Romantic Mysteries Nummer 8 „Wenn Geisterschatten dich verfolgen“ von Larissa Jordan
Lippen nach und zupfte ein paar S...
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Romantic Mysteries Nummer 8 „Wenn Geisterschatten dich verfolgen“ von Larissa Jordan
Lippen nach und zupfte ein paar Stäubchen von ihrem schwarzen Blazer. Dann ging sie hinüber ins Lehrerzimmer. Die anderen Lehrkräfte hatten das Schulgebäude bereits verlassen, nur Francois Daumier, ihr junger Kollege, der die sechste Klasse unterrichtete und Janine schon seit langem verehrte, war noch anwesend. Er saß mit einer Tasse Kaffee vor einem Stapel Hefte. Als Janine eintrat, blitzte es in seinen Augen freudig auf. „Hallo, Janine“, begrüßte er sie lächelnd. „Möchtest du auch eine Tasse Kaffee? Er ist noch warm.“ „Danke, da sage ich nicht nein.“ Janine setzte sich zu ihm. Sie mochte den gut aussehenden jungen Mann, der ihr schon oft hilfreich zur Seite gestanden hatte, gut leiden. Sie wusste auch, dass er mehr für sie empfand und nicht nur die nette Kollegin in ihr sah. Doch Janine konnte ihm nur freundschaftliche Gefühle entgegenbringen. Francois wusste das, trotzdem hoffte er insgeheim, eines Tages ihr Herz doch noch zu erobern. „Wie fühlst du dich heute, Janine?“, erkundigte er sich mit einem forschenden Blick auf seine junge Kollegin. „Du siehst etwas blass und abgespannt aus. Hat unsere gute Mademoiselle Fleury dich wieder geärgert?“ Janine lächelte etwas verkrampft. „Nein, heute ausnahmsweise einmal nicht“, erwiderte sie. „Aber ich fühle mich tatsächlich nicht besonders. Wahrscheinlich wird es noch ein Gewitter geben.“ Francois zog die Augenbrauen hoch und blickte zum wolkenlosen Himmel hinauf. „Ein Gewitter?“, wiederholte er verwundert. „Aber nein, da irrst du dich bestimmt. Deshalb schlage ich auch vor,
Janine Debret ließ ihre Blicke über die gesenkten Köpfe der Mädchen und Jungen vor ihr in den Schulbänken schweifen. Seit zwei Jahren unterrichtete sie in der kleinen Dorfschule von Margaix die zweite und dritte Klasse. Freundlich beantwortete sie die Frage eines kleinen Mädchens, das daraufhin eifrig an seinem Aufsatz weiterschrieb. Dann glitt der Blick der jungen Lehrerin zum Fenster hinaus, vor dem sich die Gardinen leicht im Sommerwind bauschten. Noch wölbte sich der Himmel strahlend blau über dem kleinen Bergdörfchen im Herzen der Bretagne. Doch irgendwie hatte Janine das Gefühl, als ob es noch ein Gewitter geben würde. Sie war nervös und fahrig, und von einer unerklärlichen inneren Spannung und Unruhe erfüllt. Das schrille Läuten der Schulglocke riss sie aus ihren Gedanken. Die Kinder gaben ihre Arbeiten ab und stürmten ins Freie. Janine blickte ihnen lächelnd nach. Sie unterrichtete gern hier, auch wenn sie sich mit Mademoiselle Fleury, der Leiterin der Schule, nicht sonderlich gut verstand. Die ältere Dame, die selbst eine der höheren Klassen unterrichtete, hätte wohl lieber eine reifere Lehrkraft an Janines Stelle gesehen. Allzu gern kritisierte die Schulleiterin die Haltung der jungen Frau ihrer Klasse gegenüber und warf ihr vor, nicht die nötige Autorität zu besitzen. Doch Janine hielt nichts von strengen Strafen und drückte lieber gelegentlich ein Auge zu. Janine ging in den Waschraum, um sich etwas frisch zu machen. Sie bürstete das lange schwarze Haar, das ihr ausdrucksvolles Gesicht mit den großen dunklen Augen umrahmte, fuhr sich die
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Langsam ging sie durch den Vorgarten auf das Haus zu. Diesmal hatte sie kaum einen Blick für die verschwenderische Blütenpracht der Rosen, die sich um den torbogenförmigen Eingang rankten und an der Hausfassade emporkletterten. Sie verbreiteten einen betörenden Duft. Doch Janine hatte eher den Eindruck, als würden hier plötzlich übel riechende Pflanzen wuchern. Verwirrt betrachtete sie die Rosen. Nahmen die Blüten nicht plötzlich eine schwärzliche Färbung an? Auch schienen sie die Köpfe hängen zu lassen. Janine musste sich gewaltsam zur Ordnung rufen. Was war nur los mit ihr? War sie so überarbeitet, dass sie schon Halluzinationen hatte? Als sie die Haustür öffnete, überfiel sie ein merkwürdig beklemmendes Gefühl. Deutlich spürte sie, dass etwas anders war als sonst. Etwas Undefinierbares, Unheimliches empfing sie im Haus. Irgendetwas stellte sich ihr drohend entgegen. Janine fühlte, wie ihr der Schweiß ausbrach. Die Stimme wollte ihr kaum gehorchen, als sie nach ihrer Mutter rief. Sie war um die Mittagszeit doch immer zu Hause. Doch sie erhielt keine Antwort. Janine öffnete die Küchentür. Ihre Mutter stand nicht am Herd wie sonst, und auch der Tisch vor der gemütlichen Eckbank war nicht wie üblich um diese Zeit gedeckt. Angst stieg in Janine hoch. Mit weichen Knien ging sie ins Wohnzimmer und anschließend hinauf in die oberen Räume. Doch ihre Mutter fand sie nirgends. Das ganze Haus wirkte seltsam fremd und verlassen. Janine kehrte wieder ins Wohnzimmer zurück und sank dort in einen Sessel. Gleich darauf fuhr sie entsetzt wieder in die Höhe. Was war das plötzlich für ein Lärm? Es hörte sich an, als seien in der Küche sämtliche Töpfe aus dem Schrank gefallen. Erst als der Krach verklungen war, wagte Janine es, aufzustehen und nachzusehen. Doch in der Küche hatte sich nichts
dass wir beide heute Nachmittag zum Schwimmen fahren. Da kommst du auf andere Gedanken, und du wirst sehen, dass es dir gleich wieder besser geht. Was hältst du vom Lac du Colvaire? Den kleinen See liebst du doch. Und anschließend lade ich dich zum Essen ein. Einverstanden?“ Francois’ braune Augen bettelten. Janine zögerte. An jedem anderen Tag wäre sie von seinem Vorschlag begeistert gewesen. Sie schwamm leidenschaftlich gern und in der kleinen Auberge, in der sie mit Francois schon so oft gewesen war, gab es ganz hervorragendes Essen. Doch an diesem Tag hatte sie einfach zu nichts Lust. „Francois, das ist wirklich lieb von dir. Trotzdem ... sei mir bitte nicht böse, ich möchte lieber nach Hause fahren. Vielleicht lege ich mich auch ein bisschen hin.“ „Du wirst doch nicht krank werden?“ Besorgt befühlte Francois ihre Stirn. „Nein, nein“, versicherte Janine rasch. Dann erhob sie sich und griff nach ihrer Tasche. „Darf ich dann wenigstens gegen Abend kurz bei dir vorbeischauen und sehen, wie es dir geht?“ Francois stand die Enttäuschung deutlich im Gesicht geschrieben. „Aber ja, Francois. Komm doch zum Tee. Meine Mutter wird sich freuen. Und wir verschieben unseren Ausflug einfach. Vielleicht geht es mir morgen schon wieder besser, und wir können gleich nach dem Unterricht losfahren.“ Janine verabschiedete sich von Francois mit einem freundschaftlichen Küsschen auf die Wange. Draußen stieg sie in ihren kleinen weißen Renault und fuhr damit zum Rosenhäuschen, wie das Haus, in dem sie mit ihrer Mutter lebte, wegen seiner Pracht an wilden Rosen allgemein genannt wurde. Es lag zwar etwas außerhalb, aber sehr weit war der Weg bis dahin nicht. Trotzdem war Janine regelrecht erschöpft, als sie zu Hause aus ihrem Auto stieg. Mit einer kraftlosen Bewegung warf sie die Autotür zu.
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einen einzigen Bissen hinunterzubringen. Doch die Anwesenheit ihrer Mutter hatte sie wieder beruhigt. Mit dem Essen stellte sich auch der Appetit wieder ein. Nachdem sie noch ein Glas von dem leichten Landwein getrunken hatte, fühlte sie sich bedeutend wohler und konnte gar nicht mehr verstehen, dass sie sich vor einer halben Stunde noch halb zu Tode gefürchtet hatte. Sie wollte sich jetzt auch nicht mehr hinlegen. Nach dem Essen half Janine ihrer Mutter beim Geschirr spülen. Anschließend setzten die beiden Frauen sich hinaus auf die blumengeschmückte Terrasse. „Wie war es heute in der Schule?“, erkundigte Germaine Debret sich. „Ach, wie immer“, erklärte Janine. „Nichts Besonderes. Außer, dass es mir da schon nicht gut ging. Francois wollte mit mir zum Schwimmen fahren und mich anschließend zum Essen einladen, aber ich bat ihn, es zu verschieben. Er kommt später zum Tee.“ Germaine blickte ihre Tochter forschend an. „Francois liebt dich aufrichtig, Janine. Ich würde mich sehr freuen, wenn aus euch beiden einmal ein Paar würde.“ Janine lachte etwas verlegen. „Maman, du weißt doch, dass ich in ihm nur einen guten Freund sehe. Und Francois weiß das auch.“ Germaine schüttelte leicht den Kopf. „Was hast du an Francois auszusetzen? Er sieht gut aus, ist gebildet und hat ein sehr angenehmes Wesen. Außerdem habt ihr viele gemeinsame Interessen.“ „Das schon. Ich mag ihn ja auch sehr gern. Aber ich liebe ihn nicht. Und ohne Liebe möchte ich nicht heiraten. Das müsstest du eigentlich am besten verstehen, nachdem du mir so viel von meinem Vater erzählt hast. Ihr hattet euch so sehr geliebt, dass mein Vater sogar das Schloss seiner Väter für immer verließ, um mit dir, der kleinen Tänzerin, nach Frankreich zu gehen. Und du wolltest ihm zuliebe deinen geliebten Beruf aufgeben. Siehst du, so eine wundervolle Liebe
verändert. Alles stand an seinem Platz. Janine wischte sich über die Stirn und seufzte. Was war das nur für ein Tag! Warum war ihre Mutter nicht zu Hause? Und warum beschlich sie jetzt dieses Gefühl eines drohenden Unheils? Janine hielt es im Haus nicht länger aus. Obwohl es längst Essenszeit war, verspürte sie keinen Hunger. Sie nahm sich eine Illustrierte und wollte sich damit auf die Bank vor dem Haus setzen. Vielleicht konnte sie sich damit ablenken. Als Janine die Haustür öffnete, kam in rasantem Tempo ein Auto angefahren und hielt in der Einfahrt. Es war Janines Mutter, die jetzt eilig ausstieg. * „Hallo, Janine“, rief Germaine Debret und lief mit einem Schuld bewussten Lächeln auf ihre Tochter zu. In ihren Händen trug sie unzählige Tüten und Taschen. „Tut mir Leid, dass ich nicht zu Hause war, als du heimkamst.“ Etwas außer Atem stellte sie ihre Einkaufstaschen im Flur ab und umarmte Janine kurz. „Ich war mit Isabell in der Stadt einkaufen. Leider haben wir dabei vergessen, auf die Uhr zu sehen. Aber wir können gleich essen. Ich habe uns gegrillte Hähnchen und verschiedene Salate mitgebracht. Und ganz frisches Baguette. Ja, in der Stadt kann man schon besser und günstiger einkaufen als in unserem kleinen Margaix! Aber Janine, was ist mit dir? Fühlst du dich nicht wohl?“, unterbrach die lebhafte, immer noch attraktive Frau ihren Bericht und strich besorgt über die bleiche Wange ihrer Tochter. Janine war den Tränen nahe. „Nein, Maman, mir geht es heute tatsächlich nicht besonders. Dabei könnte ich nicht einmal sagen, was mir eigentlich fehlt. Ich werde mich gleich nach dem Essen ein wenig hinlegen.“ Wenig später saßen sie in der gemütlichen Essecke und ließen es sich schmecken. Auch Janine langte tüchtig zu, obwohl sie nicht geglaubt hätte, auch nur
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auch schon. „Ich glaube, du hast doch Recht gehabt mit deinem Gewitter, Janine“, bemerkte er und blickte prüfend zum Himmel, an dem jetzt dunkle Wolken aufzogen. „Ich glaube, wir trinken unseren Tee lieber im Wohnzimmer“, schlug Janines Mutter vor. „Kommen Sie, Francois. Gut, dass Sie nicht mit Janine zum See gefahren sind. Sie hätten nicht viel davon gehabt.“ Es wurde eine gemütliche Teestunde. Francois plauderte wie immer liebenswürdig und amüsant. Niemand achtete auf das Gewitter, das sich bald mit voller Gewalt entlud. Doch plötzlich krachte es so fürchterlich, dass alle drei entsetzt in die Höhe fuhren. „Es hat eingeschlagen“, rief Janine schreckensbleich. Im selben Moment schwang die Tür auf. Eisige Luft fuhr ins Wohnzimmer. Das düstere Treppenhaus wurde von einem gespenstischen bläulichen Schein erhellt. In der Küche, deren Tür ebenfalls weit offen stand, fielen Teller und Tassen aus dem Bord und die Stühle wackelten so stark, dass sie umzustürzen drohten. „Um Himmels willen, was ist das?“, rief Germaine Debret fassungslos. „Ein Spuk? Oder ein Erdbeben?“ Sie sprang auf und lief in die Küche. Francois und Janine rannten nach oben, von wo der bläuliche Lichtschein kam. „Wir müssen die Feuerwehr rufen!“, keuchte Janine. „Ich glaube, es brennt!“ Francois murmelte etwas Unverständliches und ließ die Klappe mit der Treppe zum Dachboden herunter. „Bleib unten, Janine!“, befahl er seiner Kollegin. „Geh runter zu deiner Mutter.“ Janine öffnete den Mund, um zu widersprechen, als es noch viel ärger krachte. Und dann ertönte ganz deutlich ein krächzendes Lachen, in das sich noch andere, undefinierbare und schauerliche Töne mischten. Janine und Francois blickten sich entgeistert an. Was sollte das bedeuten? War das Rosenhäuschen plötzlich zu einem Spukhaus geworden?
möchte ich auch einmal erleben. Du musst sehr glücklich gewesen sein, wenn auch leider nur für kurze Zeit.“ Über Germaines immer noch schönes Gesicht flog ein Schatten. „Ja, Kind“, sagte sie leise, „wir waren sehr glücklich, auch wenn wir nicht auf Selkirk Manston Abbey leben durften. Dein Großvater hat uns damals regelrecht davongejagt. Es war hart für deinen Vater, das elterliche Schloss verlassen zu müssen. Aber er hat sich für mich entschieden. Die Selkirks waren eine sehr vornehme Familie, die viel auf Tradition hielt. Für sie war es einfach undenkbar, dass ihr Sohn eine Tänzerin heiratete, noch dazu eine Bürgerliche. Und dann musste es vor unserer Hochzeit auch noch zu seinem tödlichen Unfall kommen ...“ Janine streichelte gedankenverloren die Hand ihrer Mutter. „Trotzdem ist Lord Christopher Selkirk mein Großvater“, meinte sie beinahe trotzig. „Vielleicht werde ich ihn eines Tages beerben.“ Germaine Debret lachte bitter auf. „Das mit Sicherheit nicht! Als du noch ein kleines Mädchen warst, habe ich die weite Reise auf mich genommen, um dem Lord sein Enkelkind vorzustellen. Ich war damals fast mittellos und erhoffte mir Hilfe von ihm. Ich dachte, dein Anblick würde sein Herz erweichen und er würde einlenken. Es hatte anfangs auch den Anschein gehabt, doch dann verlangte dieser Unmensch von mir, dass ich dich im Schloss zurücklassen und wieder dahin zurückkehren sollte, wo ich hergekommen bin. Natürlich unter der Bedingung, dich nie mehr wieder zu sehen. Er hätte es sich sogar eine schöne Stange Geld kosten lassen, aber ...“ Mit tränenerstickter Stimme brach sie ab. Die Erinnerung daran war immer noch sehr schmerzlich. „Maman, bitte weine nicht!“, bat Janine. „Es tut mir Leid, dass ich an dieses Thema gerührt habe. Ich wollte dir nicht wehtun.“ Germaine lächelte schon wieder. „Schon gut, Kind. Ich mache jetzt den Tee. Francois wird sicher bald kommen.“ Kurz darauf erschien der junge Lehrer
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erleichtert. Als sie die Treppe zu ihrem Zimmer hinaufstieg, ahnte sie noch nicht, dass es eine Nacht voll neuer Schrecken werden würde.
Mit einem Schrei hetzte Janine die Treppe hinunter. Unten stand ihre Mutter und schaute ihr mit weit aufgerissenen Augen entgegen. „Was ist da oben los? Hat es eingeschlagen?“, fragte Germaine gepresst. Janine zitterte am ganzen Körper. „Ich ... weiß es nicht, ich weiß es wirklich nicht!“, stammelte sie. „Ich weiß nur, dass es auf dem Dachboden spukt. Oh Maman, es war entsetzlich!“ „Es ist alles in Ordnung, Madame“, sagte kurz darauf Francois in betont forschem Ton. Sein Gesicht war immer noch blass. „Nichts ist in Ordnung!“, rief Janine erregt. „Francois, du hast doch selbst dieses schreckliche Gelächter gehört und die ...“ „Janine, es war nur ein Gewitter“, erwiderte Francois mit Nachdruck. „Da kann man schon mal zwischendurch merkwürdige Geräusche hören. Und dass durch Zugluft die Tür aufgesprungen und das Geschirr vom Bord gefallen ist, ist auch nichts Ungewöhnliches. Das Gewitter verzieht sich bereits wieder.“ „Janine geht es heute nicht gut“, erklärte Madame Debret und legte ihren Arm um die zuckenden Schultern ihrer Tochter. „Ja, ich weiß“, erwiderte Francois. „Ich glaube, sie ist etwas mit den Nerven herunter. Sie sollte einmal richtig ausspannen.“ „Der Meinung bin ich auch“, bekräftigte Germaine Debret. Sie hatten mittlerweile wieder im Wohnzimmer Platz genommen und tranken nach dem ausgestandenen Schrecken einen Cognac. „Ach was, es geht schon wieder“, wehrte Janine ab, deren Wangen langsam wieder Farbe bekamen. „Ich habe heute nur einen ausgesprochen schlechten Tag. Drum seid mir jetzt bitte nicht böse, wenn ich mich nun doch hinlege. Ich fühle mich entsetzlich müde und erschlagen.“ Francois erhob sich sofort. „Schlaf gut, Janine. Und lass mich, bis es dir besser geht, deine Hefte mitkorrigieren, ja?“ „Dafür wäre ich dir wirklich sehr dankbar, Francois“, erwiderte Janine
* Janine stöhnte im Traum und wälzte sich unruhig hin und her. Schließlich erwachte sie und fuhr schweißgebadet in die Höhe. Mit zitternden Händen tastete sie nach der Nachttischlampe. Was war das nur für ein entsetzlicher Traum gewesen? Sie stand auf und trat ans Fenster, um die würzige Nachtluft einzuatmen. Allmählich wurde sie wieder ruhiger. Über den schwarzen Bergkämmen funkelten die Sterne. Plötzlich schob sich eine dunkle Wolke langsam vor den Mond. Gebannt beobachtete Janine, wie sich die Wolkenfetzen zu einer Gestalt formten, die wie mit ausgebreiteten Armen direkt auf Janine zu schwebte. Hastig zog Janine die Vorhänge wieder zu und flüchtete in ihr Bett. Ihr Herz pochte wie wild gegen die Rippen, und sie atmete schwer. Ich muss etwas für meine Nerven tun, dachte sie beklommen. So kann es nicht mehr weitergehen. Sie löschte das Licht und schloss die Augen. Bald darauf fiel sie in einen unruhigen Halbschlaf, aus dem sie jedoch schon bald wieder hochschreckte. Was war das eben gewesen? Hatte da nicht eine krächzende Stimme zu ihr gesprochen? Und wieso war es hier plötzlich so eisig kalt? Janine riss die Augen auf. Sie hatte plötzlich das Gefühl, nicht mehr allein im Zimmer zu sein. Da erblickte sie die dunkle Gestalt, die direkt vor ihrem Bett stand. Das fahle Mondlicht fiel auf ein bleiches, eingefallenes Gesicht. Die Augen konnte sie nicht erkennen, denn sie lagen tief in den dunklen Höhlen. Janine wollte schreien, doch es kam nur ein leises Wimmern über ihre Lippen. Sie
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Augenblick die Schulglocke schrillte und sie in ihr Klassenzimmer gehen konnte. Nur mit größter Mühe gelang es ihr, sich auf den Unterricht zu konzentrieren. Immer wieder irrten ihre Gedanken ab und wanderten zu der unheimlichen Gestalt, die in der Nacht in ihrem Zimmer gewesen war. Erst hatte sie ihrer Mutter beim Frühstück davon erzählen wollen, doch dann hatte sie beschlossen, weder ihr noch Francois etwas zu sagen. Plötzlich wurden die Kinder unruhig und begannen durcheinanderzuschreien. Verwirrt hob Janine den Kopf. Im selben Moment unterdrückte sie einen erschrockenen Aufschrei. Hinter der letzten Bank stand eine dunkle Gestalt, die Janine nur noch allzu gut in Erinnerung war. Jetzt konnte sie erkennen, dass es sich um einen alten Mann handelte. Er hatte einen schwarzen Anzug an, der ihm viel zu groß war und trug einen schwarzen Hut. Sein Gesicht und die Hände waren erschreckend bleich und knochig. „Wer sind Sie?“, rief Janine empört. „Was fällt Ihnen ein ...“ Die weiteren Worte blieben ihr im Hals stecken. Der alte Mann gab noch ein schauerlich krächzendes Lachen von sich und löste sich dann im nächsten Moment in Nichts auf. Janine stand wie erstarrt. Erst als die Schulkinder sich um sie drängten, kam sie wieder zur Besinnung. „Was ist los mit euch?“, fragte sie verstört. „Warum seid ihr nicht auf euren Plätzen?“ „Haben Sie den Mann nicht gesehen, Mademoiselle Debret?“, fragte eines der Kinder aufgeregt. „Er war plötzlich da, und dann war er wieder weg!“ „Wer war das?“, wollte ein anderes Kind wissen. Dann redeten alle durcheinander. „Kennen Sie den Mann, Mademoiselle Debret?“ „Er hat richtig unheimlich ausgesehen, nicht wahr?“ „Ich habe Angst, Mademoiselle!“ Ein kleines Mädchen begann zu weinen. „Darf man wissen, was hier vor sich
spürte, wie ihr Körper förmlich zu Eis erstarrte. Dann beugte sich die Gestalt tief über sie herab. Ein eisiger Moderhauch traf Janine. Vor Grauen schloss sie die Augen, jeden Moment darauf gefasst, dass der unheimliche Eindringling ihr etwas Schreckliches antun würde. Doch nichts dergleichen geschah. „Wer sind Sie? Was wollen Sie von mir?“, brachte sie endlich mühsam hervor, als die Gestalt sich wieder ein Stück von ihrem Bett entfernte. Janine bekam keine Antwort. Mit weit aufgerissenen Augen sah sie zu, wie die unheimliche Gestalt auf die Wand zuging und dahinter verschwand. Janine zitterte wie Espenlaub. Sie begriff, dass sie keineswegs geträumt hatte, sondern dass tatsächlich eine dunkle Gestalt neben ihrem Bett gestanden hatte und dann anschließend durch die Wand gegangen war, als wäre diese gar nicht vorhanden. So etwas konnte es doch gar nicht geben! Verzweifelt versuchte Janine ihre Gedanken zu ordnen, doch plötzlich überfiel sie eine bleierne Müdigkeit, und sie sank in einen tiefen Schlaf. Am nächsten Morgen erschien Janine bleich und übernächtigt in der Schule. Mademoiselle Fleury musterte sie argwöhnisch. „Sie sehen aus wie ein Gespenst, meine Liebe! Was war denn überhaupt gestern bei ihnen los? Zuerst dachte ich, der Blitz hätte bei Ihnen eingeschlagen. Doch als das Gewitter schon längst vorbei war, sah ich hinter Ihren Fenstern im oberen Stockwerk und auf dem Dachboden immer noch bläuliches Licht zucken. Machen Sie irgendwelche Experimente, oder spukt es bei Ihnen?“ Unter dem Blick der hageren Frau, die sie aus schwarzen Vogelaugen durchdringend musterte, wurde Janine noch bleicher. Lassen Sie mich doch in Ruhe!, hätte sie die Schulleiterin am liebsten angeschrien. „Ich habe nichts Ungewöhnliches bemerkt“, behauptete sie stattdessen. Janine war froh, als im selben
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dieser Mann? Was haben Sie sich dabei gedacht, die Kinder derart zu erschrecken?“ Janine straffte ihre Gestalt. „Mademoiselle Fleury, bitte glauben Sie mir“, bat sie. „Ich habe mit der Sache nichts zu tun. Ich weiß nicht, wer der Mann war und wo er hergekommen ist. Es war ... wie ein Gespenst ...“ Mademoiselle Fleurys Gesicht glich einer starren Maske. „Wollen Sie mich auch noch auf den Arm nehmen?“, fragte sie eisig. „Ich werde der Schulbehörde von diesem unglaublichen Vorfall Bericht erstatten. Sie sind bis auf weiteres beurlaubt!“ Verstört fuhr Janine nach Hause. Ihrer besorgten Mutter erklärte sie nur, sie fühle sich immer noch nicht besser und ging gleich zu Bett. Sie wollte ihr nichts von dem Vorfall erzählen, zumindest nicht jetzt.
geht?“, kam plötzlich eine scharfe Stimme von der Tür her. Strafend blickte Mademoiselle Fleury erst auf die Kinder und dann auf die junge Lehrerin. Janine suchte nach Worten. Auch die Kinder waren einen Moment lang vor Schreck ganz still, bis sie wieder alle auf einmal redeten. „Tashi, rede du zuerst, und allein“, befahl die gestrenge Schulleiterin einem kleinen Jungen und brachte die anderen mit einer Handbewegung zum Schweigen. „Ein alter Mann war plötzlich bei uns im Zimmer, hinten bei der letzten Bank!“, verkündete der kleine Tashi aufgeregt. „Er hat ganz unheimlich ausgesehen und dann ist er einfach verschwunden wie ein Geist, der sich unsichtbar macht. War das ein Gespenst, Mademoiselle Fleury?“ Die Schulleiterin warf dem Kind einen vernichtenden Blick zu. „Habt ihr das auch gesehen?“, wollte sie dann von dem Rest der Klasse wissen. Die Antwort war ein einstimmiges „Ja!“ Mademoiselle Fleury wandte sich an Janine. „Und was haben Sie dazu zu sagen?“ „Es ist wahr, was die Kinder sagen“, stammelte Janine. Auch mit größter Mühe konnte sie das Zittern nicht unterdrücken, das ihren Körper befallen hatte. Mademoiselle Fleury sah es, verspürte jedoch offenbar nicht das geringste Mitleid. „Schaffen Sie hier wieder Ruhe und Ordnung!“, befahl sie in hartem Ton. „Nach dem Unterricht kommen Sie in mein Büro! Ich verlange eine Erklärung von Ihnen.“ Mit diesen Worten rauschte die Schulleiterin wieder hinaus. Die Kinder beruhigten sich nur schwer. Janine sehnte das Ende der Schulstunde herbei, auch wenn ihr dann der schwere Gang zu Mademoiselle Fleury bevorstand. „Ich muss mich doch wirklich sehr wundern!“, bellte die Schulleiterin dann auch sogleich los, kaum dass Janine ihr Büro betreten hatte. „Sollte das ein besonderer Gag von Ihnen sein? Wer war
* Germaine Debret erfuhr es auch so. Am Nachmittag schrillte pausenlos das Telefon. Besorgte Eltern wollten wissen, was es mit dem alten Mann auf sich hätte, der plötzlich im Klassenzimmer erschienen war und ihre Kinder in Angst und Schrecken versetzt hatte. Manche waren hell empört, andere eher belustigt, und mehr als einmal wurde die Frage laut, ob es vielleicht spuke oder Janine von einem bösen Geist besessen wäre. Germaine Debret war entsetzt. Was ging hier vor? Ihre Tochter wollte sie nicht wecken. Ob sie mit Isabell darüber reden sollte? Isabell war ihre beste Freundin und musste meistens Rat. Als Germaine aus der Haustür trat, sah sie eine Horde Kinder auf das Rosenhäuschen zuradeln. „Was wollt denn ihr hier?“, fragte sie unwillig. Eine eisige Faust presste ihr plötzlich das Herz zusammen. „Stimmt es, dass es bei Ihnen spukt?“, fragte ein kleiner Knirps neugierig. „Ist der alte Mann wirklich ein Geist?“,
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nichts“, setzte sie bitter hinzu. Janine runzelte leicht die Stirn. „Wie meinst du das, Maman?“ „Willst du mir nicht erst erzählen, was heute in der Schule los war?“, antwortete ihre Mutter mit einer Gegenfrage. „Du kannst davon ausgehen, dass ich schon so ziemlich informiert bin. Etliche Eltern haben heute Nachmittag hier angerufen. Ich will es aber von dir hören.“ Janine war heftig erschrocken. Da ihr nun nichts anderes übrig blieb, begann sie stockend von der Erscheinung, die ihr nun schon zum zweiten Mal begegnet war, zu erzählen. Germaine Debret war entsetzt und ratlos zugleich. „Es fällt mir schwer, wo etwas zu glauben, Janine! Aber es muss wohl stimmen. Was sollen wir nur tun? Sollen wir von hier wegziehen?“ „Wegziehen?“, wiederholte Janine voller Abwehr. „Von unserem geliebten Rosenhäuschen? Aber Maman, wir waren doch immer so glücklich hier!“ Germaine seufzte schwer. „Sicher. Aber was hilft es, wenn wir es hier vielleicht nie wieder sein werden? Du kennst die Leute hier schlecht. Ich wage es mir gar nicht auszudenken, was passiert, wenn dieser ... dieser ... Geist hier nochmals erscheint! Man wird uns das Haus über dem Kopf anzünden, weil die Leute dann denken, du wärst eine Hexe, oder sogar wir beide!“ Janine brach in Tränen aus. Es war aber auch zu schrecklich! Nach einer Weile riss sie sich energisch zusammen. „Es hilft alles nichts, Maman, ich muss noch einmal zur Schule und die Hefte durchsehen. Außerdem will ich noch einiges vorbereiten.“ „In die Schule? Nein, das halte ich für keine gute Idee! Du hast dort vorläufig nichts mehr zu suchen. Mademoiselle Fleury hat dich beurlaubt. Ich denke, sie kann sehr unangenehm werden, wenn man sich ihren Anweisungen widersetzt.“ „Das zweifellos“, gab Janine zu. „Francois vertritt mich. Aber ich kann ihm nicht die ganze Arbeit aufhalsen. Bitte
fragte ein anderes Kind. „Ist das Gespenst bei Ihnen im Haus?“ „Macht, dass ihr fortkommt!“, rief Germaine Debret zornig. „Hier gibt es kein Gespenst!“ Erschrocken fuhr sie herum. Was war das gerade gewesen? Hatte sie hinter sich nicht eben ein höhnisches, krächzendes Gelächter gehört? Verwirrt fuhr sie sich übers Haar. Dann schüttelte sie den Kopf und machte sich auf den Weg zu ihrer Freundin. Flüchtig bemerkte sie noch, dass die Kinder immer noch vor dem Haus standen und einige neugierig um das Haus schlichen. Hoffentlich weckten sie nicht Janine auf! Zu Germaines Enttäuschung war ihre Freundin nicht zu Hause. So beschloss sie, noch einige Besorgungen zu machen, bevor sie wieder nach Hause ging. Kaum hatte sie den Bäckerladen betreten, verstummten alle Gespräche. Mit teils neugierigen, teils misstrauischen Blicken musterten die Kunden Madame Debret. „Was ist? Warum redet ihr nicht weiter?“, fragte Germaine leicht gereizt. „Warum starrt ihr mich so an?“ „Was darf es heute sein, Madame Debret?“, erkundigte die Bäckerin sich beflissen. Sie war liebenswürdig wie immer, doch Germaine glaubte, einen falschen Unterton herauszuhören. „Ich bin doch noch gar nicht an der Reihe?“, wunderte sie sich. Doch dann ging ihr ein Licht auf. Das Gerücht, dass es in Margaix plötzlich spuke und Janine daran anscheinend nicht ganz unschuldig war, hatte schnell die Runde in dem kleinen Bergdörfchen gemacht, in dem manche Bewohner noch schrecklich abergläubisch waren. „Danke!“, erklärte sie frostig. „Mir ist der Appetit auf Ihre Backwaren vergangen.“ Damit verließ sie grußlos den Laden. Bedrückt ging Germaine Debret nach Hause. Janine war schon wieder aufgestanden und goss in der Küche gerade Kaffee auf. „Du solltest doch liegen bleiben“, mahnte die Mutter. „Du versäumst sowieso
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langsam nach unten bewegte. Wer mochte das sein? Ihr sträubten sich förmlich die Haare, als sie sah, wie die Tür einen Spaltbreit geöffnet wurde. Hatte sie denn nicht abgeschlossen? Sie hätte es schwören können! Der Schreckensschrei blieb ihr in der Kehle stecken, als eine bleiche, knöcherne Hand sich langsam durch den Türspalt schob. Gleich darauf stand der alte Mann wieder vor ihr. In dem düsteren Raum, der von zuckenden Blitzen gespenstisch erhellt wurde, kam er ihr noch unheimlicher vor. Lieber Gott, bitte mach, dass das alles nur ein entsetzlicher Traum ist, aus dem ich bald wieder erwachen werde!, flehte Janine inbrünstig. Eine eisige Kälte wehte sie an, als der Alte langsam auf sie zukam. Janine wollte zurückweichen, doch sie war wie gelähmt. Dann griffen eisige Knochenfinger nach ihrer Hand. Von Grauen geschüttelt schloss Janine die Augen. Sie fühlte wie ihr etwas in die Hand gedrückt wurde, dann löschte eine gnädige Ohnmacht ihr Bewusstsein aus.
mach dir keine Gedanken, Maman. Ich bin auch bald wieder zurück.“ Der Weg zur Schule war für Janine ein einziges Spießrutenlaufen. Sie war zu Fuß gegangen, weil sie dachte, dass ihr die frische Luft gut tun würde. Man grüßte sie entweder gar nicht oder nur flüchtig, und sie merkte, wie man hinter ihr hertuschelte. Der Himmel hatte sich bewölkt. Es würde wohl wieder ein Gewitter geben. Dumpf lastete die schwüle Luft auf Janine. Das Kleid klebte ihr am Körper, als sie endlich das Schulhaus erreichte. Es wirkte düster und abweisend auf sie. Trotz der Schwüle fröstelte Janine plötzlich. Am liebsten hätte sie wieder kehrtgemacht und sich in ihrem geliebten Rosenhäuschen verkrochen. Als sie das Klassenzimmer betrat, legte sich ihr ein beklemmendes Gefühl auf die Brust. Im Geist sah sie wieder diesen schwarz gekleideten alten Mann, der mehr einem Toten als einem lebendigen Menschen glich, vor sich. Unwillkürlich blieb Janine stehen und lauschte. Ihr Herz pochte wie wild. Kein Laut drang aus den anderen Räumen. Ihr wäre wohler gewesen, wenn sie nicht ganz allein im Schulhaus gewesen wäre. Aber die anderen waren wohl alle schon nach Hause gegangen. Sie blickte unter die Bänke und sogar in den Schrank. Als sie nichts Beunruhigendes entdecken konnte, schloss sie die Tür ab und ging an ihre Arbeit. Ab und zu entfloh ihr ein schwerer Seufzer. Vielleicht würde sie nie mehr an ihren Arbeitsplatz zurückkehren können! Bedrückt starrte sie zum Fenster hinaus. Dunkle Gewitterwolken verdüsterten den Himmel, und am Horizont zuckten Blitze auf. Ein krachender Donnerschlag ließ sie zusammenfahren. Janine stand auf, um das Licht einzuschalten. Plötzlich klopfte es an die Tür. Erschrocken hielt Janine inne. War doch jemand im Haus? Sie wollte antworten, doch die Kehle war ihr wie zugeschnürt. Dann sah sie, wie der Türgriff sich
* Als Janine wieder zu sich kam und die Augen aufschlug, blickte sie direkt in Francois’ besorgtes Gesicht. Hinter ihm erkannte sie ihre Mutter. „Janine, endlich!“, rief Germaine erleichtert. „Wir haben uns solche Sorgen gemacht.“ „Was ist denn passiert?“, fragte Francois und half ihr beim Aufstehen. „Ich muss ohnmächtig geworden sein“, murmelte Janine verstört. „Du hättest auch nicht mehr hierher gehen sollen“, sagte ihre Mutter vorwurfsvoll. „Wie fühlst du dich jetzt? Eben wollte ich Dr. Gouzon holen.“ „Danke, nicht nötig, Maman. Es geht schon wieder.“ Janine strich sich die Haare aus dem Gesicht. „Was hältst du denn da so krampfhaft umklammert?“, wollte Francois wissen. Janine öffnete die klammen Finger und
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hinter unserem Haus im Garten gesehen.“ „Nein!“ Verstört blickte Janine von ihrer Mutter zu Francois. „Denkst du ... die Leute ... glauben sie, dass ich etwas damit zu tun habe?“ Germaine wich ihrem Blick aus. Dann nickte sie langsam. „Ja. Sie haben es mir unmissverständlich zu verstehen gegeben. Ich glaube, es ist besser, wenn du darauf vorbereitet bist.“ „Herrgott, kann man denn nichts dagegen tun?“, rief Francois aufgebracht und lief im Wohnzimmer auf und ab. „Das sind doch alles Hirngespinste. Schließlich leben wir im zwanzigsten Jahrhundert und nicht mehr im Mittelalter. Es kommt immer wieder vor, dass Kinder verschwinden. Da kann man doch nicht Janine die Schuld geben und sie zur Hexe stempeln!“ Germaine hob die Hände und ließ sie wieder fallen. „Schön und gut, aber machen Sie das mal den Dorfbewohnern klar! Sie sind noch nicht lange hier, Francois. Glauben Sie mir, ich kenne die Leute besser!“ Plötzlich vernahmen sie ein leises Pochen, das vom Dachboden zu kommen schien. „Still!“, rief Germaine und legte einen Finger auf die Lippen. „Habt ihr das auch gehört?“ Die drei lauschten angestrengt, dann blickten sie sich betroffen an. „Das klingt ja wie das Weinen eines Kindes“, flüsterte Janine. Francois war schon an der Treppe, die er mit großen Sprüngen emporstürmte. „Bleib sitzen“, sagte die Mutter zu Janine. „Ich sehe mal nach. Vielleicht ist es der kleine Sylvain. Hoffentlich ist ihm nichts passiert. Es wäre nicht auszudenken.“ Janine dachte im selben Moment das Gleiche. Kurz darauf kam Francois mit dem weinenden Sylvain auf dem Arm die Treppe herunter. „Er hat sich oben auf dem Dachboden versteckt und ist dabei eingeschlafen“, erklärte der junge Lehrer.
starrte fassungslos auf das kleine Stück Papier. „Dann ... dann war er also wirklich wieder hier?“, stammelte sie. „Wer, Janine? Wer war wieder hier?“, fragte Germaine von einer bösen Vorahnung erfüllt. „Der alte Mann, der ... Geist“, flüsterte Janine tonlos. Ihre Mutter und Francois blickten sich betroffen an. „Ich kann es immer noch nicht glauben!“, stöhnte Francois und raufte sich die Haare. Janine erzählte, wie der unheimliche Alte zu ihr ins Zimmer gekommen war. „Und dann hat er mir das hier in die Hand gedrückt“, schloss sie ihren Bericht. „Mehr weiß ich nicht.“ „Lass sehen!“, verlangte ihre Mutter energisch und nahm das mysteriöse Stück Papier an sich. Es war eine Visitenkarte. „Huxley und Barker“, las sie laut vor. „Rechtsanwälte und Notare. Carlisle.“ Plötzlich kam Leben in Janine. „Carlisle, sagtest du, Maman? Liegt dort in der Nähe nicht das Schloss der Selkirks? Was hat das zu bedeuten?“ Die letzten Worte schrie sie beinahe. „Komm, Kind, wir bringen dich erst einmal nach Hause“, versuchte ihre Mutter sie zu beruhigen, doch auch in ihrem Kopf wirbelten die Gedanken durcheinander. War die Visitenkarte tatsächlich auf diesem Weg in Janines Hand gelangt? „Ich will nicht, dass ihr mich wie eine Kranke behandelt“, protestierte Janine wenig später, als sie auf das Sofa im Wohnzimmer gebettet wurde. Germaine überhörte den Einwand ihrer Tochter und schenkte ihr einen Cognac ein. „Hier, trink. Du hast eine kleine Stärkung dringend nötig. Es ist nämlich noch etwas Schreckliches passiert. Ich weiß, jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt, aber du wirst es sowieso bald erfahren. Die Leute rennen uns schon das Haus ein, und die Polizei war auch schon hier. Ein Junge aus deiner Klasse, der kleine Sylvain, ist seit heute Mittag verschwunden. Er wurde zuletzt
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ausgebrochen. „Schreib einfach, du hättest die Karte eines Tages im Briefkasten gefunden und könntest dir keinen Reim darauf machen“, schlug Francois vor. „Oder besser noch: ruf an. Dann musst du nicht lange auf Antwort warten und weißt gleich Bescheid.“ Janine blickte ihre Mutter zögernd an. Sollte sie tatsächlich einfach anrufen? Eine brennende Neugierde erfasste sie plötzlich. Hatten sie nicht erst kürzlich von Selkirk Manston Abbey gesprochen und dem Unrecht, dass ihren Eltern dort widerfahren war? War das etwa ein Wink des Schicksals? „Gut, ich rufe morgen an“, entschied Janine mit fester Stimme.
Janine atmete erleichtert auf. „Ich wollte doch nur das Gespenst sehen“, schluchzte Sylvain. „Die anderen haben gesagt, ich wäre zu feige ...“ „Schon gut“, tröstete Germaine ihn und fuhr ihm durch den Haarschopf. „Wir bringen dich jetzt gleich zu deinen Eltern.“ „Sie werden furchtbar schimpfen“, sagte der Junge kleinlaut. „Es wird schon nicht so schlimm werden“, beruhigte Germaine das Kind. „Sie werden froh sein, dass dir nichts passiert ist. „ Francois und Germaine brachten das Kind rasch nach Hause. Janine lehnte sich erschöpft zurück und schloss die Augen. Dann fiel ihr die Visitenkarte wieder ein. Sie griff danach und betrachtete sie nachdenklich. Was sollte sie nun damit anfangen? Als ihre Mutter und Francois wieder zurückkamen, brachte sie gleich die Sprache darauf. Doch die Mutter bestellte erst einmal Grüße von Sylvains Eltern. „Sie waren froh und haben uns um Verzeihung gebeten. Sie sind nicht so wie die anderen. Sie leben auch erst kurze Zeit hier.“ Janine nickte zerstreut. „Na siehst du“, lachte Francois. „Es wird alles wieder gut.“ Janine schaute ihn kurz an und schüttelte dann den Kopf. „Nein, nichts wird gut, nicht so lange ich nicht weiß, was ich mit dieser Karte anfangen soll! Dieser merkwürdige alte Mann, diese Erscheinung ... es muss da einen Zusammenhang geben.“ „Ach ja, die Visitenkarte!“, fiel es Germaine wieder ein. „Ich hatte sie ganz vergessen. Seltsam, Rechtsanwälte und Notare in Carlisle ... es kann tatsächlich mit Selkirk Manston Abbey zusammenhängen. Du solltest vielleicht einmal hinschreiben und anfragen, ob sie etwas von dir wollen.“ „Was soll ich da schreiben, Maman? Dass ich ihren Namen und Anschrift von einem Gespenst erhalten habe?“ Beinahe wäre Janine in hysterisches Gelächter
* Das Erste, was Janine am nächsten Morgen erledigte, war der Anruf nach Carlisle. Ja, man suche sie schon seit fast einem Jahr, und es ginge um Selkirk Manston Abbey. Genaueres wollte der Herr am Telefon, Mr. Huxley, nicht sagen. Janine sollte so schnell wie möglich nach Carlisle kommen. In seinem Büro würde sie alles weitere erfahren. Benommen legte sie den Hörer zurück. „Begreifst du das, Maman?“, fragte sie ihre Mutter, nachdem sie ihr von dem Gespräch erzählt hatte. Germaine Debret machte ein ungläubiges Gesicht. „Du wirst doch nicht etwa doch von deinem Großvater etwas erben?“, stieß sie aus. Ihre Wangen glühten vor Aufregung. Wollten die Selkirks etwa an Janine wieder gutmachen, was sie einst deren Eltern angetan hatten? „Du musst natürlich hinfahren, Janine!“, drängte sie. „Im Moment kommt diese Reise auch sehr gelegen. Du musst Abstand gewinnen von diesem schrecklichen Spuk.“ „Du meinst, ich soll allein fahren, Maman?“ Etwas beklommen blickte Janine
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Spur von Ihnen oder Ihrer Mutter fand, verfügte Lord Christopher, dass nach einer Frist von einem Jahr, sollten Sie bis dahin nicht gefunden worden sein, das Erbe doch an Benjamin Selkirk fällt. Dieser glaubte nicht daran, dass man Sie jemals finden würde. Gleich nach dem Tod seines Vaters begannen er und seine Frau Gladys mit dem Umbau. Das Hotel ist zwar noch nicht fertig, aber es wohnen schon einige Gäste darin. Das zu Ihrer Information. Werden Sie das Erbe annehmen? Ich muss Sie allerdings darauf aufmerksam machen, dass Sie dann den Hotelbetrieb einstellen müssten. Ihr Großvater war strikt gegen die Anwesenheit Fremder auf Selkirk Manston Abbey.“ Janine war immer noch ganz benommen, als sie später in einem Straßencafe einen Tee trank. Sie ließ sich noch einmal alles durch den Kopf gehen. Nein, sie konnte es einfach nicht glauben! Sie, die kleine Dorfschullehrerin aus der Bretagne, sollte ein riesiges englisches Schloss geerbt haben? Für die Nacht nahm sich Janine ein Hotelzimmer in Carlisle. Am nächsten Morgen wollte sie zum Manston Springs Hotel fahren, wie Selkirk Manston Abbey jetzt hieß. Es sollte ganz malerisch am Solway Firth gelegen sein, von einem herrlichen Park umgeben. Mr. Huxley hatte ihr ein Foto gezeigt, und Janine war schwer beeindruckt gewesen. Dieses prächtige Gebäude sollte jetzt ihr gehören? Sie konnte es einfach nicht fassen! Und was wurde erst ihre Mutter dazu sagen? Würde es sie freuen, wenn sie eines Tages doch noch in dem Schloss leben konnte, aus dem sie damals mit dem Mann ihres Herzens vertrieben worden war?
ihre Mutter an. „Natürlich, Liebes. Ich würde dich zwar gern begleiten, aber ich kann doch unser Häuschen nicht im Stich lassen. Der Garten, unser ganzes Gemüse ...“ „Okay“, seufzte Janine. „Dann fange ich am Besten gleich mit dem Packen an.“ Schon am nächsten Tag fuhr Janine los. Mit Tränen in den Augen verabschiedete Janine sich von ihrer Mutter. „Adieu, Maman. Mach’s gut und lass dich von denen im Dorf nicht unterkriegen.“ „Bestimmt nicht“, versicherte Germaine Debret ihrer Tochter und lächelte sie aufmunternd an. „Pass gut auf dich auf, Janine. Und lass bitte bald von dir hören.“ Janine versprach es. Schweren Herzens setzte sie sich in ihr Auto. Die lange Strecke nach Carlisle wollte sie in etwa drei Tagen bewältigen. Ihre Mutter hatte ihr zwar geraten, mit der Bahn zu fahren, doch Janine wollte unabhängig sein. Sie wollte die Fahrt als Urlaub betrachten. Janine erreichte ihr Ziel erst nach fünf Tagen. In Carlisle suchte sie sofort die Anwaltskanzlei auf Huxley und Barker auf. „Haben Sie alle wichtigen Papiere mitgebracht, Miss Debret?“, fragte Mr. Huxley, ein älterer, freundlicher Herr. Janine bejahte. „Ausgezeichnet“, sagte er zufrieden. „Dann darf ich Ihnen zu Ihrem Erbe gratulieren. Lord Christopher Selkirk, Ihr Großvater, hat Ihnen Selkirk Manston Abbey mit allem toten und lebenden Inventar vermacht. Außerdem hat er Ihnen ein riesiges Barvermögen hinterlassen. Allerdings hat die Sache einen Haken: Lord Christopher hatte noch einen Sohn, Benjamin Selkirk, der Ihr Onkel ist. Ursprünglich sollte dieser alles erben. Als ihrem Großvater jedoch zu Ohren kam, dass sein Sohn nach seinem Tod aus der alten ehrwürdigen Abtei ein Hotel machen wollte, setzte er kurzerhand Sie, Miss Debret, als seine Haupterbin ein. Außerdem hat er bitter bereut, was er Ihren Eltern damals angetan hat. Da man keine
* Nachdem sie in Carlisle noch zu Mittag gegessen hatte, machte Janine sich auf den Weg nach Manston Springs Hotel. Schon nach wenigen Kilometern begann es zu regnen. Bald stiegen auch noch
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nicht, und später hätte sie nicht zu sagen vermocht, warum sie sich für den Feldweg entschieden hatte ... Der Weg sah so aus, als ob er schon lange nicht mehr befahren worden wäre. Teilweise war er völlig von Gras und Heidekraut überwuchert. Im fahlen Dämmerlicht erblickte Janine dunkle Tümpel zwischen den Graspolstern. Das Moor!, durchzuckte es sie erschrocken. Das auch noch! Wäre sie doch nur umgekehrt. Nun fand sie keine Stelle zum Wenden mehr. Zudem wurde es rasch dunkel. Der Weg war schmal, und rechts und links davon glitzerten tückisch die Moortümpel. Panik erfasste Janine. Mit Schaudern dachte sie daran, dass sie mit ihrem Wagen eine Panne haben könnte. Janine biss die Zähne zusammen und fuhr langsam weiter. Wenn sie doch nur wüsste, wie weit es noch bis zum Hotel war! Ihre Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Bangen Herzens lauschte sie auf das Motorengeräusch. Klapperte da nicht etwas? Hörte sie nicht plötzlich schnarrende Nebengeräusche, die sie noch nie in ihrem Auto vernommen hatte? Und fing der Motor jetzt nicht an zu stottern an? Janine brach der kalte Angstschweiß aus. „Alles Einbildung!“, sagte sie dann laut zu sich selbst und erschrak vor ihrer eigenen Stimme. Die Hände um das Lenkrad verkrampft fuhr Janine weiter. Ihre Gedanken wanderten zurück nach Margaix und den seltsamen Vorkommnissen und landeten schließlich bei dem geisterhaften alten Mann. Doch diese Gedanken waren nicht dazu angetan, ihre Stimmung zu heben. Die Dunkelheit senkte sich herab und legte sich wie ein schwarzes Tuch über die einsame Landschaft. Tapfer lenkte Janine das Auto über den holprigen Weg. Wie viele Kilometer hatte sie hier nun schon zurückgelegt? Fünf? Zehn? Oder erst zwei? Plötzlich drehten die Räder durch. Ein eisiger Schreck durchfuhr sie. War sie in
Nebelschwaden vom Meer her auf und Janine war gezwungen, langsamer zu fahren. Jäh kam ihr zum Bewusstsein, dass sie nun schon eine ganze Weile gefahren war, ohne durch eine Ortschaft gekommen oder Menschen auf der Straße begegnet zu sein. Auch schien sie als Einzige diese Straße zu befahren. War sie überhaupt auf dem richtigen Weg? Plötzlich hörte die Asphaltstraße auf und mündete in einen Feldweg. Der Nebel hatte sich etwas gelichtet. Janine erkannte ein paar verfallene Hütten. Das konnte doch unmöglich die Straße zum eleganten Manston Springs Hotel sein! Sie musste sich verfahren haben. Janine stieg aus, um frische Luft zu schnappen und ihre schmerzenden Glieder zu bewegen. Beklommen wurde ihr die tiefe Stille bewusst, die sie umgab. Obwohl hier mehrere Häuser standen, konnte sie keine Menschenseele entdecken. Schaudernd dachte sie daran, dass sie sich in einem der vielen verlassenen Dörfer befand, von denen sich die Leute so schauerliche Dinge erzählten. Bislang war es windstill gewesen. Jetzt aber erhob sich ein kalter Wind, der immer stärker wurde und mit schaurigem Heulen zwischen die alten Häuser fuhr . Janine zog fröstelnd die Schultern hoch. Sie warf noch einen Blick auf die leeren Fensterhöhlen und ging wieder zu ihrem Auto. An diesem schaurigen Ort wollte sie nicht länger bleiben. Irgendwie musste sie die Abzweigung zum Manston Springs Hotel verpasst haben. Sie wollte die Straße zurückfahren und aufpassen, ob es dort nicht doch einen Zufahrtsweg zum Hotel der Selkirks gab. Janine wollte gerade wieder ihr Auto steigen, als ihr Blick auf einen verrotteten Wegweiser fiel. Deutlich konnte sie die Inschrift lesen: Selkirk Manston Abbey. Also war das hier doch der richtige Weg, auch wenn es mit Sicherheit noch eine andere Zufahrt gab. Sollte sie umkehren oder weiterfahren? Ihr behagte beides
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Janine überlegte nicht lange und ging darauf zu. Schon nach wenigen Schritten versank ihr Fuß im Morast. Vor Schreck stieß sie einen lauten Schrei aus. Einen Augenblick lang hatte sie das Gefühl, als greife eine eiskalte Hand nach ihrem Fuß und zöge sie in die Tiefe. Janine befreite ihren Fuß, doch ihr Schuh blieb stecken. Sie bückte sich und wühlte im Morast herum, konnte den Schuh jedoch nicht mehr finden. Ein ekelhafter modriger Geruch stieg ihr in die Nase. Das Glucksen des schwarzen Wassers klang wie ein höhnisches Gekicher. Schaudernd wandte sie sich ab. Nein, sie musste auf dem Weg bleiben, auch wenn das Licht lockte! Janine zog auch den zweiten Schuh aus und warf ihn achtlos zur Seite. Auf Strümpfen ging sie weiter. Wo war jetzt das Licht? Aufmerksam schaute sie sich um. Dann glaubte sie, ihren Augen nicht zu trauen. Wieso war das Licht jetzt rechts von ihr? Es war nicht starr, sondern zuckte und hüpfte auf und ab. Oder spielten ihre Nerven ihr einen Streich? Plötzlich sah sie noch mehr Lichter, die im Halbkreis auf und ab tanzten. Irrlichter! durchzuckte es Janine in eisigem Schrecken. Ihr fielen Sagen und Legenden der Bretagne wieder ein. Irrlichter über dem Moor, die die Menschen in eine tödliche Falle lockten ... Moorgeister! Der Moorsee mit dem Eingang zur Unterwelt! Grauen überfiel Janine. Wie gehetzt blickte sie sich um. Sollte sie wieder zurück zu ihrem Auto laufen? Wo war die Rettung? Noch nie in ihrem Leben hatte sie sich so hilflos und verlassen gefühlt. Jäh durchzuckte sie der Gedanke, dass sie vielleicht hier in dieser Einsamkeit sterben könnte. Janine schluchzte hysterisch auf. Das konnte doch alles nicht wahr sein! Erlebte sie einen Albtraum? Plötzlich hörte sie hinter sich Motorengeräusch. Janine fuhr herum und erblickte zu ihrer grenzenlosen
den Morast geraten? Sie versuchte es mit dem Rückwärtsgang. Vergeblich. Die Reifen griffen nicht. Der Wagen saß fest. Angst presste Janine das Herz zusammen. Mit weichen Beinen stieg sie aus. Das eine Vorderrad steckte tief in einer Mulde, die mit Wasser gefüllt war. Oh nein! Wie sollte sie da jemals ohne Hilfe wieder herauskommen? Janine nahm all ihre Kraft zusammen und stemmte sich gegen das Auto. Aber sie konnte es keinen Zentimeter bewegen. Erschöpft gab sie auf. Was sollte sie tun? Im Wagen übernachten und warten, bis Hilfe kam? Aber würde hier überhaupt jemals ein Mensch vorbeikommen? Tränen der Angst liefen Janine über das Gesicht. Warum war sie nur so unvernünftig gewesen? Hätte sie doch nach der richtigen Straße gesucht! Dann läge sie jetzt längst in einem bequemen Bett oder würde mit anderen Hotelgästen zu Abend essen. Plötzlich entdeckte sie in der Ferne einen winzigen Lichtschein. Janine riss die Augen auf. Ein Stern? Nein, der Himmel war bedeckt. Gehörte das Licht etwa zu Manston Springs Hotel? Auf jeden Fall musste dort vorne ein Haus sein. Und wo ein Haus und Licht war, da mussten auch Menschen sein. Weit konnte es nicht sein. Janine beschloss, zu Fuß dorthin zu gehen. Zum Glück hatte sie eine Taschenlampe dabei. Totenstille umgab Janine. Tapfer versuchte sie, ihre Furcht zu unterdrücken und ging mit weit ausholenden Schritten auf das Licht zu. Als sie schon eine ganze Weile so gelaufen war, musste sie jedoch feststellen, dass sich das Licht immer mehr entfernte. Verwirrt blieb sie stehen und blickte sich um. Plötzlich sah sie unweit von sich einen zweiten Lichtschein. Oder war es der gleiche? Doch nein, das andere Licht war dort drüben, ziemlich weit entfernt. Janine kniff die Augen zusammen. Das kleine Licht war jetzt so nah, dass sie die Umrisse eines Hauses hätte erkennen müssen. Aber da war nur das Licht.
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selben Moment. „Verzeihung, ich ... ich dachte nur, weil Sie ... weil Sie doch auf dem Beifahrersitz sitzen“, stammelte der Livrierte. Janine stieg aus und schloss die Wagentür. „Das ist meine Sache“, erwiderte sie kurz. In ihrem Kopf überschlugen sich die Gedanken. Was war nun wirklich geschehen? „Haben Sie ein Zimmer bestellt?“ Sie verneinte. „Ich hoffe aber, dass Sie noch eins frei haben.“ Der Diener nickte würdevoll und ergriff ihr Gepäck. „Sie haben Glück, Miss ... darf ich Ihren Namen wissen?“ „Ich bin Janine Debret. Ich komme aus Frankreich.“ Nein, mehr wollte sie vorläufig nicht sagen. Sie wollte sich als Hotelgast erst einmal ein genaues Bild von den Verhältnissen machen. „Sie sprechen aber sehr gut Englisch“, stellte der Diener fest. Janine gab keine Antwort. Staunend betrachtete sie die imposante Fassade des prächtigen Bauwerks, die von Scheinwerfern angestrahlt wurde. Als sie die breite Freitreppe hinaufgingen. drehte sich der Butler zu ihr um. „Übrigens, mein Name ist Julian. Herzlich willkommen im Manston Springs Hotel, Miss Debret. Es wird Ihnen hier sicher gefallen. Lord Selkirk und seine Frau sind bemüht, ihren Gästen etwas Besonderes zu bieten. Nur gibt es hier leider kein Schlossgespenst“, fügte er mit einem Anflug von Humor hinzu. Janine zuckte leicht zusammen. Plötzlich erinnerte sie sich wieder daran, dass sie sich verfahren hatte, dass ihr Auto im Schlamm stecken geblieben war und sie von diesem schrecklichen alten Mann, der mehr einem Geist glich, in ihr eigenes Auto gezerrt worden war. War er es gewesen, der sie hierher gebracht hatte? „Aber Miss Debret, wo haben Sie denn Ihre Schuhe?“ Ein befremdeter Blick traf ihre schlammverkrusteten Beine. Janine errötete. Die Situation war ihr
Erleichterung die Scheinwerfer eines Autos. Doch dann fragte sie sich, wie denn das Fahrzeug an ihrem stecken gebliebenen Wagen hatte vorbeigelangen können, wo er doch von Morast und Tümpeln umgeben war. Spielte ihr die Einbildung schon wieder einen Streich? Doch das Auto kam näher. Heftig winkend lief Janine ihm entgegen. Kein Zweifel, dieses Auto war Wirklichkeit und keine Täuschung ... Aber nein, das war doch ihr eigenes Auto! Sie erkannte es auch am Nummernschild. Wie war das möglich? Das Fahrzeug hielt neben ihr. Janine riss die Beifahrertür auf. Statt der Frage, die ihr auf den Lippen brannte, stieß sie einen angstvollen, fassungslosen Schrei aus. Am Steuer ihres Wagens saß der alte Mann, der sie schon in Margaix in Angst und Schrecken versetzt hatte! Janine wollte fliehen. Doch da griffen schon bleiche, magere Knochenfinger nach ihr und zerrten sie auf dem Sitz. Dann verlor sie das Bewusstsein. * Janine kam wieder zu sich, weil jemand auf sie einredete. „Ist Ihnen nicht gut, Miss?“, hörte sie eine schnarrende Stimme. „Wo ist der Fahrer dieses Wagens?“ Verwirrt hob Janine den Kopf. Was war geschehen? „Wo bin ich?“, stammelte sie. „Sie stehen vor dem Portal des Manston Springs Hotel“, schnarrte die Stimme weiter. Janine fuhr sich über die Augen. Dann erblickte sie ein dünnes Männchen mit vornehm gewölbter Brust, über die sich eine altertümliche Livree spannte. „Wo ist Ihr Begleiter, Miss? Der Parkplatz liegt dort hinten“, sagte der Diener ungeduldig. Janine starrte ihn an. „Ich habe keinen Begleiter“, erklärte sie schließlich. „Ich bin allein mit meinem Wagen gekommen.“ War sie das wirklich?, fragte sie sich im
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Der Speisesaal war sehr stilvoll eingerichtet. Etwa zwanzig Tische standen hier, umgeben von altmodischen, hochlehnigen Stühlen. An den Wänden hingen düstere Ölgemälde, Waffen und Wandteppiche. Auch eine Ritterrüstung stand in der Ecke. Mildes Kerzenlicht verbreitete einen warmen Schein. Beeindruckt ließ Janine ihre Blicke umherschweifen. Dann bemerkte sie den jungen Mann, der allein an einem der Tische saß. Er hatte ein Glas Wein vor sich stehen und schickte ein Lächeln zu ihr herüber. Janine erwiderte sein Lächeln. „Ihr Essen kommt gleich, Miss Debret“, hörte sie die Stimme des Butlers hinter sich. „Darf ich Sie an den Tisch von Mister Bradford führen? Sie sind dann beide nicht so allein in dem riesigen Speisesaal.“ Janine stimmte zu und ließ sich mit dem jungen Mann bekannt machen. „Sie kommen aus Frankreich?“, erkundigte Lawrence Bradford sich, nachdem er Janine galant den Stuhl zurechtgerückt hatte. „Ja, aus der Bretagne.“ Gut, dass ich mich schnell umgezogen habe, dachte sie bei sich. Sie wusste, dass sie in dem rosefarbenen Kleid mit den weiten bauschigen Ärmeln nicht nur sehr attraktiv aussah, sie passte damit auch hervorragend in dieses Ambiente. Lawrence Bradford begann eine allgemeine Plauderei. Er war ein junger Kinderarzt aus Liverpool, charmant und gut aussehend. Seine graublauen Augen strahlten Janine bewundernd an. Auch Janine gefiel Lawrence Bradford ausnehmend gut. Wie wohl es tat, nach dieser schrecklichen Fahrt mit einem sympathischen Menschen in einer behaglichen Atmosphäre zu plaudern! Obwohl es schon reichlich spät war, hoffte Janine, dass Lawrence Bradford sie noch zu einem Glas Wein einladen würde. Sie hoffte nicht vergebens. „Sie werden sicher müde sein von der langen Reise, aber darf ich Sie trotzdem fragen, ob Sie noch ein Glas Wein mit mir
peinlich. „Ach richtig ...“, sagte sie hastig, öffnete ihre Reisetasche und nahm ein Paar Schuhe heraus, in die sie schnell hineinschlüpfte. Julian musterte sie schweigend. Eine sehr seltsame junge Frau, dachte er bei sich. Kommt bei Nacht und Nebel in das Hotel, ohne ein Zimmer bestellt zu haben, behauptet, selbst gefahren zu sein, ohne auf dem Fahrersitz gesessen zu haben und läuft anscheinend nur mit Strümpfen herum. Außerdem kam sie ihm reichlich verstört vor. „Ich bringe Sie jetzt erst einmal auf Ihr Zimmer“, teilte der Butler Janine mit. „Dann stelle ich Ihren Wagen auf dem Parkplatz ab. Es ist zwar schon sehr spät, aber wenn Sie hungrig sind, werde ich in der Küche nachfragen, ob man Ihnen noch eine Kleinigkeit richtet.“ „Vielen Dank, Julian, das ist sehr nett von Ihnen.“ Das Zimmer übertraf ihre kühnsten Erwartungen. Es war ein Erkerzimmer, in dessen Alkoven ein riesiges Himmelbett stand. Der Raum war ganz in Blau und Gold gehalten. Auf dem Sims des Marmorkamins standen wundervolle Figuren und Gefäße. Sie sind bestimmt sehr wertvoll, überlegte Janine. Hat Lord Selkirk keine Angst, dass seine Gäste das eine oder andere mitgehen lassen? In der Nische stand ein kleiner runder Tisch mit zwei samtbezogenen Stühlen. Daneben war eine Tapetentür, die in ein prunkvolles Badezimmer führte. Die türkisfarbene Badewanne war nierenförmig und in den Boden eingelassen. Ein paar Stufen führten hinab. Janine hatte noch nie so gewohnt. Ich muss die Erbschaft auf jeden Fall annehmen, dachte sie. Ich könnte dieses Zimmer sonst niemals bezahlen. Der Butler kam noch einmal und erklärte, dass sie noch eine Suppe und ein Sandwich bekommen könnte. Da Janine sehr hungrig war, bedankte sie sich erfreut und ging gleich hinunter .
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„Oh, ja“, erwiderte Janine spontan. „Ich liebe Blumen und Pflanzen.“ Lawrence Bradford brachte sie noch bis zu ihrer Zimmertür, wo er sich mit einem warmen Lächeln von ihr verabschiedete. Janine lag noch lange wach. Die Erinnerung an ihre schrecklichen Erlebnisse überfiel sie wieder mit aller Macht und quälte und peinigte sie aufs Neue. Endlich fiel sie in einen unruhigen Schlaf, aus dem sie erst spät am nächsten Morgen erwachte.
trinken?“, bat er und lächelte sie dabei gewinnend an. Erfreut stimmte Janine zu. „Werden Sie länger bleiben, Miss Debret?“, erkundigte Lawrence Bradford sich, nachdem der Wein serviert worden war. „Das weiß ich noch nicht“, erwiderte sie, während sie den Stiel ihres Weinglases zwischen den Fingern drehte. Am liebsten hätte sie ihm die ganze verworrene Geschichte erzählt. Es hätte ihr gut getan, sich auszusprechen. Doch sie hielt sich zurück. Sie scheute sich, gleich in der ersten Stunde ihres Kennenlernens diesem Mann eine derart haarsträubende Geschichte aufzutischen. „Es ist nicht gerade billig hier“, bemerkte der junge Kinderarzt. „Aber ich muss gestehen, dass ich so versnobt bin, dass ich noch zwei Wochen bleiben werde. Ich finde es herrlich, mich in den gräflichen Betten zu räkeln und in einem Rittersaal zu speisen. Alte Schlösser hatten mich schon als kleiner Junge fasziniert.“ „Oh, das kann ich gut verstehen“, meinte Janine. „Mir ging es ähnlich. Bei uns in Frankreich gibt es auch Schlösser, die in ein Hotel verwandelt wurden. Leider fehlten mir bislang die Mittel, um einmal darin zu wohnen.“ Sie unterhielten sich noch eine Weile, dann konnte Janine ein Gähnen nicht mehr unterdrücken. „Verzeihen Sie, Mister Bradford, aber ich bin auf einmal todmüde und gehe wohl besser schnellstens zu Bett“, entschuldigte sie sich. Lawrence Bradford erhob sich ebenfalls. „Ich muss mich entschuldigen, dass ich Sie so lange aufgehalten habe, Miss Debret. Aber es war sehr nett, mit Ihnen zu plaudern. Darf ich Sie morgen herumführen und Ihnen das Schloss und die Anlagen zeigen? Zu bestimmten Zeiten werden die Räume für Gäste und Ausflügler geöffnet. Es ist wirklich interessant. Es gibt auch Prospekte und historische Schriften. Vielleicht interessiert Sie auch der botanische Garten?“
* Janine zog die schweren Samtvorhänge zurück und öffnete das Fenster. Hell flutete das Sonnenlicht ins Zimmer. Ein wunderschönes Bild bot sich ihr. Es war ein herrlicher Tag, mit einem Himmel fast so blau wie an der Riviera. Vor ihr lag das Meer. Sanft plätscherten die Wellen in der sandigen Bucht, in der ein paar Tretboote mit rotweiß gestreiften Markisen schaukelten. Sie waren offenbar für die Gäste des Hotels gedacht. Janine konnte es immer noch nicht glauben, dass das nun ihre Heimat werden sollte. Doch wenn sie an die Schwierigkeiten dachte, die zweifellos auf sie zukommen würden, wenn sie ihr Erbe beanspruchte, dann war sie fast geneigt, hier nur einige schöne Tage zu verbringen und dann wieder in die Bretagne zurückzukehren. Lord Selkirk und seine Familie hatten sicher viel Zeit und Mühe in dieses Unternehmen gesteckt. Konnte sie ihnen so ohne weiteres dieses Schloss wegnehmen? Außerdem hatte Lord Selkirk noch einen Sohn, der zusammen mit seiner Frau ebenfalls an dem Hotelprojekt mitarbeitete, wie sie von Notar Huxley erfahren hatte. Janine wurde das Herz schwer. Sie wusste nicht, wie und ob sie sich durchsetzen sollte. Sie fühlte sich wie ein Eindringling hier. Hatte sie überhaupt das Recht dazu, den beiden Familien ihr Lebenswerk wegzunehmen? Wenn sie nur ein kleines Häuschen geerbt hätte, dann
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„Guten Morgen, Miss Debret“, grüßte er freundlich. „Ich dachte schon, Sie hätten bei diesem herrlichen Wetter das Haus bereits verlassen.“ „Nein“, lachte Janine, „ich bin ja eben erst aufgewacht. Jetzt will ich sehen, ob ich wenigstens noch eine Tasse Kaffee bekommen kann.“ „Haben Sie denn überhaupt schon etwas gegessen?“, erkundigte sich der junge Arzt. „Nein, das nicht“, erwiderte Janine. „Aber für ein Frühstück bin ich wohl ein bisschen zu spät dran.“ „Das spielt doch keine Rolle“, entgegnete Lawrence Bradford. „Sie können hier bestellen, was und wann immer sie wollen. Schließlich müssen Sie teuer dafür bezahlen. Darf ich Ihnen Gesellschaft leisten?“ Janine nickte erfreut. Dann gingen sie hinüber in das kleine Jagdzimmer, wo das Frühstück und kleine Imbisse zwischendurch serviert wurden. Sie waren nicht allein. Ein Herr mittleren Alters saß an einem der hübsch dekorierten Tische und las in einer Zeitung. Lawrence Bradford nickte ihm zu. „Monsieur Riviere, darf ich Ihnen eine Landsmännin von Ihnen vorstellen? Das ist Mademoiselle Debret. Sie kommt aus der Bretagne, wie sie mir schon verraten hat.“ Monsieur Riviere erhob sich und begrüßte Janine etwas überschwänglich. Sie wechselten ein paar französische Worte miteinander, dann bat er sie und Lawrence, an seinem Tisch Platz zu nehmen. Lawrence Bradford wäre zwar lieber mit Janine allein gewesen und die junge Frau dachte das Gleiche, doch beide wollten nicht unhöflich sein. Janine bekam ein fürstliches Frühstück serviert, bei dessen Anblick ihr das Wasser im Mund zusammenlief. „Das war eben Corny, eines der Dienstmädchen“, bemerkte Monsieur Riviere. „Ein hübsches Ding, nicht wahr?“ Er zwinkerte Lawrence Bradford zu und blickte der kleinen Serviererin, die sich mit einem aufreizenden Hüftenschwenken entfernte, anzüglich nach.
hätte sie keinen Augenblick gezögert. Aber dieses riesige, traditionsreiche Schloss, das seit ewigen Generationen den Selkirks gehörte? Doch dann dachte Janine an ihre Mutter und an das Leid, das ihr hier einmal zugefügt worden war. Auch ihr Vater wäre vielleicht noch am Leben, wenn ihn seine Familie nicht aus dem Schloss gejagt hätte. Sie selbst wäre hier aufgewachsen, und ihr Leben hätte sich ganz anders gestaltet. Wie viel Not und Entbehrungen hatte ihre Mutter erleben müssen! War es da nicht recht und billig, wenn sie nun ihren Lebensabend hier verbringen durfte? Dann fiel Janine auch wieder ein, was Notar Huxley über ihren Großvater erzählt hatte. Er hatte auf keinen Fall gewollt, dass aus der alten Abtei ein Hotel wurde. Deshalb hatte er sie zu seiner Erbin eingesetzt. Janine seufzte. Sie würde sich wohl doch an das Testament halten müssen, auch wenn man ihr noch so viele Steine in den Weg legte. Rasch zog sie sich an. Sie wählte einen bunt gestickten langen Rock mit Bolero und weißer Bluse. Dann schlüpfte sie in dazu passende bequeme Stiefelchen. Als sie sich im Spiegel musterte, gestand sie sich ein, dass sie sich nur für Lawrence Bradford so hübsch gemacht hatte. Der junge Kinderarzt hatte einen tiefen Eindruck auf sie gemacht. Unwillkürlich verglich sie ihn mit Francois. Sicher, Francois sah ebenfalls gut aus, war sehr nett und sie mochte ihn. Doch mit Lawrence war es etwas anderes. Er übte einen besonderen Reiz auf sie aus mit seiner faszinierenden Männlichkeit. Bei dem Gedanken an ihn schlug Janines Herz schneller. Sie beeilte sich, nach unten zu kommen, um wenigstens noch eine Tasse Kaffee zu bekommen. Allerdings ging es ihr weniger um den Kaffee als darum, Lawrence Bradford zu begegnen. Da kam er ihr auch schon auf der breiten velourbelegten Treppe, die in die Empfangshalle führte, entgegen. Bei ihrem Anblick erschien ein strahlendes Lächeln auf seinem Gesicht.
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Rundgang. Janine kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Sie war einfach überwältigt von dem großzügig angelegten Bauwerk, den herrlich ausgestatteten Räumen und den wertvollen Kunstsammlungen. Das Schloss umgab ein gepflegter Park mit Wassergarten und verwitterten Steinbänken. Es gab einen weitläufigen Golfplatz, einen Tennisplatz und einen Kinderspielplatz. In der kleinen Bucht tummelten sich einige Badegäste. „Hier lässt es sich aushalten“, meinte Janine mit einem begeisterten Seufzer. Im Moment fühlte sie sich nur als Touristin, die durch Zufall dieses Paradies entdeckt hatte. Mit keinem Gedanken dachte sie daran, dass sie die Erbin dieses herrlichen Fleckchens Erde war. Lawrence blickte sie von der Seite her aufmerksam an. Wie begeisterungsfähig sie ist, dachte er gerührt, als er in ihre strahlenden Augen sah. Er zeigte ihr auch noch die Ställe. „Jeder, der Lust hat, die Gegend auf einem Pferderücken zu erkunden, kann sich hier ein Pferd ausleihen. Das ist im Pensionspreis mit inbegriffen“, erklärte er. „Hätten Sie nicht mal Lust, mit mir auszureiten?“ Janine konnte sich das zwar sehr nett vorstellen, aber sie hatte noch nie auf einem Pferd gesessen. „Ich kann leider nicht reiten“, bedauerte sie. „Das macht nichts. Wenn Sie wollen, bringe ich es Ihnen gern bei. Es ist wirklich nicht so schwer, wie sie vielleicht denken. Haben Sie Jeans dabei? Reitstiefel kann man im Hotel leihen.“ Janine versprach, es auf jeden Fall auszuprobieren.
Janine widmete sich wieder ihrem Frühstück. Dieser Franzose war ihr denkbar unsympathisch. Er hatte schwarzes öliges Haar, olivenfarbene Haut und verlebte Gesichtszüge, einer dieser Männer, die aalglatt und schwer zu durchschauen waren. „Haben Sie sich für heute schon etwas vorgenommen, Mademoiselle Debret?“, fragte Monsieur Riviere. In seinen schwarzen Augen war ein begehrliches Funkeln. „Ich bin mit Mister Bradford verabredet“, erklärte Janine abweisend. Im gleichen Augenblick huschte ihr eine leichte Röte übers Gesicht. Ob Lawrence sich überhaupt noch daran erinnerte, was er ihr gestern Abend vorgeschlagen hatte? „Das ist aber schade“, bedauerte Monsieur Riviere. „Aber Sie werden mir sicher auch einmal die Freude machen, mich auf einem Spaziergang zu begleiten. Ich kann Ihnen einige sehr hübsche Plätze zeigen. Als Kunstmaler habe ich einen besonderen Blick dafür.“ Janine bemerkte nicht den lauernden Blick, den der Franzose ihr zuwarf. „Oh, Sie sind wirklich Kunstmaler?“, fragte sie interessiert. „Haben Sie hier schon Bilder gemalt?“ „Aber sicher“, erwiderte Monsieur Riviere. „Es würde mich sehr freuen, wenn ich sie Ihnen bei Gelegenheit einmal zeigen dürfte.“ Mit diesen Worten erhob er sich und wünschte Janine und ihrem Begleiter einen schönen Tag. „Ein unangenehmer Mensch“, stellte Lawrence Bradford fest. „Ich kann ihn nicht ausstehen.“ „Mir ist er auch nicht sympathisch“, stimmte Janine zu. „Aber Künstler sind oft seltsame Menschen. „ „Künstler?“ Lawrence lachte geringschätzig. „Sie müssten seine Bilder einmal sehen!“ „Warum? Sind sie nicht gut?“ „Bilden Sie sich selbst ein Urteil, dann werden Sie schon sehen“, erwiderte er nur. Wenig später befanden sie sich auf ihrem
* Zum Mittagessen gingen sie wieder in das Hotel zurück. An der Rezeption stand eine gepflegte junge Dame, die Janine mit einem verbindlichen Lächeln begrüßte. „Ich hörte, wir haben einen neuen Gast? Herzlich willkommen im Manston Springs Hotel. Ich bin Gladys Selkirk, die
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Etwas abseits saß Monsieur Riviere und sprach mit lebhaften Gesten auf eine rothaarige Schönheit ein, die ihm gegenübersaß. „Das ist Carol Donegan“, flüsterte Lawrence Janine zu. „Sie kommt aus den Staaten. Ihr Vater ist steinreich. Filmproduzent.“ Das Essen war ausgezeichnet. Janine hatte alle trüben Gedanken vergessen und freute sich bereits auf den Nachmittag, den sie ebenfalls mit Lawrence Bradford verbringen würde. Da es ziemlich heiß war, beschlossen sie, zum Schwimmen zu gehen. Doch bald schon zogen dunkle Wolken auf. In der Ferne hörte man Donnergrollen, und nacheinander verließen die Badegäste den Strand. Auch Janine und Lawrence liefen, in Bademäntel gehüllt, auf das Schlossportal zu. Sie hatten es noch nicht ganz erreicht, als der Himmel seine Schleusen öffnete und ein wahrer Wolkenbruch sich über die beiden ergoss. Atemlos und bis auf die Haut durchnässt erreichten sie das schützende Portal. „Puh“, machte Lawrence Bradford und schüttelte sich wie ein nasser Hund, „das war knapp.“ Janine löste ihre Hand, die Lawrence während des Laufens ergriffen hatte. „Ich werde mich rasch umziehen“, meinte sie. „Wollen wir uns später zum Tee treffen? Es gibt hier auch einen gemütlichen Aufenthaltsraum mit Fernseher, Stereoanlage und Gesellschaftsspielen.“ „Gut, bis gleich dann.“ Eilig verschwand Janine in ihrem Zimmer. Sie zog lange Hosen und einen Pullover über und ging dann wieder nach unten. Sie war eher fertig geworden als Lawrence. Als sie sich jetzt suchend nach ihm umblickte, kam ein jüngerer, etwas steif wirkender Mann auf sie zu. Er trug einen unauffälligen grauen Anzug. Seine Gesichtszüge waren streng und aristokratisch. Ein hochmütiger Ausdruck stand in seinen Augen, als er Janine
Schwiegertochter von Lord Selkirk. Würden Sie so freundlich sein und sich ins Gästebuch eintragen?“ Janine wurde es etwas unbehaglich zumute. Wenn man nun ihren Namen bereits kannte? Wie viel hatte Notar Huxley schon verlauten lassen? Konnte man sich noch an den Namen ihrer Mutter erinnern? Aber sie konnte sich schlecht unter falschem Namen eintragen. „Das ist Mademoiselle Debret aus Frankreich“, stellte Lawrence Bradford die junge Frau vor. Ihm war ihr Zögern nicht entgangen. Ob sie etwas zu verbergen hatte? Erleichtert stellte Janine fest, dass sich keine Miene in dem aparten Gesicht der dunkelhaarigen Frau verzogen hatte. „Dann haben Sie eine weite Reise hinter sich“, sagte sie in liebenswürdigem Ton. „Haben Sie Bekannte oder Verwandte hier?“ „Ich hatte in Carlisle eine Familienangelegenheit zu erledigen“, erwiderte Janine wahrheitsgemäß. Nachdem sie sich eingetragen hatte, ging sie mit Lawrence in den Speisesaal hinüber. Hier lernte sie auch die übrigen Hotelgäste kennen. „Oh, sieh da, ein neues Gesicht“, rief eine ältere, weiß gelockte Dame, die allein an einem Tisch saß. Lebhaft winkte sie mit ihrer ringgeschmückten Hand. „Kommen Sie, lieber Larry, stellen Sie mir Ihre Begleiterin vor.“ „Das ist Mrs. Fruitvale“, raunte Lawrence Janine zu. „Sie ist etwas schrullig, aber abgesehen davon ganz reizend.“ Er machte die beiden Damen miteinander bekannt und steuerte dann mit Janine auf einen kleinen Tisch für zwei Personen zu. Das Ehepaar am Nebentisch stellte sich als Mr. und Mrs. Mayfield mit ihrer Tochter Rhonda vor. Janine erfuhr, dass sie aus Leeds waren und der Mann Lehrer für Kunstgeschichte war. „Eine wahre Fundgrube für mich, dieses Schloss“, bemerkte Mr. Mayfield und blickte Janine aus seinen dicken Brillengläsern selbstgefällig an.
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Fürsorglich gestützt von Lawrence Bradford erreichte Janine ihr Zimmer. Auf dem Flur begegnete ihnen Gladys Selkirk, hochelegant gekleidet und jeder Zoll eine Lady. Nach außen hin lächelte sie, doch Janine glaubte, auch einen kalten, spöttischen Ausdruck in ihren Augen zu bemerken. Dankbar ließ sie sich von Lawrence in einen Sessel drücken. „Wollen Sie mir nicht erzählen, was Sie so aus der Fassung gebracht hat?“, fragte er leise und nahm ihre kalten, zitternden Hände in die seinen. Janine nickte. Es drängte sie, ihm alles zu erzählen. Zu Lawrence Bradford hatte sie Vertrauen. „Ich bin in einer sehr schwierigen Situation“, begann sie. „Ich bin ein unehelich geborenes Kind. Mein Vater war Lord William Selkirk. Der kürzlich verstorbene Lord Christopher Selkirk war mein Großvater. Er hat mir dieses riesige Schloss vererbt.“ Janine kamen wieder die Tränen. „Sie sind die Erbin des Manston Springs Hotels?“ Perplex schüttelte Lawrence den Kopf. Die Geschichte war zu fantastisch! „Ich weiß, es fällt Ihnen schwer, mir das zu glauben“, antwortete Janine. „Aber es ist wirklich so. Sie können es an diesen Papieren hier sehen.“ Sie breitete ein paar Dokumente vor ihm aus. Lawrence Bradford warf nur einen flüchtigen Blick darauf, weil es ihm irgendwie widerstrebte. Doch was er sah, genügte ihm schon. „Donnerwetter!“, entfuhr es ihm. „Bisher dachte ich immer, so etwas gäbe es nur in Romanen.“ Janine lächelte etwas verzerrt. „Nun weiß ich nicht, was ich tun soll. Ich glaube, ich lasse alles wie es ist und fahre wieder nach Frankreich zurück. Ich habe weder Kraft noch Nerven, um mich gegen die Familie Selkirk zu behaupten.“ Janine erzählte noch ausführlich von dem Testament ihres Großvaters, von ihrer Mutter und von ihrem bescheidenen Leben in der Bretagne, allerdings ohne die
herausfordernd ansah. „Gestatten Sie, dass ich mich vorstelle? Ich bin Robert Selkirk, der Sohn des alten Lord. Bin ich richtig darüber informiert, dass Sie Janine Debret heißen und aus Frankreich zu uns gekommen sind?“ Janine erschrak bis ins Herz hinein. Hatte man ihr Spiel bereits durchschaut? Am liebsten wäre sie im Boden versunken. Nur mit äußerster Anstrengung konnte sie ihre Erregung verbergen. „Ganz richtig, Lord Selkirk“, erwiderte sie so beherrscht wie möglich. Sollte sie sich ihm jetzt zu erkennen geben, hier zwischen Tür und Angel? Einerseits konnte sie sich auch unmöglich wie ein Hotelgast benehmen. Zum Glück wurde ihr die Entscheidung abgenommen. Lawrence Bradford trat zu ihnen. „Oh, Lord Selkirk, guten Tag. Hallo, Janine! Sie sind ja vor mir fertig geworden, alle Achtung. Was wollen wir jetzt beginnen?“ Janine wäre ihm am liebsten um den Hals gefallen, dass er diese peinliche Begegnung unterbrach. „Wir sprechen uns dann später noch“, sagte Lord Robert barsch. Es klang wie ein Befehl. Mit einem kühlen Gruß ging er davon. Lawrence Bradford blickte verwundert auf Janine, die auf den nächsten Stuhl gesunken war. „Was ist passiert?“, fragte er beunruhigt und legte seine Hand auf ihre Schulter. „Was ist mit der jungen Miss, fühlt sie sich nicht wohl?“, fragte auch Mrs. Fruitvale und kam näher. Lawrence warf ihr einen unwilligen Blick zu und bedeutete ihr mit einer Geste, ihn mit Janine allein zu lassen. Doch auch die anderen Gäste wurden aufmerksam und blickten neugierig herüber. Um Janines Beherrschung war es geschehen. „Bringen Sie mich bitte auf mein Zimmer“, bat sie mit einem unterdrückten Schluchzen und griff nach Lawrences Hand. „Selbstverständlich. Kommen Sie.“
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gehen wollte. Draußen war es nach dem Gewitter stürmisch geblieben und schwere Wolken zogen über den grauschwarzen Himmel. Das Meer war aufgewühlt, und das Klatschen der großen Brecher drang bis zu ihr herauf. Wie sehr sich das hübsche Bild, das sich ihr am Morgen geboten hatte, verwandelt hat, dachte Janine mit Bedauern, als sie auf den verlassenen und trostlos wirkenden Strand blickte, wo die Tretboote bedenklich auf und ab schaukelten. Sie zog die Vorhänge zu und knipste die kleinen Wandlampen an. Dann zog sie sich mit müden Bewegungen aus und legte sich ins Bett. Morgen stand ihr ein schwerer Gang bevor, da musste sie ihre Kräfte sammeln. Mitten in der Nacht wachte Janine auf, ohne jedoch sagen zu können, was sie geweckt hatte. Benommen starrte sie in die Dunkelheit. Was hatte sie nur wieder für einen schrecklichen Traum gehabt! Sie war durchs Moor gelaufen, verfolgt von Lord Selkirk, dessen Gesicht zu einer bösartigen Fratze verzogen war. Janine streckte die Hand nach der Nachttischlampe aus, doch plötzlich erstarrte sie, von Entsetzen gelähmt, mitten in der Bewegung. Unweit von ihrem Bett stand eine dunkle Gestalt! Die Umrisse konnte sie schemenhaft erkennen. Janine schloss vor Grauen die Augen. Nein, das konnte doch nicht sein! Verfolgte die Erscheinung sie schon bis hierher? Oder stand dort Lord Selkirk, der sie aus dem Weg räumen wollte? Janine rutschte weiter unter die Bettdecke. Trotzdem spürte sie, wie ein eisiger Lufthauch ihren Körper traf und ihr bis ins Mark drang. Doch weiter geschah nichts. Vorsichtig riskierte sie einen Blick. Durch die Laternen im Park war es in ihrem Zimmer nicht völlig dunkel. Der Unheimliche stand immer noch da. War das überhaupt eine Gestalt? Vielleicht stand dort in der Ecke ein Kleiderständer,
schreckliche Erscheinung zu erwähnen. „Janine ... Verzeihung, darf ich Sie überhaupt so nennen?“, fragte Lawrence. „Aber gern“, gestattete sie ihm lächelnd. „Meine Freunde nennen mich Larry. Darf ich Sie zu meinen Freunden zählen?“ „Wenn Sie wollen ... Larry.“ Lawrence drückte ihre Hand. „Ich möchte Ihnen raten, dieses Erbe anzunehmen. Denken Sie an Ihren Großvater, der keinesfalls gewollt hat, dass aus seinem Schloss ein Hotelbetrieb entsteht. Deshalb hat er Sie zu seiner Erbin eingesetzt. Sie haben diesem Erbe eine gewisse Verpflichtung gegenüber.“ Janine nickte beklommen. Dasselbe hatte sie sich ja auch schon gesagt. „Aber ich habe Angst, Larry. Ich kann doch nicht einfach hergehen und zur Familie Selkirk sagen: das ist jetzt mein Schloss, zieht bitte so bald wie möglich aus.“ „Natürlich können Sie das, Janine“, widersprach Lawrence. „Sie müssen es sogar. Verzeihen Sie, dass ich das so offen sage, aber meiner Meinung nach war es ein Fehler, dass Sie sich hier als Hotelgast eingeführt haben. Sie hätten gleich die Wahrheit sagen sollen. Lord Selkirk ahnt wohl schon etwas?“ Janine nickte. „Notar Huxley muss ihn unterrichtet haben. Ich komme mir jetzt reichlich komisch vor.“ „Bringen Sie die Angelegenheit so schnell wie möglich ins Reine“, empfahl Lawrence. „Am besten, bevor man Sie noch einmal auf Ihre Anwesenheit hin anspricht.“ Janine versprach es, wenn auch schweren Herzens. Zu erkennen musste sie sich auf jeden Fall geben, das stand fest. Ob sie die Erbschaft dann tatsächlich annehmen würde, stand auf einem anderen Blatt. * Der Abend dämmerte bereits herauf. Janine hatte Lawrence gebeten, sie allein zu lassen, da sie unerträgliche Kopfschmerzen hatte und bald zu Bett
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hatte er noch nie gestanden. Sie alle nicht, die jetzt hier versammelt waren. Robert Selkirk, der Sohn, lief unruhig auf und ab. Seine Frau Gladys beobachtete ihn mit verächtlich herabgezogenen Mundwinkeln. „Setz dich wieder hin“, befahl sie unwillig. „Du machst uns alle ganz nervös mit deinem ewigen Hin- und Hergerenne.“ Robert Selkirk schenkte ihr keine Beachtung. Seine Hand fuhr durch die Luft, als schlage er nach einem unsichtbaren Gegner. „Du musst etwas unternehmen, Vater!“, verlangte er in hartem Ton. „Oder willst du etwa tatenlos zusehen, wie diese Person sich hier breit macht und uns dann vor die Tür setzt? Was wird dann aus unserem schönen Hotel? Sollen Arbeit und Investition umsonst gewesen sein?“ „Junge, beruhige dich doch!“, mahnte Lady Linda. „Glaubst du, mir gefällt der Gedanke, dass jetzt die Tochter einer Tänzerin unser schönes Schloss erbt? Es gehört schließlich seit Generationen den Grafen Selkirk!“ Lord Benjamin winkte müde ab. „Diese Janine Debret ist ja kein fremdes, dahergelaufenes Mädchen. Sie ist Großvaters Enkeltochter, daran ist nicht zu rütteln. Wenn William nicht tödlich verunglückt wäre, hätte er diese Germaine ja geheiratet. Miss Debret ist eine Selkirk, denn unser Blut fließt in ihren Adern. Sie ist meine Nichte und deine Kusine, lieber Robert.“ „Höre ich recht?“, ereiferte sich Gladys Selkirk mit schriller Stimme. „Du nimmst diese Person auch noch in Schutz, Vater? Das ist ja wirklich die Höhe. Es geht um unser Selkirk, hast du das noch immer nicht begriffen? Um unser Schloss, das Hotel, das man uns jetzt wegnehmen will!“ „Vielleicht kann man sich mit ihr gütlich einigen?“, warf Lady Linda sachlich ein. „Das Schloss und das Vermögen sind doch riesig groß. Sie könnte hier leben, ohne dass wir ausziehen müssen.“ „Um dann von ihr nur geduldet zu sein? Niemals!“ Robert Selkirk erregte sich
den sie nicht beachtet hatte. Janine nahm ihren ganzen Mut zusammen und machte Licht. Doch in ihrem Zimmer war nichts, was sie hätte beunruhigen können. „Seltsam“, murmelte sie verstört. Sie hätte schwören können, dort eine dunkle Gestalt erblickt zu haben. Janine löschte das Licht wieder. Doch kaum hatte sie sich in die Kissen gekuschelt, als sie abermals die schemenhafte Gestalt vor sich sah. Und diesmal ging etwas so Bedrohliches von ihr aus, dass Janine keinen Zweifel mehr hatte. Dort stand jemand, der mit Sicherheit nichts Gutes von ihr wollte. In ihrer Angst wollte sie laut um Hilfe rufen, doch die Kehle war ihr wie zugeschnürt und sie brachte keinen Ton heraus. Die Gestalt bewegte sich jetzt. Es war, als schwanke sie unschlüssig hin und her. Dann bewegte sie sich langsam auf Janines Bett zu. Mit weit aufgerissenen Augen starrte Janine in das bleiche Gesicht. Der alte Mann! „Du ... musst das ... Erbe annehmen“, hörte sie plötzlich eine hohl klingende, scheppernde Stimme, die direkt aus dem Totenreich zu kommen schien. „Sonst ... musst du ... sterben!“ Nach diesen abgehackten Worten löste sich die Gestalt in Nichts auf. Janine erwachte aus ihrer Erstarrung. „Nein!“, schrie sie gequält. Dann sank sie wimmernd in die Kissen zurück. * Etwa zur gleichen Zeit wurde in Lady Lindas elegant ausgestatteten Räumen Familienrat abgehalten. Die ältere Dame hatte sich den Fuß verstaucht und betrachtete nun, in ihrem fürstlichen Bett sitzend, die Gesichter ihrer Lieben. Lord Benjamin, ihr Gatte, rauchte missmutig eine Zigarre. Normalerweise durfte er das nicht in den Räumen seiner Frau. Aber heute war auch kein Tag wie jeder andere. Vor solch einer Situation
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geschrieben. Gladys Selkirk fasste sich als Erste. „Was war das?“, stieß sie mit bleichen Lippen aus. „Großvater“, erwiderte Lady Linda zittrig. „Ich glaube, ihm passt etwas nicht!“
immer mehr. „Möglicherweise ist sie es gar nicht“, murmelte Lord Benjamin, mehr zu sich selbst. „Du hast ja noch gar nicht mit ihr gesprochen.“ „Es gibt trotzdem keinen Zweifel“, fuhr sein Sohn ihn an. „Huxley sagte mir am Telefon, dass Janine Debret nun gefunden sei und bereits auf dem Weg nach Manston Springs Hotel ist. Und dann trifft kurz danach eine junge Dame ein, sehr hübsch, wie ich zugeben muss, und trägt sich als Janine Debret ein.“ „Dieses Unschuldslamm!“, schnaubte Gladys zornig. „Und ich war noch so freundlich zu ihr. Herzlich willkommen, ich hoffe, dass es Ihnen bei uns gefällt und so weiter!“ Lady Linda manikürte angelegentlich ihre Fingernägel. „Ich finde es auch nicht fair uns gegenüber, dass sie sich als Gast hier eingeschlichen hat. Sie hätte gleich sagen können, was sie von uns will.“ „Hätte das etwas geändert?“, brummte Lord Benjamin. „Auf jeden Fall werde ich dafür sorgen, dass das Mädchen so schnell wie möglich wieder abreist“, drohte Gladys verbissen. „Wie willst du das denn anstellen?“, spottete Robert. „Willst du sie hinausgraulen? Das Schlossgespenst spielen?“ „Mir wird schon etwas einfallen“, versicherte Gladys. Im selben Moment schwirrte etwas an ihrem Kopf vorbei. Gladys stieß einen spitzen Schrei aus und hielt schützend die Hände über den Kopf. Dann ertönte ein grauenvolles Gelächter, das mehrstimmig aus allen Ecken und Winkeln des Zimmers zu kommen schien. Im selben Augenblick war ein dumpfes Krachen zu hören. Ein großes Ölgemälde, das Lord Christopher Selkirk darstellte, hatte sich von der Wand gelöst und war zu Boden gestürzt. Die vier Menschen im Raum starrten sich mit bleichen Gesichtern an. Blankes Entsetzen stand in ihren Augen
* Am nächsten Morgen erwachte Janine erst nach mehrmaligem Klopfen an ihrer Zimmertür. Mit bleischweren Gliedern erhob sie sich und warf sich ihren Morgenmantel über. „Ich bin es, Larry“, rief eine Stimme von draußen. „Sind Sie auf? Kann ich hereinkommen?“ Janine öffnete die Tür einen Spalt. „Ich bin gerade erst aufgestanden“, sagte sie. „Aber in zehn Minuten bin ich unten.“ Noch ganz benommen suchte Janine frische Wäsche heraus. Als sie dann unter der Dusche stand, kam ihr schlagartig die Erinnerung an das Erlebnis in der vergangenen Nacht. Gleichzeitig wurde ihr bewusst, dass sie sich gleich nach dem Frühstück bei der Familie Selkirk als zukünftige Besitzerin von Selkirk Manston Abbey vorstellen musste. Janine frottierte sich ab. Am liebsten wäre sie wieder ins Bett gegangen und hätte sich die Decke über den Kopf gezogen. Doch auf diese Weise konnte sie sich nicht aus der Affäre ziehen. Sie musste sich der Situation stellen und für alle Beteiligten eine befriedigende Lösung finden. Kaum war Janine fertig, klopfte es abermals an die Tür. Diesmal war es Hilla, das andere Dienstmädchen. „Miss Debret“, begann sie etwas verlegen, „es tut mir Leid, aber Ihr Zimmer ist ab heute nicht mehr frei. Lady Selkirk hat übersehen, dass es schon seit langen bestellt worden ist. Die Herrschaften treffen heute ein.“ Janine hatte das Gefühl, als würde sie mit kaltem Wasser übergossen. War das die erste Reaktion auf ihre Anwesenheit? Wollte man ihr auf diesem Weg zeigen,
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von seiner Frau Gladys, durch eine Verbindungstür. Der Mann wirkte kühl und beherrscht, die Frau kam mit böse funkelnden Augen auf Janine zu. „Sie hätten mir gestern schon sagen können, was Sie hier wollen!“, rief sie verärgert. Bevor Janine etwas erwidern konnte, wandte Robert Selkirk sich an sie. „Sie sind also die Frau, die Lord Christopher zu seiner Erbin gemacht hat!“, begann er etwas unsicher. Die bildhübsche junge Frau mit dem stolz erhobenen Kopf und den entschlossen blickenden dunklen Augen irritierte ihn etwas. „Ich bin Lord Christophers Enkelin, genauso wie Sie sein Enkel sind“, stellte Janine richtig. Sie hätte sich gern gesetzt, weil ihr trotz der zur Schau getragenen beherrschten Haltung die Knie zitterten. Aber man hatte ihr keinen Platz angeboten. „Ich werde niemals zulassen, dass Sie uns das Schloss und das Hotel wegnehmen!“, fuhr Gladys dazwischen. In ihren Augen loderte ein solcher Hass, dass Janine unwillkürlich einen Schritt zurückwich. Robert Selkirk stand mit verschränkten Armen vor Janine und musterte sie halb ärgerlich, halb bewundernd. „Mit diesem Schloss können Sie nie etwas anfangen, glauben Sie mir das, Miss Debret“, fuhr er in eindringlichem Ton fort. „Sie haben ja keine Ahnung, wie schwer es ist, so ein großes Haus zu führen. Selbst für uns, und wir sind vier erwachsene Personen. Sie aber sind allein. So viel ich weiß, haben Sie keinen Mann, der Ihnen hilfreich zur Seite stehen würde. Abgesehen davon, dass dieses Schloss schon immer im Besitz der Grafen Selkirk war, würden wir uns auch das Hotel, in dem viel Geld und Arbeit steckt und praktisch unser Lebenswerk ist, nicht so ohne weiteres wegnehmen lassen. Ich biete Ihnen daher fünfzigtausend Pfund und die schriftliche Zusicherung, dass Sie eine Suite in diesem Hotel beziehen können, so oft und wann immer Sie wollen. Selbstverständlich ist auch Ihre Frau Mutter hier jederzeit willkommen“, setzte
was man von ihr dachte? „So, hat Lady Selkirk das übersehen?“, erwiderte Janine betont forsch. „Dann soll sie mir eben ein anderes Zimmer geben.“ „Tut mir Leid, aber es ist keines mehr frei. Die anderen Räume sind noch nicht hergerichtet worden“, erklärte Hilla. „Sie müssen leider wieder abreisen.“ Janine hatte Mühe, ihren Zorn zu verbergen. Oh nein, so konnte man mit ihr nicht umspringen! „Ich werde die Angelegenheit mit Lord und Lady Selkirk persönlich erledigen“, versetzte sie kühl. „Meine Sachen bleiben auf jeden Fall vorläufig hier.“ Mit diesen Worten ließ Janine das Dienstmädchen stehen. Zielstrebig ging sie zur Rezeption. Sie wollte die Dinge noch vor dem Frühstück klären. Doch Gladys Selkirk war nicht an der Rezeption und auch von dem jungen Lord war nichts zu sehen. Die älteren Herrschaften hatte sie überhaupt noch nicht zu Gesicht bekommen. Stattdessen kam ihr Lawrence Bradford entgegen. „Sie sind heute aber gar nicht pünktlich, Janine“, bemängelte er mit gespieltem Vorwurf. Janine ging nicht auf darauf ein und zog ihn an einen abseits gelegenen Tisch. Außer ihnen war nur noch die Familie Mayfield anwesend, die sich offenbar nicht über das Tagesprogramm einigen konnte, denn sie stritten halblaut miteinander und beachteten die beiden Eintretenden nicht. „Es gibt Ärger“, erklärte Janine leise, nachdem sie Platz genommen hatten. Dann erzählte sie Lawrence Bradford, was sich ereignet hatte. „Unerhört!“, rief er unterdrückt. „Janine, lassen Sie sich nur nichts gefallen. Bitten Sie jetzt gleich Hilla oder Corny um eine Unterredung mit dem Lord.“ Wenig später wurde Janine von Hilla in ein düsteres Arbeitszimmer geführt. „Die Herrschaften kommen gleich“, sagte das Dienstmädchen mit einem mitleidigen Blick auf Janine und entfernte sich wieder. Gleich darauf trat Robert Selkirk, gefolgt
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„Du ... musst das ... Erbe annehmen, sonst ... musst du ... sterben!“ Von neuem Entsetzen gepackt sprang sie auf. Wie gehetzt blickte sie sich im Zimmer um, doch sie konnte niemanden entdecken, der diese Worte zu ihr gesprochen haben könnte. Was hat das nur zu bedeuten?, dachte sie verstört. Hatte am Ende der Geist ihres Großvaters zu ihr gesprochen? Der gespenstische alte Mann! War es die Erscheinung Lord Christophers, der aus dem Totenreich zu ihr gekommen war, um ihr ihr Erbe zuzuführen? Janine dachte wieder an die Szene in dem düsteren Klassenzimmer. Die Erscheinung hatte ihr die Visitenkarte von Mr. Huxley in die Hand gedrückt. Nur so hatte sie überhaupt von ihrer Erbschaft erfahren können. Dann hatte der alte Mann sie aus dem Moor geholt und zum Hotel gebracht. Es passte alles zusammen. Auch die Drohung, die er ausgesprochen hatte. Doch gab es so etwas überhaupt? Geistererscheinungen? Spuk? Botschaften aus dem Jenseits? Janine seufzte. Sie vermochte nicht so recht daran zu glauben. Aber es musste wohl so sein. Dann ist es also mein eigener Großvater, der mich so quält!, dachte sie bitter. Er wollte an ihr und ihrer Mutter keinesfalls etwas gutmachen, wie sie gedacht hatte. Ihm ging es nur um seine eigenen Interessen, die er auch vom Jenseits aus noch mit aller Gewalt durchsetzen wollte. Er scheute anscheinend auch nicht davor zurück, sie in den Tod zu treiben, wenn sie seine Forderung nicht erfüllen sollte. Plötzlich hielt Janine es in ihrem Zimmer nicht mehr aus. Sie spürte etwas Beklemmendes, Bedrohliches auf sich zukommen. Sie musste jetzt unter Menschen sein, um sich etwas abzulenken. Lawrence Bradford fiel ihr wieder ein. Ob er noch im Hotel auf sie wartete?, überlegte sie Schuld bewusst. Aber sie würde auch mit Mrs. Fruitvale, den Mayfields oder sogar mit Monsieur Riviere vorlieb nehmen. Hauptsache, sie war nicht
er hinzu. Es war ihm deutlich anzusehen, dass er sich nur mit Widerwillen zu diesem Zugeständnis hatte durchringen können. „Ich finde, das ist ein Angebot, das Sie durchaus annehmen können“, meinte Gladys Selkirk mit einem lauernden Blick auf Janine. Wenn es nach ihr gegangen wäre, hätte sie dieser Frau nicht einmal Wohnrecht eingeräumt, ganz zu schweigen deren Mutter. Janine war im ersten Moment nicht fähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Sie musste erst in Ruhe überlegen. „Sie werden einsehen, dass ich mich nicht auf der Stelle entscheiden kann“, erwiderte sie. „Ich möchte die Angelegenheit erst überdenken und auch mit Mr. Huxley darüber reden.“ „Gut, tun Sie das“, meinte Robert Selkirk herablassend. Er sah die Schlacht schon als halb gewonnen an. „Aber lassen Sie uns bitte nicht so lange im Ungewissen. Teilen Sie uns Ihre Entscheidung so bald wie möglich mit.“ Mit diesen Worten empfahl Robert Selkirk sich. Gladys schoss noch einen drohenden Blick auf Janine ab und folgte ihm dann. Janine ging wieder in ihr Zimmer hinauf. An das Frühstück dachte sie gar nicht mehr, auch nicht an Lawrence Bradford, der auf sie wartete. Das ist sicher nicht die schlechteste Lösung, dachte sie, nachdem sie sich in einen Sessel fallen hatte lassen. Sie würde eine Menge Geld bekommen, von dem sie sich zusammen mit ihrer Mutter ein schönes Leben machen konnte. Sie konnten auf Reisen gehen und sich all die Dinge leisten, auf die sie bislang verzichten mussten. Und sie konnten zu Gast in dem prächtigen Schlosshotel sein, wann immer sie es wollten. Was wollte sie mehr? Lord Robert hatte schon Recht. Was sollte sie mit diesem riesigen Objekt? Sie hatte keinerlei Ahnung und Erfahrung. Während Janine so in Gedanken versunken dasaß, glaubte sie plötzlich wieder diese hohle Stimme zu hören.
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hin. „Meine Tochter hat nach Schottland geheiratet, müssen Sie wissen. Ihr Mann ist sehr reich und sehr vornehm. Er ist mit der Familie Selkirk befreundet. Lord Benjamin hat mich in dieses schöne Hotel eingeladen und ...“ Janine hörte nur mit halbem Ohr zu. Doch Mrs. Fruitvale schien gar keine Antwort von ihr zu erwarten. Wenig später saßen die beiden ungleichen Frauen in einem Tretboot. Die alte Dame war anfangs hellauf begeistert, doch als Janine das Boot weiter aufs Meer hinaus lenkte, schien es ihr plötzlich nicht mehr ganz geheuer zu sein und sie bat darum, wieder zurückzukehren. „Es war sehr nett von Ihnen, dass Sie mir Ihre Zeit geopfert haben, Miss Debret“, bedankte Mrs. Fruitvale sich, als sie mit Janines Hilfe aus dem schwankenden Boot kletterte. „Aber jetzt möchte ich mich lieber auf eine Bank setzen. Da habe ich wenigstens festen Boden unter den Füßen.“ Janine blieb noch eine Weile unschlüssig stehen. Sollte sie noch einmal allein mit dem Tretboot hinausfahren? Es hatte ihr großen Spaß gemacht. Aber dann entschied sie sich lieber für einen Spaziergang am Strand entlang, nicht zuletzt, weil sie dabei eher eine Chance hatte, Lawrence zu begegnen. Doch seltsamerweise traf sie auf keine Menschenseele. Merkwürdig, dachte Janine bei sich. Wo waren all die anderen Gäste? Obwohl sie noch nicht weit vom Schlosshotel entfernt war, drang kein Laut mehr an ihr Ohr. Die Landschaft war plötzlich wie ausgestorben. Wieder ergriff Janine ein seltsam beklemmendes Gefühl, das sich ihr schwer auf die Brust legte. Ihre Schritte verlangsamten sich und schließlich blieb sie stehen. Ich werde wieder umkehren, dachte sie bedrückt. Irgendetwas gefällt mir hier nicht, ich weiß selbst nicht, was. Dann fiel ihr Blick auf einen kleinen Hügel, hinter dem sich dunkle Bäume erhoben. Zwischen dem spärlichen Gras und den Felsbrocken, die wie von
mehr allein. * Als Janine die Treppe zur Halle hinunterging, sah sie gerade noch, wie Lawrence Bradford zusammen mit Carol Donegan das Hotel verließ. Er hatte seinen Arm um ihre Schultern gelegt und die schöne Frau mit den roten Haaren lachte verführerisch zu ihm auf. Janine verspürte einen feinen Stich in ihrem Herzen. Lawrence hatte sich also anderweitig getröstet! Und gerade jetzt hätte sie ihn so dringend gebraucht. Aber sie hatte schließlich kein Recht auf den jungen Arzt. Nur das Ziehen in ihrem Herzen gab ihr zu denken. Warum hatte sie der Anblick so geschmerzt, als sie ihn an Carol Donegans Seite sah? Hatte sie sich etwa in Lawrence verliebt? „Sie machen so ein betrübtes Gesicht, Miss Debret“, riss Mrs. Fruitvale sie aus ihren Gedanken. „Das Wetter ist so schön. Kommen Sie, machen wir einen Spaziergang miteinander. Das heißt, natürlich nur, wenn Ihnen die Gesellschaft einer alten Frau wie mir nicht zu langweilig ist.“ „Aber nein, ich bitte Sie“, erwiderte Janine. „Ich komme gern mit Ihnen. Haben Sie ein bestimmtes Ziel?“ „Nein, das nicht, aber wissen Sie, was?“ Die alte Dame wurde plötzlich lebhaft und ihre faltigen Wangen röteten sich. „Ich würde für mein Leben gern einmal mit solch einem Tretboot fahren! Können Sie damit umgehen?“ Erwartungsvoll sah Mrs. Fruitvale die junge Frau an. Janine musste lächeln. „Die Freude mache ich Ihnen gern“, sagte sie und nahm den Arm der alten Dame. Gemeinsam gingen sie zum Strand hinunter. Janine blickte sich immer wieder verstohlen um in der Hoffnung, Lawrence Bradford irgendwo zu entdecken. Der Gedanke, dass er mit der schönen Amerikanerin allein war, bohrte wie ein Stachel in ihrem Herzen. Mrs. Fruitvale plapperte munter vor sich
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geworden. Ein riesiger, weißlichgrün schimmernder Ball erhob sich hinter den schwarzen Bäumen und tauchte den Grashügel in ein gespenstisches Licht. Erstarrt vor Grauen und Entsetzen sah Janine auf die bleich schimmernden Knochen zu ihren Füßen. Dann wanderte ihr Blick hinauf zu der riesigen, unheilvoll leuchtenden Kugel, die drohend über ihr hing. Das kann unmöglich der Mond sein! dachte Janine schaudernd, auch nicht die Sonne! Sie hatte das Gefühl, auf einem anderen Planeten zu sein. Hilflos, verlassen, einer unbekannten Macht ausgeliefert, die sie in einen grässlichen Tod treiben wollte! Nur flüchtig dachte sie an die Geistererscheinung. Sie konnte den alten Mann nicht mit dieser Veränderung, die um sie herum vor sich gegangen war und mit der Macht, die von ihr Besitz ergriffen hatte, in Verbindung bringen. Das, was sie hier erleben musste, war sicher kein Spuk. Es war etwas so Grauenvolles, ein Geschehen, das mit dem menschlichen Verstand nicht mehr zu erfassen war. Plötzlich ertönte ein gellendes, geisterhaftes Lachen. Im selben Moment erlosch die Lichtkugel, einem Scheinwerfer gleich, der noch etwas nachglühte, bevor es gänzlich dunkel wurde. Totenstille umfing Janine. Sie stand jetzt in absoluter Dunkelheit. Doch zu ihrer Erleichterung bemerkte sie, dass sie ihre Glieder wieder ganz nach ihrem Willen bewegen konnte. Trotzdem zitterte sie noch vor Angst. Vorsichtig tasteten ihre Füße sich weiter. Hier hatten die Knochen gelegen. Sie musste sie doch durch ihre dünnen Schuhe hindurch spüren? Janine bückte sich und befühlte mit ihren Händen den Boden. Doch sie spürte nur Gras, Steine und Blütenstängel! Verwirrt richtete sie sich wieder auf. Was war geschehen? War sie eingeschlafen und hatte das alles nur geträumt? War sie erst
Riesenhand hingeworfen zu sein schienen, blühten Blumen, die Janine unbekannt waren. Es war ein hübsches Bild, wenn auch etwas seltsam anmutendes, Verlassenes über dem Ganzen lag. Ich werde noch bis zum Waldrand gehen und mir die Blumen näher ansehen, überlegte Janine. Im gleichen Augenblick spürte sie auch schon, wie ihre Füße wie von einer fremden Macht vorwärts gelenkt wurden. Janine wollte sich dagegen wehren. Überdeutlich spürte sie, dass hier irgendetwas nicht stimmte. Wollte die Geistererscheinung sie wieder in ihren Bann ziehen? Zurück!, durchzuckte es sie in heller Panik. Nur schnell wieder zurück, sonst bin ich verloren! Doch Janine konnte nicht mehr umkehren. Es war, als habe sie keine Gewalt mehr über ihren Körper. Gegen ihren Willen strebten ihre Füße schneller und schneller dem Waldrand zu. Vergebens versuchte Janine sich einzureden, dass ihre Nerven ihr nur einen Streich spielten und dass hier nichts Ungewöhnliches war, vor dem sie sich fürchten musste. Sie wollte sich nur noch die Blumen ansehen und dann wieder ins Schlosshotel zu den anderen zurückkehren, und keine Macht der Welt konnte sie daran hindern. Eine innere Stimme sagte ihr jedoch, dass dies nur ein Wunschtraum war und dass eine unheimliche Macht bereits von ihr Besitz ergriffen hatte. Stöhnend taumelte Janine weiter. Plötzlich riss sie entsetzt die Augen auf. Dann stieß sie einen gellenden Schrei aus. An den Stellen, wo sie die fremdartigen Blumen entdeckt hatte, lagen jetzt haufenweise Knochen und skelettierte Tierschädel. Schaudernd wollte Janine sich abwenden, doch ihre Füße gehorchten ihr nicht. Knirschend traten sie auf die Knochenreste. Mit einem Schlag war es dunkel
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Kaum hatte sie sich niedergelassen und die kalten Füße unter den langen Rock gesteckt, da traf sie ein eisiger, modrig riechender Lufthauch und eine kalte Knochenhand riss sie unbarmherzig hoch. „Geh weiter!“, befahl eine hohle Stimme, „und sieh, was passiert, wenn du ... das Erbe nicht ... annimmst!“ Mit einem Aufschrei schlug Janine die Hände vors Gesicht. Es war also doch der Geist ihres Großvaters, der sie so peinigte! „Wenn du mein Großvater bist, dann hab Erbarmen mit mir!“, schluchzte sie. Sie war am Ende ihrer Kräfte. Doch nur ein höhnisches Kichern, das schauerlich von den Baumkronen widerhallte, war die Antwort. Zitternd vor Angst und Kälte schleppte Janine sich weiter. Was würde noch alles auf sie zukommen? Wie viel Grauenvolles musste sie noch erleben, bis sie endlich in der Behaglichkeit des Schlosshotels ihre Ruhe wieder fand? Mit wehem Herzen dachte sie an Lawrence Bradford. Was würde sie jetzt darum geben, wenn sie mit ihm zusammensitzen könnte! Würde sie ihn jemals wieder sehen? Nach einer Weile bemerkte Janine, dass sie sich auf freiem Feld befand, denn weder Gestrüpp noch Bäume stellten sich ihr in den Weg. Und dann sah sie plötzlich das Licht! Es sah zwar nicht aus wie ein Licht vom Manston Springs Hotel, aber es wirkte so freundlich und einladend, dass Janine eilig darauf zulief.
jetzt in der Dunkelheit wieder aufgewacht? Sie konnte sich aber gar nicht erinnern, dass sie sich niedergesetzt oder hingelegt hatte. Langsam ging sie weiter. Ja, diese Richtung musste es sein, überlegte sie. Aber wie kam es, dass es hier so stockdunkel war? Die Scheinwerfer, die das Schloss anstrahlten, waren so stark, dass man doch einen hellen Widerschein am Himmel hätte sehen müssen! Janines Augen versuchten, das Dunkel um sie herum zu durchdringen. Noch nie zuvor hatte sie eine derart schwarze Nacht erlebt. Selbst das Meer konnte sie nicht mehr erkennen. War etwas mit ihren Augen?, fragte sie sich besorgt. Plötzlich spürte sie eine eiskalte Hand in ihrem Nacken. Die Hand war hart und knochig und zwang Janine, in eine andere Richtung zu gehen. Janine stieß einen markerschütternden Schrei aus. Mit beiden Armen schlug sie wild um sich. Sie stieß gegen einen Felsbrocken und stürzte auf die Knie. Als sie sich aufrichtete, hörte sie wieder dieses krächzende Gelächter. Dann glaubte sie, das Flügelschlagen eines Vogels zu hören. Es ist nichts, redete Janine sich ein, es sind nur meine Nerven, nur die Angst, die mir noch in den Knochen steckt. Janine wollte weiterlaufen. Aber in welche Richtung? Ihr lief es heiß und kalt über den Rücken. Jetzt hatte sie die Orientierung verloren! Blind vor Tränen stolperte sie durch die finstere Nacht. Sie verfing sich in Gestrüpp und stieß mehrmals gegen harte Baumstämme. Nun habe ich mich doch verlaufen! dachte Janine verzweifelt. Denn auf dem Weg vom Schlosshotel bis zu dem Hügel war kein einziger Baum gewesen. Wahrscheinlich bin ich jetzt in dem Wald, den ich gesehen habe, überlegte sie weiter. Ich werde mich auf den Boden setzen und warten, bis es hell wird, bevor ich mich noch mehr verirre.
* Im großen Speisesaal des Manston Springs Hotels wurde ein erlesenes Abendessen serviert. Es waren neue Gäste eingetroffen, die nun von Robert Selkirk und seiner Frau Gladys liebenswürdig vorgestellt wurden. Es herrschte eine heitere, gelöste Atmosphäre und die Gäste sprachen mit Genuss den köstlichen Speisen zu.
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„Meine Damen und Herren“, begann er, „leider muss ich Ihnen mitteilen, dass Miss Debret bis zu dieser Stunde immer noch nicht in das Hotel zurückgekehrt ist. Einige von Ihnen habe ich schon am Nachmittag gefragt, ob sie Miss Debret gesehen hätten. Ich möchte Sie nun noch einmal fragen: Hat jemand von Ihnen Miss Debret in der Zwischenzeit gesehen oder weiß jemand, wohin sie gegangen ist?“ Abwartend blieb Lawrence stehen. Überall blickte er in betretene Gesichter. Die eben noch so vergnügte Stimmung war verflogen. Lord Benjamin war blass geworden. „Wieso erfahre ich erst jetzt davon?“, fragte er etwas ungehalten. „Warum haben Sie nicht schon vorher die Hotelleitung davon informiert, dass Janine ... äh, ich meine, Miss Debret nicht ins Hotel zurückgekehrt ist?“ Robert Selkirk warf seinem Vater einen unwilligen Blick zu. Gladys hatte sich ebenfalls erhoben und wandte sich nun lächelnd an Lawrence Bradford. „Aber ich bitte Sie, Doktor, Miss Debret ist schließlich niemandem Rechenschaft schuldig. Sie kann gehen, wohin sie will. Sicher ist sie mit dem Wagen nach Gretna Green gefahren, um sich das legendäre Heiratsparadies anzusehen. Ich glaube, ich kann mich daran erinnern, dass sie davon gesprochen hat“, log Gladys schnell. Ihre Gedanken waren plötzlich in Aufruhr. Es wäre zu fantastisch, wenn diesem Mädchen etwas zugestoßen wäre! Dann wäre die unerwünschte Erbin ausgeschaltet und alles könnte beim Alten bleiben. „Miss Debrets Auto steht auf dem Parkplatz“, hielt Lawrence ihr mit fast anklagender Miene entgegen. „Das arme Kind!“, schluchzte Mrs. Fruitvale. „Man muss etwas tun! Bitte, Lord Selkirk, unternehmen Sie etwas!“ Da keiner der Gäste Janine gesehen hatte, nachdem sie Mrs. Fruitvale verlassen hatte, fühlte sich nun auch Robert Selkirk etwas unbehaglich. Er war schließlich für seine Gäste verantwortlich, und es war sicher keine gute Reklame für seinen
Die Einzigen, denen es nicht recht zu schmecken schien, waren Mrs. Fruitvale und Lawrence Bradford. „Glauben Sie, dass Miss Debret etwas zugestoßen ist, Mister Bradford?“, flüsterte Mrs. Fruitvale ängstlich, als sie das Weinglas abstellte, an dem sie nur genippt hatte. Mit sorgenvoller Miene schob Lawrence Bradford sich einen Bissen in den Mund. Er machte sich ernstliche Gedanken um Janine, die immer noch nicht zurückgekehrt war. Es war jetzt halb neun Uhr abends und bereits dunkel. Wohin mochte sie gegangen sein? Niemand der Gäste hatte sie gesehen. Fest stand nur, dass sie nicht mehr mit dem Boot unterwegs war. Alle Tretboote ankerten in der Bucht. „Wir werden etwas unternehmen“, versprach Lawrence und strich der alten Dame beruhigend über die Hand. Dabei begann die Angst ihm selbst das Herz abzuschnüren. Er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, wohin Janine gegangen sein könnte. Ihr Auto stand nach wie vor auf dem Parkplatz. Lawrence Bradford schob seinen Teller von sich, obwohl er nicht einmal die Hälfte gegessen hatte. Er wollte später zu den Gästen sprechen, vielleicht hatte doch noch jemand Janine gesehen. Auf jeden Fall musste er auch der Familie Selkirk Bescheid geben und man musste gemeinsam überlegen, was zu tun sei. Doch im Moment musste er noch warten, da Lord Benjamin eine Ansprache an die Gäste hielt. Lawrences Geduld wurde auf eine harte Probe gestellt. Auch Lady Linda hatte noch etwas zu sagen, und dann gingen der alte Lord und seine Gattin von Tisch zu Tisch, um mit den Gästen ein paar persönliche Worte zu wechseln und mit ihnen anzustoßen. Lawrence Bradford hielt es nicht mehr länger, zumal Mrs. Fruitvale lautlos in ihr Taschentuch weinte. Er erhob sich zu seiner ganzen imposanten Größe und bat um das Wort.
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doch nicht solch ein Geschrei machen.“ Er wandte sich an die entgeisterten Eltern. „Sorgen Sie bitte dafür, dass Ihre Tochter sich wieder beruhigt. Was sollen denn die anderen Gäste denken?“ Verärgert ging er wieder nach unten. Ihm war nicht entgangen, dass gerade die neu eingetroffenen Gäste reichlich empört ausgesehen hatten. „Was bildet sich der vornehme Herr nur ein?“, schimpfte Mrs. Mayfield aufgebracht. „Komm, Rhonda, ich bringe dich wieder nach oben und bleibe bei dir. In was für ein Haus sind wir da nur geraten, Raynold? Miss Debret ist verschwunden, Rhonda sieht Gespenster. Ich glaube, wir reisen wieder ab!“ „Ja, bitte, Mama“, flehte Rhonda, die sich mittlerweile etwas beruhigt hatte. „Ich will nach Hause! Ich fürchte mich hier. In unserem Zimmer war wirklich ein alter Mann, der aussah, als ob er schon lange tot wäre. Ich habe nicht geträumt, bitte glaube mir!“ Raynold ging wieder nach unten. Gladys Selkirk warf ihm einen eisigen Blick zu. Dabei dachte sie an die abendliche Besprechung in Lady Lindas Räumen. Waren dort nicht auch seltsame Dinge passiert? Hatte sie nicht selbst aufgeschrien, als sie glaubte, etwas schwirre an ihrem Kopf vorbei? Und dann war Großvaters Bild von der Wand gefallen, und sie hatten alle ein schauerliches Gelächter vernommen. Noch lange hatten sie über diesen Vorfall gesprochen. Nur an einen Spuk wollten sie alle nicht glauben. Und wenn nun doch Großvaters Geist im Schloss umging? Wenn Rhonda ihm tatsächlich begegnet war? Gladys Selkirk wurde es bei dieser Vorstellung heiß und kalt. Gut, Rhonda war ein Kind von elf Jahren. Was aber würde geschehen, wenn einem der erwachsenen Gäste dieser Geist erschien! Es wäre nicht auszudenken. Sie würden bald ihre Gäste los sein. Der Aufbruch der Männer mit ihren Taschenlampen erinnerte Gladys wieder
Hotelbetrieb, wenn hier einem der Gäste etwas zustieß. „Bitte entschuldigen Sie mich“, sagte er knapp, „ich werde zuerst einmal telefonieren.“ Auch seine Frau und seine Eltern entfernten sich. Sie ließen ihre Gäste ratlos zurück, und so mancher bedauerte es, dass dieser schöne Abend eine solche Wendung genommen hatte. Lawrence Bradford drängte nun energisch darauf, dass man mit Taschenlampen nach Janine suchte. Alle anwesenden Herren erboten sich, mitzugehen und bei der Suche zu helfen. Auch Julian, der Butler, die beiden Dienstmädchen Hilla und Corny sowie Mrs. Holgrave, die gewichtige Küchenmamsell, schlossen sich an. Plötzlich ertönte ein fürchterlicher Schrei, gellend und lang gezogen, der abrupt abbrach und dann in ein klägliches Wimmern überging. „Mein Gott, das war Rhonda!“, rief Mrs. Mayfield erschrocken. „Komm, Raynold, wir müssen nach ihr sehen. Wir hätten sie eben doch nicht allein lassen sollen!“ Mister Mayfield stellte die Taschenlampe wieder ab. „Bitte entschuldigen Sie“, wandte er sich etwas hilflos an Lawrence Bradford, „aber ich muss jetzt erst nach meiner Tochter sehen. So entsetzlich habe ich sie noch nie schreien hören.“ Auf der Treppe traf er seine Tochter, die von seiner Frau und Mrs. Holgrave gestützt wurde. Beruhigend sprachen beide auf das Mädchen ein, das immer noch jämmerlich schrie und schluchzte. „In unserem Zimmer war ein Gespenst“, rief Rhonda von Entsetzen geschüttelt. „Ein Geist, ein toter Mann! Er hat mich angefasst! Er war ganz kalt!“ Robert Selkirk kam mit langen Schritten die Treppe herauf. „Genug jetzt mit dem Unsinn!“, herrschte er das Mädchen an und packte es mit hartem Griff am Arm. „Geh jetzt wieder in dein Bett. Du hast nur geträumt. Hier im Haus sind noch andere Gäste, da kannst du
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tückischen Tümpel und hörte das eigenartig kichernde Glucksen. Im ersten Impuls wollte sie sich umwenden und in die andere Richtung laufen. Doch da war sie wieder, diese eisige Faust, die sich in ihren Nacken krallte und sie am Weitergehen zwang. Angst schnürte ihr die Kehle zu. Janine fror erbärmlich, auch als die kalte Hand sie wieder losließ. Was für eine entsetzliche Nacht! Ihre Augen hefteten sich fest auf das Licht. Würde es für sie die Rettung bedeuten oder neue Schrecken bereithalten? Das Licht tanzte nicht auf und ab, und es entfernte sich auch nicht. Merkwürdigerweise erinnerte es Janine an irgendetwas. An etwas, das ihr vertraut war. Aber sie konnte nicht sagen, was. Janines Herz begann vor Erregung schneller zu schlagen. Das Licht schien sie jetzt magisch anzuziehen. Es war aber noch ziemlich weit entfernt. Bald bin ich in Sicherheit, redete sie sich ein. Der Weg durch das gefährliche Moor kam ihr jetzt bei weitem nicht mehr so schlimm vor. Sie hatte es ja bald geschafft. Vorsichtig tasteten sich ihre Füße vorwärts, immer darauf bedacht, auf festen Untergrund zu treten. Es war ein mühsames Unterfangen, denn sie musste immer wieder einem schwarzen Tümpel ausweichen. Am liebsten wäre Janine querfeldein auf das Licht zugerannt. Doch sie wusste, dass jede Unachtsamkeit ihren Tod bedeuten konnte. Deshalb zwang sie sich gewaltsam zur Geduld. Plötzlich stand wie von Geisterhand aus der Luft getragen die Gestalt des alten Mannes vor ihr. Janine ächzte. Schaudernd starrte sie die Erscheinung an. „Gib acht“, sprach eine hohle Stimme zu ihr, „gib genau acht auf das, was du in diesem Haus siehst. Dann wirst du endlich wissen, was du zu tun hast!“ Nach diesen Worten löste sich die Spukgestalt auf. Sekundenlang stand Janine wie erstarrt. Hatte ihr die Einbildung einen Streich
daran, dass Janine verschwunden war. Hoffentlich ist ihr etwas zugestoßen, dachte sie mit einem bösen Glitzern in den Augen. Doch dann nahm sie sich zusammen und bemühte sich um einen besorgten Ausdruck. Sie wandte sich an das Dienstmädchen. „Hilla, hast du schon in Miss Debrets Zimmer nachgesehen, ob etwas fehlt? Etwas, das eine Dame für einen längeren Ausflug benötigt?“, fragte sie so laut, dass es alle hören konnten. Niemand sollte ihr nachsagen, das Verschwinden eines Gastes habe die Hotelbesitzerin kalt gelassen. „Nein, Lady Selkirk, es fehlt nichts. Auch Miss Debrets Handtasche ist noch da. So viel ich sehen konnte, hat sie nicht einmal eine Jacke mitgenommen.“ „Worauf warten wir dann noch?“, rief Monsieur Riviere und hob theatralisch die Hände. „Vielleicht liegt die arme Mademoiselle irgendwo mit einem gebrochenen Bein und wartet schon lange vergeblich auf unsere Hilfe!“ Die kleine Gruppe setzte sich in Bewegung. Lady Linda bat die zurückgebliebenen Damen in den roten Salon und versuchte sie mit kleinen Anekdoten zu erheitern. Doch in Gedanken waren alle bei der netten jungen Frau aus Frankreich. * Janine lief weiter auf das Licht zu. Die undurchdringliche Dunkelheit war gewichen und sie konnte, halb verdeckt von Nebelschwaden, den Mond erkennen, der sein fahles Licht über die Landschaft ergoss. Als es neben ihr raschelte und sich kurz darauf ein Vogel mit schaurigem Gekrächze in den dunklen Himmel erhob, fuhr sie erschreckt zusammen. Doch die Geräusche der Natur, so unheimlich sie auch wirkten, waren Janine tausend Mal lieber als die tödliche Stille, die sie zuvor umfangen hatte. Plötzlich bemerkte sie, dass sie sich wieder im Moor befand. Wieder sah sie die
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hatte sie den gräflichen Grund und Boden nicht verlassen. Und trotzdem kam ihr hier alles so vertraut vor. Zielstrebig ging Janine auf das erleuchtete Haus zu. Nur ein paar Schritte noch, dann würde sie es erreicht haben. Sie würde die Bewohner bitten, dass sie ihr Telefon benutzen durfte. Sicher würde man sie abholen. Oder sie konnte im Ort übernachten. Vielleicht gab es da einen Gasthof. Doch dann fiel ihr ein, dass sie keinen Cent bei sich hatte. Nun ja, dachte Janine zuversichtlich, irgendjemand wird mir schon helfen. Doch plötzlich traf es sie wie ein Schlag. Ihr Fuß stockte und eine eisige Hand griff nach ihrem Herzen. „Nein!“, flüsterte sie entsetzt. „Das kann es nicht geben! So etwas kann einfach nicht möglich sein.“ Janine stand vor dem Rosenhäuschen, in dem sie mit ihrer Mutter lebte.
gespielt, oder hatte der Geist ihres Großvaters abermals zu ihr gesprochen? Plötzlich fürchtete sie sich vor dem Haus, dessen Licht ihr immer noch anheimelnd entgegenstrahlte. Mutlos geworden, ließ sich Janine auf den feuchten Boden sinken. Der Hoffnungsfunke war erloschen. Ich werde hier sitzen bleiben und warten, bis es hell geworden ist, entschied sie. Irgendwann geht auch die längste Nacht vorüber. Und bei Tageslicht würde sie sicher bald das Schlosshotel erreichen. Sehr weit konnte sie nicht davon entfernt sein. Doch kaum hatte sie diesen Gedanken zu Ende gedacht, als sie von kalten Knochenfingern am Arm gepackt und in die Höhe gerissen wurde. „Es hat keinen Zweck“, krächzte die Stimme aus dem Totenreich. „Du kannst deinem Schicksal nicht entrinnen.“ Janine taumelte. Obwohl sie sich die Ohren zuhielt, drang die Geisterstimme überdeutlich in ihr Bewusstsein. Gepeinigt ging die junge Frau weiter. Sie musste tun, was der alte Mann von ihr verlangte. Da erklangen dumpfe Glockenschläge durch die Nacht. War hier in der Nähe eine Kirche? Janine wurde es ganz seltsam zumute. Die Glocken klangen genauso wie die von der Kirche in Margaix! Das Licht war jetzt nicht mehr allzu weit entfernt. Mit Erstaunen stellte Janine fest, dass sie auf einer Asphaltstraße ging. Auch konnte sie die Umrisse einiger Gebäude erkennen. Janine atmete erleichtert auf. Wo eine Straße und Häuser waren, mussten auch Menschen sein. Hier gab es jedenfalls nichts, das gespenstisch auf sie wirkte. Wo sie sich jetzt wohl befand? Sicher in einem Dorf in der Nachbarschaft. Seltsam, dachte Janine, fast hatte sie das Gefühl, als ob sie hier schon einmal gewesen war. Im selben Moment wusste sie aber auch, dass das nicht möglich war. Seit ihrer Ankunft in dem Schlosshotel
* „Wir gehen am besten zum Strand hinunter, zu der Stelle, wo Miss Debret sich von Mrs. Fruitvale verabschiedet hat“, schlug Lawrence Bradford vor. Wie selbstverständlich hatte er das Kommando bei der Suche nach Janine übernommen. „Und dann?“, fragte Mister Mayfield nervös. Monsieur Riviere warf ihm einen ärgerlichen Blick zu. „Dann verteilen wir uns natürlich, was dachten Sie denn? Jeder von uns geht einen anderen Weg.“ „Ich gehe die Strandpromenade entlang“, ächzte Mrs. Holgrave, die Wirtschafterin. „Eine alte Frau wie ich kann nicht mehr auf den Felsen herumklettern.“ Ohne eine Antwort abzuwarten machte sie sich auf den Weg. „Corny, bitte geben Sie mir den Erste Hilfe-Kasten“, bat Lawrence Bradford. „Denken Sie, dass Sie Miss Debret als Erster finden?“, fragte Monsieur Riviere spitz. Doch Lawrence achtete nicht auf ihn. Sein Innerstes war in einem seltsamen
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am Leben wäre! Sie stand nicht, sondern sie steht mir immer noch nahe!“ „Tut mir Leid“, entschuldigte sich Edward Horton, „ich habe mich wohl etwas ungeschickt ausgedrückt.“ „Schon gut“, brummte Lawrence Bradford. Im Grunde genommen war dieser junge Mann ihm ja sehr sympathisch. „Was können wir jetzt tun?“, fragte Edward Horton leise. Lawrence zuckte die Schultern. „Im Moment wohl nichts. Das ist die schwärzeste Nacht, die ich je erlebt habe in jeder Hinsicht. Die gräfliche Familie wird wohl die Polizei einschalten müssen, auch wenn sie meint, so etwas könnte ihrem guten Ruf schaden.“ „Sie mögen die Selkirks nicht?“, fragte Edward Horton vorsichtig. Lawrence Bradford stieß verächtlich den Rauch seiner Zigarette aus. „Die Selkirks haben sich in diesem Schloss breit gemacht, obwohl sie es gar nicht geerbt haben. Und sie haben gegen den ausdrücklichen Willen des Verstorbenen ein Hotel daraus gemacht. Wissen Sie, wer das Schloss geerbt hat? Mademoiselle Janine Debret!“ Edward Horton starrte sein Gegenüber entgeistert an. „Miss Debret, nach der wir so verzweifelt suchten? Sie ist die Erbin des Schlosshotels? Um Himmels willen!“ „Was heißt hier um Himmels willen?“, wiederholte Lawrence verwundert. Dann ging ihm ein Licht auf. Mit hartem Griff packte er Edward Horton am Arm. „Sie denken doch nicht etwa, dass die Selkirks mit Janines Verschwinden etwas zu tun haben?“, keuchte er. „Bei Erbschaftsangelegenheiten sind schon die tollsten Sachen passiert“, war Hortons Antwort. „Ich weiß das aus Erfahrung, denn ich bin Notar und Vermögensverwalter.“ „Das wäre ungeheuerlich!“, stieß Lawrence hervor. „Ich werde der Sache nachgehen. Und ich werde nicht eher ruhen, bis ich Miss Debret gefunden habe!“
Aufruhr. Er musste jetzt, dass er sich in die schöne Französin verliebt hatte, und sein Herz verkrampfte sich vor Angst zum sie. Hoffentlich klärt sich alles auf, hoffentlich ist ihr nichts zugestoßen, dachte er und schickte ein Stoßgebet zum Himmel, was er nicht mehr getan hatte, seit er erwachsen war. „Ich sehe einmal am Strand nach, ob ihre Kleider dort liegen“, meinte Hilla schüchtern. „Gute Idee“, stimmte Mr. Mayfield zu. „Wenn sie nicht dort liegen, ist sie auch nicht baden gegangen und kann folglich auch nicht ertrunken sein.“ Lawrence Bradford warf ihm einen vernichtenden Blick zu. Er konnte diesen selbstgefälligen Lehrer nicht ausstehen. Am liebsten hätte er auf dessen Mithilfe verzichtet. Die Männer verteilten sich. Die Frauen schickten sie wieder zurück ins Schloss. Die Nacht war undurchdringlich. Es hatte keinen Sinn, noch andere Menschen zu gefährden. Nach einer Stunde trafen sich die Männer wieder unten am Strand, wie es ausgemacht gewesen war. Keiner hatte eine Spur von Janine Debret entdeckt. „Das gibt es doch nicht“, stöhnte Lawrence Bradford. „Sie kann doch nicht einfach vom Erdboden verschluckt sein!“ Die Ungewissheit über Janines Verbleib setzte ihm mehr zu, als wenn er sie verletzt gefunden hätte. „Ich schlage vor, wir kehren wieder ins Hotel zurück“, sagte Julian. Mit steifen Schritten ging er davon. Monsieur Riviere und Mister Mayfield folgten ihm. Ratlosigkeit stand in ihren Gesichtern geschrieben. Lawrence Bradford blieb unschlüssig am Strand stehen. Mister Horton, einer der neuen Hotelgäste, bot ihm eine Zigarette an. „Stand Miss Debret Ihnen sehr nahe?“, erkundigte er sich mitfühlend. „Mein Gott“, fuhr Lawrence auf, „Sie reden ja gerade so, als wenn sie nicht mehr
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seiner Stimme. Lawrence ballte die Hände grimmig zu Fäusten. „Ganz recht, mein Lieber! Das war ein alberner Spuk, inszeniert von den Selkirks.“ Edward Horton schüttelte skeptisch den Kopf. „Glauben Sie das wirklich, Mr. Bradford?“ „Ich weiß nicht, was die Selkirks wirklich vorhaben“, gab Lawrence grimmig zurück. „Aber ich möchte zu gern wissen, was sie mit Janine gemacht haben!“
Die beiden Männer wandten sich zum Gehen. Plötzlich wurde Lawrences Blick von etwas gefesselt, was er noch nicht genau erkennen konnte. „Bleiben Sie stehen, Horton!“, rief er unterdrückt. „Sehen Sie das auch? Dort, im zweiten Tretboot von rechts. Da ist etwas!“ Edward Horton ging auf das Boot zu und richtete den Strahl seiner Taschenlampe darauf. Deutlich konnten die beiden Männer eine schwarze Gestalt darin entdecken. „Janine?“, rief Lawrence hoffnungsvoll. Doch eine innere Stimme sagte ihm, dass er sich täuschte. „Das kann niemals Miss Debret sein“, raunte Edward Horton. „Schauen Sie doch genau hin!“ Die beiden Männer traten näher an das Boot heran. „Was suchen Sie hier?“, fragte Lawrence scharf, als er einen alten Mann in dem Tretboot erkennen konnte. Als Antwort ertönte ein schauderhaftes, gellendes Gelächter. Die Gestalt streckte bleiche Knochenfinger nach den entsetzten Männern aus und war im selben Augenblick verschwunden. „Verstehen Sie das?“, fragte Lawrence Bradford, nachdem er sich wieder gefasst hatte. Er spürte, wie sich ihm die Nackenhaare sträubten. Edward Horton musste sich mehrmals räuspern, bevor er eine Antwort geben konnte. „Ich ... ich weiß nicht“, stotterte er verwirrt. „Ich dachte, meine Nerven hätten mir einen Streich gespielt. Aber offenbar haben Sie diese Gestalt, die so schauderhaft gelacht und sich dann in Nichts aufgelöst hat, auch gesehen!“ Lawrence Bradford nahm Mr. Horton am Arm. „Kommen Sie, lassen Sie uns von hier verschwinden!“ Nur zu gern ging Edward Horton darauf ein. „Was meinen Sie, was das gewesen ist? Ein Spuk vielleicht?“, fragte er und es lag schon wieder ein belustigtes Lachen in
* Vorsichtig streckte Janine die Hand nach der Gartenpforte aus. Sie quietschte und kreischte hässlich in den Angeln. Befremdet hielt sie inne. Nein, das konnte nicht ihr Zuhause sein! Quietschende Türen, die zudem noch schief in den Angeln hingen, hatte es bei ihnen noch nie gegeben. Und doch, es war das Rosenhäuschen, daran gab es keinen Zweifel, auch wenn es jetzt irgendwie fremd aussah. Das Licht über der Haustür schaukelte sanft, als wurde es von Geisterhand hin und her bewegt. Ob ihre Mutter in dem Haus war? Sicher, dachte Janine hoffnungsvoll, als könne es gar nicht anders sein. Bestimmt wird sie jetzt schon schlafen. Janine hatte zwar jegliches Zeitgefühl verloren, aber sie sagte sich, dass es wahrscheinlich schon nach Mitternacht war. Der Gedanke, ihre Mutter gleich zu sehen, beflügelte ihre Schritte. Eilig ging sie durch den Vorgarten. Seltsam, dachte Janine dann betroffen, die Rosen müssten doch um diese Jahreszeit in verschwenderischer Fülle blühen. Wieso waren sie jetzt alle verwelkt oder vertrocknet? Als sie die Treppe zur Haustür hinaufging, merkte sie, dass die Steinstufen verwittert und abgebröckelt waren. In der morschen Haustür klafften ein paar tiefe Risse. Eine namenlose Angst breitete sich in
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Nur fort von diesem grauenvollen Wrack, aus dem sie deutlich der Atem des Todes gestreift hatte! „Maman!“, rief Janine mit gellender Stimme, als sie über die brach liegenden Gemüsebeete auf das Haus zustolperte. „Maman, bitte komm mir zu Hilfe!“ Doch nichts regte sich in dem Haus. „Maman, hilf mir doch!“, wimmerte Janine. „Ich glaube, ich bin verrückt geworden. Ich habe den Verstand verloren. Das Gespenst hat mich in den Wahnsinn getrieben!“ Janine horchte auf. Hatte sie nicht eben etwas gehört? Aber es war nur das Echo ihrer eigenen Stimme gewesen, das dumpf aus dem hinteren Teil des weitläufigen Gartens widerhallte. „Geh ins Haus!“, krächzte es plötzlich hinter ihr. „Geh zu deiner Mutter!“ „Mutter?“, flüsterte Janine tonlos. „Dann ist sie doch im Haus?“ Ein höhnisches Gelächter war die Antwort. Janine nahm ihren ganzen Mut zusammen und drückte die Haustür auf. Feuchte, modrige Luft schlug ihr entgegen. Lange, klebrige Spinnweben verfingen sich in ihrem Haar. Tapfer würgte Janine den Ekel, der in ihr hochstieg, hinunter. Dort war die Küche. Janine betrat sie als Erstes. Eine dicke Staubschicht bedeckte den Boden. Schmutziges Geschirr stand umher und auf dem Küchentisch stand ein Krug mit Cidre, auf dem sich dicker Schimmel gebildet hatte. „Maman“, rief Janine erstickt. Sie konnte einfach nicht begreifen, was hier vorgefallen war . Der gleiche trostlose Anblick erwartete sie im Wohnzimmer, in dem sie mit ihrer Mutter so viele gemütliche Stunden verbracht hatte. Die schöne Polstergarnitur war zerschlissen und wies hässliche Löcher auf. Die Vorhänge hingen in Fetzen vor den zerbrochenen Fensterscheiben. Kraftlos ging sie zur Treppe. Sie wollte sich auch in den oberen Räumen noch umsehen, auch wenn sie nicht glaubte, dass
Janine aus. Was war hier geschehen? War das etwa doch nicht das Rosenhäuschen? Eigentlich konnte es ja auch nicht sein. Sie war schließlich vom Manston Springs Hotel zu einem Spaziergang aufgebrochen und konnte jetzt schlecht in der Bretagne gelandet sein, auch wenn sie in der Zwischenzeit soviel unglaubliche Dinge erlebt hatte, dass sie sich nicht weiter darüber gewundert hätte. Und doch, dieses Haus glich dem Rosenhäuschen aufs Haar! Diese eigenwillige Architektur mit den Erkern und den eingelegten Balken, die an Fachwerk erinnerten, gab es nicht überall. Auch die weiß lackierte Bank stand noch dort, wo sie immer so gern gesessen hatte. Beklommen schaute sie sich weiter um. Sie erblickte noch mehr vertraute Dinge, und in Janine verstärkte sich das Gefühl, doch zu Hause zu sein. Aber warum machte alles so einen verwahrlosten Eindruck auf sie? Warum sah es hier aus, als würde seit Jahren niemand mehr in diesem Haus wohnen? Plötzlich entdeckte sie etwas, was sie vor Entsetzen erstarren ließ. In der Einfahrt stand ihr Auto, ihr weißer Renault! Aber das Auto sah schrecklich aus! Es war nur noch ein Wrack. Man konnte deutlich erkennen, dass sich der Fahrer des Wagens damit überschlagen hatte. Aber ihr Auto stand doch auf dem Parkplatz des Manston Springs Hotels! Verlor sie allmählich den Verstand? Eine unheimliche Erregung hatte Janine gepackt. Was ging hier vor? Sie musste es genauer wissen! Zögernd trat sie näher und entzifferte das Nummernschild. Es war tatsächlich ihr Auto! Als sie einen Blick in das Wageninnere warf, lähmte sie das Entsetzen aufs Neue. Die Sitzpolster waren zerrissen und mit Glassplittern übersät. Überall klebte Blut. Die dünnen Rinnsale liefen über die eingedrückte fensterlose Tür und tropften auf Janines Schuhe. Mit einem Aufschrei wich sie zurück.
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Aber sie konnte ihn nur verschwommen erkennen. Wie eine Schlafwandlerin ging Janine durch die Menschen hindurch, die sich fragend um sie drängten. Denken oder sprechen konnte sie im Moment nicht. Sie fühlte nur, dass sie hier in Sicherheit war. Instinktiv wusste sie, dass diese Treppe zu einem Raum führte, in dem ein bequemes Bett stand und in dem sie schon einmal geschlafen hatte. Dorthin lenkte sie nun ihre Schritte. Doch kaum hatte sie ein paar Stufen erklommen, als ihr plötzlich schrecklich übel wurde und sie ohnmächtig in Lawrence Bradfords Arme sank, der sie geistesgegenwärtig auffing.
sie dort oben etwas anderes sehen würde. An der Tür zu dem Zimmer ihrer Mutter verharrte sie einen Moment regungslos. Dann drückte sie die Klinke herab. Ein widerlicher, süßlicher Leichengeruch schlug ihr entgegen. Mit zitternden Händen machte sie Licht. Als sie die Gestalt auf dem Bett erkannte, stieß sie einen Schrei aus, der nichts Menschliches mehr hatte. Ihre Mutter lag mit blutverschmierten Kleidern im Bett. Sie musste schon seit langem tot sein, denn ihr Körper war zum größten Teil schon skelettiert. Vor Grauen geschüttelt floh Janine aus dem Zimmer. Wahllos öffnete sie eine Tür und befand sich dann in ihrem eigenen Zimmer. Auch hier schlug ihr Leichengeruch entgegen und auch in ihrem ehemals schönen Messingbett lag eine Gestalt. Wie unter einem fremden Zwang trat sie näher. Das war ja sie selbst! durchzuckte es sie wie ein Schlag. Sie selbst lag in ihrem Bett, ebenso tot und fürchterlich skelettiert wie ihre Mutter. Plötzlich ging ein Krachen und Beben durch das Haus, so dass Janine das Gefühl hatte, es würde jeden Moment in sich zusammenstürzen. Krampfhaft krallten sich ihre Finger um den Türgriff. Sie wollte fliehen, wagte es aber nicht, sich zu bewegen. „Jetzt hast du gesehen, was passiert, wenn du meine Forderung nicht erfüllst!“, kicherte eine hässliche Stimme dicht neben ihr. In Panik lief Janine die Treppe hinunter und zur Haustür. Als sie diese öffnete, wurde sie von einem hellen Licht geblendet, und Stimmengemurmel empfing sie. Verwirrt riss sie die Augen auf. Diese Menschen hier kannte sie doch alle! „Endlich, Janine“, drang eine bekannte Stimme an ihr Ohr. „Wo haben Sie nur gesteckt? Wir haben uns solche Sorgen um Sie gemacht!“ Diese Stimme gehört einem netten jungen Mann, den ich kenne, fiel es Janine ein.
* Als Janine wieder zu sich kam, blickte sie in lauter besorgte Gesichter. Ein kleiner rundlicher Mann stand vor ihr und zog eine Spritze auf. Ein Arzt? „Was ist los?“, fragte sie verwundert. „Warum sind Sie alle hier in meinem Zimmer?“ Fragend blickte sie sich um. Dabei erkannte sie, dass sie gar nicht in ihrem Zimmer, das sie im Manston Springs Hotel bezogen hatte, lag. Aber wo befand sie sich dann? Die Gesichter um sie herum kannte sie. Da war Lawrence Bradford, dem ihr Herz gehörte, Mrs. Fruitvale, die nette alte Dame, Mrs. Mayfield, die sie weniger mochte, und Mrs. Holgrave, die nur mit Nachthemd und Morgenmantel bekleidet war . Und offensichtlich ein Arzt! „Wie fühlen Sie sich, Miss Debret?“, fragte dieser jetzt und befühlte ihren Puls. „Ich ... ich weiß nicht“, stotterte Janine verlegen. „Ich weiß überhaupt nicht, was los ist!“ „Janine, bitte versuche dich zu erinnern“, bat Lawrence Bradford mit zärtlicher Stimme. „Es ist wichtig für Dr. Welldom.“ Janine schloss beglückt die Augen.
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Janine geschehen? Allmählich löste sich Janines Erstarrung. Weinend sank sie in die Kissen zurück. Dabei presste sie Lawrences Hand an ihre glühenden Wangen. „Oh Lawrence, es ist so entsetzlich“, flüsterte sie. „Meine Mutter ist tot!“ „Mein armes Kind“, sagte Mrs. Fruitvale voller Mitgefühl. „Haben Sie das heute erfahren?“ Janine nickte mechanisch. „Ich war zu Hause. Sie lag auf ihrem Bett. Sie muss schon lange tot gewesen sein. Und ich auch.“ Abermals wurde Janines Körper von einem wilden Schluchzen geschüttelt. Es schien, als könne sie sich überhaupt nicht mehr beruhigen. Dr. Welldom schickte die Anwesenden aus dem Zimmer. „Ich werde bei ihr wachen“, erklärte Lawrence Bradford. „Ich bin selbst Arzt.“ „Gut, Kollege.“ Dr. Welldom schien sichtlich erleichtert. Die neue Patientin bereitete ihm einiges Kopfzerbrechen. Janine beruhigte sich etwas. Ihre kalten Finger umklammerten immer noch Lawrences Hände. „Janine“, sagte er leise. „Du kannst doch unmöglich in dieser kurzen Zeit in der Bretagne gewesen sein. Oder hast du ein Flugzeug genommen?“ Janine schüttelte den Kopf. „Nein, ich bin gelaufen“, erwiderte sie müde. Die Spritze tat bereits ihre Wirkung. Lawrence Bradford und Dr. Welldom blickten sich verständnislos an. Der alte Arzt schüttelte bekümmert den Kopf und packte seine Sachen zusammen. „Ich kann hier nichts mehr tun, Herr Kollege“, erklärte er. „Aber ich bin mir fast sicher, dass morgen alles wieder anders aussieht.“ Lawrence Bradford nickte ihm zerstreut zu. Den Abschiedsgruß des Arztes vergaß er zu erwidern. Die Sorge um Janine wurde fast übermächtig in ihm. Was konnte sie nur für ein schreckliches Erlebnis gehabt haben? Oder hatte sie sich irgendwo niedergelegt und war eingeschlafen? Hatte
Lawrence hatte sie geduzt! Aber an was sollte sie sich erinnern? „Kindchen, wissen Sie denn nicht mehr, wo Sie hingegangen sind, nachdem wir uns nach der Bootsfahrt getrennt hatten?“, fragte Mrs. Fruitvale. Ihre Stimme klang verzweifelt. „Es ist nicht so schlimm, wenn Sie sich im Moment an nichts erinnern“, meinte Dr. Welldom begütigend. „Schlafen Sie sich erst einmal richtig aus. Ich habe Sie gründlich untersucht und festgestellt, dass Sie nicht verletzt sind.“ Janine zermarterte ihr Gedächtnis. Es interessierte sie selbst brennend, warum sie hier lag und sich alle um sie sorgten. Einen Unfall hatte sie also nicht gehabt. Der Arzt hatte gesagt, dass sie nicht verletzt war. Natürlich, sie war ja auch gar nicht mit dem Auto gefahren. Sie war spazieren gegangen, wie es ihr jetzt wieder einfiel. Plötzlich stand wie eine Vision das Autowrack vor ihrem geistigen Auge. „Oh nein!“, rief sie. „Ich weiß es wieder! Ich hatte einen Unfall mit dem Auto. Es war schrecklich! Ich muss entweder schwer verletzt oder gar tot sein. Es war alles voller Blut!“ Aufweinend schlug Janine die Hände vors Gesicht. Dr. Welldom blickte sie ratlos an. „Aber Miss Debret, Ihr Wagen steht doch noch auf dem Parkplatz“, sagte Mrs. Holgrave verständnislos. „Unversehrt, wie ich festgestellt habe.“ „Janine, hattest du dir ein Auto geliehen?“, forschte Lawrence Bradford sanft. Janine hörte ihn nicht. Mit weit aufgerissenen Augen, in denen das blanke Entsetzen stand, blickte sie in eine unbekannte Ferne. Sie sah nicht die erschrockenen Gesichter um sich herum. Sie nahm auch Lawrences streichelnde Hand nicht wahr. Auch von der Spritze, die Dr. Welldom ihr jetzt gab, spürte sie nichts. „Janine?“, rief Lawrence heiser. Die Angst um die geliebte Frau brachte ihn schier um den Verstand. Was war nur mit
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verstört und ... ähm, sehr verwirrt. Nachdem sie auch noch ohnmächtig geworden war, ließen wir einen Arzt kommen. Als sie wieder zu sich kam, konnte sie sich erst an nichts erinnern. Doch dann schrie sie furchtbar und behauptete, zu Hause in Margaix gewesen zu sein und Sie tot aufgefunden zu haben. Auch sprach sie von einem Autounfall.“ „Mein Gott, das ist ja entsetzlich“, rief Germaine Debret. „Ich wollte mich nur vergewissern, gnädige Frau, dass Ihnen nichts zugestoßen ist. Könnten Sie wohl im Lauf des Vormittags hier anrufen und mit Janine sprechen? Besser wäre es natürlich, wenn Sie gleich selbst kommen könnten. Ich glaube, Janine braucht Sie hier auch in einer anderen Angelegenheit.“ „Hat Janine Ihnen von ... von der Erbschaft erzählt?“, wollte Germaine Debret wissen. Sie hatte Mühe, ruhig zu sprechen. „Ja, das hat sie. Offenbar gibt es da Schwierigkeiten.“ „Janine hat anscheinend Vertrauen zu Ihnen, Mister Bradford. Ich will Ihnen auch etwas sagen. Oder hat Janine Ihnen schon von den schrecklichen Ereignissen in Margaix erzählt?“ Lawrence Bradford verneinte. „Dann lassen Sie sich das alles von ihr erzählen, das Gespräch wird sonst zu teuer. Ich werde auf jeden Fall sofort packen und auf dem schnellsten Weg nach Carlisle kommen. Passen Sie in der Zwischenzeit gut auf meine Tochter auf, Mister Bradford.“ Lawrence versprach es und verabschiedete sich dann von Germaine Debret. Nachdenklich hängte er den Hörer ein. Er war froh, dass wenigstens hier alles in Ordnung war. Janine würde das sehr beruhigen. Janine! Alles Blut strömte ihm zum Herzen, als er an sie dachte. Noch nie zuvor war ihm eine Frau begegnet, die einen so tiefen Eindruck auf ihn gemacht hatte wie sie. Er hatte sich in sie verliebt.
sie dabei einen Albtraum gehabt, der sie so verwirrt hatte? Aber warum hatte man dann Janine nirgendwo gefunden? Plötzlich hatte er einen Einfall. Er überzeugte sich, dass Janine wirklich tief und fest schlief, dann ging er hinunter zum Telefon. Zuerst rief er die Auskunft an, um sich die Nummer von Madame Debret geben zu lassen. Doch da es noch ziemlich früh am Morgen war, knapp fünf Uhr, beschloss er, noch etwas zu warten. Er sah noch einmal nach Janine, dann ging er in sein Zimmer und goss sich einen Whisky ein. Normalerweise war das keine Zeit, um Whisky zu trinken, aber heute machte er eine Ausnahme. Vielleicht ging es ihm hinterher dann wieder besser. Plötzlich durchfuhr ihn ein entsetzlicher Gedanke. Er dachte an die schwarze Gestalt, die er zusammen mit Mister Horton in einem der Tretboote entdeckt hatte. Hatte dieses Wesen Janine etwas angetan? Welche Grausamkeiten hatten sich die Selkirks ausgedacht, um Janine aus dem Schloss zu vertreiben? Wütend stellte er das Whiskyglas ab. Er würde sich Klarheit verschaffen. Und er würde Janine keinen Moment mehr aus den Augen lassen! Lawrence Bradford ließ eine weitere halbe Stunde verstreichen, dann ging er erneut zum Telefon. Kurz darauf meldete sich eine verschlafene Stimme. „Madame Debret? Bitte entschuldigen Sie die frühe Störung. Hier spricht Lawrence Bradford vom Manston Springs Hotel. Janine und ich haben uns angefreundet. Leider ...“ „Ist etwas mit meiner Tochter?“, fragte Germaine Debret erschrocken. Janine hatte ihr bei ihrem letzten Anruf gesagt, dass sie sich vor den Selkirks fürchte und am liebsten auf das Erbe verzichten wollte. „Gnädige Frau, bitte beunruhigen Sie sich nicht. Janine ist gestern Vormittag zu einem Spaziergang aufgebrochen, von dem sie erst heute gegen Morgen zurückgekehrt ist. Trotz einer Suchaktion konnten wir sie nicht finden. Janine kam wie eine Schlafwandlerin zurück. Sie wirkte sehr
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Stirn. „Janine“, sagte er eindringlich, „wenn du dich mir anvertrauen willst, verspreche ich dir, jedes deiner Worte zu glauben, was immer du mir auch zu berichten hast. Aber vorher möchte ich dir etwas sagen, was dich sicher freuen wird, auch wenn du mir meine Eigenmächtigkeit vielleicht übel nimmst. Ich habe deine Mutter angerufen. Ihr geht es gut.“ Tränen der Erleichterung schossen Janine in die Augen. „Danke, Lawrence, das war lieb von dir. Ich hatte solche Angst, dass mein ... Traum eine schreckliche Bedeutung haben könnte.“ „Sei unbesorgt, Liebes. Deine Mutter wird bald zurückrufen. Und sie wird sicher bald hier eintreffen.“ „Maman kommt?“, rief Janine erfreut. „Das ist zu schön, um wahr zu sein!“ „Sie meinte, ich solle mir von dir von den schrecklichen Ereignissen in Margaix erzählen lassen“, sagte Lawrence ernst. „Sie vermutete, dass du Vertrauen zu mir hast, weil du mit mir über deine Erbschaft gesprochen hast.“ Janine bekam einen Schrecken. Sie seufzte schwer. Doch hatte sie nicht selbst das Bedürfnis, sich alles von der Seele zu reden? Es klopfte. Corny brachte Dr. Welldom herein. „Guten Morgen, Miss Debret“, begrüßte der Arzt sie. „Ich sehe zu meiner großen Freude, dass es Ihnen schon wieder besser geht?“ Er stellte seine große Tasche schwungvoll ab und kramte darin herum. Lächelnd ließ Janine sich den Puls fühlen und den Blutdruck messen. „Können Sie sich wieder an alles erinnern, Miss Debret?“, fragte der Arzt. „Ja“, erwiderte sie. „Ich bin wieder in Ordnung. Kann ich aufstehen?“ „Es spricht nichts dagegen“, meinte Dr. Welldom. Als er wieder gegangen war, bat Janine Lawrence, sie allein zu lassen. „Ich möchte mich duschen und anziehen“, erklärte sie. „Corny bringt mir
Nein, wahrscheinlich liebte er sie! Aber durfte er nach so kurzer Zeit schon um sie werben? Durfte er überhaupt um sie werben, nachdem sie diesen riesigen Besitz geerbt hatte? Würde sie nicht denken, er wolle sich ins gemachte Nest setzen? Lawrence ging wieder zu Janines Zimmer. Dort saß bereits Mrs. Holgrave und rührte in einem Wasserglas. „Ich war nur eben telefonieren“, entschuldigte sich Lawrence. „Ich weiß, Mister Bradford. Ich habe Sie gesehen. Es ist Zeit für die Medizin. Miss Debret wird gleich aufwachen.“ „Dann werde ich hier bleiben“, entschied Lawrence. „Ich habe gerade mit Miss Debrets Mutter gesprochen. Sie wird bald hier eintreffen.“ „Das ist gut“, sagte Mrs. Holgrave und ließ ihn dann mit Janine allein. Lawrence ging zum Fenster und ließ die frische Morgenluft herein. Es versprach wieder ein schöner Tag zu werden. Nur würde er mit Janine sicher nichts unternehmen können. „Guten Morgen“, sagte sie da unvermittelt und in einem Ton, der ihn freudig herumfahren ließ. Mit einem Satz war er an ihrem Bett und nahm ihre Hände in die seinen. „Janine, geht es dir wieder besser? Hast du das Schreckliche überstanden?“ Janine nickte und schluckte gehorsam ihre Medizin, die Lawrence ihr einflößte. Gerührt las sie die Besorgnis in seinen Augen. Alle Schrecken der vergangenen Nacht waren von ihr abgefallen. Sie fühlte sich glücklich und geborgen. „Willst du mir nicht sagen, was eigentlich passiert ist?“, forschte Lawrence behutsam. Über Janines schönes Gesicht flog ein Schatten. „Ich möchte nicht darüber reden. Du würdest mir sowieso nicht glauben und nur denken, dass ich noch wirr im Kopf bin. Und dann würdest du den Arzt rufen, und ich müsste den Rest meines Lebens in einem Sanatorium verbringen.“ Lawrence beugte sich über Janine und strich ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Dann küsste er sie sanft auf die
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sein.“ Janine errötete unter seinem Blick. „Telefon für Miss Debret“, meldete der Butler. Wie ein Wirbelwind stob Janine davon, und Lawrence schaute ihr mit einem zärtlichen Blick nach. Wenige Minuten später kehrte sie wieder ins Jagdzimmer zurück, ein frohes Lächeln auf den Lippen. „Das Gespräch mit Maman hat mir richtig Auftrieb gegeben“, erklärte sie lachend. „Stell dir vor, Lawrence, sie kommt morgen wirklich! Sie nimmt das Flugzeug. Ach, ich freue mich so sehr! Wollen wir sie zusammen in Carlisle abholen?“ „Aber natürlich, Janine. Das ist doch selbstverständlich.“ Als sie unten am Strand angelangt waren, schlug Lawrence einen verschwiegenen Seitenpfad ein, den die Hotelgäste nur selten benutzten. Doch Janine wandte sich nach rechts. „Ich möchte diesen Weg gehen, Lawrence“, bat sie. „Es ist der Weg, den ich gestern schon gegangen bin. Ich möchte dir erzählen, was mir dabei widerfahren ist.“ Nachdem sie eine Weile gegangen waren, begann Janine mit ihrem Bericht. Sie erzählte von zuhause in Margaix, von dem geisterhaften alten Mann, und wie alles angefangen hatte. Als Janine die schwarze Gestalt erwähnte, packte Lawrence sie fast hart am Arm. „Kannst du mir diese Gestalt näher beschreiben?“, bat er erregt. „Ich glaube sie nämlich zu kennen!“ „Du?“, rief Janine fassungslos. Doch dann kam sie seiner Aufforderung nach, ohne weiter zu fragen. „Das ist der gleiche Mann!“, stieß Lawrence aus, als sie geendet hatte. Dann erzählte er ihr von dem Erlebnis, das er mit Mr. Horton gehabt hatte und dass er ein Mitglied der Familie Selkirk für den Urheber dieses makabren Spuks hielt. „Ja, es ist jemand von der Familie Selkirk“, sagte Janine leise. „Aber es ist
später das Frühstück. Wenn es dir Recht ist, können wir anschließend einen Spaziergang machen. Ich werde dir dann alles erzählen. Draußen in der Sonne wird mich die Erinnerung daran nicht so bedrücken. Aber sag mal, in welchem Zimmer bin ich hier eigentlich?“ „So viel ich weiß, ist das eine Suite für besondere private Gäste. Ich hörte, dass sie in Zukunft dir vorbehalten sein soll. Dir und deiner Mutter, wenn ich das richtig verstanden habe.“ Janine überlegte lange, was sie für den Spaziergang mit Lawrence anziehen sollte. Dann entschied sie sich für ein hellblaues Sommerkleid mit zartem Blümchenmuster. Als sie in den Spiegel blickte, sah ihr ein bleiches Gesicht entgegen. Rasch legte sie etwas Makeup und Rouge auf. Sie wollte sich für Lawrence besonders schön machen. Wie sehr er ihr schon vertraut war! Und wie sehr sie ihn mochte! Oder war es bereits mehr? Janine frühstückte und ging dann hinunter. Erst war es ihr ein bisschen peinlich, all den Leuten zu begegnen. Doch die meisten hatten das Hotel schon verlassen und die wenigen, die noch hier waren, unter ihnen Mrs. Fruitvale und eine Dame, die sich mit Evelyn Horton vorstellte, erkundigten sich freundlich und liebenswürdig nach ihrem Befinden. „Ich bin so froh, dass wir Sie wieder bei uns haben“, strahlte Mrs. Fruitvale und drückte Janine fest die Hand. „Du siehst bezaubernd aus, Janine“, stellte Lawrence Bradford fest und umfing das Mädchen mit einem zärtlichen Blick, der auch Mrs. Fruitvale nicht entging. Zufrieden schmunzelnd wandte sie sich ab. „Ein schönes Paar, finden Sie nicht auch, Mrs. Horton?“ Mrs. Horton bestätigte das sofort. „Trinken wir noch eine Tasse Kaffee zusammen, Lawrence?“, fragte Janine. „Wir müssen noch auf Mamans Anruf warten.“ „Ja, natürlich“, gab Lawrence zurück. „Das hätte ich fast vergessen in meiner Freude, mit dir ein paar Stunden allein zu
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Beglückt erwiderte sie seinen Kuss. Dann musste sie lachen, als sie sein Schuld bewusstes Gesicht sah. „Lawrence Bradford, ich erkläre dir hiermit feierlich, dass ich auf Manston Springs Hotel, oder auf Selkirk Manston Abbey, wie es ja ursprünglich heißt, verzichten werde, auch wenn Großvater das nicht Recht ist.“ Lawrence blickte sie überwältigt an. „Das kann doch nicht dein Ernst sein, Janine! Denke doch bitte daran, was dir alles Schreckliches widerfahren ist. Dir bleibt wirklich keine andere Wahl!“ „Das ist alles nicht so schlimm, wenn du bei mir bist. Schlimmer wäre es für mich, wenn ich ein Leben lang einer verlorenen Liebe nachtrauern müsste.“ „Ach, Janine! Liebst du mich denn auch?“ Statt einer Antwort bot Janine ihm erneut die Lippen, und Lawrence zögerte nicht lange. Leidenschaftlich und doch voll inniger Zärtlichkeit küsste er die Frau, die sein Herz erobert hatte. Allerdings wurde es kein langer Kuss. Ein Krachen und Bersten erfüllte die Luft und riss die beiden Liebenden jäh aus ihrer Verzauberung. „Was ist das?“, presste Lawrence hervor und schlang beide Arme schützend um Janine. Plötzlich glitt eine schwarze Gestalt auf die beiden zu. Sie schwebte halb über dem Boden und war riesig ... Lawrence Bradford war nicht geneigt, sich zum Narren halten zu lassen. Er ließ Janine los, schnellte empor und holte zu einem gewaltigen Kinnhaken aus. Seine geballte Faust schlug durch die schwarze Gestalt hindurch ins Leere. Lawrence stürzte unsanft auf den steinigen Boden. Janine war mit einem Aufschrei hochgesprungen, um ihm zu Hilfe zu eilen. Da näherte sich der alte Mann von der anderen Seite. Wieder ließ er sein schauderhaftes, gellendes Lachen ertönen. „Du hast keine andere Wahl, Janine“, krächzte die Spukgestalt. „Sonst wirst
kein lebendiger Mensch. Es ist der Geist meines Großvaters. Er will unbedingt, dass ich das Erbe antrete, sonst muss ich sterben. In den Genuss einer Kostprobe bin ich ja bereits gekommen.“ Janine erzählte weiter. Sie ließ nichts aus und endete mit dem schrecklichen Erlebnis des gestrigen Tages, das sie in eine furchtbare Geisterwelt geführt hatte. Lawrence war wie vor den Kopf geschlagen. Sein Verstand weigerte sich zu glauben, was Janine ihm da erzählt hatte. Doch er hütete sich davor, sich etwas anmerken zu lassen. „So wie es aussieht, wirst du wohl das Erbe annehmen müssen, wenn du jemals deine Ruhe wieder finden willst“, sagte er heiser. „Obwohl ich von diesem Gedanken mittlerweile gar nicht mehr so erbaut bin.“ „Aber warum nicht?“, fragte Janine erstaunt. „Vor ein paar Tagen hast du mir doch noch zugeredet.“ „Da war es auch noch etwas anderes“, wich Lawrence aus. „Und was hat sich in der Zwischenzeit geändert?“, wollte Janine wissen. Lawrence setzte sich auf einen Felsbrocken und zog Janine neben sich. Es war der Felsen, an dem sie tags zuvor die Knochen gesehen hatte. Jetzt erblickte sie nur noch gelbe Blumen. Zärtlich legte Lawrence seinen Arm um ihre Schultern. „Was sich geändert hat? Ich habe mein Herz an dich verloren. Auch wenn du nur die kleine Lehrerin aus der Bretagne wärst, würde ich um dich werben. Mit der Zeit würden wir sicher beide bemerken, dass wir sehr gut zusammenpassen, und eines Tages wärst du meine über alles geliebte Frau. Da du nun aber diesen riesigen Besitz geerbt hast, könntest du leicht denken, ich wollte mich nur an dir bereichern. Ich darf dir zwar sagen, dass ich dich liebe, aber ich werde mir die Frage, die ich dir unter anderen Umständen gestellt hätte, verkneifen.“ Janines Herz hüpfte vor Freude. Lawrence liebte sie? Er erwiderte ihre Gefühle?
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Gespenst nicht auch, ich würde glatt an einem Herzschlag sterben!“ „Hier geschehen wirklich unglaubliche Dinge“, warf Monsieur Riviere ein, der zu der kleinen Gruppe getreten war. „Irgendjemand hat meine Bilder zerkratzt und zerschnitten. Ist das nicht ungeheuerlich? Natürlich glaube ich nicht an ein Gespenst wie die Mayfields, das ist ja geradezu lächerlich. Vielmehr wird sich die Familie Selkirk einen Scherz erlaubt haben, um ihr Schlosshotel attraktiver zu machen. Aber so etwas geht zu weit! Das lasse ich mir nicht gefallen. Ich werde ebenfalls abreisen. Ich habe einige Freunde bei der Presse. Sie werden dafür sorgen, dass dieses feine Hotel kein einziger Gast mehr aufsuchen wird!“ Robert Selkirk versuchte vergebens, den aufgeregten Franzosen zu beschwichtigen. Es gelang weder ihm noch Gladys. Janine warf Lawrence einen bedeutungsvollen Blick zu. „Das war Großvaters Werk“, flüsterte sie. „Er war immer dagegen, dass aus Selkirk Manston Abbey ein Hotel wird.“ Lawrence Bradford nickte. „Beste Gelegenheit, jetzt mit den Selkirks zu sprechen!“, raunte er ihr zu. „Jetzt gleich?“, fragte Janine erschrocken. „Muss das sein?“ „Je früher, desto besser“, gab Lawrence zurück. „Wollen wir nicht damit warten, bis Maman morgen kommt? Sie ist viel energischer als ich.“ „Ich kann dir genauso gut beistehen“, versicherte Lawrence und drückte ihren Arm. Carol Donegan kam auf die beiden zu. Ihre Augen flackerten und ihre Wangen hatten sich hektisch gerötet. „Hast du das mitgekriegt, Larry? Es soll ein echtes Gespenst sein, hörst du? Ich finde das einfach fantastisch!“ Schwärmerisch verdrehte sie die Augen. „Hoffentlich erscheint es mir auch einmal, dieses ehrenwerte Schlossgespenst!“ Im selben Moment tat es einen fürchterlichen Schlag. Der große
nicht nur du sterben, sondern alle, die du liebst!“ Einem gewaltigen Vogel gleich schwebte die schwarze Gestalt zum Himmel empor. Lawrence Bradford rappelte sich mühsam auf. Das, was er eben erlebt hatte, ließ ihn an seinem Verstand zweifeln. So etwas konnte es doch gar nicht geben! „Lass uns zurückkehren“, bat Janine. Sie war wieder sehr blass geworden. Kurz bevor sie das Schlossportal erreichten, blieb Janine stehen. „Ich werde das Erbe wohl annehmen müssen, Lawrence, aber nur unter der Bedingung, dass das kein Hinderungsgrund für unsere Liebe ist. Versprichst du mir das? Ich kann doch auch nichts dafür, dass ich dieses Schloss geerbt habe.“ Er versprach es, doch er konnte sich plötzlich nicht mehr in die glückliche Stimmung zurückversetzen, die ihn vor wenigen Minuten noch erfüllt hatte. * Als sie das Hotel betraten, herrschte dort eine ziemliche Aufregung. Gerade kam Mr. Mayfield mit zwei Koffern die Treppe herunter. Das Haar stand ihm wirr vom Kopf ab, und seine Krawatte war nur lose gebunden. Seine Frau, die ihre weinende Tochter im Arm hielt, stritt sich mit Gladys Selkirk herum. Auch Monsieur Riviere schien sehr erbost zu sein. Mit wilden Gesten versuchte er, Robert Selkirk von irgendetwas zu überzeugen. „Was ist denn hier los?“, wandte Lawrence sich fragend an Mrs. Fruitvale. „Stellen Sie sich vor“, flüsterte die alte Dame aufgeregt, „hier im Schloss soll es tatsächlich ein Gespenst geben! Der Familie Mayfield ist es schon zweimal erschienen. Als sie heute mit dem Tretboot hinausfuhren, waren da plötzlich hohe Wellen und ein schwarz gekleidetes Gespenst wollte das Boot zum Kentern bringen. Ist das nicht entsetzlich? Sie wollen jetzt abreisen, was ich gut verstehen kann. Hoffentlich erscheint mir das
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einmal erschienen? Er wandte sich an Lord Benjamin. Sein Arm lag immer noch um Janines Schulter, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt. „Miss Debret und ich möchten Sie um eine Unterredung bitten, Lord Selkirk“, sagte er in einem Ton, der keinen Widerspruch zuließ. „Bitte, wie Sie wünschen. Gehen wir hinüber in die Bibliothek.“ „Wir wünschen, dass sämtliche Familienangehörige an dieser Unterredung teilnehmen“, fuhr Lawrence autoritär fort. Robert Selkirk zupfte nervös an seiner Krawatte. Was fiel dem jungen Arzt eigentlich ein? Was glaubte er denn, wen er vor sich hatte? Gladys Selkirk zog indigniert die Augenbrauen hoch. Obwohl ihr der Schreck noch in den Gliedern saß, bemühte sie sich um Beherrschung. „Die Unterredung mit Miss Debret ist schon lange fällig. Doch da es sich um eine Familienangelegenheit handelt, die Sie nicht das Geringste angeht, nehmen wir selbstverständlich von Ihrer Anwesenheit Abstand.“ „Mister Bradford ist mein Vertrauter“, sagte Janine mit fester Stimme. „Ich bestehe darauf, dass er mit dabei ist. Doch wenn Ihnen das nicht Recht ist, können wir selbstverständlich auch über einen Rechtsanwalt miteinander verkehren.“ Lawrence warf ihr einen bewundernden Blick zu. Janine hätte die Schlacht sicher auch ohne ihn geschlagen. Gladys Selkirk rang nach Worten. Doch ihr Mann Robert schob sie schon in die Bibliothek. Es war jetzt nicht gut, Miss Debret herauszufordern. Man wollte sich ja gütlich mit ihr einigen, und zwar so, dass seine Familie immer noch den größten Nutzen aus Manston Springs Hotel zog. Robert Selkirk winkte seine Mutter herbei. Mit der Würde einer Königin schritt Lady Linda in die Bibliothek. „Nun, Kind, wie haben Sie sich entschieden?“, fragte sie mit gespielter Freundlichkeit.
Kronleuchter in der Halle war zu Boden gestürzt. Während noch Entsetzen die Stimmen der Anwesenden lähmte, ertönte ein höhnisches Gekicher, das zu einem grauenvollen Gelächter anschwoll. Zum Glück war niemand zu Schaden gekommen. Doch die Gäste waren alle starr vor Schreck. Dann wandten sich wie auf Kommando alle Blicke Robert und Gladys Selkirk zu. Auch Lord Benjamin und Lady Linda standen angstvoll aneinander gepresst beisammen. In ihren Augen stand fassungsloses Nichtbegreifen. Robert Selkirk fand als Erster seine Stimme wieder. „Meine Damen und Herren, ich bitte Sie alle um Verzeihung, dass Sie hier in diesem Hotel, in das Sie alle kamen, um sich ... um sich zu erholen, dass Sie ... hier so erschreckt worden sind! Ich kann Ihnen nur versichern, dass meine Familie und ich nicht begreifen können, wie so etwas passieren konnte. Aber ich werde der Sache nachgehen. Julian, sorgen Sie hier wieder für Ordnung!“ „Gewiss, Mylord.“ Der Butler verneigte sich und schlich davon. Robert Selkirk wischte sich den Schweiß von der Stirn. In seinen Augen stand die nackte Angst. „Was hat das zu bedeuten?“, flüsterte Gladys mit flackernden Augen und krallte ihre Finger in den Arm ihres Mannes. „War das wieder ... Großvater?“ Lawrence Bradford, der ihre Worte gehört hatte, wandte sich um. „Ein reizendes Schlossgespenst haben Sie hier“, höhnte er. „Was werden Sie unternehmen, um Ihre Gäste davor zu schützen?“ „Lieber Mister Bradford“, Lady Linda legte ihre ringgeschmückte Hand auf Lawrences Arm. „Ich verstehe Ihre Erregung durchaus. Aber Sie können uns glauben, dass wir alles tun werden, um zu verhindern, dass sich derartige Dinge wiederholen.“ Sie nickte ihm kühl zu und bemühte sich dann um die anderen Gäste. Sie ahnt etwas, dachte Lawrence Bradford grimmig. War ihr der Geist schon
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Es war ein herrlicher Sommertag, als Janine mit Lawrence nach Carlisle fuhr, um ihre Mutter abzuholen. Mutter und Tochter begrüßten sich herzlich. Doch in ihren Gesichtern stand nicht nur die Wiedersehensfreude, sondern auch große Sorge. „Mein armes Kind“, sagte Germaine Debret mit schwankender Stimme. „Was hast du nur alles ertragen müssen! Wäre ich nur gleich mit dir gefahren!“ Janine saß mit ihrer Mutter im Fond des dunkelgrünen Jaguars, den Lawrence steuerte. Zärtlich streichelte sie die Hand ihrer Mutter. „Bitte mach dir keine Vorwürfe, Maman“, bat sie. „Ich bin so froh, dass du jetzt hier bist. Wer versorgt das Haus in der Zwischenzeit?“ „Meine Freundin Isabell. Sie hat zwar selbst alle Hände voll zu tun, und ich mochte sie fast nicht darum bitten. Aber es ging nun mal nicht anders. Und nun erzähle mir schon, was hier alles vorgefallen ist.“ Janine berichtete ihr alles und klärte sie über die Verhältnisse im Schlosshotel auf. Die Anwesenheit ihrer Mutter tat ihr gut, und wenn sie einen Blick auf Lawrence warf, verspürte sie ein wohliges Gefühl von Geborgenheit. Die zwei Menschen, die sie am meisten liebte, würden ihr helfen, die nächsten Tage, die sicher nicht angenehm werden würden, gut zu überstehen. Als das Schlosshotel in Sicht kam, wurde Germaine Debret von quälenden Erinnerungen geplagt. Plötzlich hatte sie das Gefühl, als wäre alles erst gestern passiert, als lägen nicht fast dreißig Jahre dazwischen, dass man sie und William aus dem Schloss gewiesen hatte. Ein paar Tränen lösten sich aus ihren Augen. Doch dann straffte sie sich. Nun würde sie es sein, sie und ihre Tochter, die den Selkirks die Tür wies! Germaine Debret wollte alles tun, damit Janine mit ihrem Erbe glücklich wurde. „Habe ich dir zu viel zugemutet, Maman?“, fragte Janine besorgt, der die
Janine nahm unbewusst eine steife Haltung ein. „Ich gehe davon aus“, begann sie, „dass Sie mittlerweile wissen, wer hier im Schloss herumspukt. Es ist der Geist meines Großvaters, Lord Christopher Selkirk.“ Janine erzählte abermals von ihrem Zusammentreffen mit der schrecklichen Geistergestalt. Danach berichtete Lawrence, was er erlebt hatte. „Mittlerweile gibt es also mehrere Zeugen für diese seltsame Erscheinung, die Ihnen allen sicher nicht ganz unbekannt ist.“ Lord Benjamin blickte betreten vor sich hin. Seine Frau war blass geworden und warf einen unsicheren Blick auf Robert, der Janine mit durchdringenden Augen ansah. „Was für hübsche Märchen Sie sich ausgedacht haben!“, meinte Gladys spöttisch. „Und Sie glauben jetzt, uns damit vertreiben zu können? Aber mit uns können Sie das nicht machen. Und ich werde mich sicher nicht von einem Gespenst in die Flucht schlagen lassen!“ „Das Schloss gehört mir!“, erklärte Janine nun aufgebracht. „Ich denke nicht daran, auf Ihren Vorschlag einzugehen. Aber ich werde Ihnen nun meinerseits die von Ihnen vorgeschlagene Summe anbieten. Selbstverständlich können Sie in Ihren Räumen wohnen bleiben. Doch der Hotelbetrieb muss eingestellt werden. So wollte es Großvater und so will es auch ich. Ich will endlich meine Ruhe vor diesem Gespenst haben!“ „Das ist doch alles blanker Unsinn“, knurrte Robert Selkirk ohne Überzeugung. Hinter Gladys’ Stirn arbeitete es. Sie hatte, wie sie glaubte, einen genialen Einfall. Doch sie musste es klug anfangen. Wenn ihr Plan klappte, würde diese kleine Französin freiwillig auf das Schloss verzichten. Mehr noch, sie würde niemals mehr hierher zurückkommen! *
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herausgegeben. Sie hatte Germaine Debret nie kennen gelernt, weil sie erst zu einem späteren Zeitpunkt auf das Schloss gekommen war. Doch Lord Benjamin, ihr Gatte, hatte die schöne Französin wie eine gute alte Bekannte begrüßt. Schmerzlich musste Lady Linda einsehen, dass sie im Begriff war, ihren Gatten als Verbündeten zu verlieren, wenn es darum ging, das Manston Springs Hotel um jeden Preis zu halten. Ärgerlich zerknüllte sie ihr Taschentuch. Würde es bald so weit kommen, dass sie das Schloss verlassen mussten oder nur geduldet, in einen Seitenflügel verbannt, tatenlos ihr Leben fristeten? Ich muss mit Robert und Gladys reden, nahm sie sich vor, besonders mit Gladys. Als habe Lady Linda sie mit ihrem Wunschdenken herbeigezaubert, trat Gladys einen Moment später in ihr Zimmer. Ihre Augen funkelten, und ihre Wangen zeigten hektische rote Flecken. Von ihrer kühlen Selbstbeherrschung war nicht mehr viel übrig geblieben. „Es ist einfach unerhört, wie Vater sich dieser ... dieser Person gegenüber benimmt!“, platzte sie ohne Gruß heraus. „Ich verstehe nicht, wieso du dir das gefallen lässt! Oder willst du etwa auch aufgeben? Ist es dir egal, ob wir das Hotel weiterführen oder nicht?“ „Bitte, Gladys, sprich nicht in einem solchen Ton mit mir!“, wies Lady Linda ihre Schwiegertochter zurecht. „Entschuldige, Mutter, aber ich bin außer mir, wie du sicher verstehen kannst. Mit Janine wären wir vielleicht noch fertig geworden. Aber diese Madame Debret hat so etwas Herrisches an sich! Sie tut, als wäre sie die Erbin. Du hättest sie nur hören sollen, wie sie dem Dienstpersonal Anweisungen gegeben hat! Im Moment sucht sie für sich und ihre Tochter passende Räume aus. Für uns wahrscheinlich auch. Sag, Mutter, müssen wir uns das bieten lassen?“ Lady Linda zuckte die vollen Schultern. „Nach dem Gesetz ist sie die rechtmäßige Erbin. Aber ich hoffe immer noch, dass wir
Erregung der Mutter nicht entgangen war. Germaine schüttelte den Kopf. Ein kleines Lächeln umspielte ihren Mund. „Mach dir keine Gedanken, Janine. Ich bin jetzt sogar froh, dass ich hier bin. Nie hätte ich mir nie träumen lassen, dass ich einmal nach Selkirk Manston Abbey zurückkehren werde.“ Lawrence Bradford half den beiden Damen galant aus dem Wagen. Amüsiert stellte Janine fest, dass sie fast etwas wie Eifersucht empfand bei dem bewundernden Blick, den Lawrence ihrer Mutter zuwarf. Aber sie konnte ihn verstehen. Maman sah so jugendlich und todschick aus in ihrem grauen, eleganten Kostüm mit der roten Seidenbluse. Sie war noch immer eine attraktive Frau. Julian, der Butler, verneigte sich devot und nahm das Gepäck an sich. Doch in der Halle blieb er unschlüssig stehen. Niemand hatte ihm gesagt, welches Zimmer für den neuen Gast gerichtet worden war. Sollte er ihre Lordschaft fragen, oder würde Miss Debret entscheiden? Mittlerweile war auch ihm zu Ohren gekommen, dass die hübsche Französin Lord Christophers Erbin war. „Bringen Sie mein Gepäck vorläufig in das Zimmer meiner Tochter“, entschied Germaine Debret. „Ich möchte mir erst das ganze Schloss ansehen. Dann werden meine Tochter und ich entscheiden, welche Räume wir in Zukunft bewohnen werden.“ Julian zog den Kopf ein und gehorchte. Er ahnte, dass hier bald ein anderer Wind wehen würde. Lawrence bot Germaine Debret schmunzelnd seinen Arm. „Recht so, gnädige Frau. Zeigen Sie nur von Anfang an die Zähne. Und du, Janine, solltest den Selkirks auch endlich zeigen, wer der Herr von Selkirk Manston Abbey ist.“ Janine seufzte. „Wenn nur schon alles überstanden wäre“, meinte sie bedrückt. Nachdem die beiden Damen sich erfrischt und umgezogen hatten, machten sie einen Rundgang durch das Schloss. Lady Linda hatte mit unbewegtem Gesicht die Schlüssel zu den verschlossenen Räumen
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„Sie wollen uns verlassen, Mrs. Fruitvale?“, fragte Janine bedauernd. „Das finde ich aber gar nicht nett!“ Die alte Dame lächelte hintergründig. „Einmal muss ich ja doch wieder nach Hause. Und ich gehe lieber, bevor mir dieses Gespenst ebenfalls erscheint. Wie Sie wissen, habe ich ein schwaches Herz.“ Mrs. Fruitvale machte absolut nicht den Eindruck, als fürchtete sie sich vor dem Gespenst. Vergnügt lächelte sie in die Runde. Doch dann wurde sie ernst und senkte die Stimme zu einem Flüstern. „Wissen Sie schon das Neueste? Monsieur Riviere soll auch eine Begegnung mit dem Geist gehabt haben. Unter wüsten Beschimpfungen und Drohungen hat er das Haus schon in aller Frühe verlassen. Auch die Hortons wollen nicht mehr bleiben. Nur Miss Donegan rennt mit dem Fotoapparat durch das Schloss in der Hoffnung, das Gespenst fotografieren zu können. Sie hat sogar ihren Vater angerufen. Er soll mit ein paar Leuten vom Film herkommen und einen echten Gespensterfilm drehen!“ Lawrence Bradford wusste nicht, ob er lachen oder sich ärgern sollte. „Wissen Sie eigentlich, dass unsere liebe Janine die Erbin des Schlosses ist, Mrs. Fruitvale?“, fragte er dann unvermittelt. Mrs. Fruitvales Wangen röteten sich vor Erregung. „Ich habe schon so etwas gehört! Aber stimmt es denn wirklich?“ „Ja, es stimmt“, erwiderte Madame Debret. „Meine Tochter hat diesen Besitz geerbt. Leider stehen ihr jetzt noch ein paar Unannehmlichkeiten mit der Familie Selkirk bevor, die das Schlosshotel nicht aufgeben will.“ „Ah, ich verstehe.“ Mrs. Fruitvale nickte bedeutungsvoll. „Schade, Mrs. Fruitvale, dass Sie nicht länger hier bleiben wollen“, mischte sich Janine ein. „Den Hotelbetrieb werde ich auf Wunsch meines verstorbenen Großvaters einstellen, aber ich hätte Sie gebeten, mein Gast zu sein.“ Die alte Dame war gerührt. „Danke, das ist sehr lieb von Ihnen. Ich werde vielleicht
uns mit ihr einigen können, ohne dass wir etwas verlieren. Wir müssen nur geschickt vorgehen. Vor allem werde ich ein ernstes Wort mit Papa reden. Komm bitte heute Abend mit Robert in meinen Salon.“ „Wenn ihr es nicht fertig bringt, dass diese Person freiwillig auf ihr Erbe verzichtet, dann werde ich es tun!“, rief Gladys drohend. „Sie werden beide verschwinden, darauf kannst du dich verlassen!“ In Gladys Selkirks Augen lag solch ein tödlicher Hass, dass Lady Linda ein unheimliches Gefühl beschlich. „Wie willst du das bewerkstelligen? Was hast du vor?“, fragte sie beunruhigt. Gladys warf mit einem aufreizenden Lachen den Kopf zurück. „Das wirst du schon sehen!“ Mit energischen Schritten verließ sie den Salon. Lady Linda sah ihr besorgt nach. „Mein Gott!“, murmelte sie vor sich hin. „Gladys wird doch keine Dummheit begehen?“ Zur selben Zeit feierte Germaine Debret im Schloss ein stilles Wiedersehen mit den Räumen, die ihr noch vertraut waren. „Das war das Zimmer deines Vaters“, sagte sie bewegt, als sie mit Janine in einem mit herrlichen alten Möbeln ausgestatteten Raum standen. Janine wurde es ganz eigentümlich ums Herz. Obwohl das Zimmer sicher schon lange nicht mehr bewohnt worden war, strömte es eine eigenartige Atmosphäre aus, der man sich nur schwer entziehen konnte. Es war, als lebte der Geist des ehemaligen Bewohners in diesem Raum weiter. „Ich glaube, wir haben fürs Erste genug gesehen“, meinte Germaine Debret. „Lass uns nach unten gehen. Ich muss gestehen, dass ich schrecklichen Hunger habe.“ Im Speisesaal setzten sie sich zu Mrs. Fruitvale und Lawrence an den Tisch. „Es ist gut, dass Sie gekommen sind, Madame Debret“, wandte Mrs. Fruitvale sich liebenswürdig an Janines Mutter. „So kann ich wenigstens beruhigt abreisen, ohne mir Sorgen um die junge Miss machen zu müssen.“
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geschaffen.“ „Und ich soll es ihnen wieder wegnehmen“, bemerkte Janine leise. „Hältst du das für richtig, Maman?“ Das Mondlicht war hell genug, dass Janine sehen konnte, wie sich das Gesicht ihrer Mutter verschloss. „Damals fragten sie auch nicht danach, ob es richtig war, dass sie William die Heimat nahmen“, sagte Germaine hart. „Mach dir keine Gedanken. Das Schicksal hat es damals so gewollt und will nun, dass du die Herrin von Selkirk Manston Abbey wirst. Du solltest dich nicht länger dagegen auflehnen, Janine.“ Janine erwiderte nichts. Krampfhaft suchte sie nach einem anderen, erfreulicheren Gesprächsthema, um die zauberhafte Stimmung dieser Nacht nicht noch weiter zu beeinträchtigen. „Wie gefällt dir Lawrence Bradford, Maman?“ Dies war ein Thema, das wundervoll zu dieser romantischen Sommernacht passte. „Soll er mir denn gefallen, Janine?“, neckte Germaine liebevoll. „Das hoffen wohl alle jungen Mädchen, dass der Auserwählte ihren Müttern gefällt“, erwiderte Janine viel sagend. „Auserwählte?“, wiederholte Madame Debret gedehnt. „Janine, willst du damit sagen ...“ „Ja, Maman, das will ich“, unterbrach Janine sie und hängte sich bei ihr ein, „Lawrence und ich lieben uns und wollen zusammenbleiben. Nun sag schon, gefällt er dir?“ Germaine Debret zog ihre Tochter leise lachend weiter. „Man könnte fast meinen, du hast geahnt, dass du hier dem Mann deines Lebens begegnen wirst! Hast du deshalb Francois’ Werbung so hartnäckig übergangen?“ „Vielleicht, wer weiß? Aber du hast mir immer noch nicht gesagt ...“ „Ja ja, ich weiß schon, was du hören willst“, lachte Germaine Debret. „Dein Lawrence sieht aus wie ein junger Gott, ist charmant und liebenswürdig, ist gebildet, hat ein tadelloses Benehmen und ist
im nächsten Jahr wieder kommen, wenn ich meine Tochter besuche.“ Es wurde noch ein gemütlicher Abend. Später gesellten sich noch die Hortons zu der kleinen Runde, und man stieß auf Janines Erbschaft an. Nicht ganz so gemütlich ging es in Lady Lindas Salon zu, in dem sich die Familienmitglieder zur selben Zeit eingefunden hatten. Robert Selkirk stritt heftig mit seinem Vater, und Lady Linda weinte leise vor sich hin. Nur Gladys Selkirk war seltsam ruhig und gelassen. Doch hätten die anderen ihre Gedanken lesen können und von ihrem Plan gewusst, sie wären wohl sehr erschrocken gewesen. * Janine und ihre Mutter entschlossen sich noch zu einem Spaziergang am Strand. Es war zwar schon sehr spät, aber Janine hatte leichte Kopfschmerzen und wollte noch kurz an die frische Luft, bevor sie zu Bett ging. Es war eine wundervolle Sommernacht. Die Sterne funkelten am Himmel und das Meer plätscherte leise. Im Schlossteich quakten die Frösche, und von allen Seiten konnte man das Gezirpe der Grillen hören. „Ach, ist das romantisch“, seufzte Germaine Debret. Sie genoss den Spaziergang aus vollem Herzen. „Was sind das für Laternen?“, wollte sie dann von ihrer Tochter wissen. „Das ist die Strandpromenade. Weiter hinten führt der Weg auf die Klippen hinauf. Dort sind bequeme Treppen und der Weg ist noch ein ganzes Stück beleuchtet. Man hat von dort oben einen herrlichen Blick auf den Solway Firth und das beleuchtete Schloss, Wollen wir hinaufgehen?“ „Oh, gern!“, stimmte Germaine begeistert zu. „Weißt du, damals war das hier natürlich alles anders. Der Park war ziemlich verwildert und an den Strand konnte man nur über einen Trampelpfad gelangen. Ich muss schon sagen, die Selkirks haben hier ein kleines Paradies
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„Was ist, Janine? Warum stehst du hier wie angewurzelt?“ Germaine klopfte ihrer Tochter leicht auf den Arm. „Maman, siehst du den weißen Fleck dort drüben?“, fragte Janine erregt und deutete hinüber zu den Klippen. „Ja, ich kann ihn sehen“, flüsterte Germaine Debret atemlos. „Was ist das? Es sieht aus, als stehe dort drüben ein Gespenst mit einem weißen Gewand. Eine Frau? Ob sie es war, die gesungen hat?“ „Aber warum sollte sie mitten in der Nacht auf den Klippen stehen und singen?“ Neugierde hatte die beiden Frauen gepackt. „Komm“, flüsterte Janine ihrer Mutter zu,“ lass uns noch ein Stück näher herangehen. Ich will wissen, ob da drüben wirklich jemand steht.“ Janine und ihre Mutter gingen noch ein Stück den unbeleuchteten Weg entlang. Der Mond spendete genügend Licht, so dass sie sich auch im Dunkeln zurechtfinden konnten. Für kurze Zeit versperrte ihnen eine Wegbiegung den Blick auf die weiße Gestalt. Doch wenig später prallten sie erschrocken zurück. In unmittelbarer Nähe stand ein weiß gekleidetes Wesen. Es hatte die Arme weit ausgebreitet. Die wehenden Schleier vermischten sich gespenstisch mit den vom Meer her aufsteigenden Nebelschwaden. „Geht nicht nach Selkirk Manston Abbey“, verlangte eine monotone Stimme. „Dort wartet das Verderben auf euch. Niemals darf das Schloss in fremde Hände übergehen!“ Janine und ihre Mutter waren stehen geblieben. Schutz suchend klammerten sie sich aneinander fest. „Wer sind Sie?“, brachte Germaine schließlich hervor. „Was wollen Sie von uns?“ „Ich bin Beatrice“, erklärte die weiße Frau. „Meine Geschichte könnt ihr in der Familienchronik der Selkirks nachlesen. Ich bin schon lange tot.“ Fassungslos blickten die beiden Frauen auf das gespenstische Wesen, das nun
vermutlich alles andere als mittellos. Ich werde schrecklich stolz sein, eines Tages einen solch reizenden Schwiegersohn zu bekommen. Genügt dir das, oder willst du noch mehr hören?“ „Um Himmels willen, nein, Maman!“, wehrte Janine mit einem glücklichen Auflachen ab. „Ich müsste sonst denken, du hättest dich selbst in ihn verliebt.“ Lachend gingen die beiden Frauen weiter. Sie hatten jetzt die letzte der Laternen auf den Klippen erreicht und ließen sich auf einer Bank mit verschnörkeltem Eisengestell nieder. „Puh, hier geht es ganz schön steil herauf“, stöhnte Germaine. „Aber der Ausblick entschädigt einen wieder dafür. Manston Springs Hotel sieht aus wie ein Märchenschloss, findest du nicht?“ „Ja, Maman, es sieht sehr hübsch aus. Aber wir sollten morgen am Tag noch einmal hier heraufkommen. Der Blick über das Meer und die Bucht ist einmalig.“ Die beiden Frauen blieben noch eine Weile sitzen und genossen den Frieden und die Ruhe hier oben. Plötzlich zerriss ein lang gezogener Schrei die Stille. Janine und ihre Mutter sahen sich erschrocken an. „Was war das?“, flüsterte Germaine heiser und stand auf. „Es hat wie ein Schrei geklungen“, presste Janine hervor. „Ja, aber jetzt klingt es eher wie ein Gesang, oder ein Klagelied. Was oder wer mag das sein?“ Jetzt hörte Janine es auch. Verhalten, wie aus weiter Ferne, klang ein wehmütiger Gesang durch die Nacht, fast einer orientalischen Weise gleich. Dann trat abrupt Stille ein. Fröstelnd zog Germaine die Schultern hoch. „Merkwürdig, findest du nicht, Janine? Ich glaube, wir sollten umkehren.“ Doch Janine achtete nicht auf die Worte ihrer Mutter. Wie gebannt starrte sie auf einen weißen Fleck auf den Klippen, die in einiger Entfernung im Dunkeln lagen. Sie spürte, wie eine Gänsehaut ihren ganzen Körper überzog.
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Sie hatte damals mit einer sorgfältig eingefädelten Intrige verhindert, dass ihre Schwester einen Mann heiratete, der ihrer Meinung nach nicht in die Familie der Selkirk hineinpasste. Germaine Debret wurde es heiß und kalt bei dem, was sie las. Konnte die Erscheinung auf den Klippen wirklich Beatrices Geist gewesen sein? Wollte sie jetzt verhindern, dass Janine ihr Erbe annahm? Und – Germaine Debret stockte der Atem bei dem Gedanken – hatte diese Beatrice etwa auch William auf dem Gewissen? Durfte sie deshalb nicht mit ihm glücklich werden, weil dieses adelsstolze Mädchen nicht duldete, dass eine französische Tänzerin den Namen Selkirk trug? Nachdenklich verließ Germaine Debret die Bibliothek. Sie wollte mit Janine darüber reden. Mit Janine und Lawrence. Doch als die beiden am Abend von einem Ausflug zurückkehrten und Germaine das heitere, gelöste Gesicht ihrer Tochter sah, brachte sie es nicht übers Herz, ihre dunklen Vermutungen auszusprechen. Sie wollte erst noch abwarten. Vielleicht passierte auch gar nichts und sie machte sich unnötige Sorgen? Doch sie sollte sich irren ... Den Abend verbrachte Janine mit Lawrence und ihrer Mutter in der pompös ausgestatteten Gästesuite. Sie hatte sich nach dem Dinner von den Hortons und Carol Donegan verabschiedet, die noch packen und am nächsten Morgen abreisen wollten. Carol Donegan bedauerte sehr, dass ihr Vater nun doch nicht mit seinen Filmleuten nach Manston Springs Hotel kommen konnte. Germaine Debret hatte ihr und den anderen Gästen erklärt, dass ihre Tochter die Erbin des Schlosses war und dass sie den Hotelbetrieb auf Wunsch des verstorbenen Großvaters einstellen werde. Man hatte Janine herzlich beglückwünscht und noch mit ihr angestoßen. Dann waren Janine, Lawrence und ihre Mutter nach oben gegangen. Für drei Personen war der große Salon doch etwas ungemütlich.
wieder einen klagenden Singsang anstimmte. Es klang schauerlich und unwirklich. Noch ein Gespenst? Noch eine Geistererscheinung? Das war einfach zu viel! Germaine Debret nahm ihre Tochter am Arm. „Komm, nichts wie weg von hier!“, flüsterte sie. „Ich habe jetzt weder Lust noch die Nerven dazu, herauszubekommen, was das bedeuten soll!“ Janine schluckte hart. Sie glaubte, Erfahrungen mit Schattenwesen aus dem Jenseits zu haben. Sie kannte das Gefühl, wenn das Spukwesen sie in seinen Bann zog und ihren Willen auslöschte. Doch hier war es etwas anderes. Sie vermochte nicht an eine Geistererscheinung zu glauben. Trotzdem war das Erlebnis für sie so unheimlich, dass sie ihrer Mutter ohne Widerspruch folgte. * Zwei Tage vergingen, in denen sich nichts Ungewöhnliches ereignete. Mrs. Fruitvale war abgereist. Der Abschied von ihr war sehr herzlich ausgefallen und sie hatte versprochen, im nächsten Jahr wieder zu kommen. Janine und Lawrence waren unzertrennlich. Die Liebe zu dem jungen Kinderarzt ließ Janine alle Schrecken vergessen. Germaine Debret aber musste immer wieder an die weiße Gestalt auf den Klippen denken. War es wirklich eine Spukerscheinung gewesen? Oder eine Verrückte, die unter Wahnvorstellungen litt? Auf jeden Fall beschloss Madame Debret, in der Familienchronik nach Aufzeichnungen über diese Beatrice zu suchen. Bei dieser Gelegenheit beschäftigte sie sich intensiv mit der Familiengeschichte der Selkirks, die sich so spannend las wie ein Roman. Und bald fand sie auch Eintragungen über das Mädchen Beatrice.
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Scherz erlaubt hatte, war ins Wanken geraten. „Also, an zwei verschiedene Gespenster kann ich nun wirklich nicht glauben“, sagte er ohne rechte Überzeugung. „Ich auch nicht“, sagte Janine. „Oder besser, ich will nicht daran glauben.“ Eine Weile herrschte Schweigen. Jeder hing seinen Gedanken nach. Die gemütliche Stimmung war verflogen und Germaine Debret bedauerte es, überhaupt von Beatrice gesprochen zu haben. Lawrence verabschiedete sich bald darauf. Er war etwas ärgerlich und hoffte nur, dass dieser Unfug bald ein Ende finden würde. Niedergeschlagen gingen die beiden Frauen zu Bett.
Wein und Gebäck hatten sie nach oben bringen lassen. Bleich und verstört erschien Corny, das hübsche Dienstmädchen, mit dem Tablett. „Was ist mit Ihnen? Ist etwas passiert?“, fragte Janine das Mädchen, als es das Tablett mit zitternden Händen abstellte. Corny zuckte zusammen. Sie blickte sich erst vorsichtig um, bevor sie mit Flüsterstimme zu berichten begann. „Der Familie Selkirk ist wieder der Geist erschienen! Sie sind alle sehr durcheinander. Ich glaube, sie wollen nun doch nicht mehr länger hier bleiben. Ich werde auch gehen, obwohl ich auch gern für Sie gearbeitet hätte. Aber ich habe Angst, in einem Spukhotel zu leben, das müssen Sie verstehen.“ Janine warf ihrer Mutter einen bedeutungsvollen Blick zu. Großvater Selkirk schreckte anscheinend auch vor seiner eigenen Familie nicht zurück, um seinen Willen durchzusetzen. „Es ist gut, Corny“, sagte sie begütigend. Erleichtert huschte das Dienstmädchen davon. „Ich bin gespannt, ob du wirklich deine Ruhe hast, wenn du nun endgültig die Herrin hier bist, Janine“, sagte Lawrence Bradford zweifelnd. „Wenn nicht, dann weiß ich wirklich nicht mehr, was ich machen soll“, erwiderte Janine dumpf. Germaine wollte nun nicht mehr länger schweigen. So erzählte sie von Beatrice. Janine starrte ihre Mutter aus großen Augen an. Ihre schlanken Finger verkrampften sich ineinander und sie warf einen unsicheren Blick zu Lawrence. „Aber Maman, glaubst du denn im Ernst ...“ Lawrence Bradford lachte nervös auf. Auch er verspürte ein ungutes Gefühl, das er sich aber auf keinen Fall anmerken lassen wollte. Es war sowieso ein harter Brocken für ihn gewesen, als er erfahren musste, dass die Familie Selkirk ebenfalls von einer Spukerscheinung heimgesucht worden war. Seine Theorie, dass sich eines der Familienmitglieder einen makabren
* Es war Janine, die zuerst erwachte. Das Gefühl, dass etwas passiert war, raubte ihr fast den Atem. Mit zitternden Fingern tastete sie nach dem Schalter der Nachttischlampe. Doch sie sah die Gestalt auch ohne dass sie das Licht anknipste. Es war die weiße Frau, die sie schon auf den Klippen gesehen hatte! Im Bett neben ihr, das durch eine Frisierkommode von dem ihren getrennt stand, regte sich etwas. „Maman“, rief Janine erstickt. „Bist du wach?“ Mit einem Blick erfasste Germaine die Situation. „Zum Teufel, was soll das?“, rief sie zornig. „Wer sind Sie? Wie sind Sie hier hereingekommen?“ Trotz ihrer furchtlosen Worte spürte Germaine, wie es ihr heiß und kalt den Rücken hinunterlief und sie wünschte, es wäre nur ein Traum. „Ihr wisst genau, wer ich bin“, sprach eine monotone Stimme, die seltsam gedämpft klang. „Beatrice?“, flüsterte Janine tonlos. Der verschleierte Kopf nickte. „Ich warne euch zum letzten Mal“, sagte die Stimme mit einem drohenden Unterton. „Verlasst Manston Springs Hotel, oder ihr
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den Lord in spätestens fünf Minuten in meinem Zimmer!“ Mrs. Holgrave ging achselzuckend hinaus. „Was ist denn hier los?“, fragte Lawrence Bradford von der Tür her. „Wer hat da so geschrien? Ist etwas nicht in Ordnung, Janine?“ Dann erst fiel sein Blick auf die Gestalt am Boden. „Himmel, wen haben wir denn da? Was ist passiert?“ Lawrence kniete nieder und löste den Schleier von dem Gesicht. „Mein Gott!“, stieß er hervor. „Das habe ich mir doch fast gedacht!“ „Lass gut sein, Lawrence“, winkte Janine müde ab. „Ich habe Lord Selkirk rufen lassen. Er wird gleich hier sein. Ich bin gespannt, was er dazu zu sagen hat.“ Es dauerte keine fünf Minuten, bis Robert Selkirk erschien. „Ich muss schon sagen, ich finde es ziemlich seltsam, dass Sie mich mitten in der Nacht in Ihr Zimmer bestellen, Miss Debret!“, begann er ungehalten. „So, finden Sie das?“, höhnte Janine. „Dann will ich Ihnen sagen, was ich seltsam finde, nämlich, dass sich Ihre Gattin mitten in der Nacht in dieser Aufmachung in meine Räume schleicht!“ Damit schob sie ihn zu der verschleierten Gestalt. Mit spitzen Fingern hob sie den Schleier hoch. „Nun, was haben Sie dazu zu sagen?“ Robert Selkirk war vor Schreck aschfahl geworden. „Mein Gott, ich hatte davon keine Ahnung!“, stieß er hervor. „Bitte glauben Sie mir! Aber was ist mit ihr?“ „Das Gespenst ist ohnmächtig geworden“, spottete Germaine. „Mrs. Holgrave hat schon nach dem Arzt telefoniert.“ Robert Selkirk entschuldigte sich mehrfach und beteuerte, von den Eskapaden seiner Frau nichts gewusst zu haben. Dann brachte er mit Hilfe von Julian seine Gattin in ihr Zimmer, wo er ihr rasch das Schleiergewand auszog. Nicht, dass der Arzt noch unbequeme Fragen stellte!
habt keine ruhige Minute mehr! Ich werde euch den Tod bringen, wenn ihr nicht gehorcht!“ Janine starrte mit angstvoll aufgerissenen Augen auf die weiße Gestalt. Plötzlich ging ein ohrenbetäubender Lärm los. Es krachte und klirrte, und ein eisiger Wind fuhr ins Zimmer. Janine und ihre Mutter waren stumm vor Schreck. Die weiße Frau schrie entsetzt auf und wollte zur Tür flüchten. Doch dort stand plötzlich eine schwarze Gestalt. Das bleich schimmernde Gesicht mit den dunklen Augenhöhlen war schrecklich anzusehen. Das Gespenst streckte seine Knochenfinger nach der weißen Gestalt aus. Diese stieß einen markerschütternden Schrei aus und sank mit einem Röcheln zu Boden. Im selben Moment war der schwarze Mann verschwunden. Janine und ihre Mutter saßen wie gelähmt in ihren Betten. Fassungslos blickten sie auf die am Boden liegende Gestalt. Das weiße Gewand war verrutscht und gab ein sehr menschlich aussehendes Bein frei, das in einem eleganten weißen Schuh steckte. Das Spektakel war nicht unbemerkt geblieben. Bald wurden im Flur Stimmen und Schritte laut. Dann wurde an die Tür geklopft. „Miss Debret!“, rief eine ängstliche Stimme, die Mrs. Holgrave gehörte. „Ist bei Ihnen etwas nicht in Ordnung?“ Germaine warf sich einen Morgenmantel über und eilte an die Tür. Ein verächtlicher Blick streifte die Gestalt, die noch immer regungslos am Boden lag. „Kommen Sie, Mrs. Holgrave, und sehen Sie sich das an! Wir sollten an ein Gespenst glauben. Nun, was halten Sie davon?“ Mrs. Holgrave riskierte einen vorsichtigen Blick. „Wecken Sie bitte Lord Selkirk“, verlangte Janine mit fester Stimme. „Jetzt, um diese Zeit? Ich weiß nicht ...“ Janine wurde ungeduldig. „Liebe Mrs. Holgrave, das ist ein Befehl! Ich erwarte
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und Freund aus Margaix, scheute den weiten Weg nicht, um Janines neue Heimat kennen zu lernen und ihr Glück zu wünschen. Ein Jahr später wurde die Hochzeit gefeiert. Lawrence Bradford hatte seine Praxis aufgegeben, um in der Nähe eine neue aufzumachen. „Ich eigne mich nicht zum Prinzgemahl“, hatte er seiner Frau erklärt. „Deshalb wirst du dich damit abfinden müssen, dass du nur eine einfache Frau Doktor bist.“ Janine hatte nur gelacht. „Wenn ich dich und deine Liebe habe, bin ich mit allem anderen einverstanden. Aber ich habe da eine Idee, mein Liebling. Du bist Kinderarzt, und ich bin Lehrerin. Uns gehört ein riesiges Schloss, das Unsummen an Unterhalt verschlingt und zu nichts so recht nutze ist. Was hältst du davon, wenn wir daraus ein Kinderheim machen? Oder wenn wir Waisenkinder aufnehmen würden? Dann hätten wir beide eine schöne Aufgabe, auch Maman, die Kinder über alles liebt, und das Schloss würde auch genutzt werden.“ Lawrence Bradford war von der Idee seiner jungen Frau begeistert. Auch Germaine Debret sagte sofort ihre Hilfe zu. „Glaubst du, Janine, dass dein Großvater damit einverstanden wäre?“, wandte sie nur ein. „Schließlich hat er auch den Hotelbetrieb nicht geduldet.“ „Wir werden ihn einfach fragen.“ Zuversichtlich nahm Janine Lawrence an der Hand und führte ihn in die Ahnengalerie. Unter dem Gemälde von Lord Christopher Selkirk blieb sie stehen. „Lieber Großvater, wenn du etwas dagegen hast, dass wir aus deinem schönen Schloss ein Kinderheim machen, dann gib uns bitte ein Zeichen.“ Täuschte sie sich, oder erschien auf dem strengen Antlitz jetzt tatsächlich ein Lächeln? „Siehst du, Großvater ist damit einverstanden“, sagte Janine ein Jahr später zu ihrem Mann, als die ersten kleinen Gäste in Selkirk Children’s Home ihren
„So, das wäre geklärt“, stellte Lawrence Bradford erleichtert fest und ließ sich in einen Sessel fallen. Doch gleich darauf fuhr er wieder hoch. „Verzeihung, aber das ist wohl nicht die richtige Zeit für eine Unterhaltung. Die Damen wollen sicher ...“ „Bleiben Sie sitzen, Larry“, unterbrach Germaine ihn mit einer Handbewegung. „Ich habe bei Mrs. Holgrave Kaffee bestellt, obwohl ein Cognac jetzt besser wäre auf den Schrecken hin.“ „Dann trinken wir eben beides“, schlug Janine vor und rückte näher an Lawrence heran. Er hauchte einen liebevollen Kuss auf ihr seidiges Haar. „Es wird sicher alles wieder gut“, murmelte er. Janine und ihre Mutter nickten gleichzeitig. Jetzt fiel es ihnen nicht mehr schwer, an Lawrences Worte zu glauben. * Ein paar Tage später verließ die Familie Selkirk das Manston Springs Hotel. Das Geld, das Janine ihnen angeboten hatte, nahmen sie nicht an. Lord Christopher Selkirk hatte ihnen eine beträchtliche Summe zugedacht. Mit diesem Geld wollten sie sich ein kleines Schloss, das gerade zum Verkauf angeboten wurde, kaufen und wieder ein Hotel daraus machen. Germaine Debret hatte das Rosenhäuschen in Margaix verkauft und war zu ihrer Tochter gezogen. Lawrence Bradford kam jedes Wochenende zu Besuch. Zu seiner Befriedigung hatte sich der Geist von Großvater Selkirk kein einziges Mal mehr gezeigt. Zu Weihnachten feierte man die Verlobung. Es war das erste Fest, das Germaine Debret mit viel Freude und Geschick organisierte. Es waren nur wenige Personen geladen, hauptsächlich die Nachbarn, mit denen Janine und ihre Mutter sich angefreundet hatten. Über einen Gast freute Janine sich jedoch am meisten. Francois Daumier, ihr Kollege
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Einzug hielten. Kein einziges Mal wurden die Bewohner von einem Spuk erschreckt.
Lord Christopher Selkirk schien endlich seine Ruhe gefunden zu haben.
ENDE
Im Januar erscheint Romantic Mysteries Nummer 9: „Der Gast aus der Hölle“ von Earl Warren
Romantic Mysteries erscheint bei vph Verlag & Vertrieb Peter Hopf, Goethestr. 7, D32469 Petershagen. © Copyright aller Beiträge 2003 bei vph und den jeweiligen Autoren. Nachdruck, auch auszugsweise, nur nach schriftlicher Genehmigung durch den Verlag gestattet. Cover: Thomas Knip Die in diesem Roman geschilderten Ereignisse sind rein fiktiv. Jede Ähnlichkeit mit tatsächlichen Begebenheiten, mit lebenden oder verstorbenen Personen wäre rein zufällig und unbeabsichtigt.
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