Nr. 404
Nomazar, der Sklave Der Mann ohne Erinnerung auf der Sklavenwelt von Clark Darlton
Nach dem Aufbruch aus dem ...
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Nr. 404
Nomazar, der Sklave Der Mann ohne Erinnerung auf der Sklavenwelt von Clark Darlton
Nach dem Aufbruch aus dem Korsallophr-Stau kommt Atlantis-Pthor, der »Dimensionsfahrstuhl«, auf seiner vorprogrammierten Reise der Schwarzen Galaxis unaufhaltsam näher. Und es gibt nichts, was die Pthorer und Atlan, ihr König, tun könnten, um den fliegenden Weltenbrocken abzustoppen und daran zu hindern, je nen Ort zu erreichen, von dem alles Unheil ausging, das Pthor im Lauf der Zeit über ungezählte Sternenvölker brachte. Als Pthor jedoch die Peripherie der Schwarzen Galaxis erreicht, geschieht etwas Unerwartetes. Der fliegende Kontinent kommt abrupt zum Stillstand. Atlan, nicht ge willt, untätig auf die Dinge zu warten, die nun zwangsläufig auf Pthor zukommen wer den, ergreift daraufhin die Flucht nach vorn. Zusammen mit Thalia und einer Gruppe von ausgesuchten Dellos fliegt er mit dem Organschiff GRIET die Randbezirke der Schwarzen Galaxis an. Atlan, der zuerst auf Enderleins Tiegel, dann auf dem Marktplaneten Xudon und danach bei den Insektoiden von Gooderspall seine gefährlichen Abenteuer besteht, weiß nicht, daß ein anderer Pthorer noch vor ihm in die Schwarze Galaxis gelangt ist. Der Mann, von dem die Rede ist, hat sein Gedächtnis verloren und versteht sich nun als NOMAZAR, DER SKLAVE …
Nomazar, der Sklave
3
Die Hautpersonen des Romans:
Gärax oder Nomazar - Sklave der Ximmerrähner.
Ondoscähn - Ein Sklavenhändler.
Gomähn - Ein Netzer.
Yltic - Gomähns Sohn.
Dyräa - Yltics Freundin und Geliebte.
1. Dyräa starrte in das glasklare Wasser des kleinen Bergsees, ohne eine Spur ihres ge tauchten Freundes Yltic zu entdecken. Sie war keineswegs darüber beunruhigt, denn Yltic war ein sehr guter Taucher und hielt es leicht zehn Minuten unter Wasser aus. Sie schätzte, daß erst acht Minuten vergangen waren. Dann glaubte sie, auf dem Grund des Sees, der an dieser Stelle fünf Meter tief war, zwischen den Felsbrocken eine Bewe gung gesehen zu haben. Trotz der spiegel glatten Oberfläche war der Körper Yltics nur undeutlich zu erkennen. Der junge Ximmer rähner hatte sich auf den Rücken gedreht und blickte nach oben. Dyräa winkte ihm zu. Er gab das Zeichen zurück und schwamm langsam weiter, auf die tiefste Stelle des Sees zu, in die er sich hinabsinken ließ. Dyräa seufzte und sah hin auf in das grelle Licht der Sonne des RähneSystems. Sie stand noch hoch im Südwesten jenseits der Berge über dem Meer. Es würde noch lange hell bleiben. Yltic tauchte auf und schwamm zum Ufer. »Das war fast ein neuer Rekord«, sagte er stolz und schüttelte das Wasser von der ge schuppten Haut. »Niemand kann so lange tauchen wie ich. Wenn ich älter bin, werde ich noch viel länger unter Wasser bleiben können.« Dyräa mußte lächeln. Immer wieder woll te Yltic ihr beweisen, daß er besser war als andere. Sie hatte ihn sehr gern, und eines Tages würde sie seine Frau werden. Aber dazu war es noch zu früh. Sie waren beide erst sechzehn Jahre alt. Zärtlich streichelte sie über seine verkümmerten Kiemen, die von den Halsschuppen teilweise verdeckt
wurden. »Wir können nicht leugnen, daß unsere fernen Vorfahren einst im Wasser lebten. Ich möchte wissen, warum sie an Land gin gen.« »Den Grund dafür werden wir wohl nie erfahren, aber die Sehnsucht nach der Schwerelosigkeit ist geblieben«, sagte er und setzte sich neben sie in das trockene, warme Gras. »Ich liebe das Wasser, und selbst die großen Raubfische im Meer sind meine Freunde, auch wenn ich sie töten muß, um nicht selbst getötet zu werden.« Dyräa hatte nicht viel für das Meer übrig, aber sie liebte den Fluß und die Seen. Seit ihre Eltern gestorben waren, wohnte sie im Haus von Yltics Vater, dem Netzer Gomähn. Um sich dort nützlich zu machen, beaufsich tigte sie die leibeigenen »Figuren« und teilte sie zur Arbeit ein. Der Sklavenhändler On doscähn war bekannt für seine einwandfrei en Lieferungen. »Wir werden bald aufbrechen müssen«, erinnerte sie ihren Freund. Er nickte. »Ja, wir brauchen eine halbe Stunde bis zum Boot. Außerdem habe ich Hunger.« Die beiden jungen Ximmerrähner gehör ten zur herrschenden Kaste der »Netzer«. Niemand wußte genau, was auf den anderen Kontinenten der Welt Ximmerrähne gesch ah. Lediglich die Sklavenhändler gelangten mit ihren Schiffen dorthin, wenn sie neue »Figuren« raubten, um sie hier – auf dem Kontinent Ferähne – zu verkaufen. Yltic und Dyräa lebten am Rand der Hauptstadt Mulgaxähn in einem prächtigen Haus, denn Netzer Gomähn war nicht nur ein einflußreicher Mann, sondern auch Mit glied der Regierung von Ferähne. Als Ange höriger der führenden Kaste genoß er großes
4 Ansehen. In ihrer Körperform konnten die Ximmer rähner durchaus humanoid genannt werden, wenn sie ihre Abstammung von den Meeres bewohnern auch nicht leugnen konnten. Im Durchschnitt nur gut anderthalb Meter groß, besaßen sie eine hellbraune Haut, die noch teilweise geschuppt war. Ihre breiten Ge sichter wurden durch die übereinanderge schobenen Kopfschuppen ein wenig ent stellt, und die starren, fast weißen Augen er innerten deutlich an ihre Vorfahren. Sie erreichten das Boot. Es lag in einer ru higen und von der Strömung verschonten Bucht vor Anker. Das kleine Schiff mochte etwa sieben Meter lang sein, und seine schnittige Form versprach hohe Geschwin digkeit und Wendigkeit, auch wenn es nur einen Mast besaß. Arbeitsfiguren im Hafen von Mulgaxähn hatten es aus dem Gerippe eines besonders großen Raubfisches gebaut und mit dessen widerstandsfähigen Haut überzogen. Yltic setzte das Segel und holte den An ker ein. Der Wind war schwach und reichte gerade aus, das kleine Schiff auf Kurs zu halten. Den Rest besorgte die Strömung. Dyräa bereitete inzwischen aus den Vor räten eine Mahlzeit und bewies ihre haus fraulichen Qualitäten. Später gesellte sie sich zu Yltic am Ruder. »Dein Vater machte einen verärgerten Eindruck«, sagte sie, und in ihrer Stimme war die Spur von Besorgnis. »Warum?« Er lächelte ihr beruhigend zu. »Wir sind nicht die Ursache des Ärgers, Dyräa. Aber du weißt, daß sich der Zeit punkt nähert, an dem das Sammlerschiff aus dem Weltraum wieder landet. Die drei Jahre sind bald vorbei, und wenn die Beauftragten des Neffen Duuhl Larx nicht zufrieden sind, droht uns ein Strafgericht. Ich glaube aber, mein Vater sorgt sich unnötig, denn die La gerhallen beim Landefeld sind gefüllt. Selbst wenn Duuhl Larx ein großes Schiff schickt, wird es die Last kaum fortschleppen kön nen.« »Warum kommen sie? Und woher kom-
Clark Darlton men sie, diese Schiffe?« »Das weiß niemand, Dyräa. Sie sind schon immer gekommen, alle drei Jahre. Aber wir wissen aus der Vergangenheit, daß wir ihnen gehorchen müssen, wenn wir nicht bestraft werden wollen. Niemand kennt die sen Neffen Duuhl Larx oder gar den über ihm stehenden Dunklen Oheim, und nie mand würde wagen, nach ihnen zu fragen. Sie scheinen das ganze Weltall zu beherr schen. Aber was wissen wir schon davon? Nichts, überhaupt nichts.« »Ich habe mich nie darum gekümmert«, gab Dyräa ein wenig beschämt zu. »Aber nun bin ich älter geworden und stelle Fra gen.« »Fragen, die ich dir nicht beantworten kann.« Er bewegte das Ruder und lenkte das Schiff mehr zur Strommitte hin, um einem Boot auszuweichen, das ihnen entgegenkam. Das Zeichen am Bug verriet, daß es sich um Fänger handelte, um Angehörige der zweit höchsten Kaste von Ferähne. Der Abendwind frischte auf, und noch be vor es zu dämmern begann, kamen die er sten Häuser von Mulgaxähn in Sicht. Hier am Ufer des Stromes lebten hauptsächlich Netzer, Fänger und Schwimmer, aber auch einige wohlhabende Esser, denen es noch nicht gelungen war, in eine der drei oberen Kasten aufgenommen zu werden. Gomähns Haus lag auf einem flachen Hü gel, von einem prächtigen Park umgeben, der bis zum Fluß reichte. Yltic lenkte das Boot in den kleinen Hafen, holte das Segel ein und wartete, bis Dyräa die Leinen am Steg befestigt hatte. Dann gingen sie über den Kiesweg hinauf zum Haus, von dem nur die Grundmauern aus Stein waren. Alles üb rige bestand aus dem widerstandsfähigen Holz der nahen Flußwälder. Gomähn saß auf der überdachten Terrasse und sah seinem Sohn und seiner Pflegetochter entgegen. Sei ne Miene wirkte aufgelockerter als sonst. Er winkte ihnen zu. »Gut, daß ihr da seid. Wir können zusam men essen. Wie war der Tag?« Die beiden setzten sich zu ihm.
Nomazar, der Sklave »Wunderschön«, sagte Dyräa, ehe Yltic antworten konnte. »Wir hoffen nur, daß er auch für dich schön war.« »Er war es, wenn man von den üblichen Sorgen absieht. Das Schiff des Neffen wird bald eintreffen, und ihr wißt ja, daß es nur auf den jeweiligen Kommandanten an kommt, ob unsere Abgaben zufriedenstellen oder nicht.« »Kommen die Fremden eigentlich schon lange zu uns?« fragte Yltic. »Solange wir zurückdenken können«, gab sein Vater Auskunft. »Sie kümmern sich nicht um unsere Angelegenheiten und lassen uns in Ruhe, wenn ihr Schiff gefüllt wird. Drei Jahre lang arbeiten unsere besten Hand werker und Künstler an der Sammlung, mit der wir für den Frieden bezahlen müssen. Als ich noch jung war, weigerte sich einer der Kontinente auf der anderen Seite unserer Welt, den Tribut zu zahlen. Es gleicht noch heute einer unbewohnten Wüste.« »Sie müssen schreckliche Waffen haben, Vater. Warum haben wir nur Speere, Pfeile, Messer und Äxte?« »Weil wir nicht mehr brauchen, mein Sohn. Den Vorsprung der Fremden können wir niemals aufholen, und selbst wenn es uns gelänge, würde die Strafe schrecklich sein. Nein, wir müssen uns fügen, so wie sich auch die Figuren unserem Willen fügen müssen.« Zwei weibliche Figuren trugen das Essen auf und verschwanden wieder. Ein männli cher Sklave brachte den Wein. Gomähn rief ihn zurück, als er gehen wollte, und stellte eine ungewöhnliche Fra ge: »Sag die Wahrheit, Figur Ähnox: gefällt dir dein Leben bei uns?« Der etwas klein geratene Ximmerrähne nickte hastig. »Ja, Herr, mein Leben gefällt mir. Du be handelst uns gut. Danke, Herr.« Als er gegangen war, meinte Gomähn: »Da seht ihr es, Yltic und Dyräa. Er ist zufrieden, weil er es nicht anders kennt. Er ist unser Sklave, so wie wir die Sklaven der
5 Fremden sind, die Neffe Duuhl Larx uns schickt. Und der wiederum ist ein Sklave des Dunklen Oheims, von dem niemand weiß, wer er ist.«
* Der Planet Ximmerrähne stand im RähneSystem und war die dritte von sieben Wel ten. Insgesamt bildeten dreihundertvier be wohnte Planeten das sogenannte Rghul-Re vier, über das Duuhl Larx herrschte. Die Ximmerrähner kannten den Neffen nur vom Hörensagen und niemand wußte, auf welchem der dreihundertvier Planeten er seinen sagenhaften Palast errichtet hatte, von dem aus er sein gewaltiges Reich kontrol lierte. In der Hauptstadt des Kontinents Ferähne und den zwanzig kleineren Satellitenstädten lebten drei Millionen Ximmerrähner, eine weitere Million verteilte sich landeinwärts auf weit verstreute Siedlungen. Ackerbau und Fischfang genügte für den einfachen Le bensunterhalt. Während meist die Frauen und die Figu ren die Felder bestellten, befanden sich die Männer auf dem Fischfang. Mit ihren schnellen und schnittigen Seglern fuhren sie weit hinaus auf das Xaga-Meer, um die großen Raubfische zu jagen, die wegen ihres wohlschmeckenden Fleisches eine begehrte Beute waren. Die besten Geschäfte machte der Sklaven händler Ondoscähn, der eine regelrechte Fangflotte aufgebaut hatte, die fast ständig unterwegs war. Die Eingeborenen des großen Kontinents im Westen waren primi tiv. Sie eigneten sich bestens als Figuren, und Ondoscähn hatte in der Auswahl seiner Opfer eine besonders glückliche Hand. An diesem Tag kehrte er von einer länge ren Fahrt zurück. Mit seinen drei Schiffen näherte er sich mit dem abflauenden Wind der Westküste von Ferähne. In den Laderäu men hockten die gefangenen Figuren und warteten ergeben auf die Erfüllung ihres Schicksals. Wenn sie Glück hatten, wurden
6 sie an einen guten Herrn verkauft. Die Be satzung bestand aus Schwimmern, Angehö rigen der Matrosenkaste, die immerhin noch eine Stufe über den Essern stand, der Kaste der Durchschnittsbürger. Vorbei an den ge fährlichen Klippen der vorgelagerten Inseln gelangten die drei Schiffe in den Hafen von Mulgaxähn, wo sie an der Pier vertäut wur den. Das Löschen der Ladung erfolgte unter reger Beteiligung der Bevölkerung, die da bei die Qualität der neuen Figuren lautstark kommentierte. Die Unglücklichen waren nicht gefesselt, da eine Flucht so gut wie ausgeschlossen war. Wohin auch hätte sich eine entflohene Figur wenden können? Mit lautem Gebrüll trieben die Schwim mer Ondoscähns ihre Beute durch die Stra ßen zum sogenannten Lagerhaus des Skla venhändlers, ein richtiges Gefängnis mit ei nem Schaupodest im Hof, auf dem die Figu ren an bestimmten Tagen versteigert wur den. Ondoscähn selbst kümmerte sich nicht mehr um diese letzte Phase seines Ge schäfts, er konnte sich auf seine Leute ver lassen. Der hinter ihm liegende Raubzug versprach einen hohen Profit. Wahrschein lich würde er sich in den nahen Bergen ein neues Haus errichten lassen, in dem er sich hin und wieder von den Anstrengungen des Alltags erholen konnte. Dabei besaß er am Ufer des Flusses, am Rand der Stadt, bereits ein palastähnliches Heim, übrigens nicht sehr weit entfernt von Gomähns Haus. Mit dem Netzer Gomähn verband ihn so etwas wie Freundschaft, die auf gegenseiti gen Gefälligkeiten beruhte. Die besten Figu ren bekam stets Gomähn zuerst angeboten. Und die Regierung drückte oft genug ein Auge zu, wenn Ondoscähn mal gegen die Gesetze verstieß. Er verzichtete auf die Benützung eines leichten Zweiradwagens und ging zu Fuß. Immer wieder mußte er die Grüße von Es sern und Fängern erwidern, die ihm begeg neten. Die Fänger waren ihm ausnahmslos bekannt. Er war früher selbst einmal Fänger
Clark Darlton gewesen. Er war froh, als er den Stadtrand erreichte und die gepflasterte Straße zu einem Geh weg wurde. Rechts und links standen nur noch vereinzelt Häuser. Er näherte sich dem Wohngebiet der Netzer. Schon von weitem sah er Gomähns Haus auf dem Hügel. Dicht davor stand das seine, ein wenig tiefer, ebenfalls von einem Park umgeben. Mit einem Ruck blieb er stehen und hielt die Hand über die Augen, um bes ser sehen zu können. Was machten die vie len Figuren in seinem Park? Seine ganze Dienerschaft schien sich dort ein Stelldich ein zu geben, statt ihren Pflichten nachzuge hen. Na, denen würde er es aber schon zeigen …! Er beschleunigte seine Schritte. Er haßte Faulheit, wenn andere ihr frönten. Noch bevor er das Tor zum Park errei chen konnte, kamen ihm zwei seiner Figuren entgegengelaufen. Sie winkten aufgeregt mit den Armen, als hätten sie ihm etwas Wichti ges mitzuteilen. Aha, dachte Ondoscähn grimmig, eine Ausrede hatten sie sich also auch schon ein fallen lassen. Es würde ihnen nicht viel nüt zen. Demonstrativ riß er die kurzgriffige Peit sche aus dem Gürtel seiner Fischhauthose und lockerte die dünnen Riemen. Er blieb stehen und erwartete die zwei Ximmerräh ner, die merklich langsamer wurden, als sie die Peitsche und das wütende Gesicht ihres Herrn erblickten. Der eine von ihnen nahm allen Mut zu sammen und rief, noch ehe er den Sklaven händler erreichte: »Netzer Ondoscähn, nicht schlagen! Et was sehr Merkwürdiges ist bei deinem Haus geschehen! Komm und sieh selbst, aber be strafe uns nicht für etwas, an dem wir un schuldig sind.« Ondoscähn ließ die Hand mit der Peitsche sinken. »Was tut ihr alle im Park? Habt ihr keine andere Beschäftigung?«
Nomazar, der Sklave »Das Seltsame ist im Park geschehen, o Herr! Der Fremde ist gerade dabei zu erwa chen. Er war plötzlich da.« »Ein Fremder? Erkläre mir das.« »Er lag im Park und schien zu schlafen. Wir fanden ihn mitten auf der Wiese unter dem großen Baum. Er sieht merkwürdig aus. Er ist nicht von unserer Welt.« Ondoscähn hatte schon oft genug Fremde gesehen, die nicht von Ximmerrähne stamm ten. Sie kamen mit den Schiffen des Neffen, aber sie flogen auch wieder mit ihnen fort. Niemals war jemand zurückgeblieben. Und das letzte Schiff war vor knapp drei Jahren gelandet. »Wie sieht er aus?« fragte der Händler und schob die Peitsche in seinen Gürtel zu rück. »Redet schon!« Die beiden Figuren hielten sich einen Schritt hinter ihm. »Er ist groß und stark, aber seine Haut ist heller als die unsere – und ohne Schuppen. Sie ist hellbraun und glatt. Er hat den Kopf voll schwarzer Haare. Sein Gesicht ist schmal, und seine Augen sind kleiner als un sere. Er spricht eine unbekannte Sprache, wir haben kein Wort verstanden. Wir sind alle in den Park gelaufen, damit er nicht flie hen kann.« »Schon gut«, knurrte Ondoscähn und be schleunigte seine Gangart. Er war neugierig geworden. Seine Figuren wichen zur Seite, als er sich dem Baum auf der Wiese näherte, und gaben den Blick auf die am Boden liegende Gestalt frei, die sich mühsam aufrichtete und dem Neuankömmling entgegenblickte. Er sah ge nauso aus, wie man ihn beschrieben hatte. Es war wirklich ein völlig Fremder. »Er lag plötzlich da, als wäre er vom Baum gefallen«, wagte eine der Gärtnerfigu ren zu erklären. »Ich war ganz in der Nähe und hätte sein Kommen bestimmt bemerkt.« Mit einer Handbewegung scheuchte On doscähn seine Bediensteten zur Seite und näherte sich dem Fremden. Seine Hand lag gewohnheitsgemäß auf dem Griff der Peit
7 sche. »Wer bist du und wo kommst du her?« herrschte er den Unbekannten an. »Was machst du in meinem Park?« Der so unerwartet aus dem Nichts aufge tauchte Fremde hob wie abwehrend die Hän de und stieß dabei unverständliche Laute aus. Nach mehreren vergeblichen Versuchen, eine einigermaßen vernünftige Verständi gung herbeizuführen, gab Ondoscähn es auf. Immerhin jedoch hörte sein geschäftstüchti ger Verstand nicht auf zu arbeiten. Dieser Fremde würde eine gute Figur abgeben, für die man einen hohen Preis erzielen konnte. Wer hatte schon einen Sklaven, der so aus sah wie dieser Fremde …? Er winkte zwei Männer zu sich. »Nehmt ihn mit und sperrt ihn in den Kel ler, aber behandelt ihn gut. Gebt ihm zu es sen und zu trinken. Einer muß ständig vor seiner Tür Wache halten. Ich mache euch dafür verantwortlich.« Fast gönnerhaft winkte er dem Fremden zu, der sich nicht widersetzte, als man ihn auf die Beine stellte. Seine Schwäche schien keine körperliche zu sein, denn er wirkte gut genährt und sah nicht so aus, als hätte er die Entbehrungen einer anstrengenden Flucht hinter sich. Es war jedoch offensichtlich, daß er einen Schock erlitten hatte. Mit hängendem Kopf ließ er sich ins Haus und in dessen Keller führen.
* Gomähn sah Yltic erstaunt an. »Was hast du gesagt? Ondoscähn möchte uns einen Besuch abstatten? Zu so später Stunde?« »Ich traf einen seiner Diener am Parktor und ersparte ihm den Weg hierher, indem ich seine Botschaft entgegennahm. Da ich weiß, daß du mit ihm befreundet bist, sagte ich zu. Er müßte eigentlich jeden Augen blick eintreffen.« Gomähn wirkte nicht gerade glücklich. »Wenn er um diese Zeit kommt, will er
8 wieder etwas von mir. Ist er nicht erst heute von einer längeren Fahrt heimgekehrt?« »Ja, mit drei Ladungen Figuren. Viel leicht will er dir welche verkaufen, Vater.« »Möglich, aber das hätte Zeit bis morgen gehabt. Ich habe einen anstrengenden Tag hinter mir.« Jemand klopfte an der Tür. Ein Diener meldete den Besucher an. Ondoscähn begrüßte Vater und Sohn sehr herzlich. Dankend nahm er den angebotenen Platz im Sessel an, lehnte sich bequem zu rück und faltete die Hände auf dem Bauch. »Du wirst dich sicher wundern, daß ich dich noch heute aufsuche, Gomähn, aber das hat seinen ganz besonderen Grund. Du sag test mir einmal, daß du Wert auf eine seltene Figur legen würdest, auf etwas Ausgefalle nes. Ich glaube, ich habe so etwas für dich.« »Vom anderen Kontinent?« erkundigte sich Gomähn, sichtlich uninteressiert an dem Geschäft. »Von denen habe ich bald mehr als genug.« Der Händler beugte sich vor. »Nein, keine Figur vom anderen Konti nent, mein Freund. Überhaupt keine Figur von unserer Welt. Es ist ein Fremder.« »Ein Fremder? Wie soll ich das verste hen?« Ausführlich berichtete Ondoscähn, was vor wenigen Stunden in seinem Park gesche hen war. Danach folgte die genaue Beschrei bung des Unbekannten, der vom Himmel gefallen zu sein schien. Gomähn hatte auf merksam zugehört. Nach einigem überlegen meinte er: »Sehr merkwürdig. Hast du eine, Erklä rung?« Der Händler schüttelte den Kopf. »Keine, die ich beweisen könnte. Die nächstliegende Vermutung ist, daß es sich um einen dieser fremden Raumfahrer handelt, die als Besat zung auf den Schiffen des Neffen Dienst tun. Es kann sich also um einen Deserteur handeln. Aber dann müßte er sich schon seit drei Jahren hier bei uns verborgen gehalten haben. Das erscheint mir fast unwahrschein lich. Es ist zu dumm, daß man sich nicht mit
Clark Darlton ihm verständigen kann.« »Vielleicht hielt er sich landeinwärts bei den Siedlern verborgen, aber dann hätte er Zeit genug gehabt, unsere Sprache zu erler nen. Hm, Ondoscähn, zumindest möchte ich ihn mir mal ansehen, bevor ich mich ent scheide. Wenn es sich um einen Deserteur handelt, könnte es Schwierigkeiten geben.« »Dasselbe Schiff ist noch nie ein zweites Mal hier gelandet«, erinnerte Ondoscähn. »Wenn diese Figur wirklich ein entflohenes Besatzungsmitglied ist, so wird sich kaum jemand darum kümmern.« Gomähn überwand seine Bedenken. »Also gut, ich werde mir den Fremden morgen ansehen. Wenn ich ihn nehme, mußt du mir aber einen Sonderpreis machen.« Ondoscähn erhob sich. »Den bekommst du doch immer«, sagte er und gab Vater und Sohn zum Abschied die Hand. »Ich erwarte dich morgen zur Mit tagszeit.« Als er gegangen war, sagte Yltic: »In meinem Alter steht mir noch kein per sönlicher Diener zu, Vater, aber du würdest mir eine große Freude bereiten, wenn du ei ne Ausnahme machen könntest. Ondoscähns Beschreibung des Fremden hat mich neugie rig gemacht. Darf ich morgen mit dir gehen, wenn du ihn begutachtest?« »Gut. Aber über das andere reden wir noch. Ich muß mir da eine Entscheidung vorbehalten, bis ich mich von der Ungefähr lichkeit dieser Figur überzeugt habe.«
* Der gefangene Fremde saß auf seiner pri mitiven Pritsche und starrte düster vor sich hin. Gierig hatte er das Essen herunterge schlungen, das ihm eins dieser kleinen, selt samen Wesen gebracht hatte. Sicher wäre es ihm leichtgefallen, seine Wächter zu überwältigen, aber vorerst schi en ein Fluchtversuch sinnlos zu sein. Zuerst mußte er herausfinden, wie er hierherkam und wo er sich befand. Er besaß nicht die Spur einer Erinnerung.
Nomazar, der Sklave Sein Gedächtnis hatte erst in dem Augen blick zu arbeiten begonnen, als er unter dem Baum lag und sich von den kleinen Einge borenen umringt sah, deren Sprache er nicht verstand. Sie hatten ihn nicht gerade feindselig be handelt, aber auch nicht besonders freund lich. Der kleine Kerl mit der Peitsche hatte Glück gehabt, daß er sie nicht benutzte. Da für jedoch war er nun eingesperrt worden, und zwar auf Befehl des Peitschenbesitzers, der eine einflußreiche Persönlichkeit sein mußte. Wer war er? Immer wieder stellte sich der Gefangene diese Frage, ohne eine Antwort zu finden. Es war, als sei er erst vor wenigen Stunden geboren worden, ohne Vergangen heit und ohne Erinnerung. Er seufzte und streckte sich dann auf dem harten Lager aus, um zu schlafen. Er schloß die Augen, aber der Schlaf kam erst nach Stunden. Am anderen Morgen erwachte er mit steifen Gliedern. Man brachte ihm sein Essen und einen Krug mit Flüssigkeit. Sei ner Schätzung nach mußte es schon wieder Mittag sein, als sich die Tür abermals öffne te und zwei der kleinen Fremden eintraten, von denen er den mit der Peitsche sofort wiedererkannte. Der andere war im Gegensatz zu den Wächtern vornehm gekleidet. Die beiden unterhielten sich, und ganz offensichtlich war der Gefangene der Gesprächsstoff. Die ser konnte zu seinem Bedauern kein Wort verstehen. »Das also ist er, Gomähn. Nun, habe ich dir zuviel versprochen?« »Wirklich bemerkenswert«, gab der ande re Netzer zu und ließ den Gefangenen nicht aus den Augen, der sich auf seiner Pritsche aufrichtete. »Allerdings bestand die Besat zung des Schiffes, das vor drei Jahren unsere Abgaben holte, aus ganz anders aussehenden Wesen. So einen Typ wie diesen hier sah ich noch nie.« »Das würde seinen Preis in die Höhe trei ben, wenn wir nicht befreundet wären. Willst du ihn nun haben oder nicht?«
9 »Mein Sohn bekundete Interesse, aber ich habe ihn trotz seines Wunsches nicht mitge nommen, weil ich ihn überraschen möchte. Ich glaube, ich nehme ihn. Wieviel?« Ondoscähn nannte einen annehmbaren Preis, und Gomähn willigte sofort ein. Durch Zeichensprache versuchte er dem Ge fangenen klarzumachen, daß er nun ihm ge hörte und ihm zu gehorchen habe. Vor sichtshalber ließ er fünf seiner Figuren kom men, die den neuen Sklaven in ihre Mitte nahmen und ihn zu seiner neuen Wirkungs stätte begleiteten. Er leistete keinen Widerstand. Im Gegen teil, er schien mit dem Wechsel seiner Un terkunft äußerst zufrieden zu sein. Yltic war von dem Geschenk, das sein Vater ihm machte, mehr als entzückt. Da er keinen Sklaven, sondern mehr einen Freund haben wollte, drückte er diesen Wunsch dem Fremden gegenüber so deutlich aus, daß kein Mißverständnis entstehen konnte. Statt im Keller schlafen zu müssen, erhielt er ein freundliches Zimmer im oberen Stockwerk, gleich neben den Räumen seines jungen Herrn. Diese offensichtliche Bevorzugung des Neuzugangs paßte den altgedienten Figuren Gomähns absolut nicht. Bisher war es üblich gewesen, daß neue Sklaven eine gewisse Probezeit zu bestehen hatten, ehe sie über haupt ins Haupthaus gelassen wurden. Sie brachten ihre Abneigung dem Fremden ge genüber so deutlich zum Ausdruck, daß be reits am zweiten Tag die ersten Schwierig keiten auftraten. Yltic hatte ihn mit in den Park genom men, um ihm die nähere Umgebung des Hauses zu zeigen. Gomähn hatte darauf be standen, daß die Hände der neuen Figur ge fesselt wurden. »Nur eine Vorsichtsmaßnahme«, rechtfer tigte er seinem Sohn gegenüber diese Ent scheidung. »Sicher, er gibt sich friedlich, aber das kann ein Täuschungsmanöver sein. Versuche ihm klarzumachen, daß ihm die Fesseln abgenommen werden, sobald wir von seinem gutmütigen Charakter überzeugt
10 sind. In der Liste habe ich ihn übrigens mit dem Namen Gärax eingetragen.« Yltic selbst legte seiner Figur die Stricke um die Handgelenke und versuchte ihr ver ständlich zu machen, daß es sich keineswegs um einen Dauerzustand handeln sollte. Gärax lächelte in einer seltsamen Art und Weise, als er sich die Hände binden ließ. Sie gingen hinab zum Fluß. Stolz deutete Yltic auf sein kleines Schiff, das ruhig im Hafenbecken lag. »In einiger Zeit werde ich dich mit auf die Jagd nehmen, Gärax«, sagte er und machte mit der rechten Hand die Bewegung des Speerwerfens. »Meine Freundin Dyräa ist in dieser Hinsicht nicht der richtige Begleiter für mich.« Gärax antwortete in seiner unbekannten Sprache, aber es war nicht sicher, ob er Yltic verstanden hatte. Immerhin begriff er, daß er nun Gärax hieß, und sein junger Herr Yltic. Das war ein vielversprechender Anfang. Über eine Stunde lang saßen sie dann auf dem Bootssteg. Der Fremde erwies sich als sehr lernbegierig und stellte sich außeror dentlich geschickt an. Auch wenn er keine Erinnerung an seine eigene Vergangenheit besaß, so mußte er über ein ausgezeichnetes Gedächtnis verfügen, denn er behielt alle ximmerrähnischen Ausdrücke, die Yltic ihm beibrachte. Eine erste zaghafte Unterhaltung wurde dadurch möglich. Befriedigt von der ersten Unterrichtsstun de kehrten sie zum Haus zurück. Eine Grup pe von Gärtnerfiguren verstellte ihnen den Weg. Yltic wußte, daß sie ihn seiner Jugend wegen nicht für voll nahmen, auch wenn er der Sohn ihres Herrn war. Offenen Wider stand hätten sie ihm gegenüber niemals ge wagt, wohl aber mürrischen Protest. »Der Neue ist gefährlich, junger Herr, Ihr begebt Euch in Gefahr.« »Unsinn! Ihr seht doch, daß er gefesselt ist. Was kümmert ihr euch um Dinge, die euch nichts angehen?« »Wir sind für Eure Sicherheit verantwort lich.« »Ihr seid für den Park verantwortlich!«
Clark Darlton berichtigte Yltic. Es waren fünf Figuren, die sich nun Gärax näherten und dabei versuchten, Yltic unauf fällig abzudrängen. Ihre Gartengeräte hielten sie wie Waffen. »Was wollt ihr von Gärax?« fragte Yltic irritiert. »Geht aus dem Weg!« »Warum wird der Neue besser behandelt als wir? Uns hielt man wochenlang im Gar tenhaus gefangen, er aber wohnt bereits im Haupthaus. Das ist ungewöhnlich und unge recht.« »Meine Entscheidungen gehen euch nichts an.« Gärax verhielt sich absolut neutral und zurückhaltend. Obwohl er von dem Ge spräch kaum etwas verstand, so wußte er Gesten und Mienen doch zu deuten. Erst als die fünf Figuren Yltic immer mehr zurück zudrängen versuchten und ihn dabei syste matisch einkreisten, griff er ein. Da er seine Hände nicht frei hatte, trat er dem nächsten Gärtner, der seine Hacke schon zum Schlag erhoben hatte, so kräftig vor den Bauch, daß der Getroffene einige Meter weit durch die Luft geschleudert wur de und ziemlich unsanft im Gebüsch lande te. Dort blieb er liegen. Die anderen wichen erschrocken zurück, aber Gärax gab sich mit dem ersten Erfolg nicht zufrieden. Mit wildem Gebrüll stürzte er sich auf die restlichen vier Figuren, die sich jedoch zur Flucht wandten, ehe er sie erreichen konnte. Gärax verzichtete auf eine Verfolgung. Gehorsam kehrte er zu Yltic zurück, der dem Geschehen tatenlos zugesehen hatte. Durch Gesten gab er ihm zu verstehen, daß er ihn habe nur beschützen wollen. Aber Yltic erlebte noch eine weitere Überraschung. Als er mit Gärax wieder im Haupthaus war und ihm die Fesseln abnehmen wollte, lächelte der geheimnisvolle Fremde und zog die Hände aus den verknoteten Stricken. Das war für den jungen Gomähn der end gültige Beweis, daß er seinem Sklaven freund vertrauen konnte.
Nomazar, der Sklave
11
* Sein Vater und Dyräa waren anderer Mei nung. »Ich finde, du solltest ihn anders behan deln«, meinte Gomähn einige Tage später, als sie abends auf der Terrasse saßen und die milde Luft genossen. »Ich lege Wert darauf, daß unsere Figuren zufrieden sind und gut arbeiten. Ondoscähn benutzt die Peitsche, um mit ihnen zurechtzukommen, eine Me thode, von der ich nichts halte. Aber zuviel Vertraulichkeit ihnen gegenüber wäre ge nauso falsch.« »Ich betrachte ihn nicht als meinen Skla ven«, versuchte Yltic sich zu rechtfertigen. »Das ist es ja eben! Du erregst den Neid meiner Figuren. Sie werden uns noch davon laufen.« »Das glaube ich nicht«, warf Dyräa ein. »Es geht ihnen bei uns besser als bei ande ren Netzern. Aber sie werden Gärax bei der nächstbesten Gelegenheit auflauern.« »Das wird ihnen nicht viel nützen«, rief Yltic überzeugt und berichtete erst jetzt sei nem Vater von dem Vorfall am ersten Tag. Gomähn zeigte sich ehrlich überrascht. »Er hatte die ganze Zeit über seine Hände frei? Und er nutzte die Gelegenheit nicht aus? Das ist verwunderlich. Aber es beweist auch seine Gefährlichkeit.« »Ich vertraue ihm, Vater.« Dyräa verzog das Gesicht. »Seit dieser Gärax im Haus ist, hast du kaum noch Zeit für mich, Yltic. Unser letz ter Ausflug mit dem Schiff liegt schon lange zurück.« »Erst einige Tage«, erinnerte sie Yltic. »Aber keine Sorge, ich hatte für morgen ei ne Fahrt geplant. Wir nehmen Gärax mit.« »Nicht wir zwei allein?« Sie war sichtlich enttäuscht. »Was soll denn Gärax dabei?« »Er soll sich daran gewöhnen, mich auf der Jagd im Meer zu begleiten. Er ist stark und kräftig und kann mir sehr von Nutzen sein. Das Tauchen werde ich ihm schon bei bringen.«
Gomähn schüttelte voller Bedenken den Kopf. »Du gehst zu weit, Yltic. Noch nie hat ei ne Figur seinen Herrn auf der Jagd begleitet. Könnte ein Sklave eine bessere Gelegenheit zur Flucht finden? Nein, ich werde das nicht zulassen.« »Aber morgen darf ich ihn doch mitneh men, Vater? Dyräa kommt ja auch mit.« Nach einigem Zögern stimmte Gomähn endlich zu. »Aber nur dieses eine Mal«, schränkte er ein.
* »Kannst du ein Boot steuern?« fragte Yl tic, als er das Segel setzte und das Schiff aus dem Hafen hinaus auf den Strom lenkte. Gärax schob seinen Herrn wortlos vom Ruder fort und übernahm es. Schon nach wenigen Manövern füllte der Wind das Se gel und gab dem Boot Fahrt gegen die nicht sehr starke Strömung. Geschickt wich der Fremde anderen Fahrzeugen aus und bewies damit, daß er nicht zum erstenmal ein Segel schiff steuerte. Yltic ging nach vorn und setzte sich zu Dyräa auf das Vorderdeck. Das Wasser rauschte am Bug vorbei. Sie machten gute Fahrt. »Na, ist es nicht viel schöner so, Dyräa? Ich werde viel mehr Zeit haben, mich dir zu widmen, wenn wir ihn dabei haben.« »Irgendwie ist er mir unheimlich, Yltic. Ganz sicher plant er etwas, von dem wir nichts ahnen. Vielleicht will er fliehen.« »Wohin denn?« »Er hat sich drei Jahre lang versteckt ge halten, wenn Vater recht hat. Er gibt es nur nicht zu und behauptet, die Erinnerung ver loren zu haben. Auch erlernt er zu schnell unsere Sprache. Ich glaube, er verstellt sich nur.« »Nein, bestimmt nicht. Er ist nur sehr in telligent.« Sie schwieg und sah hinter den zurück bleibenden Wellen her.
12 Gärax kümmerte sich nicht um die bei den. Seine ganze Aufmerksamkeit schien nur dem Ruder zu gelten. Seit Tagen schon grübelte er vergeblich darüber nach, was früher gewesen war. Eine innere Stimme sagte ihm, daß diese Welt fremd für ihn war. Aber wie war er hierher gekommen? Wer war er? Gärax nannten sie ihn, aber er wußte, daß dies nicht sein richtiger Name war. Hatte er überhaupt einen? »Da kommt die Insel, du mußt rechts an ihr vorbei!« rief ihm Yltic vom Bug aus zu. »Die Strömung wird etwas stärker, aber wir haben Wind genug.« Gärax nickte ihm beruhigend zu und nä herte sich mehr dem rechten Ufer. Links lag die bewaldete Insel mit sandigen Buchten. Sie war ein beliebtes Ausflugsziel für die Bewohner der Stadt. Die Buchten boten da her nicht die Einsamkeit, die Yltic mit Dyräa suchte. Schnell blieb die Insel zurück. In der Fer ne waren schon die Spitzen der Berge zu se hen. Rechts und links begannen die Wälder, nur von Lichtungen und vereinzelten Sied lungen unterbrochen. Der Wind flaute gegen Mittag ab. »Es hat wenig Sinn, weiter zu fahren«, stellte Dyräa fest. »Ja, du hast recht. Der Wind dreht bald wieder. Heute müssen wir auf den Bergsee verzichten. Was hältst du davon, wenn wir einfach hier eine Bucht anlaufen und dort bleiben?« »Da drüben die Bucht!« schlug Dyräa vor und deutete zum rechten Ufer. »Sie hat so gar einen Sandstrand. Das Wasser ist klar, du könntest tauchen.« Gärax verstand sofort und legte das Ruder nach links. Yltic holte das Segel ein und warf den Anker. Das Wasser war verhältnis mäßig flach und ohne Klippen. Das Boot lief aus und drehte sich dann in den fast einge schlafenen Wind. Während Dyräa in der kleinen Kabine das Essen zubereitete, entle digte sich Yltic seiner Kleidung. Er nickte Gärax zu.
Clark Darlton »Nun, was ist mit dir? Kommst du mit mir schwimmen?« Gärax erriet, was Yltic von ihm wollte. Er zog seine Lederjacke aus, behielt die Hose aber an. Als der junge Ximmerrähner über Bord sprang, folgte er ihm, ohne zu zögern. Seine Füße berührten den sandigen Grund. Er stieß sich ab und kam wieder an die Oberfläche. Mit kräftigen Zügen schwamm er dem Ufer entgegen und stieg an Land. Vergebens suchte er Yltic, der für seine Be griffe unheimlich lange unter Wasser blieb. Schon wollte er sich auf die Suche nach ihm machen, als er wieder auftauchte und Sekun den später neben ihm im warmen Sand lag. »Kannst du lange tauchen, Gärax?« »Nicht so lange wie du, Yltic. Aber ich werde es sicher noch lernen, wenn du mir dabei hilfst.« Sie blickten hinüber zum Boot. »Sie wird deine Frau werden, nicht wahr?« »Dyräa? Ja, ich denke schon. In zwei oder drei Jahren.« »Vielleicht bin ich dann noch bei euch.« Yltic warf ihm einen erstaunten Blick zu. »Vielleicht, meinst du? Du wirst ganz be stimmt noch bei uns sein, denn ich würde dich niemals verkaufen. Du bist doch gern bei uns, oder nicht?« Gärax nickte, sagte aber nichts. Er hielt den Kopf etwas schief, als lausche er. Aber außer dem Rauschen und Gluckern des vor beiströmenden Wassers war nichts zu hören. Der Sandstrand war nur wenige Meter breit, dahinter begann der Wald. Kein Pfad führte in ihn hinein, und das Unterholz war dicht. »Habt ihr keinen Hunger?« rief Dyräa vom Boot her. »Wir kommen!« rief Yltic zurück und stand auf. »Du auch, Gärax!« Als sie zum Schiff hinüberschwammen, meinte Gärax: »Im Wald ist jemand, der uns beobach tet.« Yltic kletterte an Bord und reichte Gärax die Hand, um ihm zu helfen. »Jemand soll uns beobachten? Im Wald
Nomazar, der Sklave wohnt niemand, wenigstens nicht in dieser Gegend. Die Farmen liegen weiter im Hin terland. Du hast dich sicher getäuscht.« »Ich hörte das Knacken von Zweigen. Vielleicht ein Tier.« »Nun regt euch bloß nicht auf, weil viel leicht ein kleiner Kriechhüpfer zur Tränke wollte«, sagte Dyräa und klapperte mit den Holztellern. »Ich wünsche guten Appetit.« Während des Essens blickte Gärax immer wieder hinüber zum nahen Ufer, aber er schien nichts Verdächtiges zu bemerken. Später blieb Gärax an Bord des Schiffes zurück, während Yltic und seine Freundin sich im Wasser der Bucht tummelten und neue Tauchrekorde aufstellten. Dabei näher ten sie sich immer mehr dem Ufer und lagen dann in der immer noch warmen Nachmit tagssonne. Sie schmiegte sich enger an ihn. »Du hattest recht, Yltic. Wenn er dabei ist, haben wir mehr Zeit für uns. Wollen wir ein wenig spazierengehen?« »In den Wald?« »Warum nicht? Oder hast du Angst?« »Vor wem denn? Hier ist niemand, und schon gar keine entlaufenen Figuren. Die sind weiter westlich, näher zum Meer, wo sie Fische fangen können. Hier finden sie nichts zum Essen.« »Dann komm!« Sie sprang auf und zog ihn mit sich. »Aber du mußt vorgehen. Nicht weil ich Angst habe, aber das Unterholz ist so dicht.« Er lachte und schob die Zweige beiseite. »Na, hier ist ja ein richtiger Pfad. Mal se hen, wohin er führt.« Sie folgte ihm zögernd und schien ihren eigenen Entschluß zu bereuen, aber dann siegte die Neugier und der Wunsch, unge stört mit ihrem Freund allein zu sein. Das Laubdach ließ kaum Sonnenstrahlen hindurch. Es war dämmerig, das Unterholz nahm jede Sicht. Aber der Pfad war vorhan den, und es sah ganz so aus, als würde er re gelmäßig benutzt. Fußspuren waren keine zu erkennen, es handelte sich also aller Wahr scheinlichkeit nach um einen Wildwechsel.
13 Der Gedanke beruhigte Dyräa ein wenig. Vor Tieren fürchtete sie sich nicht, denn sie waren ungefährlich, wenigstens die Tiere des Landes. Aber entflohene Figuren konn ten sehr gefährlich werden. Sie raubten Far men und einsame Wanderer aus, und wenn sie besonders rachsüchtig waren, brachten sie ihre Opfer auch noch um. Yltic blieb plötzlich stehen. Er machte Dyräa ein Zeichen, sich ruhig zu verhalten, dann flüsterte er: »Ich fürchte, Gärax hatte recht. Jemand beobachtet uns schon die ganze Zeit und folgt uns. Aber es ist kein Tier. Es wird bes ser sein, wir kehren um.« Sie drängte sich an ihn. »Es tut mir leid, daß ich den Vorschlag machte …« Weiter kam sie nicht. Rechts und links wurden die Zweige und Äste des Unterhol zes beiseite geschoben, und mit einem infer nalischen Gebrüll stürzten sich ein gutes Dutzend Ximmerrähner auf die Überrasch ten. In den Händen hielten sie Holzkeulen und Messer, so daß Yltic sofort auf jede Ge genwehr verzichtete, um das Leben seiner Freundin nicht zu gefährden. Mit einem Blick hatte er erkannt, daß sie in eine Falle entlaufener Figuren geraten waren. Er war ebenso nackt wie Dyräa, auf Ferähne keine Besonderheit. Er trug nichts Wertvolles bei sich. Demnach zu schließen, waren die Räuber auf ein Lösegeld aus. Oder sie wollten das Boot haben! Der Gedanke belustigte Yltic nur für den Bruchteil einer Sekunde. Wie sollte Gärax ihnen helfen, wenn er keine Ahnung von den Verhältnissen hatte? Was würde er unter nehmen, wenn es dunkel wurde und nie mand zum Boot zurückkehrte? Die in ihrer selbstgewählten Verbannung lebenden Figuren fesselten ihre beiden Ge fangenen mit Stricken und versetzten ihnen ein paar Stockhiebe, um sie anzutreiben. Der Marsch führte weiter landeinwärts, und schon nach einigen hundert Metern öffnete sich eine kleine Lichtung, an deren Rand drei halb verfallene Hütten standen. »Da wären wir«, sagte einer der Räuber
14 zu Yltic. »Keine Sorge, vorerst droht euch keine Gefahr. Ihr habt ein schönes Boot, al so seid ihr auch reich. Wer bist du? Wer ist dein Vater?« Also doch Erpressung und Lösegeld! »Mein Vater ist der Netzer Gomähn, Mit glied der Regierung. Was wollt ihr von uns?« »Dumme Frage! Dein Boot natürlich, und zwar gefüllt mit Lebensmitteln. Du hast doch noch jemand bei dir, er ist auf dem Boot.« »Und?« »Wir werden ihn zum Haus deines Vaters schicken, um unsere Forderung zu überbrin gen. Solange bleibt ihr bei uns. Euch wird nichts geschehen, und später werden wir euch freilassen.« Yltic glaubte kein Wort. Niemals würden die Figuren den Sohn eines Netzers freilas sen, der ihr Versteck kannte. Trotzdem nick te er. »Also gut, ich bin einverstanden.« »Du bist klug, Netzer. Morgen oder über morgen kannst du schon wieder frei sein.« Yltic hatte plötzlich eine böse Ahnung. »Ich kann frei sein? Wie meinst du das? Was ist mit Dyräa, meiner Freundin?« Der entflohene Sklave lächelte hinterhäl tig. »Die behalten wir hier, bis wir sicher sein können, daß uns niemand sucht. Nur ein paar Tage nach Eintreffen der Lieferung, nicht länger.« In Yltic versteifte sich alles. »Du hast keine andere Wahl. Oder willst du, daß wir euch beide umbringen?« »Dann bekommt ihr überhaupt nichts.« »Rache ist auch etwas! Jeder Netzer, den wir tot vor uns sehen, ist mehr wert als zehn große Fische. Und ihr seid zwei.« Yltic versuchte, seine Ratlosigkeit zu ver drängen. »Also gut, einverstanden. Wie sollen wir es arrangieren?« »Wir müssen uns absichern, aber dein Mann auf dem Boot wird nur das tun, was du ihm befiehlst. Du wirst uns also zur
Clark Darlton Bucht begleiten und ihm sagen, was er zu tun hat, um euer Leben zu retten. Deine Freundin bleibt hier, also wirst du kaum auf dumme Gedanken kommen.« Sosehr Yltic auch überlegte, er fand kei nen Ausweg. »Gut«, sagte er schließlich. »Gehen wir und bringen wir es hinter uns. Das Schiff kann schon morgen mit der gewünschten Lieferung zurück sein.« »So gefällst du uns schon besser«, erwi derte der Räuber und gab einigen seiner her umstehenden Genossen einen Wink. »Bindet sie an die Bäume. Bald gehen wir mit dem Netzersohn zum Fluß.« Die beiden Bäume standen so dicht zu sammen, daß Yltic und Dyräa sich leise un terhalten konnten. Die Wachen nahmen ihre Aufgabe nicht allzu ernst, und dazu hatten sie auch allen Grund. Die Fesseln waren der art stramm gezogen, daß sie ins Fleisch schnitten. Die Gefangenen konnten sich kaum bewegen. »Mach dir keine Sorgen, Dyräa«, flüsterte Yltic. »Vater wird schon etwas unterneh men. Er wird die Lebensmittel schicken, um die Figuren hier in Sicherheit zu wiegen, aber durch Gärax kennt er auch ungefähr den Ort, an dem wir gefangengehalten wer den.« »Glaubst du, daß sie uns töten werden?« »Nein, natürlich nicht«, log Yltic. »In dem Fall müßten sie mit der schlimmsten Strafe rechnen, und das wagen sie nicht.« »Hoffentlich behältst du recht …« »Ganz bestimmt«, versicherte er.
2. Gärax lag ausgestreckt auf dem Vorder deck und ließ sich von der Sonne beschei nen. Sehr glücklich war er nicht über die Tatsache, daß die beiden jungen Ximmer rähner im Wald verschwunden waren. Nie mand würde ihm verzeihen, wenn ihnen et was zustieß. Er döste vor sich hin, und wie immer in seinen Mußestunden versuchte er, sich an
Nomazar, der Sklave seine Vergangenheit zu erinnern. Schemen haft wie Schatten huschten Bruchstücke un zusammenhängender Geschehnisse vor sei nem geistigen Auge vorbei, ohne einen Sinn zu ergeben. »Arzamon …«, murmelte er vor sich hin. »Oder war es Nomazar? Ein Name vielleicht … gar mein Name? Aber wo? Und wann?« Die drei Silben übten eine seltsame Wir kung auf ihn aus, ohne daß er die Ursache dafür hätte erkennen können. Sie weckten Erinnerungen, die jedoch nicht aus dem Un terbewußtsein emporstiegen. Gärax schloß die Augen und versuchte sich zu konzentrieren. Die drei Silben schie nen das einzige zu sein, das er aus seinem früheren Leben mit in die Gegenwart ge bracht hatte. Reinkarnation …? Er wußte nicht, woher er den Begriff kannte, obwohl ihm seine Bedeutung klar war. Loslösung des unsterblichen Bewußt seins vom Körper, Verlust jeder Erinnerung und Übernahme eines neuen Körpers. So wenigstens lautete die Theorie. Woher wußte er das? Er war praktisch erst vor einer Woche neugeboren worden, und niemand hatte bisher mit ihm darüber gesprochen. Es waren zu viele Fragen, mit denen er sich herumquälte, ohne auch nur eine einzi ge Antwort zu finden. Immerhin waren da schon die drei geheimnisvollen Silben, mit denen er allerdings nichts anfangen konnte. Nomazar …? »Gärax!« Das war der Name, den man ihm gegeben hatte! Er schreckte aus seinem Halbschlaf hoch und sah hinüber zum Ufer, das kaum fünfzig Meter entfernt war. Dort stand Yltic, an den Händen gefesselt und mit Stricken gehalten. Um ihn herum gruppierten sich ein halbes Dutzend Ximmerrähner. Gärax stand auf und ging zur Reling. Fie berhaft überlegte er, was das alles zu bedeu ten hatte und wie er helfen konnte. »Was ist, Yltic?« rief er, um Zeit zu ge winnen.
15 »Fahr mit dem Schiff zurück zum Haus meines Vaters. Er soll es mit Lebensmittel volladen. Morgen kommst du hierher zu rück, aber allein! Es darf niemand bei dir sein.« »Warum? Was hat das zu bedeuten?« »Stell keine Fragen, Gärax, tu nur, was ich dir sage, oder du gefährdest das Leben von Dyräa und das meine. Wir sind in der Gewalt entflohener Figuren und …« Die beiden Ximmerrähner, die ihren Ge fangenen an Stricken festhielten, rissen ihn brutal zurück und zerrten ihn in das Dickicht. Die übrigen schüttelten drohend die Fäuste in Richtung des Bootes und ver schwanden ebenfalls. Eine Weile konnte Gärax noch das Brechen der Zweige hören, dann wurde es still. Er stand noch immer an der Reling und starrte hinüber zu dem nun leeren Sand strand. Yltic hatte sich seiner angenommen und ihm das Schicksal der echten Sklaverei er spart. Er war ihm zu Dank verpflichtet. Aber er dachte nicht daran, den Befehl auszufüh ren und mit dem Schiff nach Gomähns Haus zurückzukehren. Er konnte sich ausmalen, wie man ihn dort empfangen würde. Langsam und bedächtig setzte er das Se gel und holte den Anker aus dem Wasser. Das Boot glitt aus der Bucht hinein in die Strömung und entfernte sich dann schnell von der Bucht. Gärax blieb in Ufernähe und suchte nach einem neuen Ankerplatz, der zugleich ein gutes Versteck war. Seiner Schätzung nach legte er etwa zwei Kilome ter zurück, als er eine geeignete Stelle ent deckte. Es war die Mündung eines kleinen Nebenlaufs, an dessen Ufern die Bäume so dicht standen, daß ihre Wipfel ein grünes Dach bildeten. Gärax lenkte das Boot hinein. Gute zwanzig Meter von der eigentlichen Mündung entfernt wurde das Wasser schon so seicht, daß der Kiel auf Grund geriet. Er befestigte das Boot mit Tauen an den näch sten Bäumen und sah sich um. Die Ufer wirkten sumpfig, aber der Boden würde ihn schon tragen. Außerdem gab es genügend
16 umgestürzte Bäume, über die er sich fortbe wegen konnte. Wenn er sich stromaufwärts und dicht am Ufer hielt, mußte er früher oder später die Sandbucht erreichen. Dort würden ihm die Spuren weiterhelfen. Er ging in die winzige Kajüte und prüfte die Speisemesser, aber die schieden als wirksame Waffen aus. In einem der Wand fächer hingegen fand er Yltics Jagdmesser, das über zwei scharfe Schneiden verfügte. Er schob es in den Gürtel und wußte plötz lich, daß er sehr gut mit einem Messer um zugehen verstand. Dann stand er wieder an Deck. Er reckte sich empor und ergriff einen der herabhän genden Äste, der ihm stark genug erschien. Vorsichtig zog er sich daran hoch und stieß sich dann mit den Füßen von der Reling ab. Ziemlich unsanft landete er auf dem schlam migen Ufergrund, sank aber nur bis zu den Knöcheln ein. Der Ast schnellte in seine ur sprüngliche Lage zurück, als er ihn losließ. Es war nicht so schlimm, wie es zuerst ausgesehen hatte. Je weiter er sich vom Ufer des Nebenflusses entfernte, desto trockener wurde der Boden. Er benötigte fast eine Stunde für die zwei Kilometer bis zur Sandbucht, und es war ge rade noch hell genug, die Spuren zu finden, die durch das Dickicht bis zum Beginn des Pfades führten. Gärax folgte dem Pfad, der nicht zu ver fehlen war, und es wurde schnell dunkel. Immer wieder blieb er stehen und lauschte in die beginnende Nacht hinaus, aber nichts verriet die Nähe von Ximmerrähnern. Ent weder war ihr Lager sehr weit entfernt, oder sie verhielten sich besonders ruhig. Der Besitz des Messers verlieh ihm Si cherheit und Zuversicht. Seine rechte Hand lag am Griff der Waffe, mit der linken schob er die Zweige beiseite, die ihn beim Gehen behinderten. Sehen konnte er nun nicht mehr viel. Dafür hörte er plötzlich etwas. Es waren Stimmen. Ximmerrähner, die sich unterhielten. Gärax kletterte auf die un teren Äste eines großen Baumes und spähte
Clark Darlton in Richtung der Stimmen, und da sah er auch schon den Schein des Lagerfeuers durch das Laub schimmern. Es war nicht sehr weit entfernt, höchstens zweihundert Meter. Nun drang er vorsichtiger als bisher wei ter vor, bis er den Rand der Lichtung er reichte. Von Wächtern war keine Spur zu entdecken, auch die beiden Gefangenen schienen nicht bewacht zu sein. Sie standen dicht beieinander an zwei Bäume gefesselt und konnten sich kaum rühren. Es schien Gärax nicht besonders schwie rig zu sein, an sie heranzukommen, ohne be merkt zu werden. Aber an dem Lagerfeuer vor den Hütten saßen mindestens zwei Dut zend Ximmerrähner, von denen mindestens immer einer einen gelegentlichen Blick in Richtung der Gefangenen warf. Soweit Gärax feststellen konnte, bestand ihre Bewaffnung aus Keulen und Messern. Wurfspeere und Äxte lagen ein wenig ab seits des Feuers herum. Gärax zog sich wieder etwas in den Wald zurück und schlich sich von hinten an die beiden Bäume mit den Gefangenen heran. Als er nahe genug war, flüsterte er: »Ich bin es, Gärax! Seid ganz still und verratet euch nicht. Ich werde eure Fesseln durchschneiden, aber bleibt stehen. Sobald ich die Räuber angreife, bringt euch in Si cherheit. Das Boot liegt zwei Kilometer flußabwärts in einem Nebenarm.« Dyräa war zusammengezuckt, verhielt sich aber dann ruhig. So leise, daß Gärax ihn kaum verstehen konnte, flüsterte Yltic zu rück: »Sie werden dich töten! Du bist unbe waffnet!« »Keine Sorge, ich werde schon mit ihnen fertig. Überraschung ist die beste Waffe. Außerdem habe ich ein Messer – dein Mes ser, Yltic!« Ohne sich auf eine weitere Unterhaltung einzulassen, zerschnitt Gärax die Stricke, mit denen die beiden Gefangenen an die Bäume gefesselt worden waren. Als er si cher war, daß sie sich nun leicht selbst be
Nomazar, der Sklave freien konnte, zog er sich wieder ins Unter holz zurück. Sein Überfall mußte so schnell erfolgen, daß den Räubern und Erpressern keine Zeit mehr blieb, Speere und Äxte zu erreichen. Mit ihren Keulen und Messern würde er schon fertig werden. Jetzt war das Lagerfeuer nur noch wenige Meter entfernt. Er lag noch immer dicht an den Boden gepreßt im Dickicht. Auf der an deren Seite der Lichtung standen die beiden Gefangenen an ihren Bäumen. Einige der Stricke waren zu Boden geglitten, aber das war noch niemand aufgefallen. Gärax zog die Beine zum Sprung an, und dann stürzte er sich mit einem wilden Kampfschrei auf die völlig überraschten Ximmerrähner. Was er mit dem Messer nicht schaffte, tat er mit der Faust. Wie ein Hammer ließ er sie auf die Köpfe der Räuber herabsausen, und wer so getroffen wurde, stand so schnell nicht wieder auf. Anstatt zu fliehen und seine Freundin in Sicherheit zu bringen, wie es ihm geraten worden war, beteiligte sich nun auch Yltic am Kampf. Er rannte zu den Speeren und Äxten, die er blitzschnell vom Boden raffte und mit erstaunlicher Zielsicherheit gegen die entflohenen Sklaven schleuderte, die nun entsetzt die Flucht ergriffen. Gärax wütete wie ein Berserker unter den Räubern. Den letzten folgte er bis in den Wald hinein, und er kehrte erst zurück, als er keinen Gegner mehr fand. Dyräa hatte inzwischen die letzten Stricke abgestreift und eilte zu Yltic, der sich gerade einen Verband anlegte. Ein geworfenes Messer hatte sich in seinen linken Arm ge bohrt. Es war nur ein harmlose Fleischwun de. Gärax sagte: »Einige müssen entkommen sein. Es wird besser sein, wir kehren zum Boot zurück, ehe sie wieder auftauchen. Sie könnten Ver stärkung mitbringen.« Yltic gab ihm die Hand. »Du hast uns gerettet, mein Freund. Ohne dich wären wir verloren gewesen, denn ich
17 bin sicher, daß sie uns nicht freigelassen hät ten. Du bist ein großer Kämpfer, Gärax.« »Du aber auch, Yltic. Nun kommt, wir müssen unser Schiff wiederfinden.« Trotz der Finsternis verfehlten sie den Pfad zur Bucht nicht, dann allerdings wurde es ein wenig schwieriger. Da sie sich aber dicht am Ufer hielten, war ein Verirren so gut wie unmöglich. Zwei Stunden später er reichten sie das Boot. »Nachts ist es auf dem Strom gefährlich«, sagte Yltic, als sie an Deck standen und in die Finsternis starrten. »Es wird besser sein, wenn wir hier bleiben, bis es hell wird. Mein Vater wird sich zwar Sorgen machen, aber es ist nicht die erste Nacht, die Dyräa und ich ausbleiben.« »Schlaft ihr in der Kabine«, schlug Gärax vor. »Ich bleibe an Deck. So sind wir vor Überraschungen sicher. Darf ich dein Mes ser bis morgen früh behalten?« Yltic nickte. »Von heute an gehört es dir, Gärax. Ich besorge mir ein neues.« Sie aßen noch von den Vorräten, dann ging Gärax wieder hinauf aufs Deck und suchte sich einen geschützten Platz unter dem Segel.
* Netzer Gomähn war sehr ungehalten. »Ich habe nichts dagegen, Yltic, wenn du mit Gärax einen Ausflug unternimmst und über Nacht ausbleibst, aber dann solltest du Dyräa zu Hause lassen. Es gehört sich ein fach nicht. Sicher, ich habe schon mehr als einmal ein Auge zugedrückt, aber in letzter Zeit kommt die Gefahr von Überfällen hin zu. Das hat der Zwischenfall ja zur Genüge bewiesen.« »Wer konnte auch ahnen, daß sie sich so nahe an den Fluß heranwagen? Ich habe sonst nie etwas von ihnen bemerkt.« »Noch bis vor einem halben Jahr waren entflohene Figuren Einzelgänger, die sich in den Wäldern versteckten und froh waren, wenn man sie nicht bemerkte. Jetzt aber
18 scheinen sie sich zu organisieren. Wir haben Berichte vorliegen, aus denen hervorgeht, daß es straff geführte Banden gibt. Sie sind zu einem Problem geworden. Du wirst bei deinen Ausflügen in Zukunft vorsichtiger sein müssen.« »Wenn Gärax bei mir ist, habe ich keine Angst.« »Ich gebe zu, daß wir mit ihm einen guten Kauf gemacht haben und daß auch ich ihn nun für zuverlässig halte, aber schließlich ist er kein Halbgott, der jede Gefahr von dir ab wenden kann. Vielleicht wird auch er eines Tages frei sein wollen und dich im Stich las sen.« »Das glaube ich nicht. Außerdem hat er bei uns mehr Freiheit als jede andere Figur.« Gomähn stimmte nur halbherzig zu. Dann meinte er: »Es kommt noch ein weiteres Problem hinzu, mein Sohn. Ich habe feststellen müs sen, daß dein fast freundschaftliches Ver hältnis zu der fremden Figur in unseren Kreisen nicht gern gesehen wird. Niemand weiß, woher Gärax kommt und wer er ist. Es gibt Netzer, die ihn für einen Spion des Nef fen halten, der die Aufgabe hat, herauszufin den, ob unsere Abgaben nicht erhöht werden können.« »Das glaube ich niemals!« rief Yltic aus. »Gärax kann kein Spion sein!« »Sei trotzdem vorsichtig«, riet Gomähn. »Versuche im Gespräch mehr über ihn her auszufinden. Vielleicht verrät er sich ein mal.« Yltic versprach es, obwohl er den Ver dacht seines Vaters für unsinnig hielt. Schon am nächsten Tag unternahm er mit Gärax einen Bootsausflug flußabwärts bis zur Mündung ins Xaga-Meer. Der Küste vorge lagert gab es die Inseln, von denen sie eine ansteuerten. »Ich möchte dir die großen Raubfische zeigen, die wir jagen und die uns jagen, Gärax. Eines Tages wirst du zusammen mit mir bei den Inseln tauchen.« Sie begegneten anderen Segelschiffen, die das Zeichen der Fänger mit sich führten. Es
Clark Darlton waren meist Fischer, die zum Fang auslie fen. Das Privatboot Yltics beachteten sie kaum. Die Küste der Insel war steil und felsig, aber es gab auch tief eingeschnittene Buch ten mit glasklarem, ruhigen Wasser. Gärax lag vorn am Bug auf dem Bauch und sah hinab in die Tiefe, wie Yltic es ihm geraten hatte. Obwohl er den Grund weit unter dem Kiel deutlich in allen Einzelheiten erkennen konnte, entdeckte er keinen Raubfisch. »Manchmal verstecken sie sich und war ten auf einen Unvorsichtigen, der hier arglos taucht. Dann stürzen sie sich auf ihn und zerren ihn hinaus ins Meer. Für den Un glücklichen gibt es dann keine Rettung mehr.« »Und du willst hier mit mir tauchen?« »Nicht hier und auch nicht heute«, beru higte ihn Yltic. »Ich kenne ungefährliche Stellen, wo es keine Raubfische gibt. Dort werden wir üben. Die Einfahrt zu so einer Bucht ist so flach, daß wir mit dem Boot ge rade hinüberfahren können, ohne aufzulau fen. Die großen Fische kommen nicht hin ein.« »Das hört sich schon besser an«, gab Gärax erleichtert zu. Sie kreuzten in den tiefen Gewässern der Bucht, aber erst als Yltic wieder Kurs auf die Ausfahrt nahm, entdeckte Gärax schräg vor dem Bug einen riesenhaften, dunklen Schatten. Er war mindestens sieben Meter lang. »Das ist einer von ihnen«, sagte Yltic. »Wahrscheinlich ein alter Einzelgänger. Er jagt allein, und oft kommt es vor, daß er von einem Schwarm verfolgt und gerissen wird. Sie sind Kannibalen, diese Mörder.« Mörder? dachte Gärax bitter. Sie wehren sich nur dagegen, von den Ximmerrähnern gefressen zu werden. Das ist alles. Er verfolgte den Schatten des Fisches, bis dieser so tief absank, daß er zwischen den Unterwasserriffen verschwand. Den ganzen Tag über kreuzten sie zwi schen den Inseln, bis der auffrischende See wind zu stark wurde. In rasender Fahrt kehr
Nomazar, der Sklave
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ten sie zum Hafen zurück. Für den nächsten Tag plante Yltic einen Ausflug in die Berge.
* Schon längst bereute es Ondoscähn, den seltsamen Fremden so billig an Gomähn ver kauft zu haben. Er wußte nun, daß er das Zehnfache hätte erhalten können. Besonders der Verdacht, es könne sich um einen Spion des Neffen Duuhl Larx handeln, trieb den Preis in die Höhe. Im Auftrag der Regierung war der Figu renhändler damit beschäftigt, eine Spezial truppe aufzustellen, der die Aufgabe zufal len sollte, die entflohenen Figuren in den Wäldern aufzustöbern und in die Sklaverei zurückzubringen. Diese Truppe bestand aus Angehörigen der Matrosenkaste, den Schwimmern, die von Fängern angeführt und kommandiert wurden. Letzten Berichten nach zu urteilen, hielten sich die meisten der entflohenen Fi guren in jenem Teil der Wälder auf, die an der Küste des Xaga-Meeres lagen. Dort gab es zahlreiche Binnenseen, die durch natürli che Kanäle mit dem Meer in Verbindung standen. In diesen Seen lebten auch Raubfische, die bevorzugte Nahrung der Ximmerrähner. In den Seen ließen sie sich verhältnismäßig leicht erlegen, wenn man die Verbindungen zum Meer sperrte und die Fische in seichte Buchten trieb. Trotzdem wurde hier nur sel ten offiziell gejagt, weil das Töten eines Raubfisches nicht nur der Ernährung und dem Brotverdienst galt, sondern auch als Sport gewertet wurde. »Es wäre mir lieb, wenn du mir diesen Gärax zurückgeben würdest«, sagte Ondos cähn eines Abends zu Gomähn, den er be suchte. »Er wäre bestens geeignet, sich an der Jagd meiner Spezialeinheit auf die ent flohenen Figuren zu beteiligen.« »Das ist leider unmöglich, denn ich habe ihn meinem Sohn zum Geschenk gemacht, wie du ja weißt. Wie kann ich ihn ihm nun
wieder abnehmen?« »Ich würde einen guten Preis zahlen«, lockte der Händler. »Rede mit ihm selbst, ich kann das nicht entscheiden.« Yltic wies das Angebot entrüstet zurück. »Niemals, Ondoscähn! Für mich ist Gärax nicht nur eine Figur, sondern mehr ein Freund. Er hat mir das Leben gerettet, wie du ja weißt.« »Das ist ja der Grund, warum ich ihn ha ben möchte. Er wird mit den Räubern fer tig.« »Ein weiterer Grund, ihn erst recht für mich zu behalten. Ich könnte mir keinen besseren Schutz bei meinen Ausflügen vor stellen. Nein, Ondoscähn, ich kann ihn dir nicht zurückgeben.« Der Händler beugte sich vor. »Und wenn es sich herausstellen sollte, daß er tatsächlich ein Spion des Neffen ist? Was dann?« »Dann wäre das für dich mindestens so unangenehm wie für mich und meinen Va ter, denn schließlich warst du es ja, der ihn an uns verkaufte. Das wird eine peinliche Befragung nach sich ziehen.« Der Händler schwieg betroffen und kam nicht mehr auf das Thema zurück. Nach kur zer Zeit schon verabschiedete er sich mit dem Versprechen, sich bald wieder sehen zu lassen. »Habe ich richtig gehandelt, Vater?« frag te Yltic, als Ondoscähn im Park verschwun den war. »Was hättest du sonst sagen sollen? Ich bin mit dir zufrieden.« »Kann Ondoscähn dir keinen Ärger ma chen?« »O nein, ganz im Gegenteil: ich kann ihm Ärger bereiten, wenn er es so will.« »Danke, Vater.« Gomähn sah ihn nachdenklich an. »Trotzdem muß ich dich bitten, in Zu kunft vorsichtiger zu sein. Man hat dich und Gärax bei den Inseln gesehen und findet es ungehörig, daß du ihn auf reinen Vergnü gungsfahrten mit dir nimmst. Wenn ihr ja
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Clark Darlton
gen würdet, hätte man wohl kaum etwas da gegen.« »Schon gut, Vater. Morgen beginne ich mit dem Tauchtraining.« »Er hat keine verkümmerten Kiemen wie wir. Hoffentlich hält er es lange genug unter Wasser aus, um einen guten Jäger abzuge ben.« »Ich hoffe es auch, Vater.«
3. Es war so, wie Yltic behauptet hatte. Die schmale Einfahrt zur Inselbucht war so seicht, daß Gärax ins Wasser springen muß te, um den Tiefgang des Bootes noch mehr zu verringern. Mit kräftigen Stößen schob er es über die von wenig Wasser bedeckte Sandbank, bis es wieder schwimmfähig war. Kein Raubfisch konnte diese Untiefe über winden. Nahe beim Ufer warf Yltic den An ker. »Hier ist es nicht tief, Gärax. Glaubst du, den Grund zu erreichen und längere Zeit un ten bleiben zu können?« Gärax suchte in seiner Erinnerung, fand aber keinen Anhaltspunkt. »Ich weiß es nicht, werde es aber versu chen. Kommst du mit?« »Später. Erst will ich sehen, wie du dich anstellst.« Gärax entledigte sich seiner Klei dung und ließ sich über Bord gleiten. Das Wasser war warm und klar. Die Tiefe moch te an dieser Stelle kaum zehn Meter betra gen. Er atmete mehrmals tief ein, hielt die Luft an und ließ sich in die Tiefe sinken. Noch ehe er den Grund erreichen konnte, stieg er schnell wieder nach oben und schnappte gie rig nach Luft. »Das war nichts!« rief Yltic ihm ent täuscht zu. »So wirst du mir keine große Hilfe im Wasser sein.« »Ich muß noch üben«, entschuldigte sich Gärax. Das taten sie dann auch stundenlang, und am frühen Nachmittag schaffte Gärax gute zwei Minuten, womit sich Yltic zufrieden
geben mußte, wenn er auch mehr erwartet hatte. Die See war ruhig, und die Fahrt zurück zum Hafen entsprechend geruhsam. Yltic berichtete von dem Gespräch mit Ondoscä hn und dem Verdacht, den der Händler ge äußert hatte. »Was hältst du davon?« Gärax zuckte mit den Schultern. »Wenn ich wirklich als Spion geschickt wurde, warum nahm man mir dann die Erin nerung? Das ist doch unlogisch. Außerdem möchte ich dir und deinem Vater sehr dafür danken, daß ihr mich behalten werdet.« »Wir sind Freunde«, war alles, was Yltic dazu noch sagte. Damit schien alles in bester Ordnung zu sein, aber weder Yltic noch Gärax konnten ahnen, daß Ondoscähn inzwischen einen Plan schmiedete, den er noch in dieser Wo che zu verwirklichen gedachte. Einen Plan, der ihm die Figur Gärax zu rückbringen sollte.
* Als Ondoscähn drei Tage später Gomähn wieder einen unangemeldeten Besuch ab stattete, war dieser alles andere als erfreut. Aber schon die ersten Worte des ungebete nen Gastes stimmten ihn um. »Meine erste Patrouille ist heute zurück gekehrt. Sie brachte ungeheuerliche Neuig keiten mit, Gomähn. Dein Gärax ist nicht der einzige Fremde seiner Art auf Ximmer rähne!« Gomähn starrte ihn an. »Was sagst du da? Gärax soll nicht der einzige dieser Fremden auf unserer Welt sein?« Er lachte auf. »Dann wird er ja wohl auch kein Spion sein können! Denn was hät ten Spione bei den entlaufenen Figuren zu tun?« Wenn Ondoscähn von der Schlußfolge rung seines Gastgebers überrascht war, so ließ er es sich nicht anmerken. »Nun ja, darüber ließe sich streiten, aber ich muß zugeben, daß die Möglichkeit sich
Nomazar, der Sklave verringert hat. Aber immerhin würde die Tatsache doch bedeuten, daß der Wert dei nes Gärax gesunken ist. Du könntest ihn mir wenigstens leihen, damit er seine Artgenos sen aufspürt.« Gomähn sah ihn von der Seite her an. »Eigentlich ist es doch recht merkwürdig, daß man noch nie davon gehört hat, meinst du nicht auch? Als der Fremde in deinem Park auftauchte, war er eine Sensation. Nie mand ließ verlauten, daß ihm eine Figur ent laufen sei, die auch nur so ähnlich ausgese hen hätte. Was also stimmt an der ganzen Sache nicht?« »Woher soll ich das wissen? Jedenfalls ist es meine Aufgabe, die entflohenen Figuren wieder einzufangen. Wenn sich also Artge nossen von Gärax darunter befinden, müßte selbst die Regierung einsehen, daß seine Teilnahme an der Suche unerläßlich ist.« Das allerdings war ein Argument, dem sich Gomähn kaum entziehen konnte. Er fühlte sich in die Enge getrieben und wies abermals darauf hin, daß Gärax seinem Sohn gehöre und nur dieser entscheiden könne, ob er dem Suchkommando zugeteilt werden solle oder nicht. »Dann hole und frage ihn«, sagte Ondoscähn. »Er wird sich kaum weigern können.« »Niemand kann ihn zwingen«, erinnerte Gomähn den Händler. »Figuren sind das persönliche Eigentum ihres Besitzers, und unser Kaufvertrag ist gültig. Oder nicht?« »Natürlich!« beeilte Ondoscähn sich zu versichern. »Noch etwas …«, meinte Gomähn. »Wie kommt es eigentlich, daß den Regierungs stellen noch nichts von dem Auftauchen die ser Fremden bei den entflohenen Figuren be kannt ist? Wir müßten das doch eigentlich wissen.« »Nein, dazu war die Zeitspanne zwischen dem Tag der Entdeckung und meinem Be such bei dir zu kurz. Ein Suchtrupp des Son derkommandos hat sie gesehen, allerdings nur aus großer Entfernung. Sie waren auf der anderen Seite eines Sees im Wald.« »Weit von hier?«
21 »Nein, mit Bootsfahrt und Fußmarsch einen halben Tag.« Gomähn nickte. »Also gut, ich werde Yltic holen lassen. Er müßte von seiner Tauchübung mit Gärax zurück sein. Nur er kann die letzte Entschei dung fällen.« Einer der Hausdiener wurde fortgeschickt und kam Minuten später wieder zurück. »Dein Sohn, Herr, und die Figur Gärax haben gerade angelegt. Sie werden gleich hier sein.« »Ich wollte nur meinen Sohn sprechen«, fuhr Gomähn ihn an. Der Diener verzog sich ohne Antwort. Wenig später betrat Yltic in Begleitung von Gärax die Terrasse. Gomähn warf sei nem Sohn einen strafenden Blick zu und sagte: »Yltic, ich wollte dich allein sprechen!« Gärax verschwand im Haus, ehe Yltic es verhindern konnte. »Aha, Ondoscähn ist auch da!« stellte Yl tic nüchtern fest. »Ausgerechnet er hat eine Abneigung gegen Figuren! Dabei lebt er von ihnen!« »Ich verbiete dir diesen Ton!« schimpfte Gomähn, wurde aber sofort wieder friedlich. Schließlich konnte er den Händler nicht ge rade besonders gut leiden, wenn sie auch so etwas wie Freundschaft verband. Ein Psy chologe hätte das Verhältnis mit Sicherheit als ›Haßliebe‹ bezeichnet. »Ondoscähn hat dir etwas mitzuteilen, und deine Entscheidung ist von großer Wichtigkeit. Hör also gut zu.« Yltic setzte sich und sah Ondoscähn er wartungsvoll an. Dieser erzählte noch einmal die ganze Ge schichte und betonte, daß eine positive Ent scheidung durchaus im Interesse der Regie rung sei, was Netzer Gomähn jederzeit be stätigen könne. Nun sah Yltic seinen Vater an, der fast unmerklich nickte. Es war ein Nicken, das nicht von Herzen kam. Yltic lehnte sich zurück.
22 »Na schön, und wenn ich mich weigere, Gärax für Jagd auf entflohene Figuren zur Verfügung zu stellen?« »Dann passiert nichts«, gab Ondoscähn zu, »aber in unseren Kreisen ist man ohne hin nicht gut auf dich zu sprechen, weil du dich mit einer Figur verbrüderst. Du tätest gut daran, meinen Rat zu befolgen und ihn mir für die Jagd zur Verfügung stellst.« »Ich werde ihn fragen«, sagte Yltic. On doscähn fuhr entsetzt zurück. »Was? Du willst eine Figur fragen, ob sie mit deiner Entscheidung einverstanden ist?« »Nein! Ich will Gärax nur fragen, ob er Lust hat, an einer solchen Jagd teilzuneh men. Das ist alles.« »Und wenn er ablehnt?« »Dann geht er nicht mit.« Ondoscähn konnte sich vor Empörung kaum noch beherrschen. Für ihn waren Fi guren nichts anderes als eine Handelsware. Man konnte mit ihnen tun und lassen, was man wollte. So war das schon immer gewe sen. »Dann frage ihn!« keuchte er endlich, völlig außer sich. Gomähn sagte überhaupt nichts. Der Ausgang der Diskussion begann ihn zu interessieren. Vielleicht bedurfte das Gesetz tatsächlich einer Erneuerung. Man würde ja sehen … Als Gärax kam und Ondoscähn wiederer kannte, wurde sein Gesicht verschlossen. Er setzte sich, als Yltic ihn dazu aufforderte. In kurzen Worten wurde ihm erklärt, worum es sich handelte. Gärax horchte auf. »Lebewesen wie ich?« vergewisserte er sich verblüfft. »Sie sehen aus wie ich?« »Genauso!« bestätigte Ondoscähn. Gärax sah Yltic an. »Das wäre eine Möglichkeit für mich, meine Herkunft und Vergangenheit zu ent rätseln. Wenn sie zu meinem Volk gehören und nicht ihre Erinnerung verloren haben …« »Es ist deine Entscheidung!« erinnerte ihn Yltic ein wenig enttäuscht. »Ich halte dich nicht, denn ich weiß, daß du wieder zu mir
Clark Darlton zurückkehren wirst, wenn die Jagd vorbei ist. Habe ich recht?« »Natürlich werde ich das! Wir sind Freun de!« Ondoscähn verzog das Gesicht, sagte aber nichts. »Gärax wird also Ondoscähn in die Wäl der begleiten«, faßte Gomähn zusammen. »Bist du nun zufrieden, Ondoscähn?« »O ja, natürlich. Allerdings werde ich das Sonderkommando nicht selbst führen, dafür habe ich meine Leute, die dafür ausgebildet wurden. Aber die Figur Gärax kann schon heute mit mir kommen. Der Trupp rückt morgen früh aus.« Yltic schüttelte den Kopf. »Gärax wird später nachkommen, Ondos cähn. Ich habe noch mit ihm zu reden.« »Soll mir auch recht sein«, maulte der Händler und erhob sich, um sich zu verab schieden. Es war ein Abschied, der ungewöhnlich kühl ausfiel.
* Das Sonderkommando bestand aus einem Fänger und sieben Schwimmern, die alle sichtbar bemüht waren, sich in jeder Hin sicht von Gärax zu distanzieren. Während der Fahrt mit dem Boot war das nicht so ein fach, weil es nur wenig Platz bot. Dann aber, als der Marsch durch den Wald begann, mußte Gärax ganz am Schluß gehen, was ihn allerdings nicht weiter störte. Lebewesen, die aussahen wie er …? Er hatte am Abend zuvor noch zwei Stun den mit Yltic darüber gesprochen und Ver mutungen angestellt. Wenn sich Ondoscähns Behauptung bewahrheiten sollte, bestand immerhin die Chance, daß Gärax wertvolle Hinweise auf die vergessene Vergangenheit erhielt. Die Voraussetzung dafür war aller dings, daß man einen oder mehrere der ent flohenen Figuren einfing und nicht gleich tö tete. Der Wald war in dem Küstengebiet nicht sonderlich dicht, auch das Unterholz wuchs
Nomazar, der Sklave nur spärlich. Der Trupp kam gut voran und erreichte bereits vor der Mittagsstunde den See. Man drang nicht bis zum Ufer vor, son dern hielt sich zwischen den Bäumen und hinter den flachen Hügeln verborgen. Nur der Kommandant der Truppe, der Fänger Ti rax, kroch auf allen vieren ein Stück weiter und suchte in einer Senke Deckung. Von hier aus hatte er einen guten Ausblick. Gärax verspürte eine gewisse Ungeduld. Ihm ging das alles viel zu langsam. Außer dem hatte er ein ungutes Gefühl, das er sich nicht zu erklären vermochte. Abseits von den anderen Mitgliedern des Sonderkom mandos hockte er auf einem umgestürzten Baumstamm und kaute unlustig auf einem Stück trockenen Fisch herum, das man ihm als Marschverpflegung mitgegeben hatte. Fänger Tirax kehrte zu dem Trupp zu rück. »Nichts zu sehen«, teilte er ihnen mit. Dann sah er Gärax herausfordernd an. »Wenn deine Leute bei den Entflohenen sind, müßtest du ihre Gewohnheiten kennen. Bemühe dich also ein wenig, damit wir sie aufstöbern. Was glaubst du, warum wir dich mitnehmen mußten?« Gärax warf ihm einen gleichgültigen Blick zu. »Ich bin kein Spürhund, Tirax. Außerdem sollte Ondoscähn dir mitgeteilt haben, daß ich meine Erinnerung verloren habe. Ich weiß nicht mehr als du über diese Fremden, die mir ähnlich sehen – wenn es sie über haupt gibt.« »Willst du behaupten, daß Ondoscähn ge logen hat?« »Vielleicht wurde er nur falsch unterrich tet«, schwächte Gärax schnell ab. »Ich bin nur mitgekommen, um mehr über meine ei gene Herkunft zu erfahren.« »Für eine Figur bist du ungemein arro gant«, stellte Tirax fest. »Vielleicht bin ich gar keine Figur, oder sehe ich aus wie ihr?« Tirax war einen Moment lang über diese Frechheit so verblüfft, daß er Gärax nur wie versteinert anstarrte, aber dann richtete er
23 sich auf, ohne auf Deckung zu achten, und brüllte: »Was fällt dir ein? Ich werde Ondoscähn davon berichten …« »Der hat mir nichts zu sagen. Eurem Ge setz nach gehöre ich Yltic, dem Sohn des Netzers Gomähn, und dem hat niemand et was zu befehlen.« Tirax richtete sich noch höher auf. Da Gärax auf dem Baumstamm sitzen geblieben war, überragte der andere ihn nun leicht um einen halben Meter. Das schien ihm noch mehr Selbstbewußtsein zu geben. »Du wirst auf unserer Welt nicht alt wer den, wenn du weiterhin so aufsässig bist. Außerdem …« Er hörte auf zu sprechen und begann zu röcheln. Gärax, der irgendwo seitlich im Wald ein Geräusch gehört hatte, ließ sich flach auf die Erde fallen, als er den Pfeil in der Brust von Tirax sah. Der Fänger schwankte und fiel dann um. Die sieben Schwimmer brauchten einige Sekunden, bis sie begriffen, was ge schehen war. Sie stoben nach allen Seiten auseinander und suchten Schutz unter den spärlichen Büschen und hinter den Bäumen. Aber niemand wußte, aus welcher Richtung der Pfeil gekommen war. Ein zweiter Ximmerrähner des Komman dos starb, ehe jemand ahnte, wo der Gegner steckte. Gärax kümmerte sich nicht um die restli chen sechs Schwimmer. Mit einem Satz brachte er sich in der vor ihm liegenden Sen ke in Sicherheit vor den plötzlich von allen Seiten heranschwirrenden Pfeilen. Von sei ner erhöhten Position aus sah er nun auch die Angreifer. Es waren Ximmerrähner, ent flohene Figuren wie jene, die ihn und Yltic überfallen hatten. Sprungbereit lag er in der Senke, das Jagdmesser in der Hand. Nach knapp fünf Minuten wurde es still. Die Schwimmer waren geflohen oder tot. Gärax wußte es nicht. Er duckte sich, als in der Nähe trockene Zweige knackten. Über den Rand der Senke hinweg spähte er in den
24 Wald hinein, und bald sah er die Angreifer zurückkehren. »Sie sind uns entwischt«, sagte einer von ihnen. »Wenigstens drei von ihnen. Habt ihr den großen Kerl gesehen, der bei ihnen war?« »War kein Ximmerrähner«, erwiderte ein anderer. »Sah überhaupt so aus, als gehöre er nicht zu ihnen. Vielleicht eine Figur.« Gärax überlegte nur drei Sekunden. Dann richtete er sich auf. »Hier bin ich, ein Sklave wie ihr. Betrach tet mich als euren Freund, auch wenn ich kein Ximmerrähner bin.« Die erhobenen Wurfspeere und Beile san ken wieder. Gärax war sofort klar, daß diese Gruppe der Entflohenen nicht mit jenen Räubern identisch waren, die den Erpres sungsversuch am Fluß durchgeführt hatten. Er schob sein Messer in den Gürtel zurück und kam aufrecht aus der Senke den Abhang des kleinen Hügels herabgeschritten. »Wer bist du?« fragte einer der Ximmer rähner und ging ihm ein Stück entgegen. »Man nennt mich Gärax, und der Netzer Gomähn kaufte mich von dem Händler On doscähn.« »Ich bin Ääna, der Anführer unserer Gruppe. Sei uns willkommen – aber erst dann, wenn du uns erklärt hast, was du bei diesen Schwimmern und dem Fänger ge macht hast.« Gärax schilderte, was geschehen war. Er blickte in ratlose Gesichter. Dann sagte Ääna: »Nein, das müßten wir wissen, denn die ser See und seine Ufer gehören uns. Wir ha ben noch niemals eine Figur wie dich gese hen. Ondoscähn hat gelogen.« Gärax versuchte, seine Enttäuschung zu überwinden. Wenn Ääna recht hatte, und daran konnte er kaum zweifeln, blieb die Frage: was hatte Ondoscähn mit seiner scheinbar sinnlosen Aktion bezweckt? Wozu das ganze Theater? Nun erst bequemte sich Gärax dazu, den entflohenen Figuren die ganze Wahrheit zu berichten – daß er im Park des Händlers auf-
Clark Darlton gewacht und seine Erinnerung verloren hat te. Das sei auch der einzige Grund gewesen, wiederholte er, daß er sich dem Jagdkom mando angeschlossen habe, um seine Artge nossen zu treffen. »Nun bleibt mir keine andere Wahl, als zu Yltic zurückzukehren«, schloß er. Ääna sah ihn recht merkwürdig an und schüttelte dann den Kopf. »Das können wir nicht zulassen, Gärax. Du kennst uns und unseren See. Du würdest uns verraten.« »Unsinn, warum sollte ich das tun? Au ßerdem habt ihr die Schwimmer entkommen lassen. Sie werden berichten.« »Trotzdem lassen wir dich nicht gehen. Du siehst aus wie ein guter Kämpfer, und den können wir gebrauchen. Du wirst bei uns bleiben und in Freiheit leben.« »Freiheit!« Gärax lachte verbittert. Immer und überall auf dieser Welt schien man ihn zu etwas zwingen zu wollen. »Wenn ich bei Yltic bin, habe ich auch meine Freiheit.« »Du bist dort nichts als eine Figur, ein Sklave.« »Nicht bei Yltic. Er ist mein Freund.« »Schluß jetzt!« Ääna schien allmählich die Geduld zu verlieren. »Du bleibst bei uns! Außerdem ist es nur gut für dich, wenn du nicht nach Mulgaxähn zurückkehrst. Solan ge die Jagdkommandos unterwegs sind, kann jede Begegnung mit ihnen für dich töd lich ausgehen. Sie halten dich für einen Ent flohenen und stellen keine Fragen.« »Mein Aussehen wird sie davon abhal ten.« »Verlaß dich nicht darauf! Selbst wenn Sie dich erkennen, werden sie dich zumin dest einfangen und Ondoscähn abliefern. Du scheinst das Gesetz nicht zu kennen, nach dem jede entflohene Figur automatisch in den Besitz des Händlers zurückkehrt, der sie einfängt. Gomähn müßte dich also erneut kaufen.« Nun gehörte auch für Gärax nicht mehr viel dazu, die Zusammenhänge zu begreifen. Ondoscähn hatte ihn von Gomähn zurück kaufen wollen, aber der Netzer hatte abge
Nomazar, der Sklave
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lehnt. Darum also das Märchen mit den fremden Figuren am See und Gärax' er wünschte Teilnahme an der Jagdexpedition. Wenn sie ihn jetzt schnappten, gehörte er Ondoscähn. »Vielleicht ist es wirklich besser, Ääna, wenn ich längere Zeit bei euch bleibe. Ich bin auch bereit, euch gegen Feinde zu vertei digen, wenn sie euch angreifen, aber ich werde nicht an Raubzügen teilnehmen. Ich hoffe, du verstehst das.« »Nein, das tue ich nicht.« »Ich bin kein Ximmerrähner, und eines Tages werde ich deine Welt wieder verlas sen. Ich möchte es tun, ohne Blut an meinen Händen zu haben, das von Unschuldigen stammt.« Ääna überlegte lange und beriet sich mit seinen Unterführern, ehe er zu Gärax zu rückkehrte, der seine Wächter leicht hätte überwinden und fliehen können. »Also gut, ich bin einverstanden. Außer dem überlassen wir Raubüberfälle anderen Gruppen. Wir leben gut hier am See. Wir greifen nur die Jagdkommandos der Händler an, die uns einfangen wollen.« »Euer gutes Recht«, gab Gärax zu. »Ich komme mit euch.«
* »Nur drei Schwimmer des Jagdkomman dos kehrten zurück«, berichtete Ondoscähn seinen Nachbarn Gomähn und Yltic einige Tage später. »Eure Figur Gärax blieb bei den Entflohenen, damit gehört sie euch nicht mehr. So lautet das Gesetz.« »Du legst es zu sehr in deinem Sinn aus«, warnte Gomähn, der den Trick des Händlers erst jetzt durchschaute. »Du hast die Aktion raffiniert eingefädelt, weil ich Gärax dir nicht zurückgeben wollte.« »Das mußt du erst beweisen. Tatsache ist, daß Gärax nicht mit den Überlebenden des Kommandos floh, als der Überfall geschah. Er blieb freiwillig zurück und schloß sich den entlaufenen Figuren an.« Yltic protestierte:
»Das würde er niemals tun! Du hast ver gessen, was er für mich und Dyräa tat, als man uns fing und töten wollte. Warum sollte er nun ihr Verbündeter werden?« Ondoscähn hatte nicht die Absicht, länger darüber zu diskutieren. Sein Plan war ge glückt, und von morgen an würden die Jagd kommandos in noch größerer Anzahl als bis her die Wälder durchstreifen. Er würde den seltsamen Fremden wiederbekommen, und dann gehörte er ihm. Er stand auf, verabschiedete sich mit knappen Worten und ging. Dyräa sah hinter ihm her. »Yltic, du mußt etwas unternehmen«, sag te sie nur. Gomähn riet zur Vorsicht. »Das Gesetz ist auf Ondoscähns Seite, vergeßt das nicht.« »Aber nicht dann«, gab Yltic zu beden ken, »wenn ich Gärax finde und zurückbrin ge. Ich bin überzeugt, daß er nicht fliehen wollte, sondern daß er in die Gewalt der Entflohenen fiel und vielleicht nicht mehr lebt. Aber wenn er lebt, dann wird er die nächste Gelegenheit zur Flucht nutzen und zu uns zurückkehren.« »Du willst in den Wald gehen und ihn su chen?« vergewisserte sich Gomähn er schrocken. »Kennst du die Gefahren?« »Ich fürchte sie nicht.« »Du wirst nicht allein gehen, auf keinen Fall! Ich werde dir ein paar von unseren Fi guren mitgeben, die ich für zuverlässig hal te.« »Du würdest sie nur der Versuchung aus setzen, sich den Räuberbanden anzuschlie ßen. Ich werde allein gehen!« Yltic brach am anderen Tag auf.
* Die Späher Äänas überbrachten schlimme Neuigkeiten. Vom Meer her näherten sich den Seen mehr als ein Dutzend verschiede ner Jagdkommandos und suchten systema tisch den breiten Waldstreifen ab. Dabei nä herten sie sich unaufhaltsam den Verstecken der Entflohenen.
26 »Was meinst du?« fragte Ääna, nachdem er Gärax informiert hatte. Gärax' Interesse, den neuen »Freunden« zu helfen, war nicht sonderlich groß. Auf der anderen Seite durf te er den Leuten. Ondoscähns nicht in die Hände fallen. »Ihr könnt das Versteck nicht verteidigen, wenn es gefunden wird. Im Wald seid ihr si cherer.« »Ich denke genauso«, gab Ääna zu. »Wir nehmen unsere Vorräte mit und ziehen uns in den Wald östlich von hier zurück. Sollten sie uns auch dorthin folgen, werden wir die Trupps zu trennen versuchen. Mit einem al lein werden wir fertig, das hast du ja gese hen.« »Was ist mit den anderen Entflohenen? Warum haltet ihr nicht zusammen?« »Jede Gruppe hat eigene Anführer mit un terschiedlichen Ansichten. Wenn wir uns zu sammenschlossen, will jeder der Anführer sein.« »Wir sind also allein. Nun gut, dann müs sen wir auch allein mit dem Problem fertig werden. Verlieren wir keine Zeit mehr, bre chen wir auf.« Gärax hatte festgestellt, daß er kaum noch bewacht wurde, aber er verschob seine Ab sicht, in der kommenden Nacht zu fliehen. Die Situation war zu gefährlich geworden, und es würde klüger sein, noch zu warten. Wie jeder andere erhielt auch er einen Sack mit Vorräten, den er tragen mußte. Im Wald war es schwer, Beute zu machen. Gärax schulterte seine Last und schloß sich dem Trupp an, der aus drei Dutzend Xim merrähnern bestand. Einige von ihnen blie ben noch zurück, um die Spuren des Lagers so gut wie möglich zu beseitigen. Immerzu mußte Gärax an Yltic denken, der mit Sicherheit von den Überlebenden des Suchkommandos falsch unterrichtet worden war. Hoffentlich schenkte er ihnen keinen Glauben. Gegen Mittag wäre es beinahe zum Kampf mit einer anderen Gruppe Entflohe ner gekommen. Unbeabsichtigt war man in deren Gebiet eingedrungen und hatte so ein
Clark Darlton ungeschriebenes Gesetz gebrochen. Als die ersten Pfeile heranschwirrten, verbot Ääna die Gegenwehr und rief nach dem Anführer der Gruppe. Aber erst, als er die Übermacht der Jagdkommandos erwähnte, erhielt er Antwort. Ein für hiesige Verhältnisse riesig gebau ter Ximmerrähner – er war fast ein Meter sechzig groß – trat aus dem Unterholz her vor und sagte: »Hinter mir sind meine Leute. Auf euch sind ein halbes Hundert Speere und Pfeile gerichtet. Was wollt ihr in unserem Gebiet?« Ääna ging zu ihm und machte das Zei chen des Friedens. In kurzen Worten schil derte er ihm die Lage und betonte, daß es sich um eine gezielte Such und Vernich tungsaktion handeln müsse, der man nur mit List begegnen könne. Vor allen Dingen dür fe es jetzt nicht zu Streitigkeiten zwischen den Entflohenen kommen. Der andere hörte geduldig zu, dann signalisierte er mit einem Handzeichen den vorläufigen Waffenstill stand. Seine bisher im Wald verborgenen Anhänger kamen auf die Lichtung, vorsich tig und wachsam, aber keineswegs feindse lig. Die Verhandlung dauerte nur zehn Mi nuten, dann gestattete der Anführer der an deren Gruppe den Marsch durch sein Gebiet. Er selbst, so betonte er, wolle nicht fliehen. Er würde mit seinen Leuten hier bleiben und den Fängern und Schwimmern Ondoscähns eine vernichtende Niederlage bereiten. Ääna und seine Leute zogen weiter.
* Yltic hatte seine ursprüngliche Absicht geändert. Als er von der Großaktion Ondos cähns erfuhr, segelte er nicht flußabwärts zum Meer, sondern stromaufwärts in Rich tung der Berge. Als er den kleinen Neben lauf erreichte, verbarg er dort sein Boot und setzte seine Suche zu Fuß fort. Seine Überlegung war folgende: wenn Gärax noch lebte und sich bei den Entflohe nen der Seen aufhielt, würden diese von On doscähns Suchtrupps nach Osten getrieben
Nomazar, der Sklave werden. Er selbst bewegte sich in südöstli cher Richtung und mußte so auf die Flücht linge stoßen. Es war ihm klar, daß seine Aufgabe fast unlösbar war. Die unübersichtlichen Wälder und die Räuberbanden, die sich in ihnen her umtrieben, bedeuteten eine zusätzliche Ge fahr. Auf der einen Seite war er gezwungen, ein möglichst großes Gebiet abzusuchen, auf der anderen Seite war es lebenswichtig, un entdeckt zu bleiben und keine Spuren zu hinterlassen. Außer seinem neuen Messer hatte er einen großen Köcher mit Pfeilen und einen Bogen mitgenommen. Er galt als unübertroffener Schütze. Noch bevor es dunkelte, änderte er seine Marschrichtung und wandte sich genau nach Süden. Der Wald wurde lichter und erleich terte das Vorankommen, allerdings bot er nun auch weniger Schutz. Die Nacht verbrachte Yltic auf einem Baum, wo er sich sicher fühlen konnte. Er aß ein wenig von den mitgenommenen Vor räten und rollte sich in einer Astgabel zum Schlaf zusammen. Noch vor Sonnenaufgang erwachte er halb erfroren und mit steifen Gliedern. Er wollte gerade den Baum hinab steigen, als er Geräusche hörte. Ganz still blieb er liegen und spähte durch das Blätter werk nach unten. Acht Figuren waren es, die im Gänsemar sch durch den Wald zogen und sich unge niert unterhielten, als gäbe es nur sie auf der Welt. Es gelang Yltic, einige Worte aufzu schnappen, aber viel ließ sich damit nicht anfangen. Jedenfalls hatte sich Ondoscähns Aktion bereits herumgesprochen. Die ent laufenen Figuren waren auf der Flucht. Als sie weit genug weg waren, setzte Yl tic seinen Marsch fort, und wenn er sich nicht sehr täuschte, bewegte er sich den Jagdkommandos in etwa entgegen. Die flie henden Figuren mußten sich demnach zwi schen diesen und ihm selbst befinden. Wieder vergingen einige Stunden, und es war mittags, als Yltic Kampfeslärm hörte. Er konnte das Aufeinanderschlagen von Spee
27 ren und einzelne Todesschreie deutlich un terscheiden, aber auch die unverkennbare Befehlsstimme eines Fängers, der seine Un tergebenen antrieb. Yltic lief auf den Ort des Kampfes zu, achtete dabei aber auf Deckung und wählte seinen Weg so, daß er jederzeit im Unter holz verschwinden konnte. Er verspürte kei ne Lust, sich mit Ondoscähns Leuten herum zustreiten. Der Lärm war lauter geworden. Mehr als einmal warf sich Yltic in die Büsche, wenn ihm ein flüchtender Ximmerrähner zu nahe kam. Dann wurde es ruhiger, obwohl er sich dem Kampfplatz genähert hatte. Dann hörte er Kommandos und schließlich Schritte, die sich in westlicher Richtung entfernten. Das mußte das Jagdkommando sein. Vorsichtig schlich er weiter, bis er den Rand einer größeren Lichtung erreichte. Schon auf den ersten Blick war zu erkennen, daß hier die Entflohenen eine empfindliche Niederlage erlitten hatten. Mehr als ein Dut zend von ihnen lagen erschlagen und ersto chen auf dem Waldboden, dem Rest der Gruppe mußte die Flucht gelungen sein. Ein Stöhnen ließ Yltic aufhorchen. Sollte noch einer von ihnen am Leben sein? Nach einigem Suchen fand er den Schwerverwundeten. Im Rücken steckte ein Pfeil. Der Mann atmete schwer, als Yltic seinen Arm unter seinen Kopf schob und ihm beruhigende Worte zuflüsterte. »Sie sind fort, du bist nicht mehr in Ge fahr. Bleib ganz still liegen …« »Ich sterbe, ich weiß es. Sie überfielen uns aus dem Hinterhalt. Sind alle tot?« »Nein, viele müssen entkommen sein. Warum hat das Kommando nicht alle getö tet? Warum ließ es so viele entkommen?« Dem Verwundeten fiel das Sprechen sichtlich schwer, aber er gab sich alle Mühe, die Fragen zu beantworten. »Ich glaube, sie hatten es nur auf den Fremden abgesehen, der bei uns war. Ob wohl er tapfer kämpfte, unterlag er der Übermacht. Sie schlugen ihn nieder und schleppten ihn weg, danach sammelten sie
28 sich und zogen ab. Einer der letzten Pfeile erwischte mich.« Yltic machte eine heftige Bewegung, aber dann war er wieder ganz ruhig. »Ein Fremder? Wie sah er aus?« Der Verwundete wurde sichtlich schwä cher, er hatte nicht mehr lange zu leben. Vielleicht nur noch einige Minuten. Müh sam und mit vielen Unterbrechungen schil derte er den seltsamen Fremden, den sie ge gen seinen Willen aufgenommen hatten. »Ein großer Kämpfer«, seufzte er dann, schloß die Augen und streckte sich. Er war tot. Yltic ließ den gestützten Kopf auf den Boden gleiten und erhob sich. Es konnte kein Zweifel mehr daran bestehen, daß On doscähns Plan geglückt war. Gärax war wie der in seiner Gewalt und gesetzlich in sei nem Besitz. Schritte näherten sich. Sie kamen aus ver schiedenen Richtungen, und sie verrieten Vorsicht und Wachsamkeit. Noch während er unter einen Busch am Rand der Lichtung kroch und einen Pfeil auf die Sehne seines Bogens legte, erschienen drei Ximmerräh ner. Sie betrachteten die Toten ohne beson deres Mitgefühl. »Sie haben uns überrumpelt, Ääna«, sagte einer von ihnen. »Sonst wäre das nie pas siert.« Der mit »Ääna« Angesprochene erwider te: »Sie wollten nur den Fremden, mehr nicht. Er hat sich tapfer gewehrt, aber es war umsonst. Sie wollten ihn lebendig. Er hat uns also die Wahrheit berichtet.« Yltic schob den Pfeil in den Köcher zu rück. Er kroch aus seinem Versteck und hob die Hände zum Zeichen des Friedens. Ääna ließ den Speer sofort sinken. »Wer bist du?« An der Kleidung erkannte er, daß er einen Netzer vor sich hatte. »Was willst du hier im Wald? Du gehörst nicht zum Jagdkommando?« »Bestimmt nicht. Ich suchte den Fremden, den man gefangengenommen hat. Er ist mein Freund.«
Clark Darlton »Dann bist du der Sohn des Netzers Go mähn?« »Ja, der bin ich. Mein Name ist Yltic.« Ääna deutete auf einen Baumstamm. »Setzen wir uns. Du wirst viele Fragen haben. Der Fremde erwähnte mehrmals dei nen Namen, aber wir konnten nicht glauben, daß eine Figur der Freund eines Netzers sein könnte. Es ist also doch wahr …« »Ja, es ist wahr. Und ihr hättet ihn ruhig gehen lassen können. Er wäre zu mir zu rückgekehrt und hätte euch niemals verraten. Jetzt aber ist er der Gefangene Ondoscähns. Ich muß versuchen, ihn zu befreien, ehe der Trupp die Stadt erreicht.« »Du willst den Fremden befreien? Du willst gegen das Jagdkommando kämpfen?« »Ja, das will ich!« Ääna schien zu überlegen, dann entschied er sich. »Ich habe höchstens noch zwei Dutzend Leute, aber wenn es mir gelingt, sie zu sam meln, werden wir dir helfen. Hast du Zeit zu warten?« Yltic nickte. »Morgen nehmen wir die Verfolgung auf, Ääna. Und – ich werde dir das nie verges sen. Vielleicht ist es meinem Vater möglich, euch auch eines Tages zu helfen.« Ääna lächelte ungläubig.
4. In der Nacht begann Gärax mit dem Ver such, seine Fesseln zu lösen. Das Jagdkom mando, das ihn überwältigt hatte, bestand aus einem Dutzend Ximmerrähner – dem Fänger Xon und elf Schwimmern. Ursprüng lich waren es vierzehn Schwimmer gewesen, aber drei von ihnen waren bei dem Überfall auf Ääna und seine Gruppe getötet worden. Nur Xon wußte von der Belohnung, die Ondoscähn für die Ergreifung des Fremden ausgesetzt hatte, und er war schlau genug, den Mund zu halten. Nur dann nämlich wür de sie ausreichen, ihm und seiner Familie ein paar sorgenlose Jahre zu garantieren. Es war schon dunkel, als sie den See er
Nomazar, der Sklave reichten. Der Späher, der vorausgeeilt war, kehrte mit der beruhigenden Nachricht zu rück, daß sich keine Entflohenen in der nä heren Umgebung herumtrieben. Also befahl Xon, nach einem geeigneten Platz für das Nachtlager Ausschau zu halten. Auf einer kuppelförmigen Erhöhung fand man eine Lichtung, die früher einmal einer Gruppe von Entflohenen als Versteck ge dient haben mochte, wenigstens ließen ver wischte Spuren das vermuten. Xon stellte Wachen auf und ließ den Gefangenen an einen Baum binden. Gärax konnte über die Baumwipfel des vor ihm liegenden Abhangs in der Ferne die Fläche des Sees schimmern sehen. Am rech ten Ufer war die Stelle, an der er mit Ääna zusammengetroffen war. Von dort aus lag Mulgaxähn genau im Norden. Die Schwimmer entzündeten ein Lager feuer. Xon schien sich der Wachen wegen sicher zu fühlen, sonst hätte er darauf ver zichtet. Für Gärax kam es zuerst darauf an, die auf den Rücken gebundenen Hände freizu kriegen. Der Rest war dann eine Kleinigkeit, wenn man ihm auch das Messer abgenom men hatte. Bereits nach zehn Minuten lockerten sich die Stricke um seine Handgelenke, deren Haut an verschiedenen Stellen aufgesprun gen war. Gärax wußte, daß er sich beeilen mußte, denn das hervortretende Blut würde den Hanf wieder zusammenziehen. Eine halbe Stunde dauerte es, bis er die rechte Hand frei hatte. Die linke war noch an den Baumstamm gefesselt, ebenso die Füße. Er blieb ruhig stehen, als Xon auf ihn zu kam. Flüchtig nur untersuchte er die Fesseln, dann fragte er: »Hast du Hunger oder Durst?« Gärax schüttelte den Kopf. Das fehlte ihm noch, daß sie jetzt seine Fesseln lösen woll ten, um ihn essen zu lassen. »Nein, danke. Ich brauche nichts.« »Wie du willst, Fremder. Es ist zwar un bequem, im Stehen zu schlafen, aber diese
29 Nacht geht auch vorüber. Morgen hast du wieder dein warmes Lager im Haus Ondos cähns.« Und seine Peitsche, dachte Gärax und nickte nur. Xon kehrte zum Lagerfeuer zurück. Gärax wartete, bis die Ximmerrähner – drei Wachtposten gingen ihre Runden – ein geschlafen waren. Dann erst begann er, mit Hilfe der rechten Hand die linke zu befreien. Die Posten ließ er dabei nicht aus den Au gen, so wie auch sie ihn fast ständig beob achteten, zum Glück aber die Fesseln nicht überprüften. Nach Mitternacht lösten sich die Schwim mer ab. Gärax war gerade dabei, die letzten Stricke vom Körper zu streifen und die Sch linge zu lockern, die seine Füße hielten, als einer der neuen Wachtposten quer über die Lichtung auf ihn zukam. Zum Glück reichte der Schein des nieder gebrannten Lagerfeuers nicht sehr weit. Gärax stand im Baumschatten. Es gelang ihm noch, wenigstens einen Fuß zu befreien, als der Ximmerrähner auch schon dicht bei ihm war. Der Schwimmer war nicht besonders vorsichtig und ahnte keine Gefahr. Arglos streckte er die Arme vor, um die Fesseln des Gefangenen zu un tersuchen. Blitzschnell ergriff Gärax die beiden Hän de, zog den Überrumpelten zu sich heran und ließ ihn mit dem Kopf gegen den Stamm krachen. Ohne ein Geräusch zu ver ursachen, zerrte er dann den Bewußtlosen in das Gebüsch am Rand der Lichtung. Dann erst konnte er sich um die beiden anderen Posten kümmern. Sie waren stehengeblieben und unterhiel ten sich leise, aber dann gingen sie weiter. In spätestens zwei oder drei Minuten jedoch würde ihnen das Verschwinden ihres Ge fährten auffallen. Gärax verlor keine Zeit. Er nahm dem be wußtlosen Ximmerrähner das Messer ab und zog sich weiter in den Wald zurück. Die un gefähre Richtung hatte er sich eingeprägt. In der Nacht würden seine Verfolger Schwie
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rigkeiten haben, seine Spur zu finden, und bis es hell wurde, konnte er schon eine be achtliche Strecke zurückgelegt haben. Er schätzte die Entfernung bis zu der Lichtung, auf der das Kommando lagerte, auf etwa zwei Kilometer, als dort der Lärm losbrach. Es hatte also doch länger gedauert, als er be fürchtet hatte. Jetzt erst war seine Flucht ent deckt worden. Er beschleunigte seine Schrit te, soweit das in der Finsternis möglich war. Der Lärm verstärkte sich, aber es war nicht nur das Rufen und Schreien, das Gärax stut zen ließ. Zweifellos wurde drüben auf der Lichtung gekämpft. Das Aneinanderschla gen von Waffen verursachte unmißverständ liche Geräusche. Wenn es einen Überfall durch räuberische Entflohene gegeben hatte, war seine Flucht zur rechten Zeit erfolgt. Ohne sich aufzuhalten, eilte er weiter.
* Äänas Späher kehrten zurück und berich teten, daß in einiger Entfernung ein Jagd kommando sein Nachtlager aufgeschlagen hatte. Sie hatten sich nicht näher an den ge fürchteten Gegner herangewagt, aber sie glaubten, einen Gefangenen bemerkt zu ha ben – einen sehr großen Gefangenen, der ih rem entführten Verbündeten ähnlich war. Yltic drängte Ääna, das Lager zu überfal len. Der Anführer der Entflohenen stimmte zu, aber er tat es in erster Linie deshalb, um sei ne toten Freunde zu rächen. Trotz der Dun kelheit wurde der Marsch fortgesetzt, und bald darauf konnte man den Schein des La gerfeuers zwischen den Bäumen durch schimmern sehen. »Wo ist der Gefangene?« fragte Yltic einen der Späher. Ehe dieser antworten konnte, hörten sie Rufe aus dem Lager. Es wurde Alarm gege ben, obwohl die Anschleichenden noch nicht entdeckt worden sein konnten. Aber dann wurden einige Worte verständlich. Der Gefangene war entflohen! Die Späher hatten also recht gehabt. Yltic
rief Ääna zu: »Worauf warten wir noch? Nutzen wir ih re Verwirrung! Der Gefangene ist entflohen …« Ääna gab das Zeichen zum Angriff, und mit wildem Gebrüll stürmten die Entflohe nen die Lichtung und rächten ihre am Tag zuvor erschlagenen Freunde. Yltic beteiligte sich nicht am Kampf, er suchte die Spuren des geflohenen Gärax und fand den immer noch bewußtlosen Schwim mer hinter einem Baum liegen. Die vom Stamm herabhängenden Stricke verrieten ihm den Rest. Spuren waren in der Finster nis keine zu entdecken, das mußte bis mor gen warten. Auf der Lichtung bemühte sich Ääna, den Siegestaumel seiner Leute zu dämpfen. Doch erst als er sie darauf aufmerksam machte, daß sich noch andere Jagdkomman dos in der Nähe befinden könnten, ebbte der Lärm ab. Späher wurden ausgeschickt und Wachen aufgestellt. Yltic nahm Ääna am Arm und zog ihn beiseite. »Es darf offiziell nicht bekannt werden, daß deine Gruppe es war, die dieses Kom mando erledigte. Auch mein Vater könnte euch dann nicht mehr helfen. Ich werde dir jetzt ausführlich einen Platz beschreiben, den ihr in zwei Tagen erreichen könnt. Dort seid ihr vor Verfolgern sicher. Eines Tages werde ich euch dort treffen.« »Wir kennen dieses Gebiet hier …« »Das spielt keine Rolle, denn es wird in der nächsten Zeit von Ondoscähn Meter um Meter durchsucht werden. Eine solche Nie derlage wird er nie vergessen. Geht von hier aus genau nach Osten bis zu den Bergen. In zwei Tagen erreicht ihr das Quellgebiet ei nes Nebenflusses mit einem kleinen Berg see. Dort wartet auf mich.« »Und du?« »Ich kehre nach Mulgaxähn zurück.« »Und der Fremde, dein Freund?« »Vielleicht ist er noch vor mir im Haus meines Vaters.« »Er ist ein guter Kämpfer«, sagte Ääna
Nomazar, der Sklave
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mit Bedauern in der Stimme. »Wäre er doch noch bei uns.« »Ihr hättet ihn eben zum zweitenmal aus den Händen eines Jagdkommandos befreit. Dafür bin ich euch genauso Dank schuldig wie er. Ich bin überzeugt, daß er es ebenso wenig vergessen wird wie ich.« Ääna nahm am Lagerfeuer Platz und rückte ein wenig zur Seite. »Darf ich dir et was sagen? Meine Leute und ich wurden vor einigen Jahren von Ondoscähn auf unserem Kontinent gefangen und hier an einen Netzer verkauft, der uns schlecht behandelte. Eines Nachts konnten wir fliehen. Seitdem leben wir an den Seen vom Fischfang, kärglich aber frei. Eines Tages werden wir ein Schiff bauen und in unsere Heimat zurückkehren.« Yltic legte eine Hand auf seinen Arm. »Du kannst dich darauf verlassen, daß ich euch helfen werde. Aber geht zum Bergsee, wie ich es dir riet. Dort werde ich euch fin den.« »Wir werden es tun«, versprach Ääna.
* Am Vormittag des nächsten Tages änder te Gärax seine Marschrichtung, um den Strom zu erreichen. Er hielt es nicht für rat sam, direkt in Mulgaxähn oder der näheren Umgebung aufzutauchen. Wenn ihn Ondos cähns Häscher aufspürten, bevor er Go mähns Haus erreichte, hatte sich nichts ge ändert. Sein Ziel war der Strom und die Buchten, in denen er so oft mit Yltic gewesen war. Wenn dieser erfuhr, daß er dem Jagdkom mando entkommen war, würde er sich den ken können, wo er auf ihn wartete. Am frühen Nachmittag erreichte er den Strom und hielt sich dicht an seinem Ufer flußaufwärts. So war es unvermeidlich, daß er einige Stunden später auf den kleinen und seichten Nebenlauf stieß, in dem Yltics Boot geschützt unter dem dichten Blätterdach lag. Es fiel Gärax nicht schwer, sich die Zu sammenhänge auszudenken. Yltic hatte sich auf die Suche nach ihm gemacht und streifte
nun irgendwo durch die Wälder, um eine Spur von ihm zu finden. Ob ihm das auch gelang, war mehr als fraglich. Vorsichtig kletterte er an Bord und über zeugte sich davon, daß außer Yltic niemand hier gewesen war. Da er Hunger verspürte, machte er sich über die Vorräte her und aß sich satt. Dann beschloß er, hier auf die Rückkehr seines Freundes zu warten. Es würde sinnlos sein, mit dem Boot nach Mul gaxähn zurückzufahren. Zwei Tage verbrachte Gärax in der ge mütlich eingerichteten Kabine, ohne daß Yl tic sich sehen ließ. Doch dann, am dritten Tag, hörte er das Geräusch brechender Zweige und Schritte. Gärax zog das Messer und duckte sich hinter das zusammengerollte Segel, das ne ben dem Mast auf Deck lag. Die Sonne war schon vor längerer Zeit aufgegangen und die Sicht gut. So dauerte es auch nicht sehr lan ge, bis er den Ximmerrähner entdeckte, der arglos durch die Büsche schritt. Gärax mußte grinsen, als er Yltic erkann te, der sich ahnungslos seinem Boot näherte. An einem Ast hangelte er sich auf Deck. »Du hast mich gesucht?« fragte Gärax und erhob sich. Yltic fuhr erschrocken herum, die Hand am Griff des Messers. Er starrte Gärax an wie einen Geist, aber dann löste sich die Spannung in seinem Gesicht. Mit ausge streckten Händen kam er seinem Freund ent gegen. »Gärax! Ich hätte es mir denken können. Bin ich froh!« Während der Rückfahrt flußabwärts be richtete Gärax, was alles geschehen war. Danach meinte Yltic: »Ondoscähn kann überhaupt nichts ma chen und auch keinen Anspruch auf dich er heben. Er selbst hat gegen das Gesetz ver stoßen und muß froh sein, wenn wir ihn nicht anzeigen.« Gomähn war über die Rückkehr der bei den nicht weniger erfreut als Dyräa, die in Sorge um ihren Freund gewesen war. Der Netzer wußte nur zu gut, wie sehr sein Sohn
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an Gärax hing, und daß er seinen Verlust kaum verschmerzt hätte. »Ich werde Ondoscähn eine Warnung zu kommen lassen, und er wird es in Zukunft nicht mehr wagen, ein Auge auf Gärax zu werfen. Trotzdem möchte ich dich bitten, Yltic, vorsichtiger als bisher zu sein. Und was die Gruppe der Entflohenen angeht, die dir bei der Suche geholfen hat, so werde ich mir überlegen, wie wir ihr helfen können. Wir sind reich genug, den armen Figuren ein Schiff zu kaufen, aber die Flucht müssen sie selbst bewerkstelligen. Mit einigen unserer Leute kannst du das Schiff an eine einsame Stelle der Küste des XagaMeers bringen, wo sie es übernehmen können.« »Ich danke dir, Vater«, sagte Yltic bewegt und umarmte ihn.
* Eine Woche nach diesen Ereignissen an kerte ein kleines und wendiges Transport schiff weit südlich von Mulgaxähn in der Bucht einer der vielen Inseln, die der Küste vorgelagert waren. Zwei zuverlässige Figu ren blieben an Bord, die anderen kehrten mit Yltic nach Hause zurück. Schon am nächsten Tag segelte das kleine Boot mit Yltic, Dyräa und Gärax an Bord stromaufwärts und erreichte noch vor Dun kelwerden jene Stelle, von der aus sie in ei nem halbstündigen Marsch den Bergsee er reichten. Schon von weitem sahen sie das Licht eines Lagerfeuers durch die Bäume schimmern. Ääna hatte Wachen aufgestellt, die Yltic sofort erkannten. Im Triumphzug brachten sie die drei Besucher zum eigentlichen La ger, wo sie herzlich willkommen geheißen wurden. Ääna versicherte, daß ihnen nie mand gefolgt war und daß sie sich am Berg see wohl und sicher gefühlt hatten. Als er hörte, daß Yltic sein Versprechen wahr ge macht und ein Schiff für sie versteckt hatte, fiel er dem Sohn des Netzers gerührt um den Hals. Die halbe Nacht saß man noch um das
Feuer und plauderte. Man würde sich nie mehr wiedersehen, aber beide Seiten hatten durch das Erlebte ihre Erfahrungen gemacht und daraus gelernt. Der Grundstein für eine spätere Verständigung war gelegt worden. Am anderen Tag brach Ääna mit seiner Gruppe auf. Yltic, Dyräa und Gärax kehrten zum Boot und mit ihm nach Mulgaxähn zu rück.
5. Eine Woche war vergangen. Yltic und Gärax hatten drei Stunden lang in der Bucht mit der seichten Einfahrt das Tauchen geübt und lagen nun wohlig ausgestreckt im war men Sand des Strandes. Das Meer erstreckte sich bis zum Horizont, hinter dem der ande re Kontinent lag. »Vielleicht solltest du mich nun Nomazar nennen«, sagte Gärax plötzlich ohne jede Einleitung. »Ich bin ziemlich sicher, daß es mein richtiger Name ist. Ich hatte ihn, wie alles andere auch, vergessen.« »Und warum fällt er dir nun wieder ein?« »Ich kann es nicht erklären, wie es auch keine Erklärung dafür gibt, wie ich zu euch gelangte, praktisch aus dem Nichts. Ich weiß auch nicht, ob ich einst zur Besatzung eines Organschiffs gehörte und entfloh. Glaube mir, ich habe mir schon den Kopf zermar tert, aber ich finde keine Antwort. Wenn ich Glück habe, wird das Geheimnis eines Ta ges gelüftet, oder die Erinnerung kehrt zu rück.« Yltic lächelte. »Also gut … Nomazar. Vielleicht hilft es dir sogar, wenn du deinen ursprünglichen Namen zu hören bekommst. Wenn er dir wieder einfiel, kann dir auch etwas anderes wieder einfallen. Übrigens machen deine Tauchübungen Fortschritte. Bald werden wir zusammen auf die Jagd gehen können. Auf die Jagd unter Wasser, meine ich.« »Warum nicht schon heute?« »Es ist noch zu gefährlich für dich, aber wenn du zusehen möchtest, werde ich gern einen Raubfisch für dich erlegen. Es ist
Nomazar, der Sklave schon lange her, seit ich Beute nach Hause brachte.« »Ist das nicht zu gefährlich?« »Allein tauchen, meinst du? Oh, nein, ich habe es schon oft gemacht. Später wirst du mich dann begleiten können, doch heute muß ich es dir noch verbieten.« »Ich hätte die Jagd nicht erwähnen sol len«, warf Nomazar sich vor. »Ich bin dir sogar dankbar dafür«, lachte Yltic und sprang auf die Füße. »Schluß mit dem Faulenzen! Wir fahren hinüber zur Nachbarinsel. Dort gibt es Felsen und tiefe Buchten. In ihnen halten sich die Raubfische gern auf.« Nach einer knappen halben Stunde er reichten sie die andere Insel und ankerten in der bereits bekannten Bucht. Kein anderes Boot war zu sehen. »Die Sonne steht gut«, erklärte Yltic. »Du wirst, wenn du vorn am Bug liegst und ins Wasser schaust, sehr tief sehen können. Ich will versuchen, immer in deinem Sichtbe reich zu bleiben, damit du lernst, wie man den Gegner jagt.« Er legte die Kleidung bis auf den Gürtel ab, in dem zwei Jagdmesser steckten. Ein drittes nahm er in die Hand und ging zur Re ling. »Sei vorsichtig!« bat Nomazar. »Das bin ich immer, sonst lebte ich schon längst nicht mehr«, rief Yltic zurück und hechtete über die Reling ins Wasser. Nomazar rannte vor zum Bug, legte sich flach auf den Bauch und wartete, bis sich die Wasseroberfläche beruhigte. Dann erst sah er die hellen Umrisse seines Freundes, der an der steil abfallenden Felswand hinab tauchte. Bis in eine Tiefe von zwanzig Metern konnte Nomazar ihn gut verfolgen, aber dann entschwand der junge Ximmerrähner seinen Blicken. Wahrscheinlich war er in ei ne der zahlreichen Unterwasserhöhlen ein gedrungen. Nach drei Minuten kam Yltic wieder zum Vorschein. Undeutlich nur erkannte Noma zar, daß er zu ihm heraufwinkte. Dann
33 tauchte er hinab bis zum Grund. Weiter seitlich, wo das Wasser tiefblau wurde, sah Nomazar plötzlich einen riesigen Schatten, der langsam näher kam. Ein ausgewachsener Raubfisch, wahr scheinlich ein gefräßiger Einzelgänger! Nomazar schrie eine Warnung, aber dann verstummte er. Der Freund vermochte ihn jetzt nicht zu hören. Rufen war sinnlos, und wenn er mit der Holzstange auf das Wasser klopfte, lockte er den Räuber nur heran. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als ganz ruhig liegenzubleiben und zu beobach ten. Yltic schien die Gefahr noch nicht be merkt zu haben, denn gemächlich strich er zwischen Wasserpflanzen und Kleinfischen einher. Erst als der große Schatten direkt über ihm war, sah er ihn. Sein Verhalten änderte sich blitzartig. Er drehte sich auf den Rücken und hielt das Messer stoßbereit, während der Raub fisch zu ihm herabsank und dann angriff. Dabei öffnete er sein Maul, das so groß war, daß ein Ximmerrähner darin verschwinden konnte. Nomazar hielt unwillkürlich die Luft an, als Yltic mit einer schnellen Bewegung an die Seite des Räubers gelangte und sein Messer tief in den riesigen Körper stieß. Der Fisch machte einen regelrechten Satz und überschlug sich, aber er war nicht tödlich verwundet. Seine Wut erreichte den Höhe punkt, und er griff erneut an. Yltic war ein Stück abseits geschwommen und hatte sein zweites Messer in der Hand. Er wartete, bis der Räuber heranschoß, wich geschickt aus und kam dann seinerseits von oben herab und klammerte sich an einer Rückenflosse fest. Mindestens fünfmal konnte er die Klinge in den Leib des Fisches stoßen, ehe er abgeschüttelt wurde und dabei seine Waffe verlor. Nun hatte er nur noch ein Messer. Nomazar unterdrückte den Impuls, ins Wasser zu springen und seinem Freund zu helfen, aber genau das hatte ihm dieser streng verboten.
34 Also blieb er liegen, wenn auch vor Erre gung zitternd. Mit seinem dritten und letzten Messer und mit noch für knapp fünf Minuten Luft in den Lungen setzte Yltic nun zum Todesstoß an. Diesmal kam er von unten, so daß er für ei nige Augenblicke von dem Schatten des Fi sches verdeckt wurde. Die Reaktion des Räubers verriet jedoch, daß er schwer ver wundet worden war. Das Wasser um ihn herum färbte sich rot. Taumelnd versuchte das todwunde Tier zu fliehen. In diesem Moment sah Nomazar vom Meer her kommend vier oder fünf der riesi gen Schatten herbeischwimmen. Dann wa ren es plötzlich fast ein Dutzend, die sich auf Yltic stürzten, der die Gefahr viel zu spät bemerkte. Diesmal mißachtete Nomazar das Verbot. Er riß sein eigenes Messer aus dem Gürtel und sprang über Bord, nachdem er tief Luft geholt hatte. Schnell sank er in die Tiefe, aber seine das Wasser ungewohnten Augen konnten die nähere Umgebung nur undeut lich erkennen. Der getötete Raubfisch trieb an ihm vor bei langsam zur Oberfläche. Durch das vom Blut gefärbte Wasser sah er die wirbelnden Körper der Angreifer, die Yltic keinen Fluchtweg offengelassen hatten. Der Xim merrähner wehrte sich verzweifelt und stach wie ein Verrückter um sich, aber es nützte ihm nichts mehr. Nun griff auch Nomazar an, und zu seiner Überraschung floh der Raubfisch sofort, den er verwundet hatte, aber er nahm sein Messer mit. Gleichzeitig sah er, wie eines der Raubtiere Yltic halb verschluckte und eiligst mit seiner Beute da vonschwamm. Die anderen Fische ignorier ten Nomazar, der bald keine Luft mehr in den Lungen hatte, und schwammen hinter ihrem Artgenossen her, um ihm die Beute wieder abzujagen. Nomazar zog sich an Bord und blieb mi nutenlang schwer atmend liegen. Abgesehen davon, daß er seinen besten und einzigen Freund auf dieser Welt verloren hatte, würde sich sein künftiges Leben nun von Grund
Clark Darlton auf ändern.
* Inzwischen war ein leichter Sturm aufge kommen, und als das Boot die Bucht ver ließ, um den Meeresarm, der die Insel vom Festland trennte, zu überqueren, wäre No mazar fast von Bord geschleudert worden. Mit Mühe nur konnte er das kleine Schiff auf Kurs halten, aber die hohen Wellen folg ten ihm bis weit in die Flußmündung hinein. Mit letzter Kraft erreichte er den schützen den Hafen bei Gomähns Haus. Er band das Boot fest und blieb dann ganz ruhig sitzen, so als warte er auf Yltic, der sonst immer noch in der Kabine alles ordne te und dann zum Vorschein kam. Aber Yltic würde nie mehr kommen. Oben beim Haus erschien Dyräa und winkte. Als niemand zurückwinkte, lief sie durch den Park hindurch hinab zum Hafen. Sie kam auf den Steg und sah Nomazar an. »Wo steckt Yltic, Gärax?« fragte sie, und in ihrer Stimme war ein Unterton, der No mazar noch mehr erschreckte. »Was macht er so lange in der Kabine?« »Yltic ist … er hat getaucht und gejagt. Und da …« Dyräa riß ihre großen Augen noch weiter auf. Ihr Gesicht verzerrte sich zu einer Mas ke des Erschreckens. Langsam kletterte sie an Bord. Vor Nomazar blieb sie stehen. Sie zitterte am ganzen Körper. »Yltic … ist er tot?« Nomazar nickte schwer. »Ein Dutzend Raubfische waren es, nie mand konnte ihm helfen. Ich habe es ver sucht, aber es war unmöglich.« Sie setzte sich auf das Deck. »Yltic ist tot …? Ich kann es nicht begrei fen, und ich werde es nie begreifen.« Sie blickte auf und sah ihn erschrocken an. »Wie bringen wir es seinem Vater bei? Du fährst mit Yltic hinaus aufs Meer und kommst ohne ihn zurück …« »Wir müssen es ihm sagen, Dyräa. Ist er schon zu Hause?«
Nomazar, der Sklave
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»Er ist da, und er ist so guter Laune.« Plötzlich schien ihr erst so richtig bewußt zu werden, was geschehen war. Sie begann hemmungslos zu weinen. Nomazar versuchte sie zu trösten, so gut er es vermochte, dabei hätte er selbst Trost benötigt. Die meiste Angst hatte er vor der Reaktion Gomähns, dem nach dem Tod sei ner Frau nur noch der einzige Sohn geblie ben war. »Komm, Dyräa, wir müssen gehen. Ich weiß, wie furchtbar das alles für dich sein muß, aber mir fällt es auch nicht leicht. Yltic war mein Freund. Was soll ich nun ohne ihn anfangen? Auf dieser Welt bin ich doch nur ein Sklave.« Sie antwortete nicht, gab ihm aber die Hand und ließ sich von Bord helfen. Neben einander gingen sie durch den Park hinauf zum Haus.
* Gomähn blieb ganz ruhig in seinem Ses sel sitzen, als er das Furchtbare erfuhr. Dyräa erzählte es ihm, so schonend wie möglich, wobei ihr die Tränen über die Wangen liefen. Nomazar stand dicht neben ihr, den Blick zum Boden gesenkt und eben so erschüttert wie Gomähn. Geduldig warte te er, bis das Wort an ihn gerichtet wurde. Der Netzer sah ihn nicht an, als er fragte: »Es war deine Pflicht, ihn zu retten, und wenn du dabei von den Raubfischen zerris sen worden wärst. Du stehst jedoch gesund vor mir, ohne jede Verwundung. Wie kannst du mir das erklären?« »Gomähn, ich sprang ihm nach, als ich den Schwarm nahen sah. Ich griff die Räu ber an, verwundete auch einen von ihnen, aber die anderen schleppten Yltic davon, viel schneller, als jemand zu schwimmen vermag. Da war nichts, was ich tun konnte.« »Er hätte dort nicht tauchen dürfen, die Buchten der Felseninsel sind viel zu gefähr lich. Ich kenne sie.« Er blickte endlich auf. »Ich will dir keine Schuld geben, denn dein Tod hätte meinen Sohn auch nicht wieder le
bendig gemacht. Aber, ich werde nicht ver hindern können, daß man dich vor Gericht stellt. Man wird dir viele Fragen stellen, denn es ist nicht das erstemal, daß eine Figur ohne seinen Herrn zurückkehrte.« »Wie meinst du das, Gomähn?« »Ich will damit andeuten, daß manche Netzer oder Fänger glauben werden, du hät test Yltic absichtlich getötet.« Nomazar wich erschrocken zurück. Dyräa packte seinen Arm, um ihn zu beschwichti gen. »Ich – und Yltic töten? Ich wäre gern für ihn gestorben, wenn das einen Sinn gehabt hätte, Gomähn, das weißt du! Er war mein bester Freund auf dieser Welt.« Gomähn nickte. »Sicher, ich weiß das, aber nicht jene, die euer Verhältnis nur ungern sahen. Sie wer den es sein, die deine Verurteilung fordern. Ich kann dir nicht helfen … diesmal nicht. Berichte ihnen die Wahrheit, dann sollte die Gerechtigkeit auch siegen. Ich hoffe es we nigstens.« »Ich glaube dir«, sagte Dyräa leise. Der Trost tat Nomazar zwar gut, aber er würde ihm nicht helfen. Aber er hatte ein reines Gewissen und keine Furcht mehr. Das Schlimmste, nämlich Gomähn die Nachricht vom Tod Yltics zu überbringen, lag hinter ihm. »Darf ich schlafen gehen?« fragte er mit gepreßter Stimme. Gomähn nickte ihm zu. »Vor morgen werden sie dich nicht holen, Gärax.« »Darf ich euch bitten, mich von nun an Nomazar zu nennen. Ich glaube, das ist mein richtiger Name. Er fiel mir heute ein.« »Sonst fiel dir nichts ein?« »Nichts.« »Also gut, Nomazar, dann werde ich den Namen Gärax zusammen mit dem meines Sohnes in guter Erinnerung behalten. Yltic starb erst, als sein Freund Nomazar hieß …«
*
36 Sie kamen am nächsten Vormittag, um ihn zu holen. Es waren zwei Fänger unter der Führung eines vornehmen Netzers, der am Gericht ar beitete. Er wechselte einige Worte mit Go mähn, zu dem er kein gutes Verhältnis zu haben schien, dann befahl er seinen Beglei tern, Nomazar die Hände auf den Rücken zu fesseln. In einem motorgetriebenen Fahr zeug brachte man ihn dann in die Stadt und in das Gefängnis, wo man ihm die Fesseln wieder abnahm und in eine Zelle stieß. Mit einem dumpfen Laut schloß sich die dicke Holztür. Das einzige Fenster war vergittert, aber er konnte es leicht erreichen, wenn er den Sitz schemel zu Hilfe nahm. Er sah nach drau ßen. Zu seinem Erstaunen erblickte er kei nen Gefängnishof, wie er es eigentlich er wartet hatte, sondern eine der Straßen von Mulgaxähn. Es schien jedoch nur eine Ne benstraße zu sein, denn es herrschte trotz der Mittagszeit kaum Verkehr. Nur ab und zu ging ein Ximmerrähner an den Häusern ent lang, das war alles. Er setzte sich auf das primitive Lager. Was konnten sie ihm schon anhaben? Er war unschuldig. Er hatte keine Angst vor der Verhandlung, aber er konnte die Trauer um den toten Freund nicht zurückdrängen. Er fühlte, daß er nun allein auf dieser fremden Welt war, von der er nicht einmal wußte, in welchem Teil des Universums sie lag. Universum …? Ihm war, als rege sich tief in seinem Un terbewußtsein eine vage Erinnerung, ein Hauch von einmal Erlebtem und einstigem Wissen. Aber sosehr er sich auch bemühte, es wurde nicht mehr. Die einzige Erinnerung an seine Vergan genheit schien der Name zu sein, der ihm plötzlich eingefallen war: Nomazar. War das eine Art Schlüssel? Nachdenk lich betrachtete er den staubigen Fußboden, auf dem seine Spuren deutlich zu erkennen waren. Aus einem Impuls heraus beugte er sich hinab und schrieb mit den Fingern in den dicken Staub:
Clark Darlton NOMAZAR – Wieder regte sich etwas in seinem Unterbewußtsein, so als hätten die Buchstaben etwas in ihm aktiviert, das bis her tief geschlummert hatte. Hatten die Buchstaben seines Namens – wenn er es war – etwas zu bedeuten? Nomazar …? Oder vielleicht: MAZARON? Nein, da regte sich überhaupt nichts. Wahllos malte er die sieben Buchstaben seines vermutlichen Namens in den Staub, die er nun für den Schlüssel zu seiner ver blaßten und verlorenen Erinnerung hielt, aber er erzielte kein greifbares Ergebnis. Ein Wärter brachte ihm das Essen und schloß die Tür, ohne ein Wort gesprochen zu haben. Draußen vor dem Fenster begann es allmählich dunkel zu werden. Heute würde es also keine Verhandlung mehr geben. NOMRAZA …? Nein, das konnte es auch nicht sein. Verdammt! Wie überhaupt kam er hier her? Und was war vorher gewesen? Wer war er? Nomazar …? Draußen auf der Straße war es noch stiller geworden. Wagten sich die Ximmerrähner abends nicht aus dem Haus? Nun, ihm konn te es nur recht sein, dann würde er ruhig schlafen können. Eine verrückte Welt, wenn er es sich recht überlegte. Aber wie konnte er Vergleiche anstellen, wenn er keine Erinnerung besaß? Oder besaß er sie doch? Jedenfalls konnte er sich vorstellen, daß es andere Welten gab, auf denen es nicht so verkehrt zuging, auf denen es keine Kasten und Rangunterschie de wie hier gab, auf denen man nicht voller Furcht auf das Schiff des Neffen wartete, um … Verkehrt! Hastig beugte er sich hinab und begann erneut zu schreiben. Diesmal nahm er ein fach die Buchstaben seines Namens und malte sie in umgekehrter Reihenfolge in den Staub: RAZAMON – Es durchzuckte ihn wie ein elektrischer Schlag, aber das war auch alles.
Nomazar, der Sklave
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Doch es konnte kein Zweifel daran beste hen, daß diese Aneinanderreihung der Buch staben seines Namens etwas Wichtiges zu bedeuten hatte. Eine Stadt vielleicht? Oder der Name ei ner Welt, auf der er gelebt hatte? Nein, das wäre ein Zufall gewesen, und er wollte nicht an Zufälle glauben. Wenigstens nicht so leicht. Razamon! Er bückte sich und wischte alle Buchsta ben weg, die er geschrieben hatte. Vergessen würde er sie diesmal nicht mehr. Er streckte sich auf der Pritsche aus und schloß die Augen. Er mußte morgen ausge ruht sein, wenn er die Fragen seiner Richter beantworten wollte. Razamon … Das Wort ging ihm nicht mehr aus dem Sinn.
* Der Gerichtssaal befand sich im gleichen Gebäude. Sie holten ihn am Vormittag und brachten ihn ohne Fesseln in den Käfig des Ange klagten. Dieser stand auf einem erhöhten Podest und war mit Gitterstäben verkleidet. Er erinnerte an einen Raubtierkäfig. Der Zuschauersaal war gefüllt, und die meisten der anwesenden Ximmerrähner tru gen das Zeichen der Netzer. Aber es gab auch Fänger, Schwimmer und Esser. Alle Kasten waren somit vertreten – bis auf die Figuren. Davon gab es nur eine, den Ange klagten selbst. Der oberste Richter war in einer Farbe ge kleidet, die undefinierbar blieb. Zu seinen Seiten saßen je drei andere Richter, die blaue Gewänder trugen. Sie alle waren Net zer. In der ersten Reihe entdeckte Nomazar Gomähn und Dyräa, die ihm unauffällig zu winkte. Er lächelte zurück, und niemand konnte wissen, wem er zulächelte. Aber sei ne offensichtliche Zuversicht verursachte unwilliges Murren unter den Zuschauern. Als sich der oberste Richter erhob, trat
Schweigen ein. Mit monotoner Stimme begann er zu spre chen und sagte: »Ximmerrähner aller Kasten! Wir haben heute ein Urteil zu fällen, das schon jetzt festzustehen scheint. Diese Figur dort, sein Name ist Gärax, ist des Mordes an einem Netzer angeklagt. Darauf steht die Todes strafe, wenn es ihm nicht gelingt, seine Un schuld nachzuweisen. Ich gebe dem Anklä ger das Wort.« Einer der sechs anderen Richter erhob sich. »Die Figur Gärax fuhr allein mit seinem Herrn zur Felseninsel und kehrte ohne ihn zurück. Wer von uns kann noch daran zwei feln, daß Gärax die einmalige Gelegenheit nutzte, die sich ihm bot? Es wäre nicht das erstemal, daß eine Figur ihren Herrn tötet. Die Tat ist um so verwerflicher, als wir alle wissen, daß Gomähns Sohn Yltic zu seiner Figur ein Verhältnis unterhielt, das an Ver traulichkeit grenzte. Yltic wurde angeblich auf der Jagd von Raubfischen zerfleischt. Ich aber behaupte, daß Gärax ihn mitten auf dem Meer einfach über Bord geworfen hat. Darum beantrage ich die Höchststrafe – den Tod für den Angeklagten.« Nomazar erschrak nun doch. Er fühlte die Blicke der sieben Richter auf sich vereinigt. Gab es denn keinen Verteidiger? »Was hast du zu sagen?« fragte der ober ste Richter in der Mitte. »Ich bin unschuldig!« rief Nomazar. »Wenn ich Yltic ermordet hätte, warum wä re ich dann wohl in das Haus Gomähns zu rückgekehrt? Wäre ich nicht zu den Entflo henen in die Wälder gegangen?« »Niemand kennt die Motive eines ande ren, aber welche auch immer du hattest, sie beweisen deine Unschuld nicht.« »Aber er kam zurück!« rief Dyräa aus dem Saal. »Er war Yltics Freund! Warum hätte er ihn töten sollen?« »Es mag viele Gründe geben, aber der Angeklagte wird sie uns nicht enthüllen. Wir können uns nur an die Tatsache halten, daß Yltic tot ist und seine Figur ohne ihn zurück
38 kehrte. Gärax ist fremd auf unserer Welt. Wohin hätte er sonst gehen sollen? Viel leicht geschah die Tat unüberlegt, aber das ändert nichts. Mord bleibt Mord.« Der oberste Richter schien nun das Amt des Anklägers übernommen zu haben. Er ließ nicht einmal Gomähn zu Wort kommen, der etwas sagen wollte. Nomazar wurde überhaupt nicht mehr gefragt, und als das Urteil mittags verkündet wurde, gab es keine Überraschungen. »Tod durch die Raubfische«. Nomazar fing noch einen bezeichnenden Blick Dyräas auf, als man ihn hinausführte, aber er vermochte nicht, das Zeichen zu deu ten, das sie ihm machte. Man brachte ihn in seine Zelle zurück, aber bereits am Nachmit tag holte man ihn wieder heraus, brachte ihn zum Hafen und sperrte ihn dort in einem Raum ein, von dessen vergittertem Fenster aus er das Meer zu sehen vermochte. Das Meer, in dem Yltic gestorben war und in dem er – Nomazar – bald sterben würde. Aber noch schien es nicht soweit zu sein, denn niemand kümmerte sich um ihn. Drau ßen war der Lärm des Hafens. Ein Schiff Ondoscähns war eingetroffen und wurde entladen. Angekettete Figuren wurden durch die Straße getrieben, einem ungewissen Schicksal entgegen. Langsam wurde es dunkel. Noch einmal erschien ein Wärter und brachte ihm einen Krug mit Wasser. Zu es sen gab es nichts, aber Nomazar verspürte auch keinen Hunger. Als es ruhiger gewor den war, untersuchte er sein Gefängnis. Die Tür machte keinen sonderlich stabilen Eindruck, sie würde keine Schwierigkeiten bereiten. Die Frage war nur, ob er sie öffnen konnte, bevor der oder die Wärter etwas merkten. Sie wurde außen von einem Holz riegel gehalten, der von innen nicht zu öff nen war. Aber das Holz der Tür selbst war dünn. Man konnte es ohne Werkzeug zer trümmern. Auch das Fenstergitter war schwach. No mazar packte mit beiden Händen zu und probierte seine Stärke. Die Stäbe ließen sich
Clark Darlton leicht verbiegen. Der Rahmen begann schon jetzt zu zersplittern. Einigermaßen beruhigt setzte er sich auf das einfache Lager und beschloß, Mitter nacht abzuwarten und dann zu fliehen. Die Ximmerrähner hatten sich getäuscht, wenn sie glaubten, er ließe sich von ihnen ab schlachten. Die Raubfische würden um ihre Beute kommen. Trotz seiner Erregung und Anspannung schlief er ein, wurde aber dann durch ein Geräusch geweckt, das er sich zuerst nicht erklären konnte. Dann war es wieder da! Je mand hatte einen Stein geworfen, der durch die Gitter hindurch in sein Gefängnis gefal len war. Mit einem Satz war er beim Fenster und sah hinaus. Viel war nicht zu sehen, denn eine Straßenbeleuchtung gab es in die ser Gegend nicht. Dann aber glaubte er un ten auf der Straße einen Schatten zu erken nen, schließlich ein helleres Gesicht, das zu ihm emporblickte. Dyräa! Er flüsterte den Namen nur, und ebenso flüsternd kam die Antwort. Es war in der Tat Dyräa. Nomazar huschte zur Tür und horchte, aber er vernahm kein Geräusch draußen auf dem Gang. Dann bog er die Gitterstäbe des Fensters so weit auseinander, daß er durch schlüpfen konnte. Er sah nach unten, wo Dyräa auf ihn wartete, nun im Schatten des Hauses. Die Tiefe mochte gut fünf Meter betra gen. Nomazar ließ sich vorsichtig an der Holzwand herab und als er schließlich losließ, fiel er nur gute drei Meter. Er lande te dicht neben Dyräa, die sofort nach seinem Arm griff. »Komm mit!« hauchte sie und zog ihn mit sich. »Ehe sie deine Flucht bemerken und die Fänger losschicken.« »Wohin?« fragte er. »Später!« erwiderte sie nur und beschleu nigte ihre Schritte. Sie hatten das Hafengebiet kaum hinter sich gelassen, als dort eine Glocke geläutet wurde. Ihr dumpfer Klang hallte durch die Nacht und weckte die Bürger Mulgaxähns
Nomazar, der Sklave
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aus dem Schlaf. Nun wußte jeder, daß der Mörder Yltics geflohen war, und die erbar mungslose Jagd auf ihn begann. Erst als sie die Randbezirke der Stadt er reichten, begann Nomazar zu ahnen, wohin Dyräa ihn zu bringen gedachte. »Glaubst du, daß ich dort sicher bin?« »Im Boot Yltics wird dich niemand ver muten«, sagte sie zuversichtlich. »Es sind nur ein paar Tage, dann ist alles vorbei.« »Das verstehe ich nicht.« »Du wirst es bald verstehen«, versicherte sie, ohne weitere Angaben zu machen. Sie schlichen durch den Park und erreich ten das kleine Hafenbecken, in dem das Boot am Steg lag. Dyräa sagte: »Bleib immer in der Kabine und laß dich draußen auf dem Deck nicht sehen. Nie mand wird hierherkommen, auch keine Fi guren. Du findest in der Kabine Vorräte und Wasser – und Waffen. Ich werde dich spä ter, wenn es hell ist, aufsuchen. Niemand wird Verdacht schöpfen, wenn ich mich hierher zurückziehe, um zu trauern. Jeder weiß, daß ich mit Yltic immer hier im Boot war.« »Du bist sehr tapfer«, flüsterte Nomazar, dem nichts anderes einfiel. »Ich warte auf dich. Und – danke!« Sie versuchte zu lächeln. »Du wärest auch ohne mich geflohen, nicht wahr?« Er nickte. »Ja, das wäre ich, aber ich hätte nicht ge wußt, wohin ich gehen sollte. Ääna und sei ne Leute befinden sich schon längst auf ho her See in Sicherheit, ich hätte sie nicht mehr erreichen können. Ich hätte also nur in die Wälder gehen können.« »Hier ist es besser«, entschied sie und huschte davon. Nomazar zog sich in die Kabine zurück und schloß die kleine Holztür. Dann streckte er sich auf dem Lager aus.
6.
»… ich darf dich doch ›Vater‹ nennen?« fragte Dyräa, als sie mit Gomähn beim Früh stückstisch saß. »Natürlich, mein Kind. Seit Yltic tot ist, bist du meine Tochter. Ich habe sonst nie manden.« »Dann habe ich eine große Bitte, Vater. Ich möchte Yltics Boot nehmen und flußauf wärts fahren. Ich will jene Stellen aufsu chen, an denen wir so oft glücklich waren. Verstehst du das?« »Sicher verstehe ich das, mein Kind. Flußaufwärts drohen weniger Gefahren als auf dem Meer. Nimm Ähnox mit, er ist zu verlässig.« »Ich möchte allein sein, Vater.« »Das ist nicht gut. Du weißt, daß Gärax … äh, ich meine Nomazar geflohen ist. Überall sind die Jagdkommandos unterwegs, auch auf dem Fluß. Sicher, sie bedeuten kei ne Gefahr für dich, aber es könnte sein, daß sie andere entflohene Figuren aus dem Wald auf den Fluß treiben. Du brauchst Schutz.« »Niemand wird mir etwas tun, Vater.« »Ich weiß nicht, Dyräa. Ich werde keine Ruhe haben, wenn du allein mit dem Boot unterwegs ist.« »Aber nur allein kann ich Trost finden.« Das allerdings sah Gomähn, wenn auch innerlich widerstrebend, ein. Zögernd gab er also seine Erlaubnis, bat aber Dyräa dann: »Und fahre mir nur nicht zu weit den Strom hinauf, bleibe in der Nähe der Stadt. Wenn du in einer Bucht ankerst, halte dich weit genug vom Ufer, damit du im Fall eines Angriffs rechtzeitig fliehen kannst. Wenn du mir das versprichst, werde ich beruhigter sein. Wir haben heute eine wichtige Sitzung, auf die ich mich konzentrieren muß. Ich darf nicht durch die Sorge um dich abgelenkt werden.« »Du brauchst dir keine Sorgen zu ma chen. Worum geht es denn in dieser Sit zung?« Wieder zögerte Gomähn, dann eröffnete er Dyräa, daß in den nächsten Tagen schon das Schiff des Neffen erwartet würde. Eine entsprechende Information sei eingegangen.
40 Er verabschiedete sich von seiner Pflege tochter und fuhr in die Stadt. Dyräa sprach noch mit dem Hausdiener Ähnox und instru ierte ihn über ihre Absichten, dann ging sie hinab zum Hafen. Nomazar erwartete sie bereits voller Un geduld. »Ich habe mir schon Sorgen gemacht«, gestand er, nachdem sie die Kabinenluke hinter sich zugezogen hatte. »Sehr sicher fühle ich mich hier nicht. Heute früh sind schon einige Schiffe mit Jagdkommandos der Fänger flußauf gefahren. Ich fürchtete stets, sie würden hierherkommen und das Boot durchsuchen.« »Sie werden es kaum wagen, das Privat boot eines Netzers grundlos zu betreten«, beruhigte sie ihn. »Du bist hier sicher, glau be es mir. Aber um absolut sicher zu sein, werde ich dich an einen Ort bringen, der dir mehr Bewegungsfreiheit bietet. Du kennst ihn. Es ist die Insel im Strom, zwei Stunden Fahrt bei gutem Wind.« Er blickte sie überrascht an. »Aber die Insel – Yltic hat doch gesagt, daß sie das Ausflugsziel der Mulgaxähner ist. Dort wird es von Ximmerrähnern nur so wimmeln.« »Nur am Strand, wenn überhaupt. Die In sel ist nicht besonders groß, aber sie ist total überwuchert von Gestrüpp und Büschen. Niemand kann dich in ihrem Innern finden, und nachts hält sich niemand dort auf. Aber das ist nicht der einzige Grund, warum ich dich zur Insel bringe. Du kannst von ihr aus jederzeit zum rechten Flußufer schwim men.« »Was soll ich denn da? Meinst du die Wälder?« »Nicht ganz, Nomazar. Sicher, es gibt auch auf dem rechten Ufer Wälder, aber in der Hauptsache Felder und vereinzelte Far men. Vor allen Dingen aber kannst du von dort aus, wenn du dich nach Norden hältst, den Raumhafen erreichen. Eigentlich ist es nur ein freier Platz, der von Lagerhallen um geben ist. Dort kannst du dich verstecken, wenn es soweit ist.«
Clark Darlton Er schüttelte verständnislos den Kopf. »Wenn es soweit ist …? Was meinst du damit?« Sie lächelte hintergründig. »Gomähn wird mir heute noch mitteilen, wann das Schiff des Neffen landet, um unse re Abgaben abzuholen. Ich dachte mir, es sei das beste für dich, wenn du versuchst, unbe merkt an Bord dieses Schiffes zu gelangen und mit ihm Ximmerrähne zu verlassen.« »Und wenn ich entdeckt werde?« »Schlimmeres als auf unserer Welt kann dir auch nicht mehr passieren. Hier droht dir der sichere Tod. Die Fremden in dem Schiff sind vielleicht barmherziger.« Sie öffnete die Luke. »Du mußt jetzt in der Kabine blei ben, damit dich niemand sieht.« »Kannst du das Schiff allein steuern? Das Segel muß aufgezogen werden und …« »Ich habe es oft genug gemacht, wenn ich allein ausfuhr.« Sie war auf Deck, ehe er noch etwas sa gen konnte. Durch die Luke konnte er sie gut beob achten und ihre Geschicklichkeit bewun dern. Sie setzte das Segel und löste das Hal tetau, um dann mit einem Satz am Ruder zu sein. Der Wind kam aus Richtung Nordwest, so daß Dyräa nicht zu kreuzen brauchte. In flotter Fahrt ging es stromaufwärts. Sie saß neben dem Ruder und warf ihm einen belu stigten Blick zu. »Nun? Zufrieden?« »Sehr sogar, Dyräa. Wie sieht es auf dem Wasser aus? Viele andere Boote?« »Wir sind allein, aber bleibe trotzdem in der Kabine. Wir können uns auch so unter halten.« »Dieser Neffe, von dem immer gespro chen wird – weiß tatsächlich niemand, wer das ist?« »Niemand! Eins seiner Schiffe kommt al le drei Jahre, um die gesammelten Schätze abzuholen, aber das weißt du ja alles schon. Es ist so schon immer gewesen.« »Und du sagst, das nächste Schiff ist bald fällig?« »Gomähn wird es heute noch erfahren. Sie melden sich an.«
Nomazar, der Sklave »Wie?« »Das weiß ich nicht. Nur die Mitglieder der Regierung wissen es.« Nomazar überlegte, dann fragte er: »Du wirst mich also auf der Insel abset zen, wo ich warten soll. Wie soll ich wissen, wann das Schiff eintrifft?« Sie bewegte das Ruder und lenkte das Boot mehr in Ufernähe. »Sei ruhig jetzt, uns kommt ein Segler entgegen.« Nomazar konnte das andere Boot nicht se hen, darum beobachtete er Dyräa, die eine Hand zum Gruß hob und nach einer Weile sagte: »Es ist vorbei, wir sind wieder allein. Ich werde dich auf der Insel absetzen und zu rückfahren. Morgen oder übermorgen bin ich wieder da, und zwar am Nordufer der In sel. Ich werde dort kreuzen und auf ein Zei chen von dir warten. Wenn zu viele Zu schauer da sind, werde ich nicht landen. Aber ich werde das Segel einholen. Das be deutet, daß am nächsten Tag das Schiff des Neffen erwartet wird. Hole ich es zweimal ein, so kommt das Schiff in zwei Tagen. Hast du das verstanden?« »Dreimal Segel bedeutet drei Tage – ja, verstanden. Und dann?« »Wie ich schon sagte: Du schwimmst in der Nacht zum Festland und marschierst im Schutz der Dunkelheit nach Norden. Folge nur dem schmalen Nebenfluß, der gegenüber der Insel in den Strom mündet. Er biegt erst kurz vor dem Raumhafen nach Osten ab. Du kannst ihn nicht verfehlen.« Er blickte sie nachdenklich an. »Und beim Raumhafen? Gibt es dort ein Versteck für mich, wo ich die Ankunft des Schiffes abwarten kann?« Sie erklärte ihm, wie er sich verhalten sol le. In den Lagerhallen waren die Güter auf gestapelt, die abgeholt werden sollten. Sie riet ihm, sich vielleicht in einer der Kisten zu verstecken, so konnte er unbemerkt an Bord des Schiffes gelangen. Wenn das nicht möglich sein sollte, so würde sich bestimmt eine andere Gelegenheit finden, unbemerkt
41 an Bord zu kommen. Nomazar mußte sich eingestehen, daß sei ne Chancen äußerst gering waren. Aber wenn er auf Ximmerrähne blieb, hatte er überhaupt keine Chance. Er konnte sich nicht den Rest seines Lebens irgendwo in den Wäldern verbergen. Er mußte die Flucht versuchen, da blieb ihm keine andere Wahl. »Diese Fremden, die in dem Schiff sind, Yltic behauptete, sie sähen immer wieder anders aus.« »So ist es. Es ist auch jedesmal ein ande res Schiff. Hast du schon mal ein Raum schiff gesehen?« Nomazar zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht. Und wenn ja, dann ha be ich es vergessen. Ich weiß nur, daß es Fahrzeuge sind, mit denen man von einer Welt zur anderen fliegen kann – und zu den Sternen.« »Es muß viele Welten da draußen geben«, behauptete Dyräa. »Wir sind nur eine da von.« Das alles kam Nomazar vage vertraut vor, aber es gab keine Erinnerung, an die er sich klammern konnte. Es gab aber die Hoff nung, daß die Erinnerung geweckt wurde, wenn er das nur vage Vertraute wiedersah und selbst erlebte. Das war der zweite Grund, warum er die gefährliche Flucht wa gen mußte. Nach einer weiteren Stunde sagte Dyräa: »Die Insel kommt schon in Sicht. Wir ha ben gute Fahrt gemacht.« »Ist es nicht zu hell jetzt?« »Nein, denn es gibt viele einsame Buch ten an der Nordseite. Niemand wird sehen, daß du dort an Land gehst. Sei beruhigt, ich kenne die besten Plätze. Mit Yltic bin ich oft genug hier gewesen.« Sie schwieg wieder, übermannt von der Erinnerung an ihren Freund. Nomazar achte te ihre Gefühle und verhielt sich ebenfalls schweigsam, bis sie sagte: »Es sind nur wenige Leute hier. Gleich werde ich in meine Lieblingsbucht hinein fahren, sie ist unbesetzt. Übrigens muß ich
42 dich noch warnen: Vertraue dich von jetzt an keiner Figur mehr an. Ondoscähn hat auf deinen Kopf eine hohe Belohnung ausge setzt, der kein Sklave widerstehen kann. Wer dich zurückbringt, erhält die Freiheit. Wenn dich also eine Figur verrät und man fängt dich, so darf diese Figur mit dem nächsten Fängerschiff in seine Heimat jen seits des Meeres zurückkehren.« »Ich werde zu niemand Kontakt aufneh men«, versprach Nomazar. Dyräa holte das Segel ein. Das Boot trieb mit der kreisenden Strömung in die kleine Bucht und lief auf. Der Strand war sandig und schmal. Ringsumher wucherte Dickicht, dahinter standen Bäume. Dyräa band das Boot an einem Stamm fest und sprang an Land. Nomazar folgte ihr, als sie ihm ein Zei chen gab. »Ich werde dir Vorräte für ein paar Tage hier lassen. Sollte es länger dauern, bringe ich mehr. Sieh dort hinüber zum Festlandu fer. Die Mündung! Halte dich auf der linken Seite und folge dem Nebenfluß. Wenn er dann scharf nach rechts abbiegt, geh gerade aus. Du kannst die Lagerhallen schon von weitem sehen. Nachts sind sie beleuchtet.« Nomazar setzte sich in den warmen Sand. Sie folgte seinem Beispiel. »Ich werde hier auf dich warten und mich nur im Notfall ins Innere der Insel zurück ziehen. Hier gibt es soviel Spuren, daß mei ne kaum auffallen, auch wenn sie größer sind. Man hat einen guten Blick auf den Strom.« »Achte auf die Schiffe der Jagdkomman dos«, riet sie ihm. »Du erkennst sie am Zei chen der Fänger.« Er nahm ihre Hand. »Ich danke dir für alles, Dyräa. Du hast viel gewagt, um mich zu retten, aber nun ist es genug. Ich warte nur noch auf dein Zei chen, dann wird es besser sein, wenn du mich vergißt.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich werde am Raumhafen sein, wenn das Schiff kommt. Dort werde ich dich zum letz-
Clark Darlton tenmal sehen und wissen, ob deine Flucht gelungen ist. Aber was dann weiter mit dir geschieht …« Sie schwieg und seufzte. »Das kann niemand wissen«, beendete er ihren Satz. »Ich werde dich und Yltic nie mals vergessen. Eine Welt, die euch hervor gebracht hat, kann nicht durch und durch verdorben sein. Es ist eure Welt, ihr kennt keine andere. Ich hingegen … nun, ich ken ne auch keine andere. Aber ich weiß, daß ich andere gesehen und sie vergessen habe.« »Dein Schicksal ist geheimnisvoll und seltsam, Nomazar.« Er half ihr, als sie an Bord zurückkletter te, und schob dann das Boot in die Strö mung. Sie setzte das Segel, winkte noch ein mal und verschwand dann hinter einer Land zunge. Nomazar packte die Beutel mit seiner Verpflegung und trug sie einige Dutzend Meter landeinwärts, wo er ein gutes Ver steck fand. Durch das Laub hindurch konnte er einen Teil der Bucht überblicken, ohne selbst gesehen zu werden. Um sich die Zeit zu vertreiben, unternahm er eine Wanderung quer durch die Insel, die von schmalen und halb überwucherten Pfaden durchzogen war. Es war noch früher Nachmittag, als er in sein Versteck zurückkehrte. Nachdem er ge gessen hatte, sammelte er trockenes Reisig und bereitete sich ein Lager, auf dem er sich wohlig ausstreckte. Hier würde er es ohne Mühe einige Tage aushalten können.
* Drei Tage mußte er warten, bis Dyräa mit dem Boot erschien. Sie kreuzte in der Bucht, kam aber nicht bis zum Ufer. Wahrschein lich hielten sich noch andere Schiffe in der Nähe auf, und sie wollte keinen Verdacht er regen. Gespannt beobachtete Nomazar, wie sie das Segel einholte und sofort wieder setzte. Er sah, daß sie zurück zum Ruder eilte und das Boot hinaus auf den Strom lenkte. Minu
Nomazar, der Sklave ten später verlor er es aus den Augen. Das Schiff des Neffen würde also morgen ein treffen. Jetzt, da die Entscheidung gefallen war, verging die Zeit doppelt langsam. Nomazar verpackte die restlichen Lebens mittel in einen der Beutel und sah immer wieder hinüber zum anderen Ufer. Er würde eine beachtliche Strecke schwimmen müs sen und mit Sicherheit abgetrieben werden. Aber das war seine geringste Sorge. Wichtig war nur, daß er die Lagerschuppen und das Landefeld vor der Morgendämmerung er reichte. Er würde also heute abend so früh wie möglich aufbrechen, um die ganze Nacht zur Verfügung zu haben. Als es dunkel genug geworden war, ging er hinab zur Bucht. Das Wasser war wärmer als die Luft. Er machte erst gar nicht den Versuch, gegen die Strömung anzukämpfen, um Kräfte zu sparen. Der Beutel behinderte ihn, aber er hielt ihn fest, um ihn nicht zu verlieren. Als er endlich mit den Füßen Grund berührte, schätzte er, daß er fast einen Kilometer abgetrieben worden war. Das Ufer stieg steil an, dahinter lagen Wälder und Wiesen. Der Boden war fest und trocken. Er marschierte solange stromaufwärts, bis er den Nebenfluß erreichte, dessen Lauf er dann folgte. Wenn er sich an Dyräas Anwei sungen hielt, konnte er sein Ziel niemals verfehlen, auch nicht in der Nacht. Er ignorierte die vereinzelten Farmen, so weit sie ihm überhaupt auffielen. Die Welt Ximmerrähne schien zu schlafen, wenig stens hier. Manchmal nur schimmerte Licht durch die Blätter der Bäume, die in Gruppen wuchsen und kein Hindernis darstellten. Dann aber, nachdem er ungefähr drei Stunden gegangen war, sah er ein anderes Licht. Es wölbte sich wie eine mattglänzen de Kuppel über den Teil des Horizonts, der ziemlich genau im Norden lag. Das mußten die beleuchteten Lagerhallen beim Landeplatz sein, von denen Dyräa ge sprochen hatte. Nomazar erhielt die Bestäti gung dafür eine halbe Stunde später, als der Fluß scharf nach Osten abbog.
43 »Jetzt kann es nicht mehr weit sein«, mur melte er und marschierte ohne Aufenthalt weiter, sich von nun ab nur noch nach dem Licht richtend, das merklich heller geworden war. Dyräa hatte ihm erzählt, daß es schon vor gekommen war, daß entflohene Figuren in die Lagerhallen eingedrungen waren und von den Gütern gestohlen hatten, die dort für das Schiff des Neffen aufgestapelt auf ihren Abtransport warteten. Seitdem wurden die Hallen streng bewacht. Nach einiger Zeit fiel ihm auf, daß es kaum noch Bauminseln gab. Farmen hatte er schon lange keine mehr entdecken können. Es war, als bewege er sich durch ein absicht lich entvölkertes Gebiet, das man durch Ro dung übersichtlicher gemacht hatte. Tags über würde es schwierig sein, hier ein Ver steck zu finden. Im Osten bildete sich langsam ein heller Streifen über dem Horizont, aber es würde erst in zwei Stunden zu dämmern beginnen. Vor sich konnte Nomazar bereits die dunklen Umrisse der Lagerhallen erkennen, die sich gegen die Leuchtglocke gut abho ben. Die Schatten verrieten deutlich, daß die Gebäude nur vom Landeplatz her ange strahlt wurden, nicht aber von außen. Wenn er sich also in ihrem Schatten hielt, würde auch er nur ein kaum zu entdeckender Schatten bleiben. Als er die Schritte hörte, ließ er sich ein fach zu Boden fallen und blieb regungslos liegen, nachdem er sein Messer aus dem Gürtel gezogen hatte. Er versuchte, das Dun kel mit den Augen zu durchdringen und lauschte angestrengt in die Richtung, aus der die Schritte sich unaufhaltsam näherten. Dann hörte er, daß leise gesprochen wurde. Es waren zwei Ximmerrähner, die ihre Wachrunde absolvierten, ohne besonderen Wert auf Vorsicht zu legen. Aus ihrem Ge spräch, das Nomazar fast eine Minute lang verfolgen konnte, denn sie gingen sehr lang sam, ging hervor, daß man das Schiff des Neffen gegen Mittag erwartete. Ein Großteil der Güter war schon ins Freie gebracht wor
44 den, den Rest würde man nach Tagesan bruch hinausschaffen. Nomazar wartete, bis die Schritte der bei den Wachtposten nicht mehr zu hören wa ren, dann schlich er weiter. Sorgfältig achte te er darauf, im Schatten der Gebäude zu bleiben. Er atmete erleichtert auf, als er die Rück wand der ersten Lagerhalle erreichte, vergaß aber dabei nicht, daß der schwierigste Teil seiner Flucht noch vor ihm lag. Insgeheim hoffte er, in der Furcht der Ximmerrähner vor der fremden Besatzung des Raumschiffs einen Verbündeten zu haben. Erneut stellte er sich die Frage, ob er wirklich einst mit ei nem solchen Schiff auf diese Welt gekom men war, aber auch das würde seinen Ge dächtnisverlust nicht erklären. Behutsam tastete er sich an der Gebäude wand entlang, bis er ihr Ende erreichte. Vor sichtig sah er um die Ecke und schloß ge blendet die Augen. Einer der Scheinwerfer schien genau auf ihn gerichtet zu sein, aber das war Zufall. Er tauchte die Seitenfront der Halle in grelles Licht. Dort befand sich eine Tür, wahrscheinlich für die Lagerarbei ter. Um sie zu erreichen, mußte Nomazar sich gute zehn Meter dem Lichtkegel des Scheinwerfers aussetzen. Er mußte dieses Risiko auf sich nehmen, ob er wollte oder nicht. In einer Stunde würde die Dämme rung einsetzen. Die einzelnen Lagerhallen waren etwa fünfzig Meter voneinander entfernt und bil deten insgesamt gesehen einen riesigen Kreis, der wiederum das Landefeld darstell te. Der Durchmesser dieses Kreises mochte zwei Kilometer betragen. An seinem Rand, aber noch innerhalb der Häuserfronten, stan den die Scheinwerfer auf hölzernen Türmen. Nomazar konnte keine Wachtposten ent decken. Wahrscheinlich patrouillierten sie nur außerhalb des Lagerkomplexes, und das nicht einmal sehr aufmerksam und pflichtbe wußt. Sonst wäre er nie bis zu dieser Stelle gekommen. Unwillkürlich hielt er die Luft an, als er blitzschnell bis zur Tür huschte und das
Clark Darlton Schloß untersuchte. Automatisch fast fuhr er mit der Klinge seines Messers den engen Spalt entlang, bis er auf ein Hindernis stieß. Es dauerte keine fünf Sekunden, bis der Rie gel zurückschnappte und die Tür sich nach außen öffnete. Nomazar hatte nicht die geringste Ah nung, ob er je in seinem Leben auf diese Art und Weise schon einmal Türen geöffnet hat te und woher er die Kenntnis besaß, solches zu tun, aber er ahnte instinktiv, daß er es eben nicht zum erstenmal getan hatte. Sekunden später stand er zwischen aufge stapelten Kisten, die so gelagert waren, daß nur ein enger Gang blieb. Die Tür hatte er wieder verschlossen. Langsam nur gewöhn ten sich seine Augen an das in der Halle herrschende Dämmerlicht. Dieses Licht war auch nur deshalb vorhanden, weil zum Lan deplatz hin ein breites Tor geöffnet war, durch das ein Scheinwerferkegel in das In nere der Lagerhalle fiel. Nomazar war sich nicht sicher, ob auch die Kisten, zwischen denen er stand, in das Schiff des Neffen verladen werden sollten. Wenn er sich in einer versteckte, und sie blieb dann zurück, war alles umsonst gewe sen. Vielleicht war es besser, sich vorerst zwischen den draußen am Rand des Lande platzes abgestellten Gütern zu verbergen. Aber um dorthin zu gelangen, würde er fast hundert Meter durch das grelle Licht der Scheinwerfer laufen müssen. Er schlich weiter durch den engen Gang, bis er dessen Ende erreichte. Ihm fiel auf, daß er sich anscheinend allein in der Halle aufhielt. Auch außerhalb des Gebäudes war niemand zu bemerken. Unschlüssig blieb er stehen und überlegte. Jetzt, da es noch relativ dunkel draußen war, mußte das grelle Licht der Scheinwer fer doppelt hell wirken. Er wußte nicht, wann man sie ausschaltete, aber das spielte bei seinen Überlegungen auch keine Rolle. Sobald die Dämmerung anbrach und das Zwielicht vorherrschte, würden alle Kontu ren für eine gewisse Zeit verschwimmen, auch dann, wenn die Scheinwerfer einge
Nomazar, der Sklave
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schaltet blieben. Das war die günstige Zeit zum Handeln. Die Frage war nur noch, ob er eine der Kisten am Rand des Landefelds würde öff nen und hineinschlüpfen können …
* Ein Netzer war es, der das Wachkomman do befehligte. In einer der Lagerhallen be fand sich sein Hauptquartier, ein abgeteilter Raum mit spärlicher Einrichtung. Mehr war auch nicht notwendig, denn hier hielt er sich innerhalb von drei Jahren immer nur einige Tage auf. In wenigen Stunden würde das Schiff des Neffen Duuhl Larx eintreffen, und genau in diesem Augenblick war seine Aufgabe been det. Das Verladen der Güter ging ihn nichts mehr an. Als er vor drei Tagen in seinem Diens traum Quartier bezog, klangen ihm noch Ondoscähns Worte in den Ohren. Er war flüchtig mit dem Figurenhändler befreundet. »Dieser entflohene Sklave, der zum Tode verurteilt wurde, könnte auf den Gedanken kommen, mit dem Schiff des Neffen von Ximmerrähne zu fliehen. Ich würde dir also raten, besonders gut aufzupassen. Vielleicht sind die Fremden, die uns berauben, seine Verbündeten.« »Ich werde deinen Rat befolgen, Ondos cähn.« Daran mußte der Netzer denken, als der Morgen zu grauen begann. Er hatte seinen Leuten entsprechende Anweisungen gege ben und die Wachen geschickt verteilt, wie er glaubte. Sie sollten in erster Linie das Ge lände zwischen dem Landeplatz und der Stadt Mulgaxähn überwachen. Sein zweiter Fehler war die Tatsache, daß er sich zu sehr auf seine Untergebenen ver ließ. Der dritte Fehler war schließlich, daß er die Furcht aller Ximmerrähner vor den Fremden teilte. Nur so war es zu erklären, daß sich zwi schen den Lagerhallen und dem Kreis des Landefelds keine Wachtposten aufhielten.
Einige besonders zuverlässige Fänger, An gehörige der zweithöchsten Kaste, hatte er allerdings derart rings um das Landefeld po stiert, daß sie das Innere des Kreises ständig beobachten konnten, ohne selbst in Erschei nung zu treten. Das war eine Vorsichtsmaß nahme, die seine vorherigen Fehler fast wie der neutralisierte. Er verließ seinen Dienstraum und ging vor bis zum weit geöffneten Hallenraum. Er blickte hinaus in das dämmernde Zwielicht und versuchte, Schatten von Realität zu un terscheiden. Die Scheinwerfer waren bereits automatisch erloschen. Draußen bei den gelagerten Gütern regte sich nichts. Der ungeheure Berg der aufge stapelten Kisten bot einen gespenstigen An blick. Was dort auf die Räuber wartete, war das Ergebnis von drei Jahren harter Arbeit für die Bewohner von Ferähne, dem einzi gen zivilisierten Kontinent Ximmerrähnes. Würde es auch diesmal genügen? Der Netzer wußte es nicht. Er würde es erst dann erfahren, wenn das Schiff wieder gestartet war. Danach erst würden er und al le Ximmerrähner wissen, ob sie weitere drei Jahre zu leben hatten oder nicht. Ein Leben, das ohne die versklavten Figu ren unerträglich gewesen wäre … Der Netzer schrak zusammen und starrte angestrengt in das Zwielicht. Er kniff die Augen zusammen, soweit das bei ihm mög lich war, und sah erneut in Richtung der auf gestapelten Kisten. Nein, er mußte sich ge täuscht haben. Für einen Moment hatte er geglaubt, eine huschende Gestalt zu sehen. Beruhigt kehrte er in den Dienstraum zu rück, aber die nagende Ungewißheit blieb. Er beschloß, den Figuren, die später die rest lichen Güter aus den Hallen aufs Feld brin gen mußten, verschärfte Aufmerksamkeit zu befehlen. Es wurde schnell lichter, und dann ging endlich die Sonne auf. Ein Wachkommando erschien, begleitet von einem guten Dutzend Figuren, die sofort damit begannen, Kisten und andere verpack te Güter aus den Hallen zu dem Stapel am
46 Platzrand zu bringen. Der Netzer, Befehlshaber des Wachkom mandos, sah überrascht auf, als ein Besucher sein Dienstzimmer betrat. Er erkannte den Netzer Gomähn sofort und bot ihm einen Platz an. »Neue Informationen?« wunderte er sich nach der Begrüßung. »Das Schiff wird vor Mittag eintreffen, das ist alles. Aber ich habe noch eine Bitte: Meine Tochter Dyräa möchte dabei sein, wenn es landet. Läßt sich das einrichten?« »Warum denn das?« »Ich habe meine Kollegen von der Regie rung gefragt, sie haben nichts einzuwenden. Aber natürlich liegt es an dir, wenn …« »O nein, warum sollte nicht auch ich ein verstanden sein? Es ist nur so, daß jeder von uns am liebsten am anderen Ende von Ferähne sein würde, wenn das Schiff des Neffen kommt. Dyräa hat Mut.« Gomähn lächelte vielsagend. »Vielen Dank, Kommandant. Ich habe sie gleich mit gebracht.« Jetzt erst betrat Dyräa den Raum und be dankte sich ein wenig verschämt bei dem Kommandanten, der verlegen abwinkte. »Aber, ich bitte dich, es ist mir ein Ver gnügen. Du kannst von diesem Büro aus al les übersehen. Aber du darfst es nicht verlas sen, wenn das Schiff landet. Das wäre zu ge fährlich.« »Ich werde hier bleiben«, versprach Dy räa. Gomähn verabschiedete sich. »Ich beobachte die Aktion von der Stadt aus und hole dich wieder ab, sobald das Schiff gestartet ist. Halte dich an die Anwei sungen des Kommandanten, Dyräa. Bis spä ter.« Der Kommandant wartete, bis Gomähn gegangen war, dann wandte er sich an das Mädchen: »Warum tust du das, Dyräa? Ich weiß, daß der ermordete Yltic dein Freund und der Mörder seine Figur war. Besteht da ein Zu sammenhang?« »Ich muß auf andere Gedanken kom-
Clark Darlton men«, sagte sie nur und sah aus dem Fenster hinaus aufs Landefeld. »Das ist alles.« Der Netzer gab sich damit zufrieden und verließ den Raum, um sich seinen Pflichten zu widmen. Er befragte die einzelnen Wachtposten, aber niemand hatte während der Nacht etwas Verdächtiges bemerkt. Vor sichtshalber stellte er ein Suchkommando zusammen und gab ihm den Befehl, noch einmal alles zu durchkämmen. »Auch den fertigen Stapel am Platzrand!« fügte er noch hinzu, ehe er weiterging. Das Suchkommando schwärmte aus.
* Nomazar war sicher, die richtige Zeit ge wählt zu haben, als er den Schutz der Lager halle verließ und zu dem Kistenstapel rann te. Das Zwielicht, das nach Abschalten der Scheinwerfer erstaunlicherweise noch stär ker geworden war, schien genügend Schutz zu geben. Sein Atem ging heftig, als er zwischen den Kisten lag und weiterkroch, um ein Ver steck zu finden. Den Beutel mit den Vorrä ten hatte er verloren. Als er zurücksah, glaubte er auf der freien Fläche zwischen sich und der Halle einen dunklen Fleck zu erkennen. Wer immer den Beutel auch fand, er würde sich seine Gedanken machen. Aber es war zu spät, ihn jetzt noch zu holen. Mit dem Messer versuchte Nomazar, die Bretter einer Kiste zu lösen, aber er mußte bald einsehen, daß ihm das kaum innerhalb von ein oder zwei Stunden gelingen würde. Das Holz war ungewöhnlich widerstandsfä hig, außerdem bildeten die Metallbänder ein unüberwindliches Hindernis. Es wurde rasch hell, und dann ging die Sonne auf. Verzweifelt arbeitete Nomazar. Holzspä ne kennzeichneten den Weg seiner vergebli chen Versuche. Schließlich kam er zu dem Entschluß, einfach zwischen den Kisten zu warten, bis das Schiff landete. Vielleicht würden die Fremden ihn mitnehmen, wenn er sie darum bat, ohne ihn auszuliefern. Aus
Nomazar, der Sklave lieferung bedeutete den Tod. Einmal kamen fünf Ximmerrähner und durchsuchten den Stapel, ohne sich dabei al lerdings besondere Mühe zu geben. Noma zar blieb zum Glück unentdeckt. Dann zog sich der Trupp plötzlich sehr schnell in die Hallen zurück, als ein Kommando ertönte und eine Sirene aufheulte. Nomazar sah hinauf zum Himmel und er starrte. Das Schiff des Neffen senkte sich lang sam auf den Landeplatz herab, eine riesige, unregelmäßig geformte Kugel mit einem Durchmesser von gut hundertfünfzig Me tern. Die Stelle, die man vielleicht als Bug bezeichnen konnte, wurde durch eine Pla stikkuppel hervorgehoben. In ihr war ein Le bewesen zu erkennen, ein sehr fremdartig aussehendes Lebewesen, das mit Kabeln und Schläuchen und Leitungen mit den Kontrol len des Schiffes verbunden zu sein schien. Nomazar wußte nicht, was ein Organ schiff war, und wenn er es gewußt haben sollte, dann hatte er es längst vergessen … Er lag flach auf dem Boden zwischen dem Kistenstapel, als das seltsame Schiff landete. Wenig später öffneten sich die Luken, und aus dem Innern des Schiffes quollen die Fremden hervor, um die Beute zu verladen. Nomazar erschrak wie noch nie zuvor in seinem Leben, als er die Fremden erblickte. Es waren riesige, raupenähnliche Geschöpfe, deren Vorderteil aufgerichtet war und die sich lautlos und – wie es schien – mit wilder Gier auf die Kisten stürzten, um sie durch die großen Luken ins Schiff zu schleppen. Es dauerte nur wenige Sekunden, bis No mazar sich entschloß. Nie und nimmer konnte er sich diesen fremdartigen Wesen anvertrauen, deren starre Augen keine Emo tion verrieten. Da war er in den Wäldern Ximmerrähnes sicherer. Der Stapel wurde schnell kleiner und bot bald keine Deckung mehr. In seiner Ver zweiflung sprang Nomazar auf und rannte in Richtung der Lagerhallen davon. Wenn er sie erreichte, bevor seine Flucht bemerkt wurde, hatte er noch eine Chance.
47 Zwei Ximmerrähner erschienen am Tor der Lagerhalle, stutzten und rissen dann ihre Waffen empor. Nomazar rannte sie einfach um und raste in die Halle hinein, in der es halbdunkel war. Sekunden später alarmierte lautes Schreien die Jagdkommandos und Wachtposten. Licht flammte auf, Rufe er tönten und Dutzende von Ximmerrähnern umzingelten die Halle und drangen dann in sie ein. Nomazar wußte plötzlich, daß er ihnen nicht mehr entkommen konnte. Wenn sie ihn nicht sofort töteten, würde er den Raub fischen vorgeworfen werden. Das Ende war der Tod, so oder so. Die Fremden und das Schiff! Nun wußte er, daß ihm keine Wahl blieb. Das ungewisse Schicksal in der Gewalt der Fremden war dem sicheren Tod unbedingt vorzuziehen. Er hätte das von Anfang an wissen müssen. Wie ein in die Enge getriebenes Tier brach er aus seinem Versteck hervor, entriß dem nächsten Ximmerrähner die Waffe und schlug damit auf die ihn Umringenden ein. Ehe diese sich von ihrer Überraschung erho len konnten, rannte er aus der Halle und lief auf das Schiff zu. Als er sich umdrehte, stellte er verblüfft fest, daß seine Verfolger zurückblieben. Sie waren vor der Halle stehengeblieben. Die Furcht vor den Fremden war größer als ihre Gier nach der Belohnung. Nomazar lief weiter, vorbei an dem noch mehr geschrumpften Kistenstapel. Sein Ziel war die weit geöffnete Ladeluke des frem den Schiffes. Bevor er sie erreichen konnte, geschah genau das, was er insgeheim befürchtet hatte …
* Dyräas Herz klopfte wie wild, als sie das fremde Schiff erblickte. Fast hätte sie in die sem Augenblick vergessen, warum sie hier war. Sie hörte, wie der Netzer seine Kom mandos gab, dann sah sie die Fremden aus
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dem Schiff kommen. Es war ein ungeheuerlicher Anblick, und sie erschrak. Sie selbst hatte Nomazar gera ten, sich in das fremde Schiff zu schleichen, aber sie hatte nicht ahnen können, wie die Besatzung aussah. Gespannt wartete sie. Würde sie Nomazar entdecken, der sich ganz in der Nähe aufhal ten mußte, wenn er es geschafft hatte, bis hierher zu gelangen, ohne gefaßt zu werden? Und dann sah sie ihn. Er kam aus dem Kistenstapel am Platz rand und lief zur nächsten Lagerhalle, in der er verschwand. Gleichzeitig fast wurden die Jagdkommandos alarmiert. Dyräa bemerkte, daß sie die Halle umstellten und in sie ein drangen. Nun war Nomazar verloren. Ehe sie sich Vorwürfe zu machen begann, sah sie den Flüchtling wieder. Er erschien im Tor, wild um sich schlagend und dann zum Kistenstapel zurücklaufend, dann aber an ihm vorbei auf das Schiff zu. Die Verfolger blieben zurück und sahen ihm fassungslos nach. Dyräa hielt unwillkürlich die Luft an, als sich die seltsam aussehenden Fremden auf Nomazar stürzten und ihn niederschlugen. Sie konnte nicht wissen, ob er tot war oder nur bewußtlos, als sie ihn aufhoben und ins Schiff schleppten. Aber sie wußte, daß sie Nomazar nun zum letztenmal gesehen hatte. Stumm und ver zweifelt blickte sie aus dem Fenster. Nur un bewußt nahm sie wahr, daß die Fremden den Rest der Kisten verstauten und dann die Lu ken schlossen. Wenig später stieg das Schiff sehr langsam nach oben. Gleichzeitig wurde eine gewaltige Stimme hörbar, die zweifel-
los verstärkt aus den Außenlautsprechern des Raumschiffs kam. Sie sagte: »Die Fracht wird noch geprüft werden. Wir werden in drei Jahren zurückkehren, um den Tribut zu holen. Beginnt schon heute mit dem Zusammentragen der Güter, damit ihr euch nicht den Zorn des Neffen Duuhl Larx zuzieht.« Dann stieg das Schiff schneller und war bald den Blicken der Zurückbleibenden ent schwunden. Dyräas heimliche Hoffnung, daß die Stimme der Fremden auch Nomazar erwäh nen würde, hatte sich nicht erfüllt. Sein Schicksal blieb ungewiß. Trotz dieser Ungewißheit verspürte Dyräa Erleichterung. Sie hatte getan, was in ihrer Macht stand, und den Freund ihres toten Geliebten vor dem sicheren Tod bewahrt. Der Netzer kehrte in sein Büro zurück. Er sah Dyräa am Fenster stehen. »Hast du ihn gesehen, den Entflohenen? Nun haben ihn die Fremden mitgenommen. Es ist egal, ob er hier oder durch ihre Hand stirbt. Aber ich hätte mir gern die Belohnung verdient …« Dyräa sah ihn nur stumm an und ging hin aus. Auf dem freien Feld hinter den Lagerhal len atmete sie die frische Luft der Felder ein und wartete auf ihren Vater Gomähn, der sie bald abholen würde. Sie wußte plötzlich, daß sie in jeder Be ziehung richtig gehandelt hatte …
E N D E