Der Cop und die Lady Suzanne Sanders Tiffany Duo 85 - 03/96
Gescannt von suzi_kay Korrigiert von almut k.
1. KAPITEL ...
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Der Cop und die Lady Suzanne Sanders Tiffany Duo 85 - 03/96
Gescannt von suzi_kay Korrigiert von almut k.
1. KAPITEL Noch ehe sie ihre Augen geöffnet hatte, wusste sie, dass irgend etwas nicht stimmte. In ihrem Kopf rumorte ein dumpfer Schmerz, und sie lag auf einer Unterlage, die viel zu hart war, um ein Bett zu sein. Mit Mühe hob sie die Lieder, an denen Bleigewichte zu hängen schienen, und blinzelte ins grelle Licht. Dahinter war tiefe Dunkelheit, eine luftige Leere, von der sie wusste, dass es der Nachthimmel war. Ein kühler Wind blies ihr ins Gesicht. Und plötzlich wurde ihr klar, dass sie im Freien lag. Was war passiert? Irgend jemand kniete neben ihr. Sie versuchte, sich aufzusetzen, aber ihr Körper gehorchte ihr nicht. Sie war sehr, sehr müde. Viel einfacher war es, hier liegen zu bleiben ... Mühevoll versuchte sie den Kopf zu drehen, doch ihre Muskeln weigerten sich, den Befehl auszuführen. Panik wallte in ihr auf. Dann legte sich eine Hand unnachgiebig und doch sanft an ihr Gesicht. Fingerspitzen fuhren langsam ihren Hals entlang und tasteten nach der Halsschlagader. „Halten Sie durch, Sweetheart, alles wird wieder gut", hörte sie. Die Stimme war tief und ruhig. Ihre Panik ebbte ab. Der Mann fuhr fort, leise und tröstlich auf sie einzureden. Sie war kalt wie ein Eiszapfen, es war eine Kälte, die von außen zu kommen schien, nur die Stelle am Hals, auf der die Hand des Fremden lag, war warm. Ihre Augenlider flatterten, dann fielen sie wieder zu. Es gab keinen Grund zur Aufregung, sie war nicht allein. Wenig später spürte sie eine Unruhe, die ihr verriet, dass noch weitere Leute hinzugekommen waren. Irgend jemand breitete eine Decke über sie, und sie wurde hochgehoben. „Keine Angst, Ihnen passiert nichts", sagte jetzt eine andere, eine Frauenstimme. „Sie hatten einen Unfall. Wir bringen Sie ins Krankenhaus." Ein Unfall. Man brachte sie ins Krankenhaus. Sie erinnerte sich schwach, dass da irgend etwas gewesen war ... irgend etwas, aber sie wusste nicht, was. Unsicher tastete sie im Nebel ihrer Erinnerung herum, der sie zu verschlingen drohte. Ja, richtig, nun erinnerte sie sich wieder. Sie nahm all ihre Kraft zusammen und flüsterte heiser: „Hoffentlich trage ich meine gute Unterwäsche." Nachdem ein kurzes, überraschtes Auflachen an ihre Ohren gedrungen war, wurde es wieder Nacht um sie. Mike Novalis sah dem zuckenden Rotlicht des Krankenwagens hinterher, bis es in der Ferne verschwunden war. Polizeibeamte mit gezückten Notizblöcken wuselten herum und versuchten aus der kleinen Menschenmenge, die sich am Ort des Geschehens eingefunden hatte, etwas herauszulocken. Novalis schnitt eine Grimasse. Selbst um ein Uhr morgens und in der heruntergekommensten Gegend der Stadt gab es noch immer Leute, die nichts Besseres zu tun hatten, als zu gaffen. Sirenen und rotierendes Warnlicht, die Witterung von Gewalt und Gefahr schienen auf gewisse Menschen eine geradezu magische Anziehungskraft auszuüben. Und du stehst hier mitten unter ihnen, sagte sich Novalis. Wo war eigentlich der Unterschied? Es war eine Frage, die er sich schon früher gestellt hatte. Und es fiel ihm immer schwerer, sie zu beantworten. Er schauerte zusammen. Es war kalt, und er war so eilig aus dem Haus gestürzt, dass er es gerade noch geschafft hatte, sich eine Jacke über sein verknittertes TShirt zu werfen. Nun wünschte er, er hätte sich einen Pullover angezogen. Die
Luft war feucht und frostig, und es war neblig. Während er den Jackenkragen hochstellte, beeilte er sich, zu seinem Auto zu kommen. Ein Polizist, ein junger Schwarzer mit kurzgeschorenen Haaren, rannte geschäftig an ihm vorbei. Novalis seufzte. Mit Sicherheit ein Grünschnabel, der noch nicht lange genug bei der Polizei war, um zu wissen, dass Schießereien ihr täglich Brot waren. Novalis rief den jungen Mann zurück. „Ja, Lieutenant?" Novalis ließ sich die Dienstmarke zeigen, warf einen Blick auf den Namen und deutete dann mit dem Kopf auf die Menschenmenge, die sich langsam aufzulösen begann. „Schon irgendwas von Bedeutung rausgefunden, Simms?" „Bis jetzt noch nicht. Angeblich hat keiner was gesehen", gab Simms zurück. „Aber wir haben den Kerl, der die Polizei alarmiert hat. Mein Partner nimmt gerade seine Aussage auf." Novalis, der gegen sein Auto gelehnt stand, zögerte einen Moment. Seine Anwesenheit hier war nicht länger erforderlich. Er konnte nach Hause gehen und wieder unter die Decke kriechen - den Polizeifunk abgestellt diesmal - und versuchen zu schlafen. Dann dachte er an die Frau in dem Krankenwagen. Sie hatte dagelegen wie eine zerbrochene Puppe - eine von diesen altmodischen Puppen aus Porzellan ... Ungeduldig schüttelte er den Kopf, um dieses seltsam unpassende Bild zu vertreiben. Er hatte in all den Jahren bei der Polizei schon viel zuviel gesehen, um sentimental zu werden. Und dennoch, weder hatte sie wie ein Strichmädchen ausgesehen noch wie eine dieser Karrierefrauen, die ab und zu auf der Suche nach Drogen oder ausgefallenen Vergnügungen in diese finstere Gegend kamen. Was hatte sie hier gesucht? Sein Gefühl sagte ihm, dass irgend etwas nicht ins Bild passte. Gefühl? fragte eine innere Stimme mit höhnischem Auflachen. Erinnere dich daran, was passiert ist, als du das letzte Mal auf dein Gefühl gehört hast. Novalis verdrängte diesen Gedanken, so rasch er konnte. Er bemerkte, dass er plötzlich die Kiefer hart aufeinanderpreßte und die Hände zu Fäusten ballte. Er zwang sich, tief Luft zu holen, wobei er sich fragte, ob Simms etwas bemerkt hatte. Womöglich war Novalis' privater Alptraum sogar ihm schon zu Ohren gekommen. Alle wussten davon, und keiner sprach darüber - zumindest nicht, solange er in Hörweite war. Er forschte in Simms' Gesicht, aber alles, was er fand, war gespannte Aufmerksamkeit. „Ich fahre ins Krankenhaus", entschied er. „Rufen Sie mich wegen der Aussagen an." Er schlug Simms auf die Schulter und kletterte müde hinters Steuer. Als er den Schlüssel ins Zündschloss steckte, bemerkte er auf seinem Handrücken einen dunklen Fleck. Ihr Blut. Als sie das nächstemal aufwachte, wurde ihr klar, dass sie sich in einem Krankenzimmer befand. Der Geruch nach Desinfektionsmitteln, das Echo der Schritte, die auf dem langen Flur hallten, und die weißen Wände ließen keine andere Vermutung zu als die, dass sie im Krankenhaus war. Sie hatte keine Angst. Ihr Körper fühlte sich warm und schwerelos an, fast als wäre sie von Kopf bis Fuß in Watte verpackt. Eine Frau in Schwesterntracht breitete ein weißes Laken über sie. Ihr fiel auf, dass sie einen Verlobungsring trug. Schöner Stein, registrierte sie flüchtig. Zwar nicht mal ein Karat und auch nicht besonders gut geschliffen, doch die Farbe ist gut... „Ah, Sie sind ja aufgewacht", hörte sie eine männliche Stimme. Ein Arzt in einem weißen Kittel beugte sich über sie. „Wie fühlen Sie sich?" Das Bett
bewegte sich, sie merkte, wie sich der Kopfteil langsam hob und sie in eine halb sitzende Position brachte. Plötzlich fühlte sie, wie ihre Sinne zum Leben erwachten und ihre Haut anfing zu prickeln. Sie spürte Blicke, jedoch nicht die des Arztes, auf sich ruhen. Als sie den Kopf wandte, sah sie, dass sich noch eine vierte Person im Zimmer befand. Der Mann saß unauffällig in einer Ecke hinter ihrem Kopfende. Über einem zerknitterten blauen T-Shirt trug er eine abgewetzte braune Fliegerjacke aus Leder, und seine langen, schlanken Beine steckten in ausgewaschenen Jeans. Sein ungebändigtes schwarzes Haar war so lang, dass es ihm über den Jackenkragen fiel; wie ein Arzt sah er auf jeden Fall nicht aus. Im Moment hatte er seine dichten schwarzen Augenbrauen so eng zusammengezogen, dass sie fast ein V bildeten. Voller Ungeduld schien er darauf zu warten, dass sie langsam die Traumwelt, irr die sie eingesponnen gewesen war, abzustreifen begann. Von seinen Blicken wurde ihr unerwarteterweise ganz warm. Allem Anschein nach wartete er auf irgend etwas. Dieser Gedanke machte sie unruhig. „Wie fühlen Sie sich?" fragte der Arzt zum zweiten Mal. Sie wandte ihm ihre Aufmerksamkeit wieder zu. „Ganz gut, glaube ich. Was ist denn passiert?" Ihre Stimme klang fremd und dünn. Plötzlich hatte sie das unbestimmte Gefühl, als schöbe sich eine bedrohliche schwarze Wolke unaufhaltsam am Horizont heran, die mit jeder Sekunde wuchs. „Sie haben eine kleine Verletzung ..." Der Arzt unterbrach sich und schaute zu dem schwarzhaarigen Mann hinüber. „Genau gesagt handelt es sich um eine Kopfverletzung. Aber machen Sie sich keine Sorgen, Sie werden bald wieder ganz gesund sein." „Eine Kopfverletzung? Wie das denn?" Der Schwarzhaarige erhob sich und trat an das Bett. Seine Bewegungen waren geschmeidig. Er war einen halben Kopf größer als der Arzt und hatte den Körperbau eines Athleten - breitschultrig und schmalhüftig, mit langen schlanken Gliedern. Während sein Blick auf ihr ruhte, nahm sie in seinen Augen ein Flackern wahr, dessen Herkunft sie nicht zu deuten wusste. „Irgend jemand hat auf Sie geschossen", erklärte er knapp. „Geschossen?" fragte sie entgeistert, wobei ihre Stimme vor Schreck eine Oktave höher kletterte. „Wie ... was ..." Sie fühlte sich mit einemmal so durcheinander, dass sie nicht in der Lage war, einen Satz zu formulieren. Er schaute noch immer auf sie herunter, wobei sie trotz der verwirrenden Situation registrierte, dass seine Augen von einem unergründlichen Blau waren, um einige Schattierunge n dunkler als das verwaschene T-Shirt, das sich über seiner breiten, muskulösen Brust spannte. Sein wachsamer Blick gab nichts von seinen Gedanken preis. „Wer sind Sie?" fragte sie schließlich. Mit einer Bewegung, die ihr aus Film und Fernsehen bekannt war, griff er in die Innenseite seiner Bomberjacke und fischte ein kleines Lederetui heraus. „Detective Lieutenant Mike Novalis", stellte er sich vor. Sie verspürte einen Stich. War das Enttäuschung? Sie wusste, dass ihre Reaktion irrational war, aber aus irgendeinem Grund hatte sie sich eingebildet, einen Menschen, der ihr nahe stand, vor sich zu haben. „Ich würde Ihnen gern ein paar Fragen stellen", sagte er nun. „Wissen Sie, wer auf Sie geschossen hat?" Da war das schreckliche Wort wieder. Gescho ssen. Mit jedem Augenblick wurde ihr klarer, dass hier irgend etwas ganz und gar nicht stimmte. Wenn nur diese irrsinnigen Kopfschmerzen nicht wären, so dass sie darüber nachdenken
könnte, wer sie eigentlich war. Als sie ihre Hand auf ihre Stirn legte, spürte sie Stoff. Sie trug einen Verband. „Es ist weniger schlimm, als es aussieht", versuchte sie der Arzt zu trösten, als er ihr entsetztes Gesicht sah. „Die Kugel hat ihre Schläfe nur gestreift - vielleicht werden Sie nicht mal eine Narbe zurückbehalten." Der Polizist stand abwartend neben dem Bett. Novalis war sein Name. Sein Name. Schlagartig wurde ihr klar, was mit ihr nicht stimmte. Ihr wurde mit einemmal übel, und in ihrem Kopf begann sich alles zu drehen, es war fast so, als stünde sie am Rande eines Abgrunds. Ein falscher Schritt, und sie würde abstürzen. Ihre Blicke wanderten von Novalis zu dem Arzt und dann zu der Krankenschwester. Schließlich nahm sie all ihren Mut zusammen. „Wer bin ich?" flüsterte sie. Einen Augenblick herrschte verblüfftes Schweigen. Detective Lieutenant Novalis brach es als erster. „Wollen Sie damit sagen, dass Sie sich an nichts mehr erinnern?" Er hielt seine Stimme sorgsam neutral, aber sie hatte den Eindruck, dass sein Blick schärfer wurde. „Ja. Ich erinnere mich an nichts. An überhaupt nichts!" Peinlich berührt bemerkte sie, dass ihre Stimme schrill geworden war. Sie verfiel in Schweigen aus Angst, etwas preiszugeben von der Panik, die plötzlich in ihr aufgestiegen war. Um das Zittern ihrer Lippen zu unterdrücken, presste sie sie fest aufeinander und versuchte, sich mit ihren Blicken an dem Stethoskop des Arztes wie an einem Rettungsring festzuhalten. Sie fühlte sich wie in einem Alptraum. „Erlauben Sie, Detective?" fragte der Arzt mit einem kurzen Blick auf Novalis und griff nach ihrem Handgelenk, um ihren Puls zu fühlen. „Selbstverständlich, Doc", gab Novalis zurück. „Machen Sie nur. Ich setze mich still in meine Ecke, bis Sie mit Ihrer Untersuchung fertig sind." Auch nachdem Novalis wieder auf seinen Platz zurückgekehrt war, war sie sich seines Blicks, der auf ihr ruhte, nur allzu deutlich bewusst. Krampfhaft versuchte sie, die erbarmungslos auf sie einstürzenden Gedanken zu ordnen. Sie saß stocksteif da, während der Arzt ihr mit einer kleinen Stablampe erst in das eine, dann in das andere Auge leuchtete. Dann griff er nach einer Handtasche, die neben seinem Stuhl gestanden hatte, und gab sie ihr. „Sie heißen Nina Dennison", sagte er ruhig. „In der Tasche sind Ihre Papiere. Kommt Ihnen dieser Name bekannt vor?" Sie umklammerte die Handtasche, das weiche Leder fühlte sich kalt an. Während ihre Lippen ein paarmal lautlos ihren Namen formten, versuchte sie verzweifelt, sich zu erinnern. „Nein. Überhaupt nicht. Was ist mit mir los?" „Nun, Nina", begann der Arzt vorsichtig, „wie ich schon sagte, Sie haben eine kleine Streifwunde, aber davon abgesehen sind Sie rein körperlich vollkommen intakt. Wir haben Röntgenaufnahmen gemacht und konnten nichts feststellen. In manchen Fällen jedoch geht mit dieser Art von Verletzung ein Gedächtnisverlust einher." „Amnesie", sagte Nina tonlos. Sie war überrascht. Das Wort klang so ... dramatisch. So wie etwas, von dem man meint, es könne einem niemals selbst widerfahren. Aber man hält es ja auch nicht für möglich, dass auf einen geschossen wird. „Exakt. Zumindest im Moment scheinen Sie an irgendeiner Form von Amnesie zu leiden. Aber das ist kein Grund zur Aufregung. So etwas ist in den meisten Fällen vorübergehend. Woran erinnern Sie sich?" „Daran, wie ich eben aufgewacht bin - oder nein, warten Sie, ich erinnere mich,
vorher schon einmal aufgewacht zu sein. Ich lag auf dem Boden. Ich denke, es war, bevor man mich ins Krankenhaus brachte." Sie sprach langsam. „Ja, und irgend jemand hat gelacht." Novalis räusperte sich. „Das war ich, tut mir leid." Er beugte sich vor: „Ich war als erster am Tatort, nachdem der Notruf bei der Polizei eingegangen war." „Und Sie haben über mich gelacht?" fragte sie entrüstet. „Nein, nicht über Sie persönlich." Ihre Frage war ihm unangenehm. „Es war nur ... weil ... Sie haben etwas gesagt, worüber man einfach lachen musste." „Was denn?" fragte sie. Und plötzlich erinnerte sie sich. Sie hatte einen Scherz über ihre Unterwäsche gemacht. Himmel, sie musste wirklich unter Schock gestanden haben. „Ich erinnere mich nicht", sagte sie hastig, während sie sah, wie sich Novalis mit einem Grinsen zurücklehnte. Fast wäre ihr angesichts dieses Grinsens der Mund offenstehen geblieben; es war ein kleines Wunder, denn es veränderte sein ernstes Gesicht ganz und gar und ließ ihn beinahe zu dem kleinen Jungen werden, der er einmal gewesen war. Eine dunkle Augenbraue hob sich amüsiert, und in seinen strahlend blauen Augen tanzten kleine belustigte Fünkchen. Sie ertappte sich dabei, wie sie zurücklächelte, als würden sie ein Geheimnis miteinander teilen, von dem nur sie beide wüssten. In diesem Moment fiel Nina noch etwas anderes ein. Das Gefühl von Stärke und Geborgenheit, das sie bei ihrem ersten Erwachen verspürt hatte, und die Hand, die ihr Gesicht berührt hatte, während eine Stimme versuchte, sie zu trösten. Eine unerwartet vertraute Stimme. Eine Stimme, die sie zu kennen glaubte, und die doch Detective Lieutenant Novalis gehörte, den sie noch niemals in ihrem Leben gesehen hatte. Als ihr nächster Blick ihn streifte, lächelte er nicht mehr. Jetzt war sein Gesicht verschlossen. „Also erinnern Sie sich daran, dass man Sie hierher gebracht hat?" fragte der Arzt. „Können Sie sich vielleicht auch erinnern, was Sie ...äh ... heute zu Abend gegessen haben?" Nina schüttelte den Kopf. „Dass Sie gestern zur Arbeit gegangen sind?" Ihr blieb nichts anderes, als unbehaglich wieder den Kopf zu schütteln. Arbeit? Sie hatte ja nicht einmal eine Ahnung, wie sie überhaupt lebte. „Wie alt bin ich?" fragte sie. „Siebenundzwanzig laut Führerschein. Warten Sie ... was ist mit Ihrer Familie? Fallen Ihnen da irgendwelche Namen oder Gesichter ein?" „Nein." Ihre Stimme war nicht mehr als ein Flüstern. Mit einemmal fühlte sie sich schrecklich allein. Aber sie musste doch irgendeine Art von Familie haben. Vielleicht würde ihr ja ihre Handtasche Aufschluss geben. Ihr Blick irrte zu ihrem linken Ringfinger. Kein Ring. Verheiratet war sie also offensichtlich nicht. Ihre Hand erschien ihr fremd, wie etwas, das nicht zu ihr ge hörte. Sie musterte einen Moment gedankenverloren die langen schlanken Finger mit den ziemlich kurz geschnittenen, mit farblosem Nagellack lackierten Nägeln. Sie bewegte sie und spürte das feste Fleisch eines straffen Schenkels. Ihre Neugier war erwacht. Sie warf einen Blick auf ihre Beine, deren Umrisse sich unter der Bettdecke deutlich abzeichneten. Plötzlich fühlte sie sich vollkommen überwältigt von der Tatsache, dass sie kein Bild von sich hatte. Dieser Gedanke erschreckte sie zutiefst. In Panik warf sie die Decke zurück und sprang aus dem Bett. Zu schnell. Noch bevor ihre nackten Füße den Boden berührten, begann sich in ihrem Kopf alles zudrehen. Sie spürte, wie sich ein starker Arm um ihre Schultern legte. „Immer langsam", murmelte Novalis an ihrem Ohr. Er musste hinzugesprungen sein, bevor der Arzt oder die Krankenschwester reagieren konnten.
„Danke." Sie schnappte nach Luft. „Machen Sie keine schnelle Bewegung", riet ihr Novalis. „Sie hatten einen bösen Schock und haben zusätzlich auch noch Schmerzmittel bekommen. Das schwächt." Sein Arm lag noch auf ihren Schultern, während er sie mit der anderen Hand am Ellbogen festhielt, um sie zu stützen. Seine Lederjacke stand offen, und er war ihr so nah, dass sie den harten Schlag seines Herzens ebenso spüren konnte wie die Wärme, die er ausstrahlte. Während sie sich langsam entspannte, wünschte sie sich, dass er den anderen Arm auch noch um sie legen möge, um sie noch näher an sich heranzuziehen ... Als Nina bewusst wurde, was sie eben gedacht hatte, war sie peinlich berührt. Sie machte sich steif und versuchte, sich aus seinem Griff herauszuwinden. Wahrscheinlich ist der Schock noch immer nicht abgeklungen, versuchte sie sich ihre Reaktion zu erklären. Ebenso wie die Verbindung zwischen ihnen natürlich nichts als pure Einbildung war. Dieser Mann war ein Fremder, der seinen Job machte. Nichts als seinen Job. Plötzlich verspürte Nina an ihrem Po und im Rücken einen kühlen Luftzug. Als sie an sich heruntersah, registrierte sie betreten, dass sie nur einen Krankenhauskittel trug. Das Nachthemd stand am Rücken offen, und sie war darunter nackt. Hastig fasste sie nach hinten und hielt das Hemd mit beiden Händen zu. Novalis bemerkte, wie unangenehm ihr die Angelegenheit war, er ging wortlos zum Schrank und holte einen Bademantel heraus, den er ihr um die Schultern legte. Der Blick, den sie ihm dabei zuwarf, war vorwurfsvoll, weil er sich ihr in diesem Zustand überhaupt genähert hatte, doch er hielt ihm unbeeindruckt stand. Das einzige, was sie entdecken konnte, war ein winziges Zucken seines Augenlids, fast so, als zwinkere er ihr in geheimem Einverständnis zu. Sie spürte, wie sie rot wurde. „Gibt es hier irgendwo einen Spiegel?" fragte sie mit soviel Würde, wie sie aufbringen konnte. Novalis geleitete Nina ins Bad. „Kommen Sie allein zurecht?" fragte er, und als sie nickte, knipste er das Licht an und machte die Tür von außen zu. Allein in dem winzigen Raum wandte sich Nina zum Spiegel. Das Gesicht, das ihr entgegenblickte, war blass und wirkte angestrengt, unter den großen grünlichbraunen Augen lagen tiefe Schatten. Nachdenklich berührte sie mit den Fingerspitzen die Wangen. Ihre Haut war weich und geschmeidig. Sie lächelte versuchsweise, wobei sich ein paar kleine Fältchen in den Augenwinkeln bildeten. Ihre Zähne wären weiß und ebenmäßig. Ihre Gesichtszüge, obgleich nicht von klassischer Schönheit, waren interessant: hohe ausgeprägte Wangenknochen, ein energisches Kinn und ein großzügiger Mund. Nicht schlecht, entschied sie. Ihre Stirn zierte ein Verband, der an das Stirnband eines Piraten erinnerte. Darunter quoll dichtes rotbraunes Haar hervor und fiel in einer vollen Lockenpracht auf ihre Schultern herab. Ein Rotfuchs bin ich also ... na, hoffentlich ist es wenigstens echt. In den Ohren trug sie kle ine Silberkreolen. Sie war groß und schien gut gebaut. Nina musterte noch für einen Moment ihr Spiegelbild, dann streifte sie sich den Bademantel von den Schultern und ließ ihn zu Boden fallen. Dann schlüpfte sie aus dem Krankenhauskittel. Sie unterzog ihren nackten Körper einer ausführlichen Betrachtung: die vollen festen Brüste mit den dunklen Knospen, die sich jetzt wegen des plötzlichen Kälteschocks aufgestellt hatten, die sanften Rundunge n ihres Bauchs und ihrer Hüften, die fast schon verblasste Narbe auf dem Knie. Woher sie diese Narbe wohl hatte? War sie als Kind mit dem Fahrrad
gestürzt, oder war sie vielleicht in ihren ersten zu hohen Pumps gestolpert und hingefallen? Sie suchte nach einer Antwort. Nichts. Während sie mit der Fingerspitze leicht über die Narbe strich, fragte sie sich, wie viele sonstige Geheimnisse dieser Körper wohl noch bergen mochte. Mein Körper, erinnerte sie sich. Habe ich einen Liebhaber? Als sie an den draußen wartenden Detective Lieutenant Novalis dachte, stockte ihr für einen Moment der Atem. „Sei vorsichtig", flüsterte sie ihrem Spiegelbild zu. Dann nahm sie ihr Nachthemd vom Boden auf und streifte es sich wieder über. Nachdem sie sich auch den Bademantel übergeworfen hatte, blickte sie auf ihre nackten Füße. Ihre Zehennägel waren in einem tiefen Burgunderrot lackiert - ein winziger Farbtupfer in dem sterilen Raum. Diese Zehennägel heiterten sie etwas auf. Als sie aus dem Bad ins Zimmer zurückkehrte, fand sie den Arzt und den Detective in ein Gespräch verwickelt. Sie blickten ihr hoffnungsvoll entgegen. „Nun?" fragte der Arzt. „Manchmal weckt ja der Spiegel die Erinnerung ..." „Nein, nichts. Tut mir leid." „Leute mit Amnesie leiden oft nur unter einem Verlust des Kurzzeitgedächtnisses, aber manchmal betrifft dieses Sich- nicht-erinnern-Können ihr ganzes Leben. In den meisten Fällen ist dieser Gedächtnisverlust allerdings glücklicherweise nur vorübergehend. Lassen Sie uns nachschauen, wie es ansonsten um Ihr Gedächtnis bestellt ist. Wissen Sie, welches Datum wir he ute haben?" Nina nannte ihm Jahr, Monat und Tag. Ebenso konnte sie ihm ohne langes Nachdenken sagen, dass die Stadt, in der sie sich befand, Philadelphia hieß. Nachdem sie diese Fragen beantwortet hatte, fühlte sie sich etwas ermutigt. „Wer ist unser Präsident?" wollte der Arzt nun von ihr wissen. Nina hatte die Antwort sofort parat. „Aber ich kann mich nicht daran erinnern, ob ich ihn gewählt habe oder nicht." Die Stunden vergingen. Dr. Perrone führte sie einem Neurologen und einem Psychologen vor. Beide stellten fest, dass Nina ihr gesamtes Erinnerungsvermögen in Bezug auf ihr persönliches Leben verloren zu haben schien. Da ihre Fähigkeit zu denken und Entscheidungen zu treffen nicht unter der Amnesie gelitten hatte, sah keiner der Ärzte eine medizinische Notwendigkeit dafür, sie noch länger im Krankenhaus zu behalten. Man bot ihr jedoch an, ein paar Tage bleiben zu können, falls sie selbst es für angebracht erachten sollte. „Gibt es denn hier noch irgend etwas, was Sie für mich tun können?" erkundigte sich Nina bei Dr. Andersen. Die Neurologin schüttelte bedauernd den Kopf. „Bei Amnesie gibt es keine Behandlungsmöglichkeit - man kann nur auf die Zeit hoffen. Ich kann Ihnen keine Versprechungen machen, aber wir wissen aus Erfahrung, dass sich eine Amnesie meistens nach und nach wieder gibt. Manchmal kommt das Erinnerungsvermögen ganz plötzlich, innerhalb von ein paar Tagen, wieder zurück. Und manchmal dauert es länger, es kommt Stück für Stück. Es gibt aber auch Fälle, in denen es niemals wiederkehrt, Nina, da möchte ich Ihnen nichts vormachen. Wie die Dinge in Ihrem Fall liegen, kann ich nicht sagen. Aber es spricht nichts dagegen, dass Sie nach Hause gehen. Im Gegenteil. Unter Umständen bringt das ja Ihre Erinnerung wieder auf Trab." „Das muss sehr erschreckend für Sie sein", schaltete sich Dr. Tooley, der Psychologe, ein. „Überlegen Sie es sich gut, vielleicht sollten Sie doch lieber noch ein paar Tage bei uns bleiben." „Nein", gab Nina entschlossen zurück. „Ich will nach Hause. Ich muss
heraus finden, wer ich bin. Und das kann ich nicht, wenn ich hier herumsitze." Als sie Detective Lieutenant Novalis anschaute, glaubte sie, einen flüchtigen Ausdruck von Zustimmung über sein Gesicht huschen zu sehen. Er war vorhin kurz hinausgegangen, doch nun saß er bereits seit einer halben Stunde still in seiner Ecke. Nina fragte sich, weshalb er eigentlich noch hier war. Sie berührte ihren Kopfverband und erschauerte. Nur um Haaresbreite war sie dem Tod entronnen. Der Gedanke war verstörend. „Brauche ich dieses Ding hier wirklich?" fragte sie und tippte an den Verband. Dr. Perrone lächelte. „Ich kann ihn durch einen etwas unauffälligeren ersetzen, okay?" „Ich bitte darum. Ich habe sowieso schon genug Probleme, auch ohne dass ich aussehe wie eine Mumie." Nachdem sich die Ärzte zurückgezogen hatten, nahm Nina ihre Tasche und ihre Kleider und ging ins Bad. Sie wollte endlich aus diesen Krankenhaussachen herauskommen, ihre Kleidung kam ihr zwar unbekannt vor, aber immerhin gehörte sie ihr. Zum Zeitpunk t des Unfalls hatte sie einen schlichten, aber zweifellos teuren schwarzen BH getragen und einen dazu passenden schwarzen Seidenslip. Fast hätte Nina gelacht. Also hatte sie doch gute Unterwäsche angehabt. Ihre Oberbekleidung bestand aus einem schwarzen Pullover, ebenfalls schwarzen, engen Jeans mit einem schmalen Ledergürtel und dunkelgrauen Stiefeletten. Alles war modisch, geschmackvoll und von bester Qualität. So weit, so gut, sagte sich Nina, während sie ihre Schuhe anzog. Doch als sie sich wieder aufrichtete und im Spiegel den verschatteten Augen der Fremden begegnete, bröckelte die mühsam aufrechterhaltene Fassade ab. Während des Gesprächs mit den Ärzten hatte sie sich stark genug gefühlt und durchaus in der Lage, das Problem, vor dem sie stand, mit beiden Händen anzupacken. Nun aber sah die Sache schon wieder anders aus. Plötzlich fühlte sie sich einsam und leer. Und was, wenn ihre Erinnerung nie mehr zurückkehrte? Was sollte sie dann tun? Sie spürte, wie ihr die Tränen die Wangen hinabrollten. Nachdem sie ihnen einige Zeit freien Lauf gelassen hatte, fuhr sie sich engergisch mit dem Handrücken über die Augen und putzte sich mit einem Streifen Toilettenpapier die Nase. Weinen half ihr auch nicht weiter. Die Fragen der Ärzte waren ihr endlos erschienen. Was dabei herausgekommen war, war, dass sie sich zwar an Daten wie zum Beispiel den Ausbruch des Ersten Weltkriegs erinnern konnte, aber nicht an ihr Geburtsdatum. Genug der Fragen, entschied Nina nun. Es war höchste Zeit für Antworten. Sie öffnete ihre Tasche und holte die Brieftasche heraus. Dem Führerschein entnahm sie, dass sie am 17. Februar geboren war. Dann bin ich also ein Wassermann, ging es ihr durch den Kopf. Und gleich darauf fragte sie sich, wie sie darauf kam. Glaubte sie an Astrologie? Die Brieftasche enthielt neben ihren Papieren achtzig Dollar in bar sowie verschiedene Kreditkarten. Verhungern würde sie also nicht, zumindest nicht in nächster Zeit. Als sie in der Handtasche ein rotes Kosmetiktäschchen fand, hob sich Ninas Laune etwas. Sie wusch sich das vom Weinen verquollene Gesicht mit kaltem Wasser, spülte sich den Mund aus und begann Puder und Lippenstift aufzulegen. Das Ergebnis stellte sie zufrieden. Nachdem sie sich mit den Fingern das dicke, lockige Haar durchgekämmt hatte, erschien ihr ihre Zukunft schon wieder in einem rosigeren Licht. Mike Novalis saß im Krankenzimmer und wartete darauf, dass Nina aus dem Bad käme. Er unterdrückte ein Gähnen. Was er eigentlich noch hier wollte,
wusste er nicht so genau. Über den Mordanschlag, der auf sie verübt worden war, konnte sie ihm nichts sagen, soviel war klar. Vielleicht mochte er einfach keine Geschichten mit offenem Ausgang? Vorhin hatte er Simms auf dem Revier angerufen und ihm die Daten von Nina Dennison durchgegeben. Nun wartete er auf dessen Rückruf. Vielleicht hatte ja nur jemand mit seinem Revolver herumgespielt, wobei sie die verirrte Kugel zufällig abbekommen hatte. Wer wusste das schon? Es gab hier in der Gegend viele Verrückte, die sich einbildeten, noch immer im Wilden Westen zu leben. Vergiss es, sagte er sich. Die Sache machte wirklich wenig Sinn. Er würde noch Simms' Rückruf abwarten und dann nach Hause gehen, um den verlorenen Schlaf nachzuholen. Das Problem war nur, dass er neugierig war. Diese Frau war ein Puzzle, das er aus einem unbekannten Grund liebend gern zusammengesetzt hätte. Auf der Straße liegend hatte sie einen zerbrechlichen und hilflosen Eindruck gemacht was sie allerdings nicht daran gehindert hatte, in halb bewusstlosem Zustand noch einen Scherz zu machen. Und in den vergangenen Stunden hatte sie bewiesen, dass sie alles andere war als eine fragile Puppe aus Porzellan. Sie war stark und intelligent, temperamentvoll und voller Humor. Das gefiel ihm. Ebenso wie ihr Aussehen. Die grüngoldenen Augen, die volle Unterlippe, die langen schlanken Beine. Wie gut sich der weiche Schwung ihrer Hüfte angefühlt hatte. Er hatte all seine Willenskraft aufbringen müssen, um sie nicht an sich zu ziehen. Müde fuhr Mike sich mit der Hand übers Gesicht. Er wusste, dass er seine Gedanken nicht in dieser Richtung weiterwandern lassen durfte. Das Problem war nur, dass es nicht allzu oft vorkam, dass einem Mann eine Frau wie Nina Dennison über den Weg lief. Zu schade, wirklich. Aber er hatte sie nun mal im Dienst kennengelernt, und niemand wusste besser als Mike, was das bedeutete. Es rückte sie in unerreichbare Ferne. Beruf und Privatleben durften nicht miteinander verquickt werden. Außerdem hat jemand versucht, sie umzubringen, erinnerte er sich. Was seiner Erfahrung nach bedeutete, dass sie in irgendeine kriminelle Sache verstrickt war. Der Piepser in seiner Jackentasche meldete sich. Simms bat um einen Rückruf. Mike ging in die Empfangshalle, wo die Münzfernsprecher hingen. „Sind Sie's, Lieutenant?" „Ja, Simms, was gibt's?" „Die Dennison scheint clean zu sein. Es gibt kein Strafregister." „Nun, dass es kein Strafregister gibt, heißt noch lange nicht, dass sie clean ist. Vielleicht war sie ja auch nur clever genug, sich bisher nicht erwischen zu lassen." „Äh ... ja, richtig, Lieutenant. Entschuldigung." „Macht nichts, das sollten Sie in solchen Fällen nur immer im Hinterkopf behalten. Aber Sie haben recht, es gibt keinen Hinweis darauf, dass an der Sache irgend etwas faul ist." Außer, dass ich so eine leise Ahnung habe, fügte er in Gedanken hinzu. Er seufzte. „Vielleicht war ja alles nur ein dummer Zufall, und sie war einfach nur zur falschen Zeit am falschen Ort." „Es gibt da allerdings eine Sache, die mich stutzig macht, Lieutenant", fuhr Simms nun eifrig fort. „Ich war bei der Adresse, die Sie mir gegeben haben. Da, wo sie arbeitet, meine ich. Die Firma heißt Zakroff und Duchesne, klingelt's da bei Ihnen?" Als Mike nicht reagierte, fügte er vielsagend hinzu: „Sie handeln mit Edelsteinen." Da fiel bei Mike der Groschen. ,Ach, ja, diese ..."
„Entschuldigung, Lieutenant", unterbrach ihn Simms, „der Chef kommt gerade. Er möchte Sie kurz mal sprechen." Dann tönte Mike die tiefe Stimme von Morris Hecht entgegen. „Simms behauptet, dass Ihr Opfer eine Amnesie hat, stimmt das?“ Der Sarkasmus war nicht zu überhören. „Laut ärztlicher Diagnose, ja." „Glauben Sie an Zufälle, Novalis? Ich nicht." Ohne Mike die Gelegenheit zu einer Erwiderung zu geben, fuhr Hecht fort: „Wenn ausgerechnet eine Angestellte der Firma, die sowohl das FBI als auch Interpol auf dem Kieker haben, einem Mordanschlag zum Opfer fällt, kann ich beim besten Willen nicht mehr an einen Zufall glauben. Ich nehme an, dass sich über kurz oder lang unsere Freunde vom FBI dieser Sache annehmen werden." Novalis schnaubte ungehalten. Er und Morris Hecht waren sich in ihrem Ärger über die FBI-Agenten, die sich ständig in ihre Fälle einmischten, einig. Nicht selten setzten sich Undercover-Agenten über geltendes Recht hinweg und arbeiteten in einer Grauzone, die sich nicht mehr kontrollieren ließ. „Na ja", fuhr Hecht jetzt fort, „ich muss auf jeden Fall einen Bericht machen, aber ich bin mir sicher, dass zwei, drei Tage ins Land gehen werden, ehe sie etwas unternehmen. Und bis dahin bleiben Sie an dem Fall dran, Novalis. Versuchen Sie rauszufinden, ob die Frau da mit drinhängt. Aber wenden Sie bitte nicht die Pfadfindermethoden unserer lieben Kollegen vom FBI an. Sie wissen, ich mag das nicht." „Alles klar, Hecht. Die Botschaft ist angekommen. Ich melde mich wieder." „Und, Novalis ..." Hechts Stimme klang grimmig. „Verrennen Sie sich nicht. Das können Sie sich nicht erlauben. Wenn diesmal irgendwas schiefgeht, kostet Sie das den Kopf, so leid es mir tut." Mike hüllte sich in Schweigen. Er wusste, dass Hecht für das, was er sagte, seine Gründe hatte. Was also sollte er dazu noch sagen? „Amnesie!" Hecht schnaubte verächtlich. „Das gibt's doch nur in schlechten Filmen." Ohne eine Erwiderung abzuwarten, legte er auf. Novalis sah die Neurologin den Flur entlangeilen und stellte sich ihr in den Weg. „Haben Sie einen Moment Zeit, Dr. Anderson?" Nachdem sie genickt hatte, fuhr er fort: „Sind Sie sich sicher, dass Nina Dennison ihr Gedächtnis verloren hat?" „Wollen Sie von mir wissen, ob es möglich ist, dass sie die Amnesie nur vortäuscht?" Ihr Tonfall war sachlich, aber in ihren Augen stand Missbilligung. Woran sich Novalis allerdings nicht im geringsten störte. Er war daran gewöhnt, den Leuten Fragen zu stellen, die ihnen nicht passten. „Ja, genau das ist es, was ich wissen will." „Nun, ich vermute, dass es Ihre Pflicht ist, diese Möglichkeit in Betracht zu ziehen. Meiner Meinung nach jedenfalls ist Nina Dennisons Amnesie echt. Ihre Reaktionen sind sehr typisch, und ihr Fall ist keineswegs ungewöhnlich. Aber es gibt natürlich keine Möglichkeit, eine Vortäuschung falscher Tatsachen auszuschließen. Wir können uns nur an das halten, was die Patientin behauptet. Allerdings muss ich auch zugeben, dass es möglich ist, eine Amnesie vorzutäuschen, wenn man clever genug ist." „Vielen Dank, Doktor. Sie waren mir eine große Hilfe." Tief in Gedanken versunken, ging Mike Novalis zu Ninas Zimmer zurück. Bevor er anklopfte, gemahnte er sich zur Vorsicht. „Sehr hübsch", bemerkte er und musterte sie beifällig. Seine Worte hoben seltsamerweise ihr Selbstbewusstsein. Sie zog sich den
Ärmel ihres Pullovers übers Handgelenk und sah ihn an. „Wenigstens scheine ich keinen schlechten Geschmack zu haben." „Stimmt." Noch bevor Nina etwas erwidern konnte, kam ein Krankenpfleger und brachte auf einem Tablett das Frühstück. Dabei fiel ihr ein, dass sie keine Ahnung hatte, wie spät es eigentlich war. Auf dem Nachttisch lag eine Armbanduhr, ein elegantes schlichtes Modell. Als sie sie in die Hand nahm, sah sie, dass sie auf 1:39 stehengeblieben war. „Das ist wahrscheinlich bei Ihrem Sturz passiert", sagte Novalis, der neben sie getreten war. Er setzte sich neben sie aufs Bett. „Der Notruf ging um Viertel vor zwei bei der Polizei ein. Um zehn nach zwei wurden Sie ins Krankenhaus eingeliefert und waren dann etwa fünf Stunden bewusstlos. Jetzt ist es neun Uhr dreißig." Sie nickte ihm dankbar zu. Sie brauchte ein paar Fakten, an denen sie sich festhalten konnte. Offensichtlich war ihm klar, wie desorientiert sie sich fühlte. Vielleicht war er ja einfühlsamer, als er sich gab. „Und Sie erinnern sich noch immer nicht an die Geschehnisse der vergangenen Nacht?" fragte er. „Nichts, was uns auf eine Spur führen könnte? Sie haben keine Ahnung, was Sie um halb zwei Uhr nachts in diese anrüchige Gegend geführt haben könnte?" So viel zu seiner Einfühlsamkeit. Seine Fragen schüchterten sie ein, ohne dass sie wusste, warum. „Nein", gab sie frostig zurück. „Wenn ich es wüsste, würde ich es Ihnen doch sagen, oder glauben Sie etwa nicht?" „Würden Sie, ja?" fragte er gedehnt. In seinen blauen Augen lag Herausforderung. „He, Moment mal. Was soll denn das? Denken Sie vielleicht, ich hätte irgend etwas zu verbergen?" „Lady, bis jetzt denke ich noch überhaupt nichts. Alles, was ich weiß, ist, dass jemand die Polizei alarmiert hat, weil er Schüsse gehört hat. Und dann haben wir Sie bewusstlos auf der Straße gefunden. Ein Augenzeuge hat ausgesagt, dass er ein Auto ohne Licht hat wegfahren sehen. Den Wagentyp konnte er leider nicht benennen." Er fuhr sich mit der Hand durch sein ungebändigtes Haar und brachte es dadurch noch ein bisschen mehr in Unordnung. Dann runzelte er die Stirn. „Es gibt drei Möglichkeiten. Die erste ist, dass Sie versehentlich von einem Querschläger getroffen wurden. In diesem Fall haben Sie ganz einfach nur Pech gehabt." „Vielen Dank", murmelte sie. „Die zweite", fuhr er unbeeindruckt fort, „ist die, dass Sie Zeuge von etwas wurden, das nicht für Ihre Augen bestimmt war, und man deshalb versucht hat, Sie aus dem Weg zu räumen. Da es nicht geklappt hat, bestünde in diesem Fall die Gefahr, dass man es noch einmal versucht. Und Möglichkeit Nummer drei ist, dass Sie in etwas verwickelt sind. Ich habe keine Ahnung, welche der drei Möglichkeiten zutrifft, aber ich werde es herausfinden." „Ach, ja, werden Sie das?" In Nina kochte Wut hoch. „Ich sitze hier ohne Gedächtnis, ohne Vergangenheit und ohne erkennbare Zukunft, und Sie halten mich für eine Kriminelle? Na wunderbar." „Wie ich bereits sagte, Miss Dennison", erwiderte er förmlich, „ich halte Sie im Moment für gar nichts. Noch nicht. Was ich Ihnen aufgezählt habe, sind alles nur Möglichkeiten." Er sah sie an. „Und die vierte ist, dass diese angebliche Amnesie nur Schauspielerei ist." Als er sah, dass ihre Augen Funken sprühten, hob er begütigend beide Hände. „Immer langsam. Ich habe nur laut gedacht. Ich
durchschaue die Sache noch nicht." Sie wandte ihm den Rücken zu und machte sich an ihrem Frühstück zu schaffen. Eier, gebratene Würstchen, mit Butter bestochener Toast und Orange nsaft. Sie trank das Glas in einem Zug leer und stellte es geräuschvoll wieder auf das Tablett zurück. „Was ist los? Haben Sie keinen Hunger?" erkundigte sich Novalis, nachdem einige Zeit verstrichen war. „Ich bin Ihnen zwar keine Antwort schuldig", gab Nina zurück, „aber ich will's Ihnen trotzdem sagen. Ich habe mir gerade überlegt, ob ich nicht vielleicht Vegetarierin bin." Er lachte rau auf, und sie starrte ihn an. „Tut mir leid", entschuldigte er sich, „aber manchmal sagen Sie wirklich lustige Dinge." „Freut mich, dass Sie sich amüsieren, Lieutenant Novalis", erwiderte sie kühl. „Wahrscheinlich finden Sie diese ganze Situation einfach zum Totlachen, stimmt's?" „Hören Sie, tut mir wirklich leid, wenn ich Sie verärgert habe. War nicht meine Absicht, wirklich. Selbstverständlich sehe ich, dass Ihre Situation alles andere als lustig ist, und ich würde Ihnen gern helfen, so gut ich kann. Ach und nebenbei, sagen Sie doch einfach Mike zu mir. Wir werden uns wahrscheinlich noch öfter über den Weg laufen." „Werden wir?" Nina fand diese Aussicht beunruhigend. Die Matratze unter ihr federte leicht, als er sich anders hinsetzte und seine langen Beine übereinanderschlug. Ein Duft von Leder und Moschus wehte zu ihr herüber und stieg ihr in die Nase. Wieder war sich Nina auf verstörende Weise seiner Nähe bewusst, seiner Nähe und seiner überwältigenden Männlichkeit. Nicht, dass Novalis wie ein Filmstar oder ein Model ausgesehen hätte - weit gefehlt. Er war viel wirklicher und weitaus erotischer. Sein Hemd erweckte den Eindruck, als hätte er es eben aus dem Wäschetrockner gezerrt und es angezogen, ohne es vorher zu bügeln. Seine Augen waren leicht gerötet - wahrscheinlich zuwenig Schlaf, vermutete sie. Von seinen Nasenflügeln verliefen zu den Mundwinkeln herab zwei scharfe Falten, und auf seinem Kinn und den Wangen zeigten sich dunkle Bartstoppeln. Ein starkes, wildes, durch und durch männliches Gesicht. Sein volles, dunkles Haar war zerzaust, wahrscheinlich deshalb, weil er die Angewohnheit hatte, sich immer, wenn er erregt war, mit den Händen hindurchzufahren. Ungeachtet seines müden Aussehens und seiner lässig verschlampten Erscheinung war Detective Lieutenant Novalis ein sehr attraktiver Mann, der mit Sicherheit das Zeug dazu hatte, das Chaos, in dem sie sich befand, noch zu vergrößern. Das letzte, was sie im Moment brauchen konnte, war, dass sie sich zu diesem Mann hingezogen fühlte. Wo sie doch schon alle Hände voll damit zu tun haben würde herauszufinden, wer sie war. Er wandte sich ihr wieder zu und sah sie an. Dann lächelte er. Nina hielt den Atem an. Dieses Lächeln war unwiderstehlich, und ihre Reaktion darauf verwirrte sie. Du kannst diesem Mann unmöglich vertrauen. Zumal er ja auch der Meinung war, dass sie log. Und plötzlich kam ihr ein ganz neuer Gedanke in den Sinn, der sie nicht minder beunruhigte. Was war, wenn sie tatsächlich etwas Gesetzwidriges getan hatte? Er würde es herausfinden. Sie wich seinem Blick aus und machte sich an ihrem Frühstückstablett zu schaffen. „Aber ja. Ich bin sicher, dass wir einige Zeit miteinander verbringen werden", gab Mike zurück. „Versuchen Sie sich an diesen Gedanken zu gewöhnen. Die Polizei untersucht Ihren Fall. Vorhin haben Sie den Ärzten gesagt, dass es für Sie im Moment das Wichtigste ist, dass Sie Ihr Gedächtnis wiederfinden. Fein. Ich
kann das gut verstehen. Aber Sie haben noch ein anderes Problem. Gedächtnis hin oder her, jemand hat versucht, Sie zu töten. Interessiert es Sie gar nicht, warum? Und wollen Sie ihn nicht davon abhalten, es ein zweites Mal zu versuchen?" „Aber selbstverständlich!" „Eben. Das dachte ich mir. Und nun komme ich ins Spiel, da ich mit der Untersuchung beauftragt bin. Hey, eigentlich müssten Sie froh und dankbar sein, einen Polizeibeamten an Ihrer Seite zu wissen. Wir arbeiten sozusagen Hand in Hand, verstehen Sie? Sie möchten alles über Ihr Leben herausfinden, und ich habe auch etwas aufzuklären. Warum also tun wir uns nicht zusammen?" „Habe ich denn überhaupt eine andere Wahl?" „Kaum." „Sehen Sie." Nina holte tief Luft. „Na gut", sagte sie dann, „warum eigentlich nicht? Schließlich habe ich nichts zu verbergen." Woher weißt du das so genau? „Okay, ich erkläre mich zur Zusammenarbeit bereit. Ich muss einfach wissen, wer ich bin und was passiert ist." Er erhob sich. „Glauben Sie mir, Lady", sagte er, „da wollen wir beide dasselbe wissen."
2. KAPITEL Eine halbe Stunde später verließ Nina mit Mike Novalis das Krankenhaus. Sie hatte Dr. Tooley versprochen, ihn wegen eines Termins anzurufen. Falls nötig. Irgendwie glaubte sie nicht daran, dass ihr eine Therapie viel nützen würde. Detektivarbeit erschien ihr da schon erfolgversprechender - auch wenn das bedeutete, dass sich Mike Novalis an ihre Fersen heftete. Aber das würde er ja sowieso tun. Er brachte sie zu einem staubigen mitternachtsblauen Wagen mit eingedelltem Kotflügel. Auf dem Rücksitz herrschte Chaos. Traut vereint lagen leere Cola- und Mineralwasserdosen zusammen mit Fast-Food-Verpackungen überall verstreut. „Zumindest wissen wir, dass Sie kein Vegetarier sind", stellte Nina trocken fest. Er wirkte leicht verlegen. „Junkfood! Er taugt wirklich nichts. Immer wieder nehme ich mir vor, mehr auf meine Ernährung zu achten, aber es wird nie was draus. Und wie steht's mit Ihnen? Kochen Sie gern?" „Auch wenn Sie es mir nicht glauben - ich weiß es einfach nicht. Muss ich mir diesen Satz erst auf die Stirn tätowieren lassen, bevor Sie es kapieren?" Doch noch während sie sprach, beschäftigte sie bereits ein anderer Gedanke. Seine letzte Bemerkung hatte so geklungen, als würde er allein leben. Na und? Hör endlich auf, diesen Mann als Mann zu betrachten. Sie hatte im Moment weiß Gott genug andere Probleme. Doch als sich ihre Schultern zufälligerweise streiften, wusste sie, dass dieser Vorsatz nicht ganz leicht in die Tat umzusetzen sein würde. Sie fuhren durch die Innenstadt von Philadelphia. „An der nächsten Ecke ist ein toller Italiener", sagte Mike, als sie sich dem Washington Square näherten. „Wie heißt er doch gleich? La irgendwas." „La Buca", gab Nina wie aus der Pistole geschossen zurück. „Man kann dort sehr gut Fisch essen." Er warf ihr einen schnellen Blick zu. „Gehen Sie öfter dort essen?" „Ich ... ich weiß nicht", sagte sie stockend. „Aber ich vermute, dass ich schon dort gewesen bin ... ich meine ... irgendwas muss ich über dieses Restaurant ja wissen, oder? Allerdings könnte ich im Augenblick nicht sagen, wie es zum Beispiel eingerichtet ist." Er hüllte sich in Schweigen. „Sie glauben mir nicht, stimmt's?" fragte sie anklagend. „Ständig versuchen Sie, mich reinzulegen, um mich auf die Probe zu stellen." Er nahm seinen Blick nicht von der Straße. „Hören Sie, Nina", sagte er langsam, „wenn Sie der Überzeugung sind, dass ich versuche, Sie reinzulegen, dann kann ich nichts dagegen tun. Aber Sie sollten zumindest die Möglichkeit, dass ich versuche, Ihnen zu helfen, nicht ganz aus dem Auge verlieren. Haben Ihnen die Ärzte nicht gesagt, dass es Ihnen nur dienlich sein kann, mit Fragen bombardiert zu werden?" Etwas kleinlaut nickte sie. „Ja, Sie haben recht. Entschuldigen Sie bitte. Aber Sie vermitteln mir dauernd den Eindruck, als stünde ich unter Verdacht. Das macht die Sache wahrscheinlich etwas schwierig." „Stehen Sie ja auch." Er warf ihr einen Blick zu. Wie blau seine Augen waren. Indigoblau. „Noch ist nichts geklärt. Aber könnten Sie nicht dennoch versuchen, sich zu entspannen? Ich bin nicht darauf aus, Ihnen etwas anzuhängen, was Sie gar nicht gemacht haben. Auch wenn ich ein Cop bin." In seinem Tonfall lag ein Anflug von Bitterkeit. Er hat recht. Ich habe nichts zu befürchten, ich habe nichts zu verheimlichen. Oder etwa doch? Wieder spürte sie,
wie leise Furcht in ihr aufstieg. Ihr Leben bestand im Moment aus nichts anderem als einer Unmenge unbeantworteter Fragen. Sie brauchte so bald wie möglich Antworten. Sie warf Mike Novalis einen raschen Seitenblick zu. Seine gebräunten Hände mit den schlanken Fingern lagen leicht auf dem Steuerrad. Auf seinem Handrücken entdeckte sie ein paar kleine Narben. Hände, die es gewohnt waren, hart zuzupacken. Sie fragte sich, wie lange er wohl schon bei der Polizei war. Ich täte besser daran, mich gut mit ihm zu stellen, sagte sie sich einen Moment später. Abgesehen von den Ärzten war er der einzige Mensch, mit dem sie zur Zeit eine irgendwie geartete Beziehung verband: Dieser Gedanke deprimierte sie plötzlich zutiefst. Bestimmt hatte sie Freunde, Menschen, die bereit waren, sich ihrer anzunehmen. Und ihr Erinnerungsvermögen würde mit Sicherheit bald wieder zurückkehren. Sie starrte aus dem Fenster, wobei sie mit ihren Blicken die Straße, die Häuser und die Schaufensterfronten zu zwingen versuchte, sich ihr bekannt zu geben. Doch alles blieb fremd. Ein paar Häuserblocks vor der Abzweigung, die zum Delaware River führte, bog Mike ab. Vor Jahrzehnten noch musste diese Gegend hier ein lebendig pulsierender Stadtteil gewesen sein. Jetzt mutete alles nur noch heruntergekommen an. Leerstehende Lagerhallen, die Fensterscheiben schmutzstarrend und blind oder zerbrochen, säumten die Straße. An den unbebauten Stellen wucherte hohes Gras. Die Fahrbahn war mit Schlaglöchern übersät. Es herrschte kaum Verkehr. Die wenigen Fußgänger, schäbig gekleidete Männer, starrten ihnen mehr gelangweilt als neugierig hinterher. „Warum halten Sie hier?" fragte Nina, nachdem er den Wagen am Straßenrand geparkt hatte. „Kommt Ihnen hier irgend etwas bekannt vor?" Sie schüttelte den Kopf. „Sind Sie ganz sicher, Nina?" Seine Stimme klang ruhig. „Sie waren in der vergangenen Nacht hier." „Sie meinen ... hier wurde ich ..." Ihr Satz blieb in der Luft hängen. „Ja. Hier sind Sie angeschossen worden. Dort drüben haben wir Sie gefunden." Nina starrte die trostlose Straße hinunter und versuchte, sie sich bei Nacht vorzustellen. Die Straßenlaternen waren äußerst dünn gesät, es musste also gestern Nacht ziemlich finster gewesen sein: Was um Himmels willen hatte sie hier gesucht? War sie womöglich doch in irgendeine hässliche Angelegenheit verwickelt? So hässlich, dass jemand versucht hatte, sie zu töten? Sie schauerte zusammen und berührte mit den Fingerspitzen den Verband an ihrer Stirn. „Nein", sagte sie hilflos. „Nein. Ich erinnere mich an nichts." Als Mike sie nun ansah, verspürte er Mitleid. In ihren Sitz gekauert, saß sie da und starrte mit angespanntem Gesicht ins Leere. Am liebsten hätte er sie in seine Arme gezogen, um sie zu trösten und ihr mit seinen Fingerspitzen sanft die angestrengten Linien, die sich um ihre Mundwinkel eingegraben hatten, zu glätten. Und mit seinen Lippen. Eine gefährliche und unangebrachte Vorstellung, sagte er sich. Selbst wenn sie ganz und gar unschuldig wäre. Nun wandte sie ihm ihren Blick zu, so süß und so traurig, dass er das Steuer fester umklammerte. Angenommen sie schauspielerte nur, so verdiente sie einen Oscar. „Okay", brummte er und startete den Motor. „Aber zumindest war es den Versuch wert. Machen Sie sich deswegen keine Gedanken. Hey, würden Sie mir einen Gefallen tun? Schauen Sie doch mal in Ihre Manteltaschen." Sie schob ihre Hände tief in die Taschen. Ihr gefiel dieser Mantel, ein olivgrüner
Trenchcoat aus Gabardine, lang und weit - ein auserlesenes Stück. Am Rücken war er schmutzig, wahrscheinlich von ihrem Sturz. Wieder blickte sie die trostlose Straße entlang und grübelte darüber nach, warum sie wohl hier gewesen sein mochte und was geschehen war. In einer der Taschen stießen ihre Finger auf ein Stück Papier. Sie zog es hervor. Es war ein Kassenbeleg über einen Mantel von Bloomingdale's mit dem gestrigen Datum. Wahrscheinlich der, den sie trug. Sie hatte mit Kreditkarte bezahlt. Als sie den Preis sah, weiteten sich ihre Augen überrascht. Sie musste über ein stattliches Einkommen verfügen. Oder über extravagante Einkaufsgewohnheiten. „Hier ist noch etwas", sagte sie und grub in der Tiefe der linken Tasche. Der Gegenstand stellte sich als eine Plastikkarte heraus, die die Anschrift eines Bürogebäudes in der Innenstadt trug sowie Ninas Namen. Darüber prangte ihr Foto. Nina hielt Mike die Karte hin. „Die Codekarte zu dem Bürogebäude, in dem Sie arbeiten", sagte er. „Sie haben gewusst, dass sie hier drin war." „Ja, sicher. Ich habe gestern Nacht natürlich Ihre Taschen durchsucht. Ich musste ja Ihre Identität feststellen." Weil sie merkte, dass er sie beobachtete, schluckte sie ihren Ärger hinunter. Sie hatte im Moment andere Probleme als den Schutz ihrer Privatsphäre. Er hatte nur das getan, was jeder Cop in einem solchen Fall tun würde. Und vielleicht könnte er ihr ja doch helfen. Sie war dringend auf Hilfe angewiesen. „Wohin wollen Sie jetzt? Nach Hause oder zu Ihrer Arbeitsstelle?" Nina holte tief Luft. Natürlich wüsste sie gern alles über ihre Arbeit, aber sie fühlte sich einer Konfrontation mit Menschen, die sie zwar kannte, an die sie sich jedoch nicht mehr erinnern konnte, noch nicht gewachsen. Allein der Gedanke an all die Fragen, die sie würde beantworten müssen, machte sie müde und unsicher. Außerdem war sie neugierig auf ihr Zuhause. Vielleicht würde es ihr ja Auskunft geben darüber, wer sie war. Sie sah Mike an. „In meine Wohnung, bitte." Leise durch die Zähne pfeifend fuhr er am Ruß entlang. Wenig später bereits hatten sie das Hafenviertel hinter sich gelassen und holperten auf dem Kopfsteinpflaster durch die Straßen von Society Hill, einem Viertel mit alten Stadthäusern, luxuriösen Apartments, teuren Restaurants und eleganten Boutiquen, das ebenfalls am Fluss gelegen war. Die roten Ziegeldächer der alten Häuser leuchteten in der Septembersonne, und die gelbgrünen Blätter der Bäume bewegten sich leise im Wind. In den Vorgärten blühten die Herbstblumen. Touristen, mit Kameras bewaffnet, schlenderten durch die Straßen, schauten an den alten, oft reich verzierten Häuserfassaden empor und genossen die historisch angehauchte Atmosphäre. „Touristen", sagte Mike grinsend und deutete auf einen kleinen Pulk zu allem entschlossener Fußgänger, die mit gezückten Kameras über einen niedrigen Gartenzaun geklettert waren, um einen Blick durch die Fenster eines ganz schmalen, aber hohen alten Backsteinhauses werfen zu können. Nina lachte. „Muss ziemlich hart sein, in einem dieser Häuser zu wohnen." Und plötzlich erschrak sie. „Aber ich wohne doch nicht hier, oder?" „Schauen Sie auf Ihren Führerschein. Da steht die Adresse drauf. Wir sind gleich da." Wenig später hielt er vor einem schönen Haus. Hier hatte man offensichtlich zwei der schmalen alten Häuser miteinander verbunden. Nina sah vier Briefkästen und eine Gegensprechanlage. Ein gepflasterter Weg führte durch eine Toreinfahrt
in einen kleinen asphaltierten Hof mit vier numerierten Parkplätzen. Drei davon waren leer, und auf dem vierten parkte ein auf Hochglanz polierter kaffeebrauner BMW. „Hier wohne ich?" Nina war beeindruckt. Die Mieten und Häuserpreise waren in diesem Stadtteil astronomisch hoch, soviel war ihr klar. „Ja." Sie gingen zusammen die ausgetretenen weißen Marmorstufen zur Eingangstür hinauf. Oben angelangt, warf sie einen Blick in ihren Briefkasten, wobei ihr plötzlich der Gedanke, dass Mike mehr wusste über ihr Leben als sie selbst, ausgesprochen unangenehm war. Und dennoch war sie insgeheim froh, dass er bei ihr war. Es war schon ein seltsames Gefühl, nach Hause zu kommen, ohne sich erinnern zu können, dass das Zuhause das eigene Zuhause war. Dennison, Apt. 4 stand auf einem kleinen Schild an ihrem Briefkasten. „In ihrer Handtasche ist der Schlüssel", sagte Mike taktvoll, wobei sie spürte, wie sich ihr vor Hilflosigkeit die Nackenhärchen aufstellten. Sie fühlte sich ihm auf seltsame Weise ausgeliefert. „In der Außentasche", präzisierte er, als sie in ihrer Tasche nach dem Haustürschlüssel zu kramen begann. Sie warf ihm einen gereizten Blick, zu. „Ich komme schon allein zurecht", brummte sie unwirsch. An dem Schlüsselbund, den sie schließlich zutage förderte, baumelte ein kleines Metallplättchen mit dem Logo von BMW. Mike stieß einen anerkennenden Pfiff aus. „Dann scheint der braune Schlitten auf dem Parkplatz ja Ihnen zu gehören. Nicht übel." „Wow. Meinen Sie wirklich?" „Wir werden uns später darum kümmern. Lassen Sie uns jetzt erst mal reingehen und sehen, was Ihre Wohnung zu bieten hat." Er nahm ihr den Schlüssel aus der Hand und schloss die Haustür auf. Einen Seufzer, der angesichts dieser Eigenmächtigkeit in ihr aufstieg, unterdrückend, folgte sie ihm in einen schlichten, schmucklosen Flur mit weißen Wänden und einem beigen Teppichboden. Rechts und links neben der Treppe, die in den ersten Stock führte, befand sich eine Wohnungstür. Mike ging vor. Er tut so, als würde er hier wohnen. Vor dem Apartment Nr. 4 angelangt, drehte er sich nach ihr um, bevor er den Schlüssel ins Schloss steckte. Als er sich daranmachte aufzuschließen, war Nina mit zwei schnellen Schritten bei ihm und versuchte verärgert, ihn beiseite zu schieben. Was erlaubte er sich! Er wirbelte herum, zog sie mit eisernem Griff in seine Arme und verschloss ihr mit einer Hand fest den Mund. „Still", flüsterte er ihr ins Ohr. „Tun Sie genau das, was ich Ihnen sage. Und machen Sie keinen Lärm. Verstanden?" Nina schlug vor Schreck das Herz bis zum Hals, und sie spürte ihre Knie weich werden. Was sollte das? Doch als sie zu ihm aufschaute, wurde sie wieder ruhiger. Er würde ganz bestimmt nichts tun, was gegen sie gerichtet war. Also nickte sie, und er nahm die Hand von ihrem Mund. „Braves Mädchen", flüsterte er. „Gehen Sie jetzt wieder nach unten und warten Sie, bis ich Sie rufe. Sobald Sie etwas hören - Schreie oder womöglich Schüsse, rennen Sie raus und alarmieren die Polizei, Alles klar?" Nina nickte wieder, ihre Kehle fühlte sich plötzlich trocken an. Er drückte ihr leicht mit einer Hand ihre Schulter und gab ihr einen kleinen Schubs. „Also los, machen Sie schon." Am Treppenabsatz angelangt, drehte sie sich noch einmal nach ihm um und sah, wie er sich wieder der Tür zuwandte. Dann schob er die Hand in die Innentasche seiner Lederjacke und zog eine Pistole hervor. Nina rannte die Treppe nach unten.
Sie lauschte angestrengt, doch alles blieb still. Plötzlich erschien ihr die Situation, in der sie sich befand, vollkommen unwirklich. Das Ganze hatte nicht länger als ein paar Sekunden gedauert. Was mochte da oben vor sich gehen? Hoffentlich passierte Mike nichts. Nachdem sich längere Zeit nichts gerührt hatte, begann sie sich zu wundern. Auf Zehenspitzen schlich sie die Treppe wieder hinauf und spähte, oben angelangt, vorsichtig ums Treppengeländer herum. In diesem Moment kam Mike aus ihrer Wohnung. „Ich habe doch gesagt, dass Sie unten warten sollen", knurrte er ungehalten. Er flüsterte nicht mehr, und auch von der Pistole war nichts mehr zu sehen. „Hab' ich ja. Aber nachdem lä ngere Zeit nichts zu hören war, dachte ich ..." „Nein. Sie haben eben nicht gedacht. Das nächste Mal tun Sie bitte, was ich Ihnen sage, ja?" Sein Lächeln nahm seinen Worten die Schärfe. Sie wusste, dass er recht hatte, er war in diesem Fall der Experte. „Okay. Tut mir leid. Aber was ist denn los hier? Ist irgend jemand in meiner Wohnung?" „Nein. Zumindest nicht mehr. Allerdings habe ich den Eindruck, als hätte man Ihnen einen Besuch abgestattet... und falls nicht, sind Sie eine gottserbärmliche Hausfrau." Das konnte nicht ihr Zuhause sein. Nina stand wie zur Salzsäule erstarrt auf der Schwelle und starrte entsetzt auf ein heilloses Durcheinander. Die Bilder hingen, soweit sie überhaupt noch hingen, schief an den weißen Wänden, aus dem Eichenregal waren die Bücher und Kassetten herausgezerrt worden und lagen über den sandfarbenen Teppichboden verstreut. Aus einem aufgeschlitzten Sofakissen quoll die Füllung, und die Zimmerpflanzen hatte man aus ihren Töpfen gerissen. Stumm vor Entsetzen watete Nina durch das Chaos ins Nebenzimmer, das sich als das Schlafzimmer herausstellte. Der Alptraum ging weiter. Aus dem breiten Bett hatte man das taubengraue Laken herausgerissen und zu Boden geworfen, Kissen und Zudecke waren aufgeschlitzt, und nur die Federn erinnerten daran, wozu die Sachen früher einmal gedient hatten. Die Schränke und Kommoden standen offen, Kleider, Dessous, Schuhe und Strümpfe fanden sich in trautem Verein mit den zu dicken Haufen geballten Bettfedern. Nina wandte sich wie vor den Kopf geschlagen ab und ging zurück ins Wohnzimmer. Auf der gegenüberliegenden Seite war ein Torbogen, durch den man in eine kleine gelb gekachelte Küche kam. Auch hier hatte man die Schränke aufgerissen, Töpfe und Geschirr türmten sich auf dem Fußboden zwischen Nudeln, Cornflakespackungen, Konservendosen, Gewürzgläsern und Besteck. Dies alles war garniert mit der Blumenerde der Zimmerpflanzen, die der Eindringling auch hier überall verstreut hatte. Nina war wie betäubt. Sie wusste zwar nicht, was sie erwartet hatte, aber ganz sicher nicht ein solches ... Tohuwabohu. Sie hatte gehofft, dass ihr ihr Zuhause einen Hinweis darauf geben würde, wer sie war. Und dass sie sich hier sicher und geborgen fühlen könnte. Statt dessen stand sie nun in einer Wohnung, die den Eindruck erweckte, als sei ein Hurrikan über sie hinweggefegt. Sie hätte am liebsten laut herausgeschrien. Oder geweint. Aber sie nahm sich zusammen und holte nur tief Luft. Mike beobachtete sie besorgt. „Ich muss mir wirklich eine neue Putzfrau suchen", versuchte sie zu scherzen. Er grinste. „Gut gebrüllt, Löwe", sagte er. „Ich weiß, dass es hart ist, aber Sie kommen schon klar damit." „Damit? Womit? Was geht hier vor, Mike?" „Irgend jemand hat Ihre Wohnung durchsucht. Und zwar vor noch nicht allzu
langer Zeit, da die Zimmerpflanzen noch nicht verwelkt sind. Wer auch immer es war, er war offensichtlich in Eile." „Ein Einbrecher?" „Keine Ahnung." Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar. „Das Türschloß ist nicht aufgebrochen, entweder hat man einen Dietrich verwendet, oder jemand hatte einen Schlüssel. Dass es ein Profi war, glaube ich nicht. Er hätte nicht solch ein heilloses Durcheinander veranstaltet. Diese Leute suchen nach Geld und Schmuck, aber dafür ist es nicht notwendig, Decken und Kissen aufzuschlitzen oder die Pflanzen aus ihren Töpfen zu reißen. Auch dass Ihre teuere Stereoanlage noch da ist, spricht dagegen." Er machte eine Pause und sah sich um. „Nein, meiner Meinung nach hat hier jemand ganz gezielt nach irgendeiner Sache gesucht." Er ließ seine Worte einige Zeit wirken. „Haben Sie eine Idee wonach?" „Nein. Und um Ihrer Frage zuvorzukommen, ich weiß auch nicht, wer außer mir noch einen Schlüssel zu meiner Wohnung hat. Ich habe nämlich eine Amnesie, falls Sie sich erinnern." „Ja, ich erinnere mich." Er hüllte sich einige Zeit in Schweigen. „Hören Sie, mir ist klar, dass Sie irgendwann hier Ordnung schaffen müssen, aber ich halte es für besser, wenn Sie erst mal alles so lassen, wie es ist. Ich werde die Jungs von der Spurensicherung benachrichtigen. Vielleicht haben wir ja Glück. Was halten Sie davon, wenn wir solange essen gehen? Und dann kommen wir hierher zurück, und ich helfe Ihnen, Ihre Wohnung in ihren Urzustand zurückzuversetzen, einverstanden?" Nina sah sich um. Ihre Wohnung, ihr Leben, ihre Welt - alles war auf den Kopf gestellt. Würden die Dinge jemals wieder ins rechte Lot kommen? „Na gut, lassen Sie uns essen gehen", willigte sie entmutigt ein. Mike führte ein Telefongespräch, und es dauerte nicht lange, da erschien auch schon die Spurensicherung auf dem Plan. Ohne einen Kommentar abzugeben machten sich die Leute an die Arbeit. Sie gingen in das erstbeste Restaurant in der Nachbarschaft. Bis sie einer sonnengebräunten blonden Frau ihres Alters in die Arme lief, hatte Nina keinen Gedanken an die möglichen Fallstricke verschwendet, die dort unter Umständen lauern könnten. Die Blonde baute sich vor ihr auf und wedelte mit einer Hand vor ihrem Gesicht herum. „Hallo, Nina! Aufwachen! He, wie geht's denn so?" „Äh ... entschuldige ... ich hab dich gar nicht gesehen", stammelte Nina hilflos. „Äh ... hallo." Die Blonde musterte Mike von Kopf bis Fuß, und als sie sich danach Nina wieder zuwandte, war die Botschaft in ihren Augen klar: Willst du mich nicht vorstellen? Nina war auf das alles nicht vorbereitet. Sie hatte einfach nicht damit gerechnet, jemandem zu begegnen, der sie kannte. Was sollte sie nur tun? Sollte sie versuchen, der Blonden ihre Situation zu erklären, oder war es besser zu bluffen? Wie gut kannte sie die Frau? Mike eilte ihr zu Hilfe. „Mike Novalis", stellte er sich vor und streckte der Blonden mit einem Lächeln, das selbst einen Eisblock, zum Schmelzen gebracht hätte, die Hand hin. „Danielle Cole", erwiderte die Frau und schüttelte ihm die Hand. Mike wandte sich an Nina. „Ah, ich glaube, dort drüben wird gerade ein Tisch frei, Nina. Gehen wir?" „Ja", gab sie erleichtert zurück. „Wir haben's eilig, Danielle", sagte sie zu der blonden Frau. „Wir sehen uns." „Spätestens Dienstag abend. Bis dann." Als Danielle an ihr vorbeiging,
zwinkerte sie Nina mit einem bezeichnenden Blick auf Mike verschwörerisch zu und reckte beifällig den Daumen. „Vielen Dank", sagte Nina zu Mike, nachdem sie an dem Tisch Platz genommen hatten. „Mein Gott, war das eben peinlich." „Könnte wahrscheinlich nichts schaden, wenn Sie sich demnächst darüber klar zu werden versuchten, wie Sie in Zukunft mit Ihrem Problem umgehen wollen", riet Mike. „Ich fühle mich entsetzlich. Vollkommen leer. Diese Frau da - Danielle - ist vielleicht meine beste Freundin, und ich weiß es nicht einmal. Und was kann sie bloß mit Dienstag abend gemeint haben?" „Vielleicht finden wir ja nachher in Ihrer Wohnung ein paar Antworten", versuchte Mike sie zu trösten. Er machte eine Kopfbewegung zum Nebentisch, an dem vier Geschäftsleute alle Hände voll damit zu tun hatten, den Inhalt ihrer reichlich gefüllten Salatschüsseln zu bezwingen. „Da muss Ihnen als Vegetarierin doch das Wasser im Mund zusammenlaufen." „Eigentlich ... eigentlich hätte ich mehr Appetit auf einen Cheeseburger. Einen ganz großen. Mit Pommes." Mike musterte sie belustigt. In seinen Augen tanzten kleine Fünkchen. „Ich habe nämlich gerade entschieden, dass ich keine Vegetarierin bin", erklärte sie und setzte dann hinzu: „Und falls ich es jema ls gewesen sein sollte, hat sich das eben jetzt geändert." Während des Essens ließ Mike Nina nicht aus den Augen. Sie saß die ganze Zeit über mit einem leicht erstaunten, etwas verwirrten Gesichtsausdruck da und versuchte ganz offensichtlich das, was sie sah, einzuordnen. Was ihr - zumindest allem Anschein nach - wohl nicht so recht gelingen wollte. Auf jeden Fall tat sie so. Mike war noch immer misstrauisch. Sicher, so wie sie würde sich bestimmt auch eine Person verhalten, die tatsächlich an Anmesie litt. Aber war das bei ihr wirklich der Fall? Wieder sah er sie mit diesem schneeweißen, blutüberströmten Gesicht auf dem Gehweg liegen. Ihr hilfloser Anblick hatte ihn berührt. Das, was ihn jedoch anzog an ihr, war ihre Lebendigkeit: ihre lebhaften Gesten, der warme Glanz ihrer braungrünen Augen, die Ironie, die sie manchmal in ihre Sätze zu packen pflegte und auch die Art, wie sie eben jetzt ihre langen, schlanken Finger nachdenklich in die Papierserviette grub, kleine Streifen davon abriss und sie zu winzigen Bällchen zusammenknüllte. Er war in den fünfunddreißig Jahren seines Lebens schon vielen Frauen begegnet. Und er hatte immer ganz genau gewusst, was er von ihnen wollte. Er hatte einige Beziehungen hinter sich, die größtenteils zufriedenstellend verlaufen waren, mit klar abgesteckten Grenzen und ohne hohe gegenseitige Erwartungen. Wenn eine Frau mehr von ihm wollte, als er zu geben bereit war, hatte er die Sache klargestellt; jedes Spiel, das er spielte, hatte seine festen Spielregeln. Bis er dieser Frau begegnete, die all seine Spielregeln über den Haufen warf. Die ihn dazu brachte, mit seinen Grundsätzen zu brechen. Die ihn mit schönen Worten von Liebe und Vertrauen in ihren Bann zog und die es schaffte, dass er, der Skeptiker, plötzlich alle Vorsätze über Bord warf und an die große Liebe zu glauben begann. Nun, heute wusste er es besser. Alles Vertrauen, alle Liebe waren wie weggeblasen, als sie den Abzugshahn spannte. Aber es war nicht Mike gewesen, den die Kugeln zerfetzten ... Nur mit Mühe riss er sich aus seinen düsteren Gedanken und sah Nina an. Seit der Sache mit Karen war viel Zeit ins Land gegangen. Das Wort Verlangen war seitdem ein Fremdwort für ihn. Und nun verspürte er dieses Gefühl plötzlich
wieder - Verlangen - es war so stark, dass es fast weh tat. Und ebenso wie bei Karen wusste er auch jetzt wieder, wie gefährlich das war. Verdammt gefährlich. Nina spürte, dass er sie ansah. Als sie die Lider hob, blickte sie direkt in seine Augen. Sie wünschte sich, sie könnte die Farbe genau benennen. Aquamarin? Nein, das Blau war tiefer. Lapislazuli? Auch nicht, es war klarer, leuchtender. Saphir? Schon eher, aber das Funkeln dieses Edelsteins wirkte im Vergleich zu dem Strahlen von Mikes Augen um vieles lebloser und kälter. In den paar Stunden, die sie ihn kannte, hatte sie schon die verschiedensten Veränderungen in seinen Augen mitbekommen. Es gab die Momente, in denen humorvolle Fünkchen in ihnen tanzten, dann wieder - zum Beispiel, wenn er versuchte, sie zu trösten - legte sich ein samtweicher Schleier über sie, oder aber sie erstarrten zu funkelnden Eiskugeln, wenn er wütend war. Sie fragte sich, welche Ausdrucksmöglichkeiten diesen Augen wohl sonst noch zu Gebote standen. Wie mochten sie aussehen, wenn sie angefüllt waren mit Leidenschaft? Ob er sie beim Küssen zumachte? Sie schüttelte ganz leicht den Kopf, um die unerwünschten Bilder aus ihrer Phantasie zu verdrängen. „Erzählen Sie mir, was Sie von mir wissen", forderte sie ihn auf. „Ich bin sicher, dass Sie mich bereits genauestens durchleuchtet haben. Was wissen Sie von mir? Ich muss alles erfahren. Und für Sie macht es keinen Unterschied, ob Sie es mir erzählen oder nicht. Wenn ich die Amnesie nur vortäusche", hier hob sie den Kopf, um ihm in die Augen zu schauen, und sein Herz machte einen seltsamen kleinen Satz, als er den Anflug von Verachtung und Verletztheit in ihrem Blick wahrnahm, „weiß ich sowieso alles", fuhr sie fort, „und wenn nicht, können Sie mir auf diese Weise helfen." Er nickte. „Ihr Wunsch ist nur allzu verständlich. Ich werde Ihnen alles erzählen, was ich weiß. Allerdings ist es nicht sehr viel, weil von Ihnen kein Strafregister existiert." Wenigstens ein kleiner Trost, dachte sie. In was für einer Sache sie auch jetzt drinstecken mochte, eine Gewohnheitsverbrecherin war sie zumindest nicht. „Und sonst?" „Sie leben seit mehr als vier Jahren in dieser Wohnung. Bei Abschluss des Mietvertrags haben Sie als Referenzen einige Universitätsprofessoren angegeben. Sie sind nicht verheiratet." Er zögerte einen Moment. „Aber vielleicht haben Sie ja einen Freund." Sein Tonfall klang plötzlich hölzern. „Das kann ich Ihnen leider nicht sagen." Nina nickte. „Schätze, das lässt sich rausfinden", erwiderte sie, wobei sie hoffte, dass ihre Stimme nichts preisgab von der Leere, die sie plötzlich in sich verspürte. Es war nicht der Gedanke, allein zu sein. Damit glaubte sie umgehen zu können. Es war vielmehr die Unsicherheit, die ihr zu schaffen machte. Ein seltsames Gefühl, wenn man selbst über die intimsten Dinge in seinem eigenen Leben nichts wusste. „Genau. Das werden wir herausfinden", stimmte Mike zu. Nina tat so, als hätte sie nicht bemerkt, dass er das Pronomen gewechselt hatte. „Ansonsten kann ich Ihnen noch erzählen, wo Sie arbeiten", fuhr Mike nun fort. Um die Spannung zu erhöhen und ihre Reaktion besser einschätzen zu können, legte er eine längere Pause ein. Dann ließ er seine folgenden Worte wie Steine in das Schweigen fallen. „Die Firma heißt Zakroff und Duchesne." Aus irgendeinem ihr unbekannten Grund stellten sich bei Nina plötzlich die Nackenhaare auf. Fast schien es ihr, als wären ihr die Namen bekannt - aber nur fast. Und dann sah Mike sie ganz plötzlich blass werden. Sie machte die Augen zu und legte sich die Hand an die Stirn.
„Nina! Nina, was ist denn los? Sind Sie okay?" Getröstet von der Besorgnis, die in seinem Tonfall lag, schaute sie ihn an und holte zitternd tief Luft. „Ich bin okay, es ist nur, weil... Ich hatte, als ich die Namen hörte, plötzlich einen Gedankenblitz, aber ... Es war so etwas wie eine Vision ... Ich sah zwei Männer vor mir, einer war blond und gutaussehend, der andere hatte dunkle Haare, war aber schon ziemlich kahl ... Sie befanden sich in einem Raum, von dem ich den Eindruck hatte, er würde sich ... bewegen." Sie machte eine Pause, dann fuhr sie aufgeregt fort: „Das könnte doch eine Erinnerung sein, oder? Wer weiß, vielleicht waren sie das ja - Zakroff und soundso. Vielleicht fängt ja mein Gedächtnis wieder an zu arbeiten!" Als Mike in ihr aufgeregtes Gesicht blickte, konnte er nicht anders, als ihre Erregtheit zu teilen. Trotz seines Verdachts. Vielleicht sagte sie ja doch die Wahrheit? Andererseits ließ sich die Möglichkeit, dass sie versuchte, ihn für dumm zu verkaufen, nicht völlig ausschließen. „Ich hoffe, Sie haben recht", gab er zurück und meinte es auch so. Er biss in sein Hühnerbrust-Sandwich und kaute nachdenklich vor sich hin. „Aber die Namen Zakroff und Duchesne sagen Ihnen nichts?" fragte er nach einiger Zeit. Sie schüttelte den Kopf. „Hm. Und wie wäre es mit Edelsteinen? Können Sie damit etwas anfangen?" Sie sah ihn scharf an. „Edelsteine? Was ist damit?" Mike spürte, dass er irgendwie einen richtigen Punkt getroffen hatte. Er erkannte es an der angespannten Art, wie sie dasaß, und an ihrem wissensdurstige n Gesichtsausdruck. Mit dem Wort Edelstein schien er bei ihr einen Nerv berührt zu haben. Doch nicht nur Neugier konnte er in ihren Augen lesen, sondern noch etwas anderes ... er tat sich schwer mit dem richtigen Wort ... es war fast so etwas wie Angst. Nicht, dass das schon der Durchbruch wäre, aber immerhin. Sie kamen voran. „Zakroff und Duchesne sind Edelstein-Importeure. Sie haben sich auf Smaragde spezialisiert, um genau zu sein." Nina legte ihren Cheeseburger auf den Teller, griff nach dem Wasserglas und drehte es nachdenklich in den Händen, wobei sie die kleinen Luftbläschen beobachtetete, die darin aufstiegen. Eben, bei der Erwähnung der Smaragde, hatte sie etwas durchzuckt, jedoch so unklar, dass sie es nicht zu fassen bekommen hatte. Wäre sie gefragt worden, hätte sie es als ein Gefühl tiefer Verunsicherung beschrieben. Frustriert registrierte sie, dass selbst dieser vage Eindruck schon wieder zu verblassen begann. Das zerstoßene Eis in Ninas Glas glitzerte. Das Glitzern erinnerte sie an etwas ... aber woran? Funkelnde Eiskristalle, in denen sich die Strahlen des Lichts brachen ... der Hintergrund sollte schwarz sein ... schwarzer Samt ... nicht dieses scheußliche Rot des Untersetzers. Und das Eis sollte grün sein ... Da waren sie wieder, die Smaragde. Und plötzlich fiel ihr wieder ein, wie sie im Krankenhaus aufgewacht war und als erstes den Verlobungsring der Krankenschwester bemerkt hatte. „Was mache ich bei Zakroff und Duchesne?" fragte sie. Mike sah sie an. Sie starrte in ihr Glas. Versuc hte sie wirklich mit aller Kraft, ihre Gedächtnisblockade zu überwinden, oder plante sie nur ihren nächsten Schachzug? Überlegte sie, was sie sagen, wie sie ihn am besten manipulieren konnte? Er fragte sich, wie sie wohl reagieren würde, wenn er sie wissen ließe, dass die Firma, bei der sie tätig war, vom FBI überwacht wurde. Idiot! schalt er sich gleich
darauf. Das war wohl so ungefähr das letzte, was sie erfahren durfte - egal ob mit oder ohne Amnesie. Plötzlich wurde ihm bewusst, dass sie noch immer auf eine Antwort wartete. „Ich weiß nicht, was Sie dort machen. Ich weiß nur, dass Sie gestern gearbeitet haben - mehr kann ich Ihnen auch nicht sagen. Sind Sie fertig? Ich denke, die Spurensicherung wird bei Ihnen zu Hause wohl mittlerweile durch sein." Als Nina nach ihrer Handtasche griff, um ihr Portemonnaie herauszuholen, winkte er ungeduldig ab. „Lassen Sie, das geht auf Spesen. Okay, gehen wir." Damit stand er auf und ging zur Kasse. Als sie in Ninas Wohnung kamen, sah alles noch immer genauso aus wie vorher. Die Leute von der Spurensicherung hatten ihre Arbeit beendet und wären gegangen bis auf einen Mann, der zurückgeblieben war, um Mike Bericht zu erstatten. „Neben Miss Dennisens Fingerabdrücken, die natürlich überall drauf sind, haben wir auch noch einige andere gefunden. Wir werden sie überprüfen und geben Ihnen sofort Bescheid, sobald wir etwas gefunden haben. ,,Ja." Diese Aussicht haute Mike nicht vom Hocker. Er war sich ziemlich sicher, dass der Eindringling beim Durchsuchen der Wohnung Handschuhe getragen hatte. Aber man musste alle Möglichkeiten ausschöpfen. „Lieutenant, hier ist aber noch etwas, das Sie sich ansehen sollten", sagte der Polizist und winkte Mike an Ninas Schreibtisch, dessen Schubladen offenstanden. „Wir haben alles genau so vorgefunden." Nina beoachtete von der gegenüberliegenden Seite des Zimmers aus, wie sich die beiden Männer hinunterbeugten. Dann wurde es still. Nina wartete gespannt. Schließlich drehte sich Mike zu ihr um. „Würden Sie bitte mal einen Moment herkommen, Nina?" Langsam, fast widerstrebend, ging sie durchs Zimmer. Sie hatte das dumpfe Gefühl, dass ihr das, was Mike ihr zeigen wollte, gar nicht gefallen würde. „Haben Sie dazu etwas zu sagen?" fragte er. Nina warf einen raschen Blick in die Schublade. Auf einem sorgfältig mit einem Gummiband zusammengehaltenen Papierstapel lag eine schwarze, matt glänzende Pistole. „Eine 9 mm Halbautomatik", sagte Mike in freundlichem Gesprächston. „Schafft achtzehn Runden ohne Nachladen. Hat einen sehr sensiblen Abzug. Eine echte Kampfpistole – ein bisschen übertrieben zum Selbstschutz, finde ich." Er legte eine Pause ein. „Ich vermute, dass ich kein Glück habe, wenn ich Sie frage, ob sie sie schon mal gesehen haben?" Sein Ton klang zu sanft. Nina starrte erst die Pistole an und dann ihn. „Natürlich habe ich sie noch nie gesehen. Sie gehört mir nicht!" „Woher wollen Sie das denn wissen, wenn Sie Amnesie haben?" Nina glaubte, einen leichten sarkastischen Unterton aus seinen Worten herauszuhören. „Ich ... ich weiß es eben", beharrte sie, obwohl sie sich darüber klar war, wie unglaubwürdig ihre Behauptung in Mikes Ohren klingen musste. „Ich halte es für vollkommen ausgeschlossen, dass ich mir jemals ein so widerliches Ding angeschafft hätte!" Sie war empört. Doch gleich darauf meldete sich eine leise Stimme in ihrem Hinterkopf. Wirklich? Er begegnete ihrem Blick gelassen. „Wir werden nachher nachschauen, ob Sie einen Waffenschein haben. In der Zwischenzeit", er nahm die Pistole mit einem Kugelschreiber, den er durch den Abzugsbügel steckte, vorsichtig auf und reichte sie an seinen Kollegen weiter, „nehmen Sie sie zur Untersuchung mit." Der Polizist nickte, während er Nina einen Blick zuwarf, und ließ die Waffe in einen Plastikbeutel gleiten. Dann verabschiedete er sich und verließ die Wohnung.
„Sie sind der Meinung, dass die Pistole mir gehört", brach es aus Nina anklagend heraus. „Aber wenn das der Fall ist, warum ist sie dann von den Einbrechern nicht gestohlen worden? So eine Waffe lässt sich doch wunderbar zu Geld machen." Novalis verzog ganz leicht einen Mundwinkel nach oben, doch das Lächeln erreichte seine Augen nicht. „Scharf kombiniert. Ich habe auch schon darüber nachgedacht. Aber wenn wir davon ausgehen, dass man hier nach einer ganz bestimmten Sache gesucht hat, dann war für Ihren Besucher die Pistole eben nicht von Interesse." Er warf einen Blick auf den Anrufbeantworter. „Da ist was drauf, wollen Sie es nicht abhören?" Richtig, das rote Licht blinkte. Fünf Anrufe waren eingegangen. Mike ließ das Band zurücklaufen. „Macht es Ihnen etwas aus?" erkundigte sich Nina verärgert, schob ihn beiseite und drückte auf Stop. „Es sind schließlich meine Anrufe." „Selbstverständlich." Er lehnte sich lässig gegen die Wand und verschränkte die Arme vor der Brust, geradeso, als wollte er für immer dort stehenbleiben. Einen Moment später wurde ihr klar, dass er bereit war, genau das zu tun. Falls es ihm notwendig erscheinen sollte. Sie stieß einen leisen Seufzer aus und drückte Playback. Sie sah ihn dabei nicht an, aber sie spürte, dass er grinste. Piep. „Hallo, Liebes", sagte eine ältere Frauenstimme, die ein bisschen müde und missmutig klang. „Es ist schon spät. Eigentlich hatte ich gehofft, dich um diese Uhrzeit endlich mal zu erwischen. Ruf mich doch zurück, Darling, ja? Ich brauche deinen Rat." Klick. Nina klopfte das Herz bis zum Hals, und sie spürte, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen. Vielleicht war das ja meine Mutter. Und ich erkenne nicht mal ihre Stimme. Piep. „Hallo, Nina. Hier ist Armand." Eine Männerstimme, Auch sie klang schon älter, aber volltönend und herzlich. Der Mann hatte einen europäischen Akzent. „Warum warst du denn heute nicht im Büro? Ich mache mir ein bisschen Sorgen, weil du nicht mal angerufen hast. Na, ich bin sicher, spätestens morgen lässt du was von dir hören. Lass es mich wissen, wenn du was brauchst." Klick. Piep. Klick. Piep. Klick. Piep. Klick. Stille. „Ich hasse es, wenn die Leute einfach auflegen", bemerkte Mike. Nina nickte. „Vielleicht wollte nur jemand wissen, ob Sie zu Hause sind." „Vielleicht." Als sie ihn ansah, war er überrascht über den qualvollen Ausdruck in ihren Augen. „Ich möchte wetten, dass das meine Mutter war, Novalis. Meine Mutter. Und ich kann sie nicht mal zurückrufen, weil ich ihre Nummer nicht weiß." Sie biss sich auf die Unterlippe. Als Mike antwortete, klang seine Stimme sanfter als beabsichtigt. „Wir werden sie schon herausfinden." Ohne darüber nachzudenken, was er tat, machte er einen Schritt nach vorn, legte einen Finger unter ihr Kinn und hob ihr Gesicht zu sich empor. „Wir werden es herausfinden", wiederholte er, was von ihr mit einem leicht zittrigen Lächeln quittiert wurde. Als er in ihren braungrün gesprenkelten Augen funkelnde Lichter tanzen sah, hielt er den Atem an. Nina war unfähig, sich zu bewegen; wie gebannt von seiner zarten Berührung und seinem durchdringenden Blick starrte sie ihn an. Sie spürte eine Hitzewelle in sich aufsteigen. Dann drehte sie schnell den Kopf beiseite, und er ließ die Hand sinken, als hätte er sich verbrannt.
Sie standen sich einen Moment schweigend gegenüber, wobei sie es vermieden, sich anzusehen. „Nun", sagte sie endlich mit gespielter Munterkeit, „irgendwie werde ich mein Leben schon wieder in den Griff kriegen." Damit wandte sie sich ab und ging in Richtung Schlafzimmer. Ohne sich nach ihm umzusehen, fügte sie hinzu: „Fühlen Sie sich ganz wie zu Hause." Er sah ihr hinterher und schloss dann die Tür. „Keine Angst, Baby", brummte er, als sie bereits weg war, „ich werde genau das tun, was ich für richtig halte."
3. KAPITEL Im Schlafzimmer herrschte ein heilloses Durcheinander. Zuerst mussten die Kleider vom Fußboden weg. Sie legte die Pullover zusammen und hängte die Blusen, Röcke und Jacken wieder in den Schrank, wobei sie den Gedanken, dass ein Fremder ihre Sachen in der Hand gehabt hatte, zu verdrängen suchte. Die weichen Stoffe und gedämpften Farben wirkten beruhigend auf sie. Fast zu beruhigend, dachte sie, während sie ihre Garderobe, die fast nur in Grau, Beige oder Dunkelblau gehalten war, nachdenklich musterte. Die Sachen waren zwar durchweg geschmackvoll, jedoch recht konservativ. Ich werde mir etwas Rotes kaufen, beschloss sie. Etwas Abwechslung kann nicht schaden. Als sie sich einen knallroten Ledermini neben ihrem beigen Kamelhaarmantel vorstellte, hätte sie fast gekichert. Vielleicht sollte sie erst mal mit einem Pullover anfangen. Nachdem die Kleider alle wieder an ihrem Platz waren, schaute sich Nina zufrieden um. Das Chaos begann sich zu lichten. Mike kramte im Wohnzimmer herum; Nina hörte, wie Schubladen geöffnet und wieder zugeschoben wurden. Sie bedauerte es, dass er die Tür zwischen ihnen mit einer solchen Endgültigkeit geschlossen hatte. Zuerst war sie erleichtert gewesen, weil sie sich so ungestörter fühle n konnte, doch mittlerweile hatte ihre Neugier die Oberhand gewonnen. Was trieb er bloß? Sie hatte ein Recht, es zu wissen, schließlich waren es ihre Sachen, in denen er herumkramte. Sie konnte nicht den ganzen Nachmittag im Schlafzimmer verbringen. Das Bett musste noch in Ordnung gebracht werden. Die Laken, die der Einbrecher heruntergerissen hatte, wollte sie nicht mehr verwenden. Aber im Bad hatte sie einen Wäscheschrank entdeckt, dort würde sie sicher neue finden. Ein viel größeres Problem waren die aufgeschlitzten Kissen. Als Nina die Schlafzimmertür öffnete, saß Mike an ihrem Schreibtisch und ging seelenruhig einen Papierstapel durch, den er anscheinend der Hängeregistratur entnommen hatte. Sie schluckte eine verärgerte Bemerkung hinunter, konnte sich jedoch nicht verkneifen zu fragen: „Na, schon was Interessantes gefunden?" Er warf ihr einen gleichgültigen Blick zu. „Noch nicht. Aber machen Sie sich keine Sorgen, wenn ich etwas habe, werden Sie es als erste erfahren." Nina holte aus dem Wäscheschrank im Bad, der auch durchwühlt worden war, neue Laken und Bezüge. Wieder im Schlafzimmer - die Tür ließ sie diesmal offen - stopfte sie die aufgeschlitzten Kissen in den Papierkorb und bezog die Steppdecke neu. Nun sah der Raum, der mit seinen kühlen Farben und dem zarten Blumenmuster an den Wänden eine beruhigende Ausstrahlung hatte, schon fast wieder normal aus. Nur eins störte noch - die Nachttischschublade war aufgerissen. Als Nina sie reinzuschieben versuchte, bemerkte sie, dass sie klemmte. Sie durchwühlte den Inhalt - eine Schachtel mit Papiertüchern, eine Packung Halspastillen, eine Nagelfeile ... hinten an der Wand musste etwas stecken, das ein Schließen der Schublade verhinderte. Sie ertastete einen Gegenstand - er fühlte sich an wie ein Buch. Nina bekam ihn an einer Ecke zu fassen und zog ihn heraus. Es war ein in Leder gebundenes Buch, auf dem vom auf dem Deckel das Wort Tagebuch in Goldbuchstaben eingestanzt war. Als Nina klar wurde, dass sie womöglich den Schlüssel zu ihrer Vergangenheit in Händen hielt, begann sie vor Aufregung zu zittern. Hatte der Einbrecher danach gesucht? Auf keinen Fall durfte Mike Novalis das Tagebuch zu Gesicht bekommen - zumindest nicht, bevor sie wusste, was drinstand. Bis sie sichergehen konnte, dass sie nichts zu verbergen hatte.
Rasch schob sie das Buch unter die Matratze und schloss die Schublade. Obwohl sie sich kaum beherrschen konnte, darin herumzublättern, wusste sie doch, dass im Moment dafür nicht der richtige Zeitpunkt war. Was für Geheimnisse es auc h immer enthalten mochte, sie musste sich gedulden. Sie warf einen letzten, abschließenden Blick durchs Zimmer. „Gute Arbeit." Als Nina Mikes Stimme hörte, wirbelte sie schuldbewusst herum. Wieviel hatte er gesehen? Sie zwang sich, nicht auf die Stelle zu schauen, wo das Tagebuch lag. Mike warf einen Blick in die Runde und nickte anerkennend. „Das haben Sie prima wieder hingekriegt", sagte er. „Irgendwas Interessantes dabei?" „Nein. Nur meine Kleider und so." Die Sachlichkeit in ihrem Tonfall überraschte sie selbst. Er musterte sie einen Augenblick, dann streckte er die Hand aus, um eine mit feinen Schnitzereien verzierte Holzschatulle zu öffnen, die auf der Kommode stand. Das Kästchen enthielt Schmuck. Nina nahm jedes Stück einzeln heraus. Eine Halskette aus Türkisen, zwei schön gearbeitete Silberketten, mehr als ein Dutzend Paar Ohrringe, die meisten davon aus Silber, verschiedene Ringe. „Auf Schmuck hatte es der Einbrecher jedenfalls nicht abgesehen", stellte Mike fest. „Na ja, um die Wahrheit zu sagen, er ist auch nicht allzuviel wert", erwiderte Nina. „Er gefällt mir - es sind schöne handgearbeitete Stücke, aber nicht kostbar. Und alles nur Halbedelsteine, ein Topas, ein Granat, Türkise und solche Sachen. Keine Diamanten oder Rubine. Die hier", sie deutete auf ein Paar Perlenohrringe, „sind das Wertvollste von allem - obwohl sie wahrscheinlich nicht mehr als ungefähr zweihundert Dollar gekostet haben." „Vielleicht hatten Sie ja noch viel mehr und wertvolleren Schmuck, den der Einbrecher mitgenommen hat." „Vielleicht. Aber wäre es da nicht einfacher gewesen, die ganze Schatulle mitzunehmen?" „Sicher. Na ja, wahrscheinlich ist es eben doch so, dass hier nicht eingebrochen wurde, um Sie zu bestehlen. Aber es hat ganz den Anschein, als würden Sie eine Menge von Schmuck verstehen." Er hat recht, dachte Nina. Sie hatte den Inhalt der Schatulle mit Kennerblick begutachtet. Und plötzlich verspürte sie, wie schon vorhin im Restaurant, als sie die zerstoßenen Eiswürfel betrachtet hatte, eine vage Vertrautheit, das Gefühl, kurz vor einer wichtigen Entdeckung zu stehen. Das aber leider ebenso plötzlich, wie es in ihr aufgestiegen war, wieder verblasste. „Kommen Sie mit", sagte Mike und ging zurück ins Wohnzimmer. „Ich will Ihnen ein paar Sachen zeigen." Nina sah, dass er die Bücher und Zeitschriften, die vorher über den ganzen Fußboden verstreut gelegen hatten, fein säuberlich zu Stapeln aufeinandergeschichtet hatte. Als sie sich hinkniete, um nachzusehen, worum es sich bei den Sachen handelte, entdeckte sie zahlreiche Bücher, Zeitschriften und Kataloge über Edelstein und Mineralien. „Ich bin zwar nicht Sherlock Holmes, aber ich würde sagen, dass Sie eine Expertin für Juwelen sind." „Juwelenexpertin", wiederholte Nina in Gedanken versunken, zuckte jedoch einen Moment später zusammen und sah Mike aufgeregt an. „Oh, mein Gott natürlich, ich bin Juwelenexpertin. Ich erkenne all diese Bücher und Zeitschriften wieder, ich könnte Ihnen genau sagen, was drinsteht." Wider Willen musste sich Mike eingestehen, dass das hoffnungsfrohe Strahlen,
das nun ihre Züge erhellte, ihm fast den Atem raubte. Er ging neben ihr in die Hocke und nahm ihre Hand. „Wie schön für Sie, Nina. Und Sie erinnern sich wirklich daran, dies alles hier gelesen zu haben? Fällt Ihnen vielleicht sonst noch was ein?" Das Strahlen auf ihrem Gesicht verblasste und machte einem Ausdruck von Verwirrung Platz. Sie schüttelte den Kopf. „Nein. Ich ... ich kann zwar die Sachinformationen in meinem Gedächtnis abrufen, aber an alles andere erinnere ich mich nicht. Ich ..." Ihre Stimme brach. Als sie verzweifelt die Hand zur Faust ballte, stieg eine Welle von Zärtlichkeit in ihm auf und drohte ihn fast zu überwältigen. Den Arm um sie zu legen, um sie zu trösten, wäre nur natürlich gewesen, doch er entschied sich dagegen. Er ließ ihre Hand los, und sie wandte sich ab. Als sie wieder sprach, klang ihre Stimme zornig. „Verdammt noch mal, es war mein Leben, und ich kann mich einfach nicht erinnern!" Mike erhob sich und sah auf sie hinunter, wie sie so mit gesenktem Kopf dahockte. Er verspürte den Wunsch, ihr über das zerzauste rotbraune Haar zu streichen, aber er unterdrückte ihn erfolgreich. Jetzt, wo er nicht mehr gezwungen war, ihr in die Augen zu sehen, kehrte seine Wachsamkeit zurück. Angenommen sie schauspielert, dachte er, dann kann sie sich wahrlich mit Meryl Streep messen. Und wenn sie versucht, dir den Kopf zu verdrehen, dann funktioniert es. Er presste seine Lippen aufeinander. Oh, nein, ein zweites Mal würde er sich die Finger gewiss nicht verbrennen. Er ging zum Schreibtisch und nahm ein kleines Buch in die Hand. „Hier. Vielleicht nützt es Ihnen etwas." Nina rappelte sich auf - und plötzlich war ihr, als würde das Zimmer von einem grellen Blitz erhellt. Sie sah einen gleißenden Wirbel, der sich gleich darauf in etwas dunkel Schimmerndes, Pelziges verwandelte. Einen Moment später erkannte sie, dass es sich um einen Nerzmantel handelte, den eine junge Frau, die sich vor ihr drehte, trug. Das Haar der Frau war im Nacken zu einem französischen Knoten verschlungen, und sie lächelte Nina an. Nina glaubte eine helle, melodische Stimme zu hören, die zu ihr sagte: „Na, wie gefällt er dir?" Dann wurde sie erneut von einem Blitz geblendet. Sie zwinkerte. Sie stand in ihrem Wohnzimmer, allein mit Mike, der sie verwundert ansah. „Nina, hören Sie mich? Was ist denn?" „Wieder ein Erinnerungsblitz, vermutlich. Wie vorhin im Restaurant, als ich diese beiden Männer vor meinem geistigen Auge sah. Diesmal war es eine blonde Frau. Sie trug einen Nerzmantel. Und ich glaube", fügte sie langsam hinzu, während sie versuchte, sich jedes Detail dessen, was sie eben gesehen hatte, wieder ins Gedächtnis zurückzurufen, „sie stand hier in diesem Zimmer." „Haben Sie sie erkannt?" Sie schüttelte bedrückt den Kopf. „Vielleicht komme ich ja noch drauf." Wieder verspürte er Mitleid mit ihr. „Ganz bestimmt", versuchte er ihr Mut zu machen. Nina erbebte. Der tröstliche Klang in Mikes Worten erinnerte sie an seinen Tonfall, als sie nach der Schießerei hilflos auf der Straße gelegen hatte. Und es schockierte sie, wie gut es ihr tat, wenn er mit dieser warmen, fast zärtlichen Stimme auf sie einredete. Aber es tat ihr nicht nur gut; zugleich erregte es sie und verursachte ihr eine Gänsehaut. Einen Augenblick später hatte sie sich wieder in der Gewalt. Wenn er wüsste, dass du das Tagebuch unter der Matratze versteckt hast, würde er wahrscheinlich gar nicht mehr so zärtlich klingen. „Vielleicht hilft Ihnen das ja weiter", sagte Mike, und sie sah, dass er ihr noch
immer dieses kleine Buch hinhielt. Wahrscheinlich war es ein Adressbuch. Sie nahm es und klappte es auf. Die erste Seite war für wichtige Telefonnummern vorgesehen. Hier hatte sie das Wort Mom hineingekritzelt, gefolgt von einer Telefonnummer. „Die Vorwahl ist Florida", sagte Mike. „Danke." Nina hielt das Buch in Händen und starrte mit tränenverschleierten Augen darauf. „Ich glaube, ich bin noch nicht stark genug, um meine Mutter anzurufen", erklärte Nina unsicher. „Ich fürchte, ich bin ziemlich aus dem Gleichgewicht. Vielleicht später, wenn ich hier noch ein bisschen aufgeräumt habe ..." Sie machte eine Kopfbewegung in Richtung Küche. „Ja, ich verstehe. Ich werde Ihnen noch etwas helfen." Sie warf ihm einen kurzen, überraschten Blick zu. „Sie wollen mir helfen aufzuräumen?" Wieder dieses jungenhafte Grinsen. „Ja, warum nicht? Und vielleicht gibt's ja irgendwo eine Spur, die ich auf keinen Fall übersehen darf." Nachdem sie einige Zeit schweigend Hand in Hand gearbeitet hatten und die gröbste Unordnung beseitigt war, machte er den Vorschlag, eine Pause einzulegen. „Wir könnten nach unten gehen und einen Blick auf Ihren Wagen werfen." „Gute Idee", stimmte Nina, die Kopfschmerzen hatte, erfreut zu. „Wie wär's mit einet kleinen Spritztour? Vielleicht frischt das ja Ihr Erinnerungsvermögen auf", fragte er, als sie vor ihrem kaffeebraunen BMW standen. Nun, der Versuch konnte nicht schaden. Sie willigte ein. „Wohin soll ich fahren?" fragte sie. „Ich habe nichts Bestimmtes im Sinn. Ich dachte, wir fahren einfach mal so ein bisschen herum." Doch auch die Autofahrt half Ninas Gedächtnis nicht auf die Sprünge, Sie hatte zwar keinerlei Probleme mit dem Fahren, sie handhabte den BMW mühelos und erinnerte sich an die Funktion jedes einzelnen Hebels und Schalters, aber über dieses rein technische Wissen hinaus war keine persönliche Erinnerung abrufbar. Es war das, wofür die Ärzte im Krankenhaus den Terminus „generalisierte Erinnerung" verwendet hatten. Sie fuhr am Fluss eine Rampe hinunter, die zu den Docks führte. Nachdem sie sich einen Parkplatz gesucht hatte, hielt sie an und ließ ihren Blick am Ufer entlangwandern. Die Sonne begann langsam unterzugehen, die Schatten hingen schon tief über dem breiten schieferblauen Delaware. Gegenüber auf der anderen Flussseite glänzten die Fensterscheiben der Fabrikhallen und Lagerhäuser von Camden im späten Licht. Als Mike das Schiebedach öffnete, fuhr ihm ein Windstoß durch sein ohnehin schon zerzaustes Haar. „Fühlen Sie sich ein bisschen besser?" erkundigte er sieh anteilnehmend. „Na, ich weiß nicht. Das Seltsamste ist, dass ich mich an Bruchstücke meines Lebens erinnere - an die Namen von Restaurants, an meinen Beruf und so weiter aber es kommt mir so vor, als hä tte das alles nichts mit mir zu tun." Frustriert schlug sie mit der Faust aufs Steuerrad. „Es ist fast, als hätte ich bis zum heutigen Tag überhaupt nicht richtig existiert." Mike legte ihr beruhigend eine Hand auf den Arm. „Und doch haben Sie es. Es wird schon wieder werden, Nina." Sie nickte hilflos und sah ihn an. „Wollen wir zurück?" Die Heimfahrt verlief schweigend. Jeder hing seinen Gedanken nach. Als sie
wieder in der Wohnung waren, nahm Nina all ihren Mut zusammen, holte tief Atem und sagte: „Ich denke, ich sollte jetzt mal meine Mutter anrufen." „Soll ich rausgehen?" bot Mike so einfühlsam an, dass Nina fast genickt hätte, doch dann wurde ihr klar, dass sie gerade jetzt nicht allein sein wollte. Mike Novalis war alles mögliche - misstrauisch, launisch und unberechenbar -, aber Nina wusste, dass er auch stark war. Und genau diese Stärke brauchte sie jetzt, auch wenn sie sie sich nur auslieh von ihm. „Bitte bleiben Sie", flüsterte sie und wählte. Ihre Mutter hob nach dem dritten Klingelzeichen ab. Ohne zu wissen, warum, war Nina sofort klar, dass sie dieser Frau nichts von dem erzählen konnte, was vorgefallen war. Die Stimme ihrer Mutter klang matt und brüchig; es war die Stimme eines Menschen, der selbst Hilfe und Unterstützung brauchte und nicht auch noch die Probleme anderer auf sich nehmen konnte. „Wie geht es dir?" erkundigte sich Nina. „Ach, na ja, du weißt ja, wie es ist. Die Ärzte finden einfach nichts, aber ..." Jetzt folgte eine Aufzählung kleinerer Beschwerden, an die sich eine Klage anschloss über die Nachbarn, die bei ihren Bridgeparties angeblich einen Höllenlärm veranstalteten. „Du hast gesagt, dass du meine Hilfe brauchst", sagte Nina. „Was wolltest du denn?" „Oh, ja. Nett, dass du nachfragst. Ich will das Wohnzimmer renovieren lassen, aber ich kann mich einfach nicht entscheiden, ob ich es meergrün oder taubenblau tapezieren soll. Was meinst du denn dazu?" Nina zwinkerte. Darauf war sie nicht gefasst gewesen. „Hm, blau denke ich. Ja, auf jeden Fall taubenblau." „Nun, ich werde darüber nachdenken", gab ihre Mutter leicht zweifelnd zurück. Ninas Gedanken wirbelten durcheinander. Es gab so vieles, was sie gern gewusst hätte, was sie einfach wissen musste. Aber wie konnte sie all die Fragen stellen, die ihr auf der Zunge lagen, ohne dass ihre Mutter Verdacht schöpfte und merkte, dass mit ihr etwas nicht stimmte? „Weißt du, Mom", machte sie einen vorsichtigen Vorstoß, „heute morgen habe ich an Dad gedacht." Sie machte eine Pause. Würde ihre Mutter reagieren? „Hast du das, Liebes?" Jetzt klang die Stimme ihrer Mutter ganz weich, fast zärtlich. „Das freut mich. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie oft ich an ihn denke. Und er war so stolz auf dich und deinen Bruder. Schwer vorstellbar, dass es nun schon zehn Jahre her ist." Nach einer kurzen Pause fuhr sie in einem lebendigeren Tonfall fort: „Ich freue mich schon darauf, euch beide an Weihnachten zu sehen. Ich habe vor ein paar Tagen mit Charley gesprochen, und er sagte, er und Lynn und die Jungs könnten es kaum mehr erwarten, dich endlich einmal wiederzusehen." „Ich freue mich auch schon", versicherte Nina und beschloss, das Gespräch zu beenden. Sie fühlte sich plötzlich ganz ausgelaugt. Nachdem sie versprochen hatte, sich bald wieder zu melden, legte sie auf. „Nun?" fragte Mike, der hinter ihr stand. „N ichts", erwiderte Nina resigniert. Sie kam sich vor wie ausgehöhlt. „Ich habe nicht einmal ihre Stimme wiedererkannt. Selbst wenn ich ihr morgen auf der Straße begegnen würde, wüsste ich nicht, wer sie ist. Und mein Vater ist tot." Auf einmal überkam sie das Gefühl, als sei sie zwischen zwei Mühlsteine geraten. Einsamkeit und Verzweiflung drohten sie zu zermalmen, und es gelang ihr nicht länger, die Tränen zurückzuhalten. Während sie ihnen freien Lauf ließ, spürte sie, wie sich zwei starke Hände auf ihre Schultern legten. Mike drehte sie zu sich
herum und zog sie in seine Arme. Er hatte nicht darüber nachgedacht, was er tat, er war nur seinem Gefühl gefolgt, das ihm sagte, dass sie ihn jetzt brauchte. Zuerst hatte er sie einfach nur trösten wollen. Doch als er sie nun in seinen Armen hielt, das Gesicht in ihrem Haar vergraben, wurde er sich ihrer festen Brüste bewusst, die sich gegen seinen Brustkorb drückten. Sein Begehren erwachte. Er zog sie noch enger an sich - nur ein wenig, aber doch genug, um ihre Hüfte für einen Moment mit dem ganz plötzlich hart gewordenen, pulsierenden Körperteil hinter dem Reißverschluss seiner Jeans in Berührung zu bringen ... Als sie mit großen Augen und leicht geöffneten Lippen zu ihm aufsah, musste Mike seine gesamte Willenskraft aufbringen, um sie loszulassen. Er wich ihrem Blick aus und trat einen Schritt zurück. Dann ging er zu dem Bücherregal hinüber, bückte sich, hob eine Handvoll Bücher auf und stellte sie an ihren Platz zurück. Er gab sich alle Mühe, einen möglichst ge lassenen Eindruck zu erwecken, während er sich innerlich wüst beschimpfte. Hast du jetzt vollkommen den Verstand verloren? Lässt dich von dieser Frau antörnen und scheust dich nicht, auch noch Öl ins Feuer zu kippen. So ein Verhalten könnte dich deinen Job kosten. Nimm dich jetzt endlich zusammen und denk mit deinem Verstand und nicht mit dem, was du zwischen den Beinen hast, du Idiot! Nina war verwirrt. In demselben Augenblick, in dem sie sich in Mikes Armen wiedergefunden hatte, hatte sie ihren Kummer zumindest für den Moment vergessen, und sie hatte gespürt, wie schlagartig etwas anderes die Oberhand gewann. Nachdem er sie näher an sich herangezogen hatte, war sie von einer Welle des Begehrens fast hinweggespült worden. Und nun stand er auf der anderen Seite des Zimmers und tat so, als wäre gar nichts gewesen, während ihr vor Erregung noch immer die Knie zitterten. Und doch war sie überzeugt davon, dass es ihm nicht anders ergangen war als ihr. Sie hatte es genau gespürt, als sie ihn mit der Hüfte gestreift hatte. Es war unübersehbar gewesen. Er hatte Lust auf sie. Genauso wie sie auf ihn. Es ist nur deshalb, weil du dich im Moment in einem Ausnahmezustand befindest. Du bist vollkommen durcheinander und weißt gar nicht, was du tust. Aber es würde schwierig werden, einen klaren Kopf zu bewahren, wenn sich das Objekt ihrer Begierde, das im Moment mit dem Rücken zu ihr stand, jetzt umdrehen und auf sie zukommen würde, um sie noch einmal in die Arme zu nehmen, das wusste sie genau. „Das Gespräch mit meiner Mutter hat mich erschöpft", begann sie und versuchte verzweifelt, das Zittern in ihrer Stimme zu unterdrücken, „vielleicht sollte ich besser kurz duschen." „Nur zu", gab er zurück, ohne sich umzudrehen, und rückte die Bücher im Regal gerade. Selbst aus der Entfernung konnte Nina erkennen, dass er die Kochbücher zwischen die Krimis gestellt hatte. „Ich bleibe hier, bis Sie wieder zurück sind." Genau das habe ich befürchtet, gab Nina in Gedanken zurück, als sie die Badezimmertür hinter sich zumachte. Als sie ein paar Minuten später unter der Dusche stand, erkannte Nina, dass es wohl keine besonders gute Idee gewesen war. Eigentlich hatte sie den Rückzug ins Bad nur als Vorwand benutzt, um Mike Novalis für einen Augenblick entfliehen zu können und um ihren aufgepeitschten Gefühlen Zeit zu geben, sich zu beruhigen. Doch als nun der seidenweiche, warme Duschstrahl ihre Haut traf und die Wasserkaskaden an ihrem Körper herabströmten, spürte sie, dass das keineswegs zur Beruhigung ihrer Phantasie beitrug. Plötzlich schien jedes einzelne ihrer Nervenenden zum Leben zu erwachen Ihr Körper begann zu vibrieren. Beim Einseifen spürte sie Mikes Hände auf ihren Schultern, den
Armen, ihren Brüsten, ihren Schenkeln. Wie wäre es wohl, wenn er jetzt hier mit ihr unter der Dusche stünde? Wasserüberströmt, hart und bereit für sie? Selbst nachdem sie sich gezwungen hatte, an etwas anderes zu denken, weigerte sich ihr Körper mitzuspielen. Ihre Knospen hatten sich aufgerichtet und waren hart geworden, und im Zentrum ihrer Weiblichkeit begann sich eine Hitze auszubreiten, die sie durchflutete vom Kopf bis zu den Zehenspitzen ... Hilflos schlug Nina mit den Fäusten gegen die Kacheln. Aufhören! Das muss auf der Stelle aufhören! Hektisch drehte sie an den Wasserhähnen. Als schließlich eiskalte Wasserkaskaden auf sie niederrauschten, stockte ihr für einen Moment der Atem, und ihr ganzer Körper überzog sich mit einer Gänsehaut. Nachdem sie sich etwas an die Kälte gewöhnt hatte, hob sie ihr Gesicht dem scharfen Wasserstrahl entgegen. La ngsam beruhigte sie sich. Während sie sich abtrocknete, ging sie in Gedanken die ganze Geschichte noch einmal durch. Angenommen, sie hatte sich wirklich nichts zuschulden kommen lassen - was mit Sicherheit der Fall war -, so ließ sich doch der Umstand nicht leugnen, dass jemand in ihrer Wohnung gewesen war und sie komplett auf den Kopf gestellt hatte. Ging man nun davon aus, dass ihre Schussverletzung ein Zufall gewesen war und brachte man das zusammen mit der Durchsuchung ihrer Wohnung, fiel es schwer, an so viele Zufälle auf einmal zu glauben. Und wenn man das nicht tat, hatte das wiederum zur Folge, dass sie womöglich doch in irgend etwas verwickelt war, das vielleicht nicht ganz koscher war. Deshalb sollte sie sich wohl besser nicht von einem Cop angezogen fühlen, der sie womöglich demnächst verhaften würde. Und auch von sonst niemandem. Ich weiß nicht einmal, was für ein Mensch Nina Dennison eigentlich ist. Wie kann ich dann überhaupt daran denken, mich auf jemand anderen einzulassen? Während Mike das Wasser im Bad rauschen hörte, versuchte er krampfhaft, den Gedanken an eine unter der Dusche stehende Nina zu verdrängen. Was ihm natürlich nicht gelang. In seinen Lenden pochte es, und er verspürte noch immer den ziehenden Schmerz des Verlangens. Nun sah er vor seinem geistigen Auge die Wasserkaskaden über ihren geschmeidigen, nass glänzenden Körper hinabrinnen. Und er stand mit ihr unter der Dusche, seifte ihr die Schultern ein, den Rücken, den Po ... nun drehte sie sich zu ihm herum, glänzend wie eine Wassernixe, und er wusste, wie sie sich anfühlen würde, wenn er sie an sich zöge ... Betreten registrierte Mike, dass alle Bücher, die er während der vergangenen Minuten in das Regal gestellt hatte, auf dem Kopf standen. „Das soll sie besser selbst machen", brummte er vor sich hin. Da er sich ablenken wollte, wandte er sich einer Schublade zu, die er bisher noch nicht durchsucht hatte. Wenig später war Mike tief in Gedanken versunken - die mit der Nina, die jetzt unter der Dusche stand, allerdings nichts mehr zu tun hatten. Er starrte auf den Pass in seiner Hand und dachte an das erste und einzige Briefing, das in seiner Abteilung zum Fall Zakroff und Duchesne stattgefunden hatte. Morris Hecht war an diesem Tag besonders schlechter Laune gewesen. Er hatte bereits eine Besprechung mit den Leuten vom FBI, die offiziell mit dem Fall betraut waren, hinter sich und teilte nun seinen Untergebenen die dürren Einzelheiten mit, die seine Kollegen preisgegeben hatten. „Ich hatte heute wieder mal das Vergnügen mit dem FBI", sagte er mürrisch. „Diesmal geht es um die Firma Zakroff und Duchesne. Juwelenhändler. Sie importieren eine Menge Edelsteine aus Kolumbien. Scheint so, als wäre das ihre Hauptquelle. Jetzt ist irgend jemand auf die schlaue Idee verfallen, dass das
Medellin-Kokain-Kartell da seine Finger drin haben könnte, um vielleicht auf diese Weise irgendwie den Koks außer Landes zu bringen. Wie auch immer, jedenfalls hat das FBI ein Auge auf die Firma." „Aha, und jetzt fordern sie unsere Hilfe an?" Die spöttische Frage von Detective Sarris erzeugte allgemeine Heiterkeit. „Himmel, nein. Natürlich nicht." Hecht zog an seiner Zigarre und stieß eine dicke Rauchwolke aus. „In den Augen dieser gloriosen Jungs sind wir doch bloß dazu da, den Verkehr zu regeln. Nein, es ist nur so, dass jeder Augen und Ohren offenhalten soll. Wer etwas hört, was auch nur annähernd in Zusammenhang mit der Sache stehen könnte, muss es sofort dem FBI melden. Kapiert?" „Und? Gibt's was zu gewinnen?" rief Sarris übermütig. „Ja." Grimmig drückte Hecht seine Zigarre auf einer Untertasse, auf der ein angebissenes Brötchen lag, aus. „Einen kostenlosen Urlaub im sonnigen Kolumbien." Als Nina aus dem Bad kam, hielt Mike den Atem an. Sie hatte ihr nasses Haar straff zurückgekämmt und trug kein Make-up. Sie wirkte jung und unschuldig. Na, mal sehen, was sie zu meiner Entdeckung zu sagen hat, dachte Mike. „Schauen Sie, was ich gefunden habe." Sie hatte auf der Couch Platz genommen und blickte ihm wachsam, fast so, als hätte sie sich für einen Kampf gewappnet, entgegen. Woraus er ihr keinen Vorwurf machen konnte. Schließlich hatte er sie schon mehr als einmal überrumpelt. „Ihren Pass." Er bemühte sich, seinen Tonfall neutral zu halten. „Oh, wo war ich denn schon überall?" „Sehen Sie selbst." Er hielt ihr das dunkelblaue Büchlein hin und beobachtete, wie sich erstaunt ihre Brauen hoben, während sie es rasch durchblätterte. „Ich kann mich an diese Reisen überhaupt nicht erinnern." „Eine in die Schweiz", bemerkte er. „Und fünf nach Kolumbien. Und das alles in den vergangenen achtzehn Monaten. Es muss Ihnen dort gut gefallen haben." Nina spürte, wie er sie beobachtete. Plötzlich fühlte sie sich wie ein Insekt unter dem Mikroskop. Er lauert nur darauf, dass ich ein falsches Wort sage, dachte sie. Nur dass es gar nichts gibt, was ich vor ihm verheimlichen könnte, weil ich selbst nichts weiß. Leicht zweifelnd blickte sie wieder auf den Pass. „Vielleicht waren es ja Geschäftsreisen." „Das wäre eine Möglichkeit. Mit Kolumbien werden zur Zeit viele Geschäfte gemacht." Da ging ihr ein Licht auf. Kolumbien - Kokain. „Sie haben mich in Verdacht, dass ich im Drogengeschäft mitmische?" „Nina, ich habe ihnen bereits gesagt, dass ich Sie wegen überhaupt nichts in Verdacht habe. Ich will einfach nur, dass Sie sich wieder erinnern. Die Verbindung zwischen Kolumbien und Drogen haben Sie hergestellt, nicht ich." Sie sah ihm in die Augen. Alle Wärme und Fürsorglichkeit war aus ihnen verschwunden. Es war vielleicht nicht gerade Feindseligkeit, was sie in ihnen zu entdecken glaubte, aber doch Kühle und äußerste Wachsamkeit. „Warten Sie", rief sie aus. „Ich glaube, ich hab's! Haben Sie nicht gesagt, dass die Firma, bei der ich arbeite, Edelsteine importiert?" Als er nickte, fuhr sie eifrig fort: „Und ich bin eine Juwelenspezialistin, nicht wahr? Dann leuchtet es durchaus ein, weshalb ich so oft nach Kolumbien geflogen bin. Wahrscheinlich habe ich dort Edelsteine eingekauft." Mike fand es faszinierend, wie ihre Augen das Licht auffingen und zu leuc hten begannen, wenn sie erregt war. Nur mit Mühe gelang es ihm, sich auf das zu
konzentrieren, was sie gesagt hatte. Zugegebenermaßen machte es Sinn. „Kolumbien hat zur Zeit Edelsteine höchster Qualität zu bieten", fuhr Nina fort. „Man hat im Landesinneren erst kürzlich wieder neue Vorkommen entdeckt. Von überall in der Welt kommen nun die Leute angereist in der Hoffnung, ihr Glück zu machen. Aber es geht dort verdammt rau und rechtlos zu. Wenn einer einen Edelstein findet, muss er ihn heimlich rausschmuggeln, weil er sonst Gefahr läuft, von einem anderen, der einen größeren Revo lver hat als er, bedroht und ausgeraubt zu werden." „Das klingt, als hätten Sie diese Erfahrungen aus erster Hand." „Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht. Könnte ja auch sein, dass ich es nur gelesen oder einen Film darüber gesehen habe. Wie oft muss ich es Ihnen eigentlich noch sagen - ich erinnere mich nicht!" Die letzten Worte schrie sie ihm fast ins Gesicht. „Beruhigen Sie sich doch, Nina. Bitte. Ich bin Ihnen in keine r Weise zunahe getreten und habe Sie auch nicht verdächtigt." Da musste Nina ihm fairerweise recht geben. „Es kam mir so vor, als würden Sie sich plötzlich wieder erinnern, und da habe ich eben nachgefragt." Sie seufzte. „Nein, leider nicht. Es ist ganz komisch, ich weiß diese Dinge zwar, aber ob ich irgend etwas davon selbst erlebt habe, kann ich nicht sagen." „Vielleicht waren Ihre Reisen ja tatsächlich Geschäftsreisen. Es würde einleuchten. Wir werden der Sache morgen nachgehen." Überrascht sah sie ihn an. In dem ganzen Durcheinander hatte sie noch keinen einzigen Gedanken an den nächsten Tag verschwendet. „Wenn Sie wollen, hole ich Sie um acht Uhr ab", schlug Mike vor. „Und dann fahren wir gemeinsam in Ihr Büro und sprechen mit den Leuten dort. Vielleicht frischt das Ihre Erinnerung ja wieder auf." Sie würde also noch einen weiteren Tag mit Mike Novalis verbringen. Nina wusste nicht recht, ob sie dieser Gedanke erleichterte oder verschreckte. Zumindest würde sie nicht ganz allein sein. Aber sie würde auch mit Mikes Verdächtigungen zurechtkommen müssen -und mit der Tatsache, dass es sie jedesmal, wenn er sich mit seinen Fingern durch sein ungebändigtes schwarzes Haar fuhr, drängte, dasselbe zu tun. Nina wollte wissen, wie spät es war, und schaute sich um. „Hey, Sie haben ja die Uhr an meinem Videorecorder gestellt", stellte sie erfreut fest. „Danke." „War im Service inbegriffen." Er präsentierte ihr ein verheerend charmantes Grinsen. Was er gleich darauf - erfolglos - hinter einem Gähnen zu ve rbergen suchte. Es war bereits viel später, als Nina erwartet hatte. Fast neun schon. Mikes Augen waren gerötet, und er wirkte blass unter seinen schwarzen Bartstoppeln. Er sah erschöpft aus, und ihr ging es nicht anders. Es war ein langer Tag gewesen. Mike erhob sich von der Couch und streckte sich. Nina, nicht in der Lage, den Blick abzuwenden, beobachtete fasziniert, wie sich das T-Shirt über seinem breiten Brustkasten spannte. Deutlich zeichnete sich seine Schulter- und Oberarmmuskulatur ab. Als er die Arme noch weiter nach oben reckte, rutschte sein T-Shirt aus seinem Hosenbund und gab den Blick auf ein paar Zentimeter straff gespannter Haut über dem Bauch frei und auf eine feine Linie schwarzer Haare, die nach unten verlief und sich unter dem Reißverschluss schließlich verlor. Mike ließ die Arme fallen. Nina schluckte und schaute schnell weg. Sie war sich sicher, dass er ihre Blicke registriert hatte. Na und? fragte sie sich trotzig. Hatte er im Krankenhaus, als sie diesen lächerlichen Kittel trug, nicht genau dasselbe getan? Und doch wagte sie es nicht, seinem Blick zu begegnen.
„Sind Sie sicher, dass Sie die Nacht allein verbringen möchten?" Angesichts der Dreistigkeit seiner Frage blieb ihr fast die Luft weg. Ihre Überraschung musste sich auf ihrem Gesicht gespiegelt haben, denn Mike trat so rasch einen Schritt zurück, dass es schon fast ein Sprung war. Er hob verzeihungheischend beide Hände, die Handflächen nach außen. „Oh, tut mir leid. So hab' ich es natürlich nicht gemeint. Ich wollte Ihnen damit lediglich anbieten, eine Polizeibeamtin vorbeizuschicken, falls es Ihnen allein zu unheimlich ist." Nina schüttelte den Kopf. Er hatte also keinerlei Hintergedanken gehabt. „Nein, danke. Ich brauche keinen Aufpasser, und ich bin jetzt ganz froh, mal eine Weile allein zu sein. Wir sehen uns dann morgen früh um acht." Er nickte, schnappte sich seine Jacke und ging zur Tür. Dort wandte er sich um und sah sie an. „Es gibt noch etwas, das Sie wissen sollten", sagte er. „Wir werden Ihr Telefon überwachen. Und bevor Sie mir jetzt mit Ihren Rechten kommen, kann ich Ihnen gleich sagen, dass das vollkommen legal ist. Es ist das, was in Fällen wie dem Ihren immer gemacht wird. Ihr Leben schwebt in Gefahr." „Na, da haben Sie sich ja eine schöne Ausrede einfallen lassen, um mich zu überwachen", gab sie bitter zurück, innerlich hin und her gerissen zwischen Ärger und Angst. „Das tun Sie doch nicht deshalb, weil Sie der Meinung sind, ich sei ein Opfer, sondern weil Sie mich verdächtigen, Täter zu sein." Er wandte sich ab und griff nach der Türklinke. „Denken Sie doch, was Sie wollen", gab er unwirsch zurück. „Das zweite ist, dass ich einen Polizeibeamten rund um die Uhr vor Ihrem Haus postieren werde. Zu Ihrem Schutz. Wenn Sie das Haus verlassen, wird er Ihnen folgen." Er machte eine Pause. „Der Mann heißt Simms." „Ist er Ihr Partner?" Mike wirbelte herum. „Was haben Sie gesagt?" Sein Blick war eisig. „Ich ... ich fragte, ob er Ihr Partner ist." Sie fühlte sich aufgrund seiner unverständlichen Reaktion plötzlich verunsichert. „Na, Sie wissen schon", fügte sie hinzu. „Ich dachte, die Polizei arbeitet immer zu zweit." „Sie sollten weniger fernsehen", riet er ihr kurz angebunden und öffnete die Tür. „Bis morgen dann." Und dann ließ er Nina mit der Frage, wo mit sie sich diesen eisigen Blick verdient hatte, allein. Als Mike die Treppe nach unten ging, raufte er sich die Haare. Wie zum Teufel kam er nur dazu, die Frau so zu behandeln? Ihre Reaktion war nur natürlich gewesen, kein Mensch ließ sich gern ausspionieren. Und dass das Wort „Partner" ein Wort war, was niemand in seiner Gegenwart in den Mund nehmen durfte, konnte sie schließlich nicht wissen. Die Wahrheit war, dass Nina Dennison ihn mehr beunruhigte, als er vor sich selbst zugeben wollte. Sie verunsic herte ihn. Einerseits hatte er sie in Verdacht, dass sie ihn zum Narren hielt, andererseits jedoch gelang es ihm kaum, die Finger von ihr zu lassen. Als er aus der Haustür trat, sog er gierig die kalte Nachtluft tief in seine Lungen. Alles, was er brauchte, war Schlaf, und morgen würde er weitersehen. Er würde sein Bestes tun, ihr zu helfen - oder sie hinter Gitter zu bringen. Eines von beiden. Das, was sie verdient hatte. Sofort nachdem Mike gegangen war, eilte Nina ins Schlafzimmer und zog das Tagebuch unter der Matratze hervor. Gierig darauf, endlich Aufschluss über ihre Vergangenheit zu erhalten, klappte sie es auf. Doch sie wurde enttäuscht. Die Eintragungen waren äußerst spärlich. Sie hatte sich immer nur kurze Notizen über Verabredungen gemacht. Meeting mit Armand und Julian D. stand da beispielsweise oder auch: Mom hat angerufen und Danielle bei der Gymnastik getroffen. Es gab viele Namen von Leuten, aber sie konnte nicht einen einzigen
einordnen. Kino Carl. 19.00 Uhr. Wer zum Teufel war Carl? Welchen Film hatte sie am 28. Juni gesehen? Sie blätterte durch die Seiten, der Name Carl tauchte jedoch nicht wieder auf. Nun sah sie in ihrem Pass nach, wann sie in Kolumbien gewesen war, und schaute nach, was sie dazu in ihrem Tagebuch eingetragen hatte. Sie fand Flugnummern und Hotelreservierungen in Bogota, aber keinen Hinweis darauf, was sie in Südamerika gemacht hatte. Ratlos blätterte sie weiter, bis sie zu dem Datum vom gestrigen Tag kam. Kleider aus der Reinigung abholen. Louis M. anrufen. Gerade als Nina das Tagebuch frustriert schließen wollte, fiel ihr eine Eintragung für nächsten Dienstag ins Auge. Mit Julien D. sprechen? Um diese Notiz hatte sie einen Kringel gemacht, und ihre Schrift war hier viel größer als sonst. Die Zeile erweckte einen Eindruck von Dringlichkeit. Aber Nina konnte nichts damit anfangen. „Nicht gerade sehr aufschlussreich", sagte sie laut. Sie hatte auf ein Tagebuch gehofft, das ihr das innere Leben der Nina Dennison enthüllen würde - ihr Leben, ihre Leidenschaften, ihre Geheimnisse und ihre Hoffnungen. Stattdessen hielt sie eine Art Terminkalender in der Hand. Das hättest du nicht vor Mike verstecken zu brauchen, dachte sie. Von Geheimnissen keine Rede. Fast wünschte sie sich plötzlich, Mike wäre hier, Wenigstens hätte sie dann jemanden zum Reden. Aus einem plötzlichen Impuls heraus nahm sie sich einen Stift und schrieb unter das morgige Datum: Mike Novalis. 8.00 Uhr. Dann blätterte sie eine Seite zurück, überlegte einen Moment und schrieb dann: Nicht gerade aufschlussreich für ein Tagebuch! Sie nickte nachdrücklich, als sie die Worte noch einmal überflog. Nachdem sie einen Augenblick nachgedacht hatte, schrieb sie weiter: Heute ist der erste Tag vom Rest deines Lebens. Wie oft wohl habe ich diese dumme Phrase schon ge hört? Nun, wie auch immer, heute ist tatsächlich der erste Tag. Heute morgen bin ich im Krankenhaus aufgewacht und musste feststellen, dass ich mein Gedächtnis verloren habe. Die Ärzte sagen, dass es wiederkommen wird. Aber wann, das konnte keiner sagen. Und was mache ich bis dahin?
4. KAPITEL Als Mike am nächsten Morgen pünktlich um acht an Ninas Tür läutete, war er wild entschlossen, distanziert und kühl zu bleiben. Doch sobald sie die Tür geöffnet hatte - sie trug eine cremefarbene Seidenbluse und einen dunkelblauen Rock - waren seine guten Vorsätze mit einem Schlag dahin. Ihr Aufzug wirkte alles andere als provozierend, sondern viel eher schlicht, fast spröde. Der VAusschnitt ihrer Bluse ließ das Dekollete nur ahnen, und der Rock reichte ihr bis zum Knie. Und dennoch sah sie verdammt sexy aus. Die dunklen Ringe unter ihren Augen waren verschwunden, und ihr Blick war klar. Na, sie scheint immerhin um einiges besser geschlafen zu haben als du, dachte er missmutig. Sein Schlaf war unruhig gewesen, weil Nina immer wieder durch seine Träume gegeistert war, und er hatte sich, gepeinigt von fleischlichen Gelüsten, ruhelos von einer Seite zur anderen geworfen. „Haben Sie sich überlegt, was Sie den Leuten erzählen wollen?" erkundigte er sich auf dem Weg zu ihrem Büro. „Ich halte es für das beste, ihnen die Wahrheit zu sagen. Dass ich durch einen Streifschuss mein Gedächtnis verloren habe." Mike nickte zustimmend. „Ja, das wollte ich Ihnen eigentlich auch vorschlagen. Und ich werde Zakroff und Duchesne anschließend ein paar Fragen stellen, denn das ist der Grund, weshalb ich Sie überhaupt begleite." Nachdem sie den Wagen auf dem Parkplatz abgestellt hatten, kramte Nina die Codekarte aus ihrer Handtasche. Sie verschaffte ihnen Einlass in das Bürohochhaus, in dem sich im neunten Stock die Geschäftsräume der Firma Zakroff und Duchesne befanden. „Nina! Menschenskind, da bist du ja endlich!" hörte sie eine Stimme, noch bevor sie Zeit gefunden hatte, sich in dem langen Flur, in den sie durch eine schwarze Eingangstür gelangt waren, zu orientieren. Ein großer, schwergewichtiger Mann in den Sechzigern eilte auf sie zu, nahm ihre Hand und küsste sie auf die Wange. Alles an ihm war extravagant, angefangen von seinem silbergrauen Haar über den grauen Schnauzbart, den er an den Seiten nach oben gezwirbelt hatte, bis hin zu der kanariengelben Seidenweste, die sich über seinem beachtlichen Bauch spannte. Er schaute Nina prüfend an. „Na, wo hast du dich denn gestern rumgetrieben, Schätzchen?" Er warf Mike einen spekulativen Blick zu. „Und wer ist denn dein gutaussehender Freund?" „Er ist nicht mein Freund", wehrte Nina peinlich berührt ab. „Kein richtiger jedenfalls ... oder besser gesagt ..." Sie geriet ins Stottern. „Himmel, wie entsetzlich!" Sie erblickte in den Augen des Fremden, dem anscheinend nicht entgangen war, dass ihr irgend etwas Schwierigkeiten bereitete, freundliches Mitgefühl. Sie holte tief Luft. „Na gut, dann will ich es hinter mich bringen", sagte sie fast wie zu sich selbst. Sie schluckte. „Also, offen gestanden, weiß ich eigentlich gar nicht, wer du bist." Verblüfft hob der Mann die Augenbrauen. „Wenn das ein Witz sein soll, muss ich leider zugeben, dass ich die Pointe nicht ganz verstehe, Nina." „Es ist kein Witz." Und dann erzählte sie so knapp wie möglich, was ihr vorgestern zugestoßen war und in welchem Zustand sie sich seitdem befand. Nachdem sie zum Ende gekommen war, sah sie der silberhaarige Mann noch einen Moment lang zweifelnd an. Dann griff er nach Ihrem Arm. „Komm, lass uns in meinem Zimmer weiterreden." Er bedeutete Mike mit einem Kopfnicken ebenfalls mitzukommen und führte sie in ein großes, luxuriös ausgestattetes Büro. „Nun, dann sollte ich mich wohl als
erstes einmal vorstellen", begann er, doch Nina fiel ihm ins Wort. „Bist du ... Armand?" „Richtig", stimmte er erfreut zu. „Dann erinnerst du dich also doch an mich, hm?" „Nein", gestand Nina. „Aber du hast auf meinem Anrufbeantworter eine Nachricht hinterlassen, und ich habe deine Stimme wiedererkannt. Den Akzent." „Ja, ich komme aus Österreich. Also, ich bin Armand Zakroff, der Eigentümer dieser Firma. Und dein Arbeitgeber, Nina." Nun stellte sich Mike vor, wobei er aus der Innentasche seiner Lederjacke seinen Dienstausweis hervorkramte. Armand nahm ihn entgegen, studierte ihn ausführlich und gab ihn anschließend wieder zurück. „Also, Schätzchen, vielleicht erzählst du jetzt alles noch mal ganz langsam der Reihe nach", forderte er Nina freundlich auf, nachdem sie Platz genommen hatten. „Da gibt's nicht mehr zu erzählen. Auf mich ist geschossen worden, und als Folge davon habe ich einen Gedächtnisverlust erlitten, das ist alles. Ich muss jetzt einfach versuchen, die einzelnen Stücke meines Lebens wieder zusammenzusetzen." „Aber ... aber das ist ja schrecklich." Zakroff sah sie betroffen an. „Jemand hat auf dich geschossen! Dass so etwas möglich ist. Und das mitten auf der Straße! Und Sie", wandte er sich an Mike, „sind vermutlich hier, um herauszufinden, wer der Täter ist, stimmt's?" „Falls Miss Dennison tatsächlich das Opfer eines gezielten Anschlags wurde", stellte Mike richtig. „Es besteht ja auch die Möglichkeit, dass sie einfach nur von einem Querschläger getroffen wurde. Im Moment ist alles eine reine Routineangelegenheit." „Ah, ja, ich verstehe", gab Zakroff lebhaft zurück. „Also, wenn ich irgend etwas tun kann, um zu helfen ..." „Offen gestanden würden Sie mir am besten damit helfen, wenn Sie mir sagen könnten, wo Sie in der Nacht von Mittwoch auf Donnerstag zwischen ein und zwei Uhr waren", unterbrach Mike ihn ungerührt. Zakroff starrte ihn entgeistert an. „Sie ... Sie glauben doch nicht etwa, dass ich Nina jemals etwas antun würde? Das ist ja der blühendste Unsinn, der mir je zu Ohren gekommen ist." Er schüttelte fassungslos den Kopf. „Nun, aber wenn Sie es schon unbedingt wissen müssen, ich war zu Hause bei meiner Frau und meiner Familie." „Haben Sie Zeugen dafür?" Mike war die Ruhe selbst. „Selbstverständlich. Wir hatten Besuch von meiner Tochter Katherine und ihrem Verlobten und waren bis spät in die Nacht auf. Ich glaube, wir sind erst gegen halb drei ins Bett gegangen. Sie sehen also", er breitete lächelnd die Hände aus, „ich habe mehr als einen Zeugen." „Das ist schön für Sie", erwiderte Mike gelassen. „Entschuldigen Sie, dass ich gefragt habe, aber es ist meine Pflicht. Jetzt etwas anderes. Sie sind der Eigentümer dieser Firma?" „Das ist richtig. Mein Partner ist ein junger Mann namens Julien Duchesne." Zakroff warf Nina einen Blick zu. „Du erinnerst dich doch bestimmt an Julien?" „Nein, leider nicht." Dann fiel ihr ein, dass sie den Namen in ihrem Tagebuch gelesen hatte. Mit Julien D. sprechen? „Ich würde ihm gern auch ein paar Fragen stellen", sagte Mike. „Er ist zur Zeit in der Schweiz. Julien ist Schweizer. Er ist viel unterwegs." „Wann kommt er zurück?"
„Warten Sie ... heute ist Freitag ... Er wollte am Dienstag wieder da sein." Das passt, dachte Nina. Für Dienstag hatte sie sich den Eintrag in ihrem Tagebuch gemacht. „Ich werde dann noch einmal vorbeikommen, um mit ihm zu reden." Insgeheim jedoch wusste Mike, dass ihm der Fall bis Dienstag vom FBI bereits aus den Händen genommen sein würde. Falls es überhaupt einen Fall gab. „Nina", wandte sich Zakroff jetzt an Nina, „dir müssen doch tausend Fragen auf der Zunge liegen. Was also willst du wissen?" Wo sollte sie beginnen? „Was mache ich denn eigentlich hier?" Zakroff schüttelte bedrückt den Kopf. „Oh, Nina, wie ist es nur möglich, dass du das alles vergessen hast?" „Nun, ich weiß, dass ich eine Edelsteinexpertin bin. Ich scheine ziemlich viel über dieses Gebiet zu wissen. Aber was mache ich genau?" Zakroffs Miene hellte sich auf. „Vielleicht ist ja noch nicht alles verloren. Warte - ich habe eine Idee. Lass uns ein kleines Experiment machen." Er griff in die Westentasche und holte einen kleinen Schlüssel heraus. Damit schloss er eine der Schreibtischschubladen auf. Er entnahm ihr eine schwarze Schatulle, auf deren Deckel in Goldbuchstaben das Logo der Firma eingestanzt war, und reichte sie Nina. Nachdem sie die Schachtel geöffnet hatte, streckte sie geistesabwesend eine Hand aus. Zakroff gab ihr eine Lupe, warf dann Mike einen Blick zu und legte einen Finger an seine Lippen. In der Schachtel befand sich ein Diamant. Nina holte ihn heraus und hielt ihn unter die Lupe. „Blauweißer Diamant, hervorragender Schliff, herrliches Feuer. Das Gewicht ist ohne Waage schwer zu bestimmen, aber ich würde sagen, etwa Punktwert 80. Geschätzter Wert ungefähr zweitausend Dollar. Ein wunderbarer Stein - bis auf die Tatsache, dass hier ein winziges Stückchen herausgebrochen ist. Ich würde sagen, an dieser Stelle neu einschleifen." „Der nächste bitte." Zakroff schien mehr als erfreut und händigte ihr den nächsten Edelstein zur Bestimmung aus. Nina war in Hochstimmung. Zum erstenmal, seit sie im Krankenhaus aufgewacht war, glaubte sie festen Boden unter den Füßen zu spüren. Mühelos bestimmte sie den nächsten und auch den übernächsten Stein. „Jetzt siehst du, was du hier machst", erklärte Zakroff tief befriedigt. „Ich bin mir zwar nicht ganz sicher, aber ich glaube, dieser Stein hier könnte aus Kolumbien stammen", sagte Nina, die Juwelierslupe noch immer im Auge. „Du irrst dich nicht, Nina", bestätigte Zakroff. „Du hast ihn selbst mitgebracht. Wirklich toll, Schätzchen, deine ausgezeichneten Kenntnisse hast du zumindest nicht verloren." Er wandte sich an Mike. „Nina ist eine ganz hervorragende Juwelenspezialistin. Eine der besten, die ich je kennen gelernt habe." Mike sah, wie ein Strahlen über Ninas Gesicht ging. Zakroffs anerkennende Worte waren ganz offensichtlich Balsam auf ihre Wunden. Plötzlich glaubte Mike nachfühlen zu können, was sie seit zwei Tagen durchmachte - sie hatte keine Identität mehr. Und nun hatte sie endlich wieder ein Zipfelchen davon zu fassen bekommen. Wenig später jedoch wurde ihm etwas ganz anderes klar: Gerade war er ihr zum ersten Mal ohne Misstrauen begegnet. Er war einen Moment lang fest davon ausgegangen, dass ihre Amnesie nicht vorgetäuscht war. Pass auf, ermahnte er sich. Das könnte nach hinten losgehen. Und du hast dich schon einmal geirrt. „Aber auch die merkwürdigste", fuhr Zakroff fort, während er sie mit einem liebevollen Blick bedachte. „Sie selbst weigert sich nämlich beharrlich, wertvolle
Steine zu tragen. Sie liebt nur so billigen Kram wie Türkise, Korallen oder Amethyste. Ich bin sicher, hätte sie die Wähl zwischen einem Spodumen und einem blauen Brillanten, würde sie den Spodumen vorziehen." „Spodumen?" fragte Mike. „Nie gehört. Klingt irgendwie nach einem osteuropäischen Gemüse." Als Nina in ein übermütiges Lachen ausbrach, fiel Mike auf, dass er sie noch niemals lachen gehört hatte. „Oder ein italienisches Nudelgericht", sagte sie. „Oder eine Tropenkrankheit." „Oder ein Toilettenreiniger ..." Nina hielt inne. Armand Zakroff sah von ihr zu Mike und wieder zurück, ganz wie ein Zuschauer, der ein spannendes Tennismatch verfolgt. „Nein, in Wirklichkeit ist ein Spodumen", fuhr sie, nun wieder ernst geworden, fort, „ein sehr hübscher Halbedelstein." „Nina, Nina, du magst zwar dein Gedächtnis verloren haben, aber ansonsten bist du noch ganz die alte", sagte Zakroff. „Ständig fängst du wieder von diesen Halbedelsteinen an, warum wir nicht mehr damit machen und so weiter und so fort. Deine Kämpfe mit Julien ..." Rasch unterbrach er sich und rückte seinen Seidenschal gerade. „Wollen Sie damit sagen, dass es zwischen Miss Dennison und Ihrem Partner Streit gab?" hakte Mike sofort nach. Zakroff schaute etwas betreten drein. „Ich hätte nicht davon anfangen sollen." „Sie haben es aber", gab Mike ungerührt zurück. „Und jetzt täten Sie besser daran zu erklären, was Sie damit gemeint haben." „Bitte, Armand. Ich muss alles über mich wissen, was es zu wissen gibt", drängte nun auch Nina. „Es waren keine richtigen Kämpfe. Wohl eher Meinungsverschiedenheiten. Deine Idee war es, dass wir uns mehr auf Halbedelsteine konzentrieren und mit innovativen Schmuckdesignern zusammenarbeiten sollten, während Julian alles so belassen wollte, wie es jetzt ist, vor allem deshalb, weil das Geschäft mit hochwertigen Edelsteinen den höchsten Profit verspricht. Und darüber habt ihr beide euch eben gelegentlich ... hattet ihr manchmal Meinungsverschiedenheiten, wenn du so willst. Aber so etwas kommt schließlich in den besten Familien vor." „Und du? Auf wessen Seite standest du?" Er begegnete ihrem Blick direkt. „Auf keiner. Julian ist mein Partner, ich habe zusammen mit seinem Vater die Firma gegründet. Und du bist meine wertvollste Angestellte. Ich habe mir eure Argumente einfach nur angehört und darüber nachgedacht. Bis jetzt bin ich noch zu keiner Entscheidung gelangt." „Ich verstehe. Und was ist mit mir? Glaubst du, du kannst jetzt noch etwas mit mir anfangen, auch wenn ich nicht einmal weiß, seit wann ich hier schon arbeite?" Zakroff erhob sich aus seinem Schreibtischstuhl, ging zu Nina hinüber und legte ihr beide Hände auf die Schulter. „Aber Nina", sagte er väterlich, „wo denkst du denn hin? Du arbeitest nun seit sechs Jahren hier und bist mir inzwischen ans Herz gewachsen wie eine Tochter. Ob ich mit dir noch etwas anfangen kann? Ich würde dich niemals von hier weglassen." „Oh, vielen Dank." Nina wurde fast schwindlig vor Erleichterung, ihr war, als hätte er ihr ein zentnerschweres Gewicht von den Schultern genommen. Zumindest ein Teil, ein wichtiger Teil ihres Lebens war wieder im Lot. Ihr berufliches Wissen war aus ihrem Gedächtnis abrufbar, und sie hatte einen Job. Und wenn sie sich in Armand Zakroff nicht ganz täuschte, hatte sie auch einen Freund. „Wir werden es schaffen, Schätzchen, du und ich und der freundliche Detective, der dir hier so hilfreich zur Seite steht."
Mike stand auf. „Ich denke, Miss Dennison und ich sollten jetzt mal einen Blick in ihr Büro werfen, wenn Sie nichts dagegen haben. Und danach würde ich gern noch mit den anderen Angestellten reden." „Aber natürlich. Jederzeit." Zuvorkommend ging Zakroff zur Tür, öffnete sie und deutete auf ein Büro, das auf der gegenüberliegenden Seite der Empfangshalle lag. „Armand", fragte Nina aufgeregt und deutete auf ein Foto an der Wand, das einen schlanken blonden Mann zeigte, von dem sie das vage Gefühl hatte, ihn schon einmal gesehen zu haben. „Ist das hier Julian Duchesne?" „Ja, in der Tat. Das ist Julien. Warum? Erkennst du ihn?" „Nein, nicht direkt. Es ist nur so ... ach, ich weiß nicht." Sie zuckte hilflos die Schultern, „Gestern hatte ich so einen kurzen Erinnerungsblitz, ich sah zwei Männer vor mir, von denen ich glaubte, sie wären vielleicht Zakroff und Duchesne. Jetzt bin ich mir ziemlich sicher, dass der eine von ihnen Julien war, aber du warst nicht dabei." Sie zog nachdenklich die Stirn kraus. ,Ach, noch eine Frage. Pflegst du ... pflegen wir die Edelsteine, insbesondere die Smaragde, in eine Stahlkassette zu legen?" Zakroff hob erstaunt die Augenbrauen. „Nun, selbstverständlich bewahren wir alles im Safe auf, falls es das ist, was du meinst." Sie dachte an ihre Vision und schüttelte den Kopf. „Ach, vergiss es." Impulsiv stellte sie sich auf die Zehenspitzen und gab Armand ein Küsschen auf die Wange. „Danke. Bis später. Ich schau nachher noch mal rein." „Können Sie mir sagen, was es mit Ihrer Frage nach der Stahlkassette auf sich hatte?" erkundigte sich Mike wenig später in Ninas Büro. Er hatte es sich auf einer Ecke ihres Schreibtischs bequem gemacht, und Nina gelang es trotz ihrer Neugier auf ihren Arbeitsplatz nicht, ihren Blick von seinem muskulösen Oberschenkel zu nehmen, über dem sich der Stoff seiner Hose straff spannte. Mike war heute zwar seriöser gekleidet als gestern, wirkte jedoch in den khakifarbenen Hosen und dem Sportsakko um keinen Deut weniger männlich als am Tag zuvor in Jeans und Leder. Tatsächlich konnte sich Nina überhaupt keinen Aufzug vorstellen, der seiner rauen und leicht ungeschliffenen Männlichkeit Abbruch tun könnte. Dieser Typ sieht wahrscheinlich auch in einem Clownskostüm noch sexy aus, dachte sie. Heute war er glatt rasiert, und sie registrierte zum ersten Mal das winzige Grübchen am Kinn. Sein Gesicht wirkt ohne die dunklen Bartstoppeln ein bisschen weicher, dachte sie. Aber keinesfalls weniger männlich. „Wir waren bei der Stahlkassette", erinnerte er sie. Sie schreckte aus ihren Betrachtungen hoch. „Oh, ja. Richtig. Als ich die dritte Schachtel öffnete, die mir Armand gab - die mit dem Smaragd -, hatte ich wieder so eine Art Vision." Sie erwähnte nicht, dass sie nicht eine Vision gehabt hatte, sondern zwei. Und die zweite war die von Mike, der zwar ein Lächeln trug, aber kein Hemd. Ihr war noch immer nicht klar, wie er es geschafft hatte, sich in ihre Gedanken zu schmuggeln. Vielleicht war sie einfach nur ein kleines bisschen zu sehr besessen von ihm. „Und was haben Sie gesehen?" „Einen ganzen Haufen Smaragde, es müssen Dutzende gewesen sein, einige von ihnen waren noch ungeschliffen. Sie lagen in einer Schachtel, die etwa die Größe einer Zigarrenschachtel hatte, nur dass sie aus Stahl war." „Sonst noch was?" „Nein, nichts."
„Nun, das ist vielleicht etwas, was Sie auf einer Ihrer Reisen gesehen haben." Nina zuckte die Schultern. „Mag sein." Dann wechselte sie das Thema. „Ich würde mich jetzt gern ein bisschen hier umsehen. Und was haben Sie vor?" Mike wollte ein paar Nachforschungen anstellen. Für den Nachmittag verabredeten sie sich wieder in Ninas Büro. Als sie sich später wieder trafen, um ihre Informationen auszutauschen, hatten Mikes Befragungen in der Firma bezüglich des Anschlags nichts Neues ergeben. Niemand schien etwas zu wissen. Nina war unter ihren Kollegen beliebt und hatte keine Feinde. Nur ihre Sekretärin hatte Mike gegenüber in Andeutungen fallenlassen, dass Nina in den Tagen vor dem Anschlag möglicherweise etwas anders als sonst gewesen sei. Sie hätte einen etwas beunruhigten Eindruck gemacht. Immerhin kristallisierte sich langsam ein gewisses Muster von Ninas Leben heraus; offensichtlich ging sie mit ihrer Freundin Danielle regelmäßig zur Gymnastik, einmal im Jahr fuhr sie zu einer Studienkollegin nach San Francisco, zwei- oder dreimal im Jahr besuchte sie ihre Mutter in Florida. Im vergangenen Jahr hatte sie sich ab und zu mit Männern verabredet, aber aus keiner der Beziehungen war etwas Ernsthaftes geworden. Ninas Sekretärin beschrieb sie Mike gegenüber, als „nette Jungs, aber nicht mehr - falls Sie verstehen, was ich meine". Mike verstand. Nina hatte mittlerweile alles über ihre Arbeit in Erfahrung gebracht. Sie war auf Smaragde spezialisiert und besuchte seit einiger Zeit regelmäßig die vierteljährlich in Kolumbien stattfindenden Edelsteinauktionen, zu denen Interessenten aus aller Welt anreisten. Obwohl sie um vieles jünger war als die meisten anderen Spezialisten auf diesem Gebiet, hatte sie sich schon seit längerem einen Namen gemacht und hielt sogar einmal im Jahr ein Seminar über Edelsteine an der Princeton University ab. „Nun? Fühlen Sie sich jetzt ein wenig besser?" erkundigte sich Mike auf der Heimfahrt. „Ja", erwiderte sie und merkte zu ihrer eigenen Überraschung, dass es die Wahrheit war. „Ich weiß zwar noch immer nicht, was in der Nacht zum Mittwoch passiert ist, aber zumindest bekommt mein Leben langsam wenigstens Umrisse. Wahrscheinlich muss ich nur etwas Geduld haben, dann kommt alles andere auch wieder zurück." Nachdem er den Wagen vor ihrem Haus zum Stehen gebracht hatte, fragte sie ihn nach seinen Plänen für den nächsten Tag. Er wollte nicht gern zugeben, dass er eigentlich gar keinen Plan hatte. Es gab nicht eine einzige heiße Spur, die er hätte verfolgen können; und dennoch weigerte er sich, einfach aufzugeben. Weil er in diesem Fall Nina wahrscheinlich niemals wiedersehen würde. Und weil er sich Sorgen um sie machte. Aber wie hätte er ihr sagen sollen, dass er das Gefühl nicht los wurde, dass sie noch immer in Gefahr schwebte? Verzweifelt suchte er nach einer Antwort, und als ihm auch nach längerem Überlegen nichts Passendes einfiel, entschloss er sich zur Flucht nach vorn. „Ich habe keinen Plan, aber wir bleiben in Verbindung. Falls Sie mich heute Abend oder morgen brauchen sollten, bin ich im Headquarter telefonisch zu erreichen. Sie können mich jederzeit dort anrufen, okay? Ich habe einigen Schreibkram zu erledigen. Sie sind nä mlich nicht mein einziger Fall, müssen Sie wissen." Die letzte Bemerkung war eher scherzhaft gemeint. Mike suchte nach einem Grund, sie noch ein bisschen im Wagen festzuhalten. Was er allerdings niemals offen zugegeben hätte.
„Ja, ich weiß", gab sie zurück, während sie die Wagentür öffnete. Ihr Rock schob sich ein Stückchen nach oben und enthüllte für einen kurzen Moment ihre langen, schlanken Oberschenkel. Bevor sie die Tür zuschlug, beugte sie sich noch einmal zu ihm ins Wageninnere hinein. „Aber ich wette, ich bin die erste Juwelenspezialistin mit Amnesie, die Ihnen untergekommen ist, stimmt's?" „Woher wollen Sie das denn wissen?" konterte er belustigt, dann grinste er. „Na ja, zugegeben, Sie sind tatsächlich die erste." Und die einzige langbeinige, grünäugige und rothaarige, fügte er in Gedanken hinzu. „Bis dann." Mike wartete, bis Ninas schlanke Gestalt im Haus verschwunden war, dann startete er den Motor, wobei er sich plötzlich wünschte, Nina auf anderem Wege kennengelernt zu haben. Auf einem Weg, der mit seinem Job nichts zu tun hatte. Und als er eine halbe Stunde später in seinem Büro eine Notiz von Morris Hecht vorfand, verstärkte sich dieser Wunsch noch. Nachdenklich starrte er auf den Zettel. Morgen, 13.00 Uhr in meinem Büro. Betr. Dennison. Ihm schwante Böses. Morgen würden sie ihn von dem Fall abziehen, dessen war er sich sicher. An diesem Abend rief Nina ihren Bruder Charley in Chicago an. Obwohl er sich über ihren Anruf zu freuen schien, war es offensichtlich, dass er nicht recht bei der Sache war. Nina plauderte ein paar Minuten unverbindlich über dies und jenes, beendete dann jedoch das Gespräch, ohne ihm etwas von ihrer Amnesie erzählt zu haben. Seine Stimme hatte keinerlei Erinnerung in ihr geweckt, und nach dem Anruf fühlte sie sich einsamer als vorher. Ihre Hand schwebte über den Tasten. Mike hatte gesagt, dass sie ihn anrufen könne, falls sie etwas brauchen sollte. Aber sie konnte ihm nicht erklären, was sie brauchte, denn sie wusste es selbst nicht. Alles was sie wusste, war, dass sie sich danach sehnte, seine Stimme zu hören. Doch wenn sie ihn anrufen würde, wäre ihr seine Stimme bestimmt nicht genug. Sie würde ihn sehen wollen, und wenn sie ihn sehen würde, würde sie sich wünschen, ihn zu berühren ... „Vergiss es", sagte sie laut. „Du fühlst dich nur deshalb zu ihm hingezogen, weil er im Moment der einzige Mann in deinem Leben ist. Alles nur Einbildung. Es wird nicht mehr lange dauern, und du kehrst in dein wirkliches Leben zurück, und dann wirst du ihn ganz schnell vergessen haben." Aber ihre Worte hatten einen zweifelnden Unterton, der sich nicht überhören ließ. Vielleicht war es am besten, wenn sie versuchte zu arbeiten. Also setzte sie sich an den Schreibtisch und begann, eine Fachzeitschrift durchzublättern. Armand hatte sie gedrängt, den Abend mit ihm und seiner Familie zu verbringen, sie hatte jedoch mit der Begründung abgelehnt, dass sie lieber ein bisschen in ihren Sachen herumkramen wolle, um auf diese Weise vielleicht ein paar Erinnerungsschnipsel auszugraben. Doch nun erschien ihr plötzlich alles, was sie bisher über ihr Leben herausgefunden hatte, deprimierend. Zumindest hatte sie bisher noch keinen Hinweis auf ein Fehlverhalten in ihrer Vergangenheit finden können. Das war immerhin tröstlich. Allerdings schien es auch nichts zu geben, an dem sie wirklich Spaß hatte - außer an ihrem Beruf. Ganz zu schweigen von Leidenschaft. Leidenschaft war anscheinend in ihrem Leben nicht vorgesehen. Sie hatte vorhin Dutzende von alten Briefen und Postkarten herausgekramt, die bis auf ihre Collegezeiten zurückgingen, doch etwas wirklich Intimes hatte sie nicht entdeckt. Kein Hinweis auf Liebe -oder Hass. Alle ihre Beziehungen schienen maßvoll und vernünftig zu sein, sehr kontrolliert. Wie ihre Wohnung mit ihrer geschmackvoll dezenten Möblierung und den gedeckten Farben. Und ihr Tagebuch mit diesen knappen, geschäftsmäßigen
Eintragungen. Wie ihre Kleidung, so zweckmäßig und so ... so beige. Das einzig Aufregende an ihrer Garderobe waren ihre Dessous, die überraschenderweise sehr sexy und farbenfroh waren. Aber es sah nicht danach aus, als würde sie jemals ein anderer als sie selbst zu Gesicht bekommen. Obwohl es ihr schwer fiel, kam Nina jetzt nicht umhin festzustellen, dass ihr ihr Leben ziemlich kalt und leer erschien. Es war das Leben eines Zuschauers, nicht das eines Spielers. Nun, jetzt hast du dein Abenteuer, sagte sie sich. Etwas Abenteuerlicheres als angeschossen zu werden und dabei das Gedächtnis zu verlieren war schwer vorstellbar. Nach etwa einer Stunde machte sie sich einen Kamillentee und legte sich mit ihrem Tagebuch, in dem sie die Eindrücke des Tages festhalten wollte, ins Bett. Sie schrieb fast sieben Seiten voll und beendete ihre Eintragungen mit der Frage: Und was kommt als nächstes? Nina klappte das Tagebuch zu, machte das Licht aus und lag anschließend noch eine Weile mit offenen Augen im Dunkeln. Fraglos hatte sie beim Niederschreiben ihrer letzten Worte nicht ihre Amnesie im Sinn gehabt, sondern Mike Novalis und seine Abschiedsworte: Wir bleiben in Verbindung. Was er wohl damit gemeint hatte?
5. KAPITEL Als Mike am nächsten Tag das Büro seines Vorgesetzten betrat, fand er Morris Hecht mit einem kleinen, mürrisch dreinblickenden Mann in den Fünfzigern vor. Mike packte den Fremden auf Anhieb in eine Schublade: Bei jemandem, der am Samstag in einem grauen Flanellanzug herumrannte, konnte es sich nur um einen FBI-Agenten handeln. Einen Moment später bestätigte sich Mikes Vermutung. Hecht stellte ihm den Mann als David Irons vom FBI vor. In Irons Händen lag der Fall Zakroff und Duchesne. Der FBI-Mann hielt eine Kopie des Berichts in Händen, den Mike seinem Chef am vergangenen Abend auf den Schreibtisch gelegt hatte. „Wie ich gehört habe, untersuchen Sie eine Schießerei, die sich in den frühen Morgenstunden des Donnerstags ereignet hat", eröffnete Irons die Unterredung, wobei er den Blick nur etwa für eine Zehntelsekunde von dem Blatt in seiner Hand nahm. Mike lehnte sich in seinem Stuhl zurück, verschränkte die Arme und nickte wortlos. Irons sah auf. Mike nickte ein zweites Mal. „Das Opfer war Nina Dennison, eine Angestellte der Firma Zakroff und Duchesne." . Wieder nur ein Nicken. Normalerweise war Mike nicht so stur, aber Typen wie Irons, denen man schon von weitem ansah, dass sie sich für alles andere interessierten als für ihren Beruf, reizten ihn bis aufs Blut. „Und - haben Sie herausgefunden, wer die Frau angeschossen hat, Lieutenant Novalis?" „Nein." Da Hecht ihm einen warnenden Blick zuwarf, bequemte sich Mike zu einer etwas ausführlicheren Erklärung. „Ich habe in ihrem Arbeitsumfeld nach Hinweisen gesucht, die uns auf eine Spur führen könnten, aber bisher nichts gefunden. Die Geschichte mit ihrer Amnesie scheint hieb- und stichfest zu sein." „Okay, Lieutenant Novalis, da Sie bis jetzt noch im dunkeln tappen, werden Sie ja froh sein zu hören, dass wir diesen Fall ab sofort allein übernehmen. Sie brauchen sich nicht mehr länger darum zu kümmern." Irons machte sich auf Mikes Bericht eine Notiz und schob ihn dann in einen dicken Aktenordner, den er sich unter den Arm klemmte. „Wie Sie wissen, kümmert sich ja bereits seit einiger Zeit eine Sondereinheit meiner Dienststelle um die Firma Zakroff und Duchesne. Wobei wir davon ausgehen, dass der Schuss auf Miss Dennison höchstwahrscheinlich nichts weiter war als ein unglücklicher Zufall. Für Sie jedenfalls ist dieser Fall abgeschlossen." „Woher wollen Sie denn wissen, dass es nur Zufall war?" fragte Mike herausfordernd. Irons fuhr mit der Hand über sein kurzes, dünnes Haar und glättete es. „Ich bin leider nicht befugt, mit Ihnen über FBI-Interna zu diskutieren, aber Sie können mir glauben, dass wir unsere guten Gründe für diese Annahme haben." „Verdammt noch mal, was soll die Geheimniskrämerei", brach es zornig aus Mike heraus. „Stehen wir denn nicht alle auf derselben Seite? Warum behandelt ihr uns eigentlich ständig wie Idioten?" Irons lächelte glatt. „Wie schon gesagt, es ist mir leider nicht möglich ..." „Ja, ja, ja", unterbrach Mike ihn wütend. „Und was sagen Sie dazu, dass die Wohnung von Miss Dennison durchsucht und verwüstet worden ist?" Irons zuckte die Schultern. „Ein ganz gewöhnlicher Einbruch, nichts weiter. So was passiert eben. Vielleicht ein Junkie, der ausgeflippt ist, weil er nichts
Brauchbares gefunden hat." „Und die Pistole in ihrem Schreibtisch?" „Deren Herkunft haben wir mittlerweile festgestellt. Sie wurde vor ein paar Jahren bei einem Einbruch in ein Waffengeschäft in New Jersey entwendet. Seitdem ist sie möglicherweise auf der Straße." „Und wie kommt sie in die Wohnung der Dennison?" Irons sieufzte. „Die Leute besitzen nun mal Waffen, Novalis. Sie wissen doch selbst, wie leicht es ist, an eine unregistrierte Pistole zu kommen. Vielleicht hat sie sie sich gekauft." Mike schüttelte hartnäckig den Kopf. „Der Typ ist sie nicht." Irons warf ihm einen bösen Blick zu. „Und wie auch immer", fuhr Mike fort. „Die Pistole lag offen da. Jeder gewöhnliche Dieb, selbst ein Junkie, hätte sie mitgehen lassen, da möchte ich meinen Kopf wetten. Eine Pistole ist fast so gut wie Bargeld. Mir erscheint es eher, als hätte man sie der Dennison untergeschoben, um den Eindruck zu erwecken, sie sei in irgendeine illegale Sache verwickelt." Mike stand auf und sah Irons an, dessen undurchdringliches Gesicht nichts preisgab. „Ich bin der Meinung, dass das Leben von Nina Dennison in Gefahr ist", sagte Mike. „Ihr Bericht enthält aber keinen Hinweis auf eine Bedrohung. Und Ihre Theorie bezüglich der Waffe ist völlig unhaltbar. Beweisen Sie sie." Mike presste die Kiefer aufeinander. „Kann ich nicht." „Nun, meine Dienststelle hat aber Beweise. Allerdings ganz anderer Art. Leider bin ich nicht befugt, sie Ihnen zu präsentieren." „Wir könnten Miss Dennison doch wenigstens weiterhin überwachen." Mike wollte nicht lockerlassen. „Zumindest ihr Haus." Irons warf Hecht einen Blick zu. Der machte ein finsteres Gesicht und sagte warnend zu Mike: „Sie sind den Fall los, Novalis. Kapieren Sie doch endlich." „Ich will aber wissen, was man zu ihrem Schutz zu unternehmen gedenkt" , beharrte Mike eigensinnig. „Gar nichts", gab Morris Hecht zurück. „Simms habe ich bereits abgezogen. Wahrscheinlich war wirklich alles nur Zufall. Sie schwebt nicht in Gefahr." Mikes jahrelange Erfahrung sagte ihm, dass das nicht stimmte. Alles in ihm schrie nach Widerspruch. „Wie kann man zu dem Schluss kommen, dass sie nicht in Gefahr schwebt, wo auf sie geschossen wurde? Ich bin noch immer der Meinung ..." „Hören Sie, Novalis", schaltete sich Irons jetzt wieder ein, „ich kenne Ihre Personalakte und weiß, dass Sie früher als Undercover gearbeitet haben. Sie waren bekannt dafür, sich von Zeit zu Zeit Ihre eigenen Spielregeln zurechtzubasteln. Nichts gegen einen unorthodoxen Cop - die Polizei braucht Leute, die mitdenken. Allerdings nur, solange die Sache nic ht nach hinten los geht. Was bei Ihnen, wenn mich nicht alles täuscht, ja leider der Fall war. Bei Ihnen scheint immer alles nach dem gleichen Strickmuster abzulaufen - sobald eine attraktive Frau in einen Fall involviert ist, sind Sie total von der Rolle." Mike wollte zornig auffahren, aber er hielt sich zurück. Mit undurchdringlichem Gesicht starrte er Irons an. „Also machen Sie jetzt keine Schwierigkeiten, Novalis", fuhr Irons nun fort, „halten Sie sich von der Dennison fern, ebenso wie von der Firma Zakroff und Duchesne." Er lächelte dünn, aber seine Stimme hatte einen stählernen Unterton. „Das ist mein letztes Wort." Ohne eine Antwort abzuwarten, nickte er Hecht zu und ging zur Tür. Sobald der FBI-Mann den Raum verlassen hatte, öffnete Hecht eine
Schreibtischschublade und holte eine Zigarrenkiste heraus. „Glattzüngiger Schreibtischhengst", brummte er verächtlich. „Hätte Politiker werden sollen." Mike starrte noch immer auf die Stelle, wo Irons eben noch gestanden hatte, und öffnete langsam die Fäuste. „Sie haben sich ja ziemlich aufgeführt", bemerkte Hecht und räusperte sich. „Der Typ mag ein arroganter Schnösel sein, aber er ist im Recht. Also vergessen Sie die Sache und kümmern Sie sich wieder um Ihre anderen Angelegenheiten." Mike wandte sich um und starrte seinen Vorgesetzten wütend an. „Bitte. Wenn Sie unbedingt wollen." Damit ging er zur Tür. Am frühen Nachmittag, als Nina einkaufen ging, fiel ihr auf, dass der blau-weiße Polizeiwagen, der noch letzte Nacht vor ihrem Haus geparkt ha tte, verschwunden war. Ihre erste Reaktion war Erleichterung. Sie stand also nicht länger unter polizeilicher Beobachtung. Dann aber fühlte sie Ärger in sich aufkommen. Hätte Mike sie nicht wenigstens anrufen und ihr die veränderten Umstände mitteilen können? Wäre das nicht ein Gebot reiner Höflichkeit gewesen? Sie versuchte sich einzureden, dass sie keinen Grund hatte, sich verletzt zu fühlen. Mike Novalis schuldete ihr nichts. Auch wenn es kurz gefunkt hatte zwischen ihnen - was bedeutete das schon? Für Mike Novalis war sie nichts anderes als ein Routinefall. Aber so oft sie sich das auch sagte, so recht glauben mochte sie es doch nicht. Irgendwie klang es falsch. Zwischen Mike und ihr war etwas, dessen war sie sich sicher. Was dieses Etwas allerdings ausmachte, konnte sie nicht benennen. Später, nachdem sie wieder zu Hause war und die Lebensmittel, die sie gekauft hatte, im Kühlschrank verstaute, fiel ihr ein, dass sie, wenn sie nicht länger unter polizeilicher Bewachung stand, auch ungeschützt war. Ob sie Angst haben musste? Sie verwarf den Gedanken. Mike hätte es nicht zugelassen, dass die Polizei abgezogen wurde, wenn für sie Gefahr bestünde. Dessen war sie sich sicher. Woher sie diese Sicherheit nahm, wusste sie allerdings nicht. Deshalb war sie nicht allzu überrascht, als Mike am späten Nachmittag vor ihrer Tür stand. Als er sich erkundigte, ob alles in Ordnung sei, erwiderte sie leichthin: „Ist das eine offizielle Anfrage?" Doch als er sie mit einer seltsamen Hilflosigkeit, die ihr neu an ihm war, ansah und ihre Frage mit nein beantwortete, wusste sie, dass sich in ihrer Beziehung etwas Entscheidendes verändert hatte. Mike war nicht aus beruflichen Gründen hier. Er war gekommen, weil er sie sehen wollte. Dieser Gedanke erregte und erschreckte sie zugleich. Und jetzt? überlegte sie. Was möchte ich denn überhaupt? Mike hatte sich lange mit der Frage herumgequält, was er Nina eigentlich erzählen sollte, und hatte schließlich beschlossen, ihr die offizielle Version zu liefern. Natürlich ohne preiszugeben, dass ihr Brötchengeber vom FBI überwacht wurde. „Und was ist mit der Pistole?" „Nun, sie ist nicht registriert, deshalb kann ich sie Ihnen nicht zurückgeben." Sie schüttelte sich. „Ich will sie auch gar nicht. Das habe ich nicht gemeint." Mike seufzte. „Ich weiß. Aber ich kann trotzdem nichts weiter unternehmen. Ich habe Anweisung bekommen, Ihre Akte zu schließen." „Heißt das, dass Sie mir jetzt wenigstens die Sache mit meiner Amnesie glauben?" „Ich habe keinen Grund, es nicht zu tun." Er streckte die Hand aus und schob ihr das Haar aus der Stirn. „Hey, Ihr Verband ist ja ab. Man sieht kaum etwas." Seine
Fingerspitzen verweilten für einen Moment auf ihrer glatten Haut. Als er ihr Haar berührte, beschleunigte sich Ninas Puls. Also war es doch keine Einbildung gewesen, er fühlte sich von ihr angezogen. Ebenso wie sie sich von ihm. Und jetzt war dieses Gefühl wieder da, genau wie gestern, nur noch stärker. Wie er sich verhalten sollte, nachdem er Nina mitgeteilt hatte, dass ihre Akte geschlossen sei, hatte sich Mike vorher nicht überlegt. Doch als sie ihm lächelnd die Tür geöffnet hatte, leicht scheu und doch glücklich darüber, ihn zu sehen, hatte er das sehr wohl registriert. Und nun, als sie ihn mit verhangenen Blicken, die Wangen vor Erregung gerötet, ansah, zögerte er nicht, obwohl er wusste, dass es ihn bei seinem Arbeitgeber den Kopf kosten konnte, wenn er nicht die Finger von Nina Dennison ließ. Aber das war ihm egal. „Kommen Sie", sagte er abrupt. „Ich möchte Sie mit jemandem bekannt machen." Ninas erster Gedanke war, dass Mike sie wieder in die Straße bringen würde, in der sie angeschossen worden war. Seit er sie in sein Auto verfrachtet hatte, hüllte er sich in Schweigen. Sie verließen Society Hill und fuhren nach Norden in das düstere, heruntergekommene Industriegebiet im Hafenviertel. Sie war sich fast sicher, dass an der Kreuzung, an der sie eben vorbeigekommen waren, die Straße lag, wo die Sache passiert war. Mike fuhr noch einen Häuserblock weiter und hielt dann vor einem anscheinend leerstehenden Fabrikgebäude mit zugemauerten Fenstern. Die große Stahltür, durch die er sie nun führte, war über und über mit Graffiti verziert. „Passen Sie auf, wo Sie hintreten", sagte er und nahm ihren Arm, während sie vorsichtig um einen Scherbenhaufen herumging. Mike zog einen großen Schlüsselbund aus der Jackentasche und machte sich an der nächsten Stahltür, vor der sie nun standen, zu schaffen. Nina bemerkte, dass die Tür, so zerbeult und zerkratzt sie auch war, ein funkelnagelneue s Schloss hatte. „Eine wirklich wohnliche Gegend", sagte sie, „und glauben Sie ja nicht, dass ich Ihnen nicht dankbar bin, dass Sie mich mitgenommen haben, aber was zum Kuckuck wollen wir hier?" Er warf ihr über die Schulter ein verschmitztes Grinsen zu. „Warten Sie's ab." Die Fabrikhalle, die sie jetzt betraten, war leer und staubig, von den Wänden bröckelte der Putz. Ihre Schritte hallten auf dem Zementboden. Aber der Lastenaufzug war sauber und funktionierte sogar. Er brachte sie ins oberste Stockwerk. Als er anhielt, vernahm Nina hinter der Tür seltsame Geräusche. „Himmel, das klingt ja nach einer riesigen Ratte oder so was", sagte sie irritiert, „hier steigen wir aber hoffentlich nicht aus, oder?" Doch da glitten die Türen des Aufzugs bereits auseinander, und Mike trat hinaus, wobei er von einem freudig aufgeregten Bellen empfangen wurde. Als Nina ihm zögernd folgte, fand sie ihn in Gesellschaft eines riesigen schwarzen Hundes, dessen Vorderpfoten ihm fast bis zu den Schultern reichten und der ihm hingebungsvoll zur Begrüßung mit seiner langen rosa Zunge das Gesicht ableckte. Sobald das Tier entdeckte, dass noch jemand da war, vergaß es seinen Herrn und wandte Nina schwanzwedelnd seine Aufmerksamkeit zu. Sie beugte sich zu dem Hund hinunter und streichelte ihm über das kurze, schwarz glänzende, seidige Fell. „Guter Hund", schmeichelte sie und rubbelte seine Schlappohren. „Was für ein süßes, kleines Hündchen du doch bist." „Ah, sieht ganz danach aus, als ob Sie Tiere mögen", sagte Mike. „Stimmt." Sie tätschelte dem Hund den Kopf, was wieder ein heftiges Schwanzwedeln bewirkte. „Wie heißt er denn?" „Sig."
„Aha. Nach Sigmund Freud vermutlich, hab' ich recht?" „Nicht direkt. Ich habe ihn nach der ersten Pistole benannt, die man mir bei meinem Dienstantritt ausgehändigt hat. Eine Sig Sauer Pistole." Nina nickte ohne aufzusehen. Das ist seine Welt, dachte sie. Er ist ein anständiger Mensch, aber er lebt in einer Welt, in der Gewalt, Kriminalität und Waffen alltäglich sind. Sie streichelte Sigs glänzendes Fell. „Was ist das denn für ein Hund?" „Ein Dobermann." Natürlich. Fast jeder Cop hatte einen Dobermann. Oder einen deutschen Schäferhund. Dann warf sie einen kritischeren Blick auf Sig, der sich nun auf den Boden geworfen hatte und ihr auffordernd den Bauch zum Streicheln hinreckte. Der Hund hatte nicht diesen lauernden, unruhigen Blick, den sie gewöhnlich Dobermännern zuschrieb. Er schaute einfach nur lieb und etwas tapsig, wie ein Hund aus einem Comic. Außerdem hatte er Schlappohren. „He, Moment, haben Dobermänner normalerweise nicht einen kupierten Schwanz und so ganz winzige, aufrecht stehende Ohren?" „Stimmt. Auf die Welt kommen sie aber so wie er." Mike zeigte mit dem Daumen auf Sig. „Und ich habe es damals einfach nicht über das Herz gebracht, ihn so verstümmeln zu lassen." „Das freut mich", sagte Nina weich. „Ich finde seine Ohren richtig süß." Als sie ihn spielerisch daran zog, verdrehte Sig die Augen und himmelte sie an. „Na, Sie scheinen sein Herz ja im Sturm erobert zu haben", bemerkte Mike. „Wenn Sie nichts dagegen haben, wird er Ihnen jetzt für einen Augenblick Gesellschaft leisten. Ich möchte nur kurz duschen." Nina war so mit dem Hund beschäftigt gewesen, dass sie ihrer Umgebung noch gar keine Aufmerksamkeit geschenkt hatte. Als sie sich nun umsah, erschien es ihr einen Moment lang, als stünde sie im Freien. Das gesamte Obergeschoß, ein einziger riesiger Raum, war über und über in Licht gebadet, das durch die verglaste Decke und die ebenfalls verglasten Wände hereinfiel. Der Raum sah aus wie ein Urwald, alles war Grün. Aus hohen Blumentöpfen wuchsen Bäume mit riesigen Blättern und Pflanzen, die sie noch nie im Leben gesehen hatte. Von den Rohren, die an der Decke entlangliefen, rankten sich satter grüner Wein und andere Kletterpflanzen herab. „Wo bin ich denn hier?" rief sie Mike hinterher. „Bei mir zu Hause." Er verschwand im hinteren Teil des Lofts. Während Nina sich weiter umschaute, leckte ihr der Hund hingebungsvoll die Hand. Als sie zu ihm herabsah, ließ er von ihr ab, schnappte sich einen kleinen Ball, schaute sie an und wedelte hoffnungsvoll mit dem Schwanz. „Na, willst du ein bisschen spielen, Großer? Nun, warum nicht?" Nina nahm ihm den Ball aus der Schnauze und warf ihn in die entgegensetzte Seite des Raums. Wenig später wurde ihr bewusst, dass sie einen Fehler gemacht hatte, denn Sig konnte gar nicht genug bekommen. Er raste durchs Zimmer, holte den Ball, raste zurück, legte ihn ihr vor die Füße und sah sie wieder schwanzwedelnd an. Und das wieder und wieder. Doch jedesmal, wenn er davongaloppierte, um den Ball zu holen, nutzte sie die Gelegenheit, um sich umzusehen. Der dunkle Holzfußboden war von langer Benutzung abgetreten, aber sauber. Im hinteren Teil des Lofts befand sich die Küche, wo ein Esstisch mit vier Stühlen stand. Halb hinter hohen Pflanzen versteckt entdeckte Nina ein schon leicht ramponiertes Sofa mit blauen Bezügen, das auf einem roten Läufer stand, und ein paar leichte, geflochtene Korbsessel. Auf der anderen Seite gegenüber der Küche erhob sich ein hölzernes Podest, auf dem ein Doppelbett und ein Regal mit dem
Fernseher darauf seinen Platz hatte. Ansonsten war das Loft bis auf die Pflanzen leer - ein ideales Spielgelände für Sig, ein unkonventioneller Ort zum Wohnen. Ist wahrscheinlich nicht ganz einfach, hier zu leben, dachte Nina. Aber vielleicht lohnte sich ja die Anstrengung. Mikes Möbel wirkten sehr bescheiden, fast spartanisch, doch das hereinströmende Licht verlieh dem Raum eine beinahe weihevolle Atmosphäre, man fühlte sich fast wie in einer Kathedrale, und die Pflanzen gaben der Wohnung Leben. Pfoten tappten eilig über den Boden und bremsten kurz vor ihr. Sig platzierte den Ball sorgfältig genau vor ihren Schuhspitzen, sah sie seelenvoll an und wartete. „Na gut", sagte Nina. „Einmal noch, aber dann ist Schluss." „Letztes Spiel", hörte sie Mikes Stimme hinter sich. Sie drehte sich um. Er tauchte gerade aus dem Bad auf, eingehüllt in eine dicke, weiße Wolke aus Wasserdampf. Nina war sich bewusst, dass sie ihn anstarrte, aber sie konnte den Blick nicht von ihm abwenden. Und das nicht nur deshalb, weil er lediglich mit einer knapp sitzenden Jeans bekleidet war, die sich eng an seine Hüften und Oberschenkel anschmiegte und seine breite, durchtrainierte, nackte Brust und den flachen Bauch betonte. Und auch nicht wegen der Wassertropfen, die ihm aus seinem wirren schwarzen Haar auf die Schultern und Oberarme, an denen sich die Muskelstränge deutlich abzeichneten, fielen. So, wie er jetzt dastand, halbnackt, stark, lachend und selbstbewusst sich das nasse Haar mit dem Handtuch trockenrubbelnd, bot er ein Bild schierer Männlichkeit, dessen Anblick ihr fast den Atem verschlug. Allein damit zurechtzukommen, wäre schon schwierig genug gewesen. Es war jedoch noch etwas anderes, das sie ihn anstarren ließ, als sei er ein Weltwunder. Es erschien ihr nämlich, als hätte sie dieses Bild, diesen vor Leben und Kraft nur so strotzenden Mann, eingerahmt von wuchernden Pflanzen, schon einmal gesehen. Und plötzlich wusste sie es. Es war exakt die Vision, die vor zwei Nächten sekundenlang vor ihrem geistigen Auge aufgeblitzt war. Bis ins letzte Detail. Einen Moment später war der Bann gebrochen. Mike kam auf sie zu, bückte sich, als er an Sig vorbeikam, und nahm ihm den Ball aus der Schnauze. Nina tat ihr Bestes, sich zusammenzureißen. Ihr war natürlich schon vorher klar gewesen, dass diese Vision von Donnerstagnacht keine Erinnerung gewesen sein konnte, aber dass sie eine Vorahnung war, erschütterte sie zutiefst. Sie schüttelte benommen den Kopf. Wahrscheinlich nur ein Zufall, sagte sie sich. Und doch war es irgendwie unheimlich. Sie verspürte einen kleinen, nagenden Zweifel, als ob irgend etwas an ihrer Erklärung nicht ganz stimmen würde. Aber da ihr im Moment keine bessere einfiel, beschloss sie, die Sache zu verdrängen. Mike war in seinen Schlafbereich hinübergegangen und zog sich ein T-Shirt über. Ihm beim Anziehen zuzusehen, empfand sie als sehr intim. Das ist es, was er auch tun würde, wenn wir uns geliebt hätten, durchzuckte es Nina. Sie beobachtete ihn schweigend, wobei sie sich fast wünschte, den Mut zu finden, zu ihm hinüberzugehen, um ihn davon abzuhalten, sich anzuziehen. „Warum haben Sie mich eigentlich hierhergebracht?" erkundigte sie sich, nachdem er sich wieder zu ihr gesellt hatte. „Ich wollte Sie mit Sig bekannt machen. Ich dachte, Sie könnten ihn vielleicht für ein paar Tage mit nach Hause nehmen. Er mag Sie ganz offensichtlich, und er ist ein guter Beschützer." Als er sah, wie sich ihre Augen vor Schreck verdunkelten, wünschte er, er hätte sich etwas vorsichtiger ausgedrückt. „Glauben Sie, dass ich Schutz brauche?" Die Frage kam fast flüsternd.
„Nein, natürlich nicht", log er. „Ich dachte einfach nur, dass Sie sich vielleicht besser fühlen, wenn Sie ein bissche n Gesellschaft haben. Irgend jemanden, so dass Sie wenigstens nicht ganz allein sind", erklärte er ihr. Sie starrte ihn einige Zeit nachdenklich an, wobei er besorgt hoffte, dass sie seine Erklärung schlucken würde. Er wollte sie nicht unnötig beunruhigen, aber er wurde nun mal den Verdacht nicht los, dass an diesem Fall Nina Dennison mehr dran war, als es im Moment den Anschein hatte. Sicher, er hatte sich in der Vergangenheit bereits einmal geirrt, und er hatte bitter bezahlen müssen dafür, aber das konnte und durfte für ihn dennoch kein Grund sein, über eine Ahnung hinwegzugehen. Nein, er würde alles tun, was in seiner Macht stand, um diese Frau zu beschützen. Koste es, was es wolle. „Okay", stimmte Nina schließlich zu. „Ich nehme Ihr Angebot an." Ein bisschen Gesellschaft konnte ihr wahrscheinlich wirklich nur gut tun. Und vielleicht war es ja ganz praktisch, Sig zu haben, der auf sie aufpasste. Plötzlich hätte sie am liebsten gekichert. Auf jeden Fall würde der nächste Einbrecher eine Riesenüberraschung erleben, soviel stand jetzt schon fest. Als sie in Ninas Wohnung ankamen, legte sich Sig Mike erst zu Füßen und rührte sich nicht vom Fleck. Doch es dauerte nicht lange und seine Neugier erwachte. Er begann, die Räumlichkeiten mit Beschlag zu belegen und tigerte von Zimmer zu Zimmer, schnüffelte hier und da, bis sein Wissensdurst schließlich gestillt war und er sich beruhigt auf dem Teppich niederließ und begann, auf einem von Ninas Sofakissen, das auf dem Boden gelegen hatte, herumzukauen. „Ach, lassen Sie nur", wehrte sie ab, als Mike Sig das Kissen wegnehmen wollte. „Es ist sowieso schon ruiniert." Es war eins der Kissen, die der ungebetene Besucher aufgeschlitzt hatte, und Sig vollendete den Prozess der Zerstörung lediglich, den ein anderer vor ihm bereits begonnen hatte. Nina spürte von neuem Spannung in sich aufkommen. Sie war nicht länger Mikes Fall, und er war für sie nicht mehr der Polizist, der sich ihres Falls annahm. Sie waren einfach nur eine Frau und ein Mann, und sie wusste nicht recht, wie sie ihm jetzt begegnen sollte. Oder was sie von ihm zu erwarten hatte. Sie schwiegen beide einen Moment. Da Nina nicht wollte, dass er schon ging, überlegte sie gerade, ob sie ihm einen Kaffee anbieten sollte, als er fragte: „Haben Sie Lust, mit mir essen zu gehen?" Mit plötzlich aufkommender Scheuheit sah sie ihn an und nickte dann vorsichtig. „Ja, gern", erwiderte sie und spürte, dass sie rot wurde. Als er ihr in ihre Jacke half, zitterten ihr die Hände ein bisschen vor Aufregung. Wie ein Teenager beim ersten Rendezvous, dachte sie. Dann lachte sie. Es war tatsächlich ihr erstes Rendezvous - in gewisser Weise zumindest, denn an all die vorangegangenen konnte sie sich ja nicht mehr erinnern. „Was ist denn so lustig?" erkundigte er sich. Alle Kälte war aus seinen Augen gewichen, sie blickten warm und einladend. „Das erzähle ich Ihnen ein andermal", beantwortete sie locker seine Frage. Als sie in seinem Auto saß, fiel ihr auf, dass die leeren Dosen und Hamburgerverpackungen von der Rückbank und vom Fußboden verschwunden waren. „Was halten Sie von einem Italiener?" fragte er. „Mhm, Pasta klingt herrlich." „Wer weiß, vielleicht finden wir ja ein Lokal, das Spaghetti alla Spodumene auf der Speisekarte hat." Von Anfang an hatte sich Mike gewünscht, ihr nicht beruflich, sondern privat begegnet zu sein - zum Beispiel beim Gemüsehändler. Jetzt war er zwar nicht
länger mit ihrem Fall betraut, aber unglücklicherweise war ihm nun auch ein rein privater Umgang mit ihr von Dienstes wegen untersagt. Das hatten sowohl Hecht als auch Irons ihm glasklar zu verstehen gegeben. Es war leichtsinnig gewesen, ausgerechnet ins DeFazio zu gehen, wo es nicht überraschend gewesen wäre, auf einen Arbeitskollegen zu treffen. Und überhaupt sollte er nicht mit ihr hier bei Kerzenschein an diesem Tisch sitzen und sie mit unterhaltsamen Histörchen von der Polizeiakademie zum Lachen bringen. Er sollte nirgendwo mit ihr sein. Aber sie war wie ein wärmendes Feuer, und er war ein Mann, der schon seit längerem fror, ohne sich dessen bewusst geworden zu sein. Er wollte sich einfach ein bisschen an ihr wärmen. Es war schön, mit ihr zusammen zu sein. Mike spürte, wie er sich entspannte. Er war mit sich selbst im reinen wie schon lange nicht mehr. Sie unterhielten sich prächtig während des Essens, und auch auf der Heimfahrt versiegte ihr Gesprächsvorrat nicht. Weil er sich noch nicht von ihr trennen wollte, bat er, als sie vor ihrem Haus an gelangt waren, noch kurz mit reinkommen zu dürfen. Um noch einen kurzen Blick auf Sig zu werfen. . Nachdem Nina Kaffee gemacht hatte, setzten sie sich an den Esstisch. Sie legte die Hände um den warmen Becher, sah Mike an und sagte dann: „Irgendwie finde ich, dass Sie mir gegenüber im Vorteil sind. Sie wissen fast alles über mich, aber ich weiß so gut wie nichts von Ihnen." „Was interessiert Sie denn?" Er rührte in seiner Tasse herum, dann sah er auf und verzog den Mund zu einem kleinen trägen Grinsen. Alles, dachte sie, alles. Wie du riechst, wie du schmeckst, was du fühlst, was du denkst. „Nun ... waren Sie schon mal verheiratet?" Sein Gesichtsausdruck veränderte sich. Nina hatte plötzlich das ungute Gefühl, als sei er mehr als tausend Meilen von ihr entfernt. Es war kein sehr schönes Gefühl. „Nein. Vor ein paar Jahren ist es fast einmal dazu gekommen, aber es hat nicht geklappt." Diesem Satz folgte ein langes, angespanntes Schweigen. Die leichte Stimmung war verflogen. Mike spürte, dass er nicht umhinkommen würde, ihr zumindest einen Teil von sich zu offenbaren. Und zu seiner eigenen Überraschung war er sogar dazu bereit. Es war ihm zwar nicht ganz klar, wie er dazu kam, gegenüber einer Frau, die er erst seit zwei Tagen kannte, seine Seele bloßzulegen, aber er sah ein, dass es nicht anders ging. Er musste ihr etwas von sich erzählen. Ein bisschen, aber nicht alles, versuchte er sich zu bremsen. „Ich schulde Ihnen eine Erklärung", begann er abrupt. „In der Nacht, in der Sie nach meinem Partner gefragt haben, bin ich etwas aus der Rolle gefallen. Ich will Ihnen erzählen, warum." Er legte beide Hände auf die Tischkante und holte tief Atem. „Ich habe früher als Undercover gearbeitet. Mein Partner hieß Jack Renzno. Wir waren vier Jahre zusammen. Er war der beste Freund, den ich jemals hatte." Als die Erinnerung, die er so lange verdrängt hatte, plötzlich zurückkehrte, befürchtete er einen Moment, in Tränen auszubrechen. Er schluckte, dann sprach er weiter, wobei er sich bemühte, seine Stimme so flach und unbeteiligt wie möglich klingen zu lassen, so als würde er die Geschichte eines anderen erzählen, aber er spürte, dass ihm das in keiner Weise gelang; er klang, als sei er am Ende. „Es ist jetzt drei Jahre her. Jack und ich waren auf eine große Drogensache angesetzt - in Zusammenarbeit mit der DEA. Wir sollten einen Schmugglerring, der Kokain und Heroin von Texas raufbrachte, unterwandern. Man wollte uns zu Helden machen. Doch am Ende stellte sich die ganze Sache als die größte Pleite
heraus, die unsere Abteilung je zu verkraften hatte." Plötzlich hatte er einen bitteren Geschmack im Mund. „Als es soweit war, lief alles falsch. Sie hatten den Stoff beiseite geschafft und erwarteten uns schon." Er schloss die Augen. Die Dunkelheit verschaffte ihm Erleichterung - doch dann sah er wieder eine andere Dunkelheit vor sich, in einer leeren Lagerhalle mitten in der Nacht. Die plötzlich vom grellen Aufflammen des Mündungsfeuers der Maschinenpistolen zerfetzt wurde, und die Stille wurde zerrissen von dem ohrenbetäubenden Rattern der Gewehrsalven und von Schreien. Der lauteste Schrei entrang sich seiner eigenen Kehle. Er öffnete die Augen. „Jack musste dran glauben. Er trug zwar eine kugelsichere Weste, aber sie pusteten ihm einfach die Beine weg. Er verblutete innerhalb von neunzig Sekunden." Mike schaute auf seine Hände, die noch immer auf dem Tisch lagen, und sah überrascht, dass sie zitterten. Dabei hatte er ihr das Schlimmste noch gar nicht erzählt. „Seitdem arbeite ich allein. Weil ich nicht an Jack erinnert werden will. Und das ist auch der Grund für meine Reaktion, als Sie nach meinem Partner gefragt haben. So, und jetzt ist es genug - mehr will ich nicht erzählen." Mike verfiel in Schweigen, aber die Qual, die in seinem Tonfall gelegen hatte, hallte in Nina nach. Auch sie hatte in den vergangenen Tagen mit Hoffnungslosigkeit und Einsamkeit Bekanntschaft gemacht. Auch ihr war das Gefühl, sich ganz und gar verloren zu fühlen, nicht fremd. Sie wollte den Blick abwenden von diesem trostlosen, von hilfloser Verzweiflung gezeichneten Gesicht, aber es gelang ihr nicht. Als sie die Hand nach Mike ausstreckte, fast so, als wollte sie ihm durch ihre Berührung etwas von der Last, die er auf den Schultern trug, abnehmen, sah sie, wie in den Tiefen dieser blauen Augen eine winzige Flamme emporzüngelte. Was war es? Eine Warnung? Oder eine Bitte? Nina ließ die Hand sinken. Einen langen Moment starrte sie Mike einfach an, der mit einem Ausdruck von Anspannung zurückstarrte, die Lippen halb geöffnet, als wolle er etwas sagen. Aber er sagte nichts. Anstelle von Trauer und Verzweiflung konnte Nina nun Bewegtheit, Zweifel, Wachsamkeit und Verlangen in seinem Gesicht lesen. Ja, Verlangen - ach, und sie verlangte es nicht weniger nach ihm. Willst du den Rest deines Lebens damit verbringen, Angst zu haben vor dem, was du begehrst? fragte sie sich. Diese Frage drängte sich ihr so heftig auf, dass sie fast schon befürchtete, sie laut ausgesprochen zu haben. Sie hob wieder die Hand, und diesmal ließ sie sie nicht wieder sinken. Zärtlich und getrieben von einer inneren Kraft, die sie nicht selbst steuern konnte, berührte sie Mikes Gesicht, zeichnete mit einer Fingerspitze den Schwung seiner Augenbrauen nach und dann, kühner geworden, streichelte sie mit der offenen Hand über seine Wange. Die ganze Zeit über sah Mike sie an, und es gelang ihr nicht, den Blick von diesen feurigen, eindringlichen Augen abzuwenden. Nina hatte eine Grenze überschritten, und sie wusste es. Jetzt gab es keinen Raum mehr für Stolz, Höflichkeiten oder Ausreden zwischen ihnen beiden. In seinem Blick lag das nackte Begehren, ein Begehren, von dem sie wusste, dass es ebenso der Spiegel ihres eigenen Verlangens war. Bei dieser Erkenntnis wurde sie plötzlich von einer köstlichen, warmen Welle der Lust überspült. Sie fühlte, wie sie schwach wurde, und frohlockte - paradoxerweise - gleichzeitig über ihre Stärke. Mike stand auf und zog sie von ihrem Stuhl hoch. Nun standen sie sich gegenüber, so nah, dass sie sich berührten. Nina spürte die Anziehungskraft, die von ihm ausging; ihre Körper strebten, Magneten gleich, zueinander. Er legte die Hand unter ihr Kinn und hob ihr Gesicht. Dann küsste er sie.
Er erkundete ihren Mund mit atemberaubender Zärtlichkeit. Seine Lippen streiften die ihren, ganz leicht erst, fast spielerisch, dann ein bisschen härter. Er nahm ihre volle Unterlippe sanft zwischen seine Zähne und begann daran zu saugen. Gleich darauf zeichnete er mit seiner Zungenspitze die Umrisse ihrer Lippen nach. Nina drängte es danach, sich ganz eng an ihn zu pressen, doch der feste Griff seiner Hände, die auf ihren Hüften lagen, hielt sie auf Abstand. Sie war ihm so nah, dass sich ihre Körper zwar streiften, aber doch nicht so nah, wie sie es wollte. Sie schlang ihre Arme um seinen Hals und wühlte ihre Finger in sein schwarzes, glänzendes Haar, das anzufassen sie sich schon lange gewünscht hatte. Dabei versuchte sie, ihn näher an sich heranzuziehen. Mike stöhnte leise, als seine Zunge zwischen ihre Zähne glitt und auf die ihre traf. Ihre Lippen waren weich und einladend, aber ihre Zunge stieß voller Leidenschaft gegen seine, getrieben von demselben wilden Verlangen, das auch durch seinen Körper raste. Es erfüllte all seine Sinne, von den Haarwurzeln bis zu den Zehenspitzen, und schon allein dieser Kuss hatte ihn hart und nur allzu bereit gemacht. Aber er wollte mehr von dieser Frau, als sein körperliches Verlangen zu stillen. Es war ihm wichtig, ihr Lust zu bereiten, er wollte jeden Quadratzentimeter ihres Körpers erkunden. Während sie seinen Kuss beantwortete und seine Lippen mit kleinen zärtlichen Bissen traktierte, musste er sich zwingen, sie von sich fernzuhalten. Fast hätte er ihrem Wimmern, mit dem sie ihm zu verstehen gab, wie sehr ihr Körper nach der Berührung schrie, nachgegeben, aber er hielt sich zurück und beendete den Kuss. Ohne seine Lippen auf den ihren fühlte sich ihr Mund kalt an. Nina schüttelte verwirrt den Kopf. Begehren und Leidenschaft waren mit der Gewalt eines Buschfeuers über sie hinweggefegt - und sie wollte nicht, dass das Feuer erlosch. Warum hatte er sich von ihr zurückgezogen? Und warum sah er sie so ernst an? „Nina." Mikes Stimme war heiser. „Ich muss jetzt gehen. Sonst schaffe ich es überhaupt nicht mehr." Sie brauchte nicht lange zu überlegen. Diesmal wusste sie mit unumstößlicher Klarheit, was sie wollte. Nicht einen Mann, irgendeinen Mann, sondern genau diesen Mann. Und zwar jetzt. Sie begegnete seinem ernsten Blick. „Geh nicht." „Bist du dir sicher?" Statt einer Antwort nahm sie ihn in ihre Arme. Der nächste Kuss fiel alles andere als zärtlich aus. Sie warf den Kopf in den Nacken und bot ihm gierig ihre Lippen. Er küsste sie lang und hart. Mit leidenschaftlicher Wildheit zwang er ihre Zähne mit seiner Zunge auseinander und drang in ihre feuchte, warme Mundhöhle ein. Dabei hielt er sie an den Handgelenken fest und drängte sie zurück, Schritt für Schritt, bis sie mit dem Rücken an der Wand stand. Dann presste er sich mit einem Aufstöhnen gegen sie. Nina stand in Flammen. Die Brüste gegen Mikes muskulösen Brustkasten gedrückt, die Beine weit auseinandergestellt, so dass sie seine Obersche nkel eng umfingen, wollte sie mehr, noch viel mehr von ihm. Sie spürte, wie er sich an ihrem Schoß rieb, bis sie glaubte, vor Verlangen zu zerbersten. Schließlich ließ er ihre Handgelenke los, griff nach ihrem Pulli und zog ihn ihr über den Kopf. Ihre vollen Brüste wurden kaum verhüllt von dem dünnen Seiden-BH, und er sah die dunklen Knospen, die sich durch die Spitze drückten. Sie waren hart, warteten voller Ungeduld darauf, berührt zu werden. „Oh, Gott, Nina, ich will dich", flüsterte er mit belegter Stimme. Seine Hände, sein Mund und seine Lenden lechzten nach ihr, aber er wollte etappenweise voranschreiten, um jede Berührung, jeden Sinneseindruck voll auszukosten.
Mit irritierender Langsamkeit streckte er die Hand aus und fuhr mit den Fingerspitzen über ihren Brustansatz. Sie schnappte nach Luft, und er sah, wie sie zu beben begann. Ihre Haut war seidenweich und ganz warm. Er fuhr fort, sie zu streicheln, wobei er ihr Gesicht beobachtete und sich zwang, ihren Körper Schritt für Schritt zu erkunden. Sie hielt die Augen geschlossen und stöhnte, als er erst ihre eine Brust, dann die andere spielerisch streichelte. Dann bedeckte er beide mit den Handflächen, wobei er mit den Daumennägeln ihre harten, aufgerichteten Knospen liebkoste. Sie wölbte sich ihm entgegen und stöhnte: „Ja, oh, ja." Ihre Reaktion überschwemmte ihn mit einer neuen Welle von Verlangen: Das Warten war eine Tortur, er glaubte, sich nicht länger zurückhalten zu können. „Sag mir, was du dir wünschst, Nina", flüsterte er. Für sie existierte nichts auf der Welt außer seiner Stimme und seinen Fingerspitzen, die jetzt ihre Brustspitzen in quälender Langsamkeit umkreisten. Diese Berührung entfachte in ihr ein Feuer, in dem sie glaubte, verbrennen zu müssen. Die Wellen der Lust wurden zu einem Strudel, der drohte, sie hinwegzureißen. „Küss mich hier", flüsterte sie wie im Fieber, zog das Spitzenkörbchen hinunter und bot ihm ihre Knospe zum Kuss. Mikes Selbstkontrolle schwand dahin. Mit zitternden Händen öffnete er den Verschluss ihres BHs, ließ ihn zu Boden fallen und barg sein Gesicht zwischen ihren Brüsten. Er bedeckte die weichen Hügel mit Küssen und saugte an ihren Spitzen, als trügen sie süßen Nektar. Dann hob er Nina hoch, nahm sie auf den Arm und beeilte sich, mit ihr ins Schlafzimmer zu kommen. Eng an ihn geschmiegt, zog sie eine Spur kleiner Küsse von seinen Wangen über seinen Hals bis hinunter zu seiner Halsgrube. „Wenn du so weitermachst, werde ich dich noch fallen lassen", warnte er sie. „Okay, und wie ist es damit?" fragte sie und leckte an seinem Ohrläppchen, nahm es zwischen die Zähne und biss zärtlich hinein. Mike wäre fast gestolpert. „Das ist um nichts besser." „Na, dann lasse ich dich jetzt lieber in Ruhe." „Nicht mehr nötig." Nina, die die Augen während der ganze n Zeit geschlossen gehalten hatte, spürte, wie sie aufs Bett gelegt wurde. Einen Moment später lag Mike neben ihr. Mit bloßem Oberkörper. „Wir sind nämlich da", flüsterte er ihr ins Ohr. „Jetzt kannst du alles tun, wonach dir der Sinn steht." Sie schaute zu ihm auf. „Alles?" „Ja, alles", bestätigte er, und seine Stimme hatte ihren scherzenden Unterton verloren, sie klang jetzt heiser und lüstern. Nina zog ihn auf sich und tastete sich lustvoll mit den Fingerspitzen über seine Oberarme, seine Schultern, seinen Rücken. Das Gewicht seines auf ihr lastenden Körpers, der Duft seiner Haare und seiner Haut - alles stimmte. Eine Welle der Leidenschaft überspülte sie, aber daneben spürte sie etwas anderes: Glückseligkeit. Sie und Mike würden gleich eins werden miteinander, und das war richtig so. Mike zog ihr die Hose aus. Der Spitzenslip folgte. Er streichelte ihre Hüften, die Schenkel, den flachen Bauch, Und dann tauchte er seine Finger in die heiße feuchte Spalte unter den kastanienbraunen Löckchen. Nina schrie auf, als er sie an ihrer geheimsten Stelle berührte, aber es war kein Schrei des Entsetzens, sondern der Begierde. Sie spürte, wie sich ihr Körper ihm entgegenhob, um die Lust, die er ihr verschaffte, noch zu vergrößern, während heiße Wellen, Feuerrädern gleich, in ihrem Unterleib ihre Kreise zogen. Mike küsste sie leidenschaftlich, wobei seine Finger jedoch nicht aufhörten, sie zu
erregen. Kurz vor dem Höhepunkt aber entzog sie sich ihm und flüsterte fiebernd: „Nein, noch nicht." Mike erstarrte. Dass sie sich ihm in diesem Augenblick verweigern würde, hätte er nicht einmal im Traum geglaubt. Aber um nichts in der Welt hätte er sie jemals zu etwas gezwungen, was sie nicht wollte. „Nicht so", flüsterte sie. „Ich will dich in mir spüren." Er drückte sie an sich und berührte mit den Lippen ihr Haar. Als er ihr in die Augen schaute, entdeckte er in ihnen das gleiche Feuer, das auch ihn fast zu verzehren drohte. Er küsste sie leicht auf die Lippen. „Wart einen Moment, ich bin gleich wieder bei dir." Er sprang aus dem Bett, und Nina hörte, wie er eine Folie aufriss. Einen Moment später lag er bereits wieder neben ihr. Als er sich über sie warf, spürte sie voller Wonne den harten Beweis seines Begehrens an den Stellen, die er eben noch mit seinen Fingerspitzen in Brand gesetzt hatte. Mit einem lustvollen Aufseufzen öffnete sie sich ihm. Er drang laut aufstöhnend in sie ein, und das, was sie verspürte, als sie ihn schließlich in sich fühlte, war pure Ekstase. Er füllte sie voll und ganz aus, und sie ergänzten sich auf eine wunderbare Weise, als sich ihre Körper im Rhythmus der Liebe, der so alt war wie die Welt, gegeneinanderbewegten. Sie fühlte sich emporgehoben, höher und höher, ihr war, als flöge sie in eine endlose, gleißend helle Weite hinein, und ihre Lust steigerte sich fast bis ins Unermessliche, bis sich plötzlich riesige, leuchtende Feuerräder vor ihren Augen zu drehen begannen. Und dann war es ihr, als würde sie aus sich selbst herauskatapultiert, und sie, taumelte, einen Lustschrei auf den Lippen, in seliger Ekstase dem Höhepunkt entgegen. Danach lagen sie noch lange Zeit still da und ließen den Rausch langsam abklingen. Mike war noch immer in ihr und atmete schwer. Als sie sich schließlich trennten, war es nur für ganz kurze Zeit. Mike erhob sich halb, ließ sich neben sie gleiten und zog sie dann ganz eng an sich. Sie hob ihm das Gesicht entgegen, und sie küssten sich, wobei jeder des anderen Lächeln durch den Kuss hindurch spüren konnte. „Wow", murmelte Nina, „das war einfach ..." „Unglaublich", beendete er ihren Satz. „Ja", stimmte sie verträumt zu und kuschelte sich noch enge r an ihn. „Es war das Größte." Er musste lachen. „Woher willst du das wissen, Sweetheart, wo du dich doch an nichts mehr erinnern kannst?" fragte er neckend. Plötzlich fühlte sie, wie sich eine bleierne Müdigkeit auf sie herabsenkte, sie hauchte ihm noch einen leichten Kuss auf die Brust und schloss dann die Augen. Noch lange, nachdem sie eingeschlafen war, lag Mike neben ihr, streichelte ihr Haar und starrte zur Decke. Er sehnte sich fast schmerzhaft danach, sie von neuem in seine Arme zu ziehen und sich wieder in ihr zu verlieren. Dieses Verlangen war so stark, dass er all seine Selbstbeherrschung aufbieten musste, um sie nicht zu wecken. Aber ihm war auch klar, warum es ihn so danach drängte, den Liebesakt ein weiteres Mal zu vollziehen. Er hoffte, damit die düsteren Zweifel, die an ihm nagten, verdrängen zu können. Irgend etwas war mit ihm passiert heute Nacht. Etwas, das weit jenseits reiner Lustbefriedigung lag. Etwas, das ihm Angst einjagte. Nina hatte in ihm Gefühle erweckt, von denen er meinte, sie unter Kontrolle halten zu müssen. Und zwar nicht deshalb, weil ihm Irons und Hecht Anweisung erteilt hatten, sich von ihr fernzuhalten - er hatte es mit
Anweisungen, die er für unsinnig hielt, noch niemals besonders genau genommen. Aber er war sich über Ninas Gefühle nicht im Klaren. Sie ist einsam, sagte er sich. Und verletzlich. Sie braucht einen Menschen, und du bist eben zufälligerweise da. Vielleicht ist es ja nicht mehr als das. Und dann gab es noch diese leise Stimme in seinem Hinterkopf, die ihm zuflüsterte: Vielleicht belügt sie dich ja doch. Erinnere dich, das ist dir schon einmal passiert. Endlich schlief auch Mike ein, jedoch nur, um zu träumen, dass es Karen war, die er in seinen Armen hielt. Er fuhr aus dem Schlaf hoch, das Trommeln der Maschinengewehrsalven aus seinem Alptraum hallte noch in seinen Ohren nach. Es dauerte einen Moment, bis ihm klar wurde, dass er tatsächlich etwas hörte. Ein Hund bellte. Sig – im Nebenzimmer. Nina schreckte ebenfalls auf und umklammerte ängstlich seinen Arm. „Oh, Gott, was ist denn jetzt los?" „819", erwiderte Mike knapp. „Jemand scheint an deiner Tür zu sein." Er war schon aus dem Bett und stieg in seine Jeans. Dabei warf er einen Blick auf die Uhr auf Ninas Nachttisch. Es war halb sechs Uhr morgens. Nina sprang ebenfalls auf und warf sich einen Bademantel über. Sig hatte, nachdem Mike das Wohnzimmer betreten hatte, sofort aufgehört zu bellen. Jetzt knurrte er nur noch gefährlich, ohne die Wohnungstür aus den Augen zu lassen. „Geh wieder ins Schlafzimmer", befahl Mike und drängte sie zurück. „Ich kümmere mich um deinen Besuch." Als Nina einen kurzen Blick riskierte, sah sie ihn eng an die Wand gedrückt mit erhobenem Arm vor der Eingangstür stehen. In der Hand hielt er einen Revolver. Dann riss er die Tür auf. Ein großer blonder Mann in einem Kamelhaarmantel stürmte herein. „Nina! Nina, wo steckst du? Ist alles in Ordnung mit dir?" schrie er laut, um das ohrenbetäubende Gebell, das Sig nun von neuem angestimmt hatte, zu übertönen. Als er spürte, wie sich von hinten eine Hand auf seine Schulter legte, drehte er sich überrascht um. „Wer zum Teufel sind Sie denn?" knurrte er. „Und was machen Sie um diese Zeit in der Wohnung meiner Verlobten?"
6. KAPITEL Mikes Beruf brachte es mit sich, dass er gelernt hatte, mit überraschenden Situationen umzugehen. Auch wenn sie noch so unangenehm waren. Auf dies hier war er allerdings nicht gefasst. Dennoch, für einen Mann, der sich fühlte, als hätte er eben einen Faustschlag in den Magen bekommen, hielt er sich verblüffend gut. „Polizei", sagte er kurz angebunden, griff in seine Gesäßtasche und zog seine Dienstmarke heraus. Mit der anderen Hand hielt er den Mann mit seinem Revolver in Schach. „So, jetzt sind Sie an der Reihe. Kann ich Ihren Ausweis sehen?" Dieses Verlangen war lediglich der Versuch, sich mit Anstand aus der Affäre zu ziehen und seinem Hiersein zumindest einen halboffiziellen Anstrich zu geben. Mike dämmerte bereits, wer der Fremde war, und seine Vermutung bestätigte sich, als Nina aus dem Schlafzimmer kam. „Julien?" fragte sie ungläubig in leisem Ton. Und dann, bestimmter: „Julien Duchesne." Die Augen des blonden Mannes weiteten sich überrascht. „Du erinnerst dich an mich?" Er sprach mit leichtem europäischen Akzent. „Ach, Liebes, ich bin ja so erleichtert. Armand hat behauptet, du hättest dein Gedächtnis verloren." „Das habe ich auch", gab Nina zurück. „Ich erinnere mich an nichts. Ich habe dich nur erkannt, weil ich im Büro ein Bild von dir gesehen habe." „Ich ... ich verstehe. Nun, dann haben wir viel zu besprechen. Deshalb", er wandte sich zu Mike um, „möchte ich Sie nun bitten, uns allein zu lassen, Officer. Und wenn Sie auch noch so freundlich waren, die Waffe herunterzunehmen und mir eine Frage zu beantworten, wäre ich Ihnen außerordentlich verbunden." Er fixierte Mike mit kalten Augen. „Würden Sie mir vielleicht verraten, was Sie um diese Zeit in der Wohnung meiner Verlobten zu suchen haben?" Seine Stimme war jetzt so hart, dass man Glas damit hätte schneiden können. „Verlobten?" platzte Nina entgeistert dazwischen. „Willst du damit sagen, dass ich ... verlobt bin?" „So ist es", gab Duchesne zurück, wobei er ihr einen Blick zuwarf, der sehnsüchtig und traurig zugleich war. „Kannst du dich denn an gar nichts mehr erinnern? Ach, Liebes, das muss ja schrecklich für dich sein." Nina ließ sich in einen Sessel fallen. Ihre Gedanken wirbelten wild durcheinander. „Du wirst mir alles erzählen. Ich bin mit dir verlobt? Das kann ich kaum fassen. Ich habe nirgendwo einen Hinweis darauf gefunden." Da sie ihm ansah, dass sie ihn offensichtlich verletzt hatte, fügte sie schnell hinzu: „Entschuldige bitte. Ich wollte dir nicht weh tun. Aber darauf war ich nun wirklich nicht vorbereitet. Es kommt mir alles ganz unwirklich vor." Nina war schwindlig. Sie hatte das Gefühl, als hätte man ihr den Boden unter den Füßen weggezogen. Eben noch hatte sie in Mikes warmen Armen gelegen, und nun erfuhr sie, dass sie mit einem anderen Mann verlobt war, mit einem Mann, der ein vollkommen Fremder für sie war. Übelkeit stieg in ihr auf, und sie begann zu zittern. Das Schlimmste an der Sache war jedoch der kalte, versteinerte Ausdruck, der auf Mikes Gesicht lag. Am liebsten wäre sie zu ihm hingerannt und hätte sich in seine Arme geworfen. Doch das, was vor ganz kurzer Zeit noch möglich gewesen wäre, war nun in weite Ferne gerückt. Innerhalb von Minuten hatte sich eine Kluft zwischen ihnen aufgetan, die unüberbrückbar erschien. „Ich bin mit Miss Dennison zusammen ihre persönlichen Unterlagen durchgegangen und habe mit Kollegen und Freunden gesprochen", sagte Mike zu Julien. „Sie hat recht, niemand hat etwas davon gesagt, dass sie verlobt ist. Finden
Sie es nicht auch ein bisschen merkwürdig, dass diesen Umstand kein Mensch erwähnt hat? Nicht einmal Armand Zakroff? Wie erklären Sie sich das?" „Hören Sie", gab Duchesne wütend zurück, „ich habe überhaupt keine Veranlassung, Ihnen irgendwelche Fragen zu beantworten. Im Gegenteil, ich erwarte noch immer eine Erklärung von Ihnen. Was zum Teufel tun Sie hier?" „Ich untersuche Miss Dennisens Fall", gab Mike hölzern zurück. „So, das nennen Sie untersuchen? Da wüsste ich ja gerne mal, was Sie da untersucht haben." Juliens Stimme überschlug sich fast. „Zu dieser Stunde und nur halb angezogen finde ich Sie hier zusammen mit einer Frau, die in hilflosem Zustand erst vor ein paar Tagen aus dem Krankenhaus entlassen wurde." Er starrte Mike abscheuerfüllt an. „Dafür werden Sie mir eine hinreichende Erklärung liefern müssen, mein Lieber. Im Moment sieht es für mich so aus, als hätten Sie Ihre Amtsbefugnis missbraucht. Und wenn das tatsächlich so ist, lasse ich Sie dafür bezahlen, da können Sie Gift drauf nehmen." „Hör auf!" schrie Nina dazwischen. Gleich darauf bemühte sie sich um Mäßigung. „Lass ihn in Ruhe, Julien. Mike ist hier, weil ich ihn eingeladen habe." Juliens Gesichtsausdruck veränderte sich, aber Nina fuhr entschlossen fort: „Hört auf, euch zu streiten, alle beide. Ich bin nicht unzurechnungsfähig. Ich habe nur mein Gedächtnis verloren. Punkt. Julien, mir scheint, wir beide haben einiges miteinander zu besprechen, aber ich brauche niemanden, der auf mich aufpasst. Ich wünschte, du könntest mir erklären, warum kein Mensch ein Sterbenswörtchen von unserer Verlobung erwähnt hat." Julien ging durchs Zimmer und setzte sich neben Nina auf die Couch. Sig, der reglos wie eine Statue Mike zu Füßen saß, verfolgte wachsam jede von Juliens Bewegungen. Ebenso wie Mike. „Entschuldige, Liebes." Julien fuhr sich über sein hübsches Gesicht, dann nahm er Ninas Hand und drückte sie zärtlich. „Aber du musst verstehen, dass das alles ein bisschen viel für mich ist. Ich habe Armand aus Genf angerufen, und da hat er mir von deiner ... deinem Unfa ll erzählt. Selbstverständlich habe ich mir sofort einen Flüg gebucht und bin zurückgeflogen. Und nun platze ich in diese ... Situation herein." Er warf Mike einen finsteren Blick zu. „Aber ich bin mir sicher", dabei schaute er Nina tief in die Augen, „dass wir das klären können, Nina." Seine Augen waren von einem klaren, hellen Grau. „Was auch immer du getan hast, ich verzeihe dir. Besonders, wenn du dich wirklich nicht mehr erinnerst..." Sein Blick suchte ihre Augen. „Weißt du denn tatsächlich überhaupt nichts mehr? Gar nichts?" Nina schaute beiseite und schüttelte den Kopf. „Ich verstehe noch immer nicht", beharrte sie eigensinnig, „warum niemand etwas von unserer Verlobung weiß. Ich warte auf eine Erklärung." Julien lächelte leise. „Das war deine Idee, Nina. Du hast darauf bestanden, unsere Beziehung geheim zu halten. Ich habe dir dauernd versucht beizubringen, dass das Unsinn ist, aber du hast dich geweigert, auf mich zu hören. An dem Abend, bevor ich in die Schweiz gefahren bin, haben wir uns verlobt. Und nach meiner Rückkehr wollten wir es öffentlich machen." „Ich verstehe. Und wie lange waren wir ... hm ... zusammen?" „Oh, das hat sich in Windeseile entwickelt." Julien lachte. „Es geht erst seit ein paar Wochen. Weißt du nicht mehr, dass du gesagt hast, dass sich wahre Liebe manchmal schneller ergibt als ein Augenzwinkern?" „Ach, ja?" fragte Nina heiser. Sie warf Mike einen schnellen, gequälten Blick zu. Seine Augen, jetzt kalt wie blaues Eis, hielten sie auf Distanz. Doch hinter dieser Wand glaubte sie einen kurzen Augenblick einen Schimmer der
Leidenschaft von vorhin aufblitzen zu sehen, dann wandte er sich ab. Ohne ein weiteres Wort ging er ins Schlafzimmer. Als Nina die Bettfedern quietschen hörte, sah sie ihn vor sich, wie er seine Schuhe anzog. Gleich würde er in sein Hemd schlüpfen, sich seine Lederjacke überwerfen und aus ihrer Wohnung gehen. Und aus ihrem Leben. Steh auf. Geh ins Schlafzimmer und halt ihn zurück. Lass es nicht so enden. Doch ihre Hand lag noch immer in der von Julien, der einen neuen Anlauf nahm, indem er sich räusperte. „Wirklich, Nina", fuhr er dann mit ruhiger Stimme fort, „es tut mir leid, dass ich mich eben so habe gehen lassen. Aber ich war wirklich schockiert, weißt du. Ich bitte dich dennoch: Gib mir eine Cha nce. Gib uns eine Chance. Ich weiß, dass du mich liebst. Und ich werde es schaffen, dass du dich wieder erinnerst - wenn du es zulässt." Er beugte sich zu ihr herüber, um sie zu küssen, aber sie zuckte zurück. „Entschuldige", stammelte sie, „aber verstehst du mich denn nicht? Es kommt mir so vor, als würde ich dich überhaupt nicht kennen." Julien lächelte. „Doch, ich verstehe, Liebes", sagte er zärtlich. „Ich verspreche dir, mich in Geduld zu üben." Plötzlich spürte sie etwas Kaltes, Nasses an ihrer Hand, und als sie nach unten schaute, sah sie, dass es Sigs Schnauze war. Der große Hund rieb seinen Kopf leise jaulend an ihrer Hand. Nina streichelte ihm übers Fell, wobei sie murmelte: „Ist ja gut, Großer." Perfektes Timing, dachte Mike, der in diesem Moment aus dem Schlafzimmer trat, deprimiert. Ich würde eine Rolle rückwärts machen vor Freude, wenn sie mir sagen würde, dass alles gut ist. „Du lieber Gott!" Julien deutete auf das aufgeschlitzte Sofakissen, mit dem sich Sig den Abend über beschäftigt hatte. „Das Vieh hat dir ja dein Sofakissen total ruiniert." Sig fuhr empört auf, als hätte er Juliens Bemerkung verstanden. Nina seufzte. „Nein, Julien, das war nicht der Hund, sondern der Einbrecher - oh, das weißt du ja noch gar nicht, na, ich werde es dir gleich erzählen." Plötzlich fühlte sich Nina sterbenselend. Sie hätte sich am liebsten ins Bett verkrochen und die letzte halbe Stunde einfach vergessen. Als sie an ihr Bett dachte, fiel ihr Mike ein, und sie spürte wieder seinen Körper auf ihrem und hatte den Geschmack seines Mundes auf ihrer Zunge. Ihre Haut begann zu prickeln. Ein betörendes Bild stieg vor ihrem geistigen Auge auf. Mike, warm und nackt zwischen ihren weichen grauen Laken, streckte die Hände nach ihr aus und zog sie in seine Arme ... Als sie den Blick hob, kehrte schlagartig die Realität zurück. Mike war angezogen und bereit zu gehen. Sein Gesicht war ausdruckslos. Sie spielte mit dem Gedanken, ihn nach unten zur Haustür zu begleiten, in der Hoffnung, dass ihr das Gelegenheit geben würde, noch ein paar Worte mit ihm zu wechseln. Doch als sie aufstehen wollte, sank sie mit einem Stöhnen wieder in die Polster zurück und presste sich die Hand auf die Stirn. „Nina, was ist?" Das war Mikes Stimme. Ebenso wie der Arm, der um ihre Schulter lag, der von Mike war. Nina zog Stärke daraus, doch sie war von den mittlerweile schon vertrauten gleißenden Blitzen zu abgelenkt, um es zu bemerken. Ihr geistiges Auge durchdrang die Helligkeit, und nun sah Nina eine lebhafte kleine Szene vor sich: Julien Duchesnes Profil zeichnete sich gegen etwas Weißes, das an ein im Wind flatterndes Laken erinnerte, ab. Sein feines blondes Haar war sturmzerzaust, und der Boden, auf dem er stand, schwankte. Nina erhaschte noch einen kurzen Blick auf dunkle Wellen mit weißen Schaumkronen, dann verblasste das Bild, und sie wurde gewahr, dass Mikes Arm
noch immer um ihre Schulter lag, während Julien, der ihre Hand drückte, ihn von der anderen Seite her mit seinen Blicken fast erdolchte. Sie fühlte sich wie ein Fußball, an dem zwei kleine Jungs herumzerrten. „Oh, bitte, hört auf", murmelte sie gereizt und stand auf. „Julien, hast du ein Boot?" Julien sah sie scharf an. „Warum? Ja, ein Segelboot. Die Diamantina. Sie liegt im Hafen von Long Beach Island. Warum fragst du?" „Ich hatte eben so etwas wie eine Erinnerung. Ich war mit dir auf dem Boot. Stimmt das, bin ich schon mal dort gewesen?" Für einen Moment spiegelte sich Überraschung auf seinem Gesicht, und er ließ einige Zeit verstreichen, ehe er antwortete. „Ja. Natürlich warst du schon dort. Genau gesagt, haben wir uns an Bord der Diamantina verlobt." „Hört sich an, als hätten Sie sich das eben erst ausgedacht", schaltete sich Mike grob ein. Nina schaute ihn neugierig an und fragte sich, was er damit wohl sagen wollte. Julien schluckte seinen Zorn herunter und bemühte sich um einen sachlichen Ton. „Falls meine Worte etwa zögerlich geklungen haben sollten, dann nur deshalb, weil ich keinerlei Veranlassung sehe, meine Privatangelegenheiten in Ihrer Anwesenheit mit meiner Verlobten zu diskutieren. Und nun denke ich, dass Sie Ihre Mission hier beendet haben, Officer." Mike warf einen letzten Blick in die Runde. Bildete Nina es sich nur ein, oder schaute er sie wirklich länger an, als es für einen Abschiedsblick notwendig gewesen wäre? In seinen Augen lag eine Botschaft, aber sie konnte sie nicht entziffern. Sie fragte sich, was er wohl in ihrem Gesicht las. Sie spürte, wie ihre Lippen zu zittern begannen. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Warum gab er ihr nicht einmal die Hand zum Abschied? Ach, wenn er doch einfach durchs Zimmer auf sie zukäme und sie in den Arm nähme! Dann wäre alles mit einemmal ganz einfach. Sie müsste sich ganz schnell entscheiden. Und es würde ihr mit Sicherheit nicht schwerfallen ... „Ja", erwiderte Mike. „Sie haben recht, meine Mission ist beendet." Er nickte knapp zum Abschied. „Miss Dennison. Mr. Duchesne." Dann machte er Sig ein Zeichen, ihm zu folgen. „Auf Wiedersehen, Officer", sagte Julien förmlich. Nina öffnete den Mund, ohne dass sie wusste, was sie sagen wollte, doch zu spät. Mike war schon fort. Um die angespannte Atmosphäre etwas aufzulockern, beschloss sie, Kaffee zu kochen. Julien kam mit in die Küche, setzte sich an den Tisch und sah ihr zu. Als sie seine Blicke, die sie als unangenehm besitzergreifend empfand, auf sich spürte, wurde ihr bewusst, dass sie nur einen Bademantel trug. „Ich ziehe mir nur rasch etwas an", sagte sie abrupt und fügte dann einen Moment später in dem Wissen, dass es ungelenk klingen würde, sie jedoch nicht wusste, wie sie es besser ausdrücken sollte, hinzu: „Bleib bitte hier." Er nickte höflich. „Aber natürlich." Sein Ton war sanft und verständnisvoll. Als Nina die Schlafzimmertür hinter sich zumachte, hatte sie fast ein schlechtes Gewissen. Der ganze Raum schien nur aus dem zerwühlten Bett zu bestehen, das sie daran erinnerte, was sich zwischen ihr und Mike abgespielt hatte. War es wirklich erst ein paar Stunden her, seit er sie auf den Armen ins Schlafzimmer getragen und hier ins Bett gelegt hatte? Als sie die Laken glattstrich, stieg ihr sein Duft in die Nase. Verzweifelt warf sie sich aufs Bett, vergrub das Gesicht in den Kissen und atmete den Moschusduft, der ihnen entströmte, tief ein. „Oh, Mike", flüsterte sie sehnsuchtsvoll.
Dann hörte sie Julien in der Küche rumoren. Sein Stuhl schrammte über den Fußboden, Geschirr klapperte. Wer war dieser blonde grauäugige Fremde, der behauptete, sie hätte ihm die Ehe versprochen? Wieviel hatte sie ihm sonst noch von sich gegeben? Sie stöhnte voller Verzweiflung laut auf. Hastig erhob sie sich und zog sich an. Braune Hosen, einen beigen Pullover. Kein Make-up. Es besteht keine Notwendigkeit, Julien zu beeindrucken. Wir sind ja schon verlobt: Diese Vorstellung berührte sie mehr als seltsam. Er würde ihr eine Menge Fragen beantworten müssen. Als sie ins Wohnzimmer kam, hatte Julien es sich auf der Couch bequem gemacht. „Ich denke, wir haben einiges zu klären", sagte sie vorsichtig. „Stimmt", gab er zurück und klopfte mit der flachen Hand auf den Platz neben sich. „Komm, setz dich zu mir." Sie entschied sich für einen Sessel. „Du hast gesagt, dass das mit uns alles ganz schnell gegangen ist", begann sie zögernd. „Innerhalb von ein paar Wochen." Sie sah ihm gerade in die Augen. „Ich weiß nicht, wie ich es anders ausdrücken soll, aber ich muss es einfach wissen: Haben wir miteinander geschlafen?" Julien lächelte, ein langsames, vertrauliches Lächeln, das sie irgendwie unangenehm berührte. Er stand auf, kniete sich vor ihren Sessel und na hm ihre Hand. „Du hast anscheinend wirklich alles vergessen, Darling", sagte er sanft. „Aber mach dir keine Sorgen, wir holen deine Erinnerungen schon wieder zurück. Und wenn nicht, machen wir neue." Seine Stimme klang zärtlich, fast wie ein Streicheln. Sie sandte Nina einen Schauer über den Rücken. Einen Schauer der Beklommenheit, wie ihr gleich darauf klar wurde. Die ganze Situation hatte etwas Beklemmendes an sich. Dieser Mann hatte sie auf intimste Art und Weise kennengelernt - und sie wusste nichts von ihm. Es war fast so, als wäre es, ohne ihr Wissen und; ihre Zustimmung geschehen. Wie eine Vergewaltigung. Schon war sie im Begriff, ihm eine heftige Abfuhr zu erteilen, doch dann hielt sie sich zurück. Nimm's leichter. Schließlich ist es nicht Juliens Schuld. Für ihn muss die Sache auch ziemlich hart sein. Also zog sie nur ihre Hand zurück und sagte in ruhigem Ton: „Hör zu, Julien, du musst mich einfach verstehen. Da ich mich an unsere Beziehung nicht mehr erinnern kann, wird es wohl eine Weile dauern, bis ich mich wieder an dich gewöhnt habe - wie an alles in meinem Leben", fügte sie hastig hinzu, als sie den Schmerz in seinen Augen sah. Julien seufzte, erhob sich und setzte sich wieder aufs Sofa. „Ja, ich verstehe. Aber jetzt musst du mir als erstes eine Frage beantworten." Nina versteifte sich. Seit Julien in ihr Apartment gestürmt war, hatte sie auf diesen Augenblick gewartet. „Fass es bitte nicht als Angriff auf", fuhr er fort, „aber ich muss wissen, was zwischen dir und diesem Polizisten vorge fallen ist." Er sprach mit ihr, als hätte er es mit einem uneinsichtigen Kind zu tun. In seinem Tonfall lag etwas Besitzergreifendes, das ihren Widerstand erregte. „Julien", sagte sie entschieden, „was auch immer zwischen Mike und mir gewesen sein mag, es hat nichts mit dir zu tun." Er starrte sie an. „Es hat nichts mit mir zu tun?" wiederholte er fassungslos. „Aber ... aber wir sind doch miteinander verlobt! Und ich finde ihn hier mitten in der Nacht in deiner Wohnung vor - halbnackt! Was soll ich denn davon halten?" „Halt davon, was immer du möchtest, Julien", gab Nina gleichgültig zurück. „Aber denk daran, dass es dich für mich bis vor einer Stunde überhaupt noch nicht gegeben hat. Und was Mike anbelangt - dieses Thema ist tabu. Ich will nicht mehr darüber reden."
Er starrte sie wütend an, das Gesicht weiß, die Lippen zusammengepresst. Sie hielt seinem Blick stand. Nach und nach schien sein Zorn zu verrauchen. Schließlich zuckte er die Schultern, lächelte reuig und sagte: „Du lässt mir ja keine andere Wahl." „Nein." Zum ersten Mal seit Mikes schweigendem Aufbruch fühlte sie sich jetzt etwas besser. Julien Paroli zu bieten hatte ihr ausgesprochen gut getan. Und nicht nur das, es kam ihr irgendwie ... bekannt vor. Der Augenblick der Konfrontatio n hatte fast so etwas wie eine Erinnerung in ihr heraufbeschworen, beinahe so, als ob es nicht das erstemal gewesen wäre, dass sie ihm die Stirn bot. Aber natürlich, hatte Armand nicht erwähnt, dass sie im Büro schon des Öfteren aneinander geraten waren? Und gleichzeitig hatten sie sich außerhalb des Büros ineinander verliebt. Sie musterte Julien einen Moment. Er war groß und schlank und trug einen maßgeschneiderten grauen Anzug. Wie alt mochte er sein? Etwa achtunddreißig, schätzte sie. Er ist mein Verlobter, und ich weiß nicht einmal, wie alt er ist. Seine Gesichtszüge waren fein und ebenmäßig, er wirkte weltmännisch und kultiviert. Er passte genau in Ninas unaufdringlich geschmackvollen Rahmen. Plötzlich stand Mike vor ihrem geistigen Auge: sein ungebändigtes Haar, die verkrumpelten T-Shirts, die abgewetzte Lederjacke, sein staubiges Loft. Für jeden, der Augen im Kopf hatte, musste es offensichtlich sein, dass, Julien besser zu ihr passte als Mike. Und warum drückte es ihr dennoch beim Gedanken an Mike fast das Herz ab? Weshalb nur sehnte sie sich so schmerzlich danach, bei ihm zu sein? Sie fürchtete, die Antwort zu kennen. Julien beobachtete sie, und als sie die unausgesprochene Frage in seinen Augen sah, wandte sie schuldbewusst den Blick ab. Sie schuldete diesem Mann etwas, obwohl sie nicht wusste, was. Irgendwie mussten sie zu einer Entscheidung gelangen. Julien schien ihre Gedanken gelesen zu haben. „Nina, mir ist klar, dass dir diese Amnesie einen schrecklichen Schock versetzt haben muss. Ich will dich nicht unter Druck setzen. Alles, worum ich dich bitte, ist, dass du ein bisschen Zeit mit mir verbringst, damit du mich wieder neu kennen lernen kannst." ,,Ja, das ist ein fairer Vorschlag", erwiderte Nina langsam. Sein erleichterter Seufzer machte Nina klar, dass er nicht in jedem Fall mit ihrer Zustimmung gerechnet hatte. „Gut", sagte er und beugte sich vor. „Jetzt bin ich mir sicher, dass alles in Ordnung kommen wird. Du wirst dich wieder in mich verlieben. Trotz alledem." Als Nina nun in sein hübsches Gesicht schaute, verspürte sie Müdigkeit. Und eine große Leere, so als ob sie etwas verloren hätte, das ihr wert und teuer war. Auf Juliens Drängen hin verbrachte sie den folgenden Tag mit ihm. Er arrangierte alles perfekt: Nach einem opulenten Frühstück mit Räucherlachs, Rühreiern, knusprigen Croissants und frisch gepresstem Orangensaft im Fairmont unternahmen sie einen ausgedehnten Spaziergang im Museumspark, dessen breite Fußwege bereits die ersten Spuren des Herbstes trugen. Während sie gemächlich dahinwanderten, raschelte das bunte Laub unter ihren Füßen. Nina fühlte sich zwar in seiner Gegenwart noch immer nicht besonders wohl, aber sie musste auch zugeben, dass es gewisse Momente gab, in denen sie seine Gesellschaft ganz angenehm empfand. Du musst ihn geliebt haben, sagte sie sich mehr als einmal, sonst wärst du schließlich nicht mit ihm verlobt. Und es gab eine Menge Dinge an Julien, die man mögen konnte. Er hatte einen sicheren, guten Geschmack und wirkte sehr kosmopolitisch. Zudem schien er über reichlich Geld zu verfügen, mit dem er weder geizte noch protzte. Geld zu haben
schien ihm das Normalste von der Welt zu sein, etwas worüber man sich keine Gedanken zu machen brauchte. Nina gegenüber verhielt er sich zuvorkommend und aufmerksam. Zuerst hatte sie sich instinktiv versteift, als er ihren Arm genommen hatte, um ihr ins Auto zu helfen, doch nachdem ihr klargeworden war, dass er bereit war, die Grenzen, die sie setzte, zu akzeptieren, wehrte sie sich nicht mehr dagegen. Obendrein war er auch noch ein angenehmer Unterhalter, der eine Menge amüsanter Geschichten von seinen Reisen auf Lager hatte. Gelegentlich tauchte in einer dieser Anekdoten der Name „Marta" auf, so dass sich Nina irgendwann veranlasst sah zu fragen, wer diese Marta denn eigentlich sei. „Aber natürlich", rief Julien aus, „immer wieder vergesse ich, dass für dich ja alles sozusagen neu ist. Marta ist meine Schwester. Sie wird es kaum fassen können, dass du dich nicht mehr an sie erinnerst. Marta vergisst man nicht so leicht, du wirst schon sehen. Außerdem ist sie deine beste Freundin." Nina zwinkerte überrascht. „Ach, ja?" „In der Tat. Und sie war ebenso wie ich total schockiert über das, was dir zugestoßen ist. Sie hat gleich einen Flug gebucht und wird heute Abend hier sein." „Wie nett von ihr", gab Nina matt zurück. Wieder fühlte sie sich vollkommen überwältigt. An einem einzigen Tag hatte sie es nicht nur zu einem Verlobten gebracht, sondern auch noch zu einer neuen besten Freundin. „Marta ist die einzige, die etwas von unserer Verlobung weiß", hörte sie Julien wie durch einen Nebel hindurch sagen. „Vor ihr konnten wir es natürlich nicht geheim halten, das versteht sich ja von selbst." „Natürlich nicht", stimmte sie mechanisch zu. „Und in der kommenden Woche wollen wir es Armand mitteilen", fuhr er eifrig fort, „und dann ..." „Apropos Armand", fiel ihm Nina ins Wort, „das erinnert mich daran, dass Armand mir erzählt hat, dass wir ein paar Meinungsverschiedenheiten hatten. Stimmt das?" „Meinungsverschiedenheiten?" Julien runzelte die Stirn. „Was denn für Meinungsverschiedenheiten?" „Ach, irgendwas die Firma betreffend. Laut Armand habe ich die Ansicht vertreten, dass wir mehr mit Modeschmuckdesignern zusammenarbeiten sollten, während du weiterhin nur auf den Import von hochkarätigen Steinen setzt." Juliens Gesicht hellte sich auf. „Ach, das", sagte er mit einem munteren Auflachen. ,,Du darfst das, was Armand sagt, nicht auf die Goldwaage legen, Liebes. Er ist ein sehr gefühlvoller Mensch, wie du ja weißt, und je älter er wird, desto mehr beginnt er zu übertreiben. Sicher hatten wir ein paar Meinungsverschiedenheiten, aber das war halb so schlimm. Und im übrigen", schloss er und sah sie dabei zärtlich an, „hast du dich meinem Standpunkt längst angeschlossen." „Habe ich das, ja?" „Aber ja. Ich kann nämlich manchmal wirklich sehr ... überzeugend sein." Seine Stimme enthielt plötzlich einen so vertraulichen Unterton, dass Nina schnell ein kleines Stück von ihm abrückte. Wie auch immer ihre Beziehung zu Julien einst gewesen sein mochte, im Moment verspürte sie keinerlei körperliche Anziehungskraft ihm gegenüber. Julien schien ihr Bedürfnis nach Distanz akzeptieren zu können, er gab ihr durch nichts zu verstehen, dass er sich etwa abgewiesen oder gekränkt fühlen könnte. Widerwillig musste sie sich
eingestehen, dass er wirklich große Geduld mit ihr hatte, aber sie fragte sich dennoch, wie lange sie wohl anhalten würde. Als sie später am Nachmittag bei Nina zu Hause in der Küche saßen und Tee tranken, bat Julien sie, ihm alles über die Schießerei zu erzählen. Sie sagte ihm, was sie wusste. Es war nicht viel. Dann wollte er genau wissen, was in den letzten Tagen passiert war, wobei es ihm besonders der Einbruch in ihrer Wohnung angetan zu haben schien. „Und du kannst dir wirklich nicht denken, wonach sie gesucht haben?" erkundigte er sich bereits zum zweitenmal. „Keine Ahnung. Ich denke immer noch, dass es Junkies waren, die dringend Bargeld brauchten", gab sie erschöpft zurück. „Warum machst du denn so ein Aufheben davon?" „Es beunruhigt mich einfach. Vielleicht kommt der Einbrecher ja zurück. Du bist hier nicht sicher, ich finde, du solltest..." „Ich finde, du solltest die Sache einfach vergessen und mich mein Leben leben lassen, so wie ich es für richtig halte", schnitt sie ihm mit Bestimmtheit das Wort ab. „Ich denke überhaupt nicht daran, meine Wohnung zu räumen, Julien, falls es das ist, was du sagen wolltest." „Ist ja gut, ist ja gut." Er hob beschwichtigend eine Hand. Aber offensichtlich konnte er nicht aufhören, über das, was er ihren „Unfall" nannte, nachzugrübeln. „Und du erinnerst dich wirklich an nichts mehr?" fing er ein paar Minuten später wieder an. „Du weißt nicht, wer auf dich geschossen hat?" „Nein." „Erstaunlich. Was sagt denn die Polizei dazu?" Sie warf ihm einen schnellen Blick zu, aber sein Gesicht verriet nichts als freundliches Interesse. „Sie geht davon aus, dass es Zufall war. Vielleicht ein Querschläger. Es gibt ja immer wieder mal Verrückte, die einfach ziellos in der Gegend herumballern." Julien schüttelte den Kopf. „Wirklich nicht zu fassen, was heutzutage so alles passiert. Und die Ärzte? Was sagen die?" Nina zuckte die Schultern. „Niemand kann etwas Genaues sagen. Aber sie sind wohl schon der Ansicht, dass die Erinnerung irgendwann wieder zurückkommen wird, doch wann das sein wird, kann niemand sagen. “ Julien seufzte. „Ich hoffe nur, dass ich dann bei dir bin." Nina schaute ihn fragend an. „Weil ich gern dein Gesicht sehen möchte, wenn du dich an uns beide erinnerst", präzisierte er. „Aha. Hör zu, Julien, ich will nicht unhöflich sein, aber es war ein langer Tag für mich. Ich bin müde. Vielleicht ist es besser, wenn du jetzt nach Hause gehst. Wir sehen uns dann morgen im Büro." Er machte ein ent täuschtes Gesicht. „Marta wird doch jetzt jeden Moment hier sein." „Sie kommt hierher?" „Aber ja. Sie möchte dich sehen. Und ich verspreche dir, dass wir auch wirklich nicht lange bleiben." Nina gab schließlich erschöpft klein bei und entschuldigte sich dann für einen Moment. Sie ging ins Bad und kramte in dem Medizinschränkchen nach Aspirin. Als ihr Blick in den Spiegel fiel, starrte ihr ein müdes Gesicht, unter dessen Augen dunkle Schatten lagen, entgegen. Sie sah nicht viel besser aus als am Morgen nach der Schießerei im Krankenhaus. Bist du wieder an deinem Ausgangspunkt angelangt?
Mike rutschte in seinem Sitz herum und versuchte, es sich etwas bequemer zu machen. Nach sechs oder sieben Stunden erweckte wahrscheinlich jeder Autositz den Eindruck, als habe ihn ein Folterknecht konstruiert. Wenn er sich hätte entschließen können, ab und zu auszusteigen und ein bisschen umherzugehen, wäre alles nur halb so schlimm gewesen. Aber er blieb stur sitzen. Und seine Laune trug auch nicht gerade zur Verbesserung der Situation bei. Heute morgen, beim Verlassen von Ninas Wohnung, hatte er sich so richtig schön lausig gefühlt. Und das war über den Tag nicht besser geworden. Seine Stimmung war und blieb mies, und nichts war in Sicht, was ihn hätte aufheitern können. Vielleicht sollte er irgendwo ein Bier trinken oder sich ein Baseballspiel im Fernsehen anschauen. Er drehte sich um und kraulte Sig, der auf dem Rücksitz seelenruhig vor sich hinschnarchte, die Ohren. Zumindest den Hund schien die Tatsache, dass sie den größten Teil des Tages im Auto verbracht hatten, nicht im geringsten zu stören. Heute morgen war es ihm vollkommen unmöglich gewesen wegzufahren. Also hatte er sich einfach in seinen Wagen gesetzt und Stunden gewartet, bis Nina und Julien schließlich aus dem Haus gekommen waren. Er war ihnen zu dem Restaurant gefolgt, in dem sie gefrühstückt hatten. Dann hatte er sie aus der Entfernung beobachtet, wie sie über den Ben Franklin Boulevard geschlendert waren. Ein schönes Paar, hatte er grimmig gedacht, während er den beiden schlanken, hochgewachsenen Gestalten seine Blicke folgen ließ. Und nun saß er sich wieder hier vor Ninas Wohnung den Hintern im Auto platt. Er wartete, doch worauf, wusste er nicht. Was bist du eigentlich, fragte er sich missvergnügt, ein Cop oder ein Jäger? Er wusste nur eins - er war eifersüchtig wie der Teufel. Aber es war nicht allein die Eifersucht auf Julien Duchesne, die an ihm nagte. Okay, okay, ihm missfiel das glatte, hübsche Gesicht dieses Kerls und seine Überheblichkeit. Julien Duchesne war nicht gerade der Typ von Mann, mit dem Mike sich hätte vorstellen können, gut Freund zu werden. Und die Tatsache, dass Duchesne einen Platz in Nina Dennisons Leben beanspruchte, machte ihm den Kerl erst recht nicht sympathischer. All dies erklärte jedoch noch immer nicht, weshalb Mike Stunden um Stunden vor Ninas Wohnung im Auto saß und wartete. Weder gab es einen offiziellen Grund dafür - ganz im Gegenteil, hatte er nicht die Anweisung, sich von ihr fernzuhalten? - noch einen persönliche n, oder etwa nicht? Mike seufzte. Die Gefühle, die er Nina entgegenbrachte, verwirrten ihn. Er hatte keinen Anspruch auf Nina, obwohl sich bereits bei dem leisesten Gedanken an sie dieses sehnsüchtige Ziehen in seinen Lenden einstellte. Und dennoch war er sich sicher, dass das, was sich zwischen ihnen ereignet hatte, mehr war als nur die hungrige Vereinigung von zwei Menschen, die einsam waren. Nina hatte ihn an einem Punkt seiner Seele berührt, den noch keine Frau vor ihr erreicht hatte. Nicht einmal Karen. Und dabei war er überzeugt gewesen, Karen zu lieben. Was also hieß das nun in Bezug auf Nina? Er schüttelte verärgert den Kopf. Lieber nicht darüber nachdenken. Was auch immer er für Nina empfinden mochte, es spielte keine Rolle. Sie hatte eine gemeinsame Vergangenheit mit Julien Duchesne, ihre Erinnerung an die Situation auf dem Segelboot war Beweis genug dafür. Und vielleicht hatte sie auch eine Zukunft mit ihm. Zu bieten hatte ihr Duchesne weiß Gott genug. Womit hätte er schon dagegenhalten sollen? Ein Loft, das eher einer Schutthalde glich, einen tapsigen Hund, ein verbeultes Auto, einen gefährlichen Job. Und ein verwundetes Herz. Zu verwundet, vielleicht. Eingedenk aller Umstände würde er mit
Sicherheit besser daran tun, es für sich zu behalten. Plötzlich wurde Mike durch eine Bewegung auf der Straße aus seinen unerfreulichen Gedankengängen gerissen. Vor Ninas Haus kam ein roter Sportwagen mit kreischenden Bremsen zum Stehen. Ihm entstieg die schönste Frau, die Mike je gesehen hatte. Groß, blond und langbeinig, den Nerzmantel lässig um die Schultern geworfen, bewegte sie sich wie ein Model auf dem Laufsteg. Mike hielt den Atem an, als er ihr nachsah, wie sie auf halsbrecherisch hohen Absätzen die Stufen zu Ninas Eingangstür hinauf stöckelte. Nachdem sie geläutet hatte, wartete sie. Wenig später drückte sie die Tür auf und verschwand im Haus. Mike starrte noch immer auf die Stelle, wo sie gestanden hatte. Ein Gedanke begann sich in seinem Kopf zu formen, doch noch bekam er ihn nicht zu fassen. Dann hatte er es. Nina hatte ihm etwas von einer blonden Frau in einem Nerzmantel erzählt, die sie plötzlich vor sich gesehen hatte. Wahrscheinlich irgendeine Freundin von ihr, dachte er. Wahrscheinlich würde er es niemals erfahren. Als schließlich der Türsummer ertönte, fiel Nina eine Zentnerlast von der Seele. Ihre Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Obwohl Julien sich taktvoll zurückhielt in allem, was er tat, hatte sie dennoch das Gefühl, seine Gegenwart keine Sekunde länger mehr ertragen zu können. Sie sehnte sich danach, endlich allein zu sein. Und vielleicht ein heißes, entspannendes Bad zu nehmen. Oder sich gleich im Bett zu verkriechen, sich die Decke über den Kopf zu ziehen und zu weinen. Als es wenig später herrisch an der Tür klopfte, stand Nina auf, um zu öffnen. Eine Parfümwolke schlug ihr entgegen und hüllte sie ein. Dann blickte sie auf die atemberaubend schöne Frau, die nun über die Schwelle trat. „Nina, Darling!" rief Marta theatralisch, umarmte sie und drückte ihr einen Kuss auf die Wange. Oder besser gesagt, in die Luft, knapp daneben. Aus Martas französischem Knoten hatte sich eine lange blonde Haarsträhne gelöst und kitzelte Nina an der Nase, so dass sie niesen musste. Vielleicht kam es auch von dem Parfüm. Marta schien es gar nicht bemerkt zu haben. „Sweetie", sagte sie mit einem leichten Singsang im Tonfall, „ich habe mir ja solche entsetzlichen Sorgen gemacht. Und Julien erst - er war ein totales Wrack, nachdem er die schlimme Nachricht erhalten hatte. Du hättest ihn sehen sollen! Vollkommen am Boden zerstört! Wirklich, ich schwöre es dir! Aber jetzt ist alles wieder gut, ja?" Sie schob Nina das Haar aus der Stirn. „Oh, wie hübsch. Hoffentlich behältst du nichts zurück. Gott! Und was ist mit deinem Gedächtnis? An mich kannst du dich aber doch ganz bestimmt noch erinnern, oder?" Jetzt erst schien Marta aufzufallen, dass Nina überhaupt nicht zuhörte, sondern fasziniert auf ihren dunklen, glänzenden Nerzmantel starrte. „Ach ja, mein neuer Mantel", säuselte Marta. „Ich habe ihn mir in Genf gekauft." Sie breitete die Arme aus und drehte eine Pirouette. „Gefällt er dir?" Nina fühlte sich wie betäubt, mehr konnte sie nicht ertragen. „Das ist zuviel", murmelte sie benommen. Während sie Marta weiterhin anstarrte wie ein Gespenst, wich sie fassungslos zur Couch zurück und ließ sich, die Knie weich, hineinfallen. „Als ob ich nicht schon genug Probleme hätte ..." Sie schlug die Hände vors Gesicht, ihre Schultern zuckten. „Nina, Liebes, was ist denn?" Julien eilte an ihre Seite. „Sag's mir, bitte." Er zog ihr die Hände vom Gesicht. Nina brach in ein hysterisches Lachen aus, das angesichts Juliens verblüfften Gesichtsausdrucks lauter und lauter wurde. „Entschuldigung." Sie schnappte nach Luft. „Ich kann nichts dagegen machen."
Sie schluckte und versuchte, sich wieder unter Kontrolle zu bringen. „Aber was ist denn?" In Juliens Stimme lag nun ein Anflug von Gereiztheit. „Ach, ich kann es einfach nicht erklären. Es würde keinen Sinn machen. Aber ich bitte euch beide jetzt wirklich zu ge hen. Ich bin total erschöpft und muss unbedingt allein sein. Versteht ihr das? Bitte." „Julien", wandte sich Marta mit leiser Stimme an ihren Bruder, „irgendwas stimmt hier nicht. Sie ist ja vollkommen hysterisch." Sie warf Nina einen besorgten Blick zu. Die war aufgestanden, durchs Zimmer gegangen und hielt die Wohnungstür vielsagend auf. „Ich weiß nicht." Julien zögerte. „Nina", machte er noch einen Anlauf, „vielleicht ist es besser, wenn Marta heute Nacht hier bei dir bleibt ..." „Nein!" erklärte Nina kategorisch und fuhr dann mit so viel Geduld, wie sie noch aufbringen konnte, fort: „Bitte, lass mich jetzt allein, Julien. Wir sehen uns morgen im Büro. Marta, es war nett von dir, dass du gekommen bist, aber ich habe rasende Kopfschmerzen. Tut mir le id." Julien öffnete den Mund, um zu protestieren, doch als er Ninas wild entschlossenen Gesichtsausdruck sah, schloss er ihn wieder. „Ganz wie du willst, Liebes", gab er resigniert klein bei und schob Marta zur Tür. „Ich kann dich gut verstehen, Nina ", sagte Marta beim Hinausgehen. „Du hattest bestimmt einen anstrengenden Tag. Ruh dich jetzt aus. Wir sehen uns morgen." Julien wollte ihr einen Abschiedskuss geben, aber sie wich ihm geschickt aus und hielt ihm die Hand hin. Er nahm sie mit einem dünnen Lächeln und zog sie an seine Lippen. „Dann bis morgen." Nina trat ungeduldig von einem Fuß auf den anderen. Endlich waren sie fort. Sie knallte die Tür zu, atmete erleichtert auf und ging ins Wohnzimmer zurück. Die Gedanken in ihrem Kopf wirbelten wild durcheinander. „Was zum Teufel geht hier vor?" murmelte sie vor sich hin. Sie ging ins Schlafzimmer, holte ihr Tagebuch aus der Nachttischschublade und ging damit in die Küche. Dort setzte sie sich an den Tisch und überflog die Seiten, die sie geschrieben hatte, seit sie aus dem Krankenhaus entlassen worden war. Anschließend versuchte sie sich an jeden ihrer lebhaften „Erinnerungsblitze" zu erinnern. Sie machte sich eine Liste. Donnerst, (im Restaurant) -Julien und ein anderer Mann (dunkl. Haar?) in einem kleinen Raum (Bootskajüte?) Donnerst, nachmittag - blonde Frau im Nerzmantel in meiner Wohnung Donnerst, nacht -Mike N., mit nacktem Oberkörper, Pflanzen Freit, (in Armands Büro) - Stahlkassette mit Smaragden Sonnt. -Julien D. an Bord eines Segelbootes Als sie fertig war, studierte sie die Aufstellung zufrieden. Sie hatte nichts vergessen. Dann stand sie auf, holte sich von ihrem Schreibtisch einen gelben Textmarker und markierte Punkt drei. Donnerstag nacht hatte sie die Vision von Mike mit nacktem Oberkörper, umringt von Pflanzen, gehabt. Sie hatte sich in dem Moment gewundert, dass sie sich an etwas zu erinnern schien, das sich gar nicht ereignet hatte, nur um die Sache gleich darauf in eine Wunschvorstellung umzudeuten. Diese „Wunschvorstellung" war dann am nächsten Tag in Mikes Loft bis ins letzte Detail Realität geworden. Da es keine Erklärung dafür gab, hatte sie es unter Zufall verbucht. Nun allerdings war sie sich fast sicher, dass es sich um etwas anderes handelte. Sie konnte es zwar kaum glauben, aber ... Langsam streckte sie die Hand aus und markierte die Nummer zwei. Die blonde Frau, die sie in ihrer Vision gesehen hatte, war Marta Duchesne. Daran gab es
keinen Zweifel. Alles passte: das Gesicht, die Stimme, das Haar. Da sie eine Freundin von ihr war, wäre das nicht weiter verwunderlich gewesen. Nina hätte sich sagen können, dass sie sich eben an sie erinnerte. Aber die Sache hatte einen Haken. Die Vision konnte keine Erinnerung gewesen sein, da sich die Situation, an die sie sich am Donnerstagnachmittag „erinnert" hatte, vor ein paar Minuten erst ereignet hatte. Martas Pirouette, ihre Worte, der Nerzmantel, den sie sich erst vor ein paar Tagen in Genf gekauft hatte, alles war genauso wie in ihrer Vision. Und dafür gab es nur eine einzige Erklärung: Ihre „Erinnerungsblitze" waren keine Erinnerungen, sondern sie konnte in die Zukunft sehen. Nina erschauerte. Die Sache war ihr unheimlich. Sie stand auf und ging ins Wohnzimmer, wo sie ruhelos hin und her lief und sich einen Reim auf die ganze Angelegenheit zu machen versuchte. Aber sie kam zu keinem Ergebnis, so dass sie sich schließlich, nachdem sie sich wie ausgewrungen fühlte vom vielen Nachdenken, entschloss, ins Bett zu gehen.
7. KAPITEL Ninas Woche fing nicht gut an. Am Montagmorge n wachte sie nach mehr als zehn Stunden Schlaf auf und fühlte sich wie zerschlagen. Während sie frühstückte und sich dann fertigmachte, hoffte sie die ganze Zeit, dass das Telefon klingeln möge. Sie sehnte sich danach, Mikes Stimme zu hören. Aber natürlich rief er nicht an. Kaum war sie im Büro eingetroffen, liefen alle, angefangen von ihrer Sekretärin bis hin zu Armand Zakroff, zusammen und redeten wild durcheinander. „Herzlichen Glückwunsch!" rief Debbie, ihre Sekretärin, deren Augen vor Neugier le uchteten, als erste. Alle anderen ließen nun ihre Glückwünsche folgen. Nina ließ sich wie vom Donner gerührt von ihren Arbeitskollegen die Hand schütteln und wusste gar nicht, wie ihr geschah. Dann fiel ihr Blick auf Julien, der mit stolzgeschwellter Brust dastand. „Du Glücklicher!" Phil, einer der Einkäufer, versetzte ihm einen übermütigen Rippenstoß. „Ich kann es kaum glauben, dass Sie es bis jetzt haben geheimhalten können", sagte Debbie zu Nina und strahlte sie an. Da ging ihr ein Licht auf. Julien hatte die Verlobung bekanntgegeben. Ihre erste Reaktion war Wut. Woher nahm er eigentlich das Recht? Sie hatte gute Lust, auf einen Stuhl zu klettern und zu schreien: Vergesst es, Leute, es war nur ein kleiner Scherz. Geht in eure Büros zurück! Doch als sie Juliens Blick begegnete, der ein wenig ängstlich auf ihr ruhte, verrauchte ihr Zorn. Zurück blieben Verärgerung und Frustration. Es war nicht angebracht, ihm hier vor versammelter Mannschaft eine Szene zu machen und ihn zu blamieren. Nein, sie musste Julien sofort unter vier Augen zur Rede stellen. Sie rang sich ein Lächeln ab und konnte nur hoffen, dass es einigermaßen echt wirkte. „Danke, vielen Dank." „Hey, Nina", schrie Phil, „wann ist denn der große Tag?" Nie, dachte sie grimmig, suchte Juliens Blick und bedeutete ihm mit einem Nicken, dass er mit in ihr Büro kommen sollte. „Keine Angst, ich werde dich auf dem laufenden halten", gab sie zurück. „Aber jetzt müsst ihr mich und Julien entschuldigen. Wir haben eine Kleinigkeit miteinander zu bereden." Lachend und scherzend löste sich die kleine Versammlung auf. Gerade als Nina Julien in ihr Büro folgen wollte, spürte sie, wie sich eine Hand auf ihren Arm legte. Es war Armand. „Kann ich dich nachher einen Moment sprechen?" fragte er ruhig. Nina nickte. Sie ging in ihr Zimmer und schloss die Tür. Julien hatte es, sich bereits in dem Besucherstuhl bequem gemacht, und sie nahm hinter ihrem Schreibtisch Platz. „Du siehst wunderschön aus heute", versuchte er ihr lächelnd den Wind aus den Segeln zu nehmen. Doch Nina war nicht in der Stimmung, Komplimente entgegenzunehmen. Sie starrte ihn verärgert an. „Was zum Teufel soll das?" Sein Lächeln verblasste. „Ich verstehe nicht." „Wie kommst du dazu, allen zu erzählen, dass wir verlobt sind?" Er seufzte. „Oh, Darling, ich habe dir doch gestern erzählt, dass wir uns einig waren, unsere Verlobung bekanntzugeben, wenn ich aus Genf zurück bin." „Stimmt, das hast du mir erzählt. Und ich habe dir gesagt, dass nicht mehr alles so ist wie vorher. Um Himmels willen, Julien, ich habe eine Amnesie! Hast du das denn noch immer nicht begriffen? Du kannst doch nicht erwarten, dass ich
einfach so weitermache, als sei nichts geschehen." Er starrte sie an, offensichtlich ohne zu begreifen. „Was meinst du damit, dass alles nicht mehr so ist wie vorher? Soll das etwa heißen, dass du dich nicht mehr an mich ... gebunden fühlst?" Nina schlug die Hände vors Gesicht, während sie sich krampfhaft bemühte, die richtigen Worte zu finden. „Bitte, Julien, ich weiß einfach nicht, wie ich es ausdrücken soll. Alles, was ich dir sagen kann, ist, dass heute wirklich nicht der richtige Zeitpunkt war, unsere Verlobung bekanntzugeben. Ich bin einfach noch nicht soweit, verstehst du das denn nicht? Und siehst du nicht, wie unfair das war? Du hast mich regelrecht überfahren." Er hüllte sich für einen Moment in Schweigen, stand auf und ging zum Fenster. Als er schließlich sprach, klang er zerknirscht. „Ja, natürlich hast du recht, ich sehe es ein. Aber ich wollte dir einfach nur eine Freude machen. Es sollte eine Überraschung sein. Außerdem dachte ich, dass es einfacher für uns beide ist, wenn wir unsere Beziehung nicht mehr länger geheimhalten müssen. Wir wollen doch in Zukunft eine Menge Zeit miteinander verbringen, oder?" Nina lehnte sich zurück und sah Julien an. Er schien noch immer nicht begriffen zu haben, dass sie sich gar nicht sicher war, ob sie ihre „Beziehung" überhaupt fortzusetzen beabsichtigte. Er war einerseits sanft und ihren Argumenten durchaus zugänglich, andererseits aber auch verdammt hartnäckig. Immer, wenn es ihr gelungen war, etwas Distanz zwischen ihnen zu schaffen, schnellte er wie eine Feder über die Grenze, die sie gezogen hatte. Er war nicht leicht zu entmutigen. Und plötzlich wurde ihr bewusst, was sie die ganze Zeit über zu verdrängen versucht hatte: Er liebte sie. „Okay, Julien", erklärte sie kategorisch, „es gibt keinen Grund, jetzt weiter auf der Angelegenheit herumzuhacken. Aber ich möchte dich doch bitten, mich in Zukunft vorher in deine Pläne einzuweihen." Er lächelte. „Heißt das auch, dass ich dich nicht mit einem Verlobungsring überraschen darf?" Das kann ja wohl nicht sein Ernst sein! Nina beschloss, es als Witz aufzufassen. „Oh, da habe ich mir schon was überlegt", gab sie scherzhaft zurück. „Ich will einen großen Smaragd." Julien lehnte lässig am Fenster. Bei ihren Worten wirbelte er herum, machte einen Schritt auf sie zu, beugte sich über sie und starrte ihr in die Augen. „Was hast du da eben gesagt?" Nina schrumpfte vor Schreck in ihrem Stuhl zusammen. Was war denn plötzlich in ihn gefahren? Womit nur hatte sie ihn so aus der Fassung gebracht? „Du hast mich genau verstanden", gab sie ruhig zurück. „Ich habe dich um einen Smaragd gebeten." Als sie sah, wie die Knöchel seiner Hände, die die Armlehnen ihres Schreibtischstuhls umklammerten, weiß wurden, fügte sie schnell hinzu: „Ach, komm, war doch nur ein Witz. Entspann dich." Er sah sie einen Augenblick la ng forschend an, bevor er die Lehne losließ und einen Schritt zurücktrat. „Entschuldige bitte", sagte er und lächelte verlegen. „Ich habe wohl irgendwie überreagiert." „Was war denn plötzlich los?" „Du weißt es wirklich nicht?" Als sie ungeduldig den Kopf schüttelte, raffte er sich zu einer Erklärung auf. „Du hast mich mit deinem Wunsch nach einem Smaragd ziemlich aus der Fassung gebracht." „Aber warum denn?" Er lachte kurz auf. Es klang traurig. „Wir haben vor ein paar Tagen schon mal über einen Verlobungsring gesprochen. Da sagtest du, du würdest dir von deiner
nächsten Geschäftsreise einen Smaragd mitbringen. Und als du jetzt eben wieder einen Smaragd erwähntest, hatte ich gehofft, dass du dich vielleicht wieder erinnerst. An uns. An alles, was zwischen uns einmal war." „Nein. Leider nicht. Aber es tut mir leid, dass ich dir Hoffnungen gemacht habe. Das mit dem Smaragd sollte nur ein kleiner Scherz sein." Da er jetzt einen recht geknickten Eindruck machte, ließ sie sich schließlich nach einigem Zögern überreden, am Abend mit ihm essen zu gehen. Dann sah sie zu, dass sie ihn los wurde, denn Armand wartete auf sie. Als sie Armands Büro betrat, war der schwergewichtige Mann gerade dabei, ein wertvolles Reiseschachspiel einer ausführlichen Betrachtung zu unterziehen. Er drehte die winzigen Figürchen in seinen überraschend feingliedrigen, langen Fingern hin und her und hielt sie dabei unters Licht. „Komm her und schau dir das an, Schätzchen", sagte er lächelnd. Nina beugte sich über ihn und stieß beim Anblick der winzigen Schachfiguren aus Onyx und Perlmutt einen leisen Schrei der Bewunderung aus. „Oh, sind die schön", rief sie begeistert aus. „Ich habe es mir aus Indien kommen lassen. Es ist natürlich nicht wirklich wertvoll, aber schön zum Anschauen. Erstklassige Handarbeit." Er seufzte. „So etwas wird leider immer seltener heutzutage. Doch deshalb habe ich dich nicht hergebeten. Nimm Platz." Nina setzte sich und wartete. Armand wirkte plötzlich besorgt. „Die Sache mit Julien hat mich ziemlich überrascht, das muss ich schon sagen", begann er. „Mich auch", gab Nina trocken zurück, und Armand lächelte. „Ich hatte ja keine Ahnung, dass du und Julien ... dass ihr etwas füreinander empfindet", fuhr er fort. „Oder, um es ganz offen zu sagen, Nina, hatte ich eigentlich bisher, was dich anbelangt, einen eher entgegengesetzten Eindruck. Mir kam es immer so vor, als ... hm ... als würdest du ihn nicht so besonders schätzen. Auf die Idee, dass er dein Typ sein könnte, wäre ich im ganzen Leben nicht gekommen." „Ich weiß nicht mal, wer mein Typ ist", gab sie zurück. Aber natürlich weißt du das. Mike Novalis. Sie versuchte, sich wieder auf Armand zu konzentrieren und Mike aus ihren Gedanken zu verbannen. „Vielleicht sollte ich dir das, was ich dir jetzt sagen will, gar nicht erzählen." Armand musterte sie leicht beunruhigt. „Aber ich fühle mich verantwortlich für dich, und ich weiß, dass du gerade jetzt einen Freund bitter nötig hast." Nina spürte, wie eine Welle tiefer Dankbarkeit über sie hinwegschwappte. Sie fühlte sich Armand Zakroff tief verbunden: Obwohl sie keine Erinnerung mehr an ihn hatte, war sie doch überzeugt davon, dass er es ehrlich mit ihr meinte. „Ja, da hast du recht, Armand. Einen Freund kann ich wahrlich brauchen", stimmte sie ihm leise zu. Er nickte. „Gut, dann will ich es dir also erzählen. Es ist kein wirkliches Geheimnis, und ich bin mir sicher, dass es etwas ist, was du vor deinem Unfall wusstest. Es betrifft Julien. Ich kannte ihn bereits, als er noch ein kleiner Junge war. Er war schon immer etwas labil. Und kürzlich hatte er eine Menge Stress. Die Duchesnes sind eine reiche Familie, aber Julien und seine Schwester haben in den letzten Jahren einen beträchtlichen Teil ihres Vermögens an der Börse verspekuliert." Armand breitete in einer Geste der Hilflosigkeit die Hände aus, die Handflächen nach oben. „Ich kenne die Einzelheiten nicht, und sie interessieren mich auch nicht. Aber ich könnte mir vorstellen, dass beide, sowohl Julien als auch Marta,
im Moment ziemlich knapp bei Kasse sind." Er schaute Nina nachdenklich an, dann zuckte er leicht mit den Schultern. „Ich fühle mich verpflichtet, dir das alles zu erzählen, damit du weißt, worauf du dich einlässt. Ich will mir später keine Vorwürfe machen müssen." Er seufzte. „Und jetzt kann ich nur hoffen, dass ich nichts Falsches getan habe." „Vielen Dank, Armand. Nein, du hast mit Sicherheit nichts Falsches getan." Mit diesen Worten sprang sie auf, ging zu Armand hinüber und umarmte ihn impulsiv. „Ich weiß dein Vertrauen zu schätzen. Und um die Wahrheit zu sagen", sie holte tief Luft, „muss ich dir gestehen, dass mich die ganze Situation ziemlich überfordert. Ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll ... mir ist, als würde ich Julien gar nicht kennen, und er setzt so viele Erwartungen in mich, die ich im Moment nicht erfüllen kann ..." „Ich verstehe, was du meinst. Ich wünschte, ich könnte dir helfen, aber da musst du schon allein durch. Doch du wirst es schaffen, davon bin ich überzeugt. Du wirst herausfinden, was das beste ist für dich. Wenn du jedoch einen Freund brauchst, mit dem du reden kannst, bin ich immer für dich da. Und Therese auch. Darauf kannst du dich hundertprozentig verlassen. Ach, ja, eins sollst du noch wissen: wofür auch immer du dich entscheidest, deine Stellung bei Zakroff und Duchesne wird dadurch niemals gefährdet sein. Das solltest du im Auge behalten, denn ich", er deutete mit seinem Zeigefinger auf seinen beachtlichen Bauch, „habe den Hauptanteil an der Firma." Nina lachte. „Das ist gut zu wissen, Armand. Vielen Dank. So, nun werde ich wohl besser endlich mal an die Arbeit gehen." Sie war schon fast aus der Tür, da rief er sie noch einmal zurück. „Oh, Nina, eins noch. Was hat denn dieser nette Polizist noch herausgefunden - wie war doch sein Name?" „Novalis", gab Nina steif zurück. „Ach, ja, richtig, Novalis. Was meint denn Meisterdetektiv Novalis zu der Sache?" Nina räusperte sich. „Ich weiß es nicht genau. Der Fall wurde zu den Akten gelegt, deshalb habe ich nicht mehr mit ihm gesprochen." So gern sie Armand auch mochte, aber manche Dinge behielt sie doch lieber für sich. „Ich verstehe." Armands Blicke ruhten prüfend auf ihr, und Nina fragte sich unbehaglich, ob sie wohl etwas sähen, was preiszugeben ihr unangenehm wäre. Rasch hob sie die Hand zum Gruß, lächelte Armand noch einmal zu und eilte davon. Mike fand recht schnell heraus, dass er sein normales Arbeitspensum selbst dann noch schaffte, wenn er ein kleines, inoffizielles Auge auf Nina warf. Da er sich ziemlich sicher war, dass ihr während der Bürostunden im Kreise ihrer Kollegen keine Gefahr drohte, beschränkte er seine Überwachungstätigkeit auf die Abendund Nachtstunden. Falls sie zusätzlich noch von einem FBI-Agenten beschattet wurde, musste es ein verdammt guter Mann sein, soviel stand für Mike fest, denn bisher war er ihm noch nicht aufgefallen. Mike konnte nur hoffen, dass seine eigenen Aktivitäten ebenso im verborgenen blieben. Sein einziger Gefährte während dieser einsamen Nächte war Sig. Er nahm den Hund immer mit, einerseits deshalb, weil er ihn nicht allein in seinem Loft zurücklassen wo llte, und andererseits, weil er sich nach Gesellschaft sehnte. Vor allem in den frühen Morgenstunden, wenn ihn seine Müdigkeit zu überwältigen drohte, uferte seine Phantasie aus und gaukelte ihm alle möglichen Trugbilder vor. Da tat es ihm gut, jemanden zu haben, mit dem er reden konnte.
Immer wieder kehrten seine Gedanken zu Karen Kurtzmann zurück. Zum erstenmal seit langer Zeit erinnerte sich Mike wieder daran, wie es mit Karen zu Anfang gewesen war. Er sah sie wieder vor sich: ein langer Pferdeschwanz, im Ohrläppchen einen Brillanten, Designerklamotten der typische Schmalspurdrogendealer-Look. Während seiner Undercovertätigkeit hatte er viele Leute hinters Licht geführt bezüglich seiner Person, aber Karen hatte ihn auf Anhieb durchschaut. Sie erkannte ihn als den, der er war - ein ehrlicher Cop, der seiner Arbeit nachging. Sie schaffte es sogar, dass er stolz auf seine Arbeit war. Sie flehte ihn an, ihr zu helfen, sie herauszuholen aus dem Sumpf, in dem sie bis über beide Ohren drinsteckte. Und sie hatte hoch und heilig geschworen, ihn nicht zu verraten. Er rief sich das prickelnde Gefühl, das ihre ersten Begegnungen in ihm ausgelöst hatte, wieder ins Gedächtnis zurück. Alles musste natürlich streng geheim bleiben. Nun fragte er sich, ob es nicht vielleicht diese Aura von Geheimnis und Gefahr, die ihre Treffen umgeben hatte, gewesen war, die sowohl sie als auch ihn angetörnt hatten. Oh, sie war begehrenswert mit ihrem langen kohlrabenschwarzen Haar und den seelenvollen Augen, darüber gab es keinen Zweifel. Ebenso wie ihr schlanker und doch üppiger Körper, den bei ihrem ersten Treffen nur ein knapper Bikini schmückte, während sie ihn über den Rand ihrer großen dunklen Sonnenbrille hinweg forschend ansah. Sie hat in dir gelesen wie in einem offenen Buch. Alles, was sie tun musste, war, dir den Kopf zu verdrehen. Nach kurzer Zeit war er total verrückt nach ihr, so verrückt, dass er bereit war, jede Vorsicht zu vergessen und jedes Risiko auf sich zu nehmen, nur um mit ihr Zusammensein zu können. Jack Renzo war der einzige, der von der Sache wusste, und er deckte ihn, wo immer er konnte. Aber er hatte Mike auch die Hölle heiß gemacht und ihn davor gewarnt, sich emotional allzusehr auf Karen einzulassen. „Sieh dich vor, Kumpel", sagte er wieder und wieder. „Pass auf, dass sie nicht ihre Krallen in dich schlägt. Sie reißt dich in Stücke." Aber Mike war überzeugt gewesen, die Dinge voll im Griff zu haben. Das, was er mit Karen hatte, war so gut, was sollte ihm da schon passieren? Rückblickend musste Mike zugeben, dass ihm die Sache schon nach sehr kurzer Zeit total aus den Händen geglitten war, er war besessen von Karen, besessen von der Lust, die sie in ihm zu erzeugen verstand, er war Wachs in ihren Händen. Und am Ende hatte sich herausgestellt, dass Jack recht behalten hatte. Sie lockte ihn in eine Falle, und Jack Renzo musste seine, Mikes, Dummheit mit dem Leben bezahlen. „Der gute alte Jack war nicht so naiv wie dein Herrchen", sagte Mike zu Sig. „Aber es hat ihm nichts genützt." Der Hund schaute ihn aufmerksam an. Während Mike ihm den Kopf tätschelte, wurde ihm bewusst, dass er zum erstenmal an Jack Renzo denken konnte, ohne dass ihm Zorn und Selbsthass fast den Verstand raubten. Er verspürte Trauer, Reue und die Lücke, die Jack hinterlassen hatte, das wohl, doch mit diesen Gefühlen konnte er leben. Er wusste zwar nicht, was die Veränderung bewirkt hatte, aber er war dankbar dafür. Die Woche dehnte sich endlos für Nina. Nur ihre Arbeit bereitete ihr Freude. Alle in der Firma verhielten sich ihr gegenüber sehr rücksichtsvoll und halfen ihr, die Gedächtnislücken zu füllen, wo und wann auch immer sie sich bemerkbar machten. Glücklicherweise waren ihre Fachkenntnisse von ihrer Amnesie vollkommen unberührt geblieben, eine Tatsache, die sie immer wieder mit Erleichterung registrierte. Vor allem nun, da sie erfahren hatte, dass für nächsten Montag zusammen mit Julien eine seit
Wochen geplante Geschäftsreise nach Kolumbien auf ihrem Terminkalender stand. „Du musst nicht fahren, wenn dir das zuviel wird", bot ihr Armand am Freitagabend an. „Vielleicht ist es ja noch ein bisschen früh dafür, du darfst dich auf keinen Fall überfordern." „Aber es ist die größte Edelsteinauktion im ganzen Jahr", wandte Nina ein. „Es wäre einfach sträflich, sich diese Gelegenheit durch die Lappen gehen zu lassen." „Julien kann allein fahren." „Ach komm, Armand, ich habe einen viel besseren Blick als Julien, und das weißt du auch ganz genau." Nina hatte entdeckt, dass sie tatsächlich „das Auge", wie Armand es nannte, für Edelsteine hatte. Sie erkannte auf Anhieb ihre Beschaffenheit, ihre Stärken und Schwächen, und diese Fähigkeit war gerade bei einer Auktion unabdingbar. „Julien wird mehr ausgeben und mit weniger zurückkommen", fuhr sie fort. „Mach dir keine Gedanken, ich pack' das schon. Um ganz ehrlich zu sein, freue ich mich sogar schon darauf." Das war die Wahrheit. Die Aussicht auf die Reise erregte sie ebenso wie sie sich darauf freute, ihre Fähigkeiten unter Beweis stellen zu können. Und es war ein gutes Gefühl, wenigstens einen Bereich ihres Lebens unter Kontrolle zu haben. „Und die ganze Zeit mit Julien zusammen zu sein ..." Armand ließ das Ende des Satzes vielsagend in der Luft hängen. „Oh, das geht schon in Ordnung", versicherte Nina ihm zuversichtlich, insgeheim jedoch war sie sich dessen nicht ganz so sicher. Es wäre ihr lieber gewesen, eine Zeitlang von Julien verschont zu bleiben. Er war die ganze Woche nicht von ihrer Seite gewichen. Bei der Arbeit war er anfangs ständig unangemeldet in ihr Zimmer geplatzt, bis sie ihm, halb im Scherz, vorgeschlagen hatte, doch mit Debbie einen Termin zu vereinbaren, wenn er sie sehen wolle. Jeden Mittag überredete er sie, mit ihr zum Lunch zu gehen, und dreimal waren sie abends zum Essen aus. „Es wird mir langsam wirklich ein bisschen viel", sagte sie am Samstagabend zu ihm, nachdem er sie nach Hause gebracht hatte. „Du erdrückst mich ja fast." „Das tut mir leid", erwiderte er. „Ich weiß, dass es unsinnig ist, doch nach allem, was passiert ist, kann ich einfach nicht anders, als mir Sorgen um dich zu machen. Ich will dich beschützen, und ich will da sein, wenn du mich brauchst." „Das ist lieb von dir, aber ..." „Du weißt doch, was ich für dich empfinde." Er berührte zart ihr Gesicht. Sie versteifte sich und drehte den Kopf weg; Juliens Hand fiel herab. Er seufzte. „Es tut mir weh, dass du mich behandelst wie einen Fremden. Dabei sehne ich mich so sehr danach, mit dir im Bett zu liegen und dich zu lieben, so wie früher ..." Nina versuchte, sich Julien und sich selbst im Bett vorzustellen. Zweifellos war er attraktiv mit seinen hellen grauen Augen, den feingeschnittenen Gesichtszügen, dem schlanken Körper. Und dennoch verspürte sie kein Verlangen nach ihm. Sie hatte nicht einmal das Gefühl, ihn besonders zu mögen. Das einzige, was sie ihm gegenüber empfand, war eine Art Verantwortung, als sei sie ihm etwas schuldig. Was ihr mehr und mehr zu einer Bürde wurde. „Julien", versuchte sie ihm so zartfühlend wie möglich klarzumachen, „vielleicht wird es aber nie wieder so sein. " „Sag das nicht!" Er riss sie in die Arme und küsste sie. Nina wehrte sich nicht, aber sie erwiderte den Kuss auch nicht. Seine Lippen fühlten sich fremd an auf ihren, und sein Körper, der sich nun eng gegen ihren drängte, erweckte keinerlei Verlangen in ihr, sondern nur Widerwillen. Endlich ließ er sie schwer atmend
wieder los und sah sie an. „Du hast es dir also überlegt, ja?" In seiner Stimme lag Ärger und noch etwas anderes - Bedauern vielleicht. Und plötzlich wusste sie, was sie zu tun hatte. „Ja, Julien. Es tut mir leid, aber ich bin mir sicher, dass es zwischen uns niemals mehr so wird wie früher. Du bist mir fremd, und ich kann mir keine Beziehung mit dir vorstellen. Das ist im Moment der Stand der Dinge, und ich möchte dich bitten, das zu akzeptieren." Sein Gesicht war weiß geworden wie ein Leintuch. Bis auf zwei rote Recken auf seinen Wangen. „Das kann nicht sein!" „Julien, es ist aus, verstehst du? Ich habe versucht, so fair wie möglich zu sein, und ich habe mir viele Gedanken gemacht. Aber es ist einfach so wie es ist - ich empfinde nichts mehr für dich. Ich will dir wirklich nicht weh tun, ebensowenig jedoch möchte ich dir Theater vorspielen. Und jetzt ist es besser, wenn du gehst, denke ich." Er holte tief Atem. „Lass uns noch mal darüber reden, ja?" „Es gibt aber nichts mehr zu reden, Julien. Es tut mir wirklich schrecklich leid, doch ich kann nicht anders." „Das ist alles nur wegen dieses Cops, stimmt's?" „Nein, ist es nicht." Nina versuchte, ihre Stimme so unbeteiligt wie möglich klingen zu lassen. Sie dachte gar nicht daran, Julien zu erzählen, dass sie, seit sie mit Mike geschlafen hatte, nichts mehr von ihm gehört hatte. Und das war jetzt eine Woche her. „Es ist wegen dir und mir. Ich liebe dich nicht, und ich werde dich auch nie lieben. Das musst du einfach akzeptieren, ich bitte dich." „Ich verstehe." Mit drei langen Schritten war er bei der Tür. „Ich vermute, es wäre jetzt angebracht zu sagen, „dann lass uns doch wenigstens Freunde sein'", sagte er und rang sich ein Lächeln ab. „Ich hoffe sehr, dass das möglich ist", gab Nina leise zurück. „Natürlich. Und, Nina, mach dir keine Gedanken wegen der Firma. Es wird wahrscheinlich ein paar peinliche Momente geben, wenn wir bekanntgeben, dass unsere Verlobung geplatzt ist, aber das geht vorbei. Ich will keinesfalls, dass du dich schlecht fühlst." „Dank dir, Julien. Du verhältst dich wirklich wie ein Gentleman." „Ich versuche es zumindest", erwiderte er mit einem missglückten Lächeln. Dann verbeugte er sich und ging. Am Sonntagabend war Mike fast soweit, die Operation Dennison abzublasen. Dies alles führte zu nichts. Die Woche war ereignislos vergangen, und das einzige, was bei seinen Aktivitäten herauskam, war, dass er sich mehr und mehr wie ein Spanner zu fühlen begann. Nina war zu Hause. Er entschied sich, noch bis zum Einbruch der Dunkelheit auszuharren, und dann würde er heimfahren. Und dort bleiben. Gerade in dem Moment fuhr die Blonde in dem roten Jaguar vor: Einen Moment später kam Nina mit einer Sporttasche aus dem Haus und kletterte zu ihr ins Auto. Ach, was soll's, dachte Mike kurz entschlossen, ließ zwei Wagen zwischen sich und den Jaguar und fuhr hinterher. Als er um die erste Ecke biegen wollte, sah er es aus dem Augenwinkel im Rückspiegel silbern aufblitzen. Er schaute nach hinten und sah, wie Juliens silberner Mercedes in die Straße, in der Nina wohnte, einbog. Mike grinste schadenfroh. Pech gehabt. Julien hatte Nina verpasst. Oder hatte er womöglich nur gewartet, bis sie aus dem Haus war? Mike entschied in Zehntelsekunden, den Jaguar sausen zu lassen und seine Aufmerksamkeit Julien zuzuwenden. Wohin Nina und die Blonde fuhren, wusste
er sowieso, weil er den beiden schon zweimal in dieser Woche zum Fitnessstudio gefolgt war. Also drehte er um und hielt in einiger Entfernung vor Ninas Haus. Duchesnes Mercedes war eben durch die Toreinfahrt entschwunden. Mike wartete ungeduldig auf Julien. Fünf Minuten später wartete er noch immer. Nachdem sich auch danach nichts tat, beschloss er, nach dem Rechten zu sehen. Er kramte in seinem überfüllten Handschuhfach und förderte schließlich eine große Sonnenbrille und eine verknautschte Baseballkappe, auf der eine Bierflasche und der Slogan Schnapp dir ein Heinie aufgedruckt waren, zutage. Nicht unbedingt sein Stil, aber so würde ihn Duchesne hoffentlich nicht erkennen. Er fuhr langsam an Ninas Haus vorbei, wobei er versuchte, einen Blick in die Toreinfahrt auf den Parkplatz zu werfen. Duchesnes Mercedes stand dort, und dahinter ragte ein Stück des hinteren Kotflügels von Ninas BMW hervor. Ansonsten war der Parkplatz leer. Und von Julien Duchesne keine Spur. Mike schlich im Schritttempo dahin, doch dann ertönte ein Hupkonzert hinter ihm, das ihn zwang, schneller zu fahren, wenn er es nicht riskieren wollte, Duchesnes Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Weil es sich bei der Straße, in der Nina wohnte, um eine Einbahnstraße handelte, musste er den ganzen Block umrunden, um wieder an seinen Ausgangspunkt zurückzukehren. Duchesne war nicht in Sicht, obwohl sein Auto noch immer auf dem Parkplatz stand. Nachdem Mike den Block zum drittenmal umfahren hatte, tauchte Duchesne auf einmal so plötzlich wie ein Springteufel zwischen den beiden Autos auf. Er muss am Boden gekniet haben, dachte Mike. Vielleicht hatte er ja einen Reifen gewechselt. Ein weiteres Mal zwang ihn der Verkehr weiterzufahren, und als er wieder an die Einfahrt kam, war der Mercedes verschwunden. Er hat wohl bei Nina geläutet und festgestellt, dass sie nicht zu Hause ist. Na toll ... Er beschloss zu warten, ob Duchesne noch einmal zurückkommen würde. Nach etwa einer Stunde fuhr Nina in einem Taxi vor, stieg aus und ging ins Haus. Sie war allein. Mike musste sich schwer am Riemen reißen, nicht auszusteigen und bei ihr zu läuten. Lass den Unsinn, ermahnte er sich streng, sie kann nicht noch mehr Komplikationen in ihrem Leben brauchen. Ebensowenig wie du in deinem. Also blieb er sitzen und wartete ab, ob sich Julien Duchesne wohl noch ein zweites Mal blicken lassen würde. In dieser Hinsicht tat sich nichts. Stattdessen öffnete sich nach Einbruch der Dunkelheit die Haustür, und Nina trat heraus. Leichtfüßig sprang sie die Treppen herab und lief rasch durch die Toreinfahrt zu ihrem Wagen. Sie wirkte so ausgeruht und hübsch, dass Mike der Atem stockte. Auf ihrem Gesicht lag ein Lächeln. Mike hätte alles dafür gegeben, wenn es ihm gegolten hätte. Sie stieg in ihren BMW und fuhr weg. Mike ließ ein paar Autos vor und folgte ihr. Sie fuhr ein paar Minuten kreuz und quer durch die Gegend, an einem kleinen Park vorbei, die engen Straßen hinauf und hinunter, und kurz bevor sie wieder an ihrem Haus angelangt war, bog sie ab und nahm die Straße, die ins Hafenviertel führte. Mike stieß einen leisen Pfiff aus und trommelte mit den Fingern auf dem Steuer herum. Was hatte sie vor? Nun fuhr sie die Delaware Avenue in Richtung Norden entlang. Um sich dem Verkehrsfluss anzupassen, gab sie mehr Gas. Wohin wollte sie? An der Callowhill Street bog sie auf eine Ausfahrt ab, die direkt zu den alten Lagerhallen führte. Mike wurde schla gartig klar, dass sie wieder in die Gegend fuhr, in der sich die Schießerei ereignet hatte. Er wurde das unangenehme Gefühl nicht los, dass sie auf bestem Wege war, sich von neuem ins Unglück zu stürzen. Vielleicht war sie ja tatsächlich in irgendeine Drogensache verwickelt. Oder in eine andere
Schmuggelaffäre. Was immer es sein mochte, Mike durfte nicht zulassen, dass sie noch weiter da hineingezogen wurde. Das letztemal, als sie hier war, wäre sie fast getötet worden ... Sie hatte das Ende der Ausfahrt fa st erreicht. Er gab Gas. Nina hatte eigentlich gar kein richtiges Ziel im Sinn. Zuerst hatte sie nur ein bisschen auf dem East River Drive am Park hinter dem Kunstmuseum herumfahren wollen, doch nachdem ihr klar geworden war, dass es jetzt, am späten Abend, dort nicht viel zu sehen gab, entschied sie sich umzudrehen. Kurz bevor sie wieder zu Hause war, beschloss sie, ins Hafenviertel zu fahren. In die Gegend, in der Mike wohnte. Sie brauchte nicht einmal die Augen zu schließen, um sich Mike auf dem Nebensitz vorstellen zu können, direkt neben ihr, stark und zuverlässig ... Nicht etwa deshalb, weil sie die Kurve bei der Abfahrt zu schnell genommen hätte, spürte Nina, dass irgend etwas nicht stimmte. Sie hatte zwar den Fuß auf der Bremse, aber die Geschwindigkeit verringerte sich nicht. In Panik geraten, trat sie wieder und wieder auf die Bremse, doch es nützte nichts. Im Gegenteil - da es bergab ging, wurde der Wagen schneller. Sie raste auf die Kreuzung zu. Um die anderen Verkehrsteilnehmer zu warnen, drückte sie auf die Hupe, erkannte jedoch im selben Moment, dass dieser Versuch zwecklos war. Der Verkehr war zu dicht, um ein Ausweichen zu ermöglichen. So tat sie das einzige, was ihr zu tun blieb. In Panik riss sie das Steuer herum und scherte aus. Der Wagen kam ins Schleudern, schoss über die Straßenbegrenzung auf den Seitenstreifen hinaus, neigte sich zur Seite und raste - auf zwei Rädern, wie ihr schien - den mit Gras bewachsenen Hügel hinab. Sie betete, dass irgendetwas das Tempo des Autos bremsen möge, bevor es an der Baumgruppe, die sich in einiger Entfernung dunkel vor ihr erhob, zerschellen würde. Plötzlich ragte ein dicker Baumstamm gespenstisch bleich im grellen Scheinwerferlicht vor ihr auf. Sie riss das Steuer herum, doch zu spät. Mit einem ohrenbetäubenden Krachen prallte der BMW gegen den Baum. Selbst als Nina nach vorn gegen das Steuer geschleudert wurde, war sie sich noch nicht sicher, ob der Wagen tatsächlich zum Stehen gekommen war.
8. KAPITEL Als Mike die Bremslichter des Sportwagens aufleuchten sah, wusste er sofort, dass irgend etwas nicht stimmte; Nina raste mit erhöhter Geschwindigkeit auf die überfüllte Kreuzung der Callowhill Street zu. Das Blut gefror ihm in den Adern. Er drückte das Gas durch. Das Ende der Abfahrt war durch eine Autoschlange blockiert. Großer Gott, reiß das Steuer rum, Baby. Wenn du auf die Kreuzung kommst, ist das dein sicherer Tod. Als ob sie ihn gehört hätte, scherte sie nun aus, und Mike stieg in die Bremsen. Noch bevor sein Wagen richtig zum Stehen gekommen war, riss er die Tür auf, sprang heraus und raste, so schnell er konnte, dem BWM, der auf zwei Rädern den Abhang hinunterschoß, hinterher. Als der BMW gegen den Baum geschleudert wurde, hörte Mike den Krach nicht nur, sondern er spürte die Wucht des Aufpralls vom Kopf bis zu den Zehenspitzen. Ein paar Sekunden später war er bei dem Wagen. Sie hing über dem Steuerrad - verdammt, warum hatte sich der Airbag nicht entfaltet? Gott sei Dank, sie bewegte sich. Benommen schüttelte sie den Kopf. Mike wagte kaum zu hoffen, dass ihr nichts passiert war. Gleich darauf stieg ihm ein alarmierender Geruch in die Nase. Benzin! Von Panik geschüttelt rüttelte an der Tür; sie wollte sich nicht öffnen lassen. Natürlich nicht. Nina war ein vorsichtiger Mensch und hatte alle Türen von innen verriegelt. Halb wahnsinnig vor Angst hämmerte er mit den Fäusten gegen die Fensterscheibe. „Nina! Nina, mach auf!" Sie starrte ihn verständnislos an. Zweifellos hatte sie einen Schock und war nicht in der Lage, die Situation zu begreifen. Ohne weitere Zeit zu verschwenden, zog Mike seinen Revolver und zerschoss das hintere Seitenfenster. Die Scheibe zersplitterte in Millionen Einzelteile. Mike griff in die entstandene Öffnung und löste die Verriegelung, dann riss er die Fahrertür auf und zog Nina heraus. Sie schien unverletzt zu sein, denn sie rappelte sich instinktiv auf und kam auf die Füße. „Wir müssen sofort weg hier", schrie Mike ihr zu und zerrte sie hinter sich her. Mehr stolpernd als rennend hatten sie etwa dreißig Meter hinter sich gebracht, als der BMW in die Luft ging. Sie hörten ein Puffen, dem ein Zischen und fast im selben Moment ohrenbetäubendes Krachen folgte, gleich darauf schwappte ein Schwall glühendheißer Luft über sie hinweg, der ihnen den Atem raubte und den Boden unter den Füßen wegzog, Mike warf sich über Nina und versuchte, sie mit seinem Körper zu schützen. Ein paar Sekunden später war das Schlimmste vorbei. Mike zerrte Nina hoch und schleppte sie noch einige Dutzend Meter weiter. Sobald er spürte, dass er wieder frei atmen konnte, blieb er stehen, ließ sich zusammen mit ihr zu Boden sinken und nahm sie ganz fest in die Arme. „Nina", flehte er, „sag was, sag einfach irgendwas, Honey, nur damit ich weiß, dass du okay bist. Bitte sag, dass dir nichts fehlt." Sie bewegte sich in seinen Armen, wandte ihm dann ihr beschmutztes Gesicht zu. und starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an. „Mike?" fragte sie ungläubig. „Bist du das wirklich?" Sie betastete ihn, als glaubte sie zu träumen, dann schlang sie die Arme um seinen Hals, und der einzige Gedanke, den zu denken er imstande war, war der, dass sie lebte. Dann küsste er sie. Es war ein harter, triumphierender Kuss - der Kuss eines Mannes, der dem Tod seine Beute entrissen hat. Als er spürte, wie sie ganz weich wurde und ihre Lippen sich öffneten, musste er sich zwingen, den Kuss zu beenden, weil er ansonsten für nichts mehr hätte garantieren können. Er befürchtete, den Kopf zu verlieren und sie hier zu nehmen, auf der Stelle, direkt
neben der Callowhill Street und unter den Augen der Menschenmenge, die sich mittlerweile eingefunden hatte und schaudernd in die Flammen starrte. Nina schaute ihn an. In ihren Augen lag noch immer Verwirrung. „Bist du verletzt?" „Ich ... ich glaube nicht." Nachdem er ihre Arme und Beine abgetastet hatte, meinte er sicher zu sein, dass ihr außer ein paar Prellungen nichts zugestoßen war. Es war geradezu ein Wunder; dass sie den Unfall unbeschadet überstanden hatte. „Warst du bewusstlos?" „Nein, ich kann mich an alles erinnern. Ich habe nur einen Riesenschreck bekommen." Sie rappelte sich auf. „Oh, mein Gott, schau doch nur!" Sie deutete fassungslos auf ihren Wagen, der lichterloh brannte. „Was ist denn eigentlich passiert?" fragte sie. „Ich weiß es nicht. Ich hatte den Eindruck, als hätten die Bremsen versagt." Mike hörte Sirenen. „Die Polizei und die Feuerwehr sind im Anmarsch." „Ich könnte jetzt schon tot sein." Sie spürte, wie ihr ein Schauer den Rücken hinablief. „Du hast mich aus dem Auto rausgeholt - daran kann ich mich genau erinnern." Dann sah sie sich verwirrt um. „Aber ... was machst du eigentlich hier?" „Ich bin dir nachgefahren." „Nachgefahren? Mir? Warum denn?" Auf diese Frage suchte Mike schon seit einer Woche eine Antwort, und bisher hatte er sie noch nicht gefunden. Weit ich mich in dich verliebt habe, und weil ich Angst habe um dich, und weil ich eifersüchtig bin wie der Teufel? Weil ich befürchte, dass du in irgend etwas verwickelt sein könntest und ich wissen will, in was? Da er ihre Frage nicht beantworten konnte, konterte er mit einer Gegenfrage. Er musste es einfach wissen, und viel Zeit blieb ihm nicht mehr. Polizei und Rettungswagen näherten sich bereits mit zuckendem Warnlicht und kreischenden Sirenen. Er hatte nur noch wenige Sekunden, dann würde er seinen Kollegen das Feld überlassen müssen. „Nina, sag mir nur eins: Was wolltest du hier? Was hattest du vor?" Er sah sie eindringlich an. Sie errötete und wich seinem Blick aus. Er packte sie am Arm und schüttelte sie leicht. „Schau mich an! Verdammt noch mal, es ist wichtig! Du bist nur einen halben Kilometer von der Stelle weg, wo du angeschossen wurdest. Ich muss wissen, warum du wieder hierhergekommen bist." Sie warf ihm einen Blick zu, in dem sowohl Zorn lag als auch Anklage. „Du vermutest, es hat mit dem Vorfall von damals zu tun, stimmt's? Du denkst immer noch, dass ich in irgendeine kriminelle Sache verwickelt bin, und du hast gehofft, mich hier auf frischer Tat zu ertappen", sagte sie wütend. „Fahr zur Hölle, Novalis. Ich muss deine Fragen nicht beantworten. Lass mich in Ruhe." Nun traten Polizei, Feuerwehr und Rettungsmannschaft auf den Plan. Nina wurde mit Beschlag belegt. Sie warf Mike einen letzten, verächtlichen Blick über die Schulter zu, bevor sie sich von einem Sanitäter zur Untersuchung in den Krankenwagen bringen ließ. Mike wandte sich ab und ging zu den traurigen Überbleibseln von Ninas Auto hinüber, die die Feuerwehrleute eben unter einem dichten Schaumteppich begruben. Ein Polizist kam auf ihn zu. „Haben Sie gesehen, wie es passiert ist?" „Ja", erwiderte Mike und zückte seine Dienstmarke.
„Was glauben Sie, Lieutenant? Hat sie einfach nur die Kontrolle über den Wagen verlören?" „Nein. Die Bremslichter haben aufgeleuchtet, aber der Wagen wurde nicht langsamer. Meine Vermutung geht dahin, dass die Bremsen versagt haben. Sie lassen den Wagen doch zur Untersuchung in die Polizeiwerkstatt bringen, oder?" „Selbstverständlich. In Fällen wie diesem immer. Reine Routinesache." „Tun Sie mir einen Gefallen. Lassen Sie mich aus der Sache raus, ja? Ich bin privat hier." Der Cop schaute Mike einen Moment zweifelnd an, aber wie jeder brave Polizist wusste er, dass es wohl besser war, den Mund zu halten. „Klare Sache, Lieutenant. Niemand hat Sie gesehen." Er klappte sein Notizbuch zu. „Danke." Mike nickte ihm zu und ging langsam zu seinem Auto. Hier blieb ihm nichts mehr zu tun, und Nina war in guten Händen. Mit ihm würde sie sowieso nicht nach Hause fahren wollen, dafür war sie zu wütend auf ihn, und er war überzeugt davon, dass seine Kollegen Sorge tragen würden dafür, dass sie unbeschadet heimkam. Am nächsten Morgen klingelte bei Mike schon sehr früh das Telefon. Er nahm ab und fragte: „Bist du das, Gina?" Gina war eine alte Freundin und eine der fähigsten Automechanikerinnen, die bei der Polizei arbeiteten. Er hatte sie noch in der Nacht angerufen um sie zu bitten, sofort nach Schichtbeginn einen Blick auf Ninas ausgebrannten Wagen zu werfen. Wenn Gina ihr fachliches Urteil abgab, konnte man davon ausgehen, dass es damit seine Richtigkeit hatte. Und das war ihm in diesem Fall ungeheuer wichtig. „Ja. Auftrag ausgeführt. Ich habe mir die Kiste angeschaut - oder besser gesagt, das, was davon noch übrig ist." „Und?" „Na ja, du weißt ja, dass es schwierig ist, bei einem ausgebrannten Wagen eindeutige Beweise dafür zu finden, dass daran herummanipuliert worden ist. Sicher ist jedoch, dass die Bremsen nicht funktioniert haben." „Und warum nicht?" „Ich weiß, was du hören willst, Mike, aber da kann ich dir leider nicht entgegenkommen. Es könnte sein, dass die Bremsleitungen durchgeschnitten wurden. Oder auch nicht. Es lässt sich nicht zweifelsfrei feststellen. Mehr ist dazu nicht zu sagen. Manchmal passiert so etwas auch von selbst." „Na klar. Und Schweine können fliegen. Was ist mit dem Airbag?" „Gleiche Geschichte. Es könnte sein, dass daran herummanipuliert worden ist, aber ebenso gut ist es möglich, dass es ein technisches Versagen war." „Die Bremsen und der Airbag? Ein bisschen viel Zufall auf einmal, findest du nicht auch?" „Also, im Vertrauen gesagt bin ich mir ziemlich sicher, dass jemand an der Kiste rumgefummelt hat. Aber es gibt nicht die geringste Chance, das zu beweisen." „Danke, das genügt. Einen Beweis brauche ich nicht. Ich weiß sowieso, wer dafür verantwortlich ist." Mike war überrascht, wie gefährlich ruhig seine Stimme klang. „Ach, eins noch", sagte Gina schnell. „In der Rückbank steckt eine Kugel..." „Oh", erwiderte Mike, „die stammt von mir." „Na, da frag ich wohl lieber nicht mehr weiter", gab Gina zurück und legte auf. Zehn Minuten später läutete Mike an Julien Duchesnes Wohnungstür. Er war davon ausgegangen, dass Duchesne um diese frühe Tageszeit noch zu Hause war, und er behielt recht. Julien, in einen dunkelroten Seidenmorgenmantel gehüllt,
öffnete die Tür nur einen winzigen Spalt. Mike zückte seine Dienstmarke. „Ich würde Ihnen gern ein paar Fragen stellen." „In welcher Angelegenheit?" Viel lieber würde ich dir die Zähne einschlagen, du Dreckskerl. „Es geht um Nina Dennison." Julien hob eine Augenbraue. „Mein lieber Officer, äh, Novalis, ich wüsste nicht, was Sie und ich bezüglich Miss Dennisons zu besprechen hätten. Sind Sie dienstlich hier oder privat?" „Ich bin um Miss Dennisons Sicherheit in Sorge", wich Mike aus. „Und ich bin überzeugt davon, dass das etwas ist, das Ihnen als ihrem Verlobten mindestens ebenso am Herzen liegt wie mir." Juliens Augen flackerten einen Moment lang triumphierend, fast so, als wüsste er etwas, von dem Mike keine Ahnung hatte. Doch als er dann sprach, war sein Ton höflich und fast übertrieben geduldig. „Gibt es einen Grund, weshalb ich mir Sorgen machen müsste?" „Ich vermute, Sie haben bereits gehört, dass Miss Dennison letzte Nacht einen Autounfall hatte." " „Einen Autounfall? Ist sie ... geht es ihr gut? Was ist denn passiert?" „Ach, Sie wissen es noch gar nicht?" „Nein. Ich habe den gestrigen Abend allein verbracht. Ich hatte Kopfschmerzen und habe bei meinem Telefon den Stecker rausgezogen. Aber sagen Sie doch schon, was ist mit Nina passiert?" „Nichts ist passiert. Sie ist noch einmal mit dem Leben davongekommen." „Gott sei Dank." Julien atmete wie erlöst auf. „Wenn Sie mich jetzt freundlicherweise entschuldigen wollen, ich muss sofort zu ihr." Damit wollte er Mike die Tür vor der Nase zuschlagen. Doch Mikes Fuß war schneller. „Einen Moment noch. Interessiert es Sie denn gar nicht, wie der Unfall passiert ist?" „Das, was ich wissen will, werde ich von Nina erfahren", gab Duchesne kalt zurück. „Und jetzt nehmen Sie bitte Ihren Fuß aus der Tür." „Ich werde Ihnen sagen, wie sich der Unfall ereignet hat", fuhr Mike fort, ohne Duchesnes Einwurf zu beachten. „Irgendein Schweinehund hat ihre Bremsleitungen durchgeschnitten. Und zur Sicherheit auch noch dafür gesorgt, dass sich der Airbag nicht aufbläst. Und jetzt hätte ich gern gewusst, weshalb Sie sich gestern Nachmittag an Ninas Auto zu schaffen gemacht haben, Duchesne." Alles Blut wich aus Juliens Gesicht. Er starrte Mike an, „Wollen Sie damit sagen ... Sie müssen verrückt geworden sein! Ich habe keine Veranlassung, weiter mit Ihnen zu reden." „Ich möchte eine Antwort, Duchesne. Warum haben Sie an Ninas Wagen herummanipuliert? Waren Sie es, der auf sie geschossen hat?" „Sie sind ja völlig durchgedreht, Mann", wütete Duchesne. „Besorgen Sie sich einen Haftbefehl, wenn Sie es für richtig halten. Vorher rede ich kein einziges Wort mehr mit Ihnen." „Um das zu sagen, was ich zu sagen habe, brauche ich keinen Haftbefehl, Duchesne", gab Mike zurück, und seine Augen glitzerten kalt. „Wenn Nina Dennison auch nur das Geringste zustößt, auch nur das Geringste, verstehen Sie, stehe ich wieder bei Ihnen auf der Matte. Und dann wird Ihre Tür nicht das einzige sein, was ich eintrete." Mike trat so heftig dagegen, dass die Sicherheitskette aus ihrer Verankerung sprang und die Tür aufflog. Julien machte einen Satz rückwärts. „Verlassen Sie sofort meine Wohnung!" brüllte er. „Auf der Stelle, oder ich hole die Polizei."
„Denken Sie an meine Worte", sagte Mike gefährlich leise und wandte sich zum Gehen. „Das wird Sie Ihren Kopf kosten, Freundchen", schrie Julien hinter ihm her, bevor er die Tür zuknallte, dass es nur so krachte. Mike hatte geahnt, was kommen würde, und er brauchte nicht lange zu warten. Es war noch nicht zehn Uhr, da zitierte ihn Morris Hecht bereits zu sich. Als Mike das Büro seines Vorgesetzten betrat, kam ihm die Situation so bekannt vor, dass er am liebsten laut herausgelacht hätte. Hecht war da ebenso wie Irons der denselben oder zumindest einen ganz ähnlichen Anzug trug wie am Samstag. Sein Vorgesetzter kaute stirnrunzelnd auf seiner unangezündeten Zigarre herum. Mike war beeindruckt, Irons schien es sich verbeten zu haben, dass Hecht rauchte, und Mike hätte wetten mögen, dass sein Boss stinksauer war, in seinem eigenen Büro Befehle entgegennehmen zu müssen. „Novalis, was haben Sie sich denn dabei gedacht?" herrschte Hecht ihn an, sobald er den Raum betreten hatte. Irons hob die Hand. „Lassen Sie mich machen", sagte er knapp. Irons warf Mike einen Blick zu, der eher Neugier als Ärger ausdrückte. „Lieutenant Novalis, ich möchte gern, dass Sie mir erklären, was Sie heute morgen in Julien Duchesnes Wohnung zu suchen hatten." Mike hatte sich zur Flucht nach vorn entschlossen. Er erzählte von Ninas Unfall und wessen er Julien verdächtigte. „Sind Sie sich darüber im klaren, dass man keinerlei Beweis dafür gefunden hat, dass an Miss Dennisons Wagen herummanipuliert wurde?" Gina würde er da nicht mit hineinziehen, entschied Mike. Deshalb war alles, was er sagte: „Das überrascht mich nicht. Wie auch, wo doch der BMW völlig ausgebrannt ist." „Und Sie sind also der Meinung, dass Julien Duchesne seine Hand im Spiel hatte?" „Ja." „Soso. Dann dürfte es Sie ja vielleicht interessieren, dass Julien Duchesne mit mir zusammenarbeitet." „Wie, er arbeitet für das FBI?" Mike musste sich setzen. Seine Stimme triefte vor Missbilligung. „Nein, das nicht. Aber er kooperiert mit uns im Fall Zakroff und Duchesne. Er ist in der Firma unser Mann. Das ist eine strikt vertrauliche Information, Novalis, und ich hätte Ihnen niemals etwas erzählt, wenn ich nicht das Gefühl hätte, dass Sie uns durch Ihre ständigen Einmischungsversuche alles vermasseln." „Haben Sie Duchesne durchleuchtet?" „Selbstverständlich, Seine Weste ist blütenrein." „Haben Sie sein Alibi für die Tatzeit der Schießerei überprüft?" fragte Mike hartnäckig. Irons seufzte. „Ja, es ist überprüft worden. Es gibt vierzig Augenzeugen, die bestätigen können, dass er sich zu der fraglichen Zeit in Genf in einem Nachtclub aufgehalten hat. Möchten Sie die eidesstattlichen Erklärungen sehen?" Mike schüttelte den Kopf. Irons hätte sich nicht darauf eingelassen, über Duchesnes Alibi zu diskutieren, wenn es nicht absolut wasserdicht wäre. „Gut", sagte Irons. „Hören Sie, Novalis, ich bin nicht darauf aus, Ihnen Schwierigkeiten zu machen. Vielleicht haben Sie ja mit der Dennison was laufen, was weiß denn ich. Es wäre ja nicht das erste Mal, stimmt's?" Mike starrte ihn wütend an. „Sie hatten Anweisung, sich von der Frau fernzuhalten, und die haben sie nicht
befolgt. Ich weiß nicht, welche Konsequenzen Ihr Vorgesetzter", dabei schaute er Hecht an, „aus dieser Eigenmächtigkeit zu ziehen gedenkt, aber ich kann Sie nur warnen, sich weiterhin wie ein Verrückter aufzuführen und uns dazwischenzufunken, kapiert?" Mike kam sich vor wie ein kleiner Schuljunge, der zum Direktor zitiert wurde. Er kochte vor Wut. Musste er sich von diesem aufgeblasenen Kerl derart abkanzeln lassen? Immer schön cool bleiben, sagte er sich. Du hast scho n Schlimmeres erlebt. Und das hatte er tatsächlich. Einige der Sitzungen, die er nach Jack Renzos Tod über sich hatte ergehen lassen müssen, hätten sogar die Geduld eines Heiligen auf eine harte Probe gestellt. „Also machen wir es kurz, Novalis." Irons' Gesicht war eine undurchdringliche Maske. „Ab sofort lassen Sie die Finger von Julien Duchesne. Dasselbe gilt für Nina Dennison und alles, was mit der Firma Z & D in Zusammenhang steht. Habe ich mich klar genug ausgedrückt? Ich hoffe es, denn jegliche Zuwiderhandlung würde Ihnen sehr schaden." „Ja, Sie haben sich klar ausgedrückt. Und dennoch will ich von Ihnen wissen, ob Sie und Ihre glorreiche Mannschaft in der Lage sind, Nina Dennison zu schützen." Irons machte eine ungeduldige Handbewegung und wandte sich an Hecht. „Wie Sie mit diesem Mann zurechtkommen, ist mir ein Rätsel." „Halten Sie jetzt sofort die Klappe, Novalis", schnappte Hecht. Doch Mike konnte sich nicht mehr bremsen. „Kommen Sie, Morris, das sieht doch ein Blinder, dass an der Sache Dennison etwas oberfaul ist. Sie wäre zweimal um ein Haar ums Leben gekommen, und das innerhalb von zwei Wochen!" Es war Irons, der antwortete. „Leider gibt es im Leben immer wieder unglückliche Zufälle." Das brachte Mike auf hundertachtzig. Er packte Irons an den Jackettaufschlägen und starrte auf den kleineren Mann hinunter. „Zufälle! Und wenn sich der nächste ‚Unfall' ereignet, wollen Sie mir immer noch was von Zufall erzählen?" „Novalis!" brüllte Hecht. Irons schüttelte Mikes Hände ab. „Das reicht, Novalis", sagte er kalt. „Diesmal sind Sie wirklich zu weit gegangen." Er strich sein Jackett glatt und sah Hecht an. „Hecht, jetzt sind Sie an der Reihe, oder ist es Ihnen lieber ..." Hecht wusste, was von ihm erwartet wurde. „Sie sind bis auf weiteres vom Dienst suspendiert. Novalis." Eine lange Minute verging. Dann nahm Mike seinen Revolvergürtel ab und kramte seine Dienstmarke aus seiner Hosentasche. Beides legte er in Hechts Hand. „Verdammt noch mal, Novalis. Sie wissen, dass ich nicht anders kann." Mike nickte. „Ja, und ich kann auch nicht anders." Hecht schüttelte den Kopf. „Sie sind ein guter Cop, Novalis, aber in diesem Fall sind Sie wirklich zu weit gegangen. Mir fehlt jetzt ein Mann, aber was soll ich machen? Gehen Sie nach Hause und beruhigen Sie sich. Vielleicht haben Sie ja Glück und kommen mit einer Disziplinarstrafe davon. Sie hören von mir." Mike wandte sich zum Gehen. „Ach, noch eins, Novalis." Das war Irons. „Auch privat lassen Sie komplett die Finger von der Sache, kapiert?" „Kapiert", gab Mike tonlos zurück und verließ ohne ein weiteres Wort Hechts Büro.
9. KAPITEL Erst nachdem Mike an der frischen Luft war, fiel ihm auf, dass er bereits seit dem vergangenen Nachmittag nichts mehr gegessen hatte. Er hielt auf dem Nachhauseweg vor einem Imbiss an und holte sich drei Cheeseburger. Zwei davon schlang er gleich im Auto heißhungrig hinunter, knüllte die Verpackung zusammen und warf sie auf den Rücksitz. Der dritte Burger war für Sig. Anschließend machte er mit dem Hund einen langen Spaziergang. „Gewöhn dich dran, Junge. In nächster Zeit wirst du des Öfteren in diesen Genuss kommen." Als er nach Hause zurückkam, beschloss er zu waschen. Es wurde sowieso höchste Zeit. Dann ging er wieder mit Sig spazieren. Währenddessen drehten sich seine Gedanken unablässig um Nina Dennison und Julien Duchesne. Er war sich über Nina noch immer nicht im klaren. Vielleicht war sie ja wirklich in ein Schmuggelgeschäft verwickelt. Oder Irons hatte recht, und alles war nur Zufall. Doch daran konnte er beim besten Willen nicht glauben. Und wie verhielt es sich mit Duchesne? Irons' Enthüllung, dass er mit dem FBI zusammenarbeitete, war doch ziemlich überraschend gekommen. Mike war sich sicher, dass Duchesne sich an Ninas Auto zu scharfen gemacht hatte, aber beweisen konnte er es nicht. Er fragte sich, womit sich Duchesne Irons' Vertrauen wohl erworben hatte. Wie auch immer - dem Mann war im Moment wohl nicht beizukommen. Gleichwohl misstraute Mike ihm gründlich. Nach dem Spaziergang ging er ruhelos in seinem Loft auf und ab, wobei er sich über sein weiteres Vorgehen klarzuwerden versuchte. Plötzlich fiel ihm auf, dass das kleine Licht an seinem Anrufbeantworter blinkte. Weil das Gerät zur Hälfte von herunterhängenden Farnzweigen verdeckt wurde, war es ihm bisher noch nicht aufgefallen. Ohne sich zu rühren starrte er auf das Lämpchen. Es gab keinerlei Grund anzunehmen, dass Nina ihm eine Nachricht hinterlassen hatte. Warum sollte sie? In Wirklichkeit war er wahrscheinlich 'der letzte Mensch, mit dem zu sprechen sie im Moment Lust hatte. Er hatte den verächtlichen und zutiefst verletzten Ausdruck, der letzte Nacht auf ihrem Gesicht gelegen hatte, nicht vergessen. Ihm war klar, wie sehr sie sich von seinem Misstrauen gekränkt fühlte, doch er konnte es nun mal nicht ändern. Der Schock mit Karen saß ihm noch immer tief in den Knochen. Insgeheim jedoch wusste er, dass Nina eine solche Behandlung nicht verdient hatte. Langsam ging er auf den Anrufbeantworter zu. Gab sie ihm noch einmal eine Chance? Fast konnte er ihre Stimme hören. Aus diesem Grund vielleicht war er nicht ganz so überrascht, als er sie dann tatsächlich hörte. „Hallo, Mike, hier ist Nina." Das Band knisterte leicht. „Schade, dass du nicht zu Hause bist, ich hätte gern mit dir gesprochen. Mir ist eingefallen, dass ich gestern Nacht ganz vergessen habe, dir zu danken, dass du mir das Leben gerettet hast. Das möchte ich jetzt nachholen. Also, vielen Dank." Es entstand eine kleine Pause, die angefüllt war mit Knistern und Rauschen. „Ich hätte es dir wirklich gern persönlich gesagt. Na, da kann man nichts machen. Ich fahre jetzt für ein paar Tage nach Kolumbien auf Geschäftsreise - mit Julien und Marta. Wenn du Lust hast, dich danach mal wieder mit mir zu treffen, ruf mich an. Und falls nicht, ist's auch kein Problem, ich verstehe es. Nun, wie auch immer, jedenfalls noch mal vielen Dank." Mikes Herz schlug wie ein Schmiedehammer. Allerdings wurde die Tatsache, dass Nina ihn wiedersehen wollte, fast augenblicklich von einer tiefen Angst
überschattet. Sie fuhr mit Julien Duchesne nach Kolumbien! Was konnte in diesem rauen Land, in dem Schießereien in noch weit höherem Maße an der Tagesordnung waren als hier, nicht alles passieren. Ein „Unfall" wäre dort geradezu lächerlich einfach zu arrangieren. Er wählte ihre Nummer. Ihr Anrufbeantworter schaltete sich ein. Mike wollte schon auflegen, entschied sich dann jedoch, eine Nachricht auf Band zu sprechen. Vielleicht war sie ja gerade beim Packen und hatte nur keine Lust, ans Telefon zu gehen. „Hallo, Nina, wenn du da bist, nimm bitte ab. Hier ist Mike, es ist dringend." Sie meldete sich nicht. Und nun? Das Telefon hatte nur ein einziges Mal geläutet, bevor sich der Anrufbeantworter eingeschaltet hatte. Was bedeutete, dass bereits eine Nachricht auf dem Band gewesen sein musste. Ohne lange zu überlegen, wählte Mike den Code ihrer Fernabfrage, den er beim Durchsuchen ihres Schreibtischs entdeckt und sich gemerkt hatte. Er hatte keine Schuldgefühle, eine Nachricht abzuhören, die nicht für ihn bestimmt war. Schließlich handelte es sich um einen Notfall. Das Band spulte sich zurück. „Hallo, Schwesterherz, hier ist Charley. Danke für das Päckchen, das du mir geschickt hast. Sag mir doch bitte Bescheid, was ich damit machen soll." Es piepste. Anschließend hörte Mike seine eigene Nachricht. Er legte auf. Charley war Ninas Bruder, der in Boston lebte, soviel er sich erinnerte. Mit fliegenden Fingern suchte Mike sich nun Ninas Dienstnummer heraus, wählte und verlangte nach Debbie, der Sekretärin. Die teilte ihm mit, dass Nina erst in drei Tagen wieder erreichbar wäre. „Kann ich ihr etwas ausrichten?" erkundigte sie sich entgegenkommend. „Debbie, hier ist Detective Novalis. Ich war vor ungefähr einer Woche bei Ihnen im Büro. Erinnern Sie sich?" „Aber ja." „Sie müssen mir einen Gefallen tun. Können Sie mir vielleicht sagen, welchen Flug Miss Dennison nach Kolumbien gebucht hat?" Mike vertraute darauf, dass Debbie als gesetzestreue Staatsbürgerin einem Polizisten so viel Respekt entgegenbringen würde, dass sie es nicht wagte, ihm seine Bitte abzuschlagen. Seine Hoffnung trog ihn nicht. „Flugnummer 555 über Miami", wiederholte er. „Vielen Dank, Debbie. Sie haben mir sehr geholfen." Er schaute auf die Uhr. Der planmäßige Abflug der Maschine war in weniger als einer halben Stunde. Viel Zeit hatte er nicht mehr. ,,Flug 555, schnell, welches Gate?" verlangte er von einem Gepäckträger schroff Auskunft, nachdem er auf dem Flughafen angelangt war. Der Mann schaute ihn verdutzt an. „313." Als Mike ohne ein Dankeswort davonstürmte, hörte er den Mann hinter sich herrufen: „Wirklich tolle Manieren!" Mike raste wie von wilden Hunden gehetzt durch den Terminal und legte noch einen Zahn zu, als er hörte, dass der Flug Nummer 555 zum letztenmal aufgerufen wurde. Beim Gate angelangt sah er mit Schrecken, dass die Arbeiter sich bereits daranmachten, die Gangway einzuziehen. „Halt, warten Sie einen Moment!" schrie Mike. Per Bordkartenkontrolleur hielt ihn am Ärmel fest. „Tut mir leid, Sir, die Maschine ist bereits startklar." Mike hatte sich schon während der Fahrt Gedanken gemacht, womit er das Flughafenpersonal nun, da er keine Dienstmarke mehr vorzuweisen hatte, beeindrucken könnte. Er zückte den Mitgliedsausweis der Polizistenvereinigung, dem das Foto und ein großer Stempel einen zumindest auf den ersten Blick
einigermaßen offiziellen Anstrich verlieh. Wenn man nicht genau hinschaute. Und wenn man nicht wusste, dass der einzig gültige Ausweis eines Polizisten die goldglänzende Dienstmarke war. „Philadelphia-Polizei", sagte er. „Ich brauche Ihre Hilfe. Können Sie die Maschine noch einen Augenblick aufhalten?" Der Mann machte dem Arbeiter ein Zeichen. „Sekunde noch, Carl." Dann wandte er sich Mike wieder zu. „Worum geht's?" „Mein Auftrag ist ziemlich delikat und erfordert viel Fingerspitzengefühl", tat Mike nun geheimnisvoll und setzte auf die Eitelkeit des Kontrolleurs, der mit einem eifrigen Kopfnicken zuhörte und sich seiner Wichtigkeit voll bewusst zu sein schien. „Hören Sie, an Bord dieser Maschine befind et sich eine Person, der wir die Ausreise nicht gestatten können." Als der Mann etwas blass um die Nase wurde, fügte Mike eilig hinzu: „Keine Angst. Es besteht für niemanden Gefahr. Aber die Sache muss so unauffällig wie möglich über die Bühne gehen." Nina saß gedankenversunken auf ihrem Fensterplatz in der Ersten Klasse und ließ die vergangenen Stunden hoch einmal vor ihrem geistigen Auge Revue passieren. Am Morgen im Büro hatte sie sich auf nichts konzentrieren können, weil sie die ganze Zeit mit sich ge rungen hatte, ob sie Mike anrufen sollte oder nicht. Vielleicht war sie ja gestern Nacht doch zu hart mit ihm umgesprungen. Misstrauen hin oder her - er hatte es dennoch verdient, dass sie sich wenigstens bei ihm bedankte. Es war das mindeste in Anbetracht dessen, was er für sie getan hatte. Doch nachdem sie dann schließlich nach heftigen inneren Kämpfen eine Mitteilung auf seinem Anrufbeantworter, hinterlassen hatte, begann sie sich zu fragen, ob sie die richtigen Worte gefunden hatte. Wie hatte sie geklungen? Hatte sie gestottert? Vielleicht hätte sie ihm ja lieber nichts auf Band sprechen, sondern warten sollen, bis sich eine Gelegenheit für ein persönliches Gespräch ergab? Hör auf damit, befahl sie sich schließlich. Was sie getan hatte, hatte sie getan, und es gab nichts Endgültigeres als eine einmal hinterlassene Nachricht auf einem Anrufbeantworter. Zu welchen Schlüssen sie im nachhinein auch immer gelangen würde, ihr Tun ließ sich nicht mehr rückgängig machen. Ihre Bedenken, mit Julien zu reisen, nachdem sie die Verlobung hatte platzen lassen, hatten sich glücklicherweise als grundlos herausgestellt. Er war die Aufmerksamkeit und Rücksichtnahme in Person. Mit dem Ausdruck tiefster Betroffenheit hatte er am Morgen ihrer Schilderung der Ereignisse der vergangenen Nacht gelauscht und las ihr nun jeden Wunsch von den Augen ab. „Miss Dennison?" Die Stimme der Stewardess riss Nina aus ihren Gedanken. „Ja?" Nina schaute auf. „Kann ich bitte Ihre Bordkarte noch einmal sehen?" Nina kramte den Abschnitt aus ihrer Handtasche hervor und hielt ihn der jungen Frau hin, die ihn mit einem Stirnrunzeln studierte. „Ist doch alles in Ordnung.“ sagte sie wie zu sich selbst. „Gibt es ein Problem?" erkundigte sich Julien, der neben Nina im Mittelgang saß, und lehnte sich zu ihr hinüber. „Ich muss nur etwas überprüfen, Sir." Die Stewardess präsentierte ihm ein verbindliches Lächeln, um sich gleich darauf wieder Nina zuzuwenden. „Ich weiß nicht, wie das passieren konnte, aber wir haben einen Herrn, der dieselbe Platznummer hat wie Sie", erklärte sie mit ruhiger Stimme. „Wir würden ihm ja einen anderen Platz anbieten, doch Sie sehen ja selbst, dass die Maschine vollkommen ausgebucht ist. Die Sache ist uns sehr peinlich, denn der Herr steht jetzt draußen am Gate und ist ziemlich aufgebracht." Nun sagte sie etwas von
einer möglicherweise gefälschten Bordkarte und dem Sicherheitsdienst, der nicht die Möglichkeit hätte, das zu überprüfen, ohne ... Nina hatte Mühe, den komplizierten Ausführungen der Stewardess zu folgen. Soweit sie zu verstehen glaubte, bat sie die Flugbegleiterin, ihr ihre Bordkarte für einen Moment zu überlassen. „Hier, nehmen Sie", sagte sie entgegenkommend und hielt ihr den Abschnitt hin. „Aber nein." Die Frau schaute schockiert drein. „Sie dürfen Ihre Bordkarte niemals aus der Hand geben, nicht einmal den Angestellten der Fluggesellschaft. Sie müssen sie immer bei sich tragen. Wenn ich Sie bitten dürfte, einen Moment mit mir nach draußen in den Warteraum zu kommen, dann werden wir die Angelegenheit gleich geklärt haben." „Das ist ja vollkommen lächerlich", schaltete sich Julien ein. „Nur eine reine Routinesache", gab die Stewardess mit einem gewinnenden Lächeln zurück. „Wir sind sofort zurück. Meine Kollegin bringt Ihnen in der Zwischenzeit gern noch ein Glas Champagner." Nina warf Julien einen Blick zu und zuckte die Schultern, dann folgte sie der Stewardess nach draußen in den Warteraum. Einen Moment später riss sie verdutzt die Augen auf. „Mike! Was machst du denn hier?" Er packte sie am Arm und zischte ihr zu: „Später." Dann wandte er sich an die Stewardess. „Das haben Sie wirklich prima gemacht, Janet", lobte er. „Vielen Dank." Der Bordkartenkontrolleur sprang eilig mit ängstlichem Gesicht beiseite, als Mike Nina am Arm durch den Warteraum zerrte. „Ist alles okay?" versuchte der Mann Ninas zunehmend lauter werdenden Protest zu übertönen. „Bestens." Mike packte Ninas Arm etwas fester, grinste dem Mann zu und machte, dass er so schnell wie möglich aus der Wartezone herauskam. „Mike, bist du verrückt geworden? Was soll denn das?" schrie Nina und versuchte, sich von ihm loszumachen. „Ich verpasse meinen Flug! Ich muss nach Kolumbien!" Er blieb stehen und legte ihr die Hände auf die Schultern. „Nein, musst du nicht. Du kommst mit mir. Also, los, vorwärts, mach schon." Sie starrte ihn an. „Ich habe zwar mein Gedächtnis verloren, aber nicht meinen Verstand. Mir ist vollkommen schleierhaft..." „Um Himmels willen, Nina, komm jetzt endlich." Er versuchte wieder, sie mit sich zu ziehen, doch sie sträubte sich. Freiwillig würde sie sich ohne Erklärung keinen Millimeter weiter von der Stelle bewegen, soviel war ihm klar. „Julien versucht dich umzubringen. Komm jetzt!" Er packte sie am Handgelenk und zog sie hinter sich her durch die langen Gänge des Terminals. Als sie schließlich bei seinem Wagen angelangt waren, waren sie beide vom schnellen Laufen außer Puste. „Ich will sofort wissen, was hier Sache ist, Mike", verlangte Nina kategorisch. Was ist mit Julien?" Ungeduldig versuchte sie, seine Hand abzuschütteln. „Lass mich endlich los. Du brichst mir ja noch meinen Arm." „Steig ein", drängte er. „Unterwegs erklär ich dir alles, aber lass uns erst von hier verschwinden." „Erklär es jetzt", forderte sie. „Jetzt ist keine Zeit." Er ließ ihren Arm los, und sie rieb sich das Handgelenk. „Vertraust du mir?" fragte er. Sie sah ihn an. „Ja." „Dann steig ein."
10. KAPITEL „Schnall dich an", befahl Mike, als er eine Kurve fast auf zwei Rädern nahm, und Nina gehorchte. „Ich hatte diese Woche schon einen Unfall", bemerkte sie milde, „pass auf, dass es nicht zum zweiten kommt." Als er für den Bruchteil einer Sekunde seinen Blick von der Straße nahm, um sie breit anzugrinsen, glaubte sie, ihr Herz müsse trotz all der Aufregung vor Freude zerspringen. Er sah wild aus und gefährlich - genau ihr Typ. „Hättest du vielleicht jetzt die Güte, mir zu sagen, wohin wir fahren?" „Erst mal müssen wir das Flughafengelände verlassen", Mike fluchte, als ein weißer Sedan vor ihm abrupt die Spur wechselte, „und dann suchen wir uns ein Telefon." „Wen willst du denn anrufen?" Mike bog ab und raste unter einer Bahnunterführung durch in Richtung Süden. Er ließ den Rückspiegel nicht aus den Augen. Bis jetzt hatte er noch keine Anzeichen dafür entdecken können, dass sie verfolgt wurden. Es waren erst ein paar Minuten vergangen, seit er Nina sozusagen gekidnappt hatte, doch mittlerweile musste Duchesne wohl gedämmert sein, dass an der Sache etwas faul war. Mike zweifelte keine Sekunde daran, dass er von der Stewardess umgehend eine Erklärung fordern würde. „Warum schaust du denn dauernd in den Rückspiegel? Denkst du, dass uns jemand verfolgt?" Nina drehte sich um und warf einen Blick nach hinten. „Noch nicht. Aber bald." „Mike, bitte. Klär mich jetzt sofort auf." Als er die Angst aus ihrer Stimme heraushörte, lächelte er sie zuversichtlich an. „Wie ich vorhin schon sagte: Dein Leben ist in Gefahr. Wenn du mit deinem Verlobten nach Kolumbien geflogen wärst, wärst du nicht mehr zurückgekommen.“ „Julien ist nicht mehr mein Verlobter", widersprach sie. „Aber warum sollte er mich töten wollen?" „Ist er nicht? Seit wann?" „Seit Samstagabend. Ich habe die Verlobung gelöst." Sie schnappte erschrocken nach Luft. „Aber du glaubst doch nicht, dass er mich deshalb umbringen will?" „Keine Ahnung, warum er hinter dir her ist. Wenigstens warst du so schlau, dem Kerl den Laufpass zu geben." Jetzt rückte Mike mit der Sprache heraus und erzählte Nina von seiner Beobachtung, wie Julien sich an ihrem Wagen zu schaffen gemacht hatte, und von der Vermutung, die Gina über die Bremsen und den Airbag angestellt hatte. Nina war außer sich. Es war ihr unvorstellbar, dass dieser höfliche, zuvorkommende Mann, mit dem sie seit fast einer Woche den größten Teil ihrer Tage verbracht hatte, ihr nach dem Leben trachtete. Aber sie glaubte Mike. Mehr noch, sie vertraute ihm. „Okay, auf die Polizei können wir also nicht zählen", stellte sie schließlich fest, nachdem Mike sie auch noch in die Kungelei des FBI mit Duchesne eingeweiht und ihr von seiner Suspendierung erzählt hatte. „Was nun?" „Gute Frage ... ah - was sehe ich denn da?" Mike setzte den Blinker und nahm die Auffahrt zu einem kleinen, schmuddelig wirkenden Shoppingcenter: ein Gemischtwarenladen, eine Reinigung, ein Copyshop und ein wenig einladend wirkendes chinesisches Restaurant. „Ich hoffe, du hast nicht vor, hier etwas zu essen", murmelte Nina. Mike hielt vor einer Telefonzelle. „Quatsch. Ich will, dass du Charley anrufst."
Er hatte ihr auch gestanden, ihren Anrufbeantworter abgehört zu haben und erzählte ihr von Charleys Anruf, doch sie wusste mit einem Päckchen, das sie an ihren Bruder geschickt haben sollte, nichts anzufangen. Das einzige, was sie mit unumstößlicher Sicherheit sagen konnte, war, dass sie Charley seit der Schießerei nichts geschickt hatte. Was in der Zeit davor gewesen war, wusste sie nicht. „Du denkst also, dass in dem Päckchen etwas Wichtiges drin ist?" Mike nickte. „Es ist nur eine Vermutung. Jedenfalls will ich, dass du ihn anrufst." Nina fügte sich widerspruchslos seinem Wunsch. Sie gingen zusammen in die Telefonzelle. Nach dem dritten Klingelzeichen nahm ihr Bruder ab. „Ich hab' jetzt keine Zeit für lange Erklärungen, Charley. Ich will von dir nur wissen, was in dem Paket war, das ich dir geschickt habe." Am anderen Ende der Leitung blieb es einen Moment mucksmäuschenstill. „Woher soll ich das denn wissen?" kam es dann verdutzt. „Du hast mich doch extra verdonnert, es nicht zu öffnen." Charleys Stimme klang, als sei sie nicht ganz bei Trost, aber das war ihr im Augenblick egal. „Tu mir einen Gefallen", bat sie eilig. „Mach es auf und sag mir, was drin ist." „Na gut, wenn du willst", brummte er ohne große Begeisterung. Wenig später hörte sie, wie er einen Pappkarton aufschlitzte. Anschließend raschelte Papier. Dann herrschte für eine lange Zeit Stille. „Charley?" rief sie. „Charley? Bist du noch da?" „Ja, ich bin noch da." Seine Stimme klang seltsam gepresst. „Nina, was geht hier vor?" „Erzähl mir erst, was in dem Päckchen ist", verlangte sie. „Also gut. Es ist ein großer grüner Stein, ein Edelstein - meiner Meinung nach ein Smaragd. Nina, um Gottes willen, steckst du in irgendwelchen Schwierigkeiten?" „Ich weiß nicht", flüsterte sie erschrocken. Ihr Herz klopfte bis zum Hals, und sie fühlte sich wie vor den Kopf geschlagen. Mike schaute sie gespannt an. „Charley sagt, dass ein Smaragd in dem Päckchen ist", stieß sie hervor, während sie hörte, wie ihr Bruder etwas von Unterlagen mit dem Briefkopf von Zarkroff und Duchesne erzählte. Sie lauschte einen Moment, dann sagte sie: „Warte einen Moment, Charley." Sie gab die Information an Mike weiter. Der überlegte kurz, bis sein Blick auf das Schaufenster des Copyshops nebenan fiel. Ein großes Schild wies daraufhin, dass man in dem Laden nicht nur kopieren, sondern auch faxen konnte. Daneben prangte die Faxnummer. „Sag Charley, dass er dir die Sachen umgehend zufaxen soll", sagte Mike kurz entschlossen und wies mit dem Daumen auf den Copyshop. Nina, vollkommen verwirrt, tat, was er sagte. Dann bat sie Charley, ihr den Stein möglichst detailliert zu beschreiben. „Groß. Grün. Was soll ich sonst noch dazu sagen? Ich verstehe nichts von Edelsteinen", brummte Charley unwillig. „Verdammt noch mal, Nina, was soll das denn alles?" „Ich muss mehr wissen, Charley", drängte sie. „Beschreib mir die Form. Welchen Durchmesser hat er ungefähr? Und wie viele Facetten? Zähl sie genau." Nachdem sie sich den Stein schließlich ungefähr vorstellen konnte, schärfte sie ihrem Bruder noch einmal ein, dass er das Fax sofort abschicken solle. „Ich warte darauf, Charley, es ist wirklich sehr wichtig." „Ich mache mir Sorgen, Nina. Ich bin dein Bruder, und ich liebe dich. Bitte sag mir doch, was los ist." „Ich liebe dich auch, Charley", gab Nina mit bebender Stimme zurück. „Aber
jetzt tu um Himmels willen einfach nur, worum ich dich bitte. Ich ruf dich so bald wie möglich an." Sie legte auf. Dann lag sie in Mikes Armen. Wie sie da hingekommen war, wusste sie nicht mehr; sie hatte sich einfach hineingeworfen, als sei es das natürlichste von der Welt. Sobald ihr Kopf ah seiner Brust lag, begann sie zu schluchzen. Er hielt sie ganz fest, streichelte ihr Haar und murmelte beruhigende Worte. Er wusste, dass es nicht allein das Gespräch mit ihrem Bruder gewesen war, das ihr die Fassung geraubt hatte. Die Aufregungen und die Angst der letzten beiden Wochen waren einfach zu viel für sie gewesen. Jetzt brach alles aus ihr heraus. Als sie ihm schließlich das Gesicht zuwandte, war es tränenüberströmt, und die Nase war rot und geschwollen. „Hast du ein Taschentuch?" schniefte sie. „Meine Handtasche ist im Flugzeug." Er zog aus seiner Hosentasche ein zerknülltes Etwas und reichte es ihr. Sie nahm es mit skeptischem Blick und putzte sich die Nase. „Komm", sagte er dann und nahm ihre Hand, „lass uns das Fax holen." Gerade als sie sich anschickte zu gehen, schloss Nina, von einem weißen Blitz geblendet, die Augen. Diesmal wusste sie, was es war. Sie hatte wieder eine Vision. Wie die vorangegangenen dauerte die Vision auch diesmal nicht länger als ein paar Sekunden, doch ließ sie sie im Gegensatz zu den früheren vollkommen verängstigt zurück. Mike hatte bemerkt, dass etwas nicht stimmte, und ergriff ihren Arm. „Was ist los? Hattest du wieder einen Erinnerungsblitz?" Sie brachte kein Wort heraus und starrte ihn nur an. Du musst es ihm sagen. Er wird dir nicht glauben, aber du musst es wenigstens versuchen. „Das sind keine Erinnerungen, Mike." Ihr Mund war plötzlich ganz trocken. „Ich habe es herausgefunden. Ich weiß, es klingt verrückt, aber es ist ... immer wenn ich diese Lichtblitze sehe, blicke ich nicht in die Vergangenheit, sondern in die Zukunft." „Nina, um Himmels willen, drehst du jetzt völlig durch? Wir haben weiß Gott schon genug Probleme am Hals, Honey. Ich bitte dich, komm mir jetzt bloß nicht auch noch mit irgendwelchen wilden Geschichten." Er presste ungeduldig die Kiefer aufeinander, aber er hörte ihr immerhin zu, als sie ihm nun trotz seines Unwillens ihre Visionen und das, was sich danach ereignet hatte, schilderte. Nachdem sie zum Ende gekommen war, sah er sie ungläubig an. Dann schüttelte er den Kopf. „Nein, Nina, diese Geschichten kann ich dir beim besten Willen nicht abkaufen. Ehrlich. Es ist einfach zu unwahrscheinlich. Aber darüber können wir uns später immer noch die Köpfe heiß reden, im Moment ist es völlig unwichtig. Komm jetzt." Sie rührte sich nicht von der Stelle. „Du hast mich noch gar nicht gefragt, was für eine Vision ich eben hatte", sagte sie tonlos. „Du kamst auch darin vor." Sie krallte ihre Hände in seinen Jackenaufschlag. „Mike, ich habe Angst. Ich habe dich und einen anderen Mann gesehen. Ihr lagt beide auf einem Holzfußboden und habt miteinander gerungen. Und ich hatte den Eindruck, als würde der Boden schwanken. Der Mann hat gekeucht, und er sah verzweifelt aus. Und noch etwas er hatte eine Pistole." Mike nahm ihre Hände von seinem Aufschlag und drückte sie beruhigend. Er sah ihre Angst, die ihr deutlich ins Gesicht geschrieben stand, und wollte sie ihr nehmen. „Sweetheart", sagte er zärtlich, „kannst du nicht sehen, dass das alles gar nichts bedeutet? Ich bin ein Cop, das ist ein gefährlicher Job, und ich habe dir erzählt, dass ich früher als Undercover gearbeitet habe. Wahrscheinlich machst du
dir einfach nur Sorge n um mich, aber das ist unnötig, ehrlich. Ich bin noch aus jedem Kampf als Sieger hervorgegangen." In dem Versuch, sie etwas aufzuheitern, grinste er sie an. Doch Nina ließ nicht locker. Sie schüttelte den Kopf. „Hast du dir jemals mit einem kleinen durchtrainierten Mann mit olivfarbenem Teint, buschigen Augenbrauen und kurzem schwarzen Haar einen Ringkampf geliefert?" erkundigte sie sich hartnäckig. „Am Hinterkopf ist er schon ziemlich kahl", fügte sie nach kurzer Überlegung hinzu. „Nicht, dass ich wüsste", feixte Mike, der das Ganze noch immer nicht ernst nahm. Doch dann zuckte er zusammen. Er kannte tatsächlich jemanden, auf den diese Beschreibung zutraf. „Hast du gesagt, dass er am Hinterkopf schon ziemlich kahl ist?" erkundigte er sich vorsichtig. Er zog mit dem Zeigefinger einen kleinen Kreis auf seinem Kopf. „So etwa?" Nina nickte. „Ich will verdammt sein", murmelte Mike mehr zu sich selbst. „Irons." Soweit er wusste, waren sich Nina und Irons niemals begegnet. Wie war es dann möglich, dass sie ihm eine detaillierte Beschreibung von dem FBI-Mann geben konnte? „Du weißt, wer er ist?" fragte Nina hoffnungsvoll. Ein zögerndes Lächeln huschte über ihr Gesicht. „Dann glaubst du mir also?" „Eine Menge Fragen auf einmal '... Jedenfalls hat es sich so angehört, als würdest du David Irons, den FBI-Agenten, der die Untersuchung im Fall Zakroff und Duchesne leitet, beschreiben." Mike verzog die Lippen zu einem wölfischen Grinsen. „Er mag mich zwar nicht besonders, aber dass er so weit gehen würde, den Versuch zu unternehmen, mich zu erschießen, kann ich mir nur schwer vorstellen." „Ich bin noch nicht fertig. Mike. Erinnerst du dich an die erste Vision, die ich hatte? Die beiden Männer in einem kleinen Zimmer? Der eine von beiden hat sich mittlerweile als Julien entpuppt. Und der andere war der, den ich eben auch gesehen habe. Dieser Irons." Mike starrte sie nachdenklich an. „Es könnte Sinn machen - wenn Irons und Julien zusammenarbeiten ..." Er unterbrach sich, als ihm die Bedeutung seiner Worte klar wurde. Ihm stockte fast der Atem. Hatte Irons womöglich die Seiten gewechselt? Bisher war Mike davon ausgegangen, dass Julien das FBI an der Nase herumführte, dass er nur vorgab, mit ihm zusammenzuarbeiten, um in aller Ruhe seine Pläne durchziehen zu können. Doch was war, wenn Irons und Duchesne gemeinsame Sache machten? Vielleicht steckte ja sogar Irons hinter den Mordanschlägen auf Nina? Doch warum? Die ganze Angelegenheit wurde immer undurchsichtiger. Und nicht nur das Mike bekam es langsam mit der Angst. Die Zeit verrann, und es war absehbar, dass Hecht über kurz oder lang von seinem Auftritt auf dem Flughafen erfahren und die Fahndung nach ihm einleiten würde. „Ich muss mir das alles in Ruhe durch den Kopf gehen lassen. Los, wir holen jetzt das Fax, und dann machen wir uns schleunigst vom Acker." Während Mike die westliche Vorstadt von Philadelphia durchquerte, studierte Nina das Fax, das auf drei Seiten Werteinschätzungen von fünfzehn Smaragden enthielt. Keine der Beschreibungen jedoch passte auf den Edelstein, der sich jetzt in Charleys Besitz befand. Alle Seiten trugen dasselbe Datum vom Juni dieses Jahres. Zu diesem Zeitpunkt hatte die letzte Edelsteinauktion in Kolumbien stattgefunden. „Ich vermute, dass das Beschreibungen von Steinen sind, die ich für Z & D
angekauft habe, als ich das letztemal in Kolumbien war. Aber der Smaragd, den ich Charley geschickt habe, ist nicht dabei." Ein brütendes Schweigen breitete sich aus. Mike nahm ihre Hand und drückte sie. „Wir werden schon herausfinden, was hinter der Sache steckt. Ich schwöre es dir." Nina empfand den Druck seiner Hand als tröstlich und wurde nach und nach ruhiger. Sie spekulierten herum, weshalb Nina den Smaragd an ihren Bruder geschickt haben könnte, und manche der Vermutungen entsetzten sie. Es war zum Beispiel nicht ganz von der Hand zu weisen, dass sie den Stein gestohlen haben könnte. Aber warum hätte sie ihn dann zusammen mit den Unterlagen an Charley schicken sollen? Nein, das machte keinen Sinn. Als Nina laut darüber nachdachte, dass sie den Smaragd vielleicht hatte in Sicherheit bringen wollen, erschien Mike das schon einleuchtender. Immerhin war ihre Wohnung durchsucht worden. „Möglicherweise bist du ja rein zufällig über einen Schmuggeldeal gestolpert, und der Smaragd und die Unterlagen sind die Beweise dafür. Vielleicht wolltest du dir erst über dein weiteres Vorgehen klarwerden und hast beschlossen, die Sachen solange bei deinem Bruder zu deponieren." „Die Idee gefällt mir." Ninas Gesicht hellte sich auf. Gleich darauf aber wurde es wieder düster, und sie schüttelte den Kopf. „Nein, sie hat einen Haken. Armand kann ich mir beim besten Willen nicht als Schmuggler vorstellen." „Wer sagt denn, dass er etwas davon gewusst hat?" Aber natürlich kann er etwas gewusst haben, fügte Mike in Gedanken hinzu. Ebenso wie Nina selbst. Noch immer gab es keinen stichhaltigen Beweis dafür, dass sie unschuldig war. Einzig sein Gefühl sagte ihm, dass sie mit der Sache nichts zu tun hatte. Aber das konnte ebensogut reines Wunschdenken sein. Mike fasste sich ein Herz. „Ich muss dich einfach noch einmal fragen", begann er tastend. „Es nagt schon den ganzen Tag an mir. Wohin wolltest du gestern, als du den Unfall hattest?" Sie lächelte ihn an. „Rat mal." „Keine Ahnung. Da unten sind doch nur die leerstehenden Lagerhallen ..." Dann ging ihm ein Licht auf, so hell, dass er fast geblendet die Augen schließen musste. „Du wolltest zu mir." „Du sagst es." „Und ich habe dich nach dem Unfall verdächtigt ... oh, Gott, Nina, entschuldige. Bitte entschuldige." „Schon gut, Mike. Ich habe auch schon ein paar gemeine Sachen zu dir gesagt." „Aber das ist jetzt alles vorbei." „Ja", erwiderte Nina, wobei ihr ein wohliger Schauer den Rücken hinabrieselte. „Das ist jetzt alles vorbei." Sie lächelte ihn an und fragte dann: „Aber sag doch bloß, wohin zum Teufel fahren wir eigentlich?" „Ich weiß nicht genau. Nach Hause können wir heute jedenfalls nicht. Aber mir ist da eben meine Hütte in den Kopf gekommen, in der wir übernachten könnten. Ich fahre da manchmal zum Fischen hin. Dort könnten wir uns dann auch in aller Ruhe überlegen, wie wir weiter vorgehen wollen." Er schluckte. Seine Kehle fühlte sich plötzlich ganz trocken an. Die Vorstellung, mit Nina eine Nacht in einer Hütte mitten im Wald zu verbringen, gefiel ihm von Sekunde zu Sekunde besser. Ihm war die Hütte eingefallen, weil sie unbedingt von der Straße runter mussten, wenn sie nicht Irons in die Falle gehen wollten.
„Und was ist mit Sig?" fragte Nina plötzlich. Mike wurde ganz warm ums Herz. Obwohl sie in Lebensgefahr schwebte, machte sie sich noch Gedanken um seinen Hund. „Mach dir keine Sorgen", beruhigte er sie. „Im Loft neben mir wohnt ein Künstler. Er kümmert sich um ihn." Nina verkroch sich tiefer in ihren Sitz und zog ihren Mantel enger um sich. Die vergangene Stunde hatte Ähnlichkeit gehabt mit einer wilden Fahrt auf der Achterbahn. Plötzlich spürte sie, wie ausgelaugt und durcheinander sie war. „Mike", fragte sie schließlich mit dünner Stimme, „denkst du wirklich, dass Julien mich umbringen wollte? Ich meine, schließlich war er doch mit mir verlobt." „Vielleicht stimmt das ja gar nicht. Wer weiß, ob er deine Amnesie nicht nur ausgenützt hat, um dich in irgendeiner Weise an sich zu binden, weshalb auch immer. Schließlich ist es doch seltsam, dass außer ihm kein Mensch von der Verlobung wusste." Seit Nina ihm von ihrer Ahnung - das Wort „Vision" weigerte er sich noch immer zu gebrauchen -, dass Irons in die Sache involviert sein könnte, erzählt hatte, hatte er die Dinge unablässig in seinem Kopf vor und zurück gewälzt und versucht, sich einen Reim auf die ganze Geschichte zu machen. Ganz von der Hand zu weisen war Ninas Version nicht, und Irons war nicht der erste und würde mit Sicherheit nicht der letzte Cop sein, der einem unterbezahlten und gefährlichen Polizistendasein auf diese Art und Weise zu entkommen suchte. Gerade als FBI-Mann war man vielen Verlockungen ausgesetzt, weil man eine Menge Insiderwissen über den Untergrund hatte, wo sich - wenn auch auf kriminelle Weise - viel Geld verdienen ließ. „Dann glaubst du also, dass wir gar nicht wirklich verlobt waren." „Nein, ich denke nicht." Als sie vom Highway herunterfuhren und einen kleinen Ort durchquerten, brach langsam die Dunkelheit herein. Mike hielt vor einem Supermarkt an. „Wir sollten uns besser etwas zu essen mitnehmen. In der Hütte habe ich nämlich nichts." Nina entdeckte neben dem Supermarkt eine Drogerie. „Ich kaufe dort drüben zwei Zahnbürsten, einen Kamm und noch ein paar andere Sachen." Sie verabredeten, sich nach Erledigung ihrer Einkäufe wieder beim Auto zu treffen. In weniger als einer Viertelstunde hatten sie alles eingekauft und fuhren weiter. Bald erreichten sie einen großen See. Mike bog auf einen Waldweg ab, den sie etwa eine Viertelmeile entlangholperten, bis sie vor einer kleinen verwitterten Blockhütte haltmachten. Mittlerweile war es dunkel geworden. „Geschafft." Mike atmete auf. „Es wird dir ein bisschen primitiv verkommen, aber es ist ja nur für eine Nacht." Er schloss die Tür auf und machte als erstes Feuer im Kamin. „Immerhin gibt es Strom und fließendes Wasser - aber leider nur kaltes", erklärte er. „Doch dafür haben wir einen Kamin, in ein paar Minuten wird es mollig warm sein." Nina schaute sich um. Die Hütte wirkte von innen so rustikal wie von außen. Die Wände waren ebenso wie der Fußboden aus rohem Holz gezimmert. Auf einem der Regale entdeckte sie eine Frisbeescheibe und lächelte. Keine Frage, wessen Spielzeug das war. In der Ecke stand ein Bett. Es sah weich und einladend aus. Die Küche war einfach eingerichtet - ein Kühlschrank, ein Herd mit zwei Kochplatten, eine Spüle, ein Tisch und zwei Stühle. Von einer Wand ging eine Tür ab, die in ein winziges Bad führte. Mike kam mit den Einkaufstüten herein und stellte sie auf den Tisch. Er hatte Brot, Käse, gegrillten Truthahn und Orangensaft eingekauft. Und eine Flasche
Wein. „Ich hab mir gedacht, du hast dir nach all der Aufregung einen Drink verdient", sagte er, während er den Weißwein in den Kühlschrank stellte. „Ebenso wie ich." Dann schüttete er den Inhalt von Ninas Einkaufstüte auf dem Tisch aus. Nina wurde rot bis unter die Haarwurzeln. Auf einem kleinen Häufchen lagen zwei Zahnbürsten, eine Tube Zahnpasta, Haarshampoo, ein Plastikkamm, ein Stück Seife, ein Deostift und Lippenbalsam. Und - unübersehbar in ihrer schwarzsilbernen Verpackung - ein Dutzend Kondome. Keiner von beiden sagte ein Wort. Sie standen einfach nur da und starrten auf den Tisch. Nina wäre am liebsten in den Boden versunken, so peinlich war ihr die Angelegenheit. Es wirkte so ... berechnend. Und geradeso, als wäre sie nur darauf aus, mit ihm zu schlafen. Mike brach als erster das Schweigen. „Nina, ich bin wirklich geschmeichelt'', sagte er belustigt, „aber du scheinst meine Potenz etwas zu überschätzen. Oder glaubst du, wir bleiben gleich ein paar Wochen hier?" Sie rammte ihre Fäuste in die Manteltasche und drehte ihm den Rücken zu. „Vergiss es", murmelte sie. Wenigstens war ihr jetzt warm geworden, auch wenn es vor Scham war. „Oh, nein, ich werde es bestimmt nicht vergessen." Sein Tonfall hatte sich verändert, jetzt klang seine Stimme heiser und belegt und voll süßer Versprechungen. „Schau mal, was ich hier habe." Es half alles nichts, Nina musste sich umdrehen. Mike stülpte die zweite Supermarkttüte um, und heraus fiel eine Packung Kondome. Nina starrte sie einen Moment lang an, dann brach sie in ein schallendes Lachen aus.
11.KAPITEL Ihr Kuss war zu Beginn leidenschaftlich und wild und zeugte von dem Hunger, den zu stillen sie so lange hinausgezögert hatten. Doch einen Moment später, als ihnen klar wurde, dass es Zeit war, sich gegenseitig zu erforschen, verwandelte sich der Heißhunger in Zärtlichkeit, ja fast schon Zurückhaltung. Ihre Küsse wurden zu einer stummen, süßen Zwiesprache, die angefüllt war mit Spannung und halb angsterfüllter Gewissheit, dass sie im Begriff standen, neues, unbekanntes Territorium zu betreten, und das, obwohl sie sich bereits einmal geliebt hatten. Nina legte ihren Kopf auf Mikes Schulter und schlang die Arme um seinen Hals. Er war stark wie ein Fels und wärmend wie ein Feuer in einer kalten Nacht. Sie fühlte sich gänzlich sicher und beschützt und kuschelte sich an ihn. Während seine Hände ihren Körper streichelten, stieß sie einen glücklich entspannten Seufzer aus. Doch ihre Ruhe währte nicht lange. Die Lunte war schon in Brand gesetzt, und nun begann das Feuer der Leidenschaft sie zu verzehren. Wieder hob sie ihm ihren Mund entgegen und presste sich an ihn, wobei sie den harten Beweis seines Begehrens durch ihre Jeans hindurch deutlich spüren konnte. Sie wölbte ihm ihre Hüften entgegen und unterdrückte ein Stöhnen. „Seit zwei Stunden warte ich schon auf diesen Moment", flüsterte er in ihr Haar. Sie zog sich etwas zurück und schaute zu ihm auf in der Gewissheit, in seinen Augen dasselbe Verlangen zu entdecken, das sie verspürte. „Ich schon seit einer ganzen Woche." Als er ihr ihren Pullover über den Kopf ziehen wollte, hielt sie seine Hand fest. „Nein. Lass mich. Bitte." Sie führte ihn zum Bett und zog ihn aus. Ihre Finger zitterten, als sie Schnürsenkel und Reißverschluss öffnete, doch es fiel weder ihm noch ihr auf. Mike zwang sich dazu, stillzuhalten und die Flamme seines eigenen Begehrens so klein wie möglich zu halten. Er lechzte danach, sie schnell, hart und wild zu nehmen, stattdessen jedoch ließ er sie das Tempo bestimmen; er spürte, dass er es war, der ihr die Freiheit gab zu tun, wonach es sie verlangte. Was Nina anbetraf, hatte die äußere Welt in dem Moment, in dem sie Mikes Reißverschluss aufzog, aufgehört zu existieren. Selbst der Tumult der Begierde in ihrem Innern war für einen Moment verstummt. Mit einem Gefühl, das fast schon an Ehrfurcht grenzte, entfernte sie die letzten Hüllen von Mikes Körper. Dann schaute sie ihn an, erschüttert von seiner Schönheit: das scharfgeschnittene, kühne Gesicht, die Muskelstränge an seinen Armen und Beinen, die breite Brust und den flachen Bauch, seine stolze Männlichkeit, die sich ihr imponierend entgegenhob. Ihre Hände strichen über seinen Körper, sanft und zögerlich noch, fast wagte sie es nicht, ihn zu berühren. Von neuem erinnerte sie sich seiner Konturen, an die Struktur der Haut, den Verlauf der Muskelstränge. Sie berührte Mikes flache Brustwarzen und genoss die Reaktion auf ihre Berührung. Sie wurden hart. Und plötzlich wollte sie mehr; sie brannte darauf, sein Verlangen zu steigern, und ihn dabei zu beobachten, wie sich sein Begehren auf seinen Gesichtszügen malte. Sie beugte sich über ihn, und ihr Haar fiel auf seine Brust. Sie umkreiste seine Brustwarzen mit ihrer Zungenspitze, nahm sie zwischen die Zähne und biss mit zärtlicher Härte hinein. Er stöhnte leise, rutschte unruhig hin und her und versuchte, sie von sich wegzuziehen, aber sie hielt seine Handgelenke fest und presste sie mit ihren Händen an die Matratze. Langsam, fast wie unter Zwang wanderten ihre feuchten, heißen Lippen tiefer, über seine Rippen hinweg, den flachen Bauch hinunter, eine Spur feuriger Küsse
hinter sich herziehend. Er hielt den Atem an und erschauerte vor Lust, als sie mit der Zunge die Kuppe seiner Männlichkeit sanft streichelte und mit ihren Händen den samtweichen, pulsierenden Schaft umschloss. Mikes Kehle entrang sich ein raues Stöhnen. Ihre Berührung war scheu, fast unsicher, und doch war er noch niemals in seinem Leben so nah daran gewesen, vollkommen die Kontrolle über seinen Körper zu verlieren. In Erwiderung auf Mikes stoßweise Atemzüge, sein Keuchen und Stöhnen breitete sich in Ninas Unterleib eine Hitze aus, die sie zu verzehren drohte. Während sie sich dem berauschenden Gefühl der Macht, ihn erregen zu können, hingab, bedeckte sie ihn mit verzehrenden Küssen, wobei sich ihre Nasenlöcher anfüllten mit dem Duft seiner Männlichkeit, dem Urgeruch der geschlechtlichen Lust. Er stammelte ihren Namen, flehte sie an aufzuhören, flehte sie an niemals mehr aufzuhören. Und als sie ihn schließlich in den Mund nahm, hatte er das Gefühl, jeden Moment zu explodieren. Hitzewellen durchfluteten sie, während sie ihm die köstlichsten Wonnen bereitete. Sie brauchte nicht zu fragen, was ihn erregte, sie brauchte sich nur zu erinnern, wie es sich anfühlte, wenn Mike an ihren Knospen knabberte und saugte. Sein Mund würde heiß und nass sein, fest und doch sanft würden seine Lippen und seine Zunge sie in höchste Höhen emporschleudern, und ebenso liebte sie jetzt Mike mit ihren Lippen und ihrer Zunge. Die Hitze in ihrem Schoß breitete sich weiter aus und setzte ihren ganzen Körper in Rammen. Dunkel war sie sich bewusst, dass ihre Hüften im wilden Rhythmus der Liebe hin und her zuckten, dass sie angefüllt war bis obenhin mit einem Begehren, das sie zu verschlingen drohte ... „Nina", stieß Mike zwischen zusammengepressten Zähnen hervor. „Sweetheart, ich kann's nicht mehr aushalten." Sanft schob er ihren Kopf von sich weg. Er zitterte, nur einen winzigen Moment noch, und es wäre zu spät gewesen. Verwirrt, fast wie trunken von ihrer eigenen Leidenschaft und seinem Geschmack stand sie auf. Ihre Beine waren wacklig. „Bleib wo du bist", befahl sie ihm. Rasch zog sie sich aus, wobei sie sich über jede Sekunde, die sie ihr Tun von ihm fernhielt, ärgerte/Als sie nackt war, ging sie ungeniert zum Tisch, um etwas zu holen. Sie ging zum Bett zurück und riss mit den Zähnen die Verpackung des Kondoms auf. Mike führte ihr die Hand, als sie es ihm überstreifte. Er wartete, erregt und bereit, und zum ersten Mal wurde sich Nina der Anstrengung, die es ihn kosten musste, sich zurückzuhalten, bewusst. „Wie willst du mich nehmen, Nina?" fragte er heiser. Egal, ganz egal, Hauptsache, es ist für immer, schrie ihr Herz. Sie kletterte aufs Bett und kniete sich mit gespreizten Beinen über ihn und nahm ihn mit einem Aufstöhnen in sich auf. Sie erschauerte von Kopf bis Fuß, während sie spürte, wie er sie Stück für Stück auszufüllen begann, und ihre Knospen wurden hart. Sie hatte den Kopf in den Nacken geworfen, die Augen geschlossen und den Mund leicht geöffnet in Erwartung der Lustgefühle, die gleich auf sie einstürmen würden. Lustgefühle, wie sich gleich darauf erwies, die so stark waren, dass sie fast schmerzten. „Vergnüg dich auf mir", flüsterte er rau. Sie ritt ihn mit wilder Leidenschaft, mit fliegendem Haar, den Körper in Schweiß gebadet. Ihre Brüste wippten, und ihre Augen, obschon weit geöffnet, sahen nichts von dem, was außen vor sich ging. Sie war ganz und gar in sich versunken, nur konzentriert auf die Empfindungen, die sie überfluteten und schier
zu überwältigen drohten. Mike fahndete mit der Fingerspitze nach dem versteckten geheimsten Punkt ihres Begehrens, fand und massierte ihn, bis sie wild den Kopf hin und her warf und zu keuchen begann, weil sie glaubte, das Übermaß an Lust nicht mehr ertragen zu können. Sie wurde schneller und schneller, und als Mike spürte, wie sie sich im Vorgefühl des kommenden Höhepunktes zusammenkrampfte, spornte er sie an. Ihre angespannten Gesichtszüge wurden weich, und sie ließ sich fallen, stürzte mit einem himmelhochjauchzenden Schrei kopfüber ins Bodenlose. Nachdem er sich gewiss sein konnte, dass sie Erlösung gefunden hatte, bereitete auch er den süßen Folterqualen, denen sie ihn ausgesetzt hatte, endlich ein Ende und ließ sich mit einem rauen Aufschrei los. Hinterher lagen sie beide auf der Seite, so dass sie sich anschauen konnten. So lagen sie ohne zu sprechen, die Münder nah beieinander, während sich ihre Lippen ab und zu leicht, fast wie zufällig zu einem sanften Kuss trafen. Als Nina am nächsten Morgen erwachte, war die Sonne bereits aufgegangen. Das Feuer im Kamin war niedergebrannt, und es war kalt in der Hütte. Nina rieb sich die Augen, gähnte und streckte sich, da sah sie Mike aus dem Bad kommen. Er war bereits angezogen und frottierte sich sein nasses Haar. „Es geht doch nichts über eine kalte Dusche am Morgen", sagte er gutgelaunt. „Außerdem wird es höchste Zeit, dass wir was zwischen die Zähne kriegen. Gestern sind wir ja nicht mehr zum Essen gekommen." Mike hatte bereits Frühstück gemacht und setzte sich nun an den Tisch. Nina gab sich einen Ruck und sagte dem schönen warmen Bett adieu. In Ermangelung eines Bademantels wickelte sie sich in eine Decke und gesellte sich zu Mike an den Frühstückstisch. Obwohl sie nicht daran gewöhnt war, am Morgen gleich als erstes Käse-Truthahn-Sandwiches zu essen, lief ihr das Wasser im Mund zusammen. „Mhm, ist das lecker." Während sie sich heißhungrig wie die Wölfe über das Frühstück hermachten, entwickelte Mike Nina seinen Plan. Sie mussten so bald wie möglich von hier fort, da allgemein bekannt war, dass Mike sich des Öfteren in der Blockhütte aufhielt. Wenn es nicht gelänge, ihn zu Hause auf zutreiben, würde man sich sehr bald wieder daran erinnern. Und die Gefahr, dass Irons - falls er wirklich in der Sache mit drinsteckte - witterte, dass Mike ihm auf die Schliche gekommen war, war groß. Deshalb musste Mike als erstes telefonieren, bevor sie sich wieder auf die Straße wagten. Die Sache mit Irons erforderte viel Fingerspitzengefühl, und er war sich gar nicht sicher, ob man ihm überhaupt Glauben schenken würde. „Keine Ahnung, wie ich Hecht beibringen soll, dass Irons und Duchesne womöglich unter einer Decke stecken", sagte Mike stirnrunzelnd. „Alles, was wir in der Hand haben, ist mein Verdacht und deine angebliche ,Vision'." „Sie war nicht angeblich, sondern real", korrigierte Nina mit Nachdruck. „Na ja, mag ja sein", gab Mike wenig überzeugt zurück. Die Aussicht, Morris Hecht mit einer derart vagen Sache zu konfrontieren, behagte ihm gar nicht. Aber es musste sein. Mike stand auf und schlüpfte in seine Lederjacke. „Ich bin bald zurück. Mach dich in der Zwischenzeit startklar, damit wir gleich fahren können." Er küsste ihr einen Krümel aus dem Mundwinkel, strich ihr zärtlich übers Haar und machte sich dann auf den Weg. Nina stopfte die Überreste des Frühstücks in eine Plastiktüte und ging dann unter die Dusche. Gerade als sie das Wasser wieder abgedreht hatte, hörte sie einen Wagen vorfahren. Mike war schon zurück. Sie schnappte sich ein Handtuch,
trocknete sich ab, wickelte sich ein und ging ihm entgegen. In diesem Moment flog die Tür auf. Auf der Schwelle stand ein gediegen aussehender dunkelhaariger Mann in einem grauen Mantel. In der Hand hielt er einen Revolver. Nina erkannte ihn sofort. „Irons." Er hob eine Augenbraue und lächelte dünn. „Aha, ich sehe, Sie wissen, wer ich bin. Entschuldigen Sie bitte, dass ich gezwungen war, die Tür einzutreten. Offensichtlich", sein Blick wanderte über ihren noch nassen Körper, den das Handtuch nur sehr unzureichend bedeckte, „haben Sie mich nicht erwartet." „Wo ist Mike?" Ihre Stimme zitterte, obwohl sie versucht hatte, sie möglichst fest klingen zu lassen. Sie hatte Angst, und das gefährliche Glitzern in Irons' Augen ließ keinen Zweifel daran, dass ihre Angst berechtigt war. Aber noch mehr als um sich selbst sorgte sie sich um Mike. „Was haben Sie mit ihm gemacht?" „Lassen Sie die Fragerei", befahl Irons kalt. „Sie halten ab sofort den Mund, es sei denn, ich frage Sie etwas." Sie wollte protestieren, nahm aber gleich darauf wieder Abstand davon. „So ist es brav." Irons nickte zufrieden. „Ich kann Ihnen nur raten zu tun, was ich sage. Andernfalls könnte es höchst ungemütlich für Sie werden. So, und jetzt ziehen Sie sich an. Aber ein bisschen dalli, wenn ich bitten darf." Sie biss sich auf die Lippen, drehte ihm den Rücken zu und sammelte ihre Kleider zusammen, während er sie mit dem Revolver in Schach hielt. Gepeinigt von Wut, Angst und Scham zog sie sich an. Das einzige, womit sie sich tröstete, war der Gedanke, dass Irons mit Sicherheit im Moment an nichts weniger interessiert war als an ihrer Nacktheit; er hatte andere Sorgen. Nachdem sie fertig war, dirigierte er sie mit dem Revolver nach draußen zu seinem Wagen. „Machen Sie die hintere Tür auf und steigen Sie ein", befahl er. Ihr blieb nichts als zu gehorchen. Er zog aus seiner Manteltasche ein Paar Handschellen und warf sie ihr in den Schoß. „Los, schließen Sie die eine davon am Haltegriff an und die andere an Ihrem Handgelenk. Ob am Unken oder am rechten dürfen Sie sich selbst aussuchen." Er lächelte bösartig. Nina tat, was er verlangte, und demonstrierte ihm anschließend auf seinen Wunsch hin, dass das Schloss auch wirklich eingerastet war. „Braves Kind. Und nun legen Sie sich auf den Rücksitz." Er schlug die Tür zu und stieg dann ebenfalls ein. „Sie bleiben liegen und geben keinen Mucks von sich, ist das klar?" Nachdem Nina genickt hatte, drehte er den Zündschlüssel herum, der Motor heulte auf, als er Gas gab, dann legte er den ersten Gang ein und holperte den unebenen Waldweg hinunter. Während er zur Blockhütte zurückfuhr, zermarterte sich Mike das Hirn über sein weiteres Vorgehen. Es war ihm nicht gelungen, Hecht zu erwischen. Angeblich saß er in einer Besprechung. Was Mike der Telefonistin, die gefragt hatte, ob er eine Nachricht zu hinterlassen wünsche, nicht ganz abgenommen hatte. Nun, wie auch immer, ihm blieb wohl nichts anderes übrig als ... Als Mikes Blick auf die offenstehende Tür der Blockhütte fiel, war er schneller als der Blitz aus dem Auto. Er vergaß alle Vorsicht, wobei ihm völlig entfiel, dass er keine Waffe mehr bei sich trug. Seine einzige Sorge galt Nina. Wenn ihr nun etwas zugestoßen war? Gleich darauf wurde ihm klar, dass sie gekidnappt worden war. Die eingetretene Tür und die leere Hütte sprachen für sich. Und jetzt? Mike musste sich erst einmal setzen. Die Gedanken wirbelten in
seinem Kopf wild durche inander. Was um Himmels willen sollte er jetzt unternehmen? Wie sollte er Hecht, falls er ihn überhaupt zu fassen bekam, davon überzeugen, dass Nina gekidnappt worden war und dass Irons in der Sache mit drinsteckte und ... Entmutigt sackte Mike in sich zusammen. Es war aussichtslos. Die Sache war viel zu verwickelt, und Hecht würde ihn schlicht und einfach für verrückt erklären. Wo hatten sie Nina bloß hingebracht? Nach Philadelphia? Verdammt. Die sprichwörtliche Stecknadel im Heuhaufen würde leichter zu finden sein. Mike stand auf, rannte ruhelos wie ein gefangenes Tier im Käfig auf und ab, blieb dann wieder stehen und schlug hilflos mit den Fäusten gegen die Wand. Er war nicht lange weggewesen, keinesfalls länger als eine halbe Stunde. Was bedeutete, dass sie keinen großen Vorsprung haben konnten. Aber er hatte keinerlei Anhaltspunkte dafür, in welche Richtung sie gefahren waren. Oder vielleicht doch? Jetzt fängst du an durchzudrehen. So sehr er sich gegen den Gedanken, der ihm plötzlich durch den Kopf geschossen war, auch wehrte, er ließ sich nicht mehr verdrängen. Sollte ihm tatsächlich Ninas „Vision" den Weg weisen? Hatte sie nicht erzählt, dass sie ihn mit Irons hatte kämpfen sehen? Mike lachte rau auf. Würde er Irons erst zwischen die Finger bekommen, würde er diesem Schweinehund einen Kampf tiefem, bei dem ihm Hören und Sehen verging, soviel war sicher. Und wenn Nina recht hatte mit ihrer „Vision" konnte es nicht mehr lange dauern. Was hatte sie sonst noch gesagt? Er meinte fast, ihre Stimme zu hören: Ihr ringt miteinander auf einem Bretterfußboden. Das war nicht sehr hilfreich. Bretterfußböden gab es jede Menge auf der Welt. Vielleicht würde der Kampf ja hier in der Blockhütte stattfinden. Und ich hatte den Eindruck, als würde der Boden schwanken. Vielleicht ein Aufzug? Und dann kam Mike eine andere von Ninas Visionen in den Sinn, die, in der sie Julien an Bord eines Segelschiffes gesehen hatte. Natürlich! Der kleine schaukelnde Raum war eine Bootskajüte. Sie hatten Nina auf Juliens Boot gebracht. Mike war bereits halb aus der Tür, ehe ihm bewusst wurde, was geschehen war. Er begann an Ninas Visionen zu glauben, wie irrational auch immer das sein mochte. Er raste in die kleine Ortschaft zurück und stoppte mit quietschenden Reifen vor dem Telefo nhäuschen, von dem aus er vorhin Morris Hecht zu erreichen versucht hatte. Er hatte noch eine Karte zum Ausspielen. Wieder wählte er die Nummer der Polizeiwache. Diesmal verlangte er nach Officer Simms. Der Grünschnabel, dessen Bekanntschaft er in der Nacht, in der er Nina gefunden hatte, gemacht hatte, schien ihm ein geeigneter Ansprechpartner zu sein. Er machte einen hellwachen Eindruck. Simms kam an den Apparat. „Sagen Sie jetzt erst einmal gar nichts, Simms", sagte Mike eilig. „Hören, Sie einfach nur zu. Hier spricht Mike Novalis. Ich brauche jetzt unbedingt Ihre Hilfe. Und Nina Dennison auch - Sie erinnern sich doch?" Simms pfiff überrascht durch die Zähne. „Wo zum Teufel sind Sie, Lieutenant? Hecht und seine Leute krempeln die ganze Stadt nach Ihnen um." „Wo ich im Moment bin, spielt keine Rolle. Wollen Sie mir nun helfen oder nicht?" „Sie sind vom Dienst suspendiert, Mann. Da würde ich doch Kopf und Kragen riskieren, das wissen Sie ganz genau." „Ja, das weiß ich. Und - wie steht's?" Simms hüllte sich für einige Zeit in Schweigen. Mike zwang sich, ihm
ausreichend Zeit zum Überlegen zu geben, obwohl Ninas Leben an einem seidenen Faden hing. Endlich kam Simms Stimme zurück. „Was soll ich für Sie tun, Lieutenant?" fragte er.
12. KAPITEL Es war wohl die Taubheit in ihrem Arm, die Nina weckte. Ihre Schulter schien in Flammen zu stehen, während sie ihr Handgelenk gar nicht mehr spürte. Sie hing noch immer an den Handschellen in Irons Auto. Hinter ihren Schläfen tobten rasende Kopfschmerzen, und ihr war schwindlig. Im ersten Augenblick nach ihrem Erwachen war sie verwirrt gewesen, und es hatte einen Moment gedauert, ehe sie sich darüber klargeworden war, wo sie sich befand. Sie machte die Augen wieder zu und versuchte, sich so ruhig wie möglich zu verhalten, weil sie nicht wollte, dass Irons wusste, dass sie wach war. Dann hörte sie eine bekannte Stimme, die jedoch nicht die von Irons war. Überrascht riss sie die Augen auf und starrte auf einen blonden Hinterkopf. Julien! Irons musste ihn unterwegs irgendwo eingesammelt haben, während sie geschlafen hatte. Nun versuchte sie zu verstehen, worüber die beiden Männer redeten. Es hatte fast den Anschein, als seien sie in einen Streit verwickelt, denn Irons hob jetzt die Stimme. „Ausgerechnet du willst mir erzählen, was richtig ist. Dabei warst du es doch, der uns diese ganze Suppe eingebrockt und dann plötzlich Schiss bekommen hat." „Menschenskind, wie oft soll ich denn noch sagen, dass es mir leid tut?" fragte Julien eingeschnappt. „Ich habe mir eben alles noch mal in Ruhe durch den Kopf gehen lassen. Es gibt wirklich überhaupt keinen Grund, plötzlich auszusteigen. Die Hauptsache ist, dass wir sie erst mal los sind, dann können wir weitermachen wie bisher. Niemand hat etwas gegen uns in der Hand." „Du bist wirklich der größte Idiot, der mir je zu Gesicht gekommen ist. Wenn du damals auf mich gehört hättest, als ich dich gewarnt habe, wäre alles nicht so gekommen. Aber du hast dich ja geweigert. Und jetzt sage ich dir; dass das Spiel vorerst aus ist, und du willst es wieder nicht zur Kenntnis nehmen." Irons gab ein verächtliches Schnauben von sich. „Darf ich dich im übrigen daran erinnern, dass ich es war, der die Sache letztendlich in die Hand genommen hat?" Julien schwieg lange Zeit. Dann fragte er schließlich: „Dann warst du es also, der sie angerufen hat?" Irons stieß einen schweren, ungeduldigen Seufzer aus. „Meine Güte, natürlich wer denn sonst? So, und jetzt wäre es mir ganz lieb, wenn du damit aufhören würdest, wir sind nämlich gleich da." Ninas Schläfen pochten. Sie fühlte sich noch immer verwirrt, und in ihren Ohren war ein Rauschen, das sich fast anhörte wie weit entferntes Stimmengewirr. Während sie zuschaute, wie dicke Regentropfen auf der Scheibe zerplatzten, begann plötzlich alles vor ihren Augen zu verschwimmen, und es wurde um sie herum dunkler, als befände sie sich in einem erleuchteten Zimmer, in dem jemand den Dimmer langsam herunterdreht. Sie versuchte ihren Blick wieder scharf zu stellen, doch es gelang ihr nicht. War es wirklich so neblig, oder bildete sie sich das bloß ein? Ziellos schweiften ihre Gedanken umher, einhergehend mit Erinnerungen an die vergangenen Tage. Sie hörte Martas Stimme: Vergiss nicht, deinen hübschen grünen Regenmantel einzupacken. In Kolumbien hat die Regenzeit schon eingesetzt. Plötzlich wunderte sich Nina, woher Marta ihren grünen Mantel kannte. Sie hatte ihn sich doch erst an dem Tag, als sie angeschossen wurde, gekauft, und da war Marta mit Julien in der Schweiz gewesen. Und sie wusste ganz ge nau, dass sie ihn in der vergangenen Woche nicht angehabt hatte. Und erwähnt hatte sie ihn auch nicht. In Ninas Hirn verlagerte sich etwas. Sie konnte es fast klicken hören, wie eine
Türklinke, die heruntergedrückt wurde. Und dann war ihre Erinnerung wieder da. Die Gefahr, in der sie schwebte, ihre Schmerzen und selbst Mike waren für einen Augenblick angesichts der ungeheuren Freude und Erleichterung, die sie jetzt überfiel, vergessen. Zwei Wochen lang war sie bei Dunkelheit in einem fremden Haus herumgestolpert. Jetzt endlich war sie wieder daheim, und alles war hell erleuchtet. Sie ließ ihr vergangenes Leben vor ihrem geistigen Auge Revue passieren, erinnerte sich daran, wie sie zusammen mit ihrem Vater als kleines Mädchen den Weihnachtsbaum vor dem Rockefeller Center bestaunt hatte, wie Charley ihr das Autofahren beigebracht hatte oder wie sie ihre Mutter beim Begräbnis ihres Vaters zu trösten versucht hatte. Und jetzt plötzlich fiel ihr auch wieder ein, warum sie Charley den Smaragd geschickt hatte. Sie hatte ihn in Julien Duchesnes Büro gefunden. An einem Nachmittag vor zwei Wochen war sie in sein Zimmer gegangen, um sich eine Speziallupe zu holen ... Sie öffnete die Schreibtischschublade und stieß nach längerem Herumkramen auf den Smaragd. Ohne groß nachzudenken nahm sie ihn heraus und betrachtete ihn. Er war riesig. Dem rohen Schliff nach zu urteilen stammte er aus Kolumbien und war selbst in diesem grob geschliffenen Zustand gut und gern mehrere hunderttausend Dollar wert. Ihre Gedanken rasten. Sie wusste, dass es das vernünftigste wäre, den Edelstein einfach wieder zurückzulegen und so zu tun, als wüsste sie von nichts. Schließlich war es allein Juliens Angelegenheit und ging sie nichts an. Aber die Sache kam ihr komisch vor. Irgend etwas stimmte hier nicht. Für die Firma war der Stein nicht angekauft worden, das wüsste sie, und dann läge er nicht hier in Juliens Schreibtisch, sondern im Safe. Und Julien hatte im Moment nicht das Geld für solche Käufe, es war bei Z & D ein offenes Geheimnis, dass er zur Zeit bis zum Hals in finanziellen Schwierigkeiten steckte, und seine Laune war dementsprechend. Er tyrannisierte die gesamte Belegschaft und war unerträglich. Auf ihrer letzten gemeinsamen Geschäftsreise war er für Stunden verschwunden, noch nervöser als sonst. Nina hatte ihn im Verdacht, Kokain zu schnupfen, und nahm sich vor, mit Armand darüber zu reden. Doch Juliens Problem waren nicht Drogen. Der Smaragd brannte in ihrer Hand. Alles deutete in eine Richtung: Er hatte den Edelstein geschmuggelt. Und es war wahrscheinlich nicht der erste und einzige. Julien fungierte als Kurier für Schmuggelware, die dann später auf dem Schwarzmarkt verkauft werden sollte. Das erklärte auch sein etwas merkwürdiges Verhalten auf dem Flughafen, über das sie sich gewundert hatte. Nina wusste nicht, was sie tun sollte. Armand ins Vertrauen ziehen? Und wenn er nun ebenfalls keine reine Weste hatte? Vor diesem Gedanken schreckte sie zurück, denn sie mochte die Zakroffs sehr. Sie überlegte hin und her und beschloss schließlich, den Stein mit nach Hause zu nehmen, bis sie eine Lösung gefunden hätte. Julien würde erst in ein paar Tagen zurückkommen, bis dahin hatte sie Zeit, sich etwas zu überlegen. Zu Hause bekam sie es mit der Angst zu tun. Hier bei ihr konnte der Stein nicht bleiben. Es war zu gefährlich. Also packte sie ihn kurz entschlossen ein und schickte ihn an Charley, zusammen mit einer Fotokopie der letzten Käufe in Kolumbien für den Fall, dass Julien vorhatte, die Unterlagen zu fälschen ... „Wir sind da." Irons Stimme riss sie aus ihren Gedanken. Das Auto hielt. Sie waren am Meer - irgendwo an der Küste von New Jersey, vermutete Nina.
Es war kalt und regnerisch, und das Wasser war ebenso grau wie der Himmel. Als sie aus dem Wagen stieg, fuhr ihr ein rauer Herbstwind in die steifen Knochen. Sie konnte kaum stehen, so unsicher fühlte sie sich nach der langen Fahrt in der unbequemen Stellung auf den Beinen. Sie sah einen Yachthafen. Dutzende von Segelbooten und Motoryachten schaukelten am Kai im Wasser und wirkten im Nieselregen wie verloren. „Sie ist nicht hier." Julien schaute sich suchend auf dem Parkplatz um. „Vielleicht ist sie ja schon an Bord. Los, komm. Und Sie auch." Irons schloss die Handschellen auf und zerrte Nina aus dem Wagen. Draußen versetzte er ihr einen Stoß, so dass sie vorwärts taumelte. Sie ging eine Rampe hinunter, die auf das Schwimmdock führte. Es schaukelte unter ihren Füßen. Während sie vorsichtig einen Fuß vor den anderen setzte, fiel auch das letzte Puzzleteilchen in ihrem Gedächtnis an den richtigen Platz. Es war spät in der Nacht gewesen, als Nina einen hysterischen Anruf von Marta, Juliens Schwester, die sie nur flüchtig kannte, erhalten hatte. Sie weinte und flehte um Hilfe, doch worum es ging, mochte sie am Telefon nicht sagen. Nina war zwar überrascht, dass Marta sich mit ihren Problemen ausgerechnet an sie wandte, hatte es jedoch nicht übers Herz gebracht, ihr die Bitte, sich mit ihr zu treffen, abzuschlagen. Juliens Schwester holte Nina von zu Hause ab und fuhr mit ihr in Richtung Hafenviertel, angeblich zu einem Lokal, das dort neu aufgemacht hatte. Je dunkler die Gegend wurde, desto spanischer kam Nina die ganze Angelegenheit vor. Als sie schließlich in Gedanken eine Verbindung, zwischen Julien, dem Smaragd und Marta herstellte, geriet sie in Panik. Sie schaute sich um, und als ihr nur verlassene Fabrikhallen mit zerbrochenen oder blinden Fensterscheiben entgegenstarrten, wurde ihr schlagartig klar, dass sie in eine Falle gegangen war. Als Marta vor einer Kurve mit der Geschwindigkeit etwas heruntergehen musste, passte sie die Gelegenheit ab, riss halb außer sich vor Angst die Autotür auf und ließ sich hinausfallen. Das letzte, was sie hörte, waren kreischende Bremsen und ein rückwärts fahrendes Auto. Das letzte, was sie sah, war Martas hassverzerrtes Gesicht. In der Hand hielt sie einen Revolver. So war es also gewesen. Marta hatte auf sie geschossen. Offensichtlich war sie in die Schmuggelsache mitverwickelt. Jetzt erinnerte Nina sich wieder, wie nahe sich Julien und seine Schwester standen. Sie klebten schon fast aneinander, und Marta war ihr immer als der dominantere Teil des Duos erschienen. Die kleine Prozession hatte nun das Ende des Docks erreicht. Ninas Kopf war leer vor Angst. Sie befürchtete, dass Irons, der hinter ihr ging, sie in den Rücken schießen und ganz einfach ins Wasser werfen würde. Doch stattdessen packte er sie jetzt grob am Arm und zerrte sie vorwärts. „Los, an Bord mit Ihnen", schnauzte er sie an, während sie sah, wie Julien eilig auf das Boot kletterte. „Marta? Marta?" rief Julien und sah sich suchend um, dann wandte er sich alarmiert an Irons, der mittlerweile ebenfalls an Bord gekommen war. „Sie ist nicht hier." Irons schubste Nina auf eine Holzbank und zuckte die Schultern. „Na und? Wir können die Angelegenheit auch ohne sie erledigen." „Ich will aber nicht ohne sie ablegen." Juliens Tonfall klang trotzig wie der eines kleinen Jungen. „Wir haben jetzt keine Zeit mehr, uns darum zu kümmern, wo sie steckt. Nimm dich zusammen." Der drohende Unterton in Irons' Stimme war unüberhörbar, und obwohl sein Revolverlauf noch immer auf Nina zeigte, wurde Julien blass. Jetzt bist du an der Reihe mit Angst haben, dachte Nina trotz ihrer aussichtslosen Lage schadenfroh. Die Allianz schien auseinanderzubröckeln.
Irons machte das Boot los, und Julien hisste wortlos die Segel, die Lippen hart aufeinander gepresst. Als Ninas Blick auf Juliens Profil fiel, das Haar sturmzerzaust und im Hintergrund das weiße Segel, erinnerte sie sich plötzlich an die Vision, die sie gehabt hatte. „Lass die Segel unten, du Idiot", fuhr Irons Julien jetzt ungehalten an. „Ist alles viel zu umständlich. Wozu hat das Ding einen Motor? Wir unternehmen jetzt einen kleinen Bootsspaziergang", richtete er gleich darauf das Wort an Nina. Er lächelte böse. „Ich hoffe, er macht Ihnen Spaß, denn es wird Ihr letzter sein." Ninas Kehle fühlte sich an wie zugeschnürt, aber sie setzte alles daran, ihre Fassung zu wahren. Sie war fest entschlossen, den beiden Männern ihre Angst nicht zu zeigen. Das Vergnügen, sie weinend um ihr Leben betteln zu sehen, würde sie ihnen nicht zuteil werden lassen. Julien befolgte Irons' Befehl und startete den Motor. Dann steuerte er das Boot hinaus aufs offene Meer. Der Wind frischte kräftig auf und zerrte an Ninas Haar. Je weiter sie hinauskamen, desto stärker wurde der Seegang; das Schiff tanzte wie eine Nussschale auf den Wellen. Irons schnitt eine Grimasse und stellte den Mantelkragen hoch. „Und das macht manchen Leuten auch noch Spaß. Jesus!" Nina warf einen Blick zurück zur Küste, die sich weiter und weiter entfernte. Ihre Augen brannten vom Wind, der ihr die Haarsträhnen ins Gesicht peitschte. Sie war überzeugt davon, dass Julien und Irons sie töten und ins Meer werfen würden, sobald die Entfernung vom Strand genügend weit wäre. Doch seltsamerweise hatte sie plötzlich keine Angst mehr. Jetzt, im Angesicht des Todes, war das einzige, was sie mit abgrundtiefem Bedauern erfüllte, der Gedanke, dass sie und Mike kein gemeinsames Leben haben würden. Warum nur hatte sie ihm nie gesagt, dass sie ihn liebte? Jetzt bereute sie es. Sie schaute überrascht auf. Während sie ihren Gedanken nachhing, schienen sich Julian und Irons in einen neuen Streit verwickelt zu haben. Sie standen sich gegenüber und schrien sich an. Julien wirkte regelrecht hysterisch. „Was soll das heißen, dass wir abhauen müssen?" brüllte er Irons an. „Hast du noch immer nicht kapiert, dass es aus ist? Du hast mit deiner Durchdreherei alles kaputtgemacht. Die Sache ist zu heiß, über kurz oder lang würde man uns beiden auf die Schliche kommen." „Wir könnten es aussitzen. Wenn wir uns eine Weile ruhig verhalten, haben wir vielleicht Glück." Juliens Zorn schien verraucht, nun klang seine Stimme fast flehend. „Viel zu riskant. Ich setze doch nicht alles aufs Spiel, was wir uns im Lauf der Zeit beiseite geschafft haben. Wir haben eine Menge Geld gemacht; wenn wir jetzt untertauchen, können wir leben wie die Fürsten." „Und was wird aus Marta?" Julien sah plötzlich ganz leidend aus. „Du machst dir wirklich verdammt viele Sorgen um deine Schwester", knurrte Irons. „Langsam fange ich schon an, mir Gedanken über eure Beziehung zu machen. Kann es vielleicht sein, dass ihr euch ein bisschen näher steht, als es bei Bruder und Schwester der Fall sein sollte?" fragte er lauernd, wobei er die Mundwinkel zu einem anzüglichen Grinsen verzog. Mit einem unartikulierten Schrei setzte Julien zum Sprung an, um sich auf Irons zu stürzen. Der aber war schneller. Geistesgegenwärtig schwenkte er den Revolver, mit dem er Nina die ganze Zeit über in Schach gehalten hatte, herum und richtete ihn auf Julien. „Teufel noch mal, was schert's mich, ob du's mit deiner Schwester treibst oder nicht", sagte er geringschätzig. „Und sie sieht ja gar nicht mal so schlecht aus, wenn man auf den biestigen Typ steht. Aber ich will dir eins sagen, du Idiot, sie
legt dich aufs Kreuz, so schnell kannst du gar nicht schauen, und du merkst es nicht mal." „Das würde sie nie tun", stieß Julien hervor. „Nicht Marta! Niemals!" Irons lachte abfällig. „So? Und warum ist sie dann kürzlich, als du in der Schweiz warst, zu mir gekommen, um mir anzubieten, dich auszubooten, wenn ich mit ihr halbe-halbe mache? Na, was glaubst du wohl, du armseliger Trottel, hm?" Die Bodenluke quietschte und schob sich langsam nach oben. Einen Moment später kletterte Mike Novalis heraus. Nina stockte der Atem, und ihr Herz begann wild zu klopfen. Doch der jähe Hoffnungsfunke zerstob so rasch, wie er aufgeflammt war. Mike hielt die Hände hinter dem Kopf verschränkt. Hinter ihm kam Marta Duchesne zum Vorschein, in der Hand einen Revolver. „Glaub ihm kein Wort, Julien", sagte sie mit schneidender Stimme. Julien starrte sie entgeistert an. „Marta! Wo kommst du denn her? Gott sei Dank, dass du da bist. Irons hat mich gezwungen, ohne dich in See zu stechen." Ohne ihn weiter zu beachten, richtete sie das Wort an Irons: „Hast du wirklich geglaubt, mich aufs Kreuz legen und mit den Smaragden abhauen zu können, du miese Ratte?" „Wie kommst du denn auf diese Idee?" gab Irons ruhig zurück. „Wir hätten dich schon noch geholt." „Da bin ich mir sicher." Sie lachte ein böses Lachen. „Und durch drei geteilt statt durch zwei, stimmt's? Aber vielleicht hattest du ja vor, Julien auch noch loszuwerden und alles für dich allein zu behalten?" Irons stand unbewegt wie eine Statue, aber sie musste die Antwort an seinem Gesicht abgelesen haben. „Das dachte ich mir. Nun, ist das nicht eine interessante Situation? Zwischen uns gibt's anscheinend wirklich kein Ehrgefühl." Juliens Blicke hingen an Martas Lippen. „Ist das wahr? Wolltest du wirklich mit ihm ... schlafen?" „Zerbrich dir darüber nicht den Kopf, nimm ihm lieber die Pistole ab" „Aber ..." „Los, mach schon!" schrie sie ihn an. Marta und Irons starrten sich hasserfüllt an. Juliens Blicke flatterten gehetzt zwischen den beiden hin und her wie verschreckte Vögel, er biss sich auf die Lippen, während er um eine Entscheidung rang. Die drei Verschwörer waren so mit sich selbst beschäftigt, dass sie Mike und Nina vergessen zu haben schienen, doch Nina war sich darüber im klaren, dass sich eine der beiden Pistolen sofort wieder auf sie richten würde, wenn sie es wagen sollte, sich auch nur einen Zentimeter von der Stelle zu bewegen. Sie schaute Mike an. Das vom Regen dicht an den Kopf geklatschte volle schwarze Haar bewirkte, dass die Konturen seiner Wangenknochen und sein energisches Kinn scharf hervortraten. In dem fahlen Licht wirkten seine Augen fast schwarz. Und als er ihr dieses schurkische Grinsen präsentierte, das sie so sehr liebte, machte ihr Herz einen Satz. Sie wusste, dass er nicht aufgeben würde. In diesem Moment wurde das Boot, das nur noch langsam im Leerlauf dahintuckerte, plötzlich von einer großen Welle erfasst und schwankte bedrohlich. Marta kam ins Straucheln, was Mike geistesgegenwärtig ausnutzte, um ihr den Ellbogen mit aller Kraft in den Magen zu rammen. Fast zeitgleich damit stürzte er sich mit einem Hechtsprung auf Irons und zerrte ihn zu Boden. Aus Irons' Pistole löste sich ein Schuss. Die beiden Männer rollten über das Deck, wobei jeder verzweifelt versuchte, den Revolver in seinen Besitz zu bringen. Marta machte ein paar taumelnde Schritte vorwärts und richtete ihre Waffe auf
Irons und Mike. In diesem Moment löste sich Julien aus seiner Erstarrung und warf sich zwischen die beiden Kämpfenden in der Absicht, Irons zu Hilfe zu eilen. „Geh aus dem Weg!" kreischte Marta wie von Sinnen. In ihren Augen loderte der blanke Hass. In dieser Sekunde wusste Nina, dass sie schießen würde, egal wen der Schuss traf. Wie aus heiterem Himmel entsann Nina sich plötzlich einer weiteren Vision. Die Stahlkassette mit den Smaragden darin! Plötzlich fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Mit zitternden Händen tastete Nina unter ihren Sitz, unter dem Irons seinen Diplomatenkoffer abgestellt hatte. Sie hatte keine Zweifel, was sich in dem Koffer befand. Rasch ließ sie das Schloss aufschnappen und fasste hinein. Ihre Hände stießen auf etwas Kaltes, Glattes. Da war sie. Nina zog die Kassette heraus und sprang auf. „Stop!" schrie sie und hielt die Kassette übers Dollbord. „Sofort aufhören, oder ich lasse die Kassette ins Wasser fallen." Vier Augenpaare richteten sich auf sie. Julien fasste sich als erster und sprang auf. „Gib sie her!" Auch Irons' entsetzte Blicke hingen an der Kassette, so dass es Mike mühelos gelang, ihm die Waffe zu entwinden. Zwei harte Schläge mit dem Revolverknauf auf den Kopf des FBI-Mannes taten ihre Wirkung. Irons verdrehte die Augen und versank in Bewusstlosigkeit. In die sem Moment sah Nina mit Entsetzen, dass Marta ihre Waffe auf Mikes Hinterkopf richtete. Instinktiv riss sie den Arm hoch, und die Kassette flog durch die Luft. In demselben Moment, in dem sich der Schuss löste, prallte sie gegen Martas Schulter. Marta wurde herumgerissen, taumelte und stürzte gegen das Dollbord. Mit halb über den Rand hängendem Oberkörper blieb sie dort liegen, als eine große Welle über das Boot hinwegschwappte. Marta schlug mit den Armen um sich, versuchte nach dem Geländer der Reling zu greifen, bekam es aber nicht rechtzeitig zu fassen und wurde über Bord gespült. Julien versuchte im letzten Augenblick die Kassette, die auf dem schlüpfrigen Dollbord lag, abzufangen, doch es gelang ihm nicht mehr. Mit einem schrillen Schrei stürzte er sich kopfüber über die Reling, und Nina war sich nicht sicher, ob er der Kassette nachsprang oder seiner Schwester. Mike lag auf dem Bretterboden des Decks; um seinen Kopf herum hatte sich eine große Lache aus Blut und Wasser gebildet. Aber er lebte; seine Augen waren offen, und er umklammerte seine rechte Schulter. Nina kniete sich neben ihn hin. Er grinste matt und sagte: „Meine Heldin." „Oh, Mike. Ich hatte solche Angst. Ich habe schon geglaubt, ich würde dich nie wiedersehen." Sie warf einen besorgten Blick auf seine Schulter. „Ist es schlimm?" „Nicht lebensgefährlich. Du hast mir das Leben gerettet. Marta hätte mir ohne mit der Wimper zu zucken das Hirn aus dem Schädel gepustet, da bin ich mir sicher. Ich habe ein Heidenglück, mit so einer hübschen kleinen Schusswunde davonzukommen, und das habe ich allein dir zu verdanken. Komm, schau doch nicht so traurig." Sie schaffte ein zittriges Lächeln. . „Das gefällt mir schon besser." Er warf einen Blick auf Irons, der noch immer bewusstlos war. „Besser, wir machen ihn unschädlich, bevor er wieder zu sich kommt." Auf Mikes Anweisung hin hob sie die Handschellen, die Irons bei dem Ringkampf aus der Manteltasche geglitten waren, auf und fesselte damit seine
Handgelenke aneinander. Dann sah sie Mike wieder an, der noch immer am Boden lag. Die Leichenblasse seines Gesichts versetzte sie in Alarmbereitschaft. Er hatte eine Menge Blut verloren. „Der Funk “, brachte er nun mühsam heraus. „Schau nach, das Schiff muss irgendwo ein Funkgerät haben; Wir müssen Hilfe holen." Es dauerte keine Minute, da hatte Nina das Funkgerät entdeckt. „Kennst du dich damit aus?" Sie schüttelte den Kopf, und er erklärte ihr, was sie tun sollte. Nachdem sie den Kanal geöffnet hatte, sprach sie ins Mikrofon: „Mayday, mayday, hier ist das Segelboot Diamantina, ausgelaufen vom Haven Marina, Long Beach Island. Wir haben einen Notfall. Ich wiederhole - einen Notfall. Zwei Leute sind über Bord gegangen, ein dritter Mann hat eine Schussverletzung, die dringend ärztlicher Hilfe bedarf. Wir befinden uns auf einer Position etwa drei Meilen vom Strand entfernt. Bitte schicken Sie Hilfe." Nina wiederholte die Meldung dreimal, dann suchte sie eilig nach einem Verbandskasten. Nachdem sie ihn gefunden hatte, zog sie Mike das Hemd aus und versuchte, das Blut zu stillen, so gut es ging. Die Kugel war tief in die Schulter eingedrungen und hatte ein kreisrundes, schwarzes Loch hinterlassen. Als sie es sah, zuckte sie zusammen. Am liebsten hätte sie laut aufgeschrien. Er merkte, wie erschrocken sie war. „Mach dir keine Sorgen, es ist nur eine Fleischwunde", versuchte er sie zu beruhigen. Nachdem sie die Wunde desinfiziert und einen Verband angelegt hatte, bat er sie, sich neben ihn auf den Boden zu setzen. „Damit ich meinen Kopf in deinen Schoß legen kann." Sie ließ sich neben ihm nieder und hob vorsichtig seinen Kopf an und legte ihn in ihren Schoß. Mike entspannte sich mit einem tiefen Seufzer und schloss die Augen. Und dann begann er zu reden. Er redete sich alles, was ihm die Jahre über fast das Herz abgedrückt und die Luft zum Atmen geraubt hatte, von der Seele. Nichts blieb ungesagt; er wollte, er musste seine Schuld, sein Versagen, seine Besessenheit und seine Gutgläubigkeit zur Sprache bringen, hier und jetzt und in der Hoffnung, dann endlich Ruhe finden zu können. Trotz seiner Schmerzen fühlte sich Mike so klar im Kopf wie seit Jahren nicht mehr. Er stellte sich einem Schmerz, der viel älter war als der gegenwärtige, und er spürte, dass er diesmal als Sieger aus diesem Kampf hervorgehe n und nicht wie bisher als der Geschlagene zurückbleiben würde. Als er mit seiner Erzählung bei der Stelle angelangt war, wo Jack, von Kugeln zerfetzt, den Kopf in seinem, Mikes, Schoß, verblutete, wurde er von einem rauen Schluchzen geschüttelt, dem Einhalt zu gebieten ihm lange Zeit nicht gelang. Nina drückte tröstlich seine Hand, und er spürte die Stärke, die von ihr ausging. Eine Stärke, die ihm, wenn er Glück hatte, helfen konnte, sich von seinem zerstörerischen Selbsthass zu befreien und noch einmal einen Neuanfang zu wagen. Als er stockend am Ende angelangt war, schloss er erschöpft die Augen. „Jetzt weißt du alles, Nina. Und das ist der Grund dafür, weshalb ich dir lange Zeit nicht trauen konnte. Karen hat mich benützt und verraten, und Ich hatte Angst, dass es mir mit dir ebenso wie mit ihr ergehen könnte." Seine Stimme sank zu einem Flüstern herab. „Aber das war nicht fair dir gegenüber. Es tut mir leid, Nina. „Mike, ich muss dir auch etwas erzählen." Er öffnete die Augen und sah zu ihr hoch. ,,Meine Erinnerung ist wieder da." „Ach, ja?" Er war mittlerweile so schwach, dass er kaum mehr sprechen konnte.
„Das ist... gut." „Alles ist okay, Mike. Es besteht kein Grund zur Beunruhigung. Ich habe nichts Unrechtes getan. Aber du hattest recht, mir zu misstrauen, es hätte ja sein können, dass ich in der Sache mit drinstecke. Woher hättest du wissen sollen, dass es nicht so ist? Mach dir keine Vorwürfe ..." Sie brach ab, weil sie sah, dass seine Lippen mühsam Worte formten. „Nina", flüsterte er nun, „Liebe ... ich ... liebe dich." „Ich weiß", wisperte sie und strich ihm das nasse Haar aus der Stirn, „ich liebe dich auch." Dann hörte sie das Brummen des Rettungs hubschraubers. Als sie wieder auf Mike schaute, sah sie, dass er ohnmächtig geworden war.
EPILOG Mike erwachte in einem Zimmer voller Blumen. Das erste, was er sah, war Nina. Sobald sie merkte, dass er wach war, stand sie von ihrem Stuhl auf und beugte sich über ihn. Er riss die Augen auf und tat so, als würde er krampfhaft versuc hen, sich zu erinnern. „Wer sind Sie?" Stöhnend legte er die Hand an die Stirn und zwinkerte ihr zu. „Wo bin ich? Und wer bin ich überhaupt?" „Oh, nein", schrie sie, im Gesicht einen Ausdruck tiefster Missbilligung, „tu mir bloß das nicht an!" Er grinste sie an. „Nur ein kleiner Aprilscherz." Sie stampfte mit dem Fuß auf dem Boden auf. „Mach das nie wieder mit mir", warnte sie. „Und nebenbei gesagt haben wir jetzt Oktober - nur für den Fall, dass du dich auch nicht mehr an den Monat erinnerst." „Tut mir leid, Sweetheart, aber ich konnte einfach nicht widerstehen. Doch ich verspreche dir hoch und heilig, dass ich mit deiner Amnesie nie mehr meine Scherze treiben werde." „Na gut." Sie lächelte, und in ihren Augen lag ein Glanz, den er noch nie vorher gesehen hatte. Mike hätte sie jetzt gern in den Arm genommen, aber sein linker war nicht zu gebrauchen, also konnte er sie lediglich mit dem rechten zu sich aufs Bett ziehen. Womit sie sich gern zufriedengab. Er atmete ihren Duft tief ein, ein Gemisch aus Seife und Sandelholz, und er spürte, wie sie an seinem Hals lächelte. Ihre Brüste drückten sich köstlich weich und voll an seinen Brustkorb, und eins ihrer langen Beine ruhte an seinem Oberschenkel. Erstaunt registrierte er, dass sein Körper umgehend auf die Berührung mit ihrem reagierte, gerade so, als hätte es weder einen erbitterten Kampf noch eine Schießerei gegeben. Hier, im Krankenhaus? wunderte er sich, wobei er wusste, dass die Antwort, soweit es Nina anbetraf, lautete: Jederzeit, überall. Und doch sollte er wohl wenigstens so tun, als sei er ein seriöser Patient. „Vielleicht besser, du stehst mal kurz auf", bemerkte er bedauernd, „sonst bin ich noch gezwungen, das Bitte-nicht-stören-Schild an die Tür zuhängen." Nina setzte sich auf und warf das Haar zurück. Ihre Augen funkelten mutwillig. „Mir persönlich würde das ja nichts ausmachen, aber die Ärzte sagen, du solltest es einige Zeit nicht... hm ... übertreiben. Du musst erst wieder zu Kräften kommen." „Schon passiert", murmelte er, und Nina entschied nach einem kurzen Blick auf eine bestimmte Stelle unter dem dünnen Laken, lieber so zu tun, als verstünde sie nicht, wovon er sprach. Sie zog sich einen Stuhl heran, setzte sich neben das Bett und nahm seine Hand. „Schätze, für ein bisschen Händchenhalten bist du kräftig genug." „Wenn du wieder zu mir aufs Bett kommst, zeig ich dir, wie kräftig ich bin." Sie schüttelte den Kopf. „Ein andermal", sagte sie, und in ihren Augen lag ein süßes Versprechen. Dann erzählte sie ihm, dass sie Sig zu sich in die Wohnung geholt hatte. Er hatte sich häuslich bei ihr eingerichtet, das Bett mit Beschlag belegt und das bereits ruinierte Sofakissen endgültig in seine Einzelbestandteile zerlegt. Irons saß in Haft, bis man ihm seine Verbindungen zu den Schmugglerkreisen in Kolumbien nachgewiesen haben würde, musste man sich damit zufrieden geben, ihn wegen Kidnappings und Mordversuch vor Gericht zu bringen. Aber die
Chancen dafür, dass er für all seine Vergehen würde büßen müssen, standen gut. FBI und DEA gingen zahlreichen Hinweisen und Spuren nach, die mit Irons in Verbindung standen. „Und die Duchesnes?" fragte Mike. „Nichts. Offiziell heißt es: ,Im Meer vermisst'." Wahrscheinlich haben die Haie sie gefressen, dachte Mike, und es tat ihm nicht leid um die beiden. Sie wären gewissenlos genug gewesen, Nina ohne mit der Wimper zu zucken aus dem Weg zu räumen, wenn man sie nur gelassen hätte. Er lachte hart auf. „Und die Kassette ist nicht gefunden worden?" Als sie den Kopf schüttelte, fuhr er fort: „Wenn das erst publik wird, wird jeder Taucher entlang der Ostküste sein Glück versuchen." „Die Taucher von der Küstenwache sind noch immer zugange, aber die Strömung ist so stark, dass es wohl wenig Hoffnung gibt, dass die Kassette jemals gefunden wird. Und irgendwie ist das ja vielleicht ganz gut so." Die traurige Ironie der Geschichte war, dass alles, was ihr passiert war, von der Schießerei angefangen, unnötig gewesen war. Nina hatte überhaupt nicht genug über die Schmuggelei gewusst, als dass sie dem Trio hätte gefährlich werden können. Doch offensichtlich hatte einer der drei, wahrscheinlich Julien, Panik bekommen. Ganz genau würde man das alles erst erfahren, wenn Irons auspackte, Mike deutete mit dem Daumen auf die Blumen. „Wo kommt das ganze Zeug eigentlich her?" „Das meiste stammt von Armand. Die ganze Sache war auch für ihn ein Alptraum, aber jetzt ist es jedenfalls einwandfrei erwiesen, dass er absolut nichts damit zu tun hatte." Nina erzählte Mike nun, dass Armand ihr angeboten hatte, an Juliens Stelle mit in die Firma einzusteigen, weil er sich zu alt fühlte, das Geschäft allein zu leiten. Nina hatte freudig zugesagt. Mike nahm ihre Hand und zog sie an die Lippen. „Herzlichen Glückwunsch." Er lächelte sie an. „Schätze, du wirst das Kind schon schaukeln. Wenigstens müsst Ihr das Logo nicht ändern. Z und D - Zakroff und Dennison." Nina schaute ihn an und erinnerte sich daran, wie sie ihn im Krankenhaus das erste Mal gesehen hatte. Noch immer schrie sein Haar nach einem Frisör, und er brauchte eine Rasur. Sie studierte die Linien, die sich tief auf seiner Stirn eingegraben hatten - das Produkt jahrelangen Nachdenkens. Oh, es gab keinen Zweifel: Mike Novalis war arrogant, hitzköpfig und eigenwillig. Aber er war auch mitreißend, freundlich, mutig und leidenschaftlich. Und sie wusste genau, dass er der Frau, der er einmal sein Herz geschenkt hatte, bis zum Ende seiner Tage treu bleiben würde. Sie liebte ihn. Und Liebe war es, die sie dazu bewegte, ihm das Wertvollste anzubieten, was sie anzubieten hatte. „Offen gestanden bin ich mit dem Logo nach allem, was geschehen ist, überhaupt nicht glücklich. Ich habe schon daran gedacht, es zu ändern." Sie holte tief Luft und war überrascht über ihren Mut. „Was hältst du von Z und N? Für Zakroff und Novalis?" Er rührte sich nicht, sondern schaute sie nur an. Ihr Herzschlag setzte fast aus. Sie war gesprungen - würde er ihr folgen? Oder hatte sie sich geirrt? „Soll das heißen ..." Er räusperte sich und begann den Satz noch einmal von vorn. „Soll das heißen, dass du mich heiraten willst?" Seine Stimme war fast nur ein Flüstern, aber sie war angefüllt mit aufkeimender Hoffnung, und Nina entdeckte in seinen Augen das gleiche Verlangen und die gleiche Sehnsucht, die sie auch in sich selbst verspürte. „Wenn du mir einen Heiratsantrag machst." Er zog sie eng an sich. „Willst du", fragte er sie zwischen zwei Küssen, „mich
heiraten?" „Ja", erwiderte sie atemlos. „Hast du das auch vorausgesehen? Wusstest du, dass ich dich eines Tages fragen würde, ob du mich heiraten willst?" „Nein. Nicht so wie die anderen Visionen jedenfalls. Das ist ein für allemal vorbei, ich habe mein Gedächtnis wieder, und Visionen werde ich bestimmt nie mehr haben. Ich weiß nicht, woher ich es wusste, aber irgendwie war ich mir sicher." „Aber du willst doch hoffentlich keinen Smaragd als Verlobungsring?" Sie schaute in seine azurblauen Augen und erwiderte verträumt: „Ach, nein, ein Saphir würde mir eigentlich besser gefallen. Falls ich einen finde, der genau die richtige Farbe hat." „Was immer du sagst, Sweetheart", sagte er und zog sie wieder an sich. „Du bist die Expertin. Aber du musst dir ganz sicher sein, dass er dir auch wirklich gefällt, denn du wirst ihn dein ganzes Leben lang tragen." - ENDE -
Verführt in Las Vegas
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Tiffany Duo 85 – 93/96
Gescannt von suzi_kay Korrigiert von almut k.
PROLOG Sie war ziemlich spät dran. Wahrscheinlich wird es heute wieder sehr heiß werden, dachte sie, als sie die kleine Seitenstraße hinuntereilte. Caitlin Cassidy hasste es, sich zu verspäten. An diesem Morgen schien es ihr, als hätten sich sämtliche feindlichen Mächte gegen sie verschworen. Zuerst hatte der Wecker nicht geklingelt. Erst als ein Hund in der Nachbarschaft bellte, war sie aus ihren Träumen gerissen worden. Da war es bereits zwanzig Minuten über die Zeit. Damit war der Tag eigentlich schon gelaufen. Als sie dann endlich im Auto saß, gab der Motor merkwürdig stotternde Geräusche von sich. Er klang so, als würde er demnächst den Geist aufgeben. Während sie durch die verschlafenen Straßen von Phoenix fuhr, betete sie, dass der Wagen sie wenigstens bis zu ihrem Geschäft bringen würde. Mit knapper Mühe schaffte sie es bis dorthin und parkte das Auto in einer Seitenstraße. Caitlin sog die warme, fast schwüle Morgenluft tief ein. Genieß es, solange es noch nicht zu heiß ist, dachte sie bei sich. Der Frühling in Phoenix hielt sich erfahrungsgemäß nicht lange auf. Bald würde die Hitze kaum auszuhalten sein. Wenn es so heiß werden würde, wie sie befürchtete, war das schlecht fürs Geschäft. Nur wenige Kunden hatten dann Lust, bummeln zu gehen. Ihre hohen Absätze hämmerten ein Stakkato auf das Pflaster. Normalerweise wäre sie hier gar nicht entlanggegangen, aber seit einer Woche waren Straßenarbeiten im Gange, die sie am direkten Zugang zu ihrem Laden hinderten. Daher hatte sie ihren Wagen auch drei Blocks entfernt parken müssen. Dies hier war eine Abkürzung zwischen zwei Fußgängerzonen. Caitlin mochte die Ecke nicht besonders, aber ihre Verspätung ließ ihr keine andere Wahl. Dabei hatte sie immer noch viel Zeit, bis sie das Geschäft für ihre Kunden öffnen würde. Doch sie liebte es nun einmal, zwei Stunden vor dem offiziellen Beginn in ihr kleines, aber exklusives Dessousgeschäft zu kommen. Schließlich gab es immer etwas zu tun. Sie musste sich um die Buchhaltung kümmern, eben eingetroffene Ware begutachten oder in die Glasvitrinen einordnen. Manchmal sah sie sich auch einfach nur im Laden um und freute sic h an dem, was sie geschaffen hatte. Seduction - Verführung , so hatte sie ihr Geschäft genannt, und es war Caitlins ganzer Stolz. Mitten in ihre Gedanken hinein erklangen plötzlich Stimmen. Sie hatten die Schärfe eines Fleischmessers und waren laut und ärgerlich. Zuerst vernahm Caitlin nur ihren Klang, ohne zu begreifen, worum es bei der Auseinandersetzung ging. Aber der Tonfall war eindeutig. Dies war keine normale Unterhaltung. Caitlin wurde es plötzlich flau im Magen. Instinktiv versteckte sie sich im Eingang eines alten Klinkerbaus. Dann schob sie sich mit dem Rücken zur Mauer auf Zehenspitzen ein paar Meter weiter. Als sie näher kam, fiel ihr auf, dass nur eine der beiden Stimmen ärgerlich klang. Die andere, eine hohe, winselnde Stimme, ließ Todesangst erahnen. Caitlin hielt gespannt den Atem an, als sie vorsichtig um die Ecke lugte. Nur wenige Meter entfernt von ihr, im Schatten eines hohen Gebäudes, standen zwei Männer. Der eine von ihnen, er war größer und auch besser gekleidet, hatte ihr den Rücken zugewandt. Ihm gehörte die ärgerliche Stimme. „Du hast wohl geglaubt, du könntest mir entwischen, du kleine Ratte!" Der andere zitterte am ganzen Leibe. Er war weiß wie eine Wand. „Nein, ich schwöre es, bei meinem Leben. Ich wollte Sie nicht betrügen. Bitte, glauben Sie mir doch! Ich bin ein ehrlicher Mensch!" „Ehrlich?" Sein Gegenüber lachte verächtlich, „Das sagt ein Mann, der seinen Boss
abzocken wollte?" Die Atmosphäre war zum Zerreißen gespannt. Caitlin konnte die Angst des kleineren Mannes fast körperlich spüren. Das Herz schlug ihr bis zum Halse. „Es wird nicht noch einmal vorkommen. Ich schwöre Ihnen beim Grab meiner Mutter, dass es nicht noch mal passieren wird. Ich habe Schulden, verstehen Sie, und mit diesen Burschen ist nicht gut Kirschen essen." „Ach, ja? Du glaubst also, sie sind noch gefährlicher als ich?" Der kleine Mann nickte eifrig. „Oh, ja, ganz bestimmt." „Das bezweifle ich." „Wenn ich es Ihnen doch sage! Das sind Tiere, keine Menschen!" Seine Stimme klang schrill. Es geschah so schnell, dass Caitlin vollkommen überrascht wurde. Der Mann in dem teuren Anzug zog etwas metallisch Glitzerndes aus seiner Hosentasche. Dann erklang ein leises Pop. Das Gesicht des kleinen Mannes drückte pures Entsetzen aus. Er erstarrte kurz, sank auf die Knie und fiel nach vorn, wie eine Marionette, deren Schnüre durchgeschnitten worden waren. Blut floss aus seiner Brust aufs Pflaster. „Sie ... Sie ... haben mich umgebracht." Das waren seine letzten Worte. Sein Mörder schaute ihm beim Sterben zu. Es schien, als würde es ihm Vergnügen bereiten, das Leben aus dem kleinen Mann herausfließen zu sehen. „Wie ich bereits sagte, ich bezweifle, dass irgend jemand gefährlicher sein könnte als ich. Jetzt wirst du niemanden mehr linken können, stimmt's, du kleine Ratte?" Er lachte laut auf, es hatte etwas Irres. Schockiert und zu Tode erschrocken sog Caitlin scharf die Luft ein. Der Mörder wandte sich urplötzlich um und schaute in ihre Richtung. Wie ein Wolf, der die Gegenwart eines Gegners witterte. Hastig zog sie sich zurück und wünschte mit aller Kraft, sie wäre unsichtbar. Als sie endlich wieder auf der Straße war, rannte sie um ihr Leben. Nur eine Frage hämmerte ihr durch den Kopf. Hatte er sie gesehen?
1. KAPITEL „Nun beeil dich schon, Graham. Der Captain will uns sprechen!" Detective Graham Redhawk stieß einen tiefen Seufzer aus. Er war erst seit drei Minuten im Büro und hatte nicht einmal Zeit gehabt, sich das zu machen, was sein Kollege Sergeant Terrence Farantino ziemlich übertrieben als Kaffee bezeichnete. Anstatt der Aufforderung nachzukommen, goss er sich betont langsam einen Becher der braunen Flüssigkeit ein. Er hasste es, wenn jemand ihm Druck zu machen versuchte. Das passierte in seinem Beruf sowieso viel zu oft. „Kann das nicht bis später warten?" fragte er mürrisch. Ben Jeffers sah ihn seufzend an. Es war ihm schleierhaft, wie sein Kollege dieses Gebräu trinken konnte. Aber das war nicht das einzige, was ihn an Graham Redhawk irritierte. Trotz der sieben Jahre, die sie jetzt schon zusammen arbeiteten, blieb der Mann ihm ein Rätsel. Doch eines stand fest - einen besseren Partner hätte er wohl nirgendwo finden können. „Du kannst den Kaffee ja mit hineinnehmen", schlug er vor und öffnete seinem Partner betont höflich die Tür. „Der Captain hat schlechte Laune. Du weißt, was das heißt." Graham nickte. „Und ob ich das weiß!" Jeffers nickte. Captain Martinez, ihr Vorgesetzter, war berüchtigt für sein unbändiges Temperament. Nur wenige konnten ihm die Stirn bieten, wenn es zu einer Konfrontation kam. Zu diesen wenigen gehörte Graham Redhawk. Die beiden Detectives schritten durch das Großraumbüro, in dem ein ohrenbetäubender Lärm herrschte. Ganz am Ende lag ein kleines, durch eine Glaswand abgetrenntes Zimmer. Hier arbeitete der Captain. Anscheinend war die Klimaanlage ausgefallen. Dicke Schweißperlen standen dem Captain auf der Stirn, und er wischte sich mit einem Taschentuch die Glatze ab. Man konnte seine schlechte Laune förmlich riechen. Bevor sie den Raum betraten, nahm Graham noch schnell einen Schluck Kaffee zu sich. Obwohl er scheußlich schmeckte, verfehlte er seine Wirkung auf ihn nicht. Plötzlich war er hellwach und bereit, sich den Anforderungen des Tages zu stellen. „Sie wollten uns sprechen, Sir?" fragte er betont höflich. Er vermied es absichtlich, sich hinzusetzen. Bei einem Mann wie dem Captain war es immer besser, auf der Hut zu sein. „Sie haben sich ja ganz schön Zeit genommen", knurrte Martinez. „Also gut, wir wollen gleich zur Sache kommen. Heute Morgen um sieben ist ein weiterer Mord geschehen, und zwar zwischen der Sunflower und Alameda Street, also mitten in der Stadt. Das Opfer hatte keine Papiere bei sich, dafür aber einige Einstiche am linken Arm." „Nicht weiter überraschend", erwiderte Graham ruhig. „Eigentlich schade, dabei war es ein so besonders schöner Morgen." Martinez war inzwischen an Redhawks Sarkasmus gewohnt. Aber er störte sich nicht daran, denn er hatte ihn als außerordentlich fähigen Polizisten schätzen gelernt. In einer gefährlichen Situation waren ihm zehn Männer von Grahams Schlag lieber als ein ganzes Bataillon von Schlaumeiern, die ihr Wissen nur aus Büchern hatten. Martinez dachte an das unerfreuliche Treffen mit dem Polizeichef, das er gestern gehabt hatte. Die Zahl der ungelösten Fälle nahm immer mehr zu. Lange durfte dies nicht mehr so weitergehen, sonst musste er ernsthaft um seinen Posten fürchten. „Wie dem auch sei, wir sollten unser Bestes tun, um die Sache möglichst rasch aufzuklären." Graham hatte es schon seit langer Zeit aufgegeben, jedes Puzzle, jeden Fall lösen zu wollen. Manche waren einfach nicht aufzuklären, obwohl er eine höhere Erfolgsrate hatte als die meisten seiner Kollegen. Aber das machte ihn noch lange nicht blind für die Realität. Das Leben hätte ihm schon in jungen Jahren einige harte Lektionen erteilt.
Die meisten Fälle waren einfach nicht zu knacken. „Wie sieht's aus, Captain?" Martinez seufzte. „Schwierig, wie immer. Aber diesmal haben wir eine Zeugin." Graham sah ihn überrascht an. Was hatte das schon zu bedeuten? Er erinnerte sich nur allzu gut an die Hunderte von Zeugenaussagen, die er in seinem Berufsleben bereits aufgeschrieben hatte. Die meisten Aussagen waren widersprüchlich bis zur Absurdität. „Ist sie zuverlässig?" Martinez besah sich noch einmal das Fax, das auf seinem Tisch lag. „Na ja, sie ist jung, eine Boutiquebesitzerin aus sehr guter Familie. Sie hat kein Strafregister, wurde noch nicht einmal beim Falschparken erwischt. Ihre Augen sind ausgezeichnet, sie trägt weder Brille noch Kontaktlinsen. Wenn man hier überhaupt von zuverlässig sprechen kann, scheint es sich um einen Glücksfall zu handeln. Wie dem auch sei, ich möchte, dass Sie sie aufsuchen und eingehend befragen." Jeffers stöhnte auf. Martinez blickte ihn streng an. „Haben Sie damit ein Problem?" Der Polizist wusste, dass Proteste sinnlos gewesen wären, aber er versuchte es trotzdem. „Captain, Sie wissen doch, dass sich auf unseren Schreibtischen die ungelösten Fälle stapeln. Muss das denn wirklich sein?" „Ach, hören Sie mir doch mit dieser ewigen Jammerei auf", erwiderte sein Vorgesetzter zornig. „Sie wussten, was Sie erwartet, als Sie in den Polizeidienst eingetreten sind. Niemand hat gesagt, dass es ein Kinderspiel wäre." Jeffers nickte seufzend. „Natürlich, Sir. Wahrscheinlich haben Sie recht. Komisch - im Kino klärt sich alles in neunzig Minuten auf." Martinez schüttelte den Kopf. Er hätte seine Pension dafür1 gegeben, wenn irrt wirklichen Leben auch alles so einfach wäre. „Dann gehen Sie doch ins Kino, Mann", schlug er vor. „Aber lassen Sie uns Ihre Polizeimarke hier." Jeffers lachte. Diesen Ton verstand er. „Schon kapiert, Captain." Auch Graham nickte. Er hatte sich bereits ein paar Mal mit Martinez angelegt, dennoch respektierte er ihn als einen aufrechten, unbestechlichen Beamten. „Und wie heißt unsere Zeugin?" fragte er. Martinez reichte ihm das Fax. „Hier, lesen Sie selbst. Ein paar von unseren Leuten untersuchen gerade den Tatort." Graham nahm das Fax entgegen, ohne es sich genau anzusehen. „Und wo befindet sich die Frau jetzt?" „In ihrem Laden." Martinez lehnte sich in seinem Sessel zurück. „Von dort hat sie uns auch angerufen. Sie weiß, dass jemand kommen wird, um ihre Zeugenaussage aufzunehmen. Ich möchte, dass Sie dieser Jemand sind, Redhawk. Jeffers können Sie zur Unterstützung mitnehmen, wenn Sie wollen." Graham nickte. Endlich sah er auf den Zettel. Die Adresse war klar und deutlich zu lesen, beim Namen hingegen hatte er Schwierigkeiten. „Können Sie das entziffern, Sir?" fragte er und reichte seinem Vorgesetzten das Fax. „Ihre Augen waren auch schon mal besser, was?" Martinez besah sich den Zettel mit zusammengekniffenen Augen. „Ich würde sagen, das heißt Catherine. Nein, Caitlin. Caitlin Cassidy. Ein zie mlich ungewöhnlicher Name." Er gab Redhawk das Fax zurück. Nanu, was war denn mit ihm los? Hätte er es nicht besser gewusst, hätte er gesagt, der Detective wäre bleich geworden. „Kennen Sie sie etwa?" „Ja, allerdings." Graham nickte grimmig. „Ich kenne sie." „Du bist wirklich viel mutiger als ich, Caitlin", sagte Kerry Sawyer zu ihrer Chefin, nachdem sie deren Bericht gehört hatte. Sie blickte sich nervös um. „Wieso bist du nicht einfach davongelaufen und hast niemandem davon erzählt?"
fragte sie Caitlin mit großen Augen. Caitlin sah sie verblüfft an. Kerry und sie kannten sich noch aus der Schule. Die zierliche Blondine hatte immer an sie geglaubt, und sie war es auch gewesen, die sie damals dazu überredet hatte, den Schritt in die Selbständigkeit zu wagen. Nach acht Jahren waren sie immer noch ein Herz und eine Seele. Das hatte Caitlin zumindest geglaubt. Wie konnte Kerry jetzt von ihr verlangen, dass sie ein solches Verbrechen einfach hinnehmen sollte, ohne es der Polizei zu melden? „Das könnt e ich nie tun!" erwiderte sie fest. Kerry sah sie kopfschüttelnd an. „Du weißt doch, dass du dir damit eine Menge Ärger einhandelst, oder?" „Kann schon sein." Caitlin sah sich unruhig im Laden um. Eva, die Aushilfskraft, bediente vorn gerade ein paar Kundinnen. „Ich habe es mir ja auch nicht ausgesucht. Aber ich könnte niemals einen Mörder frei herumlaufen lassen." Caitlin ist wirklich sehr nobel, dachte Kerry bei sich. Das hatte wahrscheinlich mit ihrer Herkunft zu tun. Wo sie, Kerry, herkam, waren Verbrechen an der Tagesordnung gewesen, und jedes Kind wusste, wie es sich schützen musste, um nicht in Schwierigkeiten zu geraten. „Was willst du denn machen, wenn dir der Kerl aufs Dach steigt?" fragte sie stirnrunzelnd. „Nehmen wir einmal an, du identifizierst ihn, er kommt ein paar Jahre hinter Gitter und wird dann wieder entlassen. Wie gefällt dir die Vorstellung, dich für den Rest deines Lebens verstecken zu müssen?" Caitlin hielt den Atem an, es schauderte sie. „Vielen Dank, Kerry. Ich muss sagen, du machst mir wirklich Mut." „Ich will dich ja nur vor einer Dummheit bewahren, das ist alles", entgegnete ihre Freundin störrisch. Caitlin entspannte sich wieder. Sie wusste, dass Kerry es gut mit ihr meinte. Aber nach allem, was geschehen war, stand es um ihre Nerven nicht gerade zum besten. Sie beschloss, den Zwischenfall fürs erste zu vergessen und sich um ihre Kundinnen zu kümmern. Das brachte sie immer auf andere Gedanken. Sie liebte es, sich mit Leuten zu unterhalten. Ihre Mutter hatte ihr stets vorgeworfen, dass sie viel zu nett wäre. Ihre Mutter - was würde sie wohl sagen, wenn sie davon erführe? Caitlin hoffte, dass der Fall nicht in die Zeitungen kam. Sie konnte sich das Theater schon vorstellen, wenn die Freunde ihrer Mutter Wind von der Sache bekämen. Jedenfalls hatte sie nicht vor, Regina davon zu erzählen. Ihr Kontakt beschränkte sich nur noch auf das Nötigste. Wenn Caitlin sie überhaupt anrief, geschah es aus Pflichtgefühl. Es war ihr nicht mehr wichtig, was ihre Mutter von ihr dachte, ob sie mit dem, was sie tat, einverstanden war. Inzwischen hatte sie resigniert einsehen müssen, dass sie es Regina Langford Cassidy nie recht machen konnte. „Lass uns jetzt nicht mehr darüber reden", schlug sie vor. „Schließlich gibt es eine Menge zu tun." Ein Blick in den Spiegel, der an der gegenüberliegenden Wand hing, zeigte ihr an, dass sie ziemlich blass war. Kein Wunder, das Erlebnis hatte sie wirklich sehr erschüttert. „Hier!" Kerry reichte ihr einen Lippenstift. „Ein bisschen Rot, und du fühlst dich gleich besser." Sie lächelte ihr zu. Auch wenn sie mit Caitlin nicht immer einer Meinung war, war sie doch ihre beste Freundin. Caitlin war froh über ihre Unterstützung und ihre frische, unbekümmerte Art. Sie hatte inzwischen Zeit gehabt, das Erlebte zu verdauen, aber noch immer verfolgten sie die Bilder der grausigen Tat. Das Entsetzen auf dem Gesicht des kleinen, dünnen Mannes und der Blutstrom, der sich aus seiner Brust aufs Pflaster ergossen hatte, waren Erinnerungen, die sicher nicht so schnell verblassen würden. Nachdem sie den Lippenstift aufgetragen hatte, ging sie entschlossen nach vorn. Das elegante Interieur ihres Ladens beruhigte ihre angespannten Nerven. Sie hatte von
Anfang an gewusst, wie sie das Geschäft ausstatten wollte. Es sollte ein europäisches Flair haben, einen Hauch von Paris. Das war ihr gelungen. „Gott, wie gewöhnlich!" hatte ihre Mutter angewidert gesagt, als sie davon erfahren hatte. Für Regina Cassidy war alles gewöhnlich, was irgendwie mit Geldverdienen zusammenhing. Sie war von Anfang an dagegen gewesen, dass ihre Tochter den Laden kaufte. Besonders die Vorstellung, dass sie selbst dort arbeiten wollte, entsetzte sie. Ihre Mutter war stolz auf ihre Herkunft und den Reichtum der Familie. Ihrer Meinung nach durfte man sich niemals die Hände schmutzig machen, indem man sich mit dem gemeinen Volk einließ. Als sie noch jünger gewesen war, hatte Caitlin versucht, den Erwartungen ihrer Mutter zu entsprechen. Sie war stets die gehorsame Tochter gewesen, bis sie auf die High School gekommen war. Und mit fünfzehn hatte sie dann den ersten Emanzipationsversuch unternommen. Sie hatte darauf bestanden, in die örtliche Schule zu gehen, anstatt in ein teures Pensionat, das ihre Mutter für sie ausgesucht hatte. Es hatte erbitterte Kämpfe gegeben, aber schließlich hatte Caitlin sich durchsetzen können. Glücklicherweise hatte ihr Vater sie in ihrem Entschluss unterstützt. Caitlin zwang sich, in die Gegenwart zurückzukehren. Sie musste sich schließlich um ihre Kundinnen kümmern. Eine etwas ältere Dame schien ihre Hilfe zu brauchen. „Hallo, kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein?" fragte sie mit ihrem nettesten Lächeln. Die Frau hielt einen roten Spitzenbody in der Hand. Er war fast so rot wie ihr Gesicht. Sie sah Caitlin ausgesprochen verlegen an. „Mein Mann sagte, ich sollte mir etwas Hübsches für unseren nächsten Hochzeitstag kaufen. Stellen Sie sich vor, nun sind wir schon dreißig Jahre verheiratet, und plötzlich will er etwas Hübsches!" Caitlin lachte. Es war ein sanftes, melodisches Lachen, das die Frau sofort beruhigte. In diesem Moment erklang die Türglocke. „Zum Glück haben Sie die Figur dafür", sagte sie warm zu der Kundin. Die ältere Frau sah sie erleichtert an. Ihre Verlegenheit war verschwunden und hatte der Vorfreude auf ein Abenteuer Platz gemacht. Sie besah sich den Body mit neuem Interesse. „Könnte ich mich vielleicht irgendwo ..." „Die Ankleidekabinen sind hier vorn rechts", wies Caitlin sie an. In diesem Moment trat Kerry aus dem Hinterzimmer. „Meine Kollegin wird sich um Sie kümmern", sagte sie zu der älteren Dame. „Nehmen Sie sich Zeit und treffen Sie eine gute Wahl!" Sie reichte Kerry den Body und begleitete die Dame noch zur Kabine. „Sind Sie das erste Mal in einem solchen Geschäft?" fragte Kerry, und als die Kundin nickte, meinte sie anerkennend: „Sie haben wirklich Geschmack!" Kerry, dachte Caitlin, gehört zu den Menschen, die einem Eskimo noch Eis verkaufen könnten. Sie wandte sich wieder der Tür zu und damit, wie sie dachte, der nächsten Kundin. Doch zum zweiten Mal an diesem Morgen erstarrte Caitlin. Beim ersten Mal war es aus Entsetzen geschehen. Dieses Mal konnte sie einfach nicht glauben, was sie sah. Sie hatte den Eindruck, als hätte eine starke Macht sie in die Vergangenheit zurückkatapultiert. Als Graham den Laden betrat und sie erblickte, ging es ihm ganz genauso. Noch immer hatte Caitlin also diese Macht über ihn, obwohl sie sich seit Jahren nicht gesehen hatten. Es war lange her, dass sie Teil seines Lebens gewesen war. Eines Lebens, das sie dann mit einem Schlag grausam zerstört hatte. Noch immer, sogar bis heute, gab es Zeiten, in denen er durch irgend etwas an sie erinnert wurde. Manchmal war es ein Lied, ein Wort oder ein flüchtiger Gedanke, und schon war sie wieder präsent, wie ein Traum, der niemals Wirklichkeit werden würde. Verdammt, wieso hatte er sich noch immer nicht von ihr befreien können?
Irgendwann würde es Ihm schon noch gelingen, das nahm er sich fest vor. Jedenfalls hatten private Gefühle bei seiner Arbeit nichts zu suchen. Ein guter Polizist zu sein, das war inzwischen sein einziges Lebensziel. Ich stehe immer noch wie angewurzelt mitten in meinem Laden, fiel Caitlin plötzlich auf. Ihre Knie waren weich wie Gummi, aber sie hatten noch nicht unter ihr nachgegeben. Merkwürdig, wie plötzlich alles wieder zurückkehrte - die Verletzung, die Scham, die sie längst vergessen zu haben glaubte. Schließlich war das Ganze ja schon eine Weile her. Wie lange? Zehn Jahre? Nein, elf. Elf lange Jahre. Lang genug, um Graham zu vergessen. Aber so sehr sie sich auch bemüht hatte, es war ihr nicht gelungen. Es tat jetzt vielleicht nicht mehr so weh wie damals, aber das war auch schon alles. Caitlin bemühte sich, Haltung zu bewahren und ihn nichts von ihrem inneren Aufruhr ahnen zu lassen. Sie sah Graham kühl an. Seinen Begleiter, einen etwas kleineren blonden Mann, hatte sie kaum wahrgenommen. Aber Graham hatte schon immer eine sehr starke Präsenz besessen. „Kann ich Ihnen behilflich sein?" Ihre Stimme verriet sie nicht, sie klang vollkommen neutral. Aber was hatte Graham denn auch erwartet? Schließlich war sie damals wie ein Geist aus seinem Leben verschwunden, so, als wäre die ganze Episode nur ein Traum gewesen. Er war zu ihr gegangen und hatte sie gesucht, als sie im letzten Moment ihre Meinung geändert hatte und plötzlich nicht mehr mit ihm hatte fliehen wollen. Er hätte alles getan, um sie umzustimmen. Er hatte sogar zu Gott gefleht, er möge sie zum Einlenken bewegen. Und dabei hatte er innerlich immer gewusst, dass er kein Recht hatte, sie um ihre Hand zu bitten. Aber es war ihm egal gewesen. Er wusste nur eins - wenn sie ihn nicht heiraten würde, würde er sterben müssen. Sie hätte ihn nicht geheiratet. Und er war nicht gestorben. Was dich nicht umbringt, macht dich stärker, dachte er bei sich. Es war eine jener banalen Weisheiten, an denen manchmal trotzdem etwas Wahres ist. Graham nickte ihr steif zu, er verzog keine Miene. „Caitlin." Die Jahre haben ihn nicht verändert, im Gegenteil, er sieht eige ntlich besser aus als damals, fand Caitlin, Männlicher. Fast wie ein Krieger. Das war ja auch nicht verwunderlich, wenn man seine Herkunft bedachte. Was zum Teufel tat er jetzt hier nach all diesen Jahren? Ihr Ton war genauso förmlich wie seiner. „Graham." In dieser Stimme liegt genug Eis, um einen Mann einzufrieren, dachte Jeffers bei sich. Er blickte stirnrunzelnd seinen Partner an, dann sah er wieder auf die attraktive junge Frau. Sie erschienen ihm wie zwei Boxer, die gerade in den Ring gestiegen waren und sich auf die erste Runde vorbereiteten. Was immer zwischen den beiden geschehen sein mochte, es war gewiss keine Lappalie gewesen, das spürte er ganz deutlich. Jeffers räusperte sich und holte seine Polizeimarke hervor. „Guten Tag, Miss Cassidy. Wir sind Detective Jeffers und Detective Redhawk vom Phoenix Police Department. Aber ich habe den Eindruck, Sie beide kennen sich bereits, stimmt's?" Graham war Polizist geworden? Caitlin sah ihn überrascht an. Sie erinnerte sich zwar daran, dass er dama ls davon gesprochen hatte, in den Polizeidienst einzutreten, aber sie hatte immer gedacht, er wäre zu sehr Außenseiter, um sich in einem System wohl zu fühlen. Dass Graham sich von jemandem Befehle erteilen ließ, konnte sie sich kaum vorstellen. Sein Erscheinen hatte ihr gerade noch gefehlt. Caitlin presste die Lippen aufeinander und nickte steif. „Ja, wir kennen uns." Ganz klar, die Geschichte musste beiden sehr nahe gegangen sein. Es würde schwierig sein, nicht zwischen die Fronten zu geraten.
„Sie haben uns vor etwa einer Stunde angerufen, um einen Mord zu melden", sagte Jeffers. „Ist das richtig?" Seine letzten Worte brachten Caitlin wieder in die Gegenwart zurück. Ein Frösteln überfiel sie. Sie war tapfer, daran konnte kein Zweifel bestehen. Sie hatte auch weiterhin vor, den Mörder ans Messer zu liefern. Aber es gefiel ihr gar nicht, dass diese zwei Männer einfach in ihren Laden kamen und vielleicht ihre Kundinnen erschreckten. Unauffällig blickte sie sich um, ob jemand etwas von dem Gespräch vernommen hätte. Doch außer ein paar verwunderten Blicken, die sicher der Tatsache galten, dass die beiden in dem eleganten Laden wie zwei Hockeyspieler in einem Ballettsaal wirkten, war anscheinend niemandem etwas aufgefallen. Wenigstens haben sie bisher keinen größeren Schaden anrichten können, dachte Caitlin aufatmend und führte die zwei ins Hinterzimmer. „So, ich glaube, hier können wir uns besser unterhalten", erklärte sie fest. Graham sah sie stirnrunzelnd an. Verdammt, warum spielte ihm das Schicksal jetzt diesen grausamen Streich? Ihm war wieder die charakteristische Art aufgefallen, in der sie sich auf die Unterlippe biss, und auch dies hatte die Erinnerungen zurückgebracht. Es war fast so, als wären all die Jahre der Trennung gar nicht geschehen. Als wäre er immer noch der grüne, bis über beide Ohren verliebte Junge, der gerade aus dem Reservat gekommen war. Prüfend musterte er Caitlin und musste zugeben, dass sie sich, wenn das überhaupt möglich war, noch zu ihrem Vorteil verändert hatte. Ihre Figur war runder, weiblicher und damit anziehender. Auch ihr Haar war länger, als er es von früher in Erinnerung hatte. Es fiel ihr über die Schulter wie ein honigblonder Wasserfall. Graham wollte jetzt nicht daran denken, welches Vergnügen es ihm immer bereitet hatte, es mit den Fingern durchzukämmen. Wie sehr er es genossen hatte, sein Gesicht darin zu bergen und ihren Duft ein zuatmen. Ihr Geruch hatte ihn stets an eine Wiese voller Wildblumen erinnert. Genau wie die Wiese, zu der er sie einst geführt hatte, um mit ihr zu schlafen. Erst im letzten Moment hatte ihn sein gesunder Menschenverstand davor bewahrt, diese äußerste Grenze zu überschreiten. Damals war sie so jung gewesen, so unschuldig. Er hatte es für sie beide aufsparen wollen bis zur Hochzeitsnacht. Ein zynisches Lächeln umspielte seine Lippen. Ganz klar, das war ein Fehler gewesen. Er war derjenige, der jung und naiv gewesen war, wie es sich herausgestellt hatte. Und ein Trottel noch dazu. Jahre lagen jetzt dazwischen. Und eine Distanz, die sie unweigerlich trennen musste. Früher war er dumm und unerfahren genug gewesen, um zu glauben, dass sie diese Entfernung überwinden konnten. Aber inzwischen wusste er es besser, und das verdankte er allein ihr.
2. KAPITEL Die Atmosphäre in dem kleinen Raum war drückend. Das Hinterzimmer ihres Ladens ließ sich aufgrund des schmalen Fensters nur schlecht lüften. Im Grunde genommen war es nicht mehr als eine Abstellkammer, die Caitlin vorwiegend für ihre Buchhaltung und geschäftliche Telefonate nutzte. Um von den Kundinnen im Laden nicht beobachtet werden zu können, zog sie den Vorhang zu, der die beiden Räume voneinander trennte. Er ließ sich nur schwer bewegen. Als Caitlin ungeduldig daran zog, stieß sie versehentlich mit Graham zusammen. Sie zuckte zusammen und trat verwirrt einen Schritt zurück. Graham zog den Vorhang für sie zu. Er schien keinerlei Mühe damit zu haben. Das Ergebnis dieser Aktion war, dass es im Zimmer noch schwüler wurde. Caitlin hatte jeden Meter Raum genutzt. In den Regalen lagen Stapel von Katalogen, die noch mit der Post weggeschickt werden mussten. Den größten Platz nahm allerdings ein Schreibtisch ein, auf dem ein Computer stand. Eine Person konnte sich einigermaßen frei bewegen, für drei war es definitiv zu eng. Besonders dann, dachte Jeffers bei sich, wenn zwischen den beiden anderen eine Spannung besteht, die einem die Luft zum Atmen nimmt. Ihm war äußerst unbehaglich zumute. Wie lange würde es noch dauern, bis es zur Explosion kam? Oh, Gott, wie war er nur in diese Situation geraten? Caitlins Duft erfüllt den ganzen Raum, dachte Graham. Das leichte und doch intensive Parfüm breitete sich überall aus und hüllte die Anwesenden ein. Einen kurzen Moment lang war Graham wirklich versucht, den Fall an Jeffers abzugeben. Er war durchaus in der Lage, Caitlins Zeugenaussage aufzunehmen. Dazu wurde er nicht gebraucht. Und er hatte wirklich keine Lust, mit den Schatten seiner Vergangenheit konfrontiert zu werden. Aber dann fiel ihm wieder ein, dass sein Vorgesetzter ihm den Fall übertragen hatte und ihm vertraute. Er konnte diese Aufgabe nicht einfach delegieren, das war undenkbar. Und es ging auch gegen seine Berufsehre. Hatte er nicht alles darangesetzt, ein guter, nein, ein vorbildlicher Polizist zu werden? Dann durfte er jetzt auch nicht kneifen. Graham wusste aus Erfahrung, dass Feiglinge nicht besonders gut schliefen. Und er schätzte seinen tiefen, ungestörten Schlaf über alles. Vielleicht sehe ich das alles auch ganz falsch, dachte er bei sich. Wahrscheinlich sollte er Caitlin dankbar sein. Schließlich hatte er durch sie gelernt, dass er anders war als alle anderen. Als Halbblut gehörte er niemals ganz dazu. Die Welt, die ihm gehörte, musste er sich selbst schaffen, Graham blickte Caitlin lange an, dann sagte er vollkommen ruhig: “Also? Was ist geschehen?" Sie zwang sich, seinem Blick zu begegnen. Wenn er dachte, dass er sie einschüchtern konnte, hatte er sich geirrt. Sie war nicht mehr das verträumte junge Ding von damals. Dafür hatte er gesorgt. Trotzdem wurde sie durch seine Frage für Bruchteile von Sekunden in die Vergangenheit entführt. Plötzlich stand sie nicht mehr hier in ihrem Laden, über zehn Jahre später, sondern sie war wieder das junge Mädchen von damals. In ihren Händen hielt sie ein Geschenk von ihm, das von seinen Ahnen, den Navajos, stammte. Ja, dachte sie, was ist geschehen? Dies war schließlich ein Zeichen seiner Liebe gewesen. So hatte er gesagt, und sie hatte ihm in ihrer grenzenlosen Naivität natürlich geglaubt. „Sag du es mir!" begehrte sie auf. Ihr Zorn, ihre Verletzung, all dies klang mit in ihrer Stimme. Jeffers wusste, dass er jetzt eingreifen musste. Schließlich hatten sie hier einen Job zu erledigen. Er räusperte sich. Die beiden, die einander wie hypnotisiert angesehen hatten, wandten sich ihm widerwillig zu.
„Sie haben bei uns auf dem Revier angerufen", erinnerte er sie sanft. Das brachte Caitlin wieder in die Gegenwart zurück. „Oh, ja, natürlich", entgegnete sie verwirrt. „Ja, das habe ich getan." Erleichtert wandte sie sich Grahams Kollegen zu. Sie beschloss, von jetzt an nur noch mit ihm zu sprechen. Graham ging sie nichts an. Er war Teil ihrer Vergangenheit - einer Vergangenheit, die sie am liebsten für immer vergessen hätte. Was damals geschehen war, lag lang zurück. Er hatte ihr Verhältnis beendet. Sie war gezwungen gewesen, sich ein eigenes Leben aufzubauen. Ein Leben, auf das sie sehr stolz war. Nein, dies hier war ihre Realität. Die Kataloge in den Regalen, der Computer auf dem Tisch, ihr Geschäft. Und leider auch der schreckliche Mord von heute morgen. Darum ging es jetzt, nicht um die Vergangenheit. Ruhig begann sie: „Ich nahm eine Abkürzung zwischen den beiden Fußgängerzonen, um ..." Graham hatte seinen Notizblock hervorgezogen, aber er hatte noch nichts niedergeschrieben. Der Klang ihrer Stimme ging ihm unter die Haut. „Um wieviel Uhr?" unterbrach er sie brüsk. „Ziemlich früh", entgegnete Caitlin wütend. Was fiel ihm ein, sie zu unterbrechen? Aber dann fing sie sich wieder und fuhr fort: „Ich habe zwar nicht auf die Uhr geschaut, aber ich denke, es muss kurz vor sieben gewesen sein." Kurz vor sieben! Das war ungewöhnlich für Caitlin. Graham konnte sich noch gut daran erinnern, dass er sich immer irgendwelche Tricks ausgedacht hatte, um sie aus dem Bett zu locken. Dabei liebte er es, gemeinsam mit ihr den Sonnenaufgang zu beobachten. Einmal hatte er es geschafft. Damals hatten sie auf einem Felsen gesessen, sie hatte den Kopf an seine Schultern gelehnt und gelächelt. Schnell schüttelte er diese Erinnerung ab. „Warum warst du denn schon so früh unterwegs?" Seine Stimme klang kalt, fast verächtlich. Was wirft er mir eigentlich vor, dachte Caitlin aufgebracht. Schließlich war er es, der sie damals im Stich gelassen hatte. Aber vielleicht war ihm das Geld ja rasch ausgegangen, und er war deshalb auf sie wütend. „Ich wollte heute eigentlich mit der Inventur beginnen", erklärte sie fest. „Ich weiß nicht, ob es dir aufgefallen ist, aber unsere Straße wird gerade neu gepflastert. Deshalb musste ich meinen Wagen auch drei Blocks entfernt von hier parken und den Rest des Wegs zu Fuß gehen. Wie ich schon sagte, ich nahm eine Abkürzung." Graham nickte stumm. Seine Gedanken behielt er für sich. Caitlin sah Jeffers hilfesuchend an. Als dieser ermutigend nickte, fuhr sie fort. „Ich hörte Stimmen. Zwei Männer stritten offensichtlich miteinander. Und dann ... und dann ..." Sie schluckte und konnte nur mit Mühe das Zittern ihrer Stimme unterdrücken. „Und dann sah ich, wieder einer den anderen umbrachte. Es ging furchtbar schnell. Er zog eine Waffe heraus und ... Ich nehme an, er hat einen Schalldämpfer benutzt. Außer einem leisen Geräusch konnte ich nämlich nichts hören." Jeffers sah sie fragend an. „Kennen Sie sich denn mit Waffen aus?" „Caitlin ist eine ausgezeichnete Schützin", beantwortete Graham die Frage für sie. Sie hätte ihn umbringen können. Warum mischte er sich eigentlich immer ein? Es missfiel ihr, dass er soviel über sie wusste. Dass er überhaupt etwas von ihr wusste. „Mein Vater hat mir beigebracht, wie man mit Waffen umgeht, damit ich mich im Notfall verteidigen kann", erklärte sie Grahams Kollegen. „Und gegen wen, wenn ich fragen darf?" erkundigte sich Jeffers, nachdem er sich ihre Antwort notiert hatte. Grahams Lächeln war geradezu sardonisch. „Oh, gegen unerwünschte Personen." Es klang scherzend, doch dahinter verbarg sich ein Schmerz, von dem er dachte, dass er ihn seit Jahren überwunden hätte. Wieder stieg die Bitterkeit in ihm auf, wie ein Gift, das an seiner Seele fraß. Sie nahm ihm alle Kraft, das spürte er genau. Und er war
wütend auf sich selbst, dass er es nach all den Jahren nicht geschafft hatte, seinen Namen von der Schande zu befreien. Wieder verfingen sich ihre Blicke. Es schien eine Ewigkeit zu dauern. Jeffers räusperte sich erneut. Diesmal dauerte es noch länger, bis die beiden reagierten. „Was geschah dann weiter, Miss Cassidy?" fragte er betont höflich. Sie zuckte die Achseln. Viel mehr gab es da nicht zu berichten. „Dann bin ich weggerannt", erwiderte sie schlicht. Ja, ihr Überlebensinstinkt hatte schon immer funktioniert. Andere wären vielleicht vor Angst wie erstarrt gewesen. Nicht so Caitlin. „Konntest du den Mann denn überhaupt erkennen?" Wiederum rollte das Geschehen in ihrem Kopf ab. Der größere Mann zo g seine Waffe und feuerte. Das Opfer fiel blutend zu Boden. Sie versuchte, sich an das Gesicht des Mörders zu erinnern, aber es wollte ihr nicht gelingen. „Nein, tut mir leid. Ich habe ihn eigentlich nur im Profil gesehen. Die meiste Zeit über hatte er mir den Rücken zugewandt." Graham dachte, es gäbe noch eine andere Frage, die wesentlich wichtiger war. „Und er? Hat er dich gesehen?" Seine Frage hatte fast wie ein Vorwurf geklungen. Welches Recht hat er eigentlich überhaupt, mich zu verhören, dachte Caitlin aufgebracht. Polizist oder nicht, er hätte genügend Anstand haben müssen, um sich sofort von dem Fall zurückzuziehen, nachdem er erfahren hatte, dass sie darin involviert war. Oder war er etwa aus Neugier gekommen? Weil er sehen wollte, was aus dem jungen Mädchen geworden war, das er damals so schnöde verlassen hatte? Und das er verraten hatte - für lumpige fünfzigtausend Dollar? Voller Verachtung erwiderte sie seinen Blick. Das war alles, was sie jetzt noch für ihn empfand - Verachtung und Zorn. Keine Liebe mehr, keinen Schmerz. Diese Gefühle waren damals mit ihr gestorben. Sie schüttelte den Kopf. „Ich glaube nicht, dass er mich gesehen hat." Aber glauben bedeutete nicht wissen. Graham war das viel zu vage. Falls der Killer sie doch gesehen hatte und nun wusste, dass sie den Mord beobachtet hatte ... Dieser Gedanke behagte ihm ganz und gar nicht. Jeffers merkte, wie nahe Caitlin das Ganze ging. Er legte ihr beruhigend eine Hand auf die Schulter und versuchte, sie von Graham abzulenken. „Würden Sie bitte mit aufs Revier kommen, um sich ein paar Fotos anzusehen?" Caitlin bezweifelte, dass das irgend etwas bringen würde. Außerdem war da ja noch ihre Arbeit, und die wartete nicht auf sie. „Ich habe Ihnen doch bereits gesagt, dass ich ihn nicht richtig erkennen konnte." Jeffers nickte ruhig. „Ja, ich verstehe, aber manchmal wird das Erinnerungsvermögen eben durch äußere Einflüsse getrübt", entgegnete er und warf einen beredten Blick auf Graham. „Ich nehme an, Sie wissen, was ich meine." „Ja, ich weiß, was Sie meinen", erwiderte sie seufzend. „Also gut, ich komme mit. Ich muss nur rasch meine Tasche holen." „Natürlich, lassen Sie sich ruhig Zeit", meinte Jeffers. Er überlegte kurz und sagte dann überraschend: „Würden Sie uns bitte einen Moment lang entschuldigen?" Caitlin nickte. Sie war froh über die kleine Atempause. Jeffers hatte sich bereits an seinen Partner gewandt. „Macht es dir was aus, wenn wir kurz nach draußen gehen?" Anstelle einer Antwort drehte Graham sich einfach um und marschierte hinaus. Ohne einen Blick nach rechts oder links zu werfen, ging er geradewegs aus dem Laden auf die Straße. Hier holte er tief Luft, wie ein Mann, der kurz vor dem Ersticken gewesen war. Die Luft war heiß und schwül. Trotzdem war es noch besser, als drinnen zu bleiben und Caitlins Duft einatmen, ihre Präsenz ertragen zu müssen.
Jeffers wartete ein paar Minuten lang, bevor er seinen Partner ansprach. Er wusste, Graham musste sich erst sammeln. Inzwischen kannte er ihn gut genug und konnte sein Schweigen richtig einschätzen. Aber schließlich dauerte ihm die Pause zu lange. Hier ging es immerhin um Antworten. Er wies mit dem Daumen auf Caitlins Laden und sagte: „Was zum Teufel ist hier eigentlich los?" Graham zögerte. Wie sollte er das Jeffers erklären? Schließlich gab er sich einen Ruck. „Wir sind hier, um einen Mordfall aufzuklären", erwiderte er betont ruhig. „Wenn dir das inzwischen immer noch nicht klar ist, würde ich sagen, der Steuerzahler verschwendet sein Geld." Das hatte seinem Kollegen gerade noch gefehlt. Moralische Belehrungen schienen ihm hier völlig fehl am Platz zu sein. „Vergiss den Steuerzahler, Graham! Du weißt ganz genau, wovon ich rede." Jeffers senkte seine Stimme ein wenig, denn er hatte die erstaunten Blicke der beiden Damen registriert, die gerade den Laden betreten wollten. „So ein Duell habe ich noch nie gesehen. Es fehlte nicht viel, und ihr wärt aufeinander losgegangen. Genau wie in Star Wars, der Kampf zwischen Luke Skywalker und Darth Vader mit ihren Lichtschwertern. Ich hatte das Gefühl, eine falsche Bewegung, und einer von euch bringt den anderen um." Graham sah ihn amüsiert an. „Ich muss sagen, Jeffers, du hast ja eine lebhafte Phantasie. Das hätte ich dir gar nicht zugetraut." Jeffers sah ihn kopfschüttelnd an. Das war wieder einmal typisch für seinen Partner! Warum musste man ihm die Informationen immer wie Würmer aus der Nase ziehen? Aber er war fest entschlossen, nicht lockerzulassen. Also fragte er ihn geradeheraus: „Woher kennst du diese Frau? " Graham versuchte, die Woge von Erinnerungen, die gerade in ihm hochstieg, wieder zurückzudrängen. Er wollte sich nicht an das erinnern, was damals zwischen ihm und Caitlin passiert war. Es war einfach zu schmerzhaft für ihn. Daher zuckte er nur mit den Schultern und erwiderte gleichmütig: „Ich kenne sie von früher, Jeffers. Aber das ist nun wirklich schon ziemlich lange her." Sein Kollege schüttelte den Kopf. „Ja, das habe ich mir gedacht. Aber ist das alles, was du dazu zu sagen hast?" Es war ja klar, dass das Treffen mit der Frau Graham sichtlich erschüttert hatte. Und schließlich waren sie Partner. Das war in Jeffers Augen fast so gut wie eine Freundschaft. „Möchtest du vielleicht, dass ich den Fall übernehme, Gray? Ich könnte Munoz bitten, mit mir zusammenzuarbeiten." Graham hatte noch nie zuvor einen Kollegen gebeten, seinen Fall zu übernehmen, und damit wollte er auch jetzt nicht anfangen, obwohl er Jeffers wirklich dankbar für sein Angebot war. „Nein, vielen Dank. Ich schaffe das schon." Jeffers seufzte. „Wenn du nur nicht immer so verbohrt wärest", beklagte er sich. „Manchmal schadet es nichts, sich jemandem anzuvertrauen." „Ja, das weiß ich ja", erwiderte Graham begütigend. „Du bist mein Partner, Jeffers, und ich glaube, es gibt niemanden, der soviel über mein Privatleben weiß wie du." „Anscheinend immer noch nicht genug." Jeffers wusste, wenn Graham reden wollte, würde er es auch tun. Es hatte keinen Zweck, ihn überreden zu wollen. „Also gut, dann behalte deine Geheimnisse für dich, Ro thaut." „Endlich nimmst du Vernunft an, Bleichgesicht", Graham lächelte, und der andere lächelte zurück. Gemeinsam gingen sie wieder in den Laden zurück. Caitlin unterhielt sich gerade mit einer Kundin. Graham war froh, dass sie nicht wieder alle drei in das stickige kleine Hinterzimmer mussten. Er hatte ihre Nähe dort kaum ertragen können. „Miss Cassidy", sagte er förmlich, als er schließlich vor ihr stand. „Sind Sie bereit, uns zur Wache zu begleiten?"
Caitlin sah ihn ärgerlich an. Die ältere Dame, die noch immer den roten Body in der Hand hielt, legte ihr mit einer mütterlich beschützenden Geste die Hand auf den Arm. „Stimmt irgend etwas nicht, meine Liebe?" Schade, dass ihre Mutter nicht so is t“, dachte Graham bei sich. Wenn Caitlin nicht von einer Pythonschlange erzogen worden wäre, wäre vielleicht manches anders gekommen. Caitlin schüttelte ungeduldig den Kopf. Sie warf Graham einen eisigen Blick zu. „Die Detectives haben mich gebeten, mit ihnen aufs Revier zu kommen. Das ist alles." Dann setzte sie noch hinzu: „Herzlichen Glückwunsch zu Ihrer Wahl. Bitte lassen Sie mich wissen, ob es Ihrem Mann auch gefallen hat. Jedenfalls wünsche ich Ihnen einen schönen Hochzeitstag." „Oh, vielen Dank", erwiderte die Kundin. Sie war wieder bis an die Haarwurzeln errötet. Graham war das Ganze ein Rätsel. Warum Frauen viel Geld für etwas ausgaben, was sowieso niemand sah, war ihm schleierhaft. Caitlin beschloss, sich von jetzt an wirklich nur noch an Jeffers zu halten. Sie wollte so wenig wie möglich mit Graham zu tun haben. Der ganze Zwischenfall hatte sie mehr aufgewühlt, als sie zugeben wollte. Vielleicht hat Kerry ja doch recht gehabt, dachte sie bei sich. Vielleicht wäre es besser gewesen, alles zu verschweigen und nicht die Polizei zu benachrichtigen. Die Leiche hätte man schließlich sowieso bald gefunden, und wie sie den Beamten bereits gesagt hatte, konnte sie den Mörder ja nicht mit hundertprozentiger Sicherheit identifizieren. Aber gut, dafür war es jetzt zu spät. „Was denken Sie, wird es sehr lang dauern, Detective Jeffers?" Jeffers schüttelte den Kopf und warf ihr ein beruhigendes Lächeln zu. „Nein, ganz bestimmt nicht." Er ging zum Ausgang und hielt die Tür für Caitlin auf. Graham folgte den beiden. Wirklich komisch, dachte er, schon heute morgen war ihm so gewesen, als würde dies kein besonders guter Tag werden. Außerdem war eine Krähe an seinem Fenster vorbeigeflogen und er hatte genug indianisches Blut in sich, um solche Zeichen ernst zunehmen. Caitlin, die sich inzwischen in ihr Schicksal gefügt hatte, ging den beiden Männern voraus. Sie wünschte von Herzen, sie wäre heute morgen ausnahmsweise einmal später ins Geschäft gegangen. Dann wäre ihr diese ganze Tortur erspart geblieben. Aber was machte Graham ausgerechnet in Phoenix? Sie hatte gedacht, er wäre in Kalifornien. Nein, heute blieb ihr wirklich nichts erspart! Caitlin erkannte bald, dass es auf der Wache nicht gerade wie in einer Kirche zuging. Alle möglichen Leute saßen oder standen herum und redeten aufgeregt durcheinander. Man konnte kaum sein eigenes Wort verstehen. Daher fand sie es auch schwierig, sich auf die kleinen Schwarzweißfotos zu konzentrieren, die man ihr vorgelegt hatte. Außerdem deprimierte sie der Anblick dieser Männer mit den zumeist zerfurchten Gesichtern, die alle wie verkrachte Existenzen aussahen. Nach einer Weile konnte sie nicht verhindern, dass ihre Gedanken zu wandern begannen. Immer wieder stiegen Erinnerungen aus der Vergangenheit in ihr auf, Erinnerungen, gegen deren Erscheinen sie sic h nicht wehren konnte. Szenen zwischen Graham und ihr, die ihr noch einmal vor Augen führten, was sie damals geglaubt hatte - dass ihr Leben mit seinem Erscheinen überhaupt erst begonnen hatte. Caitlin stieß einen tiefen Seufzer aus. Sie war dumm gewesen, sehr dumm sogar. Ein junges Ding, das sich in den erstbesten Mann verliebt, der ihr schöne Worte ins Ohr flüsterte. Denn mehr war es schließlich nicht gewesen, wenn man es genau betrachtete. Caitlin reckte und streckte sich, denn sie hatte schon gemerkt, wie angespannt ihr
Rücken war. Das alles hatte doch gar keinen Zweck. Sie wollte der Polizei gern helfen, aber das hier führte zu nichts. Mit einem Seufzer klappte sie die Mappe zu und legte sie zu den beiden anderen, die sie bereits ohne Erfolg durchgesehen hatte. Die Zeit schritt unaufhaltsam voran. Sie hatte den Beamten bereits alles gesagt, was sie wusste. Sie hatte sich die Kartei angesehen, wie sie es gewünscht hatten. Mehr konnte sie nicht tun. Sie musste wieder ins Geschäft zurück, wo man sie gewiss schon vermissen würde. Außerdem sehnte sie sich danach, diesem lauten, unruhigen Ort zu entkommen und endlich wieder in ihr Reich zurückkehren zu können. Graham saß nur zwei Tische weiter und hatte sie die meiste Zeit über beobachtet. Seine Nähe war nicht gerade dazu angetan gewesen, Caitlin zu beruhigen. Als er ihren Seufzer vernahm, wurde ihm wieder klar, dass er in Gedanken nur bei ihr gewesen war. Verdammt, er schien sich auf nichts anderes konzentrieren zu können, solange Caitlin im Raum war. Ben Jeffers war vor etwa einer Viertelstunde gegangen, nachdem er Caitlin die letzte Mappe gereicht hatte. Eigentlich hatte er sofort wiederkommen wollen, aber seitdem war er verschwunden. Caitlin hatte genug von der ganzen Prozedur, soviel stand fest. Außerdem war sie hundemüde. Seufzend erhob sich Graham und ging zu ihr hinüber. Er wies auf den Stapel von Fotomappen. „Hattest du kein Glück?" „Ich fürchte, nein", erwiderte sie kühl. „Kann ich sonst noch etwas tun? Ansonsten möchte ich nämlich gern wieder in mein Geschäft zurück." Graham schüttelte den Kopf. Ihm war von Anfang an klar gewesen, dass sie nichts finden würde. Schließlich hatte Caitlin ja gleich gesagt, dass sie nur das Profil des Mannes hatte sehen können, und das ebenfalls nur flüchtig. „Ich glaube nicht, dass du sonst noch viel tun kannst", erwiderte er. Warum hatte sie eigentlich die ganze Zeit das Gefühl, als hätten Grahams Worte eine doppelte Bedeutung? Als würde er in Wirklichkeit von etwas ganz anderem sprechen? Aber das hätte er sich sparen können. Ihre Geschichte gehörte der Vergangenheit an, damit mussten sich wohl beide abfinden. „Gut, dann kann ich ja jetzt hoffentlich gehen", sagte sie energisch und erhob sich. „Das heißt, wenn du nichts dagegen hast, natürlich." „Ich habe überhaupt nichts dagegen", erwiderte er gleichmütig. „Du kannst tun und machen, was du willst. Mich geht das schon lange nichts mehr an." Das war vielleicht ein leichter Schlag unter die Gürtellinie, aber Graham konnte nicht anders. Zu tief war die Verletzung gewesen, als dass er jetzt mit Caitlin einfach wieder Konversation hätte treiben können. Kurz flammte der Ärger in Caitlins Blick auf , dann wurde er wieder neutral. Glaubte er etwa, ihr damit etwas Neues zu sagen? Ihre Mutter hatte sie damals schließlich über Grahams wahre Gefühle aufgeklärt. Seine sogenannte Liebe hatte einen Preis gehabt. Einen Preis, den er sich in barer Münze hatte auszahlen lassen. „Ja, das ist mir klar", erwiderte sie eisig. Was sollte das denn heißen? Einen kurzen Moment lang verlor Graham die Fassung, obwohl er es sich nicht anmerken ließ. Sie war schließlich diejenige, die ihn damals verlassen hatte. Warum klang sie dann jetzt so vorwurfsvoll? Graham ermahnte sich, dass ihn auch dies nichts mehr anging. Die Vergangenheit zählte jetzt nicht mehr. Sie waren inzwischen Fremde füreinander, und so sollte es auch bleiben. Nervös schaute er sich nach Ben um. Wo zum Teufel blieb er nur? Dann fasste er einen spontanen Entschluss. „Ich werde dich persönlich zurückbringen." Das war das letzte, was sie wollte. Caitlin hätte alles getan, um ihn endlich loszuwerden. Sie griff nach ihrer Tasche und sagte ablehnend: „Bitte, mach dir keine Mühe! Ich werde mir ein Taxi kommen lassen." Sie hat schon immer ihren eigenen Kopf gehabt, dachte Graham. Auch er drängte sich
nicht danach, noch weiter in ihrer Nähe zu bleiben, aber er hatte schließlich seinen Auftrag. „Ich habe gesagt, ich werde dich fahren", entgegnete er knapp. „Da gibt es gar keine weiteren Diskussionen." Caitlin hätte ihn umbringen können. Außerdem merkte sie, dass ihre Nerven in den letzten Stunden stark gelitten hatten. Nervös fuhr sie sich mit der Hand durchs Haar. „Ich habe weder Zeit noch Lust, hier noch länger herumzusitzen", erklärte sie mit fester Stimme. „Entweder wir fahren jetzt, oder ich nehme mir ein Taxi. Ich habe schon viel zuviel Zeit verschwendet." Graham sah sie an und bemerkte, dass sie zitterte. Bestimmt ist sie zum ersten Mal Zeugin eines Verbrechens geworden, dachte er. Dieser Gedanke stimmte ihn etwas milder. „Du hast recht", nickte er. „Es tut mir leid, wenn wir dich von der Arbeit abgehalten haben. Das Ganze war bestimmt nicht leicht für dich." Trotz der Sympathie klang auch ein wenig Sarkasmus in seiner Stimme mit, der Caitlin nicht entging. „Nichts von alledem war leicht für mich", erwiderte sie mit blitzenden Augen. „Ich möchte es gern hinter mich bringen. Alles", fügte sie noch betont hinzu. Er nickte. „Obwohl ich weiß, dass dies zu deinen Spezialitäten gehört, fürchte ich, dass wir dich in diesem Fall noch nicht so schnell entlassen können." Er zog sich das Jackett über. „Es kann sein, dass wir dich noch einmal bitten müssen, Verdächtige zu identifizieren." Was hatte er eigentlich mit seinem ersten Satz gemeint? Plötzlich merkte sie, wie müde und erschöpft sie war. Sie wollte die Vergangenheit auf sich beruhen lassen. Noch vor wenigen Stunden hätte sie sich als eine starke Frau bezeichnet. Jetzt war sie sich nicht mehr sicher, ob das noch zutraf. Auch Graham hatte es plötzlich sehr eilig, aus dem Raum herauszukommen. Je eher er Caitlin wieder in ihr Geschäft zurückbrachte, desto besser. Dann konnte er endlich mit seiner Arbeit fortfahren. „Lass uns gehen!" Sie hatten schon fast den Ausgang erreicht, als plötzlich eine laute Stimme erklang. „Hey, Redhawk!" Graham wandte sich um. Einer seiner Kollegen winkte ihm zu, er hielt einen Telefonhörer in der Hand. „Es ist für Sie!" rief er über den Lärm hinweg. „Die Zentrale hat den Anruf falsch durchgestellt. Es ist Ihr Sohn. Er sagt, es sei dringend." Jake glaubte immer, es wäre dringend. Vielleicht ist das mit sieben Jahren ja auch so, dachte Graham mit einem Anflug von Humor. Er wandte sich zu Caitlin um und sagte entschuldigend: „Ich muss kurz telefonieren. Bitte, warte auf mich. Es dauert bestimmt nicht lange." Damit ließ er sie allein. Sie hatte ihm einen merkwürdigen Blick zugeworfen, den er nicht hatte recht deuten können. Aber im Moment hatte er auch etwas anderes zu tun. „Natürlich", erwiderte Caitlin. Sie ließ sich nicht anmerken, wie sehr die Nachricht sie getroffen hatte. Einen Sohn. Er hatte einen Sohn. Und eine Frau. Warum zog sich plötzlich etwas in ihrer Brust zusammen - ein kurzer, stechender Schmerz? Caitlin verbot sich, darüber nachzudenken. Es ging sie nichts an, ob Graham verheiratet war oder nicht.
3. KAPITEL Graham nahm seinem Kollegen den Hörer aus der Hand und ließ sich auf der Schreibtischkante nieder. Von hier aus hatte er Caitlin immer noch gut im Blick. Irgendwie sah sie so aus, als ob sie nicht hierhergehörte - eine exotische Blüte inmitten eines Haufens ungehobelter Kerle. Aber inzwischen wusste er, dass der erste Eindruck täuschen konnte. Ungeduldig sprach er in die Muschel hinein. „Also gut, Jake, beeil dich! Ich habe irrsinnig viel zu tun. Was ist los?" Er hörte, wie sein Sohn schnell die Luft einzog. Dann ließ er seine Beschwerde vom Stapel. „Sie sagt, ich muss mein Bett machen und meine Spielsachen aufräumen, bevor ich zu Joey gehen kann." Darüber war er offensichtlich sehr verärgert. Graham legte den Hörer ans andere Ohr. „Sie?" fragte er verblüfft. „Wen meinst du überhaupt?" Am anderen Ende der Leitung erklang ein lauter Seufzer. „Grandma natürlich." Graham merkte gar nicht, dass er nickte. Ihm fiel auch nicht auf, dass Caitlin unwillkürlich näher gerückt war. Sie hielt es aus Neugier nicht länger an ihrem Platz. „Du sprichst also von Grandma", sagte Graham ruhig. „Dann sag das doch gleich." „Okay." Jake fing noch einmal neu an. „Grandma sagt, ich könnte nicht..." Graham hatte weder die Zeit noch die Geduld, sich das Ganze noch einmal anzuhören. „Damit hat sie doch recht, findest du nicht?" „Dad!" Jake war empört. Wie konnte ihm sein heißgeliebter Vater so in den Rücken fallen? Graham musste unwillkürlich lächeln. Er liebte seinen Adoptivsohn über alles. Jake war zwar klein für sein Alter, aber das hielt ihn nicht davon ab, sich auch mit wesentlich größeren Jungen herumzustreiten, wenn es um die Gerechtigkeit ging. Genau wie er war auch Jake Halbindianer. Im zarten Alter von etwas über einer Woche hatten sie ihn adoptiert. Er hätte Jake nicht mehr in sein Herz schließen können, wenn es sich um seinen leiblichen Sohn gehandelt hätte. „Hör zu, du weißt doch, dass wir gewisse Regeln aufgestellt haben. Sie sind dazu da, um befolgt zu werden. Und an deiner Stelle würde ich Grandma nicht verärgern. Es kann sein, dass sie dir einen Fastentag aufbrummt." „Was? Darf ich dann keine Süßigkeiten mehr essen?" Jake klang regelrecht entsetzt. Graham lachte. Als er selbst in Jakes Alter war, hatte er viel auszustehen gehabt. Seine Mutter hing dem alten Glauben der Navajoindianer an. Ihr Leben war angefüllt mit mystischen Ge- und Verboten. Graham hatte sich dem eine ganze Weile gefügt und schließlich dagegen rebelliert. Die Folge war gewesen, dass er das Gefühl gehabt hatte, zu keiner Seite zu gehören. Dieses Schicksal wollte er Jake unbedingt ersparen. Die Tradition war schön und gut, aber ihre Regeln zu befolgen, musste auf freiwilliger Basis geschehen. Sonst war sie in seinen Augen keinen Pfifferling wert. Und er hatte den Eindruck, dass auch seine Mutter das langsam verstanden hatte. Es hatte lange genug gedauert. „Also, mach dir jetzt bitte deswegen keine Sorgen", beruhigte er seinen Sohn. Plötzlich fiel ihm auf, dass Caitlin neben ihm stand. Es machte ihn etwas verlegen. „Jake, ihr beide würdet euch viel leichter tun, wenn du dich bemühen würdest, ein bisschen mehr auf Grandma einzugehen. Schließlich verlangt sie ja nichts Unbilliges. In der Zeit, in der wir hier über die Sache diskutieren, hättest du deine Sachen schon längst aufräumen können, findest du nicht?" „Vielleicht hast du recht." Das war Jakes Art, ihm rechtzugeben, ohne dass er deswegen das Gesicht verlor. Eine sehr indianische Reaktionsweise, dachte Graham bei sich. In diesem Moment stieß ihm sein Kollege in die Rippen. Damit wollte er wohl andeuten, dass er sein Telefon zurückhaben wollte. „Gut, das war's dann wohl", meinte Graham. „Nun gib mir schnell noch deine
Grandma." Während er wartete, ließ er den Blick durchs Zimmer schweifen. Valdez. ein anderer Kollege, führte gerade eine äußerst spärlich bekleidete junge Darrte ab, offensichtlich eine Prostituierte. „Ja?" Die leise, aber dennoch eindringliche Stimme seiner Mutter ließ Graham aufhorchen. Sie war die älteste Tochter des Medizinmannes der Navajos. Obwohl sie körperlich eher klein war, ging von ihr eine Autorität aus, die man einfach respektieren musste. Und das galt auch für einen einsneunzig großen Polizisten. Ganz besonders, wenn es sich um ihren Sohn handelte. „Ich habe eben mit Jake gesprochen. Er wird tun, was du von ihm verlangt hast." Er nickte seinem Kollegen zu und machte ihm ein Zeichen. Noch zwei Minuten, dann würde er das Gespräch beenden. Lily Redhawk hatte nichts anderes erwartet. „Gut. So soll es sein." Sie war ihm eine sehr strenge Mutter gewesen. So streng, dass er noch vor seiner Teenagerzeit dreimal von zu Hause fortgelaufen war. Es hatte lange gebraucht, bis er sie verstanden hatte. Fast genauso lange, bis er gewusst hatte, wer er selbst war. Ein Außenseiter der Gesellschaft. Doch die Zeit hatte ihrer beider Schmerz ein wenig gemildert. Inzwischen konnte er besser mit ihr kommunizieren. „Ach ja, und Ma ... behandle ihn bitte nicht ganz so streng, hörst du? Schließlich hat Jake Ferien." „Gut, aber die Arbeit muss trotzdem getan werden, Graham." Er wusste, dass sie den Jungen vergötterte. Und aus eigener Erfahrung wusste er auch, dass sie Mühe hatte, es zu zeigen. „Aber die Welt wird schon nicht untergehen, wenn die Betten nicht gemacht sind", sagte er. Graham wusste, wie seine Mutter darüber dachte. Diese sogenannten Kleinigkeiten bedeuteten ihr viel, denn in ihrer Philosophie ging es vor allem um Harmonie, die sich auch in den täglichen Dingen des Alltags äußerte. „Ein kleines Kind, kleine Missetaten. Ein größeres Kind, größere ..." „Ja, ich verstehe dich, Ma", unterbrach Graham sie. „Und ich bitte dich, sieh in dein Herz und folge seinem Rat. Bis heute abend!" Damit legte er auf. Er freute sich schon auf den Abend mit Jake und seiner Mutter. Sie war ganz selbstverständlich eingezogen, als Celia ihn damals verlassen hatte. Sie ist immer für eine, Überraschung gut, dachte er. Er hätte sie nie darum gebeten, ihm den Haushalt zu führen. Aber für sie schien es eine Selbstverständlichkeit zu sein. Er hatte sie gebraucht, und sie war gekommen. Irgendwie hatte sie gespürt, dass sie ihm helfen musste, obwohl Graham von sich aus nie darüber gesprochen hätte. Dies vertiefte seinen Respekt für ihren Glauben und die traditionellen Werte seines Volkes. Jetzt erst bemerkte er, dass Caitlin ihn die ganze Zeit über unverwandt angeschaut hatte. Sie schien verblüfft und etwas verwirrt zu sein. Warum eigentlich? Doch dann sagte er sich wieder, dass ihm dies ja eigentlich egal sein konnte. Caitlin hatte nicht vorgehabt, zu lauschen. Aber ihre Neugier war stärker gewesen als ihre guten Manieren. Und durch das kurze Gespräch hatte sie wieder einen anderen Einblick in sein Wesen bekommen. Graham hatte viel weicher geklungen als vorher. Sie fragte sich, wie seine Frau wohl aussehen mochte. Ob er glücklich war in der Ehe? Vergiss es, Caitlin, schalt sie sich selbst. All dies gehört der Vergangenheit an. Es ist bedeutungslos für dich. Sie schaute rasch auf ihre Uhr, um Graham nichts von ihren Gefühlen zu verraten. Was für wunderschöne Augen sie hat, dachte er bewundernd. Türkisfarben, wie der Schmuck, den seine Mutter so sehr liebte. „Also? Bist du bereit? Können wir fahren?"
Caitlin nickte und schlug den Weg zum Ausga ng ein. In dem großen Raum war es inzwischen unerträglich heiß. Sie hielt kurz vor der Drehtür an und fragte Graham: „Wie alt ist dein Junge denn?" „Sieben", entgegnete er widerstrebend. „Sieben Jahre", wiederholte Caitlin erstaunt. Sie versuchte sich ihren ehemaligen Freund als Vater eines siebenjährigen Sohns vorzustellen, hatte damit aber Schwierigkeiten. „Wahrscheinlich ist er ein ganz schönes Kaliber, oder?" „Na ja, es geht", erwiderte Graham. „Eigentlich ist er ziemlich pflegeleicht." Jetzt hatten sie den Ausgang erreicht. Graham hielt die schwere Glastür für Caitlin auf. Draußen war es wie in einem Brutofen, „Hier entlang!" Er fasste Caitlin beim Arm und führte sie zum Parkplatz. „Dort steht er!" sagte er und zeigte ihr mit Stolz sein Prachtstück. „Das ist doch nicht dein Ernst!" Fassungslos stand Caitlin vor dem pinkfarbenen Straßenkreuzer, der aufgrund seiner Länge gleich zwei Parkplätze mit Beschlag belegte. Es handelte sich um einen Eldorado Biarritz aus dem Jahre 59, der Grahams ganzer Stolz war. Eigentlich war es ein Kabrio, aber er hatte das Verdeck hochgezogen, um die Polster vor den glühenden Strahlen der Sonne zu schützen. Im Vergleich mit den anderen Autos sah es aus wie ein Riese unter Pygmäen. Caitlin wusste immer noch nicht, was sie dazu sagen sollte. Die Überraschung hatte ihr den Atem verschlagen. Als sie sich endlich gefasst hatte, fragte sie nur: „Warum?" Das ist wieder einmal typisch Frau, dachte Graham bei sich. Wie kann man nur eine solche Frage stellen? Liebevoll fuhr er mit der Hand über die chromblitzenden Zierleisten. „Zum einen, weil es sich um eine Rarität handelt. Insgesamt sind von diesem Modell überhaupt nur eintausenddreihundertzwanzig Exemplare hergestellt worden. Und zum anderen natürlich, weil es ein wunderschönes Auto ist." Er spricht von diesem Wagen wie von seiner Geliebten, dachte Caitlin bei sich. So hatte er früher auch von ihr gesprochen, fiel ihr unwillkürlich ein. Nun ja, hoffentlich behandelt er das Auto besser als mich, dachte sie mit einem Anflug von Bitterkeit. Graham öffnete ihr die Tür des Beifahrersitzes. Caitlin versank fast in dem weichen Leder. „Damit erregst du bestimmt ziemliches Aufsehen, oder?" „Ein wenig schon", gab er lachend zurück und nahm hinterm Steuer Platz. „Nun sag mir nicht, dass du damit auch Streife fährst", meinte sie belustigt. „Natürlich nicht. Dafür habe ich einen Dienstwagen. Dieses Auto ist mein einziger privater Luxus." Liebevoll betrachtete er die glänzenden Armaturen. Dann ließ er den Motor an, und das Schlachtschiff setzte sich in Bewegung. „Man erwartet bei einem Polizisten keinen Wagen, der so ..." „Luxuriös ist?" schlug sie vor. „Auffällig ist", ergänzte Graham. „Ich verstehe." Caitlin lehnte sich in ihrem bequemen Sitz zurück und genoss die Fahrt. Unwillkürlich musste sie an ihr eigenes Auto denken, das sich morgens oft nur unter Protest in Gang bringen ließ. Der pinkfarbene Cadillac hingegen rollte die Straße hinunter wie ein Schiff beim Stapellauf. Ein wenig löste sich die Spannung, die sich in ihr angestaut hatte, während der Fahrt. Dennoch konnte sie keine Minute lang vergessen, dass sie neben Graham saß - neben Graham, von dem sie geglaubt hatte, dass er auf ewig aus ihrem Leben verschwunden wäre. Obwohl sie sich nicht berührten, genügte doch seine bloße Gegenwart, um ihren Puls zu beschleunigen. „Sieh mal einer an", meinte sie nach einer Weile, als das Schweigen langsam drückend zu werden begann, „du hast inzwischen also Karriere gemacht, hast ein
wunderschönes Auto und sogar eine Familie. Nicht schlecht!" Es hat dir anscheinend gar nichts ausgemacht, mich zu verlassen, du Bastard, dachte Caitlin bei sich, aber sie hütete sich, ihre Gedanken laut auszusprechen. Äußerlich wirkte sie ruhig. Es blieb noch abzuwarten, wer vo n beiden das bessere Pokerface war. Graham sah sie kurz an, dann konzentrierte er sich wieder aufs Fahren. Plötzlich bemerkte er, dass er das Steuerrad krampfhaft fest umklammert hielt. Sie kann mich also immer noch treffen, dachte er bei sich. Zur Hölle mit dieser Frau! „Na, du warst ja inzwischen auch nicht gerade untätig", gab er leichthin zurück. „Gehört der Laden dir?" Das Geschäft war Caitlins ganzer Stolz, Außerdem war es ein unverfängliches Thema. „Ja, der Laden gehört mir." „Und wie läuft es so?" Der Wagen vor ihm fuhr viel zu langsam. Graham überholte ihn unter lautem Hupen. „Obwohl das ja wahrscheinlich zweitrangig ist, nehme ich an." Sein Kommentar traf sie tief. Sie sah ihn stirnrunzelnd an. „Warum sagst du das? Wieso sollte das zweitrangig sein?" Sie klang verletzt. Graham zuckte lässig mit den Schultern. „Na ja, du hast das Geld ja nicht gerade nötig, oder?" Das Geld! Sie fragte sich, welche Rolle Geld wohl jetzt in seinem Leben spielen mochte. Damals, als sie sich näher gekannt hatten, war es jedenfalls sehr wichtig für ihn gewesen. „Vielleicht brauche ich den Respekt, den ich dadurch bekomme", erwiderte sie kühl. Graham lächelte verächtlich. „Durch den Verkauf von Dessous?" Machte er sich über sie lustig? Wie ihre Mutter, als sie von Caitlins Plänen erfahren hatte? Grahams Haltung kränkte sie mehr, als ihr lieb war. „Natürlich nicht!" erwiderte sie eine Spur zu heftig. „Sondern durch die Tatsache, dass ich mir meinen Unterhalt selbst verdiene." Als ob sie das nötig gehabt hätte! Graham sah sie mit hochgezogenen Augenbrauen an. „Warum denn? Hat deine Mutter dir etwa das Konto gesperrt?" Er klang plötzlich sehr feindselig. Bei der Erwähnung ihrer Mutter war Caitlin zusammengezuckt. Nun gut, wahrscheinlich war von ihm auch keine andere Reaktion zu erwarten. „Keineswegs!" erklärte sie nachdrücklich. „Wir hatten eine Meinungsverschiedenheit, nach der ich mich entschloss, mich selbständig zu machen - und zwar ohne ihre Unterstützung!" Graham schien über ihre Antwort erstaunt zu sein, aber er gab keinen Kommentar dazu ab. Caitlin seufzte. Vielleicht schulde ich ihm ja wirklich eine Erklärung, dachte sie bei sich. Immerhin hatten sie sich damals ja sehr nahe gestanden, und Graham wusste von den Kämpfen mit ihrer Mutter. „Sie hat immer versucht, durch das Geld Kontrolle über mich auszuüben", sagte sie nachdenklich. „Als ich dann mein eigenes Geld verdiente, war es endlich damit aus. Du kannst dir nicht vorstellen, wie sehr mich das erleichtert hat." Leider hatte das insgesamt nichts an der Haltung ihrer Mutter ihr gegenüber geändert. Regina Cassidy hielt ihre Tochter immer noch für ihr persönliches Eigentum. Sie hatte ihr Leben lang Menschen manipuliert und würde damit gewiss auch im Alter nicht mehr aufhören. Graham hatte ihr aufmerksam zugehört. „Und wie bist du dann zu dem Laden gekommen?" Sie setzte sich gerade im Sitz auf. „Mein Vater hat mir in seinem Testament ein wenig Geld hinterlassen. Nicht sehr viel, aber es genügte, um das Geschäft zu kaufen. Glücklicherweise ging nicht alles an Mutter." Ihr Vater hatte sich zwar nie offen gegen seine Frau gestellt, aber er kannte auch ihren Charakter. Das war ein Schock für Graham. „Dein Vater ist gestorben?" „Ja, leider." Selbst jetzt, nach so langer Zeit, kamen Caitlin bei diesem Gedanken die Tränen. Ihr
Vater war der einzige Mensch gewesen, der sie wirklich verstanden hatte, der einzige, der wusste, dass sie sich nichts dringender wünschte, als endlich der Fuchtel ihrer Mutter zu entkommen. Sie hasste all die gesellschaftlichen Verpflichtungen, die für Regina einen solchen Wert besaßen. Ein solches Leben übte auf Caitlin keinerlei Anziehungskraft aus. Jonathan Cassidy hatte Krebs gehabt und war gestorben, als Caitlin gerade mit ihrem Studium anfing. Zu diesem Zeitpunkt dachte er noch, dass sie Graham heiraten würde. Caitlin hatte nicht das Herz gehabt, ihm von dem Bruch zu erzählen. Es hätte seinen Tod wahrscheinlich noch beschleunigt. Sie hatte nicht vergessen, wie sehr sie Grahams Beistand damals gebraucht hätte. Er als einziger hätte ihr helfen können, mit dem Schmerz fertig zu werden. So war sie damit ganz allein gewesen. Es war die schwerste Zeit ihres Lebens. Sie war nach Paris gefahren, um alles zu vergessen - allein. Dabei hätte es eigentlich ihre Hochzeitsreise werden sollen. Sie hatte vorgehabt, Graham mit den Flugtickets zu überraschen. „Er starb in dem Sommer, als ich zur Uni ging." Caitlins Augen waren starr geradeaus gerichtet. Graham konnte sich noch gut an ihren Vater erinnern. Jonathan war ein ausgesprochen liebenswürdiger Mann gewesen, der unter der Fuchtel seiner viel dominanteren Frau gestanden hatte. Er hatte weißes Haar und ein herzliches Lachen. So einen Vater hätte Graham gern selbst gehabt. Er wollte Caitlin sein Beileid bekunden, aber ihre starre Haltung hielt ihn davon ab. Nun ja, sie ist wahrscheinlich auch nicht scharf darauf, bemitleidet zu werden, dachte er. „Schade. Ich mochte ihn sehr", meinte er daher nur. „Er mochte dich auch." Leider hatte ihr Vater Graham nur von seiner besten Seite kennengelernt. Den Verrat an ihr hatte er nicht mehr erleben müssen, und irgendwie war Caitlin dafür fast dankbar. Wieder gab es eine lange Gesprächspause. Graham wartete noch ein paar Straßenzüge, bis er den Faden wiederaufnahm. „Heißt das, du stehst nicht mehr in Kontakt mit deiner Mutter?" Caitlin zuckte die Schultern. „Nein, das heißt es nicht. Wir sehen uns etwa einmal im Monat, wenn sie hier in der Gegend ist." Von Caitlins Seite aus geschah dies mehr aus Pflichtgefühl. Sie hatte lange vergeblich um die Liebe ihrer Mutter geworben und schließlich resigniert aufgegeben. Unwillkürlich musste sie lächeln. Was wohl ihre Mutter dazu sagen würde, wenn sie erführe, dass sie hier mit Graham Redhawk im Auto saß? Wahrscheinlich würde sie einen Nervenzusammenbruch erleiden. Regina hatte diese Verbindung von Anfang an rigoros abgelehnt und bekämpft. „Nachdem Daddy tot war, ist sie nur noch gereist. Irgendwo auf der Welt scheint es immer eine Party zu geben, zu der Mutter unbedingt hin muss." Caitlin fand diesen Lebensstil ausgesprochen langweilig. Aber ihre Mutter fragte sie schließlich auch nicht nach ihrer Meinung. „Und was ist mit dir? Warum begleitest du sie nicht?" Das wäre doch nur allzu natürlich gewesen, dachte er. „Sie muss Ihretwegen auf alles verzichten, was ihr rechtmäßig zusteht", hatte Regina Cassidy ihm am letzten Tag erklärt. „Falls sie Sie wirklich heiratet, werde ich dafür sorgen, dass sie enterbt wird." Das allein hätte noch nicht genügt, um ihn in seinem Entschluss, Caitlin zu heiraten, wanken zu lassen. Nein, es waren Caitlins eigene Worte gewesen, die schließlich den Ausschlag gegeben hatten. Caitlin schüttelte den Kopf. „Das geht nicht, ich muss zuviel arbeiten. Außerdem interessiert mich dieser ganze
Gesellschaftskram nicht im Geringsten." In diesem Moment wurden sie von einem blauen Sportwagen mit einem gewagten Manöver überholt. Graham musste im allerletzten Moment bremsen. Er stieß einen kräftigen Fluch aus. Caitlin lachte, als sie sein Gesicht sah. „Kein Wunder, dein Auto ist ja auch wirklich eine Provokation", meinte sie belustigt. „Was zum Teufel hat dich nur bewogen, ein solches Schlachtschiff zu erwerben?" Graham bezweifelte, dass sie seine Leidenschaft für den Wagen jemals verstehen könnte. Er bedeutete für ihn die Suche nach Schönheit, nach Originalität. Auf geheimnisvolle Weise fühlte er sogar eine gewisse Verwandtschaft mit dem Eldorado. Sie beide hatten etwasgemeinsam - sie passten nicht in eine Welt, in der alles nach den gleichen Normen ausgerichtet war. Aber von alldem sagte er Caitlin natürlich nichts. „Es ist ein Klassiker", erwiderte er ausweichend. „Und ich habe nun einmal eine Schwäche für Klassiker." Er warf Caitlin einen langen, bedeutungsvollen Blick zu. Seine Worte brachten erneut die Erinnerung zurück. Gleichzeitig empfand Caitlin sie wie einen Schlag ins Gesicht. „Ja. das hast du mir damals schon gesagt." Verdammt noch einmal, warum ließ Graham sie nicht vollkommen kalt? Wenn man bedachte, was er ihr alles angetan hatte ... Sie wünschte sich, dass ihr Laden nicht so weit von der Polizeiwache entfernt wäre. Oder dass sie sich wie geplant ein Taxi geholt hätte. Dann hätte sie sich diese ganzen Peinlichkeiten sparen können. Verzweifelt suchte Caitlin nach einem unverfänglichen Thema. „Glaubst du, ihr schnappt den Mörder?" Graham war dankbar für den Themenwechsel. Dies war sein Terrain, hier kannte er sich aus. Die Spannung zwischen ihnen lockerte sich etwas. „Ich würde sagen, die Chancen stehen fünfzig zu fünfzig", ent gegnete er ruhig. Wenigstens versuchte er nicht, ihr etwas vorzumachen. „Fünfzig zu fünfzig?" fragte Caitlin bestürzt. „Mehr nicht?" „Hey, das ist eine ziemlich gute Quote." Es hing alles vom Standpunkt des Betrachters ab. „Im Leben ist es nun einmal nicht wie im Kino. In den allermeisten Fällen gehen die Verbrecher straffrei aus." Ein Schauer überlief Caitlin. Graham blieb ihre Reaktion nicht verborgen. Es tat ihm leid, dass er ihr so offen geantwortet hatte. Er hatte sie nicht erschrecken wollen. Aber inzwischen hatte er sich so sehr an die tägliche Gefahr gewöhnt, dass sie für ihn nichts Besonderes mehr darstellte. „Hast du Angst?" fragte er geradeheraus. „Ich?" Caitlin versuchte zu lachen, aber es wollte ihr nicht recht gelingen. So schnell, wie es gekommen war, verschwand ihr Lächeln auch wieder. „Vielleicht ein bisschen", meinte sie kleinlaut. Graham tat sein Bestes, sie zu beruhigen. „Mach dir keine Sorgen, Caitlin. Der Mörder sitzt jetzt höchstwahrscheinlich bereits in einem Bus nach Süden." Sie gab sich Mühe, daran zu glauben. Ja, hoffentlich verschwand der Mann auf Nimmerwiedersehen! Sie wünschte sich so sehr, dass mit diesem Alptraum jetzt Schluss sein mochte. „Meinst du wirklich?" fragte sie hoffnungsvoll. Graham nickte. Sie hatten jetzt die Innenstadt erreicht. Nach einigem Suchen fand er endlich auch einen Parkplatz, der groß genug für den Eldorado war. „Ja, das meine ich wirklich", erwiderte er ernst und stellte den Motor ab. Dann griff er in seine Jackentasche und holte eine Visitenkarte hervor. „Falls dir trotzdem irgend etwas oder irgend jemand Verdächtiges auffallen sollte, ruf mich bitte sofort an, ja?" Caitlin besah sich die Karte. Darauf standen Grahams Name, sein Dienstgrad sowie Nummer und Adresse seines Reviers. Es sah wirklich sehr professionell aus. Sie nickte, und steckte die Karte ein.
„Wahrscheinlich hast du ja recht", sagte sie. „Es wäre wirklich das Klügste von dem Mann, sofort von hier zu verschwinden." Es klang ein wenig so, als wollte sie es sich einreden, was beiden nicht verborgen blieb. „Und was hast du jetzt vor? Bezüglich des Falls, meine ich natürlich", setzte sie hastig hinzu. Er sollte ja nicht denken, dass sie an seinem Privatleben interessiert wäre. Graham wusste genau, was jetzt zu tun war. Dies war schließlich Standardroutine. Aber er erklärte es Caitlin noch einmal. „Also, zunächst werden wir alle Leute in der näheren Umgebung befragen, ob sie irgend etwas bemerkt haben. Dabei hilft uns hoffentlich die Phantomzeichnung, die unser Zeichner nach deinen Angaben gemacht hat. Es kann ja sein, dass der Mörder sich schon öfter hier herumgetrieben hat." Caitlin nickte. Plötzlich fiel ihr auf, wie weich ihre Knie waren. Das Ganze hatte sie doch mehr angestrengt, als sie geglaubt hatte. Insgeheim hatte sie immer noch das Gefühl gehabt, alles nur zu träumen. Aber je länger die Sache dauerte, desto mehr wich dies der beklemmenden Gewissheit, dass dies kein Traum war, sondern bittere Realität. Heute morgen war tatsächlich ein Mann ermordet worden. Und es konnte gut sein, dass sie die einzige Augenzeugin war. Graham sah, wie blass sie geworden war. Instinktiv legte er den Arm um sie und drückte sie beruhigend. „Hey, es wird schon alles wieder gut", sagte er verlegen. Er fand es schwer, anderen Menschen seine Gefühle zu zeigen, und dies galt natürlich besonders für Caitlin. Schließlich lagen all die Jahre der Verzweiflung und Verbitterung zwischen ihnen. Trotzdem konnte er es nicht ertragen, sie so verängstigt zu sehen. „Ja, natürlich." Abrupt schüttelte Caitlin seinen Arm ab und stieg aus dem Auto. Sie konnte Grahams Gegenwart plötzlich nicht mehr ertragen. In ihr war nur noch der brennende Wunsch, endlich allein zu sein. Sie wollte nicht mehr an den Mord denken, nicht mehr an den Verrat ihrer Liebe. Sie wollte einfach nur wieder in ihr ruhiges, wohlgeordnetes Leben zurück. Es hatte schließlich sehr lange gedauert, bis sie sich eine neue Existenz aufgebaut hatte. Damals, als Graham sie verlassen hatte, waren nur noch die Trümmer ihrer Hoffnung übriggeblieben. Doch inzwischen hatte sie sich etwas aufgebaut, und das würde sie sich von niemandem mehr nehmen lassen. So stark war ihr Wunsch, sich von ihm zu trennen, dass sie sich nicht einmal von Graham verabschiedete. Grußlos schritt sie die Straße hinab in Richtung ihres Ladens. Graham ließ sich auf der Kühlerhaube nieder und sah ihr nach, bis sie um die nächste Ecke verschwunden war. Dann erst fuhr er sich mit beiden Händen durchs Haar und stieß einen tiefen Seufzer aus. Caitlins Duft schien überall zu sein. Aber daran wollte er jetzt nicht mehr denken. Schließlich gab es eine Menge zu tun. Entschlossen stieg er wieder ins Auto. „Auf geht's!" sagte er, legte den Rückwärtsgang ein und fuhr los. Es war bestimmt einer der längsten Arbeitstage, seit Graham bei der Polizei eingestiegen war. Kurz nach seiner Rückkehr zur Wache waren Jeffers und er bereits wieder losgefahren, um ihre Ermittlungen aufzunehmen. Die Phantomzeichnung des Mörders hatten sie viele Male kopieren lassen und befragten mit Hilfe der Zeichnung unzählige Passanten und Ladenbesitzer. Doch leider blieben ihre Bemühungen ohne Erfolg. Wie er schon vermutet hatte, fand sich bei dem Toten keine Brieftasche oder offizielle Identifikationsmarke. Aber aufgrund seiner Fingerabdrücke fanden sie schließlich seinen Namen heraus. Joshua Landers. Das war immerhin ein Anfang. Graham war todmüde, als er am Abend die Stufen seines kleinen einstöckigen Hauses hinaufstieg. Jetzt wünschte er sich nur noch eine warme Mahlzeit und ein bisschen Zeit mit Jake. Er fand seinen Adoptivsohn im Wohnzimmer, wo er auf dem Sofa herumlümmelte und ein Baseballspiel verfolgte.
Graham schloss die Tür hinter sich. „Hey, Kleiner! Na, wie läuft's?" Jake sah seinen Vater seufzend an. „Schrecklich! Ich glaube, sie verlieren." Sein Vater lachte. Baseball war Jakes ganz große Leidenschaft Natürlich hatte er auch seine Favoriten, und er konnte es nicht ertragen, sie verlieren oder absteigen zu sehen. „Wo ist Grandma?" fragte Graham. Jake war bereits wieder bei dem Spiel. „In der Küche, glaube ich", sagte er abwesend. Graham folgte dem lauten Knurren seines hungrigen Magens, der ihm die Richtung wies. Seine Mutter stand in der Küche am Herd und rührte in einem großen Topf herum. Sie trug das traditionelle Gewand der Navajoindianer. Darin fühlte sie sich nun einmal am wohlsten, hatte sie ihrem Sohn erklärt. Graham hatte es schon lange aufgegeben, sie ändern zu wollen. Er ging zu ihr und küsste sie auf die Wangen. „Hallo, Ma." Lily Redhawk warf ihrem einzigen Sohn einen langen Blick zu. Für ihr Alter war sie noch erstaunlich fit. Aber heute sah sie müde und erschöpft aus. Der Tisch war gedeckt. Nur die Gläser fehlten noch. Graham holte sie aus dem Schrank. „Was ist los, Ma? Hat Jake dich geärgert?" Er hatte gedacht, dass die kleine Meinungsverschiedenheit beigelegt sein würde. Seine Mutter schüttelte den Kopf. „Nein, Jake war sehr lieb. Aber für dich hat heute jemand angerufen." An ihrem Ton erkannte er bereits, dass dies eine unangenehme Überraschung sein würde. „Wer denn?" „Celias Anwalt." Graham und Celia waren seit zwei Jahren geschieden. Er schickte ihr jeden Monat Geld, aber darauf beschränkte sich ihr Kontakt auch. Graham hielt es so für das Beste. Er und Jake kamen sehr gut ohne sie zurecht. Ärgerlich setzte er sich hin und fragte seine Mutter: „Was will sie denn jetzt schon wieder?" Lily warf einen raschen Blick ins Wohnzimmer. Jake saß noch immer wie hypnotisiert vor dem Fernseher. Normalerweise hätte sie ihm deswegen eine Szene gemacht, aber im Moment war es ihr ganz recht. Sie zögerte einen Moment lang, ehe sie mit der schlimmen Nachricht herausrückte. „Sie will Jake."
4. KAPITEL Graham starrte seine Mutter fassungslos an. Er weigerte sich zu glauben, was er gerade gehört hatte. Nein, das war unmöglich! Der Gedanke, dass jemand ihm seinen Jungen wegnehmen wollte, ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren. „Jake? Was soll das heißen, sie will Jake?" Weder der Ton noch der Gesichtsausdruck seiner Mutter veränderten sich. Aber Graham spürte, dass sie mit ihm fühlte und litt. Er sah es an kleinen Gesten - an der Art, wie sie ihren Kopf neigte, an ihrer starren Haltung. Sie nickte düster. „Du hast es doch gehört, Graham. Celia will das Sorgerecht für Jake." Graham sprang auf, der Stuhl fiel polternd nach hinten. „Hat ihr Anwalt eine Telefonnummer hinterlassen?" „Ja, natürlich." Ihr Sohn hielt bereits den Hörer in der Hand. „Er hat gesagt, er wäre nur noch bis fünf im Büro." Er wusste, es war bereits weit nach fünf und zögerte, ob er es nicht trotzdem versuchen sollte. Schließlich knallte er wütend den Hörer auf die Gabel. Nein, er musste jetzt vor allem ruhig bleiben. Es wäre Jake nicht damit gedient, wenn er die Nerven verlieren würde. Morgen war auch noch Zeit, mit dem Anwalt zu sprechen. Aber er sah sehr grimmig aus, als er den Stuhl wieder aufhob und sich hinsetzte. „Das ist vollkommen ausgeschlossen. Sie kann ihn nicht haben." Lily wusste, wieviel der Junge ihm bedeutete. Ihr ging es nicht anders, obwohl sie das, nie zugegeben hätte. „Wir könnten mit ihm ja auch wieder zurück ins Reservat gehen", schlug sie vor. Das hatte sie schon einmal gemacht, damals, als feststand, dass ihre Ehe nicht funktionieren würde. Es war zwar gegen ihren Stolz gegangen, aber sie hatte keinen anderen Ausweg gesehen. Schließlich hatte sie an ihren kleinen Sohn denken müssen. Sie beide brauchten den Schutz der Familie. Graham schüttelte den Kopf. „Nein, das ist kein Ausweg. Glaubst du etwa, sie würden uns dort nicht finden?" Es wäre der erste Platz, an dem man suchen würde. Lily hatte schon über alles nachgedacht, und sie wollte sich nicht so schnell geschlagen geben. Schließlich gehörten sie zu einem weitverzweigten Stamm. „Ich dachte an Utah." Graham schüttelte erneut den Kopf. Er dachte gar nicht daran, sich zu verstecken und für den Rest seines Lebens mit Jake auf der Flucht zu sein. Sein Beruf war gefährlich genug. Um ihn zu überstehen, brauchte er ein gewisses Maß an Stabilität in der Familie. „Ich werde dagegen ankämpfen, Ma", sagte er fest. „Mit meinen eigenen Mitteln." Sie zuckte die Schultern. „Ganz wie du willst," Graham fuhr sich mit den Händen durchs Haar. Er fühlte sich plötzlich vollkommen erschöpft. Warum muss ich denn nur immer für alles kämpfen, was ich haben will, dachte er verbittert. Celia hätte er mit Vergnügen den Hals herumgedreht. Zuerst wollte sie Mutter sein, dann überlegte sie es sich wieder anders, jetzt hatte sie ihre Meinung anscheinend erneut geändert. Was war nur mit dieser Frau los? Und warum konnte sie ihn nicht endlich in Ruhe lassen? Er hatte Celia geheiratet, weil sie damals schwanger gewesen war. Seine Ehre war Graham sehr wichtig gewesen, und die Wunden, die Caitlin hinterlassen hatte, waren gerade erst geheilt. Deshalb hatte er auch nicht gezögert, als er Celia zur Frau genommen hatte. Aber er hatte der Geburt ihres gemeinsamen Kindes mit gemischten Gefühlen entgegengesehen. Und es war schließlich auch gar nicht dazu gekommen. Im fünften Monat hatte Celia eine Fehlgeburt. Der Verlauf der Schwangerschaft wurde dermaßen kompliziert, dass der Arzt ihr verbot, jemals wieder zu empfangen. Sie war so verzweifelt gewesen, dass Graham sich große Sorgen um sie gemacht hatte. Die Vorstellung, für immer ohne Kind zu sein, war unerträglich für sie gewesen, und sie hatte Graham mit der Adoption
wochenlang in den Ohren gelegen. Zuerst war er gegen diese Idee gewesen. Etwas in ihm sträubte sich dagegen, einen Fremden in die Familie aufzunehmen. Aber Celia hatte einfach nicht lockergelassen. Sie hatte geweint und ihn angefleht. Schließlich hatte Graham sich dazu breitschlagen lassen, einen kleinen Jungen zu adoptieren, der Halbindianer war, genau wie er. Es war der beste Entschluss seines Lebens gewesen. Er hatte Jake von Anfang an vergöttert. Sein eigenes leibliches Kind hätte er nicht mehr lieben können. Und jetzt wollte Celia ihm den Jungen wieder wegnehmen! Grahams Hand packte die Stuhllehne, bis seine Knöchel weiß wurden. Er blickte seine Mutter zornig an. „Sie wird ihn nicht bekommen", wiederholte er. „Wen wird sie nicht bekommen?" Graham drehte sich schnell um. Jake, der ein viel zu großes T-Shirt trug, das eigentlich Graham gehörte, marschierte in die Küche. Er hatte anscheinend den letzten Teil des Gesprächs mitangehört. „Niemand, den du kennst", erwiderte Graham schnell und zog seinen Sohn zu sich. Celia wird mich umbringen müssen, ehe ich auf Jake verzichte, dachte er bei sich. Lachend schob er ihm die Baseballkappe tief ins Gesicht. Die beiden balgten ein wenig herum, dann meinte Graham: „Lass uns jetzt essen, und dann sehen wir uns noch zusammen das Ende des Spiels an." Jake schüttelte düster den Kopf. „Vergiss es, Dad. Sie spielen ganz furchtbar. Es ist hoffnungslos." „Nichts", entgegnete Graham mit Nachdruck, „ist jemals wirklich hoffnungslos. Hast du mich verstanden?" Könnte ich das doch nur selbst glauben, dachte er bei sich. Am nächsten Morgen sah es nicht besser aus. Celias Anwalt war nicht erreichbar gewesen. Eine Sekretärin hatte Graham mit kühler Stimme mitgeteilt, dass Mr. Wells im Gerichtssaal war und nicht vor Mittag zurückkehren würde. Aber sie versprach, ihm seine Nachricht zu übermitteln. Da er keine Ahnung hatte, wo Celia jetzt wohnte, blieb ihm gar nichts anderes übrig, als zu warten. Er war noch immer zornig und frustriert, als er den Hörer auflegte. Vielleicht sollte er ein paar Nachforschungen anstellen, um ihren Aufenthaltsort herauszufinden. Er hatte sich vorher nicht darum bemüht, denn eigentlich war es ihm ziemlich egal, wo sie war. Allein Jakes wegen war er überhaupt noch mit ihr in Kontakt. Und vor allem seinetwegen hatte er schließlich eingewilligt, als Celia auf einer Scheidung bestanden hatte. Es hatte Graham eingeleuchtet, als sie sagte, dass Jake etwas Besseres verdiente als die dauernden Streitigkeiten zwischen seinen Eltern. Aber jetzt hatte er den brennenden Wunsch, mit ihr in Verbindung zu treten. Er musste einfach etwas tun. Warten zu müssen, fand Graham schrecklich. Außerdem zog er es vor, gerüstet zu sein, wenn das Schicksal wieder einmal einen Schlag austeilte. Nachdenklich blickte er auf die Akte, auf der in großen Buchstaben Caitlins Name stand. Verdammt, sein Leben drohte wieder ziemlich kompliziert zu werden. Würde er denn niemals Ruhe haben? „Hey, hast du das schon gesehen?" Jeffers reichte ihm die Morgenzeitung. Er klang grimmig. Graham ignorierte ihn, denn er kannte seinen Kollegen, der sich immer über irgendwelche politischen Nachrichten aufregte. Graham zog es vor, nicht mit ihm zu diskutieren. Seiner Meinung nach war dies die reine Zeitverschwendung. „Nein. Und es interessiert mich auch nicht besonders", erwiderte er daher ruhig. „So? Dann sieh dir das mal an!" Jeffers wies mit dem Zeigefinger auf die linke untere Ecke der ersten Seite. Seufzend nahm Graham das Blatt entge gen. Doch als er Caitlins Namen in
Großbuchstaben erblickte, hätte er die Zeitung um ein Haar fallengelassen. Mit angehaltenem Atem verschlang er den Bericht über den Mord in der Innenstadt. Es waren nur ein paar Zeilen, aber sie genügten, um den Mörder zu warnen, dass er bei seiner Tat beobachtet worden war. Graham schlug mit der Faust auf den Tisch. „Was für eine gottverdammte Schweinerei!" „Ja, du hast recht!" Jeffers sah ihn düster an. Der Schaden, der damit angerichtet worden war, war enorm. Grahams erster Gedanke galt Caitlin. Wusste sie davon? Er griff nach dem Telefon. „Redhawk, Jeffers, kommen Sie in mein Büro!" Plötzlich stand ihr Vorgesetzter hinter ihnen. „Und zwar sofort", bellte er. Jeffers und Graham sahen sich an. „Ich nehme an, er weiß es schon", meinte Jeffers besorgt. Tatsächlich lag auch auf dem Schreibtisch ihres Chefs ein Exemplar der Morgenzeitung. Martinez wartete, bis die beiden Männer eingetreten waren. Dann machte er die Tür hinter ihnen zu. Sein Gesicht war zum Fürchten. „Wie konnte das geschehen?" fragte er mit zusammengebissenen Zähnen. „Welcher Idiot hat diese Informationen an die Presse gegeben?" Beide Männer zuckten mit den Schultern. „Ich war es nicht", sagte Jeffers. Graham lehnte sich gegen die Tür. Martinez wusste, dass er ihn nicht erst zu fragen brauchte. Graham hielt nichts von Journalisten soviel war allgemein bekannt. Für ihn wären sie nichts Besseres eine Horde Geier. „Vielleicht war es jemand aus der Nachbarschaft", schlug er vor, „Wir haben schließlich mit vielen Leuten gesprochen und ihnen das Phantombild gezeigt." Diese Erklärung war logisch, machte die Sache aber auch nicht besser. „Der Wahnsinnige, der diesen Artikel geschrieben hat, hat den Namen der Zeugin erwähnt. Sie wissen, was das he ißt." Jeffers nickte. „Ja, klar. Sie wird Polizeischutz brauchen." Sein Vorgesetzter bestätigte dies. „Richtig, nur haben wir leider zur Zeit nicht genügend Männer zur Verfügung." Die Polizeigewerkschaft stand gerade in Verhandlungen mit der Stadt. Es ging um die Gehälter, und auf beiden Seiten hatte sich viel Groll angestaut. Insgeheim stand aber fest, dass es nicht genügend Polizisten gab, um die Ordnung aufrechtzuerhalten. Graham war dies nichts Neues. Es gehörte zu den Schwierigkeiten, mit denen sie täglich zu kämpfen hatten. Sein Vorgesetzter blickte ihn fest an. „Sie werden diesen Job übernehmen, Redhawk." Graham traf diese Nachricht wie ein Schlag. Aber nach außen hin ließ er sich nichts anmerken. „Was ist mit Jeffers?" fragte er vorsichtig. Beide gehörten zu seinen besten Männern, aber Martinez war überzeugt davon, dass Redhawk der Richtige für diese Aufgabe war. Er hatte diesen Spürsinn, den er höchstwahrscheinlich von seinen Navajovorfahren geerbt hätte. Vielleicht habe ich zu viele Western gesehen, dachte Martinez. Jeffers wird Ihr Kontaktmann hier sein und Sie vielleicht auch von Zeit zu Zeit entlasten. Aber für ihn habe ich noch andere Aufgaben." Er blickte Graham aufmerksam an. „Warum? Haben Sie etwas dagegen, den Fall zu übernehmen?" Graham zögerte unmerklich, dann schüttelte er den Kopf. „Nein, natürlich nicht." Martinez nickte zufrieden. „Prima, dann ist ja alles klar. Ab heute sind Sie Caitlin Cassidys Schutzengel." Jeffers lachte laut. „Gute Idee, Chef! Aber ich kann mir unseren Freund hier nur schwer mit Flügeln vorstellen." Graham funkelte ihn an; „Halt die Klappe, Mann! Sei froh, dass du dich nicht mit der Sache herumschlagen musst." „Ist ja schon gut! Ich hab' doch nur Spaß gemacht!" Beruhigend legte Jeffers seinem
Kollegen die Hand auf die Schulter. „Vielleicht ist der Bursche ja längst über alle Berge." „Kann sein", meinte Martinez. „Aber es kann genauso gut sein, dass er sich in den Kopf gesetzt hat, die einzige Augenzeugin zu erledigen. Jedenfalls dürfen wir kein Risiko eingehen. Ach ja, noch etwas, wir haben etwas herausgefunden. Der Tote war anscheinend Mitglied eines Drogenrings, der sich hier in der Stadt gerade etablieren will. Ein kleines Rädchen, aber immerhin." Jeffers war überrascht. „Tatsächlich?" Martinez nickte ungeduldig. Für ihn war die Sache damit erledigt. Er brannte darauf, sich dem nächsten Fall zuwenden zu können, denn auf seinem Schreibtisch häuften sich die Akten mit ungelösten Verbrechen. „Wenn innerhalb der nächsten zwei Wochen alles ruhig bleibt, heben wir den Polizeischutz natürlich auf." Er sah Graham warnend an. „Bitte, geben Sie Ihr Bestes, Redhawk. Einen zweiten Mord können wir uns nicht leisten." Graham wusste, worauf sein Vorgesetzter anspielte. Der Fall Saunders. Hier hatte es die Polizei versäumt, den einzigen Zeugen zu beschützen, und er war prompt von einem der Verdächtigen erschossen worden. Der Fall hatte für einen ungeheuren Wirbel in der Presse gesorgt, und er war nicht gerade dazu angetan gewesen, das Image der Polizei zu verbessern. Eine Wiederholung musste unbedingt vermieden werden. „Ich sehe, wir haben uns verstanden", meinte Martinez grimmig. „Nun können Sie gehen. Zeigen Sie mir, dass Sie Ihr Gehalt wert sind." Jeffers hatte sich bereits zum Gehen gewandt. Graham drehte sich an der Tür noch einmal um. „Das machen wir doch immer, Chef." Martinez verzichtete auf eine Antwort. Er bedeutete den beiden Männern ungeduldig, dass sie nun endlich verschwinden sollten. Wunderbar! Caitlins Schutzengel! Das hatte ihm gerade noch gefehlt! Jeffers wandte sich zu ihm um und fragte zögernd: „Möchtest du, dass ich den Chef bitte, mir den Job zu übergeben? Ich mache das gern für dich, wirklich!" Graham schüttelte den Kopf. Es war ihm peinlich, dass sein Kollege seinen inneren Zwiespalt so deutlich mitbekommen hatte. „Nein, danke", erwiderte er kopfschüttelnd. „Ich habe mir die Sache eingebrockt, und ich werde sie wohl auch auslöffeln müssen." „Was war denn eigentlich damals zwischen euch beiden?" fragte Jeffers neugierig. Graham gab sich einen Ruck. „Wir hätten fast geheiratet", entgegnete er gepresst. Jeffers pfiff durch die Zähne. „Wusste ich doch, dass es sich um keine Kleinigkeit handelt", sagte er. „Also ... vielleicht überlegst du dir mein Angebot ja noch einmal." „Nein, danke, Jeffers. Wirklich nett von dir, doch ich werde schon damit zurechtkommen. Leider ist aber auch ..." „Ja? Was denn?" Es war ungewöhnlich, dass Graham so offen mit ihm sprach. „Celia will Jake", sagte Graham gequält. „Verdammt noch mal!" Graham lächelte bitter. „Genau!" Er nickte seinem Partner noch einmal zu und verließ dann das Büro. In Caitlins Laden war den ganzen Morgen lang die Hölle los gewesen. Daher freuten sie und Kerry sich, als es gegen Mittag endlich ruhiger zu werden begann. Sie hatten Zeit, die Ware wieder in die Regale einzuordnen und sich ein wenig über die Kundinnen zu unterhalten. Doch kurz danach ertönte die Ladenklingel erneut. Kerry wollte sich der neuen Kundin schon zuwenden, aber ihr Lächeln erstarb, als sie sah, wer es war. Sie stieß Caitlin an, die gerade vor der Theke kniete, und zischte ihr
eine Warnung zu. „Hey, was soll das? Warum machst du mich ..." Caitlins Stimme erstarb mitten im Satz. Eine hochgewachsene ältere Dame, die von Kopf bis Fuß in Designerkleidung gehüllt war, marschierte geradewegs auf sie zu. Sie war mit Schmuck beladen und bis ins letzte Detail gestylt. Die strengen, etwas kühlen blauen Augen, mit denen sie Caitlin betrachtete, verhießen nichts Gutes. Caitlin sah ihre Mutter mit einer Mischung aus Abwehr, Ärger und Verzweiflung an. Es passierte nur selten, dass Regina Cassidy ihr die Ehre eines Besuchs zukommen ließ, und meist hatte es nichts Gutes zu bedeuten. Tatsächlich knallte ihre Mutter anstelle einer Begrüßung ein Exemplar der Morgenzeitung auf Caitlins Ladentheke. Es schien ihr egal zu sein, dass sie damit auch einige hübsche Seidenslips zu Boden gefegt hatte. Die Verachtung, die sie ausstrahlte, galt ihrer Tochter, den Dessous und dem ganzen Laden. „Was fällt dir eigentlich ein, unseren guten Namen derart in den Schmutz zu ziehen?" wollte sie von Caitlin wissen. Ihre hohe Stimme hatte einen schrillen Klang. „Guten Morgen, Mrs. Cassidy", sagte Kerry betont höflich. „Wie nett, Sie wieder einmal bei uns zu sehe n!" Caitlins Mutter warf ihr einen einzigen vernichtenden Blick zu. Von da an behandelte sie sie wie Luft. Kerry verstand den Hinweis. Sie winkte Eva, der Aushilfskraft, zu, sich mit ihr ins Hinterzimmer zurückzuziehen. Mutter und Tochter waren allein. Ungeduldig trommelte Regina mit dem manikürten Fingernagel auf die Glastheke. „Na? Hast du mir nichts dazu zu sagen?" Caitlin stieß einen tiefen Seufzer aus. Reichte es denn nicht, dass sie gestern aufgrund des Zwischenfalls einen halben Tag verloren hatte? Musste sie sich jetzt auch noch mit ihrer Mutter anlegen? „Ich weiß wirklich nicht, wovon du sprichst, Mutter", erwiderte sie abweisend. Regina sah sie schockiert an. Nicht genug, dass sie ihre Familie diskreditiert hatte, musste Caitlin sie zu allem Überfluss jetzt auch noch anlügen? „Dann lies das hier!" herrschte sie sie an. Caitlin wollte sie nicht noch mehr verärgern. Seufzend beugte sie sich über die Zeitung. Doch dann stockte ihr der Atem. Das war doch nicht möglich! Jemand hatte über den Mord geschrieben, und er hatte sich nicht gescheut, sie namentlich zu erwähnen! Wie konnte ein Journalist nur so dumm und gedankenlos sein? Nachdem sie sich ein wenig von dem Schock erholt hatte, sagte sie ruhig zu ihrer Mutter: „Und wieso habe ich deswegen deiner Meinung nach unseren Namen in den Schmutz gezogen?" „Das fragst du noch? Kind, was ist nur mit dir los? Reicht es nicht, dass du hier die kleine Verkäuferin spielen musst? Ist es unbedingt nötig, sich jetzt auch mit Kriminellen zu umgeben? " „Ich umgebe mich nicht mit Kriminellen", erwiderte Caitlin scharf. „Ich war zufällig Zeugin eines Mordes, und ich habe ihn der Polizei gemeldet. Das ist alles." „Das ist alles?" Regina sah sie ungläubig an. „Aber ist dir denn gar nicht klar, was das bedeutet? Auch andere Leute werden diesen Artikel lesen." „Du meinst deine arroganten Freunde, Mutter, oder?" fragte Caitlin schneidend. Das war wieder einmal typisch für Regina - sie machte sich niemals Sorgen um ihre Tochter. Ihr ging es stets nur um das eigene Wohl. Nein, sie beide hatten wirklich nicht viel gemeinsam. „Eigentlich sollte mich das alles ja auch nicht wundern." Regina warf den Kopf zurück und lachte ein freudloses Lachen. „Du bist nicht mehr dieselbe, seitdem dieser ... dieser Wilde in dein Leben getreten ist." Das ging eindeutig zu weit! Caitlin funkelte ihre Mutter an. „Er ist ein
nordamerikanischer ...!" „Das ist mir doch egal", rief ihre Mutter aufgebracht. „Er war es jedenfalls, der dir jedes Gefühl für Würde und Anstand genommen hat.“ „Hallo, Mrs. Cassidy. Wie ich sehe, haben Sie noch immer so eine hohe Meinung von mir!" Regina wandte sich mit einem Ruck zur Tür und erbleichte. Graham stand in der Tür und sah sie an. „Sie! Schon wieder Sie! Was zum Teufel haben Sie hier verloren? Haben Sie etwa den Mann umgebracht?" „Nein, aber ich habe vor, seinen Mörder dingfest zu machen, Mrs. Cassidy." Regina starrte ihn wortlos an. Sie hatte anscheinend Mühe, diese Informationen zu verstehen. „Er ist bei der Polizei, Mutter", erklärte Caitlin geduldig. „Bei der Polizei?" Auf Regina machte das keinen Eindruck. Sie traute Graham nicht über den Weg. Unglaublich, jetzt hatte er sich also schon wieder in Caitlins Leben eingeschlichen. Genau wie vor elf Jahren! „Seit wann triffst du dich wieder mit ihm?" wollte sie in inquisitorischem Ton von ihrer Tochter wissen. „Sie trifft sich nicht mit mir", korrigierte Graham sie. „Man hat mich damit beauftragt, den Fall aufzuklären, Mrs. Cassidy. Der Rest ist Zufall!" „Zufall!" Regina lachte schrill. „Mir können Sie nichts erzählen, Redhawk! Das ist doch nur ein Vorwand, um meine Tochter wieder zu belästigen!" Caitlin reichte es jetzt. Sie hatte genug gehört. Wütend gab sie ihrer Mutter die Zeitung zurück. „So, das ist genug, Mutter! Es tut mir leid, aber ich habe keine Zeit, mir deine Verleumdungen länger anzuhören. Wenn du nicht vorhast, etwas zu kaufen, muss ich dich bitten, zu gehen." Regina richtete sich zu ihrer vollen Höhe auf und funkelte Caitlin hoheitsvoll an. „Und du? Willst du nicht endlich mit diesem ganzen Unsinn hier Schluss machen? Komm mit mir, mein Kind!" Caitlin schüttelte den Kopf. Sie wirkte störrisch und entschlossen, was Graham nicht entging. Sie hatte also nicht gelogen, als sie ihm sagte, dass sie sich inzwis chen von ihrer Mutter abgenabelt hatte. „Vergiss es, Mutter. Ich habe zu arbeiten. Also verlass uns jetzt bitte!" Ohne ein weiteres Wort drehte Regina Cassidy sich um und schlug die Tür mit einem lauten Knall hinter sich zu. „Und schönen Dank für deinen Besuch!" rief Caitlin ihr noch nach. Graham konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. „Sie hat sich nicht verändert." Caitlin schüttelte bedauernd den Kopf. „Nein, sie ist leider noch immer voller Vorurteile." Seufzend machte sie sich daran, die Seidenslips, die ihre Mutter zu Boden gefegt hatte, wieder aufzusammeln. Graham zögerte kurz, dann trat er näher und half ihr dabei. Obwohl Caitlin gar nicht danach zumute war, musste sie lächeln. Die zarte Spitzenunterwäsche und seine großen Hände wollten nicht so recht zueinander passen. „Gib sie lieber mir", sagte sie und streckte die Hand aus. „Bevor du noch krebsroter im Gesicht wirst." „Wenn man deiner Mutter glaubt, wäre das ja auch sehr passend für einen Wilden wie mich." Caitlins Lächeln erstarb. „Tut mir wirklich leid, dass du das hören musstest", sagte sie bedauernd. „Meine Mutter ist und bleibt ein Snob. Wenn es dir ein Trost ist, so lass dir gesagt sein, dass sie die meisten Menschen für zweitklassig hält." „Deine Mutter ist mir ziemlich egal", erwiderte Graham kühl. „Leute wie sie gibt es wie Sand am Meer."
„Was tust du überhaupt hier?" wollte Caitlin plötzlich wissen. „Habt ihr den Mörder etwa schon erwischt?" „Nein." „Ja, dann …“ Graham zögerte, dann gab er sich einen Ruck. „Man hat mich zu deinem persönlichen Leibwächter bestellt." Die Slips, die Caitlin immer noch in der Hand hielt, fielen zum zweiten Mal zu Boden.
5. KAPITEL Caitlin starrte Graham fassungslos an. „Wie bitte?" Ihm gefiel der Auftrag genauso wenig wie ihr. Aber dies war nun einmal sein Job, und er war viel zu sehr Profi, um sich seine Gefühle anmerken zu lassen. „Ich bin dein Leibwächter", wiederholte er daher geduldig. „Das darf doch nicht wahr sein!" „Ist es aber. Möchtest du meinen Vorgesetzten anrufen, damit er es dir bestätigt?" Caitlin schüttelte den Kopf. „Das ist unmöglich, Graham, und du weißt es auch: Wie stellst du dir das überhaupt vor? In mein Geschäft kommen nur selten Männer. Was denkst du, wie es meinen Kundinnen gefallen würde, wenn sie beim Kauf ihrer Dessous dauernd beobachtet würden?" Graham zuckte unbehaglich mit den Schultern. „Ich bin auch nicht sehr glücklich darüber, Caitlin. Doch im Interesse deiner eigenen Sicherheit bleibt uns leider keine andere Wahl." „Mach deinen Job, wo immer du willst, Graham, aber nicht hier!" erwiderte Caitlin heftig. „Ich habe Jahre gebraucht, um mir diese neue Existenz aufzubauen. Ich werde nicht zulassen, dass du einfach hier auftauchst und alles kaputtmachst." „Keine Angst!" erwiderte Graham bitter. „Du bist vor mir sicher. Ich habe in den letzten Monaten kein einziges Bleichgesicht ermordet oder skalpiert." Caitlin sah ihn entsetzt an. Das hatte sie damit doch gar nicht sagen wollen! Oh, Gott, dachte er etwa ... Das war ja schrecklich! Wenn Graham sie tatsächlich solcher Vorurteile für fähig hielt, kannte er sie ja überhaupt nicht! Und dieser Mann hatte einmal behauptet, sie zu lieben! Graham merkte, damit war er zu weit gegangen. Aber er stand schließlich noch immer unter dem Eindruck ihrer Mutter. Nach allem, was geschehen war, konnte man wohl kaum annehmen, dass Caitlins Ansichten sich so sehr von Reginas unterschieden. „Gut, lass uns nicht mehr darüber reden", meinte er entschlossen. „Tatsache ist, dass du in Gefahr bist und Polizeischutz brauchst. Der Artikel in der Zeitung sollte uns eine Warnung sein, die Sache nicht auf die leichte Schulter zu nehmen." „Und du hast behauptet, der Mann säße bereits in einem Bus nach Süden", sagte sie bitter. Er hatte sie damit trösten wollen. „Das ist ja auch gut möglich, Caitlin. Aber ob du es glaubst oder nicht, liegt an dir. Du musst mir nicht glauben, wenn du nicht willst." „Das Problem ist", entgegnete sie stockend, „dass ich dir immer geglaubt habe. Das war anscheinend ein großer Fehler." Graham sah sie verblüfft an. Was meinte sie nur damit? Sie war schließlich diejenige gewesen, die ihn verlassen hatte und nicht umgekehrt. Caitlin hatte sich wieder gefangen. „Hör zu, ich meine es ernst, Graham. Du kannst nicht die ganze Zeit hier herumhängen. Das geht einfach nicht!" Das Geschäft war nur ein Grund dafür. Sie musste sich selbst, sich und ihre Gefühle vor Graham schützen. Innerlich hatte sie ja fest geglaubt, dass sie über die Sache hinweg wäre. Aber so war es nicht. Doch das brauchte Graham nicht zu wissen. „Ist es denn so schlimm für dich, meine Nähe zu ertragen?" Sie nickte entschlossen. „Ja, das ist es." Er hatte seine Antwort. Nichts hatte sich geändert in all den Jahren, gar nichts. Egal, wie tolerant Caitlin sich nach außen geben mochte, innerlich war sie noch dieselbe, die ihm damals diesen Brief geschrieben hatte. Den Brief, in dem stand, dass sie ihn nicht heiraten konnte. Der Brief, der sein Leben zerstört hatte. „Also gut, wie du willst." Er wandte sich zum Gehen. „Ich werde mich draußen postieren." Nachdem die Tür hinter ihm ins Schloss gefallen war, lehnte sie sich schwer auf die Theke. Sie fühlte sich müde und erschöpft.
„Na, ist die Luft jetzt rein?" Caitlin fuhr zusammen. Sie hatte fast vergessen, dass sie und Graham nicht allein waren. Kerry blickte sie prüfend an, während Eva wieder an die Arbeit ging, als wäre nichts geschehen. „Ja, die Luft ist rein", entgegnete Caitlin achselzuckend. „Wo ist denn dein Gorilla hin?" Kerry sah aus dem Fenster. Graham stieg gerade in einen dunkelblauen Sedan. „Bitte entschuldige, Caitlin. Ich wollte nicht lauschen. Aber ihr wart ja auch ziemlich laut. Du kennst den Typ, stimmt's?" Caitlin nickte. „Ja, Kerry. Ich kenne ihn." „Es geht mich ja nichts an, aber ... willst du etwa wieder etwas mit ihm anfangen?" Caitlin schüttelte entschieden den Kopf. „Ganz bestimmt nicht! Und jetzt würde ich gern von etwas anderem reden, Kerry. Könntest du bitte einmal nachschauen, ob die letzte Sendung aus Frankreich angekommen ist?" Widerstrebend nickte Kerry. Caitlin wusste, sie brannte darauf, sich noch ein wenig länger über Graham zu unterhalten. Aber diesen Gefallen konnte sie ihr leider nicht tun. „Wie du willst, meine Liebe. Dein Wunsch ist mir Befehl." Damit verschwand Kerry wieder ins Hinterzimmer. In den nächsten zwei Stunden geschah es öfters, dass Caitlin aus dem Fenster sehen musste - ohne dafür einen besonderen Grund zu haben. Und sie sah immer das gleiche: Graham saß unbeweglich in seinem Auto. Seitdem sie ihn hinausgeschickt hatte, hatte er sich nicht mehr von seinem Platz gerührt. Bestimmt ist es brütendheiß dort drin, dachte Caitlin schuldbewusst. Der Wagen war zwar im Schatten geparkt, und Graham hatte die Fenster heruntergekurbelt. Dennoch mussten es mindestens vierzig Grad sein. Kerry, die gerade mit der Sendung aus Frankreich an ihr vorbeiging, warf ebenfalls einen Blick nach draußen. „Wie lange braucht es noch, schätzt du, bis er gut durchgebraten ist?" „Gut durchgebraten?" Caitlin nahm ihr einen Teil der Negliges ab. „Na, du weißt doch. Gut durchgebraten wie ein Steak. Er sitzt ja schließlich schon seit Stunden dort draußen, oder?" Caitlin biss sich auf die Lippen. „Ich habe ihn hinausgeschickt", antwortete sie auf Kerrys Frage. „Meiner Meinung nach verscheucht er uns sonst die Kundinnen." In diesem Moment kam eine zierliche Blondine auf sie zu. Sie hielt einen pinkfarbenen Bikini hoch. „Wo kann ich den anprobieren?" Caitlin wies auf ihre Kollegin. „Kerry wird Ihnen die Umkleidekabine zeigen, Miss." Plötzlich klingelte das Telefon. Caitlin nahm den Hörer ab und meldete sich. „Seduction, was kann ich für Sie tun?" Am anderen Ende der Leitung gab es eine kleine Pause. „Ich ... ja, also ... ich weiß nicht, ob ich richtig verbunden bin. Ist das ein Geschäft?" „Ja, ein Geschäft, Madam. Wir verkaufen Dessous." „Oh." Wieder gab es eine kleine Pause. Dann fuhr die Stimme zögernd fort: „Könnte ich vielleicht mit Mr. Redhawk sprechen?" Caitlin durchfuhr es wie ein Ruck. Seine Frau! Dies war seine Frau! Sie wusste es so sicher, als wenn die andere sich vorgestellt hätte. Caitlin holte tief Atem. „Einen Moment, bitte. Ich werde ihn holen." Schnell verließ Caitlin den Laden. Die heiße Luft draußen traf sie wie ein Schlag. Sie machte das Atmen schwierig. Aber vielleicht gab es ja auch noch einen anderen Grund für das bedrückende Gefühl in ihrer Brust. Graham sah sie näher kommen. Er versuchte, den Ausdruck auf ihrem Gesicht zu deuten, konnte sich aber darauf keinen Reim machen. Die letzten beiden Stunden waren entsetzlich langweilig gewesen. Außer ein paar Kundinnen und Lieferanten war kaum jemand an Caitlins Laden vorbeigekommen. „Was ist los?" fragte er alarmiert, als sie vor ihm stand. „Stimmt etwas nicht?" „Da ist ein Anruf für dich. Ich glaube, es ist deine Frau." Ihre Stimme klang seltsam
flach. Ohne ein weiteres Wort stieg Graham sofort aus und marschierte in Richtung Laden. Wahrscheinlich hat er ja auf den Anruf gewartet, dachte Caitlin. Woher kommt nur dieser Schmerz, fragte sie sich. Konnte es ihr nicht vollkommen gleich sein, mit wem Graham sprach? „Du kannst das Telefon mit ins Hinterzimmer nehmen", sagte sie und wies auf den kleinen Raum. Graham nickte kurz, dann war er hinter dem Vorhang verschwunden. Die Ware aus Frankreich musste in die Regale und Glasvitrinen eingeordnet werden, aber Caitlin hatte keine Lust mehr dazu. Stattdessen machte sie sich an der Theke zu schaffen. So konnte sie Grahams Gespräch mitanhören, obwohl er sich anscheinend Mühe gab, seine Stimme zu dämpfen. Was fiel seiner Frau eigentlich ein, ihn hier anzurufen? Er hatte schon lange nichts mehr von Celia gehört. Wahrscheinlich bedeutet es nichts Gutes, dachte er. Er hatte eigentlich damit gerechnet, dass er einen Anruf von ihrem Anwalt bekommen würde. Aber möglicherweise war es ja auch ganz gut so. Ohne einen Mittelsmann konnten sie viel direkter miteinander sprechen. Vielleicht konnten sie so eine gütliche Einigung erzielen. Das wäre doch sicher für alle das Beste. Graham nahm den Hörer ans Ohr. „Redhawk." „Wie ich sehe, haben sich deine Arbeitsbedingungen verbessert", sagte Celia anstelle einer Begrüßung. „Wie gefällt es dir denn in einem Dessousladen?" Sie klang sehr eifersüchtig. Celia ist immer gegen meine Arbeit als Polizist gewesen, erinnerte sich Graham. Daher antwortete er auch nur kurz. „Ich beschütze eine Zeugin." „Prima! Ich hoffe, du hast viel Spaß dabei." Die Bitterkeit war nicht zu überhören. „Bei dir hat sich anscheinend nicht viel geändert, Graham. Die Arbeit steht immer noch an erster Stelle, stimmt's?" Graham wartete gespannt. Seine Hand schloss sich enger um den Hörer. „Nein, Jake kommt für mich an erster Stelle", erwiderte er bestimmt. Er hatte nicht vor, Celia anzulügen. Und er hatte sie auch nie angelogen, nicht einmal während ihrer Ehe. Damals hatte er sie gern gehabt, mehr nicht. Sie hatte ihm ein wenig geholfen, über Caitlins Verlust hinwegzukommen. Das hatte er jedenfalls gedacht. Aber mit den wachsenden Streitigkeiten zwischen ihnen hatte sich auch diese Hoffnung in Luft aufgelöst. Celia nahm das Stichwort gern auf. „Was Jake angeht,.." „Du kannst ihn nicht haben", unterbrach Graham sie brüsk. „Schlag dir das ein für allemal aus dem Kopf." Celia ignorierte seine Worte. „Bei mir hat sich viel geändert, Graham. Wie du weißt, bin ich durch eine schwere Zeit gegangen. Aber das ist jetzt vorbei. Ich habe mich wieder gefangen, und meine Lebensumstände haben sich stabilisiert." Celia hatte Jake verlassen, ohne sich darum zu kümmern, was aus dem kleinen Jungen werden sollte. Sie hatte egoistisch und unverantwortlich gehandelt. Graham dachte gar nicht daran, sich jetzt von ihr einwickeln zu lassen. „Das freut mich für dich", erwiderte er daher kühl, „aber es ändert nichts an den Tatsachen. Du wirst ihn nicht bekommen, Celia." „Aber ich habe zum zweiten Mal geheiratet, Graham!" protestierte sie. „Rob ist ein wundervoller Mann. Außerdem ist er sehr wohlhabend." Graham wusste, wie viel Geld ihr bedeutete. Celia hatte ihm ihre finanziellen Engpässe immer vorgeworfen. Sie war sauer auf ihn gewesen, weil er sich nicht hatte bestechen lassen, wie einige seiner Kollegen. Weil ihm seine Ehre wichtiger gewesen war als finanzielle Vorteile. Das hatte am Ende wohl auch den Ausschlag für die Trennung gegeben. Sie wollte ein anderes, ein besseres Leben, hatte sie gesagt. Und das schloss ihn und Jake anscheinend aus.
„Das muss dich doch sehr glücklich machen", meinte Graham mit deutlicher Ironie. „Ja, aber ich wäre noch viel glücklicher, wenn ich Jake bekommen könnte." Immer dasselbe, dachte Graham bei sich. Jetzt erinnert sie sich anscheinend wieder daran, dass sie Mutter ist. Das letzte Mal hatte es ein ganzes Jahr lang gedauert, bis die Adoption rechtsmäßig war. Und dann hatte Celia ganz plötzlich das Interesse an Jake verloren. Graham war gar nichts anderes übrig geblieben, als sich selbst um den Jungen zu kümmern. Das war die Wende in seinem Leben gewesen. Zum ersten Mal hatte er einen Menschen gefunden, den er wirklich von ganzem Herzen lieben konnte. Er dachte gar nicht daran, sich jetzt wieder von ihm zu trennen. „Daran hättest du denken sollen, als du uns im Stich gelassen hast", entgegnete er hart. Celia wusste, sie hatte Fehler gemacht. Aber konnte sie dies nicht wiedergutmachen? „Ich weiß, ich war damals ziemlich verwirrt, Graham. Ich wusste nicht, was ich wollte. Aber das ist jetzt anders!" „Natürlich! Bis du deine Meinung wieder änderst. Ich will dir einen Rat geben. Freu dich, dass du einen guten Mann gefunden hast, und lass uns in Ruhe!" „Ich will aber Jake!" Sie schien den Tränen nahe zu sein, ihre Stimme klang schrill. Graham kannte sie bereits in dieser Verfassung. Damals hatte sie so lange gebettelt und gefleht, bis er sich auf die Adoption eingelassen hatte. Ein zweites Mal würde er nicht auf ihre Launen hereinfallen. „Damit du wieder Mutter spielen kannst, bis du genug davon hast und den Jungen fallen lässt wie einen Gegenstand, den man nicht mehr braucht? Oh, nein, das werde ich nicht zulassen." „Aber es ist nicht mehr wie früher! Ich kann ihm jetzt soviel geben. Eine gute Erziehung, eine stabile Familie. Und eine Stellung in der Gesellschaft." Das war ein Schlag unter die Gürtellinie, und beide wussten es. Graham war fest entschlossen, sich von seiner Exfrau nicht mehr manipulieren zu lassen. Gleichzeitig hütete er sich, die Beherrschung zu verlieren. Diesen Triumph wollte er Celia nicht gönnen. „Er hat einen Platz in der Gesellschaft. Als mein Sohn." Celia fauchte ihn an: „Du weißt, dass ich keine Kinder mehr bekommen kann, Graham." Falls er noch Mitgefühl mit ihr gehabt hätte, so war auch dies lange vorbei. Seine Gefühle für Celia waren gestorben, als er Jake verzweifelt schluchzend vorgefunden hatte, weil seine Mutter ihn verlassen hatte. „Adoptiere ein Kind. Das hast du doch schon einmal gemacht." Seine Kälte verletzte sie. „Graham! Ich sage dir jetzt zum letzten Mal, ich will mein Kind zurück. Wenn nötig, bringe ich dich deswegen auch vor Gericht!" „Dann musst du das eben tun." Graham knallte den Hörer auf, bevor sie noch mehr sagen konnte. Diskussionen mit Celia nahmen immer den gleichen Verlauf. Am Ende schrie sie ihn an, während er immer schweigsamer wurde und schließlich ging. Es hatte keinen Zweck, mit ihr zu reden. Celia war immer nur an ihrem Vorteil interessiert. Graham trat aus dem Hinterzimmer und strich sich mit der Hand durchs Haar. Caitlin sah ihn an. Sie gab nicht einmal vor, mit etwas beschäftigt zu sein. „Was ist? Hast du Ärger zu Hause?" Er zuckte mit den Schultern. „Kann man sagen, ja." Er wirkt sehr erschüttert, fand sie. Obwohl sie wusste, dass es sie nichts anging, fragte sie: „Möchtest du vielleicht darüber reden?" Graham schüttelte den Kopf. „Nein." Caitlin stieß einen tiefen Seufzer aus. „Nein, natürlich nicht. Wann hättest du auch je einen Menschen gebraucht?" Graham blickte sie kühl an. „Entschuldige, aber das hier ist nun einmal meine Privatangelegenheit."
„Ja, ich weiß." Sie sah ihn aufmerksam an. „Hey, dir läuft ja der Schweiß über die Stirn." „Na und? Ist das etwa ungewöhnlich in dieser Hitze? Auch Indianer schwitzen, falls du es bis jetzt noch nicht gewusst hast." Caitlin hatte schon eine patzige Antwort parat, doch dann hielt sie inne. Bestimmt ist das gerade ein schwieriges Gespräch gewesen, dachte sie. Andererseits gab dies Graham noch lange nicht das Recht, sie so zu behandeln wie ihre Mutter. „Also gut", sagte sie plötzlich. „Wenn du willst, kannst du hereinkommen und hierbleiben. Ich möchte nicht, dass du meinetwegen im Auto verschmorst." Die Ahnung eines Lächelns umspielte Grahams Lippen, aber seine Augen blieben kühl. „Ich muss sagen, es überrascht mich, dass du überhaupt so etwas wie ein Gewissen hast." So, das war genug! Solche Unverschämtheiten musste sie sich nicht bieten lassen. Caitlin schnappte sich ihre Tasche und rie f über die Schulter: „Ich gehe essen, Kerry!" Es war schon nach zwei. Eigentlich hatte Caitlin vorgehabt, sich etwas kommen zu lassen, aber mit einemmal merkte sie, dass sie frische Luft brauchte. Auch wenn es draußen drückend heiß war, war das immer noch besser, als ständig in Grahams Nähe zu sein. Doch in diesem Punkt hatte sie sich gründlich verrechnet. „Nicht ohne mich!" Graham war bereits an ihrer Seite. „Oh, Gott!" Wohl oder übel musste Caitlin sich damit abfinden, dass er nicht so leicht abzuschütteln war.
6. KAPITEL Graham hielt ihr galant die Tür auf. „Und wo isst du normalerweise zu Mittag?" „Normalerweise? Oh, meist lassen wir uns etwas kommen und arbeiten durch. Aber ich brauche ein wenig Luftveränderung." Zu dieser Stunde herrschte relativ viel Verkehr. Caitlins Blick fiel auf die Menschen, die vorbeihasteten. Plötzlich hatte sie einen schrecklichen Gedanken. Konnte es sein, dass unter ihnen ... Kalte Angst ergriff sie, und sie wurde bleich. Hilfesuchend wandte sie sich an Graham. „Glaubst du, dass der Mörder sich hier irgendwo herumtreibt?" Am liebsten hätte er sie mit einer beruhigenden Lüge abgespeist. Aber das war gegen seine Prinzipien. „Möglich ist es schon, Caitlin. Bitte vergiss nicht, der Captain hätte mich sonst nicht für diesen Job abgestellt." Caitlin nickte. Ihr Mund fühlte sich trocken an. Das Ganze ist ein einziger Alptraum, dachte sie. Wie konnte es nur geschehen, dass ihr Leben, ihr sicheres, beschauliches Leben, von einem Tag auf den anderen auf den Kopf gestellt worden war? Graham hatte ja recht, die Polizei tat nichts ohne Grund. Sie hielten sie tatsächlich für gefährdet. Plötzlich war sie froh über seine Nähe, aber sie hütete sich, ihm dies zu zeigen. „Und was heißt das? Dass du die ganze Zeit wie eine Klette an mir kleben wirst?" Die Fußgängerampel sprang gerade auf Rot sie mussten warten. „Nun, ich schätze, es wird so ein, zwei Wochen dauern. Bis dahin sollten wir genügend Material beisammen haben, um den Mörder dingfest machen zu können." Caitlin glaubte ihm nicht. „Bist du sicher? Oder sagst du das nur, um mich zu beruhigen?" Grün kam. Sie setzten sich in Bewegung. „Ich bin fest davon überzeugt. Caitlin. Wie du weißt, überlasse ich nichts dem Zufall." Sein Ton, sein Ausdruck, all das erinnerte Caitlin daran, wie er einst um ihre Hand angehalten hatte. „Dann hast du dich aber sehr verändert", sagte sie spitz. Sein Gesicht verhärtete sich. „Du und ich, wir beide haben eine Menge gelernt, findest du nicht?" Er steuerte sie zu seinem Wagen. „Wohin möchtest du jetzt?" Irgendwohin! Weit weg von allem! Caitlin wusste, es war ein irrationales Gefühl der Furcht, das plötzlich von ihr Besitz ergriffen hatte. Sie warf einen Blick zurück auf ihr Geschäft. Ja, das hier war Wirklichkeit. Der Laden war ihr Anker. „Mir ist es wirklich egal, Graham. Hauptsache, es geht schnell. Ohne mich läuft der Laden nicht so gut, weißt du? Ach, übrigens ..." „Ja?" „Macht es dir etwas aus, wenn wir mein Auto nehmen würden? Ich fahre nämlich wirklich gern. Es würde mich entspannen." „Wie du magst." Caitlins Wagen stand hundert Meter weiter geparkt. Sie wollte einsteigen, aber er hielt sie zurück. „Warte bitte einen Moment!" Er klappte die Motorhaube auf und prüfte alles sorgfältig. „Ich habe ihn gerade erst überholen lassen", protestierte Caitlin. „Hast du etwa Angst, er würde nicht anspringen?" Graham schüttelte den Kopf. „Nein, darum geht es nicht. Ich möchte nur sichergehen, dass hier kein Sprengsatz verborgen wurde." „Sprengsatz?" Caitlin sah ihn entgeistert an. Jede Farbe war aus ihrem Gesicht gewichen. Das konnte doch nur ... das musste ja bedeuten ... „Graham! Was für Informationen habt ihr über diesen Mörder? Bitte, sag es mir. Ich muss es wissen!" Graham zögerte kurz. Er wusste nicht, ob es richtig war, ihr alles zu sagen.
Andererseits konnte es nicht schaden, wenn sie Bescheid wusste. Dann war sie wenigstens gewarnt. Er gab sich einen Ruck. „Der Tote war Mitglied eines Drogenkartells. Wir wissen, dass sie es nicht mögen, wenn man ihnen auf die Spur kommt. Daher sind Attentate leider auch nicht auszuschließen." Er klappte die Motorhaube wieder zu. „Und das betrifft auch Zeugen. Aber es sieht nicht so aus, als hätten sie sich an deinem Wagen vergriffen." Oh, Gott, wie hatte dies nur geschehen können? „Du machst doch keine Witze, oder?" Graham schüttelte den Kopf. Dann schaute er auch noch unter dem Wagen nach. Caitlin sah ihm hilflos zu. Ihre Hände waren feucht, ihre Knie weich. „Vielleicht sollten wir doch besser deinen Wagen nehmen." „Gute Idee!" Auf dem Weg zu Grahams Auto fragte sie bedrückt: „Du willst mir doch keine Angst einjagen, oder? Ist das der Grund für all diese Manöver?" „Nein, natürlich nicht. Ich bin kein Spieler, Caitlin, das weißt du." Ja, das wusste sie. Er hatte auc h nicht mit ihr gespielt, nicht bis zum Ende jedenfalls. Und dann hatte er sie für einen hohen Einsatz verkauft. Als sie im Auto saßen, fragte Graham ungeduldig: „Also, wohin fahren wir jetzt?" Caitlin musste sich zwingen, in Gedanken nicht abzuschweifen. Es war jetzt wichtig, Haltung zu bewahren. Irgendwann würde dieser Alptraum ja wohl vorbei sein. Hoffentlich bald! „Caitlin?" Plötzlich wurde ihr klar, dass Graham mit ihr sprach. „Ja, was?" „Wo möchtest du zu Mittag essen?" wiederholte er geduldig. Caitlin stieß einen tiefen Seufzer aus. Entspann dich, sagte sie sich selbst. „Ich würde gern zu ,Monty's' fahren. Das ist das Schnellrestaurant am Ende des nächsten Blocks." ,„Monty's'?" Caitlin hatte zwar gesagt, dass es schnell gehen sollte, aber er hätte nicht vermutet, dass sie ein so billiges Restaurant aufsuchen würde. Er konnte sich eher vorstellen, dass sie in einem kleinen, aber feinen Restaurant zu Mittag aß, wo die sündhaft teuren Portionen ausgesprochen ästhetisch auf den Tellern arrangiert waren. Und wo die Rechnung im umgekehrten Verhältnis zur Größe der Portion stand. Dies war jedenfalls seine Vorstellung von Caitlin als einer erfolgreichen Geschäftsfrau! Er klingt überrascht, dachte Caitlin. Hatte er denn schon vergessen, dass sie früher dauernd in McDonalds und Drive-In-Restaurants gefahren waren? Er war derjenige, der ihr Junkfood schmackhaft gemacht hatte. Damals hatte Graham kein Geld für teure Restaurants gehabt, und sie hatte ihn nicht beschämen wollen. Auch später war sie immer wieder dorthin zurückgekehrt, und inzwischen gehörten Hamburger zu ihren absoluten Favoriten. Daher erwiderte sie lächelnd: „Das verdanke ich jemandem, den du kennst." Sie zuckte die Achseln. „Irgendwie habe ich mich dann daran gewöhnt." Graham nickte unbewegt. Er wollte ihr nicht zeigen, dass ihre Anspielung auf frühere, glücklichere Zeiten ihn schwer getroffen hatte. „Gut, dann fahren wir eben zu ,Monty's'." Er gab Gas. Caitlin versuchte, sich während der Fahrt zu entspannen, aber es gelang ihr nicht. Der Gedanke, dass ihr jemand nach dem Leben trachtete, verstörte sie. Dazu kam noch, dass sie jetzt ausgerechnet neben dem Mann saß, den sie um alles in der Welt hatte vergessen wollen. Damals war ich noch ein Kind, erinnerte sie sich. Ein Kind, das sich nur von seinen Gefühlen leiten ließ. Inzwischen war das anders. Sie war eine erwachsene Frau, die sich sehr wohl zu beherrschen wusste. Bei „Monty's" war es um diese Uhrzeit ziemlich voll. Graham gefiel das gar nicht. Ihm
wäre ein leeres Restaurant lieber gewesen. Aber wenn Caitlin sich hier wohl fühlte, sollte es ihm recht sein. Als sie den Raum betreten wollten, drängte sich eine lachende Horde Teenager an ihnen vorbei. Caitlin wäre um ein Haar gestolpert. Graham hielt sie fest. „Bist du sicher, dass du nicht woanders hingehen möchtest?" fragte er besorgt. Sie schüttelte den Kopf. Plötzlich wollte sie nirgendwo anders sein als hier. Hier war sie so oft gewesen, dieser Platz besaß eine beruhigende Normalität für sie, die seit heute morgen aus ihrem Leben verschwunden zu sein schien. „Ganz sicher", sagte sie fest. Achselzuckend folgte Graham ihr, bis sie einen Tisch gefunden hatten. Vielleicht sehe ich ja auch zu schwarz, dachte er. An den Wänden hingen Poster aus Filmen der vierziger Jahre. Das Restaurant war im Hollywood-Stil gehalten. Deshalb gefällt es ihr wahrscheinlich, überlegte Graham. Sie hatte schon immer eine Schwäche für alte Filme gehabt. Vielleicht helfen mir der Lärm und die vielen Menschen dabei, über das Geschehene hinwegzukommen, dachte Caitlin. Sie fühlte sich mit einemmal so schrecklich isoliert und einsam. „Würdest du mir bitte einen Cheeseburger mit Pommes frites und eine Cola holen?" bat sie Graham. „Und du? Was machst du solange?" wollte er wissen. „Mit deiner Erlaubnis werde ich schnell auf die Damentoilette gehen und mich ein wenig frisch machen", erwiderte sie kühl. Sie fand es ja rührend, dass er sie beschützen wollte, aber seine Besorgnis ging ihr nun doch ein wenig zu weit. „Sie ist dort hinten, und du kannst nicht mitkommen, Graham." Dies leuchtete ihm ein, aber die Sache gefiel ihm ganz und gar nicht. „Warum kannst du das nicht später machen, wenn wir mit dem Essen fertig sind?" fragte er. „Graham!" Caitlin sah ihn kopfschüttelnd an. „Du klingst jetzt ein bisschen wie mein Vater! Also los, nun stell dich schon an! Sonst bekommen wir unsere Burger nie!" Wohl oder übel musste Graham sich fügen. „Und ich hätte gern eine doppelte Portion Pommes frites", rief Caitlin ihm noch nach. Ich brauche nur ein paar Minuten allein, um mich wieder zu fangen, dachte Caitlin. Nur ein paar Minuten, dann würde sie wieder sie selbst sein. Die Damentoilette befand sich im hinteren Teil des Restaurants. Der Eingang wurde durch eine Drehtür markiert. Dahinter befand sich ein langer, schmaler Korridor, der nur spärlich beleuchtet war. Er bildete einen scharfen Kontrast zur hellen, lärmenden Atmosphäre des Restaurants. Caitlin zögerte kurz, doch dann ging sie entschlossen weiter. Nun stell dich nicht so an, dachte sie bei sich. Grahams Worte und ihre eigenen angeschlagenen Nerven ließen sie wahrscheinlich Gespenster sehen. Sie konnte sich doch jetzt nicht dauernd wie ein verängstigtes kleines Mädchen verhalten. Das war ja auch sonst nicht ihre Art. Als Caitlin die Tür zur Damentoilette aufstoßen wollte, wurde sie plötzlich unsanft von hinten gepackt. Ihre Handtasche fiel zu Boden, ihr Herz machte einen großen Satz. „Drehen Sie sich ja nicht um!" sagte eine tiefe männliche Stimme drohend. Der Mann stand direkt hinter ihr. „Und jetzt werden wir beide schön von hier verschwinden." Caitlin hatte nur verschwommen einen grauen Jackettärmel wahrgenommen, als er sie am Handgelenk gepackt hatte. Doch jetzt roch sie den Schweiß. War dies sein Geruch? Oder der ihre? Ihre Gedanken drehten sich wie wild im Kopf herum. „Wer sind Sie?" Die Frage war überflüssig, aber sie hoffte, ihn durch reden aufhalten zu können. Wenn sie nur lange genug mit ihm sprach, würde Graham vielleicht... Der Mann stieß unsanft ihren Kopf gegen die Tür, als sie sich umdrehen wollte. Caitlin stieß einen kleinen Schrei aus.
„Nicht umdrehen! Tun Sie genau, was ich sage. Dort draußen ist ein Notausgang. Also los!" Er hielt ihren Arm brutal fest und manövrierte sie in Richtung Ausgang. Das Restaurant schien immer voller zu werden. Graham wurde zusehends nervöser. Vielleicht war seine Sorge ja übertrieben, aber er bereute es schon, auf Caitlins Wunsch eingegangen zu sein. Irgendein nagendes Gefühl sagte ihm, dass dies ein großer Fehler gewesen war. Die mürrische Kellnerin hinter der Theke nahm seine zehn Dollar entgegen und ließ sich Zeit mit dem Wechselgeld. Graham trat unruhig von einem Bein aufs andere. Endlich händigte sie ihm das Wechselgeld aus. „Hier, bitte nehmen Sie das solange!" sagte Graham, einem plötzlichen Impuls folgend, und gab sein Tablett seinem Hintermann. „Ich bin gleich wieder zurück." „Hey, Mann, was fällt Ihnen ein? Wieso glauben Sie, dass Sie ..." Graham ignorierte ihn einfach. Er bahnte sich seinen Weg durch die Menge. Irgend etwas stimmte nicht, das spürte er ganz genau. Zurück am Tisch, schaute er sich suchend um. Caitlin war nirgendwo zu sehen. Wie lange konnte es dauern, bis man sich frisch gemacht hatte? Nicht so lange, da war er sich ganz sicher. Er stürmte zu den Toiletten. Als er den Gang hinuntersah, fiel hinten gerade eine Tür ins Schloss. Was sollte er nun tun? Sollte er die Damentoilette aufsuchen? Da erblickte er plötzlich Caitlins Tasche auf dem Boden. Verdammt! Mit wenigen Sätzen war Graham an der Tür. Ein Mann in einem hellgrauen Anzug verschwand gerade um die Ecke. Graham machte sich schreckliche Vorwürfe. Warum hatte er Caitlin allein gelassen, obwohl er es doch besser wissen musste? Grimmig griff er nach seiner Pistole. Dann stürmte er dem Mann hinterher. Als er um die Ecke bog, sah er, dass der Mann Caitlin im Griff hatte und sie anscheinend zu einem Wagen bringen wollte, der am Tor geparkt war. Graham sprintete los. Die Entfernung zwischen ihnen wurde zusehends kürzer. „Bleiben Sie stehen!" rief er nun laut, die Pistole im Anschlag. „Polizei!" Es passierte alles viel zu schnell. Im Bruchteil einer Sekunde hatte der Mann ihm Caitlin entgegengeschleudert und war in sein Auto gesprungen. Graham traf dies vollkommen unerwartet. Er taumelte zurück und stürzte zu Boden. Als Caitlin auf ihm landete, prallte sein Kopf gegen eine Mülltonne. Mit quietschenden Reifen fuhr der Mann los und hielt jetzt direkt auf sie zu. Im allerletzten Moment konnte Graham zur Seite rollen. Er riss Caitlin mit sich. Der Wagen verfehlte sie nur um Zentimeter und brauste dann davon. Graham, der noch immer ein wenig benommen war, sprang sofort auf die Füße und konnte sich zum Glück zumindest einen kleinen Teil des Nummernschilds merken. Es war zwar höchstwahrscheinlich ein gestohlener Wagen, aber jede winzige Information konnte von Nutzen sein. Im nächsten Moment war das Auto um die Ecke verschwunden. Caitlin versuchte gerade, wieder auf die Füße zu kommen. Graham streckte ihr die Hand entgegen und zog sie hoch. „Alles klar?" Sie nickte stumm und klammerte sich an ihm fest.„Du ... du hattest recht, Graham. Ich hätte nicht allein auf die Toilette gehen sollen." In diesem Moment war es mit ihrer Beherrschung vorbei. Schluchzend brach sie zusammen und weinte sich an seiner Brust aus. „Oh, Graham ..." Einen Moment lang stand auch er wie erstarrt da. Doch dann zog er sie an sich und begann, unbeholfen über ihr Haar zu streichen. „Ich weiß, ich weiß." All die Gefühle, die er für immer in seinem Herzen begraben geglaubt hatte, kehrten mit erneuter Macht zurück. Er zog sie noch näher an sich. Caitlins Tränen fielen auf sein Hemd. Graham spürte mörderische Wut auf den Mann, der sie so erschreckt hatte. Und der sie wahrscheinlich sogar getötet hätte, wenn ihn seine Spürnase nicht gewarnt
hätte. Er wartete, bis Caitlins Tränenschwall abgeklungen war. Dann fasste er sie unters Kinn und sah sie an. „Wir werden ihn kriegen, Caitlin. Das verspreche ich dir. Ich werde nicht eher ruhen, bis wir dieses Schwein gefasst haben." Sie wusste, dass er die Wahrheit sprach. Mit tränenfeuchten Augen sah sie ihn an. Graham hätte später selbst nicht zu sagen vermocht, wie es geschehen konnte. Er wusste nur, er hatte keine andere Wahl, als sie zu küssen. Langsam senkte er seine Lippen auf die ihren, und minutenlang schien die Welt stillzustehen. Caitlin war so verstört, dass sie es geschehen ließ. Ihre Angst, ihre Verzweiflung, all diese Gefühle drohten sie zu überwältigen. Es gab nur einen stabilen Punkt auf der Welt - Graham und seine Lippen. Sie klammerte sich an ihn, als würde ihr Leben davon abhängen. Und Graham vergaß alles um sich herum in diesem nicht enden wollenden Kuss. Er vergaß die Vergangenheit, vergaß seinen Zorn und auch seine Verbitterung. Die alte Magie war plötzlich wieder da. Caitlin war die einzige Frau in seinem Leben, die es geschafft hatte, dass er sich wie ein junger Gott fühlte. Wie sehr hatte er sich in all diesen Jahren nach ihr gesehnt. Jetzt erst wusste er, dass der Gedanke an sie ihn immer verfolgt hatte. Trotz seiner Ehe mit Celia hatte er sie nicht vergessen können. Und noch etwas konnte er nicht vergessen - dass Caitlin ein Traum war, dass sie für immer unerreichbar für ihn sein würde. Als kämen sie jetzt erst wieder zur Besinnung, ließen sie einander abrupt los. Graham spürte, wie heiß sein Gesicht war. Es gelang ihm, seine Gefühle vor Caitlin zu verbergen. Aber in seinen Augen standen ganz deutlich der Hunger, das Verlangen nach ihr geschrieben. Und Caitlin sah es. Er bückte sich, um die Waffe aufzuheben, die bei dem Sturz zu Boden gefallen war. „Na, hast du immer noch Hunger?" Sein Ton war kühl, fast unbeteiligt. Nichts ließ darauf schließen, dass er sie noch vor wenigen Minuten wie rasend geküsst hatte. „Nein, ich glaube nicht", erwiderte Caitlin mit schwacher Stimme. Langsam schüttelte sie den Staub vo n den Kleidern. Um ein Haar hätte sie wieder zu weinen begonnen, aber sie konnte die Tränen noch im letzten Moment zurückhalten. Mit einemmal fiel ihr auf, dass sie entsetzlich müde war. Graham sah sie an. Ihre Hände zitterten noch immer. Er hätte diesen Bastard umbringen können! Aber er durfte jetzt seinen Emotionen nicht allzusehr nachgeben. Schließlich hatte er einen Job zu erfüllen. Sanft legte er Caitlin eine Hand auf die Schulter. „Ich glaube, es ist das beste, wenn ich dich jetzt nach Hause bringe." Sie wollte ihn schon abweisen, ihm sagen, dass es ihr gut ging, dass er sie ins Geschäft zurückbringen sollte. Aber das wäre eine glatte Lüge gewesen. Es ging ihr nicht gut, im Gegenteil. Sie war vollkommen erschüttert. Und verwirrt. Abwesend fuhr sie sich mit der Hand über die Augen. Wie reagierte eigentlich jemand, der um ein Haar entführt worden wäre und dann in weniger als zehn Minuten vollständig zurück in die Vergangenheit katapultiert worden war? Sie hatte keine Ahnung. Daher nickte sie nur und sagte: „Ja, ich glaube, das ist eine gute Idee." Graham sah sie prüfend an. All ihr Mut, all ihre Starrköpfigkeit waren verschwunden. Dieses Schwein hatte sie zu Tode erschreckt, soviel stand fest. „Dann komm!" Graham nahm sie beim Arm und ging mit ihr durch den Notausgang. Im Korridor beugte er sich nieder und hob ihre Tasche auf. Dann öffnete er die Tür, und plötzlich standen sie im Restaurant. Caitlin zuckte bei dem Lärm ein wenig zusammen, aber die Normalität beruhigte sie. „Du musst mich nicht führen, Graham. Ich kann allein gehen", protestierte sie. „Ja, das weiß ich." Graham machte keinerlei Anstalten, von ihrer Seite zu weichen. Von nun an passe ich besser auf, schwor er sich. Sie bahnten sich einen Weg durch die
Menge. „Hey, Mister!" rief da plötzlich jemand. „Ja?" Graham blickte sich um. Vor ihm stand jemand vom Personal. Er streckte ihm grinsend eine Tüte hin, in der sich ihre Cheeseburger, die Pommes frites und die Colas befanden. „Ich glaube, Sie haben etwas vergessen, Sir." „Oh, ja, danke. Vielen Dank!" Graham nahm die Tüte entgegen, dann geleitete er Caitlin behutsam zum Wagen. Caitlin bestand darauf, kurz im Laden vorbeizuschauen und Kerry Bescheid zu sagen. Eigentlich wollte sie dann zumachen, aber Kerry erbot sich, bis zum Feierabend zu bleiben. „Mach, dass du nach Hause kommst und ruh dich aus", befahl sie Caitlin. Auf der Heimfahrt rief Graham sein Revier an und informierte dort über die Ereignisse. Glücklicherweise konnte er sich bis auf eine Zahl fast vollständig an das Nummernschild des Wagens erinnern. Es handelte sich anscheinend um eine kalifornische Nummer. Danach herrschte eine Weile Schweigen zwischen den beiden. Zuviel ging jedem durch den Kopf. Zuviel war in zu kurzer Zeit passiert. Graham war überrascht, dass Caitlin nicht in einem der exklusiveren Vororte von Phoenix wohnte. Ihr Haus lag am Stadtrand, dazu noch an einer ziemlich belebten Straße. Das behagte Graham ganz und gar nicht. Er rief sofort einen seiner Kollegen von der Streife an, der hin und wieder nach dem Rechten sehen sollte. „Vielleicht solltest du für eine Weile ins Hotel ziehen", sagte er, nachdem das Gespräch beendet war. Caitlin schüttelte entschieden den Kopf. „Er wird mich nicht aus meinem Haus vertreiben, Graham." Er nickte, da er ihre Gefühle gut verstehen konnte. Ja, in schwierigen Zeiten war es wichtig, ein liebevolles Heim zu haben. Deshalb war seine Mutter damals mit ihm auch ins Reservat zurückgekehrt. Dort lagen ihre Wurzeln. Sie stiegen aus, und Graham begleitete Caitlin bis zur Tür. Er stellte fest, dass das Haus keine Alarmanlage besaß. „Das solltest du bei nächstbester Gelegenheit ändern lassen", meinte er und streckte die Hand aus. „G ib mir bitte deinen Schlüssel!" Ihre Finger fühlten sich noch immer ein wenig taub an, als sie nach dem Schlüssel suchte. Sie schloss die Tür auf und blickte sich suchend im Wohnzimmer um. Alles schien noch genauso zu sein, wie sie es am frühen Morgen verlassen hatte. Aber das stimmte nicht. In nur wenigen Stunden ist mein ganzes Leben auf den Kopf gestellt worden, dachte Caitlin. Sie sah Graham nach, der sich daran machte, die anderen Zimmer zu durchsuchen. Und zwar in doppelter Hinsicht!
7. KAPITEL Graham untersuchte methodisch Zimmer um Zimmer. Es sah nicht so aus, als hätte jemand einzudringen versucht. Nichts schien verändert zu sein. Nachdem er sich davon überzeugt hatte, kehrte er ins Wohnzimmer zurück. Caitlin stand noch immer da, wo er sie verlassen hatte. „Sieht nicht so aus, als wäre jemand hier gewesen", versicherte er ihr. Sie zitterte am ganzen Körper. „Glaubst du ... kannst du dir vorstellen, dass er versuchen wird, hier einzudringen?" Graham vermied es, ihr darauf eine direkte Antwort zu geben. „Was auch immer geschieht", sagte er grimmig, „ich werde von jetzt an nicht mehr von deiner Seite weichen." Fassungslos sank Caitlin aufs Sofa. „Und wie lange?" „So lange wie nötig." Trotz ihrer gemischten Gefühle war Caitlin heilfroh, ihn in der Nähe zu haben. Aber sie wusste auch, dass dies nicht ewig so weitergehen konnte. „Ich hätte jetzt nichts gegen einen Cheeseburger", verkündete Graham harmlos. „Ach ja, unsere Cheeseburger. Die sind inzwischen bestimmt kalt, glaubst du nicht?" „Das macht doch nichts." Er war bereits dabei, seinen Burger auszupacken. Dann biss er mit Heißhunger hinein. „Ich bin nicht besonders anspruchsvoll, was Essen angeht. Ich dachte, das wüsstest du." Caitlin erinnerte sich, was er ihr damals erzählt hatte. Sein Vater hatte nicht nur ihn und seine Mutter verlassen, er hatte auch noch das wenige Geld mitgenommen, das sie besaßen. Seine Mutter war mit ihm ins Reservat zurückgegangen, eine entehrte Frau. Sie hatten jahrelang von den Almosen von Verwandten und der staatlichen Fürsorge gelebt. Später war es ihnen dann etwas besser gegangen, aber Graham hatte diese harten Zeiten nie vergessen können. Sie öffnete eine Coladose. Auf Grahams Drängen hin probierte sie auch einen der Cheeseburger, aber ihr Appetit war ihr vergangen. Staunend sah sie Graham dabei zu, wie er seinen Burger verspeiste. Von den schrecklichen Ereignissen merkte man ihm nichts an. Ja, darin ist er wirklich gut, dachte Caitlin. Graham verstand es meisterhaft, seine Gefühle für sich zu behalten. Ganz im Gegensatz zu ihr. Seufzend sah sie sich im Zimmer um. Dies hier war ihr Heim, und der Gedanke, dass irgendein Fremder in ihre geheiligte Ruhe eindringen könnte, war ihr unerträglich. Um sich abzulenken, fragte sie Graham: „Wie geht es deinem Sohn? Wie heißt er noch einmal?" „Du meinst Jake?" „Ja, Jake. Sieht er dir ähnlich?" Graham dachte kurz nach. „Ja, ich glaube schon. Komischerweise sieht er mir ähnlich." Sie sah ihn überrascht an. Was meinte er damit? „Wieso sagst du das?" „Weil er nicht mein leiblicher Sohn ist. Wir haben ihn adoptiert." „Du und deine Frau?" Es fiel Caitlin nicht leicht, dieses Wort auszusprechen. Graham nahm einen großen Schluck aus der Coladose. „Exfrau", korrigierte er sie. Caitlin atmete auf, als sie das hörte. Aber sie hütete sich, ihn dies merken zu lassen. „Du bist geschieden?" Er nickte. „Schon seit zwei Jahren." „Oh, das tut mir aber leid!" Er sah sie unverwandt an. „Es braucht dir nicht leid zu tun, Caitlin. Die Sache war von Anfang an ein Fehler. Anscheinend mache ich solche Fehler ja immer wieder." Caitlin ging auf seine letzten Worte nicht ein. Aber sie brannte darauf, mehr über sein Privatleben zu erfahren.
„Wieso war es ein Fehler?" Graham rutschte unruhig auf dem Sofa hin und her. Er sprach nicht gern über solche Dinge, nicht einmal mit seinen engsten Freunden. Aber nun war er schon zu weit gegangen. „Ich habe Celia damals geheiratet, weil sie von mir schwanger war. Das Kind sollte nicht unehelich zur Welt kommen." Caitlin nickte. Ja, so war Graham nun einmal. Ein wahrer Ehrenmann. „Und sie war in Wirklichkeit gar nicht schwanger?" „Oh, doch! Aber sie hat das Kind dann verloren. Und ..." Er zögerte. Caitlin sah ihn aufmunternd an, und er fuhr fort: „Es war eine sehr komplizierte Schwangerschaft. Nach ihrer Fehlgeburt stand fest, dass Celia keine Kinder mehr bekommen konnte. Doch sie hatte es sich in den Kopf gesetzt, Mutter zu werden, und so verfiel sie auf den Gedanken mit der Adoption. Zuerst war ich dagegen, aber dann ließ ich mich breitschlagen. Jake ist genau wie ich ein Halbindianer." „Und wie ging es weiter?" „Nein, eine Weile schien sie recht zufrieden zu sein." „Nur eine Weile?" „Ja, sie ..." Graham erinnerte sich daran, was Celia ihm über ihre Vergangenheit erzählt hatte. Sie war Vollblutindianerin, Ihre Eltern hatten sie im Stich gelassen und gezwungen, bei einer alten Tante zu leben, die sie häufig schlug. Sie hatte sich verzweifelt nach Liebe und Geborgenheit gesehnt. Graham hatte jemanden gebraucht, der ihm half, über den Verlust von Caitlin hinwegzukommen, und so hatten sie einander für kurze Zeit etwas geben können. Aber dann hatten sie sich auseinandergelebt. „Ich glaube, sie wusste gar nicht, was sie wollte", meinte er nachdenklich. „Doch nach einer Weile wurde ihr klar, dass ich ihr nicht das Leben bieten konnte, wonach sie sich sehnte, Also verließ sie uns, mich und den Jungen." „Einfach so?" fragte Caitlin empört. Graham schüttelte den Kopf. „Nein, natürlich nicht. Wir stritten uns monatelang. Aber eines Tages war sie verschwunden. Ich dachte nicht, dass sie noch einmal auftauchen würde." „Und jetzt ist sie aufgetaucht." Graham sah sie stirnrunzelnd an. Was tat er hier eigentlich? Warum erzählte er Caitlin, ausgerechnet Caitlin, all diese Dinge aus seinem Leben? Doch irgend etwas zwang ihn dazu, fortzufahren. „Ja, jetzt hat sie sich plötzlich wieder gemeldet. Sie hat zum zweiten Mal geheiratet, anscheinend einen sehr wohlhabenden Mann, und nun will sie Jake zurück." Es klang ganz einfach, aber in Wirklichkeit war es völlig verzwickt. Er stand auf und begann unruhig im Zimmer auf und ab zu marschieren. „Der Typ hat anscheinend Geld, und sie glaubt wohl, damit kann sie sich Jakes Zuneigung erkaufen. Geld war schon immer sehr wichtig für Celia." Caitlin lächelte bitter. Das hatte sie doch schon einmal gehört. „Na, da scheint sie aber nicht die einzige zu sein, oder?" Er starrte sie an. „Was willst du damit sagen?" Caitlin tat es leid, dass ihr dieser Patzer passiert war. Sie wollte jetzt nicht wieder auf die alten Geschichten zurückkommen. „Nichts, gar nichts. Erzähl weiter." Graham zuckte die Achseln. „Das ist eigentlich schon alles. Sie will mich vor Gericht bringen, um das Sorgerecht zu erhalten. Für den Fall, dass ich ihn ihr nicht einfach überlasse." Einen Moment lang konnte sie seinen Schmerz bei dem Gedanken, den geliebten Sohn zu verlieren, deutlich spüren. Caitlin stand ebenfalls auf und legte ihm die Hand auf die Schulter. „Und? Was willst du tun?" „Was jeder Vater tun würde! Ich werde kämpfen. Viel habe ich zwar nicht gespart, aber für einen guten Anwalt wird es hoffentlich reichen."
Seine Worte überraschten Caitlin. „Soll das heißen, du hast kein Geld? Was ist denn dann mit den fünfzigtausend passiert?" Graham blickte sie stirnrunzelnd an. „Wovon redest du überhaupt? Welche fünfzigtausend?" „Ach, komm schon, Graham, nun tu doch nicht so", erwiderte Caitlin heftig. „Glaubst du etwa, ich wüsste nicht Bescheid?" „Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst, Caitlin." „Die fünfzigtausend, die du damals von meiner Mutter verlangt hast und die sie dir auch gegeben hat." Wollte er sie jetzt für dumm verkaufen? Was sollte dieses Leugnen? Caitlin hatte heute zuviel durchgemacht, als dass sie die Kraft oder die Lust gehabt hätte, sich auf irgendwelche Spielchen einzulassen. Graham sah sie besorgt an. Was war nur mit ihr los? Hatte ihr der Schock den Verstand geraubt? Oder warum erzählte sie ihm sonst solch wirres Zeug? „Ich würde im Traum nicht daran denken, deine Mutter auch nur um einen einzigen Cent anzugehen, Caitlin." „Ach ja?" Jetzt wurde sie richtig wütend. „Du leugnest also, dass du vor elf Jahren zu meiner Mutter gegangen bist und ihr angeboten hast, für immer aus meinem Leben zu verschwinden, wenn sie dir dafür eine gewisse Summe gibt?" Graham hielt den Atem an. Seine Augen verdunkelten sich. Er sah, dass Caitlin die Wahrheit sagte. „Und?" fragte er gefährlich ruhig. „Hast du das etwa geglaubt?" „Ich wollte es ja nicht", rief sie verzweifelt. „Aber wenn alles eine Lüge war, wenn sie dir kein Geld gegeben hat, wo zum Teufel warst du dann, Graham? Warum musste ich vergeblich auf diesem verdammten Bahnhof warten, bis der Zug nach Las Vegas weg war? Ich habe mich auf dein Wort verlassen, aber du bist nie erschienen. Und ich habe die ganze gottverdammte Nacht lang auf dich gewartet!" „Caitlin! Aber das kann doch gar nicht sein! Du hast doch bei mir eine Nachricht hinterlassen und gesagt, dass du deine Meinung geändert hättest. Dass du mich doch nicht heiraten würdest. Und dass du allein wegfahren wolltest." Sie sah ihn gequält an. „Ich verstehe dich nicht, Graham. Ich habe nie bei dir angerufen. Und ich habe auch keine Nachricht hinterlassen." Diese Geschichte ergab einfach keinen Sinn! „Ich bin gekommen, um nach dir zu suchen", sagte er anklagend, „und deine Mutter hat mir dann deinen Brief gegeben. Den Brief, in dem du schreibst, dass du deine Meinung geändert hast. Dass dir klargeworden wäre, dass es ein Fehler wäre, zu heiraten - ein Fehler, den wir bestimmt beide bereuen würden." Er holte tief Luft. Es war, als wäre es erst gestern passiert. All der Schmerz, die Enttäuschung, sie standen plötzlich wieder mitten im Raum. „Dass du am nächsten Morgen nach Europa fliegen würdest und dass es das Beste für mich wäre, dich zu vergessen." Caitlin hatte das Gefühl, als würde sich alles vor ihren Augen drehen. Wovon sprach er nur? Sie hatte diesen Brief nie geschrieben. Soviel stand fest. „Und das hast du geglaubt?" Graham hatte es damals nicht wahrhaben wollen. Er hatte sich auf der Stelle umgedreht und war gegangen. Regina Cassidys höhnisches Lachen gellte ihm jetzt noch in den Ohren. „Ich wollte es zuerst nicht glauben, Caitlin. Aber um ganz sicherzugehen, rief ich die Fluggesellschaft an. Ich erzählte ihnen, ich wäre dein Vater und würde dich überall suchen. Sie bestätigten mir, dass du einen Flug nach Paris gebucht hattest, und zwar für neun Uhr am nächsten Morgen." Er sah sie kühl an. „Genau wie es im Brief stand. Daher dachte ich natürlich, der Rest würde genauso stimmen." Caitlin fühlte sich wie benommen. Das Ganze war ein schrecklicher Alptraum!
„Natürlich hatte ich einen Flug nach Paris gebucht." Ein Schluchzer entrang sich ihr. Oh, Gott, konnte das Ganze nur ein furchtbares Missverständnis sein, inszeniert von ihrer Mutter? „Wenn du nachgefragt hättest, hättest du erfahren, dass zwei Flüge bestellt worden waren. Das sollte meine Überraschung für dich sein. Flitterwochen in Paris, direkt nach der Hochzeit." Sie wartete seine Reaktion gar nicht ab, sondern fuhr atemlos fort: „Nachdem mir meine Mutter erzählt hatte, dass du für fünfzigtausend Dollar eingewilligt hattest, dich nie wieder bei mir zu melden, flog ich allein." Warum hatte er sie damals nicht gesucht? Sie war so verzweifelt gewesen. „Ich wollte das zunächst natürlich auch nicht glauben, Graham. Ich bin den ganzen Weg bis zum Haus deines Onkels gefahren und habe wie eine Wahnsinnige morgens um sechs Uhr an die Tür geklopft, bis er mir schließlich aufmachte. Er sagte mir, du hättest dic h aus dem Staub gemacht. Ich nahm an, du hattest ein schlechtes Gewissen. Alles sah danach aus, dass du das Geld genommen hättest und verschwunden wärst." Graham sah sie fassungslos an. Wie war so etwas nur möglich? Wie hatte sie nur denken können, dass er ihre Liebe verkauft hätte? Die ersten zwei Monate ohne Caitlin waren für ihn die Hölle gewesen. „Ich bin weggegangen, weil ich es nicht ausgehalten hätte, in der gleichen Stadt zu leben wie du. Schließlich erinnerte mich dort alles an uns. Ich habe mich auf mein Motorrad gesetzt und bin den ganzen Weg bis hinunter nach Kalifornien in einem Stück durchgefahren." Graham wollte über diese schlimme Fahrt nicht nachdenken. Er wusste nur noch, er war halb verrückt gewesen vor Sorge, vor Ärger, vor Enttäuschung. Irgendwann hatte er dann auf einem Pier gestanden und überlegt, ob er seinem Leben nicht besser hier und jetzt ein Ende machen sollte. Aber diesen Triumph hatte er Caitlins Mutter nicht gönnen wollen. Er hatte sich entschlossen, weiterzuleben, obwohl nach dem Verlust von Caitlin alles sinnlos zu sein schien. „Irgendwann kehrte ich dann schließlich hierher zurück. Ich wurde Polizist, traf Celia und heiratete sie. Sie war eine Freundin meiner Cousine. Den Rest kennst du ja." Caitlin hatte das Gefühl, als wäre ihr der Boden unter den Füßen entzogen worden. „Heißt das ... soll das heißen, du hast mich damals gar nicht verlassen?" fragte sie tonlos. Warum wärmten sie jetzt diese alten Geschichten auf? Das machte doch gar keinen Sinn. Was immer damals zwischen ihnen gewesen war. es gehörte der Vergangenheit an. Sie stammten aus verschiedenen Welten, und das würde sich auch niemals ändern. Graham schüttelte den Kopf. „Nein, ich habe dich nicht verlassen", entgegnete er ruhig. „Aber wer weiß, vielleic ht, hat deine Mutter uns ja einen Gefallen getan." Caitlin starrte ihn aus weitaufgerissenen Augen an. „Einen Gefallen? Bist du wahnsinnig? Sie hat unser Leben zerstört, Graham. Ich ... ich könnte sie umbringen!" Er zögerte kurz. „Was du mir damals geschrieben hast, Caitlin ... das, was in dem Brief stand, leuchtete mir schließlich ein, nachdem ich Zeit gehabt hatte, darüber nachzudenken. Wir beide passen einfach nicht zueinander, Caitlin. Du gehörst zur Oberschicht, und ich gehöre nirgendwohin. Durch meinen Job kann ich mir vielleicht einen Platz in der Gesellschaft erobern, aber trotzdem würdest du immer hoch über mir stehen." Caitlin öffnete schon den Mund, um zu protestieren, doch dann überlegte sie es sich anders. In einem Punkt hatte Graham recht - seit damals war viel Zeit vergangen. Sie beide waren ihre verschiedenen Wege gegangen, und das ließ sich nicht rückgängig machen. Trotzdem trafen sie seine Worte mitten ins Herz. Am liebsten hätte sie laut geschrien, hätte darauf bestanden, noch einmal ganz von vorn anzufangen. Bestimmt hatten sie eine zweite Chance. Als er sie vorhin küsste, hatte sie dies spüren können. Was war nur mit ihm los? Warum war er immer so starrköpfig? Caitlin fühlte sich verraten. Von ihrer Mutter, von ihm, vom Leben.
Was Graham anging, so wusste sie nicht, wie es mit ihnen weitergehen würde. Aber ihre Mutter würde für ihr Ränkespiel bezahlen müssen, das schwor sie sich. Diesmal sollte sie nicht so leicht davonkommen. Sie hatte Caitlins Glück zerstört, und das sollte nicht ungestraft bleiben. Graham stöhnte plötzlich auf und fuhr sich über den Kopf. „Was ist los?" fragte Caitlin besorgt. „Nichts, ich ... ich glaube, ich habe mich bei dem Sturz ein wenig verletzt." Sie trat auf ihn zu. „Beug den Kopf", befahl sie ihm. Dann erst sah sie die Wunde am Hinterkopf. „Oh, Graham, du blutest ja! Komm mit ins Badezimmer. Ich werde die Wunde säubern und dann ein Pflaster darauf kleben." „Ach Unsinn, Caitlin, das ist doch nur ein Kratzer! Ich mag es nicht, wenn man sich deswegen so anstellt." „Nun widersprich mir bitte nicht! Komm mit ins Badezimmer!" Widerstrebend ließ Graham sich von ihr ins Bad führen. Dort hieß sie ihn auf dem Badewannenrand Platz nehmen. Sie holte ein Fläschchen mit Jod aus dem Schränkchen und trug es vorsichtig auf die Wunde auf. Es brannte ein wenig, aber Graham verzog keine Miene. „Indianer weinen nicht, stimmt's?" fragte sie mit einem Lächeln. „Willst du dich über mich lustig machen?" „Nein, natürlich nicht." Schnell stellte sie das Fläschchen zurück in den Schrank. Der Anblick des Blutes hatte ihr wieder die ganze Szene in Erinnerung gebracht. Ihr wurde plötzlich schlecht. Graham, dem ihre Reaktion nicht verborgen geblieben war, hätte sie am liebsten in die Arme genommen und getröstet, bis all ihre Angst verschwunden war. Aber er fürchtete sich vor weiteren Missverständnissen. „Graham, ich ... wir ... o Gott, wir haben soviel Zeit verloren!" Er schüttelte den Kopf. „Nein, Caitlin, ich glaube wirklich, deine Mutter hatte recht. Es wäre nicht gut gegangen mit uns beiden." Sie verstand nicht, wie er so etwas sagen konnte. Hatte er denn vergessen, wie verliebt sie damals gewesen waren? „Was willst du damit sagen, Graham? Hat es etwas damit zu tun, dass deine Frau dich verlassen hat?" Ja, vielleicht hing es ja auch damit zusammen. Er hatte jedenfalls aufgehört, an Träume zu glauben. „Meine Frau war Indianerin wie ich, Caitlin, und trotzdem hat unsere Ehe nicht funktioniert. Ich gehöre zu keiner Welt, Caitlin, aber ganz gewiss nicht zu deiner." Caitlin stieß einen tiefen Seufzer aus. Wie sollte sie ihn nur vom Gegenteil überzeugen? „Komm, Graham", sie nahm ihn bei der Hand, „lass uns wieder in die Küche gehen. Ich werde uns beiden jetzt eine anständige Mahlzeit kochen. Und danach werde ich meine Mutter anrufen." Sie sah ausgesprochen grimmig aus. „Warum willst du das tun?" Sie wandte sich zur Tür und bemerkte abschließend: „Es gibt da ein paar Sachen, die ich gern loswerden möchte." Caitlin schien ihm in diesem Moment viel zu schwach für eine Auseinandersetzung mit ihrer Mutter zu sein. Die Frau war ein Ungeheuer. Sie würde Caitlin bei lebendigem Leibe auffressen. Er musste dafür sorgen, dass dies nicht geschah. „Was soll denn das, Caitlin? Sie hat sicher nur das Beste für dich gewollt." Caitlin lachte ihm ins Gesicht. „In diesem Punkt hast du dich geirrt. Meine Mutter denkt immer nur an ihren eigenen Vorteil. Und wie wir nun wissen, scheut sie dabei auch nicht vor Lug und Betrug zurück. Aber das wird noch ein Nachspiel haben." Entschlossen drehte sie sich um und marschierte in die Küche.
8. KAPITEL So sehr sie sich auch bemühte, Caitlin konnte einfach keinen Schlaf finden. Das war neu, denn normalerweise musste sie sich nur ins Bett legen, um sofort tief und fest einzuschlafen. Aber an diesem Abend lag sie stundenlang wach und sah den Wolken dabei zu, wie sie am mondhellen Nachthimmel vorbeizogen. Sie lag wach und wartete - worauf, hätte sie selbst nicht zu sagen vermocht. Angespannt lauschte sie dem Wispern des Windes und dem Knarren des Hauses, aus dem sich die Hitze des Tages langsam verzog. Jedes kleinste Geräusch ließ sie zusammenfahren. Immer wieder musste sie an die Ereignisse des vergangenen Tages denken. Die Bilder schienen sie zu verfolgen und sich endlos zu wiederholen, wie eine quälende Tretmühle im Kopf. Jedesmal, wenn sie die Augen schloss, sah sie den Mann, der sie hatte entführen wollen. Ein hochgewachsener, sogar ziemlich gutaussehender Mann, dessen Augen voller Hass gewesen waren. Sie hatte noch einen Blick auf ihn werfen können, bevor er sie Graham entgegengeschleudert hatte und dann losgerannt war. Dieses Mal hatte sie nicht nur sein Profil gesehen. Sie wusste jetzt, wie er aussah, und hätte ihn notfalls auch identifizieren können. Als sie den Hass in seinen Augen sah, erkannte sie, dass ihr Leben an einem seidenen Faden hing. Der Mann würde sie mit derselben Leichtigkeit umbringen, mit der er eine Zigarette ausgedrückt hätte. An diesem Nachmittag war Caitlin ihrem eigenen Tod begegnet, und nun hatte sie schreckliche Angst. In der Ferne begann plötzlich ein Hund zu heulen. Sie fuhr zusammen, dann setzte sie sich abrupt auf. Das Herz schlug ihr bis zum Halse. Vergeblich versuchte sie, sich wieder zu beruhigen. Es war doch nur ein Hund, weiter nichts. Sie zitterte am ganzen Leib wegen eines Hundes. Nervös fuhr sie sich mit der Hand durchs Haar. Es hatte keinen Zweck. Heute Nacht würde sie wohl keinen Schlaf finden. Sie war viel zu angespannt und aufgewühlt. Leider war es ihr auch nicht gelungen, ihre Mutter zu erreichen. Sie hatte Regina zwar direkt nach dem Essen angerufen, aber deren Hausangestellte hatte ihr mitgeteilt, dass Mrs. Cassidy auf einer Kreuzfahrt war. Leider wusste sie auch nicht, wie lange ihre Mutter fort sein würde. Das ist natürlich alles nur ein abgekartetes Spiel, dachte Caitlin ärgerlich. Sie kannte Velma, eine äußerst treue Seele. Wahrscheinlich hatte ihre Mutter ihr verboten, etwas zu sagen. Denn Regina hinterließ immer eine Nachricht, wo sie in dringenden Fällen zu erreichen war. Für all ihre Bekannten und Freunde, aber höchstwahrscheinlich nicht für ihre Tochter. Velma auszufragen, hätte nicht viel gebracht, das wusste Caitlin. Ihre Mutter war eine strenge Arbeitgeberin. Wenn ein Mitglied des Personals ihre Anweisungen nicht genauestens befolgte, wurde es gefeuert. Und zwar auf der Stelle. „Dann sagen Sie ihr, dass ihre Tochter mit ihr sprechen will, Velma", hatte Caitlin nach kurzem Überlegen gesagt. „Sagen Sie ihr, ich hätte ihren ungeheuren Betrug entdeckt, mit dem sie mich vor elf Jahren um mein Glück gebracht hat. Dass ich mit ihr darüber sprechen möchte und dass sie sich für dieses Gespräch besser warm anziehen sollte." Danach hatte es eine kleine Pause gegeben. Velma hatte schließlich versprochen, Regina alles wortwörtlich mitzuteilen. Es war kein sehr angenehmes Gespräch gewesen. Frustriert hatte Caitlin den Hörer auf die Gabel geknallt. Trotz ihrer ständigen Meinungsverschiedenheiten liebte sie ihre Mutter eigentlich sehr. Leider waren sie sehr verschieden. Aber wenn Regina auch nur einen Versuch gemacht hätte, ihrer Tochter
auf halbem Wege entgegenzukommen, hätte Caitlin sie mit offenen Armen aufgenommen. Doch selbst ihr Vater hatte einmal gesagt, dass aus einer Schlange nicht plötzlich eine Maus werden könnte. Und das galt auch für Regina. Es war höchst unwahrscheinlich, dass sie sich eines Tages in eine liebevolle Mutter verwandeln, würde, wie sehr ihre Tochter sich das auch wünschen mochte. Wahrscheinlich muss ich das akzeptieren, dachte Caitlin resigniert. Im Grunde wusste sie, dass auch ihre Mutter ihr im Moment nicht helfen konnte, aber es hätte ihr gut getan, ein wenig Dampf abzulassen. Leider war jetzt niemand in der Nähe, den sie hätte anschreien können. Sie war dem Ansturm ihrer Gefühle vollkommen schutzlos ausgesetzt, und es waren keine sehr angenehmen Gefühle. Jeden Moment glaubte sie, jemand unten an der Tür zu hören. Nein, so ging es nicht weiter! Wenn sie nichts tat, würde sie noch völlig durchdrehen. Entschlossen stieg Caitlin aus dem Bett. Erst jetzt fiel ihr auf, wie heiß und drückend es im Zimmer war. Sie schätzte die Temperatur auf über dreißig Grad. Kein Wunder, dass ich nicht schlafen kann, dachte sie. Trotzdem war ihr kalt, kalt von innen heraus. Und das würde sich erst dann änd ern, wenn die Polizei den Mann verhaftet hatte. Wenn diese Geschichte endlich abgeschlossen war. Falls es je dazu kam. Unruhig lief sie im Zimmer auf und ab. Dann entschloss sie sich, nach Graham zu schauen. Vielleicht war er ja ebenfalls wach. Dann konnten sie sich unterhalten oder Karten spielen. Alles war jedenfalls besser, als sich im Bett zu wälzen und immer wieder dieses Horrorszenario durchzuspielen. Er hörte sie, noch bevor sie ins Wohnzimmer kam. Graham hatte schon immer einen leichten Schlaf gehabt. Ein Teil von ihm blieb stets wach, bereit, in Aktion zu treten, falls dies nötig war. Mit fünf Jahren war ein Feuer in dem kleinen Haus ausgebrochen, das sein Vater damals gemietet hatte. Graham konnte nie das Entsetzen vergessen, das er verspürt hatte, als er beim Erwachen von hochzüngelnden Flammen umgeben war. Die Flammen waren größer als er, und er hatte wie am Spieß geschrien. Er war davon überzeugt gewesen, dass er in dem Brand umkommen würde. Aber dann hatte sich seine Mutter einen Weg durch die Feuersbrunst gekämpft, um ihn zu retten. Es war ihr in der allerletzten Minute gelungen, ihn nach draußen zu bringen. Dort war sie dann auf dem Rasen ohnmächtig zusammengebrochen. Aber sie hatte Brandwunden davongetragen, und die Narben waren nie verheilt. Sein Onkel hatte ihm damals gesagt, dass sie ein Zeichen ihres Muts wären und geachtet werden sollten. Seine Mutter hatte diesen Zwischenfall nie wieder erwähnt. Aber Graham wusste, dass die Brandmale da waren, und er war ihr von ganzem Herzen dankbar, dass sie ihm zum zweiten Mal das Leben geschenkt hatte. Zur Vorsicht griff Graham nach seiner Waffe, die immer griffbereit lag. Aber natürlich war es Caitlin, die im Türrahmen stand, und kein Einbrecher. Das Mondlicht fiel durch das Fenster und erhellte ihre Gestalt. Ihm stockte der Atem. Sie trug ein zartes, fast durchsichtiges Nachthemd, das ihren Körper umspielte und jede ihrer Rundungen zur Geltung brachte. Es verlangte ihn danach, sie zu berühren, aber er beherrschte sich. Langsam lockerte er den Griff um seine Waffe. „Kannst du nicht schlafen?" Sie schüttelte den Kopf. Im Zwielicht hatte ihre Erscheinung fast etwas Märchenhaftes. Sie sah aus wie die fleischgewordene Verführung. Graham spürte, wie sein Begehren wuchs. „Komm her!" Er winkte ihr zu. Zögernd trat Caitlin näher.
Das Sofa sah ziemlich unordentlich aus. Sie hatte Graham eine Decke und ein Laken gegeben, aber beides lag jetzt zusammengeknüllt auf dem Boden. Anscheinend war es ihm auch nicht anders gegangen als ihr. Schuldbewusst blickte sie ihn an. Ihretwegen hatte er die Nacht auf dieser unbequemen Couch verbracht. Eigentlich sollte er jetzt zu Hause gemütlich in seinem eigenen Bett liegen. „Das Sofa ist wahrscheinlich nicht sehr bequem, oder?" Er zuckte mit den Schultern. „Oh, ich bin Schlimmeres gewohnt. Das Sofa ist nicht das Problem." Graham konnte überall schlafen, sogar im Sitzen. Das hatte er von seinen indianischen Vorfahren geerbt. Caitlin fühlte sich äußerst unbehaglich. Was war nur mit ihr los, warum verhielt sie sich eigentlich wie ein verängstigtes Kind? Schließlich war sie eine erwachsene Frau. Errötend sagte sie zu Graham: „Ich weiß, dass es albern ist, aber vielleicht hat es etwas mit der Dunkelheit zu tun." Sie schluckte. „Ich ... ich habe schreckliche Angst, Graham." Er wartete, bis sie sich neben ihm auf dem Sofa niedergelassen hatte. Dann legte er beschützend den Arm um sie. Das schien ihm das Natürlichste von der Welt zu sein. „Nein, das ist überhaupt nicht albern, sondern ganz normal. Schließlich bist du nur knapp einem Mordversuch entkommen." Und es wäre meine Schuld gewesen, dachte Graham. Er hätte Caitlin nie aus den Augen lassen sollen. Sie sah ihn neugierig an. „Hast du denn nie Angst?" Er wollte ihr nichts vormachen. ,Aber natürlich. Manchmal schon." Caitlin war überrascht. „Wirklich?" „Na klar." Er lächelte, obwohl ihm gar nicht danach zumute war. Glaubte sie etwa, er wäre Superman? „Manchmal stelle ich mir schon vor, was während der Arbeit alles geschehen könnte." Aber das waren die Ausnahmen. Meistens verbot er sich, an die Gefahren seines Berufs zu denken, und zwar aus dem einfachen Grund, dass er ihn dann wahrscheinlich nicht mehr hätte ausführen können. „Aber ich bin auch sehr vorsichtig, denn schließlich geht es nicht nur um mich. Ich bin verantwortlich für Jake und meine Mutter." Ja, so war Graham schon immer gewesen, äußerst pflichtbewusst. Sein Ausdruck war weicher geworden, als er von seinem Sohn sprach. Die Familie bedeutete ihm sehr viel. All diese Qualitäten schätzte Caitlin an ihm. Ohne sich dessen bewusst zu sein, strich er ihr mit den Fingern leicht durchs Haar. „Ich habe zwar eine Lebensversicherung abgeschlossen, aber Geld ist natürlich nicht alles." Caitlin nickte lächelnd. Grahams Wärme, seine Gegenwart taten ihr gut „Du hast recht." „Ich mache mir große Sorgen wegen der Sache mit Jake", sagte Graham unerwartet. „Er braucht mich. Wenn ich nicht mehr da wäre, würde er jeden Halt verlieren. Wahrscheinlich würde er dann genauso werden wie ich." Caitlin gefiel es nicht, dass er sich selbst so schlecht machte. „Aber das wäre doch etwas sehr Positives", protestierte sie. „So, findest du? Das ist mir neu. Gestern hattest du noch keine so hohe Meinung, von mir." Gestern schien Lichtjahre entfernt zu sein. „Gestern dachte ich auch noch, du hättest unsere Liebe für fünfzigtausend Dollar an meine Mutter verkauft." Graham nickte. Das war kein sehr angenehmer Gedanke. „Ich bin noch immer derselbe wie damals, Caitlin." Ja, er hatte recht, und sie bedauerte es jetzt zutiefst, dass sie auf den Betrug ihrer Mutter hereingefallen war. Andererseits war sie damals so jung gewesen, so jung und so naiv. Graham war ihre ganze Welt gewesen, und als er sie verlassen hatte, war alles
zusammengebrochen. Sie sah ihn betroffen an. „Es tut mir so leid, Graham." Ihre Nähe machte ihm ziemlich zu schaffen. Die Vertrautheit, die er plötzlich spürte, ängstigte ihn. „Vielleicht solltest du besser wieder ins Bett gehen, Caitlin." War er wütend auf sie? Hatte sie etwas Falsches gesagt? Sie hatte sich doch nur entschuldigen wollen. Und schließlich war er ja nicht der einzige gewesen, der gelitten hatte. „Warum?" Er warf ihr einen beredten Blick zu. „Musst du das wirklich fragen? Du sitzt hier neben mir, nur mit eine m hauchdünnen Nachthemd bekleidet ... ich bin schließlich auch nur ein Mann, Caitlin." Sie lächelte. Es gefiel ihr, dass er sie begehrenswert fand. „Und? Wie gefalle ich dir?" Er konnte nicht anders, er musste ihr einen kleinen Kuss auf den Nacken geben. Das transparente Material ihres Nachthemds ließ ihre Brüste erkennen. Graham musste seine ganze Willenskraft zusammennehmen, um der Versuchung zu widerstehen. „Viel zu gut", sagte er mit trockenem Mund. „Ich fände es wirklich besser, wenn du zurück in dein Zimmer gehen würdest." Wenn er glaubt, mich einfach wegschicken zu können, hat er sich geirrt, dachte Caitlin. Mutig erwiderte sie seinen Kuss. Dabei kam sie ihm noch näher. Die Berührung ließ kleine Wellen der Erregung durch seinen Körper rieseln. Graham packte sie bei den Schultern. Er blickte sie warnend an. „Hey, hör auf! Sonst wirst du es am Ende noch bereuen." Caitlin schüttelte entschieden den Kopf. „Unsinn, Graham. Das einzige, was ich bereue, sind all die Jahre, die wir verloren haben." Graham hatte ihr doch bereits gesagt, dass es in seinen Augen besser so gewesen wäre. Das war auch seine ernsthafte Überzeugung. „Du weißt nicht, was du sagst." Er konnte ihren Atem auf seiner Haut spüren. „Dann beweis mir das Gegenteil, Graham. Du kannst es, ich weiß es." Er nickte beklommen. Von, Minute zu Minute wuchs seine Erregung, aber wohl war ihm dabei nicht. „Ja, ich könnte es tun. Doch das würde nichts ändern." Caitlin wollte davon nichts hören. Sie sah ihn bittend an. “Ich habe solche Angst. Gray. Bitte, halt mich fest. Ich brauche dich jetzt." Graham stieß einen tiefen Seufzer aus. „Warum machst du es mir nur so schwer?" Das waren seine letzten Worte, der letzte schwache Versuch, sich gegen das zu wehren, was er als schicksalhaft, als unabänderlich empfand. Das Verlangen nach Caitlin, das all die Jahre in ihm gewesen war und nur geschlafen hatte, erwachte zu neuem Leben. Graham konnte ihm nicht länger widerstehen, und er wollte es auch gar nicht. Seine Hand fand wie von selbst den Weg unter Caitlins seidenes Nachthemd. Er spürte sie erschauern, während er langsam und bewundernd über ihre zarte Haut fuhr. Ja, genauso hatte sie sich auch früher schon angefühlt. Caitlin hatte eine Haut wie Samt und Seide. Schweigend zog er sie hoch und setzte sie auf seinen Schoß. Minutenlang begnügte er sich damit, sie nur anzuschauen. „Du warst das schönste Mädchen, das ich je gesehen hatte", sagte er wie zu sich selbst. „Noch schöner als ein Sonnenaufgang." Caitlin wusste noch, dass er sie morgens immer mitgenommen hatte, um dieses Naturschauspiel zu bewundern. Sie schloss die Augen, die Erinnerung drohte sie zu überwältigen. Sie schlang die Arme um seinen Nacken und zog ihn zu sich heran. Er bedeckte ihre Brüste mit kleinen, hungrigen Küssen. Caitlin fühlte sich benommen, aber sie spürte auch die Erregung, die Hitze, die langsam in ihr aufzusteigen begann.
Oh, ja, dachte sie. Ja! Genau das hatte sie sich immer gewünscht. Dass Graham sie in seinen Armen hielt. Dass er Liebe mit ihr machte. Und jetzt würde es endlich geschehen. Sein Mund bedeckte den ihren, er entlockte ihren Lippen die süßesten Versprechungen. Dass er alles annehmen würde, was sie ihm anzubieten hätte. Dass er sie hundertfach dafür belohnen würde. Die unterschiedlichsten Gefühle stiegen in diesem Moment in ihr auf. Aber nichts zählte außer der Tatsache, dass Graham da war, wie in ihren Träumen. Immer wieder, wie ein Verdurstender, labte Graham sich an Caitlins Lippen und der Süße, die sie ihm darboten. Er konnte einfach nicht genug von ihr bekommen, konnte nicht einmal glauben, dass dies tatsächlich geschah. Er hatte noch nie mit ihr geschlafen, aber er hatte bestimmt über hundertmal davon geträumt, selbst nachdem sie schon jahrelang getrennt gewesen waren. Manchmal stahl sie sich in seine Träume, zart und hingebungsvoll, und er hatte begonnen, sie zu liebkosen. Ja, und dann war er immer wieder neben Celia aufgewacht und hatte erkennen müssen, dass es sich nur um einen Traum handelte. Natürlich hatte er deswegen auch Schuldgefühle verspürt. Aber jetzt saß Caitlin leibhaftig neben ihm, und sie küssten sich, als hätten sie ihr Leben lang nichts anderes gemacht. Er konnte sie nur immer wieder berühren, immer wieder anschauen. Mit aller Macht überkam ihn der Wunsch, sich in ihr zu verströmen. Falls dies auch ein Traum sein sollte, dann wollte er jedenfalls nie wieder daraus erwachen. Sie war die Erfüllung all seiner Sehnsüchte. Und sie gehörte ihm. Caitlin stöhnte auf, als er sie sanft aufs Sofa bettete. Er küsste ihren Hals, und seine Nähe ließ sie erbeben. Sie wollte ihn, sie brauchte ihn, jede einzelne Zelle verlangte nach ihm. Sie war reif für ihn nach all den Jahren, in denen sie sich vergeblich nach ihm gesehnt hatte. Ungeduldig begann sie, an seinem Hemd zu zerren und es aus seiner Jeans zu ziehen. Er war erhitzt, sein Atem ging schwer. Ja, so hatte sie es sich immer vorgestellt. Nicht nur ihr Körper, auch ihre Seele war entflammt für ihn. Graham stützte sich auf einen Ellenbogen und sah auf sie hinab. Caitlins Augen erschienen ihm riesengroß. Ihr Blick war entrückt, ihr Mund weich und voll von seinen Küssen. Noch nie hatte er eine Frau so sehr begehrt! „Möchtest du, dass ich dich wieder ins Bett bringe?" Noch immer hielt Caitlin die Arme um seinen Hals geschlungen. Es war fast so,, als fürchtete sie, dass er verschwinden würde, sobald sie ihn losließ. Sie schüttelte den Kopf. „Nur wenn du mitkommst." „Ich hatte nicht vor, dich allein zu lassen." Um nichts in der Welt hätte er das tun können. Nicht jetzt, nicht nachdem sie sich geküsst hatten. Ohne ein weiteres Wort hob er sie hoch und trug sie hinüber ins Schlafzimmer. Caitlin legte den Kopf an seine Schulter. Vor lauter Freude kamen ihr die Tränen. Graham spürte die Nässe durch den Stoff seines Hemdes. Er dachte, sie müsse ihre Meinung geändert haben. „Caitlin?" „Pst!" Sie legte den Finger auf die Lippen. „Frag mich nicht, Graham. Lass uns jetzt nicht darüber sprechen. Lass es uns tun!" Er setzte sie vorsichtig auf dem Bett ab. „Ja, vielleicht hast du recht." Noch immer war er sich nicht ganz sicher, ob sie das Richtige taten. Aber in diesem Moment war es nicht sein Verstand, der die Entscheidungen traf. Caitlin hielt ihn noch immer umfangen. Sie kniete sich aufs Bett, ihr Körper drängte
sich ihm entgegen. Ihre Augen sprachen eine beredtere Sprache als ihr Mund. „Willst du es dir nicht noch einmal überlegen?" fragte er leise. Sie schüttelte entschieden den Kopf. „Da gibt es nichts zu überlegen", erwiderte sie. „Liebe mich, Graham. Liebe mich so, wie du es vor Jahren getan hättest. Und tu es jetzt!" Graham wusste, wenn er sich tatsächlich dazu hinreißen lassen würde, wäre es um sie beide geschehen. Wie geblendet von dem Zauber, den sie auf ihn ausübte, hob er langsam sein Hemd hoch und zog es sich über den Kopf. Dann schnallte er den Gürtel seiner Jeans ab. Es geschah wie im Traum, wie in Zeitlupe. Caitlin streichelte seine Brust, bis sich die kleinen Härchen aufrichteten. Sie selbst ergriff nun die Initiative und zog ihm die Hose aus. Unter ihrem Griff erschauerte Graham. Sie genoss es, ihn so erregen zu können. „Wo hast du das gelernt?" fragte er mit rauer Stimme. „Nirgendwo", gab sie zurück. „Ich bringe es mir gerade selbst bei." Graham konnte den Sinn ihrer Worte kaum verstehen. Sein Kopf, seine Sinne waren vollkommen benebelt vor Verlangen. Aber er wusste, er musste vorsichtig mit ihr sein. Wenn er mit ihr schlief, dann so, wie sie es verdiente - langsam, genussvoll, voller Zärtlichkeit. Aber Caitlins drängende Berühr ungen sprachen eine andere Sprache. Sie bettelte darum, dass er sie nahm, dass er sie im Sturm eroberte, dass er schnell kam, bevor sie verrückt wurde vor Lust. Graham war noch nie ein Sklave der Leidenschaft gewesen. Er hatte es bisher immer geschafft, einen kühlen Kopf zu bewahren. Aber nun hatte ihn auf einmal eine Macht im Griff, die stärker war als er. Er fühlte sich so schwach wie ein neugeborenes Kind und gleichzeitig so stark wie die legendären Götter seiner Vorfahren. Sie war es, die diese Gefühle in ihm auslösen konnte, und sie war auch die einzige Frau, die für ihn zählte. Caitlin hatte ihr Werk inzwischen vollendet. Nach den Jeans hatte sie ihm auch den Slip ausgezogen. Beides lag jetzt vergessen auf dem Boden. Graham stand vor ihr in der ga nzen Pracht seiner Männlichkeit. Sein Körper sah aus, als wäre er aus Stein gemeißelt, als hätte ein genialer Bildhauer ihn geschaffen. Und zwar nur für sie. Plötzlich griff Graham nach Caitlins Hand. Sie hatte nicht aufgehört, ihn zu streicheln, und er fürchtete um den letzten Rest seiner Selbstbeherrschung. „Langsam, Cait, langsam", sagte er beschwörend. Sie sah ihn überrascht an. Caitlin versuchte zu lächeln, aber es wollte ihr nicht recht gelingen. „Elf lange Jahre habe ich auf diesen Moment gewartet. Ist es da ein Wunder, dass es mir nicht schnell genug gehen kann?" fragte sie mit leiser Stimme. Aber sie ließ es zu, dass er sie festhielt. Nun war es an ihm, ihr das seidige Nachthemd auszuziehen. Er nahm sich Zeit dafür, obwohl der Lavastrom des Begehrens in seinen Adern glühte. Bald, Cait, bald ist es soweit. Schließlich hatte er es geschafft. Auch die letzte Hülle war gefallen, und nun gab es nichts mehr, was sie voneinander trennte. Wie zwei Verhungernde fielen sie übereinander her. Graham bedeckte Caitlins ganzen Körper mit kleinen, brennenden Küssen. Aufstöhnend ließ sie es geschehen. Er sah ihr in die Augen. Ihr Blick spiegelte seine Sehnsucht, sein nacktes Verlangen. Es war phantastisch, sich während des Liebesspiels anzuschauen. So bekam der Vorgang noch mehr Bedeutung, noch mehr Kraft. Er beugte den Kopf zu Caitlin hinab und begann, ihre Brustwarze mit der Zunge zu umspielen. Sie schmiegte sich zitternd an ihn, und er fühlte seine Erregung wachsen, bis er den Druck fast nicht mehr aushalten konnte.
Plötzlich gab es kein Zurück mehr, und beide merkten es. Es wäre über Grahams Kraft gegangen. Er wollte sich mit ihr vereinigen, sein Körper und seine Seele drängten danach. Sekunden später geschah es. Als er in sie eindrang, entrang sich Caitlin ein kleiner Schrei. Überrascht sah er sie an und hielt einen Moment lang in der Bewegung inne. „Du bist ja noch ..." Caitlin wollte jetzt nicht sprechen. „Ich bin dein, Graham", flüsterte sie mit Tränen in den Augen. „Und ich gehöre niemandem als dir." Sie schlang ihm die Arme fest um den Hals und zog ihn dicht zu sich heran. Graham ließ los, er überließ sich vollends seiner Lust und ihrem Vertrauen. Es war ihm, als wäre er endlich heimgekommen. Ihre gemeinsame Leidenschaft äußerte sich im harmonischen Tanz ihrer Körper. Sie bewegten sich wie zwei erfahrene Schwimmer im tiefen Meer der Liebe. Der Schmerz, den Caitlin am Anfang verspürt hätte, verschwand und machte einem köstlichen Gefühl der Schwerelosigkeit Platz. Dann spürte sie nichts mehr als Auflösung, sie fühlte, wie sie und Graham miteinander verschmolzen. Den Gipfel der Ekstase erreichten sie gemeinsam, danach versank die Welt um sie herum ins Vergessen.
9. KAPITEL Leider war es viel zu schnell vorbei. Und das herrliche Gefühl der Gemeinsamkeit verschwand, als sie sich langsam wieder dem Boden der Realität näherten. Aufatmend ließ sich Graham zurück in die Kissen fallen. Er spürte, wie sich sein Atem normalisierte. Dann erst rollte er sich auf den Bauch und sah Caitlin an: Die Ernüchterung folgte fast auf dem Fuße. Verdammt, wozu hatte er sich nur hinreißen lassen? Wo war seine Selbstkontrolle, wo seine vielgerühmte Disziplin? Er hätte niemals zulassen dürfen, dass dies geschah. Egal wie sehr er sie begehrte, sich nach ihr verzehrt hatte, er hätte es nicht so weit kommen lassen dürfen. Schließlich hatte er einen offiziellen Auftrag. Und was das betraf, hatte er schmählich versagt. Caitlin ließ sich noch ein wenig länger von der Welle des Vergnügens tragen. Aber als das Schweigen zu drückend wurde, hob sie den Kopf und sah Graham an. Sie erkannte sofort, dass etwas geschehen war, dass er bereits dabei war, sich von ihr und dem, was sie gerade miteinander geteilt hatten, zu distanzieren. „Was ist los?" fragte sie ihn mit sanfter Stimme. Sein Blick war ausdruckslos. Das ist eigentlich nichts Neues, dachte Caitlin bei sich. Schon früher war es schwer gewesen, zu erraten, was er dachte. „Also?" hakte sie nach. Er antwortete nicht. Caitlins Glücksgefühl begann sich aufzulösen. Graham wusste nicht, was er sagen sollte. Zu seinem Ärger über seinen Mangel an Selbstkontrolle kam jetzt auch noch sein nagendes Schuldgefühl. Er hatte keine Ahnung gehabt und war auch sehr überrascht, dass dies das erste Mal für sie gewesen war. „Warum hast du es mir nicht gesagt?" Wenn er gewusst hätte, dass sie noch Jungfrau war, hätte er bestimmt die Kraft gefunden, nein zu sagen. Caitlin sah ihn entgeistert an. Plötzlich wurde sie sich ihrer Nacktheit und damit auch ihrer absoluten Verletzbarkeit bewusst. „Warum habe ich dir was nicht gesagt?" „Dass du noch nie mit einem Mann geschlafen hast." Es klang fast wie eine Anklage. Noch ein Fehler, den er gemacht hatte. Vor langer Zeit hätte er alles darum gegeben, ihr erster Liebhaber zu sein. Ihr einziger Liebhaber. Aber inzwischen wusste er, dass dies eine Anmaßung gewesen wäre. Caitlin fühlte sich bis ins Mark getroffen. War er etwa enttäuscht, weil sie keine Erfahrung mit Männern hatte? „Wie konnte das geschehen, Caitlin?" Sie wickelte sich errötend in die Decke ein. „Wie wohl?" gab sie zurück. Sie fand es unfair, sich für diesen Umstand auch noch rechtfertigen zu müssen. Er schüttelte den Kopf und fuhr ihr über das dichte, lockige Haar. „Du bist so wunderschön, Caitlin. Irgendeiner hätte doch längst..." Achselzuckend erwiderte sie: „Es gab aber niemanden nach dir, Graham. Ich habe keinen getroffen, der mich so berührt hat wie du." Es fiel ihr nicht leicht, dies zu sagen, und Graham erkannte, dass er sie verletzt hatte. Das war nicht seine Absicht gewesen. „Ist das etwa ein Problem für dich?" fragte sie stirnrunzelnd. „Nein, das nicht, aber ..." Wie sollte er ihr seine komplizierten Gefühle begreiflich machen? Er schüttelte den Kopf. „Ich möchte jetzt nicht darüber sprechen." „Nun, das geht mir genauso." Sie lächelte ihn verführerisch an. „Komm! Komm in meine Arme! Bitte sag mir, dass alles gut ist... und dass alles gut sein wird." Wie konnte sie das sagen? Wusste sie nicht, dass draußen eine kalte, grausame Welt lauerte? Aber nein, Caitlin hatte immer diesen Optimismus gehabt. Sie war für ihn wie die Sonne gewesen, wie das helle Licht des Tages. Gegen seinen Willen streckte er
erneut die Hand nach ihr aus und zog sie an sich. Sie schmiegte sich an ihn und lächelte zufrieden. „Was ist? Warum lächelst du?" „Ich mag es." „Was? Was magst du?" „Sex. Ich finde es toll." Spielerisch zeichnete sie mit dem Finger die Muskeln seines Oberarms nach. „Es hat sich gelohnt, darauf zu warten." Er antwortete ihr nicht. Unsicher fragte sie zurück: „Hat es dir auch gefallen? Ich meine, ich weiß, ich bin nicht sehr erfahren, aber ..." Er legte ihr den Finger auf die Lippen und küsste sie schnell. „Du bist traumhaft", versicherte er ihr. „Du auch", erwiderte sie glücklich. Sie zog ihn zu sich und küsste ihn wild und leidenschaftlich. „Woher willst du das wissen?" fragte Graham lachend, nachdem er wieder Luft bekommen hatte. „Du hast schließlich keinerlei Vergleichsmöglichkeiten." „Manche Dinge weiß man einfach", entgegnete sie ernsthaft. „Und zwar mit hundertprozentiger Sicherheit." Sie ist ein solcher Schatz, dachte er. Vielleicht konnte er ihr ja noch ein letztes Mal zeigen, wieviel sie ihm bedeutete. Versuchen konnte er es wenigstens. Als Caitlin viele Stunden später erwachte, streckte sie sich wohlig. Sie fühlte sich wie eine Katze vor dem Kamin - äußerst behaglich und zufrieden. Lächelnd wandte sie sich Graham zu, aber der Platz neben ihrem Kissen war leer. Sie setzte sich abrupt auf und war mit einemmal heilwach. „Graham?" Keine Antwort. Sie bückte sich schnell, zog sich das Nachthemd über und trat hinaus auf den Flur. „Graham?" Im nächsten Moment war er an ihrer Seite. Er hatte seine Pistole gezückt und sah sich misstrauisch um. „Du hast mich vielleicht erschreckt!" Caitlin holte tief Luft. „Ist jeder Morgen mit dir so aufregend?" „Entschuldige bitte, ich wollte dich nicht beunruhigen. Aber du klangst so besorgt, deshalb dachte ich ..." „Ich war auch besorgt", gab sie zurück. „Und ich habe dich gesucht." „Ich bin schon seit über einer Stunde auf." Stumm sah er sie an. Caitlins seidenes Nachthemd löste in ihm Erinnerungen an die letzte Nacht aus - Erinnerungen, die mit gemischten Gefühlen verbunden waren. „Ich wollte dich gerade aufwecken", verkündete er möglichst harmlos. ,,Das Frühstück ist fertig." „Oh, wundervoll!" Caitlin folgte ihm in die Küche. Hier stand alles bereit. Graham musste nur noch die Brotscheiben in den Toaster schieben. „Habe ich einen Hunger!" sagte Caitlin fröhlich. „Aber das ist ja auch kein Wunder!" Sie sah ihn an und lachte. Graham verzog keine Miene. „Möchtest du Spiegeleier?" „Oh, ja, sehr gern!" Wenn er wüsste, wie süß er aussah bei dem Versuch, den Haushalt zu schmeißen. Caitlin ließ sich von ihm eine Tasse heißen Kaffee eingießen und lehnte sich damit behaglich in ihrem Stuhl zurück. „Und? Wie sieht der Plan für heute aus? Darf ich wieder ins Geschäft, oder muss ich für den Rest meiner Tage zu Hause bleiben?" Graham wäre es lieber gewesen, wenn sie hier geblieben wäre, aber er fürchtete, dass
sie dann durchdrehen würde. Er kannte das Gefühl, eingesperrt zu sein. Er bereitete die Spiegeleier und nahm sie aus der Pfanne. Dann goss er sich ebenfalls einen Kaffee ein. „Nach dem Frühstück fahre ich dich ins Geschäft", versprach er. „Danach wird mein Partner auf dich aufpassen." Sie sah ihn alarmiert an. „Und du? Werden wir uns später wiedersehen?" Unbehaglich rutschte er auf seinem Stuhl hin und her. „Ich weiß noch nicht, ich ..." „Ich nehme an, du wirst erst einmal nach Hause fahren, um deinen Jungen zu sehen, nicht wahr?" Oh, sie war so versessen darauf, mehr über sein Leben zu erfahren! Nun, da sie die intimsten Momente miteinander geteilt hatten, wollte sie alles über ihn wissen. Er nickte und setzte seine Tasse ab. „Klar, ich werde bestimmt kurz zu Haus vorbeischauen." Er stand auf. „Aber zuerst fahre ich aufs Revier, um zu sehen, ob sie bezüglich des Nummernschildes irgend etwas herausgefunden haben. Vielleicht sind sie ja schon ein Stück weiter." Grimmig setzte er hinzu: „Ich will, dass alles für dich so schnell wie möglich vorbei ist." Er sagte das so, als würde er damit auch ihre persönliche Beziehung meinen. Caitlin fröstelte es plötzlich. Er bedauerte das, was in der letzten Nacht geschehen war. Sie spürte es, sie wusste es. Vergeblich suchte sie nach einem anderen Gesprächsthema. Auch sie wollte diesen delikaten Punkt ihrer Liebe jetzt nicht berühren. Dazu war das Ganze noch zu frisch, zu jung. „Was ist mit Celia?" fragte sie schließlich. Er sah sie verständnislos an. „Wieso? Was meinst du damit?" Was war nur mit ihm los? Warum gab er Caitlin das Gefühl, als würde er ihr nicht trauen? Als wäre sie eine Fremde, die kein Recht hatte, etwas über sein Leben zu erfahren? „Nun, wie willst du die Geschichte mit dem Sorgerecht regeln?" Graham wäre es lieber gewesen, wenn sie sich da heraushalten würde. Es war seine Schuld, warum hatte er ihr überhaupt davon erzählt? „Ich habe dir doch schon gesagt..." Sie sah ihn stirnrunzelnd an. Graha m hatte ihr gesagt, dass er wahrscheinlich nicht genug Geld haben würde, um die Sache zufriedenstellend zu lösen. Und dabei wollte sie ihm gern helfen. „Ich könnte meinen Anwalt anrufen", schlug sie vor. „Er ist sehr gut, und er ..." Graham schüttelte den Kopf. „Caitlin, ich will deinen Anwalt nicht. Und ich will auch dein Geld nicht, falls du mir dies als nächstes anbieten wolltest." Er hielt sie auf Distanz. Warum? Was war nur los mit ihm? „Bist du etwa zu stolz dazu?" bohrte sie nach. „Pass auf, dass du deswegen nicht Jake verlierst." „Jake ist mein Problem. Und ich werde die Sache auf meine Weise lösen." Caitlin seufzte, aber sie sah ein, dass es im Moment keinen Zweck hatte, mit ihm zu diskutieren. Sie stand auf und blickte auf die Uhr. „Es ist spät. Wir sollten langsam fahren. Aber nur, damit du es weißt: Ich bin für dich da, wenn du mich brauchst." Er sah auf ihren Teller. Sie hatte die Eier nicht einmal angerührt. „Was ist mit deinem Frühstück? Hat es dir nicht geschmeckt?" Sie lächelte ihn an. „Im Gegenteil, es war köstlich. So köstlich, wie ... na ja, du weißt schon!" Mit einem hellen Lachen ging sie aus der Küche. „Ich bin in fünf Minuten fertig", rief sie ihm noch zu, dann verschwand sie ins Schlafzimmer, um sich umzuziehen. Graham räumte die Überreste des Frühstücks ab. Verdammt, ich habe alles verbockt, dachte er bei sich. Wie sollte er aus dieser brenzligen Situation je wieder herauskommen?
Als sie dreißig Minuten später vor Caitlins Laden standen, beugte sie sich im Wagen vor. Was war nur los? Das Geschäft war hell erleuchtet. Hatte Kerry etwa vergessen, das Licht auszuknipsen? Oder war etwa jemand im Laden? Das war ein unangenehmer Gedanke, der zu dem mulmigen Gefühl passte, das sich eingestellt hatte, je näher sie kamen. Fragend blickte sie Graham an. Nachdem er einen Parkplatz gefunden hatte, stieg er aus. „Caitlin, bitte warte hier auf mich." Sie sah ihn entgeistert an. Allein? Sie sollte hier allein sitzen und Daumen drehen? Das glaubte er doch wohl selbst nic ht! „Oh, nein", erwiderte sie energisch und war bereits an seiner Seite. „Ich komme mit!" Graham stieß die Tür auf. Kerry, die mitten im Raum stand und einen Stapel Nachthemden trug, starrte ihn an, als wäre er ein Geist. „Oh, hallo", sagte sie schließlich, als sie ihn erkannte. „Mann, haben Sie mich erschreckt!" Caitlin trat hinter ihm hervor. „Das beruht auf Gegenseitigkeit. Was zum Teufel tust du hier schon so früh am Morgen?" Es war allgemein bekannt, dass Kerry eine Langschläferin war. Achselzuckend gab ihre Freundin zurück: „Nun, ich habe nicht damit gerechnet, dass du heute hier erscheinen würdest. Und einer muss den Laden ja schmeißen." „Das ist wirklich nett von dir", erwiderte Caitlin warm. „Aber es wäre nicht nötig gewesen. Ich bin hier, und ich habe auch die Absicht, zu bleiben." „Sie hätten sie fesseln sollen", wandte Kerry sich mit breitem Lächeln an Graham. Er lächelte zurück. „Ja, daran habe ich auch gedacht. Aber Sie wissen doch, sie hat ihren eigenen Kopf. Ach, Caitlin, könnte ich vielleicht einmal telefonieren?" Sie nickte und folgte ihm ins Hinterzimmer. „Rufst du Jake an?" Er nickte knapp und wählte die Nummer. „Wer passt eigentlich auf ihn auf, wenn du nicht da bist?" „Meine Mutter. Nachdem Celia mich verlassen hat, ist sie zu uns gezogen." Als Caitlin Graham damals kennengelernt hatte, lebte seine Mutter noch im Reservat ihres Stammes nahe der Grenze zu Utah. Während seiner High-School- Zeit hatte er bei einem entfernten Verwandten in Phoenix gewohnt. „Wie lange ist das her?" „Seit etwa zwei Jahren." Das Telefon klingelte und klingelte. Graham fragte sich, warum niemand abnahm. Wo konnte seine Mutter nur sein? „Jake? Oh, hallo, ich bin's, Dad." Caitlin, die sich plötzlich wie ein Eindringling vorkam, zog sich zurück. Sie ließ sich auf dem Hocker hinter der Theke nieder. Kerry musterte sie neugierig. ,,Na? Ist gestern noch etwas passiert?" Caitlin schüttelte den Kopf. „Der Mörder ist nicht aufgetaucht, wenn du das meinst." „Nein, das meinte ich auch nicht." Grahams gedämpfte Stimme erklang aus dem Hinterzimmer. Sie hatten also ein paar Minuten Zeit, um sich zu unterhalten. „Ich hatte mehr an ihn gedacht. Ist da etwas gelaufen?" Caitlin schmunzelte und antwortete nicht! Aber das wäre auch nicht nötig gewesen. Kerry brach in ein breites Lächeln aus. „Ich wusste es!" sagte sie triumphierend. „Ich wusste es, ich wusste es, ich wusste es! Und? War es schön? Wie ist er denn so im Bett?" Errötend gab Caitlin zurück: „Kerry, sieh mal, diese Slips hier müssen noch eingeräumt werden." Kerry ignorierte sie völlig. „Ich freue mich ja so für dich", erklärte sie mit leuchtenden Augen und umarmte die Freundin schnell. „Du hast es wirklich verdient." Caitlin schüttelte den Kopf. Besorgt warf sie einen Blick ins Hinterzimmer, wo Graham immer noch telefonierte.
„Im Moment gibt es wirklich keinen Grund zum Jubeln, Kerry. Ich habe keine Ahnung, wie die Sache weitergeht." Kerry warf einen bedeutungsvollen Blick nach hinten. „Ich schon." „Ach, ja?" Dann weiß sie mehr als ich, dachte Caitlin. „Na klar", erklärte die andere im Brustton der Überzeugung. „Das erkennt man an der Art, wie er dich anschaut. Glaube mir, Caitlin, hinter diesen dunklen Augen verbirgt sich eine ganze Menge." Caitlin nickte. „Ja. das war schon immer so", sagte sie nachdenklich. Leider wusste man nur selten, was es war. Seufzend machte sie sich an die Arbeit. Aber in Gedanken war sie die ganze Zeit bei ihm. Als Graham schließlich aus dem Hinterzimmer kam, war seine Miene noch grimmiger als zuvor. Caitlin ließ die Unterwäsche, die sie eigentlich gerade einsortieren wollte, fallen und ging auf ihn zu. „Was ist los?" Nach dem Gespräch mit Jake hatte er sich seine Mutter geben lassen und danach den Anwalt angerufen, den ihm seine Abteilung vermittelt hatte. Beide Gespräche waren ziemlich unerfreulich gewesen. Aber wie auch immer, es war sein Problem, nicht Caitlins. Sie hatte genug Schwierigkeiten. „Nichts, Caitlin. Dies hier geht dich nichts an." Sie hätte ihn umbringen können. Was für ein Querkopf Graham doch war. „Nun sag es mir schon", drängte sie. Achselzuckend gab er zurück: „Irgendwie ist es Celias Anwalt gelungen, einen Gerichtstermin zu bekommen. Nächste Woche ist die Verhandlung." Caitlin sah ihn besorgt an. Wenn Celias Ehemann wirklich reich war, konnte er sich einen guten Anwalt leisten. Damit standen ihre Chancen vor Gericht natürlich besser. In den meisten Fällen entschieden die Richter zugunsten der Mutter. „Graham ..." Er wollte ihr Mitgefühl nicht. Oder ihr Mitleid. Er sah über ihren Kopf hinweg und entdeckte zu seiner Erleichterung den beigen Wagen, der hinter seinem Sedan parkte. „Ben ist da!" Er war schon an der Tür. „Wir sprechen uns später." Unglücklich sah sie ihm nach. Sie fühlte sich völlig frustriert. Ach, warum bin ich nur auf diesen störrischen Querkopf hereingefallen, fragte sie sich.
10. KAPITEL Der Verkehr in der Stadtmitte war an diesem Morgen besonders zähflüssig. Graham trommelte ungeduldig auf das Lenkrad. Wieder und wieder versuchte er zu überholen, was ihm aber selten gelang. Ausnahmsweise war er froh, nicht seinen Cadillac zu fahren. Heute gab es eine Menge zu tun. Er hatte gerade einmal fünfzehn Minuten mit Jake, bis er wieder zurück zur Wache musste. Normalerweise hatte er sich daran gewöhnt und nahm es als Teil seines stressigen Jobs gelassen hin. Aber heute ging es ihm unter die Haut. Wahrscheinlich hat es mit dem drohenden Verlust von Jake zu tun, dachte er. Aber eigentlich waren bereits die letzten Tage ziemlich anstrengend gewesen. Irgendjemand schien ihn dauernd zu brauchen, er hatte kaum noch Zeit für sich oder seine Familie. Um zehn Uhr musste er vor Gericht als Zeuge aussagen. Es ging um zwei Verhaftungen wegen Raubüberfalls. Um eins hatte er ein Treffen mit dem Anwalt wegen der Sache mit Jake. Dann hatte ihm sein Vorgesetzter noch berichtet, dass sie bezüglich des Nummernschildes weitergekommen waren. Als hätte all dies noch nicht gereicht, schweiften seine Gedanken immer wieder zu Caitlin ab. Er musste dauernd an das denk en, was geschehen war. Plötzlich bremste der vordere Wagen ohne Vorwarnung. Graham wäre um ein Haar aufgefahren. Im allerletzten Moment gelang es ihm noch, auf die Bremsen zu treten. Er hupte wütend. Waren denn heute nur Idioten unterwegs? Aber er wusste, es war auch seine Schuld. Er war einfach zu abgelenkt. Es war jetzt wichtig, sich auf die Arbeit zu konzentrieren. Schließlich hatte er das Revier erreicht und auch einen Parkplatz für den Sedan gefunden. Ein Blick auf die Uhr zeigte ihm an, dass es bereits halb neun war. Halb neun, das hieß, er hatte weniger als eine Stunde, um sich um Caitlins Fall zu kümmern. Er öffnete die Tür zum Bereitschaftsraum. Wie immer herrschte hier ein reger Betrieb. Im stillen fragte sich Graham, ob der Strom von Verbrechen je abreißen würde. Chambers, ein älterer Kollege, war dazu eingeteilt worden, ihm bei dem Fall zu helfen. Sein Schreibtisch stand am Ende des Raums und war wie immer bedeckt mit Papieren und den Überresten seines zweiten Frühstücks. Er hatte blondes Haar, das fast gebleicht aussah, und ein fleischiges Gesicht, was auf seinen enormen Lebensmittelkonsum zurückzuführen war. Es war allgemein bekannt, dass Chambers essen konnte wie ein Scheunendrescher. Und auch jetzt wollte er gerade einen Cheeseburger verdrücken. „Na, was ist los?" sagte er, als er Graham erblickte. Ein Teil seines Satzes war kaum zu verstehen, weil er dabei unentwegt kaute. Wortlos reichte Graham ihm die Papierserviette, damit er sich damit den Mund abwischen konnte. „Jeffers hat mir gesagt, du hättest was für mich." „Sehr richtig." Es war offensichtlich, dass Chambers sein Frühstück nur mit großem Bedauern unterbrach. Er blätterte eine Weile in der Mappe, die vor ihm lag, und sagte dann: „Wir haben herausgefunden, dass das Auto, das dich um ein Haar erwischt hätte, einem der großen Drogenbosse in Kalifornien gehört." Graham nickte grimmig. Es wunderte ihn nicht, dass das organisierte Verbrechen wieder dahinter stand. „Wie heißt der Mann?" „Garreo. Thomas Garreo." Graham kam dies irgendwie vertraut vor. Richtig, Garreo hatte seine Finger in mehreren üblen Geschäften - Drogen, Babystrich, Waffenhandel. „Und wo hält er sich
zur Zeit auf?" „Das ist genau der Punkt." Chambers lächelte ihn an. „Nun komm schon, sag mir endlich, wo ich den Mann finden kann", meinte Graham ungeduldig. „Auf dem Friedhof, Redhawk. Er ist tot." Verdammt! Diese Spur führte also ins Leere. Wer hatte das Auto dann gefahren? „Aber wir haben hier noch etwas anderes." Wichtig blätterte Chambers in seinen Papieren. „Der Mann, den du beschrieben hast, könnte die Nummer zwei der Organisation sein, Horace Taylor. Höchstwahrscheinlich hat er den Laden übernommen, nachdem sein Boss kaltgemacht wurde." „Gut, das ist ja immerhin etwas." Graham atmete auf. „Also, wo ist der Typ?" „Moment, Moment, nicht so schnell mit den jungen Pferden!" Chambers hob abwehrend die Hand. „Wir kümmern uns ja gerade darum. Du kannst keine Wunder erwarten. Wir wissen bereits, dass er ein Verhältnis mit einer kleinen Tänzerin aus dem ,Feel Good Inn' hat. Der Captain hofft, dass sie uns zu ihm führen wird." „Hast du ein Bild von ihm?" „Ja. Sekunde!" Wieder blätterte Chambers in seinen Papieren. Er war offensichtlich enttäuscht, dass sein Kollege diese sensationellen Nachric hten so kühl aufnahm. Graham sah ihm kopfschüttelnd zu. „Wieso räumst du hier eigentlich nicht mal auf?" schlug er vor und deutete auf das Chaos auf dem Schreibtisch. Chambers sah ihn mit zusammengekniffenen Augen an. „Gute Idee, Redhawk. Irgendwann mache ich das auch ganz bestimmt. Vielleicht Weihnachten oder Ostern. Ha! Da ist es!" Unter einer Zeitschrift fand er endlich das, wonach er gesucht hatte. Grinsend präsentierte er Graham ein Schwarzweißfoto. „Hier ist der Junge." Graham studierte das Bild sorgfältig. Obwohl es sicher schon ein paar Jahre alt sein mochte, war dies ihr Mann. Er erkannte ihn und den eiskalten Blick sofort wieder. Graham steckte es in seine Brieftasche. „Danke, Chambers. Ich nehme es mit, wenn du nichts dagegen hast, und zeige es Miss Cassidy." Chambers Grinsen verstärkte sich noch. „Ist das alles, was du ihr zeigen wirst, Redhawk?" Graham warf ihm einen vernichtenden Blick zu. Aber sein Kollege schien dagegen immun zu sein. „Entschuldige, ich will mich natürlich nicht einmischen. Doch sie sieht verdammt gut aus, und du bist ein freier Mann. Da liegt es natürlich auf der Hand, dass man sich so seine Gedanken macht." Graham lehnte sich nach vorn. „Wenn ich dir einen Rat geben darf, Chambers behalte deine Gedanken besser für dich. An deiner Stelle würde ich mich um mein Frühstück kümmern und die Nase nicht In die Angelegenheiten anderer Leute stecken." „Schon gut, Kumpel. Nimm's nicht persönlich." Damit war die Sache für Chambers erledigt. Er widmete sich wieder seine r Zeitung und seinem Burger. Erst als Graham ins Geschäft zurückkehrte, fiel Caitlin auf, dass sie den ganzen Tag über an nichts anderes gedacht hatte als daran, ob er wohl wiederkommen würde. Und wie sie sich verhalten sollte, falls er es nicht täte. Da sie ihn kannte, hatte sie schon befürchtet, dass er Ben Jeffers gebeten hatte, seinen Job zu übernehmen. Ben war natürlich ein ganz anderes Kaliber als Graham. Er war von Natur aus ruhig und zurückhaltend. Obwohl er sicher genauso zuverlässig war wie Graham, hatte er den Betrieb kaum gestört. Kerry hatte sogar hin und wieder ein Schwätzchen mit ihm gehalten. Caitlin hatte den ganzen Tag über viel arbeiten müssen, aber das war ihr nur recht gewesen. Als sie ihn jetzt wiedersah, machte ihr Herz plötzlich einen großen Satz. Er war zurück, und das freute sie mehr, als sie sagen konnte.
Insgeheim fragte sie sich nur, wie es ihm damit ging. Caitlin bezweifelte nicht, dass er sie sehr schätzte, vielleicht sogar immer noch in sie verliebt war. Aber für einen Mann wie Graham war das nicht genug. Er hatte ein ausgeprägtes Ehrgefühl und einen fast altmodischen Moralkodex. Glücklicherweise ähnelten sie sich in dieser Hinsicht, daher war sie auch fest davon überzeugt, dass sie gut zusammenpassten. Sie war fest entschlossen, alle Hindernisse, die sich ihrer Beziehung in den Weg stellen mochten, zu überwinden. Schließlich hatten sie schon lange elf Jahre verloren. Diese zweite Chance sollte nicht ungenützt bleiben. Sie verwies die Kundin, die sie gerade wege n eines Spitzenslips angesprochen hatte, an Kerry und eilte auf Graham zu. Er war noch immer im Gespräch mit Jeffers, brach dies jedoch ab, als er Caitlin kommen sah. „Und?" fragte sie atemlos. „Gibt es etwas Neues?" Graham nickte und holte das Foto aus seiner Brieftasche. „Ja, hier. Bitte, sieh dir dieses Bild einmal an. Erkennst du den Mann wieder?" Caitlin winkte ungeduldig ab. „Nein, das meine ich doch nicht. Ich will wissen, ob du mit dem Anwalt gesprochen hast." Warum kümmerte sie sich um seine Belange, wenn doch ihr Leben auf dem Spiel stand? Zögernd erwiderte Graham: „Oh, die Geschichte. Tja, ich fürchte, das sieht nicht besonders gut aus." „Warum denn nicht?" „Er meinte, meine Chancen stünden bestenfalls fünfzig zu fünfzig. Das ist nicht sehr ermutigend, was?" „Ach, Unsinn, wahrscheinlich versteht dieser Mann sein Handwerk einfach nicht", meinte Caitlin ungeduldig. „Kannst du denn gar nichts tun?" „Doch. Der Anwalt machte mir einen ziemlich bizarren Vorschlag. Er meinte, ich sollte so schnell wie möglich heiraten. Und zwar noch vor dem Verhandlungstermin. Wenn ich nachweisen könnte, dass ich Jake stabile Familienverhältnisse bieten kann, hätte ich viel mehr Chancen, ihn zu behalten. Schließlich hat Celia ja das Sorgerecht freiwillig aufgegeben." Graham hatte nicht das Gefühl, als würde ihm dies viel weiterhelfen. Wo zum Teufel sollte er nur im Laufe einer Woche eine Frau auftreiben - eine Frau, die gewillt war, diese Komödie mitzuspielen? Er schüttelte den Kopf. Seine privaten Probleme mussten warten. Im Moment war er schließlich im Dienst. Wieder hielt er Caitlin das Bild unter die Nase. „Na? Erkennst du ihn?" Widerstrebend wandte Caitlin den Blick von Graham ab und besah sich das Foto. Beim Anblick des Mannes kehrten all ihre Ängste wieder. „Oh, Gott!" Er war es, daran konnte gar kein Zweifel bestehen. „Das ist er, Graham, ganz bestimmt!" „Bist du sicher? Caitlin nickte, sie war mit einemmal ganz weiß geworden. „Ganz sicher!" Graham nickte grimmig und steckte das Foto wieder in die Tasche. „Wir wollen zusehen, dass wir ihn bald erwischen. Sobald wir ihn haben, wirst du ihn wahrscheinlich identifizieren müssen. Ich fürchte, das kann ich dir nicht ersparen." „Schon gut", erwiderte Caitlin mit gepresster Stimme. „Ich weiß Bescheid. Schließlich habe ich genügend Krimis im Fernsehen gesehen." Es sollte ein Witz sein, aber niemand lachte. „Und was wirst du jetzt unternehmen? Was Jake angeht, meine ich." „Keine Ahnung." Graham zuckte hilflos mit den Schultern. „Was kann ich schon machen? Der Vorschlag des Anwalts ist vollkommen unakzeptabel. Ich kann mich ja wohl schlecht auf den Marktplatz stellen und sehen, ob mir irgendeine Frau über den Weg läuft, die willens ist, sich auf eine solche Farce einzulassen."
Caitlin wusste, sie musste jetzt sehr vorsichtig sein. Es war wie das Gehen auf dünnem Eis. Man wusste nie genau, wann man einbrach. „Ach, ich weiß nicht", sagte sie nachdenklich. „Schließlich wäre es ja nur eine vorübergehende Regelung, nicht wahr?" Ja, da hatte sie recht. Er dachte gar nicht daran, sich auf ewig zu binden. Aber um Jakes willen würde er eine solche Scheinehe schon eingehen, wenn dadurch sichergestellt würde, dass er ihn behalten dürfte. Doch wo sollte er diese Frau finden? Der Vorschlag seiner Mutter, zurück ins Reservat zu gehen, erschien ihm plötzlich sehr verlockend. Dort wäre er wenigstens unter seinesgleichen. Aber nein, das war keine Lösung. Er gehörte nicht zu den Menschen, die vor Schwierigkeiten davonliefen. Außerdem verbot ihm dies seine Berufsethik. Es musste noch einen anderen Weg geben. Vielleicht konnte er ja eine Frau aus dem Reservat dazu überreden, sich auf diesen Handel einzulassen. Wer weiß, wenn er ihr Geld anböte... Nun, das war vielleicht eine Möglichkeit. Graham wandte sich an seinen Partner. „Jeffers?" Ben hatte bereits wieder ein Schwätzchen mit Kerry angefangen. Er warf ihr einen bedauernden Blick zu. „Ja?" „Könntest du mich vielleicht für zwei oder drei Tage hier vertreten?" Jeffers und Caitlin sahen Graham überrascht an. Aber sein Kollege nickte sofort, ohne zu zögern. Er schuldete Graham schon längst einen Gefallen und war froh, sich revanchieren zu können. „Na klar, Graham, wenn der Captain nichts dagegen hat. Darf man fragen, warum du Urlaub nehmen willst?" „Das würde ich auch gern wissen", meinte Caitlin, die das Gespräch gespannt verfolgt hatte. „Ich möchte für ein paar Tage ins Reservat fahren! “ Caitlin durchschaute seinen Plan sofort. Er brauchte ihr gar nichts zu sagen, sie konnte in Graham lesen wie in einem offenen Buch. Der Gedanke an sein Vorhaben schnürte ihr die Kehle zu. „Du willst dort eine Frau suchen, um sie zu heiraten", sagte sie tonlos. Ben sah seinen Partner begeistert an. „Du willst heiraten? Meinen herzlichen Glückwunsch!" „Woher weißt du das?" fragte Graham Caitlin verblüfft. Weil ich alles von dir weiß, Graham. Aber diesen Gedanken behielt sie natürlich für sich. Laut sagte sie nur: „Ich glaube nicht, dass das funktionieren wird." Jeffers sah verblüfft von einem zum anderen. Er hatte offenbar keine Ahnung, worüber sie sprachen. Graham musste ihr recht geben. Auch er hatte kein besonders gutes Gefühl bei diesem Plan. Andererseits, was sollte er machen? Schließlich ging es darum, Jake zu behalten, um ihn zu kämpfen. Er sah Caitlin verärgert an. „Hast du mir nicht gerade empfohlen, alles zu tun, um Jake nicht zu verlieren? Oder habe ich dich falsch verstanden?" Ungerührt erwiderte Caitlin: „Schon, aber du kannst deswegen trotzdem nicht irgendeine beliebige Frau heiraten, Graham. Das würden die Richter sofort als Manöver durchschauen, und dieser Schuss könnte leicht nach hinten losgehen. Nein, es müsste jemand sein, den du schon kennst. Jemand, mit dem du vielleicht eine längere Beziehung hast. Dann kannst du immer sagen, dass du schon lange vorgehabt hättest, diese Person zu heiraten. Dagegen kann niemand etwas einwenden." Graham starrte sie nur an. Caitlin erwiderte seinen Blick, ohne mit der Wimper zu zucken. Plötzlich wusste er, worauf sie anspielen wollte. Der Gedanke war ungeheuerlich. „Du sprichst wohl von dir", meinte er langsam.
„Ich habe den Eindruck, als sollte ich euch beide jetzt lieber allein lassen", sagte Jeffers unbehaglich. „Ich bin auf dem Revier, falls du mich brauchst." Damit verschwand er schnell, nachdem er Kerry noch einmal kurz zugenickt hatte. Caitlin sah Graham herausfordernd an. „Richtig, ich spreche von mir." Sie hatte wohl den Verstand verloren! Graham starrte sie nur an, er wusste minutenlang nicht, was er sagen sollte. „Ich will weder dein Geld noch deinen Anwalt. Was zum Teufel lässt dich glauben, dass ich ein solches Opfer von dir annehmen würde?" Ein Opfer? War denn der Gedanke, sie zu heiraten, dermaßen abstoßend für ihn? Schließlich hatten sie sich letzte Nacht geliebt. Hatte er das etwa schon wieder vergessen? „Es ist doch nur ein kurzfristiges Arrangement, Graham", sägte sie unbeirrt. „Eine Art Zweckheirat, wenn du willst." Er war willens gewesen, sich auf einen solchen Kuhhandel einzulassen, aber nicht mit ihr. Nicht mit jemandem, der ihm etwas bedeutete. Er schüttelte den Kopf. Der Gedanke war einfach absurd! Doch er sah die Entschlossenheit in Caitlins Blick. Wenn sie sich einmal etwas vorgenommen hatte, war sie nicht mehr so leicht davon abzubringen, das wusste er noch von früher. „Und warum solltest du so etwas tun?" „Ganz einfach, Graham. Ich könnte eine Schuld begleichen. Du hast mein Leben gerettet, und ich möchte dir dabei helfen, deinen Jungen zu behalten." Graham sah sie zweifelnd an, aber immerhin schien er den Gedanken wenigstens zu erwägen. Caitlin wollte ihren Vorteil nutzen. „Wir beide haben eine gemeinsame Vergangenheit, Graham. Wir kennen uns schon seit vielen Jahren. Das macht unsere Beziehung glaubwürdig, auch vor einem Richter. Erinnere dich doch, wir wollten damals sogar heiraten. Das kann ich bezeugen, und du auch. Ich glaube, ich habe sogar noch die Kopie für das Aufgebot." Graham sah sie überrascht an. „Wirklich?" „Ja, ich habe vergessen, den Zettel wegzuwerfen", gab sie zurück. Das war zwar nicht die ganze Wahrheit, aber sie wollte ihm jetzt nicht sagen, dass sie es niemals übers Herz gebracht hätte, das Dokument zu vernichten. Das wäre ihr als der endgültige Verrat an all ihren Hoffnungen und Sehnsüchten erschienen. Graham dachte angestrengt nach. Obwohl er den Vorschlag noch immer für Wahnsinn hielt, hatte er doch eine gewisse Logik, der auch er sich nicht ganz verschließen konnte. „Ein Arrangement?" fragte er misstrauisch. „Und wenn alles vorüber ist, würden wir uns wieder scheiden lassen?" Willst du mich denn gar nicht, Graham? Nicht ein kleines bisschen? Caitlin nickte, ihre Miene war verschlossen. „Genau." Ja, das könnte funktionieren. Aber dann fiel Graham wieder etwas ein. Es gab einen Haken bei der Sache. Einen ziemlich großen sogar. „Dort draußen läuft immer noch ein Killer frei herum, Caitlin", warnte er sie. „Ein Killer, der dir nach dem Leben trachtet. Ich darf weder Jake noch meine Mutter gefährden." Daran hatte sie gar nicht mehr gedacht. „Ja, du hast recht", erwiderte sie zögernd. „Es war ja auch nur so eine Idee." Gut, aber vielleicht konnte sie ihm sonst irgendwie helfen. „Bitte, lass mich doch etwas für dich tun, Graham." Warum konnte sie denn nicht einsehen, dass er das nicht wollte? Er wollte nicht, dass sie noch mehr in seine Privatangelegenheiten hineingezogen wurde. Wenn er dies zuließe, müsste er sich vielleicht eines Tages von ihr trennen, und dann würde sie ihn hassen. Seine Ehe und die seiner Eltern waren ihm ein warnendes Beispiel.
„Wenn du mir zuhörst, hilft das schon, Caitlin", meinte er ausweichend. Sie nickte mit ausdruckslosem Gesicht. In diesem Moment ertönte die Türklingel, und sie musste sich wieder einer neuen Kundin zuwenden. Bedauernd sah Graham ihr nach. Er wollte sie nicht verletzen. Es war klar, dass ihre Nerven in der letzten Zeit ziemlich gelitten hatten. Vor allem musste er jetzt dafür sorgen, dass sie dem Killer möglichst schnell auf die Spur kamen und ihn festnahmen. Damit wäre zumindest eines der anstehenden Probleme gelöst. Er schuldete es Caitlin, darauf seine ganze Energie und Konzentration zu verwenden. In diesem Moment klingelte das Telefon. Kerry ging nach hinten und kehrte zwei Minuten später wieder zurück. „Es ist für Sie, Graham", rief sie. „Detective Chambers." Graham nickte. Hoffentlich würde Chambers sich am Telefon etwas kürzer fassen als heute morgen bei ihrem Gespräch.
11. KAPITEL Graham blickte zu Caitlin hinüber. Sie stand gerade an der Kasse. Immer wieder war er über die Art erstaunt, wie ein Fall sich entwickelte. Manchmal passierte monatelang gar nichts, die Ermittlungen zogen sich zähflüssig dahin, um dann plötzlich durch das entscheidende Indiz gelöst werden zu können. Und manchmal fand sich die Lösung sofort, wie die Stücke eines Puzzles, die mit einemmal Sinn und ein vollständiges Bild ergaben. Aber in beiden Fällen hatte er gelernt, dass entscheidend war, was innerhalb der ersten achtundvierzig Stunden passierte. Nachdem er identifiziert worden war, fiel es der Polizei natürlich viel, leichter, den Aufenthaltsort von Horace Taylor zu ermitteln. Dabei hatten sie sich sowohl der Informationen aus dem Computernetz als auch der Hilfe bezahlter Spitzel bedient. Außerdem hatten sie Glück gehabt, und das war immer der entscheidende, wenn auch unberechenbare Faktor. „So, jetzt ist Showtime", verkündete er Caitlin. Diese händigte gerade einer älteren Kundin einen Kassenzettel aus. Sie sah Graham überrascht an. „Was soll das heißen? Vergiss bitte nicht, dass ich deinen Polizeijargon nicht verstehe." Die Kundin sah ihn überrascht an. Sie hatte Graham schon vorher wohlwollend gemustert, was Caitlin nicht entgangen war. Aber es war auch nichts Neues, dass Graham eine umwerfende Wirkung auf Frauen jeden Alters hatte. „Sie sind Polizist?" fragte die Dame mit großen Augen. „Ich muss sagen, das hätte ich nicht gedacht. Hören Sie, Officer, bei mir in der Nachbarschaft werden immer diese extrem lauten Partys gefeiert und..." Caitlin warf Graham einen genervten Blick zu. Doch zu ihrer Überraschung blieb er vollkommen gelassen und freundlich. „Warum klopfen Sie nicht einfach an die Tür?" schlug er vor. „Vielleicht haben sie ja nichts dagegen, wenn Sie mitfeiern." Die Kundin stutzte einen Moment und überdachte den Vorschlag. Dann nickte sie plötzlich, ihre Augen strahlten. „Ja, das ist wirklich eine gute Idee", meinte sie zustimmend. „Ich war schon seit ewigen Zeiten nicht mehr auf einem Fest." Sie nickte den beiden noch einmal zu und verließ dann den Laden. Nachdem Caitlin die Tür hinter ihr geschlossen hatte, sagte sie amüsiert zu Graham: „Du hast ihr damit bestimmt den Tag versüßt. Darf ich jetzt wissen, was du mit Showtime meinst?" Graham nickte. Das Lächeln verschwand von seinem Gesicht. Plötzlich fröstelte Caitlin. Es hatte etwas mit dem Mörder zu tun, sie spürte es ganz genau. Immer wieder vergaß sie die Gefahr, in der sie schwebte. Vielleicht ist das ja auch ein Schutzmechanismus, dachte sie. Graham räusperte sich. „Das soll heißen, ich möchte dich bitten, mit mir aufs Revier zu kommen. Ich glaube, wir haben den Burschen erwischt. Du musst ihn jetzt nur noch identifizieren." Caitlin konnte es nicht glauben. „Ihr habt ihn erwischt? Jetzt schon? Das ist ja großartig!" Graham nickte. „Ja, manchmal geht es ganz schnell." „Das scheint mir auch so." Caitlin blieb einen Moment lang stumm. Die Aussicht, dem Mörder in die Augen sehen zu müssen, war nicht gerade erfreulich. Sie biss sich auf die Lippen. Ihr Mund fühlte sich trocken an. Doch dann nickte sie entschlossen. „Also gut, natür lich bin ich dazu bereit. Je eher der Mann hinter Gitter kommt, desto besser." Das war auch Grahams Ansicht. Je eher der Fall abgeschlossen war, desto eher würde
er wieder sein normales Leben führen können. Ein Leben, das wenig mit Caitlins Welt gemeinsam hatte. „In zwei Minuten bin ich fertig." Sie ging rasch ins Hinterzimmer und holte ihre Tasche. „Willst du schon Mittag machen?" fragte Kerry überrascht. „Nein, ich soll mit Graham auf die Wache fahren und den Mörder identifizieren." Warum hatte sie plötzlich solches Herzklopfen? Schließlich war Graham an ihrer Seite. „Es wird eine Art Gegenüberstellung geben, aber er wird mich nicht sehen können." Kerry nickte, sie sah plötzlich sehr besorgt aus. „Sei vorsichtig, Caitlin". meinte sie warnend. „Ich bin ja nicht allein", erwiderte die Freundin schnell. „Also gut." Widerstrebend ließ Kerry sie gehen. „Ansonsten wünsche ich dir viel Spaß", meinte sie mit einem breiten Grinsen, das Graham galt. „Danke!" Lachend verließ Caitlin an Graha ms Seite den Laden. „Was hat sie gesagt?" erkundigte er sich, als sie ins Auto stiegen. „Ach, nichts. Sag mir jetzt lieber, was passiert, wenn ich den Mann identifiziert habe. Vorausgesetzt, er ist es überhaupt." „Dann wird er zunächst ins Gefängnis gesteckt und muss dort auf seine Verhandlung warten." Das klang nicht schlecht. Das bedeutete ja wahrscheinlich, sie würde in Kürze wieder frei und sicher sein. „Kann er nicht auf Kaution entlassen werden?" erkundigte sie sich. Graham wusste, woran sie dachte. Natürlich wäre die Gefahr, in der sie schwebte, noch größer, wenn der Mann wusste, dass sie ihn ins Gefängnis gebracht hatte. „Nein, nicht wenn wir ihm den Mord nachweisen können", erwiderte er grimmig. Das klingt vielversprechend, dachte Caitlin. Doch nach einem raschen Seitenblick auf Graham kam ihr noch ein zweiter Gedanke. Denn dies würde ja wahrscheinlich auch offiziell bedeuten, dass der Fall abgeschlossen sein würde. Ob sie sich dann noch sehen würden? Aus seinem verschlossenen Gesicht ließ sic h nichts ablesen. Aber sie wollte es ganz genau wissen. „Das bedeutet ja dann wohl auch, ich brauche keinen Leibwächter mehr, stimmt's?" „Stimmt." Er blickte starr geradeaus. Es klingt so, als wollte er sich verabschieden, dachte sie. Alles in Caitlin sträubte sich gegen diese Aussicht. Schließlich hatten sie sich gerade erst wiedergefunden. Es gab noch soviel zu entdecken, soviel wiedergutzumachen nach all der verlorenen Zeit. Und dann war da ja auch noch die Sache mit Jake. „Graham?" „Ja?" „Ich möchte, dass du eines weißt - mein Angebot mit der Heirat steht immer noch." Graham antwortete darauf zunächst nicht, aber auch er wusste, dass der Gerichtstermin immer näher rückte. Er musste handeln, und zwar bald. Noch einmal ließ er sich Caitlins Argumente durch den Kopf gehen, und er konnte ihnen eine gewisse Logik nicht absprechen. Tatsächlich kannten sie sich ja schon seit geraumer Zeit, und es würde viel weniger verdächtig aussehen, wenn er eine alte Freundin heiratete. Und er wusste auch, dass Celias Anwalt sich alle Mühe geben würde, seine Position zu schwächen. Sie war entschlossen, den Jungen zurückzuholen, dabei war ihr jedes Mittel recht. Andererseits hätte er nichts dagegen gehabt, wenn es sich bei der Hochzeit nur um ein ganz normales Geschäft gehandelt hätte. Sich für eine kurze Zeit mit jemandem, den er dafür bezahlen musste, pro forma einzulassen, war wesentlich weniger kompliziert als eine Verbindung mit Caitlin. In ihrem Fall waren seine Gefühle involviert, und Graham hasste nichts mehr, als den Kopf zu verlieren.
Doch das Allerwichtigste war jetzt Jake. Er wollte ihn um keinen Preis verlieren. Was immer nötig war, um ihn behalten zu können, würde er tun. Und er traute Celia keine Sekunde über den Weg. Sie hatte die beiden scho n einmal im Stich gelassen. Es war unverantwortlich, den Jungen erneut ihren Launen auszusetzen. Bestimmt spielt Celia eine Weile die perfekte Mutter, dachte Graham grimmig. Aber dann hatte sie es wahrscheinlich bald über. Und Jake würde darunter leiden. Der Kleine hatte schon einmal einen schweren Vertrauensbruch erlitten. Ein zweites Mal darf das nicht passieren, das schwor sich Graham. Der Raum war klein, ohne Fenster und nur schwach beleuchtet. Die eine Wand bestand fast vollständig aus einer großen Glasfront, die den Blick in den nächsten, wesentlich größeren Raum freigab. Die Atmosphäre war kalt und unfreundlich. Caitlin wappnete sich für das, was nun kommen würde. „Hab keine Angst", flüsterte Graham ihr zu, als er sie hineinführte. Er sah sie beruhigend an. Trotzdem konnte sie nicht verhindern, dass ihr Magen sich zusammenkrampfte. Außer ihnen war noch ein weiterer Polizist im Zimmer, der bei der Identifikation Zeuge sein würde. Caitlin schenkte ihm keinerlei Beachtung. Sie sah mit gemischten Gefühlen auf das kleine Podest, wo sich in Kürze acht Männer aufstellen würden, unter ihnen der Mörder. „Keine Angst", sagte Graham noch einmal. „Sie können dich nicht sehen." „Aber er wird es trotzdem wissen", erwiderte Caitlin fest. Mit angehaltenem Atem beobachtete sie, wie eine junge Polizistin die Männer ins Zimmer führte. Noch hatten sie ihr den Rücken zugewandt. Graham wusste, es hatte keinen Zweck, ihr etwas vorzumachen. „Ja, er wird es wissen." Die Männer trugen Nummern um den Hals und stellten sich jetzt der Reihe nach auf. Sie hatten alle in etwa die gleiche Größe und das gleiche Gewicht. Altersmäßig variierten sie etwa um zehn, vielleicht fünfzehn Jahre. Caitlin sollte also ganz sicher sein, dass sie die richtige Wahl traf. Es kostete sie all ihre Selbstbeherrschung, um die Männer einen nach dem anderen zu studieren. Als sie bei Nummer sechs angekommen war, stockte ihr plötzlich der Atem. Nach einer halben Ewigkeit, so schien es ihr wenigstens, konnte sie dann zum nächsten übergehen. Graham hatte sie dabei beobachtet. „Nimm dir Zeit, Caitlin", sagte er ihr. „Du darfst jetzt nichts übereilen." Er hatte den Mann sofort erkannt. Aber natürlich brauchten sie Caitlins Zeugenaussage. Caitlin wollte sich keine Zeit nehmen, im Gegenteil, sie wollte das Ganze so schnell wie möglich hinter sich bringen. Sie wollte weg von diesem Raum, diesen Männern, wollte wieder zurück in ihr Geschäft und in ihr normales, sicheres Leben. Sie zwang sich, alle durchzugehen, dann kehrte sie wieder zu Nummer sechs zurück. „Nummer sechs." Ihre Stimme klang unnatürlich hoch. Sie räusperte sich. „Das ist er", wiederholte sie. Graham zeigte keinerlei Reaktion. „Bist du sicher?" fragte er nur. Sie nickte, das Herz schlug ihr noch immer bis zum Halse. Horace Taylor starrte die Spiegelwand an, und sie hatte das Gefühl, als könnte er sie sehe n. „Ich bin mir ganz sicher", sagte Caitlin tonlos. Graham nickte und sprach in ein Mikrofon, das auf einem kleinen Tischchen stand. Es verband sie mit dem anderen Raum. „Führen Sie Nummer sechs wieder in seine Zelle", sagte er zu der jungen Polizistin. „Die anderen können gehen." Er schaltete das Mikro aus und sah Caitlin besorgt an. „Alles okay mit dir?" Sie nickte schwach. Nummer sechs ließ sich abführen, aber vorher warf er noch einen
Blick des puren Hasses in ihre Richtung. Er kam ihr überhaupt nicht vor wie ein Mann, der Angst hatte. Im Gegenteil - ihr war, als plante er schon jetzt seine Rache. „Wer ist dieser Mann, Graham?" Graham nahm sie fürsorglich beim Arm. „Ein kleiner Krimineller, der dich nie wieder belästigen wird. Dafür werde ich schon sorgen." Caitlin machte sich von ihm frei und schüttelte den Kopf. „Du brauchst mich nicht mit Glacehandschuhen anzufassen, Graham. Ich bin schon ein großes Mädchen. Ein großes Mädchen, das gestern fast von einem verrückten Irren umgebracht worden wäre. Daher frage ich dich noch einmal: Wer ist dieser Mann?" Graham zögerte und sah kurz zu seinem Kollegen hinüber. Taktvoll verließ der Polizist das Zimmer. „Sein Name ist Horace Taylor", sagte Graham widerstrebend. Er gab ihr eine kurze Zusammenfassung von seinem Strafregister. Anscheinend hat er gerade bei einem neuen Drogenkartell angefangen. Es gibt eigentlich nichts, bei dem er nicht seine Finger mit im Spiel hat." Caitlin blieb stumm. Sie war noch eine Spur blasser geworden. „Denk nicht mehr darüber nach", sagte Graham beruhigend. „Es ist vorbei." Aber sie beide wussten, dass dem nicht so war. Noch nicht. Zuerst mussten sie noch die Gerichtsverhandlung hinter sich bringen. Caitlin hatte nichts dagegen, dass Graham sie nach Hause fahren wollte. Sie war mit ihren Kräften am Ende. Aber als sie in den Sedan einsteigen wollte, winkte Graham ab und führte sie zu seinem pinkfarbenen Cadillac. „Schließlich bin ich jetzt nicht mehr im Dienst", meinte er und stieg ein. Während der Fahrt dachte er noch einmal über das letzte Gespräch mit seinem Anwalt nach. Es war nicht sehr ermutigend gewesen. Nachdem der Anwalt sich die Papiere durchgelesen hatte, hatte er ihm nicht viel Hoffnung machen können. Seiner Erfahrung nach entschieden die Gerichte fast immer zugunsten der Mutter. Graham hatte auch zugeben müssen, dass Celia sich nie körperlich an Jake vergangen hatte. Sie hatte ihm nur seelischen Schaden zugefügt, aber so etwas war natürlich schwer zu beweisen. Und leider war sie im Moment im Vorteil, denn mit einem wohlhabenden und geachteten Mann an ihrer Seite war ihr gesellschaftlicher Status höher, als es Grahams je sein würde. Also gut, dann muss ich mir eben etwas einfallen lassen, dachte er kämpferisch. Besorgt blickte er auf die Frau an seiner Seite. Caitlin machte noch immer einen ziemlich geschwächten Eindruck. „Caitlin, ich weiß, das war ein harter Tag für dich", begann er. Sie schüttelte den Kopf. „Ach, was, Graham. Ich beginne gerade, mich an diese Aufregungen zu gewöhnen. Verglichen mit gestern war das heute doch der reine Spaziergang. Aber findest du nicht, dass wir uns noch einmal über die Sache mit Jake unterhalten sollten?" „Woher weißt du, dass ich gerade daran gedacht habe?" fragte er überrascht. Caitlin lächelte. „Weil ich dich eben gut kenne. Ich wollte dich übrigens auch etwas fragen." „Ja?" „Weißt du, was Tagesmütter sind?" „Tagesmütter? Ja, ich glaube schon. Das sind Fraue n, die auf die Kinder anderer Leute aufpassen, während diese ihrem Beruf nachgehen, richtig?" Caitlin nickte. „Stimmt. Sie passen berufsmäßig auf die Kinder anderer Leute auf und werden dafür bezahlt. In einer ähnlichen Situation bist auch du im Moment. Du suchst eine Mutter für deinen Sohn - eine Mutter auf Zeit. Was mich betrifft, so hast du sie bereits gefunden. Ich bewerbe mich hiermit für diesen Job." Graham entgegnete unschlüssig: „Ja, aber ... weißt du denn auch, was du mir da
anbietest, Caitlin? Würde dich das wirklich befriedigen, eine Mutter auf Zeit zu sein? Mich um Jakes willen zu heiraten und dich dann später wieder von mir scheiden zu lassen?" Caitlin nickte, obwohl ihr Lächeln eine Spur von Trauer zeigte. „Noch hast du nicht eingewilligt, und du sprichst bereits von der Scheidung?" „Caitlin, aber ... das ist doch Wahnsinn, und du weißt es auch. Schließlich habe ich dir nichts zu bieten." Sie wollte sich nicht mit ihm auf eine Diskussion einlassen. „Ich tue das nicht, um dafür eine Belohnung zu bekommen, Graham." Aber trotzdem ... würde sie insgeheim nicht doch etwas von ihm erwarten, das er ihr nicht geben konnte, was er im Moment niemandem geben konnte? Graham fühlte sich innerlich leer, allein seine Liebe zu Jake hielt ihn am Leben. Es ist unmöglich, dass eine solche Ehe funktionieren kann, dachte er. Nicht einmal auf Zeit. „Du weißt, wie deine Mutter auf die Nachricht unserer Heirat reagieren würde", sagte er warnend. „Sie würde dir die Hölle auf Erden bereiten." „Meine Mutter ist mein Problem. Nach allem, was sie uns angetan hat, kann sie mir sowieso gestohlen bleiben." Aber das ist ja nicht der einzige Grund, der gegen unsere Verbindung spricht, dachte Graham. Er hatte nicht vergessen, was sein Vater seiner Mutter damals angetan hatte. Wie schnell die Liebe verschwunden war und einer leeren, sinnentleerten Routine Platz gemacht hatte. Ähnlich war es auch bei seiner Ehe gewesen, obwohl er Celia nicht einmal geliebt hatte. Caitlin wusste nichts von diesen Dingen. Und er wollte auch nicht, dass sie es je erleben musste. Er schüttelte den Kopf. „Es geht nicht, Caitlin. Ich kann dich nicht bitten, mich zu heiraten. Das kann ich einfach nicht von dir verlangen." Seine Worte taten ihr weh, aber sie zwang sich, jetzt nicht überemp findlich zu reagieren. Schließlich ging es auch noch um einen kleinen Jungen, ein Kind, das nicht ein zweites Mal enttäuscht werden durfte. „Na gut", erwiderte sie ruhig. „Kannst du mich dann wenigstens bitten, Jakes Mutter zu sein? Stör dich bitte nicht an der äußeren Form, Graham. Es handelt sich einfach nur um ein Stück Papier, das wir beide unterzeichnen müssten." „Ich verstehe immer noch nicht, warum du das unbedingt tun willst", meinte Graham kopfschüttelnd. Er hatte Mühe, sich bei dem Gespräch auf den Verkehr zu konzentrieren. „Weil du Jake liebst, und weil wir nicht zulassen dürfen, dass er noch einmal enttäuscht wird. Ich kenne Celia ja nicht, aber sie klingt nicht gerade wie die ideale Mutter." Als er immer noch nichts sagte, fuhr sie fort: „Ich habe gehört, wie du am Telefon mit Jake gesprochen hast. Ich habe den Ausdruck in deinen Augen gesehen, wenn von ihm die Rede ist. Endlich hast du einen Menschen gefunden, den du lieben kannst, einen Menschen, der auch dich liebt. Ich möchte dir dabei helfen, dass das so bleibt, weiter nichts." Caitlin holte noch einmal tief Atem. „Vielleicht existiert das, was wir damals miteinander hatten, ja nicht mehr." Das glaubte sie zwar nicht, aber es klang wenigstens realistisch. „Doch eines steht fest, Graha m - ein Sohn braucht seinen Vater. Und Jake braucht dich." „Aber dein Leben ..." Caitlin hatte sich entschlossen, diese Sache durchzuziehen, und nichts, was Graham sagte, würde sie davon abbringen können. „Ach komm, du tust geradezu, als würde ich ein Riesenopfer bringen. Mein Leben geht natürlich weiter. Außerdem", meinte sie lächelnd, „hat die Sache auch noch einen anderen Pluspunkt." „Und der wäre?" „Ich kann meiner Mutter davon erzählen", sagte sie lachend. „Und das wird mir ein
Hauptvergnügen sein." Graham musste selbst lachen. „Ich hätte nicht gedacht, dass du so schadenfroh bist, Caitlin." „Ich auch nicht." Mit angehaltenem Atem wartete sie auf seine Antwort. Ach, warum machte er es einem immer nur so schwer? Er sollte derjenige sein, der sie überzeugen wollte, nicht umgekehrt. Aber das verbot ihm wahrscheinlich sein verflixter Stolz. „Na, was denkst du, Graham?" bohrte sie nach. „Vergiss nicht, es ist für Jake." Graham hatte das Gefühl, in der Falle zu sitzen. Es war die perfekte Lösung. Wenn er Jake behalten wollte, gab es gar keine andere Möglichkeit, als Caitlins Angebot anzunehmen. Graham hielt vor Caitlins Haus an. Jetzt erst sah er, dass sie die Hand ausgestreckt hielt. Sie wollte den Handel anscheinend besiegeln. Hatte er überhaupt eine Wahl? Graham zögerte kurz, dann nickte er und streckte ihr die Hand hin. „Also gut", sagte er und schüttelte sie. „Die Sache steht. Für Jake. Ach, übrigens ..." „Ja?" „Tut mir leid, dieser Heiratsantrag klingt leider nicht sehr romant isch''* sagte er mit schiefem Grinsen. „Ja, beim ersten Mal hat es mir auch besser gefallen", erwiderte Caitlin mit einer Spur von Ironie. „Ich war damals eben noch ziemlich naiv", meinte Graham verlegen. Caitlin lächelte traurig und nickte. „Stimmt", entgegnete sie und beließ es dabei. Die Form war jetzt nicht wichtig. Sie würde Graham heiraten, das war das Allerwichtigste. Nein - es gab dabei durchaus noch einen Haken. Ihr Sieg schmeckte ein wenig bitter. Denn Graham heiratete sie nicht aus freien Stücken. Er dachte, er hätte keine andere Wahl.
12. KAPITEL So hatte sich Caitlin ihre Hochzeit eigentlich nicht vorgestellt. Entgegen allem, was sie sich erträumt hatte, stand sie plötzlich an Grahams Seite vor einem älteren, völlig verschlafenen Friedensrichter, der unaufhörlich gähnte. Seine Frau, eine dickliche Blondine, fungierte als Trauzeugin. Graham machte den Eindruck, als würde er einer Beerdigung beiwohnen, nicht seiner eigenen Hochzeit. Ihrer beider Hochzeit! Das große Zimmer, anscheinend auch das Wohnzimmer der beiden älteren Leute, war voller geschmackloser Accessoires. Verblichene gelbe Plastikrosen standen in zwei Vasen rechts und links auf dem Tisch und ließen die Köpfe hängen. Der „Hochzeitswalzer" ertönte im Hintergrund von eine m Plattenspieler, der auch schon bessere Tage gesehen hatte. Das ganze Zimmer hätte einmal kräftig durchgelüftet werden müssen. Sie hatten sich schließlich darauf geeinigt, nach Las Vegas zu fahren, um dort zu heiraten. Dies war die schnellste und billigste Lösung. Caitlin war sofort dafür gewesen. Sie hätte alles getan um zu verhindern, dass Graham seine Meinung noch einmal ändern würde. Unterwegs hatten sie nur eine kurze Pause gemacht, in der Graham seine Mutter angerufen hatte, um ihr mitzuteilen, dass er an diesem Abend nicht nach Hause kommen würde und sie nicht auf ihn warten sollte. Von seiner Hochzeit sagte er kein einziges Wort. Caitlin, die während des Gesprächs neben ihm gestanden hatte, hatte so getan, als würde es ihr nichts ausmachen. Aber in Wirklichkeit war sie sehr gekränkt. Seine Mutter hatte ihm berichtet, dass Celia an diesem Tag aufgekreuzt war, um nach Jake zu sehen. Glücklicherweise war er bei einem Freund zum Spielen gewesen, und sie hatte unverrichteter Dinge wieder abziehen müssen. Falls Graham noch irgendwelche Zweifel bezüglich der Richtigkeit seiner Entscheidung gehabt hätte, so waren diese damit verschwunden. Er wusste, wenn er Jake behalten wollte, hatte er gar keine andere Wahl. Daher waren sie die dreihundert Meilen von Phoenix nach Las Vegas fast in einem Stück durchgefahren. Während der Pause nahmen sie Hamburger und Coca Colas zu sich und brausten dann weiter. Sechseinhalb Stunden später waren sie vor dem Haus von Henry Richards, einem Friedensrichter der Vereinigten Staaten, erschienen, und hatten den guten Mann aus dem Bett geworfen. Es war bereits nach elf Uhr, und nach einigem Hin und Her hatte der Richter eingewilligt, die Trauung zu vollziehen. Caitlin hätte sich natürlich gewünscht, dass das Ganze etwas romantischer wäre, aber es gefiel ihr trotzdem. Besonders musste sie über die dickliche Gattin des Friedensrichters schmunzeln, die ebenfalls in einem alten Morgenrock erschienen war und ihr im allerletzten Moment noch einen Strauß Plastikrosen sowie einen altmodischen Schleier in die Hand gedrückt hatte, den sie während der Zeremonie tragen sollte. Caitlin war alles egal, sie heiratete Graham, und das war schließlich die Erfüllung ihrer Träume. Um dreiundzwanzig Uhr fünfzehn sagte dann Henry Richards, nachdem er sein Geld eingesteckt hatte, die entscheidenden Worte zu ihnen. „Den Ring, bitte", meinte er zu Graham gewandt und unterdrückte erneut ein Gähnen. Graham sah Caitlin an, sie erwiderte seinen Blick bestürzt. Ihr Entschluss war so übereilt gewesen, dass sie nicht einmal daran gedacht hatten, sich Ringe zu besorgen. „Sie haben keinen Ring?" fragte Flora Richards mitfühlend. „Sekunde mal!" Sie kramte in ihrem Schmuckkästchen und holte triumphierend zwei rote Plastikringe daraus hervor. „Das ist zwar nur Modeschmuck, aber besser als gar nichts", meinte sie
lachend. „Für jetzt dürfte es reichen. Später müssen Sie Ihrer Braut natürlich einen richtigen Ring kaufen." Es freute sie, den beiden jungen Leuten helfen zu können. Rora liebte Hochzeiten über alles und konnte gar nicht genug davon bekommen. Aber dieses Paar hat etwas ganz Besonderes, dachte sie bei sich. Selten hatte sie eine so strahlende Braut neben einem so muffligen Bräutigam gesehen. Trotz der vielen Hochzeiten, bei denen sie, als Trauzeugin fungiert hatte, war sie immer jedesmal aufs neue gerührt. Mit dem Zipfel ihres Taschentuchs wischte sie sich verstohlen die Tränen aus den Augen winkeln. „Vielen Dank", entgegnete Graham verlegen und kramte in seiner Tasche nach seinem Portemonnaie. „Wieviel schulde ich Ihnen? “ „Aber nicht doch", meinte Flora empört und schob seine Hand fort. „Behalten Sie Ihr Geld, junger Mann. Und die Ringe auch. Sie sollen Ihnen Glück bringen." Ihr Blick fiel auf die Braut an seiner Seite. Ihr beide werdet es brauchen. Henry gähnte und dachte bedauernd an sein schönes, warmes Bett. „Prima! Dann kann's ja endlich losgehen. Stecken Sie Ihrer Braut den Ring an den Finger und erklären Sie: „Mit diesem Ring nehme ich dich zur Frau.'" Es tut mir so leid, Caitlin, dachte Graham, als er die Worte wiederholte: „Mit diesem Ring nehme ich dich zur Frau." Ja, Graham, ja. Caitlin hatte Mühe, die Tränen zurückzuhalten. Ihr Traum war erfüllt worden. Nun lag der Rest bei ihr. Henry lächelte. Den nächsten Teil der Zeremo nie mochte er besonders gern. „Kraft meines Amtes, das mir durch den Staat Nevada verliehen worden ist, erkläre ich Sie jetzt zu Mann und Frau." Er schlug den dicken schwarzen Folianten zu und setzte seine Brille ab. „Jetzt dürfen Sie die Braut küssen." „Nur zu!" sagte Flora aufmunternd, als Graham keine Anstalten machte, den Worten ihres Mannes zu folgen, „Unseretwegen brauchen Sie sich nicht zu schämen. Wir haben das schon oft miterlebt." Sie kicherte. „Noch vor einer Woche standen hier an der gleichen Stelle zwei junge Leute, die mit ihren Flitterwochen anscheinend sofort beginnen wollten. Stellen Sie sich vor, hier bei uns im Wohnzimmer! Es war gar nicht so leicht, sie loszuwerden, kann ich Ihnen verraten." Sie seufzte. Caitlin hatte das Gefühl, als wäre es ihr gar nicht so unlieb gewesen, wenn die beiden ihre Ehe direkt hier vollzogen hätten. Sie schien nun einmal eine romantische Seele zu sein. Da die Frau anscheinend keine Ruhe geben würde, bis er sie geküsst hatte, lüftete Graham Caitlins Schleier und drückte einen flüchtigen Kuss auf ihre Lippen. Flora schüttelte missbilligend den Kopf. „Na, das war aber nicht besonders leidenschaftlich, mein Lieber. Wenn Sie das in nächster Zeit nicht besser hinkriegen, müssen wir Ihnen wohl Henrys anderen Service anbieten." Als die beiden sie fragend ansahen, setzte sie hinzu: „Er führt auch Scheidungen durch, obwohl wir dafür keine Reklame machen. Wer will an seinem Hochzeitstag schon etwas von einer Scheidung hören?" Aber genau dahin führt das Ganze ja, dachte Caitlin bei sich. Es war nur eine Frage der Zeit. Die Scheidung würde unausweichlich auf sie zukommen. Damit war sie einverstanden gewesen, das war Teil ihrer Verabredung. Die beiden älteren Leute brachten Caitlin und Graham noch zur Tür. „Alles Gute für Sie und Ihre Zukunft", rief Flora ihnen nach. „Viel, viel Glück!" „Die Frau ist unmöglich", meinte Graham finster. Er beeilte sich, zum Wagen zu kommen. „Ach was, sie meint es doch nur gut", erwiderte Caitlin lächelnd. „Ich hatte das Gefühl, als würde sie Hochzeiten über alles lieben." „Selbst solche drittklassigen Hochzeiten?" fragte Graham, als er ihr den Wagenschlag aufhielt.
„Natürlich." Sie stieg ein: „Ich kann sie übrigens gut verstehen." Als sie auf dem Beifahrersitz des pinkfarbenen Cadillacs Platz genommen hatte, dachte sie kurz daran, dass eine schwere Aufgabe auf sie wartete. Irgendwie musste es ihr gelingen, Graham davon zu überzeugen, dass ihre Ehe funktionieren würde. Aber sie hatte nicht die geringste Idee, wie sie das anstellen sollte. Glücklicherweise hatten sie ja noch ein wenig Zeit. Zuerst mussten sie die Gerichtsverhandlung erfolgreich überstehen, und danach würde ihnen mindestens ein Jahr als Mann und Frau bleiben. Das sollte genügen, Graham davon zu überzeugen, dass er nicht ohne sie auskommen konnte. „Was machen wir nun?" fragte sie unternehmungslustig. Graham hatte bereits den Schlüssel in die Zündung gesteckt. Er sah sie überrascht an. „Ich dachte, wir fahren nach Hause." „Graham. es ist fast halb zwölf", me inte Caitlin entsetzt. „Willst du jetzt wirklich die nächsten sechs Stunden durch die Nacht fahren? Sieh dich doch an, du bist völlig erschöpft. Warum nehmen wir uns nicht ein Zimmer in irgendeinem Motel und fahren morgen früh ausgeruht wieder zurück?" Graham wollte mit Caitlin in kein Motel gehen. Er hatte Angst vor den Konsequenzen, auch wenn das vielleicht lächerlich war. Aber er hatte schon zu viele negative Dinge erlebt. Außerdem durfte er nicht vergessen, dass sie schließlich nur eine Ehe auf Zeit geschlossen hatten. Andererseits fühlte er sich wirklich sehr erschöpft. Und die Aussicht, noch einmal über dreihundert Meilen zu fahren, war nicht sehr verlockend. „Also gut", sagte er widerstrebend. „Wir bleiben heute Nacht hier." „Du klingst so, als hätte man dir gerade eine Haftstrafe aufgebrummt", bemerkte Caitlin in dem Versuch, die Situation mit Humor zu nehmen. Graham antwortete ihr nicht. Sein Schweigen schüchterte sie ein. Was war nur mit ihm los? Warum empfand er nicht das gleiche wie sie - eine Mischung aus Aufregung, Verlegenheit und Freude? In den letzten zwei Tagen war ja wirklich eine Menge passiert. Sie hatte ihre Unschuld an einen Mann verloren, den zu lieben sie nie aufgehört hatte, hatte einen Mörder identifizieren müssen und hatte dann als Krönung noch in einem Zimmer heiraten müssen, das der Alptraum jedes Innenarchitekten gewesen wäre. Graham fiel auf, dass Caitlin angestrengt nachdachte. Bereute sie ihren übereilten Schritt vielleicht schon? Er wusste, er stand tief in ihrer Schuld. „Kurz hinter der Stadt sahen sie ein hellerleuchtetes Schild. Es führte zu einem Motel, das einen ziemlich heruntergekommenen Eindruck machte. „Wie findest du das?" fragte Graham zögernd. Caitlin hoffte, dass man regelmäßig die Bettwäsche wechseln würde. Wahrscheinlich gibt es hier auch Ungeziefer, dachte sie. Doch Graham gegenüber ließ sie sich nichts anmerken. „Es ist ein Motel, und wir sind müde", sagte sie betont munter. „Also sollten wir auch ein Zimmer nehmen." Graham hatte zwar seine Zweifel, ob diese drittklassige Absteige gut genug für sie sein würde, aber er war inzwischen so müde, dass er mit allem einverstanden war. Er parkte den Wagen auf dem Parkplatz, und sie gingen gemeinsam zur Rezeption. Hier saß ein Mann in einem „I love Vegas" - T-Shirt hinter der Theke. Er verfolgte ein Footballspiel. Beim Anblick der beiden erhob er sich langsam. „Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein?" Caitlin fiel auf, dass er nach billigem Fusel roch. Graham wollte ihn eigentlich um zwei Einzelzimmer bitten, aber dann überlegte er es sich im letzten Moment anders. Sie waren jetzt schließlich verheiratet, wenn auch nur auf dem Papier. Daher sagte er: „Ja, wir hätten gern ein Doppelzimmer." Der Mann holte das Gästebuch hervor und schob es Graham hin. „Möchten Sie lange
bleiben?" „Nein, nur für eine Nacht." Was für eine billige Absteige, dachte Graham. Nachdem er Caitlin von oben bis unten gemustert hatte, nickte der Portier und sagte mit einem fiesen Grinsen: „Verstehe." „Sie verstehen überhaupt nichts", entgegnete Graham ärgerlich. Jetzt tat es ihm doch leid, dass er Caitlin an diesen heruntergekommenen Ort verschleppt hatte. Sie verdiente weiß Gott etwas Besseres. Er hätte sie in ein anständiges Hotel bringen sollen. Aber nun war es zu spät. Caitlin, die seinen Ärger und sein Bedauern merkte, legte ihm beruhigend die Hand auf die Schulter. „Wir haben gerade geheiratet", erklärte sie dem Mann und hob ihre rechte Hand, an der der Plastikring glitzerte. Die Haltung des Portiers änderte sich schlagartig, er strahlte sie an. „Oh, dann entschuldigen Sie bitte. Das konnte ich ja nicht wissen. Ich wollte Sie nicht ..." Er brach ab, als er Grahams zornige Miene sah. „Leider habe ich keine Hochzeitssuite, aber ich kann Ihnen unser bestes Zimmer geben." Er drehte sich um und holte einen Schlüssel vom Brett, den er Graham dann reichte. „Das ist die Nummer zwölf." Er zeigte ihnen den Korridor, der zu den Zimmern führte. „Ganz am Ende des Flurs." „Vielen Dank." Nachdem Graham sich eingetragen hatte, nahm er den Schlüssel an sich. Es hatte ihn einige Überwindung gekostet, Caitlin unter dem Zusatz ..und Frau" einzutragen. Daran würde er sich erst noch gewöhnen müssen. Sie hatte ihn dabei beobachtet und konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Das war wieder einmal typisch für Graham. „Möchtest du vielleicht, dass ich von nun an immer zwei Schritte hinter dir gehe?" fragte sie amüsiert. Graham lächelte gequält. „Entschuldige bitte. Es ist eben noch sehr neu für mich." „Ja, für mich auch", erwiderte sie trocken. Sie hakte sich bei ihm unter. „Also los, lass uns gehen!" Das Zimmer war hübscher, als sie erwartet hatte, obwohl natürlich alles ein wenig abgegriffen war. Die Polsterbezüge des Sofas und der Sessel waren schon ziemlich verblichen, was bestimmt mit der heißen Sonne zusammenhing, die Tag für Tag auf Nevada herabschien. Es gab gerade genug Platz für zwei, das Badezimmer war winzig klein. Die Vorhänge waren zurückgezogen, und die Fenster gaben den Blick auf die mondbeschienene menschenleere Wüste frei. Eigentlich ziemlich romantisch, dachte Caitlin. Wenn man mit dem richtigen Mann zusammen war. Sobald Graham die Tür hinter sich zugemacht hatte, war die Stille bedrückend. Unschlüssig fingerte Caitlin an ihrem Ring herum. Er war ein wenig zu groß für sie. Nun, dies war ja auch nur eine vorübergehende Leihgabe, bis sie sich richtige Goldringe kaufen würden. Graham bemerkte verlegen: „Entschuldige bitte wegen der Sache mit den Ringen. Das habe ich glatt vergessen." Caitlin lächelte nur. „Ach, das macht doch nichts, Graham." Was zählte es schon, dass sie noch keine richtigen Eheringe hatten? Sie war Mrs. Graham Redhawk und hatte plötzlich einen kleinen Sohn. Das Leben war wirklich wunderbar. Graham wusste nicht, was mit ihm los war. Noch vor fünf Minuten hätte er sofort ins Bett sinken können. Doch jetzt fühlte er sich plötzlich schrecklich unruhig. „Sobald wir wieder zu Hause sind, kaufe ich dir einen Ring", versprach er ihr. „Das ist das Wenigste, was ich für dich tun kann." „Ja, wenn du möchtest. Aber ich mag diesen Ring irgendwie. Und ich fand es nett von ihr, ihn uns zu schenken." Graham verstand zwar nicht, was ihr an dieser billigen Plastikimitation gefallen
konnte, aber er wollte ihr jetzt auch nicht widersprechen. Vielleicht war es doch das Beste, wenn sie erst mal schliefen. Das Zimmer kam ihm mit einemmal sehr klein vor. Er ging auf einen großen Armsessel zu, der in der Ecke stand. Auch hier war das Polster des verblichenen Rosenmusters bereits völlig abgeschabt. „Ich werde hier schlafen." Caitlin sah ihn erstaunt an. „Aber warum denn? Das Bett ist doch breit genug für uns beide." Graham schüttelte den Kopf. „Nein, ich nehme den Sessel." Sie sah ihn stumm, aber vorwurfsvoll an. Nervös fuhr er sich mit der Hand durchs Haar. „Cait, bitte versteh mich recht. Wir haben ein Abkommen, oder hast du das etwa schon wieder vergessen?" „Nein, natürlich nicht, Graham. Doch das heißt doch nicht, dass sich einer von uns beiden quälen muss." Sie sah ihn an und lachte. „Du bist viel zu groß für diesen Sessel." Das war Graham egal. „Ich kriege das schon hin, keine Sorge." „Nein, das kommt gar nicht in Frage." Caitlin wusste, sie hätte die ganze Nacht kein Auge zumachen können, wenn Graham in diesem unbequemen Sessel schlafen würde. „Wenn du Angst hast, neben mir zu liegen, kann ich das nicht ändern. Aber dann erlaube mir wenigstens, dass ich in diesem verdammten Sessel schlafe. Ich bin schließlich kleiner als du." Wütend nahm sie eines der Kopfkissen vom Bett und warf es auf den Sessel. Dann wollte sie ins Badezimmer marschieren. „Cait..." Graham hielt sie auf. Sie wandte sich zu ihm um, und er sah, dass sie Tränen in den Augen hatte. „Was?" Verdammt, er hatte ihr wehgetan. Schon wieder. Das war wirklich nicht seine Absicht gewesen. Er wollte keine Komplikationen, er wollte diese Nacht nur möglichst schnell hinter sich bringen. Aber als er Caitlin in diesem aufgewühlten Zustand sah, ging ihm dies so zu Herzen, dass er alle seine Bedenken plötzlich vergaß. Ohne ein weiteres Wort zog er sie an sich und küsste sie so stürmisch, dass sie kaum noch Luft bekam. Alle Gefühle, die er so lange versteckt gehalten hatte, kamen plötzlich an die Oberfläche und verschmolzen zu einer Sehnsucht, die nur einen Namen trug. Ihren Namen. Der Hunger nach ihr, nach ihrer Wärme, nach ihren Zärtlichkeiten, ergriff Besitz von ihm und war stärker als alles andere. Wie rasend streichelte er ihren Körper. Allein ihre Nähe machte ihn verrückt. Am liebsten hätte er ihr die Kleider vom Leib gerissen und sie dann genommen, ohne Vorspiel, einfach nur seinen Trieben folgend. Was ist nur los mit mir, fragte sich Graham verzweifelt. Er kannte sich selbst nicht wieder. Dies ist Wahnsinn, dachte er. Wahnsinn, aber es war stärker als alle Bedenken. Caitlin war so unendlich froh über seine Umarmung, dass sie sich ihm rückhaltlos hingab. Ihr Atem ging stoßweise, sie erwiderte seine Küsse mit einer Leidenschaft, die sie selbst erstaunte. Wahrscheinlich hing es damit zusammen, dass sie sich nun schon so lange nach ihm verzehrte. Und mehr noch, sie wünschte sich die Befreiung, die allein der Sex aufgestauten Gefühlen verschaffen konnte. Es kam ihr so vor, als hätte sie seit dem letzten Mal nichts anderes getan, als den Atem anzuhalten und darauf zu warten, dass es wieder geschehen würde. Sie hatte Angst davor und sehnte sich gleichzeitig danach. Wenn er darauf brannte, sie zu berühren, sie zu schmecken, so übertraf sie ihn noch in dieser Ungeduld. Ja, dies war es, was sie wollte, ihn anfassen und von ihm angefasst werden. Sie wünschte sich nichts so sehr wie die ekstatische Begegnung mit diesem Mann, der ab heute ihr Mann war. In fliegender Eile knöpfte sie sein Hemd auf und riss es ihm fast vom Körper. Er hatte
bereits ihre Bluse geöffnet und machte sich jetzt am Verschluss ihres BHs zu schaffen. Dabei küsste er sie unaufhörlich, kleine heiße Küsse, die eine Feuerspur auf ihrem Nacken hinterließen. Auf hunderterlei Weise zeigte er ihr, dass er sie verehrte, dass er sie liebte, dass er sie über alles begehrte. Innerlich verachtete Graham sich dafür, dass er nicht mehr Kraft hatte, der Versuchung zu widerstehen. Aber schließlich war er auch nur ein Mensch und dazu noch ein Mann. Er wusste, er hätte damit aufhören müssen, jetzt in diesem Moment, aber er konnte es einfach nicht. Caitlin hatte die Macht, seinen Willen zu untergraben, in ihren Händen war er weich wie Wachs. Für einen Kuss von ihr hätte er alles getan. Er hatte immer nur sie gewollt. Sie war die eine Frau, die ihm mehr bedeutete als sein Leben. Und sie kam ihm entgegen, ja mehr noch, sie drängte sich praktisch in seine Arme, brennend darauf, sich ihm hinzugeben. Was konnte er anderes tun. als diese Leidenschaft zu erwidern, als seiner verzehrenden Sehnsucht nachzugeben? Caitlin hatte jetzt begonnen, seine Hose auszuziehen, und Graham half ihr dabei. Dann folgte sein Slip, die Kleider lagen vergessen am Boden. Sie suchten einander wie Ertrinkende, wie zwei Verdurstende in der Wüste. Beide waren jetzt nackt. Das Bett ächzte und stöhnte unter ihnen, aber es fiel ihnen nicht einmal auf. Graham lag auf Caitlin, er presste seinen hungrigen Mund auf den ihren, und sie erwiderte eifrig den Ansturm seiner Zärtlichkeiten. Ihr Körper drängte sich gegen ihn, sie wollte ihn in sich spüren, verlangte wieder nach diesem Feuerstrom der Lust, den sie schon vom ersten Mal kannte. Ach, konnte dies nicht ewig so weitergehen? Sie stöhnte laut, als Graham den Kopf hob und seine Küsse jetzt ein wenig tiefer fortsetzte. Sie zitterte am ganzen Le ib, seine Berührungen raubten ihr den Verstand. „Graham ..." „Schhh." Caitlin spürte, wie die Spannung in ihr wuchs. Sie hatte den Eindruck, als könnte sie sie nicht mehr lange ertragen. Es war wie ein Crescendo der Lust, eine Kette von kleinen Wellen, die unaufhörlich auf den Höhepunkt, auf die Befreiung zustrebten. Wieder küsste er sie, und er spürte, wie sie sich unter ihm wand, sich an ihn drängte und ihm so zu verstehen gab, was sie sich von ihm wünschte. Höher und höher schlugen die Wellen der Leidenschaft. Beide waren jetzt schweißüberströmt, sie atmeten schwer. Aber Caitlin war es egal. Sie wollte mehr. Außerdem wollte sie nicht allein diesem Gipfel zustreben. „Graham, komm", flüsterte sie beschwörend. Warum tue ich das, dachte Graham verzweifelt. Irgendetwas stimmte nicht, er hätte sich nicht so gehen lassen dürfen. Aber konnte es jetzt noch ein Zurück geben? Nein, dieser Punkt war längst überschritten. Aber was hatte er denn schon zu bieten? Nur sich selbst. „Graham?" Sie schluchzte, bettelte, nein, flehte ihn an, sich mit ihr zu vereinigen. Und Graham erfüllte ihr ihren Wunsch, er konnte nicht anders. Als sie ihn in sich spürte, stöhnte sie auf, dann zog sie ihn mit aller Macht an sich. Wieder hatte er das Gefühl des Heimkommens. Caitlin war seine vollendete Entsprechung. Kraftvoll und geschmeidig bewegte er sich in ihr, nahm dann ihren Kopf zwischen seine Hände und küsste sie wieder und wieder - wie in einem Taumel. Oh, Gott, wie süß sie war, wie wunderschön! Und sie begehrte ihn. Das machte ihn stolz und glücklich. Den letzten Rest des Weges nahmen sie zusammen. Auf den stürmischen Höhen entfalteten sich ihre kühnsten Träume, vertrauensvoll ließen sie sich von ihrem wilden Liebestanz bis zum Gipfel tragen. Dann war es irgendwann vorbei, und es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis die Nacht den Raum erneut mit Schweigen füllte.
Außer ihrem gemeinsamen Atmen war nichts zu hören.
13. KAPITEL Caitlin erwachte, sie streckte instinktiv die Hand nach Graham aus, der eigentlich im Bett neben ihr hätte liegen müssen. Aber der Platz war leer. Abrupt öffnete sie die Augen. Schon wieder das gleiche, erneut war Graham nicht da, wenn sie aus dem Schlaf erwachte. Wo konnte er nur sein? Hatte er sie verlassen? Sie seufzte tief. Dann setzte sie sich auf, die Bettdecke noch immer um sich gewickelt und fuhr sich mit der Hand durchs Haar. Sie war zwar noch nicht ganz wach, aber ihr Gefühl sagte ihr, dass sich trotz letzter Nacht nichts geändert hatte. Sie waren wieder am Nullpunkt angelangt. Ja, so war es, sie erkannte es an dem Blick, mit dem er sie betrachtete. Caitlin sah auf ihre Uhr. Es war noch früh, aber er wollte anscheinend schon aufbrechen. Gähnend reckte und streckte sie sich. „Warum hast du mich nicht aufgeweckt?" Graham knöpfte sein Hemd zu. Sein Haar war noch feucht von der Dusche. Er war seit einer halben Stunde auf und hatte sich Mühe gegeben, Caitlin nicht zu wecken. Wenn sie ihn wieder zu sich ins Bett gezogen hätte, hätte er ihr wahrscheinlich nicht widerstehen könne n. „Ich habe dich beobachtet", sagte er leise. „Du siehst sehr schön aus, wenn du schläfst. Übrigens kann nur einer von uns die Dusche benutzen. Das Badezimmer ist viel zu klein für uns beide." Caitlin sah ihn stirnrunzelnd an. Wieder wurde ihr klar, wieviel Arbeit noch vor ihr lag. Aber ein Anfang war bereits gemacht, und das machte sie zuversichtlich. Grahams Gefühle hingegen waren sehr gemischt. Er hatte in der Nacht kaum geschlafen. So viele Erinnerungen hatten ihn heimgesucht. Erinnerungen an früher, an die unschuldige Anfangszeit mit Caitlin. Damals hatte er noch geglaubt, dass alles möglich wäre, aber inzwischen war er klüger. Er war ärgerlich auf sich selbst, ärgerlich über seinen Mangel an Disziplin. Aber ist es denn auch ein Wunder, fragte er sich bei Caitlins Anblick. Sie sah aus, wie eine eben erblühte Prärieblume. Am liebsten wäre er sofort zu ihr hinübergegangen, um sie zu küssen und in seine Arme zu schließen. Doch er war klug genug, die Distanz zu wahren. Er holte tief Atem. „Caitlin, es ... es tut mir leid." Sie sah ihn verblüfft an. „Wieso? Was tut dir leid?" Warum machte sie es ihm nur so schwer? Sie wusste doch bestimmt, was er ihr sagen wollte. „Wegen letzter Nacht, ich ..." Caitlin runzelte die Stirn. Nein, nur das nicht, dachte sie. Bitte, zerstör mir meine Träume nicht. „Letzte Nacht war wundervoll", sagte sie betont. „Ich habe jede Minute genossen. Es gibt nichts, wofür du dich entschuldigen musst." „Aber Caitlin, wenn diese sogenannte Scheinehe funktionieren soll, dann ..." Sie wollte nichts mehr davon hören. Schnell sah sie noch einmal auf die Uhr. „Zeit zum Aufstehen. Ich springe noch kurz unter die Dusche." Ohne ihm die Gelegenheit zu geben, seinen Satz zu vollenden, eilte Caitlin ins Badezimmer. Dort stellte sie erleichtert die Dusche an, aber als das Wasser an ihrem Körper herunterprasselte, hätte sie am liebsten geweint. Mit einemmal fühlte sie sich völlig allein, völlig isoliert. „Oh, Graham, warum gibst du uns keine Chance?" flüsterte sie. „Warum kämpfst du gegen unsere Liebe? Ich hatte doch einmal einen Platz in deinem Herzen. Bitte, nimm mich dort wieder auf." Während sie sich einseifte, dachte sie noch einmal an ihr Liebesspiel von letzter Nacht, und trotz Grahams Rückzieher konnte sie nicht verhindern, dass sie lächelte.
Nichts konnte ihr die Erinnerung an ihr Verschmelzen, an seine Hingabe nehmen, gar nichts. Egal, was passieren würde, dies gehörte ihr für immer. Fünfzehn Minuten später war sie gestiefelt und gespornt. Sie verließen das Motel und nahmen später in einem Schnellrestaurant das Frühstück ein. Während sie unter der Dusche gewesen war, hatte Caitlin gehört, wie Graham mit Jeffers telefoniert hatte. Hing damit seine veränderte Stimmung zusammen? Oder wollte Graham nur so schnell wie möglich wieder nach Hause, weg von ihren gemeinsamen Erinnerungen? Caitlin aß schweigend ihr Frühstück, einen Toast mit verbranntem Speck und Eiern. So hatte sie sich den Morgen nach ihrer Hochzeit nicht vorgestellt. Aber sie waren jetzt Mann und Frau, nichts anderes war von Bedeutung. Sechs Stunden später trafen sie wieder in Phoenix ein. Während der Fahrt hatten sie kaum miteinander gesprochen. Caitlin, die in Graham wie in einem offenen Buch lesen konnte, wusste, dass er in Ruhe über alles nachd enken musste. Es war besser, ihn mit seinen Gedanken allein zu lassen. Außerdem hatte er das Radio angestellt. Country- and Western- Music begleitete sie auf ihrem Weg zurück nach Hause. Wehmütig hörte Caitlin den Melodien zu, die von Herzschmerz und anderen Nachteilen der Liebe handelten. Darüber kann ich selbst ein Lied singen, dachte sie mit einem Anflug von Ironie. Ein Blick auf Grahams verschlossenes Gesicht überzeugte sie davon, dass sich nichts geändert hatte. „Wohin fahren wir eigentlich?" Plötzlich fiel ihr auf, dass sie gar nicht wusste, wo er wohnte. In der letzten Zeit hatten sich die Ereignisse derart überschlagen, dass für diese simplen Fragen kein Raum gewesen war. „Nach Hause natürlich." Ja, aber was bedeutete das? Meinte er jetzt seine Wohnung oder ihre? Sein Ton ließ darauf schließen, dass er vorhatte, sie zu ihrem Haus zu bringen. Wofür hielt er sie eigentlich - für eine Leihgabe? Widerspruch regte sich in Caitlin. Nein, so wollte sie sich nicht behandeln lassen. „Du fährst zu mir?" „Ja, selbstverständlich. Hast du etwas dagegen?" Er hatte angenommen, dass sie sich umziehen und frisch machen wollte. Wahrscheinlich freute sie sich schon darauf, wieder in ihrer gewohnten Umgebung zu sein. Nichts von dem, was in den letzten achtundvierzig Stunden passiert war, war so geplant gewesen. Graham nahm an, dass Caitlin Zeit für sich brauchte, um alles zu verarbeiten. Ihm ging es jedenfalls so. Aber sie schüttelte energisch den Kopf. „Oh. nein, mein Lieber. Vielleicht hast du es ja schon wieder vergessen, aber wir sind nun verheiratet. Und das bedeutet, deine Wohnung ist auch meine Wohnung." Wollte er sie jetzt einfach abservieren? Was war nur mit Ihm los? Warum machte er auf einmal alles so kompliziert? Sie kannte Graham gar nicht wieder. Früher ist alles viel einfacher gewesen, dachte sie. Da hatten sie sich erkannt, zwei Seelen, die einander gefunden hatten. Was sollte daran jetzt anders sein? Caitlin biss sich auf die Lippe. Sie hatte keine Lust, in dieser Situation diplomatisch zu sein. „Da ich nun deine Frau bin, ist es doch normal, dass wir zusammen wohnen", setzte sie mit weicher Stimme hinzu. Sie wollte nicht allein in ihrer großen Wohnung herumsitzen und grübeln. Irgendwann mussten sie ja einmal ihr gemeinsames Leben beginnen, und wenn sie es jetzt nicht taten, wann dann? Egal wie ungelenk die ersten Schritte in ihr Eheleben sein würden, wenn sie sie gemeinsam machten, würde alles besser gehen, davon war Caitlin fest überzeugt. „Außerdem", fuhr sie gespielt munter fort, „würde ich sehr gern deine Mutter und Jake kennen lernen."
Sie mussten an einer roten Ampel halten. Graham überlegte fieberhaft, wie er sich aus dieser Schlinge ziehen konnte. Aber er sah keinen Ausweg. Deshalb kehrte er an der nächsten Kreuzung um und schlug den Weg zu seiner Wohnung ein. Caitlin hatte es schließlich so gewollt. Hoffentlich wusste sie, was sie tat. „Für wann ist eigentlich der Gerichtstermin angesetzt?" fragte sie nach einer Weile, als das Schweigen zu drückend wurde. Der Gerichtstermin, natürlich! Wieder erschien vor Grahams geistigem Auge das Schreckgespenst von Jakes möglichem Verlust. Und dann musste er sich wieder zwingen, daran zu denken, aus welchem Grund Caitlin diese Ehe eingegangen war. Es hatte nichts mit Liebe oder Leidens chaft zu tun, obwohl tief in seinem Innern tatsächlich eine ungestillte Sehnsucht nach einer intakten Familie brannte. Nein, dies war ein Handel, ein ganz gewöhnlicher Handel. Caitlin tat ihm einen Gefallen, und er würde sich erst dann wieder revanchieren können, wenn er ihr ihre Freiheit zurückgeben konnte. „Am Mittwoch", erwiderte er einsilbig. Heute war Samstag. Das bedeutete, sie hatte nicht viel Zeit, um sich in Grahams Familie einzuleben. Aber nichts ist unmöglich, dachte sie optimistisch. „Sag mir wann, und ich werde bereit sein." Sie lächelte ihn an. „Und mach dir bitte keine Sorgen mehr. Falls du es vergessen hast, möchte ich dich daran erinnern, dass meine Familie in dieser Stadt einen sehr guten Namen hat. Die Cassidys gehören zu den Gründungsvätern dieses Staates und haben sich seit Jahren politisch und sozial engagiert. Bestimmt weiß der Richter das auch und wird es in seine Überlegungen miteinbeziehen. Niemand wird dir Jake wegnehmen, das verspreche ich dir!" Wie könnte ich Caitlins Hintergrund vergessen, dachte Graham mit einem Anflug von Bitterkeit, als er in die schmale Straße einbog, die zu seinem Haus führte. Genau da lag ja auch das Problem. Eine Weile war ihm gelungen, es zu verdrängen. Aber innerlich hatte er immer gewusst, dass es irgendwann hochkommen würde. Wahrscheinlich werde ich nie wiedergutmachen können, was Caitlin für mich getan hat, dachte Graham. Aber er konnte es wenigstens versuchen. Und das bedeutete, er musste sie auf Abstand halten. Er durfte seinen privaten Bedürfnissen nicht nachgeben. Allerdings war das leichter gesagt als getan. Graham parkte den pinkfarbenen Cadillac vor seinem Haus, machte jedoch noch keine Anstalten, auszusteigen. Er wollte Caitlin eine letzte Chance geben, ihre Meinung zu ändern. Tatsächlich hielt er es für besser, sie in ihre Wohnung zu bringen. Plötzlich fiel ihm auf, dass der Wagen nach ihrem Parfüm duftete. Das machte es ihm noch schwerer, sein Anliegen vorzubringen. „Caitlin, ich ... das ... du solltest wissen, dass das jetzt wahrscheinlich nicht leicht ist." „Ach, komm, Graham, sieh doch nicht alles so schwarz! Wir haben doch schon ganz andere Sachen hinter uns gebracht. Du musst mich einfach nur vorstellen, und du wirst sehen, alles andere ergibt sich ganz von selbst." Sie glaubte es zwar selbst nicht ganz, aber es war wichtig, sich jetzt nicht entmutigen zu lassen. „So, denkst du?" gab Graham zurück und schüttelte den Kopf. „Da bin ich mir nicht so sicher." „Bist du jetzt nicht mein Mann?" fragte sie herausfordernd. „Gemeinsam können wir uns der ganzen Welt stellen." Ja, das klang gut, und er hätte es auch am liebsten geglaubt. Aber er konnte es einfach nicht. „Cait. ich ..." Sie legte ihm den Finger auf die Lippen und schüttelte den Kopf. „Nein, sag jetzt bitte nichts. Komm, ich möchte sehen, wie du lebst." Achselzuckend stieg Graham aus und begleitete Caitlin bis zur Tür. Obwohl sie sich
nach außen hin so mutig gezeigt hatte, war sie plötzlich doch ganz schön nervös. Es lag ihr so viel daran, dass seine Familie sie mochte. Und auch sie wollte sich um ein harmonisches Familienleben bemühen. Caitlin hatte zwar ihren Stammbaum, auf den vor allem ihre Mutter sehr stolz war. Aber außer von ihrem Vater hatte sie nie viel Zuneigung erfahren. Doch das soll sich jetzt ändern, sagte sie sich. Graham fiel natürlich auf, wie blass sie aussah - blass und entschlossen, dachte er. Ein großes Gefühl der Zärtlichkeit überfiel ihn, und er hätte sie am liebsten in den Arm geschlossen. Aber jetzt mussten sie erst einmal die nächste Feuerprobe bestehen. Dennoch drückte er kurz ihre Hand, bevor er seinen Schlüssel herausnahm und aufschloss. Caitlin sah ihn gespannt an und wollte ihn gerade etwas fragen, da kam ein kleines Energiebündel auf sie zugerast und hing im nächsten Moment an Grahams Hals. „Hey, was ist los, kleiner Mann?" fragte Graham überrascht und tätschelte seinem Sohn den Kopf. Jake zeigte ihm zwar immer, dass er sich über seine Heimkehr freute, aber ein so enthusiastischer Empfang war auch bei ihm selten. Der Junge hatte das Gesicht an Grahams Schulter gepresst. Er wusste, dass ein Indianer seine Furcht nicht zeigen sollte. Das hatten ihm schließlich sowohl sein Vater als auch seine Großmutter beigebracht. Aber aus irgendwelchen Gründen hatte er es doch mit der Angst bekommen, als Graham am letzten Abend nicht nach Hause gekommen war. Angst, dass man ihn zum zweiten Mal verlassen hätte. „Dad! Ich hatte Angst, dass du nie wiederkommen würdest!" Graham hielt seinen Sohn auf Armeslänge und sah ihn ernsthaft an. „Hey, wie kommst du denn darauf? Ich habe doch gesagt, dass ich heute wieder da bin." Jake nickte. „Ja, aber man weiß ja nie, was alles passiert." Was alles passiert... Graham wusste, woran der Junge gedacht hatte. Er hatte ja selbst keine Worte gefunden, um ihm damals Celias plötzliches Verschwinden zu erklären. Seitdem traute Jake Erwachsenen wahrscheinlich nicht mehr über den Weg. Er konnte ja nicht wissen, dass Graham seinen kleinen Jungen niemals im Stich gelassen hätte, komme, was wolle. „So etwas passiert nie, das verspreche ich dir", sagte er fest und setzte Jake ab. Das schien den Jungen zu beruhigen. Jetzt erst bemerkte er, dass Graham nicht allein gekommen war. „Und wer ist das?" fragte er erstaunt. Noch bevor Graham antworten konnte, hatte Caitlin sich schon zu ihm hinabgebeugt. „Hallo, Jake, mein Name ist Caitlin." Er hatte tiefbraune Augen, genau wie Graham. „Dein Vater hat mir schon viel von dir erzählt." Jake nickte lächelnd, aber so schnell ließ er sich nicht einwickeln. Wieder wandte er sich an seinen Vater. „Wer ist sie, Dad? Und was will sie hier?" Caitlin sah das Unbehagen in Grahams Blick. Ist es denn so schwer, ihm zu erklären, dass ich deine Frau bin? Sie sah Jake weiterhin an, während Graham noch nach den richtigen Worten suchte. „Ich bin gekommen, um dafür zu sorgen, dass du für immer bei deinem Daddy bleiben kannst", erklärte sie. Jake sah sie mit großen Augen an. „Bist du eine Fee?" „Gar nicht so schlecht geraten", meinte Graham mit dem Anflug eines Lachens. „Du bist auf der richtigen Spur." „Wirklich?" Der Junge kam aus dem Staunen nicht heraus. Aber Caitlin wusste, es war nicht fair, ihn so aufzuziehen. „Nein, doch was ich gesagt habe, stimmt trotzdem. Ich werde dafür sorgen, dass du bei deinem Dad bleiben kannst, Jake." Mit diesem Versprechen war es ihr wirklich ernst. Nun, da sie den Jungen gesehen
hatte, verstand sie Graham noch besser. Die Liebe zwischen den beiden war nicht zu übersehen. Sie gehörten zueinander. Und sie würde alles tun, damit das auch so blieb. Caitlin wusste zwar, dass es Graham gewiss nicht gefallen würde, wenn sie ihre gesellschaftliche Stellung ausspielte, aber das war egal. Wichtig war allein, dass die beiden nicht auseinandergerissen würden. Mit einemmal fiel ihr auf, dass noch eine zweite Person erschienen war, die die Wiedersehensszene aus dem Hintergrund beobachtet hatte. Die imposante Frau trug eine rote Bluse und einen weiten, blauen Rock, der fast bis zum Boden reichte. Ihr blauschwarzes Haar war noch von keiner einzigen grauen Strähne durchzogen, und sie trug es zu zwei dicken Zöpfen gebunden. Das war also Grahams Mutter. Mit allem Mut, den sie aufbringen konnte, lächelte Caitlin ihr zu. Die andere Frau betrachtete sie sorgfältig vom Kopf bis zu den Füßen. Aber ihr Lächeln wurde nicht erwidert. Die Ähnlichkeit ist nicht zu leugnen, dachte Caitlin. Die hohen Wangenknochen, die kerzengerade Haltung, der unbeugsame Blick. Plötzlich fiel ihr wieder auf, wie nervös sie war. Hilfesuchend wandte Caitlin sich an Graham. Den nächsten Schritt musste jetzt er tun. Er löste sich sanft von seinem Sohn und umarmte seine Mutter. „Hallo, Ma." Lily blickte Caitlin noch immer unverwandt an. „Du hast Besuch mitgebracht." Graham zögerte kurz, er wusste wirklich nicht, wie er ihr die Nachricht vermitteln sollte. Nach ihrer eigenen gescheiterten Ehe war Mrs. Redhawk strikt gegen Mischehen. „Sie ist ein bisschen mehr als Besuch, Ma", begann Graham zögernd. Endlich sah seine Mutter ihn an. Er brauchte ihr nichts zu erklären, sie wusste sofort, was los war. Schließlich war Graham ihr Sohn. Sie kannte ihn bis auf den Grund seiner Seele. „Ist sie dieselbe Frau, die du damals geliebt hast?" fragte sie aufmerksam. Caitlin hatte das Gefühl, als wäre sie gar nicht anwesend, als würden sie über einen unbekannten Dritten sprechen. Aus dem Klang von Lilys Stimme ließ sich nichts schließen. Wenn sie nur ein wenig von ihrer Geschichte wusste, war es nicht verwunderlich, dass sie ihr keinen allzu warmen Empfang bereitete. Caitlin fröstelte plötzlich. Sie hatte sich das alles einfacher vorgestellt. „Ja, aber damals gab es einige Missverständnisse", beeilte sie sich zu sagen. Grahams Mutter schien an ihrer Erklärung nicht sonderlich interessiert zu sein. „Das sagen alle jungen Leute", meinte sie gleichmütig. Noch immer wartete sie darauf, dass ihr Sohn ihr klarmachte, was diese junge Frau in ihrem Heim zu suchen hatte. Einem Heim, das sie mit ihm und Jake teilte. „Ma, Jake", begann Graham, dann verstummte er wieder. Hilfesuchend sah er seinen kleinen Sohn an, als würde er von ihm eine Antwort erwarten. Keiner der drei rührte sich. Caitlin war kalt, sie fühlte sich wie ein ungebetener Besucher. Was war nur los mit Graham? Da ging plötzlich ein Ruck durch ihn, und er griff nach ihrer Hand. „Caitlin und ich haben gestern Abend geheiratet", verkündete er. Besonders Jake schien wie vom Donner gerührt. Grahams Mutter nahm diese sensationelle Ankündigung unbewegt auf. Caitlin fühlte sich bemüßigt, noch etwas hinzuzufügen. „Es ... es ist nur für kurze Zeit", sagte sie. „Graham muss den Richtern beweisen, dass er Jake ein stabiles Familienleben bieten kann. Daher habe ich eingewilligt, ihn zu heiraten. Außerdem hat meine Familie ziemlichen Einfluss in der Stadt." Jake schien völlig verwirrt zu sein. Er sah zwischen Graham und Caitlin hin und her. Caitlin gefiel ihm, sie war hübsch und hatte ein warmes Lächeln. Aber das hatte seine
Mutter auch gehabt, und sie hatte ihn trotzdem verlassen. „Heißt, das, dass du jetzt meine Mutter bist?" fragte er ängstlich. „Wenn dir das gefällt, wäre ich das sehr gerne", erwiderte Caitlin vorsichtig. Jake presste die Lappen aufeinander. „Ich denk mal drüber nach." Er klingt wie Grahams Sohn, dachte sie. „Ach, übrigens, Ben hat angerufen", sagte Lily unvermittelt. „Er meinte, du solltest die Gerichtsverhandlung nicht vergessen." Oh, Gott, das hatte er ja ganz vergessen! Natürlich, er musste um drei Uhr im Gericht sein. „Danke, Ma." Graham wandte sich zum Gehen. Das konnte doch nicht wahr sein! Er konnte sich doch jetzt nicht einfach aus dem Staub machen! Plötzlich wurde Caitlin von Panik ergriffen. Sie wollte nicht mit dieser feindseligen Frau und dem kleinen Jungen allein gelassen werden. „Aber du hast doch gesagt, du könntest heute freimachen", protestierte sie schwach. „Tut mir leid, ich habe ganz vergessen, dass ich als Zeuge aussagen muss", erwiderte Graham. Es war ihm zwar auch nicht lieb, sie jetzt verlassen zu müssen, doch leider hatte er keine andere Wahl. Und wer weiß, vielleicht gewöhnten sich die drei ohne ihn ja auch schneller aneinander. „Bis heute Abend also", sagte er und wandte sich zur Tür. „Viel Glück", meinte er noch zu Caitlin, dann war er verschwunden. Graham ist mir wirklich eine große Hilfe, dachte sie enttäuscht. Als sie mit Jake sprechen wollte, drehte dieser sich um, ging in sein Zimmer und knallte die Tür hinter sich zu. Nur Grahams Mutter blieb zurück. Die beiden Frauen sahen sich eine Weile unverwandt an, und Caitlin zerbrach sich verzweifelt den Kopf nach einem geeigneten Gesprächsthema. Doch noch bevor ihr etwas eingefallen war, tat Lily Redhawk es ihrem Enkelsohn nach. Auch sie ging schweigend in ihr Zimmer und machte sanft die Tür hinter sich zu. „Da war es nur noch eins", sagte Caitlin betroffen. Wenn die Situation nicht so ernst gewesen wäre, hätte sie fast gelacht. Das war ja wirklich absurd! Hier stand sie nun als Grahams Frau in seinem Flur herum, und niemand wollte etwas mit ihr zu tun haben. Caitlin war zum Heulen zumute, aber sie riss sich zusammen. Was sollte sie jetzt nur machen? Ich muss unbedingt mit jemandem reden, dachte sie. Mit jemandem, der ihr freundlich gesonnen war. Nach einigem Suchen entdeckte sie im Wohnzimmer ein Telefon. Hoffentlich ist Kerry im Laden, dachte Caitlin und wählte die Nummer ihres Geschäfts. „Ja, hier ,Seduction', exklusive Dessous. Womit kann ich dienen?" „Kerry?" Caitlin war so erleichtert, die Stimme ihrer Freundin zu hören. „Caitlin! Wo bist du?" „Du wirst nie glauben, was passiert ist." „Ach, nein?" Kerry lachte. „So wie du dich anhörst, hattest du noch eine weitere heiße Nacht mit ihm, stimmt's?" „Nein, es kommt noch besser. Stell dir vor, Graham und ich haben gestern Abend in Las Vegas geheiratet." Es gab eine kleine Pause am anderen Ende der Leitung. „Nicht schlecht", meinte Kerry beeindruckt. „Ich muss sagen, du verlierst wirklich keine Zeit." „Nein, es ist nicht, wie du denkst", beeilte Caitlin sich zu erklären. „Seine Exfrau macht ihm die Hölle heiß, sie will ihren Adoptivsohn zurückhaben. Ich habe Graha m angeboten, mich zu heiraten, damit er vor Gericht bessere Chancen hat." „Auch wenn das wirklich der Grund sein sollte ... ich kann dir nur gratulieren. Herzlichen Glückwunsch, meine Liebe. Ich habe wirklich das Gefühl, du hättest keine bessere Wahl treffen können." Unwillkürlich fiel Caitlins Blick auf ihren Plastikring, und plötzlich hatte sie Tränen
in den Augen. „Ich liebe ihn so, Kerry", flüsterte sie mit erstickter Stimme. „Aber das ist doch wunderbar", erklärte die Freundin. „Kannst du mir dann bitte einmal sagen, warum du so unglücklich klingst?" „Weil Graham mich hier in seiner Wohnung einfach stehengelassen hat. Seine Mutter und sein Sohn sind auf ihre Zimmer gegangen, und ich stehe hier herum wie bestellt und nicht abgeholt." „Dann kann ich dir nur einen guten Rat geben." Kerry machte eine kleine Pause. „Du musst dir deine Feinde zu Freunden machen. Das ist das einzige, was funktioniert." „Ja, vielleicht hast du recht", erwiderte Caitlin zögernd. Leichter gesagt, als getan, dachte sie. Kerry hatte den verunsicherten Blick von Jake und die feindselige Haltung seiner Großmutter nicht miterlebt. „Hör zu, Caitlin - wenn du es mit deiner Mutter aufnehmen kannst, ist der Rest doch wohl ein Kinderspiel, oder?" Gegen ihren Willen musste Caitlin lachen. Ach, Kerry hatte eine so herzerfrischende Art! Nach einem Gespräch mit ihr fühlte man sich immer besser. Und natürlich stimmte, was sie gesagt hatte. Im Vergleich zu ihrer Mutter war Lily Redhawk nur ein kleiner Fisch. „Ich glaube, ich werde heute nicht ins Geschäft kommen." „Ja, das habe ich mir schon gedacht. Kein Problem, Caitlin. Aber halt mich auf dem laufenden, ja?" „Gut, wird gemacht!" Sie legte den Hörer auf die Gabel und sah unschlüssig hinüber zum Zimmer ihrer Schwiegermutter. Für die bevorstehende Konfrontation brauchte sie all ihren Mut. Aber wer nichts wagt, der nicht gewinnt, dachte sie und ging entschlossen zur Tür.
14. KAPITEL Dennoch zögerte Caitlin kurz, bevor sie sich entschied, anzuk lopfen. Vielleicht wäre es besser, das Feld zu räumen und ein anderes Mal wiederzukommen. Sie wollte Grahams Mutter nicht zuviel zumuten. Möglicherweise musste sie sich erst, an den Gedanken, dass ihr Sohn nun verheiratet war, gewöhnen. Sollte sie ihr diese Zeit nicht geben? Caitlin schüttelte den Kopf. Das war doch gar nicht ihre Art, so zaghaft zu sein. Außerdem hatte sie das Gefühl, dass die Sache nur schlimmer werden würde, wenn man sie unnötig verzögerte. Ihre eigene Angst würde mit Sicherheit nicht von selbst verschwinden. Natürlich war es nicht einfach, einer Frau gegenüberzutreten, die sich entschlossen hatte, sie nicht zu mögen. Nur der Gedanke an Graham half ihr dabei, ihren Entschluss in die Tat umzusetzen. Sie wollte, dass ihre Ehe ein Erfolg würde. Und der erste Schritt bestand offensichtlich darin, seine Mutter von der Richtigkeit seiner Wahl zu überzeugen. Caitlin klopfte sanft an die Tür. Das Herz schlug ihr bis zum Halse, aber sie gab sich alle Mühe, ihre Nervosität zu ignorieren. Als niemand antwortete, wollte sie ein zweites Mal anklopfen. „Kommen Sie herein!" Grahams Mutter hatte eine sanfte Stimme, aber man merkte ihr ihre Autorität an. Caitlin holte tief Luft, öffnete die Tür und trat ins Zimmer. Lily Redhawks Schlafzimmer glich einer Mönchszelle. Die bunte Patchworkdecke auf dem Bett bildete den einzigen Farbfleck. Ansonsten war der Raum nur spärlich möbliert. Lily hatte den Rücken zur Tür gewandt. Auf dem Bett lag ein alter Lederkoffer. Anscheinend war sie gerade am Packen. Caitlin fuhr sich nervös über die Lippen. Sie waren ungewöhnlich trocken, genau wie ihre Kehle. „Mrs. Redhawk ..." Lily blickte auf und sah sie scharf an. Sie hielt ein Kleid in der Hand. „Früher war ich Mrs. Warren", korrigierte sie Caitlin ungerührt. „Redhawk ist der Name meines Vaters. Und der meine." Wie sollte sie sie dann nennen? Etwa Mom? Irgendetwas sträubte sich in Caitlin dagegen. Sie hatte auch nicht den Eindruck, als wäre dies in Mrs. Redhawks Sinn gewesen. Außerdem wollte sie natürlich wissen, was Grahams Mutter plante. „Wollen Sie ... haben Sie vor, zu verreisen?" Lily faltete das Kleid sorgfältig zusammen und legte es ebenfalls in den Koffer. „Natürlich. Ich reise ab. Ich gehe zurück ins Reservat zu meiner Familie." Obwohl sie es nicht eilig zu haben schien, musste sie diesen Entschluss doch erst in den letzten Minuten gefasst haben. In Caitlins Kopf überschlugen sich die Gedanken. Sie wusste nicht, wie sie ihre Frage in richtige Worte fassen sollte. „Wollen Sie dort jemanden besuchen?" Lily schüttelte den Kopf. Während der ganzen Zeit hatte sie vermieden, Caitlin anzuschauen. „Nein. Ich gehe zurück, um wieder dort zu leben." Oh, das war ja phantastisch! Sie war erst seit zehn Minuten da, und schon entschloss sich Grahams Mutter, ihretwegen das Haus zu verlassen. Caitlin konnte sich vorstellen, wie Graham diese Neuigkeit auffassen würde. Aber das durfte nicht geschehen! Sie musste seine Mutter dazu kriegen, ihre Meinung zu ändern. „Etwa meinetwegen?" Lily hielt kurz an, dann packte sie weiter. „Sie sind jetzt die Frau hier. Eine Mutter wird nicht mehr gebraucht." Caitlin wusste nicht, was sie dazu sagen sollte. Verwirrt fuhr sie sich mit der Hand durchs Haar. Natürlich hatte sie nicht erwartet, mit offenen Armen aufgenommen zu werden. Dafür war die Hochzeit ja auch viel zu plötzlich gekommen. Aber mit dieser
feindseligen Haltung hatte sie nicht gerechnet. Es lag ihr völlig fern, irgendjemanden zu vertreiben. Im Gegenteil, sie wünschte sich ja eine intakte Familie, und da gehörte die Großmutter unbedingt mit zu. Was sollte sie nur tun? Wie konnte sie die andere Frau nur von ihren guten Absichten überzeugen? Entschlossen ging sie ums Bett herum und stellte sich vor Lily auf. Jetzt konnte ihre Schwiegermutter nicht anders, sie musste sie ansehen. „Eine Mutter wird immer gebraucht", widersprach sie warm. Lily Redhawk hob die Augen und sah Caitlin unverwandt an. Der Blick schien eine Ewigkeit zu dauern. Caitlin hatte das Gefühl, als würde sie bis auf den Grund ihrer Seele hin geprüft. Mit dem Mut der Verzweiflung fuhr sie fort: „Graham würde es bestimmt nicht gefallen, wenn er zurückkäme, und Sie wären verschwunden. Und auch Jake braucht Sie. Ich weiß, es kommt alles ein bisschen überraschend, aber ich möchte hier wirklich nicht der Eindringling sein. Trotz unserer Hochzeit werde ich natürlich weiter in meinem Geschäft arbeiten. Und ich bin mir sicher, auch Graham wünscht, dass es keinerlei Veränderungen gibt." Bittend sah sie die ältere Frau an. „Deshalb bin ich auch hier. Damit alles so bleiben kann, wie es ist." Lily hatte mit dem Packen aufgehört. „Ist das der einzige Grund?" fragte sie ruhig. Achselzuckend erwiderte Caitlin: „Das ist jedenfalls der Hauptgrund, was Graham betrifft." Lily machte eine kurze Pause. Alles, was nicht gesagt worden war, hing in der Luft. „Und warum haben Sie ihn geheiratet?" Caitlin hatte das Gefühl, als könnte sie ihrer neuen Schwiegermutter nichts vormachen. Das wollte sie auch gar nicht. Sie war noch nie eine gute Lügnerin gewesen, und in diesem Fall hielt sie es für mehr als wichtig, die Wahrheit zu sagen. „Ich ... Ihr Sohn bedeutet mir sehr viel, Mrs. Redhawk." Caitlin holte tief Luft. „Und das war schon immer so." „Aber damals sind Sie davongelaufen." Ach, sie wusste also Bescheid. Caitlin fragte sich, wie viel Lily Redhawk von ihrer Geschichte wusste. Wahrscheinlich genug, Um sie in Bausch und Bogen zu verurteilen. „Ich dachte, Graham hätte mich verlassen", erwiderte sie stockend. „Das Ganze war ein großes Missverständnis. Leider haben wir beide das damals nicht durchschaut." Lily nickte verständnisvoll. Sie dachte an ihre eigene gescheiterte Ehe. Und wie heute klangen ihr noch die Worte ihres Vaters im Ohr, der sie von Anfang an vor dieser Verbindung gewarnt hatte. Aber hatte sie auf ihn hören wollen? Oh, nein. Natürlich dachte sie, dass sie es besser wüsste. „Ja, das kenne ich*', sagte sie freundlich. „Wenn die Gefühle einem den Kopf verdrehen, macht man oft die größten Fehler." „So ist es." Erleichtert ließ Caitlin sich auf dem Bett nieder. Sie hatte den Eindruck, als hätte sie ein klein wenig an Boden gewonnen. „Doch das alles gehört der Vergangenheit an. Jetzt sind wir verheiratet, und ich brauche Ihre Hilfe, damit es funktioniert." Lily sah sie überrascht an. Damit hatte sie anscheinend nicht gerechnet. „Warum?" Sie klang misstrauisch, aber das war ja auch kein Wunder. „Sie ... Sie müssen mir helfen, einen Weg zu finden." „Welchen Weg? Den Weg zu seinem Herzen?" Da war es, das, was Caitlin selbst nicht hätte formulieren können. Manchmal ist es wirklich ganz einfach, dachte sie. „Ja, genau." Dann weiß sie es nicht, dachte Lily. „Aber er liebt Sie doch." Caitlin schüttelte den Kopf. Seine Mutter wusste nicht, wovon sie sprach. Vielleicht hatte das früher einmal gestimmt, aber inzwischen hatten sich die Dinge verändert.
Graham hatte sein Herz längst verschlossen, auch vor ihr. Sie starrte unverwandt auf die hübsche Patchworkdecke und strich bewundernd darüber. Es war ein handwerkliches Meisterstück. „Nein, da irren Sie sich, Mrs. Redhawk. Graham hat mit der Vergangenheit abgeschlossen. Er glaubt, es war richtig, dass wir uns damals getrennt haben." Wiederum musste Lily an ihre eigene Ehe denken. An die Trauer, die Frustration und die vielen Kämpfe, die an die Stelle ihres ursprünglichen Glücks getreten waren, bis beide das Gefühl hatten, als wäre alles nur eine Illusion gewesen. „Vielleicht hat er ja recht", meinte sie vorsichtig. Caitlin blickte auf. Kämpferischer Mut lag in ihrem Blick. Lily war beeindruckt. Soviel Energie hätte sie der jungen Frau nicht zugetraut. „Nein, Mrs. Redhawk. Das stimmt nicht, und in seinem Herzen weiß Graham es auch. Aber ich muss ihn irgendwie davon überzeugen, dass ich ein Mensch aus Fleisch und Blut bin - genau wie er. Und dass ich nicht auf dieses Podest gehöre, auf das er mich immer stellen will, weil er glaubt, ich hatte etwas Besseres verdient als ein Leben mit ihm." Impulsiv ergriff Caitlin die Hände der älteren Frau und drückte sie. „Wenn nun seine eigene Mutter ihn unseretwegen verlässt, wird es sehr schwer für mich sein, ihn vom Gegenteil zu überzeugen. Er wird denken, ich hätte sie vertrieben, und das wird alles noch viel schwieriger machen." „Niemand vertreibt mich." Aufmerksam betrachtete Lily noch einmal Caitlins Gesicht. Dann entzog sie ihr sanft, aber bestimmt ihre Hände. Und schließlich drehte sie sich um und nahm das Kleid wieder aus dem Koffer. Erleichtert blickte Caitlin sie an. „Vielen Dank." Lily nickte schweigend. Caitlin spürte, es war jetzt besser, wenn sie sie allein ließ. Taktvoll erhob sie sich. „Dann bis später, Mrs. Redhawk." Als Caitlin bereits an der Tür war, kam die Antwort. „Du kannst mich Lily nennen." Überrascht drehte Caitlin sich um und lächelte. Tatsächlich, sie hatte sie mit ihren offenen Worten erreichen können. „Lily", wiederholte sie andächtig. „Was für ein wunderschöner Name!" „Es ist nur ein Name", entgegnete Grahams Mutter achselzuckend. Caitlin wollte sie nicht länger beim Auspacken stören. Sie war froh über ihren Erfolg und wollte den Bogen nicht überspannen. Außerdem gab es da ja auch noch einen anderen Kandidaten, den sie für ihre Sache gewinnen musste. Jakes Zimmer lag am anderen Ende des Korridors. Caitlin hatte das gleiche ungute Gefühl im Magen wie zuvor bei Lily, aber sie wusste, sie hatte keine andere Wahl. Und dass Jake noch ein kleiner Junge war, bedeutete gar nichts. Sie hatte gesehen, wie sehr Graham ihn liebte, daher war seine Zustimmung auch so wichtig für sie. Caitlin klopfte an Jakes Zimmertür, und als keine Antwort kam, machte sie sie langsam auf. Der Junge saß auf dem Boden und spielte mit indianischen Holzfiguren. Besonders eine davon fiel ihr auf. Sie stellte einen Mann dar, der halb Mensch und halb Adler war. Zaghaft lächelte sie ihrem Stiefsohn zu. „Hallo." „Hallo", entgegnete Jake und sah sie abwartend an. Caitlin ließ sich neben ihm auf dem Boden nieder. „Ich wollte nur mal nach dir schauen. Was machst du?" „Das siehst du doch", entgegnete er eine Spur verächtlich. „Ich spiele gerade." Er ignorierte sie und fuhr mit seinem Spiel fort. Aber nach ein paar Minuten gab er auf. So ging das nicht, er konnte mit den Figuren nicht weitermachen, wenn jemand dabei war. Ärgerlich legte er sie zur Seite und sah Caitlin an. „Wirst du wirklich meine Mutter sein?" „Na klar, wenn du möchtest." Und? Wollte er das? Caitlin hatte das Gefühl, als würde
sie sich auf sehr dünnem Eis bewegen. „Und?" bohrte sie nach, als Jake nicht reagierte. „Möchtest du das?" Achselzuckend gab er zurück: „Keine Ahnung." Plötzlich erkannte Caitlin, dass dies nur ein Schutzmechanismus war. Sie hatte in seine Augen gesehen, und diese sprachen eine beredte Sprache. Hier war ein Kind, das sich geradezu verzehrte nach der Liebe einer Mutter. Aber etwas hielt ihn davon zurück, dies auch zuzugeben. „Wieso weißt du das nicht?" fragte sie behutsam. „Weil ... wenn du meine Mutter wirst, mag ich dich vielleicht, und dann ..." Caitlin hob eine der Figuren auf und tat so, als würde sie sie stud ieren. Es war ein Krieger mit Pfeil und Bogen. „Und dann?" „Na ja, dann könntest du vielleicht abhauen", entgegnete Jake unbehaglich. „Genau wie Celia. Wie meine Mutter, die ist auch ..." Plötzlich begann seine Unterlippe zu zittern, und seine Augen füllten sich mit Tränen. „Oh, entschuldige, Jake, das wollte ich nicht, ich ..." Caitlin wollte ihm gerade versichern, dass sie ihn niemals verlassen würde. Aber eine innere Stimme warnte sie davor. Vielleicht war es ja auch nicht fair, denn was sollte sie tun, wenn ihre Ehe trotz aller guten Absichten nicht funktionierte? Schließlich hatte sie ein Abkommen mit Graham - ein Abkommen auf Zeit. Doch das konnte sie dem kleinen Jungen nicht erklären. Er war einmal verletzt worden, und das durfte nicht noch einmal geschehen. Nun, da sie Jake getroffen hatte, konnte Caitlin auch erst den Schaden ermessen, den Celias Schritt ausgelöst hatte. „Ich werde nicht gehen, wenn du es nicht willst", sagte sie weich. Er sah sie zweifelnd an, aber Caitlin spürte, dass er ihr glauben wollte. „Versprichst du mir das?" „Ich verspreche es dir." Ein paar Minuten lang konnte sie nichts sagen, denn sie hatte einen dicken Kloß im Halse. „Deswegen würde ich mich auch sehr freuen, wenn wir beide Freunde würden." Sie streckte die Hand aus und fuhr dem Jungen über die braunen Locken. „Na gut, ich werd's mir überlegen." Aber er lächelte. Wieder hatte Caitlin das Gefühl, als hätte sich ihr Entschluss, den Stier bei den Hörnern zu packen, bezahlt gemacht. Erleichtert wandte sie sich den Figuren zu und hob eine nach der anderen auf. „Wer ist das?" „Das ist Sprechender Hirsch." Jake zeigte ihr auch die anderen Figuren. „Und das ist die Kornfrau." Er selbst war mit diesen Geschichten groß geworden und wunderte sich immer wieder, dass nicht alle sie kannten. „Weißt du das denn nicht? Hast du nie mit ihnen gespielt?" Bedauernd schüttelte Caitlin den Kopf. „Nein, leider nicht. Ich hatte nur Barbie und Ken." Jake sah sie mitleidig an. Dann hob er, einem plötzlichen Impuls gehorchend, die Kornfrau auf und gab sie Caitlin. „Die kannst du behalten", erklärte er. „Jedenfalls, solange du bei uns bist." Caitlin lachte. Oh, Jake war gerissen. Das war eindeutig ein Bestechungsversuch. Anscheinend gefiel sie ihm doch recht gut, und er wollte, dass sie blieb. Diese Erkenntnis gab ihr neuen Mut. „Danke sehr", sagte sie erfreut. Dann gab sie ihm die Figur zurück. „Aber ich glaube, im Moment ist sie bei dir besser aufgehoben. Würdest du sie für mich aufbewahren?" Jake nickte ernsthaft und verstaute sie wieder in seinem Kasten. Caitlin verspürte so etwas wie Bedauern. Wenn Graham und sie damals geheiratet hätten, hätten sie jetzt vielleicht einen Sohn in seinem Alter. „Hättest du ... hast du etwas dagegen, wenn ich dich kurz umarme?" fragte sie verlegen. „Warum?" entgegnete Jake überrascht.
„Weil ich das so gern tun würde." Der Junge ist weit für sein Alter, erkannte sie. Aber war das überraschend bei Grahams Sohn? Er überlegte, dann zuckte er mit den Schultern. „Na gut, wenn du willst." Vorsichtig packte er auch die anderen Figuren weg. Dann zog Caitlin ihn an sich und hielt ihn lange umfangen. Es war wundervoll, ein Kind im Arm zu halten, ein Kind, dem auch Grahams ganze Liebe gehörte. Sie schwor sich, alles zu tun, damit aus ihnen eine glückliche Familie wurde. Dann ließ sie ihn ganz langsam los. Die beiden lächelten sich an, doch es war auch etwas Verlegenheit dabei. „Du riechst gut", meinte er bewundernd. Lachend erhob sich Caitlin. „Vielen Dank!" Plötzlich hörte sie einen Gesang. Er kam direkt durchs Fenster aus dem Innenhof. Eine solche Melodie hatte sie noch nie gehört. „Was ist das?" fragte sie Jake erstaunt. „Grandma." Als er sah, dass sie ihn nicht verstand, packte Jake Caitlin bei der Hand. „Komm mit, ich zeige es dir." Er führte sie durch den langen Flur in den Hinterhof. Ein hoher, ausgeblichener Holzzaun schützte den Hof vor den Augen ungebetener Besucher. Doch genau so kam Caitlin sich in diesem Augenblick vor - wie ein Eindringling. Lily trug das zeremonielle Kleid, das sie vorhin hatte einpacken wollen. Sie sang etwas in einer fremden Sprache. Caitlin konnte sie nicht verstehen, und dennoch kam es ihr sehr vertraut vor. Staunend sah sie der älteren Frau dabei zu, wie sie eine Art Puder auf den Boden streute. Das Puder hatte verschiedene Farben, und nach und nach entstand dabei ein Gemälde. Caitlin beugte sich zu Jake hinab und flüsterte ihm ins Ohr: „Was macht sie denn da?" „Sandmalerei", erklärte er ihr mit fachmännischer Miene und schüttelte den Kopf über Caitlins Unwissenheit. Aber woher sollte sie das auch kennen? Sie war ja schließlich nur ein Bleichgesicht. „Grandma bittet die Geister um Segen. Sie ist eine Medizinfrau. Das hat sie von ihrem Vater gelernt." Caitlin beobachtete Lily fasziniert bei ihrer Arbeit. Während sie sang, streute sie weiter das farbige Pulver aus, bis ein interessantes Muster entstanden war. Falls ihr auffiel, dass Caitlin und ihr Enkel sie beobachteten, ließ sie sich davon jedenfalls nichts anmerken. Etwas in ihrem Gesang sprach Caitlin sehr direkt an und tröstete sie sogar. Die Zeit verrann, ohne dass sie dessen gewahr wurde. Schließlich war Lily mit der Sandmalerei fertig. Sie schüttelte das Puder von den Händen und trat einen Schritt zurück, um ihr Werk zu begutachten. Dann erst erwiderte sie Caitlins Blick. Diese trat einen Schritt näher und meinte bewundernd: „Das ist ja wunderschön!" Lily nickte. „Ich habe es geschaffen, um den Großen Geist um Segen für eure Ehe zu bitten." Danach wandte sie sich um und ging wieder ins Haus zurück. Staunend beugte Caitlin sich über das Kunstwerk. Es war ihr zwar fremd, aber seine Schönheit ging ihr zu Herzen. Lächelnd fragte sie Jake: „Meinst du, das bedeutet, deine Großmutter heißt mich willkommen?" Er zuckte die Achseln. „Vielleicht, vielleicht auch nicht. Bei Grandma kann man das nie so genau sagen." Wie bei deinem Vater, dachte Caitlin. Sie ergriff Jakes Hand und folgte Lily ins Haus. Es war ein langer Tag gewesen, besonders nach so wenig Schlaf. Aber Graham war aufgefallen, dass er unnötig lange auf der Wache blieb und sich mit seinen Papieren beschäftigte, obwohl er eigentlich schon damit fertig war. Sonst hätte er wahrscheinlich einen anderen Vorwand gefunden, um nicht nach Hause fahren zu müssen. Alles war so schnell und übereilt gegangen, dass er noch überhaupt keine Zeit gehabt
hatte, die Sache mit Caitlin richtig zu verarbeiten. Dabei war es schließlich ein entscheidender Schritt gewesen. Er wusste, von rechts wegen hätte er eigentlich glücklich sein müssen. Caitlin war seine Frau. Konnte er sich noch mehr wünschen? Schließlich bedeutete dies die Lösung seines Problems. Durch diese Heirat würde es ihm gelingen, den Prozess zu gewinnen und Jake zu behalten. Aber leider war er nicht glücklich, im Gegenteil. Er fühlte sich miserabel. Seufzend verließ er seinen Arbeitsplatz und stieg in seinen Wagen. Bei seiner Rückkehr war es bereits halb elf. Caitlins Auto parkte in der Einfahrt. Wahrscheinlich hat sie Kerry gebeten, den Wagen zu holen, dachte Graham. Nachdem er den Motor abgestellt hatte, saß Graham noch einige Minuten lang im Auto, unschlüssig, ob er hineingehen sollte oder nicht. Dann stieg er schließlich seufzend aus. Es war schon spät. Vielleicht schlief Caitlin ja bereits. Falls ja, würde er es sic h einfach auf dem Sofa gemütlich machen. Das würde das Ganze auch vereinfachen. Und es würde ihn davor bewahren, in Versuchung zu geraten. Ein schöner Krieger bin ich, dachte er mit einem Anflug von Ironie. Ich habe Angst vor einer Frau. Nein, sagte er sich, nachdem er die Wohnung betreten hatte, es war nicht Caitlin, vor der er Angst hatte. Er hatte Angst vor sich selbst und seinem Verlangen nach ihr, einem Verlangen, das so übermächtig war, dass er Angst hatte, sich dies auch nur einzugestehen. Er ging geradewegs in die Küche. Jetzt erst fiel ihm auf, wie müde und erhitzt er war. Kein Wunder, draußen waren es mindestens fünfunddreißig Grad. Gierig holte er einen Krug Limonade aus dem Kühlschrank und trank drei Gläser davon in vollen Zügen aus. Plötzlich fiel ihm auf, dass im Zimmer seiner Mutter noch Licht war. Sie war also noch wach. Einen Augenblick dachte er daran, zu ihr zu gehen, aber dann entschied er sich dagegen. Was er ihr zu sagen hatte, konnte bis morgen warten. Vielleicht hatte er seine Gedanken dann ja auch mehr beisammen. Aber im nächsten Moment wurde die Tür geöffnet, und Lily kam heraus. Es war klar, dass sie auf ihren Sohn gewartet hatte. „Du kommst spät." Achselzuckend erwiderte Graham: „Ja, es ging nicht anders. Ich hatte noch viel zu tun." Lily konnte er nichts vormachen. Das war eine Lüge, die sein Unbehagen kaschieren sollte. Ihr Sohn lief vor etwas davon. Das war neu. „Hier gibt es auch viel zu tun", sagte sie ruhig. „Ja, ich weiß." Er stellte das Glas in den Spülstein und sagte zögernd: „Hör zu, Ma, ich weiß, ich hätte dich besser auf alles vorbereiten sollen, aber ..." Lily schnitt ihm einfach das Wort ab. „Sie hat mich gebeten, zu bleiben." „Zu bleiben?" Er sah sie entgeistert an. Wie kam sie nur auf diese Idee? „Aber natürlich, das ist doch selbstverständlich! Ich will auch nicht, dass du gehst, ich ..." Lily schüttelte energisch den Kopf. „Nein, doch wenn ein Mann heiratet, dann ..." „Mutter!" Er sah sie beschwörend an. „Ich habe dir doch schon einmal gesagt, dies ist nur eine Ehe auf Zeit. Ich habe Caitlin geheiratet um zu verhindern, dass Celia mir Jake wegnehmen kann." Lily fragte sich im stillen, ob er das selbst glaubte. Wenn ja, dann machte er sich etwas vor. „Ich habe nicht den Eindruck, dass dies der alleinige Grund ist." Achselzuckend schaute Graham durchs Küchenfenster. Einen Moment lang glaubte er, ein Sandgemälde auf dem Boden zu sehen, aber das war wohl eine Täuschung, verursacht durch das Mondlicht. „Sie denkt genau wie ich", sagte er bestimmt. „Ach. ja?" Seine Mutter sah ihn spöttisch an. „Bist du dir sicher?" „Ma, es ist schon ganz schön spät", entgegnete er ausweichend. „Können wir nicht
morgen darüber sprechen?" „Natürlich. Ach. Übrigens …“ „Ja?" „Ich glaube, Jake mag sie." Gut, das war immerhin ein Anfang. „Und du?" Graham war mit einemmal ziemlich verlegen. „Magst du sie?" Es würde an der Situation nichts ändern, aber interessieren tat es ihn doch. Lily stand abwartend in der Tür. Sie zögerte eine Sekunde, dann sagte sie: „Ich wünsche mir vor allem Frieden und Harmonie. Und ich finde, du gehörst zu deiner neuen Frau." Damit ließ sie ihm keine andere Wahl. Graham verließ die Küche und ging in sein Zimmer. Behutsam machte er die Tür hinter sich zu. Caitlin lag schlafe nd in seinem Bett. Ein dünnes Laken verhüllte ihren Körper, der sich im hellen Licht des Mondes als Silhouette abzeichnete. Es war ein äußerst verführerischer Anblick, und er verfehlte seine Wirkung auf Graham nicht. Abwartend stand er am Fußende des Bettes und biss sich auf die Lippe. Was sollte er tun - seinem Verlangen nachgeben? Nur noch ein einziges Mal? Aber er wusste, er machte sich etwas vor. Bei diesem einen Mal würde es ja nicht bleiben. Danach gäbe es ein zweites Mal, ein drittes, ein viertes, und dann wäre es zu spät für einen Rückzug. Er focht einen schweren inneren Kampf. Am liebsten hätte er Caitlin sofort in seine Arme geschlossen und mit ihr die ganze Nacht Liebe gemacht. Noch während er darüber nachdachte, hörte er, wie sich die Tür zum Zimmer seiner Mutter leise schloss. Das gab den Ausschlag. Er drehte sich entschlossen um und verließ den Raum. Caitlin hatte nur so getan, als würde sie schlafen. Diesmal wollte sie nicht die Initiative ergreifen. Sie wollte, dass er zu ihr kam - aus freien Stücken. Doch dann schloss sich die Tür wieder hinter Graham, und sie war allein. Allein wie noch nie zuvor in ihrem Leben.
15. KAPITEL Das Gerichtsgebäude in der Highland Street war ein hochmoderner Glaskomplex, der dem Architekten alle Ehre machte. Für Caitlin war es vertrautes Terrain, denn ihr Vater war schließlich Anwalt gewesen und hatte sie öfters zu Gerichtsverhandlungen mitgenommen. Damals hatte sie eine ungeheure Ehrfurcht vor den Richtern gehabt. Und sie war auch besonders stolz auf ihren Vater gewesen, der sich hier so gut auskannte. Jetzt versuchte sie, sich in ihre Kindheit zurückzuversetzen und sich vorzustellen, wie das alles auf einen Siebenjährigen wirken musste, der zum ersten Mal hier war. Und der keinen Vater hatte, der ihm alles erklärte und damit die Angst nahm. Als hätte Jake ihre Gedanken lesen können, zupfte er Graham in diesem Moment am Ärmel und fragte ängstlich: „Wenn das vorbei ist, können wir dann schnell wieder nach Hause fahren, Dad?" Caitlin sah mitfühlend auf ihn herab. Sie war froh über Grahams Anwesenheit. Er hielt den kleinen Jungen fest bei der Hand gepackt und strahlte eine Ruhe und Sicherheit aus, über die sie sich nur wundern konnte. „Natürlich", erwiderte sie fest, da Graham nicht antwortete. „Wir drei fahren sofort wieder nach Hause, sobald alles vorbei ist." Graham hatte mit der Antwort gezögert, weil er sich offenbar in einem inneren Konflikt befand, was er Jake sagen wollte. Einerseits wollte er ihm seine Angst nehmen, andererseits keine falschen Hoffnungen wecken. Stattdessen drückte er beruhigend seine Hand. Jetzt mussten sie erst einmal die Gerichtsverhandlung überstehen, danach würde man weitersehen. Um sich eine kleine Hintertür offenzuhalten, meinte er vorsichtig: „Nun, es kann schon sein, dass du deine Mutter vielleicht am Wochenende besuchen …“ „Nein!" Jake entzog ihm sofort die Hand und stampfte mit dem Fuß auf. „Das will ich aber nicht!" Seine Augen füllten sich mit Tränen. Er hatte seine Mutter in keiner guten Erinnerung. Schließlich hatte sie ihn damals verlassen. Ihn und seinen Vater. „Ich will bei euch bleiben." „Und das wirst du auch!" versprach Caitlin ihm fest. Sie konnte es nicht ertragen, Jake, der ihr inzwischen ans Herz gewachsen war, leiden zu sehen. Jake sah zweifelnd zu ihr, dann wieder zu Graham. „Ganz bestimmt?" „Ganz bestimmt!" Graham sah sie ärgerlich an. Er fand, dass sie ihre Grenzen überschritt. Dazu hatte sie kein Recht. „Cait..." Caitlin wusste, er war ärgerlich auf sie. Aber es war ihr egal. Die letzten Tage waren hart gewesen. Sie waren wie Fremde miteinander umgegangen. Immer wieder hatte Graham eine Ausrede gesucht und auch gefunden, um nicht zu ihr ins Bett zu müssen. Und sie war ohne ihn eingeschlafen. Fast erschien es ihr, als wären die zwei Liebesnächte gar nicht geschehen. Jedenfalls tat Graham alles, um sie nicht vergessen zu lassen, dass es sich nur um eine Ehe auf Zeit handelte. Caitlin war entschlossen, ihn vom Gegenteil zu überzeugen. Aber was sollte sie machen, wenn er ihr keine Chance gab? „Wir müssen uns beeilen, Graham." Er folgte ihr nach, sein Schweigen drückte Missbilligung aus. Am Ende des Korridors wartete ein glatzköpfiger Mann in einem beigen Anzug auf sie. Er trug eine schmale Aktentasche unter dem Arm und sah immer wieder nervös auf seine Uhr. Caitlin schaute Graham fragend an. Er nickte. Ja, das war sein Anwalt. Es hatte Caitlin große Selbstüberwindung gekostet, darauf zu verzichten, ihren Familienanwalt einzuschalten. Sie wollte Graham nicht bloßstellen, hatte aber trotzdem das Gefühl, dass dies besser gewesen wäre, als sich mit einem unerfahrenen Verteidiger zu
begnügen. Der Mann war offensichtlich erleichtert, sie zu sehen. Er streckte Graham die Hand hin und schüttelte sie. Dann wandte er sich Caitlin zu und sah sie interessiert an. „Sie sind Mrs. Redhawk?" „Caitlin". korrigierte sie ihn und erwiderte seinen Händedruck. „Zach Neubert." Er machte einen sympathischen Eindruck. Caitlin war positiv überrascht. Vielleicht war es ja doch keine schlechte Entscheidung von Graham gewesen. „Herzlichen Glückwunsch zu Ihrer Hochzeit", meinte er. .Auch wenn es vielleicht etwas übereilt war." Er öffnete die Tür zum Gerichtssaal für sie und setzte noch hinzu: „Jetzt haben wir wenigstens eine reelle Chance." Nachdem sie eingetreten waren, nickte er dem Gerichtsdiener zu. Dieser verschwand, um dem Richter mitzuteilen, dass die Betroffenen erschienen waren. Jake sah sich ängstlich um. Die vielen Erwachsenen und die ernsthafte Atmosphäre machten ihm angst. Er drückte sich wieder an Graham. „Richter Harrison wird die Verhandlung leiten", fuhr der Anwalt fort. „Er gehört zu den Konservativen, daher müssen wir auf der Hut sein. Sollte irgend etwas schief gehen, können wir natürlich immer in Revision gehen, aber das ist Ihnen ja wahrscheinlich bekannt." Bei der Erwähnung des Namens sah Caitlin ihn aufmerksam an. „Richter Harrison?" fragte sie. „William Henry Harrison?" Das war ja wirklich ein Zufall! Nun ja, die Welt war klein. „Richtig", nickte der Anwalt. „Kennen Sie ihn etwa?" Caitlin hatte den Eindruck, als wäre der Fall schon halb gewonnen. Sie lächelte erleichtert. Graham sah sie fragend an. „Natürlich kenne ich ihn. Er war ein enger Freund meines Vaters. Die beiden haben zusammen studiert und hatten eine Weile sogar eine gemeinsame Kanzlei." Zach war begeistert. „Und? Haben sie sich vertragen?" Caitlin lachte. „Außer mit meiner Mutter hat sich mein Vater mit allen Menschen vertragen." „Aber das ist ja phantastisch!" Zach drückte ihr die Hand. „Wenn Sie ihn daran vielleicht erinnern könnten ..." Caitlin schüttelte den Kopf. Das würde nicht nötig sein. „Richter Harrison hat ein hervorragendes Gedächtnis." Endlich einmal kamen ihr die Verbindungen ihrer Familie zugute. Der Gerichtsdiener kehrte in diesem Moment zurück und informierte sie, dass der Richter in Kürze erscheinen würde. „Aber du, kleiner Mann", sagte er und legte Jake die Hand auf die Schulter, „wirst so lange leider draußen warten müssen." Jake machte sich sofort von ihm los. „Muss das sein, Dad?" fragte er ängstlich. Es brach Graha m das Herz, ihn in diesem Zustand zu sehen. „Ich fände es besser, wenn der Junge dabeisein könnte", sagte er laut. „Schließlich geht es um seine Zukunft. Richter Harrison kann sich wohl kaum ein Bild von uns machen, wenn er uns nicht als Familie sieht." „Na gut, wie Sie wollen." Achselzuckend trat der Gerichtsdiener beiseite. In diesem Moment kam der Richter herein. Sofort wurde alles still. Er nahm auf seinem hohen Stuhl Platz und besah sich stirnrunzelnd die Akten zu dem Fall, die man ihm vorgelegt hatte. Er bedeutete allen Anwesenden, sich zu setzen. Caitlin griff nach Jakes Hand und drückte sie ermutigend. „Alles wird gut", flüsterte sie ihm zu. „Du wirst schon sehen." Der Richter machte noch ein paar letzte Eintragungen in seine Akte. Dann legte er seinen Kugelschreiber beiseite, winkte Zach zu sich heran und fragte: „Wo ist denn das
andere Paar?" „Wir sind hier, Euer Ehren", erklang eine tiefe Baritonstimme. Caitlin drehte sich um und sah, wie zwei Männer und eine Frau den Gerichtssaal betraten. Die beiden Männer hatten große Ähnlichkeit, sie schienen in der gleichen exklusiven Herrenboutique einzukaufen, denn sie sahen fast wie Models aus. Caitlin blickte verstohlen zu Graham hinüber, aber er zeigte keinerlei Reaktion. Er hatte ihr nicht gesagt, wie schön Celia war. Ihn schien dies in keiner Weise zu berühren, was Caitlin mit einem Anflug von Erleichterung registrierte. Der Anwalt der gegnerischen Partei schüttelte ihnen die Hand und entschuldigte sich dann bei Richter Harrison für ihr Zuspätkommen. Caitlin hatte währenddessen nur Augen für Celia. Sie war sehr zierlich und hatte dichtes blauschwarzes Haar, das zu einem Knoten geschlungen war. Sie trug ein teures Chanelkostüm. Caitlin war tatsächlich ein wenig eifersüchtig auf sie. Jedenfalls wunderte es sie jetzt nicht mehr, dass Graham sich ihr zugewandt hatte, als sie ihn verlassen hatte. Celia hingegen warf nur einen kurzen Blick auf Caitlin, sie schien sie nicht weiter zu interessieren. Dann hefteten sich ihre Augen auf Jake. „Jake!" rief sie überrascht und breitete die Arme aus. Sie erwartete anscheinend ein herzliches Willkommen. Jake sah sie kurz an, dann wich er zurück und schmiegte sich noch enger an Graham. Der Richter sah auf und fragte Zach: „Mr. Neubert, wieso bringen Sie diesen Jungen hier in meinen Gerichtssaal? Kinder haben hier nichts zu suchen. Ich wünsche, dass er draußen wartet, bis die Verhandlung vorüber ist." Bevor Zach noch antworten konnte, sagte Caitlin schnell: „Schließlich geht es hier um sein Schicksal, Richter Harrison. Sein Vater hielt es für besser, wenn er bei der Verhandlung zugegen ist." Der Richter sah sie scharf an und meinte: „Junge Frau ..." Dann machte er eine Pause. Natürlich, das war doch ... Er suchte in seinem Gedächtnis nach einem Bild. Das letzte Mal hatte er sie bei der Beerdigung ihres Vaters gesehen, damals hatte sie ein blaues Kleid getragen. „Caitlin?" Caitlin nickte und lächelte ihn an. Na endlich! „Hallo, Richter Harrison! Wie geht es Ihnen?" Was hatte sie, mit dem Fall zu tun? Ihr Name war in den Unterlagen nicht aufgetaucht. „Was machst du hier? Bist du eine Freundin des Vaters des Jungen?" Caitlin griff nach Grahams Hand, die er ihr widerstrebend ließ. Stolz erklärte sie: „Ich bin die Frau von Detective Redhawk. Jake ist mein Stiefsohn." „Du hast geheiratet? Und deine Mutter hat mich nicht einmal zur Hochzeit eingeladen?" Richter Harrison war schließlich ein alter Freund der Familie. Er würde sie gewiss verstehen. „Meine Mutter war zur Hochzeit nicht eingeladen", sagte Caitlin ruhig. Der Richter nickte mit dem Anflug eines Lächelns. „Aha, ich verstehe." Er hatte Regina Cassidy nie gemocht. „Gut, dann lassen Sie uns fortfahren, einverstanden? Dies ist nicht der einzige Fall, den ich heute zu verhandeln habe." Albert Wells, der gegnerische Anwalt, ergriff das Wort. „Euer Ehren, mein Klient ist ein geachteter und wohlhabender Geschäftsmann. Er und seine Frau können dem Jungen eine finanzielle Sicherheit und einen gesellschaftlichen Hintergrund ermöglichen, die sein Adoptivvater ihm nicht bieten kann. Hier", er reichte ihm eine Mappe, „es steht alles in den Unterlagen." Er warf Graham einen verächtlichen Blick zu. Caitlin hätte ihn umbringen können. Der Richter nahm die Mappe entgegen und sagte ruhig: „Mir fällt auf, Mr. Wells, dass
Sie in Bezug auf Mr. Redhawk von Adoptivvater sprechen. Aber Ihre Klientin ist ja ebenfalls nicht die leibliche Mutter des Kleinen. Ich möchte, dass Sie diese Tatsache nicht aus den Augen verlieren. Denn dieser Umstand macht meiner Meinung nach den Fall ausgewogen." Wells nickte. „Ja, das ist mir klar, Euer Ehren, aber ..." „Gut!" Richter Harrison unterbrach ihn mitten im Satz. Dieser aalglatte Mann in seinem teuren Anzug war ihm nicht besonders sympathisch, das merkte man ihm an. „Ist Ihnen denn auch klar, welche gesellschaftliche Position die Frau des Detectives in unserer Stadt innehat?" Wells runzelte die Stirn. „Nein, ich ... ich wusste ja nicht einmal, dass er verheiratet ist. Bis letzten Freitag war er es jedenfalls noch nicht." Gehässig setzte er hinzu: „Ich bin sicher, das ist nur ein Manöver, um …“ Wieder unterbrach ihn der Richter streng. „Zufällig kenne ich diese junge Frau, Mr. Wells. Als kleines Mädche n hat sie auf meinen Knien gesessen. Falls sie sich in all den Jahren nicht vollkommen geändert hat, verbitte ich mir in ihrem Namen ein Wort wie Manöver." Er machte eine Pause und setzte dann hinzu: „Aber damit Sie nicht denken, ich wäre vorbelastet, werde ich sie selbst fragen. Komm her, Caitlin." Caitlin trat näher. „Nun sag mir, warum hast du diesen Mann geheiratet? War es wegen des Jungen?" „Nein, Euer Ehren." Caitlin zögerte kurz. Sie wusste, es würde Graham nicht gefallen, wenn sie ihre gemeinsame Vergangenheit enthüllte. Aber sie hatte nun einmal keine andere Wahl. „Graham und ich wollten bereits vor elf Jahren heiraten." „Und warum geschah das nicht?" „Meine Mutter wusste es zu verhindern", erwiderte Caitlin bitter. „Sie inszenierte ein Zerwürfnis zwischen uns. In Wirklichkeit war alles ein großes Missverständnis, aber wir waren zu jung und zu naiv, um es damals zu durchschauen." Richter Harrison nickte verständnisvoll. Jetzt konnte er sich auch wieder daran erinnern, dass damals das Gerücht umgegangen war, Regina Cassidys Tochter hätte einen Indianer heiraten wollen. Er wandte sich an Jake. „Komm einmal her, mein Junge. Du kannst dich wieder setzen, Caitlin." Jake trat widerstrebend näher. „Ich heiße Jake", meinte er schüchtern, „Also gut, Jake. Ich möchte dich jetzt etwas fragen, und ich will, dass du mir die Wahrheit sagst. Möchtest du bei deinem Vater bleiben?" Der gegnerische Anwalt erhob sofort Einspruch. „Euer Ehren, ich protestiere. Der Junge ist noch viel zu klein, um zu wissen, was er sagt." „Im Gegenteil, Mr. Wells, Kinder wissen sehr wohl, was sie wollen. Manchmal wissen sie es sogar besser als wir. Ihre Ideen von dem, was richtig oder falsch ist, sind in diesem Alter noch nicht korrumpiert." Wieder wandte er sich Jake zu und sah ihn prüfend an. „Lebst du gern bei deinem Vater?" Jake zögerte nicht eine Sekunde. „Oh, ja!" „Behandelt dein Vater dich gut, oder schlägt er dich auch manchmal?" „Natürlich nicht." Jake sah den Richter empört an. „Schlägt dein Vater dich etwa?" Caitlin hatte Richter Harrison selten lächeln sehen, aber jetzt geschah es. „Nein, dazu hat er wohl kaum noch Gelegenheit", erwiderte der Richter schmunzelnd. Er bedeutete Jake, dass er sich wieder auf die Bank setzen könnte. Dann meinte er: „Ich habe den Eindruck, dass der Junge bei seinem Vater gut aufgehoben ist. Meiner Meinung nach gibt es keinen zwingenden Grund, irgendwelche Veränderungen vorzunehmen." Celia sah den Richter ungläubig an. „Und das war es dann schon? Es sieht so aus, als wäre er bei seinem Vater gut aufgehoben, und dabei wollen Sie es dann belassen?" Sie war empört aufgesprungen. Ihr Mann legte ihr beschwichtigend die Hand auf die
Schulter, aber sie wollte sich nicht beruhigen. „Mrs. Shephard", sagte Richter Harrison eisig, „da Sie die Adoptivmutter sind, gewährt Ihnen das Gericht das Recht, den Jungen an einem Wochenende im Monat zu sehen. Außerdem können Sie zweimal im Jahr mit ihm in die Ferien fahren, falls Sie das wünschen. Aber ich sehe wirklich keinen zwingenden Grund, ein intaktes, Familienleben zu zerstören. Und deshalb entscheide ich, dass der Junge bei seinem Adoptivvater und seiner Stiefmutter bleiben darf." „Das sagen Sie nur, weil Sie diese Frau kennen", rief Celia schrill. „Mrs. Shephard." Richter Harrison schien jetzt um einige Zentimeter gewachsen zu sein. „Ich möchte gern eines klarstellen. Meine Bekanntschaft mit Mrs. Redhawks Familie bedeutet nur, dass ich mich ihres Hintergrunds nicht mehr zu vergewissern brauche. Außerdem möchte ich Sie an eine n Umstand erinnern, den Sie anscheinend ganz vergessen haben. Sie haben das Sorgerecht für den Jungen bereits einmal abgelehnt. Glauben Sie etwa, Kinder sind Markenartikel, die man beliebig verschieben kann?" „Verzeihung, Euer Ehren!" Mr. Wells sagte mit einem Blick auf Celia, die leise zu schluchzen angefangen hatte: „Mrs. Shephard ging damals durch eine schwierige Zeit und ..." „Das kann ja sein", unterbrach ihn der Richter schneidend. „Aber wer garantiert uns, dass ihre psychische Labilität nicht erneut zutage tritt? Und wer könnte es einem Kind zumuten, von den Launen eines Erwachsenen abhängig zu sein? Nein, Mr. Wells, ich fürchte, ich muss Ihr Gesuch ablehnen." Dann wandte er sich zum ersten Mal an Graham. „Erkundigungen haben ergeben, dass Detective Redhawk einen einwandfreien Charakter hat, sowohl als Polizist wie auch als Mensch. Dass er nicht reich ist, tut hier nichts zur Sache. Und falls es Sie interessieren sollte, so weiß ich zufällig, dass seine Frau zu den wohlhabendsten Familien der Stadt gehört. Jake wird gewiss keinen Mangel leiden." Er erhob sich. „Daher ergeht folgender Gerichtsbeschluss: Jake Redhawk bleibt bei seinem Vater und seiner Stiefmutter. Die Verhandlung ist beendet." Wells sammelte seine Sachen zusammen und sagte wütend: „Wir werden in Revision gehen, darauf können Sie sich verlassen." „Tun Sie, was Sie nicht lassen können", meinte der Richter ungerührt. „Wir leben schließlich in einem freien Land. So, und wenn Sie jetzt bitte alle den Gerichtssaal verlassen würden ... der nächste Fall wartet nämlich schon." Celia marschierte hocherhobenen Hauptes an Jake und Graham, die sich freudig umarmten, vorbei. „Glaub ja nicht, dass das das letzte Wort ist", zischte sie, dann verschwand sie an der Seite ihres Mannes. Zach schüttelte allen erfreut die Hand. „Das ist ja prima gelaufen", erklärte er vergnügt. „Die Revision können wir in Ruhe abwarten. Ich würde ja gern mit Ihnen feiern, leider muss ich jetzt in meine Kanzlei zurück." „Vielen Dank für alles, Mr. Neubert", sagte Caitlin warm und schüttelte ihm die Hand. Jake hüpfte aufgeregt von einem Fuß auf den anderen. „Gehöre ich jetzt dir?" fragte er Graham mit glänzenden Augen. Graham nickte und setzte ihn auf seine Schultern. Gemeinsam gingen sie zu viert den Korridor hinab. „Alles Gute für Sie beide", sagte Zach noch, dann war auch er verschwunden. Graham setzte Jake ab und sagte: „Bitte, warte kurz hier auf der Bank. Ich muss mit Caitlin sprechen." Verwundert blickte sie ihn an. Was war nur los mit ihm? Warum konnte er nicht offen vor Jake sprechen? Er sah so verstört aus. Sie gingen einen Nebengang hinunter und nahmen auf einer Bank Platz. „Ich nehme an, ich sollte mich bei dir bedanken", meinte Graham stockend.
Er sah aus wie ein Mann, der seinen Fall verloren hatte. „Nur wenn du willst", erwiderte Caitlin leicht. „Aber du sollst dich zu nichts verpflichtet fühlen. Was ist eigentlich los mit dir, Graham? Du machst ein Gesicht wie sieben Tage Regenwetter." „Wirklich? Nein, es ist alles in Ordnung. Ich habe meinen Sohn zurückgewonnen, und nichts anderes zählt." „Aber ich spüre doch, dass etwas nicht in Ordnung ist. Willst du es mir nicht sagen?" Graham holte tief Luft. Er wusste, es war vielleicht albern und ungerecht von ihm. Aber er war nun einmal mit bestimmten Werten aufgewachsen, und was heute im Gerichtssaal passiert war, hatte ihm nicht gefallen. „Also gut, Caitlin." Er sah sie offen an. „Ich wollte den Fall nicht gewinnen, nur weil der Richter dich von Kindheit an kennt." „Wie bitte? Ist denn das wichtig? Wie man gewinnt, ist doch vollkommen egal. Die Hauptsache ist, ob Jake bei dir bleiben darf, oder? Der Richter kannte mich zufällig, na gut. Aber das zählt doch hier gar nicht. Celia hat versucht, ihr Geld und ihre gesellschaftliche Stellung in die Waagschale zu werfen, und wir haben es auch getan. Der Fall ist also völlig ausgewogen, aber Richter Harrison hat zu unseren Gunsten entschieden. Ich hätte eigentlich gedacht, dass du jubeln würdest. Was zum Teufel ist denn los?" Graham antwortete ihr nicht, aber er sah schwer gekränkt aus. Ob es etwas mit seiner Männlichkeit zu tun hatte? Fühlte er sich bedroht, weil sie den Fall praktisch für ihn gewonnen hatte? „Graham", meinte sie beschwörend. „Du hast mich geheiratet, damit wir vor Gericht Jake einen stabilen Familienhintergrund bieten können. Und es hat funktioniert. Willst du mir das jetzt etwa vorwerfen? Wir sind schließlich ein Team. Und das bessere Team hat gewonnen. So sehe ich das jedenfalls." „Ja, ich weiß." Graham wusste selbst, seine Haltung war absurd. Trotzdem konnte er nur schwer akzeptieren, dass Caitlins Herkunft der Grund dafür gewesen war, dass sie den Fall gewonnen hatten. Das ging einfach gegen seine Ehre. „Lass mir etwas Zeit, über alles nachzudenken, Caitlin. Und glaub bitte nicht, ich wäre dir nicht sehr dankbar." „Natürlich, Graham." Sie erhob sich. „Du hast alle Zeit der Welt. Und jetzt sollten wir wieder zu Jake gehen. Er denkt sonst vielleicht noch, wir hätten uns aus dem Staub gemacht." Graham nickte und folgte ihr nach. Seine Gefühle waren sehr gemischt, und er hasste sich selbst dafür.
16. KAPITEL An diesem Morgen war Graham ungewöhnlich nachdenklich. Noch immer klangen ihm Jakes Worte im Ohr. Der Junge hatte so sehr gebeten, dass er heute Nachmittag zu dem Baseballspiel kommen sollte. Caitlin würde die Mannschaft coachen, daher hatte er nichts anderes zu tun, als zuzuschauen. Leider lag hier auch das Problem. Die Gerichtsverhandlung war seit drei Wochen vorbei, und in dieser Zeit hatte Graham mehr und mehr das Gefühl gehabt, als würde er in seiner eigenen Familie nur noch die zweite Geige spielen. Er wusste, es war nicht fair Caitlin gegenüber, die sich wirklich sehr anstrengte, Jake eine gute Ersatzmutter zu sein. Aber er war dabei immer mehr in den Hintergrund gedrängt worden. Es war Caitlin, die sich trotz ihrer Arbeit im Laden Zeit nahm, um mit Jake ins Kino oder zum Baseball zu gehen. Graham hatte das Gefühl, als stünde er auf verlorenem Posten. Dadurch, dass er Distanz zu Caitlin hielt, entfremdete er sich immer mehr von seinem Sohn. Beides lag nicht in seiner Absicht, aber er wusste nicht, wie er das Dilemma lösen sollte. Und obwohl er Jake versprochen hatte, heute Abend bei dem Spiel, das für den Jungen anscheinend so wichtig war, anwesend zu sein, hatte Jake ihm zu verstehen gegeben, dass er daran eigentlich nicht glaubte. Noch immer hing er diesen trüben Gedanken nach, als er endlich auf der Wache erschien. Jeffers sagte ihm als erstes, dass er Besuch hätte. Wer könnte das sein, fragte sich Graham verwundert. Es passierte so gut wie nie, dass ihn jemand an seinem Arbeitsplatz aufsuchte. Vor seinem Schreibtisch saß mit dem Rücken zu ihm ein hochgewachsener, athletisch wirkender Mann, der Graham sehr vertraut vorkam. Das konnte doch nicht ... doch als der Mann sich umdrehte, fand er seine Ahnung bestätigt. „Madigan!" Erfreut schüttelten sich die beiden die Hand. Madigan war ein Kollege von ihm und mehr noch. Graham hätte ihn auch als Freund bezeichnet. Sie hatten sich zwar jetzt schon eine ganze Weile nicht mehr gesehen, aber das tat der Sympathie, die sie füreinander empfanden, keinen Abbruch. „Wie geht's, Madigan?" „Nicht schlecht", erwiderte der andere mit breitem Grinsen. „Ich habe gehört, du bist auf der Spur eines Burschen, auf den wir schon lange scharf sind." Detective Madigan war beim Rauschgiftdezernat des kalifornischen Staats beschäftigt. „Und wer soll das sein?" Anstelle einer Antwort holte der andere einen Steckbrief aus der Tasche und zeigte ihn Graham. „Horace Taylor. Weswegen sucht ihr ihn?" „Wegen eines Mordes und versuchten Kidnappings." Graham musste erneut an Caitlin denken. Obwohl in der letzten Zeit nichts vorgefallen war, war die Gefahr, in der sie schwebte, noch längst nicht vorüber. „Sobald ihr mit ihm fertig seid, sag mir bitte Bescheid. Ich habe genug Beweismaterial gegen ihn gesammelt, um ihn für den Rest seines Lebens hinter Gitter zu bringen." Graham nickte grimmig. Madigan sah ihn überrascht an. „Hast du irgendein persönliches Interesse an dem Fall?" Graham zögerte kurz, doch dann nickte er widerstrebend. „Ja, das kann man wohl sagen. Er hat versucht, meine Frau umzubringen." „Richtig!" Madigan hatte sich vorher mit Martinez unterhalten, und dieser hatte ihm von Grahams Hochzeit erzählt. „Herzlichen Glückwunsch, alter Junge!" „Danke", erwiderte Graham einsilbig. Nach dem Verlauf der letzten drei Wochen war er sich nicht sicher, ob es einen Grund zum Gratulieren gab.
„Stimmt irgend etwas nicht?" „Nein, nein, es ist alles in Ordnung. Ich bin nur ein bisschen überarbeitet." Um von sich abzulenken, wechselte er das Thema. „Und du? „Was ist mit dieser Frau, in die du damals so verknallt warst? Hieß sie nicht Jennifer?" „Ich habe sie geheiratet", erklärte Madigan mit breitem Grinsen. „Geheiratet? Du?" Graham war überrascht. Er hatte seinen Freund immer für den geborenen Einzelgänger gehalten. „Warum nicht?" Madigan lächelte im Gedanken an seine Frau, die er abgöttisch liebte. „Das ist das Beste, was ich je gemacht habe. Hier", er kramte in seiner Brieftasche nach ein paar Fotos. „Willst du mal sehen?" Kopfschüttelnd betrachtete Graham das Foto, das seinen Freund und Kollegen im Kreis seiner Familie zeigte. „Du siehst sehr glücklich aus", musste er zugeben. „Ja, das bin ich auch." Madigan zögerte kurz. Er wusste, wie sehr Graham Fragen nach seinem Privatleben hasste, aber seine Neugier überwog. „Darf ich dich etwas fragen?" „Schieß los", erwiderte Graham achselzuckend. „Ist... läuft deine Ehe nicht so, wie du es dir vorgestellt hast?" Darauf war Graham nicht vorbereitet gewesen. „Wieso?" gab er zurück. „Wieso fragst du das? Es ist alles in Ordnung." „Prima." Er lügt, dachte Madigan. Graham und er hatten viel gemeinsam. Daher wollte er ihm auch noch einen Rat geben. „Diese Dinge brauchen Zeit, weißt du. Ich bin damals vor ihr davongelaufen, weil ich es plötzlich mit der Angst bekam. Um ein Haar hätte ich das Glück meines Lebens verpasst. Männer sind manchmal richtige Idioten, finde ich." Graham antwortete nicht, doch Madigan redete unbeirrt weiter. „Glücklicherweise habe ich dann doch noch die Kurve gekriegt. Ich wäre sonst wahrscheinlich für den Rest meines Lebens ein Arbeitstier geblieben - ein tüchtiger Polizist nach außen hin, aber innen gähnt die Leere." Er sah Graha m aufmerksam an. „Ich nehme an, du weißt, was ich meine." Graham nickte schweigend. Madigan erhob sich und sagte zum Abschluss: „Gut, ich muss jetzt wieder los. Also, lass es mich wissen, wenn ihr den Burschen angeklagt habt, damit wir ihn anschließend in Kalifornien wegen seiner dort begangenen Verbrechen vor Gericht stellen können. Ach ja, übrigens..." „Ja?" „Falls du und deine Frau einmal Lust haben solltet, uns zu besuchen - Jennifer und ich würden uns freuen. Fährst du immer noch deinen pinkfa rbenen Cadillac?" „Aber klar!" „Guter alter Graham", lachte Madigan. „Manches ändert sich eben nie." Nein, dachte Graham, als sein Freund den Raum verließ, aber vielleicht sollte es das endlich. Caitlin saß auf der Zuschauerbank des Baseballfeldes und gab vor, dem Spiel überaus interessiert tu folgen. Es war drückend heiß, immer wieder musste sie sich den Schweiß von der Stirn wischen. Sie blickte über den Platz und hatte plötzlich das Gefühl, als sähe sie eine Fata Morgana. Nein, dies war kein Traumbild. Es war ihr Mann, und obwohl er ja versprochen hatte, vorbeizukommen, hatten weder sie noch Jake daran geglaubt. Denn er hatte dieses Versprechen schon öfters gemacht und seine Abwesenheit dann immer mit zuviel Arbeit entschuldigt. Jake hatte ihn ebenfalls gesehen. „Dad!" rief er und sprintete auf ihn zu, obwohl er
der nächste Spieler in der Reihe war. „Jake, du bist gleich dran", rief Caitlin hinter ihm her. Aber er hatte sie gar nicht gehört. Lachend war er auf seinen Vater zugestürmt und umarmte ihn nun so begeistert, als hätte er ihn seit Jahren nicht mehr gesehen. „Du bist da!" Freude und Dankbarkeit leuchteten Graham aus den Augen seines Sohnes entgegen. „Ja, ich bin da." Graham bemühte sich, seine Rührung zu verbergen. „Und? Wie steht's?" „Ich glaube, wir gewinnen", verkündete Jake stolz und lief wieder zu seinem Team zurück. Graham nahm neben Caitlin auf der Bank Platz. „Hattest du ausnahmsweise einmal keinen Spätdienst?" Die Ironie in ihrer Stimme war nicht zu überhören. Graham konnte es ihr nicht übel nehmen. Er war es schließlich gewesen, der sich die ganze Zelt über bemüht hatte, die Distanz zwischen ihnen aufrechtzuerhalten. Dass Caitlin darüber nicht besonders erfreut war, wunderte ihn nicht. „Ich habe Martinez gebeten, heute früher gehen zu können", erwiderte er. „Ich wollte nicht wieder alles verpassen." Er spricht von Jake, dachte Caitlin enttäuscht. Aber sie ließ sich ihre Reaktion nicht anmerken. Graham gab vor, dem Spiel zu folgen, doch in Wirklichkeit musste er an das denken, was sein Freund Madigan ihm heute gesagt hatte. Konnte es sein, dass auch er dabei war, sich das Glück seines Lebens zu verscherzen? Oder machte er sich vielleicht falsche Hoffnungen? Vielleicht war es ja zu spät für ihn und Caitlin, um noch einmal ganz von vorn anzufangen. Er hatte alles getan, um sie auf Abstand zu halten - um ihretwillen, wie er sich immer wieder gesagt hatte. Aber Tatsache war, dass sie beide kreuzunglücklich waren. „Los", rief Caitlin in diesem Moment und sprang auf. „Halt den Schläger nicht so niedrig, Jake." Sie machte es ihm vor. „Ja, so ist es besser." Jake folgte ihren Anweisungen, und es gelang ihm auch gleich, einen Punkt für sein Team einzuheimsen. „Du machst das sehr gut", meinte Graham anerkennend. „Ein erstklassiger Coach, das muss ich schon sagen." „Vielen Dank", erwiderte Caitlin und lachte. „Ja, ich glaube, ich bin wirklich nicht schlecht, wenn man bedenkt, dass ich noch vor einem Monat keine Ahnung von Baseball hatte. Aber schließlich kann man ja alles lernen." Graham sah sie bewundernd an. Es war erstaunlich, was Caitlin in den letzten Wochen alles auf die Beine gestellt hatte. Als sie erfuhr, dass Jake sich für Baseball interessierte, hatte sie begonnen, ein Team zu organisieren, das sich aus den Jungen der Nachbarschaft zusammensetzte. Sie hatten ein Spielfeld gefunden, auf dem sie üben konnten, und hielten nun neben regelmäßigem Training auch schon Wettkämpfe ab. Als er sie so sah, in ihren kurzen weißen Hosen und dem knappen Top, mit der Baseballkappe auf dem Kopf, hätte Graham sie am liebsten sofort in seine Arme geschlossen und entführt. Gott, wie er sie begehrte! Tatsächlich errang Jakes Team bei diesem Spiel auch den Sieg, und die Jungen waren selig. Jake, der außer sich vor Freude über Grahams Anwesenheit war, hakte sich bei den beiden unter und sah Graham mit leuchtenden Augen an. „Na, wie fandest du es, Dad?" „Großartig!" Graham strich ihm übers Haar. „Ich bin stolz auf dich. Jake. Du bist ja eine richtige Sportskanone." „Kommst du dann zum nächsten Spiel auch?" fragte er hoffnungsvoll. Graham zögerte eine Sekunde, dann nickte er. „Aber klar!" Caitlin reichte ihm Jakes Baseballausrüstung. „Könntest du das bitte für mich zum
Auto tragen?" „Selbstverständlich." Graham warf sich den schweren Sack über die Schultern und sagte augenzwinkernd zu Jake: „Sie weiß, wie man Befehle erteilt, findest du nicht?" „Oh, ja." Jake lächelte Caitlin zu. Die beiden waren in den letzten Wochen wirklich gute Freunde geworden. Besonders Caitlin war darüber sehr froh. „Wie wär's, könnten wir noch zu McDonalds gehen? Ich hab' solchen Hunger, und wir drei sind so selten zusammen." „Von mir aus gern." Caitlin öffnete Graham den Kofferraum ihres Wagens, damit er die Baseballsachen darin verstauen konnte. „Und du, Dad? Hättest du auch Lust dazu?" Bittend sah Jake seinen Vater an. Graham lag bereits das Nein auf der Zunge, er hatte eigentlich vorschlagen wollen, auf dem direkten Weg nach Hause zu fahren. Aber dann fiel ihm wieder Madigans Foto und die begeisterte Beschreibung seines Freundes ein. Also nickte er. „Warum nicht? Ich habe jedenfalls nichts Besonderes mehr vor." Was ist los mit ihm, fragte sich Caitlin. Irgendetwas war geschehen, das spürte sie ganz deutlich. Konnte es sein, dass Graham endlich zur Vernunft gekommen war? Das wäre ja wirklich zu schön gewesen. „Lächelnd nahm sie hinter dem Steuer Platz. „Das ist ja wirklich eine seltene Gelegenheit. Ausnahmsweise ist die ganze Familie einmal zusammen." Graham hatte nun bereits so lange nichts mehr mit ihnen unternommen, dass sie sich an seine Abwesenheit schon fast gewöhnt hatte. Nachdem das Gericht ihm das alleinige Sorgerecht zugesprochen hatte, hatte Caitlin das Gefühl gehabt, als wäre sie von nun an Luft für Graham. Wahrscheinlich wartete er nur so lange, bis sie sich scheiden lassen konnten, ohne deswegen allzu viel Aufsehen zu erregen. Caitlin hatte sich vergeblich einzureden versucht, dass sie diesem Handel schließlich pro forma zugestimmt hatte. Aber tatsächlich brachte es sie fast um. Sie wusste inzwischen auch, dass Graham sich freiwillig für den Spätdienst gemeldet hatte. Anscheinend war ihm jeder Vorwand recht, nur um ihr fernbleiben zu können. Natürlich hatte sie dies sehr verletzt, aber schließlich hatte sie sich mit den Tatsachen abgefunden. Die Dinge änderten sich nun einmal nicht über Nacht, und das war bei einem Mann wie Graham auch nicht zu erwarten. Was blieb ihr anderes übrig, als gute Miene zum bösen Spiel zu machen? Trotzdem hatte sie sich ihre Ehe so nicht vorgestellt. Und sie hatte es auch aufgegeben, Graham verführen zu wollen. Ihre Würde als Frau ließ es nicht zu, dass sie einem Mann hinterherlief, dem sie anscheinend völlig egal war. Auf Jakes Drängen hin hielten sie schließlich vor dem Schnellrestaurant, das bei den Kindern unter zehn Jahren besonders beliebt war. Es war nicht einfach, einen Platz zu ergattern, doch schließlich gelang es ihnen. Graham erbot sich, sich in die Schlange einzureihen und ihr Essen zu holen. Caitlin und Jake wurde die Zeit des Wartens nicht lang. Sie hatten immer etwas zu bereden, besonders seitdem Caitlin sich entschlossen hatte, Jakes Baseballteam zu betreuen. Etwa zehn Minuten später kehrte Graham mit dem vollbeladenen Tablett zurück, das er sorgfältig auf dem Tisch absetzte. Nachdem alle ihre Burger vor sich hatten, fragte Caitlin ihren Mann neugierig: „Ich würde sehr gern wissen, warum du dich entschieden hast, heute zum Spiel zu kommen." „Das habe ich dir doch schon gesagt", entgegnete Graham abweisend. „Ich habe den Captain gebeten, ob ich heute früher gehen könnte. Irgendwie war ich es leid, immer Jakes Auftritte zu verpassen. Und wahrscheinlich werde ich in nächster Zeit auch keine Nachtschicht mehr machen." „Tatsächlich?" Caitlin sah ihn skeptisch an. Es war klar, dass sie ihm nicht glaubte. Und das ist auch nicht verwunderlich, nachdem ich sie in den letzten Wochen wie
Luft behandelt habe, dachte Graham schuldbewusst. „Ja, es wird Zeit, dass ich wieder ein normales Leben beginne", meinte er. „Und woher kommt dieser plötzliche Entschluss, wenn Ich fragen darf?" Jake sah gespannt zwischen seinen Eltern hin und her. Etwas war im Gange, das spürte er ganz deutlich. Aber was? „Ich habe heute einen alten Freund getroffen", erwiderte Graham zögernd. „Jemand, den ich schon lange kenne. Wir beide waren praktisch unzertrennlich, und wir hatten immer viele Gemeinsamkeiten." „Du meinst, er gehört auch zu den Männern, denen man die Worte wie Würmer aus der Nase ziehen muss?" fragte Caitlin mit hochgezogenen Auge nbrauen. „Nein." Lachend schob Graham sich ein Pommes Frites-Stäbchen in den Mund. „Er war wie ich ein geborener Einzelgänger und ein Mann, der nicht viele Worte machte. Aber etwas ist mit ihm geschehen. Plötzlich macht er auf mich einen zufriedenen, ja fast glücklichen Eindruck." „Und?" Gespannt wartete Caitlin auf die Antwort. Nach einem solchen Gespräch hatte sie sich immer gesehnt. „Ich habe ihn nach dem Grund gefragt." „Ja, und?" „Er ist verheiratet, hat Frau und Kinder. Das scheint ihm sehr gut zu tun. Er erzählte mir, am Anfang wäre es nicht leicht für ihn gewesen. Er hätte sich dagegen gesträubt und hat sich kurzfristig sogar von seiner Freundin getrennt, weil er immer dachte, das Familienleben wäre nichts für ihn. Aber anscheinend hatte er sich geirrt, und jetzt scheint es ihm wirklich sehr gut zu gehen." Caitlin hatte ihm aufmerksam zugehört, und nun lächelte sie. „Ich würde ihn gern kennenlernen.“ Graham nickte. Ja, das würde ihm auch gefallen. „Vielleicht besuchen wir sie einmal", schlug er vor. „Er lebt in Südkalifornien." „In Disneyland?" fragte Jake mit großen Augen. Das war der einzige Teil der Unterhaltung, der ihn wirklich interessierte. Graham nickte. „Ja, ich glaube schon. Irgendwo da in der Nähe jedenfalls." „Wann könne n wir fahren?" Jake wollte anscheinend schon die Koffer packen. Graham fuhr ihm über den Kopf. „Demnächst", meinte er belustigt. „Morgen?" fragte Jake hoffnungsvoll. „Nein, ein bisschen musst du dich noch gedulden." In diesem Moment ertönte Grahams Pieper. Das bedeutete, jemand auf dem Revier wollte ihn sprechen. „Dad!" Jake sah ihn vorwurfsvoll an. „Nicht jetzt, bitte!" „Tut mir leid, Jake", erwiderte Graham achselzuckend und schaltete das Gerät ab. „Wissen sie denn nicht, dass du bei einer wichtigen Siegesfeier mit deiner Familie bist?" fragte sein Sohn empört. „Nein, ich fürchte nicht." Er erhob sich. „Ich werde ihnen sagen, dass ich nicht gestört werden möchte. Doch jetzt entschuldigt mich. Ich muss ein Telefon finden. Bin gleich zurück." Stirnrunzelnd sah Jake ihm hinterher. „Wenn ich einmal groß bin, werde ich bestimmt kein Polizist", erklärte er im Brustton der Überzeugung. „Na, warte es ab." Dankbar sah er sie an. „Ich mag dich, Cait. Ich finde, du bist toll!" „Vielen Dank!" Caitlin freute sich über das Kompliment. „Das solltest du einmal deinem Vater sagen." „Aber das weiß er doch!" meinte Jake mit großen Augen. „Da bin ich mir nicht so sicher." „Doch, das weiß er", erklärte Jake im Brustton der Überzeugung. „Mein Dad ist nämlich ziemlich schlau."
Caitlin wollte schon antworten, doch dann sah sie Graham vom Telefon zurückkehren. Seine grimmige Miene verhieß nichts Gutes. „Was ist los, Graham?" fragte sie erschrocken. Er schüttelte nur den Kopf. „Los, lasst uns gehen! " „Aber ich habe doch noch gar nicht aufgegessen", protestierte Jake. „Ich habe gesagt, lasst uns gehen." Grahams Ton duldete keinen Widerspruch. Gemeinsam verließen die drei das Restaurant. „Willst du mir nicht sagen, was los ist?" fragte Caitlin ruhig. „Jeffers war am Telefon. Es gibt schlechte Nachrichten, Cait. Sie wollten Horace Taylor in ein anderes Gefängnis bringen, wo er in einen Sicherheitstrakt kommen sollte." Caitlin hatte das Gefühl, als würde ihr Herz plötzlich stillstehen. „Und?" „Er ist dabei entkommen! Und deshalb möchte ich euch beide auch jetzt nach Hause bringen, und zwar sofort!"
17. KAPITEL Eine Woche später gab Caitlin eine sensationelle Erklärung ab. „So, mir reicht es jetzt, Graham! Seit sieben Tagen bin ich nicht mehr aus dem Haus herausgekommen. Das darf so nicht weitergehen. Gut, ich weiß, dieser Mann läuft jetzt wahrscheinlich irgendwo da draußen frei herum. Aber höchstwahrscheinlich ist er längst über alle Berge. Und ich kann einfach nicht zulassen, dass er weiterhin über mein Leben bestimmt. Ob es dir passt oder nicht, ich will wieder in meinen Laden!" Sie griff nach ihrer Tasche. Graham sah sie ungläubig an. „Was soll das heißen, Caitlin? Du kannst nicht einfach so hinausmarschieren, das weißt du doch ganz genau. Hast du denn immer noch nicht begriffen, in welcher Gefahr du schwebst?" Caitlin ignorierte ihn. Sie wühlte in ihrer Tasche nach den Autoschlüsseln. „Nun sei doch vernünftig", beschwor Graham sie. Sie sah ihn entschlossen an. Sie wusste, es würde nicht leicht sein, ihm ihren Standpunkt zu vermitteln, aber sie konnte das nervenaufreibende Warten in der Wohnung einfach nicht länger ertragen. „Ich bin doch vernünftig", erwiderte sie heftig. „Und ich sage dir, der Typ ist längst wieder in Kalifornien oder Nevada, oder wo immer er herkommt. Es wäre doch ausgesprochen verrückt von ihm, hierzubleiben, wo man ihn jede Sekunde wegen Mordes und versuchten Kidnappings verhaften kann, findest du nicht auch? Aber wie dem auch sei, ich halte es hier einfach nicht länger aus. Und es ist auch nicht fair, dass Kerry und Eva im Laden die ganze Arbeit machen sollen." Damit marschierte sie zur Tür. Graham fand ihr Verhalten unbegreiflich. Sie tat gerade so, als würde er sie aus einer Laune heraus im Haus gefangenhalten. Warum konnte sie nicht einfach noch ein paar Tage lang warten? Schließlich wurde im ganzen Land intensiv nach Taylor gesucht, und er war sich ziemlich sicher, dass sie ihn bald schnappen würden. Noch ein paar Tage, und dann wäre sie endlich außer Gefahr. Er sprang auf und versperrte ihr den Weg zur Tür. „Hey, Moment mal, Cait! Du glaubst doch wohl nicht im Ernst, dass ich dich einfach so gehen lasse, oder? Ich bin schließlich Polizist." „Du kannst tun oder lassen, was du willst", erwiderte Caitlin entschlossen. „Ich fahre jetzt jedenfalls zur Arbeit. Und wenn du mich aufhalten willst, musst du mich festnehmen lassen." Bedauernd dachte sie noch einmal an den Verlauf der letzten Woche. Nach Jakes Sieg beim Baseball hatte sie zum ersten Mal wieder Hoffnung geschöpft, was ihre Beziehung betraf. Sie hatte gespürt, dass sie vor einem Durchbruch standen. Aber dann hatte Jeffers ihnen die schlechte Nachricht übermittelt. Graham hatte sich wieder auf seine beruflichen Pflichten besonnen und darauf bestanden, dass sie zu Hause blieb. Wiederum sah sie ihn nur wenig und hatte dabei nicht einmal ihre Arbeit, um sich ablenken zu können. Und jetzt reichte es ihr. Sie war nun einmal kein sehr geduldiger Typ, und das Warten hatte sie wirklich verrückt ge macht. „Wie gesagt, ich fahre jetzt zum Laden, und später werde ich mir Jakes Spiel ansehen", verkündete sie trotzig. „Hast du eigentlich den Verstand verloren? Willst du es darauf anlegen, dass er dich umbringt?" „Ach, komm, Graham, das ist doch völlig übertrieben. Was soll er denn tun - mich in aller Öffentlichkeit erschießen? Das würde er nie machen. Er gehört zu den Killern, die dabei zusehen wollen, wenn ihre Opfer sterben." Bei der Erinnerung an den Mord lief ihr ein Frösteln über den Rücken. Dennoch war sie gewillt, wieder ein normales Leben zu führen. Und außerdem hatte
sie sich in letzter Zeit von Graham so schrecklich allein gelassen gefühlt. Er war wieder voll in seinem Beruf aufgegangen und hatte kaum noch ein privates Wort mit ihr gewechselt. So konnte es einfach nicht weitergehen! Kopfschüttelnd meinte Graham: „Ich weiß wirklich nicht, ob du nun mutig oder einfach nur dumm bist." „Bitte, lass mich das entscheiden!" In Caitlins Stimme klang eine neue Entschlossenheit mit. Graham sah sie an. Das Feuer in ihren Augen zog ihn mehr denn je zu ihr hin. Gerade in den letzten Tagen hatte er sich so sehr nach, ihr gesehnt, dass es ihn all seine Selbstbeherrschung gekostet hatte, die Distanz zu wahren. Allein der Gedanke an Taylors baldige Verhaftung hatte ihm Kraft gegeben. Danach, hatte er sich vorgenommen, wollte er endlich mit ihr reden. „Caitlin, ich ..." Er legte ihr die Hand auf die Schulter. „Ja?" Doch dann ließ er die Hand wieder fallen. Jetzt war nicht der Moment für Privatgespräche. „Also gut, ich sehe, du hast dich entschieden. Dann warte bitte noch wenigstens so lange, bis ich ein paar Telefonate geführt habe. Danach fahre ich dich dann in die Stadt." Caitlin spürte genau, eigentlich hatte er etwas ganz anderes sagen wollen. Aber nach all den Tagen der Einsamkeit hatte sie inzwischen fast die Hoffnung aufgegeben. Es wäre ein Wunder, wenn Graham doch noch seine Liebe zu ihr finden würde. Und auf ein Wunder wollte sie lieber nicht warten. „Also gut", sagte sie widerstrebend. Wenigstens hatte er verstanden, dass sie es hier nicht länger aushielt. Das war schon einmal ein kleiner Fortschritt. Ein Streifenwagen blieb zur Vorsicht vor ihrem Haus, ein anderer parkte vor Caitlins Laden. Graham teilte ihr mit, dass der diensthabende Polizist Reynolds hieß. „Wie lange wollt ihr mir eigentlich noch Polizeischutz gewähren?" fragte Caitlin neugierig. „Bis ich die Sache abblase." „Und warum braucht ihr auf einmal zwei Männer? Du warst vorher doch auch allein." Sie stieg aus dem Auto. „Ja, aber vorher lag der Fall ja auch noch anders. Schließlich bist du jetzt meine Frau." Zumindest theoretisch, dachte Caitlin bitter. Sie konnte sich eine letzte spitze Bemerkung nicht verkneifen. „Es wäre schön, wenn du mir das hin und wieder zeigen würdest." Damit schlug sie die Wagentür hinter sich zu. Mit sehr gemischten Gefühlen sah Graham ihr nach. Als Caitlin ihr Geschäft betraf, wurde sie von Kerry begrüßt. Eva, so teilte sie ihr gleich mit, lag mit einer Grippe zu Hause im Bett. „Gott, bin ich froh, dich wiederzusehen", sagte Kerry bewegt. „Natürlich sind auch Sie uns herzlich willkommen, Detective." Graham hatte hinter Caitlin den Laden betreten und nickte ihr stumm zu. „Wie ist es denn bisher so gelaufen?" erkundigte sich Caitlin und sah sich kritisch im Raum um. Zwei Kundinnen beäugten gerade die neue Ware, ansonsten war es ruhig. „Na ja, es ging", gab Kerry zurück. „Leider ist der Umsatz ein wenig zurückgegangen, obwohl wir uns alle Mühe gegeben haben. Es ist einfach nic ht dasselbe, wenn du nicht da bist." „Kein Problem, jetzt bin ich wieder da", versicherte Caitlin ihr. „Und ich habe auch vor, zu bleiben." Schweigend beobachtete Graham sie dabei, wie sie rasch wieder das Kommando übernahm. Ja, hier ist sie in ihrem Element, dachte er, obwohl ihm bei der ganzen Sache immer noch nicht wohl war. Aber natürlich war ihm nicht entgangen, wie deprimiert sie in den letzten Tagen ausgesehen hatte. Davon war jetzt nichts mehr zu merken, im
Gegenteil, Caitlin blühte förmlich auf. Sie arbeitete ohne Pause bis zum Mittag. Dann verspeiste sie mit Kerry ein paar Sandwiches. „Du siehst ziemlich geschafft aus", sagte sie mitfühlend zu ihrer Freundin. „Wenn du möchtest, kannst du gern nach Hause gehen und dich ein wenig ausruhen." Kerry sah sie schuldbewusst an. „Macht es dir wirklich nichts aus?" „Im Gegenteil. Ich bin so froh, hier zu sein, dass ich am liebsten gar nicht mehr weg möchte. Ich werde heute nachmittag endlich die neue Ware einräumen." „Na gut, wie du willst." Erleichtert griff Kerry nach ihrer Tasche. „Ach, übrigens", sagte sie und zog einen kleinen weißen Umschlag aus der Schublade der Ladentheke, „das hier habe ich ganz vergessen. Es kam am Montag für dich." Der weiße Umschlag roch stark nach Parfüm. Caitlin erkannte es sofort, sie musste gar nicht nach dem Absender schauen. „Von Mutter", sagte sie und verzog das Gesicht. Graham war Zeuge des Gesprächs gewesen. Jetzt streckte er die Hand aus. „Vielleicht gibst du ihn besser ..." Caitlin schüttelte den Kopf, „Nein, nicht nötig, Graham. Nichts, was sie sagt, kann mich noch treffen." Seit dem letzten Mal hatte sie von ihrer Mutter nichts mehr gehört. Natürlich hätte sie sich gern mit Ihr versöhnt, andererseits erwartete sie auch keine Wunder mehr. Entschlossen öffnete sie den Umschlag und las den Brief rasch durch. Sie zögerte kurz, dann knüllte sie ihn zusammen und warf ihn in den Abfalleimer. „So, da gehört er hin." „Magst du mir nicht wenigstens sagen, was drin steht?" erkundigte Graham sich vorsichtig. „Das Übliche", gab Caitlin achselzuckend zur Antwort. „Sie muss von irgend jemandem erfahren haben, dass wir geheiratet haben. Und sie stellt mir ein Ultimatum: Entweder lassen wir uns sofort scheiden, oder sie enterbt mich auf der Stelle." Graham wusste, es ging um viel Geld. Er konnte auf gar keinen Fall zulassen, dass Caitlin seinetwegen ihr Erbe riskierte. „Nun, dann solltest du ihr besser erklären, dass wir ..." Neugierig sah Kerry von einem zum anderen. „Was soll sie ihr erklären?" Natürlich hatte Caitlin ihr verschwiegen, dass es sich bei ihrer Hochzeit nur um eine Zweckheirat gehandelt hatte. „Dass sie nicht mehr alle Tassen im Schrank hat", vervollständigte Caitlin Grahams Satz. Sie sah ihn warnend an und setzte hinzu: „Wenn sie mich nicht enterbt, hätte ich sie wahrscheinlich entmündigen lassen. So erspart sie mir nun die Mühe. Gut, aber lasst uns jetzt nicht mehr darüber reden. Geh nach Hause, Kerry, und ruh dich aus." „Vielen Dank, Caitlin", entgegnete Kerry warm. Sie nahm ihre Tasche und verschwand. Graham hingegen ließ sich nicht so schnell abwimmeln. Der Brief von Caitlins Mutter und die damit verbundene Drohung bedrückten ihn sehr. „Komm, lass uns darüber reden, Caitlin", schlug er vor. Ihr gefiel sein Ton nicht. Am liebsten hätte sie die ganze Sache sofort ad acta gelegt. „Können wir das nicht später machen, Graham? Du siehst doch, es gibt hier ein paar Kundinnen, um die ich mich kümmern muss." Graham willigte ein. In der nächsten Stunde sah er Caitlin beim Aussortieren und Bedienen zu. Er war stolz auf ihre Geschicklichkeit, und er bewunderte auch den Mut, mit dem sie ihrer Mutter die Stirn bot. Aber natürlich gab es für ihn in dieser Angelegenheit nur eine einzige Alternative. Wenn er Caitlin wirklich liebte, musste er sie freigeben, und zwar noch bevor ihre Mutter ihre Drohung wahrmachen konnte. Andererseits konnte er den Gedanken, sie zu verlieren, kaum ertragen. Es ist genauso gekommen, wie ich befürchtet habe, dachte er bedrückt. Caitlin hatte sich einen Platz in seinem Herzen erobert. Ein Leben ohne sie
konnte er sich schon gar nicht mehr vorstellen. Gedankenverloren strich er über das kleine Päckchen, das er nun schon seit drei Tagen in seiner Jackentasche mit sich herumtrug. Sein Herz und sein Verstand kämpften miteinander um die Vorherrschaft. Vielleicht sollte er einfach ... In diesem Moment klingelte das Telefon. Da Caitlin mit den Kundinnen beschäftigt war, stand Graham auf und sagte: „Ich gehe ran." Caitlin nickte ihm dankbar zu. Tatsächlich hatte sie in diesem Moment alle Hände voll zu tun. Und sie dachte auch nicht mehr an den Anruf, bis sie Graham wieder aus dem Hinterzimmer herauskommen sah. Sofort fiel ihr auf, wie erschüttert er war. Sie ließ alles stehen und liegen und eilte auf ihn zu. „Was ist los?" Noch immer klang die Stimme der Schwester aus dem Krankenhaus in seinen Ohren. Jake hatte einen Unfall gehabt. Er war mit dem Fahrrad gegen ein fahrendes Auto geprallt. Natürlich war der Fahrer schuld, aber der Junge lag nun anscheinend bewusstlos im Krankenhaus. Glücklicherweise hatte er seine Monatskarte bei sich gehabt, so dass man ihn hatte identifizieren können. „Es ist Jake", sagte Graham mit trockenem Mund. „Er hatte einen Unfall und liegt nun im Krankenhaus." Caitlin sah ihn entsetzt an. „Was? Wie konnte das geschehen? Warte, ich hole nur schnell meinen Mantel, dann können wir ..." Graham schüttelte den Kopf. Verdammt noch einmal, wie oft hatte er dem Jungen eingeschärft, vorsichtig zu sein? „Nein, du bleibst hier, Caitlin", sagte er scharf. „Ich werde Reynolds Bescheid sagen. Er wird auf dich aufpassen, bis ich wieder zurück bin." Damit war er schon fast an der Tür. Er lässt mir keine Wahl, dachte Caitlin bitter. Graham schloss sie aus seinem Leben aus, als würde sie gar nicht existieren. „Na gut, dann ruf mich bitte an, sobald du etwas Näheres weißt", sagte sie resigniert. Er nickte und verließ schnell das Geschäft. Caitlin versuchte, sich weiterhin auf die Arbeit zu konzentrieren, aber irgendwie wollte es ihr nicht gelingen. Immer wieder musste sie an Jake denken, und ihr Herz krampfte sich bei dem Gedanken an ihn zusammen. Außerdem war wie durch Zauberschlag der Strom ihrer Kundinnen abrupt abgerissen, so dass sie sich ziemlich zu langweilen begann. Ein Blick auf die Uhr zeigte ihr an, dass es kurz nach zwei war. Sie wurde zusehends nervöser. Warum meldete Graham sich nicht? Er war doch bereits seit über einer Stunde fort. Das hätte doch reichen müssen, um zum Krankenhaus zu fahren. Die Türklingel erklang aufs neue. Gespannt sah Caitlin auf, aber es war nur der Polizist, den Graham zu ihrem Schutz abbestellt hatte. „Ist es draußen zu heiß für Sie, Reynolds?" fragte Caitlin freundlich. Der Polizist nickte. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn und sah sich schüchtern im Laden um. „Sie haben auch noch nichts von Detective Redhawk gehört, oder?" fragte Caitlin besorgt. „Nein." Sehr gesprächig ist er ja nicht, dachte Caitlin. Das schien typisch für Polizisten zu sein. „Ich sehe einmal nach, ob ich im Kühlschrank noch eine kalte Cola für Sie habe", meinte sie freundlich. „Sekunde!" Ohne auf seine Zustimmung zu warten, ging sie ins Hinterzimmer. Daneben befand sich noch eine kleine Abstellkammer, in der der Kühlschrank stand Caitlin holte die Coladose heraus. Die kühle Luft tat ihr ausgesprochen gut. Gerade wollte sie den Kühlschrank wieder zumachen, da wurde sie plötzlich von hinten gepackt. Ihr Herz machte einen Satz. Sie wollte sich umdrehen, aber der Mann hielt sie fest wie in einem Schraubstock. Dieser eisenharte Griff, kam ihr vertraut vor.
Er hatte sie schon einmal so festgehalten - damals im Schnellrestaurant. Aber wie war das möglich? Nur wenige Meter entfernt von ihnen stand doch der Polizist. Oh, nein! Er war der Polizist! Caitlin versuchte, sich umzudrehen. „Taylor?" flüsterte sie, starr vor Entsetzen. „Richtig." Die Stimme des Mannes war voller Hass. Triumphierend sagte er mit gedämpfter Stimme: „Ich bin's, du Schlampe. Und jetzt wirst du dafür zahlen, dass du mich verpfiffen hast." Während der Fahrt kam Graham plötzlich ein schrecklicher Gedanke. Nach dem Anruf hatte er vollkommen impulsiv gehandelt. Er hatte sich in seinen Wagen gesetzt und war losgefahren — ohne noch einmal mit dem Krankenhaus Rücksprache zu halten. Sofort griff er nach dem Autotelefon. Ein Anruf bei seiner Mutter bestätigte seinen Verdacht. Jake lag keineswegs im Krankenhaus, sondern saß über seine Schularbeiten gebeugt. Es war eine Falle gewesen, und er war blind hineingetappt! Seine Mutter sagte ihm auch noch, dass Celia und ihr Anwalt darauf verzichtet hatten, in Revision zu gehen. Aber so sehr Graham sich normalerweise auch darüber gefreut hätte, jetzt hatte er nur noch einen Gedanken. Eiskalte Furcht ergriff ihn. Er schnappte sich die Notsirene aus dem Handschuhfach und setzte sie sich aufs Dach. Dann machte er mitten auf der belebten Straße kehrt und fuhr mit Höchstgeschwindigkeit denselben Weg zurück. Bei dem Gedanken an die Gefahr, in der Caitlin nun schwebte, brach ihm der kalte Schweiß aus. Reynolds war noch nicht lange Polizist, er hatte keinerlei Erfahrung mit gefährlichen Verbrechern wie Horace Taylor. Verdammt, wie hatte er nur so dumm sein können? Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis er schließlich mit quietschenden Bremsen vor Caitlins Laden anhielt und hineinstürmte. Das Geschäft war wie ausgestorben. Grahams Nase sagte ihm sofort, dass hier etwas nicht stimmte. Wo war Reynolds? Und, noch wichtiger, wo war Caitlin? Wenn dieser Bursche ihr auch nur ein Haar krümmte, würde er ... „Caitlin!" rief Graham verzweifelt. „Wo bist du?" Verdammt, er hatte etwas gemerkt! Taylor hatte mit mindestens fünf Minuten mehr gerechnet. In seiner Frustration bog er Caitlins Arm so weit zurück, dass sie laut aufschrie. „Wenn du schreist, mache ich dich kalt", sagte er drohend. „Gibt es noch einen anderen Ausgang?" Caitlin schüttelte den Kopf. „Nein, nur die Vordertür", stieß sie hervor. „Gut, dann nehmen wir die Vordertür." Der Mann war nicht normal, das spürte sie ganz genau. Bei dem Gedanken, dass er Graham etwas antun könnte, wurde ihr noch schlechter. „Bitte, tun Sie ihm nichts", flehte sie. „Ich mache alles, was Sie wollen, wenn Sie ihm nur nichts tun." Taylor lachte sein irres Lachen. „Weißt du auch, wieviel mir eine Leiche mehr oder weniger bedeutet?" Er schnipste mit den Fingern. „Für das, was du mir angetan hast, wirst du zusehen müssen, wie ich ihn umbringe." Und dann begann er, Caitlin durch das Hinterzimmer in den Laden zu zerren. Er hielt die Pistole gegen ihre Schläfen gerichtet. Graham wurde ganz weiß bei ihrem Anblick. „Lassen Sie sie los, Taylor", sagte er. „Lassen Sie sie gehen und nehmen Sie dafür mich." „Ach, wie rührend", bemerkte Taylor spöttisch. „Wer hier geht, bestimme immer noch ich. Sie lassen jetzt schön Ihre Knarre fallen, denn sonst ist es um Ihre Braut geschehen." Der Mann ist verrückt, dachte Caitlin schreckensbleich. Ihm schien das Ganze regelrecht Spaß zu machen. Und nicht nur das, er hatte jetzt auch seine Pistole auf Graham gerichtet. Er würde ihn umbringen, ohne jegliche Skrupel!
Mit dem Mut der Verzweiflung rammte Caitlin ihm ihren Ellenbogen in den Magen. Der Schuss, der eigentlich Graham gegolten hatte, ging ins Leere, und die Wucht des Aufpralls ließ beide zu Boden stürzen. „Roll dich weg, Caitlin!" Alles geschah im Bruchteil einer Sekunde. Caitlin tat, wie Graham ihr geheißen. Taylor zielte noch einmal, doch noch bevor er schießen konnte, hatte die Kugel aus Grahams Pistole bereits ihr Ziel getroffen. Der Mörder brach zusammen. Instinktiv hatte Caitlin die Augen geschlossen. Als alles still blieb, öffnete sie sie vorsichtig. Graham stand vor ihr, sein Atem ging schwer. Er streckte ihr die Hand hin und zog sie langsam hoch. „Oh, Gott, Caitlin!" Aufatmend schloss er sie in seine Arme. „Er hätte dich umbringen können." „Dich auch", flüsterte Caitlin. Am ganzen Leibe zitternd, schmiegte sie sich an ihn. „Detective?" ertönte eine laute Stimme von draußen. Sanft machte Graham sich von ihr los. „Ein bisschen spät, findest du nicht?" fragte Caitlin mit einem schwachen Lächeln. Sie konnte sich kaum auf den Beinen halten. „Besser spät als nie", entgegnete Graham und steckte seine Pistole weg. Im nächsten Moment wimmelte es in dem Laden von Polizisten. „Detective?" fragte einer und kam auf die beiden zu. „Wir haben gerade Reynolds gefunden. Er ist tot." Graham nickte grimmig. Er hatte nichts anderes erwartet. Besorgt sah er Caitlin an. „Du brauchst jetzt frische Luft. Komm, ich führe dich hinaus." Caitlin nickte schwach und ließ sich von ihm aus dem Laden führen. „Was ist mit Jake?" „Jake geht's gut. Es war eine Falle. Aber was ist mit dir? Bist du in Ordnung?" „Es geht so!" Bewegt strich Graham ihr übers Haar. „Die ganze Zeit über musste ich daran denken, in welcher Gefahr du stecktest. Als ich dann wusste, dass er ..." Seine Stimme brach, er schüttelte den Kopf. „Bitte, Caitlin, du darfst mich nie wieder so erschrecken." „Ich werde mich bemühen." Was für ein Narr bin ich gewesen, dachte Graham. Dies war die beste Frau, die er je im Leben bekommen konnte. „Er wird dir nie wieder etwas tun können", meinte er grimmig. „Nein, aber ... oh, Graham, er ist weg!" „Was ist weg?" „Mein Ring! Der Plastikring, den mir die Frau zur Hochzeit geschenkt hat." Betrübt hielt sie die Hand hoch. „Er muss mir vom Finger gerutscht sein, als Taylor mich gepackt hielt. Ich muss ihn finden, ich ..." Sie wollte tatsächlich wieder zurück ins Geschäft. Aber Graham hielt sie fest. „Moment mal! Suchst du vielleicht das hier?" Er hatte aus seiner Tasche einen Ring geholt und hielt ihn ihr hin. Verblüfft sah Caitlin ihn an. „Nein, das ist nicht meiner, das ..." Es war ein wunderschöner Goldring mit einem lupenreinen Diamanten. Graham steckte ihn ihr an den Finger. „Doch, jetzt gehört er dir." „Er ist wunderschön, Graham! Aber was soll denn das, was ..." Er unterbrach sie. „Bitte, nimm ihn an, Caitlin. Und nimm auch das an, was dazugehört." „Was denn?" Er lächelte. „Mich." „Dummkopf, das habe ich doch schon lange getan", erwiderte Caitlin mit Tränen in den Augen. Sie schluckte. „Was ... wieso hast du denn plötzlich deine Meinung
geändert?" „Ich hatte nicht mehr die Kraft, gegen mein Glück anzukämpfen. Caitlin." Er sah ihr in ihre tiefgrünen Augen. „Ich habe probiert, mir ein Leben ohne dic h vorzustellen, und bin kläglich gescheitert." „Schön, das zu hören." Endlich, dachte sie und jubelte innerlich. Die ganze Anstrengung der letzten Wochen, die tödliche Angst von vorhin, alles fiel plötzlich von ihr ab und machte einer enormen Erleichterung Platz. „Ich mache dir einen Vorschlag", sagte sie impulsiv. Graham küsste ihre Stirn. „Und der wäre?" „Ich werde jetzt den Laden dichtmachen, und dann nehmen wir uns ein Zimmer in einem Hotel." Sie dachte an ihre Hochzeitsnacht und setzte lächelnd hinzu: „In irgendeinem richtig schäbigen Hotel." „Das klingt gut. Ach, übrigens ..." „Ja?" Caitlin hatte schon zur Tür gehen wollen, aber sie drehte sich noch einmal um. "Ja?" „Es gibt eine ausgesprochen gute Nachricht, Caitlin. Als ich meine Mutter angerufen habe, um zu erfahren, wo Jake steckt, hat sie mir gesagt, dass Celia die Klage fallengelassen hat." „Wirklich? Das ist ja phantastisch!" Sie strahlte ihn an. „Ja das finde ich auch. Ihr Mann hat sie wohl davon überzeugt, dass sie lieber selbst ein Kind adoptieren sollen. Damit gehört Jake nun endgültig zu uns." „Ach, ich bin ja so froh, Graham! Warte noch eine Sekunde auf mich. Ich hole mir nur noch schnell ein besonders aufregendes Dessous für unsere bevorstehende Nacht." Graham hielt sie zurück und meinte kopfschüttelnd: „Bitte, nimm das nicht persönlich, Caitlin, aber ich glaube kaum, dass du es brauchen wirst." „Nein?" erwiderte sie schelmisch. „Was soll ich denn dann tragen, Graham?" Sein Blick war voller Versprechungen. „Mich, Caitlin, nur mich." Sie glühte bereits vor Verlangen und Vorfreude. „Prima, du bist genau meine Kragenweite." -ENDE-