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Nr. 15
Kurzgeschichten Warum? (auf dem Titelbild illustiert) Ararat Der letzte Marsianer Arche Noah Professor Sv...
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1 DM
Nr. 15
Kurzgeschichten Warum? (auf dem Titelbild illustiert) Ararat Der letzte Marsianer Arche Noah Professor Svendsons Erfindung (Story des Lesers)
Robert Silverberg Zenna Henderson Fredric Brown William Tenn Gert Kühn
003 029 060 078 138
Malcolm Jameson
110
Isaac Asimov
073
Dr. Ulrich Klaar
098
Science Fiction Novelle Bote einer fremden Welt Interessante Artikel Aus den Standpunkt kommt es an (II. Teil) Kernspaltungs-und Kernverschmelzungs-Atombomben Sonstige Beiträge Vorschau auf den nächsten Band UTOPIA-Science-Fiction Bücherei
097 146
Das Titelbild zeichnete EMSH und zeigt eine Szene aus der Kurzgeschichte ›Warum?‹ von Robert Silverberg.- Illustrationen von EMSH und BRUCK
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gescannt und bearbeitet von:
UTOPIA-Science-Fiction-Magazin erscheint monatlich im Erich Pabel Verlag, Rastatt (Baden), Pabel-Haus (Mitglied des Remagener Kreises e. V.)- Einzelheftpreis: 1 DM. Anzeigenpreise lt. Preisliste Nr. 6. Gesamtherstellung und Auslieferung: Druck- und Verlagshaus Erich Pabel, Rastatt (Baden). Alleinauslieferung für Österreich: Eduard Verbik, Salzburg, Gaswerkgasse 7. – Nachdruck in Wort und Bild, auch auszugsweise, sowie gewerbsmäßige Weiterverbreitung in Lesezirkeln nur mit vorheriger Zustimmung des Verlegers gestattet. Gewerbsmäßiger Umtausch, Verleih oder Handel unter Ladenpreis vom Verleger untersagt. Zuwiderhandlungen verpflichten zu Schadenersatz. Für unverlangte Manuskript- und Bildsendungen wird keine Gewähr übernommen. Printed in Germany.
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WARUM? (Why?) von Robert Silverberg Den Autor dieser Kurzgeschichte kennen wir bereits aus dem letzen Magazin: DIE FRAU SEINER TRAUME. Diesmal begegnet uns jedoch ein viel ernsterer Robert Silverberg. Es geht um eine grundsätzliche Frage, die sich das aus zwei Mann bestehende Forschungsteam nach elf Jahren Raumfahrt stellt. Warum? Ja. warum fliegen wir eigentlich von Stern zu Stern, von Planet zu Planet? Was hat das alles für einen Sinn? Warum bleiben wir nicht lieber zu Hause auf der Erde? Elf Jahre sind eine lange Zeit, wenn man nur immer ein und dasselbe Gesicht vor Augen hat. Aber Hammond und Brock finden die Antwort auf die quälende Frage. Viel, sehr viel hängt davon ab. NACH einem Aufenthalt von sechs Monaten verließen wir Capella XXII und landeten auf Dschubba, gegenüber dem Skorpion. Wir besuchten die acht Sterne dieses Sternbildes, nahmen unsere üblichen Untersuchungen vor, arbeiteten die Ergebnisse aus und funkten sie zurück zur Erde. Dann flogen wir weiter — Brock und ich. Nach einer endlosen Fahrt im Weltall landeten wir auf dem Stern Pavo, der von der Erde aus als der hellste Stern im Sternbild Pfau sichtbar ist. Wir fanden heraus, daß Pavo keinen Planeten hat, von einer gefrorenen Kugel aus Schlamm und Methan abgesehen, die ihn in einer Entfernung von mehreren Milliarden Meilen umkreiste; wir brachen unsere Arbeit wegen der geringen Erfolgsaussichten ab und flogen weiter. Brock war der geistige Führer, ich der Praktiker von uns beiden. Er sah die großen Zusammenhänge, ich die
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Einzelheiten. Seit elf Jahren arbeiteten wir zusammen. Wir hatten achtundsiebzig Sterne und einhundertdreiundsechzig Planeten untersucht. Und immer noch war das Ende unserer Reise nicht abzusehen. »Ich bin für Markab«, sagte Brock. »Alpha Pegasi? Ich würde eher Etamin vorschlagen.« Aber Gamma Draconis erschien ihm offensichtlich wenig verlockend. Er fuhr sich mit seiner kräftigen, schwieligen Hand durch das Haar und sagte: »Bleibt also nur das Rad.« Ich nickte. »Einverstanden.« Das Rad war unser Wegweiser — keine richtige, dreidimensionale Sternenkarte, sondern die Projektion des Weltraums auf eine Linse, auf der die Sterne eingezeichnet waren. Ich schaltete einen Kontakt ein. Ein nadeldünner Lichtstrahl fiel auf das Rad. Brock nahm den Handgriff und versetzte das Rad in Drehungen. Drei-, vier-, fünfmal rotierte es, dann blieb es stehen. Der Lichtstrahl zeigte auf Alphecca. »Alphecca also«, sagte Brock. »Ja. Alphecca.« Ich trug es in unser Logbuch ein und machte mich daran, die Koordinaten für den Flug auszurechnen. Brock runzelte die Stirn. »Diese Uneinigkeit... diese Unfähigkeit, über eine so einfache Frage wie unser nächstes Ziel zu entscheiden.« »Ja. Erkläre es mir. Sprich weiter. Verfolge diesen Gedanken. Was schließt du daraus?« Bedrückt fuhr er fort: »Uneinigkeit ist ein schlechtes Zeichen, wenn sie um ihrer selbst willen besteht. Konflikte können wertvoll sein, wenn sie nicht um ihrer selbst willen ausgetragen werden. Das ist es, was mir zu denken gibt.« »Vielleicht sind wir schon zu lange im Weltraum. Vielleicht sollten wir unseren Auftrag zurückgeben, aus dem Forschungskorps austreten, zur Erde zurückkehren und uns dort niederlassen.«
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Sein Gesicht wurde plötzlich blutleer. »Nein«, sagte er. »Nein, nein und abermals nein!« ENDLICH näherten wir uns dem Alphecca, einem ungewöhnlich großen, hellen Stern, der von vier Planeten umkreist wurde. Brock war gerade mit schwierigen Berechnungen beschäftigt, Schweißtropfen standen ihm auf der Stirn. Ich war an den Beobachtungsstand getreten und betrachtete durch das dicke Quarzfenster die Planeten. »Vier Planeten. Eins, zwei, drei und vier!« Ich drehte mich nach ihm um. Noch immer war seinem hageren Gesicht die quälende Unruhe anzusehen. Er ließ fast eine volle Minute verstreichen, ehe er sagte: »Suche einen davon aus.« »Ich?« »Ja. Suche dir einen aus.« »Alphecca Zwei.« »All right. Landen wir also dort. Mir ist es egal, Hammond. Wenn du dort landen willst, bin ich damit einverstanden.« Er lächelte mir zu — ein hartes, verzerrtes Lächeln, das mich stutzig machte. Ich verstand, worauf er hinauswollte. Er wollte einen Streit vermeiden, indem er das Pulver ausräumte, bevor der Zündfunke übersprang. Wenn zwei Männer elf Jahre lang allein in einer Weltraumrakete leben, können solche Dinge notwendig werden. Ruhig und sicher steuerte ich auf Alphecca Zwei zu. Als wir alle Vorbereitungsmaßnahmen getroffen hatten, schaltete ich das Zählwerk ein. Auf diese Weise erfolgte die Landung. Auf diese Weise hatten Brock und ich hundertdreiundsechzig Landungen durchgeführt. Der Ionenantrieb setzte ein. Wir fielen ›abwärts‹. Vor uns tauchte Alphecca Zwei auf, als sich der spitze, fahlgrüne Bug unseres Schiffes nach unten senkte.
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DIE LANDUNG selbst war eine reine Routineangelegenheit. Ich kreuzte die Zahl 164 auf meiner Karte an, dann legten wir die Schutzanzüge an, um einen ersten Erkundungsmarsch zu unternehmen. Brock zögerte einen Augenblick an der Ausstiegluke, strich den purpurfarbenen Stoff seines Anzugs glatt, rückte sein Atemgerät zurecht und schnallte seinen Gürtel enger. Ein Zucken der Mundwinkel verriet seine Nervosität. Eine unerklärliche Furcht hatte ihn ergriffen. Unter seiner Schutzmaske sah er müde und abgespannt aus. »Du fühlst dich nicht wohl«, sagte ich. »Wir sollten vielleicht unseren ersten Ausflug auf später verschieben.« »Oder sollten wir vielleicht zur Erde zurückkehren, Hammond? In diesem Ameisenhaufen leben und stickige, graue Luft atmen?« Er warf mir einen vorwurfsvollen Blick zu. »Gehen wir.« Verbittert wandte er sich ab und drückte auf den Hebel, der die Aussteigluke freigab. Ich folgte ihm nach draußen und ließ mich nach ihm von dem Aufzug hinunterbringen. Er verhielt sich zurückhaltend und schwieg. Ich wollte, ich hätte sein Talent, die großen Zusammenhänge zu sehen. Wahrscheinlich trug er diese Probleme schon lange mit sich herum. Aber ich konnte keinen Grund dafür entdecken. Nach elf Jahren, dachte ich, hätte ich ihn eigentlich so gut wie mich selbst kennen müssen. Oder sogar noch besser. Ich konnte keine Erklärung dafür finden. Resignierend folgte ich ihm nach draußen, trat auf die Plattform des Aufzugs und fuhr langsam nach unten. Die Landung eins-sechs-vier war vollzogen, unsere Forschungsarbeit konnte beginnen. DAS LAND zog sich weit bis zum Horizont hin, eine kompakte, orangefarbene, rauhe, steinige Masse. Die wenigen astlosen Bäume trugen einen blauen Schimmer. Der ganze Erdboden war mit grünen Reben bewachsen, die sich zu einem
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unentwirrbaren Knäuel zusammenballten. Sonst nichts. »Schon wieder ein unbewohnter Planet«, stellte ich fest. »Damit hätten wir also hundertacht von den hundert vierundsechzig.« »Urteile nicht voreilig. Du kannst einen Stern nicht nach dem Aussehen von einigen Hektar Land beurteilen. Vielleicht stehen wir hier auf einem Pol; die Gegend um die Pole sind immer öde und dürftig bewachsen. Das hier kann kein gültiger Maßstab sein.« Ich fiel ihm ins Wort. »Ich nehme es aber als Maßstab! Ich stelle fest, daß dieser Stern unbewohnt ist. Es ist zu ruhig hier.« Bereitwillig erwiderte Brock: »Ich möchte dir gerne recht geben. Denke aber an Adhara XI.« Ich erinnerte mich daran, an diesen, kleinen, sandigen Stern, der ungeheuer weit von seiner Sonne entfernt kreiste, und auf dem wir nichts als endlose Sanddünen entdeckten, die in immer gleichbleibender Richtung rund um den Planeten wanderten. Wir hatten über diese öde, trockene Wüstenlandschaft gelacht, die nichts als Sanddünen enthielt. Aber nachdem die Meldung geschrieben, unsere Vermessungen eingetragen und nach der Erde durchgegeben waren, fanden wir die Oase auf der östlichen Halbkugel — einen prächtigen Garten mit grünen Pflanzen und frischer Luft, der von der übrigen Landschaft des Sterns völlig verschieden war. Ich erinnerte mich an flinke Schuppentiere, die durch den kristallklaren See flitzten, und an einen trägen, alten Wurm, der im Schatten eines mit Obst beladenen Baumes lag. »Adhara XI wird jetzt wahrscheinlich schon von Touristen überschwemmt«, erwiderte ich, »seit unsere Meldung bekanntgegeben wurde. Ich habe oft schon daran gedacht, daß wir die Existenz dieser Oase hätten verschweigen sollen. Wir hätten uns dorthin zurückziehen können, wenn wir müde
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werden, den Weltraum zu erforschen.« Brock fuhr herum. Nervös riß er ein Blatt von einer Rebe ab und sagte: »Wenn wir müde werden? Bist du nicht schon müde, Hammond? Elf Jahre, hundertvierundsechzig Sterne?« Jetzt wurden mir plötzlich auch die Zusammenhänge klar. Ich schüttelte den Kopf und versuchte, ein anderes Thema anzuschneiden. »Beginnen wir mit den Vermessungen, Brock. Wir können später darüber sprechen.« Wir führten die Vermessungen auf diesem Teil des Sterns Alphecca durch, trugen die Ergebnisse in die Spalten der verschiedenen statistischen Meldebogen ein und schlüsselten sie so auf, daß sie auf der Erde in den gigantischen Katalog der erforschten Sterne eingetragen werden konnten. Gravität — 1.02 E. Analyse der Atmosphäre — Ammoniak/Kohlendioxyd, Typ ab 7, für die menschliche Lunge nicht geeignet — Ungefährer Durchmesser des Planeten 87 — Höher entwickeltes Leben — keines. Wir füllten die üblichen Formulare aus, führten die üblichen Experimente durch, entnahmen die üblichen Gesteinsproben. Die Forschungsarbeit war zu einer reinen Routineangelegenheit geworden. Unsere erste Erkundung dauerte drei Stunden. Wir wanderten über sanft geschwungene Hügel, unser Weltraumschiff immer im Rücken, den Stern Alphecca über uns. Das trockene Gestein knirschte unangenehm unter unseren schweren Stiefeln. UNSERE UNTERHALTUNG beschränkte sich auf das Notwendigste. Brock und ich sprachen nur, wenn es unumgänglich notwendig war — und wenn wir sprachen, ließen wir lediglich kurze, knappe Bemerkungen fallen. Wir hatten zu viele gemeinsame Erinnerungen, als daß wir einen
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Gedankenaustausch gebraucht hätten. Elf Jahre und hundertvierundsechzig Planeten. Wir brauchten nur ›Delta‹ zu sagen oder ›Theta Eridani‹, und schon wurden in uns beiden Erinnerungen geweckt, an denen wir stundenlang zu zehren hatten. Alphecca II erweckte nicht den Anschein, als würde er uns wie jene Welten im Gedächtnis haften bleiben. Wir würden keinen dieser phantastischen Mondaufgänge erleben, an die wir uns von einer anderen Welt her erinnerten. Fünfhundert strahlend helle Monde waren in einer langsamen, feierlichen Prozession über den Himmel gezogen, und jeder schimmerte in einem anderen Farbton. Vier Jahre waren seit jenem Erlebnis vergangen, und dennoch war es in uns lebendig wie am ersten Tage. Alphecca II, diese tote Welt — oder besser gesagt, diese noch nicht lebendige Welt — würde wohl keine Spur in unserer Erinnerung zurücklassen. Die Verbitterung in Brock wuchs unaufhaltsam, Ich kannte die Symptome und sah, daß er ruhelos in seinem Kopf die Frage wälzte, die er nun bald stellen würde. Und am vierten Tage stellte er sie. Vier Tage hatten wir auf Alphecca II verbracht, vier Tage lang die grotesk verschlungenen Banken der wild wuchernden Reben beobachtet, vier Tage lang die lethargischen Zellenspaltungen des Proto-Zoons betrachtet, daß allein die Lebensgrundlage dieses Planeten ausmachte, als Brock plötzlich aufblickte. Er stellte die erschütternde Frage, die eigentlich nie gestellt werden darf. »Warum?« Elf Jahre und hundertvierundsechzig Planeten früher war der Keim zu dieser unbeantworteten Frage gelegt worden. Ich war damals gerade von der Hochschule gekommen, dreiundzwanzig, groß und schlaksig, und hatte, wie man mir sagte, eine aufreizende Art, den Dingen auf den Grund zu
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gehen. Kurz darauf lernte ich Brock kennen — Brock, der schon mit vierundzwanzig der gleiche Brock war, wie heute mit fünfunddreißig: hager im Gesicht, mit einer barschen Stimme und dunklen Gesichtsfarbe und mit ewig unruhig um sich blickenden Augen. Brock warf mir nie vor, ich sei schwerfällig; er lachte, als ich ihm Einzelheiten davon erzählte, aber sein Lachen drückte einen gewissen Respekt aus. Wir waren zusammen auf der Hochschule gewesen und wurden beide von derselben Unrast ergriffen. Sie stand in Brooks Gesicht geschrieben, und ich zweifle nicht daran, daß auch ich sie zur Schau trug. Die Erde war klein, staubig und überfüllt, und jede Nacht schienen die Sterne hell auf uns herab — die großen wenigstens, die hell genug waren, um mit ihrem Schein den Schmutz der Erdatmosphäre zu durchdringen. BROCK UND ICH bestanden gemeinsam unser Examen. Wir teilten ein Zimmer in Appalachia North; wir teilten den Bücherschrank, wir teilten unsere Zeitschriften und Grammophonplatten und manchmal sogar unsere Freundinnen. Acht Wochen nach meinem dreiundzwanzigsten Geburtstag und sieben Wochen vor seinem vierundzwanzigsten hielten wir ein Taxi an und fuhren für unsere letzten Cents in die Stadt, zur ›Zentralstelle für außerirdische Forschung‹. Wir sprachen mit einem blassen, freundlich lächelnden Mann. Sein linkes Bein war steif, und an Stelle einer linken Hand trug er eine Prothese. »Ist auf dem Sirius passiert«, rühmte er sich, »aber ich bin eine Ausnahme. Die meisten Forschertrupps arbeiten jahrelang, jahrzehntelang, ohne daß ihnen je etwas zustößt. McKees und Haugmuth sind schon seit sechsundzwanzig Jahren unterwegs, sie halten den Rekord. Von Zeit zu Zeit geben sie ein Lebenszeichen von sich, alle vier Wochen ungefähr. Sie arbeiten weiter, und es ist noch kein
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Ende abzusehen.« Brock nickte. »Gut. Geben Sie uns die Verträge.« Er unterschrieb als erster; ich setzte meinen Namen darunter, fein säuberlich und hübsch verschnörkelt. Dann steckte ich die Verträge in dreifacher Ausfertigung mit einer Aktenklammer zusammen und gab sie dem einarmigen Personalchef zurück. »Ausgezeichnet! Ausgezeichnet! Herzlich willkommen beim Forschungskorps!« Er gab uns die Hand, uns beiden gleichzeitig. Brock bekam die fleischige, behaarte Rechte, ich mußte mich mit der künstlichen Linken begnügen, die ich herzlich drückte, obwohl er sicher nichts davon spürte. Drei Tage später saßen wir in einem Weltraumschiff auf dem Weg nach draußen. Und seither hatte diese elementare Frage unausgesprochen zwischen uns gestanden; unablässig hatten Brock und ich uns damit beschäftigt. Warum? Wir waren Mitglieder des Korps geworden. Wir hatten auf die Erde verzichtet. Den Grund dafür — wenn es überhaupt einen gab — kannten wir nicht. Während unserer ganzen, elf Jahre dauernden Reise durch die fremden Welten hatten wir uns nie darum gekümmert. Bis Brock nun in seiner inneren Zerrissenheit diese Frage aufgeworfen hatte. Mit dem einfachen Wort ›warum‹ zerstörte er, hier in unserem Labor am vierten Tage unseres Aufenthaltes auf Alphecca II, unseren Frieden, der elf Jahre lang angehalten hatte. EINE HALBE MINUTE lang schaute ich ihn an. Dann fuhr ich mir mit der Zunge über die Lippen und fragte ihn: »Was meinst du damit, Brock?« »Du weißt selbst, was ich meine.« Wie recht er damit hatte! »Ich fragte nur, was wir uns schon die ganze Zeit über gefragt
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haben. Ich frage, weil ich keine Antwort darauf weiß. »Warum sind wir hier auf Alphecca II — und warum sind wir auf den hundertdreiundsechzig anderen Planeten gewesen?« Ich zuckte die Schultern. »Du hättest nicht damit anfangen dürfen, Brock.« Die Sonne stand hoch über uns und schien voll auf uns herab. Dennoch fühlte ich in mir eine trockene Kälte, als ob die Weltraumkälte in das Schiff eingedrungen wäre. »Nein«, räumte er ein. »ich hätte nicht damit anfangen dürfen. Ich hätte es noch weitere elf Jahre auf sich beruhen lassen können. Aber die Frage beschäftigt mich ohne Unterlaß, und ich will damit fertig werden. Wir verließen die Erde, weil es uns dort nicht mehr gefiel. Oder etwa nicht?« Ich nickte. »Aber das ist doch kein stichhaltiger Grund«, rief er aus. »Warum forschen wir? Warum fliegen wir von Planet zu Planet? Warum fliegen wir von einer öden Kugel zur nächsten, wo es keine Menschen gibt und keine Städte? Grüne Krebse haben wir gefunden, auf Rigel V, und Sandfische auf Capella. Hammond, was suchen wir eigentlich?« So ruhig wie möglich erwiderte ich: »Uns selbst vielleicht?« Er lachte verächtlich. »Du willst die Wahrheit nicht sehen und weißt es selbst genau. Wir suchen hier nicht uns selbst — im Gegenteil, wir wollen uns hier verlieren. Was sagst du dazu?« »Nein!« »Du kannst es ruhig zugeben.« Ich starrte durch das Fenster aus Quarz auf die dickstämmigen Reben, die draußen auf dem Erdboden wucherten. Es sah aus, als ob sie sich leise bewegten, als ob sich die Ranken ausstreckten und dann wieder zusammenzogen. Seine Stimme klang müde und abgespannt, als er fortfuhr: »Erinnerst du dich an den Trupp — McKees und Haugmuth
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hießen sie — der dreiunddreißig Jahre im Weltraum war und dann zurückkehrte? Acht Minuten nach der Landung wurden sie tobsüchtig, stand in der Meldung.« »ICH WILL DIR eine einfachere Frage stellen«, versuchte ich, ihn abzulenken, »die ebenfalls mit ›warum‹ beginnt. Warum hast du plötzlich damit angefangen? Warum hast du diese Frage nicht länger in dir zurückgehalten?« »Diese Frage ist nicht einfacher als die andere. Sie ist ein Teil meiner Frage. Ich habe eine Antwort gefunden, aber sie gefällt mir nicht. Ich habe herausgefunden, daß wir die Erde verließen, weil wir dort nicht mehr weiter wußten.« »Nein!« Er lächelte verzeihend. »Nein? Nun gut. Dann gib mir eine bessere Antwort. Ich möchte eine Antwort, Hammond, ich brauche sie. Sofort!« Ich deutete auf das Synthese-Gerät. »Warum trinkst du nicht einen Schluck?« »Das kommt später«, erwiderte er düster. »Wenn ich es aufgegeben habe, nach einer Antwort zu suchen. Die vielfältigen, kleinen Einzelheiten fügten sich zu einem großen, klaren Bild zusammen. Brock — der selbstsichere, selbstzufriedene Brock — hatte seine Selbstgenügsamkeit verloren. Er hatte zu tief unter die Oberfläche geschaut. »Als ich acht Jahre alt war«, begann ich, »fragte ich meinen Vater, was sich außerhalb des Universums befände. Ich hatte gehört, daß das Universum alles sei, was überhaupt existiert, und fragte mich, ob es möglich sei, daß darüber hinaus noch mehr existierte. Mein Vater schaute mich erstaunt an, lachte dann und sagte, ich solle mir darüber keine Gedanken machen. Ich machte mir aber Gedanken darüber. Ich blieb die halbe Nacht auf und dachte darüber nach. Am nächsten Morgen brummte mir der Schädel. Und bis heute habe ich noch nicht
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herausgefunden, was außerhalb des Universums ist.« »Das Universum ist unendlich«, dozierte Brock ungeduldig, »eine in sich selbst gekrümmte Kurve, topologisch...« »Vielleicht. Aber ich habe mir darüber Gedanken gemacht. Ebenso habe ich über die ursprüngliche Ursache nachgedacht und gegrübelt. Dann hörte ich auf zu grübeln.« Er lächelte bitter. »Du bist zu einer Pflanze geworden. Du hast im Schlamm deiner eigenen Unwissenheit Wurzeln geschlagen und hast dich entschlossen, dich nicht mehr herausreißen zu lassen, weil es zu weh tut. Habe ich recht, Hammond?« »Nein. Ich bin doch dem Forschungskorps beigetreten.« DIESE NACHT, als ich in meiner Hängematte lag, träumte ich. Es war ein wüster und unangenehmer Traum, von dem am nächsten Morgen, als die Wirklichkeit wieder um mich lebendig wurde, ein fader, bitterer Nachgeschmack übrigblieb. Ich brauchte lange, bis ich einschlafen konnte. Brock hatte fast den ganzen Tag über gegrübelt, und seine Laune besserte sich nur wenig durch unseren ausgedehnten Rundgang durch die öde Tundra. Bei Einbruch der Nacht hatte er etwas getrunken und sich dann eine Grammophonplatte von Sibelius angehört. Später hatte er sich draußen im Freien vor unser Schiff gesetzt und war lange dort sitzen geblieben. Alphecca II hatte keinen Mond. Die tiefschwarze Nacht des Weltraums umgab uns, nur von den benachbarten Sternen unterbrochen. Ich erinnere mich, daß ich dann in einen Halbschlaf fiel, einen Dämmerzustand, in dem ich Brocks unruhiges Atmen neben mir hörte, in dem ich aber keinen Willen und keine Herrschaft über meinen Körper hatte. Und danach, nach diesem Zustand, kam der Schlaf — und mit ihm kamen die Träume. Der Traum muß durch Brocks Bemerkung angeregt worden sein: »Du bist zu einer Pflanze geworden. Du hast im Schlamm
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deiner eigenen Unwissenheit Wurzeln geschlagen.« Ich fühlte mich buchstäblich in diesen Zustand versetzt. Plötzlich war ich eine Pflanze, zwar im Besitz aller meiner früheren Fähigkeiten, aber im Erdboden angewurzelt. Angewurzelt! Ich kämpfte um meine Freiheit, ich versuchte mich loszureißen und wurde unerbittlich an den Füßen festgehalten. Ich dachte... ich dachte... Unfähig, mich zu rühren. Nur der Oberkörper war noch beweglich. Angewurzelt. Ich krümmte und wandte mich, streckte mich. Bis zu diesem Felsen hinter dem Hügel wollte ich kommen. Oder wenigstens einen einzigen Meter weit, einen Meter. Einen Zentimeter wenigstens. Unmöglich, ich hatte die Bewegungsfähigkeit verloren. Es war, als seien meine Füße in einer gewaltigen Falle gefangen. Ich war dazu verdammt, auf der Erde zu bleiben. Endlich erwachte ich, schweißgebadet. Brock lag friedlich in seiner Hängematte und schlief. Im ersten Augenblick war ich versucht, ihn zu wecken und ihm meinen Alptraum zu erzählen, ließ den Gedanken aber schnell fallen. Ich versuchte, wieder einzuschlafen. Endlich gelang es mir. Ich schlief fest und traumlos. WIR HATTEN den Wecker auf sieben Uhr gestellt. Als er läutete, war es schon seit einer Stunde Tag. Brock erhob sich als erster. Während ich noch dabei war, mir den Schlaf aus den Augen zu reiben, fühlte ich, wie er sich neben mir bewegte. Das Erlebnis meines nächtlichen Alptraumes haftete mir noch frisch in der Erinnerung. Ich fragte mich, ob der kommende Tag so schwer sein werde wie der gestrige, ob Brock, von seiner fanatischen Wahrheitsliebe besessen, weiter über seinen
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Gedanken brüten und grübeln werde. Hoffentlich nicht. Es würde das Ende unserer gemeinsamen Arbeit bedeuten, wenn Brock die Nerven verlor; nach elf Jahren hatte ich keine Lust, mir einen neuen Partner zu suchen, »Hammond? Schon wach?« Seine Stimme hatte ihre Schärfe von gestern verloren. Und dennoch hörte ich einen gefährlichen Unterton heraus, der mir Angst einjagte. Mit einem Gähnen erwiderte ich: »Noch nicht ganz. Richte das Frühstück, bitte.« »Schon fertig. Steh auf und schau dir das an!« Ich kletterte aus der Hängematte, schüttelte den Kopf, um den Schlaf zu vertreiben, und blickte mich um. »Wo bist du?« »Im Zwischenstock. Am Fenster. Komm her und schau dir das an.« Ich kletterte die Spiraltreppe zum Beobachtungsposten hinauf. Brock stand mit dem Rücken zu mir am Fenster und schaute hinaus. Ich trat neben ihn und sagte: »Ich hatte einen seltsamen Traum heute nacht. Ich...« »Zum Teufel damit. Da schau her!« ZUNÄCHST fiel mir nichts Ungewöhnliches auf. In der bunten, grellfarbigen Landschaft hatte sich nichts verändert. Der steinige und orangefarbene Untergrund, die dunkelblauen Bäume, das Gewirr der grünen Reben, der trübe Dunst des frühen Morgens. Aber dann wurde mir klar, daß mein Blick zu weit gegangen war. Unmittelbar neben dem Fenster, fast außer Sicht, krümmte und ringelte sich eine dicke, grüne Raupe. Eine Raupe? Nein! Eine Ranke der grünen Reben. »Sie haben schon das ganze Schiff überwuchert«, erklärte Brock. »Ich habe alle Öffnungen dichtgemacht. Während der Nacht sind diese verdammten Dinger wie Schlangen auf das
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Schiff zugekrochen und haben uns umzingelt.« Voll Abscheu, und doch fasziniert, betrachtete ich den stämmigen Arm der wilden Rebe und ihre feinen, dünnen Seitentriebe, mit denen sie sich an unserem Schiff festklammerte. »Komisch«, sagte ich. »Sieht aus, als würden wir von außerirdischen Ungeheuern angegriffen.« WIR LEGTEN unsere Schutzanzüge an und gingen nach draußen, um den ›Feind‹ näher in Augenschein zu nehmen. Aus fünfzig Meter Entfernung sah das Schiff völlig überwachsen aus. Die elegante Stromlinienform wurde von den gekrümmten Armen und Fingern der Rebe unterbrochen, die von einem dicken Mutterstamm auf dem Erdboden ausgingen und über die ganze Oberfläche des Schiffes hinweg wucherten. Das dichte Geranke der Reben streifte uns an den Beinen, als wir weitergingen. Ich wurde an meinen Traum erinnert. Zögernd, mit leisem Widerstreben, erzählte ich Brock davon. Er lachte. »Angewurzelt, was? Du hast davon geträumt, während diese Reben dabei waren, unser Schiff zu überwuchern. Bedeutungsvoll, was?« »Vielleicht.« Ich schaute abschätzend auf die Reben. »Es wäre vielleicht besser, das Schiff von hier wegzuschaffen. Wenn sich noch mehr Reben daran hängen, kommen wir vielleicht nicht mehr von der Stelle.« Brock bückte sich und knickte eine Ranke ab. »Selbst wenn das Schiff völlig eingesponnen wäre, könnten wir noch starten. Eine Weltraumrakete entwickelt eine unheimliche Kraft. Deswegen habe ich keine Bedenken.« Ein Rascheln! Eine frei hängende Ranke der Rebe krümmte sich plötzlich und schlang sich Brock um den Leib. Ein Ruck — und die
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Schlinge war zugezogen. Wie ein riesengroßer Wurm ringelte sich die Ranke und fesselte Brock. Ich fuhr entsetzt zurück. Halb belustigt und halb sprachlos schaute er an sich herab. »Donnerwetter, hat das Ding eine Kraft!« sagte er mit einem verzerrten Lächeln, ärgerlich darüber, daß er sich von einer Pflanze hatte gefangennehmen lassen. Aber plötzlich krümmte er sich vor Schmerz. »...zuziehen«, brachte er noch keuchend hervor. Die Rebe hatte die Schlinge zugezogen. Der Zug ging von dem Baum aus, an dem der Haupttrieb der Rebe hing. Brock verlor das Gleichgewicht. Als der sehnige Arm der Rebe ihn nach hinten riß, begann er zu taumeln. Dann stürzte er zu Boden. Mit einem Satz war ich bei ihm, den harmlos aussehenden Ranken rechts und links von mir vorsichtig aus dem Weg gehend. Mit dem Fuß trat ich auf den unteren Teil der Ranke, die Brock umklammert hielt, packte ihre Spitze und versuchte, sie zurückzureißen. Ich riß mit aller Gewalt daran. Brock unterstützte mich dabei. »Sie gibt nach«, keuchte er. »Noch mehr.« »Es ist vielleicht besser, wenn ich zurückgehe und eine Waffe hole«, sagte ich. »Nein. Wer weiß, was dieses verdammte Ding in der Zwischenzeit mit mir macht. Sie kann mich in Stücke reißen. Ziehe noch einmal.« Unseren vereinten Kräften gelang es schließlich, die zähe Ranke nach hinten aufzubiegen. Zentimeter um Zentimeter gab sie nach, sich wie ein getretener Wurm ringelnd und krümmend. Schließlich fiel sie zu Boden. Brock war wieder frei. LANGSAM ERHOB er sich, vorsichtig seinen Leib
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betastend. »Verletzt?« »Nichts Ernsthaftes. Es muß eine Notwehrreaktion der Pflanze gewesen sein. Vielleicht habe ich eine Hormonkette in der Ranke verletzt, als ich sie knickte.« Achtungsvoll schaute er auf die Pflanze, die jetzt völlig ruhig und regungslos auf dem Boden lag. Wir gingen zu unserem Schiff zurück und kletterten durch die Einsteigluke, nur wenige Fuß von der nächsten Ranke entfernt. Das Schiff war schon völlig eingesponnen. Brock entkleidete sich; die Rebe hatte einen roten, tief eingekerbten Streifen um seinen Leib hinterlassen. »Ein Versuch, den die Pflanze unternahm«, sagte ich. »Mich zu töten?« »Nein. Sich zu bewegen. Weiterzukommen. Zu sehen, was hinter dem nächsten Hügel ist.« Er runzelte die Stirn und fragte: »Wovon sprichst du überhaupt?« »Ich bin noch nicht ganz sicher. Ich habe kein Talent, die großen Zusammenhänge zu sehen. Aber allmählich gewinne ich Klarheit. Allmählich verstehe ich es, Brock. Ich habe deine Antwort gefunden.« Er massierte seinen Leib. »Los«, sagte er. »Heraus mit der Sprache.« »Ich muß die Einzelteile zusammensetzen — mein Traum von heute nacht, was du gestern sagtest und was wir soeben erlebten.« Unruhig ging ich auf und ab. »Diese Pflanzen dort draußen — sie stecken fest in der Erde, nicht wahr? Sie wachsen an einer bestimmten Stelle und müssen dort ihr ganzes Leben über bleiben. Sie können sich nach rechts oder nach links biegen, noch oben oder nach unten — aber das ist auch alles.« »Sie können auch in die Länge wachsen.« »Natürlich. Aber nicht beliebig lang. Sie können nicht so
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lange wachsen, bis sie auf einem anderen Planeten landen. Sie sind angewurzelt, Brock! Ihr Lebensbereich ist unwiderruflich festgelegt. Stelle dir vor, Brock, diese Pflanzen wären denkende Lebewesen.« »Was hat das zu tun mit...« »Das hat etwas damit zu tun«, widersprach ich. »Du brauchst nur zu unterstellen, daß diese Pflanzen einen Verstand haben. Sie wollen sich bewegen — und können es nicht. Deshalb hat sich eine davon um dich geschlungen. Aus Wut. Aus Neid.« ER NICKTE VERSTEHEND. »Natürlich. Wir haben keine Wurzeln. Wir können uns frei bewegen. Wir können hundertvierundsechzig Welten besichtigen und fliegen, wohin wir wollen.« »Das ist die Antwort auf deine Frage, Brock. Das ist der Grund, noch dem du gesucht hast.« Ich holte tief Atem. »Weißt du nun, warum wir unterwegs sind? Wir sind nicht auf der Flucht. Und wir folgen auch keinem inneren Zwang, der uns von Planet zu Planet hetzt. Nein! Wir sind unterwegs, weil wir die Möglichkeit haben, unterwegs zu sein!« Die Verbitterung war aus seinem Gesicht verschwunden. »Wir sind etwas Besonderes«, sagte er. »Wir können uns bewegen. Das ist das Vorrecht der Menschheit. Das ist es, was uns zu Menschen macht.« Ich brauchte nichts mehr hinzuzufügen. Nach elf Jahren muß man nicht mehr jeden Gedanken aussprechen. Endlich hatten wir es gefunden: Dieser Vorzug war es, um den uns die Reben beneideten, die Fähigkeit, uns zu bewegen. Kurz darauf verließen wir wieder Alphecca II und flogen weiter. Wir erledigten die anderen Planeten dieses Sonnensystems und machten uns dann auf den Weg, weit weg dieses Mal, so weit weg wie möglich. Von dort aus flogen wir zum nächsten Sonnensystem, von dort aus wieder zum nächsten, und so weiter.
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Eine Erinnerung an Alphecca II hatten wir jedoch mitgenommen: Als wir starteten, klammerten sich die Ranken so fest um das Schiff, daß selbst die ungeheure Energie, die das Schiff beim Start entwickelte, ihre Umklammerung nicht lockern konnte. Die Reben wurden samt den Wurzeln ausgerissen und begleiteten unser Schiff auf seinem Flug. Als wir des Anblicks müde wurden, stieg Brock in einem Schutzanzug aus und löste ihre Umklammerung. Er gab ihnen einen Stoß, um sie in Bewegung zu setzen, und sie schwebten langsam und lautlos davon, einer fernen Welt entgegen. Sie hatten ihr Ziel erreicht: Es war ihnen gelungen, ihre eigene Welt zu verlassen. Aber dabei waren sie selbst zugrunde gegangen. Und darin unterschieden wir uns von allen anderen Wesen des Universums, daß wir weiterfliegen konnten, immer weiter, unserem nächsten Ziel entgegen. Why? von Robert Silverberg. Aus THE ORIGINAL SCIENCE FICTION STORIES. Übersetzung aus dem Amerikanischen von Werner Baumann.
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Große Aufgaben für die Zukunft
Der Nobelpreisträger Professor Hahn erzählt in seinen Lebenserinnerungen, daß ihm sein Lehrer — selbst ein berühmter Wissenschaftler der damaligen Zeit — davon abriet, Naturwissenschaften zu studieren. Es lohnte sich nicht mehr, meinte er Es sei ohnehin schon so gut wie alles entdeckt und erfunden, und bis auf ein paar kleine Nebensächlichkeiten sei das wissenschaftliche Weltbild komplett. Das war vor einem halben Jahrhundert; wie denken wir heute darüber? Schauen wir uns doch einmal um: Auf allen Gebieten der Wissenschaft jagen sich die Entdeckungen und Erfindungen in einem so atemberaubenden Tempo, daß man als Laie kaum noch zu folgen vermag. Schlimmer noch: Wenn wir in der Zeitung von einer Neuerung lesen, die vor fünfzig Jahren als Sensation ersten Ranges die Gemüter der Menschen aufgewühlt hätte, kümmern wir uns kaum noch darum. So sehr haben wir uns an den Fortschritt gewöhnt und nehmen ihn als etwas Selbstverständliches hin. Mit jeder Entdeckung tun sich neue Aufgaben vor uns auf; niemals wird das Streben und Drängen des menschlichen Geistes ein letztes Ziel erreichen. Es wäre das Ende der Menschheit. Greifen wir einmal einen einzigen Fragenkomplex heraus, der gleich mehrere Zweige von Wissenschaft und Technik berührt. Schon ein so kleiner Ausschnitt des Gesamtbildes zeigt uns,
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welche riesigen Aufgaben wir noch vor ums haben.
Die Ernährung der Menschheit Einmal — die Meinungen über den genauen Zeitpunkt gehen weit auseinander — wird es so weit kommen, daß die Erde unter den heutigen Voraussetzungen nicht mehr alle Menschen ernähren kann. Müssen dann Millionen verhungern? Oder sind wir gleich gezwungen, zu fernen Planeten auszuwandern? — Noch nicht! Denn noch birgt unsere gute alte Erde so viele Hilfsmittel und Möglichkeiten, daß wir uns zumindest für die nächsten paar hundert Jahre keine Sorgen zu machen brauchen. Daß man aus dem Meer hochwertige Nahrung gewinnen kann, ist nichts Neues. Algen und andere Seegewächse — von der fast unerschöpflichen Fauna ganz zu schweigen — finden in immer größerem Umfang Verwendung als hochwertige, stark proteinhaltige Grundstoffe zur Herstellung nahrhafter und sogar schmackhafter Nahrungsmittel. Brot aus Algen? Warum eigentlich nicht? Eine weitere wichtige Reserve liegt in den immer rationeller werdenden Methoden der Bodenbearbeitung. Moderne Düngemittel und sorgfältige Züchtung führen zu Getreidesorten, die mehr Körner auf jeder Ähre tragen, weniger unbrauchbare Bestandteile enthalten und nicht so sehr vom Wetter abhängig sind Dadurch wird außerdem die landwirtschaftliche Nutzung von Gebieten möglich, die bis vor kurzem noch als unfruchtbar galten. Es wird schon in nächster Zukunft möglich sein, einem guten fruchtbaren Boden zwei oder drei Ernten im Jahre abzuringen. Während die Grenze der Anbaugebiete immer mehr auf die Polargebiete zurückt, gibt es auch innerhalb dieser Grenzen noch riesige Flächen, die über kurz oder lang der menschlichen Ernährung dienen werden. An den Küstenstreifen vieler Länder
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wachsen Polder und Marschen ins Meer, Sümpfe werden trockengelegt, Wüsten bewässert. Ein unerschöpfliches Betätigungsfeld für die Ingenieure der nächsten Generationen! Großprojekte sind in Sicht, von denen die Autoren von Zukunftsromanen seit Jules Verne träumen. Ein Beispiel: Das Mittelmeerprojekt Professor Zevazo von der Spanischen Geologischen Akademie hat schon vor vier Jahren erklärt: ›Die Errichtung eines Superwehres bei Gibraltar und die Senkung des Mittelmeer-Spiegels um rund 250 Meter wird keine klimatischen Nachteile für Europa haben; eine Ablenkung des Golfstroms ist nicht zu befürchten.« Damit waren eigentlich die letzten Zweifel aus dem Wege geräumt. Nur Griechenland und die Balkanländer sind mit dem Projekt noch nicht einverstanden. Der erste Schnitt des Mammutunternehmens würde darin bestehen, daß das Mittelmeer gegen den Atlantischen Ozean und das Schwarze Meer hin durch gewaltige Damm- und Schleusensysteme abgesperrt würde. Der Wasserspiegel würde dadurch innerhalb von 30 Jahren um 155 Meter sinken. Dann folgen Kanäle zur Bewässerung Nordafrikas. Dabei soll der Wasserspiegel um weitere 100 Meter sinken und eine Landverbindung zwischen Italien—Sizilien—Afrika, Griechenland—Kleinasien und Spanien— Nordafrika freigeben. Viele Millionen Menschen fänden neuen Lebensraum, neue Industrien würden aus dem Boden schießen, und aus dem wirtschaftlich heute noch sehr unterentwickelten Mittelmeerraum könnte ein reiches, blühendes Gebiet werden. Auch in der Sahara hat man überall unter dem Sand ausreichende Wasservorkommen gefunden. Man schätzt heute, daß sich unter der Wüste ein Süßwasserreservoir von 600 000
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Quadratkilometer Fläche, mit einem Wasserinhalt von 60.000 Milliarden Kubikmeter ausdehnt. Früher war die Sahara einmal fruchtbares, blühendes Ackerland; warum soll sie es nicht wieder werden? Reichtümer unter dem Eis Vor drei Jahren wurden in der Antarktis Schmelzversuche mit Atomkraft unternommen, über deren Ergebnisse man nicht viel hörte. Fachleute sind jedoch der Ansicht, daß man die Polargebiete weitgehend für die Wirtschaft ausnutzen könnte. Schon Hans Dominik berichtet von großen Städten, die unter dem ewigen Eis des Nordpols errichtet werden. Heute ist auch dieser Plan keine Utopie mehr. Einmal wird der Tag kommen, wo wir die fast unerschöpflichen Bodenschätze der Antarktis brauchen werden. Pläne, die wie Märchen klingen Schon heute verwischen sich die Grenzen zwischen den Voraussagen phantasievoller Zukunftsromane und den Projekten ernsthafter Wissenschaftler. Wenn man die ›Ideenkartei‹ der zuständigen UNO-Organisationen durchblättert, meint man, ein Verzeichnis schon geschriebener oder noch zu schreibender utopischer Berichte vor sich zu haben. Dabei ist hier wirklich nur das festgehalten, was sich mit den heute vorhandenen technischen Mitteln erreichen läßt! Und von Jahr zu Jahr wird die Technik vollkommener, werden Dinge möglich, die gestern noch reine Hirngespinste waren. Ich will nicht weiter auf die Vielzahl der Möglichkeiten eingehen — es sind darüber schon dicke Bücher geschrieben
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worden. Eines muß aber ganz ausdrücklich festgestellt werden: Die Erde kann noch viele Milliarden Menschen ernähren. Die Natur ist keinesfalls gegen uns. Es zeugt von verbrecherischer Verantwortungslosigkeit, wenn man Kriege und Seuchen als natürliche Mittel zur Erhaltung des Gleichgewichts und zur Vermeidung einer Übervölkerung unseres Heimatplaneten darstellt! Sollte es wirklich einmal so weit kommen, wird der menschliche Erfindergeist, der sich als ungeheuer tüchtig in der Entwicklung von Vernichtungsmitteln erwiesen hat, unter dem Zwang des Selbsterhaltungstriebes auch hier einen Ausweg finden. Dann steht uns immer noch der Weg zu den Sternen offen. Und die hungernden 50 Prozent Die Hälfte der Menschheit bekommt immer noch weniger zu essen, als das international anerkannte Existenzminimum! Nicht alle Völker leben so gut wie wir. Steht das nun im Widerspruch zu den vorher aufgestellten Behauptungen? Warum werden große Pläne gemacht und nicht ausgeführt? Warum sind technisch mögliche Projekte wirtschaftlich undurchführbar? Warum ist das Mittelmeergebiet arm und ein ständiger Krisenherd? Warum ... Eine Menge von berechtigten ›Warum‹, auf die es eine eindeutige Antwort gibt. Eine Antwort, die auf der Hand liegt, die sich aus der Erfahrung zweier Weltkriege ergibt — die aber von den Verantwortlichen nicht gern ausgesprochen wird. Es gibt Hunger und Krisen, Krankheiten und Übervölkerung einzelner Gebiete, weil die zur Ausführung friedlicher Großprojekte benötigten Milliarden an anderer Stelle dringender gebraucht werden — nämlich zur Rüstung. Allein
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die Kosten des zweiten Weltkrieges hätten den größten Teil aller ins Auge gefaßten internationalen Großprojekte finanziert! Unsere wichtigste Aufgabe Die größte und zugleich die schwierigste Aufgabe, vor die wir uns gestellt sehen, besteht demnach in der Beseitigung der Angst, die in unserer Kurzgeschichte ›Arche Noah‹ so eindrucksvoll geschildert wird. Wir haben Angst vor einem Krieg. Wir halben Angst vor wirtschaftlichen Krisen.. Wir halben Angst voreinander. Es ist klar) daß großangelegte Projekte nur in engster Zusammenarbeit aller Nationen erfolgreich angepackt werden können. Es ist ebenso klar, daß dann nicht mehr Hunderte von Milliarden für den Aufbau von Riesenarmeen übrig sein werden, die bei dem heutigen Stand der Technik ohnedies nicht mehr die frühere Bedeutung haben. Deshalb müssen wir vorerst nur planen und träumen und abwarten, ob vielleicht die nächste Generation die Möglichkeit zur Realisierung unserer Pläne haben wird. Wir dürfen uns das erlauben — denn für die nächsten zwei Milliarden Menschen hat die Erde auch so noch genügend Raum und Nahrung. Bei einigem guten Willen ist alles zu erreichen. Behalten wir deshalb unseren Optimismus, denn Leute mit negativer Einstellung zum Leben gibt es gerade genug. Und überwinden wir die Angst, Sie ist der größte Feind einer besseren Zukunft
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ARARAT (Ararat) von Zenna Henderson Sie sind fremd auf der Erde und müssen unter den anderen Menschen leben. Äußerlich sehen sie aus wie wir — aber sie besitzen geheimnisvolle Kräfte und Fähigkeiten, die es sorgfältig zu verbergen gilt. Aber wer ist die neue Lehrerin, ist nicht auch an ihr mancher fremdartige Zug zu bemerken? Zenna Henderson erzählt in einer mitreißenden Kurzgeschichte, wie die kleine Gemeinde von Cougar Canyon endlich eine Lehrerin bekommt, die nicht schon nach ein paar Wochen wieder davonlaufen wird. VATER IST DAS Oberhaupt des Kollegiums der Schule, und deswegen weiß ich mehr als andere Kinder über die Angelegenheiten der Schule, Als er dieses Jahr an den Landkreis schrieb, daß wir wieder mehr als neun Kinder für die Schule hatten, und darum bat, eine Lehrerin zu besorgen, erhielt er die Antwort, der Vorrat an Lehrerinnen, die noch nichts von Cougar Canyon gehört hätten, sei erschöpft. Trotzdem war es in den vergangenen Jahren nicht ganz so schlimm gewesen. Die Alten sagten, daß wir uns so allmählich anpaßten. Oder es liegt daran, daß die Lehrerinnen widerstandsfähiger geworden sind. Die letzten zwei blieben beinahe ein ganzes Jahr. Vater fuhr sie dann bis Kerry Canyon, und dort nahm sie ein Krankenauto auf. Aber nach einem kurzen Aufenthalt in einem Sanatorium waren sie wieder in Ordnung und sind es auch heute noch. Immerhin hatten wir zuvor einen durchschnittlichen Bedarf von vier Lehrerinnen pro Jahr. Vater schrieb also an ein Lehrerinnenseminar an der Küste.
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Nach einem langen Hin und Her von Briefen hatte er endlich eine Lehrerin gefunden. Er erzählte es uns beim Abendessen. »Sie ist noch ziemlich jung«, sagte er und griff nach einem Zahnstocher, bevor er sich in seinen Stuhl zurücklehnte. Mutter klatschte Jethro noch einen Löffel Brei auf den Teller und nahm dann wieder ihre eigene Gabel zur Hand. »Jugend ist kein Verbrechen«, sagte sie dann. »Für die Kinder wird es eine angenehme Abwechslung sein.« »Ja. Aber trotzdem ist es eine Schande.« »Sie braucht nicht zu kommen«, erwiderte Mutter. »Sie könnte absagen.« »Nun, aber —« Vater beugte sich wieder nach vorne. »Jethro, du bekommst keinen Brei mehr. Gehe hinaus und hilf Kiah, das Holz hereinzubringen. Karen und Lizbeth, ihr spült das Geschirr. Los, Kinder.« Wir beeilten uns. Hier im Canyon gehorchen die Kinder ihren Vätern, obwohl ich gehört habe, daß dies draußen nicht immer der Fall ist. Es ärgerte mich, daß Vater uns hinausschickte, damit er mit Mutter ein Gespräch unter Erwachsenen führen konnte. Ich sagte deshalb zu Lizbeth, daß ich den Tisch aufräumen wolle, und arbeitete so langsam wie möglich, wobei ich aufmerksam zuhörte. »Sie kann keine andere Stelle finden«, sagte Vater. »Das Seminar schrieb mir, daß sie in den vergangenen zwei Jahren zweimal die Stelle gewechselt hätte.« »Well —« Mutter warf ihm einen mißtrauischen Blick zu, »wenn sie so schlecht ist, warum in aller Welt hast du sie eingestellt?« »Mir blieb keine andere Wahl.« Vater lachte. »Sie wurde nicht wegen Unfähigkeit entlassen, sie ist eine gute Lehrerin. Sie behauptet, man habe sie grundlos entlassen. In einem ihrer Empfehlungsschreiben steht: … ›Miß Carmody ist eine
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ausgezeichnete Lehrkraft, aber wir wagen nicht, sie für eine andere Stelle zu empfehlen.‹ « »Wir wagen nicht?« fragte Mutter ungläubig. »Wir wagen nicht«, bestätigte Vater. »Das Seminar hat mir versichert, daß es genaue Erkundigungen eingezogen habe und daß die Entlassung jedesmal ohne stichhaltigen Grund erfolgt sei. Sie könne einfach keine andere Stelle mehr an der Küste finden. Sie schrieb mir, daß sie ihr Glück in einem anderen Staate versuchen wolle.« »Glaubst du, daß sie einen Geburtsfehler hat oder häßlich aussieht?« rätselte Mutter. »Dem Gesicht nach nicht«, lachte Vater und zog einen Briefumschlag aus der Tasche. »Hier ist ein Bild von ihr.« Unterdessen hatte ich den Tisch aufgeräumt und beugte mich über Vaters Schulter. »Donnerwetter!« entfuhr es mir. Vater drehte sich zu mir um, die Augenbrauen steil in die Höhe gezogen. Ich wußte, daß ihm meine Anwesenheit nicht entgangen war. Ich errötete, hielt aber seinem Blick stand. Seit einiger Zeit duldete man mich, wenn auch nur stillschweigend, bei den Gesprächen der Erwachsenen. Das Mädchen auf dem Bild war wunderhübsch. Sie konnte nicht viel älter als ich sein, aber sie war doppelt so hübsch. Dunkelbraune Locken umringten ihr Gesicht, und ihr glatter, seidiger Teint schien von innen heraus zu leuchten. Auf dem Bild hatte sie einen fragenden Blick, obwohl ihre Augenbrauen die Form von liegenden Fragezeichen hatten. Ihre Mundwinkel waren etwas herabgezogen — nicht viel, sondern gerade tief genug, daß man sich fragte, warum . . . und daß man ihr gerne Trost zugesprochen hätte. »Ihre Anwesenheit wird bestimmt den ganzen Canyon durcheinanderbringen«, sagte Vater. »Ich weiß nicht«, erwiderte Mutter nachdenklich.. »Was
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werden die Alten dazu sagen, wenn jemand im heiratsfähigen Alter von draußen kommt?« »Heiliger Joseph!« stammelte Vater. »Das ist mir noch nicht eingefallen! Keine unserer bisherigen Lehrerinnen war in diesem Alter.« »Was ist schon dabei?« fragte ich. »Ich meine, wenn einer von unserer Gruppe jemanden von draußen heiratet?« »Unmöglich.« Vater schüttelte den Kopf. »Nun, da ist unser Jemmy«, warf Mutter besorgt ein. »Er hat schon gesagt, daß er sich nach einer anderen Gruppe umsehen müsse. Keines der hiesigen Mädchen gefällt ihm. Wenn dieses Mädchen — wie alt ist sie?« Vater schlug das Bewerbungsschreiben auf. »Dreiundzwanzig«, las er. »Seit genau drei Jahren aus dem College entlassen.« »Jemmy ist vierundzwanzig«, gab Mutter zu bedenken. »Vater, ich fürchte, du mußt den Vertrag kündigen. Wenn etwas passierte — du hast meines Erachtens ohnehin zu lange gezögert, bevor du dich um einen Sitz im Rat der Alten bewarbst. Es wäre eine Schande, wenn du in deinem ersten Jahr einen Fehler begingest.« »Ich kann den Vertrag nicht mehr kündigen, sie ist schon unterwegs. Die Schule beginnt nächsten Montag.« Vater raufte sich das Haar, wie immer, wenn ihm etwas zu schaffen machte. »Wir machen uns wahrscheinlich ganz unnütz Sorgen«, fügte er dann hoffnungsvoll hinzu. »Well, ich hoffe, wir haben keine Unannehmlichkeiten mit diesem Mädchen von draußen.« »Oder sie mit uns«, lächelte Vater. »Wo sind meine Zigaretten?« »Auf der Kommode.« Mutter faltete das Tischtuch zusammen, damit die Brotkrumen nicht zu Boden fielen.
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Vater schnippte mit den Fingern, und wie durch ein Wunder lagen die Zigaretten vor ihm. Mutter ging zur Küche. Das Tischtuch schüttelte sich selbst über dem Brotkorb aus und folgte ihr dann. AM SONNTAG ABEND fuhr Vater nach Kerry Canyon, um unsere neue Lehrerin abzuholen. Sie sollte schon am Samstagnachmittag angekommen sein, aber sie hatte den Anschlußzug verpaßt. Die Straße endet in Kerry Canyon. Für die Leute von draußen, meine ich. Von da ab nämlich hört der Weg auf, wie eine Straße auszusehen. Aber das schadet nichts; so werden wir wenigstens von den Touristen in Ruhe gelassen. Wir selbst wissen natürlich, wo wir mit unseren Wagen durchkommen können, aber die anderen kommen deshalb nie zu uns heraus, und wir müssen alles selbst von Kerry Canyon herüberholen. Die Kinder in unserem Hause wollten alle aufbleiben, um die neue Lehrerin zu sehen, und Mutter war damit einverstanden. Aber um halb acht schlief der Jüngste ein, und um neun Uhr waren nur noch Jethro und Kiah, Lizbeth, Jemmy und ich übrig. Vater hätte schon längst zu Hause sein müssen, und Mutter sorgte sich deshalb. Wenn er nicht bald käme, würde sie in ihr Schlafzimmer gehen und den Schrein aus Zedernholz unter ihrem Bett hervorholen. Aber kurz nach neun hörten wir in der Ferne das keuchende, knatternde Geräusch des Autos. Mutters glückseliges Lächeln spiegelte sich in unserer aller Gesichter wieder. »Natürlich!« rief sie aus. »Ich hätte daran denken müssen. Er hat jemanden von draußen im Wagen und mußte deshalb die Straße benützen.« Ich fühlte Miß Carmody, bevor sie durch die Tür trat. Ich hatte genauso neugierig wie die anderen auf ihre Ankunft gewartet, aber plötzlich fühlte ich sie ganz deutlich. Es kam
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mir schmerzhaft zum Bewußtsein, daß ich vom Stamme meiner Großmutter bin und daß ich bald den Segen und die Last ihrer Gabe zu tragen haben würde. Die Gabe, in den Geist eines anderen eindringen zu können, eines anderen von unserem Volke, oder eines anderen von draußen, mit oder gegen dessen Willen. Und dann stand Miß Carmody in der Tür, blinzelte ein wenig in dem hellen Licht und hatte durch den Fahrtwind ganz rote Backen bekommen. Ein helles Kopftuch verbarg ihr Haar, aber ihre Haut war so seidig glänzend und hell, wie es das Bild gezeigt hatte. Sie lächelte noch ein wenig schüchtern. Ich schloß die Augen und . . . drang in sie ein. Es war das erste Mal, daß ich dies tat. Sie war innerlich durch die fremden, vielfältigen Eindrücke ganz aufgewühlt, und tief in ihr saß eine Frage, die sie quälte und die an ihr fraß, aber ich konnte nicht herausfinden, was es war. Aber unter ihren quälenden Zweifeln lag die ganze Lieblichkeit und Schönheit ihrer Seele verborgen, und als ich dies erkannte, wurden meine Augen feucht. Als Vater sie vorstellte, öffnete ich wieder die Augen — so wenig Zeit braucht man dazu, die Seele eines anderen zu erkennen. Dann hörte ich einen tiefen Seufzer neben mir, und ich versetzte mich in die Seele Jemmys. Jemmy und ich waren unser ganzes Leben lang eng miteinander verbunden und es bedurfte zwischen uns nur weniger Worte. Aber an diesem Abend erkannte ich zum ersten Male sein wahres Wesen, und ich bin sicher, daß er nicht wußte, was ihm geschah. Es war mir selbst peinlich, so unmittelbar seine innere Erregung zu sehen, aber ich verließ ihn nicht, bevor ich nicht erkannt hatte, daß sich Jemmy nun nie mehr eine andere Gruppe würde suchen müssen; was auch immer die Alten dazu sagen würden, er hatte sein Glück gefunden.
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ICH WARTETE, bis alle zu Bett gegangen waren — Miß Carmody in ihr fremdes, kaltes Bett und wir anderen alle unter unsere vertrauten, warmen Leintücher. Wie leid mir die Leute von draußen taten! Dann ging ich zu Mutter. »Oh, Mutter«, schluchzte ich, »heute abend bin ich in die Seele von Miß Carmody eingedrungen. Ich fürchte mich.« Mutter hielt mich fest in ihren Armen. »Ich wußte es«, sagte sie. »Du trägst eine große Verantwortung. Du wirst klug und gerecht sein müssen. Deine Großmutter trug ihre Gabe in Gnaden und Ehren. Du bist wie sie; du wirst es auch können.« »Aber Mutter! Dann gehöre ich zu den Alten!« Mutter lachte. »Du hast noch lange Jahre vor dir, bevor du zu den Alten gehörst. Tröster der Herzen zu sein, ist eine schwere Aufgabe.« »Muß ich es den anderen erzählen?« fragte ich. »Ich möchte, daß es niemand erfährt. Ich möchte nicht abseits stehen müssen.« »Ich werde es dem Ältesten sagen«, entschied sie. »Sonst braucht es niemand zu wissen.« Sie küßte mich auf die Stirn, und ich ging beruhigt zu Bett MISS CARMODY machte sich eine Stunde vor uns auf den Weg zur Schule. Sie wollte alles vorbereiten, bevor der Unterricht begann. Ihre verspätete Ankunft hatte ihr am Vortage dazu keine Zeit mehr gelassen. Kiah, Jethro, Lizbeth und ich gingen den Pfad hinunter zu den Armisters, um deren drei Kinder abzuholen. Der Himmel erstrahlte in seinem tiefsten Blau. Wir freuten uns alle darüber, daß die Schule wieder begann. So gingen wir leichten Herzens und frohen Mutes durch die Baumwollfelder, die sich schon goldgelb gefärbt hatten. Jethro war in seiner Freude sehr übermütig, und als ich ihn zum dritten Male zur Ordnung rufen mußte, gab ich ihm einen nachdrücklichen Knuff in die Seite. Er schluchzte
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noch, als wir bei Armisters ankamen. »Sie ist hübsch«, rief Lizbeth, bevor die Kinder am Tor erschienen. Sie waren außer Rand und Band und neugierig darauf, wie die neue Lehrerin sein würde. »Sie ist jung«, fügte Kiah hinzu und drängte sich nach vorn. »Sie ist kleiner als ich«, prahlte Jethro. Wir lachten alle, weil er schon einen Meter siebzig groß ist, obwohl er noch nicht einmal zwölf Jahre zählt. Debra und Rachel Armister hängten sich bei Lizbeth ein und steckten eifrig die Köpfe zusammen, um die letzten Neuigkeiten über die Haarfarbe der neuen Lehrerin zu erfahren, ihre Kleider, ihr Gepäck und sogar über ihr Nachthemd, wobei ich mich fragte, woher in aller Welt Lizbeth darüber Bescheid wußte. Dann bogen wir in die Mesa Road ein, um die Jungen von Kroginold abzuholen. Vater hat mehr als einmal wegen der Kroginolds geseufzt. Sehen Sie, als unser Volk über das Meer setzte, wurde es im letzten Augenblick auseinandergerissen. Die Hitze war bis an die Grenze des Erträglichen gestiegen, und die Menschen kannten nur noch mit Mühe atmen. Die Mitglieder unserer Gruppe verließen das Schiff gerade noch frühzeitig genug, um nicht mit ihm an einem Felsen zu zerschellen. Eine Feuersbrunst war ausgebrochen, die alles Leben hier in den Bergen vernichtete. Die Überlebenden scharten sich zusammen und gründeten Cougar Canyon. Seit sie herausfanden, daß das Metall, aus dem unser Schiff bestand, hier ein sehr begehrtes Objekt ist, haben sie ihr Leben damit zugebracht, in den Bergen nach diesem Metall zu suchen, obwohl dies eine sehr schwierige Arbeit ist. Das Erz muß zuerst nach draußen gebracht und dort veredelt werden. Niemand kann es hier verarbeiten. Auf jeden Fall ist unsere Gruppe hier in Cougar Canyon die
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größte unseres Volkes, aber wir sind sicher, daß noch eine zweite Gruppe die Katastrophe überlebt hat Großmutter hat zu ihrer Zeit sogar zwei andere Gruppen gefühlt, konnte aber nie herausfinden, wo sie sich aufhielten. Da wir uns aber vorgenommen hatten, in der Einsamkeit zu leben, hat niemand je ernstlich danach gesucht. Vater erinnert sich nur noch undeutlich an die Überfahrt, aber manche von den Alten tragen noch Spuren und Narben von den Brandwunden, die sie erlitten, als sie die anderen vor dem Tode retteten. Derek und Jake Kroginold spielten in einem Laubhaufen, als wir dort ankamen. Sie hörten uns nicht einmal kommen, so sehr waren sie in ihr Spiel vertieft, und ich mußte dem einen, der sich gerade gebückt hatte, einen Klaps auf die Rückseite geben, damit er mich bemerkte. Sie fuhren auf und starrten mich mit weit aufgerissenen Augen an. »Was für eine alte Schachtel haben wir dieses Mal?« fragte Derek, als er sich wieder gefaßt hatte. »Sie ist keine alte Schachtel«, wies ich ihn zurecht, vielleicht schärfer als nötig, aber Derek ärgert mich immer so. »Sie ist jung und hübsch.« »Das glaube ich nicht.« Jake bewarf gerade die Mädchen mit Laub, als er dies hervorstieß. »Wirklich!« bestätigte Kiath. »Sie ist die hübscheste Lehrerin, die wir je hatten.« »Mir wird sie nichts beibringen«, rief Derek von der Spitze eines Baumes herab, auf den er flink wie ein Wiesel geklettert war. Ich streckte die Hände der Sonne entgegen. Es entstand ein Wind der ihn vom Baume schüttelte. Er fiel wie ein Stein zu Boden und schrie in Todesangst, weil er glaubte, er müsse sterben, aber ich hielt ihn einen Fuß über dem Erdboden an und ließ ihn gehen. Er war noch ganz außer sich vor Schreck, rief aber trotzdem:
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»Das werde ich den Alten erzählen! Seit wann kannst du Wind machen?« »Erzähle es ruhig den Alten«, gab ich zurück und trieb die anderen zur Eile an. »Dann werde ich ihnen auch erzählen, warum ich das getan habe, und was hast du darauf zu erwidern?« Zuletzt gingen wir bei der Familie Clarinades vorbei. Wie gewöhnlich hielten sich Susie und Jerry, die Zwillinge, bei den Händen; sie waren beide scheu und schüchtern, freuten sich aber, daß nun für sie die Schule begann. Jerry, der meistens das Wort für beide führte, grüßte mit einem leisen »Hallo!«. Zu unserem größten Erstaunen öffnete Susie den Mund und brachte hervor: »Wir gehen zur Schule.« »Freust du dich?« fragte ich und nahm sie bei der Hand. »Wir werden eine großartige Lehrerin haben.« Aber damit war Susies Keckheit erschöpft, und bis zur Ankunft in der Schule sprach sie kein Wort mehr. Jake und Derek gaben mir zu denken. Sie hatten sich von uns abgesondert und flüsterten miteinander. Ab und zu warfen sie uns einen verstohlenen Blick zu und kicherten. Sicher heckten sie einen neuen Streich aus, den sie Miß Carmody spielen wollten. Wir bogen gerade in den Weg zur Schule ein, als Jemmy, der schon längst oben im Bergwerk hätte sein sollen, aus einem Gebüsch trat, die Hände hinter dem Rücken verborgen. Er schaute Jake und Derek und dann uns alle an. »Benehmt euch anständig, wenn ihr zur Schule geht«, sagte er drohend. »Und wenn ich über euch Kroginolds die geringste Klage höre, schlage ich einen Stock an euch entzwei. Diese Lehrerin wollen wir behalten.« Susie und Jerry klammerten sich erschreckt aneinander. Die Kroginolds wurden rot und maulten unwillig. Die anderen schauten sprachlos auf Jemmy, der sonst so ruhig und
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friedliebend war. »Nun los, Kinder.« Jemmy deutete mit dem Kopf auf das Schulhaus, und die verängstigten Zwillinge machten sich als erste auf den Weg. Die anderen Kinder folgten ihnen, den Schluß bildeten die immer noch leise maulenden Kroginolds. Jemmy konnte sich noch immer nicht beruhigen. »Es wird Zeit, daß sie anständige Manieren annehmen. Es hat keinen Zweck, daß wir immer wieder unsere Lehrerinnen verlieren.« »Nein«, pflichtete ich ihm bei. »Es hat doch keinen Sinn, ihr das Leben unnötig schwer zu machen«, fuhr er fort, vor Verlegenheit zu Boden sehend. »Nein«, pflichtete ich ihm wieder bei und unterdrückte ein Lächeln. Jemmy bemerkte es und mußte selbst lächeln. »Wozu soll ich große Worte machen?« sagte er dann. »Hier.« Er zog seine Hand hinter dem Rücken hervor und brachte einen hübschen Blumenstrauß zum Vorschein. »Bringe ihr die Blumen«, bat er mich. »Als Willkommensgruß.« »Oh, Jemmy!« rief ich aus. »Wie schön sie sind! Und wie gut sie riechen! Du mußt heute morgen schon früh aufgestanden sein.« »Stimmt«, gab er zu. »Aber sie soll nicht wissen, von wem die Blumen kommen.« Damit drehte er sich um und ließ mich stehen. Ich beeilte mich, die Kinder einzuholen, bevor sie das Schulhaus betraten, und führte sie geordnet in das Klassenzimmer. Während ich Miß Carmody den Blumenstrauß überreichte, begaben sie sich ruhig an ihre gewohnten Plätze, nur die Zwillinge blieben hilflos und verloren stehen. Miß Carmody legte sogleich ihre Blumen nieder und bückte sich zu den Zwillingen hinunter. Zart nahm sie die ineinander verkrampften Hände in ihre Hand und sagte mit ihrer warmen Stimme:
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»Ich bin so froh, daß ihr jetzt zur Schule kommt. Ihr habt bisher in der Klasse gefehlt, und ich habe eine Bank, die eigens für euch gebaut wurde.« Damit führte sie die zwei zur Fensterseite des Zimmers, wo nahe genug dem alten Kanonenofen (damit sie später nicht zu frieren brauchten) und nahe genug dem Fenster (damit sie hinaussehen konnten) eine alte Doppelbank aufgestellt war, die bisher vergessen und verstaubt auf dem Speicher gelegen haben mußte. Sie paßte genau für die Größe der Zwillinge. Für die herabhängenden, zu kurzen Beine war ein Fußtritt angebracht, und aus den beiden für die Tintengläser vorgesehenen Öffnungen ragte feurig rot ein Strauß derselben Blumen, die ich Miß Carmody gebracht hatte. Die Zwillinge schlüpften in die Bank, ohne ihre Hände loszulassen, und starrten mit weit aufgerissenen Augen Miß Carmody an. Sie lächelte herzlich zurück, beugte sich zu den zwei Kindern nieder und tippte mit dem Zeigefinger auf die Grübchen, die jedes der Kinder am Kinn trug. »Ein Grübchen zum Lächeln«, sagte sie und sofort hellten sich die zwei Gesichter zu einem strahlenden Lächeln auf. Dann wandte sie sich den anderen Kindern zu. Dann begann der Unterricht, und alles verlief reibungslos. Miß Carmody war eine gute Lehrerin, und selbst die Kroginolds folgten ihr mit sichtlichem Interesse. Die Tage vergingen. Seit Jemmys Drohung hatten die Kroginolds keinen Streich mehr ausgeheckt, das heißt, von der Geschichte mit der Kreide abgesehen. Miß Carmody erklärte etwas an der Tafel und griff, ohne sich umzudrehen, nach der Kreide, um etwas an die Tafel zu schreiben. Jake ließ diese jedesmal wenn Miß Carmody sie mit den Fingerspitzen fast berührte, ein Stückchen weiterrutschen. Gerade wollte ich eingreifen, als Miß Carmody überraschend zupackte und die Kreide in den Fingern hielt. Jake schaute mich verstohlen an,
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aber als er meinen Blick auffing, zog er den Kopf ein. Ich habe es Jemmy nicht erzählt, aber seine Angst, ich könnte es tun, hielt ihn eine Zeitlang ruhig. Die Zwillinge blühten buchstäblich auf. Sie lachten und spielten mit den anderen Kindern. Jerry ging nachmittags sogar manchmal mit den anderen Kindern fort und kam genauso schmutzig und durchnäßt am Abend nach Hause wie sie, wenn sie am Fluß einen Damm gebaut hatten. Miß Carmody paßte so gut in unsere Gemeinde und war bei uns Kindern so beliebt, daß es schien, als würden wir endlich eine Lehrerin ein ganzes Jahr behalten können. Sie hatte sogar schon ein paar Dinge überstanden, die andere Lehrerinnen vertrieben hatten. Zum Beispiel . . . Als Susie zum ersten Male einen roten Fleißzettel dafür bekam, daß sie fehlerlos eine ganze Seite hatte lesen können, hob sie der Stolz während ihres ganzen Weges zurück an ihren Platz in die Höhe, so daß sie buchstäblich ein paar Zoll über dem Fußboden ging. Ich hielt den Atem an, bis sie an ihrem Platz saß und zaghaft mit einem Finger ihren Fleißzettel streichelte, dann schaute ich verstohlen zu Miß Carmody hinüber. Sie saß regungslos vor ihrem Pult, beide Hände an das Holz geklammert, als müsse sie sich festhalten, und auf ihrem Gesicht stand ein Ausdruck ungläubigen Staunens. Dann aber fiel die Spannung von ihr ab, sie schüttelte den Kopf, lächelte und machte sich an ihren Papieren zu schaffen. Ich atmete erleichtert auf. Die vorletzte Lehrerin hatte einen hysterischen Schreikrampf bekommen, als ein Mädchen versehentlich durch die Luft an ihren Platz zurückging, weil ihr Fuß schmerzte. In derselben Woche kam Jethro eines Nachmittags ganz außer Atem zum Schulhaus gelaufen, wo Valancy — das ist ihr Vorname und wenn wir allein sind, nenne ich sie so — mir bei
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einer schwierigen Mathematikaufgabe half, die ich zur Vorbereitung auf die Aufnahmeprüfung brauchte. »He, Karen!« rief er durch das offene Fenster. »Kannst du für eine Minute herauskommen?« »Warum?« rief ich zurück, ärgerlich über die Unterbrechung, weil ich gerade dabei war zu ergründen, was an einer Normalkurve normal sei. »Es ist etwas los.« Ich schob mein Buch zurück. »Entschuldige Valancy. Ich sehe schnell nach, was er hat.« »Soll ich mitkommen?« fragte sie. »Wenn etwas passiert ist …« »Nicht notwendig«, wehrte ich ab und verschwand schnell durch die Tür. Wenn jemand von unserem Volk sagt: »Es ist etwas los«, so meint er damit eine Angelegenheit unserer Gruppe. »Heiliger Joseph!« schimpfte ich, als wir den steinigen Pfad hinunter zum Fluß rannten. »Was ist denn los? Ist etwas passiert?« »Schau!« Er zeigte auf eine Gruppe von Jungen, die einen ängstlichen, aber stolzen Jerry umstanden; über ihnen, frei in der Luft hängend, stand regungslos ein riesiger Felsblock. »Wer hat diesen Felsblock gehoben?« keuchte ich. »Ich«, erwiderte Jerry voller Stolz. Ich wandte mich an Jethro. »Warum hast du nicht einfach den Bann gebrochen? Deswegen hättest du mich doch nicht zu rufen brauchen.« »Ich?« rief er entsetzt aus. »Du weißt doch genau, daß wir das nicht tun dürfen, wenn ein anderer etwas Schweres gehoben hat. Und außerdem . . .« Er schaute verlegen zur Seite, »kenne ich mich in diesen Mädchensachen nicht aus.« »Oh, Jethro! Wie dumm du manchmal sein kannst.« Ich wandte mich wieder an Jerry. »Wie war es überhaupt möglich,
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daß du einen so schweren Stein gehoben hast?« »Ich habe zugesehen, wie Papa etwas hob.« »Erlaubt er euch zu Hause, Dinge zu heben?« fragte ich streng. »Ich weiß nicht.« Er verzog weinerlich das Gesicht. »Ich habe bisher noch nie etwas gehoben.« »Die anderen hätten es wissen müssen. Ihr Kinder dürft auf keinen Fall Dinge heben, die andere Kinder von draußen nicht auch heben könnten. Und vor allem dann nicht, wenn ihr sie nachher nicht mehr zur Erde bringen könnt.« »Ich werde es mir merken«, versprach Jerry, zwischen Stolz und Reue schwankend. »Daran tust du gut.« Darauf nahm ich eine Handvoll Sonne, brach den Bann und setzte den Felsblock auf seinen Platz zurück. Der Bruch eines Banns fällt den Mädchen leichter — das heißt, nur der Bruch mit Sonnenschein. Natürlich können nur die Alten mit Sonne und Regen umgehen, und nur die Ältesten wagen es mit Mondenschein und Dunkelheit, womit man Berge versetzen kann. Aber das war keine Entschuldigung für Jethro. Er hatte die Gefahr heraufbeschworen, daß Valancy etwas sah, was sie nicht sehen sollte. Aber Valancy war damit beschäftigt, hoch oben an den Wänden Bilder aufzuhängen, und hatte nichts davon bemerkt. Sie bat mich, ihr eine Trittleiter zu holen, damit sie die Bilder bequemer aufhängen konnte. Ich holte die Leiter und hielt sie ihr — aber dann hätte ich sie beinahe losgelassen. Eine Frage kam mir plötzlich in den Sinn: Wie hat sie bisher die Bilder aufgehängt? DIE TROCKENHEIT HIELT in diesem Herbst unnatürlich lange an. Anfänglich machten wir uns nicht viel daraus, weil wir selbst nicht auf den Regen angewiesen sind. Wasser für
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den eigenen Bedarf können wir uns jederzeit besorgen. Als aber der November kam und vorüberging und Weihnachten schon vor der Tür stand, und als es immer noch nicht regnete oder schneite, machten wir uns Sorgen. Der Fluß trocknete zu einem spärlichen Rinnsal aus, und schließlich versiegte auch der letzte Wasserlauf. Die Alten konnten nicht mehr umhin, einen Abend am Wasserreservoir der Gruppe zu verbringen, um Abhilfe zu schaffen. Valancy sollte davon nichts bemerken. Deshalb fuhr Jemmy mit ihr nach Kerry zu einem Theaterbesuch. Ich lag noch wach, als sie lange nach Mitternacht nach Hause kamen. Seit die Gabe in mir erwacht ist, habe ich oft solche schlaflose Stunden, während denen ich in der Seele aller Angehörigen unserer Gruppe zu stecken glaube. Mit der Zeit werde ich es lernen, meine Seele von den anderen fernzuhalten, wenn ich es will, aber ich weiß noch nicht, wie ich das je lernen soll. Seit Großmutter tot ist, lebt kein Seher in unserer Gruppe und bei der Überfahrt wurden alle Bücher und Aufzeichnungen vernichtet. Ich war also noch wach und hatte mich an das Fenster gesetzt. Sie blieben im Hof stehen — Valancy schläft immer noch in unserem Hause. Ich brauchte keine hellseherische Gabe um zu wissen, was sie miteinander sprachen. Als ihre Schatten ineinander verflossen, schloß ich meine Augen und meine Seele. Während ihrer starken, inneren Erregung hätte ich leicht Zugang zu ihnen finden können, aber ich hatte genug gesehen. Ich wußte genau, was zwischen ihnen vorging, und wußte auch, daß Valancy abends oft in ihrem Bett weinte, und daß Jemmy viele einsame Stunden in den Bergen verbrachte, um sein Herz vor einer Frau von draußen so zu verschließen, wie auch diese Berge unzugänglich sind. Was er fühlte, wußte ich, aber zu Valancy hatte ich seltsamerweise seit jenem Abend nie mehr Zugang gefunden. Dann ging die Haustür, und die leichten Schritte Valancys
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waren in der Diele zu hören. Kurz darauf fühlte ich, daß Jemmy mich rief. Ich warf einen Mantel über und schlich hinaus in die Diele. Er wartete auf mich an der Treppe, seine Miene war voll Trauer und Bitterkeit. »Sie will mich nicht«, sagte er nur. »Oh, Jemmy!« rief ich aus. »Du hast sie gefragt . . .« »Ja«, erwiderte er. »Und sie hat nein gesagt.« »Du tust mir so leid.« Ich setzte mich auf die Treppe und zog den Mantel über meine bloßen Füße. »Aber Jemmy . . .« »Ja, ich weiß!« erwiderte er heftig. »Sie kommt von draußen. Ich habe nicht das Recht dazu. Aber wenn sie mich wollte, würde ich keine Minute zögern. Dieser Kastengeist unserer Gruppe ist . . .« ». . . gut und recht«, ergänzte ich seinen Satz, »solange du nicht selbst davon betroffen bist, nicht wahr? Nimm doch Vernunft an, Jemmy! Könntest du leben wie jemand von draußen? Denke doch an die zahllosen Annehmlichkeiten und Erleichterungen, auf die du verzichten müßtest — dein ganzes Leben lang. Und wenn ihr Kinder hättet . . .« Ich hielt inne. »Könntet ihr überhaupt Kinder haben, Jemmy?« Sein Atem ging heftig. »Wir wissen es nicht«, fuhr ich fort. »Wir hatten noch nie Gelegenheit, es herauszufinden. Willst du Valancy etwa zu einem Versuchskaninchen erniedrigen?« Er warf wütend seinen Hut zu Boden. Dann lachte er bitter. »Du hast die Gabe«, sagte er, obwohl ich es ihm nie gesagt hatte. »Weißt du auch, verehrte Schwester, wie wenig beliebt du sein wirst, wenn du einmal den Alten angehörst?« »Großmutter war sehr beliebt«, hielt ich ihm entgegen. »Aber nun zieh dich nicht vor mir zurück. Bitte, Jemmy! Ist es nicht hart genug, als einzige eines andersartigen Volkes andersartig zu sein? Bitte, verlasse mich nicht!« Ich war den Tränen nahe. Jemmy setzte sich neben mich und legte mit einer vertrauten
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Geste seinen Arm um meine Schultern. »Hab keine Angst, Karen. Ich habe nur in der ersten Aufregung gesprochen. Welch eine traurige Welt!« Er seufzte tief. »Aber die andere Welt ist entschwunden«, flüsterte ich. »Die Heimat.« Und gemeinsam empfanden wir beide das Gefühl, das immer noch in unserem Volke lebt, selbst bei denen, die nie selbst die Heimat gesehen haben. Vater meint, es sei dies eine Art von vorgeburtlichem Erinnerungsvermögen. »Sie sagte aber nicht, daß sie mich nicht liebe«, fuhr Jemmy schließlich fort. »Sie liebt mich, Sie hat es mir gestanden.« »Und warum will sie dich dann nicht?« Als Schwester konnte ich mir nicht vorstellen, daß jemand Jemmy nicht haben wollte. Jemmy lachte, ein bitteres, tief unglückliches Lachen. »Weil sie anders ist.« »Anders?« »So sagte sie wenigstens. Vielleicht entfuhr es ihr auch nur unabsichtlich. ›Ich kann nicht heiraten‹, sagte sie, ›weil ich anders bin‹. Wie klingt das aus dem Munde eines Menschen von draußen?« »Sie weiß nicht, daß wir das Volk sind«, überlegte ich. Sie muß also glauben, anders als die übrige Menschheit zu sein. Warum wohl?« »Ich weiß nicht. Sie hat etwas an sich, irgend etwas. Einen unsichtbaren Schutzwall vielleicht, den wir nicht durchdringen können. Ich habe das bisher weder bei einem Menschen von draußen, noch bei einem von unserem Volk bemerkt.« »Ich weiß«, erwiderte ich. »Ich hatte schon dasselbe Gefühl.« Schweigend lauschten wir den Geräuschen der Nacht. Dann erhob sich Jemmy. »Gute Nacht, Karen. Hab Dank für alles.« Ich erhob mich ebenfalls. »Gute Nacht, Jemmy.« Mit müden, schweren Schritten ging er zum Tor zurück. Das helle Licht
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des vollen Mondes beschien seine Gestalt, doch sein Gesicht blieb im Dunkeln. »Aber ich gebe die Hoffnung nicht auf«, sagte er dann und drehte sich noch einmal um. »Ich liebe sie.« AM NÄCHSTEN TAGE war es schwül und heiß — ein ungewöhnliches Wetter für einen Dezembertag. In der Natur herrschte eine unheilvolle, drohende Stille. Einzelne, dünne Rauchfaden kräuselten sich am Himmel und zeigten an, daß dort kleine Buschfeuer ausgebrochen waren, so trocken lag das Land. Bei genauerem Hinsehen konnte man hinter dem Old Baldy eine tiefgraue Wolkenbank erkennen, die sich kaum merklich von der Farbe des Himmels abhob. Es drohte uns ein schweres Unwetter. Eine seltsame Unruhe hatte uns in der Schule ergriffen. Die Kinder spürten das Wetter. Valancy war nach den Ereignissen der vergangenen Nacht bleich und niedergeschlagen. Ich nahm meine ganze Kraft zusammen, um ihren Schutzwall zu durchdringen und herauszufinden, was in ihr vorging. Die Spannung, die sich in uns aufgespeichert hatte, entlud sich schließlich, als Susie, von Jerry im Scherz gestoßen, aus der Bank fiel und auf einem Topf mit angerührter Wasserfarbe landete, den Debra aus einem unerfindlichen Grunde ausgerechnet an dieser Stelle auf dem Fußboden hatte stehen lassen. Susie kreischte erschreckt auf. Debra empörte sich wegen ihrer Farbe, und Jerry brach in lautes Gelächter aus. In der Aufregung suchte Valancy nach etwas, um die Ruhe wiederherzustellen, und stieß dabei eine Vase um, in der sich ein Strauß bunter Herbstblumen und drei Tage altes Wasser befanden. Die Vase zerbrach und überflutete das Pult mit der faulig riechenden Flüssigkeit, wobei der Monatsbericht, den Valancy gerade an den Superintendenten des Schulamtes absenden wollte, völlig ruiniert wurde.
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Einen Augenblick lang herrschte atemlose Stille im Raum, dann brach Valancy in ein überreiztes Lachen aus, und die ganze Klasse lachte mit ihr. Mit vereinten Kräften bemühten wir uns, Susie und Valancys Pult zu säubern, dann erklärte Valancy, für heute sei schulfrei. Sie schlug vor, einen Spaziergang zu machen, um Blumen zu pflücken. Wir packten also unser Mittagessen ein und rollten eine große, quadratische Decke zusammen, mit der die Jungen den Damm gebaut hatten und die uns beim Mittagessen im Freien nützlich sein konnte. Die Kinder, vom Zwang der Schule befreit, tollten ausgelassen und übermütig umher. Ich mußte mir beinahe den Hals ausrenken, um keines aus den Augen zu verlieren. In ihrem Überschwang hätten sie sich leicht dazu hinreißen lassen können, Dinge zu heben oder sonst etwas zu tun, was unsere Gruppe verraten hätte. Wir durchquerten das ausgetrocknete Flußbett und stiegen dann bergan. Auf der Mesa angekommen, breiteten wir unsere Decke aus, lagerten uns und bereiteten das Picknick vor. Die plötzliche Stille der Kinder erregte meine Aufmerksamkeit. Debra, Rachel und Lizbeth schauten entsetzt auf Susie, die ruhig und unberührt ihre Sandwichs und ein halbes Dutzend Koomatka auspackte. Die Koomatka ist die einzige Pflanze unserer Heimat, die wir bei der Überfahrt retten konnten. Einer der Überlebenden fand vier Pflanzen in seinem Gepäck, die dann mühevoll gehegt und gepflegt wurden. Heute hat jeder Haushalt unserer Gruppe seine eigene Koomatka-Zucht, die in einer verborgenen Ecke des Gartens wächst, wo sie kein Unberufener sehen kann. Die Frucht dieser Pflanze wird nicht wegen ihres Nährwertes gegessen sondern weil sie uns die letzte Erinnerung an die Genüsse unserer Heimat bedeutet. Wir sparen die Koomatka immer für besondere Gelegenheiten auf. Susie mußte sie zu
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Hause heimlich entwendet haben, als ihre Mutter nicht darauf achtete. Und nun lagen die Früchte hier auf der Decke, vor den Augen eines Menschen von draußen! Bevor ich hätte etwas sagen oder tun können, hatte sich auch Valancy umgedreht und die Koomatka erblickt. Ihre Augen weiteten sich in ungläubigem Staunen, und sie streckte die Hand danach aus. Sie wollte etwas sagen, schlug aber dann die Augen nieder und zog die Hand zurück. Den Blick unverwandt auf sie gerichtet, ließen die Kinder die blaugrünen Früchte wieder in der Tasche verschwinden. Susie war dem Weinen nahe, als sie erkannte, daß sie unser Volk an einen von draußen verraten hatte. Eine Sekunde später wälzten sich Kiah und Derek auf der Decke und balgten sich um ein Stück Kuchen. Während wir unsere Vorräte vor ihnen in Sicherheit brachten, geschah ein neues Malheur, und bis wir dann wieder die Schokolade von ihren Hemden abgekratzt hatten, schien der Vorfall mit den Koomatka vergessen. Und dennoch grübelte ich darüber nach, als wir später gesättigt auf dem Rücken lagen und dem Flug der tief hängenden Wolken zuschauten. Was hatte der Blick Valancys zu bedeuten, als sie die Früchte erblickte? Konnte sie wissen, was sie zu bedeuten hatten? Nach unserer kurzen Mittagsrast vergruben wir sorgfältig die Reste unseres Mittagessens — der Berg war zu trocken, als daß wir sie hätten verbrennen können — und machten uns wieder auf den Weg. Der Anstieg wurde steiler, und die spitzen Domen der Manzanita zerrissen unsere Kleider und zerkratzten unsere bloßen Beine. Immer beschwerlicher wurde der Weg, die aufgerollte Decke verfing sich oft im Gebüsch. Wenn Valancy nicht dabei gewesen wäre, hätten wir mühelos darüber hinwegschweben können. So aber verschnauften wir kurz und stapften dann wieder weiter. Nach einer Stunde ungefähr gelangten wir an eine Anhöhe,
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die dem Massiv des Old Baldy vorgelagert war und wo das Dickicht der Manzanita eine kleine Lichtung bildete. Erleichtert lagerten wir uns auf einer flachen Felsenplatte, um frischen Atem zu schöpfen. Plötzlich setzte sich Jethro auf und schnupperte in die Luft Valancy und ich wurden aufmerksam. Ein schwacher Windhauch brachte den scharfen Geruch von brennendem Gehölz zu uns herüber. Jethro erhob sich und bahnte sich einen Weg durch das Dickicht hinüber zu der anderen Seite der Anhöhe. Wenig später kam er zurück, stürzte taumelnd aus dem Dickicht und rief uns zu: »Der ganze Canyon vor uns steht in Flammen. Das Feuer kommt rasend schnell auf uns zu!« Wir scharten uns erschreckt um Valancy. »Warum sahen wir den Rauch nicht?« fragte sie ohne Aufregung. »Als wir das Schulhaus verließen, war kein Rauch zu sehen.« »Diese Seite ist von der Schule aus nicht zu sehen«, erklärte Jethro keuchend. »Das Feuer könnte diese ganze Bergseite verwüsten, ohne daß wir den Rauch bemerken würden.« »Was sollen wir tun?« fragte Lizbeth und zog Susie an sich. Der nächste Windstoß brachte soviel Rauch, daß wir husten mußten und uns die Tränen in die Augen traten. Am Rande der Lichtung leckte eine erste Flamme am Geäst der Manzanita empor. Valancy und ich schauten einander an. Ich weiß nicht, was in ihr vorging. Ich war vor Angst wie gelähmt. Vor dem Feuer gab es kein Entrinnen mehr. Ich dachte an die Möglichkeit, über die Flammen hinwegzuschweben. Keines der Kinder aber wäre fähig gewesen, sich länger als eine Minute in der Luft zu halten, und nie hätten wir Valancy allein zurückgelassen. Ich schlug die Hände vor das Gesicht, um es vor dem sprühenden Funkenregen zu schützen, den die ausgetrocknete Manzanita
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bei der ersten Berührung mit den Flammen aufwirbelte. Wenn es nur regnen wollte! Nasse Manzanita brennen nicht, aber nach dieser monatelang währenden Dürre . . .! Ich hörte, wie die Kinder schrieen, und schaute auf. Valancy hatte ihren Blick auf mich geheftet, der mich so sehr gefangennahm, daß daneben das Feuer im Hintergrund verblaßte. Mit einem entsetzlichen, heiseren Schrei brach Jake aus der Gruppe aus. Es gelang ihm, einen Meter weit über das Dickicht zu schweben, aber dann stürzte er zu Boden, mitten in die dornigen Zweige hinein. »Geht unter die Decke«, befahl Valancy in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete. »Alle unter die Decke!« »Das hilft nichts!« hielt ihr Kiah entgegen. »Sie wird wie ein Blatt Papier verbrennen!« »Unter die Decke!« Der Ton, in dem Valancy sprach, erstickte jeden Widerstand im Keime. Die Kinder machten sich daran, die Decke auszubreiten und darunter zu kriechen. Mit einem einzigen Satz durch die Luft (selbst in diesem Augenblick höchster Not hoffte ich, daß Valancy mich nicht sehen würde), eilte ich hinüber zu Jake und riß ihn auf die Beine. Er war zu schwer, als daß ich ihn durch die Luft hätte tragen können. So schob, stieß und zerrte ich ihn durch das Dickicht zurück zu der Lichtung, wo er sich unter der Decke verkroch. Valancy stand aufrecht da, den Rücken dem Feuer zugewandt. Ihr Aussehen war so seltsam verändert, daß ich geblendet die Augen schloß und selbst halb unter die Decke kroch. Und dann begann sie zu sprechen. Das tiefe Grollen ihrer schrecklichen Stimme durchfuhr mir Mark und Bein. Ich öffnete den Mund, um einen Schrei auszustoßen, brachte aber keinen Ton hervor. Die Kinder unter der Decke drängten sich verängstigt zusammen und zogen dabei die Decke von mir ab.
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Bis zu meinem Tode werde ich den Anblick nie vergessen können, den Valancy bot, als sie hochaufgerichtet und unerschütterlich dastand, inmitten der wogenden Rauchwolken, die Arme hoch erhoben und die Finger weit ausgestreckt. Beschwörend sprach sie die Worte, die ich hätte wissen müssen und die ich nicht kannte. Ihr Anblick jagte mir eisige Schauder durch den Körper. Und dann ging ein strahlendes Leuchten von ihren ausgestreckten Fingern aus, das hoch über ihn in den Wolken seinen Widerschein fand. Ihre Hände beschrieben einen Kreis, so daß die dichten Rauchschwaden vor ihr zurückwichen, und sogleich setzte ein strömender Regen ein, dessen Flut das gierige, unersättliche Feuer ertränkte. Die nächste Sekunde währte eine Ewigkeit. Ich kniete vor Valancy und nahm den verzweifelten, hoffnungslosen Blick aus ihren wissenden Augen in mich auf. Als sie stürzte, fing ich sie in meinen Armen auf, bevor ihr Kopf auf dem steinharten Granit aufschlug. Dann saß ich da und hielt ihren Kopf in meinem Schoß. Ich zitterte vor Angst und Kälte. Das Schreien der Kinder war verstummt. Und plötzlich hörte ich Vater rufen und sah ihn und Jemmy und Darcy Clarinade in unserem alten Auto über die dampfende, qualmende Manzanita schweben. Der rettende Regen strömte noch immer nieder. Dann senkte Vater das Auto herab, bis die Räder den Boden berührten. Jemmy nahm Valancys leblosen Körper in seine Arme und hielt sie fest, als müsse er sie gegen die Umwelt verteidigen, die ihm sein Liebstes nehmen wollte. Wir Kinder, glücklich der Gefahr entronnen, klammerten uns an Vater. Er fuhr jedem liebkosend über das Haar, dann hob er mein Gesicht zu sich auf. »Warum regnete es?« fragte er streng, jeder Zoll ein Alter. Der Regen peitschte seitlich an den Wagen, während uns sein
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Schild beschützte. »Ich weiß nicht«, schluchzte ich und versuchte, mit meinen tränenerfüllten Augen seinem strengen Blick standzuhalten. »Valancy hat es getan . . . ihre Finger leuchteten auf ... es war kalt ... sie sprach . . .« Und dann brach ich zusammen, kauerte mich unter die Kinder und heulte trotz meines Alters mit ihnen. AN DIESEM ABEND versammelte sich eine würdige, feierliche Gruppe im Schulhaus. Ich saß an meinem Pult, die Hände vor mir gefaltet, und vermied die Blicke der Menschen meines eigenen Volkes. Es war der erste Rat der Alten, an dem ich teilnahm. Alle saßen vor ihren Pulten, nur der Älteste hatte Valancys Platz eingenommen. Valancy saß mit niedergeschlagenen Augen in der Doppelbank der Zwillinge. Das nervöse Spiel ihrer Finger verriet ihre Unruhe. Der Älteste klopfte mit seinem Stock auf den Fußboden und ließ seine Augen über jeden von uns gehen. »Wir haben uns hier versammelt«, sagte er, »um...« »Genug damit!« Valancy war aufgesprungen, »Wozu diese Komödie? Ich nehme meine Entlassung freiwillig an, ich bin es gewöhnt. Sagen Sie, daß ich gehen soll, und ich werde gehen!« »Setzen Sie sich, Miß Carmody!« erwiderte der Älteste. Und Valancy senkte demütig ihren Kopf und setzte sich. »Wo sind Sie geboren?« fragte der Älteste. »Ist das von Bedeutung?« fuhr Valancy auf, doch dann fügte sie sich wieder. »Es steht in meinem Bewerbungsschreiben, Vista Mar, Kalifornien.« »Und Ihre Eltern?« »Das weiß ich nicht.« Ein Raunen ging durch das Schulzimmer. »Warum nicht?« »Wozu diese Fragen?« rief Valancy gequält aus. »Meine Eltern waren Findlinge, wenn Sie es unbedingt wissen müssen.
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Man fand sie nach einer großen Explosion und einer Feuersbrunst in den Straßen von Vista Mar. Ein mitleidiges, altes Ehepaar nahm sie zu sich auf. Als sie älter wurden, heirateten sie, und ich wurde geboren. Dann starben sie. Kann ich nun gehen?« Und wieder erhob sich ein Raunen im Zimmer. »Warum haben Sie Ihre früheren Arbeitsstellen verlassen?« fragte Vater. Bevor Valancy antworten konnte, wurde die Türe aufgestoßen. Jemmy stand auf der Schwelle. »Geh fort!« sagte der Älteste. »Lassen Sie mich bleiben«, entgegnete Jemmy, »ich bitte Sie darum. Es geht hier auch um mich.« Der Älteste überlegte, dann nickte er. Jemmy lächelte erleichtert und setzte sich in eine Bank ganz hinten im Zimmer. »Fahren Sie fort!« befahl der Älteste, zu Valancy gewandt. »Nun gut«, erklärte Valancy. »Meine erste Stelle verlor ich, weil ich schwebte — Sie würden es vermutlich fliegen nennen. Ich erhob mich in die Luft, um eine zerbrochene Gardinenstange auszuwechseln. Sie war zu hoch, als daß ich sie vom Fußboden aus hätte erreichen können, und da hob ich mich einfach in die Luft, bis ich sie mit der Hand berühren konnte. Dabei sah mich der Rektor. Er konnte es nicht glauben, konnte mich nicht verstehen. Und deshalb wurde ich entlassen.« Sie schwieg erwartungsvoll. Die Alten schauten einander an. Ich begann zu ahnen, was ich mit ein wenig gesundem Menschenverstand schon langst hätte wissen müssen. »Und die zweite Stelle?« Der Älteste stützte das Kinn auf seine verschränkten Hände und beugte sich gespannt vor. Valancy suchte nach Worten. Die allgemeine Aufmerksamkeit verwirrte sie. »Nun«, sagte sie zögernd, »ich rief meine Bücher zu mir ...
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ich meine, sie lagen auf meinem Pult und . . .« »Wir wissen, was Sie meinen«, entgegnete der Älteste. »Sie wissen es?« Valancy war erstaunt. Der Älteste erhob sich. »Valancy Carmody, öffne deinen Geist!« Valancy schaute ihn entsetzt an. Dann brach sie in Tränen aus. »Ich kann nicht, ich kann nicht«, schluchzte sie. »Es ist zu lange her. Ich kann niemanden in mich aufnehmen. Ich bin anders. Ich bin allein. Können Sie das nicht verstehen? Sie sind alle tot und ich bin eine Fremde.« »Du bist nicht mehr fremd«, sagte der Älteste gütig. »Nun bist du zu Hause, Valancy.« Er schaute zu mir herüber. Karen, geh in sie.« Ich versuchte es. Zuerst stand ich noch vor der Wand; aber dann wich die Wand mit einem lautlosen Schrei, der Angst und Freude zugleich ausdrückte, vor mir zurück, und ich war bei Valancy. Ich hatte Einblick in all die Geheimnisse, die sie in ihrem Herzen trug, seit ihre Eltern gestorben waren — ihre Eltern, die von unserem Volke waren. Sie waren bei dem alten Paar aufgewachsen, das nicht nur von unserem Volke war, sondern auch als Älteste die Überfahrt überlebt hatte. Ich wurde Zeuge der schrecklichen Erlebnisse, die sie durchgemacht hatte — der Zwang, wie ein Mensch von draußen leben zu müssen und alle die außerordentlichen Gaben zu verbergen, die unser Volk auszeichnen. Die Furcht, sich zu verraten, und das quälende Gefühl der Einsamkeit, als sie glaubte, die letzte unseres Volkes zu sein. Und dann drang sie plötzlich in mich ein, und mein Geist wurde von einer Gegenwart überflutet, wie ich sie noch nie erlebt hatte. Ich öffnete die Augen und sah, daß die Alten alle auf Valancy
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starrten. Selbst der Älteste hatte ihr sein Gesicht zugewandt und schaute auf sie mit demselben Ausdruck ungläubigen Erstaunens wie die anderen. Er neigte sein Haupt und machte das Zeichen. »Die verloren geglaubten Zeichen und Male«, murmelte er. »Sie trägt sie alle.« Sie war nicht nur eine von unserem Volke, sondern eine, wie seit Großmutters Tod niemand mehr bei uns gelebt hatte. Deutlich erkannte ich, daß sie größer war als Großmutter. Nun hatte ich jemanden, der meine Lehrerin sein konnte. Nun konnte ich eine Seherin werden. unter ihrer Führung. Ich wandte mich zu Jemmy, um mit ihm mein Glück zu teilen. Er schaute auf Valancy mit demselben Blick, mit dem unser Volk sich umgewandt haben muß, als es die Heimat verließ. Dann wandte er sich ab und ging zur Tür. Bevor ich einen Gedanken fassen konnte, hatte Valancy mich und die Alten verlassen. Jemmy drehte sich um und kam auf ihre ausgestreckten Hände zu. Ich stürzte zum Ausgange und rannte wie eine Besessene den Berg hinab, schwebend und laufend zugleich, bis ich atemlos vor unserer Haustür stand, wo Mutter mich erwartete. »Oh, Mutter!« rief ich aus. »Sie gehört zu uns, und Jemmy liebt sie! Sie ist wunderbar!« Und da kamen die erlösenden Tränen, die ich in den tröstenden Armen meiner Mutter ausweinte. Jetzt brauche ich also nicht mehr nach draußen zu gehen, um Lehrerin zu werden. Wir haben eine Lehrerin, die uns nicht mehr verlassen wird. Und trotzdem werde ich gehen. Ich möchte nicht hinter Valancy zurückstehen, die ihr Staatsexamen hat. Und vielleicht kann es mir nützen, ein Jahr lang ganz so leben zu müssen wie die Menschen von draußen. Ich habe noch so viel zu lernen und in mich aufzunehmen, aber Valancy wird immer bei mir sein. Trotz der Gabe, die ich
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tragen muß, werde ich nicht einsam sein. Darf ich noch verraten, warum ich so schnell lernen will? Wir wollen nämlich versuchen, das andere Volk zu finden, und hier gefällt mir keiner der Jungen.
Ararat von Zenna Henderson. Aus THE BEST SCIENCE FICTION STORIES 1953 Übersetzung aus dem Amerikanischen von Werner Baumann.
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Der letzte Marsianer (The Last Martian) von Fredric Brown Stellen Sie sich vor, Sie würden ohne jede Vorbereitung auf den Mars versetzt! Ähnlich ging es dem Marsianer Yangan Dal, als er sich plötzlich in der Person eines Buchhalters aus der Erde wiederfand. Völlig ratlos, versucht er, von dem Reporter Everett eine Erklärung zu bekommen, die ihm dieser nicht geben darf. Bill Everett muß schweigen, bis der große Tag der Marsianer gekommen ist. ES WAR EIN ABEND wie jeder andere auch, nur noch langweiliger. Ich saß wieder in meinem Büro hinter dem Türschild ›Lokalredaktion‹, nachdem ich mich um ein langweiliges Bankett gekümmert hatte. Das Essen war so schlecht, daß ich mich betrogen fühlte, obgleich mich! der Spaß nichts gekostet hatte. Aber was soll man machen? Ich setzte mich hin und schrieb eine hinreißende Beschreibung des festlichen Anlasses, mindestens eine halbe Spalte lang. Der Korrektor würde meine Story ohnehin wieder zu einer winzigen, gefühllosen Notiz zusammenstreichen. Slepper hatte seine langen Beine auf den Tisch gelegt und beschäftigte sich mit gepflegtem Nichtstun, während Johnny Hale ein neues Farbband in seine Maschine spannte. Die anderen Jungs waren irgendwo mit Routineaufträgen unterwegs. Cargan, der Lokalredakteur, trat aus seinem Privatbüro. »Kennt einer von euch Barney Welch?« Dumme Frage! Barney ist der Besitzer von Barneys Bar, und diese liegt dem Tribüne-Gebäude direkt gegenüber. Es gibt keinen Trib-Reporter, der den alten Barney nicht gut genug
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kennt, um sich Geld von ihm zu leihen. Also nickten wir einmütig. »Er rief gerade an«, fuhr Cargan fort. »Er hat einen Knaben dort sitzen, der behauptet, er käme vom Mars.« »Betrunken oder verrückt«, wollte Slepper wissen. »Weiß Barney nicht, aber er sagt, wir könnten vielleicht eine interessante Story zusammenschreiben, wenn einer von uns rüberkäme und ihn aushorchte. Weil es ohnehin gleich drüben auf der anderen Straßenseite ist und ihr drei bloß auf eurem Achtersteven herumsitzt, ohne etwas zu tun, kann einer von euch mal eben hingehen. Aber keine Drinks auf Firmenkosten!« Slepper sagte: »Ich mache das schon.« Cargans Augen ruhten aber auf mir. »Hast du gerade Zeit, Bill? Wenn wir es schon bringen, muß es eine lustige Geschichte werden, und da du ohnehin eine leichte Ader hast...« »Natürlich«, brummte ich. »Ich gehe schon.« »Vielleicht ist es bloß ein Betrunkener, der nicht mehr weiß, was er sagt. Wenn es sich aber um einen Verrückten handelt, rufst du sofort die Polizei. Es sei denn, er liefert wirklich eine tolle Story. Wenn er eingesperrt wird, gibt es vielleicht noch mehr Stoff.« Slepper sagte: »Cargan, du würdest auch deine eigene Großmutter einsperren lassen, bloß um eine gute Story zu kriegen. Kann ich nicht Bill begleiten?« »Nein, du bleibst hier, und Johnny auch. Warum verlegt ihr nicht gleich die ganze Lokalredaktion hinüber zu Barney?« Er drehte sich um und verschwand. Ich tippte drei Kreuze unter die Geschichte von dem Bankett und schob sie in das Rohr zur Setzerei. Dann griff ich nach Hut und Mantel. Slepper sagte gehässig: »Trink einen für mich mit. Aber nicht so viel, daß dir die leichte Ader verlorengeht.« Ich murmelte nur: »Sicher!« und machte mich aus dem Staub.
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BEI BARNEY blickte ich mich suchend um. Von der Trib war sonst niemand hier, abgesehen von zwei Kameraleuten, die an einem Ecktisch Karten spielten. Außer Barney selbst befand sich nur noch ein anderer Mann in dem Lokal. Er war groß, dünn und eingefallen und döste vor sich hin. Dabei drehte er trübsinnig ein leeres Bierglas zwischen den Fingern. Ich wollte erst wissen, was Barney dazu zu sagen hatte. Deshalb ging ich zur Bar und legte einen Geldschein auf die Theke. »Einen Schnellen. Straight. Das Wasser kannst du dir sparen. Ist der Lange dort drüben der Marsianer, von dem du Cargan erzählt hast?« Er nickte und stellte mir meinen Drink hin. »Wie muß ich ihn anfassen? Weiß er, daß ihm ein Reporter auf den Hals geschickt wurde? Oder soll ich ihm lediglich ein Bier kaufen und ihn dabei ausquetschen? Wie verrückt ist er eigentlich?« »Keine Ahnung. Er sagt, er sei gerade vor zwei Stunden vom Mars angekommen und mache sich jetzt Gedanken darüber. Er behauptet, der letzte lebende Marsbewohner zu sein. Er weiß nicht, daß du ein Reporter bist, aber er ist bereit, mit dir zu sprechen. Ich habe ihn vorbereitet.« »Wie?« »Ich sagte ihm, ich hätte einen Freund, der klüger ist als die meisten anderen, und der ihm bestimmt helfen kann. Ich nannte keinen Namen, weil ich nicht wußte, wen Cargan schicken würde. Aber er wird sich gleich an deiner Schulter ausweinen.« »Weißt du seinen Namen?« Barney zog eine Grimasse. »Yangan Dal nennt er sich. Hör mal, sieh zu, daß er hier drin nicht gewalttätig wird. Ich will keinen Krach.« »Okay, Barney, bring uns zwei Glas Bier, ich nehme sie gleich mit hinüber an den Tisch.« Barney ließ zwei Gläser vollaufen und strich den Schaum ab.
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Dann gab er mir das Wechselgeld heraus. Ich nahm die Gläser und ging zu dem Langen hinüber. »Mr. Dal?« fragte ich. »Mein Name ist Bill Everett. Barney erzählte mir, Sie hätten Schwierigkeiten? Vielleicht kann ich Ihnen helfen.« Er blickte mich an. »Hat er Sie angerufen? Nehmen Sie Platz, Mr. Everett. Und vielen Dank für das Bier.« Ich setzte mich ihm gegenüber. Er verschränkte nervös seine Hände um das feuchte kühle Glas. »Wahrscheinlich denken Sie, ich sei verrückt«, begann er. »Vielleicht haben Sie sogar recht damit — ich verstehe mich selbst nicht mehr. Der Bartender denkt vermutlich auch, ich sei nicht ganz richtig im Kopf. Sind Sie Arzt?« »Nicht direkt. Nennen Sie mich, sagen wir, einen psychologischen Fachberater.« »Glauben Sie, daß ich — ah — krank bin?« Ich sagte: »Die meisten Leute, die es sind, geben es nicht zu. Aber ich habe Ihre Story noch nicht gehört.« Er nahm einen Schluck und stellte das Glas wieder hin, hielt aber seine Hände weiterhin um das Glas gefaltet, vielleicht, damit sie nicht zitterten. »Ich bin Marsianer. Der letzte. Alle anderen sind tot. Noch vor zwei Stunden habe ich ihre Leichen gesehen.« »Sie waren vor zwei Stunden auf dem Mars? Wie sind Sie dann hierhergekommen?« »Ich weiß es nicht. Das ist ja gerade das Schreckliche — ich weiß nichts. Ich weiß nur, daß die anderen alle tot sind. Es war schrecklich. Hundert Millionen von uns gab es — jetzt bin nur ich übrig.« »Hundert Millionen! Hatte der Mars so viele Einwohner?« »Ungefähr. Vielleicht ein wenig mehr. Aber jetzt sind sie alle tot — alle außer mir. Ich sah drei Städte, die größten, die wir hatten. Ich war in Skar, und als ich dort nur Tote antraf, nahm
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ich ein Targan — es war ja keiner da, der mich hätte daran hindern können — und flog damit nach Undanel. Auch in Undanel waren alle tot. Ich hatte nie zuvor selbst einen Targan gesteuert, aber es war verhältnismäßig einfach. Ich flog sehr niedrig und beobachtete — niemand war mehr am Leben. Ich erreichte Zandar, die größte Stadt — über drei Millionen Einwohner, einfach fürchterlich! Ich kann diesen Schock nicht überwinden.« »Kann ich mir vorstellen«, murmelte ich. »Nein, das können Sie nicht. Natürlich war der Mars ohnehin eine sterbende Welt. Es blieben uns höchstens noch ein Dutzend Generationen zu leben. Noch vor zweihundert Jahren lebten drei Milliarden von uns, die meisten davon nahe dem Verhungern. Es lag an einer Krankheit, die wir Kryl nannten und die vom Wüstenwind in die Städte getragen wurde. Unsere Wissenschaftler waren nicht in der Lage, sie zu bekämpfen. Innerhalb von zwei Jahrhunderten verminderte sie unsere Zahl auf ein Dreißigstel — und es ging immer noch weiter.« »Ihre Leute starben dann an dem — Kryl?« »Nein. Wenn ein Marsianer an Kryl stirbt, verwittert er. Die Leichen, die ich sah, waren nicht verwittert.« Er fröstelte und trank sein Glas leer. Ich merkte, daß ich meins ganz vergessen hatte und stürzte es in einem Schluck hinunter. Ich hob zwei Finger zu Barney hinüber, der uns beobachtete und besorgt aussah. Mein Marsianer erzählte weiter. »Wir versuchten uns in der Raumfahrt, aber wir schafften es nicht. Wir dachten, daß vielleicht einige von uns dem Kryl entfliehen könnten, wenn wir zur Erde oder zu anderen Planeten gelangten. Wir haben alles versucht, aber vergebens, nicht einmal Phobos oder Deimos konnten wir erreichen, unsere beiden Monde.« »Sie kannten die Raumfahrt nicht? Wie sind Sie dann ...« »Ich weiß es wirklich nicht. Ich weiß es nicht, und ich sage
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Ihnen, das macht mich noch verrückt! Ich habe keine Ahnung, wie ich hierherkam. Ich bin Yangan Dal, ein Marsianer. Und dennoch bin ich hier, in diesem Körper. Das macht mich verrückt.« Barney kam mit dem Bier. Er schien schon genug Sorgen zu haben, deshalb wartete ich, bis er außer Hörweite war und fragte dann: »In diesem Körper? Wie meinen Sie das?« »Natürlich bin das nicht ich selbst, dieser Körper hier. Sie glauben doch wohl nicht, daß ein Marsianer genau wie ein Mensch aussieht? Ich bin einen Meter groß und habe ein Gewicht, das hier auf der Erde vielleicht zwanzig Pfund ausmachen würde. Ich besitze vier Arme mit sechsfingrigen Händen. Dieser Körper, den ich bewohne — er beängstigt mich. Ich kenne ihn genauso wenig wie die Art, auf die ich hergekommen bin...« »Oder warum Sie Englisch sprechen? Haben Sie dafür eine Erklärung?« »Well — in gewisser Hinsicht schon. Dieser Körper gehörte einem Mann namens Howard Wilcox. Er war Buchhalter. Verheiratet mit einer Frau der Spezies Homo Sapiens. Er arbeitete in der Humbert-Lampenfabrik. Ich besitze alle seine Gedanken, seine Gefühle, seine Erinnerungen. Alles, was er wußte, weiß ich auch. In gewisser Hinsicht bin ich Howard Wilcox. Ich habe schriftliche Beweise dafür hier in der Tasche stecken. Aber das kann nicht stimmen, denn ich bin Yangan Dal, und ich komme vom Mars. Ich habe sogar den gleichen Geschmack, den dieser Körper hier hatte. Zum Beispiel trinke ich gern Bier. Und wenn ich an seine Frau denke — ich muß sagen, daß ich sie liebe.« »Zigarette?« fragte ich und hielt ihm mein Etui hin. »Dieser Howard Wilcox ist Nichtraucher. Vielen Dank. Ich möchte jetzt eine Runde spendieren. In diesen Taschen habe ich Geld gefunden.«
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Ich gab Barney ein Zeichen. »Wann ist das passiert? Sie sagten, vor zwei Stunden? Ist Ihnen schon jemals der Gedanke gekommen, Sie könnten ein Marsianer sein?« »Der Gedanke? Ich bin ein Marsianer! — Wie spät ist es denn?« »Kurz nach neun.« »Dann ist es schon ein wenig länger her, als ich dachte. Dreieinhalb Stunden. Es muß halb sechs gewesen sein, als ich mich in diesem Körper wiederfand. Ich ging da nämlich von der Arbeit nach Hause, und aus seinen Gedanken entnahm ich, daß ich eine halbe Stunde zuvor meinen Arbeitsplatz verlassen hatte — um fünf Uhr.« »Und sind Sie — ist er — dann nach Hause gegangen?« »Nein, ich war zu durcheinander. Es war doch, nicht mein Zuhause. Ich bin ein Marsianer! Verstehen Sie das denn nicht? Nun, ich nehme es Ihnen nicht übel, wenn Sie es nicht glauben, denn ich glaube es selbst nicht recht. Aber ich ging so dahin. Und ich — ich meine, Howard Wilcox — bekam Durst. Er — ich...« Er hielt inne und fing von vorn an. »Dieser Körper verspürte Durst und kam auf einen kurzen Drink hier herein. Nach drei oder vier Gläsern Bier faßte ich Mut und redete den Bartender dort drüben an, weil ich meinte, er könnte mir einen guten Rat geben.« Ich lehnte mich über den Tisch zu ihm hinüber. »Hören Sie zu, Howard«, sagte ich. »Sie sollten zum Dinner zu Hause sein. Ihre Frau wird sich mächtig Sorgen um Sie machen, wenn Sie nicht angerufen haben. Oder taten Sie das?« »Ob ich — natürlich nicht. Ich bin doch nicht Howard Wilcox.« Aber eine neue Wolke von Sorge überschattete sein Gesicht. »Rufen Sie lieber Ihre Frau an«, empfahl ich ihm. »Was macht es denn aus? Ganz gleich, ob es sich um Yangan Dal
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oder Howard Wilcox handelt, auf jeden Fall sitzt eine Frau zu Hause und macht sich Sorgen um ihn. Tun Sie mir doch den Gefallen, erst einmal anzurufen. Wissen Sie die Nummer?« »Natürlich. Es ist doch meine eigene. Ich meine — die von Howard Wilcox.« »Hören Sie endlich auf, sich dauernd in grammatische Spitzfindigkeiten zu verlieren und rufen Sie an. Sagen Sie ihr jetzt noch nichts, Sie müssen sich erst ein wenig beruhigen. Sagen Sie einfach, Sie wollten ihr alles erklären, sobald Sie zu Hause sind, auf jeden Fall sei kein Grund zur Beunruhigung vorhanden.« Er stand wie im Traum auf und ging zur Telefonzelle hinüber. ICH TRAT UNTERDESSEN hinüber zur Bar und trank einen zweiten Whisky. Barney fragte: »Ist er — äh...« »Ich weiß es noch nicht sicher. Da ist noch etwas, was ich nicht ganz verstehe.« Ich ging zu unserem Tisch zurück. Er grinste schwach. »Sie sind gräßlich wütend. Wenn ich — wenn Howard Wilcox nach Hause kommt, muß er sich schon eine glaubwürdige Geschichte ausdenken, sonst...« Er trank einen Schluck Bier. »Die Geschichte von Yangan Dal wird nicht ausreichen.« Er wurde mit jedem Moment menschlicher. Aber dann war er plötzlich wieder weit weg. Er starrte mich an. »Vielleicht hätte ich Ihnen das, was passierte, von Anfang an erzählen sollen. Ich war in einem Zimmer eingeschlossen, in Skar. Warum sie mich dort eingesperrt haben, weiß ich nicht, ich befand mich jedenfalls in dem Zimmer. Die Tür war abgeschlossen. Ich bekam lange Zeit hindurch nichts zu essen und wurde so hungrig, daß ich einen Stein im Fußboden lockerte und begann, meinen Weg unter der Tür hindurch freizukratzen. Ich war dem Verhungern nahe. Ich brauchte drei Tage — Marstage, also sechs irdische Tage — dazu und
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stolperte dann noch eine ganze Weile in dem Gebäude herum, bis ich die Vorratskammer fand. Ich begegnete niemandem und aß mich erst einmal satt. Und dann...« »Weiter«, sagte ich. »Ich höre zu.« »Ich verließ das Gebäude. Auf den Straßen, überall lagen sie herum. Tot.« Er preßte die Hand auf die Augen. »Ich schaute in ein paar andere Häuser. Was ich suchte, wußte ich nicht. Aber in den Häusern war niemand. Im Freien waren sie alle umgekommen, aber nicht durch den Kryl, denn die Leiche« waren nicht verwittert. Dann stahl ich den Targan. Vielleicht habe ich ihn auch nicht gestohlen, denn es war niemand mehr da, dem er gehörte. Ich flog herum, immer auf der Suche nach Überlebenden. Draußen auf dem Land und in den anderen Städten war es genauso. Niemand in den Häusern, und überall Tote auf den Straßen.« Er seufzte. »In der Mitte von Zandar, der größten Stadt, befindet sich ein großer, freier Platz, ein Sportplatz, größer als zwei irdische Kilometer im Quadrat. Alle drei Millionen Einwohner von Zandar lagen dort, als ob sie sich versammelt hätten, um gemeinsam zu sterben. Dann sah ich etwas in der Mitte des Platzes, auf einem erhöhten Podest. Der Targan — ich vergaß zu sagen, daß er einem Hubschrauber ähnelt — schwebte direkt darüber, und ich sah nach, was es war: Eine Säule aus massivem Kupfer, oder zumindest aus einem sehr ähnlichem Material. Kupfer ist auf dem Mars genauso wertvoll wie Gold auf der Erde. In die Säule waren einige Knöpfe aus Edelsteinen eingelassen. Ein Marsianer in blauer Robe lag tot direkt unterhalb der Knöpfe. Als ob er sie gedrückt hätte, noch kurz vor seinem Tode. Alle anderen starben mit ihm — außer mir. Ich landete meinen Targan auf dem Podest, stieg auf und drückte auf den Knopf. Allein wollte ich auch nicht am Leben
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bleiben. Aber ich starb nicht. Ich saß plötzlich in einer Straßenbahn, war auf der Erde, auf dem Weg nach Hause, und mein Name ...« Ich winkte Barney herbei. »Hören Sie zu, Howard«, sagte ich. »Wir trinken jetzt noch ein Bier. Dann gehen Sie nach Hause zu Ihrer Frau. Sie wird Ihnen jetzt schon die Hölle heiß genug machen, und je länger Sie warten, um so schlimmer wird es. Ich will Ihnen sagen, was geschehen ist — oder was es eventuell hätte sein können. Wir wissen sehr wenig über den menschlichen Geist, vieles kann mit ihm geschehen. Vielleicht hatten die Leute im Mittelalter gar nicht so unrecht, wenn sie daran glaubten, von einem bösen Geist besessen zu sein. Soll ich Ihnen sagen, was mit Ihnen los war?« »Was denn? Um Himmels willen, wenn Sie irgendeine Erklärung dafür wissen — mich macht das Ganze rein verrückt.« »Ich glaube, Howard, Sie werden auch noch vollends überschnappen, wenn Sie sich zu viel mit diesen Gedanken beschäftigen. Nehmen Sie einfach an, daß es eine natürlich Erklärung dafür gibt — und vergessen Sie das Ganze dann.« Ich wartete, bis Barney wieder zur Bar zurückgegangen war. »Howard, es ist gut möglich, daß heute nachmittag auf dem Mars ein Mann — meinetwegen dieser Yangan Dal — gestorben ist. Vielleicht war er wirklich der letzte Marsianer. Es kann sein, daß im Augenblick seines Todes sein Geist auf irgendeine mysteriöse Weise mit dem Ihren in Verbindung trat. Ich will nicht sagen, daß es unbedingt so gewesen ist — aber es hätte so sein können. Nehmen Sie es so hin, Howard, und versuchen Sie, damit fertig zu werden. Tun Sie einfach so, als ob Sie Howard Wilcox wären — schauen Sie in einen Spiegel, wenn Sie daran zweifeln. Gehen Sie nach Hause und bringen Sie die Sache mit Ihrer Frau ins reine. Morgen gehen Sie
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wieder wie immer zur Arbeit und vergessen das Ganze. Glauben Sie nicht, daß dies der beste Vorschlag für Sie ist?« »Well, vielleicht haben Sie recht. Meine fünf Sinne sagen mir ...« »Glauben Sie, was sie sagen! Zumindest, bis Sie das Gegenteil beweisen können.« Nachdem wir unser Bier ausgetrunken hatten, steckte ich ihn in eine Taxe. Ich erinnerte ihn noch daran, unterwegs Pralinen und Blumen zu besorgen und sich ein vernünftiges Alibi zurechtzulegen, statt an das zu denken, was er mir erzählt hatte. Dann ging ich die Treppen hinauf, betrat Cargans Büro und schloß die Tür hinter mir. ICH SAGTE: »Alles in Ordnung, Cargan. Ich habe ihm den Kopf zurechtgesetzt.« »Was war los?« »Er ist wirklich ein Marsianer. Und er war der letzte, der auf dem Mars zurückgeblieben war. Nur wußte er nichts davon, daß wir hierherkommen wollten. Er dachte, wir seien alle tot.« »Aber wie — wie konnte er einfach übersehen werden? Wie kam es, daß er nichts davon wußte?« »Er ist geistig etwas zurückgeblieben. Er war gerade in einer Nervenheilanstalt in Skar, und irgend jemand vergaß ihn, als der Knopf gedrückt wurde, der uns alle hierher brachte. Da er sich nicht im Freien befand, berührten ihn auch nicht die Mentaport-Strahlen, die unseren Geist durch den Raum zur Erde brachten. Er entkam aus seinem Zimmer, fand die Säule in Zandar, wo die Zeremonie stattgefunden hatte, und drückte selbst den Knopf. Es muß noch genug Strom übriggeblieben sein, um ihn herüberzuholen.« Cargan pfiff leise. »Hast du ihm die Wahrheit gesagt? Und ist er schlau genug, um die Klappe zu halten?« Ich schüttelte den Kopf. »Auf beide Fragen muß ich mit Nein antworten. Sein I.Q. (Intelligenz-Quotient) liegt etwa bei
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fünfzehn, möchte ich schätzen. Aber da dies die Durchschnittsintelligenz der Erdenmenschen ist, wird er hier ganz gut zurechtkommen. Ich überzeugte ihn davon, daß er wirklich der Erdenmensch war, den seine Psyche zufälligerweise mit Beschlag belegt hatte.« »Gut, daß er zu Barney ging. Ich rufe Barney gleich an und sage ihm, daß alles in Ordnung ist. Ich wundere mich nur, daß Barney ihm nicht eins auf den Kopf gegeben hat, bevor er hier anrief.« »Barney ist einer von uns. Er hätte den anderen niemals gehen lassen. Er hätte ihn auf jeden Fall festgehalten, bis wir dort waren.« »Aber du hast ihn laufen lassen. Glaubst du, das war richtig? Hättest du nicht...« »Das geht schon in Ordnung«, sagte ich. »Ich übernehme die Verantwortung für ihn und werde ihn überwachen, bis wir hier alles übernommen haben. Danach werden wir ihn wahrscheinlich wieder in eine Anstalt stecken müssen. Aber ich bin doch froh, daß ich ihn nicht zu töten brauchte. Schließlich gehört er zu uns — gleichgültig, ob er geistesgestört ist oder nicht. Wahrscheinlich wird er froh darüber sein, daß er nicht der letzte Marsianer ist, und sich dafür gern wieder in eine Anstalt bringen lassen.« Ich ging wieder ins Redaktionsbüro und setzte mich an meinen Tisch. Slepper war fort. Irgendwo mußte er wohl über irgend etwas eine Reportage schreiben. Johnny Haie blickte kurz von der Zeitschrift auf, die er las. »Hast du eine Story?« fragte er. »Keine Spur«, entgegnete ich. »War nur ein Betrunkener, der nicht mehr wußte, wovon er quatschte. Bin erstaunt, daß Barney deswegen überhaupt angerufen hat.« The Last Martian von Frederic Brown Aus THE BEST SCIENCE FICTION STORIES 1951. Übersetzung aus dem Amerikanischen von Bert Koeppen.
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AUF DEN STANDPUNKT KOMMT ES AN Ein wissenschaftlicher Sonderbericht von Isaac Asimov
Über den Planeten Merkur ist schon vieles geschrieben worden — selten bekommen Sie jedoch ein so anschauliches Bild davon zu sehen wie diese brillante Darstellung. Der erste Artikel dieser Serie erschien im Utopia-Magazin 13 Wir sehen uns alle gern einmal einen schönen Sonnenuntergang an. Wen fasziniert nicht schon der lichterübersäte Nachthimmel? Um so seltsamer ist es, daß die Helden der meisten Zukunftsromane niemals auch nur den Blick zu dem Himmel erheben, unter dem sie sich gerade befinden. Gelegentlich wird eine grüne Sonne erwähnt oder ganz schnell über zwei vielleicht vorhandene Monde hinweggegangen. Aber was für Schatten wirft eine grüne Sonne? Wie erscheinen farbige Dinge in ihrem Licht? Spricht man jemals über solche Dinge?
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Und doch sind die Variationen einfach faszinierend für uns — könnten wir unseren Beobachterposten auf der Erde einmal mit einem anderen Planeten vertauschen — sagen wir, mit dem Merkur. Die Umlaufgeschwindigkeit des Merkur um die Sonne entspricht genau seiner Eigendrehung. Ein Umlauf dauert etwa 88 Tage. Da die Bahn des Merkur kein Kreis, sondern wie bei den meisten anderen Himmelskörpern eine sehr exzentrische Ellipse ist, steht die Sonne für den Beobachter nicht immer an derselben Stelle des Merkurhimmels. Bei der geringen Entfernung des Planeten von der Sonne und der ungewöhnlich exzentrischen Umlaufbahn macht dies schon eine Menge aus. Merkur kommt bei jedem Umlauf bis auf 45.706.000 km an die Sonne heran und ist an seinem äußersten Punkt 69.368.000 km von ihr entfernt. (Den sonnennächsten Punkt nennt man Perihel, den entferntesten Punkt Aphel.) Auch die Umlaufgeschwindigkeit ist nicht an jedem Punkt der Planetenbahn gleich. Je näher ein Planet seinem Muttergestirn ist, um so schneller bewegt er sich. So kommt es, daß Merkur nur 40 Tage dazu braucht, sich der Sonne zu nähern, und 48 Tage für die zweite Hälfte der Strecke. Die Eigendrehung wird jedoch von Aphel oder Perihel nicht berührt. So kommt es, daß im Verlauf einer ›Revolution‹ (eines Umlaufs um die Sonne), diese für den Betrachter um ganze 47 ½ Grad wandert. Während sich der Planet der Sonne nähert, wandert diese immer schneller nach Osten und wird dabei rasch größer. Nach 20 Tagen, bei Perihel, erscheint sie dem Beobachter 10,6mal so groß wie von der Erde aus gesehen. Während die Sonne nun vom Zenit weiter nach Osten wandert, wird sie kleiner und langsamer. Nach weiteren 20 Tagen hat sie die Größe erreicht, von der wir ausgegangen sind. Jetzt wandert sie auf ihr Aphel zu, nähert sich wieder dem Zenit,
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aber langsamer als vorher. Sie wird dabei noch kleiner und scheint schließlich nur noch 4,6mal so hell wie für uns auf der Erde. Auf Grund dieser scheinbaren Bewegung der Sonne gibt es auf Merkur eine Sonnenzone, die am Äquator 5667 km breit ist. Es handelt sich dabei aber nicht um die Hälfte der Planetenoberfläche, sondern nur um rund 37 Prozent davon. Diese Fläche der ewigen Sonne ist fast so groß wie ganz Asien. Aber auch hier sind natürlich nicht alle Punkte gleichmäßig heiß. Wenn man nun ein Fahrzeug besteigen und nach Osten fahren könnte, würde man 942 km nach Überschreiten der Grenze des ›Sonnenlandes‹ einen Punkt erreichen, der einen ›Tag‹ und eine ›Nacht‹ von jeweils 44 Stunden hat. Nach weiteren 942 km ist man dann im Land der ewigen Nacht angekommen. Der Sonnenaufgang, von der Zone zwischen ewigem Tag und ewiger Nacht aus beobachtet (man nennt sie ›Librations-Zone‹) müßte ein sehenswertes Schauspiel sein. Die Glut der Sonne verdampft Schwefel, Jod und Quecksilber; in der Nähe der Oberfläche müssen sich also bunte Dämpfe dahinwälzen. Bei Sonnenaufgang stören sie noch nicht das grandiose Bild, weil sie dann noch fest gefroren sind. Während auf der Erde die Sonne innerhalb von zwei Minuten aufgeht, braucht sie auf Merkur 100 bis 140 Minuten dazu! Einige Stunden vorher kommt allmählich die ›Corona‹ der Sonne über den schwarzen Horizont gekrochen — perlweiß und wunderschön. Immer heller wird der Schein, später schon von den aufzüngelnden Flammen der Eruptionen durchzuckt. Diese ›Prominiszenzen‹ erfüllen alles mit roter Glut. Erst dann taucht die für das menschliche Auge unerträgliche Pracht der nahen Sonne selbst auf. Die abgewandte Seite des Merkur — ebenfalls so groß wie
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Asien — ist wahrscheinlich die einzige größere Fläche im ganzen Sonnensystem, welche niemals unser Muttergestirn sieht. Deshalb ist es dort trotz der Nähe der Sonne kälter als irgendwo anders — kälter selbst als auf dem Pluto! Was gäbe es für einen Bewohner dieser Gegend zu sehen? Eine ganze Menge! Da sind zunächst einmal die Sterne, die, von keiner Atmosphäre behindert, in voller Pracht strahlen. Es sind dieselben Sterne, die wir auch sehen, in derselben Anordnung, und auch hier ziehen sie, wenn auch viel langsamer, von Osten nach Westen. Der einsame Raumfahrer würde zumindest darin ein Stück Heimat wiedererkennen. Die Planeten erscheinen dem Merkur-Beobachter jedoch ganz anders als uns. Da sie alle weiter von der Sonne entfernt sind als Merkur selbst, gibt es keinen Abendstern, keinen Planeten, der für Merkur die Rolle spielt, welche die Venus für uns übernommen hat. Dennoch ist die Venus für den sonnennächsten Planeten ein sehr interessanter ›Stern‹. Wenn die Venus der Erde am nächsten steht, befindet sie sich zwischen der Sonne und uns. Sie ist deshalb nur als schwach beleuchtete Scheibe zu sehen, weil sie uns dann ihre unbeleuchtete Seite zukehrt. Bei ›Voll-Venus‹ jedoch ist sie sechsmal so weit entfernt und wird außerdem noch von der Sonne überstrahlt. Deshalb erscheint uns unser Abendstern dann am hellsten, wenn er die Phase zwischen ›Neu-Venus‹ und ›Voll-Venus‹ erreicht hat. Vom Merkur aus gesehen, ist das genau umgekehrt. Die Bahn der Venus liegt außerhalb der Merkurbahn und kehrt unserem Beobachter auf der Nachtseite des Planeten die von der Sonne voll beschienene Seite zu, wenn sie sich in größter MerkurNähe befindet. Sie scheint dann achtmal so hell wie für uns auf der Erde. Wahrscheinlich erscheint sie für Merkur zu jeder Zeit noch heller als für uns.
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Die Erde ist — vom Merkur aus gesehen — natürlich nicht annähernd so hell wie die Venus. Außerdem reflektiert sie nicht so viel Licht, weil ihr die dichte Wolkenhülle der Venus fehlt. Sie hat aber immer noch so viel Helligkeit wie die Venus für uns. Eine Besonderheit weist die Erde jedoch für den MerkurBeobachter auf: den Mond. In Merkurnähe kann man beide Himmelskörper gut nebeneinander erkennen. Der Mond würde dann auch für das unbewaffnete Auge noch gut erkennbar sein. Es wäre außerdem klar zu erkennen, daß der Mond die Erde umkreist. Da die Mondachse außerdem etwas geneigt ist, würde der Trabant selten direkt vor oder hinter der Erde vorbeiziehen. Für jeden Beobachter auf Merkur — natürlich auch Mars und Venus — bietet unsere gute alte Erde also ein königliches Schauspiel, das kein anderer Himmelskörper überbieten kann. Dennoch habe ich diese Tatsache nirgends in der ganzen Science-Fiction-Literatur erwähnt gefunden. Ich glaube, das ist eine ausgemachte Ungerechtigkeit gegenüber dem Mutterplaneten, auf dem wir leben. Point of View von Isaac Asimov. Aus FUTURE SCIENCE FICTION. Übersetzung aus dem Amerikanischen von Bert Koeppen.
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ARCHE NOAH (Generation of Noah) von William Tenn In Regierungskreisen macht man sich heute bereits ernsthafte Gedanken darüber, was im Falle eines Atombombenabwurfs geschehen soll. Nach einer Zeitungsmeldung hat das Institut für Lebensmitteltechnik und -Verpackung eine Untersuchung über Notrationen angestellt. Schon in nächster Zeit sollen noch weitere Experten zu dem Problem gehört werden. Die Ernsthaftigkeit dieser Bemühungen zeigt, wie aktuell das Problem ist, mit dem sich William Tenn in seiner ARCHE NOAH auseinandersetzt. Aber es ist ein armes Leben, das die Familie Plunkett in der Nähe ihres Rettungsbunkers führt. Jeden Augenblick kann das gefürchtete Signal gegeben werden, und dann sind nur noch drei Minuten Zeit . . .
ES WAR JENER TAG, an dem Plunkett hörte, wie seine Frau mit unterdrückter Stimme ihren jüngsten Buben rief. Er ließ die Tür des Hühnerstalls hinter sich zuknallen, indem er für den Augenblick die nervös pickenden Hennen vergaß. Sie hatte — so überlegte er — ihre Hände zu einem Schalltrichter um den Mund gelegt, damit nur der Junge sie hörte. »Saul! Du, Saul! Komm zurück — komm augenblicklich zurück! Willst du, daß dich dein Vater dort draußen auf der Straße erwischt? Saul!« Mit sanfter Gewalt drängte sich Plunkett eilig durch die geschäftigen und hungrigen Hennen zur Seitentür des Bruthauses. Er trat dicht neben der Hühnerleiter ins Freie und verfiel in einen schweren, linkischen Trab. Sie werden die Verantwortung tragen, wenn Ann und ich
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nicht mehr sind, sagte sich Plunkett. Laß sie nur zusehen und lernen! Er hörte, wie die anderen Kinder lärmend aus dem Futterstall ins Freie geeilt kamen. Gut! »Saul!« schrie die Stimme seiner Frau unglücklich. »Saul, dein Vater kommt!« Ann erschien vor der Haustür und blieb stehen. »Elliot«, rief sie hinter seinem Rücken her, als er über den glatt abschließenden Deckel des Brunnens sprang. »Bitte, Elliot. Ich fühle mich nicht wohl.« Eine schwierige Schwangerschaft, natürlich — und dazu noch im sechsten Monat. Aber das hatte nichts mit Saul zu tun. Der Junge wußte Bescheid. An der letzten gefrorenen Furche des Gemüsegartens blieb Plunkett stehen und wartete einen Moment, um die nötige Luft für seine Lungen zu sammeln. Es ging ihm oft die Puste aus. Hier sah man es wieder einmal: Eine so kurze Strecke vom entfernten Ende des mittleren Hühnerstalls bis zum entfernten Ende des Gemüsegartens — nicht mehr als anderthalb Hektar, die zu überqueren gewesen waren — und ihm ging bereits die Puste aus. Und das trotz des pausenlosen, harten Trainings. Er konnte den Jungen in der Ferne gerade noch sehen, wie er müßig einen Stock aufhob, um ihn dem Hund zum Apportieren zu werfen. Saul befand sich im jenseitigen Straßengraben — ein gutes Stück hinter der weißen Linie, die sein Vater mit dem Pinsel über die Straße gezogen hatte. »Elliot«, begann seine Frau wieder. »Er ist doch erst sechs Jahre alt. Er...« Plunkett ließ den angehaltenen Atem in einer ohrenbetäubenden Kaskade von Lauten frei. »Saul! Saul Plunkett!« brüllte er. »Fang an zu laufen!« Er wußte, daß seine Stimme getragen hatte. Er drückte auf den Knopf seiner Stoppuhr und warf den rechten Arm in die Höhe, die geballte Faust auf und nieder stoßend.
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Der Junge hatte die Worte verstanden. Er wandte sich um und ließ den Stock fallen, als er den bewegten Arm sah, der bedeutete, daß die Stoppuhr lief. Aber für einen angsterfüllten Moment war er zu erschrocken, um sich rühren zu können. Acht Sekunden. Er hob die Lider ein wenig und blickte auf. Saul hatte zu laufen begonnen. Aber er war noch nicht schnell genug, und Rusty, der ihm verspielt zwischen die Beine sprang, brachte ihn öfters aus dem Schritt. Ann hatte schwerfällig den Garten durchquert und stand jetzt an seiner Seite. Sie hätte in ihrem dünnen Hauskleid im November nicht herauskommen sollen. Aber es war gut für Ann. Plunkett hielt seine Augen mit steinerner Ruhe auf den gefühllosen Sekundenzeiger der Stoppuhr gerichtet. Eine Minute vierzig. Er konnte bereits das freudig erregte Kläffen des Hundes näherkommen hören, aber vorläufig folgte ihm noch nicht das Echo von Sandalen, die auf dem Straßenpflaster entlangklapperten. Zwei Minuten. Er würde es nicht schaffen. Die alten, bitteren Gedanken begannen Plunkett wieder zu bedrängen. Ein Vater, der die Geschwindigkeit seines sechsjährigen Sohnes mit der besten Uhr abstoppte, die er sich leisten konnte. Dies also war die wissenschaftliche Methode, im aufgeklärtesten Zeitalter der irdischen Geschichte Kinder aufzuziehen. Nun, sie war wissenschaftlich—in Übereinstimmung mit den allerneuesten Entdeckungen... Zweieinhalb Minuten. Rustys Kläffen klang nicht mehr gar so weit entfernt. Plunkett konnte jetzt das verzweifelte Pat — pat — pat der Füße des Jungen hören. Vielleicht schaffte er es tatsächlich noch! »Schnell, Saul«, hauchte seine Mutter. »Du kannst es schaffen.« Plunkett blickte gerade noch rechtzeitig auf, um seinen Sohn
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vorüberstürmen zu sehen. Seine Jeans zeigten bereits die dunklen Stellen des Schweißes. »Warum atmet er nicht so, wie ich es ihm gesagt habe?« murmelte er. »Ohne Atemtechnik wird ihm schon nach kurzer Zeit die Luft ausgehen.« Auf dem halben Weg zum Haus blieben Sauls Zehen an einer Furche hängen. Als er der Länge nach zu Boden stürzte, stöhnte Ann auf. »Das kannst du nicht zählen, Elliot. Er ist gestolpert.« »Natürlich ist er gestolpert. Er sollte damit rechnen, daß er einmal stolpert.« »Steh auf, Saulie«, schrie Herbie, sein älterer Bruder, aus Leibeskräften von der Garage aus, wo er mit Josefine Dawkins stand — den Korb mit Eiern noch immer zwischen sich. »Steh auf und lauf! Diese Ecke hier! Du kannst es schaffen!« Der Junge kletterte auf die Füße und warf seinen Körper vorwärts. Plunkett konnte ihn schluchzen hören. Er erreichte die Kellertreppe — und stürzte sich buchstäblich hinunter. Plunkett drückte auf die Stoppuhr, und der zweite Zeiger blieb stehen. Drei Minuten dreizehn Sekunden. Er hielt sein Handgelenk empor, damit seine Frau die Uhr sehen konnte. »Dreizehn Sekunden, Ann.« Ihr Gesicht überzog sich mit Falten. Er schritt zum Haus. Saul kletterte wieder die Stufen herauf, während er immer noch keuchte. Er hielt die Augen auf seinen Vater gerichtet. »Komm her, Saul. Komm mal zu mir. Schau auf die Uhr. Nun, was siehst du?« Der Junge starrte angestrengt auf das Zifferblatt. Seine Lippen begannen zu zucken. Erschrockene Tränen schlängelten sich seine schmutzigen Wangen hinunter. »Mehr...mehr als drei M — minuten, Papa?« »Mehr als drei Minuten, Saul. Nun, Saul — weine nicht, Junge, es hat keinen Zweck! — Saul, was wäre geschehen, als
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du bei der Kellertreppe anlangtest?« Eine dünne Stimme, die sich um Kraft bemühte: »Die großen Türen wären fest verschlossen gewesen.« »Die großen Türen wären fest verschlossen gewesen. Du wärst ausgeschlossen und könntest nicht mehr hinein. Und was würde dann mit dir passieren? Hör auf zu weinen. Antworte mir!« »Dann, wenn die Bomben fallen, hätte ich... hätte ich keinen Ort, wo ich mich verstecken könnte. Ich würde wie ein Streichholzkopf brennen. Und ... und das einzige, was von mir übrig bleibt, ist ein dunkler Fleck auf dem Boden, der wie mein Schatten geformt ist. Und... und...« »Und der radioaktive Staub«, half ihm sein Vater im Katechismus weiter. »Elliot...«, schluchzte Ann hinter ihm. »Ich glaube...« »Bitte, Ann! Und der radioaktive Staub, mein Junge?« »Und wenn es ra — di — o — ak — tiver Staub wäre, anstelle von Atombomben, dann würden meine Lungen in mir verbrennen... bitte, Papa, ich werde es nie wieder tun!« »Und deine Augen? Was würde mit deinen Augen passieren?« Eine dicke kleine, braune Faust grub sich in eines der Augen. »Und meine Augen würden ausfallen, und meine Zähne würden ausfallen, und ich würde schreckliche, schreckliche Schmerzen fühlen...« »An deinem ganzen Körper und überall in deinem Inneren. Ja, das würde geschehen, wenn du den Keller zu spät erreichst, nachdem der Alarm erklungen ist. Du wärst ausgeschlossen. Nach Ablauf von genau drei Minuten legen wir die Hebel um — und ganz gleich, wer noch draußen ist — ganz gleich, wer —, er wird nicht mehr hineinkönnen, weil die vier Ecktüren sich schließen und der Keller hermetisch abgedichtet wird. Du verstehst das, Saul?«
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Die zwei Dawkins-Kinder lauschten mit weißen Gesichtern und trockenen Lippen. Ihre Eltern hatten sie aus der Stadt gebracht und Elliot Plunkett gebeten, ihnen als alter Freund den Gefallen zu tun, den Kindern den gleichen Schutz angedeihen zu lassen, wie seinen eigenen. Nun, sie erhielten ihn. Dies war die einzig richtige Methode, ihn ihnen zu geben. »Ja, ich verstehe das, Papa. Ich will es auch niemals wieder tun. Niemals wieder. Ganz bestimmt!« »Das hoffe ich auch. Aber jetzt — marsch! In den Stall, Saul. Geh voraus.« Plunkett zog seinen schweren Ledergürtel aus den Gurtschlaufen seiner Hose. »Elliot! Meinst du nicht, er begreift diese entsetzliche Angelegenheit auch so? Eine Tracht Prügel wird ihm nicht helfen, sie besser zu verstehen.« Er blickte hinter dem weinenden Jungen her, der zum Stall zottelte. »Sie wird ihm nicht helfen, sie besser zu verstehen, aber sie wird der Lektion mehr Nachdruck verleihen. Alle sieben von uns werden drei Minuten nach dem Alarm in jenem Keller sein, und wenn ich diesen Riemen bis auf die Schnalle abnützen müßte!« Als Plunkett später mit seinen schweren Farmstiefeln in die Küche polterte, blieb er stehen und reckte sich seufzend. Ann fütterte gerade Dinah. Ohne ihre Augen von dem Baby abzuwenden, fragte sie: »Kein Abendessen für ihn, Elliot?« »Kein Abendessen.« Er seufzte wieder. »Es ist kaum zu glauben, wie diese Sache einen Mann mitnimmt.« »Besonders dich. Nicht viele Männer würden mit fünfunddreißig noch Farmer werden. Nicht viele Männer würden jeden Pfennig in eine unterirdische Festung stecken, und in eine Kraftzentrale — nur als Sicherheitsmaßnahme. Aber du hast recht.« »Ich wünschte nur«, sagte er ruhelos, »ich würde einen Weg finden, um Nancys Färse mit in den Keller zu nehmen. Und
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wenn die Eierpreise noch einen weiteren Monat so hoch bleiben, kann ich auch den Tunnel zum Generator bauen. Und dann ist da der Brunnen. Nur ein einziger Brunnen, auch wenn er dicht verschlossen ist...« »Und als wir vor sieben Jahren hier heraus kamen...« Sie erhob sich endlich und schmiegte sich an ihn. »Damals hatten wir nur ein Stück Boden. Jetzt besitzen wir drei Hühnerställe, tausend Suppenhühner und so viele Legehennen und Bruthennen, daß ich völlig den Überblick über ihre Zahl verloren habe.« Sie verstummte, als er seinen Körper spannte und ihre Schultern ergriff. »Ann, Ann! Wenn du so denkst, dann wirst du auch so handeln! Wie kann ich von den Kindern erwarten, daß sie... Ann, was wir haben — alles, was wir haben — sind fünf Kellerräume mit dicken Stahlbetonwänden, die wir in wenigen Sekunden abdichten können — ein abgeschlossener Brunnen zu einem ausreichend tiefen Untergrundstrom, einen Windmühlengenerator, der uns Strom liefert, und für Notfälle einen im Boden versenkten Generator, der mit einem Ölbrenner betrieben wird. Wir haben ausreichende Vorräte, Geigerzähler, um radioaktive Strahlung ausfindig zu machen und bleiverstärkte Anzüge, um nach draußen zu können, wenn das Schlimmste vorüber ist. Ich habe dir immer und immer wieder gesagt, daß diese Dinge unser Rettungsboot darstellen, und daß die Farm nur ein sinkendes Schiff ist.« »Natürlich, Liebling.« Plunketts Zähne knirschten aufeinander und öffneten sich dann hilflos, als seine Frau sich wieder ihrer Aufgabe zuwandte, Dinah, das Baby, zu füttern. »Du hast vollkommen recht. Schluck jetzt ’runter, Dinah. Nun, jenes letzte Bulletin vom Lebensretterclub würde jedem zu denken geben.« Er hatte aus der Oktoberausgabe des ›Lebensretters‹ zitiert,
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und Ann hatte es wiedererkannt. Na, und? Wenigstens taten sie etwas — sie suchten nach Schutzmöglichkeiten und bauten fieberhaft an Schlupfwinkeln —, sie legten ihre verschiedenen Kunstfertigkeiten und Spezialkenntnisse zusammen — in dem verzweifelten Versuch, sich und ihre Familien durch die militärischen Konflikte des Atomzeitalters hindurchzubringen, Der vertraute grüne Umschlag des hektographischen Nachrichtenblattes hob sich aufdringlich von der dunklen Fläche des Küchentisches ab. Er blätterte die Seiten um bis zu dem mit Fingerabdrücken beschmutzten Artikel auf Seite fünf und schüttelte ärgerlich den Kopf. »Stell dir das nur vor!« sagte er laut. »Diese armen Narren erklären sich wieder mit dem Sicherheitsfaktor einverstanden, den die Regierung festgesetzt hat. Sechs Minuten! Wie können sie — eine mächtige Organisation wie der Lebensretterclub — das zu ihrer offiziellen Meinung machen! Hah — die Schrecklähmung —, die Schrecklähmung allein...« »Sie sind lächerlich«, murmelte Ann, während sie mit dem Löffel die letzten Speisereste in der Schale zusammenkratzte. »Zugegeben, wir haben automatische Detektoren. Aber trotz allem müssen noch menschliche Wesen auf den Radarschirm blicken, sonst würden wir jedesmal in die Keller rasen, wenn ein Meteorschauer niedergeht.« Er schritt an dem riesigen Tisch entlang und schlug mit der Paust rhythmisch in die offene Hand. »Sie werden zuerst nicht ganz sicher sein. Wer von ihnen würde gerne seinen militärischen Rang riskieren, indem er das Signal gibt, das jeden einzelnen im ganzen Land veranlaßt, sich wie ein Maulwurf in die Erde zu vergraben, und das unsere eigenen Abschußbasen in fieberhafte Tätigkeit versetzt? Wenn sie dann schließlich ihrer Sache sicher sind, setzt die Schrecksekunde ein, und sie stehen einen Moment lang starr. Inzwischen kommen die Raketen heruntergezischt — wie schnell, wissen
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wir nicht. Die Männer erwachen zum Leben — sie wimmeln durcheinander und stehen sich gegenseitig im Weg. Sie stolpern über ihre eigenen Beine. Dann drücken sie auf den Knopf. Dann erst setzt das Signal überall unsere Radioalarmanlagen in Tätigkeit.« Plunkett wandte sich seiner Frau zu und breitete seine Arme aus. »Und dann, Ann, wenn wir den Alarm hören, dann setzt bei uns die Schrecklähmung ein. Endlich rasen wir los, in den Keller. Wer weiß — wer kann es wagen, zu sagen, um wie viele Minuten der Sicherheitsfaktor zu dieser Zeit bereits beschnitten ist? Nein, wenn sie behaupten, daß der Sicherheitsfaktor sechs Minuten beträgt, dann werden wir dem Alarmsystem wenigstens die Hälfte davon zurechnen. Drei Minuten für uns.« JOSEFINE DAWKINS und Herbie befanden sich im Schuppen, der an den Hühnerstall angebaut war, und reinigten den Futterkarren. »Alles erledigt, Papa«, grinste der Junge seinem Vater zu. »Und die Eier stehen auch bereit. Wann holt sie Mr. Whiting ab?« »Um neun Uhr. Hast du auch die Hennen im letzten Stall gefüttert?« »Ich sagte doch, es ist alles erledigt, oder nicht?« fragte Herbie mit der Ungeduld eines Erwachsenen. »Wenn ich etwas sage, dann meine ich es auch.« »Gut. Ihr Kinder setzt euch jetzt besser an eure Brüder, Heh, laß das, mein Junge. Das Wissen, daß du aus ihnen lernen kannst, wird später einmal sehr wichtig sein. Du kannst niemals wissen, was du... danach... brauchen wirst. Und vielleicht sind dann nur noch deine Mutter und ich da, um dich zu unterrichten.« »Hei!« Herbie nickte Josefine zu. »Stell dir das vor.«
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Sie strich sich über die blonden Haarzöpfe. »Und was ist mit meinen Eltern, Mr. Plunkett? Werden sie nicht auch ... auch ...« »Nee!« Herbie lachte das laute, ländliche Lachen, das er in der letzten Zeit übte. »Die sind so gut wie erledigt. Sie werden nicht durchkommen. Sie leben doch in der Stadt, nicht wahr? Sie werden nichts sein, als ein ...« »Herbie!« »... ein Schaumspritzer auf einer pilzförmigen Wolke«, schloß er, von dem Bild völlig im Bann gehalten. »Gott, ich hätte das nicht sagen sollen. Es tut mir leid«, meinte er, als er von seinem ärgerlichen Vater zu dem bebenden Mädchen blickte. Er fuhr mit bewußt vernünftig klingender Stimme fort: »Aber auf jeden Fall ist es die Wahrheit. Aus diesem Grund haben sie ja dich und Lester hierher geschickt. Ich nehme an, ich werde dich heiraten — danach. Und du solltest dir allmählich angewöhnen, ihn Papa zu nennen. Denn genauso wird es eines Tages sein.« Josefine kniff ihre Augen zu, öffnete die Schuppentür mit einem Fußtritt und lief hinaus. »Ich hasse dich, Herbie Plunkett«, weinte sie. »Du bist ein Unmensch!« Herbie sah seinen Vater resignierend an, zuckte die Achseln — Frauen, Frauen, Frauen! — und rannte hinter ihr her. »Heh, Jo! Hör mal!« Der Fehler war, dachte Plunkett besorgt, als er die Reserveglühlampen für den hydroponischen Garten in den Keller brachte — der Fehler war, daß Herbie durch fortwährende Wiederholung das eine gelernt hatte: Lebensrettung kam vor allem anderen — und Rücksichtnahme bedeutete nicht viel. Stärke und Selbständigkeit! — Plunkett hatte die Tugenden, die seine Kinder zum Überleben benötigten, schon vor Jahren ausgearbeitet, als er in klimageregelten Büroräumen saß und Firmenbilanzen aufstellte, dabei stets mit einem Auge auf den
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Kalender schielend. »Und doch«, murmelte Plunkett, »und doch... Herbie sollte nicht...« Er schüttelte den Kopf. Er inspizierte die Brutapparate in der Nähe der langen Tische des hydroponischen Gartens. Ein Einsatzbrett voll Eier stand kurz vor dem Ausschlüpfen. Sie müßten gleich damit beginnen, neue Eier zu sammeln, um das Brett morgen früh wieder aufzufüllen. Er blieb im dritten Raum stehen und schloß eine Lücke in den Bücherregalen. »Ich hoffe, Josefine spornt den Jungen bei seiner Schularbeit an. Wenn er das nächste Examen nicht besteht, können sie mich zwingen, ihn regelmäßig in die Stadt zur Schule zu schicken. Nur, das ist endlich mal ein Aspekt der Lebensrettung, mit dem ich Herbie treffen kann!« Er wurde sich bewußt, daß er mit sich selbst gesprochen hatte — eine Angewohnheit, gegen die er schon seit mehr als einem Monat ankämpfte. Noch dazu solch düstere Reden. Er kam sich vor wie einer jener Leute, die Regenschirme und Aktentaschen im Trolleybus liegen ließen. »Muß mich strenger kontrollieren«, murmelte er. »Verdammt noch mal — schon wieder!« Das Telefon rasselte oben. Er hörte Ann quer durch den Raum gehen, um den Hörer abzunehmen. »Elliot! Nat Medarie.« »Sag ihm, ich komme, Ann.« Er schwang die schwere Panzertür sorgfältig hinter sich zu, betrachtete sie einen Moment und stieg dann die hohen Steinstufen hinauf. »Hallo, Nat. Was gibt es Neues?« »Tag, Plunk. Habe gerade eine Postkarte von Fitzgerald bekommen. Erinnerst du dich an ihn? Die verlassene Silbermine in Montana? Ja. Er schreibt, wir sollen von der Annahme ausgehen, daß Lithium-und Wasserstoffbomben verwendet werden.«
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Plunkett lehnte sich mit dem Ellbogen gegen die Wand. Er klemmte den Hörer zwischen Wange und rechte Schulter, um sich eine Zigarette anzuzünden. »Fitzgerald kann sich auch mal irren.« »Uhm. Ich weiß nicht. Aber du weißt, was eine Lithiumbombe bedeutet, nicht wahr?« »Es bedeutet«, sagte Plunkett und starrte durch die Wand des Hauses in eine brodelnde, kochende Erde, »daß in der Atmosphäre eine Kettenreaktion ausgelöst werden könnte, wenn genügend davon eingesetzt werden. Vielleicht, wenn nur eine . . .« »Oh, hör auf«, unterbrach ihn Medarie. »Das bringt uns nicht weiter. Eines ist klar: Wenn dies zutreffen sollte, wird niemand durchkommen — und wir können genausogut sofort damit beginnen, zwischen der Kirche und der Schnapsschänke hin und her zu pendeln, wie es mein Schwager in Chicago zur Zeit tut. Fred, pflege ich zu ihm zu sagen... Nein, paß auf, Plunk: Es bedeutet, daß ich recht hatte. Du hast nicht tief genug gegraben.« »Tief genug! Hols der Teufel, ich habe keine Lust, noch tiefer hinunter zu gehen, als ich schon bin. Wenn ich nicht genügend Schichten aus Blei und Stahlbeton habe, um mich zu schützen... nun, wenn sie in der Lage sind, meine Schale zu knacken, dann wirst du so lange nicht auf der Oberfläche herumlaufen können, bis du vor Durst stirbst, Nat. Nein — Ich habe meinen Zaster in Kraftanlagen gesteckt. Wenn das Kraftversorgungssystem aussetzt, wird dir nichts anderes übrig bleiben, als die verbrauchte Luft wieder in deine leeren Sauerstofftanks zurückzupumpen — und zwar von Hand!« Der andere Mann lachte leise. »In Ordnung. Ich hoffe, ich kann dir die Pratze schütteln, wenn alles vorüber ist.« »Und ich hoffe, ich kann...« Plunkett verdrehte den
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Oberkörper, um durch das vordere Fenster hinauszublicken, als ein alter Kombiwagen über die Schlaglöcher seiner Auffahrt gerumpelt kam. »Sag, Nat, hast du da noch Worte? Charlie Whiting fährt gerade vor. Ist heute nicht Sonntag?« »Ja. Er ist auch bei mir schon ziemlich früh aufgekreuzt. Irgendeine Art politische Versammlung in der Stadt, und er möchte rechtzeitig dort sein. Nicht genug damit, daß sich die Diplomaten der Weltmächte bereits in den Haaren liegen, sind ein paar lokale Philosophen mit dem Schleichtempo nicht zufrieden, mit dem ihre eigene Vernichtung naht. Sie berufen eine Versammlung ein und versuchen, ob sie sie nicht ein gutes Stück beschleunigen können.« »Sei nicht so bitter«, lächelte Plunkett. »Na, ich wünsch’ dir was. Grüße an Ann, Plunk.« Plunkett legte den Hörer auf die Gabel und schlenderte die Treppe hinunter. Draußen sah er zu, wie Charlie Whiting die Tür des Kombiwagens behutsam an ihrem einzigen, wackeligen Scharnier öffnete. »Eier verstaut, Mr. Plunkett«, sagte Charlie. »Empfangsbestätigung unterschrieben. Hier. Mittwoch kriegen Sie einen Scheck.« »Danke, Charlie. Heh, ihr Kinder! Marsch, zurück zu euren Büchern. Los, los, Herbie. Du hast heute abend eine EnglischPrüfung. Steigen die Eierpreise noch immer, Charlie?« »Langsam und stetig.« Der alte Mann schob sich auf den zersprungenen Ledersitz und schloß behutsam die Tür. Er winkelte seinen Arm im offenen Fenster. »Heh. Und jedesmal, wenn sie steigen, verdiene ich ein wenig mehr an euch Rettungsburschen, weil ihr zuviel Angst habt, um sie selbst in die Stadt zu bringen.« »Nun, dazu bist du auch berechtigt«, entgegnete Plunkett unbehaglich. »Was ist mit dieser Versammlung in der Stadt?« »…’n Haufen Leute werden über die Konferenz diskutieren.
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Ich sage, wir ziehen uns besser daraus zurück. Meiner Meinung nach sollten wir die ganze Konferenz zum Teufel schicken und unseren eigenen Weg gehen. Dieses Land hat bisher noch niemals eine Konferenz gewonnen. Eine Million Konferenzen in den letzten paar Jahren — und jeder weiß, was früher oder später passieren wird. Heh. Wir verschwenden nur unsere Zeit. Schlagt sie zuerst, sage ich.« »Vielleicht werden wir es tun. Vielleicht, werden sie es tun. Oder — vielleicht, Charlie — wird einer ganzen Menge von verschiedenen Nationen zur gleichen Zeit etwas einfallen, was wie eine gute Idee aussieht.« Charlie Whiting trat auf den Starter. »Das klingt unsinnig. Wenn wir sie zuerst schlagen — wie können sie dann das gleiche mit uns tun? Schlagt sie zuerst — kräftig genug — und sie werden sich niemals rechtzeitig erholen, um zurückzuschlagen. Das ist meine Meinung. Aber ihr Rettungsburschen ...« Er schüttelte ärgerlich sein weißes Haupt, als der Wagen davon schoß. »Heh!« rief er, als er auf die Straße einbog. »Heh, aufgepaßt!« Plunkett blickte über die Schulter. Charlie Whiting winkte ihm mit der linken Hand. Sein Zeigefinger deutete auf Plunkett, und der Daumen ragte in die Höhe. »Aufgepaßt, Mr. Plunkett«, rief der alte Mann. »Bumm! Bumm! Bumm!« Er kicherte hysterisch und legte sich über das Lenkrad. Rusty fegte um die Hausecke und verfolgte ihn, nach uralter Hundetradition wütend hinter ihm herbellend. Plunkett blickte dem rasch kleiner werdenden Wagen nach, bis er hinter der Kurve drei Kilometer entfernt außer Sicht kam. Er richtete seine Augen auf den kleinen Hund, der stolz zurückkehrte. Der arme Whiting! Und die armen Leute, die jedem
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exzentrischen Menschen mit Mißtrauen begegneten. Wie können sie einen habgierigen alten Sonderling wie Whiting gestatten, ihre Produkte aufzukaufen, Mr. Plunkett, nur damit sie und ihre Familie keine Fahrten in die Stadt zu riskieren brauchen? Nun, was dies anging, so hatte er schon vor Jahren erkannt, daß es auf der Welt zu viele Leute gab, die sich einbildeten, tüchtiger zu sein, als alle anderen; Leute, die glaubten, daß zwei Schulbuben, die sich auf den Straßenseiten gegenüberstanden, eine Menge Schneebälle anhäufen und dann nach Hause gehen konnten, ohne sie verwendet zu haben; Leute, die über die Vorteile von Betonabgrenzungen gegenüber Drahtzäunen diskutierten, während ihre Automobile bereits über den Klippenrand schleuderten; Leute, die rechtschaffen waren; Leute, die gleichgültig waren. Es war die letztere Gruppe, erinnerte sich Plunkett, die ihn dazu gebracht hatte, seine Mitmenschen nicht mehr auf die Schulter zu tippen und ihnen Vorhaltungen zu machen. Einmal erreicht man den Punkt, bei dem man der menschlichen Rasse alles Gute wünscht, jedoch sich selbst und die Seinen aus ihrer Masse zurückzieht, um ihren Wutanfällen aus dem Weg zu gehen. Lebensrettung für das Individuum und seine Familie, dachtest du..« Klang — ng — ng — ng — ng! Plunkett drückte automatisch auf den Stift seiner Stoppuhr. Komisch. Für heute war gar kein Probealarm angesetzt! Die Kinder befanden sich alle außerhalb des Hauses, abgesehen von Saul — und er würde es nicht wagen, seinen Raum zu verlassen, geschweige denn an der Alarmanlage herumzuspielen. Es sei denn, vielleicht, daß Ann. . . Er ging in die Küche. Ann kam zur Tür gelaufen, so schnell sie ihre Beine zu tragen vermochten. Auf den Armen trug sie Dinah. Ihr Gesicht sah eigenartig fremd aus. »Saulie!« schrie
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sie. »Saulie! Beeile dich! Komm, Saulie!« »Ich komme, Mama«, rief der Junge, als er mit keuchenden Lungen die Treppe herunterpolterte. »Ich komme so schnell, wie es nur geht! Ich schaffe es!« Plunkett begriff. Er stützte eine schwere Hand gegen die Wand, direkt unter der Küchenuhr. Er sah, wie seine Frau mühsam die Stufen zum Keller hinunterkletterte. Saul schoß an ihm vorbei und mit fliegenden Armen zur Tür hinaus. »Ich schaffe es, Papa! Ich schaffe es!« Plunkett fühlte, wie sich sein Magen bewegte. Er schluckte mit bedächtiger Sorgfalt. »Kein Grund zur Eile, mein Sohn«, flüsterte er. »Es ist nur das Jüngste Gericht.« Er richtete sich auf und blickte auf die Uhr, wobei er bemerkte, daß seine Hand auf der Wand ihre feuchten Umrisse hinterlassen hatte. Eine Minute, zwölf Sekunden. Nicht schlecht. Er hatte mit drei Minuten gerechnet. Klang — ng — ng — ng — ng — ng! Er wollte sich energisch schütteln und begann im nächsten Augenblick heftig zu zittern. Was war denn mit ihm los? Er wußte doch, was er zu tun hatte. Er mußte die tragbare Drehbank auspacken, die noch im Schuppen stand... »Elliot!« rief seine Frau. Er kam zu sich, als er die Kellertreppe hinunterstolperte. Seine Füße schienen ihm den Dienst zu .versagen. Irgendwie wollten sie sich nicht anheben, wenn er es von ihnen verlangte. Er taumelte durch die offene Kellertür. Angstverzerrte Gesichter sprenkelten den Raum in einem unerkennbaren Durcheinander. »Sind alle hier?« krächzte er. »Alle hier, Papa«, sagte Saul von seinem Platz neben der Lufterneuerungsapparatur. »Lester und Herbie sind drüben beim anderen Hebel. Warum weint Josefine? Lester weint nicht. Ich weine auch nicht.«
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Plunkett nickte dem schlanken, haltlos schluchzenden Mädchen unsicher zu und legte seine Hand auf den Hebel, der aus der Stahlbetonwand herausragte. Er blickte wieder auf die Uhr. Zwei Minuten, zehn Sekunden. Nicht schlecht. »Mr. Plunkett!« Lester Dawkins kam vom Korridor hereingeschossen. »Mr. Plunkett! Herbie ist zur anderen Tür hinausgerannt, um Rusty zu holen. Ich sagte ihm...« Zwei Minuten, zwanzig Sekunden, hämmerten Plunketts Gedanken, als er mit riesigen Sätzen die Treppe hinaufschnellte. Herbie lief durch den Gemüsegarten und schnalzte mit den Fingern, um Rusty hinter sich her zu locken. Als er seinen Vater erblickte, verzerrte sich sein Mund vor Schreck. Er geriet für einen Moment aus dem Schritt — und dann sprang ihm der Hund fröhlich kläffend zwischen die Beine. Herbie stürzte. Plunkett stürmte vorwärts. Zwei Minuten, vierzig Sekunden. Herbie sprang wieder auf die Füße, senkte den Kopf tief — und lief. War dieses dumpfe Grollen eine weit entfernte Explosion? Da — noch einmal! Ein gigantisches Donnern. Wer hatte damit begonnen? Aber spielte das noch eine Rolle — jetzt? Drei Minuten. Rusty fegte die Kellerstufen hinunter, den Kopf zurückgelegt, den Schwanz von Seite zu Seite wedelnd. Herbie kam herangekeucht. Plunkett packte ihn am Kragen und sprang. Und als er sprang, sah er — weit im Süden — die Todesschirme ihre Agonie über das Land eröffnen. Er schleuderte den Jungen hinein, als er am Fuß der Kellertreppe landete. Drei Minuten, fünf Sekunden. Er war mit einem Satz über der Schwelle und warf den Hebel um. Ohne zu warten, bis sich die Türe schloß und versiegelte, wirbelte er herum und schnellte in den Korridor. Damit wären zwei Türen erledigt. Der andere Hebel kontrollierte die beiden übrigen
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Eingänge. Er erreichte ihn. Er riß ihn herum. Er blickte auf seine Uhr. Drei Minuten, zwanzig Sekunden. »Die Bomben«, schluchzte Josefine tränenerstickt. »Bomben!« Ann zog Herbie im Hauptraum an sich, tastete seine Arme ab, strich bebend über sein Haar, schloß ihn fest in die Arme und rief ein übers andere Mal schluchzend aus: »Herbie! Herbie! Herbie!« »Ich weiß, du wirst mich versohlen, Papa. Ich... ich wollte dir nur zu verstehen geben, daß ich meinte, du müßtest es tun.« »Ich werde dich nicht versohlen, mein Junge.« »Du wirst nicht? Aber, Papa, ich verdiene eine Tracht Prügel! Ich verdiene die schlimmste...« »Vielleicht«, sagte Plunkett und starrte die Wand voll klickender Geigerzähler mit aufgerissenen Augen an. »Vielleicht verdienst du Prügel«, brüllte er so laut, daß sie alle herumwirbelten, um ihn anzusehen, »aber ich werde dich nicht bestrafen — weder jetzt, noch in aller Zukunft. Das gilt für euch alle! Und wie ich mit euch«, schrie er, »so ihr mit den Euren! Verstanden?« »Ja«, erwiderten sie in einem tränenerstickten, zerfetzten Chor. »Wir verstehen!« »Schwört! — Schwört, daß ihr und eure Kinder und eure Kindeskinder niemals wieder ein anderes menschliches Wesen bestrafen werdet — ganz gleich, was es getan hat!« »Wir schwören!« schluchzten sie. »Wir schwören!« Dann setzten sie sich alle nieder. Um zu warten. Übersetzung aus dem Amerikanischen von Jesco v. Puttkamer. Generation of Noah von William Tenn. Aus THE BEST SCIENCE FICTION STORIES 1962.
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Vorschau auf Utopia-Magazin 16 Bay Bradbury gehört schon seit Jahren zu den wirklichen Großen der Science-Fiction-Literatur, wenn auch ein großer Teil seiner Stories zu dem Gebiet der ›Fantasy‹ zählt. Aus der Anthologie-Reihe THE BEST SCIENCE FICTION STORIES bringen wir die Geschichte ›Der Fußgänger‹ (The Pedestrian) von Ray Bradbury, ein Beitrag von fast beängstigender Tragweite. Was geschehen kann, wenn die rechte Hand nicht weiß was die linke tut, erfährt der Leser in ›Der Feind‹ (Intelligence Quotient) von David Gordon, EMSH zeichnete das Titelbild zu dieser Geschichte, deren Pointe verblüfft und überrascht. Daneben bringt MAGAZIN 16 Stories von William F. Temple, Charles L. Harness, Jack Vance, Frank M. Robinson, die der Anthologie THE BEST SCIENCE FICTION STORIES entnommen sind, also das Beste vom Besten.
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KERNSPALTUNGS-UND KERNVERSCHMELZUNGSATOMBOMBEN von Dr. Ulrich Klaar
Um 1930 sprach man von ›Atomzertrümmerung‹; heute ›spaltet‹ man systematisch Atomkerne. Der Ausdruck ›Zertrümmerung‹ ist nicht mehr gebräuchlich. Damals schilderte man, wie man im Jahre 1950 künstliches Gold herstellen würde, und man beschrieb sogar, daß das synthetische Gold radioaktiv sein würde. Heute stellt man wirklich radioaktives Gold her, allerdings nicht für Münzen oder Schmuck, sondern für therapeutische Zwecke. Eines erahnte aber wohl keiner der damaligen utopischen Schriftsteller: Die Gewinnung von Atomenergie durch Verschmelzung leichter zu schwereren Atomkernen. Und doch wird auch diese kernchemische Reaktion heute schon durchgeführt! Wie viele Atombomben-Typen gibt es eigentlich? Wie auf jedem Gebiete, so herrschen auch in der Atomphysik und Kernchemie zur Zeit noch erhebliche Begriffsverwirrungen, welche manchmal selbst den Fachleuten Schwierigkeiten bereiten. Man liest fast jeden Tag in den Zeitungen von Uranbomben, Plutoniumbomben, Kobaltbomben oder Wasserstoffbomben. Alle diese Bezeichnungen sind ungenau Eine Atombombe aus dem Elemente Uran müßte, damit sie wirklich explodieren könnte, so ungeheuer groß sein, daß sie durch Flugzeuge gar nicht transportiert werden könnte! Eine Kobaltbombe enthält nicht, wie so viele Leute glauben, Kobalt als Atomsprengstoff, und
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eine Wasserstoffbombe besteht nicht etwa aus dem Element Wasserstoff! Es gibt, wenn man einmal so sagen will, zwei grundsätzlich verschiedene Typen von Atombomben: Die AtomkernSpaltbomben und die Atomkern-Verschmelzungsbomben. Jeder Atomkern — mit Ausnahme des Kerns des Wasserstoffatoms — besteht im wesentlichen aus Protonen und Neutronen. Zwischen diesen beiden Elementarbauteilchen des Atomkerns besteht für jedes Element, und auch für jedes Isotop eines Elementes wieder, eine bestimmte Mengenrelation. Zunächst entspricht, wenn man die Elemente in der Reihenfolge des Periodischen Systems der Elemente betrachtet, die Zahl der Protonen ungefähr jener der Neutronen Später nimmt aber die Neutronenzahl rascher zu als die Protonenzahl. In der Natur bilden sich auch Atomkerne, die gewissermaßen zu viel Neutronen, enthalten; sie sind dann aber unstabil, radioaktiv. Dazu gehören alle Elemente, die auf Blei folgen. Diese instabilen Elemente bzw. Isotope von Elementen wandeln sich, deshalb durch Abgabe von Elementarteilchen — ihre Zahl ist sehr groß — und durch Abstrahlen von Energie so lange um, bis sie einen stabilen, ausgeglichenen Zustand erreicht haben. Auf diese Weise entsteht zum Beispiel aus dem natürlichen Uran über Radium schließlich in der Natur das stabile Blei, von dem es drei natürliche Isotopen gibt; sie haben alle die gleiche Ordnungszahl im Periodischen System, also die gleiche Zahl von Protonen im Kern und damit die gleiche positive Kernladungszahl und die gleiche Zahl von Elektronen in ihrer Kernhülle; aber sie besitzen unterschiedliche Mengen von Neutronen, die die verschiedene Masse der drei Bleiisotopen bedingen. Es ist nun einleuchtend, daß solche Kerne von Isotopen eines Elementes, die an und für sich schon radioaktiv, also unstabil sind sich leichter spalten lassen als stabile Kerne.
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Als der deutsche Nobelpreisträger und Chemiker Prof. Dr. Otto Hahn im Jahre 1938 auf Uran Neutronen einwirken ließ, wollte er eigentlich die Neutronen in den Atomkern des Urans einbauen, also ein künstliches Element, ein Trans-Uran, herstellen. Aber genauere Untersuchungen des experimentellen Ergebnisses zeigten, daß er kein ›überschweres Element‹ aufgebaut, sondern das Uran gespalten hatte! Das war die Geburtsstunde des Atomzeitalters. Allerdings, so zeigte sich später, hatte Prof. Hahn nicht einfach das Element Uran gespalten, das aus den drei Isotopen U-233, U-235 und U-238 besteht, sondern nur das Isotop U235, das am leichtesten spaltbar ist. Die damals von Prof. Dr. Otto Hahn für die erste Atomkernspaltung der Welt benutzte Vorrichtung — sie wurde auf der Ausstellung ›Atome für den Frieden‹ gezeigt — war, verglichen mit dem heute gebräuchlichen Vorrichtungen für Kernspaltbomben oder Kernspalt-Atomkraftwerken, so primitiv, daß seine Leistung um so höher zu bewerten ist! Die ersten Atombomben der Welt—es waren Kernspaltbomben! — bestanden nun aus dem am leichtesten spaltbaren Uranisotop U-235. Es mußte für die Herstellung der Bomben von den begleitenden Isotopen getrennt werden, und das ist erstmalig vor Kriegsende in den USA gelungen. Dort stellte man auch noch im Kriege die Atomreaktoren, die mit Uran arbeiteten, in dem das U-235 hoch angereichert war, das Plutonium-Isotop Pu-239 her. Es bildet sich in jedem Reaktor, der mit angereichertem U-235 betrieben wird, dadurch, daß sich in ihm das U-235 begleitende U-238 über verschiedene Zwischenstufen in Pu-239 umwandelt. Isoliert man das Pu-239 aus der Atomasche des Kernreaktors, erhält man einen weiteren Atomsprengstoff, der noch wirksamer ist als das U-235, da bei der Spaltung des Pu-239, dessen Kern noch schwerer und unstabiler ist, noch größere
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Kräfte frei werden. Die erste Atombombe der Welt, eine Testbombe, die von den USA im Frühsommer 1945 auf dem Versuchsfeld Los Alamos zur Explosion gebracht wurde (vgl. unseren Bericht ›Atombombe und Atomreaktor‹ in Magazin 5), enthielt U-235 als Atomsprengstoff, desgleichen die im Spätsommer 1945 über Hiroshima abgeworfene Atombombe. Dagegen wurde in der Bombe von Nagasaki schon Pu-239 als Atombombensprengstoff benutzt. Sie war fast doppelt so wirksam als die Bombe von Hiroshima. Die meisten zur Zeit in den USA, in Großbritannien und in der Sowjetunion hergestellten Atombomben enthalten P-239 als Atomsprengstoff. Es fällt, wie schon erwähnt wurde, in jedem Atomreaktor an, der mit Uranmetall betrieben wird, in dem das Isotop U-235 angereichert ist, das also hauptsächlich aus dem Isotop U-238 besteht. Deshalb haben sich sowohl die USA als auch Großbritannien das Recht vorbehalten, von allen Staaten, denen sie Atomreaktoren und zugleich Kernbrennstoff verkaufen, den ›verbrauchten‹ Atombrennstoff, der unter anderem Pu-239 enthält, zurückzuverlangen. Auf diese Weise können sie für ihre Atomwaffenproduktion nacht nur auf das in ihren eigenen Ländern anfallende, sondern auch auf das in den Vertragsländern gebildete Plutonium für ihre Atomwaffenproduktion zurückgreifen! Im übrigen ist die ›kritische Masse‹ (vgl.: Atombombe und Atomreaktor) bei Plutonium kleiner als bei Uran. Deshalb enthalten Atomgranaten, um das Gewicht möglichst klein zu halten, Pu-239. Es liegt wie bei den Kernspaltbomben in zwei unterkritischen Massen in den Granaten vor. Die beiden unterkritischen Massen werden erst beim Abschuß der Granaten zu einer kritischen Masse, die dann ›explodiert‹,
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vereinigt. Bei den Kernspalt-Atombomben gibt es also im wesentlichen nur zwei Typen, nämlich die U-235-Bombe, die heute schon veraltet ist, und die Pu-239-Bombe. Viel komplizierter sind dagegen die Unterscheidungen bei der sogenannten ›Wasserstoffbombe‹. Lithiumdeuterid — das russische Geheimnis Während die überschweren Isotope sich leicht spalten lassen, neigen die Kerne der sehr leichten Elemente wie etwa Wasserstoff, des Schweren Wasserstoffs ›Deuterium‹, des überschweren Wasserstoffs ›Tritium‹ — es sind alles Isotope des Wasserstoffs! —, des Heliums oder des Lithiums dazu, sich durch Vereinigung zu schwereren Kernen zu stabilisieren. Diese Tendenz ist beispielsweise die Quelle der praktisch unerschöpflichen Strahlungsenergie der Sonne. Allerdings vereinigen sich dort die sehr leichten Atomkerne nicht direkt, sondern über komplizierte kernchemische Reaktionszyklen, die eingehend von den Astrophysikern Bothe und Becker studiert worden sind. Bei der Spaltung der überschweren Kerne — in Kernspaltbomben und in Atomreaktoren — wird Bindungsenergie frei, nämlich jene Energie, die die Atomkerne zusammenhält. Bei den sehr leichten Atomkernen dagegen wird, wenn sie sich zu schwereren vereinigen (dieser Vorgang erfolgt auf allen erkaltenden Sonnen, er hat also auch vor Jahrmilliarden auf der Erde stattgefunden!), ein bestimmter Anteil ihrer Masse in Energie umgewandelt. Damit aber die leichten Atomkerne miteinander Verschmelzen können, müssen sie eine so hohe Beschleunigung erfahren, daß die zwischen ihnen wirkenden
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abstoßenden Kräfte — alle Atomkerne sind positiv geladen — überwunden werden. Man kann sie beschleunigen entweder in atomphysikalischen Vorrichtungen wie Cyclotrons oder Synchrotrons, oder aber, indem man sie, d. h. die Elemente oder Isotope, entsprechend erhitzt Letzteres erfolgt in den Kernverschmelzungs-Atombomben! Die erforderliche Temperatur beträgt aber schon bei den leichtesten Atomkernen etwa eine Million Grad Celsius. Sie kann zur Zeit nur erreicht werden durch die Explosion einer U235- oder noch besser einer Pu-239-Kernspaltbombe. Deshalb bestehen die derzeitigen ›Wasserstoffbomben.‹ aus einer Kombination von Plutonium-Isotop Pu-235 als ›Initialzünder‹ und aus den Atomkernen leicht verschmelzbarer Isotope von Elementen. Je schwerer die zu verschmelzenden Kerne werden, um so größer wird die bei der Verschmelzung frei werdende Energie, aber um so größer wind auch die Temperatur, die zur Auslösung dar Verschmelzung nötig ist. Deshalb dienen also die gegenwärtigen ›Wasserstoffbombenversuche‹ der USA, der Sowjetunion und Großbritanniens dazu, die günstigsten Voraussetzungen für die Verschmelzbarkeit der leichten Atomkerne und die dazu erforderliche Temperatur, erzielbar durch billigere U-235, oder teurere Pu-239-Kernspalt-bomben, zu ermitteln! Dabei versuchen die drei Staaten sich bezüglich der Wirkung der Kernverschmelzungsbomben und deren ›Rentabilität‹ zu übertreffen. In dieser Tatsache liegt der Schlüssel für das Geheimnis, warum die drei Atommächte, obgleich sie alle die Gefahren der radioaktiven Verseuchung der Erde durch ihre Versuche kennen, diese immer noch weiterführen. Bis heute sind bereits über ein Dutzend Möglichkeiten zur Verschmelzung sehr leichter zu schwereren Atomkernen bekannt, und sie sind sicher alle schon experimentell im
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Verlaufe der ›Wasserstoffbombenversuche‹ durchprobiert worden. Bei den ersten Versuchen vor einigen Jahren wurden Experimente mit gasförmigen Elementen, vor allem mit leichtem, schweren und überschweren Wasserstoff angestellt, die man zu verschmelzen versuchte. Sie sind auch gelungen, wie allgemein bekannt ist. Später setzte man den Gasgemischen noch Helium, dann ein festes Lithium-Isotop hinzu. Solche Bomben erhielten, weil sie als Hauptbestandteil Isotope des Wasserstoffs enthielten, den nicht ganz zutreffenden Namen ›Wasserstoffbomben‹. Sie enthalten also nicht das Element Wasserstoff, sondern als Hauptbestandteil Deuterium oder Tritium. Zweieinhalb Milliarden DM für eine Tritium-Fabrik Die Amerikanische Atomenergiekommission, abgekürzt als AEC bezeichnet, spezialisierte sich vorzeitig auf ›TritiumVerschmelzungs-Bomben‹. Weil das überschwere und zudem noch radioaktive Isotop des Wasserstoffs in der Natur nur in verschwindend kleiner Menge vorkommt, mußte es für die Experimente künstlich erzeugt werden. Dabei diente als Ausgangsmaterial ein Isotop des Elementes Lithium, das in den meisten Gesteinen dar Erde enthalten ist. Die Umwandlung selbst erfolgt wiederum durch sehr komplizierte kernchemische Reaktionen. Die erste Tritium-Fabrik errichteten die Amerikaner am Savannah-Fluß; sie kostete rund zweieinhalb Milliarden DM. Das Tritium hat jedoch als Atombombensprengstoff einen schwerwiegenden Nachteil. Erstens ist es gasförmig, muß also komprimiert werden. Zweitens erhitzt es sich infolge seiner radioaktiven Strahlung von allein. Tritium enthaltende
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›Wasserstoffbomben‹ müssen deshalb ständig gekühlt werden! Das gleiche gilt für alle Kernverschmelzungsbomben, die gasförmige Elemente enthalten. Die Sowjetunion fand aus diesem Dilemma einen eleganten Ausweg, den vermutlich inzwischen auch die USA beschritten haben werden. .Sie benutzt nämlich nicht mehr die Kerne gasförmiger leichter Elemente zum Verschmelzen, sondern chemische Verbindlungen von Deuterium und Lithium, also Lithiumdeuterid, oder von Tritium und Lithium, mithin Lithiumtritid zum Verschmelzen! Lithiumdeuterid ist ein weißes, stabiles Salz, das sich ungefährlich handhaben läßt. Es wird erst zum Atomsprengstoff, wenn es auf erheblich über eine Million Grad Celsius erhitzt wird. Lithiumtritid erwärmt sich wohl auch infolge der radioaktiven Strahlung, aber es läßt sich als feste Substanz viel leichter kühlen als Tritium in Verbindung mit anderen Gasen; außerdem dehnt sich bekanntlich eine feste Substanz in der Wärme viel weniger aus als ein Gas. Lithiumtritid übertrifft, da es infolge seines Gehaltes an Tritium schwerere Atomkerne enthält aus Lithiumdeuterid, dieses noch hinsichtlich der Sprengwirkung. Das Lithiumtritid ist daher augenblicklich der wichtigste Atomsprengstoff für die sogenannten ›Wasserstoffbomben‹! Schon diese Beschreibung beweist, daß es mehr als ein halbes Dutzend Typen von Kernverschmelzungsbomben gibt, nämlich solche, die Deuterium, Tritium, Lithium, Helium oder Kombinationen dieser Elemente bzw. der Isotope enthalten. TNT als Vergleichsmaßstab Um die Wirksamkeit einer Atombombe zu demonstrieren, wird angeführt, daß die U-235-Kernspaltbombe von Hiroshima der Wirkung von 20 000 Tonnen TNT entsprach, jene von Nagasaki von etwa 40000 Tonnen TNT, und gar jene
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Wasserstoffbombe von Bikini von 40 000 000 Tonnen TNT. Zum Abschluß soll deshalb noch kurz dieser Vergleichsmaßstatab erläutert werden. TNT ist einer der wirksamsten Sprengstoffe und Granatentreibstoffe, die wir kennen. Chemisch gesehen ist TNT, Trinitrotoluol, also Toluol — ein Benzolderivat —, das dreifach nitriert worden ist Wenn man also hört, daß die Bombe von Hiroshima der Wirkung von 20 000 Tonnen TNT entsprach, so bedeutet das, daß sie die gleiche Wirkung hatte, als wenn man in Hiroshima 20 000 Tonnen dieses hochbrisanten Sprengstoffs zur Explosion gebracht hätte. Die Wirkung einer Kernverschmelzungsbombe, ausgedrückt in 40 Millionen Tonnen TNT, besagt also, daß sie um 2000mal stärker war als die erstmalig für militärische Zwecke verwendete Kernspaltbombe. Aus dieser Gegenüberstellung ergibt sich auch schon die strategische Bedeutung der Kernverschmelzungsbomben. Sie übertrifft jene der Kernspaltbomben um mehr als das Tausendfache! Allerdings, das muß in diesem Zusammenhange hervorgehoben werden, gibt es bei der Kernverschmelzungsbombe im Gegensatz zur Kernspaltwaffe keine kritische Masse, eine Tatsache, die auch heute noch zumeist übersehen wird. Bei den Kernverschmelzungswaffen verschmelzen alle jene leichten Atomkerne zu schwereren, für die die ›Initialzündung‹, d.h. die Anregungstemperatur ausreicht. Diese Temperatur, größenordnungsmäßig mindestens eine Million Grad Celsius, ist nach der Explosion der Kernspaltbombe, des Initialzünders, nur für den Bruchteil einer Sekunde vorhanden. Sie steigert sich natürlich noch während der Kernverschmelzungsreaktion, aber zugleich wird infolge der ungeheuren Erhitzung der Atomsprengstoff unheimlich rasch auseinandergetrieben,, so daß schon in
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Sekundenschnelle nicht mehr genügend leichte Kerne für Verschmelzungen zur Verfügung stehen. Infolgedessen können weder Atomkernspaltnoch Atomkernverschmelzungsversuche mit Atombomben zu einer Katastrophe für die Erde führen. Diese Feststellung muß man jedoch sofort wieder einschränken; denn sie gut nur für den Bestand der Erde, aber nicht für die Existenz des Lebens auf ihr!
Bei jedem Atombombenversuch, bei einem Kenverschmelzungstest noch mehr als bei einem Kernspalttest, entstehen riesige Mengen von radioaktivem Staub, Er wird größtenteils bis in die Stratosphäre hinauf gewirbelt und sinkt vom ihr nur sehr langsam in die Atmosphäre und auf die Erdoberfläche nieder. Alle Behauptungen, die Atombombenversuche beider Typen seien unschädlich, hinken insofern, als ja bisher erst ein geringer Anteil des entstandenen radioaktiven Staubes wieder auf den Boden niedergesunken ist. Bekanntlich kreiste der — nicht radioaktive! — Staub aus dem Ausbruch des Vulkans Krakatau fast ein Jahrzehnt in der Stratosphäre und Atmosphäre, bis sich die letzten Reste auf der Erdoberfläche absetzten. Ähnlich verhält sich aber auch der radioaktive Staub von Kernspalt- und noch mehr von Kernverschmelzungsreaktionen. Alle gegenwärtigen Meßergebnisse sind deshalb irreführend, weil sie nur einen geringen Anteil des tatsächlich gebildeten radioaktiven Staubs umfassen. Außerdem ist die Wirkung dieses Staubs auch nur atomphysikalisch sofort, nämlich mit Strahlenmeßgeräten, aber nicht seine Wirkung auf Mensch, Tier und Pflanze jetzt schon zu erfassen. Bis sich bei ihnen Wirkungen zeigen, vergehen Jahre, ja Jahrzehnte, wie die Erfahrungen von Hiroshima und Nagasaki gezeigt haben.
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Und doch: Atomkernspaltungsenergie für die Industrie! Es gibt heute schon in vielen Ländern Kernreaktoren, die zur Erzeugung von Energie zur Beheizung von Werkanlagen oder zur Produktion von elektrischem Strom dienen. Es handelt sich jedoch überall um Kernspaltanlagen, in denen so große Mengen an Atomasche anfallen, daß die Schwierigkeiten ihrer Unschädlichmachung bis heute nicht befriedigend gelöst worden sind. Ganz anders verhält es sich dagegen mit Anlagen zur friedlichen Nutzung der Kernverschmelzungsenergie. Sie werden künftig — und damit kehren wir zum Ausgangspunkt unserer Erörterungen zurück, nicht mehr mit Kernspaltbomben als Auslöser arbeiten. Industriell gesehen ist diese Methode unmöglich. Es gibt schon jetzt viel feinere und ungefährlichere Verfahren, die Verschmelzung der sehr leichten zu schwereren Atomkernen auszulösen, und dann die eingeleitete Reaktion durch die entstandene Verschmelzungstemperatur durch ständige Zufuhr der erforderlichen Menge leichter Kerne aufrechtzuerhalten. Dazu gehören neuartige elektrotechnische Methoden sowie fokussierende ElementarteilchenBeschleuniger, die bereits in dien USA, im Europa und in der Sowjetunion gebaut werden. Bei der industriellen Gewinnung von Atomenergie durch Kernverschmelzung entstehen kaum radioaktive Abfälle, und die erzeugte starke Neutronenstrahlung läßt sich durchaus abschirmen. Aber damit kommen wir schon wieder in den Bereich der Utopie, und dies soll nur ein Bericht über den gegenwärtigen Stand der Nutzung der Atomenergie sein. Die Zukunft gehört auf jeden Fall nicht jenem Staate, der die meisten und wirksamsten Atombomben hat, sondern jener Nation, die als erste versteht, die Atomenergie aus der Verschmelzung von leichten zu schwereren Atomkernen nutzbar zu machen.
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UTOPIA-Großband 82 bringt den aus dem Amerikanischen übersetzten Science-Fiction-Roman
Menschenjagd im Kosmos (Cosmic Manhunt) von L. Sprague deCamp Leicht, humorvoll, ungeheuer spannend und realistisch schildert der .Autor die Abenteuer des Detektivs Hasselborg auf dem etwas altertümlichen Planeten Krishna. Ohne sein gewohntes Handwerkszeug — Waffen, Pillen usw. — muß Hasselborg als ›Kavir bad-Malum‹ auf störrischen sechsbeinigen ›Ayat‹ hinter einem Mädchen herreiten, das mit einem Londoner Schauspieler durchgebrannt ist, um auf Krishna Königin zu werden. Immer wieder riskiert Hasselborg seinen Kopf, ohne die verlorene Tochter zu finden. Der Roman ist nicht nur bis zum Rande mit Spannung und wirklichen Abenteuern vollgepackt, sondern er erinnert durch seinen feinen Humor an die klassischen ›Maigret‹-Krimis von Simenon. Man kommt von dem Buch einfach nicht los — und wer zwischen den Zeilen zu lesen versteht, wird sich über den großartigen Stil deCamps freuen. Dieser Titel gehört zu der Reihe der UTOPIA-Großbände, die zu den Spitzenromanen der echten ScienceFiction-Literatur zählen.
In Utopia-Zukunftsroman erscheint der englische Weltraum-Abenteuerroman
Sie kämpften für Mars ( I Fight for Mars) von Charles Grey John Delmer und sein Freund Slade verbringen die letzte Nacht ihrer Gefangenschaft gemeinsam in einer Zelle, Wegen geringfügigen Vergehen haben sie nun schwere Strafen verbüßen müssen. Morgen werden sie den Schritt in die Freiheit tun. Noch wissen die beiden Männer nicht, daß sie auch auf der anderen Seite der Gefängnismauer Elend und Verzweiflung erwarten. Für die irdische Menschheit gibt es nur noch einen Ausweg; die Marskolonie. Doch der Weg dorthin ist durch viele Hindernisse versperrt. Als es den beiden Freunden endlich gelingt, sich auf abenteuerliche Weise zum Mars durchzuschlagen, erwartet sie auch hier der Kampf ums nackte Leben. Sofort nach ihrer Landung werden sie angegriffen. Kaum der Erde und ihrer Schrecken entronnen, stehen sie plötzlich einem erbitterten Feind aller Menschen gegenüber: der Geißel des Mars.
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Warum muß man in allen Fremden gleich etwas Feindliches erblicken? Die Schiffe von Ursa Major wollten nur einen friedlichen Austausch mit uns. Die Entwicklung drohte aber zu einem Vernichtungskrieg zu führen. Bis dann einer der Fremden das Risiko auf sich nahm, abgeschossen zu werden, bevor er seine Mission erfüllen konnte. Er war der …
BOTE EINER FREMDEN WELT (Alien Envoy) von Malcolm Jameson
DAS TELEFON RASSELTE heiser, dann wurde es klar. Die Stimme von Terry war zu vernehmen. »He, Chef, da kommt etwas über das Visio, was Sie sich unbedingt ansehen sollten. Ich glaube, es geht uns an.« Ellwood schob den Aktenstoß, den er gesichtet hatte zur Seite. »Habe verstanden, Terry«, polterte er. »Schalte die Flimmerkiste an.« Der große Schirm am anderen Ende des Zimmers erwachte zum Leben. Für einen Augenblick war nur ein wirbelndes graues Chaos zu sehen, dann verdunkelte sich die Farbe zu einem samtenen Purpur-Schwarz. Der Bildschirm klärte sich, und kalt funkelnde Sterne erschienen. Sekundenlang war das alles, doch dann tauchte ein Gegenstand auf. Es war ein gewölbtes, tropfenförmiges Ding von schimmerndem Silbergrün. Obenauf saß ein breiter Aufbau, aus dem die kurze Nase eines gefährlich aussehenden, projektähnlichen Gegenstandes ragte. Aber der violette Schein, der gewöhnlich das plumpe Geschütz
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umgab, fehlte hier. Es war aber noch mehr Auffälliges an dem Ding zu sehen. Ellwood hielt den Atem an, während seine Augen über das Bild des ganzen Schiffes flogen, das jetzt in die Mitte des Bildschirmes rückte. Die hintere Hälfte glühte und funkelte in zitronengelbem Leuchtfeuer, das langsam zu einem matten Orange und dann zu Kirschrot wurde, als die strapazierte Wandung ihre glühende Hitze in den Raum strahlte. Das Schiff hing in einem Katatronstrahl fest, soviel war klar. Aber das war noch nicht alles. Am Bug erschien eine gähnende Öffnung, durch die leuchtende Gase schossen, die sich sofort in der Leere des Raumes verflüchtigten. »Ein Ursaner!« rief Ellwood aus. »Endlich haben wir einen erwischt! Wer war es?« »Commander Norcross von der Penelope. Er jagte einen Mark-IX-Torpedo hinein. Aber der Kampf hatte etwas außerordentlich Seltsames an sich. Der Ursaner feuerte nicht zurück, und Sie wissen ja, wie hart sie gewöhnlich zuschlagen. Er stimmte nur ein fürchterliches Geheul an, daß es einem kalt den Rücken hinunterlief. Und sehen Sie sich doch die Koordinaten an.« Ellwoods Blick wandte sich den weißen Zahlen in der unteren Ecke zu. Sie bezeichneten die Himmelsbreite und -länge, sowie den Neigungswinkel. Der angeschossene Ursaner war weniger als eine Million Meilen entfernt — noch ein Stück jenseits der Mondbahn und etwa zwanzig Grad darüber. »Was, zum Teufel, hatte er so nahe der Erde zu suchen?« fragte Ellwood. »Sie sind doch seit vierzig Jahren nicht über den Jupiter hinausgekommen.« »Da fragen Sie mich zuviel. Deshalb habe ich Sie auch verständigt. Norcross sagt, er hätte seine Mission erledigt. Er
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hat den Ursaner auf den Fritz∗) genommen, und es sind keine weiteren mehr in der Nähe. Er möchte wissen, ob er einfach das Räumkommando einsetzen und das Wrack in eine Kreisbahn bringen soll, oder ob er es einholen soll, damit Sie es sich mal aus der Nähe besehen können.« Ellwoods Antwort gellte fast in das Telecom. »Laß es beim Lab Q-5 absetzen, du Dussel. Haben wir denn nicht unser ganzes Leben lang auf eine solche Gelegenheit gewartet?« Das Telecom knackte und verstummte. Ellwoods Finger flogen über eine Tastatur mit Knöpfen. »Q-5? Bereithalten für einen äußerst dringenden Job . . , Ein Kreuzer fing einen Ursaner . . . nein, ich meine wirklich fing . . . er schwebt jetzt bewegungslos im Raum und ist noch einigermaßen manövrierfähig. Sie holen ihn zu euch ein. Morgen um diese Zeit müßte er bei euch ankommen. Twitcherly soll sich bereithalten — und ebenfalls Darnhurst. Ich fliege sofort per Stratoliner hier ab und bringe Gonzales mit. Ihr haltet alles bereit — komplette metallurgische, chemische und magnetonische Analyse der Schiffshülle . . . die Valois-Methode ist dabei zu empfehlen. Und ich wünsche, eine Gruppe von Spezialisten für außerirdische Biologie dort anzutreffen. Wir müssen feststellen, wie ein Ursaner aussieht, wie seine Lebensfunktionen ablaufen, und so weiter. Das bedeutet eine Autopsie bis herunter zur histologischen Untersuchung jeder Zelle des Ungeheuers, das heißt, wenn es wirklich Ungeheuer sind und noch etwas von ihnen übriggeblieben ist.« »Verstanden, Chef. Wird alles vorbereitet.« Ellwood ließ noch eine Reihe weiterer knapper Befehlsrufe los, dann lehnte er sich zurück und entspannte sich. ∗
Fritz = scherzhafte Bezeichnung für Katatronsstahl.
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DER TAG hatte langweilig und ereignislos mit ermüdendem Lappalien angefangen. Jetzt war das mit einem Schlag anders. Es war der bedeutendste Tag seiner ganzen Laufbahn. Endlich wurde ihm die Gelegenheit geboten, nach der sich seine Vorgänger vergebens gesehnt hatten. Wer waren die Ursaner eigentlich? Woher kamen sie, was wollten sie? Und da es sich bei ihnen ja um Fremde von einer weit entfernten Welt handelte, die jedesmal, wenn sie angegriffen wurden, mit mörderischer Gewalt zurückschlugen, während sie selbst fast unverletzbar erschienen, erhob sich die dringende Frage: Was konnte man tun, um die Technik der Kriegsführung gegen sie zu verbessern? Diese quälende Frage hatte die ganze Erde in Aufruhr gebracht, seit die ersten Ursaner hier eingedrungen waren. Ellwood überflog im Geist die Entwicklung der Auseinandersetzungen. Die ersten Eindringlinge waren in einer Welle von etwa fünfzig Schiffen gekommen, die von der Raumpatrouille aus Richtung Ursa Major kommend gesichtet wurden. Bei dieser Gelegenheit besuchten sie alle Planeten und führten überall Erkundungsflüge durch. Die tapfersten Raumflieger konnten sie nicht daran hindern. Dutzende von Invasoren wurden durch die blitzschnellen Strahlen der Katatronen getroffen, aber sie lösten sich nicht auf, sie leuchteten nur kurz in blendend hellem Schein auf und flogen dann ungerührt weiter. Sie erwiderten den Katstrahl mit einem feuerroten Blitzpfeil aus ihren plumpen Geschützen. Dieser bedeutete jedesmal das Ende eines Patrouillenschiffes und seiner Mannschaft. Die Ursaner tauchten dann für längere Zeit nicht wieder auf. Einige Übereilige prahlten, daß unsere Verteidigung sie abgeschreckt habe und sie es nicht wagten, wieder aufzukreuzen. Aber viele andere vertraten einen nüchterneren Standpunkt. Die Flotte wurde wieder aufgebaut und verstärkt.
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Die Geschwindigkeit der Katstrahlen und Torpedos wurde erhöht. Weitere Spezialwaffen wurden erfunden. Die Ursaner kamen wieder. Diesmal kamen sie nicht in einer, sondern in zehn Wellen, und jede Welle umfaßte mehr als tausend Schiffe. Es war das Jahr der großen Raumschlacht zwischen dem Neptun und Jupiter. Die Erdstreitmacht ging zum Angriff über und hielt verzweifelt durch bis zu ihrem bitteren Ende. Diesmal gab es auch viele Verluste bei den Feinden, aber die überlebenden Ursaner nahmen ihre beschädigten Schiffe in die Mitte und landeten in den wirbelnden Ammoniumwolken des Jupiter, wohin ihnen kein Terraner zu folgen wagte. Die erschöpften Überreste einer einst mächtigen Verteidigungsflotte hatten keinen Mut, sich der tödlichen Schwerkraft von Sols größtem Planeten auszusetzen. Sie zogen sich zurück und pflegten ihre Wunden. Kurze Zeit regierte auf den inneren Planeten der Terror. Die Ursaner setzten ihren Angriff nicht fort, aber sie verließen auch nicht das Sonnensystem. Es war offensichtlich, daß sie auf dem Jupiter eine Beobachtungsbasis errichteten. Zwanzig Jahre lang kamen und gingen ihre Schiffe bis dorthin, aber sie ließen sich nie wieder innerhalb des Asteroidengürtels blicken. Hartnäckig bekämpfte sie die spärliche Raumflotte der Erde, aber offenbar ohne Erfolg. In einem Duell zwischen einem Terraner und einem Ursaner gewann immer der Fremde. Es war ein entmutigendes Unternehmen. Dann geschah es eines Tages, daß die gesamte Ursa-Armada sich in einer riesigen Wolke erhob und zurück zu dem oberen Nordhimmel flog. Sie hatten nichts wieder von sich hören lassen, bis jetzt plötzlich dieses einzelne Schiff auftauchte. »Ich möchte wissen«, sagte Ellwood nachdenklich, »weshalb dieser Ursaner Norcross soviel Zeit ließ, daß er ihm einen Torpedo auf den Hals jagen konnte? Schlief er? War er krank? Hatte er andere Schwierigkeiten? «
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Er erhob sich. Nun, sie hatten das Schliff. Das war schon ein Fortschritt. Ellwood sprang aus dem Flugzeug und schritt über das Flugfeld. Die ›Bimmy‹∗-Posten salutierten und machten ihm Platz. Etwa hundert Mfeter von dem eingeholten Wrack entfernt, erblickte Ellwood drei mit Tüchern bedeckte Gestalten auf Tragbahren. »Wer ist es?« fragte er. »Tolliver, Schweitzer und Wang Chiang. Es erwischte sie, als sie in das Vorderteil eindringen wollten, genau in der Luftschleuse. Es ist heiß da drin und stickig. Was die Ursaner als Luft benutzen, ist einfach grauenhaft! Diese drei Burschen sind erledigt.« Ellwood runzelte die Stirn. Er konnte es sich nicht leisten, jetzt Leute zu verlieren, zumal diese ausgezeichnete Bimmys waren und es davon ohnehin zu wenig gab. Wenn die vordere Hälfte des Schiffes noch in Ordnung war, durfte daran nichts geändert werden. Natürlich wäre es leichter, eine Öffnung hineinzufeuern, aber dann mußten sie die dort herrschenden Bedingungen wieder künstlich herstellen. Auf diese Weise brauchten sie diese Bedingungen jedoch nur einer Prüfung zu unterziehen. »Ist einer — lebend — herausgekommen?« »Ja. Darnhurst. Er sagt, daß sich noch mindestens ein lebender Ursaner darin befindet. Er sah ihn in der Kontrollkabine umherkriechen und machte sich dann schnell aus dem Staube.« »Wurde er angegriffen?« »O nein. Er konnte nur den Druck und alles andere nicht vertragen. Eine Art Schwerkraftmaschine arbeitet darin und man muß gegen 3-G ankämpfen. Die Temperatur beträgt etwa ∗
›Bimmy‹ = Zusammenfassung der ersten Buchstaben von ›Bureau of Interplanetary Military Intelligence ‹ – Büro des interplanetaren militärischen Geheimdienstes.
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eintausend, und die Atmosphäre ist ein Gemisch von Ammonium, Methan, Helium, Nitrodämpfen und ungefähr neun weiteren Gasen, die noch nicht bestimmt werden konnten.« Ellwood schwieg. Eine Gruppe Männer verlud gerade etwas auf einen schweren Lastwagen neben dem Wrack, wobei sie einen Kran benutzten. Sie hatten es durch die gähnende Öffnung gezerrt, die der Torpedo zurückgelassen hatte. Ellwood ging hin und besah es sich. Es war wirklich ein scheußliches Ungeheuer. Der tote Ursaner sah aus wie eine Meeresschildkröte, die man mit einem Seepolypen und mit einem riesigen gepanzerten Frosch gekreuzt hatte. Er bestand aus sieben Abschnitten, die breit und schwer gepanzert waren und von einem dicken Elefantenfuß von nur vier Zentimeter Länge gestützt wurden. Einige der Abschnitte waren mit einer Anhäufung knochiger Stacheln bewachsen, die jeweils verschieden angeordnet waren. Irgendwelche bekannten Organe waren hier nicht zu bemerken. Es gab nichts, was Augen, Ohren oder Nasen glich oder auch nur im entferntesten einem Mund ähnlich sah. Diese Wesen bestanden nur aus Panzerung und Fangarmen und waren ungeheuer massiv gebaut. »Wie viele dieser Sorte sind denn darin?« »Drei. Sie sind nicht beschädigt. Das Abströmen ihrer Atmosphäre muß sie getötet haben.« »Dann bringt sie schnell ins Labor. Die Jungs dort sollen sich gleich mit ihnen befassen.« ES FOLGTEN nun hektische siebzig Stunden, in denen kein diensthabender Bimmy Zeit zum Schlafen oder Essen fand. Das leichteste war der zugängliche Teil des Schiffes selbst. Die Wandung war von ungeheurer Dichte und bestand aus
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einer Metallegierung, die bisher noch nicht analysiert werden konnte. Die Spannkraft betrug eine halbe Million Pfund pro Quadratzoll. Es war säurefest und hatte keinen mit bekannten Mitteln erreichbaren Schmelzpunkt. Es war ein Wunder, daß selbst ein Katatron dieses Metall weißglühend machen konnte, ganz abgesehen von der Möglichkeit, es zu atomisieren. Nur ein Volltreffer mit dem Mark Ix-Torpedo konnte es durchlöchern. Der Hauptantrieb war atomar und unterschied sich wenig von der terranischen Art. Die Geschütze waren magnetische Versionen des Katatron. Bimmy-Spezialisten auf militärischem Gebiet, machten sich begeistert Aufzeichnungen. Das hier waren wirklich gefährliche Waffen. Den Ursanern war es gelungen, Magnetronen unter Höchstspannung zusammenzuballen und dann fast auf Lichtgeschwindigkeit zu bringen. Gänzlich fremdartig war jedoch das Kontrollsystem. Kein einzelner Mensch, auch nicht eine Gruppe von Menschen, wäre jemals in der Lage, die unzähligen, sonderbar geformten Kontrollhebel zu bedienen, die den vielseitigen Gliedmaßen der Ursaner angepaßt waren. Es war bezeichnend, daß nirgendwo Skalen, Meßgeräte, Schilder oder andere visuelle Hilfsmittel für den Piloten angebracht waren. Was die Kontrollkabine anbelangte, in der sich das überlebende Ungeheuer aufhielt, so ließ Ellwood diese vorläufig unangetastet. Er hatte seine Ausrüstung, mit der er dort eindringen wollte, noch nicht fertig. Er sorgte jedoch dafür, daß ein entsprechendes Gasgemisch bereitgehalten wurde, falls der Luftvorrat des Ungeheuers ausgehen sollte. Aber er machte bereits ohne diese geheimnisvolle Kabine betreten zu haben eine verblüffende Entdeckung. Einer seiner Bimmy-Ingenieure zapfte das Luftreinigungssystem des Ungeheuers an. Dabei fand er ein erstaunliches Nebenprodukt heraus. Es war Dampf. Einfacher Dampf. Er leitete diesen in
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einen Kondensator und erhielt destilliertes Wasser. Diese Tatsache wurde von der medizinischen Abteilung begierig aufgegriffen. Sie hatte ebenfalls bereits ihre Arbeit geleistet, aber schließlich mußten sie aufhören und Elektronikern und Magnetonikern die Weiterführung ihrer Arbeit überlassen. Wenn die chemische Zusammensetzung des Körpers dieses Ungeheuers schon ein wildes Durcheinander zu sein schien, so konnte sein Nervensystem einen Mann zum Wahnsinn treiben. Es bestand aus einem Gewirr von Metalldrähten, die mit Radium geladen waren. Dann gab es noch flache, knochenähnliche, metalloide Platten, bei denen es sich nur um eine Vielzahl von Kondensatoren handeln konnte. Andere verwickelte Anordnungen mochten als Transformatoren dienen, und die Hörner, die einzelne Abschnitte des Körpers schmückten, dienten als Sende- und Empfangsantennen. Ein Bimmy nach dem anderen sah sich das an und glaubte seinen Augen nicht zu trauen. Ein solches Wesen konnte es einfach nicht geben! Es verletzte nahezu alle elektronischen Gesetze und dennoch — sie setzten ihre Arbeit fort. Was sie jeweils in ihrem kurzen Schlaf träumten, ließen sie niemanden wissen, aber es mußte so wild sein, daß die Ärzte ihnen fast regelmäßig Hypnophrene einspritzen mußten. »Das ist es«, sagte Gonzales. »Es sieht verworren aus, aber es ist das Ergebnis unserer Nachforschungen.« Er überreichte Ellwood eine knappe Zusammenfassung der vorbereitenden Arbeiten. Die Ursaner aßen und tranken nicht. Sie atmeten das fremdartige Gasgemisch ein, mit dem ihr Schiff gefüllt war. Unter jedem Körperabschnitt befanden sich je eine Kieme und eine gesonderte Lunge, außer unter dem Vorder- und Hinterabschnitt. Die Lungen selbst waren über alle Maßen seltsam, eine unmögliche Mischung von lederartiger
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Membrane und dehnbaren Quarzröhren. In diesen Röhren kreiste das Blut des Wesens, eine Lösung von Silikon, Radiumsalzen, Schwefel, Eisen, Zink und einer Fülle weiterer Metalle in einem Säuregemisch, in dem Nitrit das vorherrschende Element war. Dieses Blut speiste die plumpen Fußstümpfe und die beweglichen Fangarme. Es speiste auch die Ganglien und die übrige elektrische Ausrüstung. »Wenn ich glauben soll, was ich hier lese«, sagte Ellwood und wies auf den Bericht, »dann müssen wir eine ganze Menge von Vorurteilen über Bord werfen. Wir haben hier Ungeheuer mit einem komplizierten Nervensystem, aber ohne Hirn. Und doch sind sie intelligent, selbst wenn sie nur mit ihren Reflexen denken. Sie haben keine Organe zum Sehen, Tasten oder Hören, aber offenbar können sie die Sterne wahrnehmen und ihre Schiffe hindurchmanövrieren und uns sehen, um uns zu beschießen. Das erfordert eine gründliche Nachforschung.« »Sie erhalten ihre Wahrnehmungen durch einen Kurzwellensender«, erinnerte ihn Gonzales. »Diese Apparatur in der Ecke summt beständig, also sendet der überlebende Ursaner. Ich glaube, daß er sich damit über seine Umgebung orientiert.« Ellwood kicherte. Der Gedanke war gar nicht so absurd. Jahrhundertelang hatten die Menschen Kurzwellensender benutzt, um sich nachts zu orientieren. Hier hatten sie einen lebendigen Organismus vor sich, der sich ständig dieser Einrichtung bediente. »Diese anderen Fühler üben verschiedene Funktionen aus«, fuhr Gonzales fort und wies mit dem Finger auf einige Punkte einer Skizze. »Wenn durch diese fünfarmige Anordnung Strom geschickt wird, benimmt sich eine Armatur äußerst komisch, wenn man in der Nähe Lärm schlägt. Ich möchte es Audiokonverter nennen. Die Ursaner machen sich offenbar nichts aus Zuhören, aber sie haben entdeckt, wie man Schall in
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etwas verwandeln kann, das sich für sie als nützlich erweist.« »Ja«, sagte Ellwood nachdenklich. »Sie sind auf der richtigen Spur. Ich möchte wissen, welche Frequenzen das Wesen benutzt, um sich mit seinen Gefährten zu verständigen. Wenn wir das erst einmal festgestellt haben, dann habe ich einen festen Ausgangspunkt für meine zukünftigen Pläne.« »Wir wollen sehen, ob wir das für Sie feststellen können, Chef. Etwa drei oder vier Wellen benutzt er nur hin und wieder und dann sehr stockend. Es klingt mir ganz so, als hätte er der Unterhaltung zwischen unseren Schiffen zugehört und versuchte, diese Laute zu imitieren. Mit ihren Elektronengehirnen kann den Ursanern kaum entgangen sein, daß wir Äthergramme benutzen. Wir haben eine Menge dieses Gestotters bereits aufgenommen und der Cryptographengruppe übergeben, aber bis jetzt haben sie den Code noch nicht entschlüsselt. Es könnte sein, wie Sie vermuten, daß nämlich eine dieser Wellen die Sprechwelle ist.« »Vielleicht, vielleicht auch nicht«, murmelte Ellwood, »aber es ist vielleicht kein schlechter Gedanke.« In dieser Nacht nahm er einige wichtige Veränderungen an seinen Plänen vor. Er jagte Eilbefehle in alle Gegenden, und schon vor Morgengrauen landeten die ersten Flugzeuge neben dem Ursa-Wrack und brachten die verlangte Ausrüstung. Um zehn Uhr war Ellwood bereit, eine Theorie praktisch auszuprobieren, die er während der vergangenen Nacht entwickelt hatte. Er beabsichtigte, in die versiegelte Kontrollkabine einzudringen und das gefangene Ungeheuer zu interviewen. »Gehen Sie lieber auf Nummer Sicher«, sagte der diensthabende Bimmy. »Dieses Wesen könnte Sie angreifen. Sie sollten einen Strahler mitnehmen.« Ellwood schüttelte den Kopf. »Ich glaube«, sagte er und lächelte flüchtig, »daß wir diese
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Wesen ganz falsch einschätzen. Damit meine ich nicht etwa unsere Fachleute, die sich jetzt damit beschäftigen, sondern das Vorurteil, mit dem wir ihnen von Anfang an gegenübertraten. Ich habe darüber nachgedacht. Ist Ihnen schon einmal aufgefallen, daß die Ursaner-Schiffe bisher nur auf die unsrigen geschossen haben, wenn diese sie angriffen? Daß sie niemals von sich aus angriffen? Könnte es nicht sein, daß es sich um eine friedfertige Rasse handelt, die nur kämpft, wenn sie sich verteidigen muß? Ich jedenfalls bin davon überzeugt und werde dementsprechend handeln. Was dieser Bursche da drin auch immer im Schilde führte, als er direkt auf die Erde zusteuerte, Agressionsabsichten waren es nicht, möchte ich behaupten.« »Sie sind der Boß«, sagte der Mann achselzuckend, aber der besorgte Ausdruck war nicht von seinem Gesicht gewichen. Der schwere Förderstuhl stand direkt außerhalb der Einstiegluke des Ursaner-Schiffes neben dem schweren Kran. Ellwood ließ sich in massive Schutzkleidung verpacken, einen widerstandsfähigen Raumanzug mit eigener Luftanlage. Dadurch würde er die furchtbaren Temperaturen aushalten können, die seinem Partner so wichtig waren und gleichzeitig seine Lunge gegen die für ihn giftige Atmosphäre schützen. Dann ließ er sich in den Stuhl schnallen und seine Werkzeuge griffbereit neben sich legen. Der Stuhl war extra für diese Gelegenheit gebaut worden. Ellwood konnte darin relativ bequem sitzen, selbst wenn in der Kontrollkabine 3-G auf ihn drückten. Er nickte, und der Kranführer beförderte ihn zu der offenen Luftschleuse. Sie schlossen diese hinter ihm. Ellwood befand sich im Vorzimmer des Besuchers von den Sternen. Alles andere blieb ihm überlassen. Die Luftschleuse war warm, und die Atmosphäre des Schiffes pfiff herein und füllte sie. Der Druck stieg an. Die Innentür
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öffnete sich zischend, und als Ellwood sein klobiges Gefährt hindurchgesteuert hatte, fiel sie hinter ihm wieder klickend ins Schloß. Für menschliche Augen war die Sicht schlecht. Ellwood sah alles durch einen milchigen, dichten Schleier, aber nach einer Minute hatten sich seine Augen an die neblige Umgebung gewöhnt. Die Kontrollkabine war ein runder Raum mit einer gewölbten Decke. Abgesehen von dem Fußboden gab es kaum eine Stelle, wo nicht bizarre, komplizierte Apparate angebracht waren. Nur Wesen mit langen Fangarmen konnten diese weit voneinander entfernten Kontrollhebel zugleich bedienen. Ellwood ließ einen erstaunten, bewundernden Blick darübergleiten und verdrängte dann energisch die Gedanken, die ihn wegen des komplizierten Mechanismus quälten. Eines Tages würden die Techniker schon diese Geheimnisse enthüllen. Seine Aufgabe war viel schwieriger. Der Ursaner lag bewegungslos auf der anderen Seite des Raumes. Ellwood konnte nur vermuten, daß sein Eindringen bemerkt worden war, denn das Ungeheuer veränderte nicht im geringsten seine Haltung. Ellwood rollte seinen Stuhl bis zur Mitte des Raumes und hielt dort an. Er musterte noch einmal die Wände und suchte nach einer flachen Stelle, die für einen Teil der magnetischen Ausrüstung als Hülle zu dienen schien. Schließlich fand er sie. Ellwood entspannte sich und widmete seine Aufmerksamkeit dem kleinen schwarzen Kasten auf seinem Schoß. Er probierte an den einzelnen Schaltern herum und suchte nach der richtigen Welle. Die beiden saßen sich so endlos lang gegenüber. Ellwood hantierte nur an den Schaltern und versuchte, dem, was er hörte, eine Bedeutung abzuringen. Das Ungeheuer konnte auch bereits tot sein wie die beiden sezierten im Laboratorium. Es bewegte sich nicht von der Stelle und zuckte mit keinem
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Fangarm. Aber es gab ständig interessante Ausstrahlungen von sich. Kurz darauf spürte Ellwood, daß in seinem Inneren eine eigenartige Veränderung vor sich ging. Ein Kribbeln kroch ihm über den Rücken, Geisterfinger bohrten sich in seine Ohren und hielten sie zu, und einmal spürte er plötzlich einen stechenden Schmerz in den Augen. Eine Zeitlang begann auch seine Herztätigkeit unregelmäßig zu werden. Ellwood ließ das alles stoisch über sich ergehen. Er war sich seiner sicher und empfand keine Furcht. Er wurde durch ein hochentwickeltes Elektronengehirn getestet, untersucht und innerlich zerlegt. Er kannte seine eigene Neugier über die Natur und Funktionen dieses Wesens. Es war durchaus logisch, daß dieses Gefühl auf Gegenseitigkeit beruhte. Schließlich fühlte er sich wieder normal. Die Zeit zum Handeln war gekommen, nachdem die ersten Abtastversuche vorüber waren. Ellwood drehte einen Schalter um und funkte Punkt—Strich, Punkt— Punkt—Punkt—Strich und benutzte dabei die Welle, die er für die wahrscheinlichste zu einer Verständigung mit dem Ungeheuer hielt. Er funkte eine Minute lang, dann grinste er grimmig, als er mit dem üblichen ›Ende‹ aufhörte. Das Ungeheuer biß an. Die Antwort war ein bedeutungsloses Gerassel von ta—ta—daa—daas. Es ergab keinen Sinn, aber die Verständigungswelle war gefunden. Später konnten die Kryptographen die Bandaufnahmen durchspielen und versuchen, eine Bedeutung herauszufinden. Aber es würde nicht einfach sein. Spanisch ist anders als Norwegisch und doch diesem näher verwandt als, sagen wir, Chinesisch. Alle diese Sprachen drücken menschliche Gedanken aus, menschliche Begriffe. Wie dachte aber ein Ursaner, ein Wesen, das weder Augen, noch Ohren oder eine Zunge hatte, über Dinge, die sein ›Gehirn‹ aufnahm? Das war das größte
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Problem. Ellwood war begierig, diesen Aspekt zu erfassen. Deshalb hatte er auch über Nacht besondere Ausrüstungsgegenstände herbeigeschafft. Er hielt sich deshalb auch nur kurze Zeit mit diesem sinnlosen Geplapper auf. Dann griff er wieder in seine ›Zaubertasche‹ und ging auf Nummer zwei seines Programms über. Es war ein kleiner Magazinprojektor, der mit ausgezeichneten Filmen ausgestattet war, die von dem Außerplanetarischen Kulturbund zur Erziehung der venusianischen Talag, der marsianischen Phzitz und der sonderbaren Lebensformen auf den Jupiter-Satelliten hergestellt worden waren. Ellwood richtete den Projektor auf die freie Stelle, die er glücklicherweise entdeckt hatte. Dann ließ er die Filme ablaufen. Der goldene Schlüssel zu einer erfolgreichen Pädagogik sind Gedankenassoziationen. Auf diese Weise war in den Lehrfilmen auch das Problem der sprachlichen Verständigung gelöst. Es stimmte, daß Ursaner nicht sehen konnten, aber das konnten die Phzitzn auch nicht. Es stimmte, daß ein Talag völlig taub ist, aber er lernte trotzdem. Mit einem Ursaner war es sicher schwerer, aber Ellwood war voller Hoffnung. Hauptwörter, die Bedeutung der einzelnen Gegenstände waren immer der Ausgangspunkt. Ellwood zeigte zuerst die Sonne, die ganz in der Nähe des Merkur aufgenommen war. Der eindrucksvolle Vorbeizug der wilden Sonnenflecken war deutlich zu erkennen. ›Sonne‹, funkte er in interplanetarischem Code und sprach das Wort gleichzeitig laut aus. Dann verkleinerte er das Bild und zeigte, wie die Sonne von der Erde aus wirkte, dann vom Jupiter und vom Uranus aus. Jedesmal wiederholte er dabei das Hauptwort und begann dann noch einmal von vorn, um dann sein ›Ende‹ zu funken.
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›Sonne‹, kam die Antwort des Ursaners. ›Ende!‹ Ellwood strahlte unter seinem Helm, obwohl ihm der Schweiß über die Augen lief. Der Ursaner war schlau. Er machte Fortschritte. Nun zum nächsten Hauptwort, erklärt durch einige semantische Verbindungen. Er schaltete die Maschine wieder an und ließ diesmal die Sonne zu einem kleinen und funkelnden Punkt zusammenschrumpfen. ›Stern‹, funkte er. ›Stern‹, sagte der Ursaner. Dann folgten alle Planeten, und jeden nannte Ellwood einfach ›Planet‹. Danach wiederholte er noch einmal alles, aber diesmal machte er auf die Unterschiede aufmerksam. Er nannte sie Merkur, Erde, Mars und in dieser Reihenfolge weiter. Der Ursaner konnte ihm folgen. Jetzt begann er die menschliche Verständigungsweise zu begreifen. Es gab Sammelbegriffe und ganz spezielle Bezeichnungen. Ellwood ruhte sich eine Weile aus. Seltsamerweise tat der Ursaner dasselbe. Vielleicht überdachte er, was er gelernt hatte. Jedenfalls wartete er bewegungslos, und auch seine Strahlungen ruhten. Ellwood war jetzt überzeugt, daß sich sein Plan durchführen ließ. Der Kontakt war hergestellt. Kurz darauf wiederholte Ellwood alle Ausdrücke noch einmal und hoffte im stillen, daß der Ursaner diesmal seine eigenen Ausdrücke dafür bringen würde. Aber er tat es nicht. Offenbar gab es in der Gedankenwelt der Ursaner keine entsprechenden Begriffe. Ellwood begnügte sich damit. Er mußte sich vorläufig mit der einseitigen Lehrweise zufrieden geben. Später — wer konnte es wissen? Als nächstes zeigte er zwei Raumschiffe. Das erste war ein terranischer Kreuzer, das andere ein typisch ursanisches Schiff. Er lehrte nacheinander die Ausdrücke ›Raumschiff‹, ›Kriegsschiff‹ und teilte die Schiffe dann in verschiedene Klassen ein. Die letzte Lektion an diesem Tag
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umfaßte die Adjektive. Die Begriffe ›terranisch‹ und ›ursanisch‹ wurden definiert. ELLWOOD war völlig erschöpft, als er wieder ins Freie gelangte und war erstaunt, daß erst zwei Stunden vergangen waren. Es war ihm unter den für ihn kaum erträglichen Lebensbedingungen der Ursaner viel länger vorgekommen. Eine Gruppe besorgter Bimmys hob ihn aus der Luftschleuse und schnallte ihn los. »Puh«, keuchte er. »Jetzt verstehe ich auch, weshalb ein Katatron diesen Babys nichts anhaben kann. Sie erhitzen ein Schiff, aber was bedeutet diesen Wesen schon Hitze, wenn sie tausend Grad als normal empfinden? Und was bedeuten ihnen hohe Beschleunigungen, wen 3 G für sie normal sind? Ich bezweifle, daß es irgendeine andere Möglichkeit gibt, diese Wesen zu töten, außer, wenn man ihnen ihren kostbaren Gestank entzieht, den sie einatmen.« Er ruhte sich fast den ganzen Nachmittag lang aus und ging dann zurück. In den folgenden, sehr anstrengenden Wochen machte Ellwood mit seinem Schüler gute Fortschritte. Als er alle konkreten Wörter gelehrt hatte, wiederholte er alles. Er blendete noch einmal bis zur Sonne zurück, ohne jedoch die Gegenstände zu benennen. Der Ursaner brachte treu und brav die richtigen Hauptwörter an. Er verfügte jetzt über ein Vokabular von über tausend Worten. Mit den Verben ging es schwerer, und am schwierigsten war es mit abstrakten Begriffen. Aber der Kursus, den die Gesellschaft zusammengestellt hatte, war sehr gut. Er wählte einzelne Beschäftigungen der Menschen aus und illustrierte jede davon. Am Schluß kam Ellwood auf das Wort Rivalität und zeigte, wie Rivalität zu Kampf führen konnte. Kämpfe wurden in verschiedenen Phasen dargestellt, und dann spielte Ellwood seinen Trumpf aus. Er zeigte eine Szene, wo eine
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weiße Fahne geschwenkt wurde. Dann umarmten sich die beiden Gegner. An dieser Stelle reagierte das Ungeheuer zum ersten Male selbständig. Es funkte aufgeregt in Englisch. Das Geschöpf wendete alle Worte richtig an, hatte aber seine eigene Grammatik, aber Ellwood wußte, was er wollte, hörte auf zu senden und lauschte. »Frieden!« wiederholte der fremde Besucher immer wieder. »Frieden! Ja, deshalb bin ich gekommen. Wir sind keine Feinde, sondern Freunde. Ihr seid in unseren Augen harmlose, aber primitive Ungeheuer, aber seit ich dich näher kennengelernt habe, erkenne ich, daß ihr nicht durch und durch schlecht seid. Ihr fangt vieles sehr plump an, aber das wollen wir großzügig übersehen. Das ist eure Angelegenheit. Man kann euch nicht dafür tadeln, daß eure Sinnesorgane so beschränkt sind, aber jetzt muß ich zugeben, daß du dich trotz dieser Handicaps sehr gut eingefühlt hast.« »Vielen Dank«, gab Ellwood trocken zurück. Dieser Dank schien den Ursaner für einen Augenblick aus dem Konzept zu bringen, denn dieser Begriff war ihm nicht erklärt worden. Aber er fand bald den Faden wieder. »Ich bin nun schon seit langer Zeit ein Gefangener an diesem unmöglichen Ort und habe deinen Belehrungen gelauscht. Jetzt weiß ich, wie deine sonderbare Rasse lebt und wie der komische Planet aussieht, den ihr euch als Heimat erwählt habt. Jetzt bin ich an der Reihe. Laß mich dich auf unsere Weise belehren. Höre auf, mich mit deinen primitiven elektronischen Geräten zu quälen! Bleib einfach sitzen und nimm alles auf. Ich versichere dir, daß du mir große Schmerzen zugefügt hast, aber das ist deiner Unwissenheit zuzuschreiben. Ich werde dir beweisen. daß die ursanische Lehrmethode besser ist.« Ellwood schaltete schuldbewußt seinen Sender ab. Es war
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ihm bisher nicht in den Sinn gekommen, daß mechanisch erzeugte Strahlen sich auf verschiedene Wesen verschieden auswirken konnten. Er betete heimlich, daß ihm jetzt nicht dieselben Schmerzen bereitet würden. Diese Befürchtung erwies sich als unbegründet, obwohl Ellwood doch manchmal glaubte, er müßte überschnappen, als er von einer Ekstase in die andere getrieben wurde. Der Ursaner ging unter Weglassung aller Umschreibungen direkt auf die Gedankenquelle los. Durch seinen eigenen, unbegreiflichen Mechanismus vermochte er, diese direkt mit Ellwoods Gehirn abzustimmen. Es war ein traumähnliches Erlebnis, das manchmal an Alpdruck grenzte. Ellwood hatte später große Mühe, dem Großen Rat etwas davon zu vermitteln. Er mußte scharf nachdenken, um sich auch nur an einen Bruchteil dessen zu erinnern, was er gefühlt hatte, denn die bizarren Szenen, die vor seinem geistigen Auge erstanden, waren dem menschlichen Begriffsvermögen völlig fremd. Zuerst hatte er das benebelnde Gefühl, in eine Narkose versetzt zu werden. Es war ihm, als würde ihm die Seele aus dem Leib gerissen und gezwungen, frei im Raum zu schweben. War es Intuition? Aber Ellwood machte sich bald keine Gedanken mehr darüber. Er war in einer anderen Welt, einer so sonderbaren phantastischen Welt, die in ihren Extremen und ihrer Widerlegung althergebrachter Naturgesetze so verblüffte, daß ihm die menschliche Wissenschaft nur noch als ein sehr oberflächliches Gebilde erschien. Er spürte, wie Chemie, Physik und alle Wissenschaften grundlegende Veränderungen erfuhren, wenn der schreckliche Druck und die Temperaturen weit entfernter Planeten als Faktoren auftraten. Alles war — einfach anders. Der Ursaner erteilte ihm einen allgemeinen Orientierungskursus. Ellwood bekam Planeten gezeigt, denen
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gegenüber der Jupiter nur ein winziges Nichts war. Er sah fremde Rassen von riesigen Ungeheuern, die sich genauso von den Ursanern unterschieden wie die Menschen — und die dennoch in derselben Umgebung lebten. Auch auf der Erde gibt es ja sehr verschiedene Geschöpfe: Adler, Elefanten, Schlangen, Menschen, Fische und Streptokokken. Jedes hat seine eigenen Bedürfnisse und Aufgaben, obwohl jedes mit dem anderen in gewissen Punkten übereinstimmte. Es gab eine Zusammenarbeit unter ihnen und auch Kämpfe. Und was für Kämpfe! Ellwood wurde übel, als er die Kampfmethoden einiger dieser Ungeheuer sah. Aber es gab auch eine Zivilisation, Fabriken und Handel, und alles wurde durch eine Art von ethischen Gesetzen gelenkt. Es gab Regierungen und religiöse Institutionen. Die Industrie mit ihren riesigen Fabriken interessierte Ellwood am meisten. Er sah, daß einige Substanzen auf diesen Planeten ziemlich rar waren, die bei uns selbstverständlich sind. Gold gab es in so reichlichem Maße, daß es zum Decken der Häuser verwendet wurde, während andererseits gewöhnliches Kochsalz außerordentlich rar war. Der größte Mangel bestand an Radium, einem lebenswichtigen Produkt, denn es war für die Ursaner das, was für uns die Vitamine sind. Und wegen dieses Mangels an Radium waren sie auch so versessen darauf gewesen, den ›Roten Fleck‹ auf dem Jupiter trotz unseres feindseligen Empfanges für sich auszubeuten. Ab und zu wurde Ellwood aus dem Reich der fernen Planeten weggeführt und mit etwas bekannt gemacht, was man nur mit einer abstrakten Welt bezeichnen konnte. Dort gab es keine Bilder oder Geräusche, nur einen Ideenstrom. Der Ursaner vermittelte Ellwood den Gedanken einer Philosophie über interkreatürliche Verwandtschaft. Es war keineswegs eine schlechte Philosophie. Sie plädierte für Zusammenarbeit. Sie erkannte die Lebensgewohnheiten der anderen an, und für den
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Fall, daß Meinungsverschiedenheiten aufkamen, gab es eine wirkungsvolle Methode zur Durchführung von Kompromissen. Schließlich war der Ursaner am Ende. Ellwood wurde wieder er selbst. Er war benommen und müde, aber auch außerordentlich zufrieden. Er wußte, daß es von nun an zwischen ihm und dem Ungeheuer eine gute Verständigungsmöglichkeit auf höherer Ebene gab. Es war Supertelepathie, die durch den erstaunlichen elektromagnetischen Nervenstrom ermöglicht wurde, den der Ursaner ausstrahlen konnte. Irgendwie war die Grundidee leicht zu erfassen. Sie war amorph, impulsiv und konnte mit den Mitteln der Logik nicht analysiert werden. Aber sie ermöglichte eine Verständigung. Ellwood wußte, daß er seine Aufgabe erfolgreich beendet hatte. Die wortlose Botschaft, die ihm übermittelt wurde, besagte etwa folgendes: »Wir, die Herrscher über die Armadianischen Planeten, die zwischen euch und Polaris die große Sonne Gol umkreisen, haben euer System untersucht und festgestellt, daß wir zu beiderseitigem Vorteil mit euch zusammenarbeiten könnten. Wir haben festgestellt, daß ihr euch auf einigen kleinen Planeten nützlich gemacht habt, die für uns wertlos sind. Wir haben aber auch festgestellt, daß sich zwei Planeten in eurem Besitz befinden, wovon der eine reich und der andere etwas weniger reich an einer Substanz ist, mit der wir unsere Kolonien unterstützen könnten. Wir haben diese deshalb für uns beansprucht und uns euern sinnlosen, primitiven Angriffen widersetzt, sooft wir dazu gezwungen wurden. Da ich nun festgestellt habe, daß euch die Angst regiert und ihr ständig von Habgier und Neid besessen seid, wissen wir, daß ihr euch niemals damit zufriedengeben werdet, uns diese Planeten einfach abzutreten, obwohl sie für euch wertlos sind.
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Ihr verlangt eine Gegenleistung. Gut, unter großem Risiko und bedeutenden Unannehmlichkeiten bin ich als Gesandter zu euch gekommen. In unserem Teil der Galaxis gibt es einige kleine Planeten, die euch paradiesische Zustände bieten. Die meisten sind von noch primitiveren Lebewesen besiedelt, als ihr es seid. Wenn ihr uns ungehinderten Zugang zum Jupiter und Saturn garantiert, werden wir euch als Gegenleistung die gleichen Rechte garantieren. Ich bin ein Gesandter von Armadia. Ich biete euch einen Vertrag.« »Ich werde deinen Vorschlag unterbreiten«, sagte Ellwood.
unseren
Herrschern
»Aber das ist doch undenkbar!« rief Dilling, der Vorsitzende des Rates aus. »Denken Sie doch nur an das Risiko. Woher sollen wir wissen, daß diese... diese Ungeheuer so etwas wie Vertragstreue kennen? Wenn wir ihnen gestatten, daß sie hier starke Stützpunkte errichten, in unserem System sämtliches Radium ausbeuten und willkürlich überall rumschnüffeln, ist es nur eine Frage der Zeit, bis sie uns ausrotten. Außerdem ist es ein Ultimatum. Wir können kein Ultimatum annehmen von — von . . .« Er verstummte wütend und suchte noch immer nach einem besonders verächtlichen Ausdruck für diese Ursaner. Ellwood betrachtete ihn mit schweigender Verachtung. »Es ist kein Ultimatum«, sagte er kalt. »Alternativen wurden überhaupt nicht erwähnt, obwohl die Ursaner im letzten halben Jahrhundert jederzeit die Möglichkeit gehabt hätten, sämtliche inneren Planeten unseres Sonnensystems zu vernichten. Ich habe ihre Zerstörungswaffen gesehen, sie sind unvorstellbar grauenhaft. Sie bitten uns nur, nicht weiter unsere Schiffe zu opfern, indem wir ihre Radiumexpeditionen angreifen. Wir haben eine Million Menschenleben verloren — sie nur drei.
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Die Insassen der Schiffe, die wir zum Glühen brachten, waren nur vorübergehend benommen. Die drei Schiffe, die sie verloren haben, opferten sie praktisch einer freundschaftlichen Geste.« »Pah«, schnaufte Dilling. »Was hat das schon mit Freundschaft zu tun, wenn sie uns den Vorschlag machen, ungezählte Tonnen von Radium fortzuschleppen, wo wir selbst mit den wenigen Pfunden, die wir zur Verfügung haben, haushalten müssen?« »Das Radium, um das es hier geht«, erwiderte Ellwood, »hat für uns nicht die geringste Bedeutung, denn unsere Schiffe sind weder strukturell stark genug, um mit dem Schwerkraftfeld des Jupiter fertig zu werden, noch könnten unsere Männer in diesen Minen arbeiten, selbst wenn uns eine Landung gelänge. Obwohl die Ursaner das wissen und unsere Schwächen kennen, haben sie uns diesen Vorschlag gemacht. Ich betrachte es als einen fairen Vorschlag. Wir werden den Vertrag annehmen müssen, weil wir einfach keine andere Wahl haben. Sie werden uns das Radium auf jeden Fall wegnehmen und unsere Kreuzer vernichten, falls wir uns ihnen wieder in den Weg stellen sollten. Statt dessen bieten sie uns Frieden und Handelsmöglichkeiten. Denken Sie doch daran, meine Herren, was das bedeutet! Ein Handel zwischen zwei völlig verschiedenen Systemen, nicht nur astronomisch gesehen, sondern auch zwischen Lebensformen, die völlig verschiedenen chemischen und physikalischen Gesetzen unterliegen. Der Handel zwischen tropischen und kalten Ländern war ertragreich. Der Handel zwischen Venus, uns und Mars ist ertragreich. Hier bekommen Sie noch sehr viel weitergehende Möglichkeiten geboten.« Ellwood beendete seine Rede und setzte sich. Er hatte gesagt, was zu sagen war. Das übrige mußte der Rat entscheiden. Es folgte eine langatmige, hitzige Diskussion, aber schließlich
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siegte der gesunde Menschenverstand. Als er den Versammlungsort verließ, trug er die Vollmacht bei sich, den Vertrag abzuschließen. Ellwood näherte sich dem Ursaner-Schiff, um seine abschließende Unterredung mit dem fremden Gesandten abzuhalten. Bald würde er das interessante Wrack erben und Studien treiben können, soviel er wollte, denn der Ursaner hatte seinen weit im Raum wartenden Gefährten gefunkt, daß eine Einigung erzielt worden war. In kurzer Zeit würde ein weiteres Ursaner-Schiff auftauchen, wobei die Erde diesmal keinen Angriff befürchten mußte, und den Gesandten an Bord nehmen. Inzwischen gab es noch einige abschließende Formalitäten zu erledigen. Ellwood trug den Vertragstext in Englisch bei sich. Beide Kopien, die terranische und die ursanische, waren in einfachem Englisch auf reines Beryllium eingeritzt, ein Metall, das auf den schweren Planeten gänzlich unbekannt war. Er sollte zusammen mit dem Ungeheuer unterschreiben und ihm eine Kopie überlassen. Das Ungeheuer sollte ihm dafür seinerseits eine golische Kopie überlassen. Als Ellwoods Stuhl über den Boden der Kontrollkabine rollte, tat der Ursaner etwas, was er nie zuvor getan hatte. Er bewegte sich. Wie eine Raupe kroch er vorwärts und traf Ellwood auf halbem Wege. Lange Fangarme schnellten aus ihren Gruben und machten sich an die Arbeit. Zwei, die Händen glichen, nahmen Ellwood die Berylliumblätter aus der Hand, sortierten sie schnell und gaben Ellwood das Original zurück. Dann griffen sie in ein hoch oben gelegenes Fach und zogen ein halbes Dutzend goldene Kugeln hervor. Ein weiterer Fangarm kroch zu einem Regal und holte ein Instrument herbei. Ellwood wußte rein instinktiv, was er zu tun hatte. Der golische Text des Vertrages erwies sich als das sonderbarste Dokument, das je eine menschliche Bibliothek
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geschmückt hatte. Es enthielt kein Wort, sondern bloße Gedanken, die auf die metallische Oberfläche der Kugel aufgeprägt waren. Um seine Bedeutung zu erfassen, mußte ein intelligenter Mensch den Vortrag nur durch den Gedankenleser laufen lassen, der mitgeliefert wurde. Während die Kugeln hindurchrollten, wurde die unsichtbare Schrift auf der Oberfläche plötzlich leserlich. Ellwood prüfte den golischen Text. Es war ein Wunderwerk an klarer Ausdrucksweise. Die Vereinbarungen waren ohne nähere Bestimmung oder Einschränkung darauf verzeichnet. Man wußte, was gemeint war. Hier war kein Raum für kleinliche Spitzfindigkeiten, selbst wenn sich alle Juristen der Galaxis darüber hermachen würden. Es gab keine zweideutigen Wendungen oder falsch gesetzte Kommas. Es gab keine ›Wenn‹ und ›Aber‹ wie in der Solarversion. Der golische Text besagte dasselbe wie der solarische, aber in viel vollkommenerer Form. Ellwood gab seine Unterschrift, indem er nur gedanklich seine Zustimmung übermittelte, die durch das Wunderwerk der fremden Technik sofort ein Bestandteil des Dokumentes wurde. Dann setzte er mit einem Füllhalter seine Unterschrift unter die Metallblätter. Der Ursaner unterzeichnete auf ähnliche Art, nur benutzte er dazu einen besonderen Fangarm. Was er als Namen niederschrieb, war ein unleserliches Symbol, aber das war von geringer Bedeutung. Die Solarversion war der golischen haushoch unterlegen. Wenn jemals Zweifel oder Fragen auftauchten, würden die Gedankenkugeln eine Antwort bereithalten. Nachdem sie gegenseitig die Dokumente ausgetauscht hatten, trat eine augenblickliche Stille ein. Die beiden völlig verschiedenen Organismen — der Erdenmensch und der Ursaner — standen wie versteinert da. Sie waren in einen vertrauten Gedankenaustausch getreten. Es lag Dankbarkeit,
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Freundschaft und ein gegenseitiger Glückwunsch darin. Jeder wußte von dem anderen, daß er Ungeheures geleistet hatte. Dann verflog die Stimmung ganz plötzlich, als sei die innere Verbindung abrupt unterbrochen worden. Ellwood stand der Situation völlig hilflos gegenüber. In diesem Augenblick tat der Ursaner etwas Erstaunliches. Ein handähnlicher Fangarm kroch hinüber zu Ellwoods Stuhl und ruhte leicht auf seinem metallverpackten Arm. Dann faßte er nach Ellwoods behandschuhter Rechten und schüttelte sie feierlich hin und her. Dann zog er sich wieder zurück und verkroch sich in seine Hülle, Es bedeutete ›Lebewohl‹ und ›Viel Glück‹. Draußen in der Luftschleuse wartete Ellwood, bis der Druck nachließ und die saubere, kühle Erdenluft eindrang. Ein Kloß saß ihm in der Kehle. Seine Augen waren feucht — und das kam nicht vom Schweiß. »Woher wußte der Ursaner, daß wir uns bei solchen Gelegenheiten die Hände schütteln?« murmelte er. »Ich habe es ihm nie gesagt. Nicht ein einziges Mal.« Alien Envoy von Malcolm Jameson. Copyright, 1944, by Street & Smith Publications, In. Mit Genehmigung von Otts Kline Assoc, Inc. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Helga Fischer.
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In unserer ›Amateur-Ecke‹ schreibt diesmal Gert Kühn einen spannenden Bericht darüber, wie das Geheimnis des Photonenantriebs in Professor Svendsons Besitz kam. Der Wissenschaftler muß sich vor der geheimnisvollen Stimme manches sagen lassen, was gar nicht so unberechtigt ist. Aber schließlich wird er für seine Hilfe mehr als reich belohnt.
Professor Svendsons Erfindung von Gerd Kühn
Man wußte, daß Professor Svendson schon seit geraumer Zeit an der Entwicklung des Photonenantriebs für Raumschiffe arbeitete. Aber selbst für seine engsten Mitarbeiter kam die Lösung dieses Problems verblüffend schnell. Bei der Pressekonferenz des Institutes glaubten einige besonders aufmerksame Journalisten eine ungewöhnliche Verlegenheit des Professors bemerkt zu haben, als die Sprache auf seine jüngste Erfindung kam. Wenn damals irgend jemand einen Zusammenhang zwischen diesen beiden Tatsachen geahnt und entsprechend 138
Nachforschungen angestellt hätte, wäre jenes merkwürdige Erlebnis, welches der Professor eines Nachts hatte, der Öffentlichkeit vielleicht schon eher bekanntgeworden MITTERNACHT war längst vorüber, als Prof. Svendson mit seinem Turbinenwagen das Tor des Institutes passierte und sich auf den Weg nach seinem außerhalb der Stadt gelegenen Wohnhaus begab. Der Wagen glitt fast geräuschlos über die breite Straße und hatte bald die letzten Gebäude der Stadt hinter sich gelassen. Hügel und Wälder, in der Dunkelheit nur als unförmige Schatten zu erkennen, flogen vorüber. Ein leichter Regen fiel und ließ vor dem Wagen glitzernde Reflexe über den Beton jagen. Der Professor hatte den Rundfunkempfänger eingeschaltet und sich in seinem Sessel zurückgelehnt. Das Fahrzeug erforderte keinerlei Aufmerksamkeit, da es durch ein in die Straße eingelassenes Magnetband sicher geführt wurde. Aus dem Lautsprecher erklang gedämpfte Unterhaltungsmusik. Prof. Svendson überflog in Gedanken noch einmal die Versuchsergebnisse des vergangenen Tages. Er bemerkte zunächst nicht daß die Musik immer leiser wurde und schließlich eine auffallend tiefe, aber sympathisch klingende Stimme zu vornehmen war. Erst als diese Stimme mehrmals seinen Namen nannte, wurde er aus seinen Gedanken gerissen. »Achtung, wir rufen Professor Svendson! Professor Svendson, wir benötigen, dringend Ihre Hilfe. Steuern Sie Ihr Fahrzeug bitte in den nächsten nach rechts führenden Waldweg!« Die Stimme war so zwingend, daß der Professor nicht eine Sekunde zögerte. Er beugte sich nach vorn, ergriff das Lenkrad und schaltete die automatische Steuerung ab. Dann verringerte er die Geschwindigkeit und konnte gerade noch rechtzeitig die
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Abzweigung erkennen. Während er den Wagen vorsichtig zwischen die Bäume rollen ließ, meldete sich wieder die rätselhafte Stimme: »Der Weg endet nach etwa einem Kilometer, Sie müssen daran leider noch ein Stück zu Fuß gehen. Wir geben zu Ihrer Orientierung Lichtzeichen.« Als er an dem bezeichneten Punkt ausgestiegen war, dauerte es eine Zeitlang, bis sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Dann entdeckte er einen durch die Bäume blitzenden. Lichtschein. Er mußte sich durch das regenfeuchte Unterholz zwängen und erreichte endlich den Rand einer breiten Lichtung, DER FLUGKÖRPER, welcher hier bewegungslos dicht über dem Boden hing, hatte die Form eines flachen Ellipsoides. Die Oberfläche schimmerte wie Glas, war jedoch undurchsichtig. Eine Luke öffnete sich, und ein breiter Laufsteg senkte sich langsam auf den Waldboden. Wie gebannt starrte Prof. Svendson auf die Öffnung, konnte aber nicht die geringste Bewegung wahrnehmen. Eine unheimliche Stille, die durch das leise Rauschen des Regens noch unterstrichen wurde, begann an seinen Nerven zu zerren. Er glaubte schon unendlich lange so gestanden zu haben, als er angesprochen wurde: »Treten Sie doch bitte näher, Professor Svendson!« Es war die gleiche Stimme wie in seinem Autoradio. Der Professor leistete auch dieser Aufforderung ohne weiteres Folge. Er ging über den Laufsteg und betrat das Innere des Raumschiffes. Durch einen kurzen Gang gelangte er in einen kreisrunden Raum, welcher die Steuerzentrale des Schiffes beherbergte. Er konnte auf den ersten Blick feststellen, daß die hier vorhandenen Schalt- und Kontrollvorrichtungen nichts mit einem der bei irdischen Raumschiffen gebräuchlichen
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Antriebssysteme zu tun haben konnten. »Betrachten Sie bitte alles, was Sie interessiert, ich kann Ihnen dabei den Grund Ihres Hierseins erklären.« Svendson blickte erstaunt um sich, konnte aber den Ursprung der Stimme nirgends entdecken, Diese fuhr indessen fort: »Sie befinden sich an Bord eines Raumschiffes, welches zu Beobachtungszwecken aus dem System der Wega zur Ende geschickt wurde, Infolge eines Steuerungsdefektes ist dieses Schiff jetzt nicht in der Lage, das Gravitationsfeldes der Erde wieder zu verlassen. Wir sind mit den irdischen Verhältnissen hinreichend vertraut, um Sie, Herr Professor, als Experten für Raumschiffantriebe zu kennen, und hoffen, daß es Ihnen möglich sein wird, den Defekt zu beheben.« Professor Svendson benötigte einige Minuten, um das Gehörte zu verarbeiten, Dann war sein Entschluß sehr schnall gefaßt: »Nein. Verlangen Sie nicht von mir, daß ich einen Verrat an der Erde begehe!« Er wandte sich zum Gehen. Die Stimme hielt ihn zurück: »Würden Sie mir bitte noch einen Moment zuhören! Sie haben eben große Worte gebraucht, zu große Worte, will mir scheinen. Wenn ich mich in Ihrer Sprache recht auskenne, setzt die Anwendung des Begriffes ›Verrat‹ doch die Verbindung mit irgendeinem Feind voraus?« »Allerdings.« »Halten Sie uns für Ihre Feinde?« »Nach dem, was ich vom Auftauchen Ihrer Flugkörper gehört habe, muß ich Sie dafür halten.« »Ich bin erstaunt, daß ein Mann von Ihrer Intelligenz das Vorurteil der Allgemeinheit teilt. Sie können sich aber selbst davon überzeugen, daß dieses Schiff, welches übrigens völlig unbemannt ist, über keinerlei Bewaffnung verfugt. Ich kann Ihnen ferner versichern, daß wir es an Versuchen,
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mit der Erdregierung in friedliche Verbindung zu treten, nicht haben fehlen lassen « Svendson schüttelte ungläubig den Kopf: »Davon hatte ich bestimmt etwas erfahren.« »Vermutlich ist in den Hirnen Ihrer Regierungsmitglieder die Vorstellung von einer Invasion aus dem Weltall so fest verankert, daß man aus Furcht vor einer Panik unsere Funksprüche geheimgehalten hat, Aus demselben Grunde hat man uns auch keine Genehmigung zur Landung erteilt. Im Gegenteil, es ist keine Seltenheit, daß unsere Schiffe beschossen werden.« »Warum setzen Sie unter diesen Umständen die Beobachtung der Erde fort?« »Ich glaube, Ihnen unsere Motive am besten durch eine kurze Filmvorführung verständlich machen zu können. Würden Sie bitte Platz nehmen!« Der in der Mitte des Raumes stehende Sessel war recht bequem, obwohl er offensichtlich für eine geringere Körpergröße gedacht war. Ein Teil der Wand schien sich aufzulösen, und nebelhafte Schemen begannen durcheinander zu wirbeln. Dann entwickelte sich das Bild zu einer derartig plastischen Klarheit, daß der Professor zunächst glaubte, mit dem Raumschiff in die Tiefen des Weltalls zu rasen. Eine in mattrosa Licht getauchte Kugel in der Mitte des Bildes vergrößerte sich rasch. ›Planet C 7 im System Sirius‹, erklärte die Stimme. Inzwischen war die Oberfläche dieses Planeten so nahe herangerückt, daß verschiedene Einzelheiten erkennbar wurden. Wasser und Pflanzenwuchs schienen äußerst kärglich zu sein. Inmitten von trostlosen Steinwüsten reckten sich kantige Bauwerke drohend in den Himmel. Langsam schob sich die eintönige Landschaft am Auge des Betrachters vorüber. Auf einem ganz ebenen, umzäunten Gelände standen schlanke, spitz auslaufende Metalltürme. Aber das waren doch
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... Svendson blickte angespannt nach vorn. Da, schon blitzte es auf, die Raketen hoben sich von ihren Startgerüsten, jagten mit steigender Geschwindigkeit nach oben. Das Bild verschwand, dann entstand aus den quirlenden Nebeln eine andere Landschaft von idyllischer Schönheit. In blühende Gärten eingebettet lagen weiße, langgestreckte Häuser. Dazwischen schnurgerade Wege, auf denen buntgekleidete Gestalten und kleine, schnell dahingleitende Fahrzeuge zu erkennen waren. Plötzlich schienen die Menschen zu. erstarren, blickten mit angstverzerrten Gesichtern nach oben, begannen dann kopflos hin und her zu laufen. Am Himmel waren die Raketen aufgetaucht, näherten sich mit rasender Schnelligkeit, stürzten nach unten. Schon zerriß ein grelles Aufflammen den Boden, Trümmer wirbelten durch die Luft, Eine Wand aus Rauch und Qualm wuchs auf, verdeckte gnädig das Inferno, wurde nur hin und wieder von einem jähen Lichtschein durchzuckt. Professor Svendson saß noch zusammengesunken in tiefer Erschütterung, als daß Bild schon längst erloschen war. »Was war das?« konnte er endlich fragen. Die Stimme antwortete ihm sofort: »Was Sie soeben sahen, waren Bilder von einem Angriff der Sirianer auf meinen Heimatplaneten. Wir wurden von diesem Angriff, der nach Ihrer Zeitrechnung vor 1200 Jahren erfolgte, vollständig überrascht. Drei Viertel der Oberfläche unseres Planeten wurden damals für lange Zeit unbewohnbar.« »Die Sirianer...« »Existieren nicht mehr«, beantwortete die Stimme den Einwurf des Professors. »Ehe wir einen Gegenangriff ausführen konnten, entstand durch verhängnisvolle Umstände eine Kettenreaktion in ihren Atomwaffenvorräten. Das Ende war ein alles vernichtender Atombrand.«
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UND SIE BEFÜRCHTEN einen ähnlichen Angriff von der Erde?« »Wir wissen, daß in allen Forschungszentren der Erde an der Entwicklung von Antriebsarten gearbeitet wird, die schon in nächster Zeit die interstellare Raumfahrt möglich machen werden. Es ist uns außerdem bekannt, daß sich die Erdregierung zum größten Teil aus Militärs zusammensetzt. Wenn Sie sich den Charakter dieser Männer, die Ihnen ja zum Teil persönlich bekannt sind, vor Augen halten, werden Sie zugeben müssen, daß unsere Befürchtungen nicht ganz unbegründet sind.« »Sie haben recht«, erwiderte Prof. Svendson nach kurzem Nachdenken. »Dann werden Sie wohl versuchen, den technischen Fortschritt auf der Erde aufzuhalten.« »Auch das ließe sich nicht mit unseren Grundsätzen vereinbaren. Wir werden lediglich dafür sorgen, daß die Macht auf der Erde wieder in die Hände von weniger kriegerisch veranlagten Männern gelegt wird. Wir sehen in Ihrer Regierung lieber besonnene Wissenschaftler als draufgängerische Generale.« »Es dürfte nicht leicht für Sie sein, ohne Gewaltanwendung einen derartigen Einfluß auszuüben.« »Über die Schwierigkeiten sind wir uns völlig klar«, erwiderte die Stimme auf diesen Einwand des Professors, »aber wir verfügen über ausreichende Mittel, um z. B. während der nächsten Jahre alle bedeutenden Erfindungen in den militärischen Forschungsstätten zu verhindern. Andererseits werden wir die zivilen Institute entsprechend unterstützen.« »Das könnte ein gangbarer Weg sein.« Professor Svendson erhob sich. »Jedenfalls haben Sie mich von Ihren friedlichen Absichten überzeugt. Erklären Sie mir jetzt, wo der Defekt Ihres Schiffes zu suchen ist!« Von der Schalttafel her ertönte ein leises Summen, ein Teil
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der Wand schob sich zur Seite und gab den Blick frei auf ein kompliziertes Elektronengehirn. Eine Kontrollampe zeigte den unterbrochenen Stromkreis. Gleichzeitig öffnete sich an einer anderen Stelle der Wand ein vorbildlich eingerichteter Werkzeugischrank. Professor Svendson machte sich an die Arbeit. Da ihm die Bauelemente durchaus vertraut waren, hatte er den Fehler bald gefunden. Der Magnetkern eines Impulsspeichers war zerbrochen. Der Einbau eines Ersatzstückes war leicht zu bewerkstelligen. Als der Professor das Werkzeug in den Schrank zurücklegte, ließ sich die Stimme wieder vernehmen: »Glauben Sie mir bitte, daß wir für Ihre Hilfe außerordentlich dankbar sind. Das Schiff wird jetzt zu einem kurzen Probeflug starten, an dem Sie wegen der hohen Beschleunigung leider nicht teilnehmen können. Vielleicht ist es Ihnen aber möglich, sich noch kurze Zeit in der Nähe aufzuhalten.« Prof. Svendson hatte das Raumschiff kaum verlassen, als es auch schon mit einem schrillen Singen schräg nach oben davonschoß. Er stand allein auf der Lichtung und blickte angestrengt in die Höhe. Da, das Geräusch kam wieder näher, etwas Helles stürzte herab, fiel dicht vor seinen Füßen zwischen die Grasbüschel, während das Raumschiff endgültig in den Wolken verschwand. ER BÜCKTE SICH und hob ein sorgfältig verschnürtes Päckchen auf. Als er es mit zitternden Fingern geöffnet hatte, erkannte er im ersten Dämmerlicht des Morgens die Formeln für den Photonenantrieb.
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Die Utopia-Science-Fiction-Bücherei
›Sonst stünde die Welt still‹ (Das große Ringen um das Neue) von Heinz Gartmann. 416 Seilten, zahlreiche Zeichnungen und 40 Bildtafeln. Ganzleinen 19,80 DM. ECON-Verlag, Düsseldorf. Um die Technik ist ein geistiger Kampf entbrannt, ein Kampf, der die Menschheit in zwei Lager teilt: Jene, die den technischen Fortschritt vorbehaltlos bejahen, die jede technische Errungenschaft zugleich als neue Etappe auf dem Weg zu einer höheren Kultur und Zivilisation ansehen und jene, die sie ablehnen, weil sie glauben, daß der Mensch der Untertan der von ihm selbst geschaffenen Technik ist, daß er als Mensch aufhören werde zu existieren. Heinz Gartmann hat in dieser großartigen Schau auf die Entwicklung der Technik alle großen Begebenheiten aus den letzten beiden Jahrhunderten zusammengetragen. Es beginnt bei der Dampfmaschine und erfaßt das Rennen der Amerikaner und der Russen um den Vorstoß in den Weltraum. Die ersten Satelliten der Russen werden noch dargestellt. Dipl.-Ing. Gartmann neigt naturgemäß zur Bejahung der Technik. Er setzt sich auch nicht so sehr mit philosophischen Spekulationen auseinander, als vielmehr mit der unausweichbaren Fragestellung: ›Könnte die Menschheit denn ohne Technik heute überhaupt noch leben, und muß sie nicht um ihrer Existenz willen weiter technisieren?‹ In der Tat weist er uns nach, daß unser heutiges Leben ohne die Technik nicht möglich wäre, und daß darüber hinaus ein großer Teil der Menschheit untergehen müßte, wenn sie nicht
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gelernt hätte, die ungeheuren Kräfte der Technik in ihren Dienst zu stellen. Gartmann spricht eindeutig aus, daß man die Technik nicht aufhalten kann und darf, er läßt aber eindeutig erkennen, daß die Technik den Menschen nicht unterjochen kann, wenn er einen fasten geistig-seelischen Standpunkt besitzt. Die Fülle des verarbeiteten Stoffes ist fast unvorstellbar. Das Buch ist eine Geschichte der Technik, die eigentlich jeder gelesen haben sollte. Die Kenntnis dieser Dinge ist zweifellos ebenso wichtig, wie die ›konservativen‹ Geschichtsdaten, die zum Lehrplan unserer höheren Schulen gehören. Neben der gründlichen Auseinandersetzung mit den reinen Tatsachen erscheinen in Gartmanns Werk auch die Gestalter und Schöpfer. Man erfährt zu seinem Erstaunen, daß nicht nur die landläufig bekannten Persönlichkeiten Schrittmacher und Wegbereiter waren, sondern hört von vielen Pionieren, denen der letzte Wurf nicht gelang, sei es aus wirtschaftlichen Gründen, sei es, weil ihnen jener letzte geniale Einfall fehlte, der die bis nahezu zur Reife gediehenen Projekte zur Vollendung führte. ›Sonst stünde die Welt still…, dieser Aussage wird sich am Ende der Lektüre jeder anschließen. Stillstand aber ist Rückschritt. Wir ziehen das Fazit aus dem einzigartigen Werk, daß die technische Begabung eine Gottesgabe ist, wie alle anderen Gaben auch. Die Gefahr der Technik liegt nur darin, daß wir angesichts ihrer späten Entdeckung mit ihx noch nicht recht fertig werden. Ein Buch für jeden Science-FictionFreund, ein Buch, nach dem man immer wieder greifen wird.
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›In den Tiefen des Meeres‹ (The Deep Range) von Arthur C. Clarke. 277 Seiten. DM 7,80. Gebrüder Weiß Verlag, Berlin-Schöneberg . Bereits mit der Themenwahl stellt sich in der Reihe der Romane aus der Welt von morgen hier eine interessante Neuschöpfung vor. Die Originalität des Einfalls liegt aber nicht nur darin, daß Zukunftsaspekte sachlich anderer Art behandelt werden, sondern in dem Schicksal der Hauptfigur, des ehemaligen Raumfahrers Walter Franklin. Das menschliche Drama ergibt sich, weil der Weltraumfahrer durch einen Unfall nicht mehr auf den Planeten kommen kann, auf dem er stationiert war. Er kann nicht zu seiner dort lebenden Familie zurückkehren. In seiner neuen Aufgabe als ›Walboy‹, das heißt als Führer eines der Einmann-Boote, wie sie zur Überwachung der riesigen Walherden eingesetzt werden, die sich die Menschheit von morgen als wichtigste Nahrungsquelle heranzieht, lernt er eine andere seltsame Welt, die des Ozeans kennen. Mit der neuen Aufgabe, die ihm gestellt wird, findet er wieder inneren Halt. Sein Leben bekommt einen neuen Sinn. Es ist für Arthur C. Clarke bezeichnend, daß er sich gerade in der Stellung menschlicher Probleme mit dem schon erregenden Schicksal Walter Franklins nicht zufriedengibt. Als dieser zum Leiter der ganzen Walüberwachungsabteilung aufgerückt ist, muß er sich mit dem Problem auseinandersetzen, ob der Mensch berechtigt ist, um seiner selbst willen Geschöpfe zu töten, wenn es andere Wege gibt, seine Ernährung sicherzustellen. Franklin entscheidet sich schließlich für die zweite Möglichkeit, obwohl er damit seine Existenz aufs Spiel setzt. Dazwischen sind die Abschnitte eingestreut, in denen die
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Tätigkeit der ›Walboys‹ geschildert wird, in denen es zu erregenden Forschungsfahrten, zu wagemutigen Rettungsaktionen kommt. Das alles ist ausgezeichnet komponiert und packend beschrieben. —Was er über die Nutzung des Meeres sagt, das ist tief begründet, denn bekanntlich sehen die Experten bereits die Notwendigkeit voraus, den Nahrungsbedarf einer sich stetig vermehrenden Menschheit schon bald aus anderen als den herkömmlichen Quellen decken Walter Franklin erlebt, daß sein Sohn aus zweiter Ehe wieder Raumfahrer wird, er sieht ihn ohne Neid, ohne Angst scheiden. Seine Aufgabe ist eine andere und er wird sie erfüllen. Der Blick auf die Sterne bewegt ihn nur zu dem einen Gedanken, es möge der Menschheit gelingen, dem Schöpfer aller Dinge einmal mit reinen Händen gegenüberzutreten.
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Auswertung der Check-List aus Utopia-Magazin 13 In UTOPIA-Magazin waren 8 Kurzgeschichten zu bewerten, darunter auch die Story des Lesers. Hier ist das Ergebnis. Die andere Seite, Walter Kubilius Verzeihung — kleiner Irrtum, Alfred Bester Homo sapiens, Eric Frank Russell Nur ein Rettungsboot, Lester del Rey Die schweigende Kolonie, Robert Silverberg Verschollen zwischen Erde und Mars, (Story des Lesers), H. F. Heide Ein Mann namens Jo, Hartmut Schulze Schiffe am Himmel, George H. Smith.
1.5 3.2 4.1 4.3 4.7 5.3 5.8 6.6
Unsere Leser werden festgestellt; haben, daß in dieser Ausgabe das gleiche Thema in zwei Kurzgeschichten, behandelt wurde. Wir denken dabei an ›Nur ein Rettungsboot‹ von del Rey und ›Ein Mann namens Jo‹ von dem jungen deutschen SFCD-Mitglied Hartmut Schulze. Es war interessant, die Meinungen unserer Leser zu diesem Thema zu lesen. Unter anderem wurde festgestellt, daß Lester del Rey schon bessere Stories geschrieben hat, und wir schließen uns dieser Ansicht an. Wir werden versuchen, die besten Kurzgeschichten dieses bekannten Autors für das Magazin zu erwerben. Ein sehr häufig an uns herangetragener Wunsch der Leser wird erfüllt: nur noch einen oder höchstens zwei wissenschaftliche Beiträge zugunsten von mehr Kurzgeschichten. Auch längere Stories wenden von Fall zu Fall erscheinen. Allen Lesern, die uns schrieben, danken wir recht herzlich, besonders auch denen, die uns ihre Kurzgeschichten als Story des Lesers schickten. Wenn es auch nicht möglich ist, alle Leserbriefe zu beantworten, so dürfen Sie versichert sein, daß auch Ihre Zuschrift aufmerksam gelesen wird.
Ihre UTOPIA-REDAKTION ………………… Hier bitte abschneiden! ……………………..
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SCIENCE FICTION TEST (CHECK LIST) Nr. 15 Einsendeschluß bei Erscheinen von UTOPIA-Magazin 16 in 4 Wochen. Wer die Check-List nicht heraustrennen möchte, kann die Bewertung auf einer Postkarte einschicken.
Kurzgeschichten Arche Noah Warum? Bote einer fremden Welt Ararat Professors Svendson Erfindung (Story des Lesers) Der letzte Marsianer Auf den Standpunkt kommt es an
Wissenschaftliche Beiträge Kernpalt- und Kernverschmelzungsatombomben Für die Kurzgeschichten die Zahlen 1 — 6 einsetzen dagegen nur den wissenschaftlichen Beitrag ankreuzen, der Ihnen am besten gefallen hat. Das Ergebnis wird in UTOPIA-Magazin 17 veröffentlicht. Bitte einsenden an den ERICH PABEL VERLAG RASTATT (BADEN) PABEL-HAUS
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