frau. Vielleicht hatte sie erst wieder zu arbeiten begonnen als die eigenen Kinder aus dem Haus waren. Sie war mager und trug die strähnigen Haare in einem farblosen Blond um ein verschlossenes, breites Gesicht. Das Gesicht tat sich schwer mit dem Lächeln. Durch die Telefonate vom Vormittag, von denen sie gehört hatte, war ihr Verhältnis zur Mutter von Gretchen vorbelastet. Käthe dagegen konnte spontan lächeln, wenn sie wollte oder wenn es sein musste. Klackediklack, saß es in ihrem Gesicht, modellierte Mund und Wangen so, dass die Zähne strahlten. Ob die Augen beteiligt waren, konnte man oft nicht erkennen. Das war auch nicht entscheidend. Man musste im Leben zurechtkommen. Da waren die Ergebnisse wichtig, nicht die innere Beteiligung. Auf Käthes lächelnd vorgebrachte Frage, wies denn stünde, antwortete die Ärztin: »Dr. Rupert ist gerade nicht da. Ich schau mir mal Ihr Kind an.« Sie ging an Käthe vorbei und beugte sich über Gretchen. Sie prüfte Reflexe und die
Temperatur und warf einen Blick auf die Monitore. Dann sagte sie: »Eigentlich müssten die Antibiotika schon wirken. Das Fieber müsste schon deutlich heruntergegangen sein.« »Und?«, fragte Käthe. Sie spürte, wie ihr der Schweiß ausbrach und ihr Mund trocken wurde. Kopfschütteln war die Antwort. »Aber es kann doch noch kommen, oder?« Die Ärztin sah ihr offen ins Gesicht. »Das ist so ein Schwebezustand, wissen Sie?«, sagte sie. »Jeder Körper reagiert anders auf eine schwere Infektion und die Medikamente. Da spielt das körpereigene Abwehrsystem eine wichtige Rolle. Die Mittel können durchaus noch greifen, da haben Sie schon Recht.« »Bisher ist meine Tochter mit jeder Infektion schnell fertig geworden«, behauptete Käthe. »Das hier ist etwas anderes. Ein virulenter Verlauf.« »Ab wann wird sie behindert sein, wenn sie es durchsteht?« »Im Augenblick ist es noch nicht soweit«, sagte die Ärztin. »Es wäre verfrüht, darüber Spekulationen anzustellen.« Dann folgten zu Käthes Überraschung Vorwürfe: »Warum stellen Sie sich denn so an. Sie sind doch Krankenschwester, also mit den Dingen bestens vertraut. Sie wissen doch, dass in den Krankenhäusern alles, ja wirklich alles getan wird. Warum rufen Sie denn ständig an und halten den Kollegen von der Arbeit ab?« »Weil ich den Laden kenne«, sagte Käthe ebenso grob wie offen. Die Ärztin war nicht empört, sie verzog nur verächtlich die Mundwinkel. Sie dachte: Hat keine Nerven und meint, dass sie das Recht hat, alles auf die Klinik zu schieben. Möchte wissen, wie sie selbst im Dienst ist. »Mahlzeit«, sagte die Ärztin und ging.
Käthe überlegte, ob sie eine rauchen sollte, doch dann blieb sie am Bett sitzen und hielt die heiße Hand des Kindes. Sie dachte an den Tag, an dem sie mit dem neugeborenen Gretchen die Klinik verlassen hatte. Mein Gott, war sie damals ahnungslos. Sie hatte immer noch gemeint, dass es ganz easy sei, ein Kind großzuziehen. Eine Angelegenheit, die sich neben Beruf und einem einigermaßen funktionierenden Privatleben erledigen ließe. So, fuhr es ihr durch den Kopf, jetzt habe ich mich abgequält, und nun muss ich Gretchen an die Klinik zurückgeben. Aus und vorbei. Wie hatte sie dagestanden, einen Tag vor Silvester, ihr lebendes Gepäck dabei und eine Tasche voll mit Werbegeschenken, damit sie die richtige Desinfektionsflüssigkeit, die richtigen Markenschnuller, Nahrungsextrakte und Windeln verwendete! Sie hatte auf ein Taxi gewartet. Nasser Schnee war von Westen aus schwarzen Wolken vor die Klinikpforte geklatscht. Sie hatte mit dem Instinkt der Mutter darauf geachtet, dass das Kind nicht von den schnell schmelzenden Schneeflocken im Gesicht benetzt wurde. Im Matsch auf der Straße hatten die Reifen schwarze Spuren gezogen. Neben ihr hatte ein Mann mit Krücken gestanden und auch auf ein Taxi gewartet. Der Mann hatte einen roten Anorak angehabt. Das Gesicht hatte sie vergessen, aber den roten Anorak nicht. Der Mann hatte nicht geredet. Er hatte nur das nächste Taxi mit einer Geste seiner rechten Krücke zu sich hergewunken und war mit dem Anspruch der Behinderten auf automatischen Vorrang eingestiegen. Käthe wusste heute noch nicht, warum sie das ohne weiteres zugelassen hatte. Sie hatte es nicht eilig gehabt, denn zu Hause hatte keiner gewartet. Knut, der Erzeuger von Gretchen, sowieso nicht, und die eigene Mutter wohnte weit weg, der Vater lange verstorben, ohne ihr Geschwister zu hinterlassen. Daher war sie nicht in Eile, und sie hatte sich eingebildet, auch
im Schneetreiben für Gretchen sorgen zu können, wenn sie nur die Schneeflocken von dem schlafenden verschrumpelten Säuglingskopf wischte. Käthe betrachtete ihr Kind und spürte eine Panik aufkommen. Sie musste aufstehen und sah sich ratlos um. Dann lief sie auf den Flur. Kindergeschrei drang aus der Nachbartür. Mein Gott, wenn Gretchen wenigstens schreien würde, dachte sie. An der Wand hingen Kinderbilder. Fingerfarben und Stifte. Sie zeigten Menschen, immer mit Kindern, Bäume, Tiere und Autos. Auf den meisten schien eine fette gelbe Sonne, die mit roten Lippen lachte. Die Zeichnungen trugen die Namen ihrer kindlichen Urheber und das Datum. Sie hatte zu Hause im Kinderzimmer ähnliche Bilder von Gretchens Hand aufgehängt. Es schoss Käthe durch den Kopf: Sie würde sie sorgfältig aufbewahren müssen. Ein schwachsinniges Kind würde so etwas nicht mehr malen können. Seine Phantasie und Schaffenskraft wären erloschen. Sie würde sich mit einfacheren Ausdrucksformen zufrieden geben müssen. Käthe stürmte den Flur hinunter. Den Nächstbesten fragte sie nach dem Oberarzt. Man schickte sie hin. Der Oberarzt war der junge Doktor, der sich bekreuzigt hatte. Bei uns auf Station wird einer in diesem Alter kaum Assistent, dachte sie. Dabei war sie nicht skeptisch oder gar feindselig gegen den Arzt, sie hatte eher ein vertrautes Verhältnis zu ihm, weil er es war, der Gretchen aufgenommen hatte und weil er ohne Panikmache mit ihr redete. »Noch ist es kein Kampf auf Leben und Tod«, sagte Rupert und bekreuzigte sich. »Aber um den Geist geht’s. Um seine Klarheit, meine ich«, sagte Käthe. »An Ihrer Stelle, wissen Sie, was ich da tät?«, fragte der Arzt. »Ich würde ausgehen, ins Kino. Gehen Sie mit Ihrem Mann irgendwo hin. Lassen Sie uns die Handynummer da, wenn es
Sie beruhigt. Helfen können Sie nicht, egal, was Sie machen. Wenn Sie hier übernachten, das bringt nichts. Gretchen merkt nicht mal, ob Sie anwesend sind. Und morgen früh sind wir vielleicht schon übern Berg mit ihr, und Sie lachen und ärgern sich über die Sorgen, die Sie sich heute gemacht haben, nicht wahr?« Es folgte eine Diskussion über die Verlaufsformen der Meningitis. Käthe merkte, dass der Dr. Ruprecht schon ein Ass in seinem Fach war und mehr wusste, als sie bisher in ihrem Krankenhaus hatte ermitteln können. Dabei ging sie davon aus, dass derjenige, der ihre vorläufigen laienhaften Erkenntnisse bestätigt hatte, generell auf dem richtigen Weg war, dann bräuchte sie die von ihm vorgebrachten Differenzierungen nur noch zu glauben. Nach einer Viertelstunde hatte der Arzt sie überredet. »Okay, ja, ja, ich gehe mit meinem Freund was essen!« »Prima, Frau Lauer.« Ruprecht begleitete Käthe hinaus.
Käthe kam heim. Und eigentlich war sie fertig. Fix und fertig und aus. »Daheim« war bei Käthe und Gretchen ein Appartement in Neuperlach mit zwei kleinen Zimmern, Bad, Diele und Küche, alles eingebaut. Hinter einer betulichen postmodernen Fassade hatte sie sich und Gretchen ein Nest in einer Wohnung geschaffen, die eigentlich einem Zahnarzt mit Steuerproblemen gehörte, der sich einer sogenannten Erwerbergemeinschaft von Gleichgesinnten angeschlossen hatte, damit der Allgemeinheit gegen fiskalische Vergünstigungen die Wohltat von mehr Wohnraum zufließen würde. Käthe war die Nutznießerin – für knapp 700 Euro kalt im Monat. München ist ein sauteures Pflaster. Es war unmöglich, für die Miete allein aufzukommen. Bisher, in den
zwei Jahren, in denen sie schon hier wohnte, hatte sie von ihren zwei Bekannten ein wenig Unterstützung erhalten. Keiner war zu ihr gezogen. Rolf Waldmüller kannte sie erst kurz, noch zu kurz, um ihn um finanzielle Hilfe zu bitten. Vorgestern hatte sie noch das Mietproblem bedrückt. Heute war das alles weit weg. Sie warf ihre Handtasche in einen der beiden Sessel und holte sich einen Fernet aus der Küche. Einen großen, und dann noch einen. Normalerweise, wenn sie nach Hause kam, war Gretchen da. Überall präsent mit ihren Fragen und ihrem Geplapper. Jetzt fehlte sie ihr so. Nach ihren eigenen Einschätzungen war sie eine Frau, die sich nicht leicht tröstete, die sensibel den Gedanken um die eigene Existenz nachhing, in sich hineinhorchte und zu depressiven Stimmungen neigte, wenn sie Sorgen hatte. Deshalb ermunterte sie sich, den Rat des Doktors zu befolgen und mit Rolf wirklich auszugehen. Waldmüller war bei sogenannten Geschäftsfreunden eingeladen. Menschen, von deren Hilfe er sich Vorteile versprach. Eine hübsche junge Frau wie Käthe war da nie im Wege. Sie würden Gespräche führen, für die Käthe sich nicht sonderlich interessierte, und nach angemessener Zeit nach Hause gehen. Aber immerhin: eine Ablenkung, auch wenn das Handy ständig neben dem Teller liegen würde. Käthe war erschöpft. Durch die offene Balkontür sah sie hinaus und konnte beobachten, wie eine rosa beschienene Wolkenschicht aufzog, träge sich ausbreitend. Ihre Geranien ließen die Köpfe hängen. Zugvögel sammelten sich in der Nähe und zwitscherten über den Abschied. In der Wohnung darüber lief gurgelnd eine Badewanne aus. Der Aufzug hielt vor ihrer Tür, öffnete sich, schloss sich wieder und begab sich auf die Wanderschaft zwischen den Stockwerken. Die Wanduhr schlug sieben. Fast wäre sie eingenickt.
Käthe fuhr aus einem Zustand zwischen Wachen und Schlafen hoch und gähnte. Es dauerte schier endlos, bis das Ziehen in den Wangenmuskeln nachließ und der Mund sich wieder schloss. Im Aschenbecher vor ihr krümmten sich die Kippen. Sie waren von gestern, gehörten eigentlich der Vergangenheit an – wie scharf sie jetzt auf eine Zigarette war! Sie könnte ihre Handtasche durchwühlen oder sich schnell eine Packung besorgen. Aber da war noch die Abmachung, der Vertrag. Folglich trug sie den Aschenbecher hinaus in die Küche und kippte ihn in den Eimer. Da ging das Telefon. Waldmüller war es. Er räusperte sich ständig, sprach hektisch und erzählte, dass er – natürlich er und nicht sein Anwalt – den Prozess gewonnen hatte. »Alles klar, grünes Licht für die Mannschaft, der Kran steht bereit, wenn der Gerichtsvollzieher doch nur endlich käme!« Nach einer Pause: »Und Gretchen?« »Stell dir vor, es sieht aus, als wäre sie aus dem Gröbsten raus.« Käthe wusste, dass sie log, doch sie wollte nicht wie eine herzlose Frau wirken, die ausging, wenn ihr Kind todkrank war. »Klasse.« Waldmüllers Antwort klang enthusiastisch, war aber eher eine Art von Höflichkeit, weil man sich daran erinnerte, dass da irgendwo Sorgen waren. Und weil Waldmüller eine gute Erziehung hatte, erkundigte er sich noch einmal förmlich nach dem Befinden Gretchens. Er erhielt dieselbe Antwort, die er schnell übersprang, weil er den Kopf mit seinem eigenen Zeug voll hatte. »Bei Quast lassen sie uns nicht auf den Hof, obwohl Abel ihnen schon den Beschluss gezeigt hat. Sture Hunde. Aber wenn der Gerichtsvollzieher kommt… na warte!« Waldmüller lachte. »Ich werd mit dem Gerichtsvollzieher auf der einen Seite und dem Anwalt auf der anderen im schweren Kranwagen mit der Scheinwerferbatterie auf dem Dach und
der kolossalen Hebehydraulik in der Mitte auf das Werkstor von Quast vorstoßen wie ein Panzergeneral. Weißt du, ich lasse mir mein Recht nicht nehmen. Mit dem Holländer habe ich schon telefoniert. Der steht zu dem Deal.« Dann verspottete Waldmüller den Rechtsanwalt Gawliczek als Schwätzer und den Prokuristen als abgewirtschafteten Vorruheständler, »kein Wunder, dass der Laden keine Zukunft hat«, sagte er. Natürlich musste er der Bergungsaktion beiwohnen, persönlich alles dirigieren, weil er bei dem immensen Wert, der auf dem Spiel stand, kein Vertrauen zum Gerichtsvollzieher und seinem Anwalt haben konnte. Es war die Euphorie des Sieges, der Rausch, der beispielsweise auch die Soldaten im Krieg zum Plündern treibt, eine sonderbare Energie, die das Gehirn in den Köpfen der Menschen umdreht. Man musste es Waldmüller im Grunde nachsehen, dass er ein solches Triumphgeschrei anstimmte. Käthe kam auf die Einladung heute Abend zu sprechen. Waldmüller zögerte. Er war drauf und dran, den Termin zu verschieben. »Komm, Rolf, sei kein Frosch«, sagte Käthe aufgesetzt. Endlich kam der Gerichtsvollzieher und stieg aus einem alten Opel. Waldmüller schoss auf ihn zu. Er redete auf den Mann ein, fuchtelte mit dem Gerichtsbeschluss herum und zeigte auf die herabgelassene Schranke, hinter der sich mehrere Mitarbeiter von Quast in feindseliger Haltung versammelt hatten. Abel kam, beruhigte seinen aufgeregten Mandanten und wies den Gerichtsvollzieher in die Lage ein. Vor allem übergab er ihm die Gerichtspapiere. Die vollstreckbare Ausfertigung war eine Urkunde, die dem Gerichtsvollzieher die Befugnis verlieh, in das Grundstück der Firma Quast einzudringen, die Maschine abmontieren zu lassen und herauszuheben. Der Gerichtsvollzieher war eine Amtsperson.
Ohne sein Mitwirken wäre die Aktion Faustrecht, nun, da er dabei war, war dieselbe angewandte Gewalt legal, und sie trug das Siegel staatlicher Befugnis. Der Gerichtsvollzieher ging zur Schranke und zeigte seinen Ausweis und die anderen Papiere. Er winkte. Abel gab ein Zeichen. Ein Peloton rückte gegen die Firma Quast vor. In seiner Mitte der schwere Schwenkkran mit Gegengewicht und beeindruckender Hydraulik, getragen von fünf wuchtigen Doppelräderpaaren. Er schob sich wie eine graumetallene Schildkröte über den Asphalt und rangierte in die Einfahrt, wo die Schranke provozierend langsam nach oben ging. Hinter den Schloten einer Fabrik heulten die Sirenen. Schichtwechsel. Feierabend und Arbeitsbeginn. Abel und sein Mandant beobachteten den Vorgang. Der Gerichtsvollzieher war jung, fett und begierig. Er stand daneben und redete unentwegt über die Gerichtsvollziehergebühren, Abel nickte und schwieg, weil der Gerichtsvollzieher die Ungerechtigkeit der Welt beklagte, »denn bei dem vorliegenden Vollstreckungsauftrag gegen die Firma Quast wegen Herausgabe einer Produktionsmaschine verdiene ich nur ein paar läppische Euro, während Sie als Anwalt auf der Basis des hohen Streitwertes richtig Kohle machen, Herr Abel.« »Naja, so wild ist es nicht.« Die Lippen des Gerichtsvollziehers waren schon schlaff und zeigten einen blauen Stich wie auf einer schlechten Farbfotografie. »Ich will gar nicht wissen, wie viel Sie verdienen«, setzte er hinzu und Waldmüller warf seinem Anwalt einen schrägen skeptischen Blick zu. Abel sagte zu seinem Mandanten: »Wann kommen Ihre Leute?« »Ich rufe schon zum vierten Mal an und nur die Mailbox ist dran«, fluchte Waldmüller.
Drei Mann brauchten sie, um die Maschine abzubauen, aus den Verankerungen zu lösen, hochzuheben und abzutransportieren. Das Geschwader des Unternehmens Waldmüller rangierte durch das Werkstor. Die Arbeiter gingen im letzten Augenblick zur Seite. Rechts und links vom Tor strebten die unverputzten Backsteinmauern hoch in den dunkler werdenden Abendhimmel. Dort versammelten sie sich wieder mit verschränkten Armen. Die in Stahl eingelassenen Milchglasfenster reflektierten den flackernden roten Schein von Flammen im Innern der Gießerei Quast. Ein Taxi preschte heran. Drei Monteure in sauberen blauen, uniformähnlichen Overalls sprangen heraus. Abel gab ihnen die Hand und erklärte ihnen, was sie von Rechts wegen tun und was sie unterlassen müssten, damit die Quast-Leute keinen Grund hatten, juristische Schwierigkeiten zu machen. Waldmüller selbst half, die Werkzeugkisten aus dem Kofferraum zu heben. Der Kranwagen schlich sich an, hielt, hydraulisch gebremst, schwang weich in den Stoßdämpfern, Pressluft wurde zischend abgelassen. Der Kranwagenfahrer schaltete die vier Halogenstrahler auf dem Dach der Fahrerkabine an. Ein gleißend weißes Licht flammte auf. Drei andere Arbeiter traten aus dem Gebäude seitlich der Fabrikmauer, blau mit gelbem Helm, wie Papageien, der Stoff der Kittel spannte über den Leibern. Keinem haftete etwas Proletarisches an. Der in der Mitte hatte einen Vorschlaghammer in der Hand, den er vor den Füßen absetzte. Sie versperrten mit den anderen Männern den weiteren Fahrweg. Sie antworteten nicht, als der Gerichtsvollzieher auf sie zuwatschelte und ihnen, die weißen, grell strahlenden Scheinwerfer im Rücken, das amtliche Dokument entgegenhielt.
Inzwischen waren auch Waldmüller und seine Mannschaft aufmarschiert. Sie standen breitbeinig, die Hände in den Taschen und die Arme vor der Brust verschränkt, herum. Abel ging zu den Männern. »Sie bekommen juristische Probleme, wenn Sie den Weg nicht frei machen.« In stark türkisch gefärbtem Tonfall sagte der mit dem Vorschlaghammer: »Du Probleme«. »Machen Sie den Weg frei!« Abels Stimme klang energisch. Die Motoren dröhnten, die Einfahrt erschien im scharfen Scheinwerferlicht wie eine Szene im Theater. Man erwartete den Auftritt der Darsteller, und tatsächlich, da kamen sie: Voran ein Mann, den Abel nicht kannte, dahinter rechts und links der Kollege Rechtsanwalt Gawliczek und der Prokurist Boese. Abel trat vor, präsentierte den drei Männern schweigend die Entscheidung des Dr. Kehrmeister, ausgefertigt, mit Dienstsiegel versehen, vollstreckbar. Hinter sich hörte er den Gerichtsvollzieher kichern und Waldmüller leise Anweisungen für die Monteure raunen. Der unbekannte Mann, sicher einer der Geschäftsführer des Hauses, nahm mit routinierter Gelassenheit das Amtspapier entgegen, senkte den Kopf und studierte es. Dann reichte er es wortlos an Gawliczek weiter. Gawliczek genügte ein Blick. Er kannte solche Dokumente. Er trat vor. »Sie fahren volles Risiko, Abel?«, fragte er. »Jau.« »Ihr Mandant badet es hinterher aus.« Gawliczeks Tonfall klang freundlich, verbindlich wie bei einer Plauderei, ohne gefährlichen Unterton, als sei die Hilfe für einen Kollegen in einer so schweren Entscheidung seine selbstverständliche Pflicht. Abel nickte und sagte nichts. Natürlich hatte er mit Waldmüller besprochen, dass dies ein Hasardspiel war, weil
das Landgericht morgen schon anders entscheiden konnte und dann der gesamte Schaden durch Produktionsausfall zu Lasten Waldmüller gehen würde. Waldmüller hatte das nickend zur Kenntnis genommen. Jetzt stand er grinsend, im Bewusstsein des Triumphs, hinter seinem Anwalt. Der Gerichtsvollzieher trat neben Abel, griff in die Innentasche seines Jacketts, zog den Ausweis heraus, ließ ihn mit der Routine eines Fernsehkommissars auf- und gleich wieder zuklappen. Er fragte: »Soll ich hier Wurzeln schlagen? Es ist schon nach sieben und bald gibt es die Tagesschau.« Er grinste. Aggressive Stille. Blickwechsel. Die Amseln singen abends laut und schön, sie finden sogar in der Vorstadt zwischen den Industrieschloten ihre Nistplätze, sorglos trällerte einer dieser schwarzen Vögel ein Lied, hoch droben, auf einem Stahlmast sitzend. Gawliczek tuschelte mit seinen Klienten, gab ihnen die Hand, steckte die Gerichtspapiere in seinen Aktenkoffer, ging schnell aus dem Tor zu einem in der Nähe abgestellten großen BMW und fuhr weg. Abel war klar, dass Gawliczek nun juristisch zurückschießen würde. »Soll ich die Streife holen oder kriegen wir den Vollzug ohne Polizei geregelt?«, fragte Abel. Die drei Herren von der Firma Quast und die Arbeiter mussten zurücktreten, weil sie wussten, dass sie momentan keine Chance hatten. Der Motor des Kranzuges brüllte auf und die drei Herren traten noch weiter zurück. Waldmüllers Konvoy hatte grünes Licht. Man machte sich an das Werk, die Maschine zu entfernen. Waldmüller strahlte abgekämpft im Restaurant und tätschelte Käthes Hand. Hinter seinem Rücken, drei oder vier Kilometer Luftlinie von hier, stand das schwere Hebewerkzeug auf breit gespreizten Stahlbeinen hochgebockt und hatte den Greifer des
Krans bereits über die kolossale Maschine geschoben. Stahltaue hingen herab. Die Bolzen und Verankerungen waren gelöst. Die drei Monteure verständigten sich mit Gesten und Walkie-Talkie. Auf die Leute konnte Waldmüller sich blind verlassen. Teuer, aber gut. Der Gerichtsvollzieher durfte gähnend vor seinem Fernsehapparat sitzen, Abel war nach Hause gefahren, der Schwätzer Gawliczek saß über den Akten und suchte vergeblich nach einem juristischen Ausweg. So stellte sich Waldmüller die augenblickliche Lage vor. Er hatte flüchtig geduscht, sich gut angezogen und die Seele aufgebläht vom Erfolg. Neben sich hatte er Käthe gesetzt, im grünen Seidenkleid, auf der rechten Brust trug sie eine Art Orden aus glänzendem Strass. Ihre Haare hatte sie hochgesteckt, ihre Augen verrieten die Müdigkeit. Aber wer sah an einem solchen Abend schon näher hin? Ein kleines Essen mit Geschäftsfreunden, hatte es geheißen. Tatsächlich war es wie ein »Tanz der Vampire«. Drei alte Ehepaare hatten sich erhoben, als sie eingetreten waren, Waldmüller und Käthe, sie wurden rundherum vorgestellt. Der Gastgeber war der Geschäftsführer eines Interessenverbandes der gewerblichen Wirtschaft. Ein gedrungener Mann mit spitz zugeschliffenen Umgangsformen und schwarzen, streng zurückgekämmten Haaren. Seine Frau verriet das Alter des Ehepaars; sie war zerbrechlich, hinter ihrer Brille fast blind und nicht orientiert, wer Waldmüller war. Zudem schien ihr dessen vermeintliche Frau Gemahlin mit dem grünen Seidenkleid ein wenig overdressed für den »Jour fix« beim Verbandsgeschäftsführer. Das angeblich so locker vereinbarte Essen war Teil eines Rituals, das schon lange gepflegt wurde und bei Insidern »Jour fix« genannt wurde. Das andere Ehepaar, spinnwebendünn, mit schlotternden grauen Kleidern, besaß Supermarktflächen, wie sich herausstellte, die sie an Drogeriemärkte vermieteten, und die dritten waren
Steuerberater, beide ergraut und vom Vertrauen der Unternehmerschaft beladen, die sie vertraten. Man nickte einander artig zu. Eine verklemmte Situation. Und keiner war da, der, wie der Professor Abronsius im Film »Tanz der Vampire«, ein Kreuz schlug, damit die Spinnwebengestalten gebannt werden würden. Wie der freie Handelsvertreter Rolf Waldmüller zu dieser ehrenden Einladung bei dem Geschäftsführer gekommen war, blieb unergründlich. Er bildete sich ein, dass sich der Verband für das Schicksal eines begabten Verkäufers interessierte. Käthe spürte sofort, dass er sich in dieser Gesellschaft nicht wohl fühlte, genauso wenig wie sie selbst, die vom Instinkt her die Haltung eines dekorativen Weibchens eingenommen hatte. Sie schwieg, tat als höre sie zu, tat als verstehe sie, worüber die Männer redeten, lachte, wenn alle lachten und machte ein bedenkliches Gesicht, wenn Sorgenfalten die Mongolenzüge des schwarzhaarigen Verbandsgeschäftsführers überschatteten. Das Essen wurde aufgetragen. Dafür hatten sie im Hause des Geschäftsführers ein dralles Mädel, das mit schwäbischem Akzent fragte, ob es Recht sei. Selbstverständlich war man fortschrittlich, und das Mädchen musste keine weiße Schürze tragen. Sie hatte einen grauen Wollrock an, war schon über fünfundzwanzig und sagte brav zu allen Männern »Herr Doktor«, auch zu dem Waldmüller, der nicht wie ein Promovierter wirkte. Weder einer der Spinnwebenmänner noch Waldmüller protestierten. Statt dessen machte man sich mit gesenktem Kopf über das Essen her. Als Vorspeise Ravioli im Wildsud und zum Hauptgang Schweinekrustenbraten mit Knödeln. Alle waren sehr verspannt und froh darüber, als endlich Waldmüller ein höfliches Gespräch über die Gemäldesammlung des Geschäftsführers begann. Der Supermarktbesitzer verstand zwar viel von Hundefutter, weil er als Hobby Spaniels züchtete, musste sich aber redlich um
das Verständnis der fahlen Porträts von zwei längst verblichenen niederländischen Ehrendamen bemühen, was er bayrisch-derb zum Ausdruck brachte. »Die schaun aus wie dem Tod sein Dörrfleischreisender.« Niemand lachte, alle verzogen das Gesicht zu einem Lächeln. »Naja, lieber Herr Menz«, sagte der Geschäftsführer nicht ohne Ironie. »Sie müssen zugeben, auf dem Bild erkennt man wenigstens was, anders als bei der modernen Kunst.« Und das Segelschiff mit den Kanonenklappen auf dem dritten Bild sei doch so vortrefflich gelungen. Der Steuerberater sekundierte. »Das soll einer mal von den Neuen Wilden, oder wie sie heißen, das soll doch einmal so einer versuchen!« »Die Kunst ist ein Ausdruck der Dekadenz wie auch der Potenz eines Volkes«, sagte die Steuerberaterin, »man muss nur an das alte Sparta denken oder an die Renaissance in Rom.« »Und Kunst kommt immer noch von Können«, warf die Gattin des Supermarktbesitzers dazwischen. »Bei den abstrakten Bildern weiß man ohnehin nicht, wo oben oder unten ist.« »Richtig«. Damit war Ende mit Kunst. Man redete über Wirtschaft, die Aktienkurse und die Schwierigkeit der Lebensumstände in der heutigen Zeit, Krise hier, Krise da. Regierung schlecht. Opposition schlecht. Dollarkurs schlecht. Käthe saß inzwischen auf glühenden Kohlen, denn Waldmüller hatte sie gebeten, ihr Handy nicht auf den Tisch zu legen, sondern abgeschaltet in der Handtasche zu lassen. Schon drei Mal war sie auf der Toilette gewesen und hatte die Mailbox abgehört. Nichts! Nach dem dritten Besuch auf dem plüschig-verkitschten Klo ließ sie das Handy an.
Als man mit dem Hauptgang fertig war, wurden als Nachtisch Erdbeeren und ein wenig Vanilleeis aufgetragen. Beim Verzehr entstand eine gewisse Ruhe, die aus den Mägen stammte. Als Waldmüller seine Erdbeeren aß, wünschte er sich zu seinen Arbeitern hinaus auf das Werksgelände der Firma Quast. Käthe fror ein wenig in ihrem grünen Seidenkleid, weil sie kaum etwas darunter trug. In einem sparsamen Geschäftsführerhaushalt war im September die Heizung noch nicht angeschaltet, weil die Tage noch das späte Feuer der Sonne genossen. Käthe erntete folglich besorgte Blicke der Haushaltshilfe im grauen Flanellrock. Selbstverständlich sahen alle anderen über diesen Punkt hinweg. Käthe hatte sich vorgebeugt, um nach Zucker und Milch für den Kaffee zu greifen. Die Seide ihres Kleides fiel leicht und spielerisch, sie registrierte nun einen sehr direkten Blick des Geschäftsführers, der ihr gerade mit seinem schmalen, engfrisierten Kopf wie ein uraltes brünstiges Wiesel vorkam. Sie legte die Hand vor die Brust, damit er nichts mehr erkennen konnte. Da ging ein Handy. Strafende Blicke! Käthe lächelte, um Verzeihung bittend, suchte hastig in ihrer Handtasche. »Mein Kind ist im Krankenhaus… Hallo«, sagte sie. »Kinderklinik, Schwester Andrea«, sagte eine tiefklingende, weibliche Stimme, »es ist vielleicht besser, wenn Sie jetzt kommen…«
Abel saß in einem Wirtshaus. Er war gar nicht erst nach Hause gegangen. Was sollte er sich hinsetzen, die während des Urlaubs liegen gebliebenen Akten aufschlagen und seine Gehirnströme auf »Ausgabe« stellen und Worte über dem Mikro des Diktiergeräts erbrechen? Heute nicht mehr. Andere
gingen an so einem Abend auch nicht in ihr Büro und spuckten Gedanken. Abel war eher ein fauler Mensch. Er war keiner, den es beim Diktieren mitriss. Keiner, der sich seine Formulierungen und seine Stimme noch zigmal vorspielte, weil er sie so genial fand. Seine Freundin Carol ging ihm nicht aus dem Kopf. Eine aparte Person, reich, schön, intelligent, mit schwarzen Haaren und einem selbständigen Sinn. Und diese Selbständigkeit war es, die ihm jetzt zu denken gab, wie er über seinen Wein gebeugt dasaß und seinen Gedanken nachhing. Dass sie sich nicht meldete von dort unten, das konnte tausend plausible Gründe haben. Abel dachte nur an einen. Naja. Carols Handy war nach wie vor nicht zu erreichen. Das Wirtshaus war nicht frequentiert in dieser Nacht. Die Fenster standen halb offen. Abgestandene Großstadtluft schlich herein. Wärme schwang noch über das Pflaster. Ein angeblich taubstummer alter Mann ging herum und legte Feuerzeuge und Kärtchen auf die Tische. Auch auf Abels. Er kaufte eines, obwohl er wusste, dass der Mann ihn betrog. Drei Euro, weil er sich einen Moment lang vorstellte, wie das so ist, wenn einer alt wird und seine Macke weg hat und trotzdem noch Nacht für Nacht durch die Kneipen ziehen musste für ein paar Euro. Abel legte das Feuerzeug säuberlich vor sein Glas, wie ein Lineal, und trank weiter. Gerade als Abel die Kneipe verlassen wollte, betrat ein langer Herr mit feinen Gesichtszügen das Lokal. Der Herr war in einen braven, sandfarbenen Staubmantel gekleidet und hatte eine Pfeife in der Hand. Eine Frau folgte ihm. Sie sah intellektuell aus, weil sie eine Brille trug und ein wenig desorientiert dreinschaute. Sie zupfte den Herrn am Ärmel, doch in diesem Augenblick hatte der Herr Abel gesehen. Er riss die Arme auseinander, dass der Staubmantel aufging und man den hellgrauen Anzug sehen konnte und die gestreifte
Clubkrawatte. Der Herr kam, so sah es aus, von einem gesellschaftlichen Ereignis. »Abel«, rief er, als er auf Abel zukam, »Menschenskinder!« »Jo mei«, rief Abel, der so überrascht war, dass er beinahe sein Weinglas umgeworfen hätte, »Ernie, brüll nicht so«, dann sprang er auf. Sie umarmten sich und hielten einander dann etwas auf Distanz, um sich besser mustern zu können. Ernie Paloff war Abels ältester Freund. Jetzt pfiff er durch die Zähne. »Da sieht man wie die Zeit vergeht, wenn man dich alleine in einem Lokal sitzen sieht, mit Schlips und Kragen. Bei den anderen sind es die Bäuche, die grauen Haaren und schlechten Zähne. Bei dir Schlips und Kragen und alleine…!« »So ist das Leben«, lachte Abel. »Du bist der einzige, der taufrisch aussieht.« Abel wurde der jungen Frau vorgestellt, gab ihr die Hand und erfuhr dabei, dass sie Paloffs Verlobte war, in einem Kindergarten arbeitete und nun schon zwei Jahre mit Paloff zusammen war. Sie setzten sich, bestellten Wein und die künftige Frau Paloff zu Abels Erstaunen einen Malt-Whiskey. Abel erfuhr, dass Paloff inzwischen einen Ruf erhalten hatte und Professor war. »Klasse«, sagte Abel, »gratuliere.« »Heute ist übrigens die Mutti achtzig geworden«, erzählte Paloff und zündete seine Pfeife an. »Achtzig, muss man sich mal vorstellen, dabei hat sie seit Jahren so schlechte Beine, und das Herz… und trotzdem achtzig.« »Gute Gene.« Unterdessen dachte Abel, dass sein Freund viel älter wirkte, wie er ihm so gegenüber saß, an seiner Seite die Kindergärtnerin mit dem intellektuellen Äußeren. Sie würde sich viele Kinder wünschen und, wenn sie eine resolute Person war, sich auch von ihrem Mann machen lassen. Dann roch es bei Paloffs zu Hause nach Penatencreme, Bücherstaub,
Kinderpisse und Pfeifenqualm. Abel musste grinsen. Weil Paloff ihn fragte, warum er so grinse, antwortete er, dass jeder so alt sei, wie er sich fühle. »Ein Gemeinplatz«, sagte Paloffs Verlobte zu Recht. Doch Abel fuhr fort, dass er manchmal glaube, er sei gerade aus der Pubertät entsprungen. »Ach? Wo liegt denn diese Anstalt?«, witzelte die Verlobte. Paloff schaute Abel stolz an. »Sissy ist für mich wie ein Jungbrunnen«, sagte Paloff. Abel dachte, das brauchst du auch, alter Junge, mit deiner betulichen Art, mit der Pfeife umzugehen, die Utensilien umständlich in einer extrabreiten Ledertasche zu verstauen und wieder hervorzuziehen. Paloff sprach über Lehrstuhl, Familie, Geld, Haus, Prestige, Fahrzeuge, Urlaub. Der Jungbrunnen unterbrach ständig mit witzigen Bemerkungen. Abel sah, dass die beiden gut zueinander passten. Paloff hatte eine neue Mutti gefunden und Sissy ein altes Baby. »Und bei dir?«, fragte Paloff. »Beziehungsmäßig?« »Ja«, Sissy stützte die Ellbogen auf und ihre Augen blitzten voller Neugier. »Doch nicht immer noch Marlene, diese kleine Blonde?« »Das war Maria… nein, das ist leider aus.« »Und jetzt?«, drängelte Sissy. »Eine Frau, die das Handy nicht an hat.« »Kann vorkommen. – Eifersüchtig?« »Ich doch nicht.« »Du siehst ganz schön eifersüchtig aus«, sagte Sissy und bestellte noch einen Malt, bekam aber nichts Konkreteres über Carol heraus. Waldmüller sah es mit Befriedigung, dass die rostige Schranke heruntergelassen war. Auf dem Werkshof war es dunkel. Vor die Einfahrt hatte man ein Gittertor gerollt, das
aussah, als könne es der nächstbeste Weststurm aus den Angeln drücken. Auch im Verwaltungsgebäude von Quast & Co. waren die Lichter ausgegangen. Die Nachtluft war kalt. Der Himmel hatte sich mit Wolken bedeckt und schlief ebenfalls. Waldmüller kam es vor, als sei er das einzige Lebewesen, das noch wach war. Er hatte sich an sein amerikanisches Auto gelehnt und nuckelte an seinem Zigarillo. Seine Gedanken wirbelten herum. Er fragte sich, ob er die Maschine radikalerweise schon am nächsten Morgen an den Holländer verkaufen sollte, obwohl der Gerichtsvollzieher noch die Verfügungsgewalt besaß. Verkauft wäre verkauft. Er konnte immer noch riskieren, dass es Verzögerungen bei der Lieferung gab. Tausend Probleme konnte man vorschützen, wenn erst nur der Vertrag unterzeichnet war, dachte er. Die Fabrik vor seinen Augen wirkte auf ihn wie ein totes Wesen, das versteinert dalag. Er hatte dem Wesen heute Nacht das Herz herausreißen lassen. Er empfand kein Mitleid, weil mit ihm auch keiner Mitleid empfand, wie er sich immer einredete. Das brachte der Wettbewerb so mit sich, dachte er, es war ein Geborenwerden und Sterben, ein ewiges Auf und Ab. Einer fraß den anderen, damit er leben konnte, und die Arbeiter bekommen Stütze, sagte er sich. Um die Arbeiter war es ihm nicht leid. Die hatten ihr Netz der sozialen Sicherheit, da konnte man sich rückwärts bequem hineinfallen lassen, man schwang hin und her und ruhte sich aus. Hatte er denn eine soziale Sicherheit, fragte er sich und schnippte den Zigarillostummel von sich. Was wäre, wenn er Pleite machte? Dann pfändeten sie ihm noch das letzte Hemd unter dem Hintern fort. Er musste lachen. Seine hohe Stimme wurde von der Fabrikwand scheppernd zurückgeworfen. Er hatte keine Gewerkschaft, er, der freie Handelsunternehmer Waldmüller. So isses doch! Nun hatte er triumphiert, er allein. Er hatte sich durchgesetzt, weil er Mut gehabt hatte, weil er
Stärke bewiesen hatte wie ein Löwe, der einen kranken Elefanten geschlagen hatte. Was krank war, musste weg. Das Geschwätz der Anwälte über das Risiko der Aktion konnte man doch den Hasen geben. Ist doch alles sauber durchgeflutscht heute Morgen beim Richter. Und wie skeptisch der am Anfang war! Waldmüller lachte noch einmal. Wieder antwortete die Fabrikmauer. Dann machte er sich auf den Weg, fuhr nach Unterföhring, wo sich das Lagergelände der Kranfirma befand. Dort musste seine Maschine auf einem Tieflader stehen. Er traute dem Wetter nicht. Für den Fall, dass es regnete, musste die Maschine gut abgedeckt sein. Rost wäre das Letzte, was er jetzt brauchen konnte. Er ließ es pfeifen, wie er durch die nächtlichen Straßen raste. Die Ampeln waren auf gelbes Blinklicht geschaltet. Waldmüller war gut gelaunt. Er drehte das Autoradio auf. Sie spielten einen Hit von Michael Jackson. Die Häuser strichen vorbei wie schwere schwarze Schatten. Waldmüller sagte sich, dass er unmöglich schlafen könnte in einer solchen Nacht. Beim Geschäftsführer vorhin, da war er noch wie betäubt gewesen, er hatte seinen Erfolg noch nicht fassen können. Vielleicht, wenn er darüber gesprochen hätte, aber reden konnte er nicht von dieser Sache. Auch der leiseste Hauch von konkreten Problemen erzeugte dumme Gerüchte. Er wusste doch, wie solche Leute reagierten. Jetzt, da er die tote Fabrik gesehen hatte, nachdem er sein Opfer in Augenschein genommen hatte, jetzt glaubte er an ein gutes Ende. Jetzt würde eine gute Story daraus werden, die man an jedem Tresen erzählen konnte. Waldmüller alleine gegen den Rest der Welt. Endlich war er bei dem Kranunternehmer. Diese Firma lebte, dachte er, weil das Lagergelände von Flutlichtern, die hoch auf
drei Masten installiert waren, erhellt wurde. Der Platz war von einer hohen Mauer umschlossen, ein massives Eisentor hielt die Blicke ab. Das war gut so, meinte Waldmüller, denn wen ging es was an, dass seine Maschine dort rumstand. Trotzdem musste er wissen, ob die Maschine gut versorgt war. Er schellte, doch niemand öffnete. Wütend rüttelte er am Tor, das selbstverständlich bestens verschlossen war. Er zog sich daran hoch, aber seine Körperkraft reichte nicht für einen Klimmzug aus. Das war nicht eine Frage des Alters, sagte er sich. Klar, er war noch lange kein Greis, gerade Ende Dreißig, nur eine Frage des Trainingszustandes. Wenn das mit der Maschine hinter ihm lag und das Geld auf dem Konto gutgeschrieben war, dann musste er wieder mal zum Squashen oder ins Fitnessstudio. Er überlegte es sich zweimal, aber er kam zu dem Ergebnis, dass es sein musste. Er hatte keine Wahl. Also rangierte er seinen Wagen vor das Tor, holte aus dem Kofferraum eine Decke, die er vorsichtig auf die Kühlerhaube legte, zog die Schuhe aus und stieg behutsam auf den Kotflügel, dort wo er verstärkt war und die Holme durchführten. Langsam erhob er sich, stets bereit abzuspringen, wenn das Blech nachgeben sollte. Dann erreichte sein Kopf die Oberkante des Torflügels. Der Tieflader war leer. Die Taue und Verankerungen lagen noch genauso auf der Pritsche wie vorher. Daneben stand der Hebekran, sonst war nichts zu sehen auf dem gleißend hellen Lagerplatz. Die Maschine war verschwunden. Dreißig Tonnen einfach in Luft aufgelöst? Waldmüller begann sofort auf die Tasten seines Handys zu hämmern.
Käthe betrat das kleine Zimmer auf der Intensivstation. Der Oberarzt stand dort, breitbeinig, ihr den Rücken zugekehrt. Er betrachtete Gretchen. Weil er von zu Hause gerufen worden
war, hatte er keinen weißen Kittel an. Käthe war außer Atem, denn sie war die Treppe hinaufgestürzt, nachdem Waldmüller sie vor dem Portal abgesetzt hatte. Er müsse nach seiner Maschine sehen, hatte er gesagt. Was hätte er auch helfen können? Auf den ersten Blick sah alles aus wie vor ein paar Stunden, als Rupert sie fortgeschickt hatte, damit sie zu dem Essen gehen sollte. Doch nun lag Gretchen auf der Intensivstation, und Käthe brauchte nur in das Gesicht des Mannes zu sehen und wusste Bescheid. »Das Fieber ist arg hoch«, sagte der Arzt. »Das darf an sich nicht vorkommen, wenn man mit so dicken Geschützen schießt.« Er zeigte auf die Krankenkarte in seiner Hand mit den Eintragungen der verabreichten Dosen des Antibiotikums. »Das gibt’s doch nicht«, antwortete Käthe und versuchte, sich zu fassen. Ihr Herz polterte im Brustkasten herum, dass sie meinte, man müsse es hören, wenn man neben ihr stand. »Doch«, sagte der Arzt, »so was gibt’s. Wir beobachten diese Symptome, wenn das Immunsystem Schwierigkeiten hat. Penicillin allein reicht dann nicht.« Käthe hatte schon davon gehört, dass bei Leukämie das Immunsystem von Kindern völlig kollabieren kann. Sonst dachte sie nie gleich an das Schlimmste. »Sie hat doch keine Leukämie?« »Nein«, antwortete der Arzt, »glücklicherweise das nicht. Dann sähe das Blutbild anders aus.« Seine Finger wanderten auf der Krankenkartei über eine Zahlenkolonne. »Dort und hier.« »Ja«, sagte Käthe, die mit den Zahlen nichts anfangen konnte. »Was muss man jetzt machen?« Der Doktor schwieg und legte die Krankengeschichte auf das Bett von Gretchen, deren Gesicht nun verspannt wirkte.
Die Augen waren fest geschlossen. Der Arzt zog ein Lid hoch und prüfte mit einer kleinen Stablampe die Reflexe. »Tja, was tun«, sagte er. Man konnte die Ratlosigkeit hören, wie er die Worte beim Sprechen dehnte. »Eigentlich nichts. Warten müssen wir. Beten.« Er lächelte, aber das Lächeln verschwand schnell wieder. »Die Spritzen, wie gehabt. Warten. Wissen Sie, ich hätte Sie nicht rufen sollen. Trotzdem hab ich’s gemacht, weil ich meine, dass die Eltern einen Anspruch darauf haben, zu wissen, wie es aussieht.« »Und wie sieht es aus?« »Schlecht«, antwortete Rupert und sah ihr ins Gesicht. Als er merkte, wie Käthe mit den Tränen kämpfte, wie ihr die Augen überliefen und ein, zwei Tropfen in den Ausschnitt des grünen Seidenkleides fielen, da wandte er sich ab, tat so, als beschäftigte ihn einer der Monitore. Aber was hätte er schon sagen oder tun können? Ein Scheißberuf war das manchmal, dachte er sich. Dann schlug er vor, dass sie noch mit in sein Arztzimmer kam, bevor sie sich in ihr Bett legte. Er habe es vorsorglich richten lassen. Auf dem Weg dorthin heulte sie noch, dann wischte sie sich mit dem Handrücken über die Nase und die Augen. »So, jetzt gehts wieder«, sagte sie, als wäre damit die Sache in Ordnung. Sie setzten sich und besprachen den Fall: Der Arzt erläuterte ihr die Funktionsweise der Hirnhäute. Alles Theorie ohne einen Funken konkreter Hoffnung. Nur der allgemeine Satz, dass das Immunsystem bei Kindern sehr widerstandsfähig ist. »Und wenn nicht?«, fragte Käthe. »Ist sie dann behindert?« »Wenn wir die Infektion nicht in den Griff bekommen, ja, dann muss man schlimmstenfalls damit rechnen, dass der Tod eintreten kann.« Eine saubere Formulierung. Warum sagte er nicht, dass das Kind sterben musste in einem solchen Fall? Er fügte tröstend hinzu: »Eigentlich kann alles noch gut gehen.«
Käthe hatte verstanden. Eigentlich! Er wollte sicher sagen, dass kaum noch Aussichten waren. Sie kämpfte wieder mit den Tränen. Da hatte sie’s leichter, relativ gesehen, ging es ihr durch den Kopf, wenn sie auf ihrer Station in einer ähnlichen Situation mit Angehörigen reden musste. Oft waren sie sogar erleichtert. Dass der Tod eine Erlösung wäre, sagte sie dann zu den Leuten, und sie nickten. »Ist der Tod vielleicht für Gretchen schon jetzt eine Erlösung?«, fragte sie den Arzt. »Nein, nein«, er hob die Hände abwehrend hoch, lachte sogar einen kleinen Augenblick lang, »ganz und gar nicht.« »Aber irgendwann ist es so«, stellte Käthe fest. Der Doktor widersprach ihr nicht. Dann begann er in seiner Hilflosigkeit noch einmal mit der Erörterung des Krankheitsbildes. Sie hörte nicht mehr zu, starrte vor sich hin auf den grüngemusterten Plastikboden. Sie sah seine Füße. Er trug Sandalen und Tennissocken. Eine war heruntergerutscht. Sie vernahm nur noch den Klang seiner Stimme. In den ersten Wochen, die sie zusammen mit Gretchen zu Hause gewesen war, das war noch während des Mutterschutzes, da hatte sie jeden Tag zehnmal den Entschluss verflucht, dass sie nicht abgetrieben hatte. Das Blag hatte geschrien und geschrien, Tag und Nacht. Sie hatte kein Auge zubekommen. Sie hatte sich nicht von der Geburt erholen können, war immer auf Achse, Stillen, Zufüttern, Scheiße aus den Windeln pulen und wieder Stillen. Krach mit den Nachbarn hatte sie auch noch bekommen. Immer alleine. Sogar die Freundinnen halfen nicht. Und Knut… konnte man völlig vergessen, nachdem sie ihn eine Woche nach der Geburt derart am Telefon angebrüllt hatte. Sie war selbst dran Schuld. Aber so hatte sie Gretchen bekommen und das Kind schrie Tag und Nacht. Das
Nachbarehepaar hatte einen Hund und war im übrigen alleinstehend. Sie hämmerten mit der Faust an die Wand, wegen des Babygeschreis. Ihr Hund belle ja auch nicht, hatte die Frau von nebenan eines Tages auf der Treppe gesagt. Eine Freundin, die mal vorbeigekommen war und ihre Schwierigkeiten gesehen hatte, hatte vorgeschlagen, dass sie Gretchen fortgeben sollte. Adoption. Dann bekäme sie als Eltern vielleicht ein gut situiertes Ehepaar und den Erbanspruch auf ein Haus im Grünen. Das konnte man ausschließen, wenn sie bei ihrer Mutter blieb. »Weggeben? Nie!«, hatte sie gesagt. Sie hatte jetzt ein Kind. Es lag im Arm wie eine Puppe, wie eine wunderschöne Puppe, wenn es nicht schrie und ein wenig die Augen öffnete. Als Mädchen hätte sie niemals ihre Puppe weggegeben. Als Frau gab sie ihr Kind erst recht nicht weg. So einfach war das. Nur dass Gretchen schrie und die Puppe nicht. So hatte sie weitergemacht. Und kurz vor dem Ende des Mutterschutzes hatte Gretchen dann die erste Nacht durchgeschlafen. Käthe hatte nie gedacht, dass ein Mensch so tief und fest schlafen kann wie sie in dieser Nacht. Der Arzt spürte ihren Blick auf seinen Socken. Er hob den Fuß und zog ihn zurecht. Käthe kam auf die wichtigste Frage zu sprechen: »Wie lange dauert es, bis sie sterben muss?« »Schwer zu sagen.« »Ungefähr?« Achselzucken. »Da steckt man ja nicht drin.« »Und bis sie behindert sein wird?« Rupert schnaubte kurz durch die Nase, weil ihn selbst diese Frage umgetrieben hatte. Er merkte, dass Käthe darauf beharren würde und dass er etwas Definitives sagen musste, als sei er ein Richter, als habe er zu entscheiden. Er war doch nur ein Doktor und nicht die Macht, von der es abhing, dachte er.
Endlich sagte er eine Zahl: »Sechzig Stunden, dann wird’s sehr kritisch.« Käthe sah auf die Uhr. Kurz nach Mitternacht. »In zwei Tagen gegen Mittag«, sagte sie nüchtern. Es dauerte eine Weile, bis der Doktor bejahte. »Ohne Gewähr.« Käthe zog ihren Stuhl näher an den Arzt heran, der auf der Bettkante saß. »Haben Sie Kinder?«, fragte sie. »Nein.« »Trotzdem. Was würden Sie machen, wenn Gretchen Ihre Tochter wäre?« Ratlosigkeit prägte das schmale Gesicht des Arztes, der ihren Blick nicht länger aushalten konnte und deshalb aufstand. Er trat ans Fenster und lehnte sich an die Heizung. Er sah, wie die Frau im grünen Seidenkleid fröstelte. Er wartete darauf, dass sie wieder weinte. Er kam von seinem Platz zurück, zog sein Jackett aus und hängte es ihr über die nackten Schultern. »Was würden Sie machen?«, insistierte Käthe. Rupert hatte sich erneut ans Fenster geflüchtet. Ihm fiel nichts Besseres ein, als »warten« zu sagen. »Immunal?« Der Doktor lächelte anerkennend. »Vielleicht«, sagt er, »vielleicht wär’s das. Man liest fabelhafte Sachen über das Medikament. Gerade bei Störungen im Immunsystem. Bei der Krebstherapie ist der Traum vom Wundermittel wohl ausgeträumt, doch bei Immunschäden… Aber wer weiß. Ob’s hier was hilft, kann keiner sagen, beim besten Willen nicht.« Käthe war aufgestanden und trat auf den Arzt zu. Seine Jacke hatte sie über der Brust zusammengezogen. Sie fasste ihn ins Auge. Es war wie bei einem Verhör: »Schadet’s was?«, fragte sie.
»Weiß ich nicht. Aber Nebenwirkungen, ja, ich würde das in Kauf nehmen.« »Wie lange kann man das mit Erfolg anwenden, dieses Immunal?« »Was soll’s?«, sagte der Verhörte, entzog sich wieder und ging zu seinem Bett, wo er sich auf der Kante niederließ. »Sie kriegen das Medikament nicht. Es ist nicht im Handel, wenn ja, wäre es sauteuer.« Sie machte eine wegwerfende Handbewegung, so als habe sie das Geld liquide auf dem Konto. »Und es wird nur in winzigen Dosen hergestellt. Man isoliert den Stoff aus menschlichem Blut.« Sie nickte. Das wusste sie inzwischen alles. Das hatte sie schon am Nachmittag ermittelt. »Es ist im klinischen Versuch«, sagte sie. »Aber unterstellen wir mal, man hätte das Mittel, wie lange hätte man Zeit?« Wieder sollte er Richter spielen. Diese Frau nervte ihn. Aber sie hatte Anspruch auf Hoffnung, und wenn es nur Illusionen waren. Das würde ihr helfen, dachte er. Er kalkulierte die Unwägbarkeiten des Falles durch. Er meinte, dass er es vertreten könnte, ihr eine Frist von eineinhalb Tagen zu geben. »Übermorgen Mittag.« »Bis es kritisch wird?« »Denke ich mal.« Käthe gab dem Arzt das Jackett zurück. Sie ging. »Sie wollen es beschaffen?«, fragte er. Er wusste nicht, ob er selbst das Unmögliche versuchen würde, wenn es um sein Kind ginge. »Wie wollen Sie an das Medikament kommen?«, fragte er. »Abwarten«, sagte Käthe, schon draußen auf dem Flur. »Viel Glück«, rief er ihr nach. Sie antwortete nicht mehr.
Waldmüller war bei sich zu Hause angekommen. Er wütete immer noch am Telefon herum, führte beim Wählen Selbstgespräche und beschimpfte den Apparat. Zuerst versuchte er es zum 30. Mal bei Abel. Dort nahm keiner ab. Abel hätte sich gewundert, welch blumige Vielfalt an Schimpfworten die deutsche Sprache entwickeln konnte, hätte er seinen Klienten fluchen hören. Waldmüller wartete, lauschte dem gleichmäßigen Tuten, bis das Besetztzeichen anschlug, und wählte noch einmal. Das selbe Resultat. Das Handy war auch ausgestellt. Er probierte es bei Käthe, nicht weil er annahm, sie könnte ihm helfen, nur weil er jemanden brauchte, dem er von dieser Sauerei berichten konnte. Jemand, der zuhörte, wenn er ins Telefon schrie. Es meldete sich niemand. Er warf den Hörer auf und brüllte: »Die blöde Schnecke muss doch zu Hause sein! Schiebt wohl ihren Arsch im Krankenhaus rum, die Kuh!« Bei der Firma Quast lief er beim Anrufbeantworter auf. »Wenigstens soweit lebt der alte Kasten noch«, fauchte er. Schließlich kam ihm der Gedanke, den Rechtsanwalt Gawliczek anzurufen. Es war zwei Uhr, aber in so einer wichtigen Sache dürfte das eigentlich keine Rolle spielen, murmelte Waldmüller, während er im Telefonbuch unter »G« nachschlug. Er versuchte es gleich mit der Privatnummer. Zum Warten zündete er sich einen Zigarillo an, der ihm fast aus dem Mund fiel, weil sich der Rechtsanwalt schon praktisch auf den ersten Ton meldete. Mühsam beherrscht sagte Waldmüller: »Was ist los, Herr Doktor?« Er gebrauchte die förmliche Anrede gern gegenüber Männern, denen sie zustand. »Wo steht meine Maschine?« »Dort wo sie hingehört.« Der weiche, verbindliche Tonfall Gawliczeks schockte Waldmüller. Er merkte, dass der Anwalt Bescheid wusste. Er hatte nicht geschlafen.
»Was ist los?«, fragte Waldmüller. Ihm schien, als lächle sein Gesprächspartner, als er antwortete, dass man eine Aussetzung der Vollziehung beim Landgericht erzielt habe. »Aussetzung der Vollziehung?« »Ja, so etwas wie ein Hinrichtungsaufschub, Sie wissen, was ich meine?« »Nein.« Gawliczek sprach geduldig und erklärte, dass er dem Gericht noch in der Nacht neue Tatsachen unterbreitet hatte. Morgen früh würde man weitersehen. Man würde verhandeln können. Nein, Konkretes könnte er noch nicht sagen. Bis dahin sollte aber kein Schaden entstehen, das sei alles. Man beginne morgen mit der Produktion wie üblich. »So lange bleibt deshalb die Maschine an ihrem Platz.« »Scheiße«, sagte Waldmüller. »Bitte wenden Sie sich an Ihren Anwalt«, fuhr die freundliche Stimme am anderen Ende fort. »Wenn man es genau nimmt, darf ich ohnehin nicht mit dem Gegner ohne dessen Anwalt sprechen.« »Aber der nimmt doch nicht ab«, schrie Waldmüller empört. »Menschenskinder, der nimmt doch nicht ab!« Dazu sagte der Rechtsanwalt Gawliczek nichts. Er war kollegial. »Was für Beweise haben Sie vorgelegt?«, wollte Waldmüller wissen. »Nein, es geht nicht um Beweise. Tatsachen habe ich gesagt.« Gawliczeks Stimme blieb verbindlich. »Sie müssen abwarten, Ihr Anwalt hat bis um acht Uhr morgen früh alle Unterlagen per Boten. Halten Sie sich aber mal den Termin morgens um zehn frei.« »Zehn Uhr? Woher wissen Sie das so genau?«, bohrte Waldmüller nach.
Gawliczek seufzte ein wenig und bat um Geduld. Dann wimmelte er Waldmüller ab. »Ich erwarte noch einen Anruf«, sagte er. Aha, dachte Waldmüller, die schlafen nicht. Er beendete das Gespräch und fällte eine Entscheidung. Er suchte die Nummer von dieser Anwältin Maller heraus. Eine Privatnummer war nicht angegeben. Waldmüller fasste das als ein positives Zeichen auf. Auch in diesem Fall hatte er beim ersten Freizeichen Anschluss. Er glaubte schon, dass er endlich den Anwalt gefunden hatte, den er suchte. Einen, der Tag und Nacht für die Klienten da war. Doch die Stimme, die sich meldete, klang blechern. Sie sagte, dass dies der automatische Anrufbeantworter der Kanzlei Maller sei. Dann leierte sie monoton die Geschäftszeiten herunter. Zum Schluss bedankte sie sich für den Anruf und nun könne man etwas aufs Band sprechen. Aber Waldmüller legte auf. Er lief in die Küche, holte sich einen Aschenbecher und ein Wasserglas voll Wodka. Da klingelte sein Telefon. Er fiel fast über den Clubsessel und verschüttete die Hälfte des Alkohols. Atemlos meldete er sich. Es war Käthe. Er merkte nicht, wie ausgelaugt ihre Stimme klang, als sie sagte, dass es Gretchen schlecht gehe. »So, so«, sagte Waldmüller, »das ist ja eine ganz schöne Scheiße.« Dann holte er Luft und ließ eine Schimpfkanonade ab. Er redete, sie schwieg, sagte noch nicht einmal dazwischen »ja«, so dass er zwei oder dreimal fragen musste, ob sie noch dran war. Schließlich tröstete sie ihn mühsam. Ihr war sein Prozess jetzt gleichgültig. Trotzdem sagte sie: »Glaub doch bloß nicht, dass das Landgericht anders entscheidet als das Gericht gestern. Selbst der Gegenanwalt hat gesagt, es ist nur vorläufig.«
Waldmüller wusste es halt nicht. Er müsste mit seinem Anwalt reden, aber der nahm ja nicht ab! Bevor Käthe ihn auf die Idee brachte, einfach bei dem Anwalt vorbeizufahren, musste sie ihr Anliegen loswerden. Sie begann damit, dass sie wiederholte, dass es Gretchen ganz schön dreckig ging. »Wenns mal schief läuft, läuft alles schief«, sagte Waldmüller. »Es gibt ein Medikament, aber es ist sauteuer.« »Kann dir doch egal sein, zahlt die Kasse.« Käthe brauchte einige Zeit, ehe Waldmüller verstand, dass sie allenfalls eine Chance hatte, an das Medikament zu kommen, wenn sie es unmittelbar beim Hersteller holte. Die durften es aber nicht abgeben, weil es ungesetzlich wäre, bevor das Medikament nicht offiziell zugelassen war. »Da muss man jemanden schmieren oder einen irren Preis zahlen«, sagte Käthe. »Schöne Bescherung!« Waldmüller merkte, worauf sie hinauswollte. »Ich investiere alles. Jeden Cent, den ich hab. Und ich pump mir zusammen, was ich kriegen kann«, sagte sie. »Ich versuch’s, ich muss, verstehst du?« Sie brauchte nicht zu fragen. Er antwortete: »Käthe, ich kämpfe selbst, das weißt du. Enorm muss ich kämpfen. Was meinst du, was dieser Anwalt kostet? Und dann besitzt er noch die Frechheit und nimmt nicht ab!« »Du sollst mir ja nichts schenken, nur leihen.« »Und was ist, wenn das Medikament nicht wirkt? Dann geht’s Gretchen dreckig.« »Nein, dann ist sie tot!« Er zögerte einen Augenblick, bevor er weitersprach. »Ja. Und dann hast du einen Haufen Geld für nichts und wieder nichts in den Sand gesetzt.«
»Aber ich brauche mir nichts vorzuwerfen«, sagte sie leise. »Und wie teuer ist der Spaß?« Als Kaufmann wollte Waldmüller Zahlen hören. Nur so konnte er sich ein Bild machen. Käthe hatte ihre Informationen vom Krankenhausapotheker, den sie vor ein paar Minuten aus dem Bett geläutet hatte. Und der konnte ihr auch nichts Konkretes sagen. Das Medikament sei halt nicht auf dem Markt, aber verdammt teuer sei es, weil die Herstellung so aufwendig wäre, hatte er gemeint. Waldmüller kratzte sich im Ohr, er dachte nach. Dann sagte er, dass jedes Ding und jeder Mensch seinen Preis habe. Folglich musste es mit Geld gehen. »Ja, du bekommst es wieder, versprochen«, sagte Käthe. »Du musst versuchen, dass es so billig wie möglich kommt. Du musst mit den Leuten handeln.« »Darauf wär ich nicht allein gekommen!«, sagte Käthe ungeduldig. »Aber ich muss flüssig sein, nur Bares zählt. Es eilt!« Dann bettelte sie ihn um Geld an. Egal, wie viel er geben wollte. »Das Geld ist auch am Arsch, wenn das Medikament anschlägt«, stellte Waldmüller nüchtern fest. »Wie willst du es denn anstellen, so viel Geld zurückzuzahlen?« »Das stottere ich ab. Ich kann ja einen Kredit beantragen.« »Du und Kredit«, sagte Waldmüller, der in etwa wusste, wie viel Schulden Käthe schon hatte. »Ich klopp Nachtdienste«, sagte sie, »irgendwie wird es schon gehen. Ich unterschreibe dir, was du willst.« Waldmüller wäre es lieber gewesen, wenn sie ihm einen Wechsel quergeschrieben hätte. Käthe wartete schweigend auf seine Antwort. Eigentlich hatte er noch nicht einmal einen Grund, dieser Frau zu helfen, dachte er. Nur weil sie ein paar Mal miteinander geschlafen hatten und er sie und ihr Kind ganz gerne mochte. Sie war gut im Bett, aber das waren andere
auch. Das Kind war nicht von ihm, also war es allein ihre Sache, wie sie an dieses Medikament kam. Sollte doch der Vater des Kindes was springen lassen! Eigentlich hatte er jeden Grund, ihr abzusagen. Sie musste doch auch mal seine eigene Situation sehen! Die war ganz und gar nicht rosig. »Wie ists, Rolf?«, fragte sie. »Es ist zum Scheiße brüllen«, sagte er. Er wusste nicht, warum er nicht die Kraft aufbrachte, nein zu sagen. Klipp und klar nein. Welches Risiko ging er schon ein? Nur dass er sie los wäre. Die Hälfte der Weltbevölkerung bestand aus Frauen. Trotzdem brachte er das ‘Nein’ nicht raus. Als sie noch einmal fragte, wie es sei, war nichts Forderndes mehr in der Stimme. Er hörte ihre Resignation durch. »Gut«, sagte er, »du kannst kommen, ich geb dir einen Barscheck.« »Wie viel?«, fragte sie hektisch vor Freude. »Achttausend, mehr hab ich nicht.« Achttausend war viel. Sie musste über vier Monate für soviel Geld arbeiten, ohne Dienste. »Achttausend, das ist ein Brocken, der sich sehen lassen kann«, sagte sie, und bedankte sich überschwänglich. »Aber mit Zinsen, Mädel«, sagte Waldmüller, »und einen Schuldschein musst du auch noch unterschreiben.« »Ich komme sofort.«
Abel hatte sich volllaufen lassen. So was war in der selbsternannten »Weltstadt mit Herz« schwer um diese Zeit. Nur wenige Kneipen hatten bis vier offen, sah man von einer Hand voll nobler Clubs ab, wo die Getränke teuer und die Musik nach Abels Geschmack nervtötend waren. Abel kannte die wenigen Wirtshäuser, wo man in Ruhe saufen konnte. Das waren Kneipen, wo man sich auch allein an einen Tisch setzen
konnte, das Glas vor sich, ohne dass einer einem ein Gespräch reindrückte. Objektiv bestand für Abel kein Grund dazu, sich zu betäuben. Das wenigste, was man macht, ist freilich objektiv zu begründen. Es war so eine Stimmung, die ihn überfallen hatte. Ja, der Urlaub, dessen abrupte Unterbrechung eigentlich noch in der Luft hing. Und Carol. Er kannte sie seit vier Monaten. Eine fragile Bekanntschaft. Man verglich Termine, um sich zu treffen. Spontane Besuche waren nicht möglich. Carol war Ausstatterin beim Film. Mit ihren 32 schon mit wichtigen Preisen dekoriert und außerdem noch Tochter eines Zeitungsverlegers in Franken. Erfolg und Erbe machen einsam, so absurd es klingt. Carol war drei Jahre Single, bevor sie Abel traf, weil sie keine Zeit für Beziehungen hatte. Nun hätte sie eine Beziehung zu Abel haben können, aber die Termine gingen vor. Carol fand Abel interessant und exzentrisch. Seine Art zu träumen nahm sie mit. Seine Hände brachten zärtliche Saiten in ihr zum Schwingen. Trotzdem traf sie immer wieder Paul, einen Freund aus Nürnberg, mit dem sie wahrscheinlich immer noch schlief. Ein guter alter Freund, mehr nicht. Und Abel hatte keinerlei Anlass, sich zu beklagen. Bei ihm gab es auch eine Hängepartie mit einer gewissen Bea. Er rief in dieser Nacht nicht bei Bea an und hoffte, dass Paul nicht an der Cote weilte und dass nur der Akku an Carols Handy kaputt war. Möglich, dass ihm der Fall auch an die Nieren ging. Da half er mit, dass einer Firma der Todesstoß versetzt wurde. Ein wirtschaftlicher Zusammenbruch wie viele andere auch. Und die Zahl der Arbeitslosen war wieder etwas höher. Aber wenn er nicht das Mandat versehen hätte, wäre es ein anderer gewesen, sagte er sich. Die Ersetzbarkeit der eigenen Person war für viele schon ein gutes Argument, das wusste Abel. Aber er war extra aus dem Urlaub gekommen. Dienstfertig. Auch
das hing ihm zum Hals heraus, denn er war doch kein Lakai. Dennoch war er gekommen. Selten hatte er Mandate mit einem so enormen Streitwert. Abel war eher der Anwalt für kleine Leute. Und nun hatte er gegen die kleinen Leute eine Entscheidung erwirkt. Aber andererseits: Hätte er in der Sache anders entschieden als der Richter Kehrmeister? Sicher nicht. Der Gerichtsbeschluss ging in Ordnung. Das Recht sprach für den Waldmüller und seine Sache. Dann fing Abel wieder von vorne an und überlegte sich, wie das wohl war, wenn einer nach Hause kam und erzählte, wie sie heute in die Firma gekommen waren mit Kran und Tieflader, Advokat und Gerichtsvollzieher, um die Maschine herauszureißen. Alles finito. Aus. Schluss. Ende. In der Belegschaft hatten sich schon lange Gerüchte gehalten, aber das hatte man verdrängen können. Mit der Invasion am Nachmittag hatten sich die Symptome des Kollapses manifestiert. Wie sie wohl heute Abend ihr Fernsehprogramm konsumieren, diese Leute von der Firma, fragte sich Abel. Dass keiner von den Gießern sich wirklich dem Trupp in den Weg gestellt hatte! So was gibt’s nur in den Arbeiterfilmen der ehemaligen DDR, aber nicht in der Realität. Jetzt begannen sie, auch diese Kneipe zu schließen. Es waren die bekannten Vorbereitungen, die der Wirt und seine Bedienung trafen. Die Tristesse des Aufbruchs in den Rest der Nacht ließ Abel noch einen Schnaps bestellen, den er nach einer kurzen Diskussion zusammen mit dem Abrechnungszettel erhielt.
Zu Hause setzte er sich in die Küche und goss sich ein Bier ein. Zu essen hatte er immer noch nichts im Haus. Viel Geld hatte er verdient, ausnahmsweise, bei einem so hohen
Streitwert, aber zum Essen kaufen hatte es nicht gereicht. Die Luft war kalt. Tau fiel in dieser Stunde. Unten in Frankreich waren die Nächte noch trocken, und die Zikaden und Laubfrösche lärmten einen in den Schlaf. In den Städten bei uns waren die Grillen längst erstickt. Es roch nach feuchtem Laub. Der Herbst würde bald kommen. Abel zog die Nase hoch und klappte endlich die Fensterflügel zu. In diesem Augenblick sagte er zu seinem Hund: »Komm, Schmitz, wir hauen wieder ab.« Das Tier, dessen Kalbskopf auf den säuberlich nebeneinandergelegten Pfoten ruhte, hatte seinen Herrn mit halbgeschlossenen Augen beobachtet. Es reagierte nicht. »Doch, doch, wir hauen ab«, sagte Abel. »Das hat einen Vorteil: Wir brauchen erst gar nicht auszupacken.« Er stellte die Koffer zurecht, so dass man nur zwischen sie treten, sie hochheben und zum Auto hinaustragen musste. Er machte sich Musik an. Er ließ Carmen McRae drei oder vier Mal hintereinander das Septembergirl singen. »Man könnte heulen, so schön ist das«, sagte er zu Paul Schmitz.
Als Käthe bei Waldmüller ankam, fackelte der nicht lange und stellte ihr den Scheck aus. Sie sah ihm dabei zu und fragte sich, ob der Scheck gedeckt war. Waldmüllers Lage war ja auch nicht rosig. Papier war geduldig. Aber sie ging ja kein Risiko ein, wer hätte ihr sonst achttausend Euro gegen eine einfache Unterschrift geliehen? Sie glaubte Waldmüller, bedankte sich, küsste ihn und schlängelte sich an ihn ran. Es war ein Gefühl, das beide regelrecht überfiel. Der Stress musste sich entladen. Waldmüller packte sich Käthe, nahm sie mit in sein Bett und machte es ihr. Kurz und bündig, hoppladihopp. Und Käthe kam, wie sie bei Waldmüller noch nie gekommen war. Endlich ließ er sich von ihr runterrollen. Jetzt hätte sie sich gerne eine angezündet. Aber der Handel galt immer noch,
wenngleich es so aussah, als würde sich ihr mächtiger Geschäftspartner nicht an die Abmachung halten. Sie rauchte nicht, weil sie nicht genau wusste, wie er disponiert hatte. Möglich, dass er sie auf die Probe stellte. Waldmüller war auf dem Klo. Dort saß er und qualmte einen Zigarillo. Dann kam er wieder herein. Jetzt hatte er eine Unterhose an. Warum eigentlich, fragte sie sich. Er ging ans Telefon, wählte, lauschte und legte wieder auf. »Dem werde ich was erzählen!«, sagte er dann »Diesem Abel, morgen früh!« »Fahr doch hin, weck ihn«, schlug Käthe erneut vor. Sie zog sich an und klappte ihre Handtasche auf, um nach dem Scheck zu sehen. Er war noch drin. Waldmüller lief immer noch in der Unterhose herum. Er war unruhig. Vielleicht scheute er die Konfrontation mit seinem Anwalt. Schließlich zog auch er sich an. Sie verabschiedeten sich unten auf der Straße voneinander, neben den Autos. Kein Kuss, nur so ein Winken. Jeder war wieder hinter dem eigenen Problem her. Waldmüller rief ihr noch nach, dass sie ja morgen Mittag zusammen essen gehen könnten. Er nannte den Namen eines kleinen Lokals. »Wenn ich es schaffe, komme ich«, antwortete Käthe. »Halb eins.«
Abel sah sofort, dass was angebrannt war. Er hielt den kläffenden Hund am Halsband fest und ließ Waldmüller rein, der wie das Rumpelstilzchen in die Kanzlei fuhr und sofort zu schreien begann, warum Abel denn telefonisch nicht erreichbar wäre? »Wie denn, was denn?«, knurrte Abel. Er war noch angezogen, das Septembergirl lief, der Hund beruhigte sich
und legte sich misstrauisch auf seinen Platz. Waldmüller machte Abel seine Vorhaltungen und sah dabei den Hund schräg an – seinen Anwalt nicht. Der stand vor dem Schreibtisch, die Hände in die Taschen gestemmt, das Kinn auf der Brust, Lauern in den Augen. Sollte Waldmüller ihm nur schnell ein Stichwort geben, was Sache war, dann bekam er seine Antwort. Aussetzung der Vollziehung. Da war es! Abel ließ Waldmüller weiterreden, damit es nicht auffiel, dass er völlig verblüfft war. Da hatte der Gawliczek unglaublich effizient zugeschlagen und sich bei Gericht noch am selben Tag Luft verschafft. Schon morgen früh ging es also in die zweite Runde. Waldmüller interpretierte Abels Schweigen als Ausdruck der Überlegenheit. Er wurde leiser und argumentierte sachlicher. »Dass man doch erwarten kann, von seinem eigenen Anwalt, und nicht vom Gegner zu erfahren, wenn was los ist! Sicher, Sie sind ein freier Mensch, können machen, was Sie wollen, aber…« Er wurde unterbrochen, weil Abel auf ihn zutrat, ihn grob am Arm nahm und zu seinem Schreibtisch zerrte, wo er vorhin die Akte Waldmüller gegen Quast obenauf gelegt hatte. »Hier liegt der Fall, vernachlässigt und hängen gelassen, Herr Waldmüller! Obendrauf. Und wenn ich noch ein Wort höre, dann gebe ich Ihnen den Vorgang mit, dann suchen Sie sich einen anderen Anwalt!« »Nein«, sagte Waldmüller, »so habe ich es nicht gemeint, eher allgemein«, so betrachtet habe er doch Recht, oder? Abel sah auf die Uhr. »In ein paar Stunden werden die Karten neu gemischt und vergeben. Da brauch ich Sie fit und ausgeschlafen. Dann wissen wir mehr über den Grund für die Aussetzung.« Waldmüller sah an sich herunter. »Klar?«, fragte Abel.
»Wir gewinnen? Oder?« »Hoffentlich!« »Ich will wissen, ob wir gewinnen!« Waldmüllers Stimme drehte wieder in eine höhere Lage hinauf. Das war zuviel für Abels alkoholvernebelten Kopf. Er räusperte sich laut, und als Waldmüller weiterquengelte, schnappte er ihn noch einmal am Oberarm und brachte ihn zur Tür. Er gab ihm die Hand und knurrte: »Morgen Mittag sage ich Ihnen, ob wir gewonnen haben oder nicht.« Was barg ein Haushalt für eine Frau und ein Kind an Wertvollem, das sich schnell zu Geld machen ließ? Wer so lebte wie Käthe, wer so wenig verdiente wie sie, der hatte kaum etwas. Eine halbe Handvoll Schmuck lag vor ihr. Das meiste war Strass. Sonst noch eine Perlenkette und ein Ring von der Mutter. Eine Brosche, die sie sich selbst mit Mitte zwanzig für tausend Mark gekauft hatte, und ein Ring, den sie von einem ihrer Männer geschenkt bekommen hatte. Das war lange her. Es war ein älterer Mann, verheiratet und übervorsichtig. Mit seinen romantischen Gefühlsduseleien war er ihr schnell auf die Nerven gegangen. Der Ring war sein Abschiedsgeschenk. Das war lange vor Gretchen gewesen. Sie war sehr jung gewesen, ja, und schräg ausgesehen hatte sie damals, fast punkig. Und dann ein biederer Ring mit Diamantensplittern, den sie nie getragen hatte. Er war dann noch einmal mit einem Riesenstrauß roter Rosen und einem wässrigen Kuhblick gekommen. Als er gemerkt hatte, dass nichts mehr lief, hatte er diesen Ring hier aus der Tasche gezogen und dagelassen. Und jetzt sollte das Geschenk dazu beitragen, die vorerst noch unbekannte Summe für das Immunal zu finanzieren. Falls Käthe im Pfandhaus oder bei einem Juwelier mehr als einen Tausender für alles zusammen bekommen sollte, war das schon viel, sagte sie sich. Egal, sie hatte in der letzten Zeit eh
nur Strass getragen. Sie brauchte nichts Echtes. Weiter: ein Bausparvertrag, Abschlusssumme 15.000 Euro. Lächerlich. Wie sollte man mit solchen Summen irgendwas Eigenes erwerben können, geschweige denn das Haus im Grünen, das sie einem in der Werbung vorgaukeln? Den Vertrag hatte ihr die Mutter geschenkt, und sie hatte ratenweise weiter einbezahlt. Vielleicht waren 2.000 Euro zusammengekommen. Käthe überschlug die Summe im Kopf. Auch auf den Vertrag konnte sie verzichten. Bloß, wie lange dauerte es, bis man ihn auflösen konnte und Bares sah? Sie wusste es nicht, sie würde sich danach erkundigen. Ihr Girokonto war mit fünfhundert im Soll. Und sonst? Käthe blickte sich in ihrer Wohnung um. Die Möbel, die Drucke an der Wand, bessere Kalenderblätter, Picasso, blaue und rosa Phase, der Webteppich auf dem Boden? Da muss man noch Geld drauflegen, damit einer kommt und das Gerümpel abholt, dachte sie. Das war alles, was sie zusammentragen konnte. Käthe arbeitete und verbrauchte das, was sie dafür bekam. Und die Kleider und die Schuhe, ja, bitte, dafür ging auch einiges weg. Das war sozusagen das Kapital einer Frau. Dafür wurde sie von den Männern zum Essen und, wenn’s hochkam, auf einen Urlaub eingeladen, dachte sie illusionslos. Aber nur, wenn sie auch im Bett schön mitturnte. Aber nicht jeder hatte bei ihr eine Chance. Es musste schon Spaß dabei sein. Ziemlich viel Spaß. So viel war sie sich selbst schuldig. Käthes Vermögen im engeren Sinne lag vor ihr auf dem Küchentisch. Sie stand davor und hätte gerne eine geraucht, bei der Betrachtung des pekuniären Resultats ihres bisherigen Lebens. Mit Glück 4.000 Euro all in all, schätzte sie, weil man bei der Auszahlung des Bausparvertrages auch Abschläge machen würde. Aber Käthe arbeitete nicht nur fürs Geld, auch weil ihr die Arbeit Spaß machte, weil sie anerkannt war. Momentan sah
sie das vor ihr Liegende ohnehin nur unter dem Blickwinkel der Verwertbarkeit. Dazu kamen die 8.000 Euro von Waldmüller, wenn der Scheck gut war, und ein Kredit, den sie natürlich als erstes aufnehmen würde. Soviel wies nur immer gab auf ihren Namen, den keiner kannte, und ihren Personalausweis und den Gehaltsstreifen von der Klinikverwaltung. Sie hatte bereits in der Zeitung nachgesehen. Kreditvermittler warben damit, dass sie bis zu 10.000 Euro ohne Sicherheit verliehen. Die Anzeigen hatte sie ausgeschnitten. Summa summarum etwa 22.000 Euro. Diesen Betrag konnte sie noch aufbessern, wenn sie einige Leute anpumpte und zudem den Vater von Gretchen nachdrücklich auf seine Verantwortung hinwies. Sie hatte ihn seit eineinhalb Jahren nicht mehr gesehen und wusste nur, dass er inzwischen verheiratet war und in Ludwigsburg wohnte. Seine Telefonnummer hatte sie sich von der Auskunft besorgt. Lass das Medikament mal ruhig 10.000 Euro kosten, sagte sie sich, da konnte sie immer noch bis zu 15.000 Euro als Schmiergeld über den Tisch schieben. Das machte sie zuversichtlich.
Freitag, 14. September
Es war genau sieben Uhr, Freitagmorgen. Käthe hatte sehr wenig, aber tief geschlafen und war nun auf Touren und hellwach. Sie hatte im Krankenhaus angerufen und wusste, dass man bei Gretchen das Fieber immer noch nicht in den Griff bekommen hatte. Im Radio gab es Nachrichten. Sie setzte einen Kaffee auf. In zwei Stunden öffneten die Banken, und die Kredithaie nahmen ihre Arbeit auf, wetzten die Zähne und setzten sie in die gefräßigen Mäuler ein. Ein verhangener Regentag lümmelte vor dem Fenster. Nebenan kläffte der Hund, der sonst nie bellte. Eine Wasserspülung lief, und unten auf der Straße rumpelte die Müllabfuhr entlang. Käthe ging ins Bad und begann, sich so gut es ging herzumachen. Sie schärfte ihre Waffen. Bei einer Frau, die so um Ende Zwanzig war und recht gut aussah, ging das noch einfach. Mit kritischem Blick musterte sie das Ergebnis. Die dunklen Ringe unter ihren Augen gefielen ihr nicht. Von dem Tag heute hing viel ab. Heute musste sie es beweisen.
Waldmüller stand im Regen. Er hatte einen großen, bunten Schirm aufgespannt, der eine Reklame trug, darunter bildete sich ein hellblaues Wölkchen vom Rauchen. Abel hatte ihn schon kurz nach sieben angerufen und aus einem unruhigen Schlaf gerissen. Er habe ein Gespräch mit dem Rechtsanwalt Gawliczek vereinbart, hatte Abel kurz mitgeteilt. Der Kollege hatte anscheinend ein Angebot zu machen. Waldmüller hatte sich nur zögernd orientieren können, denn er hatte von einer Frau ohne Gesicht geträumt, die vor ihm getanzt und von der
er geglaubt hatte, dass sie seine Mutter sei. Der Tanz im Traum war ihm peinlich. Nun war die Realität wieder da, nüchtern und kalt. Da brauchte er sich für nichts und niemanden zu schämen. Deswegen hatte er auch zu Abel gesagt, dass er schon vermutet hatte, dass denen das Wasser bis zum Hals stand und dass sie aus der Deckung kommen müssten. »Abwarten und anhören«, hatte der Anwalt geantwortet, »seien Sie bitte pünktlich, weil ich noch einen anderen Termin am Vormittag habe.« »Aber mein Fall ist doch wichtig!« »Bis dahin haben wir die nächste Etappe hinter uns und sind schlauer.« Waldmüller sprang nun von einem Fuß auf den anderen, weil es schon zehn Minuten über die Zeit war. Abel war mit Telefongesprächen aufgehalten worden und hatte Schwierigkeiten mit dem Parkplatz, das übliche, wenn man sich verspätete. Er kam schließlich eine Viertelstunde nach dem vereinbarten Termin mit eingezogenem Kopf durch den Regenschleier gerannt, der vom Himmel herunterhing. Waldmüller sah tadelnd auf die Uhr. »Kommen Sie«, sagte Abel nur. Die Kanzlei des Rechtsanwalts Gawliczek in der Maxvorstadt war von anderem Zuschnitt als Abels Bohemebüro in Lehel. Da gab es ein weitläufiges Foyer, in dem zwei junge Damen tippten, da standen frische Blumen in einem großen Bukett auf einem Edelholztresen, wo man sich anmelden musste. »Sie werden erwartet«, sagte ein hübsches Fräulein, stand auf und ging voran in einen kleinen Flur hinein, an dessen Ende eine schallisolierte Tür den Eingang zum Büro des Chefs eröffnete. Dort wiederum gab es neben einem gut drei Quadratmeter großen Tisch, auf dem sich die Akten stapelten, eine moderne Sitzgruppe, weiß mit glatten Konturen, die für Besprechungen diente.
Dort saßen die Gegner bereits beim Kaffee versammelt: Gawliczek, der Prokurist Boese sowie zwei weitere Herren, die artig in der Tracht der Geschäftsleute gekleidet waren: dunkler Anzug und dezente Seidenkrawatte zum weißen Hemd. Einer hatte das Gesicht eines Hasen mit kurzer Nase und vorstehenden Zähnen, der andere Züge, die man sich kaum merken konnte, weil sie so durchschnittlich waren. Abel kannte die Männer nicht. Sie wurden vorgestellt und gaben reflexartig Abel ihre Geschäftskarten, die sie als Manager einer Firma auswiesen, deren Name Abel nicht kannte. Er las zu selten den Wirtschaftsteil. Aber wer weiß, vielleicht kommt die unbekannte Firma dort nicht vor? Gawliczek machte die Herren miteinander bekannt. Er plauderte unbekümmert, während die restlichen Verhandlungspartner kalte Gesichter aufsetzten. Kaffee und Tee wurden aufgetragen. Das hübsche Fräulein vom Empfang bückte sich dabei tief zum Tisch herunter, und das Hasengesicht machte einen langen Hals, damit es etwas mitbekam. Dann ging das Fräulein wieder und hinterließ einen schwachen Hauch von gutem Parfüm, das zu ihrer Haut passte. Die Streitparteien waren wieder untereinander. Die Feindseligkeiten konnten eröffnet werden. Abel sagte: »Wir hören.« Gawliczek lächelte, nickte, rieb sich die Hände und dienerte ein wenig zur Seite hinüber, dort, wo das Durchschnittsgesicht saß und an einer Teetasse schlürfte. »Ja,« sagte Gawliczek, »wir können einfach nicht begreifen, weshalb der Herr Waldmüller so brüsk vorgegangen ist, einen Rechtsstreit vom Zaun zu brechen, der sich doch durchaus hätte vermeiden lassen können.« Abel grinste und machte mit Daumen und Zeigefinger die Geste, die überall »Geld« bedeutete.
Gawliczek fuhr fort: »Ja, ja, selbstverständlich. Dass es ums Geld geht ist ja bekannt. So ist es in der Wirtschaft, das muss unter Kaufleuten nicht betont werden.« Er legte eine Pause ein und strahlte Abel förmlich an. »Wir stehen heute ja auch nicht mit leeren Händen da. Vorauszuschicken ist allerdings, damit der rechtliche Standpunkt auch klar wird, dass die Entscheidung des Richters Kehrmeister weder formal noch materiell akzeptiert werden kann.« »Was bieten Sie an?«, fragte Abel kühl. »Ich habe den Auftrag«, wieder beugte sich Gawliczek zu dem Durchschnittsgesicht hinüber, »ja, ich bin beauftragt, alle Rechtsmittel restlos auszuschöpfen.« Da nickten sie, der Hasenkopf und das Durchschnittsgesicht und selbstverständlich auch der alte Prokurist Boese. Abel öffnete die Akte, die er mitgebracht hatte, legte die Urkunde über die Einstweilige Verfügung des Amtsgerichts München heraus und fragte: »Bitte, wo ist der Aussetzungsbeschluss? Ich habe ihn noch nicht zugestellt bekommen. Das nur vorneweg.« Gawliczek sagte: »Ach, Entschuldigung, Herr Kollege, da, hier, kommen Sie her, wir können gleich das Empfangsbekenntnis unterschreiben.« Er sprang auf, eilte hinüber zu seinem Schreibtisch, grub unter den Papieren herum, bis er endlich die Ausfertigung für den Gegner stolz hoch hielt und bemerkte dabei, dass in einem ordentlichen Haushalt nichts verloren gehe. Er war der Einzige, der darüber lachen konnte. Er legte Abel den Beschluss samt Empfangsbekenntnis vor. Waldmüller würdigte das Papier keines Blickes, während Abel feststellte, dass auch dieser Beschluss ohne Begründung ergangen war. Sein Mandant saß mit verschränkten Armen da, hatte den Zigarillo mitten im Mund wie einen Bleistift und paffte mit wütendem Gesicht blaue Wölkchen in die Luft.
Nach seiner Meinung müsste ein Anwalt in einer solchen Situation auf den Tisch schlagen, dass es donnerte! Den Gesellen die Meinung sagen! Klar machen, wo es langging. Hatte er jetzt eine Einstweilige Verfügung oder nicht? Abel bemerkte die Ungeduld Waldmüllers, aber es beeindruckte ihn wenig. Er roch den Braten und sagte: »Außer der Ankündigung des Rechtsmittels müssen Sie doch schon irgend etwas in der Sache vorgetragen haben, damit er die Vollziehung aussetzt. – Also noch mal, was bieten Sie?« Gawliczek rieb die Hände. »Bieten, ja, bieten ist der richtige Ausdruck, denn ich bin autorisiert, über die Zahlung zu verhandeln. Es geht um die Bürgschaft einer«, er verbeugte sich wieder in Richtung Durchschnittsgesicht, »man darf wohl sagen höchst soliden Adresse, über deren Solvenz keinerlei Zweifel bestehen.« Jetzt sprach das Durchschnittsgesicht. Es besaß eine kalte, knarrende Stimme: »Unsere Gruppe hat«, sagte es und stellte die Tasse hin, »Interesse daran, Quast zu übernehmen, ein Umstand, den Sie bitte vertraulich behandeln. Denn noch schweben die Verhandlungen. Gerade aber während der Verhandlungen sind wir nicht daran interessiert, dass die Produktion zusammenbricht und einer der Gläubiger weiter verunsichert wird und einen Konkursantrag stellt.« »Selbstredend«, nickte der Hasenkopf. »Sie wissen auch, dass uns nichts daran liegt, durch die Vollziehung dieser einstweiligen Anordnung die anderen Gläubiger zu beunruhigen, wenn ich so sagen darf.« Er interpretierte die Worte des Herrn. Offenbar war der andere der Boss. Waldmüller nickte skeptisch. Abel fragte, ob er die Bürgschaft mal sehen könne. »Natürlich«, Gawliczek sprang auf, lief wieder zu seinem Tisch, fand mit einem Griff die Bürgschaftserklärung und brachte sie Abel. Waldmüller wollte sie Abel wegnehmen,
doch der schaute seinen Mandanten nur mit einem kurzen Blick von der Seite her an. Waldmüller verschränkte die Arme und sah geradeaus. Nach der Lektüre gab Abel das Papier weiter. »Das ist aber nicht die volle Kaufpreissumme«, sagte Abel, »nur zirka fünfundsiebzig Prozent.« »Genau fünfundsiebzig Prozent«, knarrte der Mann mit dem Durchschnittsgesicht. »Meine Gruppe kann selbstverständlich nicht vollständig für alle Schulden einstehen. Aber wenn ein Vergleichsverfahren eröffnet werden würde, dann hätten Sie eine noch geringere Quote zu erwarten, ganz zu Schweigen vom Konkurs!« Waldmüller entspannte sich, denn die Bürgschaft war auf seinen Namen ausgestellt. Er fühlte sich ab jetzt auf der sicheren Seite. Abels Zeigefinger fuhr hin und her: »Nein, nein«, sagte er, »falsch. Bis zur vollständigen«, und er betonte das Wort »vollständig«, »Bezahlung des Kaufpreises ist die Maschine Eigentum des Herrn Waldmüller. Er kann sie sich folglich holen wie beabsichtigt. Und dann hat er eine gewisse Chance, hundert Prozent der Summe zu erzielen.« »Ja, ja«, Gawliczek breitete die Arme auseinander und sah zur Decke hinauf, »sofern die nächste Instanz der Auffassung des Richters Kehrmeister folgt und ein außerordentliches Kündigungsrecht der Fälligkeitsvereinbarung annimmt. Zweifelhaft, zweifelhaft, zweifelhaft, Herr Kollege.« »Wir können es ja abwarten«, sagte Abel gelassen. »Fünfundsiebzig Prozent der Kaufsumme sind ja nun sichergestellt und um den Rest lässt sich gut streiten, auch wenn die Bürgschaft nur 48 Stunden gilt.« Waldmüller starrte auf das Papier und erschrak. Die Frist hatte er übersehen.
Der Boss, der die Gruppe vertrat, sagte freundlich, »wir haben nicht ewig Zeit für Verhandlungen.« »Wir noch weniger«, fügt Abel hinzu. Die Diskussion ging hin und her, ohne dass sie voran kamen. Waldmüller dauerte es zu lange. Er sah ständig auf die Uhr und bemerkte zweimal mürrisch, dass er eine Gerichtsentscheidung habe, die er auch zur Vollstreckung bringen werde. »Die Aussetzung der Vollziehung muss halt einfach wieder rückgängig gemacht werden.« Er kam Abel vor wie ein Spieler, der drei Mal hintereinander auf »rot« gewonnen hatte und nun scheinbar gelassen ein viertes Mal auf die Färbe setzte. Die Gesprächspartner witterten seine Nervosität genauso wie Abel. Waldmüller zuckte zusammen. Sein Handy vibrierte in seiner Hand. Er fragte, ob er mal telefonieren dürfte. Die Bitte wurde ihm erfüllt und er begab sich in ein Nebenzimmer. Abel war mitgegangen und wurde nun Zeuge, wie Waldmüller mit der Firma telefonierte, an die er die Maschine mit Gewinn verkaufen wollte. Waldmüller zwinkerte seinem Anwalt zu und flüsterte: »Der Holländer!« Abel beobachtete, wie sein Mandant blass wurde. Das Gespräch war kurz und für Waldmüller im Ergebnis verheerend: Leider, so teilte sein Gesprächspartner ihm mit, hatten sie sich kurzfristig für ein anderes Angebot entschieden. »Dieselbe Maschine, bloß günstiger als bei Ihnen.« Abel sah, wie Waldmüller um Fassung rang, als er, nun doch von Abels Blick irritiert, mühsam beherrscht sagte, dass auch er im Preis heruntergehen würde. Die Aufregung prägte seine hohe Stimme und ließ sie flattern. Er zupfte an seinem makellosen Zweireiher, den er heute angelegt hatte. »Die Verträge mit der Konkurrenz sind schon unterschrieben worden. Bedauerlich, bedauerlich«, sagte der Gesprächspartner, »vielleicht ein andermal.«
Als würden Gießereiwerkzeuge jeden Tag wie Eier oder Brot über den Ladentisch verkauft! Da holte Waldmüller Luft und brüllte ins Telefon, dass er sich das nicht gefallen lassen würde, dass er das nicht hinnehmen würde. Er schnappte nach Luft, drohte mit Schadenersatz, Anwalt und Gericht und allem, was ihm geeignet erschien, Respekt einzuflößen. Da wurde sein Gesprächspartner sehr sachlich und kalt. »Sie waren es, der die Unterzeichnung des Vorvertrages abgelehnt hat, weil Sie die Maschine noch nicht sicher an der Hand hatten. Nun haben wir den Vertrag mit jemandem abgeschlossen, der die Sicherheit bietet. Wenn Sie meinen, ein Gericht folgt Ihnen und verurteilt uns zu Schadenersatz, dann sehen wir dem mit Gelassenheit entgegen, Herr Waldmüller, andererseits werden wir uns entschieden wehren, wenn Sie in der Branche Negatives verlauten lassen.« Das Gespräch war beendet. Waldmüller setzte sich, holte einen neuen Zigarillo aus der Tasche und dachte flüchtig nach. Abel, der den Sinn des Gesprächs erschlossen hatte, saß schweigend dabei. Ihm tat der Mann leid. Er wusste aber auch, dass er den Prozess sicher nicht führen würde, mit dem Waldmüller eben gedroht hatte. Waldmüller räusperte sich zwei-, dreimal, bis seine Stimme wieder einigermaßen zu Klang kam, dann stand er auf und sagte: »Reingehen und auf neunzig Prozent hochhandeln. Dann habe ich nichts gewonnen und nichts verloren.« Abel dachte an die Kalkulationen, die ihm Waldmüller am Anfang vorgezaubert hatte. Wenn es danach ginge, wären neunzig Prozent ein schlechtes Geschäft. Die Entschlossenheit Waldmüllers ließ hoffen, dass die ursprünglichen Angaben etwas negativ gefärbt gewesen waren, um den Anwalt anzuspornen. »Gut, neunzig Prozent«, sagte Abel und beobachtete den eleganten Herrn, der sich zusammenriss und ein entschlossenes Gesicht machte.
Als die beiden Männer Gawliczeks Büro wieder betraten, stand der alte Anwalt auf, kam mit einem scheinbar besorgten Gesicht auf sie zu und geleitete sie zurück zum Besprechungstisch. Ob es gute Nachrichten gäbe, fragte er. Natürlich war das nur eine höfliche Geste, nicht mehr. Weder Abel noch Waldmüller antworteten. Abel suchte noch einen Einstieg in das Gespräch über den Preis, da sah er, dass Waldmüller pumpte wie ein Maikäfer, rot anlief und mit lauter Stimme verkündete, »ich habe Besseres zu tun als hier herumzusitzen und über wertlose Bürgschaften zu verhandeln. Mein letztes Wort: neunzig Prozent und cash und keinen Euro weniger, sonst komme ich wieder mit dem Gerichtsvollzieher, dem Kranwagen und dem Tieflader.« Die Herren sahen sich an und lächelten milde. Abel wusste, jetzt hatten sie Waldmüller exakt dort, wo sie ihn haben wollten. Abel hätte sich am liebsten vor den Kopf geschlagen und laut gelacht, doch das verbot ihm sein Berufsethos. Sein heimlicher Tritt an Waldmüllers Schienbein verfehlte die Wirkung. Abel wurde wütend. Er hielt sich beim Feilschen raus, weil er merkte, dass Waldmüller nur noch sich selbst reden hören wollte und niemand anderes mehr. Nach einer halben Stunde war alles festgefahren. Abel lenkte das Gespräch auf die juristischen Tatbestände. Er klopfte auf den Busch und spürte, dass Gawliczek die eigene Position nicht euphorisch einschätzte. Er unterbrach, ging seinerseits mit der Mandantenschaft ins Nebenzimmer. Waldmüller saß auf glühenden Kohlen. Er spürte, dass es falsch gewesen war, dass er interveniert hatte. Abel brauchte ihn nicht darauf hinzuweisen. Die Herren kamen wieder: »Achtzig Prozent«. Außerdem, da hielten sie ihm sein eigenes Argument vor, war die Maschine verderbliche Ware. Wer wusste schon, ob sie
sich anderweitig absetzen lassen würde. Besser achtzig Prozent als ein Totalverlust. »Der Gruppe fällt es schwer, verdammt schwer, auch noch diesen Brocken zu verdauen«, sagte das Hasengesicht und blickte seinen Chef an. Waldmüller machte ein Pokerface. Abel winkte ab. »Lassen wir es drauf ankommen.« Blick auf die Uhr. »Wir haben noch 47 Stunden Zeit.« Noch eine Beratung. Dann das letzte Angebot: 85 Prozent. Abel handelte es noch auf 87,5 Prozent hoch. Waldmüller bekam Hochachtung vor Abel. Er wäre schon bei achtzig Prozent in den Deal eingestiegen. Die Anwälte setzten einen kleinen Vertrag auf. Doch bevor Waldmüller unterzeichnete, kam Abel wieder auf das Geld zu sprechen. Plötzlich genügte ihm der Name der Gruppe nicht mehr als Sicherheit. »Ich bitte mir nachzusehen, aber ich kenne Ihre Gruppe nicht. Mein Mandant macht große Zugeständnisse. Da müssen wir sicher sein, dass alles korrekt und pünktlich abgewickelt wird.« Das Hasengesicht hatte nur ein verächtliches Lächeln für diesen Einwand übrig. Abel irritierte das nicht. Blickwechsel auf der Gegenseite. Aber auch da wusste Gawliczek Rat. Er bat den Hasenkopf, einen Barscheck auszustellen, den die beiden Herren dann unterschrieben; wie Millionäre, die in ihrem Stammrestaurant einen Kreditkartenbeleg abzeichneten. Doch das war Waldmüller egal. Nur Bargeld lacht! Abel dagegen bat um die Erlaubnis, telefonieren zu dürfen und ließ sich mit dem Kontoführer der Gruppe bei einer Hamburger Bank verbinden. Er fragte, ob der Betrag gut ging und erst als das herablassend bejaht wurde, unterschrieb er den Vertrag. Sie erhoben sich, verabschiedeten sich kühl und gingen hinaus in den Regen.
Unten vor dem Gebäude blieb Abel stehen und gab Waldmüller die Hand. Waldmüller sagte: »Guter Job. Schicken Sie mir die Rechnung, Herr Abel«. Abel sah seinem Mandanten ins Gesicht. Das aufkeimende Lächeln ließ ihn den Verdacht schöpfen, dass Waldmüllers Verlust doch nicht so groß war wie er stets behauptet hatte. Aber das war die Sache des Klienten. Abel hatte unter den gegebenen Umständen rausgeholt, was möglich war. Waldmüller blinzelte hinauf in den grauen Himmel, von dem Regenkaskaden herunterstürzten, und sagte, »ich erhole mich jetzt von dem Stress. Karibik, wie geplant.« »Wohl bekomms«, sagte Abel. »Und schicken Sie dem Holländer eine Ansichtskarte.«
Es war halb zehn. Käthe hatte schon die ersten einschlägigen Erfahrungen hinter sich. Nummer eins: sie hatte am Telefon nur die Frau des Vaters von Gretchen erwischt. Knut war weg. Auswärts. Kam erst nächstes Wochenende zurück. Da hatte Käthe der Frau die Daumenschrauben angesetzt und Geld verlangt. Aber sie war an die Falsche geraten. »Geld? Schulden haben wir! Und die Alimente jeden Monat für Ihre Tochter zahlen wir auch noch. Was stellen Sie sich denn vor? Meinen Sie, wir haben einen Geldscheißer?« Ein Kind war da, ein zweites unterwegs, Geld? Da hatte die Frau am Telefon fast hysterisch gelacht. »Sie können kommen und sich ansehen, wie wir leben, Knut und ich! Und dann verlangen Sie noch mehr Geld, als Sie schon bekommen!« Damit hatte die Frau den Hörer aufgeschmissen. Kein Wort des Bedauerns darüber, wie schlecht es Gretchen ging. Nichts.
Nummer zwei: Sie hatte sich den Schmuck in der Pfandleihanstalt für dreihundert abluchsen lassen müssen. Selbst bei strengster Begutachtung musste er mehr bringen, sagte sie sich, aber sie hatte die dreihundert eingesteckt und den roten Pfandschein. Sie hatte nicht die Zeit, andere Pfandleiher abzuklappern. Nun ging sie zur Bank von Waldmüller. Es war ein kleines Geldinstitut, genossenschaftlich. Es erweckte bei einfachen Leuten Vertrauen, weil kein übertriebener Aufwand gefahren wurde. Die Schalterhalle war noch leer. Käthe trat an die Kasse und legte den Scheck vor. Der Mann sah sie nicht einmal an. Er tippte wortlos Zahlen auf ein Keyboard, starrte auf den Bildschirm und steckte dann ein Formular in den Drucker. »Hier unterschreiben.« Der Mann deutete mit dem Kuli auf das Formular. Sie folgte. Dann zahlte er ihr die Scheine aus. Achttausend Euro. In lila Fünfhundertern. »Kann ich einen Umschlag haben?«, fragte Käthe und passte auf, dass keiner hinter ihr stand. Der Kassierer warf ihr ein buntbedrucktes Kuvert für Reisedevisen in den stählernen Schubkasten. »Wo ist denn die Kreditabteilung?«, fragte Käthe. »Da hinten«, sagte der Mann und zeigte nach links. Sie bedankte sich und ging. Es war eine ältere Frau mit schütterem Haar und einer Lesebrille, die hinter dem Schreibtisch saß, über dem ein Schild schwebte: »Kredite«. Beim Nähertreten schaltete sie ihr Frau-zu-Frau-Lächeln an. Mit Frauen kam sie in Geschäftsdingen nicht so gut zurecht. »Ich brauche Geld«, sagte Käthe. »Haben Sie ein Konto bei uns?« »Nein, aber ich habe mir gedacht, vielleicht könnte ich gerade ein Konto einrichten? Geht doch schnell.«
»Wie viel brauchen Sie denn?«, fragte die Frau und holte Formulare für Selbstauskunft und Kreditanträge aus der Schublade. Als Käthe die Zahl fünfzehntausend aus der Werbung nannte, sah die Frau über ihre Brille und studierte Käthes Gesicht mit dem Frau-zu-Frau-Lächeln, das immer noch leuchtete. »So, fünfzehntausend?« »Ja.« »Für Anschaffungen?« Auf die Frage nach dem Verwendungszweck war Käthe nicht gefasst. Sie antwortete ausweichend: »In gewissem Sinn, ja.« »So, so«, wieder traf sie der Prüfblick. Nun fiel das Wort Sicherheiten. Die Bankangestellte zählte routiniert auf, was den Geldinstituten so alles angenehm wäre: »Hausbesitz, Eigentumswohnung?« »Nein.« »Auto?« »Ja, aber das ist nichts mehr wert.« »Wertpapiere, Bausparverträge?« »Ja, den Bausparvertrag«, Käthe kramte in ihrer Tasche und holte die zusammengefalteten Verträge und Kontoauszüge heraus. »Hier.« Sie legte alles auf den Tisch und strich es glatt. Den Vertrag wolle sie sich auszahlen lassen. Die Bankangestellte notierte den Kontenstand. »Andere Sicherheiten? Bürgschaft? Jemand, der für Sie gutsagt?« Waldmüller vielleicht, dachte Käthe und antwortete: »Möglicherweise.« »Das ist nicht viel.« Was hätte sie alles zusammensparen können? Nur das war jetzt von Bedeutung. Käthe legte jetzt die Gehaltsauszüge vor. Es war wie beim Kartenspielen. Der Gehaltsstreifen war ein
Trumpf. Er enthielt ein Nettogehalt von knapp zweitausend Euro mit den Diensten. »Keine Gehaltspfändungen!« Ein Ausdruck des Wohlwollens huschte über das Gesicht der Bankangestellten. »Wir werden es prüfen«, sagte sie milde und schob Käthe die Formulare hinüber. »Hier bitte ausfüllen.« Käthe blieb vorsichtig. Nun war sie mit Fragen dran, bevor sie irgend etwas schriftlich machte: »Wie viel krieg ich?« »Das wird geprüft werden.« »Was meinen Sie, so ganz unverbindlich?« Achselzucken. »Das kann und darf ich nicht sagen. Das entscheidet bei so einem hohen Betrag die Kreditabteilung in der Zentrale.« »Und wann?« »Sie erhalten Nachricht.« »Hören Sie, ich brauche das Geld noch heute Vormittag.« Das Lächeln war erloschen. Man erkannte unschwer Sorge und ein wenig Panik in Käthes Gesicht. Das erhöhte die Skepsis und Vorsicht bei ihrer Gesprächspartnerin, die sich nun noch weniger festlegen wollte. Nur so viel sagte sie, dass man eine Schufa-Auskunft benötige und eine vom Arbeitgeber und dass so was seine Zeit brauche. »Geht’s bis heute Mittag, zwölf Uhr, ja oder nein?« »Ich fürchte nein«, sagte die Bankangestellte, der eine innere Stimme sagte, dass da was faul an der Sache war. Wer Möbel, Spülmaschine und Einrichtungen brauchte, wer ein Auto kaufen wollte, der hatte es zwar auch immer eilig, aber um Stunden ging es in solchen Fällen nie. Hier steckte etwas anderes dahinter. Das könnte riskant werden, egal, was es war. Die Angestellte sagte deshalb kalt, dass sie die vorläufige Ablehnung bedauere. Ob Käthe noch einmal wiederkommen wolle? »Nein«, sagte Käthe, nein, sie komme nicht wieder.
Bei der Bausparkasse dagegen hatte es zügig geklappt. Mit gutem Zureden und einer Vorsprache beim Abteilungsleiter hatten sie Käthe nach angemessener Wartezeit das Guthaben bar auf die Hand gezählt, zuzüglich drei Prozent Zinsen per annum, abzüglich Abschlussprovision und Bearbeitungsgebühr. Das Geld wurde auch in einen bunten Devisenumschlag gesteckt. Sie hatten ihr Hunderter gegeben. So war es schon ein handliches Paket Geld. Das könnte für das Medikament reichen, hoffte sie. Nun kamen die Kreditvermittler an die Reihe, die mit den verlockenden Inseraten. Es war elf Uhr am Vormittag. Spät. Sie musste sich beeilen. Freitags schloss die Pharmafabrik um halb vier, so schätzte sie. Sie ging zu einem Vermittler, der mit seiner jahrelangen Erfahrung warb. Da kalkulierte sie, dass der eigentlich einigermaßen seriös sein musste, wenn er noch arbeiten durfte, sonst hätte man ihn längst aus dem Verkehr gezogen. Käthe stieg zwei Etagen hinauf in das Büro. Sie musste in einem Vorzimmer warten und konnte zusehen, wie die Sekretärin tippte, telefonierte, sich die Lippen nachzog und weiterarbeitete. Es roch nach Bohnerwachs. Der Regen schlug an die Scheiben. Der Kalender an der Wand zeigte noch August. Im August, da hatte sie noch keine Sorgen gehabt, dachte sie. Nur den alltäglichen Kram. Und wie wichtig war ihr das vorgekommen. Sie musste bitter lachen, als sie daran dachte. Dann öffnete sich die Tür, ein türkisches Ehepaar kam heraus, und Käthe wurde vorgelassen. Ein fetter Mensch erhob sich. Er war Ende zwanzig, hatte ein Tomatengesicht und lange, gepflegte Haare. Er roch nach Knoblauch und Aftershave. Käthe sandte ihr Männerlächeln aus und spürte, dass der Typ auf Empfang war. Ein eitler Mensch. Das konnte man ihm ansehen. Die Kleider, die er trug, waren teuer. Das Geschäft musste sich lohnen. Der fette
Mensch sagte seinen Namen und setzte »Junior« hinzu. Das klang englisch, fein, und trotzdem fragte sich Käthe, ob sie den Alten aus dem Verkehr gezogen hatten. Der Junior lächelte unentwegt. Hinter der Maske verbarg sich keine Freundlichkeit. Hier wurde mit jedem Cent gerechnet. Das Gespräch verlief wie bei der Bank. Sicherheiten? Einkommen? Pfändungen? Gehaltsstreifen und so weiter, nur, dass sie nun keinen Bausparvertrag mehr vorzeigen konnte. Anders als die Bankdame notierte der fette Lächler alles schon vorsorglich in seinem Formular. »Sind Sie in der Schufa?«, fragte er. Käthe verstand nicht. »Schuldnerfahndung.« »Glaube nicht.« Käthe wusste nicht genau, was eine Schuldnerfahndung war. Aber ernste Probleme hatte sie bisher nicht gehabt. Der Junior erklärte es ihr und fragte weiter: »Schon mal einen Zahlungsbefehl gehabt? Gerichtsvollzieher dagewesen? Kralle gemacht?« Er hob die linke Hand, und seine fetten Schwurfinger machten eine Kralle. »Offenbarungseid, Eidesstattliche Versicherung?« Er lachte, weil sie die Geste nicht deuten konnte. »Nein«, sagte sie. Sie wäre in dieser Hinsicht ein unbeschriebenes Blatt. »Und in der anderen Hinsicht?«, fragte der Junior und lachte über die Anspielung. Sie lächelte trotzdem. Jetzt biss sie wieder die Zigarettengier. Glücklicherweise war der Dicke Nichtraucher. So knetete sie ihre Tasche in der Hand, auch wenn’s nichts half, und konzentrierte sich auf seine Fragen. »So so«, sagte er, »wo haben wir denn vorher gearbeitet?« Sie nannte ihm die drei Kliniken, an denen sie bisher gewesen war.
»Anfragen beim Arbeitgeber möglich?« Er sah sie an und neigte dabei seinen Tomatenkopf auf die Seite. »Ja.« »Gut.« Es schien, als habe sie die Prüfung bestanden. »Nun zur Gesundheit. Ist da alles okay?« »Sie meinen mich?« »Ja.« »Alles okay.« »Kein Suchtproblem? An Fixer wird kein Geld verliehen, das verstehen Sie doch.« Ein ernster Ausdruck huschte über seine Züge, wie der Schatten einer Wolke über die Wüste, dann war das Lächeln wieder da. Käthe ging das Verhör auf die Nerven. Wortlos zog sie die Ärmel ihrer Bluse hoch und zeigte die Innenseite der Unterarme. »Wollen Sie noch wissen, wann ich meine Tage habe?«, fragte sie. »Aber ich bitte Sie, gnädige Frau«, sagte er und seine Augen strahlten, als würde ihm die Information tatsächlich persönlich etwas bringen. Unter normalen Umständen wäre Käthe schon lange gegangen. Aber die Umstände waren nicht normal. Bei allen nicht, die hier verkehrten. Deshalb konnte der Junior so fragen. Eines wusste sie schon jetzt! Wenn sie hier ihr Geld nicht bekam, dann ließe sie sich jedenfalls den Fragebogen mitgeben, damit sie nicht noch mal alles ausfüllen musste. »Verwendungszweck?« Sie hatte beschlossen, nicht mehr herumzureden, von Anschaffungen oder einem neuen Auto zu faseln. Dann bestand so einer nur darauf, das Geld an den Händler direkt zu zahlen. Das konnte sie nicht brauchen. Sie sagte die Wahrheit: »Ich benötige das Geld für ein Medikament für mein Kind.« »Fünfzehntausend Euro? Das zahlt doch die Kasse.«
»Nein, ich bin nicht versichert.« Das war eine Lüge, aber diese Lüge war notwendig. »Scheißspiel«, sagte der Junior und hatte mit dem Lächeln aufgehört. Käthe sah ein Bedauern in seinem Gesicht heraufdämmern und meinte schon, jetzt eine Absage zu hören. Sie strahlte den Fetten an und redete hastig weiter: »Ich gebe Ihnen die Telefonnummer von der Klinik. Reden Sie mit dem Oberarzt und dem Apotheker. Ich gebe Ihnen die Namen, selbstverständlich. Man wird Ihnen alles bestätigen.« Dabei dachte sie sich, hoffentlich fragt er nicht nach der Versicherung. Indes, der Dicke winkte ab. Er war immer noch ernst. In der Klinik anrufen wollte er nicht. Er kannte die Klinik nur zu gut. Ein bitteres Lachen keimte auf, die Maske war weg. »Ich hab ein behindertes Kind, von Geburt an, ziemlich schwer behindert. Ich weiß, was das für ein Geld kostet.« Jetzt begann er zu erzählen. Und die Uhr lief. Käthe musste sich alles anhören, weil sie glaubte, dass sie den Kredit bekäme. Es war Glück, dass sie an diesen Mann geraten war, das musste sie ausnutzen. Schaudernd hörte sie von den vielen Stunden, die man mit dem schwachsinnigen Kind zubrachte, um es einigermaßen zu formen, von den Hilfsmitteln, Prothesen und orthopädischen Gerätschaften, die man wegen der spastischen Lähmung brauchte. »Es ist eine Quälerei und manchmal sogar eine Schande«, fuhr der Junior fort. »Seit sie in der Pubertät ist, fängt sie überall an zu onanieren. Überall. Im Supermarkt, auf der Straße, hebt den Rock hoch und los gehts. Wenn man ihr Hosen anzieht, macht sie’s von außen. Das ist fast noch schlimmer. Aber irgendwie bringen meine Frau und ich es
nicht fertig, unsere kleine Michaela hängen zu lassen und ins Heim zu geben,… irgendwie.« Er schreckte aus seinen Gedanken auf und sagte, dass Käthe nur zusehen sollte, dass sie das Medikament bekäme. Er fragte noch nicht einmal danach, wozu der Stoff gebraucht wurde und wie der Fall lag. Er verzichtete darauf, die Schufa und den Senior anzurufen. »Den Fall kann ich auf meine Kappe nehmen. Trotzdem müssen Sie uns zur Einziehung von Auskünften bevollmächtigen«, sagte er, und da war er wieder, der Alte, hinter einer grinsenden Maske. Käthe unterschrieb alles ungelesen. Nur dass die Darlehenssumme fünfzehntausend Euro lautete, war ihr wichtig. Sie erhielt die Durchschläge und wurde mit Handschlag verabschiedet. »Draußen im Vorzimmer gibt es das Bare«, sagte der Junior und schob sie durch die Polstertür in das Vorzimmer, das nach Bohnerwachs roch. Ein alter Mann trat an ihr vorbei ins Zimmer des Kreditvermittlers hinein. Die Sekretärin zog die Lippen gerade wieder nach. Als sie fertig war, füllte sie ein weiteres Formular aus, rechnete auf einer Maschine Kolonnen herunter, trug Zahlen ein und ging dann zu einem schweren Kassenschrank. Sie schloss auf und nahm ein Bündel Geldscheine heraus. Genau 12.342,24 Euro zählte sie Käthe in die Hand. »Fünfzehntausend«, sagte Käthe entsetzt. »Abzüglich Bearbeitungsgebühr, Vermittlungsprovision, Agio, Lebensversicherungsprämie und Abschlussgebühr«, sagte die Sekretärin und schloss den Stahlschrank ab. »Ich brauch fünfzehntausend!«, sagte Käthe, und ihre Stimme war laut geworden. Sie hielt das Geldbündel ratlos in der Hand. Sie musste noch einmal mit dem Junior reden, da lag sicher ein Missverständnis vor. »Er ist im Moment nicht zu stören«, antwortete die Sekretärin routiniert. Sie hatte schon lange gelernt, solche Situationen zu
meistern. »Erst am Montag haben wir wieder einen Termin frei. Im übrigen sind alle Verträge korrekt unterschrieben. Alles in Ordnung. Bindend für beide Seiten. Haben Sie nicht schon das Geld bekommen? Auf Heller und Pfennig!« Und wie sie ihren Chef kannte, habe er ihr doch ganz genau jeden Buchstaben der Verträge erklärt, gerade der Junior sei da so was von pingelig. Käthe quittierte den Erhalt der Summe, wortlos, mit zusammengekniffenem Mund. Soviel Geld hatte sie in so kurzer Zeit noch nie aus dem Fenster geworfen. Aber was sollte sie machen? Vielleicht war am Montag noch Zeit die Sache zu korrigieren.
Es war zehn nach zwölf am Freitagmittag und Käthe hatte nun bündelweise Euro in der Tasche. Den genauen Wert überblickte sie nicht mehr. Jetzt musste sie was essen. Sie erinnerte sich daran, dass sie sich verabredet hatte, zwölf Uhr dreißig. Sie fuhr rüber zum Lokal, war aber noch zu früh dran. Sie nutzte die Zeit, bis Waldmüller kam, und telefonierte mit der Klinik. Es ging schlechter mit Gretchen. Das Fieber war gestiegen. Tiefes Koma! Sie hatte mit einer Kollegin geredet, die Klartext sprach. Ohne Wenn und Aber. »Es eilt«, sagte die Schwester. Offenbar hatte es sich herumgesprochen, dass sie hinter dem Immunal her war. »Es eilt«, wiederholte sie, als wisse Käthe nicht Bescheid. Diese Nachricht jagte sie wieder hoch, es blieb keine Zeit zum Essen. Sie würde sich unterwegs irgendwo eine Tüte Pommes holen. Waldmüller musste auf ihre Gesellschaft verzichten. Im Hinausrennen stieß sie fast mit ihm zusammen. Hastig wechselten sie im Stehen die Worte, keiner ging auf den anderen ein. Waldmüller sagte, dass er jetzt abhauen
würde. Das Geld war auf seinem Konto gutgeschrieben. Er müsste das erst verdauen. Käthe sagte: »Gretchen geht es so schlecht. Ich weiß nicht, was ich machen soll, wenn es noch schlimmer wird!« »Was ist eigentlich mit meinen achttausend?« fragte Waldmüller. Ob sie den Kredit schon hätte? Sie wollte doch davon sofort die Rückzahlung machen. Er bräuchte jetzt jeden Euro. »Beantragt«, log Käthe. »Mach nur zu!« »Ja, ja!« Es klang ein wenig aggressiv. Waldmüller fügte hinzu, dass sie ja wüsste, dass sie nicht mit Geld umgehen könne. Käthe trat von einem Bein aufs andere vor Ungeduld und sagte, »ich muss jetzt wirklich los!« Nun tauschten sie noch nicht einmal einen flüchtigen Kuss aus. Waldmüller sagte: »Du, gieß mir die Blumen, bis ich wiederkomme. Den Schlüssel hast du? Und pass auf, dass es nicht zu viel wird, sonst faulen die Wurzeln.« Käthe nickte und ging, während sich Waldmüller niederließ. Er suchte sich einen Tisch aus, von dem aus er das Lokal übersehen konnte. Rustikales Interieur, Schmiedeeisenlampen, Bauernmalerei und falsche Holzpaneele, so wie es ihm gefiel. Die Tischdecken sahen aus wie handgestickt, und aus der Stereoanlage rieselte ein Ländler herunter. Um halb drei erreichte sie das Pharmawerk. Es lag bei Ingolstadt. Man hatte es in einem Industriegebiet nicht weit von den Audi-Werken versteckt. Der Betrieb war von einem Pharmamulti aus den USA aufgekauft worden, denn hier in der bayrischen Provinz wurden Erkenntnisse der europäischen Gentechnologie in die Praxis umgesetzt. Manipulierte Bakterien, in großen Tanks lebend, sollten hier einmal den begehrten Eiweißstoff synthetisieren: Immunal. Vorerst
gewann man ihn noch aus dem Blut von Menschen, deren Abwehrsystem funktionierte. Der Forschungsbetrieb war ein flacher, futuristischer Bau mit lamellenartigen, braunen Scheiben, in gelbe und hellgrün gestrichene Betonteile eingefügt. Ein japanischer Garten mit feinem Rasen, Sand- und Kiesflächen und einzeln stehenden Kieferngruppen umgab das Werk. Es sah modern und leistungsfähig aus. Kein Geruch, kein Laut drang nach außen. Von Westen her jagten Wolken über die Donau. Der Regen hatte nachgelassen. Käthe parkte auf einem Besucherplatz und betrat das Anwesen über einen gepflasterten Fußpfad, der sich zum Gebäude hinschlängelte. Sie trug die Handtasche mit dem Geld über der Schulter. Beim Pförtner erklärte sie ihr Anliegen nicht genau, damit er sie nicht gleich abwies. Es gehe um die Entwicklung des Wirkstoffs Immunal, der doch hier hergestellt wurde. Der Pförtner war angehalten, keinerlei Auskunft zu geben. Er hielt sich an die Anweisung und telefonierte. Vorher fragte er noch einmal: »Um die Entwicklung geht’s?« Dann setzte er sich hin und starrte mürrisch in die Bildzeitung, damit Käthe ihn nicht wieder ansprach. Sie tat es doch. Da knurrte er: »Kommt gleich einer, Herrgott, so wartense doch.« Käthe wartete. Und tatsächlich erschien kurze Zeit später ein untersetzter Mann mit weißem Kittel. Er hatte einen Buckel und wirkte freundlich. Ein breiter Froschmund prägte sein Gesicht. Er rieb die Hände und fragte, womit er dienen könnte. »Es geht um Ihr Immunal.« Händereiben. »Aha. Sind Sie Journalistin?« »Nein«, Käthe strahlte ihn an, »nein, da brauchen Sie keine Angst zu haben, ich bin keine Journalistin.« »Wir haben vor der Presse keine Angst.«
Käthe hielt die Tasche im Arm, stand auf einem Bein und winkelte das andere ein wenig ab. Meistens kam das bei Männern gut an. Der kurze, schwingende rote Rock ließ viel frei. Sie hatte gute Beine. Den Mantel hatte sie offen. Unter der Bluse trug sie keinen BH. Sie brauchte das noch nicht. Ihre Brüste waren nicht zu groß. Unter der Bluse wirkte das gut, fand sie. Auch der bucklige Händereiber fand das, denn sein Blick glitt an ihrer Figur hinunter und langsam wieder hoch. Wozu sie dann gekommen sei, wollte er wissen. »Müssen wir das hier auf dem Flur besprechen?« »Nein, nein, verzeihen Sie.« Der Bucklige machte eine Geste, deutete den Flur entlang und fragte, ob er vorgehen dürfte. Käthe folgte ihm in ein Zimmer mit Blick auf die Schlote einer benachbarten Verbrennungsanlage. Durch die Scheiben wirkte das Weichbild des Industriesektors ein wenig abgedunkelt, distanzierter. Sie ließen sich auf Stahlrohrstühlen mit Lederbespannung nieder. Gegenüber stand ein Schreibtisch mit Plastiküberzug, auf dem sich Bücher und wissenschaftliche Zeitschriften häuften. »Nun?« »Ich brauche eine kleine Dosis Immunal«, sagte Käthe sachlich. »Und zwar für mein Kind, vier Jahre.« Sie schilderte den Fall, wurde aber unterbrochen, weil der Mann sagte, dass er nicht für den Verkauf zuständig sei. Er wäre in der Entwicklung. »Moment.« Er griff zum Telefon und ließ einem Herrn Suder ausrichten, dass er kommen sollte. Bis der Herr Suder kam, schwiegen sie sich an. Der Bucklige lächelte ins Leere und vermied jeden Blick auf ihre Figur oder gar in ihr Gesicht. Käthe knetete ihre Tasche, in der sie die Geldscheine spürte. Endlich klopfte es. Ein junger Mann in Kordhose und Pullover mit einem rostigen Schnauzbart trat ein. Er begrüßte den Buckligen
flüchtig, aber so, dass man sofort erkannte, wer der Chef war. Suder durfte sich setzen. Er hatte eine routinierte Ausstrahlung von Vertrauenswürdigkeit. Er beugte sich zu Käthe hinüber und fragte, ob es denn ein Krebs sei, gegen den man das Immunal einsetzen wollte? »Nein, eine Meningitis.« »Ich frage nur, weil unser Immunal zu Unrecht als Wunderdroge gegen Karzinome gepriesen wird, verstehen Sie?« »Ja«, sagte Käthe. »Unser Fall ist anders.« Sie war voll gespannter Aufmerksamkeit. »Ich bin zwar nicht vom Fach, verstehe aber als ausgebildete Krankenschwester ein wenig davon und habe mir auch einiges sagen lassen. Bei meiner Tochter ist das Immunsystem zusammengebrochen, so wie es momentan aussieht. Dabei helfen die Eiweißstoffe Ihres Medikaments, sie substituieren die ausgefallenen Abwehrkräfte, nicht?« »Das kann man bejahen, falls unsere Versuche das bestätigen«, sagte Suder und der Entwicklungsmann nickte. Käthe wusste, dass sie auf dem richtigen Weg war. »Bei einem Kind ist die notwendige Dosis geringer als bei einem Erwachsenen?« Auch jetzt nickten die beiden. »Aber unser Immunal muss keineswegs immer helfen. Das sagen uns jedenfalls unsere klinischen Versuche. Setzen Sie daher keinerlei Hoffnung auf ein noch nicht erprobtes Medikament.« »Doch«, sagte Käthe kühn, »doch. Ich muss auf Sie setzen, weil ich sonst überhaupt keine Hoffnung mehr habe.« »Leider steht uns keine Menge zur Verfügung, über die wir disponieren könnten.« Suder sprach mit leiser Stimme und einfühlsamem Ton wie ein Beerdigungsunternehmer. »Und
selbst wenn ich eine Menge frei hätte, leider, leider, dürfte ich nichts davon abgeben. Das Medikament ist rezeptpflichtig.« Er wartete die Wirkung seiner Worte ab, doch Käthe reagierte nur damit, dass sie sagte, Rezept? Kein Problem. Sie bekäme sofort eines. »Ja«, fuhr Suder fort, »das glaube ich einer Krankenschwester unbesehen, hahaha, aber das ist doch alles nur Theorie, denn wir haben gar nichts zur Verfügung und außerdem ist das Muster noch nicht freigegeben, es steckt noch mitten im klinischen Versuch, die Nebenwirkungen sind nicht erforscht.« Eine Kaskade von Gegenargumenten, die nur auf eines hinausliefen: Gute Frau, Sie sind mit der Meningitis Ihrer Tochter etwas zu früh dran. Deswegen müssen Sie Ihr Kind sterben lassen. So leid es uns tut. Natürlich wurde das nicht ausgesprochen, aber Käthe formulierte die Konsequenz mit bitterem Unterton in der Stimme: »Soll ich’s sterben lassen?«, fragte sie verzweifelt und setzte hinzu: »Es ist ein Mädchen. Sie heißt Gretchen, wollen Sie ein Foto sehen?« Käthe öffnete die Handtasche und schob die Geldumschläge zur Seite, um das Foto von der Kleinen auf den Tisch zu legen. Dem Entwickler mit dem Buckel war nicht wohl in seiner Haut. Er fuhr sich mit dem Zeigefinger im Kragen herum und bewegte die Falten an seinem Hals. Mit dem kleinen Finger der rechten Hand schob er das Foto ein Stück von sich weg. Suder bemerkte das und sagte: »Wollen wir nicht Herrn Professor Stief weiterarbeiten lassen? Er ist für die Entwicklung verantwortlich. Je mehr der Professor forscht, hahaha, um so schneller kommt unser Immunal dorthin, wo es gebraucht wird.« Käthe willigte ein. Es war ihr lieber, mit einem zu reden als mit zweien. Sie stellte sich vor, dass einer auch einfacher zu bestechen wäre als zwei.
Sie folgte dem Suder durch den Flur und mit einem Aufzug eine Etage höher, wo er ein Büro im selben Zuschnitt wie der Professor besaß, aber alles eine Nummer kleiner. An den Wänden hingen Bilder, die ersichtlich von Kinderhand stammten. Ähnlich wie in der Kinderklinik. Sie zeigten den Versuch, Behaglichkeit in der nüchternen Kälte des Arbeitszimmers zu schaffen. Suder begann erneut damit, seine Argumente vorzutragen. Seine sanfte Stimme sollte Vertrauen einflößen. Käthe reagierte nicht darauf, denn für sie ging es um Gretchen, und da zählte keiner der abstrakten Gründe, die Suder erörterte. Nun sprach sie: »Das Medikament ist teuer«, sagte sie. Es war eine nüchterne Feststellung. »Das kommt hinzu und wenn man bedenkt…« »Wie teuer?« »Das kann ich noch nicht sagen, denn der Wirkstoff ist noch nicht im Handel«. »Über oder unter fünftausend, die Dosis für ein kleines Kind?« »Ich weiß es nicht, ich kann es nicht sagen«, er hob die Hände zum Himmel. Das erinnerte Käthe an ihren Vertrag mit dem dort oben, wenn es ihn geben sollte. Sie nahm sich vor, irgendwas noch draufzulegen auf das Versprechen. Irgendwas zusätzlich zu machen, wenn es jetzt nur klappte. Sie stellte ihre Handtasche auf den Stahlrohrtisch, holte den bunten Urlaubsumschlag raus und blätterte die Scheine auf den Tisch. Das war Suder sichtlich peinlich. »Nein, nein, gnädige Frau«, sagte er und winkte ab, »wir können, wir dürfen nichts verkaufen.« Bei dem Wort »dürfen« zog er das »ü« in die Länge. Käthe sah ihn an und beobachtete, wie er auf seinem Stuhl herumzappelte. Sie nahm die zehn Fünfhunderter, die sie hatte. »Das da ist für den Wirkstoff.« Dann schob sie den Stapel
restlicher Scheine über den kleinen Tisch. »Und das hier ist für Sie, Sie ganz persönlich. Sie sind für den Verkauf zuständig, nicht? Geben Sie mir den Stoff zur Erprobung. Das wird oft gemacht. Sagen Sie, wie es gespritzt werden muss. Ich hol mir Gretchen aus der Klinik und mache es selbst. Niemand erfährt etwas, und ich schreibe einen Bericht über das Ergebnis.« Suder sah auf die Geldscheine, die vor ihm lagen, dann blickte er Käthe an. Sie interpretierte den Blick so, als prüfe er, ob er ihr vertrauen könnte. Ich hab’s geschafft, dachte sie und schob die Scheine noch ein Stück weiter zu ihm. Auffordernd. »Das ist anscheinend viel Geld«, sagte Suder, »soviel verdiene ich netto wahrscheinlich noch nicht einmal im Jahr hier auf meinem Arbeitsplatz.« »Dann greifen Sie zu«, sagte Käthe. »Ich verstehe, dass Sie sich schwer tun, mir zu vertrauen, aber Sie brauchen nichts zu befürchten.« »Bloß, dass ich rausfliege, fristlos«, sagte Suder. »Dann stehe ich auf der Straße und kein Hund nimmt mehr von mir ein Stück Brot, das können Sie mir glauben, das ist in dieser Branche so. Wenn ich das Geld nicht nehme, dann kommen vielleicht auch Jahre, in denen ich besser verdiene. Jeder ist käuflich, will ich damit sagen, aber wegen eines Jahreseinkommens riskiere ich nichts. Ich habe selbst Kinder.« Er zeigte auf die Bilder an der Wand. »Sie bekommen nichts, kein Milligramm. Nicht, weil ich Ihnen persönlich oder ihrer Tochter schaden wollte, sondern weil nichts vorrätig ist.« Suders Stimme war nun hart und entschlossen. Er war aufgestanden und wartete an der Tür, dass Käthe ging. Während sie das Geld wieder einsammelte und einsteckte, überlegte sie, ob sie einfach die Bluse aufmachen sollte. Aber so wie der Mann aussah, riskierte er niemals etwas in seinem Leben.
Käthe lächelte ihn an. Das Lächeln zeigte diesmal Verachtung. Sie sagte: »Ich wette mein ganzes Geld hier gegen einen Cent, dass Sie hier im Haus genügend Immunal haben, um mir zu helfen. Sie denken sich, bloß kein Präzedenzfall. Wie zynisch! Es geht um ein Menschenleben, das wahrscheinlich gerettet werden könnte. Sie sind ein Feigling, wissen Sie das?« Suder antwortete nicht. »Wenn Gretchen Ihr eigenes Kind wäre, würden Sie es auch sterben lassen? Nur wegen des Prinzips und Ihrer sozialen Sicherheit.« »Das steht nicht zur Debatte«, sagte er, »gehen Sie!« Käthe ging und wünschte ihm, dass ein Problem wie ihres für ihn nie zur Debatte stehen möge. Suder hatte schon die Tür hinter sich geschlossen, um sie hinunterzubegleiten, da fiel ihr ein, nach der Klinik zu fragen, wo das Immunal im Versuch war. »Göttingen, Uniklinik«, sagte er. Käthe spürte, dass das gelogen war. »Bleiben Sie, ich finde den Weg alleine«, sagte sie. Aber er brachte sie noch bis zum Aufzug und passte auf, dass sie das Erdgeschoss drückte. Auf der kurzen Fahrt musste Käthe sich an der Wand anlehnen. Es war nur ein kurzer Augenblick zum Luftholen. Wenn sie jetzt eine Zigarette dabei hätte… Gott scherte sich ja augenscheinlich auch nicht um den Kontrakt, dachte sie. Bevor Käthe das Haus verließ, wollte sie noch einmal zu dem Professor. Er schien ihr nicht so kalt und beamtenmäßig wie dieser Suder. Der Teufel soll ihn holen, dachte sie noch. Ohne zu klopfen betrat sie das Zimmer des Buckligen. Er könnte vielleicht zu brüllen anfangen, den Werksschutz herbeirufen, aber das war ihr egal. Was hatte sie zu verlieren? Der Professor sah verwirrt von seinen Tabellen auf, die er gerade studierte. Er schlug keinen Alarm, stützte den Kopf in
die Hände und sah sie an. Ihr fiel auf, dass er ein relativ junges Gesicht hatte, weil sie genau hinsah. Kaum vierzig dürfte er sein. »Er hat Sie nicht überzeugen können?«, fragte der Professor. Sein Froschmund war breit und rot. »Nein«, antwortete Käthe und setzte sich, ohne dass man sie dazu aufgefordert hätte. »Es ist auch schwer, in einem Fall wie dem Ihren eine Mutter zu überzeugen. Viel schwerer als sonst.« »Warum?« »Weil in Ihrem Fall unser Immunal wirklich helfen könnte. Zur Stärkung des Immunsystems soll es später auch eingesetzt werden.« Käthe fing langsam an zu heulen. Leise verzog sie ihr Gesicht und die Tränen kamen herausgelaufen. Sie hatte den Kopf auf die Brust fallen lassen. Sie schaffte es nicht mehr, das Lächeln angeschaltet zu lassen und sich so zu setzen, dass der Bucklige ihre Beine oder die Brüste unter der Bluse gut sehen konnte. Stief kam um seinen Schreibtisch herum, schob ein wenig die Bücher auf die Seite und setzte sich, die Arme verschränkend, auf die Tischkante. Er blickte auf sie hinunter. Sein Buckel schob sich unter dem weißen Kittel nach oben. »Es ist eigentlich Suders Job bei uns, Fälle zu lösen, ohne dass es Tränen gibt.« Käthe rührte sich nicht. Sie spürte, dass ihr Fall und ihr Zustand auf den Professor keinen nachhaltigen persönlichen Eindruck machten. »Er ist unser ‘Neinsager’«, fuhr der Professor fort, »wir haben einen einstellen müssen, der die Leute abwimmelt, nachdem irgendein Dummkopf Sensationsnachrichten über unser Immunal lanciert hat.« Er nahm die Brille ab und rieb sich die Augen. Die hatten einen grauen Ton. »Was glauben Sie«, fragte der Professor, ohne dass es wie ein Vorwurf klang,
»wer da alles kommt, welche Fälle? Jeder denkt, er würde die Rettung durch unser Immunal finden. Halbtote Krebskranke, deren Angehörige, Freunde. Jeder hat tausend gute Gründe, dass er, er allein, eine ausreichende Dosis des Wirkstoffs braucht. Da hat die Unternehmensleitung beschlossen, für einen Psychologen eine Stelle auszuschreiben, offiziell als Betriebspsychologe, inoffiziell nur als Neinsager.« Käthe starrte den Professor an. Ob dieses Eingeständnis ein erster Schritt war, an eine ausreichende Dosis zu kommen. Vielleicht hatte sie Stiefs Herz gerührt? Der fuhr fort: »Er ist nicht gut, weil er zu viel lügt. Die meisten, die kommen, sind selbst krank. Sie haben ein gutes Gespür dafür, wenn sie angelogen werden. Beispielsweise der Schnickschnack mit den Kinderbildern an der Wand. Suder hat keine Kinder. Mit dieser Lüge will er eine Identifikationsbrücke schaffen, wie er das nennt.« Der Bucklige schüttelte seinen Oberkörper, weil er den Kopf nicht isoliert bewegen konnte. »Also ist doch genügend Wirkstoff für ein kleines Kind vorhanden.« Käthe hatte dies mit erstickter Stimme festgestellt. »Nein«, sagte der Professor ebenso sicher wie ruhig, »hier hat Suder nicht gelogen, wenngleich er das routinemäßig sagt. Freitag mittags ist die Produktion der Woche bereits draußen. Ausgeliefert. Finito. Kein Milligramm mehr im Haus. Wir stellen momentan den Wirkstoff nur sozusagen handwerklich für die Forschung her. Eine neue Produktionsstätte ist in Planung, falls wir die Zulassung bekommen.« »Sieht es gut aus?« »Ja, aber es dauert.« »Wenn es gut aussieht, warum nehmen Sie nicht mein Kind irgendwo auf, wo man es behandeln kann. Ich wäre zu jedem Risiko bereit.«
»Alles, was in Deutschland existiert, ist im Versuch. Die Patienten dafür sind festgelegt. Forschungsseitig«, sagte der Professor. »Hier kann Ihnen folglich keiner mehr helfen. Es hätte genügt, Ihnen das klarzumachen. Sie sind doch eine vernünftige Frau.« »Das ist was«, Käthes Stimme bekam Kraft, »wenn man mir mit der »vernünftigen Frau« kommt, das gefällt mir. So spricht man mit Kindern, die nicht einsehen wollen. Wenn ich vernünftig wäre, so wie Sie das verstehen, hätte ich mich dann besser hingesetzt und zugesehen, wie mein Kind stirbt? Mein Gott, ich hab Gretchen seit heute nacht nicht mehr gesehen. Ich renn nur rum und versuch, das Medikament zu kriegen, da kann man mir doch nicht mit der Vernunft kommen!« Ihre Tränen waren jetzt fort, dem Zorn gewichen. Der Bucklige fuhr sich wieder mit dem Zeigefinger im Kragen herum. »Haben Sie ihm Geld geboten?«, fragte er. Wortlos zog Käthe den bunten Umschlag mit Jetflieger, Palmen und Segelschiffen aus der Tasche und kippte seinen Inhalt auf den Tisch. Die Scheine rutschten übereinander. »Die meisten haben Geld dabei. Unterschiedliche Summen, bis zu über eine Million, doch da bleibt er hart, sogar bei einer Million. Wenn es zutrifft, dass man ihm jemals so viel geboten hat.« Der Professor putzte die Brille mit dem Zipfel seines Kittels. »Ihm bleibt an sich nichts anderes übrig als hart zu bleiben. Denn keiner kann unbemerkt etwas abzweigen. Suder schon gar nicht, der wäre als Erster verdächtig.« Käthe deutete auf den kleinen Haufen Geldscheine vor sich und sagte, dass der Professor alles haben könne, was da lag, wenn er ihr etwas Immunal besorge. »Nein. – Was glauben Sie, was man uns alles anbietet? Auch Frauen, wenn Sie wissen, was ich meine?« Käthe knipste ein mattes Lächeln an, das keine Chance hatte, um ihre verheulten Augen zu strahlen, dann sagte sie, dass sie
alles, wirklich alles machen würde für ihr Kind, und zwar lieb und zärtlich, wenn er verstand. »So wars nicht gemeint«, sagte Stief, und sein Froschmund wurde schmal. »Sagen Sie mir, was ich tun kann!« »Nichts.« »Ich fahr nach Göttingen und nehme das Geld mit«, entschied sie. »Wieso Göttingen? Hat er gesagt, der Versuch wäre dort?« »Ja.« »Ich würde dem Kerl das Kreuz aushängen, wäre ich Ordinarius in Göttingen, wenn er mir diese Leute auf den Hals hetzen würde, wo ich doch noch nicht einmal den Versuch mache.« Der Professor schüttelte sich wieder und sagte, dass es schlecht sei, wenn einer lüge. »Ich habe mir gedacht, dass er lügt. – Dann sagen Sie doch die Wahrheit, wo ist der Versuch?« »Das ist kein Geheimnis. Das kann man in der Fachpresse nachlesen«, sagte er kalt. »Klinikum Großhadern, Medizinische Klinik, Professor Lebert ist der Leiter. Sein Oberarzt ist ein gewisser Obst. Er habilitiert sich mit der Versuchsreihe. Aber die geben Ihnen auch nichts, dürfen sie nicht. Da ist alles disponiert. Jedes Milligramm.« Der Bucklige rutschte von der Tischkante herunter und seufzte, dass die beiden knallharte Brocken wären. Vor allem der Kollege Lebert. Er sprach über die wissenschaftliche Karriere der beiden Herren, wie man über Wölfe beim Beutezug sprechen könnte. »Nur falls Sie denken… Sie werden sich wundern! Aber Sie werden die Herren ja kennen lernen«, denn er war sicher, dass sie dorthin fahren würde.
Aber jetzt musste er weiterarbeiten. Er ging zur Tür und beobachtete, wie Käthe ihr Geld zusammenschob und einsteckte. Sie bedankte sich beim Hinausgehen mit einem Blick. Der Professor mit dem Buckel kehrte an seine Arbeit zurück in der Überzeugung, Wichtiges zu leisten, und Käthe rannte den gewundenen Weg durch den japanischen Garten hinunter. Hinter ihr prasselten Regentropfen an die braunen Scheiben des stillen Gebäudes.
Während die Maschine über die Runway donnerte und dann die Nase hob, um sich brüllend in die Wolken zu bohren, saß Waldmüller auf einem guten Fensterplatz, weit vorne, wo die Tragfläche den Ausblick nicht behinderte. Weil es augenblicklich noch nichts zu sehen gab, rechnete er auf dem Rand des Handelsblatts aus, dass er trotz allem einen Schnitt von dreiundzwanzigtausend Haben gemacht hatte. Dafür musste eine alte Frau lange stricken. Die Kosten für eine deftige Anwaltsrechnung hatte er dabei schon berücksichtigt. Wenn es schief gelaufen wäre, hätte er am Rande des Ruins gestanden. Nicht auszudenken. Er machte Pläne für die Zukunft, in denen Käthe keine Rolle spielte. Sie war ihm zu sensibel. Wahrscheinlich hatte sie die Sache mit dem Kind mächtig aufgebauscht, dachte er. Er konnte supersensible Frauen nicht leiden. Nun hoffte er, dass er die achttausend wieder auf dem Konto hatte, wenn er in vierzehn Tagen wieder landete. Und dass sie ihm die Blumen richtig goss, nicht so, dass das Wasser im Übertopf stand und die Wurzeln verfaulten. Da war Waldmüller pingelig, denn er liebte Pflanzen. Ais der Pilot einen Gang runterschaltete und die Maschine längst über dem Wolkenmeer dahinzog, entdeckte Waldmüller
einen Artikel im Handelsblatt, in dem etwas über die Gruppe stand, mit deren Vertretern er am Morgen verhandelt hatte. Die Gruppe expandierte und suchte Stützpunkte im süddeutschen Raum. Waldmüller wunderte sich, denn da stand, dass die Gruppe mit der Herstellung von Kronkorken, mit Druckereien und mit Heizelementen für Wasch- und Spülmaschinen zu tun hatte. Was wollten die mit einer abgewrackten Gießerei? Naja, konnte ihm egal sein. War ja nicht sein Geld, das in diesem alten Betrieb kaputt ging. Er lehnte sich zurück, lauschte dem beruhigenden Singsang der Turbinen und bestellte bei der Stewardess einen Piccolo. Echter Champagner, zur Feier des Tages.
Stadtauswärts geriet Käthe auf einer vierspurigen Straße in einen Stau. Nur schrittweise rückten die Fahrzeuge vor. Die Scheibenwischer schwappten träge hin und her. Der Himmel war eine graue Glocke. Das Radio hatte sie schon lange ausgeschaltet, weil sie Musik im Augenblick nicht ertragen konnte. Sie sah auf die Uhr. Halb sechs. Gretchens Zustand war noch kritischer, hatte sie bei einem Anruf in der Klinik erfahren. Und nun dieser Stau. Käthe schwitzte vor Nervosität. Sie plagte wieder die Vorstellung von dem geröteten, überdehnten, heißen Kinderkörper. Wenn sie an früher dachte, fiel ihr ein, dass sie sich schon öfter gewundert hatte, wie widerstandsfähig ein solch kleiner Körper war. Warum wartete Gott so lange mit einer Entscheidung. Oder hatte er die Entscheidung schon getroffen? Käthe hatte ihr Kind taufen lassen. Richtig getauft war sie, Gretchen, so was musste doch ein Argument sein für Gott, damit er half. Käthe hatte damals eine Taufe inszeniert, bürgerlich, sehr schlicht, weil das Geld nie im Überfluss vorhanden gewesen war. Sogar der Vater von Gretchen war
eingeladen gewesen. Er war gekommen und hatte es über sich gebracht, ein Geschenk zu kaufen, einen großen Teddy. Aber Gretchen hatte den Teddy nie gemocht. Sie hatte dem Kind das nicht eingeredet. Trotzdem saß der Teddy kaum gebraucht auf einem Stühlchen, das hinter dem Kinderbett stand. Bei der Taufe war die Schwester ihrer Mutter gekommen. Sie hatte damals noch gelebt, war aber schon schwer krank gewesen. Sie hatte absehen können, dass sie bald sterben würde. Bei der Tante war der zu erwartende Tod aber anders gewesen, selbstverständlicher, obwohl sie auch noch nicht alt gewesen war. Bei Gretchen konnte Käthe es nicht fassen, dass der Tod vor der Tür stand. Damals bei der Taufe hatte Gretchen geschrien, dass es durch das große, dunkle Kirchenschiff gehallt hatte. Keiner hatte ein freundliches Wort für das Kind gehabt, nur Gebete. Und später waren sie essen gewesen. Acht Leute und Gretchen. Die Gespräche waren zäh dahingeflossen, wie diese verdammte Autoschlange im Freitag-Nachmittag-Verkehr. Erst als Knut gegangen war, war es lebendiger geworden. Käthe war jedenfalls ziemlich betrunken gewesen, als sie am späten Nachmittag die Gaststätte verlassen hatten. Sogar die Tante war voll gewesen und hatte schief gegrinst und Geschichten von früher erzählt. Dabei war Käthe der Korb mit Gretchen darin aus der Hand gerutscht, und die Kleine war herausgekugelt. Sie war nicht tief gefallen, hatte noch nicht einmal gebrüllt. Im selben Moment hatte Käthe gesehen, dass das Kind sein schönes Spitzentaufkleid vollgeschissen hatte. Käthe hatte sich damals an die Mauer gelehnt und gelacht, gelacht, gelacht. Ihre Tante hatte ihr Vorwürfe gemacht und Gretchen eingesammelt. Als ob das was machte, wenn ein Kind sich bei der Taufe vollscheißt!
Endlich war die Schlange der Fahrzeuge bis zur Ursache der Verkehrsstörung vorgerückt. Unfall. Zerkneultes Blech, das man an die Seite geräumt hatte. Alles wirkte durch den starken Regen wie schraffiert. Sie konnte nichts erkennen. Es ging sie auch nichts an, was da passiert war. Das war nicht ihre Sache. Sie gab Gas. Und in diesem Augenblick fiel ihr ein, dass es vielleicht auch andere Mittel gegen diese verdammte Ungerechtigkeit mit dem Immunal geben könnte.
Abel ging im Büro auf und ab und diktierte Jane die Rechnung an den sehr geehrten Herrn Waldmüller. Dazu studierte er die Gebührentabelle auf Seiten, die er noch nie aufgeschlagen hatte, weil er zum ersten Mal einen Fall mit einem so hohen Streitwert bearbeitet hatte. Hoher Streitwert, hohe Gebühren! Telefon. Carol! Jane verband und registrierte sehr genau, wie schnell Abel in seinem Büro verschwand und die Tür hinter sich schloss. »Ausgeschlafen?« »Ja.« »Alleine?« »Du meinst jetzt?« Carol lachte leise, weil sie die Eifersucht ihres Freundes in der Stimme hörte. »Heute Nacht.« »Heute Nacht war ich ein braves Mädchen. Böse Mädchen machen das, wovon du gerade träumst auch zu anderen Tageszeiten.« »Du nervst.« »Komm halt wieder.« Abel wollte morgen früh fahren. »Okay, noch eine Nacht.« Carol machte es sichtlich Freude, ihren Jean Abel aufzuziehen. Der reagierte mit einem Seufzer.
»Übrigens, mein Akkukabel vom Handy liegt in deinem Auto. Bring es mit«, sagte Carol. Jane erschien in der Tür und gestikulierte. Abel verstand. »Mandantenanruf, ich melde mich.« Am Telefon war eine gewisse Käthe Lauer, die sich als Freundin von Rolf Waldmüller vorstellte. Sie telefonierte aus dem Auto und war hörbar nervös, als sie Abel den Fall schilderte. »Gibt es denn keinen juristischen Anspruch auf so ein Medikament, wenn es tatsächlich um Leben und Tod geht?« Abel zögerte. »Gute Frage.« Er überlegte, während Käthe aufgeregt auf der linken Spur drängelte. »Wenn jemand ein Monopol hat, dann muss er – mal ganz allgemein juristisch gesehen – mit jedem einen Lieferungsvertrag abschließen, der es verlangt. Zum Beispiel die städtischen Wasserwerke. Die haben einen so genannten »Vertragszwang«. Man muss nur zahlen können.« Käthe sah einen Hoffnungsschimmer. »Zahlen kann ich.« »Aber der Fall liegt viel komplizierter als beim Wasserwerk.« »Danke«, versetzte Käthe und legte auf. Jetzt hatte sie einen weiteren Trumpf in der Hand. Jetzt konnte sie mit dem Anwalt drohen! Abel schüttelte den Kopf und legte ebenfalls auf. »Hoffentlich wird das Kind auch so gesund«, sagte er zu Jane, die ihn verwirrt ansah.
Käthe hatte Glück gehabt, dass ihr die Kollegin gleich über den Weg gelaufen war. Untereinander konnten sie sich schnell verständigen. Sie hatte erfahren, dass schon viele vor ihr da waren. Keiner hatte das Medikament bekommen, aber in einem Fall sollte es passiert sein, dass man den Kranken hereingenommen hatte auf Station. »Genau weiß ich das
nicht«, hatte die Kollegin gesagt, aber es konnte sein. Käthe sollte es halt versuchen. Dr. Obst war noch beim Seminar, Innere, kam aber in zehn Minuten. Käthe hatte in der Nähe des Vorlesungssaales gewartet. Sie hatte ihn gleich erkannt, weil die Beschreibung der Kollegin zugetroffen hatte. Mittlere Größe, mittlere Jahre, weiches Gesicht, bartlos und eine Stirnglatze, die restlichen Haare bis fast zur Kopfhaut herunterrasiert. Seine Augen waren hell und die Umgebung spiegelte sich in ihrem Blau. Käthe hatte ihn mitten unter den Studenten angesprochen. Obst hatte sofort geschaltet und sie vorgeschickt. Nun stand sie in seinem Zimmer und wartete, was er sagte. Momentan überlegte er noch. Er hatte eine aufrechte Haltung, Schulterblätter nach hinten, Kopf gerade: preußisch wie seine akzentfreie Sprache. Käthe konnte sein Gesicht nun nicht mehr weich finden. Endlich sagte er: »Kommen Sie, ich zeige Ihnen was.« Sie folgte ihm auf die Station. »Ich mache das nur, weil Sie sozusagen vom Fach sind«, sagte er zu Käthe, »sonst nicht.« Eine kurze Bewegung. Er ging mit schnellen Schritten. Käthe wusste nicht, worauf er hinauswollte. Er stieß eine Tür auf und führte sie an eine Scheibe, durch die man in einen sterilen Raum sehen konnte. Von Schläuchen versorgt lag dort regungslos ein magerer Frauenkörper. »Sie ist achtundzwanzig, drei Kinder zu Hause, geschieden«, sagte er ohne Emotion in der Stimme und ohne Blick auf Käthe. Die Scheibe gegenüber. »Hier, ein alter Mann ohne Angehörige, niemand wartet auf ihn. Aber er will leben. Er hat einen Krebs, den wir vielleicht mit dem Abwehrstoff packen können.« »Aber vollständig heilt doch in diesem Alter kein Krebs aus?«, fragte Käthe. »Doch.«
»Und was macht er dann?« »Sitzt vor dem Fernseher und löst Kreuzworträtsel. Er erzählt mir jeden Tag, wie er sich darauf freut. Und auf Essen auf Rädern.« Ohne ein weiteres Wort ging Obst dann aus dem Zimmer und direkt ins nächste. »Hier ein Fall, ähnlich dem Ihren.« Er deutete auf einen Kinderkörper hinter der Scheibe. »Hepatitis, Koma, aber das Gehirn ist noch nicht angegriffen. Die Leber zerfällt, wenn wir das Medikament absetzen. So können wir den Infekt noch eindämmen. Was wird – wer weiß.« »Sie interessiert nur der Abschluss des medizinischen Teils,« stellte Käthe fest. »Ja.« In der nächsten Box hatten sie einen Mann liegen, der in einer Zeitung blätterte und sich nicht darum scherte, dass man ihn von außen anstarrte wie einen Schimpansen im Zoo. Er konnte nicht hören, wie der Oberarzt von ihm sagte, dass dies einer war, den man über den Berg gebracht hatte mit dem Immunal. Er brauchte seine tägliche Dosis, sonst erlitt er einen Rückfall, den er nicht überleben würde. »Der braucht jedes Milligramm, drei Wochen noch.« Ins dritte Zimmer. Wieder zwei Scheiben. Links eine Frau mit verwüstetem Gesicht, aufgebläht und bleich. Sie hatte die Augen geöffnet, lag wie ein Leichnam auf dem Rücken und starrte an die Decke. »Eine üble Leukämie«, sagte Obst. »Wir werden sie verlieren, diese Frau.« Das Todesurteil war gesprochen, dachte Käthe. Rechts lag ein Mann auf der Seite und schlief. Seine Züge waren entspannt, der Mund war offen, ein blauschimmernder Zwei-Tage-Bart machte das Gesicht mager. »Ein Manager, wichtiger Mann für die Industrie. Virusinfektion. Wir wissen noch nichts Näheres. Offen, ob wir helfen können, völlig offen!«
Obst verließ mit schnellen Schritten den Raum und ging zurück in sein Zimmer. Käthe folgte. Er schloss die Tür. Seine blauen Augen, in denen sich jedes Detail spiegelte, ließen Käthe nicht los. Er hatte sich, die Arme verschränkt, auf den Schreibtisch gesetzt. Dann fragte er: »So, wen soll ich sterben lassen? Wen von den sechs Menschen da drüben?« Käthe wusste keine Antwort. Sie dachte bloß, dass der alte Mann genauso aussah wie die Patienten auf ihrer Station reihenweise, wo sich keiner darum scherte, wenn einer ex ging. Dann fiel ihr die Frau mit dem aufgedunsenen Gesicht ein. Sie fragte: »Was ist, wenn diese Frau stirbt, können Sie dann nicht Gretchen hereinnehmen an deren Stelle?« Der Professor Stief von der Entwicklung hatte ihr Mut gemacht. »Ein Fall wie der meiner Tochter wäre geeignet für das Medikament.« Käthe sprach drängend, schnell, Stimme auf Alarm. »Sie können anrufen, sich selbst ein Bild machen. Telefonieren Sie mit dem Oberarzt Rupert in der Kinderklinik«, sagte sie beschwörend. Es dauerte eine Weile, bis Obst antwortete. »Wir haben eine Warteliste«, sagte er, »andere Fälle, die schon vorgeprüft sind. Dringend einer wie der andere.« Er klang nachdenklich. »Ich kann auch die Kosten für das Medikament tragen,« sagte Käthe, »ich komme gerne privat, eine Honorarvereinbarung unterschreibe ich sofort, unbesehen.« Der Arzt winkte ab. »Es geht um den wissenschaftlichen Standpunkt«, erklärte er. Von der Kollegin wusste Käthe, dass Obst ein Kind hatte. Sie sagte behutsam: »Und wenn es Ihr Kind wäre?« »Dann wüsste ich nicht… Ich wäre dann befangen.« »Wann stirbt die Frau?«, fragte Käthe tastend, und es machte ihr nichts aus, dass sie zum ersten Mal in ihrem Leben jemandem inbrünstig den Tod wünschte. »Sie wird die Nacht voraussichtlich nicht überleben«, sagte Obst nüchtern. »Lungenentzündung, wir sind machtlos.« Er starrte an Käthe vorbei. Man sah ihm an, dass er um eine
Entscheidung rang. Endlich bat er sie um die Telefonnummer der Klinik, in der sie Gretchen behandelten. Käthe zitterten die Finger, als sie ihre Handtasche öffnete, um die Nummer aus dem Telefonverzeichnis ihres Handys zu suchen und aufzuschreiben. »Ruhig, ruhig«, sagte Obst. »So, hier ist sie.« Obst nahm den Zettel, wählte und ließ sich mit seinem Kollegen verbinden. Er führte das Gespräch konzentriert, fragte die medizinischen Fakten schnell und sicher ab und bat den Kollegen um eine Beurteilung. Er hörte sich die Einschätzung schweigend an. Käthe versuchte in seinem Gesicht zu lesen, doch es gelang ihr nicht. Obst sagte ab und zu »Ja, ja«. Schließlich bedankte er sich und legte auf. »Wie geht es ihr?«, fragte Käthe hastig. »Nicht sehr gut.« »Nehmen Sie sie?« »Nach dem, was der Kollege sagt, könnten wir’s versuchen.« Obst kam auf sie zu, nahm sie leicht am Arm und führte sie hinaus. »Ich rufe an«, sagte er und ließ sich Käthes Nummer geben. Käthe wollte sich bedanken, doch da war er schon in der Station verschwunden. Sie ging noch drei Schritte, dann musste sie sich anlehnen, weil sie nicht mehr aus den Augen sehen konnte vor Tränen. Der Rotz lief ihr aus der Nase vor Heulen. Sie dachte an ihren Handel. »Lieber Gott, mach, dass die Frau stirbt«, betete sie, ihre Handtasche mit dem unangetasteten Geld hielt sie zwischen den gefalteten Händen. Und wenn ein Ministrant gekommen wäre und ihr den Klingelbeutel hingehalten hätte, dann wäre alles hineingekommen, die ganze Handtasche, Geld, Feuerzeug, Kalender, Präservative und alles andere.
Jane hatte in Abels Kalender für den Abend eine Sitzung der Rechtsanwaltskammer eingetragen. Von ein paar tausend Kollegen des Kammerbezirks kamen höchstens hundertfünfzig. Es waren keine Wahlen, es waren folglich auch keine Posten zu vergeben. Bevor ihm die Decke auf den Kopf fiel, konnte er auch zur Kammerversammlung gehen. Bestimmt traf er dort den einen oder anderen, den er kannte. Dann könnten sie ja zusammen ausgehen, was essen, etwas unternehmen. München ist im September eine turbulente Stadt. Wiesenfieber. Münchner mieden den Massenauftrieb auf der Theresienwiese. Aber die Stadt stand unter Strom. Der Rechtsanwalt Jean Abel betrat mit den Händen in der Tasche, das Kinn vorgestreckt, den Versammlungssaal in einem dieser durchschnittlich feinen wie auch durchschnittlich faden Hotels, wie sie heute in jeder Stadt existierten. Die meisten Kollegen trugen ihren »Kampfanzug«: Schlips, Kragen button down, Jackett und gewienerte Schuhe. Abel dagegen hatte eine karierte Hose an, geflochtene Schuhe und einen Pulli mit einem verblassten Aufdruck in hebräischer Sprache. An einem langen Tisch würde das Präsidium sitzen, davor standen die besseren Anwälte, höflich lächelnd, miteinander parlierend. Sie machten Standespolitik, kümmerten sich um Gebühren und Beschwerden, um das Bundesverdienstkreuz für Altgediente, Disziplinarstrafen für die Standesrechtsübertreter, um ein aufrechtes Bild der Anwaltschaft in Presse, Funk und Fernsehen, ja um alles, was aus ihrer Sicht zuträglich und hilfreich war. Sie würden Reden halten, sich gegenseitig begrüßen, applaudieren und belobigen, sie würden Rechenschaft über ihr wohltuendes Wirken ablegen und entschlossene Worte für jene finden, die die Standesrechte einschränken wollten. Es wäre fast so wie bei einem Verband
eines Kaninchenzüchtervereins, würde man nicht neben vielem Überflüssigen auch hie und da für den Rechtsstaat und verfassungsmäßige Verteidigerrechte energische Worte finden, erstaunlich bei Honoratioren, die sonst doch eher zum Konservativen neigten. Deshalb, dachte Abel, musste man bei der einen oder anderen Abstimmung dabei sein, mit die Hand heben, in Zeiten, in denen die Wender auch die Justiz für ein »Kommando kehrt« entdeckt hatten. Aus diesem Grund waren auch zwei stadtbekannte Alt-80er-Kommunisten gekommen, ja, auch so etwas gab es unter den Münchner Anwälten. Von einem der beiden nahm man an, dass er inzwischen die CSU wählte. Aber für die Kollegenschaft galt einmal links, immer links. Abel redete mit den beiden Kollegen, hörte sich einen Anwaltswitz an, den er schon kannte (»Was sind 3000 Anwälte in Ketten auf dem Grund des Meeres? – Ein guter Anfang«). Viele gab es nicht, die mit den Kommunisten redeten. Fragte man danach, so hieß es, selbstverständlich nicht deswegen, weil sie Kommunisten waren. Es ergab sich nur so selten, dass bessere Anwälte in einer Sache auftraten, in denen sie Gegner der beiden Roten waren. Bei Abel war das anders. Sein Waldmüller-Fall, der ihn an den Rand der großen Wirtschaft geführt hatte, in Verhandlungen mit Vertretern einer »Gruppe«, war die rare Ausnahme. Da kam der Kollege Gawliczek herein, ging zum Präsidiumstisch, wo sich die Herren gerade zum Sitzen anschickten, begrüßte jeden und nickte hierhin und dorthin. Sein Gesicht strahlte unter den grauen Haaren. Er hatte einen guten Tag gehabt. Warum sollte er also nicht strahlen? Das Präsidium hatte sich niedergelassen. Der Präsident, ein Mann mit einer weißen Mähne, von dem böse Mäuler sagten, er sei ein Richard-Wagner-Verschnitt, eröffnete. Gawliczek sprach noch schnell auf einen Kollegen ein, dann kam er zu Abels Verwunderung her und setzte sich zu ihm. Nicken links
und nicken rechts, genau zwischen ihn und die beiden Kommunisten. Gawliczek hörte bei der Rede des Präsidenten nicht zu. Wenn einer mal siebzig war, dann hatte er so viele Präsidenten sprechen hören, dass er schon wusste, was gesagt wurde. Er beugte sich deshalb zu Abel herüber, sein Blick blieb mit freundlichem Ausdruck ins Weite gerichtet. Dabei flüsterte er Abel zu, dass die Sache heute morgen ja glänzend gelaufen war. Kompliment! Für beide Seiten sicher das Beste. Abel nickte zurück. »Wir haben die Sache übrigens unter Dach und Fach«, raunte der Kollege. »Die Gruppe hat Quast übernommen, komme gerade vom Notar.« Ein kurzer Seitenblick streifte Abel. Der konnte nicht bewerten, wie das aufzufassen war. Dann fuhr Gawliczek fort, dass die Maschine auch veräußert sei, gut, was? »Waldmüllers Maschine?« »Ja, ja, ja.« »Wieso denn das?«, fragte Abel konsterniert. »Sie haben doch gesagt, dass weiterproduziert werden würde. Nur deshalb haben sie doch die Aussetzung der Vollziehung bekommen.« Gawliczek schnalzte leicht mit der Zunge. »Nicht nur. Natürlich wollten wir auch die Gläubiger nicht verunsichern, das habe ich ausgeführt.« »Und jetzt ist die Maschine verkauft?«, fragte Abel noch einmal. Gawliczek strahlte und nickte heftig mit seinem silbergrauen Kopf, dann schaute er Abel an und drohte spielerisch ein wenig mit dem Zeigefinger. »Ihr Mandant stand übrigens auch in Kontakt mit dem Kunden. Er hat wohl versucht, das Fell des Bären zu verteilen, bevor er im Käfig saß.« Abel sagte halblaut: »Das ist ja ein dicker Hund.« Da drehte sich vor ihnen eine Kollegin herum und machte »Pscht«, während alle klatschten, weil der Präsident einen Vertreter des
Justizministeriums mit lauten Worten begrüßte. Auch Gawliczek tat so, als würde es nun wichtig, als müsse er seine Aufmerksamkeit ungeteilt dem Präsidium zuwenden, und applaudierte. Abel hatte die Schnauze voll. Er erhob sich und schob sich aus der Reihe. Man klatschte wieder, weil der Vertreter des Oberlandesgerichtspräsidenten begrüßt wurde, und lachte artig über eine zweite Pointe. Gawliczek nickte lächelnd beim Klatschen, dann winkte er Abel einen Abschiedsgruß hinterher.
Es hatte aufgehört zu regnen. Die Luft war merkwürdig mild. Käthe hatte die Balkontür geöffnet. Es war Nacht. Der Fernseher lief wieder. Käthe sah nicht hin. Sie hatte den Staubsauger genommen und machte sauber. Das war für sie besser als rumzusitzen und zu warten, bis das Telefon läutete. In der Klinik bei Gretchen hatte sie es nicht ausgehalten. Man hatte sie inzwischen an die Schläuche der künstlichen Ernährung angeschlossen. Sie lag in einem tiefen Koma mit Fieber. Dr. Rupert war extra gekommen, als sie bei Gretchen war. Er hatte besorgt ausgesehen. »Bis morgen Mittag muss was passieren, so wie es aussieht«, hatte er gesagt, »allerspätestens«. Gemeinsam hatten sie auf Gretchen hinuntergesehen. Das Herz wäre gut. Das war immerhin schon etwas, hatte der Doktor erklärt und auf den Monitor gezeigt. Die Frage, ob das Hirn schon in Mitleidenschaft gezogen worden war, wurde nicht diskutiert. »Kann man sie verlegen, wenn sich in Großhadern was tut?«, fragte Käthe. »Sicher, von hier in die Innere in GH ist es mit Blaulicht und Sondersignal keine halbe Stunde.« Das ging. Käthe sollte nur
am Telefon bleiben und warten, hatte Rupert gesagt. Sie würde sofort Nachricht erhalten. Nun machte Käthe sauber, jederzeit bereit, alles hinzuwerfen. Dabei dachte sie, dass sich der Handel mit Gott vielleicht doch gelohnt hatte, so wie es aussah. Und sie versprach ihrem Helfer, dass sie wirklich nicht mehr rauchen würde. Aber nur weil ein gewisser Rest Skepsis angebracht war, weil sie noch auf den bestätigenden Anruf warten musste, nur deshalb steckte sie das angebrochene Päckchen Zigaretten, das ihr in die Finger fiel, in ihre Handtasche. Aber rauchen würde sie nie mehr, wenn alles klappte und Gretchen gesund werden würde. Als nichts mehr zu saugen war, trat Käthe ans Fenster, wie vorletzte Nacht. Nur dass heute ein dumpfer Himmel über die Stadt gestülpt war, der diffus das Licht reflektierte, das die elektrischen Lampen der Straßen, Plätze, Häuser und Fahrzeuge absonderten. Es war gerade zwanzig Uhr. Im Fernsehen kamen Nachrichten. Die Fanfare des ersten Programms schmetterte hinter ihr. Die Stadt begann sich auszustrecken. Ruhe kehrte ein. In diesem Moment schellte das Telefon. Käthe eilte hin und riss dabei fast den Couchtisch um. »Ja?«, sagte sie atemlos. Eine unpersönliche Frauenstimme fragte, ob sie Frau Lauer sei. Käthe bejahte. »Professor Lebert lässt ausrichten, dass wir Ihre Tochter leider nicht aufnehmen können. Er bedauert sehr, Ihnen und Ihrem Kind nicht helfen zu können, aber es ist ein anderer akuter Fall eingeliefert worden, der vorgezogen werden muss.« Das war eine Urteilsverkündung. Käthe glaubte, dass sie sich übergeben musste. Sie konnte nicht sprechen und rang nach Fassung. Krächzend brachte sie heraus: »Doktor Obst hat mir doch zugesagt… also wenn die
Frau stirbt, dann kommt meine Tochter dran. Träume ich denn?«, fragte sie. Wut kroch in ihr hoch. »Die letzte Entscheidung hat sich Professor Lebert vorbehalten«, sagte die unpersönliche Stimme. »Wir müssen das respektieren.« »Ich will den Professor sprechen. Sofort!« »Bedaure, er hat bereits die Klinik verlassen.« »Und Dr. Obst?« »Ist ebenfalls nicht mehr da.« »Feiglinge! – Das lass ich mir nicht gefallen, ich nehme mir einen Anwalt und verklage Sie… Sie müssen mein Kind aufnehmen. Das hat mein Anwalt gesagt! Sie müssen!«, keifte Käthe, sie war hysterisch, ihre Stimme überschlug sich. »Bedaure«, antwortete die Frauenstimme, »guten Abend.« Aus. Die Leitung war tot. Käthe wühlte den Zettel aus ihrer Tasche mit der Durchwahl der Station von Obst, die sie von ihrer Kollegin hatte. Es dauerte, bis einer ran ging. Es war ein Pfleger, der ihr sagte, dass die Frau, die sie heute Mittag gesehen hatte, ex gegangen wäre. Nein, ein neuer Patient war noch nicht da, aber es sollte ein Fall kommen. »Hören Sie, ich biete Ihnen zwanzigtausend Euro, bar auf die Hand, wenn Sie mir das Immunal verschaffen, es ist für ein Kind.« »Nee, da halt ich mich raus«, sagte der Pfleger. »Rufen Sie Obst an, der ist jetzt zu Hause. Aber wenn der Chef persönlich eine Entscheidung getroffen hat, dann ist nichts mehr zu machen, auch für Obst nicht.« Käthe legte zitternd auf und besorgte sich bei der Auskunft die Nummern von diesem Chefarzt und seinem Oberarzt. Wenn sie schon keine Zigarette rauchen konnte, dann wenigstens einen Schnaps! Sie goss sich ein Wasserglas voll warmem Korn durch die Kehle. Das warf sie fast um. Die
Nacht vorher hatte sie nicht geschlafen und nun noch mehr Stress. Käthe musste sich einen Augenblick konzentrieren, ehe sie diesen Lebert anrief. Sie erreichte nur das Hausmädchen, das in holprigem Deutsch erklärte, dass die Herrschaft ausgegangen sei. Nicht zu sprechen, auch später nicht, da müsse der Herr Professor seine Ruhe haben, weil man ihn morgen wieder in der Klinik brauche. Bei weiteren Anrufen würde das Telefon rausgezogen. Basta. Aufgehängt. Obst war da. Gleich selbst am Apparat. Er erklärte ihr geduldig, dabei nicht ohne Freundlichkeit, dass der »große Häuptling« gesprochen habe, »hugh.« Obst hatte für die Aufnahme Gretchens plädiert, zumal der Fall in seine Versuchsreihe passte, aber der Chef war anderer Auffassung gewesen. Sie hatten eine Warteliste, und die müsste man abarbeiten. Auch bei diesen Fällen ginge es um Leben und Tod. Eine Frage des Prinzips. Der große Häuptling hatte gesprochen. »Und jetzt?«, fragte Käthe. Der Schnaps drückte sie in den Sessel, raubte ihr die Kraft, sich zu wehren, zu schreien, die Ärzte zu beschimpfen, zu diskutieren. Sie atmete vernehmlich ins Telefon. Die Stimme des Doktors hatte einen unbeteiligten Ton angenommen. Er sagte: »Machen Sie sich mit dem Schicksal vertraut.« Welch eine gewundene Formulierung. Käthe wollte nicht. Grimmige Wut kroch in ihr hoch. »Ich nehme mir einen Anwalt! Ihr Chef ist doch nicht Herr über Leben und Tod, einfach so, weil er Ordinarius ist. Der muss doch wie wir alle Gesetze respektieren und medizinische Prinzipien sind keine Gesetze, verdammt noch mal. Götter in Weiß, wo kommen wir denn da hin«, fluchte Käthe. Eine Pause entstand. Statt eiskalt zu reagieren, lachte Obst zu Käthes völliger Verblüffung lauthals los. »Klagen Sie doch. Heute klagt man doch alles ein. Wir haben Ärzte, die haben ihren Studienplatz eingeklagt, Professoren,
die haben ihre Stelle eingeklagt, Privatdozenten, die haben ihre Habilitation eingeklagt, türkische Putzfrauen, die haben ihre Dauerbeschäftigung eingeklagt, warum soll man nicht die Aufnahme in unseren Versuch einklagen können. Soll doch ein Richter die Verantwortung übernehmen und dem Chef entgegentreten.« Käthe schwieg irritiert. Die nächste Frage kam spontan und aus dem Bauch: »Nur pro forma… bestätigen Sie mir vor einem Gericht, dass Sie mir die Aufnahme von Gretchen zugesichert haben, falls der eine Platz frei wird?« »Ja«, antwortete Obst nüchtern. Denn das entsprach der Wahrheit. Einer war doch kein Feigling!
Jean Abel hatte auf eine Kneipenrunde verzichtet und bei einem Spaziergang zu seiner Wohnung, die ja zugleich als Kanzlei diente, die Tricks von Gawliczek zu verdauen versucht. In seinen vier Wänden hatte er keine Ruhe gefunden und deshalb für morgen gepackt, dann Carol zu erreichen versucht. Nun diktierte er noch einige kleine Schreiben an die Mandantschaft. Er hatte ein Handgerät, das er mit sich herumtrug, wenn er auf und ab ging. Der Hund saß an der Tür und bewachte die gepackten Koffer daneben. Es schüttete wieder. Sommer in Deutschland! Ein Wetterleuchten huschte über die Stadt. Von der schadhaften Dachrinne fielen dicke Tropfen vor dem Küchenfenster herunter. Sie klatschten laut. Abel hatte das Fenster geöffnet, weil es stickig geworden war. Im weitläufigen Hof lief ein Motor. Ein Kind brüllte, weil es Hiebe bekam. Und Abel sagte gerade ins Mikro, dass mit dem letzten Diktat alles roger wäre und Jane sich tapfer halten solle, bis er wiederkäme. Er wäre unter der Telefonnummer Soundso, wie bisher, zu erreichen. Sie solle sauber bleiben und das Kanzleigeld nicht verjubeln. »Danke, Ende des Bandes.«
Da trat Käthe ein. Sie hatte sich abgeschminkt. Ihr Gesicht sah verletzt aus. Sie brachte ihr Lächeln nicht mehr zustande. Die Handtasche mit dem Geld hatte sie bei sich, als sie ohne anzuklopfen hereinkam. Abel fuhr erschrocken herum und starrte sie an. Käthe setzte sich ungefragt in den Ohrensessel für Besucher, stützte den Kopf in die Hände und heulte los. Sie konnte nichts sagen, heulte bloß, weil ihr die Energie, die ihr der Schnaps geraubt hatte, urplötzlich fehlte. Abel war betroffen, weil ihm Schlimmes schwante. Er steckte sein Diktiergerät in die Hosentasche. Käthe öffnete die Handtasche und kippte die Geldscheine auf Abels Schreibtisch. »Da, das alles, alles ist für Sie, wenn ich nur rechtzeitig das Immunal kriege.« Dann heulte sie wieder mit verzerrtem Gesicht und unfähig, Näheres zu erklären, so dass Abel sich gedulden musste. Er zog einen Stuhl herbei, hockte sich rittlings drauf, die Lehne vor der Brust, und sah sich dieses Häufchen Elend an, das vor ihm um ein klares Wort rang. »Immunal.« Käthe nickte und sprach in Brocken, alles ziemlich durcheinander. Aber Abel war geduldig im Zuhören. Langsam, ganz langsam, beim Erzählen gewann sie wieder Kraft. Sie setzte sich aufrechter, ihre Gesichtsfarbe belebte sich, während Abel, das Kinn auf der Stuhllehne, unbewegt zuhörte. Dabei starrte er auf seine beiden gepackten Koffer, die griffbereit nebeneinander standen. Die Küste war acht bis zehn Stunden entfernt, je nachdem, wie er durchkam. Carol wartete. Hitze hatten sie dort unten und hier regnete es aus Kübeln. Und vor ihm saß eine Frau, mit einem Problem, das sich anhörte, als könne er seinen Resturlaub an den Nagel hängen. Als Käthe fertig berichtet hatte, fragte Abel: »Wissen Sie, was heute für ein Tag ist? Freitag. Und wie spät?«
Käthe nickte. »So, und wo kriege ich da einen Richter her, der mir so einen Fall entscheidet?« »Bereitschaftsdienst. So was muss es doch geben.« Abel knurrte: »Irgendein Amtsrichter. Turnusmäßig kommt jeder dran. Vielleicht einer, der sonst tagein, tagaus über Bußgeldbescheide entscheidet. Was glauben Sie, wie so einer in diesem Fall reagiert? Das sind keine ausgetretenen juristischen Pfade. Ich sage Ihnen das, damit Sie sich nicht an den falschen Strohhalm klammern.« »Ich habe keine Kraft mehr zum Betteln«, sagte die Frau und ließ den Kopf hängen wie ausgerissenes Unkraut. »Es ist nicht für mich, nur für Gretchen. Ich kann das Kind doch nicht einfach so sterben lassen und mich mit Medikamenten und Alkohol betäuben oder umbringen.« »Ich würde an Ihrer Stelle sogar in die Klinik einbrechen und mir das Medikament holen,« sagte Abel, »damit Sie sehen, auf welcher Seite ich gefühlsmäßig stehe. Aber in der Juristerei spielen Gefühle fast nie eine Rolle – und wenn, dann die falschen.« »Also helfen Sie mir?« Ein Blick zu den Koffern und dem Hund, der den Kopf hob und die Ohren spitzte, als würde er etwas verstehen. Abel ging zu Janes Schreibtisch. Mal wieder selber tippen. Er fuhr den Computer hoch, legte Papier in den Drucker und begann: Gesuch auf Einstweilige Verfügung. »Juristisch sind wir viel eher auf festem Boden als mit dieser Monopolgeschichte, wenn wir die Zusage von diesem Doktor Obst festklopfen können. Und Sie meinen, dass er kommt und alles bestätigt?« »Er hat es mir versprochen.«
»Wie viele hab ich schon im Zeugenstand gesehen, die vorher das Blaue vom Himmel versprochen haben. Haben Sie Ihren Personalausweis griffbereit?« Käthe nahm ein Etui von dem Haufen, den sie aus ihrer Tasche auf Abels Schreibtisch ausgekippt hatte, und reichte ihn dem Anwalt. »Ich glaube ihm.« Abel warf Käthe einen langen Blick zu. Fragend. Skeptisch. »Mein Risiko!« Käthe verdrängte die Erinnerung daran, dass Obsts Aussage am Schluss des Telefongesprächs nicht mehr so sicher geklungen hatte. »Und das von Gretchen,« fügte Abel hinzu und begann in die Tasten zu hämmern. Käthe bekam einen Heulkrampf, weil sie sich nicht mehr beherrschen konnte. Sie klappte zusammen. Eigentlich gehörte sie selbst in eine Klinik. »Ein Nervenzusammenbruch ist das schlimmste, was Ihnen in einer solchen Situation passieren kann. So was stößt einen Richter ab, gerade wenn er nicht sicher in seinem Urteil ist«, sagte Abel so beiläufig wie möglich. »Sie sind auch gegen mich«. »Nein, im Gegenteil.« Abel sah sie an und schüttelte den Kopf. Er griff sich den Haufen Geldscheine, der auf dem Tisch lag, sortierte ihn schnell, und legte einen Teil auf die Seite. »Vorschuss für die Gerichtskosten«, sagte er. Käthe nickte nur. Abel griff nach seinem Telefonverzeichnis, blätterte, nahm den Apparat und wählte. Dabei holte er den Schnaps aus der Lade, den er auch Waldmüller angeboten hatte. Er hatte kein Glas, nippte aus der Flasche und gab sie an Käthe weiter. Käthe ließ sich einen langen Schluck durch den Hals rinnen. Wenn man in München den Bereitschaftsrichter kontaktieren wollte, musste man die Polizei anrufen. Dafür gab es extra eine Telefonnummer. Hilfreich war es, wenn man sich vorher von
der Staatsanwaltschaft eine besondere Geheimnummer hatte zuteilen lassen. Dann bekam man den Namen des diensthabenden Zivilrichters gleich. Sonst fragte der Polizist nach Name und Kanzleinummer des Anrufers. Erst wenn dann die Identität des Rechtsanwalts feststand, rief die Polizei zurück und nannte den Richter. Man stelle sich vor, ein Bürger, der den Anwälten nicht traut und lieber selbst klagt, bräuchte einen Bereitschaftsrichter in einer solchen Situation! Abel hatte seine persönliche Geheimnummer parat und wartete am Telefon, den Blick über Käthes Kopf an die Wand gerichtet. Sie beobachtete ihn. Bartgesicht, krumme Nase, Borstenhaare mit vielen Wirbeln. Die Haut war braun. Es schien, als träumte der Advokat, so wie er dasaß, den Hörer des Telefons zwischen Ohr und Schulter geklemmt, und an seiner Mandantin vorbeistarrend. Und die Sekunden verrannen wie vielleicht das Leben von Gretchen. Doch Käthe sagte sich, dass es wirklich besser war, den Kopf zu behalten. Sie bekam vor Aufregung einen Schluckauf und trank noch einen Schnaps aus der Flasche. Endlich bekam Abel die Telefonnummer des Richters. Er bedankte sich und legte auf. »Sieh da, schon wieder der Kehrmeister«, sagte Abel. »Der wird seine Freude haben.« Käthe konnte diese Bemerkung nicht richtig deuten. Abel wählte ein weiteres Mal. Erneut der Blick eines Träumers. Dabei war er nicht mehr in dem Alter zum Träumen, dachte Käthe, für die die Träume mit zwölf aufgehört hatten. Zu Abels breiten Schultern war ihm in den letzten Jahren ein kleiner Bauch gewachsen, en bon point. Das gab ihm eine Ausstrahlung körperlicher Erheblichkeit, gepaart mit Ruhe und Kraft, weil das Hemd ein wenig über Bauch, aber auch über Bizeps spannte.
Die Tochter des Richters Kehrmeister war am Apparat. Sie hatte eine fast erwachsene Stimme. Nein, der Vater war nicht da. Er wäre auch objektiv nicht zu Anwesenheit verpflichtet, das nur nebenbei. Er müsste nur hinterlassen, wo er war. »Und wo?«, fragte Abel, der die Belehrung des lieben Friedens wegen wegsteckte. »Kann ich seine Handynummer haben?« »Er ist in der Oper«, sagte die Tochter, »Ballettabend.« »Wissen Sie, wann Pause ist?«, fragte er. »Einundzwanzig zehn«, antwortete die Richtertochter, »er hat es mir extra aufgeschrieben, er hat ja Bereitschaft.« »Vergelts Gott«, sagte Abel und legte auf. Jetzt schaute er auf seine vergammelte Kienzle und sagte, dass er noch eine halbe Stunde Zeit hatte, den Schriftsatz aufzusetzen. Abel begann Käthe mit Fragen zu löchern. Käthe antwortete und korkte die Flasche wieder zu. Abel schrieb und schilderte dem Gericht den Sachverhalt in dem sachlichen, kalten juristischen Stil, den er sich angewöhnt hatte. Zur Glaubhaftmachung des Vortrags würde eine Eidesstattliche Versicherung seiner Mandantin vorgelegt, schrieb er und nickte. Käthe stand nun hinter dem Anwalt und beobachtete dessen muskulöse Finger, wie sie über die Tasten flogen, wie er las, und sah das Ergebnis der Arbeit auf den Bildschirm fließen, sozusagen am laufenden Band. Sie besprachen den einen oder anderen Satz miteinander. Käthe war wieder da, konzentriert und einigermaßen ruhig. Bevor Abel im Schriftsatz zu dem Teil kam, der die Rechtsfragen behandelte, erhob er sich von dem Drehstuhl und öffnete die Fenster. Abgestandene, lauwarme Großstadtluft zog herein. Sie kühlte den Kopf nicht, sondern ermüdete eher. Der Hund bellte an der Tür, weil eine Katze vorbeistrich. Das Licht
der Straßenlaterne vor dem Haus malte die Schatten des Tieres weich auf den Asphalt. Abel ging zurück. Er fragte und Käthe antwortete. Eines kam zum anderen, und die Zeit flog vorbei. Abel tippte, schaute dazwischen auf die Uhr und bemerkte, dass es längst einundzwanzig zwanzig war. Die Pause in der Oper war im Gange. Man schritt durch die Gänge, grüßte sich gegenseitig mit artigem Kopfnicken. Ein Schlückchen Sekt. Und die Damen in besseren Roben spotteten leise über die jungen Mädchen, die nur bei H&M einkaufen konnten, während die Männer der Damen, das Sektglas in der Hand, wohlgefällig auf die schlanken braunen Beine dieser Mädchen sahen. Als die Glocke in der Münchner Oper die Zuschauer wieder auf die Plätze zurückrief, ging Abels Verhör weiter. Käthe schien müde zu werden. Sie war in dem breiten, behäbigen Ohrensessel zusammengesunken und antwortete mit lakonischer Stimme, wenn sie gefragt wurde. Das Tippen hatte einen monotonen Rhythmus. Wieder blickte Abel auf die Uhr. Er konzentrierte sich. Diesmal durfte ihm nicht der geringste Fehler unterlaufen. So viel Zeit wie bei Waldmüller blieb ihm nicht, um etwas zu reparieren. Abel fuhr die Maximilianstraße hinauf zur Oper. Seinen Wagen parkte er schräg auf einem Behindertenplatz. Das Theater leerte sich bereits. Abel kämpfte sich gegen den Strom der Menschen und wusste nicht, ob er schon zu spät war. Er würde Stunden verlieren, wenn der Richter mit seiner Frau noch einen Wein trinken gehen würde. Das Publikum war »gehoben«, weil man Ballett gegeben hatte. Die Damen waren festlich gekleidet. Es roch ein wenig nach Parfüm und nach dem Rauch frisch angezündeter Zigaretten. Viele junge Mädchen waren darunter, schüchtern, dürr, mit Dutt. Kopie der großen Welt des Tanzes. Einer der beiden Kommunistenkollegen war unter den Ballettbesuchern.
Er hatte den Richter Kehrmeister nicht gesehen. Der Strom der Menschen versickerte. War der Richter schon vorbei? Nein, dort! Abel erkannte das Faltengesicht unter dem schwarzen Haarschopf. Der Richter trug einen blauen Anzug und Fliege. Den Mantel hatte er über dem Arm. Er stand vor der Damentoilette und wartete. Abel hastete hinüber. Den braunen Umschlag mit dem Gesuch und der Eidesstattlichen Versicherung der Mandantin trug er unter dem Arm. Kehrmeister bemerkte den Anwalt und nickte ihm zu. Dann drehte er sich herum und tat so, als schaue er durch die große Glasfläche hinaus auf den nächtlichen Platz mit seinen Passanten. »Entschuldigen Sie, Herr Kehrmeister«, sagte Abel im Herantreten, »ich weiß, dass ich ungelegen komme, aber Sie sind Bereitschaftsrichter. Ich brauche schon wieder eine Einstweilige Verfügung.« Kehrmeister drehte sich um. Man konnte in seinem Gesicht nicht erkennen, was er dachte. Er sah Abel direkt in die Augen. Abel hielt den Blick aus. »Ist es wirklich so eilig?« »Es geht um Leben und Tod«, sagte Abel. Er wusste, dass das seltsam klang, aber er brauche die Einweisung eines Kindes in die Medizinische Klinik in Großhadern. Die schwarzen Brauen des Richters zogen sich zusammen. »Das wird verweigert?«, fragte er. Dann zeigte er auf den Umschlag in Abels Händen. »Da ist alles drin«, sagte Abel und übergab die Papiere. Schlüssig wäre es diesmal auch, so hoffe er. Er lachte ein wenig unsicher. Kehrmeister kümmerte sich nicht darum. Er hatte den Umschlag geöffnet und zu lesen begonnen. Abel sah ihm geduldig zu und beobachtete die dürren Finger, die ruhig den Antrag hielten. Seine Frau kam aus der Toilette und sah Abel befremdet an. Abel trug noch die karierte Hose und nun aber ein graues Sweatshirt mit der Aufschrift »Hollywood
Pictures« und einem Blitz. Er war ja drauf und dran gewesen, in Urlaub zu fahren. »Herr Abel, ein Anwalt«, sagte Kehrmeister, ohne den Kopf zu heben. »Ich denke, ich muss noch ins Gericht«. Seine Frau war klein, rund und hatte ein bunt geschminktes Gesicht. Sie trug ein Kleid in lodernden Farben. »Wenns sein muss«, sagte sie freundlich, dann ginge sie alleine nach Hause. »Nimm ein Taxi«, sagte Kehrmeister. »Nein, es geht auch mit der Straßenbahn.« Abel wollte Frau Kehrmeister anbieten, sie mit dem Auto mitzunehmen, doch sie war schon weg. Der Richter sah ihr nicht einmal nach. »Wo ist die Mandantschaft?«, wollte er wissen. »Draußen vor dem Theater.« »Gehen wir.«
Ihre Schritte hallten über den Gerichtsflur, in dem die Nachtbeleuchtung spärliches Licht spendete. Ein Justizwachtmeister mit klapperndem Schlüsselbund folgte ihnen. Er hatte schon ein wenig geschlafen. Sein Schlips war verrutscht. Er öffnete die Tür zu Kehrmeisters Dienstzimmer. Neonlicht flammte auf. Sie setzten sich. Käthe hatte ihre Handtasche mit dem Geld dabei. Abel bemerkte es, als sie darin herumkramte, um ein Taschentuch zu finden. Er flüsterte ihr beruhigende Worte zu. Sie nickte, war wieder einigermaßen gefasst. Aber die Augen waren rot und verhangen, die Nase entzündet, die Haare hatte sie auf Abels Toilette zu einem Pferdeschwanz straff zurückgekämmt. Kehrmeister las die Eidesstattliche Versicherung. Dabei bewegte er die Lippen lautlos. Dann blickte er auf und fragte Käthe, ob sie wisse, dass auf falsche Angaben in einer Eidesstattlichen Versicherung Haftstrafe drohe und dass man
nicht zögern würde, sie zu verhängen, wenn man auf eine Lüge käme. Käthe wusste es. Abel hatte sie belehrt. Sie starrte den Richter an und nickte. »Stimmt es, dass der Dr. Obst Ihnen die Aufnahme zugesagt hat?« »Ja.« »Definitiv?« »Ja.« »Ohne Wenn und Aber?« Sie nickte, bemerkte aber, dass es Bedingung gewesen sei, dass jene Frau starb. Die Frau sei mittlerweile auch gestorben. Kehrmeister sah den Anwalt an. »Sie wissen, ich will die Gegenseite hören, bevor ich entscheide.« »Sie könnten auch ohne deren Anhörung entscheiden. Das Prozessrecht lässt es zu. Und der Fall würde es erfordern. Ich bin sicher, dass man sich seitens der Klinik einem Richterspruch beugt, auch wenn man vorher nicht gehört wurde.« »Trotzdem«, sagte Kehrmeister. Er telefonierte mit der Auskunft und erhielt die Nummer des Chefarztes und die des Oberarztes. Zuerst kam der Chefarzt an die Reihe. Kehrmeister arbeitete konzentriert, so, als hätte er niemanden in seinem Richterzimmer vor sich sitzen. Er kam auch an die Haushaltshilfe beim Professor, die ihm mürrisch erklärte, dass der Chef nicht zu sprechen wäre. Da kam sie Kehrmeister recht! »Hier spricht das Gericht«, sagte er, wissend, dass einfache Menschen einen Heidenrespekt vor dem Teufel, der Polizei und dem Gericht hatten, »Sagen Sie Ihrem Chef«, fuhr Kehrmeister fort und er klang kalt und mächtig, »wenn er nicht sofort ans Telefon kommt, werde ich ein Urteil sprechen – gegen ihn.« Ob Straf
oder Zivilurteil, ließ Kehrmeister offen. Er hörte nur ein schüchternes Piepsen, dann wurde der Hörer hingelegt und eilige Schritte entfernten sich. Kurz darauf ertönte eine Baritonstimme. Sie sagte den Namen Lebert mit langgezogenen Vokalen. Wer sich denn erlauben würde, ein Urteil zu sprechen! Schabernack! Es wäre fast elf Uhr. Kehrmeister war nicht zu beeindrucken. Er umriss mit zwei Sätzen die Situation. Lebert schwieg einen Augenblick, dann sagte er, dass er anderweitig verpflichtet sei und das Kind nicht aufnehmen könnte. Er überlegte einen Augenblick. »Wir diskutieren das. Ich komme zu Ihnen. Sagen wir morgen gegen zwei?« »Entweder sofort oder gar nicht«, sagte Kehrmeister, die Sache dulde keinen Aufschub. »Ich komme.« »Ihren Oberarzt lade ich ebenfalls telefonisch«, sagte Kehrmeister. »Oh.« Lebert lachte ein wenig. Ob das nicht entbehrlich wäre? »Der Kollege Obst ist ein tüchtiger Mann. Er leitet den Versuch. Ein qualifizierter Wissenschaftler, aber die Entscheidungen treffe ich selbst.« Die Innere war eine Klinik, in der die hergebrachten Strukturen noch funktionsfähig waren, betonte Lebert, und seine Stimme schwang mächtig durch das Telefon, so dass sogar Abel die Worte leicht verstehen konnte. »Ich will den Oberarzt auch vernehmen«, sagte Kehrmeister. »Ich brauche ein klares Bild.« »Ist die arme Frau auch da?«, fragte Lebert. »Ja.« »Heute klagt jeder wegen allem«, murmelte er. Dann ermahnte ihn Kehrmeister zur Eile. Sie beendeten das Gespräch. Obst war wieder sofort am Telefon.
»Haben Sie eine Zusage gemacht, die Aufnahme des Kindes betreffend?«, fragte Kehrmeister gleich ohne lange Einleitung. Obst bejahte. »Das trifft zu.« Kein Wenn und Aber! »Nun gut.« Kehrmeister bat ihn ebenfalls, so schnell wie möglich zu kommen und sich beim Wachtmeister zu melden, der ihn heraufbringen würde.
Warten auf die Ärzte. Käthe ging den Flur auf und ab, auf und ab. Abel saß wieder auf der Bank, wo er schon mit dem Waldmüller gesessen hatte. Käthe sah andauernd auf die Uhr. Der Zeiger kroch von Strich zu Strich. Abel starrte an die Decke und legte sich Strategien zurecht, überlegte, mit welchen Argumenten der Klinikchef kommen könnte. Kehrmeister würde sich den Fall genauso durch den Kopf gehen lassen wie er. Inzwischen waren Abel viele Bedenken gekommen. Sie mit seiner Klientin zu erörtern wäre nicht gut. Sie war ohnehin fertig und ausgebrannt. Sie pendelte mit apathischem Gesicht hin und her, die Handtasche über der Schulter, den Blick zu Boden gesenkt. Sie vermied, auf die Fugen der Plastikplatten auf dem Boden zu treten. Käthe musste daran denken, wie sie sich in der letzten Zeit doch ganz ordentlich mit Gretchen arrangiert hatte. Sie hatten beide gelernt, miteinander umzugehen, damit Käthe zur Arbeit gehen konnte und noch einen Rest von Privatleben hatte. Dabei war Gretchen manchmal erschreckend nüchtern und vernünftig gewesen. Sie hatte in der Küche geholfen, war brav gewesen, als der Babysitter da war, wenn ihre Mutter mit Waldmüller aus gewesen war, und hatte nur ganz selten Angst gezeigt. Sie musste daran denken, dass Gretchen eine gute künstlerische Begabung hatte, so wie sie malte und zeichnete. Gretchen konnte schon zählen und ein wenig rechnen. Käthe hatte schon
gelegentlich erwogen, ob Gretchen nicht aufs Gymnasium gehen könnte, wenn sie in der Schule einigermaßen das hielt, was sie bisher im Kindergarten versprochen hatte. Eltern neigten dazu, in den Kindern ihre eigenen enttäuschten Wünsche realisieren zu wollen. Und jetzt konnte es sein, dass Gretchen schwachsinnig wurde. Sie kannte solche armen Kinder mit entstellten, ausdruckslosen Gesichtern, oft unfähig zu einer menschlichen Regung. Diese Sprache! Verwaschenes Lallen und Gemurmel. Verdrehte Augen. Hilflosigkeit, wenn es darum ging, Liebe zu erwidern. Wo doch Gretchen eine Schmusekatze war, wenn sie bei ihrer Mutter im Bett schlafen durfte. Käthe hoffte, dass Gretchen eine Schmusekatze blieb, egal was passieren würde. Man muss nur fest genug daran glauben, sagte sie sich. Während sie weiter auf und ab ging, drückte sie die Daumen verkrampft zusammen und forderte innerlich diesen großen, abstrakten Gott auf, mit dem sie einen Kontrakt hat, den Richter Kehrmeister das kleine Stückchen zu schubsen, so dass sie gewann und Gretchen nach Großhadern kam. Wenn Abel sie nicht fuhr, würde sie ein Taxi nehmen und in der Uniklinik auf die Einlieferung von Gretchen warten und nicht erst in die Kinderklinik kommen. Sie hatte wieder ein wenig Mut gefasst und schritt auf ihrem abgezirkelten Weg. Sie hat schöne Schuhe an, dachte Abel. Was wird, wenn wir gewinnen? War das Kind nicht schon zu tief im Koma, um gerettet zu werden? Das konnte die Gegenseite leicht behaupten. Wie sollte er das widerlegen? Und wenn sie verloren, was dann? Wie würde er an ihrer Stelle reagieren, er ganz persönlich? Abel wusste es nicht. Wie Käthe glaubte er an einen kurzen Prozess mit positivem Ausgang. Er war innerlich aufgeladen. Er würde die ganze Mischpoke durch den Wolf drehen. Was steckte eigentlich dahinter, wenn der Chefarzt seinen Versuchsleiter in dieser Situation vor
Gericht für entbehrlich hielt? Nicht etwa mit der Begründung, er würde dringend auf der Station gebraucht, sondern wegen der vorherrschenden konservativen Entscheidungsstruktur im Krankenhaus? Ein Kampf um Einfluss vielleicht. Der Chefarzt rang möglicherweise gegen die wachsende Reputation seines zweiten Mannes. Alles Vermutungen. Die Konstellation erlaubte auch zahlreiche andere Schlussfolgerungen. Abwarten! So schwer es fiel. Das graue Licht ließ die Enden des Flurs in der Dunkelheit zurück. Dazwischen pendelte Käthe. Von draußen her drangen matt die Geräusche der einschlafenden Stadt herein. Aus dem Richterzimmer hörte man den Computer hochfahren, eine Tastatur klappern. Käthe unterbrach ihr rhythmisches Gehen, sah auf und blickte Abel fragend an. »Er wird schon das Rubrum schreiben«, sagte Abel, »Die Namen der Parteien, den Formalkram. Dann geht es später schneller mit der eigentlichen Entscheidung.« »Ja, ja«, sagte Käthe und schritt weiter, immer die Ritzen vermeidend. Abel zog zum dritten Mal seine Uhr auf. Das Tippen war beendet. In der nahen Toilette tropfte ein Wasserhahn. Käthe hatte ihre Schritte dem Rhythmus angepasst. So verging die Zeit. Die drei Herren kamen gemeinsam. Ihre Schritte hörte man schon von weit her durch das Gebäude hallen. Der Wachtmeister hastete hinter ihnen her. Abel erhob sich, als sie näher traten. Käthe war stehen geblieben. Der Chefarzt ging voran. Er hatte einen Trenchcoat an, war lang und dünn, hatte aber trotzdem Arbeiterhände, die er höflich beiden zum Gruß reichte. Dabei lächelte er unverbindlich. Ein braunes Gesicht, an dem die langen Koteletten und die gelichteten Haare auffielen. Die Augen waren hart. Das sah man sogar bei schlechtem Licht. In der Mitte wirkten die Züge ein wenig
eingedrückt, eine schmale Nase ragte hervor. Das Kinn sprang spitz heraus. Er strich sich über die schütteren Haare. Dann grüßte Obst. Inzwischen ging der Wachtmeister wieder zurück. Der dritte Mann war der Jurist der Münchner Klinikverwaltung. Er hatte ein schmales Bündel Papier dabei. Sein Händedruck war verwaschen wie seine Sprache. Ein winziger Mann mit ordentlichem Anzug und einem kleinen Gesicht. Abel verstand den Namen nicht, mit dem er sich vorstellte. Sie gingen auf Kehrmeisters Zimmer zu, klopften und traten ein. Sie setzten sich, und Lebert legte noch nicht einmal den Mantel ab. Kaum, dass Kehrmeister das Wort an die beklagte Partei richtete, sagte Lebert mit seiner Baritonstimme, »ich bedauere, sagen zu müssen, dass keinerlei Einigung möglich ist. Wir haben auf dem Weg alle Möglichkeiten zugunsten der Klägerin untersucht. Leider mit negativem Ergebnis.« Obst übernahm, ohne prüfenden Seitenblick auf seinen Chef. »Wir bitten gleichwohl um eine schnelle Entscheidung. Der Fall, der für die Einlieferung vorgesehen ist, duldet keinen Aufschub. Aus Gründen der Fairness haben wir augenblicklich von einer Aufnahme abgesehen.« »Wann wäre die Aufnahme frühestens erfolgt?«, fragte Abel dazwischen. Er musste den Nimbus des großzügigen Respekts der Klinik vor dem Gericht zerstören. »Morgen früh«, antwortete Obst. Abel spürte, dass das dem Chef nicht passte, wie er sich ins Spiel brachte. Kehrmeister stellte fest, dass also das Bett noch frei war und eine ausreichende Dosis des Medikaments vorhanden. Kein Widerspruch. »Wie beurteilen Sie die Erfolgsaussichten in dem Fall?« »Ich bin kein Jurist«, sagte Lebert und lächelte süffisant. Er erlaubte sich einen Spaß mit einer unpräzisen Formulierung.
»Medizinisch«, sagte Kehrmeister. Das gab Obst wieder die Chance vorzupreschen: »Hinlänglich«, sagte er. »Was bedeutet das konkret?«, Kehrmeister war ungeduldig. »So gut wie in einem anderen Fall, den ich aufnehmen soll, wenn das zur Entscheidungsfindung beiträgt.« »Herr Obst«, Lebert hatte eine freundliche Art, mit seinem Oberarzt zu reden, »wie können wir das wissen?« »Auf Grund des Kollegenberichts«, antwortete Obst ungerührt. Der Klinikjurist hob den Finger ein wenig, wie in der Schule. Jetzt wurde klar, warum er nuschelte: Er hatte einen Sprachfehler, der es dem Zuhörer schwer machte, ihm zu folgen. Man wollte am liebsten die Worte vollenden und ihm helfen, wenn er hängen blieb. Er hielt dennoch einen ausführlichen Vortrag darüber, dass ein Anspruch auf Hereinnahme der Tochter der Verfügungsklägerin nur bejaht werden könnte, wenn eine verbindliche Zusage der Klinikverwaltung vorläge. Das erforderte einen Behandlungsvertrag. Den schloss man ausnahmslos schriftlich ab. Er nestelte in den Papieren herum, die er bei sich hatte, und legte ein Blankoformular vor. Zum Vertragsschluss sei ausschließlich die Klinikverwaltung befugt, nicht das ärztliche Personal. »Noch nicht einmal ich«, unterbrach ihn der Chefarzt und deutete auf seine Brust. Der Jurist holperte weiter: »Man räumt ja unsererseits durchaus ein, dass Dr. Obst eine Zusage gegeben hat, die muss juristisch gesehen allerdings als eine invitatio ad offerendum gewertet werden, denn auch dem Laien ist klar, dass es medizinisch der Zustimmung seitens des Chefs und rechtlich gesehen der durch die Verwaltung bedarf.«
»Wenn der Versuchsleiter die Zusage gibt, dann wohl kaum«, fuhr Abel dazwischen und wurde ermahnt, nicht zu unterbrechen. Der Klinikjurist durfte fortfahren. Er überlegte einen Moment, nahm Anlauf und ließ sich dann darüber aus, dass der Oberarzt rechtlich keinesfalls als Vertreter der Klinikverwaltung eingestuft werden könnte. Zum Beleg zeigte er Anstellungsvertrag und Dienstanweisungen vor. »Für die Entscheidung ohne Belang«, fuhr Abel dazwischen, »denn eine mögliche Überschreitung der Befugnisse begründet zwar unter Umständen einen Schadenersatzanspruch der Verwaltung gegen den Arzt, zerstört aber nicht den Anschein gegenüber den Patienten, dass eine klare und verbindliche Zusage gemacht worden ist«, sagte Abel, »liegt denn gegenüber dem anderen Patienten eine Zusage der Klinikverwaltung vor?«, setzte er hinzu. Die drei Herren waren nicht orientiert und sahen sich gegenseitig an. »Nein, dann wohl nicht«, stellte Abel fest. Das blieb ohne Widerspruch. »Meine Herren«, sagte Kehrmeister nun. Er hatte seine Hände ineinander gekrallt und schob sein Kinn vor. Käthe war ausgeklammert aus der Diskussion. Abel hatte ihr eingeschärft zu schweigen, weil er den Eindruck hatte, dass Richter Kehrmeister Emotionen nicht liebte. Deshalb verfolgte sie schweigsam, aber mit wachen Augen das Gespräch. »Meine Herren«, es folgte eine zweite Kunstpause, »wenn keine Zusage anderweitig vorliegt, gibt es dann keine Möglichkeit einer Einigung?« »Nein.« Die Antwort von Lebert kam schnell, wie ein Peitschenschlag. Das hatte er schon eingangs gesagt. So eine unflexible Einstellung störte Kehrmeister. Er wollte, dass eine ablehnende Antwort auf seinen Vergleichsvorschlag wohl abgewogen war.
»Unsere Seite würde sich einem Vorschlag des Gerichts nicht verschließen, wenn es der Tochter der Klägerin hilft«, sagte Abel rasch. »Nein«, sagte der Professor Lebert noch einmal. Abel fuhr unbeirrt fort, dass sie notfalls auch die Prozesskosten übernehmen würden und dass sie sich auch vorstellen könnten, dass die Klinik das Bett an den anderen Patienten vergeben würde, aber eine ausreichende Dosis des Medikaments, nur für ein Kind, zur Behandlung in der Kinderklinik zur Verfügung stellte. Diesen Schachzug hatte er sich vorhin auf dem Flur zurecht gelegt. »An so etwas habe ich auch gedacht«, warf Kehrmeister ein. »Nein!« Was der eigentliche Grund war, den anderen Patienten zu bevorzugen, fragte der Richter. »Medizinische Indikation«, antwortete der Chefarzt, wurde aber sofort von Obst unterbrochen: »Was allerdings so nicht stimmt, Herr Professor. Beide Fälle liegen ähnlich.« »Ähnlich, aber nicht gleich«, sagte der Chef mit milder, glänzend beherrschter Stimme und wies auf sein medizinisches Letztentscheidungsrecht hin, das in seinem Vertrag stand. Stumm händigte der Jurist den Vertrag des Chefs aus. »Sie haben die Patienten nicht persönlich untersucht«, sagte Abel zu Lebert. »Genauso wenig wie mein lieber Kollege Obst.« Abel sprang auf. Er konnte im Stehen besser sprechen. Mit der Hand deutete er auf die Männer an seiner Seite: »Hier geht es offensichtlich um den Kompetenzstreit zweier Ärzte und nicht um die Sache. Ist es da nicht sittenwidrig, wenn die Klinikverwaltung sich nicht an die Zusage des Oberarztes hält und mit meiner Mandantin keinen Behandlungsvertrag abschließt? Es geht um das Leben eines Kindes, und dieser
Mann«, er zeigte auf Lebert, »nutzt die Gelegenheit eiskalt, mit seinem Oberarzt abzurechnen.« Der Jurist der Klinikverwaltung lachte schmetternd, so als wäre ein solcher Tatbestand völlig unvorstellbar. Lebert schlug wieder seinen milden Ton an: »Ich weiß nicht, was Sie zu Ihrer Schlussfolgerung berechtigt, Herr Rechtsanwalt. Wir haben geordnete Entscheidungskompetenzen in unserer Klinik, Gott sei Dank, und Herr Obst, nicht wahr«, er nickte seinem Kollegen zu, doch das Nicken blieb unerwidert, »hat damit keine Probleme. Ich selbst habe auch Kinder, sie sind schon groß, ich kann mich also durchaus in die Situation Ihrer Frau Klientin versetzen, ebenso wie mein Kollege Obst, der selbst eine kleine Tochter hat. Ich habe mir die Entscheidung zugunsten des anderen Falles nicht leicht gemacht, aber auch dort geht es um ein Leben. Ich meine, dass dort die Vorschäden nicht so groß sind wie hier, denn dort geht es um eine Hepatitis, der Schaden am Lebergewebe ist groß, aber noch hinnehmbar. Letztendlich könnte man eine Leber sogar transplantieren, wenn die Infektion abgeklungen ist. Bei dem Kind Ihrer Mandantin wissen wir nicht, ob die Hirnfunktionen nicht schon der Entzündung zum Opfer gefallen sind. Dass der behandelnde Arzt des Kindes hier noch Hoffnungen hat, ist verständlich. Ich habe nicht einen Fall zu vertreten, ich habe beide im Auge, danach habe ich die Entscheidung zu treffen.« Abel wehrte sich, immer noch im Stehen. Dass Heilungsaussicht bei Gretchen bestehe, könnte er keinesfalls ausschließen, wenn er die Sache richtig verstanden hatte. Der Versuchsleiter Obst nickte. Der Richter hatte das bemerkt. Umgekehrt könnte keiner garantieren, dass die Behandlung bei dem anderen Fall anschlagen würde. Medizinisch wäre die Situation also offen und keineswegs nur zu Lasten dieses vorliegenden Falles zu beurteilen. Dann ginge es im Ergebnis
nur um die juristische Seite, und da läge eine, so sehe man es seitens der Klägerin, verbindliche Zusage der Klinik vor, die schnellstens eingelöst werden müsste. »Schnellstens!« Abel setzte sich. Er hatte sich ziemlich erregt. Der Klinikjurist nahm seine gewundenen, stockenden Ausführungen wieder auf, trug allerdings nichts Neues bei. Kehrmeister sah auf die Uhr und unterbrach dann mit der Bemerkung, dass man sich auf das Wesentliche beschränken sollte. Doch der Klinikjurist scherte sich nicht darum. Durch den Zeitdruck geriet seine Rede zunehmend ins Stolpern. Nun folgte eine verkrampfte Mimik dem stockenden Gesprächsfluss. Wieder wurde er vom Richter unterbrochen und gemahnt, nicht schon Bekanntes zu referieren. Er holte erneut aus und fing bei den Befugnissen der Verwaltung und dem Behandlungsvertrag im formalen Sinne an. Man spürte, dass er in dieser Stresssituation nur weiterredete, weil ihm sein Therapeut zur Hartnäckigkeit und Selbstbestätigung geraten hatte. Kehrmeister war ungehalten und unterbrach zum dritten Mal. Da gab der Mann auf, Schweißperlen auf der Stirn. »Darf ich Sie bitten, den Raum zu verlassen? Ich muss mir die Sache überlegen, bevor ich eine Entscheidung fälle.« Alle erhoben sich schweigend.
Draußen auf dem Flur standen die drei Herren flüsternd zusammen. Käthe saß auf der Bank, den Kopf in die Hände gestützt, und starrte auf den Boden. Abel saß neben ihr. »Ob wir eine Chance haben?«, wollte Käthe wissen. Was sollte Abel sagen? Er zuckte mit den Achseln. Die Zeit verrann. Käthe flehte innerlich Gott um Hilfe an. Die drei Herren schwiegen nun. Obst sah von Zeit zu Zeit herüber. Lebert hatte die Hände auf dem Rücken gefaltet. Er war gelassen. Der Jurist las trotz des schlechten Lichts in
seinen Unterlagen. Das Geräusch der fallenden Tropfen in der Toilette gewann wieder die Oberhand. Obst ging fast auf Zehenspitzen hin und schloss die Tür. Jetzt hörten sie das Tippen auf einer Tastatur. Langsam und zögernd kamen die Anschläge, fast unentschlossen. Dann wurden sie schneller und sicherer. Auf dem Flur sprach keiner. Alle lauschten. Dann brach das Geräusch ab. Die Tür ging auf, sie traten ein, und blieben stehen, weil der Richter stand. Ein Rest von überkommener Förmlichkeit. Dr. Kehrmeister verkündete im Abendanzug seinen Beschluss, ohne die Augen vom Papier zu heben: »Das Gesuch wird zurückgewiesen, die Verfügungsklägerin trägt die Kosten des Rechtsstreits.« Er setzte sich. Käthe hingegen blieb mit hängendem Kopf stehen. Sie schlug die Hände vors Gesicht, dann sagte sie: »Wie man doch von der Macht der Menschen abhängig ist.« Als sie die Hände wieder sinken ließ und aufblickte, sah man in rote Augen und ein tränenübergossenes Gesicht. »Hier sind drei Männer im Raum. Sie haben das Leben meines Kindes in der Hand und sie lassen es fallen. Wie einfach hätten sie es haben können. Ein Wort hätte genügt, eins nur, aber so…« Kehrmeister war sichtlich betroffen, aber er hatte kommen sehen, dass sie wegen seiner Entscheidung zusammenbrechen würde. Er sprach hastig, sagte, er werde sofort die Urkunde ausfertigen, sie hätte ja noch das Rechtsmittel. Sie sollten sich setzen. Käthe sagte, dass sie sich das Todesurteil für ihr Kind lieber im Stehen anhören würde. Kehrmeister begann mit der Begründung, die er kurz hielt. »Ich habe es mir nicht leicht gemacht«. Kehrmeister wurde von einem zynischen Lachen der Klägerin unterbrochen. Aber letztlich habe die Entscheidung des Chefarztes den Ausschlag zu geben. Er als Richter wäre nicht befugt, seine
Entscheidung an die Stelle des Arztes zu setzen. Es sei denn, die ärztliche Beurteilung wäre erkennbar willkürlich. Dieser Fall läge aber nicht vor. So hätte der Chefarzt ganz alleine die Entscheidung zwischen den zwei Leben, die auf dem Spiel standen, zu verantworten. Das könnte ihm das Gericht nicht abnehmen. Danach geht dieser Lebert heim und schläft gut, dachte Abel bitter. Er stand auf und stellte sich neben Käthe, die er zu vertreten hatte. Er wusste, dass er mit Argumenten an der Entscheidung nichts mehr ändern konnte. Kehrmeister sagte, dass der Klage zuzugeben wäre, dass aus ihrer Sicht eine Zusage vorliegen würde. Doch das wäre immer unter dem Vorbehalt des Abschlusses eines schriftlichen Behandlungsvertrages zu sehen. So würde es üblicherweise gehandhabt, und das müsste die Klägerin auch wissen. Zumal sie ja selbst im Krankenhaus arbeitete. So schließt sich der Kreis, dachte Abel. Das formale Recht deckte die Feigheit zur Entscheidung. Er verachtete den Richter Kehrmeister in diesem Augenblick nicht, nein, aber er hätte eine andere Begründung erwartet. Eine Stellungnahme in der Sache. Die Übernahme der moralischen Haftung für das Ergebnis der Entscheidung. Dem war Dr. Kehrmeister ausgewichen. Der Richter schloss mit den Worten, dass er sofort ausfertigen würde, was er gesagt hatte, um das Rechtsmittel zu ermöglichen. So, dachte Abel, er will also juristisch noch nicht einmal das letzte Wort gesprochen haben! Käthe sagte leise und klar: »Ich mache das nicht mehr mit, dieses Affentheater. Nichts, kein Rechtsmittel mehr. Nicht noch einmal durch diese Mühle der Abhängigkeit von der Macht Fremder! Ich bin fertig mit euch!« Sie verließ das Zimmer.
Draußen auf dem Flur blieb sie stehen, mit dem Rücken an die Wand gelehnt. Zu diesen Fremden, von denen das Schicksal ihres Kindes und ihr eigenes abhängig war, zählte sie jetzt auch Gott, von dem sie glaubte, dass er sie verlassen hatte. Ja, sie bezweifelte, ob er ihr je beigestanden hatte. In ihrer Wut und Verzweiflung kramte sie das angebrochene Zigarettenpäckchen heraus, zündete sich trotzig eine an, inhalierte tief und für einen Augenblick drehte sich die enge graue Welt um sie. Dann fing sie sich, warf sich die Handtasche über die Schulter und ging. Abel wollte ihr folgen. Sie drehte sich um und sagte: »Danke.«
Samstag, 15. September
Es war genau 9 Uhr 48 am Samstagmorgen. Der Himmel hatte sich aufgeklärt, ein strammer Nordwest die Wolken fortgescheucht. Die Sonne hatte nicht mehr die Kraft zu wärmen. Es wurde spürbar, dass der Herbst kam. Vorerst waren die meisten Blätter noch grün. Doch der Wind trieb schon sein Spiel mit dem ersten Laub am Boden, das er in Spiralen an den Häuserecken umherjagte. Es begann, so schien es, ein friedlicher Morgen, den die Menschen für die Einkäufe zum Wochenende nutzen konnten. Obst stand in seinem Zimmer in der Klinik am Fenster und blickte auf die lichtübergossene Zufahrt. Dort schlurften zwei Männer in gestreiften Morgenmänteln vom Haus weg. Sie unterhielten sich ohne Gesten. Das Telefon läutete. »Ja, Obst hier«, sagte der Oberarzt. »Sie wissen, wer spricht?« »Ja, die Frau, deren Kind…« »Richtig.« Käthes Stimme klang kalt wie der Morgen draußen. »Ich habe Ihr Kind, Herr Doktor Obst, Ihre Claudia. Auf dem Schulweg. Es war ein Kinderspiel.« Man hörte, dass Käthe von einer Telefonzelle aus sprach. Sie lachte ein wenig. Ja, sie hätte in dieser Nacht nicht viel geschlafen. Klar, da wäre ihr der Gedanke gekommen, dass sie völlig falsch gewickelt wäre, wenn sie meinte, ein solcher Fall ließe sich mit den gewöhnlichen Mitteln lösen. Nein, da ginge es nicht um Gerechtigkeit, wenn man von anderen abhängig war. In einer solchen Sache, da könnte man gleich alles andere vergessen. »Man muss andere abhängig machen. Leben gegen Leben, das
ist das Rezept«, sagte sie zu Obst. In dessen Kopf überschlugen sich die Gedanken. Er musste sich räuspern, damit er seine Stimme wieder fand. »Bitte, lassen Sie mir mein Kind, es ist doch an allem unschuldig.« Es klang verletzlich, fast jämmerlich, wie er das sagte. Und wäre es jemandem darauf angekommen, ihn nur zu demütigen, er hätte das Kind nach diesem Satz wieder freigelassen. »Ich habe auch gebeten. Gebettelt habe ich. Hat’s mir was geholfen?«, fragte Käthe. »Ich war mit dem Schicksal von Gretchen genauso in der Hand von Menschen wie Sie es jetzt mit Ihrer Claudia sind. Glauben Sie mir, ich bin so weit, dass ich mich an ihr vergreife, wenn meine Kleine sterben muss.« Kein Zweifel. Das war ernst gemeint. Zuerst dafür sorgen, dass es niemand erfährt, wenn das Kind der Frau tatsächlich stirbt, fuhr es Obst durch den Kopf. »Es ist sinnlos«, sagte er ins Telefon, »so sinnlos, was Sie machen.« »Moment!«, antwortete die Frau kalt. »Das steht schon lange nicht mehr zur Debatte. Das ist so eine Art Notwehr.« »Dann also die Bedingungen«, sagte Obst. »Sie nehmen sich eine ausreichende Dosis Immunal, dann kommen Sie heraus auf den Parkplatz vor der Klinik. Dort werde ich mich bemerkbar machen. Sie übergeben mir das Medikament. Wenn etwas dazwischenkommt, dann gnade Gott Ihrer Kleinen. Wenn ichs schaffe, dann sehen Sie Ihr Kind wieder. Und passen Sie auf, ich hab ein langes Küchenmesser dabei, das renn ich der Claudia durch die Gurgel. Verstanden?« »Ja.« »Sie haben genau fünf Minuten Zeit«, sagte sie und legte auf. Obst suchte mit fiebernden Fingern nach der Nummer der Kinderklinik. Da war sie. Er bekam nicht gleich Anschluss und musste es noch einmal versuchen. Die Zeit verrann. Schon
anderthalb Minuten. Endlich sprach er mit dem Kollegen. Dem Kind ging es schlecht, sehr schlecht, hörte er. »Um Gottes willen, kein Wort davon zur Mutter oder sonstigen Angehörigen!«, flehte Obst. Natürlich wollte der Kollege eine Erklärung. »Sie hat mein Kind in ihrer Gewalt«, sagte Obst. »Soll ich die Polizei rufen?« »Nein, bloß keine Polizei. Helfen Sie mir.« »Was ist, wenn sie kommt?« »Helfen Sie.« Obst legte auf. Er verließ sein Zimmer und sah auf die Uhr. Er rannte den Flur hinunter zur Stationsschwester, schloss den Medikamentenschrank auf, griff sich vier Infusionsflaschen Immunal. Damit lief er davon wie ein Dieb. Die Stationsschwester rief ihm vergeblich hinterher. Im Aufzug lehnte er keuchend an der Wand. Er hatte Seitenstechen. Theoretisch wäre es möglich gewesen, eine Spritze mit dünner Kanüle zu nehmen und den Wirkstoff abzusaugen und durch aqua dest zu ersetzen. Theoretisch, aber was scherte ihn das jetzt, keiner konnte von ihm diese Kaltblütigkeit verlangen. Jetzt stand das Leben seiner Tochter auf dem Spiel. Da war er bereit, andere Leben ebenfalls aufs Spiel zu setzen. Auf dem Parkplatz stand ein weißer Polo im hellen Sonnenlicht. Die Scheinwerfer blinkten. Obst blieb mit den Infusionsflaschen im Arm stehen. Der Polo rollte ihm entgegen und blieb wenige Meter vor ihm stehen. An der Fahrertür wurde die Scheibe heruntergekurbelt. Er erkannte Käthe, die eine schwarze Sonnenbrille trug. Sie hatte eine brennende Zigarette im Mundwinkel, zeigte ihm ein blitzendes, scharfes Messer und sagte: »Keinen Schritt weiter!« Sofort blieb er stehen. »Wo ist mein Kind?«
Sie zeigte mit dem Daumen hinter sich. Er streckte den Hals. »Unter der Decke?«, fragte er. Und ob sie noch lebte. Käthe sagte nach hinten: »Dein Vater will wissen, ob du lebst, rede!« Gedämpft durch die Decke hörte er seine Tochter: »Hilfe, Vati, hilf mir, sie hat ein Messer.« Er stand mitten auf dem Parkplatz. Ein Auto rangierte aus einer Lücke und fuhr in der Nähe vorbei. Zwei Leute gingen zu ihrem Wagen. Keiner scherte sich um den Arzt, der unter seinem weißen Kittel etwas verborgen hielt und aus einer Distanz von drei, vier Metern mit einer Frau im Auto redete. »Lassen Sie das Kind frei, Sie bestrafen den Falschen. Sie wissen, dass ich Ihnen geholfen hätte. Ich allein!« Käthe nickte. »Aber Sie haben das Pech, dass Sie ein kleines Kind haben, das ich als Pfand gebrauchen kann. Ihr Chef nicht.« »Hier, die Flaschen«, er stellte die vier Infusionsbehälter vor sich in einer Reihe auf den Asphalt, so dass die Etiketten in ihre Richtung sahen. »Das reicht. Jeden Tag eine. Sehr langsam dosieren. Nach vier Tagen ist Ihre Kleine aus allem raus, wenn der Körper den Wirkstoff annimmt. Und jetzt lassen Sie mein Kind frei!« »Was weiß ich, was in den Flaschen ist?«, rief Käthe. »Woher weiß ich, dass es nicht bloß aqua dest ist? Oder Leitungswasser? Sie haben genug Zeit gehabt.« »Das Kind!« »Nein!« Sie hob das Messer und drehte sich ein wenig in Richtung Rücksitz. »Ich habe Ihnen besorgt, was Sie wollten. Geben Sie mir meine Tochter!« Er war halb in die Knie gegangen und streckte die Arme bittend vor. Einen winzigen Augenblick kalkulierte er eine Gewaltaktion durch. Wenn er schnell war, konnte er sie packen, bevor sie zustach. Außerdem war die Chirurgie nicht weit. Doch bevor er sich zur Attacke
entschloss, kurbelte sie die Scheibe so weit hinauf, dass gerade noch die Flaschen hindurchgeschoben werden konnten. Der Verschlussknopf der Tür war heruntergedrückt. Durch den Spalt rief sie ihm zu, er sollte nun langsam herkommen, erst mit zwei Flaschen, dann mit dem Rest, und sie hereingeben. Er gehorchte. Als er nah am Auto war, sah er, dass die Decke über seinem Kind verrutscht war. Er erkannte die Beine mit den Söckchen und den roten Schuhen, die sie heute morgen unbedingt hatte anziehen wollen. Käthe scheuchte ihn fort, die anderen beiden Flaschen holen. Als er sie hereingab, fragte er, wann er Claudia bekommen würde. »Wenn mein Gretchen über den Berg ist. Vorher nicht. Sonst bin ich wieder das Opfer«, sagte Käthe, kurbelte die Scheibe hoch und startete mit quietschenden Reifen. Obst lief noch einige Schritte mit wehendem Kittel hinter dem Fahrzeug her. Dann blieb er stehen und sah zu, wie das Auto verschwand. Die zwei Passanten waren stehen geblieben und hatten das merkwürdige Schauspiel beobachtet. Jetzt gingen sie kopfschüttelnd ihrer Wege, in der Überzeugung, ein streitendes Ehepaar gesehen zu haben.
Während Abel seinen Kaffee trank, sein Hund die bereitstehenden Koffer bewachte, hatte er die Füße auf den Tisch gelegt und blätterte in der Zeitung. Sie war umfangreich. Er wartete auf einen Rückruf von Carol, weil sie ihn noch bitten wollte, etwas aus ihrer Wohnung in München zu holen und mitzubringen, wie er einer SMS entnommen hatte. Nun war wieder Urlaub. Abel nahm sich Zeit. Es kam selten vor, dass Abel den Wirtschaftsteil las, doch heute suchte er gezielt nach einer Information. Tatsächlich fand er auch gleich die
Nachricht über den Verkauf der alteingesessenen Firma Quast an die Unternehmensgruppe. Für die Arbeiter und Angestellten gäbe es einen Sozialplan, den der Betriebsrat mit den Käufern in der nächsten Woche aushandeln würde. 580 Beschäftigte waren dann ohne Arbeit, denn die Unternehmensgruppe brauchte nicht die Betriebsgebäude der ausgelaugten Firma Quast. Selbstverständlich auch nicht die Produktionsanlagen. Alles war entbehrlich. Sie würden alles verkaufen, was nicht niet und nagelfest war. Sie waren allein am Grundstück interessiert. Es lag zentral, hatte Gleisanschlüsse und gute »Verkehrsverbindungen«, so nannte man das. Die grauen Backsteingebäude, die ältliche Schranke, das verrostete Werkstor, alles fiel der Abrisskugel und dem Räumungsbagger zum Opfer. Der Erwerber hoffte, so hieß es in dem Bericht, dass sich der Kauf lohnen würde, wenngleich der Sozialplan kostspielig war. Kaum rentabel zu finanzieren. Auf dem neu gewonnenen Gelände würde ein Umschlagplatz entstehen. Volltechnisiert, elektronisch gesteuert, aus Fertigbauteilen zusammengesetzt. Dort würde es kaum noch Arbeit geben. Nur Profit. Das passte gut. Abels Bild war abgerundet. Er griff zum Diktiergerät und sprach den Text auf Band, den Waldmüller, wenn er aus dem Urlaub zurückkehrte, im Briefkasten vorfinden würde. Braun gebrannt und mit ausgespannten Nerven würde er dann folgendes lesen: Sehr geehrter Herr Waldmüller, aus Gerüchten, die mir zugetragen wurden, sowie aus Zeitungsberichten ergibt sich zu unserem Fall ein interessantes Bild. Ich möchte Ihnen die Informationen nicht vorenthalten, darf aber darauf hinweisen, dass ich die Gerüchte nicht habe
prüfen können und daher für deren Richtigkeit nicht einstehen kann. Nach dem derzeitigen Stand stellt sich die Angelegenheit so dar, dass die Unternehmensgruppe, die Quast gestern übernommen hat, nicht am Produktionsbetrieb, sondern ausschließlich am Grundstück interessiert war. Sie hat deshalb vor, die Produktionseinrichtungen, sofern sie noch Wert besitzen, kurzfristig zu veräußern und die Gebäude abzubrechen. Dies entnehme ich der »Süddeutschen Zeitung« von heute. Die Kopie des Artikels füge ich an. Darüber hinaus habe ich erfahren, dass die Maschine, um die wir mit der Firma Quast gestritten haben, bereits verkauft ist. Als Käufer kommt ausgerechnet jenes Unternehmen in Frage, mit dem Sie in Verhandlungen gestanden haben. Sie haben mich zwar nicht in die Details eingewiesen, gleichwohl habe ich aus dem gestern geführten Telefongespräch entnehmen können, dass Ihnen bei der Veräußerung der Maschine ein anderer Bieter zuvorgekommen ist. Dabei wird es sich, so nehme ich an, wohl mit einiger Sicherheit um die Erwerbergruppe gehandelt haben, die Sie offenbar im Preis unterboten hat, deshalb den Zuschlag erhielt und, ich kenne Ihre Kalkulation nicht, deshalb ist dies nur eine Vermutung, wirtschaftlich kein schlechtes Resultat erzielt hat. Ich weiß leider Ihre Urlaubsadresse nicht, habe sie auch nicht ausfindig machen können, so dass ich Sie nicht habe aktuell ins Bild setzen können. Die Frage drängt sich natürlich auf, ob der Vergleich, den wir gestern morgen abgeschlossen haben, anfechtbar ist. Ich habe dies auf der Basis der vorliegenden Gerüchte geprüft und bin zu einem negativen Ergebnis gekommen. Die Geschäftsgrundlage wird durch die vorliegenden Ereignisse nicht zerstört, eine arglistige Täuschung liegt auf seiten unserer Verhandlungspartner nicht vor, da die Vorgänge (Pläne zur Verwertung des gekauften
Unternehmens und zur Veräußerung des Bestandes) als Geschäftsgeheimnisse angesehen werden müssen, zu deren Offenbarung keine Rechtspflicht besteht. Sollten neue, entscheidend andere Fakten nicht auftauchen, wovon man ausgehen muss, so bedauere ich, Ihnen nicht helfen zu können. Ich hielt es gleichwohl für meine Pflicht, Sie möglichst umgehend zu informieren. Für meine Tätigkeit erlaube ich mir, mit der beigefügten Kostennote abzurechnen und bitte um gelegentlichen Ausgleich auf mein Konto. Mit freundlichen Grüßen Jean Abel Rechtsanwalt Abel legte das Diktiergerät weg.
Es hatte eine Weile gedauert, aber nun hatte Obst seine Fassung wiedergewonnen. Er hatte die Schwester abgefertigt und hinausgeworfen, die ihn nach den Infusionsflaschen mit Immunal gefragt hatte, die fehlten. Anweisung vom Chef, hatte er gesagt. Das half immer. Sie war verwirrt abgezogen. So grob hatte sie den Dr. Obst noch nie gesehen. Aber bitte, dachte sie, das wird anscheinend modern. Obst saß auf seinem Stuhl und hatte die Unterlagen von seinem Tisch gefegt, die Ellbogen aufgestützt und den Kopf in die Hände gelegt. Um viertel nach zwölf war die Schule aus. Spätestens eine halbe Stunde später würde seine Frau sich Sorgen machen. So lange konnte er die Entscheidungen noch alleine treffen. Seiner Frau traute er nichts zu. Küche und Kinder, ja, aber sonst machte sie in seinen Augen zu viel falsch. Sie würde hysterisch werden, die Polizei rufen und dann lief alles gegen
Claudia und gegen ihn, der das Medikament aus den Händen gegeben hatte. Er konzentrierte sich auf den nächsten Schritt, den Käthe machen musste. Irgendwie musste sie nun an ihr eigenes Kind kommen. Es stand ihr frei, in jedem Stadium der Behandlung ihr Kind aus dem Krankenhaus zu holen. Sie war Krankenschwester und konnte folglich eine Infusion anlegen. Er versuchte, sich in Käthes Situation zu versetzen. Zur Behandlung brauchte sie einen geheimen Ort, denn in der eigenen Wohnung fand man sie sofort. Allerdings hatte sie Claudia als Geisel. Wenn sie einen Komplizen hatte, wäre vieles leichter. Vielleicht war es auch ein anderer, der ihr diese Wahnsinnsidee eingeimpft hatte. Jedenfalls musste sie Claudia alleine lassen, wenn sie ihr Kind aus der Klinik holte. Oder bei dem Komplizen. Konnte da die Polizei zugreifen? Ihm schien es immer noch zu riskant, die Sache anzuzeigen. Dann konnte er die einzelnen Schritte und Aktionen nicht mehr kontrollieren. Anderen traute er nicht so viel zu wie sich selbst, in allen Bereichen. Also verzichtete er vorerst auf die Polizei. Obst fragte sich, ob er in die Stadt in die Kinderklinik fahren sollte, um Käthe vor dem Krankenhaus zu beobachten. Wenn sie allein war und Claudia im Auto zurückließ, dann hatte er gewonnen. Dann musste er nur die Scheibe einschlagen und sein Kind befreien. Das setzte allerdings voraus, dass er die Ankunft beobachten konnte und wusste, wo sie das Auto abstellte. Sie hatte einen Vorsprung von zehn Minuten. Den konnte er nicht einholen. Nicht mit seinem alten Mercedes. Er blieb besser hier am Telefon, falls sie noch mal anrief. In der Klinik anrufen und die Leute einschwören, dass sie keinen Fehler machen, fuhr es Obst durch den Kopf. Er suchte die Nummer, wählte und hatte gleich den Kollegen Rupert am Apparat. Hastig berichtete er, was geschehen war und sprudelte seine Vermutungen heraus.
»Der Patientin geht es sehr schlecht. Die Reflexe…« »Scheiße«, sagte Obst. »Aussichtslos?« »Kann ich doch nicht sagen«, schrie Obst jähzornig. »Ist denn die Mutter schon aufgetaucht?« »Nein.« »Angerufen?« »Nein.« Obst warf den Hörer auf die Gabel. Sollte er nun doch die Polizei verständigen? Da fiel ihm etwas ein. Vorher wollte er noch mit dem Anwalt der Frau reden. Vielleicht wusste der weiter. Wie hieß er noch? Abel, wie Kain und Abel. Bei der Auskunft gab man ihm schnell die Nummer.
Abel hatte mit seiner Freundin Carol telefoniert. Unten war das Wetter schön heiß. Der Himmel war ein wenig bezogen, doch die Sonne schien. Und Carol hatte ihm genau beschrieben, wo er das blaue Kleid finden würde und wer ihm den Schlüssel zu Carols Wohnung geben würde… und wenn er gerade in der Wohnung war, könnte er doch noch… Das Kanzleitelefon klingelte. Vielleicht ging Abel nur dran, weil er dachte, dass er der verzweifelten Käthe Lauer noch ein paar Worte zum Trost sagen müsse. Wer sonst hätte es sein können. »Was?«, fragte Abel Carol am Handy. »Eine frische Packung von der Pille. Du weißt, im Bad.« »Ja. Ciao, mein Engel.« Abel wechselte die Telefone. Obst sagte ohne Umstände, dass die Mandantin seine Tochter in der Gewalt hatte. Ob Abel was davon wisse? »Nein, absolut nichts«, antwortete Abel erschrocken.
Obst musste es glauben. Er zögerte einen kurzen Augenblick und fragte sich, ob es richtig war, dem Anwalt seiner Gegnerin zu vertrauen. Dann wurde ihm die Schlussszene im Gericht gegenwärtig. Nein, der Mann war kein Komplize! »Wie ist das passiert?«, fragte Abel. Obst ignorierte die Frage. Er sagte, dass seine Claudia in Lebensgefahr schwebe, weil diese Frau durchdrehen würde, wenn sie erfuhr, dass die Reflexe ihrer Tochter nicht mehr in Ordnung waren. Zeichen für einen beginnenden Verfall des zentralen Nervensystems. Abel war betroffen, und er erkannte die Gefahr, in der sich die Tochter des Arztes befand. »Ich war fair zu Ihnen, gestern Nacht«, sagte der Arzt, bittend, mit leiser Stimme. »Ich war wirklich fair. Jetzt helfen Sie mir, wenn Sie können.« »Ich darf zwar normalerweise nichts gegen einen Mandanten unternehmen, normalerweise.« »Was ist schon normal in diesem verdammten Fall?« »Ich habe zu der Frau keinen Kontakt mehr.« »Ich alarmiere die Polizei. Vielleicht haben die Fragen an Sie.« »Ich sage, was ich weiß«, versprach Abel, doch der Arzt hatte schon aufgelegt. Abel begann zu grübeln, statt die Koffer zu holen.
Die Polizei war dafür ausgerüstet, innerhalb von Minuten ein waffenstarrendes Aufgebot an Spezialisten auf die Beine zu stellen. Das war dem »Krieg gegen den Terrorismus« und der daraus resultierenden Freigebigkeit unserer Politiker bei der Zuteilung der Etats an die Exekutive zu verdanken. Nach dem Verzweiflungsruf des Dr. Obst aus Großhadern hatte das Landeskriminalamt sein mobiles Einsatzkommando
alarmiert. In zivilen Fahrzeugen rasten die Beamten los, rüsteten sich während der Fahrt mit kugelsicheren Westen aus und prüften die Gewehre und Zielfernrohre. Sie luden die vorgeschriebene Munition und kontrollierten die Funktion der Funksprechgeräte. Messer, Werkzeuge und Äxte lagen im Kofferraum bereit. Über Fallschirmspringerstiefeln trugen sie schwarze Overalls und Panzerwesten. Endlich angekommen, verteilten sich unauffällige Herren vor dem Klinikeingang, in den Fluren und auf den Treppen. Die schwarze Brigade versteckte sich in einem Versorgungsaufgang, der abgesperrt wurde. Einer fuhr ständig im Aufzug mit. Der Einsatzleiter, ein Kriminaldirektor mit elegantem Habitus und einer großen, getönten Pilotenbrille, bekam einen weißen Arztkittel verpasst. Er setzte sich ins Rooming-in-Zimmer auf das Bett gegenüber dem Kruzifix und baute mit flinken Fingern eine tragbare Funkstation auf. Nacheinander nahm er mit jedem seiner Gruppenführer Sprechkontakt auf. »Ruhe, Männer«, sagte er bei einem Rundruf. »Es ist eine verzweifelte Frau, die wir erwarten. Beobachten und nur auf Befehl eingreifen. Bloß keinen Scheiß machen! Ich will das Kind und die Frau – ohne Verletzung!«
Käthe war überfällig. Wenn sie keinen Fahrzeugschaden oder unwahrscheinlicherweise getrödelt hatte, dann hätte sie schon seit einer guten halben Stunde hier sein müssen. Obwohl man nach dem Fahrzeug verdeckt fahndete, war es noch nicht im Stadtgebiet gesichtet worden, geschweige denn vor der Klinik aufgetaucht. Inzwischen wurde die Frage erörtert, ob es einen Komplizen geben könnte. Oberarzt Rupert schaute herein. Der Kriminaldirektor sah ratlos aus und schüttelte den Kopf.
Rupert sagte: »Ich mache mir auch Sorgen wegen der anderen Patienten und unserem Personal bei so viel Polizei.« »Kein Grund zur Sorge«, sagte der Polizist. Auch ihn hatte inzwischen eine unterschwellige Nervosität erfasst. Er ermahnte alle fünf Minuten die Funkzentrale, die Beamten in der Stadt anzuhalten, dass sie den weißen Polo suchten. Die Nummer kannten sie schon lange. Sie wussten sogar schon, dass der TÜV überfällig war. Vor der Wohnung der Frau standen die Beamten ebenso wie vor ihrer Arbeitsstätte. Aus den vielen Daten, die man über einen Mitbürger mit normalem Lebenswandel zur Verfügung hatte, machte sich der Polizeipsychologe gerade ein Bild. Er war auf dem Weg nach Großhadern zu Obst, weil Käthe dort am ehesten, anrufen könnte, weil sie vielleicht Instruktionen benötigte. Nur ihren Anwalt hatten sie noch nicht kontaktiert, weil sie nicht glaubten, dass er der Polizei Auskunft geben durfte oder wollte. Er hatte die Frau sehr engagiert vertreten, galt unter Kollegen als unkonventionell und emotional. Nicht auszuschließen, dass er ein Komplize war… durch die Prozesserfahrung in der Nacht geworden war. Selbstverständlich beobachtete ein Posten den Kanzleieingang. Der Schein der kalten Sonne tanzte auf den Autoblechen. Eine Frau goss im Vorgarten die Blumen und pfiff ein Lied. In der Klinik lief der Betrieb in gespielter Normalität weiter. Rupert machte Visite. Dem Oberarzt folgte ahnungslos eine Traube Kinder, die schnatternd durch die Räume drängten. Ein Junge radelte auf einem Dreirad hinterher. Es war eine fröhliche Stimmung auf dem Flur und in den Zimmern. Gott sei Dank hatten sie im Moment keinen zweiten schweren Fall auf der Station. Der Einsatzleiter stand nachdenklich hinter der Tür und betrachtete die Szene durch einen Spalt. Aus polizeitaktischer Sicht müsste eigentlich alles geräumt werden, aber er
beabsichtigte, die zu allem entschlossene Frau schon vorher zu fassen. Wenn sie einen Komplizen hatte, dann konnte man mit ihm besser verhandeln als mit jemandem, der nichts mehr zu verlieren hatte. Wenn nicht, suchte man das Auto und befreite Claudia. Welche Chance hatte ein einzelner, verzweifelter Mensch gegen dieses Aufgebot an staatlicher Macht? Die Chance des Gewitzten! Käthe hatte einen Komplizen. Doch der wusste nichts von seiner Mittäterschaft. Ein armenischer Taxifahrer in Lederjacke und mit einer speckigen Baseballmütze kam mit einer Plastiktasche in der Hand und wollte den Oberarzt Rupert sprechen. Den musste man erst vorsichtig aus dem Gewimmel der Kinder herausholen. Mindestens fünf Mündungen von Präzisionswaffen waren auf den Ahnungslosen gerichtet. Der Fahrer gab ihm den Plastiksack, in dem Flaschen klapperten. »Das soll ich abgeben«, sagte er und griff in seine Brusttasche. In der gleichen Sekunde klickten Waffenverschlüsse. Doch der Chauffeur zog keinen Revolver heraus – wozu auch? – sondern einen Briefumschlag. »Das sollen Sie vorher lesen.« Er tippte an die Mütze, drehte sich um und ging. Er kam aber nur wenige Schritte weit, da schnappten ihn zwei Zivile vom MEK auf einen Wink des Einsatzleiters hin. Sie drehten ihm die Arme auf den Rücken. Er schrie erschrocken. Im Arztzimmer öffneten sie den Brief mit Sorgfalt, damit keine Spuren verwischt wurden. Sie breiteten ihn aus. Er war in normaler Handschrift abgefasst. Die Schreiberin hatte sich nicht die Mühe gemacht, die Herkunft zu vertuschen. »Lieber Doktor Rupert«, schrieb sie, »ich gehe davon aus, dass Sie wissen, dass ich das Kind Ihres Kollegen habe. Die Polizei wird auch schon bei Ihnen sein. Deshalb komme ich
nicht persönlich. In den übersandten Flaschen ist eine ausreichende Dosis Immunal. Pro Tag eine Flasche, wegen der Einzelheiten rufen Sie bitte Herrn Dr. Obst an.« Es folgte die Telefonnummer. »Ich hoffe, das Medikament wirkt. Nach Ihrer Rechnung müsste ich noch gerade rechtzeitig gekommen sein. Behandeln Sie mein Kind gut. Ich werde Claudia Obst töten, wenn meine Tochter nicht überlebt. Ich habe dann nichts mehr zu verlieren. Streicheln Sie Gretchen die Wangen, das hat sie gern, sie wird’s auch spüren, wenn sie bewusstlos ist. Viel Glück!« Der Brief war mit vollem Namen unterschrieben. Der Arzt griff nach einer der Flaschen und rannte los auf Station. Er rief noch: »Den Rest in die Kühlung!«. Der Einsatzleiter befahl: »Abbauen in der Klinik bis auf die zweite Gruppe.« Dann ordnete er die neuen Posten an. Ringfahndung nach dem Polo! Er ging hinunter, wo man den Taxifahrer vernahm. Als er eintrat, hörte er den Mann in gebrochenem Deutsch sagen: »Zum zehnten Mal. Eine Frau, um die dreißig vielleicht, dunkle Sonnenbrille. Von einem Auto hab ich nichts gesehen und bezahlt hat sie aus einem Umschlag in bar, da war noch mehr Geld drin. Das war’s, was mich gewundert hat, sonst nichts.«
Abel hatte am Fenster seiner Kanzlei gestanden und nach einer Lösung gesucht, nachdem er statt Dr. Obst den Polizeipsychologen erreicht und erfahren hatte, dass Käthe einen Taxifahrer geschickt hatte. Der Zivilwagen hinter seinem Auto war ihm aufgefallen, weil er beobachtet hatte, wie der Fahrer verdeckt seine Kanzlei fotografierte. Klar, die Polizei hatte ihn auch im Visier. Abel konnte für seinen Plan die
Polizei nicht gebrauchen. Es war ja nichts mehr als eine vage Vermutung, die er hatte. »Allez hopp«, sagte er zu seinem Hund und sperrte ihn ein. Rasch in die Küche und hinten hinaus. Nur ein Hund bellte in der Nachbarschaft, sonst rührte sich nichts im Hof. Abel war schnell durch ein Tor gegenüber der Beobachtung durch die Polizei entkommen. Abel nahm ein Taxi, weil sein Auto vor dem Haus parkte. Es war nicht weit bis zu der Adresse von Waldmüller, die Abel noch gut im Kopf hatte. Ein Jugendstilhaus in der Maxvorstadt unweit der Isar. Die verzierte Fassade leuchtete hell in der Sonne. Die Haustür stand offen, obwohl ein Schild barsch befahl: Tür stets geschlossen halten. Jemand hatte einen Bierkasten in dem alten Marmorentree abgestellt. Abel stieg eine knarrende Holztreppe hinauf. Die Wohnungen hatten große Portale mit Voluten und Sprossenfenstern. Es roch nach Mittagessen. An einer der beiden Türen im dritten Stock hing ein Metallschild mit dem Namen Rolf Waldmüller. Abel schaute sich um, bevor er näher an die Tür trat. Alles war ruhig. Aus einer anderen Wohnung drang Rockmusik. Eine Bodendiele knarrte unter seinen Füßen. Abel legte das Ohr an die Türfüllung. Er hörte jemanden umhergehen. Unstet, aber es war nicht genau zu definieren, ob in der Wohnung oder darüber. Irgendwo schlug der Wind eine Tür zu. Wieder die Schritte. Heute Nacht im Gericht war Käthe auch hin und her gegangen. Die Wassertropfen hatten den Rhythmus bestimmt. Nun rasselte das Werk einer Standuhr. Trippelschritte auf Holzboden. Geschirr klapperte, unten auf der Straße riefen Kinder. Als Abel ein Mädchen weinen hörte und die Worte »Ich will nach Hause!« zu verstehen glaubte, wusste er, dass er richtig war.
Wenn er Anlauf nahm und sich mit seinen neunzig Kilo gegen die Tür warf, dann flögen ihm die Scherben um die Ohren. Ob die Tür aufging, wusste er nicht. Er trat zurück und untersuchte das Schloss. Es war alt und nicht sonderlich stabil, aber Käthe würde es zugeschlossen haben, vermutlich doppelt. Und unter Umständen gab es eine Kette, die vorgelegt war. Und wenn er doch die Polizei holte? Wusste der Himmel, was dann passierte. Lieber nicht. Er trat zurück und entfernte sich. Leise schlich er die Treppe hinunter. Als er außer Hörweite war, rannte er die Stufen hinab. Er ging ums Haus. Ein Geräteschuppen aus Holzlatten, die Tür ungesichert. Abel trat ein. Im Halbschatten sah er einen Schubkarren mit Steinen, einer Spitzhacke und einem Spaten. Flimmeriges Licht spielte in dem kargen Raum. Der Wind schlich kalt durch die Lattenverschläge. Den Pickel nahm er mit hinauf. Was sollte er sagen, wenn ihn jetzt einer der Hausbewohner antraf? Dass er der Gärtner war, der auf dem Dach nach dem Rechten sah? Egal. Er hatte Glück. Samstags war es in diesem Haus ruhig. Jetzt war er wieder oben vor der Tür der Waldmüllerschen Wohnung. Er lauschte. Nichts mehr zu hören. Keiner bewegte sich. Die Kinderstimme schwieg. Ob er vom Handy aus bei Waldmüller anrufen sollte, um sie vom Kind fortzulocken? Nein, sie würde nicht ans Telefon gehen. Sie würde ihr Versteck sonst verraten. Was wäre, wenn er läutete? Vielleicht kam sie in die Nähe der Tür geschlichen. Durch die Kathedralglasscheibe könnte er die Kontur ihrer Figur erkennen und die Tür einschlagen, wenn er sie im Blick hätte. Abel wartete, in der rechten Hand den schweren Eisenpickel, vorgebeugt, das Ohr an der Tür. Er hörte Schritte, sie näherten sich. Er trat etwas zurück und hob die Hacke an. Er holte aus. Ein Schatten glitt hinter der Scheibe vorbei. Da krachte das Werkzeug, mit großer Wucht geschlagen, gegen das Schloss.
Scherben splitterten. Das Türblatt knallte an die Wand und federte zurück, Abel entgegen. Er fing es ab, stand in einem schwach beleuchteten, langen Korridor und nahm umrisshaft die Bewegungen der Frau wahr. Sie rannte den Flur hinunter. Eine Kippe kokelte auf dem Boden. Wieder hob er den Pickel und warf ihn hinter Käthe her, aber nicht weit genug. Scheppernd rutschte die Hacke über das Parkett und schlug gegen die Fußleiste. Ein Kinderschrei gellte auf. Käthe zwängte sich durch eine Tür, während Abel den Korridor hinunterspurtete. Er hechtete vor, bekam die Hand noch in den Spalt und zuckte vor Schmerz, als Käthe die Tür zuwarf. Dann drückte er mit der Schulter dagegen. Für sein Gewicht reichte die Kraft einer Frau nicht. Da ließ sie vollends los, sprang zur Seite und Abel stürzte in das Badezimmer. Nun lag er am Boden. Seine Hand blutete. Langsam blickte er hoch. Auf der Kante der Badewanne saß ein kleines Mädchen. Sie mochte vielleicht sieben sein. Sie hatte dunkle Haare und wasserklare Augen. Der Mund mit den Zahnlücken war sprachlos und weit geöffnet. Entsetzen hatte die Züge des Kindes gelähmt. Denn an seiner Kehle saß blinkend ein Brotmesser mit Sägeklinge. Käthes Hand umkrampfte es, die andere hielt die langen Kinderhaare. Sie stand hinter ihrem Opfer in der leeren Badewanne. Sie brauchte nichts zu sagen. Abel wusste, dass er sich nicht bewegen durfte. Er blieb liegen und starrte seine Mandantin an. Froschperspektive. Es zog, weil die Flurtür eingeschlagen und das Badfenster angeklappt war. Hoffentlich hatte keiner das Spektakel wahrgenommen, dachte er. Der Rock’n’Roll lief in voller Lautstärke. Die Sonne malte ein bizarres Lichtmuster auf den Boden, direkt vor Abels Augen. Es blendete. So verharrten die drei Menschen minutenlang, schier endlos. In Abels Kopf überschlugen sich die Formulierungen, mit denen er ein Gespräch beginnen wollte. Doch ihm fiel nichts
ein, was er hätte sagen können, ohne dass die Hand der Frau nach rechts zuckte und ihm ein Schwall Blut entgegenstieß. Er zitterte vor Angst, weil er nichts herausbrachte. Panik stieg in ihm auf. Er musste schlucken. Ohne dass er es wollte, sagte er fast flüsternd, dass er Angst hatte. Käthe antwortete nicht. Sie bewegte sich nicht. Wieder verging Zeit. »Darf ich aufstehen?«, fragte Abel. Er räusperte sich. »Nein.« Abel wartete, bis er ihr erklärte, dass er allein war. Keine Polizei. »Die wären schon längst hier.« Käthe reagierte nicht. Das Kind hatte den Mund geschlossen und atmete flach durch die Nase. Abel sagte, dass er ihr helfen würde. Endlich sprach Käthe: »Was wissen Sie?« »Dass das Immunal angekommen ist. Ein Taxifahrer hat es gebracht.« Es schien Abel, als entspannte sich die Hand mit dem Messer ein wenig. Jetzt redete er drauflos: »Vier Flaschen sind es, für jeden Tag eine, die Dosis reicht.« Käthe sah ihm in die Augen. Er hielt den Blick aus. Da erlaubte sie ihm aufzustehen, aber langsam! Er stemmte sich hoch, ging auf die Knie, erhob sich und machte einen Schritt nach hinten. Die Hände hielt er seitlich vom Körper abgespreizt. Käthe nahm das Messer von der Haut des Kindes. Es hatte dort rote Punkte hinterlassen. Jetzt begann Claudia zu weinen. Die Klinge war heruntergeglitten. Käthes andere Hand ließ den Haarschopf locker. Sie lehnte sich zurück. Sonnenlicht huschte über ihr Gesicht. Es war von der Anstrengung verwüstet. Käthe schüttelte den Kopf, als müsste sie sich besinnen. Sie starrte Abel an. Er hob langsam seine rechte Hand, das Blut krustete bereits. Gib das Messer her, bedeutete Abels Geste.
Sie reagierte nicht, griff aber auch nicht wieder beherzter um den Messerknauf. Käthe sah auf Abels Hand und wieder zurück in seine Augen. Er erkannte, wie schwer es ihr fiel, die Frage zu formulieren. Zögernd sprach sie: »Bin ich noch rechtzeitig gekommen?« Abel hielt den Blick aus. Dabei ließ er die Hand sinken. Eine Geste der Resignation. Er antwortete nicht. »Gretchen ist tot?« Ein Flüstern. »Sie lebt.« »Aber es sieht schlecht aus, nicht wahr?« »Keiner kann das sagen. Und momentan erfahren Sie sowieso nichts. Wenn Sie anrufen, ist ein Polizeipsychologe dran. Und der wird es schaffen, dass Sie aufgeben.« »Nie!« »Das haben schon viele Kidnapper gesagt.« »Wenn ich aufgebe, dann kann keiner ausschließen, dass Professor Lebert sofort wieder das Immunal nach Großhadern bringen lässt.« Abel wich Käthes verzweifeltem Blick immer noch nicht aus. Dabei konnte er am Rand seines Gesichtsfeldes eine winzige Bewegung der messerhaltenden Hand erkennen. Immer noch funkelte die Klinge über der Brust des Kindes. Von der Flurtür her hörte man eine ältliche Männerstimme rufen. »Herr Waldmüller, ist was passiert? Kann ich helfen?« Abel rief zurück: »Nein, alles klar, ich habe nur den Schlüssel vergessen, als ich in Urlaub war.« Nach einigem Zögern entfernten sich die Schritte. »Und jetzt?«, fragte Käthe. »… geben Sie mir die kleine Claudia und ich sehe, was ich für Gretchen und Sie machen kann.« Das Messer fiel klappernd auf den Kachelboden und das Mädchen rannte auf Abel zu, der das Kind in den Arm nahm und hinaustrug. Er drückte die eingeschlagene Tür so ins
Schloss, dass nicht unbedingt auffiel, dass sie gewaltsam aufgebrochen war. Unten auf der Straße wählte er auf dem Handy die Nummer des Polizeipsychologen und nahm die Verhandlungen auf.
***
Käthe Lauer wurde nach einer Untersuchungshaft von acht Monaten wegen Entführung, Geiselnahme und Hausfriedensbruch zu einer Haftstrafe von zwei Jahren verurteilt, die zur Bewährung ausgesetzt wurden. Ihrem Verteidiger Jean Abel gelang es, trotz der Schwere des Tatbestandes die mildernden Umstände in den Vordergrund zu stellen. Sie wurde nach dem Urteil auf freien Fuß gesetzt.
Käthes Tochter Gretchen erhielt nach eingehenden Verhandlungen von Abel mit der Polizei das Medikament Immunal. Sie ist heute geistig behindert und wird kein selbständiges Leben führen können. Sie lebt bei ihrer Mutter, die wegen der täglichen Betreuung in die Nähe eines Pflegeheims südlich von Ulm gezogen ist, wo sie auch arbeitet.
Abel gelang es, Beschuldigungen zu zerstreuen, er habe sich zum Komplizen seiner Mandantin gemacht.
***
Nachwort
»Notwehr« ist ursprünglich der sechste Abel-Roman. Er spielte im Jahr 1985, kam 1986 bei Rowohlt heraus als der letzte dort erschienene Band. Erst 12 Jahre später folgte »Das Biest«, als vorläufig letzter Abel-Krimi. Ich habe »Notwehr« wie die vorangegangenen Ausgaben bei Pendragon für die Taschenbuchausgabe gründlich überarbeitet und ein wenig modernisiert. Ursprünglich lebte Abel in Stuttgart, war aber kein Schwabe – genauso wie ich. Durch seine Filmkarriere beim ZDF verschlug es Jean nach München. Nun ist ihm der Buch-Abel gefolgt und vom einigermaßen urbanen Stuttgarter Osten ins wirklich urbane Münchner Lehel gezogen.
Übrigens ist dieser Abel-Roman, wie auch der Film, der einzige, der nicht im engeren Sinne ein Krimi ist. Es geht hier nicht darum, den Täter zu finden und zu überführen. »Notwehr« ist vielmehr die Geschichte, besser gesagt die Tragödie einer Frau, der wir folgen bis sie zu einer Kindesentführerin und damit zur Kriminellen wird. Ihre Motive sind nicht klassische Krimimotive wie Habgier (sie setzt im Gegenteil vorher alles aufs Spiel was sie besitzt) oder Eifersucht (Käthe handelt nicht aus verletzter Liebe, sondern aus Liebe zu ihrem Gretchen), die Triebfeder ihres Handelns ist schiere Verzweiflung. Sie gibt nicht auf, sie liefert ihr Kind nicht dem (durchaus wohlerwogenen und gut begründeten) Urteil von anderen Menschen aus, sondern sie beruft sich auf eine der wohl atavistischsten Kräfte des Menschen, die
Mutterliebe und die daraus folgende Aufgabe, ihr Kind zu beschützen. Die damit verbundenen Konflikte und Emotionen sind bei weitem nicht so präsent berührend für den Leser wie den Zuschauer, wenn sie retrospektiv erzählt werden, also durch die Perspektive eines Polizisten, der einen Entführungsfall aufzuklären oder einen Anwalt, der eine Angeklagte zu verteidigen hat. Die Spannung der retrospektiven Erzählweise des klassischen Krimis lebt vom Rätsel, eine Geschichte wie »Notwehr« bezieht ihre Spannung aus Betroffenheit und Mitgefühl.
Wie in meinem zuletzt bei Pendragon erschienenen AbelRoman »Noch Zweifel, Herr Verteidiger«, werde ich ein wenig aus dem Nähkästchen plaudern. Hintergründe über Abel, seine Freunde, seine Fälle, die Filme, die Schauspieler und Regisseure und vieles mehr. Erwarten Sie keine systematische Darstellung, nur eben eine Plauderei.
Heute: Wie Abel zum Film kam
Das war schon kurios! Eines Tages rief mich ein höflicher Herr vom damaligen Südwestfunk namens Dr. Dietrich Mack an und fragte, ob er mich mal treffen könne. Er würde gern mit mir über die Filmrechte an einem meiner Romane sprechen. »Notwehr«. Er habe ein zerlesenes Exemplar des Taschenbuches von einem mir unbekannten Anwaltskollegen aus Braunschweig zugeschickt bekommen – anbei die Bemerkung, anstelle des sonst verfilmten Mistes solle Mack es doch mit diesem Krimi versuchen, erklärte er mir lachend. Er habe ihn gelesen und sei interessiert. Wir verabredeten uns im damals schicksten Lokal Stuttgarts (Film muss schick sein, dachte ich zu der Zeit noch naiv). Mack stellte sich vor. Er war von den Bayreuther Festspielen, wo er Assistent von Wolfgang Wagner war, zum Sender gewechselt und dort als Redakteur für Musik und Fernsehfilme zuständig. Ein gestandener Mann, neugierig und offen für Neues. Diese damals nicht außergewöhnliche Biografie eines Redakteurs kann man kaum mit heutigen vergleichen, wo mancher Gesprächspartner nicht mehr als ein durch ein paar Drehbuchseminare gekröntes abgebrochenes Studium vorweisen kann. Statt Offenheit erlebt man deshalb bei diesen Gesprächspartnern unsicheres Festhalten am scheinbar Bewährten, statt Neugier ängstliches Zaudern. Nur dass nicht der Eindruck entsteht, ich schiebe »pro domo«; mit Mack habe ich Auseinandersetzungen bis an den Rande der persönlichen Belastbarkeit erlebt. Aber mit Niveau. Und ohne seine Offenheit für Neues säße ich heute – wer weiß – immer noch in meiner Stuttgarter Anwaltskanzlei und hätte
nie ein eigenes Drehbuch geschrieben. Denn Mack begann das Gespräch über die Filmrechte mit einer Klarstellung: »Falls wir uns einigen, suchen wir einen guten Drehbuchautor für das Projekt, denn einen Grundsatz haben wir aus leidvoller Erfahrung: Ein Autor dramatisiert niemals seinen eigenen Roman.« Mein Freund Jean Abel hätte an dieser Stelle der Kellnerin »zahlen!« zugerufen. Ich sagte: »Über Prinzipien kann man hervorragend streiten.« Und wir stritten! Am Ende stand es auf der Kippe, ob »Notwehr« überhaupt verfilmt würde oder nicht. Wir einigten uns. Ich war bereit, weitgehend auf eigenes Risiko eine erste Fassung des Drehbuchs zu schreiben – aber ich würde schreiben; kein anderer. Dann würde man sehen. Daumen nach oben oder nach unten? Ich weiß heute noch nicht, wo ich damals neben meinem stressigen Anwaltsjob (ich klagte für abgelehnte Studienbewerber Studienplätze am Fließband ein, Medizin, Zahnmedizin, Architektur…) die Zeit und Konzentration hergenommen habe, das Drehbuch zu schreiben. Und woher den Mut? Ich spürte ziemlich schnell die Angst des Romanautors, sein eigenes Werk selbst zu zerstören. Weil ich niemals Unterricht im Drehbuchschreiben genommen, sondern diese Kunst mit allen ihren handwerklichen Grundlagen Schritt für Schritt in der Praxis gelernt habe, war mir der Unterschied zwischen der epischen und dramatischen Schreibe nur theoretisch geläufig. Die praktischen Schwierigkeiten bei der Umsetzung eines Romans in ein Drehbuch hatte ich erheblich unterschätzt. Das fängt schon damit an, dass man enorm kürzen muss. Sogar ein relativ kurzer Text wie »Notwehr« würde in voller Länge zu einem Mehrteiler geraten. Monströs und langweilig. Denn Film ist Komprimierung auf das wirklich Wesentliche. Jede Szene, ja jede einzelne Einstellung muss aus sich selbst
sprechen, wenn der Film etwas taugen soll. Die in der epischen Form so reizvollen Ausgestaltungen, Abschweifungen und Arabesken hindern dagegen den Fluss der Filmerzählung. »Kill your own Babies«, soll David O. Selznick zu einem Autorenkollegen gesagt haben, der einen eigenen Roman dramatisierte. Leicht reden hatte er, der Selznick, aber er hatte auch Recht. Aus der notwendigen Kürzung und Komprimierung kann man auch das verbreitete Urteil erklären, ein Film sei immer schlechter als der Roman, auf dem er beruht. Das Urteil ist falsch. Man darf beides nicht miteinander vergleichen, denn Roman und Film sind völlig unterschiedliche Erzählformen für denselben Stoff. Jede hat ihre eigene Qualität. Es kommt ja auch niemand auf die Idee, das Drama »Romeo und Julia« mit der Oper »Romeo et Juliette« von Grounod zu vergleichen, weil hier der formale Unterschied sofort ins Auge springt. Und dennoch, Film und Buch scheinen einander näher verwandt, so dass das Gefühl, das Buch sei qualitätsvoller, habe mehr Tiefe, jedem bekannt ist. Ich kann es mir nur so erklären, dass der Text des Buches in geradezu mythischer Weise Phantasiewelten im Kopf des Lesenden entwickelt, während der Film mit seinen sprechenden Bildern diese Welten begrenzt, weil er sie vorgibt. Dafür lässt er aber Spannung und Emotionen intensiver erleben, was jedoch vom Zuschauer nicht als eine Art eigene Nachschöpfung des Werkes empfunden wird, sondern als etwas von außen Kommendes. Aber ich verplaudere mich! Wie dem auch sei, wer meinen Roman mit unserem Film vergleicht, wird manche Buchszene schmerzlich vermissen. Ich auch. Ich will gar nicht damit beginnen, sie aufzuzählen. Einen Teil der Gott sei Dank nur virtuellen »Babymorde« hatte ich begangen und schickte ein Drehbuch nach Baden
Baden, dessen erste Fassung Gnade vor den Augen der Redaktion fand, allerdings noch viele inhaltliche und dramaturgische Fragen aufwarf. Nur eine davon sei erwähnt: Wie knüpfe ich die beiden, lange parallel laufenden Handlungsstränge enger? Wie stelle ich einen zeitlich früheren Zusammenhang zwischen der Geschichte des kranken Gretchens und der Sorge ihrer Mutter und dem Kampf Abels für seinen Klienten Waldmüller um die Werkzeugmaschine her? Im Roman soll der Leser von außen her über den seinen Urlaub unterbrechenden Abel zunächst an das schwierige, letztlich aber doch lösbare Problem des Streits um die Maschine mit einem konkursreifen Unternehmen an die menschliche Tragödie um Gretchen heran geführt werden. Dann kann Waldmüller verschwinden, er hat seine Schuldigkeit getan (in ihm hat sich auch ein gutes Stück weit Käthes Charakter gespiegelt) und wir haben Abel, dessen Kampfgeist und Taktik kennen gelernt. Nun sieht sich Jean mit einer viel größeren Herausforderung konfrontiert, dem Kampf um das Leben eines Kindes – zuletzt sogar mit dessen Mutter. Im Film funktioniert das nicht. Seine Dramaturgie fordert, dass von Beginn an klar ist, wer die Hauptfigur ist und mit wem wir durch die Handlung geführt werden. Seine Haltung und seine Konflikte sind dramatisch und damit wichtig. Folglich musste Käthe sofort am Anfang ins Bild gesetzt werden, und der »Fall Waldmüller« wird zurückgenommen und parallel zur Krankengeschichte erzählt. Er hat nach wie vor die Funktion, Käthe zu spiegeln und den kommerziellen Streitfall in Kontrast zu der menschlichen Tragödie zu setzen. Lange haben wir an der Verzahnung beider Handlungsstränge gearbeitet – besonders intensiv mit dem Regisseur. Heute ist es fast undenkbar, dass ein Anfänger in die Erwägungen mit einbezogen wird, welcher Regisseur sein erstes Buch drehen soll – damals eine Selbstverständlichkeit.
Mack hatte verschiedene Vorschläge. Ich nur einen einzigen: Peter Schulze-Rohr. Ich hatte mir den Namen gemerkt, nachdem ich den Film »Hautnah« gesehen hatte. Schulze-Rohr hatte ihn mit Armin Müller-Stahl in der Hauptrolle nach einem Buch von Norbert Ehry glänzend inszeniert. Zur Erinnerung: Müller-Stahl spielt einen Videodetektiv (das gab es damals schon), der im Frankfurter Rotlichtmilieu Recherchen anstellt und sich dabei selbst in den Netzen verfängt, die er auslegt. »Hautnah« ist einer der besten Fernsehfilme seines Jahrzehnts, wenn nicht überhaupt. Also Peter Schulze-Rohr. Doch das war nicht einfach. Schulze-Rohr war Macks Chef im Sender, der jedes Jahr einen Film selbst inszenierte. Und jedes Jahr stand ganz oben auf der Liste »Casanova«. Um es kurz zu machen, Peter schaffte es nie, Casanova zu drehen, aber er inszenierte »Notwehr«. Von Peter Schulze-Rohr habe ich in schier endlosen Buchbesprechungen viel von den unerlässlichen handwerklichen Grundlagen des Drehbuchschreibens gelernt, von der Vermeidung von Teichoskopien bis zum Eindampfen und Zufeilen jedes einzelnen Dialogsatzes. Nie hat er mich spüren lassen, wie anfängerhaft-naiv-selbstbewusst ich anfangs bestimmt gewesen bin. Im Gegenteil, er hat mir vom ersten Augenblick unserer Zusammenarbeit an mit seiner eleganten intellektuellen Berliner Schnoddrigkeit stets das Gefühl gegeben, ernst genommen zu werden und das Drehbuch zu lieben, trotz dessen Mängeln und Problemen. Abels Debüt im Fernsehen war nach mehreren Fassungen des Buches beschlossene Sache. Ein gut ausgestatteter Einzelfilm sollte entstehen. Keiner ahnte damals, dass Jean Abel es beim ZDF, also praktisch der Konkurrenz, zum Serienhelden bringen würde. Das hätte an der sorgfältigen Vorbereitung des Drehs auch sicher nichts geändert, denn damals war der SDR ein höchst renommierter Sender, der seine Filme in eigenen
Studios in Baden-Baden mit ca. 30 Drehtagen selbst auf 35 mm-Material von Kodak produzierte. Längst vergangene Zeiten! Auch bei den Besetzungsfragen war meine Meinung erwünscht. Ein guter Abel? Gut und überzeugend in seiner Schnoddrigkeit? Ich weiß noch, dass ich mir von Anfang an, als ich noch nicht im Geringsten an den Film dachte, für die Romanfigur Gottfried John als eine Art äußerliches Vorbild genommen hatte. Sein zerknautschtes Gesicht, die kurzen, struppigen Haare, das war für mich Jean Abel. Aber John war nicht frei. Er selbst erinnert sich heute nicht mehr an eine Anfrage, wie er mir kürzlich erzählte, aber manches bleibt ja bei der Agentur hängen – und wer kannte damals im Filmbusiness schon einen Anwalt namens Abel? Was ist mit Ochsenknecht? Uwe Ochsenknecht war die Idee meines Freundes Ulf Hasper, ein Anwaltskollege, der ein eifriger Kino- und Fernsehgucker ist. Ochsenknecht verkörperte Schnodderigkeit und Biss, Intelligenz und Mut, Eigenschaften, die wir uns alle von unserem Film-Abel wünschten. Und er sagte zu. Damals schon ein Star, war er sicher auch mit dafür verantwortlich, dass der Film eine außergewöhnlich hohe Zuschauerquote erzielte. Die Besetzung der weiblichen Hauptrolle war unerwartet schwierig. Am Ende fiel die Wahl auf Dagmar Cassens, eine Schauspielerin, die noch keine größere Rolle gespielt hatte. Auch das ist ein Beispiel für die Experimentierfreudigkeit von Regie und Redaktion. Dagmar Cassens hat ihre Sache gut gemacht. Weitere große Rollen hat sie später nicht mehr gespielt. Warum weiß ich nicht. Dass das Casting schließlich sogar meine Familie erfasste, hat weniger mit der Experimentierfreudigkeit des Regisseurs als mit der Tatsache zu tun, dass die für Kinderarbeit zum Glück bei uns eingeführten strengen Restriktionen auch beim
Film gelten. In »Notwehr« gibt es zwei größere Rollen für Mädchen, Gretchen und Claudia, die Tochter des Arztes, die von Käthe entführt wird. Ob beim Film die gesetzlichen Regelungen mit minimalen Drehzeiten pro Tag für die meist übermotivierten Kinder jemals eingehalten worden sind oder werden, weiß ich nicht. Jedenfalls wäre Schulze-Rohrs Drehplan völlig aus den Fugen geraten, wenn die Produktion auf Druck der teamfremden Eltern möglicherweise nur vier Stunden am Tag die Kamera hätte laufen lassen dürfen. So kam meine Tochter Leonie-Claire zu ihrem Filmdebüt als Claudia und die Tochter von damals engen Freunden, Lara Lauk, spielte das bemitleidenswerte Gretchen. Beide haben ihre Sache großartig gemacht. Genauso wie übrigens Personal aus meinem Anwaltsbüro, die in der Stuttgarter Oper Komparserie waren, buchstäblich allen voran meine inzwischen seit fast 25 Jahren für mich arbeitende Sekretärin »Schmittchen« mit ihrem Mann, die in großer Robe als erste im Bild erscheinen, wenn die Tür zum Zuschauerraum aufgeht und Abel mit Käthe ungeduldig wartet, ob die Richterin kommt. Und am Ende erwischte es mich selbst noch – als Gatte der Amtsrichterin. Im Film haben wir uns dafür entschieden, aus dem Dr. Kehrmeister eine Frau zu machen, weil es einer Frau noch schwerer fallen würde, ein Urteil über das Leben eines Kindes zu sprechen. Eine Frau wird emotionaler vom Publikum wahrgenommen, als ein Mann. Okay… SchulzeRohr brauchte einen Ehemann, den die Richterin in der Oper verabschiedet, um sich der heiklen Entscheidung zu stellen. Schulze wolle keinen Komparsen (die sehen alle aus wie Komparsen). Also gab ich den Gatten der Richterin. Ich witzelte noch herum und sagte: »Hätte ich das geahnt, ich hätte ihm einen Monolog von shakespearscher Dimension (ich rede hier nur von der Länge) ins Buch geschrieben.« Nun hatte
ich nur auf den Satz »Nimm ein Taxi« zu antworten: »Es geht auch mit der Straßenbahn« (Der Film spielt in Stuttgart!). Bei der Probe war ich perfekt, fühlte mich wie der junge Jack Nicholson. Tja, und dann lief die Kamera – und ich hatte den Satz vergessen. Ich schmiss zwei Klappen. Der Regisseur bewahrte mühsam Ruhe (er hatte mich ja gebeten), ich war tierisch nervös. Zwei Einstellungen klappten, aber ich redete mit einem Stimmchen… Am Schluss haben sie mich in der Postproduktion synchronisiert. So endeten jäh meine (nie ernsthaften) Ambitionen auf die Schauspielerei. Nur einmal noch habe ich in einem Abel-Film einen Heiratsschwindler namens Gerhard Schröder gegeben (als der gleichnamige Politiker noch nicht Kanzler war, wie ich betonen möchte). Die Rolle war stumm. So ist mir dort das Synchronisieren erspart geblieben. »Notwehr« wurde am 26.10.1988 um 20:15 Uhr in der ARD gesendet. Mein Gott waren wir alle aufgeregt! Die gesamte Familie und alle Freunde waren alarmiert. Der engere Kreis versammelte sich bei uns zu Hause, um meiner Tochter und mir, den Mitwirkenden am Film, das echte Publikumsgefühl zu geben, was einem normalerweise beim Fernsehen ja fehlt. Alle fieberten mit. Eine solche Premiere ist ja etwas Außergewöhnliches. Kaum war der Abspann gelaufen, klingelte das Telefon und es stand nicht still bis Mitternacht. Ganz besonders präsent ist mir das Gespräch mit Peter Schulze-Rohr, der in seiner witzigen und ruhigen Art mit zurückhaltender Genugtuung unsere Arbeit lobte und sich bei mir für das Buch bedankte – nur wenige seiner Kollegen haben das nach ihm getan.
Das war der Beginn einer freundschaftlichen Arbeitsbeziehung zwischen Schulze-Rohr und mir, die über insgesamt sechs
Produktionen bis ins Jahr 2000 tragen sollte. Aus ihr sind zwei meiner wichtigsten Fernsehfilme hervorgegangen, der Tatort »Jagdfieber« mit Ulrike Folkerts, Andy Hoppe, Jörg Schüttauf und Anke Sevenich und der Zweiteiler »Der Mann mit der Maske«, in dem Sebastian Koch und Nicolette Krebitz ihre ersten Hauptrollen spielten. Als »Notwehr« gesendet wurde, saß ich schon am zweiten Drehbuch mit Jean Abel in der Hauptrolle. Fred Breinersdorfer