Süß wie Schokolade
Dawn Atkins
Tiffany Duo 14 9-03
Gescannt von almut. K. Korrigiert von claudiaL
PROLOG Vor acht J...
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Süß wie Schokolade
Dawn Atkins
Tiffany Duo 14 9-03
Gescannt von almut. K. Korrigiert von claudiaL
PROLOG Vor acht Jahren „Autsch! Was soll das? Das mit dem Kneifen habe ich doch nicht wörtlich gemeint! Ich wollte nur sehen, ob ich träume." Mariah Monroe sah ihre Mutter vorwurfsvoll an. „Ich tue heute alles, was du willst. Es ist schließlich dein großer Tag." Meredith lockerte den zarten Schleier auf. „Einfach perfekt." Zufrieden betrachtete sie ihre Tochter im Spiegel. „Bist du jetzt nicht doch froh, dass wir uns gegen das feuerrote Minikleid entschieden haben?" „Es war immerhin mit Spitze besetzt", versuchte Mariah sich zu recht fertigen. „Ja, und es war fast durchsichtig. Ich bitte dich!" „Wie auch immer." Diesmal musste Mariah ihrer Mutter Recht geben. Das hier war besser. Sie sah aus wie das Covermodel von „Today's Bride" und fühlte sich wie eine Prinzessin. Feine Perlenschnüre waren in ihrem Haarschmuck befestigt und fielen ihr auf die Schultern. Von der Taille abwärts bauschten sich viele Meter Satin bis auf ihre weißen Pumps. Mariah hatte mit dem Gedanken gespielt, das Kleid mit ein paar bunten Applikationen aufzupeppen und sich ihren Brautstrauß aus fantasievollen Papierblumen selbst zu gestalten, aber das hätte Nathan wahrscheinlich nicht gefallen. Er war eher nüchtern und solide. Mariah konnte immer noch nicht ganz begreifen, weshalb er sie heiraten wollte. Aber zum ersten Mal in ihrem siebzehnjährigen Leben hatte sie das Gefühl, keine Außenseiterin mehr zu sein und dazuzugehören. Bisher hatte man sie immer so behandelt, als wäre sie ein bisschen verrückt, jedenfalls anders als die anderen. Andererseits fühlte sie sich unbehaglich. Sie kam sich vor wie eine Schauspielerin, die die Rolle der Braut nur spielte. So gut es ging, verdrängte sie diesen Gedanken schnell wieder. Das Wichtigste war, dass Nathan Goodman sie liebte und dass er sie heiraten wollte. Bestimmt würden sie sehr glücklich werden. Plötzlich legte Meredith, die eben noch damit beschäftigt war, die Locken ihrer Tochter in Form zu bringen, Mariah beide Hände an die Schläfen und blickte ihr tief in die Augen. Jetzt wurde es ernst. „Du brauchst dich nicht zu genieren, Liebes", sagte sie leise. „Viele glückliche Ehen wurden geschlossen, als bereits etwas unterwegs war." „Was?" „Ich bin deine Mutter. Du kannst mir alles erzählen." Mariah fröstelte. „Was soll ich dir denn erzählen?" Sie starrte ihre Mutter verständnislos an. „Nathan wird ganz sicher ein wunderbarer Vater. Und er betet dich an." „Was meinst du damit?" „Aber, Liebes", sagte Meredith in einem Ton, der klarmachte, dass Mariah ihrer Meinung nach den Scherz weit genug getrieben hatte. „Ich weiß doch, dass du schwanger bist." „Wie kommst du denn darauf?" Mariah starrte ihre Mutter mit großen Augen an, dann fiel ihr Blick auf die blaue Schachtel auf ihrer Kommo de. Nun war ihr alles klar. Ihre Mutter nickte viel sagend. „Ich habe wirklich nicht herumge schnüffelt, ich weiß ja, wie sehr du es hasst, wenn ich in dein Zimmer gehe. Aber die Aufschrift ,Schwangerschaftstest' war einfach nicht zu übersehen. Und da bin ich natürlich neugierig geworden." „Aber das war doch nur ein Scherz. Den hat Ronda gekauft, um ihren Freund zu erschrecken." „Mit Schwangerschaften macht man keine Witze", sagte Meredith und schüttelte tadelnd den Kopf. Dann runzelte sie die Stirn. „Heißt das, du bist gar nicht schwanger?" „Genau!" „Ach so." Meredith atmete langsam aus. „Naja, aber das macht auch nichts."
„Wie meinst du das?" Plötzlich kam Mariah ein furchtbarer Gedanke. „Hast du Nathan etwa von der Schwangerschaft erzählt?" „Nein, nicht direkt. Aber vermutlich hat er gehört, wie ich mit deinem Vater darüber gesprochen habe ..." „Nathan glaubt, ich sei schwanger? Aber wir haben doch noch nicht mal ... Warum will er mich dann heiraten? - Oh nein!" Mariah schlug sich die Hände vors Gesicht, plötzlich überwältigt von Scham. Wie demütigend. „Deshalb hat er gesagt, was gewesen sei, sei gewesen und er erwarte keine Erklärung von mir. Und ich dachte, es ginge um meine früheren Freunde." „Aber, Liebes, Nathan betet dich an. Und er ist genau der Richtige für dich. Mit ihm wirst du endlich zur Ruhe kommen und nicht mehr ständig herumflippen." Mariah hob ruckartig den Kopf. Es tat weh, die eigene Mutter so etwas sagen zu hören. „Ich flippe nicht herum. Das ist meine Natur." Und Nathan schien damit einverstanden zu sein, allerdings bemühte sie sich auch, sich in seiner Gegenwart etwas vernünftiger zu verhalten. Er hatte ihr schon nach einem Monat seine Liebe gestanden, und dann hatte er ihr einen Heiratsantrag gemacht. Das war alles sehr plötzlich ge kommen, aber sie hatte ihm geglaubt und hatte sofort eingewilligt. Denn auch sie liebte ihn. Wie verrückt sogar, dachte Mariah traurig. Im Grunde hatte sie sich aber von Anfang an gewundert, dass Nathan sic h für ein Mädchen wie sie interessierte. Er hatte Wirtschaftswissenschaften an der staatlichen Universität von Arizona studiert und war nach dem Examen nach Copper Corners gekommen. Hier hatte er im Unternehmen ihres Vaters, „Cactus Confections", in dem Spezialitäten aus Kaktusfrüchten hergestellt wurden, einen Job angenommen. Er war ernsthaft, solide und verantwortungsbewusst. Genau das Gegenteil von ihr. Dass er sie liebte und sie heiraten wollte, war Mariah wie ein Wunder vorgekommen. Aber es war gar kein Wunder, sondern ein Gnadenakt! Er glaubte, sie sei schwanger von einem anderen Mann, denn sie und Nathan hatten noch nicht miteinander geschlafen. Es ging ihm darum, ihre Ehre zu retten. Sie tat ihm Leid. Wie grässlich! Wie eine Seifenblase zerplatzte Mariahs wunderschöner Märchentraum. Sie wusste, was sie nun zu tun hatte. Sie durfte diese Farce unmöglich aufrechterhalten. Und sie durfte nicht zulassen, dass Nathan sein Leben ruinierte, nur weil er ein anständiger Kerl war. „Sag Nathan, dass wir die Sache abblasen", rief sie ihrer Mutter zu, während sie schon auf dem Weg zur Tür war, wobei sie mit den Tränen kämpfte. „Was soll das denn?" „Die Hochzeit fällt aus, Mom. Bitte sag das den anderen." Mariah war bereits auf der Treppe, wandte sich aber noch einmal um. „Sag Nathan ..." Was sollte ihre Mutter ihm sagen? Dass Mariah nicht aus Mitleid ge heiratet werden wollte? Dass sie es nicht ertragen könnte, eine Ehe zu führen, in der es nur einen gab, der liebte? „Sag ihm, dass ich meine Meinung geändert habe. Dass ich mein eigenes Leben leben muss." „Bleib hier, Mariah", rief ihre Mutter ihr hinterher. „Wenigstens ein einziges Mal solltest du das zu Ende bringen, was du dir vorgenommen hast!" Doch Mariah war bereits draußen. Sie wollte nur weg. Wie auf Be stellung fuhr in diesem Augenblick ihre beste Freundin Nikki vor. Das Verdeck ihres kleinen roten Sportwagens war aufgeklappt. Mariah atmete erleichtert auf. Nikki würde sie verstehen. Mariah raffte ihr Kleid und stieg in den Wagen. „Was soll das?" Nikki sah die Freundin überrascht an. „Ich dachte, wir fahren mit dem Wagen deiner Eltern zur Kirche." „Fahr los, bitte. Fahr sofort los." Mariah konnte die Tränen nicht länger zurückhalten. „Wohin denn?" „Irgendwohin, nur nicht zur Kirche." Nikki runzelte die Stirn, gab dann aber so plötzlich Gas, dass sie beide in ihre Sitze
gedrückt wurden. Als sie an einer Ampel hielten, musterte Mariah Nikki, die in ihrem eleganten Kleid sehr fremd wirkte. Meredith hatte darauf bestanden, dass sie als Brautjungfer ordentlich gekleidet war. Aber das passte überhaupt nicht zu Nikki, denn normalerweise lief sie in schwarzer Lederkleidung herum und trug hohe Schaftstiefel. „Wie konnte ich nur zulassen, dass du dich so verkleidest." Nikki lachte. „Noch ist es nicht zu spät. Ich kann mir immer noch das Haar lila färben und meine Schlangenlederstiefel anziehen." Jetzt musste auch Mariah lachen. „Du weißt, ich tu alles, was du willst, Mariah. Du kannst dich immer auf mich verlassen." „Ich weiß. Und ich könnte es ohne dich auch gar nicht aushalten." Sie lehnte sich zu ihrer Freundin hinüber und umarmte sie. Ihr Brautkleid umgab Nikki dabei wie eine Wolke und versperrte ihr fast die Sicht. „Vorsicht! Ich kann kaum was sehen." Nikki schob den Stoff zur Seite und grinste. „Was ist denn eigentlich los?" „Es gibt keine Hochzeit." Nikki trat abrupt auf die Bremse. „Was?" Hinter ihnen ertönte wildes Gehupe. „Fahr weiter", sagte Mariah. „Ich weiß auch nicht, was in mich ge fahren war. Irgendwie fühlte ich mich so glücklich wie Barbie, die ihren Ken heiratet und in ein Traumhaus zieht. Dabei wäre das absoluter Wahnsinn, denn das passt überhaupt nicht zu mir." „Aber du liebst Nathan doch." „Ja." Dieses Eingeständnis tat weh. „Aber ich bin erst siebzehn und noch nicht mal mit der Schule fertig. " „Genau!" Nikki fiel ein Riesenstein vom Herzen. „Ich meine, wenn du nun unbedingt hättest heiraten wollen, hätte ich das auch verstanden. Aber du hast schließlich dein ganzes Leben noch vor dir." „Eben. Ich weiß auch nicht mehr, was ich mir dabei gedacht habe." „Und wieso hast du nun plötzlich deine Meinung geändert?" Mariah erzählte der Freundin, dass Nathan glaubte, sie sei schwanger und dass er ihr deshalb aus Mitleid einen Heiratsantrag gemacht hatte. Wieder war sie den Tränen nahe, so sehr schmerzte sie der Gedanke, Nathan zu verlieren. Und es schmerzte sie, dass sie sich eingebildet hatte, er würde sie lieben. Jetzt bloß nicht in Selbstmitleid versinken, ermahnte sie sich. „Stell dir mal vor, er hat es für seine Pflicht gehalten, mich zu heiraten!" Mariah bemühte sich um einen entrüsteten Tonfall. „Vermutlich, weil er für meinen Vater arbeitet. Als Geschäftsführer der Firma meinte er wohl, auch gleich noch für die etwas verrückte Tochter verantwortlich zu sein. Mein Gott, das ist so demütigend." „Na, immerhin hast du das herausgefunden, bevor du Ja gesagt hast", meinte Nikki und klopfte auf die Stoffwolke, da, wo sie Mariahs Knie vermutete. „Nun kannst du das alles hinter dir lassen." „Stimmt." Aber noch war Mariah überwältigt von Schmerz und Trauer. Sie wusste, ein schneller Schnitt war am besten. Es tat zwar weh, doch der Schmerz würde mit der Zeit nachlassen. Eine Zeit lang schwie gen beide. Copper Corners war eine kleine Stadt, und so erreichten sie schnell die Landstraße. Mariah schaute aus dem Fenster und betrachtete die Wüstenlandschaft mit den hohen Kandelaberkakteen, den stacheligen Chollas und den blühenden Feigenkakteen. Sie fuhren nach Norden in Richtung Phoenix, und links und rechts erstreckte sich die weite offene Landschaft. Auch mein Leben ist wieder weit und offen, sagte sich Mariah, aber sie fühlte sich leer bei diesem Gedanken, und sie fürchtete sich.
Als wüsste sie, was in der Freundin vorging, bremste Nikki plötzlich ab und hielt am Straßenrand. „Und nun?" „Keine Ahnung, aber ich will auf keinen Fall zurück", sagte Mariah und starrte vor sich hin. „Kann ich mir vorstellen. Ich hab auch nicht gerade Lust, nach Copper Corners zurückzukehren, dann ich muss meinen Eltern gestehen, dass ich den Schulabschluss im nächsten Jahr garantiert nicht schaffen werde." Die beiden Freundinnen verharrten in brütendem Schweigen. Schließlich hob Nikki den Kopf. „Ich weiß, was wir machen." „Was denn?" Mariah sah sie erwartungsvoll an. Nikki fiel immer etwas ein. „Wir verschwinden einfach." „Was?" „Lass uns abhauen. Wir gehen nach Phoenix. Ich wollte im Sommer sowieso in die Stadt ziehen, sofern meine Eltern mich nicht schon vorher rausgeworfen hätten, weil ich es sicher wieder geschafft hätte, Schande über die Familie zu bringen." Nikki hatte es nicht leicht mit ihren Eltern. Ihr Vater leitete die High School, und ihre Mutter war Lehrerin. Und beide waren ständig in Sorge, Nikki könnte sie blamieren. So hatten die Freundinnen also noch etwas gemeinsam: enttäuschte Eltern. „Wir fahren sofort los", meinte Nikki. „Jetzt gleich?" „Ja. Da draußen, außerhalb von Copper Corners, da ist das wahre Leben. Oder willst du deine Tage zukünftig damit verbringen, Kaktus gelee herzustellen?" „Auf keinen Fall." „Wir können in Phoenix bestimmt bei meiner Cousine wohnen. Und sie kann uns vielleicht sogar einen Job in dem Restaurant besorgen, in dem sie arbeitet. Wir sparen unser Geld und mieten dann zusammen ein Apartment. Und dann können wir uns endlich beschäftigen, womit wir wollen, Kunst, Theater, alles Mögliche. Was das Leben halt so bie tet." „Und was ist mit der Schule?" „Ach", Nikki winkte ab. „Wie heißt es so schön? Das Leben wird uns schon alles lehren, was wir brauchen." „Wow!" Mariah dachte nach. Die Sache hatte was für sich. Sie käme raus aus Copper Corners, in das sie sowieso nicht passte, und ihre Mutter könnte sich endlich nicht mehr ständig in ihre Angelegenheiten mischen. Das Wichtigste war aber, sie wäre weit weg von Nathan und seinem Mitleid. Vielleicht war es wirklich Zeit, unabhängig zu werden, wie die Heldinnen in den Romanen. Die junge rebellische Tochter bricht auf und macht ihr Glück. Im Grunde war sie bereit, alles zu tun, um nur nicht die Demütigung ertragen zu müssen, die Verzweiflung und Scham ihrer Eltern, das Mitleid der Nachbarn und vor allem die Erleichterung, die Nathan nun sicher empfand, weil er noch einmal davongekommen war. Was hatte sie zu verlieren? „Okay", sagte sie. „Ich bin einverstanden." „Super! Wir holen ein paar Sachen und weg sind wir." Mariah hatte ihren Koffer bereits für die Flitterwochen gepackt. Bei dem Gedanken daran wurde ihr das Herz wieder schwer. Sie hatte sich so auf Hawaii gefreut, mehr aber noch auf Nathans Gesicht, denn sie hatte geplant, ihn in der Hochzeitsnacht mit einem schwarzen Spitzenhemdchen zu überraschen. Vorbei. Sie wollte nicht mehr daran denken. Sie und Nikki würden in der großen Stadt ein neues Leben beginnen. Das war genau das Richtige für sie. Hier, in diesem kleinen Ort, wurden sie doch nur eingeengt, und ihre Fantasie wurde beschnitten. Sie warf der Freundin einen Blick zu, den Nikki freudig und entschlossen erwiderte. „Kein Bedauern. Vor uns liegt die Zukunft." Mariah streckte Nikki ihre Hand entgegen.
Nikki schlug ein. „Vor uns liegt die Zukunft." Mariahs Herz schlug schneller. Ihr Leben konnte beginnen. Sie konnte tun, was sie wollte. Was für ein wunderbares Gefühl. Und dennoch schmerzte es sie, Nathan für immer zu verlieren. Der Schmerz war wie eine tiefe Wunde, von der man ahnte, dass sie nie ganz heilen würde. Sie wendeten und fuhren zurück. Zuerst hielten sie vor Nikkis Elternhaus, und Nikki warf schnell ein paar Kleidungsstücke und einige persönliche Dinge in eine große Reisetasche. Bei Mariah brauchten sie nur noch den fertig gepackten Koffer abzuholen. In ihrem Zimmer zog Mariah sich um, packte die sexy Unterwäsche und das Spitzenhemdchen aus und ein paar praktische Sachen ein, und schon waren sie wieder unterwegs. Während der Fahrt durch die kleine Stadt kamen sie auch an der Kirche vorbei. Wahrscheinlich sind Mom und Dad und ihre Freunde schon unruhig, weil die Hauptperson immer noch nicht erschienen ist, überlegte Mariah, und Nathan geht sicher nervös vor dem Altar auf und ab und wartet auf seine schwangere Braut. Mariah legte der Freundin schnell die Hand auf den Arm. „Halt doch mal eben an", sagte sie. Sie wollte Nathans Gesicht noch ein letztes Mal sehen, denn sie fühlte sich nicht nur gedemütigt, sondern war auch sehr traurig. Er würde ihr schrecklich fehlen, auch wenn er nur Mitleid für sie empfand. Sie hielten auf dem Hüge l, von dem aus sie auf die Kirche sehen konnten. Mariahs Blick glitt über den Parkplatz. Nathans Volvo war nicht da. Sie stieg aus, lief den Hügel hinunter, presste sich gegen die Kirchenmauer und schaute vorsichtig durch eins der Fenster. Vorn, vor dem Altar, stand ihre Mutter und sagte etwas zu den Anwesenden. Nathan war nirgends zu sehen. Er war nicht gekommen! Das konnte doch nicht wahr sein. Der vernünftige und verantwortungsbewusste Nathan Goodman ließ seine Hochzeit platzen? Mariah trat einen Schritt zurück. Wahrscheinlich hatte er im letzten Moment die Nerven verloren, als ihm klar wurde, wo rauf er sich da einlassen wollte. Dieser Feigling! Wut machte sich in ihr breit. Gut. Wut war besser als Trauer oder Sehnsucht. Sie war Nathan also nichts schuldig. Absolut nichts. Höchs tens einen wütenden Brief aus Phoenix. Wie gehetzt lief sie den Hügel wieder hinauf. „Würden Sie bitte etwas schneller fahren?" fragte Nathan den alten Mann, der angehalten hatte, als er verzweifelt am Straßenrand gestanden und gewinkt hatte. „Sonst komme ich zu spät zu meiner Hochzeit." Nathan bemühte sich, jedes Wort laut und deutlich auszusprechen. Es war wirklich Pech, dass er ausgerechnet den einzigen Autofahrer weit und breit erwischt hatte, der nicht nur bedächtig wie auf einem Traktor fuhr, sondern auch noch stocktaub zu sein schien. Verdammt. Nathan sah auf seine Armbanduhr. Wenn das so weiterging, würde er viel zu spät kommen. Hätte er sich bloß nicht von seinen Freunden zu dieser Junggesellenabschiedsparty überreden lassen, die am vergangen Abend in Tucson stattgefunden hatte! Es gab jede Menge zu trinken, und außerdem hatten die Freunde noch Stripperinnen engagiert. Die Tänzerinnen waren Nathan vollkommen egal gewesen, denn er konnte nur an Mariah denken. Aber er hatte natürlich einiges getrunken, schon um die Freunde nicht zu enttäuschen. Er, war nicht mehr in so einer Bar gewesen, seit er alt genug war, um seine Mutter, die mit einer Band auftrat, nicht mehr begleiten zu müssen. Der ganze Trubel war ihm schon immer auf die Nerven gegangen, und die ständigen Ortswechsel hatten ihm nie gefallen. Er sehnte sich nach einem ruhigen Leben in einem hübschen Haus mit der Frau, die er liebte. Da er zu viel getrunken hatte, war er nicht nach Hause gefahren, sondern hatte bei einem Freund übernachtet. Als er dann am Morgen nach Copper Corners fuhr, war sein Wagen auf halber Strecke liegen ge blieben. Seine lieben Freunde hatten Steine hinter die Radkappen gelegt, die hatten die Hinterachse verklemmt.
Nathan warf erneut eine n Blick auf seine Armbanduhr. Er würde es niemals rechtzeitig schaffen. An einer Raststätte bat er den Mann zu halten, und versuchte, Mariah telefonisch zu erreichen. Aber da sich weder bei ihr zu Hause noch im Kirchenbüro jemand meldete, stieg er schließlich wieder ein. Als sie. endlich die kleine Stadt erreichten, war er eine halbe Stunde zu spät. Er hatte ein furchtbar schlechtes Gewissen und versuchte, sich mit dem Gedanken zu trösten, dass Mariah sicher auch unpünktlich war. Sie nahm es mit der Uhrzeit nie so genau. Er musste lächeln, als er an ihr liebes Gesicht unter all dem Make- up dachte und an ihre wilde Mähne. Er sehnte sich so danach, endlich mit ihr zu schlafen. Sie war ein ungewöhnliches Mädchen. Immer, wenn er mit ihr zusammen war, konnte er sein Glück kaum fassen. Als sie an der Tankstelle von Copper Corners vorbeifuhren, kam ihnen ein rotes Cabrio entgegen. Nathan sah dem Wagen verwirrt nach. War das nicht Nikkis Auto? Und die Frau auf dem Beifahrersitz, das war doch Mariah? Wieso verließen sie die Stadt? Dachte Mariah etwa, er hätte kalte Füße bekommen? „Lassen Sie mich ans Steuer!" schrie er dem alten Mann ins Ohr. „Was ist los?" „Kehren Sie bitte um!" Nathan machte eine kreisförmige Bewegung mit der Hand. „Umkehren? Sind wir denn zu weit gefahren?" Nikkis Wagen war nur noch ein roter Punkt in der Ferne. „Lassen Sie nur." Nathan winkte ab. Er musste in die Kirche, den Hochzeitsgästen alles erklären, sich dann ein Auto leihen und den beiden hinterherfahren. Die arme Mariah! Sie glaubte sicher, er hätte es sich anders überlegt. Sie war so jung und noch ziemlich unsicher und bestimmt verzweifelt. Er musste sie unbedingt einholen, musste ihr sagen, dass alles nur ein unglücklicher Zufall war, sie trösten, ihr die Tränen von den Wangen küssen ... Wenig später lief Nathan die Stufen zur Kirche hinauf, als ihm plötzlich ein entsetzlicher Gedanke kam. Mariah hatte gar nicht so ausgesehen, als fühlte sie sich verlassen. Sie hatte gelacht und wild gestikuliert. Und hatte er nicht auch ihren Koffer auf dem Rücksitz gesehen? Sie hatte gepackt. Sie verschwand aus der Stadt. Sie verließ ihn. Er war es, der sitzen gelassen wurde. Flatterhaft wie ein Schmetterling, so bezeichnete ihre Mutter Mariah immer. Aber sie war doch schwanger! Hauptsächlich aus diesem Grund, so hatte er geglaubt, hatte sie sich darauf eingelassen, ihn zu heiraten und mit ihm ein ruhiges Leben zu führen. Denn er war verlässlich, und er wäre ein guter Vater. Kurz überlegte er, ob es sinnvoll war, hinter ihr herzujagen und sie zur Rede zu stellen. Aber wenn sie bereit war wegzulaufen, obwohl sie schwanger war, dann würde er sie auch durch seine Liebe nicht zurückhalten können. „Wo bleibst du denn?" Mariahs Mutter kam ihm schon entgegen. „Ich hatte Probleme mit dem Auto", sagte Natha n leise. „Übrigens habe ich Mariah gesehen, wie sie mit Nikki davonfuhr." Lachend ... glücklich ... frei. „So was habe ich schon befürchtet", sagte Meredith. „Ich habe alles vermasselt, Nathan. Sie ist gar nicht schwanger. Und sie hat die Hochzeit sofort abgesagt, als sie erfuhr, dass du von dieser angeblichen Schwangerschaft weißt. Du musst sie unbedingt zurückbringen. Ich werde den anderen sagen, sie sollen sich noch ein bisschen gedulden." Sie wandte sich zur Kirchentür um. „Warte, Meredith. Was hat sie denn gesagt, ich meine, in Bezug auf mich?" „Ach, ich weiß es auch nicht genau. Irgendwas, dass sie ihre Meinung geändert hat. Aber das tut sie ja ständig. Und dann meinte sie noch, sie musste ihr eigenes Leben leben oder so ähnlich. Alles Unsinn." Nathan hätte gern geglaubt, dass das Unsinn war, doch die beiden Mädchen hatten so glücklich ausgesehen, als sie an ihm vorbeigebraust waren. Mariah war erst siebzehn. Sie hatte noch nicht einmal die Schule abgeschlossen, und sie
war auch nicht schwanger. Warum sollte sie an einem ruhigen Leben an seiner Seite interessiert sein? Wahrscheinlich war ihr jetzt erst klar geworden, dass sie mit einem Langweiler wie ihm gar nichts anfangen konnte. Er liebte sie so sehr, dass er geglaubt hatte, seine Liebe reiche für zwei. Und seine Sehnsucht danach, sich endlich irgendwo zu Hause zu fühlen, hatte seine Logik vorübergehend außer Kraft gesetzt. „Nein. Ich glaube, Mariah weiß sehr genau, was sie will, Meredith", sagte er schließlich. Und entschlossen, wenn auch schweren Herzens, trat er in die Kirche, um den Anwesenden mitzuteilen, dass sein Schmetterling ihm devongeflattert war.
1. KAPITEL Heute Mit einer einzigen Bewegung riss Mariah sich die knallrote Perücke vom Kopf, während sie die Treppe zu dem Apartment hochstapfte, das sie sich mit Nikki teilte. Dabei musste sie die Füße mit den großen Clowns schuhen ordentlich anheben, um nicht zu stolpern. Als sie die Haustür aufschloss, hörte sie drinnen das Telefon klingeln. Vielleicht war das die Agentur, die einen neuen Auftrag für sie hatte. Mariah hatte inzwischen die Nase gestrichen voll von „Party Time Characters", der kleinen Schauspieltruppe, die sie mit vier Freunden von der Schauspielschule gegründet hatte. Das machte sie nun schon fast ein halbes Jahr, und es war Zeit, etwas anderes zu versuchen. Länger als sechs Monate hatte sie es noch nie in einem Job ausgehalten. Mariah stürzte auf das Telefon zu, stolperte natürlich über ihre Clownsschuhe, stieß gegen den Tisch und konnte gerade noch das Te lefon auffangen, bevor es auf den Boden knallte. „Hallo", keuchte sie in den Hörer. „Hallo, Liebes. Hier ist deine Mutter." So meldete Meredith sich immer. „Oh. Hallo, Mom", sagte Mariah und unterdrückte einen Seufzer, während sie sich auf den Rücken rollte. „Danke für das Päckchen. Das Bild zum Ausmalen ist hübsch, aber in meiner Malklasse arbeiten wir sehr frei. Ohne Vorlagen, meine ich." Selbst aus der Ferne versuchte Meredith immer noch, Mariahs Leben nach ihren mütterlichen Vorstellungen zu formen. Und das ging schon seit acht Jahren. „Die Pralinen mit Anisgeschmack sind Dad gut gelungen." Mariah hasste die Süßigkeiten, die ihre Mutter ihr regelmäßig schickte. Da sie davon ausging, dass sie allein im Apartment war, öffnete Mariah den langen Reißverschluss des Clownskostüms und schlüpfte schnell heraus. Die kühle Luft tat ihr gut. Sie zog ihren BH aus und warf ihn zur Seite. Das Clownskostüm war furchtbar kratzig und viel zu warm. „Das wird deinen Vater freuen. Er weiß doch, wie gern du seine Pralinen isst. Aber ich rufe nicht wegen des Päckchens an. Ich habe was Dringenderes mit dir zu besprechen. Es geht um Nathan." „Nathan?" Wieder war Mariah zusammengezuckt, wie immer, wenn sie seinen Namen hörte. Eine alberne Angewohnheit. Sie hatte ihn nicht mehr getroffen, seit sie sich vor acht Jahren gegenseitig vor dem Altar sitzen gelassen hatten. Es kam ihr vor, als sei es erst gestern gewesen. „Es ist einfach schrecklich. Wir sind völlig fertig." „Was ist denn los?" War er krank? Lag er im Sterben? Wollte er heiraten? „Er verlässt uns. Wir können es einfach nicht fassen." „Warum will er denn weg?" „Es ist vollkommen verrückt, ich weiß. Er passt so gut hierher. Ich habe den Eindruck, der Mann hat eine Midlife-Crisis." „Mom, er ist doch erst neunundzwanzig. In dem Alter hat man noch keine Midlife-Crisis. Was hat er denn für Gründe angegeben?" „Ach, irgendeinen Unsinn. Er müsse herausfinden, was er wirklich will, oder so ähnlich. Das, was du auch immer sagst - , dieses Gerede davon, dass man für den Augenblick leben und sich selbst finden muss. Hast du etwa in der letzten Zeit mit ihm gesprochen?" „Natürlich nicht." Sie sprach nie mit Nathan, und sie war sicher, dass das ganz in seinem Sinne war. In den letzten acht Jahren war sie fünf Mal zu Hause gewesen, immer nur kurz, weil sie das Gerede ihrer Mut ter nicht lange ertragen konnte. Nathan war regelmäßig zum Essen eingeladen gewesen, hatte aber immer abgesagt, mit dem Hinweis, er wolle die Familie nicht stören. Was vollkommen blödsinnig war, denn ihre Eltern behandelten ihn wie ihren eigenen
Sohn. Das war Mariah sehr recht, da es ihr schlechtes Gewissen erleichterte. Außerdem war Nathan genau so, wie ihre Eltern sich ihr Kind immer gewünscht hatten. „Das wirft alle unsere Pläne über den Haufen", sagte Meredith, „denn nun wird sich dein Vater nicht aus dem Geschäft zurückziehen können." „Was?" „Seit Jahren rede ich auf deinen Vater ein, und jetzt hatte ich ihn end lich so weit. Allerdings war er nur unter der Bedingung bereit, aufzuhören, dass Nathan das Geschäft übernimmt." Sie machte eine dramatische Pause. „Und nun lässt Nathan uns im Stich, und dein Vater wird arbeiten, bis er tot umfällt!" „Das ist doch lächerlich." „Der Meinung bin ich auch. Du musst ihn zur Vernunft bringen." „Ich kann es versuchen, aber ich bezweifle, dass Daddy auf mich hören wird." „Nicht deinen Dad, Nathan! Du musst mit Nathan sprechen. Du musst ihn davon überzeugen, dass er bleiben muss. Eine andere Möglichkeit gibt es nicht. Du kennst deinen Vater. Er gibt nicht nach. Mariah, bitte, komm her und sprich mit Nathan. Ich weiß mir keinen anderen Rat." Das klang wirklich verzweifelt. „Warum sollte Nathan auf mich hören?" „Weil ... Also, ich weiß, dass du das nicht hören willst, aber er liebt dich noch immer." „Hör auf!" „Ich weiß, ich weiß, du hast das alles hinter dir. Aber ich bin sicher, dass er auf dich hört." „Das glaube ich nicht." „Warte, bis du ihn gesehen hast. Er wird immer attraktiver." „Mom!" „Ja, ja. Ich weiß, du hast ein ausgefülltes Leben und ständig neue Freunde. So ein Typ wie Nathan ist sicher nichts für dich. Er hat schließlich ein langweiliges eigenes Haus, hat einen öden gut bezahlten Managerjob und lebt in einer spießigen kleinen Stadt, in der einer für den anderen da ist, in guten wie in schlechten Zeiten." „Es reicht, Mom." j „Was hast du denn? Ich bin doch vollkommen einer Meinung mit dir. Ich möchte ja nur, dass du mit ihm sprichst. Außerdem warst du schon ewig nicht mehr in Copper Corners." „Ja, und?" „Du fehlst uns. Wer weiß, wie lange wir noch leben." „Seid ihr krank?" fragte Mariah alarmiert. „Noch nicht. Obwohl der Cholesterinspiegel deines Vaters viel zu hoch ist." Mariah atmete erleichtert aus. Solche Dramatisierungen waren typisch für ihre Mutter. „Bitte, komm uns besuchen. Und bei der Gelegenheit kannst du Nathan gleich daran erinnern, dass ,Cactus Confections' sein Zuhause ist. Was kann man sich denn Besseres vorstellen, als eine Konfektfabrik zu leiten?" „Vielleicht gibt es noch etwas Wichtigeres im Leben?" „Dein Vater ist hier dreißig Jahre lang glücklich gewesen. Auch du hättest hier dein Glück finden können." „Aber ich bin hier glücklich, Mom!" sagte Mariah. Zumindest würde sie es sein, sowie sie einen anderen Job gefunden hatte. „Oh, hallo ..." Bei dem Klang einer Männerstimme fuhr Mariah herum. Nikkis neuer Freund stand in der Tür zu Nikkis Schlafzimmer und sah Mariah grinsend an. „Oh ..." Hastig zerrte Mariah sich das Clownskostüm über die nackten Brüste. „Meinetwegen musst du das nicht machen", sagte er und musterte sie langsam vom Kopf bis zu den Zehen. Er trug eine ausgeblichene Jeans und eine Lederweste über dem nackten Oberkörper. Die Weste stand offen, und man konnte einige Tattoos sehen, die Nikki entworfen hatte. Nach seinem Blick zu urteilen, würde er sicher versuchen, sich an sie
heranzumachen, wenn Nikki mit ihm fertig war. Raul war ganz nett, aber Mariah hatte kein Interesse an ihm. In letzter Zeit waren Männer ihr eher egal. Sie verbrachte viel Zeit vor dem Fernseher und hatte vor kurzem sogar wieder angefangen zu malen. Das machte sehr viel me hr Spaß, als sich mit Männern herumzuplagen. Sie lächelte Raul gleichgültig an, der zu begreifen schien und in der Küche verschwand. „Mariah? Bist du noch da?" „Ich bin noch da, Mom." „Du möchtest doch nicht, dass Nathan einen schwerwiegenden Fehler macht, oder? Du willst doch das Beste für ihn?" fragte Mer „Aber natürlich", sagte sie und seufzte leise. Sie verdankte ihm eine Menge, denn im Grunde war er derjenige, der ihr zu ihrem unabhängigen Leben verholfen hatte. Nach ihrer Flucht aus Copper Corners hatten ihre Eltern ihre Liebe, Fürsorge und Wertschätzung auf ihn übertragen, und so konnte Mariah ein freies Leben führen, ohne von ihnen allzu sehr behelligt zu werden. Er war der Sohn, den ihr Vater sich immer gewünscht hatte, und er war der Juniorpartner, der Mariah nie hatte sein wollen. Vielleicht steckte Nathan tatsächlich in einer Krise, vielleicht hatte ihre Mutter Recht, und sie konnte ihm wirklich gut zureden. Und vielleicht war alles auch gar nicht so schlimm, wie ihre Mutter es darstellte. „Gut, ich werde ihn anrufen." Bei dem Gedanken, Nathan persönlich gegenüberzutreten, wurde ihr heiß und kalt. Sie war froh, dass zweihundert Meilen zwischen ihnen lagen. Sie würde ihn anrufen und mit ihm sprechen. Das war sicher am besten. „Liebling!" rief ihr Vater überrascht aus, als Mariah zwei Tage später bei ihm vor der Tür stand, und zog sie in die Arme. „Hallo, Dad." Mariah hatte drei Mal bei Nathan angerufen, aber immer, wenn er sich gemeldet hatte, hatte sie voller Panik wieder aufgelegt. Also war sie nach Copper Corners aufgebrochen. Nach acht Jahren ohne Kontakt war ein persönliches Gespräch sowieso besser und überzeugender. Und falls das Ganze nur eine Taktik von Meredith war, um Mariah endlich mal wieder nach Copper Corners zu lotsen, war es das Beste, diesen Besuch möglichst bald hinter sich zu bringen. Wer weiß, was ihre Mutter sich sonst noch einfallen lassen würde ... So war sie also wieder zu Hause und empfand wie immer in dieser Situation so etwas wie Heimweh und gleichzeitig das Gefühl, dass die elterliche Fürsorge sie erstickte. Sie liebte ihre Eltern, aber ihr unabhängiges Leben war ihr wichtig. Und ihre Freiheit allemal. Nachdem ihre Mutter es damals fast geschafft hätte, ihre Heirat mit Nathan zu arrangieren, hatte Mariah sich geschworen, nie wieder auf ihre Eltern zu hören, wenn sie eine Entscheidung zu treffen hatte. Sie würde nach ihrer Art leben, würde selbst bestimmen, was sie tun wollte. Sie war wie ein Schmetterling, den man nicht festhalten konnte. Warum auch nicht, Schmetterlinge brachten schließlich Schönheit in die Welt. Sie blieben zwar nie lange, aber sie erregten Bewunderung und hinterließen eine schöne Erinnerung, wenn sie wieder davonflatterten. Diese Vorstellung gefiel ihr so gut, dass sie Nikki gebeten hatte, ihr einen Schmetterling zu zeichnen, den sie sich auf die Schulter tätowieren ließ. Auch Nikki hatte eine Tätowierung. Sie war von der Sache so begeistert, dass sie beschlossen hatte, das Tätowieren zu lernen. Sobald sie genügend Geld zusammenhatte, wollte sie ihr eigenes kleines Tattoo-Studio aufmachen. „Du bist ja nur noch Haut und Knochen", sagte Meredith, die aus der Küche herausgestürzt kam und nach Rosmarin, Zwiebeln und frischem Brot duftete. „Wovon ernährst du dich denn? Von Kräckern und To matensuppe? Hast du genug Geld?" „Alles in Ordnung", sagte Mariah, küsste ihre Mutter auf die Wange und hielt ihre Hand fest, als Meredith ihr ein paar Scheine in die Ho sentasche stecken wollte. „Das meine ich ehrlich."
Nicht lange und ihr Vater würde das Gleiche tun, das wusste Mariah genau. Aber es war eine Sache des Stolzes, das Geld, das ihre Eltern ihr in regelmäßigem Abstand schickten oder ihr bei ihren Besuchen zusteckten, nicht auszugeben. Mariah zahlte es auf ein Konto ein und hatte vor, es den Eltern zur ückzugeben, wenn sie in Rente gingen. So gab sie schließlich nach, nahm das Geld entgegen und stopfte es in ihre Jeanstasche. Dann sah sie sich im Wohnzimmer um. „Was ist das denn?" Auf dem Esstisch stand ein Laptop, ein Globus, und jede Menge Reisebroschüren lagen herum. An den Wänden waren Landkarten aufgehängt. „Das ist die Kommandozentrale für all das, was wir vorhaben, wenn dein Vater im Ruhestand ist", sagte Meredith. „Dein Vater ist endlich vom Reisefieber angesteckt worden, und wir brennen darauf, loszukommen. Wir haben an Barbados gedacht. Sieh mal." Sie drückte Mariah eine umfangreiche Reisebroschüre in die Hand. „Das ist toll", sagte Mariah und wandte sich an ihren Vater. „Ich bin froh, dass du dir endlich etwas Ruhe gönnen willst." „Weshalb habe ich sonst das ganze Geld gespart?" Ihr Vater zuckte mit den Schultern. Allerdings wirkte er nicht ganz so entzückt von der Idee wie seine Frau. „Nun brauchen wir nur noch jemanden, dem wir die Firma anvertrauen können", meinte Meredith. Mariahs Vater warf der Tochter einen zärtlichen Blick zu. „Du wirst deinen alten Vater doch nicht im Stich lassen, Liebling?" „Ich? Oh nein, rechne nicht mit mir, Dad." Sie trat schnell einen Schritt zurück. „Ich habe nur versprochen, mit Nathan zu reden. Hat Mom dir das nicht gesagt?" „Doch, doch." Er senkte langsam den Kopf. „Aber Nathan ist sehr stur in diesem Punkt." Das hatte sie befürchtet. Die ganze Situation war schrecklich vertrackt. Einerseits sehnte sie sich danach, Nathan wieder zu sehen, andererseits hatte sie fürchterliche Angst davor. Aber es half nichts. Sie musste die Sache möglichst schnell hinter sich bringen. „Ist das dein ganzes Gepäck?" Ihr Vater hob den kleinen Koffer an. „Ich bleibe nicht lange, Daddy." Dabei sah Mariah ihn nicht an, denn sie wusste, dass ihn das sehr enttäuschte. „Gib mir den Koffer, ich kann ihn nach oben tragen." „Unsinn. Wenn ich zu alt bin, um das Gepäck meiner Tochter zu tragen, dann kann ich auch gleich tot umfallen." Mariah warf ihm einen liebevollen Blick zu. Sie liebte ihn sehr, und es tat ihr weh, ihn so traurig zu sehen. Vielleicht sollte sie doch häufiger zu Besuch kommen. In ihrem Zimmer überfielen sie dann wieder die bittersüßen Erinne rungen, wie immer, wenn sie sich in diesen Raum aufhielt. Alles war noch so, wie sie es vor acht Jahren verlassen hatte. Die Wände hatte sie in verschiedenen Farben gestrichen - in Lila, Tiefrot, Froschgrün und Orange. Die grellen Farben taten ihr heute in den Augen weh. Überall hingen ihre Kunstwerke, abstrakte Ölgemälde und Aquarelle in knallig bunten Rahmen, aber auch Kohlezeichnungen, Radierungen, Collagen und sogar ein paar gewebte Stücke. Sie war damals besessen davon gewesen, alles auszuprobieren. Le diglich Nikki hatte ihre Leidenschaft verstanden. Nikki war wirklich eine Künstlerin. Mariah war nur mittelmäßig. Und das war ihr größtes Problem, denn ihr Talent würde nie für eine künstlerische Karriere reichen. Über die Jahre hatte sie akzeptieren müssen, dass sie in keiner Richtung besonders begabt war. Deshalb versuchte sie, ihre Möglichkeiten auszuschöpfen, und ging dann zu etwas anderem über. Sie hatte sogar schon Schmuck selbst hergestellt, meist nach eigenen Entwürfen. Ihre Kommode war voll davon. Um den Spiegel hatte sie Schals drapiert, und dort hing auch das Programm des Ein-Personen-Stückes, das sie damals im Rahmen einer Talentshow in ihrer Schule aufgeführt hatte. Normalerweise packte sie bei ihren Besuchen den Koffer gar nicht aus, aber dieses Mal würde sie länger bleiben. Sie zog eine Schublade auf. Obenauf lag ihr schwarzes
Spitzenhemdchen, das sie in ihrer Hochzeitsnacht hatte tragen wollte. Ihr Herz krampfte sich zusammen. Sie stieß die Schublade so heftig zu, dass eins der Bilder, die auf der Kommode standen, umfiel. Sie nahm es in die Hand. Es war ein Foto von ihr und Nathan, das Nikki am Tag ihrer Verlobung aufgenommen hatte. Mariah hatte sich vertrauensvoll gegen ihn gelehnt, als könnte er sie vor allen Übeln der Welt schützen. Dennoch sah sie scheu und traurig aus, und ihre Augen blickten ängstlich. Wie unsicher sie damals doch gewesen war. Glücklicherweise war sie noch rechtzeitig zur Vernunft gekommen und hatte Nathan nicht geheiratet. Das wäre sicher danebengegangen. Sie hätte sich bemüht, die Rolle der braven Hausfrau in dieser kleinen Stadt zu spielen, und das hätte nie geklappt. Sie war kein Typ für die Kleinstadt, aber damals hätte sie alles getan, nur um Nathan zu gefallen. Heute wusste sie, dass sich selbst treu bleiben musste. Das Foto verschwamm ihr vor Augen, und Mariah wurde klar, dass ihr Tränen über die Wangen liefen. Die Erinnerungen machten sie immer traurig. Sie war damals noch zu jung gewesen, um wirklich zu lieben. Sie war einfach nur wahnsinnig verknallt gewesen. Nathans Hochschulabschluss hatte sie beeindruckt, aber auch, dass er schon etliche Jahre allein lebte, so erwachsen wirkte und genau zu wissen schien, was er wollte. Und natürlich die Art und Weise, in der er sie anschaute. Das war entscheidend gewesen. Bei ihm fühlte sie sich nicht ungebildet und durchschnittlich, sondern schön und begabt. Und sehr geliebt. Aber Nathan hatte damals wohl nur eine gute Tat tun wollen. Nun war offensichtlich die Zeit gekommen, wo sie ihm helfen konnte, mit seinen Zweifeln fertig zu werden. Vielleicht konnte sie ihn davor bewahren, einen großen Fehler zu machen.
2. KAPITEL Nathans zweistöckiges Haus lag nur einige Straßen entfernt von ihrem Elternhaus. Es war schlicht und klassisch und passte zu Nathan. Das Einzige, was Mariah nicht gefiel, war das Maklerschild im Rosenbeet. Er wollte das Haus tatsächlich verkaufen. Ihr sank der Mut. Wenn er sogar dazu entschlossen war, würde es sehr schwer werden, ihn zum Bleiben zu überreden. Sie folgte dem Plattenweg bis zu der großen Eingangstür. Ihr Finger lag schon auf dem Klingelknopf, als ein merkwürdiges Träten sie innehalten ließ. Es klang wie das Geschrei von Gänsen in Todesangst. Dann wurde ihr klar, dass der Ton aus einem Blasinstrument kommen musste, das von einem Anfänger malträtiert wurde. Sie drückte auf die Klingel, und der Lärm verstummte. Nach wenigen Sekunden riss Nathan die Tür auf, in der Hand hielt er ein Saxofon. Sowie er sie sah, strahlte er sie an, erst ungläubig, dann voller Freude, so wie damals, als sie eingewilligt hatte, ihn zu heiraten. „Mariah? Was in aller Welt machst du denn ..." Dann wurde er schlagartig ernst. „Deine Mutter hat dich geschickt. Aber komm doch bitte rein." Sie trat in die kleine Eingangshalle, die hell gefliest war und eine ho he Decke hatte, wodurch der Raum luftig und heiter wirkte. Breite Stufen führten in das geräumige Wohnzimmer, an dessen Ende eine offene Glastür den Blick in den Garten freigab. Türkisblaues Wasser glitzerte im Pool, Palmen wiegten sich im Wind, und der Duft der blühenden Sträucher wirkte fast betäubend. „Du hast ein wunderschönes Haus", sagte sie, „es ist so ..." Typisch du, wollte sie sagen, aber das würde sich lächerlich anhören. „Ein typisches Yuppiehaus, wolltest du das sagen?" Er lächelte kurz und seufzte dann leise. „Ich weiß. Aber komm, setz dich doch." Er legte das Saxofon auf den kleine n Marmortisch in der Eingangshalle. Mariah ging die Stufen in den Wohnraum hinunter und setzte sich auf die weiße Ledercouch. Ihr Herz schlug heftig, und sie hatte Angst, er könnte es hören. Sie versuchte, sich auf die Bilder an den Wänden zu konzentrieren, schreckliche Gemälde, die er vermutlich nur gekauft hatte, um überhaupt etwas aufzuhängen. Wenn er sie doch nur gefragt hätte ... „Ich wusste gar nicht, dass du Saxofon spielst." „Meine Mutter war Musikerin, und ich hoffe, vielleicht ihr Talent ge erbt zu haben. Aber ich fürchte, in dem Punkt wurde meine Generation übersprungen." „Übung macht den Meister." „Vielleicht", sagte er. Er musterte sie kurz von Kopf bis Fuß. „Es ist noch ein bisschen früh für einen Drink, aber irgendwie habe ich das Gefühl, ich könnte einen vertragen." Als Mariah die Stirn runzelte, fügte er schnell hinzu: „Nicht deinetwegen, sondern weil ich weiß, weshalb du gekommen bist." Er ging zu der kleinen Bar hinüber. „Möchtest du auch etwas? Ich habe einen guten Cabernet." „Ja, gern", sagte sie. Wein war sicher gut, beruhigte vielleicht ihre Nerven, aber sie wünschte, es wäre kein Rotwein. Wenn sie davon nun etwas auf seinem weißen Teppich verschüttete? Nathan sah gut aus, da hatte ihre Mutter nicht übertrieben. Er war attraktiver und wirkte noch männlicher als vor acht Jahren. Damals, mit einundzwanzig, war er noch lang und schlaksig gewesen. Jetzt hatte er breitere Schultern und war ausgesprochen muskulös. Wahrscheinlich trainierte er in dem einladenden Pool in seinem Garten. Das dunkle kräftige Haar trug er kurz geschnitten. Er sah älter aus, aber auch erfahrener. Um die Augen herum hatte er Lachfältchen, und er wirkte insgesamt sehr viel entspannter, als sie ihn in Erinnerung hatte. Obgleich er eine helle Khakihose zu dem kurzärmligen Hemd trug, konnte man ihn sich nicht nur auf dem Golfplatz, sondern auch in einer
Vorstandssitzung vorstellen oder in einer verräucherten Bar. Und in schwarzem Leder würde er einfach umwerfend aussehen. Mit geübtem Griff nahm Nathan zwei Weingläser aus dem Regal, öffnete die Flasche und schenkte ein. Wahrscheinlich machte er das immer so, wenn ihn eine Frau besuchte. Obwohl Mariah sich dagegen sträubte, hatte ihre Mutter es immer wieder geschafft, sie über die Einzelheiten von Nathans Liebesleben zu informieren. Hatte Meredith ihr nicht neulich von seiner neuesten Flamme erzählt, einer Mathematiklehrerin? Nathan kam mit den Weingläsern auf sie zu. Da er wusste, weshalb sie gekommen war, wirkte sein Lächeln aufgesetzt, und Mariah fiel auf, dass er sich bemühte, sie nicht zu berühren, als er ihr das Glas reichte. „Und wie ist es dir so ergangen?" fragte er, während er sich am anderen Ende des Sofas niederließ. Als hätte er Angst, sie würde sich auf ihn stürzen. Lächerlich. „Danke, gut." „Deine Mutter sagte, du hättest dir ein Apartment gekauft?" „Leider nicht. Wir haben es gemietet, Nikki und ich." „Ach so, mit Nikki, deiner verrückten Freundin. Ihr habt es sicher nett zusammen." „Allerdings, es ist toll." Sie dachte an ihre Bruchbude mit den dünnen Wänden, an die sie immer klopfen mussten, wenn sie wollten, dass die Nachbarn das Radio nach Mitternacht nicht allzu laut dröhnen ließen. Die Klimaanlage funktionierte selten, und was sie und Nikki alles anstellen mussten, damit ihnen nicht das Gas abgedreht und das Telefon abgestellt wurde, wenn sie mal wieder nicht zahlen konnten, das wollte sie ihm lieber nicht erzählen. „Es ist mit deinem Haus natürlich nicht zu vergleichen", sagte sie und wies auf den Garten. „Ich wette, du stürzt dich nach einem harten Tag in der Firma erst einmal in den Pool." Nathan zuckte nur gleichgültig mit den Schultern. „Und was macht die Arbeit? Deine Mutter sagt, du bist Schauspielerin. Bist du an einem Theater beschäftigt? Vielleicht spielst du sogar ein Stück, das du selbst geschrieben hast?" Schön wär's. Sie skizzierte immer die Charaktere der Figuren, die sie und ihre Truppe auf den Kinderpartys, bei denen sie auftraten, darstellten. Aber das konnte man nun wirklich nicht als Theaterspielen bezeichnen. „Mom übertreibt immer ein bisschen. Ich hab meinen letzten Job gerade aufgegeben." Sie brachte es nicht fertig, ihm zu sagen, dass sie sich aus ihrer kleinen Schauspieltruppe ausgeklinkt hatte. Ihrer Agentur hatte sie gesagt, dass sie ein paar Familienangelegenheiten regeln musste. „Aber nun zu dir", sagte sie, sah ihn dabei aber nicht an. Sie hatte das unbehagliche Gefühl, dass er genau wusste, was sie ihm verschwieg. „Wie geht es dir denn so?" Nathan lächelte. „Ach ja, deshalb bist du ja gekommen. Also sollten wir auch darüber sprechen." Das hörte sich sehr gelassen an. Nathan war überrascht, wie gut es ihm gelang, seine Gefühle zu verbergen. Immerhin hatte er die letzten acht Jahre immer wieder von dieser Frau geträumt, die jetzt plötzlich seinem Sofa saß. Er musste sehr vorsichtig vorgehen, damit sie nicht genauso plötzlich wieder verschwand wie vor acht Jahren. Aber sie war ja nicht gekommen, um ihre alte Liebe wieder aufleben zu lassen, sondern hatte etwas ganz Bestimmtes im Sinn. Mariah war hübscher als auf dem Foto, das ihm ihr Vater auf seinen Wunsch hin überlassen hatte. Die Kamera konnte das Funkeln ihrer blaugrünen Augen, ihr lebhaftes Mienenspiel und das Glänzen ihrer goldbraunen Locken nicht einfangen. Ihre Ausstrahlung war noch immer so intensiv wie damals. Er dachte an ihre letzte Begegnung, als sie mit ihrer Freundin Nikki in dem kleinen Sportwagen lachend an ihm vorbeigefahren war. Oft hatte er sich vorgestellt, wie wohl alles gelaufen wäre, wenn er seinem ersten Impuls gefolgt wäre. Dann hätte er sich den nächstbesten Wagen geschnappt, hätte sie verfolgt und sie gezwungen, mit ihm zu kommen. Vor allem nachts marterte ihn dieser Gedanke immer wieder, wenn ihm heiß war und er nicht
schlafen konnte. Aber das war alles Vergangenheit, und es wurde Zeit, dass er sich endlich den Tatsachen stellte. „Ich habe gehört, dass du die Stadt verlassen willst", sagte Mariah. „Warum denn?" Der eigentliche Grund, und das war ihm jetzt endlich klar geworden, war die Tatsache, dass seine Beziehungen immer wieder in die Brüche gingen. Obgleich er privat viel um die Ohren hatte und die Arbeit ihm Spaß machte, fühlte er sich einsam und gelangweilt. Und das hatte nur mit Mariah zu tun, die er auch nach acht Jahren nicht vergessen konnte. Ihm war wirklich nicht zu helfen. „Ich möchte, dass mein Leben ir gendwie ..." „Sinnvoller ist?" „Ja, genau." „Aber, wie meine Mutter immer sagt, was gibt es Sinnvolleres als Süßes?" Er lachte. „Ja, deine Mutter, die ist schon was Besonderes." „Ich weiß." Mariah blickte in ihren Schoß, hob dann aber den Kopf und sah Nathan direkt an. „Ich danke dir für alles, was du für meine Eltern getan hast. Du warst immer für sie da und warst meinem Dad in all diesen Jahren eine große Hilfe." Sie ist wirklich erwachsen geworden, dachte Nathan. Mit siebzehn war sie so unsicher und voller Angst, und er hatte nur den Wunsch ge habt, sie zu beschützen. Aber jetzt war sie nicht nur hübscher, sie schien auch wesentlich selbstbewusster zu sein und zu wissen, wo ihr Platz in der Welt war. „Das habe ich gern getan", sagte er. „Ich mag sie sehr. Sie sind wie eine Familie für mich. Dennoch glaube ich, ich muss einfach mal was anderes machen." Mariah wirkte betreten, und einen winzigen Moment lang hatte Nathan die verrückte Hoffnung, sie könnte befürchten, ihn zu verlieren. „Was willst du denn machen?" fragte sie. „Das weiß ich noch nicht genau. Ich habe mir Unterlagen über ein Seminar kommen lassen, das mir helfen soll, mir über meine Wünsche klar zu werden. Das wird für Manager veranstaltet, die in ihrem Leben etwas verändern wollen." „Darunter kann ich mir gar nichts vorstellen." „Unter anderem hat man dort Kontakt mit Karriereberatern und Motivationstrainern. Dann gibt es Eignungstests, dein Lebenslauf wird ana lysiert, man diskutiert über Gott und die Welt. Außerdem erzä hlen Leute, die eine steile Karriere hinter sich haben und dann ausgestiegen sind, von ihren Erfahrungen. Auf alle Fälle wird man eine ganze Menge über sich selbst lernen." „Mom denkt, du hast nur eine verfrühte Midlife-Crisis." Sein Lächeln wirkte gezwungen. „Vielleicht hat sie Recht. Ich weiß nur, dass ich hier nicht bleiben kann." „Meine Eltern sind vollkommen verzweifelt." „Aber wir haben doch gute Leute. Dave Woods, der Leiter der Kocherei, könnte wahrscheinlich meinen Posten übernehmen. Die Firma ist nicht sein Ein und Alles wie für deinen Vater, aber er ist ein guter Mann. Außerdem könnten wir jederzeit einen Headhunter einschalten, wenn dein Vater das will. Über den findet man sicher einen Ersatz für mich." „Aber das geht nicht von heute auf morge n. Vielleicht musst du einfach nur mal raus aus dem Laden für eine gewisse Zeit. Vielleicht solltest du Ferien machen." „Darüber habe ich auch schon nachgedacht, aber Urlaub ist keine Lö sung." „Wie denkt denn deine Freundin darüber? Ich meine, dass du wegziehen willst?" Er runzelte die Stirn. „Woher weißt du ...?" „Woher wohl? Von Mom natürlich. Die weiß doch alles und erzählt auch alles weiter." Er lächelte. „Vielleicht doch nicht alles. Immerhin scheint sie nicht zu wissen, dass Beth und ich uns vor ein paar Wochen getrennt haben." Das also war der Grund, warum er die Stadt verlassen wollte. „Das tut mir wirklich sehr Leid, Nathan. Aber vielleicht kannst du das ja wieder in Ordnung bringen. Manches sieht
anfangs so hoffnungslos aus und dann ..." „Die Trennung ist nicht der Grund, weshalb ich weg will." Das war nicht ganz richtig. Immerhin hatte die Tatsache, dass er für Beth überhaupt nichts empfand, den Ausschlag gegeben. Er wusste, er musste sein Leben von Grund auf ändern. „Ich muss einfach weg." . „Und dein Haus willst du verkaufen." „Ja. Ich habe mir überlegt, dass ich sicher irgendwas in Südkalifornien finden kann, wenn ich während des Seminars dort bin." „Du ziehst nach Kalifornien, ohne einen Job zu haben? Ist dir klar, wie teuer dort die Häuser sind? Hältst du das für vernünftig?" „Keine Ahnung. Ich warte erst mal ab." „Das sieht dir aber gar nicht ähnlich. Ist wirklich alles in Ordnung mit dir?" Mariah legte ihm die Hand an die Wange. Hatte er vielleicht Fie ber? Nathan schloss die Augen und genoss die Berührung. Ja, ein solches Verhalten sah ihm nicht ähnlich, da hatte sie vollkommen Recht. Aber er musste etwas verändern, sonst würde er sich ewig nach dem Unerreichbaren sehnen. „Das Leben, das du dir da vorstellst, ist keineswegs so toll, wie du vielleicht denkst. Es ist unsicher und macht Angst." Mariah rutschte dichter an ihn heran. „Glaub mir, ich habe da so meine Erfahrungen." Wie einladend waren ihre roten Lippen doch! Nach dem ersten Kuss damals vor acht Jahren hätte er alles darum gegeben, sie wieder küssen zu können. „Und ein solches Leben ist sicher nichts für dich." Mariah schüttelte entschieden den Kopf. „Genau das ist der Punkt. Ich will nicht mehr der sein, der ich immer war." Er würde ihr nicht sagen, dass er ihretwegen die Stadt verlassen musste. „Und woher willst du eigentlich so genau wissen, wer ich bin und was gut für mich ist? Wir haben uns doch seit Jahren nicht mehr gesehen. Seit du mich verlassen hast." Er räusperte sich. Das hatte er eigentlich nicht sagen wollen. „Ich wollte dich nicht verlassen, ich wollte mich selbst finden", sagte sie. „Das ist etwas ganz anderes. Außerdem war ich damals der Meinung, du hättest mich verlassen, erinnerst du dich?" Sie lachte leise. „Aber das stimmte nicht. Ich war doch nur ..." „Ich weiß, Nathan", unterbrach sie ihn schnell. „Junggesellenabschied, viele Drinks, Steine im Radlager und Farmer Jim, der so langsam fuhr. Ich weiß. Wir können von Glück sagen, dass ich durch das Gerede meine Mutter noch rechtzeitig von deinem Irrtum über meine angebliche Schwangerschaft erfahren habe." Mariah wandte den Blick ab und sah in den Garten. „Sieh mal, da sitzen kleine Wachtelküken. Da, unter dem Busch." Sie sprang auf und lief zur Terrassentür. Nathan begriff, dass sie das Thema wechseln wollte. „Sie sind vor wenigen Tagen hier im Garten geschlüpft", sagte er, stand auf und trat ne ben sie. „Du solltest sie sehen, wenn sie brav in einer Linie hinter der Mutter herlaufen." Sie schwieg und beobachtete die kleinen Vögel. „Du wolltest mich unter falschen Voraussetzungen heiraten, Nathan." Wieder überfiel ihn der verrückte Wunsch, ihr die Wahrheit zu sagen. Ich wollte dich unter allen Umständen heiraten, schwanger oder nicht. Ich liebte dich, und ich liebe dich immer noch. Als hätte sie seine Gedanken gelesen, drehte Mariah sich zu ihm um und sah ihn an. Sollte sie das Gleiche empfinden wie er? Nathan hatte das Gefühl, sein Herz bliebe stehen, und er wartete mit angehaltenem Atem darauf, dass Mariah ihm ihre Liebe gestand. „Wir hätten einander nur unglücklich gemacht", sagte Mariah stattdessen etwas atemlos und lachte kurz auf. Nathan atmete bewusst aus. „Wahrscheinlich", sagte er und bemühte sich um einen unbeschwerten Tonfall.
„Glücklicherweise haben wir das alles ja hinter uns." Mariah hob ihr Glas und stieß mit ihm an. „Es war das Beste so. Darauf wollen wir trinken." Er lächelte angestrengt, konnte aber den Toast nicht erwidern. „Und nun werde ich es so machen wie du. Einfach aufbrechen, frei und ungebunden. Du solltest dich für mich freuen." „Manche Menschen können mit dieser Art Freiheit nicht viel anfangen." „Vielen Dank!" „Ich wollte dich nicht beleidigen. Aber wie kannst du das alles hier aufgeben?" Sie machte eine weit ausholende Handbewegung. „Möchtest du hier leben?" fragte er. „Oh nein!" Mariah hielt kurz inne. „Entschuldige, aber das hier passt alles so gut zu dir." Das konnte schon sein, aber er hoffte, sie endlich vergessen zu können, wenn er sein Leben umkrempelte. „Es sieht ja wirklich so aus, als sei es dir ernst mit dem Wegziehen", sagte sie und ging wieder zur Couch zurück. „Was soll denn dann aus meinen Eltern werden?" „Sie werden es überstehen", sagte er, aber das schlechte Gewissen quälte ihn jetzt schon. Es tat ihm wahnsinnig Leid, Abe und Meredith zu enttäuschen. Sie waren wie Eltern zu ihm gewesen, zumindest stellte er sich Eltern so vor. Seine Mutter war ihm immer mehr wie eine ältere Schwester vorgekommen. Sie hatte ihre Mutterpflichten nicht besonders ernst genommen. Aber Abe und Meredith verließen sich auf ihn, und nun ließ er sie im Stich. Wenn er doch nur etwas für sie tun könnte! Nachdenklich betrachtete er Mariah. Ja, das war die Lösung! Zumindest würde Mariah so keine Zeit mehr haben, sich über seine Gründe, hier wegzuziehen, Gedanken zu machen. „Wenn du dir um deine Eltern wirklich Sorgen machst, warum bleibst du dann nicht hier? Du kannst doch meinen Job übernehmen." „Bist du wahnsinnig geworden?" „Überhaupt nicht. Du hast doch eine Menge Erfahrungen. Immerhin warst du schon Geschäftsführerin in einem Restaurant und hast eine Boutique geleitet, oder?" Je länger er sprach, desto besser gefiel ihm die Idee. Mariah sah allerdings so entsetzt aus, dass er beinahe losge lacht hätte. „Du weißt doch genau, wie unglaublich Meredith immer übertreibt. Ich habe als Kellnerin gearbeitet und habe Schmuck auf Kommissions basis verkauft." „Dann hast du ja das Geschäft sozusagen von der Pieke auf gelernt. Wenn du clever bist und motiviert, kann dich nichts mehr stoppen." „Erzähl das mal der ,Caravan Reiseagentur'. Wegen meiner fabelhaften Ideen, was ungewöhnliche Reiseziele betrifft, haben die ordentlich Verluste gemacht. Bei meinen Vorschlägen hatte ich nicht bedacht, dass auch abenteuerlustige Gäste etwas gegen Flöhe und Plumpsklos haben." „Ach was, ich kann dir alles beibringen, was du wissen musst. Du hast doch selbst gesagt, dass du im Moment keinen Job hast. Vielleicht tut es dir ganz gut, mal wieder etwas Solides zu tun." „Ich kann hier unmöglich leben. Wahrscheinlich überlegt Mom schon, in welcher Farbe sie mein Zimmer streichen lassen wird, und sicher würde sie mich sofort im Kirchenchor anmelden. Es wäre Wahnsinn." „Genauso wahnsinnig, wie mich zu bitten, hier zu bleiben." Mariah sah ihn nachdenklich an. „Ja, wahrscheinlich." Sie schwieg. Dann fragte sie: „Wann willst du los?" „In zwei Monaten, wenn das Seminar anfängt. Und was ist mit dir? Wirst du bleiben?" Sie zögerte, und er konnte sehen, wie schwer sie sich mit der Antwort tat. „Vorerst. So lange, bis ich weiß, was mit meinen Eltern wird. Und mit dir." Mariah lächelte ihn plötzlich schelmisch an, was Nathan vollkommen überraschte. Vor
acht Jahren war sie viel zu unsicher gewesen, um zu flirten. Schon dieser Gedanken machte ihn beinahe glücklich. Auf alle Fälle hatte er sich seit langem nicht so gut gefühlt. Verdammt noch mal, was hatte sie vor? Das musste er unbedingt herausfinden. „Na, wie war Nathan?" fragte Nikki, als Mariah sie am nächsten Tag anrief. „Toll." „Wie sah er aus?" „Toll." „Kannst du nicht etwas deutlicher werden?" Mariah seufzte leise. „Okay. Er sah so aus wie immer. Das heißt, im Grunde besser. Muskulöser, männlicher, selbstbewusster. Ach, ich weiß auch nicht." „Wirkt er immer noch, als hätte er einen Stock verschluckt?" „Nikki!" „Na ja, er kam mir immer so steif vor, als könnte er ohne seinen grauen Anzug und das ,Wallstreet Journal' gar nicht leben." „Nein, er ist anders. Er möchte sich selbst finden, und er sucht nach dem Sinn des Lebens. Das kommt mir sehr bekannt vor." Nikki lachte los. „Mein Gott, Mariah, du bist ja immer noch scharf auf den Mann!" „Das würde jeder Frau so gehen. Er ist ungeheuer attraktiv, und ich bin schließlich auch nur ein Mensch." „Dann schlaf doch mit ihm. Ich wette, dann wird er wissen, was er i/ill." „Nein, ich will ihn nicht manipulieren. Außerdem glaube ich nicht, dass er mit mir schlafen will." Das war gelogen. Sie hatte genau ge spürt, dass er sie begehrte. Das war zwar schmeichelhaft, aber auch beunruhigend. „Dadurch würde alles nur noch komplizierter werden." „Für wen denn? Es handelt sich doch sowieso nur um zwei Monate. Ideal. In der Zeit kann doch nicht viel passieren." Wie oft hatten die beiden Freundinnen darüber gesprochen, dass man nie über längere Zeit mit einem Mann befreundet sein sollte. Nach zwei Monaten fing man an, den anderen für selbstverständlich zu nehmen. Was vorher aufregend und neu war, wurde zur Gewohnheit. Man ließ sich gehen. Der Mann kratzte sich den Bauch und rülpste ungehemmt, die Frau schminkte sich nicht mehr und ließ die sexy Wäsche in der Schublade. Zeit, den Partner zu wechseln. Andererseits hatte Mariah das unstete Leben allmählich satt. Deshalb wollte sie im Moment mit Männern überhaupt nichts zu tun haben. Hin und wieder fühlte sie sich zwar ein bisschen einsam, aber das war besser, als sich immer auf jemanden einstellen zu müssen. „Vielleicht verliebt er sich dann in mich, und das könnte problema tisch werden", meinte sie. „Stimmt. Oder du dich in ihn", sagte Nikki. „Ach, was. Wenn ich ihn davon überzeugen kann, nicht wegzuziehen, dann werde ich natürlich nicht bleiben. Was Besseres, als dass ich damals aus Copper Corners verschwunden bin, konnte Nathan Goodman nicht passieren. Die Ehe wäre eine Katastrophe geworden." „Warum regst du dich denn so auf? Mich brauchst du davon nicht zu überzeugen." „Ich weiß. Ich will damit ja auch nur sagen, dass ich ihm helfen muss, diese Krise zu überwinden, damit er begreift, dass er hierher gehört und hier glücklich ist. Dafür habe ich zwei Monate Zeit." „Zwei Monate?" „Ja, denn danach geht er auf irgendein Selbstfindungsseminar nach Kalifornien." „Das ist doch nicht dein Ernst! Nathan Goodman und ein Selbstfindungsseminar?" „Hört sich verrückt an, was? Wahrscheinlich könnte ich ihm selbst Unterricht geben. Wenn ich daran denke, was ich in dem Punkt schon alles durchgemacht habe. Kurse, Selbsthilfegruppen, Lehrbücher ..."
Nicki schwieg. „Das könntest du wirklich", sagte sie schließlich ernst. „Was?" „Ihm Unterricht geben. Im deinem eigenen Institut für Persönlichkeitsentwicklung. " „Hm. Gar keine so schlechte Idee." Es war sogar eine fantastische Idee. Auf diese Weise würde sie Nathan bestimmt in Copper Corners halten können. „Ich könnte das wirklich tun. Ich könnte ihm beibringen, wie man meditiert, Yoga macht. Vielleicht könnte ich auch ein paar Übungen aus der Gestalttherapie mit ihm machen." „Eben." „Und weißt du, was das Beste dabei wäre?" „Nein. Was denn?" „Er wird es verabscheuen. Kopfgesteuerte Typen wie er hassen es, sich mit ihren Gefühlen zu beschäftigen. Und von Meditation und Esoterik halten sie schon gar nichts. Und in Yogapositionen wird er sich lächerlich vorkommen." Nikki prustete los. „Und wenn du ihn erst aufforderst, in Kontakt mit seinem inneren Kind zu treten ..." „Dann rennt er schreiend aus dem Raum. Er wird den ganzen Quatsch mit dem Seminar in Kalifornien vergessen, und ihm wird klar sein, dass er nach Copper Corners gehört." „Das klingt gut." „Finde ich auch." Mariah bat Nikki, ihr einige ihrer Selbsthilfebücher und Broschüren zu schicken, dann hängten sie auf. Das würde sicher fabelhaft klappen. In wenigen Wochen könnte ihr Vater sich aus dem Geschäft zurückziehen, denn Nathan würde ein für alle Mal eingesehen haben, dass sein Platz in Copper Corners war. Und Mariah konnte in ihr altes Leben zurückkehren und.sehen, was die Zukunft ihr bringen würde. Was auch immer es war, es würde auf alle Fälle besser sein, als Copper Corners und der Kirchenchor.
3. KAPITEL Zwei Tage später klingelte Mariah morgens bei Nathan. Er öffnete die Tür und sah sie verschlafen an. „Was, um Himmels willen ..." „Bitte, nimm das mal eben." Damit drückte sie ihm einen Stapel Bücher und zwei Yogamatten in den Arm. „Was soll das? Es ist doch erst halb sieben." „Morgenstund hat Gold im Mund, das gilt besonders für die Selbstfindung", sagte sie fröhlich, ging an ihm vorbei ins Wohnzimmer und legte eine zusammengeklappte Staffelei, einige CDs, Kerzen und weitere Bücher auf dem Tisch ab. Tatsache war, dass sie nicht hatte schlafen können, weil sie immer darüber nachdenken musste, wie sie die Sache am besten anpacken sollte. Nathan sah sie verwirrt an und tappte dann hinter ihr ins Wohnzimmer. „Wovon redest du überhaupt?" „Das ist doch ganz einfach. Ich werde dir bei deiner Selbstfindung helfen. Dann brauchst du kein Vermögen auszugeben, um mit ein paar jämmerlichen ausgebrannten Managertypen in Kalifornien herumzusitzen. Zu dem gleichen Ergebnis wie die kann ich dir auch hier verhelfen, durch ein Selbstfindungsprogramm, das ganz auf deine Bedürfnisse zugeschnitten ist. Und das kann sogar hier in deinem Haus stattfinden." „Was?" Er begriff immer noch nicht. „Glaub mir, ich habe in dem Punkt reichlich Erfahrung." Und während sie ihm aufzählte, was sie schon alles unternommen hatte, um in die Tiefen ihrer eigenen Psyche vorzudringen, stand er nur da, Bücher und Yogamatten im Arm und starrte sie an. Er sah einfach hinreißend aus. Auf seiner Wange zeichnete sich der Abdruck einer Kissenfalte ab, das unrasierte Kinn ließ ihn wild und gefährlich erscheinen, wobei der ordentliche Morgenrock mit dem einge stickten Monogramm diesen Eindruck etwas relativierte. Du liebe Zeit, dachte Mariah, dieser Mann wirkt keinesfalls wie jemand, der versessen darauf ist, endlich die große Freiheit kennen zu lernen. Wie ist er bloß auf diese Idee gekommen? Vermutlich ist es kinderleicht, ihn davon wieder abzubringen. „Na, was meinst du dazu?" fragte sie schließlich. Nathan blinzelte sie verschlafen an. „Ich brauche unbedingt einen Kaffee." Er ließ alles, was er im Arm hielt, auf den Tisch fallen und schlurfte in Richtung Küche. „Oh nein, keinen Kaffee", sagte sie schnell und stellte sich ihm in den Weg. „Koffein ist ein künstliches Aufputschmittel, das nur den natürlichen Aufwachmechanismus des Körpers durcheinander bringt." „ Welchen Aufwachmechanismus?" „Nathan, bitte hör mir zu. Ich will dir helfen, eine Menge Zeit und Geld zu sparen. Aber wir müssen gleich anfangen. Und das bedeutet, kein Kaffee." Er sah sie stirnrunzelnd an. „Ich muss erst duschen", sagte er dann langsam. „Gut. Und zieh dir etwas Bequemes an", rief sie ihm hinterher. „Wir beginnen mit Meditations- und Yogaübungen." Mariah sah sich in dem großen Raum um. Die richtige Atmosphäre war wichtig. Deshalb klappte sie die Fensterläden so weit zu, dass nur noch ein schmaler Lichtstreifen ins Zimmer fiel, und zündete ein paar Duftkegel und Kerzen an. Dann breitete sie die Yogamatten aus, und zwar so, dass sie sich gegenüberlagen. Anschließend legte sie eine CD mit entspannender Musik auf. Sie sah sich um. Das war schon viel besser. Mariah setzte sich und atmete tief durch. Sie wusste, sie musste sehr überzeugend wirken, damit Nathan ihr vertraute und ihr glaubte, dass sie ihm helfen konnte. Als sie Schritte hörte, hob sie langsam den Kopf. Nathan stand unmittelbar vor ihr. Er war nackt bis auf seine schwarzen Boxershorts, die viel von seinen durchtrainierten Beinen sehen
ließen. Sein ungekämmtes Haar war noch feucht, und auf seiner muskulösen Brust glänzten ebenfalls ein paar Wassertropfen. Der Mann sah aus wie ein Model für einen Wäschekatalog von Calvin Klein. „Bist du sicher, dass dir nicht kalt wird?" fragte sie, als ihre Stimme ihr endlich wieder gehorchte. Sie wünschte, sie hätte ihm einen langen Kaftan mitgebracht, um seinen Körper völlig einzuhüllen. „Hast du mal auf das Thermometer gesehen? Es ist jetzt schon ziemlich heiß draußen." Nathan hustete und versuchte, den Rauch der Duftkegel wegzuwedeln. „Was ist das denn?" Mariah räusperte sich. „Das sind Duftkegel." Es fiel ihr verdammt schwer, sich auf die vor ihr liegende Aufgabe zu konzentrieren. „Man at herausgefunden, dass bestimmte Düfte einen unmittelbaren Einfluss auf unser Gehirn haben. Atme einfach tief ein. So." Sie holte tief Luft und fing sofort an zu husten. Ihre Augen tränten. Nathan befeuchtete Daumen und Zeigefinger und löschte drei der Kegel. „Bevor die Feuerwehr kommt und hier alles unter Wasser setzt." „Wenn du meinst." Wieder hustete sie. „Setz dich jetzt bitte auf eine fette, damit wir anfangen können." Er nickte nur und setzte sich ihr gegenüber, wobei er ihren Lotussitz nachahmte. Tolle Beine, dachte Mariah. „Und was meinst du zu meinem Vorschlag?" fragte sie laut. „Bist du einverstanden?" Nathans Blick machte sie ganz nervös. Er hatte irgendetwas vor. „Unter einer Bedingung." „Und die wäre?" „Dass du mit mir zusammen in der Firma arbeitest." „Wieso das denn?" „Als meine Assistentin. Ich führe dich in die Firma ein und mache dich mit meinen Aufgaben vertraut, damit du ein Gefühl für das Unternehmen bekommst." „Aber ich habe dir doch gesagt, dass ich auf keinen Fall hier bleibe." „Betrachte es einfach als eine Art Volontariat. Dann könntest du deinen Vater später bei der Suche nach meinem Nachfolger besser unterstützen." „Das ist lächerlich. Wir brauchen keinen Nachfolger, denn du bleibst." „Es wird dir sicher Spaß machen." „Kommt nicht in Frage." „Okay, aber ich tue nur, was du willst, wenn du tust, was ich will." Seine blauen Augen funkelten vergnügt. „Das ist Erpressung!" Mariah wollte schon empört aufspringen, aber dann dachte sie noch einmal darüber nach. Warum eigentlich nicht? Was hatte sie zu verlieren? „Gut, einverstanden. Du bist eine harte Nuss, Nathan Goodman." „Ich bin Geschäftsmann." Wieder wedelte er den Rauch beiseite. „Und du machst Räucherware aus uns." „Sehr witzig." „Also, lass uns anfangen. Wie geht das noch?" Er schloss die Augen. „Om ..." „Wenn du dich darüber lustig machen willst, können wir die ganze Sache gleich vergessen." „Entschuldige." Er lächelte unschuldig. „Wir müssen herausfinden, was dein eigentliches Selbst braucht. Dazu müssen wir Kopf, Seele und Körper aktivieren. Im Augenblick bist du völlig köpf gesteuert. Aber Seele und Körper müssen auch beteiligt sein. Alles muss zusammenarbeiten." Er tat, als würde er über diesen Vorschlag nachdenken. „Auch der Körper?" Er grinste frech, aber Mariah ignorierte die sexuelle Anspie lung. „Wir fangen mit Meditation an, gehen dann zu Yoga über, damit deine Energie freier fließen kann und du eine andere Bewusstseinsebene erreichst. Dann, also ... von da aus
machen wir dann weiter." Sie konnte ihm unmöglich jetzt schon mit Gestalttherapie kommen oder gar das innere Kind erwähnen. „Und du kommst dann mit mir in die Firma?" „Solange du tust, was ich sage, ja." „Sehr wohl, Hüterin meiner Seele. Dein Wunsch ist mir Befehl." Er kreuzte die Arme vor der Brust und verneigte sich leicht. „Nathan!" sagte Mariah warnend und verkniff sich ein Lächeln. Dass er witzig und locker sein konnte, war ihr früher gar nicht aufgefallen. Er hatte immer so ernst gewirkt. Sie beide waren eigentlich nie unbeschwert miteinander umgegangen. Er musste sich in seine neue Stellung einarbeiten, und sie war unsicher und wollte ihm möglichst alles recht machen. Außerdem waren sie so scharf aufeinander gewesen, dass sie fast nur herumgeknutscht hatten, wenn sie allein waren. Weiter waren sie allerdings nicht gegangen. Nathan hatte gemeint, sie sollten lieber warten, weil sie so jung war. Er wollte, dass sie „bereit" war, was auch immer das bedeuten sollte. Und als sie verlobt waren, wollte er bis nach der Hochzeit warten. Das war sehr lieb gewesen und sehr fürsorglich, hatte aber ihr Verlangen nur umso mehr angeheizt. „Gut, dann fangen wir also mit der Meditation an", sagte Nathan. „Oh. Ja, okay." Mariah schreckte aus ihren Gedanken. Sie musste sich unbedingt auf das konzentrieren, was jetzt vor ihr lag. „Schließ die Augen. Wir machen jetzt eine Visualisierungsübung. Du brauchst nur zu tun, was ich dir sage. Wenn dir ein Gedanke durch den Kopf geht, lass ihn zu und lass ihn dann wieder gehen." „Gut." Mariah beobachtete seine Bewegungen. Nathans Brustkorb hob und senkte sich, sein Atem ging tief und gleichmäßig. Die Muskeln von Brust und Beinen spannten sich kurz an und entspannten sich wieder, in dem Rhythmus, in dem er sich leicht hin und her bewegte. Selbst seine Füße sahen kräftig und muskulös aus ... „Und nun?" Nathan öffnete die Augen und sah, dass Mariah ihn anstarrte. „Nun was? Ach so. Wo waren wir stehen geblieben? Schließ die Augen wieder." Die Sache mit der Meditation war ihr nie leicht gefallen, selbst wenn sie nicht gerade einem halb nackten Mann gegenübersaß. Sie hatte immer große Schwierigkeiten gehabt, ihren Kopf ganz leer zu bekommen oder sich nur auf eine Sache zu konzentrieren. Ihr gefiel das Drumherum, die Musik, die Kerzen, die Stille, auch wenn sie sich selten länger als einige Augenblicke auf die innere Leere konzentrieren konnte. „Atme tief durch die Nase ein und dann langsam durch den Mund wieder aus, während du bis sieben zählst. Lass deine Sorgen mit deinem Atem hinausfließen, langsam und stetig. Verfolge sie, wie sie in die Luft steigen, höher und höher, bis sie verschwunden sind." Sie beobachtete ihn genau. Er atmete langsam aus, genauso, wie sie es ihm gesagt hatte. Mein Gott, sah der Mann gut aus. Konzentration, befahl sie sich. „Dein Atem nimmt alles Giftige mit aus deinem Körper. Nun musst du auch deinen Kopf von allen negativen Gedanken befreien ..." Nathan tat, was Mariah ihm sagte. Er holte tief Luft und stieß sie langsam wieder aus. Es stimmte, er nahm alles um sich herum bewusster wahr, vor allem Mariah. Besonders ihren Duft, trotz der Kerzen und der qualmenden Duftkegel. Und sie war so nah, dass er sie atmen hörte. „Nun stell dir eine vollkommen friedliche Umgebung vor", sagte sie mit ihrer erotischen Stimme, dunkel und samtig. „Du bist ruhig und heiter, du hast nur angenehme Empfindungen." Angenehme Empfindungen? Gut. Er stellte sich vor, dass er in seinen Pool eintauchte. Klares kühles Wasser, eine gleitende Bewegung. Sehr angenehm. Doch dann erschien plötzlich Mariah in einem superknappen Bikini. Hm, noch angenehmer. Sie tauchte auf ihn zu, und plötzlich spürte er ihren Mund ... sofort war er erregt, und er fragte sich besorgt, ob
Mariah das sehen konnte. Er konnte nur hoffen, dass sie die Augen auch geschlossen hielt. Er musste unbedingt an etwas anderes denken. Vielleicht an Baseball oder an Kaktusgelee oder an seine Einkommensteuererklärung. Irgend wie musste er seinen Körper davon abbringen, so heftig auf seine Fantasien von Mariah zu reagieren. Vergebens. „Ich kann das nicht", sagte er mit rauer Stimme. „Vielleicht sollten wir uns lieber bewegen. Ich meine, ein paar Meilen joggen zum Beispiel." Oder eiskalt duschen. „Du musst Geduld haben, Nathan. Die Fähigkeit, sich auf die innere Leere zu konzentrieren, entwickelt sich langsam. Du musst zulassen, was auch immer dir in den Sinn kommt, und es befreien." Er würde auf keinen Fall zulassen, was ihm eben in den Sinn gekommen war, so viel stand fest. „Lass dich in Gedanken an einen Platz tragen, wo du jetzt gern sein möchtest", flüsterte Mairah. Das war leicht. Er lag mit Mariah im Bett, und sie hatte ihm ihre schlanken Beine um die Hüften gelegt, während er ... Unmöglich. Nathan sprang auf. „Ich brauche Wasser." Eiskaltes Wasser, besonders an bestimmten Körperstellen. „Wasser ist okay, aber keinen Kaffee!" rief Mariah ihm hinterher. Auch von hinten sah er umwerfend aus. Der muskulöse Rücken, der knackige Po, die kräftigen Schenkel. Sie atmete tief durch. Ein paar Sekunden wenigstens war sie nicht mit dem Anblick dieses attraktiven Mannes konfrontiert. Sie war inzwischen völlig verkrampft, so sehr hatte sie sich bemüht, zu verbergen, wie sehr seine sexuelle Ausstrahlung auf sie wirkte. Das Gute war, dass ihre Rechnung aufzugehen schien. Nathan wirkte bereits zu Tode gelangweilt und sehnte sich offensichtlich nach Ab wechslung. Nathan kam mit einer Flasche Wasser zurück. „Wie ist das denn mit dieser Yogasache?" Er nahm einen kräftigen Schluck aus der Flasche. „Kann man sich dabei bewegen?" „Ein bisschen schon", sagte sie. „Gut, dann machen wir ein paar Yo gaübungen. Aber morgen geht es mit der Meditation weiter. Du musst geduldiger werden. Meditation ist der Schlüssel zur Selbstfindung." Mariah begann mit einer leichten Aufwärmübung und ging dann zu ein paar einfachen Stellungen über. Glücklicherweise lernte Nathan schnell und konnte leicht die Balance halten. Mariah hoffte inständig, dass sie seine Stellung nie korrigieren musste, denn sie hatte keine Ahnung, wie sie reagieren würde, wenn sie seinen Körper berührte. „Diese Übungen musst du ganz langsam machen", sagte sie und beobachtete ihn genau. Nathan beugte sich weit nach hinten, und seine Bauchmuskeln spannten sich an. „In einer gleitenden Bewegung und langsamen Streckung. Ja, genau so." Er war wirklich in fantastischer körperlicher Verfassung. Dann erklärte sie ihm eine weitere Position, bei der er ausgestreckt auf dem Rücken lag und die Hüften anheben musste. Sie traute sich nicht, diese Übung vorzumachen, das wäre vielleicht doch ein bisschen zu provokant. „Und so halten, ja, so ist es gut." Bewundernd beobachtete Mariah, wie lange Nathan diese Position halten konnte. Ihr wurde heiß und kalt bei der Vorstellung, was er mit dieser Kondition alles anstellen könnte, wenn sie mit ihm im Bett läge. „Und nun entspann dich wieder." Nathan war erleichtert und legte sich wieder flach hin. „Die nächste Stellung nennt man Kobra", sagte Mariah. „Ich mach sie dir vor." Sie legte sich auf den Bauch, die Handflächen parallel zur Brust und hob dann mit einer langsamen gleitenden Bewegung ihren Oberkörper an. Diese Position sollte an die Haltung einer Kobra erinnern, die sich aufrichtet und kurz davor ist anzugreifen. „Sehr schön", sagte er leise. Er lag auf der Seite, stützte sich auf einem Ellbogen auf, und starrte auf Mariahs Brüste. Seine dunkle Stimme vibrierte leicht, und es war eindeutig, dass das Stretching und das Halten dieser besonderen Position auf ihn nicht ohne Wirkung geblieben war. Einerseits gefiel es Mariah, andererseits machte es sie auch nervös.
„Jetzt bist du dran", sagte sie. „Ich kann es versuchen", sagte er, „aber ich glaube nicht, dass ich dafür geschaffen bin." Er rollte sich auf den Bauch, legte die Hand flächen neben seinen Oberkörper und stieß sich ab. „Au! Tut das immer so weh?" „Nicht, wenn du die Übung richtig machst. Du solltest den Rücken nicht zu stark belasten." Mariah rutschte näher, um den Streckungs winkel seiner Arme zu regulieren. Dabei kroch sie fast unter ihn, und als seine Arme jetzt nachgaben, wurde sie auf den Rücken gedrückt und Nathan landete auf ihr. „Das ist schon sehr viel besser", sagte er, und seine Augen funkelten. „Ich muss dir Recht geben. Diese Yogaübungen haben wirklich eine tolle Wirkung." Mariah lag da wie erstarrt. Nathans Körper fühlte sich fantastisch an, sein Gesicht war direkt über ihr, der Mund so nah. Wie sie sich danach sehnte, ihn zu küssen! Sie fragte sich, ob es genauso wäre wie vor acht Jahren. Eine brennende Hitze stieg in ihr auf. Das Ganze war Wahnsinn. „Nathan, wir sollten nicht ... ich meine, es wäre nicht gut, wenn wir ..." Sie versuchte, ihn von sich zu schieben, aber er rührte sich nicht. „Da ist noch was zwischen uns, Mariah", flüsterte er, „das spürst du doch auch." Er sah ihr tief in die Augen, und sie wusste, noch einen Moment länger, und ihre Yogapositionen würden bald den Stellungen aus dem Kamasutra ähneln. Sie kniff die Augen zusammen. „Das ist nur Nostalgie." „Nostalgie? Den Begriff habe ich dafür noch nie gehört." „Du weißt genau, was ich meine." Sie schob ihn zur Seite und setzte sich auf. Schnell zog sie ihr knappes Trikot zurecht und strich sich das Haar zurück. „Ich glaube, das war genug Yoga für heute." „Wenn Sie meinen, o göttliche Ratgeberin", sagte er und verneigte sich wieder. „Obwohl ich gerade anfing, es zu genießen." „Wir können morgen weitermachen." „Wunderbar." Nathans Augen glitzerten triumphierend. „Aber du musst dich gut benehmen", sagte Mariah und senkte den Kopf. Nathan musste nicht sehen, wie erhitzt sie war. „Selbstverständlich." Er legte sich eine Hand aufs Herz. „Das ist mein voller Ernst." „Meiner auch." „Du bist unmöglich." Aber auch sie musste jetzt lächeln. „Wir werden morgen noch mal von vorn anfangen. Ich weiß auch schon wie." „Ich kann es kaum erwarten." „Du brauchst gar nicht so überheblich zu tun." Wahrscheinlich sollte sie ihm erst mal ein paar Beraterstunden in Lebens- und Karrierepla nung geben. Das würde ihn hoffentlich verunsichern, und er würde mit dem Flirten aufhören. „Ich werde dir ein paar Bücher hier lassen, die du dir schon mal ansehen kannst. Die Matten und die Kerzen bleiben auch hier, die brauchen wir später noch. Außerdem kannst du die Yogapositionen auch allein üben." Sie nahm nur die Bücher über Karriereplanung wieder mit, denn da musste sie noch einmal hineinsehen, und ging zur Tür. „Wo willst du hin?" fragte Nathan. Sie drehte sich um. „Nach Hause. Wir sind fertig für heute." „Was? So war es aber nicht abgemacht. Du musst in die Fabrik kommen." „Heute? Aber ich bin gar nicht danach angezogen." Sie deutete auf ihr Trikot und das Seidentuch, das sie sich wie einen Rock um die Hüften geschlungen hatte. „Dann zieh dich um. Wir treffen uns in einer Stunde im Büro." „Aber ..." „Kein Aber. Wir haben eine Abmachung." Gut, wenn er unbedingt wollte. Sie würde schon einen Weg finden, das zu ihrem Vorteil
auszunutzen.
4. KAPITEL Genau eineinhalb Stunden nach der verabredeten Zeit bog Mariah auf den Parkplatz von „Cactus Confections" ein. Das würde Nathan ja wohl ein für alle Mal zeigen, dass sie nicht geeignet war, seinen Job zu übernehmen, denn Pünktlichkeit war sicher das A und O für eine derartig verantwortungsvolle Position. Beim Anblick des massiven Steingebäudes mit dem Schriftzug in großen kupfernen Lettern überfielen Mariah eine Menge Erinnerungen, gute und weniger gute. Sie stieß die Glastür auf und stand vor Leonore, die schon seit vielen Jahren hier als Empfangssekretärin arbeitete. Leonore strahlte sie an. „Mariah, Kind, wie schön, dass du da bist. Dein Daddy hat zwar gesagt, dass du kommst, aber ich habe dich nicht schon heute erwartet." Leonore hatte immer noch die hellblonde auftoupierte Hochfrisur, und auch ihre Nägel waren lang und spitz und feuerrot lackiert wie früher schon. „Ich bin so froh, dass du dem armen Mann helfen willst", flüsterte sie, während sie Mariah herzlich umarmte. „Er kann die Arbeit unmöglich allein schaffen." „Aber ich bin nicht hier, um zu arbeiten", sagte Mariah schnell und machte sich los. „Ich will mich lediglich ein bisschen umsehen, um ein Gefühl für das Ganze zu bekommen." „Ich verstehe schon", sagte Leonore leise und zwinkerte ihr zu, als wollte sie sagen: Keine Sorge, dein Geheimnis ist bei mir gut aufgeho ben. Was, um Himmels willen, hatte ihr Vater seiner Empfangsdame erzählt? „Louise, mach einen Vermerk", rief Leonore nach hinten in Richtung der geöffneten Bürotür. „Mariah fängt heute hier an." „Aber ich arbeite wirklich nicht hier, ich will nur ... ach, ist ja auch egal." Leonores Zwillingsschwester Louise, die als Buchhalterin arbeitete, steckte den Kopf aus der Bürotür. „Oh, hallo!" sagte sie leise und hob scheu die Hand. Sie war das genaue Gegenteil von ihrer Schwester, schüchtern und dünn, während Leonore lebhaft und rundlich war. „Du bist ja so erwachsen geworden, und so hübsch." „Danke." Mariah strich sich durch das lockige Haar. Louise wollte wahrscheinlich nur freundlich sein, denn hübsch fand Mariah sich heute nun ganz und gar nicht. Sie blickte auf ihre weite schwarze Hose, das schwarze schlabberige Top und das wuchtige Armband. Hübsch? Unkonventionell vielleicht oder interessant, aber hübsch bestimmt nicht. „Ist das mein kleines Mädchen?" Ihr Vater kam mit ausgebreiteten Armen auf sie zu. Er hatte seine große grüne Schürze um, wie immer, wenn er in der Kocherei arbeitete. „Gut, dass du da bist. Der gute Nathan vergeht schon vor Ungeduld, dich endlich in deine Arbeit einzuweisen." Er legte ihr den Arm um die Schultern. „Komm, ich bring dich zu ihm. Ist es nicht wunderbar, dass sie wieder da ist?" wandte er sich begeistert an Leonore. „Einfach wundervoll", zwitscherte die. „Lass uns gehen", sagte Mariah, die anfing, sich unwohl zu fühlen. Schon jetzt bedrückte es sie, dass sie all diese Menschen, die sie liebten und ihre Hoffnungen auf sie setzten, enttäuschen würde. Am liebsten hätte sie sich umgedreht und wäre davongelaufen. Stattdessen ging sie mit ihrem Vater den Flur hinunter, vorbei an seinem Büro und blieb mit ihm vor einer Mattglastür stehen, in die Nathans Name und sein Titel eingraviert war. Nathan sah hoch, als Abe mit Schwung die Tür öffnete, und blickte missbilligend auf seine Uhr. Gut, er hatte bemerkt, dass sie zu spät kam. Mariah setzte ein unschuldiges Lächeln auf. „Hier ist deine ne ue Mitarbeiterin", sagte ihr Vater und schob sie in den Raum. „Dad, ich bin keine Mitarbeiterin, ich ..." „Du willst dich lediglich umsehen, ich weiß, ich weiß. Wie dem auch sei, Nathan war und ist meine rechte Hand." Abe legte Nathan eine Hand auf die Schulter. „Er weiß alles, was ich weiß, und macht das meiste besser." „Ich habe nur das getan, was gerade so anfiel, Abe. Du hast das Unternehmen aufgebaut,
und nun läuft es quasi von allein." Man merkte, dass beide Männer sich sehr schätzten, und plötzlich fühlte Mariah sich überflüssig. Wie wohl ihr Leben verlaufen wäre, wenn sie mit ihrem Vater zusammengearbeitet hätte? Würde er sie dann jetzt liebevoll als seine rechte Hand bezeichnen? Unwillkürlich schüttelte Maria den Kopf. Es hätte nicht funktioniert. Sie wäre erstickt bei all der Fürsorge und Kontrolle. Keine Sekunde hätte sie der Aufsicht entfliehen können, nie hätte sie ihr eigenes Leben le ben können. Glücklicherweise war sie rechtzeitig entkommen. „Du kannst stolz sein auf dich, Abe", fuhr Nathan fort, „du hinterlässt ein solides Erbe." „Halt, halt! Ich will mich doch nur aus dem Geschäft zurückziehen und nicht zum Sterben hinlegen." „Dad, ich will mich nur ..." „Umsehen, ich weiß. Okay. Aber ich muss jetzt zurück zu meiner Arbeit. Ich überlasse euch zwei nun euch selbst." Er zwinkerte Nathan zu und ging. Ihr Vater zwinkerte Nathan zu? Hatten die beiden etwas ausgeheckt? Röte stieg Mariah in die Wangen, und mit einer gewissen Genugtuung sah sie, dass auch Nathans Wangen sich färbten. „Komme ich etwa zu spät?" fragte sie schließlich. „Zweiundneunzig Minuten", sagte er und runzelte die Stirn. „Ich dachte schon, du würdest unsere Abmachung nicht einhalten." „Ich habe überhaupt nicht auf die Zeit geachtet, das passiert mir leider häufiger. Ich bin manchmal etwas unzuverlässig." Das kam ihr nicht gerade leicht über die Lippen, denn normalerweise versuchte sie den Eindruck zu korrigieren, den die Menschen sich auf Grund ihrer unkonventionellen Kleidung und ihrer Spontaneität von ihr machten. Mariah war davon überzeugt, dass man zuverlässig und verantwortungsvoll sein konnte, ohne engstirnig und spießig zu werden. Aber Nathan gegenüber wollte sie jetzt die Unzuverlässigkeit in Person spielen. Er würde schnell genug von ihr haben und einsehen, dass sie für seinen Posten überhaupt nicht geeignet war. Hinzu kam, dass er auf sie auch nicht mehr so anziehend wirken würde, wenn er sich über sie ärgerte. Männer, die sich ständig über ihr Verhalten aufregten, kamen für sie nicht in Frage. „Tut mir Leid, so bin ich nun mal, ein bisschen flatterhaft." „Genau." Er blickte sie düster an. Sehr gut. Jetzt würde er gleich gequält aufseufzen, dann genervt den Kopf schütteln und ihr eine Strafpredigt halten. Sie würden anfangen zu streiten, und die Sache war gegessen. Doch Nathan entspannte sich. „Du hast dich ja richtig herausge putzt. " War das als Beleidigung gemeint? Auch gut. Mariah beschloss, nicht darauf einzugehen. „Dies ist also dein Büro." „Es könnte leicht deins sein." „Puh!" Sie schüttelte sich. Das Büro wirkte, als wäre es für eine Möbelausstellung hergerichtet worden. Alles stand und lag an seinem Platz, die Akten, die Kugelschreiber, der Memo-Block. Es gab keine Papierstapel, keine offenen Bücher, keine losen Zettel oder abgebrochene Bleistifte. Wenn Nathan wirklich so peinlich ordentlich und korrekt war, dann würde es ein Leichtes sein, ihn zu frustrieren. „Ich bin gerade dabei, die letzten Monatsergebnisse zu analysieren", sagte er. „Hier am Computer. Wenn du mal eben hier an meine Seite kommst, kann ich es dir zeigen." „Das machst du sicher alles richtig", sagte Mariah und betrachtete ge langweilt ihre Nägel. „Dieses Programm ist extra auf unsere Bedürfnisse zugeschnitten", fuhr Nathan unbeirrt fort. „Damit kann ich die Kosten pro Verkaufseinheit ..." Klack, klack, klack ... Nathan sah hoch. Mariah hatte das Perpetuum mobile aus Stahlkugeln angestoßen, das auf seinem
Schreibtisch stand. „Mach weiter", sagte sie unschuldig. „Damit kannst du ..." Er stöhnte leise auf und hielt die Kugeln fest. „Würdest du bitte hierher kommen und dir das mal ansehen?" „Vielleicht ein andermal. Ich bin vollkommen unbegabt für Zahlen." Sie lächelte ihn zuckersüß an. „Zeig mir doch lieber die Fabrikationsanlage." „Gut." Nathan schob den Schreibtischsessel zurück und stand auf. Er wirkte bereits reichlich genervt. Auf dem Weg zur Tür gab Mariah einem der schrecklichen Gemälde einen leichten Stoß, so dass es schief hing, dann nahm sie einen großen Kristall vom obersten Fach aus dem Regal, besah ihn sich kurz und stellte ihn in einem anderen Fach wieder ab. Als sie die Tür öffnete und auf den Flur trat, warf sie schnell einen Blick zurück. Ganz sicher würde Nathan das Bild wieder ausrichten und den Kristall auf seinen alten Platz stellen. Genauso geschah es. Sie grinste. Alles lief nach Plan. Am Ende des Flurs stieß Nathan eine große Doppeltür auf, die in die eigentliche Fabrikationsanlage führte. Es zischte und brodelte, Maschinen summten rhythmisch, Dampf stieg auf, und der süße Duft der kochenden Bonbonmasse erinnerte Mariah an ihre Kindheit. Nathan führte sie in den ersten Seitenraum. „Das ist die Mischerei. Hier wird alles zusammengemixt." „Ich weiß." Sie sah sich erstaunt um. „Als Kind kam mir alles so rie sig vor." Wie gern hatte sie ihren Vater dabei beobachtet, wenn er mit den großen Mixern und den mechanisch angetriebenen Rührern arbeitete. „Nahezu alle unsere Produkte, das Gelee, die Geleefrüchte, die Pralinen und die Lollis, werden aus dem Saft der Kaktusfrüchte hergestellt", sagte Nathan. Er klang jetzt wie ein Tourleiter, der eine offizielle Führung durch die Fabrik machte. „Im Sommer werden die Früchte des Feigenkaktus geerntet. In nur sechs Wochen stellen wir den Saft her, den wir für eine Jahresproduktion brauchen. In diesem Jahr war die Ernte besonders gut, und wir konnten einen großen Vorrat für das nächste Jahr einfrieren. Und hier fängt alles an." Er wies auf einen Riesenbottich, in dem die roten Kaktusfrüchte gekocht wurden. „Sowie die Frucht weich ist, wird sie hiermit zerquetscht." Er wies auf ein hölzernes Gerät. „Die Traubenpresse aus Italien", sagte Mariah. „Darauf war Dad immer besonders stolz." „Stimmt. Er hat sie direkt von einem Weingut geholt. Der ausgepresste Saft wird dann gefiltert und danach über diese Leitungen in die verschiedenen Abteilungen geleitet, wo die unterschiedlichen Produkte hergestellt werden." Er trat näher an einen Kessel aus Edelstahl heran. „Hier wird unser beliebtestes Produkt hergestellt, die Geleefrüchte. Allerdings unter Zusatz von Zitronensaft, Sirup und bisweilen auch Gelatine." Der rubinrote Saft blubberte in dem Kessel, und Mariah schloss die Augen und sog tief den Duft ein. „Lass mich raten. Zitrone, Limone, Preiselbeeren. Riecht beinahe wie Zuckerwatte." „Gut, was?" Nathan trat auf einen Mann zu, der mit einer Stange ein Ventil öffnete und dann eine Probe nahm, die er anschließend wieder in den Kessel zurücktropfen ließ. „Wie ist die Konsistenz, Jed?" fragte Nathan. „Gut. Die neue Heizspirale verteilt die Hitze besser, so wie Sie gesagt haben." „Sehr schön." Nathan nickte zufrieden. Er war stolz auf seine Arbeit, das merkte man sofort. Aber Mariah würde ihn nicht darauf ansprechen. Noch nicht. Denn noch würde er das glatt abstreiten. „Früher als Kind durfte ich manchmal selbst etwas von den Zutaten dazutun", erzählte sie. Besonders gern hatte sie zugesehen, wie sich der Sirup langsam in der Masse auflöste. „Das klingt ja beinahe so,, als hätte es dir hier gefallen." Das hätte sie vielleicht nicht sagen sollen. Jetzt dachte er vermutlich, sie würde sich nach der Fabrik zurücksehnen. „Na ja, mit der Zeit hatte ich es satt. Das war wie in den ersten
Wochen nach Halloween, da kann man auch keine Süßigkeiten mehr sehen." „Genau. Nun stell dir mal vor, das geht mir nun schon acht Jahre so. Deshalb muss ich unbedingt etwas anderes machen." Der Schuss ist nach hinten losgegangen, dachte Mariah ärgerlich. Sie musste unbedingt all das Positive hervorheben, damit Nathan blieb, ohne jedoch den Eindruck zu erwecken, dass sie selbst hierher zurückkehren wollte. „Die Fabrik war nie das Problem, Nathan, sondern ich selbst. Als ich in das schwierige Teenageralter kam, zwang Mom mich, hier in der Fabrik zu arbeiten. Da sie selbst am Empfang saß und auch die Buchhaltung machte, war ich immer unter Aufsicht." „Inwiefern hast du denn Schwierigkeiten gemacht? Mir ist nie was aufgefallen." „Zu der Zeit, als du zu uns gekommen bist, war damit schon Schluss. Aber vorher sind Nikki und ich oft per Anhalter nach Tucson oder Phoenix gefahren. Wir sind da in die verrücktesten Ausstellungen ge gangen und zu wilden Partys, wo viel getrunken wurde und es ziemlich hoch herging. Meredith hat fast einen Herzanfall gekriegt und praktisch versucht, mich hier einzusperren." An die Fabrik gefesselt hatte Mariah angefangen, das Unternehmen zu hassen. Alles schien ihr so verlogen zu sein. Die Süßigkeiten, die doch Freude bringen sollten, hielten sie mit klebrigem Griff in Routine und Pflicht gefangen. „Aber du warst doch noch jung. Jugendliche müssen rebellieren. Ich bin sicher, deine Mutter hat nur getan, was sie für das Beste hielt." „Hat sie dir Geld gegeben, damit du das sagst?" „Ich weiß, dass Abe und Meredith dich lieben." „Kann sein. Aber zu sehr. Das macht die ganze Sache ja so schwie rig. Ich habe sie immer enttäuscht." Schon ihre unkonventionelle Art, sich zu kleiden, war eine Enttäuschung für die Eltern. Manchmal war Mariah stolz, dass sie nicht so war wie alle anderen, aber manchmal fühlte sie sich deshalb auch wie eine Aussätzige. „Du solltest mit ihnen reden. Vielleicht stellst du dann fest, dass sie ganz anders sind." „Warum? Mir geht es gut, Nathan. Und meinen Eltern geht es auch gut. Du bist doch derjenige, der auf dem Selbstfindungstrip ist, oder?" „Stimmt." Nathan sah sie unentwegt an, und Mariah erschauerte. Ich will für dich da sein. So wie du bist, so bist du genau richtig, schien sein Blick ihr zu sagen. Es kam ihr vor, als akzeptierte er sie im Moment ohne Wenn und Aber. Genau dieser Blick hatte sie damals veranlasst, seinen Heiratsantrag anzunehmen. Aber jetzt war sie erwachsen und selbstbewusst. Nathan musste sie nicht mehr befreien oder ihre Ehre retten. „Wie wäre es mit dem Rest der Tour?" Er zeigte ihr, wo das Gelee in Gläser abgefüllt wurde, wo die Pralinenmasse ausgewalzt wurde und wo die kleinen Honigbaisers herge stellt wurden. Und sie sah, wo der Sirup einkocht wurde, der später zu Drops und Lollis verarbeitet wurde. „Das sieht alles noch genauso aus wie damals." „Ja, leider. Wir brauchen unbedingt eine neue Ausrüstung, aber dein Vater ist der Meinung, es lohne sich nicht. Glücklicherweise ist unser Techniker Benny Lopez sehr geschickt, vor allem, wenn es um die Dampfdruckventile geht. (Es ist, als habe er sie verhext, so gehorsam schnurren sie, wenn er vorbeigeht." Sie schauten noch kurz in das Labor, wo ihr Vater normalerweise neue Rezepte ausprobierte. Es war leer. „Abe hat sich schon lange nichts Neues mehr einfallen lassen", sagte Nathan. Das war traurig. Andererseits, dachte Mariah, will er sich doch aus dem Geschäft zurückziehen. Aber wer würde sich in Zukunft etwas Neues einfallen lassen? „Zuletzt hat er an einem Jalapenogelee gearbeitet", sagte Nathan und öffnete die Kühlschranktür. „Möchtest du es probieren?" Er nahm ein Glas heraus und sah sie fragend an. „Warum nicht?"
Nathan strich etwas von dem dunklen Gelee auf einen Kräcker und hielt ihn Mariah hin. Sie öffnete den Mund und streckte leicht die Zunge heraus. Nathan legte ihr den Kräcker auf die Zunge, und als sie den Mund schloss, berührte sie seine Finger mit den Lippen. Nathan stöhnte leise auf. Mariah konnte sehen, wie er zusammenzuckte, und im gleichen Moment traf es sie. Die Schärfe des Gelees, vor allem des Chilis, ließ ihr das Wasser im Mund zusammenlaufen. Ihre Augen öffneten sich weit und sie starrte Nathan an. Es war unübersehbar, dass er sie begehrte. Wie gut erinnerte sie sich noch an seine Küsse, manchmal waren sie fordernd und wild, dann wie der sanft und zärtlich. Nathan machte einen Schritt auf sie zu, und Mariah schloss halb die Augen und öffnete verlangend ihre Lippen, als eine kräftige Stimme sie zusammenfahren ließ. „Da seid ihr ja, ihr zwei!" Die beiden fuhren auseinander. In der Tür stand Abe. „Mariah, ich möchte dir Dave Woods vorstellen. Er ist der Boss der Kocherei, ohne ihn läuft nichts." „Sehr erfreut, Miss Monroe." Woods machte eine knappe Verbeugung. „Darf ich Sie darauf hinweisen, dass Sie in diesem kaum Hand schuhe und ein Haarnetz tragen sollten. Sie auch, Mr. Goodman." Er blickte beide missbilligend von oben bis unten an. „Dave führt ein scharfes Kommando", sagte Nathan. „Aye-aye, Captain." Mariah schlug die Hacken zusammen und salutierte. Woods runzelte leicht die Stirn, und Mariah konnte förmlich seine Gedanken Lesen: die verrückte Tochter des Chefs. Auch wenn es gut in ihren Plan passte, dass er sie so einschätzte, war sie doch etwas gekränkt. Er kannte sie doch gar nicht. „Wenn er wollte, könnte Dave die ganze Sache übernehmen", meinte Nathan. „Danke, ich bin mit meinem jetzigen Job vollkommen zufrieden", wehrte Dave ab. „Du musst dich an Dave halten, wenn du hier alles lernen willst", sagte Nathan. Dave schien von dieser Idee nicht angetan zu sein. Umso besser für mich, dachte Mariah. Wenn ich ihm auf die Nerven gehe, habe ich hier keine Chancen. Haarnetz? Das werden wir ja mal sehen. Sie ließ sich von Nathan in den Packraum führen und sich von ihm erklären, was bei der Versendung zu beachten war. Wieder hatte sie den Eindruck, dass er stolz war auf das, was er tat. Darin musste sie ihn unbedingt bestärken, damit er seine Unzufriedenheit überwand. „Du hängst an dem Unternehmen", sagte sie, „das ist sonnenklar. Vielleicht muss dir das mal wieder bewusst werden." „Du meinst, das wäre die Lösung meines Problems?" „Vielleicht. Ich glaube nicht, dass ,Cactus Confections' die Ursache deiner Unzufriedenheit ist." Außerdem konnte jemand, der es nicht ertrug, wenn ein Bild schief hing, ganz sicher nicht alles stehen und liegen lassen, um sich selbst zu finden. Aber irgendetwas war los mit ihm. Er wirkte traurig und enttäuscht, und sie wusste nicht warum. „Aber vielleicht wissen wir nach ein paar Übungen schon mehr." „Übungen? Was für Übungen? Womit willst du mich jetzt wieder quälen?" „Ich dachte an ein paar gesprächstherapeutische Übungen." „Gesprächstherapie? Lieber lege ich mich auf die Folterbank." „Was hast du dagegen? Ich werde es ganz langsam angehen lassen. Der Urschrei ist erst am dritten Tag dran." Nathan hob lächelnd die Augenbrauen. „Was werden die Nachbarn denken?" „Dass du endlich etwas für dich tust." „Wie kommst du darauf, dass ich das nötig habe?" „Sieh dich doch nur an." Sie legte ihm die Hand auf den Nacken. Fühlte sich toll an. „Du bist verspannt wie eine aufgerollte Stahlfeder. Wenn du mit dir und deinem Leben zufrieden wärst, wärst du viel lockerer. "
„ Vielleicht kannst du mir helfen, etwas lockerer zu werden." Ihr wurde der Mund trocken. „Sex ist nun wirklich nicht die einzige Methode." Nathan machte einen Schritt auf sie zu und stand dicht vor ihr. „Aber die beste", entgegnete er leise. Meinte er das ernst, oder wollte er sie nur aufziehen? Warum hatte sie bloß mit dem Thema Sex angefangen? Wahrscheinlich, weil sie unbewusst immer daran denken musste. Er hatte schon vor acht Jahren ge spürt, wie er mit ihr umgehen musste. Er ließ sich Zeit, achtete auf ihre Reaktionen ... „Was ist denn schon dabei?" flüsterte er. „Es ist doch nur ein Kuss." Er berührte ihre Lippen. Nur ein Kuss, das war gut gesagt. Mariah wurde von heißer Erregung durchrieselt, als sie seine festen Lippen spürte und sein Zunge, die ihren Mund erforschte. Ihre Knie wurden weich, und sie stöhnte leise auf. Sofort legte Nathan die Arme um sie und zog sie an sich. Auch damals hatte er sie so gehalten, und sie hatte sich dabei sicher, geschützt und vor allem begehrt gefühlt. Doch diesmal war dieses Gefühl um vieles stärker. Denn nun war er ein erwachsener Mann, der ge nau wusste, was er wollte. Sie wollte sich an ihn schmiegen, wollte ihn küssen und von ihm geküsst werden. Er würde sie nie enttäuschen, sie nie im Stich lassen. Plötzlich wurde ihr klar, was mit ihr geschah. Ein einziger Kuss verwandelte sie wieder in den unsicheren Teenager von damals, der sich anlehnen und der beschützt werden wollte. Und das war ganz sicher nicht Teil ihres Plans. Sie schob Nathan von sich. „Das reicht." „Aber ich fühle mich noch gar nicht locker." Er griff wieder nach ihr. „Dann nimm ein heißes Bad." Mariah versuchte, zu Atem zu kommen. „Ich bin hier, um zu arbeiten. Also lass uns weitermachen." Sie drehte sich hastig um und ging auf die Tür zu, die in den Verwaltungstrakt führte. Ein kurzer Blick zurück zeigte ihr, dass Nathan ihr verblüfft hinterherstarrte. Gut. Er hatte keine Ahnung, was sie als Nächstes tun würde. Das Problem war nur, sie wusste es auch nicht. Ich hätte sie nicht küssen sollen, sagte sich Nathan am nächsten Morgen unter der Dusche. Es war idiotisch gewesen, denn er wusste doch, dass es keine Hoffnung gab. Mariah hatte sich verändert, und es wurde Zeit, dass auch er sich änderte. Manche Männer blieben bei ihrer ersten Liebe hängen, davon hatte er schon gehört. Und genau das schien sein Problem zu sein. Aber nach acht Jahren sollte er endlich begreifen, dass es keinen Sinn hatte. Er hob sein Gesicht in den Wasserstrahl, und während das Wasser auf ihn herunterprasselte, beschloss er, sich in Zukunft anders zu verhalten. Kein Flirten, keine Küsse, keine Berührungen. Schluss, aus. Das Gute war, dass er durchaus den Eindruck hatte, Mariah für die Firma begeistern zu können. Sie schien vor allem an den Fabrikationsvorgängen interessiert zu sein, zumindest hatte sie fasziniert gewirkt, als er ihr die Vorgänge erklärt hatte. Wie gern hätte er sie wieder in die Arme genommen und sie geküsst. Mariah schien froh zu sein, alles wieder zu sehen. Und sie liebte den süßen Duft, der in der Fabrik hing, den er schon seit langem gar nicht mehr wahrnahm. Sie hatte die Welt schon immer mehr mit ihren Sinnen aufgenommen, und das hatte ihm schon damals, als sie noch ein Paar waren, ge fallen. Durch sie hatte er ganz neue Erfahrungen gemacht, hatte Sonnenuntergänge wahrgenommen oder das Zirpen der Grillen, die Struk tur eines Materials. Auch die Beschaffenheit von Haut und Lippen ... und schon wieder dachte er an den Kuss in der Packerei. Verärgert riss er das Handtuch vom Halter und frottierte sich kräftig ab. Er musste das vergessen. Wenn er es richtig anfing, würde Mariah seinen Platz in der Firma einnehmen. Dann konnte er mit gutem Gewissen Copper Corners verlassen. Dann könnten Abe und Meredith beruhigt in Rente gehen, und Mariah hatte ihren Platz in der Welt. Er blickte auf die Uhr. In wenigen Minuten würde sie bei ihm sein, und es würde
weitergehen mit diesem Selbstfindungsquatsch. Sie hatte von Gesprächstherapie geredet, und er konnte nur hoffen, dass sie als Psychologin nicht so gut war, wie sie küsste. Denn er hatte keine Lust, ihr die wahren Gründe aufzudecken, weshalb er Copper Corners verlassen musste. Nathan seufzte leise und ging ins Schlafzimmer, um sich anzuziehen. Er musste sich unbedingt noch einen Kaffee machen, sonst würde er die nächsten Stunden nicht durchhalten.
5. KAPITEL „Ich rieche Kaffee", sagte Mariah und sah Nathan tadelnd an. Es war erst der zweite Tag ihres Selbstfindungsseminars, und er hatte bereits gegen eine Regel verstoßen. „Ich brauchte einen Kaffee. Das war alles." „Wenn du meine Anweisungen nicht befolgst, werden wir keinen Erfolg haben." Im Grunde war sie dankbar, dass sie Grund hatte, mit ihm zu schimpfen. Sonst hätte sie ihn wahrscheinlich nur angestarrt, denn in dem weißen T-Shirt und den grauen Shorts sah er unverschämt gut aus. „Möchtest du auch eine Tasse?" „Gern." Er drehte sich um, und sie sah ihm hinterher. Unter dem weichen grauen Material zeichneten sich seine kräftigen Muskeln deutlich ab. Hätte sie ihm bloß nicht gesagt, er solle sich bequem anziehen. Mariah ging ins Wohnzimmer und sah, dass Nathan bereits die Yo gamatten ausgebreitet hatte. Die Fensterläden waren halb zugeklappt, so wie am Tag zuvor, die Kerzen angezündet, und es roch nach den Duftkegeln. Als er mit dem dampfenden Kaffeebecher zurückkam, drehte sie sich zu ihm um. „Du hast ja schon alles vorbereitet." „Ich bin eben dein ergebener Jünger." „Du hast versprochen, dich nicht lustig zu machen." Er zuckte nur leicht mit den Schultern und setzte sich dann im Schneidersitz auf seine Matte. In dem gedämpften Licht sah er unerträglich sexy aus. Mariah nahm einen großen Schluck Kaffee, obgleich sie das Koffein nicht brauchte. Ihre Nerven lagen jetzt schon blank. Sie setzte sich Nathan gegenüber. „Entspanne dich, denke friedliche Gedanken", sagte sie und schloss die Augen, schon um seinem Blick auszuweichen, der sie immer wieder an den Kuss erinnerte. „Stell dir vor, wie der Kuss der Sonne dich ..." Kuss? Was redete sie da? „Wie eine sanfte Brise dein ..." Ihr wurde heiß. „Egal, tu einfach das, was du gestern auch getan hast." „Gestern? Wenn du meinst." Er zog ein Kissen vom Sofa und drückte es sich auf den Schoß. Wahrscheinlich ist es so für ihn bequemer, dachte sie. Während sie schweigend mit geschlossenen Augen dasaßen, versuchte Mariah sich auf das Gespräch zu konzentrieren, das vor ihr lag. Aber die Spannung zwischen ihnen war so intensiv spürbar, dass sie nur aji Nathan denken konnte, an seinen Körper, den Kuss, seine Umarmung. Es war sinnlos. „Wenn du entspannt bist, öffne die Augen." „Hm." Langsam machte er die Augen auf. Ihre Blicke trafen sich. „Das war schön", sagte er. „Gut. Die Meditation soll möglichst wirkungsvoll sein." „Lieber nicht. Sonst könnten wir das beide bedauern." Mariahs Haut kribbelte. Nathan hatte die gleichen Gedanken wie sie. Das war gut. Nein, schlecht. Ach, verdammt, sie wollte darüber jetzt nicht nachdenken. Sie wiederholten die Yogapositionen und vermieden es dabei, sich anzusehen. Dann setzte sich Nathan wieder aufrecht auf seine Matte. „Und jetzt? Therapierst du mich jetzt?" „Ja", sagte Mariah, obwohl sie wusste, dass es unmöglich war, so wie er auf sie wirkte. Sein Gesicht war leicht gerötet, das feuchte T-Shirt lag eng an seinem Körper, und seine Shorts waren merklich ausge beult. Warum, darüber wollte sie lieber nicht nachdenken. „Willst du nicht duschen und dich richtig anziehe n? Dann können wir uns besser konzentrieren." „Ich kann mich auch so gut konzentrieren." „Aber wir hätten dann beide eher das Gefühl, es handele sich um eine echte psychotherapeutische Sitzung."
„Wenn du willst." Als Nathan zurückkam, hatte Mariah die Fensterläden geöffnet. Sie saß auf dem kleinen Ledersessel, der dem Sofa gegenüber stand. „Bitte, setz dich." Er setzte sich auf die Sofakante und zerrte am Kragen seines Hemdes. „Du brauchst nicht nervös zu sein. Das ist alles ganz harmlos. Wir werden über nichts sprechen, was dir Unbehagen verursacht. Aber wenn du wirklich herausfinden willst, weshalb du unzufrieden bist, solltest du möglichst offen sein." „Kein Problem." Er verschränkte die Arme vor der Brust. Mariah runzelte leicht die Stirn. Er war alles andere als offen. Er wirkte defensiv, ablehnend. Aber das durfte sie nicht sagen. Es war die Aufgabe des Gesprächstherapeuten, den Klienten vorsichtig in seine tieferen Bewusstseinsebenen vordringen zu lassen, während er sich fest im Hier und Jetzt verwurzelt fühlte. Geduld war hier das Schlüsselwort. Genau die hatte ihr gefehlt, und deshalb hatte sie den Kurs nach zwei Monaten wieder abgebrochen. Sie zog einfach zu schnell Schlüsse, wollte den Menschen immer am liebsten sofort sagen, was sie tun sollten. In diesem Punkt ähnelte sie ihrer Mutter, wie ihr zu ihrem Bedauern klar geworden war. Mariah atmete langsam tief durch und versuchte sich zu sammeln. Sie sollte sich jetzt auf Nathans Gesicht konzentrieren, sollte ihm in die Augen sehen und seinen Atemrhythmus beobachten. Sie musste he rausfinden, wo sein Energiefluss blockiert war, wo in seinem Körper sich der negative Stress manifestierte. Der Körper war der Spiegel der Seele. Allerdings hielt sie es nicht aus, ihn so genau anzusehen. „Erzähl mir, warum du unbedingt dein Leben ändern willst und was der Auslö ser dafür war." „Keine Ahnung. Seit ich in Copper Corners bin, habe ich nur gearbeitet. Und ich denke, es ist Zeit, mal etwas anderes zu machen, etwas von der Welt zu sehen." „Hm." Mariah dachte nach und versuchte möglichst professionell auszusehen. „Gibt es einen bestimmten Grund, warum du bei ,Cactus Confections' aussteigen willst?" „Wahrscheinlich brauche ich neue Herausforderungen. Das solltest du doch am besten verstehen. Warum wechselst du denn dauernd deine Jobs?" „Es geht hier nicht um mich, sondern um dich, Nathan." „Ich weiß. Aber vielleicht können mir deine Erkenntnisse weiterhelfen." Er sah sie unablässig an. Sie seufzte leise. „Na gut. Ich suche mir einen neuen Job, wenn der alte mich langweilt oder wenn ich den Eindruck habe, dass das nicht mehr das Richtige für mich ist. Oder aber, wenn sich eine andere interessantere Aufgabe ergibt oder wenn ich das Gefühl habe, dass die alte Sache für mich abgeschlossen ist." „Genau. So geht es mir auch. Für mich ist die Sache abgeschlossen." „Aber ich bin eher der Typ für kurzfristige Jobs, während du jemand bist, der sich auf Dauer engagiert. Du hast eine abgeschlossene Be rufsausbildung und spezielle Kenntnisse und Fähigkeiten. In deinem Fall sollte man nicht ständig die Jobs wechseln." „Aber du hast doch auch Kenntnisse und Fähigkeiten." Nathan beugte sich vor. „Weißt du, wo dein Problem liegt? Die Jobs, die du annimmst, fordern dich nicht ausreichend. Wenn du irgendwo arbeiten würdest, wo du deine kreativen Fähigkeiten einsetzen könntest, wür dest du auch bleiben wollen." „Unsinn, das ist nicht der Grund. Ich ..." „Du musst dich einfach mal auf etwas festlegen und es dann auch eine gewisse Zeit durchhalten. Eine gewisse Verpflichtung ..." „Halt." Sie hob die Hand. „Was du im Augenblick machst, nennen Psychologen Deflektion. Der Klient versucht von sich abzulenken. Es geht hier um dich, Nathan, und nicht um mich." „Sag mir nur, ob ich Recht habe." „Nathan."
Er blieb stur. Wieder seufzte sie leise. „Es kann schon sein, dass ich gern einen Job hätte, der mich länger interessiert. Die Arbeit für die Reiseagentur hätte mir Spaß machen können, doch es ging ständig um langweilige Pauschalbuchungen ." „Also hast dir lieber vorgemacht, der Job langweile dich, anstatt dich weiterzubilden und eine Stelle in der Reisebranche mit mehr Verantwortung zu übernehmen." Er ließ den Blick nicht von ihr. „Aber ich langweilte mich wirklich. Die Arbeit war überhaupt nicht kreativ." „Und wie war es mit dem Schmuckgeschäft?" „Zu Anfang hat es mir gefallen, aber dann hatte ich zu viele Aufträge, und es war immer wieder das Gleiche. Ich ... verdammt! Du hast es doch wieder geschafft. Schluss damit. Ich bin die Therapeutin, und du bist der Klient." Er lehnte sich zö gernd zurück. „Du hast gesagt, für dich sei die Arbeit hier abgeschlossen", fuhr sie in möglichst sachlichem Tonfall fort. „Wie kommst du auf die Idee?" Diesmal schaffte sie es, seinem Blick standzuhalten. Er schien in einem inneren Zwiespalt zu stecken. Wahrscheinlich überlegte er, ob er ihr gegenüber ehrlich sein sollte oder nicht. „Wie fühlst du dich?" fragte sie. „Ich meine jetzt, in dieser Sekunde?" Er starrte vor sich hin. „Leer." Seine Schultern sackten nach vorn. Offenbar hatte er sich entschlossen, aufrichtig zu sein. Er hob den Kopf. „Wenn ich nach Hause komme, dann bin ich hier ... ich meine, dann bin ich in meinem Haus, aber im Grunde nicht zu Hause. Das Haus ist bequem, und ich habe alles, was ich brauche, aber trotzdem fühle ich mich ..." „Leer?" Sie blickte ihm in die Augen. Einsam war wohl das zutreffendere Wort. Er sah, dass sie ihn verstand, und das schien ihn zu beunruhigen. Er schlug die Beine übereinander, verschränkte die Arme vor der Brust und fing hastig zu reden an. Er sprach davon, dass er die Firma im Schlaf führen könnte und dass diese neuen Internet-Unternehmen in Kalifornien eine ganz andere Herausforderung darstellten und so weiter und so fort. Doch während er sprach, blieb sein Gesicht ausdruckslos, und seine Augen waren ohne Glanz. Mariah begriff, dass er vermutlich noch lange so weiterreden könnte. Er würde weiterhin behaupten, er mache sich Sorgen um sein berufliches Fortkommen, während es eigentlich um sein privates Glück ging. Sie beschloss, der Sache auf den Grund zu ge hen. „Und sonst?" „Wie und sonst?" Nathan runzelte die Stirn. „Was ist mit deinem Privatleben? Weshalb ist die Sache mit deiner Freundin auseinander gegangen?" „Da gibt es nicht viel zu erzählen. Wir haben uns gut verstanden, aber es war eine Beziehung ohne Leidenschaft, darüber waren wir uns beide einig." Er sah an ihr vorbei. Da musste doch noch mehr dahinterstecken. „Hat deine Entscheidung, Copper Corners zu verlassen, etwas mit der Trennung zu tun?" Nathan warf ihr einen kurzen Blick zu. „Irgendwie schon. Ich hoffe, dass ich in Kalifornien einen neuen Anfang machen kann, auch in Be zug auf mein Privatleben. Ich möchte nicht ohne Liebe leben." „Und wie stellst du dir deine Traumfrau vor?" Mariah räusperte sich nervös. „Ich meine, wie sieht sie aus? Was für ein Typ ist sie?" „Möchtest du das wirklich wissen?" Sie nickte. Er beugte sich vor und stützte sich auf den Knien auf. Mariah lehnte sich zurück, so weit sie konnte. „Sie muss ein großes leidenschaftliches Herz haben. Sie muss mich zum Nachdenken bringen, und ich muss mit ihr lachen können. Ich suche eine Frau, auf die ich mich jeden Tag freue, wenn ich von der Arbeit nach Hause komme, weil ich ihr Gesicht sehen und ihre Stimme hören will, wenn sie mir erzählt, wie ihr Tag war. Kannst du dir vorstellen,
was ich damit meine?" Oh ja, allerdings. Mariah hatte Schwierigkeiten, sich auf ihre Rolle als Therapeutin zu besinnen. „Offenbar ist es für dich sehr wichtig, zu jemandem zu gehören", sagte sie möglichst ruhig. „Ja. Ich fühle mich einsam ohne sie." Jetzt sah er sehr verletzlich aus. Einen kurzen Augenblick lang hatte Mariah das Gefühl, er wollte eigentlich sagen: Ich fühle mich einsam ohne dich. Aber das konnte nicht sein, das durfte sie sich nicht einbilden. Nicht nach all den Jahren. Damals waren sie noch Kinder gewesen, sie zumindest. Sie wurde rot. Leider fiel ihr keine passende Antwort ein. „Geht es dir nicht auch so?" Er sah sie unverwandt an. „Ja, natürlich." „Aber du hast wahrscheinlich eine Menge Beziehungen." Er ließ sie nicht aus den Augen. Mariah hob langsam die Schultern und ließ sie wieder sinken. „Eigentlich nicht. Irgendwie hatte ich das alles satt." „Das ist mir genauso gegangen." „Irgendwie ist es immer das Gleiche." „Genau." Sie hatte sich auch mit Nikki darüber unterhalten, aber Nikki hatte davon nichts wissen wollen. Ihr gefielen diese eher oberflächlichen Be ziehungen. „Irgendwann ertappt man sich dabei, dass man immer das Gleiche sagt, das Gleiche hört, und dann sehnt man sich danach ..." „Einen ganz besonderen Menschen zu finden. " „Ich wollte eigentlich sagen: es sich mit einer Tüte Lakritz vor dem Fernsehapparat gemütlich zu machen." „Ach so. Dann hast du es also aufgegeben, den Richtigen zu suchen?" „Nein. Ich suche im Moment nur nicht. Ich ..." Ja, was tat sie? Wartete sie auf den Traummann? Den es wahrscheinlich gar nicht gab? Nach Nathan war ihr nie ein Mann begegnet, dem sie restlos vertrauen konnte. Aber damals war sie auch noch ein Kind gewesen und hatte keine Ahnung gehabt, was Liebe eigentlich ist. „Du ...?" hakte Nathan sofort nach. „Ich ..." Nathan war nun wirklich der Letzte, mit dem sie über ihr Liebesleben sprechen wollte. „Ich muss los, ich bin schon wieder zu spät dran." Sie sah auf ihre Armbanduhr. „Du liebe Zeit! Und ich muss mich noch umziehen." „Seit wann machst du dir Gedanken darüber, ob du zu spät zur Arbeit kommst?" „Das ist wahrscheinlich dein guter Einfluss. Außerdem haben wir für heute genug getan, findest du nicht?" „Ja. Ich glaube auch, dass ich genug geredet habe." Er richtete sich auf und schien erleichtert zu sein. Sie nickte. Sie wusste jetzt, was mit ihm los war. Er war einsam. Und weil er Schwierigkeiten hatte, sich das einzugestehen, redete er sich ein, mit seinem Job unzufrieden zu sein. Was er brauchte, war eine Frau. Aber Mariah fühlte sich nicht verpflichtet, ihm zu einer neuen Frau zu verhelfen. Schlaf du doch mit ihm. Sie wusste, dass Nikki ihr das raten würde. Dann kann er wieder klar denken. Auf keinen Fall. Aber du bist doch auch einsam. Sie versuchte, diese Gedanken zu vergessen, aber offensichtlich hatte die Therapiestunde auch auf sie ihre Wirkung gehabt. Als Nathan von seinen Erfahrungen sprach, war ihr klar geworden, was mit ihr los war. Auch sie hatte sich in den letzten Monaten so merkwürdig leer gefühlt. Aber sie war immer davor zurückgeschreckt, zuzugeben, dass sie einsam war. Auch sie sehnte sich nach einem besonderen Menschen. Dann schlaf mit ihm.
Das wäre Wahnsinn. Im günstigsten Fall wäre es eine vorübergehende Lösung, im ungünstigsten würde es ihr das Herz brechen. Falls Nathan überhaupt etwas für sie empfand, dann sicher nur aus einer sentimentalen Stimmung heraus. Und selbst wenn es mehr sein sollte, sie war nicht der Typ für eine langfristige Beziehung, wohingegen Nathan solide und beständig war. Sie waren einfach zu unterschiedlich. Nein, es musste einen anderen Weg geben, Nathan aus seiner Einsamkeit herauszuhelfen. Je schneller sie die Lösung fand, desto eher konnte sie alles hinter sich lassen, was sie belastete. Ihre Eltern. Die Konfektfabrik. Und vor allem Nathan. Zu Hause duschte sie schnell und zog sich um. Aus irgendeinem Grund suchte sie das Unpassendste aus, das sie mitgebracht hatte, einen limonengrünen Minirock und ein knappes Top. Dann lief sie über den Flur ins Badezimmer, um sich die Zähne zu putzen. „Mariah, um Himmels willen!" Ihre Mutter war entsetzt. „So willst du doch nicht in die Firma gehen?" „Doch, Mom." Meredith stand in der Badezimmertür und schüttelte den Kopf. „Ent schuldige, mein Liebes, aber die Altkleidersammlung der Heilsarmee ist für Menschen gedacht, die sich nichts Besseres leisten können. Warum hast du dir nicht mal was Neues gekauft? Komm, lass uns schnell nach Tucson fahren." „Nicht nötig", sagte Mariah und schob sich die Zahnbürste in den Mund. Meredith betrachtete ihre Tochter im Spiegel, dann hob sie Mariahs Haare im Nacken an. „Sergei würde Wunder mit deinem Haar vollbringen." „Ich mag meine Frisur." „Aber die Spitzen sind alle kaputt." „Das ist momentan absolut in." Mariah spülte sich den Mund aus. Als sie sich aufrichtete, sah sie, dass ihre Mutter Meredith sich das Schildchen mit der Größenangabe hinten in ihrem Top ansah. „Mom", sagte sie warnend, aber ihre Mutter strich ihr nur lächelnd über den Rücken und ging. „An meinen Sachen ist nichts verkehrt", rief Mariah ihr hinterher, aber sie hatte den Eindruck, dass es zu spät war. Mariah stieß entschlossen die gläserne Doppeltür auf. Es wurde Zeit, dass sie zu Phase zwei ihres Planes überging, das hieß, sie musste erreichen, dass man ihr verbot, das Firmengelände zu betreten. Als Leonore sie sah, stieß sie einen Pfiff aus. „Donnerwetter, das ist ja ein scharfes Outfit. Louise! Das musst du dir unbedingt ansehen." Sie grinste Mariah an. „Das wird Nathan gefallen." Ach so. Daran hatte Mariah gar nicht gedacht. Vielleicht hätte sie lieber die unförmige weite Hose anziehen sollen. Sie hatte nur daran ge dacht, möglichst unpassend auszusehen, nicht aber sexy. „Wieder zu spät", sagte Nathan ohne aufzublicken, als Mariah sein Büro betrat. „Entschuldigung", zwitscherte sie munter. Er sah hoch und erstarrte. „Wenn du hier so rumläufst, kann ich für die Sicherheit meiner Männer nicht mehr garantieren." „Soll ich nach Hause gehen und mich umziehen?" Sie sah ihn mit großen Augen unschuldig an. „Nein, du bist sowieso schon viel zu spät dran. Hier, sieh dir diese Ausdrucke an." Er schob einen Stapel Computerausdrucke auf die andere Seite des Schreibtischs und wies auf den Besucherstuhl. Mariah hob beschwörend die Hände und machte ein Kreuz mit beiden Zeigefingern, ata wollte sie den Teufel abwehren. „Alles, nur keine Zahlen." „Wenn du einen Überblick bekommen willst, musst du dich auch mit den Zahlen beschäftigen. Du solltest es wenigstens versuchen."
„Gut, aber nur, wenn du daraus nicht den Schluss ziehst, ich würde bleiben wollen." „Okay." „Das wäre geklärt." Sie lächelte. „Also, erzähl mir alles, was ich wissen muss." Um hier ein Chaos anzurichten. Nathan ging mit ihr die Computerausdrucke durch und erklärte ihr dabei, wie „Cactus Confections" arbeitete, sprach über den Produktionsablauf, die Einstellungspolitik, die Umsatzerwartungen, die Gewinnplanung, die Belegschaft, die Buchhaltung und so weiter. Mariah versuchte, möglichst desinteressiert auszusehen, aber zu ihrer Überraschung fand sie alles äußerst spannend. Und zwar nicht so sehr, weil Nathan es besonders gut erklärte oder weil es lustig war, dass er immer den Faden verlor, wenn er ihr auf die Brüste starrte, nein, ihr gefiel, wie sinnvoll alles zusammenpasste. Sie hatte eine gewisse kaufmännische Erfahrung, da hatte Nathan Recht, denn sie hatte in der kleinen Eisdiele, die sie betrieben hatte, kalkulieren und rechnen müssen, sie hatte selbst ihren Schmuckhandel aufgebaut und schließlich auch die Theatertruppe gegründet. Und sie wusste sehr wohl, was Gewinn und Verlust war und wie wichtig es war, einen festen Kundenstamm zu haben. Aber all das versuchte sie vor Nathan zu verbergen und nervte ihn stattdessen mit Fragen, die sie begriffsstutzig erscheinen ließen. „Nein, wir haben keine eigenen Lastwagen, Mariah. Wir liefern nur über Großhändler, erinnerst du dich?" Er zeigte auf die Aufstellung der Produkte. „Wir verlassen uns auf unsere Großhändler, die unsere Produkte schnell an die Einzelhändler verteilen. ,Für Sie frisch hergestellt in der Wüste von Arizona', das ist unser Motto." „Wie viel gebt ihr denn für Werbung aus?" Oh, das hatte sie eigent lich gar nicht fragen wollen. „Eine sehr gute Frage." Er sah sie überrascht an. „Damit hast du einen wunden Punkt getroffen. Ich werde dich mit unserem Marketingmann bekannt machen, Bernie Longfellow. Dann weißt du, was ich damit sagen will." „Bernie? Den kenne ich." „Dann kennst du sicher auch den Anzug, den er heute noch trägt." Nathan brachte sie zu einem winzigen Büro, klopfte an die Tür und öffnete sie. Bernie schreckte hoch. Offensichtlich hatte er gerade geschlafen. Er sah noch genauso aus wie früher. Nur sein Haar war jetzt weiß und nicht mehr graumeliert wie vor acht Jahren. „Oh, hallo", sagte er und blinzelte verschlafen. „Bernie, Bernie", sagte Nathan leise. „Sie müssen aufhören, die Nacht durchzumachen. Erinnern Sie sich noch an Mariah?" „Sieh an, sieh an. Wie groß sie geworden ist." Bernie stand auf und schüttelte Mariah die Hand. Mariah fühlte sich plötzlich wieder wie zwölf und wurde rot. „Ich habe gehört, dass du für uns arbeiten willst." Sie lächelte nur. Es lohnte sich nicht, Bernie über seinen Irrtum aufzuklären. „Erzählen Sie Mariah doch mal ein bisschen was von unserer Marketingstrategie, Bernie." „Marketingstrategie? Ach so, Moment mal. Wo habe ich sie bloß hingetan? " Er zog verschiedene Schreibtischschubladen auf. Mariah war überrascht, dass er noch nicht einmal einen Computer hatte. „Ah, hier ist sie." Er hob eine Box mit Karteikarten hoch und überreichte sie Mariah wie ein Geschenk. „Das sind unsere Kunden", sagte er und grinste. „Und die Strategie?" Er tippte sich an die Stirn. „Alles hier drin." „Bernie ist ein Marketingmann von altem Schrot und Korn", sagte Nathan. „Marketingmann?" Bernie schüttelte den Kopf. „ Ich bin Verkäufer, schlicht und einfach Verkäufer. Das ganze Leben besteht aus Kaufen und Verkaufen. Ich habe meine Kunden, die mich kennen und mir vertrauen. Das ist das ganze Geheimnis." „Verstehe." Mariah sah sich die Karteikarten an, die alt und fleckig waren und Eselsohren
hatten. Sie enthielten nicht die Auftragshöhe und Bestelldaten der jeweiligen Kunden, wie sie erwartet hatte. Stattdessen gaben sie Auskunft darüber, wann die Ehefrau Geburtstag hatte, wie viele Kinder der Kunde hatte oder dass er das nächste Mal unbedingt auf das neueste Enkelk ind angesprochen werden musste. „Eindrucksvoll", sagte Mariah nur und gab Bernie die Box zurück. „Haben Sie schon mal versucht, etwas bei den neuen Coffeeshops und den Delikatessläden abzusetzen, die wie Pilze aus der Erde geschossen sind? Ich habe da schon die merkwürdigsten Sachen gefunden wie australischen Kandis und indianisches Fladenbrot. In solche Läden würden unsere Süßigkeiten doch gut passen." „Ach, das ist nur so eine kurzlebige Masche", sagte Bernie ungerührt. „Wir beschränken uns auf das eigentliche Geschäft, und damit sind wir immer gut gefahren. Ich bin schon fünfundzwanzig Jahre hier, und ich weiß, was geht und was nicht geht." „Davon bin ich überzeugt. Ich weiß, dass mein Vater sich auf Sie verlässt. Was für Anzeigen schaltet ihr denn und wo?" „Wir haben Anzeigen in ein paar Kaufhauskatalogen. Und eine Vierfarbanzeige in ,Candy International'. Aber Anzeigen bringen im Grunde nichts. Nur die persönlichen Beziehungen. Meine Kunden kennen mich und vertrauen mir." „Verstehe. Sie sind der Fachmann." „Wenn du wissen willst, wie ich vorgehe, komm einfach in mein Büro. Ende des Monats starte ich immer meine Telefonaktion." Mariah nickte nur und verließ hinter Nathan das Büro. Sowie er die Tür geschlossen hatte, meinte Nathan: „Verstehst du nun, was ich vorhin sagen wollte? Bernie ist wie ein Dinosaurier. Er gehört in eine frühere Epoche. Übrigens, die Sache mit den Coffeeshops und den Delikatessläden hört sich interessant an. Willst du dich mit denen nicht mal in Verbindung setzen?" „Ich habe nur so dahergeredet." „Das finde ich nicht. Und ich meine es ernst. Du hast doch selbst ge sehen, dass wir Hilfe brauchen. Du bist jung und hast neue Ideen." Doch dann schüttelte er den Kopf. „Aber das wird auch nichts nützen. Bernie wirst du nicht ändern können. Er ist einfach zu stur." „Wieso denn? Man muss ihn nur in die Planung einbeziehen. Er hat doch eine Menge Erfahrung. Er muss wissen, dass man ihn schätzt, dann kann man ihn um den Finger wickeln." „Da hast du vielleicht Recht", sagte Nathan und konnte ein zufriedenes Lächeln nur schlecht verbergen. „Aber ist ein harter Brocken. Du könntest dir an ihm die Zähne ausbeißen." „Ich könnte ja mal mit ihm reden", sagte sie. „Ich habe hier sowieso nichts anderes zu tun." „Gute Idee, wo du schon mal hier bist." Jetzt konnte er sein triumphierendes Grinsen nicht länger unterdrücken. Okay, er hat dich manipuliert, sagte Mariah sich. Aber wenn du ihm hilfst, das Geschäft besser auf Trab zu bringen, dann ist er auch besser drauf und will sicher bleiben. Es würden sich vermutlich noch ausreichend Gelegenheiten finden, zu beweisen, dass sie für diesen Job hier nicht geeignet war. Als Mariah an diesem Abend nach Hause kam, kam Meredith ihr schon an der Tür entgegen. „Komm mit!" rief sie strahlend und wies auf die Couc h im Wohnzimmer, auf der sie einen Hosenanzug und zwei Kostüme mit passenden Schuhen und Handtaschen ausgebreitet hatte. „Sieh mal, was ich für dich gekauft habe." „Aber, Mom, das solltest du doch nicht!" Mariah griff nach dem Ho senanzug. Grau und auf Figur geschneidert. Passend für einen Beerdigungsunternehmer. „Das passt doch nicht zu mir, Mom." Ihrer Mutter war die Enttäuschung vom Gesicht abzulesen. Wie Mariah diesen Ausdruck hasste! Wie oft hatte sie als Teenager ihre Mutter enttäuscht gesehen. Und seit sie wieder hier war, hatte es auch schon einige Zusammenstöße gegeben. Ihre Mutter hatte an Mariahs angeb-
lich schlechter Körperhaltung herumgenörgelt, an ihren Essgewohnheiten, an ihrer Ausdrucksweise und hatte sich darüber beschwert, dass sie zu laut Musik hörte. „Na gut. Ich werde sie anziehen." Es würde sie nicht umbringen, wenn sie ein paar Wochen wie eine Flugbegleiterin herumlief. Irgend wie konnte sie die Sachen sicher auch aufpeppen. Sie wusste, ihre Mutter meinte es nur gut. Sie war schließlich ihr einziges Kind. Warum sollte sie ihr nicht diese kleine Freude machen? „Wunderbar. Du kannst sie nachher meinen Bekannten zeigen, wenn sie zum Bridge kommen." Bevor Mariah protestieren konnte, klingelte es an der Tür. Meredith öffnete schnell. „O h, Sergei, was bringt Sie denn her?" Sie tat überrascht. „Ein Notfall, das haben Sie doch selbst gesagt." Sergeis Stimme klang ein wenig weinerlich. Sein Blick fiel auf Mariah. „Ah, ich sehe schon." Und bevor Mariah wusste, wie ihr geschah, hatte Sergei sie in einen Sessel gedrückt und fing an, an ihrem Haar herumzuschneiden. Dabei schüttelte er immer wieder fassungslos den Kopf und murmelte vor sich hin. Mariah ergab sich in ihr Schicksal und ließ sich nach den Vorstellungen ihrer Mutter frisieren. Na gut, auch das noch. Aber in den Kir chenchor würde sie auf keinen Fall eintreten.
6. KAPITEL „Heute werden wir uns mit deinem inneren Kind beschäftigen", verkündete Mariah, nachdem Nathan seine täglichen Yogaübungen hinter sich gebracht hatte. „Mit meinem inneren Kind?" „Ja. Es ist ganz einfach. Du brauchst dich nur an die glücklichen Augenblicke deiner Kindheit zu erinnern, damit wir eine Möglichkeit finden, dir genau dieses Glücksgefühl wieder zu verschaffen." Sie zog ihre Beine unter den Körper und klopfte auf die Couch neben sich. „Komm, wir wollen anfangen." „Ich werde mich doch nicht lächerlich machen, oder?" Steif setzte Nathan sich auf die Sofakante. Er war bereit, jeden Moment wieder aufzuspringen. „Wieso denn? Du warst doch sicher immer schon ernst und verantwortungsbewusst. Komm, lehn dich zurück und versetz dich in deine Kindheit." Nathan schloss die Augen, und zögernd erinnerte er sich tatsächlich. Er erzählte die rührende Geschichte eines Kindes, das mit seiner Mutter von Stadt zu Stadt zog, nirgends ein Zuhause hatte, oft einsam war und viel zu viel Verantwortung trug. Der Junge musste sich um den ganzen Haushalt kümmern, hatte wenig Zeit und traute sich nicht, Freundschaften zu schließen, weil er wusste, er würde bald wieder fortziehen. Aber er liebte die Musik seiner Mutter. Darin sah Mariah einen guten Ansatzpunkt, und schließlich konnte sie Nathan überreden, sein Saxofon zu holen. Zuerst produzierte er nur ein paar quäkende Töne, dann brachte er so etwas wie eine Tonleiter zu Stande, bis Mariah schließlich mit viel Fantasie die Melodie von „Satin Doll" erkennen konnte. Nathan setzte das Instrument ab und sah sie verlegen an. „Brummt dir nicht schon der Schädel?" Sie schüttelte lächelnd den Kopf. „Wie lange spielst du schon?" „Zwei Monate." „Zwei Monate? Na, vielleicht bist du nur ein bisschen nervös. Spiel Joch etwas Einfacheres." Sie rutschte näher an ihn heran und sah ge meinsam mit ihm sein Übungsbuch durch. Hinten war eine Hülle mit einer CD eingeklebt. „Was ist das denn?" „Das ist die CD mit den Songs in diesem Buch. Wahrscheinlich soll man sich anhören, wie das Stück eigentlich klingen soll." „Vielleicht solltest du die CD abspielen, während du übst, damit du ein Gefühl für das Tempo bekommst." „Mariah ..." Aber sie war schon aufgesprungen, lief zum CD-Spieler, legte die Scheibe ein und wählte den Song „Satin Doll". Das Arrangement hörte sich relativ einfach an. „Das musste gehen." Sie drückte auf Stopp. „Und jetzt spiel mit." Die ersten drei Male musste Nathan die ersten Takte ausla ssen, weil er nicht schnell genug war. Mariah stellte den Apparat auf „Wiederho lung" und setzte sich neben Nathan. Beim zehnten Mal hatte er es geschafft. „Das reicht", sagte er und löste die Wiederholungstaste. „Das war doch schon sehr schön", meinte Mariah. „Danke." Wunderbar. Das hatte ja gut geklappt. Er brauchte unbedingt ein Hobby, um seine Einsamkeit besser ertragen zu können. „Das hörte sich wirklich schon sehr gut an", sagte sie. „Ich bin sicher, irgendwann wirst du auch auftreten können." „Hör bloß auf. Es ging vielleicht ein bisschen besser, aber es hörte sich immer noch ziemlich scheußlich an." Doch er schien ganz zufrieden zu sein, und als er sie jetzt ansah, strahlten seine Augen. Ein sanfter Blues erklang. Nathan stand auf. „Ich glaube, mein kindliches Ich erinnert sich an etwas, das ich damals auch sehr gern getan habe." Er nahm Mariahs Hände und zog sie auf die Füße. Dann legte er die Arme um sie und begann zu tanzen. Mariah spürte seine Hände auf ihrem Körper, und es fühlte sich für sie an, als musste es so
sein. Sie versuchte, diesen Gedanken zu verdrängen, war aber doch froh, dass sie so etwas wie einen therapeutischen Grund hatte, in Nathans Armen zu liegen. „Und nun solltest du mir von deinem inneren Kind erzählen", sagte er leise. „Was wünscht es sich, wonach sehnt es sich?" Er nahm sie fester in den Arm und machte eine schnelle Drehung. Nach dir, nur nach dir. „Es geht hier nicht um mich", sagte Mariah und versuchte, ihrer Stimme eine gewisse Festigkeit zu geben. „Du hast gern gemalt, daran kann ich mich noch gut erinnern. Und geschauspielert. Hast du nicht mal ein verrücktes Stück über das Ab waschen geschrieben?" „Das war eine Parabel über die Sinnlosigkeit der Existenz." Sie wur de rot. „Das klingt jetzt idiotisch." „Aber du warst mit so viel Begeisterung dabei. Die Kunst und das Le ben müssen echt sein, hast du immer gesagt, nicht verlogen." „Machst du dich lustig über mich?" „Nein. Ich war sehr davon angetan. Überrascht und voller Bewunderung." „Das glaube ich nicht." „Wirklich. Du wirktest so frei und ungebunden und warst voller Überraschungen." „Vielleicht im Vergleich zu dir. Du warst immer so ernst." Das hatte ihr damals doch sehr gefallen, und es hatte sie gleichzeitig eingeschüchtert. Sie hatte sich gefragt, wie sie jemals seine Erwartungen erfüllen sollte. „,Nimm nicht alles so schwer, Nathan', hast du immer zu mir gesagt." Er lächelte. „Und du hast mich gefragt, ob ich den Duft der Rosen gar nicht wahrnehme. Ich weiß noch, wie du zusammen mit Nikki an einer Wandmalerei gearbeitet hast. Dein ganzer Körper war bei jedem Pinselstrich in Bewegung." Peinlich, sich daran erinnern zu müssen, wie verrückt sie damals ge wesen war. Sie hatte sie immer etwas Besonderes sein wollen. Dabei war sie sowieso aufgefallen mit ihrer wilden Frisur, der merkwürdigen Kleidung und ihren seltsamen Ideen. „Ich war nie besonders begabt. Ich meine, künstlerisch." Er zuckte nur mit den Schultern. „Das war doch egal. Du warst begeistert. Du liebtest die Kunst. Das war das Entscheidende." Am liebsten hätte sie ihn geküsst, vor lauter Dankbarkeit. „Du warst immer so nett zu mir." „Nett? Ich war sicher alles Mögliche, aber nett ganz bestimmt nicht." Er schwieg, und sie wusste, dass er daran dachte, wie er sie damals ge küsst hatte, erst langsam und zärtlich, dann fordernder und immer wilder, bis sie meinte, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Sie musste unbedingt das Thema wechseln. „Es tut mir so Leid, dass du unglücklich bist, Nathan. Dass es mit Beth nicht geklappt hat, bedeutet ja nicht, dass du es nicht noch mal versuchen solltest. Du findest bestimmt die Frau, nach der du dich sehnst." „Meinst du?" „Aber sicher." Wie gern würde sie diese Frau sein. „Sie wird mit dir sehr glücklich werden, ich weiß das. Du hast mir damals immer das Gefühl gegeben, ein ganz besonderer Mensch zu sein." „Das war einfach. Du warst auch ein besonderer Mensch. Und bist es heute noch." Er sah sie so an wie damals, voll Bewunderung und Zuneigung. Am liebsten hätte Mariah sich auf die Zehenspitzen gestellt und ihn geküsst. Sie waren beide einsam, und er hing noch an ihr. Warum also nicht? Entgegen aller Vernunft wollte sie gerade nachgeben, als ein hässliches Kreischen sie auseinander fahren ließ. Was war das? Es roch nach Rauch. Der Rauchmelder schrillte. Beide sahen sich hastig um, und Mariah bemerkte schließlich eine der Kerzen, die zu dicht am Vorhang gestanden hatte. Der Stoff hatte Feuer gefangen, die Flammen züngelten an der Kante entlang nach oben. „Oh nein!" Mariah rannte los, nahm eine der Yogamatten und schlug heftig auf die
Flammen ein, mit dem Erfolg, dass sie nur noch heller aufloderten. Nathan war in die Küche gelaufen und kam mit einem Eimer Wasser zurück, das er mit Schwung gegen den Vorhang schüttete. Das Feuer war gelöscht und Mariah tropfnass. Sie schüttelte sich und betrachtete den Schaden. Der Seiden Vorhang war verschmort, die Luft war verqualmt, und Wasser tropfte auf den weißen Teppich, der eine schmutziggraue Farbe annahm. „Es tut mir so Leid, ich bin schuld!" Sie musste schreien, weil der Rauchmelder immer noch kreischte. „Ist nicht so schlimm!" schrie Nathan zurück. Sie sahen sich an. „Ich hatte gerade den Eindruck, dass etwas anderes Feuer gefangen hat, und das wäre sehr viel schlimmer gewesen." „Ja!" „Ich kann nur froh sein, dass der Rauchmelder so gut funktioniert!" In diesem Augenblick verstummte das Gerät, als habe es nur auf diese Worte gewartet. Der Hund, den Mariah aus dem Tierasyl holte, sah aus wie eine Mischung aus Boxer und Bernhardiner. Er hatte einen fast quadratischen Kopf, hochstehende Ohren und glänzende dunkle Augen. Das Saxofon war schon mal ein guter Anfang, um Nathans Probleme zu lösen, aber Mariah suchte noch nach etwas anderem, das Nathan in seiner Einsamkeit trösten konnte. Deshalb war sie ins Tierheim gefahren, und da der Hund dort auf der Einschläferungsliste stand, hätte sie ihn auf jeden Fall genommen, auch wenn er noch so scheußlich ausge sehen hätte. Glücklicherweise war er nicht nur hübsch, sondern schien auch ein fröhliches Naturell zu haben. Auf dem Weg zum Auto sprang er begeistert um sie herum und an ihr hoch. Im Auto wirkte er sehr viel größer als in diesem schrecklichen Zwinger, aber er war so lieb und anhänglich, dass Mariah sicher war, Nathan würde ihn mögen. Ja, ein Hund war genau das Richtige für ihn. Er würde auf ihn warten, wenn Nathan nach Hause kam. Und Nathan konnte ihn unmöglich nach Kalifornien mitnehmen, denn er wusste ja nicht, in was für einem Apartment er landen würde. Deshalb würde er sich die ganze Sache aus dem Kopf schlagen müssen. Nikkis Ratschläge in Bezug auf Nathans Einsamkeit waren nicht sehr hilfreich gewesen. Kein Hund, kein Saxofon, keine Gestalttherapie. Geh mit dem Mann ins Bett. Bring es endlich hinter dich. Ihr werdet euch danach beide besser fühlen. Das ist die richtige Therapie. Mariah sagte sich, dass sie Nikki nicht mehr anrufen durfte. Ihre Vorschläge machten sie nur nervös. Auf dem Weg zurück nach Copper Corners hatte es sich der Hund neben ihr bequem gemacht. Sein großer Kopf lag auf ihrem Schoß, und sie hatte Schwierigkeiten zu steuern. Aber das konnte Mariah nicht erschüttern. Denn heute war ein besonders erfolgreicher Tag gewesen. Sie hatte nicht nur den Hund geholt, sondern hatte vorher noch bei dem kleinen italienischen Restaurant gehalten. Tatsächlich hatte sie Louie, den Besitzer, davon überzeugen können, dass seine Gäste von ein wenig Livemusik begeistert sein würden. In zwei Wochen sollte Nathans erster Auftritt sein, genug Zeit für ihn, um ein paar einfache Stücke einzuüben. Als Nathan die Tür öffnete, stürmte der Hund vorwärts und riss dabei Mariah die Leine aus der Hand. Mariah stolperte und landete in Nathans Armen. „Wow!" Nathan drückte sie fest an sich, aber Mariah machte sich schnell los. Da erst wurde Nathan klar, dass sich noch ein drittes lebendes Wesen im Raum befand. „Was ist das denn?" Er wies kopfschüttelnd auf den Hund, der das ganze Wohnzimmer abschnüffelte. „Findest du nicht auch, dass er süß aussieht?" fragte sie zaghaft, als der Hund in die Küche schoss. „Wir sollten ihn Maynard nennen." „Was hast du getan?" Nathans Stimme klang drohend. „Ich habe dir einen Hund besorgt." „Aber ich will keinen Hund."
„Natürlich willst du einen. Ein Hund ist genau das Richtige für dich. Wusstest du, dass Hundebesitzer sehr viel seltener Herzprobleme haben und länger leben?" „Mein Herz ist vollkommen gesund, und ich will keinen Hund. Außerdem ziehe ich in zwei Monaten weg." „Wirklich?" „Zumindest kann es gut sein." „Das hört sich schon besser an. Aber der Hund stand auf der Einschläferungsliste, Nathan. Seine Tage waren gezählt. Ich konnte ihn einfach nicht dalassen. Gib ihm doch eine Chance. Ich bin sicher, er wird keine Schwierigkeiten machen." In diesem Augenblick kam der Hund aus der Küche. Er trug eine Tüte mit einem Brot in der Schnauze und ließ sie vor Mariahs Füße fallen. „Oh, sieh mal, er bringt uns ein Geschenk!" Sie hob die nass gesabberte Tüte mit dem Brot hoch und reichte sie Nathan, der sie wie eine tote Ratte mit zwei spitzen Fingern festhielt. Der Hund sah ihn an, als wollte er sagen: Das war aber nicht für dich. Er beschnüffelte Nathans Knie und legte dann Mariah die Vorderpfoten auf die Schultern und fuhr ihr einmal kräftig mit seiner großen Zunge über das Gesicht. Mariah versuchte zu lächeln. „Ist das nicht süß? Er mag uns." Nathan schüttelte angewidert den Kopf. „Aber ich habe noch eine zweite Überraschung." Sie schob den Hund von sich und setzte sich auf die Couch. Der Hund ließ sich zu ihren Füßen nieder und sah sie aufmerksam an. „Maynard, geh zu deinem Herrchen", sagte Mariah energisch und wies auf Nathan. Offensichtlich hatte Maynard den Befehl missverstanden, denn mit einem einzigen Satz sprang er auf die Couch und setzte sich auf Mariahs Schoß, wobei er sie um Haupteslänge überragte. „Maynard hat offenbar seine Wahl getroffen", sagte Nathan lakonisch. „Er ist nur dankbar, dass ich ihm das Leben gerettet habe. Wenn er dich besser kennt, wird er dein treuester Freund sein. Sieh ihn doch nur an." „Vorsicht, er tropft!" Zu spät. Mariah wischte den Speichel schnell mit ihrem Blusenärmel auf. „Dir würde auch der Speichel im Mund zusammenlaufen, wenn du in so einem tollen Haus und bei so einem netten Besitzer leben könntest." „Du bist einfach unmöglich. Und das meine ich nicht positiv." Dennoch war er bereit, den Hund über Nacht zu behalten. Mariah war nicht mehr dazu gekommen, Nathan von dem italienischen Restaurant zu erzählen, aber morgen war auch noch ein Tag. Bevor sie ging, schärfte sie Maynard ein, sich gut zu benehmen. „Kein Gejaule, wenn ich weg bin. Und sabbere nicht auf die Hand, die dich füttert." Ihre Worte beeindruckten den Hund ganz und gar nicht. Sie hörte ihn jaulen, als sie in ihr Auto stieg, sagte sich jedoch, dass er sich sicher bald beruhigen würde. Eine gemeinsame Nacht, und Nathan und er würden die besten Freunde sein. „Der Hund kann nicht bleiben", sagte Nathan sofort, kaum dass er Mariah am nächsten Morgen die Tür geöffnet hatte. „Das verfluchte Tier hat die ganze Nacht gejault." Nathan sah tatsächlich übernächtigt aus. Er hatte dunkle Ringe unter den Augen, und sein Haar war hinreißend verstrubbelt. Maynard kam sofort hinter ihm hervor und sprang begeistert an Mariah hoch. „Hallo, Tier!" Sie hatte Schwierigkeiten, das Gleichgewicht zu halten. „Er hält mich für seine Retterin, das ist alles." Sie nahm Maynards Pfoten von ihren Schultern, und der Hund setzte sich vor sie hin und sah sie ergeben an. „Außerdem merkt er wahrscheinlich, dass du ihn nicht magst." „Das stimmt nicht." Nathan strich Maynard kurz über den Kopf. „Er ist sicher ein prima Hund, vorausgesetzt, man besitzt eine Riesenranch." „•Du musst ihm eine Chance geben. Aber jetzt wollen wir lieber anfangen."
Sie schafften es tatsächlich, sich auf die Meditationsübungen zu konzentrieren, obgleich der Hund währenddessen das ganze Haus inspizierte und dabei mit seinen Krallen über die Fußbodenfliesen kratzte. Als sie die Augen nach dem Meditieren wieder öffneten, fanden sie sich umgeben von lauter Liebesgaben, die der Hund zusammengetragen hatte, unter anderem eine Grapefruit, einen angekauten italienischer Lederslipper und Boxershorts aus rosa Seide, die Mariah mit spitzen Fingern hochhob. „Ganz schön scharf." „Gib her." Nathan riss ihr die Hose aus der Hand. „Der Hund muss verschwinden." „Er heißt Maynard. Du hast doch versprochen, ihm eine Chance zu geben. " Sie mussten die Yogaübungen auslassen, weil Maynard pausenlos störte. Aber irgendwie gelang es Mariah, Nathan zu überreden, den Hund noch ein paar Tage zu behalten. Und diesmal drohte sie Maynard: „Wenn du dich nicht gut benimmst und nett zu dem Mann bist, kommst du zu meiner Mutter. Dann musst du ein Frotteelätzchen tragen und die Krümel unter dem Bridgetisch fressen." Zu Hause zog sie sich um. Diesmal hatte sie vor, Dave Woods auf die Nerven zu gehen. Sie peppte den tristen grauen Hosenanzug mit einem engen Top auf, das breite Zebrastreifen hatte, und steckte sich große silberne Ohrringe an. Dazu trug sie ein Stirnband, das sie mal aus einer alten Federboa genäht hatte. Meredith schnappte bei ihrem Anblick entsetzt nach Luft, aber Mariah ließ sich davon nicht beirren und fuhr in die Firma. Zuerst suchte sie Bernie auf und brachte ihm den Ausdruck der Website einer Süßwaren-Kette, auf der alle möglichen Neuigkeiten angezeigt wurden. Als sie sein Büro wieder verließ, hatte sich Bernies erste Verärgerung bereits gelegt, und er überlegte schon, wie man am besten die höheren Transportkosten abdecken könnte. Mariah hatte genug Menschenkenntnis, um zu wissen, dass Bernie keine Schwierigkeiten machen würde. Das ganze Projekt machte ihr Spaß, aber sie sagte sich immer wieder, dass es für sie wichtigere Ziele gab. Sie wollte, dass man sie aus der Firma warf. Dave Woods wartete bereits auf sie, in der einen Hand eine Schürze, in der anderen Haarnetz und Handschuhe. Schweigend zog sie die Sachen über und griff dann nach einem Klemmbrett. Sie wollte wenigstens so tun, als machte sie sich Notizen. Sie gingen durch den Raum, in dem die Früchte entsaftet wurden, und sie sah Dave zu, wie er die Presse neu einstellte. Da jeder Unfug, den sie hier anstellte, das Unternehmen viel Geld kosten würde, unterließ sie alles und beschränkte sich darauf, Fragen zu stellen. Dave sah sie anfangs misstrauisch an, aber dann taute er auf. Es ging schließlich um die Arbeit, die er liebte. Sie standen bei der Presse und sahen zu, wie der Saft in den Kessel lief. „Warum verdoppelt man nicht den Ausstoß mit einer zweite Presse?" fragte sie. „Wir würden dann auch einen zweiten Kessel brauchen, und Ihr Vater will nicht so viel investieren." „Aber der höhere Absatz würden die Kosten doch bald wieder wettmachen." „Gut möglich." „Damit würde sich natürlich das ganze Produktionsvolumen verändern. Auf alle Fälle sollte man vorher sehr genaue Kalkulationen anstellen." Er sah sie mit seinen blauen Augen scharf an. Sie verblüffte ihn. Sie gingen weiter in den Herstellungsraum, wo der Saft weiterverarbeitet wurde. Und wieder stellte Mariah eine Menge Fragen, die deut lich machten, wie gut sie die einzelnen Verarbeitungsprozesse verstand. Der süße warme Duft erinnerte sie an ihre Kindheit. Damals hatte sie das alles hier nur mit den Sinnen wahrgenommen. Jetzt verstand sie, wie alles ineinander griff, und es faszinierte sie. Halt. Sie wollte doch Schwierigkeiten machen und nicht in Kindheitserinnerungen schwelgen. Im Packraum ergab sich endlich eine Gelegenheit. Die Arbeiter waren damit beschäftigt, Zellophantüten mit Geleefrüchten über eine Rutsche
in die Frachtkisten zu dirigieren. Sie brauchte lediglich die Rutsche etwas zu verschieben, und schon würden die Tüten wer weiß wo landen. Sie würde sie dann aufheben, sehr, sehr langsam, und Dave Woods würde einen Tobsuchtsanfall kriegen. Sehr gut. „Kann ich irgendwie behilflich sein?" fragte sie ihn. „Wieso?" „Wenn ich mitarbeite, kriege ich am ehesten ein Gefühl dafür, wie alles funktioniert." Sie lächelte eine der Arbeiterinnen an. Delilah stand auf ihrem Namensschild. „Ich kann es ihr gern zeigen", sagte Delilah schnell. In diesem Augenblick krächzte Daves Walkie-Talkie, und er hob es schnell ans Ohr. „Okay, Benny, ich komme gleich." Er stellte das Gerät aus. „Gut, einverstanden. Ich bin in einer halben Stunde zurück." Er sah Mariah stirnrunzelnd von der Seite an, so, als traue er ihr nicht, womit er völlig richtig lag. Als Dave nach einer halben Stunde zurückkam, war das Unglück schon geschehen. „Was ist denn hier los?" fragte er und blickte entsetzt auf die Berge von Tüten, die sich um Mariah stapelten. Sorgfältig und im Schneckentempo legte Mariah Tüte für Tüte in die Frachtkiste. Sie blickte hoch und unterdrückte mit Mühe ein Lächeln. „Es hat leider einen kleinen Unfall gegeben." „Ja", sagte Delilah schnell, „ein kleines Versehen. Aber sie sammelt schon alles wieder auf. Sie will nicht, dass wir ihr helfen." Wie rührend, dass Delilah sie auch noch verteidigte. Allerdings sah sie Mariah an, als zweifle sie an deren Verstand. Wie hatte sie zulassen können, dass die Rutsche sich verstellte? Mariah war der Gedanke, dass man sie für so beschränkt hielt, nicht sehr angenehm, aber es ging schließlich um ihre Zukunft. „Ich habe wohl zwei linke Hände", sagte sie und tat zerknirscht. „Kann man wohl sagen", knurrte Dave. „Ist vielleicht besser, Sie setzen sich da hinten auf die Bank und sehen zu." „Oh nein. Bitte nicht, ich werde bestimmt besser aufpassen", sagte Mariah. „Ich möchte so gern helfen." „Wir brauchen keine Hilfe." „Chef, hier hinten könnten wir jemanden gebrauchen", sagte einer der Arbeiter, der eine flache Karre, beladen mit Zuckersäcken, zog. „Bitte, lassen Sie mich." Mariah sah Dave flehend an. „Bitte." „Aber tun Sie nur, was man Ihnen sagt, verstanden? Keine Experimente." „Nein, bestimmt nicht." Sie ging schnell zu dem Mann mit der Karre hinüber, und im Nu hatte sie ein kleines Chaos angerichtet. Sie trödelte herum, stieß „versehentlich" Zuckersäcke von der Karre, brachte Sachen in die falschen Räume und stellte sich so ungeschickt an, wie es nur ging. Wohl war ihr nicht dabei, denn sie hasste es, die Arbeiter zu verärgern. Als sie der Meinung war, genug Unheil angerichtet zu haben, versuchte sie, wirklich zu helfen. In der Lunchpause blieb sie im Lager und schichtete die Behälter mit Sirup und Limonensaft um, damit man einen schnelleren Zugriff darauf hatte. Mariah war ziemlich sicher, dass Dave sich bitterlich über sie bei Nathan beschweren würde. Falls es noch nötig war, würde sie morge n die Leute in den Büros gegen sich aufbringen. Ihr würde schon etwas einfallen. Als sie auf dem Weg nach draußen durch den Raum mit der Saft presse kam, sah sie, dass ein oberes Ventil, durch das der Saft abfließen sollte, sich offenbar nicht ganz geöffnet hatte, so dass der Saft zischend aus dem Rücklauf herauskam. Kein Mensch war zu sehen, aber da stand eine Leiter. Wenn sie das Ventil öffnete, konnte der Saft wieder frei fließen. Schnell stellte sie die Leiter an und stieg hoch. Allerdings musste sie sich weit zur Seite lehnen, um das Ventil erreichen zu können. Da ... jetzt hatte sie den Griff zu fassen ... „He, Mariah", rief Nathan, der gerade die Tür aufgestoßen hatte. „Was tust du da?"
„Ich will das Ventil öffnen." „Nein, lass das! Es muss geschlossen sein!" Er rannte auf sie zu und packte die Leiter. Sie wackelte, Mariah verlor die Balance und flog Hals über Kopf in einen Kessel mit rotem Gelee. Als sie sich hochrappelte, sah sie, dass das Gelee ihr bis zu den Knien reichte. „Alles in Ordnung mit dir?" rief Nathan. „Ja. Es fühlt sich sogar ganz gut an." Warm und glatt. „Komm, gib mir die Hand." Er hatte die Leiter an den Kessel gelehnt, war hochgestiegen und versuchte, Mariahs Hand zu packen. Zwei Mal entglitt sie ihm, dann hielt er fest. Mariah versuchte, sich gegen den Kesselrand zu stemmen, aber ihre Füße rutschten ab. Sie fiel in den Kessel zurück und riss Nathan mit sich. „Was, zum Teufel ...", stieß er hervor. Aber sie lachte nur und klatschte ihm Gelee auf die Brust. „Herzlich willkommen!" Nathan sah fassungslos an sich hinunter. „Ich hoffe, dir ist klar, dass du soeben Gelee im Wert von ein paar Hundert Dollar vernichtet hast, von meiner und deiner Kleidung ganz zu schweigen." „Tut mir Leid." Um das Gelee tat es ihr wirklich Leid, nicht aber um die Kleidung. Was für eine wunderbare Gelegenheit, ihre Inkompetenz ein für alle Mal zu beweisen. Nathan sah sie an und musste lachen. „Du solltest dich mal sehen!" Sie grinste. „Meinst du, du siehst besser aus?" „Sicher nicht. Aber wir sollten versuchen, das Ventil ganz zu schließen." Er legte die Hände zusammen. „Steig hier rauf, dann hebe ich dich hoch. Du kannst das Ventil bestimmt erreichen." Sie zog die Schuhe aus, hielt sich an Nathans Schultern fest, stellte einen Fuß auf seine verschränkten Hände und versuchte hochzuklettern. Aber sie rutschte ab und glitt an ihm herunter. „Wow, nicht schlecht!" Nathan schien die Situation genauso zu ge nießen wie sie. „Komm, wir versuchen es noch mal." Diesmal war sie erfolgreicher. Sie richtete sich hoch auf, streckte den Arm aus und konnte den Hebel gerade mit den Fingerspitzen erreichen. „Geschafft!" Nathan ließ sie wieder langsam an sich heruntergleiten. „Aber wie sollen wir jetzt hier wieder herauskommen?" „Warum hast du es denn so eilig?" Mariah zog ihn nach unten, bis beide schließlich nebeneinander an der Kesselwand lehnten. „Das ist doch wie ein Schlammbad, nur ...", sie strich mit dem Finger über Nathans mit Gelee verklebte Wange und leckte ihn dann ab, „... dass es süß ist. Übrigens eine ganz ausgezeichnete Therapie für dich." „Du bist vollkommen verrückt", sagte er, und schob ihr eine verklebte Strähne aus dem Gesicht. „Und was machen wir jetzt?" „Wie wäre es mit einem Gelee-Ringkampf?" „Hm, nichts dagegen." Ihr wurde ganz heiß bei der Vorstellung, sich hier in dieser süßen glatten Masse an ihn zu pressen. „Keine schlechte Idee, was?" fragte sie leise, „warm und nass und glatt und süß." „Ja", sagte er und beugte sich zu ihr hinunter. „Sehr süß." Seine Lip pen berührten ihren Mund. Was für ein Kuss! Und was für ein Mann! Mariah schlang die Arme um ihn und schmiegte sich an ihn. Langsam rutschten beide in die warme süße Masse hinein, doch sie merkten es kaum. Erst, als die Tür aufgestoßen wurde und sie die Stimmen der Arbeiter hörten, lösten sie sich voneinander. „Wie sollen wir Ihnen das nur erklären?" Nathan versuchte vergeblich, sein Hemd von der roten Masse zu befreien. „Am besten, wir sagen einfach, wir wollten das Ventil schließen und hatten dabei einen kleinen Unfall. Genau das ist ja auch passiert."
„Nein, es ist etwas ganz anderes passiert", seine Stimme klang tief und sexy, „und du weißt das genau. Und die Männer auch." Sie grinste. „Dann können wir es ja auch tun, wenn sowieso schon jeder so was vermutet." „Das ist doch nicht dein Ernst? Oder doch?" Seine Augen funkelten, und er lächelte glücklich. „Allerdings", sagte sie und klatschte ihm eine Hand voll Gelee auf die Brust. „Na, warte!" Er packte sie und versuchte, sie regelrecht „einzuseifen". Doch Mariah wehrte sich, und als die Männer sie fanden, waren sie mitten in der schönsten Geleeschlacht. Besser hätte es gar nicht laufen können, dachte Mariah. Ganz sicher würde sie jetzt aus der Firma fliegen. Aber, was beinahe noch wichtiger war, Nathan war völlig locker gewesen.
7. KAPITEL Am nächsten Morgen gab Nathan nach und willigte ein zu malen. Er beharrte aber darauf, überhaupt nicht künstlerisch begabt zu sein. Mariah hatte zwei Staffeleien im Garten aufgestellt. Während sie verschiedene Farben auf die Paletten gab, kam Maynard angetrottet, ein kleines Bild zwischen den Zähnen. Nathan sah es und wurde blass. Er versuchte, dem Hund das Bild zu entreißen, und schaffte es schließlich auch. Mariah sah hoch. „Was ist das?" Sie streckte die Hand aus. „Nichts. Ich habe vor langer Zeit mal was gemalt, aber es ist nicht gut geworden." Er presste das Bild an sich und ging schnell damit ins Haus. Sie hätte es zu gern gesehen, aber er sah so verlegen aus, als er wieder aus dem Haus kam, dass sie ihn nicht unter Druck setzen wollte. Vielleicht später. „Okay, alles ist fertig. Tauch den Pinsel ein und fang an. Versuch, ein Gefühl für die Farben zu kriegen. Vertrau deinen Empfindungen." Vorsichtig tauchte er den Pinsel ein und malte den oberen Teil der Leinwand mit sorgfältigen Strichen blau. Sie beobachtete ihn. „Nicht so zögerlich. Du kannst ruhig kraftvoller malen, mit mehr Schwung." Er machte einen kaum kräftigeren Pinselstrich. „Aber, Nathan, das kannst du doch ganz anders. Los, zeig mir, was du fühlst." Er wandte sich zu ihr um, grinste kurz, und schon hatte er ihr mit zwei kurzen Strichen einen blauen Schnurrbart gemalt. Zwei weitere Striche, und sie hatte blaue Augenbrauen. „Na, wie gefällt dir das?" „Oh ..." Mariah tauchte ihren Pinsel in ein kräftiges Rot und tupfte Nathan zwei Kreise auf die Wangen. „Schön", sagte er, immer noch grinsend. „Halt still." Jetzt tupfte sie ihm schwarze Farbe auf die Wimpern. „Hinreißend. Und nun der Mund." „Nein, jetzt bin ich dran." Wieder tauchte er den Pinsel in das leuchtende Blau und bedeckte Mariahs Wangen und Kinn mit kräftigen Strichen. „Verstehe. Die Dame mit dem Bart, was?" „Ja." Er betrachtete sein Werk. „Sehr scharf." „Hallo! Wo seid ihr? Oh, du liebe Güte!" Mariah und Nathan drehten sich um und erblickten Meredith, die sie fassungslos anstarrte. „Was ist das denn? Ihr malt euch gegenseitig an?" „Mom, was machst du denn hier?" „Ich wollte nur ein paar Sachen für den Hund bringen. Ich hatte ja keine Ahnung ..." Ohne Zweifel hielt Meredith sie für verrückt. Mariah und Nathan trugen die Einkäufe ins Haus. Ein großer Korb voll Hundespielzeug, zwei große Säcke Trockenfutter, Schachteln mit Hundekeksen, Kauknochen, einen Hundekorb, mehrere Halsbänder und sogar eine Hundehütte für den Garten. Als sie schließlich alles ausgeladen hatten und Meredith wieder verschwunden war, standen Mariah und Nathan im Flur inmitten der Pakete und Schachteln, sahen sich an und lachten los. Sie gingen zusammen ins Bad, um sich wieder zu säubern. Gegenseitig wischten sie sich die Farbe aus dem Gesicht und schnitten sich dabei Grimassen. „Ich hoffe, dass deine Haut das gut übersteht", sagte Nathan und wischte Mariah zärtlich mit einem Wattebausch die letzte Farbe von den Wangen. „Ja, sicher", sagte sie und strich ihm mit einem weichen Tuch über die rote Nasenspitze. „Mach die Augen zu, damit ich dir die falschen Wimpern wieder abwischen kann." Er schloss gehorsam die Augen, und jetzt fiel ihr auf, wie ebenmäßig sein Gesicht
geschnitten war. Die gerade Nase, die klare Linie des aus geprägten Kinns, der maskuline feste Mund, die leicht getönte Haut. Nie hätte sie sich vorstellen können, dass Malen etwas mit Intimität zu tun hatte, aber irgendwie hatte alles, was sie gemeinsam machten, eine sexuelle Komponente. Sie seufzte leise und strich ihm noch einmal über die Wange. „Fertig." Er öffnete die Augen. „Du hast hier noch ein wenig blaue Farbe. So." Er trat einen Schritt zurück und betrachtete sie. „Du bist immer für mich da", sagte sie leise. „Und du für mich. Warum können wir eigentlich nicht immer füreinander da sein?" Ja, warum nicht? Sie hob sich auf die Zehenspitzen und wischte ihm noch einen letzten schwarzen Spritzer von der Stirn. Dabei stützte sie sich an seinem Oberkörper ab und fühlte, wie stark und schnell sein Herz klopfte. Warum konnten sie nicht immer füreinander da sein? Weil es nicht ging. Sie hatte einen Plan, und diesen Plan musste sie durchführen. „Wenigstens bist du mich bald los." „Wieso?" „Nach all dem, was gestern passierte, ist sicher jeder froh, mich von hinten zu sehen." „Aber die Sache mit dem Ventil war doch nicht deine Schuld." „Das nicht, aber hat Dave dir nicht erzählt, was im Packraum passiert ist?" „Nein. Er sagte nur, er wäre sehr froh, dass du das Lager so gut aufgeräumt hast. Und Bernie ist restlos begeistert von deinen neuen Vorschlägen. Du musst nur ein bisschen mehr Selbstvertrauen haben. Du gibst zu schnell auf." Sie sah ihn an und wusste sofort, er würde sie nie gehen lassen, was auch immer sie anstellte.. Er würde immer eine Entschuldigung oder Erklärung finden. Verdammt. Sie war gefangen. Also musste sie ihre Strategie ändern. Sie musste Nathan davon überzeugen, dass er ohne die Firma nicht leben konnte. Auch wenn das bedeutete, dass sie mehr Zeit mit ihm verbringen musste. Kein unangenehmer Gedanke. Einen Augenblick dachte sie daran, selbst in Copper Corners zu bleiben. Aber das war unmöglich. Sie kannte sich zu gut. Sie war nun mal wie ein flatterhafter Schmetterling, schön anzuschauen, solange sie da war, und später eine zärtliche Erinnerung. Wenn sie zu lange blieb, konnte es nur mit einer Katastrophe enden. „Solltest du nicht längst bei Nathan sein?" Mariah starrte auf den Computerbildschirm. „Nein, heute nicht, Mom." Sie hatte Nathan aufgetragen, mit den Meditations- und Yogaübungen weiterzumachen, aber auch das Saxofonspielen nic ht vergessen. Ihr war im Internet etwas aufgefallen, dem sie unbedingt nachgehen musste. Am Wochenende konnten sie dann wieder gemeinsam arbeiten, vielleicht ein paar Eignungstests durchgehen. „Wie läuft es denn so mit Nathan?" fragte Meredith gedehnt. „Ich hatte den Eindruck, ihr amüsiertet euch prächtig, als ich euch da beim Malen überrascht habe." Mariah sah ihre Mutter stirnrunzelnd an. „Mach dir keine Hoffnungen. Ich helfe ihm nur, zu erkennen, dass er hier in Copper Corners gut aufgehoben ist." „Aber das weiß ich doch, mein Liebes. Ich bin nur neugierig, wie du in der Firma zurechtkommst." Zum ersten Mal seit drei Wochen ließ Mariah die Morgensitzung mit Nathan ausfallen. Auch ihr hatten die Übungen gut getan, denn sie spürte, wie sie an Selbstvertrauen und Gelassenheit gewann. Allerdings nicht, was Nathan betraf. Schon wenn sie ihn sah, beschleunigte sich ihr Puls, und sie wusste nicht, wie sie sich verhalten sollte. Da sie mit ihm den ganzen Tag in der Firma zusammen war, erforderte es große Anstrengung, halbwegs normal zu reagieren. Sie hatte auch Nikki nicht mehr angerufen. Sie wusste, was die Freundin ihr raten würde, und hatte Angst, dass sie irgendwann doch auf den Vorschlag eingehen könnte. Wie immer saß Nathan am Schreibtisch, als Mariah die Tür zu seinem Büro aufstieß. „Du hast mir gefehlt heute Morgen", sagte er.
„Du mir auch." Er räusperte sich verlegen. „Die Yogapositionen haben nicht gut ge klappt. Ich habe mir einen Muskel gezerrt." Er rieb sich die Schulter. „Das haben wir gleich." Mariah trat hinter ihn und massierte ihm die Schulter. „Hm, das ist wunderbar." „Fertig." Sie gab ihm einen kleinen Klaps. „Und jetzt muss ich dir etwas Supercooles zeigen." Sie ließ sich auf den Stuhl vor dem Computer fallen, und Nathan stand auf und trat hinter sie. „Warum ziehst du eigentlich immer diese komischen Kostüme an?" fragte er. „Meine Mutter besteht darauf. Und nur so kann ich dem Kirchenchor entgehen. Ich habe mich schon in Bezug aufs Bridgespielen breitschlagen lassen." „Du Arme. Meredith kann manchmal wirklich schrecklich sein." „Wem sagst du das." Mariah klickte die Website des Botanischen Gartens in Tucson an. „Sieh dir das an. Ich habe nach dem Souvenirladen gesucht, weil ich dachte, dass wir da auch unsere Produkte verkaufen könnten, und habe dies hier gefunden." Ein Artikel über die medizinische Wirkung des Feigenkaktussaftes erschien auf dem Bildschirm. „Nach dieser wissenschaftlichen Untersuchung soll der Saft gut geeignet sein, den Cholesterinspiegel zu senken. Ist das nicht Wahnsinn?" „Sehr interessant." „Begreifst du nicht, was das bedeutet? Damit eröffnet sich uns ein vollkommen neuer Markt: die Bioläden! Ich habe mal in so einem Laden ge arbeitet und kenne die Klientel. Das sind ausgesprochen gesundheitsbewusste und treue Kunden. Wir könnten unsere Süßigkeiten dort verkaufen, zusammen mit einem informativen Faltblatt. Vielleicht auch den Saft in kleinen Flaschen." „Hm", meinte Nathan und überflog den Artikel. „Das wäre möglich." „Möglich? Es ist fantastisch!" „Das müssen wir alles mal durchrechnen. Vielleicht solltest du den La den anrufen, in dem du gearbeitet hast, und den Geschäftsführer fragen, was er davon hält." „Ja, mach ich gleich." Sie sprang auf und wollte davonstürzen, aber Nathan hielt sie am Arm fest. „Gute Arbeit, Mariah." Er lächelte, und sie war sich seiner Berührung sehr wohl bewusst. Ihr kribbelte die Haut, und sie sah, dass auch er aufgewühlt war. Allerdings wirkte er eher bedrückt als glücklich. Zögernd ließ er sie los. „Gut. Dann werde ich auch gleich mit Bernie sprechen." „Ja, tu das." Er sah sie ernst an. Sie blieb stehen. „Sprich mit Bernie." „Bernie? Ach ja, natürlich." Mariah stürzte aus der Tür. Es war Freitagabend, und Nathan war gerade dabei, den dritten Testbogen auszufüllen. Er fand es vollkommen übertrieben, aber das war typisch Mariah. Sie wollte unbedingt beweisen, dass er, Nathan, der große Experte und damit unverzichtbar für „Cactus Confections" war. Er sah Mariah an, die am Computer saß. Sie blickte hoch. „Bist du fertig?" Er nickte und reichte ihr die Blätter. Während sie die Fragen und seine Antworten aufmerksam durchging, hatte er Gelegenheit, sie in Ruhe anzusehen. Normalerweise war sie ständig in Bewegung, redete, lachte, schimpfte. Jetzt betrachtete er ihr Gesicht, die dichten Wimpern, die sanfte Wangenlinie, den sinnlichen Mund, den zarten Hals. Wie gern würde er sie küssen. Sofort reagierte sein Körper unmissverständlich, und er presste sich schnell ein Klemmbrett auf den Schoß. Mariah Monroe beeindruckte ihn in vielerlei Hinsicht, was er
normalerweise nicht zeigte, aber diese Reaktion konnte er nicht unterdrücken. Er musste ihr unbedingt sagen, dass er Copper Corners verlassen würde. Es wurde Zeit, das Seminar fing nächsten Monat an. Außerdem war deutlich, dass Mariahs Interesse an der Firma groß war. Sie machte sich nicht einmal mehr die Mühe, das zu leugnen. „Wieder die höchste Punktzahl, Nathan. Das ist der Beweis dafür, dass du genau das tust, was du auch tun willst und wofür du geeignet bist. Wir müssen nur deinen persönlichen Zufriedenheitsfaktor erhöhen, das ist alles. Gibst du mir mal das Klemmbrett?" „Hm ... ich brauche es." „Wieso? Egal." Sie griff nach einem Buch als Unterlage. „Lass uns mal überlegen. Seit drei Wochen arbeiten wir an deiner Selbstfindung. Was haben wir bisher eingesetzt? Meditation und Yoga, das machst du schon sehr gut." Sie hakte etwas auf dem Papier ab. „Wir haben mit Gesprächstherapie gearbeitet", wieder machte sie einen Haken, „und haben dein inneres Kind erforscht. Übst du auch regelmäßig auf dem Saxo fon?" Sie sah ihn streng an. „Ja, aber das bedeutet nicht, dass ich auftreten kann." „Aber natürlich kannst du das. Willst du mir nicht mal eine Kostprobe geben?" „Kommt drauf an, wovon." Sie wurde rot. „Du weißt schon, was ich meine." Nathan liebte es, wenn sie rot wurde. Er ahnte längst, dass es ihr nicht leicht fiel, ihm zu widerstehen. Aber er wusste, dass sie keine ernsthafte Bindung eingehen wollte. Und an einer Affäre war er nicht interessiert. Wenn er mit ihr schlief, würde er sie nicht mehr gehen lassen können. „Ich kann kaum drei Stücke." „Aber das macht doch nichts. Bei Louie wird es niemandem auffallen. Und es ist eine wunderbare Gelegenheit, dich kreativ auszudrücken." „Wenn du meinst." Sie nickte heftig. „Allerdings." Mariah hakte wieder etwas ab. Sie ging genauso energisch vor wie ihre Mutter, aber sie machte es mit viel mehr Charme. Und wenn es sie glücklich machte, dass er sich öffentlich blamierte ... Er würde alles tun, nur um sie glücklich zu sehen. „Und du hast ein Haustier." Ein weiteres Häkchen. Alles, nur nicht das. „Ich bin bereit, mich bei Louie vorführen zu lassen, aber du musst den Hund zurückbringen. Das ist mein voller Ernst. Er knurrt mich an, wenn ich ins Zimmer komme." „Er weiß, dass du ihn umbringen lassen willst." „Das stimmt doch gar nicht. Ich will ihn nur nicht in meinem Haus ha ben." Mariah zuckte mit den Schultern und ging weiter ihre Liste durch. „Und insgesamt, Nathan? Wie fühlst du dich? Besser? Hast du mehr zu dir selbst gefunden?" „Auf alle Fälle bin ich gelenkiger. Sieh mal." Er nahm die Yogaposition Sich-streckenderHund ein. Offensichtlich war Mariah sehr beeindruckt, denn er hörte, wie sie scharf die Luft einsog. „Sehr gut", sagte sie leise. „Aber ich meinte eigentlich mehr deine innere Haltung. Hat die sich verändert? Zum Beispiel der Firma gegenüber?" „Ich habe nichts gegen die Firma. Und du? Ich habe den Eindruck, du arbeitest mit Begeisterung bei uns." „Ich muss mich ja irgendwie beschäftigen. Wenn ich nur zu Hause rumsitze, bin ich Meredith vollkommen ausgeliefert." „Aber dir gefällt die Arbeit doch. Sei ehrlich." „Und dir? Du machst inzwischen einen viel fröhlicheren Eindruck." Kein Wunder. Schließlich konnte er sie jeden Tag sehen. „Dennoch hat sich an meinem Entschluss nichts geändert." „Welcher Entschluss?" „Dass ich weggehen werde."
„Aber du hast versprochen, es noch mal zu versuchen." „Das mache ich doch auch. Habe ich nicht alles getan, was du von mir verlangt hast? Und es hat mir gut getan. Ich habe jetzt sogar ein besseres Verhältnis zu meiner Mut ter. Neulich habe ich sie sogar angerufen, und wir hatten ein gutes Gespräch. Aber ich möchte trotzdem etwas Neues anfangen. Irgendwo anders." „Das kann ich einfach nicht begreifen." Sie sah so enttäuscht aus, dass er beinahe eingelenkt hätte. „Du bist doch glücklich hier." Ich bin glücklich mit dir, wäre es fast aus ihm herausgeplatzt. Aber sie hatte bereits wieder diesen entschlossenen Gesichtsausdruck aufgesetzt. Noch gab Mariah nicht auf. „Du musst irgendwelche Vorstellungen davon haben, wie dein zukünftiges Leben aussehen soll. Wie willst du es anpacken?" „Wahrscheinlich werde ich erst mal mein Auto verkaufen und mir ein Motorrad zulegen. Motorradfahren macht Spaß. Außerdem ist es billiger, und das ist wichtig, wenn ich nicht in irgendeinem schäbigen Apartment hausen will, wie du befürchtest." „Ein Motorrad? Das passt doch gar nicht zu dir. Außerdem ist es viel zu gefährlich. Die meisten Organspender sind Motorradfahrer." „Darüber mach dir keine Sorgen. Ich muss einfach etwas Neues in meinem Leben ausprobieren. Das solltest gerade du doch besonders gut verstehen können." „Das war nicht fair. Aber gut, was hast du dann vor?" „Ich will mich nicht gleich irgendwo niederlassen. Ich werde erst ein wenig herumreisen, um herauszufinden, wo ich eigentlich leben möchte." „Aber Hotels sind teuer." „Dann schlaf ich eben auf Campingplätzen." „Du und Camping? Das glaubst du ja wohl selbst nicht." „Ich werde mich schon daran gewöhnen, keine Sorge." Er strich ihr leicht über den Arm. Ob er sich wirklich jemals an ein Leben ohne Mariah gewöhnen würde? Am nächsten Morgen machte Nathan sich gerade Kaffee, als vor seinem Haus dröhnend eine schwere Maschine hielt. Kurz darauf klingelte es. Es war Mariah. „Hol deine Zahnbürste und Wäsche zum Wechseln." „Was soll das?" „Ich habe mir ein Motorrad geliehen", sagte sie und wies hinter sich. Zwei Schlafsäcke waren auf dem hinteren Sitz aufgeschnallt. „Wir werden das kommende Wochenende so verbringen, wie du in Zukunft leben willst." Er starrte sie fassungslos an. Sexy sah sie aus in ihren knappen Shorts. Und was hatte sie ihm gerade vorgeschlagen? Ein gemeinsames Wochenende? „Meredith wird sich um Maynard kümmern. Also, pack, was du brauchst, und steck fünfzig Dollar ein, mehr nicht. Das Ganze soll möglichst echt ablaufen." Echt. Das konnte man wohl sagen. Echt sexy. Echt verführerisch. Und ein echter Fehler, wie Mariah feststellte, kaum dass sie losgefahren waren. Sie hatte Nathan zeigen wollen, wie mühsam ein Leben ohne Komfort war. Aber er saß strahlend auf dem Motorrad, als könnte er sich nichts Schöneres vorstellen. Und sie genoss es, sich eng an seinen Rücken zu schmiegen. Sie fuhren Richtung Norden. Als Nathan meinte, es sei Zeit, etwas zu essen, ließ sie ihn an einem billigen Hamburgerladen halten und behaup tete, was anderes gäbe es hier nicht. Als sie weiterfuhren, wurde ihr übel. Diese Art von Essen war sie nicht gewohnt. Sie versuchte, sich zusammenzureißen, aber schließlich tippte sie Nathan auf die Schulter und bat ihn anzuhalten. Schnell stürzte sie hinter den nä chsten Busch, aber sie brachte nichts heraus. Ihr war elend, und sie konnte sich kaum aufrecht halten. Als sie Nathans Schatten sah, blickte sie hoch. Er hielt ein Magenberuhigungsmittel in der Hand. Sie starrte ihn an. „Wie bist du denn auf die Idee ...?" „Ich bin doch ein alter Pfadfinder. Allzeit bereit."
Sie nahm einen kräftigen Schluck aus der kleinen Flasche und fühlte sich schon etwas besser. „Pfadfinder? Du bist ein Engel. Möchtest du auch was?" „Nein, danke. Mir geht es bestens." Sie fuhren weiter und hielten erst am späten Nachmittag an einem Campingplatz in der Nähe des Oak Creek an. Mariah hätte eigentlich darauf bestehen sollen, nach etwas Ungemütlicherem zu suchen, aber sie fühlte sich immer noch nicht ganz wohl. „Das sieht doch sehr gut aus", meinte Nathan und hielt an einem abgelegenen Platz mit einem Feuerstelle an, nicht weit vom Flüsschen ent fernt. Sie nahmen ihr Gepäck und die beiden Schlafsäcke und legten alles unter einen Baum. Mariah war vollkommen erschöpft, nicht nur, weil ihr immer noch etwas übel war, sondern auch, weil sie sich krampfhaft bemüht hatte, die Fahrt nicht zu genießen. „Und was wollen wir essen?" fragte sie. „Kein Problem." Nathan holte zwei Dosen Kartoffelsuppe und ein Maisbrot aus seiner Tasche, außerdem einen kleinen Topf, eine Wasserflasche und zwei Becher. „Wieso hast du …?" „Ich habe dir doch gesagt, ich war bei den Pfadfindern." Er grinste zufrieden. „Nun müssen wir nur noch ein bisschen Feuerholz finden, und dann kann es losgehen." Sie war vollkommen überrascht. Er hatte doch nur fünfzehn Minuten Zeit gehabt, seine Tasche zu packen, und hatte trotzdem ein vollständiges Abendessen mitnehmen können? Nathan pfiff fröhlich vor sich hin und ging Holz suchen. Mariah wollte ihm folgen und stolperte erst einmal über eine Baumwurzel. Zwanzig Minuten später war sie wieder zurück und sank erschöpft auf einen Stein. Ihr Zeh schmerzte, sie war hingefallen und hatte sich die Knie aufgeschlagen. Und trockene Äste hatte sie auch kaum gefunden. Außerdem wurde sie von Mücken umschwirrt. Da, wieder eine! Sie schlug sich an die Stirn. „Da bist du ja!" Sie sah hoch. Nathan stand lächelnd vor ihr, die Arme voll Feuerholz. Er wirkte gelassen und gut gelaunt. Verdammt! Er sollte sich doch unwohl fühlen bei diesem primitiven Leben. Er legte das Holz neben die Feuerstelle. „Was ist passiert?" „Ich bin hingefallen, ist aber nicht weiter schlimm." Sie kratzte sich an der Stirn. „Und die Mücken fressen mich bei lebendigem Leibe auf." „Dagegen habe ich was." Aus seiner schier unergründlichen Sporttasche zauberte er einen kleinen Kasten mit einem roten Kreuz drauf. Daran hatte er auch noch gedacht. Jod hatte er mit und Pflaster und ein Mittel gegen Mückenstiche. Er betupfte die aufgeschürften Stellen vorsichtig mit Jod und rieb den Mückenstich auf Mariahs Stirn mit dem Mückenmittel ein. „Hast du noch mehr?" „Ja, hier." Sie war überall zerstochen, selbst hinter den Ohren, und er cremte sie sorgfältig ein. Er war einfach zu nett. Und außerdem viel zu begeistert vom Campen. Sie hätte sich gleich denken können, dass er in dieser Situation genauso praktisch und organisiert war wie sonst auch. Dieser ganze Campingtrip war eine Schnapsidee, dachte Mariah, vor allem, als sie abends eng beieinander am Feuer saßen und Marshmellows rösteten, an die Nathan auch noch gedacht hatte. „Du steckst ja wirklich voller Überraschungen", sagte sie. „Nicht voller Überraschungen, nur gut vorbereitet. Langweilig, aber gut vorbereitet." „Du bist nicht langweilig, überhaupt nicht." „Nein, ich bin geradezu waghalsig, weil ich meine Autoreifen nur alle drei Jahre wechsle und nicht alle zwei." Er steckte zwei Marshmellows auf einen Stock und hielt ihn ins Feuer. In diesem Augenblick fing irgendwo jemand an, Gitarre zu spielen. Auch das noch, dachte Mariah. Als ob die Situation nicht schon verfänglich genug wäre. „Wie schade, dass ich mein Saxofon nicht mitgenommen habe", sagte Nathan leise. „Das Stück hätte ich auch gekonnt."
„Ja", sagte sie nur. Sie hätte ihn gern geküsst. „Achtung! Du stehst in Flammen." Und ob, dachte sie. Aber dann wurde ihr klar, dass er ihren Marshmellow meinte. Sie hob den Stock aus dem Feuer und blies die Flamme aus. Innen unter der schwarzen Hülle war der Marshmellow süß und weich. Plötzlich bemerkte sie, dass Nathan ganz fasziniert zuschaute, wie sie an der rosa Süßigkeit knabberte. Ganz offensichtlich erregte es ihn. Und wenn sie nun beide nicht mehr gegen ihre Gefühle ankämpften? Wäre das denn so schlecht? „Eine schöne Nacht", sagte er, wandte den Blick von Mariah ab und starrte in den Himmel. „Hier draußen kann man viele Sterne sehen." Sie hob den Kopf. Der Himmel sah aus wie ein schwarzes Tuch, über und über bestickt mit Sternen. „Das war eine tolle Idee, Mariah." „Danke." „Du hast so viele gute Ideen. Es ist so schön, dich um sich zu haben, ich meine, dich in der Firma zu haben. Alles ist lebendiger, heller, seit du da bist. Nicht nur in der Firma." Er räusperte sich verlegen. „Es ist auch für mich eine interessante Zeit." „Ich bin froh, dass du das so siehst." „Aber das bedeutet nicht, dass ich bleibe." Wäre es nicht toll, wenn sie beide blieben? „Nein, natürlich nicht." „Dir hat es in der letzten Zeit doch auch besser in der Firma gefallen, oder?" Er schwieg. „Los, gib es schon zu." „Ja", sagte er schließlich nach langem Zögern. „Deinetwegen." Er sah sie an. Was sagte er da? Dass sie ihn glücklich gemacht hatte? Das konnte nicht sein. Das durfte nicht sein. Sie konnte nicht bleiben. „Das freut mich. Ich bin froh, dass ich dir dabei helfen konnte, zu erkennen, weshalb es dir bei ,Cactus Confections' so gut gefällt. Und die Sache mit dem Saft für die Bioläden ist doch ein echter Knüller, nicht?" Er runzelte die Stirn, sah dann zur Seite und seufzte leise. „Ja, gute Idee." „Und die Bestellungen haben auch zugenommen, seit wir uns an die Süßwarenkette gewandt haben. Außerdem scheint Dads neuer Margarita-Mix ein Erfolg zu werden." „In den drei Wochen, seit du hier bist, hat sich eine Menge getan. Stell dir doch mal vor, was du alles bewegen könntest, wenn du bleiben wür dest." Darauf wollte sie nicht eingehen. „Ich bin nur froh, dass ich zur Ab wechslung mal dir helfen kann. Früher hast du immer mir geholfen. Irgendwie warst du immer so was wie eine Vaterfigur für mich." „Eine Vaterfigur? Na, vielen Dank! Ich bin doch nur vier Jahre älter als du. " „Gut, dann eben wie ein großer Bruder. Du warst schließlich schon erwachsen, hattest eine Berufsausbildung, hattest Examen gemacht. Du warst so vernünftig, ganz anders als ich. Du weißt schon, was ich meine." „Ja, ich weiß." Das klang so traurig, dass ihr das Herz schwer wurde. „Du warst noch so jung. Ich habe dich zu der Hochzeit überredet. Wahrscheinlich habe ich mich so sehr nach einem richtigen Zuhause gesehnt, dass ich nicht daran dachte, was das für dich bedeutete." „Aber ich wollte das doch auch. Vielleicht nicht unbedingt Hausmüt terchen spielen, aber ich wollte so sein wie die anderen." Und sie wollte ihn, mehr als alles andere. Und daran hatte sich nichts geändert, das war Mariah jetzt klar. Sie sehnte sich sogar noch mehr nach ihm, weil sie jetzt eine erwachsene Frau war und wusste, was Liebe war. Aber sie kannte sich selbst auch sehr gut. Nie würde sie sich in Nathans Leben einfügen können. Sie war nicht der Typ für Heim und Herd. Wie
schade ... Beide starrten ins Feuer, bis Mariah das Gefühl der Nähe nicht mehr ertragen konnte. „Wollen wir schlafen gehen?" Sie sah ihn an. Wenn er jetzt die Arme ausbreitete, würde sie sich sofort an ihn schmiegen. Aber Nathan wandte schnell den Blick ab und stand auf. „Ich hole die Schlafsäcke." Er breitete sie aus, nebeneinander zwar, aber deutlich getrennt. Sowie Mariah in ihren Schlafsack gekrochen war, wusste sie, weshalb sie das Campen im Grunde verabscheute. Ein dicker Stein lag direkt unter ihr und drückte ihr in den Rücken. Sie rutschte hin und her, bis sie eine angenehmere Lage gefunden hatte. Aber nun lag sie Nathan zugewandt. Er sah sie an, ohne etwas zu sagen. Er begehrte sie. Und sie begehrte ihn. Los, tu es. Küss ihn, ging es ihr durch den Kopf. Sie sehnte sich so sehr danach. Du willst ihn doch, sagte sie sich. Und er will dich. Los! Plötzlich drehte Nathan sich um und wandte ihr den Rücken zu. „Gute Nacht." Das war's also. Aber immerhin, ihr eigentlicher Plan schien zu funktionieren. Auch wenn der Campingtrip nicht ganz so ablief, wie sie gedacht hatte, eins war sicher, Nathan hing an der Firma. Und wenn sie vielleicht noch ein paar mehr Ideen entwickelte, würde er Copper Corners nicht mehr verlassen wollen. Nikki hatte Unrecht. Ihre Rechnung würde aufgehen, ohne dass sie mit ihm schlief. Und das war weniger gefährlich für sie. Bleib bei mir, Mariah. Die Worte hatten ihm schon auf der Zunge gelegen, aber er hatte sie nicht herausgebracht. Als sie in ihrem Schlafsack wühlte und sich hin und her wälzte, war Nathan kurz davor gewesen, ihren Schlafsack aufzureißen und sich auf sie zu stürzen. Er begehrte sie, aber er wollte, dass sie für immer bei ihm blieb. Um sich abzulenken, dachte er daran, dass sie ihn als Vaterfigur betrachtet hatte. Das wirkte ernüchternd, als hätte man ihm einen Eimer Eiswasser über den Kopf geschüttet. Etwas Schlimmeres konnte man sich gar nicht vorstellen. Du musst sie endlich vergessen, sagte er sich nun schon zum hundertsten Mal. Was vorbei ist, ist vorbei. Mariah würde mit jemandem wie ihm nie etwas anfangen können. Aber immerhin gab es auch etwas Positives. Sie hatte zugegeben, dass die Firma sie interessierte. Wahrscheinlich sollte er nicht immer wieder betonen, dass er die Stadt bald verlassen würde, denn dann würde sie schon aus Prinzip nicht bleiben. Sein schlechtes Gewissen meldete sich, und um das zu unterdrücken, dachte er an die Rückfahrt. Mariah würde wieder hinter ihm sitzen und sich an ihn schmiegen. Von all ihren Ideen war die mit dem Motorrad ohne Zweifel die beste.
8. KAPITEL Zehn Tage nach dem Campingtrip warf Mariah den Telefonhörer auf die Gabel und jubelte. Sie tanzte um den Schreibtisch herum, der für sie in Nathans Büro gestellt worden war. Nur noch ein Anruf, und sie hätte Bioladen-Kette dazu überredet, nicht nur die Süßigkeiten von „Cactus Confections" zu verkaufen, sondern auch den Saft. Und wenn auch dieser Anruf positiv war, dann würde die Bioladen-Kette diese Produkte exklusiv und mit einer speziellen Werbekampagne anbieten. Sie musste das unbedingt Nathan erzählen. Bernie war begeistert, ihr Vater war außer sich, und selbst Dave Woods wirkte beeindruckt. Aber Nathan war derjenige, auf dessen Reaktion sie sich besonders freute. Er hatte die Firma am frühen Nachmittag verlassen, weil er irgendjemanden bei sich zu Hause treffen wollte. Und so stieg Mariah schnell in ihr Auto und fuhr zu ihm. Alles klappte bestens. Nathans erster Auftritt beim Italiener war ein großer Erfolg gewesen. Sie hatte allerdings ein bisschen nachgeholfen, indem sie, als er kurz mal den Raum verlassen hatte, die Gäste aufforderte, heftig zu applaudieren. Und in der Firma schien er auch sehr zufrieden zu sein, zumindest hatte er gute Laune, und wenn das neue Projekt erst angelaufen war, konnte er gar nicht mehr weg. Ihr einziger Fehler war Maynard gewesen, aber ihre Eltern hatten sich bereit erklärt, den Hund erst mal zu nehmen. Als sie in Nathans Einfahrt bog, sah sie gerade noch, wie eine Frau und ein Mann in einen BMW stiegen. Als der Wagen an ihr vorbeifuhr, fiel ihr der Schriftzug an der Fahrertür auf. Er gab den Namen und die Adresse eines Maklerbüros an. Was? Wollte Nathan etwa sein Haus doch verkaufen? Aber warum, wenn er doch glücklich in Copper Corners war? Sie lief schnell die Einfahrt hinauf, klopfte an die Tür und öffnete sie, ohne auf Antwort zu warten. Nathan stand vom Küchentisch auf. „Mariah, was willst du denn hier?" „War das deine Verabredung? Ein Häusermakler?" „Ja, ich habe mich entschlossen, das Haus zu verkaufen." Sie trat näher und starrte auf die Papiere, die auf dem Küchentisch la gen, obenauf das Anmeldeformular für das Seminar in Kalifornien, bereits halb ausgefüllt. Ihr wurde plötzlich kalt. „Du willst weg?" Er nickte. „Tut mir Leid, Mariah, aber ich kann nicht bleiben." „Dann hast du mir die ganze Zeit etwas vorgemacht? Dass es dir besser geht, dass du gern hier bist, dass dich die Arbeit interessiert?" „Nein, das ist die Wahrheit. Aber das bedeutet nicht, dass ich bleiben kann." „Du hast es ja noch nicht einmal versucht, verdammt noch mal." Sie wollte ihm von den neuen Entwicklungen erzählen, ließ es dann aber. Es würde ihn sowieso nicht interessieren. „Du gibst einfach auf." „Nein, das ist nicht wahr." Er legte seine Hände auf ihre Schultern. „Aber ich weiß, was ich tun muss. Ich kann nicht länger bleiben. Ich bin dankbar für alles, was du für die Firma getan hast, aber meine Ent scheidung steht fest." Tränen traten ihr in die Augen. „Gut, wenn du es nicht anders willst. Dann werde ich einen Headhunter anrufen. Vielleicht ist das sowieso das Beste." Mariah wischte sich die Tränen von den Wange n. „Dann kann ich endlich mit der Lügerei aufhören." „Lügerei?" „Ja. Ich musste doch immer so tun, als gefiele es mir hier. Du hast doch nicht wirklich geglaubt, dass ich das ernst meinte?" „Lass das, Mariah. Ich weiß, dass du gern hier bist. Und du hast Erfolg. Den Vertrag mit den Bioläden hast du doch praktisch in der Ta sche." „Das habe ich", stieß sie hervor. „Das wollte ich dir ja erzählen."
„Das ist ja super!" Er sah sie ernst an. „Ich bin so stolz auf dich. Ich wusste, dass du es schaffst." „Danke." Sie lächelte unter Tränen. „Mariah." Sein Griff wurde fester. „Ich bin der Meinung, du solltest meinen Job übernehmen." Sie schüttelte heftig den Kopf. „Kommt gar nicht in Frage." „Aber du kannst das, da bin ich vollkommen sicher. Ich weiß, du bist momentan verärgert, aber denk doch mal in Ruhe darüber nach." Sie konnte nur daran denken, dass er weggehen würde. Und dass all ihre Bemühungen umsonst gewesen waren. „Wenn du gehen kannst, kann ich auch gehen. Und das werde ich auch tun." Sie stürzte aus dem Haus. Aber Mariah konnte nicht sofort weg. Eine Woche musste sie mindestens noch bleiben, um den Vertrag mit der Bioladen-Kette unter Dach und Fach zu bringen. Dann musste sie sich um einen Nachfolger für Nathan kümmern. Außerdem hatte sie Kostproben des neuen Mixgetränks ihres Vaters an verschiedene Restaurants geschickt und musste auf die Reaktionen warten. Heute war sie zu Hause geblieben, auch, um endlich noch einmal mit ihren Eltern zu reden, denn beide weigerten sich zu akzeptieren, dass sowohl Nathan als auch sie wieder gehen würden. Mariah half ihrer Mutter, Wolle aufzuwickeln. Zu mehr sah sie sich nicht in der Lage, denn sie fühlte sich erschöpft und deprimiert. Sie wusste nicht genau, warum. Wahrscheinlich kam alles zusammen. Die Enttäuschung darüber, dass all ihre Bemühungen nichts gefruchtet hatten, dass das Paar in dem BMW Nathan ein Angebot für sein Haus ge macht hatte, dass er in drei Wochen verschwunden sein würde. Sie konnte diesen Gedanken kaum ertragen und hatte sich in den vergangenen Ta gen bemüht, Nathan in der Firma möglichst aus dem Weg zu gehen. Das Telefon klingelte. Mariah nahm den Hörer ab. „Mariah Monroe, komm sofort her!" Das war ihr Vater. „Nein, ich bleibe heute zu Hause, Daddy. Bernie kümmert sich um die Bioläden, und die Bewerber für Nathans Posten kommen erst in der nächsten Woche." „Das kann ja sein, aber wir brauchen dich hier, um den Bestand aufzunehmen. Ein paar Leute sind krank, und wir müssen wissen, was wir ausliefern können." „Geh doch, mein Kind", drängte ihre Mutter aus dem Hintergrund. „Dein Vater arbeitet viel zu viel. Ich komme hier schon allein zurecht." Mariah sah ihre Mutter dankbar an. Im Grunde hatte sie auch mehr Lust, in der Firma zu arbeiten, als Wolle aufzuwickeln und nachher noch Schnittchen für die abendliche Bridge-Runde zu machen. „Gut, Daddy, ich komme." Bei der Bestandsaufnahme im Lager brauchte sie auch Nathan nicht unbedingt zu begegnen. „Du musst auf dem Weg noch bei Nathan vorbeifahren. Die neue Aufstellung liegt bei ihm auf dem Küchentisch", sagte ihr Vater. „Okay, ich hole sie bei Nathan ab." Ungern. Alles, was mit Nathan zu tun hatte, machte sie traurig. „Du fährst noch bei Nathan vorbei?" fragte Meredith. „Dann bring doch bitte den Korb mit den Hundespielsachen mit. Maynard macht sich schon über unsere Schuhe her und zerfetzt meine Reisekataloge." Mariah hatte ihren Eltern bisher noch nicht gestanden, dass sie Maynard erst einmal behalten mussten, bis Nikki und sie ihren Vermieter erfolgreich bekniet hatten, mal eine Ausnahme von der Regel zu machen. Grundsätzlich waren Haustiere in ihrem Apartment verboten. Sie nahm Nathans Hausschlüssel vom Schlüsselbord. Da Meredith ihn wie ihren eigenen Sohn behandelte, hatte sie auf dem Schlüssel bestanden, für Notfälle. Und Nathan schien diese mütterliche Fürsorge nichts auszumachen, im Gegenteil. Wahrscheinlich, weil seine
eigene Mutter so wenig mütterlich war. Einige Minuten später schloss sie Nathans Haustür auf. Es roch nach den Duftkegeln. Hatte er am Morgen meditiert? Das Yoga-Video war noch im Videorekorder. Er hatte auch Yoga gemacht. Und trotzdem wollte er weg. All ihre Bemühungen waren umsonst ge wesen. Wenn sie nur wüsste, wie sie ihn halten könnte! Mariah seufzte leise und ging in die Küche. Dort lag die Aufstellung. Sie überflog die Seite. Nathan hatte die Bioläden mit aufgenommen, aber es kam ihr vor, als wären die künftigen Gewinne zu niedrig angesetzt. Und stimmten die Zahlen für die Süßwarenkette? Hör auf damit, du gehst doch auch weg. Sie war genauso schlimm wie ihr Vater und tat so, als würde sich nichts verändern. Dabei wusste sie aus eigener Erfahrung, dass ihr jeder Job nach spätestens sechs Mona ten langweilig wurde. Das wäre hier auch nicht anders. Vor allen Dingen, wenn Nathan nicht mehr da war. Seinetwegen hatte sie immer so vie l Freude bei der Arbeit gehabt. Sie nahm die Aufstellung, steckte sie in die Tasche und wollte gehen, dabei fiel ihr das Bild auf, das Nathan an dem Tag gemalt hatte, als sie sich gegenseitig die Gesichter verziert hatten. Es war nicht besonders schön, aber sie freute sich, dass er es aufgehängt hatte. Und sie musste wieder an das Bild denken, das Maynard herangeschleppt hatte und das Nathan ihr nicht zeigen wollte. Wo er das wohl versteckt hatte? Sie sah sich vorsichtig um, ging dann den Flur hinunter und betrat sein Schlafzimmer. Natürlich hatte er sein Bett gemacht. Typisch. Sie machte nie ihr Bett. Hier hatte er auch seinen Computer stehen. An den Wänden hingen einige Drucke, aber kein selbst gemaltes Bild. Ein großes Foto seiner Mutter stand auf dem Schreibtisch. Und was lag dahinter? Ein kleines Bild. Das Porträt einer Frau. Und diese Frau war sie, Mariah! Nicht besonders gut getroffen, aber zu erkennen. Dieses Kleid hatte sie auf dem Foto getragen, das sie ihren Eltern vor drei Jahren geschickt hatte. Offensichtlich hatte Nathan dieses Foto als Vorlage genommen. Sie sah sich um. Über dem Bett war ein leerer Bilderhaken. Wahrscheinlich hatte das Bild dort gehangen. Wann und warum hatte er es abgenommen? Aus Ärger, aus Verzweiflung? Sie betrachtete wieder das Bild, und plötzlich löste sich etwas in ihr, barst wie ein Damm, der nicht länger zurückhalten konnte, was sich aufgestaut hatte, und Gefühle wurden frei, die sie unterdrückt hatte, seit sie nach Copper Corners zurückgekommen war. Sie liebte Nathan immer noch. Und mehr denn je. Tränen traten ihr in die Augen. Sie konnte sich nicht länger etwas vormachen. Aber was sollte sie jetzt tun? Wie in Trance schloss Mariah das Haus ab und fuhr in die Firma. Sie konnte nur an Nathan und das Bild denken. Vor drei Jahren hatte er es gemalt. Noch vor drei Jahren war sie ihm wichtig gewesen. Aber warum hatte er nie versucht, sie zurückzugewinnen? Vielleicht sollte das Bild eine Warnung sein und ihn daran erinnern, sich nie wieder mit ihr einzulassen. Das war möglicherweise etwas weit hergeholt, aber Nathan war ein vorsichtiger und vernünftiger Mann. Und sie sollte auch vernünftig sein. Egal, wie er ihr gegenüber empfunden hatte oder immer noch empfand, sie wusste, dass er mit ihr nicht glücklich werden konnte. Aber sollte sie nicht trotzdem mit ihm reden? Sie beschloss, sich auf ihre Intuition zu verlassen. Wenn sie ihn sah, würde sie schon wissen, was zu tun war. Mariah stieß die Tür auf und ging schnell den Flur entlang. Nathan war nicht in seinem Büro. Sie war enttäuscht, aber auch erleichtert. Auf ihrem Schreibtisch lagen ein Taschenrechner und ein Clipbord. Mariah nahm beides und ging durch die Fabrikationsräume zum Lager. Als sie um die Ecke bog, wäre sie beinahe mit Nathan zusammenge stoßen. „Was machst du denn hier?" brachte sie mühsam heraus. Er hielt ein Clipbord hoch. „Bestandsaufnahme."
„Deshalb bin ich auch gekommen. Dad meinte, es sei dringend, und es fehlten so viele." „Das hat er mir auch erzählt." Nathan schien so glücklich zu sein, sie zu sehen, dass sie lächeln musste. „Wenn du bereits alles fest im Griff hast, kann ich ja wieder ge hen", meinte sie, blieb aber wie angewurzelt stehen und starrte ihn an. Dieses geliebte Gesicht ... „Es geht schneller, wenn wir es zusammen machen." „Ja." Mariah nickte. „Das stimmt." Sie musste an das Bild denken. Und dass sie gerade entdeckt hatte, wie sehr sie ihn liebte. Aber sie konnte in dieser nüchternen Umgebung nicht darüber reden. Also machten sie gemeinsam die Bestandsaufnahme, zählten und no tierten, überlegten, was als Nächstes bestellt werden musste, und waren überrascht, dass sie fast immer die gleichen Vorstellungen hatten. Nach dem Lager nahmen sie sich den Kühlraum vor. Zwei Stunden arbeiteten sie ohne Pause und achteten darauf, immer in Bewegung zu bleiben, um sich warm zu halten. „Zweiunddreißig Flaschen Limonensaft", rief Mariah oben von der Leiter herunter. „Alle sind begeistert über die neuen Abnehmer." „Prima." „Dein Vater hat mir den Margarita-Mix zu kosten gegeben. Vielleicht sollte man noch etwas mehr Limone zusetzen." „Ich werde darüber nachdenken." Sie sahen sich an. „Es war mir ernst mit dem, was ich neulich gesagt habe, Mariah. Du hast das Ganze hier in Schwung gebracht." „Ich habe ständig neue Ideen." Aber die Ideen umzusetzen, dazu hatte sie keine Lust. Sie war nun mal wie ein Schmetterling, der von Blüte zu Blüte flog. Das war auch gut so, denn wenn sie blieb, würde alles nur in einer Katastrophe enden. „Und Bernie ist vollkommen verwandelt. Das ist dein Verdienst. Er schläft auch vormittags nicht mehr am Schreibtisch ein." „Er brauchte nur eine echte Aufgabe." „Du hast hier alles verändert." „Nathan, wenn du wieder damit anfängst ..." „Ich sage nur die Wahrheit." „Ehrlich?" Seine Worte taten ihr gut. „Ja." „Vielleicht hast du Recht. Selbst Dave Woods hat mich neulich nach meiner Meinung gefragt. Er scheint mir allmählich zu glauben, dass ich weiß, was ich tue." „Das wurde aber auch Zeit." Nathan sah so ernst aus, so aufrichtig. Er würde ihr schrecklich fehlen. Mariah wünschte, sie säßen in einem kleinen exquisiten Restaurant mit romantischer Beleuchtung und Champagner, und sie stellte sich vor, sie hätte einen kleinen Schwips. Dann würde sie ihm endlich alles sagen ... Vielleicht sollten sie anschließend zu Louie gehen und eine große Flasche Chianti bestellen. Plötzlich fiel beiden auf, dass sie sich wortlos anstarrten, und sie wandten sich schnell ab. „Wo waren wir?" fragte sie. „Bei der Maisstärke." „Ach ja. Fünfundsechzig." „Hab ich. Findest du nicht, dass wir eine zusätzliche Anlage anschaffen sollten? Bei den vielen neuen Kunden wird die sich bestimmt schnell amortisieren." „Nathan", sie blickte ihn von oben her an, „Nathan, es gibt kein Wir mehr. Wir gehen beide weg." „Ach ja." Er senkte den Kopf. „Ich habe gehört, dass ihr in der nächsten Woche mit den ersten Bewerbern sprecht."
„Ja. Es scheinen ein paar gute Leute dabei zu sein." Sie fing wieder an zu zählen. „Zwanzig Kisten Rohrzucker." Er rührte sich nicht. „Nathan! Zwanzig Kisten Rohrzucker." „Ach so, ja, sofort." „Das ist alles hier oben." Mariah stieg die Leiter wieder hinunter. „Ich hoffe, ihr findet jemand Passenden." „Ich auch." „Jemand, der gute Ideen hat, aber trotzdem nüchtern und ein guter Rechner ist." „Ja, so steht es auch in der Arbeitsplatzbeschreibung." „Ihr müsst euch die Lebensläufe genau ansehen. Manche Leute sind in dem Punkt nicht ganz ehrlich." „Ich weiß. Aber warum willst du nicht selbst mit den Bewerbern sprechen?" fragte Mariah. „Du kennst die Anforderungen doch am besten." Nathan winkte schnell ab. „Nein, ich bin vielleicht zu kritisch. Schließlich ist das hier ja so was wie mein Baby." Sie sah ihm ernst in die Augen. „Du musst nicht gehen." „Du auch nicht." Beide sahen sich ein paar lange Sekunden an. Los. Du musst ihm jetzt sagen, was dir klar geworden ist. Wie du fühlst. Mariah fröstelte. Vielleicht doch lieber in einem hübschen Restaurant? Warum war sie bloß so feige? „Es ist schon spät." Da sie keine Uhr trug, griff sie nach Nathans Handgelenk. „Schon halb sieben. Ich habe Hunger. Wollen wir bei Louie was essen?" „Ja, gern." Sie ging zur Tür, schob den Riegel zurück und wollte sie aufstoßen, doch nichts rührte sich. Mariah warf sich mit der Schulter dagegen. Nichts. „Die Tür klemmt." „Was?" Nathan kam ihr zu Hilfe und drückte ebenfalls. Ein Spalt von wenigen Millimetern öffnete sich. Er sah durch den Spalt. „Sieht so aus, als blockierte der große Gabelstapler die Tür." „Oh nein!" Mariah schlug mit der Faust gegen die Tür. „Hilfe!" „Wahrscheinlich sind alle schon gegangen", sagte Nathan leise. „Dann sind wir eingeschlossen?" Er nickte. Sie starrte ihn entsetzt an. „Wir werden erfrieren." Nathan ging zum Thermometer hinüber. „Seltsam, es sind zehn Grad. Normalerweise wird der Raum kälter gehalten." „Dann werden wir also nicht erfrieren?" Mariah schlang sich die Arme um ihren Körper. „Nein. Aber es ist nicht gerade gemütlich. Hier." Er fing an, sein Hemd aufzuknöpfen. „Du kannst mir doch nicht dein Hemd geben!" Ein halb nackter Nathan, das hätte ihr gerade noch gefehlt. „Ich komme auch so zurecht." „Wir wollen mal sehen, ob wir nicht irgendwas finden, um uns warm zu halten." Nathan rieb sich die Hände. „Irgendwo müssen hier noch ein paar Verpackungsfolien sein." Kurz danach kam er mit einer Rolle Luftpolsterfolie wieder und einer Schachtel roter Weihnacht skerzen. „Die hat Leonore sicher hier versteckt, damit sie nicht weich werden." „Super. Sieh mal, was ich gefunden habe. Etwas, das uns von innen wärmt." Triumphierend schwenkte Mariah eine Flasche Sherry. „Wunderbar. Und mit all den Bonbons und Geleefrüchten hier können wir wohl kaum verhungern." Nach wenigen Minuten saßen sie dicht nebeneinander auf einem dicken Kissen aus Luftpolsterfolie und hatten sich jeder eine weitere Bahn wie eine Decke umgelegt. Das helle Deckenlicht hatten sie aus geschaltet. Zwei Kerzen brannten und schufen eine beinahe
romantische Atmosphäre, was die Situation erträglicher machte. Vor ihnen stand eine Schachtel mit Kräckern und ein Glas Kaktusfruchtgelee. Mariah hielt ihre Hände über die Kerzenflammen, die jedoch nicht viel Wärme abgaben. „Beinahe gemütlich, was?" fragte sie, und dabei schlugen ihre Zähne leicht aufeinander, allerdings nicht so sehr wegen der Kälte. Sie war furchtbar nervös. Vielleicht half ein bisschen Alkohol. „Lass uns die Flasche aufmachen." „Gute Idee." Nathan schraubte die Flasche auf. „Wir haben keine Gläser." „Macht nichts." Mariah griff nach der Flasche und nahm einen kräftigen Schluck. Sie verzog das Gesicht und reichte sie Nathan. „Köstlich." Er nahm einen Schluck. „Immerhin macht er warm." „Wie spät ist es?" Nathan sah im Kerzenschein auf die Uhr. „Halb neun." „Da haben wir ja noch allerlei vor uns. Wann wird man uns wohl finden?" „Die ersten Arbeiter kommen um sieben." „Also in zehneinhalb Stunden." „Hast du Angst?" „Natürlich nicht." Sie musste daran denken, dass sie nun über zehn Stunden mit Nathan allein sein würde und daran, was für Möglichkeiten es gab, sich warm zu halten. Beim sanften Kerzenschein konnte man sich einbilden, in einer gemütlichen Blockhütte eingeschneit zu sein. „Wovor sollte ich Angst haben? Vor Karies wegen der vielen Bonbons, die wir essen werden?" „Ist dir kalt?" „Nein, überhaupt nicht." „Willst du mein Stück Folie haben?" „Nein, wirklich nicht. Merkst du, dass du mich schon wieder bemut terst?" „Tut mir Leid, das ist so eine Angewohnheit von mir." „Ich weiß. Du kannst nicht aus deiner Haut, und ich kann auch nicht aus meiner." Sie nahm noch einen Schluck. Aber das half auch nichts. Jetzt sollte sie es ihm sagen, überlegte sie. Sie waren zwar nicht bei Louie, aber sie hatten Kerzenlicht und eine Art Wein. Wieder nahm sie einen Schluck. Doch sie wurde kein bisschen lockerer. Vielleicht war in dem Zeug gar kein Alkohol drin. Allerdings fror sie nicht mehr. Im Gegenteil, ihr war heiß, weil so vieles ungesagt blieb zwischen ihnen. Liebst du mich, hätte sie ihn gern gefragt, ließ es aber bleiben. Ich liebe dich. Wie oft war er kurz davor gewesen, diese drei Worte aus zusprechen. Und wie sehr sehnte er sich danach, Mariah endlich in die Arme zu schließen. Hier saßen sie, nur Zentimeter voneinander ent fernt, eingehüllt in wärmende Folie und sahen sich schweigend an. Vielleicht war das seine letzte Gelegenheit. Nein, er würde gehen, das war beschlossene Sache. Noch nie in seinem Leben hatte Nathan sich elender gefühlt. Dieses Lächeln, wie konnte er jemanden mit einem solchen Lächeln verlassen? Vor Jahren hatte er versucht, Mariah zu malen und ihre Eigenheiten festzuhalten, ihre Energie und ihren Witz. Aber es war ihm nicht gelungen. Vielleicht konnte er sich jetzt ganz fest einprägen, wie sie aussah, damit er es nie wieder vergaß. Aber das wäre kein Trost. Mariah dachte im gleichen Moment wie Nathan an das Bild in seiner Wohnung, Sie hätte zu gern gewusst, warum er es gemalt hatte, aber sie brachte es nicht über sich, ihn danach zu fragen. Wieder sahen sie sich schweigend an, wie in einem schlechten Liebesfilm. Dann senkten beide gleichzeitig den Blick und griffen nach der Flasche. Mariah war etwas schneller, so kam Nathans Hand auf ihrer zu liegen. Beide sahen sich wieder an und sagten wie aus einem Mund: „Bitte, geh nicht fort." „Warum hast du das Bild von mir gemalt?" „Was?"
„Warum hast du das Porträt von mir gemalt? Ich habe es bei dir ge funden." „Warum ich das Bild gemalt habe?" Nathan lachte kurz auf und schüttelte dann den Kopf. „Das ist eine gute Frage." Mariah wartete und starrte ihn gespannt an. „Willst du das wirklich wissen?" „Ja", sagte sie leise." „Aus demselben Grund, aus dem ich jetzt Copper Corners verlassen muss. Weil ich dich nicht vergessen kann, Mariah." Er macht e eine kur ze Pause. „Ich liebe dich immer noch." Sein Blick war so intensiv, voller Liebe und Leidenschaft wie damals, als er sie gebeten hatte, ihn zu heiraten. Nathans Gesicht verschwamm ihr vor den Augen, und sie wischte sich schnell über die Wangen. Sie schluckte, aber sie brachte kein Wort heraus. „Ich weiß, es ist absurd. Ich sollte dich endlich vergessen, denn ich bin ja nur eine Vaterfigur für dich ..." „Bitte hör auf!" Mariah warf sich mit so viel Schwung in Nathans Arme, dass er beinahe zur Seite gekippt wäre. Aber er fasste sich schnell, umarmte sie und erwiderte ihren heißen Kuss. Mariah sah Nathan strahlend an. „Ich liebe dich auch Nathan, ich ha be nie aufgehört, dich zu lieben." Sie konnte an seinem Gesicht ablesen, wie sich seine Verblüffung in grenzenlose Freude verwandelte. Dann zog er sie so fest an sich, dass sie kaum atmen konnte. „Ich möchte dich lieben, jetzt sofort. Hast du etwas dagegen?" „Ob ich etwas dagegen habe?" Mariah schüttelte lachend den Kopf. „Oh, Nathan, vergiss den gut erzogenen Gentleman in dir doch einfach mal!" Er presste seine Lippen auf ihren Mund und küsste sie wild und ganz und gar nicht gentlemanlike, bis sie ihn keuchend zurückstieß. Doch in der nächsten Sekunde zog sie ihn wieder an sich. Dabei streichelten sie sich und sahen sich immer wieder staunend an, als könnten sie nicht begreifen, was mit ihnen geschah. Nathan schob seine Hände unter ihre Bluse und umfasste ihre Brüs te. Mariah war froh, dass sie keinen BH trug. Es war ein erregendes Gefühl, von Nathan liebkost zu werden, und sie bog sich sehnsüchtig seinen Händen entgegen. „Ich weiß noch, wie ich dich damals so berührt habe", sagte Nathan leise. Er schob Mariahs Bluse hoch und umschloss die harten rosa Spitzen mit den Lippen. Als er leicht daran sog, lief ihr ein heißer Schauer durch den Körper. „Du schmeckst so gut", flüsterte er und hob dann den Kopf. „Und du duftest so wunderbar wie früher." Er strich mit seinen Lippen über Mariahs zarten Hals, während er ihr die Bluse aufknöpfte. „Ich erinnere mich noch sehr gut an damals", sagte sie leise. „Ich war verrückt nach dir, aber du wolltest unbedingt warten." Hastig versuchte sie, sein Hemd aufzuknöpfen. Sie wollte endlich seine nackte Haut berühren. Endlich hatte sie es geschafft. Sie strich Nathan über die kräftige Brust. Seine Haut schien zu glühen, und Mariah fühlte, dass sein Herz genauso heftig schlug wie ihr eigenes. Nathan schob ihr die Bluse von den Schultern und starrte verblüfft auf die kleine Tätowierung oberhalb ihrer linken Brust. „Was ist das?" „Ein Schmetterling. Das hat Nikki gemacht." „Deine Mutter behauptet ja immer, du seist wie ein Schmetterling." „Ich weiß." Ein Schmetterling, der von Blüte zu Blüte flatterte und sich nirgendwo länger aufhielt. Auf einmal fröstelte sie. Würde sie diesmal beständiger sein? Und wenn nicht, war es nicht unfair, mit Nathan zu schlafen und ihn in dem Glauben zu lassen, sie habe sich geändert? Nein, beschloss Mariah, sie würde sich von ihren Ängsten nicht diesen wunderbaren Augenblick verderben lassen. Sie nahm Nathans Hände und legte sie auf ihre Brüste. Er stöhnte auf. „Mariah, davon habe ich geträumt, seit du wieder hier bist." Er blickte auf
die aufgerichteten Knospen, beobachtete genau, was seine Hände mit ihren Brüsten machten, wie sie sie streichelten, liebkosten, massierten. Er war hochgradig erregt. Und Mariah, die ihm atemlos zusah, ging es genauso, so stimulierend waren seine Liebkosungen. Sie wollte ihn endlich überall berühren. Er war hart und bereit, dass konnte sie durch die Hose hindurch spüren, doch Nathan hielt ihre Hand fest. „Ich habe kein Kondom dabei." Mariah musste lachen. „Ich dachte, ihr Pfadfinder seid auf alles vorbereitet." Er sah so süß aus, wenn er verwirrt war. „Kein Problem." Sie gab ihm einen Kuss. „Ich nehme die Pille." Nathan atmete auf. „Dem Himmel sei Dank. Ich möchte so gern ganz tief in dir sein." Sie schmolz fast dahin bei seinen Worten. Es stimmte, sie hatten sich früher zwar geküsst und gestreichelt und gegenseitig zum Höhepunkt gebracht, aber sie waren noch nie vollkommen nackt zusammen gewesen. „Steh auf", sagte er plötzlich. „Was?" „Steh auf. Ich möchte uns ein Bett machen." Er grinste übermütig. „Auch wenn unsere erste Liebesnacht in einem Kühlraum auf einem kalten Fußboden stattfindet, sollten wir es uns doch so bequem wie möglich machen." Schnell falteten sie die Folie zu einer weichen Unterlage zusammen, zogen dann hastig die letzten Kleidungsstücke aus und legten sich eng nebeneinander. Obwohl sie nackt waren, war ihnen heiß, und ihre Haut glühte, als sie sich fest in die Arme nahmen. Sie umschlangen sich mit den Beinen, ihre Hände erforschten begierig den Körper des anderen. Nathans Küsse wurden tiefer, fordernder. „Ich habe mich so danach gesehnt", stieß er in den kurzen Pausen dazwischen immer wieder hervor. Dabei umfasste er Mariahs kleinen festen Po und presste sich an sie, ließ sie los, presste sie wieder an sich .... Mariah glitt mit der Hand zu seinen Lenden und umfasste ihn. Nathan stöhnte auf. „Oh, Mariah, das ist Wahnsinn!" Er strich ihr über die glatten Schenkel, und sie spreizte zögernd ihre Beine. Wenn er ihre empfindlichste Stelle berührte, würde sie die Beherrschung verlieren, das wusste Mariah. Nathan verstand ihre Zurückhaltung und fuhr nur behutsam über die feinen Löckchen, ohne weiter vorzudringen. Mariah sehnte sich nach ihm. Ungeduldig rutschte sie hin und her, und als er sich halb aufrichtete, zog sie ihn auf sich. Sofort war er über ihr und drang behutsam in sie ein, wobei er Mariahs Reaktion genau beobachtete. Erst als Mariah sich ihm ungeduldig entgegenhob, begann er sich zu bewegen. Sie schrie auf. Wieder hatte sie die Empfindung, dass Nathan ihre Gedanken lesen und ihre Wünsche erraten konnte. „Mariah!" Das klang, als könnte er immer noch nicht begreifen, dass sie jetzt in seinen Armen lag. Es kam Nathan wie ein Wunder vor. Er zog sich kurz zurück, stieß wieder vor, und Mariah folgte seinen Bewegungen, als wären ihre Körper miteinander verschmolzen. Sie war keineswegs unerfahren und wusste, was guter Sex war, aber noch nie war es so gewesen wie diesmal. So erregend und gleichzeitig so vertraut, so vollkommen in Übereinstimmung mit ihren eigenen Wünschen und Bedürfnissen. Sie hatte keine Zweifel mehr und keine Hemmungen. Dies war Nathan, der Mann, der sie immer vor allem hatte beschützen wollen, der nicht mit ihr geschlafen hatte, weil er fürchtete, seine Leidenschaftlichkeit würde sie abschrecken. Nun waren sie endlich zusammen, und sie spürte, wie sehr er sie begehrte und immer schon begehrt hatte. Er sah sie an, hochgradig erregt und gleichzeitig voll Liebe und Bewunderung. Sehr viel länger konnte sie nicht warten, aber sie wollte den Höhe punkt so gern hinauszögern, weil dieser Augenblick so kostbar war. Doch sie konnte es nicht, genauso wenig, wie sie gegen ihre Liebe ankämpfen konnte. Ihre Erregung steigerte sich rasch, und Mariah schrie laut auf, als sie wild erschauernd zum Höhepunkt kam. Sie klammerte sich an
Nathan, als fürchtete sie, ihn zu verlieren. Mariah hatte nie geglaubt, dass sie zu solchen Empfindungen fähig war, sie machten ihr beinahe Angst. Auch über Nathan schlug die Erregung wie eine Flutwelle zusammen. Er bäumte sich noch einmal auf und ließ sich dann schwer atmend auf Mariahs Körper sinken. Beide keuchten, ihre Haut war feucht und schimmerte golden im sanften Kerzenlicht. Nathan hob den Kopf und betrachtete Mariahs Gesicht. Sein Blick machte deutlich, weshalb er sich damals zurückgehalten hatte. Weil er sie so sehr liebte. Das wiederum beunruhigte Mariah etwas. Auch sie liebte ihn, aber wenn ihre Liebe nun nicht stark genug war? Sie wusste, dass seine Liebe nicht bedingungslos war. Er hatte Erwartungen, Hoffnungen. Wenn sie die nun enttäuschte? Wenn sie nicht 1 so sein konnte, wie er sich seine Frau vorstellte? Sie presste ihr Gesicht gegen seine Brust, damit er ihre Gedanken nicht erriet. „Mariah", flüsterte Nathan, „Bitte bleib bei mir. Lass uns hier in Copper Corners arbeiten und ein gemeinsames Leben aufbauen." Aber natürlich* hätte sie fast erwidert. „Ich weiß nicht, ob ich das kann, Nathan", gab sie leise zurück. „Ich bin kein sehr sesshafter Mensch. Ich bin nie lange bei einer Sache geblieben." „Aber du hast dich verändert. Du bist jetzt erwachsen. Wir beide sind erwachsen. Ich helfe dir." Hatte sie sich wirklich geändert? Ihr Magen zog sich zusammen. Nathan wollte so gern, dass sie blieb, dass sie mit ihm lebte und arbeitete. Und es tat so gut, in seinen Armen zu liegen und sich von ihm trösten zu lassen. Sie wollte nicht länger darüber nachdenken. Sie vertraute ihm und hoffte von ganzem Herzen, dass sie ihn nicht enttäuschen würde. Langsam legte sie ihm die Arme um seinen mus kulösen Rücken und schloss die Augen. Sie wollte nicht mehr zweifeln, sondern nur noch dankbar sein, dass jemand versehentlich mit dem Gabelstapler die Tür blockiert hatte. Vermutlich hätten sie sich ihre Liebe sonst nie gestanden.
9. KAPITEL „Dios mio!" Nathan riss die Augen auf. Sofort wusste er, wo er war. Mariah lag in seinen Armen, und sie hatten die Nacht im Kühlraum von „Cactus Confections" verbracht. Und Sonia Morillon und Nacho Valenzuela, die Frühschicht hatten, standen in der Tür und starrten sie an. „Wir waren eingeschlossen", sagte Nathan und zog schnell die Folie über Mariah. Sie fuhr erschrocken hoch und zog dabei ihre provisorische Bettdecke an sich, so dass Nathan nun splitternackt neben ihr lag. Schnell griff er nach einem Zipfel, um das Notwendigste zu bedecken. Eigentlich hatte er sich anziehen und an der Tür auf die ersten Arbeiter warten wollen, aber er und Mariah hatten sich immer wieder geliebt, und so war er erst vor kurzem eingeschlafen. „Ein idiota hat den Gabelstapler vor der Tür abgestellt", sagte Sonia und sah Nacho erbost an. „Ich nicht." Er hob beide Hände. „Das schwöre ich." Sonia schien ihm nicht zu glauben, denn sie sagte irgendetwas auf Spanisch, und Nacho legte sich die Hand aufs Herz. „Würden Sie mal 'ne Sekunde draußen warten?" fragte Nathan. „Oh, si, si", erwiderte Sonia schnell und drängte Nacho zurück. „Die wissen natürlich, was passiert ist", sagte er, rot vor Verlegenheit. „Meinst du?" Mariah grinste. „Wir haben doch nur versucht zu überleben. In allen Büchern über Überlebenstraining steht, dass man sich bei Kälte nackt ausziehen und eng aneinander schmiegen soll." Sie sprang auf und küsste ihn. „Nathan, ich liebe dich." Nathan strahlte sie glücklich an. Mariah liebte ihn. Er hatte es nicht nur geträumt. Ausgerechnet im Kühlraum hatte sich alles zum Guten gewendet. Mariah liebte ihn. Und sie würde bleiben. Endlich würden sie immer zusammen sein. Damit würde sich sein sehnlichster Wunsch erfüllen. Er brauchte sich keinen neuen Job zu suchen und musste nicht in eine andere Stadt ziehen. Er sah Mariah an. Sie strahlte über das ganze Gesicht. Als sie schließlich aus dem Kühlraum herauskamen, empfing sie eine ganze Gruppe von Mitarbeitern und applaudierte. „Sie sind wahr scheinlich froh, dass wir die Nacht heil überstanden haben", meinte Mariah. „Sie klatschen, weil sie sich über unsere Liebe freuen." Und spontan warf Nathan seine gute Erziehung und alle Skrupel über Bord, zog Mariah in die Arme und küsste sie vor aller Augen. Vor dem Haus ihrer Eltern blieb Mariah kurz stehen. „Benimm dich möglichst normal", sagte sie. „Ich möchte nicht, dass sie ausflippen." Ihr Vater war noch zu Hause, hatte also noch nichts von ihrem Abenteuer im Kühlraum gehört. Mariah hatte Nathan gebeten, mit ihr zu kommen. Sie meinte, sie sollten keine großartige Erklärung abgeben, sondern einfach nicht mehr davon sprechen, dass sie die Stadt verlassen wollten. Ihre Eltern würden mit der Zeit schon herausfinden, was sie füreinander empfanden. Mariah rechnete es Nathan hoch an, dass er sich damit einverstanden erklärte, denn sie wusste, dass er die Neuigkeit am liebsten in alle Welt hinausposaunt hätte. Mariah war glücklich und zugleich etwas ängstlich. Alles war so schnell gegangen, sie hatte das Gefühl, dringend etwas Zeit zu brauchen. Nathan offensichtlich nicht. Er strahlte und war vollkommen sicher, dass ihre Entscheidung richtig war. Mariah wünschte, sie könnte ähnlich empfinden. Entschlossen nahm sie Nathans Hand und öffnete die Haustür. „Ich bin wieder da!" rief sie. Ihre Mutter kam den Flur herunter und zog einen Koffer hinter sich her. „Hallo, ihr zwei! Wie schön, da kann ich euch gleich sagen, was zu tun ist, während wir weg sind."
„Ihr weg seid?" Mariah sah ihre Mutter verblüfft an. „Ja. Dein Vater und ich gehen auf unsere erste Reise, jetzt, wo er sich endlich vom Geschäft zurückziehen kann. Wir wollen nach Aruba, und tauchen. Einen ganzen Monat lang." „Tauchen? Was redest du da, Mom? Nathan und ich waren die ganze Nacht im Kühlraum eingesperrt." „Wie schrecklich", sagte Meredith leichthin und fummelte am Kofferverschluss herum. „Aber es geht euch ja jetzt wieder gut." „Das schon. Aber habt ihr euch denn keine Sorgen gemacht?" „Um Himmels willen, nein, mein Liebes. Ich habe wie eine Tote ge schlafen, und selbst Maynard war ausnahmsweise mal mucksmäus chenstill." „Und ihr wollt tauchen?" Mariah schüttelte verständnislos den Kopf. Was war denn hier los? „Einer unserer Freunde kann seine Reise nicht antreten. Wir übernehmen die Buchung. Diese Gelegenheit konnten wir uns nicht entge gen lassen." „Oh, hallo, ihr zwei!" Jetzt kam auch ihr Vater aus dem Schlafzimmer und schleppte einen Koffer hinter sich her. „Dad, Nathan und ich waren die ganze Nacht im Kühlraum eingesperrt", fing Mariah wieder an. „So? Ich bin froh, dass offensichtlich alles gut gegangen ist. Soll ich zwei oder drei Badehosen mitnehmen, Meredith?" Mariah hatte allmählich den Eindruck, dass ihr Vater mehr von der ganzen Sache wusste, als er zugab. „Daddy, du weißt nicht zufällig, wie es kam, dass der Gabelstapler die Tür blockierte?" „Warum sollte dein Vater das denn wissen?" fragte Meredith. Es war Abes Idee gewesen, dass Nathan und sie die Lagerinventur übernahmen. Und der Thermostat im Kühlraum war verstellt worden, so dass es nicht ganz so kalt gewesen war wie sonst. „Kind, dieses Angebot mit der Reise kam so plötzlich, dass ich keine Zeit mehr hatte, die Kekse für das Klassentreffen zu backen, wie ich es versprochen habe", sagte ihre Mutter schnell. „Bitte, tu mir den Gefallen, und back zwölf Dutzend Brownies. Und bitte wässere den Garten hin und wieder. Auch die Zitronenbäume müssen ab und zu gegossen werden. Ach, und Nathan, vielleicht könntest du Matthew Gasteau davon überzeugen, dass es keineswegs unmännlich ist, in einem Kirchenchor zu singen. Dir als Musiker wird er am ehesten glauben." „Sicher, Meredith." Nathan schien von Merediths Verhalten keineswegs keineswegs befremdet zu sein. „Sag Mom zu mir." „Mom!" rief Mariah aus. „Entschuldige, Kind. Natürlich müsst ihr selbst entscheiden, was zu tun ist. Aber es kann nichts schaden, sich schon mal mit der Organistin wegen der Hochzeit in Verbindung zu setzen. Im Juni ist sie immer ausgebucht." „Aber, Mom ..." „Wie auch immer, ihr könnt das doch für mich tun, oder?" „Ja, aber ..." Mariah hatte das Gefühl zu ersticken. Sie wusste nicht, wo ihr der Kopf stand. So viel war passiert in so kurzer Zeit, und sie wusste nicht, ob sie das alles bewältigen würde. Falls sie in Copper Corners blieb, musste sie unbedingt ein ernstes Wort mit ihrer Mutter reden. Jetzt legte Abe ihnen die Hände auf die Schultern. „Ich übergebe euch die Firma", sagte er feierlich und sah beiden abwechselnd in die Augen. „Ihr sollt wissen, dass ihr mein volles Vertrauen habt."
Diese Worte lasteten wie ein Mühlstein auf Mariahs Schultern. Wenn sie die Firma in den Ruin trieb, würde sie das Herz ihres Vaters brechen. Aber sie rang sich ein Lächeln ab und nickte. Schnell warf sie Nathan einen Blick zu. Er wirkte so sicher, dass er Abes Erwartungen nicht enttäuschen würde. Hoffentlich behielt er Recht. Am nächsten Tag fuhr Mariah ihre Eltern zum Flughafen von Tucson. Sie war nervös und verspannt. Morgens war sie aufgewacht und hatte nach Luft gerungen, wie früher oft als Kind. Diesmal hatte sie dann zwar festgestellt, dass sie sich im Schlaf ein Kissen aufs Gesicht gedrückt hatte. Dennoch, sie war gereizt und empfand eine unbestimmte Furcht. In der nächsten Woche hatte Mariah so viel zu tun, dass sie gar keine Zeit hatte, Angst zu haben. Sie schliefen bei Nathan, denn ihr Bett war für sie und Maynard viel zu eng. Der Hund hatte sich angewöhnt, am Fußende ihres Bettes zu liegen. Seit Nathan und Mariah zusammenlebten, schien er seinen Widerwillen gegen Nathan überwunden zu haben und ließ sich sogar hin und wieder von ihm kraulen. Sobald Mariahs Eltern von ihrer Reise zurück waren, würde Mariah ganz bei Nathan einziehen, damit sie ihrer Mutter nicht mehr täglich über den Weg lief. Manchmal hatte Mariah das Gefühl, sie würde es nie scha ffen. Dann konzentrierte sie sich auf das Beste in ihrem Leben, auf Nathan. Es war wunderbar, mit ihm zusammen zu sein, und sie verbrachten beinahe jede Minute gemeinsam. Hin und wieder schlössen sie die Tür zu ihrem Büro ab, um nicht gestört zu werden. Und zu Hause liebten sie sich, wann immer sie Lust hatten. Oft brannte ihnen das Abendessen an, weil sie es nicht mehr abwarten konnten und sich ungeduldig aufeinander stürzten. Mariah konnte es kaum aushalten, ohne ihn zu sein. Auch weil sie dann immer daran denken musste, welche Verantwortung sie auf sich geladen hatte. In dem Moment, als sie entschieden hatte, zusammen mit Nathan die Firma zu leiten, hatte sich ihre Haltung zur Arbeit verändert. Zwar waren ihre Pläne dieselben geblieben, aber die Verantwortung lastete wie ein Mühlstein auf ihr. Plötzlich war sie unsicher, ob sich die Sache mit den neuen Kunden wirklich auszahlen würde, und jede Entscheidung schien ihr ausgesprochen risikoreich zu sein. Vielleicht war ihr Vater daran schuld, der sein ganzes Vertrauen in sie gesetzt hatte. Oder Nathan, der ebenfalls nicht an ihr zweifelte. Immer, wenn sie mit ihm über ihre Ängste sprechen wollte, meinte er nur, alles liefe doch wunderbar und sei vollkommen in Ordnung. Ihre Ideen seien fantastisch, und sie sei ein Segen für die Firma. Aber Mariah wusste, dass er sie mit den Augen der Liebe betrachtete. Seiner Meinung nach konnte sie nichts falsch machen. Aber sie war keineswegs vollkommen, sie hatte eine Menge Fehler. Wie würde Nathan reagieren, wenn er das herausfand? „Ich glaube nicht, dass wir den Umsatz dermaßen steigern können!" Dave musste schreien, um sich bei dem Lärm der Maschinen verständ lich zu machen. Zwei Wochen waren seit der Nacht im Kühlraum vergangen, und Mariah war mit ihren Nerven am Ende. Nathan war für drei Tage nach Los Angeles geflogen, um sich ein paar gebrauchte Maschinen anzusehen, die sie vielleicht kaufen wollten. Und so lag die ganze Verantwortung auf ihren Schultern. „Aber ich habe den Leuten den Margarita-Mix fest zugesagt", sagte sie. „Die Bestellung für die Bioläden muss zur gleichen Zeit ausgeliefert werden." Dave sah sich kopfschüttelnd um. „Wir müssen rund um die Uhr arbeiten." „Sobald die neuen Kunden zahlen, können wir uns neue Maschinen leisten. Wir müssen es diesmal einfach noch mal mit der alten Ausrüs tung schaffen." „Können wir nicht warten, bis Nathan zurückkommt?" „Nein, das wäre zu spät." Mariah überlegte, ob sie Nathan noch einmal anrufen sollte, aber er hatte ihr das letzte Mal schon gesagt, dass die Verantwortung während seiner Abwesenheit bei ihr lag und sie die Entscheidungen treffen musste. „Sind Sie sicher?" Dave war skeptisch.
Keineswegs. „Ja, absolut. Sie und Benny schaffen es schon, die Maschinen am Laufen zu halten." „Ihr Wort in Gottes Ohr, obgleich das auch nicht viel helfen wird." Er sah sie nachdenklich an, und sie bemühte sich, entschlossen zu wirken. „Ich hoffe, Sie wissen, was Sie tun." Das hoffte Mariah auch. „Wir müssen auch noch überprüfen, was an Saftbehältern da ist", sagte Dave. „Der Nachschub ist noch nicht eingetroffen." „Ja, richtig." Vor drei Tagen hatte Mariah gemerkt, dass sie vergessen hatte, die Behälter rechtzeitig zu bestellen. So hatte sie sich nach einem anderen Lieferanten umsehen müssen. Dessen Behälter waren zwar billiger, aber da es ein Eilauftrag war, war die ganze Sache doch wieder teurer geworden. Immerhin hatten sie zugesagt, rechtzeitig zu liefern. Das war das Entscheidende. „Ist was?" fragte Dave, als sie nachdenklich vor sich hinstarrte. „Nein, alles wunderbar in Ordnung." Mit Ausnahme ihres nervlichen Zustands. Wie sie es hasste, wenn Nathan länger weg war! Sie brauchte ihn hier, brauchte seine Bestätigung. Sein Vertrauen gab ihr Kraft. Dennoch brachte sie den Nachmittag irgendwie herum und schaffte auch das, was sie sich vorgenommen hatte. Sie rief den Marketingmann von der Bioladen-Kette an und sicherte ihm zu, dass die Lieferung pünktlich zum Start der Werbekampagne eintreffen würde. Auch der Restaurantkette bestätigte sie das zugesagte Lieferdatum. Vielleicht klappte ja doch alles. An diesem Abend fuhr sie spät nach Hause. Wenn Nathan nicht da war, wohnte sie in ihrem Elternhaus. So konnte sie auch erledigen, was ihre Mutter ihr aufgetragen hatte. Dennoch waren fast alle Topfpflanzen eingegangen. Die musste sie unbedingt ersetzen, bevor ihre Eltern zurückkamen. Und die Brownies für das Klassentreffen hatte sie auch noch nicht gebacken. Als sie die Haustür öffnete, wurde sie begeistert von Maynard begrüßt, der sie fast umrannte. „Nicht so stürmisch!" Mariah umarmte ihn. Seine bedingungslose Liebe tat ihr gut. Zwar hatte er wieder den Mülleimer umgeworfen, und auf dem Küchenfußboden sah es aus wie nach einem Wirbelsturm, aber das waren kleine Probleme, verglichen mit dem, was sie in der Firma schaffen musste. Wenn Nathan doch bloß schon zurück wäre. Der Anrufbeantworter blinkte, aber es war nur ihre Mutter. „Hallo, mein Liebes", flötete Meredith, „ich wollte dich nur an den Bridge-Abend am Freitag erinnern." Es knackte in der Leitung. „Ich hoffe, dass alles in Ordnung ist. Wir haben eine wunderbare Zeit hier. Deinem Vater macht das Tauchen sehr viel Spaß, und ich bin schon gut braun geworden." Wieder knackte es. „Wir freuen uns so für dich und Nathan. Grüß ihn herzlich. Denkst du auch an die Zitronenbäume? Und morgen Abend probt der Kirchenchor. Habt ihr Matthew Gasteau schon zum Mitmachen überreden können?" Wieder fühlte Mariah sich wie erdrückt von der mütterlichen Liebe und Fürsorge, aber auch von ihren ständigen Forderungen. Sie liebte ihre Mutter, aber die Frau war gnadenlos in ihren Ansprüchen. Mariah hatte wirklich zu viel um die Ohren, als dass sie sich auch noch um die Bridge-Gruppe kümmern konnte. Schließlich konnten die Frauen sich doch auch woanders treffen. Sie löschte die Nachricht, und in diesem Augenblick klingelte das Telefon. „Wie geht es meiner Liebsten?" Nathan! „Ich bin so froh, dass du anrufst." Mariah warf sich aufatmend aufs Sofa. Endlich konnte sie loswerden, was sie den ganzen Tag bedrückt hatte. „Was ist denn passiert?" Ich kann das nicht. Es wird mir alles zu viel. Ich habe Angst, hätte sie am liebsten gesagt, doch sie nahm sich zusammen. Ihr war aufgefallen, dass Nathan in der letzten Zeit hin und wieder genervt zu sein schien, wenn sie ihm von ihren Befürchtungen erzählte. Außerdem brachte es gar nichts, wenn er sich nun auch noch Sorgen machte. „Nichts. Ich bin nur müde."
„Das kann ich mir vorstellen. Wie geht's in der Firma? Sicher gut, was?" „Ja, so einigermaßen. Ich musste für die Saftbehälter eine andere Lie ferfirma finden. Und wir müssen rund um die Uhr arbeiten, um unsere Liefertermine einzuhalten, aber ..." „Du fehlst mir so, Mariah", unterbrach Nathan sie leise, „noch mehr als letzte Nacht." Er sehnte sich nach ihr und hatte überhaupt keine Lust, über Bestellungen und Lieferungen zu reden. „Du mir auch." Sie schloss die Augen und versuchte, ihre Ängste und Selbstzweifel zu ignorieren. Nur auf seine Stimme wollte sie sich konzentrieren. „Ich möchte dich so gern in die Arme nehmen und lieben. Dieses Bett hier ist schrecklich groß und leer." „Meins auch. Maynard kann dich nun mal nicht ersetzen." Mariah lachte leise. „Das will ich hoffen." Sie lächelte. Seine Stimme tat ihr so gut. „Ich werde heute Nacht an dich denken", flüsterte Nathan. „Die ganze Nacht." „Ich auch an dich." Genau das brauchte sie jetzt, dieses Gefühl, ge liebt zu werden, lebenswichtig für jemand anderen zu sein. Als sie schließlich den Hörer auflegte, hatte Mariah wieder mehr Selbstvertrauen. Am nächsten Morgen fuhr sie schon früh in die Firma, um zu sehen, ob mit der Saftgewinnung alles geklappt hatte. Dave war auch schon da und wirkte besorgt. „Die Maschinen sind kurz vor dem Überhitzen", sagte er und runzelte die Stirn. „Sind wir noch in der Zeit?" „Ja." Er presste kurz die Lippen zusammen. „Noch." „Ich bin sicher, es wird alles klappen", sagte sie und bemühte sich um ein zuversichtliches Lächeln. So was erwartete man doch von ihr. Fünf Stunden später rief Dave sie an. „Kommen Sie sofort her." Mariah lief in die Fabrikationsräume. Die Maschinen standen still, und es roch nach verbranntem Zucker. „Was ist los?" „Die Thermostate haben versagt!" stieß Dave hervor. „Tausend Gallonen Saft sind überhitzt und ungenießbar." „Mein Gott!" Mariah sah, wie Benny verzweifelt gegen ein Ventil schlug. Der Schweiß rann ihm über das Gesicht. „Wir schaffen es nicht", sagte Dave. „Wir müssen es schaffen." „Nicht, wenn auch noch der Margarita-Mix hergestellt werden soll." „Haben wir nicht noch eingefrorenen Saft?" „Nicht genug." „Wir müssen alles versuchen." „Rufen Sie die Leute an, Mariah, und sagen Sie, dass wir nicht liefern können. Wir müssen unbedingt die Maschinen überprüfen, die Ventile reinigen und einige Dichtungen ersetzen." „Das geht nicht. Die Läden haben ihre Werbekampagne genau mit uns abgestimmt. Ich habe versprochen, dass wir pünktlich liefern. Sie müssen dafür sorgen, dass die Sache läuft." Ihr dröhnte der Kopf. Um sie herum standen Arbeiter und betrachteten sie skeptisch. Sie flüsterten und warfen sich verstohlen Blicke zu. Das fiel auch Dave auf. Er holte tief Luft. „O kay, Sie sind der Boss." Er wandte sich an seine Leute. „An die Arbeit." Mariah blieb noch eine Weile stehen und sah zu, wie die Männer die Maschinen von dem verbrannten klebrigen Saft reinigten, schweigend und mit grimmigen Gesichtern. Dann hielt sie es nicht mehr aus. Sie hastete ins Büro zurück. Sie sollte mit der Zentrale der Bioläden sprechen. Vielleicht war in der Terminplanung doch noch etwas Luft. Aber als sie vor dem Telefon saß, verließ sie
der Mut. Sie kannte die Antwort sowieso. Sie konnte nur dasitzen und beten, dass Benny doch noch ein Wunder vollbringen würde und dass Dave es irgendwie schaffte. Aber ihr Gebet wurde nicht erhört, denn nach einer knappen Stunde kam ein Arbeiter und bat sie in den Produktionsraum. Dort war das Chaos ausgebroche n. Saft tropfte aus undichten Leitungen. Die Arbeiter rannten mit Werkzeugen und Wischtüchern hin und her, schrieen sich gegenseitig an und schienen nicht zu wissen, was als Nächstes zu tun war. Dave, das Gesicht nass von Schweiß und Saft, versuchte verzweifelt, mit einem großen Schraubenschlüssel eine Dichtung festzuziehen. „Was ist passiert?" schrie Mariah. „Der Saft wurde zu heiß, da haben die Plastikbehälter sich verzogen. Einige sind sogar geplatzt. Wir haben versucht, das Ganze runterzufahren, aber der Druck war zu stark und ein paar Dichtungen gingen kaputt." „Oh nein!" „Tut mir Leid!" schrie Dave zurück. „Ich hätte die Maschinen vorher abstellen sollen." „Sie haben Ihr Bestes getan. Es ist nicht Ihre Schuld." „Aber ich hätte es besser wissen sollen." Er schüttelte verzweifelt den Kopf, rot vor Hitze und Anstrengung. Ein Arbeiter rutschte auf den Knien an Mariah vorbei und wischte Saft auf. Benny stand auf einer Leiter und versuchte fluchend, ein Ventil zuzudrehen. Und der arme Dave meinte auch noch, die Verantwortung übernehmen zu müssen. Dabei war es ganz und gar nicht sein Fehler. Sie war es gewesen, Mariah, die den Kunden zu viel versprochen hatte, die die Männer gezwungen hatte, die maroden Maschinen zu stark zu belasten. Und sie hatte schließlich auch vergessen, rechtzeitig die richtigen Behälter zu bestellen, weshalb sie mit den billigeren arbeiten mussten, die leckten und platzten. Das war ein Verlust von vielen Tausend Dollar, von dem Imageverlust bei den neuen Kunden ganz zu schweigen. „Achtung!" schrie ein Arbeiter, als wieder eine Leitung platzte und der Saft neben Mariah auf den Boden spritzte. Er stieß sie zur Seite, griff nach einer Leiter und kletterte hoch. Mariah hielt es einfach nicht mehr aus, weiter mit diesem Desaster konfrontiert zu sein, das sie selbst verursacht hatte. Sie stand nur im Weg, und so lief sie zurück in ihr Büro. Was sollte sie tun? Was konnte sie tun? Am liebsten hätte sie sich irgendwo verkrochen und geheult. Sie sollte die Kunden anrufen und die Liefertermine absagen. Das bedeutete natürlich, dass die Bestellungen zurückgezogen würden. Aber vielleicht sollte sie noch etwas abwarten. Vielleicht gab es noch irgendeinen Ausweg. Für eine endgültige Entscheidung war es vielleicht noch zu früh. Es musste doch noch eine Lösung geben. Sie ging im Büro hin und her. Los, Mariah, lass dir etwas einfallen. Eine Viertelstunde später öffnete sich die Tür. „Liebste, ich bin wieder da!" Nathan stand in der Tür, strahlte über das ganze Gesicht und breitete seine Arme aus. „Oh, Nathan!" Mariah fiel ihm um den Hals. „Ich habe alles verdorben", flüsterte sie, und Tränen rannen ihr über die Wangen. „Was ist denn los?" Sie berichtete es ihm. Nathan wurde blass, blieb aber ruhig. „Wann ist das passiert?" „Gerade eben. Sie sind noch dabei, aufzuwischen und zu reparieren." „Und warum bist du dann hier? Du kannst doch auch mithelfen." Er zog sein Jackett aus, riss sich die Krawatte vom Hals und ging schnell den Flur hinunter, während er sich die Ärmel aufrollte. Mariah rannte hinter ihm her. „Hast du die Lieferung schon abgesagt?" schrie er ihr zu. „Nein, noch nicht. Ich wartete immer noch auf ein Wunder." Er blieb so plötzlich stehen, dass sie ihn fast umrannte. „Träumst du? Ruf die Leute sofort
an. Sag ihnen, dass wir einen gewissen Lieferengpass hätten. Und dann komm zurück, und pack mit an. Für Selbstmitleid haben wir keine Zeit." Sie wurde rot. Recht hatte er. Genau das hätte sie tun sollen. Stattdessen war sie voll Panik in ihr Büro geflohen. Sie nickte und lief wieder zurück. Der Kunde war wütend, aber sie schaffte es, dass er sie nicht für die Kosten der Anzeigenkampagne haftbar machte. Stattdessen versprach sie ihm, sich mit einem interessanten Angebot und großen Preisnachlässen wieder an ihn zu wenden, sobald alles normal lief. Aber sie musste erst mit Nathan darüber sprechen. Sie würde keine einzige Ent scheidung mehr treffen. Dann lief sie in den Herstellungsraum und half beim Aufräumen. Erst abends waren sie fertig. Dave und Benny hatten die Anlage halbwegs wieder funktionsfähig gemacht, aber sie konnte nur mit halber Kraft laufen. Dave wischte sich erschöpft die Stirn. „Tut mir Leid, Nathan, wir konnten nichts dagegen tun." „Wir haben noch genug Saft für die regulären Lieferungen. Unser Problem sind lediglich die Lieferungen für die Bioläden." „Es ist allein meine Schuld", sagte Mariah. „Dave hat mir gesagt, dass die Anlage die zusätzliche Belastung nicht aushält, aber ich habe ihm befohlen, trotzdem weiterzumachen, rund um die Uhr. Und ich war es auch, die die schlechten Behälter bestellt hat." Sie presste die Lippen zusammen. Jetzt bloß nicht heulen. „Ich hätte es besser wissen müssen", meinte Dave. „Ihr habt getan, was ihr konntet", sagte Nathan. „Mehr kann man nicht verlangen." Mariah folgte ihm ins Büro. Er ließ sich erschöpft auf den Schreib tischsessel fallen. „Wie schlimm ist es?" fragte sie zögernd. Sie war rot vor Scham. Alle hatten sich auf sie verlassen, und sie hatte sie fürchterlich enttäuscht. „Es ist ein ziemlicher Verlust." „Können wir nicht den Bioläden Rabatt geben, wenn wir wieder liefern können?" „Rabatt? Bist du verrückt geworden?" Nathan hob den Kopf, und sie sah, dass er seinen Ärger nur mühsam zähmte. „Wir müssen unsere Expansionspläne noch einmal neu überdenken. Wir haben uns zu viel in zu kurze r Zeit vorgenommen." „Du meinst, ich habe die Sache überstürzt." „Nein, wir. Für ,Cactus Confections' sind wir beide verantwortlich. Aber nun müssen wir erst mal eine neue Anlage kaufen." Nathan fuhr sich nervös durchs Haar. „Was ich da in Los Angeles gesehen habe, hat mich zwar nicht ganz überzeugt, aber nun haben wir keine Wahl." Am liebsten hätte Mariah geheult und sich an ihn geschmiegt, aber sie musste Haltung bewahren. „Es tut mir so Leid, Nathan." „Warum hast du mir denn nichts gesagt, als wir gestern telefoniert ha ben?" „Ich wollte dich nicht beunruhigen. Ich dachte, ich hätte alles im Griff." „Aber das war nicht der Fall!" stieß er hervor. „Das weiß ich selbst, okay? Deshalb brauchst du mich nicht anzuschreien." „Ich schrei doch gar nicht. Ich bin nur ..." Er ließ den Kopf auf die ho he Rücklehne sinken. „Ich habe getan, was ich konnte." „Das weiß ich doch. Ich bin nur fix und fertig." Kein Wunder. Sie fröstelte. Er wollte nett sein, aber es war klar, dass er sie für vollkommen unfähig hielt. Er wirkte gereizt, und dazu hatte er auch allen Grund. Und so würde es immer wieder sein. Eine gewisse Zeit konnte sie sich zusammenreißen, aber dann, wenn sie sich siche rer fühlte ... Deshalb war es für sie besser, alle sechs Monate den Job zu wechseln und alle zwei Monate den Mann. Bei dem Gedanken wur de ihr ganz elend. „Du hältst mich für verantwortungslos, was?" Er seufzte leise. „Das habe ich nicht gesagt." Aber es stimmte. „Es ist vorbei, Mariah." „Was?" Sie starrte ihn entsetzt an. Was war vorbei? Ihre Beziehung? „Wir hatten Probleme mit der Anlage, große Probleme, aber wir sammeln die Scherben auf und machen weiter."
Und ihre Beziehung? Würden sie da auch weitermachen? Oder war alles vorbei? Die Tränen traten ihr in die Augen. Er sah sie an. „Bitte wein nicht." Er stand langsam auf und nahm sie in die Arme. Aber er war verspannt, und die Umarmung war alles andere als tröstlich. „Beruhige dich, Mariah", sagte er. „Das kriegen wir schon wieder hin." „Ja, sicher." Aber sie konnte nicht vergessen, wie er sie angesehen hatte, wütend und enttäuscht darüber, dass sie sich im Büro verkrochen hatte, anstatt den Arbeitern zu helfen. Mariah hatte ihr ganzes Leben immer befürchtet, dass sie die Menschen, die sie liebte, enttäuschen würde, und genau das war wieder passiert. An ihren Vater mochte sie gar nicht denken. Der genoss endlich seinen wohl verdienten Urlaub, vollkommen sicher, dass seine Firma bei ihr in den besten Händen war. Und sie hatte alles ruiniert. „Lass uns nach Hause fahren." Nathan legte Mariah einen Arm um die Schultern. „Wir müssen uns ausruhen." Mariah konnte jetzt unmöglich mit ihm zusammen sein. Sie musste allein sein und über so vieles nachdenken. „Ich fahre lieber zu meinen Eltern." Er sah sie überrascht an. „Gut. Dann zieh dich um und komm anschließend mit Maynard rüber. Du hast mir in den letzten drei Tagen sehr gefehlt." Den letzten Satz hatte er erst nach einem kurzen Zögern hinzugefügt. Sie sah, wie müde und erschöpft er war. „Du mir auch", flüsterte sie. Aber sie würde nicht kommen, das war ihr jetzt schon klar. Sie konnte ihm nicht noch einmal gegenübertreten. Sie wollte keinem Mitarbeiter von „Cactus Confections" jemals wieder unter die Augen treten. Auf der vorderen Terrasse ihres Elternhauses standen drei große Kis ten, voll mit Bä ndern und Krepppapier, Farbtöpfen und geschnitzten Holztafeln. Das waren sicher die Sachen für den Basar. Ihre Mutter erwartete, dass Mariah daraus üppig dekorierte Schilder bastelte, auf denen „Herzlich willkommen" stand. Die sollten auf dem Basar verkauft werden. Du liebe Zeit! Das war wirklich das Letzte, womit sie sich jetzt beschäftigen konnte. Sie öffnete die Tür, und Maynard stürmte ihr begeistert entgegen. Er liebte sie wenigstens so, wie sie war. Sie wischte sich über die Wange, wo Maynards Zunge sie berührt hatte, und spürte kleine Kristalle. Oh nein! Mariah stürzte in die Küche. Natürlich, der Hund hatte den Zuckertopf gefunden und den Inhalt über die ganze Küche verstreut. Kein Wunder, dass er sie liebte. Er war genauso tollpatschig wie sie. Mariah hatte Hunger, aber der Kühlschrank war leer. Sie öffnete den Gefrierschrank, schob einen großen Puter zur Seite und angelte nach dem Eisbehälter. Schoko-Kirsch, nicht schlecht. Sie nahm sich einen Löffel aus der Schublade und aß direkt aus dem Behälter. Währenddessen ging sie hinüber zum Telefon, um den Anrufbeantworter abzuhören. Ein Anruf von Nikki. „Hallo, meine Süße, ruf mich an. Ich habe schon ewig nichts mehr von dir gehört. Wie macht sich der schöne Nathan? Du glaubst nicht, wie toll sich mein Geschäft hier anlässt. Ich kann mir die Zeit selbst einteilen. Kann reisen, wann immer ich will. Ich verdiene massig Geld. Und verpachten könnte ich mein Tattoo-Studio auch jederzeit. Wenn es mit Nathan nicht klappt, kannst du sofort bei mir anfangen. Ciao!" Nikki konnte ihr einen Job geben. Mit „massig Geld". Mariah atmete erleichtert auf. Ein anderer Job. Etwas, das ihr mehr lag. Etwas, das sie nicht ängstigte. Sie passte nicht zu „Cactus Confections". Für diese Art von Verant wortung war sie nicht geschaffen. Eine Menge Leute hingen von der Firma ab. Das war zu groß für sie. Sie musste daran denken, wie Dave sich selbst Vorwürfe gemacht hatte, und an die verstörten Gesichter der Arbeiter. Nein, das war nicht ihre Sache, da gehörte sie nicht hin. Es war ja auch nicht ihre Idee gewesen. Nathan hatte sie dazu überredet, obgleich sie dafür nicht geeignet war. Wie damals, als er ihr den Heiratsantrag gemacht hatte. Allerdings sollte sie jetzt alt genug sein, um ihre Fähigkeiten einschätzen zu können. Sie war jemand mit Ideen, aber sie hatte Schwie rigkeiten, diese Ideen umzusetzen. Und sie war ganz sicher nicht geeignet, als Geschäftsführerin ein Unternehmen zu leiten. Sie konnte viel-
leicht Anstöße geben, Neues auszuprobieren, aber mehr auch nicht. Spätestens nach sechs Monaten wurde es Zeit für sie, etwas anderes zu machen. Bei „Cactus Confections" war sie sogar erst sechs Wochen, und trotzdem hatte sie bereits ein vollkommenes Durcheinander angerichtet. Es konnte nur noch schlimmer werden. Und sie könnte diesen Gesichtsausdruck von Nathan nicht noch einmal ertragen. Er hatte sich gefragt, ob sie verrückt geworden war, das hatte sie deutlich gesehen. Nein, sie war nicht verrückt geworden, aber er wollte nicht einsehen, dass sie für so eine verantwortungsvolle Tätigkeit nicht geeignet war. Er liebte sie und machte sich etwas vor. Aber sie war nun mal flatterhaft. Sie blieb eine Weile und musste dann wieder weiter. Sie konnte eben nicht aus ihrer Haut. Das Telefon klingelte, und Mariah schreckte hoch. „Wann kommst du denn?" fragte Nathan. „Tut mir Leid, Nathan, aber ich bin einfach zu müde." „Du kannst dich doch hier bei mir ausruhen, nachdem wir ..." Das sollte sexy klingen, aber Mariah spürte, dass er nicht ganz bei der Sache war. „Nicht heute." „Dann komme ich zu dir", schlug er vor, aber auch das klang halbherzig. „Lieber nicht." „Gut, wenn du nicht willst. Wir sind wahrscheinlich beide ziemlich erschöpft." Er schwieg kurz. „Mariah, ich möchte mich entschuldigen, dass ich dich so angefahren habe. Ich war nur so schockiert." „Du brauchst dich nicht zu entschuldigen, Nathan. Es war meine Schuld. Ich habe mich vollkommen übernommen. Man hat eben seine Grenzen." „Grenzen?" fragte er sofort nach. „Was meinst du damit?" „Ich meine nur ..." Sie schluckte. „Ich will damit nur sagen, dass ,Cactus Confections' nicht der richtige Platz für mich ist." Nathan schwieg, und als er wieder sprach, schwang unterdrückte Wut in seiner Stimme mit. „Mariah, das ist kein Aushilfsjob, den du einfach hinwerfen kannst, wenn es Probleme gibt oder du dich langweilst." „Aber du hast doch selbst gesehen, was ich angestellt habe. Ich bin einfach nicht für so einen verantwortungsvollen Posten geeignet." „Dann musst du eben lernen, die Hilfe von anderen anzunehmen, wenn du nicht mehr weiterweißt." „Ich habe dich doch um Hilfe gebeten. Aber du hast immer nur ge sagt, ich solle mir keine Gedanken machen, alles liefe ganz wunderbar." „Ja, bei eher unwichtigen Dingen. Aber hier kam es darauf an." „Für mich ist alles wichtig, Nathan. Ich bin nicht der Mensch, für den du mich hältst." „Doch, das bist du." „Nein." „Komm mir nicht wieder mit dieser Schmetterlingsgeschichte. Da bist du längst rausgewachsen." „Nein, bin ich nicht. Auch wenn du es dir noch so wünschst." „Ich möchte doch nur, dass du es versuchst. Ist das zu viel verlangt?" „Ich fürchte, ja." „Was ist denn los, Mariah? Hier geht es doch nicht um ,Cactus Con-fections', sondern um uns, oder?" „Ich habe dich enttäuscht." „Vielleicht ein bisschen. Aber ich habe auch zu viel erwartet. Für dich ist das alles vollkommen neu. Aber das macht doch nichts. Wir haben beide etwas dabei gelernt. Ich werde vorsichtiger sein, und du wirst fragen, wenn du etwas nicht weißt. Das ändert doch nichts daran, dass wir uns lieben."
„Noch nicht." „Noch nicht? Was heißt das denn?" „Gefühle können sich ändern." „Meine nie." O doch, deine auch. Sobald er feststellte, was für eine unsichere und unzuverlässige Person sie war, würde er anders über sie denken. Aber sie brachte kein Wort heraus. „Nicht, Mariah", sagte er beschwörend, „bitte, das ist kein Grund, alles aufzugeben." „Ich bin von dir zu abhängig gewesen, Nathan", sagte sie leise. „Mein Selbstvertrauen habe ich nur über dich gewonnen. Das ist nicht gut. Ich muss meinen eigenen Weg finden." „Dann versuch es. Aber gib nicht so schnell auf. Du musst Geduld ha ben und dabeibleiben." Sie hörte den Vorwurf aus seiner Stimme heraus. „Ich möchte jetzt nicht mehr darüber reden. Ich bin zu erschöpft." Sie konnte seine Stimme nicht mehr ertragen. „Mariah, bitte, tu's nicht! Ich liebe dich." „Das weiß ich." Sie erinnerte sich an seinen Blick, damals im Kühlraum, als sie sich zum ersten Mal geliebt hatten. Er hatte sie angestrahlt, sie bewundert, sie angebetet. Das war alles viel zu viel für sie. Nicht nur ihre Mutter erstickte sie mit ihrer Liebe. Nathan war genauso. Er erwartete zu viel von ihr. Und sie würde diese Erwartungen nie erfüllen können. Es war schlimm genug, dass sie ihn in der Firma enttäuscht hatte. Sie durfte ihn nicht auch noch in der Liebe enttäuschen. Wieder traten ihr Tränen in die Augen. „Ich liebe dich auch, Nathan."
10. KAPITEL Am nächsten Morgen fand Nathan einen Zettel in seinem Briefkasten, in den sein Hausschlüssel eingewickelt war. Mein Liebster, ich kann nicht der Mensch sein, den Du Dir wünschst, und ich kann nicht mit der Vorstellung leben, Dich ständig zu enttäuschen. Manchmal ist Liebe nicht genug. Und manchmal ist sie zu viel. Bitte, kümmere Dich um Maynard, bis meine Eltern wiederkommen. Dann schrieb Mariah noch irgendetwas von Wertpapieren, die sie verkaufen wollte, um einige der Verluste abzudecken. Und dass sie ihren Eltern eine Nachricht hinterlassen hätte. Das war ja alles schön und gut, aber Nathan konnte einfach nicht glauben, dass sie wieder weggelaufen war. Und dann hatte sie noch den Nerv, das Ganze mit einem Schmetterling zu unterzeichnen. Er knüllte wütend das Papier zusammen. Sie war ihm davongelaufen, wie damals. Diesmal hatte sie ihm immerhin den Hund dagelassen. „Verdammt!" Er holte den armen Maynard ab und wurde mit jeder Minute wütender. Wie konnte sie ihm so etwas antun? Nun schon zum zweiten Mal. War er wirklich so, wie sie ihn schilderte? Versuchte er, sie zu etwas •zu machen, was ihr nicht entsprach? Nein, das tat er nicht. Vielleicht schubste er sie manchmal ein bisschen vorwärts. Aber das brauchte sie. Aufgebracht ging er im Wohnzimmer hin und her. Es musste ihm etwas einfallen, wie er die Situation ändern konnte. Beinahe wäre er über Maynard gefallen, der hereingetrottet kam. Was hatte er denn in der Schnauze? Es war das kleine Porträt, das er von Mariah gemalt hatte. „Komm her. Gib es mir." Maynard kam gehorsam auf ihn zu und ließ das Bild auf den Boden fallen. Nathan hob es auf. Er war zwar nicht abergläubisch, aber war das nicht ein Zeichen? Zumindest brachte es ihn auf eine Idee. Er würde es nicht hinnehmen wie vor acht Jahren, dass Mariah ihn verließ. Er würde ihr folgen. Glücklicherweise hatte er ihre Adresse in Phoenix. Schnell lief er in sein Schlafzimmer, warf ein paar Sachen in die Reisetasche, pfiff nach dem Hund und fuhr das Auto aus der Garage. Er würde Mariah dazu bringen, zu begreifen, wo ihr Platz war. Sie musste sich eingestehen, was sie für ihn empfand und was sie einander bedeuteten. Vor acht Jahren hätte es nicht funktioniert, sie war damals noch zu jung' aber jetzt war sie eine erwachsene Frau. Sie liebte ihn und hatte lediglich Angst. Er würde ihr helfen, mit dieser Angst fertig zu werden. Diesmal würde er nicht kampflos aufgeben. Er war schon eine Stunde unterwegs, als ihm klar wurde, wie albern das ganze Unternehmen war. Das hier war schließlich nicht Hollywood, es war kein rührseliger Liebesfilm, in dem sich der Liebhaber die Geliebte einfach über die Schulter warf und mit ihr ins Happy End fuhr. Auch wenn es ihm gelang, Mariah zu überreden, mit ihm zu kommen, was höchst unwahrscheinlich war, dann wäre sie nicht davon überzeugt, dass es das Richtige für sie war. Sie musste selbst zu dem Schluss kommen, dass ein Leben mit ihm und die Arbeit bei „Cactus Confections" das war, was sie glücklich machte. Sie liebte ihn, das wusste er. Aber sie musste endlich ihren eigenen Wert erkennen. Und er hatte auch schon eine Idee, wie er sie dazu bringen konnte. Er fuhr die Abfahrt nach Tucson ab und hielt vor dem nächsten Postamt. Das kleine Porträt steckte er in eine wattierte Tüte und schickte es per Express an Mariah. Sie würde verstehen, was er damit meinte. Diesmal musste sie zu ihm zurückkommen. Das war Teil eins. Teil zwei würde er in wenigen Tagen in Angriff nehmen. Er musste mit Dave noch ein paar Sachen durchgehen, und dann würde er sich auf die Reise machen. Er wollte unbedingt seine Mutter besuchen. Dieses ganze Therapiegefasel hatte ihn dazu ge-
bracht, mehr über sie nachzudenken. Und dabei war ihm aufgegangen, wie viel er ihr doch zu verdanken hatte, wie sehr er an ihr hing und dass es vieles gab, über das sie sprechen mussten. Er wollte auch sein Saxofon mitnehmen und war sicher, dass sie sich über seine Fortschritte freuen würde. Er würde so lange wegbleiben, bis Mariah endlich wusste, was sie wollte. Und sie musste erfahren, dass Dave mit allem allein dastand. Vielleicht sollte Dave Mariah anrufen und sie um Hilfe bitten. Das Ganze war nicht ohne Risiko, und es fiel Nathan schwer, Mariah so lange nicht zu sehen. Aber er hatte schließlich acht Jahre auf seinen Schmetterling gewartet. Da kam es auf ein paar Wochen auch nicht mehr an. „Telefon für dich!" Nikki reichte Mariah den Hörer. „Kennst du eine Leonore oder so? Sie hört sich fürchterlich nervös an." Leonore? Was wollte Leonore denn von ihr? Es hatte Mariah einen kleinen Stich versetzt, dass nicht Nathan am Telefon war, aber sie sollte ihn eigentlich gut genug kennen, um zu wissen, dass er sie nicht anrufen würde. Er hatte ihr das kleine Porträt geschickt, wohl ein Abschiedsgeschenk. Verständlich, dass er durch nichts mehr an sie erinnert werden wollte. Er hatte aufgegeben. Es war vorbei. Aber sie würde es schon überwinden. Sie war wieder da, wo sie hingehörte, bei ihrer Freundin Nikki, die sie in allem verstand. Und einen Job hatte sie auch schon. Exklusive Kosmetikprodukte an Boutiquen verkaufen, das würde ihr sicher Spaß machen. „Hallo?" „Entschuldige, dass ich dich so einfach anrufe", sagte Leonore ge hetzt, „aber der Basar ist nächste Woche, und wir brauchen dafür unbedingt diese Willkommenschilder, die du basteln wolltest." „Die habe ich nebenan bei Mary gelassen. Sie hat versprochen, sie fertig zu machen." „Na, Gott sei Dank. Ich werde sie bei ihr abholen." „Wie geht es denn in der Firma?" platzte Mariah heraus. „So einigermaßen. Der arme Dave reibt sich auf, seit Nathan weg ist." „Nathan ist weg? Seit wann das denn?" „Ja, mein Kind. Ich dachte, du wüsstest das, weil ihr doch quasi, na ja, weil ihr doch etwa zur selben Zeit die Stadt verlassen habt. Ich war so traurig, dass es zwischen euch nicht geklappt hat, auch weil ..." „Aber wo ist Nathan denn jetzt?" Mariah konnte es nicht glauben, dass Nathan „Cactus Confections" einfach so sang- und klanglos verlassen hatte. „Ich habe keine Ahnung. Ich habe nur am ersten Tag gehört, wie Dave vor sich hinfluchte. Er war furchtbar sauer auf Nathan und meinte, er würde auch gern mal auf einem schweren Motorrad eine Fahrt ins Blaue machen. Und dass es verantwortungslos sei, ihn hier nun mit allem sitzen zu lassen." Dann war Nathan wirklich mit einem Motorrad losgefahren, wie er es vorgehabt hatte? Wann hatte er sich das denn gekauft? „Wer macht denn nun seine Arbeit?" Es sah Nathan gar nicht ähnlich, einfach abzuhauen. „Im Grunde Dave, aber der ist nicht glücklich darüber. Er ist schlecht gela unt, hasst es, Entscheidungen zu fällen und fühlt sich ständig überfordert. Ich hoffe, wir schaffen es noch bis nächste Woche, dann ist dein Vater ja wieder da. Aber mach dir keine Gedanken, Kind. Du musst tun, was du für richtig hältst." „Sicher", sagte Mariah leise. „Ich bin froh, dass du mich verstehst." Dann bat sie Leonore noch, sie wieder anzurufen, sofern sich die Schilder nicht auffinden ließen, und legte auf. „Du liebe Güte!" Mariah ließ sich auf den nächsten Stuhl fallen und stützte den Kopf in die Hände. Ende nächster Woche würden ihre Eltern wiederkommen und ein Desaster vorfinden. Nathan war nicht da und sie auch nicht. Es war entsetzlich. Der arme Dave. Er wollte die Firma nicht führen, und er konnte es auch nicht. Und ihr Vater wollte sich vom Geschäft
zurückziehen. Und nun musste er doch weiterarbeiten. Zumindest, bis man einen Ersatz für Nathan gefunden hatte. „Was ist denn los?" fragte Nikki. „Du siehst aus, als wäre der Himmel gerade über dir eingestürzt." „So ähnlich ist es auch. Natha n ist nicht mehr in der Firma." „Was? Mister Verantwortung hat das Handtuch geschmissen und ist abgehauen? Er muss ja total ausgeflippt sein." „Ja." Ihretwegen. „Und was wirst du jetzt tun? Ihn suchen?" Sie und Nathan hatten die Firma in einem desolaten Zustand zurückgelassen. Das war nicht richtig. „Ich gehe wieder nach Copper Corners." „Was?" „Ich muss zurückgehen und alles halbwegs in Ordnung bringen." Man hatte ihr vertraut, und sie hatte die Leute im Stich gelassen. Sie musste versuchen, das wieder gutzumachen. Und jetzt, wo Nathan nicht mehr da war, brauchten sie sie umso dringender. Sie konnte Dave nicht mit allem allein lassen. „Aber ich denke, länger als ein halbes Jahr willst du nicht ...?" „Das ewige Jobwechseln kann auch zur Routine werden." „Donnerwetter!" sagte Nikki und strahlte sie an. „Ich bin sehr stolz auf dich. Komm, ich helfe dir packen. Allerdings nur unter der Bedingung, dass du diese grässlichen Sachen nicht mitnimmst, die deine Mut ter dir gekauft hat. Lass dich bloß nicht unterdrücken. Bleib einfach du selbst." „Ganz bestimmt. Danke, Nikki, dass du mich daran erinnerst. Und dass du eine so tolle Freundin bist." Sie umarmte die Freundin lange. Beide wussten, wie wichtig ihre Freundschaft war. Dann packten sie Mariahs Sachen zusammen und trugen sie zum Auto. „Pass auf dich auf." „Du auch!" Auf dem Weg nach Copper Corners geriet Mariah in Panik, und zwei Mal wäre sie fast umgekehrt. Aber sowie sie auf den Betriebshof von „Cactus Confections" einbog, überkam sie eine tiefe Ruhe. Es war viel [zu tun, und sie war die Einzige, die für diese Arbeit in Frage kam. Sie ging gleich in die Produktionsräume. Als Dave Woods sie sah, riss er die Augen auf. „Was? Sie sind schon da? Ich habe doch gerade erst eine Nachricht auf Ihrem Anrufbeantworter hinterlassen." „Ich habe so meine Quellen", sagte sie. Er grinste. „Also, wo soll ich anfangen?" „Überall. Die Firma ist beinahe den Bach runtergegangen, seit Sie weg sind." Diesmal ließ Mariah sich nicht von ihrem schlechten Gewissen oder von Ängsten und Zweifeln aufhalten. Sie fing einfach an. Vielleicht, weil man sie brauchte. Vielleicht, weil weder Nathan noch ihre Eltern da waren, die sie enttäuschen konnte. Sie hatte keine Angst mehr vor dem, was vor ihr lag. Sie würde ihr Bestes tun. Und wenn das nicht genug war, dann hatte sie es wenigstens versucht. Drei Wochen später blickte Mariah vom Computerbildschirm hoch und stellte fest, dass es bereits dämmerte. Sie hatte wieder die Zeit vergessen. Ihr Schreibtisch stand nach wie vor in Nathans Büro, das sie ziemlich so gelassen hatte, wie es war. Sie hatte lediglich ein paar hübsche Drucke an die Wand gehängt, hatte ein paar Pflanzen im Raum verteilt und hatte das kleine Porträt, das Nathan gemalt hatte, ins Regal neben den großen Kristall gestellt. Es erinnerte sie an das, was sie verloren hatte, aber es erfüllte sie auch mit Hoffnung. Sie hatte in den letzten drei Wochen hart gearbeitet. Dave war ihr dabei eine große Hilfe
gewesen. Im Grunde hatte sie sich nicht verändert. Sie hatte nur festgestellt, dass sie mehr Fähigkeiten hatte, als ihr bewusst gewesen war. Und Nathan hatte auch noch in einem anderen Punkt Recht gehabt. Arbeit, die einen forderte, wurde nicht langweilig. Mariah wünschte sich, Nathan könnte sie sehen. Sie war ihm so dankbar, dass sie durch ihn die Chance erhalten hatte, ihre eigenen Möglichkeiten kennen zu lernen. Sie ging davon aus, dass er sich melden würde, wenn er wusste, was er in Zukunft tun wollte, doch sie hoffte noch immer, dass er zurückkommen würde. Und wenn er sich nun in eine andere Frau verliebt hatte? Schon bei dem Gedanken fühlte Mariah sich ganz elend. Aber vielleicht dachte er auch noch an sie und sehnte sich nach ihr? Oder war er immer noch wütend? Das Telefon klingelte. „Denkst du auch an die Chorprobe heute, Liebes?" Ihre Mutter. Mariah seufzte leise. Sie hatte sich nun doch breitschlagen lassen, im Chor mitzusingen, aus schlechtem Gewissen heraus. Ihre Eltern waren natürlich entsetzt gewesen, in welchem Zustand die Firma war, vor allem aber, dass Nathan verschwunden war. Nach einem Gespräch mit Dave hatten sie sich jedoch wieder beruhigt. Mariah war froh, dass sie sie nicht auf Nathan angesprochen hatten, das hätte sie nicht ertragen. Sie sah auf die Uhr. „Kann ich die heutige Probe nicht mal ausfallen lassen?" „Nein, diese Probe heute auf keinen Fall." „Na gut." Sie wusste, sie hätte hart bleiben sollen, aber in letzter Zeit war ihr das alles nicht mehr so wichtig. Wenn sie ihrer Mutter damit eine Freude machen konnte ... Draußen auf dem Parkplatz sah Mariah sich noch einmal um. Ja, das hier war ihr Zuhause, hier fühlte sie sich wohl, hier wurde sie gebraucht. Sie wollte gerade in ihr Auto steigen, als unmittelbar neben ihr ein Wagen hielt. Nathan stieg aus. „Nathan, um Himmels willen, was machst du denn hier?" „Wir müssen miteinander reden. Bitte, steig ein." Er versuchte, ernst auszusehen, konnte aber ein breites Grinsen kaum unterdrücken. „Gut." Mariah stieg ein. „Nathan, ich ..." „Darf ich zuerst was sagen, bitte? Bevor ich den roten Faden wieder verliere." Er schien so glücklich zu sein, sie wieder zu sehen, dass ihr ganz leicht ums Herz wurde. Mariah nickte, und Nathan fuhr los. „Ich liebe dich, Mariah. Und du liebst mich. Das braucht dir keine Angst zu machen. Du hast doch auch deine Angst vor der Verantwortung in der Firma verloren. Dave meint übrigens, du machst dich sehr gut." Er räusperte sich. „Es wird nicht immer einfach sein, aber Liebe kann alles überwinden. Und ich vertraue dir. Und du weißt doch jetzt, dass du es kannst, oder? Du hast die Firma aus eigener Kraft wieder auf Vordermann gebracht, ganz ohne meine Hilfe." Er bog auf den Parkplatz neben der Kirche ein. „Woher weißt du, dass ich heute Chorprobe habe?" Er sah sie nur an. „Darf ich nun was sagen?" fragte sie. Nathan nickte. „Du hast Recht, Nathan. Ich hatte Angst, du hättest dir ein Bild von mir gemacht, das mit mir nicht viel zu tun hat." „Falsch, Mariah. Erinnerst du dich noch, dass du mich gefragt hast, wie ich mir meine Traumfrau vorstelle?" Sie senkte den Kopf. „Ich sagte, sie muss ein großes leidenschaftliches Herz haben, sie muss mich zum Nachdenken bringen, und ich muss mit ihr lachen können. Sie wäre die Frau, auf die ich mich jeden Abend freue, wenn ich von der Arbeit nach Hause komme, weil ich ihr Gesicht sehen und ihre Stimme hören möchte, wenn sie mir erzählt, wie ihr Tag war. Und diese Frau bist du, Mariah. Willst du mich heiraten?" „Du willst mich heiraten? Ein zweites Mal?"
„Ich weiß, du hältst dich für einen flatterhaften Schmetterling. Aber selbst Schmetterlinge müssen sich manchmal ausruhen, müssen einen Partner haben, um kleine Schmetterlingsbabys in die Welt zu setzen, ich meine, kleine Raupen ..." „Willst du damit sagen, dass ich mit dir leben und trotzdem so bleiben kann, wie ich bin? Dass du mich immer lieben wirst, auch wenn meine Flügel ihren Glanz verloren haben?" Wieder nickte er. „Dann will ich dich heiraten." „Dem Himmel sei Dank!" Nathan stieß die Wagentür auf, stürzte zur Beifahrertür und half Mariah heraus. „Was hast du? Die Probe ist doch jetzt nicht so wichtig!" Nathan zog sie wortlos die Stufen zur Kirche hinauf und drückte die Flügeltür auf. Drinnen im Foyer stand ihre Mutter. Über ihre Arme war ein Brautkleid ausgebreitet. Hinter ihr stand Abe und hielt Nathans Smoking bereit. Und die halbe Stadt war in der Kirche versammelt. „Was ist denn hier los?" Mariah sah Nathan fragend an. „Wir heiraten. Bevor du es dir wieder anders überlegst." „Und wenn ich nun Nein gesagt hätte?" „Dann hätte dein Vater sein Gewehr aus dem Schrank geholt." Ihr Vater grinste. „Die Idee mit dem Gabelstapler war doch auch nicht schlecht, oder?" „Du warst das also doch! Dann hattet ihr euch alle gegen mich verschworen?" Sie wandte sich zu Nathan um. „Sieh mich nicht so an, ich bin unschuldig. Ich bin lediglich dafür verantwortlich, dass du dich allein bei ,Cactus Confections' durchkämpfen musstest." „Oh, Nathan, ich liebe dich so!" Mariah stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn ein Schmetterling, der sich endlich sicher und geliebt fühlte. - ENDE -
Im Bett mit Nikki
Dawn Atkins
Tiffany Lieben & Lachen 14 – 95/03
Gescannt von almut K. Korrigiert von claudiaL
1. KAPITEL „Wie stellst du dir das vor? Ich habe eine Punkfrisur mit rosa Spitzen. Außerdem vier Ohrringe im rechten Ohr." Nikki Winfield klemmte sich den Telefonhörer zwischen Kinn und Schulter und arbeitete weiter an ihrer Skizze. „Meine Mutter fällt in Ohnmacht, wenn sie mich so sieht. Keine Chance, Mariah. Ich komme nicht zum Klassentreffen. Basta." „Stell dich nicht so an, Nikki, ich bin doch deine beste Freundin", bettelte Mariah Goodman. Nach acht Jahren in Phoenix, Arizona, war sie vor einiger Zeit wieder nach Copper Corners, der kleinen Stadt, in der sie und Nikki aufgewachsen waren, zurückgekehrt. „Wir werden unseren Spaß haben und stellen die Stadt auf den Kopf wie in alten Zeiten. Erinnerst du dich noch, wie wir die Puppen für den Erste Hilfekurs im Sprechzimmer der Schulkrankenschwester so aufgebaut haben, dass es aussah, als würden sie es gerade miteinander treiben?" „Klar. Mein Vater hat uns danach eine Woche vom Unterricht ausge flossen." „Wir waren damals noch halbe Kinder. Unsere Eltern verstehen das schon." „Deine vielleicht. Meine sind da immer noch empfindlich. Kein Wunder, als Schulleiter und Lehrerin." „Du bist doch seit Jahren nicht mehr zu Hause gewesen." „Das ist auch gut so. Meine Eltern glauben, dass ich ein ruhiges, glückliches Leben führe." „Tust du doch auch. Du hast sogar dein eigenes Studio." „Ich bin Tattoo-Künstlerin, Mariah. Meine Eltern kriegen vermutlich schon einen Anfall, wenn sie nur das Wort hören." „Aber deine Kunden sind doch interessante Menschen. Du hast dich schließlich auf NewAge-Tätowierungen und Ähnliches spezialisiert. Und finanziell geht es dir gut. Das ist doch fabelhaft." „Meine Eltern würden das sicher nicht so sehen und die braven Bür ger von Copper Corners auch nicht." „Seit wann bist du feige? Wo ist dein rebellischer Geist geblieben?" fragte Mariah. „Hat sich in den letzten zehn Jahren wohl abgeschliffen", sagte Nikki langsam. In letzter Zeit hatte sie ab und zu darüber nachgedacht, ob sie sich nicht besser einen normalen Job suchen sollte, mit einem festen Einkommen. Vielleicht hatte sie sich ein Leben ausgesucht, das auf Dauer zu anstrengend war. „Bist du sicher, dass du nicht kommen willst?" „Ganz sicher." „Na gut." Mariah zögerte, und Nikki wusste, dass die Freundin noch nicht aufgegeben hatte. „Weißt du eigentlich, dass Brian Collier sich scheiden lässt?" fing Mariah wieder an. „Wirklich?" „Ja. Die Papiere hat er schon eingereicht. Und er hat neulich nach dir gefragt. Er kam in unseren Laden. Angeblich, um Marmelade zu kaufen, aber in Wirklichkeit wollte er nur herausfinden, ob du zum Klassentreffen kommst." „Das glaube ich kaum." Nikki war rot geworden. Brian war damals der beliebteste Footballspieler auf ihrer High School, und die Mädchen waren alle hinter ihm her. Umso überraschter war Nikki, dass er sich aus gerechnet für sie interessierte, die verrückte Möchtegern-Künstlerin. Aber ihr Glück hatte nicht lange gedauert. Er hatte sie wegen Heather Haver fallen lassen, einem Mädchen aus der Cheerleader-Truppe. Cheerleader und Footballspieler, das war ein solches Klischee, dass Nik ki beinahe gelacht hätte, als sie die beiden das erste Mal beim Knutschen erwischt hatte. Aber es hatte sie trotzdem sehr getroffen. „Ach, komm doch, Nikki", bat Mariah, „gib dem Mann noch eine Chance." „Lieber nicht."
„Copper Corners ist wirklich nicht mehr so spießig wie früher. Wir ha ben jetzt sogar einen Karaokeclub und eine Kunstgalerie." „Jetzt greifst du schon nach Strohhalmen." „Nein. Glaub mir, die Stadt hat sich verändert." „Du hast dich verändert, Mariah. Du hast deine große Liebe dort gefunden und einen Beruf, der dich ausfüllt. Du lebst jetzt gern in Copper Corners und hast sogar deine eigene Firma." „Wir stellen Süßigkeiten her, Nikki. Das ist nun wirklich nicht die Welt." „Wetten, dass du in diesem Moment ein klassisches Kostüm trägst?" Schweigen. Dann sagte Mariah: „Kleidung ist doch unwichtig." „Das war sie früher aber nicht für uns. Wir fanden Kleidung immer sehr symbolträchtig. Eine Spiegelung des inneren Selbst. Bloß nicht konform gehen." Das kam ihr jetzt selbst albern vor, aber damals hatten sie beide daran geglaubt. Sie hatten sich die wildesten Kombinationen ausgedacht, aus den unmöglichsten Materialien, und dazu verrückten Schmuck getragen, den sie selbst gebastelt hatten. All das und ihr unkonventionelles Verhalten sollte etwas über sie aussagen. „Ich habe mir was Ordentliches angezogen, weil ich einen Termin beim Steuerberater hatte", verteidigte sich Mariah. „Was ist dabei, wenn ich mich zu bestimmten Gelegenheiten entsprechend anziehe? Du machst das doch sicher auch, oder?" „Eigentlich weniger." Nikki ließ ihren Blick über ihr knappes Ledertop und den kurzen Rock aus küns tlichem Leopardenfell gleiten. „Mir wür de es sehr viel schwerer fallen als dir, nach Copper Corners zurückzukehren." Vor fast zwei Jahren war Mariah aus der Wohnung in Phoenix ausge zogen, die sie gemeinsam mit Nikki bewohnt hatte. Sie war in ihre Heimatstadt zurückgekehrt, um ihren Exverlobten davon zu überzeugen, seine Stellung als Manager der Bonbonfabrik ihrer Eltern nicht aufzugeben. Dann aber hatte sie sich wieder in den Mann verliebt, hatte ihn ge heiratet und leitete die Firma jetzt gemeinsam mit ihm. Ein glücklicher Lebensweg war ihr vorgezeichnet. Nikki wusste, ihr eigenes Leben würde nicht so glatt verlaufen. „Wieso sollte es dir schwerer fallen?" meinte Mariah. „Glaub mir, ich weiß es." Nikki hatte keine Ahnung, wie ihre Zukunft aussah, aber in Copper Corners würde Sie ganz bestimmt nicht stattfinden. „Brian sieht immer noch toll aus", fing Mariah wieder an. „Keine Spur von Bauch. Und er war ganz fasziniert, als ich ihm von dir erzählte." „Du hast ihm hoffentlich nicht die Wahrheit gesagt?" „Nein. Aber als ich behauptete, du wärst verheiratet, war er so verstört, dass er einen ganzen Karton von einer Marmeladensorte kaufte, die er eigentlich gar nicht wollte." „Er war verstört? Wie süß." Nikki sah auf, als die Türglocke ging. Eine junge Frau mit einem entschlossenen Gesichtsausdruck trat ein. „Mariah, ich habe Kundschaft." „Du kommst doch, oder?" Nikki bedeutete der jungen Frau, sich auf den Stuhl ihr gegenüber zu setzen. Sie zog die große Mappe mit Tätowierungsvorschlägen aus dem Regal und reichte sie der Kundin. „Ich muss Schluss machen, Mariah." „Du kannst auch mein schwarzes Spitzenbustier ausleihen ..." „Nein, danke." „Nikki..." „Bis bald." Nikki legte den Hörer auf. „Entschuldigen Sie." Sie lächelte das Mädchen aufmunternd an. „Was kann ich für Sie tun?". „Ich möchte mich tätowieren lassen." Sie kicherte nervös. „Warum wäre ich sonst wohl
hier? Also, meine Freundin Jeannie hat gesagt, dass Sie wirklich gut sind." „Jeannie? Warten Sie, wollte sie nicht das Einhorn mit der Regenbogenmähne?" „Ja. Es sieht toll aus." Nikki lächelte zufrieden. „Es passt zu ihr." „Jeannie hat gesagt, dass Sie für jeden das richtige Motiv finden. Nach der persönlichen Ausstrahlung oder so ..." „Ja, das stimmt. Wollen Sie wissen, was für Sie das Passende ist?" Das Mädchen nickte stumm. „Zeigen Sie mir Ihre Hände." Nikki ergriff die Hände des Mädchens. Sie waren feucht und kalt. Sie sah ihr ins Gesicht und fragte sich, weshalb die Kleine nur so nervös war. „Und wer sind Sie?" „Wer ich bin? Sie meinen, wie ich heiße? Also, ja - ich heiße Le... Linda." Falscher Name, dachte Nikki. „Okay, Linda. Mal sehen, wie es um Sie steht." Nikki legte die Hände des Mädchens flach auf ihre eigenen Hand flächen, schlug leicht von unten dagegen und hielt dann wieder still. Dabei schloss sie die Augen und atmete tief ein und aus, wobei ihre Ohr ringe leise klimperten. Das Mädchen lehnte sich vor. „Was ist? Was sehen Sie?" Nikki hielt den Atem an. Sie sah ein Bild vor ihrem inneren Augen, erst undeutlich, dann klarer, dann wieder undeutlich, bis es vollkommen verschwand. Sie zog ihre Augenbrauen zusammen. „Was ist?" fragte Linda wieder. „Sehen Sie was, das zu mir passt? Vielleicht eine Sonne oder den Mond? Ein Einhorn sicher nicht, eher schon einen Leoparden." „Pscht", machte Nikki. Ein sehr undeutliches Bild erschien wieder vor ihren Augen. „Am liebsten hätte ich Xena, die Kämpferin", fuhr Linda leiser fort. „Vielleicht am besten auf der Schulter?" Dann fühlte Nikki es eher, als dass sie es sah. Das undeutliche Bild verschwand wieder, und was sie spürte, war ein eindeutiges Nein zu einer Tätowierung. Es konnte nicht deutlicher sein. Linda war noch nicht so 1 weit, würde es vielleicht nie sein. Sie musste es ihr vorsichtig beibringen. Nikki öffnete die Augen und tätschelte dem Mädchen die Hand. „Ich habe erkannt, dass du noch nicht ganz bereit bist, dich tätowieren zu lassen. Tut mir Leid." „Was meinen Sie damit? Natürlich bin ich bereit." „Eine Tätowierung behält man für sein ganzes Leben." „Deshalb will ich sie ja." Linda biss die Zähne zusammen und senkte den Blick. Nikki sah ihr aufmerksam ins Gesicht. „Was ist denn los?" fragte sie leise. „Warum bist du zu mir gekommen? Warum willst du unbedingt ein Tattoo?" „Ich möchte damit etwas aussagen, okay? Etwas über mich." „Und warum?" „Zum einen bedrängt mich mein Freund. Aber schlimmer noch ist mein großer Bruder. Er kritisiert dauernd an mir herum: Sitz gerade, bring bessere Zensuren nach Hause, denk an deine Zukunft uns so weiter und so fort. Ich bin schließlich neunzehn Jahre alt. Ich kann durchaus selbst auf mich aufpassen, ohne dass er sich ständig einmischt." „Ich kann das gut nachempfinden." Nikki lächelte. „Ich habe eine ältere Schwester, die ist die Perfektion in Person, und sie gab mir auch keine Chance, selbstständig zu sein." „Haben Sie sich tätowieren lassen?" „Ja, aber bei mir war das etwas anderes." Nikki seufzte. Sie war auf sich gestellt gewesen und wollte sich mit der Tätowierung Mut machen. Lindas Rebellion war offensichtlich nur vorübergehend. „Meine beste Freundin und ich sind, von zu Hause weggelaufen, als wir siebzehn waren, und ..." „Wirklich?" unterbrach Linda sie aufgeregt. „Vielleicht sollte ich das auch machen. Vielleicht sollte ich einfach mit dem College aufhören und woanders neu anfangen."
„Nein, davon kann ich dir nur abraten. Ich war damals viel zu jung und hatte große Schwierigkeiten. Ich hatte noch nicht einmal einen High-School-Abschluss und musste eine Reihe von miesen Jobs annehmen. Ich habe schließlich den Abschluss in Abendkursen nachgeholt, aber ..." „Und jetzt haben Sie dieses tolle Studio." Nikki sah sich lächelnd in ihrem Laden um. Er hatte eine ganz besondere Atmosphäre. Sie war stolz auf „True to You Tattoos". Die Auslage war mit glitzernden Kristallen dekoriert, und Fotos von ihren besten Tätowierungen hingen an den Wänden. Exotische Pflanzen und duftende Kräuter in hübschen Tontöpfen, dazu Hängekörbe mit Rankgewächsen gaben dem Raum Wärme und Leben. Es duftete nach Kerzen und Räucherstäbchen. „Ich habe einfach Glück gehabt." „Kann sein, aber das richtige Tattoo wird auch mir Glück bringen." Davon war Linda überzeugt. „Wie wär's, wenn du erst einmal mit deinem Freund und deinem Bruder sprichst?" Das Mädchen tippte ungeduldig auf ihre Schulter. „Xena, bitte." „Weißt du was? Ich kenne ein tolles Studio, das auf Tätowierungen mit Henna spezialisiert ist. Sie halten etwa einen Monat, wenn man aufpasst. Auf diese Weise kannst du ausprobieren, ob eine Tätowierung wirklich das Richtige für dich ist." „Glauben Sie wirklich, dass ich für ein richtiges Tattoo noch nicht geeignet bin?" „Ja." Wenigstens wurde Linda schon unsicher. „Aber sehen die Henna-Tätowierungen auch echt aus?" „Absolut. Und wenn du dich dann später zu einer echten Tätowierung entschließt, dann mache ich dir einen Sonderpreis." „Also, ich weiß nicht ..." „Xena gibt es dann immer noch." Schließlich seufzte Linda. „Na gut, schreiben Sie mir die Adresse auf Ich weiß allerdings nicht, wie Sie es schaffen, im Geschäft zu bleiben, wenn Sie die Leute, die sich tätowieren lassen wollen, wieder wegschicken." „Das frage ich mich manchmal auch." An manchen Tage kam es Nikki so vor, als schickte sie mehr potenzielle Kunden weg, als sie annahm. Aber sie hatte ihre Prinzipien, von denen sie nicht abwich. Sie schrieb die Adresse auf und gab sie Linda. „Bevor du eine solche Entscheidung triffst, solltest du vielleicht ernsthaft mit den beiden Männern reden." Das Mädchen rollte nur mit den Augen. „Sie kennen meinen Bruder nicht." Nachdem Linda gegangen war, versuchte Nikki ein paar neue Tattoos zu skizzieren, die ihr im Kopf herumgingen. Aber sie konnte sich nicht konzentrieren, weil sie immer an das denken musste, was Mariah gesagt hatte. Sie entschloss sich, eine Pause zu machen, ging zur Tür, schloss ab und hängte das Schild „Bin in einer Stunde zurück" ins Fenster. Ihre Wohnung schloss direkt an den Laden an. Nikki machte sich einen Salat, aber sie nahm kaum den Geschmack wahr, so sehr war sie in ihre Gedanken vertieft. Ihre Freundin kannte sie einfach zu gut. Das, was Mariah ihr über Brian Collier erzählt hatte, ließ Nikki keine Ruhe. Sie hatte ihn und ihre Enttäuschung nicht vergessen. Damals hatte sie geglaubt, dass er sie wirklich verstand, dass ihm ihr Stil und ihre Ideen gefielen. Aber damit hatte sie ihn wohl überfordert, denn Heather brauchte nur mit den Fingern zu schnippen, und schon lief er mit fliegenden Fahnen zu ihr über und ließ Nikki fallen wie eine heiße Kartoffel. Das hatte sie damals ziemlich verunsichert. Sie hatte Mariah nie etwas davon gesagt, denn die war fest davon überzeugt, dass ein konventionelles Leben oberspießig war. Aber Nikki hatte sich damals schon gefragt, ob das Leben frei von allen Konventionen wirklich so erstrebens wert war, wie immer behauptet wurde. Wenigstens, was sie anging. Einerseits würde sie sehr gern zu dem Klassentreffen gehen. Es wäre zu schön, die braven Bürger wieder einmal so richtig zu schockieren, andererseits schien ihr so ein Verhalten heute
kindisch zu sein. Außerdem würde es ihre Eltern in Verlegenheit bringen. Als sie ihr Zuhause mit siebzehn verlassen hatte, voller Zorn und Verachtung für die Konventionen und stolz auf ihren Mut, da war ihr die Enttäuschung ihrer Eltern vollkommen gleichgültig gewesen. Sie wollte frei sein und hatte sich kopfüber ins Leben gestürzt. Aber in den folgenden Jahren war ihr bewusst geworden, wie schwer sie es ihnen gemacht hatte. Natürlich hatten sie sie nicht verstanden, und natürlich waren sie zu streng und unflexibel gewesen, aber sie hatten so gehandelt, weil sie ihre Tochter liebten. Und so hatte sie versuc ht, es wieder gutzumachen. Allerdings mit einer Lüge, dachte Nikki etwas unbehaglich. Sie hatte einfach behauptet, das Leben gefunden zu ha ben, das ihre Eltern sich für sie wünschten: Ein ganz normales Leben mit Ehemann und Karriere. Das machte ihre Eltern glücklich und stolz. Immer, wenn das schlechte Gewissen sie überfiel, schwor sie sich, eines Tages wirklich so zu leben. Sowie „True to You Tattoo" aus den roten Zahlen heraus war, würde sie sich einen Ehemann suchen. Er würde so verlässlich und erfolgreich sein wie Warren, ihr fiktiver Ehemann, und er würde sie gerade dafür lieben, dass sie so anders und unberechenbar war. Und dann konnte sie vielleicht auch Copper Corners mal wieder besuchen. Sie würde dort allerdings weiterhin behaupten, dass es sich bei „True to You" um eine ganz normale Boutique handelte, denn auch wenn sie endlich Erfolg hatte, ein Tattoo-Studio war für die spießigen Bürger von Copper Corners viel zu bizarr. Aber wenn sie als erfolgreiche Geschäftsfrau am Arm eines Mannes auftreten würde, wäre das der Beweis für ihre Eltern und die ganze Stadt, dass sie etwas aus ihrem Le ben gemacht hatte. Sekundenlang überlegte Nikki, ob sie nicht doch zum Klassentreffen fahren sollte. Ihr Mann war eben verhindert. Sie würde zu gern den Aus druck auf Brians Gesicht sehen, wenn ihm klar wurde, was er damals verschmäht hatte. Das Telefon klingelte, und sie schreckte hoch. „Du musst sofort nach Hause kommen." Ihre Schwester Donna. Nik ki hatte der Familie nur ihre Privatnummer gegeben, die Post ließ sie an ein Postfach schicken. Auf diese Weise brauchte sie sich keine Sorgen zu machen, dass jemand im Geschäft anrief oder plötzlich vor der Tür stand. „Auch dir einen guten Tag." Nikki sprach mit ihrer älteren Schwester nur dann, wenn sie an Feiertage n oder Geburtstagen in Copper Corners anrief. Seit Donna Kinder hatte, konnte man keine Unterhaltung mehr mit ihr führen, die nicht von den Kindern unterbrochen wurde. „Entschuldige", sagte Donna jetzt ein wenig schuldbewusst. „Wie geht es dir?" „Mir geht es gut, danke." „Du musst nach Hause kommen, Nikki." „Hat Mariah das eingefädelt?" „Mariah?" „Na, sie will doch unbedingt, dass ich zum Klassentreffen komme." „Nein, natürlich nicht. Es geht um Daddy." „Was ist denn los?" „Nikki, er hat einen Herzinfarkt gehabt." „O Gott! Einen Herzinfarkt?" Nikki Hals fühlte sich wie zugeschnürt an. Sie bekam kaum noch Luft. „Wie schlimm ist es denn?" „Ziemlich schlimm." Donna machte eine Kunstpause. „Sie sind nicht sicher, dass er es überleben wird." „Oh nein!" Nikki sank auf den nächsten Stuhl. Ihr war schwindelig. „Aber er ist doch erst fünfundfünfzig." „Ich weiß." Donna schluchzte. Im Hintergrund konnte Nikki wildes Kreischen hören. Ihre Nichte Shelley brüllte irgendetwas. „Gib deiner Schwester sofort das lila Eis, Byron", rief Donna streng.
„Aber ich will es!" jammerte Byron. „Wenn du jemals wieder deine Lieblingssendung sehen möchtest, dann tu, was ich dir sage." „Also, man wird morgen bei Daddy eine Operation durchführen, bei der sie die Adern mit einem kleinen Ballon erweitern. Und er fragt nach dir und Warren." „Er fragt nach mir?" „Ja, und nach Warren. Weil er doch Arzt ist. Er würde gern Warrens Meinung über seinen Gesundheitszustand hören. Allerdings würde er mich umbringen, wenn er wüsste, dass ich mit dir darüber spreche. Mom übrigens auch. Sie wollen nicht, dass du dir Sorgen machst. Sag also nichts." „Ja, okay." Nikki überlegte fieberhaft, was sie machen sollte. Ihr Vater war schwer krank. Und er wollte sie sehen. „Ich muss hier noch ein paar Dinge regeln, jema nden finden, der das ... die Boutique in meiner Abwesenheit betreut." Sie schluckte. „Aber ich glaube kaum, dass Warren sich freimachen kann. Er hat zurzeit wahnsinnig viel im Krankenhaus zu tun." „Dein Vater liegt vielleicht im Sterben, Nikki. Es könnte für ihn wirklich die letzte Möglichkeit sein, deinen Mann kennen zu lernen. Ich warne dich ..." „Drohungen nützen ja nun ..." „Ich meine nicht dich", unterbrach Donna sie, „ich sprach mit Shelley. Nimm sofort den Stiel aus deiner Nase, Kind, sonst setzt es was. Entschuldige, Nikki, ich muss jetzt auflegen." „Aber Donna, ich ..." „Kommt schnell. Bis bald." Nikki legte langsam den Hörer auf. Sie war wie gelähmt. Es konnte doch nicht sein, dass ihr starker Vater einen Herzinfarkt hatte, dass er womöglich im Sterben lag. Donna übertrieb zwar gern, aber so etwas würde sie nicht erfinden. Nikki schlug die Hände vors Gesicht und versuchte nachzudenken. Sie musste ein paar Tage nach Hause fahren. Sie würde einfach sagen, Warren hätte Bereitschaftsdienst. Es war ein Fehler gewesen, Warren zu erfinden. Aber ihre Eltern hatten damals gehört, dass in der Gegend von Phoenix, in der sie lebte, eine Reihe von Überfällen stattgefunden hatten. Ihr Vater hatte sich solche Sorgen um sie gemacht, dass sie kurzerhand einen Freund erfunden hatte, der sie beschützte. Nach einem Jahr dann hatten ihre Eltern immer wieder nachgefragt, wie ernst denn die Beziehung zwischen ihr und Warren sei. Um den Fragen ein Ende zu machen, hatte sie schließlich gesagt, dass sie sich verlobt hätten. Und dann hatte ihre Mutter eines Morgens früh angerufen, als Nikki gerade in der Dusche 'war, und ihr damaliger Freund hatte den Hörer abgenommen. Da war ihr nichts anderes eingefallen, als zu sagen, dass sie in aller Stille geheiratet hätten. Und die Erleichterung in der Stimme ihrer Mutter hatte Nikki davon überzeugt, dass eine kleine Lüge manchmal genau das Richtige war. Aber bei dem Gedanken daran, wie traurig ihre Eltern sein würden, wenn sie die Wahrheit erfuhren, wurde ihr das Herz schwer. Nach einer knappen Stunde ging sie wieder in ihr Studio zurück, und die Kunden lenkten sie für den Rest des Nachmittags von ihren Sorgen ab. Sie tätowierte einen Adler, eine aufgehende Sonne und ein Frie denssymbol. Außerdem redete sie einem jungen Paar, das sich offensichtlich erst vor kurzem kennen gelernt hatte, aus, sich schon jetzt den Namen des Geliebten tätowieren zu lassen. Gegen Abend hängte sie das Schild „Geschlossen" an die Tür, schloss ab und ging in ihre Wohnung hinüber. Sie setzte Wasser für Kamillentee auf und goss ein wenig Lavendelöl in das Schälchen über der Kerze, um sich von den Düften beruhigen zu lassen. Ihr armer Vater. Natürlich musste sie ihn sehen, auch wenn sie sich davor fürchtete. Es war viel einfacher, am Telefon die verheiratete Frau zu spielen, als wenn man jemandem gegenüberstand. Wenn es bloß einen Warren in ihrem Leben gäbe! Bum, bum, bum.
Jemand hämmerte so kräftig an die Studiotür, dass die Scheiben zitterten. Nikki runzelte die Stirn. Konnten die Leute denn nicht lesen? Der Laden war geschlossen. Sie hatte zwar manchmal schon Verliebten nachts Tätowierungen gemacht, wenn die das besonders romantisch fanden, aber heute Nacht war sie dazu nicht in der Stimmung. Egal, ob die Sterne für irgendwelche Leute gerade günstig standen oder nicht.
2. KAPITEL Hollister Marx schlug wieder heftig mit der Faust gegen die Tür. Wer war so verrückt, einer Neunzehnjährigen eine Tätowierung zu verpassen? Er würde darauf bestehen, dass der Kerl für die Entfernung bezahlte, auch wenn Leslie dagegen war. Sie brauchte nur etwas Zeit, um zu erkennen, wie schwachsinnig so eine Tätowierung war. Aber dann wäre es zu spät. Dann würde sie selbst die horrende Summe für die Entfernung durch La ser aufbringen müssen, denn der Typ war dann natürlich längs t über alle Berge. Dieser Gedanke machte Hollister noch wütender. Wieder hämmerte er gegen die Tür. Wo steckte der Kerl? Es war erst halb sieben. Jemand musste doch noch da sein! Er drückte sein Gesicht an die Scheibe und sah in den Raum. Wenigstens sah alles sauber aus. Überall standen Pflanzen und Kerzen. Eigentlich merkwürdig für ein Geschäft, das im Wesentlichen von zwielichtigen Typen, von ehemaligen Sträflingen und von Motorradgangs aufgesucht wurde. Und in so einen Laden war seine arme dumme Schwester geraten. Verdammt! Wenn Leslie doch endlich erwachsen würde. Als er so alt war wie sie, da hatte er seine Karriere schon durchgeplant. Es gab nun einmal einen Punkt im Leben, da musste man sich unvernünftige Dinge aus dem Kopf schlagen und einfach das Richtige tun. Außerdem hatte er wirklich keine Zeit, sie ständig aus irgendwelchen Schwierigkeiten herauszuholen. Er hatte genug mit seiner neuen Praxis zu tun, und jetzt hatte er auch noch Stress mit Rachel. Sie hatten noch nicht mal darüber gesprochen, ob ihre Beziehung etwas Ernsteres war, da war sie schon losgelaufen und hatte Eheringe gekauft. Angeblich, weil sie gerade so günstig waren. Manchmal nervte es ihn, dass Rachel so praktisch dachte. Und seit sie von Heirat redete, konnte er kaum noch etwas für sie empfinden. Er hatte ihr gesagt, dass er mehr Zeit brauchte, und da war sie wütend geworden. Hollister bemerkte, dass jemand aus den hinteren Räumen in den La den kam. Aber statt des über und über tätowierten Schlägertyps mit Bierbauch, den er erwartet hatte, sah er eine zierliche junge Frau auf die Eingangstür zukommen. Sie trug ein Top aus schwarzem Leder, das einen großzügigen Ausschnitt hatte. Ihre Ohrringe glitzerten. Die Frau sah ihn irritiert an. Sie öffnete die Tür einen Spaltbreit. „Wir haben geschlossen." „Ich muss mit Ihnen über eine Tätowierung sprechen." Sie machte die Tür ein wenig weiter auf. „Sie wollen sich tätowieren lassen?" Ihre Stimme klang amüsiert. Wahrscheinlich wirkte er auf sie wie ein Yuppie. Eigentlich sollte ihm das egal sein, aber sonderbarerweise fühlte er sich in seiner gebügelten Khakihose, dem Polohemd und mit seinem sorgfältig gekämmten Haar plötzlich unwohl. „Nein, es geht um meine Schwester." Sie runzelte die Stirn, ließ ihn aber eintreten und wartete mit verschränkten Armen auf eine Erklärung. Trotz seiner Wut konnte er nicht übersehen, wie hübsch sie war, und das trotz des Make-ups, der großen Ohrringe und der Stachelfrisur mit den rosa Spitzen. Das kurze Oberteil betonte ihre runden Brüste und ließ ihren flache n Bauch frei. Sie trug einen kurzen Rock mit Leopardenfellmuster. Diese Frau würde perfekt auf den Rücksitz eines Motorrads passen, dachte Hollis, Er hatte eine Motorradtour geplant, um sich über seine Zukunft mit oder ohne Rachel klar zu werden. Lass dich nicht ablenken, Junge, ermahnte er sich in Gedanken. „Sie haben meine Schwester tätowiert", sagte er streng. „Und?" „Das fragen Sie noch? Sie sieht unmöglich aus, mit dieser Amazone auf ihrer Schulter." „Wie heißt Ihre Schwester?" „Leslie Marx. Sie war heute Nachmittag hier." Das hatte Leslies Freundin Jeannie ihm verraten. Die Frau überlegte einen Augenblick und ein kurzes Lächeln huschte über ihre Züge. Dann schüttelte sie den Kopf. „Ich kann mich an keine Leslie erinnern."
„Wahrscheinlich ist sie ganz anders als Ihre üblichen Kunden. Sie muss ihnen aufgefallen sein. Sie ist Studentin." „Ach, wirklich?" Er konnte sehen, dass er sie gekränkt hatte. Sie sah ihn mit ihren grünen Augen durchdringend an. „Ich habe Ihre Schwester nicht tätowiert." „Vielleicht war es Ihre Assistentin." „Ich habe keine Assistentin. Aber was geht es Sie überhaupt an, was Ihre Schwester mit ihrem Körper tut?" Hollis musste sich zusammenreißen. Schließlich brauchte er die Hilfe dieser Frau. Betont ruhig sagte, er: „Sie können Ihr Geschäft natürlich führen, wie Sie wollen, solange Ihre Kunden nicht minderjährig sind und Sie eine Lizenz vorweisen können." „Ein Tattoo-Künstler braucht keine staatliche Lizenz." „Sie machen wohl Witze." Das war ja wunderbar. Für alles Mögliche musste ma n eine Lizenz haben, als Hundefänger und als Eierprüfer, aber die Verrückten, die mit gefährlichen Nadeln herumhantierten ... „Keine Angst. Es sind Einwegnadeln, und außerdem sterilisiere ich meine Geräte vor jeder Behandlung." „Na gut." Warren war erleichtert. Wenigstens konnte Leslie sich nicht noch zusätzlich etwas geholt haben. Die Narbe später, nach der Laserentfernung, war schon schlimm genug. „Wissen Sie, ich will Ihnen wirklich keine Schwierigkeiten machen. Ich möchte nur meiner Schwester helfen." „Hat sie Sie denn um Hilfe gebeten?" „Sie braucht meine Hilfe. Mehr müssen Sie nicht wissen." „Also gut." Nikki legte den Kopf schief und sah ihn herausfordernd an. „Sieht das Tattoo bräunlich aus?" „Was? Das weiß ich nicht. Wahrscheinlich schon. Und es ist riesig und reicht über den ganzen Hals hinauf. Sie wird nur noch Rollkragenpullover tragen können. Den nächsten Sommer wird sie nicht überleben." „Dann ist es Xena. Und außerdem Henna." „Henna? Xena? Keine Ahnung. Es ist eine Frau mit Reifen um den Oberarm." „Xena." Nikki nickte. „Ich habe Ihre Schwester nicht tätowiert. Aber selbst wenn, was erwarten Sie von mir?" „Sie wird wieder kommen", sagte er. „Und Sie dürfen sie auf keinen Fall noch einmal tätowieren." „Sie muten mir zu, eine potenzielle Kundin abzuweisen?" Hollister war verunsichert. Die Frau schien sich über sein Unbehagen zu amüsieren. „Ja. Ich will Sie auch dafür entschädigen." „Nicht nötig." Die grünen Augen blitzten empört. „Hören Sie, Mr. ... also bei all den Vorwürfen habe ich mir Ihren Namen nicht gemerkt." „Ich heiße Hollister Marx." „Hollister? Das ist zu lang. Also, Hal, ich tätowiere grundsätzlich nie manden, der eigentlich nicht dazu bereit ist. Ihre Schwester war zwar heute Nachmittag hier, sie nannte sich allerdings Linda und nicht Leslie, aber als ich mir ihre Aura ansah ..." „Ihre was?" unterbrach er sie. „Ihre Aura. Ich lasse die Aura meiner potenziellen Kunden auf mich wirken, um herauszufinden, ob sie wirklich eine Tätowierung wollen, und wenn ja, welches Design ihnen am besten entspricht." „Sie machen wohl Scherze." Die Frau war ja vollkommen durchge dreht. Mit Dankbarkeit dachte Hollis plötzlich an Rachel, die bodenständig und vernünftig war, selbst wenn sie häufig unterschiedlicher Meinung waren. „Nein. Und urteilen Sie nicht über Dinge, die Sie nicht verstehen, Hal."
„Ich finde Hollis besser." „Meinetwegen, Hollis." „Gut, fahren Sie bitte fort. Leslies Aura war irgendwie nicht richtig, und deshalb ..." „Ich schlug ihr vor, sich eine abwaschbare Tätowierung machen zu lassen. Haben Sie ihr wenigstens Gelegenheit gegeben, Ihnen das zu erklären?" „Sie hat gar nicht versucht, mir irgendetwas zu erklären." „Das kann ich ihr nicht übel nehmen. Bei Ihrer Einstellung würde ich das auch nicht tun." „Sie sagen, dass diese Zeichnung von allein verschwindet?" „Ja, in ungefähr drei Wochen, vielleicht auch erst in vier, wenn sie vorsichtig damit umgeht." Ein Stein fiel Hollis vom Herzen. „Und Sie haben sich geweigert, sie zu tätowieren?" Die Frau sah ihn nur an. Wenn Blicke töten könnten ... Diese kleine zierliche Person war zwar exzentrisch, aber sie hatte Prinzipien. Er fand sie faszinierend. Und er hatte sich sehr ungeschickt verhalten. „Ich glaube, ich muss Sie um Verzeihung bitten", sagte Hollis ernst. „Ich weiß noch nicht einmal, wie Sie heißen." „Ich heiße Nikki. Und Sie schulden mir mehr als die Bitte um Verzeihung. Ich saß gerade gemütlich bei einer Tasse Tee, als Sie an die Tür hämmerten." „Das ist mir wirklich sehr peinlich. Ich mache mir nur Sorgen um meine Schwester. Sie ist gerade mal wieder in einer ihrer schwierigen Pha sen." Hollis Marx war ein arroganter Typ, das sah Nikki deutlich, aber ihr gefiel, dass er sich um seine Schwester sorgte. „Sie sagt, dass Sie sie wahnsinnig machen." „Das hat Sie Ihnen gesagt?" „Ja. Sie me inte, sie sei schließlich schon neunzehn und in der Lage, ihr Leben zu leben, ohne dass sich dauernd jemand einmischt." „So." Hollis seufzte. „Meine Schwester ist wirklich nicht einfach." Das war milde ausgedrückt. „Es tut mir Leid, dass ich gleich falsche Schlüsse gezogen und Sie gestört habe. Kann ich Ihnen wenigstens Ihre Zeit vergüten?" Er zog seine Brieftasche hervor. Das ist typisch für solche Leute, dachte Nikki enttäuscht. Sie glauben, mit Geld kann man jedes Problem lösen. „Seien Sie nicht so hart mit Ihrer Schwester. Es ist schließlich ihr Leben." „Ich werde daran denken." Er lächelte. „Ich finde es sehr nett, dass Sie Leslie ihren Wunsch nicht erfüllt haben." Hollis sah ihr direkt in die Augen, und Nikki bemerkte überrascht, dass unter all dem gegelten Haar und der konservativen Kleidung ein sehr gut aussehender Mann steckte. Er hatte ein interessant geschnittenes Gesicht und dichtes Haar. Dazu ehrliche Augen. Ein netter konventioneller Mann. So wie sie sich Warren vorstellte. Hollis räusperte sich und sah zu Boden. „Dann will ich Sie nicht länger aufhalten." Er ging ein paar Schritte, blieb dann aber wieder stehen. „Wir haben uns doch richtig verstanden?" fragte er. „Wenn Leslie wie der auftaucht, werden Sie sie doch nicht tätowieren?" Nein, natürlich nicht. Aber die Art und Weise, in der er das sagte, störte Nikki. Als ob er ihr nicht traute. Außerdem machte es ihr Spaß, ihn zu ärgern. „Das hängt von ihrer Aura ab. Wenn die mir sagt, dass eine Tätowierung richtig ist, dann werde ich ihr helfen, ihren Körper zu schmücken." „Aber hören Sie mal! Das ist doch nur eine Laune." „Wenn es so ist, dann werde ich das auch ganz sicher an ihrer Aura erkennen können." „Du liebe Zeit." Er wurde wütend. Nikki sah ihn lauernd an. Was er jetzt wohl sagen würde? Aber er hatte sich in der Gewalt. „Ich werde Ihnen meine Nummer geben", sagte er ruhig. „Bitte, rufen Sie mich an, wenn Leslie hier wieder auftaucht." „Es ist aber trotzdem ihr Körper." „Ich möchte nur mit ihr sprechen, bevor Sie ihr Farbe unter die Haut spritzen. Würden Sie
mir das gestatten?" „Mal sehen." Hollis blieb ruhig. „Haben Sie einen Kugelschreiber?" Sie reichte ihm einen ihrer Tintenstifte. Er nahm eine Visitenkarte aus der Brieftasche, drehte sie um und begann zu schreiben. „Die Nummer vorne ist nicht mehr gültig. Ich ziehe um. Hier ist meine Privatnummer." Er hielt ihr die Karte hin, zog dann aber die Hand wieder zurück. „Allerdings werde ich nächste Woche nicht zu Hause sein. Da gebe ich Ihnen lieber meine Handy-Nummer." Er schrieb auch die auf und reichte ihr dann die Karte. Ihre Blicke trafen sich, und Nikki fühlte, wie sich ihr Puls beschleunigte. „Wo fahren Sie denn hin?" Sie stellte überrascht fest, dass sie nicht wollte, dass er schon ging. „Das weiß ich noch nicht genau. Ich brauche Tapetenwechsel." „Warum?" Er seufzte. „Ich muss über mein Leben nachdenken." Interessant. Was für Probleme konnte Mr. Perfect wohl haben? „Was ist denn geschehen?" „Das wollen Sie eigentlich gar nicht wissen. Rufen Sie mich bitte an." Rufen Sie mich an. Hollis zögerte, und Nikki fragte sich, ob er darüber nachdachte, was er eben gesagt hatte. „Das werde ich tun." Das werde ich wirklich, nahm Nikki sich vor, wenn auch aus ganz anderen Gründen. „Wenn meine Schwester wieder kommt..." „Genau, wenn Ihre Schwester wieder kommt." Sie sahen sich immer noch in die Augen. Endlich löste Hollis den Blick von ihr. „Also dann, vielen Dank." Er wandte sich um. „Viel Erfolg bei Ihren Überlegungen." Nikki sah ihm nach, wie er aus der Tür ging. Dann betrachtete sie seine Visitenkarte. Dr. Hollister Marx, Zahnarzt. Ein Doktor? Nikki schüttelte belustigt den Kopf und dachte: Also wirklich, er könnte glatt Warren sein. Hollis war zwar Zahnarzt, aber er wur de natürlich trotzdem mit seinem Titel angesprochen. Und dann kam ihr ein anderer Gedanke: Wäre es nicht super, wenn sie ihn überreden könnte, mit ihr als Warren nach Copper Corners zu fahren? Wahrscheinlich würde er es nicht tun, aber warum sollte sie ihn nicht fragen? Er wäre der ideale Kandidat, um Warren zu spielen. Wie glücklich würden ihre Eltern sein, wenn sie mit ihm ankäme. Er konnte ihrem Vater vielleicht sogar tatsächlich einen Rat geben. Er hatte sicher mehr Ahnung von Medizin als ein normaler Sterblicher. Außerdem schuldete er ihr einen Gefallen. Nikki lief schne ll zur Tür. „Warten Sie!" „Ja?" Hollis blieb neben seinem Auto stehen. „Ich weiß einen wunderbaren Ort, wo Sie über Ihr Leben nachdenken können." „Ach, wirklich?" Was sollte das jetzt wieder? Sie war jetzt herangekommen. „Ja. Kommen Sie mit mir zu meinem Klassentreffen." „Was?" Hollis schüttelte den Kopf und schloss die Autotür auf. „Ich meine es ernst. Ich brauche einen Begleiter fürs Wochenende." Hollis sah sie ungläubig an. „Sie machen wohl Witze, was?" „Nein, es ist mein Ernst." „Das kann ich doch nicht machen." „Aber Sie haben doch gerade gesagt, Sie hätten keine festen Pläne.' „Wir kennen uns doch gar nicht. Und es wäre ... also, das wäre schon sehr merkwürdig." Er wirkte, als fühlte er sich in die Enge getrieben. „Nein, ganz und gar nicht. Wir hätten wahrscheinlich viel Spaß." Er schüttelte den Kopf. „Danke für das Angebot. Es ist sehr schmeichelhaft, aber ich kann es nicht annehmen." Er öffnete die Fahrertür.
Nikki sah ihn beschwörend an. Er musste doch auch die Spannung zwischen ihnen spüren. Wieso konnte er dann einfach so ablehnen? Oder hielt er sich etwa für etwas Besseres? Sie schob sich geschickt zwischen ihn und das Auto. „Okay, dann muss ich deutlicher werden. Du kommst mit mir zu meinem Klassentreffen, und ich verspreche dir, deine Schwester nicht zu tätowieren." Sie war unvermittelt zum vertraulichen Du übergegangen. Hollis hob die Augenbrauen und starrte Nikki an. „Soll das eine Erpressung sein?" „Nein, so war es nicht gemeint. Du hast mir angeboten, mich für meine Zeit zu bezahlen. Und das ist mein Honorar." Sie verschränkte ihre Arme vor der Brust. „Aber ich glaube nicht... Ich meine ... Das ist doch unmöglich!" Nikki konnte sehen, dass er gar nicht so abgeneigt war. Gut, dann hatte sie wenigstens noch eine gewisse Wirkung auf Männer. „Komm, Hollis, wir werden Spaß haben. Du kommst mal aus allem raus und kannst in Ruhe über dein Leben nachdenken." „So? Kann ich das?" Er musste lächeln. Vielleicht gar nicht so schlecht, der Vorschlag. „Klar, es sei denn, dir fällt noch was Besseres ein." Diesmal leuchteten seine Augen kurz auf. Das klang noch besser. „Also, ich weiß nicht..." „Warum nicht? Was kann schon Schlimmes geschehen?"
3. KAPITEL Es war Freitagnachmittag, als Hollis vor dem Tattoo-Studio hielt, um Nikki abzuholen. Er war sich immer noch nicht so ganz sicher, wie es überhaupt dazu gekommen war. Es hatte wohl damit zu tun, dass Rachel ihm ein Ultimatum gestellt hatte. Er hasste es, wenn ihm jemand die Pis tole auf die Brust setzte. Und Nikki hatte etwas Unwiderstehliches an sich, er konnte ihr ihre Bitte einfach nicht abschlagen. Außerdem würde er ja am Sonntagabend schon wieder von diesem albernen Klassentreffen zurück sein und hatte dann noch ein paar Tage für seine Motorradtour. Wie lange freute er sich schon auf diese kleine Reise! Schon bevor Rachel die Ringe gekauft hatte, hatte er sich vorgenommen, die letzten freien Tage vor seiner Praxiseröffnung zu ge nießen. Er wollte eine Fahrt ins Blaue machen, irgendwo sein Zelt aufschlagen, ausspannen und sich darüber klar werden, ob seine Beziehung mit Rachel überhaupt eine Zukunft hatte. Die Trennung würde ihm gut tun. Vielleicht konnte er für Rachel auch wieder empfinden, was sie zu Anfang ihrer Beziehung verbunden hatte, und er konnte die Entfremdung überwinden, die er seit dem Streit mit ihr empfand. Rachel war ein guter Mensch. Sie fühlte sich durch sein Zö gern verletzt und versuchte, es durch rechthaberisches Getue zu überspielen. Wahrscheinlich war sie unsicher, aber deshalb konnte er sich doch nicht erpressen lassen. Er hatte ihr gesagt, er brauche Zeit, und sie hatte gemeint, sie hätten keine. Ihre biologische Uhr ticke, und sie habe vor, weiterzuarbeiten, sobald die Kinder in die Schule kämen. Er hatte eingewendet, dass sie noch nicht mal zusammen gelebt hatten, und ihr vorgeworfen, sie suche nur einen Vater für ihre Kinder und einen Ernährer. Ein Wort hatte das andere ergeben, und schließlich hatten sie sich sogar angebrüllt. Und dabei wollte er doch nur eine kleine Motorradtour machen. Stattdessen stand er jetzt vor „True to You Tattoos", pünktlich wie versprochen, um mit einer wildfremden Frau zu ihrem Klassentreffen in irgend einem entlegenen Kaff zu fahren. „Was könnte uns denn schlimmstenfalls passieren?" hatte Nikki ge fragt und dabei so verschmitzt gelächelt, als wären ihr sofort diverse Möglichkeiten eingefallen. Es ist ja schließlich nur ein Wochenende, beruhigte er sich. Sie würden in getrennten Zimmern wohnen, und alles würde ganz harmlos ablaufen. Aber warum hatte er dann Rachel nichts davon erzählt? Wahr scheinlich, weil sie ihm nicht abnehmen würde, dass er sich von einer Tattoo-Künstlerin erpressen ließ. Er konnte es ja selbst kaum glauben. Wahrscheinlich sollte er sich auf einige Überraschungen gefasst ma chen. Hollis wurde langsam ungeduldig. Wo blieb sie nur? Ihre Unpünktlichkeit war nicht gerade ein gutes Zeichen. Erst als er zugestimmt hatte, sie zu dem Klassentreffen zu begleiten, war sie damit herausgerückt^ dass dieses Copper Corners vier Autostunden entfernt lag. Er konnte nur noch stumm nicken und hatte eingewilligt, sie zu fahren. Sie brauchte ihn nur mit ihren grünen Augen anzusehen, und schon schien er keinen eigenen Willen mehr zu haben. Irgendetwas an ihr machte ihn misstrauisch. Sie war so voller Leben, so energiegeladen. Sie kleidete sich sehr jugendlich, wie ein Punk, aber Hollis war ziemlich sicher, dass sie etwa so alt sein musste, wie er selbst. Diese Nikki hatte eine enorme Ausstrahlung. Du kannst ein wenig Spaß in deinem Leben gebrauchen, hatte sie ge sagt. Und damit hatte sie nicht Unrecht. Sein Leben hatte in den letzten Jahren im Wesentlichen aus Arbeit bestanden, und er wusste kaum noch, was Vergnügen war. Nikki schien auf dem Gebiet Expertin zu sein. Bei diesem Gedanken wurde ihm heiß, und er musste sich zusammenreißen. Schließlich war er fast verlobt. Er sagte sich, dass er das alles nur für Leslie tat, und er nahm sich vor, dass dies das letzte Mal sein sollte, dass er ihr aus der Patsche half. Er hatte allmählich die Nase voll und keine Lust mehr, den Babysitter für sie zu spielen. Sollte sie selber damit fertig werden, wenn sie
ihre Exa men nicht pünktlich ablegte oder ihr Konto mal wieder überzogen war. Ihretwegen musste er jetzt das Wochenende mit dieser verrückten Frau in Leder verbringen. Er dachte an seine Motorradtour und versuchte sich vorzustellen, wie anders sie wohl ablaufen würde, wenn Nikki hinter ihm auf dem Sozius säße, ihre Arme um seine Taille gelegt und den Körper fest an ihn gepresst. Hollis sah zum Studio hinüber und sah eine fremde Frau aus der Tür kommen. Sie trug eine Einkaufstüte in der einen und eine Reisetasche in der anderen Hand. Die Größe war richtig, aber diese Frau sah aus, als wäre sie einem Journal für Hausfrauen entsprungen. Sie trug ein ge blümtes Kleid und hatte ihr dunkelbraunes Haar brav nach hinten gekämmt. Sollte das tatsächlich Nikki sein? Sie kam näher, und er sah ihr in die grünen Augen. „Nikki?" fragte er erstaunt. „Gefall ich dir?" Sie drehte sich um die eigene Achse. „Du siehst so ..." „Normal? Durchschnittlich?" „... anders aus." Durchschnittlich würde sie niemals aussehen. Aber Hollis musste sich eingestehen, dass er enttäuscht war. Aus einem unerfindlichen Grund hatte er sich auf das Ledertop und den Leopardenrock gefreut. „Ich habe mich nur passend für Copper Corners angezogen." „Das ist dir sicher gelungen." Nikki grinste triumphierend und stellte die Einkaufstüte auf den Rücksitz. „Proviant." Dann warf sie die Reisetasche in den Kofferraum und ließ sich auf den Beifahrersitz fallen. Der würzige Moschusduft ihres Parfüms war unverkennbar. Wenigs tens hatte sie das nicht verändert, dachte Hollis resigniert. „Warum die Verkleidung?" „Damit meine Leute zu Hause nicht in Ohnmacht fallen. Die echte Nikki Winfield wäre zu viel für sie." „Ich verstehe." Für mich wahrscheinlich auch, dachte er, als er den Motor anließ. Dummerweise sah sie in ihrer braven Verkleidung aber ge nauso sexy aus wie in Leder. Nikki lehnte sich über den Sitz nach hinten und wühlte in der Provianttasche. Dabei berührte sie Hollis' Arm, und das gefiel ihr. Sie ließ sich wieder zurück in ihren Sitz fallen. „Käsechips mit Dip. Und mexikanisches Bier. Etwas Besseres gibt es nicht. Aber du bekommst keins, weil du fährst." „Es ist noch nicht mal Mittag, und du trinkst schon Bier?" „War dir Scotch lieber?" Sie grinste. „Um Himmels willen!" „Es ist doch gleichgültig, ob es erst Mittag ist. Auf Reisen gibt es keine Zeit, genau wie in Las Vegas. Ist dir schon mal aufgefallen, dass es in den Casinos keine Uhren gibt? Mit Autoreisen ist das ähnlich. Es ist immer Partyzeit." Sie suchte in ihrer Handtasche, fand eine CD und schob sie in den CD-Player. „Die richtige Musik für so eine Tour. Magst du die Gruppe?" Er hörte eine Weile aufmerksam zu. „Ja, sehr sogar." „Wunderbar, da haben wir den gleichen Geschmack." Sie lächelte und bewegte sich im Takt der Musik in ihrem Sitz. Hollis versuchte sich auf die Straße zu konzentrieren. „Möchtest du?" Nikki hielt ihm einen Chip mit Dip vor die Nase. Als er stumm den Kopf schüttelte, sagte sie: „Du weißt ja gar nicht, was dir entgeht", und schob sich den Chip in den Mund. „Damit kann ich leben." Hollis sah kurz zu ihr hinüber. Ihre vollen Lip pen bewegten sich genießerisch, während sie kaute. „Hm", machte sie, und es klang so aufreizend, dass Hollis eine automatische Reaktion seines Körpers unterhalb der Gürtellinie nicht verhindern konnte. Irritiert bemühte er sich, sich darauf zu konzentrieren, was ihn an Nikki ärgerte. Er durfte sich nicht von ihr ablenken lassen.
Nikki musterte Hollis von der Seite. Nach der leicht gekrausten Stirn und den zusammengepressten Lippen zu urteilen, war Dr. Hollister Marx noch nicht in der richtigen Stimmung, mehr über seine eigentliche Rolle in diesem Schauspiel zu erfahren. Da sie nun sowieso in Copper Corners sein würde, konnte sie auch zum Klassentreffen gehen, hatte Nikki sich überlegt. Es würde Spaß machen, ein bisschen mit Hollis anzugeben und diejenigen ihrer früheren Schulkameraden zu beeindrucken, die nie aus Copper Corners herausgekommen waren. Außerdem wollte sie unbedingt wissen, was mit Brian los war. Natürlich würde sich zwischen ihr und Brian nichts abspielen. Sie war schließlich mit ihrem angeblichen Ehemann da. Trotzdem wäre es wunderbar, wenn sie Brian mal so richtig vorführen könnte, was er aufgegeben hatte. Vielleicht war es kindisch, aber warum sollte sie nicht etwas prahlen? Bei Klassentreffen ging es schließlich darum, sich an alte Zeiten zu erinnern und zu zeigen, was man erreicht hatte im Leben. Aber erst einmal musste Hollis bereit sein mitzumachen. Ihre Mutter war völlig aus dem Häuschen gewesen, als Nikki ihr sagte, Warren werde sie begleiten. Nikki hatte ihrer Mutter schon lange nicht mehr eine solche Freude gemacht. Zuletzt wahrscheinlich in der achten Klasse, als sie einen Kunstwettbewerb gewonnen hatte. Jetzt musste sie nur noch Hollis bearbeiten. Nikki betrachtete die Bierflasche in ihrer Hand. Alkohol würde ihn vielleicht lockern. Sie könnte ihm anbieten zu fahren, damit er ein oder zwei Bier trinken konnte. Allerdings sollte er nicht unbedingt nach Bier riechen, wenn sie ihn ihren Eltern vorstellte. „Du bist also Zahnarzt", fing sie an. Sie musste ihn unbedingt zum Sprechen bringen. „Wo hast du denn deine Praxis?" „Bis letzte Woche habe ich in der Mercy-Klinik im St. Mary's Hospital gearbeitet." Er bog in eine Hauptstraße ein. „Da werden Mittellose umsonst behandelt. Unsere größte Patientengruppe sind die Kinder." „Ich bin beeindruckt." „Nicht nötig. Man hat mich ja bezahlt. Das Gehalt war zwar nicht üp pig, aber immerhin. Letzte Woche habe ich aufgehört." „Wieso das?" „Ich habe eine Praxis gekauft." „Gekauft? Wie funktioniert denn so was?" „Wenn ein Zahnarzt aufhört, lässt er den Wert seiner Praxis schätzen und verkauft sie dann. Inklusive der Einrichtung und der Patientenkartei." „Dann hat man also sofort eine voll eingerichtete Praxis und Patienten." „Ja, und einen Haufen Schulden." „Das kann ich mir vorstellen." Nikki tauchte einen Chip in den Dip, steckte ihn in den Mund und kaute genüsslich. Sie leckte sich die Lippen. „Hm." „Hast du eine Ahnung, was du deinen Blutgefäßen damit antust?" fragte Hollis mürrisch: Nikki hörte mit dem Kauen auf und sah ihn an. Was war denn mit ihm los? „Die Ärzte ändern ihre Meinung doch andauernd, was Cholesterin angeht. Warum soll man sich ein Vergnügen versagen, nur weil sie vielleicht Recht haben könnten? Was geschieht, geschieht. Wir könnten doch zum Beispiel jede Minute einen schweren Autounfall haben." „Nicht, wenn ich am Steuer sitze." Hollis packte das Lenkrad fester. Irgendwie ja nett, dachte Nikki, dass er so sicherheitsbewusst ist. Nett aber auch spießig. „Ich habe dabei weniger an dich gedacht", sagte sie, „sondern mehr daran, wie alles vom Universum gelenkt wird." „Ziemlich fatalistisch, findest du nicht?" Er hielt vor einer roten Ampel. Nikki zuckte mit den Schultern. Ohne zu überlegen, hielt sie Hollis erneut einen Chip voller Dip an die Lippen. Er biss die Zähne zusammen, und so nahm sie die Hand wieder zurück und steckte ihn sich selbst in den Mund. Sie warf ihm einen Blick zu und erstarrte. Er leckte sich mit offensichtlichem Genuss etwas Dip von den Lippen. Als seine rosa Zun-
genspitze über seine festen Lippen strich, kribbelte Nikkis Haut wie elektrisiert. Himmel, dieser Mann war unglaublich sexy. Hollis bemerkte ihren Blick, und einen Moment lang starrten sie sich atemlos an. Dann wechselte die Ampel auf Grün, und Hollis gab so schnell Gas, dass das Auto mit quietschenden Reifen einen Satz nach vorn machte. Hollis umklammerte das Lenkrad mit beiden Händen, bis seine Knöchel weiß hervortraten. Nikki ließ sich tiefer in den Sitz sinken und starrte aus dem Fenster. Das war doch nicht möglich. Sie fand den Mann sexy, dabei mochte sie ihn noch nicht einmal besonders. Er trug schließlich eine spießige gebügelte Khakihose. Sie schwiegen beide, dann versuchte Nikki ihr Ziel in Angriff zu nehmen. „Hast du denn nicht gern in dieser Klinik gearbeitet?" „Doch, schon." Hollis schien erleichtert zu sein, dass die sexuelle Spannung zwischen ihnen nachließ. „Die Patienten waren nett, und ich wusste, dass ich gebraucht wurde." „Warum hörst du dann auf?" „Es wurde Zeit." Er zuckte mit den Schultern. „Ich musste jetzt ernsthaft an eine eigene Praxis denken." „Arme Menschen mit Zahnschmerzen sind doch auch wichtig." „Ja, aber ich hatte mir fest vorgenommen, mit siebenundzwanzig meine eigene Praxis zu haben. Außerdem gibt es genug junge Zahnärzte, die ich in der Klinik ersetzen können." Sie hörte Bedauern in seiner Stimme. „Aber die Klinik fehlt dir." Er warf ihr einen erstaunten Blick zu. Nikki lächelte. Es war nicht das erste Mal, dass sie andere damit verblüffte, indem sie sozusagen ihre Gedanken las. Das hieß natürlich nicht, dass sie übersinnliche Fähigkeiten hatte, aber sie konnte besser als andere Stimme, Gesten und Gesichtsausdruck ihres Gegenübers interpretieren. „Meine Praxis wird mir auch gefallen, wenn ich erst einmal ein Weilchen dabei bin." „Natürlich", sagte Nikki, doch sie musste keine Hellseherin sein, um zu erkennen, dass er selbst noch nicht ganz davon überzeugt war. „Und du?" fragte Hollis, „wie bist du denn auf die Idee gekommen, ein Tattoo-Studio aufzumachen?" „Du findest das wohl anrüchig?" „Nicht unbedingt. Aber du musst zugeben, dass es ein ungewöhnlicher Beruf ist." „Wahrscheinlich schon. Ich habe mich immer für Kunst interessiert. Als meine beste Freundin und ich von Zuhause weggingen, entwarf ich für uns beide Tätowierungen, die unser neues Leben symbolisieren soll ten. Und als ich der Frau zusah, die mich nach meiner Vorlage tätowierte, da wurde mir klar, dass das eine Art Kunstwerk ist, das man immer mit sich herumtragen kann. Wie eine Wanderausstellung. Und ich kann so meine Kunst der ganzen Welt zeigen. Also ließ ich mich ausbilden. Und dann habe ich das Studio aufgemacht." „Aber du tätowierst niemanden, der im Grunde nicht bereit dafür ist?" „Eine Tätowierung spiegelt die Seele eines Menschen. Das ist eine ziemliche Verantwortung für mich. Ich arbeite also nicht mit jemandem, der getrunken hat oder der damit seinen Mut beweisen will oder von Freunden oder Liebhabern dazu gedrängt wird. Solche Leute haben ei ne negative Ausstrahlung." „Die Sache mit der Aura." Nikki sah ihn ernst an. „Ja. Die zu erkennen, ist eine Gabe." Es war offensichtlich, dass Hollis glaubte, sie mache ihm etwas vor. Das ärgerte Nikki. „Du kannst dich darüber lustig machen, aber es ist so Ich weiß zum Beispiel schon eine ganze Menge über dich." „Ach ja?" Er sah sie kurz an. „Was denn zum Beispiel?" Nikki drehte sich im Sitz zu ihm um. „Um es richtig zu machen, muss ich deine Hände
halten und dir in die Augen sehen." „Das geht ja nun leider nicht." Er nahm die Hände kurz vom Lenkrad, um ihr zu zeigen, dass es beim besten Willen unmöglich war. Aber ins geheim war er erleichtert. „Stimmt, aber ich kann ja mal sehen, was ich so schon erkennen kann." Sie sah ihn konzentriert von der Seite an. Er hatte eine gerade Nase, ein festes Kinn und einen schön geschnittenen Mund. Es war nicht schwer, daraus und aus dem, was seine Schwester ihr erzählt hatte, einiges zu schließen. „Also, Hollis Marx hält sich an die Regeln. Schon als Kind war sein Zimmer immer aufgeräumt, und er hat auch immer seine Hausaufgaben gemacht. Wahrscheinlich hatte er mit neun schon eine eigene Uhr und brauchte nie einen Wecker, um rechtzeitig aufzustehen. In der Schule hatte er gute Noten, die Universität hat er auch mit Bravour absolviert. Partys gab es für ihn nur in den Ferien, und auch dann hat er es nie übertrieben." „Sehr eindrucksvoll. Aber ich hatte einen Wecker, und an die Regeln halte ich mich auch nicht immer." Hollis wirkte ungehalten. Es ärgerte ihn, dass Nikki ihn so leicht durchschaute. „Wenn du meinst..." „Und was gibt es sonst noch?" „Lass mich sehen." Nikki beugte sich zu ihm vor. Sie hielt Hollis vor allem für solide und zuverlässig, was für viele Frauen sehr attraktiv war. Für sie allerdings nicht. „Du hast niemals über die Stränge geschlagen. Du hast immer eine feste Freundin gehabt. Zwar nicht nur eine, aber nie mehrere gleichzeitig." Plötzlich wurde ihr etwas klar, was sie merkwür digerweise enttäuschte. „Du hast auch jetzt eine feste Freundin." Hollis sog scharf die Luft ein, und sie wusste, dass sie ins Schwarze getroffen hatte. Das erklärte auch, warum er so nervös war und so erleichtert reagiert hatte, als sie ihm sagte, dass sie im Hotel in Copper Corners getrennte Zimmer haben würden. Aber warum hatte er bisher nichts von ihr erzählt? „Wie heißt sie denn?" „Also, äh ... Rachel." „Was Ernstes?" „Wir kennen uns schon eine ganze Weile." Nikki sah, wie sich seine Ohren rosa färbten. Er schien sich wegen Ra chel noch nicht ganz sicher zu sein. „Bist du jetzt fertig?" fragte Hollis. Offensichtlich wollte er das Thema wechseln. „Beinahe. Mal sehen. Du gehst vorsichtig mit deinem Geld um und hast schon allerhand gespart. Du fasst zum neuen Jahr immer gute Vorsätze und versuchst, sie zu verwirklichen. Du glaubst nicht an das Schicksal, und du hast noch nie nackt gebadet." „Nicht schlecht." Hollis nickte bedächtig. „Ich scheine schrecklich langweilig zu sein." „Getretene Hunde bellen am lautesten." Nikki grinste. „Sei dir nicht zu sicher. Ich könnte dich überraschen." „Ach komm, Hollis, du hast doch noch nie irgendetwas Ungewöhnliches getan." „Und wenn ich dir nun sage, dass ich mein Studium unterbrochen habe, um drei Monate lang mit dem Motorrad durch den Südwesten des Landes zu fahren?" „Das würde mich überrasche n." „Na also. Es war eine schwere Maschine. Ich habe sie geliebt." „Ich bin beeindruckt. Was ist dann passiert?" „Ich hab weiterstudiert." „Natürlich." Nikki seufzte enttäuscht. „Es hat mir Spaß gemacht, aber ich musste mit meinem Studium weiterkommen. Ich hatte schon zu viel investiert. Und meine Eltern hatten viel Geld dafür ausgegeben." „Hast du das Motorrad noch?" „Nein, ich hab es verkauft. Es war auf die Dauer zu gefährlich." „Aber du hast es geliebt! Verdammt noch mal, das Leben ist nicht ohne Risiko. Warum nicht etwas tun, was einem Freude macht?"
„Es war nur eine Phase in meinem Leben." „Eben. Man weiß immer genau, wie es bei dir weitergeht. Selbst die rebellische Phase wird eingeordnet. Jetzt hast du deine Praxis. Dann wirst du Rachel heiraten, ihr werdet ein Haus kaufen und euch einen Hund anschaffen. Natürlich einen Golden Retriever, denn die vertragen sich gut mit Kindern. Sobald die Praxis läuft, schafft ihr euch Kinder an. möglichst einen Jungen und ein Mädchen. Ein perfektes Leben." „Und was ist daran verkehrt?" Hollis runzelte die Stirn. „Wahrscheinlich nichts." Vielleicht war dies die richtige Gelegenheit, ihm von ihrem Plan zu erzählen. „Aber woher willst du das wissen", fuhr Nikki fort, „wenn du nie etwas Außergewöhnliches versucht hast?" „Ich weiß, was für mich richtig ist." „Wann hast du das letzte Mal etwas spontan getan?" „Immer mal wieder. Zum Beispiel diese Tour jetzt mit dir. Würdest du die nicht als spontan bezeichnen?" „Aber ich habe dich sozusagen erpresst." Wer weiß, vielleicht würde sie ein noch schwereres Verbrechen begehen und ihn kidnappen müssen, um ihn als ihren Ehemann vorzuführen. Einen Moment lang war Nikki entmutigt. Dann griff sie wieder in die Chipstüte. Sie hielten vor einer Ampel, als sie ihm erneut einen Chip vor die Na se hielt. „Komm schon, Hollis. Lebe wild und gefährlich. Zum Teufel mit der Vorsicht." Es überraschte sie, dass er plötzlich den Mund öffnete und ihr den Chip mit den Lippen aus den Fingern zog. Er sah sie schweigend an, während er langsam und genüsslich kaute. Seine Augen funkelten. Nikki wurde ganz heiß unter seinem Blick. Hinter Hollis' ordentlicher Fassade schien doch ein Feuer zu brennen. Vielleicht gab es noch Hoffnung für ihn. Er brauchte ein wenig Alkohol, um sich zu entspannen. „Darf ich mal fahren?" „Also, ich weiß nicht ..." „Komm, gib deinem Herzen einen Stoß." Er seufzte, hielt aber am Straßenrand und stieg aus. Nikki setzte sich hinter das Steuer, nahm ihre Bierdose, öffnete sie und drückte sie Hollis in die Hand. „Was soll das denn?" Er sah erstaunt auf das Bier. „Da ich jetzt fahre, kannst du trinken. Komm, tu mal was Außerge wöhnliches." „Ist warmes Bier so außergewöhnlich?" „Man muss ja irgendwo anfangen." Sie lachte und schaffte es, dass er trank. Der Alkohol schien ihm ein wenig in den Kopf zu steigen. Er stimmte mit ein, als sie einen alten Schlager sang, und erzählte dann von einer Motorradtour. „Ich glaube, du solltest häufiger mal spontan sein", sagte Nikki schließlich. „Unvorhergesehenes hält dich fit und beweglich." Hollis war schon beim zweiten Bier, was man auch seiner Stimme anmerkte. Da sie nicht mehr allzu weit von Copper Corners entfernt waren, war es an der Zeit, ihm endlich von dem fiktiven Warren zu erzählen. „Hast du jemals auf der Bühne gestanden, Hollis?" begann Nikki vorsichtig. „Nein, dieses unechte Getue nervt mich. Ich bin mal mit einer ange henden Schauspielerin ausgegangen. Jedes Mal, wenn wir uns gestritten haben, hat sie sich umgesehen, als erwartete sie Applaus." Er rülpste. „Das ist nichts für mich." „Aber die Schauspielerei kann auch therapeutischen Wert haben. Sie öffnet dich für neue Erfahrungen. Du solltest es mal probieren." Er sah sie misstrauisch an. „Was soll das Ganze?" „Was?" Nikki tat unschuldig. „Hast du dir was Bestimmtes vorgenommen? Hat Leslie irgendetwas gesagt? Ich bin mit meinem Leben sehr zufrieden. Und davonzulaufen und sich tätowieren zu lassen löst keine Probleme." „Deine Schwester wäre gar nicht erst auf die Idee gekommen, wenn du ihr nur den Raum gelassen hättest, sie selbst zu sein." „Ihr habt euch wohl ausführlich unterhalten."
„ Hollis, ich weiß, dass Menschen nur rebellieren, wenn sie das Gefühl haben, dass man ihnen nicht vertraut und sie nicht akzeptiert." Hollis schwieg. „Weißt du das aus eigener Erfahrung?" fragte er dann leise. „Vielleicht." Nikki wollte ihm eigentlich nichts von ihren eigenen Ent täuschungen erzählen. Er sollte ihr helfen, weil es ihm Spaß machte, und nicht, weil er Mitleid mit ihr hatte. Aber wenn es nicht anders ging, dann musste sie ihm die ganze Geschichte erzählen. Auch, dass sie seine Hilfe brauchte, weil ihr Vater schwer krank war. In dem Augenblick sah sie ein kleines Restaurant. Hier konnte sie Hollis' Schauspielkünste auf die Probe stellen. Nikki riss das Steuer herum und fuhr auf den Parkplatz.
4. KAPITEL Hollis klammerte sich an den Haltegriff über der Tür, als Nikki heftig bremste und hielt. „Was wollen wir hier?" „Ich habe Hunger." „Du hast doch beinahe eine ganze Tüte Chips gegessen." „Reiseproviant zählt nicht." Sie stieg aus, und Hollis folgte ihr in das Restaurant. Eine ältliche Kellnerin mit hoch toupiertem Haar bedeutete ihnen, sich Irgendwo einen Platz zu suchen. Nikki steuerte auf einen Tisch in einer Ecke zu. Sie liebte diese Restaurantkette. Die Sitze waren aus Kunstleder, Kuchen rotierten auf einem mehrstöckigen runden Regal in einem Glasschrank, die Kellnerinnen nannten alle Kunden „Sugar" oder „Honey", und Stammkunden tranken literweise Kaffee und tauschten den neuesten Klatsch aus. „Ich geh mal eben schnell wohin", sagte Nikki und verschwand. Hollis sah ihr nach. Selbst in dem schlichten Sommerkleid wirkte sie unglaublich sexy. Warum hatte sie nur so viel an seinem Leben auszusetzen? Ihm war klar, dass sie mit ihrer forschen Art gewisse Unsicherheiten verdecken wollte, aber in einigen Punkten hatte sie vielleicht Recht. Er hatte seine rebellische Motorradphase praktischerweise in die Semesterferien gelegt, damit sein Vorgeplanter Lebensweg möglichst wenig unterbrochen wurde. Vielleicht hatte er sich auch deshalb weniger energisch gegen diese Reise gewehrt. Er wollte mal etwas Neues erleben, bevor er mit einer eigenen Praxis anfing. Und diese Tage mit Nikki würden sicher sehr abwechslungsreich werden. Bei ihr wusste man nie, was sie als Nächstes tat oder sagte. Aber länger als ein Wochenende könnte er das nicht aushalten. Und wahrscheinlich war er dann froh, wenn er wieder zu Rachel zurückkehren konnte. Rachel wusste, was sie wollte und wie sie durchsetzte, was sie wollte. Er schätzte ihre Selbstsicherheit, auch wenn sie ihm manc hmal damit auf die Nerven ging. Sicher würden sie diese momentane Flaute überwinden, und er würde sich wieder daran erinnern, wie viel sie ihm bedeutete. Im Grunde liebte er sie doch, er war nur im Moment etwas verärgert wegen der Verlobung. Die Kellnerin kam und brachte ihm ein Bier, das Nikki offenbar bestellt hatte. Jetzt erschien sie selbst wieder, blieb bei der Musikbox stehen und warf ein paar Münzen ein. Dann kam sie auf ihn zu, lächelnd und die Hüften schwingend. Er blinzelte. Sie war wirklich fantastisch gebaut Aber vielleicht konnte er auch nur nicht mehr so klar sehen wegen des Biers, das er auf leeren Magen getrunken hatte. Nikki hob die Augenbrauen, als hätte sie seine Gedanken gelesen. Ob doch etwas an dem Aura-Unsinn dran ist? überlegte Hollis. Aber wahrscheinlich hatte sie nur eine gewisse Menschenkenntnis und riet auf gut Glück. Wenn sie seine Gedanken in diesem Augenblick lesen könnte, dann wäre er in Schwierigkeiten, denn er konnte nicht anders, er sah sie vor sich in Leder und falschem Leopardenfell, das er ihr langsam auszog und dann ... Hollis schüttelte den Kopf, um ihn wieder klar zu bekommen. Nikki setzte sich ihm gegenüber und grinste. Was hatte sie vor? Zu seiner eigenen Überraschung war er freudig gespannt, was als Nächstes geschehen würde. Die Kellnerin kam und sah ihn mitleidig an. „Haben Sie sich schon entscheiden können, was Sie essen möchten?" fragte sie sanft, als wäre er ein Kind oder ernsthaft krank. „Ladys first", lenkte Hollis ab. Die Kellnerin schrieb Nikkis Bestellung auf - Hamburger mit Pommes frites - und wandte sich dann wieder an ihn. Sie lächelte geduldig. „Und was darf ich Ihnen bringen, Sir? Oder brauchen Sie noch ein wenig Zeit?" „Ich möchte das Puten-Sandwich. Ohne Mayonnaise bitte." „Selbstverständlich, Sir. Und bis dahin genießen Sie die Ruhe hier. Alles ist okay." Sie drehte sich zu Nikki um, nickte beruhigend und ging.
„Und noch ein Bier für den Herrn!" rief Nikki ihr hinterher. „Ich will kein ..." Zu spät, die Kellnerin war schon verschwunden. Hollis sah Nikki scharf an. „Was soll das denn? Warum hat sie mich so angesehen, und warum hat sie dir so zugenickt?" „Wieso?" „Als ob ich nicht ganz bei Trost wäre." „Keine Ahnung." Nikki zuckte mit den Schultern und schlürfte ihren Schokomilchshake. „Was hast du denn zu ihr gesagt?" Aus der Jukebox erklang eine alte Swingmelodie. „Das ist einer meiner Lieblingssongs!" Nikki sprang auf, nahm Hollis' Hände und zog ihn mit sich. „Es gibt doch überhaupt keine Tanzfläche", protestierte er. „Das macht nichts." Sie fing an zu tanzen und hielt ihn dabei fest. Hollis kam sich idiotisch vor, wie er so stocksteif dastand, und machte schließlich gute Miene zum bösen Spiel. Er bewegte sich zum Takt der Musik, wirbelte Nikki herum und zog sie wieder an sich. „Du kannst ja tanzen", flüsterte sie. „Wundert dich das? Das passt doch zu meinem geordneten Leben." Er wirbelte Nikki erneut herum und drehte sich ebenfalls, so dass sie für einen Moment Rücken an Rücken standen. Kurz danach war sie wieder in seinen Armen. Allmählich bekam er Spaß daran, dennoch erschrak er, als plötzlich laut Beifall geklatscht wurde. Er sah sich um. Alle Gäste beobachteten sie. Sie tanzten weiter, bis der Song zu Ende war und eine langsame Melodie einsetzte. Als Hollis sich setzen wollte, warf Nikki sich in seine Arme und presste sich an ihn. Er wusste, dass er besser aufhören sollte, das Bier war ihm zu Kopf gestiegen, aber Nikkis Körper fühlte sich so gut an, dass er sie fest in seine Arme schloss. Sie bewegten sich in perfekter Harmonie zur Musik. „Macht das nicht Spaß", flüsterte Nikki ihm zu. Spaß? Squash machte vielleicht Spaß. Das hier war ausgesprochen gefährlich. Hollis versuchte, die Hitze ihres Körpers und die Bewegung ihrer Muskeln zu ignorieren, die er durch den dünnen Kleiderstoff fühlte. Ihr Gesicht hatte sie an seinen Hals geschmiegt, und sie duftete wunderbar. Nikki presste sich an ihn, und er merkte, wie sie sekundenlang in seinen Armen erstarrte, als sie seine Erregung deutlich spüren konnte. Dann schmiegte sie sich noch enger an ihn, und er hörte auf zu denken und nahm nur noch ihren Körper wahr. Hollis wollte gerade genussvoll die Augen schließen, als er einen alten Cowboy bemerkte, der ihm zuzwinkerte und ihm mit seinem Kaffeebecher zuprostete. Er hörte sofort auf zu tanzen und zog Nikki an ihren Tisch zurück. „Das Stück ist noch nicht zu Ende", sagte sie verträumt. „Für uns schon." Er beugte sich vor und flüsterte drohend: „Sag mir sofort, was hier gespielt wird." „Okay. Ich habe der Kellnerin erzählt, dass du Angstzustände hast, deshalb in Therapie bist und heute das erste Mal Ausgang hast." „Also wirklich, Nikki!" „Komm, beruhige dich." „Hier ist Ihr Sandwich", sagte die Kellnerin und stellte den Teller vor Hollis ab. Sie klopfte ihm leicht auf die Schulter. „Sie schaffen es schon. Ich hatte einen Vetter mit dem gleichen Problem." Während sie aßen, sah Hollis immer wieder ärgerlich Nikki an, die et was schuldbewusst lächelte. Ein Gast spendierte noch ein Bier, und Nik ki bestand darauf, dass er es annahm, damit er nicht unhöflich wirkte.
Als sie endlich unter dem wohlwollenden Nicken der gesamten Kundschaft das Lokal verließen, streckte Hollister die Hand aus. „Gib mir die Autoschlüssel." „Nein. Du hast zu viel getrunken." Er wusste, dass sie Recht hatte, und gab nach. „Okay. Aber mach ja keinen Blödsinn mehr." „Wie kannst du dich nur so anstellen? Es war doch alles nur ein Spiel." Nikki schloss das Auto auf. „Ich meine es ernst. Noch so ein Trick, und ich kehre um." „Himmel, bist du spießig." Nikki schwieg, während sie weiter in Richtung Copper Corners fuhr. Jetzt hatte er wirklich schlechte Laune, und sie konnte ihm nichts von Warren erzählen. Sie hörte Hollis gähnen und sah zu ihm hinüber. Er hatte den Kopf gegen die Kopfstütze gelehnt und die Augen geschlossen. Das Bier hatte ihn nicht entspannt, sondern nur müde gemacht. Er sah süß aus, wie er da so ruhig schlief. Das Haar war ihm in die Stirn gefallen, und er schnarchte leise. Was sollte sie tun? Sie musste ihn wieder aufmuntern, bevor sie zu ihren Eltern kamen. Eine halbe Stunde später entdeckte sie eine Tankstelle mit einem La den und hielt an. „Hollis, wach auf." Sie strich ihm über das Haar. „Hier ist eine Toilette. Außerdem müssen wir noch Pfefferminzbonbons kaufen, damit dein Atem nicht nach Bier riecht." Hollis brummelte etwas, öffnete aber die Augen und stieg aus. Er sah verschlafen aus, das Haar zerzaust. Nikki zog ihn in den Laden. „Wie wäre es damit?" Sie nahm einen breitrandigen Hut von einem Gestell, außerdem eine Sonnenbrille und setzte ihm beides auf. Er runzelte die Stirn, ließ es aber geschehen. „Du siehst toll aus." Nikki sah ihn bewundernd an. Die Sonnenbrille gab ihm etwas Geheimnisvolles und gleichzeitig Verwegenes. Sie konnte sich ihn so richtig auf seinem Motorrad vorstellen, ganz in Leder, das Haar etwas länger als jetzt. Der Mann hatte ein großes Potenzial! Hollis rückte die Brille zurecht. Seine Finger waren lang und kräftig. Nikki seufzte. Ihr wurde klar, dass auch er die erotische Spannung zwischen ihnen spürte, und schluckte. „Jetzt bist du dran." Hollis nahm eine Baskenmütze vom Regal und setzte sie ihr auf. Dazu eine Brille mit Strassverzierung. Seine Hände waren warm, als er ihr kurz über die Wange strich. „Das steht dir. Aber warum hast du dich eigentlich für dieses Wochenende so verkleidet? Du hast doch gut ausgesehen in dem Top und dem kurzen Rock. Das passt zu dir." „Ich verkleide mich gern. Nimm das nicht so ernst. Ist doch alles nur Spaß." Sie lachte verlegen und setzte Hut und Brille wieder ab. „Ich muss noch mal eben auf die Toilette. Du kannst im Auto auf mich warten." Als Nikki sich wieder hinters Steuer setzte, sah sie, dass Hollis noch immer den Hut trug. Er hatte ihn sich tiefer in die Stirn gedrückt, und zusammen mit der Brille sah das direkt gefährlich und sehr sexy aus. Er hatte auch die Baskenmütze und die Strassbrille für sie gekauft und setzte ihr beides auf. „Wer sagt, dass ich nicht spontan sein kann?" Nikki schwieg und gab ihm die Pfefferminzbonbons. Beim nächsten Hinweisschild bemerkte sie voller Entsetzen, dass sie schon kurz vor Copper Corners waren. Und sie hatte Hollis immer noch nichts von seiner neuen Rolle gesagt. Als sie die Ausfahrt erreichten, beschloss sie, ihm sofort reinen Wein einzuschenken." Hollis, ich muss dir etwas sagen." „Was denn?" Er sah sie an. Du bist mein Ehemann und heißt Warren. Nein, so ging es nicht. „Ich bin mit siebzehn von zu Hause weggelaufen." „Und?" „Meine Eltern und ich kamen einfach nicht miteinander klar. Es war, als kämen wir von verschiedenen Planeten." „Aha."
„Ja. Ich war in den letzten zehn Jahren nur einmal wieder in Copper Corners. Das war, als meine beste Freundin geheiratet hat." „Nur einmal? Du fehlst deinen Eltern sicher." „Das glaube ich nicht. Wenn sie überzeugt sind, dass es mir gut geht, dann sind sie zufrieden. Sie haben ja meine perfekte Schwester in der Nähe." „Perfekte Schwester?" „Ja, sie ist ähnlich wie du. Sie hat immer ihre Hausarbeiten gemacht, war immer rechtzeitig zu Hause, hat einen Banker geheiratet und zwei süße Kinder bekommen. Einen Jungen und ein Mädchen, Byron und Shelley." „So, so. Und du warst so ganz anders?" „Ja, ich habe nie hierher gepasst. Meine Eltern sind beide sehr ernsthaft. Konservativ, vorsichtig und ein bisschen humorlos. Mein Vater ist Leiter der High School, und meine Mutter ist Englischlehrerin. Sie ha tten viel mit mir auszustehen." „Warst du schlecht in der Schule?" „Das kann man wohl sagen. Außerdem habe ich gegen alles rebelliert." „Jetzt bist du doch erwachsen." „Aber ich bin nicht so, wie sie es gerne hätten. Sie hätten kein Verständnis für mein Leben." „Und deshalb hast du dich verkleidet." „Ja, um sie nicht zu schockieren." Nikki machte eine kurze Pause. „Deshalb ist es auch so gut, dass du mich begleitest. Ich habe ihnen nämlich versprochen, dass ich jemanden Besonderes mitbringe." „Wieso? Ich bin doch nur dein Begleiter für ein Wochenende." Sie holte tief Luft. „Erinnerst du dich daran, wie ich davon sprach, dass es Spaß macht zu schauspielern? Vielleicht hast du ja Lust, jemanden zu spielen, der mir sehr nahe steht." Hollis starrte sie an. „Ich soll deinen Freund spielen?" „So ungefähr. Weißt du, es ist ja nicht nur das Klassentreffen. Der Hauptgrund, warum ich nach Hause fahre, ist der Herzinfarkt meines Vaters. Er hat immer Angst um mich gehabt. Aber wenn er uns beide zusammen sieht, wird er sich keine Sorgen mehr machen." Hollis starrte düster aus dem Fenster. „Ich hätte mir gleich so was denken sollen. Du willst, dass ich mich als dein Freund ausgebe." Er schwieg, und es blieb totenstill im Auto. „Wirst du es tun?" Stille. „Es wird lustig sein. Nur ein Spiel. So, als hättest du dich verkleidet wie jetzt mit dem Hut und der Brille. Das macht dir doch auch Spaß, oder?" fragte sie verzweifelt. Er nahm langsam Hut und Brille ab und warf sie auf den Rücksitz. Deinen Freund darzustellen ist weitaus komplizierter, Nikki. Deine Familie wird Fragen stellen. Wir müssen verliebt tun. Wir müssen allen etwas vormachen ..." „Mein Vater liegt vielleicht im Sterben, Hollis. Bitte." Er seufzte schwer. „Ich finde, du solltest deinen Eltern die Wahrheit sagen. Du bist schließlich erwachsen. Sie werden dich lieben und akzeptieren, so wie du bist." „Du kennst sie nicht. Dies ist wirklich sehr wichtig für mich. Kannst du es nicht wenigstens versuchen?" „Ich wüsste nicht, wie. Nein." Sie hatten den Ort erreicht, und Nikki fuhr durch die bekannten Straßen. Schließlich sah sie ihr Elternhaus. Sie trat hart auf die Bremse. „Hier ist es." Die Kehle wurde ihr eng, als sie das weiße Haus mit den gelben Fens terläden sah. Als junger Mensch hatte sie sich darin wie im Gefängnis gefühlt. Jetzt schien es ihr nur lieb und vertraut. Tränen traten ihr in die Augen, und sie konnte nicht sprechen. Was sollte sie tun? Sie konnte ihrer Familie nicht ohne Warren gegenübertreten. Sie gab Gas. „Was machst du denn?"
„Ich kann nicht hine ingehen." „Halt sofort an", befahl Hollis. Sie hielt vor dem Nachbarhaus. „Was ist denn?" Hollis sah sie an. „Also gut, ich spiele mit. Ich finde es zwar nicht richtig, aber ..." „Wirklich? Oh, Hollis! Ich kann dir gar nicht sagen ..." Jetzt musste sie mit der ganzen Wahrheit herausrücken. „Also, eigentlich ..." Sie wurde durch lautes Klopfen an die Scheibe unterbrochen. Draußen standen ihre Nichte und ihr Neffe. Donna schickte ihr Weihnachten immer ein Video von den Kindern. „Das sind sicher Byron und Shelley, was?" Hollis lächelte. „Ja. Hollis, hör zu ..." Aber bevor sie noch ein weiteres Wort sagen konnte, hatten die Kinder die Tür aufgerissen und zogen sie aus dem Auto. „Tante Nikki, Tante Nikki", rief Byron, sprang in ihre Arme und hielt sie mit Armen und Beinen umklammert. Nikki war gerührt. Schließlich kannte er sie eigentlich gar nicht, sie hatten nur ein paar Mal telefoniert. Da Byron ihr zuvorgekommen war, lief Shelley jetzt auf die Beifahrerseite und zerrte an Hollis' Arm, bis er aus dem Auto stieg. „Onkel Warren, Onkel Warren!" rief sie und umklammerte seine Beine. „Onkel Warren?" Hollis sah Nikki über das Wagendach hinweg irritiert an. „Es, ist- so", sagte Nikki schnell, „du heißt Warren Langley, und wir sind seit einem Jahr verheiratet. Du bist Arzt." „Aber ich bin doch Zahnarzt", konnte Hollis gerade noch entgegnen, bevor Shelley ihn mit sich zog. „Tu einfach so, als ob", rief Nikki hinter ihm her und schleppte Byron in Richtung Haus. Ihre Mutter stand am Ende des Gartenweges, und bei ihrem Anblick hatte Nikki wieder einen Kloß im Hals. „Du musst Warren sein", sagte ihre Mutter lächelnd und hielt Hollis die Hand hin. „Es ist so schön, dich endlich kennen zu lernen. Ich bin Nadine Winfield." Hollis blieb stehen und schüttelte ihr die Hand. „Guten Tag." Nikki kam heran und hörte gerade noch wie ihre Mutter sagte: „Wir waren so enttäuscht, als Nikki uns mitteilte, dass ihr ganz kurzfristig und ohne Feier geheiratet habt. Aber natürlich haben wir es verstanden, wo du doch gleich nach Südamerika musstest." „Süda...?" „Du hast so viel für die Eingeborenen getan", unterbrach Nikki ihn schnell und sah ihn flehend an. „Nun ja ..." Nikki stellte Byron auf den Boden und umarmte ihre Mutter. „Nicolette." Nadine Winfield drückte ihre Tochter an sich, und Nikki stellte fest, dass sie wie früher nach Lavendel duftete. Liebe und Bedauern machten Nikki das Herz schwer. Erst jetzt wurde ihr klar, dass sie sich nach ihrer Mutter gesehnt hatte. „Aber jetzt seid ihr hier, und nur das zählt." In den Augen ihrer Mutter glänzten Tränen. „Ja, wir sind endlich hier. Nicht wahr, Warren?" Nikki sah Hollis flehend an. Er lächelte mühsam. „Ja, das sind wir." „Kommt rein, wir können euer Gepäck später holen." „Ist schon okay, Mutter", sagte Nikki bestimmt. „Wir bringen die Koffer schnell ins Hotel." „Ins Hotel? Das kommt gar nicht in Frage. Ihr wohnt im Gästezimmer." „Aber ihr habt doch gar kein Gästezimmer. Ihr habt doch aus dem Kinderzimmer ein Nähzimmer und eine Bibliothek gemacht." „Mit einem sehr bequemen Gästebett. Wenn dein Vater zu sehr schnarcht, dann schlafe ich manchmal da."
„Aber wir wollen Ihnen keine Umstände machen, Mrs. Winfield." Hollis warf Nikki einen verzweifelten Blick zu. „Unsinn, ihr wohnt hier und damit basta. Und bitte, sag Nadine zu mir." Nikki kannte diesen Ton ihrer Mutter. Da gab es keine Widerrede. Als Teenager hatte sie dagegen rebelliert, jetzt schien er ihr ein Zeichen von Mutterliebe zu sein. Ihre Mutter ging vor ihnen ins Haus. Nikki und Hollis folgten ihr in einem gewissen Abstand. „Ich werde alles erklären", wisperte Nikki. „Das hoffe ich." Ja, sie würde ihm alles erklären. Wenn sie erst in ihrem alten Kinderzimmer waren, sie und ihr angeblicher Ehemann. Sie hoffte nur, dass sich die Tür von innen abschließen ließ, damit er nicht verschwinden konnte, bevor sie ihn davon überzeugt hatte, dass er bleiben musste. Erst danach würde sie sich mit dem Problem Gästebett befassen.
5. KAPITEL Im Haus atmete Nikki tief den vertrauten Duft nach Apfelkuchen und Rosen ein. Als Teenager war ihr dieser Geruch auf die Nerven gegangen, jetzt empfand sie ihn als angenehm. Da stand immer noch das geblümte Sofa, ein wenig abgenutzter, aber sauber. Alles war ihr so vertraut. Die Tischchen aus Ahornholz, der Glasschrank, die hohen Bücherregale, in denen die Bücher sorgfältig sortiert waren. Die alten Familienfotos hingen noch an den Wänden, und über dem Sofa sah sie zu ihrer Überraschung eins ihrer Gemälde im impressionistischen Stil, das überhaupt nicht in diesen konservativ eingerichteten Raum passte. „Du hast das behalten?" Sie lächelte ihrer Mutter zu. „Natürlich, Liebling, es ist doch von dir." Nikki wurde ganz warm ums Herz. „Wo ist denn Daddy?" Sie wollte ihn sehen, aber sie hatte auch Angst davor. Wer weiß, wie krank er war „Ich möchte gern, dass du meinen Vater kennen lernst", sagte sie zu Hollis. Vielleicht würde er dann verstehen, warum ihr dieses Theater so wichtig war. „Ich glaube, er schläft gerade", wandte ihre Mutter ein. „Er hatte doch diesen kleinen Eingriff. Das hat Donna dir siche r erzählt. Und nun ha t er ein Schmerzmittel genommen, das ihn ein wenig müde macht." Ihre Mutter nannte eine Ballon-Dilatation einen „kleinen Eingriff"? Als ob das nicht schlimmer wäre als die Entfernung eines Hühnerauges. Sie versucht sicher nur, tapfer zu sein, dachte Nikki, damit ich mir keine Sorgen mache. Jemand läutete die Glocke, die sie sonst nur Weihnachten benutzt hatten. „Das ist dein Vater. Er nutzt die Situation richtig aus." Nadine lächelte resigniert. „Ich komme schon", rief sie dann laut. Nikki und Hollis folgten ihr. Unterwegs drehte Nadine sich um und flüsterte: „Sagt aber nichts von der Operation. Er spricht nicht gern darüber." „Okay." Noch bevor sie sein Schlafzimmer betraten, hörten sie Harvey Winfield: „Ich möchte eine große Portion Vanille-Kirsch-Eis!" „Also wirklich, Harvey. Das war doch keine Mandeloperation." Nadine schob Nikki ins Zimmer. „Sieh mal, wer hier ist." „Hallo, Daddy", sagte Nikki. „Nicolette!" Er strahlte und streckte die Arme nach ihr aus. „Mein kleines Mädchen." Nikki umarmte ihn vorsichtig, aber er fühlte sich gar nicht zerbrechlich an, wie sie befürchtet hatte. Es war so gut, von ihm umarmt zu werden. Als Kind hatte er sie oft in den Arm genommen, aber als Teenager hatte sie kaum eine normale Unterhaltung mit ihm führen können. Warum war sie eigentlich immer so wütend auf ihn gewesen? Warum hatte sie immer nur Schwierigkeiten gemacht? Er ließ sie los. „Wie schön, dass du da bist. Wer kümmert sich denn jetzt um deine Boutique?" „Ich habe sie ein paar Tage geschlossen." „Ich weiß eigentlich nicht, warum du arbeiten musst", sagte ihre Mutter. „Schließlich ist dein Mann doch Arzt." Sie drehte sich zu Hollis um. „Dies ist also der Mann, der das Herz meiner Tochter erobert hat." Harvey streckte Hollis lächelnd die Hand entgegen. „Ich bin Harvey." Hollis ergriff sie. „Und ich ... äh, ich bin Warren." „Bist du da ganz sicher, mein Sohn?" Nikki glaubte, das Herz bliebe ihr stehen. Hatte ihr Vater schon alles durchschaut? Aber dann hörte sie ihn kurz und herzlich lachen. „Keine Angst, ich bin nicht so schlimm, wie Nicolette mich wahrscheinlich ge schildert hat. Herzlich willkommen." „Hallo, da seid ihr ja!" Nikki drehte sich um. Donna stand in der Tür. Sie trug ein klassisches Kostüm, und ihre Frisur saß perfekt. Ihre Schwester hatte sich kein bisschen verändert.
Donna trat auf Nikki zu und umarmte sie, dann trat sie einen Schritt zurück. „Ich hatte ja eigentlich erwartet, dich ganz in Schwarz zu sehen, von oben bis unten tätowiert und mit einem Ring durch die Nase." „Ärgere deine Schwester nicht", mischte sich ihre Mutter ein. „Nicolette ist erwachsen geworden. Die wilden Tage liegen glücklicherweise hinter ihr." „Also, mein Sohn", sagte Harvey zu Hollis. „Ich würde dich später gern mal konsultieren." „Ja, meinetwegen, aber, äh, mein Fachgebiet ist ..." Hollis sah Nikki hilflos an. Was war sein Fachgebiet? „Onkel Warren soll jetzt zu uns kommen." Shelley hatte sich an ihrer Mutter vorbeigedrängelt. Alle lächelten. „Würde es dir etwas ausmachen, ihr den Gefallen zu tun?" fragte Don na. „Nein, überhaupt nicht." Nikki wusste, er war froh, das Zimmer verlassen zu können. „Also, ist das nicht rührend, wie Hollis auf die Kleinen eingeht?" Donna stand mit Nikki in der Tür und sah zu, wie Hollis mit Shelley und Byron spielte. „Es scheint Spaß zu machen." Nikki war sich da nicht so sicher. Hollis sah nicht gerade glücklich aus. Er hatte sich in einen der kleinen Kinderstühle gezwängt, so dass ihm seine Knie bis zu den Schultern reichten, und tat so, als würde er an einer winzigen Teetasse nippen. Wie er wohl als Vater wäre? Sicher würde er sich sehr um seine Kinder kümmern und würde sämtliche Bücher über Kindererziehung lesen, um auf alles vorbereitet zu sein. Nikki hatte plötzlich ein schlechtes Ge wissen, weil sie ihn so unvorbereitet in diese Situation gebracht hatte, aber sie hatte einfach nicht genug Zeit gehabt. Irgendwie muss ich das gerade biegen. „Es sieht so aus, als hättest du dir einen netten Mann ausgesucht", sagte Donna leise. „Aber er hat hoffentlich kein Alkoholproblem, oder? Er roch vorhin nach Bier, und es ist erst drei Uhr nachmittags." „Nein, ich habe ihm zwei Bier eingeflößt, damit er das Familientreffen hier gut übersteht. Warum vermutest du immer gleich das Schlimmste?" „Entschuldige, Schwesterchen. Ich bin froh, dass du dein Leben im Griff hast." Donna legte Nikki einen Arm um die Schultern. „Wahrscheinlich kann ich nicht so schnell umschalten und mache mir immer noch Sorgen um dich." Nikki verstand sie nur zu gut. Sie hatte ihrer Familie in der Vergangenheit wirklich einiges zugemutet. „Daddy sieht eigentlich viel besser aus, als ich erwartet habe." „Er nimmt sich deinetwegen zusammen. Du weißt doch, wie er ist. Er will immer noch für jeden der Fels in der Brandung sein." Nikki hatte den Eindruck, dass Donna noch mehr sagen wollte, aber in diesem Moment klingelte es. „Kannst du mal aufmachen, Liebling?" rief ihre Mutter. „Und Donna, hilfst du mir, das gute Silber herauszuholen?" „Oh, für dich wird das Beste aufgefahren! Da kann man ja richtig eifersüchtig werden. " Donna lachte. Nikki ging zur Tür. Dabei fing sie einen verzweifelten Blick von Hollis auf. „Wir essen gleich", rief sie ihm zu, als könnte ihn das trösten. Er rollte nur mit den Augen. „Los, jetzt musst du reingehen", kommandierte Shelley und zeigte auf ihr kleines Plastikhaus. Seufzend zwängte Hollis sich durch die kleine Tür, und Nikki blickte bewundernd auf seinen straffen muskulösen Hintern. Donnerwetter, er schien ja eine Menge Zeit im Fitness-Studio zu verbringen. Sie öffnete die Tür, und Mariah fiel ihr in die Arme. „O Nikki! endlich bist du da! Zwei Jahre sind einfach zu lange." Überrascht hielt sie die Freundin einen Meter von sich ab. „Was ist denn mit dir passiert? Du siehst so anders aus, so ..."
„Wie Miss Copper Corners?" „Ja, genau. Bist du es wirklich?" Dann zog sie Nikki wieder in ihre Arme und flüsterte dicht an ihrem Ohr: „Und wo ist er? Und wie macht er sich bei dem Ganzen? Weiß er es schon?" Nikki hatte Mariah von ihrem Plan erzählt. „Nur in Andeutungen. Ich hatte noch keine Gelegenheit, es ihm in allen Einzelheiten zu erklären. Aber ich habe den Eindruck, dass er noch unter Schock steht. Vielleicht kannst du etwas dagegen tun." Die Freundinnen blieben an der Tür zum Büro stehen, das momentan als Spielzimmer diente. Hollis' Gesicht erschien in dem kleinen rosa Fensterrahmen. „Sag, dass du mich brauchst", flehte er. „Ich brauche dich." Das hörte sich verfänglich an. „Ich meine, ich möchte dir meine beste Freundin vorstellen." „Nur zu gern." Hollis kroch aus dem Haus und strich sich die Hose glatt. Shelley kam hinter ihm aus dem Häuschen. „Was ist los?" „Wir müssen Onkel Warren mal eben entführen", sagte Nikki. „Oh." Shelley runzelte die Stirn, dann nickte sie. „Er war sowieso zu groß." Dann rannte sie den Flur hinunter. „Byron, komm mal eben ..." Nikki konnte für ihren Neffen nur hoffen, dass er sich gut versteckt hatte. „Meine Güte, du siehst wirklich genauso aus, wie ich mir Warren vorgestellt habe!" Mariah schüttelte Hollis die Hand. „Ich bin Mariah Goodman, und ich kenne die ganze Geschichte. Warte nur ab, bis Brian Collier das mitkriegt." „Brian Collier? Wer ist das?" Hollis sah Nikki fragend an. „Ein alter Freund von Nikki", sagte Mariah schnell, bevor Nikki antworten konnte. „Er ließ sie wegen Heather Haver sitzen, aber nun ist er geschieden und wieder hinter Nikki her." „Aha. Dann sollte ich nicht nur deine Familie als erfolgreicher und dir ergebener Ehemann beeindrucken, sondern auch noch deinen Jugend freund eifersüchtig machen?" Nikki blickte betreten auf ihre Schuhspitzen. „Genau." Mariah sah Nikki überrascht an. „Hast du nicht gesagt, er hat keine Ahnung?" „Habe ich auch nicht." Hollis strich sich nervös das Haar zurück. „Das Ganze ist der blanke Wahnsinn." „Nein, keineswegs. Du wirst dich blendend amüsieren. Diese Treffen sind eine große Sache in Copper Corners. Und diesmal steht unser Jahr gang im Mittelpunkt. Außerdem wirst du Nathan, meinen Mann, kennen lernen. Du magst ihn bestimmt. Er war früher ziemlich so wie du, ein bisschen verkrampft, geradeaus, ordentlich, langweilig, bis er mir in die Hände fiel." „Deshalb bin ich aber nicht hier", sagte Hollis, „ich will ..." „Aber du willst Nikki doch etwas Gutes tun. Und das Klassentreffen bedeutet ihr sehr viel." „Das kann ja sein, aber ich will trotzdem ..." „Da seid ihr ja!" Nikkis Mutter kam strahlend auf sie zu. „Würdest du so nett sein und uns mit der Tischplatte helfen, Warren? Wir müssen den Tisch ausziehen. Wie gut, wenn man noch einen Mann im Haus hat." Sie strahlte Hollis an. „Siehst du, was ich meine?" zischte Mariah ihm zu. Hollis zuckte nur ergeben mit den Schultern und folgte Nadine ins Esszimmer. Mariah legte Nikki den Arm um die Schultern. „Er wird es schon schaffen." Nikki konnte es nur hoffen. Vielleicht würde sich nach dem Essen alles ein wenig entspannen. Da hörte sie, wie ihre Mutter fragte: „Wie ist es, Warren, du hast in Südamerika doch sicher Spanisch gelernt?" „Shelley Nicolette Wilson, könntest du vielleicht deine Ellbogen mal vom Brot nehmen?" fragte Donna streng. „Ich will es doch nur ein bisschen glatter machen." Shelley sah ihre Mutter treuherzig an.
„Kinder verändern das Leben wirklich total, Warren", sagte Dave, Donnas Mann. „Überlegt euch gut, ob ihr wirklich welche haben wollt." „Andererseits ist es besser, Kinder zu haben, solange man noch jung und voller Schwung ist", schaltete sich Nadine ein. Dabei sah sie Nikki durchdringend an, wie früher, wenn sie Nikki zwang, erst die Schularbeiten zu machen, bevor sie den Fernseher anstellte. Erst die Arbeit, dann das Vergnügen, das war ihre Maxime. Glücklicherweise mischte Donna sich ein: „Warren, erzähl uns doch mal, wie ihr euch kennen gelernt habt, Nikki und du." Hollis verschluckte sich an seiner Milch. Nikki klopfte ihm kräftig auf den Rücken. „Lass mich das erzählen, Liebster. Also, Warren kam eines Tages in meinen Laden, wegen seiner Schwester. War es nicht so?" Hollis rang immer noch nach Luft und nickte nur. „Wir sind ins Gespräch gekommen, ja, und so ist es eigentlich passiert." Nikkis Vater läutete, eine willkommene Abwechslung. Nadine sah Nikki an. „Ach du Schreck! Ich habe ganz vergessen, ihm was zu essen zu bringen." „Lass nur, Mom", sagte Nikki und sprang auf. „Das kann ich doch machen." Sie machte ihrem Vater einen Teller zurecht mit Hühnerbrust, viel Salat und einem trockenen Brötchen und ging in sein Zimmer. Nikkis Vater, der gerade fernsah, lächelte. „Vielen Dank, mein Kind. Wie schön, dass meine Tochter mich mal bedienen kann." „Das mach ich doch gern." Sie stellte den Teller auf den Nachttisch. „Wie geht es dir, Daddy?" „Ich bin noch etwas angeschlagen, aber sonst fühl ich mich ganz gut." Er fing an zu essen, offenbar hatte er großen Appetit. Nikki überlegte, ob er sie nur beruhigen wollte. „Was siehst du dir denn da an?" „Die Geschichte des Brückenbaus." Er wies mit der Gabel auf den Fernsehschirm. „Wahnsinnig interessant. Toll, was die Ingenieure so geschaffen haben. Ich war ja immer der Meinung, dass das etwas für dich gewesen wäre." Er sah sie an und konnte seine Enttäuschung nicht ganz verbergen. Nikki wusste, er hatte große Hoffnungen in sie gesetzt. Wenn er wüsste, womit sie jetzt ihr Geld verdiente, wäre er verzweifelt. Brücken, die zeichnete sie höchstens als Entwurf für ein Tattoo. „Egal." Er wedelte mit der Gabel. „Du hast offensichtlich einen netten Mann gefunden. Allerdings solltest du darauf achten, dass er nicht zu viel trinkt." „Er trinkt normalerweise so gut wie gar nichts", sagte sie schnell. „Hier ging es um eine besondere Gelegenheit." „Wo ist denn der Kartoffelbrei? Und wo die Butter?" „Ich dachte, du solltest in dem Punkt lieber etwas zurückhaltender sein. Ich meine, in deiner Situation ..." Er sah sie stirnrunzelnd an. „Ich will nicht über meine Situation reden." „Aber du solltest wirklich nicht ..." „Butter, bitte. Eine doppelte Portion!" Es hatte keinen Sinn, mit ihm zu streiten. Nikki seufzte leise und holte ihm das Gewünschte, obwohl sie dabei ein schlechtes Gewissen hatte. „Down by the old mill stream ..." Nach dem Essen hatten sie immer ge sungen, daran konnte Nikki sich noch gut erinnern. Ihre Mutter hämmerte die Melodie auf dem Klavier, und alle stimmten ein. So war es auch diesmal. Nur Hollis bewegte lediglich die Lippen, brachte aber keinen Ton heraus. Während des Essens hatte er kaum etwas gesagt. Hatte immer nur vorsichtig gelächelt, als befürchtete er, sein falsches Spiel könnte jeden Moment aufgedeckt werden. Nikki saß dicht neben ihm, so dass sie wie ein verliebtes Paar wirkten. Immer wieder nickte sie ihm
ermutigend zu. aber er blieb steif und angespannt. Als das Lied zu Ende war, drehte Nadine sich auf dem Klavierstuhl um. „Wie wäre es mit ein paar Scharaden?" „Ja, gern", sagte Nikki. „Autsch!" Hollis war ihr auf den Fuß getreten. „Vielleicht sollten wir schlafen gehen", flüsterte er ihr leise zu, aber da momentan alles schwieg, verstand jeder, was er gesagt hatte. „Schlafen? Oh ja, natürlich!" Dave zwinkerte ihm heftig zu. „Es ist doch noch so früh, Darling", sagte Nikki. Sie wollte nicht mit ihm allein sein. Und ganz sicher würden sie nicht das tun, worauf Dave so überdeutlich anspielte. Wahrscheinlich würde Hollis ihr Riesenvorwürfe machen. „Gut, dann schreibe ich mal eben die Zettel aus", sagte Nadine, stand auf und ging in die Küche. „Ich weiß, du bist in Urlaub, mein lieber Schwager", sagte Dave, „aber ich habe da diese kleine Stelle auf dem Rücken. Ob du dir das mal ansehen könntest?" „Ich glaube eigentlich nicht..." Aber Dave hatte bereits sein Hemd hochgehoben und hielt Hollis den nackten Rücken hin. Hollis warf Nikki einen wütenden Blick zu und beugte sich dann über Daves Rücken. „Darüber solltest du mit deinem Arzt sprechen." „Aber glaubst du, dass es was Gefährliches ist? Als Arzt, meine ich?" „Sprich mit deinem Arzt." „Gut." Dave zog schweigend das Hemd wieder herunter. „Tut mir Leid, Dave", sagte Nikki schnell, „aber rein versicherungs technisch kann Hollis es sich nicht leisten, dir eine Diagnose zu stellen." „Stimmt, daran habe ich nicht gedacht." Hollis sah sie dankbar an. „Jeder muss einen Zettel ziehen", sagte Nadine munter und hielt Hollis einen Hut hin. Er lächelte sie an. „Ich glaube, wir werden uns zurückziehen, Mrs. Winfield." Er stand auf und zog Nikki mit sich. „Aber wir haben doch noch nicht mal angefangen", sagte Nikki schnell, die die peinliche Unterredung möglichst weit hinausschieben wollte. Hollis lächelte gezwungen. „Aber, Liebling, wir wollen doch für das Klassentreffen morgen gut ausgeruht sein." „Morgen?" Nadine schüttelte den Kopf. „Aber das Klassentreffen ist doch erst nächstes Wochenende. Dafür muss ich noch einiges vorbereiten." „Nächstes Wochenende?" Hollis war ganz blass geworden. „Verstehst du was vom Angeln?" fragte Dave. „Vielleicht könnten wir beide morgen früh los und meine neuen Fliegen ausprobieren. Gleich I nach dem Frühstück. Was meinst du?" „Ich weiß nicht ..." Hollis war weiß wie ein Gespenst und starrte ihn nur verständnislos an. Nachdem Dave fünf Minuten lang versucht hatte, Hollis die Vor- und Nachteile des Fliegenfischens zu erklären, zog Hollis Nikki energisch in das Gästezimmer. „Das kann ja wohl nicht wahr sein", flüsterte er. „Ich kann es auch kaum glauben", sagte sie und sah sich in dem Raum um. Bloß keine Auseinandersetzung, zumindest noch nicht gleich. „Alles sieht so anders aus. Unsere Betten standen damals hier. Und hier verlief die Trennungslinie. Die eine Hälfte war mein Zimmer, die andere Donnas." Sie schüttelte den Kopf. „Und da hingen damals meine Bilder." Sie wies auf zwei Wände, vor denen jetzt Bücherregale standen. „Und dort war mein Schreibtisch, da, wo jetzt Moms Nähmaschine steht. Donna wurde immer wahnsinnig wegen meiner Unordnung, und manchmal habe ich etwas über die Trennungslinie geworfen, nur um sie zu ärgern. Oder ich habe ihre Kissen anders drapiert..." Hollis packte Nikki am Arm. „Das ist eine unmögliche Situation!" „Finde ich überhaupt nicht. Du kannst gern das Bett nehmen. Ich schlafe auf Kissen auf
dem Fußboden. Es sei denn, du meinst, dass wir uns abwechseln ..." „Es geht hier nicht um Bett oder Kissen", fuhr er sie an. Sie seufzte leise. „Ich weiß. Ich hätte dir ein bisschen mehr erzählen sollen, bevor wir hier ankamen, aber ..." „Ein bisschen mehr? Du hast mir quasi überhaupt nichts erzählt. Wann wolltest du denn genauer werden? Wenn deine Mutter nach den Hochzeitsbildern fragt? Und wieso ist das Klassentreffen erst nächste Woche?" „Ich hatte irgendwie gehofft, du würdest dich an das Ganze gewöhnen und dann auch noch zum Klassentreffen bleiben." „Bist du vollkommen verrückt geworden?" Er sah sie entgeistert an. „Ich kann nicht länger deinen Ehemann spielen. Es ist eine Lüge. Außerdem sieht deine Familie mich an, als hä tte ich dich vor etwas Entsetzlichem bewahrt." „Genau." Nikki blickte ihn beschwörend an. „Versteh doch. Sie sind so froh, dass du hier bist. Und du hast doch auch meinen Dad gesehen. Es geht ihm wirklich nicht gut." „Er wirkt ganz munter, finde ich." „Er nimmt sich nur zusammen. Dass du hier bist, ist wichtig für die Familie und für mich." „Ich kann nicht." Er schüttelte heftig den Kopf. „Ich verstehe ja, dass das ein Schock für dich ist. Aber denk doch noch mal darüber nach." „Meine Entscheidung steht fest." „Morgen sieht vielleicht alles schon ganz anders aus. Heute kannst du sowieso nichts mehr machen." Sie ging schnell zur Bettcouch, riss hastig die Kissen herunter und klappte das Bett auf. Am besten, sie ließ ihm gar keine Zeit zum Überlegen. Da war es, ein Bett, in dem man schlief, sich liebte, sich aneinander kuschelte. Nikki sah Hollis an, und als ihre Blicke sich begegneten, wur de ihr plötzlich ganz heiß. Auch Hollis schien ähnlich zu empfinden, aber dann runzelte er die Stirn. „Ich fahre morgen." „Was machst du?" „Ganz einfach. Ich setze mich in mein Auto und fahre zurück nach Phoenix." „Und ich? Ich kann noch nicht weg." „Dann bleibst du eben hier. Du kannst dir ja ein Auto mieten und später zurückfahren. Das ist deine Sache." „Aber du warst doch bereit mitzukommen." „Ja, aber du hast mich reingelegt." Stimmt. „Aber, was wird meine Familie denken, wenn wir so schnell wieder fahren?" „Keine Ahnung, du bist doch diejenige, die Gedanken lesen kann." „Aber nicht, wenn es sich um mich selbst oder Menschen handelt, die mir nahe stehen. Da bin ich vollkommen hilflos." „Du hast doch eine blühende Fantasie! Sag ihnen, ich muss dringend nach Afrika fliegen, um die Pocken zu bekämpfen. Mir ist das vollkommen egal. Ich kann deinen Leuten hier keinen Tag länger etwas vormachen." „Aber ich helfe dir dabei." „Nein, es geht nicht." Sie sah ihn verzweifelt an. „Wirklich nicht?" „Nein." „Und mit dem Klassentreffen wird es auch nichts?" „Nikki!" Sie seufzte tief auf. „Okay. Du hast gewonnen. Ich werde ihnen morge n erzählen, dass wir dringend zurückmüssen, weil einer deiner Patienten einen schweren Rückfall hat. Bist du nun zufrieden?" „Nein. Aber ich werde zufrieden sein, sobald wir morgen im Auto sitzen." Nikki drehte sich wortlos um, ging zu ihrem Koffer und öffnete ihn.
„Was machst du da?" „Mich zum Schlafen fertig, was sonst?" Sie griff nach ihrem Nachthemd, dem Morgenrock und der Kulturtasche, verschwand im Badezimmer und knallte wütend die Tür hinter sich zu. Er hatte ja Recht, aber warum konnte er nicht einmal gegen seine Prinzipien verstoßen? Sie zog sich schnell aus und das Nachthemd über. Danach putzte sie sich die Zähne. Sie war immer noch so wütend, dass sie fast die Zahnbürste zerbrochen hätte. Als sie aus dem Bad kam, sah sie Hollis in der Mitte des Raums stehen. Sie starrte ihn an. Er trug einen blauweiß gestreiften Schlafanzug, wie sie in den fünfziger Jahren modern waren. Süß sah er aus, charmant und hoffnungslos altmodisch. Auch er starrte sie an. Sie sah an sich hinunter. Ein schwarzer Seidenkimono mit aufgestickten Drachen und einem bescheidenen Ausschnitt, was war denn daran so besonders? Dann bemerkte sie, dass ein kleiner Teil ihrer Tätowierung zu sehen war, und sie zog den Kimono schnell zusammen. Nein, das Tattoo würde sie ihm nicht zeigen, nicht, wenn er sich so unfreundlich verhielt. Nikki zog den Gürtel fester und ging zum Schrank, um die Kopfkissen und eine Extradecke herauszuholen. Sie legte die Sofakissen auf den Bo den, breitete ein Laken darüber aus und legte die Decke darüber. Dabei fühlte sie sich beobachtet. Sie drehte sich um. „Ist was?" Hollis wurde rot, und ihr wurde klar, dass sie ihn dabei ertappt hatte, wie er sie fasziniert anstarrte. Er fasste sich schnell. „Kommt gar nicht in Frage, dass du auf dem Fußboden schläfst. Ich schlafe dort." „Auf keinen Fall Ich habe dir ein Hotelzimmer versprochen. Dann solltest du wenigstens in einem Bett schlafen können." Sie stopfte die Decke fest. Dann spürte sie, dass er sich hinter ihr bewegte. Nikki stand auf, und plötzlich lag sie in seine n Armen. Er roch so gut, und er fühlte sich wunderbar an. Sie musste an den Tanz in dem kleinen Restaurant denken. Hollis packte sie an den Oberarmen, und sekundenlang glaubte sie, er würde sie an sich ziehen und küssen. Aber er hob sie nur hoch und setzte sie seitlich von sich wieder ab. „Ich schlafe auf dem Fußboden", sagte er energisch, ließ sich auf den Kissen nieder und zog die Decke über sich. Unten schauten seine nackten Füße heraus. „Wenn du unbedingt willst." Nikki ließ sich grübelnd auf das Bett fallen. Hätte sie weiter mit ihm streiten sollen? Aber dann hätten sie womöglich noch um das Lager auf dem Fußboden gekämpft. Andererseits, eine körperliche Auseinandersetzung könnte eventuell zu Sex führen. Und vielleicht würde Hollis sich dann doch entscheiden zu bleiben. Nein, das war zu plump. Obwohl, die Idee, mit ihm zu rangeln, durchaus etwas Verführerisches hatte ... Es klopfte. „Um Himmels willen, da will uns jemand Gute Nacht sagen. Komm schnell hoch ins Bett." Sie zerrte Hollis hoch. „Sekunde, bitte!" Die Tür ging auf, und ihre Mutter kam herein, als Hollis halb auf Nikki lag. „Oh!" Nadine wurde blutrot, machte die Tür schnell wieder zu und rief: „Ich dachte, du hättest ‚Herein!' gesagt. Entschuldigt bitte." Nikki kroch unter Hollis hervor und lief zur Tür. „Das macht doch nichts. Wir haben nur so ein bisschen ..." „Ich ... ich wollte auch nur sagen, dass es um sieben Frühstück gibt", unterbrach ihre Mutter sie schnell und fügte dann flüsternd hinzu: „Es tut mir ja so Leid." „Kein Problem, ehrlich. Gute Nacht." Nikki schloss die Tür, drehte sich um und sah Hollis an. „Verstehst du nun, was ich meine? Das würde nur immer komplizierter werden", sagte er und streckte sich wieder auf dem Fußboden aus. „Okay, du hast gewonnen. Du brauchst nichts weiter zu sagen." Sie knipste das Licht aus und kroch ins Bett. Ein paar Minuten hörte sie schweigend zu, wie Hollis leise vor sich hin schimpfte. „Möchtest du das Bett?" fragte sie
schließlich. „Nein, auf keinen Fall!" Er schwieg kurz und seufzte dann. „Gute Nacht." Nikki zog sich die Bettdecke bis an das Kinn. Sie hatte ein schlechtes Gewissen und machte sich dazu noch Sorgen um ihren Vater. Außerdem war ihr nur zu deutlich bewusst, dass Hollis nur wenige Schritte von ihr entfernt lag, und dazu noch in diesem süßen altmodischen Pyjama. Sie konnte hören, wie er atmete. Drei Schritte, und sie wäre bei ihm ... Nikki drehte sich heftig um. Es hatte ihr gut gefallen, seine Frau zu spielen, auch wenn er meist wie gelähmt dagesessen hatte. Wenn sie mehr Zeit hätte, könnte sie ihn sicher dazu bringen, dass auch er dieses Spiel genoss. Aber sie fuhren ja morgen wieder. Hoffentlich hatte ihre Familie dafür Verständnis. Das Herz wurde ihr schwer bei dieser Überlegung. Sie wollte noch gar nicht fahren. Sie wollte länger mit ihrem Vater zusammen sein; sie wollte sich davon überzeugen, dass er wirklich auf dem Weg der Besserung war. Und sie wollte sich so gern mit ihrer Mutter über die neuesten Kochrezepte unterhalten. Und sie wollte mit ihr die alten Fotoalben ansehen und Scrabble spielen. Und mit Shelley und Byron war sie auch kaum zusammen gewesen. Hellwach lag sie neben Hollis und lauschte seinen Atemzügen. Das würde eine lange Nacht werden. Hollis fuhr hoch. Was war das? Die Kissen unter ihm hatten sich verschoben, und er lag halb auf den kalten Fliesen. Auch das noch. Er wür de wohl kein Auge zutun in dieser Nacht. Wo war eigentlich sein Kopfkissen? Da er schon mal wach war, beschloss er, schnell mal ins Bad zu ge hen. Falls er eine einigermaßen bequeme Position finden sollte, würde er nicht wieder aufstehen wollen. Er sah zum Bett hinüber. Die dicke Bettdecke wölbte sich. Nikki schlief wie ein Murmeltier, obgleich sie dafür eigentlich ein viel zu schlechtes Gewissen haben sollte. Nachdem Hollis ihre Familie kennen gelernt hatte, konnte er ein bisschen besser verstehen, weshalb sie diese Komödie aufführte. Ihre Eltern hatten ziemlich klare Vorstellungen davon, wie man leben sollte. Und da sie ihre Tochter liebten, machten sie sich natürlich Sorgen um Nikki. Und diese Sorgen wollte Nikki ihnen nehmen, was im Grunde sehr nett von ihr war ... Egal. Die Frau hatte ihn reingelegt und manipuliert und das von der ersten Minute an. Hollis stieß die Badezimmertür auf, knipste das Licht an und blieb wie angewurzelt stehen. Nikki saß auf dem Badewannenrand und weinte.
6. KAPITEL „Entschuldige, ich wusste nicht ..." Hollis sah sie verlegen an. „Ich hatte nur einen Albtraum, nichts weiter", sagte Nikki schnell, griff nach einem Papiertuch und drängte sich an ihm vorbei. Hollis schlo ss die Tür. Sie weinte seinetwegen, das war klar. Oberflächlich betrachtet wirkte sie cool und unerschrocken, tatsächlich war sie aber weich wie ein Marshmellow. Das hätte er sich eigentlich denken können. Warum hätte sie sich sonst diese Farce ausgedacht. Er knipste das Licht wieder aus und ging zurück ins Zimmer. Offensichtlich hatte sie sich die Bettdecke über den Kopf gezogen, trotzdem hörte er ihr unterdrücktes Schluchzen. Vielleicht sollte er mehr Verständnis für sie aufbringen und seine Entscheidung noch einmal überdenken. Er setzte sich auf die Bettkante. „Nikki, was ist mit dir?" Sie drehte ihm den Rücken zu. „Nichts. Ich heul eben manchmal, das erleichtert." „Was ist denn los? Warum hast du diese ganze Sache inszeniert?" Sie schniefte und setzte sich halb auf. „Ich war einfach unmöglich als Kind. Vermutlich, weil Donna immer so perfekt war und nie etwas Falsches tat. Ich weiß auch nicht. Ich bin kein Psychiater, aber ich glaube, ich habe das alles nur getan, um auf mich aufmerksam zu machen. Ich hab ziemlich viel Mist gemacht, und meine Eltern waren oft sehr traurig. Und nun möchte ich es so gern wieder gutmachen." Sie sprach stockend, und Hollis war gerührt von ihrer Aufrichtigkeit. Da war nichts mehr von der jungen Frau, die auf Teufel komm raus ihre Umwelt schockieren wollte. „Ich habe mir ein Leben ausgedacht, das meine Eltern glücklich macht. Und als meine Schwester mir sagte, dass Daddy ernsthaft krank sei, wollte ich ihnen unbedingt zeigen, dass mit mir alles in Ordnung ist und dass sie sich keine Sorgen machen müssen. Ich habe Angst um meinen Dad, und ich glaube, die Sache mit dem Tattoo-Studio wird er nicht verstehen. Außerdem fühlt er sich so lange für mich verantwortlich, bis ich einen Mann habe. Das ist zwar fürchterlich altmodisch, aber so ist er nun mal. So war er immer, und so wird er immer sein. Und weil es ihm nicht gut geht und ich ihn liebe, muss ich mich danach richten." Das konnte er gut verstehen, und er würde ihr helfen. Das war ihm auf einmal sonnenklar. Zwar hasste er Lügen, aber er begriff, dass Nikki auf ihre Weise das Richtige tun wollte. „Gut, ich helfe dir", sagte er leise. „Was?" Sie sah ihn entgeistert an. „Das willst du wirklich für mich tun?" Sie wischte sich über die Wangen, die im Mondlicht silbern schimmerten. „Ja", sagte er. „Ich bleibe das Wochenende hier und starte dann am Montag meine Motorradtour." „Du bleibst! Ich kann es kaum glauben!" Sie setzte sich auf, warf ihm die Arme um den Hals und drückte ihm einen Kuss auf den Mund. Hollis fuhr zusammen, als hätte er einen elektrischen Schlag bekommen. „Gut, das hätten wir dann." „Ich bin dir so dankbar! Du wirst es nicht bereuen. Wir werden uns bestimmt gut amüsieren, das verspreche ich dir." „Aber nur das Wochenende. Die Zeit sollte ausreichen, um deine Eltern zu beruhigen." Immer noch fühlte er ihre Lippen auf seinem Mund. „Bestimmt. Aber wer weiß, vielleicht gefällt es dir dann so gut hier, dass du auch noch die nächste Woche und bis zum Klassentreffen bleiben willst ..." „Auf keinen Fall. So lange kann ich nicht so tun, als ob. Außerdem sollten wir die ganze Sache mal etwas durchsprechen", sagte er und bemühte sich um einen geschäftsmäßigen Tonfall. „Inwiefern?" „Na ja, du musst mir helfen, wenn ich die Rolle von Warren überzeugend spielen soll. Ich muss ein bisschen mehr von ihm wissen."
„Ach so, das meinst du. Was er mag und wie er lebt und so." Hollis fühlte sich unbehaglich, als er Nikkis Blick aus diesen großen grünen Augen voll Dankbarkeit auf sich gerichtet sah, und wandte den Blick ab. „Ja, so in etwa." Ihm wurde plötzlich bewusst, dass er halb neben ihr lag. In einem Bett. Verdammt. Er zwang sich, die Decke anzustarren, aber er war sich Nikkis Gegenwart nur zu deutlich bewusst. „Gute Idee." Sie drehte sich ganz zu ihm um, stützte sich auf einen Ellbogen und sah Hollis an. Er atmete schneller. Nur eine kleine Bewegung, und sie würde auf ihm liegen. „Gut, lass mich mal überlegen", sagte Nikki. „Also, wir wissen schon, wie wir uns kennen gelernt haben, in meiner Boutique, natürlich nicht in einem Tattoo-Studio. Und dann?" Sie überlegte. „Ab da waren wir unzertrennlich." „Wirklich?" Er schluckte. Ihre Stimme wurde dunkel und sinnlich. „Natürlich. Wir konnten die Hände nicht mehr voneinander lassen." Er räusperte sich. „Tatsächlich?" „Oh ja! Wir hatten nur noch Sex im Kopf, hatten kaum noch Zeit zum Essen. Lebten buchstäblich von Luft und Liebe." „Verstehe ... und was noch?" Nikki lachte leise, offensichtlich genoss sie seine Verlegenheit. „Dann bekamst du die Chance, nach Südamerika zu gehen. Du konntest das Angebot nicht ablehnen, und ich konnte dich nicht begleiten. Deshalb entschlossen wir uns zu heiraten. Auch, um die drei Monate besser zu überstehen." „Gut", sagte er und musste sich räuspern. Die verfängliche Situation blieb nicht ohne Wirkung auf ihn. Nikkis raue dunkle Stimme klang verführerisch, und er starrte weiter hartnäckig an die Zimmerdecke. Dennoch konnte er nicht verhindern, dass er aus dem Augenwinkel auch Nikkis Körper wahrnahm, der im Mondlicht deutlich zu sehen war. Wenn der leichte Seidenkimono nur etwas zur Seite rutschen würde ... „Wo haben wir geheiratet?" Nikki runzelte die Stirn. „Ich weiß! Am Rand des Grand Canyon, das wollte ich immer schon." „Gut. Der Grand Canyon ist sehr eindrucksvoll. Wunderbare Farben, rot, lila und braun. Dazu riesige Kiefern und viele blühende Büsche." „Wunderbar. Wir haben uns dazu entschieden, weil ... nun, weil eben unsere gemeinsame Zukunft so weit und offen vor uns lag wie der riesige Canyon. Und weil unsere Liebe auch so etwas wie ein Naturwunder ist." Hollis musste lachen. „Sehr schön." „Die Zeremonie selbst war sehr kurz", fuhr sie fort. „Sowie wir die Papiere unterzeichnet hatten, verschwanden wir in unserem Hotelzimmer, von dem aus wir einen weiten Blick über den Canyon hatten, und starteten unsere Flitterwochen." „Flitterwochen?" Beide mussten sofort daran denken, was dieses Wort bedeutete. Und hier lagen sie nun tatsächlich zusammen in einem Bett wie zwei frisch Verheiratete. Sie hatten nur nicht den Ausblick auf den Grand Canyon. aber wer brauchte den, wenn sie zusammen waren? Hollis fasste sich als Erster. „Und dann fuhren wir wieder nach Hause", sagte er nüchtern. „In unser normales Alltagsleben. Wo wohnen wir denn?" Nikki lachte leise. „Gut ... also, lass mich überlegen. Die Gegend, in der ich wohne, ist zu schrill. Und du, wo wohnst du?" „Am Montgomery Place." „Eine hübsche Gegend. In Ordnung. Unsere Adresse ist also momentan Montgomery Place. Wir haben etwas Geld, weil du ein erfolgreicher Arzt bist, aber wir haben keinen aufwendigen Lebensstil. Allerdings legen wir Wert auf gute Qualität und haben jedes Möbelstück und jedes Bild an der Wand gemeinsam ausgesucht. Oder ... ich weiß noch was
Besseres. Wir haben uns die einzelnen exquisiten Stücke gegenseitig geschenkt, um uns unsere Liebe zu beweisen. Und natürlich landen wir dann regelmäßig im Bett." „Nikki ..." Hollis' Stimme klang angestrengt, „hättest du etwas dage gen, das Thema Sex auszuklammern?" „Gut, wenn du nicht willst. Ich versuche nur, mich in die Situation einzufühlen. Für eine gute Ehe ist Sex sehr wichtig, und wir führen doch eine gute Ehe?" „Ja." Hollis seufzte leise. Er kam einfach nicht gegen sie an. „Also, dann lass uns mal über einen ganz normalen Tag sprechen. Ob wohl wir uns nachts meist ein paar Mal lieben, wachst du früh auf. Und da Sex eine verjüngende Wirkung auf dich hat, küsst du mich wach, und sofort sind wir wieder ..." „Nikki!" „Gut, dann gehen wir gleich zum Frühstück über. Kannst du kochen?" „Omelettes sind meine Spezialität." Endlich sprachen sie mal über et was Unverfängliches. „Wunderbar. Ich kann im Grunde nicht kochen, aber in diesem Fall gehen wir mal davon aus, dass ich uns Waffeln zum Frühstück mache. Ich stehe also am Küchentisch und mixe den Teig, während du von hin ten kommst und meine kleine schwarze Spitzenschürze hochhebst. Ich kann mich nicht rühren, weil ich die Hände voll Teig habe, aber das hall dich nicht davon ab ..." „Bitte!" stöhnte er. „Entschuldige", flüsterte sie. „Meine Fantasie geht immer so leicht mit mir durch. Und Essen hat etwas so Sinnliches, der Duft, der Geschmack... Man bewegt die einzelnen Bissen im Mund hin und her, umschmeichelt sie mit der Zunge ..." Hollis' Haut kribbelte. „Okay. Ich mach also das Omelette und du die Waffeln. Und dann frühstücken wir." „Natürlich benutzen wir nur einen Teller und füttern uns gegenseitig. Dabei sehen wir uns in die Augen, beobachten, wie sich unsere feuchten Lippen bewegen, wie die Zunge immer wieder leicht hervorkommt, um einen Krümel aus dem Mundwinkel ..." „Hör auf!" „Aber ich möchte doch nur, dass du die Situation nachempfinden kannst. Wir müssen morgen glaubwürdig wirken." Er stöhnte. „Und Essen", führ sie unbeirrt fort, „ist im Grunde etwas so Sinnliches, dass wir uns manchmal nicht länger zurückhalten können. Wir stoßen alles vom Tisch und lieben uns gleich da. Oder auf dem Tresen der im Stehen, gegen den Kühlschrank gelehnt." Nikkis Worte wirkten auf Hollis wie körperliche Liebkosungen. Mit ihren Worten streichelte sie ihn und brachte ihn dazu, sich immer weiter auf ihre Fantasien einzulassen. Alles schien so richtig und so natürlich zu sein. Was war denn schon dabei? Sie hatten schließlich den ganzen Nachmittag und Abend Ehepaar gespielt, und nun verzauberte sie ihn mit ihrer Stimme, die unglaublich erregend war. Er musste etwas näher an Nikki heranrücken, um sie besser verstehen zu können. „Nikki", flüsterte er. Und dann drehte er sich zu ihr um, schob sich auf sie und presste seinen Mund auf ihre Lippen. Er wusste selbst nicht, wie es geschah. Vielleicht träumten sie denselben Traum und hatten sich im Dunkeln endlich gefunden. „Hollis." Nikki schmiegte sich an ihn, und ihre Körper passten zusammen, als wären sie füreinander geschaffen. Ihr Mund fühlte sich genauso an, wie er es sich vorgestellt hatte, am Morgen im Auto, als sie an ihren Käsechips geknabbert hatte - verführerisch weich und warm. Sie erwiderte den Kuss ohne Scham, und er schob ihren Kimono auseinander und umfasste ihre festen kleinen Brüste. Nikki erschauerte, wie Hollis mit Genugtuung registrierte. Aber als sie die Hand über die Vorderseite seiner Pyjamahose gleiten ließ, hatte er das Gefühl, sein Blut würde sich in seinem Unterkörper sammeln. Er wollte Nikki von ihrem Kimono befreien, ihre Brüste mit Zunge und Lippen liebkosen, bis sie aufstöhnte, er wollte ihren Körper streicheln, sei ne Hand
zwischen ihre Beine schieben und sie reizen, bis sie sich wild unter ihm wand, und dann ... Hollis erstarrte plötzlich. Was tat er da? Und was war mit Rachel? „Ich kann nicht." Er ließ Nikki los und rollte sich auf den Rücken. Nikki kehrte widerwillig in die Realität zurück. Es hatte sich alles so richtig angefühlt. Sie waren Mann und Frau. Und die Geschichte passte so gut. „Warum denn nicht?" fragte sie, aber sie konnte es sich schon denken. „Wegen deiner Freundin, was?" „Ja." Hollis atmete schwer. „Wir sind so gut wie verlobt." „Was?" Mit einem Ruck setzte Nikki sich auf. „Du bist so gut wie verlobt? Du hast gesagt, sie ist deine Freundin. Außerdem küsst du nicht wie ein Mann, der mit einer anderen verlobt ist." „Ich konnte nicht dagegen an. Du hast mich einfach überwältigt." „So? Und was war mit dir? Was hast du mit deinen Händen gemacht? Und wer hat fast draufgelegen?" „Aber Nikki, du weißt doch genau, dass du mich verführen wolltest." „Ich habe nur unsere Geschichte ausgemalt und hatte vielleicht nichts dagegen, das zu genießen, was sich daraus ergab. Schließlich hast du an gefangen und mich geküsst, nicht anders herum." „Warum hast du auch immer nur über Sex geredet? Da ist bei mir ei ne Sicherung durchgeknallt. Du hast es übertrieben." „Was?" Sie sah ihn empört an. „Du machst mir Vorwürfe? Das darf ja wohl nicht wahr sein!" Sie glitt aus dem Bett und ließ sich auf dem Kissenlager auf dem Fußboden nieder. „Was soll das?" „Ich will jetzt endlich schlafen. Au!" Sie hatte sich an der Bettkante ge stoßen. „Spiel bloß nicht die Märtyrerin. Du kannst doch auch hier im Bett schlafen. Ich werde dich nicht stören." „Auf keinen Fall. Ich will dich doch nicht wieder in Versuchung führen! Vielleicht klingt mein Schnarchen ja auch noch verführerisch, und du kannst dann nicht mehr an dich halten. Was würde Rachel dazu sagen?" „Lass Rachel aus dem Spiel." „Wenn du dich ihr so verbunden fühlst, warum bist du dann überhaupt mitgekommen?" „Du hast mich doch erpresst." Das kam eher zögernd. „Unsinn. Ich habe genau bemerkt, wie du mich angesehen hast. Du wolltest es." Hollis schwieg, und sie wusste, dass sie ins Schwarze getroffen hatte. „Ich würde vorschlagen, dass du dir die Sache mit Rachel noch mal sehr gut überlegst. Du bist einfach sexuell zu schnell erregt für einen Mann, der sich einer Frau fest verbunden fühlt. Ein Haus und die üblichen zwei Kinder machen aus zwei Menschen noch kein glückliches Ehepaar, wenn der sexuelle Kick fehlt. Auch wenn du das vielleicht nicht wahrhaben willst." „Wenn du jetzt wieder mit dem Aura-Blödsinn kommst, dann weigere Ich mich zuzuhören." „Ich brauche gar nicht deine Aura zu lesen. Ich kann auch so feststellen, ob der Mann, den ich küsse, sexuell unbefriedigt ist." Sie warf sich auf die Kissen und schrie auf, als sie den kalten Boden berührte. „Nikki, komm doch ins Bett, damit du endlich schlafen kannst." „Auf keinen Fall!" Die Genugtuung würde sie ihm nicht geben. Sie schob die Kissen zusammen und legte sich hin. Aber eine einzige Umdrehung, und sie würde wieder den kalten Boden spüren. „Verdammt!" „Komm jetzt sofort ins Bett, oder ich helfe nach", sagte Hollis. „Ich habe wirklich nicht die geringste Lust, mir die ganze Nacht dein Gejaule anzuhören." „Ich bleibe hier unten. Ich bin schon ruhig." Aber dann verlor sie das Kopfkissen, die Decke rutschte, und die Kissen verschoben sich immer wieder. Nikki biss die Zähne zusammen, aber der Gedanke an ein weiches warmes
Bett wurde immer verlockender. Sowie sie Hollis' tiefe Atemzüge hörte, erhob sich Nikki, schlich auf Zehenspitzen zur anderen Seite des Bettes und legte sich ganz an den Rand. Sie würde rechtzeitig wieder aufwachen und sich dann schnell auf ihre Kissen legen, bevor Hollis überhaupt merkte, dass sie mit ihm in einem Bett geschlafen hatte. In diesem Moment schnaufte Hollis, drehte sich auf die Seite und legte einen Arm um Nikki. Seine Hand lag auf ihrem Gesicht, und sie hatte Schwierigkeiten, Luft zu bekommen. Sie bewegte sich vorsichtig, bis seine Hand ihren Oberarm umfasste. Sie war gefangen. Aber sowie er den Griff lockerte, würde sie das Bett verlassen, sagte sie sich und kuschelte sich tiefer unter die warme Decke. Wie beruhigend sein gleichmäßiger Atem war. Schade nur, dass Hollis so anstrengend war, wenn er wach war. Noch halb im Schlaf, schmiegte Ho llis sich an den warmen Körper ne ben ihm. Rachel war fülliger geworden und nicht mehr so knochig wie früher. Es war sehr erregend, sie in den Armen zu halten. Er wollte gerade ihre Brüste umfassen, als ihm plötzlich klar wurde, dass er nicht mit Rachel, sondern mit Nikki im Bett lag. Wie kam das denn? Nikki seufzte leise im Schlaf und drückte ihren Po fester gegen ihn. Himmel, fühlte sich das gut an. Es war der helle Wahnsinn. Was soll ich bloß tun? fragte Hollis sich. Niemals könnte er das die ganze Nacht aus halten, ohne sie zu streicheln, sie zu liebkosen ... Ganz vorsichtig, um sie nicht aufzuwecken, glitt er aus dem Bett und kroch auf das Kissenlager. Es war kalt und unbequem, aber das war ihm nur recht, eine gute Ablenkung von der warmen verführerischen Frau, die nur wenig entfernt schlief. Hollis machte sich Vorwürfe. Er kam sich wie eine üble Ratte vor, und er hatte das Gefühl, es geschah ihm ganz recht, dass er auf diesen klumpigen Kissen liegen musste. Die arme Rachel vertraute ihm und wähnte ihn mit seinem Motorrad allein auf dem Highway. Stattdessen lag er mit einer anderen Frau im Bett und konnte sich vor Erregung kaum noch zurückhalten. Hollis drehte sich auf den Rücken und stellte sich vor, dass er einen komplizierten Wurzelkanal säubern oder, noch schlimmer, die erste Rate für die Hypothek zahlen musste. Aber umsonst, Nikki geisterte weiterhin durch seine Gedanken. Er konnte auch nicht vergessen, was sie über ihn gesagt hatte. Dass er sexuell zu schnell zu erregen war für jemanden, der fast verlobt war. Aber er wollte ja auch gar nicht heiraten, wenigstens jetzt noch nicht. Und Rachel, ob sie überhaupt die richtige Frau für ihn war? Noch nie hatte er auf sie so reagiert wie jetzt auf Nikki. Er brauchte nur an Nikkis Duft, an ihre Berührungen, ihren Kuss und die dunkle raue Stimme zu denken, und schon verlangte sein Körper nach ihr. Vielleicht hatte das mit seiner Sehnsucht nach Freiheit zu tun. Wie die Motorradtour, auf die er sich schon so freute. Vielleicht repräsentierte Rachel ein Leben in Grenzen, und Nikki vermittelte ihm das Gefühl von Freiheit. Er war wahrscheinlich noch gar nicht bereit, sich endgültig zu binden. Deshalb reagierte er so extrem auf Nikki. Wie auch immer, er musste Rachel eine Chance geben. Er durfte sich nicht von seiner Torschlusspanik zu falschem Handeln verleiten lassen, auch wenn Nikki praktisch neben ihm lag in diesem Nichts von einem Nachthemd. Verdammt. Er drehte sich auf die Seite und zwang sich die Augen zu schließen. Jetzt berührte er mit der Hüfte die kalten Fliesen. Aber das geschah ihm ganz recht. Warum hatte er sich auch auf diese Geschichte eingelassen? Nikki wachte in der Morgendämmerung auf und fuhr hoch. Himmel, sie war viel zu lange im Bett geblieben! Vorsichtig rollte sie sich von der Matratze und wollte aufs Kissenlager überwechseln. Aber was war das? Hollis lag auf den verrutschten Kissen, mit dem Po auf den Fliesen, ein Bein ausgestreckt, einen Arm unter den Kopf geschoben. Das Kopfkissen war wer weiß wo hingerutscht. Er sah einfach zum Anbeißen aus. Groß, gut gebaut und sexy in seinem altmodischen
Pyjama. Er konnte erstaunlich gut küssen. Sie hatte eigentlich das Gegenteil erwartet. Er war zwar einfühlsam und behut sam, wusste aber genau, was er wollte und wie er es bekam. Und sein Körper hatte sich so gut angefühlt, dass sie ganz vergessen hatte, dass sie im Grunde Fremde waren. Fremde, die nicht mal zusammenpassten. Aber sie begehrte ihn. Doch er hatte einen Rückzieher gemacht, der Feigling, und hatte behauptet, so gut wie verlobt zu sein. Verdammt. Damit hatte er sie in die Schranken verwiesen. Sie wusste, dass sie sehr auf Männer wirkte, besonders auf solche Typen wie Hollis, denn sie war alles zu sehr, zu intensiv, zu eloquent, zu emotional, zu lebendig. Und auch zu sexy. „Du bist einfach zu intensiv", hatte schon Brian Collier zu ihr gesagt, als sie eine Erklärung dafür verlangt hatte, warum er sie wegen Heather verließ. „Du scheinst Röntgenaugen zu haben, nichts entgeht dir. Ich bin immer völlig fertig, wenn ich mit dir zusammen war. Zu viele Fragen, zu.viel Gefühl." Die wenigen Männer, mit denen sie sich eine längere Bindung hatte vorstellen können, hatten sich ähnlich geäußert. Deshalb war sie dazu übergegangen, nur noch oberflächliche Beziehungen einzugehen. Sie kannte viele Männer, mit denen sie einfach nur befreundet war, meist Musiker oder ehemalige Kunden, und ein paar, mit denen Sex Spaß machte. Aber das, was eine richtige Liebe ausmachte, nämlich die Verbundenheit von Körper und Seele, lag für sie in weiter Ferne. Eines Ta ges, so schwor sie sich, würde sie den Mann finden, der genauso empfand wie sie. Sie legte sich bäuchlings auf das Bett und beobachtete Hollis. Er sah so ernst aus, selbst im Schlaf. Aber er hatte auch Humor, das hatte sie schon feststellen können. Wenn sie bloß nicht diese Geschichte über ihr gemeinsames Leben erfunden hätte, denn plötzlich wünschte sie sich so ein Leben mit ihm, so unmöglich das auch war. Hollis drehte sich um und öffnete die Augen. Er blinzelte, als könnte er nicht glauben, was er sah. „Morgen", sagte er dann, und seine Stimme klang verschlafen. „Guten Morgen", antwortete Nikki und war sich nur zu sehr bewusst. dass sie sich lediglich einige Zentimeter vorbeugen müsste, um ihn zu küssen. „Ich wollte dich nicht aus dem Bett vertreiben. Habe ich dir zu wenig Platz gelassen?" „Nein, ich musste nur weg." Hollis wurde rot. Nikki zog sich schnell zurück und setzte sich aufrecht hin. „Nikki, in der letzten Nacht..." „Das war nicht meine Schuld", sagte sie sofort. Für seinen feigen Rückzieher würde sie nicht die Verantwortung übernehmen. „Versuch nicht, mir in die Schuhe zu schieben, dass ..." „Lass mich doch ausreden. In der letzten Nacht überkam es mich einfach. Wir waren uns so nah, haben darüber geredet, wie unser gemeinsames Leben ... und da ist es eben einfach ..." „Passiert", flüsterte sie. „Ja." Er sah sie an, und sie konnte sehen, dass er sie immer noch begehrte und sich dafür verachtete. „Du hast mir zwar versprochen zu bleiben, Hollis, aber du musst dich nicht gezwungen fühlen. Schließlich habe ich dich ja wirklich reingelegt. Außerdem hast du eine feste Freundin. Oder sollte ich Verlobte sagen?" „Ich habe versprochen, dir zu helfen", sagte er, „und dieses Versprechen werde ich auch halten." „Wirklich?" Er war einfach zu anständig. „Wir werden in Zukunft vernünftig sein", sagte er. „Wir sind schließlich erwachsen und können uns beherrschen." „Meinst du wirklich?" Sie liebte seine Augen, die so ernst und so freundlich blicken konnten. Und wenn sie begehrlich funkelten, so wie jetzt, dann hätte sie dahinschmelzen können. „Wir müssen." „Dann wollen wir lieber das Bett wieder zusammenklappen", sagte ''sie. „Damit wir gar
nicht erst in Versuchung kommen." „Gut." Hollis stand auf und legte gemeinsam mit Nikki die Betttücher zusammen. Dann hob Nikki die Matratze an einer Seite an, während Hollis sich vorbeugte, um die Polster zusammenzuschieben. „Stopp! So ein Mist!" Er verzog sein Gesicht und krümmte sich nach vorn. „Was ist denn los?" „Meine Hose hat sich im Bett verklemmt." „Du liebe Zeit!" Nikki ließ die Matratze los und kroch über das Bett. Tatsächlich. Der Schritt seiner Pyjamahose hing fest. „Es ist doch hoffentlich wirklich nur die Hose ..." Er wurde rot. „Um Himmels willen, ja." „Lass mal sehen." Sie zerrte am Stoff, um Hollis zu befreien. Was für eine verrückte Situation! Auf diese Art war sie dem edelsten Stück eines. Mannes noch nie nahe gekommen. Es war ihr unangenehm, dass sie ihn da ständig berührte, doch Hollis schien nichts dagegen zu haben ... Nikki zog an der Hose, immer bemüht, Hollis' so wenig wie möglich anzufassen. „Es ist der Knopf, der sich verhakt hat. Er muss ab." Da sie mit beiden Händen den Stoff gespannt hielt, beugte sie sich vor, um den Faden durchzubeißen. Ein kurzes Klopfen, dann wurde die Tür aufgestoßen. „Shelley, du sollst doch nicht stören ..." Nadines entgeistertes Gesicht wurde hinter Shelley sichtbar. „Was machst du denn da, Tante Nikki?" fragte Shelley. Nikki fuhr hoch. Ganz sicher nicht das, wonach es aussah. „Du liebe Güte!" Ihre Mutter packte Shelley, riss sie zurück und schloss schnell die Tür. „Shelley wollte euch nur ausrichten, dass das Frühstück gleich fertig ist!" rief sie von draußen. „Aber lasst euch Zeit." Hollis platzte los vor Lachen. „Das ist gar nicht komisch", sagte Nikki. „Jetzt glaubt meine Mutter, wir wären die reinsten Sexmonster." „Wenn es nur so wäre." Sie sah ihn verblüfft an. „Theoretisch, meine ich." Er wandte den Blick ab, immer noch lachend. „Noch eine Sekunde." Nikki biss den Faden durch, löste den Knopf und stand auf. „Geschafft." Dann streckte sie ihm die Zunge heraus, auf der der Knopf lag. Er nahm ihn an sich. „Gut gemacht." Plötzlich lachten sie beide los. Sie fühlten sich fast wie ein Team, das gemeinsam wichtige Aufgaben zu erledigen hatte. Sie mussten Nikkis Familie beeindrucken ... und ihre sexuelle Begierde unterdrücken. „Zieh dich an", sagte sie. „Ich werde mich vergewissern, dass ich meine Nichte nicht zu Tode erschreckt habe." Ihre Mutter war im Esszimmer und deckte den Tisch. Ihr Gesicht war immer noch rot, und sie hatte Schwierigk eiten, die Bestecke gerade hinzulegen und die Servietten ordentlich zu falten. Nikki legte ihr den Arm um die Schultern. „Es war nicht so, wie es aus sah, Mom. Warrens Pyjama war im Bett eingeklemmt und ..." „Bitte, sag nichts", wehrte ihre Mutter schnell ab. „Was zwischen Mann und Frau im Schlafzimmer vor sich geht, ist allein deren Angelegenheit." „Aber ehrlich. Auch wenn es so aussah ..." „Ich habe Shelley gesagt, ihr würdet eure ... nun ... Übungen machen." Gut. Aber eigentlich war es ja traurig, dass die einzigen Übungen, die sie machten, nur der Selbstbeherrschung dienten. Hollis wusste einfach nicht, was er tun sollte. Nikki hatte eine solche Wirkung auf ihn,
dass er kaum an etwas anderes denken konnte. Sollte er Rachel anrufen? Ihr erzählen, er hä tte sich in eine andere Frau verliebt, und abwarten, was passieren würde? Aber diese ganze Geschichte, ausgehend von der Tatsache, dass er sich von Nikki erpressen ließ, bis hin zu den sexuellen Fantasien und ihrer angeblichen Ehe, konnte lediglich Ausdruck seiner Sehnsucht sein, aus dem normalen Leben auszubrechen und mal etwas ganz anderes zu tun. Seine starke Reaktion auf Nikki war vielleicht nur vorübergehend, und später, wenn er wieder in Phoenix war oder wenigstens von Nikki ge trennt, würde sein Leben wieder in gewohnten Bahnen verlaufen. Wenn er Rachel jetzt anrief, beunruhigte er sie vielleicht ganz unnötig. Nein, er würde dieses Wochenende schon irgendwie überstehen, und während der Motorradtour hatte er dann genügend Zeit, über alles nach zudenken. Er würde danach schon wissen, was zu tun war.
7. KAPITEL In Gedanken versunken betrat Hollis das Esszimmer und wäre fast mit Shelley zusammengestoßen, die mit einem Krug Orangensaft aus der Küche kam. „Nach dem Frühstück wollen wir Verkleiden spielen, Onkel Warren." Sie stellte den Krug auf den Tisch und verschwand wieder in der Küche. Hollis beugte sich zu Nikki hinunter. „Rette mich." „Ich werde es versuchen", flüsterte sie. Sie wandte sich an ihre Mutter. „Sind die Kinder ständig hier?" „Sie betrachten das hier quasi als ihr zweites Zuhause", sagte Nadine mit einem kleinen Seufzer aber gleichzeitig mit Stolz in der Stimme. Das wunderte Nikki, denn Shelley und Byron verbreiteten das reinste Chaos. Und wie streng war ihre Mutter früher mit ihren eigenen Kindern gewesen. Sie durften nicht mit dem Essen spielen, gegessen wurde nur in der Küche, und Herumrennen im Haus war verboten. „Wir haben sie gern hier", fuhr Nadine fort. „Wenn ihr mal Kinder habt, könnt ihr sie auch bei uns lassen." „Das ist lieb von dir", sagte Nikki leise. Kinder. Schon zum zweiten Mal hatte ihre Mutter Kinder erwähnt. Wieder setzte sie sie unter Druck. Eine Schwangerschaft würde sie nicht vortäuschen können. Vielleicht konnte sie sich irgendwo ein Baby ausleihen ... Sie warf Hollis einen Blick zu. Er verteilte die Gläser, langsam und behutsam, und stellte sie genau dorthin, wo ihre Mutter es vorgesehen hatte. Er fügte sich gut ein. Seine Finger, kräftig, aber geschickt und zärtlich ... Hör auf, ermahnte Nikki sich. Er passt nicht zu dir. Er würde dich langweilen, und du würdest ihn verrückt machen. „Was hast du gesagt, Mom?" „Ich habe gesagt, dafür sind Großeltern ja da. Wir würden sie allerdings nicht zu sehr verwöhnen. Euch haben wir doch auch nicht verwöhnt, oder?" „Oh nein!" Das konnte man wirklich nicht sagen. „Ich finde ja", Nadine senkte ihre Stimme, „dass Donna ihnen zu viel durchgehen lässt. Sie bringt es einfach nicht fertig, auch mal Nein zu sagen." Nikki war überrascht. Ihre Mutter kritisierte die perfekte Tochter, die früher nie etwas falsch machen konnte? „Wo ist Donna eigentlich?" „Wahrscheinlich macht sie sich immer noch zurecht. Ich weiß auch nicht, was das soll. Das Äußere ist nicht so wichtig, das habe ich euch Mädchen doch immer gepredigt. Wahre Schönheit kommt von innen." Donnerwetter, noch eine Kritik. Dann war die perfekte Donna in den Augen der Mutter doch nicht so perfekt. Plötzlich spürte Nikki so etwas wie Zuneigung zu ihrer Schwester. Früher konnte sie sie nicht ausstehen, weil sie den Eltern immer als Musterbeispiel gedient hatte. Und nun war sie auf einmal nicht mehr unfehlbar und ganz menschlich. „Ich weiß gar nicht, warum die Kinder ihr so auf die Nerven gehen", fing Nadine wieder an. Weil sie genau so eine Perfektionistin ist, wie du früher eine warst, hätte Nikki am liebsten gesagt. „Hier kommen Grandmas Zimtschnecken!" Shelley hielt das Tablett hoch über ihren Kopf, damit Byron nicht drankam. „Ich will sie tragen!" schrie er, „lass mich doch mal!" „Du bist noch zu klein. Du lässt sie fallen." Shelley schwenkte das Tablett zur Seite, und die oberste Schicht Zimtschnecken rutschte auf den Boden. Sie landeten natürlich auf der Seite mit dem Guss. „Das ist deine Schuld!" kreischte Shelley. Byron sah sie entsetzt an. „Nein, du hast sie fallen gelassen!" Beide heulten. „Das war doch nur ein Versehen", sagte Nadine in dem bestimmten Ton, an den Nikki sich so gut erinnerte. Byron hob zwei der Schnecken auf und drückte sie sich gegen die Brust. „Guck mal, ich hab einen Busen." Er tanzte um den Tisch und sang: „Ich hab einen Busen, ich hab einen
Busen!" „Du hast sie ja wohl nicht mehr alle!" sagte Shelley verächtlich. „Babykram!" In diesem Augenblick kamen Donna und Dave ins Zimmer. Dave hatte seine Anglermontur angelegt inklusive der Weste mit den diversen Taschen und einem Strohhut, an dem die Köderfliegen steckten. „Wir müssen los, Schwager", sagte er zu Hollis und schlug ihm auf die Schulter. Hollis sah ihn erstaunt an. „Wir hätten schon in der Morgendämmerung aufbrechen sollen, aber da ihr ja Ferien habt, wollte ich euch noch ein bisschen Extrazeit gönnen." Dave lachte anzüglich. Hollis lächelte verlegen. „Ja, sicher." „Guck mal, Mommy. Ich hab einen Busen wie du", schrie Byron. „Oje, auch das noch!" Donna, perfekt gekleidet, geschminkt und frisiert, sank auf einen Stuhl. „Immer mit der Ruhe, ich mach das schon", sagte Nadine. Shelley legte jedem eine Zimtschnecke auf den Teller, wobei sie sich zwischendurch immer wieder die Finger ableckte. „Entschuldige, dass die Kinder so unmöglich sind", flüsterte Do nna Nikki zu. „Manchmal wird mir alles zu viel. Wenn Mom sie nicht hin und wieder nehmen würde, könnte ich es nicht aushalten." „Ich kann mir vorstellen, dass Kinder sehr anstrengend sein können." „Das kann ich dir sagen. Warte ab, bis du eigene hast." Byron hatte sich ein neues Spiel ausgedacht. Er presste sich zwei Zimtschnecken auf die Augen und schrie: „Ich bin ein Monster, ich bin ein Monster!" Shelley piekte in seine Zimtschneckenaugen und holte sich den Mittelteil heraus. „Mommy!" jammerte Byron. „Shelley hat meine Augen kaputtge macht." „Hört auf!" Donna war genervt. „Mach dir nichts draus. Komm her, und setz dich hin." Nadine hob Byron hoch und setzte ihn auf einen Stuhl neben sich. „Ich fürchte, Shelley ist Byron überlegen und lässt ihn das merken", sagte Donna leise zu Nikki. „Und dann führt er sich so auf, um Aufmerksamkeit zu erregen." „Bisschen so, wie damals bei uns, was?" Donna sah Nikki überrascht an. „Wir waren doch nicht so, oder?" „Erinnerst du dich noch, als du mich an den Sonnenschirm gefesselt hast, der in der Sandkiste stand?" „Ja. Du warst der Prinz, der im Kerker eingesperrt war, und ich wollte kommen, um dich zu befreien. Ich war die gute Fee." „Ich ertrug es nicht, gefesselt zu sein. Und du warst so bestimmend." „Aber du hast immer alles mitgemacht." Nikki lächelte. „So ähnlich wie Byron?" Bevor Donna darauf antworten konnte, verkündete Shelley. „Ich will beten." Sie faltete die Hände. „Wir danken dir, Herr, für unser Essen." „Danken dir, Herr", wiederholte Byron, „für unser ... autsch! Sie hat mich getreten." „Hört jetzt endlich mit dem Gezanke auf", sagte Donna. „Lass Shelley das Gebet zu Ende sprechen, Byron. Du bist dann beim Abendessen dran." Sie sah Nikki lächelnd an. „Ich glaube, ich verstehe, was du meinst." Nach dem Tischgebet erkundigte sich Nikki nach ihrem Vater. „Er hat bereits gegessen", sagte ihre Mutter. „Es geht ihm fabelhaft. Ab heute bekommt er keine Schmerztabletten mehr. Er sollte jetzt aufstehen." „Aber wir wollen doch kein Risiko eingehen. Ich meine, wir wollen sein Herz doch nicht überbelasten." „Es wird Zeit, dass das mal wieder richtig in Schwung kommt." Machte ihre Mutter es sich nicht ein bisschen zu einfach? Vielleicht verdrängte sie nur ihre eigenen Ängste? Nikki warf
Donna einen besorgten Blick zu, die daraufhin beruhigend lächelte. „Nikki, mein Liebes", sagte Nadine jetzt fröhlich. „Ich möchte dich um einen Gefallen bitten. Für unseren nächsten Basar möchte ich ein paar Schürzen mit hübschen Applikationen versehen. Kannst du mir vielleicht ein paar Entwürfe machen?" „Ja, selbstverständlich." Nikki freute sich, dass ihre Mutter ihr so etwas zutraute. „Sie ist nämlich so kreativ, unsere Nicolette", wandte sich Nadine an Hollis. „Wir hatten gehofft, dass sie Werbegrafikerin wird." Sie warf Nik ki einen enttäuschten Blick zu. „Aber sie hat sich anders entschieden." „Ich glaube, Nikki kann ihre Kreativität auch gut in ihrem jetzigen Be ruf anwenden." Hollis legte Nikki einen Arm um die Schultern und zog sie an sich. „Oh ja, natürlich", sagte Nadine schnell. Nikki sah Hollis dankbar an, und er drückte ihr die Hand. Ihr wurde warm ums Herz. Sie hatten das Essen noch nicht beendet, als die Glocke des Vaters zu hören war. „Bitte, entschuldigt mich." Nadine wischte sich den Mund ab und verließ das Esszimmer. Kurze Zeit später war sie wieder zurück. „Warren, dein Schwiegervater würde dich gern kurz einmal konsultieren, bevor du angeln gehst." Hollis sah Nikki gequält an. Was sollte er sagen? Sie nickte beruhigend. Auf dem Weg ins Schlafzimmer zerbrach sich Hollis den Kopf, wie er mit dem alten Herrn umgehen sollte. Was wusste er denn noch über Herzbeschwerden? Seit dem Physikum hatte er sich nicht mehr damit beschäftigt. „Setz dich, mein Sohn", sagte Harvey und klopfte auf den Stuhl ne ben seinem Bett. Er sah gut aus für jemanden, der schwer herzkrank war. „Wie geht es Ihnen, Sir?" „Gut, sehr gut. Aber sag doch Harvey zu mir." „Gern, Harvey. Leider muss ich Ihnen sagen, dass ich von Herzkrankheiten kaum etwas weiß." „Um so besser. Denn das ist nicht der Grund, weshalb ich dich sprechen wollte. Ich möchte dir sagen, wie glücklich ich bin, dass wir dich endlich leibhaftig kennen lernen." Er legte Hollis eine Hand auf den Arm. „Im Vertrauen gesagt, Nadine und ich hatten schon befürchtet, dass es dich gar nicht gib t, dass Nikki uns etwas vormacht." Hollis' Lachen fiel etwas kläglich aus. „Wir hatten vor, nach Phoenix zu fahren, wenn es mir wieder gut geht, denn wir wollten uns vergewissern, dass mit Nikki alles in Ordnung ist. Aber als Donna uns sagte, dass Nikki zu dem Klassentreffen käme und du sie begleiten würdest, war das ja nicht mehr nötig. Und was du für unsere Nicolette getan hast, dafür kann ich dir gar nicht genug danken." Jetzt kam Hollis sich wie der letzte Mistkerl vor. „Als sie vor zehn Jahren ihr Zuhause verließ, war sie mit uns total über Kreuz und voller Zorn." Er räusperte sich. „Ihre Mutter und ich, wir ha ben uns große Mühe gegeben, ihr beizubringen, dass es bestimmte Re geln gibt, die man einhalten muss, und dass die Regeln in einer Gemeinschaft einen Sinn haben. Wie sollten die Menschen sonst zusammenleben können? Aber sie glaubte uns nicht. Für Nicolette waren Re geln immer etwas, was ihre Freiheit einschränkte. Es war eine schlimme Zeit." Er schüttelte den Kopf und sah Hollis dann strahlend an. „Aber das ist nun alles vorbei. Sie hat zu sich selbst gefunden, ist selbstbewusst geworden, und das haben wir dir zu verdanken." „Aber, Mr. Winfield ..." „Harvey. Oder Dad, wenn dir das lieber ist." „Harvey", sagte Hollis schnell. Dad ging nun wirklich zu weit. „Nikki ist noch genauso, wie sie war, als ich sie kennen lernte." Kein Wunder, sie waren sich ja auch erst vor fünf Tagen begegnet. „Sie hat sich schon vor langer Zeit ganz ohne meine Hilfe zu einer selbstständigen Frau entwickelt." „Du bist zu bescheiden, mein Sohn. Aber das Wichtigste ist natürlich, was ihr füreinander
empfindet. Man kann sehen, dass sie dich anbetet." Wohl kaum. Sie hielt ihn sicher für einen geschniegelten Langweiler, der es schon für einen Akt der Rebellion hielt, wenn er mal seinen Sicherheitsgurt im Wagen nicht anlegte. Harvey sah ihn abwartend an, und Hollis wusste, er wollte hören, dass er seine Tochter anbetete. „Ich versichere Ihnen, Mr. Winfield, ich meine, Harvey, dass Nikki und ich genau dasselbe füreinander empfinden." Genial. Das war die Wahr heit, und Harvey konnte sie in seinem Sinne interpretieren. „Darüber bin ich aber froh, mein Sohn." Harvey ergriff Hollis' Hand und schüttelte sie kräftig. „Wir verlassen uns darauf, dass du gut auf unser kleines Mädchen aufpasst. Du wirst uns nicht enttäuschen." Er hatte die gleichen intensiv grünen Augen wie Nikki. Und als er Hollis jetzt ernst in die Augen sah, mit diesem durchdringenden Lehrerblick, musste Hollis sich bemühen, diesem Blick standzuhalten. Harvey hielt ein bisschen länger durch, und Hollis hatte das ungemütliche Gefühl, dass Nikkis Vater vielleicht doch einen winzigen Zweifel haben könnte. Deshalb stand er schnell auf, entschuldigte sich und verließ den Raum, bevor Harvey noch weitere Fragen stellen konnte. Nach dem Frühstück zogen sich Nikki und ihre Mutter in das Nähzimmer zurück, um sich mit den Schürzen zu beschäftigen. Nikki skizzierte ein hübsches Frühlingsmotiv, das konventionell genug war, um ihrer Mutter zu gefallen, aber doch so originell, dass sie selbst damit zufrieden war. Das Motiv war sogar für ein Tattoo geeignet. Wie gern würde sie ihrer Mutter erzählen, womit sie wirklich ihr Geld verdiente. Danach backten sie Kekse für das Schultreffen. Nadine war gerade im Keller und tat das Gebäck in die Gefriertruhe, während Nikki ihren ersten selbst gebackenen Apfelkuchen aus dem Ofen holte, als Dave und Hollis vom Angeln zurückkamen. „Sieh mal, was ich gefangen habe", sagte Hollis strahlend und hielt ihr einen kleinen Fisch von der Größe einer Sardine hin. Er war so stolz, dass Nikki lächeln musste. Sie erkannte ihn kaum wieder. Statt des blassen Zahnarztes mit der tadellosen Frisur stand ein lachender sonnengebräunter Mann vor ihr mit zerzaustem Haar, feuchten und verschmutzten Hosen und mit schwarzen Rändern unter den Fingernägeln. Als er näher kam, bemerkte sie ein paar blutige Kratzer auf seiner Hand. Außerdem roch er nach Bier. „Das muss ja ein wilder Kampf gewesen sein", sagte sie. „Ich wusste gar nicht, dass Fischzähne so scharf sind." „Das war wohl eher der Angelhaken." Er zuckte verlegen mit den Schultern. „Aber er hat sich gut gehalten", sagte Dave und klopfte Hollis kräftig auf die Schulter. „Allerdings musste ich ihm erst ein paar Bierchen eintrichtern, damit er in Stimmung kam." „Wir braten die Fische zum Abendessen", sagte Nikki, nahm Hollis Minifisch und Daves vier stattliche Forellen und legte sie auf ein großes Holzbrett. Dave fuhr nach Hause, um zu duschen, und Nikki und Hollis waren allein. „Das hat Spaß gemacht", meinte Hollis. „D u hast Recht, man muss immer mal was Neues ausprobieren." „Du siehst aus, als hättest du dein ganzes Leben in der freien Natur verbracht." „Wahrscheinlich rieche ich auch so." „Nein, du riechst wunderbar." Sie sah ihm direkt in die Augen. „Du auch." Beide spürten das erregende Knistern. „Zimt und Vanille. Es ist wissenschaftlich erwiesen, dass dieser Geruch Männer antörnt." Nikki atmete schneller. Plötzlich schien es in der Küche fürchterlich heiß zu sein. „Das kann man wohl sagen." Er trat näher an sie heran. „Was machst du denn gerade?" „Ich habe meinen ersten Apfelkuchen gebacken." „So, so." Hollis stand jetzt ganz dicht vor ihr. „Du weißt, Essen ist etwas sehr Sinnliches." Sofort dachten beide an die Geschichte, die Nikki letzte Nacht ausgesponnen hatte: sich auf dem Tisch lieben, auf dem Tresen, gegen den Kühlschrank gelehnt...
„Ja, vor allem, wenn man sich gegenseitig füttert." „Du siehst selbst zum Anbeißen aus." Mit einer langsamen Handbewegung strich er ihr über die Wange. „Und du hast zu viel Bier getrunken." „Vielleicht", sagte er. „Aber du mit deiner Schürze machst es mir auch nicht leichter. Erinnerst du dich an die Schürzengeschichte, die du mir gestern erzählt hast?" Sie nickte nur. Von einer schwarzen Spitzenschürze konnte hier jedoch keine Rede sein, denn sie trug ein Monstrum aus der Schürzensammlung ihrer Mutter. Langsam löste sie die Bänder und zog sich die Schürze mit einer koketten Bewegung über den Kopf. „Hm, das ist besser", sagte Hollis leise. Er sah sie mit einem heißen begehrlichen Blick an. Dann legte er die Arme um sie, zog sie an sich und küsste sie. Und sein Kuss war süßer und köstlicher als jeder Apfelkuchen. Nikki schob ihm die Hände ins Haar und erwiderte den Kuss voller Leidenschaft. Sie spürte, wie Hollis sie rückwärts schob, wobei er mit den Händen ihren Po fest umfasst hielt. Sie stieß gegen den Griff des Kühlschranks, doch es war ihr egal. „Hollis", stöhnte sie leise und stellte sich auf die Zehenspitzen, um ihn erneut zu küssen, als sie hörte, wie jemand nach Luft schnappte. Ihre Mutter stand mit einem Stapel Backbleche in der Tür. „Oh, Mom." Nikki schob Hollis von sich und schlüpfte an ihm vorbei. „Wer ist Hollis?" Nadine sah von einem zum anderen. „Hollis?" fragten beide wie aus einem Munde. Nikki hatte sich als Erste gefangen. „Das ist Warrens zweiter Vorna me. Manchmal benutze ich ihn. Als ..." „Schon gut, schon gut", sagte ihre Mutter und stellte die Bleche auf den Tisch. Sie strich sich das Haar zurück und räusperte sich. „Ich würde sagen, ihr beiden solltet euch vor dem Abendessen noch etwas hinlegen. Das lindert die Spannung." „Oh, lieber "nicht." „Lieber doch." Nadine wurde energisch. „Heute Abend wollen wir Bridge spielen, und das erfordert die volle Aufmerksamkeit. Da können wir Liebesgeflüster und Füßeln unter dem Tisch nicht gebrauchen." Nikki sah ihre Mutter verblüfft an. So viel Verständnis hätte sie ihr nie zugetraut. „Verstehe, Mom." Hollis nahm sie an die Hand und zog sie den Flur hinunter. Was, zum Donnerwetter, tust du da? fragte er sich. Ich gehe mit Nikki ins Bett, gab er sich prompt die Antwort. Aber er würde nicht abwarten können, bis sie das Bett aufgeklappt hatten, also musste das Sofa genügen. Oder der Fußboden. Oder er würde Nikki einfach gegen die Tür drücken. Er begehrte sie, wie er noch nie eine Frau begehrt hatte. Und dann willst du in zwei Tagen schon wieder fahren? Auf keinen Fall. Er brauchte mehr Zeit. Zum Teufel mit der Motorradtour. Die konnte er später noch machen. Im Augenblick wollte er nur mit Nikki schla fen. Er würde Rachel anr ufen und ihr sagen, dass er noch nicht bereit war zu heiraten, dass er sich erst noch umsehen musste. Umsehen? Ach, Unsinn. Er wollte Nikki. Sie steckte ihm im Blut, erfüllte ihn, und er war unfähig, an etwas anderes zu denken. Diesmal meinte er es offens ichtlich ernst. Das wurde Nikki schlagartig klar, als Hollis sie in das Gästezimmer zerrte, die Tür zuwarf und mit ihr auf die Couch zusteuerte, während er sie unablässig küsste. „Was ist los?" stieß sie zwischen zwei Küssen hervor. „Ich bleibe", sagte und überzog ihren Hals mit kleinen Küssen. Nikki genoss seine Liebkosungen und bog sich ihm entgegen. Dann erst begriff sie, was er gesagt hatte. „Du bleibst? Du meinst, auch zum Schultreffen?" Hollis sah sie an. „Ja, auch zum Schultreffen." Seine Stimme wurde drängend. „Ich weiß nicht, was das Besondere an dir ist, aber ich kann meine Hände nicht von dir lassen."
Tiefe Erregung stieg in ihr auf. „Oh, aber ..." brachte sie noch heraus, dann presste er ihr wieder seine Lippen auf den Mund und küsste sie so leidenschaftlich, dass sie sich an ihn klammern musste, um nicht zu Bo den zu sinken. Sie spürte, wie er seine Hände unter ihre Bluse und den BH schob und ihre harten Knospen mit seinen Fingern berührte. Ihr wurde schwindelig vor Erregung. Hatte sie so etwas mit einem Mann schon einmal erlebt? Sie konnte sich nicht erinnern. Dies war anders. Aber warum? Weil Hollis anders war? Weil er ihr anfangs widerstanden hatte und ihr nun verfallen war? Spielte das überhaupt eine Rolle? Es war doch nur Sex. Nein. Plötzlich meldete sich eine warnende Stimme. Sex mit einem Mann wie Hollis konnte nie „nur Sex" sein. Hinzu kam, dass er so gut wie verlobt war. Und noch etwas machte Nikki nervös. Es hatte damit zu tun, was sie Hollis gegenüber empfand. Aber darüber wollte sie jetzt nicht nachdenken. Sie nahm ihre ganze Selbstbeherrschung zusammen und stieß Hollis zurück. „Und was ist mit Rachel?" Er sah sie an, als hätte er den Namen noch nie gehört. „Ich spreche mit ihr. Ich werde ihr einfach erklären, was passiert ist, und dass ich noch nicht bereit bin, mich zu binden. Und dass ich auch noch andere Menschen kennen lernen muss." Nikki sah ihm an, dass der Gedanke ihn ängstigte. Das war nicht richtig. Sie wollte nicht dafür verantwortlich sein, dass die Beziehung von Hollis und Rachel auseinander ging. Vielleicht wollte er die Frau wirklich nicht heiraten, das hielt Nikki sogar für ziemlich wahrscheinlich, aber sie wollte nicht der Grund für seine Entscheidung sein. Dass er Rachel nicht liebte, musste er so herausfinden und nicht, weil sie, Nikki, die vermutlich völlig anders als Rachel war, ihn in Versuchung geführt hatte. „Das können wir nicht tun", sagte sie, „schon wegen Rachel. Du kannst so was mit ihr auch nicht am Telefon besprechen." Hollis sah verwirrt und verzweifelt aus. Sekundenlang glaubte Nikki, er würde sich einfach auf sie stürzen, und sie wusste, sie würde sofort nachgeben. Ein Kuss, ein Wort, eine Berührung, und ihre Vorbehalte würden sich in Luft auflösen. Aber Hollis war der Typ Mann, der sich richtig verhielt, auch wenn es ihm schwer fiel. „Du hast Recht. Es ist Rachel gegenüber unfair. Und auch dir gegenüber. Ich weiß auch nicht, was über mich gekommen ist." Lust, du Idiot, dachte Nikki enttäuscht. Heiße, wilde Lust. Er tat ihr fast leid. Offenbar war seine Beziehung zu Rachel nicht besonders leidenschaftlich. Nicht mit dem zu vergleichen, was er für sie empfand. Das verwunderte Nikki nicht. Sie war ein sinnlicher Mensch, und Männer merkten das und fühlten sich von ihr angezogen. Wenn Nikki dann selbst interessiert war und die Beziehung vertiefen wollte, machten die Männer meist einen Rückzieher. Und das würde ihr auch mit Hollis Marx passieren, gerade mit ihm. Also beschloss sie, das Ganze auf etwas kleinerer Flamme zu kochen. „Wirst du denn trotzdem bis zum Schultreffen bleiben? Das wäre sehr wichtig für mich." So konnte sie doch wenigstens noch ihre Schulfreundinnen beeindrucken und vielleicht auch Brian Collier. „Selbstverständlich", sagte er, und sein Lächeln wirkte gezwungen. „Ich muss doch sehen, ob dieser Brian Collier auch gut genug für dich ist." „Danke." Er war wirklich ein netter Mann. So einen hätte sie gern. Aber nein, er war ganz und gar nicht ihr Typ. Nur hier in Copper Corners schien ihr das so, weil er so gut hierher passte. Wenn sie erst wieder in Phoenix waren, würden sie sich vermutlich gar nicht mehr füreinander interessieren. „Ich komme jetzt den Flur hinunter!" rief Nadine. „Ich bin nur noch einen guten Meter von eurer Tür entfernt. Wollte euch nur sagen, dass das Essen auf dem Tisch steht." Nikki und Hollis sahen sich lächelnd an. Dann öffnete Nikki die Tür. „Du brauchst nicht zu schreien, Mom. Du unterbrichst uns bei gar nichts."
8. KAPITEL Am nächsten Abend deckte Nikki den Tisch und bemühte sich dabei krampfhaft, nicht an Hollis zu denken. Beide waren sie den ganzen Tag beschäftigt gewesen. Hollis hatte die Gartenarbeit ihres Vaters übernommen, weil der dazu noch nicht in der Lage war, und sie hatte die Turnhalle dekoriert, in der während des Ehenmaligentreffens getanzt werden sollte. Das Thema war „Zauber der Erinnerung", und Nikki hatte eine Zauberlandschaft mit Feen und geheimnisvollen Schlössern und uralten Bäumen entworfen, die sie auf große Papierbogen übertragen und an die Wände der Halle hängen wollte. Sie hatte sich auc h Tischdekorationen ausgedacht mit Bändern, Zauberstäben und Flitter. Danach hatten Hollis und Nikki mit den Kindern Verstecken gespielt. Und jetzt deckte Nikki den Abendbrotstisch. Sie war froh, in Bewegung zu sein, denn sie war nervös. Das hatte nicht nur mit Hollis zu tun, sondern auch mit ihrem Zuhause. So froh sie war, ihre Familie wieder zu sehen und sich zur Abwechslung mal wie eine ganz normale Frau zu verhalten, so sehr langweilten sie die geregelten Tagesabläufe. Das war alles so spießig. Mehr als der halbe Tag wurde damit verbracht, Mahlzeiten vorzubereiten, zu kochen, zu essen und hinterher wie der aufzuräumen. Außerdem wurde genäht, ein bisschen gelesen und ferngesehen. Lediglich Donnas Kinder brachten etwas Abwechslung in das tägliche Einerlei. Aber sie war froh, mit ihrem Vater zusammen sein zu können. Er lag nicht mehr im Bett,, sondern saß jetzt meist auf der Couch im Wohnzimmer. Es sah ganz so aus, als hätte er den Herzinfarkt gut überstanden. Nikki versuchte, mit Donna über ihn zu sprechen, aber ihre Schwester hatte meist etwas anderes vor. Sie gab die Kinder bei den Großeltern ab und verschwand zum Friseur oder zur Kosmetikerin. Natürlich beteuerte sie, ewig dankbar dafür zu sein, dass Nicki und Hollis sich um die Kinderkümmerten. Nikki hatte Heimweh. Sie sehnte sich nach ihrem Studio und nach ihren exzentrischen Freunden, den Musikern und anderen Künstlern. Auch ihre Kunden waren anders als die Menschen hier in Copper Corners. Hin und wieder öffnete sie ihr Köfferchen mit den Tattoo-Utensilien, das sie für alle Fälle mitgenommen hatte. Ein paar Tage musste sie noch überstehen. Und Hollis würde sie zum Klassentreffen begleiten. Immer, wenn sie an ihn dachte, krampfte sich etwas in ihr zusammen. Um sich abzulenken, versuchte sie, die Servietten kunstvoll zu falten. Vergiss Hollis, sagte sie sich. Er würde dich zu Tode langweilen. Sein Leben ist garantiert so aufregend wie das Leben in Copper Corners. Sex allerdings war etwas anderes. Sex mit ihm war sicher alles andere als langweilig. Wieder spürte Nikki, wie ihr bereits bei dem Gedanken daran ganz heiß wurde. Aber unter diesen Bedingungen wollte sie nicht mit ihm schlafen. Er würde es zwar nicht zugeben, wahrscheinlich noch nicht einmal sich selbst gegenüber, aber Nikki war klar, dass sie für ihn nur eine Ferienliebe war, eine Zerstreuung, wie der geplante Motorradtrip. Shelley war mit Hollis irgendwohin verschwunden, und so ging Nikki, um die beiden zu rufen. Wenn sie erst wieder zurück in Phoenix war, würde ihr sehr schnell klar werden, dass Hollis nicht in ihr Leben passte. Eine Eiche passte schließlich auch nicht in einen tropischen Dschungel. Nikki ging zum Gästebad, aus dem sie Shelleys Stimmen hörte. Sie brauchte einen Mann mit Fantasie, der an neuen Ideen interessiert war und offen war für neue Erfahrungen. Und das war Hollis bestimmt nicht. Sie öffnete die Badezimmertür und prallte zurück. Hollis saß auf dem Badewannenrand, mit knallroten Lippen und Rouge auf den Wangen. Sein Haar war in winzige Zöpfchen geflochten, und Shelley war gerade dabei, ihm die Nägel zu lackieren. „Was ist denn hier los?" brachte Nikki gerade hoch heraus. Nicht offen für neue
Erfahrungen? „Shelley macht mich zum Ausgehen zurecht." Hollis blinzelte ihr zu. „Findest du nicht auch, dass dieses Liebesapfelrot besonders gut zu mir passt?" „Oh, ja, perfekt!" Gut, vielleicht war er doch nicht so spießig, wie sie dachte. Außerdem hatte er ein so gesundes Selbstbewusstsein, dass er sich über sich selbst lustig machen konnte. Sie musste unbedingt mit Mariah darüber sprechen. Sie und Hollis wollten nach dem Essen bei ihr und Nathan vorbeischauen. Nikki freute sich schon darauf. Endlich würden sie sich nicht ständig verstellen müssen. Vor dem Abendessen, machte Nikki ihrem Vater einen Teller zurecht und brachte ihn ins Wohnzimmer. „Es ist so schön, meine Jüngste mal wieder bei mir zu haben", sagte er und lächelte sie liebevoll an. Dann musterte er den Teller. „Ich will mehr Schinken. Und Kartoffeln hast du mir auch wieder nicht aufgefüllt." „Vielleicht später." Missmutig stocherte Harvey in seinem Essen herum, dann sah er Nik ki nachdenklich an. „Dein Warren ist ein ernsthafter Mann, was?" „Ja." Er schnitt sich ein Stück Schinken ab. „Und sehr nervös." Er sah sie nicht an, aber sie wusste, er war gespannt auf ihre Antwort. „Ja, weil er einen guten Eindruck auf dich machen will." Ihr Vater musterte sie. „Aber es gibt nur einen Menschen, den er beeindrucken muss, und das bist du." Er wies mit der Gabel auf sie. „Und du bist auch so nervös. Ist mit dem Mann alles in Ordnung?" „Natürlich, Daddy. Warum fragst du?" „Ich habe so ein komisches Gefühl, aber vielleicht irre ich mich ja." Er schob sich ein Stückchen Schinken in den Mund. „Du weißt, du kannst mir immer alles sagen." „Ich weiß, Daddy, und ich würde es auch tun, wenn etwas wäre." Nie, nicht in tausend Jahren! Nikki hatte das ungemütliche Gefühl, ihre hellseherischen Fähigkeiten von ihrem Vater geerbt zu haben. „Hat deine Mutter diesmal gar keine Soße gemacht?" „Doch, aber ich dachte ..." „Wenn du mir die Kartoffeln bringst, denke bitte auch an die Soße." Widerwillig tat sie, was er wollte. Das Haus von Nathan und Mariah war eins dieser eindrucksvollen mo dernen Bauten, denen man ansah, dass sie ein Vermögen kosteten. Nik ki hatte ein bisschen Sorge, dass Mariah sich inzwischen ganz in das Le ben von Copper Corners eingefügt hatte. Aber sowie sie das Haus von innen sah, erkannte sie den Einfluss ihre fantasievollen Freundin wieder. Mariah hatte Nathans Haus zu ihrem gemacht. Kräftige Farben, verrückte kleine Kunstgegenstände, ein paar von Nikkis Bildern, viele Blumen und ungewöhnliche Möbel, das war typisch für die alte Mariah. Nathan umarmte Nikki herzlich. „Wie schön, dich endlich wieder zu sehen. Während der Hochzeit haben wir ja kaum ein Wort wechseln können." Nikki musste grinsen. Kein Wunder, er hatte seine Braut ja auch keine Sekunde aus den Augen gelassen. Was wiederum verständlich war, denn Mariah hatte die Hochzeit bei ihrem ersten Versuch platzen lassen. „Und du bist der Mann, der Nikki aus der Patsche hilft." Nathan schüttelte Hollis herzlich die Hand. „Vielen Dank, das ist sehr nett von dir." Ein riesiger Hund, offensichtlich eine Mischung aus Bernhardiner und Labrador, kam auf sie zugestürzt, beschnüffelte sie und lief wieder davon. „Wow! Was für ein Riesentier", meinte Nikki. „Das kann man wohl sagen." Nathan lachte. „Das ist Maynard. Mariah hatte den Eindruck,
ich sei einsam, und hat mir deshalb diesen Hund besorgt. Maynard betet sie an." Mariah kam auf sie zu, der Hund folgte ihr auf den Fersen. „Genauso wie ich", sagte Nathan und strahlte seine Frau an. „Ihr seid ja früh dran." Mariah umarmte Nikki, die Wimperntusche in der einen und den Lockenstab in der anderen Hand. „Nein, wir sind nicht zu früh. Du bist zu spät dran, wie immer." Nikki lachte. „Ich bin richtig erleichtert. Ich hatte schon Angst, du hättest dich verändert." „Sehr witzig. Hallo, Hollis." Mariah klemmte sich den Lockenstab unter den Arm und reichte ihm die Hand. „Oh, ist das Nagellack? Und wunderbare Apfelbäckchen hast du." Hollis wurde rot. „Nikkis Nichte bestand darauf." „Wie süß." Mariah sah Nikki an, und ihr Blick sagte: Halt den Mann fest. „Ich bin gleich wieder da." Nathan ging zum Barschrank, um ihnen einen Drink zu machen, und Hollis und Nikki setzten sich auf die Ledercouch. Nikki achtete darauf, dass sie nicht zu dicht nebeneinander saßen. Schon wenn sie sich ansahen, hatte sie Schwierigkeiten, ihre Gefühle zu kontrollieren. Ihrem Verlangen zu widerstehen kostete sie unglaubliche Kraft. Nathan kam mit einem Tablett, auf dem ein Mixbecher stand und dazu passende Gläser. Er goss eine rosa Flüssigkeit ein und reichte jedem ein Glas. „Gerade noch rechtzeitig." Mariah segelte herein und setzte sich schnell auf das zweisitzige Sofa dicht neben ihren Mann. Maynard legte sich ihr zu Füßen, und Nathan reichte ihr ein Glas. Nathan hob sein Glas und stieß erst mit Mariah, dann mit Nikki und zuletzt mit Hollis an. „Ich trinke auf dich, Hollis, und darauf, dass ich in dir einen Leidensgenossen habe." Wieder warf er seiner Frau einen liebevollen Blick zu. „Ich sage dir, bei diesen Frauen macht man was mit." Als Nikki diesen Blick sah, hatte sie plötzlich den verrückten Wunsch, auch so von einem Mann angebetet zu werden wie Mariah von Nathan. Sie sah Hollis an, aber dem schien die Situation peinlich zu sein, denn er starrte auf den Teppich. „Und wie stehst du das Ganze durch?" fragte Nathan. „Bisher ganz gut", meinte Hollis. „Er macht das fantastisch", sagte Nikki. „Jeder ist beeindruckt von ihm. Nur Dad hält uns für hypernervös." „Das sind wir auch." „Aber ich habe Daddy das plausibel erklären können." „Deine Eltern machen sich zu viele Gedanken", meinte Hollis. „Du hättest sie damals erleben sollen", sagte Mariah. „Früher standen sie immer kurz vor einem Nervenzusammenbruch." „Ja, aber wir waren auch ziemlich unmöglich", sagte Nikki lachend. „Das kann man sagen. Weißt du noch, wie du für die morgendliche Ze remonie in der Schule die Bänder vertauscht hast? Alle standen da und waren bereit, die Nationalhymne zu singen, als plötzlich Pink Floyd aus dem Lautsprecher dröhnte mit ,We don't need no education'? Es war das reine Chaos." „Meine Eltern waren außer sich." „Wieso? Das war doch immerhin eine klare Aussage." Hollis lachte. „Und genau in dieser rebellischen Phase lernte ich Mariah kennen", sagte Nathan. Er sah sie wieder zärtlich an. „Ich wollte unbedingt beweisen, dass ich nicht in diese Gesellschaft passe, und so habe ich gar nicht gemerkt, dass Nathan mich wirklich liebte. Nikki und ich sind dann nach Phoenix abgehauen ..." „Sie ließ mich kur z vor der Trauung sitzen", warf Nathan ein. „Nachdem du mich sitzen gelassen hattest."
„Mein Auto hatte gestreikt." „Ja." Mariah strich ihm liebevoll durch das Haar. „So war das damals." Sie wandte sich an Hollis. „Und sowie wir in Phoenix waren, wollten wir unsere Unabhängigkeit beweisen und ließen uns tätowieren." Sie ent blößte kurz ihre Schulter, bis ein Schmetterling zu sehen war. „Ist er nicht zauberhaft? Nikki hat ihn entworfen." „Sehr hübsch." Hollis räusperte sich verlegen. Wahrscheinlich ist es ihm peinlich, die nackte Schulter einer fremden Frau zu bewundern, dachte Nikki. Er ist wirklich süß altmodisch. „Nikki ist sehr begabt. Die Tattoos haben eine ganz bestimmte Bedeutung für uns. Ich wollte den Schmetterling, weil ..." „... er so wunderschön, aber nicht zu greifen ist und nur eine zarte Erinnerung bleibt, wenn er davonfliegt", vervollständigte Nathan ihren Satz. Mariah strahlte ihn an. „Dass du das noch weißt! Und Nikkis Tätowierung. Hast du Nikkis Tattoo schon gesehen?" fragte sie Hollis. „Äh ... nein, eigentlich noch nicht." „Na los! Zeig sie ihm, Nikki." „Lieber nicht." Nikki warf Mariah einen warnenden Blick zu. Ihr Tattoo war viel zu persönlich, um es Hollis zu zeigen, vor allem, da sie ge fühlsmäßig so durcheinander war. „Na gut, aber ich hoffe nicht, dass du auf deine alten Tage plötzlich Hemmungen bekommst. Hast du dir schon überlegt, was du zu dem Ball anziehst?" „Ich habe ein schlichtes schwarzes Kleid, das ich ganz hübsch finde." „Was? Das wäre ja absolut öde. Moment mal." Mariah sprang auf und lief aus dem Wohnzimmer. Kurze Zeit später war sie wieder da. Triumphierend hielt sie einen Bügel hoch mit einem schwarzen Spitzenbustier, einem schwarzen Lederrock, schwarzen Netzstrümpfen und einer Federboa. Ein typisches Outfit, wie Madonna es zu Beginn ihrer Karriere ge tragen hatte. „Das ist unmöglich, Mariah." „Ach was, das passt genau zu dir. Findest du nicht auch, Hollis?" „Also, ich weiß nicht recht..." Hollis starrte die Sachen fasziniert an. „Überleg es dir." Mariah hängte den Büge l an einen hochlehnigen Sessel. „Den Leuten hier muss man hin und wieder mal zeigen, dass Copper Corners nicht der Nabel der Welt ist." „Und warum ziehst du es dann nicht an?" „Vielleicht tu ich es ja. Was meinst du, Nathan?" „Wunderbar, Liebste, nichts dagegen." Er zog sie fest an sich. Hollis und Nikki sahen sich kurz an und wandten sich dann schnell wieder ab. Mariah, der die Verlegenheit der beiden aufgefallen war, sagte lächelnd: „Entschuldigt, aber wir sind immer noch so verliebt. Ihr könnt ruhig auch ein bisschen rumknutschen, wenn ihr wollt." „Nein, das können wir eben nicht." Nikki sah Mariah beschwörend an. „Hollis ist doch so gut wie verlobt." „Nein! Das ist doch nicht möglich!" Mariah sah zwischen Nikki und Hollis hin und her. Sie wies mit dem Finger auf ihn. „Du kannst nicht verlobt sein, so wie du Nikki immer anstarrst. Das glaube ich einfach nicht." „Hör auf, Mariah" zischte Nikki ihr zu. „Du siehst doch, wie verlegen Hollis ist. Er tut mir einen großen Gefallen, indem er auch noch zum Klassentreffen bleibt. Das ist alles. Danach wird er wie geplant seine Motorradtour machen." Nathan horchte auf. „Du magst Motorräder?" „Ja. Ich bin allerdings schon länger nicht mehr gefahren." Hollis war erleichtert, dass er das Thema wechseln konnte. „Kein Problem. Mariah und ich haben eine Maschine. Die kannst du gern ausleihen, wenn du willst. Wir haben in der Firma so viel zu tun, dass wir nicht dazu kommen, sie zu
benutzen. Und da wir bald noch weniger Zeit haben werden ..." Wieder warf er Mariah einen verliebten Blick zu. „Vielleicht könnten wir mal eben einen kurzen Trip machen." Hollis sah Nathan an. „Wenn du nichts dagegen hast." „Aber ich bin doch gar nicht passend angezogen", wehrte Nikki ab. Bei der Vorstellung, dicht an Hollis geschmiegt auf der vibrierenden Maschine zu sitzen, wurde ihr ganz heiß. „Mariah hat sicher irgendwas, das sie dir leihen kann." Hollis sah Nik ki so entschlossen an, dass sie nicht weiter argumentierte, sondern lieber noch einen großen Schluck von ihrem Martini nahm. „Auf die geliebten Motorräder!" Nathan hob sein Glas, und alle stießen mit ihm an. Allerdings fiel Nikki auf, dass Mariah nichts trank. „Nanu?" fragte sie. „Du trinkst nichts?" Mariah lächelte nur strahlend. „Du bist schwanger!" „Ja, in der neunten Woche. Ich habe gerade erst den Test gemacht." Sie blickte Nathan zärtlich an. „Wir haben es noch nicht einmal unseren Eltern erzählt." „Ich freue mich so für euch." Nikki umarmte ihre Freundin. „Herzlichen Glückwunsch", sagte Hollis und schüttelte Nathan die Hand. „Kinder sind etwas Wunderbares." Zwanzig Minuten später lief Nikki die Einfahrt hinunter zur Straße, wo Hollis schon auf sie wartete. Sie trug eine Lederjacke, Lederhosen und schwarze Stiefel. Endlich fühlte sie sich nicht verkleidet, sondern trug das, was ihrem Geschmack entsprach. Sie freute sich auf die Tour, obgleich sie unvernünftig war. Sie liebte Motorräder, das Gefühl von Freiheit, Risiko und Tempo. Fatal war nur, dass sie sich während der Fahrt so eng an Hollis schmiegen musste. Hollis hatte die Maschine bereits angelassen. Er trug Jeans und hatte sich eine kurze Lederjacke von Nathan geliehen. Nikki fand, er sah sehr scharf aus. Als er sie sah, ließ er den Helm fallen. „Wow!" „Ich betrachte das als Kompliment", sagte sie lächelnd. Sie wollte schon aufsteigen, aber er hielt ihr den Helm hin. Nikki setzte also brav Mariahs Helm auf, dann stieg sie auf und presste ihre Beine an Hollis' kräftige Oberschenkel. Hollis ließ die Maschine einmal kurz aufheulen, dann lenkte er sie sicher auf die Straße. Nikki legte ihm die Arme um die Taille und hielt sich fest. Es war ein wunderbares Gefühl, so fest an ihn gepresst zu sitzen. „Alles okay?" rief er über ihr über die Schulter zu. „Ja." „Dann halt dich gut fest." Er gab Gas. Nikki genoss einfach seine Nähe. Hollis saß sicher auf der Maschine und wenn er sich sanft in die Kurve legte, hatte Nikki den Eindruck, Mann und Maschine wären eins. Sie glitten dahin, und es war einfach herrlich. Sie wünschte, es könnte immer so weitergehen. Sie stellte sich vor, dass sie zusammengehörten, frei wie der Wind dahinflogen und nur anhielten, um sich zu lieben. Sie wünschte, sie hätte den Helm nicht aufgesetzt, dann könnte sie den Wind in ihrem Haar spüren. Jauchzend öffnete sie den Mund und genoss es, wie der Wind ihr den Atem nahm. Nachdem sie eine halbe Stunde gefahren waren, drosselte Hollis das Tempo und hielt schließlich an einem Aussichtspunkt an. „Möchtest du mal hinuntersehen?" Sie nickte, nahm den Helm ab und trat an das Geländer. Der Vollmond tauchte die Landschaft in silbernes Licht, und der Fluss, der sich durch das Tal zog, sah aus wie ein schimmerndes Band. Hollis setzte sich auf einen Stein und bedeutete Nikki, sich neben ihn zu setzen. Sie kam seiner Aufforderung nach. „Das ist herrlich", sagte er leise. Seine Stimme klang ganz anders als sonst. Das erste Mal, seit sie in Copper Corners waren, wirkte er entspannt.
Nikki seufzte. Hollis war wirklich ein netter Mann. Er hatte versprochen, ihr zu helfen, auch wenn das bedeutete, dass er lügen musste. Sie wusste, dass er das Theater hasste. „Es tut mir so Leid, dass ich dir das alles zumuten muss", sagte sie leise. Er lächelte kurz. „Ist schon okay, Nikki. Ich bin froh, dass ich dir helfen kann. Und ich bin gern mit dir zusammen." „Aber ich weiß, wie schwer es dir fällt, meiner Familie etwas vorzumachen." „Das Ganze hat auch seine guten Momente." „Ja. Stimmt." Sie wandte den Blick ab. „Ein tolles Gefühl, auf einem Motorrad zu sitzen", sagte er leise. „Vielleicht solltest du dir eins kaufen, wenn du wieder zu Hause bist." Er wollte schon den Kopf schütteln, hielt aber inne. „Vielleicht." Er sah sie an. „Daran bist du schuld." „So?" Ohne nachzudenken, lehnte sie sich an ihn. Behutsam umschloss er ihr Gesicht mit seinen Händen. „Wenn ich mit dir zusammen bin, denke ich plötzlich über viele neue Möglichkeiten nach." Nikkis Herz schlug schneller. Er sah ihr in die Augen. „Tust du mir einen Gefallen? Zeigst du mir deine Tätowierung?" „Mein Tattoo?" Sie lachte nervös. „Ja. Und verrate mir, was es bedeutet." Er sah sie beinahe flehend an. „Bitte." Mit zitternden Fingern zog sie den Reißverschluss der Lederjacke auf. Plötzlich fühlte sie sich nackter als in der Nacht zuvor, als sie nur ihr dünnes Nachthemd getragen hatte. Ihr war, als sollte sie ihre Seele entblößen. Sie machte zwei Knöpfe ihres Oberteils auf und schob es zur Seite, so dass der kleine Kobold oberhalb ihres Herzens zu sehen war. Hollis strich vorsichtig über die Tätowierung. „Und was bedeutet das?" Sie sah ihm in die Augen. „Magie und Wunder." „Und Überraschungen?" Sie nickte nur und zog das Oberteil wieder zurecht. „Und ich?" fragte er. „Gibt es für mich auch ein passendes Tattoo?" Seine Stimme klang so drängend, dass Nikki seine Frage nicht einfach abtun konnte. „Gib mir deine Hand." Hollis streckte ruhig seine Hand aus. Sie legte ihre unter seine und zitterte dabei am ganzen Körper. Nikki schloss die Augen und wartete, dass sich ihr ein Bild zeigte. Aber nichts kam, alles war grau und neblig. Sie versuchte, sich stärker zu konzentrieren; vielleicht war sie nur abgelenkt durch seine Nähe. Immer noch nichts. Sie kniff die Augen fester zusammen. Nichts. Dann begriff sie. Natürlich konnte sie nichts sehen, denn sie hatte sich in Hollis verliebt. Und das bedeutete, dass sie keinen Zugang zu seiner Aura hatte, das ging ihr mit jedem so, der ihr nahe stand. Sie schüttelte den Kopf und zog ihre Hand weg. „Es geht nicht. Ich kann nichts sehen." „Was? Versuch doch noch mal. Ich möchte so gern wissen, welches Tattoo zu mir passt, für den Fall, dass ich doch mal eins haben möchte." Hollis griff nach ihren Händen, aber sie entzog sie ihm. „Ich kann nicht. Wenn ich fühle ... wenn ich mich jemandem nahe fühle, kann ich seine Aura nicht mehr sehen." „Und du fühlst dich mir nahe?" Sie sah ihn an. „Ich möchte nicht darüb er sprechen." „Brauchst du auch nicht. Denn ich fühle das Gleiche wie du." Er lächelte, aber seine Augen blieben ernst. „Ich glaube, ich weiß, wer du bist." „Das kannst du nicht." „Doch. Lass es mich versuchen." Sie ließ zu, dass er ihre Hände nahm, aber anstatt sie sich auf die eigenen Handflächen zu
legen, fasste er sie fester und blickte Nikki in die Augen. „Du bist eine Künstlerin, und wie alle echten Künstler möchtest du nicht nur der Welt Schönheit schenken, sondern du bist auch eine Perfektionistin, bist hochsensibel und rastlos. Und du kannst zaubern. Wie dein Kobold. Du verzauberst die Menschen um dich herum." „Sehr schön", sagte Nikki und versuchte, ihm ihre Hände zu entziehen. Er musste unbedingt aufhören. „Ich bin noch nicht fertig." Hollis sah sie so eindringlich an, dass ein heißer Schauer sie durchlief. „Dein Problem ist nur, dass du nicht genau weißt, ob du das wirklich willst, ob dich das tatsächlich glücklich machen wird. Eine Künstlerin zu sein und frei von Konventionen zu leben hat seinen Preis." „Das reicht." Nikki machte sich mit einem Ruck frei. Er war ihr viel zu nahe. Und ihr gefiel nicht, dass er meinte, sie beurteilen zu können. „Das sind pure Vermutungen. Und wie ist es mit dir? Bist du immer so ganz sicher, dass richtig ist, was du tust? Meinst du, dass es den Konventionen entspricht, mit mir im Mondschein einen Motorradtrip zu machen?" Er lächelte kurz. „Das frage ich mich auch. Ursprünglich wollte ich übrigens nicht Zahnarzt werden. Biologie lag mir mehr. Ich wollte in die Forschung gehen, vielleicht sogar Lehrer werden. Aber mein Vater war Klempner, und sein Traum war immer, dass aus mir mal was Besseres wird. Er wusste, dass ich manuell begabt war. Und er wusste, wie viel Geld Zahnärzte verdienen, und so drängte er mich, Medizin zu studieren. Die Zahnmedizin ist sogar durchaus ein interessantes Fach." „Aber du wärst lieber Biologielehrer. Dann hättest du auch im Sommer Zeit, mit dem Motorrad unterwegs zu sein. Warum machst du es dann nicht?" „Das ist nur so ein Traum." „Kann ich verstehen. Ich habe auch meine Träume." Das hatte sie eigentlich gar nicht sagen wollen. „So? Wovon träumst du denn?" Sein Blick ließ sie nicht los. „Von dir." Sie brachte es nicht fertig zu lügen. „Ich träume auch von dir", sagte er leise. „Tag und Nacht. Du bist so anders als jede Frau, die ich bisher kennen gelernt habe. Du bist so voller Überraschungen, so frisch, so ..." „So verrückt und wild und intensiv", sagte sie. „Und das ist genau das. was du eigentlich nicht willst, Hollis. Ich würde dich wahns innig machen." Sie hielt die Luft an. Hoffentlich widersprach er ihr. Er sah durch sie hindurch und wandte sich dann ab. „Vielleicht. Und ich bin es Rachel schuldig, mir über meine Gefühle klar zu werden." „Genau." Nikki stand abrupt auf, denn sie spürte, dass ihr Tränen in die Augen traten. „Alles in Ordnung?" „Natürlich. Du würdest mich auch verrückt machen. Ich wette, deine Socken passen immer zusammen, und du weißt immer, wo deine Zahnbürste ist." Er sah sie erstaunt an, als fragte er sich, ob das nic ht bei jedem so war. „Egal. Tatsache ist, wir kommen von verschiedenen Sternen." „Aber wir gäben ein tolles Paar ab, meinst du nicht?" „Ja, das könnte sein." Nikki fröstelte. Selbst in der dicken Lederjacke war ihr kalt. „Aber das wäre ein großer Fehler. Komm, lass uns zurückfahren." Auf der Rückfahrt versuchte sie, Abstand zu Hollis zu wahren, aber er griff einfach nach hinten und drückte sie an sich. Das machte es für Nik ki nicht einfacher. Sie seufzte, klammerte sich an ihn und ließ ihre Tränen vom Wind trocknen.
9. KAPITEL In dieser Nacht schliefen sie beide im Bett, wandten sich aber den Rücken zu. Nikki hatte sich dicht an die Bettkante gelegt, aber als sie nachts aufwachte, hatte Hollis sich an sie geschmiegt, und sie musste ihre ganze Beherrschung aufwenden, um ihn vorsichtig von sich zu schieben. Zwei Stunden später wachte sie wieder auf, diesmal hatte sie sich ihm zugewandt und sich an ihn gekuschelt. Von da an schlief sie auf den Kissen auf dem Fußboden. Als hätten sie sich abgesprochen, gingen sie sich in den nächsten Tagen möglichst aus dem Weg. Nikki half ihrer Mutter beim Nähen und im Garten. Sie pflückte Erdbeeren und kochte Marmelade. Außerdem kümmerte sie sich um die Dekoration für die Turnhalle. Der Ball sollte am Sonnabend stattfinden und das große Picknick am Sonntagnachmittag. Hollis lieh sich Nathans Motorrad und war oft den ganzen Nachmittag unterwegs. Wenn sie und Hollis mit Nikkis Familie zusammen waren, mussten sie das verliebte Paar mimen, und das wurde von Mal zu Mal schwieriger. Sie mussten sich ständig verstellen und das empfand Nikki zunehmend als schmerzhaft. Sie fühlte sich wie ausgehöhlt, und sie sehnte sich zurück nach Phoenix in ihr Studio und zu ihren Freunden. Als sie sich diesen Plan mit ihrer angeblichen Ehe ausgedacht hatte, hatte sie nicht damit gerechnet, dass es so mühsam werden würde, ihn durchzuziehen. Sie war sicher, dass Hollis das genauso empfand. Wenn sie Händchen halten mussten, verkrampften sich seine Finger oft, und sie spürte die sexuelle Spannung wie einen Stromstoß durch ihren Körper fließen. Endlich war der Sonnabend da. Nikki hielt sich meist in der Turnhalle auf, wo sie die Wanddekorationen anbrachte. Im Übrigen ging sie ihrer Mutter bei allem zur Hand, was anlag. Sie besorgte einen Elektriker, weil es beim Testen der Discokugel einen Kurzschluss gegeben hatte, und sie vergewisserte sich, dass die freiwilligen Helfer auch wussten, wann sie sich wo einzufinden hatten. Im Nu war es sieben Uhr abends. Nikki hatte kaum noch Zeit, sich umzuziehen, denn um halb acht sollte der Ball eröffnet werden. Sie lief ins Gästezimmer und blieb abrupt stehen. Vor ihr stand Hollis, nackt bis zur Taille. „Ist was?" fragte er. „Du bist halb nackt." „Ich bin halb angezogen." „Das ist Haarspalterei." Sie starrte auf seine muskulöse Brust. „Aber egal. Beeil dich. Wir müssen gleich los." „Ich habe dir deine Sachen schon im Bad zurechtgelegt", sagte er lächelnd. „So?" Nikki wurde misstrauisch. Sie ging ins Bad. Auf dem Rattanstuhl lagen das Bustier, der Lederrock und die Netzstrümpfe. Mariah musste ihm alles mitgegeben haben. „Ich kann das nicht anziehen." „Warum nicht?" Hollis stand im Türrahmen und sah sie ernst an. „Um der alten Zeiten willen, wie Mariah meinte. Möchtest du nicht endlich wieder du selbst sein?" Er musterte sie eindringlich von Kopf bis Fuß, als würde er überlegen, wie er sie am schnellsten ausziehen konnte. Nikki starrte erneut auf den Stuhl. Was für eine Wahnsinnsidee. Und was für eine Verlockung. Doch dann dachte sie an ihre Eltern, die so stolz waren, ihre Tochter vorzeigen zu können. Ein Blick auf das Bustier, den Lederrock und die Netzstrümpfe, und ihr Vater bekäme seinen zweiten Herzinfarkt. Sie schüttelte den Kopf. „Nein, das kann ich nicht machen." „Aber es würde dir gut tun." „Ach, würde es das?" „Mir würde es natürlich auch gefallen. Ich bin schließlich kein Heiliger." Sie war unfähig, den Blick von ihm zu wenden. Wie gern würde sie seine nackte Brust
berühren, ihn streicheln, spüren, wie seine Muskeln sich anspannten ... „Nun, was is t?" fragte er. „Wirst du es tun?" „Was?" Sekundenlang dachte sie, er hätte ihre Gedanken gelesen. Aber dann wurde ihr klar, dass er sich auf die Lederkleidung bezog. „Auf keinen Fall", sagte sie entschlossen und stürzte an ihm vorbei zu ihrem Kleiderschrank. Obwohl er sie gern in den ausgefallen Teilen gesehen hätte, war Hollis angenehm überrascht, als Nikki in ihrem schwarzen Abendkleid vor ihm stand. Eine eng anliegende kurze Kette aus schimmernden Perlen betonte ihren schlanken Hals über dem großzügigen Dekollete. „Nicht schlecht", sagte er und grinste. „Du siehst auch nicht gerade übel aus", sagte sie. Hollis trug einen dunkelgrauen Anzug mit einer passenden Seidenkrawatte. Das weiße Hemd unterstrich seine natürliche Bräune. „Lass uns gehen." Nikki packte die Lederkleidung in eine Tasche, um sie Mariah gleich zurückzugeben. Ihre Eltern waren sehr erfreut, als sie Hollis und Nikki sahen. Nikkis Vater ließ es sich als Schulleiter nicht nehmen, die Gäste zu begrüßen. Gemeinsam machten sie sich auf den Weg. Sowie sie die festlich geschmückte Turnhalle betraten, kam alles anders, als Nikki es sich ausgemalt hatte. Sie hatte sich auf die bewundernden Blicke ihrer früheren Klassenkameraden gefreut, wollte mit dem fabelhaft aussehenden Arzt an ihrer Seite angeben, aber sie musste an allen Enden und Ecken aushelfen. Da sie ihrer Mutter bei den Vorbereitungen geholfen hatte, erwartete man jetzt von ihr, dass sie sich für das Gelingen des Festes verantwortlich fühlte. Als sie schließlich einmal durchatmen konnte, sah sie Hollis, der sich mit einer Frau an der improvisierten Bar unterhielt. Beim Näher kommen erkannte sie Heather Haver, ihre alte Konkurrentin. Heather sah Hollis an, als wollte sie ihn jeden Moment mit Haut und Haar verspeisen. Gerade, als Nikki auf Hörweite herangekommen war, sagte Heather: „Sie sind doch sicher nicht allein hier. Wer gehört denn zu Ihnen?" „Ich", sagte Nikki und hakte sich bei Hollis ein. „Heather, darf ich dir meinen Mann vorstellen? Dr. Holl... Warren Langley." Heather runzelte die Stirn. Ganz offensichtlich wusste sie nicht gleich, wen sie vor sich hatte. Dann riss sie die Augen auf. „Mein Gott! Nikki Winfield!" „Genau." „Du siehst so ... anders aus." Sie musterte Nikki von oben bis unten, neugierig, aber freundlich. Der alte Groll schien vergessen zu sein. Nikki war leicht rot geworden. „Menschen ändert sich." „Und du bist verheiratet!" Heather sah Hollis bewundernd an. „Was hast du gesagt, Dr. Langley?" Nikki nickte. „Oh, Mädel. Du hast es richtig gemacht. Hast dir einen Doktor geangelt. Deine Eltern sind sicher sehr stolz." „Ja." Bei dem Gedanken daran, dass alles nur Lüge war, fühlte Nikki sich schlecht. Sie zwang sich zu einem Lächeln. „Aber du schaust auch prima aus." Obwohl sie ein wenig rundlicher geworden war, sah Heather immer noch sehr gut aus. „Ach komm!" Heather krauste die Nase. „Ich habe ganz gut zugelegt. Das ist so, wenn man Kinder hat." „Dann bist du verheiratet?" fragte Nikki. „Geschieden." Heather schüttelte langsam den Kopf. „Meine Ehe war ein Fehler, aber meine Kinder sind toll. Ein Junge und ein Mädchen, vier und fünf. Ich arbeite als Maklerin in Tucson. Und was machst du? Lass mich raten. Entweder bist du Schauspielerin oder Künstlerin." „Nicht ganz." Wie gern hätte sie Künstlerin gesagt. „Ich habe eine Boutique." „So? Das hätte ich nicht gedacht." Heather wirkte enttäuscht. Doch dann lächelte sie
aufmunternd. „Hast du Brian schon gesehen?" „Ich glaube, er ist noch nicht gekommen." Nikki schaute sich um. „Erinnerst du dich noch, dass wir beide um ihn gekämpft haben?" Kämpfen hätte Nikki das eigentlich nicht genannt. Brian war Heather direkt in die Arme gefallen. „Das waren noch Zeiten." Heather seufzte. „Alles war damals so wahnsinnig wichtig." Sie warf Hollis ein Lächeln zu und wandte sich dann an Nikki. „Immer, wenn Brian anfing, von dir zu reden, wurde ich wütend." Sie nahm einen Schluck und runzelte die Stirn. „Das soll eine Bowle sein? Da ist doch gar nichts drin." „Wirklich?" „Nein, nichts. Keine Spur von Alkohol." „Nein, ich meine, hat Brian wirklich von mir gesprochen?" „Oh ja." Heather zuckte mit den Schultern. „Na ja, wie ich schon sagte, typisch High School. Und nun sieh dich an, was aus dir geworden ist. Die Frau eines Arztes. Donnerwetter!" „Ja", sagte Nikki leise. Sieh mich an. Nichts als Lügen. Es wollte ihr einfach nicht in den Kopf. Ausgerechnet Heather Haver, die früher nur Interesse für die Cheerleader hatte, die ihr Brian Collier abspenstig ge macht hatte, hatte sich zu einer vernünftigen Frau entwickelt, die mit beiden Beinen fest auf der Erde stand und sich für sie freute. „Was ist hier denn sonst noch so geplant?" fragte Heather. „Bisher ist das Ganze ja ziemlich lahm." „Keine Ahnung. Ich habe mich eigentlich nur um die Dekoration gekümmert." Heather sah sich um. „Alle wirken so gesittet. Ich hatte gehofft, wenigstens du würdest etwas Verrücktes tun. Ich habe dich früher immer für deinen Mut bewundert und wäre gern so gewesen wie du. Aber ich wollte ja unbedingt beliebt sein. Was für ein Unsinn!" „Das hätte ich nie vermutet." „O doch. Aber mal sehen, ob ich die Sache hier nicht ein bisschen auf-, mischen kann. Vielleicht kann ich Collier finden und ihn an alte Zeiten erinnern. Irgendwas muss passieren. So long." Sie winkte und verschwand in der Menge. „Das war also die berühmte Heather." „Ja." „Du bist viel hübscher als sie. Und sicher auch intelligenter." „Das sagst du nur, um mich aufzuheitern." „Kann sein. Aber dazu bin ich ja auch da, oder?" Hollis blickte ihr in die Augen, und sofort war sie wieder da, diese sexuelle Spannung. „Womit kann ich dich denn glücklich machen, Nikki?" fragte er leise. Indem du mit mir schläfst. Nikki riss sich zusammen. „Ich bin glücklich", sagte sie. „Du machst das alles ganz toll. Es ist nur schwieriger, als ich dachte. Irgendwie fühle ich mich so unwirklich." „Das tut mir Leid." Er nahm sie liebevoll in die Arme. „Ist schon gut." Nikki trat schnell einen Schritt zurück. „Wir bleiben nicht lange." „Aber du musst mir Brian unbedingt vorstellen, damit wir unsere Show abziehen können." „Vielleicht kommt er gar nicht." Das wäre schade, denn seinetwegen hatte sie Hollis bekniet, bis zum Fest zu bleiben. Was Heather gesagt hatte, ging ihr nicht aus dem Kopf. Warum hatte sie nur das klassische kleine Schwarze angezogen? Sie hätte sich zu ihrer wahren Persönlichkeit bekennen sollen. Und wenn sie nun schnell nach Hause fuhr, sich umzog, ihr Tattoo-Köfferchen ergriff und jedem Anwesenden hier eine Tätowierung gratis anbot? Das wäre was! Sie sah Hollis an und wusste sofort, dass er sie unterstützen, ja, ihr sogar helfen würde. Dann sah sie, wie ihre Eltern auf die Bühne zugingen. Ihr Vater hatte sich bei Nadine eingehakt. Er schien Probleme zu haben, bemühte sich aber um Haltung. Nein, sie konnte ihre
Eltern nicht blamieren, auch wenn es ihr selbst gut täte. Sie konnte es wegen des Gesundheitszustands ihres Vaters nicht riskieren. Aber etwas konnte sie doch tun, vielleicht würde sich dann die Atmo sphäre hier etwas lockern, und es wäre wieder so wie früher. Sie konnte die Bowle etwas anreichern. „Bin gleich wieder da", sagte sie zu Hollis. Sie lief zur Tür hinter der Bühne und wäre fast mit zwei Männern zusammengestoßen, die eine große Lautsprecherbox trugen. Die Band war da. „Ich halte euch mal eben die Tür auf", sagte sie. Als sie an ihr vorbeigingen, sah sie einer der beiden plötzlich an. „He, ich kenne dich doch von irgendwoher." Sofort erinnerte sie sich, dass er sich bei ihr ein Tattoo hatte machen lassen. „Eine brennende Gitarre? Vor etwa einem Jahr?" „Genau." Er setzte die Lautsprecherbox ab. Der andere drängelte. „Komm, Paul, wir müssen weiter." „Sieh mal." Paul hielt Nikki seinen muskulösen Arm hin. Ja, das war ihre Tätowierung, eine elektrische Gitarre mit einem Feuerschweif. „Sieht gut aus", sagte sie. „Ja, ich gehe auch gut mit ihr um. Hat mein Leben verändert." „Wieso?" „Seitdem ich die habe, spiele ich besser. Ich habe sogar meine eigene Band. Wir treten immer mal wieder auf und haben jetzt sogar unsere erste CD aufgenommen." „Das ist ja super." „Ja. Bedeutet mir viel." Er blickte Nikki an. „Können wir jetzt endlich weiter?" Der andere wurde ungeduldig. „Du solltest dir auch eine Tätowierung zulegen, J. J." „Ich hab eine." „Aber nicht so eine. Die Lady hier kann herausfinden, was das Richtige für dich ist. Sie kann in deine Seele schauen. Irgendwie gruselig, aber es wirkt." Der Freund wurde nachdenklich. „Vielleicht später. Jetzt müssen wir erst mal aufbauen." „Gut." Die beiden hoben den Lautsprecher wieder an und gingen auf die Bühne. Nikki folgte ihnen. „Komm in mein Studio, J. J., wenn du in Phoenix bist. Immer noch die alte Adresse, Dritte Straße, Ecke McDowell, erinnerst du dich, Paul?" „Klar, erinnere ich mich. Wir kommen, kannst dich drauf verlassen." Als Nikki heimlich einen tüchtigen Schuss Wodka in die Bowle goss, war ihr Vater gerade ans Mikrofon gegangen. „Ich möchte ein paar allgemeine Worte sagen, bevor die Band uns noch den Rest unseres Hörvermögens zerstört." Alles lachte. Nikki fühlte, wie jemand den Arm um sie legte. Hollis. So, als hätte er gespürt, dass sie ihn jetzt brauchte. „Ich freue mich, dass ihr alle gekommen seid", fuhr Harvey fort. „Ich glaube, in den ganzen Vereinigten Staaten gibt es keine Stadt, die ihre Schulabgänger derartig feiert wie wir." Er zog eine Liste aus der Tasche und las vor, wer alles wo in den letzten zehn Jahren Karriere gemacht hatte. „Ich bin stolz darauf, Teil eures Lebens zu sein. Viele von. euch sind hier geblieben, und ich habe verfolgen können, wie ihr Familie gegründet habt. Denjenigen von euch, die von weiter her kommen aus Tucson, aus Phoenix, aus Kalifornien, ja, sogar aus Vancouver in Kanada, danke ich besonders. Egal, wie alt wir werden, die Erinnerung an unsere Schule bleibt immer lebendig. Es ist gut, all die Menschen wieder zu sehen, die uns kannten, als wir gerade anfingen, uns selbst zu ent decken. Ich würde mich freuen, wenn ihr die High School von Copper Corners immer als ein Stück Heimat betrachten könntet." Zustimmendes Gemurmel setzte ein. „Dieses Jahrgangstreffen ist für mich von besonderer Bedeutung", fing Harvey jetzt wieder an, „denn wie die meisten von euch wissen, gehört meine Tochter Nicolette zu diesem Jahrgang. Seit zehn Jahren war sie nicht in Copper Corners. Und nun ist sie gekommen,
zusammen mit ihrem großartigen Mann. Ich hoffe, ihr werdet sie alle begrüßen." Während Nikki ihrem Vater zuhörte, konnte sie nur mit Mühe die Tränen zurückhalten. Sie hatte gehofft, stolz auf sich sein zu können, dass sie ihn glücklich machte. Aber stattdessen fühlte sie sich elend und allein. Als ihr Vater geendet hatte, klatschten alle begeistert. Hollis flüsterte ihr zu: „Ich freue mich, dass ich dir bei dieser Sache helfen kann, Nikki." Sie hob den Kopf und sah ihn an. Tränen standen ihr in den Augen. „Aber was ist denn?" „Ich weiß nicht mehr, wer ich eigentlich bin", platzte sie heraus. „Aber ich weiß es", sagte er leise. „Du bist Nikki Winfield. Du gehst deinen eigenen Weg, aber du bist bereit, Zugeständnisse zu machen, damit die, die du liebst, glücklich sind. Und das hier, das bist du." Dabei tippte er auf die Stelle, wo ihr Tattoo saß. Er war so lieb. „Oh, Hollis." Nikki legte ihm die Arme um den Hals und küsste ihn. Plötzlich war ihr ganz egal, ob dadurch alles noch schlimmer wurde. Ein erregtes Raunen ging durch die Menge, als ein helles Licht das eng umschlungene Paar einfing. Zuerst dachte Nikki, der Strahlenkranz existiere nur in ihrer Einbildung, weil der Kuss so fantastisch war, aber dann merkte sie, dass ein Scheinwerfer auf sie gerichtet war und alle sie anstarrten. Schnell ließ sie Hollis los, aber er hielt sie fest an seiner Seite und nahm, wie eine Majestät nach allen Seiten lächelnd, die Huldigungen entgegen. Als der Scheinwerfer wieder abschwenkte, sah Nikki Hollis verlegen an. „Tut mir Leid, das war nicht meine Absicht." „Nein? Aber ich wollte dich schon den ganzen Abend küssen. Welcher Ehemann, der einigermaßen klar im Kopf ist, könnte seiner Frau widerstehen, die so aussieht wie du?" Sie sahen sich in die Augen, bis Nikki seinem Blick nicht mehr stand halten konnte. Sehr viel länger hielt sie diese Situation nicht mehr aus. Wenn doch bloß Brian bald käme. Sie würde ihm Hollis vorstellen, und dann könnten sie endlich gehen. Die Band fing an zu spielen. „Wollen wir?" fragte Hollis. „Ich hoffe, Warren kann tanzen, denn Hollis tanzt gern." „Warum nicht?" Ein kurzer Tanz würde sie ablenken. Allerdings durfte sie Hollis dabei nicht zu genau beobachten. Denn bei seinen ge schmeidigen Bewegungen würde ihre Fantasie zu leicht mit ihr durchgehen. Zack! Ein spitzer Ellbogen traf sie im Rücken. „Oh, pardon!" Ein anderes Paar hatte sie angerempelt. Was war denn los? Nikki blieb stehen und sah sich um. Zwei Männer fielen sich in die Arme und schlugen sich kräftig auf den Rücken. Dabei redeten sie gleichzeitig mit schwerer Zunge aufeinander ein. Ein anderer versuchte sich in Breakdance. Einige Paare schienen reichlich unsicher auf den Beinen zu sein. Dann fiel ihr die Bowle ein. Der Wodka! Da sie selbst nichts trank, hatte sie nicht mehr daran gedacht, aber offensichtlich hatte er doch manche schon reichlich gelockert. Vielleicht zu reichlich. Aber so viel hatte sie doch auch wieder nicht reingetan. Der Song war zu Ende, und Paul griff nach dem Mikrofon. „Hallo, Copper Corners!" „Hallo!" grölte die Menge. „Ich bin Paul Preston, und dies ist meine Band ,Beat Down'." Begeisterter Beifall. „Ihr scheint euch ja gut zu amüsieren", sagte Paul. „Den nächsten Song möchte ich jemandem widmen, der heute hier anwesend ist. Wenn sie nicht gewesen wäre, würde diese Band immer noch in einer Garage Musik machen." Der Schlagzeuger spielte einen Tusch. „Du lieber Himmel!" Nikki packte erschrocken Hollis' Arm. „Er meint mich! Sein Tattoo ist von mir. Wenn er das nun publik macht? Er muss unbedingt weg vom Mikro!" Sie lief los, während Paul erzählte, wie schwierig es war, die Band zu gründen und wie viel Rückschläge sie dabei einstecken mussten. Nikki drängte sich an ein paar beschwipsten Klassenkameraden
vorbei und wollte gerade auf die Bühne stürzen, als sich ihr Carl Adams, ein früherer Footballspieler, in den Weg stellte. „Oh, Nikki Winfield", lallte er, „du warst vielleicht eine scharfe Nummer, Brian war einfach zu blöd." „Danke", sagte sie schnell, glitt an ihm vorbei und lief die Stufen hinauf. „Und dann ging ich in dieses Tattoo-Studio ..." sagte Paul. Himmel, sie kam zu spät! Nikki war voller Panik, doch Pauls nächste Worte konnte man nicht verstehen, denn plötzlich schien das Mikrofon nicht mehr zu funktionieren. Paul schüttelte es und klopfte drauf, aber nichts passierte. Er sah nach links, und Nikki folgte seinem Blick. Da, direkt neben dem Sicherungskasten, stand Hollis und grinste sie an. Er hatte den Strom für das Mikrofon abgeschaltet! Sie war gerettet. Nikki lief schnell zu Paul und tat so, als wollte sie ihm helfen, das Mik rofon wieder in Gang zu bringen. Dabei informierte sie ihn flüsternd über das, was er wissen musste, und als er nickte, legte Hollis den Hebel wieder um. „Wie ich schon sagte", fing Paul wieder an, „ich ging also in dieses Tattoo-Studio, und da war ... also, da war ... dieses Bild, das da an der Wand hing. Und ich sah das Bild an und wusste plötzlich, dass ich es schaffen konnte. Und wisst ihr, wer die Künstlerin war? Nikki Winfield!" Alles johlte und trampelte, und Nikki lächelte und ließ sich von Paul umarmen. Dann lief sie zu Hollis. „ Hollis!" Sie strahlte ihn an. „Du hast mich gerettet." „Da... dazu bin ich ... do... doch da!" sagte er und schwankte leicht. „Bist du betrunken?" „Vielleicht ein bisschen." Er grinste sie an. „Heather hat vielleicht ein bisschen zu viel Wodka reingetan." „Wieso Heather?" „Sie hat die Bowle aufgepeppt." „Du Schreck! Ich auch!" Sie blickten von der Bühne aus auf die Menge hinunter. Viele hingen eng umschlungen herum. „Die sind ja stockbesoffen!" sagte Nikki entsetzt. Sie gingen in Richtung Tanzfläche und trafen Nathan und Mariah, die sie offensichtlich gesucht hatten. „Da seid ihr ja", sagte Mariah erleichtert. „Die Leute heutzutage können aber auch gar nichts mehr vertragen. Ein bisschen Rum, und alles torkelt durch die Gegend. Vielleicht kommt mir das auch nur so vor, weil ich nichts trinke." „Rum?" fragte Nikki sie mit weit aufgerissenen Augen. „Ja. Ich wollte die Bowle etwas aufpeppen." „Dann sind wir schon zu dritt. Heather hat was reingetan und ich auch." „Wow!" Mariah umarmte Nikki. „Das ist ja wie in alten Zeiten! Die ganze Stadt wird morgen einen Wahnsinnskater haben. Wunderbar!" Alle vier lachten, und das erste Mal, seit sie in Copper Corners war, fühlte Nikki sich frei und leicht. Es war so gut, mit Menschen zusammen zu sein, vor denen sie sich nicht verstellen musste, die sie kannten. „Na, das wurde ja auch Zeit", sagte Mariah plötzlich und blickte über Nikkis Schulter. „Was denn?" fragte Nikki, aber da wurde sie schon von zwei starken Armen hochgehoben. Sie machte sich hastig frei. Welcher betrunkene Vollidiot... Brian Collier! Gut aussehend wie immer. Vielleicht hatte er ein wenig zugenommen, aber es stand ihm. Er starrte sie unsicher an. „Nikki?" „Ja, ich bin's." „Du siehst so anders aus. Mal sehen, ob du dich auch anders anfühlst." Er schloss sie in die Arme und drückte sie, so dass sie kaum Luft bekam. Seine Whiskyfahne ließ sich nicht ignorieren. Er ließ sie wieder los. „Ja. Da drin steckt wirklich unsere alte Nikki." Er sah sie bewundernd von oben bis unten an. „Du hast mir so gefehlt." Er schien ganz zu vergessen, dass sie nicht allein waren. Wenn er nicht so betrunken gewesen wäre, hätte ihr das vielleicht
schmeicheln können, aber so ... „Wo bist du denn gewesen?" fragte sie. „Ich musste mir erst mal Mut antrinken. Habe hoffentlich diesen ganzen Blödsinn verpasst, von wegen, was aus allen geworden ist und so weiter. Alles Seh..." „Brian, ich möchte dir ..." „Ich habe eben etwas zugelegt, und meine Ehe ist im Eimer, na und? Wen geht es was an?" „Keinen. Hör zu, Brian, das ist mein Mann." Nikki schob Hollis nach vorn. „Ach ja. Hab gehört, dass du geheiratet hast." Er streckte die Hand aus. „Brian Collier." „Warren Langley." Hollis schüttelte ihm die Hand. „Arzt, was? Hat man mir erzählt." Brian runzelte die Stirn. „Freue mich, Sie kennen zu lernen." Hollis sprach leise, damit nicht so auffiel, dass er nicht mehr ganz nüchtern war. „Nikki hat mir viel von Ihnen erzählt." „Hat sie?" Brian sah Nikki an. „Hat sie Ihnen gesagt, dass ich so blöd war, sie gehen zu lassen?" „Nicht mit diesen Worten, aber ..." „Sie haben Glück, Warner", sagte Brian und starrte Nikki unverhohlen an. „Warren, nicht Warner", sagte Hollis sanft. Nikki wusste, dass Brian sie immer noch begehrte und auf Hollis eifersüchtig war. Daraus machte er auch gar keinen Hehl. Hatte sie nicht genau das erreichen wollen? War sie nicht zu diesem Ehemaligentreffen gegangen, um Brian eifersüchtig zu machen und ihm zu zeigen, was er ausgeschlagen hatte? Aber nun empfand sie keine Genugtuung darüber. „Es gibt nichts zu bedauern, Brian", sagte sie zu ihrer eigenen Überraschung. „Du hast getan, was damals richtig war für dich. Schließlich waren wir noch halbe Kinder." Brian starrte sie an. Offenbar begriff er gar nicht, was sie sagte. Da sah Nikki Heather auf sie zukommen. „Oh, Brian", sagte sie schnell „Hier ist jemand, den du bestimmt gern wieder siehst." „Brian!" schrie Heather und stürzte auf ihn zu. Zögernd wandte sich Brian um. Nikki stieß Hollis an. Sie wollte möglichst schnell hier verschwinden. Als sie außer Hörweite waren, beugte er sich zu ihr hinunter. „Zufrie den? " „Du warst wunderbar." Hollis blickte an ihr vorbei auf Brian und runzelte die Stirn. „Was ist?" Sie zog ihn am Arm. Er wandte sich wieder Nikki zu. „Ich weiß nicht. Ich mag ihn irgend wie nicht." „Er ist betrunken." „Ja, vielleicht es daran. Aber ich bin ja selbst nicht so ganz nüchtern.'' Nikki lächelte ihn an. „Wir können jetzt gehen. Ich habe getan, was ich tun wollte. Mit deiner Hilfe." Sie strich ihm leicht über die Wange. „Ich finde, wir schenken uns das Picknick morgen. Die haben doch alle einen Kater, und es werden wieder nur Erinnerungen aufgewärmt. Das hängt mir allmählich zum Hals heraus." „Das überrascht mich aber." „Mich auch." „Okay. Ich muss eben nur noch mal wohin, und dann können wir los." „Gut. Ich warte draußen auf dich." Ihre Eltern waren schon vor einer Stunde gegangen, und Nikki hatte keine Lust, sich bei allen zu verabschieden. Sie blickte Hollis hinterher. Er sah so gut aus, dass ihm viele Blicke folgten. Sie dachte stolz: Er gehört mir. Gleichzeitig wusste sie natürlich, dass das nicht stimmte. Vielleicht gehörte er auch Rachel nicht, aber ihr schon gar nicht. Auf dem Weg nach draußen nahm sie schnell noch ein Blatt Papier und einen dünnen Filzstift vom Tisch. Vielleicht konnte sie einige Skizzen entwerfen, während sie auf Hollis wartete. Es war angenehm draußen. Sie setzte sich auf eine Bank unmittelbar in der Nähe von
Hollis' Auto. Die Luft war warm und feucht, aber durch die kleine Brise war es nicht stickig. Sie überlegte, wie der Freund von Paul hieß, der in der Band mitspielte. Was für ein Tattoo könnte zu ihm passen? Nikki fing an, eine grobe Skizze zu zeichnen, aber die Tanzmusik, die bis nach draußen drang, ließ sie an Hollis denken. Er tanzte so gut, und wenn er sie fest umfasst hielt ... Sie geriet ins Träumen. Und ohne nachzudenken, zeichnete sie ein Herz, von Spitzen umrahmt, und in der Mitte stand „ Hollis". Als ihr das bewusst wurde, musste sie lächeln. „Was machst du denn da?" Nikki schrak zusammen und blickte hoch. Brian Collier stand vor ihr. „Komm her", sagte er und zog sie hoch. „Ich muss dich noch mal umarmen." Er legte die Arme um sie und presste sie unangenehm fest an sich. „Zu dieser ganzen blödsinnigen Veranstaltung habe ich mich doch nur aufgerafft, um dich zu treffen", flüsterte er ihr ins Ohr. Er schien noch mehr getrunken zu haben. „Ja, es ist gut, dich wieder zu sehen." Nikki wand sich aus seinen Armen. „Ich war ein absoluter Vollidiot damals. Hätte dich nie gehen lassen sollen. Hab viel an dich gedacht in letzter Zeit." Brian hielt sie an den Schultern fe st, und Nikki lehnte sich angewidert zurück. Wie sehr hatte sie sich all die Jahre nach seiner Aufmerksamkeit gesehnt. Und jetzt tat er ihr nur noch Leid und nervte sie. Hatte er kein Gefühl für Würde? „Ich hatte damals nur Sex im Kopf..." fing Brian wieder an. „Hast du dich nicht gefreut, Heather wieder zu sehen?" lenkte Nikki ab. „Übrigens ist sie auch geschieden. Ihr habt eine ganze Menge ge meinsam." „Habe aber keine Lust, daran erinnert zu werden, wie ich damals ..." Er starrte sie an, als würde er jeden Moment über sie herfallen. „Na, wo ist dein Kerl?" „Er kommt gleich." „Geht's gut in deiner Ehe? Bist du glücklich und so?" „Hm, ja, ich glaube schon." „Na? Doch nicht alles so super? Schlappschwanz, was?" „Nein, nein, er ist ganz prima." „Schade." Brian hielt sie immer noch an den Schultern und schüttelte sie jetzt leicht. „Du siehst so anders aus." Er zog sie näher an sich, so dass Nikki seine geröteten Augen dicht vor sich hatte. „Aber du bist immer noch die alte wilde Nikki." „Brian, ich ..." „Lässt du diesen Teil von dir manchmal noch raus? Zu besonderen Gelegenheiten? Wenn keiner aufpasst?" Er war harmlos. Einfach zu blau, um zu merken, dass sie sich belästigt fühlte. Sie wollte sich gerade mit einem Ruck von ihm lösen, als Hollis auftauchte. „He, was soll das?" Obgleich er mit schwerer Zunge sprach, war seine Wut deutlich herauszuhören. Er kam, wenn auch leicht schwankend, auf sie zu. „Pfoten weg von meiner Frau!" „Tut mir Leid, Mann." Brian ließ Nikki los und hob entschuldigend die Hände. „Haben uns nur an alte Zeiten erinnert." „Alles in Ordnung, Liebling?" Hollis legte Nikki einen Arm um die Taille und zog sie fest an sich. „Ja, ja. Alles okay." „Du brauchst dich von dem Holzkopf nicht begrabschen zu lassen." „Nun mach mal halblang, Freundche n!" Jetzt wurde Brian allmählich wütend. „Nikki und ich kennen uns schon ewig. Da gab's dich noch gar nicht." „Das war damals. Heute ist heute." Wieder zog Hollis Nikki besitzergreifend an sich. Ihr kribbelte die Haut. „Sag ihm doch endlich, dass er sich nicht so aufregen soll." Brian sah Nikki empört an.
„Was willst du eigentlich?" Hollis hickste. „Du hast sie wie den letzten Dreck behandelt, damals in der Schule. Du hattest ja keine Ahnung, was du damals ... ich meine, was für ein Mensch sie ..." Er stieß Brian mit dem Zeigefinger gegen die Brust. „Du Vollidiot." „Was hast du gesagt? Vollidiot?" „Na und?" „Hollis, hör auf." Nikki hielt ihn am Arm fest. „Du bist betrunken." „Ich bin nicht betrunken. Ich verteidige deine Ehre. Er ist betrunken." „Sag deinem Mann, er soll abhauen, oder ich muss ihm eine reinhauen." „So? Mach doch!" Hollis hob die Fäuste. Nikki trat schnell zwischen die beiden Männer und versuchte, sie aus einander zu halten. „Wie wär's mit einem Kuss, Nikki?" Brian umfasste ihre Oberarme und sah Hollis dabei herausfordernd an. „Wegen der guten alten Zeiten?" „Lieber nicht." „Pfoten weg!" Plötzlich klang Hollis erstaunlich nüchtern. Brian rührte sich nicht. Hollis gab Brian einen Stoß, und der taumelte rückwärts. Er fing sich aber sofort und rempelte Hollis kräftig an. Im Fallen packte Hollis ihn, und beide fielen zu Boden, rollten hin und her, richteten sich halb auf und versuchten erfolglos, einen Treffer zu landen. „Du hast ihr das Herz gebrochen", stieß Hollis hervor, holte wieder aus und schlug daneben. „Sachte, mein Junge! Sie ist schließlich nicht dein persönlicher Be sitz" gab Brian zurück und schlug zu, verfehlte aber. „Hört auf! Hört sofort auf!" Nikki versuchte, die beiden zu trennen, und schließlich stand Brian schwer atmend auf. „Wenn du mit dem Lahmarsch hier fertig bist, bin ich dran!" Er zog sein Jackett gerade. „Du hast was Besseres verdient als den." Er sah auf Hollis hinunter, der sich aufgestützt hatte und versuchte, zu Atem zu kommen. Stimmt nicht, dachte Nikki. Was Besseres als Hollis Marx gibt es gar nicht.
10. KAPITEL Hollis ließ sich auf den Rücken zurückfallen und starrte in den Nachthimmel. Die Sterne schienen um ihn herumzuwirbeln, und er fühlte sich wie in einem Karussell. Es fehlte nur noch die typische Jahrmarktsmusik, und so, wie sich alles um ihn drehte, hätte er sich nicht gewundert, wenn sie gleich dröhnend eingesetzt hätte. Was war denn bloß mit ihm los? Er hatte gerade versucht, einen Kerl zu verprügeln, der ihm weit überlegen war und der ihn zusammenge schlagen hätte, wenn er nicht stockbesoffen wäre. Was war denn in ihn gefahren? Eifersucht, pure Eifersucht. Als er gesehen hatte, wie der Kerl Nikki anfasste, war bei ihm die Sicherung durchgebrannt, und er hätte ihn am liebsten verprügelt, ihn in eine Mülltonne verfrachtet und den Hügel hinuntergerollt. Idiotisch. Er wusste, dass Nikki früher fürchterlich verliebt war in diesen Typen und möglicherweise noch immer etwas für ihn empfand. Aber musste er sich deshalb gleich wie ein Neandertaler aufführen, der sein Weib verteidigte? Sie war nicht in Gefahr gewesen. Die ganze Sache war albern und peinlich. „Alles in Ordnung?" Nikki kniete neben ihm, ihr Haar berührte seine Wangen, und er fühlte sich eingehüllt in ihren Duft. Selbst, wenn Brian ihn zusammengeschlagen hätte, es wäre die Sache wert gewesen. Das war Hollis klar, als er Nikki ins Gesicht sah und plötzlich begriff, was mit ihm los war. Es handelte sich hier nicht um eine vorübergehende spätpubertäre Phase. Okay, er war betrunken, aber vielleicht hatte er auch gerade genug getrunken, um endlich die Wahrheit zu erkennen. Er hatte sich in Nikki verliebt, einfach so, trotz ihrer geliebten Käsechips, die sie ständig aß, oder ihrer Vorliebe für ausgeflippte Outfits und Frisuren. Er begehr te sie, egal, wer und wie sie war. „Na, das wirkte ja enorm echt!" Nikki war überrascht, aber auch ein bisschen verwirrt. „Ich hätte nie geglaubt, dass du so weit gehst, dich mit Brian zu schlagen. Du sahst richtig wütend aus. Von wegen, du kannst nicht schauspielern!" Hollis stützte sich auf die Ellbogen. „Ich habe nicht geschauspielert." „Nein?" „Nein." Er griff nach ihr, zog sie in die Arme und küsste sie. „Lass das. Das meinst du doch nicht ernst." Leise stieß Nikki die Worte hervor, und Hollis sah, dass sie sich genauso nach ihm sehnte, wie er sich nach ihr. Entschlossen stand er auf, fasste nach ihrer Hand und zog Nikki mit sich. „Komm." „Wo willst du hin?" „Irgendwohin, wo wir uns ausziehen können." Er nahm die Autoschlüssel aus der Hosentasche und schloss die Beifahrertür auf. „Steig ein." Nikki stieg ein und blickte Hollis dann sprachlos an. Sich ausziehen? Hollis setzte sich neben sie, schloss die Tür und zog Nikki wieder in seine Arme. „Was soll das?" „Wir bleiben hier", sagte er. „Ich bin zu betrunken, um noch ir gendwo hinzufahren." „Nein, das meine ich nicht. Was hast du vor?" „Ist das nicht eindeutig? Ich will endlich mit meiner Frau schlafen." Er küsste sie leidenschaftlich, während er ihr den Reißverschluss aufzog und ihr die Träger des Kleides und des BHs über die Schultern streifte. Nikki wollte ihn aufhalten, wollte über die ganze Sache nachdenken, aber sie war unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen, dass sie einfach das tat, was ihr Gefühl ihr eingab. Endlich würden sie es tun. In einem Auto, in einem kleinen Auto. Das war ja wie vor zehn Jahren, als man im Auto herumknutschte und das aufregende Gefühl hatte, etwas Verbotenes zu tun. Vielleicht brauchte sie genau das. Was auch immer dabei herauskommen würde, sie war einverstanden. Endlich wurde ihr Verlangen gestillt, das sie quälte, seit sie nach Copper Corners gekommen waren. Hollis und
sie würden sich endlich lieben. Sie schob die Träger tiefer, damit sie die Arme frei hatte, und knöpfte Hollis' strahlend weißes Hemd auf, während er ihren Hals und den Ansatz ihrer Brüste küsste. Mit einer einzigen Bewegung schob sie ihm das Jackett und das Hemd über die Schultern, aber nun waren seine Arme gefangen. Er rutschte zur Seite, um sich aus dem Jackett zu zwängen. Dabei stieß Nikki mit dem Kopf gegen die Armlehne. „Autsch!" „Entschuldige." Jetzt stieß Hollis mit dem Kopf gegen den Spiegel. Er schob Nikki ein wenig zur Seite, um endlich seine Arme zu befreien, aber es gelang ihm nicht. „Himmel, das ist ja wie in einer Zwangsjacke!" Sie versuchte, ihm Platz zu machen und stieß dabei gegen das Lenk rad. Hollis bewegte hilflos seine Hände, die immer noch in den Ärmeln feststeckten. „Komm, ich knöpf dir die Ärmel auf." Nikki drückte sich gegen das Lenkrad, knöpfte eine Manschette auf, dann die zweite, und endlich konnte Hollis aus den Ärmeln schlüpfen. „Au!" Das war der Schaltknüppel. Nikki rieb sich die Hüfte. Da wür de sie sicher einen blauen Fleck bekommen. „War früher auch so wenig Platz in einem Auto?" Sie kicherte. „Moment mal." Hollis drückte irgendwo, und die Rücklehne des Beifahrersitzes klappte nach hinten. Endlich hatten sie mehr Platz. Auch die Lehne des Fahrersitzes ließ sich umklappen. „Wie im Zahnarztstuhl", sagte er grinsend und küsste sie, während er ihren BH öffnete. Das war gekonnt. „Hat man euch das während des Studiums beige bracht?" fragte Nikki. „Das konnte ich schon vorher." Bis zur Taille waren sie jetzt nackt, und als sie sich gegeneinander drückten, kitzelte sein weiches Brusthaar die harten Spitzen ihrer Brüste. Nikki spürte deutlich, dass Hollis längst hart und bereit für sie war. Und auch sie war so erregt, dass sie keinen klaren Gedanken mehr fassen konnte. Ihr war heiß in jeder Beziehung, und das Auto schien eine Sauna zu sein. Hollis stöhnte auf, als er den Druck ihrer Hand in seinem Schritt spürte. Er schob seine Finger in ihren Slip. Sofort bäumte Nikki sich auf. Endlich berührte er sie dort! Sie wollte ihn in sich fühlen, jetzt sofort. Aber er hatte immer noch seine Hose an, und auch sie steckte noch im Kleid. Und trotz der heruntergeklappten Rücklehnen war es fürchterlich eng. Draußen waren Schritte zu hören, doch Nikki achtete nicht darauf, sondern machte sich an Hollis' Gürtel zu schaffen. Hollis erstarrte. Nikki hob den Kopf und blickte an ihm vorbei. Durch das beschlagene Fenster konnte sie gerade noch Nathan und Mariah erkennen, die Arm Ein Arm vor der Windschutzscheibe standen, breit grinsten und das Siegeszeichen machten. Himmel, sie wussten genau, was hier vor sich ging, auch wenn sie durch die beschlagenen Scheiben kaum etwas erkennen konnten. Hollis drehte sich halb um, um zu sehen, wer vor dem Auto stand, und Nik ki versuchte, sich mit ihrem Kleid zu bedecken. Nathan und Mariah winkten ihnen nur lachend zu und gingen weiter. Nikki und Hollis starrten sich an. Beide atmeten schwer, und Nikki konnte buchstäblich seinen schnellen Herzschlag hören. Was taten sie hier eigentlich? Wie Teenager knutschten sie im Auto und ließen sich dabei auch noch erwischen. Nathan und Mariah waren Freunde, aber man wusste ja nicht, wer als Nächstes kam. Hollis schob sich vorsichtig von ihr herunter, und Nikki fragte sich bange, was jetzt kommen würde. Sie rechnete fest mit: Ich weiß auch nicht, was über mich gekommen ist. Aber stattdessen sagte er leise: „Du musst fahren. Ich habe zu viel getrunken." Sie nickte schweigend. Hollis war immer so vernünftig. Schnell zog sie ihr Kleid hoch, er warf sich das Hemd über, sie stiegen aus und wechselten die Plätze. Nikki griff nach dem Zündschlüssel. „Da sind wir wohl etwas zu weit gegangen", sagte sie. Hollis beugte sich nur vor und küsste sie, lange und zärtlich. Dann sah er ihr tief in die Augen und schüttelte den Kopf. „Wir brauchen ein Bett und eine Tür, die man abschließen
kann." Also doch! Nikki strahlte und ließ den Motor an. Auf dem Weg zu ihrem Elternhaus liebkoste Hollis sie. Mit der Zunge kitzelte er sie am Ohr, mit den Fingern streichelte er ihre Beine und drang bis in ihren Slip vor, bis sie schließlich sagte: „Hör auf, oder wir landen am nächsten Baum!" Noch nie hatte sie so schnell nach Hause kommen wollen. Und dennoch ging ihr auf der Fahrt so vieles durch den Kopf. Die alten Empfindungen kamen wieder hoch, Einsamkeit, Wut, die Sehnsucht, nach ihren eigenen Vorstellungen leben zu können, ohne diejenigen, die sie liebte, dadurch enttäusche n zu müssen. Sie warf Hollis einen Blick zu, der sie zwar auf ihren Wunsch hin nicht mehr streichelte, sie aber ansah, als könnte er sich nicht mehr lange zurückhalten. Vielleicht genoss sie nur das Gefühl, begehrt zu werden oder ihn so zu erregen, dass er ihr nicht widerstehen konnte. Andererseits fühlte sie sich gut, wenn sie mit Hollis zusammen war. Er kannte sie genau und begehrte sie trotzdem. Er ist betrunken. Er weiß nicht, was er tut, sagte Nikki sich. Aber dann verdrängte sie diese Gedanken schnell. Diese Nacht gehörte ihnen. Und sie würden sie nutzen. Endlich waren sie zu Hause. Kichernd wie die Teenager schlichen sie auf Zehenspitzen den Flur entlang, um Nikkis Eltern nicht zu wecken. In ihrem Zimmer schloss Hollis sofort die Tür ab. Plötzlich hatte Nik ki eine Idee. „Zieh dich schon mal aus, ich komme gleich." Sie lief zurück zum Auto. Gut, dass sie Mariah noch nicht den Lederrock und das Spitzenbustier zurückgegeben hatte. Schnell nahm sie die Plastiktüte von der Rückbank, außerdem noch das Klebeband, die Schere und die Messlatte, die sie beim Dekorieren gebraucht hatte. Sie zog sich leise im Vorflur um, um Hollis zu überraschen. Er wird begeistert sein, dachte sie voller Vorfreude. Ein wunderbares Gefühl. End lich war sie wieder die alte Nikki, und der konnte Hollis noch weniger widerstehen, das wusste sie. Sie warf ihr kleines Schwarzes in die Tüte, streifte sich die Rolle mit dem Klebeband über das Handgelenk und nahm die Schere und die Messlatte in die Hand, um sie im Vorbeigehen in den Schrank zu legen. Auf Zehenspitzen schlich sie durch den Flur. „Nikki! Mein Gott, Kind, du hast mich zu Tode erschreckt!" Bleich wie die Wand stand ihre Mutter plötzlich vor ihr. „Ich habe was gehört und dachte ... aber wie siehst du denn aus?" Nikki wurde puterrot. Sie musste auf ihre Mutter wie jemand aus der „Rocky Horror Picture Show" wirken. Schlimmer noch, sie hielt eine Messlatte und Klebeband in der Hand! „Das ist nur Spaß, Mom. Ich ..." „Ich will gar nichts hören." Nadine presste sich die Hände auf die Ohren, starrte ihre Tochter dabei aber entsetzt an. „Ihr habt euch doch nicht ... äh ... gegenseitig ... verletzt?" „Nein! Das sind nur Sachen, die eigentlich Mariah ..." „Das interessiert mich nicht." Kopfschüttelnd drehte ihre Mutter sich um und ging zurück in ihr Schlafzimmer. Nikki lief ins Gästezimmer und knallte die Tür hinter sich zu. Hollis lag auf dem Bett, nackt und erregt. „Donnerwetter!" Er richtete sich halb auf. „Du passt haargenau in meinen schönsten Traum." „Und in den schlimmsten Albtraum meiner Mutter." Die Begegnung hatte Nikki ziemlich ernüchtert. „Was? Hat deine Mutter sich etwa wieder eingemischt?" „Ja. Sie hat mich eben auf dem Flur überrascht. Ich hatte das hier ...", sie hielt die Messlatte und das Klebeband hoch, „... bei mir, und nun hält sie uns für pervers." „Hm, das hört sich doch gut an." Hollis sah Nikki mit funkelnden Augen an, stand auf und
kam auf sie zu. „Vielleicht habe ich nicht gewusst, Jo Schöne der Nacht ...", sagte er und griff nach ihr, „... dass Sie mich strafen müssen ...", er zog sie von der Tür weg, „... damit ich wahre Befriedigung finde." Nikki ließ die Plastiktüte, die Messlatte und das Klebeband fallen. Sie brauchte Hollis nur anzusehen, und schon konnte sie nur noch daran denken, ihn zu lieben. Plötzlich war Schluss mit der Spielerei. Wie auf Kommando zerrten sie sich gegenseitig die Kleider vom Leib, so schnell es ging, und fielen dann eng umschlungen auf das Bett. Was für ein wahnsinniges Gefühl, sich endlich auf einem großen Bett nackt aneinander schmiegen zu können! Nikki und Hollis bebten beide vor Erregung. Er sah sie an, als könnte er sein Glück nicht fassen. Und als sie sich küssten, erst langsam und forschend, dann mit wachsender Leidenschaft, stieß Nikki immer wieder kleine lustvolle Seufzer aus. „Nikki ..." stöhnte Hollis leise, und Nikki fand, ihr Name hatte sich noch nie so schön angehört. Und wie er sie berührte, streichelte ... Sie fühlte sich sexy und wild und unschuldig zugleich. Seine Liebkosungen waren sanft und dann wieder fordernd, als spürte er, wonach sie sich ge rade sehnte. Dann drang er in sie ein, vorsichtig, um sicher zu sein, dass es das war, was sie wollte. Sehr schnell fanden sie einen gemeinsamen Rhythmus, bewegten sich in sich steigernder Lust. Beide umklammerten sich, als sie den Höhepunkt erlebten wie ein befreiendes Gewitter. Danach sahen sie sich tief in die Augen, und Nikki ahnte, was er sagen würde. „Ich liebe dich, Nikki." „Ich dich auch." Und obwohl das die Wahrheit war, fühlte sie sich unbehaglich. Sie hatte das Gefühl, es wäre besser gewesen, sie hätte das nicht zugegeben, doch sie wollte nicht grübeln und sich diesen wunderschönen Augenblick verderben, deshalb kuschelte sie sich Halt suchend an ihn. Ihre Gedanken ließen ihr jedoch keine Ruhe. Ununterbrochen rumorte es in ihrem Kopf: Das ist nur vorübergehend. Er ist nur verknallt in dich, das gibt sich wieder ... Sie konnte nichts dagegen tun. „Ich möchte eine Tätowierung", sagte Hollis, schon halb im Schlaf. „Bitte." Nikki fragte sich, ob der Alkohol noch immer wirkte. Sie ging zum Spaß auf seinen Wunsch ein. „Was möchtest du denn für ein Tattoo?" „Das musst du bestimmen. Irgendwas Symbolisches. Was du willst." „Mal sehen, wie du morgen früh darüber denkst." „Hm." Seine Atemzüge wurden tiefer, und er war eingeschlafe n. Nikki war noch hellwach, zumindest so wach, dass ihr plötzlich eine ausgezeichnete Idee kam. Ja, genau das werde ich tun, dachte sie zufrieden. Am nächsten Morgen traute Hollis sich kaum, seinen Kopf zu heben. Schon die Augen zu öffnen war eine ungeheure Anstrengung. Sein Schädel dröhnte, als wäre er aus dem zehnten Stock gefallen, und sein Mund fühlte sich pelzig an. Dann fiel es ihm wieder ein. Er war betrunken gewesen, stockbetrunken. Und er hatte ... hatte er wirklich? Stöhnend setzte er sich auf. Nik ki lag neben ihm. Ja, er hatte. Nun erinnerte er sich wieder an alles. Die Prügelei mit Brian Collier, dann die Knutscherei mit Nikki im Auto, Nathan und Mariah, die ihnen zugewinkt hatten, Nikki in diesem Bustier ... Was war denn mit ihm geschehen? Plötzlich konnte er Nikkis Verwir rung verstehen, ihre Unsicherheit. Was war aus dem stets nüchternen und verantwortungsbewussten Dr. Hollister Marx geworden? Er verhielt sich wie ein unreifer Teenager, war scharf auf Sex im Auto, prügelte sich auf der Straße und wollte sich tätowieren lassen. Was war bloß mit ihm los? Vielleicht hatte er ja wirklich so was wie eine Midlife-Crisis. Dann sah er Nikki an, die ihr Gesicht ins Kissen gedrückt dalag. Sie war so schön, so sanft, so sexy. Nein, er hatte keine Krise, er war verliebt. Hollis hatte das Gefühl, sein Herz weite sich vor Zuneigung, gleichzeitig war er erregt, sein Kopf dröhnte, und dann revoltierte sein Magen.
Er schwang sich aus dem Bett und erreichte gerade noch rechtzeitig das Badezimmer. Während er sich später den Mund spülte, starrte er in den Spiegel. Er sah entsetzlich aus, vollkommen verkatert. Sein Gesicht war grau, und die schwarzen Ringe unter den Augen gaben ihm ein düsteres Aussehen. Was war das? Hollis stutzte und sah genauer hin. Auf seiner Brust prangte eine Tätowierung! Er berührte sie vorsichtig. Ein Herz mit irgendeinem russischen Wort: IKKIN. Nein, er sah den Text im Spiegel ja verkehrt herum. Es hieß natürlich NIKKI. Das Herz war knallrot und von Spitzen umrahmt. „Oh nein!" stieß er leise aus. Hinter sich bemerkte er eine Bewegung, und er sah im Spiegel, wie Nikki auf ihn zukam. Erst lächelte sie, aber dann wurde sie ernst und sah ihn traurig an. Nikki war von einem schrecklichen Geräusch aufgeweckt worden. O Gott, dachte sie, nachdem sie es identifiziert hatte. Die Liebe meines Le bens kotzt sich die Seele aus dem Leib. Der Arme! Sie sprang aus dem Bett, um ihm den Kopf zu halten. Sie liebte ihn so sehr, sie würde ihm in jeder Situation helfen. Unter ihrem Einfluss wür de er sicher lockerer werden. Vielleicht würde er sogar die Praxis verkaufen und Biologielehrer werden, was er immer schon gewollt hatte. Aber als sie ins Badezimmer kam, sah sie, wie Hollis entsetzt auf das Tattoo starrte. Ihr wurde plötzlich eiskalt. „Du brauchst gar nicht so überrascht zu tun", sagte sie schnell. „Du hast mich doch darum gebeten. Gefällt es dir nicht?" „Doch, sehr hübsch." Stirnrunzelnd strich er mit den Fingern darüber. „Keine Sorge, Hollis. Es ist nur aufgemalt." „Ach so." Man hörte geradezu, wie ihm ein Stein vom Herzen fiel. Hollis versuchte, Nikki zu küssen, aber sie wich ihm aus, griff schnell nach ihrem Morgenmantel und zog ihn über. Auf keinen Fall sollte er sehen, dass sie sich ein Herz mit „Hollis" auf die Innenseite ihres Oberschenkels gemalt hatte. „Du verstehst doch, dass es ein Schock für mich war", sagte er schnell. Ihm war klar, dass er sie gekränkt hatte. Nikki war mehr als gekränkt. Sie war innerlich wie erstarrt. Seine Reaktion war für sie wie ein Schlag ins Gesicht. Letzte Nacht war er betrunken gewesen, heute war er wieder nüchtern. Vielleicht liebte er sie gar nicht wirklich, sondern hatte sich das nur eingeredet, weil er mit ihr schlafen wollte. Altmodische Männer brauchten ein Alibi. Bevor sie ihre Zweifel äußern konnte, hörte sie die Stimme ihrer Mutter. „Ich komme jetzt den Flur entlang." Wahrscheinlich wollte sie ihnen Zeit lassen, sich aus ihrer Sado-MasoStellung zu befreien. „Ich stehe jetzt vor eurer Tür. Ich klopfe gleich an." „Sekunde!" rief Nikki. Hollis griff nach seiner Pyjamahose, die an der Badezimmertür hing, und zog sie schnell über. Nikki ging zur Tür, schloss auf und öffnete sie. „Morgen, Mom." „Ich wollte euch wirklich nicht stören, aber Warrens Handy klingelt unentwegt." Nadine reichte Hollis den Apparat. Sie wirkte beunruhigt. „Danke. Es muss aus meiner Tasche gefallen sein." „Es hat alle zehn Minuten geklingelt, als hätte sich jemand den Wecker gestellt. Deshalb habe ich dann schließlich das Gespräch angenommen. Es ist eine Frau." Nadine wurde plötzlich rot. „Sie sagt, sie sei deine Freundin." „Ich kümmere mich schon darum." Hollis wartete darauf, dass Nadine wieder ging, aber sie blieb wie angewurzelt stehen. „Wir kommen gleich." Nikki schob ihre Mutter zur Tür hinaus. „Das Ganze ist doch sicher nur ein Missverständnis?" fragte Nadine besorgt. Nikki nickte nur und schloss die Tür.
Dann standen sie und Hollis sich gegenüber und sahen sich schweigend an. „Alles ist in Ordnung", sagte er schließlich leise. „Sie ruft nur an, weil sie wissen will, ob ich heute nach Hause komme." „Was wirst du ihr denn sagen?" „Die Wahrheit." Er atmete tief durch. „Das würde ich zwar lieber von Angesicht zu Angesicht tun, aber ich sollte es wohl nicht länger raus schieben. Wir müssen endlich anfangen, die Wahrheit zu sagen, und zwar allen." Er sah so düster und unglücklich aus, dass ihr ganz elend wurde. Hollis wählte. „Hallo, Rachel. Ja, ich weiß. Ich komme heute zurück, aber ich muss dir gleich noch etwas sehr Wichtiges sagen." Nikki ertrug es nicht, ihm zuzuhören. Sie wollte gar nicht wissen, was er sagte. Sie lief ins Badezimmer, schloss die Tür hinter sich, setzte sich auf den Badewannenrand und presste sich die Hände auf die Ohren. Entsetzlich. Selbst wenn Hollis nicht in Rachel verliebt war, war es Nikkis Schuld, dass er mit ihr brach. Wie würde Rachel das verkraften? Nik ki hatte ein furchtbar schlechtes Gewissen, und Rachel tat ihr Leid. Nach ein paar Minuten machte Hollis die Badezimmertür auf. Nikki nahm die Hände von den Ohren. „Fertig", sagte er. „Ich habe es ihr gesagt." „Alles? Du hast ihr alles von uns erzählt?" „Ja. Sie war wütend. Hat gesagt, ich sei unzuverlässig und verantwortungslos. Das kann ich verstehen. Wir werden uns aussprechen, wenn ich wieder zurück bin. Aber es ist vorbei, das hat sie eingesehen." „Du hast es wirklich gewagt." „Ja. Sie ist ein anständiger Mensch. Sie findet allerdings, ich verhalte mich kindisch, und meinte, sie sei froh, dass wir noch nicht verlobt sind. Es wäre ihr sonst ihren Freunden und ihrer Familie gegenüber fürchterlich peinlich." „Das hört sich sehr nüchtern an." Nikki wusste, sie hätte in so einem Fall ganz anders reagiert, sie hätte geschrien und getrampelt. „Das ist typisch Rachel. Rational und praktisch." Wie du, schoss es Nikki durch den Kopf, wie der wirkliche Hollis. Nicht wie der Mann, der so tat, als liebte er sie, der unbedingt ein Tattoo wollte und hinterher deshalb in Panik geriet! Hollis zog sie vom Badewannenrand hoch. „Sieh mich doch nicht so verzweifelt an. Alles ist vorbei. Ich bin frei." „Ja", sagte sie leise. „Du bist frei." „Ich bin unheimlich erleichtert, das hat mir schwer auf der Seele gele gen." Er küsste sie, aber sie nahm es kaum wahr. „Nun bist du dran. Komm, wir gehen nach unten und erzählen deinen Eltern alles." „Meinen Eltern?" fragte sie zögernd. „Meinst du nicht, dass das alles ein bisschen zu plötzlich kommt? Ich finde, wir warten ab, wie sich in Phoenix alles weiterentwickelt." Hollis runzelte die Stirn. „Nein, Nikki, jetzt ist die Stunde der Wahr heit." Er schob sie zur Tür. Die Stunde der Wahrheit? Aber was ist die Wahrheit? dachte Nikki, als sie hinter Hollis die Treppe hinunterging, nachdem sie sich angezogen hatten. Sie liebte ihn, das stimmte. Aber liebte er sie auch? Da war sie nicht ganz sicher. Er wollte sie lieben, das schon. Vielleicht, weil er für Rachel nichts empfand und am ehesten aus der Sache herauskam, wenn er sich einbildete, sich in jemand anderen verliebt zu haben. „Ich muss darüber noch nachdenken, Hollis", sagte sie schnell. „Ich kann das noch nicht tun." „Aber natürlich kannst du, ich helfe dir." Er sah sie zärtlich an, konnte aber eine gewisse Ungeduld nicht ganz verbergen.
Er tut das Richtige, davon ist er fest überzeugt, dachte Nikki. Die ganze Situation kam ihr unwirklich vor, und Hollis schien nicht er selbst zu sein. Im Grunde war er nicht der Mann, der sich betrank, sich mit anderen prügelte und unbedingt tätowiert werden wollte. Der echte Hollis Marx trug schneeweiße gestärkte Zahnarztkittel und blieb immer gelassen und freundlich. Der wirkliche Hollis konnte sie genauso wenig lieben, wie ihre Eltern sie verstehen konnten. „Ich werde mich nicht verändern, Hollis." Nikki blieb auf der Treppe stehen. „Ich bin nicht Miss Copper Corners. Ich bin manchmal die ganze Nacht auf, nur so, weil es mir Spaß macht. Ich bade gern nackt. Bei mir zu Hause herrscht das Chaos. Ich habe verrückte Freunde. Meine Musikerfreunde üben manchmal die ganze Nacht in meinem Haus. Ich habe Steuerschulden." „Du hast Steuerschulden?" „Ja. Da siehst du mal, wie wenig du mich kennst." „Was soll das, Nikki? Möchtest du mich davon abbringen, dich zu lieben? Das klappt nicht. Außerdem bist du gar nicht so schlimm, wie du tust." „Schlimmer." „Du hast nur Angst, deinen Eltern die Wahrheit zu sagen. Aber was soll schon passieren? Sie lieben dich. Und sie sind froh, dass wir ein Paar sind. Na los." Er schob sie vorwärts. Und dann waren sie unten im Parterre. Harvey und Nadine saßen am Esstisch. Sie sahen übernächtigt und enttäuscht aus. Donna lehnte am Küchentresen, und selbst Shelley und Byron sahen Hollis anklagend an. „Ich kann nicht", flüsterte Nikki, aber Hollis trat vor und begrüßte die Familie. „Ihr wundert euch vielleicht, wer da am Telefon war und worum es eigentlich ging", sagte er und bemühte sich um Festigkeit in der Stimme. Stille. „Wir werden alles erklären. Nikki, fang du doch an." Er drückte ihr ermutigend die Hand. Sie brachte keinen Ton heraus. „Nikki? Bitte!" „Gut." Sie holte tief Luft. „Also, Hollis und ich ..." Wir haben euch belogen, seit wir vor einer Woche durch die Tür kamen. Ihre Familie sah sie erwartungsvoll an. Aber nun lieben wir uns. Zumindest ich liebe Hollis. Denn dies ist nicht Warren Langley, sondern Hollister Marx. Und er ist auch kein Doktor, sondern Zahnarzt. Und wir haben uns erst vor kurzem kennen gelernt. In meinem Tattoo-Studio. Denn ich habe gar keine Boutique. Ich bin Tattoo-Künstlerin. Nein, unmöglich, sie konnte es nicht tun. Jetzt noch nicht. Vielleicht nie. „Was war das denn für eine Frau?" fragte Donna. „Und wieso behauptet sie, deine Freundin zu sein?" „Sie war meine Freundin", fing Hollis an. „Zumindest, bis ich hier nach Copper Corners ..." Er würde die ganze Geschichte erzählen! Nikki geriet in Panik. Das durfte er nicht tun, denn womöglich löste sich ihre ganze Liebe in nichts auf, wenn sie erst wieder in Phoenix waren. „Sie verfolgt ihn", platzte Nikki heraus. „Sie waren früher befreundet, und sie kann ihn nicht vergessen." Sie merkte, wie Hollis sich anspannte. Sie warf ihm einen Blick zu, er starrte sie fassungslos an. „Sie verfolgt ihn?" fragte Donna. Nadine japste nach Luft. „Er hat schon einige Male seine Telefonnummer gewechselt, aber sie hat einen Privatdetektiv angeheuert und kriegt die neue immer wieder raus." Nadine atmete erleichtert auf. „Na, das erklärt alles", sagte sie. „Das ist ja schrecklich. Sie wird dir doch nichts antun?"
„Nein", sagte Nikki schnell. „Sie ist vollkommen harmlos. Sie ruft ihn nur immer wieder an und redet mit ihm, als wären sie noch immer zusammen." „Da würde ich ja mal gerichtlich etwas unternehmen", meinte Donna. „Vielleicht tun wir das auch." Nikki sah Hollis an und erschrak. Er sah so grenzenlos enttäuscht aus, dass sie beinahe doch noch die Wahrheit gesagt hätte. „Aber macht euch keine Sorgen", sagte sie schnell. „Wir finden schon eine Lösung." Alle nickten, wirkten aber misstrauisch. Wahrscheinlich, weil die Spannung zwischen ihr und Hollis allzu offensichtlich war. „Kann ich bei den Frühstücksvorbereitungen helfen?" fragte Nikki. „Wir müssen uns bald auf den Weg machen." „Was? Ihr kommt nicht mit zum Picknick?" Nadine war entsetzt. „Wir müssen zurück, nicht, Warren?" „Ja", sagte er dumpf. „Wir sind hier fertig." „Gut, na ja, dann ..." Nadine stand auf. „Dann will ich mal schnell die Brötchen aus dem Ofen holen." „Au!" Harvey stöhnte auf und griff sich an die Brust. „Daddy!" Nikki stürzte auf ihn zu. „Was ist? Dein Herz?" „Mein Herz? Wieso das denn? Ich habe ein bisschen zu viel Rührei mit Zwiebeln gegessen. Und Zwiebeln kann ich manchmal nicht so gut vertragen." Wie tapfer er war, er wollte sie nicht beunruhigen. Nikki war gerührt, aber sie hielt es nicht mehr aus. „Bitte, mach mir doch nichts vor!" Sie hockte sich neben ihn. „Es ist viel zu gefährlich. Du hattest schließlich einen Herzinfarkt. Und ich habe solche Angst ..." Sie konnte nicht weitersprechen. „Himmel, ich hatte Probleme mit meinen Hämorrhoiden, Kind", mur melte er. „Wie kommst du denn auf die Idee, ich hätte einen Herzinfarkt gehabt?" „Ich weiß nicht." Sie sah Donna an, die nur mit den Schultern zuckte. „Woher habe ich das wohl?" „Ohne einen triftigen Grund wärst du doch nie gekommen", sagte Donna. Dann bin ich wohl nicht die einzige Winfield, die lügt, wenn es drauf ankommt, dachte Nikki. Aber egal, das Wesentliche war, ihr Vater war nicht lebensbedrohlich krank. „Ich bin so froh, Daddy." Sie umarmte ihn. „Ich hatte solche Angst um dich." „Ach, Unsinn." Er klopfte ihr besänftigend auf den Rücken. „Ich habe doch noch so viel vor. Muss doch sehen, was aus Shelley und Byron wird. Und aus euren Kindern, wenn ihr mal welche habt." Nikki war so erleichtert, dass sie Donna nicht böse sein konnte, obgleich ihre Schwester daran schuld war, dass sie dieses ganze Theater mit Hollis aufgeführt hatte. Und alles wegen simpler Hämorrhoiden. Während des ganzen Frühstücks war Hollis ernst und in sich gekehrt. Er beantwortete zwar direkte Fragen, aber jeder merkte, dass er verärgert war. Nach dem Frühstück packten Hollis und Nikki schweigend ihre Sachen zusammen und verabschiedeten sich von der Familie. Sie stiegen in Hollis' Wagen, winkten noch einmal kurz und fuhren los. Ab Ecke Mainstreet kam ein roter Mustang hinter ihnen her und hup te ununterbrochen. Mariah winkte aus dem Fenster. Hollis fuhr an den Straßenrand und hielt. Auch der rote Mustang hielt. Mariah stieg aus und tauchte an der Beifahrerseite auf. „Wo wollt ihr denn hin?" rief sie. Nikki kurbelte das Fenster herunter. „Nach Hause. Wir schenken uns das Picknick." „Was? Du bist wohl verrückt geworden. Ich dachte, wir starten noch eine Wasserballonschlacht und werfen mit Sahnetorten um uns oder so was Ähnliches. Du darfst noch nicht fahren." „Aber wir müssen." Nikki hatte Mühe, die Tränen zurückzuhalten.
„Was ist denn los? Habt ihr euch gestritten?" Mariah blickte zwischen Hollis und Nikki hin und her. „Oh nein ..." Dann beugte sie sich vor. „Du darfst nicht so schnell aufgeben", flüsterte sie ihrer Freundin zu. „Ich ruf dich an, sowie ich zu Hause bin." Mariah sah Nikki an. „Ich habe gar nicht gewusst, wie sehr du mir ge fehlt hast." „Du mir auch. Ich melde mich." Mariah trat zögernd zurück, und Hollis fuhr an. Nikki warf Hollis einen kurzen Blick zu. Er wirkte wie versteinert. Vielleicht sollte sie versuchen, die Situation etwas zu entspannen. „Sei doch nicht so muffig", sagte sie, „das ist doch nicht das Ende der Welt." Stille. „Ich konnte nichts sagen, Hollis", fing sie wieder an. „Kannst du das nicht verstehen? Meine Eltern wären damit nicht fertig geworden. Außerdem müssen wir erst einmal sehen, wie es mit uns weitergeht. Ich meine, wenn wir wieder im normalen Alltag stecken." „Ich weiß genau, was ich fühle." „Das kannst du gar nicht wissen. Noch vor zehn Tagen hast du ge glaubt, Rachel zu lieben." „Da kannte ich dich auch noch nicht." „Aber du kennst mich jetzt auch nicht. Ich habe jede Menge schlechter Angewohnheiten. Ich kaue Nägel. Ich mag fettige Kartoffelchips, ich bin unordentlich ..." „Wir sind doch keine Teenager mehr, Nikki. Erwachsene gewöhnen sich an die Eigenheiten des anderen." „Ja, wenn sie wenigstens vom selben Stern kommen. Das tun wir aber nicht. Wir werden uns immer gegenseitig auf die Nerven fallen." „Wovor hast du eigentlich Angst?" „Ich habe keine Angst. Ich bin nur ehrlich." „Quatsch. Du hattest die Gelegenheit, bei deinen Eltern ehrlich zu sein, aber du wolltest nicht. Da ist jemand, der dich liebt, der sein Leben mit dir teilen will ..." Er zögerte. Sofort hakte Nikki nach. „Siehst du. Du bist gar nicht sicher, dass es richtig ist zusammenzuleben. Sei ehrlich." „Wir müssen uns über einiges noch klar werden, das stimmt. Ich brauche hin und wieder Ruhe. Wir sind sicher verschieden. Aber wir lieben uns." Nikki wurde das Herz schwer. Sie musste einiges klarstellen. „Hollis, das Ganze ist ein Traum, eine schöne Fantasie. Wie die Geschichte, die ich über unser Leben entworfen habe. Erinnerst du dich? Du küsst mich morgens wach, es gibt Omelettes zum Frühstück, und dann lieben wir uns auf dem Küchentisch. Weißt du noch?" „Ich erinnere mich." „Aber die Wirklichkeit sieht anders aus. Du wirst morgens vom Wecker geweckt, bist erschöpft und nicht ausgeschlafen, weil meine Freunde und ich dich die halbe Nacht wach gehalten haben. Ich habe Freunde, die haben eine Band, und manchmal üben sie bis in die Morgenstunden bei mir." „Du übertreibst." „Nein, das tue ich nicht. Ich komme dann ins Bett und will mit dir schlafen. Aber du brauchst deine Ruhe, weil du am Morgen als Erstes eine Wurzelbehandlung machen musst." „Wurzelbehandlungen gebe ich meist an Kollegen weiter." „Wie auch immer. Tatsache ist, dass ich sauer auf dich sein werde, weil ich sexuell frustriert bin. Morgens quälst du dich dann aus dem Bett, während ich mich umdrehe und weiterschlafe, weil ich das Studio nicht vor elf aufmache. Du möchtest frühstücken, aber es ist nichts da, weil ich vergessen habe einzukaufen." „Jeder vergisst mal was." „Aber jeden Tag? So kannst du also nicht dein Müsli und deinen Orangensaft zum Frühstück haben und ..."
„Woher weißt du, dass ich morgens immer Müsli mit Orangensaft esse?" „Das war nur so eine Ahnung, Hollis. Aber du weißt, ich treffe ziemlich oft ins Schwarze. So musst du also irgendwas anderes essen, und natürlich bist du wütend." Nikki hatte das alles wie einen Film klar vor Augen. „Nach einem langen anstrengenden Tag fährst du also nach Hause. Du hältst an einem Supermarkt, weil deine Frau zum Einkaufen zu lahm ist, aber immer noch willst du das Beste daraus machen. Du kaufst ein paar gute Steaks, willst sie damit überraschen und denkst an einen romantischen Abend zu zweit. Aber sie ist nicht da, und als sie endlich auftaucht, sind die Steaks verbrannt, und sie sagt zu allem Überfluss: Tut mir Leid, ich esse sowieso kein Fleisch." „Was soll das, Nikki? Du machst dir doch was vor. Sei endlich mal ehrlich zu dir selbst." Jetzt wurde sie wütend. Hollis war wirklich unerträglich selbstgerecht. Den Eindruck hatte sie schon gehabt, als er das erste Mal in ihrem Studio aufgetaucht war. Aber dann hatte sie sich in ihn verliebt und dieses Gefühl völlig verdrängt. „Tu doch nicht immer so, als hättest du die Wahrheit und die Aufrichtigkeit gepachtet. Wenn ich nicht zufä llig in deinem Leben aufgetaucht wäre, würdest du Rachel heiraten, obgleich du sie noch nicht mal liebst." „Das ist nicht fair." „Und ob. Du wolltest auch nicht Zahnarzt werden, sondern Biologie lehrer. Damit du im Sommer in den langen Ferien mit deinem Motorrad unterwegs sein kannst. Was ist daraus geworden?" „Das ist eben nicht so einfach." „O doch. Der einzige Unterschied zwischen uns beiden ist, dass du dich immer nach deinen Eltern gerichtet hast und auch noch so tust, als wäre alles dein eigener Wunsch gewesen. Ich mache wenigstens das, was ich selbst will." „Das siehst du falsch." „Nein, du siehst es falsch." Beide schwiegen. Los, wehre dich, flehte Nikki im Stillen. Gib mir Kontra. Fahr an den Straßenrand, und nimm mich in die Arme. Küss mich, bis ich nicht mehr weiß, was ich tue. Aber nichts davon geschah. Der einfühlsame vernünftige Hollis Marx gab einfach auf. „Vielleicht hast du Recht", sagte er. Nikki kamen die Tränen. Da sie nicht wollte, dass er sie weinen sah, tat sie so, als wäre sie müde. Sie lehnte den Kopf gegen die Tür und hörte im gleichen Moment ein leises Klick. Hollister hatte das Türschloss gesichert, damit sie nicht herausfallen konnte. Lieb, zuverlässig und vernünftig. Nikki war sicher, dass sie Recht hatte, was ihre Bedenken wegen Hollis betraf. Auch wenn er momentan offen und locker wirkte und allem Neuen aufgeschlossen, so würde er bald wieder in seinen gewohnten Trott verfallen, und sie wäre zu Tode gelangweilt. Und dann? Sie würden sich nur gegenseitig unglücklich machen. Sie würde ihn mit ihrem Temperament nerven, und er würde sie anöden. Als sie vor ihrem Studio anhielten, fühlte sich Nikki etwas besser. Sie war so froh, wieder zu Hause zu sein. Hier gehörte sie her, dies war ihr Leben. Dennoch verdankte sie Hollis viel. Er hatte ihr geholfen, ihre Familie glücklich zu machen. „Ich danke dir sehr, dass du mit mir gekommen bist", sagte sie leise. „Es war für dich vermutlich nicht gerade einfach. Ich bin sicher, du wirst eine Frau finden, die zu dir passt. Besser als Ra chel und besser als ich. Aber du musst dich auch um das bemühen, Hollis, was du wirklich willst, und nicht nur danach gehen, was richtig erscheint. " „Du irrst dich, was mich betrifft, Nikki", sagte Hollis ernst. „Aber ich will nicht mit dir streiten." Sekundenlang hoffte sie, dass er genau das tun würde, aber als er schwieg, stieg Nikki aus, nahm ihre Tasche und verschwand in ihrem Studio.
11. KAPITEL Hollis empfand eine schreckliche Leere, als er nach Hause fuhr. Dennoch wusste er, dass Nikki in mancher Hinsicht Recht hatte. Sie würde ihn verrückt machen. Nicht wegen ihrer Eigenheiten, auch wenn die teilweise etwas nervig waren, sondern weil sie immer versuchen würde, ihn zu ändern. Sie war überzeugt, er könnte sie in ihrem Anderssein nicht akzeptieren. Dabei war sie es, die ihn nicht so akzeptieren konnte, wie er war. In dieser Nacht konnte Nikki nicht schlafen. Sie trank eine ganze Kanne Beruhigungstee und schluckte Johanniskrauttabletten, doch es half alles nichts. Das Bett war so groß, und ihr gemütliches Heim wirkte plötzlich kalt und leer. Hollis fehlte ihr. Ihre Familie fehlte ihr. Sie fühlte sich einsam in ihrer Wohnung. Und daran gab sie auch Hollis die Schuld. Dabei sollte sie glücklich und zufrieden sein. Das, was sie sich vorgenommen hatte, hatte sie erreicht. Warum hatte sie dann das Gefühl, alles sei falsch gelaufen? Wieder wegen Hollis. Verdammt! Um drei Uhr morgens lag sie immer noch hellwach im Bett und fragte sich, wo sie eigentlich Hollis' Visitenkarte hingelegt hatte. Sie kroch aus dem Bett und tappte hinüber in ihr Studio. Hier, in irgend einer Schublade, musste sie sein. Nichts. Dann sah sie sie, unter ihrem Schreibtischstuhl. Dr. Hollister Marx. Zahnarzt. Auf der Rückseite hatte er seine Privatnummer und die seines Handys notiert. Also konnte sie ihn erreichen, wenn es sein musste, und sei es auch nur, um sich selbst daran zu erinnern, dass sie zusammen nie glücklich werden konnten. Als sie am nächsten Morgen aufwachte, hielt sie immer noch seine Karte in der Hand. Irgendwie überstand Nikki die folgenden zwei Wochen, ohne Hollis anzurufen. Ein positiver Effekt der Trennung war die Kreativität, die sie plötzlich entfaltete, als könnte sie auf diese Weise ihre Traurigkeit und ihre sexuelle Frustration kompensieren. Besonders Liebes- Tattoos hatten es ihr angetan, Herzen mit Spitzenumrandung und Szenen aus Märchen. Aber ihr Lieblingsmotiv war immer noch das Herz, das sie für Hollis und sich entworfen hatte. Bevor die Zeichnung auf der Innenseite ihres Schenkels ganz verblasste, machte sie eine Kopie davon. Etwa zwei Wochen nach ihrer Rückkehr aus Copper Corners saß sie gerade an ihrem Zeichentisch, als die Türglocke ging. Sie fuhr zusammen und hob den Kopf. Natürlich fing ihr Herz sofort wie wild zu schlagen an, denn immer hoffte sie, dass Hollis zurückkam. Aber es war nicht Hollis, sondern seine Schwester Leslie. „Oh, hallo!" Nikki ging ihr entgegen. „Was hast du mit meinem Bruder gemacht?" „Wie bitte?" Hatte Hollis seiner Schwester von ihrer Tour erzählt? „Als er hier in dein Studio kam, um über mich zu sprechen", sagte Leslie und kam näher, „was hast du ihm da erzählt? Er ist seitdem voll kommen verändert." „Und wie? Positiv?" „Kann man wohl sagen." Leslie senkte ihre Stimme, um Hollis Tonfall nachzumachen. „Neuerdings sagt er zu mir: Leslie, mir ist klar geworden, dass du dein eigenes Leben leben musst. Es kommt darauf an, dass du dir treu bleibst." Leslie hob hilflos ihre Hände. „Es ist vollkommen verrückt. Plötzlich hat er Verständnis und wirkt richtig weise. Irgendwie abgehoben." „Das ist wirklich erstaunlich." „Ich wollte wissen, was mit ihm los ist, und er meinte, ich solle mich bei dir bedanken. Und deshalb bin ich hier. Danke. Aber was hast du ihm nun eigentlich erzählt?" „Ich habe ihm gesagt, dass du selbst für dein Leben verantwortlich bist." „Aber das kann nicht alles gewesen ist. Hollis ist viel zu stur, um einfach so darauf abzufahren."
„Ich kann sehr überzeugend sein." Auf keinen Fall würde sie Leslie sagen, was wirklich passiert war. „Na ja, es hat jedenfalls super gewirkt. Andererseits macht es jetzt irgendwie keinen Spaß mehr, sich danebenzubenehmen." Leslie seufzte, lächelte aber dann. „Keiner versucht mehr, alles wieder geradezubiegen, wenn ich Mist gebaut habe. Aber das ist schon in Ordnung so. Und du hast Recht gehabt, was das Tattoo betrifft. Eigentlich brauche ich so was gar nicht." „Prima, dass ich dir helfen konnte", sagte Nikki. Dann war bei der ganzen Sache wenigstens etwas Gutes herausgekommen. „Und nun möchte ich gern, dass du Hollis hilfst." „Wieso?" „Seine Freundin hat mit ihm Schluss gemacht, diese langweilige Ziege, die ich nie leiden konnte, und nun hängt er herum und tut, als wäre sein Leben vorbei. Ich wusste gar nicht, dass er so an ihr ge hangen hat." „Das tut mir Leid", sagte Nikki, obgleich sie es als tröstlich empfand, dass Hollis genauso litt wie sie. „Würdest du ihm etwas von mir ausrichten?" „Ja, natürlich." „Sag ihm, dass er mit seiner Trauer nicht allein ist auf der Welt und dass die Zeit alle Wunden beider ... ich meine, aller Menschen heilen wird, die etwas damit zu tun haben." „Gut, sag ich ihm." Dann grinste Leslie plötzlich schelmisch. „Wie wär's denn, wenn du mal mit ihm ausgehst? Er ist doch nicht so übel, oder? Du könntest ihn vielleicht ein bisschen aufheitern und ihm zeigen, dass es auch noch andere Frauen gibt." „Das ist keine gute Idee." „Ich weiß, er ist nicht dein Typ. Zumindest nicht auf den ersten Blick, aber vielleicht wirst du deine Meinung ändern. Als ich ihn neulich besuchte, da hörte er irgendwelche Rock 'n' Roll Oldies, hatte diese irre Sonnenbrille auf und tanzte. Ganz allein! Irgendwie verrückt, aber auch scharf. Tanzen kann er wenigstens." „Tut mir Leid, aber im Moment kann ich nicht. Aber ich wäre dir dankbar, wenn du ihm meine Nachricht überbringst. Vielleicht hilft ihm das ja ein bisschen." „Kann sein." Leslie war enttäuscht. Das Telefon in Nikkis Privatwohnung klingelte. „Sekunde mal eben." Nikki ging nach nebenan und nahm den Hörer ab. „Hallo?" „Nicolette, Liebes, ich bin's, Mom." „Oh! Hallo, Mom." „Ich rufe nur an, um dir zu sagen, dass wir am Feitag in Phoenix sind. Dein Vater will sich doch noch mit einem Spezialisten wegen seines ... na ja, kleinen Problems besprechen. Und da haben wir uns gedacht, wir könnten doch bei euch vorbeikommen, könnten uns eure Wohnung ansehen und vielleicht zusammen was zu Abend essen.' „Freitag, hast du gesagt?" Panik überfiel Nikki. „Ja. Wir kommen dann so gegen fünf, nach dem Arzttermin. Aber du musst uns noch eure Adresse geben und uns sagen, wie wir zu euch kommen." „Meine Adresse?" Richtig, sie kannten ja nur die Postfachnummer. „Ja, natürlich." Adresse, Adresse. Keinesfalls konnten sie hierher, in ihre Wohnung, kommen. Ob sie Hollis dazu bringen konnte, noch einmal ihren Ehemann zu spielen? „Um die Tageszeit ist der Verkehr mörderisch", sagte sie, um Zeit zu gewinnen. „Wollen wir uns nicht bei ,Vincente' zum Essen treffen?" „Aber ich würde lieber etwas Selbstgekochtes essen. Vielleicht kannst du uns einen schönen Auflauf machen?" „Na gut." Sie gab ihrer Mutter Hollis' Adresse, sagte ihr noch, wie sie zum Montgomery Place kämen und legte auf. Entsetzlich! „Was ist denn los?" fragte Leslie. „Das war meine Mutter. Meine Eltern wollen mich besuchen. Und sie wissen nichts von
meinem Tattoo-Studio." „Na und?" „Du kennst meine Eltern nicht." Verdammt. Sie hatte gehofft, mit der einen Notlüge davonzukommen. Und nun? Sie dachte an Hollis und an seine Predigt über Ehre und Aufrichtigkeit, und ihr wurde übel. Irgendetwas würde ihr einfallen müssen. Vielleicht könnte sie ihren Eltern erzählen, dass Warren auswärts zu tun hatte und dass sie in der Zeit den Fußboden erneuern ließ. Drei Tage hatte sie noch Zeit. Hollis fuhr wie ein Wahnsinniger zu „Vincente" und versuchte, nicht vollkommen die Nerven zu verlieren. Im Studio war Nikki nicht ge wesen, und nun konnte er nur hoffen, dass er es noch rechtzeitig schaffte. Er wusste lediglich, dass sie seine Hilfe brauchte. Diese verschlüsselte Nachricht, die Leslie ihm ausgerichtet hatte, über Wunden und die Zeit, die sie heilen würde, hatte ihn sehr beunruhigt. Gleich zeitig hatte ihn eine solche Sehnsucht nach Nikki gepackt, dass er nur noch an sie denken konnte. Er musste sie unbedingt wieder sehen. Leslie hatte nebenbei noch erwähnt, dass Nikki sich am Freitag mit Ihren Eltern bei „Vincente" treffen würde. Da sie ihn nicht angerufen hatte, vermutete er, dass sie ihnen nun endlich reinen Wein einschenken wollte. Und wenn sie ihnen nur wieder eine neue Lüge auftischte? Nein, das würde sie nicht tun. Hollis biss die Zähne zusammen. Er würde ihr helfen. Er würde sie in die Arme nehmen und ihr sagen, dass er sie liebte, direkt vor ihren Eltern. Er parkte seinen Wagen und betrat das Restaurant. Die Familie Winfield saß an einem Fenstertisch. Bisher weinte keiner. Das war ein gutes Zeichen. Dann war noch nicht alles verloren. „Warren!" rief Nadine aus, bevor Nikki noch begriffen hatte, was passiert war. Sie starrte Hollis an. Das konnte doch nur eine Halluzination sein, weil sie sich so nach ihm sehnte. Leslie musste ihm erzählt haben, dass ihre Eltern kommen wollten. Er war hier, um ihr zu helfen, das war wahnsinnig nett! Sie sprang auf und umarmte ihn. Er presste sie so fest an sich, dass sie kaum Luft bekam. Und trotzdem würde sie am liebsten immer so von ihm gehalten werden! Nik ki riss sich zusammen. Sie musste ihm zu verstehen geben, worum es hier ging. „Wo kommst du denn her?" fragte sie. „Ist dein Flug nach San Francisco ausgefallen?" Sie blinzelte ihm zu. Hollis starrte sie an. Sein Gesicht, das gerade noch gestrahlt hatte, wirkte plötzlich grau und leer. Wie hatte er nur glauben können, sie würde ihren Eltern die Wahrheit sagen, jetzt, wo sowieso alles aus war zwischen ihnen. „Ach so", sagte er so traurig, dass sich Nikkis Herz zusammenkrampfte. „Ja, ich habe alles abgesagt. Ich fand es plötzlich nicht mehr wichtig, das zu tun ... was ich vorhatte ..." „Du meinst, deine Forschungsergebnisse vorzustellen", half sie ihm weiter. „Genau", sagte er. „Guten Tag, Nadine. Hallo, Harvey." Er gab ihnen die Hand. „Nett, euch wieder zu sehen." Nikki war zum Heulen zu Mute. Seit sie hier mit ihren Eltern zusammensaß, hatte sie ihnen eine Lüge nach der anderen aufgetischt. Und obwohl Hollis tief enttäuscht war, versuchte er, ihr zu helfen. „Nikki hat uns gerade erzählt, dass ihr einen Wasserschaden in der Wohnung habt und deshalb vorübergehend in ein Hotel ziehen musstet", sagte Nadine. „Das ist ja schrecklich. Es wird schön sein, wenn ihr euch endlich ein eigenes Haus leisten könnt, damit ihr nicht von Nachbarn abhängig seid, die ihre Badewanne überlaufen lassen." „Unser eigenes Haus?" Hollis sah Nikki hilflos an. Sie senkte den Kopf und schwieg. „Na ja, ihr braucht ja bald sowieso was Größeres", fuhr ihre Mutter fort, „wenn die Kinder kommen." „Die Kinder?" Hollis war kurz vor einer Ohnmacht. „Mutter, bitte!" Nikkis Stimme klang gequält. „Das ist nun wirklich unsere Sache."
„Aber selbstverständlich, mein Liebes." Nadine wurde rot. „Ich meine ja nur ..." „Ich weiß, was du meinst." Nikki musste unbedingt raus, wenigstens für ein paar Minuten, um sich wieder zu fassen. „Entschuldigt mich bitte mal eben." „Ich komm mit." Hollis sprang auf. „Ich muss telefonieren." Er nahm Nikki am Ellbogen. Sowie, sie aus der Sichtweite ihrer Eltern waren, redeten beide gleichzeitig los. „Ich kann das einfach nicht." „Aber du musst es doch auch nicht." „Ich meine, ständig neue Lügen erfinden", fügte Hollis hinzu. „Ich weiß. Es ist zu viel. Glaub mir, ich verstehe das vollkommen." „Ich dachte, du sagst ihnen die Wahrheit." „Ich konnte es nicht." Nikki fühlte sich elend, sie war verwirrt, aber sie wurde langsam auch wütend. Warum hatte ihre Familie immer die se Erwartungen an sie, und warum konnte sie nicht dagegen ange hen? „Ich werde ihnen sagen, dass du weg musstest. Vielen Dank, dass du mir geholfen hast. Du bist ein toller Mann, Hollis." „Und du bist eine tolle Frau. Wenn du das nur allmählich mal einsehen würdest." Er ging, und sie sah ihm hinterher. Dann schaute sie zu ihren Eltern hinüber. Sie unterhielten sich und schienen besorgt zu sein. Schon wieder. Aber sie liebten sie. Sie wollten nur das Beste für sie. Sie machten sich um sie Sorgen. Das durfte sie nicht vergessen. Langsam ging Nikki zurück an den Tisch und setzte sich auf ihren Platz. „Holl... Warren musste zu einem Notfall." Nadine und Harvey warfen sich einen Blick zu und sahen dann ihre Tochter an. „Ist schon in Ordnung", sagte Nadine und tätschelte Nikki die Hand. „Wir wissen, dass du versuchst, tapfer zu sein." „Was?" „Es ist wegen dieser Frau, oder? Wir wussten gleich, dass irgendetwas faul war, als er bei uns den Anr uf erhielt. Du brauchst ihn nicht mehr zu entschuldigen." „Ich würde ihn am liebsten verprügeln", polterte Harvey, „weil er mein kleines Mädchen unglücklich macht." „Ihr glaubt, Hollis betrügt mich?" „Liebes, du brauchst uns nichts mehr vorzumachen", sagte Nadine zärtlich. „Wie kommt ihr darauf?" Jetzt war Nikki ehrlich verblüfft. „Dass diese alte Freundin ihn verfolgen soll, das kam uns gleich verdächtig vor." „Für deine Mutter und mich ist dein Glück das Allerwichtigste. Das musst du unbedingt wissen", sagte Harvey. „Wir werden dir immer helfen, worum es auch geht. Wenn wir bei der Scheidungsverhand lung aussagen sollen, kein Problem. Wenn ..." „Hört sofort auf!" Nikki schlug mit beiden Fäusten auf den Tisch. „Genug!" „Was ist denn, Kind?" „Das stimmt doch alles nicht! Der Mann, der hier eben den Raum verlassen hat, ist der liebste und beste Mann, den ich je kennen ge lernt habe. Wie könnt ihr ihn nur so falsch beurteilen? Aber ich weiß ja, das ist allein meine Schuld." Sie wusste, jetzt musste sie die Wahrheit sagen. Wegen Hollis, aber auch, weil sie es selbst nicht mehr aushielt. Ihre Familie musste sie endlich so akzeptieren, wie sie war. Entweder liebten sie sie oder eben nicht. „Wir sollten eine Flasche Wein bestellen", sagte sie leise. „Vielleicht auch zwei. Denn ich habe euch eine Menge zu erzählen." „Ja? Bist du schwanger? Dann solltest du aber keinen Wein trinken." „Nein, Mutter, ich bin nicht schwanger. Und ich werde dich noch in manch anderem Punkt enttäuschen." Ihre Eltern waren erst schockiert, dann wütend, dann gekränkt und schließlich beunruhigt. Genauso hatte Nikki sich das immer vorge teilt. Zu ihrer eigenen Überraschung schämte sie sich jedoch nicht.
Je mehr sie von der Wahrheit enthüllte, desto besser fühlte sie sich. So war sie, und sie war glücklich dabei. Ihre Eltern mussten sie so akzeptieren und sich an ihrem Glück freuen, wo auch immer sie es fand. Wenn sie es ohne Hollis überhaupt noch finden konnte. Aber vielleicht gab es für sie jetzt noch eine Chance. Falls Hollis ihrer Beziehung überhaupt noch eine Chance geben wollte. Ihre Eltern fuhren schließlich wieder ab, blass und geschockt und verwirrt. Aber Nikki hatte kein schlechtes Gewissen. Sie würde sie später anrufen und sie zu trösten versuchen, aber das Schlimmste war geschafft. Sie hatte das Richtige getan. Hollis hatte wohl doch nicht so ganz Unrecht. Manchmal war es richtig, das Richtige zu tun. Sie fuhr in ihr Studio und wählte sofort seine Nummer. Sie musste ihm sagen, was sie getan hatte, doch er war nicht zu Hause. Da sie ihm alles persönlich erzählen wollte, hinterließ sie keine Nachricht auf seinem Anrufbeantworter. Sie hatte gerade aufgelegt, als jemand gegen ihre Tür hämmerte. Das Studio war schon geschlossen, aber Nikki ging, um nachzusehen. Im schwachen Licht der Straßenlaterne sah sie einen Mann vor der Tür stehen. Er hatte eine Lederjacke an und einen Helm unter dem Arm. War das einer dieser Machos, der seine Männlichkeit durch ein Tattoo beweisen wollte? Sicher wollte er irgendwas mit einem Totenkopf ... Dann hob der Mann den Kopf. Hollis! Nikki riss die Tür auf. „Du?" „Ja. Ich möchte dich auf einen Motorradtrip mitnehmen." „Du hast ein Motorrad gekauft?" „Ja, gleich nachdem ich das Restaurant verlassen hatte. Du hast mich vollkommen richtig eingeschätzt. Ich habe immer nur das getan, was man von mir erwartet hat. Und ich habe immer gewusst, dass ich keine Lust habe auf die Praxis. Ich werde also an die Uni zurückkehren und in die Forschung gehen, oder ich werde Biologielehrer." „Oh, Hollis, das ist ja wunderbar. Ich bin so froh, dass du endlich das tust, was du wirklich willst." Sie schwieg und musterte sein Gesicht. Wie dachte er denn jetzt über sie? „Und du hast auch Recht ge habt, was mich betrifft. Meine Eltern haben gedacht, du betrügst mich mit einer anderen Frau. Das war so schrecklich und so abwegig. Ich konnte einfach nicht ertragen, dass sie dich verdächtigten, wo du doch der tollste Mann bist, den ich kenne." Tränen stiegen ihr in die Augen, und sie brachte kaum ein Wort heraus. „Ich musste ihnen end lich die Wahrheit über dich und über mich sagen. Sie müssen mich einfach so lieben, wie ich bin." „Und genauso liebe ich dich." „Wirklich?" Sie sah ihn unter Tränen an. „Ich kann ohne dich nicht leben, Nikki." „Aber vielleicht erträgst du mich nicht auf Dauer. Ich bin nun mal so spontan und ..." „Ich weiß." Hollis lachte leise. „Aber das ist egal. Das kriegen wir schon hin. Ich liebe dich mit deiner verrückten Frisur, deinen seltsamen Freunden, deinen Blackouts, sobald es ums Einkaufen geht." „Aber ich bin manchmal so schrecklich intensiv ..." „Na und? Lass es raus. Vielleicht wird es mir manchmal zu viel werden, vielleicht werde ich mich manchmal überfordert fühlen, aber du hältst mich lebendig und zwingst mich, ehrlich mit mir selbst zu sein, den Mut zu haben, das zu tun, was ich wirklich will. Vor allem, dich mein ganzes Leben lang zu lieben." Nikki glaubte ihm. Vielleicht, weil sie das erste Mal in ihrem Leben auch ihren eigenen Gefühlen vertraute und sich so akzeptierte, wie sie war. Sie strahlte ihn an und legte ihm die Arme um den Nacken. „Ich hab übrigens gar keine Steuerschulden. Ich wollte dich nur abschrecken. Und Haferflocken und Orangensaft esse ich auch am liebsten zum Frühstück. Und ich verspreche dir, nie zu lachen, wenn du das ,Wallstreet Journal' liest." „Augenblick mal." Hollis hielt sie auf Armeslänge von sich. „Es gibt noch etwas, was ich unbedingt will. Ein Tattoo."
„Aber Hollis, du bist doch gar nicht der Typ dafür." „Keine Widerrede. Ich weiß, dass dies hier genau das Richtige ist." Er zog einen Zettel aus seiner Tasche. Er hatte sich offenbar bemüht, das Herz nachzuzeichnen, das Nikki ihm auf die Brust gemalt hatte. Nur dass diesmal ihre beiden Namen darin standen. „Hollis, Liebster, das ist gar nicht mal schlecht." „Ein Tattoo für zwei." „Wunderbar." Nikki war so überwältigt, dass sie nur noch flüstern konnte. „Und wie wäre es mit dem Grand Canyon für unsere Hochzeitsze remonie?" fragte er lächelnd. „Schließlich sind auch wir ein Wunder der Natur." Nikki warf sich ihm in die Arme, und während sie sich küssten, dachte sie bereits über das Eheversprechen nach. Sie würden sich immer lieben, in guten wie in schlechten Zeiten, ernst und albern, im grauen Anzug und mit Lederjacke, mit Punkfrisur und gescheiteltem Haar ... Er war ihr Hollis, und sie war seine Nikki. Und sie liebten sich so, wie sie waren. - ENDE -
Je später der Abend ...
Toni Blake
Tiffany Lieben & Lachen 14 – 05/03
Gescannt von almut K. Korrigiert von claudia_L.
1. KAPITEL „Von links nähert sich ein blonder Supermann." Mindy McCrae wandte unauffällig den Blick, der auf der Eingangstür ihrer Partnervermittlung geruht hatte, hinüber zu dem sexy Typen, den ihre Assistentin Jane Watkins gerade entdeckt hatte. Er marschierte zielbewusst über den Hyde Park Square und sah nicht nur gut, sondern auch ziemlich jung aus. Mindy schaute Jane empört an, die neben ihr auf der Bank saß und ebenfalls ein Eis zum Nachtisch schleckte. „Er ist ungefähr zwölf Jahre alt, Jane", übertrieb sie. Jane zog die Augenbrauen hoch. „Er ist nicht jünger als neunzehn, und wer sagt, dass du dir keinen jungen Mann nehmen darfst?" Mindy rümpfte die Nase. Sie hatte nicht vor, etwas mit Minderjährigen anzufangen, aber Jane hatte es sich zur Aufgabe gemacht, einen Mann für Mindy zu finden. Mindy betrieb zwar die erfolgreichste Partnervermittlung in ganz Cincinnati, doch sie selbst war Single. Mindy störte das nicht, sie war ganz zufrieden mit ihrem Leben, so wie es war. Sie hatte Freunde und Eltern, die sie liebten, sie besaß ein kleines idyllisches Haus, und sie führte eine erfolgreiche Agentur. Und da die meisten von Janes Vorschlägen absurd waren, war Mindy ganz froh, dass sie sowieso nicht auf der Suche nach einem Partner war. „Achtung, ein heißer Latin Lover rechts von dir." Mindy blickte auf, und der Typ, der wirklich Janes Beschreibung ent sprach, erwischte sie dabei. Genau wie die Frau, die an seinem Arm hing. Mindy drehte sich zu Jane. „Er ist in weiblicher Begleitung." Jane zuckte mit den Schultern. „Ich bin sicher, das könntest du ändern, wenn du wolltest." Mindy verdrehte die Augen. „Ich bringe Menschen zusammen, nicht auseinander." „Du bist so verflixt nobel", beschwerte Jane sich, aber Mindy wusste, dass sie nur Spaß machte. Jane war seit achtzehn Jahren glücklich mit ihrem Mann Larry verheiratet und hatte drei Söhne mit ihm. Jane betrachtete die Stunden, die sie in der Agentur verbrachte, als ihre ruhige Zeit. Als sie vor drei Jahren bei Mindy angefangen hatte, hatte sie gehofft, an Mindys aufregendem Single-Leben teilzuhaben, das ja theoretisch voller Romanzen sein müsste. Doch sie wurde arg enttäuscht, denn Mindys Lebensstil entsprach ganz und gar nicht Janes Erwartungen. „Oh, sei still, mein Herz." Janes Stimme hatte einen lüsternen Klang bekommen. Der Grund dafür war der untadelig gekleidete Mann, der ge rade sein Mercedes Cabrio parkte. „Direkt vor dir ... groß, dunkelhaarig und sehr sexy", hauchte sie. Mindy konnte Janes Beschreibung nicht widersprechen. Tatsächlich konnte sie nur fassungslos hinstarren. Der Mann besaß ein klassisches Aussehen - dunkles, gut geschnittenes Haar, ein markantes Kinn, ausgeprägte Wangenknochen und Augen, die wahrscheinlich blau waren. Und groß war er auch, wie sie feststellte, als er jetzt ausstieg. Zudem besaß er breite Schultern, und sein schwarzer Anzug war vermutlich maßgeschneidert. „Bond", flüsterte Jane ehrfurchtsvoll. „James Bond." „Pst", zischte Mindy. Er war viel zu nahe, und es war schon schlimm ge nug, dass sie ihn anhimmelten. „Ein Kunde!" entfuhr es ihr kurz darauf, als James Bond über die Straße genau auf „Mindys Partnervermittlung" zuging. Erst hatte sie vermutet, dass er entweder den Juwelier rechts von ihr oder vielleicht die Kunstgalerie links von ihr ansteuerte, denn selbst wenn gut aussehende Menschen ihre Partnervermittlung frequentierten, waren sie äußerst selten so attraktiv. Er griff nach der Türklinke, bevor er das Schild entdeckte. Mindy schnappte sich ihre Handtasche und eilte über die Straße. Sie erreichte den Traummann gerade, als er sich umdrehte und wieder zu seinem Wagen gehen wollte. Auf seinem Gesicht zeigte sich Verärgerung, und seine blauen Augen funkelten. „Warten Sie, ich bin schon zurück."
Er blinzelte, als er merkte, dass sie mit ihm sprach. „Ich war auf der Suche nach ...", er deutete über die Schulter zu dem roten Logo an der Tür, „... Mindy, vermute ich." „Zu Ihren Diensten." Sie lächelte und schaute zu ihm hoch; er war einen Kopf größer als sie. Dann streckte sie die Hand aus, hatte aber nicht bedacht, dass sie darin noch ihr Eis hielt. „Oh", meinte sie und nahm es in die linke Hand, mit der sie bereits ihre Handtasche umklammerte, und musste dann mit ansehen, wie das Eis auf den Bürgersteig direkt zwischen die schwarzen Schuhe des potenziellen Kunden klatschte. Mindy zuckte zusammen. „Verzeihung, eigentlich bin ich gar nicht so ungeschickt." Der Traummann schien nicht überzeugt. „Es ist okay", meinte er schließlich. Das ist in Ordnung, redete Mindy sich ein, nachdem sie den Schlüssel aus der Tasche gefischt und die Tür aufgeschlossen hatte. Einige Kunden waren ein wenig spießiger als andere, doch damit konnte sie umgehen. Sie besaß schließlich eine gute Menschenkenntnis, und einige musste man eben vorsichtiger behandeln. Es war noch nicht zu spät, um diese Begegnung wieder auf den richtigen Pfad zu bringen. Mindy deutete auf einen Stuhl vor ihrem Schreibtisch, warf die leere Eis tüte in den Mülleimer und setzte sich dem Mann gegenüber, insgeheim froh, dass sie jetzt auf Augenhöhe mit ihm war, da er sie irgendwie einschüchterte. „Wie kann ich Ihnen helfen?" fragte sie. „Ich brauche eine Ehefrau." Er sagte das so selbstverständlich, als würde er eine Bestellung in einem Drive- in abgeben. Mindy verkniff sich zu sagen, „das macht vier fünfzig". Stattdessen bemühte sie sich um Gelassenheit, holte tief Luft und deutete zu den vielen Fotos mit glücklichen Paaren, die hinter ihr an einer langen rosa Wand hingen. „Wie Sie an den Fotos sehen können", begann sie, „hat meine Agentur eine erstaunliche Erfolgsquote." „Ja, ich weiß", unterbrach er sie. „Fünfundneunzig Prozent. Ich habe darüber gelesen. Deshalb bin ich hier." Sie senkte den Blick, nicht sicher, ob sie es tat, weil er sie so eindringlich ansah oder weil er anfing, sie aufzuregen. Offensichtlich fand er, sie vergeudete seine Zeit. „Ja, gut, was ich sagen wollte ... trotz der vielen guten Ehen, die durch meine Vermittlung entstanden sind, ist es nicht mein vordringlichstes Ziel, die Leute zu verheiraten. Eine Garantie, dass eine Ehe zu Stande kommt, kann ich schon gar nicht geben. Mir geht es darum, den Menschen zu helfen, jemanden zu finden, mit dem sie eine bedeutungsvolle, langfristige Beziehung aufbauen können. Ich glaube ..." „Ich habe in einer halben Stunde eine Besprechung", sagte er mit einem Blick auf die Uhr. „Wie können wir das hier beschleunigen? Muss ich einen Fragebogen ausfüllen, in eine Videokamera sprechen?" Mindy holte tief Luft. Er klang nicht unbedingt unhöflich, sondern eher wie ein Mann, der darauf aus war, die Dinge erledigt zu bekommen. Selbst solche, die man nicht übereilen sollte, wie zum Beispiel eine Lebensge fährtin zu finden. „Nein. In meiner Agentur wird das Zusammenführen nicht durch moderne Auswahlverfahren erledigt, sondern mit Hilfe eines altmodischeren, sehr viel persönlicheren Ansatzes. Ich stelle alle Vermittlungen selbst her, indem ich meine Kunden ausführlich interviewe. Und zwar in einer entspannten Atmosphäre, damit ich sie samt ihren Vorlieben und Abneigungen, mit ihrer allgemeinen Persönlichkeit, ihrem Alltagsleben sowie ihren Zukunftsplänen kennen lernen kann." Sie griff nach ihrem Terminkalender und blätterte. „Lassen Sie mich sehen, morgen ha be ich bereits einen anderen Termin, aber ich könnte Sie zu einem ausgedehnten Mittagessen am Freitag treffen. Gegenüber bei ,Teller's'? Wir müssten mindestens zwei bis drei Stunden einkalkulieren. Wenn Ihnen das nicht passt, sollten wir auf nächste Woche ausweichen." Als sie zu dem Traummann aufsah, der offen gestanden mit jeder Minute weniger traumhaft wirkte, bemerkte sie seinen grimmigen Gesichtsausdruck. „Ich bin viel zu beschäftigt, um mitten an einem Arbeitstag so viel Zeit zu erübrigen, aber es ist ohnehin nicht nötig. Ich habe alles, was Sie wissen müssen, aufgeschrieben." Er zog ein Blatt Papier aus der
Jackentasche und legte es auf den Schreibtisch. Sie nahm es und begann, die in akkurater Blockschrift geschriebene Liste vorzulesen. „Blond, gut aussehend, elegant, zierlich, intelligent, eine gute Gastgeberin und ...", Mindy konnte es kaum fassen, „... sie muss wissen, wann sie sich meiner Meinung zu beugen hat." Es fiel ihr schwer, ihre freundliche Miene beizubehalten, als sie das Papier wieder auf den Schreibtisch legte und sich eine Strähne ihres kurzen roten Haares hinters Ohr strich. „Sie haben offensichtlich ziemlich ... konkrete Vorstellungen von Ihrer zukünftigen Frau. Aber ich muss Sie trotzdem noch einiges fragen." „Bitte", erwiderte er kurz angebunden. „Dann tun Sie es jetzt." Er schaute erneut auf die Uhr. „Ich habe noch zehn Minuten." „Zehn Minuten sind nicht viel, na ja, warum fangen wir nicht so an. Erzählen Sie mir einfach von sich, Dinge, die eine Frau an Ihnen interessieren könnte." „Okay." Der Ex-Traummann nickte kurz. „Ich bin Benton Maxwell der Dritte." Das klang nach Geldadel. Das passte zu seiner Arroganz. „Ich bin Geschäftsführer einer gut etablierten Investmentberaterfirma mit dreißig Angestellten, und ich verfüge über ein sechsstelliges Einkommen." Das überraschte sie jetzt doch. „Ich lebe nicht weit von hier in einem großen, renovierten Haus mit einem englischen Garten und einem Swimmingpool, und ich besitze zwei Eigentumswohnungen - eine auf den Cayman Islands und eine in Colo rado für die Skisaison. Ich kann meiner zukünftigen Frau alle Annehmlichkeiten bieten, die sie sich wünscht, obwohl...", er hob warnend einen Finger, „... ich keine Katzen mag und immer sehr viel Zeit im Büro verbringe. Deshalb sollte meine Frau selbst auch nicht vorhaben zu arbeiten, da ich viel reise und sie vielleicht als meine Begleitung mitnehmen möchte. Aber sie kann gern ehrenamtlichen Tätigkeiten nachgehen, sofern sie nicht mit meinen Terminen kollidieren. Sie kann das Haus nach ihren Wünschen neu dekorieren, solange es geschmackvoll ist." Mindy atmete tief durch. „Ich war eigentlich mehr daran interessiert, ein paar persönliche Dinge über Sie zu erfahren. Was machen Sie zum Beispiel in Ihrer Freizeit? Wenn Sie ins Kino gehen, schauen Sie dann lieber Komödien oder ernste Filme an? Wo sind Sie aufgewachsen, und wie ist Ihre Familie? Diese Art von Informationen." Benton Maxwell verzog das Gesicht. „Ich arbeite die meiste Zeit, wenn nicht im Büro, dann zu Hause. Was meine Familie betrifft, sie ist mehr oder weniger wie ich. Mein Vater gründete unsere Firma, bevor ich ge boren wurde, und arbeitete ebenfalls sehr viel. Mein Bruder ist Unternehmensberater und im Moment in Tokio im Einsatz, und meine Schwester ist Anwältin für Steuerrecht in New York. Meine Eltern leben jetzt zurückgezogen in Boca, aber wie Sie sehen, hat mein Vater uns allen eine hohe Arbeitsmoral beigebracht. Das erinnert mich, dass ich zu einer Besprechung muss. Sind wir fertig?" Mindy konnte sich nicht länger beherrschen. „Glauben Sie, Mr. Maxwell, dass Sie Zeit für ein paar Verabredungen haben werden, oder wollen Sie darauf auch verzichten? Soll ich Ihre erste Verabredung direkt am Altar arrangieren?" Er warf ihr einen spöttischen Blick zu, der irgendwie sexy war. „Sie brauchen nicht sarkastisch zu werden. Ich werde die Verabredungen einplanen, Miss ..." „Miss McCrae." Mindy begegnete seinem Blick, wobei ihr klar wurde, dass sie ihn trotz seines guten Aussehens nicht gern ansah, weil er sie irritierte. „Sagen Sie mir nur noch eins, Mr. Maxwell, warum möchten Sie heiraten?" Benton Maxwell starrte sie lange an. Die Farbe seiner Augen wirkte jetzt noch intensiver als vorhin draußen in der Sonne. Es waren Augen, in denen man sich verlieren konnte, wenn sie nicht dem schlimmsten Chauvi gehören würden, der ihr je über den Weg gelaufen war. Gerade als Mindy dachte, dass er ihr eine Antwort verweigern würde, sagte er: „Ich brauche eine Ehefrau, Miss McCrae. Können Sie mir dabei helfen, oder soll ich mich an jemand anderen wenden?"
Sie hielt seinem Blick stand, um ihn wissen zu lassen, dass sie ihn durchschaute. Er war ein Mann, der die Liebe verspottete, der einen Wertge genstand heiraten wollte. Er wollte eine Trophäe als Frau, das perfekte Accessoire für sein Luxusleben. Sie hatte noch nie einen so unerträglichen Mann getroffen, und wäre er nicht so reich und gut aussehend, gä be es nichts Positives über ihn zu sagen. Eigentlich wollte sie ihn gar nicht als Kunden. Also hielt sie es wie Benton Maxwell, nahm sich ein Blatt Papier, schrieb eine exorbitante Summe darauf und schob ihm den Zettel zu. „Das ist das Honorar, das im Voraus zu entrichten ist. Dafür bekommen Sie unser Luxus-Partnervermittlungspaket, das bis zu drei handverlesene Kandidatinnen enthält, außerdem Vorschläge für Verabredungen, vorherige Beratung und, wenn gewünscht, eine Abschlussbesprechung." Sie nahm die Finger von dem Zettel, wohl wissend, dass niemand, der noch alle Sinne beisammen hatte, diese Summe zahlen würde. Sollte Benton Maxwell doch zu einer anderen Partnervermittlung gehen! Das war natürlich ihr erster Fehler - anzunehmen, dass der Mann noch alle Sinne beisammen hatte. Nachdem er einen kurzen Blick auf die Summe geworfen hatte, zog er seine Kreditkarte heraus und warf sie ihr zu. „Ich brauche weder Vorschläge noch Beratung. Lediglich eine Frau." Mindy sah ihn mit offenem Mund an. Oh, Himmel, was hatte sie getan? Benton Maxwell fuhr eilig in Richtung Innenstadt. Er würde zu spät zu seiner Besprechung kommen, und er war nie unpünktlich. Er schaltete sein Handy ein und wählte. „Maxwell Group" meldete sich seine Empfangssekretärin Claudia. „Ich bin es, Claudia." „Sie sind zu spät", belehrte sie ihn. „Ja, ich weiß. Können Sie mich mit Miss Binks im Konferenzzimmer verbinden?" Einen Augenblick später nahm seine treue Assistentin Candace Binks den Hörer ab. „Hallo, Miss Binks." „Mr. Maxwell!" Wie immer klang sie glücklich, ihn zu hören. Miss Binks war seit zwei Jahren in ihn verliebt. Vielleicht war „verliebt" auch nicht das richtige Wort - Benton war sich nicht sicher, da er selbst wenig von solchen Gefühlsregungen wusste -, aber auf jeden Fall hatte sie etwas für ihn übrig. „Wir haben schon angefangen, uns Sorgen zu machen." Benton war nicht überrascht. Da er stets pünktlich war, nahmen die Le ute immer gleich an, ihm wäre etwas zugestoßen, wenn er ausnahmsweise doch einmal zu spät kam. „Ich bin auf dem Weg. In höchstens fünfzehn Minuten bin ich da." Nachdem er das Gespräch beendet hatte, steckte Benton das Handy in die Tasche und beschleunigte den Wagen. Als er irgendwann Miss Binks' Zuneigung akzeptiert hatte, war ihm der Gedanke gekommen, ob er sie heiraten sollte. Schließlich war sie mehr als loyal, und wahrscheinlich würde sie bereit sein, ihre Arbeit bei ihm aufzugeben, um all das zu sein, was er von einer Ehefrau erwartete. Sie war eine attraktive Blondine, klein und zierlich, kleidete sich gut, hatte ausgezeichnete Umgangsformen und wusste, wann sie sich „seinem Urteil beugen" sollte, während sie gleichzeitig sein Büro wie eine gut geölte Maschine am Laufen hielt. Außerdem verkehrte sie in den richtigen Kreisen. Aber obwohl Miss Binks seinen Vorstellungen von einer perfekten Ehe frau entsprach, fehlte das gewisse Etwas. Zwischen ihnen knisterte es nicht, es sprühten keine Funken, wenn sie zusammen waren. Auch wenn er sich jetzt seine Frau nicht auf herkömmliche Weise suchte, sondern über eine Partnervermittlung, sollte es zwischen ihm und der Frau, die er heiraten wollte, eine gewisse Anziehungskraft geben. . Der warme Maiwind zerzauste sein Haar, als er im offenen Cabrio zum Büro fuhr. Dabei wanderten seine Gedanken zurück zum Hyde Park Square und dem kleinen Laden mit den albernen Herzen, die überall ge prangt hatten. Einerseits konnte er selbst nicht so recht fassen, dass er, der vernünftige und erfolgreiche Benton Maxwell, eine Partnervermittlung aufgesucht hatte, andererseits war er
ein beschäftigter Mann und hatte keine Zeit, selbst nach einer perfekten Frau zu suchen. Nach allem, was er über diese Mindy gehört hatte, würde es viel einfacher sein, wenn sie die Suche übernähme. Inzwischen fragte er sich, ob es eine kluge Entscheidung gewesen war. Die Unbeholfenheit von Mindy McCrae, als sie ihm das Eis fast auf seine italienischen Schuhe geworfen hatte, konnte er vielleicht noch übersehen, doch erhebliche Zweifel waren ihm gekommen, als sie ihn gefragt hatte, warum er ihre Dienste in Anspruch nehmen wollte. Die kleine Rothaarige hatte zwar ganz nett ausgesehen, auch wenn sie nicht gerade sein Typ war mit ihrem kurzen Haar, das eher keck als elegant geschnitten war, und ihrem lässigen Baumwollrock. Ihre leuchtenden Augen und die zarte Haut waren auffallend gewesen, aber nicht klassisch. Am meisten hatte ihn ihre Haltung gestört. Irgendwie hatte sie ihm das Gefühl vermittelt, dass seine schlichte Bitte, passende Ehekandidatinnen für ihn zu suchen, absurd sei, und als sie versucht hatte, ihm Informationen zu entlocken, hatte der Blick aus ihren smaragdgrünen Augen ihn fast durchbohrt. Dabei wollte Benton doch nichts weiter, als einige Frauen treffen, die die Attribute besaßen, die er sich wünschte. Den Rest würde er schon selbst erledigen. Und er war gewiss nicht in diesen Laden voller Herzen gegangen, um persönliche Dinge mit einer Fremden zu besprechen. Und als Mindy McCrae ihn gefragt hatte, warum er überhaupt heiraten wolle, hatte es fast wie ein Vorwurf geklungen. Tja, warum will ich eigentlich heiraten? überlegte er jetzt. Darauf gab es eine ganz einfache Antwort: Weil er es satt hatte, Geschäftspartys allein zu besuchen. Außerdem hatte er keine Lust mehr, seine Gäste immer allein zu unterhalten. Er war ein reicher Mann und hatte niemanden, mit dem er seinen Reichtum teilen konnte. Sein Haus war wunderschön, aber es war dort stets ein wenig einsam. Und weil mein fünfunddreißigster Geburtstag naht, dachte er, und was auch immer die Liebe sein mag, wenn sie denn überhaupt existiert, er hatte sie bis jetzt nicht kennen gelernt. Benton hatte einfach das Gefühl, dass es an der Zeit war zu heiraten. Aber er fand, dass das alles Miss McCrae nicht unbedingt etwas anging. Zehn Minuten später kam er aus dem Fahrstuhl im fünfundzwanzigsten Stockwerk des Carew Towers und ging in die Empfangshalle der Maxwell Group. Er nickte der silberhaarigen Claudia kurz zu und eilte dann den Flur entlang zum Konferenzraum, wo bereits acht Kollegen auf ihn warteten. „Ich entschuldige mich für meine Unpünktlichkeit. Wollen wir anfangen?" sagte er und setzte sich an das Kopfende des ovalen Tisches. Miss Binks saß zu seiner Rechten, ihr langes dunkelblondes Haar war zu einem lockeren, modischen Knoten hochgesteckt. Über ihre Brille hinweg strahlte sie ihn an. „Sie sind da", sagte sie mit einem kleinen Lächeln. Der junge Malcolm Wainscott, Bentons Assistent, saß weiter hinten am Tisch und warf Miss Binks einen bewundernden Blick zu, den sie wie üb lich nicht bemerkte. „Möchten Sie einen Kaffee, bevor wir anfangen, Mr. Maxwell?" Er sah, dass Miss Binks seinen Ärmel berührte. Das war neu. „Nein danke, Miss Binks." Er zog den Arm weg und hoffte, dass niemand auf merkwürdige Gedanken kam. Dann nickte er Percy Callendar von der Finanzabteilung zu, als Zeichen, dass dieser beginnen solle. Vielleicht, dachte er, während Percy seine Zahlen präsentierte, sollte ich selbst mal ein wenig den Kuppler spielen. Es war ihm bishe r noch nie in den Sinn gekommen, Miss Binks in Malcolm Wainscotts Richtung zu schubsen, und es war auch nichts, womit sich Benton normalerweise beschäftigte, doch da er in den kommenden Wochen selbst mit der Suche nach einer Frau ausgelastet sein würde, schien die Idee gar nicht so abwegig. Er wollte nicht, dass Miss Binks noch tiefere Gefühle für ihn entwickelte, und er hatte schon immer gedacht, dass sie und Malcolm gut zueinander passen würden.
Wer für ihn selbst in Frage käme, nun, da musste er wohl warten und sehen, was die angeblich so erfolgreiche Mindy für ihn bereithielt. Doch aus unerfindlichen Gründen hatte Benton mehr und mehr das Gefühl, einen schrecklichen Fehler begangen zu haben, als er sich Mindy McCrae anvertraut hatte. „Ist etwas nicht in Ordnung, Mr. Maxwell?" Es war wieder Miss Binks, die ihn mit ihren braunen Augen ein wenig entsetzt ansah. Wahrscheinlich ließen die Gedanken an Mindy McCrae ihn irgendwie krank aussehen. „Nein", erwiderte er. „Alles okay." Mit Ausnahme der Tatsache, dass er die Suche nach der künftigen Mrs. Maxwell in die unbeholfenen Hände einer Frau gelegt hatte, die nicht einmal eine Eistüte halten konnte. Er hatte das ungute Gefühl, dass ihr die Sache mit der Partnersuche genauso danebengehen würde.
2. KAPITEL Am folgenden Nachmittag saß Mindy an ihrem Schreibtisch und begann langsam zu verzweifeln. Seit Stunden durchforstete sie ihre Kartei auf der Suche nach einer Frau, die Benton Maxwells Kriterien entsprach. Aber sie lebten im einundzwanzigsten Jahrhundert, und keine der Frauen, die zu Mindy gekommen waren, um einen Partner zu finden, war darauf aus, der Schoßhund eines Mannes zu werden. Die Frauen von heute hatten Karrieren und Ambitionen. Sie suchten nach Partnern, mit denen sie ihr Le ben teilen konnten, und hatten nicht vor, die „bessere Hälfte" eines Chauvis zu werden. Außerdem mochte Mindy ihre Kundinnen, und eine von ihnen in die Höhle des Löwen zu schicken, sprich mit Benton Maxwell zusammenzubringen, kam ihr vor wie ein Verbrechen. Das Klingeln der herzförmigen Glocke über der Tür riss Mindy aus ihren Gedanken. Jane kam mit zwei Eistüten in der Hand herein. „Du hast ge rade einen scharfen Jungen draußen verpasst, Mindy. Er hatte sogar einen von diesen süßen weißen Hunden dabei. Er wäre perfekt für dich gewesen." Fast hätte Mindy gefragt: „Der Junge oder der Hund?" Doch sie war nicht in der Stimmung, auf Janes Männerjagd einzugehen. „Ich bin erledigt", klagte sie, während sie das Eis entgegennahm. Ein kleiner Teufel in ihr malte sich aus, was gestern wohl geschehen wäre, wenn das Eis auf Benton Maxwells teure Schuhe oder gar auf seiner Anzugshose gelandet wäre. Wenn der Mann jetzt durch die Tür käme, wäre sie fast versucht, genau das geschehen zu lassen. Dann würde er vielleicht sein Geld zurückverlangen und woanders hingehen. Doch so fühlte sie sich gezwungen, ihren Verpflichtungen ihm gegenüber nachzukommen. Immerhin hatte sie sein Geld akzeptiert, nachdem sie erkannt hatte, wie viel er bereit war zu zahlen. „Ist er denn wirklich so schlimm?" fragte Jane und setzte sich hinter ihren Schreibtisch. „Ja, das ist er wirklich." Jane hatte Bentons Besuch ja verpasst und nicht glauben wollen, was Mindy ihr hinterher erzählt hatte. „Aber er war so groß und gut aussehend." Mindy griff nach der inzwischen etwas zerknitterten Liste, die er für sie dagelassen hatte, und wedelte damit in der Luft herum. „Sie muss wissen, wann sie sich meiner Meinung zu beugen hat", erinnerte sie Jane zornig. Jane neigte den Kopf, als wollte sie Mindy bitten, zuzugeben, dass das alles erfunden war. „Und er war so sexy." „Wenn nötig intelligent", fügte Mindy hinzu. „Wenn nötig! Ich bitte dich." „Und vergiss nicht, dass er reich ist. Ich könnte herausfinden, wann es nötig ist, intelligent zu sein, wenn ich mir einen so reichen Mann angeln könnte." „Jane!" schimpfte Mindy fassungslos. „Er ist ein ganz übler Chauvi! Und die ganze Sache war ihm nicht einmal so wichtig, dass er Zeit für ein Interview mit mir aufbringen wollte." Sie leckte ihr tropfendes Eis. „Glaub mir, manchmal gibt es Wichtigeres im Leben, als dass der Mann groß, gut aussehend und sexy ist." „Warum willst du keinen Mann?" fragte Jane unvermittelt. Mindy zuckte überrascht zurück. „Was?" Jane betrachtete sie misstrauisch. „Du hast mich sehr wohl gehört. Warum willst du keinen Mann? Alle anderen wollen einen. Und das bedeutet nicht, dass wir schwach oder rückgradlos oder abhängig sind. Es bedeutet einfach, dass wir einen Mann wollen. Wir wollen Gesellschaft, Liebe. Zumindest Sex. Warum willst du das alles nicht? Wie kann eine Frau, die es sich zur Lebensaufgabe gemacht hat, für andere einen Partner zu finden, selbst glücklich ohne einen Mann sein?" Mindy verzog verärgert das Gesicht, als sie einen kleinen Stich im Herzen verspürte. Das Eis tropfte inzwischen auf ihre Hand, und wütend warf sie es kurz entschlossen in den Mülleimer. Nachdem sie sich die Finger abgewischt hatte, wandte sie ihre Aufmerksamkeit
wieder dem Laptop zu. „Jane, das ist jetzt wirklich nicht der richtige Zeitpunkt für eine weitere Lektion über Männer. Ich muss eine Frau für Benton Maxwell finden." „Ah." Jane nickte wissend. Mindy warf ihr einen Seitenblick zu. „Ah? Was heißt das?" „Es bedeutet, dass sich mehr hinter der ganzen Sache verbirgt, als auf den ersten Blick ersichtlich ist. Es bedeutet, dass ich deinen schwachen Punkt entdeckt habe, meine Liebe." „Meinen schwachen Punkt? Wovon redest du?" Jane lächelte selbstzufrieden. „Du weißt genau, wovon ich rede. Wenn du wirklich keinen Mann willst, dann gibt es einen Grund dafür. Aber du willst ihn mir nicht verraten. Ich werde nicht weiter bohren. Ich bin sicher, irgendwann wird es herauskommen, wenn du bereit bist, dich jemandem mitzuteilen." „Jane, du schaust zu viel Fernsehen und liest zu viele Romane. Im wirklichen Leben hat nicht jeder, der den sozialen Trends nicht folgt, ein tief greifendes Problem. Einige Menschen sind einfach anders." Jane riss die Augen auf. „Bist du lesbisch?" „Jane!" „Es wäre doch nichts Schlimmes. Ich dachte nur ..." „Ich bin nicht lesbisch, okay? Ich bin nur nicht so optimistisch, wenn es um Männer geht, das ist alles." Das entsprach der Wahrheit. Es gab keine dunklen Geheimnisse, keine tragische Liebesgeschichte in ihrer Vergangenheit. Aber es gab auch keine große Liebe. Vielleicht wäre ein gebrochenes Herz besser als die Leere in ihrem Herzen. Viele behaupteten ja, es wäre besser, geliebt und verloren zu haben, als niemals geliebt zu haben. Sie hatte jedenfalls noch nie einen Mann getroffen, bei dem ihr Herz höher geschlagen hätte. In den vergangenen Jahren war sie mit Männern ausgegangen, die sie in gewisser Weise an Ben ton Maxwell erinnerten, und das war niemals gut gegangen. Sie war auch mit Männern zusammen gewesen, die das ge naue Gegenteil von Benton Maxwell gewesen waren. Nette, respektvolle, sensible und ... langweilige Männer. Sie hatte Männer getroffen, die irritierend gewesen waren und schlechte Angewohnheiten gehabt hatten oder die sich für weit lustiger hielten, als sie waren. Sie hatte eine Menge Männer kennen gelernt, aber sie hatte noch nie einen gefunden, der wirklich zu ihr gepasst hätte. Auf Grund ihres Jobs glaubte sie natürlich an die Liebe. Sie hatte zu viele glückliche Menschen erlebt, um daran zu zweifeln, und es war ihr großes Talent, die richtigen Menschen zusammenzubringen. Deshalb hatte sie ihre Partnervermittlung eröffnet. Doch mit neunundzwanzig hatte sie für sich selbst die Suche aufgeben. Es gefiel ihr ganz gut, ihr Leben ohne Mann. Manchmal, wenn sie darüber nachdachte, verspürte sie zwar einen Stich in ihrem Herzen, doch alles in allem ging es ihr gut. Sie konzentrierte sich wieder auf den Computerbildschirm, auf den sie den ganzen Nachmittag gestarrt hatte, bevor sie seufzte. „Ich bin zu einer Entscheidung gelangt." „Soll ich den Typ mit dem Hund für dich aufspüren?" fragte Jane. „Nein, ich möchte, dass du in den Hobbyshop gehst und ein paar Dartpfeile für mich kaufst." „Dartpfeile?" Mindy nickte ernst. „Genau." Ohne weitere Erklärung schickte sie Jane los. Und während Jane die Pfeile besorgte, druckte Mindy die Liste all jener Kundinnen aus, die zumindest Benton Maxwells Kriterien in Bezug auf ihr Äußeres entsprachen. Weiter konnte sie die Liste nicht einschränken, also sah sie nur noch eine Möglichkeit, um das Problem zu lösen und sich von ihren Qualen zu befreien. Als Jane zurückkam, klebten sie die Namensliste an die Wand. Mindy nahm das geblümte Tuch vom Hals und bat Jane, es ihr über die Augen zu binden. Dann ließ sie sich von ihr in die richtige Richtung weisen und zielte mit dem ersten Dartpfeil auf die Liste. Er landete auf
dem Boden. Im zweiten Anlauf schaffte sie es zu treffen. Mindy nahm das Tuch ab und ging zur Wand, um zu sehen, wer die Unglückliche war. Doch der Pfeil steckte genau zwischen zwei Namen. „Umso besser", meinte Mindy. „Auf diese Weise haben wir schon zwei Verabredung für ihn." Fünf Minuten später ließ sie sich in Benton Maxwells Büro durchstellen. Obwohl sie nicht darauf erpicht war, mit ihm zu sprechen, wollte sie es so schnell wie möglich hinter sich bringen. Als er schließlich abnahm, klang er wie üblich ziemlich abgehetzt. „Benton Maxwell." Sie hatte vergessen, wie tief und wohltönend seine Stimme war, und das brachte sie ein wenig aus der Fassung. „Mr. Maxwell, hier ist Mindy McCrae. Ich habe zwei Frauen für eine Verabredung mit Ihnen ausgewählt und rufe an, um Ihnen deren Privatnummern durchzugeben. Ich werde die beiden heute Nachmittag noch anrufen, um sie auf Ihren Anruf vorzubereiten." „Sehr gut", sagte er so, dass es sie irritierte. Nachdem sie ihm die Namen und Telefonnummern der Frauen mitge teilt hatte, fragte Ben ton: „Und diese Frauen entsprechen meinen Kriterien?" Mindy seufzte, verärgert über sein Misstrauen, auch wenn sie nicht abstreiten konnte, dass es begründet war. „Ja, es sind beides sehr hübsche, intelligente Frauen." „Was ist mit der Dritten? Sie sagten, ich bekomme drei, oder?" „Ich ... ich arbeite noch daran." Sie versuchte, zuversichtlicher zu klingen als sie war. „Aber vielleicht haben wir Glück, und eine dieser beiden ist schon Ihre Traumfrau." Benton raste bei Gelb über die Ampel, erpicht darauf, die Verabredung mit dieser Kathy hinter sich zu bringen. Er hatte auch nicht vor, sie noch einmal zu treffen. Mindy musste verrückt sein, wenn sie glaubte, dass eine der Frauen, die sie ausgesucht hatte, die Richtige für ihn war. Dieser Abend war ein Albtraum gewesen, sogar noch schlimmer als die Verabredung mit wie hieß sie noch? Anita - Anfang der Woche. „Wollen Sie mich umbringen?" fragte Kathy und bezog sich wohl auf seine Geschwindigkeit, vermutete Benton. Hatte er am Beginn des Abends noch gedacht, sie wäre ganz nett, fand er inzwischen, dass sie eher einem Piranha glich. „Nein, ich versuche nur, diesen Abend so schnell wie möglich zu beenden, damit wir beide von unseren Qualen erlöst werden." Der Abend hatte schon problematisch begonnen, als Kathy erklärte, wenn es nach ihr ginge, wäre es illegal, mit solch einem extravaganten Auto wie seinem durch die Gegend zu fahren, während in Äthiopien Kinder verhungerten. Benton hatte ihr erklärt, dass ein Mann in seiner Position einem gewissen Bild entsprechen müsse. Außerdem fand er, dass man sich für harte Arbeit auch belohnen dürfe, doch davon hatte sie nichts hören wollen. Es wurde jedoch noch schlimmer, als sie ihm erzählte, dass sie Professorin für Kommunikation an der Universität von Cincinnati sei. Sie liebe ihren Job und habe vor, dort bis zur Pensionierung zu bleiben. „Sie wären nicht bereit, diese Lebensplanung zu ändern, wenn etwas Besonderes, wie zürn Beispiel eine Heirat, dazwischen käme? Wenn Sie einen Mann heiraten würden, der Ihre Hilfe bei zahllosen gesellschaftlichen Anlässen benötigte?" Sie hatte ihn nur Verständnis- und fassungslos angestarrt. Okay, er war nicht gerade subtil vorgegangen, aber er hatte gedacht, dass Mindy, die Kupplerin, Kathy darüber aufgeklärt hatte, was er von einer Frau erwartete. Danach hatten sie sich fast während des gesamten Essens nur gestrit ten, und Benton hatte das Gefühl, dass sie ihn offensichtlich hasste, obwohl er nicht wusste, was er getan hatte, um sie zu beleidigen. Vielleicht war es nicht gerade taktvoll gewesen, zu erwähnen, dass er Katzen ablehnte, als sie ihm von der Katze ihrer Schwester erzählte, die gerade mehrere Junge
bekommen hatte. Doch da hatte er schon längst aufgegeben, auf einen netten Abend zu hoffen. Benton hielt vor Kathys Wohnung, bereit, sie zumindest noch zur Tür zu bringen, doch sie stieg aus und meinte nur: „Bis dann", bevor sie hastig verschwand. Das war's, dachte er, während er erleichtert davonfuhr. Mindy McCrae hatte gutes Geld dafür bekommen, dass sie ihn mit Frauen bekannt machte, die ein Leben in Luxus und mit viel Freizeit schätzten, und er bekam nicht, worum er gebeten hatte. Dabei war er davon ausgegangen, dass die Frauen Schlange stehen würden, um diese Rolle auszufüllen. Wie schwer kann es schon sein, jemanden zu finden, fragte er sich. So viel zu Mindy McCraes erstaunlicher Erfolgsrate. Morgen würde er ihr einen kleinen Be such abstatten und ihr seine Meinung sagen. „Ich entschuldige mich noch einmal bei Ihnen, Kathy. Es tut mir wirklich Leid, dass es nicht geklappt hat, und ich werde sicherstellen, dass es nicht wieder vorkommt." Mindy legte den Telefonhörer auf und kam sich zum zweiten Mal in dieser Woche grässlich vor. Anfang der Woche hatte Anita Barker angerufen, um sich zu beschweren, dass Benton überhaupt nicht dem entsprach, was sie sich von einem Mann erwartete. Auch wenn Mindy es nicht offen zugab, wusste sie, dass das die Wahrheit war. „Ich hatte das Gefühl, dass er es ziemlich eilig hatte, die Verabredung hinter sich zu bringen", hatte Anita geklagt. „Wir hasteten zum Restaurant, wir hasteten durchs Essen und - ob Sie es glauben oder nicht - aber er hat sogar für mich bestellt! Haben Sie schon jemals etwas so Verstaubtes gehört?" Nicht vor Benton Maxwell, hätte Mindy am liebsten gesagt, doch sie hielt den Mund. Aber sie war nicht überrascht, dass Benton Maxwell glaubte, er könne das Essen für eine Frau besser aussuchen als sie selbst. Anita war jedoch offensichtlich nicht geneigt, sich Bentons Meinung zu unterwerfen. Mindy konnte es ihr nicht verübeln, auch wenn sie etwas anderes gehofft hatte. Die Telefonate beschämten Mindy. Dabei hatte sie eigentlich gewusst, dass es nicht gut gehen konnte. Die Mehrzahl ihrer Kundinnen war clever und unabhängig, Frauen von heute. Und sowohl Kathys als auch Anitas Profile hatten mit Bentons nicht übereingestimmt. Kathy suchte einen nüchternen Mann, bei dem sie sie selbst sein konnte, während Anita sich jemanden mit Sinn für Humor wünschte. Und Mindy hatte den Nerv besessen, sie mit Benton Maxwell zu verkuppeln! Doch das Problem blieb - keine Frau wollte jemanden wie ihn, und sie hatte ihm drei Verabredungen versprochen. „Lass mich raten", sagte Jane, als sie Mindys Gesichtsausdruck sah. „Das zweite Opfer von Mr. Groß, Gutaussehend und Sexy?" „Genau. Und sie hatte allen Grund, wütend zu sein. Ich hätte niemals zwei gute Kundinnen einem Wolf im Maßanzug opfern dürfen." „Sei nicht so hart zu dir. Es hätte jedem passieren können. Bestimmt haben auch andere Partnervermittler mal einen schlechten Tag." „Aber deshalb fühle ich mich ja so miserabel. Es war kein schlechter Tag. Ich wusste genau, was ich tat. Ich habe die beiden Frauen zur Schlachtbank geführt, nur damit ich viel Geld verdiene." Jane betrachtete sie skeptisch. „Nun übertreibe nicht gleich. Es waren ein paar misslungene Verabredungen, nicht das Ende der Welt. Es ist nie mand zu Schaden gekommen." „Trotzdem habe ich das Gefühl, dass ich den unausgesprochenen Eid meinen Kunden gegenüber gebrochen habe, nämlich meine Fähigkeiten nach bestem Wissen und Gewissen zu gebrauchen. Wie soll ich denn noch eine arme unvorbereitete Frau mit ihm losschicken? Womöglich haben Kathy und Anita ihr Vertrauen in mich verloren, und ich möchte nicht riskieren, noch eine Kundin zu verlieren." „Na ja", meinte Jane, „du könntest Benton Maxwell ja ein Drittel seines Geld zurückgeben und ihm Adieu sagen."
Genau in diesem Moment wurde die Ladentür geöffnet, und herein kam ein großer, wütender Mann. „Wenn man vom Teufel spricht", flüsterte Jane, und Mindy warf ihr einen vorwurfsvollen Blick zu, bevor sie aufstand und um ihren Schreibtisch herumging, um Benton Maxwell zu begrüßen. Er sah noch genauso verflixt gut aus, wie sie ihn in Erinnerung hatte, jedes Haar war an seinem Platz, sein dunkelgrauer Anzug unterstrich die Farbe seiner Augen, die im Moment allerdings verärgert blickten. Und leider war er immer noch sehr viel größer als sie - etwas, was sie vergessen hatte -, und sie wurde sich dieses Nachteils schmerzlich bewusst. „Fünfundneunzig Prozent!" stieß er hervor. „Fünfundneunzig Prozent?" Er beugte sich so weit vor, dass ihre Nasen sich fast berührten, und eine Sekunde lang erstarrte Mindy. Sie nahm den Duft seines Aftershaves wahr und - halt! Das war unerheblich. Was dachte er sich eigentlich dabei, so in ihr Geschäft zu kommen und ihr ihre Erfolgsrate an den Kopf zu werfen, als wäre es eine Lüge? Sie holte tief Luft, trat einen Schritt zurück und maß ihn von oben bis unten. „Fünfundneunzig Prozent. Bevor Sie aufgetaucht sind jedenfalls." „In Anbetracht der Auswahl, die Sie für mich getroffen haben, glaube ich nicht einmal an eine Erfolgsquote von fünf Prozent. Ich frage mich, wieso Sie diese Frauen ausgesucht haben. Auf jeden Fall haben Sie sich nicht an dem Anforderungsprofil orientiert, das ich Ihnen gegeben habe." Mindy hatte genug von diesem Mann. „Setzen Sie sich", sagte sie und legte dann die Hand fest auf seine Brust und drückte ihn auf den Stuhl vor ihrem Schreibtisch. Sein Gesichtsausdruck, als er sich setzte, verriet, dass er nicht wusste, wie ihm geschah. Offenbar hatte es noch nie jemand gewagt, ihn so zu behandeln. Was sein Problem ist, entschied Mindy. Es gefiel ihr, ihn aus dem Gleichgewicht zu bringen, „Das ist schon besser", meinte sie. „Sie, Mr. Maxwell, haben noch eine Menge über Frauen zu lernen." „Tatsächlich?" Er schien sich langsam von seinem Schock zu erholen. „Ja. Zum einen kann man eine Frau nicht auf eine Liste von Eigenschaften reduzieren und dann hoffen, dass man eine Lebensgefährtin findet. Und wenn Sie schon solch eine Liste schreiben, dann hilft es, wenn sie nicht so klingt, als käme sie aus den fünfziger Jahren des letzten Jahr hunderts." Benton Maxwell seufzte. „Ich habe Ihnen einfach nur gesagt, was ich von meiner zukünftigen Frau erwarte, und Sie gebeten, passende Kandidatinnen für mich zu finden." „Leichter gesagt als getan in Ihrem Fall, fürchte ich." „Das heißt, Sie können es nicht? Sie sind nicht in der Lage dazu?" Er neigte den Kopf. „Lassen Sie mich eins fragen, Miss McCrae. Behandeln Sie alle Ihre Kunden so? Belehren Sie sie und kanzeln Sie sie wegen ihrer Vorlieben ab?" Er schaute sich hilflos um und deutete dann vage auf den Stuhl, auf dem er saß, „Und schubsen sie herum?" In dem Moment wurde Mindy etwas klar. Sie schaute in die blauen Augen von Benton Maxwell und verstand es endlich. Er hatte keine Ahnung. Er wusste nicht, dass er anmaßend und uneinsichtig war. Er wusste nicht, dass er ein Chauvi war. Er wusste nicht, dass er eine Frau suchte, die schon seit Jahrzehnten aus der Mode gekommen war. Er hatte ganz einfach keinen blassen Schimmer. Und er ging offensichtlich davon aus, dass sie verrückt war; sein Blick verriet es. Sie hielt diesem Blick einige Sekunden lang stand und hoffte, er würde erkennen, dass sie nicht verrückt, sondern ein netter, normaler, freundlicher Mensch war. Als der Ausdruck in seinen Augen jedoch erstaunt und halb verärgert blieb, gab sie es auf und entschied, dass es ihr egal war, was er von ihr dachte. Welche Frau mit Selbstachtung würde auf die Meinung dieses Mannes schon Wert legen? Trotzdem würde sie ihre Verpflichtung ihm gegenüber einhalten. Sie fühlte sich
herausgefordert und sogar versucht, etwas zu tun, was ein bisschen verrückt war. „Hören Sie zu", sagte sie mit fester Stimme. „Ich werde eine dritte Frau für Sie finden, jemanden, der Ihren Kriterien entspricht." „Offen gestanden glaube ich nicht, dass Sie das schaffen." Typisch. Auch der letzte Anflug von Mitleid, den Mindy verspürt haben mochte, verflüchtigte sich. „Ach ja?" „Ja." Mindy stemmte die Hände in die Hüften und reckte das Kinn vor. „Nun, Mr. Maxwell, das werden wir ja sehen." „Da hast du dir ja einen schönen Schlamassel eingebrockt", meinte Jane ein paar Minuten später, als die Ladentür sich hinter Benton Maxwell schloss. Mindy wandte sich ihrer Assistentin zu. „Nein, ich glaube nicht." Denn Mindy hatte eine Entscheidung getroffen, was Benton Maxwells dritte und letzte Verabredung anging. Es war eine irrwitzige Entscheidung, aber die Eingebung war ihr gekommen, als sie gemerkt hatte, dass er wirklich nicht wusste, wie unsinnig seine Erwartungen waren. „Ich warte", sagte Jane ungeduldig. „Ich werde gehen", erklärte Mindy. „Wohin willst du gehen?" „Ich werde mich mit ihm verabreden." „Was?" „Natürlich kann ich nicht ich selbst sein. Deshalb werde ich als Mandy gehen, meine erfundene Zwillingsschwester." Mindy lächelte triumphierend. „Schau nicht so entsetzt", bat sie dann. „Aber ich bin entsetzt." Mindy schüttelte den Kopf. Anscheinend hatte sie es nicht richtig erklärt. „Pass auf. Es wird perfekt klappen - ich entspreche seinen Kriterien. Ich bin klein, ich habe eine passable Figur, und ich bin intelligent, aber das muss ich ja nicht zeigen. Es sei denn, es ist nötig. Was vielleicht der Fall sein könnte, wenn ich ihm bei einem Problem helfen muss oder er jemandem imponieren möchte. Und ich werde diese blonde Perücke aufsetzen, die ich mir letztes Jahr für deine Halloweenparty gekauft habe, Erinnerst du dich, wie ich mich als Dolly Parton verkleidet habe?" Jane sah völlig entgeistert aus. „Wie kann ich das vergessen? Meine armen Jungs haben noch wochenlang von deinem falschen Busen ge schwärmt. " „Ich werde also die Perücke tragen und vorgeben, meine Schwester zu sein", fuhr Mindy fort. „Und ich werde ihn mein Essen bestellen lassen und mich seinen Entscheidungen beugen, und ich werde vorgeben, dass es mein größter Wunsch ist, geschmackvolle Gartenpartys für die Damen aus seinem Country Club zu organisieren. Ich werde wie die perfekte Kandidatin erscheinen, eine, an der er nichts auszusetzen haben wird. Verstehst du? Es ist perfekt." „Na ja, bis auf ein Problem. Was ist, wenn er dich mag?" Mindy lächelte boshaft. Das war das Beste daran. „Ganz einfach. Das wird er nicht. Denn auch wenn Mandy oberflächlich gesehen die perfekte Frau für ihn sein wird, habe ich vor, im Laufe des Abends seine Welt ein wenig auf den Kopf zu stellen." Jane wirkte skeptisch, aber auch ein wenig fasziniert. „Was meinst du damit?" „Gegen Ende des Abends werde ich, also Mandy, das Gegenteil von dem sein, was er sich von einer Frau erhofft. Auf diese Weise schlage ich mehrere Fliegen mit einer Klappe." „Was für Fliegen?" „Zum einen kann ich ihm so beweisen, dass ich, Mindy, tatsächlich eine Frau finden konnte, die immerhin so schien, als wäre sie das, was er sich wünscht. Aber ich werde ihm auch zeigen können, dass Frauen, selbst wenn sie noch so brav wirken, sehr viel komplexere Wesen sind, als seine alberne Liste es vermuten lassen würde. Und vor allem", schloss sie,
„wenn der Abend zu Ende geht, werde ich meine Verpflichtung gegenüber Benton Maxwell los sein und brauche ihn nie wieder zu sehen."
3. KAPITEL „Na, gibt es heute Abend wieder eine Verabredung?" wurde Benton von Phil Harper gefragt, mit dem er sich zum Mittagessen verabredet hatte. Der Dritte im Bunde, Mike Kelly, ließ sich gerade auf seinen Stuhl sinken, als Benton kurz und bündig mit „Ja" antwortete. Sie waren seine besten Freunde - sie kannten sich schon seit ihrer Collegezeit -, aber Benton hatte ihnen nicht erzählt, wie seine letzten Verabredungen zu Stande gekommen waren, aus Angst, dass sie annehmen könnten, er wäre verzweifelt und nicht einfach nur beschäftigt. Mike grinste. „Vielleicht klappt es ja diesmal besser als mit den letzten beiden. Carrie meint, es wird allmählich Zeit, dass du dich mit einer netten Frau häuslich niederlässt." Benton nickte. Seine glücklich verheirateten Freunde neckten ihn schon seit Jahren mit solchen Kommentaren, aber er hatte ihnen noch nicht verraten, dass er ihnen in letzter Zeit zustimmte. Es fiel ihm schwer zuzugeben, dass etwas in seinem Leben nicht perfekt war. „Und steht nicht der Fünfunddreißigste kurz vor der Tür?" fragte Phil. „Das ist doch ein guter Zeitpunkt für eine Hochzeit." Wenn sie wüssten, wie sehr seine eigenen Gedanken ihren ähnelten. Mike lachte und fügte hinzu: „Ja, bevor du zu alt bist, um die Flitterwo chen genießen zu können." Wieder ignorierte Benton die Stichelei. „Wir werden sehen." Die traurige Wahrheit war, dass er keine großen Hoffnungen hegte, was diese letzte von Mindy McCrae eingefädelte Verabredung betraf, und er bedauerte schon fast, sie gegenüber seinen Freunden erwähnt zu ha ben. Leider hatte er bei diesem Date ein ganz anderes Gefühl als bei den beiden vorherigen. Denen hatte er hoffnungsvoll und optimistisch entgegengesehen. Doch inzwischen war er nicht mehr so naiv. Und einige Stunden später, als er aus der Dusche kam, war er noch immer skeptisch. Er wusste, entweder instinktiv oder aus Gewohnheit, dass es noch ein Debakel werden würde. Einen Moment lang überlegte er, ob er diese Mandy anrufen und absagen sollte. Am Telefon gestern Abend hatte sie ganz nett geklungen, aber so leicht ließ er sich nicht mehr täuschen. Schließlich hatte dieselbe Frau alle drei Verabredungen organisiert. Das Bild der kleinen rothaarigen Mindy mit den funkelnden grünen Augen schoss ihm durch den Kopf. Ein Hitzkopf, dachte er. Es war nicht das erste Mal, dass er ihr Bild vor Augen hatte. Als sie in ihrem Büro gestanden und sich gestritten hatten, war sie ihm niedlicher vorgekommen, als er sich erinnerte. Sie hatte ein lässiges, aber figurbetontes hellgrünes Kleid getragen, das zwar ziemlich schrill gewesen war, ihr aber gestanden hatte. Nicht dass es für ihn von Interesse war, was solch einer verrückten Person stand, aber an diesem Tag war sie ihm irgendwie anders aufgefallen als bei ihrem ersten Treffen. Wahrscheinlich hatte es daran gelegen, wie sie ihn auf den Stuhl geschubst hatte. Er war es einfach nicht gewohnt, dass Frauen ihn herumkommandierten. Während er den Knoten seiner Seidenkrawatte gerade zog, erkannte er, dass ihn dieser Vorfall noch immer erstaunte. Abgesehen davon, dass er das Gefühl gehabt hatte, in eine ihm völlig fremde Welt geraten zu sein, in der die Dinge nicht nach seinem Willen liefen, hatte die Begegnung ihn auch noch in anderer Beziehung erschüttert. Es hatte Sinn gehabt, dass sein Herz heftig geklopft hatte, als er ge gangen war, schließlich war er sehr wütend gewesen. Aber wieso bekam er Herzklopfen, wann immer er an die Begegnung dachte? Er hatte immer alles unter Kontrolle - sich selbst, sein Leben, seine Be ziehungen. Miss Binks zum Beispiel. Sie war verrückt nach ihm, doch ihre Gefühle beeinflussten ihn in keiner Weise. Und die gleiche Beherrschung besaß er in Geschäftsdingen. Unter Druck blieb er
gelassen. Doch eine kleine Rothaarige schob ihn auf einen Stuhl, und er fing an zu schwitzen. Er schüttelte den Kopf, als er sein Jackett nahm und das Schlafzimmer verließ. Denk nicht an Mindy, ermahnte er sich. Jetzt gab es keinen Grund zu schwitzen. Doch als er einen Finger zwischen Hals und Kragen steckte, wünschte Benton sich bereits, er könnte seine Krawatte lockern. Als der Mercedes vor Mindys Haus hielt, beschleunigte sich ihr Puls. Es hatte sich zwar ganz lustig angehört, als sie die Sache geplant hatte, aber jetzt, da sie sie durchziehen und vorgeben sollte, jemand anderes zu sein, bekam sie kalte Füße. Doch es blieb ihr keine Zeit mehr, das Ganze zu bereuen. Also ließ sie die Gardine sinken und schaute noch einmal in den Spiegel in ihrem Schlafzimmer. Kein einziges rotes Haar lugte unter der blonden Perücke hervor, die ihr bis zu den Schultern reichte. Der hellrosa Lippenstift sowie das rosa Kostüm passten gut zu ihrer veränderten Haarfarbe. Es war ein modernes Kostüm, dessen Rock einige Zentimeter oberhalb des Knies endete, das jedoch äußerst vornehm wirkte, so dass Mindy einen weiteren Haken auf Bentons Liste machen konnte. „Was denkst du, Venus?" fragte sie ihre Katze, die sie von der Fensterbank aus beobachtete. Mindy nahm das Schweigen ihrer Hausgenossin sowie die Tatsache, dass die Katze angesichts ihres veränderten Aussehens nicht in Aufregung geriet, als ein gutes Zeichen. Sie trat in den Flur hinaus und schloss die Tür hinter sich, gerade als es klingelte. Okay, dachte sie. Die Katze ist im Schlafzimmer versteckt. Das Haus sehr viel ordentlicher als sonst, was für Benton vermutlich wichtig war. Ja, alles hatte seine Richtigkeit. Als es erneut klingelte, murmelte sie wütend: „Ungeduldig wie immer", bevor sie zur Tür ging. Sie holte tief Luft und setzte das einstudierte Lächeln auf. Dann riss sie die Tür auf. „Hallo, Sie müssen Benton sein!" sagte sie fröhlich und schluckte dann. Verflixt, sie vergaß immer wieder, wie ungeheuer gut er aussah. Sie war so damit beschäftigt, ihn anzuschauern, dass sie fast seinen ge schockten Gesichtsausdruck übersah. Fassungslos starrte er sie an. „Ah, Mindy?" „Nein, aber es ist ein verständlicher Fehler." Sie sprach mit einer weicheren Stimme als sonst. „Ich bin Mandy, Mindys Schwester." Er sah sie mit offenem Mund an, und Mindy konnte nicht umhin, ein klein wenig Freude zu empfinden. Sie stellte fest, dass es ihr gefiel, ihn aus der Fassung zu bringen. „Mindy hat eine Zwillingsschwester?" Es klang so, als wollte er sagen: „Ein Monster?" Er schien entsetzt, als sie nickte. „Doch wir sind uns gar nicht so ähnlich", beeilte sie sich, damit er sich nicht umdrehte und flüchtete. „Wir haben wenig gemeinsam." „Sie sehen aber ziemlich gleich aus." „Nicht wirklich", beharrte sie. „Vor allem nicht seit Mindy sich ihr Haar hat schneiden und rot färben lassen." Benton blinzelte. „S ie ist eigentlich eine Blondine?" Sie nickte. „Genau wie ich." Sie bedeutete ihm hereinzukommen. „Möchten Sie etwas trinken?" Er schaute auf seine Uhr. „Unser Tisch im ,Greenwood' ist in einer halben Stunde reserviert." Typisch, dachte sie. Immer in Eile. Doch sie war heute ja seine Traumfrau, und Traumfrauen mäkeln nicht, sie lächeln, und genau das tat Mindy dann auch. „In Ordnung. Ich mache schnell das Licht aus, und dann können wir los." Als Mindy durchs Zimmer ging und erst die eine und dann die andere Lampe ausschaltete, konnte sie nicht umhin, zu hoffen, dass Benton ihr nachsah. Schließlich hatte er nach einer kleinen, gut gebauten Frau verlangt, und sie hatte in den letzten Jahren hart daran gearbeitet, ihre Figur in Form zu halten, so dass sie nichts dagegen hatte, wenn er es bemerkte.
„Was machen Sie denn beruflich, Mandy?" Sie drehte sich mit einem engelsgleichen Gesichtsausdruck zu ihm he rum, froh, dass sie diesen Teil ihres Plans vorher überdacht hatte. „Ich bin Empfangssekretärin." Empfangssekretärinnen mussten klug sein, doch Männer, die welche hatten, wie Benton Maxwell sicherlich auch, erkannten oftmals gar nicht, wie klug sie waren. Außerdem war es ein Beruf, der keine lange Ausbildung erforderte, also wäre es völlig glaubhaft, wenn sie ihre Bereitschaft bekundete, ihn aufzugeben. Es war der perfekte Beruf für Mandy. „Sehr gut", sagte er mit diesem ärgerlichen Ton, der so klang, als gäbe er gnädig seine Zustimmung. Trotzdem lächelte sie immer noch. „Und wo arbeiten Sie?" Mindy erschrak. So weit hatte sie nicht gedacht, vermutlich weil sie überhaupt nicht damit gerechnet hatte, dass es ihn interessieren könnte. Doch geistesgegenwärtig nannte sie die größte Firma der Stadt. „Procter & Gamble", und war erleichtert, als er zustimmend nickte. Mindy hatte gar nicht gewusst, dass sie so eine gute Lügnerin war. Aber das war wohl ganz gut so, schließlich musste sie den Rest des Abends weiterlügen. Als Benton ein paar Minuten später die Wagentür aufhielt, schaute er heimlich bewundernd auf Mandys lange, schlanke Beine, während sie einstieg. Und als er den Mercedes in die Innenstadt lenkte, warf er immer wieder einen Blick hinüber auf den Beifahrersitz. Mandy, Mindys Zwillingsschwester. Er konnte es nicht glauben. Abgesehen von den Haaren, war die Ähnlichkeit verblüffend. Er ging immer noch davon aus, dass der Abend ein Desaster werden würde, denn er konnte sich nicht vorstellen, dass eine Schwester von Mindy auch nur annähernd seinen Wünschen entsprechen könnte, aber er konnte auch nicht aufhören, sie fasziniert anzuschauen. Sie war auf eine elegante Art ziemlich sexy, etwas, das Benton durchaus anziehend fand. Ihr Kostüm war modern und doch sehr feminin. Der Stoff betonte ihre gute Figur, ohne aufdringlich zu wirken, und kontrastierte schön mit dem schwarzen Spitzentop, das sie dazu trug. Und ihre glänzenden rosa Lippen waren einfach bezaubernd. Rosa war nicht unbedingt eine seiner Lieblingsfarben, aber Mandy stand sie ausgezeichnet. Alles an ihr war elegant, schlicht und aufregend. „Wie lange arbeiten Sie schon bei Procter & Gamble?" fragte er, an die Unterhaltung von vorhin anknüpfend. „Seit meinem Collegeabschluss." Sie lächelte ihn an. „Acht Jahre." Benton rechnete aus, dass sie ungefähr dreißig war. Perfekt. Erwachsen genug, um sich ihrer sicher zu sein und zu wissen, was sie vom Leben erwartete, doch gleichzeitig jung genug, um attraktiv und voller Leben zu sein, und außerdem jung genug, um Kinder zu bekommen, was er auf jeden Fall wollte. „Und sind Sie zufrieden mit dem Job?" „Ich arbeite gern dort, aber ich möchte es nicht für immer machen." „Nein?" fragte er neugierig. „Was möchten Sie denn noch gern tun?" Sie lächelte zögernd. „Na ja, es klingt vielleicht ein wenig altmodisch, aber wenn ich einmal den Richtigen finde und mich häuslich niederlasse, dann würde ich gern ein einfacheres, weniger hektisches Leben führen. Vielleicht als Ehefrau und Mutter." Errötend schaute sie ihn an und wartete auf seine Zustimmung. Sie konnte nichts ahnen von der puren Freude, die Benton durchströmte. Schon jetzt begann er tiefere Gefühle für diese Frau zu hegen. Sie erregte ihn, und gleichzeitig genoss er ihre Gesellschaft. Er war vielleicht ein wenig voreilig - und er war vernünftig genug, um das auch zu erkennen -, aber noch keine Frau hatte solche Gefühle in ihm ausgelöst, schon gar nicht nach zehnminütiger Bekanntschaft. Und das, obwohl sie Mindys Schwester war. „Ich hoffe, Sie finden nicht, dass es mir an ... Ehrgeiz mangelt", meinte sie. Hastig schüttelte er den Kopf und sah sie an. „Nein, überhaupt nicht. Ich finde das wunderbar." „Benton, Vorsicht!" rief sie erschrocken. Benton konzentrierte sich wieder auf die Straße und sah, dass ein Laster auf der
Überholspur dahinkroch. Er trat auf die Bremse und spürte dann, dass seine Wangen ganz warm wurden. Verdammt, er errötete. Er konnte sich nicht erinnern, wann ihm das zum letzten Mal passiert war. Ohne Mandy anzusehen, entschuldigte er sich. Als er kurz darauf einen Blick zu ihr riskierte und sah, dass sie lächelte, grinste er verlegen und kam sich vor wie ein Sechzehnjähriger bei seiner ersten Verabredung. Er parkte vor dem „Greenwood" und half Mandy beim Aussteigen. Als sie seinen Arm nahm und mit ihm über den roten Teppich zum Eingang schritt, kam Benton sich vor wie ein König - nicht nur, dass er mit einer hübschen Frau in sein Lieblingsrestaurant ging, er mochte diese Frau wirklich. Er ermahnte sich, seine Hoffnungen nicht zu hoch zu schrauben, nach den Erfahrungen, die er mit den bisherigen, von Mindy McCrae aus gewählten Frauen gemacht hatte, aber gleichzeitig musste er zugeben, dass er sich in ihr vielleicht doch getäuscht hatte. Denn wie schlimm konnte sie wirklich sein, wenn sie eine so nette Schwester hatte? Ben ton ent schied, dass er Mindy vergeben würde, wenn das hier klappte. Nachdem sie Platz genommen hatten, bestellte Benton den Wein und spürte dabei Mandys bewundernden Blick auf sich. Dies ist endlich mal eine Frau, die einen Mann mit besonderen Fähigkeiten zu schätzen weiß, dachte er. Als der Kellner ging, und Benton wieder zu Mandy schaute, begegnete sie seinem Blick. Die Luft zwischen ihnen schien auf einmal elektrisch geladen, als sie sich tief in die Augen sahen. Man konnte das Knis tern förmlich spüren. Erst als ein weiterer Kellner an ihren Tisch trat und ihnen die Speisekarten reichte, brach der Bann. „Der gebackene Hummer hier ist ausgezeichnet", begann Benton, doch dann fiel ihm ein, dass die beiden anderen Frauen, mit denen er ausge gangen war, es nicht gemocht hatten, dass er für sie bestellte, und diesmal wollte er die Sache nicht vermasseln. „Wenn Sie Hummer mögen, natürlich nur. Ich bin sicher, dass auch die anderen Gerichte hier gut sind." Über die Karte hinweg lächelte Mandy ihn an. „Ich würde den Hummer gern probieren. Ich mag Männer, die sich in exquisiten Restaurants auskennen. Solche extravaganten Verabredungen sind wundervoll, vor allem, wenn man mit einem Mann wie Ihnen zusammen ist. Das nimmt einem den Druck." Sie lachten beide, und Benton fragte sich, womit er so viel Glück verdient hatte. „Ich habe festgestellt, dass es heutzutage schwer ist, eine Frau zu finden, der es gefällt, gut essen zu gehen. Es freut mich, dass es Ihnen Freude bereitet." Für jemand, der sonst so ernst war, lächelte er heute Abend ziemlich viel. Mandy zog ihn immer mehr in ihren Bann, und aus einem Impuls heraus griff er über den Tisch und umschloss ihre weiche, zarte Hand. „Darf ich Ihnen etwas sagen?" „Natürlich." Ihre Augen leuchteten wie zwei herrlich geschliffene Sma ragde im Kerzenlicht. „Sie haben wunderschöne Augen." Noch während er die Worte sagte, konnte Benton nicht fassen, was er da tat. Er war schon mit Dutzenden von Frauen ausgegangen, aber noch nie waren solche Worte über seine Lippen gekommen. Doch er kam in eine lächerlich romantische Stimmung, wenn er Mandy nur ansah. „O h, danke." Die Röte, die ihre Wangen überzog, gefiel ihm, und er lachte leise, teils über sich selbst und teils über die ungewöhnliche Situation, in der er sich befand. Offensichtlich waren sie beide ein wenig nervös und erstaunt, wie schnell die Dinge sic h zwischen ihnen entwickelten. „Das war es eigent lich gar nicht, was ich Ihnen sagen wollte", gab er zu. „Es ist mir einfach so herausgerutscht." Unverwandt blickte sie ihn an. „Was wollten Sie mir denn sagen?" Benton seufzte. „Die Wahrheit ist, dass ich keine allzu großen Hoffnungen für den Abend gehegt habe, als ich zu Ihnen kam und feststellte, dass Sie Mindys Schwester sind. Wissen Sie, Ihre Schwester und ich kamen nicht ganz so gut miteinander zurecht." Sie nickte. „Das hat sie erwähnt." „Aber Sie hatten Recht. Sie ähneln ihr überhaupt nicht. Und mir gefällt der Abend
ausgezeichnet. Ich hoffe, Ihnen auch." Ihr Lächeln drang bis in sein Innerstes vor. „Ja, Benton, mir auch." Dann drückte sie seine Finger, die sich um ihre geschlossen hatten, und das Blut begann in seinen Adern zu rauschen. Mindy konnte nicht aufhören, in Bentons blaue Augen zu starren. Seine große Hand auf ihrer ließ ihren Puls höher schlagen. Was dachte sie sich eigentlich dabei? Sie gaukelte ihm seine Traumfrau vor, nichts weiter natürlich. Sie gab ihm auf jede Frage die Antwort, die er gern hören wollte, wobei sie ihm bewundernde Blicke zuwarf. Es war alles ein gekonntes Schauspiel. Oder etwa nicht? Natürlich, ermahnte sie sich. Du spielst nur eine Rolle. Doch als er ge sagt hatte, dass ihre Augen wunderschön seien, hatte sie ihm geglaubt. Sie war sogar errötet, verflixt. Zu ihrer Überraschung fand sie Benton viel weniger aggressiv als sonst, und wenn sie es nicht besser wüsste, könnte sie fast annehmen, er wäre daran interessiert, sie besser kennen zu lernen und ihr zuzuhören. Sollte sie ihn etwa zu voreilig verurteilt haben? Doch selbst wenn sie es getan haben sollte, musste sie dieses romantische Gefühl, das sie auf einmal verspürte, unterdrücken. Sie musste ihren Plan durchziehen und zu irgendeinem Zeitpunkt etwas tun, was ihn abstoßen würde. Sie hatte keine andere Wahl, nicht nur, weil es Teil ihres Plans war, sondern auch weil sie sich für eine Frau ausgab, die gar nicht existierte. Ihn zu mögen stand nicht zur Debatte. Zum Glück half es ihr zu hören, wie glücklich er darüber war, dass sie Mindy in keiner Weise ähnelte. Es bestärkte sie darin, zu ihrem Plan zu stehen. Denk immer daran, ermahnte sie sich, während er das Essen für sie bestellte. „Auf einen ganz besonderen Abend", sagte Benton einen Moment später und hob sein Glas. Sie stieß mit ihm an. „Und auf Sie, Mandy, weil Sie diesen zu einem solchen machen." Mindy biss sich auf die Lippen und trank einen Schluck. Fast vergaß sie, was sie gerade gedacht hatte. Er war heute einfach ... zu perfekt. Und im Laufe des Abends blieb er auch weiterhin ein charmanter Unterhalter. Er fragte sie nach ihrem Job, was Mindy dazu zwang, sich neue Lügen auszudenken, sie aber immer wieder daran erinnerte, dass nichts, was heute Abend hier geschah, etwas mit der Realität zu tun hatte. Und als er sie nach ihrer Familie fragte, erwähnte sie die Scheidung ihrer Eltern, doch da sie jetzt ja nicht länger ein Einzelkind war, versuchte sie, die Konversation zu diesem Thema auf ein Minimum zu beschränken. Er erzählte von seinem Job, seiner Firma, und er erzählte Mandy viel mehr von seiner Familie, als er bereit gewesen war, Mindy bei ihrem ersten Treffen anzuvertrauen. Was er Mindy mehr oder weniger als kühle, erfolgsgetriebene Angehörige beschrieben hatte, entpuppte sich jetzt als warmherzige, freundliche Familie. Er berichtete, wie sehr er sich immer auf die Ferien freute, da es bedeutete, dass er seinen Bruder, seine Schwester und seine Eltern sowie die Neffen und Nichten zu sehen bekam. „Wir versuc hen immer, es so einzurichten, dass wir uns im Sommer bei meinen Eltern in Boca treffen können, doch es ist ziemlich schwierig, all unsere Termine entsprechend abzustimmen." „Jetzt, da Ihre Eltern in Florida leben, wo verbringen Sie denn Weihnachten?" „Hier, wo wie alle groß geworden sind", erklärte er. „In meinem Haus. Es gefällt mir, denn das ist die einzige Zeit, in der all die Schlaf- und Badezimmer genutzt werden. Den Rest des Jahres ist das Haus leer, abgesehen von mir, natürlich." Mindys Herz zog sich ein wenig zusammen, als sie hörte, wie traurig er darüber klang. Kein Wunder, dass er eine Frau wollte. Trotz seiner Liste war sein Wunsch zu heiraten vielleicht doch nicht so kalt und kalkuliert. „Warum", fragte sie vorsichtig, „haben Sie solch ein großes Haus? Wegen der Familientreffen oder..." „Als ich es vor fünf Jahren gekauft habe, schien es mir hauptsächlich eine gute Investition zu sein. Aber inzwischen hoffe ich wohl, dass ich es irgendwann einmal mit einer Familie fülle." Mindy antwortete nicht, sondern senkte den Blick auf den Hummer. Das war schlimm,
richtig schlimm. Er mochte sie. Er dachte, sie wäre die Richtige, die Ehefrau, der Preis, die Trophäe. Was natürlich genau das war, was sie ihn hatte glauben machen wollen; sie hatte nur nicht erwartet, dass sie sich dabei so fürchterlich mies fühlen würde. Wie hätte sie auch ahnen sollen, dass er so verflixt nett sein konnte? Als sie eine Stunde später das Restaurant verließen, schlug Benton vor: „Ich dachte, wir könnten noch einen kleinen Spaziergang machen, da das Wetter so schön ist." Er hatte Recht - eine leichte Brise hatte ein wenig Kühle gebracht. Es war inzwischen dunkel, und die Lampen tauchten die Stadt in ein romantisches Licht. Vielleicht kam Mindy das aber auch nur so vor, weil sie zu viel Wein getrunken hatte und ein wenig beschwipst war. Auf jeden Fall ließ sie sich mehr von ihren Gefühlen als von ihrem Plan leiten. Doch sie würde schon noch einen Weg finden, um den Abend zu ruinieren. Aber jetzt noch nicht. „Oder hättest du mehr Lust auf eine Kutschfahrt?" fragte er. Sie hatten während des Desserts beschlossen, sich zu duzen. Eine Kutschfahrt durch die Stadt. Immer wenn Mindy in den letzten Jahren Paare in einer dieser Kutschen gesehen hatte, hatte sie davon ge träumt, mit einem Mann zusammen zu sein, der etwas so Romantisches mit ihr unternehmen würde. Und irgendwann hatte sie dann resigniert festgestellt, dass es einen solchen Mann für sie nicht gab. Sie drückte Bentons Arm ein wenig fester und spürte einen sinnlichen Schauer. Halt! Sie musste damit aufhören. Und zwar sofort, bevor die Sache sich noch weiter entwickelte. Es war an der Zeit etwas zu tun, etwas, was seine Meinung von ihr ändern würde. Es war an der Zeit, zur Anti-Mandy zu werden. Genau in diesem Moment hörte sie dröhnende Discomusik in der Nähe, und die lieferte Mindy eine Lösung. Als sie weitergingen und sich der Musik näherten, schaute sie durch ein Fenster und sah unzählige Menschen, die zu einem alten Song tanzten. „Oder wir könnten tanzen gehen!" schlug sie vor. „Was?" Sie vermied es, Benton anzusehen. Stattdessen griff sie nach seinem Handgelenk und zog ihn durch die offene Tür in den Nachtclub. „Mandy, was hast du vor?" Sie zog ihn einfach hinter sich her, bis sie mitten in dem verräucherten, überfüllten Ra um standen, wo die Musik so laut hämmerte, dass Mindy kaum denken konnte. Sie blieb an der Bar stehen und brüllte dem Barkeeper zu: „Einen Screwdriver!" „Mandy!" rief Benton. „Warum sind wir hier?" „Mir war gerade danach", schrie sie zurück. „Wonach?" Als Mindys Drink gebracht wurde, langte Benton hastig nach seiner Kreditkarte, doch Mindy zog einen Zehner aus der Tasche und warf ihn auf den Tresen. „Das zahle ich", rief sie, nahm das kleine Glas und leerte es in einem Zug. Sie brauchte ein bisschen mehr Mut, um den nächsten Schritt ihres Plans durchzuziehen, in dem sie Benton die dunkle Seite von Mandy präsentieren wollte. „Lass uns tanzen!" meinte sie und zog ihre Jacke aus, unter der eine ge wagte, weit ausgeschnittene schwarze Korsage zum Vorschein kam. Sie hatte sie sich in dem Jahr gekauft, als sie als Madonna zu Janes Halloweenparty gegangen war. Sie schaute gerade rechtzeitig auf, um Bentons weit aufgerissene Augen und sein nervöses Schlucken mitzubekommen. „Mandy", schalt er sie. Doch Mindy warf die Jacke auf den Tresen und schlenderte dann selbstsicher auf die Tanzfläche. „Komm schon, Benton", rief sie ihm über die Schulter zu. „Hab ein bisschen Spaß!" „Spaß?" rief er und folgte ihr zögernd. Benton hatte das Gefühl, von einem Laster überfahren wo rden zu sein. Noch eben war alles wunderbar gelaufen, und dann war er auf einmal von der Straße in das Zentrum von
mehreren Hundert sich windenden Körpern gezogen worden. Doch was ihn noch mehr schockierte, waren Mandys nackte Schultern und ihre unglaublichen Brüste. Das enge miederartige Top, das sie trug, betonte sie sehr. Während des Essens war er ja schon ein wenig erregt gewesen, doch das war nichts im Vergleich zu dem, was sich jetzt bei ihm abspielte. Plötzlich drehte Mandy sich zu ihm, schlang die Arme um seinen Hals und presste ihren Körper gegen seinen. Sie drehte und wand sich rhythmisch, was ihn zwangsläufig dazu brachte, wenn auch sehr steif, sich ebenfalls zu drehen und zu winden. Seit seiner Studienzeit hatte er nicht mehr so getanzt, und es auch nie sonderlich vermisst, aber Mandy fühlte sich viel zu gut an, als dass er sich groß wehren wollte. Als der Song ausklang, wechselte die Musik, und Mandy trat auf einmal von ihm zurück, um verführerische Dinge mit ihrem zierlichen, biegsamen Körper zu vollführen. Sie hatte nur Augen für ihn, während sie tanzte, obwohl diverse Männer ihr mit den Blicken folgten. Jede ihrer Bewegungen war unglaublich sexy, ihre Brüste wippten unter dem schwarzen Spitzenstoff, ihre Hüften wiegten sich im Takt der Musik. Dann, als hätte sie ihn noch nicht genug erregt, glitt sie mit den Händen langsam über ihre Brüste, hinunter über ihren Rock, den sie Stück für Stück hochzog, bis Benton einen Blick auf den Rand von Spitzenstrümpfen erhaschen konnte, die an rosa Strapsen befestigt waren. Einerseits wollte Benton nicht hier sein und das beobachten. Er kam sich völlig fehl am Platz vor. Noch nie hatte er sich zu solch einer Art Frau hingezogen gefühlt, einem wilden, unerschrockenen Vamp, und er hatte keine Ahnung, was aus der süßen, eleganten Frau geworden war, mit der er gegessen hatte. Er sollte verlangen, dass sie zu tanzen aufhörte, und sie nach Hause bringen. Andererseits machte sie ihn ganz verrückt vor Verlangen. Er war schließlich auch nur aus Fleisch und Blut. Plötzlich wurde Benton von einem unbekannten, gefährlichen Gefühl ergriffen. Er kam auf Mandy zu, riss sie an sich, bis sie gemeinsam dem erotischen Takt der Musik folgten. Einen Augenblick lang fragte Benton sich, ob er überhaupt wusste, was er sich von einer Frau erhoffte. Er war drauf und dran, seine Vorstellungen von der perfekten Ehefrau zu vergessen. Wichtig war nur noch das sinnliche Gefühl, das Mandy in ihm auslöste. Er hätte nie gedacht, dass er so etwas wollte, aber vielleicht hatte er sich geirrt! Mindy hatte sich genauso hingegeben - der Musik, dem Mann und der Aufregung, die ihr das Blut schneller durch die Adern trieb. Begierig auf mehr, presste sie sich instinktiv an ihn und stellte fest, dass er ziemlich erregt war. Wow! So schwer es ihr auch fiel, machte sie sich doch von ihm frei und trat zurück. Aber sie hörte nicht auf zu tanzen, und konnte nicht umhin, ihm einen, wie sie fürchtete, eindeutig einladenden Blick zuzuwerfen. Ihr ganzer Plan war über den Haufen geworfen! Ihr wilder Auftritt sollte Benton wütend machen, ihn abstoßen und sein Bild von ihr ruinieren. Er sollte verärgert und verlegen sein, sie aus der Disco zu seinem Wagen zerren und vor ihrer Haustür abladen und froh darüber sein, sie loszuwerden. Er hatte lernen sollen, dass Frauen nicht mit einer kurzen Liste von Merkmalen in eine Schublade gesteckt werden konnten. Stattdessen war er erregt, und er tanzte - tanzte! Und die kleinen Schweißtropfen an seiner inzwischen nicht mehr so perfekten Frisur machten ihn irgendwie noch aufr egender und noch menschlicher. Was sie noch mehr verwirrte als Bentons Reaktion, war ihre eigene. Sie hätte niemals gedacht, dass sie so in der Öffentlichkeit tanzen könnte, ohne sich total lächerlich vorzukommen. Und noch dazu in einem Kleidungsstück, das eigentlich als Dessous zu bezeichnen war! Es war ein verzweifelter Schritt gewesen, um die Stimmung zu verändern. Womit sie nicht gerechnet hatte, war die Tatsache, dass sie es genoss!
Doch sie stellte fest, dass sie es herrlich fand, mit diesem gut aussehenden und überraschend unberechenbaren Mann zu tanzen. Und genauso herrlich fand sie es, dass sie ihn erregt hatte. Es gab ihr das Gefühl, sexy und begehrenswert zu sein. Ein Gefühl, das sie nicht kannte. Die Mandy, die sie während des Essens gewesen war, die Mandy, die ihn für sich hatte bestellen lassen und die an seinen Lippen gehangen hatte, war nur ge spielt gewesen. Aber die erschreckende Wahrheit war, dass diese Seite von Mandy nicht gespielt war; vielleicht war es ein Teil von ihr, den sie bisher noch nie entdeckt hatte. Als die Musik zu einem langsamen Stück wechselte, zog Benton sie wieder an sich. Sie wiegten sich im Takt, und sie schaute in seine Augen und hörte sich selbst leise den zweideutigen Text mitsingen. Als er mit den Händen von ihren Hüften glitt und ihren Po umschloss, entfuhr ihr ein leises Stöhnen. „Hm." Bentons heißer Atem strich an ihrem Ohr entlang, dann spürte sie seinen Kuss, als sein Mund zärtlich über ihren Hals glitt. Ein sinnlicher Schauer durchströmte ihren Körper, und sie wandte ihm ihr Gesicht zu. Der Kuss, den er auf ihre Lippen hauchte, war zart und flüchtig, allerdings sehr aufreizend. „Mehr", flüsterte sie impulsiv. Langsam' presste er seinen Mund auf ihren, und Mindy küsste ihn mit all der Leidenschaft, die sich anscheinend seit Jahren in ihrem Inneren angesammelt hatte. Ohne darüber nachzudenken, drang sie mit der Zunge in seinen Mund vor und spürte, wie zwischen ihnen die Funken sprühten. Das hier war falsch; sie wusste es. Ihr Verhalten war darauf ausgerichtet gewesen, ihn abzustoßen, nicht ihn zu verführen. Doch richtig und falsch schienen im Moment bedeutungslos, nur Bentons Mund, seine Hände und sein Körper schienen wichtig. Schwer atmend löste er sich von ihr. „Lass uns von hier verschwinden. Lass uns zu mir fahren." Aufhören! Sämtliche Alarmglocken in Mindys Innerem begannen zu schrillen und drängten sie, etwas zu tun, um die Situation wieder unter Kontrolle zu bringen. Dreh dich um und lauf! Lass ihn stehen und vergiss, dass es diesen Abend je gegeben hat. Lass Mindy die Sache ausbaden und Entschuldigungen finden. Nichts war wichtiger, als sofort zu verschwinden! Mindy legte die Hände auf seine breiten Schultern und trat einen Schritt zurück, doch Benton legte ihr zärtlich eine Hand in den Nacken und hie lt sie auf. „Benton, ich ..." Sie schaute in seine vor Verlangen funkelnden Augen und wusste nicht, wie sie ihm einen Korb geben sollte, wie sie es nach allem, was gerade geschehen war, erklären sollte. Als sie zögerte, strich er langsam und sanft mit den Fingerspitzen über ihr Schlüsselbein, bis er am Ansatz ihrer Brust innehielt. „Ja, Darling?" Sie schluckte, entschlossen, es noch einmal zu versuchen. „Ich ..." Dann senkte sie den Blick zu seinen Fingern und sehnte sich nach weiteren Berührungen. „Ich möchte mit dir ins Bett gehen."
4. KAPITEL Während der Fahrt zu Bentons Haus, die sie in angespanntem Schweigen zurücklegten, ertappte Mindy ihn gelegentlich dabei, wie er sie in der Dunkelheit des Wagens beobachtete. In seinen Augen lag ein Ausdruck von freudiger Erwartung und vielleicht auch ein kleiner Anflug von Angst, weil alles so schnell geschah. Natürlich hatte sie mehr als einmal das Gefühl, dass ihre innere Stimme ihr zurief: „Hör auf damit! Bist du verrückt?" Aber sie konnte im Moment nur an Benton denken und daran, wie sehr sie ihn begehrte. Hand in Hand rannten sie die Treppe zu seinem imposanten Haus hinauf, und Mindys Herz pochte laut. Als sie in die riesige Halle traten, schaute Benton sie an. In seinen Augen spiegelte sich das Feuer, das in ihrem Inneren loderte. „Möchtest du eine Führung durchs Haus?" Sie schüttelt den Kopf. „Nur durch dein Schlafzimmer." Wow, Mandy hatte wirklich kein Schamgefühl! Doch dieses unglaubliche Verhalten beschleunigte Mindys Puls noch zusätzlich, vor allem, als Benton ihr einen glutvollen Blick zuwarf, der besagte, dass er ganz ihrer Meinung war. „Hier entlang." Er führte sie eine geschwungene Treppe hinauf und einen dunklen, ele ganten Flur entlang und ließ dann ihre Hand los, um eine Flügeltür am Ende des Korridors aufzustoßen. Das riesige Eichenbett sah aus, als könnte man gut darin herumtollen. Mindy war noch nie sonderlich akrobatisch im Bett gewesen, doch sie hatte auf einmal das merkwürdige Gefühl, dass Mandy es sein könnte. Benton drehte sich zu ihr he rum und strich ihr sanft über das Gesicht. Versonnen erwiderte sie seinen Blick. Vielleicht hatte sie insgeheim ge dacht, dass die Fahrt von der Disco sie wieder zur Vernunft bringen würde, aber dem war nicht so. „Du bist schön." Seine tiefe, heisere Stimme umschmeichelte sie. „Benton ..." begann sie atemlos. Und dann, wie vorhin im Nachtclub, brach das Verlangen durch, wild und unkontrolliert, so dass sie keine Sekunde länger warten konnte. „Oh, Benton!" Sie schlang die Arme um seinen Hals und begann ihn leidenschaftlich zu küssen. Dann ging alles ganz schnell. Seine Küsse wurden immer begieriger, während er mit den Händen ihren Körper erkundete. Sie stöhnte, als er mit den Daumen über ihre Brüste strich, kämpfte dann mit seiner Krawatte und den Knöpfen an seinem Hemd. Gleichzeitig zog Benton ihr die Jacke über die Schultern. Die Hände um ihre Taille geschlungen, sah er auf das Bustier, das ihren Oberkörper umschloss. „Wie bekomme ich dich aus diesem Teil heraus?" „Von hinten." Sie wirbelte herum, um ihm die kleinen Haken zu zeigen, und bemerkte, dass sie sich in einem Spiegel sehen konnte, während Benton hinter ihr stand. Eine Sekunde lang begegneten sich ihre Blicke, bevor er begann, langsam und sinnlich ihre nackte Schulter zu küssen und gleichzeitig die Ösen öffnete. Kurz darauf lockerte sich das Bustier, fiel zu Boden und Mindy stand entblößt vor dem Spiegel. Voller Erwartung röteten sich Bentons Wangen, als er ihre Brüste betrachtete, und als er die Hände hob, um sie zu umschließen, schwanden auch die letzten Zweifel, die Mindy noch gehabt haben mochte. Sie begegnete Bentons Blick im Spiegel. „Jetzt." Ohne zu zögern, nahm er sie auf die Arme und trug sie zum Bett. Wie sich herausstellte, war Mindys erste Einschätzung des Möbelstücks richtig gewesen, denn sie rollten sich wild auf der Matratze herum, als sie sich damit abmühten, dem anderen die Sachen vom Leib zu reißen. Er zog ihr den Rock und den Slip aus, so dass sie nur noch die Strümpfe und Strapse anhatte. Mindy dagegen gab sich erst zufrieden, als er völlig nackt war. Benton bewegte seine Hände mit unvergleichlicher Kunst über ihren Körper, und sie schaute ihm die ganze Zeit in die Augen, gefesselt, als er den Blick erwiderte. Das Kostüm und das Bustier, die auf dem Teppich la gen, gehörten zu Mandy, genauso wie das blonde
Haar, von dem Mindy hoffte, dass es an seinem Platz blieb, selbst wenn sie ein wenig Akrobatik betreiben sollte. Als er eine Hand hob, um ihr Haar zu berühren, zuckte sie zurück. „Was ist? Habe ich dir wehgetan?" „Nein, nur . . ich bin ein bisschen nervös." Das war keine Lüge. Es gab wirklich eine Menge, was sie nervös machte, allerdings gehörte der Sex mit Benton nicht dazu. Er sah sie bewundernd an. „Dafür besteht kein Grund. Lass mich dich einfach verwöhnen." Und dann war er in ihr, und ihre Welt verwandelte sich und wurde viel wunderbarer, vollkommener als jemals zuvor. Es war, als hätte sie ein Teil von sich gefunden, das immer gefehlt hatte und dass sie jetzt zu einem Ganzen machte. Sie hatte sich auf ein gewagtes Spiel eingelassen, das war ihr bewusst. Aber im Augenblick zählte nur Benton, sein Körper, sein Mund, sein sinnliches Flüstern. Es gab nur noch Benton, der sie liebte. Stunden später erwachte Mindy. Sie drehte sich auf dem Kissen herum, um den sanften Gesichtsausdruck des Mannes zu studieren, der neben ihr schlief. Plötzlich schoss sie hoch. Was hatte sie getan? Okay, sie hatte wunderbaren, traumhaften Sex mit Benton gehabt. Drei Mal, um genau zu sein. Aber was hatte sie sich dabei gedacht? Sie war nicht sie selbst gewesen. Und dann fiel es ihr ein - sie war tatsächlich nicht sie selbst gewesen, sie hatte sich für jemanden ausgegeben, der gar nicht existierte. Sie warf einen Blick auf Benton und schluckte. Sie hatte mit diesem wunderbaren, leidenschaftlichen Mann geschlafen, und sie hatte ihn glauben lassen, sie wäre jemand anderes, jemand, den er lieben könnte. Es war schrecklich, das konnte sie nicht leugnen. Jetzt blieb ihr nur noch eins: verschwinden. Vorsichtig schlüpfte Mindy aus dem Bett, suchte ihre verstreuten Sachen zusammen und schlich ins Bad. Als Erstes rief sie per Handy ein Taxi, bevor sie sich hastig anzog und dann einen Stift und einen Block aus der Handtasche holte. Danke für einen wundervollen Abend schrieb sie. Dann schlich sie wieder ins Schlafzimmer legte den Zettel auf den Nachttisch und ging auf Zehenspitzen zur Tür. Noch einmal drehte sie sich um und betrachtete Benton. Sie wünschte, sie könnte zu ihm zurückgehen, zärtlich seine Wange küssen und sich auf angenehmere Weise von ihm verabschieden als mit solch einer albernen Notiz. Aber sie durfte ihn nicht wecken, also unterdrückte sie ihre Gefühle und schloss leise die Tür hinter sich. Die Sonne schien durch einen Spalt in der Gardine direkt auf Bentons Gesicht. Er brummte frustriert, drehte sich auf die andere Seite und streckte den Arm nach der aufregenden Frau an seiner Seite aus. Sein Arm landete im Leeren. Er öffnete die Augen und stellte fest, dass er tatsächlich allein im Bett war, so wie jeden Morgen. Er hatte die letzte Nacht nicht geträumt, oder? Nein. Sein Unterbewusstsein war nicht in der Lage, sich solche Freuden auszumalen. „Mandy? Wo bist du?" Wahrscheinlich im Bad. Doch er bekam keine Antwort, also rief er noch einmal, diesmal etwas lauter, weil er annahm, dass sie vielleicht zum Frühstücken in die Küche gegangen war. Den Morgenkaffee mit ihr zu teilen, war ein schöner Gedanke, doch er konnte keinen Kaffeeduft wahr nehmen. Und noch immer bekam er keine Antwort. Benton wollte gerade aufstehen, um nach ihr zu suchen, als er den Zettel auf seinem Nachtschrank erblickte. Es dauerte einen Moment, bis er das, was er da las, glauben und akzeptieren konnte. Sie war weg, und er war allein. Wie immer. Er verstand nur nicht, warum.
Benton starrte auf das Kissen neben sich und erinnerte sich an ihre ge meinsame Nacht. Als er mit den Händen über Mandys Körper geglitten war und ihr leises Stöhnen gehört hatte, war er an die sanfte und elegante Frau erinnert worden, mit der er gegessen hatte. Und als sie ihn im Bett auf den Rücken gedreht und sich rittlings auf ihn gesetzt hatte, konnte er nicht umhin, sich an Mandys unerwartete wildere Seite zu erinnern. Zu seiner großen Überraschung merkte er, dass er beide Seiten gleich gern mochte. Vielleicht sogar beide gleich liebte. Das ist zu schnell, ermahnte er sich. Viel zu schnell, um an dieses Wort überhaupt zu denken. Aber jegliche Angst, die er vor diesem Wort gehegt haben mochte, waren Überbleibsel aus seiner Jugend. Die Wahrheit war, dass er bereit war für die Liebe. Und Mindy hatte tatsächlich die ideale Frau für ihn gefunden, obwohl er schon geglaubt hatte, dass es sie gar nicht gab. Doch jetzt war sie weg. Sie hatte ihn verlassen. Er versuchte die Enttäuschung zu verdrängen und schaute auf die Uhr. Es war tatsächlich schon nach neun. Er hatte gestern Abend ganz vergessen, den Wecker zu stellen. In seinem Büro waren seine Mitarbeiter wahrscheinlich schon in heller Aufregung. Seufzend griff er nach dem Telefon und wählte. „Maxwell Group." „Ich bin es, Claudia." Die ältere Frau atmete erleichtert auf. „Freut mich zu hören, dass es Ihnen gut geht. Das tut es doch, oder?" „Ja, es ist alles in Ordnung." „Das wird ja langsam zu einer schlechten Gewohnheit." Es war der spielerische, schimpfende Ton einer Großmutter, doch Benton hatte nicht die Absicht, seine Unpünktlichkeit mit seiner Empfangsdame zu diskutieren, auch wenn sie noch so nett war. „Scheint so. Kann ich mit Miss Binks sprechen?" Kurz darauf meldete sich seine Assistentin: „Mr. Maxwell! Wie schön, von Ihnen zu hören. Ich habe mir schon Sorgen gemacht!" Die Gefühle, die er aus ihren Worten heraushörte, erhöhten seinen Frust noch zusätzlich. Nach der Nacht mit Mandy, in der er erlebt hatte, wie perfekt die Beziehung zwischen einem Mann und einer Frau sein konnte, fragte er sich, warum er jemals daran gedacht hatte, eine Beziehung mit seiner Assistentin anzufangen. Seine Stimme klang daher streng und geschäftsmäßig, als er erwiderte: „Kein Grund zur Sorge. Es ist alles in Ordnung. Ich bin nur ein wenig spät dran." „Wann werden Sie im Büro sein?" Benton dachte an das, was er noch vorhatte. „Frühestens in ein oder zwei Stunden." „Oh." Miss Binks klang enttäuscht. „Ich wollte mit Ihnen den Monatsbericht durchgehen." „Wissen Sie was?" meinte er. „Warum arbeiten Sie ihn nicht mit Malcolm durch?" Benton war zwar nicht in der Stimmung, jemanden zu verkuppeln, aber dieser Vorschlag würde ihm zumindest helfen, seine Assistentin auf Abstand zu halten. Ihr Zögern war deutlich. „Malcolm?" „Ja, er ist mit den Berichten bestens vertraut. Machen Sie mir anschließend bitte eine kurze Notiz über Ihre Diskussion." „Aber ich ..." Benton erwiderte nichts, weil er wusste, dass Miss Binks äußerst pflichtbewusst und kompetent war und sich schon wieder zusammenreißen würde, wenn er nicht intervenierte. Er hatte Recht. „Natürlich, Mr. Maxwell", sagte sie schließlich. „Sehr gut." Nachdem Benton aufgelegt hatte, schaute er noch einmal auf das leere Bett neben sich. Sofort kehrten seine Gedanken wieder zu Mandy zurück.
Er wusste, dass sie den Zauber der letzten Nacht genauso wie er gespürt hatte, und er würde sie nicht ohne eine Erklärung gehen lassen. Er wusste nicht, warum sie sich mitten in der Nacht aus seinem Bett geschlichen hatte, aber er würde es herausfinden. „Du hast was?" Janes Augen wurden beinahe so groß wie der Doughnut, in den sie gerade beißen wollte. Mindy hatte eigentlich nicht vorgehabt, Jane zu erzählen, was sie getan hatte, aber es zu verheimlichen, schien ihr auch sinnlos. Also war sie mit ihrer Geschichte herausgeplatzt, kaum dass ihre Freundin sich an ihren Schreibtisch gesetzt hatte. „Du hast richtig gehört. Ich habe mit ihm geschlafen." Jane sah sie kritisch an. „Na, das lehrt ihn natürlich, Frauen nicht länger in Schubladen zu stecken und in Stereotypen einzuteilen." Mindy wand sich verlegen. „Ich hatte gar nicht die Absicht, mit ihm zu schlafen. Es ist einfach so passiert." „Und du hast es nicht geschafft, dich so weit unter Kontrolle zu bringen, um zu verhindern, dass der Mann Sex mit einer Frau hat, die gar nicht existiert?" „Anscheinend nicht." Mindy sank tiefer in ihren Stuhl. Jane setzte sich auf. „Okay, zwei Fragen. Wie war es, und was wirst du jetzt tun?" „Die Erde bebte, und ich weiß es nicht." „Ich wusste, dass das Ganze idiotisch ist", schimpfte Jane. „Und dich wegzuschleichen löst deine Probleme auch nicht gerade. Er kennt sowohl deine Adresse als auch deine Telefonnummer." „Ja, das weiß ich, aber vorhin schien es mir die einzige Lösung zu sein." „Und er wird dich nicht einfach fallen lassen, wenn er so verrückt nach dir ist, wie du sagst." „Mandy", sagte Mindy. „Er ist verrückt nach Mandy. Nicht nach mir." Jane neigte den Kopf. „Ist da ein Unterschied?" Mindy breitete die Arme aus. „Da ist ein riesiger Unterschied. Mandy ist eine bizarre Mischung aus Doris Day und Madonna. Und ich bin einfach nur ich, die normale Mindy." „Na ja ...", Jane blickte aus dem Fenster, „... sieh nicht hin, aber dein Traummann kommt dich besuchen." Natürlich sah Mindy doch hin, und tatsächlich, Benton kam über die Straße genau auf ihr Geschäft zu' „Zu mir", sagte sie leise mehr zu sich selbst. „Er kommt zu mir, nicht zu Mandy." Sie hätte nie gedacht, dass es so schwer sein würde, ihre Identitäten auseinander zu halten. Das Herz klopfte ihr bis zum Hals, als sie ihn nach der Türklinke greifen sah. Hastig beugte sie sich über den Computer, doch als die Türglocke klingelte, schaute sie auf. „Benton", hauchte sie. „Maxwell", fügte sie verlegen hinzu. Mindy hatte Benton noch nie mit Vornamen angesprochen, und jetzt damit anzufangen, wäre äußerst verdächtig. Sie hustete und hielt sich die Hand vor den Mund, um ihren Patzer zu vertuschen. „Was kann ich für Sie tun?" „Es geht um Ihre Schwester." Er klang so ernst, dass Mindy Hoffnung schöpfte. Vielleicht war er wütend auf Mandy, dass sie ihn verlassen hatte. Vielleicht hatte er sich daran erinnert, dass er keine wilde Frau wollte, die ihre Dessous zur Schau stellte. Vielleicht war er hier, um sich zu beschweren und sein Geld zurückzufordern. Ermutigt von diesen Gedanken, setzte Mindy ihr Pokergesicht auf. Es war viel einfacher, sich mit dem Mann zu streiten, als ihn anzuhimmeln. „Lassen Sie mich raten. Sie gefällt Ihnen auch nicht." Er schüttelte leicht den Kopf. „Nein, das ist es nicht. Im Gegenteil, ich bin verrückt nach ihr." Mindys Herz klopfte heftig, aber sie versuchte gelassen zu bleiben. „Oh." „Genau genommen ist sie das Beste, was mir je passiert ist", erklärte er feierlich.
Wow! Mindy wusste nicht, was sie davon halten sollte. Bilder von ihrer gemeinsamen Nacht tauchten vor ihren Augen auf. „Tatsächlich? Ich meine, so schnell?" Er nickte. „Erstaunlich, ich weiß. Aber ich muss mich wohl bei Ihnen entschuldigen. Ich habe Sie falsch eingeschätzt. Sie wissen wirklich, was Sie tun. Schließlich haben Sie mich mit Mandy zusammengebracht." Mindy stockte fast der Atem, doch dann sprach sie hastig weiter, weil sie ihn so schnell wie möglich aus ihrem Büro haben wollte. Dann konnte sie in Ruhe weinen oder vielleicht mit dem Kopf gegen die Wand schlagen. „Also kann man sagen, Ende gut, alles gut. Das ist doch wunderbar. Ich gratuliere und wünsche Ihnen viel Glück." „Aber es gibt ein Problem." Sie blinzelte. Wieder und wieder. Oh nein, sie konnte gar nicht mehr aufhören zu blinzeln. „Ein Problem?" Benton sah zu Jane, die ihren Doughnut auf den Schreibtisch gelegt hatte und so tat, als würde sie eine Akte durchsehen, obwohl ihre Hände voller Zuckerguss waren. Dann kam er ein wenig näher zu Mindy heran und senkte die Stimme. „Mandy hat sich mitten in der Nacht aus meinem Haus fortgeschlichen." Mindy sah ihn an und blinzelte erneut. Er beugte sich ein wenig vor und schien verwirrt. „Alles in Ordnung bei Ihnen?" „Nur ...", sie zeigte auf ihr Auge, „... ein Fussel oder so. Wird gleich wieder okay sein." „Na ja, wegen Ihrer Schwester. Sie und ich sind zu mir gefahren und dann ..." „Sie hat mich heute Morgen angerufen", platzte Mindy heraus. Sie wür de nicht zuhören, wie Benton alles ausplauderte, was er mit Mandy ... mit ihr ... getan hatte. „Tatsächlich? Was hat sie gesagt?" Sie hat gesagt, dass sie ihre Meinung geändert hat. Sie glaubt, es war alles ein Fehler. Sie will dich nicht wieder sehen. Mindy fand, all diese Aussagen wären genau das, was sie eigentlich sagen müsste, doch so sehr sie sich auch bemühte, aber sie bekam sie nicht über die Lippen. Benton sah so lieb und hoffnungsvoll aus. Und ihr Herz klopfte so schnell. Sie brachte es nicht über sich, seine Hoffnungen zu zerstören. Es musste seine eigene Entscheidung sein - er musste selbst herausfinden, dass Mandy nicht die Richtige für ihn war. Er musste sie selbst wieder aus seinem Leben verbannen. „Sie sagte, dass sie Angst bekommen hat", erwiderte Mindy schließlich. „Sie hat sich geschämt." „Geschämt?" Eine leichte Röte überzog Mindys Wangen, als sie ihn unter züchtig niedergeschlagenen Wimpern ansah. „Normalerweise geht sie nicht so weit, ... nicht bei der ersten Verabredung." Auch Benton errötete ein wenig. „Sie braucht sich nicht zu schämen. Alles war ... ausgesprochen gegenseitig, wenn Sie wissen, was ich meine." Oh ja, das wusste sie. Bevor sie darauf antworten konnte, lächelte er sie an. „Danke, Mindy." Damit drehte er sich um und wollte, wie sie fand, ziemlich abrupt gehen. „Danke? Wofür?" Er blieb stehen. „Dass Sie mir von Mandys Gefühlen erzählt haben. Das erklärt alles." „Was ... was haben Sie denn jetzt vor?" „Ich werde sie heute Abend anrufen und die Sache bereinigen." Mindy blinzelte wieder. „Dann wollen Sie sie also wieder sehen?" Erstrahlte. „Oh ja, auf jeden Fall." Benton griff nach der Türklinke. „Ich hoffe, Ihrem Auge geht es bald wieder besser." Mindy nickte benommen und sah dem Mann nach, mit dem sie vor licht einmal zwölf Stunden geschlafen hatte. Jane drehte ihren Stuhl herum und funkelte sie wütend an. „Hast du den Verstand verloren?"
„Ja, vielleicht?" antwortete Mindy unsicher. Sie seufzte tief auf und ließ den Kopf hängen. „Jane, ich konnte ihm nicht wehtun. Hast du den Aus druck in seinen wundervollen Augen gesehen?" „Ja, das habe ich. Ihn hat es ganz schön erwischt. Da hast du dir ja verdammt viel Ärger eingehandelt." „Ich weiß", klagte Mindy. „Du könntest ihm natürlich die Wahrheit sagen." Mindy schoss hoch. „Die Wahrheit?" Das war undenkbar. „Hast du jetzt den Verstand verloren?" „Vielleicht wird er es verstehen. Dann könnt ihr glücklich bis an euer Lebensende zusammenleben." Sie schüttelte vehement den Kopf. „Auf keinen Fall. Erstens will er Mandy, nicht mich. Zweitens habe ich das schlimmste aller Verbrechen begangen, das eine Partnervermittlerin begehen kann. Ich kann ihm nie mals die Wahrheit sagen." Sie fühlte sich fürchterlich, trotzdem glaubte sie, aus dem Ganzen unbeschadet herauszukommen. Mehr oder weniger. Die Erinnerungen an ihre gemeinsame Nacht würden bleiben. Und das Wissen, dass sie die Frau seiner Träume hätte sein können - wenn sie nicht solch eine verrückte Lügnerin wäre. Aber all das war zweitrangig im Vergleich zu ihrem Selbsterhaltungstrieb, der ihr riet, dieses Dilemma zu lösen, ohne ge genüber Benton zuzugeben, dass sie etwas falsch gemacht hatte. Und da sie ihm wirklich nicht wehtun wollte, musste er selbst entscheiden, dass er Mandy nicht wollte. Also hob Mindy die Hände. „Warte, hör zu. Ich habe einen Plan." Jane verdrehte die Augen. „Ich hoffe, er ist gut." „Ich muss einfach nur die Anti- Anti-Mandy sein." Jane überdachte Mindys Worte. „Anti-Anti? Theoretisch müsstest das dann ... du sein. Du weißt doch, minus mal minus ergibt plus." Mindy schüttelte verärgert den Kopf. „Ich meine damit, dass ich noch schlimmer als die wild tanzende Frau von gestern Abend sein muss, schlimmer als die Verführerin, die ihm gesagt hat, dass sie mit ihm ins Bett gehen will." Jane hob entsetzt die Augenbrauen. „Das hast du getan? Du hast ihn tatsächlich gefragt, ob ..." „Wechsle jetzt nicht das Thema. Ich muss einfach Sachen anstellen, die ihn noch mehr in Verlegenheit bringen. Er muss sich schrecklich über mich ärgern. Dann will er nichts mehr mit Mandy zu tun haben wollen, und das Leben wird normal weitergehen." „Und? Hast du auch schon eine Idee, was das für schreckliche Dinge sein sollen?" In Mindys Kopf wirbelten verschiedene Möglichkeiten herum. „Na ja, ich habe sie noch nicht bis ins Detail geplant, aber vertrau mir, es wird das optimale Abschreckungsprogramm sein."
5. KAPITEL Benton schaute von dem Finanzbericht in seiner Hand auf die Uhr auf seinem Schreibtisch, einem viel zu teuren Weihnachtsgeschenk von Miss Binks. Es war zehn nach sechs, höchste Zeit für seine Assistentin, nach Hause zu gehen. Doch Benton wusste, dass sie noch da war, denn sie verabschiedete sich immer, bevor sie ging, und fragte stets, ob es noch etwas zu erledigen gäbe. Sie war in letzter Zeit mutiger geworden, nachdem sie neulich zum ersten Mal in der Besprechung seinen Ärmel berührt hatte, und ihre bewundernden Blicke waren noch eindringlicher geworden. Die Tatsache, dass sie Überstunden machte, obwohl alle anderen schon gegangen waren, gab ihm das Gefühl, ihr ausgeliefert zu sein. Vielleicht bemerkte er ihre Aufmerksamkeiten nur deshalb, weil er in letzter Zeit ein sehr viel feineres Gespür für all die Frauen in seinem Le ben entwickelt hatte. Es war ja auch nahezu unmöglich gewesen, nicht zu bemerken, wie Anita und Kathy, die ersten beiden von Mindys Kandidatinnen, auf ihn reagiert hatten, nämlich mit völliger Abneigung. Mandy dagegen war genauso wild auf ihn gewesen wie er auf sie, und seine Unterhaltung mit Mindy heute Morgen hatte das bestätigt. Die Partnervermittlerin selber dagegen war irgendwo in der Mitte einzuordnen. Manchmal glaubte er, sie hasste ihn, dann wieder schien es so, als mochte sie ihn. Dann gab es Momente, so wie heute, da war sie in seiner Gegenwart nervös, was völlig im Gegensatz zu seinem ersten Eindruck von ihr stand. Merkwürdig. Nicht, dass er sich in seinen Gedanken sonderlich mit ihr beschäftigte. Es gab schließlich keinen Grund, warum er an den kleinen Rotschopf mit dem feurigen Temperament und dem ernsthaften Augenproblem denken sollte. Nein, seine Gedanken wurden einzig von ihrer wunderbaren Schwester beherrscht. Sobald Miss Binks endlich gegangen war, wollte er Mandy anrufen. Er hätte auch seine Bürotür schließen und damit Miss Binks zu verstehen geben können, dass er sie heute nicht mehr brauchte, aber er wollte sich ganz auf das Telefongespräch konzentrieren. Er wollte Mandy erklären, dass sie keine Angst zu haben brauchte, dass nichts, was sie gestern Abend getan hatte, ihn in irgendeiner Weise gestört hatte. Was zwar erstaunlich, aber zutreffend war. Es beunruhigte ihn, dass sie mitten in der Nacht aus seinem Haus geeilt war und sich Sorgen über ihr Verhalten ge macht hatte. Er musste das Missverständnis aufklären, damit sie ihre Beziehung fortsetzen konnten. „Mr. Maxwell." Benton schaute auf und sah Miss Binks im Türrahmen stehen. Es war nicht direkt eine verführerische Pose, aber wie sie da in der Tür lehnte, eine Hand auf der Hüfte, sah sie entspannter aus als sonst. Er befürchtete, dass sie schon einige Zeit dort gestanden und ihn beobachtet hatte. Die Dinge gerieten langsam außer Kontrolle. „Miss Binks, Sie arbeiten heute aber lange." Sie senkte den Blick und meinte zögernd: „Es gibt da etwas, was ich gern mit Ihnen besprechen würde." Es waren weniger die Worte, die Benton in Alarm versetzten, als vielmehr ihr Blick, als sie ihn wieder anschaute. Nicht unbedingt verführerisch, aber nahe dran. Er konnte nicht zulassen, dass sie ihre berufliche Zusammenarbeit gefährdete, indem sie ihre wahren Gefühle für ihn offenbarte. Also wandte er sich dem Computer zu. „Leider bin ich im Moment sehr beschäftigt und erwarte zudem noch jeden Moment einen wichtigen Anruf. Wir müssen das auf ein anderes Mal verschieben." Das war zwar ein wenig kühl, aber wohl kalkuliert gewesen. Und Miss Binks war besser als jeder andere mit seinen Launen vertraut, wenn er sich in irgendeine geschäftliche Angelegenheit vertieft hatte. Normalerweise fügte sie sich solch einer Aussage und ging, doch heute, das spürte Benton ohne aufzusehen, blieb sie in der Tür stehen und himmelte ihn an. „Wenn Sie noch länger
arbeiten wollen, soll ich Ihnen dann etwas zu essen besorgen?" fragte sie. „Nein danke, Miss Binks. Warum gehen Sie nicht heim? Ich wünsche Ihnen einen schönen Abend." Er vermied es, sie anzusehen, und begann, Unsinn in seinen Computer einzugeben, damit er beschäftigt aussah. „In Ordnung, Mr. Maxwell", meinte sie seufzend. Sie zögerte nur noch kurz, bevor sie schließlich ging. Als er den Fahrstuhl hörte, war er erleichtert, endlich allein zu sein. Er hätte gern Mitleid mit Miss Binks gehabt, doch er war so sehr darauf aus, die Sache mit Mandy wieder ins Reine zu bringen, dass er keinen weiteren Gedanken an seine Assistentin verschwendete. Er nahm das Telefon und wählte. „Hallo?" Die vertraute, fröhliche Stimme war wie Musik in seinen Ohren. „Mandy." Er sprach mit tiefem, entschlossenem Ton. „Hier ist Benton." „Oh, Benton. Es tut mir so Leid wegen gestern Abend." „Es tut mir Leid, dass du gegangen bist. Aber alles andere, was gestern geschehen ist, tut mir nicht Leid, und ich hoffe, dir auch nicht." Er hörte, wie sie am anderen Ende der Leitung nervös schluckte. „Es ist nur so ... ich habe mich so wegen meines Verhaltens geschämt. Und nicht, weil ich mit dir ins Bett gegangen bin, sondern auch wegen meines Verhaltens in der Disco. Ich bin sonst nicht so." „Nein?" „Es muss am Wein gelegen haben. Und am Drink hinterher. Ich war wohl ein wenig beschwipst, fast so, als wäre ich ... jemand anderes." Sie hustete und klang, als ob sie sich verschluckt hatte. „Alles in Ordnung?" „Ja, ja, ich bin okay." „Pass auf, nichts, was du gestern getan hast, ändert etwas daran, was ich für dich empfinde." Ihre Stimme klang ein wenig höher als sonst. „Und das wäre?" „Ich habe es dir doch heute Nacht gesagt", erinnerte er sie neckend und musste lächeln. „Mehrmals sogar. Weißt du es nicht mehr?" „Na ja, ich war wirklich beschwipst." Benton fand ihre Offenheit unglaublich süß. „Ich bin verrückt nach dir, Mand y. Und ich kann es nicht erwarten, dich wieder zu sehen." „Oh. Ich verstehe." „Du klingst nervös." „Nein. Es ist nur so, dass ich ... dass ich ..." Er dachte schon, sie würde ihren Satz gar nicht beenden, doch schließlich seufzte sie und meinte: „Benton, die Wahrheit ist, dass ich ebenfalls ganz verrückt nach dir bin!" Mindy dachte verzweifelt über ihr letztes Telefonat mit Benton nach, während sie vor dem Spiegel stand und ihre Perücke zurechtzupfte. Sie hatte überhaupt nicht vorgehabt, ihm zu sagen, dass sie verrückt nach ihm war. Genauso, wie sie nicht mit ihm hatte schlafen wollen. Anscheinend war es in seiner Gegenwart nicht besonders gut um ihre Selbstbeherrschung bestellt. „Aber jetzt ist Schluss damit", versprach sie sich selbst. „Heute wird Benton den Tag bereuen, an dem er angefangen hat, mir zu vertrauen. Und ich werde mich ganz sicher an den Plan halten." Wie ein Mantra wiederholte sie immer wieder: „Ich werde mich an den Plan halten." Genau so, wie Jane es ihr eingeschärft hatte. „Weißt du, was die letzten drei Male passiert ist, als ich mich nicht an meinen Plan gehalten habe?" hatte Jane sie gefragt. Schon ein wenig eingeschüchtert, hatte Mindy den Kopf geschüttelt. „Ich habe drei Kinder gekriegt, das ist dabei herausgekommen. Ich liebe sie alle, aber sie
haben unser Leben völlig verändert, bevor wir bereit dazu waren. Möchtest du so enden?" „Benton hat ein Kondom benutzt", warf Mindy hastig ein. Jane verdrehte die Augen. „Ich habe das im übertragenen Sinne ge meint." „Alle drei Male", fügte Mindy hinzu und hätte sich dann am liebsten auf die Zunge gebissen. Jane schaute sie geschockt an. „Drei Mal? Wer ist er? Superman?" Mindy zuckte mit den Schultern. „Keine Angst, heute wird es nicht dazu kommen." Und das wird es auch nicht, versprach sie sich jetzt, auch wenn sie das aufreizendste Kleidungsstück trug, das sie besaß. „Aber dafür gibt es einen Grund!" rief sie und zeigte mit dem Finger auf ihre Katze, als wenn Venus sie mit Anschuldigungen bombardiert hätte. Himmel, langsam drehte sie wirklich durch. Das enge Kleid war aus hautfarbenem Stretchmaterial gefertigt. Sie hatte es damals erstanden, als sie zu Janes Halloweenparty als Marilyn Monroe gegangen war. Als Mandy musste sie häufig in ihrer Verkle idungskiste stöbern, da Mindy nicht so ausgefallene Kleidung trug, wie ihre angebliche Zwillingsschwester. Dieses Kleid war völlig ungeeignet für ein Essen in einem vornehmen Restaurant, doch es war ein Teil ihres Plans, der darauf abzielte, dass sie sich Mut antrank, um dann schreckliche Dinge tun zu können, die ihr unter normalen Umständen peinlich wären. Sie hatte Benton am Telefon gesagt, dass ihr gestriges Verhalten völlig untypisch für sie gewesen war, und sie hoffte, dass das, was sie heute tun wollte, damit umso schockierender für ihn sein würde. Seine tiefe, wohlklingende Stimme hatte dazu geführt, dass sie weich geworden war und als Mindy reagiert hatte. Das war schlecht. Sehr schlecht sogar. Sie musste lernen, diese beiden Persönlichkeiten auseinander zu halten. Als es an der Tür klingelte, zuckte Mindy zusammen. Und auch Venus schrak auf, sprang vom Bett und raste aus dem Zimmer. Verflixt. Das fehlte ihr gerade noch. Die Katze riss aus, während draußen ihr katzenhassender Freund wartete. Plötzlich kam ihr eine Idee. Sie hatte eine Katze, und sie wollte Benton vergraulen. Wieso hatte sie so lange gebraucht, zwei und zwei zusammenzuzählen? Venus auf hohen Absätzen hinterher zu jagen war nicht so einfach, zumal Benton bereits zum zweiten Mal ungeduldig klingelte, aber als sie die Tür eine Minute später öffnete, hatte sie ihre Katze im Arm. Benton riss entsetzt die Augen auf. „Du hast eine Katze", meinte er vorwurfsvoll. Sie neigte den Kopf und zuckte mit den Schultern. „Mir scheint, die Katze ist sozusagen aus dem Sack." Sie kicherte ein wenig. „Mindy hat mir erzählt, was du von Katzen hältst, deshalb war Venus beim ersten Mal im Schlafzimmer versteckt." „Venus?" „Die Göttin der Liebe", erklärte sie und trat zurück, um Benton hereinzulassen. „Ich fand, es ist ein perfekter Name für eine Katze, die einer ...", sie blinzelte nervös, „... einer Frau gehört, deren Schwester Partnervermittlerin ist." Du meine Güte, fast hätte sie alles verraten. Benton blinzelte ebenfalls, und Mindy fragte sich schon, ob es wohl ansteckend war. Sie fuhr hastig fort. „Mindy hat sie mir geschenkt, verstehst du, also macht es Sinn, oder?" Zu ihrer Überraschung grinste Benton. „Na ja, ich vermute, es gibt keine Göttin der Empfangssekretärinnen, also macht es absolut Sinn." Automatisch erwiderte sie sein Lächeln. Was ging hier vor? Hasste er Katzen etwa nicht mehr? Und was war mit ihrem aufreizenden Kleid? Warum bemerkte er nicht, wie unpassend sie angezogen war? „Also, meinst du, du kannst mit jemandem ausgehen, der eine Katze besitzt? Denn wenn nicht, habe ich wirklich Verständnis dafür. Ein Mensch hat schließlich seine Grenzen." Nicht dass sie welche hätte. Aber Mindy hatte noch nie jemanden getroffen, der so offensichtlich Grenzen setzte wie Benton.
Trotzdem zuckte er nur mit den Schultern. „Sicher, warum nicht?" Dann streckte er die Hand aus, um Venus hinter den Ohren zu kraulen. So einfach war die Sache mit der Katze? Das ergab doch keinen Sinn. Doch da Venus sich als ungeeignetes Mittel zur Abschreckung entpuppt hatte, setzte Mindy sie wieder auf den Boden und lenkte damit Bentons Aufmerksamkeit auf ihr Kleid. Zurück zu meinem Plan, ermahnte sie sich. „Du siehst umwerfend aus", bemerkte Benton. Mindy blinzelte wieder. „Findest du?" Er ließ den Blick bewundernd über ihren Körper gleiten und nickte dann so vehement, dass sie eine Gänsehaut bekam. „Mir war heute nach etwas Waghalsigem zu Mute. Aber ich fürchtete schon, es wäre etwas zu auffällig für das, was wir vorhaben." Er hatte nicht erwähnt, wohin er sie ausführen wollte, doch sie wusste instinktiv, dass dieses Kleid für alle Örtlichkeiten, die Benton mit seiner Anwesenheit beehrte, ungeeignet wäre. Doch wieder zuckte er nur mit den Schultern. „Ich finde, du siehst toll aus. Das würde jeder Mann denken." In dem Moment wurde Mindy etwas bewusst. Sie hatte einen riesigen Fehler begangen: Sie hatte vergessen, dass sie es mit einem Mann zu tun hatte! Jede Frau, die bei Verstand war, würde wissen, dass sie albern aussah. Aber die meisten Männer, anscheinend sogar Benton mit seinem ausgezeichneten Geschmack, sahen nur, wie sinnlich ihre Figur wirkte. Und das hieß, dass sie sich völlig unnötig so aufgedonnert hatte! Beruhige dich, ermahnte sie sich. Bleib bei deinem Plan. Und der sah vor, dass sie ein paar Drinks zu sich nahm, um ihre Hemmungen abzubauen. Und dann würde sie weitersehen. „Lass uns gehen", meinte sie. „Auf die Romantik", sagte Benton und hob sein Glas. Mindy starrte ihn an, während sie ebenfalls ihr Glas hob. Bentons blaue Augen funkelten im Kerzenlicht. Wenn sie ihn nur nicht so begehren wür de! „Auf die Romantik." Die sie nicht haben konnte. Jedenfalls nicht mit ihm. Sie musste endlich aufhören, ihn mit den Augen zu verschlingen. Natürlich wäre alles viel einfacher, wenn es so laufen würde, wie sie es wollte. Erst war die Sache mit der Katze fehlgeschlagen, dann die mit dem Kleid. Sämtliche Männer im Restaurant hatten es bemerkt, und das machte Benton stolz wie einen Pfau. Mindy trank ein halbes Glas Wein auf einmal aus. Es wurde Zeit, dass sie die Sache in Gang brachte, und wenn sie sich undamenhaft benahm, würde das Benton hoffentlich endlich die Augen öffnen. „Wie ist der Wein?" Er lächelte sie an. „Köstlich." Sie nahm noch einen großen Schluck. „Tolles Zeug." In dem Moment kam der Oberkellner an den Tisch. Er schaute Mindy unsicher an, als er eine schwarze Strickjacke hinter dem Rücken hervorholte. „Entschuldigen Sie, Madam. Möchten Sie vielleicht eine Jacke aus leihen, während Sie essen?" Sein Blick verriet Verachtung. Wahrscheinlich hatte er anfangs geglaubt, sie wäre nackt, als sie hereinspaziert gekommen war. Endlich ein Mann, der erkannte, wie fehl am Platze sie war! Hier bot sich eine Gelegenheit, die sie beim Schopf packen musste. „Möchten Sie vielleicht einen Schlag auf die Nase bekommen?" erwiderte sie. Der Oberkellner machte einen Schritt rückwärts, und Benton zuckte zusammen. Hatte Mandy tatsächlich gedroht, den armen Mann zu schlagen? Offensichtlich hatte sie zu viel Wein getrunken. Doch er würde nicht zulassen, dass der Oberkellner sie beleidigte. Benton bemühte sich, seine Überraschung zu verbergen, bevor er den Mann ansah und mit ruhiger, aber fester Stimme antwortete: „Die Dame sieht heute Abend ausgesprochen reizend aus. Sie braucht keine Jacke." Der Mann schien angemessen beeindruckt von Bentons Ton. „Natür lich nicht, Sir. Entschuldigen Sie."
Benton nickte kurz, als der Oberkellner sich umdrehte und davonging. Er kam sich fast grausam vor; schließlich verstand er, dass der arme Mann nur seinen Job tat, und er schätzte Restaurants mit gewissen Standards. Es hatte schon seine Gründe, warum er keine FastfoodRestaurants oder Bars frequentierte - ihm gefiel ein vornehmes Ambiente, und er nahm an, das traf auch auf die Aufmachung der Gäste zu. Und doch hatte er einen unerklärlichen Drang verspürt, Mandy zu beschützen. Selbst wenn sie sich manchmal etwas ausgefallen verhielt, fand er, dass sie unterhaltsam und aufregend war, ganz zu schweigen davon, dass sie in diesem eng anliegenden Kleid einfach umwerfend aussah. Allein ihr Anblick versetzte ihn in Erregung. Dieses Kleid zu bedecken wäre ein Verbrechen gewesen. Er beugte sich vor. „Ich hoffe, dass dich das nicht in Verlegenheit gebracht hat." Was ist jetzt schon wieder passiert? dachte Mindy. Sie hatte gedroht, einen Mann zu schlagen, und Benton war nicht böse? Himmel, es war schon schlimm genug, dass sie es nicht schaffte, ihm zu missfallen. Jetzt verspürte sie auch noch den dringenden Wunsch, ihn zu küssen, weil er so unglaublich nett und zuvorkommend war. Sie hätte nie gedacht, dass Benton Maxwell so schwer zu verärgern sein würde. „Nein", sagte sie benommen. „Aber danke, dass du mich verteidigt hast." Er hob eine Augenbraue. „Es hatte ganz den Anschein, als könntest du das auch allein." Und das amüsierte ihn? Sie konnte es immer noch nicht glauben, dass es ihm nichts ausmachte, mit einer nur spärlich bekleideten Frau auszugehen, die sich mit dem Oberkellner anlegte. „Ich brauche noch mehr Wein", entschied sie. Drei Gläser später - vielleicht auch vier, aber wer zählte schon -schwankte Mindy immer noch zwischen ihren beiden Persönlichkeiten. Als Benton begann, ihr mehr von seiner Familie zu erzählen und wie sehr er sie vermisste, plauderte sie ebenfalls mehr von sich selbst aus, als sie wollte. Und als er kurz darauf erklärte, dass er sich eine eigene Familie mit mehreren Kindern wünschte, wusste Mindy, dass er sie mit ihr wollte - er war da ziemlich offen. Jetzt wäre also ein guter Zeitpunkt für Mandy, um ihm zu sagen, dass sie bei ihrer ersten Verabredung gelogen hatte, als sie erklärt hatte, sie wäre gern Mutter, ein guter Zeitpunkt, um ihm mitzuteilen, dass sie diese Verantwortung nicht übernehmen wolle, doch sie brachte die Worte nicht über die Lippen. Insgeheim wünschte Mindy sich nichts sehnlicher, als zusammen mit Benton und zwei oder drei wundervollen Kindern in seinem Haus zu leben. „Natürlich hast du es damit vielleicht nicht so eilig wie ich, da du deine Familie ja noch in der Nähe hast", meinte er schließlich. Sie war dankbar für die Wendung des Gesprächs. „Ja, meine Mutter lebt am anderen Ende der Stadt." „Und dann ist da noch Mindy", erinnerte er sie. „Oh ja." Wie konnte sie nur ihre geliebte Zwillingsschwester vergessen? „Seid ihr zwei euch nahe?" Mindy griff nach dem Weinglas und trank einen großen Schluck. „Sehr." „Ihr scheint so verschieden." „Nicht immer. Aber manchmal..." Sie verzog das Gesicht und erinnerte sich, dass sie anfangs behauptet hatte, sie hätte mit Mindy nichts gemeinsam. Verflixt! Sie musste besser aufpassen. Glücklicherweise lachte Benton. „Keine Angst ich verstehe, wie das mit Geschwistern ist. Es ist manchmal so eine Art Hassliebe." „Genau! Manchmal sind Mindy und ich uns so ähnlich, dass es fast so scheint, als wären wie eine Person. Und dann gibt es Zeiten, da hat sie wohl das Gefühl, dass sie mich gar nicht kennt." Benton nickte, offensichtlich interessiert. Mindy merkte, dass sie zu viel redete. Sie musste
aufhören, bevor sie zu viel preisgab. „Wollen wir ge hen?" fragte sie ablenkend. „Gern." Er winkte dem Kellner zu, beglich die Rechnung und kam zu ihr, um ihr beim Aufstehen zu helfen. Mindy war entsetzt, als sie merkte, dass ihre Knie nachgaben. Sie hatte das überwältigende Gefühl, sich an Benton klammern zu müssen, zum einen, weil sie traurig war, dass sie nicht zusammenbleiben konnten, vor allem aber, um sich zu stützen. Sie hatte wohl ein bisschen zu viel Wein getrunken. Gern hätte sie ihm die Wahrheit gesagt, so wie Jane ihr geraten hatte, aber sie brachte es nicht über sich. Es war einfach zu beschämend, und sie wollte diesen Mann, der echte Gefühle für sie - besser gesagt, für ihre imaginäre Zwillingsschwester - hegte, nicht wehtun. Er hielt ihre Hand, als sie durch das Restaurant in das Foyer gingen. Mindy konzentrierte sich auf jeden Schritt, eifrig darauf bedacht, mit ihren hohen Absätzen nicht umzuknicken. Das gelang ihr auch, bis Benton zärtlich mit dem Daumen über ihren Handrücken strich und ihr ins Ohr flüsterte: „Ich dachte, wir könnten vielleicht zu mir fahren." In dem Moment stolperte Mindy und fiel der Länge nach auf den Boden. Sie hörte, wie mehrere der Umstehenden nach Luft schnappten. Es war beschämend, doch Mindy erkannte auch das Positive an der ganzen Sache. Sie hatte Benton schockieren wollen, oder nicht? Nun, das war ihr jetzt wohl gelungen. „Mandy! Bist du okay?" Sie hob den Blick und bemerkte, dass Ben ton neben ihr kniete und sie besorgt ansah. Oh, Himmel, jetzt war er auch noch voller Verständnis! Als wäre das alles nicht schon schlimm genug, kam jetzt auch noch ein Hotelangestellter herbeigeeilt und fragte: „Ist alles in Ordnung, Miss? Sind Sie verletzt? Soll ich einen Krankenwagen rufen?" „Verflixt, nein", zischte sie und hob den Kopf. „Ich bin nur betrunken, nicht verletzt." „Du bist ziemlich hart gefallen." Benton streichelte ihr zärtlich die Schulter. „Bist du sicher, dass alles okay ist?" „Ja", erwiderte sie, obwohl ihr ganzer Körper wund war, und sie bestimmt Schwierigkeiten beim Aufstehen haben würde. Sie kam auf Hände und Knie und nahm an, dass sie von hinten wahrscheinlich einen ziemlich gewagten Anblick bot, aber was machte das jetzt noch? Benton war viel zu besorgt um sie, um zu bemerken, wie lächerlich sie sich vorkam. Leise meinte sie: „Du wirst dich hier nie wieder blicken lassen können." Er half ihr beim Aufstehen und zwinkerte ihr zu. „Doch, doch. Ich besitze viel Geld." Mindy war noch nie in ihrem Leben so froh gewesen, ein Restaurant zu verlassen. Die frische Abendluft belebte sie wieder und half ihr, die Be schämung ein wenig zu überwinden. Du hast das doch gewollt, erinnerte sie sich. „Na, was meinst du?" fragte Benton. Sie schaute in seine Augen und hatte keine Ahnung, wovon er redete. „Was?" „Wollen wir zu mir?" Gerade diese Einladung war es, die sie ins Stolpern gebracht hatte. Sie biss sich auf die Lippen und seufzte. Zu ihm zu fahren klang so ve rlockend. Sie könnte ihren zerschundenen Körper ein wenig ausruhen und dann ... „Ich könnte dir den Rücken massieren", flüsterte er, als könnte er ihre Gedanken lesen. „Vielleicht könnten wir sogar ein entspannendes Bad zusammen nehmen, dann könnte ich dich ins Bett tragen und ..." „Nein!" rief sie. Benton wirkte überrascht und etwas enttäuscht. „Nein?" Sein Gesichtsausdruck brach ihr das Herz. „Na ja, so war es auch wieder nicht gemeint. Ich meinte, wir könnten doch auch noch einen Spaziergang durch die Stadt machen, so wie wir es eigentlich beim letzten Mal tun wollten." Seine Miene hellte sich auf, und Mindy durchzog eine wohlige Wärme. „Vielleicht wäre es
wirklich ganz gut für dich, wenn wir ein Stück laufen, damit deine Muskeln nicht steif werden nach dem Fall eben." „Ja, das habe ich auch gedacht", log sie, als sie vom Restaurant weggingen. „Wir wäre es, wenn wir zum Fountain Square gingen und die Kutschfahrt machen, über die wir neulich gesprochen haben?" Wieder erfüllte dieser Vorschlag Mindy mit unendlicher Zuneigung und Erwartung. Doch eine rosafarbene Neonreklame erregte ihre Aufmerksamkeit und erinnerte sie an ihren Plan. „Oder wie könnten hier hineingehen", meinte sie und blieb vor Cincinnatis einzigem Sexshop stehen. Ha, jetzt hatte sie ihn! Keine Frau, die Benton Maxwell heiraten wollte, würde sich jemals in solch einem Laden erwischen lassen, genauso wenig wie Benton selbst. Er war ein bekannter Geschäftsmann, er hatte einen guten Ruf zu verlieren, und in einem Sexshop gesehen zu werden käme einem beruflichen Selbstmord gleich. Als Mindy vorsichtig vom Schaufenster zu Benton blickte, musterte er sie skeptisch. „Du willst hier hinein?" Ihr Plan zeigte endlich Wirkung! Jetzt musste sie ihn nur noch durchziehen. „Ja, Be nton, das will ich wirklich." Benton schaute rechts und links die Straße entlang, warf noch einen Blick auf die äußerst spärlich bekleidete Schaufensterpuppe, bevor er Mindy wieder ansah. Ein kleines, abenteuerlustiges Lächeln spielte um seine Mundwinkel. „Na, was soll's. Komm." Ehe sie noch wusste, wie ihr geschah, griff er nach Mindys Hand und zog sie hinein in den hell erleuchteten Tempel der Sünde. „Oje!" Zahllose zylindrische Objekte baumelten in allen erdenklichen Farben und Größen an der Decke. Mindy verspürte den Drang, sich zu ducken, und wusste gar nicht, wohin sie schauen sollte. Auf der rechten Seite war alles voller Brüste, die diverse Videos und Zeitschriften zierten. Links sah sie etwas, was ein wenig annehmbarer war - Dessous. Nur, dass bei den meisten Kleidungsstücken an strategischen Punkten der Stoff fehlte. Mindy wand sich geradezu vor Verlegenheit. Es lief überhaupt nicht wie geplant. Benton sollte doch derjenige sein, dem die ganze Sache furchtbar peinlich war, während sie sich wild und weltgewandt hatte zeigen wollen. Andererseits hatte sie nicht damit gerechnet, dass Benton tatsächlich mit hineinkommen würde. Sie hatte es vermieden, ihn anzuschauen, seit sie den Laden betreten hatten, doch als sie jetzt zu ihm sah, warf er ihr einen mitfühlenden Blick zu und lächelte verschmitzt. „Ich ... ich ...", begann sie. „Benton?" „Ja, Kleines?" „Können wir wieder gehen?" Er grinste. „Sicher. Das erspart mir, dir die Augen zuzuhalten, wenn du das ... das Objekt da hinten in der Ecke entdeckst." Instinktiv drehte sie sich herum, doch er blockierte ihr lachend die Sicht mit seinem Körper. „Glaub mir. Du würdest es nicht sehen wollen." Mindys Erleichterung, als sie das Restaurant verlassen hatten, war nichts im Vergleich zu dem, was sie jetzt empfand. Sie kam sich vor wie eine völlige Idiotin. Was war nur aus dem Mann geworden, der vor kurzem in ihre Partnervermittlung gekommen war und eine Frau aus den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts gesucht hatte? Dies war er jedenfalls nicht. Allerdings fragte sie sich auch, was aus der vernünftigen und ehrlichen Heiratsvermittlerin geworden war. Sie war ratlos, denn gleichgültig, welchen Unsinn sie anstellte, Benton schien unerschütterlich in seiner Zuneigung. Sie musste etwas Unvorstellbares tun. Etwas, was alles andere, was heute Abend geschehen war, in den Schatten stellte. Und zwar schleunigst, denn so wie er ihre Hand hielt und sie anlächelte, machte er sie ganz schwach. „Und? Was unternehmen wir als Nächstes?" fragte er amüsiert.
Mindy war, wenn auch widerstrebend, entschlossen, dieses Lächeln von seinem Gesicht zu vertreiben. In diesem Moment erspähte sie den teuren, knallroten Sportwagen, der unbeaufsichtigt vor dem exklusiven Restaurant gegenüber stand. Anscheinend sollte er gleich von einem Portier auf den Parkplatz gefahren werden. Ja! Das ist es, dachte sie triumphierend. Das wird ihm endgültig zeigen, was für eine Verrückte Mandy ist. „Lass uns eine kleine Tour durch die nächtliche Stadt machen", meinte sie atemlos und zeigte auf das Cabrio. „In dem Auto. Lass uns alle Be denken in den Wind schlagen und es einfach tun!" „Du willst, dass wir uns den Lamborghini dafür stibitzen?" fragte Benton und klang dabei gelassener, als sie erwartet hatte. „Ja, das ist genau das, was ich jetzt gern tun würde!" Zu Mindys Erstaunen meinte Benton: „Warte hier", und ging ruhig über die Straße. Er verschwand unter dem Vordach des Restaurant, und tauchte einen Moment später in dem roten Cabrio wieder auf. Er hielt direkt vor ihr und winkte ihr zu. „Dann lass uns eine Spritztour machen."
6. KAPITEL Es hatte Benton noch nie so viel Spaß gemacht, jemanden zu schockieren. Mandy und er sausten in dem Sportwagen über den Columbia Parkway. Sie schrie ihn an: „Du hast den Wagen gestohlen? Bist du verrückt? Man wird uns ins Gefängnis stecken!" Er wandte sich lachend an sie. „Das hast du doch gewollt, oder nicht?" „Im Gefängnis landen? Nein!" Sie schüttelte vehement ihren Kopf, während sie mit beiden Händen krampfhaft die Perücke hielt. „Ich sprach von dem Lamborghini. Ich dachte, du wolltest eine kleine Tour damit machen!" Er beschleunigte das Tempo und erfreute sich an ihrem entsetzten Gesichtsausdruck. Sie bemühte sich immer, so ausgeflippt zu tun, doch dann kam wieder die tugendhafte Frau zum Vorschein, die er bei seinem ersten Treffen kennen gelernt hatte, und er war gespannt, wie weit sie wohl gehen würde. „Aber ich ..." „Du siehst wunderbar aus in diesem Auto." Er zwinkerte, bevor er sich wieder auf die Straße konzentrierte, die vom Vollmond erhellt wurde. „Ist das nicht herrlich?" „Nein! Ist es nicht!" Benton warf den Kopf zurück und lachte laut. „Wir werden es gar nicht bis ins Gefängnis schaffen, weil du uns vorher umbringen wirst! Warum bin ich nur in dieses Auto gestiegen?" „Es wäre ziemlich unhöflich gewesen, es nicht zu tun. Nachdem du mich gebeten hast, es zu stehlen, meine ich." „Ich habe dich nicht gebeten, es zu stehlen! Ich sprach von einer kleinen Tour durch die nächtliche Stadt. Das ist eher ein Ausleihen." „Leihen, stehlen, was macht das schon für einen Unterschied? Jetzt ist es ohnehin zu spät, also kannst du dich auch zurücklehnen und die Fahrt genießen. Wollen wir doch mal sehen, was in diesem Baby steckt", fügte er hinzu und griff nach dem Schaltknüppel. Er drückte aufs Gaspedal, so dass der Wagen wie eine Rakete davonschoss. Er konnte sich nicht erinnern, wann er zum letzten Mal so viel Spaß gehabt hatte. Vergessen waren all der Druck und die Verantwortung, die die Leitung einer Firma mit sich brachten. Nie hätte er gedacht, dass eine Spritztour solch eine angenehme Beschäftigung sein könnte, und er hatte nicht widerstehen können, Mandy auf den Arm zu nehmen. Obwohl der Abend sich völlig anders entwickelte, als er es sich ausge malt hatte, fühlte Benton sich immer mehr zu Mandy hingezogen. Er konnte es nicht einmal richtig erklären - er wusste nur, dass ihm in ihrer Gegenwart viel leichter ums Herz war und er sich viel jünger fühlte. Allerdings saß sie im Moment neben ihm und hatte einen panischen Ausdruck im Gesicht, und da er wollte, dass sie die Fahrt ebenfalls genoss, war es wohl an der Zeit, ihr die Wahrheit zu sagen. „Ich kenne den Typen!" rief er über das Dröhnen des Motors hinweg, als sie gerade eine besonders enge Kurve nahmen. Mandy funkelte ihn wütend an. „Was für ein Typ? Wovon redest du? " „Der Typ, dem dieser Wagen gehört. Ich kenne ihn. Wir haben ge schäftlich miteinander zu tun. Ich habe ihn gerade noch erwischt, bevor er ins Restaurant ging, und habe ihn gefragt, ob ich den Wagen für eine kurze Zeit fahren könnte." Er grinste sie an und erwartete, dass sie auch lächelte, doch stattdessen schaute sie ihn entsetzt an. Plötzlich begann sie, seinen Arm mit ihren Fäusten zu malträtieren. Der Wagen kam ins Schlingern. „Hey, ich fahre gleich gegen einen Baum." Sie hörte auf, ihn zu schlagen - er war erleichtert, dass sie wenigstens so vernünftig war -,
begann aber zu schreien: „Du elender Schuft! Du hast mich glauben lassen, du hättest ihn gestohlen! Du hast mich glauben lassen, wir würden verhaftet! Ich habe mich schon in quergestreiften Kla motten gesehen, und die steht mir überhaupt nicht!" Er fuhr ein wenig langsamer und sah sie zufrieden an. „Ein Punkt für mich, stimmt's?" „Was?" Er grinste sie noch immer frech an. „Ich habe dir Angst gemacht. Du tust immer so wild, dabei bist du eigentlich gar nicht so, oder, Mandy?" Noch nie war Mindy so verwirrt gewesen. Sie hatte gedacht, sie würde Benton Maxwell verstehen, doch je mehr Zeit verstrich, desto rätselhafter kam er ihr vor. Sie wusste nicht, ob er eine wilde Frau oder eine biedere gehorsame wollte. Das ist genau der Grund, warum ich mit meinen Kunden immer ausführliche Interviews führe, hätte sie ihm am liebsten gesagt. Doch statt ihre Identität preiszugeben, nach all der Mühe, die sie sich ge geben hatte, sie zu verheimlichen, wägte sie ihre Antwort genau ab. „Wie wild möchtest du mich denn gern haben?" Seine Augen funkelten im Mondlicht, während der Fahrtwind sein dichtes Haar zerzauste. „Sei so wild oder so zahm, wie du willst. Es ist egal. Ich bin verrückt nach dir." Oh nein. Das hieß ja, egal, was sie tat, sie würde ihn nicht loswerden. Wie hatte das geschehen können? „Aber warum bist du verrückt nach mir?" wollte sie wissen. Einen Moment lang fuhr Benton schweigend weiter, bevor er schließlich nach links in eine kleine Seitenstraße im Wald einbog und den Wagen parkte. Dann drehte er sich zu Mindy herum und schaute ihr tief in die Augen. „Warum ich verrückt nach dir bin?" Seine Miene war voller Wärme. „Du hast mich daran erinnert, was ich alles versäume; dass man langweilig wird, wenn man immer nur arbeitet, aber nie Spaß hat. Mit dir fühle ich mich so lebendig wie schon seit Jahren nicht mehr." Sie hielt den Atem an. „Wirklich?" Er nickte ernsthaft. „Wirklich." Mindy versuchte, ihre Gefühle zu unterdrücken. Beinahe hätte sie angefange n zu weinen, denn das hier war viel ernster, als sie gedacht hatte. Sie veränderte ihn. Sie brachte ihn dazu, dass er über sein Leben nachdachte, und fürchtete, dass die Sache auch für sie langsam zu ernst wur de. Vielleicht war es das sogar schon. Schließlich ging sie sonst nie mit jemandem ins Bett, den sie kaum kannte, und doch hatte sie schon bei der ersten Verabredung mit Benton geschlafen. Sie hatte gedacht, es hätte an der Atmosphäre gelegen, an der Rolle, die sie gespielt hatte. An Mandys gespielt er Verführungskunst. Doch als sie in Bentons Augen schaute, fing sie an zu verstehen, dass sie die wilde, abenteuerlustige Frau mochte, zu der sie in seiner Gegenwart wurde - selbst wenn sie es nicht lange im Sexshop ausgehalten hatte. Es war aufregend, gewagte Kleidung zu tragen, sich nicht darum zu scheren, was andere von einem dachten, und Erfahrungen zu machen, die sie sonst nicht gemacht hätte. Und vor allem war es aufregend, all das mit Benton zu teilen. Sie hielt die Tränen zurück, weil ihr etwas einfiel, was viel mehr Spaß machte. „Küss mich", flüsterte sie. „Gern." Er klang atemlos, als er ihr Gesicht mit beiden Händen umschloss und seinen Mund auf ihren presste. Mindy schloss die Augen und verlor sich in ihren Gefühlen. Benton, der Mondschein, diese verrückte Fahrt ... das alles überwältigte sie. Ein sanfter Kuss führte zum nächsten, bis sie immer leidenschaftlicher wurden und ihre Zungen sich zu einem wilden Tanz fanden. Mindy schlang die Arme um seinen Nacken. Zärtlich strich er über ihre Brüste, und eine wohlige Wärme durchströmte sie. Sie küsste ihn voller Verlangen und keuchte auf, als er mit dem Daumen die empfindsamen Spitzen liebkoste. Keck setzte sie sich rittlings auf ihn, was in dem Kleid nicht ganz so einfach war, und genoss seine Berührungen an ihren Oberschenkeln und ihrem Po. Gleichzeitig begann er, ihre Brüste durch den Stoff hindurch zu küssen, und Mindy stöhnte auf. Als er sie dann auch noch
zärtlich zwischen den Beinen streichelte, drängte sie sich ihm verlangend entgegen. Doch als er ihr den Spitzenslip abstreifen wollte und sie auf einmal erkannte, dass es gleich kein Zurück mehr geben würde, fielen ihr auf einmal Janes Worte wieder ein: „Halt dich an deinen Plan!" „Stopp!" rief sie. Benton zuckte zurück. „Was?" Es war schrecklich, seine wunderbaren Berührungen nicht mehr zu spüren, trotzdem erklärte sie: „Wir können das nicht tun." Fassungslos erwiderte er: „Können wir nicht?" Sie schüttelte den Kopf. „Warum nicht?" Gute Frage. Sie hatte keine vernünftige Antwort. „Weil... weil... dieses Auto deinem Bekannten gehört, deshalb." Er seufzte. „Stimmt." Erleichtert registrierte sie, dass er sich doch noch nicht auf einmal radikal verändert hatte. „Also sollten wir den Wagen zurückbringen." „Und dann steigen wir in mein Auto und tun es da." Er warf ihr ein verführerisches Grinsen zu. Wer hätte gedacht, dass Benton so verwegen sein könnte? Es war irgendwie erregend, und Mindy wollte schon zustimmen, doch sie beherrschte sich. Der Plan sah vor, dass sie heute auf keinen Fall mit ihm Sex haben würde. „Nein", erwiderte sie. Er blinzelte. Anscheinend war dieses Blinzeln doch ansteckend. „Was?" Sie konnte ihm wohl kaum erklären, weshalb sie ihn abwies, also überdachte sie ihre Möglichkeiten. Sie könnte bei ihrem Nein bleiben und ihm sage n, dass ihr die Sache zu schnell ging, dass es ein Fehler gewesen sei, gleich beim ersten Mal miteinander zu schlafen, und klüger wäre, wenn sie sich erst einmal besser kennen lernten. Oder sie könnte all das vergessen und noch eine letzte Nacht voller Leidenschaft mit ihm verbringen. „Die Sache ist die, Benton ..." „Ja?" „Wir können weder in diesem noch in deinem Wagen Sex haben." Er verspannte sich, bevor er langsam die Arme sinken ließ. Es brach Mindy fast das Herz, nicht nur weil er so enttäuscht aussah, sondern weil sie erkannte, dass sie verrückt war, gegen ihr Verlangen anzukämpfen. Schließlich hatte sie sich ebenfalls Hals über Kopf in Benton verliebt. Trotz der Lügen fühlte es sich gut und richtig an, wenn sie mit ihm zusammen war. „Wir könnten stattdessen zu dir fahren", fuhr sie hastig fort, „damit wir die ganze Nacht zusammen haben, ohne unterbrochen zu werden." Benton lag nackt im Bett, die Decke bis zur Taille hochgezogen, und wartete ungeduldig auf Mandy. Als sie ihn beim Verlassen des Badezimmers so entdeckte, sah sie ihn erstaunt an. Er lehnte sich gegen das Kopfteil und verschränkte die Hände hinter dem Kopf. „Ich dachte mir, ich erspare dir die Mühe des Ausziehens." Sie errötete leicht, und das gefiel ihm. „Danke. All diese Knöpfe waren beim letzen Mal ziemlich lästig." Sie ging auf das Bett zu, bis er sagte: „Stopp." Sie blieb stehen. „Warum?" Benton griff zu dem kleinen CD-Player, den er auf den Nachtschrank ge stellt hatte, während sie im Bad gewesen war. Es ertönte das Lied, zu dem sie für ihn bei ihrer ersten Verabredung getanzt hatte. „Die ..." „Habe ich uns gekauft", erklärte er grinsend. „Ich konnte die Melodie nicht mehr aus dem
Kopf bekommen, genauso wenig wie ich vergessen konnte, wie du dazu getanzt hast." Sie wirkte verlegen, und auch das gefiel ihm. Es war schwierig zu sagen, wer sie wirklich war, die sittsame Frau, mit der Mindy ihn verkuppelt hatte, oder die viel hemmungslosere Frau, auf die er immer wieder einen Blick warf. Eins stand jedoch fest, Mandy trug ihr Herz auf der Zunge. Es war leicht, ihre Gefühle zu erraten, und da Benton sonst hauptsächlich berufliche Kontakte pflegte, wo jeder Mensch ein Pokerface zeigte, fand er es besonders erfrischend, eine Frau zu treffen, die einfach nur sie selbst war. „Komm her", sagte er. Doch stattdessen begann Mindy langsam sich zu dem sinnlichen Rhythmus zu bewegen. Benton stöhnte leise auf. Die Hüften schwingend, kam sie auf ihn zu und ging dann wieder ein Stück zurück. Einmal stolperte sie, doch schnell hatte sie sich wieder ge fangen und tanzte weiter. Schließlich hielt sie sich mit einer Hand am Bettpfosten fest, bog den Rücken zurück und bewegte sich langsam auf und ab. Beim zweiten Mal verlor sie fast das Gleichgewicht. Trotzdem fand Benton sie unheimlich erotisch. Den Blick auf ihn gerichtet, hob sie die Arme über den Kopf und tanzte dann genauso aufreizend, wie sie es in der Disco getan hatte. Und als sie hinter sich griff, hörte er, wie sie den Reißverschluss herunterzog. Sein Mund wurde trocken, als sie die Arme vor der Brust verschränkte und dann ganz langsam und verführerisch begann, das Kleid über ihre Brüste herunterzuziehen. Benton unterdrückte ein Stöhnen. Und endlich kam der Augenblick, auf den er gewartet hatte - sie griff nach unten und hob spie lerisch den Saum dieses sündigen Kleides. Ungeduldig wartete er, während sie Zentimeter für Zentimeter ihre langen Beine entblößte, und gerade, als er fast den Verstand verlor... ließ sie es wieder fallen. Oh nein! Jetzt hatte Benton genug vom Tanzen, egal wie sexy sie sic h bewegte. Entschlossen warf er die Bettdecke zurück. Mandy schnappte nach Luft, was er als Kompliment betrachtete, angesichts der Tatsache, worauf ihr Blick gerichtet war. Ohne zu zögern, zog er sie zu sich aufs Bett und drehte sie auf den Rücken. „Oh, Benton", flüsterte sie, als er über ihre Schenkel strich. Den ganzen Abend lang hatte ihn dieses Kleid fast in den Wahnsinn ge trieben, nun wollte er es endlich los sein, also schob er es hoch, bis das dünne Material auf ihren Hüften lag. Ein winziges Stück hautfarbener Spitze kam darunter zum Vorschein. Als er ihren Po umfasste, merkte er, wie klein der Slip war. Lachend fragte er: „Verrate mir eins, trägst du immer solche Dessous?" „Nein, aber bei diesem Kleid geht es nicht anders, alles andere würde sich darunter abzeichnen." „Meinetwegen kannst du so etwas gern öfter tragen." Benton strich zärtlich mit den Fingern über die hauchdünne Spitze und hörte Mandy leise stöhnen, bevor er mit den Daumen unter den Elastikbund glitt und ihr den Slip auszog. „Komm hoch", murmelte er und zog ihr auch das Kleid aus. „Jetzt...", er lächelte ihr zu, „... lehn dich zurück und genieß es." Noch nie hatte er etwas so Schönes gesehen wie Mandy, die nackt in seinen Kissen lag, die vollen Lippen leicht geschwollen von seinen Küssen, die Augen geschlossen vor Entzücken. Nachdem sie beim letzten Mal so leidenschaftlich übereinander hergefallen waren, wollte er es diesmal langsamer angehen lassen. Zärtlich ließ er die Hände über ihren Körper gleiten und folgten mit seinem Mund dieser Spur von ihrem Hals zu ihren Brüsten. „Oh", stöhnte sie. Er hob eine Hand und schob ihr Haar zur Seite, bevor er ihr ins Ohr flüsterte: „Entspanne dich, Liebling. Wir haben noch eine lange Nacht vor uns." Als er seine Wanderung über ihren Körper wieder aufnahm, verharrte er einen Moment an ihrem Nabel, bevor er die Innenseite ihrer Schenkel küsste und dabei einen niedlichen kleinen
herzförmigen Leberfleck in ihrer linken Kniekehle entdeckte. Sanft strich er mit dem Daumen darüber, bevor er seine Lippen darauf presste. Das Blut pochte in seinen Adern, als sie auf einmal unvermittelt zum Höhepunkt kam. Auch Benton konnte nicht länger warten. Mühelos drang er in sie ein, und während er sich in ihr bewegte, wusste er, dass er noch nie solch eine enge Verbindung zu einem anderen Menschen verspürt hatte. Er hatte schon mit vielen Frauen geschlafen und war auch häufig mit einer Frau monatelang zusammen gewesen. Immer wieder hatte er dann vergeblich gehofft und darauf gewartet, etwas so Unglaubliches zu empfinden wie das, was er jetzt für Mandy empfand. Es war wunderbar, eins mit ihr zu werden, und als er den Gipfel erreichte, wurden die tiefen Gefühle, die er für Mandy hegte, noch verstärkt. Ich liebe dich, hätte er am liebsten gesagt, fand es dann jedoch zu früh. Außerdem hatte er etwas Merkwürdiges entdeckt, was seine ganze Aufmerksamkeit beanspruchte. Bildete er es sich nur ein oder lugte da tatsächlich ein Büschel roter Haare unter der blonden Mähne hervor?
7. KAPITEL Normalerweise saß Mindy um acht an ihrem Schreibtisch, obwohl die Agentur erst um neun öffnete. Als sie daher am nächsten Morgen leicht mitgenommen gegen zehn ihr Haus verließ, war das ungewöhnlich. Aber eine Nacht lang Sex mit einem Mann zu haben, der einem griechischen Gott glich, war ebenfalls ungewöhnlich. Was für eine Nacht! Und dabei dachte sie nicht einmal an all das, was geschehen war, bevor sie zu Benton gefahren waren. Immer wieder hatten sie sich geliebt. Sie fing schon an zu glauben, dass er wirklich eine Art Supermann war. Und im Gegensatz zum ersten Mal, hatte sie dieses Mal nicht die geringste Lust verspürt, sich im Morgengrauen davonzuschleichen. Mindy hatte sich ihm so unglaublich nahe ge fühlt, dass es genügte, ihn anzuschauen, und schon hatte ihre Haut zu prickeln begonnen. Der Grund, warum sie über Nacht geblieben war, war derselbe, warum sie überhaupt mit ihm geschlafen hatte - sie konnte nicht anders. Dabei hatte sie sich so fest vorgenommen, sich an ihren Plan zu halten. Was hatte sie nur getan? Abgesehen davon, dass sie ständig Angst gehabt hatte, ihre Perücke könnte verrutschen, war ihr durchaus bewusst, dass ihr Dilemma mit jedem Tag, den sie an ihrer Lüge festhielt, größer wurde. Sie hatte Benton mit einer Frau verkuppelt, die es nicht gab. Gegen Viertel nach zehn schleppte sie sich in die Agentur. Jane saß bereits hinter ihrem Schreibtisch und sah Mindy erstaunt an. „Hast du die Grippe, oder hast du nur eine lange Geschichte zu erzählen?" Mindy ließ sich auf ihrem Schreibtischstuhl nieder, verstaute ihre Hand tasche und schaltete den Computer an. Dann wandte sie sich zu Jane. „Ich glaube, ich habe einen Kater." Janes Blick wanderte plötzlich nach unten. Entsetzt deutete sie auf Mindys Knie. „Was ist passiert?" Mindy wusste, dass sie auf beiden Knien blaue Flecken hatte, doch sie hatte gar nicht mehr daran gedacht, weil andere Stellen ihres Körpers ge nauso schmerzten. „Ich bin ziemlich übel hingeschlagen." Jane zögerte. „Darf ich fragen, wo?" „In einem teuren Restaurant", entgegnete Mindy. „Und ich kann noch froh sein, dass dort ein dicker Teppich lag, sonst wäre es noch viel schlimmer." „Und das war eine von den Taten, die darauf abzielten, Benton zu vergraulen?" Mindy seufzte. „Leider nein." „Hast du Benton denn jetzt vertrieben?" Mindy seufzte noch tiefer und drehte sich zu ihrem Schreibtisch. „Leider ... nein." „Ich vermute", erklärte Jane irritiert, „dass du dich nicht an deinen Plan gehalten hast." Mindy wirbelte verärgert herum. „Wie konnte ich denn? Er ist einfach zu wundervoll!" Verwirrt starrte Jane sie an. „Ist das derselbe Mann, der hier hereinkam und lächerliche Forderungen stellte und deine Fähigkeiten als Partnervermittlerin anzweifelte?" Mindy zuckte mit den Achseln. Sarkastisch meinte Jane. „Hey, vielleicht gibt er sich als jemand anderes aus! Oder vielleicht hat er einen heimlichen Zwillingsbruder!" „Sehr witzig. Außerdem wolltest du doch, dass ich Männerabenteuer habe." Diesmal zuckte Jane mit den Schultern. „Übrigens ...er war vorhin hier und wollte dich sprechen." Mindy zuckte zusammen. „Er war hier? Heute Morgen? Schon?" Er musste direkt, nachdem er sie zu Hause abgesetzt hatte, hierher gefahren sein. „Was wollte er? Hat er was gesagt? War es wegen gestern Abend?" „Er hat nur gesagt, dass er später noch mal vorbeischauen würde."
„Du lieber Himmel, was kann er nur gewollt haben? Von Mindy meine ich." Sie senkte die Stimme und murmelte mehr zu sich selbst: „Nach letzter Nacht bin ich ziemlich sicher, was er von Mandy will." „Du hast also wieder mit ihm geschlafen." Mindy nickte schuldbewusst. „Ich habe ehrlich versucht, es nicht zu tun. Es war aber einfach unmöglich." „Ach ja?" Mindy nickte energisch und berichtete von ihren vergeblichen Versuchen, Benton abzuschrecken. Janes Augen wurden immer größer, als Mindy von dem Sexshop und dem Lamborghini berichtete. „Er hat einfach so einen Lamborghini geklaut?" fragte sie entgeistert. „Na ja, es stellte sich heraus, dass er einem Bekannten von ihm gehörte, doch er hat nicht einmal mit der Wimper gezuckt, als ich es vorschlug. Und als wir schließlich bei ihm waren, fand ich heraus, dass er eine CD mit dem Lied gekauft hat, zu dem ich in der Disco für ihn getanzt hatte, und da habe ich halt noch einmal für ihn getanzt." Jane begann zu grinsen. „Wenn du tanzen sagst, meinst du dann tanzen, oder meinst du etwas anderes?" Mindy verdrehte die Augen. Das hatte sie nun davon, dass sie ihren Mund nicht halten konnte. „Okay, ich habe mich dabei für ihn ausgezo gen. Na und?" „Du hast einen Striptease für ihn hingelegt?" Statt sie auszuschimpfen, begann Jane lauthals zu lachen. „Du hast tatsächlich gestrippt? Du, Mindy, die glückliche, vernünftige Frau, die keinen Mann braucht? Das ist köstlich. Es ist geradezu perfekt." Tränen liefen ihr über die Wangen, und sie konnte gar nicht mehr aufhören zu lachen. Mindy betrachtete sie böse und wartete, bis sich Janes Lachanfall zu einem Kichern beruhigt hatte. Dann fragte sie: „Und was ist daran so lustig?" „Es ist lustig, dass ich dich endlich durchschaut habe. Dein Geheimnis ist kein Geheimnis mehr." „Wovon redest du?" „Es gefällt dir, Mandy zu sein. Ich glaube sogar, du selbst bist Mandy." Völlig geschockt hob Mindy die Augenbrauen. „Was?" „Denk einmal darüber nach. Jedes Jahr zu Halloween lade ich dich zu einer Party ein, und als was kommst du? Du scheust weder Kosten noch Mühen, um dich als eine tolle Frau wie Marilyn Monroe, Dolly Parton oder Madonna zu verkleiden." Mindy schluckte nervös. Sie verstand noch nicht so recht, was Jane sagen wollte, doch sie gab zu: „Dieses Jahr komme ich als Cher." Jane sprach weiter. „Ich glaube, es gibt eine wilde Seite an dir, die du im normalen Leben unterdrückst, und jedes Mal, wenn du dich verkleidest, dann lässt du diesen Teil von dir heraus. Das Gleiche passiert auch, wenn du zu Mandy wirst. Du kannst am nächsten Tag wieder Mindy sein, also scheint es dir sicher, dich wild und verrückt zu benehmen, so als hätte es keine Folgen." Dasselbe hatte Mindy letzte Nacht auch gedacht, doch sie war noch nicht bereit, gegenüber Jane oder sich selbst zuzugeben, dass sie sich vielleicht doch nicht so gut kannte, wie sie geglaubt hatte. „Deine Aus führungen haben nur einen Fehler, Dr. Jane. Alles, was ich als Mandy tue, hat Folgen." Jane schnaubte verächtlich. „Aber du kümmerst dich nicht darum." Bevor Mindy darauf antworten konnte, klingelte das Telefon, und sie wandte sich erleichtert ihrer Arbeit zu. Benton saß an einem kleinen Tisch am Fenster des Cafes gegenüber von Mindys Partnervermittlung und trank einen Kaffee. Er musste eigentlich ins Büro, aber vorher wollte er Mindy sehen. Er fand es ziemlich verdächtig, dass sie erst einige Zeit, nachdem er Mandy zu Hause abgesetzt hatte, aufgetaucht war. Er war danach direkt zu Mindys Büro gefahren
und hatte gehofft, dass die hitzige kleine Mindy hinter ihrem Schreibtisch sitzen würde und er sich die ganze Sache mit dem roten Haar nur einge bildet hatte. Der leere Schreibtisch sowie das merkwürdige Verhalten ihrer Assistentin, die auch nicht zu wissen schien, wo sie steckte, verhießen nichts Gutes. Er hatte Mandy gegenüber nichts von dem roten Haar erwähnt, einfach weil er nicht wusste, was er sagen sollte. Kaum hatte er es erspäht gehabt, hatte sie sich unter ihm gedreht, und es war nichts mehr zu sehen gewesen. Und er konnte ja nicht direkt danach suchen obwohl er mit ihrem Haar herumgespielt hatte, in der Hoffnung etwas zu entdecken, doch das war vergeblich gewesen. Nach einer Weile hatte er dann entschieden, dass er sich wohl getäuscht hatte. Danach hatte er sich ganz darauf konzentriert, sie zu lieben. Nun saß er hier auf der Lauer gegenüber von Mindys Büro. Er war voller Zweifel aufgewacht und fragte sich noch immer, was er in der schummrigen Beleuchtung gesehen hatte. Er erinnerte sich, dass Mandy gesagt hatte, Mindy hätte ihr Haar rot ge färbt. Hatte sie vielleicht gelogen? War Mandy vielleicht genauso ein Rotschopf wie ihre Schwester und hatte es nicht zugeben wollen? Schließlich hatte er ausdrücklich eine Blondine als Partnerin verlangt. Verlegen dachte er an seinen Liste, doch im Moment gab es Wichtigeres. Er war sich nicht sicher, warum ihm plötzlich Mindy eingefallen war, als er die roten Strähnen entdeckt hatte. War Mandy womöglich Mindy? Eine verrückte Idee. Allerdings war die Ähnlichkeit wirklich erstaunlich. Und beide besaßen sie diese merkwürdige Angewohnheit, ständig zu blinzeln. Jetzt, wo er darüber nachdachte, klang Mandys Stimme, wenn sie nervös war, genau wie die von Mindy. Das musste natürlich nichts heißen. Sie waren Zwillinge. Soweit er wusste, hatten Zwillinge häufig mehr gemeinsam als ihr Aussehen; sie konnten gleiche Angewohnheiten haben, dieselben Gesten, sogar dieselben Gefühle. Und er hatte schon eine Menge Zwillinge kennen gelernt, die er nicht auseinander halten konnte. Trotzdem, so verrückt es auch klang, er war misstrauisch geworden. Wenn sie Angst hatte, entdeckt zu werden, würde das ihr heimliches Verschwinden nach ihrer ersten gemeinsamen Nacht erklären. Und wenn er ganz ehrlich war, musste er sich eingestehen, dass es zwischen ihm und Mindy auch ein wenig geknistert hatte, bevor sie ihn mit ihrer Schwester verkuppelt hatte. Er hatte sich das bis zu dieser Minute selbst nicht eingestanden, denn zwei Menschen konnten gar nicht weniger zueinander passen, und der Gedanke, sich mit ihr zu verabreden, war einfach absurd. Was erklären würde, warum Mindy sich zu dieser Verkleidung ent schlossen hatte, überlegte er und kam sich vor wie Sherlock Holmes. Was war, wenn sie sich zu ihm hingezogen gefühlt hatte und sich gewünscht hatte, mit ihm auszugehen, nach ihren anfänglichen Problemen aber nicht gewagt hatte, es zuzugeben? Außerdem war er ihr Kunde. Vermutlich hatte sie eine Regel, dass sie sich niemals mit Kunden einließ. Vielleicht hatte sie sich so sehr zu ihm hingezogen gefühlt, dass sie es nicht ignorieren konnte. Vielleicht hatte sie das dazu verleitet, etwas zu tun, was völlig untypisch für sie war. War das alles eine unglaubliche Scha rade, die dazu diente, Zeit mit ihm verbringen zu können? Je länger er darüber nachdachte, desto mehr Sinn ergab es. Er war verrückt nach Mandy, hatte sich aber schon das eine oder andere Mal über ihre sich ständig wechselnde Persönlichkeit gewundert. Und es würde auch erklären, warum sie gestern im Cabrio so krampfhaft ihre Haare festgehalten hatte. Je länger Benton darüber nachdachte, desto entschlossener wurde er. der Sache so schnell wie möglich auf den Grund zu gehen. Er trank seinen Kaffee aus, verließ das Cafe und schlenderte hinüber zu Mindys Büro. Lächelnd trat Benton in den Laden und richtete seine Aufmerksamkeit auf Mindy. War sie
die gleiche Frau, die er vor nicht einmal einer Stunde verlassen hatte? Sie sah süß, wenn auch ein wenig mitgenommen aus. „Guten Morgen, Mindy." Sie riss die Augen auf. „Benton ... ich meine, Mr. Maxwell." Nach die ser etwas nervösen Begrüßung, entspannte sie sich ein wenig und versuchte ihre Überraschung zu überdecken. „Jane erzählte, dass Sie schon einmal da waren. Tut mir Leid, dass ich Sie verpasst habe. Was kann ich für Sie tun?" „Es geht um Ihre Schwester", sagte er und kam näher. Er ging an dem Stuhl vor ihrem Schreibtisch vorbei und blieb neben ihr stehen. Sie schaute zu ihm hoch und blinzelte. „Haben Sie schon wieder was im Auge?" „Ja." „Tut mir Leid." „Sie wollten mich wegen Mandy sprechen?" Sie blinzelte wieder, bevor sie die Augen schloss und krampfhaft versuchte, diesen Tick lo szuwerden. Benton griff in seine Jackentasche, um die Karte herauszuholen, die er vorhin im Geschenkeladen neben dem Cafe besorgt hatte. „Ich bin noch immer ganz bezaubert von ihr, und um meine Dankbarkeit zu zeigen, ha be ich Ihnen eine ..." Er schaute auf die Karte, die in einem Briefumschlag steckte und lachte angesichts seiner vorgetäuschten Vergesslichkeit. „Ach herrje, ich habe ihr eine Karte geschrieben und vergessen, sie zu unterschreiben." „Oh. Hier ist ein ..." Sie hielt ihm einen Kugelschreiber hin, doch Benton fischte hastig den goldenen Stift heraus, den Miss Binks ihm zu seinem letzten Geburtstag geschenkt hatte. „Ich habe schon einen, danke." Er schenkte ihr noch ein Lächeln, als er sich über ihren Schreibtisch beugte und seinen Namen unter die Dankeskarte setzte. Gleichzeitig versuchte er einen Blick auf Mindys Beine zu erhaschen, doch leider steckten sie unter dem Schreibtisch, wo er sie nicht sehen konnte. Jetzt musste er zu drastischeren Maßnahmen greifen. Er musste endlich wissen, ob Mindy Mandy war, oder nicht, und nach wem genau er nun verrückt war. Als er sich daher aufrichtete, um den Kugelschreiber wieder in seine Jackentasche zu tun, ließ er ihn absichtlich auf den Boden unter Mindys Schreibtisch fallen. Hastig bückte er sich, um ihn aufzuheben. „Entschuldigung", murmelte er, als er nach dem Stift zwischen ihren Füßen griff. Endlich schob sie ihren Stuhl zurück. „Mr. Maxwell, was um Himmels willen machen Sie da?" Er schnappte sich den Kuli und kam auf die Knie, während er sie anlächelte. „Ich habe ihn." Dann erklärte er: „Es ist ein besonderer Schreiber. Mein Name ist eingraviert. Sehen Sie?" Er hielt ihn ihr unter die Nase und nutzte gleichzeitig die Gelegenheit, um einen Blick zu ihrem Knie zu werfen, in der Hoffnung, dort das herzförmige Muttermal zu entdecken. Leider hatte sie ihre Knie fest zusammengepresst. Aber etwas genauso Verräterisches stach ihm ins Auge. Er hob den Blick und versuchte unschuldig zu klingen. „Was ist mit Ihren Knien passiert?" Mindy schaute ihn erschrocken an, bevor sie die blauen Flecken mit den Händen bedeckte. „Ich bin gefallen." „Nichts Ernstes, hoffe ich." Er schob seinen Stift in die Tasche, ohne den Blick von Mindy zu wenden. Sie schüttelte energisch den Kopf und antwortete hastig. „Nein, nein." „Das ist ja wirklich ein Zufall. Mandy ist gestern Abend auch gefallen." Er blieb auf den Knien, während er ihre begutachtete. Auch wenn es merkwürdig aussah, aber er war mit seiner Inspektion noch nicht am Ende. Nach einem kurzen Zögern stieß Mindy einen Seufzer aus, der wohl besagen sollte, dass
sie das alles schon mehr als einmal erlebt hatte. „Sie würden nicht glauben, wie oft uns das passiert." Sie verdrehte die Augen. „Es ist diese Zwillingssache. Sie haben bestimmt schon davon gehört, dass ein Zwilling die Schmerzen des anderen fühlen kann? Nun, Mandy und ich kopieren uns häufig. Das heißt, wenn sie fällt, falle ich auch. Es ist ziemlich unheimlich." „Das ist es", stimmte er zu. Es wurde Zeit für den nächsten drastischen Schritt. Er glaubte ihr natürlich kein Wort, wollte aber hundert Prozent sicher sein, dass seine Vermutung richtig war. Also schob er ihre Hand beiseite und umschloss vorsichtig ihre Kniescheibe mit den Fingerspitzen. Wie ein Arzt drehte er sie von einer Seite zur anderen. Noch bevor er das Muttermal entdeckte, wusste er schon, dass sie Mandy war, nicht nur, weil er die Sache mit dem Hinfallen nicht glaubte, sondern weil die Mindy, die er ursprünglich kennen gelernt hatte, ihm unter keinen Umständen erlaubt hätte, sie so ungeniert zu berühren. Doch so sagte sie nur mit zitternder Stimme: „Benton, äh, Mr. Maxwell, was machen Sie ...?" Er sah den panischen Ausdruck auf ihrem Gesicht. „Ich versichere mich nur, dass Ihre Knie in Ordnung sind. Schließlich ist Mandy ziemlich heftig aufgeschlagen, also sind Sie das bestimmt auch." Sie antwortete nicht, doch Bentons Mission war erledigt. Er stand wie der auf. Also hatte er Recht gehabt. Mindy gab sich tatsächlich als Mandy aus, sie log ihn an, hielt ihn zum Narren, ließ zu, dass er sich unter Vortäuschung falscher Tatsachen in sie verliebte. Wut stieg in ihm auf. Er mochte es nicht, wenn man ihn übertölpelte. Eigentlich müsste er jetzt vor Zorn toben, sie mit Anschuldigungen bombardieren, vielleicht sogar mit gerichtlicher Verfolgung drohen. Doch die neue, weichere Seite in ihm, die er entdeckt hatte, seit er Mandy getroffen hatte, ließ ihn innehalten und über ihre Motive nachdenken. Und je länger er das tat, desto geschmeichelter fühlte er sich. Sie hatte sich all diese Mühe gegeben, war diese Risiken eingegangen, nur um mit ihm zusammen sein zu können. So sehr hatte sie ihn begehrt. Natürlich blieb er wütend wegen ihrer Lügen und fragte sich, wann sie wohl vorhatte, ihm die Wahrheit zu sagen. Doch ob er es nun wollte oder nicht, er war immer noch verrückt nach dieser Frau. Vielleicht war er ganz froh, herauszufinden, dass er sie beide hatte - den Hitzkopf Mindy, die sich von niemandem herumschubsen ließ, und die leidenschaftliche, abenteuerlustige Mandy mit ihrer erfrischenden Impulsivität. Und das erleichterte zumindest eines - er brauchte sich wenigstens keine Sorgen mehr zu machen, dass er sich in die eine Schwester verliebte, während er eine heimliche Schwäche für die andere hatte. Doch das hieß nicht, dass Benton sie mit einem Lächeln und einem Zwinkern entkommen lassen würde. Auf keinen Fall. Niemand durfte so lange ungestraft solch eine faustdicke Lüge erzählen. Anscheinend mochte Mindy ja Spielchen, also würde er jetzt den Spieß umdrehen und sie eine Weile leiden lassen, bis sie ihm endlich die Wahrheit erzählte. Und er hatte das Gefühl, dass er die Sache sehr genießen würde. Ihm kam eine Idee „Können Sie ein Geheimnis für sich behalten?" fragte er seine Geliebte mit der gespaltenen Persönlichkeit. Mindy starrte ihn an, offensichtlich noch immer verwirrt von der Sache mit dem Knie. „Hm, ja. Sicher." „Und Sie, Jane?" Er wandte sich an Mindys treue Assistentin, die stumm da saß und ihre Wortwechsel beobachtete. Er vermutete, dass die beiden Frauen sich nahe standen, und ging davon aus, dass Jane über Mindys Scharade Bescheid wusste. „Ich?" Sie zuckte überrascht zusammen, als er sie plötzlich in die Unterhaltung einbezog. „Oh ja, natürlich. Ich bin schweigsam wie ein Grab." „Darauf würde ich wetten." Er lächelte die beiden abwechselnd an. „Erzählen Sie es nicht Mandy, aber das nächste Mal, wenn wir uns sehen, werde ich ihr einen Heiratsantrag
machen." Mindy schnappte nach Luft, und Jane ließ den Ordner fallen, den sie in der Hand gehabt hatte. Mindy versuchte, etwas zu sagen, doch es dauerte einem Moment, bevor sie herausbrachte: „Finden Sie nicht, dass das ein bisschen übereilt ist?" Benton lächelte. Das machte ja noch mehr Spaß als die Fahrt im Lamborghini. „Keineswegs. Das war doch schließlich mein Ziel - eine Ehefrau zu finden. Erinnern Sie sich?" „Na ja... aber ... Sie kennen sie doch noch gar nicht!" Benton konterte: „Oh, Sie wären überrascht. Erst letzte Nacht habe ich herausgefunden, dass sie auf sündhafte Sachen steht." Sowohl Mindy als auch Jane schluckten. Er fuhr fort. „Aber warum sollte ich mich beschweren, wenn sie ein wenig mehr Schwung ins Schlafzimmer bringen will?" Er zwinkerte vieldeutig. „Ich denke", begann Mindy langsam, während eine leichte Röte ihr Gesicht überzog, „dass sie wahrscheinlich nur neugierig auf solche Sachen ist. Das heißt nicht, dass sie darauf steht! Ich glaube sogar, dass Sie sie danach fragen und ihr eine Chance geben sollten, es zu erklären." „Nein, nein. Es ist unerheblich. Außerdem werde ich sie bei unserem nächsten Treffen bitten, meine Frau zu werden. Da wird keine Zeit bleiben, etwas anderes zu besprechen." „Aber, Benton, Sie kennen die wahre Mandy doch gar nicht!" beharrte Mindy. „Man kann unmöglich mit ihr zusammenleben! Sie schraubt nie den Deckel auf die Zahnpastatube! Sie hängt niemals ihre Sachen in den Schrank! Und sie ... sie lässt das Geschirr in der Spüle, bis es anfängt zu schimmeln! Es ist wirklich widerlich, kann ich Ihnen sagen!" Benton tat das alles mit einer Handbewegung ab und lächelte. „Ich besorge ihr ein Dienstmädchen. Oder noch besser ...", er hob triumphie rend einen Finger, „... ich werde ihr ein Dienstmädchen-Outfit besorgen. Sie wissen schon, eins von diesen aufreizenden schwarzen kurzen Kleid chen mit weißer Schürze und Netzstrümpfen? Jetzt, da ich weiß, dass sie gern mal etwas Neues ausprobiert, ist das bestimmt perfekt. Danke, dass Sie mich darauf gebracht haben, Mindy. Aber jetzt muss ich wirklich los. Die Arbeit ruft. Passen Sie auf Ihre Knie auf." Mit diesen Worten verließ er den Laden, froh, als sich die Tür hinter ihm schloss, und er endlich in das Lachen ausbrechen konnte, das er seit ge raumer Zeit zurückgehalten hatte. Er amüsierte sich königlich. 1indy saß in Shorts und T-Shirt auf ihrem Sofa und fühlte sich miserabel. Sie hatte eigentlich joggen ge hen wollen, doch bereits nach wenigen Schritten war ihr klar geworden, dass ihre Knie viel zu wehtaten. Sie lief nicht häufig, aber heute hatte sie gehofft, sich damit einen klaren Kopf verschaffen zu können. Andererseits, glaubte sie wirklich, dass es irgend etwas geben konnte, um dieses ganze Durcheinander in ihrem Kopf zu entwirren? Ein Blick auf die Uhr sagte ihr, dass sie sich eigentlich daran machen sollte, sich als Mandy zu verkleiden, also ihre blonden Locken überstülpen, ein Mandy-Lächeln aufsetze n und deren Stimme üben. Die Tatsache, dass sie sich nicht auf ihre Verabredung vorbereitete, konnte nur eins bedeuten - sie würde nicht gehen, und damit Benton keine Möglichkeit geben, ihr heute Abend einen Heiratsantrag zu machen. Sie schüttelte den Kopf und dachte noch einmal voller Entsetzen an seinen Besuch in der Agentur heute Morgen. Sie konnte noch immer nicht glauben, dass der Mann tatsächlich um ihre Hand anhalten wollte! Und ihr ein Dienstmädchen-Outfit kaufen wollte! Dabei war noch nicht einmal Halloween. Andererseits wollte er sie in dem Kostüm wohl ohnehin nicht mit auf eine Party nehmen. Höchstens vielleicht auf eine private Party. Gar keine so schlechte Idee, dachte sie. Dann ermahnte sie sich. Was sollten diese Gedanken? Alles war inzwischen so aus dem Ruder gelaufen, dass sie nicht mehr weiter wusste. Aber das Kostüm hatte sie auf eine Idee gebracht. Wenn sie schon nicht ausgehen wollte,
konnte sie ja anfangen, sich Gedanken über ihren Auftritt als Cher zu machen. Sie schaute zum Telefon, dachte daran, dass Benton bald auftauchen würde, und summte die ersten Takte von „If I Could Turn Back Time". Nun, sie konnte zwar die Zeit nicht zurückdrehen, doch sie konnte sie eine Weile einfrieren, zumindest was ihre Beziehung zu Benton anging. Also nahm sie den Telefonhörer und wählte seine Büronummer. Er antwortete nach dem ersten Klingeln. „Benton Maxwell." Mindy hielt sich die Nase zu und versuchte verschnupft zu klingen. „Benton, hier ist Mandy." „Mandy? Ist alles in Ordnung? Du klingst so ..." „Krank. Ich bin krank." „Oh nein, Liebling, wie furchtbar." Die Sorge in seiner Stimme wich der Enttäuschung. „Heißt das, dass du unsere Verabredung verschieben willst?" „Ja, tut mir Leid." Er seufzte. „Mir auch, aber wenn du krank bist, ist es wohl besser, wenn wir nicht ausgehen." Sie hielt sich immer noch die Nase zu. „Ich hatte mich schon so auf heute Abend gefreut, aber ...", sie hustete heftig, „... du hast Recht. Ich sollte zu Hause bleiben." „Ich hoffe, du gibst gut auf dich Acht." „Keine Angst, das tue ich." Vor allem, indem ich diese Verabredung absage, dachte sie. So stellte sie wenigstens sicher, dass sie nicht wieder mit ihm ins Bett ging. „Übrigens, wie geht es deinen Knien?" „Sie tun immer noch weh", meinte sie und stöhnte ein wenig. „Na, dann pflege dich man ordentlich." Als Benton vorschlug, einen neuen Termin abzumachen, erklärte sie ihm, dass sie lieber noch ein paar Tage warten wollte, um zu sehen, wie es mit ihrer Erkältung weiterging. Schließlich legte sie auf und kam sich grausam vor, weil sie Benton ständig neue Lügen auftischte. Venus hüpfte neben sie auf die Couch, und Mindy kraulte sie unter dem Kinn. „Hallo, Venus. Sieht so aus, als wären wir beiden heute Abend allein." Gegen ihren Willen war sie darüber bitter enttäuscht. Sie hatte sich darauf gefreut, Benton zu sehen, denn ob sie wollte oder nicht, sie war verrückt nach ihm. Und sie war es leid, vorzugeben, jemand anderes zu sein, zumal daraus nichts werden würde, egal wie wundervoll diese Beziehung war. Sie nahm die Katze auf den Schoß und beschloss, sich selbst ein wenig aufzuheitern. „Weißt du was? Statt hier herumzusitzen und zu jammern, kann ich lieber an meinem CherKostüm arbeiten." Auch wenn Mai extrem früh war, um ein Halloween Kostüm anzufertigen, entschied sie, dass man niemals rechtzeitig genug beginnen konnte. Außerdem würde es sie von ihren Problemen ablenken. „Dies wird mein Debüt als Brünette sein!" sagte sie, aufgemuntert von der Abwechselung. „Lass uns auf den Dachboden gehen, um zu sehen, was wir dort finden." Zwei Stunden später stand Mindy vor dem großen Spiegel in ihrem Schlafzimmer und bewunderte das lange rote Paillettenkleid, das ihre Mutter sich vor Jahren für irgendeinen formellen Anlass gekauft hatte. Mindy hatte es mit einem sehr viel tieferen Ausschnitt versehen und die Taille eng gesteckt. Sie musste noch einiges ändern, aber mit einem Schlitz an der Seite würde es perfekt zu ihrem Auftritt als Cher, wie sie in den siebziger Jahren ausgesehen hatte, passen. Als Venus sich neben sie gesellte und leise miaute, fiel Mindy endlich auf, warum die Katze sich niemals darüber aufgeregt hatte, wenn sie sich in Mandy verwandelte. Sie hatte Mindy schon zu häufig in irgendwelchen Verkleidungen gesehen. In dem Moment klingelte es an der Haustür. Verärgert fragte sie sich, wer das sein könnte. Wahrscheinlich ihre Nachbarin, Mrs. Weatherby, die sich ständig etwas borgte. Die hatte sich neulich auch gewundert, wieso
Mindy mit einer blonden Perücke herumlief, und hatte sie darauf angesprochen. Mindy hatte Mrs. Weatherby erklärt, sie hätte sie mit ihrer Zwillingsschwester verwechselt. „Das passiert ständig", hatte sie gemeint. Oh, was war das alles verworren! Sie ging zum Fenster, zog die Gardine zur Seite und blinzelte, als die untergehende Sonne ihr in die Augen stach. Trotzdem konnte sie erkennen, dass die Person vor ihrer Tür nicht Mrs. Weatherby war; es war niemand anderes als Benton Maxwell III. Mindys Herz begann zu rasen.
8. KAPITEL „Was jetzt?" murmelte Mindy und befahl sich nachzudenken. Schnell! Sie ließ die Gardine wieder sinken und zupfte und zerrte dann an dem langen Kleid, bis sie es schließlich über den Kopf gezogen hatte und es zur Seite werfen konnte. Ihr Blick glitt über das Chaos im Zimmer, das mit offenen Kartons vom Dachboden gefüllt war. Wo zum Teufel waren ihre Shorts und das T-Shirt? Aha! Sie entdeckte das T-Shirt unter ihrem Bett und zog es hastig an. Wieder klingelte es an der Tür, das inzwischen vertraute ungeduldige Klingeln. Wo waren jetzt die Shorts? Verflixt! Sie konnte sie nicht finden. Statt weiter zu suchen, riss sie die Schranktür auf und schnappte sich ihren rosa Bademantel, warf ihn sich über und band ihn fest zu. Dann raste sie nach unten, kehrte jedoch auf halbem Weg wieder um, um die Tür vom Schlafzimmer zu schließen, das so gar nicht danach aussah, als würde sie krank im Bett liegen. Vor der Haustür kam sie zum Stehen, genau in dem Moment als Benton zum dritten Mal klingelte. Sie wollte gerade nach der Klinke greifen, erhaschte vorher aber noch einen Blick von sich im Garderobenspiegel. Oh nein! Keine Perücke! „Ich komme sofort!" Sie eilte zurück in ihr Schlafzimmer. „Perücke, Perücke", flüsterte sie. Sie hatte so eine Unordnung angerichtet, dass sie das verflixte Ding nir gends entdecken konnte! „Komm schon, wo bist du?" Panik machte sich in ihr breit, als sie endlich eine blonde Locke unter einem bunten Stück Stoff entdeckte. In aller Eile stülpte sie sich die Perücke auf den Kopf und raste wieder nach unten. Vor dem Spiegel versteckte sie schnell noch die letzten roten Strähnen. „Da hast du ja wieder ein schönes Durcheinander angerichtet", raunte sie ihrem Spiegelbild zu. Zum Glück fiel ihr noch rechtzeitig ein, dass sie ja angeblich krank war. Sie zwang sich, langsamer zu gehen und holte tief Luft, bevor sie nach der Türklinke griff. „Benton", hauchte sie schwach und hüstelte ein wenig. Besorgt sah er sie an. „Warum hast du so lange gebraucht? Ist alles in Ordnung?" „Ich musste ... ich musste erst meinen Bademantel finden. Weil ich keine Shorts anhabe, siehst du?" Mit beiden Händen öffnete sie den Mantel unter dem Gürtel. „Du klingst viel besser als vorhin am Telefon." Er trat über die Schwelle, und ließ ihr keine andere Wahl, als zurückzuweichen und ihn hineinzulassen. „Meine ... Nase ist wieder frei. Das Mittel, das ich genommen habe, hat im Nu gewirkt." Benton schaute sich erstaunt in ihrem kleinen Wohnzimmer um. „Tatsächlich? Wo hast du es? Wenn ich krank bin, hole ich mir alles, was ich vielleicht brauchen könnte, um es parat zu haben." Er sagte das lächelnd, doch offensichtlich hatte er erwartet, Taschentücherpackungen, Medikamente und halbleer gegessene Suppenteller zu sehen, was auch der Fall gewesen wäre, wenn sie wirklich krank wäre. Aber zu ihrem Ärger war das Zimmer in tadellosem Zustand. Nachdem sie für ihre erste Verabredung mit Benton aufgeräumt hatte, war sie bemüht gewesen, es so zu belassen. Und das, nachdem Mindy behaup tet hatte, dass Mandy so unordentlich sei. Noch etwas, das schief ge gangen war. „Es steht im Arzneischrank im Bad. Ich hatte gerade ein wenig aufge räumt, bevor du kamst." „Dabei solltest du dich ausruhen", schimpfte er. „Deshalb bin ich auch hier. Ich werde mich um dich kümmern." Mindy war sich nicht sicher, ob es Schuld- oder Glücksgefühle waren, die sie durchströmten, als sie ihn anschaute, aber sie entschied, dass es Letztere waren. Am liebsten hätte sie die Arme um seinen Hals ge schlungen, doch sie beherrschte sich. „Du bist echt lieb." Lächelnd erwiderte er: „Du machst es einem Mann ja auch leicht. Was ist das?" Behutsam
streckte er die Hand aus und nahm eine einzelne rote Paillette von ihrer Schulter. „Es sieht aus wie eine Paillette." Er wirkte ein wenig verdutzt. „Hast du in letzter Zeit Pailletten getragen?" Sie schluckte und suchte fieberhaft nach einer Antwort. „Ach, bevor ich mich vorhin so schlecht zu fühlen begann, war ich gerade dabei, den Dachboden aufzuräumen. Alte Halloweenkostüme und so etwas. Sie ist wahrscheinlich von einem abgefallen, als ich die Kartons durchwühlt ha be." Benton nickte, und Mindy erkannte, dass das eine ihre vernünftigeren Lügen gewesen war. Es war ihr unangenehm, zu merken, dass sie immer besser darin wurde. Sie war normalerweise eigentlich gar keine Lügne rin sein, und sie wollte auch niemand sein, der diese Kunst perfektio nierte. Zu spät, sagte ihre innere Stimme. Sie wechselte das Thema und deutete auf die Einkaufstüte in seiner Hand. „Was hast du da?" Benton lächelte und ging ins Wohnzimmer. Dort stellte er die Tüte auf den Tisch und griff hinein. „Ich habe uns ein paar Filme ausgeliehen." Er legte vier Videos auf den Tisch. „Und ich habe dir Eis mitgebracht." Eine große Packung Pfefferminzeis mit Schokostücken folgte. „Außerdem habe ich für Venus Katzenleckereien geholt, damit sie sich nicht ausge schlossen fühlt." Mindy starrte ihn entge istert an. Der Mann war einfach zu gut, um wahr zu sein. „Du hast meiner Katze etwas Besonderes mitgebracht, obwohl du Katzen gar nicht magst?" Er neigte den Kopf und lachte leise. „Ich wollte Venus wohl beweisen, dass ich ehrliche Absichten habe." Dann hat das wenigstens einer von uns, dachte Mindy bedrückt. „Was für Filme hast du denn ausgesucht?" „Von allem etwas." Er hob sie hoch und las die Titel vor. „,Harry und Sally' zum Lachen, ,E.T.' zum Trost, .Titanic' wegen der Romantik und ,Casablanca' ... na ja, weil es eben ,Casablanca' ist", schloss er lächelnd. „Ich hatte gehofft, dass dir zumindest einer von ihnen gefällt." Zuzusehen wie Mindy vorgab, Mandy zu sein, und ihn anstarrte, als wäre er das Beste seit der Erfindung von Schnittbrot, reichte fast aus, Benton sein eigenes Täuschungsmanöver vergessen zu lassen. „Ich mag sie alle", erklärte sie. Doch da er überzeugt davon war, dass Mindy nicht krank war, sondern nur versuchte, seinem Heiratsantrag aus dem Weg zu gehen, wollte er ihr eine kleine Lektion erteilen, auch wenn er es im Moment am liebsten vergessen und sie stattdessen nur geküsst hätte. Er machte es sich auf der Couch gemütlich, zog Mindy neben sich und neckte sie weiter. „Wenn ich mehr Zeit gehabt hätte, wäre ich noch in die Stadt zu dem Laden gefahren, in dem wir neulich Abend waren, um eine andere Art von Video zu holen." Er hob viel sagend die Augenbrauen. Es dauerte einen Moment, bis sie begriff, was er da andeutete, doch dann errötete sie. „Das meinst du nicht ernst." Er hätte am liebsten gelacht - ihrem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, könnte man denken, er hätte sie gebeten, in einem dieser Filme mit zuwirken. Genüsslich bohrte er weiter in der Wunde. „Ich dachte, dass du vielleicht auf so etwas stehst. Ich nahm an, dass du mich deshalb in den Laden gezerrt hast." Mindy blinzelte ihn an. „Die Sache ist so. Ich war einfach nur neugie rig, was es in solchen Läden zu kaufen gibt. Aber das heißt noch lange nicht, dass ich etwas davon haben möchte." „Okay, wie du meinst." Er zwinkerte ihr zu und stand dann auf, um in die Küche zu gehen. „Ich stelle lieber mal das Eis ins Gefrierfach, bevor es schmilzt. Außerdem wollte ich dich noch etwas fragen."
Mindy war mucksmäuschenstill nebenan, und Benton lächelte. Entge gen dem, was er ihr und Jane heute Morgen gesagt hatte, war er noch nicht bereit, Mindy zu heiraten. Erst mussten noch ein paar Dinge geklärt werden. Zum Beispiel, wie sie hieß. Doch unter den gegebenen Umständen fand er es nur fair, wenn er vorgab, es tun zu wollen. Es würde Spaß machen, sie schwitzen zu sehen. Ein klein wenig Folter war das Mindeste, was sie für ihre ganzen Lügen verdiente. Sie wegen des Sexshops zu necken, war nur der Anfang gewesen. Sie hatte ihm noch nicht geantwortet, als er ins Wohnzimmer zurückkam. Er ließ sich wieder neben ihr nieder, schlang den Arm um ihre Schulter und zog sie an sich. Sie drehte sich zu ihm und sah besorgt aus. „Ich bin wahrscheinlich ansteckend", warnte sie ihn. Er grinste. „Ich besitze ein ausgezeichnetes Immunsystem." „Wie schön." „Jetzt zu meiner Frage." Sie schluckte. „Ja?" Er zögerte lange genug, um ihren Blutdruck nach oben zu treiben, bevor er sagte: „Welchen Film möchtest du zuerst sehen?" Als sie die Augen aufriss, musste er ein Schmunzeln unterdrücken. „Welchen Film?" Hastig befreite sie sich von ihm und durchforstete den Stapel Videos auf dem Tisch. Dann bemühte sie sich, mit ruhigerer Stimme zu sprechen. „,Harry und Sally', natürlich. Ich brauche jetzt wirklich etwas Aufheiterndes." Sie schauten sich „Harry und Sally" an und „Casablanca" und entschlossen sich, sich die anderen Filme ein andermal anzusehen, da es schon weit nach Mitternacht war, als Bogie Ingrid Lebewohl sagte. Benton hatte sich auf der Couch ausgestreckt, und Mindy kuschelte sich an seine Brust. Noch nie hatte Benton es so sehr genossen, Videos anzuschauen. Im Laufe des Abends hatte es Momente gegeben, da hätte er ihr am liebsten die blonde Perücke von ihrem hübschen Kopf genommen und ihr gesagt, dass er alles wusste, dass es in Ordnung war und er sie liebte. Denn das tat er. Er hatte sich in Mindy McCrae verliebt, eine Frau, die das absolute Gegenteil von all dem war, was er gedacht hatte zu wollen. Daran gab es nichts mehr zu zweifeln, und dagegen anzukämpfen nützte nichts mehr. Während sie still dalagen und darauf warteten, dass das Video zurückspulte, verstand er, warum er bisher nie eine Frau gefunden hatte, die er lieben konnte; er hatte immer an den falschen Orten gesucht, sich immer die falschen Frauen ausgewählt. Kein Wunder, dass er nichts für Miss Binks empfand. Es hatte Mindy mit all ihren Täuschungs manövern gebraucht, um ihm klarzumachen, dass er keine Ahnung davon hatte, was er sich von einer Partnerin erhoffte. Er wusste lediglich, dass er es in ihr gefunden hatte. Also wollte er natürlich den Schwindel aufdecken, ihre Differenzen beilegen, ihr gestehen, was er trotz allem für sie empfand. Er wollte ihre Be ziehung weiterführen, sie auf ein solides Fundament stellen. Doch als er auf ihren blonden Haarschopf schaute, genügte das, um ihn davon abzuhalten, die Sache sofort aufzuklären. Nein, Mindy würde als Erste beichten müssen, und bis sie es tat, würde er sie weiterhin ein bisschen leiden lassen. Die Wahrheit zuzugeben war wirklich das Mindeste, was er von ihr verlangen konnte. Erst dann konnten sie weitersehen. In dem Moment schaute Mindy ihn an. „Das war richtig nett. Danke, dass du vorbeigekommen bist." Er unterdrückte das mitfühlende Lächeln und schwor sich, dass sie ihn nicht dadurch herumkriegen würde, indem sie einfach bewundernswert war. „Du scheinst dich viel besser zu fühlen." „Das liegt bestimmt daran, dass du da bist." Sie senkte den Blick, seufzte und hob ihn wieder. „Kann ich dir etwas sagen?" „Alles", entgegnete er in der Hoffnung, dass sie ihm endlich sagen würde, wer sie wirklich war. „Manchmal ... habe ich das Gefühl, dass ich gar nicht den Anforderungen der Liste
entspreche, die du Mindy gegeben hast. Ich fühle mich, als ob ich dir anfangs etwas vorgemacht hätte. Ich muss dir so gänzlich anders vorkommen als bei unserer ersten Begegnung." Benton zog Mindy noch enger an sich und küsste ihre Stirn, während sie ein Bein über seine Beine legte. „Vielleicht", flüsterte er, „hast du mir geholfen, zu erkennen, dass meine Liste doch nicht so wichtig war." Er betrachtete sie intensiv. Sag es mir, dachte er eindringlich. Sag mir, dass du Mindy bist. Sag mir die Wahrheit. Stattdessen zog sie seinen Kopf zu sich und gab ihm einen langen Kuss, was, wie Benton fand, das Zweitbeste war. Seine Zunge nahm den Tanz mit ihrer auf und ließ ihn vergessen, dass die Wahrheit wichtig war. Er begehrte sie, alle beide. Mindy und Mandy. Er war nicht zu ihr gekommen, mit der Absicht sie zu lieben, schließlich war sie ja angeblich krank, doch nun schob er die Hände unter ihren Bademantel und umschloss liebevoll ihre Brüste. Zwanzig Minuten später lagen sie - nach einem zärtlichen, wenn auch kurzen Beisammensein - aneinandergeschmiegt auf der Couch. Trotz der Tatsache, dass er gerade eine Frau geliebt hatte, die dachte, dass sie ein großes Geheimnis vor ihm bewahrte, hatte er sich noch nie so ent spannt und glücklich nach einer sexuellen Begegnung gefühlt. Als sie mit einem Finger durch sein Haar auf der Brust strich, griff er nach ihrer Hand. Er schaute ihr tief in die Augen, als er leise meinte: „Ich muss dich noch etwas fragen." In ihren Augen entdeckte er Panik. Sie sah fast so krank aus, wie sie vorgegeben hatte zu sein. „Was denn?" Willst du mich heiraten, Mandy? Die Worte lagen ihm auf der Zunge, doch er sprach sie nicht aus. Stattdessen wanderte sein Blick zu einem gerahmten Foto, das er vorhin auf einem kleinen Beistelltisch entdeckt hatte. Das Foto zeigte Mindy mit drei anderen jungen Frauen, die sich lächelnd um einen Geburtstagskuchen versammelt hatten. „Wer ist das auf dem Foto?" Erleichterung zeichnete sich auf ihrem Gesicht ab, als sie seinem Blick folgte. „Oh, das bin ... das ist meine Schwester und einige Freundinnen an ihrem fünfundzwanzigsten Geburtstag." Benton beschloss, dass er ihr für heute den kleinen Patzer durchgehen lassen würde. Er hatte immer noch vor, Mandy einen Heiratsantrag zu machen, um zu sehen, wie Mindy damit umging. Aber er würde es nicht heute tun. Miss Binks steckte den Kopf durch die Tür zu Bentons Büro. Sie wirkte nervös. Leider war sie das in letzter Zeit ziemlich häufig, nämlich stets dann, wenn sie, wie er vermutete, ihm ihre wahren Gefühle mitteilen wollte. Bisher war es ihm immer gelungen, rechtzeitig das Thema zu wechseln oder vorzugeben, dass er einen dringenden Anruf tätigen musste. Warum verstand sie seine Andeutungen nur nicht? Er wollte Miss Binks nicht wehtun, er fand nur, dass es besser für sie beide wäre, wenn sie das Thema Romanze niemals ansprächen. Er konnte nur vermuten, dass die Liebe zu ihm die Ärmste blind gemacht hatte und sie daher nicht merkte, dass er nicht hören wollte, was sie ihm zu sagen hatte. Inzwischen hatte er fast Mitleid mit Mindy. Sie hatte auch immer so panisch ausgesehen, wenn sie geglaubt hatte, er würde ihr einen Heiratsantrag machen. Es war schon zermürbend, darauf zu warten, dass jemand etwas zu einem sagte, was man nicht hören wollte. Allerdings war Mindy längst nicht so unschuldig wie Benton bei dieser Sache mit Miss Binks, also hielt sich sein Mitleid in Grenzen. „Mr. Maxwell, es tut mir Leid, wenn ich Sie störe, aber ich weiß, dass Sie heute Nachmittag keine Termine haben, und ich muss wirklich ein paar Minuten Ihrer Zeit beanspruchen." Immer wieder hatte er sie abgewehrt, und wenn er nicht allzu genau gewusst hätte, was sie sagen wollte, hätte er sich wirklich wie ein schrecklicher Arbeitgeber gefühlt. Doch ihm war eine Idee gekommen, wie er dem Ganzen ein Ende bereiten konnte. „In Ordnung. Miss Binks.
Kommen Sie, setzen Sie sich." Er deutete auf einen Lederstuhl vor seinem Schreibtisch. Sie nahm Platz, strich ihren Rock glatt und begann: „Mr. Maxwell, ich habe ..." „Miss Binks ...", er unterbrach sie, „... es gibt da etwas, was ich Ihnen anvertrauen möchte." Benton hatte sich entschlossen, Miss Binks die Wahrheit zu sagen, und er hatte vor, es zu tun, bevor sie ihre Zuneigung für ihn in Worte fassen konnte. Sein Geständnis würde ihr wehtun, aber es war etwas, was sie wissen musste, und er bemühte sich, ihr die Neuigkeiten so schonend wie möglich beizubringen. „Ich habe vor kurzem jemanden getroffen. Eine Frau." Als sie nach Luft schnappte, geschah es so leise, dass er vorgab, es nicht gehört zu haben. „Die Beziehung ist ziemlich schnell sehr ernst geworden, und ich fand es besser, Ihnen das zu sagen." Er stellte fest, dass sie weiß wie eine Wand geworden war. „Warum das, Mr. Maxwell?" Die Frage klang unschuldig, wenn auch ein wenig traurig. Er erfand eine Ausrede. „Weil es sein kann, dass ich weniger Zeit im Büro verbringen und daher Ihnen mehr Verantwortung übertragen werde." Sie nickte und stand hastig auf. Anscheinend wollte sie die Unterredung beenden. „Danke, dass Sie es mir gesagt haben." Sie ging zur Tür, drehte sich noch einmal um und meinte mit einem gequälten Lächeln: „Ich wünsche Ihnen alles Gute mit Ihrer neuen Beziehung. " Sie verschwand, bevor er etwas darauf erwidern konnte. Benton seufzte. Er hatte ihr wehgetan, und das tat ihm Leid. Sie war immer in jeder Beziehung so loyal gewesen, so treu. Aber es war besser, ihr auf diese Weise wehzutun. Hätte er zugelassen, dass sie ihm ihre Zuneigung gestand, wäre es noch schlimmer geworden. Zumindest hatte er ihr diese Demütigung und ihnen beiden erhebliche Verlegenheit erspart. Nun konnte er die Sache also als erledigt betrachten. Was ihn zu einem anderen, weit erfreulicheren Thema brachte. Er wählte Mandys Handynummer - was natürlich Mindys Nummer war -und lauschte ihrem fröhlichen „Hallo?" „Hallo, Mandy." Er legte einen verführerischen Klang in seine Stimme. „Hallo, Benton", entgegnete sie voller Wärme. „Hast du schon entschieden, was du morgen machen möchtest?" Es war Freitag, und er hatte ihr gesagt, sie solle sich etwas für das Wochenende überlegen. Normalerweise verband Benton mit einer Verabredung ein Essen in einem exquisiten Restaurant, doch Mindy hatte ihm gezeigt, dass es auch noch andere Möglichkeiten gab, Spaß zu haben. Er hatte beschlossen, seine rigiden Vorstellungen mal ein bisschen zu lockern, und dies schien ihm ein guter Anfang. Außerdem hoffte er, ihr damit endgültig zu verstehen zu geben, dass seine Anforderungsliste nicht mehr wichtig war. Sobald sie das einmal begriffen hatte und es auch wirklich glaubte, gab es keinen Grund mehr, ihre Täuschung weiterhin aufrecht zu erhalten. „Ich dachte mir, dass wir uns das Spiel der ,Reds' anschauen könnten." Hm, ein Baseballspiel. Sein Vater hatte ihn früher ab und zu zu einem Baseballspiel mitgenommen, aber es war nicht die übliche Beschäftigung der Maxwells. Selbst wenn er von einem Kunden Freikarten bekam, gab er sie meist an einen seiner Angestellten weiter. Anscheinend verunsicherte sein Zögern Mindy. „Ich weiß, es ist nicht unbedingt das, was wir normalerweise tun, aber ... meine Schwester hat es vorgeschlagen. Sie mag so etwas und meinte, es würde uns Spaß machen." Er musste lächeln angesichts ihrer Lügen. „Mindy hat es vorgeschlagen? Na, dann gehen wir natürlich." Nein, Baseball war eigentlich nicht sein Geschmack, doch Benton kam schnell zu der Überzeugung, dass es unter den gegebenen Umständen wirklich Spaß machen könnte. Er strich sich nachdenklich über das Kinn, bevor er ziemlich teuflisch zu lächeln begann. Es war Janes Idee gewesen. Zusammen hatten sie und Mindy entschie den, dass Bentons nächste Verabredung mit Mandy an einem öffentlichen Ort stattfinden musste. Irgendwo, wo es laut war und wo er ihr auf keinen Fall einen Heiratsantrag machen konnte. Während sie und Benton ihre Sitze einnahmen, sah Mindy erleichtert, dass sich eine ziemlich große Menschenmenge zu dem Spiel der „Reds" gegen die „Dodgers" eingefunden hatte.
Neulich Abend war sie ein nervliches Wrack gewesen, als sie ständig erwartet hatte, dass er die gefürchtete Frage stellen würde. Doch sie kannte Benton inzwischen gut genug, um zu wissen, dass er ihr niemals in solch einem überfüllten Stadion einen Heiratsantrag machen würde. Trotz aller anfänglichen gegenteiligen Vermutungen, war er im Grunde seines Herzens ein Romantiker, das hatte er immer wieder bewiesen. Und etwas so Wichtiges an einem unromantischen Ort zu tun, war nicht sein Stil. Das hatte ihn wahrscheinlich auch davon abgehalten, sie während ihrer vorgetäuschten Krankheit zu fragen. Er hatte sich bestimmt Wein und rote Rosen für solch eine Gelegenheit ausgemalt, nicht Bademantel und Bazillen. Sie hoffte nur, dass Erdnussschalen und Bierstände auch nicht seinen Standards entsprachen. Sie war überzeugt, dass er auf den richtigen Zeitpunkt wartete, also war ihre oberste Priorität im Moment, ihm diese Gelegenheit nicht zu bieten. Benton hatte Hot Dogs und Bier für sie beide gekauft und darauf bestanden, einen großen roten Schaumstofffinger mit der Aufschrift „Wir sind die Nr. 1" für sie zu erstehen, als sie einen gesehen und gelacht hatte. Dieser Kauf hatte eins klar gemacht. Nichts, was sie jetzt noch tat, konnte ihn anscheinend vergraulen. Normalerweise hätte sie bei dieser Gelegenheit eine abgeschnittene Jeans getragen, doch um ihrem „Mandy-Stil" nicht untreu zu werden, hatte sie stattdessen einen kurzen weißen Rock und ein rotes Top aus gewählt. Benton saß in Shorts und einem burgunderfarbenen Poloshirt neben ihr und sah so gut aus wie immer. Während sie die ersten Spielzüge beobachtete, begann Mindy ihm ein paar Feinheiten des Spiels zu erklären, gab sich jedoch Mühe, nicht zu beschlagen zu wirken. Mehrmals warf sie ein „ich glaube" oder ein Kichern ein und erklärte, sie wüsste das alles, weil Mindy sie manchmal dazu brachte, Baseball mit ihr im Fernsehen anzuschauen. Manchmal wünschte Mindy sich, sie könnte ihre Perücke herunterreißen und sie selbst sein. Sie hatte aufgehört, ihre Stimme zu verstellen, aber sie versuchte, hin und wieder noch etwas von Mandys Persönlichkeit einzustreuen, sei es eine Bemerkung, ein entsprechender Gesichtsausdruck oder indem sie etwas Ausgefallenes tat. Die Wahrheit war nämlich, so beschämend und albern ihre Lügen auch waren, und sosehr sie sich auch wünschte, wieder sie selbst zu sein, es gab einen Teil in ihr, der es wirklich genoss, Mandy zu sein, genau so, wie Jane es ihr gesagt hatte. Mindy war es nur schwer gefallen, das zuzugeben. Mandy war viel femininer, die Art von Frau, auf die die Männer flogen. Kein Wunder, dass Benton verrückt nach ihr war. Und Mandy hatte wirklich mehr Spaß am Leben und war sorgloser. Eben war sie in einer Spielpause aufgesprungen und hatte wild mit dem großen roten Schaumstofffinger, den er ihr als Gag gekauft hatte, zur Melodie eines Popsongs gewedelt und war herumgehüpft. Sonst klatschte Mindy mit der Menge, wenn ein Spiel aufregend wurde, aber nie wäre sie aufgesprungen und im Stadion herumgehüpft. Und die Frau zu sein, die so spontan reagierte, machte viel mehr Spaß. „Danke für den Finger", sagte sie zu Benton, als sie sich wieder setzte. „Wie wär's? Wollen wir uns noch einen Hot Dog teilen?" „Noch immer hungrig, was? Sicher." Er lachte. „Es soll niemand sagen, dass ich meine Freundin nicht in die besten Häuser führe, um sie mit erlesenem Essen zu verwöhnen." Nach der Pause ließ Mindy sich ganz von dem Spiel an diesem sonnigen, warmen Tag mitreißen. In der einen Hand hielt sie den Hot Dog, in der anderen ihren Schaumstofffinger, während sie zusah, wie Ken Griffey zum Schlag ausholte. In dem Moment lenkte das entfernte Brummen eines kleinen Flugzeugs ihre Aufmerksamkeit zum Himmel. Sie erwartete, ein Werbebanner für eins der ansässigen Restaurants oder eine Bar hinterher flattern zu sehen, doch es war eins vo n den Flugzeugen, die in der Luft etwas schreiben. Nachdem sie zugesehen hatte, wie die Buchstaben H und E Form annahmen, begann Mindys Herz sich wieder zu beruhigen. Einen verrückten Moment lang hatte sie doch tatsächlich befürchtet, dass das Flugzeug ihren Namen schreiben könnte. Sie lächelte Benton
kurz zu, bevor sie sich wieder ganz auf das Spiel konzentrierte. Als die Heimmannschaft einen Punkt machte, wedelte Mindy mit ihrem Finger, während auf der riesigen Anzeigetafel das Worte „Superschlag" aufleuchtete. Sie wandte sich dem nächsten Spieler zu, der sich bereit machte. Benton stupste sie leicht an, und deutete nach oben. Sie folgte seinem Blick und las „HEIRATE MICH, MANDY!" auf dem wolkenlosen Himmel. Mindy erstarrte. Ihr stockte der Atem. Falls es nicht noch eine Mandy gab, die heute mit ihrem Freund hier war, dann hatte Benton ihr gerade einen Heiratsantrag gemacht! Vor dreißigtausend Menschen! So viel zu Wein und Rosen. So viel dazu, dass sie ihn zu kennen glaub te. Keine Panik, versuchte sie sich einzureden. Es waren schließlich wirklich dreißigtausend Menschen hier - vielleicht existierte eine echte Mandy. Sie hatte noch nicht den Mut aufgebracht, zu Benton zu schauen und überlegte gerade, was sie tun sollte, als die ältere Dame neben ihr sie anstieß und zur Anzeigetafel zeigte. „Sind Sie das nicht, meine Liebe?" Entsetzt wandte Mindy den Blick zu der riesigen Tafel und sah sich in Großaufnahme mitsamt dem Schaumstofffinger. Die Worte „HEIRATE MICH, MANDY!" leuchteten ebenfalls auf - in roter und gelber Neonfarbe! Sie kam sich vor wie eine in die Ecke gedrängte Ratte. Nein, sie war eine in die Ecke gedrängte Ratte. Ein Blick auf ihr Gesicht sollte das jedem klar machen, aber ein vorsichtiger Blick zu Benton enthüllte, dass dieser liebeskranke Mann mit Blindheit geschlagen war, wenn es um sie ging. Hoffnung zeichnete sich in seiner Miene ab. Er wirkte so süß, so voller Erwartung und sah besser aus als je zuvor. Als Mindy wieder entgeistert zur Anzeigetafel schaute, schlug sie sich versehentlich mit dem großen Finger gegen den Kopf und schmierte sich, als sie automatisch den Kopf senkte, Ketchup von ihrem Hot Dog an die Wange. Benommen erblickte sie auf der spiegelartigen Tafel ihr entsetztes, beschmiertes Gesicht hundertfach vergrößert, so dass alle es sehen konnten. Dann erweiterte sich der Blickwinkel, und auch Benton erschien auf der Anzeige. Sprachlos drehte sie sich zu ihm um. Liebevoll grinsend hob er einen Daumen und wischte ihr den roten Fleck von der Wange. Dreißigtausend Menschen warteten gespannt auf ihre Antwort. Ap plaus begann aufzubrausen, und langsam begriff sie, dass er ihr und Benton galt. Es schien, als wäre das Spiel für einen Moment aufgehalten, so dass Mindy - oder Mandy - dem Mann neben ihr eine Antwort geben konnte, während alle zusahen. Und die Antwort war einfach. Sie konnte Benton nicht in einem Stadion voller Menschen bloßstellen. Sie konnte ihm nicht vor allen Leuten das Herz brechen. Sie ließ ihren Hot Dog fallen und schlang die Arme zusammen mit dem Schaumstofffinger um seinen Hals. Die Menge brach in Jubelrufe aus. Nachdem eine Reihe von fremden Menschen ihnen gratuliert hatte, beugte Benton sich zu Mindy und flüsterte ihr verschwörerisch zu: „Lass uns von hier verschwinden." Mindy erinnerte sich, dass genau diese Worte das alles in Gang gesetzt hatten, in jener Nacht auf der Tanzfläche, als er sie in sein Bett eingela den hatte. Halt! Das stimmte nicht. Benton hatte nichts in Gang gesetzt. Sie hatte die Initiative ergriffen. Sie war niederträchtig. Und sie hatte die Sache zu weit getrieben. Sie musste sie wieder geradebiegen. Ein für alle Mal. Trotz all ihrer Anstrengungen würde es nicht so enden, wie sie es ge plant hatte. Es konnte nicht mehr gelingen, sie nicht zu mögen. Sie wür de ihm erst das Herz brechen müssen, um ihn dazu bringen, sie zu hassen. Die Situation wurde noch dadurch verschlimmert, dass sie in dem Moment, als sie die
Arme um ihn geschlungen und seinen Antrag wortlos angenommen hatte, etwas erkannt hatte. Nämlich dass sie nur zu gerne Ja gesagt hätte, wenn Benton die Wahrheit wüsste und ihr trotzdem einen Antrag machen würde. Es wäre ein Ja aus ganzem Herzen gewesen. Aber das spielte keine Rolle. Nichts schien mehr eine Rolle zu spielen, abgesehen von dem Unausweichlichen. Sie musste das tun, was sie nie hatte tun wollen; das, wozu Jane sie schon die ganze Zeit gedrängt hatte - sie musste ihm die Wahrheit sagen. „Wo hast du geparkt?" fragte Benton, als sie Hand in Hand das Stadion verließen. Sie waren getrennt gekommen, obwohl Benton angeboten hatte, sie abzuholen, doch Mindy hatte vermeiden wollen, länger als nötig mit ihm allein zu sein, und hatte deshalb einen dringenden Fall in der Agentur vorgetäuscht. „Ich hatte Glück und habe auf der Straße noch einen Parkplatz gefunden", erklärte sie und deutete in die Richtung, in der ihr Wagen stand. Sie schaute Benton nicht an, während sie nebeneinander gingen. Sie hatte das Gefühl, die letzten Augenblicke ihres Lebens verstreichen zu sehen. Sie würde zwar nicht sterben, wenn sie Benton die Wahrheit sagte, aber sie wusste, dass etwas in ihr aufhören würde zu existieren, wenn ihre wahre Identität ans Licht kam. Es hatte etwas mit Selbstachtung und Stolz zu tun, aber auch mit Hoffnung ... und Liebe. Vermutlich hatte sie bis zu diesem Moment tief in ihrem Inneren gehofft, dass sich das Ganze irgendwie von selbst klären würde. Vergeblich. Sie marschierte zügig und zog ihn mit sich. Sie wollte rasch bei ihrem Auto sein, um diese entsetzliche Angelegenheit hinter sich zu bringen. „Wie wäre es", schlug Benton vor, „wenn wir deinen Wagen nehmen, irgendwo hinfahren, um zu feiern, und dann später mein Auto hier abholen?" Oh, Himmel! Er streichelte ihre Hand mit dem Daumen auf diese liebevolle Art, die sie immer zum Schmelzen brachte, und für eine Sekunde war sie versucht, es ihm nicht zu erzählen, sondern weiter mit der Lüge zu leben. Nur noch ein bisschen länger, versprach sie sich. Nein! Das war verrückt. Sie musste es jetzt beenden. Es gab keine andere Wahl. Als Mindy Benton um die Ecke zog und vor ihrem Wagen stehen blieb, drehte sie sich um und lehnte sich dagegen. Jetzt rede, ermahnte sie sich. Du musst! Sie zögerte nicht länger. „Benton, ich muss dir etwas sagen." Er trat zu ihr und nahm ihr den großen Finger aus der Hand. Ihr war gar nicht bewusst gewesen, dass sie die Fingernägel darin vergraben und sich wie an einen Rettungsring daran geklammert hatte. Er legte ihn auf die Kühlerhaube und nahm dann ihre beiden Hände in seine. „Was ist, Darling?" Darling? Jetzt nannte er sie Darling? Aber er dachte ja auch, sie wären verlobt. Er dachte, sie würden heiraten. Der Gedanke versetzte ihr einen Stich. Die nächsten Worte waren so schmerzhaft, dass sie Benton nicht in die Augen schauen konnte. Sie senkte den Blick. „Benton, ich ... ich fürchte, ich kann dich nicht heiraten." „Warum nicht?" fragte er. „Weil du in Wahrheit Mindy bist?"
9. KAPITEL Mindy starrte Benton entgeistert an, während der Schock sich wie eine Welle in ihrem Körper ausbreitete. „Was hast du gesagt?" Zu ihrem Erstaunen lächelte Benton zufrieden und ein wenig selbstge fällig, das Letzte, was sie erwartet hatte, nachdem sie gerade seinen Heiratsantrag abgelehnt hatte. „Ich habe dich gefragt, ob du deine Meinung geändert hast, weil du in Wahrheit Mindy bist. Das würde das Ganze auch ein wenig schwierig machen, oder? Einen falschen Namen unter die Heiratsurkunde zu setzen wäre illegal, und natürlich wäre es schwierig zu erklären, warum deine Schwester nicht zur Hochzeit kommt. Andererseits würdest du mir vielleicht einfach am Tag der Hochzeit erzählen, dass es dir nicht gut geht, was bedeuten müsste, dass Mindy krank zu Hause im Bett liegt, und du lediglich ihre Schmerzen mitfühlst, so wie Zwillinge es tun. Richtig?" Das Schockierendste an Benton Schmährede war sein ausgesprochen amüsierter Gesichtsausdruck dabei. Mindy verstand überhaupt nichts mehr. Ihr war ganz schwindelig und schlecht - und diesmal täuschte sie nichts vor. „Aber ... wie ...?" Er neigte den Kopf und wirkte immer noch ziemlich zufrieden mit sich. „Deine Erklärung, was die Hinfallerei betraf, war nicht gerade überzeugend, und außerdem habe ich diesen niedlichen kleinen Leberfleck in der Kniekehle bei dir entdeckt. Was deine mysteriöse Krankheit betrifft, hast du ja ganz gut angefangen, doch dann fehlte dir das Durchhaltevermögen, um wirklich überzeugend zu sein. Was dich jedoch am meisten verraten hat, war dein Haar." „Das Haar?" Sie griff nach ihrer blonden Perücke und fürchtete fast, er würde sie ihr jetzt vom Kopf reißen. „Die kleinen roten Strähnen, die an deinem Ohr hervorlugten. Ich habe sie gesehen, nachdem du in meinem Schlafzimmer für mich getanzt hast." Mindy wand sich. „Und neulich, als du vorgegeben hast, krank zu sein, habe ich noch mal eine Strähne entdeckt." „Ich verstehe", erwiderte sie leise. Irgendwann während des Gesprächs hatte Benton ihre Hände losgelassen - oder vielleicht hatte sie sie auch weggezogen, sie wusste es nicht - und sie begann, sie nervös zu ringen. „Ich habe nur eine Frage, Mindy." Sein Lächeln schwand. „Oh?" Sie konnte sich wohl kaum beschweren, dass er nur eine kleine Frage hatte, aber da sie ahnte, was er wissen wollte, war sie nicht besonders erpicht darauf, sie zu beantworten. „Warum hast du es getan? Warum hast du vorgegeben, jemand anderes zu sein?" Ja, das war die Frage, die sie befürchtet hatte. Aber Janes Stimme hallte in ihrem Kopf wider:„Sag die Wahrheit." Und zu diesem Zeitpunkt sah Mindy keinen anderen Weg; außerdem wäre ihr jetzt auch keine weitere Lüge mehr eingefallen. Aber sie musste es alles auf einmal herausbringen, denn sonst würde sie es nie mehr schaffen, die volle Wahrheit zu sagen. Wie schon vorher, brachte sie es nicht über sich, ihm in die Augen zu sehen. Benommen zog sie sich die Perücke vom Kopf. „Es fing damit an, als du in meine Agentur kamst und mir diese Liste mit Anforderungen für deine künftige Frau vorgelegt hast. Ich fand, es waren rigide und überholte Kriterien, und ich wollte dich eigentlich gar nicht als Kunden haben, aber als du bereit warst, diesen absolut überhöhten Preis zu zahlen, den ich dir zur Abschreckung genannt hatte, blieb mir keine andere Wahl. Und als deine Verabredungen mit Kathy und Anita so katastrophal endeten, wollte ich kein weiteres Risiko eingehen. Also ent schied ich mich, als Kandidatin einzuspringen, in dem Glauben, dass du mich am Ende des Abends ebenfalls völlig unpassend finden würdest, und dass die Sache damit zu Ende wäre. Ich hätte meine Verpflichtungen dir gegenüber mit drei Verabredungen erfüllt, und wir hätten uns nie wieder gesehen. Doch dann passierte etwas, womit ich nicht gerechnet hatte. Egal, was ich tat, du mochtest mich immer
noch. Ich habe wieder und wieder versucht, deine Meinung zu ändern, doch es hat alles nicht funktio niert." Ben ton stand total geschockt da. Noch vor einer Minute, als er ihr ge standen hatte, dass er die Wahrheit wusste, war er voller Freude gewesen, dass ihr Verwirrspiel endlich beendet sein würde. Er hatte es nicht mehr abwarten können, bis sie alles zugab, und war sich siegreich vorgekommen. Es hatte nur noch ihre Erklärung gefehlt, warum sie es getan hatte, danach hatte er ihr sagen wollen, dass er sie liebte, egal wer sie war. So hatte sein Plan gelautet. Jetzt wäre es ihm fast lieber gewesen, sie hätte ihm vor den dreißigtausend Zuschauern im Stadion einen Korb gegeben. Er konnte nicht fassen, dass er die Situation so gründlich missverstanden hatte. Sie hatte ihn gar nicht gewollt; sie hatte eine Verpflichtung erfüllt. Es war alles vorgetäuscht gewesen, ihre niedliche, weltgewandte Seite genauso wie ihre wilde, abenteuerlustige. Die langen Gespräche, die sie geführt hatten, ebenso die Leidenschaft, wenn sie sich geliebt hatten. Es war, als hätte er einen Schlag in die Magengrube bekommen. Ihm war schwindelig, und er kam sich wie ein Narr vor. „Oh", sagte er schließlich. Sein Mund war trocken, seine Stimme klang hohl. „Ich dachte, du wolltest mit mir zusammen sein und mochtest das nur nicht zugeben. Ich dachte, ich ... hätte andere Seiten an dir zu Tage gefördert, die du sonst niemandem zeigst. Scheint so, als hätte ich da einiges missverstanden." Mit diesen Worten drehte er sich um und ging davon. Er hatte nichts weiter zu sagen. „Benton, warte!" Doch er reagierte nicht. Er setzte entschlossen einen Fuß vor den anderen, ging um die Ecke und verließ Mindy. Oder Mandy. Wer zum Teufel sie auch war. Für immer. Am Samstagabend rief Benton Phil und Mike an und traf sich mit ihnen in einer kleinen, ruhigen Kneipe in der Nähe seines Hauses. Er hatte ge hofft, dass das Treffen ihn aufheitern würde, doch stattdessen machte es ihn noch missmutiger. Nicht nur, dass die beiden anderen glücklich verheiratet waren, Mike hatte auch noch zwei kleine Söhne, und Phils Frau hatte erst vor sechs Monaten ein kleines Mädchen bekommen. Das hatte Benton natürlich gewusst, als er sich mit ihnen verabredet hatte, aber er hatte nicht geahnt, dass er den ganzen Abend lang hören würde, wie wunderbar so ein Familienleben sei. „Kinder", murmelte er seinen Freunden später am Abend zu, als er dem Alkohol schon kräftig zugesprochen hatte. „Ich werde niemals Kinder ha ben." Er wandte sich an Mike und sah ihn auf einmal hoffnungsvoll an. „Vielleicht hinterlasse ich mein Haus und mein Geld deinen Kindern. Meinst du, ihnen würde das gefallen?" Seine beiden Freunde schauten sich erstaunt an, doch Benton bemerkte es kaum, sondern griff nach seinem Drink. „Das ist sehr großzügig", erwiderte Mike. „Aber findest du nicht, dass du ein bisschen voreilig bist?" „Oder", fügte Phil hinzu, „wäre es nicht besser, wenn du deinen Neffen und Nichten etwas hinterließest?" Benton machte eine abwehrende Handbewegung. „Ach, was soll's! Ich werde nur der alte, einsame Onkel Benton für sie sein. Der arme Alte, der gnädigerweise jeden Feiertag bei einem anderen Verwandten verbringen darf. Der in seinem großen, leeren Haus herumläuft und mit sich selbst redet." „Mir scheint, du bist schon auf dem besten Weg dorthin", meinte Mike lachend. Phil senkte die Stimme und wurde ernst. „Was ist los?" Benton signalisierte dem Barkeeper, dass er noch einen Wodka wollte, und antwortete nicht. „Frauen", murmelte er stattdessen. „Man kann ihnen nicht trauen." „Das ist interessant", erklärte Phil und beugte sich näher. „Erzähl uns mehr." „Ja, alter Junge. Was verheimlichst du uns?" Aber Benton hörte gar nicht richtig zu, er war zu sehr mit seinem Selbstmitleid beschäftigt.
„Sie sind alle trügerisch", murmelte er. „Erst sind sie rothaarig, dann blond, dann wieder rothaarig." „Was?" fragte Mike verwirrt. Phil seufzte. „Okay, das ist ja eher abgedreht als interessant." „Und dann ihre Namen", fuhr Benton fort. „Sie wechseln die Namen, wenn du nicht aufpasst." Phil und Mike tauschten erneut einen Blick aus, und Benton sah, wie Mike sich an die Stirn tippte. . „Hör mal, Kumpel", sagte Phil und legte Benton eine Hand auf die Schulter. „Ich fürchte, deine Worte ergeben heute Abend nicht viel Sinn." „Meine Worte ergeben keinen Sinn?" entgegnete Benton entrüstet. „Sie ist diejenige, bei der nichts einen Sinn ergibt." „Anscheinend hat er genug für heute. Wir fahren ihn besser nach Hause", meinte Mike zu Phil. Der nickte, und gemeinsam sorgten sie dafür, dass Benton heil zu Hause ankam. Am Sonntag schlief Benton fast den ganzen Tag, während Visionen von blonden Perücken und engen, glitzernden Kleidern in seinen Träumen herumschwirrten. Als er aufstand, war er müde, verkatert und niedergeschlagen, Er wusste, er sollte seine Freunde anrufen und ihnen erklären, dass er nicht zu einem Alkoholiker geworden war. Doch da er es nicht gewohnt war, dass ihm Dinge fehlschlugen, weder Beziehungen noch andere Sachen, war er nicht sehr erpicht darauf, seinen alten Freunden von seinem gebrochenen Herzen zu erzählen. Dabei müsste er sie auch anrufen, um die Party abzusagen, die sie für seinen fünfunddreißigsten Geburtstag geplant hatten. Phil hatte ihm letzte Woche erzählt, dass sie eine Fete geplant hatten. „Wenn wir einen Kuchen finden, der groß genug ist, dass alle Kerzen darauf passen", hatte er hinzugefügt. Benton hatte gelacht, weil er glücklich gewesen war. Er war mit Mindy ausgegangen und hatte geglaubt, dass Leben wäre wunderbar. Er hatte auch ihr gegenüber die Party erwähnt, weil er gehofft hatte, dass sie ihn begleiten und seine Freunde treffen würde. Als Mindy oder Mandy - das war ihm da ziemlich egal gewesen. Jetzt wollte er nichts mehr von einer Party wissen. Fünfunddreißig zu werden, ohne Aussicht auf Frau und Familie, was gab da zu feiern? Immer wieder dachte er an den Moment, als Mindy ihm die Wahrheit gesagt hatte. Er war sich so sicher gewesen, dass sie sich als Mandy verkleidet hatte, weil sie mit ihm zusammen sein wollte. Arrogant wie er war, war es ihm nie in den Sinn gekommen, dass es vielleicht einen anderen Grund geben könnte, geschweige denn solch einen beschämenden. Jetzt war er wirklich auf dem besten Wege, zu einem alten, exzentrischen Onkel zu werden, der mit sich selbst redete. Hatte er gestern tatsächlich all seine Besitztümer Mikes und Phils Kindern vermacht? Ein weiterer Grund, warum er sie unbedingt anrufen sollte. Am Nachmittag schleppte er sich jedoch erst einmal ins Fitness Center, das er längst nicht so oft besuchte, wie er sollte. Er hatte gehofft, dass er durch die körperliche Anstrengung seine Frustration überwinden könnte, doch es war nicht so. Mindys Abweisung lähmte seine Energie. Er hatte gewusst, dass sie eine Kraft war, mit der man rechnen musste, aber er hätte nie gedacht, dass diese Kraft ihn eines Tages so treffen würde, als er erkennen musste, dass Mindy sich nichts aus ihm machte. Das Schlimmste an der ganzen Sache war, dachte er, als er vergeblich versuchte, ein paar Gewichte zu stemmen, dass er sie wirklich hatte heiraten wollen, trotz ihres Täuschungsmanövers. Es war ihm gar nicht bewusst gewesen, wie sehr, bis sie ihn unter dem Applaus von Tausenden von Baseballfans umarmt hatte. Er hatte durch Mindy mehr Aufregung und Freude erlebt, als er je in einer Beziehung für möglich gehalten hätte. Er war während der letzten Jahre so in seine Arbeit und seine ehrgeizigen Pläne vertieft gewesen, dass er vergessen hatte, was das Leben sonst noch alles zu bieten hatte. Sein Entschluss, sich
eine Frau zu suchen, mit der er Kinder haben und alt werden konnte, war einer gewissen Einsamkeit entsprungen, und die Beziehung zu Mindy hatte ihm bewusst ge macht, wie schön es zu zweit sein konnte. All diese Dinge hätte er gern auch weiterhin mit ihr zusammen erlebt, und noch tausend andere dazu, von denen er bis dahin nicht einmal geahnt hatte, dass er sie sich wünschte. Doch es hatte anscheinend nicht sein sollen. Als er nach Hause kam, war eine Nachricht auf seinem Anrufbeantworter. „Benton, hier ist... Mindy." Sie klang ein wenig verwirrt darüber, wer sie war, und das war amüsant. Ihre Stimme zu hören war einerseits ein Trost, aber gleichzeitig hatte er das Gefühl, dass die Wunde, die gerade zu heilen begonnen hatte, wieder aufriss. Okay, sie war noch nicht wirklich geheilt, aber er hatte zumindest begonnen zu akzeptieren, dass Mindy nicht länger zu seinem Leben gehörte, dass all die Pläne, die er für die Zukunft gemacht hatte, null und nichtig waren. „Bitte ruf mich an. Es gibt noch so viel zu sagen. Es tut mir sehr Leid wegen gestern. Kannst du mir vergeben?" Ihr vergeben? Für ihre Täuschung? Ja. Dafür, dass sie ihm das Herz gebrochen hatte? Nein. Als Benton sich schließlich am nächsten Morgen ins Büro schleppte, war er von sich selbst angewidert. Zum einen war er schon wieder zu spät. Zum anderen gefiel ihm nicht, wie er mit der Sache umging. Ein vergeudetes Wochenende konnte er ja noch entschuldigen, aber jetzt musste er sich wieder am Riemen reißen. Er hatte eine Firma zu leiten. Menschen waren abhängig von ihm. Kunden, Angestellte, sein Vater, der die Maxwell Group aufgebaut und sie ihm anvertraut hatte. „Schon wieder zu spät", schalt Claudia ihn, als er aus dem Fahrstuhl geeilt kam. Ihre Stimme bereitete ihm Kopfschmerzen. Aber an diesem Morgen schien ihm alles Kopfschmerzen zu bereiten. „Kommt nicht wieder vor", erwiderte er, als sei sie seine Vorgesetzte, und ohne eine Antwort abzuwarten, marschierte er zu der Besprechung, die bereits angefangen hatte. Als er zur Tür hereinkam, richteten alle den Blick auf ihn, auch Miss Binks. „Na, endlich", meinte Percy Callendar lächelnd. „Unser furchtlo ser Firmenleiter." Das verursachte ihm wieder Kopfschmerzen. „Heute vielleicht nicht ganz so furchtlos, Percy." Als seine Aussage mit erschrockenem Schweigen aufgenommen wur de, erkannte" Benton, dass er gerade seine schwache Seite offengelegt hatte. Ein schwacher Benton machte ihnen genauso viel Angst wie ihm selbst. „Was ist los, Benton? Ich meine, Mr. Maxwell." Miss Binks blinzelte nervös. Er fasste sich an den Kopf. Mindy war nicht die Einzige, die schauspielern konnte. „Nur eine leichte Erkältung oder so etwas." „Zu dieser Jahreszeit?" Er seufzte. „Manchmal haut einen etwas um, wenn man es am wenigsten erwartet." „Vielleicht sollten Sie zum Arzt gehen", meinte seine Assistentin besorgt. „Es wird schon gehen, Miss Binks." „Okay, wollen wir dann anfangen?" fragte Percy, und Benton registrierte, wie dessen Blick amüsiert zwischen ihm und seiner Assistentin hin und herwanderte. Genauso wenig entging ihm Malcolm Wainscotts trauriger Gesichtsaus druck, als er den Kopf reckte, um Miss Binks bewundernd anzuschauen. Einer neuen Gewohnheit folgend, wollte Benton wissen, ob seine Bemühungen, die beiden zusammenzubringen, schon Früchte trug. „Lasst uns mit Malcolm und Miss Binks beginnen. Wie kommen Sie mit den Berichten voran?" Malcolm sah seinen Chef ernst an. „Ich wollte Ihnen noch einmal danken, dass Sie mich mit dieser Verantwortung betraut haben, Mr. Maxwell."
Dafür, dass Sie mir Zeit mit Miss Binks ermöglicht haben, meinte er wohl. „Keine Ursache, Malcolm. Sie haben es sich verdient." „Und ich für meinen Teil finde, es war sehr produktiv." Malcolms Eifer rang Benton ein kleines Lächeln ab, das erste seit zwei Tagen. Dann wandte Benton sich an seine treue Assistentin. „Miss Binks, stimmen Sie dem zu?" Sie zögerte und senkte dann den Blick. Das verhieß nichts Gutes. Schließlich sah sie wieder auf und seufzte. „Das geht nicht gegen Malcolm - man kann wunderbar mit ihm zusammenarbeiten, und er verfügt über viel Wissen -, aber ich fürchte, ich finde dieses Arrangement nicht produktiv. Im Gegenteil." Erstaunt hob Benton die Augenbrauen. „Wenn ich die Berichte mit Ihnen durchgehe, Mr. Maxwell, ist das eine effiziente Prozedur. Jetzt treffe ich mich mit Malcolm, dann schreibe ich einen Bericht über den Bericht, gebe ihn Ihnen, erinnere Sie daran, ihn zu lesen, und beantworte mögliche Fragen, die Sie haben. Sie sehen sicherlich ein, dass das vergeudete Zeit ist." Benton neigte den Kopf. Malcolm tat ihm Leid. Diese kühle Äußerung war bestimmt ein arger Dämpfer für ihn. „Okay, Miss Binks, ich werde mir die Sache überlegen und gebe Ihnen dann Bescheid." Er sah die anderen am Tisch an. „Machen wir weiter. Percy, wollen Sie fortfahren?" Alle im Zimmer schienen erleichtert aufzuatmen, als Percy seine Zahlen herunterzubeten begann. Benton war noch nie so froh über seinen aus führlichen Bericht gewesen wie heute, da er sich nicht in der Lage fühlte, die Truppen anzuführen. Während Percy weiterredete, dachte Benton über Malcolm und Miss Binks nach. Seine Assistentin hatte ihm zweierlei klargemacht. Die Neuigkeiten von Bentons neuer Beziehung hatten ihre Zuneigung zu ihm nicht erschüttert. Sie wollte nichts mit Malcolm zu tun haben und blieb seinen Gefühlen gegenüber blind. Und leider war das, was sie gesagt hatte, richtig - Benton hatte ein System, das funktioniert hatte, zu einem ineffizienten umgemodelt, und das alles im Namen der Liebe. Doch was nützte es? Warum versuchte er so krampfhaft, Miss Binks und Malcolm zusammenzubringen, wenn er tief in seinem Herzen genau wusste, dass die Sache zum Scheitern verurteilt war? Und wieso hatte er überhaupt angefangen, an etwas so Verrücktes und Romantisches wie Liebe zu glauben? Bevor er Mindy getroffen hatte, war er nicht einmal sicher gewesen, ob sie überhaupt existierte. Jetzt wusste er zwar, dass es sie gab, aber er wünschte, er wäre weiter ahnungslos ge blieben. Er wünschte, er hätte die ganze Sache gelassen und sich allein eine Frau gesucht. Verdammt, er musste endlich seine Depression abschütteln und wieder er selbst sein. Und das sollte er auf keinen Fall noch eine Sekunde länger hinauszögern. Das ganze Chaos war entstanden, weil er sich eine Frau gewünscht hatte. Er hatte gedacht, es wäre schön, wenn er dabei auch Liebe fand, aber das hatte sich als weit komplizierter herausgestellt als erwartet. Die Dinge waren viel einfacher, wenn er sich nicht von sentimentalen Gefühlen ablenken ließ. Was Miss Binks und Malcolm anging, war es von Anfang an sinnlos ge wesen, sie zusammenbringen zu wollen. Er konnte nichts erzwingen, was nicht da war. Doch er konnte die Umstände so, wie sie waren, akzeptieren und das Beste daraus machen. Genau das würde er jetzt tun. Als die Besprechung sich dem Ende neigte, begann er für jeden der Anwesenden Aufgaben zu verteilen. Dabei sprach er mit neuer Energie, und als alle sich aufrechter hinsetzten und ihn gespannt ansahen, merkte man, dass der alte Benton zurück war. Nachdem er alle Aufgaben delegiert hatte und bis auf Malcolm und Miss Binks alle den Raum verlassen hatten, wandte Benton sich an Malcolm. „Miss Binks hat Recht - ich habe ihr unnötige Arbeit gemacht, indem ich Sie gebeten habe, die Berichte mit ihr durchzusprechen. Wir werden wieder zum alten Verfahren zurückkehren. Aber kommen Sie nachher um drei in mein Büro, dann werden
wir über andere Möglichkeiten sprechen, Ihren Aufgabenbereich mit mehr Verantwortung auszustatten." Benton ignorierte Malcolms Enttäuschung, die ihm deutlich anzusehen war, als er langsam seinen Stuhl zurückschob und das Zimmer verließ, und wandte sich an seine Assistentin. „Miss Binks, haben Sie heute Mittag Zeit, um mit mir essen zu gehen?" Sie wirkte verständlicherweise erstaunt. Es kam so gut wie nie vor, dass sie ihre Mittagspause zusammen verbrachten. „Gibt es eine wicht ige ge schäftliche Sache zu besprechen?" „Wichtig, ja. Geschäftlich, nein." Er könnte lernen, Miss Binks' - Candace, er sollte anfangen, sie Candace zu nennen - Vorzüge zu schätzen. „Es geht um die Beziehung, von der ich letzte Woche sprach." „Oh?" Benton sah keinen Grund, um den heißen Brei herumzureden. „Wir ha ben uns getrennt. Ich denke, es wird mich auf andere Gedanken bringen, wenn ich das Büro mal eine Zeit lang verlasse und mit jemandem spreche." „Möchtest du ein Eis?" fragte Jane mitfühlend, als sie und Mindy sich auf einer Bank im Hyde Park Square zur Mittagspause niederließen. „Ich spendiere eins." Mindy schüttelte niedergeschlagen den Kopf. „Das ist lieb von dir, Jane, aber nein danke." Jane hob hoffnungsvoll die Augenbrauen und sprach so, als redete sie mit einem Kleinkind. „Pfefferminz mit Schokostücken. Deine Lieblings sorte." Mindy schüttelte erneut den Kopf und verkündete theatralisch: „Ich kann nie wieder Pfefferminzeis mit Schokostücken essen. Es erinnert mich zu sehr an ihn." Jane verzog das Gesicht. „Komm schon, Mindy, du hast es Hunderte von Malen gegessen, bevor Benton aufgetaucht ist. Warum denkst du nicht einfach daran? Oder noch besser, warum denkst du nicht einfach daran, wie du ihn kennen gelernt und ihn nicht gemocht hast? Als du fast das Eis auf seine Füße hast fallen lassen! Das war doch lustig, oder? Lass uns doch einfach so tun, als würdest du ihn immer noch nicht mögen." Jane lächelte und nickte enthusiastisch angesichts ihres Vorschlags, doch Mindy runzelte die Stirn. „Jane, ich liebe ihn." Auch Janes Stirn umwölkte sich. „Das ist eine schlechte Einstellung." „Was?" „Erinnerst du dich an die alte Mindy, die sagte ,Liebe ist nichts für mich, ich helfe nur anderen, sie zu finden'? Ich finde, du solltest sie reaktivieren. Sie war lustig. Und sie hat sich viel weniger Ärger eingehandelt. Sie hatte Recht - wer braucht schon einen Mann?" Jane machte eine abwertende Handbewegung. „Mindy jedenfalls nicht. Mindy ist ausgesprochen glücklich mit ihren Freunden, ihrer Katze, ihrer Agent ur. Mindy ist eine tüchtige, selbstsichere Frau, die keinen Mann braucht, der ihr Leben in Unordnung bringt." Mindy schüttelte vehement den Kopf. „Nein, du hattest neulich Recht, Jane. Ich brauche einen Mann. Es ist genau so, wie du gesagt hast, ich brauche ihn als Partner, um Spaß und Sex zu haben. Und für die Liebe. Vielleicht war es mir selbst nicht klar, oder ich wollte es nicht zugeben, aber ich habe mich in Benton verliebt, und es war die glücklichste Zeit meines Lebens." „Wenn es dir nicht gerade schlecht ging." Mindy zuckte mit den Achseln. „Na ja, aber den Rest der Zeit, wenn ich vergessen habe, dass ich eine verrückte, durchgedrehte Irre war, dann war es ... himmlisch." „Okay, meine Liebe, komm zurück auf den Boden der Tatsachen. Ich weiß, dass du im Moment leidest, ich weiß, du hast das Gefühl, dass man dir das Herz aus dem Leibe gerissen und darauf herumgetrampelt hat. Ich weiß, du glaubst, dass du nie wieder glücklich sein wirst, aber das wirst du. Woher ich das weiß? Weil ich auch vor langer Zeit mal an einem gebrochenen Herzen gelitten habe und dachte, ich würde mich nie mehr davon erholen. Aber dann kam Larry in mein Leben, und schau mich jetzt an. Ich bin so glücklich, wie eine
ausgebrannte Hausfrau in mittleren Jahren sein kann!" Sie lächelte, und Mindy versuchte, das Lächeln zu erwidern, weil sie Janes Freundschaft schätzte. Aber es war zu früh, um wieder glücklich zu sein, vielleicht würde es ihr nie mehr gelingen. Vielleicht hatte Jane Unrecht. Vielleicht würde sie für immer darunter leiden. Liebe, so hatte sich herausgestellt, war eine mächtige Kraft. Stärker als sie es sich jemals hatte vorstellen können, wenn sie es nicht selbst erlebt hätte. Sie hatte nie geahnt, dass ein Gefühl einem solche Höhen und solche Tiefen bescheren konnte. „Ich könnte die Agentur schließen." „Wenn du nach Hause gehen möchtest", sagte Jane, „kann ich bis um fünf bleiben." Mindy schüttelte den Kopf. „Nein, ich meinte, ich könnte die Agentur für immer schließen. Ich habe kein Recht dazu, anderen Menschen Ratschläge bezüglich ihres Liebeslebens zu erteilen. Mein eigenes Verhalten hat mich dafür disqualifiziert, also sollte ich die Verantwortung übernehmen und aufhören. Sollen die Menschen doch ihre Partner finden, wie sie es schon seit Jahrhunderten tun. Durch Zufall." Jane stieß einen langen Seufzer aus. „Mindy, Mindy, Mindy. Warum, meine Liebe, hast du die Agentur ursprünglich aufgemacht?" Mindy dachte darüber nach und fand, es war eine gute Frage. „Na ja, ich vermute, es hat eigentlich keinen Sinn ergeben, oder? Ich bin das Produkt einer gescheiterten Ehe, und noch bis vor wenigen Wochen habe ich nicht daran geglaubt, selbst jemals der wahren Liebe zu begegnen. Aber obwohl ich allen Grund dazu hatte, der Liebe zu misstrauen, habe ich immer daran geglaubt, dass es sie gibt und dass sie wichtig ist. Auch wenn ich ihr nie begegnet war. Außerdem habe ich, wie du weißt, ein Talent dafür, Menschen zusammenzubringen." „Genau. Das erinnert mich daran, dass Stacy Hennessey angerufen hat, um sich zu bedanken. Ihre Verabredung mit Greg ist großartig verlaufen, und sie sehen sich heute schon wieder. Ich konnte sie durch den Tele fonhörer direkt strahlen sehen." Mindy lächelte, froh darüber, dass eine ihrer Kundinnen durch ihre Mithilfe einen netten Mann getroffen hatte. Kaum war Greg letzte Woche in ihrem Laden aufgetaucht, da hatte Mindy gewusst, dass er genau der Mann war, auf den sie für die ruhige Stacy gewartet hatte. Dann fiel ihr auf, was sie eben alles gesagt hatte. Sie begriff, was Jane mit ihrer Frage bezweckt hatte. „Na gut, du hast ja Recht. Ich werde die Agentur nicht schließen. Aber trotzdem fühle ich mich furchtbar, was Benton angeht. Und nicht nur, weil ich ihn liebe, sondern weil ich ihm etwas Furchtbares angetan habe, nachdem er mich mit seinem Liebesleben betraut hat. Er hat mich sogar noch dafür bezahlt. Damals habe ich gedacht, er verdient es, aber ich habe mich geirrt, Jane." „Vielleicht fühlst du dich besser, wenn du Benton das Geld zurückgibst." Mindy verdrehte die Augen. „Dr. Jane ist wieder auf Sendung." „War ja nur so ein Gedanke. Vergiss, dass ich etwas gesagt habe." Doch Mindy seufzte und meinte dann: „Mach ihm nachher einen Scheck fertig, und ich schreibe ihm einen kurzen Brief dazu." Eine Woche später litt Mindy noch immer unter ihrer Depression. Sie hatte gedacht, wenn Benton ihren Scheck bekam, dem sie einen Brief mit ihrer aufrichtigen Entschuldigung beigefügt hatte, dass sie dann vielleicht von ihm hören würde. Hatte sie aber nicht. Anscheinend hatte er sich ent schieden, sein Leben ohne sie fortzuführen. Sie saß auf ihrer Couch, schaute sich den Film „Casablanca" an, den sie sich aus der Videothek ausgeliehen hatte, und verschlang den Rest des Pfefferminzeises mit Schokostücken, das Benton ihr mitgebracht hatte. Okay, es stimmte nicht, was sie zu Jane gesagt hatte, dass sie es nie wie der essen könnte - sie hatte immer noch eine echte Schwäche dafür. Und eine noch größere Schwäche für Benton, wie es schien, denn sie konnte ihn nicht vergessen. Sie fuhr fort, ihren großen Schaumstoff-Finger zu umklammern, den sie einfach nicht wegwerfen mochte, und dachte an die Zeit, als sie mit Benton zusammen gewesen war. Sie
dachte sehnsüchtig an das kleine schwarze Dienstmädchen-Outfit, das sie nun niemals für ihn tragen würde, an all die Autos, die sie niemals gemeinsam stibitzen würden, an all die Restaurants, in denen sie ihn nun nicht mehr blamieren konnte. Als der Film zu Ende war, schaltete sie seufzend den Fernseher aus, warf den Eisbehälter in den Müll und schaute sich nach Venus um, die ihr aus dem Weg zu gehen schien. Wahrscheinlich konnte die Katze ihre Verzweiflung spüren, oder sie war es leid, ständig von Mindy in den Arm ge nommen zu werden. Als Venus sie vor ein paar Tagen angefangen hatte zu kratzen, war Mindy dazu übergegangen, den Scha umstofffinger als Ersatz zu nehmen. Schließlich entdeckte sie ihre Katze, hob sie hoch und trug sie in ihr Schlafzimmer, während sie daran dachte, dass Benton ihr zuliebe aufgehört hatte, Katzen zu hassen. Wieder seufzte sie. Als sie Venus aufs Bett setzte, fiel ihr Blick auf das halb fertig genähte Cher-Kostüm - sie hatte seit dem Bruch mit Benton keine Lust gehabt, daran zu arbeiten. Dann stach ihr auch noch die blonde Perücke ins Auge, und sie erinnerte sich daran, wie sie sich verändert hatte, wenn sie sie getragen hatte. Sie hatte dann jedes Mal vor Energie gesprüht und war zu einer anderen, abenteuerlustigen Frau geworden. Allein die Erinnerung daran aktivierte ein wenig von dieser Energie - das erste Positive, was sie seit Tagen fühlte. Aber dann fiel ihr ein, was alles geschehen war, um diese Energie zu zerstören, und sie versank wieder in ihre depressive Stimmung. So konnte es nicht weitergehen. Jane sagte ihr das auch ständig, und sie wusste es selbst. Sogar ihre Katze hatte sich ja schon von ihr abge wandt. Sie hatte ihr Leben vermasselt, indem sie zugelassen hatte, dass Benton sich in sie verliebte, aber durch ihre schrecklichen Lügen hatte sie alles noch schlimmer gemacht. Mindy nahm die blonde Perücke hoch und drehte sich damit zum Spie gel, ohne sie aufzusetzen. Stattdessen betrachtete sie ihr Spiegelbild und stellte sich eine Frage: Was würde Mandy tun?
10. KAPITEL „Jane, ich bin ein nervliches Wrack!" „Hier, probier das mal an. Es wird fantastisch zu dieser schwarzen Jeans passen, die du dir gekauft hast." Jane ignorierte Mindys Aussage und drückte ihr ein hautenges kobaltblaues Top in die Hand. „Oh, du hast Recht." Sie hatten sich in einer großen Einkaufspassage getroffen, um Mindy von ihrem Vorhaben heute Abend abzulenken. Das einzige Problem war nur, dass Mindy immer schrecklich viel einkaufte, wenn sie nervös war. Die vollen Einkaufstüten, die sie beide in den Händen hielten, gehörten allesamt Mindy. Wenn heute Abend alles gut ging, würde sie die neuen Sachen alle nach und nach bei ihren Verabredungen mit Benton anziehen können. Und wenn nicht, nun, dann wäre sie zwar allein, aber immerhin gut angezogen. In Momenten wie diesen musste man positiv denken. Denn das, was sie heute vorhatte, war riskant und konnte leicht schief gehen. Benton hatte vor einigen Wochen erwähnt, dass sein fünfunddreißigster Geburtstag nahte und zwei seiner Freunde für ihn eine Party bei „O'Reilly's" veranstalten würden, einer alten Kneipe in der Innenstadt. „Am zweiten Samstag im Juni", hatte er ihr erzählt. Und heute war der große Tag. Als sie bei „O'Reilly's" angerufen hatte, um sich zu vergewissern, dass die Party wirklich stattfand, hatte man ihr am Telefon gesagt, dass die Feier um acht begann, der richtige Spaß aber erst später losgehen würde, was auch immer das bedeuten mochte. Also hatte Mindy beschlossen, etwas Mutiges zu tun - etwas, das zu Mandy passte. Sie würde zu Bentons Party gehen und ihm sagen, dass sie ihn liebte und ihn heiraten wollte. Sie würde alle Vorsicht über Bord werfen und es einfach tun. So wie Mandy es auch machen würde. Daher kam die Nervosität, die sie nicht bezwingen konnte. Und da sie als sie selbst hingehen wollte, nicht als ihre wilde Schwester, und da Benton ihr wahres Ich nur bei der Arbeit gesehen hatte, war es wichtig, welche Garderobe sie auswählte. Es war eine Art persönliches Statement, um auszudrücken, wer sie wirklich war. Aus diesem Grund hatten sie und Jane beschlossen, dass sie dringend neue Sachen brauchte. Jetzt kam sie in einem blauen Top und einer schwarzer Jeans aus der Umkleidekabine. Eine Hand auf der Hüfte, schlenderte sie wie auf einem Laufsteg durch den Laden. Jane wartete, bis Mindy sich zu ihr umdrehte. „Das ist gut." Sie nickte. „Das ideale Outfit für heute Abend." „Findest du?" Mindy dachte das Gleiche, doch sie wollte Janes Gründe hören. „Es vermittelt Selbstvertrauen, wirkt aber nicht aufdringlich", meinte Jane. „Es hat Stil, ohne dass es aufgetakelt wirkt. Und vor allem drückst du damit aus, ,Ich habe mir mit diesem Outfit keine Mühe gegeben. Es ist einfach das, was ich heute Morgen aus dem Schrank geholt habe.' Es ist perfekt." Gerade als Mindy wieder in die Umkleidekabine schlüpfen wollte, schnappte Jane nach Luft. „Oh, sieh nur! Ein ganzer Ständer mit herabgesetzten Bikinis!" Mindy drehte sich um und sah, dass Jane zwei winzige Stücke Stoff in goldenem und braunem Schlangenhautmuster hoch hielt. Mindy schüttelte den Kopf. „Ich brauche nichts Neues. Ich habe noch diesen schwarzen Einteiler vom letzten Jahr." Jane, das hatte Mindy schon herausgefunden, war erstklassig darin, Dinge zu finden, für die Mindy Geld ausgeben konnte. „Ein Einteiler, also wirklich!" Jane machte eine abwertende Handbewegung. „Du brauchst etwas Aufregenderes." Jane wedelte mit dem Bügel, so dass der Bikini flatterte. „Ich eigne mich nicht als Poolmädchen. Ich bekomme Sommersprossen." Mindy verdrehte die Augen. „Außerdem, wo zum Teufel sollte ich so etwas tragen?"
„Na ja, wenn du die Sache mit Benton nicht wieder einrenken kannst, dann könntest du einen kleinen Urlaub am Strand machen, wo es gut aus sehende Rettungsschwimmer gibt. Du könntest vortäuschen zu ertrinken und dich aus dem Wasser ziehen lassen." „Jane, ich habe in den letzten Wochen so viel vorgetäuscht, dass es für mindestens ein ganzes Leben ausreicht." Mindy stemmte die Hände in die Hüften. „Und willst du damit sagen, dass du meinst, es wird heute Abend nicht klappen? Findest du, ich sollte es nicht tun?" Jane schüttelte den Kopf. „Das will ich überhaupt nicht sagen. So wie ich es sehe, hast du nichts zu verlieren." „Vielen Dank, dass mich daran erinnerst." „So habe ich das nicht gemeint. Aber wenn ich deinen Körper hätte und ihn hierin zur Schau stellen könnte ...", Jane wedelte erneut mit dem Bikini, „ ... zu dem günstigen Preis von nur 19,95, wäre das eine Gelegenheit, die ich mir nicht entgehen lassen würde." „Na gut", meinte Mindy und nahm Jane den Bikini aus der Hand. Es war das Letzte, was sie brauchte, aber andererseits besaß sie ohnehin schon mehrere Einkaufstüten voll mit Sachen, die sie nicht benötigte. Außerdem hatte Jane wohl Recht. Die Dinge konnten sich durchaus anders entwickeln, als Mindy es sich wünschte. Vielleicht sollte sie das Schlimmste einkalkulieren und sich mit neuen Sachen umgeben, während sie zu Hause saß und ihrer Katze etwas vorheulte. Oder vielleicht, dachte sie, als sie den Bikini anprobierte, sollte sie nicht zulassen, dass Janes Zweifel ihre Hoffnungen zerstörten. Sie musste selbstsicher wirken, um die Sache durchzuziehen. Sie musste Mandy sein ... ohne Mindy völlig aufzugeben. Nach einem Blick in den Spiegel stellte Mindy fest, dass Jane wieder einmal Recht gehabt hatte - sie sah toll aus in diesem Python-Look - also fügte sie den Bikini zu ihren anderen Einkäufen hinzu und malte sich aus, dass er auch Benton gefallen würde. Es war kein Dienstmädchen-Outfit, aber es war ein Teil nach Mandys Geschmack, und es zu kaufen stärkte Mindys Selbstvertrauen für den heutigen Abend. Mindy traf ein wenig später als geplant in der Kneipe ein, aber ein Blick auf die Uhr sagte ihr, dass die Party glücklicherweise noch nicht begonnen hatte und sie noch genügend Zeit hatte, um sich fertig zu machen. Sie brauchte nur noch hineinzugehen, die Toilette aufsuchen und sich umziehen. Leider hatten sie und Jane viel länger beim Einkaufen gebraucht als ge plant, und beim Verlassen des Einkaufzentrums hatten sie dann auch noch festgestellt, dass Jane ihre Schlüssel im Wagen hatte stecken lassen. Als Larry mit einem Ersatzschlüssel aufgetaucht war, hatte Mindy nicht mehr genügend Zeit gehabt, um nach Hause zu fahren und sich fertig zu machen. Aber das war okay, hatte sie Jane versichert. Seit dem Kauf des Bikinis hatte sie dem Abend sehr viel optimistischer entgegengesehen. Sich in der Kneipe umzuziehen war nicht so schlimm. Während sie den kurzen Weg vom Auto zur Kneipe ging, stellte sie sich vor, wie der Abend verlaufen würde. Benton würde hereinkommen, sie am anderen Ende des Raumes sehen, und alle anderen würden aufhören zu existieren. Sie würden einander in die Arme fallen, und Mindy würde einem dankbaren und zärtlichen Benton ihre Liebe gestehen. Es war allerdings auch möglich, dass er in eine überfüllte Kneipe kam, wo alle klatschten und „Herzlichen Glückwunsch!" riefen, so dass es eine Zeit lang dauern würde, bis er sie überhaupt bemerkte. Doch ihre Fantasie gab ihr die Kraft, die sie brauchte, um mit ihren Einkaufstüten in die Kneipe zu marschieren. Die altmodische Bar mit den dunklen Holzmöbeln war fast leer. Zwei ältere Männer saßen bei ihrem Bier und diskutierten mit einem bärtigen Barkeeper über das letzte Baseballspiel, und zwei jüngere Männer, einer blond, einer dunkelhaarig, waren gerade dabei, ein Banner mit der Aufschrift „Herzlichen Glückwunsch zum fünfunddreißigsten Geburtstag, alter Junge!" aufzuhängen.
Von wegen alter Junge, hätte sie am liebsten zu ihnen gesagt. Schafften sie es, drei Mal hintereinander mit einer Frau zu schlafen? Sie hatte da so ihre Zweifel. „Sieht so aus, als wäre ich hier richtig", sagte sie mehr zu sich selbst, doch der blonde Mann sah lächelnd auf. „Oh, gut, dass Sie da sind!" „Die Torte ist hinten." Der dunkelhaarige Mann, der ein schrilles Hawaiihemd trug, zeigte über seine Schulter zu einer Tür. Mindy blinzelte. Sie wurde erwartet? Und wieso erzählten sie ihr etwas von einer Torte? War es nicht normal, dass es zum Geburtstag eine Torte gab? „Hm, okay." „Ich bin übrigens Phil", sagte der Blonde. „Und das ist Mike." Mike nickte, und sie nickte zurück. „Mindy", sagte sie unsicher. „Ist die Damentoilette auch dort hinten?" Sie deutete zu der offenen Tür hinter Mike. Er nickte erneut. „Gut." Sie hob ihre Einkaufstüten hoch. „Ich ... muss mich noch umziehen." Beide Männer grinsten, als hätte sie einen anzüglichen Witz erzählt, und sie verschwand nach hinten, etwas irritiert vom merkwürdigen Verhalten der beiden. Hatte Benton sie erwähnt, in der Hoffnung, dass sie vielleicht kommen würde? Aber wieso erkannten seine Freunde sie sofort? Nun, es war egal. Vielleicht hatten sie schon ein paar Bier getrunken. Sie beschloss, nicht weiter über die beiden nachzudenken, und schlüpfte in ihre neue Jeans, in schwarze Schuhe mit hohen Absätzen und das hautenge, ärmellose Top. Nachdem sie mit den Fingern durch ihr Haar gefahren war, um ihrer Frisur einen leicht verwegenen Touch zu geben, frischte sie ihr Make-up auf und ging zurück in die Bar. Sie hatte gerade auf einem Barhocker Platz genommen und sich einen Drink bestellt, als jemand ihr auf die Schulter tippte. Sie drehte sich um und fand Phil, der sie verwirrt ansah. „Das wollen Sie anziehen?" fragte er. Sie schaute an sich herab. Offen gestanden fand sie, dass sie ganz gut aussah. Mal davon abgesehen, dass es ihn ohnehin nichts anging. Sie wusste, er war Bentons Freund, aber langsam hatte sie genug von ihm und seinem Freund im Partyhemd. „Ja, das will ich anziehen. Was geht Sie das an?" Phil hob die Augenbrauen. „Ich bezahle doch nicht zweihundertfünfzig Dollar, um zuzusehen, wie Sie in einer Jeans aus der Torte hüpfen. Tut mir Leid, wenn ich offen spreche, aber Sie werden schon ein bisschen mehr ausziehen müssen." Mindy schluckte. „Aus einer Torte hüpfen?" Und dann kapierte sie. Sie hatten eine Stripperin engagiert und dachten, sie wäre es! Eine Sekunde lang war sie versucht, in Lachen auszubrechen, erleichtert, das Rätsel gelöst zu haben. Es amüsierte sie, dass die beiden sie für eine Stripperin hielten. Aber dann kam ihr eine gewagte Idee. Wie wäre es, wenn sie sich als die Stripperin ausgab? Wie wäre es, wenn sie noch ein letztes Mal als Mandy auftreten würde, um Benton zu beweisen, wie sehr sie ihn liebte? Schließlich hatte sie sich schon einmal für ihn ausgezogen, also schien es durchaus angebracht. Okay, es war auch verrückt, aber war verrücktes Verhalten nicht genau das, was sie zusammengebracht hatte? „Ja, natürlich. Wenn ich aus der Torte komme, werde ich weniger anhaben." Sie schüttelte den Kopf, als wäre sie einen Moment lang verwirrt gewesen, jetzt aber wieder völlig bei der Sache. „Ich wusste nur nicht, dass wir heute Abend eine Torte benutzen, das ist alles. Und ich wollte noch etwas trinken, bevor ich mich umziehe." Beide Männer sahen sie erstaunt an. Schließlich fragte Mike: „Also ziehen Sie sich um, um einen Drink zu nehmen, bevor Sie sich wieder umziehen?" Mindy blinzelte. Verflixt! „Es ist eine Art Ritual." Sie nickte, so als wür den ihre Worte durchaus Sinn ergeben. „Bevor ich einen Striptease ma che, ziehe ich mich mehrmals um,
damit ich in Stimmung komme." Wie albern. Das würden sie ihr niemals abkaufen. Beide Männer zuckten mit den Schultern, und Mindy seufzte erleichtert auf. Männer waren so einfach, wenn es darum ging, dass eine Frau willig war, die Hüllen fallen zu lassen. „Also, natürlich werde ich zu dieser ... Gelegenheit noch mehr ausziehen. Ich habe ...", sie blickte zu ihren Einkaufstüten und erinnerte sich, „... einen Bikini. Ein Bikini ist doch in Ordnung, oder?" Die beiden sahen sich nachdenklich an. „Ich hatte eigentlich auf Reizwäsche gehofft", meinte Mike. „Aber ein Bikini geht auch", erklärte Phil. Mindy runzelte die Stirn. „Nur noch eine Frage. Wie viele Leute werden heute Abend kommen?" Wenn er fünfzig sagt, verschwinde ich, dachte sie. „Wissen Sie, ich bin noch ziemlich neu im Geschäft und ein wenig nervös." Phil lächelte ihr freundlich zu. „Keine Angst, es wird eine kleine Party, nur ein paar Freunde." Mikes Gesichtsausdruck war ebenfalls mitfühlend, und beide stiegen in Mindys Achtung. „Nette Freunde", fügte Mike hinzu. Mindy lächelte. „Okay, das hört sich gut an." Hinter ihnen wurde die Eingangstür geöffnet, und eine üppige Brünette kam mit einem riesigen Typ herein, der wie ein Leibwächter aussah. Mindy wandte sich hastig an Mike und Phil. „Entschuldigen Sie mich einen Moment, bitte? Ich arbeite mit den beiden zusammen, und will mal hören, warum sie hier sind." „Sicher", meinte Phil. „Lassen Sie sich Zeit. Die Party beginnt ja noch nicht." Mindy war ein wenig schwindelig, als sie vom Barhocker rutschte, doch jetzt war nicht der geeignete Zeitpunkt, um darüber nachzudenken, was sie hier tat, also trat sie der Frau mutig entgegen. „Ich wette, Sie sind die Stripperin", sagte sie lächelnd. Die Frau nickte. „Wo soll ich mich fertig machen?" Mindy biss sich auf die Lippen und betete, dass alles klappen würde. „Es gibt eine kleine Änderung", erklärte sie. „Sieht so aus, als hätten die Typen zwei Mädels engagiert, und dabei brauchen sie nur eine. Aber wenn Sie mir sagen, wie hoch Ihre Gage ist, schreibe ich Ihnen einen Scheck aus, und Ihre Arbeit ist für heute erledigt." Die Brünette wechselte einen überraschten Blick mit ihrem Leibwächter und sah dann wieder zu Mindy. „Ich bekomme Geld fürs Nichtstun? Kein Problem für mich." Sie und Mindy einigten sich, und Mindy sah den beiden hinterher, als sie die Kneipe verließen. Als sich die Tür hinter ihnen schloss, erkannte sie jedoch, dass es jetzt kein Zurück mehr gab, und eine gewisse Nervosität setzte ein. Es wurde Zeit für ein paar aufmunternde Worte ä la Mandy. Sie war hergekommen, um sich mit Benton zu versöhnen, oder nicht? Und was gab es für eine bessere Möglichkeit? Sie konnte sich auf seinen Schoß setzten und „Happy Birthday" singen, und er würde sie für unglaublich sexy halten. Schließlich hatte sie auf Janes Halloweenparty schon Erfahrung im Singen gemacht. Schade, dass sie nicht ihr MarilynMonroe-Kleid dabeihatte. Aber so aufreizend es auch war, wahrscheinlich wäre es nicht das Richtige, um aus einer Torte zu hüpfen. Wie gut, dass sie den neuen Bikini gekauft hatte! Wenn Benton und sie wieder vereint waren, würde niemand bemerken, dass sie nichts weiter auszog. Es wäre also alles in Ordnung. Als Mindy zu ihrem Barhocker zurückkam, waren Phil und Mike noch immer da. „Irgendwelche Probleme?" Anscheinend hatten sie ihr Gespräch mit der echten Stripperin beobachtet. „Nein", versicherte Mindy ihnen. „Nur eine Verwechselung - sie sind zur falschen Adresse gefahren. Aber ich habe ihnen die richtige gegeben, und nun ist alles geklärt." „Was diesen Bikini angeht", sagte Phil und wandte sich wieder dem na he liegenden
Problem zu. „Wie sieht er aus?" „Er hat ein goldenes Schlangenhautmuster." Mike grinste. Auch Phils Gesicht erhellte sich. „Gut, gut. Jetzt sollten wir Sie aber außer Sichtweite bringen, falls der Ehrengast schon früher kommt." Er ge leitete sie nach hinten, und Mike folgte mit ihren Einkaufstüten. Sie führten sie in ein Büro, das im Moment eine riesige, weiße Plastiktorte beherbergte. „Sie haben noch genügend Zeit, um sich fertig zu machen. Also keine Eile." Mindy schluckte. „Das ist gut. Dann kann ich noch mal ein bisschen ... üben." „Hinter der Tür ist ein Spiegel." Phil deutete dorthin. „Und wir kommen dann und schieben Sie in der Torte hinaus, wenn es so weit ist." Als Mindy allein war, schaute sie sich die lächerliche große Plastiktorte an. Sie konnte noch immer nicht so recht glauben, dass sie das tatsächlich durchziehen wollte. Aus einer Torte zu hüpfen, redete sie sich ein, hat ga r nichts mit Strip tease zu tun. Es ist eher eine altmodische, humorvolle Tradition, die gar nicht unbedingt darauf abzielt, die Männer zu erregen. Oder? Hoffentlich hatte sie Recht, denn für Benton in seinem Schlafzimmer zu tanzen war eine Sache, aber für eine Horde von Männern in einer Bar herumzuwirbeln, das war etwas ganz anderes. Ich tue es für Benton, sagte sie sich. Es würde ihm zeigen, wie viel er ihr bedeutete. Und vielleicht hatte sie sich deshalb entschieden, etwas so völlig Verrücktes zu tun. Denn Benton brachte tatsächlich die Mandy in ihr zum Vorschein, genau so, wie er es gesagt hatte. Sie hoffte, ihre Entscheidung, aus einer Torte zu springen, würde ihm beweisen, wie sehr er sie verändert hatte. Sie war hergekommen, um draufgängerisch zu sein, oder nicht? Sie war gekommen, um Benton - und vielleicht sich selbst - zu zeigen, dass Mandy nicht nur eine Rolle gewesen war, sondern dass Mandy wirklich ein Teil von ihr war. Als Mindy in ihrer Tüte wühlte und den winzigen Bikini herausfischte, entschied sie, dass es der beste Weg war, es ihnen beiden zu beweisen. Ihr Plan würde ausgezeichnet funktionieren, und sie hätten eine wunderbare Geschichte, die sie ihren Enkelkindern erzählen konnten. Na ja, sobald die Enkelkinder über achtzehn waren. Benton schaute sich in der Bar um, die mit Luftballons und einem Spruchband geschmückt war, das ihn daran erinnerte, wie alt er schon war. Er wusste, Phil und Mike meinten es gut und scherzten nur, doch sein Geburtstag zwang ihn trotzdem, an seine letzten Fehlschläge zu denken. Er hätte die Party wirklich absagen sollen, aber jedes Mal, wenn er das während seiner Telefonate mit Phil versucht hatte, war er von seinem Freund unterbrochen worden, der nichts davon hören wollte. Benton merkte, dass Phil und Mike sich Sorgen um ihn gemacht hatten, nachdem er sich neulich Abend so betrunken hatte. Er hätte ihnen versichern können, dass er alles unter Kontrolle hatte und wieder ganz der Alte war, aber es war ihm irgendwie zu kompliziert gewesen. Er hatte ihnen auch nichts von Mindy erzählt. Und er wäre sich wie ein Schuft vorgekommen, wenn er die Party abgesagt hätte, wo er doch genau wusste, wie sehr seine Freunde sich darauf freuten. Nicht dass Benton sich von seinen Gefühlen leiten ließ. Wie er es sich versprochen hatte, war er wieder dazu übergegangen, ihnen den ge bührenden Platz zuzuweisen. Es war in Ordnung, seine Freunde zu schätzen, doch sich allzu sehr mit einer Frau einzulassen, das kam nicht mehr für ihn in Frage. Missmutig entdeckte er den Stapel mit Geschenken, der auf der Bar aufgestapelt war. Verflixt, er hatte Mike und Phil doch gesagt, er wolle keine Geschenke. Dem Spruchband nach zu urteilen, musste er sich wohl auf Sachen wie Altherren-Unterhosen und gefälschte Viagrapackungen gefasst machen. Und na türlich würde er feststellen, dass Miss Binks seinen
Namen auf irgendetwas Goldenes hatte gravieren lassen. „Hallo, alter Junge, wie geht's?" Mike schlang einen Arm um Bentons Schulter. Er war entweder betrunken oder machte sich noch immer Sorgen um Benton. „Was hast du denn für ein Hemd an?" Benton deutete auf das Hawaii-Hemd, das normalerweise nicht Mikes Stil war. Mike zuckte mit den Schultern. „Carrie hat es irgendwo als Schnäppchen erstanden und findet, es steht mir gut. Sie meinte, es wäre genau das Richtige für heute Abend, also dachte ich, warum nicht?" Ja, Benton wusste, wie eine Frau es schaffte, die Art, wie man sein Le ben lebte, zu verändern. Es gefiel ihm nicht sonderlich, daran erinnert zu werden, und dass sein Freund dem ebenfalls zum Opfer gefallen war, machte ihn auch nicht glücklicher. Er brauchte dringend etwas zu trinken. „Ich hole mir ein Glas Wein." Mike lachte. „Nichts da. Hier gibt es keinen Wein. Entweder Bier oder Hochprozentiges. Aber seien wir ehrlich, nachdem, was beim letzen Mal geschehen ist, als wir uns gesehen haben, würde ich vorschlagen, dass du beim Bier bleibst." Mike zwinkerte ihm zu, und Benton nickte ergeben. Er unterhielt sich mit einigen anderen alten Freunden und trank dann einen Schluck von dem Bier, das ihm jemand in die Hand gedrückt hatte. Dabei fiel ihm ein, dass er mit Mindy beim Baseballspiel Bier getrunken hatte. Warum konnte er nur nicht aufhören, an sie zu denken? Eine Hand landete auf Bentons Schulter, und er drehte sich zu Phil um, der ihn kurz umarmte. Anscheinend wirkte es sich auf Phil schon aus, dass er jetzt eine Familie hatte. Es verwandelte ihn in einen „sensiblen Mann", Benton hatte seine Emotionen wieder in einen Schrank gesperrt, wo sie hingehörten, und dort wollte er sie auch belassen, aber es wäre einfacher, wenn alle anderen genauso handelten. „Schau dich um, und wenn alle da sind, fangen wir mit dem Unterhaltungsprogramm für heute an." Benton zuckte leicht zurück. „Es gibt ein Unterhaltungsprogramm?" So wie Phil das Wort betont hatte, vermutete er, dass das „Unterhaltungs programm" weiblicher Natur war. „Oh ja!" Plötzlich schien der Familienmann ausgesprochen enthusiastisch über eine Show, von der Benton vermutete, dass sie nicht fürs Familienprogramm geeignet war. Nachdem er seine Überraschung überwunden hatte, schaute Benton sich in der Kneipe um. Einige Freunde aus seiner Collegezeit waren vorbeigekommen sowie ein paar andere Freunde. Aber er sah nicht ... „Die Leute aus meiner Firma, die du eingeladen hast, sind noch nicht da, wir sollten also noch ein wenig warten. Und ich habe auch noch jemanden eingeladen, der noch nicht da ist." Es war ihm eigentlich egal, ob sie auftauchten, aber wenn es eine Show gab, dann konnten sie genauso gut noch ein wenig warten. Der arme Malcolm Wainscott brauchte vermutlich mal solch eine Abwechselung. Und Percy hätte ein paar deftige Witze, die er am Montag im Büro erzählen konnte. Nicht dass Benton besonders scharf darauf war, dass sich eine halb nackte Tänzerin auf seinen Schoß setzte, schon gar nicht vor seinen Angestellten, aber da er das Geburtstagskind war, blieb ihm das wohl nicht erspart. In letzter Zeit wanderte er ohnehin durchs Leben, ohne sich viel um irgendetwas zu kümmern. Nur so schaffte er es, ohne einen gewissen Rotschopf zu leben. Man musste die Dinge eben so nehmen, wie sie waren. Als Mike und Phil in das Büro kamen, hockte Mindy bereits in ihrem Bikini und den hochhackigen Schuhen in der Torte. Sie hatte ihr Heraus kommen mehrfach geübt und entschieden, dass sie es machen konnte. „Bereit?" fragte Mike und schaute zu ihr hinein in die Torte. „Ja", murmelte sie nervös. Phil zwinkerte ihr aufmunternd zu und schloss dann den Deckel. Erst als die große Plastiktorte aus dem Büro und den Gang entlang zur Bar rollte, wurde Mindy auf einmal das Ungeheuerliche dessen, was sie zu tun beabsichtigte, bewusst. Sie
würde wirklich aus einer Torte springen und zwar in einem winzigen Bikini in einem Raum voll unbekannter Männer! Was habe ich nur getan! dachte sie voller Panik. Sie hatte einen riesigen Fehler gemacht, das hatte sie getan! Was zum Teufel hatte sie sich nur dabei gedacht? Hastig hob sie den Deckel und streckte den Kopf aus der Torte. Sie musste hier raus. „Noch nicht", sagte Mike und schob sanft ihren Kopf zurück. Und dann war es zu spät. Mike verkündete: „Meine Herren, ein kleines Geschenk für Benton zum Geburtstag", und Mindy spürte, dass sie durch die Tür in die Bar geschoben wurde. Sie hörte Applaus und anerkennende Pfiffe und hatte das Gefühl, im wahrsten Sinne des Wortes in der Falle zu sitzen. Wo war Mandy? „Deserteur", murmelte Mindy. Anscheinend hatte sie endlich etwas gefunden, was nicht einmal Mandy tun mochte! Die ersten Töne eines erotischen Popsongs erklangen. Aber es nützte alles nichts. Sie steckte hier drinnen, ob es ihr gefiel oder nicht, und sie ermahnte sich, dass zu tun, was sie sich vorgenommen hatte. Es gab keinen anderen Weg. „Mädel!" rief Phil einige Sekunden später, und klopfte leise auf den Deckel. „Wir sind jetzt bereit." Tu es einfach. Für Benton. Er wird es lieben! Er wird dich lieben! Sie nahm all ihren Mut zusammen und stieß den Deckel auf, die Arme über den Kopf erhoben. Sie entdeckte Benton direkt vor sich zwischen zehn, fünfzehn anderen Männern und sah seine Verblüffung. „Überraschung!" rief sie. „Ich werde dich heiraten!" Genau in dem Augenblick bemerkte sie die kleine, adrett aussehende Blondine, die an seinem Arm hing.
11. KAPITEL Oh, gütiger Himmel - Benton war mit einer Frau da! Einer Frau, die sich an ihn drängte, als gehörte er ihr! Sie war offensicht lich all das, was Benton sich immer von einer Frau gewünscht hatte, auf jeden Fall all das, was er Mindy gebeten hatte, für ihn zu finden. Schlimmer noch, sie war all das, was Mindy nicht war. „Wer ist das?" platzten sowohl Mindy als auch die Frau gleichzeitig heraus. Jemand drehte die Musik aus, und bedrückende Stille legte sich über den Raum. Mindy hatte Benton noch nie verdutzter gesehen, was schon etwas heißen sollte, wenn man an all das dachte, was Mandy angestellt hatte. Langsam räusperte er sich und meinte verlegen: „Das ist Candace Binks, meine Assistentin und Begleitung heute Abend. Und das ist Mindy ... oder ist es Mandy?" Er warf ihr einen viel sagenden Blick zu, der Mindy erröten ließ. In diesem Augenblick wusste Mindy, dass sie einen viel entsetzlicheren Fehler begangen hatte, als sie sich jemals hätte ausmalen können. Benton hatte sich anderweitig orientiert und sich der adretten blonden Miss Binks zugewandt, die neben ihm saß und sie böse anstarrte. Mindys Hoffnungen zerplatzten wie eine Seifenblase. Sie wusste zwar, dass sie sich diese schreckliche Demütigung redlich verdient hatte, aber sie brauchte schließlich nicht länger hier zu stehen und sie zu ertragen. Sie musste hier heraus, weg aus der Kneipe und zwar schnell. Ungelenk kletterte sie hastig aus der Torte heraus, wobei sie sich der eisigen Blicke, die die Männer ihr zuwarfen, bewusst war. Stolpernd landete sie auf dem Boden und brauchte einen Moment, bis sie ihr Gleichge wicht auf den hohen Absätzen gefunden hatte. Dann raste sie durch die Bar zur Tür und betete nur, dass Benton die Tränen nicht gesehen hatte, die ihr über die Wangen liefen. „Mindy!" Benton sprang auf, als die Tür hinter ihr zufiel. „Benton?" Miss Binks - er schaffte es nicht, sie Candace zu nennen, sosehr er sich auch bemühte - kam neben ihm hoch.. „War das ..." Die arme Miss Binks. Benton wusste, dass es ein Fehler gewesen war, sich mit ihr zu verabreden. Trotz all seiner Bemühungen war alles, was sie zusammen machten, irgendwie gezwungen, steif und peinlich, und das Traurigste daran war, dass sie es nicht einmal zu merken schien. Er hatte einen schrecklichen Fehler begangen, sich mit einer Frau einzulassen, der er keine romantischen Gefühle entgegenbrachte, und ein noch größerer Fehler war es, dass er sie heute mit hierher gebracht hatte. Mindy war das Unterhaltungsprogramm gewesen? Er konnte es noch immer nicht glauben. Er wandte sich an seine Assistentin. „Ja, Miss Binks, das war die Frau, von der ich kürzlich erzählt habe." „Und sie ist eine Stripperin?" Miss Binks sah entsetzt aus. Benton hatte nicht die Zeit, das zu erklären, zumal er keine Ahnung hatte, wieso Mindy aus der Torte gesprungen war. „Offensichtlich. Aber wichtiger ist im Moment ...", er schaute ihr direkt in die Augen, „... ich bin ein schrecklicher Mensch. Ich habe Sie letztendlich benutzt, obwohl ich im Grunde meines Herzen wusste, dass Mindy mir noch immer viel bedeutet. Es tut mir Leid, aber ich muss ihr hinterher gehen." Er drehte sich um und sah Malcolm Wainscott, der wie immer mitfühlend zu Miss Binks sah. Als könnte er Bentons Gedanken lesen, kam Malcolm auf sie zu. Vielleicht funkte es ja doch noch zwischen den beiden. Malcolm die Sache überlassend, raste Benton zur Tür und stoppte nur lange genug, um Mike und Phil einen warnenden Blick zuzuwerfen. „Und mit euch beiden spreche ich, wenn ich zurückkomme ..." Phil hob hilflos die Hände. „Hey, wir wussten nicht, dass du die Stripperin kennst, Mr. Casanova."
„Sie ist keine Stripperin", erklärte Benton und fügte dann leise hinzu: „Jedenfalls war sie es bis heute Abend nicht." Als sich die Tür hinter ihm schloss, schaute Benton sich hektisch nach allen Seiten um, doch er sah kein Zeichen von Mindy. Verdammt, er hatte zu lange gewartet. Dann fiel ihm ein, dass sie leicht auszumachen war. Er wandte sich an ein gut gekleidetes Paar, das gerade auf ihn zukam. „Haben Sie eine Frau in einem Bikini gesehen?" Der Mann deutete über seine Schulter. „Sie ist links in die Vine Street eingebogen. Aber Sie sollten sich lieber sputen. Sie war in großer Eile." Mindy hatte keine Ahnung, wohin sie lief oder warum. An ihrem Auto war sie schon vor Ewigkeiten vorbeigelaufen, doch ihre Handtasche mit den Autoschlüsseln lag ja noch in der Kneipe, dem einzigen Ort, an dem sie noch weniger sein wollte als auf der Straße in einem Bikini. An jeder Kreuzung starrten die Leute sie an, hupten oder pfiffen hinter ihr her. Sie sah aus wie eine Stripperin auf der Flucht. Verdammt, genau das war sie! und sie hatte Angst und war allein und wollte nichts lieber, als die Zeit zurückdrehen und diesen Abend anders gestalten. Dann wäre sie klugerweise zu Hause geblieben, hätte nicht Mandy gespielt und wäre nie auf die dumme Idee gekommen, Benton zurückzuerobern, denn das war unmöglich. Allein der Gedanke daran, wie er mit dieser Frau dort ge sessen hatte, versetzte ihr jedes Mal einen neuen Stich. Wahrscheinlich planten sie in dieser Minute gerade ihre Hochzeit. „He, Baby, wo willst du denn so schnell hin?" Ein Auto voller junger Männer fuhr hupend an ihr vorbei, während die Insassen aus dem Fenster lehnten und sie anstarrten. Mindy lief schneller. Vielleicht sollte sie jemanden bitten, ihr genügend Geld zu geben, damit sie Jane anrufen konnte. „Na, meine Schöne ..." Mindy lief an dem älteren Mann vorbei, ohne ihn zu beachten, so als wäre sie nur zum Joggen unterwegs. Aber ihre Schuhe brachten sie fast um. „Mindy!" rief eine Stimme hinter ihr. „Mindy! Warte!" Sie schnappte überrascht nach Luft und schaute über die Schulter. Es war Benton! Er war ihr gefolgt. Aber sie war zu gedemütigt, und er hatte jetzt diese kleine Blondine. Sie drehte sich wieder um und rannte weiter. „Mindy, Liebling, warte! Bleib stehen!" Es war so verlockend - er nannte sie wieder Liebling. Aber das bedeutete nichts. Sie tat ihm Leid, und er war wohl nur besorgt, dass jemand ihr etwas tun könnte. Natürlich hatte sie davor auch Angst, aber das stand jetzt nicht zur Debatte. Sie lief weiter. Bis sie um eine dunkle Ecke bog und sich drei finsteren Gestalten ge genüber sah. Einer hatte eine Narbe auf der Wange, und ein anderer hatte offensichtlich die meiste Zeit seines Lebens in einem Tätowierstudio verbracht. Sie blieb abrupt stehen. „Oh!" Die Typen musterten sie interessiert, und der mit den fettigsten Haaren grinste sie an. „Wie viel, Darling?" „Wie viel?" Dann verstand sie, dass die drei sie für eine Prostituierte hielten. Leider konnte sie es ihnen nicht einmal verübeln. „Oh, ich bin keine ... keine ..." Mindy machte ein paar Schritte rückwärts, aber als die schmierigen Typen hinter ihr her kamen, bekam sie das unangenehme Gefühl, nicht schnell genug zu sein, was bedeutete, dass sie in ernsten Schwierigkeiten steckte! „Mindy." Bentons Stimme zu hören war wie der warme Lichtstrahl eines Leucht turms in stürmischer Nacht. Mindy blickte über die Schulter und atmete beim Anblick seiner breiten Schultern erleichtert auf. Der Typ mit den fettigen Haaren trat vor. „He, Alter, wir haben sie zuerst gefunden."
„Die Dame gehört zu mir", sagte Benton in einem Ton, der keinen Zweifel zuließ. Er warf Mindy seine Jacke über und zog sie mit sich um die Ecke. Keiner von ihnen sprach, während er sie über die Straße zu einer Bank an einer Bushaltestelle führte, wo sie sich sehr viel sicherer fühlte als dort, wo sie vorhin gewesen waren. Schließlich, als sie sich nebeneinander gesetzt hatten, schaute Benton ihr in die Augen und zog sie dann in eine feste Umarmung. „Bist du verrückt geworden?" Sie lehnte sich so weit zurück, dass sie ihn anschauen konnte, und kam sich schrecklich dumm vor. „Ja, ich glaube schon. Wenn nicht, bin ich na he dran." Benton seufzte und ließ sie los. Er sah so müde aus, und Mindy fürchtete, dass das allein ihre Schuld war. Er zögerte einen Moment, bevor er begann: „Liebling, sag mir bitte eins. Was, um Himmels willen, hast du in dieser Torte gemacht?" Mindy biss sich auf die Lippen. Jetzt hatte sie die Gelegenheit, all das zu sagen, was sie ihm hatte sagen wollen, nur dass sie jetzt ein wenig mehr Mut brauchte, denn sie wusste, dass Benton eine andere gefunden hatte. „Na ja, das mit der Torte war nicht unbedingt geplant, aber ich bin heute Abend zu deiner Party gekommen, weil ich dir sagen wollte, wie Leid mir meine ganze Täuschungsaktion tut. Und ich wollte dir erklären, dass ich mich nicht deshalb weiter mit dir getroffen habe, weil ich meine Verpflichtungen dir gegenüber erfüllen wollte. Ich habe es getan, weil du mir wichtig geworden warst. Und ich wollte dir auch sagen, dass ich nicht ganz so verrückt bin, wie ich vielleicht bei vielen Gelegenheiten gewirkt habe, sondern dass mir die Sache irgendwie entglitten ist, obwohl ich versucht habe, sie wieder in den Griff zu bekommen. Ich bin sonst meistens ehrlich, und ich habe noch nie etwas gestohlen." Sie starrte auf ihre Hände und fuhr hastig fort: „Aber ich verstehe, warum du böse bist und mir nicht verzeihen kannst. Ich habe keine Vergebung verdient. Und obwohl du jemand anderen gefunden hast, möchte ich dir noch eins sagen, Benton." „Was denn?" fragte er leise. „Ich liebe dich." Benton schwieg einen Moment und atmete dann tief durch. Dabei wirkte er ungewö hnlich mitgenommen. Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar. „Wirklich? Du liebst mich?" Mindy seufzte. Sie hatte immer noch nicht den Mut, ihm nach solch einem Geständnis in die Augen zu schauen. „Ob du es glaubst oder nicht, bei so etwas würde ich nicht lügen. Aber ich freue mich, dass du eine Frau gefunden hast, die deinen Wünschen entspricht, denn ich bin ohnehin nicht das, was du von einer Frau erwartest." „Du kleine Verrückte", sagte er. Das ließ sie aufblicken. Zu ihrem Erstaunen lächelte er. „Liebling, weißt du nicht, dass du ge nau das bist, was ich will?" „Wie?" „Vielleicht war es am Anfang nicht so, aber du hast mir gezeigt, was ich will, es mir sozusagen ins Gesicht geschleudert." Mindy zuckte leicht zusammen. Doch Benton lachte nur. ,,Nein, ich bin froh. Anders hätte ich es sowieso nie geglaubt. Und seit unserer Trennung habe ich versucht, wieder zu dem Mann zu werden, der ich war, bevor ich dich getroffen habe, aber ich bin einfach nicht glücklich. Nicht ohne dich. Und ich weiß genau, was ich dagegen unternehmen muss." Mit diesen Worten fiel Benton vor ihr auf die Knie, nahm ihre Hand und schaute ihr direkt in die Augen. „Mindy McCrae, willst du mich heiraten?" Sie schnappte nach Luft und versuchte herauszubekommen, was hier geschah. Es kam ihr alles so unwirklich vor. „Aber was ist mit Candace Finks oder Plinks oder wie auch immer sie heißt?"
Er schüttelte den Kopf. „Sie bedeutet mir nichts, Mindy. Ich habe sie sitzen gelassen, um dir hinterher zu laufen, und ich glaube, sie ist im Moment dabei, sich mit jemandem einzulassen, der sie viel glücklicher machen wird, als ich es jemals könnte." „Trotzdem", beharrte Mindy, „bist du dir ganz sicher? Bist du sicher, dass du eine Frau heiraten willst, die lügt und in vornehmen Restaurants auf die Nase fällt, in Sexshops geht und im Bikini aus einer Torte hüpft? Und ich bin nicht einmal blond. Überleg es dir, Benton. Du bist ein bekannter Geschäftsmann. Du hast einen gewissen Ruf zu verteidigen." Benton zuckte mit den Schultern und lächelte sie an. „Dann habe ich jetzt eben einen neuen Ruf. Ich werde bekannt als der Mann mit der wildesten, hübschesten und aufregendsten Frau in der Stadt." Mindy konnte es immer noch nicht glauben. Das Blut pochte in ihren Adern, und ihr Herz klopfte wie verrückt. Wenn sie sich nicht irrte, wur den gerade alle ihre Träume wahr. Aber diesmal musste sie zwischen ihr und Benton wirklich reinen Tisch machen; sie würde nicht zulassen, dass noch irgendwelche Geheimnisse zwischen ihnen standen. Sie legte die Hände auf seine Schultern, während er weiterhin vor ihr kniete. „Okay, nur noch ein paar Sachen, bevor ich Ja sage." Er lachte. „Raus damit." „Du musst wissen, dass ich normalerweise nicht so wie Mandy bin, aber du hattest Recht du bringst die wilde Seite an mir zu Tage, also ... Na ja, ich will damit sagen, dass ich ein gemischtes Paket bin. Ich bin so, wie du mich als Mindy erlebt hast, und zu meiner eigenen Überraschung bin ich auch so, wie du mich als Mandy kennen gelernt hast." Benton hob eine Hand und umschloss ihre Wange. „Das ist mir durchaus bewusst. Und ich liebe euch beide gleichermaßen." Wow! Er liebte sie! Er liebte sie wirklich! Dass die Worte ihm so leicht über die Lippen kamen, vermittelte ihr ein wunderbares Gefühl. „Und du musst dich dieses Jahr zu Halloween als Sonny Bono verkleiden." „Was?" Das überraschte ihn jetzt doch ein wenig. „Weißt du, zu Janes Halloweenpartys verkleide ich mich immer als ir gendeine aufreizende Frau wie zum Beispiel Madonna oder Marilyn Monroe, und in diesem Jahr werde ich als Cher gehen." Er lachte erneut und schüttelte leicht den Kopf. „Findest du nicht, dass ich ein bisschen zu groß für Sonny bin?" Lächelnd schaute sie in seine blauen Augen. „Verstehst du denn nicht? Das ist doch das Beste daran! Es ist einfach wahnsinnig komisch." „Na gut, Mindy, für dich werde ich mich als Sonny verkleiden", meinte er ergeben. „Jetzt aber zum letzten Mal, willst du mich heiraten?" Ohne weiteres Zögern schlang Mindy die Arme um Bentons Hals und versäumte es diesmal auch nicht, ein wichtiges Wort in sein Ohr zu flüstern. „Ja, ja, ja!" „Und nicht nur, dass meine zukünftige Frau aufregend ist, sie betreibt auch noch ein lukratives Geschäft mit einer Erfolgsquote von ... wie viel? Sechsundneunzig Prozent jetzt?" Mindy kicherte. „Das beweist es. Ich kann wirklich für jeden den passenden Partner finden." „War ich solch ein schwieriger Fall?" „Ja, das warst du." Sie lächelte. „Aber eigentlich sprach ich von mir." - ENDE -