(HEYNE-ANTHOLOGIEN»)
HEXEN
STORIES
Deutsche Erstveröffentlichung
WILHELM H E Y N E VERLAG
M Ü N C H E N
H E Y ...
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(HEYNE-ANTHOLOGIEN»)
HEXEN
STORIES
Deutsche Erstveröffentlichung
WILHELM H E Y N E VERLAG
M Ü N C H E N
H E Y N E - A N T H O L O G I E N
Band 37
COPYRIGHT: BUND MIT DEM SATAN (Two For A Bargain) von Dorothy Quick:
Street & Smith; übersetzt von Birgit Reß-Bohusch
DIE ROTHAARIGE von Hans Kneifel:
Wilhelm Heyne Verlag und Autor
DAS ELIXIER (The Elixier) von Jane Rice:
Unknown Worids; übersetzt von Birgit Reß-Bohusch
DIE KRUMME JANET (Thrawn Janet) von Robert Louis Stevenson:
Wilhelm Heyne Verlag; übersetzt von Birgit Reß-Bohusch
HEXENHAMMER von Ernst Vlcek:
Wilhelm Heyne Verlag
DAS AMULETT (The Amulett) von Gordon R. Dickson:
The Magazine of Fantasy & Science Fiction;
übersetzt von Birgit Reß-Bohusch
DAS HEXENEI (Hatchery Of Dreams) von Fritz Leiber:
1961 by Zirf Davis Publishing Company;
übersetzt von Birgit Reß-Bohusch
DIE GALGENPUPPE von Hubert Straßl: Wilhelm Heyne Verlag MEINE HEKATE (My Darling Hecate) von Wyrnan Guin: 1953 by Galaxy Publishing Company; übersetzt von Birgit Reß-Bohusch NICHTS IST UMSONST (Capital Expenditure) von Fletcher Pratt: 1953 by Future PublicationsInc.; übersetzt von Birgit Reß-Bohusch DIE HEXE (The Witch) von A. E. van Vogt: A. E. van Vogt; übersetzt von Birgit Reß-Bohusch Copyright © 1973 der deutschen Übersetzung
by Wilhelm Heyne Verlag München
Printed in Belgium 1973
Umschlaggestaltung: Atelier Heinrichs, München
Gesamtherstellung: Gerard & Cie, Verviers
Inhalt Dorothy Quick Bund mit dem Satan (TWO FOR A BARGAIN)
Seite 7
Hans Kneifel Die Rothaarige
Seite 55
Jane Rice Das Elixier (THE ELIXIR)
Seite 6l
Robert Louis Stevenson
Die krumme Janet
(THRAWN JANET)
Seite 91
Ernst Vlcek Hexenhammer
Seite 105
Gordon R. Dickson Das Amulett (THE AMULET)
Seite 127 Fritz Leiber Das Hexenei (HATCHERY OF DREAMS)
Seite 145
Hubert Straßl Die Galgenpuppe
Seite 161
Wyman Guin Meine Hekate (MY DARLING HECATE)
Seite 171
Fletcher Pratt Nichts ist umsonst (CAPITAL EXPENDITURE)
Seite 191
A. E. van Vogt Die Hexe (THE WITCH) 251
\
Bund mit dem Satan \ von
Dorothy Quick
Ich sah die aus Flicken zusammen gesetzte Bettdecke an. Sie verwandelte das altmodische Himmelbett in ein glanzvolles Ding, würdig eines Königs. Die verschiedenfarbigen Materialien schimmerten im Schein meiner Nacht tischlampe, und die merkwürdige, ru nenartige Stickerei, welche die Flicken zusammenhielt, glänzte wie Sonnen licht auf bewegtem Wasser. Man mochte nicht glauben, daß etwas so Schönes düstere Dinge bergen konnte. Und doch hatte mir Tante Amabel sonderbare Geschichten über sie er zählt; daß eine Hexe sie gemacht habe und daß man durch jeden Flik ken in die Vergangenheit zurückver setzt werden könne, um noch einmal die Geschichte des Menschen zu durchleben, der mit diesem besonde ren Material in Verbindung gestan den hatte. Ich war immer noch skeptisch, ob wohl ich eines Nachts im Schlafe die Hand auf ein blausilbernes Brokat stück gelegt hatte und durch den Raum in einen unheimlichen und schrecklichen Teil der französischen
Geschichte geschleudert worden war. Später ging ich sogar noch weiter zurück, nach Babylon, zu unheimli chen Ereignissen, die ich in einem früheren Leben durchgemacht hatte; was zumindest für mich der Beweis war, daß es so etwas wie die Wie dergeburt gab. Ich betrachtete die Decke. Sie sah harmlos genug aus, und doch schien die Stickerei etwas aussagen zu wol len. Und als ich die goldenen Fäden berührte, war es, als berührte ich et was Lebendiges. Nach Tante Amabel hatte ein Mann mit der Hand auf einem der Flicken geschlafen, und am nächsten Morgen war er wahnsinnig gewesen. Nach ih rem Dienstmädchen, Hester, hatte eine Frau mit der Hand auf einem der Flicken geschlafen und war arn nächsten Morgen tot gewesen! Weder Tante Amabel noch Hester wußten, welcher Flicken Wahnsinn und welcher Vernichtung brachte, aber sie baten mich inständig, kein Risiko einzugehen und die Decke nicht mehr zu benutzen.
DOROTHY QUICK
Aber ich mußte es tun. Ich glaubte nicht, daß es einen Flicken gab, des sen Geschichte für mich entweder Wahnsinn oder Tod enthalten wür de, doch es war ein seltsames, drei eckiges Stück aus einem pergament ähnlichen Material da, das wie Men schenhaut aussah. Ich mußte wissen, was es war - welche Geschichte es beinhaltete —, und meine Neugier war stärker als meine Furcht. Außerdem wollte ich, mehr als alles andere in der Welt, erfahren, ob ich in einem Abenteuer noch einmal den Mann wiedersehen würde, dem ich mich in meiner letzten Vision für alle Zeiten versprochen hatte. Ich kletterte in das hohe Bett, ließ mich tief in die Decken sinken und zog sie bis an den Hals herauf, denn die schottische Luft, die von den Moo ren hereindrang, war sehr kalt. Dann suchte ich den Flicken, auf den ich es abgesehen hatte - diesen harten, ledrigen Flicken, der wie Menschenhaut aussah —, und legte meine linke Hand darauf. Ich zuckte ein wenig zusammen, denn es war, als berühr te ich eine andere Hand. Dann mach te ich schnell, bevor ich mich anders entschließen würde, das Licht aus. Ich wartete im Dunkel, die Hand auf dem Flicken, die Gedanken son derbar wach. Ich wollte einschlafen, damit das Abenteuer beginnen konn te - wenn es überhaupt eines gab -, aber nichts geschah. Nur die kalte
Luft war da, die mir ums Gesicht blies, und das seltsame Gefühl, daß meine Hand auf einer anderen Hand ruhte, ein Gefühl, das auch durch angestrengte Bemühungen der Logik nicht verschwinden wollte. Plötzlich erkannte ich, daß ich nicht mehr den Flicken festhielt, der wie Menschenhaut aussah. Statt dessen berührte meine Hand tatsächlich Haut, echte Haut - eine andere Hand! Wieder einmal hatte ein Abenteuer der Flickendecke begonnen. Ich sah herunter auf zwei Hände mit dünnen, nervösen Fingern, die sich ineinander verschränkten. Es waren die abstoßendsten Hände, die ich je gesehen hatte, leichenähnlich, mit langen spitzen Nägeln, die sich am Ende wie Vogelkrallen krümmten. Bis dahin hatte ich wohl einige schau rige Ereignisse durchlebt, aber die Körper, in denen der Geist von Ali ce Strand - mein Geist - durch den Zauber der Flickendecke gefangen gewesen war, hatten anziehend ge wirkt. Nachdem ich diese abstoßenden Hände betrachtet hatte, wußte ich, daß das diesmal nicht so sein konn te. Ich hatte Angst, die Person, in der ich nun wohnte, ganz zu sehen. Es war eine Frau. Das erkannte ich an der weißen Schürze und dem wei ten schwarzen Wollrock, der um die mageren Knöchel fiel, und an dem Leibchen aus dem gleichen Material.
BUND MIT DEM SATAN
Aber ich konnte nicht sehen, wie alt sie war und von welchem Typ. Die Frau stand am Rand eines Waldes. Überall um sie und hinter ihr ragten hohe Bäume von undurchdringli cher Schwärze auf. Schwarz geklei det, wie sie war, mußte sie nahezu unsichtbar sein, wie sie so mit den Schatten verschmolz. Vor ihr lagen Felder im Sonnenschein da; etwas entfernt stand ein Steinbrunnen mit Stufen, die über ihn hinweg- und auf der anderen Seite hinunterführten. Ich hatte noch nie einen so scharfen Gegensatz zwischen Dunkelheit und Licht gesehen - die hellen, bebauten Felder und die dunklen, drohenden Wälder. Ich fragte mich, ob der Tod so sein konnte - von der Dunkelheit ins Licht tretend. In diesem Augenblick begann die Frau vor sich hinzumurmeln. »Er wird kommen - er wird kommen.« Ihre Stimme klang jung. Vielleicht war es gar keine Frau, vielleicht war es ein junges Mädchen. Die Hände - diese abstoßenden Hände - gaben keinerlei Hinweis auf ihr Alter. Die Haut war fest, faltenlos. Jetzt sehn t|e sich meine Neugier nach einem Spiegel. Wenn ich einen Spiegel hät te, könnte ich mir einen Begriff von Bier Person machen, mit der ich nun so eng verbunden war. Aber es gab keinen, und es war auch in der Nähe nichts, in dem man einen Wider schein sehen konnte.
Ein fröhlicher Gesang erfüllte plötz lich die Stille. Eine Männerstimme, voll und weich, sang etwas von Liebe und Frühling und kündete damit sein Kommen an. Die Hände hörten auf, sich inein ander zu verflechten, und ich spürte eine wilde Freude durch die Adern strömen, die vorübergehend die mei nen waren. Es schien merkwürdig, daß ich ihre Gedanken nicht lesen konnte, aber ich wußte von früheren Erfahrungen, daß ich es nicht konn te, außer zu den seltenen Gelegen heiten großer Gefühlsbelastung. Ob wohl die Gefühle des Körpers, den ich bewohnte, die meinen waren, er kannte ich sie erst, wenn sie erlebt wurden. Ich verstand, daß die Frau - oder das Mädchen - voller Freude war. Ich nahm an, daß sie sich über die Ankunft des Sängers freute, aber ich wußte es erst, als sie rief: »Jo han!« Jetzt sah ich einen Mann die Stufen des Brunnens hinaufkommen. Sein Kopf erschien zuerst, dann sein Kör per, Stück für Stück, bis er schließ lich auf der Brüstung stand und winkte. »Elsbeth, bist du hier?« »Ja, Johan, ja . . . hier am Wald rand.» Begierig die Stimme, begierig das Herz, das heftig in ihrem Busen schlug. Johan eilte die Stufen hinunter und über das Feld. Er war auf eine helle, nordische Weise verblüffend schön.
DOROTHY QUICK
Lichtblondes Haar umgab seinen Kopf wie ein Helm und fiel ihm bis zu den Schultern herab; selbst auf die Entfernung waren seine Augen strahlend blau. Im alten Griechen land wäre er zweifelsohne ein Held der Olympischen Spiele gewesen - er hatte den perfekten Wuchs und die Muskeln dafür. Sein Mund war fest und freundlich, seine Nase gerade. . Er trug einen schlichten braunen Rock mit breitem Kragen und wei ßen Manschetten. Seine Beine steck ten in gestrickten Strümpfen, die Schuhe hatten Silberschnallen, und der Hut, den er in der Hand trug, hatte eine breite Krempe und vorne ebenfalls eine Silberschnalle. Die ganze Kleidung kam mir merk würdig bekannt vor. Ich hatte sie schon oft gesehen - in den Zeitun gen und auf Karten zum Erntedank fest. Einer der Pilgerväter stand leibhaftig vor mir. Ich war in Ame rika zur Zeit seiner Anfänge. Der Mann kam näher. »Guten Tag, Elsbeth Farquar. Ich grüße Euch im Namen Unseres Herrn.« »Wie ich Euch, Johan Rider.« »Kommt aus dem Dunkel, denn ich kann Euch kaum sehen, und ich habe viel zu erzählen.« Erschauernd ging Elsbeth auf ihn zu und hielt die Hände unter die Schür ze. Es war klar, daß sie um die Häßlichkeit ihrer Hände wußte.
Als sie ein Stück näher gekommen
war, warf er sich ins Gras und wink te ihr, sich neben ihn zu setzen.
»Elsbeth, erinnerst du dich, wovon
ich das letzte Mal sprach?«
Elsbeths Herz schlug schneller, so
wie die Flügel einer Motte schneller
flattern, wenn sie gegen das Licht
fliegen.
»Ich erinnere mich.«
Johan wartete, bis sie neben ihm saß,
und legte dann den Kopf auf den
Arm.
»Nun, freue dich mit mir. Die Älte sten haben beschlossen, daß ich ins
heiratsfähige Alter gekommen bin,
und haben ihre Einwilligung gege ben, daß ich mir ein Weib nehme.«
»Oh, Johan . . . Johan!« Elsbeths
Stimme zitterte vor Erregung.
»Ich wußte, daß du dich für mich
freuen würdest, Elsbeth, aber ich hat te keine Ahnung, daß es dich so stark
berühren würde.« Johans Stimme
war klar und ruhig wie ein Wald weiher. »Nun mußt du mir Gottes
Segen für meine Reise nach Boston
wünschen.«
»Nach Boston?« rief sie. »Weshalb gehst du dorthin?«
»Wozu sonst, als um die Hand Von
Priscilla Damen anzuhalten und sie
als mein Weib nach Anesfield heim zuholen?«
Wenn jedes Wort ein Messer in
Elsbeths Herz getrieben hätte, so
BUND MIT DEM SATAN
wäre die Wirkung nicht verheeren der gewesen. »Dein Weib?« murmelte sie. »Aber es kann nicht sein, daß ich recht höre. Du scherzst nur um mich zu hänseln.« Johan war überrascht. »Weshalb sollte ich das, Elsbeth? Ich wollte, daß du als erste von der Verwirkli chung meiner Träume hörst, so wie du als erste die Träume selbst gehört hast.« Beinahe wie in Trance rief Elsbeth: »Aber ich dachte - ich dachte, du hast mir diese Träume erzählt, weil ich zu ihnen gehörte ... weil ich es war, die —« Sie unterbrach sich abrupt. Johan begann zu lachen. »Du dach test, daß ich dich liebte? Daß ich dich heiraten würde? Oh, gewiß nicht. Hast du noch nie in deinen Spiegel geblickt?« Er lachte und lachte. »Jetzt scherzst du, Elsbeth, und es ist ein köstlicher Scherz.« »Es ist ein Scherz, aber nicht so, wie du denkst, Johan. Der Scherz ist mit keiner als mit Elsbeth Farquar getrieben worden. Es ist ein Scherz, daß ich dachte, du liebst mich, weil du freundlich zu mir warst und nicht Wie die anderen meine Häßlichkeit verspottet hast.« Sie lachte - aber ihr Lachen war schrill und fast wie im Wahnsinn. »Ich war eine Närrin, und doch - und doch - du warst so freundlich zu mir . . .« Sie vergrub das Gesicht in den Händen.
Johan hörte zu lachen auf. »Wirklich, Elsbeth, ich wollte dir nicht wehtun. Du warst meine Freun din - und ich ahnte nicht, daß du anders denken könntest. Ich erzählte dir alle meine Gedanken, aber es kam mir nicht in den Sinn, daß du es persönlich nehmen würdest, wenn ich von Liebe sprach . . . ebensowe nig ahnte ich, daß du überhaupt an Liebe denken könntest. Du schienst immer zu verstehen, daß du -« Er unterbrach sich, da er sie nicht noch mehr verletzen wollte. Elsbeth nahm die Hände vom Ge sicht. Langsam, besonnen sprach sie. »Du dachtest, weil ich so häßlich bin, würde ich nicht von Liebe träumen. Nun, ich hätte es nicht getan, doch an dem Tag, als der Junge von Ray nail mich verspottete und du ihm einen Klaps gabst und sagtest, Schön heit käme von innen und nicht von außen, da dachte ich, daß du die Hülle dieses hassenswerten Körpers durchdrungen und meine Seele ge sehen hättest, wie sie in Liebe zu dir erstrahlte. Es schien zu schön, um wahr zu sein, doch dann suchtest du mich auf und sprachst mit mir, .und ich glaubte, du seist nicht so wie die anderen. Ich betete dich an, und mit jedemmal, da wir uns trafen, liebte ich dich noch mehr. Wenn du die Leute schaltest, die sich über mich lustig machten, hätte ich dir die Füße mit meinem Haar trocknen 11
DOROTHY QUICK
mögen. Und nun erzählst du mir, daß alles nur Freundschaft war Mitleid - keine Liebe . . . und daß ich gewußt haben müßte, es könne keine Liebe sein, wenn ich nur einen Blick in den Spiegel geworfen hät te!« »Ganz bestimmt, Elsbeth, es tut mir leid.« »Ganz bestimmt, es sollte dir leid tun. Und es wird dir noch sehr leid tun, dir und deiner schönen Braut aus Boston.« Sie warf den Kopf zu rück, als sei sie eine Schlange, die sich zum Angriff bereit machte. »Geh jetzt, Johan Rider, und sprich nie wieder mit mir, außer du kommst, um meine Gnade zu erflehen.« »Bitte, Elsbeth, du bist überreizt.« Sowohl Johan als auch Elsbeth be nutzten weiterhin das >Euch< und >Ihr< jener Zeit, aber ich ersetzte in Gedanken die Ausdrücke durch die vertrauteren Pronomen. Johan stand auf und streckte die Hand aus. »Ich möchte gern dein Freund blei ben, Elsbeth.« Sie schüttelte den Kopf.
»Zwischen uns kann es keine Freund schaft geben. Ich liebte dich aus gan zem Herzen und aus ganzer Seele,
aber jetzt liebe ich dich nicht mehr.
Statt dessen hasse ich dich, Johan ja, ich hasse dich —, weil du mich als
Prellbock zwischen deiner Einsam keit und der Sehnsucht nach einem
12
anderen Mädchen ausgenützt hast. Du hattest Mitleid mit mir — ja —, und du warst freundlich zu mir, aber das geschah nur, weil du jemand brauchtest, mit dem du von Liebe re den konntest - ein verbotenes Thema in Salem, solange die Ältesten nicht ihre Zustimmung geben. Ich riskierte den Block, um mir deine Träume an zuhören. Ich war eine Närrin . . . eine häßliche Närrin. Aber jetzt bin ich es nicht mehr. Geh und hüte dich vor mir, Johan, denn es heißt, daß mit einer geschmähten Frau nicht zu spa ßen ist. Ich werde mich an dir rä chen und auch an jenen, die nur Häßlichkeit sehen. Ich werde euch allen zeigen, was wahre Häßlichkeit ist.« Johan redete eine Zeitlang auf sie ein, aber sie war unnachgiebig. Schließlich ging er zögernd, bestürzt über das, was er angerichtet hatte. Ihre Drohungen nahm er nicht allzu schwer - das stand deutlich in sei nem Gesicht geschrieben -, aber es war ebenso deutlich, daß ihm das Vorgefallene ehrlich leid tat. Elsbeth beobachtete seinen Rückzug. Als er den Scheitelpunkt der Treppe erreicht hatte, drehte er sich um und winkte. Elsbeth erhob sich aus dem Gras, wo sie immer noch saß, wand te ihm den Rücken zu und ging mit ruhigen Schritten auf den Wald zu. Erst als sie den Schutz der Blätter erreicht hatte, floh sie hinter eine
BUND MIT DEM SATAN
große Ulme. Endlich, als niemand mehr sie beobachten konnte, sah sie zurück. Die grünen Felder erstreckten sich in ihrer Lieblichkeit weithin über die Landschaft, aber in dem grünenden Reich war nirgends die Spur eines Menschen zu sehen. Johan Rider war fort. Elsbeth rannte tief in den Wald. Während des Laufens schüttelte ein trockenes Schluchzen ihren Körper, und ihre Nägel gruben sich tief in die Handflächen. Sie rannte, bis sie eine Lichtung erreichte, wo ein klei ner Teich das Funkeln des Sonnen lichts auffing und es in flüssiges Gold verwandelte. Sie sank auf das Moos daneben, stützte sich auf beide Ell bogen, legte das Gesicht in die Hän de und sah unverwandt in das Kri stallwasser. Sie hatte ihren Spiegel gefunden, und zum erstenmal sah ich ihr Gesicht. Noch nie in meinem Leben und noch nie in den Leben, die ich durch die Flickendecke nachempfunden hatte, war mir solche Häßlichkeit begeg net. Der Mund war groß wie der eines Clowns, mit einem komischen Auf wärtszucken in den Mundwinkeln. Neben ihrer Nase wäre die von Cy rano de Bergerac geradezu ver schwunden. Sie war lang schmal und scharf, mit einem Höcker in der
Mitte und einem breit auslaufenden Ende, das nach oben gebogen war und vergrößerte Nasenlöcher zeigte. Ihr Kinn war spitz, ihre Wangen knochen hoch angesetzt. Die Haut selbst war fleckig und aufgedunsen. Ein dichter Schöpf drahtigen schwar zen Haars war unter eine weiße Lei nenhaube geschoben, unter der es grob und dicht wieder hervorlugte. Nur ihre Augen waren schön - große, leidgeprüfte Brunnentiefen von ka stanienbrauner Farbe -, aber sie ver bargen sich halb unter buschigen Brauen und Wimpern von dem glei chen dichten, drahtigen Haar. Zum erstenmal verstand ich Johan. Es schien unglaublich, daß so ein Ge schöpf auch nur einen Augenblick lang annehmen konnte, ein Mann würde in Liebe an sie denken. Ich hatte Johans Verhalten verurteilt, aber jetzt konnte ich das nicht mehr. Natürlich mußte er gedacht haben, er könnte mit ihr frei über seine Träume und die Liebe sprechen, si cher in der Annahme, daß sie abseits von diesen Dingen stand, während sie - oh, es war mitleiderregend. Ar me Elsbeth! Und sie war jung - jung mit einem Körper, um den sie Diana, die Mondgöttin, beneiden hätte können. Sicher hatten die Götter ihren Spott getrieben, als sie einen perfekten Leib nahmen und ihm einen Kopf und Gliedmaßen gaben, die Karikaturen 13
DOROTHY QUiCK
waren und nicht zu ihm paßten. Was für eine schreckliche Last für ein Mädchen, besonders in einer Zeit, wo es noch keine Schönheitssalons gab. Ich starrte weiterhin auf das Bild im Weiher und mußte zugeben, daß diesem Gesicht auch durch mo derne Methoden nicht hätte geholfen werden können. Elsbeth erkannte es auch. Tränen lie fen ihr über die Wangen. »Keine Hoffnung - es gibt keine Hoffnung. Weshalb wurde ich so verflucht - weshalb? Habe ich nicht gebetet . . . gebetet? Gebete nützen nichts. Der Herr hat mich verlassen, gequält, betrogen. Für mich gibt es keine Hoffnung mehr im Gebet außer . ..« Sie sah ihre Hände an, und ein deutliches Bild zeichnete sich in ihrem Innern ab - ein kleines braunes Buch mit Eselsohren. »Ich habe es nach dem Tod meines Va ters in seiner Truhe gefunden«, flü sterte sie. »Die Hexenlitanei . . . nur einmal habe ich einen Blick hinein geworfen und es dann schnell weg gelegt, aus Angst, eine Sünde zu be gehen, aber es behauptete, Satan kön ne alle Dinge gewähren. Soviel sah ich noch, bevor ich es tief vergrub. Mein Vater war Gelehrter - er kann te geheime Lehren. Vielleicht hat das Buch recht. Ich werde es studieren . . . Ich werde eine Hexe! Ja, hier und jetzt will ich zu Satan beten.« Sie unterbrach sich, entsetzt von ih
ren eigenen Worten. Aber dann wur de sie von fester Entschlossenheit er griffen. Sie benetzte ihr Gesicht, diese ekelerregenden Züge, mit Wasser aus dem Weiher. Dann kniete sie nieder und hob flehend die Hände. »Oh, Satan, Herr der Unterwelt, ich bete zu Dir und bitte Dich, mich in Deine Obhut zu nehmen, mir von Deinem Überfluß und Deiner Weis heit zu geben, so daß ich meine Fein de bezwingen kann - ja, damit Jo han Rider stöhnend vor mir auf den Knien liegt und ich ein Nichts, we niger als ein Nichts, aus dieser Pris cilla mache, die er liebt. Laß mich Rache nehmen an ihnen und allen anderen, die mich verspottet haben. Als Gegenleistung gebe ich für im mer mein früheres Leben auf und weihe mich Dir, Herr und Satan, für jetzt und in alle Ewigkeit. Amen.« Anfangs war ihre Stimme leise und zögernd gewesen, aber gegen Ende war sie stark und trotzig, ohne Scham vor der Gotteslästerung. Nichts geschah - nichts. Die Sonne ergoß sich immer noch in den Wei her, und Elsbeth blieb unverändert. Sie wartete, offensichtlich gefaßt auf einen Blitzstrahl oder zumindest das Erscheinen von Luzifer selbst, aber nichts geschah. Sie beugte den Kopf zu Boden und schrie laut: »Satan, Satan, ich rufe Dich! Nimm meine Seele und mach mich dafür zu einer Hexe. Gewähre meinen Wunsch, auf
BUND MIT DEM SATAN
daß ich dir für alle Zeiten dienen kann.« Immer und immer wieder rief sie. Dann wartete sie. Es geschah immer noch nichts. Endlich stand sie müde auf. »Vielleicht hat er es gar nicht gehört - oder vielleicht habe ich es falsch angepackt. Ich will heimgehen und das Buch zu Rate ziehen, denn ich muß eine Hexe werden . . . nein, ich bin eine Hexe.« Sie warf den Kopf stolz zurück, dann verließ sie lang sam den Wald. Als Elsbeth sich dem Dorf näherte, traf sie einen der Ältesten, der sie lächelnd grüßte. Sie neigte den Kopf. Höflichkeit gegenüber den Ältesten war Gesetz, und sie hatte nicht den Wunsch, in der glühenden Sonne im Block zu sitzen. Zu ihrer Überra schung hielt der Älteste, Cyrus Finch ley, sie an. »Guten Abend, Schwester, du warst -;? wieder in den Wäldern.« »Ja, Vater Finchley.« »Die Ältesten haben im Rat von dir gesprochen. Wir sind der Meinung, daß es nicht sicher für dich ist, dich so weit hinauszuwagen. Ja, bei einer anderen als dir hätten wir es längst verboten.« »Gewiß, Vater, mein Gesicht ist mein Schutz.« Als Elsbeth diese Worte sagte, keuchte sie. Noch ein paar Stunden zuvor wäre sie lieber gestor
ben, als daß sie ihre Häßlichkeit ein gestanden hätte. Nun rühmte sie sich damit. Satan mußte ihr Gebet ge hört und beantwortet haben. Cyrus Finchley war überrascht. »Das sagte ich nicht, Tochter. Die Stadt ist dir dankbar für dein Geschick mit Krautern und würde dich deshalb nicht gern von den Plätzen fern halten, wo du sie findest. Dein Tee hat der Schwester des Gouverneurs das Leben gerettet, so sind wir dir alle zu Dank verpflichtet. Und des halb haben wir einen Beschützer für dich ernannt. Wenn du wieder auf die Suche nach deinen Heilmitteln gehst, wird der alte Fithian Grey da für sorgen, daß du sicher bist.« »Ich danke euch allen von ganzem Herzen, aber ich brauche keinen Be wacher. Die Indianer sind freund lich. Sonst gibt es nichts zu fürch ten.« »Dennoch hätten wir es lieber, wenn Fithian und seine Flinte dich bewa chen.« »Dann soll es so geschehen.« Schließ lich war Fithian alt und senil. Wenn sie irgend etwas tun wollte, das er nicht sehen sollte, würde sie schon mit ihm zurechtkommen. »Noch eines, Tochter. Wir hatten es vergessen, bis Schuyier van Warden sich daran erinnerte - dein Vater, ein sehr gelehrter Mann, hatte viele Bücher. Nun sind einige davon viel leicht nicht für eine Jungfrau geeig 15
DOROTHY QUICK
net. Der Rat möchte diese Bücher untersuchen. Diejenigen, die wir für geeignet erachten, werden dir zurück gegeben - die anderen behalten oder verbrennen wir.« Nun wußte Elsbeth, daß Satan ihr Gebet erhört hatte. Er hatte ihr die se Warnung zukommen lassen, damit sie nicht das Buch verlor, das den Schlüssel zu ihrer Verwandlung in eine Hexe darstellte. Sie lächelte im geheimen. »Da ist eine Kiste, die ich nicht ge öffnet habe. Ich mache mir nichts aus Büchern. Ich kann nicht besonders gut lesen.« Das waren die ersten Lü gen, die sie je ausgesprochen hatte, und sie kamen ihr so leicht über die Lippen, als sei sie Ananias selbst. »Gut, Tochter. Ich komme morgen mit meinem Dienstmann, um die Ki ste zu öffnen, und wenn wir irgend welche zweifelhaften Bücher finden, nehme ich sie mit zum Rat. Guten Tag, Elsbeth Farquar.« »Guten Tag, Cyrus Finchley.« Els beth machte einen kleinen Knicks und eilte weiter. Sicher, sicher hatte Satan ihr Gebet gehört und ihr diese Warnung ge sandt. Als sie die Hälfte der Straße zurückgelegt hatte, erhielt sie eine neue Bestätigung. Eine Gruppe von Kindern quälten ein armes, dürres, kleines schwarzes Kätzchen. Gerade als Elsbeth auf gleiche Höhe mit ihnen kam, riß sich das Kätzchen von sei 16
nen Peinigern los und sprang mit einem wilden Satz in Elsbeths Arme - der nächste ZuSuchtsort vor den Kindern, die es verfolgten. »Gib uns das Kätzchen wieder«, rief der älteste der Jungen. »Nein.« Elsbeth drückte das arme, verängstigte Tier an sich. »Ihr sollt so ein arm.es Ding nicht quälen.« »Die Witwe Aylesford hat es hin ausgeworfen. Sie sagte, eine schwar ze Katze sei nur gut für Hexen, und wir könnten damit tun, was wir wollten.« Ein Freudenfeuer entflammte in Els beth. Sie hatte geflüsterte Erzählun gen von Hexen und ihren Vertrau ten gehört. Der Teufel hatte ihr eine Vertraute geschickt; das hieß, daß sie praktisch eine Hexe war. Sie würde das Kätzchen, wenn nötig, mit ihrem Leben schützen, denn es bedeutete für sie den Beginn des neuen Lebens. So wandte sie sich heftig an die Kin der. »Alles, was atmet, hat ein Recht auf Leben. Das Kätzchen hat nichts Bö ses getan. Ich werde es versorgen. Geht heim zu euren Müttern und betet um Vergebung für eure Grau samkeit. Da -« Sie hielt die Pfote des Kätzchens hoch, die aufgeschun den war und blutete. »Seht, was ihr gemacht habt.« Einer nach dem anderen stahl sich fort. Als sie gingen, faßte der älteste Junge Mut. »Hexen katze, Hexen
BÜND MIT DEM SATAN
katze!« rief er zurück. Der Junge, Thomas, erwartete, daß Elsbeth das Kätzchen bei diesen schlimmen Wor ten fallenlassen würde, und mußte erstaunt feststellen, daß sie das kleine schwarze Ding stattdessen eng an sich drückte und freudig lächelte, als habe sie unerwartet einen Schatz ge funden. Das erste, was Elsbeth tat, als sie ihr winziges, schindelgedecktes Haus er reichte, war, daß sie das Kätzchen versorgte. Sie badete die verletzte Pfote und verband sie mit einem Stückchen weißem Leinen. Dann gab sie ihm eine Schale Milch, die das kleine Ding begierig leerschleckte. Als es fertig war, kam es vorsichtig auf der verbundenen Pfote zu Elsbeth herüber, sprang ihr auf den Schoß und leckte ihr die Hand, als sei es ein Hund und kein Kätzchen. Dann, ebenso vorsichtig, wie es gekommen war, ging es zurück zu dem Kissen, das sie neben die Milch schale gelegt hatte. Dort rollte es sich zusammen und schnurrte sich bald in den Schlaf. Elsbeth saß da und sah auf die Hand, wo die Zunge des Kätzchens sie geküßt hatte, als habe sie sich plötzlich verschönt. »Es hat mich angenommen. Der Ab gesandte Satans hat mir sein Siegel der Zustimmung aufgedrückt.« Na türlich war da, wo die Zunge der
Katze sie berührt hatte, ein roter Fleck. Ein Gefühl der Freude stieg in ihr hoch. In diesem Augenblick verän derte sie sich. Sie war im Laufe von ein paar Stunden von einem Gefühls höhepunkt zum anderen geschwankt - vom verliebten Mädchen zur haß erfüllten Frau. Von einer scheuen, zurückgezogenen Jungfer, die ein einfaches Leben führte, jedermann helfen wollte und an das Gute glaub te, hatte sie sich in einen verbitter ten, sarkastischen Menschen verwan delt, der an das Böse glaubte und Rache haben wollte - nicht nur an Johan, sondern auch an allen ande ren. Eine Welle der Energie durchdrang sie, gepaart mit grimmiger Entschlos senheil Sie konnte es kaum erwar ten, eine Hexe zu sein. Sie mußte das Buch suchen. Sie verriegelte ihre Tür und entzündete eine zweite Kerze. Sie nahm sie, deckte sie vorsichtig mit der freien Hand ab und stieg die Treppe zum Speicher hinauf. Dort angelangt, stellte sie die Kerze auf dem Boden ab und stellte sie un ter einem alten Kissen ab, so daß Vorübergehende nicht erkennen konnten, daß sie auf dem Speicher war. Dann fand sie die Truhe ihres Vaters, zog sie heraus und wühlte fieberhaft ihren Inhalt durch. Die meisten Bücher waren Gelehrtenbän de, die sie überhaupt nicht interessier 17
DOROTHY QUICK
ten. Schließlich fand sie ganz am Boden das Buch, das sie suchte. Es war in ein sonderbares, pergament ähnliches Material gebunden, und auf dem Titelblatt stand: >Das He xenbuch<. Elsbeth wollte es sofort lesen, aber niemand sollte argwöhnen, daß sie an der Truhe gewesen war, und au ßerdem befürchtete sie, daß man das Licht sehen könnte. Nachdem sie die Bücher wieder etwa so wie zuvor angeordnet hatte, verschloß sie die Truhe. Um der Sache den letzten Schliff zu geben, nahm Elsbeth ein großes Spinnennetz, das in einer Ecke hing, und drapierte es über das Schloß. Die Spinne selbst befand sich im Mittelpunkt des Netzes, und als sie es herüberholte, krabbelte sie ihr über die Hand. Gewöhnlich hätte ihr die bloße Berührung einer Spinne einen kalten Schauer über den Rük ken gejagt, aber jetzt betrachtete sie das Tier ziemlich kühl. »Es ist ein Freund«, sagte sie zu sich. Den Rest der Nacht verbrachte sie in einem Schrank, wo sie das Buch las. Nach Anleitung des Buches sollte Elsbeth als Bewerberin bei einer Verschwörung erscheinen und von dreizehn dem Teufel geweihten We sen in die Versammlung eingeführt vverden. Das konnte sie nicht tun. Es gab vielleicht in der Nähe von Anes field Verschwörungen, aber sie hatte 18
weder die Möglichkeit zu erfahren, wo sie stattfanden, noch wer sie ab halten würde. Die Wahrscheinlich keit bestand, dachte sie, daß ihr Herr - denn sie hielt den Satan be reits für ihren Herrn - sie zur rech ten Zeit zu einer führen würde, doch inzwischen war sie überzeugt davon, daß sie sich in seiner Hut befand. Sie hatte ihrem früheren Glauben auf ihre eigene Art abgeschworen und sich dem Satan geweiht, und sie war sicher, daß er sie akzeptiert hatte denn hatte er ihr nicht die schwarze Katze als Vertraute geschickt? Das einzige, was laut Buch noch hin derte, war die Taufe. Das, erkannte sie, war ein sehr wichtiger Teil des Rituals, aber sie glaubte, daß sie selbst das schaffen würde. Als es hell genug wurde, daß sie se hen konnte, löschte sie die Kerze, schlich zu dem Kätzchen, und mitt seiner verwundeten Pfote zog sie das Zeichen des Kreuzes in umgekehrter Richtung über ihre Stirn. Dann stieß sie einen großen Seufzer der Erleich terung aus. Sie war nun eine Hexe! Als sie sich an diesem Morgen um zog, suchte sie nach einem Hexenmal, und als sie direkt unter der Gürtellinie das winzige, warzenähn liche Ding fand, das sie noch nie zu vor bemerkt hatte, war sie überzeugt davon, daß alles geschehen war, wie es geschehen sollte. Nun war sie bereit, einen der Zau
BUND MIT DEM SATAN
sah; sogar die Spuren von winzigen ber auszuprobieren, die das Buch be Hörnern fanden sich am Rand. Els schrieb. Sie wollte mit etwas Leich beth nahm das als Omen und suchte tem beginnen und sich allmählich zu fleißig nach den ändern Dingen, die den schweren Fällen hinaufarbeiten, sie brauchte. bis sie Rache an Johan nehmen Sie fand alles - Eibensprößlinge, konnte. Blätter von Bittersüß; ein seltenes Aber nicht jetzt. Es war keine Zeit Kraut, das im Buch beschrieben dazu. Der Älteste Finchley konnte war, und eine Blume, die zum Glück jeden Moment kommen, und sie gerade in der Blüte stand. All dies mußte das Haus in Ordnung brin wickelte sie in ihr Taschentuch und gen. eilte heim, weil sie so schnell wie Sie verbarg das Buch unter einem möglich ihren Zauberspruch auspro losen Brett in ihrer Schlafkammer bieren wollte. und machte sich an die Tagesarbeit, Johan Rider war am gleichen Mor als sei nichts Besonderes geschehen. gen nach Boston aufgebrochen, so Bald kam der Älteste Finchley wegen hätte Cyrus Finchley ihr berichtet, der Bücher, und er nahm einige Ge und die Nachricht war wie Salz auf schichtsbände und lateinische Schrif eine offene Wunde gewesen. Zur Ra ten mit, von denen er behauptete, che gegenüber Johan selbst war sie sie seien nichts für ihre Augen. Er noch nicht bereit, aber sie hatte die betrachtete die schwarze Katze mit feste Absicht, etwas von seinem Be Mißbehagen und sagte, sie würde sitz zu verwünschen, und hatte die gut daran tun, sie auszusetzen. Als Kühe ausgewählt, die geduldig im Elsbeth ihm erzählte, auf welche Stall standen und von einem Knecht Weise sie das Tier gerettet hatte, sag versorgt wurden. te er: »Wie immer dein gutes Herz, Tochter«, und ging seiner Wege, Sie kehrte in ihr Haus zurück und verriegelte die Tür. Das Kätzchen ohne ihr spöttisches Lächeln zu be sprang ihr auf die Schulter und blieb merken. die ganze Zeit dort, während sie über dem >Hexenbuch< saß. Der schwarze An diesem Nachmittag ging Elsbeth Schwanz warf seinen Schatten auf in den Wald hinaus, um die Zutaten die gedruckte Seite. für ihren Zauberspruch zu sammeln. Elsbeth studierte den Zauber sorg Während sie dort war, nahm sie gleich fältig, und dann begann sie. Sie Alraune mit, und sie war besonders erfreut, ein Exemplar zu finden, das kochte ihre Zutaten nach Anweisung und fügte ein wenig von ihrem sorg haargenau wie Beelzebub selbst aus
DOROTHY QUICK
sam gehüteten Salz hinzu - denn Salz war in jenen Tagen ein rares Gut und wurde in kleinen Mengen an das Volk verteilt. Als sie die Brühe umrührte, sprach sie die Wor te, die im Buch, standen, und als alles fertig war und der Topf sich abgekühlt hatte, knetete sie den In halt zu einer Kugel. Um diese wik kelte sie ein Haar von ihrem eigenen Kopf.. Dann sang sie: Schrumpft und trocknet dieser Ball,
Komme Unheil auf den Stall.
Seine Kühe sieht er nimmer Gut zu schlimm und schlimm zu
schlimmer. Als sie fertig war, hängte sie die Kugel in ihren Kamin. Sie wußte, daß die Feuerhitze sie schnell aus trocknen würde, und wartete unge duldig darauf, daß ihre böse Tat Früchte trug. Ein paar Tage später schlug sie zum ersten Male in ihrem Leben ein Kind, die kleine Patience Maitland, ein rundliches, goldhaariges Kind von sieben Jahren. Bis dahin hatte Els beth oft mit Patience gespielt und sie beschäftigt, wenn ihre Mutter butterte oder sich einer sonstigen Hausarbeit widmete. Als Patience sie in ihre Richtung eilen sah, dachte sie, Elsbeth wolle mit ihr spielen. Sie hatte keine Ah nung, daß Elsbeth zum Rider-Hof
hinausging, in der Hoffnung, etwas zu hören oder zu sehen, was ihre Neugier wegen der Kühe befriedigte. Klein-Patience lief ihr entgegen und warf beide Arme um Elsbeths Tail le. »Guten Tag, Mistreß Farquar«, sagte sie. »Ich muß Ihnen die neue Puppe zeigen, die mir Master Rider gab, bevor er nach Boston ritt.« Wenn Patience Johan und Boston nicht erwähnt hätte, so hätte Els beth vielleicht ihren Haß vergessen, denn sie hatte das Kind geliebt. Aber die unschuldige Bemerkung war wie ein Funke auf trockenes Holz. »Geh weg. Ich habe keine Zeit für Puppen«, sagte Elsbeth grob und schob das Kind weg. Sie hatte offen sichtlich mehr Kraft, als sie wußte, denn das Kind schrie vor Schmerz auf. Elsbeth blieb nicht stehen, um sie zu trösten. Sie ging weiter. Patience lief hinter Elsbeth her. »Mistreß Farquar, Mistreß Farquar, wenn ich Sie gekränkt habe, dann bitte ich um Verzeihung. Bitte, bitte, kommen Sie zurück und sehen Sie sich meine Puppe an.« Das arme kleine Ding dachte, daß sie etwas falsch gemacht haben muß te. Sie konnte nicht verstehen, daß Elsbeth nicht freundlich wie immer war. Sie packte Elsbeth an der Schür ze, um sie aufzuhalten. Elsbeth hob die Hand. »Geh weg geh weg . . .«
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»Bitte — b i t t e . . . « Das Kind schluchzte hysterisch. Elsbeth senkte die Hand und schlug Patience hart auf die Wange. »Laß mich in Ruhe.-« Sie riß ihre Schürze los und ging weiter, ohne darauf zu achten, daß das Kind durch das plötzliche Freilassen der Schürze zu Boden gestürzt und auf ihren Fuß gefallen war. Der Knöchel war verstaucht, und sie wurde vor Schmerzen ohnmächtig. Ihre Mutter lief herbei, beugte sich über das Kind und schrie auf: »Mein armes Lamm!« Der schmerzerfüllte Tonfall der Mutter freute Elsbeth, aber im glei chen Moment hörte sie einen ande ren Aufschrei - aus Johan Riders Stall - den Aufschrei eines gequälten Tieres, der wie Himmelsmusik in Elsbeths Ohren klang. Sie stand da und horchte und freute sich an ihrer neu entdeckten Macht. Sie konnte sehen, daß um den Stall allerhand vorging. Leute rannten hin und her, und sie lächelte vor sich hin: »Gut zu schlimm und schlimm zu schlimmer . . .« Die Schreie verstummten. Elsbeth war noch glücklicher. Das bedeutete, daß die Kuh gestorben war. Sie hoff te, daß es die Jersey-Kuh war, auf die Johan so große Stücke hielt. Im gleichen Moment kam Johans Knecht aus dem Stall Elsbeth ging zu ihm.
»Seid ihr hier in Schwierigkeiten?« fragte sie. »Nein, Mrs. Farquar, wir haben Grund zur Freude. Die Jersey-Kuh hat gekalbt. Zwei hübsche Färsen. Zwillinge! Und von seiner Lieblings kuh! Master Rider wird sich freu en.« Eine Schwächewelle überkam Elsbeth. Ihr Zauber hatte nicht gewirkt. Sie murmelte etwas und drehte sich um, in Richtung ihres Hauses. Sie mußte nach der Kugel im Kamin sehen! Sie mußte noch einmal das Buch um Rat fragen. Als sie am Haus der Maitlands vor beikam, rannte der Bruder von Pa tience heraus. »Du bist böse«, .schrie er. »Du hast meiner Schwester wehgetan.« »Es war ihre eigene Schuld. Schlim me Kinder müssen bestraft wer den.« »Nein«, unterbrach eine weiche, sanf te Stimme. »Meine Patience verdient nur Gutes. Ich weiß, daß sie Sie nicht kränken wollte, Elsbeth Far quar. Wollen Sie nicht hereinkom men? Das kleine Ding weint nach Ihnen. Sie liebt Sie so sehr.« Mrs. Maitland streckte die Hand nach Els beth aus. »Wie sie dieses Gesicht lieben kann, verstehe ich nicht, aber sie tut es«, flüsterte der Junge.
Elsbeth hörte es.
»Mein Gesicht ist meine Sache, Tho
DOROTIIY QUICK
mas Matiland, aber da es dir miß fällt, trage ich es anderswohin.« Sie warf ihnen einen giftigen Blick zu und ging, wobei sie dem Jungen Flü che zumurmelte. Sie horte, daß Mrs. Maitland nach ihr rief, aber sie ach tete nicht darauf. Als sie heimkam, rannte das Kätz chen auf sie zu und zeigte ihr deut lich, daß es sich freute, sie wiederzu sehen. Elsbeth drückte es an die Brust. »Du und ich - wir sind eins«, sagte Sie feierlich, und das Kätzchen schnurrte glücklich. Als die Tür verriegelt war, sah Els beth nach der Kugel im Kamin. Sie war trocken und auf die Hälfte ihrer früheren Größe zusammenge schrumpft. Wenn alles mit rechten Dingen zuging, müßte jetzt zumin dest der größere Teil von Johans Herde krank sein. Elsbeth holte ihr Buch heraus. Soweit sie sehen konnte, hatte sie nichts falsch gemacht, nur daß sie die Alraunwurzel nicht bei Vollmond und um Mitternacht ge holt hatte. Natürlich - das war es. Nun, sie würde einen anderen Zau ber versuchen und sich diesmal ver gewissern, daß sie die richtigen Zu taten hatte. Sie war eine Hexe. Sie würde die Attribute einer Hexe erlangen. Sie würde zu Johans Hof hinübergehen und Flüche auf ihn und die Seinen
herabrufen. »Schlimm zu schlimmer« sollte es mit seinen Kühen gehen, mit seinem Land, seiner Braut und ihm selbst. Obwohl der bloße Gedanke an einige der Zutaten sie normalerweise hätte erschauern lassen, dachte sie nun ganz ruhig daran, wie sie sie beschaf fen konnte. Sie schlich in der glei chen Nacht mit dem Kätzchen unter dem Arm ins Freie. Sie wollte es nicht allein daheimlassen, da sie fürchtete, es könnte während ihrer Abwesenheit jammern. In einen dunklen Umhang gehüllt, war sie nahezu unsichtbar. Auf dem Kirch hof würde sie finden, was sie suchte, und sie machte sich unerbittlich dar an, die Dinge zu bescharfen, von de nen das Buch sprach. Jeder meiner Sinne wehrte sich gegen das, was sie tat. Ich, Alice Strand, haßte Elsbeth und die dunk len Mächte, die sie sich zu eigen ge macht hatte. Ich bemitleidete sie auch, denn ich wußte besser als alle anderen, daß ihre Seele durch Johan verwirrt worden war, und doch konnte ich ihm keine Schuld geben. Ich fürchtete auch das, was dabei noch herauskommen konnte. Würde Elsbeth in die völlige Dunkelheit des Teufelsglaubens hinabsteigen und mich mitziehen? Ich wußte, daß es in der Welt Magie gab - und Hexen. Ich hätte nicht Elsbeths Leben durch gemacht, wenn nicht die Zauberdecke
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die einer Hexe gewesen wäre. Würde Elsbeth die Schwarze Kunst mei stern? Was würde mit mir geschehen? Hier in dem unheimlichen Friedhof war ich voller Furcht. Elsbeth fürchtete sich nicht. Sie voll endete ihre ekelerregenden Aufgaben mit ruhigen Fingern, und als sie den Kirchhof verließ, hatte sie nicht nur die schwarze Katze unter dem Arm. Auf dem Rückweg ging sie durch die Wälder, wo sie ihren Bund mit Sa tan geschlossen hatte. Sie erinnerte sich daran und hielt lange genug an, um niederzuknien und zu ihrem Herrn zu beten. Am gleichen Ort grub sie Alraunwurzel und Bilsen kraut aus. Als sie zurück in die Stadt karrt, stand der Mond niedrig am Himmel. "- Sie ging am Haus der Maitlands vor bei und bemerkte, daß in einem Fen ster Licht brannte. Einige Schritte weiter stieß sie in der Dunkelheit ge gen jemanden. »Aber, aber. Miß Farquar - was machen Sie hier? Hat Mrs. Mait land auch nach Ihnen geschickt?« Es war Dr. Prouty. Elsbeth hielt den Atem an und überlegte schnell. »Nein, in meinem Hause war es so warm, daß ich mich nach frischer Luft sehnte und einen Spaziergang unter nahm. Ist Mrs. Maitland krank?« »Ein Kummer kommt nie allein. Erst < heute nachmittag hat sich Patience böse den Knöchel verrenkt, und nun
ist der junge Tom die Kellertreppe hinuntergefallen und hat sich dei-y Arm gebrochen. Wollen Sie nicht mitkommen, Elsbeth, Sie, die Sie so gut mit Kranken umgehen können?« »Man hat mich nicht rufen lassen und ich werde auch nicht gebraucht, wenn Sie da sind. Außerdem bin ich sehr müde.« Sie konnte kein Haus mit der düsteren Last betreten, die sie unter dem Umhang trug. »Dann gehen Sie heim, Mrs. Far quar, und verlassen Sie nachts Ihr Haus nicht mehr. Es ist unziemlich.« »Ich werde gehorchen.« »Gut - dann werde ich diesmal schweigen. Leben Sie wohl, Elsbeth Farquar.« »Leben Sie wohl.« Sie rannte den restlichen Weg zu ihrem Haus, wo bei sie sich im Schatten hielt, und erst als sie daheim war und die Früchte ihrer nächtlichen Arbeit sicher ver borgen hatte, wagte sie es, sich zu entspannen und Atem zu schöpfen. Am nächsten Tag, als eines der Kin der ihr eine Grimasse schnitt und et was über ihre Häßlichkeit rief, er widerte Elsbeth: »Wenn du glaubst, daß mein Gesicht häßlich ist, so warte nur, wie das deine später aussehen wird.« Der Junge war sprachlos vor Ober raschung und lief weg. Er war noch nicht weit gekommen, als Elsbeth einen Schrei hörte und ihn am Boden
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liegen sah. Er blutete aus einer Schnittwunde. Er war auf einen scharfen, schartigen Stein gefallen, und ein Hautlappen hing ihm vom Gesicht. Elsbeth wußte, daß er nun bis zu seinem Tode eine Narbe haben würde. Sie lachte. »Sagte ich dir nicht, daß du warten solltest, wie dein eigenes Gesicht einmal aussehen würde!« Das Kind wich nicht vor ihr zurück; statt dessen deutete es auf den Haut fetzen und bat sie, ihm zu helfen. Sie zog die Haut ab und schob sie in die Tasche. Sie dachte, daß sie das Stück vielleicht einmal bei einem Zauberspruch brauchen konnte. Sie beugte sich über den Jungen. »Laß es dir eine Lehre sein, und spot te nicht mehr über mich, sonst werde ich dich noch schlimmer verfluchen.« Der Junge hielt seine breite Man schette ans Gesicht und lächelte ihr durch Tränen zu. »Ich bitte um Verzeihung wegen meines Spottes. Sie sind zu gütig, daß Sie diesen Fetzen weggenommen haben. Ich danke Ihnen.« Elsbeth hörte nicht auf seine Ent schuldigungen. »Ich werde dich noch schlimmer ver fluchen — ich werde dich verfluchen.« Cyrus Finchleys Stimme schaltete sich ein. »Friede, Tochter. Ich hörte die bö sen Dinge, die der Junge von Ihnen sagte.« Er wandte sich an den Bu 24
ben. »Geh jetzt zum Arzt und sieh zu, daß du niemanden mehr ver spottest.« »Ich habe ihn verflucht, und sehen Sie, was geschehen ist«, rief Elsbeth. »Wenn ich wieder fluchen sollte -« »Du bist überreizt, Tochter, >Die Rache ist mein<, sagt der Herr und wahrlich kam Sein Zorn prompt. Du bist keine Schönheit, Elsbeth, aber du bist gut und freundlich, und das zählt mehr.« »Ich bin weder gut noch freundlich, und ich war viel zu lange geduldig!« Zorn und Verbitterung machten ihre Stimme hart. »Es ist wahr, man hat dich auf eine harte Probe gestellt.« Cyrus be trachtete mitleidig das groteske Ge sicht und die schrecklichen Hände. »So wollen wir es vergessen, aber fluche nicht mehr, Tochter, damit die Leute nicht sagen, du seist mit dem Bösen im Bunde. Würdest du zu Mrs. Finchley gehen? Sie ist leidend und hätte gern einen heilenden Trank von dir.« Elsbeth ging zu Mrs. Finchley. Die ältere Frau war krank, und die Er schöpfung hatte große Ringe unter ihre Augen gezeichnet. Sie freute sich, als sie Elsbeth sah, und fragte sofort: »Könntest du mir etwas von dem Tee geben, den ich vor zwei Monaten bekam, Elsbeth? Er hat mir so geholfen.«
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»Ich werde jetzt gehen und die Krauter suchen«, lächelte Elsbeth. »In einer Stunde bringe ich ihn.« »Gut, und dann erzähle ich dir von Johans Braut Priscilla. Johan brach te sie heute vormittag heim. Mein guter Mann sagte mir, daß sie außer ordentlich glücklich sind, und Johan will sie zu mir bringen, weil ich nicht kräftig genug bin, sie zu be suchen.« Mrs. Finchley hob eine ge brechliche Hand. »Ist es nicht wun derbar, Elsbeth, daß Johan so glück lich und gut verheiratet ist? Sie brachte ihm eine große Mitgift und Wagenladungen mit wohlgefüllten Truhen. Aber das bedeutet Johan gar nichts. Er ist so verliebt in sie, daß er nichts sieht als ihre blauen Augen. Ich werde sehr freundlich zu Priscilla Rider sein und ihr helfen. Sie ist noch so jung.« Eine Eisschicht überzog Elsbeths Herz, und Haß durchströmte sie wie an jenem Tag auf den Feldern, als sie mit Johan gesprochen hatte. Nun schloß dieser Haß auch Mrs. Finch ley ein. Sie sollte auch leiden. Sie würde ihr einen Tee brauen - ja wohl , aber nicht ganz den Tee, den sie erwartete. Mrs. Finchley soll te nicht in der Lage sein, Priscilla, dieser blauäugigen Puppe, zu helfen. Die Worte schickten Stachel in Els beths Gehirn. Es war ein Zauber in ihrem Buch, ein Zauber, der viel leicht
Sie verließ Mrs. Finchley und brach te ihr später eine Flasche. »Sie müssen täglich ein wenig davon trinken«, sagte sie. In ihrer Stimme verriet nichts, daß das Gebräu nicht aus den wohltuenden Krautern be stand, die sie Mrs. Finchley schon einmal gebracht hatte. Mrs. Finchley sprach nur von Johan und seiner Braut. »Sie hat Haare wie gesponnenes Gold und so viele Locken, daß sie nicht unter der Haube bleiben wol len, und Augen wie Kornblumen. Ihre Haut ist weiß, und ihr kleines Gesicht rund und frisch wie eine Apfelblüte. Es verwundert mich nicht, daß Johan sie so liebt«, und so ging es fort und fort. Während sie sprach, fiel Elsbeth et was Goldglitzerndes ins Auge, das am Boden lag. Sie sah hinunter, und da war auf dem handgewebten Tep pich ein langes, goldenes Haar. Satan sorgte in der Tat für sie, dach te Elsbeth. Genau der Gegenstand, den sie für ihren. Zauber brauchte! Während Mrs. Finchley weiter schwärmte, beugte sich Elsbeth un auffällig vor, hob das goldene Haar auf und schob es in ihren langen Ärmel. Das war mehr Glück, als sie erhofft hatte. In dem Buch stand ausdrücklich, daß man etwas Per sönliches von dem Menschen, den man verwünschen wollte, brauchte, um den Zauber zu vervollständigen
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ein Stückchen Haut, einen abge schnittenen Nagel oder ein Kopf haar. Elsbeth hatte gedacht, sie müß te Monate warten, bis sie eines die ser Dinge ergatterte, und nun hatte sie es ohne Anstrengung bekommen. Elsbeth verabschiedete sich von Mrs. Finchley so schnell wie möglich. In dieser Nacht arbeitete sie lange und mit Ausdauer. Zuerst schmolz sie das Wachs von zwei Kerzen und ver mischte es mit ein wenig Menschenfett - eines der Dinge, die sie sich vom Friedhof beschafft hatte. Als alles geschmolzen und abgekühlt war, begann sie eine kleine Figur zu for men. Sie knetete sie sorgfältig zu recht, bis sie unter ihren Fingern die Umrisse eines jungen Mädchens an nahm. Sie modellierte sogar das Ge sicht, so gut sie es nach Mrs. Finch leys Beschreibung vermochte. Ins In nere tat sie das goldene Haar und ein Stückchen Alraunwurzel, die an geblich bei Zaubersprüchen aller Art helfen sollte. Dann füllte sie die Fi gur auf und versteckte sie, als sie ganz hart war. Jetzt brauchte sie nur noch etwas, das Priscilla getragen hatte, um die Figur damit einzuwik keln. Dann konnte sie mit ihrem Werk richtig beginnen, Das kleine schwarze Kätzchen kam, legte ihr den Kopf in die Hand und rieb sich gegen sie, als wolle es ihr gratulieren. 26
»Es ist jetzt alles geglückt bis auf die Sache mit Johans Kuh«, sagte sie ganz ernsthaft zu der Katze, als sei diese ein Mensch. »Tom Maitland hat sich den Arm gebrochen, und das gute Aussehen des anderen Jungen ist durch meinen Fluch dahin. Es scheint, daß ich mit Verfluchungen besser vor ankomme als mit Zaubersprüchen. Aber ich werde etwas von Priscilla finden, und dann werde ich lange und tüchtig fluchen.« Es dauerte fast eine Woche, bis sie etwas von Priscilla fand - eine Wo che, in der sie das Glück von Braut und Bräutigam miterleben mußte. Sie versuchte den Haß, den sie spür te, aus ihren Gesichtszügen zu ver bannen. Sie war sogar nett zu Pris cilla, als sie schließlich zusammen trafen, aber sie reichte ihr nicht die Hand. Sie konnte es nicht ertragen, Priscillas schöne weiße Finger zu be rühren, und so sagte sie, daß sie sich das Handgelenk verstaucht hätte. Priscilla war sehr besorgt wegen die ser Verletzung. Es war, als hätte der Teufel Elsbeth den Gedanken in den Kopf gesetzt, denn dadurch erhielt sie ein Taschentuch, das dem Mäd chen gehörte. Priscilla sagte, daß Els beths Hand schneller heilen würde, wenn sie fest verbunden war. Sie hät te das bei ihrem Vater gesehen. So ließ sich Elsbeth das Handgelenk verbinden und jubelte innerlich über die Tatsache, daß Priscilla für den rf
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Verband ihr eigenes Taschentuch be nützt hatte. In dieser Nacht zog Elsbeth der Puppe das Taschentuch an und beug te sich darüber, indem sie magische Worte sang. Dann nahm sie spitze Stecknadeln und trieb sie in die Pup pe, wozu sie sagte: [-
Bohret, bohret euch hinein, tief ins Fleisch und ins Gebein. rf Pein und Pein und Pein sei dein, bis steif sind deine Glieder fein.
Dann kniete sie nieder und betete. »O Satan, mein Herr und Meister, laß meinen Zauber wirksam sein. Schicke Pein und Elend und all die Schrecken, die Du beherrschst, zu Priscilla Rider. Ich flehe darum in Deinem Namen - Ich, Elsbeth Far quar, die Hexe, eine Deiner unter tänigsten Mägde, die nur lebt, um Dir zu dienen. Sieh her, ich schreibe es mit Blut auf Menschenhaut.« Sie nahm ein Messer, stach sich damit in den Finger und schrieb auf den ' Hautfetzen des Jungen, den sie so lange aufgehoben hatte. »Elsbeth Farquar vereinbart mit Sa 1^- tan, daß sie ihm ihre Seele gibt, wenn er ihr Hexenkräfte verleiht.« Sie unterschrieb mit ihrem Namen, und während sie es tat, sprang die kleine schwarze Katze auf den Tisch, leckte ihr den Finger, von dem im mer noch Blut lief, und dann den
Rand des Hautfetzens, so daß ein rötlicher Wischer blieb, der genau wie eine Unterschrift aussah. Elsbeth schwenkte die Haut über ihrem Kopf und tanzte voller Freu de durch die Stube. »Ich bin eine Hexe - eine Hexe! Satan hat den Bund unterzeichnet. Hüte dich, Priscilla hüte dich, denn jetzt ist dein Leben in meiner Hand.« Sie hatte noch keine Nadel dahin ge steckt, wo das Herz der Puppe sein sollte. Sie wollte nicht, daß Priscilla sofort starb. Sie wollte, daß sie litt, damit auch Johan litt. Sie konnte immer noch die letzte Nadel hinein stechen, die den Tod bedeutete. Die Tage vergingen, und Elsbeth be obachtete Priscilla mit Habichtaugen, aber Priscillas rosigweißes Gesicht blieb unverändert. Sie wurde nicht bleich, sie wurde nicht krank, sie hatte augenscheinlich keine Schmer zen. Ihr Glück war eine Freude für jeden außer Elsbeth, der es sah, und Johans Glück war ebensogroß. Wieder einmal stand Elsbeth der Er kenntnis gegenüber, daß ihr Zauber nicht wirkte. Sie stach die Nadel in das Herz der Puppe und murmelte Beschwörungen dabei, und doch lebte Priscilla fröhlich und glücklich wei ter. Und nicht nur Priscilla blieb unberührt, auch Mrs. Finchley, die nun nach Elsbeths Berechnung schwer 27
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krank hätte sein müssen, wirkte kräf tiger als je zuvor. Natürlich konnte Elsbeth nicht ahnen, daß das Kraut, welches sie für ein tödliches Gift hielt, genau das richtige Anregungs mittel für Mrs. Finchleys zu schwa ches Herz war.
Das Zusammentreffen all dieser Din ge machte Elsbeth verbitterter denn
je. Sie war garstig und haßerfüllt.
Sie fauchte jedermann an. Immer wenn Klein-Patience in ihre Nähe kam, schob sie das Kind weg. Aber die Kleine zeigte ihr beharrlich ihre Zuneigung, und daran änderte sich nichts, was auch immer Elsbeth sagen oder tun mochte. Die Jungen dachten daran, was mit ihren Gefährten geschehen war, und gingen ihr aus dem Weg, und das narbige Gesicht des einen, der sie verspottet hatte, diente ihnen als ständige Warnung, Elsbeth zu mei den. Priscilla, die versucht hatte, nett zu ihr zu sein - dazu angehalten von Johan, der immer noch unglücklich über das Unheil war, das er ange richtet hatte —, erkannte bald, daß sie ebensogut einen Stein hätte be bauen können, doch sie gab nicht auf. Es schien, daß jedermann um so netter zu Elsbeth war, je haßer füllter sie wurde. Selbst die Ältesten bemühten sich um Freundlichkeit, und ihre Heiltränke waren immer mehr gefragt, seit Mrs. Finchley mit 28
jedem Tag kräftiger und gesünder wurde. Einmal, als Cyrus Finchley ihr we gen der Gesundheit seiner Frau dankte, erwiderte Elsbeth kühn, ohne an die Folgen zu denken: »Weshalb sollte ich sie nicht heilen? Ich bin eine Hexe.« Ihre Worte klangen nicht überzeugend, denn im Innern begann sie zu zweifeln. Cyrus lachte. »Es freut mich dich scherzen zu hören. Für jeden ande ren wäre das Thema gefährlich, aber du, die wir alle kennen und lieben, darfst ruhig darüber sprechen ... niemand von uns würde dich für eine Hexe halten.« Elsbeth lief weinend weg. »Ich bin eine, ich bin eine, aber keiner will es glauben . . . vielleicht wirken deshalb meine Zaubersprüche nicht.« Später saß Elsbeth wieder ruhig vor ihrem Feuer. Auf einem kleinen Tisch vor ihr lagen das Hexenbuch und die groteske Puppe, die wie das Zerrbild eines Nadelkissens aussah. Es war etwas Erschreckendes an ihr, denn Elsbeth hatte ihr nichts erspart. Nadeln steckten in allen möglichen Winkeln darin, im Mund, in den Augen und in den Ohren. In der Tat sah man kaum einen Fleck, der nicht durchbohrt war. Die groben, fußahnlichen Dinger waren geschmol zen und geschwärzt. Einmal hatte Elsbeth in schierer Verzweiflung
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verrsucht, die Puppe zu verbrennen, was keinerlei Wirkung auf das le bende Gegenstück hatte, das Abbild jedoch drastisch verformt hatte. Das Kätzchen lag auf Elsbeths Schoß und betrachtete gleichgültig die Din ge auf dem Tisch. Seine grünen Augen waren friedlich; es blieb völ lig unberührt von dem inneren Auf ruhr, den seine Herrin durchmachte. Elsbeth sah zum erstenmal seit je nem Tag im Walde, als sie zu Satan gebetet hatte, den Tatsachen direkt ins Auge. »Ich bin keine Hexe«, sagte sie zu sich. »Satan hat mein Gebet nicht erhört. Das Kätzchen ist nur ein ge wöhnliches Kätzchen, die Dinge, die den Jungen zustießen, waren reine Zufälle. Keiner meiner Zaubersprü che hat gewirkt, keine der Beschwö rungen - obwohl ich alles getan habe, was in dem Buch stand. Ich habe Gräber in finsterer Nacht beraubt, ich habe versucht, Mrs. Finchley krank werden zu lassen, weil sie so nett zu Priscilla war. All diese Dinge und noch mehr habe ich getan, und ich bin meinem Ziel, mich an Johan Ri der zu rächen, noch um keinen Schritt näher gekommen. Es hat keinen Zweck. Ich muß den Gedanken, Ra che an Johan zu üben, aufgeben, auch wenn es mich schmerzt.« Im gleichen Moment, als sie diese Worte sagte, klopfte es an der Tür. »Mach auf, Elsbeth Farquar.«
Sie zuckte zusammen. Sie konnte nie manden hereinlassen - nicht mit dem offen daliegenden Buch und der Puppe und den anderen scheußli chen Gegenständen aus den Gräbern, die sie unter dem Boden versteckt hatte. »Wer ist da?« rief sie. »Cyrus Finchleys Knecht. Komm schnell. Wir brauchen Hilfe. Mrs. Finchley ist schwer erkrankt.« »In einem Augenblick bin ich fer tig.« Schnell steckte Elsbeth die Pup pe und das Buch an den Ort, wo be reits das Stück Haut lag. Sie warf ihren schwarzen Umhang um die Schultern und gab sich Mühe, die Freude nicht durch ihre Blicke zu verraten. Satan hatte sie gehört - in ihren Zaubersprüchen war Macht, nur war sie zu ungeduldig gewesen, um ihnen Zeit zum Wirken zu las sen. Sie folgte dem Diener zitternd vor Erregung. Gerade als sie das Haus der Finchleys erreichten, kam eine Frau herausgelaufen. Sie hatte Tränen auf den Wangen. »Oh - oh - die gute Lady ist tot. Eben noch lachte sie und sagte dem Herrn, er solle sich keine Sorgen ma chen, und dann faßte sie sich plötz lich an die Brust, stieß einen lauten Schmerzensschrei aus und fiel tot nie der. O weh - o weh!« Cyrus Finchley kam bleich und mit schmerzverzerrter Miene an die Tür. »Du kommst zu spät, Tochter, zu 29
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spät. Dennoch bin ich dir dankbar. Erst heute sprach meine Frau von deinen guten Diensten und um wi eviel besser sie sich fühle.« »Aber nun ist sie tot.« Elsbeth sprach, ohne zu denken. »Ich habe sie umgebracht.« In ihrer Stimme klang Triumph mit. Endlich hatte ihr Zauberspruch gewirkt, der Zau berspruch, den sie gemurmelt hatte, als sie die Nachtschattengewächse in den Trank getan hatte. Endlich war sie sicher, daß sie eine Hexe war und daß sie sich noch an Johan rächen konnte. Sie hob den Kopf und lach te laut und hart. Der Mann und die Frau sahen sie sonderbar an. Cyrus Finchley jedoch lächelte traurig und klopfte ihr auf die Schulter. »Schmerz äußert sich manchmal auf diese Art«, erklärte er dem Mann. »Sie liebte Mrs. Finchley. Sorg da für, daß sie sicher heimkommt. Gute Nacht, Elsbeth. Du darfst nicht grü beln. Du hast meine Frau nicht ge tötet; du hast ihr geholfen und ihren letzten Tagen Freude verliehen. Es war der Herr, der sie heimrief.« Er ging nach drinnen und schloß die Tür. Der Mann nahm Elsbeth am Arm. »Ich bringe dich zu deinem Haus, wie es mein Herr befahl.« Elsbeth ging willig mit. Sie wollte daheim sein. Sie hatte viel zu tun.
Sobald sie in ihrem Haus war und die Tür verriegelt hatte, begann Els beth zu arbeiten. Zuerst nahm sie die Puppe aus ihrem Versteck. Sie hielt sie einen Moment lang vor sich, dann begann sie zu singen: Priscilla sei die Puppe, die Puppe sei Priscilla. Ich rufe an die Macht des Bösen. Im Rauch vergehe dieses Wesen, damit Priscillas Seele flieht, dem Äug der Menschen sich entzieht. Und tweiter sag ich diesen Bann: sie sei dem Satan Untertan, daß nicht im Tod und nicht im Leben, Johan ihr seine Lieb kann geben. Priscilla sei die Puppe, die Puppe sei Priscilla. Konzentrierter Haß floß durch ihre Adern, als sie die Puppe ins Herz der Flammen warf. Sie sah zu, während sie verbrannte. Ihrem Auge entging keine der Ver änderungen, die sie durchmachte das Aufzüngeln des brennenden Lei nens, das Brutzeln des Fettes, dann das Kleinerwerden der Flammen, als die Umrisse zu nichts verschmolzen und in einer Rauchfahne zum Kamin hinaufwehten. »Ich bin eine Hexe«, sagte sie feier lich zu dem Kätzchen, »eine mäch tige Hexe. Das hier ist die Nacht mei ner Nächte. Ich muß noch mehr tun, solange mir mein Herr hilft. Wäh
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rend Priscilla sich ihre Seele vor Schmerzen herausschreit, reite ich jawohl, ich reite - über ihr Haus dach und lausche den Schreien. Die Salbe zum Fliegen! Ich werde sie herstellen und auf meinem Besenstiel reiten, wie es sich für eine wahre Hexe gehört. Ich war bisher zu ängstlich, um es zu versuchen, aber jetzt fürchte ich mich nicht mehr.« Schnell, als stünde der Teufel neben ihr und triebe sie voran, machte sie sich daran, die Salbe herzustellen. Wieder wurde der Kessel über die knisternden Holzscheite gehängt, und sie begann eine greuliche Brühe zu sammenzukochen, über die sie magi sche Worte sprach, die nach Angaben des Buches unfehlbar waren. Als sie alles beendet hatte und die Salbe abgekühlt war, streifte sie ihr Kleid ab und rieb sich mit der Paste den ganzen Körper ein. Dann zog sie sich wieder an, denn die Gewohnheit war stark, und obwohl sie auf einem Be senstiel hoch über den Häusern rei ten wollte, konnte sie doch den Ge danken nicht ertragen, daß sie je mand sehen sollte, wenn sie nicht schicklich gekleidet war. Schon hatte Elsbeth ein seltsames Gefühl, als ob sie sich bewegte. Es schien, während sie in der Stube um herging, daß sie flog. Sie spürte, wie sie schwebte, und sie wußte, daß der Moment gekommen war, um sich auf
den Besen zu setzen. Sie holte ihn aus der Ecke und wollte sich gerade rittlings darauf niederlassen, als ihr einfiel, daß nicht Platz genug war, um aus den Fenstern zu segeln. Sie waren zu winzig, um ihren Körper durchzulassen. Also mußte sie etwas anderes suchen. Ein Gedanke kam ihr. Im Speicher war eine Falltür, die breit genug sein mußte. Sie lief die Speichertreppe nach oben, öffnete die Falltür und kletterte auf den Rand. Das Kätz chen war ihr gefolgt und kauerte nun auf seinem Lieblingsplatz, ihrer Schul ter. Elsbeth machte es nichts aus. Sie war froh, daß sie auf ihrem Ausflug von ihrem Vertrauten begleitet wurde. Sie sah zum Himmel hinauf. Von ihrem Platz aus erschien er so nahe. Es war ein großartiger Ausgangs punkt. Das Gefühl des Fliegens, das sie überkommen hatte, war hier noch stärker als zuvor. Sie stieg auf den Besenstiel, und ohne das geringste Zögern wandte sie die Spitze nach Johans Hof und warf sich in den Raum. Eine Sekunde lang spürte sie die Freude des durch-die-Luft-Se gelns, doch im nächsten Moment wurde ihr übel. Einen schrecklichen Augenblick lang erkannte sie, daß der Zauberspruch nicht gewirkt hatte. Sie fiel. Sie schrie mit aller Kraft, dann schlug ihr Körper mit einem furchtbaren Laut auf dem Boden auf.
DOROTHY QUICK
Alles verschwamm. Ein leises Stöh nen brachte sie wieder zu Sinnen. Das Kätzchen - es lag unter ihr, und sein Stöhnen wurde leiser. Sie wollte sich umdrehen, um ihm zu helfen, aber sie merkte, daß sie sich nicht rühren konnte. Sie hörte das Kätz chen stöhnen, bis seine Klage leiser wurde und wie eine kleine Luftblase im Wasser erstarb. Sie hörte Gerenne - Türen öffneten sich, Menschen lie fen herbei, riefen sich Sätze zu. »Je mand ist verletzt!« »Es kam von hier!« »Hier entlang —« Sie ver suchte, sie anzurufen, aber sie konn te nicht sprechen. Die Salbe zum Fliegen hatte ver sagt. Sie hatte etwas falsch gemacht. Was? Das fragte sie sich, als sie re gungslos, aber ohne Schmerzen da lag. Nun, es war gleichgültig. Solange der Zauber bei Priscilla wirkte, war alles andere gleichgültig. Selbst wenn sie starb, machte es ihr nichts aus. Sie würde Priscillas Gesellschaft in der Hölle haben. Hatte sie sie nicht selbst hingeschickt? Hatte nicht die Puppe, die Priscilla darstellte, ge brannt? Sie konnte die Leute jetzt sehen. Sie hatten sie gefunden und scharten sich um sie. Selbst Cyrus Finchley war da und kniete neben ihr. Sie sah ihn mit ihren großen Augen an. »Tochter, Tochter, was ist gesche hen?« flüsterte er. »Sie muß ihren Speicher gesäubert
haben. Da, die Tür ist offen, und Bp hier liegt ihr Besen.« Elsbeth er kannte Mrs. Maitlands Stimme. »Sie ffi muß sich hinausgebeugt haben, um
den Besen auszuschütteln. Und dabei
ist sie gestürzt. Meine Patience wird
ganz außer sich sein. Sie liebt Els beth.«
Elsbeth wollte Mrs. Maltland sagen,
daß sie sich täuschte, aber sie merkte,
daß sie nicht sprechen konnte,
»Leise, sie ist bei Bewußtsein«, rief
Cyrus Finchley. »Ich sehe es an ihren
Augen.«
Immer mehr Leute waren herbeige laufen. Sie war froh, als sie sah, daß
Johan nicht dabei war. Natürlich
konnte Johan nicht kommen; Pris cilla war jetzt vermutlich schon tot. , Wenn Elsbeth hätte lachen können, ' so hätte sie es getan.
|j^| Dr. Prouty kam und untersuchte sie BB rasch.
»Vollkommen gelähmt - sie wird , sich nie wieder bewegen können«,
sagte er ganz leise zu Cyrus, aber
Elsbeth hörte es. Es war ihr gleich gültig - selbst als er hinzufügte:
»Und dann hat sie noch innere Ver letzungen . . . und ihr Herz —«
^^ MmH
Elsbeth hörte das übrige nicht mehr.
Es berührte sie nicht. Sie hatte in
ihrer Rache Johan gegenüber er reicht, was sie wollte. Sie wünschte
nur, daß sie wüßten, daß sie eine
Hexe gewesen war. Was die Leute
BUND MIT DEM SATAN
von ihrer Sanftheit sagten, war zum Lachen, aber selbst das hatte nun keine Bedeutung. Sie hatte ihre Tri umphe erlebt - Tom Maitland, der andere Junge, Mrs. Finchley und Priscilla. Ihre Rache Johan gegen über war alles, was zählte, und sie hatte sie vollbracht - das wußte sie so gut wie sie die Ursache für Mrs. Finchleys Ableben kannte. Ein tri umphierendes Licht war in ihren Augen - die Freude über ihre Rache an Johan. Cyrus Finchley beugte sich über sie. »Du verstehst, was ich sage, Toch ter?« Sie sah ihn an. »Ja, ich weiß, daß sie mich versteht«, sagte Cyrus zum Doktor. »Freund, erzählen Sie ihr von meiner Frau. Sie sagte heute abend, daß sie fürch tete, sie habe sie getötet. Wir müs sen sie beruhigen.« Wieder wollte Elsbeth lachen und bedauerte, daß sie es nicht konnte. Ausgerechnet sie sollte befürchten, Mrs. Finchley getötet zu haben - wo sie genau wußte, daß sie es getan hatte! Der Doktor kniete neben ihr nie der. MmH »Mach' dir darüber keine Sorgen, Elsbeth. Mrs. Finchley war vom Tode gezeichnet. Ihr Herz war sehr krank. Es ist ein Wunder, daß sie so lange lebte. Zweifellos hat dein Trank sie so lange am Leben erhalten. Ich habe
die Zutaten studiert, die du dazu be nutzt hast, und habe entdeckt, daß sie sehr heilkräftig sind. Ich werde den Trank selbst verordnen.« Immer mehr Leute kamen, und dann hörte sie Priscillas Stimme. »Oh, Elsbeth, Elsbeth ... wir ka men, sobald wir davon erfuhren Johann und ich . . .<> Priscilla! Priscilla, die aussah wie immer - schön und heiter. Elsbeth tat ihr leid, sie fühlte mit ihr, aber immer noch war sie voll des inneren Friedens, den nur Glück und Liebe bringen konnten, Johan hatte ihn auch - diesen inne ren Frieden. Seine Stimme zitterte, als er Elsbeth ansah. »Arme, arme Elsbeth - sie war meine Freundin.« Priscilla beugte sich nieder und küßte Elsbeth auf die Stirn. Und gleich zeitig küßte Johan ihre reglose Hand. Der Triumph in Elsbeths Augen er starb. Er wurde vertrieben von See lenqual. So mußte sie also von ihrem Versagen erfahren. Sie hatte nichts erreicht! Rund um sie begannen die Leute, de ren Gewissen sich plötzlich rührte, weil sie nicht freundlich zu ihr ge wesen waren und ihre Häßlichkeit verachtet hatten, ihr Lob zu singen; und jedes Wort war wie ein Stich in Elsbeths Herz. Sie hatte nicht nett sein wollen. Sie hatte gemein und 33
DOROTHY QUICK
rachsüchtig sein wollen. Sie hatte es versucht, aber es war, als habe sich alles gegen sie verschworen. Die Leu te hatten sich geweigert, ihre Bosheit zu bemerken. Sie hatte eine Hexe sein wollen, sie hatte zu Satan ge betet, sie hatte einen Blutsbund mit dem Herrn des Bösen geschlossen, um sich an Johan rächen zu können, aber sie hatte keine Rache, keine Be friedigung erhalten. Was sagte Johan? »Sie - sie leidet - in ihren Augen ist Schmerz.« »Sie kann keine Schmerzen spüren«, erklärte der Doktor feierlich. »Dann leidet sie für uns - weil wir traurig sind.« Priscillas Augen wa ren voller Tränen. Johan nahm die Hand seiner Frau; als sich ihre Blik ke trafen, konnte Elsbeth ihre Liebe füreinander sehen. Sie machte eine gewaltige Anstren gung - es war, als müßte die Bitter keit in ihr einen Ausgang finden.
»Nein - nein«, schrie sie. »Ich hasse
euch alle. Ich bin eine Hexe - i c h ich .. .«
Ihre Stimme erstarb in einem schreck lichen Gurgeln.
34
»Sie ist nicht bei Verstand«, sagte Johan mitleidig. »Als könnte Els beth eine Hexe sein!« Seine Worte hatten noch zu ihrem Elend gefehlt. Elsbeth stöhnte ein we nig - wie vorher das Kätzchen. Es erinnerte sie an das Kätzchen, ihren einzigen Freund - und sie hatte es getötet. Völlige Verzweiflung brach gemeinsam mit einer barmherzigen Dunkelheit über sie herein. Ich, Alice Strand, erwachte keu chend, als meine Hand von dem Flik ken rutschte, der wie Menschenhaut aussah. Es war Menschenhaut gewe sen. Das wußte ich jetzt. Ein mitleid erregendes Fragment, das irgendwie durch die Zeiten erhalten geblieben war - alles, was noch von Elsbeth Farquar übrig war, von ihr und ih rer gequälten, verzweifelten Seele. Ich wußte, daß ich Elsbeths Hand schrift erkennen würde, wenn ich die andere Seite des Flickens sehen könn te. Ich setzte mich schaudernd in dem großen Himmelbett von Tante Ama bels Gästezimmer auf.
Die Rothaarige von
Hans Kneifel
Nächte zwischen Spätsommer und Winter; Nebel prickelt auf der Haut. Die entlaubten Bäume stehen wie Skelette über nassem Gras. Ferner Lärm von Wagen, geisternde Licht strahlen. Die rundumlaufenden Bal kone der Hochhäuser laden ein, sich fallenzulassen. Ein neunjähriges Mädchen, elfter Stock. Eine nerven kranke Frau, zehnter Stock, und ein verkrachter Jurastudent, fünfzehnter Stock. In einem 1ahr drei Selbst moerder. Hinter deckenhohen Glas w^' ' Scheiben das eiskalt-blaue Flimmern
der Fernsehapparate: eine Zeit, in der man beginnt, jede Art von Ver rücktheit zu glauben und für Tat sachen zu halten. Der Himmel war von seltsamer Klarheit; dichter Nebel lag über dem Boden und dämpfte die Geräusche wie ein schwarzer Samtvorhang. Zwi schen den eiskalten Sternen schwebte blaß und mächtig ein Vollmond. Mit eingeschalteten Breitstrahlern don nerte der schwere Triumph mit den weißen Querstreifen über der Motor
haube durch die Straße, die zwi schen Häusern blind endete - der Ne bel schluckte die Auspuffgeräusche. Der rote Wagen wurde scharf abge bremst und fuhr sacht in eine Park lücke. Lichter erloschen, die Tür fiel hart zu. Der Mann schob den Kra gen der Pelz jacke hoch, schloß den Wagen ab und ging auf das Haus zu, entlang dem Licht, das hinter Betonwinkeln strahlte, umgeben von einem milchigen Halo aus Nebeltropfen. Vor der Glastür des Hochhauses stand ein gelbroter Lastwagen mit der Aufschrift Matheu y Matheu und einer spanischen Nummer. »Merkwürdige Zeit für einen Um zug«, murmelte Tomas und suchte den Hausschlüssel. Es war unnötig, denn die vier Personen unter dem Beleuchtungskörper hatten die schwe re Tür festgestellt. »Guten Morgen«, grüßte Tomas la konisch. Er nickte dem Hausmeister zu, sah in die müden Gesichter der spanischen Lastwagenfahrer und blieb stehen, als eine alte Dame, klein, zierlich und etwas zu modern 35
HANS KNEIFEL
aufgemacht, eine schlechtverpackte
Lampe an ihm vorbeitrug.
»Da schauen Sie, was?« fragte der
Hausmeister. »Ein modernes Haus Umzug um Mitternacht.«
»Hier wundert mich nur noch we nig«, erwiderte der Mann und steck te seine gelben Lederhandschuhe ein.
»In der Höhe der Miete sind Über
raschungen inbegriffen.«
Der Hausmeister lachte. Die alte
Dame versuchte vergebens, die Tür
des Schneilifts zu öffnen. Der Mann,
schlank und braunhaarig, riß die Tür
auf. Er kannte ein paar Brocken
Spanisch.
»Por favor, senora«, sagte er und
lächelte verbindlich, aber etwas un sicher.
»Gracias«, erwiderte die Dame über rascht. »Sie sprechen Spanisch, jun ger Mann?«
Er zuckte zusammen. Tomas war
zweiunddreißig, und die Anrede
störte ihn ein wenig. Er sah in ihre
dunkelgrünen Augen und antwor tete:
»Vier Worte, gnädige Frau. Drei da von hörten Sie eben. Welches Stock werk?«
»Sieben, bitte. Wissen Sie - ich ziehe
hier gerade ein, und wir sind seit
vorgestern unterwegs. Sie sind tod müde, die Männer.«
Der Lift hielt. Die Sicherheitsplatten
schoben sich zusammen. Tomas öff nete die Tür, die alte Dame lächelte
dankend und stolperte über den Rand des braunen Teppichs in der Liftkabine. Tomas' Arm schoß vor und verhinderte, daß der Lampen fuß gegen den Türrahmen schlug. Das Papier hatte sich verschoben, un ter der zerrissenen Umhüllung sah Tomas wertvolles Glas aus Murano. »Danke. Sie sind sehr freundlich«, sagte die Dame und griff mit der linken Hand an ihr Herz. »Ich kann nur keine Scherben sehen«, erwiderte er und nahm ihr die Lam pe aus den Armen. »Lassen Sie mich das Ding tragen. Rechts oder links?« Der Lift in ihrem Rücken fuhr nach unten. »Links, bitte. Ich habe dieses kleine Apartment, wissen Sie. Ich bin glücklich, hier wohnen zu können.« Er ging mit seinen langen Beinen neben der Alten bis zur angelehnten Tür. Er kannte den Grundriß dieser Kleinwohnung; ehe er hier eingezo gen war, hatte er jede Wohnung ge nau gemustert. Die alte Dame öff nete die Tür - eine silbergraue Siam katze mit grünen, leuchtenden Au gen sprang von einer Packkiste. »Ich bin schon wieder da, Osiris«, sagte die Alte und deutete auf ein zierliches Tischchen. »Bitte dorthin stellen, die Lampe.« Er stellte die Lampe nieder und schälte vorsichtig die Verpackung ab. Der Schirm war aus Seidenstoff, zy lindrisch geformt und mit einem ur
DIE ROTHAARIGE
alten Druck verziert, der Faune und Sylphiden zeigte. Die Szene war mehr als nur frei gestaltet. »Nett!« sagte er. »Sie kommen aus Spanien?« »Ja.« Er lehnte sich gegen die Wand und zog ein zerknittertes Zigarettenpäck chen aus der Hemdtasche. Die Ar beiter kamen und schleppten einen gewaltigen weißen Teppich heran, den sie achtlos in die Ecke des Korri dors warfen. »Bringen Sie jetzt das Regal?« frag te die Dame. »Si!« Tomas sah genauer hin. Sie schien jetzt etwas schlanker, größer als Vorher. Das Gesicht deutete darauf hin, daß die Frau vor vielen Jahren einmal sehr schön gewesen sein muß te. Weißes Haar, zu unzähligen klei nen Löckchen gedreht, zuviel ver rutschtes Lippenrot und sehr exakt getuschte Augen. Der Hals war faltig wie die Greisinnenhände. Am Zeige finger der rechten Hand und am Mittelfinger der linken funkelten zwei Ringe, die sicher alles andere als billig waren. Vermutlich Fami lienschmuck, in der erstarrten Form spanischer Großfamilien über Jahr hunderte hinweg vererbt. Die Dame bemerkte seinen prüfenden Blick, lä chelte nervös und deutete auf eine Kiste. »Nehmen Sie Platz«, bat sie, »man
findet in diesem Land selten jeman den, der so hilfreich ist.« Er winkte ab und ließ die Zigaret tenasche auf den Boden fallen. »Ist nur ein Hobby von mir«, sagte er. Sie lächelte schelmisch und hob den Zeigefinger. »Ach, das glaube ich nicht. Ich glau be, Sie sind ein gutaussehender, rei zender junger Mann.« Er grinste und blies den. Rauch in die Richtung der Fensterfront. Die silbergraue Siamkatze mit dem un gewöhnlichen Namen strich um seine Beine und hinterließ eine Menge Haare, die er wieder würde weg bürsten müssen. Er zuckte die Schul tern und meinte: »Nennen Sie mich nicht >junger Mann
HANS KNEIFEL
der Tür stehen. In einem Spanisch, das wie eine Maschinengewehrsalve klang, redete die alte Dame auf die Männer ein. Sie grinsten trotz ihrer Müdigkeit; als aus einer Kiste eine Flasche und vier angestaubte Gläser erschienen, breitete sich etwas Ähn liches wie eine gemütliche Stimmung im Zimmer aus, das fünf zu fünf Meter groß war und voller Umzugsgut stand. Tomas nahm die Flasche hoch und staunte über das Etikett. »Dios!« sagte er. »Das Zeug, das ich in Barcelona bis zur Bewußtlosigkeit getrunken habe. Jerez dulce! Schade, daß kein Eis da ist.« Die Gläser wurden geleert, und To mas verabschiedete sich. Es war halb zwei, und er war müde. Die Alte brachte ihn bis zur Tür. »Wenn ich ganz eingerichtet bin, werde ich Sie zum Kaffee einladen, ja? Und vielen Dank für Ihre tüch tige Hilfe. Wie heißen Sie?« »Tomas Fischer, gnädige Frau. Fünf zehnter Stock.« Sie gab ihm die Hand. Sie war leb los und kalt, knöchern. Die scharfen Kanten der Ringe drückten. »Nochmals: besten Dank!« Er nickte, nahm die Jacke in den Arm und sah, wie ihn die Siamkatze prüfend anstarrte. Dann schloß sich die Tür aus Palisanderfurnier. Als Tomas auf den Lift wartete, stellte er fest, daß er eine Gänsehaut hatte.
38
Am Nachmittag des nächsten Tages wurde seine leidlich gute Laune gründlich verdorben. Der Verdacht, daß sich in einer abgeschlossenen Wohnsiedlung von rund tausend Fa milien unbeobachtete Dramen ab spielten, wurde weiter genährt. To mas verließ das Haus, um die täg liche Ration Zigaretten zu holen. »Verzeihen, Herr!« Er drehte sich um. Hinter ihm stand ein Mann, etwa dreißig Jahre alt und mit den typischen Zügen des spani schen Zigeuners. Viel schwarzes Haar, brennende Augen in einem schmalen Gesicht. Der Mann sah aus, als leide er an Schwindsucht. Seine Finger krallten sich um Tomas Arm. »Ja?« Tomas entfernte die Hand und sah unwillig auf die schwarzen Ränder der Fingernägel. »Hier wohnen Fräulein?« Tomas runzelte die Stirn und be trachtete den Mann genauer. Die Schuhe waren ungeputzt, und die Hose wirkte abgetragen und staubig. Der Hemdkragen war vor drei Wo chen weiß gewesen. »Hier wohnen viele Fräuleins.« Tomas deutete auf die zahlreichen jungen Mütter, die ihre spielenden Kleinkinder im Sandkasten beauf sichtigten und über Waschpulver oder über ihre Männer sprachen. »Ja? Fräulein, groß, schlank. Rote Haar, so lang! Grüne Augen. Sie kennen Fräulein?«
DIE ROTHAARIGE
Eine entsprechende Bewegung bei der Hände deutete die Umrisse an. Es schien sich um eine einmalige Dame zu handeln. Der Zigeuner blick te Tomas flehentlich an; er schien auf jedes zustimmende Wort zu warten. »Tut mir leid, aber ich kenne kein Fräulein, die so aussieht. Sie lebt auch nicht in einem dieser acht Häuser, denn ich wohne seit fast zwei Jah ren hier. Ich müßte sie kennen.« Der Zigeuner rührte sich nicht. Sein Gesicht wurde verschlossen, und er breitete mutlos beide Arme aus. »Entschuldigen!« sagte er und wand te sich ab. »Bitte«, sagte Tomas und ging auf den weißen Platten zwischen neuge pflanzten Bäumen und spielenden Kindern bis zum Supermarkt. Er kaufte Zigaretten und eine Zweili terflasche billigen Rotwein und ging wieder zurück. Der schwarzhaarige, hungrig aussehende Mann saß auf einem der Betonwinkel der Beleuch tung und sah Tomas entgegen. Er starrte ihm nach, bis er im Haus ver
schwunden war. Tomas fühlte die Blicke wie Messerspitzen im Rücken. Tomas Fischer ernährte sich von dem Bedürfnis anderer, vor dem Ein schlafen lesen zu wollen; er stellte Unterhaltungsliteratur her. Er ver diente so, wie er schrieb, nämlich mittelmäßig. Schriebe er besser, wür de er vermutlich verhungert sein. Er
konnte sich einen Smoking, einen ge brauchten englischen Sportwagen und gelegentlich - meist in Begleitung von jungen Mädchen - ein teures Essen in einem teuren Lokal leisten. Tomas war groß, schlank und braun äugig. Durch das lange Sitzen vor der Schreibmaschine hatte er ab und zu Kreuzschmerzen. Außer der Be fürchtung, dick zu werden, war er im Augenblick sorglos und glaubte, in der nächsten Zeit einigermaßen gut über die Runden zu kommen. Zwei Tage später, gegen ein Uhr, klingelte es. Er saß im roten Bade mantel am Schreibtisch und las die Zeitung. Tomas ging zur Tür und öffnete. Der Hausmeister stand im Korridor. »Herr Molnar?« »Sie haben doch neulich der alten Dame geholfen, Herr Fischer, ntdit wahr?« »Ja«, erwiderte Tomas mürrisch, »ist sie wieder ausgezogen?« »Im Gegenteil. Ich habe sie eben vor dem Lift getroffen. Sie sollen heute um drei zu ihr zum Karfee kommen. hat sie gesagt. Drei Uhr nachmit tags.« »Na ja«, erwiderte Tomas kurz, »Wohltun bringt Zinsen. Danke, Herr Molnar.« Der Hausmeister nickte und ging. Tomas zog die Schultern hoch. Eine wenig reizvolle Vision tauchte auf: dünner Kaffee in altmodischen Tas 39
HANS KNEIFEL
sen mit Goldrand und Kuchen, der so trocken war, daß er vom Teller sprang. »Gar nicht lustig«, sagte er, »viel leicht kennt sie einen Verleger.« Er ersparte es sich, den obligaten Blumenstrauß zu kaufen, und hoff te, diesen Mangel durch seinen kargen Charme auszugleichen. Zehn Minu ten nach drei Uhr klingelte er. Nie ves Dalmar stand über dem Klingel knopf. Merkwürdiger Name, dachte Tomas, dann klingelte er. Als er hin ter der Tür die trippelnden Schritte der Alten hörte, konnte er einen un deutlichen Schauder nicht UnterdrÜk ken. Die Tür ging auf - und Tomas erschrak bis ins Mark. »Tomas Fischer«, sagte er und räus perte sich. »Verzeihen Sie, ich bin offensichtlich ein Stockwerk zu weit gefahren.« Das Mädchen lächelte ihn an und öffnete die Tür noch mehr. Hinter ihr saß Osiris auf der Schwelle und starrte Tomas regungslos an. »Wenn Sie der junge Mann sind, der meiner Tante beim Umzug geholfen hat, sind Sie hier richtig. Sie schei nen überrascht zu sein?« Tomas ging einen Schritt näher. Es roch stark nach Kaffee, und in der Kanne mußte ein höllisches Gebräu sein. »Einigermaßen, ja. Ich erwartete eine etwas . . . reifere Dame.« »Kommen Sie herein, ich bin die 40
Nichte. Meine Tante ist verhindert. Ich hätte es schlimmer treffen kön nen«, fügte sie hinzu. Hinter To mas schloß sich die Tür. »Nett haben Sie es hier«, sagte er und sah sich im Wohnraum um. Die bleiche Sonne des Herbstnachmittags leuchtete durch die Glaswand und brachte die Farben zur Geltung. Den Boden bedeckte ein beiger Spann teppich, darauf lag ein riesiges wei ßes Ding mit langen Haaren. Es hät ten zusammengenähte Ziegenfelle sein können. Die wenigen Möbel wa ren modern und von erlesener Schön heit. Sie harmonierten mit lederüber zogenen Schaumstoffwürfeln, die ent lang einer Wand eine vier Meter lange Couch bildeten. Auf einem wertvol len Stereoplattenspieler rotierte Stra winskys Weihe des Frühlings. »Ihr Platz ist hier«-, sagte das Mäd chen. Tomas setzte sich vorsichtig in den hochlehnigen Sessel. »Erstaunlich«, sagte er und sah in die grünen Augen des Mädchens. Die Farbe war die der Greisinnenaugen. »Wer oder was ist erstaunlich?« fragte sie. Sie hatte herrliches Haar, das bis knapp zu den Schultern reich te und dessen Farbe zwischen dunkel rot und kastanienfarben schwankte. Über dem rechten Auge begann eine graue Strähne. »Ich dachte an eine weißhaarige Dame und war erstaunt, als Sie öff neten«, sagte Tomas. Sie lachte.
DIE ROTHAARIGE
»Mit Milch und Zucker?« »Wie?« fragte er zerstreut. »Möchten Sie Ihren Kaffee mit Milch und Zucker oder ohne?« Er war verwirrt und löste seinen Blick nur zögernd von dem weißen Totenschädel, der auf einem kostbar gebundenen Buch lag. Dieses Buch wiederum befand sich in einem Fach des weißen Regals. Es war ein außer gewöhnlich kleiner Schädel mit zier lichen Zähnen. »Nette Spielzeuge hat Ihre Tante«, antwortete er, »da ich eine Karaffe mit Cognac sehe, ziehe ich den Kaf fee schwarz vor.« Das Geschirr war hochmodern - fin nisches Design, es war wirklich ech ter Cognac, der Kaffee war teuflisch schwarz und stark, und auf Tomas Teller lag ein Stück fetter Creme torte. »Alte Damen haben gewisse Eigen heiten«, erwiderte das Mädchen. Man muß sie ihnen nachsehen. Mei ne Tante ist andererseits eine Perle von einem Menschen.« Tomas lächelte flüchtig. »Ich zweifle nicht daran, schließlich habe ich die Nichte kennengelernt. Herzlichen Dank!« Er machte eine Geste, die den Tisch umfasste. Die einzigen alten Möbel waren das Tischchen, einige Bilder und kleine Phiolen, die einer mittel alterlichen Alchimistenküche entstam ten konnten. Tomas sah sich um,
dann blickte er wieder das Mädchen an. »Entschuldigen Sie«, sagte er. »Sonst erzähle ich immer dumme Witze und wirke auf meine Art recht unter haltsam, aber im Augenblick bin ich etwas irritiert.« Sie zog sehenswerte Beine in teuren Strümpfen zu sich heran und lehnte gegen das Leder der Sitzbank. »Irritiert? Meinetwegen?« »Auch«, sagte er. »Und tun Sie nicht so, als ob Sie es nicht gemerkt hätten. Gutaussehende Mädchen laden mich selten zum Kaffee ein. Und dazu noch zu einem derart starken Kaffee. Wieviel Pfund nehmen Sie pro Tasse - oder hat Tantchen ihn schnell ge kocht, ehe sie fortging?« Sie schüttelte den Kopf, das Haar flog zurück, und die Antwort hatte er so oder ähnlich erwartet. »Ich habe ihn gekocht. Kaffeekochen gehört zu meinen wenigen Fähig keiten.« Tomas lachte verlegen. »Sie scherzen. Welchen Job haben Sie, wenn ich fragen darf?« »Sie dürfen. Ich vertrete ein Werk, das Spezialkosmetik herstellt. Ich rei se ziemlich viel, und meistens wohne ich in der Zwischenzeit bei Tantchen. Sie sind ein berühmter Schriftstel ler, habe ich von Tante Nieves er fahren?« Tomas winkte mit beiden Händen ab.
HANS KNEIFEL
»Sie hat's von Molnar, dem Haus meister. Er denkt es, weil ich ge wöhnlich erst mittags aufstehe. Aber ich mache selten vor zwei, drei Uhr nachts Schluß.« Ihre Figur war das Atemberaubend ste, das er seit zehn Jahren gesehen hatte. Vorausgesetzt, die Manipula tionen hielten sich in Grenzen. Er abonnierte Playboy, las deutsche Il lustrierte, kannte daher manches und wunderte sich kaum mehr über die Eigentümlichkeiten weiblicher Ana tomie. »Was schreiben Sie?« fragte sie. »Bücher«, antwortete er kurz. »Las sen wir das Thema . . . wenn Sie wieder in Madrid oder Kapstadt aus dem Jet steigen, kaufen Sie eines. Ich schreibe Ihnen dann eine lustige Wid mung hinein. Ihre Tante ist über raschend modern eingerichtet.« Sie betrachtete ihn sehr genau. Und er begann sich wie vor einem Rönt genschirm zu fühlen. Osiris schlich an seinen Beinen vorbei, sprang mit einem virtuosen Satz auf die Couch und rollte sich zusammen. Vier grü ne Augen musterten ihn, während die wilde Musik Strawinsky spielte. Wieder begann er, sich unruhig und unsicher zu fühlen. Er balancierte den Teller auf seiner Hand und spieß te eine kandierte Kirsche auf. »Ich bin es zwar gewöhnt«, scherzte er, »im Rampenlicht zu stehen, aber Ihre Katze und Sie - Sie sollten sich 42
einmal im Spiegel sehen. Ich habe den Eindruck, Sie beide mustern mich ausgesprochen gnadenlos.« Sie lachte laut und herzlich. »Das hat keinen besonderen Grund«, erwiderte sie dann und trank einen Schluck aus ihrer Tasse. »Ich sehe je den sehr genau an, und außerdem ge nieße ich es, mit einem charmanten jungen Mann hier zu sitzen und zu plaudern.« »Verdammt«, sagte er. Das Vokabu lar von Tante und Nichte war fast identisch. »Und ich habe immer ge glaubt, erst bei Damen ab neunund dreißig Chancen zu haben. Sollten Sie die Ausnahme in meinem ver gammelten Leben sein?« Sie zupfte an einem Ohr der Katze, Osiris blinzelte verschwörerisch. »Wer weiß . . .?« sagte sie lächelnd. Jetzt glich sie Mona Lisa, Lucretia Borgia und Cleopatra, trotz ihrer fünfundzwanzig Jahre. Ihre Haut hatte die Farbe dunklen Honigs, und die Hände waren eine kleine Sensa tion mit langen, golden lackierten Nägeln. Sie trug einen ähnlichen oder sogar denselben Ring wie ihre Tante, auch am Mittelfinger der Linken. Eine Viertelstunde später, nach drei Tas sen Kaffee mit Cognac, hatte Tomas seine Befangenheit überwunden und begann, sich wohlzufühlen. Die an dersartige, aber zwingende Atmo sphäre dieses Zimmers verstärkte
DIE ROTHAARIGE
sich, als es zu dunkeln begann. Dazu kam, daß sich dieses Mädchen ein deutig für ihn interessierte; das war ein sicheres Mittel, auch aus einem Misanthropen Funken zu schlagen. Er erfuhr ihren Namen, sie hieß wie ihre Tante und das, sagte sie, bedeute so viel wie >frischgefallener Schnee<. Es wurde ein langer, einzigartiger Nach mittag. Die Karaffe war leer, als Tomas aufstand, um sich zu verab schieden. »Wir werden uns ja wieder sehen«, sagte er ruhig. »Zufällig?« »Wenn wir uns sehen, dann nicht zufällig«, erwiderte sie. »Viel Erfolg bei der Arbeit.« »Danke, Nieves - ebenfalls.« In seiner Wohnung riß er die Bal kontür auf und starrte die zahllosen Lichter unter ihm an. Nieves war das schönste Mädchen, das er jemals ken nengelernt hatte, und sie schien alles andere als dumm zu sein. Er be schloß, sich wieder einmal der Ge fahr auszusetzen, enttäuscht zu wer den. Tomas Fischer glaubte, daß jeder Mann bei fast jeder Frau alles errei chen könne, wenn die Umstände gün stig waren. Hier, zwischen dem sie benten und fünfzehnten Stock, schie nen sie einmalig günstig zu sein. Er kaufte einen Strauß sorgfältig ausge suchter Blumen und schrieb eine kur ze Notiz auf die Briefkarte: Ich las
se mich wahnsinnig gern zum Karfee einladen - von Ihnen! Er bat das ältliche Mädchen im Blumengeschäft, den Strauß an die junge Dame ab zugeben. Als er den Laden verließ und entlang des Kanals, vorbei am entvölkerten Kinderspielplatz, dem Hochhaus zuschlenderte, rannte der verwahrloste Zigeuner fast in ihn hinein. Er wirkte wie ein Mensch kurz vor dem Verrücktwerden. »Entschuldigen, Herr«, sagte der Schwarzhaarige. »Noch immer nicht gesehen Fräulein?« Blitzartig fiel Tomas ein, daß der Fremde nur Nieves meinen konnte. Keine andere! Er schüttelte den Kopf, Argwohn und Ablehnung er wachten gleichzeitig. Er sagte schroff: »Nein. Kein Fräulein. Wohnt nicht hier!« »Danke - danke!« beteuerte der Mann und ging zu den fast leeren Bänken. Er musterte die wenigen Frauen, die dort saßen. Schlagartig brachen sämtliche Unterhaltungen ab. Der Mann wirkte wie ein moderner Ahasver; unruhig, fiebernd, hungrig. Einen Tag, nachdem die Blumen ab geliefert worden waren, begann To mas zu eskalieren. Nach Jahren mach te es ihm wieder einmal Spaß, sich in das bizarre, nervenreizende Spiel zwischen Mann und Frau zu wagen. Er war so weit von sich überzeugt, daß er an seinen Erfolg glaubte. Er fuhr in den siebenten Stock, und 43
HANS KNEIFEL
nachdem der Nachhall der Glocke ver nahm, betrachtete er den Ring. Es klungen war, hörte er das Fauchen war wirklich der gleiche Ring. War der Katze. Dieses Mal hatte Tomas es möglich, daß ihn beide Frauen ab damit gerechnet, die alte Dame anzu wechselnd trugen? »Jerez mit Eis«, sagte er und trank. treffen. »Herrlich.« »Sie sind es, Herr Fischer?« sagte sie und streckte ihm die Greisinnen »Nieves kommt morgen oder über hand entgegen. »Schade - meine morgen«, meinte die Tante. »Kom Nichte ist nicht da. Sie flog nach men Sie doch einfach zu uns herun Barcelona. Sie haben ihr mit den ter, wenn Sie mögen.« Blumen eine große Freude gemacht. »Das werde ich tun«, antwortete er und sah sich um. Er entdeckte in Kommen Sie herein!« »Gern«, sagte er und sah die Blu einem Fach des Regals ein schwarzes men, die verdorrt in einer schlanken Telefon und schüttelte ungläubig den Vase standen. Nach zwei Tagen in Kopf. »Telefon haben Sie ja, sogar diesem Zimmer waren sie verdorrt! ein schwarzes; ich rufe vorher kurz »Ich wollte mit Ihrer Nichte einen an, ja?« »Hier - die Nummer!« Herbstspaziergang machen. Im offe nen Wagen zum Schloß und dort zu Die Alte schrieb etwas auf eine Kar te. Tomas drehte sie um: eine Ge Fuß durchs Herbstlaub.« Sie schob ihn herzlich in den Wohn schäftskarte der jungen Nieves. Die raum. Zwei neue Bilder waren auf Schrift der Alten sah nicht wie die gehängt worden. Eines zeigte einen einer fünfundsechzigj ährigen Frau Ausschnitt aus dem Garten der Lüste aus. Tomas steckte die Karte ein und von Hieronymus Bosch, das andere sagte: eine Federzeichnung von Baldung- »Schade, daß Ihre Nichte nicht da ist.« Grien, die eine junge Hexe mit einem Die zwei Frauen hatten über ihn ge Drachen und zwei böse blickende sprochen - offensichtlich nicht Knaben zeigte; eine sinnliche und schlecht. Die Tante strahlte ihn an. gewagt-obszöne Darstellung. Tomas Osiris hockte auf dem Kissen und zuckte schweigend die Schultern und beobachtete mit großen Augen jede seiner Gesten. drehte sich um. Nieves musterte ihn spöttisch und hielt ihm ein Glas ent »Ja, schade. Sie wird oft bei mir wohnen, wenn sie in der Stadt ist. gegen.
»Sie trinken ihn doch so gern«, sagte Sie müssen wissen, sie ist ständig un terwegs. Wir kommen aus einer rei sie. »Nur für Sie!«
Während Tomas den Jerez entgegen selustigen Familie, doch früher war 44
DIE ROTHAARIGE
das Reisen viel unangenehmer. Aber auch interessanter.« »Ich entsinne mich«, sagte Tomas und lachte. »Hat Sie dieser merk würdige Zigeuner oder was er ist, schon belästigt?« »Zigeuner?« Die Alte schien zu er schrecken und senkte ihre Stimme zum Flüsterton. Osiris stand auf, streckte den Schwanz in die Höhe und buckelte fauchend. »Na ja«, sagte Tomas, »ein etwa dreißigjähriger Mann, ziemlich abge rissen und scheinbar am Verhungern. Er fragte nach einem Fräulein aus Spanien. Ich sagte, ich kenne sie nicht.« Nieves war an das Regal gegangen und legte die Hand auf den Toten schädel, im Nebenfach stand ein Edelholzkeil, und auf diesem saß ein ausgestopfter Rabe, pechschwarz und mit stechenden Knopfaugen. Tomas glaubte, Unsicherheit aus ihrer Stim me herauszuhören. »Mich hat er nicht belästigt. Ich habe ihn nicht gesehen«. Sie schien zu lügen. Tomas roch an dem leeren Glas und stellte es ab. »Versprechen Sie mir, die Flasche nicht allein auszutrinken? Ich liebe diesen Jerez. Ich rufe morgen oder übermorgen an. Wenn es regnen sollte, kann ich mit Ihrem Fräulein Nichte zum Essen fahren - voraus gesetzt, ich langweile sie nicht.« Die Alte sah Tomas an, schüttelte
den Kopf und nahm die Hand vom Totenkopf, dann erwiderte sie: »Ich kenne Nieves so gut wie mich selbst, und ich verrate sicher nichts Neues, wenn ich Ihnen sage, daß sich Nieves sehr darüber freuen würde. Schließlich sind Sie ein erfolgrei cher ...« Tomas blickte verzweifelt zur Dek ke und murmelte: ». . . gutaussehender, charmanter junger Mann, ich weiß. Sie übertrei ben reizvoll, gnädige Frau, aber Sie übertreiben. Darf ich mich verab schieden?« Sie ging vor ihm zur Tür. In der kleinen Garderobe hing ein dreivier tellanger weißer Pelzmantel. Tomas berührte ihn mit dem Handrücken und glaubte, von den Haaren einen elektrischen Schlag zu bekommen, Nannte man diesen Pelz nicht Polar wolf? »Ich rufe an«, sagte er und nahm die knochige kalte Hand mit dem scharfkantigen Ring. »Darf ich?« »Sie sollen. Nieves würde sich freu en.« Tomas fuhr mit dem Lift hinunter, kletterte in den Sportwagen und stieß aus der Parklücke. Als er die Stockwerke abzählte und bei dem Apartment angelangt war, glaubte er hinter dem Gewebe der Vorhänge die unverkennbare Silhouette des jungen Mädchens zu sehen. Unsinn! Er fuhr statt zum Schloß zur Bank, zur Post 45
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und in die Wäscherei. Er war sehr nachdenklich, als er in den dichten Verkehr der Hauptstraße einbog. Zwischen ihnen flackerte die Kerze. Tomas hob den Leuchter und hielt ihn über den Tisch. Nieves zündete sich die Zigarette an und blies Tomas den Rauch ins Gesicht. »Danke«, sagte er. Sie lächelte; jetzt nur für ihn allein. In dem kleinen Lokal, das Tomas nur dann besuch te, wenn er mit einer jungen Dame eindeutige Absichten hegte, waren sie - oder vielmehr Nieves - eine kleine Sensation gewesen. Tomas in seinem dunkelblauen Anzug sah passabel aus. Nieves war mit einem weißen Kleid aufgetaucht, dessen Dekollete die dem Abend entsprechende Tiefe hatte. Der Kellner, der Tomas seit zwei Jahren kannte, hatte sich förm lich erschöpft. Nachdem Tomas die erstaunliche Rechnung gezahlt hatte, sagte er leise: »Ich nehme an, daß es Ihnen ge mundet hat. Teuerste.« Ihr Lächeln ähnelte jetzt dem einer großen, trägen Katze. »Trefflich. Ich nehme an, in dieses Lokal gehen Sie immer mit den klei nen Mädchen, die Sie verführen wol len?« »Klugheit, dein Name ist Weib«, sagte Tomas und nickte bitter. »Wie recht Sie haben. Selbstverständlich sind Sie die Ausnahme. Mit Ihnen
ging ich deshalb hierher, weil das Essen teuer und delikat und der Ser vice excellent sind. Waren Sie zu frieden?« »Dank Ihrer Begleitung einer der zehn unvergeßlichen Abende eines Mädchenlebens.« »Es ist erstaunlich, wie Sie sich mei nem ironischen Tonfall angeglichen haben. Das erlebe ich selten, und wenn, dann mit Frauen ab neunund dreißig.« »Warum gerade neununddreißig?« Tomas machte eine entschuldigende Geste. »Ich kenne kaum Damen über vier zig. Was machen wir jetzt?« »Wäre es nicht so kalt, befände sich ferner ein Park in der Nähe, würde ich Sie um einen langen Spaziergang bitten. So aber . . .« »Ich höre!« Tomas legte die Hand. ans Ohr. »Ich beschränke mich darauf. Sie auf ein Glas Jerez in den siebenten Stock einzuladen. Ich hoffe. Sie interpre tieren die Einladung richtig.« »Ich glaube, daß ich es tue«, gab er zur Antwort. Er lächelte versonnen. Zwischen ih nen war im Lauf der vergangenen hundertfünfzig Minuten ein geheim nisvolles Einverständnis entstanden. Tomas hatte Nieves gegen sieben Uhr angerufen und sie kurz vor acht abgeholt. Sie waren ins Zentrum ge fahren. Während des Essens hatten
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sie sich kennengelernt: erstaunlich, wie tief der Grad gegenseitigen Ver ständnisses geworden war. Tomas würde sich, hätte er ernsthafte Chan cen, in dieses Mädchen verlieben wollen, aber seine Erfahrung ließ ihn skeptisch bleiben. Nieves selbst schien stark an ihm interessiert zu sein - wenn nicht, spielte sie hervor ragendes Theater. Er hatte nach eini gen Worten festgestellt, daß ihr so wohl das Fluidum, das selbst mittel mäßige Schriftsteller umgab, als auch der grellrote Sportwagen und die Tatsache, daß er beim Essen nicht schmatzte, völlig gleichgültig waren. Er war tief beeindruckt. »Darf ich Ihren Mantel holen?« fragte er. »Bitte.« Sie drückte die Zigarette aus, und Tomas holte seinen Wildledermantel und ihren Polarwolf. Die Männer warfen ihm neidvolle Blicke zu, die Gesichter der meisten Mädchen ver steinerten; er fühlte sich geschmei chelt. Sein kühler Verstand regi strierte gleichzeitig, daß Nieves die Bewunderung genoß. Als sie neben ihm auf dem Schalensitz kauerte, fragte sie kurz: »Wie spät?« »Viertel vor Zwölf. Geisterstunde. Die Zeit des Nebels, der Liebenden und der Hexen.« Das Motorengeräusch weckte vielfäl tige Echos. Sie fuhren die vier Kilo
meter bis zum Hochhaus, und To mas fand sogar eine Parklücke. Er gestattete sich, Nieves am Ellenbogen zu führen, schloß die Tür auf und stellte sich im Lift neben das Mäd chen. Nieves betrachtete sich in dem schmalen Spiegel. »Sie brauchen nur in meine Augen zu sehen«, sagte Tomas sarkastisch. »Zwei runde Spiegel werden Ihnen zeigen, wie gut Sie aussehen.« Sie drehte sich schnell um und nahm seine Hand. »Sie sind ja ein richtiger Literat!« sag te sie erstaunt. »Und eine so schöne Metapher!« »Und völlig kostenlos.« Er nickte. »Sie haben noch genügend Jerez?« Ihr Lächeln traf ihn wie eine glü hende Nadel. »Genug, um Sie betrunken zu ma chen und zu verführen.« Der Lift hielt, Tomas stieß die Tür auf. Zehn Leuchtstoffröhren erhellten flackernd den H-förmigen Korridor. Das Geräusch von Ledersohlen und hohen Absätzen hallte zwischen Rauhputzwänden. Mit gespieltem Entsetzen fragte Tomas: »Sie werden mich doch nicht ver führen wollen. Teuerste?« Über die Schulter warf ihm Nieves einen kurzen, eindeutigen Blick zu und schloß die Tür auf. »Nehmen Sie an, ich sei eine Nonne?« »Nein«, entgegnete er trocken. »Das ganz sicher nicht.« 47
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Während er ihr den Pelz abnahm, begrüßte Osiris das Mädchen nach Katzenart. Als sich das Fell an den Strümpfen rieb, glaubte Tomas, Fun ken zu sehen. Sie gingen in den Wohnraum, Tomas setzte sich in den Sessel. »Was trinken Sie? Kaffee, Jerez, Co gnac, Gin oder Whisky?« »Zuerst einen Kaffee, dann Jerez mit Eis.« Er sah auf. »Macht es Ihnen nicht zuviel Mühe?« »Nein«, sagte sie, »ich rechnete mit dieser Kombination.« Sie ging in die Miniküche und stellte eine kleine, doppelt kugelförmige Karfeemaschine auf eine Kochplatte. »Wirklich erstaunlich«, murmelte Tomas, als sie zurückkam, »wie gut Sie mich zu kennen glauben. Ich ziehe um diese Stunde wirklich Kaf fee und Jerez vor.« Sie stand vor dem Sessel und fuhr schnell, unverbindlich durch sein Haar. »Ich wußte es genau. Tausend Jahre Erfahrung liegen hinter mir.« »So alt, Mädchen?« fragte er. »So weise«, erwiderte sie. »Eine Se kunde - ich ziehe mich nur um. Wenn das Ding dort zu pfeifen be ginnt, schalten Sie die Platte ab. Sie werden einen Schalter drehen kön nen?« »Möglicherweise sogar in die ent sprechende Richtung«, sagte er. Das Geräusch der Wohnraumtür, das
Klappen von Schranktüren, Geräu sche, die er nicht deuten konnte. Drei Minuten später pfiff die kleine Kaf feemaschine. Er stand auf und dreh te den Schalter herum. Aus dem Hochschrank suchte er Teller, Tas sen und Löffel, fand Milch und Zuk ker und plazierte alles auf ein Ta blett, das er vorsichtig zum Tisch trug. Dann schaltete er unter Osiris mißtrauischen Blicken die Couchlam pe mit den freizügigen Darstellun gen auf dem Seidenschirm ein und die Deckenbeleuchtung ab. Er war tete einige Sekunden und hörte im Bad Wasser rauschen. Dann suchte er zwischen den hochkant stehenden Schallplatten. Er legte Berlioz auf, Sinfonie fantastique. Aus Stereolaut sprechern quoll Musik wie Nebel und füllte den Raum. Tomas war nüchtern wie ein Stück Mauer, aber er fühlte sich im Banne einer Ver zauberung: Musik, Totenschädel, das Zimmer, die lautlose Katze und die weichen Möbel . . . die Dinge waren wohlausgesuchte Zutaten zu einer eindeutigen Situation. Er setzte sich wieder, lehnte sich zurück und schloß die Augen. Als er sie wieder öffnete, stand Nieves vor ihm. »Wie ich Menschen liebe«, sagte To mas ruhig und sehr leise, »die jedesmal die richtigen Dinge im richtigen Augenblick tun!« Sie legte eine Handfläche gegen seine Wange.
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»Auch das wußte ich. Außerdem bin ich dort, wo es sich nicht vermeiden lassen sollte, für Ehrlichkeit. Ich sehe, du hast den Jerez nicht gefunden.« Tomas klappte den Deckel des stäh lernen Kästchens auf und zündete zwei Zigaretten an. »Hauptsächlich deswegen, weil ich nicht gesucht habe. Sicher entspricht Berlioz der Situation - du scheinst mich verzaubern zu wollen?« Sie schwieg und lächelte, dann klapp te das Barfach auf, und Nieves stell te die Flasche und zwei schlanke Glä ser auf den Tisch, holte Eis aus der Küche. Tomas verteilte das Geschirr und entschloß sich, ihr das Entgegen kommen zu erleichtern. Er setzte sich in eines der lederüberzogenen Couch elemente. Nieves kam mit der Schale voller Eiswürfel zurück. Sie trug ei nen knöchellangen Morgenmantel aus einem hauchdünnen, kostbaren Stoff. Schwarz. Die Oberfläche sah wie der Druck einer Sternphotographie aus; Sterne, Monde, Planeten und Kome ten bildeten verstreute Muster auf dem schwarzen Grund. »Ich kenne manches«, sagte Tomas und drehte den Kopf. »Aber solch einen Stoff habe ich nicht einmal in der Phantasie gesehen.« Nieves goß pechschwarzen Kaffee in die Tassen, füllte die Gläser mit Je rez. Sie trug jetzt keinen Ring mehr. Vier Eisstückchen klingelten in die
Gläser.
»Ich bin auch keines deiner Mäd chen, die sich von einem Sechzig Mark-Essen so beeindrucken lassen, daß sie deswegen mit dir schlafen.« Sie lächelte nicht, als sie das sagte. »Das ist bitter«, erwiderte er, »aber richtig formuliert. Ich habe nichts gegen begründetes Selbstbewußtsein. Ich glaube, bei dir ist es nicht grund los - natürlich werde ich mich täu schen.« Er blieb skeptisch. Stets dann, wenn Dinge perfekt erschienen, erwachte verstärkt sein Mißtrauen. Berlioz Musik schilderte die Verwandlung einer geliebten Frau in eine Hexe und die Verzweiflung, mit der es der Mann sah. In dieser Stunde um Mitternacht war alles zu perfekt und zu präzise arrangiert. Es mußte ihn mißtrauisch machen. Wie viele Menschen, denen die Grenzen ihrer Begabung bewußt waren, blieb To mas ironisch, ohne Zyniker zu sein, und skeptisch, ohne sich den Dingen zu verschließen. Er trank Kaffee und löschte die Zigarette. »Wo ist Tantchen?« fragte er. »Sie besucht eine Freundin. Wir Dal mars sind eine große Familie, fast über die ganze Welt verbreitet. Dazu kommt, daß wir nicht besonders arm sind. Zufrieden?« »Ja und nein , . . das alles hat Zeit. Ich hoffe, dieser Abend wird nicht der letzte sein, den ich mit dir ver bringe.« 49
HANS KNEIFEL
Sie lehnte sich leicht gegen seine Schulter, aber die Berührung wog mehr als eine Umarmung eines an deren Mädchens. Tomas bewegte vor sichtig sein Glas, Eis schlug gegen die dünne Wandung. Sie sahen sich in die Augen. »Wer verführt wen?« fragte Tomas. »Fast alle Mädchen glauben, es sei Sache des Mannes, zu handeln, nach dem man ihn an die Wand gedrängt hat, nicht vorher.« Sie lachte laut. »Schriftsteller haben mitunter den Vorzug, sich um originelle Formu lierungen zu bemühen. Daß du so wohltuend sachlich bleibst, macht dich unwiderstehlich. Verführen wir einander!« Tomas küßte sie leicht auf die Lip pen, sie schmeckten nach etwas, das er nicht kannte. Er bog seinen Kopf zurück und murmelte: »Sekunde. Ich öffne nur die Man schettenknöpfe, welch letztere Hand arbeit aus Toledo sind. Mitbring sel.« »Ich weiß, ich sah es bereits im Lo kal. In Toledo habe ich einmal ge wohnt, vor einigen Jahrhunderten.« Sie lachte verlegen, wie es schien. To mas störte es nicht einmal, daß Osi ris mit grünen Augen alles mit an sah. Die Küsse, die Nieves und er tauschten, waren Naturereignisse. Jetzt begann er zu wissen, daß Nie ves allen anderen Mädchen in einem 50
Maß überlegen war, das er nicht be schreiben konnte. Sie kontrollierte
den Körper mit dem Verstand, war
heiß wie Magma und kalt wie pola res Eis gleichzeitig. Als er den langen
Reißverschluß des sternübersäten
Mantels öffnete und seine nervösen
Hände die weiche Haut spürten,
wußte er, daß ihr Körper hielt, was
andere Körper nicht einmal ver sprachen. Eine halbe Stunde oder eine
Woche später erwachten sie aus dem
Schweigen. Tomas setzte sich auf,
schob seinen Schuh zur Seite und goß
Kaffee in eine Tasse. Er trank sie in
einem Zug leer.
»Tom?«
»Ja?« Er drehte sich herum.
»Lege Mussorgski auf; Nacht auf
dem kahlen Berge. Willst du?«
Er gehorchte schweigend. Als er die
Titel durchsah, es waren über hun dert Platten, bemerkte er die Ähn lichkeit. Mystik, Sagen, rituelle Be züge, faszinierende Themen. Über begriff Zauber und Verzauberung.
Untypisch für ein Mädchen von fünf undzwanzig Jahren. Kein Barock,
nicht ein Mozartstück, viele Slaven
und einige Sonderausgaben mit my thologischen Ritentänzen eingebore ner Naturvölker. Der Diamant senk te sich, Musik schwang durch den
Raum.
»Zündest du Zigaretten an?« bat
Nieves.
»Natürlich.«
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Ihr Körper lag ausgestreckt auf den Lederkissen. Tomas setzte sich neben sie, und ihr Arm legte sich um seine Hüften. Tomas sagte nachdenklich: »Ja . . . ich spiele gern, aber ich wer de vergessen, was ich zu tun pflegte. Du bist das erste Mädchen, von dem ich weiß, daß ich es lieben könnte.« Sie küßte seine Schulter, und ihre Zähne hinterließen ein feines, kaum sichtbares Mal. »Ich kenne eine Unzahl Männer«, erwiderte sie so leise, daß er Mühe hatte, sie zu verstehen, »aber du hast einen Maßstab gesetzt. Du bist we der schön noch wild, weder klug noch ausschließlich - aber du bist die beste Kombination von allem und allen. Ich glaube, daß ich dich lieben wer de.« Er war verzaubert und zwang sich, seine Skepsis nicht zu vergessen. »Ich weiß nicht, wie lange es zwi schen uns dauert, aber ich werde dich nicht vergessen. Du bist fremd, un begreiflich, aber du bist die Geliebte, von der jeder Mann träumt. Du liebst mit jedem Muskel und jeder Hirnzelle. Warum hast du gerade mich herausgesucht? Du hast mich für andere Mädchen verdorben!« »Warum? Es wird für dich kein an deres Mädchen mehr geben, Tom«, sagte sie und setzte sich auf. Zwi schen ihren Brüsten hing an einem dünnen Goldkettchen ein Amulett oder etwas Ähnliches. Als fürchte er,
eine unbedachte Bewegung könne den Zauber zerstören, griff er danach. »Karneol«, flüsterte er. »Fundort bei Teil Brak. Eine Schildkröte, Sym bol für Fruchtbarkeit und langes Le ben. Was bedeutet das, Nieves?« Ihre schlanken, kundigen Hände la gen auf seinen Knien. Plötzlich be kam ihre Stimme den Klang unwi derruflichen Ernstes. Was sie sagte, schien tiefe Wahrheit zu sein, fernab jeder Koketterie oder wohlwollen den Spottes. »Du hast recht, auch mit der Her kunft. Der Stein stammt aus dem Lande Sumer; er ist älter als die Ringe, die Tante und ich tragen. Es ist das Zeichen unserer . . . Familie. Wenn wir es verlieren oder wenn es uns geraubt wird, stößt uns etwas Furchtbares zu. Aberglauben? Ver mutlich, aber du als Schriftsteller wirst wissen, was die >prägende Kraft des Normativen< bedeutet. Je mand, der sich einbildet, krank zu sein, wird daran sterben. Die Karneolschildkröte ist für die Familie das Symbol der Unsterblich keit, das Zeichen des Lebens. Keiner, der es verloren hatte, lebte nachher noch lange.« Tomas nahm ihr die Zigarette aus den Fingern und schnippte die Asche ab. »Ich weiß, es gibt solche Abhängig keiten. Wenn du glaubst, die Kar neolschildkröte zu brauchen - ich
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werde sie dir nicht stehlen. Trotz dem finde ich deinen Busen attrakti ver ohne das runde Ding.« Sie machte zwei aufregende Bewe gungen, und nur die dünne Kette war noch um ihren Hals zu sehen. »Ich trage die Schildkröte dir zuliebe auf dem Rücken«, sagte Nieves. Sie lächelte, und er küßte sie. Er ließ sich zurückfallen auf das warme Leder. »Lassen wir uns die gegenseitigen Verrücktheiten. Wie lange wird es dauern mit uns beiden?« Sie preßte sich eng an ihn. »Solange du willst. Ich sehe keinen Grund, dich mit anderen Männern zu betrügen. Ich war allen meinen Geliebten treu, bis sie starben.« Er grinste ihr ins Gesicht und hielt sie an den Schultern etwas zurück. »Auf deinen Reisen bist du nur Ge schäftsfrau . , . oder Geschäftsmäd chen?« »Nichts anderes. Wenn ich von mei nen Flügen zurückkomme - wirst du auf mich warten? Wirst du da sein, wenn ich anrufe?« Er spielte mit der Kette und strich die graue Strähne aus ihrer Stirn. »Heute, morgen . . . ja. Übermor gen? Vielleicht. Du darfst nicht zu lange wegbleiben, Nieves.« Sie richtete sich auf, ging hinüber zum weißen Regal und nahm etwas aus einer Kassette. Sie öffnete die Hand und zeigte ihm einen Schlüs sel für ein Sicherheitsschloß. 52
»Ich riskiere es, dir zu vertrauen.
Das ist der Schlüssel dieser Woh nung. Benütze ihn niemals, ohne
vorher anzurufen. Benütze ihn, wenn
ich da bin. Versprichst du es mir?«
In dieser Situation hätte Tomas Nie ves alles versprochen außer der Ehe.
Er bemühte sich, den Verstand einzu schalten, überlegte sekundenlang und
erwiderte:
»Ich verspreche es, Nieves, wirk lich.«
»Gut. Hier ist er. Benutze ihn nur,
wenn ich hier bin, niemals sonst.«
Sie versenkte ihn in die Brusttasche
seiner Anzugsjacke.
Es war fast zwei Uhr. Die Nacht eilte
mit Riesenschritten. Sie liebten sich
mit ertrinkender Atemlosigkeit, als
gäbe es kein Morgen. Beide wollten
sie, daß es ein Morgen gäbe. Sie
trennten sich am nächsten Tag gegen
Mittag, nach einem Frühstück, das
Nieves zubereitete, diesmal in einem
roten Hemd aus hauchdünnem Wild leder, unter dem sie nichts trug als
ihre Haut. Tomas fuhr in den Fünf zehnten, las kurz in der Zeitung und
schlief bis abends. Als er in der
Dunkelheit erwachte, kamen die Ge danken, die fürchterlichen Partner der
Vernunft.
Er liebte nicht, er war nicht verliebt
.., er war verzaubert worden. Er
fühlte sich leer, ausgebrannt und er kannte jedenfalls den Begriff >ver fallen< ziemlich genau. Er badete,
DIE ROTHAARIGE
trank eine Kanne Kaffee leer und be endete die letzten fünfzehn Seiten des Manuskripts. Er schaffte es in der Hälfte der sonst üblichen Zeit. Die folgende Woche arbeitete er wie ein Rasender, um zwischen sich und die Nacht mit Nieves einen so gro ßen Abstand zu bringen, der es ihm erlaubte, alles mit kalter Reife zu betrachten. Er schaffte es bis genau zu jenem Abend, an dem er irgend wo eingeladen war und nachts um ein Uhr, die Pelzjacke über dem Smoking, aus dem heißgefahrenen Wagen stieg. Er blieb stehen, starrte die Front des Hochhauses an. ». . . fünf . . . sieben. Was ist das?« Hinter den Schleiern des Vorhanges bewegten sich zwei Schatten. Zwei schlanke, schnelle Schatten mit ru dernden Armen, hastig und schnell. Kein Zweifel - in der kleinen Woh nung ging etwas vor. Langsam ging Tomas näher. Rechts von ihm bildete sich Reif an den schwarzen Ästen der Büsche. Die Lichter unter den Betonwinkeln strahlten böse, die Platten des We ges hatten nasse Fugen. Irgendwo klirrte Glas, und ein Hund bellte. Dann mehrere. Schließlich stimmten die kleinen Pudel, Dackel, Terrier und Spaniels, die in den acht Häu sern lebten, in das Kläffen ein. Ein Fenster wurde aufgerissen, und eine Männerstimme schrie, sich überschla
gend: »Ruhe!« Der Erfolg war gleich Null. Ein höllischer Spektakel brach los. Tomas fühlte in seinem Magen einen harten Klumpen und begann zu laufen. Er rutschte auf den glatten Steinen aus und schloß die Tür auf. Vor dem Lift wußte er, was zu tun war. Er würde zu sich hinauffahren, Nieves anrufen und es zehnmal läu ten lassen, wenn sie nicht abhob. Es war ihre Silhouette gewesen, nicht die der Alten. Keuchend sprang er aus dem Lift, sein Herz schlug wie ra send. Er warf die Jacke achtlos in den Korridor, schloß die Tür und öff nete die andere Tür zum Wohn raum. Sein Telefon stand in einem Stringregal links vor der Glaswand. Er schaltete die Korblampe an und blieb stehen, als habe man ihn in den Magen getroffen. Auf dem Balkon stand Nieves, splitternackt, und jetzt berührte sie die Glastür. Sie öffnete sich, obwohl der Sperrhebel nach oben umgelegt war. Das Mädchen kam ins Zimmer, zitternd vor Angst und Kälte. Hinter ihr blieb die Tür offen. Das Hundegebell war mörderisch laut, dauerte mit unverminderter Heftigkeit an. »Nieves . . . was . . .?« Er umarmte sie flüchtig, trat die Tür mit dem Fuß zu und raste in den Flur. Er hob die Pelzjacke auf und hängte sie um die Schultern des Mäd chens. Tomas sah die Spuren von 53
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Fingern an den Oberarmen des Mäd chens. »Was ist los?« fragte er, sich müh sam zur Ruhe zwingend. »Der Zigeuner. Er wollte mich ver gewaltigen. Osiris hat ihm das Ge sicht zerkratzt, und dann versuchte er, mir die Schildkröte abzureißen. Ich . . .« Sie öffnete die Hand und hielt ihm das Amulett entgegen. Das Goldkett chen war zerrissen. »Wie kommst du auf den Balkon, Nieves?« fragte er leise. Sie sah ihn ratlos an und schwieg. Er nahm sie vorsichtig bei den Schul tern und zog sie an sich. »Frage mich bitte nicht«, flüsterte sie. »Wenn du mich liebst, frage mich niemals. Nimm alles, wie es ist. Ja?« »Mal sehen«, sagte er und hob sie auf. Er öffnete die Tür mit dem Knie und trug Nieves ins Bad, setzte sie auf den Rand der Wanne. »Du kannst jetzt duschen und mei nen Bademantel anziehen«, sagte er. »Ich bin gleich wieder zurück.« Sie erschrak wieder: Ihr Gesicht wur de unnatürlich bleich. »Wohin gehst du?« »Wenn du mich liebst, frage nie mals«, erwiderte er und grinste grimmig. »Ich bin in fünf Minuten wieder da.« Er ging in den Schlafraum, öffnete das oberste Fach des Schrankes, des sen Vorderseite mit der fotografi 54
sehen Wiedergabe ägyptischer Wand malerien beklebt war und wickelte die kleine Pistole aus der Decke. Er zog den Schlitten zurück, entsicherte die Waffe und zog einen Handschuh an. Dann steckte er die blauschwarze Pistole in die Innentasche der Smo king jacke. Er verließ die Wohnung, fuhr in den siebenten Stock hinunter und ging schnell und geräuschlos auf die Tür zu. Er holte die Waffe her vor, nahm sie in die behandschuhte Rechte und schloß auf. Osiris, der auf dem Ablagebrett saß, sprang auf Tomas' Schulter und schlug seine Krallen in den Schalkragen. »Ruhig, Osiris«, sagte Tomas und stieß die Tür zum Wohnraum auf. »Halt.« Der Zigeuner stand in der Mitte des Raumes, eine leere Flasche in der Hand und starrte Tomas an. Tomas richtete die Waffe auf ihn. »Schnell!« sagte er knurrend. »Die Flasche weglegen, die Taschen aus leeren. Du bist hier kein erwünsch ter Gast!« Wortlos, aber ohne Tomas aus den Augen zu lassen, gehorchte der Mann. Tomas konnte den stechenden Blick der brennenden Augen nicht ertra gen, aber er wartete geduldig. In den Taschen war nichts, das so aus sah, als könne es der Alten oder Nie ves gehören. »Steck den Krempel wieder ein«, sagte Tomas hart, »und dann ver
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schwinde. Wenn ich dich hier in der Nähe des Hauses noch einmal sehen sollte, bringe ich dich um. Damit! Er hob die Pistole und zielte ins Ge sicht des anderen Mannes. Der Zi geuner, der noch jämmerlicher, ver zweifelter und verschmutzter war, drückte sich entlang des Regals zur Tür, glitt durch den Flur und mach te schweigend die Tür hinter sich zu. Tomas wartete, bis er das Geräusch des Lifts hörte, dann legte er die Waffe auf den Tisch. Er warf die Kissen zurück auf die Couch, rich tete die Lampe auf und machte flüch tig Ordnung. Dann nahm er Osiris von der Schulter, schlug das Buch unter dem Totenkopf auf und sah, daß es ein mittelalterliches, vergilb tes Exemplar war, abgegriffen und sicher ungeheuer wertvoll. Die Schrift konnte er lesen, aber nur wenige Brocken Latein verstehen. »Jetzt hast du, Tomas, was du nie mals wolltest«, brummte er. »Mit ten in einer Tragödie drin. Und in was für einer dazu!« Er bedeutete Osiris, ihm nicht nach zulaufen, steckte die Waffe ein und löschte die Beleuchtung. Mit seinem Schlüssel versperrte er die Tür, ging leise zum Lift und fuhr in seine Wohnung hinauf. Nieves saß auf dem Schreibtisch und hatte sich be ruhigt. Das wütende Kläffen der Hunde war vorbei. Wieder lagen Ruhe und
Nebel über den Häusern, über dem
bereiften Rasen und den schwarzen
Ästen. In der Ferne blinkten die
Lichter des Fernsehturmes.
»Ich habe den Zigeuner aus der
Wohnung der Tante entfernt und
ihm versprochen, ihn umzubringen,
wenn ich ihn noch einmal sehe.«
Sie starrte ihn wortlos an, als er die
Waffe aus der Tasche nahm, sie sorg fältig entlud und wieder im Schrank
verstaute.
»Ich bleib heute bei dir«, sagte sie.
»In deiner Arbeitswohnung. In dei nen Funktionsräumen.«
Er nickte.
»Du wirst sie nicht entweihen«, sag te er dann.
Bevor er einschlief - er spürte ihren
Körper an seiner Schulter und an
den Knien -, dachte er nach. Mor gen würde er versuchen, alle Dinge
in ein logisches System zu bringen,
aber er fürchtete, daß sie sich nicht
einfach unterbringen ließen. Er schlief
ein, matt und erschöpft, aber nicht
glücklich. Seine Gedanken suchten
ihn heim und verschafften ihm Träu me, so daß er froh war, sich ihrer nach dem Wachwerden nicht mehr erinnern zu können. Nives Dalmar flog nach Rom, dann nach Zürich; sie war diese Woche nicht in der Stadt. Tomas Fischer arbeitete viel und, wie er hoffte, mit guten Resultaten. Er traf sich am 55
HANS KNE1FEL
Freitag mit einem Abteilungsleiter des Verlags, und sie blieben in einer Bar sitzen, bis es drei Uhr war. To mas, nicht mehr ganz nüchtern, fuhr mit dem Sportwagen mehr als vor sichtig über die eisglatten Straßen, verhinderte mit Mühe eine Kollision und stellte den Wagen dann direkt vor dem Haus ab; durch einen Zu fall gab es einen Parkplatz. Es war bitter kalt. Mit hochgestelltem Mantelkragen ging er auf das Haus zu, wieder war hinter den Vorhängen des Apartments Licht. Er hatte sich diesen Blick schon angewöhnt. Eine sternklare Nacht, ein blasser, hämisch grinsender Mond und eine Sternschnuppe, die den Himmel teilte. Tomas steckte den Schlüssel ins Schloß und drehte-ihn um. Geräusche . . . dann ein Laut, den er ein einziges Mal in seinem Leben ge hört hatte. Er fuhr herum, erinnerte sich und schloß auf. Dann steckte er den Schlüssel ein, schüttelte verwirrt den Kopf und ging scharf nach rechts. Auf beiden Seiten des Treppenhauses waren weitere, aber weniger breite Eingänge. Er öffnete die Tür und blieb stehen. Dieses Bild kannte er. Er war fünfzig Meter vor der Stelle entlanggegangen, als die nerven kranke Frau aus dem zehnten Stock des Nachbarhauses gesprungen war. Er hatte sich das Geräusch des Auf 56
pralls, mit dem ein menschlicher Körper auf die Steine schlug, unaus löschlich eingeprägt. Vor ihm, vier Meter entfernt, lag ein Mann auf den eiskalten Fliesen. Blut floß aus den Ohren und dem Mund, und Arme und Beine waren so ausgestreckt, daß der Körper ein Kreuz bildete. Vor sichtig ging Tomas näher, kauerte sich hin und überwand seinen Ekel. Er faßte den Kopf am Haar und drehte ihn herum. Es war der Zigeuner — so tot, wie jemand nur tot sein konn te. Sein Gesicht trug undeutlich die verheilten Spuren der Katzenkrallen und ein Muster aus Schnitten, die noch bluteten. Das Gesicht und beim näheren Hinsehen auch .die Hände waren förmlich eine blutige Masse, kreuz und quer zerfetzt. Eine Hand des Toten war offen; die Finger zuckten noch ein wenig. Die andere war zu einer Faust geballt. Tomas richtete sich auf und sah sich um. Niemand war in der Nähe, nur fünf undzwanzig Meter entfernt, nach einem Wiesenstreifen, der Böschung des Baches und einigen schwarzen Baumstämmen, fuhr ein Wagen lang sam über das Eis. »Die Karneolschildkröte ... «, mur melte Tomas. Er zog die Handschuhe wieder an, schüttelte sich vor Kälte und Entset zen und versuchte, die Finger der Faust aufzubiegen. Er schaffte es nach Minuten. Dann hob er den runden
DIE R O T H A A R I G E
Stein hoch, und das zerrissene Gold kettchen rutschte aus dem Loch des
Amuletts. Tomas floh zurück ins
Licht und in die Wärme des Ein gangs, riß die Lifttür auf und starr te in den Spiegel. Er sah ein leichen fahles Gesicht. Seine Finger zitterten,
und am ganzen Körper hatte er
Gänsehaut, fror und schwitzte gleich zeitig. Er steckte das Amulett in die
Hosentasche und öffnete seine Woh nung, darauf gefaßt, Nieves auf
dem Balkon vorzufinden oder im
Zimmer.
»Nichts«, sagte er. Er griff nach dem
Telefon.
5-9-8-8-8-2
Das Freizeichen. Dreimal, viermal.
Dann knackte es in der Leitung, pol ternde Geräusche. Ein Ton, als blase
jemand gegen die Sprechmuschel. To mas runzelte die Stirn. Dann erkann te er die Bedeutung dieses Geräusches.
Es war die Katze, die den Hörer aus
der Auflage geworfen hatte und fau chend vor der Muschel saß. Osiris
fauchte und miaute dann klagend.
Tomas warf den Hörer zurück. Er
blieb einige Sekunden vor der Glas scheibe des Fensters stehen und sah
hinaus, ohne etwas wahrzunehmen.
Was sollte er tun?
In seiner Hand lag der Schlüssel des
Apartments. Der tote Zigeuner ver blutete neben dem Haus . . . Tomas
rannnte hinaus in den Flur, riß die
Handschuhe aus der Manteltasche und
warf die Tür zu. Er rannte hinaus auf den Balkon des Treppenhauses, öffnete die Tür zur Treppe und rannte acht Treppen hinunter. Dann huschte er, die Handschuhe an den Fingern, wie der zurück in die eisige Luft des Bal kons. Drei Blutstropfen waren auf dem Beton zu erkennen, die Spuren von blutenden Händen am Vierkantstahl des Geländers. Tomas öffnete die Tür zum Korridor, drückte rechts den Lichtknopf und sah die Spur, die von der angelehnten Tür der Wohnung bis zu seinen Füßen führ te. Blutstropfen, mindestens fünfzig Stück, unregelmäßig wie die Fährte eines sterbenden Tieres. Er rannte auf Zehenspitzen den Korridor entlang, riß die Tür auf, schloß sie und lehnte sich keuchend mit dem Rücken dagegen. Die Tür zum Wohnraum stand offen, und auf dem Teppich waren Blutflecke. Osiris saß im Regal, neben dem Tele fon, und leckte die Pfoten ab. »Osiris . . .«, flüsterte Tomas. Halb auf der Couch, halb auf dem Teppich, neben einem blutigen Kis sen, lag Nieves. Tomas keuchte auf, ging Schritt für Schritt näher. Es war nicht der Körper, den er kannte, liebte, gestreichelt hatte. Es war ein Etwas, das noch im Tod zu leben schien. Oder lebendig sich verformte. Aus der runzligen Haut der Greisin wurde langsam, in einem Prozeß, der zu beobachten war, der Mädchen 57
HANS KNEIFEL
körper. Das Haar rollte sich lang sam auf, wie eine erwachende Pflan ze. Tomas atmete röchelnd, sein Herz hämmerte wie eine Maschine, die Kehle war trocken. Er zwang sich dazu, näherzugehen. Die Katze, er warf einen schnellen Blick hinüber, saß ruhig da, neben dem herunter geworfenen schwarzen Hörer, und leckte die blutigen Krallen und das blutige Fell sauber. Es schien ihr zu schmecken. »Nieves!« Tomas nahm wie in Trance das Amulett aus der Tasche, machte mit zitternden Fingern einen Knoten in die Goldkette und zog die Kette vor sichtig über den Kopf. Immer mehr Falten verschwanden, es verschwan den auch die Würgemale an der Sei te des Halses, die Tomas sehen konn te. Er blieb einige Zeit stehen, starr und unfähig, etwas zu tun, dann entschloß er sich, zu handeln. Er richtete die Lampe auf und bemerk te, daß hier ein wütender Kampf stattgefunden hatte, ein Kampf um Leben und Tod. Er nahm ein feuchtes Handtuch aus der Küche, streute Reinigungsmittel darauf und spähte durch die Spionlinse der Tür. Der Korridor war dunkel. Eine Mi nute später hatte er, fieberhaft ar beitend, die Blutspuren beseitigt. Als er den Korridor entlangsah, bemerk te er kaum noch die Spuren seiner Tätigkeit. 58
Zurück in die Wohnung, die Tür zu. Der Lappen verschwand in der Kü che, im Spülwasser, das Tomas auf drehte. Dann legte er den Hörer zu rück, nahm die Katze aus dem Fach und blieb stehen. Was war geschehen? Er versuchte zu rekonstruieren. Der Zigeuner hatte es verstanden, sich Eintritt zu verschaffen. Er mußte sich auf die alte Dame gestürzt ha ben, mit nur dem Ziel, ihr das Fa milienamulett vom Hals zu reißen. Nieves Dalmar hatte sich gewehrt, weil es um ihr Leben ging. Zuerst hatte der Zigeuner ihr das Amulett abgerissen, dann war Osiris über ihn gekommen. Zu diesem Zeitpunkt mußte Nieves entweder tot gewesen sein oder niedergeschlagen. Dann war der Zigeuner mit der Katze, die ihm das Gesicht und als er sich wehrte auch die Hände zerfleischte, hinaus auf den Korridor gerast, durch die Tür .. . und hinaus auf den Balkon. Entweder hatte er es nicht gemerkt, oder er war am Ende seiner Kräfte oder seines Weges gewesen. Er war über die Brüstung gesprungen. »So war es«, sagte Tomas mit aus gedörrten Lippeni Bis jetzt war sein Verstand beschäf tigt gewesen. Jetzt, da dieses Pro blem gelöst schien, sah er sich wieder mit der Person konfrontiert. Nieves Dalmar. Lebte sie, oder war sie tot? Oder
DIE ROTHAARIGE
war das, was er sah, nicht das Mäd chen, nicht die alte Dame? Die plötz liche Erkenntnis dessen, was es - sie - wirklich war, ließ ihn taumeln. Er zwang sich, hinzusehen. Die Ver wandlung von einer fünfundsechzig jährigen Frau zu einem Mädchen von fünfundzwanzig bot ein derart fas zinierendesund abstoßendes Bild, daß Tomas noch immer nicht begriff. Was konnte er tun? Nichts mehr. Er hatte der . . . der Hexe, ja, das war es, ihr Amulett zurückgegeben, hatte die Spuren beseitigt, hatte das Tele fon wieder aufgelegt. Alles, was jetzt geschah, entzog sich seiner Kontrolle. »Das war es, Osiris«, flüsterte er und mußte sich räuspern. »Sag ihr, daß ich hier war.« Er schaltete das Licht aus, legte den Schlüssel auf den Tisch, drehte auch die Beleuchtung im Flur ab und ver ließ die Wohnung. Vorsichtig und lautlos schloß er die Palisandertür. Langsam ging er hinaus auf den Bal kon und kletterte nach oben. Er ver mied es, über die Brüstung zu blik ken. In seiner Wohnung fiel er in einen Sessel, goß sich ein Glas voll Whisky ein und trank es in drei Zü gen aus. Nieves, die Hexe. Schlagartig fielen ihm zahllose Äuße rungen ein, bildete sich ein dunkles Netz verwirrender Assoziationen. Tomas war bleich, schwitzte, obwohl
er fror, und die Hände zitterten noch immer. Er zog die nassen Handschuhe aus. Ich blieb bei den Männern bis zu ihrem Tod. Der Schädel, das Zau berbuch, sogar der Hexenmantel in moderner Version. Es war atembe raubend logisch in einer Art Logik der Verrücktheit. Das Amulett, alt wie die Sumerer. Die Verwandlung - Tante Nieves und das Mädchen. Der Rabe, die Katze namens Osiris, die eigentümliche und beziehungs volle Musik. Der Job und die Rei sen: Vertreterin von kosmetischen Produkten. Unter der Wucht des plötzlichen Erkennens schüttelte sich Tomas. Nieves, überraschend und völlig nackt auf seinem Balkon . . . »Es gibt nur eine Frau . . .«, flü sterte er wie im Fieber. Die Alte und das Mädchen waren ein und dieselbe Person. Und . . . dieses unbegreifliche Etwas - war es noch ein Mensch? - lag dort unten und verwandelte sich. Ver mutlich in eine junge, begehrenswerte Frau, denn Tomas hatte ihr das Amulett zurückgegeben, die Karne olschildkröte. »Ich war«, hatte sie gesagt, »allen meinen Liebhabern treu bis zum Tod.« Tomas schluckte. Er wartete nun, ge lähmt und voller Schrecken. Er glaub te, ein exotisches Gift durch seinen Kreislauf rasen zu fühlen. Worauf wartete er eigentlich? 59
HANS KNEIFEL
»Ja ... worauf warte ich?« fragte er sich. Er wußte es nicht. Aber er begann zu ahnen, daß ihn unsichtbare Ket ten an dieses alterlose Zwitterwesen zwischen Greisin und Mädchen fes selten, das dort unten, weit unter ihm, durch Betonschotten und Böden getrennt, eine erstaunliche Wandlung durchlief. Was erwartete ihn? Er wußte es nicht. Es begann ihm zu grauen. Jetzt erfuhr er am eigenen Leib, was er oft beschrieben hatte: Der Klumpen in seinem Magen löste sich auf und überschwemmte seinen Körper mit Übelkeit. Er lief schnell
60
ins Bad und übergab sich. Was im mer ihn erwartete - es war sinnlos, den Versuch des Entkommens zu wa gen. Zum erstenmal in seinem Leben fühlte Tomas Fischer nackte, brutale Furcht. Er lehnte die schweißbedeck te Stirn an die Fensterscheibe und sah die Lichter unter sich wie durch einen Nebel. Die Angst hatte ihn gepackt. Seine Zähne schlugen aufeinander, und er wartete, voll bleichen Entset zens. Plötzlich würde sie wieder auf dem Balkon stehen, ihm lächelnd entgegengehen und ihre Krallen in seine Schultern schlagen. Sie würde ihm treu bleiben bis zu seinem Tod.
Das Elixier von
Jane Rice
Es nahm alles in Cläre Holloways Kellerbar seinen Lauf. Die Dinge neh men gern in Cläre Holloways Kel lerbar ihren Lauf. Cläre Holloways Kellerbar ist nun mal so. Und Cläre Holloway ist auch so. Sie hat einen untrüglichen Sinn für das Ausgefal lene, was zweifellos in gewissem Maße ihren Erfolg als Antiquitäten händlerin erklärt. Ich meine damit, daß die meisten An tiquitätenhändler sich normal kleiden, benehmen und einen normalen Preis aufschlag für ihre alten Rollenbetten und ihre schundigen grünen Glasfla schen nehmen. Cläre Holloway klei det sich so, wie >Bolero< klingt, wenn Sie mich verstehen - an der Stelle, wo die Musik raffiniert in ein Tempo überwechselt, bei dem man sich auf die Hinterbeine stellen und jemand seine gesellschaftlichen Bindungen um die Ohren schlagen möchte. Ihr Be nehmen hat alle Eigenschaften eines Märzsturmes an einer belebten Kreu zung beim ersten Winterschlußver kaufstag. Dementsprechend ist ihr Preisaufschlag bei alten Rollenbet
ten und schundigen Glasflaschen mit den Grundstückspreisen während des Florida-Booms vergleichbar. Ihr Keller spiegelt ihre Persönlich keit bis aufs i-Tüpfchen wider. Er ist einfach das Letzte. Er hat eine Bar an einer und einen Sodawasser-Aus schank an der anderen Seite. Er hat innen eine Grube mit Bratspieß und einen kleinen, gut eingedämmten Bach, an dem nichts fehlt, nicht die Strudel, nicht die bemoosten Steine und auch nicht der Biber - ebenfalls klein und reichlich träge und unge mein scharf auf gefüllte Oliven und - nun, das müßte reichen, um Ihnen das richtige Bild zu geben. Es ist die Art von Gesellschaftszimmer, in dem einfach alles vorkommen kann - und oft genug ist das auch der Fall. Es regt einen an. Mich je denfalls. Ich kann hingehen, fest ent schlossen, mich wohlerzogen und da menhaft zu benehmen, und es endet unweigerlich damit, daß ich auspro biere, wie viele Tischtennisbälle in meinen Mund passen, oder daß ich gracie Allen imitiere, wie sie Baby 61
JANE RICE
Snooks imitiert, wenn sie Grade Allen imitiert - ist das klar!!? Oder sind Sie ebenso verwirrt wie ich? Cläre führt mich in ihrer Liste ein ladbarer Leute, nicht meiner Schau spielkunst wegen und auch nicht, weil ich zufällig nebenan, auf der an deren Seite unserer verstädterten, weltmüden Hecke lebe, sondern aus dem einfachen Grund, weil ich letz tes Jahr unabsichtlich der Mrs. Dig gots-Marksbury die Windpocken an drehte, als sie aus Versehen in meine Wohnung platzte und auf allen vie ren nach echten Holzwurmlöchern in meinem gebeizten Fichtenschreibtisch suchte, bevor sie entdeckte, daß der Schreibtisch blitzneu war, frisch vom Fließband - daß sie im falschen Haus war - und daß ich ganz und gar aus rosigen Pusteln bestand. Ich kenne Cläre nicht sehr gut (und vielleicht darf ich an dieser Stelle ein inbrünstiges >Gott sei Dank!< ein fügen), und ich könnte ebensogut versuchen, mich mit einem Gewitter sturm anzufreunden, doch ich bin von beiden fasziniert. Ich würde um nichts in der Welt eine ihrer Parties versäumen. Sie sind für mich die Angostura-Tropfen in einem Manhat tan-Cocktail, und so war mein >Re pondez-sil-vous-plait< ein erfreuli ches JA, als die >Ehre meiner An wesenheit bei ihrem HalloweenFez erbeten wurde. Ich gab also meine Zusage wie der 62
berühmte Blitz und beschloß, der Linie des geringsten Widerstandes folgend, als Hexe zu gehen. Eliza, Ebenholzjuwel, das sie ist, stemmte, als sie von dem beabsichtig ten Kostüm erfuhr, die Hände in ihre mehr als breiten Hüften und sagte; »Hmmph!« Eliza ist seit vierzehn Jahren bei mir und betrachtet mich mit voreinge nommenen Augen. Abwechselnd sind diese Augen streng, mißbilligend oder mahnend, hin und wieder auch nach sichtig, aber immer voreingenommen. Für Eliza ist jede Frau, die mit zwei undvierzig noch keinen Mann er wischt hat - mit Betonung auf dem >erwischt<, und irgendwie, weshalb weiß ich auch nicht, ist das eine mo ralische Verurteilung - und die, was der Gipfel ist, nicht einmal den Ver such macht, ihre grau durchschim mernden Haare mit Henna zu ver bergen, und die grundsätzlich flache Schuhe trägt und die öffentlich zu gibt, daß sie Limburger mag, und die ihren Lebensunterhalt durch das Schreiben von Kriminalromanen ver dient, ein hoffnungsloser Fall. Das >ein hoffnungsloser Fall< hängt ganz verloren am Ende, nicht wahr? Jedenfalls sagte Eliza: »Hmmph!« Ich sagte: »Der Wäscheschrank muß neu mit Papier ausgelegt werden, und hast du schon bemerkt, was für einen herrlich braunen Schimmer das Silber bekommt, und als Abendessen
DAS ELIXIER ;
würde ich Apfelpastete vorschlagen.«
Zwecklos.
»Hmmph«, sagte Eliza. »Eine Hexe.«
>Eine Hexe«, wiederholte ich.
»Nun hören Sie, Miß Amy -«
»Eliza, ich streite nicht mit dir. Eine
Hexe.«
»Miß Amy, ich lasse nicht -«
»Eine Hexe, Eliza.« »Hmmph. Schön, alles was ich dazu zu sagen habe -« »Ist schon zuviel, Eliza.« »— ist folgendes: Wenn Sie schon die Möglichkeit haben, eine -« »Hast du nicht gehört, Eliza? Die Sache steht fest.« »— Maske aufzusetzen und tolle Klei der anzuziehen, sollten Sie doch ver nünftig sein.« »Eliza!« Eliza seufzte. »Ja, Ma'am«, sagte sie und machte sich kopfschüttelnd auf den Weg, wobei sie vor sich hin murmelte: »Keine Vernunft. Über haupt kei-ne Vernunft.« An der Tür drehte sie sich um. »Ich könnte Sie so toll wie diese Madame Pompi dor oder Königin Victrola herrich ten.« »Eine Hexe«, sagte ich fest. »Ja, Ma'am.« Sie watschelte hinaus und sagte kein Wort mehr, aber sie errang einen moralischen Sieg, in dem sie das Schrankpapier zu kurz schnitt, das Silber in den grünen Filzschächtelchen verstaute und statt Apfelpastete Brotpudding machte.
Doch als Halloween herannahte, war ich eine herrliche Hexe. Ich muß allerdings zugeben, daß ich Elizas Standpunkt einsah, als ich mich im Spiegel betrachtete. Eliza lieh mir ihren Besen und das Röstblech, das noch die größte Ähnlichkeit mit einem Hexenkessel hatte, und sie ließ sich sogar dazu herab, mir auf die Beine zu helfen und mich abzustau ben, als ich über den Besen stolperte und die Vordertreppe hinunterfiel. Unten landete ich als ein wirres Häufchen aus schwarzem Umhang, Silberschnallenschuhen und spitzem Hut — der von dem Elastikband meines Doppelkinn-Massage-Geräts festgehalten wurde und mit Alumi niumfolie-Sternen, Monden und ka balistischen Symbolen beklebt war. Sie winkte mir angeekelt zum Ab schied nach, als ich um die Grenzhecke herumging, und beschränkte sich auf zwei kurze »ts ts« anstelle des »Hmmph«. Ich bin die ewige Zufrüh-Kommerin. Es ist eine alte Gewohnheit, die sich schon während meiner Entwicklungs jahre abzeichnete, als ich fünf Meilen weit durch den neuenglischen Win ter zur Schule gehen mußte. Damals entdeckte ich, daß ich, wenn ich eine halbe Stunde zu früh kam, mein Hinterteil vor dem dicken Ofen auf tauen und ungeniert an meiner wol lenen Unterwäsche kratzen konnte. So kam ich als erste bei Cläre Hollo 63
JANE RICE
way an - nicht um mich zu kratzen mascheekatze und den mit Feldfrüch oder aufzutauen, sondern - na. Sie ten dekorierten Keller gründlich in spiziert hatte, beschloß ich, die War werden es bald genug sehen. tezeit auszunützen, indem ich mir in Ich klingelte, und Parkins ließ mich meinem Röstblech-Kessel einen He hinein, und gemeinsam rutschten wir xentrunk braute. die Treppe in den Keller hinunter. Ich mixte uns ein tolles Ding. Einen Nicht mit Absicht, wohlgemerkt. Es tüchtigen Spritzer (etwa eine Gallo war wieder der Besen, doch Parkins verriet nicht einmal durch ein Mus ne) Sprudelwasser, einen halben Li kelzucken, daß das nicht seine nor ter Gin, ein paar Bällchen Schokola male Fortbewegungsweise war, wenn deneis, vier Cherryphosphate; etwas Wermut, eine ordentliche Portion er auch »SQUONK!« sagte, als wir unsere Stegreif-Rutschpartie began und eine Spur türkischen Honig; nen, und »UFF«, als wir unten a n- einen Schuß Rye und einen Schuß kamen. Wonach er aufstand, seine Bourbon, dazu eine Handvoll Puff mais, damit die Sache Substanz be Brille zurechtrückte, seine Manschet ten schloß, die Zähne zu einem ei kam. Ich rührte immer wieder mit meinem Besenstiel um und erfand sigen Lächeln entblößte und — unter ein paar Worte, die dem Augenblick sichtbarer Verdrängung des Impul ses, mir das Röstblech um die Ohren entsprachen. Etwas wie »Igeisquigel hoppalopp igittsch«, wenn ich mich zu schlagen - mich allein ließ. recht erinnere, und die Teufelchen Ich bin gern mir selbst überlassen. rutschten näher heran und flüsterten: Wenn ich allein bin, kommen neu »Koste es. Los! Koste es.« gierige kleine Teufelchen an die Ober »Sehe ich so blöd aus?« flüsterte ich fläche und stochern und schnüffeln zynisch zurück. und stecken ihre Nasen in die un »Ja«, zischten sie. »Koste es. Los!« gewöhnlichsten Dinge. Ganz selten »Hört zu«, sagte ich, »dieses Elixier bringen sie mich mal in schwierige ist für Mrs. Diggots-Marksbury, die Situationen, wie damals im Museum, mit den Holzwurmlöchern. Und als sie mich in diese Ritterrüstung jetzt laßt mich zufrieden.« steckten und nicht mehr heraushol »Angsthase!« ten, oder damals, als sie mich über »Blödsinn!« redeten, beim Wettbewerb der Sport »Selber Blödsinn! Zimperliese!« lerschau mitzumachen und - ach, las »So ein Quatsch.« sen wir das. Es ist eine lange Liste. »Du traust dich nicht.« Auf alle Fälle, als ich, mir allein »Ach, verschwindet doch!« überlassen, den Kürbis, die Papier 64
DAS ELIXIER
Und ob du dich nicht traust!« »Verschwindet!« »Traust du dich, einen Kupfercent vom Auge eines Toten zu holen?« »Ich werde nicht -« »Aber Amy Parrish! Wir schämen uns. Wir schämen uns richtig. Bei einer Herausforderung flachliegen! Also -« »Ich liege nicht flach. Ich stehe ganz kerzengerade da.« »Du weißt, was wir meinen.« »Trotzdem, ich werde einfach nicht -« »Wir schämen uns. Das ist es. Wir sind gedemütigt. Wie sollen wir je wieder die Köpfe oben tragen? Also, Amy Parrish, wir schämen uns zu Tode.« »N-a j-a, wenn ihr es so auslegt . . .«
»Jetzt spricht die Vernunft aus dir.«
»Nur einen Schluck.«
»Braves Mädchen.«
»Nur einen ganz kleinen Schluck.«
»Zum Teufel, halte endlich den
Mund und lasse Taten sprechen!«
Ich klaute mir eine Mickymaus-Tas se, stellte sie aber wieder ab und
nahm statt dessen eine Art Becher
- angeschlagen, mit einem Sprung, schwarz und zerbrechlich aussehend, aber tres, tres hexenhaft. Ich um kreiste den Topf mit dem Wiesoll mansnennen wie ein Jagdhund, der skeptisch ein Stachelschwein umschnüf felt, holte einen Schluck des Trankes heraus und bot ihn dem Biber an.
Der Biber zog sich hastig unters Was ser zurück. Das hätte mich warnen sollen. Aber das war nicht der Fall. Ich roch prüfend an dem Getränk, überlegte noch einmal und schluckte es schließlich, indem ich mir die Nase zuhielt. Was danach geschah, ist ein schreck liches kaleidoskopähnliches Durch einander. Jeder Nerv meines Körpers zog sich zu einem Doppelknoten zu sammen, und mein brennender Ma gen versuchte durch meine verbrühte Speiseröhre hochzuklettern, aber das ging nicht, weil meine Speiseröhre sich angsterfüllt an meinem Rückgrat festhielt, das wie ein Hundeschweif wedelte. Schwach erinnere ich mich, daß ich den Becher fallenließ, um mir an die Kehle zu fassen, und daß ich dabei gegen den Kessel stieß, dessen Inhalt sich überall verteilte. Ich nahm den Besen auf, in der Absicht, damit in meinem Nahrungszufuhr kanal zu stochern und die Verstop fung zu lösen, und dann hüllte mich Dunkelheit ein. Es war eine turbulente, wirbelnde Dunkelheit, durchbrochen von grel len kleinen Lichtpunkten, die sich auf lösten und wieder zusammenflossen und bei dem Lärm, der durch die Schwärze auf mich eindrang, in alle Richtungen stoben. Im Vergleich da zu war eine Kesselfabrik wie ein im Dämmerlicht gesungenes Wiegenlied. Explosion krachte auf Explosion, 6?
JANE RICE
während donnernde Sturzwellen rei nen, unverfälschten Lärms über mich hinwegschäumten, vermischt mit gel lenden, dämonischen Schreien, deren Echo sich endlos fortpflanzte - be täubende Wellen, die sich auf einem höllischen Teich direkten, ungedämpf ten Schalls ausbreiteten. Jemand, den ich nicht sehen konnte, begann ein Feuerwerk abzubrennen, während sein ebenfalls unsichtbarer Bruder meinen Schädel im Rhyth mus zu einem Sperrfeuer aus Kano nen, Artillerie, Gewehren, Leucht spurgeschossen und ein paar strate gisch plazierten Mill-Bomben gegen die Wand der Dunkelheit schlug. Sie haben sicher gehört, daß Caruso ein Glas anzuschlagen pflegte, den Ton auffing und ihn so lange in das arme Ding hineinsang, bis es in Scherben zersprang. Dieses Glas war ich. Als der verrückte Lärm sich aus breitete und wuchs, hatte ich das Ge fühl, daß ich heftig in alle Richtungen auseinanderfliegen würde. Er wuchs und wuchs und wuchs zu einem un glaublichen Umfang und einer un glaublichen Verstärkung, und eben, als ich den kritischen Punkt erreichte, hörte er auf. Mit einemmal. Und da nach fiel ich. Wie die Feder, die in jedem Sprichwort vorkommt, fiel ich durch Riesengewölbe schwarzen Raumes, und während ich mich zu erinnern versuchte, ob Fallschirm springer mit den Armen oder mit 66
den Beinen ruderten, um aus dem Trudeln herauszukommen, landete ich. Bums. Es war kein schlimmer Auf prall, verglichen mit der Geschwindig keit, in der ich gefallen war. Im Ge genteil, es war einer der angenehmsten Aufpralle, mit denen ich je aufgeprallt war, und ich bin im Laufe meines Le bens schon des öfteren aufgeprallt. Ich öffnete die Augen und sah in einen sternenerfüllten Himmel. Ich streckte die Hände aus und tastete um mich und hätte vor Freude wei nen mögen, als meine Finger auf Gras und Zweige und guten, festen Boden trafen. Es störte mich nicht und machte mich nicht im gering sten stutzig, daß ich in freier Land schaft auf dem Rücken lag, obwohl ich eigentlich in Cläre Holloways Kellerbar hätte sein müssen. Ich dachte nicht einmal daran. Ich schloß nur wieder die Augen und konzen trierte mich darauf, Elizas Brotpud ding schön zusammenzuhalten. Schließlich setzte ich mich auf und sah verschwommenen Blickes um mich. Ich schien mich am oberen Ende eines Hügels zu befinden, und unter mir war eine Stadt, die sich offensichtlich zur Nachtruhe begeben hatte. Von der Größe und dem Man gel an Neonröhren schloß ich, daß es nicht gerade eine Großstadt war und daß sie ein schönes Stück von mei nem gewöhnlichen Standort entfernt sein mußte.
DAS ELIXIER
Ich wunderte mich, ein wenig see krank und mit einem Schluckauf, wie ich hierhergeraten sein konnte. War ich kreischend aus Cläres Kellerbar bis hierher gerannt - oder hatte Par kins meine zeitweilige Unpäßlichkeit ausgenützt, um mich und meinen är gerniserregenden Besen aus dem We ge zu schaffen, ohne es den anderen gegenüber zu erwähnen? Litt ich an Gedächtnisschwund? War ich tot? WAR ICH TOT! Meine Lethargie verschwand überaus plötzlich! Ich sprang hoch und puffte auf mich ein wie ein Gorillamännchen wäh rend der Paarungszeit. Ich fühlte mich in Ordnung. Ein wenig wacke lig, aber aus einem Stück. Aber wür de sich ein Geist nicht auch ganz in Ordnung fühlen? Schluck. Das Bruchstück eines Kindergarten verses fiel mir ein.
Heim ging das Weiblein im Dunkel
allein.
Hoch sprang das Hündchen und bellt'
ihr hinterdrein.
Es bellt' ihr hinterdrein, und sie be gann zu schrein:
Ich bin es nicht, ach, laß mich bitte
sein!
Ach, du liebe Güte! Aber es war gar nicht so unvernünf tig. Wenn ich ich war, mußte ich nur in diese Stadt hinuntergehen und ein Telefon ausfindig machen. Wenn wenn ich nicht ich war Aber ich weigerte mich, diesen Ge
dankengang weiterzuverfolgen, und
begann resolut den Hang hinunterzu steuern, stolperte über meinen Besen stiel und vollführte das, was man in
der Fliegersprache eine Bruchlandung
nennt. Danach war ich sehr erleich tert. Gewiß würde kein Gespenst
flach auf seiner/ihrer Schnauze lan den. Außer - außer es hatte noch
keine Übung. Bah! Aber es war ein
reichlich blutleeres Bah, das kann
ich versichern.
Ich packte mir eilig den Besenstiel,
rappelte mich hoch, bis ich wieder
auf meinem Fahrgestell stand, und
erreichte das Ende des Hügels in
Nullkomma nichts. Fast. Ich lehnte
mich gegen ein Schild und pustete
und schnaufte, bis mir die Idee kam,
das Schild anzusehen.
Auf dem Schild stand SALEM.
Ich schloß die Augen, zählte bis zehn
und öffnete sie wieder. Auf dem
Schild stand immer noch SALEM. Aber
ganz offensichtlich konnte es nicht
Salem sein. Salem befindet sich in
Massachusetts. Ich grinste wissend
vor mich hin und mutmaßte, daß
es zur Verwirrung der Autofahrer
von einem jener kleinen zahnlücki gen Jungen aufgestellt worden war,
die an Halloween überall aus dem
Boden zu schießen schienen. Wenn
ich geahnt hätte, was mich erwartete,
hätte ich aus mir hinaus gegrinst und
wäre den Hügel wieder nach oben
gerannt.
JANE RICE
So aber ging ich lässig in das Dörf chen und die Hauptstraße entlang, wobei ich den Besen über der Schul ter trug. Ich hatte schon schönere Ortschaften gesehen. Über allem lag ein Hauch von Alter, der auf düstere, unerbitt liche Art bezauberte. Die Häuser wa ren steif und ordentlich und sonst nkhts, und die Läden sahen altmo disch und mufflig aus, und alles war fest verrammelt. Ich konnte nichts finden, was auch nur entfernte Ähn licheit mit einem Drugstore hatte, und allmählich fühlte ich mich etwas unbehaglich. Es war so still, und ich sah keine Lichter, und die Stadt war >tot< - wie eine Geisterstadt - oder zumindest hatte sie einen Starr krampf erlitten, von dem sie sich noch nicht erholt hatte. Als ich dann tatsächlich die Stimmen hörte, spitzte ich die Ohren wie ein Jagdhund und rannte dann glücklich in ihre Richtung. Tatsächlich drang ein Spalt Licht aus einer Tür, und ein knarrendes Schild darüber ver riet mir, daß sich hier die Taverne zum Blauen Eber befand. Genau das Richtige, dachte ich. Ein Telefon und vielleicht ein paar Spiel automaten, um sich die Zeit zu ver treiben, bis ein Taxi kam und mich heimholte. Außer natürlich, ich war nicht ich oder ich lag in Wirklich keit vergiftet auf dem Boden von Cläre Holloways Kellerbar, während 68
meine Überreste umherschweiften . . . Ach, Unsinn. Ich drückte die Klinke hinunter, schob die Tür auf und trat ins In nere. Ich sah lange Tische und Bän ke, eine Holzbalkendecke und ein Regal mit Krügen, für die Cläre ihre Großmutter verkauft hätte, dazu einen riesigen Kamin. Und es roch herrlich nach Bier, Rauch und Holz. Ich setzte mein Missionslächeln auf und ging auf eine Gruppe von Män nern zu, die offensichtlich auf dem Weg zu einem Maskenball hier halt gemacht hatten oder zumindest der gleichen Loge angehörten. Sie trugen alle merkwürdige Kleider, die mehr oder weniger gleich aussahen, und hatten Perücken auf. »Könnten Sie mir bitte sagen, wo hier das Telefon ist?« fragte ich strahlend. Wenn ich gefragt hätte: »Könnten Sie mir sagen, wie ich hier zur näch sten Nudistenkolonie komme?« hät te die Wirkung nicht verblüffender sein können. Sie hörten schnurstracks zu reden auf, ihre Münder standen offen, und sie glotzten mich an. Ein Mann mit sei denem Wams schien seinen Adams apfel verschlucken zu wollen. »Das Telefon«, sagte ich. »T-e-l-e f-o-n. Ich möchte ein Taxi anru fen.« Der Mann, der seinen Adamsapfel zu verschlucken versuchte, stand auf,
DAS ELIXIER
deutete auf mich und wollte etwas |, sagen, aber er schaffte es nicht. So schnappte er nur nach mir. Da ich dachte, das sei vielleicht das Erken nungszeichen seiner Loge, schnappte ich ebenfalls nach ihm und steckte als Dreingabe meine Daumen in die Oh ren, um mit den restlichen Fingern Winke-winke zu machen. Als nächstes hörte ich ein Stampfen wie bei einer Rinderherde, die in Pa nik ausgebrochen ist, und ich war allein mit den Krügen und Tischen und den schweren Eichenbalken, von denen durch die Erschütterung Staub auf mich herabrieselte. Es geschah so schnell, daß ich - Nun, waren Sie schon mal mit jemand in einer Drehtür, der es eilig hatte? Man wird sozusagen ins Freie gespuckt. Ich jedenfalls landete rittlings auf einer umgekippten Bank, den Um hang über dem Kopf und eine Hand in einem Bierkrug vergraben. Draußen konnte ich Stimmen hören, und ihr Geschrei hatte fast etwas von einer Hundemeute an sich. Wäh rend ich über die Launenhaftigkeit der Menschheit nachdachte, befreite ich mich aus den Falten des Umhangs und machte mich daran, den Krug von meiner Hand zu lösen. Der Satz »Ich hoffe, alle Ihre Kinder werden einmal Akrobaten« ist mir immer als besonders grausamer Fluch vor gekommen - nach kurzer Zeit kam ich zu der Erkenntnis, daß es einen
weit grausameren Satz gab: »Ich hoffe, alle Ihre Kinder tauchen später ein mal ihre Hände in einen Bierkrug.« Ich stemmte, ich zerrte, ich ruckte. Ich versuchte es langsam und vor sichtig. Ich rüttelte mit Gewalt. Ich versuchte ihn zu drehen. Volle fünf Minuten schwitzte und schuftete ich, während ich den Schmelz meiner hinteren Backenzähne zermalmte. Ich hob die Stimme zu meinem Schöpfer, nicht im flehenden Gebet, wie ich zu meiner Schande gestehen muß, sondern in einem wutentbrann ten Ultimatum. Schließlich klemmte ich das Ding zwischen die Beine, ruckte mit Macht daran, und meine malzumspülte Hand kam mit einem lauten »Plop« frei wie ein Champagnerkorken, beglei tet von guten zehn Unzen schäu menden Bieres. Genau in diesem Mo ment flog die Tür auf, und meine Freunde, die Perücken, standen mit einem Bataillon Stadtleuten vor mir. Mir ist jetzt klar, daß ich wie ein weiblicher Boris Karloff mit Tollwut ausgesehen haben mußte, aber da mals wußte ich nur, daß ich müde, wütend und schaumtropfend war, daß an einem Knöchel ein großes Stück Haut fehlte und daß ich heim woll te. Ich krümmte die Finger, um das Blut wieder zum Zirkulieren zu bringen, und die Menge verschwand vom Ein gang. Es war eine bunte Narrenge 69
JANE RICE
Seilschaft, die sich hauptsächlich mit Nachtmützen und Harzfackeln ver kleidet hatte, und sie konnten mir gestohlen bleiben. Mein Sinn für Karneval war längst dahin. Ich stand auf, immer noch mit ge krümmten Fingern, und fragte: »Hö ren Sie, wo ist denn hier ein Tele fon?« Zumindest begann ich, das zu fragen. Ich kam bis zu »Hören Sie <, dann schrie eine der Perücken: »Avong« oder »Avaa« oder so et was Dämliches, und mit einer winken den Geste seines Armes holte er eine Woge murmelnder Menschheit hinter sich her, und sie alle drangen auf mich ein, in der klaren Absicht, mich zu überwältigen. Und ich - wie die Krönung aller Dummheit - war so betäubt, daß ich einfach sturen Blicks da stand und. es mir gefallen ließ. Ich erinnere mich vage, daß ich gegen ein paar Schienbeine trat und an einem Bart rupfte, und dann kam ein herrlicher Moment, als ich einen gar nicht herrlichen Fluch aus stieß. Ich ging zu Boden, indem ich mir vorsagte: »Das kann nicht wahr sein. Das ist ein Brotpudding-Alp traum«, und ich erinnere mich, daß ich »Fischers Fritze fischte frische Fi sche« vor mich hinsagte und dabei verschwommen dachte, daß das ir gend etwas beweisen würde - ich hat te keine Ahnung, was -, nur war es sehr schwierig, es durch eine Mund voll Perücke zu sagen, 70
Ich wurde von einem Klirren, einem weichen Aufschlag und einem leisen, wimmernden Schrei geweckt. Ich setzte mich stöhnend auf und hätte mich sofort wieder hingelegt, wenn ich es gewagt hätte, einen Muskel zu rühren. Ich wagte es nicht. Sie schie nen voll von glühenden Nadeln zu stecken und waren zusammenge schrumpft oder etwas ähnliches. Auf alle Fälle paßten sie nicht. Kennen Sie diese Diagramme, wo alle Seh nen und dieses Zeug in deutlichen Einzelheiten aufgezeichnet sind, ver dreht und nochmals verdreht? Das war ich. In Technicolor. Ich stöhnte noch einmal. Dieses Stöh nen verwandelte sich in ein Keuchen, als ich sah, daß ich mich in einem düsteren Raum von zwei mal vier Metern befand, mit feuchten Wän den und einem winzigen vergitterten Fenster, das nur widerwillig einen blassen wässerigen Sonnenstrahl durchließ. Er diente dazu, die un verkennbare Atmosphäre eines nicht gerade gepflegten GEFÄNGNISSES zu untermalen. Ich, Amy Parrish. Was würde Eliza sagen! Irgendwie klammerte ich mich an verschiedene Teile meiner Anatomie und manövrierte mich in eine auf rechte Stellung. Da sagte ein Bündel in der Ecke: »Bitte. Oh, bitte!« »Bitte, o bitte, ich will hier raus«, sagte ich. »Ich werde es sie büß- . . . WAS? Ist hier jemand?«
DAS ELIXIER
»Ich«, sagte das Bündel. Ich blinzelte durch das Düster, und da war tatsächlich jemand. Ein Mäd chen von etwa neunzehn, von dem man nur die Riesenaugen und die umfangreichen Röcke sah. Sie be trachtete mich, als sei ich das Origi nalmodell für Frankenstein. »Bitte. 0 bitte«, sagte sie. »Was denn, o bitte?« fauchte ich. »Sie können doch nicht einfach >bit te, o bitte< sagen. Das ist dämlich. Wer sind Sie? Was machen Sie hier? Was mache ich hier? Wer ist für diese Sache verantwortlich? Wie heißt die se gräßliche Stadt? Wer waren all die Leute? Haben sie den Verstand verloren? Los, reden Sie! Oder haben Sie keine Zunge?« Die blauen Augen wurden, soweit das ging, noch größer und blauer. »Ich - ich .. .« Sie begann zu wei nen. Große runde Kullertränen. Sie sah hübsch dabei aus. Ein todsiche rer Test für weibliche Schönheit. Ich kramte in meiner Tasche herum und holte ein Taschentuch hervor. »Hier«, sagte ich. »Putzen Sie sich die Nase.« Wenn ich ihr eine schwar ze Spinne angeboten hätte, so wäre ihr Entsetzen kaum größer gewesen. Sie zog sich gerade so weit in die Ecke zurück, daß sie nicht durch die Mauer ging. »Hören Sie«, sagte ich, »was ist denn mit Ihnen los? Und was ist mit den anderen los? Was zum - Ach,
lassen wir das. Was ist mit Ihnen
los?«
»Bitte, verhext mich nicht!«
»Sie verhexen?«
»Ja. Bitte. O bitte, ver- . . .«
»Wollen Sie endlich mit dem >bitte,
o bitte< aufhören? Es ist Wahnsinn. Was soll der Quatsch mit dem Ver hexen?« »Es würde nichts nützen«, sagte das Mädchen händeringend. »Wirklich nicht. Man wird uns ohnehin hängen. Es wäre Verschwendung. Verhext mich nicht!« »Weshalb, du grüne Neune, soll aus gerechnet ich Sie verhexen?« fragte ich erschöpft. »Ihr seid eine Hexe.« »Ich bin eine was?« »Eine Hexe. Und Hexen können -« »Uns HÄNGEN!« unterbrach ich schrill, als ich die ganze Bedeutung ih rer Worte verstand. »WOFÜR denn?« »Weil wir Hexen sind.« »Einen Moment mal«, sagte ich. »Das verstehe ich nicht. Fangen wir noch einmal von vorne an. Wer sind Sie? Wie heißen Sie?« »Prudence Symonds.« »Freut mich. Sie kennenzulernen. Ich bin Amy Parrish - hoffe ich. Ist das hier ein Gefängnis?« »Ja.« »Also gut. Und weshalb hat man Sie nun hier eingesperrt?« »Sie behaupten, daß ich Martha Tal cott die Blattern angehext habe.« ?i
JANE RICE
In diesem Moment schwamm ich aus meinem Nebel. Die Art, wie sie Blat tern sagte, wo jeder andere Pocken gesagt hätte, gab meinem Hirn einen sanften Schubs, und es lief wieder auf einem halben Zylinder. »Sie meinen Pocken?« »Ja - Blattern.« »Na ja, das war unvorsichtig von Ihnen. Aber weshalb war diese ko mische Martha nicht geimpft? Man sollte lieber die Leute vom Gesund heitsamt ins Gefängnis stecken und nicht Sie.« Prudence Symonds sah mich an, als spräche ich einen Dialekt, den nur Mooskäfer und die Bewohner von Oz verstanden. Sie zupfte an einer Rockfalte und schien zu zittern. »Wollten Sie zu einem Kostümfest?« fragte ich und deutete auf ihr Kleid. »Kostüm? Aber das sind meine nor malen Kleider!« Normale Kleider. Blattern. Die ko
mischen, engen Häuser. Die muffi gen Läden. Die Perücken. Keine Te lefone. Keine Elektrizität. Das Schild - SALEM. Der Hexentrank, den ich gemixt hatte. Hexen, aufhängen, He xen! Ich war wie eine Hexe geklei det. Konnte es sein, daß -? Absurd. Unmöglich. Phantastisch. »Prudence«, sagte ich, und meine Stimme klang, als hätte ich sie durch ein Seihtuch gequetscht. »Wie heißt diese Stadt?« »Salem.« 72
»Salem was?« »Nun, Salem in Massachusetts.« Ich feuchtete die trockenen Lippen mit einer ebenso trockenen Zunge an. »Ist das ... ist das ... welches Jahr haben wir?« Ein paar verwirrte Falten zeigten sich auf Prudence Symonds' Stirn. »Ihr meint - das Datum?« »Ja.« »SJSchzehnzweiundneunzig.« »Was sagten Sie?« »Sechszehnzweiundneunzig.« »Das hatte ich auch verstanden«, stammelte ich dümmlich. Und ganz unerwartet wurden meine Knie wab belig, und ich setzte mich abrupt, wobei ich sogar das Stöhnen vergaß. Der Hut kippte mir in den Schoß, und ich saß einfach da und betrach tete die Galaxis aus silbernen Ster nen, Monden und Symbolen, die ihn zierten. »Gütiger Himmel«, sagte ich. »Du großer Tag eines großen Morgens. Heiliger jubelnder Jehoshaphat!« »Bitte, o bitte«, sagte Prudence Sy monds, die sich in ihre Ecke drückte und versuchte, sie um sich zu zie hen. Schön, so war das also. Bis dahin oder besser bis dorthin - hatte ich immer geglaubt, daß ich einer jener tüchtigen Menschen war, die >mit einer Krise wachsen. Ich hatte mir ein Bild zurechtgelegt, wie außer ordentlich sicher ich mich in Notfäl
DAS ELIXIER
len verhalten konnte. In diesem Bild gab ich gewöhnlich die Befehle, um ging kühn die Bürokratie und arbei tete in allen Richtungen gleichzeitig, »während jene mit geringeren Befähi gungen mein Handeln mit Ohs und Ahs bewunderten und hin und wie der in Beifallsstürme und Bravorufe ausbrachen. Hah! Und pfui! Als jemand, der mit der Krise wuchs, war ich eine einmalige Niete, obwohl ich tatsächlich in allen Richtungen zugleich arbeitete. Ich warf mich mit der Selbstaufgabe einer Salome gegen das Gitterwerk und die Wände und schaffte es sogar, mit dem Kinn bis ans Fenstergitter zu kommen. Ich gab auch einige Befehle, als der Ge fängniswärter herbeilief, um den Tu mult zu begutachten. Sie waren je doch ein Mischmasch aus abgerissenen Sätzen, beginnend mit einem Zitat aus den Menschenrechten und endend mit der Forderung, daß man mich sofort freilassen müsse, da ich erst in zweihundert Jahren auf die Welt käme. Der Wärter übergoß mich mit Wasser. Jene mit geringerer Befähi gung waren Prudence Symonds und eine unterernährte, schnurrbärtige Maus, deshalb blieben die Ohs und Ahs aus. Die Maus zog sich hastig in ihr Loch zurück, und Prudence saß einfach da und sah mich zitternd an. Und nach einer Weile saß auch ich da und sah mich zitternd an. Ich überlegte und überlegte und
überlegte - vom ersten Schluck des Elixiers, wenn man es so nennen kann, in Cläre Holloways Kellerbar bis zur Episode mit den Perücken und meiner folgenden Einkerkerung. Ich sagte: »Das kann nicht wahr sein.« Ich sagte: »Solche Dinge gibt es nicht.« Ich sagte: »Amy Parrish, du muß weg von hier!« Ich sagte: »!!!++? ± ± !!!+ + « Während ich das » ! ! ! + - ^ ? + + !!!++« sagte, wurde der einsame Sonnenstrahl verdunkelt, und als ich meinen Hals nach oben drehte, entdeckte ich, daß ein kleines Ding mit Häubchen, Schürze, Kragen, gestärktem Unter rock, Knöpfen, Schnallen, Biesen, Zwickeln und Falten zu uns herein starrte. Aus der Art der Gewänder, die es trug, schloß ich auf ein Mäd chen. Es hatte sich die Backen mit Äpfeln vollgestopft und polierte ei nen neuen auf dem Ärmel, um ihn sofort hinterherzuschieben, sobald sich wieder Platz bot. Es kauerte da und schnitt Grimassen zu uns her ein und aß seinen Apfel - wobei es die Kerne gekonnt durch die Gitter stäbe spuckte -, und als es fertig war,
warf es uns das Kerngehäuse nach
und kicherte.
»Geh weg«, sagte ich. »Du bist ein
ungezogenes Mädchen.«
»Und ihr seid Hexen«, sagte sie.
»Beide. Nyaaah!«
»Man sollte dich versohlen, mein
Fräulein.«
73
JANE RICE
»Man sollte euch hängen,« Sie deu tete mit dem Zeigefinger auf uns und streckte die Zunge heraus. »Und man wird es auch tun«, fuhr sie fort. »Hört ihr? Hängen, hängen, hängen!« »Geh weg!« »Ich mag nicht, und ihr könnt mich nicht vertreiben. Hängen, hängen. Ihr werdet hängen, hängen, hängen, hängen. Hexen, Hexen, häßliche alte Hexen, Hexen, Hexen, Hexen.« »Ich verhexe dich«, sagte ich grim mig und krümmte die Finger wie »Oonga, das hypnotische Auge<. Da zu bewegte ich sie kompliziert hin und her und sang: »Bula, bula, bula, bula, wir kämpfen für den guten alten Eli. Hep!« Ich verschränkte dramatisch die Arme. »Du«, sagte ich düster, »wirst dich in genau sechs Stunden und zwei Minuten in einen kalten grünen Frosch verwandeln. Verschwinde!« Sie trat zurück, ihr Mund zitterte, die Augen waren glasig und weit aufgerissen, und mit einem lauten Jaulen reinen Entsetzens drehte sie sich um und rannte davon - Hals über Kopf, mit fliegenden Unter röcken und hüpfender Haube. Ich hörte zu, während ihr Geschrei wie das panische Heulen einer Feuersi rene immer leiser wurde, und ich wage zu gestehen, daß ich nur da mals, als ich Elizas Biskuits Tortoni zum erstenmal kostete, ebenso erfreut war. 74
Und Prudence Symonds strahlte. Nicht daß sie so etwas Unschickli chem wie >Yipee!< Ausdruck verlieh. Im Gegenteil. Sie kniete nieder und betete zum Herrn, daß er >die sün dige Befriedigung aus ihrem Herzen reißen und ihre Seele von den Flek ken unheiliger Freude reinigen solle< und daß er >ihre frevelhafte Dank barkeit auslöschen solle<. Woraus ich schloß, daß Prudence und Miß Ap felbutzen schon Bekanntschaft mit einander gemacht hatten und daß Prudence schlecht dabei weggekom men war. Ich bohrte nach und nach die Ein zelheiten aus ihr heraus. Miß Apfel butzen war eine gewisse Charity Bea titude Pyne, Spielgefährtin von >Blattern<-Martha Talcott und Toch ter des Magistrats John Matthew Py ne. Mark Talcott, ein Vetter von Martha Talcott, wollte sie, Prudence, heiraten. Kleine Pause, während Pru dence ein paar Tränen vergoß. Die Handlung verdichtete sich. Sie verdichtete sich noch mehr, ja, sie wurde nahezu sonnenklar, als Pru dence ausführte, daß sie bei besagtem John Matthew Pyne als Erzieherin für die liebe kleine Charity Beati tude angestellt gewesen war. Es sei ihre schmerzvolle Pflicht gewesen, sagte Prudence, Charity B. mit einer Weidenrute auf die offene Hand fläche zu schlagen, wenn sie ungehor sam war.
DAS ELIXIER
(Tränenabwischen und Naseputzen.) Ich dachte für mich, wenn ich eine auf der anderen Hand gehabt hätte, Heilige Götter! so wären die Schläge ganz bestimmt Und am Gipfel des Tumults war nicht auf die Handfläche gezielt ge Mister Jeremiah Larkin ganz er wesen. Aber ich erwähnte nichts da schöpft und atemlos herbeigejagt, um ihnen zu erzählen, daß man in von, sondern nickte nur und sagte: der Taverne zum Blauen Eber eine »Weiter!« Am vorigen Abend hätte die Verlo Hexe gefangen habe, und die Kinder hatten gewimmert, daß man Pru bung stattfinden sollen. Statt dessen dence wegbringen solle. Was man - wieder Tränen - war Martha Tal cott krank geworden - Tränen -, getan hatte. Und d-das war die ganze man hatte den Doktor geholt, und G-Geschichte. der hatte die Diagnose auf Blattern Eine Hexe im Blauen Eber, hm? Na, und was war mit diesem Mark? Wes gestellt - Tränen. Martha, das arme Kind, hatte in ihrem Fieber schreck halb hatte er sich nicht eingemischt und der Handlung ein Ende berei liche Dinge über Prudence gesagt und sie angeklagt, ihren Vetter ver tet? Wenn sie mich fragte, konnte sie froh sein, so einen . . . einen . . . ei hext zu haben - Tränen und ein paar unterdrückte Schluchzer. Charity Bea nen Waschlappen loszuwerden. Jeder Mann, der etwas auf sich hielt, hät titude, das arme Kind, war hyste te - Aber ich ließ das Ende des Sat risch geworden und hatte sich Mar thas Beschuldigungen angeschlossen. zes murmelnd verrauschen, weil Pru dence Symonds allen Anzeichen nach Die beiden hatten auf sie einge im Begriff war, mir den Besenstiel schrien und sie der unaussprechlich über den Schädel zu schlagen. sten Taten beschuldigt. Schließlich waren sie so weit gegangen, daß sie Sie wollte mir verständlich machen, daß Mark ihre Partei ergriffen hatte. Prudence eine Hexe nannten, die Er war sogar so weit gegangen, daß Martha die Blattern angehext hatte er einen Schwur leistete. - Tränenflut. Tsts! Ob die Talcotts die Kinder denn Und nun war er am Pranger in den nicht ordentlich ins Verhör genom Block geschlossen, weil er J. M. Pyne men hatten? Ja. O ja. Aber sie hatten beide am Kragen gepackt und mit einem Krampte erlitten und steif und fest Fußtritt von der Talcott-Veranda behauptet, daß sie vor den Augen befördert hatte und weil er ihm sei nen Hut und seine Charity Beati ihrer unwissenden Eltern verhext tude hinterhergeworfen hatte. worden seien. 75
JANE RICE
So ist es brav.
Und außerdem hatte er versucht, sie
vor den guten Leuten in Salem zu
verstecken, was ihm nur nicht gelun gen war, weil seine im Fieber han delnde Cousine Martha ihn mit einer
schweren Nippfigur bewußtlos ge schlagen hatte.
Im Fieber handelnd war der richtige
Name dafür. Was für ein liebenswer tes Miststück das sein mußte!
Ja. Ein liebes, süßes, verirrtes Kind,
das durch seine Krankheit aus dem
Gleichgewicht geraten war!
An dieser Stelle explodierte ich.
»Bläh!« sagte ich mit Vehemenz.
»Bläh?«
»Schnickschnack!«
»Ich verstehe nicht.«
»Apfelpudding, Backpflaumenmus,
Bananenöl und Meerrettich! Kurz Quatsch mit Sahnensauce!«
»Ich habe auch Hunger«, seufzte sie.
Lassen wir die nächsten zwei Stunden
aus. Wir waren allein, ich, Prudence
und die Maus, und wir unterhielten
uns über die verschiedensten Dinge.
Lassen wir auch das Brot und die Suppe aus, die uns der Gefängnis wärter brachte. Das Brot hatte Schim mel angesetzt, und die Suppe sah aus, als wollte sie selbst an Unterer nährung eingehen. Ich hatte nicht das Herz, sie zu essen. Sie war so weiß und matt und schien schwer gelitten zu haben. Ich bot sie der Maus an, aber nicht einmal die wollte sie, so 76
weichte ich das Brot hinein in der Er wartung, daß es Wurzeln schlagen und blühen würde, aber das Brot er litt plötzlich einen Zusammenbruch, und schließlich wartete ich einfach, bis der Gefängniswärter kam, um Schüs seln und Löffel zu holen, und ich warf sie ihm an den Kopf. Ich traf ihn. Kurz danach holte uns eine Delega tion perückenbewehrter Salemiter, die uns - nachdem wir sicher gefes selt waren - zum Gerichtsgebäude geleiteten. Das heißt, sie schubsten uns von vorn und hinten, als seien wir preisgekrönte Fettschwanzläm mer, die zum Schurwettbewerb in die Arena gebracht wurden. Man empfing uns mit Miau- und Buh rufen, und zum erstenmal war ich glücklich, daß ich mich im Jahre 1692 befand. Keine Stinkbomben. Der Vorsitzende Richter war - klar, Sie haben es erraten - kein anderer als John Matthew Pyne höchstper sönlich. Er war reichlich dick, beson ders um die Backen, die einen röt lichen Schimmer aufwiesen. Die Far be erstreckte sich auch auf die Nase, auf der eine große Warze prangte. Er hätte ein großartiges Umschlagbild für Punch abgegeben. Prudence flüsterte mir seinen Namen zu und wurde prompt von einem gerichts dienerähnlichen Wesen ermahnt. »Ruhe!« brüllte er mit vernichten der Stimme. Ich glaube, er war der Ur ahn aller späteren Tabakauktionäre.
DAS ELIXIER
Sei das, wie es mag, die Verhand lung wurde jedenfalls mit viel Pomp und Zeremoniell und unter Heran ziehung von Dokumenten eröffnet. Man klagte uns formell der Hexerei an, und wir erklärten, daß wir un schuldig seien, und jedermann im Gerichtssaal fuhr raschelnd und mur melnd hoch. Ich konnte sehen, daß man uns nicht zur Miß Populär 1692 wählen würde, und wenn man nach den Gesichtern der Geschworenen ge hen durfte, bekam das Bestattungsin stitut bald neue Aufträge. Ich weiß nicht, wann ich - abgesehen von den Optikerschaufenstern - mehr eisige Augenpaare auf einem Haufen ge sehen habe, und die Temperatur der Menge stand beharrlich so tief wie bei einer Kühlanlage und wollte nicht wärmer werden. Die Zeugen schnellten geradezu ge gen uns hoch, und ich habe noch nie im Leben einen haarsträubenderen Unsinn gehört als das Zeug, das sie verzapften. Die ehrenwerte Hannah Simms, die alles andere als gerade ehrenwert aussah, bezeugte, daß wir ihre Brut eier verdorben hatten. Meine Freunde, die Perücken, schwo ren, daß ich auf dem Besenstiel rei tend in ihrer Mitte aufgetaucht sei und versucht hätte, ihre Seelen mit Beschwörungen zu umstricken. Mrs. Faith Thow versicherte, daß Prudence Symonds die Schuld dar
an trug, daß die Thow-Kuh keine Milch mehr gab, und ein gewisser Lucius Banbridge sagte unter Eid aus, daß sie seine Zähne locker ge macht und seine Haare zum Ausfall gebracht habe und daß sie ihn mit Schüttelfrost und Fieber plage. Wenn je ein Mensch Malaria gehabt hatte, dann war es Lucius Banbridge. Wir wurden beschuldigt, »Blut auf den Mond« getan zu haben, Vögel zum Mausern und Pferde zum Lahmen gebracht und Getreidekäfer in Ma dam Seabrights Mehlkiste gezaubert zu haben. Eine dicke Matrone mit Dreifachkinn sagte, daß ihr Enkel durch uns einen Durchfall bekom men habe, und ein fettbäuchiger Kerl mit einer Knollennase und Flecken auf dem Wams versicherte, daß er den Teufel gesehen habe, wie er auf einem Ast vor dem Blauen Eber ge sessen und mit einem rauchenden Zahnstocher in seinem Gebiß her umgearbeitet habe. Ganz offensicht lich wollte er sich mit mir treffen. Diese Aussage bezweifelte ich nicht. Von der Färbung seiner Nase und dem krampfartigen Zucken des Zeu gen konnte ich schließen, daß er den Teufel tatsächlich gesehen hatte und anschließend auf einem rosaroten Elefanten mit Gazeflügeln und einem himmelblauen Netz um den Rüssel heimgeritten war. Nun, nachdem alle Zeugenaussagen gegen uns vorgebracht waren, gab 77
JANE RICE
man uns Gelegenheit, unsere Un schuld zu beweisen. Prudence Sy monds sagte das Vaterunser von vor ne bis hinten ohne Stocken, was of fenbar eine ganz sichere Prüfung war. In diesem Fall half es nichts. Mrs. Dreifachkinn kreischte, das be weise nur, daß sie weit größere Zau berkräfte besitze, als man gedacht habe, und alles brach in ein zustim mendes Murmelmurmel aus. Ich sah, daß es mehr als zwecklos sein würde, wenn ich mich herauszu reden versuchte. Prudence hatte es trotz Vaterunser, einem Gesicht wie Milch und Blut und einer Tugend haftigkeit sondergleichen nicht fer tiggebracht. Ich war nicht nur wie eine Hexe gekleidet ich sah auch wie eine aus, und mein Äußeres hatte sich durch die Gymnastikübungen mit der Bevölkerung im Blauen Eber und den nächtlichen Aufenthalt im Gefängnis nicht gerade verbessert. Die ungeschminkte Wahrheit war gleichbedeutend mit dem Zugeständ nis, daß ich eine Hexe der schlimm sten Sorte sei. Nun waren die zwei Stunden, die ich mich mit meiner ZeHengefährtin unterhalten hatte, unbedingt auf schlußreich gewesen. Sehr aufschluß reich. Ich hatte ein paar der respek tierlichen Bürger Salems aus der Vo gelperspektive betrachtet, und wenn die Skizzen auch sehr lückenhaft wa ren, fühlte ich mich durchaus in der 78
Lage, diese Lücken zu schließen. Ich kann zwischen den Zeilen lesen, und Improvisieren ist mein Hobby. Ich setzte mich und begann: »Wenn es dem Hohen Gericht beliebt, so kam ich im Interesse der Gerechtig keit nach Salem, um gewisse irrige Meinungen aufzuheben.« Die Antwort des Richters war ge nau das, was ich brauchte. »Meinun gen? Wovon sprichst du, Weib?« »Nun«, sagte ich, »erstens einmal die Meinung, daß Mrs. Thow die Gicht hat. Sie hat keine Gicht. Sie hat ein Holzbein, und falls es Sie in teressiert, ihre Kuh gibt keine Milch mehr, weil sie zwölf Jahre alt und halb verhungert ist und weil die El driges, die nebenan wohnen, sie heimlich melken. Und sehen Sie sich Jeremiah Larkin an - eine Säule der Kirche. Ganz klar. Und wissen Sie, weshalb? Weil er den Schlüssel zur Armenkasse hat. Denken Sie dar über nach. Und sie«, ich deutete auf Mrs. Drei fachkinn, »ist die Dame, die das Ge rücht aufbrachte, daß die ehrenwerte Mrs. Simms eine dumme Pute sei, eine geborene Schwachsinnige, die ihr Haus nicht sauberhält und heimlich schnupft. Und was Lucius Banbridge betrifft, so hat er sich von Madam Seabright bestechen lassen und ihrer Pastete den Großen Preis beim Fest gegeben, und Mary Ellen Cull war so wütend - Sie sollten sie mal im
DAS ELIXIER Rappel hören, das sollten Sie wirk lich -, daß sie die Getreidekäfer ins Mehl schmuggelte. Und das Bestechungsgeld, das Mister Banbridge altnahm, hatte Madam Sea bright ihrem Gatten aus der Hosen tasche gestohlen, und er hatte es beim Kartenspiel mit diesen Männern hier gewonnen.« Ich deutete auf die Pe rücken. »Außerdem«, fuhr ich fort, »fährt Mister Eathan Abbott nicht in Geschäften nach New York, wie er Mrs. Eathan Abbott gern erzählt. Er besucht ein adrettes kleines Ding mit großen braunen Augen und Tail lenweite fünfundvierzig. Und Laura Lamby benutzt Puder und reibt sich Rübensaft auf die Wangen«, sagte ich und sah zu, wie Mister Eathan Abbott eiligst den Gerichtssaal ver ließ, gefolgt von Mrs. Abbot, in de ren Augen ein schreckliches Licht glimmte. Wie auf ein Stichwort hin ging die ehrenwerte Mrs. Simms auf Mrs. Dreifachkinn zu, und ein Schwärm erzürnter Damen begann Lucius Banbridge einzukreisen, der eine furchtbare, kirschrote Farbe ange nommen hatte. Ein Pfarrer und Je remiah Larkin spielten Katz und Maus um eine Säule, und eine ältere Frau rieb mit einem Taschentuch die Wangen eines jungen Mädchens ab vermutlich Laura Lamby. Das Ta schentuch färbte sich langsam rosa, ebenso die Eldriges. Im ganzen Saal
standen Leute auf und stahlen sich so unauffällig wie möglich hinaus. »Und was Sie angeht, Richter Pyne«, sagte ich, »Sie sind entschlossen, Pru dence Symonds überhaupt nicht hei raten zu lassen, wenn Sie sie schon nicht heiraten können, und Sie -« J. M. Pyne vollführte mit seinem Hammer ein regelrechtes Schlagzeugsolo auf dem Richtertisch und bellte: »Sitzung vertagt!« Und im gleichen Moment stürzte eine Frau durch den Mittelgang herein. Sie heulte und stammelte: »Sie hat Charity ver hext. Sie hat Charity verhext. Hat sie. Hat sie. Sie hat Charity ver hext.« Dann sah sie mich und blieb mitten im Lauf stehen, ich sagte: »Buh!«, und sie fiel glatt in Ohn macht, »Was!« kreischte der Richter. »Sie haben es gehört«, sagte ich ru hig. »Ich habe Charity verhext. Sie wird in einen Frosch verwandelt.« Damit brach ein Inferno los, und schneller als man >bei stehendem Zug die Toilettenspülung nicht benutzen< sagen konnte, war der Saal leer. Ich blieb aus Respekt vor den vier zig Pfund Ketten, die man hübsch um mich drapiert hatte, stehen. Ich konnte sie nicht gut aufheben und damit davonrennen, denn sie war an einem Haken im Boden befestigt. So stand ich einfach da, während sich Richter Pynes Blutgefäße erweiter ten, bis sie kurz vor dem Platzen 79
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waren, und der Gerichtsdiener Was ser über die Ohnmächtige schüttete. (Seine Mutter war wohl von einer SpringSut erschreckt worden. Ich haben selten jemand mit so einer Manie fürs Wasservergießen gese hen.) Die Ohnmächtige kam wieder zu sich und nahm ihr Gejammer da auf, wo sie es abgebrochen hatte, und Prudence Symonds warf mir einen starren Blick zu und fragte: »Mich heiraten? Sie meinen - er - ich - weil . . . das heißt -« »Genau«, sagte ich. Es bleibt ein kurzer Moment zur Orientierung, während Richter Pyne seine Blutgefäße unter Kontrolle bringt und Prudence Symonds ihn ansieht wie eine Schüssel mit Ge fängnissuppe und der Gefängniswär ter zur Vorsorge einen neuen Eimer Wasser holt und die Ohnmächtige ihre Wehklage wiederaufnimmt und ich an Houdini und Jiu-Jitsu und die doppelten Kuchen denke, die Alice im Wunderland knabberte. Ich muß eines sagen - in Richter Pyne hatte Charity Beatitude einen liebenden Vater. Als ihm klar wur de, welche Aussichten seine Charity B. hatte, wurde er totenblaß und stand kurz vor dem Koller. Ich lächelte ihn beruhigend an Und sagte: »Keine Sorge. Sie wird sich daran gewöhnen. Sobald sie Fliegen essen und auf einem Lilienblatt sit zen kann, ist nichts mehr dabei.« 80
»Sie wird schon grün«, kreischte der sterbende Schwan. »Und sie sagt, daß sie schreckliche Schmerzen hat.« Das überraschte mich gar nicht, wenn ich an ihre Vorliebe für Äpfel dach te. Aber ich sagte: »Das sind die Warzen, die sich bilden. Ich lasse sie immer von innen nach außen wach sen. Es werden Prachtdinger sein. Jede Warze wie eine Rosette geformt, Patent angemeldet .« »Wir dürfen keinen Augenblick ver lieren«, kreischte John Matthew, jagte von seinem Podest, packte mich am Arm und rannte mit mir zur Tür. Weiter ging ich nicht, denn die Kette holte mich zurück. »Schlüssel, Schlüssel«, brüllte er den Gefängniswärter an. »Schlüssel. Macht dieses - macht dieses verflixte macht es los!« »Einen Moment«, sagte ich. »Nicht so schnell. Was ist hier los? Wollen Sie, daß ich Ihre Tochter wieder von dem Zauber befreie? Ist es das?« »Stillhalten«, sagte der Gefängnis wärter. »Ich kann das hier nicht aufmachen, wenn Sie so zappeln.« »Wenn Sie sie nicht befreien«, sagte J. M. Pyne zu mir, »lasse ich einen Pfahl durch Ihr schwarzes Herz boren. Verstehen Sie? Verstehen Sie?« »Hören Sie mal, Sonny«, sagte ich zum Gefängniswärter, »schließen Sie noch nicht auf.« »Er hat es befohlen. Halten Sie still,
DAS ELIXIER
hören Sie«, sagte der Gefängniswär ter zu mir.
»Schnell«, sagte J. M. zum Gefäng niswärter. »Verflixt noch mal,
schnell!«
»Sie will nicht stillhalten«, sagte der
Gefängniswärter vorwurfsvoll zu J.
M. »Schließen Sie nur auf«, sagte ich zum Gefängniswärter. »Sie werden ja sehen.« »Wi-wie meinen Sie das?« sagte der Gefängniswärter zu mir. »Schnell«, kreischte J. M. uns beide an. »SCHNELL!« »Ich meine, daß ich Sie verhexen werde, Freundchen«, sagte ich finster zum Gefängniswärter. »Ich habe ein paar tolle Dinge zur Auswahl. In drei Farben. Strangulier — Purpur, Würge-Rosa oder Abmurks-Rot.« Das brachte ihn zur Vernunft. So fort. Er schlich sich in sichere Entfer nung und begann zu zittern wie Espenlaub. Oder wie rote Grütze? Jedenfalls erweckte er ganz eindeu tig den Eindruck, daß er unter verti kalen Verwerfungen litt. Pyne gab ihm eine Kopfnuß, riß ihm die Schlüssel aus der Hand und startete einen gezielten Angriff auf meine Kette. »Ich erlöse Ihre Tochter unter einer Bedingung«, sagte ich. »Und hören Sie mich zu Ende an, bevor Sie mich losmachen, sonst wird es Ihnen leid tun. Sehr, sehr leid tun.«
Es funktioniert. Sicher, er fummelte einen Moment lang an der Kette her um, aber als ich ihn an die Warzen erinnerte, gab er auf. Ich muß ge stehen, daß er einen ziemlichen Kampf mit sich austrug, bevor er es tat aber er tat es. Ich legte ihm die Be dingungen in kurzen Sätzen vor, und er akzeptierte sie, obwohl er einen noch schlimmeren Kampf als zuvor ausfocht, und er sah Prudence Sy monds dabei an, als sei er der Ar menier, der kurz vor dem Verhun gern stand, und sie das fürstliche Abendmenü. Die Bedingungen waren: zwei ge sattelte Pferde, Mark Talcott, Geld und drei Stunden Vorsprung, wofür Charity Beatitude nicht mit Schwimmhäuten herumhüpfen mußte. Die Pierde kamen, herbeigeführt von einem Stallknecht, der, wäre er ein paar Jahrhundert später geboren worden, Abbott und Costello über flügelt hätte. Er stolperte zweimal über die eigenen Füße, verlor bei nahe die Hose und brachte es irgend wie fertig, den Hut fest über die Ohren zu schieben, bis J. M. ihn auf meine Anweisung hin verjagte. Ich will Ihnen die rührende Szene ersparen, die entstand, als Mark und Prudence wiedervereint wurden. Sie würden entweder weinen oder Übel keit empfinden - je nach Ihrer ro mantischen Anlage. Also, machen wir es kurz und schmerzlos. 8l
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Das Geld sah komisch aus, aber es schien eine ganze Menge zu sein, und so war ich nicht kleinlich. Und die drei Stunden. Ach ja, die drei Stunden. Bis sie um waren, hätte ich mein bestes Korsett, einen Satz Reifen und einen Zentnersack Zuk ker als Ersatz gegeben. Sie müssen wissen, zur Versicherung meines gu ten Glaubens beharrte ich darauf, in Ketten zu bleiben, während Mark und Prudence in einen anderen und weniger hexengierigen Teil des Lan des zogen. Drei Stunden gaben ihnen einen ziemlichen Sicherheitsvor sprung. Es war die einzige Lösung. Ich war überzeugt davon, daß J. M. Pyne in dem Augenblick, in dem ich mein Abrakadabra über Charity B. sprach, einen Gesinnungswechsel er leiden würde, und daß man Pru dence, wäre sie anwesend, und Mark, wäre er anwesend, und mich, die in folge des Abrakadabras notgedrun gen anwesend sein mußte, sofort pak ken und doppelt denunzieren würde. Daher ich in Ketten. Es machte einen guten Eindruck. Einen viel besseren, als wenn ich es mir im Hause der Pynes bequem gemacht und J. M. die Möglichkeit gehabt hätte, Charity B. in natura zu besichtigen und fest zustellen, daß sie Verdauungsschwie rigkeiten anstelle von Froschsucht hatte. Es kostete allerhand Arbeit, Mark und Prudence auf ihre Pferde zu be 82
kommen. Prudence stemmte sich fest in den Boden, weil sie bei mir blei ben wollte, und Mark wollte eben falls bei mir bleiben und J. B. die lebenden Teufel aus dem Leib rei ßen, aber schließlich überzeugte ich sie auf einfache Weise, indem ich Prudence zuflüsterte, daß sie keine Angst haben sollte, weil Hexen nun mal gewisse Kräfte besäßen, und daß sie ihre erste Tochter Amy nennen sollte. Dann flüsterte ich Mark zu, daß er sich wieder abkühlen könne, »weil ich persönlich dafür sorgen würde, daß die Pynes zur Schnecke gemacht wurden«, und wenn er je einen Sohn haben sollte, müsse er ihn Parrish nennen. Dann fügte ich hinzu, daß es besser wäre, wenn sie jetzt gingen, bevor die Dorfbewohner kä men und wieder alles zum Scheitern brachten. Prudence umarmte mich und zer quetschte eine Träne an meinem Ge sicht und versicherte heftig, daß ich eine >nette< Hexe sei. Sie gingen, bevor ich es richtig wahrnahm, denn ich war zeitweise von dem Kuß aus geschaltet, den Mark Talcott mir auf die Lippen geschmatzt hatte. Wenn ich so an die zwanzig Jahre jünger gewesen wäre - puh! Wenn es Ihnen nichts ausmacht, ge hen wir über die folgenden drei Stunden leichten Schrittes hinweg. Es muß genügen, wenn ich sage, daß ich nach Ablauf der Zeit - die Minuten
DAS ELIXIER
vergingen wie große, graue, faule, langsam dahinzockelnde Elefanten, die einander an den Schwänzen fest hielten - eine neue Theorie über Geopolitik entwickelt hatte, das Ein maleins neunzigmal rückwärts und vorwärts hergesagt hatte, sechs Fra genkomplexe für >Sie fragen - wir antworten« ausgedacht hatte und im Geiste die Gliederung für einen Gru selroman zusammengestellt hatte, in dem J. M. P. erschossen, erstochen, gehängt und vergiftet wurde, und die Mörderin - ich - nicht nur öffent lich gelobt wurde, sondern eine Bron zeplakette und eine Reise nach Hol lywood - inklusive Taschengeld erhielt. Während ich so beschäftigt war, schickten die Dorfbewohner eine Ab ordnung, um ausrichten zu lassen, daß sie meine sofortige Beseitigung ohne Gerichtsverhandlung empfah len, wobei besagte Beseitigung mit tels eines Pfahles und ein paar ent zündeter Holzscheite taut de suite erfolgen sollte - noch touter de suite, wenn es ging -, und wo, zum Kuk kuck, seien Prudence Symonds und Mark Talcott? John Matthew schickte sie zu den Dorfbewohnern zurück, um ihnen auszurichten, daß die Situation voll kommen unter Kontrolle sei und sie sich bis auf weiteres bereithalten soll ten - aber daß ich unter keinen Um ständen irgendwie belästigt werden
durfte, bis er das Zeichen dazu gäbe. Und mit Prudence Symonds und Mark Talcott würde man sich zur gegebenen Zeit schon noch beschäf tigen. Als die Abordnung ab geordnet war, erklärte er, daß Mark und Prudence selbstverständlich in Ruhe gelassen würden und daß er nie das Zeichen geben würde, hahahahaha. Und ich sagte, natürlich, hahahahaha, denn er sei ein Ehrenmann, und außerdem würde es äußerst komisch aussehen, wenn er sich >zufällig< in eine Eidechse mit Schuppenrücken verwandeln sollte. »Hahaha«, sagte er. »Hahaha«, sagte ich. Der Gefängniswärter holte wieder einen Eimer Wasser, um die Ohn mächtige zu sich zu bringen. So wurde ich unter keinen Umstän den irgendwie belästigt, als J. M. Pyne und ich uns in der dämmrigen Stunde X auf den Weg machten, um Charity B. wieder zu einem Men schen werden zu lassen. Die Straßen waren sämtlich verlassen, wenn auch hier und da ein paar Türen einen Spalt offenstanden, manche Jalousie diskret um einen Zoll hochgezogen war und mancher Vorhang um eine Spur verrutscht war. Das Haus der Pynes war wie ein Christbaum erleuchtet, als wir an kamen, und angefüllt mit göttlichen Antiquitäten und stöhnende Die 83
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nern - weniger göttlich, da sie meist laufende Nasen und zitternde Kinne hatten. Man schob mich hastig nach oben und in ein Schlafzimmer, und jemand im Bett kreischte los, als ich kam, und versuchte sich unter den Decken zu verkriechen. Der Jemand war Cha rity B., und sie war grün wie ein schimmliger Socken. Ich sagte: »Bula, bula«, und sie kreischte wieder und verkroch sich so weit unter der Decke, daß sie un ten wieder herauskam, dann kreisch te sie noch einmal und rutschte wie der nach oben. J. M. begann zusammen mit den Die nern zu stöhnen und flehte mich zwischen dem Stöhnen an, etwas zu tun - etwas zu tun - etwas zu TUN. Ich tat etwas. Schließlich hatte Cha rity B. ihre Lehre bekommen, und Bauchschmerzen sind nichts Ange nehmes, und außerdem konnte J. M. die Sache durchschauen, was von Nachteil für mich war, denn ich wollte einen schönen Vorsprung vor den Pfählen und Scheiterhaufen Sa lems gewinnen. Deshalb präparierte ich ein Brech mittel. Ich ließ unzählige Gläser und Becken kommen und schüttelte trau rig den Kopf, weil weder Eisenhut noch giftige Nachtschatten im Hause waren, doch ich versicherte, daß ich im Notfall auch Salz, Soda und 84
Senkörner mit einem besonderen Ge sang verwenden könnte. Salz, Soda und Senfkörner wurden geliefert, und während ich einem zitternden Diener das größte Becken in die Hände drückte, damit er es vor Cha rity B. hielt, sang ich Beschwörun gen auf Teufel-komm-raus. »LirumlarumLöffelstiel«, summte ich tief vor mich hin. »Didihidi«, kreischte ich. »Romdomromdo m, ja raj'ara«, knurrte ich. »RAH!« Ich füllte eine Tasse mit Salz, Wasser und Senfkörnern, fügte einen tüch tigen Schuß Soda hinzu, und als es aufschäumte, gellte ich: »Brause, brause, ohne Pause«, und schüttete das Zeug Charity in den Schlund. Das Ergebnis war genau das, was ich erwartet hatte. Sie hatte wohl einen Viertelscheffel Äpfel gegessen. Langsam wich die grünliche Farbe aus ihrem Gesicht, sie sank mit einem zufriedenen Seufzer zurück und schlief prompt ein. »Ist sie - ist sie - wird sie - sie wird doch nicht?« stammelte J. M. Pyne. »Nein«, sagte ich, »sie wird nicht. Ich habe sie noch rechtzeitig er wischt, alter Knabe. Jetzt liegt es an Ihnen, den Handel zu erfüllen.« »Ja«, sagte er. »Natürlich.« Er tupf te sich die Stirn ab, glättete sein Wams und sah mich nachdenklich an. »Sind Sie auch ganz sicher, daß sie nicht -?« Ein schlauer Gesichtsaus
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druck machte sich auf seinen Zügen breit. »Absolut«, sagte ich, und ein außer ordentlich schlauer Gesichtsausdruck machte sich auf meinen Zügen breit. »Wir - wir sind also in Sicherheit?« »Richtig«, zirpte ich, »außer ich ent schließe mich, das da zu verwen den -« Ich streckte die Hand aus und entwurzelte gekonnt ein Haar büschel von seinem Schädel - so un gefähr das letzte, das er noch besaß. »Au!« Der außerordentlich schlaue Gesichtsausdruck wich einem Blick, gemischt aus Schmerz und Besorgnis. Ich hob das Büschel dicht vor seiner Nase hoch. »Vergessen Sie nicht die Eidechse mit dem Schuppenrücken, die ich mir aufgespart habe. Mit Ihrem Namen darunter.« Ich ließ das Büschel in meiner Tasche ver schwinden und grinste ihn unverfro ren an. »Oh«, sagte er. Und nach einer lan gen Pause: »Also gut. Folgen Sie mir.« Wir waren die Hälfte der Treppe hinuntergestiegen, als die Vordertür mit einem Knall aufflog und eine Frau, die mit steifem Arm ein Kind hinter sich herschleppte, hereinrann te. Ein Blick auf das Kind verriet mir, daß das >Blattern<-Martha Tal cott war, und mir war sofort klar, daß man mir die Rolle der Wunder ärztin übertragen wollte und daß es sich nicht um richtige Poc ken, son
dern um die Windpocken der Dig gots-Marksbury-Sorte handelte. Vor mir erstanden Visionen, wie ich den Rest meines Lebens als praktische Ärztin in Salem verbringen würde, und einen Moment lang verlor ich mich in einen rosig gefärbten Traum, in dem ich als eine Kombination aus Florence Nightingale, Louis Pasteur und der Mayo-Klinik dastand - und Geld scherfeite, das ganz nebenbei. Die Seifenblase platzte, als das Wort >Äpfel< in mein traumvernebeltes Gehirn eindrang. Ich kam mit einem schweren Sturz zur Erde und hörte mir den Rest von Mrs. >Blattern
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>Blattern<-Talcott sagte idi streng:
»Treten Sie zur Seite.«
»Ef waren die Äpfel im Keller«,
meldete sich Blattern-Martha Tal cott. »Fie hat ungefähr fechfehn ge geffen, glaube ich. Und mich juckt es
frecklich.«
J.P.: »Was?«
M. T.: »Ef juckt mich!«
Mrs. T.: »Es waren die Äpfel, die
vielen Äpfel, die Charity aß, und
nicht irgendein Zauber oder sonst
etwas. Und diese Frau ist eine Be trügerin, und du kannst jetzt Pru dence und Mark freilassen, und,
Martha, willst du wohl aufhören,
dich zu kratzen!«
M. T.: »Ef juckt mich!«
Ich: »Treten Sie zur Seite.«
J. P.: »Du meinst, daß Charity -«
Mrs. T.: »Ja. Ich kann mir gar nicht
denken, wie sie soviel in sich hinein stopfen konnte -«
M. T. (stolz): »Fie hat einmal gef pien und mußte noch einmal von
vorne anfangen -«
Mrs. T.: »Martha!«
Martha (beharrlich): »Fie hat aber
wirklich, und auferdem hat fie -«
Mrs. T.: »Martha!«
M. T. (ängstlich zurückweichend):
»Ja, Madam.«
Ich: »Treten Sie zur Seite!«
J. P. (der sich mir mit blassem Ge sicht zugewandte, während ich mich
ein paar Schritte zurückzog): »Also,
das -«
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Ich: »Denken Sie an die Schuppen eidechse! Wenn Sie mich mit einem Finger anrühren, verzaubere ich Sie, daß Sie -« In diesem Moment stolperte ich über meinen Umhang, schwankte unsicher und griff nach der nächsten Stütze. Die nächste Stütze war J. M., und der Griff beruhte auf Gegenseitig keit. Er allerdings packte mich mit Rachegefühlen, und ich klebte ihm eine, und er klebte mir eine, und ganz plötzlich war ich von glühen dem, kochendem Zorn erfüllt. Alles vernebelte sich, und ich machte den Mund auf, um seine Vorfahren häß lich zu schmähen, aber zu meinem vollkommenen Erstaunen stieß ich einen Schwall unverständlichen Zeugs aus. Es kam ganz von selbst und schien nur aus Schnalzlauten und Worten mit Z und XY zu bestehen. Es klang einfach grausig. Der Nebel schwebte immer dichter um mich, während unkontrollierbare Silben tödlichen Giftes ohne mein Zutun über meine Lippen rollten. Mir kam schwach zu Bewußtsein, daß sich die Vorhalle mit Menschen füllte, mit Horden von Menschen, die Pechfak keln und Knüppel und scheußlich aussehende Heugabeln mit drei Zak ken trugen. Hinter mir hörte ich das verstohlene Rascheln von Röcken und wußte, daß sich die Diener zum Oberfall von hinten sammelten und mir die Flucht unmöglich machten.
DAS ELIXIER
Jemand schrie. Und schrie. Und schrie. Und alle begannen auf mich einzudringen. Ich ließ einen letzten, langen stam melnden Ausbruch verrückter Laute los, und dann schrie ich. Und schrie. Und schrie. Denn in meinem Griff schrumpfte J. M. Pyne zusammen und wurde dünn und schmal, und eine Reihe winziger Stacheln wuchs von seinem Hals hinter dem Jackettkragen, und seine Augen wulden glänzend und still, und seine Hände zogen sich zu Pfoten zusammen, und pfft! verschwand er in seinen Klei dern. Die Kleider fielen zu einem schlappen Häufchen zusammen, und etwas krabbelte und wand sich in meiner Tasche. Die Tasche, in der ich das Haarbüschel untergebracht hatte. Und aus der Tasche sah ein Kopf heraus. Ein kleiner brauner Kopf. Eine Eidechse. Eine zehn Zentimeter lange Eidechse mit geschupptem Rücken! Ich war eine Hexe. Ich war tatsäch lich eine Hexe. Ich war eine HE XE! Ich. Amy Parrish. Was würde Eliza sagen? Ich versuchte mein Schreien einzustellen und konnte es nicht. Ich versuchte, die gellenden Stimmen zu überhören und die Pech fackeln nicht zu riechen. Ich stand da wie Lots Weib und sah, wie ein Mann die Treppe heraufkam. Er schwang die Heugabel wie ein Bajo nett.
Ich nehme an, daß ich auszuweichen versuchte, denn unerwartet stolperte ich wieder über den verflixten Be senstiel und schlitterte armrudernd die Treppe hinunter. Und dann ge schah es. Ich surrte einfach über die Köpfe der Menge hinweg. Tatsäch lich. Ich saß rittlings auf dem Besenstiel, jagte über sie hinweg, flog eine Kur ve und sauste knapp aus der Tür, mit einem Teil des Lüsters um den Hals drapiert und einem Stück Spit zenvorhang um den Knöchel gewik kelt. Weshalb ich nicht herunterfiel, konnte ich nicht verstehen. Ich war so platt, daß meine Nervenzentrale wohl langsamer als gewöhnlich ar beitete. Ich dachte immerzu nur: »Ich bin eine Hexe. Ich bin eine Hexe. Ich bin eine Hexe.« Vielleicht hätte ich es ordentlich ge schafft, wenn nicht John Matthew Eidechse gewesen wäre. Ich hätte ge lernt, wie man steuert und Kurven dreht und Dreieckspeilungen zur Lan dung vornimmt, und vielleicht hätte ich mit einiger Übung einen Luft postdienst einrichten können - aber J. M. Eidechse krabbelte aus meiner Tasche, und das war es. Ich sagte: »Grrr!« und verlor ir gendwie das Gleichgewicht, und als nächstes weiß ich nur noch, daß ich wie ein dreizehiges Faultier mit dem Kopf nach unten hing, während J. M. — offenbar ebenso verängstigt wie 87
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ich - mir in den Ärmel schlüpfen wollte. Ich stieß nach ihm. Der Be senstiel geriet ins Schwanken, begann sich zu drehen, und wir wirbelten nach unten, unten, unten. Das letzte, was ich sah, war ein Habicht, der eine Feldmaus im Schnabel hatte. Die Dunkelheit hüllte mich mit einem lauten Wumm! ein, als ich auf außer ordentlich hartem Grund landete. Ich stieß um mich. Ich setzte mich auf. Der Boden stieß nach mir und sagte: »Hinlegen, Miß Amy!« Ich öffnete die Augen und sah - Eli za! Eine Leuchtkugel ging in meinem Schädel hoch, und ich legte mich schnell hin. »Und so was ist 'ne erwachsene Frau«, sagte Eliza. »Ts!« »Eliza«, fragte ich schwach, »bist du das?« »Wer sonst?« sagte sie angeekelt. »Tante Jenima?« »Bin ich ich?« »Hmmph«, machte Eliza. »Wo bin ich?« »In Ihrem Bett.« »Wie - wie kam ich hierher?« »Ich hab' Sie nach Miß Holloways Party reingeschleppt.« »Nach Miß Holloways Party? Habe Ich - war ich - welche Party?« »Die Halloween-Party, die Miß Holloway gab. Es war ein Heiden spektakel, und wie ich gehört habe, waren Sie die Hauptattraktion.« »Ich?« 88
»Ja, Ma'am. Sie haben einen Hula tanz auf dem Flügel vorgeführt. Mit einem Lampenschirm.« »Ich?« »Ja, Ma'am.« »Ich?« »Ja, Ma'am. Und Sie haben etwas auf dem ganzen Boden verschüttet, bevor Sie damit anfingen.« »Bevor?« »Ja, Ma'am. Irgend etwas, das mein Röstblech kaputtgemacht hat. Ein fach kaputtgemacht!« »Tatsächlich?« »Und Sie -« »Eliza, wie spät ist es?« »Zehn Uhr morgens?« »Welcher Tag?« »Sonntag. Miß Amy, Sie -« »Welches Jahr, Eliza?« »1942. Miß Amy, ich rate Ihnen -« »Und wir sind nicht in Salem, Eli za?« »Was ist'n das. Miß Amy?« »In welcher Stadt sind wir, Eliza?« »In der gleichen wie gestern«, stellte sie säuerlich fest. »Ich hab' Ihnen Tomatensaft und einen Eisbeutel zurechtgemacht, und ich rate Ihnen -« »Eliza, war ich die ganze Zeit auf Miß Holloways Party?« »Was ich so höre. Miß Amy, waren Sie nicht nur dort, sondern Sie waren die ganze Party. So, es gibt nichts Besseres gegen einen Kater als To matensaft und einen Eisbeutel -« »Habe ich einen Kater?«
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»Ob Sie - hören Sie mal. Miß Amy, ich habe keine Zeit zum Herumal bern. Ich muß arbeiten, auch wenn andere Leute das nicht müssen. Trin ken Sie den Tomatensaft da und le gen Sie sich das Eis auf die Stirn, und wenn Sie sich wieder besser füh len, können Sie diese Eidechse ver sorgen, denn was mich betrifft, so rühre ich sie nicht an. Nicht mit ei nem drei Meter langen Stock. Ich bin doch nicht - legen Sie sich hin. Miß Amy, ich kann es nicht ändern . . .« »Eidechse! Was für eine Eidechse?« »Die Eidechse, die Sie mit heimge bracht haben. Ich denke es mir we nigstens. Jedenfalls, da ist sie, und ich rühre sie nicht an.« »Oh«, sagte ich. »Oh. Oh, du liebe Güte. Oh, du liebe Güte!« »Ja, Madam«, sagte Eliza. »So den ke ich auch.« Es war eine kleine, braune, schuppi ge Eidechse mit einer winzigen Reihe von Stacheln am Rücken, und sie kauerte oder saß oder was eben Ei dechsen tun, auf meinem Schreibtisch. Ihr Hals zuckte hin und her, und sie sah mich mit schwarzen, starren Knopfaugen an. Das ist das Ende der Geschichte. Außer Sie gehen irgendwann mal in den Tierpark und besichtigen das Reptilienhaus. Sie finden die Eidechse zusammen mit hundert anderen in einem Glaskäfig, aber man erkennt sie leicht an der Warze auf der Nase.
Die Antwort? Bitte, fragen Sie mich nicht. Ich kenne sie nicht. Cläre Hol loway - der ich kein Wörtchen ver raten habe - versicherte, daß ich den ganzen Abend in gesteigerter Heiter keit verbrachte und keinen Moment lang abwesend war. Sie sagt auch, daß dieser angeschlagene, gesprun gene und geschwärzte Becher ein echter Hexenbecher sein soll - Jahrgang 1692 aus Salem. Aber sie stellt fröh lich fest, daß sie ihn für eine arm selige Imitation halte und ganz froh sei, daß ich ihn in tausend Scherben zerbrochen hätte. Aber ich solle doch nächsten bitte nichts mehr von die sem Zeug auf den Boden ihrer Kel lerbar schütten, da es die Farbe ver ätzen würde. Worauf sie sich ver lassen kann. Ein Martini dry ist alles, was ich in Zukunft an elixierähnli chen Getränken mixen werde. War es das Elixier? Oder war es der Becher? Hätte Wasser aus dem glei chen Becher auch diese Wirkung ge habt? Befand sich durch Zufall noch ein Tropfen irgendeiner Flüssigkeit in dem Becher, den ich zusammen mit dem Schokoladeneis, dem türki schen Honig und dem Wermutmisch masch trank? Stimmt es, daß Hexen an einem Ort sein können, während sich ihr Geist über die Grenzen der Zeit hinausbewegt? War das Ganze eine Erfindung meiner zu lebhaften Fantasie? Aber wo kam dann die Ei dechse her? Sie war keine Erfindung. 89
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Vielleicht war sie durch das Küchen fenster hereingekrochen. Aber hieße es nicht die Leichtgläubigkeit zu weit treiben, wenn man die Warze auf ihrer Nase ignorierte? Und woher kam der Spitzenvorhangfetzen, den Eliza mir zeigte? Sie hatte ihn auf dem Besenstiel gefunden und ge
glaubt, ich hätte ihn in der Absicht darübergewickelt, die verkohlten und nach Pech stinkenden Borsten zu ver bergen. Und ist es nicht merkwürdig, daß - bitte, könnten Sie das Licht ausmachen? Es ist ziemlich dunkel hier drinnen, finden Sie nicht auch?
Die krumme Janet janet von
Robert Louis Stevenson
Der hochwürdige Herr Murdoch Soulis war schon lange Jahre Pastor des Heidemoordorfes Balweary im Tale der Dule. Ein gesirenger, finster dreinblickender alter Mann, den die Gläubigen fürchteten, hauste er in seinen letzten Lebensjahren ohne Verwandte, Diener oder sonst welche menschliche Gesellschaft in dem klei nen, einsamen Pfarrhaus unter dem >Hängegebüsch<, wenngleich er Ge sichtszüge von eiserner Unbewegtheit hatte, so war sein Blick doch wild, ver stört und unsicher; und wenn er bei Ermahnungen unter vier Augen die Zukunft der Unbußfertigen schilderte, dann schienen seine Blicke durch die Stürme der Zeiten bis zu den Schrek ken der Ewigkeit vorzudringen. Viele junge Leute, die er auf das heilige Abendmahl vorbereitete, wurden bei seinen Reden von entsetzlicher Furcht ergriffen. Jedes Jahr am Sonntag nach dem siebzehnten August hielt er eine Predigt über I. Petri, Kap. V, 8: »Der Teufel geht umher wie ein brüllender Löwe«, und regelmä ßig übertraf er sich bei diesem Text
selbst, sowohl durch die schaurige Natur des Themas als auch durch sein schreckliches Gebaren auf der Kan zel. Die Kinder gerieten außer sich vor Angst, und die Alten sahen ora kelhafter drein denn je und ergingen sich den ganzen Tag über in jenen Andeutungen, gegen die schon Ham let angekämpft hatte. Das Pfarrhaus selbst stand am Ufer der Dule zwi schen einigen dichten Bäumen; die eine Seite wurde vom >Gebüsch< ver deckt, nach der anderen blickte es auf unfreundliche, vermoorte Berg kuppen, die in den Himmel ragten. Schon bald nach Herrn Soulis' Amts antritt wurde es von allen, die sich etwas auf ihre Umsicht einbildeten, in der Dämmerung gemieden; und die ehrsamen Hausväter schüttelten, wenn sie in der Dorfschenke zusam mensaßen, die Köpfe bei dem Ge danken, spät abends an dieser nicht geheuren Gegend vorbeizumüssen. Ein Ort vor allem war es, um es ge nauer zu sagen, der ihnen besonde res Grauen einflößte. Das Pfarrhaus stand zwischen der Landstraße und
ROBERT LOUIS STEVENSON
der Dule, mit je einem Giebel nach den beiden Seiten; die Rückfront ging nach dem Kirchspiel Balweary hinaus, das fast eine halbe Meile ent fernt lag, und vorne nahm ein öder, von einer Dornenhecke umgebener Garten den Raum zwischen Fluß und Straße ein. Das Haus hatte zwei Stockwerke mit je zwei großen Räu men. Es stand nicht unmittelbar am Garten, sondern an einem Gäßchen oder Durchgang, der einerseits in die Straße mündete und andererseits durch die hohen Weiden und Holun derstauden begrenzt wurde, welche den Fluß säumten. Und dieser Weg streifen war es, der bei den Pfarr kindern von Balweary einen so schlechten Ruf genoß. Der Pastor ging ihn oft in der Dunkelheit, manchmal laut stöhnend, so inbrün stig waren seine stummen Gebete. Nur wenn er nicht daheim und die Pfarrhaustür verschlossen war, dann wagten es die mutigeren unter den Schulbuben, ihre Anschleichspiele an diesen berüchtigten Ort zu verlegen. Daß ein rechtgläubiger Mann Gottes mit tadelfreiem Charakter von einer solchen Atmosphäre des Grauens um geben war, setzte die wenigen Frem den, welche der Zufall oder eine ge schäftliche Angelegenheit in jenes un bekannte, abseits gelegene Gebiet führte, stets in Erstaunen und ver anlaßte sie zu neugierigen Fragen. Aber selbst unter den Leuten der 92
Gemeinde ahnten viele nichts von den merkwüdigen Begebenheiten, die sich in Herrn Soulis' erstem Amts jahr zugetragen hatten. Und von je nen, die genauer Bescheid wußten, waren einige von Natur aus zurück haltend und andere scheu, wenn es um diesen besonderen Vorfall ging. Nur ab und zu erwärmte sich einer der älteren Leute über seinem drit ten Becher und erzählt mutig, war um der Pastor so sonderbar aussah und so einsam lebte. Vor fünfzig Jahren, als Herr Soulis nach Balweary kam, war er noch ein junger Mann - ein energischer Bur sche, wie die Leute sagten - voller Buchwissen und ganz groß in der Auslegung der Heiligen Schrift, aber, wie das be; einem so jungen Mann nur natürlich war, ohne praktische Erfahrung in der Religion. Die jün geren Leute waren sehr angetan von seinem klugen Mundwerk. Aber die älteren, besonnenen, ernsten Männer und Frauen fühlten sich gar zum Gebet veranlaßt; für den jungen Mann, von dem sie glaubten, er schwätze sich selbst etwas vor, und für die Gemeinde, die wahrschein lich noch übel mit ihm fahren würde. Es war noch vor den Tagen der Ge mäßigten - die Pest komme über sie; aber mit den bösen Dingen geht es wie mit den guten - beide kom men schön langsam, Schritt für Schritt. Und es gab sogar damals
DIE KRUMME JANET
schon Leute, die sagten, die Univer sitätsprofessoren wären ganz von Gott verlassen, und die jungen Bur schen, die bei ihnen studierten, täten besser daran, sich wie ihre Vorfahren zur Zeit der Verfolgung ins Torf moor zu setzen, die Bibel unter den Arm geklemmt und den Geist des Ge bets im Herzen. Darüber jedenfalls, daß Herr Soulis zu lange auf der Universität gewesen war, bestand kein Zweifel. Er plackte und mühte sich um viele Dinge, nur nicht um das, was nottat. Einen Haufen Bü cher brachte er mit - mehr als je zu vor in der ganzen Umgebung gese hen worden waren; und der Fuhr mann hatte seine liebe Not mit ih nen, denn um ein Haar wären sie alle miteinander im Teufelsmoor zwischen hier und Kilmackerlie er soffen. Gewiß, es waren Bücher Got tes, zumindest nannte man sie so. Aber die ernsthaften Leute wollten nicht einsellen, daß man so viele brauchte, wenn doch die ganze Bi bel in der Falte eines Plaids Platz hatte. Dann saß er auch noch den halben Tag und die halbe Nacht dar über - was doch kaum schicklich war - und schrieb einfach; und zuerst fürchteten sie, er würde seine Pre digten ablesen, doch dann stellte sich heraus, daß er selbst ein Buch schrieb, und das gehörte sich nun ganz gewiß nicht für einen seines Alters und seiner geringen Erfahrung.
Nun, jedenfalls mußte man ihm ein altes, ehrbares Frauenzimmer suchen, das ihm die Pfarre in Ordnung hielt und das Essen kochte; und da emp fahl man ihm eine alte Vettel - Ja net M'Clour hieß sie - und unter nahm tatsächlich nichts dagegen, als er sie anstellte. Zwar rieten ihm viele ab, denn für die anständigen Leute von Balweary war Janet mehr als verdächtig. Vor langer Zeit hatte ein Dragoner sie mit einem Bankert sit zenlassen. Sie war seit vielleicht drei ßig Jahren nicht mehr bei der Beich te gewesen; und Kinder hatten ge sehen, wie sie im Dunkel auf Key Loans vor sich hinmurmelte, und das war eine merkwürdige Zeit und ein merkwürdiger Ort für eine gottes fürchtige Frau. Immerhin hatte der Gutsherr persönlich Janet dem Pa stor vorgeschlagen, und damals wäre auch einem Pastor kein Weg zu weit gewesen, um der Herrschaft zu schmeicheln. Sagten ihm die Leute, daß Janet mit dem Teufel im Bunde stünde, dann war das seiner Meinung nach nichts als Aberglaube, und hielt man ihm die Bibel vor und die Hexe von Endor, so hämmerte er ihnen ein, daß diese Tage vorbei wären und der Teufel durch Gottes Barm herzigkeit in Ketten läge. Nun, all, es sich in der Gemeinde herumsprach, daß Janet M'Clour als Dienstmagd ins Pfarrhaus kom men sollte, da waren die Leute über 93
ROBERT LOUIS STEVENSON
sie und ihn ziemlich wütend; und einige Weiber hatten nichts Besseres zu tun, als zu ihr hinzurennen und ihr alles vorzuhalten, was man von ihr wußte, von dem Soldatenbankert bis zu den beiden Kühen von John Tamson. Janet sprach für gewöhn lich nicht viel, und die Leute ließen sie ihre eigenen Wege gehen, ohne sie zu grüßen. Aber wenn sie einmal loslegte, dann konnte sie mit ihrem Mundwerk den Müller taub machen. Nun, diesmal ging sie hoch, und es gab keinen Klatsch in Balweary, den sie nicht aufwärmte und jedem un ter die Nase rieb. Sagte jemand ein Wort, wußte sie gleich zwei darauf; bis zu guter Letzt die Weiber auf sie losgingen und ihr die Kleider vom Leibe rissen und sie durch das Dorf zur Dule schleppten, um zu se hen, ob sie eine Hexe wäre oder nicht, ob sie schwimmen konnte oder ertrinken würde. Das Weibsstück kreischte so laut, daß man sie bis ans >Hängegebüsch< hören konnte, und sie kämpfte für zehn. Mehr als eines der Weiber trug die Spuren ihrer Krallen noch Tage danach. Und ge rade, als es am wildesten herging, wer mußte doch (um seiner Sünden willen) vorbeikommen, wenn nicht der neue Pastor! »Weiber«, sagte er (und er hatte eine laute Stimme), »ich befehle euch im Namen des Herrn, sie loszulas sen.« 94
Janet rannte zu ihm hin - sie war halb verrückt vor Angst -, klammerte sich an ihn und bat ihn um Christi willen, sie vor den Klatschweibern zu schützen, und die wiederum er zählten ihm alles, was man von ihr wußte, und vielleicht noch etwas mehr. »Weib«, sagte er zu Janet, »ist das wahr?« »Kein Wort davon stimmt«, erwi derte sie, »so wahr ich vor Gott stehe und so wahr mich Gott er schaffen hat. Bis auf das Kind«, sag te sie, »war ich meiner Lebtag ein ehrsames Weib.« »Willst du«, sagte Herr Soulis, »im Namen Gottes hier vor mir. Seinem unwürdigen Diener, dem Teufel und seinen Werken abschwören?« Nun, es schien, als er das verlangte, grinste sie so, daß alle, die es sahen, erschraken, und man konnte hören, daß ihr die Zähne im Munde klap perten; aber es gab nur den einen oder den anderen Weg, und so hob Janet die Hand und schwor vor allen dem Teufel ab. »Und jetzt«, sagte Herr Soulis zu den Weibern, »macht, daß ihr heim kommt, alle miteinander, und bittet Gott um Verzeihung.« Und er reichte Janet den Arm, ob schon sie wenig mehr als ein Hemd anhatte, und führte sie durch das Dorf bis zu ihrer Haustür wie eine richtige Dame, und dabei kreischte
DIE KRUMME JANET
und lachte sie, daß es ein Skandal war. In dieser Nacht versanken viele nach denkliche Leute lange im Gebet, doch als der Morgen kam, war ganz Bal weary von einer solchen Furcht be fallen, daß sich die Kinder versteck ten und sogar die Mannsleute nur verstohlen hinter den Türen hervor sahen. Denn Janet kam durch das Dorf - sie oder nur ihr Abbild, das konnte keiner sagen -, und ihr Hals war verrenkt, so daß ihr Kopf nach einer Seite hing wie bei einem Ge henkten, und ein Grinsen stand auf ihrem Gesicht wie bei einer Leiche, die noch nicht fürs Grab zurechtge macht worden war. Nach und nach gewöhnten sie sich daran und starr ten sie sogar an, um zu sehen, was eigentlich mit ihr los war. Aber von dem Tag an konnte sie nicht mehr wie ein Christenmensch sprechen, sondern sabberte und klickte mit den Zähnen, als wären sie eine Schere; und von jenem Tag an kam der Na me Gottes nie wieder über ihre Lip pen. Hin und wieder versuchte sie es, aber es wollte nicht gelingen. Die jenigen, die am meisten wußten, sag ten am wenigsten. Aber sie nannten das Ding nie Janet M'Clour, denn ihrer Meinung nach war die alte Ja net inzwischen in der tiefsten Hölle. Dem Pastor jedoch war nicht zu ra ten, noch zu helfen. Er predigte über nichts anderes als die Grausamkeit
der Leute, die daran schuld wäre, daß Janet einen Schlag abbekommen hätte. Er schalt die Kinder, die sie ärgerten, und noch am selben Abend holte er Janet ins Pfarrhaus und lebte dort ganz allein mit ihr unter dem >Hängegebüsch<. Nun, die Zeit verging, und die Mü ßigen dachten allmählich leichter über diese finstere Angelegenheit. Der Pa stor war beliebt. Abends saß er im mer noch bis spät über seinen Schrif ten, und sogar nach Mitternacht sa hen die Leute unten am Ufer der Dune seine Kerze brennen. Und er schien zufrieden mit sich und genau so dünkelhaft wie immer, doch je dermann konnte sehen, daß er dahin siechte. Was Janet betraf, die kam und ging; und hatte sie schon früher nicht viel geredet, jetzt hatte sie allen Grund, noch weniger zu reden. Sie ließ sich mit niemandem ein. Aber sie war gruselig anzusehen, und kei ner hätte ihr im Finstern begegnen mögen, nicht einmal, wenn man ihm den Pfarracker von Balweary ge schenkt hätte. Gegen Ende Juli kam eine Hitzewelle, wie man sie hierzulande noch nie erlebt hatte. Es war windstill und drückend warm. Die Herden gingen nicht den Schwarzen Berg hinauf. Die Kinder waren zu müde zum Spielen. Und dann war es plötzlich wieder windig, heiße Böen jagten durch die Täler, und dazu kamen 95
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kurze Schauer, die keine Erleichte rung brachten. Wir dachten schon, am nächsten Morgen würde es ein Gewitter geben; aber der Morgen kam, und dann der nächste, und im mer noch war dasselbe unheimliche Wetter, da«, Mensch und Tier nie derdrückte. Von allen, die darunter litten, traf es keinen so schwer wie Herrn Soulis. Er konnte weder schlafen noch essen, so ,erzählte er dem Kirchenrat. Und wenn er nicht an seinem anstrengenden Buch schrieb, wanderte er durch die Ge gend wie einer, der vom Teufel be sessen war, während jeder vernünf tige Mensch im Hause blieb. Über dem >Hängegebüsch< im Schüt ze des Schwarzen Berges befindet sich ein Stück eingefriedetes Land mit einem Eisentor, und es scheint, daß dort in den alten Tagen der Friedhof von Balweary lag, den die Papisten geweiht hatten, ehe das Licht der Gnade über unserem Kö nigreiche schien. Das hier war nun der Lieblingsort von Herrn Soulis, und er saß oft dort und überdachte seine Predigten, und es war in der Tat ein friedliches Plätzchen. Nun, als er eines Tages über die öde Kuppe des Schwarzen Berges kam, sah er erst zwei, dann vier, dann sieben Ra ben immer rund um den Friedhof fliegen. Sie flogen tief und schwer fallig und krächzten einander im Fluge zu, und es war Herrn Soulis 96
klar, daß etwas Ungewöhnliches sie aufgescheucht hatte. Angst bekam er nicht so leicht, und so ging er direkt auf die Mauer zu. Und was fand er dort? Einen Menschen oder zumin dest das Abbild eines Menschen, der da drinnen auf einem Grab hockte. Er war groß und schwarz wie die Hölle, und seine Augen waren son derbar anzusehen. Herr Soulis hatte schon oft genug von schwarzen Män nern erzählen gehört, aber der hier hatte etwas so Furchtbares an sich, daß ihn das Grauen packte. So heiß ihm war, jetzt fuhr ihm ein kaltes Schaudern bis ins Mark; aber dennoch sprach er den Schwarzen an und sagte: »Mein Freund, bist du hier fremd?« Der schwarze Mann erwiderte kein Wort. Er stand auf und schlurfte hastig auf die andere Mauer zu. Doch dabei sah er sich in einem fort nach dem Pastor um, und der Pastor starrte ihm nach, bis der schwarze Mann einen Augenblick später über die Mauer wegsprang und in den Schutz der Bäume lief. Herr Soulis rannte hinter ihm her, weshalb, das wußte er kaum. Doch er war schon ganz erschöpft von dem Spaziergang und dem heißen, un gesunden Wetter; und so schnell er auch rennen mochte, er konnte den schwarzen Mann nur einen Moment lang zwischen den Birken sehen, bis er am Fuß des Berges angelangt war, und da erblickte er ihn noch einmal,
DIE KRUMME JANET
wie er hüpfend und springend über die Dule zum Pfarrhaus hinüber ging. Herrn Soulis gefiel es ganz und gar nicht, daß dieser furchterregende Kerl so tat, als fühlte er sich im Pfarrhaus von Balweary zu Hause. Und er rannte noch schneller und mit nassen Schuhen durch den Bach und den Weg hinauf, aber, Deibel, da war kein schwarzer Mann zu se hen. Er trat auf die Straße hinaus, aber da war keiner. Er sah sich im ganzen Garten um, aber nein, nir gends ein schwarzer Mann. Schließ lich drückte er die Klinke herunter, ein wenig ängstlich, was nur natür lich war, und ging ins Pfarrhaus. Und da stand Janet M'Clour mit ihrem schiefen Hals vor ihm und war nicht gerade erfreut, ihn zu se hen. Und ihm fiel später immer ein, daß er, als er sie jetzt ansah, das gleiche kalte, tödliche Grauen spür te. »Janet«, sagte er, »hast du einen schwarzen Mann gesehen?« »Einen schwarzen Mann?« fragte sie. »Gott behüte uns! Sie .sind wohl nicht gescheit, Herr Pastor. In ganz Balweary gibt es keinen schwarzen Mann.« Aber ihr müßt verstehen, das sprach sie nicht deutlich, sondern knautschte es hervor wie ein Pferd mit dem Zaumzeug im Maul. »Nun, Janet«, sagte er, »wenn hier
kein schwarzer Mann war, dann habe ich den Bösen selbst gesehen.« Und er setzte sich wie einer im Fie ber, und die Zähne klapperten in seinem Mund. »Pfui!« sagte sie. »Sie sollten sich was schämen, Herr Pastor«, und gab ihm einen Schluck von dem Brandy, den sie immer bei sich hatte. Darauf ging Herr Soulis in sein Stu dierzimmer zu seinen vielen Büchern. Es war eine lange, niedrige, finstere Stube, zum Sterben kalt im Winter und nicht einmal im Hochsommer sonderlich trocken, denn das Pfarr haus stand dicht am Wasser. So setz te er sich, und er dachte an alles, was sich ereignet hatte, seit er in Bal weary war, und an seine Heimat und die Tage seiner Kindheit, als er barfüßig über die Hänge gelaufen war. Und der schwarze Mann ging ihm immer im Kopf umher wie der Kehrreim eines Liedes. Und je mehr er dachte, desto mehr dachte er an den schwarzen Mann. Er Versuchte zu beten, doch es kamen ihm nicht die rechten Worte; und, so erzählt man sich, er versuchte an seinem Buch zu schreiben, aber auch das wollte ihm nicht gelingen. Zuweilen dachte er, der schwarze Mann stünde an seiner Seite, und er war von Schweiß bedeckt, kalt wie Brunnen wasser. Dann kam er wieder wie ein Christenmensch zur Besinnung und machte sich aus alledem nichts. 97
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Am Ende ging er ans Fenster und starrte hinunter in das Wasser der Dule. Die Bäume stehen dort un heimlich dicht, und das Wasser un ter dem Pfarrhaus ist tief und schwarz. Und da stand Janet mit hochgeschürzten Röcken und wusch die Wäsche. Sie drehte dem Pastor den Rücken zu, und er merkte kaum, was er da anschaute. Dann drehte sie sich um und zeigte ihr Gesicht. Herr Soulis wurde von dem gleichen kalten Schaudern erfaßt wie schon zweimal an diesem Tage, und ihm fiel das Gerde der Leute ein, daß Janet schon längst tot sei und ein Gespenst in ihrem kalten Leib um ginge. Er zog sich ein wenig zurück und beobachtete sie mit scharfen Au gen. Sie stampfte auf der Wäsche herum und summte vor sich hin und - Gott verzeih uns, aber es war ein schreckliches Gesicht. Manchmal sang sie lauter, aber kein Mensch, der aus einem Weibe geboren war, konnte die Worte ihres Liedes verstehen. Manch mal sah sie auch schräg nach unten hin, doch da gab es nichts für sie zu sehen. Da ging dem Pastor ein Gru seln durch den Leib bis auf die Kno chen; und das war eine Warnung des Himmels. Aber Herr Soulis schalt sich selbst, wie er später sagte, weil er so schlecht von einem armen kran ken alten Weib dachte, das nur ihn zum Freunde hatte. Und er sprach ein kurzes Gebet für sich und sie 98
und trank ein wenig kaltes Wasser - denn essen mochte er nicht - und ging in der Dämmerung in sein küh les Bett. Diese Nacht wird Balweary nie ver gessen, die Nacht des siebzehnten August siebzehnhundertzwölf. Es war zuvor heiß gewesen, wie ich schon erzählte, aber in dieser Nacht war es heißer denn je. Die Sonne ging zwischen drohend aussehenden Wolken nieder. Es wurde kohl schwarz; kein Stern, kein Windhauch. Man konnte die Hand vor den Au gen nicht sehen, und selbst die alten Leute warfen die Decken vom Bett und rangen nach Luft. Bei all den Dingen, die ihm im Kopf herumgin gen, war es höchst unwahrscheinlich, daß Herr Soulis viel zum Schlafen kommen würde. Er lag da und wälz te sich herum, und das gute, kühle Bett, in das er gekrochen war, erhitzte ihn bis auf die Knochen. Mal schlief er und mal wachte er; mal hörte er die Uhr schlagen, und mal jaulte ein Köter im Moor, als ob jemand gestorben wäre. Mal dachte er, Ge spenster flüsterten ihm was ins Ohr, und mal sah er Irrlichter im Zimmer. Er kam zu dem Schluß, daß er krank sein müßte, und krank war er, wenn er auch nicht wußte, was ihm fehlte. Schließlich ging ihm ein Licht auf, er setzte sich im Hemd an den Bett rand und dachte noch einmal über den schwarzen Mann und Janet nach.
DIE KRUMME JAN ET
Er wußte nicht, wie er auf die Idee kam - vielleicht, weil er kalte Füße hatte -, aber es dämmerte ihm mit einem Male, daß zwischen den bei den eine Beziehung bestand und daß eines von ihnen — oder auch beide — ein Gespenst war. Und just in diesem Moment hörte man aus Janets Zim mer, das neben seinem lag, ein Füße getrampel, als ob Männer rauften, und danach einen lauten Krach. Und dann jagte ein Wind um alle vier Ecken des Hauses; und zuletzt war alles wieder still wie in einem Grab. Herr Soulis fürchtete sich weder vor Menschen noch vor dem Teufel. Er suchte seine Zünderschachtel und brannte eine Kerze an, und in drei Schritten war er an Janets Tür. Sie war nicht verschlossen, und so stieß er sie auf und sah mutig hinein. Es war ein großes Zimmer, so groß wie das des Pastors, und es war mit schweren, gediegenen alten Möbeln eingerichtet, denn er hatte keine an deren. Da war ein Himmelbett mit alten Vorhängen und ein herrlicher Eichenschrank, vollgestopft mit den Gottesbüchern des Pastors, die man hierher gebracht hatte, damit sie aus dem Wege waren. Ein paar alte Lum pen von Janet lagen hier und da auf dem Boden verstreut, aber von Janet war nichts zu sehen, ebenso wenig wie von den Spuren eines Kampfes. Er ging hinein (und es gibt kaum einen, der ihm dahin gefolgt
wäre), sah sich um und horchte. Doch es gab nichts zu hören, weder im Pfarrhaus noch in der ganzen Ge meinde Balweary, und nichts war zu sehen außer den langen Schatten, die sich um die Kerze drehten. Und dann klopfte dem Pastor das Herz mit einemmal ganz wild und blieb ste hen, und ein kalter Wind blies ihm durch das Haar. Was für ein schlim mer Anblick war das für den ar men Mann! Denn Janet hing an einem Nagel neben dem alten Ei chenschrank. Der Kopf lag wie im mer auf der Schulter, die Augen wa ren starr, die Zunge hing ihr aus dem Mund, und ihre Fersen waren glatt zwei Fuß über dem Boden. »Gott sei uns allen gnädig!« dachte Herr Soulis. »Die arme Janet ist tot.« Er trat einen Schritt näher an die Leiche heran; und dann schlug ihm das Herz wie wild gegen die Rippen. Sie hing - durch welche Zauberei, steht einem Menschen schlecht zu ur teilen an - an einem einzigen Nagel und an einem einzigen Wollfaden, wie man ihn zum St rümpfestopfen benutzt. Es ist abscheulich, wenn man nachts mit solchen Ausgeburten der Finster nis allein sein muß, aber Herr Sou lis war stark im Herrn. Er drehte sich um, verließ das Zimmer und verschloß die Tür hinter sich. Stufe um Stufe ging er die Treppe hinun 99
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ter, mit bleischweren Gliedern, und er stellte die Kerze auf den Tisch am Fußende der Treppe. Er konnte nicht beten und nicht denken, er triefte von kaltem Schweiß, und er hörte nichts als das Poch-poch-poch seines eigenen Herzens. Vielleicht stand er eine Stunde so da, vielleicht auch zwei, er achtete nicht darauf, als er plötzlich im oberen Stockwerk eine leise, unheimliche Bewegung hörte. Füße gingen in der Kammer, in der die Leiche hing, hin und her. Dann wurde die Tür geöffnet, obwohl er genau wußte, daß er sie verschlossen hatte. Und dann hörte man einen Schritt auf dem Treppenabsatz, und ihm schien es, als schaute die Leiche über das Geländer zu ihm hinunter. Er nahm wieder die Kerze (denn das Licht wollte er nicht entbehren), und so leise er nur konnte, ging er geradewegs aus dem Pfarrhaus bis zum Ende des Gäßchens. Es war im mer noch stockdunkel. Die Kerzenflamme brannte ruhig und hell wie in einem Zimmer, als er sie auf den Boden stellte. Nichts regte sich, nur die Dule gluckste und sabbelte durch das Tal, und jene unheimlichen Schritte kamen im Pfarrhaus die Treppe hinuntergetappt. Er kannte sie nur zu gut: Es waren Janets Füße, und mit jedem Stückchen, das sie näher kam, kroch ihm die Kälte tie fer in die Eingeweide. Er empfahl seine Seele dem Herrn, der ihn er 100
schaffen und erhalten hatte. »Und, o Gott«, sagte er, »gib mir in die ser Nacht die Kraft, gegen die Mäch te des Bösen anzukämpfen.« Inzwischen kamen die Schritte durch den Hausgang auf die Tür zu. Er konnte eine Hand die Wand ent lang tappen hören, so als müßte sich das scheußliche Wesen den Weg er tasten. Die Weiden rüttelten gegen einander und stöhnten, ein langge zogener Seufzer kam über die Berge. Die Flamme der Kerze wurde hin und her geworfen. Und da stand der Leichnam der toten Janet, in dem grobgewebten Kleid und der schwarzen Haube, den Kopf wie immer auf der Schulter, und das Grinsen im Gesicht - lebend, hättet ihr gesagt; tot, wie Herr Soulis genau wußte - auf der Schwelle des Pfarrhauses. Es ist sonderbar, daß die Seele des Menschen an einen so vergänglichen Leib gefesselt ist; der Pastor aber sah dies, und es brach ihm nicht das Herz. Sie blieb nicht lange dort stehen. Sie bewegte sich weiter und kam lang sam auf die Stelle zu, wo Herr Sou lis unter den Weiden stand. Das gan ze Leben in seinem Körper, die ganze Stärke seines Geistes glänzten in sei nen Augen. Es schien, als wolle sie sprechen, fände aber keine Worte, und sie machte ein Zeichen mit der linken Hand. Es kam ein Windstoß
DIE KRUMME JANET
wie das Fauchen einer Katze. Die Kerze ging aus, die Weiden kreisch ten wie Menschen; und Herr Soulis wußte, jetzt ging es um Leben oder Tod. »Hexe, Gevatterin, Teufelin!« schrie er. »Ich befehle dir bei der Macht Gottes, hebe dich hinweg - wenn du tot bist, ins Grab - wenn du ver dammt bist, in die Hölle.« Und in diesem Augenblick schlug Gottes Hand aus dem Himmel her ab das Ungeheuer auf der Stelle. Der alte tote, entweihte Leichnam des Hexenweibes, der so lange nicht im Grab ruhen konnte und von den Teufeln umhergetrieben wurde, loh te auf wie Zunder und sank in Asche auf dem Boden zusammen. Schlag auf Schlag folgten der Donner und
der klatschende Regen. Und Herr Soulis sprang über die Hecke des Gartens und rannte auf das Dorf zu, wobei er einen wilden Schrei nach dem anderen ausstieß. Am gleichen Morgen sah John Chri stie den Schwarzen Mann am großen Heidegrab vorbeigehen, als es sechs schlug. Vor acht zog er an der Pferde station von Knockdow vorbei, und kurze Zeit später sah ihn Sandy McLellan rasch den Hang von Kil mackerlie hinunterhüpfen. Es gibt kaum einen Zweifel daran, daß er es war, der so lange in Janets Kör per wohnte; aber nun war er end lich fort, und seitdem hat der Teufel uns in Balweary nie mehr heimge sucht.
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Hexenhammer von
Ernst Vlcek
Um das befangene Schweigen zu bre chen, das sich nach dem ersten Le bensschrei des Neugeborenen einge stellt hatte, sagte ich lächelnd: »Es ist ein Prachtjunge. Sieben Pfund schwer und kerngesund.« Aber weder Dr. Lauriel, der das Baby immer noch in seinen Armen hielt, noch der Vater, der mit seinen sieben Söhnen das Bett der frischge backenen Mutter umstand, reagierten. Nur in den Altbauer, der sich bisher abwartend im Hintergrund gehalten hatte, kam Leben. »Das Hexenmal!« kreischte er und wies mit seinem gichtigen Zeigefinger auf ein großes Muttermal an den Lenden des Babys. Der Kindesvater und seine sieben Söhne bekreuzigten sich, die Mutter stöhnte qualvoll auf. Ich hatte eine scharfe Zurechtweisung für den Alten auf den Lippen, aber Dr. Lauriel gebot mir mit einer Handbewegung Schweigen. »Warten Sie im Wagen auf mich«, bat er. Ich bedachte den Ausgedinger noch mit einem letzten wütenden Blick,
dann stürmte ich grußlos ins Freie und setzte mich in Dr. Lauriels altem Lieferwagen auf den Fahrersitz. Ich mußte zehn Minuten warten, bis der betagte Landarzt herauskam, dessen Stelle ich in Kürze übernehmen soll te. Er nahm umständlich im Beifah rersitz Platz, ich startete und legte den Gang ein. »Wohin?« »Nach Hause«, sagte er. »Es ist schon spät, machen wir morgen weiter.« Während der Heimfahrt sprachen wir kein Wort. Das war mir recht, denn es erforderte einige Konzentra tion, den vielen Schlaglöchern des holprigen Feldweges auszuweichen. Außerdem wollte ich Ruhe haben, um Ordnung in meine Gedanken bringen zu können. Als wir eine Viertelstunde später Dr. Lauriels Haus am Fuße des Strigen berges, etwas außerhalb des Dorfes, erreichten, war mir noch immer nicht wohler. Deshalb sagte ich ihm, er solle schon alleine das Abendbrot zu sich nehmen, ich wolle noch ein wenig durch die Gegend streifen. 103
ERNST VLCEK
Er hielt mich am Jackenärmel zu rück und sah mir ernst in die Augen, als er sagte: »Ich habe Ihnen von Anfang an gesagt, daß die Leute hier schrullig und aberläubisch sind, Her bert. Und trotzdem sind Sie schok kiert?« Ich zögerte, dann entschied ich mich zu einer ausweichenden Antwort. »Nicht schockiert, nur etwas durch einander, Ihre Warnung hat mich nicht genügend vorbereitet. Ich wuß te bis jetzt nicht, wie abergläubisch die Leute hier sind.« Dr. Lauriel stemmte sich auf seinen Gehstock, kräuselte die Lippen und nickte wissend. »Tja«, seufzte er dann, »es war wahrscheinlich mein Fehler, ich hätte Sie besser vorbereiten sollen. Aber wissen Sie, wenn man schon so lan ge hier ist und Land und Leute ken nengelernt hat, dann sieht man alles mit anderen Augen. Wenn ein Bauer mich von seinem Hof jagt, weil er statt eines Arztes einen Hexenaus treiber zu konsultieren wünscht, dann nehme ich das nicht mehr tragisch. Das passiert einem hier eben mal hin und wieder.« Er spielte damit auf ein Ereignis vom Vormittag an, als wir zu einem Ge höft hinausgefahren waren, weil die Bäuerin angeblich mit Fieber zu Bett lag. Aber der Bauer hatte uns gar nicht erst bis zu ihr vorgelassen. Dr. Lauriel sprach weiter. 104
»Striga und Umgebung sind von der Zivilisation abgeschlossen. Das war schon immer so, und es wird wahr scheinlich noch eine Weile dauern, bis sich das ändert; und bis dahin wer den sich alle, die hier ansässig wer den wollen, an die hiesigen Gebräu che gewöhnen müssen.« »Ich werde mich nicht diesen mittel alterlichen Anschauungen unterwer fen, eher gehe ich in die Stadt zu rück«, sagte ich heftig. »Das werden Sie dann wohl tun müssen, Herbert«, entgegnete er be dächtig. »Aber ehe Sie einen Ent schluß fassen, sollten Sie einiges be denken, das für die Bevölkerung spricht. Die Abgeschiedenheit Stri gas und die Wirren nach den beiden Kriegen haben es diesen einfachen Leuten nicht gestattet, sich der rasch fortschreitenden Entwicklung anzu passen. Dazu kommt noch, daß die ses Land von einem Fluch befallen zu sein scheint. Tiere und Menschen werden häufiger als anderswo von Krankheiten heimgesucht, der Boden ist unfruchtbar - und wenn dann ein mal die karge Ernte vor der Tür steht, kommen Gewitter und vernich ten das Korn.« »Die Bauern sollten sich dann aber mehr mit ihren Feldern als mit Nachtspuk, Teufelskult und Zauber rei beschäftigen«, hielt ich entgegen. Er schüttelte den Kopf. »Das ist kein Gegenargument. Der Mentalität die
HEXENHAMMER
ser Menschen entspricht es mehr, Krankheiten und Mißernten den He xen und anderen bösen Mächten zu zuschreiben. Und wenn man lange genug in Striga war und selbst einige seltsame Dinge geschehen sah, die sich mit Vernunft und Logik nicht erklä ren lassen, dann ist man geneigt . . .« »Was ist dann?« sagte ich spöttisch. »Sprechen Sie ruhig aus, daß Sie ebenfalls von dem Hexenwahn ange steckt sind. Ich habe es schon bemerkt, als Sie bei den Jochgrabens das Neu geborene mit dem >Hexenmal< in Händen gehalten haben. Sie schickten mich hinaus, damit ich Ihre Anord nungen nicht hören konnte. War es nicht so? Was verschreiben Sie denn Ihren Patienten bei anderen Gele genheiten? Knoblauch und Kruzifixe gegen Dämonen an Stelle von Medi kamenten?« Er atmete schwer, seine wässerigen Augen blickten mich traurig und ent täuscht an. Plötzlich hatte ich Mitleid mit ihm und bereute meine heftigen Vorwürfe. Ich hatte ganz einfach nicht das Recht, so mit ihm zu spre chen. Dr. Lauriel war sehr hilfreich und zuvorkommend. Er hatte mich ge stern, bei meiner Ankunft in Bergho fen, mit dem Auto vom Bahnhof ab geholt, mich in seinem Haus aufge nommen und sogar angeboten, mir seine Praxis zu fairen Bedingungen zu überlassen. Heute hatte er den
ganzen Tag dafür geopfert, mich bei seinen Patienten einzuführen. Er hatte sich diese Behandlung nicht verdient. »Entschuldigen Sie, Dr. Lauriel, ich habe mich gehen lassen . ..« »Ich nehme es Ihnen nicht übel«, meinte er; aber ich mußte ihn doch sehr getroffen haben, das merkte ich ihm an. »Ihre Jugend verbietet es Ihnen, an das Übernatürliche auch nur zu denken. Streifen Sie ruhig et was durch die Gegend, das kühlt den Kopf.« Er kam mir älter und gebeugter vor als bei unserer ersten Begegnung, wie er da auf sein Haus zuging. Schon während meines Studiums stand es für mich fest, daß ich später einmal aufs Land gehen würde. Als ich dann meinen Doktor der Medi zin gemacht hatte, änderte ich mei nen Entschluß nicht. Ich stellte es mir als deprimierend vor, in irgend einer Ordination zu hocken und Pa tienten wie am Fließband abzuferti gen oder in einem Krankenhaus Leu te zu behandeln, zu denen ich nie eine innere Beziehung bekommen würde, weil sie kamen und gingen, genasen oder starben. Deshalb griff ich zu, als ich von der freiwerdenden Stelle in Striga erfuhr. Mir war von Anfang an klar, daß mein Verdienst nur den Bruchteil dessen ausmachen würde, was ich in der Stadt bekommen hätte. Auch 105
ERNST VLCEK
vor den anderen Unannehmlichkei ten, mit denen ich zu rechnen haben würde, verschloß ich mich nicht. Die Leute auf dem Lande sind Neue rungen gegenüber mißtrauischer als Stadtmenschen, und wenn sie sich erst einmal an das Gesicht und die Methoden eines Arztes gewöhnt ha ben, war eine Umstellung nicht leicht für sie. Ein junger Arzt würde es besonders schwer haben, ihr Vertrau en zu gewinnen. Mit all dem hatte ich gerechnet, mich darauf vorbereitet und war schließ lich zu der Überzeugung gelangt, daß ich damit fertig werden würde. Aber zu diesen Schwierigkeiten kam nun noch etwas anderes dazu - die Leute von Striga und Umgebung waren von einem finsteren Aberglauben be sessen. Das hatte ich bereits erkannt, obwohl ich erst vierundzwanzig Stunden hier war. Vielleicht würde ich mich, wie Dr. Lauriel, im Laufe der Jahre damit abfinden. Vielleicht könnte ich da gegen sogar erfolgreich ankämpfen. Aber - wollte ich das überhaupt? Wäre es nicht besser, gleich morgen abzureisen? Jedenfalls mußte ich meine Entscheidung schnell treffen, noch bevor ich in Striga zu fest Fuß gefaßt hatte. Ich wog die Möglichkeiten gegenein ander ab, während ich in der Däm merung den schmalen Waldpfad ent langschlenderte. In die eine Waag 106
schale legte ich die Stadt, das ein tönige Krankenhauspraktikum und das Warten auf eine neue Chance, in die andere die angestrebte Unab hängigkeit, den zuvorkommenden Dr. Lauriel, aber auch den Aber glauben der zukünftigen Patienten. Ich hatte noch immer keine Entschei dung getroffen, als ich an den klei nen ruhigen Waldsee kam. Eine lange Weile stand ich da und starrte auf die spiegelglatte Wasser fläche hinab. An meine Probleme dachte ich in diesem Augenblick nicht, sondern kostete das Bild geheiligter Einsamkeit vollkommen aus und hielt mit der Welt den Atem an. Eine Bewegung an der Stelle, wo die Büsche bis fast an den See her anreichten, riß mich aus meiner Be trachtung. Ein Tier, ein Reh, das hier seine Tränke hatte? Nein, es war ein Mensch, eine Frau in einem Bauernkittel, der ihr bis zu den Knöcheln hinunterreichte. Der Zauber des Augenblicks war für mich dahin, ich wollte mich wieder abwen den und den Rückweg antreten, weil mir nichts ferner lag, als einem Mäd chen beim Baden zuzusehen. Aber dann war etwas an ihrem Gebaren, das mich unschlüssig innehalten ließ. Sie setzte sich auf den mit einem Nadelteppich belegten Boden und holte etwas aus ihrer Schürze. Mich fröstelte unwillkürlich, und das rief mir ins Bewußtsein, daß es für ein
HEXENHAMMER
Bad eigentlich viel zu kalt war. Was Sie hatte das Ufer erreicht, als ich tat dieses Mädchen oder diese Frau noch zwanzig Schritte von ihr ent dann also hier? Wollte sie nur ein fernt war, stieß sich mit den Füßen wenig nachdenken oder mit offenen ab und verschwand, ohne einen Laut von sich gegeben zu haben, im Was Augen träumen wie ich eben? ser. Aber dagegen sprach ihr ganzes Ver halten. Sie wirkte irgendwie ange Kurz darauf war ich an Ort und spannt, ihr Oberkörper war steif, Stelle, und während ich meine Schuhe mit den Händen machte sie schein abstreifte, erschien der Mädchenkör per wieder an der Oberßäche. Zu bar sinnlose Bewegungen, die aber doch Zweckmäßigkeit erkennen lie erst tauchte der gekrümmte Rücken ßen. Jetzt zögerte sie ein wenig, wo auf, dann schnellte der Kopf heraus, bei sie ihre linke Hand bei den Fü und ich sah ein jugendliches Gesicht, ßen beließ, legte ihre Rechte dazu umrahmt von tropfnassem dunklen und krümmte ihren Körper durch, Haar. Der Mädchenkörper trieb leicht wie eine Feder auf dem Wasser. bis ihr Kopf ganz weit vorne war und sie mit dem Gesicht Hände und Sie geht nicht unter, dachte ich noch, dann sprang ich kopfüber in den See. Füße berühren konnte. Ich wurde aus ihrem Verhalten im Mit einigen schnellen Zügen erreich te ich die Lebensmüde, die sich voll mer noch nicht klug. Jetzt richtete sie ihren Oberkörper kommen ruhig verhielt, faßte sie um auf, zog die Hände aber von den die Brust und schwamm mit ihr zu rück zum Ufer. Füßen nicht zurück. Es hatte den Wieder an Land, löste ich zuerst ihre Anschein, als umklammere sie den Fesseln und ließ sie dann in meine rechten Fuß mit der linken Hand und Jacke schlüpfen. Während ich selbst den linken Fuß mit der rechten Hand vor Kälte am ganzen Körper zit - in dieser Stellung rutschte sie die terte, saß sie ruhig da, die Beine an Böschung hinunter zum See. den Körper gepreßt, die Knie fest Und mit einemmal fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Sie hatte umschlungen. sich selbst gefesselt und wollte sich »Das wäre beinahe schiefgegangen«, sagte ich zähneklappernd und das Leben nehmen! Ich setzte mich augenblicklich in Be schwang mir zur Erwärmung die wegung und entledigte mich noch im Arme um den Körper. Sie blickte zu mir auf, und ein Laufen meiner Jacke. »Halt! Halt! Nicht!« schrie ich, aber leicht spöttisches Lächeln lag um ihre Lippen, als sie sagte: »Sie brauchen es war schon zu spät. 107
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sich gar nicht so als Lebensretter aur zuspielen. Ich wäre auch ohne Sie nicht abgesoffen. Sie haben ja ge sehen, daß ich obenauf geblieben bin.« Nach der Kälte des Wassers war ihre Stimme und Ausdrucksweise der zwei te Schock für mich. Sie war hübsch, unleugbar eines der schönsten Mäd chen, dem ich je begegnet war, aber irgend etwas war in ihren Augen, das nicht zu ihrem Aussehen passen wollte — ihr Blick war debil und stumpfsinnig, aber auch noch etwas anderes lag darin, über das ich mir nicht klar werden konnte. Ein seltsames Wesen; offensichtlich ein wenig beschränkt, aber dennoch faszinierend. Sie können hier nicht sitzen bleiben, sonst holen Sie sich doch noch den Tod, dem Sie so knapp entgangen sind«, sagte ich und reichte ihr die Hand, um ihr aufzuhelfen. »Kommen Sie, ich bringe Sie nach Hause.« Meinen hilfreichen Arm ignorierend, erhob sie sich. Als sie stand, schlüpfte sie mit plumpen, ungrazilen Bewe gungen aus meiner Jacke und warf sie mir zu. »Da haben Sie Ihren Fetzen, ich brauche-ihn nicht.« Mit diesen Wor ten wandte sie mir den Rücken zu und wollte davongehen. »Halt«, rief ich ihr nach, »zum Dorf geht es da lang.« »Ich wohne aber dort«, sagte sie, 108
ohne sich umzudrehen, und deutete mit ihrem Arm in Richtung Strigen berg. Ich sah ihr eine Weile nach, beob achtete ihren burschikosen unbeküm merten Gang, und wurde mir erst darüber klar, daß ich diese Bekannt schaft vertiefen wollte, als sie zwi schen den Bäumen zu entschwinden drohte. Ich rannte ihr nach. »Haben Sie denn keine Angst, al leine durch den Wald zu gehen?« erkundigte ich mich, nachdem ich sie erreicht hatte. Sie schien vorgehabt zu haben, mich zu ignorieren, denn sie tat, als sei ich Luft, während sie den steiler wer denden Pfad hinanstieg. Aber meine Frage dürfte sie umgestimmt haben. Amüsiert sagte sie: »Ich fürchte nichts, man fürchtet sich vor mir. Haben Sie denn keine Angst?« »Eigentlich nicht«, lachte ich. »Dann sind Sie ganz schön dumm.« Das war eine ernstgemeinte Feststel lung. »Sie waren ja dabei, als ich im Wasser schwamm und nicht unter ging.« »Wenn ich mich vor Ihnen gefürch tet hätte, dann hätte ich Ihnen wahrscheinlich nicht das Leben geret tet.« »Einen Dreck haben Sie!« brauste sie auf; ich zuckte unwillkürlich zusam men. »Ich wollte mich nicht ersäufen und wäre auch ganz bestimmt nicht
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abgesoffen. Ich habe die Hexenprobe gemacht, weil ich herausfinden wollte, was wahr an dem ist, was die Leute tuscheln. Und ich habe die Probe be standen. Ich bin geschwommen, des halb bin ich eine Hexe.« Sie sagte es in einem so ernsten Ton fall, daß es schon wieder lächerlich klang. Aber ich hütete mich, ihr mei ne Skepsis oder gar meine Heiterkeit ^i zu zeigen. »Ich fürchte mich dennoch nicht vor Ihnen«, sagte ich. Sie blieb stehen und betrachtete mich Stirnrunzelnd. »Sie sind wohl nicht von hier?« »Aus der Stadt.« »Das dachte ich mir fast. Und Sie fürchten sich wirklich nicht vor He xen?« Ich lächelte. »Ganz und gar nicht.« Sie kam zu mir, zog meinen Kopf mit einem kräftigen Ruck zu sich her ab und küßte mich wild und unge schickt auf den Mund. Ich mußte mich förmlich mit Gewalt aus ihrer Umarmung befreien. »Ich habe schon lange keinen Bur schen mehr getroffen, der mir gefiel«, keuchte sie, und ihre Augen lebten. »Morgen, wenn es dunkel wird, tref fen wir uns wieder hier.« »Aber. . .« »Morgen bekommst du mich!« Schrill lachend rannte sie davon. '? Dr. Lauriel saß schon beim
Früh
stück, als ich am nächsten Morgen in die Küche hinunterkam. Die Be grüßung fiel etwas kühl aus, und das Eis zwischen uns brach auch nicht, als ich ihm gegenüber am Tisch Platz genommen hatte und er über das heutige Programm sprach. Ich aß lustlos, während ich versuchte, den Worten Dr. Lauriels Aufmerksam keit zu schenken. Er hatte vor, mich am Vormittag mit einigen weiteren Patienten der näheren Umgebung bekanntzuma chen; für den Nachmittag war eine zwanglose Zusammenkunft im Rat haus von Striga geplant, an der der Pfarrer, der Bürgermeister, der Ma gister und zwei oder drei einfluß reiche Bauern der fünfhundert See len zählenden Gemeinde teilnehmen würden. Dr. Lauriel versicherte mir, daß die genannten Herren keineswegs vor hatten, mich auf Herz und Nieren zu prüfen, sondern mich eben nur kennenlernen wollten. Zum Schluß sagte er: »Das hat na
türlich nur dann einen Sinn, wenn Sie in Striga bleiben wollen.« »Ich werde bleiben«, hörte ich mich sagen. Die Visite am Vormittag verlief ohne Zwischenfälle; kein einziges Mal wur de uns die Tür gewiesen, und wir brauchten uns auch kein übertriebe nes Gejammer, vonwegen krankem Vieh oder unfruchtbarem Boden, an 109
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zuhören. Deshalb hatte ich Dr. Lau riel im Verdacht, daß er für diesen Tag nur solche Patienten ausgesucht hatte, die weniger abergläubisch wa ren als andere. Um die Mittagszeit kamen wir zu rück nach Striga und kehrten in dem einzigen Gasthaus ein, das direkt auf dem Hauptplatz lag. Der Wirt, ein kleiner rundlicher Mann mit einer Glatze, begrüßte uns mit überschäu mender Freundlichkeit, nahm unsere Bestellung auf und brachte bald dar auf das Bier und die gewünschten Speisen. »Wohl bekomm's«, sagte er, wischte sich die schwitzenden Hände an der Schürze ab und zog sich zurück in seine Privaträume. Wir waren die einzigen Gäste. Dr. Lauriel versuchte, eine harmlose Konversation in Gang zu bringen, aber meine einsilbigen Antworten lie ßen ihn diesen Versuch bald aufge ben. Er mußte gemerkt haben, daß ich mit meinen Gedanken ganz woanders war, und obwohl er mich nicht nach meinen Sorgen auszufragen begann, spürte ich instinktiv, daß er vor Neugierde fast vergehen mußte. Als ahne er etwas von meinem nächtli chen Erlebnis . . . Der Hauptplatz war nur wenig be lebt. Einige spielende Kinder tollten herum. Ein Ochsenkarren ratterte langsam über das unebene Kopfstein pßaster. Vor der geschlossenen Apo 110
theke unterhielten sich zwei uralte Weiber. An einem Fenster, von einem der einstöckigen Fachwerkhäuser, er schien eine dickliche Frau und schrie den Kindern irgend etwas zu. Vor dem Fleischerladen wurde ein Last wagen beladen. Ein alter Mann mit einer langen Pfeife lehnte an den ge schlossenen Läden des Lebensmittel geschäfts und ließ sich von der Sonne bescheinen, während Dr. Lauriel und ich zum Haus des Bürgermeisters gingen. Ich hatte schon gestern festgestellt, daß alle Geschäfte geschlossen hatten und daß sich auf dem Hauptplatz, dem einzigen Treffpunkt des Dorfes, kaum Menschen aufhielten. Es war, als liege Striga im Sterben und keiner seiner Bewohner wolle irgend etwas dagegen unternehmen. Dieses dump fe Gefühl wurde ich auch nicht los, als wir das Bürgermeisteramt betra ten, wo uns fünf alte Männer bereits erwarteten. Dr. Lauriel machte mich mit ihnen bekannt. Der Bürgermeister war ein kleines verhutzeltes Männchen mit einem knochigen Gesicht, in dem die riesige Hakennase mit den kleinen stechenden Äuglein um die Vorherr schaft zu kämpfen schien. Der Magi ster hatte einen Buckel und zeigte mir die Lücken in seinen gelben Zäh nen, als er mich falsch angrinste. Der eine Bauer hieß Köhler, hielt sich betont gerade und wirkte noch am
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rüstigsten; er gab mir mürrisch die Hand. Der andere würdigte mich keines Blickes - es war der alte Jochgraben, der seinem neugeborenen En kel ein Hexenmal angedichtet hatte. Sie alle brachten mir unverhohlenes Mißtrauen und offene Abneigung entgegen. Nur der Pfarrer, ein klei ner Mann mit einem rosigen Gesicht, bildete eine erfreuliche Ausnahme. Aber trotz der Freundlichkeit, mit der er mich begrüßte und mir einen Sitz an dem großen Tisch anbot, glaubte ich nicht, daß sich etwas an der frostigen Atmosphäre ändern würde. Mit dieser Vermutung behielt ich recht, obwohl sich auch Dr. Lauriel bemühte, mich bei den anderen be liebt zu machen. Die Unterhaltung drehte sich vorerst einmal um das schlechte Wetter, die karge Ernte und die an Schwind sucht leidende Gemeindekasse. Ich fragte mich im stillen, was ich dem nach bei dieser Besprechung zu su chen hatte. Aber das Gesprächsthe ma wechselte, und die Männer dis kutierten verschiedene Maßnahmen durch, um der allgemeinen Misere beizukommen, und ich wurde ein paarmal um meine Meinung gefragt. Ich gab ausweichende Antworten, sagte, daß ich in diesen Dingen nicht bewandert sei und dachte im übrigen an das seltsame Mädchen, das ich im Wald getroffen hatte.
»Die mageren Jahre dauern jetzt schon zu lange an«, sagte der Bür germeister. »Wir müssen wieder ein mal etwas unternehmen.« Dabei sah er Dr. Lauriel fest an. »Ja«, meinte der unsicher, »wir müs sen uns überlegen, was wir tun könn ten ...« »Da gibt es nichts zu überlegen«, unterbrach ihn Jochgraben. »Es hilft nur eines«, stimmte der Magister zu. Der Pfarrer räusperte sich. »Was ist denn. Hochwürden«, er kundigte sich der Magister. »Haben Hochwürden vielleicht Bedenken?« Der Pfarrer blickte von einem zum anderen, dann sagte er: »Ich kann eure gotteslästernden Reden nicht länger mehr dulden. Entweder ihr hört sofort damit auf, oder ich ziehe mich zurück.« »Aber damals«, sagte Jochgraben, »damals warst du nicht so zimper lich.« »Gott hat uns alle dafür gestraft!« , »Ja, aber weil wir nicht ganze Ar beit gemacht haben.« Mit hochrotem Kopf sprang der Pfarrer auf und ging wortlos aus dem Raum. »Ihr seid Hitzköpfe«, tadelte Dr. Lauriel. »Jetzt habt ihr ihn verär gert. »Na, wenn schon. Wir werden auch ohne den Pfaffen fertig«, rechtfer tigte sich Jochgraben. »Jetzt brauchen 111
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wir nur noch diesen Kindskopf da loswerden . . .« »Alfons!« Dr. Lauriel sprang auf gebracht von seinem Stuhl. Ich erhob mich ebenfalls. »Lassen Sie nur«, sagte ich, »ich wollte ohnehin an die frische Luft.« Froh darüber, daß mir eine Ent scheidung abgenommen worden war, verließ ich das Rathaus. Länger hät te ich das alberne Greisengeschwätz nicht mehr ertragen. Der Hauptplatz lag wie ausgestor ben da, die spielenden Kinder, der Mann mit der Pfeife und der Last wagen waren verschwunden, die Ge schäfte hatten immer noch geschlos sen. Von der kleinen Kapelle kam das schüchterne Geläute einer Glocke. Sie läutete fünfmal, und ein Blick auf meine Armbanduhr zeigte mir, daß es tatsächlich erst fünf war. Demnach verblieben mir noch zweieinhalb Stunden bis zur Dämmerung. Das brachte mich auf die Idee, den Pfarrer aufzusuchen und ihn ein we nig nach seiner Meinung über die Dorfbewohner auszuhorchen. Von ihm würde ich auch etwas über das Mädchen vom Strigenberg erfahren können. Ich verließ den Hauptplatz über die staubige Seitenstraße, die nach kaum zweihundert Metern in einen schma len Fußpfad überging. Hier stand das letzte Haus, danach kam eine von 112
Unkraut überwucherte Wiese, auf der einige magere Kühe weideten. Die Kapelle stand auf dem Gipfel einer kleinen Anhöhe, über deren Hänge sich Kreuz an Kreuz des idyllischen Gottesackers reihte. Als ich zu dem schmiedeeisernen Tor in der Fried hofsmauer kam, mußte ich zu meiner Überraschung feststellen, daß es ab geschlossen war. Ich rief nach dem Pfarrer, aber er gab kein Lebenszei chen von sich. Da ich wußte, daß je mand hier sein mußte, der den Glok kenzug betätigt hatte, wiederholte ich mein Rufen einige Male. Aber es war umsonst, niemand zeigte sich. Etwas enttäuscht kehrte ich um und strebte dem Strigenberg zu. Ich ließ mir Zeit, machte einen großen Bo gen um das Dorf, wich oft vom Weg ab und rastete ein paarmal. Aber ich erreichte den Waldsee trotzdem noch sehr früh. Ich setzte mich ans Ufer und beobachtete die rötlich verfärbte Sonne, wie sie hinter den Wipfeln der Nadelbäume verschwand, noch einmal durch den Wald blinzelte, um dann endgültig hinter dem Strigen berg unterzugehen, »Morgen bekommst du mich«, hatte mir das Mädchen zum Abschied zu gerufen. Es schien ihr damit ernst ge wesen zu sein. Es lag nun an mir, ihr schonend beizubringen, daß an ein Verhältnis zwischen uns beiden nicht zu denken war. Aber vielleicht, beruhigte ich mich
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dann wieder, meinte sie ihre Worte
gar nicht so ernst, sondern hatte sie
nur gesagt, um den Anschein von
Anrüchigkeit zu erwecken.
Plötzlich, ohne daß ich ein Geräusch
gehört hatte, schob sich etwas vor
meine Augen und preßte sich mir
fest gegen die Lider.
»Rate, wer da ist«, wurde mir ins
Ohr geflüstert. Ich erkannte ihre
Stimme sofort, obwohl sie sie ver stellte.
»Ich habe keine Ahnung«, sagte ich.
»Rate.«
»Hm . . . der Waldhüter?«
Sie lachte.
»Bei uns gibt es keinen Waldhüter.«
»Bist du etwa ein Wurzelweib?«
»Beinahe erraten.«
»Dann - kannst du nur die kleine
Hexe von gestern sein.«
»Jawohl!« Sie ließ meine Augen los,
zog mich mit einem kräftigen Ruck
zu Boden und beugte sich über mich.
»Genau das bin ich, die Hexe von
gestern.«
Und sie küßte mich. Es dauerte eine
Weile, bevor ich mich aus ihrer Um armung befreien konnte. Ich richtete
mich auf und schob sie auf Armes länge von mir fort. Dann betrachtete
ich sie.
»Was glotzt du so?« erkundigte sie
Sich mißtrauisch.
»Nur so, ich will sehen, ob du dich
seit gestern verändert hast.«
»Und?« »Du hast dich verändert.« Doch diese Veränderung gereichte ihr nicht gerade zum Vorteil, aber das sagte ich ihr nicht. Sie trug ein silbernes Flitterkleid, das um einige Nummern zu groß war, Pumps mit dicken hohen Absätzen und eine schwarze Stola, außerdem war sie über und über mit falschem Schmuck behangen; auf den Wangen trug sie millimeterdick Rouge, und die Lip pen hatte sie grellrot bemalt. Sie sah aus wie ein Clown, aber es war nicht zum Lachen. »Wie gefalle ich dir?« Sie zupfte an dem Kleid, und ihre großen, kindli chen Augen starrten mich erwar tungsvoll an. »Recht schick«, sagte ich und hoffte, daß sie meine Lüge nicht durchschau te. »Von wo hast du die Kleidung und die Schminke?« Sie warf den Kopf zurück. »Aus der Klamottenkiste meiner Tanten. Ich hab's mir-ausgeborgt, weil sie es oh nedies nicht mehr brauchen. Nur den Umhang«, sie deutete auf die Stola, »habe ich Tante Frieda abgenom men, aber sie wird schon nicht frie ren.« »Sagtest du, daß du bei deinen Tan ten wohnst?« »Nein.« Sie sah mich erstaunt an. »Meine drei Tanten wohnen bei mir.« »Das verstehe ich nicht.« Sie seufzte. »Stellst du dich aber 113
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dumm! Ich werde es dir erklären. Meine Tanten, Frieda, Lore und Hei di, sind gelähmt. Sie können sich überhaupt nicht rühren und hocken nur stumm und starr da. Ich muß sie füttern, waschen und niederlegen und anziehen und ihnen Geschichten erzählen. Und ganz richtig im Kopf sind sie auch nicht - ich meine, daß sie schon vorher recht einfältig ge wesen sein mußten, bevor das mit ihnen passierte, denn sonst wäre es nicht so weit gekommen. Aber, nein, sie mußten .. . Jedenfalls siehst du, sind sie auf mich angewiesen und nicht ich auf sie. Deshalb wohnen sie bei mir. Verstehst du?« Ich nickte gedankenverloren. »So«, fügte sie abschließend hinzu, »jetzt ist Schluß damit. Reden wir von was anderem.« Sie versuchte ein verführerisches Lä cheln und reichte mir ihre Hand. Ich ergriff sie. Während sie mich lang sam zu sich zog, versuchte ich mir das erbärmliche Leben vorzustellen, das dieses junge Mädchen inmitten der drei gelähmten Frauen führen mußte. Mir kam der Gedanke, daß sie womöglich nicht wirklich be schränkt, sondern nur ein Opfer ih rer Umgebung war. »Und du bist ganz alleine mit ihnen?« fragte ich. Wahrscheinlich klang meine Stimme um eine Spur zu mitfühlend, denn sie sagte: 114
»Ich will nicht bemitleidet werden.« »Aber du verdienst Anerkennung. Nicht jeder könnte eine solche Auf opferungsbereitschaft aufbringen wie du.« »Pah, Aufopferungsbereitschaft«, schnaufte sie. Was soll ich denn anderes tun? Alle weichen sie mir aus, weil ich eine Hexe bin. Ich habe nur meine Tanten.« »Die Dorfbewohner sagen, du seist eine Hexe?« fragte ich vorsichtig und lächelte dabei, um die Bedeutung meiner Frage herabzumindern. »Sie sagen es mir nicht, zumindest nicht ins Gesicht, weil sie Angst ha ben. Aber sie weichen mir aus.« »Du hast keine Freunde in Striga?« Sie lächelte maliziös. »Doch, manch mal stiehlt sich einer der Burschen von zu Hause fort und . . .« »Das meinte ich nicht. Ich dachte an jemanden, der dich wirklich gern hat. Eine Freundin, einen Freund.« »Ich verhexe sie, dann sind sie mei ne Freunde.« »Aber du mußt doch jemanden ken nen, der aus eigenem Antrieb zu dir kommt und dich um deinetwillen mag - jemand, der dasselbe für dich tun würde, wie du für deine Tanten tust.« »Du meinst eine Freundschaft?« Langsam schüttelte sie den Kopf. »Nein, eine Freundschaft habe ich nicht.« Ich drückte ihre Hand.
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»Jetzt hast du eine.« »Dich?« »Ja.« »Oh . . .« Trotz der Schminke im Gesicht und ihrer großen hervortre tenden Augen strahlte sie Schönheit aus. »Ich kann es noch gar nicht glauben Du liebst mich, ohne daß ich dich erst behexen muß?« »Ich biete dir meine Freundschaft an«, erklärte ich, um keine Mißver ständnisse aufkommen zu lassen. »Das hat mir noch niemand gesagt.« Noch ehe ich mich versah, hatte sie mich wieder umarmt, ließ sich zu rücksinken und zog mich über sich. Ich spürte, wie mich ihre Nähe er regte, und es wäre in diesem Augen blick leicht gewesen, der Versuchung nachzugeben und sich von der auf flammenden Leidenschaft mitreißen zu lassen. Aber ich behielt meine Vernunft. Ich wäre mir nachher schmutzig vorgekommen, wenn ich die Situation ausgenützt hätte. »Hör auf damit«, stieß ich hervor, nachdem ich von ihren Lippen losge kommen war. Ich versuchte sie fest zuhalten, aber sie schien tausend Ar me zu haben, löste sich immer wie der aus meinem Griff und wand sich wie eine Schlange. Mir blieb kein anderer Ausweg, als sie durch einen leichten Schlag zur Besinnung zu bringen. Es half. Ihr Körper sackte in sich zusammen. Ihre Augen klärten sich,
wurden groß wie immer. Wahrend sie sich mit der linken Hand über die geschlagene Wange fuhr, schob sie mich mit der anderen von sich. Langsam richtete sie sich auf. Ich wollte etwas sagen, aber meine Stimme gehorchte nicht. Außerdem erkannte ich, daß Worte hier nicht geholfen hätten. Ich hatte sie gede mütigt, hatte das, was sie unter Freundschaft verstand, abgewiesen, hatte wahrscheinlich ihre letzte Hoff nung auf ein anderes, besseres Leben mit einem einzigen Schlag zerstört. Jetzt weinte sie haltlos. »Sei verflucht«, sagte sie mit erstick ter Stimme, »sei verflucht wie die an deren.« Es blitzte, gleich darauf rollte ein urgewaltiger Donner über den Stri genberg, und es begann in Strömen zu regnen. Das Mädchen, dessen Namen ich noch nicht einmal kannte, aber von dem ich wußte, daß es dringend Hilfe brauchte, war wie vom Erdboden verschwunden. Ich war bis auf die Haut durchnäßt, als ich Dr. Lauriels Haus erreichte. In der Küche brannte noch Licht, aber ich kümmerte mich vorerst nicht darum, sondern ging in den primi tiven Waschraum und befreite meinen Oberkörper von den nassen Kleidern. Dann trocknete ich mich ab und rub belte mir den Kopf halbwegs trocken. 115
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Kaum war ich damit fertig, da ging die Tür auf, und Dr. Lauriel stand darin. Er hielt eine Tasse in der Hand, die verheißungsvoll dampfte. »Ich habe mir gedacht, daß Sie vom Regen überrascht werden würden«, sagte er. »Deshalb habe ich Tee auf gestellt.« Dankbar nahm ich die dampfende Tasse und machte einen vorsichtigen Schluck. Ich verbrühte mir zwar den Mund, aber der heiße Tee wärmte mich innerlich wenigstens ein bißchen auf. »Nehmen Sie doch meinen Schlaf mantel«, schlug Dr. Lauriel vor. »Dann können wir in die Küche ge hen, dort ist es gemütlicher.« Ich nickte, stellte die Tasse ab und schlüpfte in seinen Schlafmantel. Er war vorausgegangen und saß schon an dem rohgezimmerten Tisch, die Teekanne und eine halbvolle Flasche doppeltgebrannten Slibowitz vor sich, als ich in die Küche kam. Er sah mich unschlüssig an, benetzte sich die Lippen, sagte aber nichts. »Sie wollen mit mir sprechen?« er kundigte ich mich, um ihm den An fang leichter zu machen. »Ja«, bekannte er. »Ich wollte es schon heute vormittag tun, aber es kam immer etwas dazwischen. Wir sollten ein offenes Wort miteinander sprechen, Herbert.« Ich schlürfte den Tee und fühlte, wie schön langsam meine Lebensgeister zurückkehrten. »Warum nicht«, 116
meinte ich dann. »Was haben Sie also auf dem Herzen, Doktor?« »Es geht mich ja nichts an, was Sie mit Ihrer Freizeit anfangen, Her bert«, druckste er herum. «Es geht mich überhaupt nichts an, wo Sie sich herumtreiben. Sie können tun und lassen, was Sie wollen. Aber ich fühle mich irgendwie verantwortlich für Sie, deshalb möchte ich verhindern, daß Sie eine Dummheit begehen. Ich muß Sie warnen . . .« »Sie müssen mich warnen?« wieder holte ich erstaunt. »Fassen Sie das nicht falsch auf«, sagte er schnell. »Es hat schon ge nügend Mißverständnisse zwischen uns gegeben, ich möchte nicht neue heraufbeschwören. Ich warne Sie, weil ich zu wissen glaube, wo Sie gestern und heute nacht waren.« »Hm«, machte ich nur. Er würde schon von selbst die Katze aus dem Sack lassen. Er tat es auch. »Sie haben sich, wahrscheinlich voll kommen ahnungslos, im Wald her umgetrieben«, erzählte er mit sol cher Überzeugung, als hätte er mich beobachtet. »Sie wollten alleine sein mit sich und Ihren Gedanken, um sich in Ruhe Ihre Lage überlegen zu können. Aber daraus wurde nichts. Plötzlich sahen Sie sich einem Mädchen gegenüber, das alles daran stetzte. Ihnen den Kopf zu verdrehen. Sie fanden das Mädchen etwas selt sam, vielleicht ein wenig beschränkt,
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deshalb wahrten Sie Distanz - oder auch nicht, aber das ist nicht so wich tig. Auf jeden Fall wollten Sie das Mädchen wiedersehen, denn Sie wa ren auf eine unerklärliche Art von ihr fasziniert. Sie trafen sich heute nacht wieder mit ihr!« Der letzte Satz war eine einzige An klage. »Sie sind sehr nahe an die Wahr heit herangekommen«, gab ich ver blüfft zu. »Woher wissen Sie das alles? Sind Sie mir nachgeschlichen?« Er schüttelte den Kopf und lächelte wissend. »Das habe ich nicht nötig. Denn es ist immer wieder das glei che. Jeder, der sich des Nachts in der Nähe des Strigenberges aufhält, begegnet irgendwann dem Mädchen.« »Vielleicht sprechen wir nicht von demselben Mädchen.« »•Doch, wir meinen beide Adalethe Grön.« »Adalethe Grön ... Ich kannte bis her noch nicht ihren Namen.« Dr. Lauriel sah mich fest an. »Vergessen Sie ihn sofort wieder«, sagte er eindringlich. Ich lachte auf und fragte dann mit beißendem Spott: »Hegen Sie etwa die Befürchtung, sie könnte mich ver hexen?« »Sie können es tatsächlich so aus sprechen, daß man sich närrisch und albern vorkommt, überhaupt nur diese Möglichkeit in Betracht gezogen zu haben«, meinte er bedauernd.
»Ich will Sie nicht zu überzeugen
versuchen, daß dieses Mädchen über natürliche Fähigkeiten besitzt. Ich bin
mir selbst nicht ganz sicher. Aber
nehmen Sie meine Warnung trotz dem an. Adalethe ist es nicht wert,
daß man sich ihrer annimmt.«
»Sie ist krank«, sagte ich heftig,
»und braucht Hilfe.«
»Sie ist krank«, bestätigte er, »aber
ich glaube nicht, daß sie sich heiren
lassen will. Halten Sie sich von ihr
fern, Herbert. Mehr kann ich Ihnen
nicht sagen.«
»Warum so geheimnisvoll, Doktor?«
»Die Wahrheit würde Sie .schockie ren.«
»Sie glauben also, ich sei in das Mäd chen verliebt?«
»Sie wären nicht der erste, der ihr
verfallen ist.«
»Hören Sie mal, Doktor«, erklärte
ich erbost. »Sie hat mir gesagt, daß
sich schon oft Burschen aus Striga
davongeschlichen haben, um bei ihr
ein Abenteuer zu suchen. Sie hat
das so freimütig erklärt, daß ich über zeugt bin, sie hat sich überhaupt nichts
dabei gedacht. Verstehen Sie, Adale the erfaßt das Unmoralische ihres
Tuns gar nicht. Sie ist nicht intelli gent genug, um sich Gedanken dar über machen zu können. Ich glaube,
es wäre das Beste, sie von hier fort zuschaffen und in eine Anstalt zu
geben.«
»Sie scheinen das wirklich ernst zu
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meinen, aber - Adalethe ist durch und durch verderbt, sie kann nicht geheilt werden. Das hat sie ... ge erbt.« »Geerbt? Von wem? Los, Doktor Lauriel, machen Sie nicht so lange Umschweife, reden Sie schon.« Er blickte verstohlen zur Uhr. »Also gut«, seufzte er und schenkte sich und mir ein Glas Slibowitz voll. »Ich werde Ihnen die ganze Ge schichte erzählen«, sagte er, nach dem er sein Glas geleert hatte; er wartete, bis ich meinen Slibowitz ebenfalls getrunken hatte, dann füll te er mein Glas. wieder. »Aber ich werde mich kurz -fassen, weil ich in wenigen Minuten Besuch bekomme.« »Wer besucht Sie denn noch um die se Zeit?« erkundigte ich mich. »Der Bürgermeister - äh - und die anderen kommen noch auf einen Sprung vorbei.« »Na, dann werde ich mich recht zeitig auf mein Zimmer zurückzie hen.« Mir war, als atme er auf. Er begann zu erzählen: »Auf dem Strigenberg steht ein altes Blockhaus, das seit urdenklichen Zeiten unbe wohnt war. Man munkelte, daß dort früher eine Hexe gehaust habe, des halb getraute sich niemand, das Block haus zu benützen. Vor zwanzig Jah ren geschah es, daß ein Bauer, der sich zufällig in der Nähe aufhielt, Rauch aus dem Schornstein steigen 118
sah. Als sich der verängstigte Mann auf den Rückweg zum Dorf machte, begegnete er drei hübschen jungen Frauen, die Wurzeln und Beeren einsammelten. Sie sagten, daß sie nun die neuen Bewohner des Blockhau ses seien, und jeder aus dem Dorf, der Lust auf Abwechslung habe, kön ne zu ihnen heraufkommen. Und von da an war es aus mit der Ruhe und Ordnung in Striga. Die Männer aller Altersstufen kamen auf den Strigenberg, um sich Abwechs lung zu erkaufen. Die drei Dirnen kümmerte es nicht, daß sie Unfrie den, Haß und Neid säten. Sie lachten mich damals nur aus, als ich sie auf suchte und darauf aufmerksam mach te, daß die Männer von Striga ihret wegen Haus, Grund und Familie ver nachlässigten. Noch nie vorher oder nachher wurde ich so gedemütigt wie damals, Her bert. Das schwöre ich Ihnen. Diese drei Frauen waren durch und durch böse, aber das hinderte die männli che Einwohnerschaft trotzdem nicht daran, weiterhin an den ausschwei fenden Orgien auf dem Strigenberg teilzunehmen. Das blieb schließlich für eine der drei Dirnen nicht ohne Folgen, sie erwartete ein Kind ...« »Adalethe!« warf ich ein. »Jawohl.« »Aber sie sagt, alle drei wären ihre Tanten.« »Weil sie nicht weiß, wer nun wirk
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lieh ihre Mutter ist. Wir haben das auch nie in Erfahrung gebracht. Denn während der letzten sechs Schwan gerschaftsmonate lebten sie zurückge zogen und ließen niemanden zu sich. Erst als Adalethe geboren war, hol ten sie sich wieder ihre willigen Op fer aus dem Dorf. Vier Jahre lang ging das noch so weiter, dann er hielten sie von Gott ihre gerechte Strafe. Niemand weiß genau, wie es geschah, aber wir vermuten, daß ein Blitz einen Baum fällte, der die drei Hu ren unter sich begrub. Adalethe war damals kaum älter als vier Jahre, trotzdem gelang es ihr - wie, das wird ebenfalls für immer ein Ge heimnis bleiben —, die drei Verwun deten ins Blockhaus zurückzuschaffen. Adalethe pflegt ihre >Tanten< seit damals, die nun bis an ihr Lebens ende gelähmt und taubstumm sind.« Mich fröstelte. Es war eine schaurige Geschichte, aber sie konnte wahr sein. »Deshalb habe ich gesagt. Adale the habe das Nymphomanische ge erbt.« »Trotzdem«, sagte ich überlegend, »glaube ich, daß sie krank ist. Stel len Sie sich nur vor, welchen Schock sie mit vier Jahren bekommen mußte, als sie ihre drei Tanten hilflos unter einem Baum begraben liegen sah. Sie als Arzt müssen doch erkennen, daß man ihre Veranlagung nicht einfach als Vererbung abtun kann.«
»Ich habe Ihnen die Geschichte er zählt«, entgegnete Dr. Lauriel kühl. »Es steht Ihnen nun frei, sich eine eigene Meinung zu bilden. Aber ich möchte es nicht verabsäumen. Ihnen noch einmal dringendst zu raten, Adalethes Veranlagung nicht medi zinisch erklären zu wollen.« Ich öffnete den Mund, um noch et was zu sagen, aber da wurde an der Türglocke gezogen. »Ich glaube«, sagte ich und erhob mich, »ich werde Ihrem Besuch lie ber ausweichen. Gute Unterhaltung, Dr. Lauriel.« »Gute Nacht, Herbert.« Ich ging auf mein Zimmer hinauf. Aber nichts lag mir ferner, als zu Bett zu gehen. Ich schlüpfte in trok kene Kleider, zog mir den Regen mantel an und schlich mich dann auf Zehenspitzen aus dem Haus. Erst jetzt, nachdem Dr. Lauriel die Hin tergründe ein wenig beleuchtet hatte, konnte ich mir einigermaßen vor stellen, wie kompliziert Adalethes Seelenleben sein mußte - und wie sehr ihr mein unüberlegtes Verhal ten schaden konnte. Ich glaubte, schnell handeln zu müs sen, wenn ich ihr helfen wollte. »Komm nur herein, Herbert.« Die Worte trafen mich wie Peitschen hiebe. Ich war mehr als zehn Meter von der Blockhütte entfernt und wollte sie von meinem Versteck hin 119
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ter einem dichten Strauch beobach ten. Es hatte zu regnen aufgehört, die Wolkendecke war aufgerissen und gab den Vollmond frei. Ich war lange durch den Wald ge irrt, bevor mir seltsame Geräusche, die sich dann als unverständlicher Singsang herausstellten, den Weg zur Blockhütte gewiesen hatten. Aus dem Schornstein kam Qualm, und die dichten Hecken rundherum warfen dunkle Schatten, die zu leben schie »Traue dich nur, Herbert«, drang Adalethes Stimme wieder aus der Hütte. »Meine Tanten und ich ha ben dich bereits erwartet.« Hatte sich dort nicht gerade jemand in die Büsche geschlagen und war im Wald verschwunden? Ich kam mir übertölpelt vor, als ich mein Versteck verließ und auf die halb offenstehende Tür zuschritt. Ein schmaler flackernder Lichtstreif fiel heraus. Zögernd drückte ich gegen die Tür, die knarrend nach innen schwang. »Na, wie gefällt es dir bei uns?« fragte Adalethe vom Kamin her, wo sie in einem eisernen Topf rührte. Sie trug ein altes, zerschlissenes Ne glige, durch das ihre weiße Haut hindurchschimmerte. Ihr schwarzes Haar fiel ihr unordentlich auf die Schultern, ihr Gesicht war hektisch gerötet. Ich konnte nicht sagen, was ich hier 120
zu sehen erwartet hatte, aber alle meine unklaren Vorstellungen wur den von der Wirklichkeit übertrof fen. Die Blockhütte hatte nur einen ein zigen Raum. In der einen Ecke, ge genüber dem Eingang, befand sich der bereits erwähnte offene Kamin; über einigen brennenden Holzscheiten stand ein eisernes Dreibein, an dem der Topf hing. Gleich daneben be fand sich ein einfaches Lager aus Rei sig und Stroh; dort hockten, gegen die Wand gelehnt, drei uralte, ge schlechtslose Wesen. Der flackernde Schein des Kaminfeuers spielte auf ihren toten, leeren Gesichtern, in de nen nur die Augen zu leben schienen - aber selbst diese waren starr und blicklos geradeaus gerichtet. Ich konnte meinen Blick nicht von den drei Alten wenden; sie zogen mich in ihren Bann, obwohl sie sich weder bewegten noch Geräusche ver ursachten. Ihre stille, gespenstische Anwesenheit genügte, um die Auf merksamkeit auf sich zu lenken. Das also waren die drei alten, gelähmten Tanten Adalethes. Welche von ihnen war ihre Mutter? Endlich riß ich die Augen von ihnen los. Es gab nichts Außergewöhnliches mehr in dem Raum zu sehen. Eine große, eisenbeschlagene Truhe stand noch da, ein Tisch, einige Sessel und eine alte, aus den Fugen geratene An richte. Erwähnenswert wäre viel
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leicht auch noch die unbeschreibliche Unordnung, die herrschte. Aber das hatte auf die Atmosphäre keinen Einfluß, sie wurde vom Schein der züngelnden Flammen, vom Gestank, der aus dem Kochtopf kam, und von den drei scheinbar leblosen Wesen geprägt. Ich fühlte mich von ihnen beobachtet, obwohl ihre Blicke durch mich hindurchgingen. »Wie gefällt es dir bei uns?« er kundigte sich Adalethe wieder., Ich versuchte, meine Befangenheit abzuschütteln, aber es gelang mir nicht. In meinem Kopf war ein dumpfes Dröhnen, und auf meine Glieder legte sich eine bleierne Mü digkeit. »Du bist mir nicht mehr böse. Ada lethe?« Sie fuhr herum. »Woher weißt du meinen Namen?« »Von . . . von Dr. Lauriel«, ant wortete ich irritiert. »Wir haben über dich gesprochen. Er hat mir auch sonst noch einiges erzählt, das mir dazu verholten hat, deine schwere Lage besser zu verstehen.« Sie lachte abfällig. »Ich kann mir schon vorstellen, was Dr. Lauriel über mich zu erzählen wußte. Er haßt mich nämlich, weißt du, aber ich hasse ihn noch mehr! Viel mehr. Deshalb koche ich jetzt einen Liebes trank, damit er mir hörig wird. Alle werden sie mir hörig werden und meine Liebe wollen.«
»Können wir nicht . . .« Meine Bei ne wurden schwer, und ich ließ mich auf einen Sessel fallen. »Können wir nicht vernünftig miteinander reden, Adalethe? Ich möchte dir doch hel fen, nichts anderes, nur dir helfen.« »Nichts anderes?« fragte sie anzüg lich und lachte schrill - dabei beugte sie den Kopf weit zurück. »Ha, ha, ha! Er will nichts anderes. Aber bald wirst du es wollen, Herbert. Riechst du ihn noch nicht, meinen Liebes trank?« »Beende diesen Unfug und höre mir zu!« forderte ich, aber meine Stim me klang sehr verloren. »Warum willst du dir und mir andauernd weismachen, du seist eine Hexe. Hat dir das Erlebnis . .. damals so hart zugesetzt?« Wieder lachte sie schrill. Es klang ge mein und ordinär. Ich spürte daß sie knapp vor der entscheidenden Krise stand. Es würde nicht leicht sein, sie zur Vernunft zu bringen, aber wenn mir das überhaupt ge lingen würde, dann in den nächsten paar Minuten. Ich war kein Psy chiater, und ich wußte, daß ich un ter Umständen mehr schaden als nüt zen konnte. Doch das Risiko mußte ich auf mich nehmen. Adalethe konnte jeden Augenblick geistig voll kommen zusammenbrechen. »Warum spielst du uns etwas vor, Adalethe«, sagte ich in leichtem Konversationston. »Du bist ein voll 121
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kommen normales Mädchen, nur eben ein wenig durcheinandergera ten.« »Das habe ich auch lange geglaubt.« Für einen Moment klang ihre Stim me verträumt, aber dann fand sie in jene Gegenwart zurück, die sie wie eine Mauer um sich aufgebaut hatte. »Ich wollte denen nicht glauben, die sagten, ich sei eine Hexe. Aber jetzt weiß ich, daß sie recht haben. Ich habe die Hexenprobe gemacht - und du hast mit eigenen Augen gesehen, daß ich nicht untergegangen bin.« »Das läßt sich wissenschaftlich er klären«, sagte ich, meine Zunge war schwer und trocken. »Du hast die Luft angehalten, deshalb bist du wieder an die Oberfläche getrieben.« Ihr Lachen konnte einen verrückt machen. »Aber die anderen Dinge lassen sich nicht erklären. Die Miß ernten, das kranke Vieh, die vielen Fehlgeburten, die habe ich auf dem Gewissen! Und ich werde noch mehr tun. Ich werde es ihnen heimzahlen, daß sie mich immer verachtet haben.« »Du darfst dir solche Dinge nicht einreden . . .« Sie unterbrach mich. »Und hat nicht augenblicklich ein Gewitter einge setzt, als ich dich im Wald verfluchte? Hast du mich dann weggehen gese hen? Natürlich nicht, weil ich un bemerkt verschwinden kann. Ich ken ne deinen Namen, obwohl du ihn mir nicht gesagt hast, und ich habe 122
dich sofort in die Hütte gerufen, als du dich angeschlichen hast. Das alles kann nur eine Hexe.« »Jetzt habe ich dich bei einer Lüge ertappt«, sagte ich triumphierend. »Denn ich habe gesehen, wie sich je mand von deinem Haus fortgeschli chen hat. Wahrscheinlich einer von deinen Liebhabern aus dem Dorf; der hat dir meinen Namen verraten.« Wieder stieß sie ihr aufreizendes La chen aus. »Was bist du klug, Herbert, und scharfe Augen hast du auch. Es war tatsächlich einer bei mir, der sich ein wenig die Zeit vertrieben hat. Macht es dich nicht eifersüchtig?« Sie stand in einer vulgären Stellung vor mir, das Neglige vorne geöff net, und lachte mich aus. Ich wich ihrem Blick nicht aus. »Adalethe«, sagte ich eindringlich, aber ich wußte nicht mehr, ob es mir meine Müdigkeit erlaubte, überzeu gend zu sprechen, »ich möchte wirk lich nichts anderes als dir helfen. Du bist krank, glaube es mir.« »Verrückt, meinst du, nicht wahr?« Ich schüttelte den Kopf; es machte mich ganz schwindlig. »Ich meine krank. Du leidest psy chisch, weil du mit einem bestimm ten Erlebnis nicht fertigwerden kannst. Wahrscheinlich hast du es verges sen. Aber wenn du dich erinnern könntest .. .« »Ich erinnere mich«, rief sie, plötz
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lieh vollkommen hysterisch. »Ich er innere mich an jede Einzelheit ge nau!« »Dann erzähle mir, was damals ge schah.« Sie kam ganz dicht zu mir, daß ich ihren betäubenden Atem riechen konnte. Ihre Hand wies auf die drei geschlechtslosen Wesen, die regungs los auf dem Reisiglager hockten. »Du willst wissen, was sie mit ihnen gemacht haben?« »Sie?« erkundigte ich mich verwirrt; vor meinen Augen und in meinem Kopf begann sich alles zu drehen. »Was sie getan haben? Hat nicht ein Blitz einen Baum gefällt . . .?« Ich glaubte, sie würde wieder hyste risch auflachen, aber sie spuckte nur abfällig aus. »Das sagt der geschätzte Dr. Lau riel. Aber es war ganz anders, und er weiß es. Ich auch, denn ich mußte zuschauen, als die ganze Bande her einkam und meine drei Tanten halb totprügelte. Ich war vier Jahre, aber ich habe alles gesehen. Nie werde ich vergessen, wie sie mit den Prügeln über meine Tanten herfielen. Und ich weiß auch noch genau, was sie sagten. >Wir zerschlagen eure Beine, damit ihr nicht mehr ausschwärmen könnt, um Unheil anzurichten sag ten sie. >Wir schneiden euch die Zun ge heraus, damit ihr keine Zauber sprüche mehr sprechen könnt<, sag ten sie. Und sie sagten auch:>Wir tre
ten euch die verdammten Schädel ein, damit ihr nicht mehr an Hexe rei denken könnt !< Sie waren alle vermummt, aber später erkannte ich einen von ihnen an der Stimme. Es war Dr. Lauriel. Immer, wenn die anderen eine ihrer abscheulichen Ta ten ausgeführt hatten, schrie er: >So steht es im Hexenhammer! So steht es im Hexenhammer !< Und als dann alles vorbei war, ka men sie zu mir . . .« Während sie erzählt hatte, hatte sie sich ganz fest an mich gepreßt, hilfs bedürftig, nach Wärme und Gebor genheit suchend. In diesem Augen blick war ich immer noch davon über zeugt, daß sie ein psychisch außer ordentlich leidendes Wesen war. Zum Teil stimmte das, aber ich erkannte gleich darauf, daß noch etwas ande res mitspielte. Plötzlich riß sie sich von mir los und stellte sich in geduckter Haltung in mitten des Raumes auf. »Sie kamen zu mir«, erzählte sie weiter, »und fragten mich höhnisch, ob ich verbrannt werden wolle. >Na, du Ausgeburt des Satans, willst du brennen?< fragten sie. Ich schrie da mals. Sie ließen mich in Ruhe. Aber einer von ihnen sagte immer wieder: »Sie ist vom Teufel selbst gezeugt. Sie muß brennen. Sie muß brennen . . . brennen . . . brennen . . .« Adalethe brach zusammen. Schnell war ich bei ihr. Als ich sie auf 123
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meinen Schoß bettete, schlug sie die Augen auf. Ihr Mund verzog sich zu einem höhnischen Grinsen. »Mich hat tatsächlich der Teufel ge zeugt!« »Wir müssen schnell von hier fort«, sagte ich drängend. »Warum?« »Weil . . .« Ich versuchte erst gar nicht, es ihr zu erklären, denn es hätte zu lange ge dauert. Jede Sekunde konnte kost bar sein. Vielleicht bildete ich mir selbst alles nur ein, aber wenn Ada lethes Erzählung auf Wahrheit be ruhte, dann schwebte sie in höchster Lebensgefahr. Wenn die Bewohner von Striga tatsächlich zu solch einer Greueltat fähig gewesen waren, dann würden sie sie vielleicht auch wiederholen. Ich erinnerte mich der Andeutungen, die während der heutigen Versammlung im Rathaus gemacht worden waren. Andeutungen darüber, daß der Grund für die Mißernten und Krank heiten darin zu suchen sei, weil >da mals< nur halbe Arbeit geleistet wor den war. Jetzt kannte ich die ganze Geschichte und wußte, wovon die Rede gewesen war. Der Wunsch nach einer raschen Ab hilfe war laut geworden . . . und der Bürgermeister, der Magister, Jochgraben und Köhler mußten dann beschlossen haben, sich heute abend be; Dr. Lauriel zu treffen ... 124
Es war mit dem Verstand nicht zu fassen, aber alles deutete darauf hin, daß eine kleine verschworene Grup pe dieser abergläubischen Gemeinde vor hatte, nun >ganze Arbeit< zu lei sten. »Adalethe, aufstehen«, drängte ich. »Wir müssen sofort weg von hier.« »Komm und küsse mich. Lange und heiß!« Ich spürte, wie sich ihr heißer Atem auf mein Gesicht legte. In dem Koch topf begann es zu brodeln, und die Luft wurde immer stickiger. Ich versuchte. Adalethe auf die Arme zu nehmen, aber sie war zu schwer. Ich hatte keine Kraft mehr. »Sie können jeden Augenblick kom men, und du weißt, daß sie vor nichts zurückschrecken.« »Hole den Liebestrank.« »Adalethe!« ». . . den Liebestrank ... Er ist be reits gar . . . « Ihre Augen waren halb geschlossen das war das letzte, das ich von ihr wahrnahm. Plötzlich bekam ich einen harten Schlag gegen den Hinterkopf und fiel schwer auf Adalethe. Ich hatte nicht vollkommen die Besinnung ver loren, denn ich konnte alles wie aus weiter Ferne hören, nur sehen konn te ich nichts; vor meinen Augen tanz ten bunte Kreise, die nur einmal von einer blendenden Helle verdrängt wurden.
HEXENHAMMER
20. Jahrhundert wies er strikt von sich. Als ich die Schuldigen beim Na men nannte, erfuhr ich, daß sie alle beim großen Waldbrand ums Leben gekommen waren. Es gab keine Zeu gen mehr, die meine Aussagen bestä tigen konnten. Dr. Lauriel, der Bürgermeister, der Magister, Köhler und Jochgraben » . . . so wirst du angeklagt. Und wie waren verbrannt - sie hatten ihre Schuld gesühnt. Ich hätte mich da die beiden Inquisitoren . . .« mit zufriedengeben können, aber an »Wo ist die Fackel?« dererseits wollte ich Gewißheit über »... Institoris und Sperger die Hin die Ereignisse am Strigenberg erhal richtung in ihrem Hexenhammer festgelegt haben, wird es geschehen ten. Gedächtnisschwund und Wahn vorstellung waren keine zufrieden Adalethe Grön . . .«
stellende Erklärung für mich. »Nehmt den jungen Doktor bei den
Und schließlich wollte ich beweisen, Beinen, und schaffen wir ihn hin daß ein unschuldiges Mädchen als aus.«
Hexe verbrannt worden war. Als Ich glaubte, einen vermummten
meine Verbrennungen geheilt waren, Mann zu sehen, der sich mit der
fuhr ich nach Striga. Bei meiner An einen Hand auf einen Stock stützte
kunft empfing mich das schüchterne und mit der anderen eine Fackel
Geläute der Kirchenglocke, und au schwang.
».. . Brennen sollst du Hexe, bren genblicklich erinnerte ich mich daran, daß der Pfarrer von den Hexenaus nen.«
treibungen gewußt hatte. Der Chor rief: »Brenne, brenne,
Aber zu diesem Zeitpunkt wollte ich brenne!«
Dann schien die ganze Welt in Flam die näheren Umstände von Adale men aufzugehen ... und ich lief um thes Tod nicht mehr aufdecken. Als ich mich in Striga umblickte, kam mein Leben . . .
mir der Verdacht, daß sie vielleicht Niemand wollte meine Geschichte doch eine Hexe gewesen war. Denn glauben. Der Krankenhausarzt be das Dorf war nach ihrem Tod auf hauptete, es handle sich um Wahn geblüht, die Geschäfte hatten geöffnet, vorstellungen, die der Schock ausge der Hauptplatz war von lebensprü henden Menschen bevölkert - es löst hatte. Eine Hexenverbrennung im
Ich hörte Stimmen, konnte verste hen, was sie sagten; jemand schrie die ganze Zeit über markerschüt ternd. Adalethe? »Bindet sie am Kamin fest.« »Wie es einst Papst Innozem der Achte in seiner Bulle niederlegte . . .« »Schütte das Benzin nicht beim Feu er aus!«
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ERNST VLCEK
herrschte ein Trubel, wie er vor eini gen Wochen noch undenkbar gewe sen wäre. Dr. Lauriel hatte nicht recht gehan delt, obwohl er den Menschen von Striga zu einem glücklicheren Leben
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verholten. Da er aber seine Strafe schon bekommen hatte, war es besser die Vergangenheit ruhen zu lassen. So ging ich fort und kam nie wieder nach Striga zurück
Das Amulett von
Gordon R. Dickson
Er hatte den Jungen da hinten am Geräteschuppen zu fest geschlagen das war es. Er hatte etwas früher von ihm ablassen sollen, aber es hatte Spaß bereitet, den kleinen Anfänger in die Mache zu nehmen. Zuviel Spaß; der Kleine hatte sich so richtig zart und weich angefühlt - es war wie eine Katzenbalgerei gewesen, und er hatte sich so hineingesteigert, und dann war es zu spät gewesen. Es war nur ein rotznasiger Bengel von fünf zehn gewesen, der den Ausreißer ge spielt hatte, aber die Eisenbahner bullen würden das, was von ihm übrig war, noch vor Morgengrauen dort hin ter dem Geräteschuppen finden. Deshalb hatte Clint den erstbesten ausfahrenden Güterzug am Rangier bahnhot geschnappt, anstatt die Bahn nach Norden abzuwarten. Nun, da sich der Güterzug im Hinterland des Ozark-Gebietes verlor, sprang er in einer langsamen Kurve aus dem Wagen. Das wirre, wilde Gras des heißen Missouri-Sommers fing den Aufprall seines Körpers ab, als er die Böschung hinunterrollte.
Er kam unten an und setzte sich auf. Der Güterzug ratterte über ihm vor bei und verschwand. Er war ein we nig durchgeschüttelt, mehr nicht. Er grinste in die Stille des Spätnachmit tags, in der nur das Surren der In sekten zu hören war. Man mußte schon ein junger, kräftiger Kerl sein, um von einem fahrenden Güterzug zu springen. Hinauf kam jeder alte Stromer. Er betrachtete seine klotzi gen Oberarme, braungebrannt, glatt und muskulös wie sie waren, mit de nen er sich mühelos von der weichen, krümeligen Erde abstützen konnte; und er lachte laut auf, wie er so auf dem warmen Gras saß. Er fühlte sich plötzlich zum Schnur ren wohl. Zum Schnurren wohl. Das war sein Spezialausdruck, wenn alles gut gelaufen war. Er, die Katze, war wieder mal auf den Pfoten gelandet und konnte sich im nächsten Hinter hof umsehen. Wie würden die An geführten diesmal aussehen? Er stand auf, streckte sich grinsend und warf einen Blick auf das kleine Tal vor ihm.
GORDON R. OICKSON
Am Fuß des Bergrückens war es mehr eine kleine Höhlung als ein echtes Tal. Der Hang, mit Zwerg kiefern bedeckt, rührte steil nach un ten und lief ganz plötzlich in ein fla ches Stück gepflügten Ackerbodens aus, in dem sich harte kurze Getrei dehalme zeigten. Eine kleine braune Hütte stand an einem Ende des Fel des, von seinem Platz aus schäbig an zusehen, und im Hof hackte eine alte Frau mit knöchellangem, schwarzem Rock und brauner Strickweste Holz. Er konnte das Blitzen ihrer Axt in der klaren Luft erkennen, auch wenn sie weit entfernt war, und gleich da nach kam das >Hack<. Und einen Moment streifte ihn ohne ersichtli chen Grund ein sonderbares Gefühl des Unbehagens, wie ein dunkler Mottenflügel der Angst, der eine Se kunde lang tief in seinem Gehirn flatterte. Dann grinste er wieder und nahm sein zerknittertes Jackett auf. »Madam«, sagte er leise und schüch tern, »Madam, könnten Sie mir wohl einen Schluck Wasser geben?« Er kicherte Jnd ging mit leichten, ausholenden Schritten den Hang hin ab auf das Feld zu. Sie hackte immer noch Holz, als er in den Hof kam. Die langstielige Axt blitzte mit ge übtem Schwung am Ende ihrer dür ren, heuschreckenartigen Arme, wel che die Sonne noch tiefer gebräunt hatte als seine eigenen. Die Axt traf jedesmal, wenn sie niedersauste, und 128
die Scheite fielen säuberlich in der Mitte gespalten zu Boden. »Madam . . .«, sagte er und blieb ein paar Schritte seitlich von ihr ste hen. Sie spaltete in aller Ruhe noch ein Scheit, dann lehnte sie die Axt gegen den Hackstock und drehte sich zu ihm herum. Ihr Gesicht war so alt wie die Geschichte selbst und runze lig wie der gepflügte Ackerboden. Man konnte ihr Alter nicht schätzen, aber eine seltsame Vitalität schien durch die äußere Hülle zu glimmen, wie ein Feuer unter der Asche, das immer noch von einer versteckten Kohle genährt wird. »Was kann ich für Sie tun?« fragte sie. Ihre Stimme war spröde, aber kräftig, und sie hatte eine lässige Aussprache. Dennoch schienen die dunklen, ruhigen Augen unter den faltigen Lidern ihn spöttisch anzu sehen. »Könnte ich wohl einen Schluck Was ser haben, Madam?« »Die Pumpe ist da drüben.« Er drehte sich um. Er hatte die Pum pe auf dem Herweg gesehen und war absichtlich von der anderen Seite in den Hof gekommen. Er ging hinüber und trank, indem er die Hand an den Wasserstrahl dicht unter dem Ausflußrohr hielt. Während er trank, spürte er die ganze Zeit ihren Blick; und als er sich umdrehte, sah sie ihn immer noch an.
DAS AMULETT
»Danke, Madam.« Er lächelte ihr
zu. »Ich würde gern - ich weiß, es
ist eine dämliche Frage, Madam, aber
könnten Sie mir vielleicht sagen, wo
ich bin?«
»Spiney Holler«, sagte sie.
»Ach, du liebe Güte«, sagte er.
»Dachte mir doch, daß die Richtung
nicht stimmte.«
»Wo wollten Sie hin?« erkundigte
sie sich.
»Hm - ich war auf dem Heimweg
nach lowa, Madam.«
Sein schüchternes Grinsen war eine
Antwort auf ihr Lachen. »Ich weiß,
es klingt verrückt. Aber ich dachte,
ich wäre auf einem Güterzug nach
lowa. Ich wollte heim.«
»Sie leben in lowa?«
»Ganz in der Nähe von Des Moi nes.« Er seufzte und ließ die Schul tern hängen. »Kann - kann ich mich
setzen, Madam? Ich bin einfach er ledigt - weiß nicht, was ich tun
soll.«
»Ein Brocken wie Sie? Setzen Sie sich,
Junge —« Ihr hagerer Finger deu tete auf den Hackstock, und er kam
gehorsam wie ein Kind durch den
Hof und setzte sich darauf. »Wie
sind Sie hierhergekommen?«
»Hm -« Er ließ den Kopf hängen.
»Ich getrau mich's fast nicht zu sa gen. Meine Leute werden es mir nie
verzeihen. Ich sage Ihnen, Madam,
es war wegen dieses Stechens in der
Seite.«
Er spürte mehr, als er es .sah, daß ein Funke von Interesse in ihr er wacht war, aber als er aufschaute, war ihr Gesicht gelassen. »- dieses Stechen, Madam. Ich hatte es schon, seit ich ein kleiner Pimpf war. Die Ärzte konnten nichts dage gen tun. Und dann schrieb mein Vet ter Lee - er ist Handelsvertreter und kommt überall herum -, mein Vetter Lee schrieb also von diesem Doktor in St. Louis. Nun, meine Leute ga ben mir das Fahrgeld und schickten mich nach unten. Ich kam an einem Samstag an, und der Doktor, der war nicht in seiner Praxis. Also ging ich in dieses Hotel.« Er sah sie an. Sie wartete, und die leichte Brise schlug ihr den Rock um den Körper. »Hm, Madam -« Er stockte. »Ich weiß, daß ich gescheiter hätte sein können. Aber ich konnte dieses klei ne Hotelzimmer nicht mehr sehen, und da ging ich am Samstagabend aus, um dieses St. Louis mal kennen zulernen und - na ja, Madam, ich kam in Schwierigkeiten. Der Alkohol war schuld dran - außer, sie haben mir sonstwas in den Drink geschüttet - jedenfalls wachte ich am Montag morgen auf und fühlte mich gotts jämmerlich, und das Geld meiner Leute war futsch.« Er seufzte stöh nend. »Und Sie werden es auch nie wieder tun.« 129
GORDON R. DICKSON
Der offene Spott in ihrer Stimme ließ seinen Kopf herumrucken. Sie stand da, die Hände auf den Hüften, dicht über dem eng gerafften Rock, und grinste auf ihn herunter. Zorn und Furcht Hammten mit einemmal in ihm auf, aber mit dem Geschick lan ger Übung verbarg er beides. »Junge«, sagte sie. »Sie sind mit Ihrem Märchen an die falsche Tür ge kommen - setzen Sie sich!« sagte sie scharf, als er mit gekränktem Ge sichtsausdruck aufstehen wollte. »Sie glauben wohl, ich würde einen Stro mer nicht erkennen, wenn ich ihn vor mir habe? Ich - ausgerechnet ich! So, möchten Sie nun einen Drink?« »Einen Drink?« fragte er. Sie drehte sich um, ging zu der halb offenen Tür des Hauses hinüber und kam mit einem Einmachglas wieder, das nicht mehr ganz voll war. Sie reichte es ihm. Er zögerte, dann trank er. Seine Kehle brannte wie Feuer. Sie lachte über die Tränen, die ihm in die Augen traten, und nahm ihm das Glas ab. Dann trank sie, ohne jede sichtbare Reaktion, so, als sei die Flüssigkeit in dem Glas lediglich Milch. Danach stellte sie es auf dem Boden ab und kramte eine Zigaret tenschachtel aus ihrer Tasche. Sie zündete sich eine an, ohne ihm das Paket anzubieten, und stand rauchend da, während sie über seinen Kopf hin weg auf die Felder hinausstarrte. 130
»Ich habe letzten Dienstag nach je mandem geschickt, als mein Charon draufging«, sagte sie nachdenklich. »Sie müssen dieser Jemand sein.« Er starrte zu ihr auf und hatte ein Gefühl, als stünde er plötzlich nackt
da. »Sie haben wohl'n Knacks?« fragte er grob, um wieder etwas zu sich zu finden, »'n Knacks oder sonstwas?« Sie drehte sich um und grinste ihn an. »Na, mein Junge«, sagte sie, »Sie sehen so aus, als könnten Sie für ein einsames altes Weib in den langen Winternächten, wenn's nichts zu tun gibt, ein großer Trost sein. Still!« fauchte sie scharf, als er den Mund wieder aufmachen wollte. »Kommen Sie mit mir in die Hütte«, sagte sie. »Ich muß drüber nachdenken.« Argwöhnisch, verwirrt durch die verschiedensten Gefühle in seinem Innern, aber doch neugierig, erhob er sich und folgte ihr nach drinnen. Das Innere der kleinen Hütte war trüb und düster und bestand aus einer einzigen Stube. Ein paar Stüh le mit geraden Lehnen standen auf einem blitzblanken, mit Flickentep pichen belegten Holzboden. Er sah einen Kamin und einen runden Tisch mit vier Beinen. In den Ecken stand allerlei, aber das Dunkel war für seine sonnengeblendeten Augen zu stark, als daß er etwas erkennen konnte. Er meinte, daß es nach Katze roch, aber er sah nirgends eine Kat
DAS AMULETT
ze; nur eine Eule - vermutlich aus te, daß in dem Häufchen zwei- bis dreihundert Dollar sein mußten. Sei gestopft - auf dem Sims über dem ne Hand zuckte darauf zu; und er Kamin. sah die alte Frau an. Sie beugte sich vor. Ein Streichholz »Sehen Sie es sich an. Junge«, sagte wurde angerieben, und eine Kerze sie. »Los. Sehen Sie es an.« flammte knisternd auf. Sie beleuch Er packte das Bündel und blätterte tete die Tischplatte und das Gesicht es durch. Es waren vierzehn Zwan der Alten, ließ aber den übrigen zigerscheine. Über den Tisch hinweg Raum noch dunkler erscheinen. Ein trafen sich ihre Blicke. Er bemerkte, sonderbares Kribbeln kroch über sei wie dünn sie war, wie alt, wie ge nen Rücken. Er starrte die Kerze an. Es war nur eine Kerze. Er starrte brechlich. War sie wirklich gebrech lich? ihr ins Gesicht - trotz aller Eigen »Nur Geld, Junge?« sagte sie spot tümlichkeit war es nur ein Gesicht. »Geld«, sagte sie. »Sie glauben, daß tend zu ihm. »Nur Geld? Na, dann Sie nur das brauchen, was, mein haben Sie es nicht schwer. Sie er ledigen einen Botengang für mich, Junge?« »Was gäbe es sonst noch?« erwi und es gehört alles Ihnen - und nochmal soviel, wenn Sie wieder derte er, aber seine laute Stimme kommen.« klang am Ende recht dünn. Sie brach Immer noch stand er da und sah sie plötzlich in ein mißtönendes Geläch an. ter aus. »Sie wollen mehr wissen?« fragte »Was es sonst noch gäbe, fragt er!« sie. »Ich sage Ihnen, was Sie für das rief sie in das Zimmer, das sie um Geld tun müssen. Sie holen mir ein gab. »Was sonst?« Die Kerze flak fach mein Kochbuch von meiner kerte plötzlich heller auf und blen Nachbarin Marie-Elaine.« dete ihn einen Augenblick. Als er Seine Stimme kam krächzend und wieder sehen konnte, entdeckte er fremd aus seiner Kehle. zwei Dinge vor sich auf dem Tisch. »Was ist der Trick dabei?« Das eine war eine Lederschnur - wie »Aber, Junge, es ist kein Trick da ein Schuhband mit einem kleinen bei«, sagte sie. »Ich habe MarieSäckchen daran - und das andere war ein dünnes Bündel mit Zwanzig Elaine das Kochbuch geliehen, das ist alles, und ich möchte, daß Sie es dollarnoten, raschelnd und neu, von mir holen.« einem Gummiring zusammengehal Er überlegte, und seine Gedanken ten. Er sah das Geld an, und sein 8 Gaumen wurde trocken, als er schätz flitzten hierhin und dorthin wie ein 131
GORDON R. DICKSON
Wiesel auf der Jagd. Aber wohin er auch blickte, er sah Dunkelheit und Unbekanntes. »Wo wohnt sie?« fragte er. »Sie? Jenseits des Berges.« Sie sah ihn an und beugte sich über den Tisch und die Kerze zu ihm hinüber. »Geld, was mein Junge? Nur Geld?« »Ich meine -«, keuchte er, denn der Rauch der Kerze drang direkt auf ihn ein und erstickte ihn fast. »Was ist sonst noch dabei?« »Nur eine einzige Sache, Junge.« Ihre Augen hielten ihn fest. Sie wa ren alles, was er sehen konnte, und sie schillerten im Dunkel. »Etwas ganz Besonderes für Sie, mein Junge, wenn Sie es wollen. Sie haben letzte Nacht ein feines dunkles Ding ge dreht; aber das reicht noch nicht.« »Wovon sprechen Sie?« »Ich spreche über Sie. Marie-Elaine hat sich mein Buch und meinen Cha ron ausgeliehen. Aber sie hat mei nen Charon draufgehen lassen. Jetzt muß sie mir einen anderen besorgen, oder ich nehme ihren Azael weg Sie wissen nicht, wovon ich spreche, was. Junge?« »Nein -«, keuchte er. »Ich will ehrlich mit Ihnen sein. Das gehört zu den Regeln. Sie nehmen also das Amulett, das da vor Ihnen liegt, und tragen es. Mich geht's nichts an, wenn Marie-Flame es schafft. Ihnen das Ding abzunehmen. 132
Und ich kann auch nichts dafür, wenn Sie das Buch öffnen.« Seine Hand streckte sich aus, als hät te sie einen eigenen Willen, und nahm das Säckchen an der Schnur. Ein sonderbarer, säuerlicher Geruch strömte davon aus und drang ihm in die Nase. »Weshalb sollte ich Ihr" Buch öffnen wollen?« stieß er hervor. »Wegen der Pracht und der Macht, Junge, wegen der Pracht und der Macht.« Die Flamme züngelte zwi schen ihnen hoch und blendete ihn. Er hörte, wie sie murmelte: »Drei mal wird sie es versuchen. Junge einmal durch das Fleisch - einmal durch Feuer und Grind - einmal durch die Dunkelheit. Aber tragen Sie das Amulett zum Schütze gegen sie und mich, und das Buch wird Sie nicht in Versuchung führen. So, ich habe Sie gewarnt, .vie es sich gehört.« Die Kerzenflamme sank auf eine normale Größe zusammen. Die Stu be kam ihm wieder ins Bewußtsein. Die Alte beobachtete ihn, ein leichtes Grinsen auf den Zügen. Er stand zögernd da, die schlappe, ölige Lederschnur in der Hand. Er hatte ein warnendes Gefühl, wenn er an gefährliche Orte geriet schließlich hatte er schon einige da von erlebt. Wie eine Katze, so war er nun mal. Und irgend etwas hier flüsterte ihm zu, daß er verschwin
DAS AMULETT
den sollte. Oder war es nur der Mot tenflügel der Angst, der ihn gestreift hatte, als er über dieses Tal blickte? Er glaubte an nichts, nicht einmal an Hexen; aber - all das Geld für ein Buch - und nicht glauben hieß nicht unbelehrbar sein . . . und das machte alles möglich. Wenn Hexen so wa ren . . . Ein Schauer lief ihm über den Rücken; aber gleich danach kam heiß der Trotz und der Zorn über diese alte Oma, die glaubte, sie könnte ihn ausnützen - ihn! Ich werde es ihr zeigen, dachte er, und das Blut pochte heiß in seinen Schläfen. Er schob die Scheine in seine Taschen, hob das Amulett auf, hängte es sich um den Hals und verbarg es unter seinem Hemd. »Ja«, sagte er. »Lassen Sie mich nur machen!« Die Alte lachte. »Braver Junge!« sagte sie mit sprö der Stimme. »Sie können es nicht verwechseln, wenn Sie es sehen. Ein schwarzes Buch mit einer goldenen Kette und einem goldenen Schloß daran. Sie werden es sehen, wie es ist. Sie kann Sie nicht verblenden.« »Sicher«, sagte er. »Ich hole es.« Er trat zurück, drehte sich um und ging aus der Tür. Er kam hinaus in die goldene Abendsonne. Sie lag prall auf den Feldern, und obwohl der Sonnenuntergang nahe war, mußte er nach der Dunkelheit drinnen einen Moment lang die Augen gegen die Helligkeit schließen.
Er wandte sich dem Berg zu, der mit seinen Zwergkiefern schwarz vor ihm aufragte. Ein staubiger Fußweg zweigte von der Hütte ab und schlän gelte sich auf den Berg zu, wo er sich verlor. Er merkte, daß die alte Frau ihn von der Hüttentür aus beob achtete. »Bis später«, sagte er und winkte ihr kurz zum Abschied zu. Aber sie gab keine Antwort; und er wandte sich trotzig ab. In seinem Innern brannte heftiger Unmut. Der erste kühle Hauch des zur Neige gehenden Tages erfüllte seine Lungen, als er den Berg hinaufstieg. Er spür te, wie schön es war, am Leben zu sein; und das Geld drückte angenehm gegen seine Hüfte - er konnte es bei jedem Schritt den Hang hinauf durch die Tasche spüren. Aber das unange nehme Gefühl, das ihn bei der Be gegnung mit der alten Hexe erfaßt hatte, ließ ihn nicht los. Der Pfad wand sich steil nach oben. Hin und wieder bildeten halbverborgene Felsbrocken eine Art Steintreppe. Der Berg hatte nicht sehr hoch ausge sehen, aber die Sonne war kaum noch am Horizont zu sehen, als er den Grat erreichte. Er blieb stehen, um Atem zu schöpfen und um zu über legen, ob er weitergehen oder das Geld nehmen und zurück zu den Schienen gehen sollte. Unten, da wo er hergekommen war, legten sich lan 133
GORDON R. DICKSON
ge Schatten auf die Felder der alten Frau und auf die Eisenbahnkurve zur Rechten. Vor ihm lag das zweite Tal halb im Schatten des Berges, und nur ein kleines Haus, ähnlich wie das der Alten, nur etwas schmucker und mit etwas Buntem an den Fenstern, war noch nicht vom Dunkel erfaßt. Ein plötzlicher Schauer, der Angst und doch wieder keine Angst war, lief ihm über den Rücken, als er so über dem Flachland stand und vom letzten Dämmerlicht verschlungen wurde. Das hier war Hexenland. Er konnte spüren, wie der Glaube aus dem Boden unter seinen Armeestie feln drang und ihn erfüllte. Etwas Unheilvolles brannte in der fernen Röte der untergehenden Sonne, und die aufkommende Nachtbrise strich aus dem Schatten der Kiefern hervor und streichelte seine Wange mit den kühlen, erregenden Fingern der Dun kelheit. Er stolperte mit einem sonderbaren Eifer den Pfad auf der anderen Sei te des Berges hinunter. Er schien schnell vorwärtszukommen, aber das Tal lag ganz im Dämmerlicht, als er von den Kiefern ins offene Weide land hinaustrat. Der Himmel über ihm war blutrot vom Sonnenunter gang, und das Dach des Hauses wurde von dem Widerschein rötlich braun getönt. Hinter den Fenstern schimmerte ein kleines gelbes Licht. 134
Er überquerte die Wiese und stol perte unversehens in einen kleinen
Bach. Er durchwatete ihn, kletterte
eine niedrige Böschung hinauf und
kam in den Hof. Er war noch ein
gutes Dutzend Schritte von der Tür
entfernt, als sie sich öffnete. Eine
Frau stand plötzlich im Eingang, nur
als Silhouette sichtbar. Das Dämmer licht war zu schwach, um ihr Gesicht
zu zeigen, und hinter ihr drang der
starke Schein einer Lampe ins Freie.
Er kam an die Stufen, und im glei chen Moment flitzte etwas Großes,
Graues an ihm vorbei und ver schwand in der offenen Tür. Es hatte
fast wie eine Eule ausgesehen, aber
die junge Frau schien es nicht zu be achten. Er warf einen Blick auf die
Stufen. Es waren drei, und da die
Frau oben stand, war sie einen guten
Kopf größer als er. Sie war noch
ziemlich jung. Das dünne Sommer kleid schmiegte sich eng an ihre For men und enthüllte einen schlanken,
straffen Körper.
Er blieb stehen und sah zu ihr auf.
»Hallo«, sagte er. »Ich -« Eine
plötzliche Schläue hielt seine Zunge
davon ab, zu erwähnen, daß er we gen des Buches gekommen war. »Wis sen Sie, ich glaube, ich habe mich
verlaufen. Wo bin ich?«
»Nicht weit von Peterborough«,
sagte sie. Sie hatte eine tiefe, rauh melodische Stimme. »Kommen Sie
herein.«
DAS AMULETT
Er ging die Stufen nach oben, und sie trat zur Seite, um ihn vorbeizu lassen. Der schwache Duft eines sinn lichen Parfüms stieg ihm in die Nase und erinnerte ihn ganz plötzlich dar an, daß er ein Mann und sie eine Frau war. Wie im Haus der Alten blendete ihn das Lampenlicht einen Moment lang. Aber er faßte sich schnell; und als er aufsah, stand sie hinter einein Tischchen, nicht unähn lich jenem anderen, wenn auch klei ner, und betrachtete ihn. Eine Eule war nirgends zu sehen. Die Stube, wie im Haus der alten Frau, war voll von Schatten und unterschied sich von der anderen hauptsächlich durch eine große gelbe Katze, die vor einem Kamin saß. Ein kleines Feuer brannte und vertrieb die schnell zu nehmende Nachtkühle. Auf dem Sims darüber stand ein großes schwarzes Buch, verschlossen mit einer golde nen Kette und einem goldenen Schloß. All das nahm er mit einem einzigen Blick wahr, aber es war völ lig unwichtig neben dem Anblick der jungen Frau im Lampenlicht. Er hatte niemals erwartet, daß sie so schön sein würde. Sie war groß für eine Frau, und vollkommen graue Augen sahen un ter feinen dunklen Brauen hervor, Ihr Haar hatte die Farbe der tief sten Schatten und fiel in einer dich ten weichen Welle um die schlanken
Schultern. Ihre Lippen waren auch ohne Schminke leuchtendrot, und ihre Kinnlinie stieg zart aus dem schlan ken Hals. Ihr Körper war rundum so, wie ihn Männer erträumen. »Sie sind Marie-Elaine«, sagte er, ohne zu denken. »Man nennt mich Marie-Elaine«, nickte sie. »Sie haben eine verrückte Nachbarin über dem Berg«, sagte er. »Sie -« Vorsicht bannte plötzlich seine Zun ge. »Sie hat mir Ihren Namen ge nannt, aber sonst hat sie mir nichts von Ihnen erzählt.« Seine Stimme klang ein wenig belegt bei dem An sturm von Gefühlen. Sie lachte - nicht wie die alte Frau gelacht hatte, sondern weich und warm. »Sie ist alt«, sagte Marie Elaine. »Sie ist sehr alt.« »Zum Teufel, ja!« sagte er und starr te sie immer noch an. Und dann, ganz langsam, wiederholte er es. »Zum Teufel . . . ja . . .« »Sie sind ein Fremder«, meinte sie. »Nennen Sie mich Bill.« Er sah sie über den Tisch hinweg an. »Ich fuhr auf einem Güterzug mit, und der Bremser sah mich. Ich mußte bei dem Haus der alten Dame abspringen. Ich bekam einen Schluck Wasser bei ihr. Sie sagte, hier entlang ginge es zur Stadt.« »Sie müssen müde sein.« Ihre Stim me war weich wie Seide. 135
GORDON R. DICKSON
»Ich bin vollkommen fertig.« »Setzen Sie sich«, sagte sie. »Ich ma che uns Kaffee.« »Vielen Dank.« Er sah sich um und entdeckte einen Stuhl auf zwei schlanken Schaukel kufen, mit einer gedrechselten Lehne und einem dünnen dunklen Kissen auf der Sitzfläche. Er ging hinüber und setzte sich vorsichtig — das Ding hielt. Wasser plätscherte, und MarieElaine kam mit einem Kessel durch das Zimmer. Sie beugte sich über das Feuer, drehte einen Eisenstab mit Haken über die Flamme und hängte den Kessel daran. Das rote, flackern de Licht umspielte die glatte Linie ihres Körpers von der weichen Krüm mung ihres Rückens bis zur Hüfte und das wilde Blut in ihm begann zu sieden. »Wie sieht es in Peterborough aus?« fragte er, nur um etwas zu sagen. »Es ist eine Stadt«, erwiderte sie. Sie stand auf, drehte den Kopf zu ihm herum und lächelte ihm zu, ein Lächeln, so heiß wie die Flammen des Feuers. »Eine kleine Stadt. Frem de kommen nicht oft hin.« »Und gefällt Ihnen das?« fragte er kühn. »Nein«, sagte sie sanft und sah ihn an. »Ich mag Fremde.« Er spürte, wie sein Herz langsam und schwer fällig pochte. »Was hat sie von mir erzählt?« »Wer?« Er sah sie verwundert an. 136
»Ach, die alte Vettel? Nicht viel.« Er hielt die Hände über die wärmenden Flammen. »Aber ich hatte nicht den Eindruck, daß sie besonders viel von Ihnen hielt.« »Das tut sie auch nicht«, sagte Ma rie-Elaine. »Sie haßt mich. Und sie hat ihren Charon verloren.« »Manche dieser alten Schrullen sind nun mal so.« Es war eine verrückte Unterhaltung. Er unterdrückte den Impuls, den Kopf zu schütteln, bis er wieder klar war. Er konnte doch mit Frauen sonst besser umgehen. Das Klirren von Metall drang ihm ans Ohr. Sie nahm den Kessel vom Feuer. Hatte das Wasser schon gekocht? Sie trug ihn in den Schatten. Er spürte, daß ihn Augen anstarrten; und als er nach unten sah, bemerkte er, daß es die Katze war. Groß und sandfarben saß sie aufrecht vor dem Feuer und fixierte ihn. Ihre halbge schlossenen Augen schienen ihn ver träumt zu beurteilen. »Sie leben hier ganz allein?« fragte er. »Ganz allein.« Ihre Stimme erreich te ihn, und er blinzelte in das Dun kel, um zu sehen, wo sie stand. »Hat sie Ihnen keine Warnung vor mir er teilt?« »Warnung?« fragte er. Die Katze be wegte sich plötzlich. Er hörte das leise Tappen von Pfoten auf dem Bo den, und dann sprang sie auf seinen
DAS AMULETT
Schoß. Er zuckte bei dem Gewicht zusammen, doch dann hob er die Hand, um sie zu streicheln. Aber sie rümpfte plötzlich die Nase, fauchte und sprang wieder auf den Boden. »Warnung?« fragte er. »Nein. Wes halb?« Marie-Elaine lachte. »Nur so«, sagte sie. Sie kam aus den Schatten ins Licht des Feuers, eine sonderbar aussehende irdene Kaffeekanne in einer Hand und zwei schwarze Porzellantassen in der an deren. Sie nahm auf der Sitzbank ihm gegenüber Platz, füllte beide Tassen und reichte ihm eine davon. Er nahm sie, und sie lag ihm heiß in der Hand. »Warum hat sie es auf Sie abgese hen?« fragte er. »Oh, das ist rein geschäftlich.« Sie warf ihm über die kleine, flammenerhellte Entfernung ein sattes Kat zenlächeln zu. »Wir verkaufen un sere Waren den gleichen Leuten.« »Ja«, sagte er. »Ihr gutes Aussehen hat wohl gar nichts damit zu tun?« Er beobachtete sie, um zu sehen, wie das Kompliment einschlug. Sie neig te das von dunklem Haar einge rahmte Gesicht ein wenig zur Seite, und ihre umschatteten Augen er wärmten sein Blut. »Mein Aussehen?« »Sie sind eine Puppe«, sagte er, in der plötzlich rauhen Stimme, die ge wöhnlich bei Frauen so gut wirkte.
Ihr Lächeln wurde etwas tiefer. Das war alles. Es genügte. »Noch etwas Kaffee?« fragte sie. »Ja, bitte.« Er hielt ihr die Tasse hin. Ihre Finger berührten seine Hand und brannten sie, während sie die braune Flüssigkeit in seine Tasse goß. »Milch und Zucker?« fragte sie. »Schwarz.« Er schüttelte den Kopf und trank. Der Kaffee schmeckte an ders als alles, was er bisher getrun ken hatte. Köstlich. Als er den ge krümmten Boden anstarrte, merkte er, daß er ihn ausgetrunken hatte, ohne die Tasse ein einziges Mal von den Lippen zu nehmen. »Noch etwas?« Er nickte, und sie schenkte wieder nach. Diesmal hielt er die Tasse fest, ohne zu trinken, und wärmte sich die Hände daran. Über den Rand hinweg sah er die Frau an. Mit dem Kaffee im Innern erschien ihm das Feuer heller und sie - sie stand vor ihm und hatte sich nicht bewegt, aber als er sie nun be obachtete, schien sie, ohne einen Mus kel zu rühren, näher und näher zu schweben und alle seine Sinne zu ru fen. Sein Kopf schwirrte. Er roch den wilden, schwachen Duft ihres Parfüms; und ebenso wie die Kerze im Haus der alten Frau, drängte sie alles andere in den Schatten. »Sagen Sie -« Es war ihre Stimme, die heiser zu ihm herüberklang. »Was?« fragte er und starrte sie ge blendet an. 137
GORDON R. DICKSON
»Würden Sie etwas für mich tun?« »Etwas? Was denn?« Er wäre auf gestanden und zu ihr hingegangen, aber das Amulett hielt ihn fest, als sei es ein schweres Gewicht um den Hals. »Sie sollten nicht fragen«, hauchte sie. »Einfach irgend etwas.« Sein Kopf drehte sich. Er spürte, daß er dahintrieb, als sei er vollkom men betrunken. »Sie müssen mir erst sagen -«, keuchte er. Plötzlich war die Verzauberung vor bei. Das Zimmer wirkte wieder nor mal, und sie wandte sich mit der Kaffeekanne von ihm ab. Er beugte sich in seinem Sessel ein wenig zu ihr hinüber, aber etwas hatte sich zwi schen sie gestellt. »Gibt es in Peterborough ein Ho tel?« fragte er. »Kein Hotel«, erwiderte sie achsel zuckend und stellte die Kaffeekanne zurück an ihren Platz. »Schlafen Sie hier«, sagte sie gleichgültig. Seine Brust juckte mit einemmal, und als er die Stelle kratzen wollte, schlös sen sich seine Finger durch das Hemd um das Amulett. Hastig senkte er die Hand. »Oh, das ist nett von Ihnen«, sagte er. »Ich finde es wirklich großartig.« Die Worte kamen plump heraus, und er trank seine zweite Tasse Kaffee in großen Schlucken, um seine Er regung und Verwirrung zu verber gen. Nun, da er auf das Amulett 138
aufmerksam geworden war, juckte und brannte es wie ein lebendiges Ding. Es mußte irgend etwas ent halten, wogegen er eine Allergie be saß. Einmal bei einem Picknick war er von Gifteiche ganz aufgeschwollen gewesen. Als er von seinem Kaffee aufschaute, bemerkte er, daß sie auf gestanden war. »Hier«, sagte sie. Sie nahm die Lampe vom Tisch, und ihr Schein erhellte ein Bett an der Wand hin ter ihr. »Hier schlafe ich. Aber ich habe noch eines - da drüben.« Als sie durch das Zimmer ging, teilten sich die Schatten vor ihr, und er sah an der gegenüberliegenden Wand eine schmale Pritsche aus schwerem Holz mit einem Gitterrost, der un ter einer alten Matratze vorstand. »Ich hole Ihnen etwas Bettzeug.« Sie drehte sich um und ging auf eine dunkle Türöffnung in der hinteren Wand der Stube zu. Der Kater miaute plötzlich an der Vordertür, und sie sagte über die Schulter: »Las sen Sie ihn bitte hinaus!« Dann war sie durch das dunkle Viereck ver schwunden. Er stand auf und spürte die Erleich terung, als das Amulett von seiner Haut wegpendelte. Er ging an die Tür und öffnete sie. »Da, Mieze«, sagte er. Sie kam nicht sofort. Als er durch das Halbdunkel starrte, entdeckte er plötzlich, daß grüne Augen ihn reg
DAS AMULETT
los ansahen. »Komm schon! MieDie kühle Nachtluft blies ihm durch die offene Tür ins Gesicht, frostig und antiseptisch. Den Rücken dem Zimmer zugewandt, nestelte er die obersten Knöpfe seines Hemdes auf und holte das Amulett mit seinem kleinen Gewicht heraus. Einen Mo ment lang flackerte das Feuer hin ter ihm hoch auf, färbte die halb offene Tür vor ihm und beleuchtete auch ihn. Er sah an sich herunter und entdeckte einen großen häßlichen Fleck auf der Haut, da wo das Amu lett gewesen war. In Gedanken hörte er wieder das Murmeln der alten Hexe - einmal durch das Fleisch - einmal durch Feuer und Grind - Wut schoß mit einemmal in ihm hoch. Glaubte sie etwa, daß sie ihm mit diesem Zeug Angst einjagen konnte? Glaubte sie, er würde es nicht wagen -? Er ruckte mit einem Knurren an dem Amulett. Die Schnur riß, und er warf das Ding in die Dunkelheit hinaus. Plötzliche Erleichterung überkam ihn - und zugleich erwachte die Nacht draußen zu Leben. Mit tausend wis pernden Stimmen drang ihr Ruf auf ihn ein, erteilte ihm Ratschläge, be lehrte ihn, verlockte ihn. Aber er war jetzt zu sehr auf der Hut, um sich hereinlegen zu lassen, zu schlau, um überlistet zu werden. Klug, ganz
klug drehte und wand und ringelte sich sein Verstand um die eigene Achse wie eine Schlange, die hung rig inmitten von Leckerbissen lag und nur wartete, weil sie noch nicht wußte, was sie nehmen sollte. Die Hitze seines Körpers war jetzt vor bei, ebenso die Lust seines Fleisches nach Marie-Elaine, und nur sein ge rissener Verstand arbeitete. Er wür de es ihnen zeigen. Er würde es ih nen beiden zeigen. Plötzlich kam ihm zu Bewußtsem, daß er immer noch in der offenen Tür stand. »Mieze?« rief er. Die grünen Augen waren verschwunden. Er ging wie der ins Haus und schloß die Tür hin ter sich. Die Frau richtete sein Bett. »Haben Sie Azael hinausgelassen?« fragte sie. »Ja«, sagte er. Etwas Besseres als sie, dachte er, als er sie ansah - et was Besseres gibt es hier für mich. Ich werde dir zeigen, wer wen diri giert, dachte er. Sie lächelte ihm zu, weshalb, das wußte er nicht. »Seien Sie nicht voreilig«, sagte sie und sah ihn an. »Wer ist denn voreilig?« erwiderte er. »Sie nicht«, sagte sie. Und sie war plötzlich von ihm weg in die Schat ten bei ihrem Bett gehuscht. »Machen Sie das Licht aus«, drang ihre Stimme zu ihm. Seine Finger fummelten an der heißen kleinen Metallschraube herum, und der helle, 139
GORDON R. DICKSON
weißglühende Zylinder wurde dun kel. Er sah durch die Dunkelheit wieder zu ihrem Bett hinüber, aber das Licht des Feuers tanzte wie eine Schranke zwischen ihnen. Er trat an sein Bett und setzte sich auf die harte, gesteppte Unterlage. Er zog Schuhe und Socken aus und horchte, ob sie sich entkleidete — aber er hörte nichts. Er schlüpfte unter die Decken, immer noch mit Hemd und Hose bekleidet - aber nachdem er sich zugedeckt hatte, überlegte er es sich anders und zog das Hemd aus. Er ließ es einfach neben das Bett fallen und ließ den Oberkörper unbedeckt. Er lag auf dem Rücken und wartete auf den Schlaf. Aber er wollte nicht kommen. Das Feuer tanzte. Er fühlte sich mit einemmal von dem Kaffee wie be rauscht und hellwach. Durch das Wegwerfen des Amuletts waren sei ne Gedanken unheimlich leicht und schnell geworden, und ein starkes Machtgefühl überkam ihn. Hexen oder Weiber, dachte er, sie konnten es nicht mit ihm aufnehmen. Weiber oder Hexen . . . beinahe hätte er in der Dunkelheit über den unwider stehlichen Ansturm seiner dahinra senden Gedanken laut aufgelacht. Die Ereignisse des Tages flirrten wie ein zu schnell ablaufender Film an sei nen Augen vorbei. Er sah den Jun gen, den Güterzug, die Alte am Fuß 140
des Berges. Wieder kletterte er den steinigen, bewaldeten Hang hinauf und spürte das Unheil im Sonnen untergang. Aber er wunderte sich nicht mehr darüber. Er akzeptierte es und fühlte das Echo wie von einem übereifrigen Resonanzboden in sei nem Innern ausstrahlen. Der dunkle Fisch seiner Gedanken schwamm in der schwarzen Flut des Schweigens, das ihn umgab. Sein hef tiges Verlangen nach Marie-Elaine, nach ihrem weiblichen Körper, war vorbei. Jetzt lockte ihn etwas Tie feres, Größeres, Stärkeres an. Es war ein Geschmack, ein Gefühl, ein Hun ger, eine Befriedigung - ganz genau die gleiche, die er gespürt hatte, als er den Kleinen zusammenschlug. Es war, als hätte sich plötzlich ein Mund in ihm geöffnet, von dessen Existenz er keine Ahnung gehabt hatte und der nun gefüttert werden wollte. Ir gendwo in seiner Umgebung war die Nahrung, die ihn befriedigen wür de, der Trank, der seinen Durst stil len würde. Er lag still in der Dun kelheit und horchte. Von der anderen Seite der Stube kam das weiche und gleichmäßige At men - eine schlafende Frau. Seine Augen waren weit offen und durch suchten das Dunkel; und während er sich umsah, wurde es im Zimmer heller. Zuerst verstand er nicht, weshalb. Doch dann sah er, daß sich die bei
DAS AMULETT
den Fenster des Raumes inmitten des Dunkels schwach und geisterhaft ab zeichneten; und als er durch das nä here hinausstarrte, merkte er, daß der Mond über den Berg kam. Sein metallisch kalter Rand stand knapp über dem Grat aus Felsen und Bü schen, und er sah, daß Licht wie Quecksilber von ihm ausströmte, den Hang herunterfloß und die Spitzen und Äste der dunklen Kiefern her vortreten ließ. Er starrte wieder in die Stube. Dun kel war sie immer noch, vollkom men in Undurchsichtigkeit getaucht. Aber durch irgendeine schwache Lichtspiegelung hob sich das Buch auf dem Kaminsims deutlich von der dü steren Wand dahinter ab. Die Goldkette schimmerte im Halbdunkel durch das Spiel eines merkwürdigen Lichtreflexes. Hunger und Durst würgten ihn. Er spürte den Drang, große Dinge zu tun, und ein Gefühl des Triumphes und der wilden Freude trieb ihn aus dem Bett. Er stand aufrecht im Zim mer, dann bückte er sich schnell, hob Socken, Schuhe, Hemd und Jackett auf und zog sie an. Als er zum Ge hen fertig war, zog das Buch auf dem Kaminsims seine Blicke wieder wie ein Goldschatz an. Mit drei lan gen Schritten war er dort und klemm te es sich unter den Arm. Es war schwer - schwerer, als er gedacht hat te, aber mit der wilden Energie, die
jetzt Besitz von ihm ergriffen hatte, hätte er auch ein Dutzend davon mit Leichtigkeit getragen. Er ging schnell an die Tür, öffnete sie einen Spalt und schlüpfte in die Nacht hinaus. Der Mond stand am Himmel, und man glaubte, in einen Tag hinauszutreten, der nur das Ne gativ eines Filmes darstellte. Die Sonne würde ihn kopieren, wenn die dunklen Stunden zu Ende gingen. Kaltes Licht überflutete Flachland und Berge, und noch bevor er ein Dutzend Schritte von der Hütte zu rückgelegt hatte, waren seine Augen daran gewöhnt, und er fühlte sich in der Nacht zu Hause. Er ging schnell, schien sie auf Zehen spitzen mühelos zu durchschwimmen, und mit der scharfen, kalten Luft in den Lungen überkam ihn ein be rauschendes Ungestüm. Das Buch fühlte sich durch die Schwere, mit der es ihm im Arm lag, kostbar an. Die Wärme, die von dem dicken Le dereinband ausstrahlte, schien durch das Hemd in seine Seite zu dringen und erfüllte ihn mit einer sonderba ren, fiebrigen Hitze. Er preßte es noch enger an sich, so daß der Schlag seines Herzens daran widerhallte. Im Laufschritt erreichte er den Berg zwischen den Mulden mit ihren bei den Hütten - aber er bewegte sich ganz mühelos, als handelte es sich nicht um einen steilen Hang, sondern um ebenes Land. Und am Berggipfel 141
GORDON R. DICKSON
blieb er stehen, nicht weil er außer Atem war, sondern weil er jetzt das Buch und das Geld hatte und weil die Bahnschienen vor ihm im Mond schein lagen und weil ein Güterzug kommen würde, noch bevor die Dun kelheit verflogen war. Er hatte ge wonnen, aber gleichzeitig zerrte et was an ihm, und er ging nur mehr zögernd weiter. Schließlich stand er unentschlossen am Gipfel. Der Nachtwind blies ihm kalt ins Gesicht; und plötzlich ver losch das Fieber, das ihn bis hierher gebracht hatte, und er stand mit einem Male kühl und klardenkend da, als sei er eben aus einem langen Nachtschlaf erwacht. Betäubt, bestürzt, beraubt stand er da und starrte um sich. Was war ge schehen? Die nackte Erde, das nackte Mond licht und der nackte Wind gaben ihm keine Antwort. Der dunkle Zauber, der in ihnen gewohnt hatte, war mit einemmal fort, ihm entrissen, als hät te er nie existiert. Und er stand mitten in der Nacht allein auf einem Berg gipfel des Ozarkgebiets und hielt ein abgenutztes, altertümliches Buch in der Hand. Mit zitternden Fingern schob er das Buch unter einen Arm und griff in die Hüfttasche. Steifes Papier raschelte unter seinen Fingern, und er zog es heraus, um es im Mondlicht anzusehen — dünne Zwan zigdollarnoten. 142
»Geld!« murmelte er. Und dann, in einem Aufwallen wilder Enttäu schung und Wut, schrie er plötzlich: »Geld!« und warf es weit weg in den Nachtwind. Die Scheine flatterten, fielen dunkel ins Mondlicht, verloren sich in den Schatten der beiden Hän ge. Er riß das Buch hervor und hielt es geschlossen mit beiden Händen vor sich. War es das? War das ein Weg zu ihrem reichen und geheimnisvollen Leben? Sein Herz klopfte. In den Tiefen der Mulde hinter ihm kräuselte sich Rauch aus dem Kamin von MarieElaines Hütte. Vor ihm lag die Hüt te der älteren Hexe ebenso still und dunkel da. Unter dem Nachthimmel schienen sie und die ganze Landschaft im Rhythmus seines Herzens zu po chen und zu schimmern — und zum Nachhall einer mächtigen, lautlosen Trommel, die weit weg war, aber wartete. Das Buch verbrannte ihm die Finger. »Weshalb nicht«, murmelte er. »Weshalb nicht?« Langsam schloß sich eine Hand um den Deckelrand des Buches. Der Geschmack, den er im Mund gehabt hatte, als er den Kleinen hinter dem Werkzeugschup pen zusammengeschlagen hatte, war jetzt wieder da. Das rote Herdfeuer spielte noch einmal um die Linien der gebückten Marie-Elaine. Sie war teten hinter dem Buchdeckel auf ihn. Er riß es auf.
DAS AMULETT
Schwarzer Blitz sprang aus der Seite vor ihm auf und blendete ihn. Er stolperte zurück, ließ das Buch fallen und schrie doch in Ekstase auf. Ge blendet tastete er auf allen vieren danach und miaute. Das ferne Trommeln wurde lauter. Der Trommler kam näher. Die Land schaft verschmolz im Mondlicht und schwamm um ihn. Er bemerkte fremdartige Gerüche und große Din ge, die sich bewegten. Er kroch in den Schatten eines Umhangs, und die bei den Hexen waren irgendwie da und standen im Hintergrund. Aber die Blindheit verbarg das Buch wie ein Vorhang der Dunkelheit vor ihm, und aus diesem Vorhang kam eine Frage. »Ja!« rief er eifrig, sehnsüchtig. Und die Frage wurde ihm noch ein mal gestellt. »Ja, ja!« rief er. »Alles! Macht mich so klein und winzig, wie ihr wollt, aber macht mich zu einem von euch.« Und wieder die Frage ... »Ich will es!« rief er. »Ich werde es tun! Für immer und ewig ...« Dann teilte sich die Dunkelheit und nahm ihn auf. Und noch während er den Anfang seiner Straße vor sich
sah, spürte er, daß er kleiner wurde, zusammenschrumpfte. Einen letzten Augenblick sah er ihn vor sich, den stolzen, geschmeidigen und sauberen Körper mit den muskulösen, sonnen gebräunten Armen, mit seiner Kraft und seiner Freiheit; und dann wa ren seine Glieder zu Knochen und Sehnen zusammengeschrumpft, zu dichtem Pelz. Sein Bauch verschwand, seine Schenkel streckten sich, und ihm wuchs ein langer Schwanz. Und die beiden Hexen kreischten und heulten vor Gelächter. Sie stan den wie Schwestern Arm in Arm da, wie Schwestern des Bösen, und er füllten den Nachthimmel mit ihrem rauhen, unmäßigen Gelächter. »Narr«, kreischte die Alte, ließ die Junge los und rannte zu ihm, um ihm ein Halsband mit Leine um den pelzigen Katzennacken zu streifen. »Ein Narr, der sich einbildet, er könnte seinen Verstand mit unserem vergleichen! Jetzt bist du mein Cha ron, mein Knecht und Bote, mein Meßdiener! Narr, der du einst ein Mensch warst, glaubst du, du könn test essen, bevor du bei Tische be dient hast?«
143
Das Hexenei von
Fritz Leiber
Als Giles Wardwell am Samstagmor gen aurwachte und Joan nicht neben
ihm lag, als er sie nirgends im Haus
fand und auch keine Nachricht auf
dem Küchenblock entdeckte, als auf
sein Klopfen an der Labortür keine
Antwort kam und ein Blick aus dem
Fenster zeigte, daß der blaue Wagen
vor dem Haus stand, da war sein
erster Impuls, die Sache sofort der
CAMZ zu berichten.
Der finstere alte Mister Copps hatte
persönlich die ganze CAMZ-Beleg schaft darauf aufmerksam gemacht,
daß ihrer aller Leben wie auch das Le ben ihrer Lieben von Seiten der ame rikanischen Feinde zwar nicht ernst haft, aber doch immerhin bedroht
war, nun da Copps, Arbuthnot, Ma ther und Zim Public-Relations-Dien ste für das Secondman-Raketen-Pro jekt leisteten. Mister Zim, der trotz
seiner türkischen Herkunft wie ein
gestrenger alter Puritaner aussah,
hatte ihnen aus direkter Quelle ein
paar schaurige Einzelheiten über rus sische Spionagemethoden erzählt.
Kurz bevor sie gestern zu Bett ge
gangen waren, hatte Joan Giles ge fragt: »Besitzen die Russen Hypno se-Strahlen? Ich habe das Gefühl, je mand versucht, meine Gedanken zu kontrollieren.« Wenn er jetzt an seine Antworten dachte, wurde ihm ganz schlecht. »Höchstens in Science Fiction-Zeitschriften«, hatte er scherzhaft auf ihre erste Frage ge sagt. Und auf die zweite: »Gott steh uns bei, wahrscheinlich deine Schwie germutter.« Giles beschloß, die Brille aufzuset zen und sich noch einmal genauer umzusehen, bevor er die CAMZ an rief. Er konnte das rote Nachthemd, das Joan trug, nicht finden, aber er fand die kleine Notiz, die sie verfaßt und auf den Nachttisch gelegt hatte. »Lieber Giles« (so lautete sie), »Ich mache Ferien von unserer Ehe, viel leicht einen Monat lang, vielleicht für immer. Falls es das letztere ist, sage ich dir noch Bescheid. Du weißt, daß ich nicht zu euch passe. Auf alle Fäl le kann ich deinen langweiligen Kon formismus — und den deiner Mut ter! — nicht mehr ertragen. Vielleicht 145
FRITZ LEIBER
öffnet mir das Zusammensein mit anderen Menschen die Augen. Du kannst ehrbar bis auf die Knochen bleiben und den Leuten erzählen, ich würde Mable in Wisconsin besuchen, aber dort bin ich nicht. Alles Gute, Joan.« Als Giles das gelsen hatte, wurde Rußland zu einem Namen in den Geographiebüchern und die CAMZ rückte weit in die Ferne. Dafür war eine alte Furcht zur quälenden Wirk lichkeit geworden: das Wissen, daß er fünfzehn Jahre älter als Joan und ein echter Bostoner war und daß eine Vollglatze vom fünfunddreißig sten Lebensjahr an nicht das gleiche war wie der romantisch glattrasierte Schädel eines Yul Brynner. Er hatte schon hin und wieder zu vor befürchtet, daß Joan unglück lich war, obwohl das keineswegs seine schlimmste Furcht war. Er hatte ge wußt, daß sie seine Mutter nicht aus stehen konnte, obwohl sie die alte Dame nur zwei- bis dreimal in der Woche sahen. Er hatte das Gefühl gehabt, daß Joan in letzter Zeit trotz ihrer Bridgespiele und ihres Kosme tik-Hobbys rastlos war. Und daß sie nicht zu ihnen paßte, stimmte genau — sie hatte um Boston keine richti gen Freundinnen bis auf die drei amüsanten, aber gesellschaftlich un möglichen Frauen, mit denen sie Bridge spielte. 146
Er fragte sich, wohin sie gegangen sein mochte. Mister und Mrs. Bishop — Joans Eltern — waren beide tot, und es waren weder Onkel, Tanten oder enger verwandte Vettern und Kusinen da. Mable war nur ihre Zimmerkollegin vom College, und sie erwähnte sie selten. Joan hatte ein eigenes kleines Bankkonto. Während er über diese Dinge nach dachte, ging er ganz automatisch, im mer noch mit seinem olivgrünen Schlafanzug bekleidet, in einen an deren Teil des Hauses, bis er vor der Tür zu Joans Labor stand. Er zöger te. Er hatte immer gespürt (auch wenn Joan nie einen Ton gesagt hatte), daß sie es nicht gern hatte, wenn er in ihre Parfum-Destillerie eindrang, und er hatte besonders darauf geachtet, nicht gegen ihren Wunsch zu verstoßen. Außerdem verband sich der Raum in seinem Innern mit einer tiefen Furcht vor ihr. Dann öffnete er die Tür und ging hinein. Sein erster Eindruck war Düsterkeit — die Jalousien waren dicht geschlos sen — und unnatürliche Wärme. Die kleinen Kolben und Gläser, der elektrische Mixer für die Cold Cream und die genau ausgeklügelten De stillieranordnungen schienen alle auf dem gleichen Platz wie sonst zu ste hen. Er schaltete das Deckenlicht ein.
DAS HEXENEI
Dann sah er es: eine Plattform mit silbrigen Seiten, von der dicke Ka bel ausgingen und auf der ein riesi ges weißes Ei von der Größe seines Kopfes lag — ja, sein erster phanta stischer Gedanke war, daß diese schreckliche Anordnung dazu diente, seine Kahlheit lächerlich zu machen. Er trat näher. Die Hitze strahlte di rekt von der Plattform aus — der bucklige, weiche rötliche Stoff, auf dem das Ei lag, war so heiß, daß man ihn fast nicht berühren konnte. Und es schien eine leichte Vibration von ihm auszugehen, die schwach an den Fingerspitzen spürbar war. Das Ei sah erstaunlich echt aus. Win zige Poren saßen in seiner Oberflä che. Aber es war viel zu groß für ein Straußenei oder sonst etwas, das Gi les sich vorstellen konnte. Und er war überzeugt davon, daß die Tem peratur sehr viel höher war als bei normalen Brutvorgängen. Er wollte sie verringern, überlegte, wie sich das wohl bewerkstelligen ließ, und be schloß dann, es lieber nicht zu ver suchen. Er legte das Ohr an die Scha le, konnte jedoch im Innern keine Bewegungen wahrnehmen. Neben der Plattform stand eine hohe Pappdeckelschachtel, die groß genug war, um das Ei aufzunehmen. Sie war außen silbern, zur Hälfte mit Holzwolle gefüllt, und ringsum la gen Silberschleifen.
Giles erkannte die Schachtel. Joan hatte sie von ihrem letzten BridgeMittwoch mitgebracht und ihm er klärt, daß es sich um ein Nipp-Un getüm handelte, das sie nie wieder ansehen wollte und das sie wahr scheinlich seiner Mutter zum Geburts tag schenken würde. Reichlich verwirrt, klammerte sich Giles an zwei Gedanken, die ihm einigermaßen vernünftig erschienen: erstens — eine Frau, in deren Labor ein Wunderei ausgebrütet wurde, ging kaum freiwillig einen Tag von daheim weg, geschweige einen ganzen Monat oder gar für immer, egal, wie sehr sie ihren Ehemann verabscheu te; zweitens — wenn jemand etwas über Joan oder das Ei wußte, dann eine oder mehrere ihrer drei Bridge partnerinnen: Mary Nurse, Margo Cory und Alice Irgendwie — Greene? Nein, Redd! Eine halbe Stunde später hatte sich Giles in aller Hast angezogen, flüch tig rasiert, eine Tasse Kaffee getrun ken — wobei er einen guten Eßlöffel Kaffeepulver aufgebrüht hatte — und sich mit dem blauen, nüchtern chrom losen Wagen von seiner Wohnung »hinter Back Bay<, wie er sich auszu drücken pflegte, zu Margo Corys un möglicher Adresse in der Prince Street auf den Weg gemacht. Das war in Bostons überfüllten-!, anrüchi gem North End. 147
FRITZ LEIBER
Keine der drei Frauen stand im Te lefonverzeichnis, und Joan schien kein Adreßbuch zu führen. Margo Corys Adresse hatte er auf einem leeren Umschlag entdeckt, der hinter Joans Schreibtisch gerutscht war. Giles fuhr nie sehr gern ins North End, und er wollte auch nicht an das Ei denken, denn es war, milde ausgedrückt, einfach unmöglich. So überlegte er sich während der Fahrt, für wie langweilig und konformistisch man ihn halten konnte. Er entschied, daß er dem Durchschnitt von Boston angehörte. Zum Beispiel hatte er kürzlich das Schachspielen aufgege ben und sich statt dessen der Vogel kunde gewidmet, weil Mister Mather festgestellt hatte, daß zu viele sla wische und baltische Typen Schach spielten. »Semiten natürlich auch«, hatte Mather seinen Vortrag tadelnd beendet. »Ich glaube, wir können es als ein rein russisches Spiel betrach ten.« Konnten seine sonntäglichen Vogel beobachtungen etwas mit dem Ei zu tun haben? Noch etwas, womit sie ihn lächerlich machen wollte? Giles glaubte nicht, daß er seinen Feld stecher je auf einen Vogel gerichtet hatte, dessen Eier größer als eine Kaugummiblase waren. Margo Corys Wohnung befand sich in einem ganz neuen, schmalen, ho hen Mietshaus mit Glaswänden. Als er mit dem neumodischen, mit einer 148
Glasrückwand versehenen Aufzug in den zwölften Stock fuhr, wurde die alte Nordkirche und dann der grüne Fleck des Copps-Hill-Friedhofs sicht bar. Margo Corys Wohnung war mit hel len Schwedenholzmöbeln eingerichtet, die in sonderbarem Kontrast zu dem dunklen Ton des Glases standen. Margo selbst war barfüßig, hatte ei nen grauen Leinenmorgenmantel um sich gewickelt, und ihr kurzes Haar war zerzaust wie bei einem Jungen. Giles zuckte zusammen, als er sah, wie jung sie war, und daran dachte, daß Joan auch nicht älter sein konn te. Er sagte sich vor, daß er ihnen wie ein alter Tattergreis vorkom men mußte. Erst dachte er, daß sie ein regloses, hellbraunes Kätzchen an die Brust drückte, doch dann sah er, daß es seltsam große Schultern und spitze, dolchartige Zähne hatte, während die Vorderpfoten an Hände erinnerten. Margo bemerkte seinen Blick und ki cherte. »Kitty ist nur ein Steifftier und besteht ganz aus Plüsch«, sagte sie. »Wußten Sie, daß Teddybären Steifftiere sind, die nach Teddy Roo sevelt benannt wurden? Das hier ist eine Art Säbeltiger. Hier, sehen Sie!« Sie hielt ihm das Tier kurz hin. Bei dieser Bewegung öffnete sich das Oberteil ihres Morgenmantels und enthüllte, daß sie in dieser Gegend alles andere als jungenhaft war und
DAS HEXEN EI
Er hätte normalerweise vielleicht außerdem vermutlich die Absicht hatte, eine Brause zu nehmen. Sie muffig auf diese Ehrlichkeit reagiert. schien die Blöße gar nicht zu be Statt dessen spürte er, daß sich in seinem Inneren etwas öffnete, das er merken. den ganzen Tag trotz des Eies und »Nein, ich habe Joan seit Mittwoch der anderen Schocks sorgfältig ver nicht gesehen«, erklärte sie Giles auf schlossen gehalten hatte. seine Frage. Sie ging nervös auf die »Miß Cory«, sagte er, »glauben Sie, Glaswand zu. »Weshalb kommen Sie daß meine Frau mit Zauberei herum nicht hier neben mich«, sagte sie mit stümpert?« einem merkwürdigen Lachen, »und »Herumstümpert?« rief das Mäd genießen meine Aussicht?« chen schrill. »Also, das ist eine merk Ein anderes Mal wäre Giles vielleicht würdige Frage. So etwas wie Hexen in Versuchung geraten, ob nun ech gibt es doch nicht.« ter Bostoner oder nicht, jetzt aber »Ich weiß«, sagte Giles und sprach sagte er nur: »Miß Cory, ich bin sich alles vom Herzen. »Aber sie hat auf der Suche nach meiner Frau.« Sie sah ihn an. »Sie machen sich tat dieses Labor, in dem sie alles mög liche zusammenbraut, und ich habe sächlich Sorgen um Joan?« sie unsinniges Zeug murmeln hören, »Natürlich.« Er schnitt ein Gesicht das vielleicht Zauberformeln oder und überkreuzte mit einer schnellen Beschwörungen sein könnten, und sie Bewegung die Finger in Brusthöhe. Sie sah ihn stirnrunzelnd an und zog hat eine sehr verbitterte Lebensein stellung, und dann könnte sie von schließlich den Morgenmantel enger der ersten Hexe abstammen, die 1692 um sich. »Ich bin Exhibitionistin, Mister in Salem gehängt wurde — auch wenn Wardwell, und Nymphomanin«, er man nicht weiß, ob Bridget Bishop Kinder hatte. Und dann haben wir klärte sie trotzig. »Es ist eine rare die Tradition der Hexenkunst über Kombination.« all hier in Neuengland und Boston »Wirklich, Miß Cory, Sie müssen und ganz besonders im North End.« mir diese Dinge nicht erzählen«, er Er deutete durch das Rauchglasfen widerte er. ster. »Gleich da drüben auf dem »Ich tue es aber«, entgegnete sie. Copps-Hill-Friedhof sind die Ma »Wenn ich davon spreche, kann ich thers begraben, die so sehr dagegen mich besser beherrschen. Überlegen ankämpften, und —« Sie, was ich Ihnen erspare. Aber »Entschuldigen Sie, Mister Wardwell, wenn ich mich schon beherrsche, muß ich kann Ihnen nicht länger zuhö ich wenigstens davon reden.« 149
FRITZ LEIBER
ren«, unterbrach ihn das Mädchen. »Ich habe eine leichte Psychose, wie ich Ihnen schon sagte, und an man chen Tagen ist sie stärker als an an deren. Heute ist es besonders schlimm — ich würde platzen, wenn ich nicht Kitty hätte.« Sie preßte den PlüschSäbeltiger an sich. »Ich gebe Ihnen Alice Redds Adresse — vielleicht kann Sie Ihnen etwas über Joan sa gen.« Sie rief ihm fröhlich in den Korridor nach und ließ dabei zufällig ihren Morgenmantel wieder aufgehen: »Denken Sie daran, Mister Ward well, so etwas wie Hexen gibt es nicht!« Alice Redd lebte in einer würdigen alten Wohnung am Louisburg Square, und sie schien auch auf andere Weise ganz das Gegenteil von Margo Cory zu sein — eine porzellanzarte junge Frau mit blaßrötlichem Haar, die einen Morgenmantel aus dicker wei ßer Brokatseide trug und ihn betont von oben bis unten zugeknöpft hatte. Sie verdarb den guten Eindruck ein wenig, indem sie sofort losstöhnte. »Kommen Sie schnell herein, Mister Wardwell, damit ich wieder zusam menbrechen kann. Ooh, was für ein pelziges Gefühl ich heute im Kopf habe. Ich weiß, daß man Schlafmit tel nicht zusammen mit Alkohol neh men soll, aber es muß noch etwas anderes als das sein.«
Sie deutete flatterig auf einen Sessel und legte skh selbst auf eine Couch mit zerbrechlich wirkenden Beinen, an deren Kopfende sich ein kleiner, steifer brauner Affe klammerte. Gi les hatte den Eindruck, daß er fein geflochten war — man hatte fast das Gefühl, winzige Schuppen zu sehen. Alice Redd streckte schwach die Hand aus und legte einen Finger in die Pfote. »Pongo ist eine solche Hil fe, wenn ich mich nicht wohlfühle«, erklärte sie Giles. »Ich weiß nicht, was ich ohne ihn anfangen sollte. Er vertreibt mir die Melancholie und ähnliches. Er soll von Hongkong oder vielleicht auch von Maläya kommen. Ja, ja, Mister Wardwell, ich habe großen Spaß an den Bridgenachmit tagen mit Joan und den anderen Mädchen. Wissen Sie, wir hoffen, daß wir später drei Tische zusam menbekommen, dann wären wir zwölf und könnten Doppelturniere veranstalten. Und dann könnten wir auch einen Turnierleiter brauchen, denn eine Frau wäre zu schusselig. Hat Joan Ihnen schon erzählt, daß — ooh, mein Kopf! Nein, ich habe Joan seit Mittwoch nicht mehr gesehen. Mary Nurse könnte Ihnen vielleicht etwas sagen, ich gebe Ihnen ihre Adresse, aber sie hat seit zwei Tagen Grippe. Irgend etwas scheint mit uns allen nicht zu stimmen, finden Sie nicht auch? Ooh!
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Nein, ich glaube nicht, daß Joan un glücklich war, Mister Wardwell. Aber ich kann Ihnen eines verraten — sie konnte diese CAMZ-Leute nicht leiden, für die Sie arbeiten, sie fand, daß sie zu viele Einschränkungen machten und überall umherschnüffel ten und diktatorisch handelten. Ge yßg^ wiß müssen wir uns Sorgen wegen der Russen machen, aber Joan sagt, daß es diesen CAMZ-Leuten Spaß pSK--;-. macht, sich zu sorgen, und daß sie in rabenschwarzen Gedanken schwel gen. Ich weiß, es sind feine alte Bo stoner, die meisten wenigstens, aber hat Mister Arbuthnot nicht für Se nator MC Carthy gearbeitet, und stammt Mister Mather nicht von den Hexenjägern Mather ab — ooh! Pon go, komm her und tröste Mammi!« »Da wir schon von Hexen sprechen, Miß Redd«, sagte Giles spontan, »mir ist da ein amüsanter Gedanke gekommen. Sie wissen, daß man von der Hexe annahm, sie hätte einen Vertrauten — ein kleines Tier, das ihr Satan verehrt hatte, um sie zu schützen und ihr einen Helfer beim Hexen zu geben. Nun, wenn der alte Mather mich heute morgen begleitet hätte und Mary Cory mit Kitty und Sie mit Pongo gesehen hätte —« »Haha, sehr komisch. Und Mary Nurse mit Purzel. Er hätte sie Pup pen genannt, weil sie nicht leben, aber er hätte behauptet, daß sie zu Leben erwachten, sobald ihnen an
dere Leute den Rücken zukehrten. Ooh! Pongo, laß es aufhören! Aber, Mister Wardwell, wenn 5ie ernsthaft an Hexen gedacht hätten, so hätten Sie doch sicher Joan dar über befragt — nein, ich sehe schon, Sie sind der typische Bostoner, ler entscheidende Fragen immer erst stellt, wenn es längst zu spät ist oder —Ooh!« »Ich möchte nur wissen«, sagte Gil les leise, »in welcher Form Satan .ei nen Hexen die Schutzgeister zukom men läßt. Bestimmt überreicht er sie ihnen nicht in einer braunen Pap er tüte oder am Schlafittchen. Man könnte sich denken, daß eine Art Zeremonie dabei ist.« »Hahaha — ooh! Mister Wardwell, es tut mir leid, aber Pongo und ich müssen uns jetzt einfach zusammen rollen und schlafen, das ist die dn zige Möglichkeit, die Kopfschmerzen loszuwerden. Aber erst schreibe ich Ihnen noch Mary Nurses Adnsse auf.« Giles sah das Papier erst an, als er draußen war und neben den schvar zen Eisenpfählen stand, welche ien Privatpark am Louisburg Sqiare einzäunten. Es stellte sich heraus, iaß sie in der Salem Street wohnte, und er sträubte sich dagegen, noch einmal ins North End zu fahren. Deshalb machte er sich auf den Heimweg, und er war erleichtert, daß sein Haus in
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zwischen nicht in Brand geraten war. kam am Paul-Revere-Haus mit sei Er setzte sich hin und beobachtete ner nägelbeschlagenen Tür vorbei, das Ei, und dabei kamen ihm eine die genauso aussah wie die Tür im ganze Anzahl verrückter und beun Hause der gehenkten Salem-Hexe ruhigender Gedanken. Rebecca Nurse. Er las Joans Notiz noch ein paar Nurse. mal durch. Soweit er das feststellen Karren und lärmende Menschen ver konnte, war es ihre Handschrift oder stopften die Salem Street, und man eine gute Imitation, aber jetzt fiel hörte ebensoviele englische, wie ita ihm auf, daß sie drei Ausdrücke ent lienische Laute. hielt, welche Joan verabscheute: »das Mary Nurse war über eine düstere letzter«, »auf alle Fälle« und »Leu Außentreppe zu erreichen, die in den te«. Wenn jemand die Absicht ge ersten Stock über einen Fischladen habt hätte, ihm vorzutäuschen, daß führte. An den Schaufenstern zeig Joan davongelaufen war, und die ten sich glitschige Flecken, die von ser Jemand verhindern wollte, daß lebenden Schnecken und hochklet er Nachforschungen anstellte, dann ternden Tintenfischen verursacht wur lag nichts näher, als eine Notiz wie den. Er erinnerte sich, daß Joan ihm diese zu fingieren. erzählt hatte, Mary Nurse sei Künst Er nahm einen kleinen Hammer und lerin und fühle sich nur inmitten des hielt ihn über das Ei . . . doch nach Volkes wohl. ein paar Sekunden trug er ihn wie Aber sie hatte für ein paar Verände der in die Küche. rungen gesorgt. Ihre Tür am Ende Und auf einmal hatte er das Gefühl, des Korridors war nicht wie die an daß sich im Innern des Eies etwas deren, sondern bestand aus blanker regte. Er beugte sich dicht darüber, Eiche, in der ganze Reihen von Na bis seine Wange glühendheiß war, gelköpfen steckten. aber er hörte nichts mehr. Auf sein Klopfen rief ihn eine tiefe Nach drei Stunden, die er unschlüs Stimme herein. Das Zimmer war sig verbrachte, fuhr er zurück zum schlecht gelüftet und überfüllt, Staf North End. Er passierte das CAMZfeleien drängten sich zwischen Stüh Hauptquartier, das sich in dem neu len und Buchregalen — Atelier und en Gebäude am SewaII Court be Wohnzimmer in einem. fand, und erinnerte sich daran, daß Und Schlafzimmer dazu. Im Licht der Platz nach Richter Sam Sewall von zwei dicken Kerzen sah er, daß benannt war, der die Hexenverhand Mary Nurse auf einer breiten Couch lungen in Salem geleitet hatte. Er lag, zugedeckt mit einer Decke aus 152
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zusammengesetzten Karos. Sie war groß — mindestens einsfünfundsieb zig, schätzte er — aber nun lag sie wie ein Holzklotz da. Sie sah wirklich krank und blaß aus, und ihr dich tes blondes Haar ßoß weich über das Kissen. Aber ihre tiefe Stimme war voll kommen ruhig. »Ich habe Sie erwar tet, Giles Wardwell. Margo Cory kam am Nachmittag vorbei.« »Es tut mir leid, daß Sie Grippe haben«, meinte Giles. »Es ist keine Grippe«, sagte Mary Nurse mit einem tiefen, trockenen Lachen. »Jemand hat mich mit einem Fluch belegt. Uns alle, würde ich sa gen. Was suchen Sie?« »Purzel«, gestand Giles. Wieder lachte die große Blondine. Sie winkte Giles heran und hob den Deckenzipfel. Giles sah hin — und wäre beinahe rückwärts aus dem Zimmer gerannt. Auf dem Leintuch neben ihr, direkt unter ihrem Arm, saß eine pech schwarze Spinne mit einem Körper so groß wie eine flachgedrückte Oran ge und haarigen schwarzen Beinen, die einen Riesenteller umspannt hät ten. Rund um den Körper liefen hellgrüne Keile, und zwei rubinrote Augen starrten ihn an. Das konnte nicht wahr sein, sagte sich Giles vor. Es mußte — »Schwarzer Samt.« Zum drittenmal lachte Mary Nurse. Sie ließ den Dek
kenzipfel wieder fallen. »Dennoch,
ohne Purzel wäre ich bestimmt schon
tot. Sie haben sicher schon bemerkt,
daß wir in einer neurotischen Ab hängigkeit zu unseren kleinen —
Spielzeugen leben. Deshalb ist Joan
in Schwierigkeiten. Sie hat keines —
noch nicht.«
Giles starrte ein Bücherregal an, das
halb im Schatten stand. Er entdeckte
ein Ei, das ebensogroß war wie das
in Joans Labor.
»Sicher sind Ihnen noch ein paar an dere Dinge an uns aufgefallen«,
sagte Mary Nurse.
»Ihre Tür, Ihr Name«, erwiderte
Giles und zwängte sich zwischen ei ner Staffelei und einem Stuhl durch,
um näher an das Büchergestell her anzukommen.
»Alle unsere Namen sind Hexen namen. Sogar Ihr Name, Giles Ward well. Samuel Wardwell war einer
der fünf Hexenmeister, die in Salem
gehenkt wurden. Giles Cory wurde
mit Felsblöcken erdrückt, weil er sich
weigerte auszusagen.«
Giles sah, daß das Ei eine leere Hül le war. Es hatte einen großen Sprung
und ein Loch an einer Seite. »Was
ist das?« fragte er scharf.
»Das ist das Ei einer Spinne — ich
meine, eines Dinosauriers ...« Mary
Nurse unterbrach sich und sah ihn
mit brennenden Augen an. »Ich
glaube nicht, daß wir noch länger
um den heißen Brei herumschleichen
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sollten, Giles Wardwell. Sie haben Joans Ei gefunden? Unzerbrochen?« »Ja. Ja.« »Dann warten Sie ab, bis es ausge brütet wird — wenn Sie Ihre Frau lieben. Ich glaube, es ist an der Zeit. Ich würde selbst hingehen, aber ich bin verhext und kann mich nicht be wegen. Ich würde den Schwarzen Mann hinschicken, aber wir haben noch keinen. Joans einzige Hoffnung und Sicherheit liegen in dem Ei. Fol gen Sie den Zeichen. Nennen Sie es Lurchi. Stellen Sie keine Fragen. Be eilen Sie sich!« »Gut.« »Der Gehörnte beschütze Sie, Giles Wardwell.« Das Labor erschien heißer als vorher, aber vielleicht kam es auch daher, daß Giles schwitzte. Auf den ersten Blick schien das Ei unverletzt zu sein, doch dann sah er, daß von einem Punkt nahe der Spitze ein winziger dreifacher Sprung ausstrahlte. Wäh rend er ihn beobachtete, verlängerte sich einer der Sprünge abrupt um eine ganze Fingerspanne. Im Innern hörte man ein schwaches Kratzen und Scharren. Er setzte sich hin und beobachtete den Punkt, wobei er die Hände fest auf die Knie legte. Die Hitze schwächte ihn. Er zog Jacke und Hemd aus und stellte ohne allzu große Überraschung fest, daß er un 154
ter dem Hemd noch die Schlafanzug jacke trug. Die Sprünge verlängerten sich; an dere erschienen. Plötzlich wurden kleine Schalenstückchen abgesprengt, und ein winziger blauer Arm mit einem Zackenkamm wie bei einer Ei dechse schoß heraus, tastete wild um her, und wurde wieder ins Innere gezogen. Zitternd ging Giles um das Ei her um und versuchte ins Innere zu se hen. Aber er hielt eine Armlänge Abstand ein. Zwei winzige blaue Hände brachen methodisch kleine Schalenteile ab und vergrößerten damit das Loch. Er konnte nicht mehr von dem Geschöpf erkennen, da es im Innern dunkel war. Der Raum verschwamm vor ihm. Giles zerrte am Kragen seiner Schlaf anzugjacke, dann stolperte er ans Fenster und riß es auf, sog ein paar mal tief die kühle Luft ein. Der Raum beruhigte sich wieder. Er sah, daß das Loch im Ei jetzt so groß wie eine ausgebreitete Hand war. Er hatte den halben Weg zu der Plattform zurückgelegt, als etwas Blaues herausschoß, dreimal im Kreis über den Boden jagte, zu schnell, als daß man es genau sehen konnte, und dann durch das offene Fenster flitzte. Giles packte seine Jacke, ging an die Vordertür und sah in der Dunkel heit um sich. Er konnte weder auf
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dem Rasen noch an der Auffahrt et was sehen. Er ging um seinen Wagen herum und blieb wie erstarrt stehen. Eine kräftige, schillerndblaue Ei dechse hatte sich auf seine Kühler haube gesetzt, gerade so, als halte sie _^, sich für eine Kühlerfigur. Sie schien sich mit den hinteren Klauen und der linken Vorderpfote in dem Me tall festzuklammern. Der rechte Arm o. B war neben dem Gesicht mit dem scheußlichen Kamm ausgestreckt und deutete geradeaus. f »Lurchi!« rief Giles. Das blaue Geschöpf zitterte und streckte den Arm noch weiter aus. Giles kletterte in den Wagen und ließ ihn an, die Blicke auf Lurchi gerichtet. Als er an die Straße kam, f. zeigte der Arm abrupt nach rechts. y Giles gehorchte mit klopfendem Her zen. Nach einiger Zeit begann Giles zu erraten, wohin sie fuhren. Als sie sich Sewall Court näherten, hob Lur chi die Pfote, als wollte er sagen: »Langsam jetzt«, und dann deutete er nach unten. »Stop.« Fred, der Parkwächter und Liftboy der CAMZ, kam ans Fenster. Er |' warf einen Blick auf die Kühlerhaube. Dann sagte er: »Ich bringe ihn schon hinein, Mister Wardwell.« Sie tausch ten Plätze. Als Wardwell ging, rief ihm Fred aufgeregt nach: »Mister Wardwell!« Giles drehte sich um. »Ich hätte schwören mögen«, sagte
Fred hinter dem Steuerrad, »daß Sie eine blaue Kühlerfigur am Wa gen hatten — eine Art wilder Dino saurier. Aber jetzt ist er fort.« Giles sagte ein wenig steif: »Blau? Wild? Aber, Fred, wer würde sich in Boston so etwas an den Wagen tun?« In der Vorhalle spielte Lurchi um die Füße von George, dem Nacht wächter, Versteck. Giles vermied es, den kleinen Schutzgeist anzusehen. »Fünfter Stock, Mister Wardwell?« fragte Geroge. »Alle unsere hohen Tiere sind schon oben.« Er warf ei nen Blick auf Giles' Pyjamajacke, die unter dem Jackett hervorkam. »Man hat Sie sicher direkt aus dem Bett geholt, Mister Wardwell. Muß wohl ein Notfall sein, obwohl ich noch keine Armeeleute nach oben gebracht habe.« Giles hüllte sich in ein würdevolles, geheimnisvolle Schweigen. Im fünften Stock waren die Vor hänge hinter der dicken Glaswand des Hauptbüros fest zugezogen. Nur ein Streifen Licht schimmerte an ei nem Ende durch. Als sich die Auf zugstür schloß, eilte Giles durch den Korridor zu seinem Büro, aber et was zupfte ihn an der Hose. Lurchi führte ihn in Mister Arbuthnots Bü ro, das dem Hauptbüro am nächsten war. Arbuthnots Büro war leer und dun kel, aber die Tür zum Hauptbüro i?5
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stand offen. Giles ging auf sie zu und hielt abrupt an. Mister Copps, Mister Arbuthnot, Mi ster Mather und Mister Zim standen alle am anderen Ende des Haupt büros. Sie sahen sehr ernst und wür devoll in ihren dunklen Anzügen drein, nur hielt Mister Zim einen kleinen goldenen Stab in der Hand und hatte einen spitzen, hohen schwarzen Hut mit goldenen Ster nen und Monden aufgesetzt, wäh rend Mister Arbuthnot eine Maschi nenpistole im Arm hielt. Und Joan war auch da. Sie starrte in Giles' Richtung, und die einzige Lampe schien ihr direkt ins Gesicht. Sie saß aufrecht und mit trotziger Miene auf einem Hocker, und ihre Arme waren seitlich ausgestreckt und mit dünnen Seilen an Aktenschränke gefesselt. Sie trug ihr rotes Nachthemd. Ein Teil von Giles' Gehirn jagte zurück in das Salem von 1692, wo Bridget Bishopf >ein rotes Schnürleibchen< vor ihren grimmigen, nüchternen Richtern getragen hatte. Joan warf mit einer Kopfbewegung eine schwarze Haarsträhne aus den Augen und sagte laut: »Aber ich sage Ihnen doch immer wieder, das ist lächerlich. Mein Mann hat mir nie auch nur ein Wort von dem Second man-Raketen-Projekt gesagt. Ich ha be keine kommunistischen Beziehun gen. Vermutlich wurde ich zur glei 156
chen Zeit vom FBI für harmlos er klärt wie Giles. Der Rest ist Unsinn — oder Wahnsinn.« »Muß ich das alles noch einmal mit Ihnen durchexerzieren?« fragte Mi ster Mather mit seiner leisen Stimme, die so deutlich und weittragend war. »Mrs. Wardwell, Amerika hat älte re und schlimmere Feinde als den Kommunismus. Leider untersucht der FBI nicht, ob jemand Beziehungen zum Hexentum hat oder nicht. Aber die CAMZ, welche die schönste Tra dition unseres Neuenglands verkör pert, kümmert sich darum. Und ir gendwie kommen Werbeleute leich ter mit dem Okkulten zusammen als das Militär.« Er deutete auf ein Bündel Blätter in seiner Hand. »Ge stehen Sie, daß Sie eine Hexe sind, Joan Wardwell, sagen Sie uns, wo und wie Sie sich dem Satan ver pflichtet haben, verraten Sie uns Ihre Bannsprüche und Zaubergeheimnis se, und, vor allem, nennen Sie uns die anderen Hexen, die bei Ihrem Sab bat mitmachen — oder Sie zwingen uns, diese Tatsachen an Ihrem Kör per zu beweisen. Mister Copps, ist die Nadel bereit?« »Ihr könnt mich nicht zwingen, ge gen mich selbst auszusagen«, entgeg nete Joan. »Ich berufe mich auf den fünften Zusatzartikel.« »Wir in Massachusetts haben ihn nie ratifiziert«, erklärte ihr Mister Ma ther. »Erinnern Sie sich, was mit
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Giles Cory geschah, Mister Copps?« Giles wollte vorwärtsstürmen, aber dann blieb er stehen. Vier Männer und eine Maschinenpistole! Seine Hände wurden eiskalt. Dann strich etwas Heißes über seine Wange, sein Gesicht wurde kalt, als hätte jemand eine Eismaske darübergestülpt, und beinahe hätte er laut aufgeschrien. Lurchi war an seinem Jackett hoch geklettert, klammerte sich an sein Re vers wie ein Seemann an ein Segel und leckte ihm die Wange mit seiner langen, schwarzen Zunge. Mister Arbuthnot drehte sich um und starrte direkt zu seiner Bürotür, wo bei er die Maschinenpistole hob. Giles erstarrte. Er hoffte nur, daß das Dämmerlicht ihn verbarg, wenn auch seine blassen Hände und das Gesicht gegen den Hintergrund abstechen mußten. Aber nach einem suchenden Blick wandte sich Mister Arbuthnot wieder an Joan. Mister Mather sagte: »Joan Bishop Wardwell, bedenken Sie die Hilflo sigkeit Ihrer Lage. Ihr armer, dum mer Mann, genarrt durch die Notiz, die- Sie ihm auf unseren hypnoti schen Befehl schrieben, als wir Sie riefen, muß glauben, daß Sie ihn verlassen haben. Ihre Mithexen, wer und wo sie auch immer sein mögen, werden durch Mister Zims nützliche kleine Beschwörungen in Bann ge halten. Gestehen Sie, bereuen Sie Ihr gottloses Tun, retten Sie, was noch
von dem braven amerikanischen Mädchen zu retten ist, das sich der Verblendung Satans ergab.« »Nein!« schrie Joan, daß es weit hin hallte. »Verglichen mit dem, was ihr angeblich für Amerika tut, ist das Hexentum die Anständigkeit selbst!« »Die Nadel!« Lurchi, der sich immer noch mit den Hinterpfoten und einer Vorderpfote an ihm festklammerte, zwickte Giles mit der freien Pfote schmerzhaft in den Arm und deutete befehlend auf Arbuthnot. Mister Copps trat hinter Joan, riß ihr von hinten das Nachthemd auf und hielt etwas Glitzerndes, Langes und abscheulich Dünnes hoch. Giles ging ins Hauptbüro, hob die rechte Hand und deutete steif auf Mister Arbuthnot — obwohl er sie beinahe vor Schreck gesenkt hätte, als er sah, daß sie kohlschwarz war. Arbuthnot erstartte mitten in der Bewegung. Seine Haut wurde grau. Die Maschinenpistole schlug auf den dicken Teppich. Der Finger, mit dem Giles auf ihn ge deutet hatte, war wieder fleischfar ben, und seine restliche Hand hatte eine graue Färbung angenommen. Nacheinander kopierte Giles Lurchis Bewegungen. Er streckte Mittelfinger, Rir gfinger und Daumen nach Mister 157
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Zim, Mister Copps und Mister Ma ther aus. Mit jedem Deuten erstarrte einer der Männer und wurde grau, während sich Giles' Haut in Stufen heller tönte. Zum erstenmal im Leben kochte Gi les Wardwell vor Wut. »Ihr hinterhältigen, glatten, selbst zufriedenen, heuchlerischen Kerle!« rief er. »Ihr seid schlimmer als die Russen mit eurer Gehirnwäsche! Und jetzt hört mir zu: Ich befehle euch, daß ihr diesen Hexenverfolgungs wahn für immer vergeßt. Silentium, Silentium, mutus, mutus, mutus. Ihr kommt noch billig davon — wenn ihr meine Frau verletzt hättet, wäre euch Schlimmeres zugestoßen. Aber das eine könnt ihr mir glauben: Ab heute lasse ich mich von keinem von euch mehr maßregeln. Ab heute spiele ich wieder Schach und besuche meine Mutter nicht öfter, als es mir paßt!« Er unterbrach sich, weil Joan ent zückt auflachte. »Liebling, sie können dich nicht hö ren«, rief sie ihm glücklich zu. »Der Bann des Schwarzen Mannes wirkt schneller als Schlafmittel. Sie werden jetzt stundenlang wie Tote schlafen. Und jetzt schneide mich los, damit wir von hier verschwinden können. Ich bin zwar überzeugt davon, daß dein Zauber wirkt, aber zur Sicher heit nehmen wir Mister Mathers Pa piere mit, dazu Mister Zims Zauber 158
stab und Hut und Mister Arbuth nots Maschinenpistole. Wir werfen sie in den Fluß. Du hast immer noch deinen kleinen Finger, um den Nacht wächter in Schlaf zu versetzen, und deine linke Hand für Notfälle. Ist das Lurchi? Ein süßer Kerl!« Eine halbe Stunde später fuhren sie durch die Back Bay langsam nach Hause. Joan saß dicht bei Giles, und ihr Kopf lag auf seiner Schulter. Lurchi hatte sich auf Joans Schulter zusammengeringelt und hielt mit sei nen Hinterpfoten das zerrissene Nachthemd zusammen. Die Wagen heizung umgab sie mit wohliger Wärme. »Giles«, sagte Joan schläfrig, »ich wollte dich noch etwas fragen. Wie hast du Margo, Alice und Mary ge funden, als du sie besuchtest ...? Attraktiv?« »Ziemlich«, gab er zu. »Ich muß sagen, daß es recht unheimliche Frau en sind, aber es sieht so aus, als müß te ich mich noch an viele sehr unge wöhnliche Dinge gewöhnen. An Pur zel zum Beispiel. Ja, um die Wahr heit zu sagen, ich fand alle drei Mäd chen sehr hübsch.« Joan nickte, ohne die Augen zu öff nen. »Das hatte ich gefürchtet«, sag te sie. »Siehst du, als Schwarzer Mann unseres kleinen Hexensabbats wirst du gewisse Pflichten und Rech
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te haben. Nun ja, ich denke, ich werde mich daran gewöhnen.« Dann fügte sie mit einem schläfrigen
Kirchern hinzu: »Aber vergiß nicht, Giles Wardwell, nie und nimmer, daß ich deine Erste Hexe bin.«
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Die Galgenpuppe von
Hubert Straßl
Wills Anruf kam kurz vor Mitternacht. »Harry?« »Ja«, murmelte ich schlaftrunken. »Gott sei Dank, du bist da . . . « »Natürlich. Gute Nacht!« »Harry! Harry!« Ich hatte den Hörer bereits wieder ü b e r der Gabel. Die Stimme klang laut und blechern. »Harry, häng nicht auf . ..!« Verärgert hielt ich inne und preßte den Hörer erneut ans Ohr. »Will?« fragte ich. »Ja, Harry ...« Es klang erleichtert. »Hör mich ...« »Bist du sicher«, unterbrach ich ihn, »daß, was du mir sagen willst, für mich um diese Zeit von Wichtigkeit ist?« »Allerdings«, versicherte er, und er mußte es schließlich wissen. »Also gut. Was ist los. Will?« »Madalyn ist verschwunden.« Ich überlegte. Ich sagte: »Sei nicht al bern, Will. Es ist noch nicht einmal Mitternacht. Leg dich schlafen!« »Sie wollte am Mittag zurück sein.« Wo war sie?«
»Bei ihrem Bruder. Er wohnt etwa achtzig Kilometer von hier.« »Dann hat sie sicherlich den Zug ver paßt, Will.« »Ihr Kriminalisten seid einfallslos!« Will Olsen lachte, aber es klang nicht sehr überzeugend. Jedenfalls aber schien es ihn zu erleichtern, daß er mit mir sprechen konnte. »Aber dein Tip ist falsch, Harry. Sie ist mit dem Wagen unterwegs . . .« »Dann hat sie eine Panne gehabt!« »Zugegeben, alles möglich«, sagte Will. »Aber daß sie sich zwölf Stun den verspätet und nicht anruft . . .« »Will«, sagte ich belehrend, »warst du den ganzen Tag zu Hause?« »Fast . . . « Ich ließ ihn nicht ausreden, »Dann hätte sie also anrufen können, wäh rend du weg warst. Und später hatte sie vielleicht keine Gelegenheit mehr, an ein Telefon zu kommen. Leg dich schlafen. Will. Bestimmt kann sie je den Augenblick auftauchen. Du machst dich nur verrückt.« »Wahrscheinlich hast du recht«, gab er zu. Es klang halb erleichtert. 161
HUBERT STRASSL
»Natürlich habe ich recht. Will!« Eine Weile dachte ich über das Ge spräch nach, und ich ahnte, daß ich nicht recht hatte. Ich kletterte aus dem Bett und blieb unschlüssig ste hen. Will Olsen war ein Narr. Er hät te auf mich hören sollen. Seit seine Artikelserie über HEXEN WAHN IN UNSERER ZEIT in der Abendpresse lief, hatten viele seiner Freunde ihm den Rücken gewandt. Zwar schöpfte er den Großteil seines Wissens aus einer Reihe von Büchern, aber mir war wohl klar, daß dies nur die Ouvertüre zum eigentlichen Schauspiel sein konnte. Ich wußte, daß Madalyn, bevor sie Will geheira tet hatte, einem geheimen spiritisti schen Zirkel unserer Stadt angehört hatte. Deshalb hatte ich Will geraten, die Finger von einem solchen Unter fangen zu lassen. Er tat es nicht! Und er setzte damit seine Frau einer Gefahr aus, die er ganz offensichtlich nicht sehen wollte. Seine Ansicht, daß das Übernatürli che, das übernatürlich Erscheinende, immer nur aus Zufällen und einer Reihe von Tricks, meist psychologi scher Art, resultierte, kam in seiner Artikelserie sehr deutlich zum Aus druck. Zu deutlich vielleicht für ver schiedene Leute. Natürlich kannte Madalyn nicht alle Mitglieder der Hexenzirkel dieser Stadt. Sie kannte bestenfalls zwölf Leute. Aber wer immer diesem einen 162
Zirkel vorstand, mußte nun um sich
und seine Schäfchen bangen. Der Fall
Miretti lag ähnlich. Er war ein Heil künstler, der durch Handauflegen ei ner Reihe von Leuten half, die fest
genug an ihn glaubten. Seine Frau
Rosi sprach viel und wußte der er staunten Nachbarschaft von seltsa men Dingen zu berichten. Bis sie ei nes Tages an Herzschlag starb. Miret ti aber dachte anders darüber. Für
ihn war es kein Herzschlag. Er ahnte
einiges und wußte einiges. Und er
wollte auspacken.
Aber die Polizei gelangte nie in den
Besitz solch interessanter Informatio nen. Bevor Miretti zur Polizei gehen
konnte, erhängte er sich in der Dach kammer. Das lag sechs Monate zu rück und hatte viel Staub aufgewir belt.
Olsen würde ein neuer Fall Miretti
sein, wenn Madalyn ihm tatsächlich
Namen verraten hatte, und er vorhat te, in seinem nächsten Artikel groß
auszupacken. Fluchend verließ ich das
Zimmer und trat in Marthas Schlaf zimmer. Sie war wach.
»Wer hat angerufen?«
Ich sagte es ihr. Und ich sagte ihr
auch warum.
»Sie schlagen also schon zu«, flüsterte
sie.
»Ich fürchte, ja.«
»Arme Madalyn«, murmelte sie. »Sie
konnte wenig dafür.«
»Armer Will«, brummte ich.
DIE GALGENPUPPE
Er ist ein Narr.« Sie legte ihre Hand auf meinen Arm. »Was wirst du tun?« »Ich werde zwei Streifenwagen schik ken, die die Strecke nach Berghaus überprüfen und bei ihrem Bruder nachforschen. Die Landpolizei wird sich einschalten müssen.« Sie nickte. »Fahr morgen zu Will. Sprich mit ihm. Versuche herauszufin den, was er weiß .. .« »Ja«, seufzte ich. »Wenn ich es ihm nur ausreden könnte . . . « Sie schüttelte den Kopf. »Jetzt nach Madalyns Tod wird der Haß zu groß sein.« »Vielleicht ist sie nicht tot«, wider sprach ich wenig überzeugt. »Viel leicht ist es blinder Alarm. Schließ lich hat Will noch nichts getan oder geschrieben, das wirklich gefahrlich wäre . . . « »Denk an Rosie Miretti.« »Ja«, sagte ich und küßte sie flüchtig ^ auf die Wange. »Du hast recht. Es ist B| unwahrscheinlich.« •1 »Gute Nacht, Harry.« •t »Ja, gute Nacht, Martha.« Ich rief das Dezernat an und schickte zwei Streifenwagen los. Dann ver suchte ich zu schlafen. Drei unruhige Stunden voll quälen der Gedanken vergingen; voll Erinne rungen an die jahrelange Bekannt schaft mit Will und Madalyn; voll verzweifelter Pläne, wie ich ihn von seinem Vorhaben abbringen könnte. Dann läutete das Telefon.
Inspektor Ferssen vom Dezernat. »Wir haben sie gefunden«, Ferssen war aufgeregt. Ich atmete scharf ein. »Wo und wie?« »Etwa fünf Kilometer außerhalb der Stadt, in einem roten Volkswagen ...« »Das ist ihr Wagen«, warf ich ein. »Ja, das haben wir bereits festgestellt, Sie ist tot . . . « Als ich keine Antwort gab, fuhr er fort: »Eine seltsame Sache, Chef. Der Wagen stand am Straßenrand. Un beschädigt. Auch das Mädchen war völlig unverletzt. Sie lehnte wie schla fend am Steuer. N u r . . . sie war tot. . .« »Was hat der Arzt festgestellt?« »Herzschlag.« »Wie war der Ausdruck ihres Gesich tes, Ferssen?« Die Stimme zögerte. »Sie muß vor et was Angst gehabt haben, Chef. Der Doktor meint, das wäre auch die Ur sache für den Herzschlag gewesen ...« Martha hatte also recht. Und Will be fand sich nun selbst in größter Ge fahr. Selbst wenn es mir gelang, ihn zu überreden. Selbst wenn er nichts wußte! Verschiedene Leute würden kein Risiko eingehen wollen. »Wie lange ist sie schon tot?« »Etwa sechs Stunden.« »Hat man ihren Mann bereits ver ständigt?« »Ja, Chef. Wir erwarten ihn jeden Augenblick hier im Büro.« 163
HUBERT STRASSL
»Er soll auf mich warten. Ich komme rüber«, sagte ich und legte auf. Will trug es gefaßter, als ich erwartet hatte. Aber seine ungebrochene Hal tung vermochte nicht über den Schmerz hinwegzutäuschen, den er empfand. Er erledigte die Formalitä ten mit kalter Sorgfalt und beantwor tete die Fragen des Inspektors und des Arztes präzise und gelassen. Aber ich wußte, daß diese schützende Fas sade früher oder später zusammen brechen würde, daher war ich sehr froh über seine Bitte, ihn nach Hause zu bringen. Seine Fassade brach nicht. Aber es kam eine Flut von bitteren Selbstvor würfen. Er hatte Madalyn schließlich doch überreden können, ihm Namen und Adressen der Leute zu verraten, die in jenem Zirkel waren, dem auch sie einst angehört hatte. Damit hatte sie nach den Gesetzen der Hexen eine ungeheure Schuld auf sich geladen. Und sie hatte Angst. Auch Will wußte das. Und er fühlte sich nun schuldig an Madalyns Tod. Zwar glaubte er keinen Augenblick an einen tatsäch lichen Einfluß der Hexen in Beziehung zu Madalyns Tod - er lehnte jede re ale Auswirkung des Übernatürlichen ab, wenn er auch eine begrenzte psychologische Wirkung an einem sensiblen Gemüt nicht abstritt -, doch konnte er nicht leugnen, daß die se dunkle Vergangenheit seiner Frau 164
die Ursache ihrer Angst war. Er hätte früher an diese . Auswirkungen der Angst denken müssen. Viel früher — als er seine Artikelserie begann. Diese Erkenntnis kam nun zu spät. Für mich waren indes seine Ausfüh rungen von großem Interesse. Ich ver suchte ein paarmal, das Gespräch auf die Namen hinzuleiten. Aber Will wich direkten Antworten aus, und ich fühlte, daß er Schluß machen wollte mit allem, was damit zusammenhing. Ich atmete innerlich auf. Das war ge nau das, wozu ich ihn zu überreden gedachte. Fünfzehn Minuten später, als wir sei ne Wohnung betraten, begann ich er neut um Wills Leben zu bangen. Auf seinem Schreibtisch lag ein Päck chen. Es war ohne Absender, und auf der Frontseite stand groß mit Fettstift WILL OLSEN! Er sah es zuerst gar nicht, aber mir fiel es sofort auf. Ver traut mit solchen Dingen, ahnte ich ungefähr, was es enthalten würde. Ich verhielt mich unbefangen. Ich wollte seine Aufmerksamkeit nicht darauf richten. Aber er entdeckte es doch nach einer Weile und begann es verwun dert zu öffnen. Ich versuchte gleich gültig das große ölporträt von Mada lyn an der Wand zu betrachten. Ich hörte Wills zischenden Atem, als er sah, was in dem Paket war. Und in der Lautlosigkeit, die folgte, hörte ich, so deutlich wie noch nie zuvor, mein Herz pochen.
DIE GALGENPUPPE
»Harry«, sagte er schließlich, »sieh es dir an!« Ich erhob mich und trat zu ihm. Ein wenig bleich hob er den Inhalt des Päckchens hoch. Es war ein rotes Spielzeugauto. Ein Volkswagenmodell mit Schwungradantrieb, wie man es auf jedem Jahr markt und in jedem Spielwarenge schäft kaufen konnte. Aber ein paar Kleinigkeiten unterschieden es von einem Spielzeug. An der Vorder- und Rückseite befand sich ein winziges Nummernschild mit der Nummer von Wills Wagen. Und dann fehlte das Zelluloidfenster an der linken Tür. Und an dem winzi gen Volant saß deutlich sichtbar eine kleine Puppe aus knetbarem Material. Den winzigen Kopf krönte ein Bü schel von Haaren, blond, wie Mada lyns Haar. Zwischen den roh gekne teten Brüsten ragte der Schaft einer Nadel hervor. Mehrere Minuten starrten wir schweigend auf dieses seltsame Spiel zeug, das dem rationalistischen Geist lächerlich erscheinen mußte, und das dennoch eine unbestimmte Drohung ausstrahlte. »Es ist albern«, sagte Will schließlich. Ich gab keine Antwort. »Es besteht doch kein Zweifel«, fuhr er nach einer Weile fort, »daß dieses lächerliche Ding nach ihrem Tod an gefertigt wurde?« »Du mußt es wissen. Will«, antworte
te ich ihm. »Deine Artikel sagen es sehr deutlich.« Er schien mich nicht gehört zu haben. Abwesend sprach er jene Worte, die den ersten Zweifel in seine Seele leg ten: »Aber woher wußten sie es so rasch?« Ich verschwieg Martha, daß Will die Namen wußte. Es war kein Risiko, denn so wie die Dinge standen, würde er schweigen. Nach Madalyns Beerdi gung hörte ich drei Tage nichts von ihm. Am vierten kam er überraschend zu Besuch. Er hatte sich verändert. Der große Schmerz schien überwun den, wenn man ihn oberflächlich be trachtete. Er gab sich leger und stets lächelnd wie früher, nur in seinen Au gen konnte ich den Schleier des Schmerzes entdecken. Aber auch seine Absichten hatten sich geändert. »Ich werde auspacken, Harry!« er klärte er. »Bereits in meinern nächsten Artikel!« Unbehaglich blickte ich Martha an. »Du mußt dich sehr sicher fühlen, Will«, sagte sie. »Sicher!« Er lachte. »Wovor sollte ich Angst haben? Vor lächerlichen Pup pen, denen erwachsene Menschen Na deln hineinstechen, um ihre perver sen Gefühle abzureagieren, und dabei glauben, daß damit übernatürliche Dinge in die Wege geleitet werden können? Damit erschreckt man alte i6?
HUBERT STRASSL
Weiber, die an Teufelswerk glauben, wenn ihre Ziegen plötzlich keine Milch mehr geben!« Er ließ sich in einen Stuhl fallen und sah uns er staunt an, »Ich dachte nicht, daß ihr so ängstlich seid. Was ist los mit euch?« »Will«, sagte Martha fest, »Harry hat mir von dem Paket erzählt, das auf deinem Schreibtisch stand. Gibt es dir nicht ... zu denken?« »Ja«, antwortete er heftig, »es gibt mir zu denken. Es gab mir die ganze Zeit über zu denken. Ich habe noch nie so viel nachgedacht wie in den letzten Tagen. Und es gibt nur eine Erklärung dafür: Sie entdeckten Ma dalyn, bevor die Polizei sie fand. Und sie ließen sie da draußen auf der Straße stehen. Einfach stehen! Ver steht ihr das? Stunden. Vielleicht den ganzen Tag. Vielleicht sahen sie so gar zu, wie sie starb! Vielleicht...« »Du redest dir jetzt Dinge ein. Will«, sagte ich. »Deine Fantasie ist einfach überreizt .. .« »Nein, Harry. So scheinbar primitiv und lächerlich sich diese Leute auch benehmen, dürfen wir dabei nicht übersehen, daß ihr Idealismus einer des Teufels ist. Satan ist die treiben de Kraft für ihr Tun. Sie kennen keine Gnade und kein Erbarmen, nur Rache und Haß und eine Bibel bluti ger Gesetze.« Er lachte. »Meine au genblicklichen Gefühle sind sehr ähn lich. Ich werde diese Brut aufdecken. Ihre Namen werden in fetten Lettern 166
in der Abendpresse stehen, und die Öffentlichkeit wird entscheiden, was geschehen soll. . .« Martha unterbrach ihn. »Siehst du die Gefahr nicht, in die du dich be gibst, Will?« »Gefahr?« fragte er erstaunt, »Welche Gefahr? Ich habe keine Angst, die mich zu ihrem willigen Opfer machen könnte. Und einen Mord wagen sie nicht. Das wäre in meinem Falle zu offensichtlich . . .« »Du verstehst mich nicht. Will«, meinte Martha. »Ich dachte mehr an die Gefahr einer Blamage. Bist du denn sicher, daß Madalyn dir die rich tigen Namen gesagt hat? Absolut si cher?« Will zögerte. Ich bewunderte Marthas Umsicht. Gleichzeitig sah ich eine Möglichkeit, die Situation vorerst zu entschärfen. »Gib mir die Namen, Will«, sagte ich eindringlich. »Ich werde sie überwa chen lassen. Früher oder später begeht einer einen Fehler. Und haben wir erst einen, sind uns auch die anderen gewiß!« Er zögerte noch immer. Er war sehr nachdenklich geworden. Rasch fuhr ich fort: »Es ist doch gleichgültig, ob du jetzt oder in eini gen Wochen darüber schreibst. Und dann haben wir eine Reihe zusätzli cher Beweise und Argumente, die es dir leichter machen werden, die Öf fentlichkeit zu überzeugen ...«
DIE GALGENPUPPE
Er schwieg eine ganze Weile. Dann
nickte er. »Das ist ein guter Vorschlag
Harry.« Und er gab mir die Liste.
Wir atmeten auf.
Während der nächsten Tage geschah
nichts. Ich vermochte nicht. Will von
seinem Vorhaben abzubringen, und
hatte alle Mühe, ihn zur Geduld an zuhalten, was meine Nachforschun gen über die Namen betraf.
Und dann begannen sich die Ereignis se plötzlich zu überstürzen.
Will hielt einen Vortrag über Hexen kulte im Auditorium Maximum der
Universität. Bei der anschließenden
Diskussion in einem nahen Gasthof
kam es zu heftigen Debatten mit ei nigen Mitgliedern des Stadtrates, in
deren Verlauf Will zugab, eine Reihe
von Namen zu kennen. Es war reiner
Zufall, daß er während des Essens
nicht nur eine Reihe von Antworten,
sondern auch einen Bissen in die fal sche Kehle bekam und vielleicht er stickt wäre, wenn nicht ein Arzt zu gegen gewesen wäre, dessen rasches
Eingreifen es verhinderte.
Doch Will war zum erstenmal unsi wet cher geworden, vor allem durch eine Bemerkung eines seiner Freunde, als er sich mit dem Arzt allein in einem Nebenzimmer befand. Dieser glaubte natürlich beobachtet zu haben, daß Will schon den ganzen Abend wäh rend der Diskussion den Eindruck ge
macht habe, als schnürte etwas seine Kehle zu, als bekäme er zuwenig Luft und wäre am Ersticken. Will war sicher, daß dies nicht der Fall war - er hatte sich den ganzen Abend über wohlgefühlt. Aber ein paar Leute bestätigten später die Aussage seines Freundes. Und das machte ihn schließlich unsicher. Als er mich besuchte, war er nervös; etwas, das ich nie an ihm gekannt hatte. Hatte er Angst bekommen? Er berichtete mir von diesem Vorfall und fragte mich, ob ich irgend etwas Ungewöhnliches an ihm bemerke. Er sah nicht so frisch aus wie sonst, und das sagte ich ihm. Ich riet ihm, weni ger zu arbeiten und bei Gelegenheit einen Arzt aufzusuchen. Ich fragte ihn auch, ob er etwa Angst bekom men habe, worauf er lachte. Aber ein paar Tage später suchte er mich erneut auf. Seine Nervosität war schlimmer geworden. Er wirkte unsi cher, unruhig. »Harry«, sagte er, »mit mir stimmt etwas nicht. Ist es möglich, daß ich krank bin, ohne daß ich es weiß?« Ich sah ihn genauer an. »Ich glaube nicht«, sagte ich dann, »aber es gibt viele Dinge, die man sich einbilden kann. Hast du Beschwerden?« Er zögerte. »Nein«, meinte er dann, »aber...« »Aber?« Er zögerte wieder. »Einige meiner Be kannten scheinen der Ansicht zu sein, 167
HUBERT STRASSL
daß ich welche haben müßte .. .«
Ich horchte auf. War es schon so weit?
Nun selbst etwas zögernd, fragte ich
ihn: »Welche Art von Beschwer den?«
Er zuckte die Achseln. »Weiß der
Teufel, irgendwas, das mit Atemnot
zusammenhängt . . .«
»Mit Atemnot?«
»Ja. Anfangs hielt ich es für Unsinn,
dann begann ich mich für Hals- und
Lungenkrankheiten zu interessie ren . . . «
»Damit machst du dich nur verrückt,
Will! Warum suchst du nicht einfach
einen Arzt auf?«
»Das habe ich getan!«
»Und?« fragte ich interessiert.
»Nichts. Gar nichts . ..«
»Dann bist du auch gesund«, sagte
ich mit Nachdruck.
Nur halb überzeugt, schüttelte er den
Kopf. »Es gibt Krankheiten, die der
Arzt nicht sofort feststellen kann, die
man nicht sofort selbst spürt . . .«
»Du bist nicht krank, solange du dich
nicht krank fühlst. Und du siehst
nicht krank aus, wenn man von dei ner Nervosität absieht. Was du
brauchst, ist Ruhe und andere Gedan ken und andere Gesichter. Warum
machst du nicht Urlaub und fährst
ein paar Tage weg?«
Es gelang mir schließlich doch, ihn zu
überzeugen, und er versprach auch,
meine Ratschläge zu befolgen.
168
Aber bereits am Abend war das Ge schehen in die entscheidende Phase getreten. Als der Anruf kam, lag die alte Nervosität in seiner Stimme^ und eine deutlich spürbare Angst. »Harry, jetzt bin ich dran«, sagte er aufgeregt. Ich wußte augenblicklich, was er meinte. Ich stellte mich unwissend. »Was ist geschehen?« »Ein Brief lag eben vor meiner Tür . . .« »Ein Brief? Von wem?« »Er ist ohne Absender, Harry. Er ist unterschrieben mit >ein Freund Mada lyns<. Aber Madalyn hatte eine Men ge Freunde, besonders früher, als sie noch . . . « »Jetzt halt die Luft an«, unterbrach ich ihn, »und sag mir erst einmal, was in dem Brief steht.« Er las vor, und seine Stimme klang et was heiser: >»Will Olsen, ich will dir helfen. Ich kenne ein schreckliches Ge heimnis. Die Hexen warten nicht, bis du auspackst. Ihr Werk ist bereits begonnen. In einem Kellerraum steht ein Galgen und in der seidenen Schlinge baumelt eine Puppe, die dein Haar trägt. Dein Haar, Will Olsen! An den Beinen der Puppe hän gen kleine Gewichte, die die Schlinge langsam festerziehen ... bis du er stickst. Es fehlen noch zwei Gewichte, Will Olsen. Nur zwei. Noch ist es Zeit! Verbrenne die Namen und geh fort von hier. Um Madalyns willen,
DIE GALGENPUPPE
geh fort von hier. Ein Freund Mada lyns !<« Er lachte unsicher. »Was halst du da von, alter Freund?« Du hast doch nicht etwa Angst be kommen, Will?« forschte ich. »Natürlich nicht!« Es klang nicht ehrlich echt. »Glaubst du, daß dieser heimliche Warner recht hat? Daß es diesen Gal gen wirklich gibt?« fragte ich ihn. »Davon bin ich überzeugt. Irgendwo hängt man einer Puppe in höchst lä cherlicher Weise Gewichte an die Bei ne und reagierte damit seine sadisti schen Komplexe ab.« Er lachte, dies mal schon freier. »Wie verrückt kön nen erwachsene Menschen sein, Har
ry?« »Ich bin froh, daß du dich davon nicht beeindrucken läßt. Will«, ant wortete ich. »Dennoch würde ich den Rat beherzigen und wegfahren. Deine Nerven sind nicht in bester ...« »Mit meinen Nerven ist nichts los. Zum Teufel, beinahe hätte ich mich unterkriegen lassen! Nein, Harry«, er lachte, »ich fahre nicht weg. Jetzt erst recht nicht. Ich werde diesen Sa tansschülern beweisen, daß nichts dran ist an ihren geheimen Machen schaften und ihrem Formelgeflüster in finsteren Kellergewölben, das be stenfalls die Asseln vertreibt. Mein nächster Artikel wird die große Sen sation, Harry. Ich packe endgültig aus!«
»Wie du meinst. Will«, sagte ich ton los. »Aber denke an deine Atembe schwerden!« Damit legte ich auf. Sekundenlang stand ich bewegungslos neben dem Apparat. Will Olsen, du bist ein Narr, dachte ich. Die Angst ist bereits in dir, und sie geht ihren eigenen Weg. Unbewußt. Sie ist letz ten Endes doch stärker. Sie ist immer stärker. Der Teufel weiß sie wie niemand sonst zu nützen. Der nächste Tag war heiß — einer der heißesten dieses Sommers. Er war ein Teil jenes Gewebes von Zufällen, das in seinem Ganzen im komplexen Geist des Menschen schließlich den Eindruck des Übernatürlichen er weckt. Dennoch hatte ich nicht erwartet, daß es so rasch gehen würde. Um 14 Uhr läutete das Telefon. Un bewußt hatte ich Will erwartet, aber es war ein Doktor Wenzel von der Unfallstation des Städtischen Kran kenhauses. Wie elektrisiert lauschte ich seinen Worten. Und plötzlich stand auch Martha neben mir. Ich beantwortete ihren fragenden Blick mit einem Nicken. Ein feines Lächeln erschien auf ihren Lippen. Nach einer Weile, als der Arzt geendet hatte, leg te ich müde den Hörer auf. »Will Olsen«, sagte ich langsam, »liegt im Krankenhaus. Er hat einen Hitzschlag erlitten.« Ich hielt inne l69
HUBERT STRASSL
und fuhr dann fort: »Aber daran ist nichts seltsam. Er ist der sechste, der heute mit Hitzschlag eingeliefert wur de. Nur seine Symptome sind den Ärzten unverständlich. Es handelt sich um eine unnatürliche Verkrampfung der Halsmuskeln, die seinen Erstik kungstod herbeiführen können. Seine Lage ist sehr ernst . . . « »Behandeln sie ihn?« fragte Mar tha. Ich schüttelte den Kopf. »Nein. In seinem augenblicklichen Zustand wür de jeder Eingriff den sicheren Tod be deuten. Sie können nur warten. »So wird es allen Zweiflern gehen«, sagte Martha fest. »Ich werde zu ihm gehen ...« »Erst wollen wir Ihm danken«, wand te Martha ein. Sie hatte recht. Aber das Würgen in der Kehle schwand nicht, während wir in den Keller schritten. In dem
170
kleinen Raum kam die Ruhe über mich, wie immer in Seiner Gegen wart. Martha entzündete die beiden Kerzen an dem kunstvoll geschnitz ten Holzaltar. Der Schein enthüllte flackernd die metallene Statue des wahren Herrn über diese Welt und ihre Menschen, einzig wahr, weil sei ne Macht sich manifestierte. Satan! Schweigend knieten wir nieder. Dann sprach ich das uralte Gebet. Nach einer Weile nahm Martha das letzte der kleinen goldenen Gewichte vom Fuß des Miniaturgalgens auf und befestigte es am rechten Fuß der hän genden Puppe. Es gab einen kleinen Ruck, und der Kopf sank nach vorn. Danach küßte Martha, wie es das Ri tual vorschrieb, die Kehrseite der Statue. Oben begann das Telefon zu läu
Meine Hekate von
Wyman Guin
Einmal, als meine Frau und ich noch
Kinder waren, machte ich draußen
auf der Treppe der Volksschule in
Clearview einen harten, eisigen
Schneeball und warf ihn ihr nach. Ei nen Moment, bevor er traf, kurvte
oder hüpfte er über sie hinweg. Da nach nahm er seine vorige ballistische
Bahn wieder ein und ging direkt
durch ein Schulfenster.
Der Sheriff war auch da — ich meine,
damals war er ein kleiner Junge -,
und er sah mich strafend an. »Wenn
du schon auf Mädchen schmeißen
mußt, warum triffst du sie dann
nicht? Ich kann dich dafür betrafen.«
Ich beachtete ihn nicht. Es machte mir
auch nichts aus, daß ich wegen des
zerbrochenen Fensters eine Strafpre digt hören würde. Ich glaubte eine
Entdeckung gemacht zu haben—mein
gutes Ich hatte meinem Arm diesen
wunderbaren Schwung gegeben, um
mein böses Ich daran zu hindern, das
hübsche kleine Mädchen zu treffen.
Als der Rektor mich gehen ließ, lief
ich heim und holte meinen Baseball.
Draußen im Hinterhof stellte ich mir
vor, daß sie drei Meter von der Gara ge entfernt war. Ihr hübsches rotes Haar kam unter der Schneemütze vor, und ihr süßes kleines Gesicht lächelte mich an. Dann begann ich mit jedem Griff und jeder Verrenkung, die mil nur einfielen, nach ihr zu werfen. Obwohl ich sie mir als mein Ziel ebenso deutlich wie ein Bild vorstel len konnte, brachte ich nicht einmal mit einem Löftler unter dem Arm durch diesen Aufwärtsschwung fer tig. Schließlich schmerzte mein Arm so, daß ich ihn kaum noch rühren konnte, und ich war zu müde und ent mutigt, um weiterzumachen. Genau da marschierte sie ganz unschuldig mit ihrem kleinen grünen Schneean zug in unseren Hof. Nun, ich ließ mein böses Ich direkt nach ihr zielen. Der Ball vollführte eine Sinuskurve wie der Schneeball, und ich gab meinen Traum auf, für die Yanks ins Mittelfeld zu gehen. Ich dachte immer noch egozentrisch, daß die Kraft, die dem Ball diese Kurve gegeben hatte, aus meinem 171
WYMAN GUIN
Arm kam, und im Laufe der Jahre gab es noch eine Menge dieser Dinge, die ich falsch auslegte. Zum Beispiel ließ sie mich bei einer Verabredung nie warten. Ich konnte sie anrufen, wann es mir gerade einfiel, und sie erwiderte: »Ich bin in zehn Minuten fertig.« Nicht eine Viertelstunde oder eine Stunde. Zehn Minuten. Ich betrachtete es als selbstverständ lich, daß sie immer so schnell fertig wurde, weil eine Verabredung mit mir so wichtig für sie war. Ich schät ze, ihr Vater sah die Sache ähnlich an. Er machte mir immer die schwe re Vordertür auf, und dann pflegte sich die Haut um seine blaßblauen Augen in Fältchen zu legen. Er streck te die Hand aus, fuhr mir durchs Haar, wie er es seit meiner Kindheit gemacht hatte, und sagte: »Junge, du mußt etwas haben, das mir fehlte. Ih re Mutter, Gott hab sie selig, vertrö delte den ganzen Nachmittag, um sich für eine Verabredung fertig zu machen, und wenn ich hinkam, ließ sie mich noch eine Stunde warten. Geh nur hinein. Sie ist im Wohnzimmer.« Und da war sie auch gewöhnlich, kühl und schön, gekleidet wie eine Göttin. Ihr Vater folgte mir, blieb neben mir stehen und schüttelte den hageren Kopf. »Vor zehn Minuten hatte sie noch Bluejeans an.« Daraufhin warf sie meist schwung voll das kupferne Haar zurück. »Va ter, wenn man es eilig hat, muß man 172
sich nur auf das konzentrieren, was man tut. Dann geht alles von selbst.« Sie konnte das in einem Ton sagen, daß man das Gefühl bekam, es sei fundamentaler als Newtons Gravita tionsgesetz. Und so blieb es auch, nachdem wir geheiratet hatten. Sie konzentrierte sich einfach auf das, was sie tat, und alle unsere Freunde wunderten sich, wie leicht es ihr fiel, einen tadellosen Haushalt zu führen und dabei all die Dinge zu erledigen, die sie sich noch nebenbei vornahm. Meine Frau konn te nie verstehen, weshalb andere Frauen Haushaltshilfen brauchten. Selbst bei den mysteriösen Dingen, die hin und wieder geschahen, kam ich nie mit. Wie damals, als wir eine Spätnachmittags-Cocktailparty hat ten, die unsere Wohnung in ein Schlachtfeld verwandelte . . . eben als der letzte Gast zu seinem Wagen und seiner wartenden Gattin hinun terstolperte, klingelte das Telefon. Freunde aus der Stadt meldeten sich zu einem Abendessen auf dem Lande an. Meine Frau sah so frisch und hübsch aus wie vor dem Zeitpunkt, als die Jungens zu ausgelassen wurden. »A ber, Liebling, es ist nicht schlimm, wen wir uns auf das, was wir tun, konzentrieren. Du holst die Cock tailgläser und Tablette mit den rest lichen Brötchen aus dem Wohnzim mer, und ich kümmere mich um die Küche.«
MEINE HEKATE
Nun, ich marschierte ins Wohnzim mer und ging umher, und es waren weder Gläser noch Tablette da. Es lag Zigarettenasche auf dem Teppich, die Möbel hatten feuchte Gläserspuren abbekommen, aber der schlimmste Schmutz war verschwunden. Ich ging zurück in die Küche, aber meine Frau war nicht da. Doch der Geschirrspülautomat arbeitete. Ich ging in den Salon, und da fand ich meine Frau. Sie zupfte hier und dort etwas zurecht und summte glücklich vor sich hin. »Es sind gar keine Gläser im Wohn zimmer.« Sie sah mich ein wenig komisch an. Dann lachte sie leichthin. »Oh, ich habe sie wohl weggeräumt, als die anderen ihre Mäntel anzogen.« »Du hast ihnen beim Anziehen ge holfen.« »Tatsächlich? Nun, wahrscheinlich nicht die ganze Zeit.« Ich ging in die Putzkammer, holte den Staubsauger und ein feuchtes Tuch und betrat wieder das Wohnzimmer. Der Teppich war gar nicht so schmut zig, wie ich gedacht hatte, als ich ihn das erste Mal ansah. Im Gegenteil, er war überhaupt nicht schmutzig. Die feuchten Ringe auf den Möbeln wa ren getrocknet und vollkommen ver schwunden. Ich sah mich im Zimmer um, und es war alles in Ordnung. Es roch nicht einmal nach Rauch.
Ich trug den Staubsauger und das Tuch zurück in die Putzkammer und ging in den Salon, um ihr zu helfen. Das Zimmer sah tadellos aus, und meine Frau war nicht zu finden. Schließlich entdeckte ich sie in der Küche. »Mit dir kann man kaum Schritt hal ten«, beschwerte ich mich. »Liebling, das mit den Gläsern im Wohnzimmer tut mir leid. Manchmal, wenn ich so etwas getan habe, kommt es mir so vor, als hätte ich nur die Ab sicht gehabt, es zu tun. Verstehst du, was ich meine?« »Nein, diese Probleme hatte ich noch nie.« »Nun, des öfteren kann ich mich ein fach nicht daran erinnern, ob ich et was getan habe oder ob ich nur daran gedacht hatte. Ich muß nachsehen, um es herauszubringen. Natürlich« und sie lachte verlegen über ihre Ei telkeit -, »bin ich eine so gute Haus frau, daß ich es in den meisten Fällen tatsächlich schon erledigt habe.« Während sie sprach, waren ihre Hän de dauernd an der Küchenanrichte beschäftigt. »Willst du unseren Gästen Sandwi ches mit Huhn anbieten?« »Nein, die sind für uns. Das Abend essen ist da drüben.« Sie hatte Steaks und Gemüse aus der Gefriertruhe geholt und ordentlich auf den Arbeitstisch ihrer blitzblan ken Küche gelegt. 173
WYMAN CUIN
»Wann hast du die Zeit gefunden, in den Keller zu gehen?« »Oh, ich weiß nicht mehr. Wahr scheinlich, als du im Wohnzimmer warst. Hier ist dein Sandwich, Lieb ling. Ich dachte, es wäre besser, wenn wir kurz etwas essen, bevor sie kom men. Sie wollen wahrscheinlich ein paar Cocktails vor dem Abendes sen.« Sie sehen, wie es stand. Sie konzen trierte sich einfach, und alles ging ihr von der Hand. Aber als ganz Clear view über mich und dieses Mädchen zu klatschen begann, da konnte man sagen, daß sich meine Frau zum er sten Mal im Leben richtig wild auf et was konzentrierte. Ich glaube, ich hatte ein ziemliches In teresse für dieses Mädchen entwickelt. Sie wohnte in Clearview, wo meine Frau und ich in die Volksschule gin gen. Es ist ein kleines Dorf, etwa drei Meilen von unserem Landhaus entfernt. Auf dem Weg zu meinem Arbeitsplatz in die Stadt mußte ich durch Clearview, und es begann da mit, daß ich das Mädchen abends aus der Stadt mitnahm. Morgens mußte sie früher zur Arbeit als ich und fuhr mit dem Bus. Aber abends — und das war die vertrauensvolle Idee meiner Frau — sollte ich sie von der Arbeit in der Stadt zurück nach Clearview bringen. Was ich immer tat.
174
Vielleicht fuhr ich an diesen Aben den langsamer heim. Sie liebte Musik und die neuesten Bücher, und man konnte sich gut mit ihr unterhalten. Sie hatte die Angewohnheit, sich seit lich in ihrem Sitz herumzudrehen, sich gegen die Wagentür zu lehnen und mir beim Fahren zuzusehen. »Wissen Sie,, es gibt in Clearview nicht viele Leute, mit denen ich über solche Dinge reden kann«, sagte sie. »Es war wirklich großartig von Ihrer Frau, daß sie mir zu diesen Fahrten verholten hat.« »Oh, sie tut so etwas gern.« »Finden Sie nicht auch, daß solche Dinge oft das ganze Leben verän dern? Ich meine, man lernt jemanden kennen, der interessant und erwach sen ist, und wenn man sich länger mit ihm unterhält, dann bekommt man eine ganz andere Lebensauffas sung.« ^ Ich jagte den Wagen in die Kurve und lenkte ihn auf dem zwitschern den Pflaster wieder aus. »Ja, das fin de ich auch.« Sie seufzte und lehnte den hübschen blonden Kopf so gegen das Fenster, daß ihr zarter Hals und die Kinnli nie zur Geltung kamen, als ich zu ihr hinsah. Sie hatte Augen wie Ingrid Bergmann, und sie starrte jetzt ver träumt in die Dämmerung, die sich über dem Highway ausbreitete. »Ich möchte viele wunderbare Leute kennenlernen, und ich möchte mich
MEINE HEKATE
eng mit ihnen befreunden, damit ich mich später, wenn ich alt bin, an all die schönen Augenblicke erinnern kann.« Natürlich hielten wir hin und wieder auf einen oder zwei Cocktails an. Und natürlich, als wir an Sylvester aus der kleinen Bar kamen, warf ich eine Münze recht lässig hoch. Und sie fiel auf die falsche Seite. Also küßte ich sie ein paarmal. Aber das war immer noch keine Be rechtigung dafür, das alle in Clear view zu klatschen begannen. Insbe sondere, wenn meine Frau dabei war. Meine Frau hat ein ruhiges Tempe rament, außer sie explodiert einmal, und sie ließ den Dingen bis zum Frühjahr ihren Lauf, was sie wohl als gefährliche Zeit betrachtete, denn sie mußte an junge Böcke denken. Sie war nett zu mir. Aber wenn sie nicht direkt mit mir sprach, war ihre Miene düster. Ich trank keine Cocktails mehr mit dem Mädchen, aber ich hät te es ebensogut tun können, denn das Gerede in Clearview hörte nicht auf. So trank eines Abends meine Frau selbst ein paar Cocktails und knallte anschließend die Karten so hart auf den Tisch, daß ich das ganze Herzso lo ins Auge bekam. Jetzt, da ich zu rückdenke, sah sie aus wie Göttin Hekate, die auf der Jagd nach treulo sen Liebhabern über das wilde Hoch land von Griechenland stürmte. Da mals war ich nur entsetzt darüber,
daß die Göttin wie ein Fischweib keifte. »So, ich habe es jetzt von allen ande ren gehört. Nun möchte ich es von dir selbst hören. Was gibt es zwi schen dir und diesem Mädchen?« Also manchmal wundere ich mich über mich selbst. Was glauben Sie wohl, was ich erwiderte? »Welches Mädchen?« Sie war ruhig wie eine Ozeanwoge, die auf mich zukam. »Du Bock«, sagte sie. Sehen Sie, ich hatte erraten, weshalb sie die Sache bis aufs Frühjahr verschoben hatte, und diese Voraus sicht, dieses Durschauen ihrer Denk weise brachte mich auf die Beine. »Ich habe absolut nichts Unrechtes getan«, versicherte ich ruhig. Das Feuerwerk stieg, als wir zu Ein zelheiten kamen, die unser Zusam menleben betrafen. Sie ließ sich über gewisse schmerzhafte Faktoren aus und schloß, daß ich gar nicht fähig sei, etwas Unrechtes zu tun. Schließ lich entschuldigte sie sogar noch die Kleine, daß sie sich in mich vergafft hatte. »Siehst du, Liebling, ich habe dich schließlich selbst geheiratet«, erklärte sie. »Ich kann es mir nicht leisten, sie deshalb schief anzusehen.« Was ihre Wangen so rötete und den neuen Glanz in ihre schönen Augen brachte, war die Tatsache, daß ihr 175
WYMAN GUIN
Stolz durch die Klatschzungen der Stadt gewaltigen Schaden erlitten hatte. Unser Streit war vorbei,, und er war nichts gewesen im Vergleich zu dem, was jetzt kam. Ich hatte meine Frau noch nie so erlebt. Fasziniert hörte ich zu, wie sie die Frauen von Clear view mit spitzen Worten aufspießte. Sie schoß sie ab wie die Tonfüßchen in Jahrmarktbuden und riß ihnen das Stroh aus den Köpfen, bevor sie sie in einem wilden Giftmeer ersäufte. Ich schwamm wie ein Halm obenauf und wurde mit einem unglücklichen Häufchen von Klatschbasen wieder an Land gespült. »Wenn ihre eigenen Ehen nicht so hoffnungslos vermurkst wären, hät ten sie deine Eskapaden mit der klei nen dummen Gans ebenso übersehen wie ich.« Ich schwebte verloren da herum, wo ich an Land gekommen war. Weit weg konnte ich ihre herrliche kleine Figur sehen, mal gestikulierend, mal angespannt, während sich die Wort brandung zurückzog, neue Kraft sam melte und verstärkt gegen mich prall te. Am schwankenden Ufer drehte sie alle durch den Fleischwolf. Sie hatte etwas gegen ihren Ge schmack. In Kleidern. In Kunstgegen ständen. In der Einrichtung. Ich schwebte in ihrer Nähe, um ihr ein tröstendes Wort zu sagen und die Tränen zu trocknen, denn sie hatten 176
auch etwas gegen ihren Geschmack in puncto Ehemännern. Aber diesen kleinen Punkt hatte sie vergessen. Sie hörte auch nicht auf, als wir ins Bett gingen. Ich machte die Lichter aus. Während einer Pause in ihrer Wut döste ich ein. Ich riß schreckge weitet die Augen auf, als ich meine Frau im Bett sitzen und konzentriert vor sich hinmurmeln sah. »Ich rotte die Stadt aus. Ich rotte die ganze Stadt aus!« Es ertönte ein grollender Donner, der doch kein Donner war. Man spürte kurz, wie das Fundament des Univer sums verrutschte, und einen betäu benden Augenblick lang war um uns alles von innen her beleuchtet. Wir starrten einander in dem verstohle nen Schimmer an, und abrupt wur de es wieder dunkel. Ich lag da und fragte mich, was um Himmels willen geschehen sein moch te. Nach langer Zeit hörte ich ihre unterdrückte, zitternde Stimme. »Liebling?« »Ja, Herzchen?« »W—äs — was war das wohl?« »Wahrscheinlich eine Explosion ir gendwo. Sieh mal, Herzchen, die gan ze Sache tut mir entsetzlich leid. Wir sind jetzt beide müde, deshalb ist es am besten, wenn wir schlafen, aber vielleicht können wir morgen alles ausbügeln.« »Oh, wir könnten es auch gleich aus bügeln.«
MEINE HEKATE
Mein Eifer war einmalig. Ihr Gesicht brannte immer noch, und das machte ihre Lippen heiß und nachgiebig. Sie flüsterte mir wunderbare Dinge zu, und ich flüsterte ihr Dinge zu, an die ich bisher überhaupt noch nicht ge dacht hatte. Wir gaben einander ei nen Gutenachtkuß, und ich ging wie der in mein Bett. Wo ich lange Zeit wach lag und mich fragte, was zum Teufel da passiert sein mochte. Am nächsten Morgen waren der fin stere Fluch und das laute Dröh nen nur noch ein Teil eines bösen Traumes, den ich glücklich vergessen hatte. Wir frühstückten großartig und sagten einander noch mehr wun derbare Dinge, und als ich zur Arbeit fuhr, staunte ich darüber, daß sie mich so sehr liebte, um einen solchen Krach zu schlagen. Ich fuhr den Highway 55 entlang, pfiff die Melodien, die ich kannte, vor mich hin und dachte darüber nach, welches Glück meine Frau und ich hatten, daß wir miteinander verhei ratet waren. Ich fuhr dahin und ach tete auf nichts als die hypnotische Straße, und dann hörte ich mit einem Mal zu pfeifen auf und brach in Schweiß aus. Ich fuhr an den Straßenrand. Eine Feldlerche sang zu meiner Lin ken. Von vorne hörte ich ei nen Wagen mit sanftem Schnurren näher kommen. Ich kannte diese Stel
le am Highway 55. Ich war sie Tau sende von Malen gefahren. Etwa eine Meile dahinter mußte Clearview lie gen. Aber an diesem Morgen war ich nicht durch das Dorf gefahren. Der entgegenkommende Wagen fuhr an mir vorbei, ein Packard, in dem ein einsamer Fahrer saß. Ich ließ den Motor an, kehrte um und folgte ihm. Als er die Überführung der North Central-Bahn überquert hatte, war ich etwa hundert Meter hinter ihm. Ich sah seine Bremslichter aufleuchten, und er steuerte den Straßenrand an. Statt der scharfen S-Kurve durch Clearview und der südlichen Umge hung des Dorfplatzes erstreckte sich der Highway 55 vor uns, eine glatte, breite Strecke, die nach Süden durch die Felder führte. Da, wo er aus dem Nordwesten vom Highway 17 geschnitten wurde, stan den eine Tankstelle, ein Laden und ein paar Häuser, die ich noch nie zu vor gesehen hatte. Und am näheren Ufer des Shadow Lake erstreckten sich zwei große Höfe mit hübschen Stallungen. Normalerweise sah man hier nur verstreute Sommerhäuschen. Man hätte die Straßen und Häuser von Clearview halbverborgen zwischen den Bäumen sehen müssen, die sich etwa bis zu dem Platz erstreckten, wo der Packard parkte. Der Fahrer weiter vorn war ausgestie gen und winkte mir. Ich blieb stehen, 177
WYMAN GUIN
nahm den Gang heraus, schaltete den Motor aber nicht aus. Er kam auf mich zu. Er sah mich an, als hätte ihm eben jemand einen falschen Dollar ange dreht. »Sagen Sie, ich fahre die Strecke nicht oft, aber hier in der Nä he müßte doch Clearview sein.« Ich nickte und starrte den Hang hin unter auf die Tankstelle. Es war nur logisch, sich dort zu erkundigen, aber er schien ebensowenig Lust wie ich dazu zu haben. »Waren Sie nicht der Mann, der eine Meile weiter hinten am Straßenrand parkte?« Ich nickte wieder. Ich fühlte mich zu sprechen oder meine Gedanken zu elend und entsetzt, um mit ihm zu sammeln. »Na, und weshalb sind Sie zurückge kommen?« »Hören Sie«, fauchte ich, »wenn Sie sich verirrt haben, dann fragen Sie doch den Mann da unten.« Ich deute te auf die Tankstelle, aus der eben der Tankwart getreten war. Er sprach mit dem Fahrer eines großen Fann lieferwagens. Der Fremde drehte sich wortlos um und stieg in seinen Wagen. Nach einer Weile legte ich den Gang wieder ein und rollte langsam hinter ihm die weitgezogene Kurve hinunter. Ober den sonderbar leeren Feldern zo gen weißgeflügelte Möwen eine 178
Schleife und flogen auf den Shadow Lake zu. Es bestand kein scharfer Bruch zwi schen dem Altvertrauten und dem Neuen. Es fehlten einfach einige Din ge. Man sah kein Zeichen von Ge walteinwirkung. Nur ein paar Tele fonleitungen hingen herunter. Ent lang der North-Central-Bahn sah ich einen Ort, wo die Schienen ende ten und einen Meter weiter im Osten wieder begannen, um in meine Rich tung zu laufen. Das schäbige kleine Bahnhofsgebäude war auch ver schwunden. Ich fuhr hinter dem Packard in die Tankstelle und stieg aus. Während ich das tat, ging der Fahrer des Farm lieferwagens zum Highway 17 hin über. Er war noch sehr jung, und als er an mir vorbeikam, konnte ich se hen, daß er blaß war. Um Mund und Wangen wirkte er ganz gelblich. Der Tankwart rief ihm nach: »He, nimm gefälligst deinen Wagen mit!« Der Junge ging weiter auf den High way 17 zu, ohne sich umzudrehen. Der Tankwart wandte sich verwirrt und ärgerlich uns zu. »Der Kerl macht mich seit fünf Uhr früh verrückt. Sagt, er kann den Hof seines Vaters nicht mehr finden, wo er Nahrungsmittel abliefern sollte. Fährt rund um den Shadow Lake, kommt nach einer Viertelstunde hän deringend zurück und flucht. Und nun läßt er seinen Wagen glatt in
MEINE HEKATE
meiner Einfahrt stehen und ver schwindet.« Wir standen einen Moment lang da und sahen dem verrückten Jungen nach, der zum Highway 17 hinauf ging. »Na, das sind seine Sorgen, schätze ich«, unterbrach der Tankwart das Schweigen. »Was kann ich für Sie tun, meine Herren?« Der Fahrer des Packards kam wieder zu sich. »Ja«, sagte er mit geschäfti ger Eile. »Ich suche Clearview.« Der Tankwart vergaß sein Lächeln wieder. Seine blaßblauen Augen ver engten sich zu Schlitzen und funkel ten uns aus einem wettergegerbten Gesicht an. »Also jetzt reicht es«, flüsterte er leise. »Was soll das? Ein Massenausbruch aus der Klapsmühle? Sie sind schon der neunte heute mor gen, einschließlich eines verrückt ge wordenen Busfahrers.« Er ging mit steifen Schritten ins In nere der Tankstelle und kam mit ei ner Straßenkarte heraus. »Sie wollen also nach Clearview? Na, dann sehen Sie sich selbst an, daß es das Kaff in unserem Staat nicht gibt.« Er stach mit dem Finger beinahe durch die Karte. Ich studierte den Fleck, auf dem es sich befunden hatte, aber Clearview war nicht eingezeichnet. Sonst schien die Karte in Ordnung zu sein. Der Fahrer des Packards bekam es jetzt mit der Angst zu tun. »Ich woll te ja nicht nach Clearview selbst.«
Der Tankwart sah den Mann lange
Zeit an. Dann begann er ums Kinn
zu zittern. Schließlich fragte er ruhig:
»Wohin wollten Sie denn, Mister?«
»Nach Oaktown.«
»Ich verstehe. Nun, steigen Sie ru hig in Ihren Wagen und fahren Sie
etwa sechs Meilen die Straße ent lang, dann sind Sie in Oaktown.«
»Vielen Dank. Hoffentlich haben Sie
recht.«
Als der Packard losfuhr, verlangsam te ein großer Wagen auf dem High way die Geschwindigkeit. Der Fahrer
beugte sich aus dem Führerhaus und
schrie uns zu: »He, Leute, bin ich im mer noch auf dem Highway 55?«
Der Tankwart nickte und winkte ihn
weiter. Er war eindeutig mißtrauisch,
als er sich mir zuwandte.
»Und Sie?«
»Ich komme von der Darrow-Che mie«, log ich. »Wir haben einen neu en Artikel, den wir hier gerne einfüh ren würden.«
»Kommen Sie herein. Wir können
uns bei einer Zigarette unterhalten.«
Ich folgte ihm und sagte: »Wie kam er
wohl auf die Idee, daß es hier einen
Ort namens Clearview gibt?«
»Das ist seine Sache, Mister. Ich weiß
nur, daß es so was hier nicht gibt.«
Er gab mir Feuer.
Er hatte etwas sonderbar Vertrautes
an sich. Ich suchte in meinem Ge dächtnis, aber ich konnte ihn nir 179
WYMAN GUIN
gends einordnen. Vielleicht verwirrte
mich das gegerbte Gesicht und seine
Kleider.
Ein kleines Mädchen mit leuchtend rotem Haar kam aus den Wohnräu men im Hintergrund der Tankstelle,
lehnte sich gegen den Türpfosten und
starrte mich an. Der Tankwart grin ste. »Meine Tochter. Niedlich, nicht
wahr?«
»Hallo? Wie heißt du?«
Sie unterhielt sich nicht mit jedem.
»Hekate«, half der Tankwart aus.
»Komischer Name, aber bei uns recht
gebräuchlich.«
»Wie lange wohnen Sie schon hier?«
fragte ich ihn.
»Hm, also das ist gar nicht so leicht
zu beantworten, junger Mann.« Ei nen Moment lang suchte er verzweifelt
etwas in meinen Augen, was er nicht
zu begreifen schien. »Mein ganzes
Leben, schätze ich.«
Ich starrte ihn an.
Er schüttelte verlegen den Kopf, doch
dann grinste er vertrauensvoll. »Eine
ganze Menge geheimnisvoller Dinge,
was? Wenn man der Typ dazu wäre,
könnte man sich schon Sorgen ma chen.«
»Wie meinen Sie das — geheimnis voll?«
»Ach, ich weiß auch nicht. Wie meine
Frau zum Beispiel. Sind Sie verheira tet?«
Ich nickte. Über seine Schulter hinweg
konnte ich durch das Fenster sehen.
180
Ein Mann im dunklen Anzug wan derte ziellos durch ein Feld, das sich
in Richtung des Shadow Lake er streckte. Ich erkannte ihn. Er wohnte
auf dem Land draußen, aber er hat te einen Laden in Clearview besessen.
Der Tankwart fragte mich mit ganz
ernster Stimme: »Wie alt ist Ihre
Frau?«
»Zwei Jahre jünger als ich. Unge fähr achtundzwanzig.«
Er sprach langsam und bedächtig, als
hätte er ein Problem, das er nicht lö sen konnte. »Ich dachte mir auch, daß
es so richtig sein müßte. Sehen Sie,
meine Frau ist siebenundachtzig.«
Ich konnte ihn nur mit offenem Mund
anstarren. Er selbst war nicht älter
als sechsunddreißig. Dann dachte ich
an das kleine rothaarige Mädchen,
sah sie an und warf ihm wieder einen
Blick zu.
Er seufzte tief. »Sie ist die Tochter
meiner Frau.«
Da? Kind drehte sich langsam um,
sah mich nachdenklich an und lief
dann wieder in die Wohnung.
Wir hörten gleichzeitig die Sirenen,
die sich von der Stadt her näherten.
Zwei Polizisten fuhren auf Motorrä dern vor einem Polizeiwagen her. Sie
kamen über den Hügel und hielten
auf die Tankstelle zu. Dann stellten
sie die Maschinen ab und blieben ru hig daneben stehen, während drei
Männer in Zivil und ein Uniformier
MEINE HEKATE
ter aus dem Wagen kletterten. Die Si renen erstarben mit einem melancho lischen Laut in der ruhigen Frühlings luft.
Einer der Männer in Zivilkleidern
führte die Gruppe vom Wagen zur
Tankstelle.
»Was geht hier vor?« fragte er, als
wollte er dem Treiben in den näch sten zehn Minuten ein Ende bereiten.
»Nichts geht hier vor.« Der Tankwart
zeigte sich unberührt und gar nicht
unterwürfig.
»Wo ist Clearview?«
Ich sah, wie der Tankwart zusam menzuckte. Zum ersten Mal zweifelte
er an sich selbst. Sein einsames
Selbstvertrauen brach zusammen.
»Ich sage Ihnen, den Ort gibt es nicht.
Es hat ihn nie gegeben. Ich bin ein
Einheimischer und habe noch kein
Wort davon gehört.«
Er begann zu flennen und setzte sich
auf die Treppe, wo er in ein Taschen tuch schluchzte.
Die Polizisten waren bei ihren Ma schinen geblieben. Sie unterhielten
sich miteinander, und über das Heu len des Tankwarts konnte ich die un gerührte Stimme des einen hören: »Ich
war noch nie in der Gegend. Hat sie
sich wirklich verändert?«
»Klar. Ich kann es mir nicht vorstel len. Soweit ich sehe, ist nichts gesche hen, nur daß die Ortschaft fehlt.«
Die Zivilbeamten wandten sich mir
zu. »Was machen Sie hier?«
»Ich wohne da drüben.« »Was heißt >da drüben« »Blue Lake. Ich wohne am See.« »Hatten Sie heute morgen hier zu tun?« »Ich war auf dem Weg zu meinem Arbeitsplatz in die Stadt. Ich — Clear view ist verschwunden.« »Das sehe ich selbst. Was hatten Sie damit zu tun?« »Ich besprach mich mit meinem Part ner östlich von Tucumcari in Neume xico. Wir brachten die ganze Sipp schaft — Männer, Frauen und Kinder — an einen Ort in West-Oregan, den ich eigens dafür ausgewählt hatte. Wir wurden erst bei Morgengrauen fertig, und ich bin hundemüde.« Ich ging auf meinen Wagen zu, aber einer der Männer packte mich am Arm. »Einen Augenblick, Mister. Sie sind vielleicht genauso ehrlich ver blüfft wie jeder andere amerikanische Staatsbürger hier. Andererseits könn te es sich um einen Anschlag der Kommunisten handeln, und wir dür fen kein Risiko eingehen.« »Daran habe ich auch schon gedacht«, sagte ich. »Ich kam zu dem Schluß, daß sie es nicht nötig hätten, Spione einzuschleusen, wenn sie mit solchen netten Tricks zu arbeiten vermögen. Könnte es nicht sein, daß heute mor gen in Washington einige Leute ge schlafen haben?« »Unsere Aufgabe ist es, nur nach 181
WYMAN GUIN
Clearview zu sehen«, sagte er mür risch. Mein Ärger war verraucht. Der Scherz, daß mein Partner und ich erst bei Morgengrauen fertig geworden waren, hatte eine Klingel in meinem Innern ausgelöst. Sie wurde immer lauter, bis sie schließlich durch mein gequältes Hirn gellte. Denn zum er sten Mal an diesem Vormittag erin nerte ich mich an den fürchterlichen Fluch, den meine Frau in der Nacht zuvor ausgestoßen hatte, an das laute Dröhnen und das Schimmern, das al les durchdrang. Ich sah wohl schuldbewußt und ängst lich drein, aber ich schätze, daß mich meine Schnoddrigkeit von vorher deckte. Die Beamten ließen mich ge hen, nachdem sie meinen Namen von meinem Ausweis abgeschrieben und mir einige Fragen darüber gestellt hat ten, wie die Landschaft ausgesehen hatte, als ich zum ersten Mal vorbei gekommen war. Wagen stauten sich an der Kreuzung, und die beiden Poli zisten mit den Motorrädern schrieben Namen auf und dirigierten den Ver kehr mit der gleichen Geschäftigkeit wie immer.
Als ich wegfuhr, konnte ich im Rück spiegel das Blinklicht des Polizei wagens sehen. Das rote Zyklopenau ge schwang immer noch sinnlos über der neuen Landschaft. An der Ab 182
zweigung zögerte ich, doch dann gab ich den Gedanken auf, gleich nach Me xico weiterzufahren. Meine Frau saß auf der Terrasse und trug einen hübschen kleinen Sonnen anzug, als ich heimkam. Sie drückte eine Schale an die Brust und warf da raus den Tauben Maisbrotbrösel zu. Die Vögel flatterten ihr um die langen schönen Beine. Die Katze saß auf ih rem Schoß, und die Frühlingsbrise zupfte an dem schwarzen Pelz. Die Katze verachtete die Tauben. Sie saß da, wo sie hingehörte, und ihre grü nen Augen folgten mir aufmerksam. Ihre lächelnden blauen Augen folgten mir ebenfalls, und das pracht volle rote Haar hob sich im Wind, ein frevelhafter Heiligenschein. Ihre schmerzhaft netten Worte hingen un beantwortet über der stillen Terras se. »Liebling, ich habe mir so gewünscht, daß du bald zurückkommst. Ich habe mir den ganzen Vormittag wunderba re Dinge über uns beide ausgedacht. Jetzt können wir den ganzen schönen Tag miteinander verbringen, nicht wahr?« Ich ging in die Küche und mixte mir einen doppelten Scotch mit Soda. Ich kehrte auf die Terrasse zurück, ließ mich in meinem Liegestuhl nieder und sah der Katze vernichtend in die starren grünen Augen. »Du trinkst am Vormittag?« fragte sie freundlich.
MEINE HEKTATE
»Am Vormittag. Den ganzen Vor mittag.«
»Liebling, du bist so nett und groß artig, du solltest immer trinken, wenn
es dir Spaß macht.«
Ich beobachtete ihr Gesicht, das schö ne Gesicht mit den offenen blauen
Augen, und ich fragte:
»Was glaubst du wohl, was passiert
ist?«
Sie hatte nur etwas trotzige Mund winkel, weil ich ihre Frage nicht be antwortet hatte. »Das weiß ich natür lich nicht.«
Ich sah sie scharf an. »Clearview ist
verschwunden.«
Die Katze sprang von ihrem Schoß,
und die Tauben schössen in einer
wirbelnden Wolke auseinander. Jetzt,
da die Katze die Neuigkeit gehört
hatte, ging sie zu Beelzebub, um sich
mit ihm zu beraten.
»Das verstehe ich nicht«, sagte meine
Frau verwirrt.
»Clearview ist verschwunden. Fort.
Es ist ein anderer Ort mit anderen
Menschen dort.«
Zuerst veränderte sich ihr Gesichts ausdruck nicht. Dann sah sie langsam
ehrlich erfreut aus. Ich konnte sehen,
daß sie mir nicht wirklich glaubte.
Aber der Gedanke machte ihr Spaß.
»Du glaubst wohl, du brauchst für
deine Sünden nicht zu büßen, was?«
fragte ich wütend. »Einfach hochge hen wie ein Dampfkessel, weil ein
nettes kleines Mädchen mit Augen
wie Ingrid Bergmann in mich ver schossen ist.«
Ich war so wütend, daß ich die Trä nen in meinen Augen spüren konnte.
»Sie war ein nettes Mädchen. Auch
wenn sie Absichten hatte. Du weißt,
daß das ziemlich harmlos ist. Zumin dest saß sie nicht in ihrem Bett und
ließ ganze Ortschaften verschwin den.«
Meine Frau hob das Kinn und starrte
mich trotzig an.
Ich fuhr einfach fort: »Hör mir jetzt
zu! Du setzt dich in den Wagen und
fährst nach Clearview. Versuch es nur
zu finden. Entschuldige dich bei
einigen der armen Frauen, die du
gestern nacht so verdammt hast.«
»Ich werde nichts dergleichen tun«,
sagte sie ruhig.
Ich setzte mein Glas ab, stand auf
und ging zu ihr hinüber. Ich nahm sie
mit festem Griff am Arm und führte
sie über die Terrasse. Sie stand vor
Wut kochend neben dem Buick und
versuchte mich mit ihren Blicken zu
vernichten. Dann war sie mit einem
Sprung im Wagen und raste die Auf fahrt entlang. Der Kies spritzte mir
entgegen.
Ich ging zurück in die Küche und pfiff
eine kleine Melodie vor mich hin,
während ich mir -noch einen Scotch
mixte. Am Institut für Höheres Wis sen würde man ein paar neue Proble me durchzukauen haben. Vielleicht
WYMAN GUIN
mußte man im Interesse der Wissen schaft meine Frau auch ausstopfen und sie in Princeton in einem Glas kasten aufbewahren. Sie war zurück, noch bevor sie richtig gestartet war. Jetzt, da ich wußte, was sie war, überraschte mich das nicht im geringsten. Es war vermutlich eine ihrer kleinsten Begabungen. Ich hörte, wie sie abbremste, wie der Wagen die halbe Auffahrt entlang schlitterte, und dann stand sie in der Küche. Sie stand da, und ihre Unter lippe zitterte. Wissen Sie, was sie sagte? »Oh, Lieb ling! Clearview ist verschwunden!« Ich zuckte mit den Schultern. »Das habe ich selbst gesehen. Was hattest du damit zu tun?« »Glaubst du wirklich, daß das, was ich letzte Nacht sagte ... ist es mög lich, daß ich . . . ? « »Du bist eine Hexe«, sagte ich. Das Telefon klingelte, und ich ging durch die Küche und hob ab. Es war der Sheriff. »Oh, hallo!« sagte ich. »Ich sagte Ih nen doch, daß ich Sie wiederwählen würde. Außerdem ist es ein toller Job. Das County ist so ruhig, daß es einfach zu verschwinden scheint.« »Lassen Sie die Witze. Es handelt sich um einen nationalen Notstand. Der FBI kommt in ganzen Scharen.« »Hat dieser Tankwart geschworen, daß er weder jetzt noch je zuvor existiert hat?« 184
»Es tut mir leid, daß wir so einen klu gen Knaben unter den Zeugen haben. Ich hatte gehofft, der FBI würde ei nen besseren Eindruck von den Leu ten hier bekommen. Haben Sie den Streit mit Ihrer Frau schon hinter sich?« »Wie meinen Sie das?« »Das wissen Sie ganz genau. Jeder in Oaktown wußte, daß sie gestern abend hochgehen würde.« »In Oaktown auch? Die sollten lie ber aufpassen, was sie sagen. Meine Frau ...« »Sie haben einen richtigen Gold schatz. Ich verstehe gar nicht, daß Sie mit anderen herumalbern müssen.« Ich grinste meine Frau quer durch die Küche an. »Der Sheriff sagt, du seiest ein richtiger Goldschatz. Ein ma kabrer Scherz.« »Sie müssen sie übrigens mitbrin gen«, sagte der Sheriff, »damit sie Ih re Aussagen bei der Untersuchung be stätigt.« »Wo Clearview war?« »Nein. Darum geht es nicht. Wir bringen nur diese Fremden zur Unter suchung nach Oaktown. Dazu alle an deren, die morgens unterwegs waren — also auch Sie.«
»Wann?«
»Jetzt.«
»Ich habe getrunken.«
»Sie wollen wohl zum Teufel gehen,
was?«
MEINE HEKATE
»Ich will?« fragte ich. »Sie wissen wohl nicht, daß ich schon bei ihm bin?« Ich legte den Hörer auf und wandte mich meiner Frau zu. Sie stand da, die Fäuste in die Hüften gestemmt, und weinte still vor sich hin, wobei sie mühsam das Schluchzen unter dückte. Ich ging zu ihr und legte die Arme um sie, und sie blieb einfach so stehen und vergrub ihr Gesicht an meiner Schulter. »Du weinst eigentlich gar nicht wie eine Hexe«, sagte ich. »Vielleicht stimmt es gar nicht. Keiner von uns hat etwas von deinen Kräften geahnt, und die Wissenschaftler sind diesem Phänomen noch nicht auf der Spur.« Sie hob den Kopf. »Oh, Liebling, ich hoffe, sie schaffen es nie. Sie dürfen es nicht herausbringen.« Ich strich beruhigend über ihr schönes Kupferhaar. »Mach dir deswegen kei ne Sorgen. Wir gehen zu diesem Ver hör und erzählen ihnen, daß ganz Clearview kommunistenfreundlich war. Das wird sie glatt auf die falsche Spur bringen.« Ich brauchte ihnen nichts Derartiges zu erzählen. Man hatte an die vier zig Leute, darunter den Tankwart mit seiner senilen Frau und seiner klei nen Tochter, aus dem Gebiet zusam mengetrommelt, in dem sich früher Clearview befunden hatte. Und nun waren alle im Gerichtsgebäude von
Oaktown versammelt und hatten stur
eine Tatsache im Kopf — es gab keine
Ortschaft namens Clearview, und es
hatte nie eine gegeben.
Nachdem ich mich eine Zeitlang mit
im Saal befand, fielen mir einige Be sonderheiten an der Gruppe auf, die
verhört werden sollte. Die Männer
standen in den verschiedensten Al tersstufen. Frauen gab es jedoch nur
zweierlei Sorten — ganz alte Weiber,
von denen einige mit Zwanzigjähri gen verheiratet waren, und kleine
Mädchen, die nicht älter als acht wa ren. Es waren neun kleine Mädchen
dieses Alters da, und jedes hatte ei nen anderen Daddy, der es auf dem
Schoß hielt oder ihm über das rote
Haar strich, wenn es neben ihm
stand.
Dann waren acht kleine Jungen da,
die feierlich für sich allein dasaßen.
Ich spürte den Schatten Siegmund
Freuds schwer und bedrückend im
Saal. Plötzlich verstand ich, weshalb
mir der Tankwart so bekannt vorge kommen war.
Er war ein genaues Abbild meines
Schwiegervaters — bis auf die ledrige
Haut.
Alle Männer im Saal stellten meinen
Schwiegervater in verschiedenen Al tersstufen dar.
Alle kleinen Mädchen waren meine
Frau.
Die feierlichen kleinen Jungen hatten
Ähnlichkeit mit mir.
WYMAN GUIN
Als ich meine Frau ansah, die neben mir saß, war sie sehr blaß. Als sie meinen Blick bemerkte, errötete sie jedoch. Die Röte wurde immer tiefer. Sie stieg vom Hals auf und kroch bis zu Jen Wangenknochen. Sie schluck te und wandte sich von mir ab. »Du solltest dich wirklich schämen«, flüsterte ich. »Hättest du mich nicht wenigstens zu einem der Daddys machen können? Hättest du mir nicht eine hübsche junge Brünette zur Frau geben können, damit wir deinen klei nen achtjährigen Hintern versohlt hätten?« Sie zitterte, packte mich am Arm und flüsterte mit angstvoll zu: »Darling, das dürfen sie nicht herausfinden. Bitte — bitte — sorg dafür, daß sie es nicht merken.« Das war eine Untersuchung! Sie war außerdem kurz. Die Beamten woll ten zumindest einen kommunisti schen Anschlag sehen und die Ver dächtigen, die Sie ernsthaft bemüht waren, überhaupt Antworten zu fin den, wurden zu unwirklichen Ge schöpfen. Schließlich, als die FBI-Männer ihre Angriffe und Verdachtsmomente in etwa erschöpft hatten, erhob sich ei ne kleine alte Dame auf zittrigen Bei nen. Sie deutete mit knochigem Fin ger auf einen gut aussehenden Zwan zigjährigen, der ebenfalls meinen Schwiegervater darstellte. So blieb sie stehen und deutete mit 186
ihrem Krallenfinger. Mir kam der Ge danke, daß ihre erloschenen Augen
früher einmal Ähnlichkeit mit den
Augen der Bergmann gehabt haben
könnten, und ich sah meine Frau ent rüstet an. Im ganzen Saal wurde es
still bei dem schrecklichen Anblick
der alten Dame, die auf den jungen
Mann deutete.
Meine Frau sah mich nicht an. Sie
vergrub ihr erschüttertes Gesicht in
den Händen.
Der leitende Untersuchungsbeamte
war selbst von dem verrückten
Schweigen der Alten beunruhigt.
»Madam, wünschen Sie das Wort?«
Die alten Stimmbänder sammelten
sich um ein geballtes Häufchen Zorn
und zischelten: »Der da ist einer. Er
ist ein Kommunist.«
Jetzt, da die Anschuldigung endlich
ausgesprochen war, glaubte der Be amte sie nicht. »Wie kommen Sie
darauf?«
»Er ist untreu, und er plädiert für die
freie Liebe. Er hat heute morgen ge droht, daß er mich verlassen wolle. Er
will in die Stadt und jungen Mäd chen nachstellen.«
Ich mußte den Arm um meine Frau
legen und sie an mich ziehen, weil sie
so sehr zitterte.
Eben als die lähmende Stille im Saal
zur Qual geworden war, platzte einer
der FBI-Leute heraus: »Ich glaube
nicht, daß das ein Fall für uns ist.«
Er sagte es kläglich.
MEINE HEKATE
Mit bewundernswerter Schnelligkeit wurde beschlossen, die vierzig Leute wieder in ihr komisches Gebiet zu rückzubringen. Wir anderen wurden entlassen. Vor dem Gerichtsgebäude ging der Frühlingstag in zittrigem rotem Licht unter. Unser Freund, der Sheriff, ge sellte sich zu uns und tippte beim An blick meiner Frau mit der Hand an den Hutrand. Zu mir sagte er: »Trin ken Sie immer noch?« »Natürlich«, sagte ich. »Es ist die ein zige Möglichkeit, hier nüchtern zu bleiben.« »Dann kommen Sie mit zum Flamin go, und ich stifte zwei Martinis.« Meine Frau packte den Martini, als sei er die schützende Hand einer Mutter. Der Sheriff war ein großer, trauriger Mann, und er sah sie trau rig an. Mich sah er streng an. »Ich habe bemerkt, wie blaß die klei ne Frau bei der Untersuchung war«, sagte er. »Es ist eine Schande, wenn so ein Holzklotz wie Sie ihr das Le ben so schwer macht. Weshalb brin gen Sie die Sache nicht in Ordnung, damit die Weiber bei ihrem Mitt wochs-Bridge nichts mehr über sie zu klatschen haben?« »Ich habe die feste Absicht«, versi cherte ich ihm. »Die ganz feste Ab sicht. In meinem jungen Leben wird es fortan keine Seitensprünge mehr geben.«
Der Sheriff wandte sich entschuldi gend an meine Frau. »Ich glaube, er meint es ernst.« »Oh, sie weiß, daß ich es ernst meine. Wenn ich mit so einem Gedanken nur spielen würde, hielte ich das Schick sal von Hunderten von Menschen in der Hand. Das macht ihr keine Sor gen. Sie versucht nur, ein braves Kind zu sein und zu beichten, daß sie die Sache angestellt hat.« Meine Frau sah mich an, als hätte ich ihr einen Dolchstoß versetzt. »Was angestellt?« fragte der Sheriff ruhig. »Clearview ausgerottet.« Meine Frau zuckte bei der Feststel lung zusammen und schluckte den restlichen Martini. Dann, wie die Verdammte, die ihrem Ankläger ver zeiht, streckte sie die Haus aus und drückte die meine. »Liebling, kann ich noch einen Martini haben?« Ich holte einen Schein aus meiner Ta sche und gab ihn dem Sheriff. »Ich möchte mich kurz mit der Gefange nen unterhalten. Seien Sie so nett, gehen Sie an die Bar und bestellen Sie uns drei Martinis.« Er ging, ohne sich in seiner Würde gekränkt zu sehen, und ich nahm ih re beiden Hände. »Liebling, du wirst sehen, er glaubt es nicht. Kein Mensch, der davon hört, wird es glau ben. Und selbst wenn wir den Sheriff überzeugen könnten, würde er es kei nem seiner Kollegen weitersagen, aus
WYMAN GUIN
Angst, sie könnten sich an die Stirn tippen. Natürlich, wenn du es zur Ge wohnheit werden läßt, muß der She riff seine und ich meine Pflicht tun.« »Oh, Liebling, ich werde es nie wie der tun! Ich werde nie wieder die Be herrschung verlieren, und ich werde mich nicht mehr auf das, was ich tue, konzentrieren. Liebling, wenn du mit anderen Mädchen ausgehen willst, werde ich glücklich darüber sein und —« »Langsam, langsam! Raufen wir uns nicht gleich die Haare und streuen wir uns nicht Asche aufs Haupt. Wir erzählen einfach dem Sheriff, was ge schehen ist, und dann gehen wir heim und leben ein friedliches Leben mit unserer Liebe und unserer Schuld.« Der Sheriff kam zurück und stellte die Drinks mit Hausfrauenschwung vor uns hin. Er setzte sich und sah mich streng an. »So, was sagten Sie da von Ihrer kleinen Frau?« »Sie hat Clearview verflucht. Natür lich, ich nehme an, daß jede Stadt im Lande von irgendeiner Frau zu nächt licher Stunde verflucht wird. Und ab und zu wirkt so ein Fluch eben. Dann erwacht eine Frau und merkt, daß sie eine Hexe ist.« Der Sheriff sah mich mit Abscheu an, aber ich fuhr einfach fort: »Es ist eine gute Theorie, die Sie um unserer Schulfreundschaft willen akzeptieren könnten. Für Ihre alleinige Informa 188
tion habe ich noch weitere Einzelhei ten. Die Leute, die Sie in diesem Ge biet aufgelesen haben, sind nicht echt. Es sind Schatten oder irgend etwas, das sie geschaffen hat. Diese alten Vetteln sind gealterte Abbilder der Frauen, die ihre Freundinnen wa ren.« Dem Sheriff reichte es. »Genug mit diesem Unsinn! Ich kenne diese klei ne Frau, seit sie ein kleines Mädchen war, und selbst wenn so etwas mög lich wäre, ist sie nicht der Typ, der es fertigbringt.« »Sie hat in der Volksschule eine Stinkbombe ins Lüftungssystem ge worfen«, erinnerte ich ihn. »Vergessen wir nicht, wer der Schul dige hier am Tisch ist. Die kleine Frau hier hat genug Grund zum Ärger über diese Klatschbase von Clearview gehabt, aber dahinter steckt, daß Sie sich wie ein junger Bock aufgeführt haben.« Wir drehten uns beide in männlicher Panik um, denn meine Frau schluch zte. Die Augen waren geschlossen, und der Mund in dem blassen Gesicht wirkte zusammengepreßt. Sie sah aus wie eine gemarterte Heilige. »Ich habe es getan! Ich habe all die guten Leute zum Untergang verur teilt.« Ihre Tränen rollten ihr über die Wangen und fielen in das leere Glas. »Oh, Liebling, ich wünsche mir so sehr, daß ich all diese guten Leute wieder zurückholen könnte.«
MEINE HEKATE
Man hörte einen grollenden Donner,
der kein Donner war. Man spürte
kurz, wie das Fundament des Univer sums verrutschte, und einen betäu benden Augenblick lang war um uns
alles von innen her beleuchtet.
Der Barkeeper, der seine Gläser po liert hatte, sah auf. »Was um Him mels willen war das?«
Wir saßen im Flamingo, und meine
Frau und ich sahen einander an. Sie
rieb mit den Fäusten an den Augen
wie ein kleines Mädchen, das die letz ten Tränenspuren verwischen will.
Ich lächelte, und sie lächelte.
»War es das?« fragte der Sheriff.
Meine Frau sah mich immer noch
lächelnd an und nickte, und er stand
auf und ging. Meine Frau beugte sich
vor und küßte mich.
»Weißt du, ich werde unseren Kin
dern beibringen müssen, daß sie sich beherrschen«, sagte sie schließlich. »Und vielleicht können wir sie so er ziehen, daß sie sich nicht so stark konzentrieren. Wenigstens nicht zu stark.« »Gut«, sagte ich. »Allerdings hätte ich ganz gern, daß einer der Jungen zu den Yanks geht - als Feldspieler.« Ich traf dieses Mädchen von Clear view kurz danach auf der Straße. Nach ihrem kurzen Aufenthalt an unbekanntem Ort hatte sie sich der Heilsarmee angeschlossen. Sie erzähl te mir, daß sie es als ein tiefgreifendes und reiches Erlebnis empfinde. Ich wünschte ihr alles Gute und ver schwand schnell. Sie hat wirklich Augen wie Ingrid Bergman, aber kein Mensch wird mich dazu bringen, das vor meiner Frau einzugestehen.
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Nichts ist umsonst von
Fletcher Pratt
Dick Bentress band sich die Krawatte und faßte den vor ihm liegenden Tag mit gedämpfter Befriedigung ins Au ge. Das, was direkt vor ihm lag, in teressierte ihn nur schwach; nicht daß er etwas dagegen hatte, in der Ein kaufs-Abteilung der Import-Exportinternational zu arbeiten, aber die Durchführung von Routineaufgaben langweilte ihn, nachdem er soviel Zeit — und eine beträchtliche Menge Geld — dafür verwendet hatte, alles zu ler nen, was ihm ein gutes Abend-Kolleg über die Prüfung von Patentbeschrei bungen und Werkstoffen beibringen konnte. Ein zweiter Grund für die Gedämpftheit seiner Befriedigung lag in der Tatsache, daß er den Grund für seine Bestrebungen, in eine höhere Einkommensklasse zu kommen, erst morgen sehen sollte. Der Grund hieß Candy Evans. Sie war eine Brünette, aber — leider — Geigerin und hatte an diesem Abend Probe. Dick Bentress korrigier te den Sitz seines Jacketts, setzte den Homburg auf, sah in den Spiegel und stellte fest, daß er gut gekleidet war.
Die Tatsache, daß er eine Stelle hatte, die ihn eines Tages irgendwohin brin gen würde, plus der Tatsache, daß er gleichermaßen mit einer Freundin und einem Hobby bestückt war, ließ die Gedämpftheit etwas verschwinden, und er ging auf die Straße hinaus. Das Rührei mit Wurst war genau rich tig, wodurch die Gedämpftheit wei ter schwand. Der Bus kam rechtzeitig und hatte noch leere Sitzplätze. Die Sonne schien, und die Cincinnati-Rot socken hatten wieder mal gewonnen. Deshalb war die Welt ein recht ange nehmes Plätzchen geworden, als der Bus die Ecke zwischen der Dritten und der Grand Avenue erreichte. Als er vom Bus auf den Randstein sprang, spitzte er die Lippen und pfiff die Anfangsmelodie des Triumphmar sches aus der Aida vor sich hin Dann geschah es. Als er einen langen Schritt machte, kam ein fremder Knöchel mit dem seinen in Konflikt. Er segelte durch die Luft und landete bäuchlings auf dem Bürgersleig, das Gerräusch von zerreißendem Stoff in den Ohren. Er 191
FLETCHER PRATT
sprang wütend hoch, vergewisserte
sich, daß das hübsche Jackett nie wie der hübsch sein würde, und wirbelte
herum.
»Verdammt noch mal, können Sie
nicht — «
Er unterbrach sich.
Die gegnerische Partei des Unfalls
wurde gerade von einem alten Herrn
mit Aktentasche auf die Beine gestellt,
und sie war genau der Typ, mit dem
man liebend gern zusammenstieß.
Das Haar, das unter dem leicht lä dierten Hut hervorquoll, war rot; das
Gesicht hätte jedem Filmstar zur Eh re gereicht, und, soweit er es beurtei len konnte, war ihre Figur strip-tease gerecht.
»Ich bitte um Vergebung«, sagte Dick
Bentress. »Ich paßte nicht auf, wo hin ich ging. Hoffentlich haben Sie
sich nicht verletzt?« Er bückte sich
und hob ihre Handtasche auf, die ne ben seinem neuen Homburg lag.
»Es war meine Schuld«, sagte sie.
»Nein, mir fehlt gar nichts. Aber Sie
haben Ihr Jackett zerrissen. Du liebe
Güte!«
»Nicht der Rede wert«, meinte Dick.
»Ich habe noch eines.« Sie trug keinen
Ring.
»Nein, hören Sie«, sagte sie. »Es war
wirklich meine Schuld, und ich werde
selbstverständlich die Reparatur be zahlen. Sind Sie nicht Mister Ben tress?«
»Mein Ruhm ist mir vorangeeilt. Wo 192
her kennen Sie mich? Und ich lasse es keineswegs zu, daß Sie irgend et was bezahlen.« »Ich sah Sie, als Sie vor vierzehn Ta gen den Zauberabend in Cliffside ver anstalteten. Sie waren großartig. Übrigens, mein Name ist Marion Saxon.« Er nahm die entgegengestreckte Hand. »Das freut uns, wenn wir un ser Publikum zufriedenstellen, aber weshalb wurden Sie mir damals nicht vorgestellt? Und was suchen Sie bei einer Vorführung für den Elternbei rat? Haben Sie Kinder?« »Noch nicht. Ich interessiere mich nur schrecklich für Zaubertricks aller Art.« Leute, die zur Arbeit hasteten, stie ßen sie an, und Dick Bentress hatte eine Eingebung. »Wissen Sie was?« sagte er. »Wenn Sie heute abend frei haben, könnten wir doch zusammen essen, und ich erzähle Ihnen mehr darüber. Das heißt, wenn .. .« Sie senkte den Blick. »Also gut. Wo - « »Kann ich Sie abholen?« »Wenn Sie wollen. Ich wohne in der Summit Avenue, 521, im zweiten Stock. Apartment 2B. Gegen sechs.« Er schrieb alles auf und pflückte eine winzige Taubenfeder von seinem Hut, die sich während des Aufent halts auf dem Gehsteig dort nieder gelassen hatte. »Bis heute abend also. Und es tut mir schrecklich leid, daß ich Sie umgestoßen habe.«
NICHTS IST UMSONST
Er pfiff wieder, als er ins Büro kam. Vom Schreibtisch nebenan sagte Wal ter Oldman: »Woher die gute Laune? Du siehst aus, als wärst du mit einem Wirbelsturm zusammengestoßen.« Dick grinste, streckte die Hand aus und holte einen halben Dollar aus den Haaren einer vorbeigehenden Schreibkraft, dann sagte er: »Viel leicht. Sie kommt übrigens aus dei ner Zone. Erinnerst du dich an die Vorführung, die ich für deine Cliff side-Eltern Vereinigung gab? Sie war da, aber du hast gar nicht daran ge dacht, sie mir vorzustellen. Wolltest du sie für dich selbst einpökeln?« »Wen meinst du eigentlich?« fragte Oldman. »Ein gnädiges Fräulein namens Ma rion Saxon. Sie wohnt in der Summit Avenue — nahe genug, daß du sie kennen müßtest.« »Oh, ich kenne sie nicht persönlich, aber ich weiß einiges über sie. War ja nicht anders möglich — alle alten Klatschweiber von Cliffside haben sie zum Ziel Nummer Eins für ihre Zun gen gewählt. Sie ist unser Lokalge heimnis. Zog vor etwa einem Monat ein, hat offensichtlich genug Geld und keinen Kummer, zieht sich schön an und kümmert sich nicht um ande re Leute. Das ist einer der Gründe für die Klatscherei. Die Saxon tauch te bei der Vorführung für die Lehrer vereinigung auf und hat ihre Spende für den Gesundheitshilfsfond gelei
stet, aber als sich die Leute vom Brid geklub und ähnlichen Institutionen anbiedern wollten, war es schon aus. Und die einheimischen jungen Män ner machen auch keinen Eindruck auf sie. Einfach unnahbar, das ist es.« »Das ist verdammt komisch«, meinte Dick und setzte sich auf den Schreib tischrand, damit seine Stimme nicht durchs ganze Büro schallte. »Ver dammt komisch.« »Wie meinst du das?« »Nun, ich traf sie eben an der Ecke zwischen der Dritten und der Grand Avenue. Unsere Bekanntschaft kam zustande, als wir übereinander stol perten, nachdem ich den Bus verlas sen hatte. Nur, ich könnte schwören — so wie ich stolperte, war es Ab sicht von ihr. Und als ich sie um eine Verabredung für heute abend bat, hat sie nicht einmal so lange gezö gert, daß ich es mir anders überlegen konnte.« Walter Oldman grinste. »Das ist dei ne Unwiderstehlichkeit. Aber laß Candy lieber nicht erfahren, daß du mit ihr ausgehst. Die Saxon ist genau der Typ, bei dem jede Freundin hoch geht.« »Es ist nichts weiter dabei«, sagte Dick. »Sie interessiert sich für Zau bertricks und hat vielleicht ein paar gute Einfälle. Ich muß mir für den Rummel der Amateurzauberer-Ver einigung, der nächsten Monat statt findet, noch eine neue Nummer ein 193
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fallen lassen, sonst verliere ich meine Lizenz. Und bis jetzt ist mir noch nichts Vernünftiges eingefallen.« Er rutschte von der Schreibtischkante. »Oh, übrigens«, sagte Oldman. »Car ver hat gestern abend von Pittsburgh angerufen, nachdem du schon fort warst. Ich habe die Nachricht aufge nommen. Er sagte, der Chemie-Boß bei Murphy überläßt uns die Formel des neuen Reinigungsmittels Murphy len für Laborversuche, will uns aber verpflichten, sie nicht weiterzugeben. Möchte nicht, daß sie der Konkurrenz in die Hände fällt.« »Verdammt«, sagte Dick. »Und der Fünftonnenauftrag von Brasilien baut auf der Klausel auf, daß wir die For mel mitliefern. Wir können es uns nicht leisten, Sabaudo e Companha vor den Kopf zu stoßen. Als er sie an der Tür küssen wollte, hob sie die Hand und sagte: »Nein. Nicht heute abend.« Dann zögerte sie, als wüßte sie nicht recht, wie er es aufnehmen würde. »Aber Sie kön nen zu einem ganz zwanglosen Drink heraufkommen, wenn Sie wollen. Ich bin allein.« Er folgte ihr durch den schmalen Gang in ein Wohnzimmer, das mit Ge schmack, wenn nicht gar mit Vornehm heit eingerichtet war — mit der Aus nahme, daß unter einem der Fenster eine Art Vogelbad mit dem Durchmes ser von einem halben Meter hing. 194
Es schien aus Alabaster geschnitzt zu sein, und um die Schale zog sich ein sonderbares Muster aus Löwen in Li lienfeldern.
Dick legte den Hut ab und ging näher,
um es anzusehen. »Das ist ein interes santes Stück«, sagte er. »Woher haben
Sie es?«
»Ich brachte es von meiner früheren
Heimat mit«, sagte Marion und gab
Eis in die Drinks.
»Woher kommen Sie übrigens? Ich
kann nicht erkennen, was für eine
Art von Arbeit das ist.«
»Geheim«, sagte sie und lächelte, um
zu zeigen, daß das ein kleiner Scherz
war. Sie nahm einen Schluck.
»Ich möchte doch wissen — «
»Was möchten Sie wissen?«
»Ich möchte wissen, ob Sie schon ein mal daran gedacht haben, die Dinge
zu bekommen, die Sie sich wün schen.«
»Das tun die meisten Leute«, sagte
Dick. »Wenn man es genau nimmt,
besteht das ganze Leben daraus —
daß man sich Dinge wünscht und ver sucht, sie zu bekommen.«
»Was machen Sie, wenn Sie sich et was sehnlichst wünschen und es nicht
bekommen können? Zum Beispiel,
was wünschen Sie sich im Augenblick
vergebens?«
Dick zog die Brauen hoch. »Wenn Sie
es ernsthaft betrachten — ich glaube,
ich hätte gern eine Versetzung und
Beförderung in meinem Laden. Ich
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habe viel Chemie und Physik stu diert, dazu einiges über Werkstorfe und Patentbeschreibungen, und ich wäre vollkommen in der Lage, die Versuchsabteilung zu übernehmen, aber ich schaffe es einfach nicht.« »Weshalb nicht?« Ihre Stimme war kühl und ganz ernst, »Vorurteil, schätze ich. Es gibt in der ganzen Abteilung keinen richtigen Verbindungsmann, jemanden, der mehr als nur einen Teil des großen Bildes kennt. Aber der Boß will keinen; er sagt, es sei die Po litik unserer Firma, daß jede Abtei lung für sich arbeitet — Sie verstehen, das Büro, das die Maschinen unter sich hat, bearbeitet alles, was mit Maschi nen zu tun hat, und so fort. Ich finde, es hält uns auf.« Ihre hübschen Augen sahen ihn un ter gewölbten Brauen an. »Haben Sie schon daran gedacht, sich Ihre Wün sche durch Zauberei zu erfüllen?« Er lachte, nahm das weiße Taschen tuch aus seiner Brusttasche und warf es ihr zu. »Sehen Sie es sich an«, sag te er und trat zu ihr hinüber. Als sie es ihm zurückgab, rollte er es zu ei nem Knäuel zusammen und öffnete dann die Hand. Er enthüllte ein grell rot und purpurn gemustertes Hals tuch. »Können Sie sich nun vorstel len, daß ich das dem Boß vorführe u-iu dann sage: >Weil ich so gut zau bern kann, möchte ich gern Chef der neuen Patentabteilung werden.<«
»Aber das ist ja gar kein Zauber«, sagte sie. »Das ist Illusion. Ich habe Sie auf der Bühne beobachtet, und die meisten anderen Ihrer Tricks waren auch Illusion. Aber ich glaube, daß Sie ein oder zwei Stücke echten Zau bers vorführten.« Sie war offenkundig so ernst, daß er sein Glas hob, um sein Lachen zu ver bergen. »Es tut mir leid«, meinte er, »aber es war wohl alles Illusion. Ich bin zudem Mitglied der Amateur zauberer-Vereinigung, und ich kenne keinen einzigen Trick bei den ande ren, der nicht auf Illusion beruhen würde. Der Spaß dabei ist, daß man herauszufinden versucht, wie diese Illusion erreicht wurde.« »Oh.« Sie beugte sich so vor, daß ihre Nackenlinie angespannt wirkte, und ihr Gesicht war ganz ernst. »Ich dach te — manchmal ist es so schwer zu unterscheiden. Aber gab es früher einmal nicht echte Zauberer?« »Vielleicht waren unter den Alchi misten des Mittelalters tatsächlich Leute, die sich für Zauberer hielten«, sagte Dick einsichtig. »Aber mehr ge stehe ich ihnen keinesfalls ein. Hin und wieder stieß mal einer auf etwas, das die Naturwissenschaft jener Zeit nicht erklären konnte, und dann glaubte er, ein Zaubermittel entdeckt zu haben. Heutzutage löst man solche Fälle mit dem Reagenzglas.« »Und die Medizinmänner? Und die Wudu-Zauberer?« 195
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»Pah! Sie erzielten ihre Wirkung durch die Leichtgläubigkeit ihrer Op fer. Seabrook hat darüber Nachfor schungen angestellt. Ein wesentliches Element beim Verzaubern eines Men schen besteht darin, daß man dem Opfer vorher Bescheid sagt.« »Sie sind schwer zu überzeugen, nicht wahr?« fragte sie. »Wie steht es mit Hexen?« »Es hat nie welche gegeben. Wenig stens keine echten. Die Urteile von Salem beweisen es. Aber wiederum will ich zugeben, daß es vielleicht ei nige unter ihnen gab, die an sich selbst glaubten. So wie manche Zi geunerinnen an das Glück glaubten, das sie prophezeiten, oder wie es Leu te gibt, die das Horoskop und soge nannte Glückstage ernst nehmen.« »Sind Sie nicht etwas zu streng? Die Menschen waren tief in diesen Din gen verwurzelt.« Dick machte eine ausholende Geste. »Sehen Sie, es gibt nirgends und zu keiner Zeit auch nur die Spur eines Beweises, daß natürliche Ereignisse von übernatürlichen Kräften kontrol liert werden können, und darauf läuft im Grunde alles hinaus. Außerdem, betrachten Sie die Sache einmal lo gisch: alle Hexen, von denen man je gehört hat, waren schreckliche alte Vetteln. Wenn sie wirklich zaubern konnten, weshalb putzten sie sich dann nicht ein wenig heraus? Oder weshalb vermittelten sie den Men 196
schen nicht zumindest die Illusion, daß sie hübsch waren?« Nun lächelte sie zu seiner Überra schung. »Könnte es dafür nicht eine andere Erklärung geben?« »Und welche?« Sie legte eine Hand an die Wange. »Nun, angenommen, nur angenom men, daß es bei der Hexerei wie bei anderen Dingen eine Art Gesetz gibt, daß man für alles seinen Preis bezah len muß. Wie bezahlt man seinen Er folg als Hexe und in welcher Form? Oder lassen Sie es mich anders aus drücken: ein echter Zauberspruch müßte etwas Starkes sein, eine Kraft, die man anwendet. Worin könnte sie bestehen?« Dick lachte. »Machen Sie weiter. Ich glaube, ich weiß, worauf Sie hinaus wollen, aber ich bin noch nicht sicher.« »Nun, gehen wir einen Schritt weiter. Angenommen, daß die Kraft aus dem Körper oder der Persönlichkeit des betreffenden Menschen käme — daß man jedesmal, wenn man einen Zau ber ausspricht, dafür bezahlen muß, indem man irgend etwas verliert, hier ein wenig und dort ein wenig. Würde da nicht letzten Endes eine Hexe, die eine Menge Zauberdinge vollbracht hat, als eine ziemlich scheußliche Vet tel dastehen, wie Sie es ausdrücken? Und käme es nicht sogar so weit, daß Leute, die zaubern können, es ver meiden und den anderen nichts da von verraten?«
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Diesmal mußte Dick lachen. »Das ist ein neuer Gedanke. Ein Bannspruch als persönlicher Kapitalaufwand. Wenn ich das, was Sie einen echten Zauberer nennen, wäre, würde ich mich ziemlich genau vergewissern wollen, daß ich den vollen Gegenwert bekäme, bevor- ich drauflos zauber te.« Marion Saxon warf ihm einen langen, forschenden Blick zu. Sie war wirk lich beunruhigend schön, und nicht einmal der Gedanke an Candy konn te es verhindern, daß sein Puls schneller ging — und der Gedanke an Candy blieb nicht allzu lange. »Wür den Sie es gern ausprobieren?« Sie meinte es ernst. Dick sagte: »Wenn Sie überlegen — « »Würden Sie es gern?« »Wenn Sie bei einer Art Experiment mitmachen wollen, bin ich ebenfalls bereit.« »Also gut.« Sie erhob sich schnell und graziös und ging auf die Küche zu, wobei sie über die Schulter hinweg sprach. »Ich glaube zufällig an das, was ich gesagt habe, und ich glaube, daß ich Sie überzeugen kann.« Einen Augenblick später kam sie mit einem Krug Wasser zurück, welches sie in das vogelbadähnliche Ding goß. Dann ging sie ins Bad und kehrte mit einer Flasche zurück, die er als Mur phylen erkannte, und schüttete ein wenig davon ins Wasser.
»Sie sehen, es handelt sich keines wegs um einen Teufelssud«, sagte sie.
»Es ist in Wirklichkeit alles ganz ein fach, vorausgesetzt, man weiß Be scheid und gibt seine Zeit und Mühe
und noch einiges andere dafür her —
so wie Sie es bei Ihren Zaubertricks
tun.«
Sie setzte sich und zog die Schuhe aus.
»Oh, könnten Sie den Teppich da
drüben zurückschlagen?«
Alles, was Dick vielleicht denken
mochte, wurde von einer überwälti genden Neugicr erstickt. Er mußte
sehen, wie die Sache ausging. »Wes halb ziehen Sie die Schuhe aus?«
fragte er.
»Um die Erdströme auszunützen. Die
Schuhe haben Nägel.«
»Das Gebäude ebenfalls.«
»Ja, aber es ist geerdet, und ich bin
es nicht.«
Sie ging an den kleinen Schreibtisch
in der Ecke, holte eine viereckige
Schachtel heraus und legte sie auf den
Rand des Vogelbads, dann drehte sie
sich um. »Jetzt werde ich etwas unter nehmen, damit Sie Chef dieser Ab teilung werden können, wie Sie es sich wünschen. Aber es ist so, wie Sie gesagt haben—es erfordert einen per sönlichen Kapitalaufwand. Und ich möchte dafür etwas.«
»Was denn?«
»Das sage ich Ihnen hinterher.«
»Oh«, sagte Dick. »Dann hat die Sa che also einen Haken?«
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Sie schüttelte den hübschen Kopf. »Nein. Ich verspreche Ihnen, daß es etwas sein wird, daß Sie leicht be schaffen können, aber wenn ich es Ihnen gleich sage, erhöht es den Preis, den ich zahlen muß.« »Der Handel gilt.« Er nahm die Hand, die sie ihm entgegenstreckte, und ihm kam der Gedanke, daß das der verrückteste Handel war, in den er sich je eingelassen hatte. Sie sagte: »Macht es Ihnen etwas aus, wenn Sie ins Schlafzimmer gehen und die Tür hinter sich schließen? Es tut mir schrecklich leid, aber ich kann das Risiko nicht eingehen, daß Sie zusehen.« Mit der Überlegung, daß es gewisse Ähnlichkeiten zwischen >echten< Zau berern und Medien gab, tat Dick, was ihm befohlen worden war. Das Schlafzimmer war klein und unbehag lich weiblich, und die Bücher auf dem Nachttisch hatten keine überwälti genden Titel. Er ließ sich in einem der weichen Sessel nieder und zünde te sich eine Zigarette an in der Er wartung, eine beträchtliche Weile hier verbringen zu müssen, aber er hatte kaum ein Stückchen geraucht, als sich die Tür öffnete und Marion Sa xon, immer noch barfuß, im Eingang stand. »Alles fertig«, sagte sie, »und vielen Dank, daß Sie gewartet haben.« Dick folgte ihr ins Wohnzimmer. »Und jetzt, glauben Sie, wird der Boß 198
seine Meinung ändern und mir die Abteilung geben?« »Ja, wenn Sie meine Richtlinien be folgen«, sagte sie zuversichtlich. »Hier.« Sie gab ihm eine kleine Fla sche, und als er sie unters Licht hielt, sah er, daß sie eine kleine feuchte Fe der enthielt. »Sie müssen es irgend wie fertigbringen, daß die Feder ihn oder seine Kleider oder etwas, daß er häufig benützt, berührt, und dann et was sagen, das seine Gedanken auf die Abteilung lenkt. Sie müssen sie nicht einmal direkt erwähnen.« Dick starrte die Flasche an. »Und was mußten Sie dafür bezahlen? Ich mei ne, wieviel Ihres persönlichen Kapi tals ging dabei verloren, als Sie mir hairen?« »Das weiß ich noch nicht«, sagte Ma rion Saxon. »Bis jetzt ist es nur ein potentieller Zauber; er hat mich noch keine Lebenskraft gekostet. Aber wenn es nur ein Vorurteil ist, das er gegen Ihre Ernennung zum Abtei lungsleiter hat, dann ist es vielleicht nicht so schlimm. Ich werde eine Wei le lahm sein oder mich vor Hunden fürchten oder einen Zehennagel ver lieren — irgend etwas dieser Art. Es ist nur schlimm, wenn man jemand zu etwas überreden will, das er nicht tun will, oder wenn man gegen den Zau ber eines anderen ankämpfen muß.« »Also gut«, sagte Dick, »und nun die Preisfrage. Was wollen Sie für Ihren Dienst?«
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Sie hielt die Flasche mit dem Mur phylen hoch. »Ich möchte die Formel für das da. Ich weiß, daß sie geheimgehalten wird, aber Sie müßten an sie herankommen, besonders, wenn Ihre Abteilung eingerichtet ist.« Dick erlebte einen heftigen Schreck. »Aber was würde sie Ihnen denn nüt zen? Sie können von dem Zeug kau fen, soviel Sie wollen, und es ist nicht einmal teuer.« »Sie erinnern sich daran, wovon wir sprachen? Daß ein Zauber einen per sönlichen Kapitalaufwand erfordert. Nun, Sie könnten das hier ein kapi talsparendes Mittel nennen, ebenso wie Sie arbeitssparende Mittel haben. Nein, ich werde jetzt keine Fragen mehr beantworten, bis Sie Ihre Ab teilung haben. Dann können Sie mich wiedersehen. Gute Nacht.« Dick sagte ebenfalls gute Nacht und ging. Er wußte nicht, ob er die Sache amüsiert oder tolerant betrachten soll te. Es war ein angenehmer Abend mit einem ziemlich überraschenden Ende gewesen. Als er auf die Straße kam, nahm er die Flasche heraus und starrte sie wieder an. Ihm war plötz lich eingefallen, daß er heute morgen, nachdem ihn das Mädchen zu Fall gebracht hatte, eine nasse Feder von seinem Hut geholt hatte. Und es hatte seit zwei Tagen nicht mehr geregnet.
Das Problem, wie es funktionieren sollte, wenn es funktionierte, beschäf tigte Dicks Gedanken, als er am nächsten Morgen seinen Hut auf den Kleiderständer im Büro hängte. Zu gleich quälte ihn die Frage, wie er die se Feder dem Elefanten andrehen sollte. Elefant war der Büroname für den Boß, der normalerweise E.L. Oli phant hieß. Nun, er war schon so weit gegangen, und da wollte er die Sache auch zu Ende führen. Man gab einen Taschenspielertrick auch nicht gleich auf, weil man das Gefühl hatte, er könnte beim ersten Mal nicht klappen. So wartete er bis halb elf, gewöhnlich die Ankunftszeit des Elefanten, nahm die Korrespondenz von Sabaudo e Companha und mach te sich auf den Weg zu dem Büro, in dem Miß Christie den Elefantenstall bewachte. »Hallo, schönes Kind«, sagte er. »Wie stehen die Dinge?« Miß Christie, die sich der Beschreibung eines schönen Kindes nur asympto tisch näherte, nieste und tupfte sich die Nase mit einem Kleenex ab. »Schrecklich stehen die Dinge«, sagte sie. »Ehrlich gesagt. Dick, ich glaube, ich muß mir einen anderen Posten suchen.« »Beileid«, sagte er. »Was paßt dir ari diesem hier nicht?« »Oh, der Posten wäre schon in Ord nung. Es ist nur so, daß ich die Kli maanlage nicht ausstehen kann. Ich 199
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bekomme dauernd Sommererkältun gen.« »Doppeltes Beileid. Weshalb ver suchst du es nicht mal mit diesen Grippeinjektionen? Übrigens, kann ich ihn sprechen?« Sie warf einen Blick auf den Bespre chungskalender. »Wenn du nicht zu lange bleibst. Mister Cooper kommt um viertel nach elf, um wegen der Hoenisch-Sache mit ihm zu verhan deln, und ihm liegt viel daran, sie ab zuschließen.« Dick griff in die Tasche und um krampfte die feuchte Feder, wobei er sich immer noch fragte, wie er sie an bringen sollte. Er ging an Miß Chri sties Schreibtisch vorbei. Als er vor der inneren Bürotür stand, sagte sie: »Oh, einen Augenblick. Könntest du ihm das hier gleich mitbringen? Es wurde eben von der Reparaturwerk stätte geschickt.« Sie streckte ihm ei nen goldenen Füllfederhalter ent gegen. Innerlich schluckte Dick. Er erinner te sich an Marions Worte: » — etwas, das er häufig benutzt.« Offensichtlich wirkte der Zauber auch dahingehend, daß ihm günstige Gelegenheiten zu gespielt wurden. Äußerlich nahm er den Füllfederhalter ruhig mit der Hand entgegen, in der sich bereits die nasse Feder befand, schraubte mit einer raschen, verstohlenen Bewegung die Kappe ab, legte das winzige Flaumstückchen hinein und drehte die zoo
Kappe wieder an ihren Platz. Dann öffnete er die Tür. Der Elefant, der alles andere als ein elefantenhaftes Aussehen hatte, sah über seine Brillengläser hinweg. »Danke«, sagte er, als Dick ihm die Feder überreichte, und schob sie ein, »Nun, was gibt es?« »Es geht um diesen Sabaudo-Auftrag für Murphylen«, sagte Dick. »Sie ha ben es zur Auftragsbedingung ge macht, daß wir ihnen die Formel mit liefern, damit sie bei jeder herein kommenden Lieferung Tests durch führen können. Aber die MurphyLeute wollen nur uns die Formel überlassen, damit wir unsere eigenen Tests machen können. Sie stellen die Bedingung, daß wir sie nicht Weiter geben.« Oliphant sagte: »Ich kann es ihnen nicht verübeln. Sie wollen nicht, daß ihr Produkt in Brasilien schwarz her gestellt wird.« »Es geht noch um andere Dinge, Sir«, sagte Dick. »Ich weiß nicht, ob Sabau do das Zeug selbst herstellen will oder nicht, aber die Leute haben eine gewisse Berechtigung für ihre Forde rung. Murphylen ist heutzutage zwei fellos eines der besten Reinigungs mittel der Welt, wenn nicht das be ste, aber die Lieferposten sind nicht alle gleich, und eine schlechte Liefe rung verdirbt bei dem heißen Klima. Eine Sendung, die Sabaudo von uns bekam, wurde unbrauchbar. Und wir
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wollen die Leute natürlich auch nicht
verärgern.«
Oliphant trommelte mit den Fingern
auf den Schreibtisch. »Ohne die For mel kann es nicht getestet werden? Ich könnte mir denken, daß ein guter Chemiker — « »Ich habe mich selbst viel mit Che mie befaßt«, erwiderte Dick. »Ich würde es nicht gern tun. Man kann es analysieren und die Grundbestand teile bekommen. Das hat vermutlich die Murphy-Konkurrenz bereits ge tan. Aber das verrät uns nicht, wie die Komponenten zusammengesetzt werden, ob beispielsweise ein gegebe nes Kohlenstoffatom mit einem gege benen Wasserstoffatom gebunden wird. Wenn man weiß, wie das Zeug ursprünglich zusammengesetzt war, weiß man auch, wo man nach Schwie rigkeiten suchen muß.« »Ich verstehe.« Der Elefant lehnte sich in seinem Sessel zurück — es war komisch, daß Vorgesetztensessel nie quietschten -, preßte die Fingerspitzen gegeneinander und sah wieder über seine Brille. »Der Vorschlag ist schon des öfteren gemacht worden, und jetzt, da das Geschäft größer wird, finde ich es an der Zeit, einen Wech sel vorzunehmen. Ich habe mich in Anbetracht solcher Vorkommnisse entschlossen, eine eigene Versuchs abteilung einzurichten, und ich bin der Meinung, daß Sie sie leiten soll ten. Wären Sie bereit dazu?«
Dick spürte, wie er in seinem Sessel schwankte. »Ich wüßte nichts, was ich lieber täte«, würgte er hervor. »Gut. Begeisterung für die Arbeit ist die beste Garantie dafür, daß Sie für die Stelle geeignet sind. Ich gebe Ih nen für den Anfang einen Assisten ten, aber Sie können sich ruhig an mich wenden, wenn die Arbeit zuviel wird. Damit will ich sagen, machen Sie nicht alles persönlich, um zu be weisen, wie gut Sie sind. Und nun zu dieser Murphylen-Geschichte. Ich glaube nicht, daß Sie Ihr Labor recht zeitig fertig haben, um die Tests selbst vorzunehmen, deshalb schlage ich vor, daß Sie es folgendermaßen machen: Schreiben Sie an Sabaudo und fragen Sie die Leute, ob Ihnen unsere Tests und Garantien genügen. Er klären Sie, daß das Produkt in einem geheimen Prozeß hergestellt wird, der geheim bleiben soll. Dann holen Sie sich die Formel von Murphy und mieten eine Zeitlang ein Labor, um die Tests durchzuführen. Nur sei en Sie vorsichtig, damit die Formel nicht durchsickert.«
Dick stand auf. »Vielen Dank«, sag te er.
Der Elefant winkte ab. »Sie können
sich mit Stein darüber unterhalten,
welche Ausrüstung und wieviel Platz
Sie brauchen. Um die Gehaltsfrage
kümmere ich mich.« Er schob die Sa baudo-Papiere über den Tisch.
Es hatte funktioniert. Es hatte zwei 201
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fellos funktioniert. Er schwebte auf Wolken, als er auf den Telefonappa rat zusteuerte, um Candy die gute Nachricht mitzuteilen. Unterwegs blieb er nur bei Miß Christie stehen und riet ihr: »Verlangen Sie heute von ihm, was Sie wollen, er ist gut ge launt.« Erst nachdem er sich mit Stein, dem Rechnungsführer, über die Errichtung des neuen Labors beraten hatte, kam ihm der nüchterne Gedanke, daß sei ne plötzliche Glückssträhne vielleicht nicht auf das Wirken eines Bannspru ches zurückzuführen war. Zugleich tauchte ein Gedanke an die Oberflä che, der bisher nur verborgen in sei nem Innern genagt hatte: Marion Saxon hatte von »Ihrer neuen Abtei lung< gesprochen, als wüßte sie genau darüber Bescheid, obwohl er die An gelegenheit kaum erwähnt hatte. Und sie hatte ihn mit Sicherheit angerem pelt, um seine Bekanntschaft zu schließen. Sie wohnte allein und hat te genug Geld, soviel man an der Ein richtung erkennen konnte. Und ihr lag sehr viel an der Murphylen-For mel, für die jemand wie Atlas-Seifen bestimmt eine runde Summe zahlen würde. Dick war nicht der Typ, der sich selbst oder seine Umgebung dra matisierte, aber der Ausdruck >Indu striespionage< drängte sich ihm nun auf. Walter Oldman kannte sie zumindest 202
aus der Ferne, also war es nicht un möglich, daß sie eine Verbindung zur Umgebung des Elefanten besaß. Sie könnte von seiner Absicht erfahren haben, bevor er Dick davon verstän digte, daß er eine neue Abteilung be kommen sollte. Vierundzwanzig — nein, etwa sechsunddreißig Stunden würden reichen ... Nein, verdammt, die Ehrlichkeit, ja sogar die Ernsthaf tigkeit, mit der sie über echte Zauber kunst gesprochen hatte, konnte keine Illusion gewesen sein ... Am Schreibtisch nebenan rief ihn die plötzlich lauter werdende Stimme Walter Oldmans in die Wirklichkeit zurück. » — Dun- und Bradstreet-Ta rife!« sagte er. Es entstand eine Pau se. Oldman sagte ins Telefon: »Wa rum lassen Sie mich nicht wenigstens mit jemandem von der Regierung Ver bindung aufnehmen? Wir könnten die Sache aufhalten — « Er unterbrach sich, legte auf und wandte sich Dick zu. »Ich bin verdammt in alle Ewig keit!« »Wahrscheinlich«, sagte Dick, »und mit gutem Grund. Aber weshalb kommst du gerade jetzt darauf?« »Cooper!« sagte Oldman aufbrau send. »Weißt du etwas von dieser Ku gellager-Sache? Hundert Tonnen Kugellager!« »Ich hatte nichts damit zu tun, aber ich hätte ein natürliches Mißtrauen gegen alles, was irgendwie mit Coo per zusammenhängt. Er hat eine
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Menge guter Verbindungen in Euro pa, aber sie sind so gut, daß er wie ein europäischer Geschäftsmann denkt — das heißt, er schwindelt so viel, wie er es sich eben noch leisten kann, ohne erwischt zu werden. Was hat denn Cooper jetzt gemacht?« »Die Sache ist schlimmer als gewöhn lich«, sagte Oldman. »Er hat den Verkauf von hundert Tonnen Kugel lagern an Hönisch in Zürich arran giert — nur zu Spitzenpreisen. Das allein müßte einen stutzig machen, denn weshalb sollte Hönisch amerika nische Spitzenpreise zahlen, wenn die europäischen Spitzenpreise unter den amerikanischen Normalpreisen lie gen?« »Also ein Schwarzmarktgeschäft?« »Ja. Kugellager haben strategischen Wert, und Zürich ist ein freier Um schlagplatz. Diese Kugellager werden direkt durch den Eisernen Vorhang gehen. Es ist illegal und gefährlich für uns und außerdem ein dreckiges Geschäft. Ich brauchte keine zehn Minuten, um es vor ein paar Tagen dem Boß zu erklären. Nun, das am Telefon war er. Cooper war eben bei ihm, und er hat sich anders entschlos sen. Die Kugellager werden ausgelie fert. Ich soll die Manifeste ausschrei ben, und er will nichts anderes hö ren.« »Das ist wirklich merkwürdig«, sagte Dick und sah ihn an. »Du hast verdammt recht, Es ist
mehr als merkwürdig, es ist verrückt. Besonders, wenn man bedenkt, wie der Elefant sonst eisern zu seinen Be schlüssen steht. Mist!« Er beschäftigte sich wütend mit den Papieren auf seinem Schreibtisch, während sich ein Gedankenfaden durch Dicks Gehirn schlängelte. Auch er hatte von einem unerwarteten Ge sinnungswechsel des Elefanten profi tiert. Was geschah, wenn — « »Tschuldigung, Mister Bentress.« Es war der Bürohausmeister mit ei nem Schraubenzieher. Dick stand auf, um ihn vorbeizulassen. »Was ist los, Arthur?« »Muß an das Fenster ran. Der Boß will es offen haben.« »Will es offen haben! Du kannst doch die Fenster nicht Öffnen, wenn eine Klimaanlage in Betrieb ist! Da könn test du gleich versuchen, die ganze Ostküste zu belüften.« Arthur drehte sich um und schüttelte den Kopf. »Ich weiß auch nicht«, sagte er. »Schätze, der Boß hat es sich mit der Klimaanlage anders überlegt. Hat mich hereingerufen und gesagt, er brauchte sie nicht mehr, und ich sollte sie ausschalten und herumge hen, um überall die Fenster zu öff nen.« »Aber wozu denn nur?« »Scheint ein paar Leute hier krank zu machen.« Der Gedankenfaden in Dicks Gehirn wurde zu einem reißenden Strom. 203
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Miß Christie! Hatte sie dem Elefanten etwas gesagt? Er mußte es wissen, und er nahm das Telefon in die Hand. »Miß Christie bitte.« Das Mädchen an der Vermittlung sag te: »Eben kam ein Anruf für Sie her ein, Mister Bentress. Möchten Sie ihn zuerst entgegennehmen?« »Geben Sie her. Hallo, hier Bentress.« Die Stimme, die durch die Leitung kam, war so leise, daß er sie kaum hören konnte. Er verstand die Worte nicht. »Hallo«, sagte er, »hallo. Körin ten Sie bitte etwas lauter sprechen?« Sie war immer noch leise, aber unter strichen von einer drängenden Ver zweiflung, und er erkannte sie. »Mi ster Bentress - Dick! Holen Sie sie zurück. Sie saugt mich aus.« »Ich versuche es. Wann kann ich Sie sehen?« »Nicht — in nächster Zeit. Ich rufe Sie an. Sie saugt — mich — aus.« Die Leitung war tot. Er meldete sich bei der Vermittlung. »Warten Sie noch? Oder sind Sie fer tig?« fragte sie. »Möchten Sie jetzt Miß Christie sprechen?« »Lassen Sie nur. Ich gehe selbst zu ihr.« Dick nahm einen Stoß Papiere und machte sich auf den Weg zum Büro des Elefanten. Er hatte Glück. Der Boß stand neben Miß Christies Schreibtisch, den Hut in der Hand, offensichtlich in der Ab sicht, das Haus zu verlassen. 204
»Verzeihung, Mister Oliphant«, sag te Dick, »da ist noch eine Kleinigkeit wegen der Murphy- « Der Boß machte eine abwehrende Ge ste. »Kommen Sie später damit, ja, Bentress? Ich treffe mich mit meiner Frau zum Lunch. Ich habe den Ver dacht, daß es das Vorspiel zu einem Einkaufsrundgang wird, aber man kann einer Frau schließlich nicht alles verweigern, nicht wahr?« Er lächelte. Dick spürte, wie sich kleine Schweiß tropfen auf seiner Stirn sammelten und hinunterrieselten. »Oh«, sagte er. »Ich sehe, daß ich die veränderte Klausel in dem Vertrag nicht unter schrieben habe. Können Sie mir einen Augenblick Ihren Füllfederhalter lei hen? Ich habe meinen vergessen.« Oliphant gab ihm wortlos den Füll federhalter, und als Dick die Kappe abschraubte, holte er mit seinen flin ken Zaubererfingern das Stückchen Flaum heraus. Er kritzelte eine be deutungslose Unterschrift und gab die Feder zurück. »Danke.« Als der Boß gegangen war, hielt Miß Christie Dick mit einer Handbewe gung zurück. »Haben Sie das gehört?« fragte sie leise. »Ja«, sagte Dick. »Was ist los?« »Er haßt es, mit seiner Frau Lunch zu essen, und er haßt einen Einkaufs bummel. Solange ich bei der Firma bin, hat er es noch nie getan. Und er hat heute morgen noch einige Dinge getan, die er sonst haßt, wenn einige
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davon auch recht gut für mich wa ren.« Ihr schmales, ordentliches Se kretärinnengesicht war angespannt. »Ich mache mir Sorgen, daß er einen Nervenzusammenbruch oder sonst et was bekommt.« »Seien Sie vorsichtig«, meinte Dick. »Höchstwahrscheinlich ist er am Nachmittag wieder ganz der Alte.« Auf seinen Anruf meldete sich nie mand. Er hatte an diesem Abend eine Ver abredung mit Candy und konnte nicht persönlich in Cliffside nachse hen, was zu schade war, da seine Ge danken dauernd umherstreiften. Die Verabredung endete mit einem ziem lichen Mißklang. Am nächsten Tag war Freitag, und er hatte gehofft, ein wenig früher verschwinden zu kön nen, aber die Hoffnung zerschlug sich, als Stein und der Vertragslieferant um genau halb fünf auftauchten, um mit ihm die Anordnung des neuen Testlabors zu besprechen. Sie hielten ihn so lange auf, daß er nicht einmal mehr eine Dusche nehmen konnte, bevor er sich etwas zu essen holte und zu Candys Konzert hastete. So war es Samstagvormittag, als ihn ein Taxi an der Summit Avenue 321 absetzte. Auf sein Klingeln rührte sich auch niemand. Dick drückte auf die Klingel mit der Aufschrift >Hausmeister<, und nach geraumer Zeit erschien ein ziemlich
kleiner Mann, der dringend eine Ra sur nötig hatte. »Ich suche Miß Saxon«, sagte er. »Zwei B. Steht auf der Liste«, sagte der Hausmeister und sah unfreund lich drein. »Sie rührt sich nicht.« »Vielleicht ist sie nicht daheim.« Damit kam er nicht weiter. Dick hol te einen Dollar aus der Tasche. »Hö ren Sie«, sagte er. »Ich bin keiner von denen, die anderen Leuten nach schnüffeln. Ich bin ein Freund von Miß Saxon und versuche sie seit drei Tagen zu erreichen, aber sie antwor tet weder auf einen Anruf noch auf sonst etwas. Haben Sie sie in letzter Zeit gesehen?« Der Hausmeister kratzte sich am Hin terkopf. »Jetzt, wo Sies sagen - ei gentlich nicht.« Er schien zu überle gen. »Ich habe auch niemand zu ihr kommen gesehen, aber darum küm mere ich mich im allgemeinen auch nicht.« Dick fuhr fort: »Ich mache mir Sor gen um sie. Als ich mich zum letzten Mal am Telefon mit ihr unterhielt, schien sie sich nicht wohlzufühlen, und da sie so ganz allein wohnt . ..« Der Dollar wechselte den Besitzer. »Ich verstehe«, sagte der Hausmei ster. »Sie wollen nachsehen. Wer sind Sie übrigens, Mister?« Dick holte seinen Führerschein, die Klubmitgliedskarte und verschiedene andere Dokumente heraus, die vom 205
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Hausmeister mit offenem Mund be staunt wurden. »Ich schätze, es geht in Ordnung«, sagte er. »Kommen Sie.« Er ging zum Lift voraus und dann durch den Korridor zu 2B, wo er auf die Klingel drückte, mehrere Male klopfte und schließlich den Schlüssel zu Hilfe nahm. »Ist jemand hier?« rief er, als die Tür offenstand. Keine Antwort. Der Hausmeister schob sich hinein, gefolgt von Dick, und knipste das Licht an. Das Apartment wirkte be wohnt, aber nicht im geringsten un ordentlich. Das Vogelbad stand im mer noch unter dem Fenster. Die Couch, auf der sie gesessen hatte, war von einer offenen Zeitschrift be deckt. Wie Dick feststellte, mußte sie mitten im Lesen einer Geschichte gegangen sein. »Niemand hier«, sagte der Hausmeister von der Badtür her. Dick ging ins Schlafzimmer, wo er auf sie gewartet hatte. Auch dort befand sich niemand, und das Bett war gemacht. Aber Moment mal — auf dem Frisiertisch stand eines die ser kleinen Köfferchen mit Make-upSpiegel, wie sie Frauen gern für einen kurzen Hotelaufenthalt benutzten. Es war offen. Im Innern befanden sich säuberlich eingeräumt ein paar Kos metika, aber darüber hingeworfen war ein hauchdünnes Nachthemd. Ei nes der Fläschchen aus dem Make up-Fach lag neben dem Köfferchen. 206
Sie hatte also die Wohnung verlas sen wollen, war aber dann noch schneller gegangen, als es ihre Ab sicht gewesen war, denn sie hatte Dinge dagelassen, die eine Frau nor malerweise mitnahm. Keine Geldbör se, aber die würde sie auf jeden Fall einstecken. Wie lange nach ihrem An ruf war sie noch hier gewesen? Und weshalb die Flucht? Und wohin? »Sie ist nicht hier. Zufrieden, Mi ster?« fragte der Hausmeister. Dick überlegte, daß er keineswegs zu frieden war, wenn er sich die Wahr heit eingestand. Sie war nicht sein Mädchen, er konnte nicht für sie oder das, was mit ihr geschah, verant wortlich gemacht werden. Was sie auch getan hatte, es war freiwillig ge schehen, und es war absurd, an die Echtheit ihres Zaubers zu glauben. Aber dennoch — es war etwas Drän gendes in ihrem: »Sie — saugt — mich — aus!« gewesen, und irgendwie war es seine Schuld. Vielleicht weil er sie in dem Glauben gelassen hatte, er akzeptiere ihren Zauber. Für Anhän ger des Wudu-Kultes war das Akzep tieren der Realität ebenso wirksam wie die Realität selbst. Sie hatte eine Macht ausgeübt, und Keine Antwort. Es kam sechs Wochen lang keine Ant wort, sechs Wochen, in denen Dick und Candy das Thema des Hochzeits termins anschnitten und in denen man
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im Büro überlegte, wann der Elefant explodieren würde. Dick selbst befand sich in fieberhafter Aktivität, als seine Abteilung allmählich Gestalt annahm. Der Elefant besah sich den Ort, run zelte die Stirn und nahm den großen Tag mit keinem Wort zur Kenntnis. Die Klimaanlage blieb ausgeschaltet, und die Fenster blieben offen, und es war Sommer und sehr heiß. Miß Chri stie war glücklich, und die Kugellager sendung wurde zu Hönisch nach Zü rich abgeschickt. Als die sechs Wochen um waren, ging Dicks Puls schneller, als er auf dem Stapel geöffneter Korrespondenz einen handbeschriebenen Umschlag mit der deutlich markierten Bemer kung PERSÖNLICH vorfand. Das mußte es sein. Lieber Mister Bentress, es tut mir leid, daß ich seit jenem in teressanten Abend, den wir mitein ander verbracht haben, nichts mehr von mir hören ließ, aber ich war et was in Schwierigkeiten, und ich kann mich auch jetzt noch nicht sehen las sen. Liefen die Dinge nicht so, wie ich sagte? Wenn ja und wenn Sie bereit sind. Ihren Teil des Handels zu er füllen, dann schicken Sie mir die For mel bitte an untenstehende Adresse. Ich hoffe, daß ich Sie bald wiederse hen kann. Mit freundlichen Grüßen Marion Saxon
Die angegebene Adressse war in der Jefferson Avenue, einem Bezirk, in dem sich hauptsächlich Büros befan den. Dick sah sie stirnrunzelnd an, drehte den Brief herum, traf blitz schnell eine Entscheidung, rief das Archiv an und bat um die Murphy len-Formel. Als sie kam, ließ er sie von einer Stenotypistin abschrei ben, verschloß die Kopie in einem Umschlag, schrieb »Miß Marion Sa xon« darauf und steckte ihn in die Tasche. Er wollte sich die ganze Sache gründlich ansehen, verflixt nochmal. Er mußte Marion Saxon sehen und erfahren, was nun wirklich geschehen war. In den sechs Wochen seit dem Besuch in ihrer leeren Wohnung war er zu dem klaren Schluß gekommen, daß Zufall nicht alles erklären konn te, und da er auch sonst keine Er klärung wußte, blieb der unbekannte Faktor X. Es war wie bei einem Zau bertrick, den man durch normale Ma nipulationen nicht erreichen konnte — man suchte automatisch nach dem Kniff. Und nur Marion Saxon hatte den Schlüssel zu diesem Faktor X. Bei Büroschluß nahm er ein Taxi und fuhr zu der angegebenen Adresse. Es war ein seriöses altes Haus mit sechs Stockwerken. Im Erdgeschoß befand sich ein Tabak- und Zeitschriftenla den, und die Aufschrift an den Fen stern im zweiten Stock besagte, daß hier die >Original Doralene-Hutmo 207
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den< untergebracht waren. Der träge
Liftboy sagte ihm, daß hier niemand
namens Saxon wohne und daß er es
einmal im Tabakladen versuchen
sollte. Der Mann hinter der Theke
des Ladens erklärte ebenfalls, daß es
hier keine Miß Saxon gäbe, gestand
aber ein, daß sie manchmal Post
hierher bekam. Eine Gefälligkeits adresse. Nein, sie kam ganz unregel mäßig her. Ende.
Und damit war es für diesmal auch zu
Ende. Die Einzelheiten paßten zuein ander. Sie wollte ihre Formel und kei nen weiteren Kontakt mit ihm - quid
pro quo. Sie hatte etwas für ihn getan
und damit Schluß. Vielleicht arbeitete
sie für Atlas-Seifen oder sonst je mand, er konnte es nicht ändern. Er
beschloß sogar, Candy davon zu er zählen - etwas, was er bisher vermie den hatte, denn selbst, wenn man die
Absicht hat, ein Mädchen zu heira ten, ruft es meist einigen Ärger her vor, wenn man von einem spektaku lären Abend (mit spektakulären
Folgen) mit einem anderen Mäd chen erzählt. Er bedachte die Fra ge beim Abendessen im Montmartre,
und da Candy ein Konzert in Boston
hatte, bedachte er sie auch noch um
elf bei einem Scotch mit Soda, als das
Telefon klingelte.
»Hier Bentress.«
Er hatte ein gutes Ohr für Stimmen.
Er hörte einen leichten Unterschied,
aber es war die gleiche Stimme. »Vie 208
len Dank für den Brief. Sie haben Ihr Versprechen gehalten.« Er wollte Candy Evans heiraten, und es gab keinerlei Grund für das plötz liche Prickeln, das ihn durchlief, »Al so gut«, sagte er. »Nun sind wir quitt.« »Glauben Sie?« In ihrer Stimme war ein kiemer Trailer. »Würden Sie nicht gern noch mehr erfahren?« »Worüber?« »Über Zauberei.« Er hatte beschlossen, der Sache auf den Grund zu gehen. »Ja. Gern. Kön nen Sie mir mehr darüber zeigen — ohne mich aus dem Zimmer zu schik ken?« »Ja.« »Wann kann ich Sie sehen?« »Jetzt noch, wenn Sie wollen.« »Wo?« »In meiner Wohnung. Summit Avenue 321.« »Aber - aber -«, stammelte Dick. »Ich weiß. Es ist spät, und mit dem Taxi dauert es bestimmt eine Stunde bis nach Cliffside. Haben Sie Angst vor der Dunkelheit?« Wieder eine blitzschnelle Entschei dung. »Ich komme.« »Bis später also.« Der Hörer wurde aufgelegt, Das Kribbeln hatte er wegen einer bevorstehenden Gefahr, sagte er sich, als das Taxi über die Haffa-StreetBrücke fuhr. Aber er konnte nicht ge nau sagen, worin die Gefahr bestand.
NICHTS IST UMSONST
War es die Gefährdung seiner Ver bindung mit Candy durch diese Frau oder etwas Tieferes, Dunkleres? Sei ne ganze Erfahrung, seine ganze Denkart rief ihm zu, daß es das letz tere nicht sein konnte -- und doch ... Er gab dem Fahrer einen Vierteldol lar Trinkgeld und ging auf das Haus zu. Sie reichte ihm an der Tür ihre kühle Hand. »Hallo, ich bin froh, daß Sie gekommen sind.« Ihr Haar war hoch gesteckt, und irgend etwas in ihrem Gesicht hatte sich verändert. »Einen Drink?« »Ja, bitte. Kann ich ihn holen?« »Sie wissen nicht, wo die Sachen sind. Machen Sie es sich bequem.« Er nahm das Buch auf, das neben ih rem Sessel auf dem kleinen Tischchen lag, und stellte mit einem leisen Schock fest, das es sich um Burtons >Handbuch der Anorganischen Che mie< handelte. Sie kam nach kurzer Zeit mit den Gläsern zurück und nahm ihm gegenüber Platz. Er konnte ebensogut die Offensive ergreifen. Er sagte: »Weshalb haben Sie sich versteckt und mir dann ge schrieben?« »Seien Sie nicht so feindselig«, sagte sie. »Ich werde Ihnen sagen, soviel ich kann. Ich mußte eine Handelsba sis zwischen uns herstellen, bevor ich weitergehen konnte.« »Weshalb?« »Weil Zauber nun mal so ist. Ich sag
te Ihnen, daß es sich immer um einen Austausch handelt.« Er konnte kaum seine Blicke von ih rem Gesicht losreißen. »Also gut, fahren Sie fort. Es gibt eine Menge Dinge, die ich wissen möchte — zum Beispiel, weshalb Sie mich damals im Büro anriefen.« »Lassen Sie mir Zeit.« Sie nahm ei nen Schluck aus ihrem Glas und sah ihn über den Rand hinweg an. »Ich werde versuchen, die Dinge der Reihe nach zu bringen. Ich komme von ei ner anderen Welt.« »Von wo?« »Sie können sie Skoa nennen. Ich kann sie Ihnen nicht beschreiben, ich kann lediglich sagen, daß es dort wei ße Türme und Musik und Schnitze reien und Menschen gibt und daß wir alle zaubern können.« »Das klingt faszinierend«, meinte Dick, »auch wenn ich noch nie von dem Ort gehört habe.« Sie schien die Unterbrechung als eine Art Applaus aufzufassen. »Ich wußte, daß es Sie interessieren würde. Das war einer der Gründe, weshalb ich Sie auswählte — weil Sie einen akti ven Geist haben. Erinnern Sie sich, als Sie das letzte Mal hier waren, er zählte ich Ihnen, daß jeder kleine Zauber den Menschen etwas kostet? Nun, die Verluste sind einfach ent setzlich, und so müssen wir Mittel finden, um sie zu verringern. Und ihr habt eine Menge Dinge, mit denen 209
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man sie verringern kann, wie zum Beispiel Murphylen.« »Ich akzeptiere Ihre These für den Augenblick«, sagte Dick. »Inwiefern hilft Murphylen?« »Habe ich Ihnen nicht eine nasse Fe der gegeben? Es ist sehr schwer, eine Feder wirklich naß zu machen, und es erfordert sehr viel Kraft, wenn man kein Hilfsmittel hat. Und wir brauchen es, um in den Teich sehen zu können.« »Das verstehe ich nicht.« Sie lächelte. »Ich kann es Ihnen nicht ganz erklären — noch nicht. Aber Sie verstehen die Sache mit der Feder. Die Person, bei der der Zauber wir ken soll, muß mit der Feder in Berüh rung kommen.« Sie gab ihm jede Möglichkeit zu Ein wänden, das erkannte er. Ihr schien wirklich viel an einer Zusammenar beit zu liegen. »Weiter«, sagte er. »Wir haben diese schrecklichen Ver luste an persönlichem Kapital — « Er hob hob die Hand hoch. »Einen Augenblick. Ich habe eine Frage. Sie erklärten mir, daß es Sie etwas kosten würde, wenn Sie mir die Abteilung verschafften, und dann riefen Sie an, daß irgend etwas Sie aussaugen wür de. Erzählen Sie mir mehr darüber.« Marion Saxon zuckte leicht zusam men. »Ich wußte es nicht. Es war ein Zauber, bei dem die betroffene Per son genau das tat, was die anderen wollten, aber die Wirkung dauerte länger oder war stärker als bei uns — 210
ich weiß auch nicht recht. Als Sie Ih re Abteilung bekamen, merkte ich es sofort. Ich konnte den Schock spü ren, und mir war lediglich übel. Ich begann an Eier zu denken, und ich wußte, daß ich nie wieder im Leben Eier essen würde, doch das war schon in Ordnung, und ich hatte etwas ähnliches erwartet. Da der Zauber auch für Ihren Chef positiv war, wußte ich, daß ich sonst nichts verlieren würde. Doch ein paar Minuten spä ter erlebte ich einen schrecklichen Schock, und ich merkte, daß der Zau ber wieder wirkte. Diesmal war es et was, das ihm schadete, und deshalb war mir klar, daß ich es teuer bezah len mußte. Und nicht sehr lange da nach spürte ich es wieder, und es war wieder etwas Negatives. Da rief ich Sie an, und schon in diesem Moment wußte ich, daß ich Hilfe brauchen würde. Als der nächste Schock kam, lief ich schnell aus dem Haus und ins Krankenhaus. Das ist alles.« »Es tut mir wirklich leid«, sagte Dick. »Ich wußte nicht — « »Bei uns ist es anders«, erklärte sie. »Dieser Zauber wirkte, bis Sie die Fe der zurückholten. Ich war im Kran kenhaus, und man sagte mir, daß ich Bauchfellentzündung und etwas na mens Plaut-Vincentsche Angina hät te, beides zugleich, und obendrein fie len mir die meisten Zähne aus. Das ist einer der Gründe, weshalb ich Sie nicht vorher sehen konnte.«
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Dick sagte: »Ich kann immer nur wiederholen, wie leid es mir tut. Aber sehen Sie, wenn der Zauber Sie so hernimmt, weshalb müssen Sie ihn dann anwenden?« Sie sah ihn an, als fände sie die Frage kindisch. »Aber das tut doch jeder. Und ich möchte einen ersten Platz in Musik, und wie soll ich ihn erreichen, wenn alle anderen zaubern und ich nicht?« »Aber wenn das Murphylen Ihnen einen Vorteil über die anderen gibt, weshalb brauchen Sie dann die For mel? Weshalb kaufen Sie nicht ein fach eine Flasche, wenn Sie eine brau chen?« »Verstehen Sie denn nicht? Ich kam durch Zauber her, und wenn ich zu rückkehre, werde ich eine zweite Rei se nicht schaffen. Außer ich finde eine Möglichkeit, meinen Kapitalverlust einzudämmen. Vielleicht kann ich auch einen Tauschhandel abschlie ßen.« »Und Ihre eigenen Chemiker?« »Wir haben keine, jedenfallls keine, wie es sie hier gibt. Wo es Zauberei gibt, können sich solche Techniken nicht entwickeln. Bei uns war es zu mindest nicht der Fall. Deshalb bin ich hergekommen.« Dick trank das Glas leer und stellte es ab. »Ja, ich verstehe. Sie sagten vor ein paar Minuten, daß Sie sich an mich wandten, weil ich einen aktiven Geist hätte. Nun möchte ich wissen,
wie Sie gerade auf mich verfielen. Es gibt ein paar tausend andere Leute mit besseren technischen Kenntnis sen — besonders was Murphylen be trifft.« Sie beugte sich vor, und ihr Seiden kleid betonte die Tatsache, daß sie zur Säugetierrasse gehörte. »Wirklich, ich meine es ernst und möchte Sie nicht betrügen. Ich habe Sie ausge wählt, weil Sie zu dieser internationa len Import- und Exportfirma gehö ren und an eine Menge verschieden artiger Artikel herankommen. Und weil Sie Zauberer sind und mein An gebot Sie vielleicht verlocken konnte. Sehen Sie, ich habe etwas für Sie ge tan, und Sie haben etwas für mich getan. Nun kann ich Ihnen das echte Zaubern beibringen, und ich möchte wieder etwas dafür. Nicht nur Mur phylen.« Dick überlegte und beschloß, die Sa che zu Ende zu spielen. Wenn er bei der Amateurzauberer-Vereinigung wirklich mit einem verblüffenden Trick aufwarten konnte, dann ließ er sich die Sache schon eine Kleinigkeit kosten. Sie durchschauten die Tricks meist schneller als die berufsmäßi gen Zauberer. »Also gut«, sagte er. »Angenommen, Sie bringen mir das Zaubern bei. Was wollen Sie dafür? Oder dürfen Sie mir das wie beim letzten Mal nicht verraten?« »Ich kann es Ihnen verraten. Das hier 211
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ist kein Zauberspruch, sondern ein Handel, und wird nicht gezählt. Ich brauche zwei Dinge — einen RandaliGeigerzähler und die Formel für Combarone.« Dick spürte, wie sich seine Gesichts muskeln anspannten. Wenn sie die ganze Liste von Handelsgütern, die durch seine Firma gingen, durchgese hen hätte, so wäre ihr nichts Heikle res begegnet. Der Randall-Geigerzäh ler war das neueste Hochleistungsge rät in Taschenformat, das die AEG herstellte und das auf Lizenz nur an die vertrauenswürdigsten Leute der vertrauenswürdigsten Regierungen exportiert wurde. Und Combarone war das neue Schmiermittel, das Flug zeuge bei Überschallgeschwindigkei ten, in stratosphärischen Höhen und bei Temperaturen unter Null rei bungslos funktionieren ließ. »Woher wissen Sie über diese Dinge Be scheid?« fragte er.
Sie lachte ein wenig. »Sie vergessen,
daß ich zaubern kann. So habe ich
Sie auch ausgewählt — von Skoa aus.«
»Und wozu brauchen sie die Dinge?«
»Das ist ganz einfach. Es sind, wie
Sie sagen würden, kapitalsparende
Mittel. Ein Geigerzähler wird bei Ih nen für ganz andere Zwecke als bei
uns verwendet. Er warnt uns recht zeitig, wenn uns jemand verzaubern
will. Und wenn man sich die Füße
mit Combarone umstreicht, kann
man die Erdströme besser ausnützen
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und mit weniger Mühe und Anstren gung zaubern.« »Nein.« Dick erhob sich. »Meine Ar beit wäre keinen Pfennig wert, wenn ich Ihnen geheime Regierungsprojek te einfach so ausliefern würde. Sie können mich nicht um alles Geld auf der Erde dazu bringen. Meine Antwort ist Nein und nochmals Nein.« Sie hatte sich ebenfalls erhoben und stützte bich mit den Händen am Rand des Vogelbades ab. Jetzt seufzte sie. »Es tut mir leid, daß es auf diese Weise gehen muß«, sagte sie. »Ich hatte gehofft, es würde anders funk tionieren. Nun — « Sie kam auf ihn zu und streckte die Hand zum Ab schied aus. Ihre Handflächen berührten sich, und ein heftiger elektrischer Schlag jagte plötzlich durch jeden Nerv seiries Körpers. Entweder er schwankte, oder der Raum drehte sich um ihn; in ei nem Aufblitzen furchtbarer und doch herrlicher Erleuchtung und Sehnsucht wußte er, daß er alles tun würde, um diese Frau festzuhalten. Er preßte sie in einem langen, atemlosen Kuß an sich, und eine feuchte Feder flatterte zu Boden. Als er sie ins Schlafzimmer trug, merkte er, daß ihre Ohren spitz wa ren. Sie waren es vorher nicht gewe sen, aber das hatte jetzt keine Bedeu tung.
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Die letzten Klänge von Beethovens Tripel-Konzert erreichten ihren har monischen Höhepunkt und erstarben in einem Meer von Applaus. Candy Evans, lächelnd und ein wenig erhitzt, stand zwischen den anderen Soli sten, nickte dem einen und dann dem anderen zu, während im Hintergrund die Mitglieder des Orchesters ihre In strumente zusammenräumten. Als die Sitze hochzuklappen begannen, legte sie ebenfalls ihre Geige in den Ka sten. Der alte Käkay, ihr Dirigent, stand neben ihr. »Sie waren sehr gut. Miß«, sagte er, »aber der Vortrag kam nicht von einer glücklichen Frau. Wollen Sie Papa Käkay nicht sagen, was los ist?« Sie schüttelte den Kopf, schnappte die Verschlüsse des Geigenkastens zu und preßte die Lippen zusammen. »Es ist schon gut«, sagte sie. »Nur ei ne Stimmung. Das passiert jedem von uns. Aber vielen Dank.« Sie rannte beinahe von der Bühne zur Garderobe. So war es also zu sehen, man hatte es gesehen. Sie hoffte, daß Walter Oldman, der am Bühnenaus gang auf sie wartete, es nicht auch sehen würde. Wenn man ihm nur eine kleine Möglichkeit dazu gab, würde er Schwierigkeiten machen, aber er war der beste Ersatz für Dick zu ei ner kleinen Plauderei und einem Drink, den sie nach einem Konzert unbedingt brauchte, um ihre Nerven zu beruhigen.
Er wartete, ein sicherer, ruhiger Mann mit Bürstenhaarschnitt. »Gib mir den kostbaren Kasten«, sagte er. »Du warst heute abend großartig. Wo hin gehen wir — zum Montmartre?« Ins Montmartre ging sie immer mit Dick. Sie zuckte ein wenig zusammen. »Nein — gehen wir heute lieber an derswo hin.« »Gut. Ich kenne ein kleines italieni sches Lokal.« Keiner von ihnen sprach, bis sie ein ander gegenübersaßen und die Drinks auf dem blau-weiß karierten Tisch tuch standen. Walter ergriff zuerst das Wort. »Candy, ich wollte dir et was sagen, und ich kann es jetzt ebensogut wie ein anderes Mal tun. Ich mache mir Sorgen um Dick.« »In welcher Hinsicht?« Ihre Finger zeichneten Muster auf das Tischtuch. »Er hat ein paar — sonderbare Dinge getan, und ich dachte, du könntest vielleicht herausfinden, was dahinter steckt, und die Sache — hm, ausbü geln.« »Was meinst du? Macht er seine Ar beit in der Versuchsabteilung nicht richtig?« »Oh doch. Das ist es nicht.« Er zö gerte einen Moment und zog die Au genbrauen hoch. »Ich erzähle dir am besten die ganze Geschichte. Es gibt ein Reinigungsmittel namens Mur phylen, das in Pittsburgh in einem geheimen Prozeß hergestellt wird. Wir bekamen einen Auftrag dafür 213
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von einer brasilianischen Firma, al lerdings unter der Bedingung, daß wir die Formel mitheferten, da die Qualität der Sendungen unterschied lich war. Nun, die Murphy-Leute wollten nicht so weit gehen, aber sie erklärten sich bereit, uns die Formel für eigene Tests zu überlassen, damit wir jede Sendung garantieren könnten. Sie schickten uns die Formel. Ganz durch Zufall entdeckte ich, daß Dick sich von einem der Mädchen eine Ex trakopie von der Formel anfertigen ließ.« »Darin sehe ich nichts Beunruhigen des«, meinte Candy. »Vielleicht brauchte er sie in seiner Versuchsab teilung.« »In welcher Weise? Ich hätte mir übrigens selbst nichts dabei gedacht, wenn nicht noch ein paar andere Din ge vorgefallen wären. Folgendes: Ei ner unserer europäischen Repräsen tanten bekam von einer Firma in der Schweiz einen Auftrag für Kugella ger. Nun bin ich vollkommen sicher, daß diese Firma einen Schwarzhan del in den Osten betreibt, und Kugel lager gehören zu den gefragten Arti keln. Mister Oliphant war der glei chen Meinung wie ich, daß wir den Auftrag nicht annehmen sollten. Ein paar Tage später überlegte er es Sich, nahm den Auftrag an und ließ die Kugellager ausliefern. Und an die sem Vormittag war Dick lange bei Mister Oliphant.« 214
»Das ist doch lächerlich«, sagte Can dy. »Was willst du damit sagen?«
»Es ist nicht lächerlich. Ich wäre auch
nicht mißtrauisch geworden, wenn
nicht die Sache mit dem Murphylen
gewesen wäre. Und noch eines:
Wir exportieren ein Produkt namens
Combarone, ein ganz besonderes
Schmiermittel für die Luftwaffe, das
streng geheimgehalten wird. Natür lich muß Dick es testen. Nun, ich fand
heraus, daß Dick sich die Formel kürz lich von einer Schreibkraft abziehen
ließ, ebenso den Herstellungspro zeß.«
»Aber keiner dieser Fälle ist wichtig«,
protestierte Candy. »Woher weißt du,
daß er etwas mit den Kugellagern zu
tun hatte? Und die Kopien hat er ver mutlich nur für seine Abteilung ge braucht.«
»Ich weiß«, sagte Walter. »Es klingt
unwichtig. Aber es ist wie bei einer
Geheimschrift. Eine Obereinstimmung
bedeutet überhaupt nichts, aber wenn
man gleich drei identische Punkte hat,
glaubt man, einer Sache auf der Spur
zu sein.«
Candy sagte langsam: »Was für eine
Spur glaubst du gefunden zu haben?
Und was soll ich dabei tun?«
»Du kennst Tim Hurst, nicht wahr?
Warum bittest du ihn nicht, sich ein mal unauffällig umzusehen? Mit sei nen FBI-Verbindungen könnte er —
sich eben umsehen, ohne etwas Offi zielles zu tun. Ich möchte nichts Offi
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zielles einleiten, solange die Möglich keit besteht, daß ich mich täusche.« »Ich verstehe.« Candy senkte den Kopf einen Moment, dann hob sie ihn und sah Oldman an. »Hör mal«, sagte sie, »das kann nicht alles sein. Es ist irgendwie ein anderes Mädchen mit im Spiel, nicht wahr? Ich weiß es, auch wenn die Betroffenen es meist zuletzt erfahren. Ich weiß, daß etwas nicht stimmt, und das wäre die einzige Möglichkeit. Er benimmt sich in letzter Zeit, als stünde er in ir gendeinem Bann. Er sitzt da und starrt mich eine Zeitlang an und sagt überhaupt nichts. Und wenn ich mich über einiges mit ihm unterhalten möchte — « »Worüber?« fragte Walter. »Wir kön nen es ruhig besprechen. Wir sind beide Dicks Freunde.« »Also gut. Er wechselt das Thema, wenn ich von unseren Heiratsplänen anfange. Und am Sonntag, als wir uns Wohnungen ansehen wollten, sagte er, daß er im Büro etwas erledi gen müßte, und — ich fürchte, ich ha be es ihm nicht geglaubt. Und er be handelt mich irgendwie — kühl. Und heute abend ist es zum ersten Mal vorgekommen, daß er mein Konzert nicht besucht hat und daß er mir nicht mal Blumen geschickt hat.« Sie war den Tränen nahe, und Walter legte eine seiner Hände auf die ihre. Candy schluckte und fuhr fort: »Ich weiß es. Ich bin nicht blind. Du
kennst Tim Hurst fast ebenso gut wie
ich, und du könntest ihn selbst fra gen, ob er sich die Sache ansehen will.
Aber du hast wahrscheinlich Angst,
daß Dick in eine scheußliche Sache
verwickelt ist, vielleicht mit diesem
anderen Mädchen, wer sie auch sein
mag, und du willst, daß ich es von
Tim erfahre. Stimmt es?«
»So ungefähr, Candy«, sagte Walter
Oldman. »Leider. Ich wollte, es wäre
nicht so. Verstehst du — «
»Du kannst es mir ruhig sagen. Ich
bin erwachsen.«
»Am Sonntag hat kein Mensch im
Büro gearbeitet. Aber das ist noch
nicht alles. Du mußt wissen, ich woh ne in Cliffside. Es ist wie die meisten
Vororte ein Klatschparadies, und bei
zwei Schwestern bekomme ich immer
die Volltreffer mit ab. Nun möchte
ich nicht zuviel auf Klatsch geben,
denn wenn er nicht absichtlich bösar tig ist, dann stimmt er meist nicht
ganz. Aber was ich in diesem Fall
mitbekommen habe, so scheint fest zustehen, daß Dick viel Zeit bei unse rer geheimnisvollen Vorortschönheit
verbracht hat.«
»Wie sieht sie aus? Ist sie hübscher
»Du weißt, daß ich niemanden hüb scher als dich finde, und ich habe es
dir oft genug gesagt. Aber sie ist —
nun, sie ist aufsehenerregend. Es
reicht aus, um die Klatschsucht anzu heizen. Niemand scheint zu wissen,
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woher sie kommt oder was sie macht.« Candy legte beide Hände vors Ge sicht. »Nun weiß ich endlich Bescheid. Ich habe mich oft gefragt, was ein Mädchen tun würde, wenn sie sich in so einer Lage sähe, und jetzt passiert es mir selbst. Nun, ich weiß, was ich tun werde.« Sie lachte kurz und bit ter auf. »Ich lasse es ihr nicht einfach durchgehen. Ich werde dafür sorgen, daß sie ihn mir zurückgibt.« »Es gibt noch eine andere Lösung. Du könntest immer noch mit mir flirten. Vielleicht macht es ihn eifersüchtig.« »Nein«, sagte Candy. »Ich werde ihm nichts vortäuschen, Walter. Ich muß das ganz allein in die Hände nehmen und durchführen, und ich möchte nicht, daß Tim Hurst oder sonst je mand hineingezogen wird.« Sie stand auf. »Besteh bitte nicht darauf, mich heimzubringen. Ich muß über einiges nachdenken. Und vielen Dank für den Drink.« Sie streckte ihm die Hand entgegen und ging. Er starrte noch eine Zeit lang zur Tür, nachdem sie gegangen war. Dann ging er zur Telefonzelle, warf seine Münze ein und wählte eine Nummer. Als sich jemand mel dete, sagte er: »Verbinden Sie mich bitte mit Tim Hursts Wohnung.« Das Wohnzimmer in Candys Apart ment war winzig, aber sie hatte es mit Geschick, und Geschmack einge 216
richtet. Jetzt saß sie in dem großen Holzsessel unter der Lampe, gleich neben dem Fenster. Ihr gegenüber auf dem Sofa saßen Walter Oldman und ein ziemlich unscheinbar ausse hender, dunkler junger Mann, Tim Hurst. Zu Candys Linker an dem kleinen Tischchen, das sie von der anderer Gruppe trennte, saß Dick Bentress. Von der Straße her drang die Vielfalt der Geräusche herein, die das Nachtleben einer Großstadt aus machen, und es war heiß. Ein paar Sekunden sagte keiner etwas, und man konnte die wachsende Span rung, die in der Luft lag, fast spüren. Dann fuhr sich Candy mit der Hand durchs Haar und sagte: »Dick, ich bat Walter, heute abend Tim herzu bringen, weil — nun, weil er ein paar merkwürdigen Dingen nachgeforscht hat, und - und wir dachten, du konntest ihm vielleicht dabei helfen.« Dick kramte in seiner Tasche nach einer Zigarette und Streichhölzern. Sie konnte sehen, daß er ein wenig blaß um die Lippen war. »Wird hier eine Erklärung von mir verlangt?« fragte er und blies den Rauch durch die Nase. Candy meinte: »Ich möchte gern, daß du es nicht so auffaßt. Dick. Ich ma che mir wirklich Sorgen um dich, ebenso wie Walter. Bitte, glaub mir doch.« »Also gut«, sagte Dick, »was wollen die Inquisitoren wissen?«
NICHTS IST UMSONST
»Es handelt sich um kein Verhör, und du kannst es beenden, sobald du willst, indem du einfach keine Ant worten gibst«, sagte Walter. »Schließ lich sind wir hier nicht bei Gericht. Wir brauchen nur deine Hilfe bei der Ermittlung der Verantwortlichen von einigen Vorfällen. Das ist alles. Er stens — was ist aus der Kopie der Murphylen-Formel geworden? Sie scheint in keiner der Büroakten zu sein.« »Ach das«, sagte Dick. Er nahm einen halben Dollar aus der Tasche, warf ihn in die Luft, fing ihn wieder auf, ließ ihn über seinen Handrücken lau fen und dann verschwinden. »Ja, das«, sagte Walter. »Zweitens weißt du etwas über den Verbleib der Kopie, die von der Combarone-For mel und ihrem Herstellungsprozeß angefertigt wurde? Sie ist ebenfalls nirgends aufzufinden.« »Weiter«, sagte Dick. Er ließ den hal ben Dollar allerlei Tricks vollführen. »Und wer hat den Elefanten dazu überredet, die Kugellager-Sendung zu Hönisch zu schicken? Und weshalb hast du einen der Randali-Geigerzäh ler aus der Sendung genommen, die gestern ankam, und ihn in deinen Schreibtisch gelegt, bevor du hierher kamst?« »Habe ich das getan?« fragte Dick. »Ja. Ich habe ihn selbst herausgeholt, und ich habe ihn hier.« Er nahm das Instrument hoch.
Candy sah, wie Dick flüchtig die Stirn runzelte und dann seinen Ge sichtsausdruck änderte. »Alle diese Dinge haben vollkommen normale Erklärungen, und ich werde sie euch gleich geben«, sagte er. »Aber ich möchte genau wissen, was man mir vorwirft und weshalb.« Er sah von Walter zu Candy und wieder zu Wal ter. »Man wirft Ihnen überhaupt nichts vor«, sagte Tim Hurst. »Und die nächste Frage stelle ich. Mein Büro interessiert sich für ein Mädchen na mens Marion Saxon. Wir können nichts über sie in Erfahrung bringen, nicht einmal, woher sie kommt, und da wir hören, daß Sie sie des öfteren sehen, dachten wir. Sie könnten uns vielleicht helfen.« Diesmal sah Candy, wie ihm langsam die Röte ins Gesicht stieg. Er sagte vorsichtig: »Weshalb interessiert sich Ihr Büro für sie?« »Ich möchte das im Moment nicht be antworten«, meinte Hurst. »Aber vielleicht können Sie es erraten, wenn Sie sich vorsagen, daß Combarone und der Randall-Geigerzähler streng geheim sind, daß Murphylen in ei nem Prozeß hergestellt wird, der nur wenigen bekannt ist, und daß die Kugellager ohne jede Frage in Län der des Eisernen Vorhangs geliefert wurden.« Dick lachte. »Ein dicker Fall, nicht wahr? Sie glauben also, daß Miß Sa 217
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xon eine schöne Spionin ist, die mir Kugellager und Reinigungsmittel für die Russen entlockt? Lassen Sie mich eines klarstellen — Sie können keinen größeren Irrweg einschlagen. Ja, es gibt eine Erklärung für all diese Din ge, oder besser gesagt, für jedes da von, und ich werde sie Ihnen geben. Aber zuerst entschuldigen Sie mich bitte einen Moment. Candy, darf ich dein Bad benützen?« Als sich die Tür hinter ihm geschlos sen hatte, wandte sich Oldman an Hurst. »Was halten Sie davon?« frag te er. Hurst holte ein Taschentuch heraus und tupfte sich die feuchte Stirn ab. »Nach meiner Erfahrung bei Verhö ren", sagte er, »sind wir einer Sache auf der Spur, aber es scheint etwas anderes zu sein, als wir glauben. So benimmt sich kein in die Enge getrie bener Mann.« Candy sagte aus ihrer Ecke: »Oh, ich hoffe doch nicht — « und unterbrach sich.
»Zigarette?« fragte Walter.
»Ich nicht«, erwiderte Hurst. »Mir ist
ohnehin zu warm.«
Die Badezimmertür Öffnete sich, und
Dick kam mit einem Glas Wasser
heraus. Als er durch das Zimmer ging,
stolperte er, machte einen unsicheren
Schritt und. stürzte, wobei sich das
Wasser über Hurst und Walter ergoß.
»Oh, verflixt«, sagte er. »Das tut mir
aber sehr leid.«
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Candy war aufgesprungen, lief in die Küche und kam mit Handtüchern zu rück. »Nichts passiert«, meinte Walter. »In so einei warmen Nacht ist das sogar eine Erfrischung.« »Ich hole dir ein anderes Glas«, sagte Candy. »Das ist sicherer.« Dick setzte sich wieder an seinen Platz. Plötzlich fuhr er sich mit der Hand an die linke Wange. »Au!« sagte er. »Was ist los?« »Die Strafe folgte auf dem Fuß«, er widerte er. »Ich habe mir bei dem Sturz ein paar Zähne ausgeschlagen . . . « Er machte eine Pause. »Und nun können wir uns den Punkten wid men, über die ihr Bescheid wissen wolltet. Es war Cooper, der den Boß dazu überredete, die Kugellager zu verschicken, erinnerst du dich nicht mehr daran, Walter? Du hast es mir selbst gesagt. Ich hatte überhaupt nichts damit zu tun. Du vergißt al les!« »Ich - «, begann Walter. Er zögerte einen Moment lang, dann sagte er: »Natürlich hast du recht. Ich hatte es tatsächlich vergessen.« Dick fuhr leichthin fort: »Und nun zur Kopie dieser Murphylen-Formel. Natürlich ist sie nicht in den Akten. Was hätte sie dort zu suchen? Es ist ein geheimer Herstellungsprozeß. Aber erinnerst du dich nicht an den Aktenschrank mit dem Kombina
NICHTS IST UMSONST
tionsschloß im Büro des Versuchsla bois? Als du vorvorgestern in diesem Büro warst, habe ich dir die Einrich tung gezeigt, unter anderem diesen Schrank. Das hättest du nicht verges sen dürfen.« Walter schlug sich aufs Knie. »Jetzt fällt es mir wieder ein. Du hast da von gesprochen, aber ich dachte nicht mehr daran.« »Die Combarone-Formel mußte für die Sendung nach dem LuftwaffenStützpunkt auf Grönland herausge schrieben werden. Du weißt, wie kleinlich die Leute von der Luftwaffe mit diesen Dingen sind.« »Das stimmt. Mir wäre nie der Ge danke gekommen, daß es sich um et was Offizielles handeln könnte.« »Und der Randall-Geigerzähler — könntest du ihn mir mal herüber reichen?« Walter nahm den Apparat aus der Tasche, als Dick auf ihn zutrat. »Na nu, er tickt ja«,, sagte er. »Ich muß radioaktiv sein.« Dick nahm ihn entgegen. »Das ist komisch«, sagte er. »Aber es ist nicht sein normales Geräusch - es klingt eher wie ein Schnurren oder wie das Aufziehen einer Uhr. Wenn du radio aktiv bist, bin ich es übrigens auch. Ich glaube nicht, daß es gefährlich ist. Auf alle Fälle, wenn du hierher siehst, kannst du feststellen, daß die Schraube an dieser Seite defekt ist. Nun weißt du, was los ist. Ich habe
den Geigerzähler aus der Sendung genommen, um ihn zu richten, bevor wir ihn weiterschicken. Es ist eine so winzige Reparatur, daß ich dachte, wir könnten sie gleich im Labor er ledigen.« »Darf ich ihn sehen?« fragte Candy plötzlich. Dick reichte ihr das Instrument. Das sonderbare Schnurren verstummte. »Ich sehe nichts -«, sagte sie, und dann: »Ach, da.« Er nahm den Geigerzähler wieder entgegen, steckte ihn in die Tasche und setzte sich. »Und was -Marion Saxon betrifft, so habe ich sie durch Zufall kennengelernt - was ist los?« Er hatte sich Tim Hurst zugewandt, der mit halbgeöffnetem Mund dasaß und ins Leere starrte. Nun schluckte er und fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. »Ich kann mich — an nichts —erinnern«, sagte er langsam. »Schät ze, die Hitze — macht mir — zu schaf fen.« »Möchten Sie sich hinlegen?« fragte Candy. »Nein — schon wieder gut.« Er kam langsam auf die Beine. Walter erhob sich ebenfalls. »Ich sor ge dafür, daß er gut heimkommt«, sagte er. »Und vielen Dank, daß du die Sache nicht krumm genommen hast. Dick. Ich war ziemlich zudring lich.« »Schon gut«, meinte Dick. »Mißver ständnisse sind unangenehm, wenn 219
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man sie nicht aufklärt. Einen Mo ment mal — du hast eine kleine Feder am Ärmel. Da.« Er half ihm. Hurst an die Tür zu bringen, der sich so weit erholt hatte, daß er aufrecht ge hen konnte. Candy stand hinter ihm und sagte: »Geh noch nicht.« Dick zuckte leicht zusammen und ging zurück zu seinem Platz. Als sie hörten, daß sich die Aufzugstür drau ßen schloß, sagte das Mädchen: »Du hast sie an der Nase herumgeführt, wenn ich auch nicht weiß, wie, aber ich habe dich schon so oft zaubern gesehen, daß ich dein Schema durch schaue. Mich kannst du nicht anfüh ren.« »Glaub mir, ich versuche es auch gar nicht, Candy«, sagte Dick. Sie fand, daß seine Stimme eine Spur von Traurigkeit enthielt. »Dann — nein, ich werde dir keine Fragen stellen.« »Über Marion Saxon, meinst du? Sie — nun, sie interessiert sich einfach für Zauberei und — « Er war rot ge worden. »Hör auf. Ich werde dir im Moment weder Fragen stellen, noch werde ich mir deine Erklärungen anhören. Ich wollte dir nur klarmachen, daß du bei mir nicht Versteckspielen mußt. Das ist alles.« Sie kämpfte immer noch gegen die Tränen an, als sie hinausging.
Candy löste ihre Frisur und setzte sich an den Bettrand. Es war schon gut, wenn man sagte, man sollte nicht sämtliche Versöhnungswege versper ren, und es war auch gut, wenn man es tat. Aber es hinterließ ein Gefühl der Kränkung. Außerdem konnte sie im Moment einfach nichts gegen diese Kränkung tun. Der Gedanke, sich di rekt an dieses — andere Mädchen zu wenden, behagte ihr nicht. Ebenso wenig wollte sie aber die Hände in den Schoß legen. Dick hatte nun seit zwei Tagen nicht mehr angerufen, seit dem Abend, an dem Tim Hurst auf ihrer Couch einen Anfall von Gedächtnisschwund erlitten hatte. Das Telefon klingelte. Candy sprang auf und rannte an den Apparat, aber es war nicht Dick, jemand mit einem starken deutschen Akzent fragte: »Spreche ich mit der Geigerin Miß Evans?« »Ja.« »Mein Name ist Paul Schmitz. Ich habe ein Angebot, das Sie interessie ren dürfte.« »Ich fürchte, ich habe im Moment ge nügend Engagements.« »Es ist kein Engagement-Angebot. Es bezieht sich auf ein ganz anderes Tä tigkeitsfeld. Bitte, seien Sie so freundlich und hören Sie mir für ein paar Minuten zu.« »Also gut, ich höre.« »Ich möchte Sie gern persönlich spre chen.«
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»Hm — meinetwegen. Wo sind Sie im Moment?« »Ich kann in zehn Minuten bei Ihnen sein.« »Sagen wir fünfzehn, ja? Ich muß mich erst herrichten.« Musiker bekamen alle möglichen An gebote. Kürzlich war man mit der Bitte an sie herangetreten, Leiterin eines Damenorchesters in Havanna zu werden — aber nein, er sagte, daß es mit einem Engagement nichts zu tun hätte. So rätselte sie immer noch, als er an der Tür stand, ein kleiner Mann mit einem schmalen Gesicht, das nicht zu seinem Akzent passen wollte. »Paul Schmitz«, sagte er und ver beugte sich. Er sah nicht schlecht aus. »Kommen Sie herein.« Er nahm auf der Couch Platz und saß ziemlich steif da, die Hände auf die Knie gelegt. Candy wartete. »Sie sind die Miß Evans, die mit Ri chard Bentress verlobt ist?« Das tat weh. »Ich — ich glaube — , ja. Hat das etwas mit dem Angebot zu tun, das Sie erwähnten?« »Sie sind die einzige, die ihm helfen kann. Er steht unter einem Bann.« Sie lächelte schwach. »Ja, ich glaube, man könnte es so nennen. Aber ich spreche nicht sehr gern über dieses Thema.« »Miß Evans, ich möchte Ihnen klar machen, daß ich das wörtlich gemeint
habe. Mister Bentress lebt unter ei nem echten und starken Zauberbann, und wenn er nicht davon befreit wird, sind die Folgen für ihn unangenehm. Mister Hurst leidet bereits an Ge dächtnisschwund, was auf diesen Bann zurückzuführen ist.« Candy spürte einen leichten Schock. »Sie scheinen ziemlich viel zu wissen. Gut, Sie haben mein Interesse ge wonnen. Fahren Sie fort.« »Ich bin ein Lehrer der Magie.« Aut dem Unterhaltungssektor traf man auf alle möglichen Scharlatane, aber auch auf alle möglichen Verrück ten, die ihre Beute wurden. Candy überlegte, daß sie sich meistens ge nau erkundigten, bevor sie sich an ein Opfer heranpirschten. »Ich verste he«, sagte sie. »Und Sie möchten nun vermutlich den Bann von ihm neh men. Für wieviel? Nein, ich fürchte, aus dem Handel wird nichts.« Die Stimme von Paul Schmitz blieb geduldig. »Sie verstehen nicht«, sagte er. »Ich verlange natürlich Bezahlung, da es zu den Regeln gehört, aber Ihr Geld würde wenig nützen. Auch möchte ich keinen Gegenzauber aus sprechen, sondern Ihnen beibringen, wie Sie diesen Mann wieder für sich gewinnen können. Wie kann ich Sie nur davon überzeugen, daß ich es ehrlich meine?« Er sah sich um. »Ah! Geben Sie mir Ihr Musikinstru ment?« Candy holte ihre Geige aus dem Ka 221
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sten. Paul Sdimitz nahm sie vorsich tig, aber seine Bewegungen zeigten, daß er mit dem Instrument vertraut war. Er schob es sich unter das Kinn, fuhr mit dem Bogen einmal über die Saiten, verstellte eine davon und sag te: »Ich werde Ihnen zeigen, daß mein Inneres gut ist.« Dann begann er zu spielen. Es war mit nichts vergleichbar, das Candy bis dahin gehört hatte, und nach den ersten Noten war sie über zeugt davon, daß es etwas vollkom men Neues war; es begann mit einer langsamen, beinahe getragenen Pas sage, dann schloß sich ein schnelleres Thema an und noch eines, und die drei Melodien wurden auf wunderba re Weise miteinander verwebt, so daß sie jubelten ur.d über alles hinaufstie gen. Musik, wie sie Schubert hätte komponieren können, wenn er noch am Leben gewesen wäre. Musik, die keine Worte brauchte, um die Gefüh le anzurühren. Und großartig ge spielt. Sie hatte Helfetz und Elman ge hört, aber dieser Mann war besser als jede'r der beiden zu seiner Glanzzeit. Sie entspannte sich und ließ sich von der Musik einhüllen. Die Melodien versuchten ihr ganz persönlich etwas zu sagen. Sie spürte Trauer über et was Verlorenes in den Kristallklän gen, aber dahinter sang das dritte Thema beharrlich, daß der Verlust nicht für immer sein mußte, daß die Trauer enden würde. Und dann, mit 222
einem plötzlichen warnenden Klang, der Gefahr — Gefahr — Gefahr! her vorschrillte, ging die Weise in einen triumphierenden Höhepunkt über und schwieg. Candy klatschte. »Das war wirklich wundervoll«, sagte sie. »Aber was war es?« Paul Schmilz gab ihr die Geige zu rück. »Mit meinem eigenen Instru ment hätte ich es noch besser ge konnt«, sagte er. »Ich habe das The ma erfunden, um auszudrücken, wie es mit Ihnen und Ihrem Verlobten steht. Und auch, um zu sagen, daß Sie etwas für ihn tun können und daß es gute Folgen haben wird.« Candy kam zu dem Schluß, daß sie ihm jedes Wort glauben konnte, wenn er eine solche Komposition aus dem Stegreif erfand. »Es war etwas dabei, das von Gefahr sprach, oder tausche ich mich?« fragte sie. Paul Schmitz hatte wieder Platz ge nommen. Jetzt verneigte er sich wie der ein wenig. »Sie haben vollkom men recht. Miß Evans. Es ist sowohl gefährlich wie auch kostspielig, den Willen eines anderen Menschen zu beeinflussen, insbesondere, wenn man einen anderen, sehr starken Bann spruch überwinden will. Deshalb komme ich zu Ihnen. Ich könnte es selbst tun, aber ich habe schon so viel gezaubert, daß ich nicht sicher bin, ob ich es mir noch leisten kann.« »Ich verstehe nicht ganz.«
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f
Er überlegte einen Moment, dann sprang er auf. »Warten Sie! Ich werde es Ihnen zei gen. Wo ist Ihr Bad?« »Da drüben, die erste Tür.« Er verschwand dahinter, und sie hör te, wie er Wasser ins Becken laufen ließ. Dann herrschte für zwei oder drei Minuten Schweigen, und schließ lich hörte sie ein schwaches Klingeln wie von weit entfernten Glocken. Paul Schmitz stand in der Tür. »Kommen Sie«, sagte er. Sie ging ins Bad. »Da, sehen Sie!« sagte er und deutete ins Becken. Es war angefüllt mit einer Flüssig keit, die nicht ganz Wasser war, son dern einen milchigen Schimmer hat te. Es wirbelte schnell herum, jedoch ohne Strudel, mit einer vollkommen glatten Oberfläche. Es schien noch etwas anderes darin zu sein; sie beug te sich darüber und erhaschte ein un deutliches Bild von Straßen und wei ßen Türmen und Menschen, die hin und her gingen. »Haben Sie eine dieser kräftigen flüs sigen Seifen?« fragte Paul Schmitz. »Genügt das?« Sie reichte ihm ihr Haarwaschmittel von der Konsole. »Ich könnte das Bild auch ohne die Seife klar machen, aber der Zauber bereitet mir Kopfschmerzen, obwohl er nur klein und unpersönlich ist.« Er schüttete etwas von dem Haar waschmittel in das Becken. Das Wir beln hörte auf, und Candy stieß ei
nen kleinen Schrei aus, als sich das Bild verdeutlichte und sie wie durch einen silbernen Spiegel das Bild einer Stadt sah, ganz aus weißem Stein ge baut, mit Türmen und zierlichen Säu lengängen und Bäumen mit leuch tendgrünen Blättern, welche die Häu ser umgaben. Paul Schmitz fuhr mit der Hand darüber, und das Bild rückte noch näher heran. Es war, als stünde sie neben einem Gebäude, dessen Wand elegante Reliefs von Löwen in Lilienfeldern aufwies. Auf der ande ren Straßenseite gingen Männer mit Umhängen und Frauen in langen Kleidern vorbei. Die meisten von ih nen trugen langes Haar, aber sie sah auch einen total kahlen Mann und ei ne Frau, die an einer Hand keine Fin ger hatte. »Das kommt von zu star ken Zaubersprüchen«, sagte Paul Schmitz neben ihr. Er tauchte die Hand in das hinreißende Bild, das so fort wieder zu einem Becken mit ziemlich seifigem Wasser wurde. Dann trocknete er sie an einem Handtuch ab und ging zurück ins Wohnzimmer. »Jetzt können wir reden«, sagte er. »Das ist Skoa, von wo ich herkom me.« »Es ist wundervoll«, sagte Candy. »Aber wo liegt es?« »Es ist kein Ort in dieser Welt, son dern er liegt parallel zu ihr.« Er seufz te. »Ich werde Ihnen mehr davon er zählen. Vor vielen Jahren hatte unser 223
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Volk wie das Ihre ein paar Hexen
und Zauberer, aber während sie hier
bekämpft wurden, ehrte man sie bei
uns und ließ sie studieren, bis sie die
Gesetze des Zauberns kannten, wie
man in dieser Welt die Gesetze der
Naturwissenschaft erforschte. Für uns
war das nicht nötig, da viele Dinge
durch Zauberei erreicht wurden.«
»Ich verstehe«, sagte Candy.
»So wurden wir durch die Magie auf
andere Welten aufmerksam. Wir konnten sie sehen und auch erreichen, wenn wir bereit waren, dafür zu be zahlen, aber das ist schwer, denn für jeden Zauber muß man etwas von sich selbst hergeben, und man ist bald tot. Wenn ich jetzt zurückgehe, verliere ich vielleicht ein Bein oder etwas anderes, und das gleiche ge schieht, wenn ich den Bann von Ih rem Verlobten nehme.« Candy runzelte die Stirn. »Wenn es so schlimm ist, verstehe ich nicht, weshalb Sie überhaupt hergekommen sind. Oder weshalb Sie mir Ihre Ma gie beibringen wollen.« Er hob einen Finger. »Oh, es gibt Zeiten, in denen man auf Sicherheit keine Rücksicht nehmen kann. Bei uns in Skoa ist alles Musik. Wir ma chen Tag und Nacht Musik, und die jenigen, die die beste Musik machen, werden geehrt, so wie bei euch die Kinohelden oder der Präsident. Gut. Nun gibt es bei uns ein Mädchen na mens Rualla von Liphor — das ist ihr 224
Name in Skoa-, die sehr ehrgeizig in Musik ist, aber nicht so talentiert, daß sie alles erreichen kann, was sie sich wünscht, und deshalb kann sie einen hohen Rang in Musik nur durch Zauberei erlangen.« »Aber das klingt doch sehr nach Be trug«, meinte Candy. »Keineswegs. Wenn die Musik schön ist, dann ist es unwichtig, wie sie ge macht wird. Außerdem ist diese Rual la noch auf anderen Gebieten ehrgei zig. Sie würde gern viele Dinge er reichen, wofür sie natürlich zahlen müßte, aber nicht mit Geld, denn das wird auf Skoa nur für unbedeutende Dinge benutzt. Gut. Aber wenn sie einen Zauber ausspricht, der stark ge nug ist, um ihr großen musikalischen Erfolg zu geben, wird es sie viel ko sten, da auch andere die Magie benut zen und sie deshalb einen machtvol len Bann braucht. Nun weiß sie durch die Bilder, die ich Ihnen vorge führt habe, daß diese Welt exi stiert und daß es hier Dinge gibt, die wir nicht besitzen und die ihre Magie stärker machen oder ihr selbst weni ger abfordern. Sie wählt sich also ei nen jungen Mann aus, der diese Din ge beschaffen kann und dem Zau berei so viel bedeutet, daß er tun wird, was sie will, weil er die Gesetze der Magie kennenlernen möchte. Es han delt sich dabei um Ihren Verlobten.« Er lächelte. »Ich verstehe nicht -«, sagte Candy.
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»Weshalb haben sie dann die Güter nicht einfach getauscht? Weshalb mußte sie ihn mir wegnehmen?« »Ach! Ich glaube, daß er sich aus ir gendeinem Grund weigerte, eines der Dinge zu besorgen, und da mußte sie ihn bannen, um ihn dazu zu zwin gen. Er wurde von den Bildern beo bachtet, als er mit den beiden ande ren hierherkam, und er hatte in sei ner Tasche eine Maschine, die anzeig te, daß er unter dem Einfluß eines Zaubers stand. Auch bannte er sofort die beiden anderen, und das steht im Widerspruch zu den Regeln. Es ist zweifelhaft, ob dieser Hurst sich je von seinem Gedächtnisschwund erho len wird.« »Und Sie — ?« »Ich gehöre zu unserer Polizei. Rualla hat nicht das Recht, in anderen Wel ten solchen Schaden anzurichten. Aber er ist jetzt durch diesen Bann an sie gebunden, und wenn sie nach Skoa zurückkehrt, nimmt sie ihn mit.« »Sie wollen also meine Hilfe?« »Das stimmt. Aber Sie müssen mir etwas dafür geben, wenn ich Ihnen die Zauberkunst beibringe.« »Was wollen Sie?« »Fünfzig Meter besonders dehnbaren Stahldraht.« Die Antwort war so völlig unerwar tet, daß Candy lachte. »Wozu in al ler Welt?« »Wenn ich zurückgehe — und das ist
noch keine sichere Sache — soll dieser Draht bei meinem Musikinstrument verwendet werden. Wir haben solche Materialien nicht in Skoa, und es gibt niemand, der sie herstellen kann. Der Draht wird meinem Instrument einen solch reinen Klang geben, daß ich be stimmt einen ersten Platz erringe. Aber wenn ich nicht zurückkehre, lasse ich mir ein Skoa-Instrument herstel len und spiele es. Es wird auch schön klingen.« Candy stützte das Kinn in die Hand und überlegte. Dann siegte der ab surde Vorschlag. »Also gut«, sagte sie. »Ich mache mit. Was muß ich tun?« Das Mädchen kam an die Werkbank, an der Dick mit der Papierprüfma schine arbeitete. »Ein Mister Schmitz möchte Sie sprechen.« »Was will er?« fragte Dick, ohne den Blick von den Meßgeräten zu wenden. »Er sagte, es sei etwas Persönliches. Er sieht eigentlich nicht wie ein Han delsvertreter oder Versicherungsagent aus.« »Also gut.« Dick schaltete die Ma schine ab und folgte ihr. Wahrschein lich der Vertreter irgendeiner Firma, der ihn bat, seine Produkte auf diese oder jene Spezialmethode zu prüfen, weil dann ihre Vorzüge am besten zur Geltung kamen. Das versuchten sie immer. Der einzige Wartende in dem winzi 225
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gen Empfangszimmer war ein junger Mann, der auf seine teutonische Art ganz hübsch aussah. Er bestätigte sei ne Herkunft durch einen starken Akzent. »Mister Bentress? Ich habe den Auf trag, mit Ihnen zu verhandeln.« »Also gut, fangen Sie an.« »Setzen wir uns. Ich möchte Ihre Zeit nicht lange in Anspruch nehmen — « Er setzte sich, und Dick hatte keine andere Wahl, als seinem Beispiel zu folgen. Der Fremde betrachtete ihn ruhig. »Ich bin ein Bekannter von Miß Evans«, sagte er. Dick hatte ein würgendes Gefühl. Ir gendwann mußte es kommen, das hatte er erkannt, denn so konnte es nicht weitergehen. Aber er hatte die Absicht gehabt, zu ihr zu gehen und ihr ehrlich auseinanderzulegen, daß es nicht mehr Sinn hatte, diese Sache rückgängig zu machen, als wenn man versuchte, die Sonne im Osten unter gehen zu lassen. Sie war ihm nun zu vorgekommen, und er fühlte sich be schämt. »Ja?« fragte er. »Sie schickt Ihnen etwas.« Er griff in seine Tasche, holte einen Umschlag heraus, griff in die andere Tasche und holte eine Pinzette heraus. Noch bevor Dick den Gedanken zu Ende führen konnte, daß das eine komische Art war, jemandem den Verlobungs ring zurückzuschicken, holte er eine nasse kleine Feder heraus und legte sie ihm auf die Hand. 226
Eine atemlose Sekunde lang spürte Dick nur die Berührung des winzigen Flaumstückchens; dann traf ihn der Gegenbann wie ein Hammerschlag. Er keuchte. Der Raum schien sich um ihn zu drehen, so daß er nach der Ses sellehne faßte. Schmitz betrachtete ihn freundlich. »Es ist immer so«, sagte er. »Es dauert nicht lange.« Er stand ruhig auf, ging zu den Aufzü gen hinüber und drückte auf einen Knopf. »Warten Sie«, wollte Dick ihm nach rufen, aber als er den Mund öffnete, kam nur eine Art Blöken heraus. Das Mädchen am Empfang, das durch eine Glasscheibe von ihm getrennt war, starrte ihn neugierig an. Die Lifttür öffnete sich. »Leben Sie wohl, Mister Bentress«, sagte Schmitz. »Und glauben Sie mir, es ist besser so.« Er war verschwunden. Dick sammelte sich und stand mit un geheurer Anstrengung auf. Der Bo den um ihn schien immer noch leicht zu schwanken. Er stolperte und dach te, daß es kein Wunder war, wenn die Leute von Skoa so selten ihre stärksten Bannsprüche anwandten. Die Wirkung war verheerend. Dann kam ihm der Gedanke, daß Candy irgendwie diese Kunst erlernt haben mußte. Und dann wußte er, daß das, was er für eine plötzliche und über wältigende Leidenschaft zu Marion gehalten hatte, nichts anderes als ein Bann gewesen war. Er konnte nicht
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sagen, daß er sie dafür haßte, aber et
wollte sie jetzt auch nicht sehen. Und
was Candy betraf »Ein Anruf auf Apparat sechs«, sagte
das Mädchen am Empfang zu ihm.
»Schalten Sie ihn auf mein Büro um.«
Candys vertraute Stimme kam durch
den Hörer. »Hallo — Dick?«
»Ich bin es, glaube ich. Sieh mal — «
»Ja, ich weiß. Du fühlst dich jetzt
besser, und ich kenne auch den Grund
dafür.« In ihrer Stimme schwang
leichte Bitterkeit mit . »Lassen wir das
jetzt. Ich möchte, daß du etwas für
mich tust.«
»Gut. Was denn?«
»Ich möchte, daß du mir fünfzig Me ter besonders dehnbaren Stahldraht
besorgst.«
»Was?«
»Genau das, was ich sagte. Kannst
du das?«
»Natürlich, aber— «
»Ich brauche ihn für etwas. Ich erzäh le es dir — irgendwann.« In ihrer
Stimme war immer noch diese Bit terkeit, Fremdheit oder sonst etwas,
das er nicht analysieren konnte.
»Candy, ich möchte dich heute abend
besuchen.«
»Nicht heute abend. Dick. Bitte.«
»Weshalb? Du hast keine Probe, das
weiß ich. Ist es wegen — «
»Nein, ich trage dir nichts nach. Es
ist nur so, daß ich einen — kleinen
Unfall hatte. Ich möchte eine Zeit lang niemanden sehen.«
Er erinnerte sich mit einem Angst schauer, daß vermutlich jemand für den Gegenbann dieser Stärke schwer bezahlen mußte und daß dieser Je mand Candy sein würde. »Hör zu«, rief er, »was ist los? Was ist gesche hen?« »Du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Ich brauche den Draht bald. Wiedersehen, Dick.« Der Hörer wurde aufgelegt. Dick Ben tress legte ebenfalls a u f . Er hatte böse Vorahnungen. Der Rückstoß des Zau bers, der ihn befreit hatte, mußte sie stark getroffen haben. Es war seine Schuld — nein, er hatte selbst unter einem Bann gestanden. Und so fort; so sehr er mit sich kämpfte, er wurde das Gerühl nicht los, daß er auf irgendeine Weise die Verantwor tung für irgend etwas Unangeneh mes trug, das Candy zugestoßen war. Wenn es so war, mußte er etwas un ternehmen. Und der erste Schritt in dieser Richtung war, daß er heraus fand, was er unternehmen mußte. Dick rief die Auftragsabteilung an, bestellte fünfzig Meter dehnbaren Stahldraht für sein Büro und ließ sich mit dem Taxi zu Candys Wohnung fahren, sobald die Sendung angekom men war. Die Haustüre öffnete sich auf sein Klingeln, aber die Wohnungstür ging nur einen Spalt auf. »Wer ist da?« Ihre Stimme war so kühl wie am Telefon. 227
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»Ich bin es. Dick. Ich habe die Papie re für den Draht.« Die Tür rührte sich nicht, und einen Moment lang entstand Schweigen. »Ich möchte im Moment niemanden sehen.« »Candy, laß mich herein«, sagte Dick. »Irgend etwas stimmt nicht, und ich mochte dir doch helfen.« »Ich — ach, du kannst es auch gleich erfahren.« Die Tür wurde mit einem Mal aurge rissen, und Dick stand ihr gegenüber. Aber es war eine Candy, die sich im Vergleich zu früher auf schockieren de und entsetzliche Weise verändert hatte. Ein riesiges, scharlachrotes Mal bedeckte ihre linke Gesichtshälfte vom Haaransatz bis zum Kinn. Es wirkte wie eine offene Wunde. Er keuchte. »Jetzt weißt du es«, sagte sie leise. »Das hat es mich gekostet, und du — du wirst mich nicht mehr wollen.« Er nahm sie an den Schultern. »Selbst wenn du dir die Sache nicht bei dem Versuch geholt hättest, mir zu helfen, würde ich dich nicht im Stich lassen. Das müßtest du wissen, Candy. Kann man denn nichts dagegen tun?« Sie schüttelte den Kopf und sah zu Boden. »Ich war heute nachmittag bei einem Arzt. Er sagte, man könnte nur versuchen, es mit Make-up zu verdecken.« Dick ging ins Wohnzimmer vor aus, setzte sich neben sie auf die 228
Couch, schlang ihr den Arm um die Schulter und küßte sie. »Keine Sorge«, sagte er. »Ich glaube, ich weiß, wie wir das Ding beseitigen.« »Wenn du an Magie denkst. Dick, dann lieber nicht. Paul Schmitz hat sie mir beigebracht. Er gehört der Po lizei von Skoa an, welche dafür sorgt, daß die Regeln eingehalten werden. Er sagt, daß die Wirkung des Zaubers bei uns verdoppelt wird, weil wir so lange überhaupt keinen Zauber kann ten. Ganz gleich, was du erreichen willst, es kostet dich mehr, als es wert ist. Du weißt ja, was mit dem ar men Tim Hurst geschehen ist. Du wolltest, daß er vergißt, nicht wahr?« Dick zuckte leicht zusammen. »Es tut mir leid. Aber sie glauben, daß es ihm jetzt wieder besser geht. Ich rief heu te nachmittag an, nachdem ich - von dem Zauber befreit war.« »Dann wirst du auch verstehen, wes halb wir in Zukunft nichts mehr da mit zu tun haben dürfen. Wir kennen die Gesetze nicht. Und selbst die Be wohner von Skoa haben Angst, hier ihre Magie anzuwenden. Laß die Fin ger davon.« »Hör zu«, sagte Dick. »Ich — « Das Telefon klingelte. Candy machte sich frei und ging hin über, um den Hörer abzunehmen. Dick erhob sich ebenfalls und ging ins Bad. Das Becken füllte sich gur gelnd. Er hatte keine Feder mitge bracht, aber der Staubwisch in der
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Ecke bestand aus Federn, und das
mußte eigentlich genügen. Er bereite te die Reaktion für den Bannspruch
vor, der ein Verschwinden verursach te, riß ein kleines Stückchen Feder ab
und schüttete ein wenig von Candys
Haarwaschmittel in das Wasser, um
es geschmeidig zu machen. Darüber streichen — einmal, zweimal und drei mal. Die nächste Reaktion.
Hinter ihm sagte Candy: »Nicht,
Dick!«
Er tauchte die Hand in das leicht rau chende Wasser und sah sie an. »Da
ist deine Feder«, sagte er und schob
sie ihr in die Hand. Candy sah sie
mit entsetzengeweiteten Augen an.
Einen Moment lang standen sie reg los da. Der Schock und der Gegen schock des Bannspruches erstarrte sie.
Dann schrie Candy auf.
Der Zauber hatte gewirkt, und der
Fleck war verschwunden. Ebenso wie
ihre Kleider ...
Als wieder Ruhe eingekehrt war und
Candy ihm in ihrem zweitbesten
Kleid gegenübersaß, sagte sie: »Du bist damit durchgekommen. Ich habe es nicht erwartet. Was hat es dich ge kostet?« Dick befühlte sich von allen Seiten. »Soweit ich sehen kann - nichts. Ich scheine weder die Ohren noch sonst etwas verloren zu haben, und ich fühle mich vollkommen normal.« »Das kann nicht möglich sein«, sagte sie. »Vielleicht bist du zufällig auf ei nen Weg gestoßen, die Kosten in Schranken zu halten. Dann können wir uns als echte Zauberer nieder lassen. Gehen wir zu Bergmans Spei sehaus und besprechen wir die Sache bei einem Steak.« »Ulp!« machte Dick und legte eine Hand vor den Mund. »Das ist es. Du bekommst einen Mann, dem es schon beim Gedanken an Fleisch übel wird.« Er floh ins Bad. Candy horchte eine Zeitlang, dann griff sie nach einer Feder und einer Flasche mit Murphylen . . .
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Die Hexe von A. E. van Vogt
Von seinem Platz aus, halb verborgen hinter der dürren Buschreihe,, beo bachtete Marson die alte Frau. Er hat te schon seit einigen Augenblicken zu lesen aufgehört. Reglos umfing ihn die Nachmittagsluft. Selbst hier, nur eine Klippenhöhe von der glitzernden Zunge der See entfernt, die sich unten an den Felsen kräuselte, war die Hit ze fast etwas Greifbares, und sie zehr te an seiner Kraft.
Aber es war nicht die sengende Son ne, die auf Marsons Gedanken laste te, sondern der Brief in seiner Ta sche. Zwei Tage war es nun her, seit
dieser verwirrende Brief gekommen
war, und er hatte immer noch nicht
den nötigen Mut, um eine Erklärung
zu fordern.
Mit einem unsicheren, unbewußten,
arglosen Stirnrunzeln beobachtete er
sie.
Die alte Frau sonnte sich. Ihr langer,
hagerer, blasser Kopf hing im Schlaf
vornüber. Sie saß eine Ewigkeit so
da, unbewegt, eine beinahe formlose
Gestalt in ihrem schwarzen, sackarti gen Gewand.
Das angestrengte Hinsehen tat sei nen Augen weh Sein Blick wanderte umher und umfaßte die langgestreck te, niedrige, im Schutz der Bäume stehende Hütte mit ihrer saube ren weißen Garage, wie sie so ganz allein auf dem hohen grünen Hügel stand und auf die weit hingebreitete Stadt hinuntersah. Marson hatte flüchtig ein wohliges Gefühl ungestörten Privatlebens — dann kehrten seine Blicke zu der alten Frau zurück. Eine ganze Weile starrte er ruhig auf den Fleck, wo sie gewesen war. Er war sich einer schwachen, intellektuel len Verwunderung bewußt, aber er hatte eigentlich keine Gedanken im Kopf. Nach einiger Zeit fiel ihm die Leere auf, und er dachte: Dreißig Schritt bis zur Vordertür von ihrem Ruheplatz aus; und sie hätte sein Sichtreld kreuzen müssen, um hinzugelangen. Eine alte Frau, vielleicht neunzig, vielleicht hundert oder noch mehr, ei ne unglaublich alte Frau, die sich sonderbar schnell fortbewegen konn 231
A. E. VAN VOGT
te - dreißig Schritte in der Sekunde. Marson stand auf. An der Schulter hatte ihn die Sonne erwischt, und er spürte einen brennenden Schmerz. Aber das verging. Von seiner auf rechten Stellung aus konnte er erken nen, daß sich keine Menschenseele auf dem steil ansteigenden Pfad zum Haus befand. Und nur das Rauschen der See gegen die Felsen weiter unten unterbrach die Stille dieses heißen Samstagnachmittags. Wohin war die armselige Alte ver schwunden? Die Vordertür ging auf, und Joanna kam heraus. Sie rief ihm zu: »Ah, da bist du ja, Craig. Mutter Quigley hat eben nach dir gefragt.« Marson kam schweigend vom Rand der Klippe. Er wog die Worte seiner Frau fast zu genau ab, ließ sie, bild lich gesehen, noch einmal in seinen Gedanken abrollen und fand sie voll kommen unangemessen. Die alte Frau konnte nicht eben nach ihm ge fragt haben, denn die alte Frau war nicht durch jene Tür gegangen und hatte demzufolge während der letzten zwanzig Minuten niemanden irgend etwas gefragt. Schließlich kam ihm ein Gedanke. Er sagte: »Wo ist denn Mutter Quig ley jetzt?« »Drinnen.« Er sah, daß sich Joanna mit dem Blumenkasten des Fensters neben der Tür beschäftigte. »Sie sitzt 232
seit einer halben Stunde im Wohn zimmer und strickt.« Das Staunen in ihm wich heftiger Verärgerung. Seit dieser Brief vor we niger als achtundvierzig Stunden ge kommen war, gingen ihm verdammt zu viele alte Frauen im Kopf herum. Er zog ihn heraus und starrte trübe auf den Umschlag mit seinem hinge kritzelten Namen. Es war eigentlich ganz normal, daß dieser unglaubliche Brief zu ihm ge kommen war. Seit der Ankunft der alten Frau vor fast einem Jahr — ein unerwarteter Schock — hatte er im Geiste alle möglichen Folgen unter sucht, die durch ihre Gegenwart in seinem Haus entstehen konnten. Und der Gedanke war aufgetaucht, daß sie in dem kleinen Dorf, in dem sie ge lebt hatte, vielleicht Schulden hinter lassen hatte, und daß es besser wäre, wenn er sie bezahlte. Ein junger Mann, dessen Ernennung zum Leiter einer technischen Schule aufgrund seiner Jugend hart kritisiert worden war, konnte es sich nicht lei sten, irgendwelche Nachreden entste hen zu lassen. Und so hatte er vor ei nem Monat in aller Ruhe den Brief geschrieben, auf den diese Antwort gekommen war. Langsam holte er das Schreiben aus dem Umschlag und überlas noch ein mal die alles ins Wanken bringenden Worte, die darin standen:
DIE HEXE
Sehr geehrter Herr Marson! Da ich der einzige Schuldner bin, hat mir der Postmeister Ihren Brief aus gehändigt. Und ich möchte anführen, daß ich Ihre Urgroßmutter, als sie letztes Jahr starb, selbst beerdigte und in meiner Eigenschaft als Stein metz einen Stein f ü r ihr Grab richtete. Als gottesfürchtiger Mann habe ich das ohne Entgeld getan, aber wenn Verwandte da sind, finde ich, daß die se die Kosten übernehmen sollten, welche achtzehn (18) Dollar betragen. Ich hoffe, bald von Ihnen zu hören, da ich das Geld gerade jetzt gut brau chen kann. Pete Cole. Marson stand lange Zeit da, dann drehte er sich zu Joanna um — die im gleichen Moment im Haus ver schwand. Wieder einmal unentschlos sen, kletterte er zum Klippenrand und dachte: Diese niederträchtige Alte! Eine voll kommen fremde Frau, die die Frech heit besitzt, sich in einen Haushalt einzuschleichen und einen solchen Schwindel aufzuziehen! Wenn er seine Lage in der Öffentlich keit bedachte, blieb ihm nichts ande res übrig, als ihr ein Altersheim zu bezahlen; und selbst das wollte ge nau überlegt sein ... Mit einem finsteren Stirnrunzeln ließ er sich tiefer in seinen Stuhl am Rand der Klippe rutschen und vergrub sich
vorsätzlich in ein Buch. Erst sehr viel später kam ihm wieder die Erinne rung an die Art und Weise, wie die alte Frau vom Rasen verschwunden war. Komisch, dachte er danach, es war wirklich verdammt komisch. Die Erinnerung verließ ihn wieder . . . Ausdruckslos saß die alte Frau da. Das Abendessen war vorbei, und da seit Jahren schon keine Kraftreserven mehr in dem alten Korper steckten, war die Verdauung ein nahezu un glaublicher Prozeß, ein Vorgang, der sie ganz beschäftigte. Sie saß wie eine Tote da, ohne sicht bare Bewegung des Körpers, ohne Gedanken im Innern. Selbst der dü stere, animalische Vorsatz, der sie in dieses Haus gebracht hatte, lag wie ein Stein am Grund des schwarzen Tümpels, der ihr Verstand war. Es war, als hätte sie immer in jenem Sessel am Fenster geruht und auf die See hinausgestarrt, wie ein lebloser Gegenstand, wie eine grausige Mu mie, wie ein Rad, das sich nicht mehr bewegen konnte, nachdem man es einmal festgeklemmt hatte. Nach einer Stunde kroch das Bewußt sein langsam wieder in ihre Knochen. Ihr tierhafter Verstand, der fremde, nichtmenschliche Verstand hinter der pergamentartigen, hakennasigen Maske menschlichen Fleisches, er wachte zu Leben. Er beobachtete Marson am Wohnzim 233
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mertisch, wie er den Kopf nachdenk lich über den Stundenplan des näch sten Semesters beugte. Die zahnlo sen Lippen kräuselten sich schließlich zu einem verächtlichen Grinsen. Der Spott verebbte, als Joanna leise ins Zimmer huschte. Halbgeschlos sene gierige Augen starrten plötzlich mit geiler, tierischer Lust auf den schlanken, biegsamen, kräftigen Kör per. Schöner, schöner Körper, den sie nun bald übernehmen würde. In der Dreitagesperiode des ersten Mondes nach der Sommersonnen wende — in genau neun Tagen . .. Neun Tage! Der alte Kadaver schauer te und zitterte ekstatisch bei der Freude der Kreatur. Neun kurze Tage noch, und wieder einmal würde der immerwährende Zyklus dynamischer Existenz beginnen. Dazu so ein schö ner, junger Leib, zu pulsierendem, weltumfassendem Leben fähig . . . Der Gedanke verebbte, als Joanna zu rück in die Küche ging. Langsam, zum ersten Mal, richtete sich ihr Be wußtsein der See zu. Zufrieden saß die alte Frau da. Schon bald würde die See keinen Schrecken mehr für sie haben, und man würde weder die Jalousien herunterlassen noch die Fenster schließen müssen. Sie würde sogar wie in alten Zeiten um Mitternacht am Ufer Spazieren gehen. Und sie, denen sie schon vor so langer Zeit entflohen war, würden wieder einmal vor der unwiderstehli ^
chen Ausstrahlung ihres neuen, jun gen Leibes zurückschrecken. Das Rauschen der See erreichte sie, als sie so still dasaß; ein ruhiger Laut anfangs, beinahe sanft durch das lei se Raunen jeder heranrollenden Wel le. Weiter draußen waren die Stim men des Wassers lauter, rauher, lär mend zuversichtlich, aber die Bedeu tung ihrer Reden war durch die Ent fernung verwischt, ein undeutliches, verwirrendes Toben, das mißklingend mit der näherkommenden Nacht her anzog. Nacht! Sie hätte den Einbruch der Nacht nicht bemerken können, wenn die Jalousien heruntergelassen wären! Mit einem kleinen Keuchen drehte sie sich dem Fenster zu, neben dem sie saß. Und im gleichen Momenl kam ein entsetzliches Angstgestam mel von ihren Lippen. Das häßliche Geräusch drang krei sehend in Marsons Ohren und ließ ihi aufspringen. Es wütete durch die Tu bis in die Küche, und Joanna rannti herein wie von einer Schnur gezo gen. Die alte Frau kreischte weiter; und es war Marson, der schließlich das Ver langen der wahnsinnigen Angst ent deckte. »Du liebe Güte!« Er zuckte mit den Schultern. »Sie meint die Fenster und die Jalousien. Ich vergaß sie zu schlie
DIE HEXE
ßen, als die Dämmerung herein brach.« Er unterbrach sich verärgert und fuhr dann fort: »Verdammter Unsinn! Ich hätte gute Lust -« »Um Himmels willen!« drängte seine Frau. »Wir müssen dieses Geschrei abstellen. Ich übernehme diese Seite des Zimmers, und du schließt die Fenster neben ihr.« Marson zuckte wieder mit den Schul tern, diesmal ergeben. Aber er dachte: Das kann man nicht mehr lange mit machen. Sobald die Sommerferien da sind, sorge ich dafür, daß sie in ein Altersheim kommt. Schluß damit. Es waren noch zwei Wochen bis Seme sterende. Die Stimme seiner Frau unterbrach beinahe hart die Stille, als Mutter Quigley sich in ihrem Sessel wieder beruhigt hatte. »Ich bin überrascht, daß du so etwas vergessen kannst. Du bist sonst so rücksichtsvoll.« »Es war so verdammt heiß«, beklagte sich Marson. Joanna sagte nichts mehr, und er ging zurück an seinen Platz. Aber er dach te plötzlich; Alte Frau, die das Meer und die Nacht fürchtet, weshalb bist du in dieses Haus am Meer gekom men, wo die Straßenlaternen weit voneinander entfernt sind und die Nacht nahezu vorgeschichtlich finster ist? Der düstere Gedanke verflog; er wandte sich mit gewissenhafter Auf
merksamkeit der Vorbereitung des Stundenplans zu. Verblüfft saß die alte Frau da! Der ganze rasche Haß des Tieres brannte in ihr. Dieser verfluchte Mann, wie konnte er es wagen, so et was zu vergessen. Und doch - »Du bist sonst so rücksichtsvoll!« hatte seine Frau gesagt. Es stimmte. Kein einziges Mal in elf Monaten hatte er vergessen, nach den Jalousien zu sehen — bis heute. War es möglich, daß er Verdacht ge schöpft hatte? Daß irgendwie, jetzt, da die Zeit der Umwandlung so nahe war, eine Andeutung ihres Vorha bens von ihrem angestrengten Gehirn gesickert war? Es war schon des öfteren geschehen. In der Vergangenheit hatte sie um ihre Körper gegen schreckliche, feind selige Männer kämpfen müssen, die nichts als einen furchbaren Verdacht hatten. Tiefschwarze Augen verengten sich zu Stecknadelgröße. So wie er war, praktisch, kühldenkend, skeptisch, würden ihn weder all die telepathi schen Vibrationen noch die sonder baren Gedankenstürme mit ihren abnormalen Begleiterscheinungen wenn er so etwas überhaupt kannte — berühren oder von selbst bei ihm bleiben. Nichts außer Tatsachen brach ten diesen Mann zum Handeln. Welche Tatsachen? War es möglich, daß sie bei ihren intensiven Gedan 235
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kenkonzentrationen unbewußt Bilder hervorgerufen hatte? Oder hatte er Erkundigungen eingezogen? Ihr Körper zitterte, und dann reifte der Gedanke langsam heran: Sie durfte kein Risiko eingehen. Morgen war Sonntag, und der Mann würde zu Hause sein. Also ließ sich nichts machen. Aber am Montag . . . Das war es. Am Montagmorgen, während Joanna schlief — und Joan na legte sich immer noch eine Stunde hin, wenn ihr Mann zur Arbeit gegangen war — am Montagmorgen würde sie sich hineinschleichen und den schlafenden Körper vorbereiten, so daß sieben Tage später der Eintritt leicht war. Keine Zeit mehr damit verschwen den, Joanna zum freiwilligen Einneh men des Zeugs zu bringen! Diese einfältige Närrin mit ihrer Abneigung vor Hausmitteln! Sie brüstete sich damit, daß sie nur vom Arzt ver schriebene Mittel nahm. Ein erzwungenes Eingeben war ge fährlich — aber nicht halb so gefähr lich wie die Aussicht, es noch ein Jahr lang in diesem armseligen Wrack ei nes Körpers aushalten zu müssen. Unbeweglich saß die alte Frau da. Unwillkürlich spürte sie die Anspan nung der Wartezeit. Montags beim Frühstück sabberte sie vor innerer Er regung über das bevorstehende Er eignis. Die Haferflocken fielen ihr aus 236
dem Mund, Milch und Speichel tropften auf das Tischtuch - und sie konnte es nicht ändern. Alte Hände zitterten, alter Mund zuckte; in allem mußte sich ihr Sein vor die sem gebrechlichen Körper geschlagen geben. Es war besser, wenn sie ihr Zimmer aufsuchte, bevor ... Mit einem heftigen Erschrecken sah sie, daß der Mann den Stuhl vom Tisch wegschob, und sein Gesicht war so weiß, daß sie kaum seine Worte brauchte, als er sagte: »Ich hatte die Absicht, Mutter Quig ley etwas zu sagen, und« - seine Stimme nahm einen rauhen Ton an -, »gerade jetzt, wo ich mich gründlich angeekelt fühle, ist es ein verdammt guter Moment dazu.« »Um Himmels willen, Craig« - un terbrach ihn Joanna scharf; und die alte Frau klammerte sich an die Un terbrechung und begann sich wacklig zu erheben -, »was macht dich denn in den letzten paar Tagen so reizbar? Jetzt sei bitte nett und fahre in die Schule. Ich selbst habe jedenfalls nicht vor, das Zeug hier sauberzuma chen, bevor ich ausgeschlafen habe, und ich lasse mir auch bestimmt nicht die gute Laune davon verder ben. Bis später.« Ein Kuß, und sie verschwand im Kor ridor, der zu den Schlafzimmern führ te. Im nächsten Moment war sie im großen Schlafzimmer, und dann, noch während die alte Frau sich verzwei
DIE HEXE
feit aus dem Stuhl kämpfte, wandte sich Marson mit harten, entschlosse nen Augen ihr zu. Sie war in die Enge getrieben und starrte zu ihm auf wie ein Tier in der Falle, bestürzt über die Art und Wei se, wie dieser teuflische Körper sie in einem Notfall im Stich gelassen und ihren Willen verzerrt hatte. Marson sagte: »Mutter Quigley - ich möchte Sie im Moment noch so nennen -, ich habe einen Brief von einem Mann erhal ten, der behauptet, einen Stein f ü r Ihr Grab errichtet zu haben, nachdem er Sie eigenhändig beerdigte. Was ich nun gerne wissen möchte, ist folgen des: Wer liegt in diesem Grab? Ich - « Es war seine eigene Ausdrucksweise, die Marson zu einem verblüfften Schweigen brachte. Er stand sonder bar steif da, erstarrt durch ein merk würdiges, fremdartiges Entsetzen, wie er es noch nie erlebt hatte. Einen schrecklichen Moment lang schien sein Gehirn nackt und entblößt vor dem Strahl eines eisigen inneren Win des dazuliegen, der aus einem tiefen Dunkel auf ihn losjagte. Gedanken kamen, ein Toben obszö ner Hirngespinste, ungesund, schwarz vor alter, unglaublich alter Ver derbtheit, eine einzige brodelnde Masse unvermuteter Greuel. Mit einem erschreckten Zusammen zucken verließ er diese gräßliche Welt
seiner Fantasie und bemerkte, daß die alte Vettel harte, beinahe eifrige Worte hervorstammelte. »Sie haben nicht mich begraben. Wir waren zwei Alte im Dorf; und als sie starb, ließ ich ihr Gesicht so aussehen wie meines und meines so wie das ihre, und ich nahm ihr Geld . . . wis sen Sie, ich war früher Schauspiele rin, und ich konnte mit Make-up um gehen. So war es, ja, ja, mit Make-up. Das ist die ganze Erklärung, und ich bin keineswegs das, was Sie denken, sondern nur eine alte Frau, die arm war. Das ist alles, nur eine alte Frau, mit der man Mitleid haben muß —« Sie hätte endlos so weitergemacht, wenn die animalische Logik in ihr sie nicht mit fürchterlicher Anstren gung zur Ruhe gezwungen hätte. Schließlich stand sie da, schwerat mend, und war sich darüber im kla ren, daß ihre Stimme zu schnell und erregt gewesen war, ihre Zunge zu lo se wie bei allen alten Leuten und daß jede Silbe ihrer Worte sie verurteilen mußte. Es war der Mann, der ihre verzweifel te Furcht beendete; der Mann sagte heftig: »Du liebe Güte, Frau, Sie wollen mir doch nicht ins Gesicht hinein erklären, daß S.e so etwas getan haben —« Marson unterbrach sich. Er war über wältigt. Jedes Wort, das die alte Frau gesprochen hatte, zog ihn wei 237
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ter fort aus dem seltsamen, beunruhi genden Cedankenmorast, der kurz sein Inneres gestreift hatte, zurück in die praktische Welt seiner eigenen Logik — und seiner eigenen Ethik. Es war fast wie ein körperlicher Schlag für ihn, und er konnte erst nach einer geraumen Weile fortfahren. Er sagte schließlich langsam: »Sie gestehen also tatsächlich, daß Sie so makaber waren, das Gesicht einer Toten zu verändern, um ihr Geld zu stehlen. Also, das ist doch — « Seine Stimme versagte vor diesem Abgrund ungeahnter moralischer Niedrigkeit. Es war ein Verbrechen der gemeinsten Sorte, ein abscheuliches, ekliges Ding, das, würde es je ans Tageslicht kommen, die Verurteilung der ganzen Welt nach sich ziehen würde und jeden Schulvorstand rui nieren mußte. Er schauderte und sagte hastig. »Ich habe jetzt nicht die Zeit, näher darauf einzugehen,aber — « Mit einem Zusammenzucken sah er, daß sie in den Korridor ging, der zu ihrem Schlafzimmer führte. Mit fe sterer Stimme rief er: »Und noch ei nes. Am Samstagnachmittag saßen Sie draußen auf dem Rasen — « Eine Tür schloß sich leise. Dahinter stand die alte Frau, keuchend von der Anstrengung, aber mit einem wach senden Gefühl des Triumphes. Der dumme, einfältige Mann hatte keine Ahnung. Wie egal es ihr war, was er 238
von ihr dachte! Es waren nur noch sieben Tage; und wenn sie die durch stand, war alles andere gleichgültig! Die Gefahr bestand darin, daß ihre Stellung mit jedem Tag schwieriger werden würde. Das bedeutete — wenn die Zeit kam, war ein schnelles Eintre ten unbedingt nötig. Das bedeutete — der Körper der Frau mußte jetzt vor bereitet werden. Joanna, die kräftige Joanna, würde bereits schlafen. Sie mußte also nur abwarten, bis dieser verflixte Ehe mann aus dem Haus war. Sie warte te . . . Endlich klang der ersehnte Laut in der Nähe auf — die Vordertür wurde ge öffnet und wieder geschlossen. Wie ein in die Enge getriebenes Wild zit terte die alte Frau, sogar ihre Kno chen erschauerten bei der plötzlichen, krankhaften Erregung kurz vor der Tat. Wenn sie versagte, war sie ent deckt Einige Vorbereitungen hatte sie ge troffen, um so eine Katastrophe wie der auszugleichen, aber . . . Der kurze Anfall von Furcht verging. Mit einem letzten vergewissernden Blick in den flachen, schwarzen Busen ihres Kleides, wo der kleine Beutel mit dem Pulver hing glitt sie vorwärts. Einen winzigen Moment lang blieb sie in der offenen Tür zu Joannas Schlafzimmer stehen. Ihre grünen Augen ruhten mit einem Glitzern
DIE HEXE
der Befriedigung auf der schlafenden
Gestalt. Und dann —
Dann war sie im Zimmer.
Die Morgenbrise vom Meer traf Mar son wie ein Schlag, als er die Tür öff nete. Er schloß sie mit einem schnel len Ruck und blieb unentschlossen im schwach beleuchteten Korridor ste hen. Er mußte natürlich hinaus — vor Ende des Schuljahres gab es einfach zuviel zu erledigen. Es war nur so, daß der abrupte Widerstand des Windes ei nen Gedanken in ihm geweckt hat te: Sollte er fortgehen, ohne Joanna von dem Brief des Steinmetzes zu erzäh len? Schließlich wußte die alte Frau nun, daß er die Geschichte kannte. In ih rem schlauen Eifer, sich und die Si cherheit hier, die sie zweifellos be droht sah, zu verteidigen, erwähnte sie die Sache vielleicht bei Joanna — und Joanna hatte keine Ahnung. Immer noch unentschlossen ging Marson ein paar Schritte und blieb dann im Wohnzimmer stehen. Ver dammt, die Sache konnte vermutlich bis Mittag warten, besonders, da Jo anna inzwischen sicher schlief. Schon jetzt mußte er den Wagen oder den Bus nehmen, wenn er noch zur ge wohnt frühen Stunde die Schule er reichen wollte. Seine Gedanken drehten sich ver
rückt, als er die schwarze Gestalt der alten Frau geisterhart durch den Schlafzimmerkorridor auf Joannas Raum zugleiten sah. Ganz sinnlos drängte sich ein Schrei auf Marsons Lippen - sinnlos, weil er das Fremdartige überhaupt nicht durchschaute. Der Laut erstickte, be vor er ausgestoßen wurde, denn ab rupt blies wieder dieser eisige, unna türliche Sturm aus dem Dunkel in sei nem Innern. Abnormale Dinge aus einer Urzeit tobten und hallten in ihm . . . Er merkte nicht, daß er gelaufen war, aber plötzlich war die offene Schlaf zimmertür da und die alte Frau — und in diesem letzten Moment spürte ihn das Geschöpf, obwohl er lautlos ge kommen war. Sie zuckte in so reiner Bestürzung zu sammen, daß es schrecklich anzuse hen war. Ihre Finger, die über Joan nas Mund geschwebt hatten, ver krampften sich, und ein grünliches Pulver wurde zum Teil auf das Bett, aber in der Hauptsache auf den klei nen Vorleger neben dem Bett ver streut. Und dann war Marson über ihr. Die ser ekelhafte Sturm in seinem Innern blies stärker und kälter; und in ihm war die feste, tödliche Überzeugung, daß dämonische Muskeln sich bis zum letzten gegen ihn wehren wür den. Einen Moment lang überwog dies sogar die Realität. 239
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Denn er traf keinerlei Widerstand. Dünne, knochige Arme gaben seinem vernichtend harten Stoß sofort nach. Ein Körper, der wie altes, brüchiges Papier war, fiel von seinem mörderi schen Ansturm am Boden in sich zu sammen. Für einen kurzen Moment ließ dieser unwahrscheinlich leichte Sieg Marson eine Pause. Aber kein Erstaunen konnte im Ernst die Heftigkeit seiner Absicht zügeln oder dieses unnatürli che Gefühl, daß unmenschliche Dinge um ihn waren, aufheben. Kein noch so großer Zweifel konnte in diesem Augenblick seinen Zorn über das eben Erlebte bremsen. Die alte Frau lag in einem zusam mengerollten, formlosen Häufchen zu seinen Füßen. Mit einer unbarmher zigen Wildheit, mit einem ungezügel ten Vorsatz, der über alles hinaus ging, was er bisher an Gefühlsauf wallungen kannte, riß Marson sie vom Boden hoch. Leicht wie Holz, das schon lange da hinfault, kam sie in seinen Fingern hoch, ein baumelndes, menschenun ähnliches, schwarzgekleidetes Ding. Er schüttelte es, wie er ein Ungeheuer geschüttelt hätte. Und im gleichen Augenblick, in dem sein Vernich tungsvorsatz geradezu eine Flamme von ungezügelter Heftigkeit war, ge schah das Unglaubliche. Bilder der alten Frau überschwemm ten das Zimmer. Sieben alte Frauen, 240
alle in einer Reihe, in allen Einzel heiten imitiert, von dem schwarzen, sackartigen Gewand bis zu dem Kopf mit dem schütteren Haar, rannten zur Tür. Drei exakte Kopien der alten Frau rüttelten in panischer Angst am nächstbesten Fenster. Das elfte Ab bild war auf den Knien und versuch te verzweifelt, unter das Bett zu ge langen.
Marson stockte der Atem vor Entset zen, und seine Gedanken wirbelten
wie wild. Er ließ das Ding in seinen
Händen los. Es stürzte kreischend zu
Boden, und abrupt verschwanden die
elf Abbilder der alten Frau wie Sche men aus einem Alptraum.
»Craig!«
Joannas Stimme drang in sein Be wußtsein. Aber immer noch stand er
da wie ein Holzklotz und achtete
nicht darauf. Er dachte messerscharf:
Das war auch am Samstag auf dem
Rasen geschehen — ein Bild der alten
Frau, unbewußt ausgesandt von ih rem heftig arbeitenden Verstand,
während sie im Wohnzimmer saß
und strickte.
Unbewußte Bilder waren es auch jetzt
gewesen, das wußte er bestimmt.
Ausstrahlungen der alten Frau, die
verzweifelt und angstvoll nach
Fluchtwegen suchte.
Gott, was dachte er da? Es war — es
konnte nichts anderes als seine eige ne verwirrte Fantasie sein.
Das Ganze War unmöglich.
DIE HEXE »Craig, was soll das alles? Was ist geschehen?« Er hörte kaum hin; denn mit einem Mal, ganz deutlich, fast abgeklärt, konzentrierte sich sein Verstand auf einen einfachen, grundsätzlichen und grausigen Gedanken: Was tat man im Jahre 1942 mit ei ner Hexe? Der harte Gedanke verschwand, als er zum ersten Mal sah, daß Joanna in einer starren Stellung halb saß und halb kniete, so wie sie aus dem Schlaf hochgerissen worden war. Sie schwankte ein wenig, als hätte sie ih re Muskeln noch nicht ganz unter Kontrolle. In ihrem Gesicht zeigte sich der Schrecken jähen Erwachens. Er sah, daß ihre Augen groß und bei nahe ausdruckslos waren; und sie starrten die alte Frau an. Mit einem schnellen Blick folgte er ihren star renden Augen — und er erschrak. Joanna war erst erwacht, als die alte Frau zu schreien begonnen hatte. Sie hatte die Abbilder überhaupt nicht gesehen! Sie würde nur das Bild eines kräftigen, brutalen jungen Mannes vor sich ha ben, der drohend über der stöhnenden Gestalt einer alten Frau stand — und, bei Gott, er mußte schnell handeln. »Sieh mal!« sagte er knapp. »Ich ha be sie dabei erwischt, als sie dir ein grünes Pulver auf die Lippen streute und — «
Er brachte es einfach nicht fertig, es in Worte zu fassen. Sein Verstand drehte sich bei der ungeheuerlichen Tatsache, daß eine Hexe versucht hatte, Joanna ein Mittel einzugeben - seiner Joanna! Auf irgendeine un verständliche Weise sollte Joanna zum Opfer werden — und er mußte sie jetzt zum Handeln überreden. Bei diesem Vorhaben verflog sein Zorn. Hastig ließ er sich auf das ßett neben Joanna sinken. Mit schnellen Worten erzählte er seine Geschichte. Er erwähnte weder die Bilder noch seinen eigenen gräßlichen Verdacht. Joanna war noch sachlicher veranlagt als er. Es würde nur den Ausgang in Frage stellen, wenn sie den Eindruck erhielt, er sei wahnsinnig geworden. Schließlich sagte er: »Ich will keine Argumente hören. Die Tatsachen sprechen für sich. Das Pul ver allein verurteilt sie. Der Brief wirft genug Zweifel auf ihre Identi tät, daß wir sie ohne jede weitere Verpflichtung abschieben können. Und nun machen wir folgendes: Er stens rufe ich meinen Sekretär an, daß ich heute vielleicht erst später komme. Dann telefoniere ich mit dem Altersheim. Vermutlich gibt es im Normalfall längere Wartezeiten, aber mit Geld müßte man den Büro kratismus umgehen können. Wir schicken sie noch heute hin und — « Überraschenderweise unterbrach ihn Joannas Gelächter, eine Woge von 241
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Gelächter, die mit einem schrillen, abnormalen, hysterischen Ton ende te. Marson schüttelte sie. »Liebling«, begann er ängstlich. Sie schob ihn weg, kletterte aus dem Bett und kniete in einer merkwürdi gen Erregung neben der alten Frau nieder. »Mutter Quigley«, sagte sie, und ihre Stimme war so hoch, daß Marson sich halb aufrichtete. Er setzte sich wieder aufs Bett, als sie fortfuhr: »Mutter Quigley, beantworten Sie mir eine Frage: Das Pulver, das Sie mir in den Mund streuen wollten — war es dieses gemahlene Algenzeug, das Sie mir schon öfters gegen meine Kopfschmerzen geben wollten?« Der Hoffnungsstrahl, der die alte Frau durchdrang, zerstörte fast ihr Gehirn. Wie hatte sie ihre langen Bemühun gen vergessen können, Joanna zur freiwilligen Einnahme des Pulvers zu bringen! Sie flüsterte: »Bring mich in mein Bett, Liebste. Ich glaube nicht, daß ich etwas ge brochen habe, aber ich muß mich hin legen .. .ja, ja. Liebes, es war das Pulver. Weißt du, wir Frauen mit un seren Kopfschmerzen müssen zusam menhalten. Ich hätte es natürlich nicht tun sollen, aber — « Ein Gedanke, heiß und angstvoll, stieg in ihr auf. Sie wimmerte: »Du läßt doch nicht zu, daß er mich weg schickt, nicht wahr? Ich weiß, daß ich 242
euch viele Schwierigkeiten mache und — « Sie unterbrach sich, weil sie einen merkwürdigen Blick in Joannas Ge sicht sah; und was genug war, war genug. Der Sieg konnte überzogen werden. Sie hörte mit kaum verhehl ter Befriedigung zu, als Joanna schnell sagte: »Craig, ist es nicht besser, wenn du gehst? Du wirst zu spät kommen.« Marson sagte scharf: »Ich möchte das restliche Algenpulver. Ich werde das Zeug analysieren lassen.« Aber er wich dem Blick seiner Frau aus; und er dachte wie betäubt: Ich bin verrückt. Ich war so benommen vor Wut, daß ich Halluzinationen er lebte. Hatte nicht Dr. Lycoming gesagt, daß der menschliche Geist ein Rassenge dächtnis besitzen muß, das sich zu rück zu den namenlosen Seen er streckt, in denen die Vorfahren des Menschen zum Leben erwacht waren? Und daß bei übermäßiger Belastung die Erinnerung an diese Schrecken wiederkehren würde? Seine Scham wuchs, als die alte Frau mit zitternden Fingern ein kleines Leinensäckchen hervorholte. Wortlos nahm er den Behälter und verließ das Zimmer. Minuten später, als das sanfte Schnurren seines Wagens ihm in den Ohren dröhnte und er dre Blicke auf
D1E HEXE
merksam auf den Verkehr richtete, kam ihm die ganze Angelegenheit so fern und unwirklich wie ein Traum vor. Er dachte: Und was nun? Es paßt mir immer noch nicht, daß sie bei uns ist, aber — Er war sonderbar bestürzt, als er er kannte, daß er keinen Plan hatte. Dienstag — die alte Frau erwachte mit einem erschreckten Zusammenfahren und lag dann ganz still da. Hunger stellte sich ein, aber sie war fest ent schlossen. Sie würde sich erst anzie hen und essen, wenn der Mann zur Arbeit gegangen war, und sie würde auch mittags und nach den Schul stunden nicht herauskommen, son dern , in ihrem Zimmer bleiben und die Tür verschließen, wenn er in der, Nähe war. Sechs Tage, bevor sie handeln konn te, sechs Tage mit Minuten, die sich dahinschleppten, mit Zweifeln und Ängsten. Am Mittwoch um halb fünf ließ Mar&on den glänzenden Drücker der Vordertür los, als das Kichern von Frauen herausdrang. Und er erinnerte sich, daß er vor dem bevorstehenden Kränzchen gewarnt worden war. Wie ein unwillkommener Eindring ling schlich er auf die Straße und es war sieben, als er aus dem Kino kam und schweigend heimging. Er dachte zum hundertsten Mal: Ich
habe die Abbilder der alten Frau ge sehen. Ich weiß, daß ich sie sali. Es ist mein Kulturinstinkt, der mich zum Zweifeln bringt und mich untä tig sein läßt. Die Abendzeitung lag auf der Tür schwelle. Er nahm sie auf, und später, nach einem Abendessen aus übrigge bliebenen belegten Broten und hei ßem Kaffee, mindestens zwei Stunden später, fiel ihm zum ersten Mal ein Abschnitt eines Kriegsberichtes ins Auge. Noch später nahm er ihn be wußt wahr. Der Feind hat uns eigentlich nicht getäuscht. Wir wissen, daß all sein Handeln direkt oder in direkt gegen uns gerichtet war. Das Ungalaubliche und Fanta stische dabei ist, daß wir es alle wußten und keiner etwas dage gen unternahm. Wenn ein Einzelner so viele Ver dachtmomente und Beweise hätte, daß ihm jemand bei der erstbesten Gelegenheit umbrin gen wollte, dann würde er ver suchen, dem entgegenzuarbeiten; er würde nicht darauf warten, bis der andere zur blutigen Tat schreiten könnte. Das Schlimmste daran ist, daß eine Zeit kommen muß, in der alle Gegenmaßnahmen zu wenig sind und selbst drastische Be mühungen zu spät kommen. 243
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Marson zuckte zusammen und ließ die Zeitung fallen. An das Kriegsthe ma dachte er schon nicht mehr. Zwei mal hatte er sich der Stimme enthal ten, als Umfragen über den Krieg ab gehalten worden waren, und er hat te tatsächlich keine eigene Meinung zu dem Thema. Ein junger Mann, der sich erst in die Pflichten des Leiters einer großen Schule einarbeiten muß te, hatte keine Zeit für Krieg oder Po litik. Später vielleicht . . . Aber das Thema, die tiefere Bedeu tung dieses Leitartikels, galt ihm, galt seinem Problem. Er wußte Be scheid und unternahm nichts. Unbehaglich, aber mit plötzlicher Ent schlossenheit, stand er auf. »Joan na -«, begann er und sah, daß er zu. einem leeren Raum sprach. Er warf einen Blick ins Schlafzimmer. Joanna lag voll angekleidet auf dem Bett und schlief fest. Marsons finste re Miene wich einem verständnisvol len Lächeln. Die Vorbereitung dieses Nachmittagstees hatte ihr allerhand abgefordert. Nach einer Stunde schlief sie immer noch, und so zog er sie ganz leise und vorsichtig aus und brachte sie ins Bett. Sie wachte nicht einmal auf, als er ihr einen Gutenachtkuß gab. Donnerstag: Mittags waren seine Ge danken mit einem kleinen Diebstahl beschäftigt, einer schmutzigen, wider lichen Sache. Ein hübsches junges 244
Mädchen war beim Stehlen ertappt worden. Er sah, wie Kemp, der Che mieassistent hereinkam; und dann zog er sich leise wieder zurück. In einer plötzlichen fieberhaften Er regung verschob er den unangeneh men Fall und hastete hinter Kemp her. Er fand ihn, als er gerade den Hut aufsetze, um zum Lunch zu ge hen. Der Blick des jungen Chemielehrers leuchtete auf, als er Marson sah. Dann runzelte er die Stirn. »Das grüne Pulver, das Sie mir zur Analyse gaben, Mister Marson, war ein harter Brocken. Sie wissen, ich mache meine Arbeit gern gründlich.« Marson nickte. Er kannte den Eifer dieses Mannes, und deshalb hatte er auch ihn ausgewählt und nicht seinen ebenso gefälligen Chef. Kemp war jung und ehrgeizig; und er wußte auf seinem Gebiet Bescheid. »Ja?« fragte Marson. »Wie Sie vermuteten«, fuhr Kemp fort, »handelte es sich um gemahlene Algen. Ich nahm sie mit zu BioBill — Verzeihung, ich meine zu Mi ster Grainger.« Unwillkürlich lächelte Marson. Es hatte eine Zeit gegeben, wo auch ihm der Name >Bio-Bill< geläufig gewesen war. »Weiter«, sagte er jetzt nur. »Crainger identifizierte es als eine Seealgenart, die unter dem Namen Hydrodendon Barelia bekannt ist.«
DIE HEXE
»Hat es auf den Menschen irgendwel che Wirkungen?« Marson war ganz
Beiläufigkeit.
»N — nein. Es ist ungefährlich, wenn
Sie das meinen. Natürlich habe ich es
ausprobiert — an mir selbst — und es
ist ziemlich scheußlich. Nicht gerade
bitter, aber scharf.«
Marson schwieg. Er wußte nicht recht,
ob er enttäuscht oder erleichtert sein
sollte. Oder was? Kemp sprach wei ter:
»Ich sah mir die Vorgeschichte des
Pulvers an, und zu meiner Überra schung ist sie sogar recht berühmt.
Sie müssen wissen, drüben in Europa
lernt man eine Menge Zeug über die se alten Alchemisten und all das, da mit man einen geschichtlichen Unter bau hat.«
»Ja?«
Kemp lachte. »Sie haben nicht zufäl lig eine Hexe in Ihrer Umgebung?«
»Was?« Der Ausruf brannte Marson
auf den Lippen. Er mußte hart kämp fen, um den gewaltigen Schock zu
verbergen.
Kemp lachte wieder. »Nach dem
Österreicher Karl Gloeck und seinem
Buch >Ceschichte der Zauberinnen< ist
Hydrodendon Barelia der moderne
Name für ein finsteres Hexenkraut
der Vorzeit. Ich spreche nicht von den
besonderen Hexen unseres christlichen
Sagenguts mit all ihren Merkmalen
kindlicher Fantasie, sondern von dem
alten Stamm der Teufelsgeschöpfe, die
aus der Vorgeschichte kamen — richti ge Vollblut-Meereshexen. Offenbar wählen sie, wenn sie alt werden, den Körper einer jungen Frau aus und leben eine Zeitlang in der Nähe des Opfers, um sich an es anzupassen. Sie können ab Mitternacht der ersten Vollmondperiode nach dem 21. Juni jederzeit Besitz von dem Körper er greifen. Hexenkraut soll den Eintritt erleichtern .. nanu, was ist denn los, Sir?« Er hatte den Impuls, den wilden, schrecklichen Impuls, Kemp die ganze Geschichte vorzuplappern. Mit größ ter Anstrengung hielt er sich zurück. Denn Kemp mochte zwar leichthin von Hexen sprechen, doch er war bis in die Tiefen seiner Seele Wissen schaftler. Und was er—Marson — vielleicht tun mußte, durfte nicht von dem Wissen in Gefahr gebracht werden, daß ir gendein sachlicher, zweifelnder Mensch—irgendeiner — die Wahrheit ahnte. Das bloße Vorhandensein ei ries Verdachts würde seinen Willen untergraben und schließlich seine Ent schlossenheit zum Handeln lahmen. Er hörte, wie er einen Dank murmel te. Minuten später, auf dem Heim weg, dächte er elend: Was konnte er sagen? Wie konnte er Joanna davon überzeugen, daß man die alte Frau loswerden mußte? Und er mußte noch eine Sache klä ren, bevor er es wagen konnte, durch 245
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die eine, einseitige Tat alles zu riskie ren ! Eine Sache noch — Den ganzen Samstagvormittag schien strahlend die Sonne, aber am Nach mittag zogen dunkle Wolken über seinem Rennwagen dahin. Gegen sechs Uhr abends regnete es zehn Mi nuten lang in Strömen, und dann lockerte sich langsam die Bewölkung. Er konnte das Dorf zuerst von einem Hügel aus betrachten, und das, dachte er aufatmend, sollte die Sache leich ter machen. Von einer Baumgruppe aus beobachtete er die kleine An sammlung von Häusern und Gebäu den. Es war die Kirche, die ihn an fangs verwirrte. Er suchte ihre Umgebung eine Zeit lang mit seinem Feldstecher ab. Und es dauerte fast eine halbe Stunde, bis er davon überzeugt war, daß das, was er suchte, nicht dort war. Die Däm merung hing jetzt dicht über dem Land, und das verstärkte sein Angst gefühl. Er konnte es nicht gut wagen, ins Dorf hinunterzugehen und sich zu erkundigen, wo der Friedhof war. Und doch — schnell, schnell! Er war jetzt allen Ernstes bestürzt und ging ein Stück tiefer in den Wald am Rand des Hügels. Weiter vorn be fand sich ein vorspringendes Stück Land, von wo aus er die ganze Ge gend überblicken konnte. Diese Dör fer hatten ihre Friedhöfe oft ein be trächtliches Stück entfernt und — 246
Der kleine Weg befand sich mit ei nem Mal direkt vor ihm, und er trat aus dem Unterholz. Ein paar Schritte weiter vorn war das Gittertor. Dahin ter schimmerten im wachsenden Dun kel einfache Kreuze. Ein Engel stand da, weiß, steif, die Flügel ausgebreitet, und einige große, helle Granitsteine erhoben sich starr aus einer dunklen, stillen Erde. Die Nacht lag schwarz und unbeweg lich über dem Friedhof, als seine vor sichtig benutzte Taschenlampe den Stein fand, nach dem er gesucht hat te. Die Inschrift war schlicht: MRS. QUIGLEY
GEST. AM 7. JULI 1941
ÜBER 60 JAHRE ALT
Er ging zurück zum Wagen und holte den Spaten; und dann begann er zu graben. Die Erde war zäh, und er war das Graben nicht gewöhnt. Nach ei ner Stunde war er nahezu anderthalb Fuß vorgedrungen. Atemlos ließ er sich auf den Boden sinken, und eine Zeitlang lag er un ter dem Nachthimmel da, an dem die Wolken beständig wechselten. Eine sonderbare intellektuelle Feststellung fiel ihm ein - daß das Durchschnitts gewicht von Universitätsrektoren und College-Leitern nach Young um die hundertachtzig Pfund betrug. Was zum Teufel nützte es, dachte er grimmig, wenn es nur Gewicht und
DIE HEXE
und keine Ausdauer war. Dennoch, er mußte weitermachen, und wenn es die ganze Nacht dauern sollte. Zumindest wußte er eines sicher — Joanna war nicht daheim. Es war eine harte Arbeit gewesen, bis er sie so weit hatte, daß sie die Wochenend einladung allein annahm. Noch här ter war es gewesen, ihr etwas von den Pflichten vorzulügen, die ihn bis Sonntagvormittag von der Stadt fern halten würden. Er hatte ihr fest ver sprechen müssen, sie am Sonntag ab zuholen. Am schnellsten hatten sie noch das junge Mädchen bekommen, das übers Wochenende die alte Frau versorgen wollte Das Geräusch eines vorbeifahrenden Wagens ließ ihn aufspringen. Er run zelte die Stirn. Es war nicht so, daß er sich ängstlich oder auch nur beun ruhigt fühlte. Sein Inneres war fel senfest. Seine Entschlossenheit ließ sich durch nichts erschüttern. Hier in dieser dunklen, friedvollen Umge bung war eine Störung so unwahr scheinlich wie sein eigenes gespensti sches Eindringen. Menschen gingen nun mal nachts nicht auf Friedhöfe. Die Nacht raste dahin, während er immer weitergrub, tiefer, näher an das Geheimnis, das er ergründen mußte, bevor er die tödliche Tat be ging, die die Logik ihm schon jetzt befahl. Und er kam sich nicht wie ein Unhold vor — Er hatte überhaupt keine Gefühle,
nur seinen Vorsatz, seinen finsteren, unabänderlichen Vorsatz; und da war die dunkle Nacht und die Stille, un terbrochen nur von dem Fallen der Erdbrocken, die er aus dem Grab warf. Sein Leben, seine Kraft floß hier in diesem kleinen baumbestande nen Totenfeld weiter. Und seine Uhr zeigte fünf vor halb zwei, als der Spa ten endlich auf Holz traf. Es war nach zwei, als seine Taschen lampe gespenstisch in den leeren Holz sarg leuchtete. Lange Zeit starrte er hinein. Jetzt, da er die Tatsache vor sich hatte, wußte er nicht, was er erwartet hatte. Offen sichtlich, nur zu offensichtlich, war hier ein Abbild begraben worden — und fröhlich verschwunden, als die Erde ins Grab geworfen wurde. Aber weshalb überhaupt eine Beerdi gung? Wen wollte sie täuschen? Was? Er spannte sich an. Gründe waren jetzt unwichtig. Er wußte Bescheid, das allein zählte. Und sein Handeln mußte so kalt und tödlich sein wie das Handeln der Kreatur, die sich in seinem Haushalt eingenistet hatte. Sein Wagen glitt auf dem zur frühen Morgenstunde verlassenen Highway dahin. Die graue Dämmerung kam ihm vom Osten entgegen, während er dahinfuhr. Nur sein finsterer Vorsatz, fester, eisiger mit jeder Minute, ein vergeistigtes Ding, so unlöschbar wie -'47
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das Feuer der Sonne, leistete ihm Ge sellschaft. Es war Spätnachmittag, als seine Maschine mit ihrem kratzigen zwei ten Gang den steilen Berg hinaufsurr te und in die Auffahrt zur Garage einbog. Er ging ins Haus und setzte sich eine Zeitlang hin. Das Mädchen, das Joan na als Aursicht hergeholt hatte, war ein hübsches, rothaariges Ding na mens Heien. Sie war, wie er mit grimmiger Genugtuung feststellte, sehr zart gebaut. Er hatte sie eben wegen ihrer Zartheit für das Wochen ende vorgeschlagen. Nein, es würde ihr nichts ausmachen, noch eine Nacht hierzubleiben, wenn sie nicht heimkamen. Und wann wollte er sei ne Frau abholen? »Oh, ich lege mich zuerst ein wenig hin«, erwiderte Marson. »Ich hatte eine reichlich anstrengende Fahrt. Und Sie - was machen Sie, während ich schlafe?« »Ich habe ein paar Zeitschriften ent deckt«, sagte das Mädchen. »Ich set ze mich einfach her und lese. Ich ver sichere Ihnen, daß ich ganz leise sein werde.« »Danke«, sagte Marson. »Es ist ja nur für ein paar Stunden.« Er lächelte düster vor sich hin, als er ins Schlafzimmer ging, und schloß die Tür. Männer mit verzweifelten Plä nen mußten kühn sein, mußten sich auf die einfachsten, unkomplizierte 248
sten Realitäten des Lebens verlassen — wie auf die Tatsache, daß die Men schen normalerweise nachts keine Grabstätten aufsuchten. Oder, daß junge Mädchen nicht durch Herum schnüffeln zur Last fielen, wenn sie versprochen hatten, es nicht zu tun. Er zog die Schuhe aus, schlüpfte in die Hausschuhe, und dann - Fünf lange Minuten wartete er, um ihr Zeit zu lassen. Schließlich ging er leise durch die Badtür, die in den Gang zwischen Küche und Schlafzimmern führte. Die Küchentür quietschte, als er hinausging, aber er gestattete sich keine Skrupel. Keine Spur von Furcht ließ sich in der eiskalten Zone nieder, die sein Verstand war. Weshalb sollte ein Mädchen, das sich bequem hingesetzt hatte, eine span nende Geschichte las und versprochen hatte, leise zu sein - weshalb sollte so ein Mädchen einem so gewöhn}ilichen Geräusch nachgehen? Selbst neue Häuser hatten eine Menge ganz eigener Geräusche. Der Wagen stand an der Seite des Hauses, die nur ein Fenster hatte. Er nahm den Fünf-Gallonen-Benzinka nister vom Rücksitz, trug ihn durch die Küche, hinunter in den Keller. Er bedeckte ihn schnell mit ein paar al ten Lumpen, dann war er wieder oben, durch die Küche Er erreichte das Schlafzimmer und dachte angespannt nach: Es waren diese Einzelheiten, die die meisten
DIE HEXE Leute lahmten, wenn sie einen Mord planten. Wenn er heute abend zurück kam, konnte er den Wagen nicht den Berg hinauffahren, denn es sollte ein ganz besonderer, unbeobachteter, gei sterhafter Ausflug sein. Der Wagen würde zumindest eine Meile entfernt stehen. Und es war ganz offensicht lich ungeheuer risikoreich und ermü dend, einen Fünf-Gallonen-Kanister durch Hintergäßchen zu schleppen. Und was für ein Alptraum es sein würde, mit so einem Kanister bei Mitternacht durch die Küche und in den Keller zu stolpern. Unmöglich auch, wie er entdeckt hatte, ihn an Joanna vorbeizuschmuggeln, ohne daß sie es sah. Mord hatte seine Schwierigkeiten; und ganz selbstverständlich mußte es Mord sein. Durch Feuer. Alles, was er je von Hexen gehört hatte, zeigte sei ner Erinnerung nach die überwälti gende Bedeutung des Feuers. Und sollte die zart gebaute Heien nur ver suchen, die Tür zum Zimmer der al ten Frau aufzubrechen, nachdem das Feuer aufgeflackert war und er die Tür von außen abgeschlossen hatte! Er lag eine Zeitlang ruhig auf dem Bett. Der Gedanke kam ihm, daß kein Mensch als größerer Schurke da stehen würde, wenn das, was er ge tan hatte und zu tun beabsichtigte, je entdeckt wurde. In diesem Moment erfaßte ihn für kurze Zeit abgrundtiefe Furcht.. Und
als wäre das Bild direkt vor seinen Augen, sah er die große Schule sei nen Händen entgleiten, das College, das er anstrebte, dahinschwinden, da hinschwinden in den Nebeln, die ei ne Gefängniszelle umgaben. Er dachte: Es wäre so leicht, halbe Maßnahmen zu ergreifen, die ihn und Joanna von dem schrecklichen Problem befreiten. Er brauchte sie nur am nächsten Tag, während Joan na noch fort war, ins Altersheim zu bringen — und rücksichtslos alle Ein wände übergehen. Sie würde vielleicht entfliehen, aber nie mehr zu ihnen zurückkommen. Er konnte sich dann in seine Welt zu rückziehen, die aus der Schule und Joanna bestand. Das Leben würde in der großzügigen amerikanischen Wei se weitergehen - und irgendwo würde es bald eine junge Hexe geben, strah lend in der Kraft des erneuerten bösen Lebens. Und zugleich würde irgendwo eine menschliche Seele aus dem Kör per gerissen, der ihr zustand — in ei nem Haus, in das sich eine unver schämte Alte eingenistet hatte. Wenn er bei seinem Wissen nichts unternahm . .. Er mußte bei diesem Gedanken einge schlafen sein. Es war der fordernde Schlaf der vollkommen erschöpften Nerven, die es nicht gewohnt waren, ihrer Ruhe beraubt zu werden. Er er wachte erschrocken. Er sah, daß es stockdunkel war und —
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Die Schlafzimmertür öffnete sich lei se. Joanna kam auf Zehenspitzen herein. Sie sah ihn im Licht, das vom Gang ins Zimmer strömte. Sie blieb stehen und lächelte. Dann kam sie zu ihm herüber und küßte ihn. »Liebling«, sagte sie, »ich bin so froh, daß du noch nicht losgefahren bist, um mich abzuholen. Ein nettes Paar bot mir an, mich mitzunehmen, und ich dachte, wenn wir uns unterwegs träfen, hätte ich dir wenigstens ein Stück Weg erspart — nach deinem an strengenden Wochenende. Ich habe Heien heimgeschickt. Es ist jetzt nach elf, du kannst dich also ausziehen und gleich ins Bett legen. Ich selbst trinke noch eine Tasse Tee. Vielleicht magst du auch eine.« Ihre Stimme drang kaum durch das Dröhnen in seinem Gehirn, durch die qualvolle Erkenntnis. Nach elf - keine Stunde mehr bis zu jener Mitternacht, an der einmal jähr lich die schicksalhafte Periode des Hexenmonds begann. Der ganze Auf bau seiner Pläne stürzte ihm über dem Kopf zusammen. Er blieb in ihrer Nähe, als sie den Kessel aufsetzte. Es war halb zwölf, als sie mit dem Teetrinken fertig wa ren, und immer noch konnte er nicht sprechen, konnte er keinen Beginn für all die Dinge finden, die gesagt werden mußten. Deprimiert bemerk te er, daß ihre Augen ihn beobachte 250
ten, während sie eine Zigarrette rauchte. Er stand auf und ging auf und ab. Und nun zeigte sich dunkle Verwir rung in ihren femgeschnittenen brau nen Augen. Zweimal setzte sie zum Sprechen an, aber jedes Mal unter brach sie sich wieder. Und wartete. Er konnte beinahe spü ren, wie sie in ihrer ruhigen, ernsten Art wartete — darauf wartete, daß er zuerst sprach. Unmöglich, dachte er, völlig unmög lich, diese ruhige, sachliche, weichher zige Frau zu überzeugen. Und doch, es mußte geschehen, jetzt, bevor es zu spät war, bevor auch drastische Maß nahmen zu wenig waren. Die Erinnerung an den Satz aus dem Zeitungsartikel brachte kalten Schweiß auf sein Gesicht. Er blieb ruckartig stehen, stellte sich vor sie. Seine Augen waren wohl glühende Steine, seine steife Haltung ein er schreckender Anblick; denn sie zuck te unmerklich zurück. »Craig — « »Joanna, ich möchte, daß du Hut und Mantel nimmst und in ein Hotel gehst.« Man brauchte keine große Fantasie, um zu erkennen, daß seine Worte verrückt klingen mußten. Er haspel te weiter mit dem Redeschwall eines Kindes, das eine aufregende Ge schichte erzählt. Und genauso fühlte er sich—wie ein Kind, das sich mit ei
DIE HEXE nem toleranten Erwachsenen unter hielt. Aber er konnte nicht aufhören. Er ließ nur seinen düsteren Mordvor satz weg. Sie mußte den Schock die ser Einzelheit später verdauen, wenn alles vorbei war. Als er zu En de war, sah er, daß ihr Blick zärtlich war. »Armer Liebling«, sagte sie, »das hat dich also gequält. Du hast dir meinet wegen Sorgen gemacht. Ich kann mir genau vorstellen, wie das alles auf dich gewirkt haben muß. Ich hätte genauso reagiert, wenn du scheinbar in Gefahr gewesen wärst.« Marson stöhnte. Diesen Standpunkt nahm sie also ein —sanftes Verständ nis. Sie duldete seine natürliche Be unruhigung und glaubte kein Wort. Er brachte sein Inneres einigermaßen zur Ruhe und sagte mit einer sonder baren, zitterigen Stimme: »Joanna, denk daran, daß Kemp es eindeutig als Hexenkraut analysiert hat und daß ihre Leiche nicht in dem Grab liegt — « Immer noch war kein Feuer in ihren Augen, keine Flamme von aufsteigen der Furcht. Sie hatte die Stirn in Fal ten gezogen, als sie sagte: »Aber weshalb sollte sie sich all der Mühe unterziehen, eines ihrer Abbil der zu begraben, wenn sie sich ledig lich in den Zug zu setzen und herzu kommen brauchte? Sie hat es ja auch getan. Weshalb diese enorme Farce der Beerdigung?«
Marson brauste auf: »Weshalb die Lüge, daß sie eine andere, die begra ben wurde, mit Make-up zurecht schminkte? Oh, Liebling, verstehst du denn nicht — « Langsam, logisch, sprach sie weiter: »Craig, vielleicht bestand ein Ober einkommen zwischen diesem Pete Cole, der dir den Brief schrieb, und Mutter Quigley. Hast du daran schon gedacht?« Wenn sie nur bei ihm gewesen wäre, dachte er, als er jenes dunkle Grab geöffnet hatte. Wenn sie das un glaubliche Abbild gesehen hätte — wenn, .wenn, wenn . . . Er warf einen verstohlenen Blick auf die Wanduhr. Es war siebzehn Minu ten vor zwölf, und das verwirrte ihm fast den Verstand. Er zitterte — und versuchte mühsam seine Stimme zu beherrschen. Ihm fielen Argumente ein, aber die Zeit zum Reden war vorbei—längst vorbei. Nur eines war wichtig. »Joanna«, sagte er, und seine Stim me klang so heftig, daß er selbst ent setzt war, »du wirst um meinetwil len drei Tage lang ins Hotel gehen, ja?« »Aber natürlich, Liebling.« Sie sah gelassen aus, als sie sich erhob. »Mei ne Sachen für die Nacht sind noch gepackt. Ich nehme einfach den Wa gen und — « Ein Gedanke schien ihr mit einem 251
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Mal zu kommen. Ihre feinen, glatten Brauen zogen sich hoch. »Und was ist mit dir?« »Ich bleibe natürlich hier«, sagte er, »um darüber zu wachen, daß sie das Haus nicht verläßt. Du kannst mich morgen in der Schule anrufen. Beeil dich, um Himmels willen.« Ein Frösteln überkam ihn bei ihrem prüfenden Blick. »Einen Augenblick«, sagte sie, und ihre Stimme war lang sam, angespannt. »Ursprünglich woll test du mich nur bis morgen aus dem Haus haben. Was - hast du - für heu te nacht - vor?« Sein Inneres war mit einem Mal trot zig, rebellisch. Seine Lippen beweg ten sich plump, als könnten sie nur die Wahrheit leicht aussprechen. Lügen waren noch nie etwas für ihn gewe sen. Aber jetzt machte er einen arm seligen Versuch. »Ich wollte dich nur aus dem Wege haben, solange ich dem Grab einen Besuch abstattete. An das Später dachte ich gar nicht.« Ihre Augen glaubten ihm nicht; ihre Stimme sagte es, aber die Worte, die sie benutzte, drangen irgendwie nicht bis zu ihm durch. Denn eine sonder bare Ruhe überkam ihn, die Erkennt nis, daß die Zeit nur noch Minuten entfernt war und daß all dieses Gere de wertlos war. Nur sein unerbitterli cher Vorsatz zählte. Er sagte einfach, fast, als spräche er zu sich selbst: »Ich wollte ihre Tür von außen zu 252
sperren und das Haus abbrennen, aber ich sehe jetzt, daß das nicht notwen dig ist. Du gehst jetzt besser, Lieb ling, denn es wird eine scheußliche Sache, die du nicht sehen sollst. Weißt du, ich bringe sie hinaus an den Rand der Klippe und werfe sie in das nächtliche Meer, das sie so sehr fürchtet.« Er schwieg, weil die Uhr unglaubli cherweise acht Minuten vor zwölf an zeigte. Wortlos, ohne die Antwort abzuwarten, die ihr auf den Lippen zu zittern schien, wirbelte er herum und rannte in den Schlafzimmerkor ridor. Er wollte die Tür der alten Frau öffnen. Sie war versperrt. Die reine Wut der Verzweiflung würgte ihn. »Aufmachen!« schrie er. Drinnen herrschte Schweigen; er spürte, wie Joannas Finger vergeblich an seinem Ärmel zupften. Und dann warf er sein volles Gewicht von hun dertachtzig Pfund gegen die Tür. Zwei Stöße, daß ihm alle Knochen wehtaten — und die Tür gab mit ei nem ohrenbetäubenden Krachen nach. Seine Finger tasteten nach dem Licht schalter. Ein Klicken, und dann — Er blieb stehen, fröstelnd, halb ge lähmt von dem Anblick, der sich ihm im Licht bot: Zwölf alte Frauen, zwölf Kreaturen, die ihn aus allen Ecken des Zimmers anrauchten. Die Hexe verbarg sich nicht mehr — und sie war bereit.
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Das Allermerkwürdigste in diesem fürchterlichen Augenblick war der rei ne, echte Triumph, der in ihm auf flammte—der Triumph eines Mannes, der eindeutig eine Auseinanderset zung mit seiner Frau gewonnen hatte. Er spürte eine verrückte, unglaubliche Freude; er wollte losrufen: »Siehst du! Siehst du! Hatte ich nicht recht? War es nicht ganz genauso, wie ich gesagt hatte?« Mühsam faßte er seine wirbelnden Gedanken zusammen; und ihm kam die zitternde Erkenntnis, daß er al len Ernstes am Rande des Wahnsinns stand. Er sagte unsicher: »Das wird eine Zeitlang dauern. Ich werde sie nacheinander zur Klippe tragen müssen; aber das Gesetz des Durchschnitts besagt, daß ich früher oder später die richtige erwische. Wir brauchen uns nicht zu ängstigen, daß sie in der Zwischenzeit flieht, denn wir kennen ihre entsetzliche Furcht vor der Nacht. Es ist lediglich eine Sache der Ausdauer ...« Seine Stimme schwankte um eine Spur, denn plötzlich drang die grausi ge Realität dieses Anblicks bis in sein innerstes Bewußtsein vor. Einige der Kreaturen saßen auf dem Bett, einige auf dem Boden. Zwei standen da, die Arme umeinander geklammert; und die Hälfte von ihnen plapperte jetzt in einer fantastischen Karikatur von Entsetzen vor sich hin. Er zuckte zu
sammen, als ihm zu Bewußtsein kam, daß Joanna hinter ihm stand. Sie war blaß, unheimlich blaß. Als sie sprach, zitterte ihre Stimme. »Das Schlimmste an dir, Craig, ist, daß du so unpraktisch denkst. Du möchtest Kraftakte vollführen, wie sie auf die Felsen am Grund der Klip pe zu stoßen oder sie zu verbrennen. Es beweist, daß selbst jetzt dein Ver stand im Grunde nicht an sie glaubt. Sonst würdest du wissen, was zu tun ist.« Sie hatte sich an ihn gedrückt und mit großen Augen über seine Schul ter hinweg die wimmernde, entsetzte Schar angesehen. Jetzt, bevor er ihre Absicht erkennen konnte, schlüpfte sich unter seinem Arm durch und war im Zimmer. Ihre Schulter streifte ihn leicht, als sie vorbeihuschte, und nahm ihm das Gleichgewicht. Es dauerte nur einen Moment, aber als er wieder hinsah, war Joanna von acht kreischenden Vetteln umringt. Er bemerkte einen Moment lang ihr verzerrtes Gesicht Sechs runzlige Hände versuchten ihr den Mund auf zuspreizen. Ein Knäuel verzweifelter Altweiberhände umklammerten ihre Arme und Beine und versuchten die wütend um sich Schlagende testzu halten. Und es gelang ihnen! Das war die erschreckende Tatsache, die ihn mit
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geballten Fäusten mitten in das Ge wimmel alter Frauen eindringen ließ — und er zerrte Joanna los. Eine ungeheure Wut entwuchs seiner Angst. »Du Idiotin!« fauchte er. »Merkst du denn nicht, daß Mitter nacht schon längst vorbei sein muß? Dann, in der abrupten, tieferen Er kenntnis, daß sie ja angegriffen wor den war, fragte er durchdringend: »Ist alles in Ordnung?« »Ja.« Das kam zitternd. »Ja.« Aber sie hätte das auch gesagt. Er starrte sie mit wütenden Augen an, als könnte er mit seinem durchdrin genden Blick an ihrem Gesicht vorbei in ihre Gedanken sehen. Sie hatte wohl den schrecklichen Gedanken in seinen verzerrten Zügen gelesen, denn sie rief: »Verstehst du denn nicht, Liebling? Die Jalousien, die Fenster — mach sie auf! Das wollte ich tun. Laß die Nacht herein! Laß die Dinge herein, die sie fürchtet. Wenn sie existiert, müssen diese Dinge auch existieren. Verstehst du nicht?« Er nahm Joanna mit sich, stieß mit Fäusten und Füßen, mit grimmiger, unerbittlicher Wildheit, gegen die Kreaturen. Er riß die Jalousie hoch. Ein Fußtritt zerschmetterte die unte re Fensterscheibe. Und dann, an die Tür gelehnt, warteten sie. Auf dem Fenstersims flüsterte und tropfte Wasser. Eine formlose Ge stalt hob sich mißgestaltet gegen den 354
blauschwarzen Himmel jenseits des Fensters ab. Und dann war Wasser auf dem Boden; es tropfte von einer nebligen Form, die sich zu bewegen schien. Eine Stimme seufzte - oder war es ein Gedanke? »Beinahe hättest du uns mit diesem falschen Begräbnis getäuscht, Nyas ha. Wir verloren dich monatelang aus den Augen. Aber wir wußten, daß nur an der See und von der See dein alter Leib die Kraft für die Umwand lung holen konnte. Wir waren auf der Lauer, wie bei so vielen Verrä terinnen. Und so wirst du dich end lich vor den alten Wassern rechtfer tigen müssen.« Man hörte keinen Laut, außer dem Flüstern des rieselnden Wassers. Die alten Frauen waren wie zu Stein er starrt. Sie saßen da wie Vögel beim Anblick einer Schlange. Und plötz lich waren die Bilder fort, ausgebla sen. Eine zerbrechliche, einsam aus sehende alte Frau saß auf dem Boden, direkt im Wege des Nebeldings. Der Nebel umhüllte ihre Gestalt. Sie wurde in ihm hochgehoben und so fort wieder fallengelassen. Schnell zog sich der Nebel zum Fenster zu rück. Schon war er verschwunden. Die alte Frau lag flach auf dem Rük ken, die Augen starr geöffnet. Auch der Mund stand auf häßliche Weise offen. Das war der letzte Eindruck ein ab soluter Mangel an Schönheit.
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Die Galgenpuppe
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Meine Hekate Nichts ist umsonst
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Die Hexe