Sarah, du Zauberin der Liebe
Carol Duncan
Tiffany Duo 047–02 01/92 Scanned & corrected by SPACY
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Sarah, du Zauberin der Liebe
Carol Duncan
Tiffany Duo 047–02 01/92 Scanned & corrected by SPACY
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Oh, süße Sarah, du hast dich in den Falschen verliebt! Den gutaussehenden Journalisten Nick quält seine eigene Unehrlichkeit, als er spürt, daß sich die Lehrerin sarah leidenschaftlich zu ihm hingezogen fühlt. Sie ahnt nicht, daß er in ihr Leben getreten ist, um sie als Betrügerin zu entlarven. Nick will nämlich beweisen, daß sie gar keine übersinnlichen Fähigkeiten hat. Doch vom ersten Augenblick an ist Nick fasziniert von Sarahs einfühlsamer Persönlichkeit. Als sie bereit ist, ihm ihre ganze Liebe zu schenken, ist er beschämt über sein falsches Spiel und verläßt sie. Doch vergessen kann er die zauberhafte Sarah nicht. Er kehrt zurück und kommt gerade noch rechtzeitig, um ihr das Leben zu retten...
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1. KAPITEL „Janie, komm schnell. Ein Mann will Scarface fangen.“ Sarah Wilson hatte an der Küste des Beaver Lakes Brombeeren gepflückt. Nun richtete sie sich auf und tastete mit der freien Hand unwillkürlich nach dem Rücken. Dann kletterte sie vorsichtig über die schlüpfrigen moosbewachsenen Felsen, watete durch das flache Wasser und setzte den Korb mit Beeren ab bevor sie sich an den rothaarigen Jungen wandte. „Was soll das heißen, Jimmy Joe? Was für ein Mann?“ „Ein großer“, erklärte der Achtjährige aufgeregt. „Und er versucht, Scarface zu fangen. Du mußt ihn aufhalten, Janie.“ „Jetzt mal langsam, Jimmy Joe. Das wollten schon viele Angler. Bis jetzt hat es noch keiner geschafft.“ Sie strahlte Heiterkeit und Zuneigung aus. Ihre Stimme klang sicher und gelassen. Jimmy Joe sollte sich erst einmal beruhigen. „Der hier ist anders. Er trägt Gummistiefel, hat eine kleine dünne Angel und wirft sie jedesmal genau am Rand aus.“ Die Worte überschlugen sich beinahe. Sarah unterdrückte ein Lächeln. „Jedesmal? Wie lange hast du ihn denn schon beobachtet? Dabei dachte ich, du hilfst mir, Brombeeren zu pflücken.“ „Ach Janie, mein Eimer ist doch schon halbvoll.“ Schuldbewußt senkte Jimmy Joe den Kopf. „So lange habe ich gar nicht hingeschaut. Aber er zielt immer wieder in dieselbe Ecke. Das habe ich genau gesehen. Ich sag dir, der ist anders.“ „Er angelt mit Fliegen“, erläuterte Sarah geduldig. „Scarface ist nicht in Gefahr. Der alte Barsch ist viel zu gewitzt, um auf ein paar Federn hereinzufallen.“ Jimmy Joe atmete wieder gleichmäßiger. „Bist du sicher? Ganz ehrlich, meine ich.“ „So sicher, wie man nur sein kann.“ Sie strich sich eine Locke aus der Stirn und hinterließ dabei einen Streifen Brombeersaft auf der Haut. Da die Zweifel des Jungen nicht beseitigt schienen, fügte sie hinzu: „Weißt du was? Ich gehe mit und gucke mir das mal an. Aber wir müssen ganz leise sein.“ -4-
Sie betrachtete ihre fadenscheinigen Jeans, die sie bis zum Knie hochgerollt hatte, und die schmutzigen Turnschuhe, die vom Waten durchs Wasser naß waren. „So kann ich mich nicht sehen lassen. Grandma würde sagen: Ich bin nicht richtig angezogen, um jemandem vor die Augen zu treten.“ Etwas später ermahnte sie Jimmy Joe, nicht mehr zu reden. Am See waren auch geflüsterte Worte weithin hörbar. Schweigend folgte sie ihrem jungen Cousin zu seinem Versteck, einem Sassafrasdickicht auf einem Hangvorsprung mit Blick auf den See. Dort beugte sie sich vor, um einen Blick auf den Fremden zu werfen. Erschrocken zog sie sich zurück. Jimmy Joe hatte recht. Der Mann war wirklich groß. Und anders. Sarah holte unsicher Luft. Auf einmal war ihr ziemlich warm. Er war schlank, muskulös und wirkte ausgesprochen durchtrainiert. Sarah schätzte ihn auf mindestens einsachtzig. Als er mit einem kaum sichtbaren Drehen des Handgelenks die Angel auswarf, war Sarah wie gebannt von der trägen Kraft und natürlichen Anmut seiner Bewegung. Er hatte den Schwimmer genau am gegenüberliegenden Rand des Beckens plaziert. Die Neugier trieb sie vorwärts, bis Jimmy Joe warnend nach ihrem Arm griff. Sie wurde rot und schloß die Lider, um wieder zur Vernunft zu kommen. Als sie sie wieder aufschlug, sah sie unmittelbar in Jimmy Joes Augen. Ein deutliches „Ich habs ja gleich gesagt“ lag in seinem Blick. Sarah nickte ihm besänftigend zu. Sie machte sich, keine Sorgen, zumindest nicht wegen des Fisches. Ihr schnürte sich die Kehle zu. Die Wasserstiefel waren von ausgesuchter Qualität, der kesse Fischerhut aus Segeltuch war mit Fasanenfedern und Eisbärhaarbüscheln geschmückt. Sarah machte noch einmal die Augen zu, doch das Bild blieb das gleiche. Der Fremde war auf beinahe klassische Art schön. Eine, tiefe Kerbe im Kinn betonte den Ausdruck unnachgiebiger Härte. Seinem Aussehen nach hätte er gut auf das Titelblatt eines Magazins für Angelsport gepaßt. Aber Sarah spürte, daß Angeln nicht der eigentliche Grund für seine Anwesenheit war. Sie konnte natürlich nichts beweisen. Äußerlich stimmte alles. -5-
Trotzdem wußte sie, daß dies der Fremde war, der sich überall im Tal nach ihr erkundigt hatte. Er war nicht gekommen, um Fische zu fangen, sondern um sie zu finden. Sarah kroch rückwärts zurück ins Dickicht. Sie hatte genug gesehen. Der alte Barsch sollte gar nicht mit falschen Fliegen angelockt werden. Die Falle galt ihr. „Wenn du ein bißchen näher kommst, kannst du mir noch besser zugucken“, erklärte der Mann gleichmütig. Die Stimme war gerade laut genug, um im Dickicht gehört zu werden. Sarah fuhr unmerklich zusammen, Jimmy Joe wurde blaß. „Komm schon, Junge. Ich weiß, daß du da bist. Keine Angst, ich tu dir nichts.“ Er drehte sich nicht einmal um. Sarah zwang sich äußerlich zur Ruhe, doch die stand in direktem Widerspruch zu dem inneren Aufruhr, den sie empfand. Sie legte einen Finger auf die Lippen, damit Jimmy Joe sie nicht verriet, und bedeutete ihm mit einem knappen Nicken, daß er runtergehen könne. Während Jimmy Joe über den Vorsprung des Hanges kroch und sich über den roten Kreidefelsen nach unten gleiten ließ, schob sich Sarah im Dickicht nach vorn. Sie war fest entschlossen, ihren Cousin nicht aus den Augen zu lassen. Nicholas Matthias gab sich unbekümmert. Weshalb hatte sich der Junge angeschlichen? Er hatte ihn heute schon einmal beobachtet. Das war Nicholas ebensowenig entgangen wie der Zeitpunkt, als der heimliche Beobachter das Dickicht. verließ. Als Nicholas die Abdrücke von Kinderfüßen in der weichen Erde entdeckt hatte, war er erleichtert gewesen. Ein Kind war ungefährlich. Er glaubte nicht, daß ihm jemand wegen seiner Fragen nach Sarah Wilsons Verbleib feindselig gesonnen war. Sicher war er sich dessen nicht. Er hatte auf jeden Fall nichts herausgefunden und war der Lösung seiner Aufgabe nicht näher als bei der Ankunft vor zwei Wochen. Nicholas hatte den Aufenthalt in Mountain Springs, Arkansas, trotz der widrigen Umstände genossen. Die naturbelassene Landschaft war rauh, aber schön. Felsennasen aus rotem und gelbem Sandstein und grauem Granit ragten aus dem gleichmäßig grünen Weideland. Die Menschen, die hier lebten, paßten zu der Gegend. Sie waren spröde, -6-
hinter leise vorgetragenen Höflichkeitsfloskeln verbarg sich eine eigensinnige Zurückhaltung. Es überraschte ihn daher nicht, daß er nichts, aber auch gar nichts über die Frau in Erfahrung brachte, die er hier suchen wollte. Aber es enttäuschte ihn. Bis hierhin hatte er ihre Spur verfolgt, dann war sie einfach verschwunden. Er musterte den rothaarigen Jungen, der jetzt neben ihm stand und sich den roten Staub aus den Hosen klopfte. „Woran haben Sie gemerkt, daß ich hier bin?“ fragte das Kind, das er auf ungefähr acht Jahre schätzte. „Ich war leise. Grandpa sagt, ich bewege mich so lautlos wie ein Opossum.“ „Das ist wahr“, stimmte Nicholas zu. „Beim ersten Mal war ich mir noch nicht sicher. Aber als du weg warst, habe ich deine Fußabdrücke gefunden.“ „Und woher wußten Sie, daß ich wieder da bin?“ „Für so etwas habe ich eine Antenne.“ Der Junge ging um ihn herum und musterte ihn von allen Seiten. „Wo ist sie jetzt?“ „Was?“ „Na, die Antenne.“ Nicholas lachte. „Das war nicht wörtlich gemeint. Ich spüre eben, wenn mich jemand beobachtet.“ „Ach so.“ Jimmy Joe nickte verständnisvoll. „Dann sind Sie also ein Seher. Genau wie Janie.“ Handelte es sich dabei etwa um die verschwundene Sarah Wilson? Nicholas ließ sich nicht anmerken, wie sehr er sich über die beiläufige Feststellung des Jungen freute. Nach zwei Wochen vergeblichen Bemühens erhielt er nun vielleicht zufällig einen Hinweis. Einfach so. In ihrem Versteck war Sarah nahe daran, laut aufzustöhnen. Ein gefährlicheres Thema hätte Jimmy Joe wirklich nicht wählen können. Sie betrachtete den Fremden. Seine Miene war ausdruckslos geworden. „Nein, das glaube ich nicht“, erwiderte er schließlich. Das klang völlig unbeteiligt. Bildete sie sich vielleicht alles ein? Sarah preßte die Lippen aufeinander. Zum Glück hatte Jimmy Joe -7-
ihren richtigen Namen nicht gesagt, sondern die Koseform ihres Zweitnamens. So hatte er sie genannt, als er noch ein kleines Kind gewesen war. Sie konnte nur hoffen, daß der Fremde keine Rückschlüsse von Janie auf Sarah Wilson ziehen könnte. Denn je länger sie den Mann beobachtete, desto sicherer war sie, daß er derjenige war, der sie suchte. Ihr stockte vor Aufregung der Atem. „Wer ist Janie?“ fragte der Fremde. „Und was ist überhaupt ein ,Seher?“ „Janie ist meine Cousine“, erklärte der Junge. „Sie weiß Sachen, die andere nicht wissen. Zum Beispiel, daß Onkel Hirams bester Jagdhund in einer Höhle festsaß, als er mal vermißt wurde. Oder, wenn Besuch kommt, der sich nicht angemeldet hat. Grandpa sagt, sie sei Seherin.“ „Ach so.“ Sarah hatte die unterdrückte Erregung in der Stimme des Fremden gehört. Aber Jimmy Joe schien nichts aufzufallen. Er fuhr unverzagt fort: „Sie merkt auch, wenn sie beobachtet wird. Beim Beerenpflücken hat sie mal gespürt, daß ein Bär näher kam. Wir sind auf einen Baum geklettert und haben lange gewartet. Auf einmal kam eine Bärin aus dem Gebüsch und ging mit ihren Jungen genau dorthin, wo wir vorher gewesen waren.“ Er legte eine kunstvolle Pause ein. „Und dann?“ drängte der Fremde, erwartungsgemäß. „Nachdem sich die Bären sattgegessen hatten, sind sie wieder verschwunden, und wir sind nach Hause gegangen. Grandpa sagt, daß Gott für uns alle genug Beeren wachsen läßt. Man muß nur warten, bis man dran ist.“ Der Mann lachte, und das Lachen milderte die harten Züge in seinem Gesicht. „Ich habe gehört, daß in dieser Gegend viele Märchenerzähler wohnen, aber daß sie schon so früh anfangen zu üben, ist mir neu.“ „Wie meinen Sie das, Mister?“ „Ich finde, daß du gut Geschichten erzählen kannst, Junge. Wie heißt du eigentlich?“ „Jimmy Joe. James Joseph Lutteral. Und Sie?“ „Nicholas Matthias. Schön, dich kennenzulernen, Jimmy Joe.“ Er -8-
streckte die Hand aus. Sarahs Cousin wischte sich die Finger an der Hose ab, bevor er einschlug. Sarah wagte kaum zu atmen. Sie sah Nicholas zum ersten Mal von vorn. Seine Augen waren dunkel und wachsam. Ihr rann ein Schauer über den Rücken. Bist du verrückt? schalt sie sich sofort. Dieser Mann kann dir gefährlich werden. Also reagier gefälligst nicht wie ein unreifer Teenager. „Angelst du auch gern?“ hörte sie ihn fragen. „Manchmal“, erwiderte Jimmy Joe lässig. „Hast du schon mal mit Fliegen gefischt?“ „Nein, nur mit Würmern. Grandpa sagt, daß die Fische hier lieber etwas Natürliches mögen.“ Nicholas schmunzelte. „Wahrscheinlich hat er recht. Ich habe es schon mit allen möglichen Fliegen versucht, aber der Barsch in dem Loch da drüben beißt einfach nicht an.“ „Ja, das hat Janie auch gemeint“, erklärte Jimmy Joe zuversichtlich. „Von Fischen versteht deine Cousine also auch was. Was hat sie denn sonst noch erzählt?“ „Nur, daß der alte Scarface zu gewitzt ist, um auf ein paar Federn hereinzufallen. Er mag nur Würmer.“ „Das kann ich mir nicht vorstellen“, sagte Nicholas ruhig. „Der Barsch lebt schon eine Weile hier und kann noch, nicht viele Würmer am Angelhaken gesehen haben. Sonst wäre er nämlich nicht so groß und schlau geworden.“ Er grinste, als hätte er gerade eine besonders lustige Idee. „Oder fängst du ihn, fütterst ihn mit Würmern und wirfst ihn wieder ins Wasser? Nervös bohrte Jimmy Joe eine Schuhspitze in die weiche Erde. „Nein, wir fangen ihn nicht.“ Sarah spürte“ daß Jimmy Joe argwöhnisch geworden war. Das schien auch Nicholas nicht zu entgehen. Er verzog spöttisch den Mund. „Nein? Was machst du denn mit ihm? Warte, laß mich raten. Du fütterst ihn einfach, nicht wahr?“ Als Jimmy Joe schuldbewußt zögerte, lachte Nicholas laut auf. „Ich hätte dir fast geglaubt, Jimmy Joe. Einen Barsch mit Würmern zu füttern, also wirklich. Du verstehst es, die Leute an der Nase herumzuführen, -9-
junger Mann.“ „Ich führe niemanden an der Nase herum, Mister. „Deshalb bist du ja so gut. Du machst mir weis, daß man einen Barsch mit Würmern füttern kann, ohne ein Wort darüber zu verlieren. Du bist wirklich begabt, Jimmy Joe Lutteral.“ „Ich habe nicht gesagt, daß ich Scarface mit Würmern füttere“, beharrte Jimmy Joe trotzig, aber auch stolz. „Jetzt soll ich wahrscheinlich annehmen, daß das jemand anders macht. Na, wer ist es denn?“ „Janie.“ Nicholas musterte den Jungen prüfend. Der wurde verlegen, wich dem Blick jedoch nicht aus. „Du sprichst von dem Barsch immer als Scarface“, meinte Nicholas. „Das heißt Narbengesicht. Warum nennst du ihn so?“ „Weil er eine große Narbe über dem Maul hat.“ „Du hast ihn aus so großer Nähe gesehen?“ „Klar.“ Nicholas beobachtete Jimmy Joe noch eine Weile, dann legte er den Kopf in den Nacken und lachte, daß die Zähne im Sonnenlicht aufblitzten. „Sie glauben mir nicht, stimmts?“ fragte Jimmy Joe herausfordernd. „Sagen wir, ich finde, daß du ein guter Geschichtenerzähler bist, Jimmy Joe.“ „Sie glauben mir also wirklich nicht.“ Nicholas sah den Zorn in seinem Blick. „Warum wirst du denn ärgerlich? Ich habe gerade zugegeben, daß du dir wunderbare Geschichten ausdenken kannst. Viel besser als die üblichen, in denen der größte Fang des Lebens immer knapp entwischt.“ „Ich habe nicht behauptet, daß er entwischt ist.“ „Damit meine ich doch nur die Märchen, die jeder Angler erzählt, Jimmy Joe.“ „Sie glauben mir nicht, Mister“, wiederholte Jimmy Joe noch einmal. Nicholas zögerte, auf seinem Gesicht zeichneten sich Unsicherheit und Bedauern ab. „Wärest du glücklicher, wenn ich jetzt sage, daß ich dir die Story abnehme?“ erkundigte er sich behutsam. - 10 -
„Nur, wenn es stimmt.“ „Das habe ich mir gedacht. Was schlägst du also vor?“ Jimmy Joe warf einen raschen Blick auf das Dickicht, dann auf den Teich, und sah Nicholas schließlich beklommen an. Das augenscheinliche Unbehagen des Jungen störte Nicholas. Er hatte ihn nicht in die Enge treiben wollen. Aber woher sollte er ahnen, daß Jimmy Joe seine Glaubwürdigkeit so nachdrücklich verteidigen würde? Er beobachtete, wie der Junge eine Weile mit sich rang und endlich zu einem Entschluß kam. Jimmy Joe drehte sich zum Hang um und rief: „Janie, du mußt jetzt rauskommen.“ „Warum rufst du deine Cousine, Jimmy Joe?“ „Weil Grandpa immer sagt, daß es nur zwei Möglichkeiten gibt, wenn einem jemand was nicht glaubt.“ „Welche denn?“ „Man kann ihn schlagen, bis er den Mund hält, oder beweisen, daß man im Recht ist.“ „Aha. Und warum möchtest du, daß Janie kommt?“ „Weil Sie zu groß für mich sind, um Sie zu schlagen.“ Nicholas hätte beinahe wieder gelacht, doch dann nickte er nur zustimmend. Er bezweifelte, daß Jimmy Joes „sehende“ Cousine die Lehrerin war, die er suchte. Trotzdem war er aufgeregt, denn immerhin bestand eine geringe Chance. Daß Sarah dem Jungen helfen mußte, hatte sie schon gewußt, bevor er sie dazu aufforderte. Das war so unvermeidlich wie die Tatsache, daß sich Nicholas Matthias vom gesamten Beaver Lake ausgerechnet jenen Küstenstreifen zum Angeln ausgesucht hatte, an dem sie lebte. Sie bahnte sich bereits einen Weg durchs Dickicht, als ihr plötzlich ein Gedanke kam. Prüfend musterte sie ihr mit Brombeersaftflecken übersätes T-Shirt. Es war riesig, hatte zum Schutz gegen die Dornen lange Ärmel und verriet nichts über die sich darunter verbergende perfekte Figur. Da Sarah ziemlich klein war, wurde sie oft für jünger gehalten als siebenundzwanzig. Wenn sie dazu auch noch die in dieser Gegend übliche Mundart nachmachte, würde sie es vielleicht schaffen. Der Plan war nicht ideal, aber sie hatte keine Wahl. Sie mußte eben den Blick gesenkt und das Gesicht möglichst abgewandt halten. - 11 -
Sobald sie Jimmy Joes Ehre gerettet hätte, würde sie sich davonmachen. Der Mann, der sich nach der Lehrerin aus St. Louis erkundigt hatte, würde nicht damit rechnen, daß diese als schmutzstarrende Halbwüchsige am Seeufer entlangwatete. Am Rand des Vorsprungs hielt sie noch einmal inne. Obwohl Nicholas sie noch nicht ausmachen konnte, raste ihr Puls. Sie holte noch einmal tief Luft. Ich tue das für Jimmy Joe, rief sie sich ins Gedächtnis. Dann trat sie aus dem Unterholz. Es gab keine Möglichkeit, auf dem Weg nach unten wenigstens annähernd damenhaft zu wirken. Da sie das ohnehin nicht wollte, zögerte sie nicht, sondern setzte sich hin und rutschte auf dem Hosenboden nach unten. Sie stöhnte leise auf, als sie so unsanft landete, daß ihr Kopf nach hinten flog. Dabei begegnete sie kurz Nicholas Blick. Seine Augen waren dunkelbraun und vor Staunen weit geöffnet. Einen Moment lang hatte sie das Gefühl, er sähe ihr direkt ins Herz. Sie unterdrückte einen Schauer, senkte die Lider und sprang hastig auf. Nicholas hatte nicht zu hoffen gewagt, daß die „sehende“ Cousine die Frau war, die er suchte. Er wußte auch nicht so recht, wen er erwartet hatte. Aber auf jeden Fall nicht das junge Mädchen, das nun vor ihm stand. Es war nicht viel größer als Jimmy Joe und offenbar schüchtern, denn es traute sich nicht, ihn anzusehen. Soweit er das überhaupt beurteilen konnte, waren die beiden einander nicht sehr ähnlich. Bis auf die von Natur aus helle, jetzt sonnengebräunte Haut und das rote Haar. Aber während Jimmy Joes Schopf flammendrot war, war der aschblonde des Mädchens allenfalls rötlich überhaucht. Sarah tat verlegen. Sie trat von einem Fuß auf den anderen, dann bohrte sie die Fußspitzen in die Erde, wie sie es vorhin bei Jimmy Joe beobachtet hatte. „Ich hab dir doch gesagt, daß ich nicht richtig angezogen bin, um mich sehen zu lassen“, sagte sie vorwurfsvoll, aber nicht zu ärgerlich. Wenn sie nicht wollte, daß Jimmy Joe sie verriet, durfte sie nicht übertreiben. „Entschuldige, Janie. Ich wollte, doch nur...“ „Schon gut“, unterbrach sie ihn. Er wirkte so beschämt, daß sie ihn - 12 -
am liebsten getröstet hätte. Aber das ging natürlich nicht. „Für diesmal jedenfalls. Such jetzt ein paar Würmer, damit wir deine Geschichte beweisen können. „Na schön, Janie“, meinte Nicholas ruhig, nachdem Jimmy Joe verschwunden war. „Was machen wir zwei denn jetzt?“ Er hoffte, daß sie ihn ansähe, wenn er sie direkt ansprach. Aber sie betrachtete weiterhin ihre Fußspitzen. „Wir warten auf Jimmy Joe.“ „Und dann?“ So schnell gab er nicht auf, und diesmal behielt er recht. Sie hob den Kopf. Nicholas musterte sie so eindringlich, daß sie kaum zu atmen wagte. Rasch wandte sie sich wieder ab. „Dann füttern wir den Fisch.“ Nicholas war verwirrt. Nach ihrem Äußeren schätzte er Janie auf ungefähr sechzehn. Doch der zweite Blick in ihre geheimnisvollen grünblauen Augen bestätigte seinen ersten Eindruck. Diese Augen hatten nichts Kindliches. Sie erinnerten eher an die einer Nixe oder einer Sirene wie Lorelei. Bleib sachlich, ermahnte er sich. Er studierte sie aufmerksam. Sie trug das Haar gescheitelt und an beiden Seiten über den Ohren mit Bändern zusammengefaßt. Ihre ganze Haltung wies daraufhin, daß sie noch sehr jung war. Sie ist wirklich noch ein schüchterner Teenager, befand er. Die Gegenwart eines Fremden macht sie nervös, und sie schämt sich wegen der Brombeerspuren auf dem Shirt. Wenn sie erst einmal etwas älter ist, werden sich die Männer allerdings vor ihr in acht nehmen müssen. „Ich hab sie, Janie!“ rief Jimmy Joe in dem Moment und lief auf die beiden zu. „Drei Stück. Ist das genug?“ „Klar.“ Janie nahm die Regenwürmer entgegen. „Und jetzt?“ fragte Nicholas gespannt. Ohne ihn anzusehen, erwiderte sie: „Jetzt füttere ich Scarface.“ Sarah watete ins Wasser, bis es tiefer wurde. „Kommen Sie mit“, rief sie über die Schulter zurück. „Sonst können Sie ihn nicht sehen. Aber Sie müssen hinter mir bleiben, damit er nichts merkt.“ Nicholas und Jimmy Joe folgten ihr. - 13 -
Nachdem sie die beiden aufgefordert hatte, sich ganz ruhig zu verhalten, bückte sie sich so weit hinab, daß ihr T-Shirt naß wurde. Mit der freien Hand hob sie einen Stein auf, klopfte damit erst einmal und nach einer Pause noch einmal gegen einen Felsen am Boden des Sees. Wie gebannt starrte Nicholas ins Wasser. Es war kristallklar, so daß er bis zum Grund hinabsehen konnte. Er ertappte sich dabei, daß er Janie Erfolg wünschte. Als der Fisch dann jedoch auftauchte, meinte Nicholas, seinen Augen nicht trauen zu dürfen. Der riesige Barsch schwamm um Sarah herum und streifte ihre Beine knapp über der Wasseroberfläche hielt sie ihm mit ausgestreckter Hand einen zappelnden Regenwurm hin. An der Seite des Fischs erkannte Nicholas den typischen dunklen Streifen, außerdem Zeichen und Narben, die zeigten, daß er schon ziemlich alt sein mußte. Am auffälligsten war die Narbe quer über dem Maul, die Jimmy Joe bereits erwähnt hatte. Als der Barsch den Wurm entdeckte, glitt er gemächlich hin. Er schnappte sich die erste Hälfte des Leckerbissens, schluckte sie herunter und widmete sich dann der zweiten. Sobald alle Vorräte verzehrt waren, drückte er sich behutsam gegen Sarahs Hand, schlug zum Abschied noch einmal mit dem Schwanz und verschwand wieder. Sarah richtete sich auf und wischte sich die Finger am TShirt ab. „Reicht das, Jimmy Joe?“ Er strahlte über das ganze Gesicht. „Danke, Janie.“ „Grandma wartet auf die Brombeeren“, mahnte sie. „Wir müssen heim.“ Auf dem Weg zum Ufer würdigte sie Nicholas keines Blickes und achtete auch nicht auf das Wasser, das ihr von den Jeans an den Beinen herunterrann. Wortlos sah er ihr nach. Er konnte immer noch nicht fassen, was er soeben beobachtet hatte. „Komm endlich, Jimmy Joe!“ rief Sarah vom Hang herab. „Gleich, Janie. Bitte!“ „Na gut.“ Sie wollte nicht zeigen, wie wichtig es ihr war, rasch wegzukommen. „Aber beeil dich.“ „Wollen Sie noch länger hier angeln, Mister?“ - 14 -
„Ich werde noch ein paar Tage in der Gegend bleiben. Aber zum Fischen suche ich mir einen anderen Platz.“ Nicholas lächelte ihm zu. „Hier ist wohl nichts zu fangen.“ Jimmy Joe machte keinen Hehl aus seiner Freude. „Eine halbe Meile von hier ist eine gute Stelle am See“, verriet er. „Sie erkennen das Loch an dem alten Baumstumpf im Wasser.“ „Hättest du etwas dagegen, wenn ich es da mal versuchte?“ Der Junge schüttelte den Kopf. „Wir könnten uns morgen zum Angeln treffen. Hast du Lust?“ „Das geht nicht, morgen ist kein Freitag. Aber ich kann ja zugucken.“ „Angelst du nur freitags?“ „Ja, an den anderen Tagen will Grandma keinen Fisch.“ „Und wenn du freitags nicht genug fängst?“ „Das ist noch nie passiert“, versicherte Jimmy Joe. „Jetzt muß ich aber wirklich gehen.“ Nicholas nickte. „Vielleicht bis morgen also. Und sag deiner Cousine noch einmal vielen Dank, daß sie mir das Kunststück mit Scarface vorgeführt hat.“ Er wartete, bis der Junge den Hang hinaufgeklettert und mit Janie im Dickicht verschwunden war. Dann packte er nachdenklich seine Sachen. Die Kinder, der See, die Leute hier, das alles verwirrte ihn. Ländliche Gegenden waren ihm nicht fremd. Er war selbst in einer aufgewachsen, aber hier war das anders. Das faszinierte ihn und machte ihn neugierig. Ähnlich erging es ihm mit der Frau, die er aufspüren sollte. Als Jimmy Joe seine Cousine zum ersten Mal erwähnte, hatte Nicholas einen Moment lang gehofft, die Suche sei beendet. Er hätte wissen müssen, daß es nicht so einfach war. Vor drei Tagen hätte er die Suche beinahe aufgegeben. Dann hatte er Sarah Wilsons Namen in den Steuerunterlagen des Verwaltungsbezirks gefunden. Doch auch das war merkwürdig, denn die Akten bezogen sich auf Monte Ne, einen Urlaubsort, der längst vom Beaver Lake überspült worden war. Er überlegte, ob er nach St. Louis zurückkehren und es von dort mit einer neuen Spur versuchen sollte. Nein, sagte er sich sofort. Sie ist - 15 -
hier. Ich werde weitermachen. Vielleicht habe ich Glück. Außerdem konnte er jetzt nicht fort. Irgend etwas hielt ihn hier fest. War es das Geheimnis um einen Barsch, der sich von Kindern zähmen ließ? Er wandte sich zu der Stelle um, an der er die beiden zuletzt gesehen hatte. Der Junge war wirklich nett und hatte sich sehr bemüht, sich den Triumph nicht anmerken zu lassen. Dazu gehörte Charakterstärke. Dann fiel Nicholas das Mädchen mit den unergründlichen Augen ein und wie sie den Barsch angelockt und mit der Hand gefüttert hatte. Das war einfach unglaublich.
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2. KAPITEL „T. J. läßt dir ausrichten, daß Tante Cinda dich sehen möchte“, erzählte Sarahs Großmutter, als Sarah mit Jimmy Joe zur Farm zurückkehrte. „Hat er gesagt, warum?“ „Nein. Sie meinte, du wüßtest Bescheid.“ Wie recht Tante Cinda hatte. Seit der Fremde im Tal aufgetaucht war, hatte Sarah geahnt, wie es weitergehen würde. Sie hätte es gern vermieden, doch die Begegnung am See hatte ihre Schutzmaßnahmen zunichte gemacht. Nun war es zu spät, um den Verlauf der Dinge zu ändern. Sie seufzte, doch dann fing sie Grandmas besorgten Blick auf und zwang sich zu lächeln. In der Familie wurde nicht darüber gesprochen, daß sie und die ältere Schwester der Großmutter eine merkwürdige Begabung besaßen, die niemand verstand, auch Sarah nicht. Genausowenig wie das Band, das dadurch zwischen ihr und Tante Cinda geschaffen wurde. Kein anderes Familienmitglied verfügte über diese Fähigkeit, und das war wahrscheinlich gut so. Manchmal wirkte die unsichtbare Verbindung nämlich so erschreckend auf Sarah, daß sie nicht sicher war, ob sie eine weitere verkraftet hätte. Sie lenkte ihre Gedanken in andere Bahnen. „Keine Angst, Grandma, es ist schon nichts Schlimmes. Vielleicht fühlt sie sich nur einsam. Ich war schon seit ein paar Tagen nicht mehr in Hogscald.“ „Ja, vielleicht“, stimmte die Großmutter voller Zweifel zu. „Wenn du sie doch nur überreden könntest, nach Mountain Springs zu ziehen. Ich habe das schon so oft probiert. Sie ist so weit weg und hat noch nicht einmal ein Telefon. Im und ums Haus herum kommt sie zwar zurecht, aber sie hat sich nie überwinden können, den Berg hinunterzusteigen, auch wenn sie dazu sehr wohl in der Lage war.“ „Ich werde sehen, was ich ausrichten kann, Grandma. Ihr ist sicher klar, daß sie vor dem nächsten Winter da weg muß. Momentan schaut T. J. oder einer der anderen täglich bei ihr vorbei. Wenn es schneit, wird das nicht mehr möglich sein.“ Sie lächelte der Großmutter beruhigend an. „Mach dir keine Gedanken. Es wird - 17 -
schon gutgehen.“ „Fährst du jetzt los oder wartest du bis morgen?“ „Ich mach mich nach dem Abendessen auf den Weg“, erwiderte Sarah. Ihr war klar, daß Tante Cinda sie nicht ohne Grund zu sich bat. „Sonst macht sie sich am Ende Sorgen.“ Kurz vor Sonnenuntergang betrat Sarah die Veranda vor Tante Cindas Haus und spähte durch die offene Tür. Das Auto hatte sie am Ende der Straße abgestellt und war bis hierher über den Fußweg den Berg hinaufgewandert. Obwohl die Sonne schon so tief stand, war Sarah erhitzt und müde. Vor langer, langer Zeit hatte irgendein Ururgroßvater Apfelbäume , um das Haus herum gepflanzt, deren Schatten nun die Zimmer hinter den kleinen Fenstern verdunkelte. Licht brannte keines, und solange Sarahs Großtante allein war, würde sie die Petroleumlampen auch nicht anzünden, denn sie war fast blind. „Ich bin's, Tante Cinda. Sarah. Du wolltest mich sehen?“ Sie wartete, bis sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, dann sah sie sich um. Cinda Shields saß in einem Schaukelstuhl neben dem Herd und trug wie immer einen weichen Wollschal um die Schultern. Wie gekämmte Baumwolle umrahmte das silberweiße Haar das zerfurchte Gesicht. „Ich habe auf dich gewartet, mein Kind. Du weißt, warum. Also versuch gar nicht erst, mir etwas anderes weiszumachen. Du wirst ihn treffen müssen. Sarah dachte an den Fremden. Warum suchte er sie? Doch das war jetzt nicht mehr wichtig. Sie hatte ohnehin keinen Einfluß mehr auf die Ereignisse. Ihr Schicksal und das des Fremden waren auf unerklärliche Weise und aus irgendeinem Grund miteinander verwoben. Sie hätte zu gern einen Blick in ihre Zukunft geworfen, so wie sie es manchmal für andere tat. - 18 -
„Warum zögerst du noch?“ „Ich habe Angst“, gestand Sarah. „Wovor? Was geschehen soll, wird geschehen.“ „Ich weiß, Tante Cinda. Aber diesmal spüre ich eine Veränderung, und ich bin mir weder sicher, ob ich das will, noch worum es sich dabei handelt. Ich kann Grandpa sagen, wo die Brille ist, Bobby Wade, daß er den linken Hinterreifen überprüfen muß, weil er ihn sonst plattfahren wird, und Onkel Hiram, daß er genug Zeit zum Heumachen hat, bevor es regnet. Aber ich habe keine Ahnung, was ich morgen zum Frühstück essen werde, beziehungsweise ob ich überhaupt frühstücken werde.“ Tante Cinda lächelte voller Verständnis und Zuneigung. „Natürlich. Sonst könntest du versucht sein, etwas zu ändern, und das wäre vielleicht nicht gut. Wenn es erforderlich ist und du etwas ändern mußt, wirst du Bescheid wissen. Im übrigen weißt du, daß das Leben einem ständigen Wechsel unterworfen ist. Was geschehen soll, wird geschehen.“ Nach einer kleinen Pause fügte sie hinzu: „Liegt es an dem kleinen Jungen aus St. Louis, bekümmert dich die Geschichte immer noch?“ „Nein. Ja. Ach, ich weiß nicht. Ich habe das Gefühl, Morgen und Gestern sind völlig durcheinander geraten.“ „Hast du Ärger gehabt? Hat dich jemand aufgespürt?“ „Nein, das glaube ich nicht. Ich habe mit einem Polizisten gesprochen, der mit Sam Bascomb befreundet ist. Immerhin hat er mir nicht völlig mißtraut. Es war jedenfalls anders als beim ersten Mal. Da war alles so verworren, daß ich kaum etwas erkennen konnte. Ich hatte Angst, daß mein Wissen nicht ausreichte. Trotzdem blieb mir nichts anderes übrig, als anzurufen.“ „Das war richtig.“ „Aber ich fühlte mich so verletzlich“, sagte Sarah. Sie hatte Tränen in den Augen und hoffte, daß Tante Cinda das nicht merkte. Doch, dann fiel ihr ein, daß die alte Frau auch dann Bescheid wüßte, wenn sie nichts sah. „Die Zeit war knapp. Obwohl er Angst hatte, war er tapfer. Ich fürchtete, daß man ihn zu spät finden könne.“ „Das war jedoch nicht der Fall.“ „Nein, aber es gibt einen unklaren Punkt in der Vergangenheit. - 19 -
Vielleicht hängt das mit dem Jungen zusammen. Oder mit diesem Mann.“ „Dem kannst du nicht ausweichen.“ „Ich bin nach Hause zurückgekehrt, weil ich Ruhe brauche, Tante Cinda. Hier geht es mir gut. Draußen... Auf mich wirkt das wie ein schlechter Scherz. Zum Beispiel das Gespräch mit dem Polizisten. Ich habe ihm erzählt, was ich wußte, und ihn gefragt, ob das reiche, um den Kleinen zu finden. ,Keine Ahnung', hat er daraufhin gesagt. ,Schließlich sind Sie die Frau mit der Kristallkugel.' Dabei ist er Sams Freund.“ „Er kennt dich noch nicht lange. Hab Geduld, Sarah. Du bist den Leuten hier von klein auf bekannt, aber manche sind eben kindisch. Wenn sie etwas nicht verstehen, bekommen sie Angst, das weißt du doch. Aber du hast dein Bestes getan, mehr kann man nicht verlangen. Häufig erkennen wir anstelle des Gesamtbilds eben nur einzelne Puzzlesteine.“ Wenn es jemanden gab, der Sarahs Bedenken nachvollziehen konnte, dann war das Cinda Shields, und die besänftigenden Worte blieben nicht ohne Wirkung. .“Manchmal weiß man überhaupt nicht, was auf einen zukommt“, erklärte die Großtante. „Das Risiko muß man auf sich nehmen, ohne sich deswegen andauernd Sorgen zu machen.“ „Du meinst, ich soll mich nach meinem Gefühl richten?“ „Nach dem Gefühl, dem Instinkt, oder wie immer du es nennen willst. Niemand kann dir garantieren, daß im Leben immer alles gutgeht. Hauptsache, du hörst auf deine innere Stimme.“ Tante Cinda schwieg für einen Augenblick, und Sarah wartete geduldig ab. „Es ist gut, daß du heimgekommen bist, um dich auszuruhen. Aber jetzt mußt du den Fremden kennenlernen. Das ist wichtig.“ Sarah erschauerte. Es gab kein Zurück. Wenn der Fremde ihr das nächste Mal in die Augen sähe, würde er wissen, wer sie war. Dabei hatte sie keine Ahnung, weshalb er sie suchte, und bis sie das herausfand, mochte es zu spät sein. „Kennst du den Fremden, Tante Cinda? Weißt du, was er von mir will und warum er so wichtig ist?“ - 20 -
„Nein, ich weiß nicht mehr als du. Würde ich ihn kennen, wäre das vielleicht etwas anderes.“ „Woran hast du gemerkt, daß er mich sucht?“ „Auf die gleiche Art, wie du so etwas merkst, Kind. Obwohl das diesmal gar nicht nötig gewesen wäre, denn die Neuigkeit hat sich wie ein Lauffeuer im Tal verbreitet. Du mußt mit ihm reden, Sarah. Hast du eine Ahnung, wo er wohnt?“ „Das läßt sich rasch herausfinden, denn sein Name klingt für diese Gegend sehr ungewöhnlich“, versicherte Sarah. „Vermutlich hält er sich in einer Feriensiedlung am See auf.“ Tante Cinda lächelte kaum merklich. „Du weißt also, wie der Fremde heißt? Mit anderen Worten, du bist ihm schon begegnet.“ „Jimmy Joe und ich haben uns am See mit ihm unterhalten“, erzählte Sarah. „Aber er wußte nicht, wer ich bin. Er heißt Nicholas Matthias. Das hat er zumindest behauptet.“ Plötzlich leuchteten Tante Cindas Augen auf. „Er sieht gut aus, dieser Matthias, nicht wahr?“ „O ja.“ Die Erinnerung an seine markanten Gesichtszüge und die hochgewachsene Gestalt trieb Sarah das Blut in die Wangen. „Wie alt ist er?“ „Mitte Dreißig, würde ich sagen.“ „Er ist alleinstehend“, stellte Cinda mehr zu sich selbst fest. „Jetzt wird mir einiges klar.“ Sarah war verwirrt. Die Großtante hatte sich für das Leben in dieser Abgeschiedenheit entschieden. Innerlich nahm sie an Freude und Leid der Bewohner im Tal teil. Um Außenseiter kümmerte sie sich selten, vor allem, wenn sie sie nicht persönlich kannte. Stammte das plötzliche Wissen aus Sarahs Gedanken? Das war unmöglich, denn Sarah hatte nichts dergleichen empfunden. „Kennst du ihn, Tante Cinda? Weißt du, was er vorhat? „Ja, das ist mir jetzt klar, obwohl er davon selbst noch keine Ahnung hat. Er ist aus anderen Gründen hier.“ Sie verstummte wieder. Sarah schwieg ebenfalls. Die Großtante drängen zu wollen, wäre ohnehin sinnlos. Denn die sagte nur, was sie sagen wollte, und auch nur dann, wenn sie es für richtig hielt. - 21 -
„Magst du ihn, Sarah Jane?“ erkundigte sich Tante Cinda endlich so ruhig, daß es beinahe gleichgültig klang. Sarah hatte bis jetzt vermieden, sich diese Frage zu stellen. „Ich bin mir nicht sicher. Wahrscheinlich hatte ich zuviel Angst, um darüber nachzudenken. Er war nett zu Jimmy Joe, und Jimmy Joe war ihm zugetan.“ „Kinder haben in diesen Dingen ein sicheres Gespür. Sie lernen aus der Vergangenheit, ohne sich damit zu belasten. Das solltest du auch mal versuchen.“ „Ich nehme es mir jeden Tag vor, Tante Cinda, aber es ist schwer. Deshalb habe ich ja auch die Stelle in St. Louis angenommen.“ „Das war eine kluge Entscheidung“, bestätigte Tante Cinda. Sie sah eine Weile vor sich hin, dann kehrte sie zum Thema zurück. „Mr. Matthias ist nirgends zu Hause. Er will nach Monte Ne.“ „Monte Ne?“ wiederholte Sarah. Die meisten Leute wußten nicht einmal, daß es diesen Ort um die Jahrhundertwende herum gegeben hatte. „Monte Ne ist seit sechzig Jahren verschwunden.“ „Gerade deshalb möchte er dich vielleicht treffen. Das könnte der Teil der Vergangenheit sein, um den du dir solche Sorgen machst.“ „Ich fürchte, ich verstehe noch immer nichts, Tante Cinda.“ „Überleg doch mal. Wem hat Monte Ne gehört, bevor der See entstand?“ „Mir“, gab Sarah zu. „Zumindest ein Bruchstück des Landes, auf dem Monte Ne einmal gestanden hat. Die alte Frau nickte. „Genau, und das war nicht wenig. Du mußt mit dem Mann reden, Sarah.“ Sarah sah ihn wieder vor sich. Diesmal war das Bild so deutlich, als stünde er wirklich vor ihr, und sie kämpfte einen Augenblick gegen die Versuchung an, die Hände nach ihm auszustrecken. Als es ihr endlich gelang, die Erfindung ihrer Phantasie abzuschütteln, atmete sie erleichtert auf. „Na schön, Tante Cinda“, lenkte sie ein. Ihre Stimme klang noch immer ein bißchen unsicher. „Wenn du meinst, daß das so wichtig sei, werde ich ihn treffen.“ „Wann?“ „Nächsten Donnerstag.“ - 22 -
Nicholas Matthias sah sich auf dem Platz um. Vor dem Rathaus stand ein Farmer in blauem, Overall, das war alles. Von Sarah Wilson weit und breit keine Spur. Die Suche nach dieser Frau hatte ihn viel Zeit und Mühe gekostet. Nun schien es, als würde sie ihm auf dem Silbertablett serviert. Er lächelte in sich hinein. Der lang ersehnte Erfolg war endlich greifbar geworden. Es sei denn, jemand hatte sich mit ihm einen Scherz erlaubt. Er bezweifelte allerdings, daß sich hier jemand auf diese Art über ihn lustig machen würde. Alle Welt wußte, daß er sich überall nach dieser Frau erkundigt hatte, aber keiner der Befragten hatte je von ihr gehört. Zumindest hatten sie das behauptet. Doch dann hatte ihm jemand in der Feriensiedlung einen Zettel unter der Tür durchgeschoben: „Wenn Sie mit Sarah Wilson sprechen möchten, gehen Sie am Donnerstag um drei Uhr ins Mountain Springs Cafe und setzen sich dort in die zweite Nische.“ Die Mitteilung war nicht unterschrieben und hatte auch sonst keinen Hinweis auf den Absender enthalten. Nicholas betrat das Cafe. Trotz der für Arkansas typischen Sommerhitze besaß das Lokal keine Klimaanlage. Statt dessen drehte sich an der Decke ein altmodischer Ventilator. Die träge Bewegung schien die feuchtheiße Luft jedoch nur umzuschichten, anstatt sie zu kühlen, oder den Geruch nach gebratenen Zwiebeln und abgestandenem Zigarettenrauch zu vertreiben. Erleichtert betrachtete er die Nischen an einer der Wände. Offenbar kannte sich der unbekannte Schreiber hier aus. Ein paar Tische waren besetzt, vor allem jene beim Eingang. Die drei Nischen dagegen waren frei. Da die zweite in der Mitte lag, war es gleichgültig, von welcher Seite man zu zählen anfing. Nicholas überlegte, ob das Absicht oder Zufall war. Er sah auf die Uhr. Genau drei. Aber er hatte Zeit und würde sich - 23 -
gedulden. Bisher hatte sich Sarah Wilson seiner Suche erfolgreich entzogen. Nun hoffte er, daß das Ergebnis der Jagd so interessant war wie die Jagd selbst. Eine junge Frau mit dunklem Haar näherte sich von der Theke und fragte ihn nach seinen Wünschen. „Vorerst nur ein Glas Eistee“, erwiderte er. „Ich bin hier mit jemandem verabredet. Kurz darauf nippte Nicholas an seinem Tee und dachte an die Suche nach Sarah Wilson. Er hatte zum ersten Mal von ihr gehört, als er einen ehemaligen Armeekameraden besuchte. Inzwischen war Hoyston Polizeibeamter in St. Louis und hatte damals viel mit der Fahndung nach einem kleinen Jungen zu tun gehabt. Nicholas war dabei gewesen, als Hoyston Sarahs Anruf entgegennahm. Sie hatte den Vermißten genau beschrieben, sogar sein abgetragenes T-Shirt. Außerdem erzählte sie von einem alten Haus, dessen Fenster mit Brettern zugenagelt waren, einem altmodischen Garten voller Pfingstrosen, ländlicher Umgebung, Stadtgeräuschen und dem Geruch nach altem verbrannten Holz. Sie sagte, der Junge sei allein, ihm drohe jedoch Gefahr, sobald die Sonnenstrahlen vom Westen her durch die Spalten zwischen den Brettern vor den Fenstern drängen. Eine Hellseherin. Nicholas versuchte, seine Aufregung zu verbergen, aber Hoyston war nicht dumm. „Du hast nichts gehört“, sagte er. „Denn du bist gar nicht hier. Also los, raus. Sofort. Wir unterhalten uns später.“ Nicholas wußte, daß Hoyston es ernst meinte. Er ging hinaus und hoffte, daß der Freund sein Versprechen halten werde. Übersinnliche Kräfte hatten Nicholas schon als Kind fasziniert. Houdini, ein berühmter Zauberer, war sein Idol gewesen. Später hatte er erkannt, daß niemand wirklich zaubern konnte. Dennoch weigerte sich ein winziger Teil seines Ichs, den Glauben daran völlig aufzugeben. Er wartete auf Beweise, und auf seinen Reisen hatte er öfters welche zu finden gemeint. Einer genaueren Prüfung hatte allerdings keiner standgehalten. Eine dieser Geschichten hatte zu seinem jetzigen Beruf geführt. Bei Nachforschungen über einen Wahrsager an der Börse hatte sich - 24 -
herausgestellt, daß der Mann nicht nur ein Betrüger war, sondern auch geheime Informationen mißbraucht hatte. Die Hauptbeteiligten an diesem Schwindel wurden angeklagt und schuldig gesprochen. Durch Nicholas Berichterstattung war der Herausgeber einer großen Zeitung auf den Fall aufmerksam geworden. Er hatte Nicholas eine Stelle angeboten. Da Nicholas reine Schreibtischarbeit verabscheute, hatte er abgelehnt. Seitdem schickte ihn der Herausgeber immer wieder als freien Mitarbeiter in entlegene Orte, wo der Verlag kein Pressebüro unterhielt. In den letzten Jahren hatten sich Nicholas Artikel mit internationalen Problemen befaßt und nichts mehr mit dem Reich der Magie zu tun gehabt. Dennoch interessierte ihn das Thema, und sobald er von einer neuen Geschichte erfuhr, ging er ihr nach. Er hoffte, irgendwann doch noch auf Hintergründe zu stoßen, die sich nicht mehr erklären ließen. Diese Arbeit entspannte ihn, und er erholte sich dabei von seinen anstrengenden Aufträgen. Nicholas hatte nach dem Besuch ungeduldig auf Hoystons Anruf gewartet. Am nächsten Tag stand die Geschichte in allen Zeitungen. Die Polizei hatte den vermißten Jungen im Dachzimmer eines alten Hauses entdeckt, das halbverbrannt und verfallen allein auf einem riesigen Grundstück stand. Von einem Anruf oder dem Tip einer Hellseherin war nichts zu lesen gewesen. Ein paar Tage danach hatte Nicholas es nicht mehr ausgehalten und Hoyston von sich aus angerufen. „Seit wann gibst du dich mit Wahrsagern ab?“ fragte er. „ Heißt das, daß du mir endlich glaubst?“ „Das weiß ich nicht“, gab Hoyston zögernd zu. „Ich habe mich dreimal mit der Frau unterhalten. Beim ersten Mal haben wir uns einander nur vorgestellt, bei den restlichen Gesprächen ging es um Kriminalfälle. Das letzte hast du gehört. Ihre Angaben waren so treffend, daß ich zuerst dachte, sie sei in die Sache verwickelt. Aber das war sie nicht. Ich habe alles gründlich überprüft. Es gibt keine vernünftige Erklärung dafür. So auch diesmal. Du hast die Berichte gelesen. Das Versteck befand sich genau dort, wo sie vorausgesagt hat.“ „Von der Frau stand nichts in der Zeitung. - 25 -
„Richtig, auf ihren Wunsch hin. Sie will nicht bekanntwerden.“ „Das ist ungewöhnlich. Die Leute, mit denen ich zu tun hatte, waren verrückt darauf, berühmt zu werden.“ „Sie nicht. Sie behauptet, das würde die Konzentrations-fähigkeit stören.“ Nicholas kam aus dem Staunen nicht heraus. „Wie hast du sie kennengelernt, warum hat sie sich gerade an dich gewandt?“ „Vor ein paar Jahren hatte ich mal mit dem Sheriff aus ihrem Heimatort zu tun. Irgendwann rief er mich an und erzählte, daß eine Freundin von ihm hierher zöge. Ich mußte ihm versprechen, ihr zuzuhören und ihr Gelegenheit zu geben, ihre Fähigkeiten zu beweisen. Zum Glück sagte er nicht, welche das wären, denn sonst hätte ich ihn ausgelacht. Na ja, und dann habe ich Wortt gehalten.“ „Wie sieht sie aus, und wie heißt sie?“ „Das darf ich nicht verraten, Nicholas.“ „Komm schon, Hoyston. Du weißt, du kannst mir vertrauen. Wie soll ich sonst etwas über das Ausmaß ihrer Begabung herausfinden?“ „Nichts da“, wehrte Hoyston ab. „Wir haben eine klare Abmachung. Sie hilft mir, und ich halte ihre Identität geheim. Ich habe keine Ahnung, woher sie ihre Informationen bezieht, aber sie sind gut. Ich möchte die Verbindung nicht riskieren.“ „Was ist, wenn dein anfänglicher Verdacht zutrifft und sie in die Fälle verwickelt ist?“ „Gib dir keine Mühe, Nicholas. Ich kenne deine Überredungskünste. Die Frau ist sauber, sonst hätte sie einige Dinge bestimmt nicht erwähnt.“ „Ging es bei dem ersten Fall auch um eine Entführung?“ „Nein, um Straßenraub. Ein Allerweltsverbrechen. Das Opfer war ein alter Mann und alles andere als reich. Ohne die Hellseherin wäre die Sache nie aufgeklärt worden. Dank ihrer Hilfe haben wir nicht nur den Täter gestellt, bevor er das Diebesgut losschlagen konnte. Wir haben auch noch einen ganzen Hehlerring auffliegen lassen. Das war ein guter Fang.“ „Gibt es eine, Verbindung zwischen den Hehlern und den Entführern?“ „Nicht, daß ich wüßte. Die Kidnapper haben wir zwar noch nicht, - 26 -
aber ich kann es mir nicht vorstellen.“ „Aber du kannst dir auch nicht sicher sein“, beharrte Nicholas. „Vielleicht sind gar nicht alle Mitglieder der Bande geschnappt worden, und wer den Jungen entführt hat, weißt du noch nicht. Du willst nur nicht wahrhaben, daß eins mit dem anderen zu tun haben könnte. Immerhin hat jedesmal dieselbe Frau gesungen.“ „Ich habe sie überprüft“, protestierte Hoyston. „Sie ist über jeden Verdacht erhaben.“ „Vielleicht, vielleicht auch nicht“, gab Nicholas zu Bedenken. „Aber es könnte nichts schaden, wenn ich der Sache mal nachginge. Nur so, als dein Freund.“ „Von wegen. Du bist an der Frau und der Geschichte interessiert, das ist alles. Dabei dachte ich, die Magie sei für dich gestorben, seit du dich mit ernsthaften Reportagen befaßt.“ Nicholas schmunzelte, „Momentan habe ich eben nichts Besseres zu tun.“ Hoystons Widerstand schmolz dahin, und zum Schluß gab er Nicholas den Namen und die Anschrift der Frau. „Sag bloß nicht, von wem du das weißt“, warnte er ihn. „Sarah Wilsons Freund, dieser Sheriff Sam Bascomb, ist ein harter Bursche. Er tut alles, um sie zu beschützen. Ich gebe zu, ich weiß nicht viel über sie. Nur das eine. Sie will nicht, daß jemand erfährt, wer sie ist.“ Nicholas hatte bald herausgefunden, daß sie Lehrerin an einer Schule in St. Louis war, wo sie Geschichte unterrichtete. Bevor er Kontakt aufnehmen konnte, hatte sie Missouri jedoch verlassen und war in die Sommerferien gefahren. Er hatte die Suche daraufhin in ihrem Heimatort fortgesetzt. Eine Begegnung mit Sheriff Bascomb hatte er dabei tunlichst vermieden. Der war vermutlich dennoch bestens über Nicholas Schritte orientiert. Die Jagd nach Sarah Wilson war spannend gewesen, manchmal auch enttäuschend. Nun war sie beinahe vorüber. Eventuell. Er sah wieder auf die Uhr. Fünf Minuten nach drei. So früh würde er nicht aufgeben. Er war bereit zu warten.
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3. KAPITEL Sarah betrat das Café durch die Hintertür und winkte ihrer Cousine zu. Lächelnd erwiderte Betsy den stummen Gruß, dann fuhr sie fort, die vor ihr auf der Theke aufgereihten Salz und Pfefferstreuer nachzufüllen. Eine Weile betrachtete Sarah den Mann in der mittleren Nische des Lokals. Sein Blick war auf den Eingang gerichtet. Das hellbraune Haar fiel ihm jungenhaft in die Stirn, die Züge waren so hart und unnachgiebig, wie sie sie in Erinnerung hatte. Obwohl er gleichmütig wirkte, spürte sie .die dahinter verborgene Selbstsicherheit, die ihr schon am See aufgefallen war. Er war ein zielstrebiger Mann, der nicht so schnell aufgab, wenn er sich einmal etwas vorgenommen hatte. Nachdem sie noch einmal tief Luft geholt hatte, näherte sie sich dem Tisch. Die Sohlen ihrer Sandalen waren so weich, daß die Schritte auf dem Holzboden nicht zu hören waren. Schweigend blieb sie stehen. Ihre Haltung war angespannt, die Hände hatte sie zu Fäusten geballt. Vielleicht hatte Tante Cinda recht, und dieser Mann suchte sie aus harmlosen Gründen. Trotzdem witterte Sarah Gefahr. Nicholas Matthias beunruhigte sie auf eine Art, die sie im Zusammenhang mit Männern noch nie erlebt hatte. Sie riskierte mehr, als nur entdeckt zu werden. Aber sie hatte versprochen, mit ihm zu reden. Nun wartete sie darauf, daß er ihre Anwesenheit bemerkte. Nicholas hatte sich völlig auf die Tür konzentriert. Es dauerte eine Zeit lang, bis ihm klar wurde, daß jemand neben ihm stand. Die Kellnerin, dachte er und drehte sich zu ihr um. Im nächsten Moment hatte er die Eingangstür vergessen. Die Frau neben der Nische war zierlich und hatte eine perfekte Figur, ihre Beine waren schlank und sonnengebräunt. Die schmale Taille über den leicht geschwungenen Hüften und der sich unter einer, dünnen Bluse deutlich abzeichnende Busen verliehen ihrem Äußeren etwas aufreizend Feminines. Sie sahen einander in die Augen. Seine waren von unglaublich dunklem Braun, ihre schimmerten blaugrün. Nicholas griff - 28 -
unwillkürlich nach dem Tischrand. Die Umgebung um ihn herum schien zu versinken. Plötzlich bestand der Fußboden nicht mehr aus Holzdielen, sondern aus Uferschlamm, und die Augen der Frau waren das geheimnisvoll irisierende Wasser des Sees. „Mr. Matthias? Mein Name ist Sarah Wilson. Sie wollen mich sprechen?“ Ihre Stimme riß ihn aus den Gedanken. In diese Augen hatte er am Ufer des Sees gesehen. Aber während er Janie auf ungefähr sechzehn geschätzt hatte, war Sarah Wilson eindeutig erwachsen. In einem Punkt hatte er sich allerdings nicht vertan. Die Wirkung ihres Blicks war verhängnisvoll. Verwirrt versuchte Nicholas aufzustehen, um ihr einen Platz anzubieten. Sie faßte die angedeutete Bewegung als Aufforderung auf und setzte sich ihm gegenüber auf die gepolsterte Bank der Nische. „Sie sind Sarah Wilson?“ vergewisserte er sich ebenso ungläubig wie vorwurfsvoll. Zufrieden stellte er fest, daß sie wenigstens betreten dreinschaute. „Sie haben also gewußt, wer ich bin und daß ich Sie suche.“ „Ich wußte nur, daß sich irgend jemand nach mir erkundigt hatte. Da Fremde hier die Ausnahme sind, habe ich Sie dahinter vermutet.“ „Warum haben Sie denn nichts gesagt?“ „Weil ich mir noch nicht sicher war, ob ich mit Ihnen reden will.“ „Und was hat Sie bewogen, sich trotzdem mit mir zu unterhalten?“ Zögernd meinte Sarah: „Ein Gefühl.“ Er durchforschte ihre Miene in der Hoffnung auf eine genauere Erklärung. Aber er fand nichts als jene bange Fassungslosigkeit, die ihm schon am See aufgefallen war. Bisher hatte er sich nicht eingestanden, wie sehr ihn die Begegnung beunruhigt hatte. Ich habe mich zu ihr hingezogen gefühlt, überlegte er. Aber das wollte ich nicht wahrhaben, weil ich sie für ein Kind hielt. Nun war er erleichtert, daß er sich geirrt hatte, und das vermeintliche Kind eine sichtlich erwachsene Frau war. Irgendwann fiel Nicholas der eigentliche Grund dieses Treffens ein. Sarah Wilson behauptete, hellsehen zu können. Sie hatte alles darangesetzt, sich zu verstecken, und war dabei durchaus - 29 -
professionell vorgegangen. Sie war klüger als die meisten, die sich ihm gegenüber je mit besonderen Fähigkeiten gebrüstet hatten. Hoystons Argumente sprachen einerseits dafür, daß sie tatsächlich übernatürliche Kräfte besaß. Andererseits wußte Nicholas, daß der Freund davon nicht restlos überzeugt war. Er selbst konnte sich das ebenfalls nicht erklären. Noch nicht. Er kämpfte gegen ein leises Gefühl des Unbehagens an. Trotz seiner Bemühungen war es ihm nicht gelungen, Sarahs Aufenthaltsort ausfindig zu machen. Wenn sie gewollt hätte, wäre es dabei geblieben. Statt dessen hatte sie sich entschlossen, das Schweigen zu brechen und sich mit ihm zu verabreden. Nun saß sie ihm gegenüber und musterte ihn unschuldig. Nein, das stimmte nicht ganz. Ihr Blick wirkte geheimnisvoll, fast hypnotisch, aber auch mißtrauisch. Offenbar war ihm anzusehen, was er dachte, denn in Sarahs Augen flackerte plötzlich Unsicherheit auf. Er setzte rasch eine unbeteiligte Miene auf. Sie steckt voller Argwohn, ermahnte er sich. Ich muß ihr erst einmal Vertrauen einflößen. „Eigentlich gibt es Sie gar nicht“, scherzte Nicholas. „Jedenfalls kann man in der Stadt fragen, wen man will. Eine Sarah Wilson ist hier noch niemandem begegnet, der Name ist allen Leuten völlig unbekannt.“ Sarah lächelte. „Das dürfen Sie den Leuten nicht übelnehmen. Sie sind eben mit mir verwandt.“ »Alle?“ „Ja, auf die eine oder andere Art.“ Nicholas lehnte sich zurück. Falls das stimmte, hätte sie sich versteckt halten können, bis er die Suche aufgab und wieder abreiste. Nun fragte er sich erst recht, warum sie sich freiwillig mit ihm traf. Er war aufrichtig irritiert. „Am besten erkläre ich das an einem Beispiel“, meinte sie. Sie legte seine Verwirrung offenbar falsch aus. „Der Inhaber der Feriensiedlung, in der Sie wohnen, ist zwar kein Blutsverwandter, aber sein Bruder ist der Schwiegervater meiner Cousine Maybelle. Verstehen Sie?“ Jetzt wußte er wenigstens, wer ihm den Zettel unter der Tür - 30 -
durchgeschoben hatte. Jede Wette, daß sie außerdem über jeden seiner Schritte bestens informiert gewesen war. „Dann bildet dieser Ort also eine enge Gemeinschaft“, stellte er fest. Sarah nickte. „Dann hat Sie wahrscheinlich jeder gekannt, den ich gefragt habe. Aber da Sie ein Familienmitglied sind, hat man Sie geschützt.“ „Meine Privatsphäre“, korrigierte Sarah. „Man hat mir erzählt, daß sich jemand nach mir erkundigt. Ob ich Sie sehen wollte oder nicht, blieb mir überlassen. Sie sind eben fremd hier. Verstehen Sie, was ich meine?“ „Ich glaube, ja. Werden sich die Leute denn nach diesem Treffen mit mir unterhalten?“ „Ja, aber höchstens übers Angeln oder über das Wetter.“ „Das begreife ich nicht“, sagte Nicholas. „Nachdem Sie doch selbst mit mir geredet haben...“ „Dann erst recht nicht“, unterbrach Sarah ihn. „Bisher hat Ihre Fragerei bloß Neugier geweckt. Wenn das jetzt allerdings nicht aufhört, machen Sie sich verdächtig. Schließlich hätten Sie Gelegenheit gehabt, sich direkt an mich zu wenden.“ Nicholas schmunzelte anerkennend. „Das spricht für ein ausgeprägtes Zusammengehörigkeitsgefühl.“ „Stimmt. „Außerdem haben Sie mich ganz schön hereingelegt“, fügte er hinzu, da er ihren Plan allmählich durchschaute. „Unser Treffpunkt ist das einzige Café weit und breit, und bald werden alle wissen, daß wir hier verabredet waren. Dafür werden die drei Männer an dem Tisch da vorn schon sorgen. Wenn ich etwas über Sie erfahren möchte, muß ich Sie daher selbst fragen.“ „Richtig gab Sarah zu und lächelte ihn zufrieden an. „Also, Nicholas Matthias. Verraten Sie mir, warum Sie Sarah Wilson gesucht haben. Was wollen Sie von mir?“ Nicholas konnte nicht anders, er bewunderte Sarahs Haltung, aber auch ihr Äußeres. Er hatte nicht damit gerechnet, daß sie so jung und schön war. Am meisten überraschte ihn die Anziehungskraft, die sie auf ihn ausübte. Wenn er nicht aufpaßte, würde er darüber noch den Grund seiner Reise vergessen. - 31 -
„Vor einer halben Stunde hätte ich Ihre Frage noch beantworten können. Jetzt bin ich mir nicht mehr so sicher.“ Er machte eine Pause und wagte einen Blick in ihre unergründlichen Augen. „Aber ich glaube, es wird mir Spaß machen, das herauszufinden. Seit sie sich zu ihm in die Nische gesetzt hatte, verlor sie zum ersten Mal. die Fassung. „Mr. Matthias, ich...“ „Nicholas bitte.“ Sarah überlegte kurz. „Na gut. Also, Nicholas.“ „Darf ich Sie Sarah nennen?“ Sie nickte zögernd. Nicholas entschied, daß er sie fürs erste genug gedrängt hatte, und versuchte, sich zu entspannen. Er mußte für eine unbeschwerte, freundliche Atmosphäre sorgen. „Entschuldigen Sie, Sarah. Ich habe offenbar alle Regeln des Anstands vergessen.“ Er winkte der Kellnerin zu. „Möchten Sie etwas trinken? Mein Eistee war sehr erfrischend. Oder darf ich Sie zum Essen einladen? Wir könnten irgendwohin fahren.“ „Nein, vielen Dank“, versicherte Sarah hastig. „Ich möchte nichts. Nur eins. Jeder hier weiß, daß Sie sich nach mir erkundigt haben. Sagen Sie mir bitte, warum.“ Nicholas hatte sich gründlich überlegt, was er tun wollte, sobald er Sarah gefunden hätte. Wenn Hoyston recht hatte, konnte er ihr den eigentlichen Grund seiner Suche nicht nennen. Falls sie jedoch tatsächlich hellsehen konnte, würde sie sofort merken, daß er log. Er beschloß, es mit der Halbwahrheit zu versuchen. „Das ist nicht so einfach“, meinte er zögernd. Wie gut, daß er Sarahs Namen in den alten Unterlagen von Monte Ne gefunden hatte. Dadurch war er auf eine zweite Geschichte gestoßen. Sie war zwar nicht ganz so faszinierend wie Sarah Wilson, aber er war sicher, daß es sich lohnte, der Sache nachzugehen. Davon mußte er Sarah nur überzeugen. Er würde ihr sagen, daß er Journalist war und den Werdegang Monte Nes untersuchte. Erstens gehörte ihr ein Teil des Gebiets, und zweitens war sie Geschichtslehrerin. Aufgrund dieser beiden Tatsachen war es nur logisch, daß er sich an sie wandte. „Ich bin Journalist“, begann Nicholas vorsichtig, „und will einen - 32 -
Artikel über Monte Ne schreiben. Dabei brauche ich Ihre Hilfe. Soviel ich weiß, gehört Ihnen die Stadt.“ Sarah lachte leise. „Das stimmt nicht ganz. Sie wurde von einem Mann namens William Coin Harvey gebaut. Als ich geboren wurde, gab es ihn und Monte Ne längst nicht mehr. Mir gehört nur ein bißchen Land dort, wo die Stadt mal gestanden hat. Ein paar Bruchstücke, mehr ist von William Coin Harveys Traum nicht übrig.“ „Nach den alten Steuerunterlagen...“ Sie winkte ab. „Mein Name steht darin, das ist alles. Von Monte Ne ist so gut wie nichts erhalten geblieben. Es wurde größtenteils vom Beaver Lake überspült, wußten Sie das nicht?“ „Doch, aber mich interessiert das, was war, und nicht, was daraus geworden ist.“ Nicholas hatte keine Ahnung, warum, aber offensichtlich hatte er den richtigen Ton getroffen. Das Thema interessierte Sarah, ihr Mißtrauen war verschwunden. Das Zauberwort hieß Monte Ne. „Die Stadt muß einzigartig gewesen sein“, sagte er. „Ich habe gelesen, daß Leute aus aller Welt hierher kamen, um sie zu besichtigen. Und das zu einer Zeit, als die meisten noch gar nicht wußten, daß es diese Gegend überhaupt gab. Um die Jahrhundertwende muß es hier ziemlich öde gewesen sein.“ „Sie sind gut informiert, Mr. Matth... Verzeihung. Nicholas.“ „Ich habe nur die Fakten geprüft. Danach war Monte Ne mehr als eine Ansammlung von Gebäuden. Ich möchte die Atmosphäre der Stadt nachempfinden und dachte, dabei könnten Sie mir helfen. Denn Ihnen gehört ja nicht nur ein Teil des Landes, Sie sind auch Geschichtslehrerin. „Woher wissen Sie das?“ fragte Sarah verblüfft. Ihre Stimme klang angespannt, die Miene war wieder argwöhnisch geworden. Nicholas hatte das letzte Wort noch nicht ganz ausgesprochen, als er seinen Fehler bemerkte. Verflixt, warum hatte er nicht besser aufgepaßt? Er mußte sich auf die Sache konzentrieren und durfte sich nicht ablenken lassen. „In den alten Dokumenten stand eine Adresse aus St. Louis“, erklärte er schnell. „Als ich Sie dort suchte, habe ich erfahren, daß - 33 -
Sie Lehrerin sind. Aber Sie waren schon in Urlaub, und so kam ich her.“ Er war erleichtert, daß er ihr in diesem Punkt die Wahrheit sagen konnte oder zumindest eine nur wenig geänderte Version. Als er in den Akten statt der Heimatanschrift nur die Adresse aus St. Louis gefunden hatte, war er enttäuscht gewesen. Jetzt stellte sich das als Glück im Unglück heraus. Sarah dachte über seine Worte nach. Hatte Nicholas in St. Louis noch mehr über sie herausbekommen? Als er sagte, daß er Journalist war, wäre sie beinahe in Panik geraten. Wollte er wirklich einen Bericht über Monte Ne schreiben, oder war er hinter einer ganz anderen Art von Geschichte her? Nein, Tante Cinda hatte gesagt, daß er Monte Ne suchte, und sie irrte sich selten. Überrascht stellte Sarah fest, wie gern sie ihm glauben wollte. Sie fühlte seinen Blick auf sich ruhen. Dieser Mann hatte etwas Ernstes und Bezwingendes an sich. Sorgsam wägte sie ihre Möglichkeiten ab. Allmählich entdeckte sie die Schwächen ihres Plans. Sie hätte sich nicht als einzige Informationsquelle anbieten dürfen. Aber das konnte sie jetzt nicht mehr rückgängig machen. Wenn sie erfahren wollte, was und wieviel er wußte, mußte sie die Unterhaltung fortsetzen. „Wie lange werden Sie für den Artikel brauchen?“ erkundigte sich Sarah. „Keine Ahnung. Ich kann mir soviel Zeit nehmen, wie Sie für mich erübrigen können. Es wird Ihnen bestimmt Spaß machen.“ „O ja, das glaube ich auch. Für Lehrer gibt's nichts Schöneres als wißbegierige Schüler. Aber ich habe noch andere Verpflichtungen.“ „Berufliche? Ich bin gern bereit...“ begann Nicholas. Sarah winkte ab. „Nein, in der Familie. Zum Beispiel Jimmy Joe gegenüber. Na ja, und ein paar anderen.“ „Mit anderen Worten, allen Bewohnern dieser Stadt. Für eine Kleinstadt ist deren Anzahl sicherlich normal, aber für eine Familie. Kein Wunder, daß ich nichts herausbekommen habe.“ Zuerst war sie verärgert, doch dann hörte sie das Lachen in seiner, Stimme und entspannte sich. Es glich einer einschmeichelnden Melodie, der man sich kaum entziehen kann, weil sie so selten - 34 -
erklingt. Freundlich meinte sie: „In einer Familie halten eben alle zusammen.“ „Das kann ich doch nicht wissen“, entfuhr es Nicholas. Als er merkte, wie schroff seine Antwort wirkte, lächelte er entschuldigend. „Verzeihung, das war nicht böse gemeint. Ich kenne das nicht, und was man nicht kennt, vermißt man auch nicht. Zumindest, solange man nicht darauf hingewiesen wird.“ Sarahs Blick wurde weich. Also hatte Tante Cinda recht gehabt. Er hatte keine Angehörigen, kein Zuhause. Obwohl sie es besser hatte, war ihr klar, was Einsamkeit bedeutete. Während Nicholas gedankenverloren schwieg, überlegte Sarah, welche Möglichkeiten sie noch hatte. Gar keine, stellte sie entmutigt fest. Die Hitze im Cafe war erdrückend, aber solange Nicholas dabei war; mochte sie nicht auf die vertraute Umgebung verzichten. Was sollte sie also tun? Ihr blieb nichts anderes übrig, als sich auf den eigenen Instinkt und Tante Cindas Enthüllungen zu verlassen. „Wann wollen Sie anfangen?“ nahm sie den Faden wieder auf. „Wie bitte?“ Ihre Frage schien ihn zu überraschen. „Wann soll es denn losgehen?“ wiederholte Sarah. „Ich werde Ihnen helfen, so gut ich kann. Monte Ne ist für mich immer etwas Besonderes gewesen. Außerhalb unserer Gegend wissen nur wenige, daß es die Stadt überhaupt gegeben hat. Das könnten Sie mit Ihrem Artikel ändern. Monte Ne war wichtig, und das sage ich nicht nur, weil ich hier geboren bin. Es nimmt im Rahmen der Geschichte einen ganz bestimmten Platz ein.“ „Welchen?“ „Etwas zu entdecken ist die eigentliche Freude bei aller Vergangenheitsforschung“, neckte Sarah ihn. „Mir wäre lieber, Sie fänden das selbst heraus. Wenn nicht, werde ich es Ihnen erzählen. Schließlich sollen Sie bei mir etwas lernen.“ Nicholas schmunzelte. „Ich werde Sie beim Wort nehmen. Im übrigen finge ich am liebsten sofort an. Kann man vielleicht irgendwelche Überreste besichtigen?“ „An sich ist die Zeit günstig, denn das tiefstehende Wasser gibt Ruinen frei. Aber ich dachte, Ihr Interesse gelte vor allem dem Gestern und nicht dem Heute.“ - 35 -
„Die Gegenwart ist ein guter Ausgangspunkt. Können Sie tauchen? Dann schauen wir uns die Sachen mal aus der Nähe an.“ „Verglichen mit dem restlichen See befindet sich Monte Ne größtenteils in flachem Gewässer. Aber die Strömung ist tückisch.“ „Na gut, Sie kennen sich aus. Was schlagen Sie vor?“ Sarah überlegte genau. Sie hatte ihm ihre Hilfe zugesagt. Wie weit sollte sie gehen? Konnte sie ihm trauen, oder sich selbst, was ihn betraf? Er war hier fremd, und sie hatte nicht gern mit Fremden zu tun. Vor allem nicht in ihrer Heimat. Sei nicht albern, ermahnte sie sich.. Vertrauen ist fehl am Platz. Er behauptet, es ginge ihm um Monte Ne, dabei sehe ich ihm an den Augen an, daß er lügt. Ähnlich muß Eva im Paradies empfunden haben, als ihr die verbotene Frucht angeboten wurde. „Ich würde sagen, wir besichtigen zuerst die Überreste von Monte Ne, und danach gebe ich Ihnen eine Stunde Heimatkunde. Haben Sie ein Fahrzeug?“ „Natürlich, aber...“ „Ich meine einen Lastwagen oder so etwas.“ „Einen Geländewagen mit Vierradantrieb. Reicht das?“ „Ja, das wird gehen.“ Nachdem die Entscheidung gefallen war, wollte sie die Angelegenheit möglichst schnell hinter sich bringen. „Also los.“ Zwischen den verwachsenen Stämmen zweier Eichen hindurch steuerte Nicholas den Geländewagen auf einen Weg, den er ohne Sarahs Unterstützung nicht gefunden hätte. Der Wagen holperte über dicke Steine und brach immer wieder aus den tiefen Furchen aus, die den Pfad durchzogen. Sarah saß möglichst weit von Nicholas entfernt und achtete darauf, daß sich der Abstand trotz der ungestümen Fahrt nicht verringerte. Sie hätte diesem Plan nie zustimmen dürfen. Aber irgend etwas an Nicholas Art berührte und faszinierte sie so sehr, daß sie blieb, obwohl ihr Gefühl ihr riet davonzulaufen. Sie musterte ihn von der Seite. Im Profil wirkte sein Gesicht noch - 36 -
energischer und markanter als von vorn. Ihr Blick konzentrierte sich unwillkürlich auf seinen Mund. Wie mochte es sich anfühlen, von diesen Lippen geküßt zu werden, waren sie fordernd, zärtlich, einfühlsam, erregend? Erschauernd zwang sich Sarah, an etwas anderes zu denken. „Wir sind da“, meinte sie, als sie den Kamm des Höhenzugs erreicht hatten. „Parken Sie dort drüben unter den Bäumen, dann ist das Wenden hinterher einfacher.“ Nicholas sah sich ungläubig um. Überall ragten Sandsteinfelsen aus dem Boden, deren zerklüftete Oberfläche durch die alles überwuchernden Unkräuter und Wildblumen nur wenig aufgelockert wurde. Das Gras war in der gleißenden Sonne getrocknet, und in der Sommerhitze verwelkten sogar die glänzenden schmalen Blätter der bambusartigen Sträucher ringsum. „Das soll Monte Ne sein?“ fragte Nicholas mißtrauisch. Sarah lachte. „Natürlich nicht. Aber von hier aus kann man die ursprünglichen Umrisse der Stadt sehen.“ Sie sprang aus dem Wagen und wartete, bis sich Nicholas zu ihr gesellte. „Gehen wir? Aber achten Sie auf das giftige Efeu. Bei Trockenheit ist es besonders gefährlich.“ Er folgte ihr durch das Unterholz zu einer Felsnase am Rand eines Dickichts mit einem herrlichen Ausblick über das darunter gelegene Tal. Sarah wies in die Ferne auf das geschwungene Ufer des Beaver Lakes. Fast senkrecht ragten hinter der glitzernden Wasseroberfläche die scharfkantigen Felsen der Ozark Mountains empor. „Die Leute in dieser Gegend sagen: Unsere Berge sind gar nicht so hoch, aber unsere Täler sind tief, erzählte Sarah leise. „Wenn man hier steht, weiß man, was sie damit meinen.“ Nicholas schwieg und schien völlig versunken in den Anblick des Tals, das sich zu seinen Füßen erstreckte. Dann bewegte sich Sarah, und ein paar lose Steine rollten über den steilen Hang nach unten. Sofort umfing Nicholas sie mit beiden Armen und drückte sie an sich. Ihn so nahe zu spüren raubte ihr fast die Sinne. Sie begriff nicht, warum, und konnte sich das Gefühl auch nicht erklären. Aber es gelang ihr nur langsam, sich zu entspannen. - 37 -
Nicholas lockerte die Umarmung, ohne Sarah loszulassen. „Verzeihung meinte er. „Normalerweise bin ich kein Grabscher. Aber ich dachte, Sie stürzen ab.“ Seine Berührung rief beängstigende Empfindungen in ihr hervor. Sie versuchte, sie zu unterdrücken, doch sie waren stärker als ihr Wille. Nicht genug damit, stellte sie zu ihrem eigenen Erstaunen fest, daß sie sie sogar genoß. Mit einem gekünstelten Lachen entwand sie sich dem fürsorglichen Zugriff. „Ich kenne diesen Berg, seit ich laufen kann. Der Boden ist sicher. Mir wäre nichts passiert.“ „Ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten“, entschuldigte er sich noch einmal. „Aber ich habe so lange nach Ihnen gesucht, daß ich Sie nicht schon wieder verlieren möchte.“ Sarah war dankbar, daß er seine Reaktion als Scherz hinstellte. „Tut mir leid, wenn ich Sie erschreckt habe. Ich verspreche Ihnen, daß ich ab jetzt besser achtgeben werde.“ Allmählich atmete sie wieder gleichmäßig. Sie sah sich kurz um, dann ging sie zu einem großen flachen Stein, der etwas weiter vom Steilhang entfernt war. Dort setzte sie sich hin und klopfte einladend auf den freien Platz an ihrer Seite. Sie war fest entschlossen, zu vergessen, was sie in seinen Armen empfunden hatte. Aber das war nicht so einfach. Während Sarah noch darum kämpfte, ihre Gefühle unter Kontrolle zu bringen, ließ sich Nicholas neben ihr nieder und zog ein Notizbuch hervor. „Auf der anderen Seite des Sees ist eine halbmondförmige Stelle, an der das Wasser dunkler ist als die restliche Oberfläche“, erklärte sie. „Können Sie das sehen?“ Nicholas beugte sich vor und spähte in die Ferne. „Nein.“ Als sie seinen Atem auf ihrer Wange spürte, rückte. sie zur Seite. „Nicht direkt am Ufer, sondern mehr zur Mitte hin.“ Er folgte der Anweisung. „Ja, jetzt sehe ich es.“ Sarah nickte beifällig. „Das ist die berühmte Lagune von Monte Ne. Bevor der Damm gebaut und der See angestaut wurde, floß durch jene halbmondförmige Rinne das Wasser, das Monte Ne schuf.“ - 38 -
„Am Ufer steht ein Turm aus Beton. Gehörte er dazu?“ „Das ist der Südturm von Oklahoma Row“, erklärte sie. „Dem Hotel stand ein zweites gegenüber, das Missouri Row. Beide waren für die landschaftlich schöne Umgebung und die elegante Einrichtung bekannt.“ „Darüber habe ich etwas in einem Heft in der Bücherei gelesen, aber ich konnte es mir nicht richtig vorstellen“, meinte Nicholas. „Kristallüster, Streichorchester, singende Gondolieri. Das klingt nach Hollywoodfilm. Wie fanden die Leute überhaupt her? Damals gab es hier doch kaum ausgebaute Straßen.“ „Richtig, und Autos waren ebenfalls rar. Deshalb hat Harvey ja auch Eisenbahnschienen nach Monte Ne verlegen lassen, Vom Bahnhof am Ende der Lagune wurden die Gäste mit echt venezianischen blumengeschmückten Gondeln direkt ins Hotel gebracht.“ „Irgendwie paßt das Bild nicht in diese Gegend.“ Sarah lachte. „Stimmt. Monte Ne war nicht das, was man in den Ozark Mountains vermutet. Der Name ist teils spanisch, teils indianisch und bedeutet soviel wie Bergquelle. Vielleicht traf er sogar zu, aber die Siedlung war zeitlos. Besser noch, sie war ihrer Zeit voraus.“ „Wieso? „Das Geheimnis müssen Sie selbst lösen.“ „Hängt das mit dem Platz zusammen, den es im Rahmen der Geschichte einnimmt?“ „Ja“, sagte Sarah. „Bei Ihrem Beruf dürfte Ihnen die Aufgabe nicht allzu schwerfallen. Sie können es allerdings nirgendwo nachlesen. Wahrscheinlich war sich ‚Coin’ Harvey noch nicht einmal darüber im klaren, was er tat.“ Sie sah, daß Nicholas sich Notizen machte. „Sie sagten, Monte Ne sei Harveys Traum gewesen. Was für ein Mensch war dieser Mann?“ „Über Harvey ist viel geschrieben worden. Er war Schriftsteller und wurde damals als Finanzgenie betrachtet. Daher auch der Spitzname ‚Coin’, die Münze. Außerdem war er William Jennings Bryans Partner und hat dessen Bewerbung um das Amt des Präsidenten unterstützt. Jedenfalls hat er behauptet, daß er die Ozarks während - 39 -
des Werbefeldzugs entdeckt hat.“ „Und dann hat er sich selbst ein Hotel dorthin gebaut“, ergänzte Nicholas nachdenklich. Sarah korrigierte ihn. „Insgesamt drei. Dazu kamen eine Bank, eine Zeitung, ein Golfplatz, ein Hallenbad, ein Kasino, ein Tanzpavillon, ein Konzertsaal, eine Bowlinganlage und eine Freilichtbühne.“ Sie lächelte. „Wie gesagt, Monte Ne war nicht gerade typisch für diese Gegend.“ Nicholas erwiderte ihr Lächeln. „Was ist passiert, was hat Monte Ne zu Fall gebracht?“ „Der erste Weltkrieg“, erzählte sie bedrückt. „Die Leute konnten oder wollten nicht mehr um den halben Kontinent reisen, um Urlaub zu machen. Eisenbahnlinie, Bank und Zeitungsverlag wurden geschlossen. Gegen Ende des Kriegs war Monte Ne so gut wie gestorben, und als die Börsenkrise kam, war es dann ganz aus.“ Sarah wandte sich zu ihm um und sah ihn an. „Und damit ist die erste Unterrichtsstunde in Heimatkunde vorbei.“ Plötzlich vergaß Nicholas, warum er hier war. Er sah nur noch das winzige Lächeln in Sarahs Gesicht, die Trauer in ihren Augen und hätte die Schatten gern verjagt. Ohne darüber nachzudenken, lehnte er sich zu ihr hinüber. Er merkte nicht, daß ihm das Notizbuch von den Knien rutschte, und achtete auch nicht auf die warnende Stimme in seinem Inneren. Als Sarah protestieren wollte, zögerte er für den Bruchteil einer Sekunde, doch dann gab er der Versuchung nach. Er beugte sich über sie und streifte mit den Lippen ihren Mund. Zuerst schien Sarah schockiert, aber während aus der zärtlichen Berührung ein behutsamer Kuß wurde, schmolz ihr Widerstand dahin, und sie erwiderte die Liebkosung mit einer Hingabe, die sie selbst überraschte. Er nahm sie in die Arme und drückte sie an sich. Ihr Körper war warm und weich und verströmte ein Aroma, das Nicholas an Geißblatt erinnerte. Nicht länger Herr seiner selbst, überließ er die Kontrolle über sein Handeln den Sinnen. Während er Sarah unablässig mit den Händen über den Rücken strich, fuhr er ihr mit der Zunge über die Lippen, drang weiter vor und erforschte die - 40 -
feuchte Höhlung ihres Mundes. Sarah wehrte sich nicht. Sie hob das Gesicht und schmiegte sich in Nicholas Arme. Die Wirklichkeit ist noch viel süßer als jede Phantasie, stellte sie fest. Kein Traum konnte in ihr die Hitzeschauer hervorrufen, die nun Besitz von ihr ergriffen. Wie eine Knospe, die ihre Blütenblätter öffnet, um die Wärme der Sonnenstrahlen in sich aufzunehmen, drängte Sarah näher an die Quelle sinnlichen Vergnügens. Triff dich mit dem Fremden, er ist wichtig. Die Erinnerung an Tante Cindas Worte war der letzte klare Gedanke, den Sarah faßte, bevor alle Vernunft in einem Taumel sinnlicher Gefühle versank. Nicholas Liebkosungen löschten in Sarah alles Wissen um vergangene Erlebnisse aus. Sie kämpfte kurz gegen diese neue Art Magie an, dann ließ sie sich von ihren Sehnsüchten treiben und schwelgte in der Freude an dieser Berührung, den Küssen, dem sonnengetränkten Duft nach Männlichkeit. Zögernd ließ Sarah zu, daß die Welt um sie herum Wirklichkeit wurde. Sie spürte das Hämmern des eigenen Pulsschlags, vernahm den heiseren Schrei einer Krähe und lautes Hupen. Nicholas hatte es ebenfalls gehört. „Was war das?“ „Eine Autohupe erwiderte sie und rückte ein Stück von ihm ab. Sie wußte, daß sie diesen besonderen Zauber vielleicht nie wieder erleben würde. „Irgend jemand ist uns gefolgt.“
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4. KAPITEL Während Sarah durch das Gebüsch zurückging; erklang unablässig das Horn. Am Rand der Lichtung entdeckte sie einen staubbedeckten Lieferwagen. Sie blieb abrupt stehen. „T J.!“ rief sie dem jungen Mann zu, der lässig gegen die Wagentür gelehnt dastand und die Hand durchs offene Fenster nach der Hupe ausgestreckt hatte. „Was um alles in der Welt tust du hier?“ „Da bist du ja endlich, Sarah. Ich habe wie verrückt nach dir gehupt. Der Sheriff sucht dich.“ Sarah horchte in sich hinein. Normalerweise half ihr das, zu verstehen, was vor sich ging. Doch so sehr sie sich auch bemühte, sie fand nichts. „Was ist passiert?“ „Der kleine, Jerry Shelton ist verschwunden.“ Sie konzentrierte sich wieder, aber auch diesmal erreichte sie nichts. „Sarah?“ Nicholas Stimme riß sie aus ihren Gedanken. Sie hatte vor lauter Anspannung nicht gemerkt, daß er neben sie getreten war. Nun fragte sie sich erschrocken, wieviel er mitbekommen haben mochte. Jimmy Joe hatte ihm von ihrer Fähigkeit zu „sehen“ erzählt. Würde er in Verbindung mit T. J.’s Mitteilung daraus irgendwelche Schlußfolgerungen ziehen? Sie sah ihn prüfend an. Seine Miene wirkte beruhigend teilnahmslos. Das ließ hoffen, daß er Jimmy Joes Schilderung nicht glaubte. „Tut mir leid, Nicholas, aber ich muß gehen“, erklärte sie. „Oh, Entschuldigung, darf ich vorstellen? Mein Cousin T J. Shields, Nicholas Matthias. Mr. Matthias will einen Artikel über Monte Ne schreiben.“ „Sehr erfreut.“ T. J. nickte Nicholas zu, dann legte er Sarah den Arm um die Schulter und sagte: „Ich habe ziemlich lange gebraucht, bis ich dich gefunden habe. Bitte komm mit.“ Sarah verabschiedete sich nur ungern von Nicholas, aber sie wußte, daß ihr nichts anderes übrig blieb. „Warum will der Sheriff, daß du ihm hilfst?“ fragte Nicholas. „Und woher wußte dein Cousin, wo wir sind?“ - 42 -
Trotz T J.’s beschützender Nähe bekam Sarah Angst. „Mir fehlt die Zeit, das jetzt zu erklären“, erwiderte sie hastig, dann suchte sie nach passenden Worten. „Es geht um einen kleinen Jungen, und ich bin mit der Mutter befreundet. Wahrscheinlich glaubt der Sheriff, daß ich sie ein bißchen beruhigen kann.“ T. J. räusperte sich. „Ich setze den Wagen zurück. Ich freue mich, Sie kennengelernt zu haben, Mr. Matthias. Vielleicht treffen wir uns ja ein andermal.“ „Verzeih, Nicholas. Aber ich muß wirklich gehen.“ „Kann ich irgend etwas tun? Ich könnte dich zum Beispiel begleiten, beim Suchen helfen oder so etwas.“ „Nein, du kennst dich hier nicht gut genug aus. T. J. nimmt mich mit. Trotzdem vielen Dank.“ Sie ging um den Lieferwagen herum und konzentrierte sich auf das Kind. Aber sie konnte nichts Ungewöhnliches feststellen. Das beunruhigte sie. „Sarah“, rief ihr Nicholas nach. „Wann sehen wir uns wieder?“ „Wie bitte?“ Sie sah sich irritiert um.. „Ach so, unser Wiedersehen. Warte mal...“ Ihr wurde klar, daß sie bis zum Wochenende keinen freien Tag mehr hatte. „Bis Anfang nächster Woche habe ich zu tun. Am besten schaust du dich in der Zwischenzeit mal im Geschichtlichen Museum in Rogers um. Die haben bestimmt Informationen über Monte Ne. Oder im Shiloh Museum in Springdale, dort gibt es eine große Sammlung alter Fotografien. Am Montag gucken wir uns dann zusammen die Ruinen an. Ich hole dich um zehn in der Feriensiedlung ab.“ „Ist dir das nicht zuviel? Ich meine, ich komme auch gern zu dir.“ „Zuviel?“ wiederholte sie abwesend. Sie versuchte, sich auf den vermißten Jungen zu konzentrieren. „Nein, nein, das schaffe ich schon.“ Als sie nach dem Türgriff langte, war Nicholas mit wenigen Sätzen bei ihr. Er öffnete die Tür, umfaßte mit einer Hand Sarahs Ellbogen und half ihr beim Einsteigen. Wo er sie berührt hatte, schien die Haut so heiß, als ob sie brenne. Sarah unterdrückte die neuerlich wachsende Sehnsucht und neigte den Kopf, damit niemand merkte, was in ihr vorging. Nicholas sah dem davonfahrenden Lieferwagen nach. Er hätte nicht - 43 -
sagen können, was ihn mehr enttäuschte, Sarahs teilnahmsloser Abschied oder die verpaßte Gelegenheit, ihre übersinnlichen Fähigkeiten in Aktion beobachten zu können. Nicht daß er von deren Existenz, überzeugt gewesen wäre, aber es gab Leute, die daran glaubten. Nach Hoystons Aussage zum Beispiel der Sheriff. Wahrscheinlich hatte er sie deshalb auch gebeten zu kommen. Nicholas Fragen war sie allerdings geschickt ausgewichen, und seine Begleitung hatte sie ebenfalls ausgeschlagen. Hoyston hatte recht. Was das Privatleben betraf, zeigte sich Sarah Wilson äußerst zurückhaltend. Obwohl er gerade ein paar Stunden mit ihr zusammen gewesen war, wußte er nicht viel mehr über sie als zuvor. Sie hielt sich in Mountain Springs auf, aber der genaue Ort wurde von ihr und den anderen Anwohnern geheimgehalten. Nicholas war nach wie vor darauf angewiesen, daß sie sich mit ihm in Verbindung setzte. Ihm fiel der vorzeitig beendete Kuß ein. Mit einer solchen Erschwernis hatte er nicht gerechnet. Zugegeben, Sarah war attraktiv. Es bestand kein Zweifel daran, daß er sich zu ihr hingezogen fühlte, und wenn er sich nicht irrte, beruhte das auf Gegenseitigkeit. Aber falls er sich wirklich mit der übersinnlich begabten Lehrerin Sarah Wilson einließ, war das mehr als ein beiläufiger Flirt. In Anbetracht dessen, was er soeben mit ihr auf dem Felsvorsprung erlebt hatte, gliche das einer Feuersbrunst, in der sie am Ende beide verbrennen mochten. Unter dem Gesichtspunkt war es vielleicht sogar gut, daß sie gestört worden waren. Dabei dachte er unwillkürlich an T. J. Shields und die besitzergreifende Art, mit der er seiner Cousine den Arm um die Schultern gelegt hatte. Nicholas hatte sich darüber geärgert, aber es hatte ihn nicht überrascht. Er war fremd, und was die Einheimischen von Fremden hielten, hatte er zur Genüge erlebt Was ihn viel mehr. interessierte, war, wie T. J. sie so mühelos in dieser Einöde aufspüren konnte. Vielleicht würde Sarah ihm diese Frage beim nächsten Treffen beantworten. Ihm blieb nichts anderes übrig, als sich bis nächsten Montag zu gedulden. Bis dahin mußte er ein bißchen mehr über Monte Ne herausfinden. Schließlich war Sarah Lehrerin, und wenn er sich recht - 44 -
erinnerte, liebten Lehrer Überraschungsfragen. Vom Auto aus warf Sarah einen letzten Blick auf Nicholas und rieb sich dabei unwillkürlich über die Stelle, wo er sie angefaßt hatte. Wenn sie erst an den Kuß dachte. Auf dem unebenen Weg wurde der Lieferwagen so heftig durchgeschüttelt, daß Sarah unsanft aus ihren Träumen gerissen wurde. Sie stützte sich mit einer Hand am Sitz und mit der anderen am Armaturenbrett ab. In dem Moment wollte T. J. etwas sagen, aber sie kam ihm zuvor. „Also, T J., jetzt erzähl mal, was mit Jerry los ist.“ „Ach, zum Kuckuck, Sarah, wenn ich das wüßte, hätte dich der Sheriff nicht gebeten zukommen.“ „Ich warne dich, T J.!“ „Schon gut, schon gut, ich habe Spaß gemacht. Da du nicht sofort danach gefragt hast, nehme ich an, daß ihm nichts zugestoßen ist.“ Sarah nickte. „Stimmt. Ich sehe nichts.“ „Clyde und der Sheriff glauben, daß sich der Kleine beim Spielen einfach ein bißchen zu weit vom Haus entfernt hat. Aber heute morgen sind ein paar Fremde vorbeigekommen, und Millie ist überzeugt, daß sie Jerry mitgenommen haben. Vermutlich hat sich der Sheriff deshalb sicherheitshalber entschlossen, dich zu rufen.“ Sarah saß eine Weile ganz still da. „Ich kann nichts feststellen“, bestätigte sie noch einmal. „Wahrscheinlich geht's ihm gut. Millie darf nicht so ängstlich sein. Im Sommer ist die Gegend eben ein beliebtes Ferienziel, dann sind viele Touristen hier. Im Winter wäre das etwas anderes.“ Bei aller Vernunft wurde Sarah das Gefühl nicht los, daß sie vielleicht nur Angst hatte, etwas zu sehen, Angst, etwas zu wissen. „Ja, das hatte ich mir auch überlegt“, sagte T J. „Aber ich, habe dem Sheriff versprochen, dich zu suchen. Möchtest du lieber durch Mountain Springs fahren und dann über den Highway oder sollen wir die alte Straße über Bald Ridge nehmen? Die ist zwar holprig, aber kürzer.“ „Bald Ridge“, erwiderte Sarah, ohne zu zögern. Kurz darauf lenkte T J. den Lieferwagen die steile Hangstraße hinauf. Die beiden waren - 45 -
still, bis T J das Schweigen wieder brach. „Was hattest du eigentlich mit dem Fremden da oben zu suchen? Das war leichtsinnig, Sarah. Die Gegend ist einsam., und du kennst den Mann nicht.“ Der mißbilligende Tonfall war so deutlich, daß sie Nicholas sofort verteidigte. „Nur weil er fremd ist, ist er noch lange kein Mörder, T J. Woher wußtest du überhaupt, wo wir waren?“ „Betsy hat gehört, daß ihr euch über Monte Ne unterhalten habt, und Luther hat gesehen, wie ihr an der Kreuzung nach Süden abgebogen seid. Daraus schloß ich, daß ihr dort hinauf wolltet. Von dort kann man die Überreste der Stadt am besten sehen. Aber du mußt wirklich vorsichtiger sein, Sarah. Du kennst den Mann doch gar nicht.“ Als die Fahrt T. J.’s ungeteilte Aufmerksamkeit verlangte, nutzte Sarah die Pause, um nachzudenken. Im stillen gab sie ihrem Cousin recht. Sie hatte tatsächlich leichtsinnig. gehandelt, aber ihr war ja nichts passiert. Zuerst war sie zwar ein bißchen nervös gewesen, doch dann hatte ihr das Treffen mit Nicholas Freude gemacht. Dann war jener Augenblick auf dem Felsvorsprung gekommen, der Moment, in dem sie merkte, daß Nicholas mehr in ihr sah als die Mitarbeiterin bei seinen Nachforschungen, und sie hatte nichts dagegen gehabt. Sie hatten die Bergkuppe erreicht, und bergab beschleunigte T. J. etwas. Er warf einen Blick in den Rückspiegel. „Meinst du, der Typ könnte versuchen, uns zu folgen?“ „Das. kann ich mir nicht vorstellen. Warum?“ „Weil außer uns noch jemand den Berg hinabfährt. Als wir vorhin abbogen, habe ich eine Staubwolke gesehen. Der muß ein ziemliches Tempo drauf haben.“ „Wir, sind nicht die einzigen, die diese Abkürzung kennen“, sagte Sarah. „Nein, vermutlich nicht.“ Aber T. J. hörte nicht auf, in den Rückspiegel zu gucken. „Der Idiot fährt zu schnell“, fluchte er etwas später. Sarah sah über die Schulter zurück. Dort war nichts, doch die Anspannung in T J.’s Stimme beunruhigte sie. Plötzlich steigerte er - 46 -
das Tempo. „Bist du verrückt?, Fahr langsamer, T. J.“ „Das geht nicht. Dieser Hohlkopf kann jeden Moment hinter mir um die Kurve biegen. Der sitzt mir hinten drauf, bevor er auch nur die Chance hat zu bremsen. Wir müssen den Abstand vergrößern oder ausweichen.“ Er umklammerte das Lenkrad so fest, daß die Knöchel an den Händen weiß hervortraten. „Festhalten!“ brüllte er und riß das Steuer herum. Der Wagen schoß nach links über die Straße in eine schmale Haltebucht. Keine Sekunde, dann raste das andere Auto an ihnen vorbei. Sarah hörte ihren Cousin erleichtert aufstöhnen, dann erkundigte er sich, ob bei ihr alles in Ordnung sei. „Mir geht's gut“, versicherte sie mit zitternder Stimme. „Aber wir könnten tot sein. Wenn er uns angefahren hätte, wären wir geradeaus über den Hang nach unten gestürzt.“ „Vielleicht hätte ich den Abstand ja einhalten können. Zum Glück fiel mir im letzten Augenblick diese Bucht ein. Diese dämlichen Touristen.“ „Bist du sicher, T. J.? Hast du ihn gesehen?“ „Nein. Ich könnte nicht mal das Auto beschreiben. Vermutlich war's ein alter Lieferwagen, dunkel lackiert. Mehr habe ich nicht erkennen können. Ein Einheimischer führe hier anders. Du weißt auch nicht mehr, oder doch?“ „Ich hatte die Augen zugemacht“, gab Sarah zu. Es dauerte eine Zeit lang, bis sich Sarah und T J. soweit von ihrem Schrecken erholt hatten, daß sie weiterfahren konnten. Sarah war froh, als sie die letzte enge Brücke über dem Bergbach passierten und den Highway erreichten. Die beiden sahen sich nach allen Seiten um, aber von dem anderen Wagen war keine Spur zu sehen. „Wer immer das war, er hat's heil überstanden“, stellte Sarah fest. „Ich möchte ihm jedenfalls nicht mehr begegnen.“ „Darauf lege ich allerdings auch keinen Wert.“ T. J. lenkte den Lieferwagen in Richtung Shelton Valley. Nach wenigen Meilen kam - 47 -
ihnen das Auto des Sheriffs entgegen. Nachdem T J. gedreht hatte, hielten die beiden Autos hintereinander am Straßenrand. „Er hat kein Blaulicht an“, meinte er. „Demnach ist alles in Ordnung.“ Sarah stieg aus und wartete neben dem Wagen auf Sheriff Bascomb. Der Verdacht, daß sie so angeschlagen aussah, wie sie sich fühlte, bestätigte sich, als der ältere Freund näher kam. Sein Lächeln erlosch, und er musterte sie besorgt. „Tut mir leid, daß du dir Sorgen gemacht hast“, entschuldigte er sich. „Dem Jungen geht's gut.“ Sie versuchte zu lächeln. „Ich weiß. Wo war er?“ „Er ist auf dem Heuboden eingeschlafen und hat nicht gemerkt, daß man ihn gesucht hat. In Zukunft wird er es sich bestimmt zweimal überlegen, ob er die Katzen besucht, ohne seiner Mutter Bescheid zu sagen.“ „Das wird nicht lange anhalten, Sam. Junge Katzen und Kinder gehören nun einmal zusammen, das weißt du so gut wie ich.“ „Stimmt. Na ja, beim nächsten Mal wird Millie eben zuerst auf dem Heuboden nachschauen. Ich bedaure nur, daß ich dich umsonst alarmiert habe. Aber wenn du dir keine Sorgen um Jerry gemacht hast, was hat dich dann so aus der Fassung gebracht?“ „Wir wären vorhin beinahe gerammt worden“, erklärte T. J., der zu den beiden getreten war. „Irgendein verrückter Tourist hat die Baldstraße wohl mit einer Rennstrecke verwechselt.“ „Was ist passiert, seid ihr verletzt?“ Sam ließ sich den Vorfall genau schildern. Als er hörte, daß T. J. das Auto nicht näher beschreiben konnte, verfinsterte sich sein Blick. „Und du, Sarah?“ fragte er. „Nichts. Ich hatte vor Schreck die Augen zugemacht.“ „Ach ja“, schaltete sich T. J. wieder ein. „Weißt du wo ich Sarah gefunden habe? Auf dem Indian Bluff, zusammen mit dem Fremden, der überall hinter ihr hergeschnüffelt hat. Ich habe ihr schon gesagt, daß das leichtsinnig war, aber auf mich hört sie ja nicht. Vielleicht kannst du sie zur Vernunft bringen.“ „Jetzt reicht es aber, T. J. „, fuhr Sarah ihn an. „Du bist nicht mein Boß.“ - 48 -
Sam legte ihr beschwichtigend die Hand auf den Arm. „Beruhige dich, Sarah, er macht sich doch nur Sorgen um dich.“ Er wandte sich an T. J. „Ich bin froh, daß du sie gesucht hast. Vielen Dank. Aber jetzt geh ruhig wieder an die Arbeit, Sarah kann mit mir fahren.“ „Ja, dann...“ T. J. sah seine Cousine verlegen an. „Tut mir leid, Sarah.“ Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und gab ihm einen Kuß auf die Wange. „Ist schon in Ordnung, T J. Vielen Dank für alles und sei unbesorgt, Sam wird mich in die Stadt bringen.“ T. J. nickte und stieg in den Lieferwagen. Sarah rechnete fest damit, daß Sheriff Bascomb ihr ins Gewissen reden wollte, und sie wurde nicht enttäuscht. „Tut mir leid, wenn sich das anhört, als sei ich T. J.“, begann er, sobald sie auf dem Highway in Richtung Stadt fuhren. „Aber mit dem Fremden zum Indian Bluff hochzufahren, war wirklich unklug.“ „Fang nicht auch noch damit an, Sam.“ „Ja, also...“ Er räusperte sich. „Als er deinetwegen die Leute aushorchen wollte, habe ich nämlich ein paar Erkundigungen über ihn eingezogen. Er ist Journalist.“ „Ich weiß.“ Sam musterte sie verblüfft. „Und du bist trotzdem mitgegangen?“ „Er will einen Artikel über Monte Ne schreiben, Sam. Das ist alles. „Bist du sicher?“ „Ja. Tante Cinda hat auch gesagt, daß er Monte Ne sucht. Manchmal glaube ich, du bist schon genauso ängstlich wie ich.“ „Angst kann sehr heilsam sein, wenn sie dazu führt, daß man vorsichtig ist“, belehrte Sam sie. „Aber ich nehme an, du weißt, was du tust. Wie ist er denn so, magst du ihn?“ Ihre Reaktion auf Nicholas Matthias war das letzte Thema, über das Sarah mit Sam sprechen wollte. Sie brauchte bloß den Namen zu hören, und schon erinnerte sie sich an sein Gesicht. Sie konnte nur hoffen, daß Sam nicht merkte, wie ihr das Blut in die Wangen schoß. „Ich glaube, er ist ganz nett. Ihn zum Feind zu haben ist unangenehm, könnte ich mir vorstellen. Aber zu mir war er freundlich. Wir haben uns hauptsächlich über Monte Ne - 49 -
unterhalten.“ „Bleib wachsam. Soviel ich weiß, hast du schon genug Probleme mit Tante Cinda, um dich den Sommer über auf Trab zu halten.“ Sarah war klar, daß jeder im Tal um die Bemühungen wußte, Tante Cinda zum Umzug zu bewegen. „Wenn du mir in diesem Zusammenhang irgendeinen Tip geben kannst, wäre ich dir dankbar. Tante Cinda zu überreden, ihren Berg zu verlassen, ist nämlich wirklich schwierig.“ „Ja“, stimmte Sam zu. „Sie hat zeitlebens dort gewohnt und wollte nicht mal letzten Herbst weg, als das Wasser dramatisch anstieg.“ „Wie weit ist es denn zu ihr vorgedrungen? „Genau bis zum Fuß des alten Bergahorns. Am Tag darauf habe ich sie besucht. Ich wollte wissen, wie es ihr geht. Sie saß im Schaukelstuhl auf der Veranda, als sei nichts passiert. Um diese Aufgabe beneide ich dich wirklich nicht. Das ist, als wollte man den Felsen von Gibraltar an eine andere Stelle setzen.“ „Ich werde mir etwas überlegen müssen“, meinte Sarah. „Auf die anderen Familienmitglieder hört sie ohnehin nicht.“ Der Sheriff wechselte das Thema. Er wollte wissen, wie sie mit dem Kollegen in St. Louis zurechtkäme. „Ganz gut. Er wirkt nicht begeistert, aber er hält sich an die Abmachungen.“ „Das habe ich nicht anders erwartet“, stellte Sam fest. „Hoyston ist der Typ, der nur glaubt, was er sieht.“ Sarah mußte lachen. „Sei nicht so streng, Sam. Es hat eben nicht jeder eine Urgroßmutter bei den Tscherokesen.“ „Also hast du dich mir ihretwegen anvertraut. Das wollte ich dich schon immer fragen. Schließlich warst du noch ein Kind und hattest genug andere Erwachsene um dich herum. Wie alt warst du damals, dreizehn?“ „Elf, und von der Urgroßmutter wußte ich noch nichts. Aber ich mußte mit jemandem darüber reden, der nicht zur Familie gehörte, und ich hatte das Gefühl, daß du der einzige bist, der mir eventuell glauben würde. Außer dir wußte niemand, daß ich...“ Sie zögerte, es laut auszusprechen. Statt dessen fuhr sie fort: „Mir ist jedenfalls erst später klar geworden, warum meine Wahl auf dich fiel. Ich ahnte, - 50 -
daß du aufgrund deiner Herkunft noch am ehesten bereit wärest, Dinge zu akzeptieren, die man nicht beweisen oder erklären kann.“ Der Sheriff schmunzelte. „Zuerst hielt ich es für kindliche Übertreibung. Aber da wir keine Ahnung hatten, wo das Kind stecken könnte, hatten wir nichts zu verlieren.“ Er wurde wieder ernst. „Am Ende wird auch Hoyston von dir überzeugt sein. Warte nur ab.“ „Das ist, mir im Grunde egal“, gestand Sarah. „Hauptsache, er richtet sich nach meinen Informationen und hält mir die Neugierigen vom Hals.“ „Paß auf dich auf. Und sei auch mit dem Fremden vorsichtig. Wenn's Probleme gibt, kannst du jederzeit zu mir kommen.“ „Ich weiß, Sam. Das tue ich doch schon seit Jahren. „Na gut, aber vergiß es nicht.“ Erfuhr auf den Parkplatz hinter dem Café und hielt neben Sarahs Auto. „Noch mal vielen Dank, daß du sofort gekommen bist. Und wie gesagt: Paß auf dich auf, hörst du?“ „Versprochen, Sam.“ Am Wochenende war das Haus voller Besuch, und Sarah hatte viel zu tun. Trotzdem schien die Zeit stillzustehen. Sarah half der Großmutter zwar beim Zubereiten der Mahlzeiten, aber das geschah so automatisch, daß sie dabei innerlich allein und den nicht enden wollenden Gedanken ausgeliefert blieb. Sollte sie Nicholas Matthias wirklich am nächsten Montag abholen? Sie hatte versprochen, ihm die Ruinen zu zeigen, doch das konnten T. J. oder Jimmy Joe genausogut erledigen. Jimmy Joe wäre begeistert, und T. J. würde es gern tun, weil er meinte, Sarah damit vor dem Fremden beschützen zu können. Wollte sie beschützt werden? Weshalb fühlte sie sich so stark zu Nicholas Matthias hingezogen? Die Antwort war einfach. Sie mochte ihn, weil er ihr das Gefühl gab, eine Frau zu sein. Bei alledem vergaß sie nie, daß er bald wieder abreisen würde. Sobald er genug Material für seinen Artikel beisammen hätte, würde er sich verabschieden, ohne in Mountain Springs einen bleibenden Eindruck zu hinterlassen. Nichts würde sich ändern, wenn sie sich für wenige Stunden über die sich selbst auferlegten Grenzen - 51 -
hinwegsetzte. Dieses eine Mal wurde sie so tun, als sei sie eine Frau wie jede andere. Eine Frau, die einen Mann sympathisch fand und es deshalb ab und zu genoß, mit ihm zusammen zu sein. Wem konnte das schon schaden? Ihm ganz gewiß nicht. Außerdem hatte sie ihm versprochen, ihn abzuholen. Ihr war klar, daß es sinnlos war, über eine wie auch immer geartete gemeinsame Zukunft nachzudenken. Aber ihn noch einmal wiedersehen? Das war kein Problem.
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5. KAPITEL Nicholas musterte die Frau an seiner Seite und lächelte zufrieden. Er hatte recht gehabt. Pünktlich um zehn war Sarah Wilson in der Feriensiedlung erschienen. Obwohl er fest mit ihrem Kommen gerechnet hatte, war er erleichtert gewesen, als er aus dem Fenster seiner Ferienwohnung sah und Sarah hinter der staubigen Windschutzscheibe ihres Autos erkannte. Während der letzten Tage hatte er an nichts anderes mehr denken können als an sie. Noch nie hatte er sich zu einer Frau so hingezogen gefühlt. Das war ihm allerdings auch noch nie so ungelegen gekommen wie ausgerechnet jetzt. Die falsche Zeit, der falsche Ort, die falsche Frau. Irgendwie mußte er sich aus dem Bann ihrer geheimnisvollen Augen lösen und sich statt dessen auf sein eigentliches Anliegen besinnen. Er hatte das Wochenende tatsächlich genutzt, um sich zusätzliche Informationen über Monte Ne zu beschaffen. Sarah hatte recht, der Ort nahm im Rahmen der Geschichte einen besonderen Platz ein. Er wollte einen Artikel darüber schreiben, aber auch über Sarah. Sie paßte nicht zu der Vorstellung, die man sich gemeinhin von Menschen mit übersinnlichen Fähigkeiten macht. Das ließ ihn mehr hoffen denn je. Er hatte das Gefühl, daß er diesmal wirklich vor einer Entdeckung stand. Zwar mahnte ihn eine innere Stimme, daß er ihr gegenüber offen sein müßte, doch die überhörte er geflissentlich. Hier ging es um eine Art übergeordneter Wahrheit. Falls Sarah übersinnliche Fähigkeiten besaß, würde sie das verstehen. Hatte sie sie nur vorgetäuscht, verdiente sie ohnehin kein Mitleid. Dieser Urlaub war ebenso interessant wie anstrengend. Nicholas mußte zwei Berichte schreiben: einen über Monte Ne und einen über Sarah. Das war schwierig genug Er nahm sich fest vor, alle anderen Wünsche zu unterdrücken und sich statt dessen mit ganzem Herzen seiner Arbeit zu widmen. Nach dem Vorfall auf dem Felsvorsprung hatte er damit gerechnet, daß sie ihm noch abweisender begegnen würde als zuvor. Aber er hatte sich geirrt. Beim Abholen hatten ihre Augen gestrahlt wie die - 53 -
eines Kindes, das sich auf eine Extrabelohnung freut. Zuerst war er enttäuscht gewesen, weil sie ihm offensichtlich nicht die gleichen Gefühle entgegenbrachte wie er ihr. Doch dann hatte er sich überlegt, daß sie ihm mit dieser freundlichen Haltung die Arbeit ungemein erleichtern würde. „Jake hat mir erzählt, der vermißte Junge sei heil und sicher aufgefunden worden“, stellte er möglichst beiläufig fest. Sie durfte nicht einmal ahnen, daß er erraten hatte, warum sie um Hilfe gebeten worden war. „Ja, bei den Katzenbabys in der Scheune“, erzählte Sarah bereitwillig. „Er war dort eingeschlafen und hat gar nicht gemerkt, welchen Trubel er dadurch verursacht hat.“ „Merkwürdig.“ Nicholas zögerte. Daß sich ein kleiner Junge zu Katzenbabys hingezogen fühlt, war klar. Hatte die Mutter das nicht bedacht, bevor sie in Panik geriet? Aber da Sarah mit der Frau befreundet war, würde sich Nicholas mit seiner Kritik nicht eben beliebt machen, und deshalb schwieg er. „Ja, das hätte sie wissen müssen“, sagte Sarah, als hätte er die Worte laut ausgesprochen. Nicholas hätte sich fast verschluckt vor Aufregung. War ihr klar, was sie tat? „Wahrscheinlich geriet Millie in Panik, weil Jerry verschwand, nachdem in der Nähe des Bauernhauses zwei Fremde aufgetaucht waren. Als sie den Kleinen zuletzt gesehen hatte, unterhielt er sich gerade mit ihnen. Augenscheinlich nicht, dachte Nicholas, da sie weiterhin auf seine Gedanken einging. Das konnte natürlich Zufall sein. „Na ja, Hauptsache, ihm ist nichts zugestoßen. Zum Glück sind nicht alle Fremden gefährlich, vor allem jetzt, wo so viele Touristen in der Gegend sind. „Stimmt, Eureka Springs zieht in den Frühjahrs- und Sommermonaten viele Urlauber an“, pflichtete Sarah bei. „Beaver Lake auch, aber Shelton Valley nicht.“ Nicholas hatte sich zu Sarah umgewandt, aber das hätte er besser bleiben lassen. Ein Blick in ihre Augen, und er rang um Fassung. Nun zwang er die Aufmerksamkeit wieder auf die Straße. Er - 54 -
ermahnte sich, locker zu bleiben und das Gespräch in Gang zu halten. „Eins kann ich mir nicht erklären, Sarah“, begann er vorsichtig. „Wodurch bist du eigentlich Inhaberin von Monte Ne geworden?“ Er wollte auf keinen Fall aufdringlich wirken und dadurch ihren Widerstand hervorrufen. Erst als er sicher war, daß sie nichts gegen die Frage einzuwenden hatte, fügte er hinzu: „Als du geboren wurdest, gab es die Stadt längst nicht mehr. Trotzdem steht dein Name in fast jedem Dokument, das damit zu tun hat.“ Sarah war die unmißverständliche Faszination in Nicholas Augen nicht entgangen. Um so dankbarer griff sie das vertraute Thema Monte Ne auf. Sorg dafür, daß sein Interesse daran wach bleibt, sagte sie sich. Erstens ist das ungefährlicher, und zweitens ist er aus dem Grund hier. „Das hängt mit der Denkweise der einheimischen Bevölkerung zusammen“, erklärte sie. „Mein Urgroßvater väterlicherseits hat mir das Land nämlich vererbt, weil er Fremden mißtraute.“ Nicholas lächelte. „Ich habe das Gefühl, da war mehr im Spiel als bloßes Mißtrauen.“ Die feinen Lachfalten um seine Augen vertieften sich. „Klärst du mich auf?“ Als Sarah das Lächeln erwiderte, stockte ihm sekundenlang der Atem. „Du bist wirklich klug, das habe ich von Anfang an vermutet. Aber ich bin mir nicht sicher, welche Version ich dir erzählen soll, die offizielle oder die richtige.“ „Jede Wette, daß du dich für die Wahrheit entscheidest.“ erwiderte Nicholas. Sie musterte ihn überrascht. „Woher willst du das wissen?“ „Ich hoffe einfach, daß du nie Poker spielst“, erwiderte er so entspannt, wie er sich inzwischen fühlte. Als sie nicht reagierte, ließ er das Lenkrad mit einer Hand los und strich ihr kurz über die Finger. „Was hatte Urgroßvater Wilson also mit Monte Ne zu tun?“ „Nichts.“ Sarah versuchte, nicht darauf zu achten, wie sich die flüchtige Berührung auf ihren Pulsschlag auswirkte. „Jedenfalls nicht von Anfang an. Er zählte zu den typischen Bergbewohnern die sich nur zögernd an Neues gewöhnen. Fremde lehnte er ebenso ab wie die - 55 -
Vorstellung, daß ein Teil seiner Ozark Mountains von Außenseitern in Besitz genommen wurde. Allmählich lernten die Einheimischen jedoch, mit Monte Ne zu leben. Sie nahmen an den Veranstaltungen teil und verliehen ihnen damit sogar eine gewisse volkstümliche Ausstrahlung. Nur mein Urgroßvater blieb eisern. Er ging zu keinem der Feste, nicht einmal zu dem jährlichen Liederwettbewerb. Dabei soll er meisterhaft Geige gespielt haben. Andererseits war er wohl der Ansicht, daß man eine günstige Gelegenheit beim Schopf ergreifen sollte“, schloß sie lachend. „Und das hat er sehr gewissenhaft getan.“ „Wie?“ erkundigte sich Nicholas. Er beglückwünschte sich im stillen zu dem Entschluß, den wißbegierigen Schüler zu spielen. Wenn Sarah in die Rolle der Lehrerin schlüpfte, fiel ihm der Umgang mit ihr leicht. Er konnte ihre Gesellschaft genießen und sich gleichzeitig auf sein Anliegen konzentrieren. Die Versuchung, sie zu streicheln, war dann nicht mehr so groß. „Er hat auf sämtlichen Feldern, die ihm gehörten, Mais angebaut.“ „Mais?“ „Mais“, bestätigte Sarah. „Was hat Mais denn mit Monte Ne zu tun?“ „Jetzt hör aber auf, Nicholas. Das kann man sich doch an fünf Fingern abzählen. Was macht man mit Mais?“ Nicholas wußte nicht, was sie meinte. „Na ja, man kann ihn kochen, lagern, wieder aussäen oder auch zu Mehl mahlen.“ „Du hast etwas vergessen“, sagte Sarah lächelnd. Im Geiste ging er die Liste noch mal durch, aber er fand keine weitere Möglichkeit. Außerdem ließ Sarah ihn nicht aus den Augen. Wie sollte er dabei einen klaren Gedanken fassen? „Mir fällt nichts anderes ein“, erwiderte er nach einer Weile, und das traf in mehr als einer Hinsicht zu. „Man kann ihn brennen.“ „Du meinst, zu Schnaps verarbeiten?“ „Ja. Abnehmer gab es in Monte Ne genug. Jedenfalls hatte mein Urgroßvater bald ein hübsches Sümmchen angespart. Als es dann zu dem großen Börsenkrach kam und das Land zum Kauf angeboten wurde, hat er zugegriffen. Ich glaube, es war für ihn ein Akt ausgleichender Gerechtigkeit, daß ihm ausgerechnet die verhaßten Fremden die Mittel gegeben hatten, das Land in Besitz zu nehmen.“ - 56 -
„Ist das die offizielle Version?“ „Nein, die richtige. Offiziell heißt es, er hätte auf einem seiner Acker einen Goldschatz gefunden.“ Sarah verstummte, als sie Nicholas grinsen sah. „Was ist daran so komisch?“ „Ich finde es merkwürdig, daß eine Geschichte, die von soviel Unternehmungsgeist zeugt, zugunsten einer anderen geheimgehalten wird, bei der alles vom Glück abhängt.“ „Du darfst nicht vergessen, daß die private Schnapsbrennerei verboten war. Wer so etwas tat, wurde von bestimmten Kreisen geächtet.“ Ihr Lächeln wirkte auf Nicholas wie das erste Sonnenlicht, das bei Tagesanbruch über einen Bergrücken strahlt. Er lächelte zurück, und plötzlich fühlte sich Sarah so wohl wie lange nicht. Alles ging gut. Sie hatte sich offenbar umsonst gefürchtet. Nicholas Matthias schien ihr die Wahrheit gesagt zu haben. Er war ein Journalist, der sich für die Geschichte von Monte Ne interessierte. In dem kurzen Augenblick, als sich ihre Blicke gekreuzt hatten, hatte sie daran gezweifelt. Wahrscheinlich war die Phantasie mit ihr durchgegangen. So wie neulich auf dem Indian Bluff. Das mußte wohl an der Hitze liegen. „Lebt deine Familie schon lange hier?“ fragte er. „Ja, so wie alle anderen Familien in Mountain Springs auch. Manchmal müssen die Jüngeren wegen der wirtschaftlichen Lage fortziehen, aber die anderen wohnen hier seit Generationen. Wenn mehr Platz für Neuankömmlinge wäre, könnten die Jüngeren ebenfalls bleiben.“ „Was ist mit deinem Cousin, der dich neulich abgeholt hat, ist der junge Mann ein einheimischer Farmer?“ „T. J.?“ vergewisserte sich Sarah verblüfft. „Er hilft auf der Farm seiner Eltern und züchtet nebenbei Pferde. Warum?“ „Nur so.“ Nicholas wunderte sich selbst über seine Frage, noch mehr aber darüber, daß Sarah die Antwort nicht erriet. „Ich hatte mir nur überlegt, ob er vielleicht einer der Jüngeren ist, die nicht fort wollen.“ „Ich glaube, T. J. hielte es anderswo nicht aus. Er ist hier zu Hause.“ - 57 -
Genau wie du, dachte Nicholas. Du lebst und unterrichtest zwar in St. Louis, aber du kehrst immer wieder hierher zurück. Woanders würdest du dich nie daheim fühlen, nicht wahr, Sarah Wilson? Er fand den Gedanken aus irgendeinem Grund bedrückend. „Was ist mit dir, Nicholas - wo ist deine Heimat?“ Nicholas zuckte mit den Schultern. „Nirgends, seit wir die Farm nach dem Tod meines Vaters aufgegeben haben. Wenige Jahre danach starb auch meine Mutter. Ich bin eine Zeitlang in der Armee gewesen. Mein Zuhause war immer da, wo ich gerade zu tun hatte. Nachdem ich den Militärdienst quittiert hatte, richtete sich mein Aufenthaltsort danach, hinter welcher Story ich gerade her war. Ich habe ein kleines Apartment in St. Louis. Dort verbringe ich die Zeit zwischen zwei Aufträgen, aber eine Heimat ist das nicht. Es ist schon vorgekommen, daß ich es ein Jahr lang nicht betrete.“ Sarah versuchte, sich das vorzustellen. „Macht dir das denn nichts aus, wenn du nichts hast, wohin du gehörst?“ „Überhaupt nicht“, beteuerte Nicholas. „Ich hatte immer das Gefühl, mein Zuhause ist dort, wo ich zufällig gerade bin.“ Das erklärt einiges, überlegte Sarah. Und es paßt zu dem, was Tante Cinda gesagt hatte. Sie wußte, nicht, wen sie mehr bedauerte, ihn oder sich selbst. „Stimmt die Richtung eigentlich noch?“ Sie sah sich kurz um. „Ja, die Straße führt direkt zum See.“ Minuten später stellte Nicholas den Wagen am Straßenrand ab. Die hoch am Himmel stehende Sonne spiegelte sich in der Wasseroberfläche des Sees. Dem vertrockneten Schlamm am Ufer unterhalb des Hangs sah man an, wie hoch das Wasser normalerweise stand. „Mir wurde erzählt, der Pegel sei gesunken, aber so schlimm hatte ich es mir nicht vorgestellt“, sagte Sarah entgeistert. „Wie kann es dazu kommen? Schließlich haben wir erst Juni. „Mit Hilfe des Beaver Lakes wird elektrische Energie gewonnen. Daß deshalb soviel Wasser auf einmal durch den Staudamm abgelassen wird, ist allerdings ungewöhnlich.“ Ohne auf Nicholas Hilfe zu warten, sprang sie vom hohen Beifahrersitz hinab auf die Erde. Um sie herum war alles still, nur die Insekten summten, und aus dem - 58 -
Bergwald über ihnen erklang ab und zu der Ruf eines Vogels. „Schau“, meinte Sarah und wies zum Ufer. „Man kann sogar das Freilichttheater sehen. Das habe ich am Indian Bluff noch gar nicht bemerkt.“ Nicholas Aufmerksamkeit wurde von einem großen Betongebäude abgelenkt, das von einem Wall hoch über den See aufragte. „Ist das der Turm, den du mir neulich gezeigt hast der mal zum Oklahoma Row gehört hat?“ Als sich Sarah umdrehte, trat sie so ungeschickt auf, daß sie beinahe gestolpert wäre. Sofort war Nicholas bei ihr und hielt sie am Ellbogen fest. Die Berührung elektrisierte sie. Sie sah auf und begegnete seinem Blick. In seinen Augen lag ein Ausdruck aufrichtiger Besorgnis. „Hast du dir weh getan?“ fragte Nicholas. „Nein, zum Glück nicht.“ Sie senkte die Lider, dann wandte sie das Gesicht wieder zum See und betrachtete den Turm. Dennoch war sie machtlos gegen den Schauer, der ihr über den Rücken rann. Zögernd gab Nicholas sie frei. „Von hier aus ist die Ruine noch bemerkenswerter als vom Indian Bluff aus. Ist das tatsächlich die gleiche?“ „Ja, das ist der Südturm vom Oklahoma Row.“ „Können wir ihn besichtigen, vielleicht sogar hineingehen? Ich habe zwar alte Aufnahmen davon im Museum gesehen, aber das ist noch nichts gegen die Wirklichkeit. Das Gebäude zu betreten stelle ich mir noch beeindruckender vor.“ Sie musterte den See. Eine leichte Brise kräuselte die blaugrün glitzernde Oberfläche. Der Himmel war wolkenlos, das Wetter wirkte beständig. „Na gut“, erwiderte sie betont vergnügt. „Aber ich warne dich. Eigentlich gibt es dort nichts Besonderes zu sehen.“ Nicholas hätte gern gewußt, warum sie zögerte. Vielleicht seinetwegen? Er mußte zugeben, daß ihm die alten Gemäuer von Monte Ne Ehrfurcht einflößten. Sie dagegen war damit vertraut und außerdem Geschichtslehrerin. „Komm, wir gehen am Ufer entlang“, schlug Sarah vor. „Dort weht immer ein bißchen Wind.“ Er folgte ihr bereitwillig. „Der Turm steht zu hoch, um jemals - 59 -
völlig unter Wasser zu sein, nicht wahr?“ „Ja. Bei normalem Wasserstand werden die Kellergeschosse überspült, aber der erste Stock würde selbst bei Hochwasser nicht naß. Allerdings gibt es keine Stockwerke mehr. Der Turm ist hohl, ein Gerippe.“ Plötzlich blieb sie stehen und zeigte vom See fort auf eine Brücke. „Da ist sogar noch einer von den Fußgängerüberwegen. Als das Wasser das letzte Mal so tief stand, waren noch mehr da. Ich war schon gespannt, wie viele diesmal übrig geblieben sind.“ „Ging man über diese Brücken, wenn man nicht mit der Gondel fahren wollte?“ „Genau. Sie waren kleine Kunstwerke für sich. Wahrscheinlich sind sie von einem Einheimischen gebaut worden. Man kann über die Menschen in den Ozark Mountains denken, was man will, eins können sie wirklich hervorragend, und das ist das Bearbeiten von Felsgestein.“ Sie kehrten dem See in stiller Übereinkunft den Rücken zu und gingen auf die Fußgängerüberführung zu. „Stimmt“, sagte Nicholas, als sie so nahe herangekommen waren, daß man die kunstvolle Gestaltung der Brücke genauer erkannte. „Das ist wirklich eine bewundernswerte Arbeit. Wenn das ein Beispiel für die Architektur in Monte Ne ist, muß die Stadt bewundernswert gewesen sein.“ „Ja, das finde ich auch. Der Heimatverein besitzt von den meisten Gebäuden alte Fotos, jedenfalls von den wichtigsten. Aber ich habe noch nie ein Bild von den Parks gesehen. Harvey strebte nach Vollkommenheit. Vermutlich waren die Gartenanlagen mindestens genauso schön.“ Sarah mußte wider Willen lächeln. Sie wußte nicht, was heute mit ihr los war. Die Aussicht, Nicholas wiederzusehen, hatte ihr angst gemacht. Sie hatte gefürchtet, daß er das Erlebnis am Indian Bluff als Einladung auffassen und auf eine Fortsetzung drängen könnte. Oder noch schlimmer, daß er sie für eine Frau hielt, die den Austausch körperlicher Intimitäten bedenkenlos billigte. Ja, das war der richtige Ausdruck. Denn obwohl sie sich nur geküßt - 60 -
hatten, hatte diese Zärtlichkeit etwas ausgesprochen Intimes gehabt. Aber Nicholas war nicht auf den Vorfall zurückgekommen. Er hatte nichts gesagt, das ihr peinlich gewesen wäre, oder etwas getan, aufgrund dessen sie sich das unbehagliche Gefühl erklären könnte, das sie seit der Ankunft am See vergeblich abzuschütteln versuchte. Das muß an der Sonne liegen, entschied sie. Ich hätte einen Hut aufsetzen sollen. „Anscheinend sind wir nicht die einzigen, die in die Vergangenheit reisen wollen“, bemerkte Nicholas und wies auf drei Autos neben dem Turm. „Ich wußte nicht, daß Monte Ne bei den Urlauber so bekannt ist. Ein Wagen kommt aus Tennessee, der zweite aus Illinois und der dritte aus Oklahoma. Aber die Insassen sind nirgends zu sehen.“ „Das Auto aus Oklahoma zählt nicht“, sagte Sarah. „Dafür ist die Grenze zu nahe. Von dort kommen so oft Leute, daß sie für uns keine Touristen mehr sind. Wahrscheinlich sind alle auf der anderen Seite des Turms. Da liegt ein Teil des Fundaments frei, das ist bestens für ein Picknick geeignet.“ Nicholas zögerte kurz. „Heben wir uns den Turm für später auf und gehen erst mal zum Freilichttheater? Ich habe keine Lust, meine persönliche Besichtigungstour mit Fremden zu teilen.“ Damit war Sarah einverstanden, und ohne ein Wort zu sagen, änderte, sie die Richtung. Sie konnte nicht abstreiten, daß sie sich freute. Auch sie wollte niemanden dabei haben. Sie betraten das Theater dort, wo einmal die Bühne gewesen war. Die ursprüngliche Pracht des großzügig angelegten Schauplatzes war verblaßt, der Beton verfallen. Aber die mit Ornamenten verzierten Betonsitze standen in immer noch stattlichen Reihen, die sich von der Hügelkuppe bis zum jetzt so niedrigen Seeufer hinunter erstreckten. Nicholas hatte Fotos gesehen, alte Stadtpläne studiert und Sarahs Erzählungen gelauscht. Doch er begann erst jetzt das Ausmaß dessen zu begreifen, was hier geschaffen worden war. Auf einmal bedauerte er, daß das alles endgültig vorbei war und nur noch in der Erinnerung weiterlebte. Er wollte etwas sagen, aber Sarah hatte sich bereits abgewandt und - 61 -
kletterte über die Bänke den Hügel hinauf. Nicholas folgte ihr. Als sie ungefähr die Hälfte des Hangs hinter sich hatte, hielt sie inne. Nicholas wies mit weit ausholender Geste auf die Umgebung. „Ist das normalerweise alles unter Wasser?“ „Ja, meistens. Ich erinnere mich noch daran, als das Wasser das letzte Mal so tief stand, daß man die Freilichtbühne betreten konnte. Das war vor über zehn Jahren.“ Sie sprach so leise, als ob die Gegenwart die Vergangenheit sonst aus ihrem Schlaf wecken könnte. Auch Nicholas senkte die Stimme, um den Ort vergessener Träume nicht zu stören. „Ich gehe weiter. Von der Kuppe aus kann ich mir einen besseren Gesamteindruck verschaffen.“ „Gut“, flüsterte Sarah. „Ich warte hier.“ Eine Weile sah sie ihm nach, dann setzte sie sich in den Schatten einer Bank und lehnte sich mit dem Rücken an den kühlen Beton. Um sie herum surrten die Insekten, aus der Ferne erscholl der rauhe Schrei einer Krähe, kurz darauf sang in der Nähe ein Rotkehlhüttensänger. Die Geräusche von Nicholas Schritten wurden schwächer, je weiter er den Hügel erklomm. Ohne sich auf etwas Bestimmtes zu konzentrieren, ließ Sarah ihren Gedanken freien Lauf. Sie genoß die Einsamkeit und die scheinbar spurlos verstreichende Zeit. Wie lange sie so dagesessen hatte, wußte sie nicht. Irgendwann fiel ihr auf, daß die Vögel verschwunden waren. Kein Lied, kein Ruf, selbst die Insekten waren verstummt. Bedrohliche Stille herrschte um sie herum. Sarah lauschte angestrengt. Plötzlich hörte sie das polternde Getöse herabstürzender Felsbrocken. Ohne sich umzudrehen oder auch nur einen Augenblick zu zögern, warf sich Sarah unter die nächste Betonbank. Sie glaubte, jemanden von weitem ihren Namen rufen zu hören, aber der Lärm der rollenden Steine übertönte alles andere. Sie widerstand dem Wunsch, vor dem näher kommenden Geräusch davonzulaufen, und kauerte sich noch tiefer unter die schützende Bank. Um sie herum fielen kleine Steine und Betonbrocken herab. Der Donner wurde lauter. Wieder meinte Sarah, jemand hätte nach ihr gerufen, aber das konnte auch täuschen. Sie mußte husten und atmete dabei lauter Staub ein. Das war das letzte, woran sie sich später erinnern konnte. - 62 -
6. KAPITEL Von der Hügelkuppe aus beobachtete Nicholas entsetzt, wie eine riesige Betonplatte den Hang hinunterstürzte. Sie riß auf ihrem unheilbringenden Weg einzelne Sitze mit sich, schlug lose Teile und Steine los und ließ sich durch nichts aufhalten. „Sarah“, rief er warnend und bittend zugleich. Quer über die Bänke hinweg eilte er in ihre Richtung. „Sarah!“ Er bekam keine Antwort, hörte nur seine eigene Stimme, die im allgemeinen Getöse unterging. Kurz nachdem die Platte auf den flachen Boden, in der Mitte des Freilichttheaters prallte, erreichte Nicholas die Stelle, wo er Sarah zuletzt gesehen hatte. „Sarah“, rief er noch mal in das allmählich verklingende Echo herabpolternder Steine hinein. Nichts. Dann sah er sie merkwürdig still unter der Betonbank liegen. Er bückte sich und streckte die Hand nach ihr aus. Als er das gleichmäßige Pulsieren der Halsschlagader fühlte, atmete er erleichtert auf. Was war zu tun? Die wuchtige Bank über ihr hatte zwar gehalten, aber der Beton hatte neue Risse davongetragen. Nicholas fuhr Sarah vorsichtig mit den Fingern durchs Haar. Zum Glück schien sie keinen Schlag auf den Kopf erhalten zu haben. Er zwang sich, ruhig zu bleiben und sich auf die Regeln für Erste Hilfe zu besinnen. Bevor du sie bewegst, mußt du nach Verletzungen suchen, fiel ihm ein. Er tastete Sarah behutsam nach Knochenbrüchen ab. Als er nichts fand, stieß er einen zweiten Stoßseufzer der Erleichterung aus. Sollte er sie unter der Bank hervorziehen? Er konnte nicht wissen, ob Hals oder Rückenwirbel beschädigt waren. Doch das hielt er für unwahrscheinlich. Voraussichtlich hatte die Bank ausreichenden Schutz geboten. „Sarah?“ fragte Nicholas leise. Er sah, daß ihre Augenlider unmerklich zuckten. „Bitte, Sarah. Sag, daß du gesund bist.“ Seine Stimme erreichte sie wie aus weiter Ferne, und aus jedem Wort klangen Angst und Sorge. Dann spürte sie, daß er ihr in einer wohltuenden und tröstlichen Geste über die Stirn strich. Sie hörte erneut, daß er ihren Namen sagte, und diesmal konnte sie reagieren. - 63 -
Sie öffnete die Augen. „Sarah, was für ein Glück, du bist wieder bei Bewußtsein. Nein, beweg dich jetzt nicht. Du könntest verletzt sein.“ Sarah lag still und versuchte, sich zu erinnern. Vorsichtig drehte sie den Kopf so, daß sie Nicholas ansehen konnte. Er kniete mit kreideweißem Gesicht neben ihr. Während sie ihn beobachtete, kehrte die Farbe jedoch allmählich in seine Wangen zurück. „Hat dich irgend etwas erwischt?“ erkundigte er sich. „Nicht, daß ich wüßte.“ Behutsam schob er ihr die Arme unter den Rücken. „Ich ziehe dich jetzt unter der Bank hervor.“ „Es ist alles in Ordnung, Nicholas. Tut mir leid, daß ich ohnmächtig geworden bin. Das war irgendwie feige.“ Nachdem Nicholas ihr auf die Füße geholfen hatte, tastete er sie noch einmal gründlich nach Verletzungen ab. Sarah holte tief Luft. Das ist nicht persönlich gemeint, ermahnte sie sich. Also bleib ruhig und halt still. Trotzdem machte ihr die Berührung jeden zusammenhängenden Gedanken unmöglich. „Feige ist das falsche Wort“, stellte er fest, sobald die Untersuchung beendet war. „Wenn ich gesehen hätte, daß eine Betonplatte auf mich zukommt, wäre ich bestimmt vor Angst erstarrt. Du hattest immerhin soviel Geistesgegenwart, die einzige Möglichkeit zu erkennen, die dich retten konnte.“ Sarah mußte lachen. „Das hat nichts mit Verstand zu tun, das war Instinkt. Wenn mir Gefahr droht, laufe ich davon. In diesem Fall habe ich mich eben in mich selbst zurückgezogen.“ „Aber erst, nachdem du dich geschützt hattest. Nenn es wie du willst, ich bin jedenfalls froh über dein Reaktionsvermögen, Lady.“ Nicholas sah sich um. Er wollte wissen, wodurch das Unglück ausgelöst worden war. Die Ursache wurde ihm im selben Augenblick klar, als er begriff, daß das jeden Moment wieder passieren konnte. Durch die vielen Jahre unter Wasser hatten sich die Verbindungen zwischen den Betonplatten gelockert. Er mußte Sarah sofort von hier wegbringen. Bevor ihr klar wurde, was er vorhatte, hob er sie hoch und drückte sie an sich. - 64 -
„Mir fehlt nichts, Nicholas“, beteuerte sie. „Ich kann einwandfrei allein gehen. Laß mich los.“ „Nein, Sarah, bitte nicht. Mir zuliebe.“ Er blieb stehen und sah ihr in die Augen. „Mach dich ruhig über mich lustig. Gesund oder nicht, du hast einen Schock erlitten, und ich auch. Wir dürfen nicht länger in der Sonne bleiben. Solange ich dich spüre und in den Armen halte, habe ich das Gefühl, daß alles in Ordnung ist.“ Sein bittender Blick machte sie so hilflos, daß sie nur nicken konnte. Sie lehnte den Kopf an seine Brust und hielt sich mit einer Hand an seinen Schultern fest. Nicholas versuchte, nicht auf das Glücksgefühl zu achten, das Sarahs körperliche Nähe in ihm auslöste. „Bist du sicher, daß du nicht verletzt bist?“ vergewisserte er sich. Seine Stimme klang belegt, aber er hoffte, daß ihr das nicht auffiel. „Tut irgend etwas weh, hast du Kopfschmerzen?“ „Mir fehlt nichts. Ganz ehrlich, Nicholas. Ich kann genausogut laufen.“ Sarah unterdrückte jeden verräterischen Ton, damit Nicholas nicht merkte, wie sehr sie es genoß, von ihm getragen zu werden. Sei vernünftig und besteh darauf, daß er dich absetzt, mahnte ihr Gewissen. Doch anstatt darauf zu hören, schmiegte sie sich nur noch enger an ihn. „Laß uns den Tag gemeinsam verbringen“, bat er. Als sie überrascht aufschaute, nutzte er die Gelegenheit und hauchte ihr einen Kuß auf die Stirn. Dann erklärte er: „Ich finde, für heute haben wir genug Ruinen besichtigt. An der großen Kreuzung ist ein Laden, da könnten wir haltmachen und alles Nötige für ein Picknick einkaufen. Du kennst sicherlich Dutzende schöner Plätze, wo wir essen können. Einverstanden?“ Er wartete auf eine Antwort. Als Sarah nichts sagte, fügte er hinzu: „Wenn du willst, nehmen wir Jimmy Joe mit. Er würde sich bestimmt freuen, und ich würde ihn auch gern mal wiedersehen.“ Sarah schüttelte den Kopf. „Das geht nicht. Grandpa hat ihn zu einer Versteigerung nach Bentonville mitgenommen.“ Die Vorstellung, mit Nicholas zum Picknick zu fahren, gefiel ihr. Sie wußte, was ,sie wollte. Hatte sie sich nicht vor kurzem überlegt, daß seine Gesellschaft nicht schaden konnte? Außerdem hatte sie heute - 65 -
nachmittag noch nichts vor. „Das ist eine wundervolle Idee“, meinte sie endlich. „Hast du eine Badehose dabei?“ Nicholas nickte. „Dann weiß ich etwas Besseres. Wir holen deine Schwimmsachen, du fährst mich zur Farm, und ich mache uns ein Lunchpaket. Und dann zeige ich dir die Stelle am See, wo ich am liebsten bade.“ Der Gesang der Vögel in den Beerensträuchern am Hang untermalte das Plätschern eines Wasserfalls. Der Fluß wand sich vom Berg durch Felsen und Geröll hinab bis in die Senke, wo sich das Wasser in einem Beckensammelte, bevor es seinen Weg ins Tal fortsetzte. Nicholas drehte sich auf den Bauch und stützte den Kopf mit einer Hand auf. „Hier ist es wirklich schön“, stellte er fest, während Sarah die Lunchreste im Korb verstaute. „Ich kann gut verstehen, daß du gern hierher kommst.“ „Das ist mein Lieblingsplatz in den Bergen“, bestätigte sie. Sie stellte den Korb beiseite und legte sich auf die Decke unter einer mächtigen Eiche. Die durch das Blattwerk dringenden Sonnenstrahlen bildeten diamantene Lichtpunkte, die über den Boden tanzten. „Als kleines Mädchen wollte ich hier wohnen“, fuhr Sarah fort. „Ich hatte vor, dort oben auf der Ebene neben dem alten Obstgarten ein Haus zu bauen. Morgens hätte ich mir einen Apfel zum Frühstück gepflückt, dann wäre ich den Berg hinuntergelaufen und hätte im Fluß schwimmen können.“ „Was nicht ist, kann ja noch werden.“ Sie sah ihn bedrückt an. „Das glaube ich nicht. Mein Onkel hatte das Grundstück wegen des fruchtbaren Bodens jahrelang gemietet. Jetzt wollen die Besitzer verkaufen, aber soviel Geld hat Onkel Hiram nicht.“ Sie lächelte spöttisch. „Außerdem werden die Äpfel ohnehin erst reif, wenn es zum Baden schon zu kalt ist.“ Nicholas fuhr ihr mit dem Zeigefinger über die Wange. „Vielen - 66 -
Dank, daß du mir den Platz gezeigt hast.“ Die federleichte Berührung beschleunigte Sarahs Pulsschlag. Achte nicht darauf, beschwor sich Sarah, während sie das Gesicht bereits weiteren Zärtlichkeiten entgegenhob. Als sie das merkte, richtete sie sich abrupt auf. „Ich fand schon immer, daß man etwas Schönes erst richtig genießen kann, wenn man es mit jemandem teilt“, erklärte sie und zog sich die Schuhe aus. „Komm, wir gehen schwimmen. Wer zuerst im Wasser ist, hat gewonnen.“ Da sie ihren zweiteiligen Badeanzug bereits anhatte, mußte sie nur noch Jeans und Shirt abstreifen, und war fertig. Sie lief zum Ufer und tauchte in das kalte Naß. Der Schock ließ sie rasch zu ihrem gewohnten Gleichgewicht zurückfinden. Sie drehte sich zum Ufer um. Amüsiert beobachtete sie, wie Nicholas auf einem Bein herumhüpfte und versuchte, sich seiner Stiefel zu entledigen. „Das ist ungerecht“, protestierte er. „Ich war noch nicht soweit.“ Sarah lachte hellauf. „Im Krieg und...“ Sie biß sich auf die Lippen. „...in der Liebe sind alle Mittel recht“, sprach Nicholas den Satz zu Ende. „Also spielen wir Krieg? Er trat mit funkelnden Augen näher. „Ich kann dich nur warnen. Wenn dir alle Mittel recht sind, gilt das auch für mich.“ Nicholas sah in den grünen Badeshorts einfach unverschämt gut aus. In der Hoffnung, daß die Kälte die erhitzten Wangen kühlen würde, glitt Sarah unter Wasser. Sie schloß fest die Augen, um Nicholas Bild, aus ihrem Kopf zu verbannen. Als sie wieder an die Oberfläche kam, setzte Nicholas gerade zum Sprung an. Es dauerte keine Sekunde, und er war neben ihr. Als er sich mit einer kurzen Bewegung das nasse Haar aus der Stirn schüttelte, versprühte er eine wahre Fontäne glitzernder Tropfen. „Schwimmen wir um die Wette zum Wasserfall und zurück?“ schlug er vor. „Diesmal will ich fair sein. Ich gebe dir Vorsprung, weil du kürzere Arme hast als ich.“ Sie schmunzelte. „Wieviel Vorsprung?“ Nicholas lächelte ebenfalls. „Du kannst von dem toten Baum am linken Ufer aus starten.“ - 67 -
Sie schätzte die Strecke von dort bis zum Wasserfall auf ein Drittel der Gesamtlänge. „Einverstanden.“ Mit lässigen Bewegungen kraulte sie zu der Uferstelle und sah sich nach Nicholas um. „Tritt nicht zu weit nach unten. Außer am Wasserfall selbst ist das Becken höchstens anderthalb Meter tief.“ Nicholas nickte. „Auf die Plätze“, begann er, sobald sie in Startposition war, „...fertig, los!“ Er beobachtete kurz ihre raschen, aber gut kontrollierten Schwimmzüge, dann folgte er ihr mit weit ausholenden kräftigen Armbewegungen. Obwohl sich der Abstand bald verringert hatte, erreichte sie die Vertiefung unterhalb des Wasserfalls vor Nicholas. Er winkte ihr kurz zu und schwamm zügig weiter. Bis sie zum Ausgangspunkt zurückgekehrt waren, hatte er Sarah überholt. „Das habe ich mir gedacht. Du bist der Typ, der auch dann weitermacht, wenn er weiß, daß er verloren hat“, meinte er, als sie schweratmend neben ihm innehielt. Sie trat Wasser, um nicht unterzugehen. „Ich bin aus der Übung. Aber du schwimmst ohnehin gut.“ Nicholas zog sie näher. „Lehn dich an mich. Dank meiner Größe kann ich hier stehen.“ „Du schwimmst wohl auf der Olympiade, was?“ Nicholas grinste. „Eher selten. Ich muß allerdings zugeben, daß ich vor Jahren mal im Schwimmverein war. Seitdem versuche ich, in Form zu bleiben.“ „Daß du mir Vorsprung gibst, hätte mich eigentlich sofort mißtrauisch machen müssen“, erwiderte sie. Sie ließ sich erschöpft an seine Brust sinken. Nun schnürte sich ihr erst recht die Kehle zu. Ihr war klar, daß sie schleunigst Abstand suchen mußte. Aber Nicholas gleichmäßiger Herzschlag übte eine hypnotische Wirkung auf sie aus. Sie entspannte sich in Nicholas beschützender Umarmung, und allmählich konnte sie auch wieder ganz normal Luft holen. „Besser?“ fragte er. Er hielt sie nicht mehr ganz so fest, strich ihr dafür jedoch mit einer Hand über den Rücken. Sarah konnte nur nicken. „Fein, dann kannst du jetzt, die Siegerehrung vornehmen.“ Ohne ihren Kommentar abzuwarten, küßte er sie mitten auf den Mund. - 68 -
Sie war keines klaren Gedankens mehr fähig. Natürlich hätte sie sich ihm entwinden können, doch sein Kuß war so verführerisch, daß sie sich ihm hilflos ausgeliefert fühlte. Nicholas Körperwärme übertrug sich auf sie und entzündete in ihr eine wahre Feuersbrunst unkontrollierbarer Gefühle. Sie hing reglos an ihm und konnte sich auch dann noch nicht bewegen, als Nicholas den Kopf hob. Er hatte sie nur flüchtig küssen wollen, spielerisch und zum Zeichen des Sieges. Doch kaum hatte er ihren Mund berührt, waren alle guten Vorsätze vergessen. Jetzt sah er sie an und versank sofort im Anblick ihrer Augen, in denen winzige grünschillernde Flammen zu züngeln schienen. Mit einem fast, verzweifelten Stöhnen beugte er sich erneut über ihre Lippen. Nach einer Weile zog er sie enger an sich und schwamm mit ihr zum Ufer. Sie hatten das Wasser noch nicht verlassen, da eroberte er ihren Mund aufs neue und unterbrach den Kontakt nur kurz, um Sarah auf die Decke zu legen. Er kniete neben ihr nieder, umfaßte ihr Gesicht mit beiden Händen und bedeckte es mit Küssen. Während er mit den Lippen die Konturen des gleichmäßigen Ovals nachzeichnete, streifte sein Atem ihre Wangen. Schließlich konzentrierte er sich wieder auf ihren Mund. Als Sarah spürte, daß Nicholas ihr Gesicht losließ, seufzte sie vor Sehnsucht nach weiteren Zärtlichkeiten. Sie ließ seinen Nacken los, strich ihm erst mit den Fingern über die Schultern, dann über den bloßen Rücken und genoß das Spiel seiner Muskeln. Er liebkoste die empfindsame Stelle seitlich an ihrem Hals, knabberte spielerisch an einem Ohrläppchen, preßte den Mund auf die Stelle, wo die Halsschlagader unter der Haut pulsiert. Während er sich neben sie legte, streichelte er sie voller Hingabe. Seine großen, kräftigen und doch so einfühlsamen Hände waren überall und nirgends zugleich, entzündeten tief in Sarah einen Funken, von dem eine Woge flüssiger Lava nach der anderen auszugehen schien. Als sie ebenfalls begann, seinen Körper mit den Fingern zu erforschen, stöhnte er verhalten auf und preßte sich an sie. Er ließ die Hände von der nackten Taille zum Busen gleiten, umfaßte die vollendeten Rundungen und massierte mit den Daumen die zarten - 69 -
Knospen durch den dünnen Stoff des Bikinioberteils hindurch, bis sie sich ihm hart und dunkel entgegenreckten. Flammen der Leidenschaft durchzuckten sie, und sie schrie leise auf vor Lust. Nicholas verschloß ihr den Mund mit einem Kuß, der sie alles um sich herum vergessen ließ. Sarah schnappte nach Luft. Sie drängte sich Nicholas entgegen, ließ sich treiben von einer nie geahnten Sehnsucht und spürte kaum, wie Nicholas bebte, während er sie eng an sich drückte. Einen Augenblick lang hielt er sie so fest umschlungen, als wollte er sie nie wieder loslassen, und die. Hitze seines Körpers verschmolz mit ihrer eigenen. Dann gab er Sarah frei. Verständnislos. beobachtete. Sarah, wie sich Nicholas am anderen Ende der Decke hinsetzte, die Beine mit den Armen umschlang und den Kopf auf die Knie stützte. Sarah schob sich verunsichert die schmalen Träger des zweiteiligen Badeanzugs zurecht. Sie und Nicholas kannten einander kaum, waren einander so gut wie fremd, und doch hätten sie beinahe... Sie wagte nicht, den Gedanken zu Ende zu denken. Trotz der Hitze begann sie am ganzen Körper zu zittern. Ihr war klar, daß sie in Nicholas Armen jegliche Vorsicht vergessen hatte. Statt dessen hatte sie sich dem Gefühl hingegeben, unter seinen Liebkosungen dahinzuschmelzen, und sich nach noch mehr Nähe gesehnt. Es war wider alle Vernunft, aber wenn er gewollt hätte, hätte sie sich ihm geschenkt. Irgendwie mußte er jedoch gemerkt haben, daß sie anders war als andere. Ob er den Unterschied kannte oder nicht, spielte dabei keine Rolle. Er hatte sich zurückgezogen. Scham und Demütigung brandeten in ihr auf. „Verzeih mir bitte, Sarah“, bat Nicholas. „Das habe ich nicht gewollt.“ Seine Stimme klang rauh, sein Atem ging stoßweise. Als er aufsah, begegnete er ihrem wachsamen Blick. Ihre Lippen waren noch geschwollen von seinen Küssen, in ihren Augen brannte die Erinnerung an die soeben erlebte Leidenschaft. Er zwang sich, den Kopf abzuwenden. - 70 -
Nicholas holte tief Luft. Er ärgerte sich über sich selbst. Kaum hatte er Sarah berührt, hatte er alles vergessen bis auf die Tatsache, daß sie in seinen Armen lag. Er wußte nicht, wie er sich gegen ihre Anziehungskraft wehren oder seine Sehnsucht nach ihr unterdrücken sollte. Noch nie hatte er eine Frau so begehrt wie sie, und doch hatte er im letzten Moment verzichtet. Das war kein bewußter Entschluß gewesen, aber er hätte auch nicht sagen können, was dem nun wirklich zugrunde lag. Überlebenswille vielleicht. Nur wessen, seiner oder ihrer? „Du brauchst dich nicht zu entschuldigen, Nicholas. Ich habe dich ja nicht gerade entmutigt.“ Ungeachtet der tapferen Worte klangen aus Sarahs Stimme Verletzlichkeit, Verwirrung und Scham. Aber kein Vorwurf, obwohl Nicholas derjenige war, der mit allem angefangen hatte. Er bemühte sich, die verschiedenen Eindrücke, zu ordnen. Nein, entmutigt hatte sie ihn nicht. Sie hatte sich ihm willig in die Arme geschmiegt und seine Liebkosungen mit einer Leidenschaft erwidert, die seiner in nichts nachstand. Darauf war er dann wiederum begeistert eingegangen. Er war genauso fassungslos wie sie und konnte auch verstehen, daß sie gekränkt war. Aber warum schämte sie sich? Plötzlich begriff er. Sie schämte sich nicht, sie fühlte sich gedemütigt. Er sah sie prüfend an. Sarah erwiderte seinen Blick, wandte sich ab und schlug die Hände vors Gesicht. Dachte sie etwa, er hätte aufgehört, weil er sie nicht wollte? Nein, das war unmöglich. Trotzdem, ihr Argwohn, das Zögern und die Beschämung in ihrer Stimme ließen keinen anderen Schluß zu. Er und nicht sie hatte allem ein Ende gesetzt. Im entscheidenden Moment hatte er zwar nicht über die Gründe nachgedacht, aber es gab deren viele. Fehlende Begierde gehörte allerdings nicht dazu. Das Verlangen nach ihr pulsierte auch jetzt noch so heftig in seinen Adern, daß es weh tat. Das mußte er Sarah irgendwie klarmachen. „Glaub mir, Sarah“, begann Nicholas rauh. „Ich habe mich noch nie so nach einer Frau gesehnt wie nach dir. Ich möchte mit dir zusammensein, eins mit dir werden, mich in dir verlieren. Aber...“ - 71 -
Er zögerte. Wie sollte er erklären, was er selbst nicht begriff? „Es gibt gewisse Gründe, verstehst du... Mit dir wäre das alles nicht genug.“ Sarah hielt den Atem an. Sie hätte ihm gern geglaubt, doch das würde nichts ändern. „Bitte, Nicholas, hör auf“, flehte sie leise. Mit funkelnden Augen wandte er sich zu ihr um, die Hände zu Fäusten geballt. „Weißt du, was ich meine, Sarah? Zuneigung, körperliche Anziehungskraft und gegenseitiges Einverständnis sind zweifellos wichtig, aber in dem Fall reicht das nicht aus. Ich könnte nicht mit dir schlafen und dann einfach gehen. Wenn ich eines Tages fort müßte, bliebe ein Teil meines Ichs hier. Ich wäre nicht mehr ich selbst.“ Beinahe zornig fügte er hinzu: „Der Preis ist zu hoch für ein flüchtiges Abenteuer.“ „Du gehörst hierhin“, fuhr er fort, nachdem er sich wieder gefaßt hatte. „In diese Gegend, zu den Leuten, die hier wohnen. Du bist wie die Blumen, die im Schutz der Berge blühen. Ich dagegen bin ruhelos wie der Wind, der nur vorübergehend innehält und die Schönheit um sich herum genießt, bevor er weiterzieht.“ Sarah kämpfte gegen die Tränen an, die ihr in die Augen stiegen. „Tut mir leid“, sagte sie leise. Ihre Stimme klang immer noch belegt, jedoch nicht mehr unsicher. Ihr Blick war voller Verständnis. Am liebsten hätte Nicholas sie einfach wieder an sich gezogen, aber er beschwor sich, vernünftig zu sein. Sie war so ehrlich, und sie sehnte sich nach ihm. O verflixt, dachte er. Wie sehr ich sie begehre. Aber sie kennt den wahren Grund meines Aufenthalts nicht. Andernfalls hätte sie nie mit mir zu tun haben wollen und mich auch bestimmt nie hierher geführt. Ich hätte sie nie in den Armen gehalten, sie nie geküßt... In der Hoffnung, daß das Wasser so kalt war, wie er es in Erinnerung hatte, sprang er auf und lief zum Fluß. Er schwamm mit kräftigen Bewegungen zum Wasserfall, tauchte dort bis zum Grund und kehrte zügig zum Ausgangspunkt zurück. Das wiederholte er noch zweimal. Sarah sah eine Weile zu. Allmählich ging es ihr besser. Sie zog Jeans und Shirt über den Badeanzug und schlüpfte in ihre Schuhe. - 72 -
Kurz darauf kam Nicholas und kleidete sich ebenfalls an. Sarah schüttelte die Decke aus und faltete sie zusammen, Nicholas griff nach dem Picknickkorb. Nach einem letzten Blick auf den Pool begannen sie mit dem Abstieg. Ab und zu sagte Sarah etwas, oder Nicholas machte eine beiläufige Bemerkung. Im übrigen verlief der Rückweg fast schweigend. Da Sarah den Weg kannte, eilte sie voraus. Dicht hinter ihr folgte Nicholas und vermied jede Berührung. Nur als Sarah über eine Wurzel stolperte, hielt er sie fest, bis sie das Gleichgewicht wiedergefunden hatte. Dann ließ er sie so plötzlich los, als hätte er sich verbrannt. Nachdem auch die kurvenreiche Auffahrt zur Farm von Sarahs Großeltern hinter ihnen lag, blieb Nicholas neben seinem Geländewagen stehen und gab Sarah den Picknickkorb. „Du fährst fort“, stellte sie fest. „Ja.“ Er versuchte zu lächeln. „Das wird wohl das Beste sein.“ Sarah betrachtete ihn forschend. „Ich kann dich verstehen“, sagte sie dann ruhig. „Das bezweifle ich. Ich verstehe es nämlich selbst nicht.“ Er hoffte inständig, daß seine Miene nicht verriet, was in ihm vorging. Warum verabschiedete er sich so plötzlich? Er hatte seine Nachforschungen bisher noch nie vorzeitig abgebrochen. Aber er hatte auch noch nie so sicher gewußt, daß das zwingend notwendig war. „Was ist mit deinem Artikel?“ Er zuckte innerlich zusammen. Sarah hatte also die ganze Zeit Bescheid gewußt. Doch dann wurde ihm klar, daß sie nicht von ihren übersinnlichen Kräften sprach, sondern von Monte Ne. Als er ihren besorgten Blick sah und die Hand, die sie ausgestreckt hatte, aber wieder sinken ließ, bevor sie ihn berührte, schnürte sich ihm die Kehle zu. „Mit dem, was ich am Wochenende herausgefunden habe, und der Besichtigung heute läßt sich. schon was anfangen“, meinte er. „Vielen Dank für deine Hilfe. Ich werde selbstverständlich dafür sorgen, daß du ein Belegexemplar bekommst.“ Er merkte selbst, wie förmlich das klang. Sarah wich zurück, als hätte er sie geschlagen. „Gern geschehen“, meinte sie ruhig und hob das Kinn ein wenig. Warum war sie so - 73 -
überrascht? Sie hatte doch von Anfang an gewußt, daß er ein Fremder war, der bald wieder abreisen würde. Einen Moment lang kreuzten sich ihre Blicke, dann wandte sich Nicholas ab und öffnete die Wagentür. Sarah trat noch einen Schritt zurück. „Leb wohl, Nicholas.“ Der leise Gruß hallte in ihm nach. Er wollte lächeln, doch der Versuch mißlang. Kurz entschlossen stieg er ins Auto und ließ den Motor an Ein letztes Winken, dann fuhr er los. Im Rückspiegel sah er, daß Sarah still dastand und den Picknickkorb mit beiden Händen umklammerte.
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7. KAPITEL Sarahs Alltag verlief wie immer in Mountain Springs. Sie war vielleicht ein bißchen stiller, in sich gekehrter als sonst, aber niemand stellte Fragen. Die Familienmitglieder ließen sie in Ruhe und halfen ihr wortlos, aber liebevoll. Nach einer Woche wagte sie zum erstenmal, über Nicholas Matthias nachzudenken. Zuerst ärgerte sie sich über sich selbst, weil sie so dumm gewesen war und geglaubt hatte, daß ihr ein Tag mit ihm nichts anhaben könne. Dann fühlte sie sich nur noch einsam. Sie war es gewöhnt, allein zu sein, denn das war sie auch im Kreis der Familie immer gewesen. Mit dem Unterschied, daß sie da noch nicht gewußt hatte, wie schön es war, wenn jemand diese Lücke im Leben füllte. „Was geschehen soll, wird geschehen“, rief sie sich ins Gedächtnis und ging gelassen dem täglichen Einerlei nach. Sie setzte sich geduldig mit der kräftezehrenden Energie eines kleinen Cousins auseinander, sorgte sich um die Zukunft einer sturen Großtante, half auch sonst, wo und wann immer sie konnte, und merkte kaum, wie die zweite Woche verging. Als sie den alten Lieferwagen vorfahren hörte, trocknete sie sich die Hände ab und trat auf die Veranda, um T. J. zu begrüßen. „Hast du ein Glas Limonade für einen durstigen Farmer?“ rief er ihr zu. „Ich habe noch nie einen so heißen Juni erlebt. Wie soll das erst im August werden?“ „Komm mit, ich kann bestimmt auch noch irgendein Sandwich für dich auftreiben“, versprach Sarah. „Was machst du, um diese Zeit hier, hast du alle Kühe in Urlaub geschickt?“ „Schön wär's.“ T. J. nahm den Strohhut ab und legte ihn auf den nächsten Schrank. „Ich habe die Tiere auf Canfields Ostweide überprüft. Wir müssen sie woanders hinbringen.“ „Haben die Canfields die Weide verkauft?“ „Noch nicht, aber wenn es soweit ist, müssen wir uns beeilen. Diesen Sommer haben sie sie nur wochenweise vermietet.“ Sarah haßte die Frage, die sie jetzt stellen mußte. „Kannst du den Leuten kein Angebot machen?“ „Nein. Jedenfalls nicht vorm Herbst, und wahrscheinlich auch dann - 75 -
nicht. Nächstes Jahr sähe das schon anders aus, aber solange wollen sie nicht warten.“ T. J. ließ sich auf einen Stuhl fallen. „Ach, T. J., das tut mir so leid. Was ist mit den Pferden?“ „Na ja, da wird sich schon was finden. Spätestens im Frühjahr, weil nach dem Winter mehr Weiden angeboten werden. Wenn ich keine kaufen kann, kann ich immer noch eine mieten. Jetzt habe ich sie erst mal bei Dad untergebracht. Er sagt, er hat ohnehin keine Lust, im Winter eine ganze Kälberherde durchzufüttern. Statt dessen bringen wir da die Pferde unter.“ T. J. trank einen großen Schluck Limonade aus dem Glas, das Sarah vor ihn auf den Holztisch gestellt hatte. „Ich finde das ungerecht. Jahrelang hat sich niemand um das Land gekümmert, und ausgerechnet jetzt, kurz bevor du umziehen kannst, soll es verkauft werden.“ Sie legte eine Tomatenscheibe auf das frisch zubereitete Schinkensandwich, legte es auf einen Teller und schob diesen ihrem Cousin hin. „Kopf hoch, Sarah. Vielleicht findet sich ja gar kein Abnehmer. Na ja, und falls doch, ist das auch noch kein Weltuntergang. „ Mit einem frechen Grinsen fügte er hinzu: „Nun gib schon zu, daß du ohnehin nur Angst um deinen privaten Schwimmplatz hast.“ Die fröhliche Bemerkung ließ sie insgeheim zusammenzucken. In den letzten zwei Wochen war sie trotz der Hitze nicht mehr dort gewesen. Das mußte sie heute nachmittag unbedingt nachholen. Es wurde allmählich Zeit, sich mit den Gespenstern von gestern auseinanderzusetzen. „Ich hasse nun mal die Vorstellung, daß das Land Fremden gehört“, gab Sarah lächelnd zu. „Es liegt mitten zwischen Grandpas und Onkel Hirams Grund. Deshalb müßte es eigentlich im Besitz der Familie sein.“ T J. lachte. „Nimm's nicht so schwer, Cousinchen. Irgendwie wird sich alles klären. Aber da du schon von der Familie sprichst: Hast du inzwischen etwas bei meiner Großmutter erreicht?“ Sarah zog eine Grimasse. „Sagtest du nicht, ich sollte es nicht so schwer nehmen? Der Gedanke an Tante Cindas Umzug ist alles andere als erheiternd.“ „Oje. Hast du denn schon irgendeinen Fortschritt erzielt?“ - 76 -
„Keinen einzigen. Du kannst dein Glück gern mal versuchen.“ „Als ich das Thema neulich wieder erwähnte, erklärte sie, es gäbe für sie nur einen Grund, den Berg zu verlassen, und zwar kurz vorm Tod.“ „Welchen Grund meint sie denn?“ „Das hat sie nicht gesagt, und was sie denkt, weiß ich nicht.“ Sarahs Stimme klang enttäuscht. „Du wirst es bestimmt schaffen. Auf dich ist Verlaß.“ „Wenn ich doch nur so zuversichtlich wäre wie du. Ich habe mir folgendes überlegt. Wenn auf dem Grundstück für. deine Pferderanch vielleicht ein kleines Haus steht, könnten wir Tante Cinda klarmachen, daß du jemanden brauchst, der sich um dich kümmert. Mit meinen Ersparnissen...“ „Nein, Sarah“, fiel T. J. ihr ins Wort. „Ich liebe meine Großmutter über alles. Aber sich um mich kümmern? Ich wäre nach einer Woche verrückt und du auch. Das ist unmöglich. Was sie braucht, ist eine kleine Wohnung, die nahe genug bei einem von uns liegt. Dort ist sie unabhängig und hat trotzdem jemanden, der ihr jederzeit helfen kann, wenn sie Hilfe braucht.“ Er nahm seinen Hut vom Schrank und ging mit Sarah hinaus. „Du hast recht“, gab sie zu. „Ich werde eine Wohnung für sie suchen.“ „Wahrscheinlich kommst du weiter, wenn du herausfindest, welchen Grund sie gemeint hat. Vielleicht ergibt sich dann der Rest von allein.“ „Ich hätte nichts dagegen, wenn du mich dabei ein bißchen unterstützt. Versuch doch einfach mal dein Glück.“ T. J. lachte. „Lieber nicht. Sie steckt voller Geheimnisse, und auf dem Gebiet kennst du dich eindeutig besser aus.“ Er sprang über die zwei Stufen der Veranda und schlenderte zum Auto. „Vielen Dank für die Zwischenmahlzeit“, rief er, während er den Wagenschlag öffnete. Dann drehte er sich noch einmal um. „Hast du dich übrigens wieder mit dem Journalisten verabredet? Ich meine den Typ, der hier überall herumgeschnüffelt hat.“ Sarah wurde sehr still, und es dauerte eine Weile, bis sie antworten konnte. „Der ist abgereist.“ - 77 -
„Na gut, dann ist er eben wieder hier. Ich habe nämlich heute morgen seinen Jeep gesehen.“ „Es gibt hier viele blaue Geländewagen. Falls das wirklich Mr. Matthias war, überprüft er wahrscheinlich nur noch mal ein paar Informationen für den Artikel, den er schreiben will.“ „0 Mann, jetzt tu nicht so, Sarah. Meinst du, ich hätte nicht gesehen, wie er dich anguckt? Sein Blick erinnerte mich an eine Tüte Eiscreme in der Sonne.“ Sie wollte etwas einwenden, aber T. J. winkte ab. „Also, mir kann das ja egal sein. Ich möchte nur wissen, ob du ihn treffen willst oder nicht. Ich fahre jetzt nämlich einkaufen, und falls ich ihn sehe, könnte ich ihm sagen, wo er dich erreichen kann. Sonst erkundigt er sich wieder überall nach dir, und zum Schluß redet die ganze Stadt über dich. Das hatten wir ja gerade erst.“ Sarahs Gedanken überstürzten sich. War Nicholas wieder da? Wollte er sie tatsächlich wiedersehen? Sein Abschied hatte endgültig geklungen. „Wie lautet die Antwort?“ riß T. J. sie aus ihren Überlegungen. „Willst du ihn treffen, ja oder nein?“ Sie holte tief Luft. „Falls Mr. Matthias wirklich in die Stadt zurückgekehrt ist und mich sehen will, weiß er, wo er mich finden kann erwiderte sie so kühl und unbeteiligt, wie sie irgend konnte. „Er war schon einmal bei der Farm.“ „Das habe ich nicht gewußt, Sarah Jane. Dann brauchst du meine Hilfe ja gar nicht.“ T. J. schmunzelte. „Falls er mir begegnet, sage ich also einfach guten Tag.“ „Du hältst dich da raus, Timothy James, hörst du?“ meinte sie drohend. „Misch dich nicht in Dinge ein, die dich nichts angehen.“ T. J. stieg lachend in den Lieferwagen und ließ den Motor an. Als er davonfuhr, lachte er immer noch. Sarah saß seit zwei Stunden auf der Veranda und schnitt grüne Bohnen. Ab und zu streckte sie sich, um den Rücken zu entspannen. Die Arbeit ging ihr wie von selbst von der Hand, während sie nur - 78 -
darauf wartete, daß das Telefon klingelte. Ich rechne nicht mit einem Anruf, redete sie sich ein, doch dann mußte sie über sich selbst lachen. Nein, sie rechnete nicht damit, aber sie hoffte darauf. Außerdem war sie neugierig. Was mochte Nicholas veranlaßt haben zurückzukommen? Als es endlich läutete, sprang sie wie elektrisiert auf. Äußerlich ruhig griff sie nach dem Hörer. „Sarah? Hier ist Nicholas.“ „Hallo, Nicholas“, begrüßte sie ihn ruhig, obwohl sie den Hörer so fest umklammert hielt, daß die Knöchel der Hand weiß hervortraten. „T. J. sagte schon, daß er vermutlich deinen Jeep in der Stadt erkannt hat.“ Offenbar hielt Nicholas die Luft an, dann atmete er langsam aus. „Stimmt. Ich wußte nicht mehr, wie deine Großeltern hießen. Deshalb habe ich ihn nach der Telefonnummer gefragt.“ Sarah schwieg. Sie wollte um keinen Preis verraten, welchen Gefühlsansturm der Klang seiner Stimme in ihr auslöste. „Ich hatte keine Ahnung, daß T. J. dein Cousin ist“, fuhr er schließlich fort. Sie mußte lachen. „Das habe ich dir doch gesagt.“ „Na ja, ich war mir eben nicht mehr sicher. Ist er direkt mit dir verwandt oder nur angeheiratet“ erkundigte sich Nicholas beiläufig. Sarah lachte wieder. „Direkt. Ein Cousin zweiten Grades, um genau zu sein. Unsere Großmütter sind Schwestern. Warum fragst du, spielt das eine Rolle?“ zog sie ihn auf. „Vielleicht“, erwiderte er ernst. „Sarah, ich muß mit dir reden.“ Obwohl sie sich freute, beschloß sie, auf der Hut zu sein. Sie wußte, daß es unvernünftig war, aber sie sehnte sich danach, ihn zu treffen, und diese Sehnsucht war stärker als alle Vernunft. „Gern, Nicholas. Hast du Probleme mit dem Artikel?“ Hoffentlich hatte das normal geklungen. Sie konnte vor lauter Aufregung nicht mehr beurteilen, wie die eigene Stimme klang. „Nein, der ist fertig und sogar schon verkauft. Im September wird er veröffentlicht.“ „Ach so Dann weiß ich allerdings nicht, warum...“ „Machs nicht so spannend, Sarah. Darf ich kommen?“ - 79 -
Obwohl er eine Frage gestellt hatte, war Sarah klar, daß das Treffen für ihn bereits eine beschlossene Sache war. Zum Glück war sie allein. So sah wenigstens niemand, wie ihr das Blut in die Wangen schoß. „Natürlich. Wann?“ Die Worte waren heraus, bevor sich Sarah eines Besseren besinnen konnte. Aus dem Hörer ertönte ein Geräusch, das einem erleichterten Lachen ziemlich nahe kam. „Jetzt sofort, wenn du nichts dagegen hast. Ich möchte dir einen Vorschlag machen.“ „Einen Vorschlag?“ wiederholte sie. Diesmal bestand kein Zweifel mehr. Nicholas lachte. „Keine Bange, es ist nichts, was dich in Verlegenheit bringen könnte“, versicherte er. „Ich fahre jetzt los. Einverstanden?“ Erst nickte Sarah nur. Dann fiel ihr ein, daß er das nicht sehen konnte. „Ja“, erwiderte sie ein bißchen atemlos. „Also dann bis gleich.“ Am anderen Ende der Leitung legte Nicholas den Hörer auf. Er hatte keine Ahnung, was ihn erwartete, eine Art Jüngstes Gericht oder eine letzte Gnadenfrist. Noch nie war er derart verunsichert gewesen. Auf der Fahrt hierher hatte er immer nur an eins gedacht. Er mußte Sarah wiedersehen. Diesmal war er allerdings nicht nur aus eigenem Antrieb hier. In St. Louis hatte ihn sein Agent angerufen und ihm einen Auftrag angeboten. Nicholas hatte abgelehnt und statt dessen einen Artikel über Sarah in Aussicht gestellt. Er hatte darin eine ideale Verbindung zwischen Arbeit und persönlichem Interesse gesehen. Schließlich hatte er dadurch einen willkommenen Vorwand, nach Mountain Springs zurückzufahren. Nun erwog er, Sarah, die Hintergründe zu erklären, verwarf die Idee jedoch sofort. Vielleicht später. Nicht jetzt. Denn wenn sie das Treffen ablehnte, würde er nie erfahren, wer sie war und weshalb er sich dermaßen zu ihr hingezogen fühlte. Ich habe keine andere Wahl, sagte er sich, ohne auf die Stimme des Gewissens zu achten, die ihn ermahnte, Sarah nicht zu belügen. Sarah hatte kaum Zeit, sich die Hände zu waschen und umzuziehen, - 80 -
als sie Nicholas Jeep in die Auffahrt biegen hörte. Da sie wußte, daß ihre Großeltern und Jimmy Joe jeden Moment zurückkommen konnten, schlug sie einen Spaziergang vor. Zu der Stelle am Wasserfall wollte sie nicht. Jedenfalls nicht, solange sie nicht wußte, weshalb Nicholas hier war. Statt dessen schlug sie einen Weg über die Weiden zu einem Hügel ein. Die Unterhaltung drehte sich um belanglose Dinge. Es war, als hätten sie unabhängig voneinander beschlossen, die persönlicheren Themen erst anzusprechen, wenn sie einen Rastplatz gefunden hätten. Als Sarah das Tor eines Palisadenzauns entriegelte, lächelte sie in sich hinein. Sie wußte, daß Nicholas hinter ihr stand und ihr über die Schulter sah. „Was ist denn das?“ fragte er verwundert, als er hinter dem Zaun eine Laube entdeckte. „Das kommt darauf an, wen man fragt. Für meine Großeltern ist das Gerties Gartenlaube, alle anderen nennen es nur den ,Prachtbau'. Grandpa hat ihn Grandma zum ersten Hochzeitstag geschenkt. Er hat ihn einer Laube nachgebaut, die sie mal in New Orleans gesehen haben.“ „Mitten auf einer Rinderweide?“ „Die Laube in New Orleans stand an einem kleinen See. Laut Grandma wuchsen darin Seerosen, dazwischen schwammen Enten und Schwäne herum.“ Als sie Nicholas den Vortritt durch das schmale Tor ließ, streifte er mit der Hand zufällig ihren Arm. Sie erstarrte innerlich. Die Berührung war genauso atemberaubend, wie sie es in Erinnerung hatte. Sarah ging vor und wartete neben der Laube auf ihn. „Siehst du die Bodensenke am Fuß des Hügels? Darin wollte Grandpa Wasser stauen. Es war ihm nicht romantisch genug, die Laube direkt daneben zu bauen. Deshalb wählte er diesen Platz mit Blick auf den See. Leider hat er dabei etwas übersehen. In dem Becken hält sich kein Wasser, und so steht die Laube jetzt hier oben, auf einer Weide im Trockenen.“ Nicholas folgte Sarah in den sechseckigen Bau. In jeder der fünf Spalierwände war ein Fenster, darüber wölbte sich ein kegelförmiges Dach. - 81 -
„Ich bezweifle, daß Grandma den Teich vermißt“, sagte Sarah mit weicher Stimme. „Jedenfalls kommen sie und Grandpa noch oft hierher. Sie behaupten, man könne die Milchstraße von der ganzen Farm aus nicht so gut beobachten wie von hier.“ „Wahrscheinlich ist ihr der See nicht so wichtig“, vermutete Nicholas. „Was zählt, ist die Absicht.“ Sarah setzte sich auf eine der gepolsterten Bänke vor den Wänden und war erleichtert, als Nicholas nicht neben ihr, sondern gegenüber Platz nahm. „Jedenfalls halte ich diesen Ort wie geschaffen für unsere Unterhaltung“, stellte sie fest. „Auf der Farm ist nämlich immer soviel los, daß man andauernd unterbrochen wird.“ „Aha.“ Er fuhr sich unruhig mit einer Hand durchs Haar. Wie sollte er anfangen? Sarah wartete nicht lange. Sie kam direkt zum Thema. „Warum bist du hier?“ Nicholas bemühte sich, ruhig durchzuatmen. „Weil ich mußte.“ Er merkte, wie bewegt seine Stimme klang, aber das konnte er nicht ändern. Wie machte Sarah das nur? Verärgert sprang er auf und wollte auf sie zugehen. Statt dessen vergrub er die Hände in den Hosentaschen und trat an eins der Fenster. „Ich weiß nicht, wie ich dir das erklären soll, Sarah, aber ich möchte es wenigstens versuchen. Ich habe gesagt, ich sei ruhelos wie der Wind, denn ich hatte noch nie einen Ort kennengelernt, an dem ich gern geblieben wäre. Diesmal war das anders. Nach meiner Abreise rief mich irgend etwas zurück, und ich konnte an nichts anderes mehr denken.“ Er drehte sich um und suchte ihren Blick. „Nur noch an diese Gegend und an dich.“ Sarah preßte die Handflächen aneinander, damit die Finger nicht mehr bebten. Hoffentlich merkte Nicholas nicht, wie aufgewühlt sie war. Ihre Gefühle schwankten zwischen Angst und Zuversicht. Sie sah ihn stumm an. Offenbar rechnete er mit einer Antwort, aber sie wußte nicht, was sie sagen sollte. Bevor sie darüber nachdenken konnte, sprach er weiter. „Ich begann den Vergleich in Frage zu stellen. Vielleicht bin ich nicht wie der Wind, sondern wie ein Samenkorn, das über Land - 82 -
getragen wird, bis es einen Platz gefunden hat, an dem es wachsen und gedeihen kann. Weißt du, was ich meine, Sarah? Ich habe keine Ahnung, ob das stimmt, aber ich weiß, daß ich das herausfinden möchte.“ Die Bedeutung seiner Worte und Sarahs eigene Empfindungen vermischten sich zu einem unentwirrbaren Knäuel von Vernunftgründen und Sehnsüchten. „Was willst du damit sagen, Nicholas, was erwartest du von mir?“ „Ich möchte hierbleiben erwiderte er umgehend. „Zumindest für einige Zeit. Dann könnte ich ausprobieren, wie es sich mit dem Gefühl lebt, dazuzugehören.“ Sarah hielt unwillkürlich den Atem an und holte erst wieder Luft, als Nicholas fortfuhr: „Ich möchte weder dir noch mir weh tun, Sarah. Aber das Risiko besteht. Deshalb bitte. ich dich nur um die Chance, dich und diese Gegend kennenzulernen. Wenn dir das nicht recht ist, fahre ich wieder ab. Einverstanden? Falls ich bleibe, könntest du dann meine Freundin sein?“ Sarah schwieg. Sie konnte kaum glauben, was sie gerade gehört hatte. Die Antwort auf ihre Probleme war so perfekt, wie man es sich in einer unvollkommenen Welt nur vorstellen kann. Er wollte, daß sie einander kennenlernten. Aber wie sollte es weitergehen? Zuerst Freundschaft, und was kam danach? Was geschehen soll, wird geschehen, rief sie sich ins Gedächtnis. Inzwischen fragte sich Nicholas, ob er die falschen Worte gewählt hatte. Als sie endlich aufsah und dabei sogar lächelte, schöpfte er Hoffnung. „Bist du eigentlich sehr eigen?“ Verwirrt starrte er sie an. „Wie meinst du das?“ „Soviel ich weiß, lehnst du Wurmköder ab. Gilt das auch, wenn jemand anders damit angelt?“ Ihre Augen funkelten belustigt. „Ich wollte dich nämlich zum Abendessen einladen. Aber heute ist Freitag, da gibt's Fisch. Und den fängt Jimmy Joe. In der darauffolgenden Zeit weihte Sarah Nicholas in die - 83 -
sommerliche Betriebsamkeit auf einer Farm ein. Sie stellte, ihn den Familienmitgliedern vor und beobachtete fasziniert, wie deren natürliche Wachsamkeit gegenüber Fremden allmählich einer freundschaftlichen Haltung wich. Obwohl Nicholas in der Nähe von Eureka Springs bei einem Kollegen wohnte, kam er jeden Tag pünktlich über die von zahlreichen Urlaubern befahrene Straße nach Mountain Springs, um auf der Farm zu helfen. Sarah sorgte dafür, daß er dabei nie allein war. Sobald er in Sichtweite war, sah sie seiner hochgewachsenen Gestalt nach. Suchte er dabei absichtlich ihren Blick, war sie jedesmal wie benommen. Um so sorgfältiger vermied sie jeden körperlichen Kontakt. Ihr war natürlich klar, daß ihre Verwandten diese, Bemühungen ebenso erstaunt wie belustigt beobachteten. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sich die Angehörigen „in Sarahs eigenem Interesse“ einschalteten und deren Pläne damit nichtsahnend durchkreuzten. Als es soweit war, traf es sie trotzdem unvorbereitet. Sie stand in der Küche und spülte Geschirr ab. Plötzlich fühlte sie, daß jemand ihre Taille umfaßte und sie beiseite schob. „Laß mich das machen“, bat Nicholas, der unbemerkt eingetreten war. „Dann kannst du die Sachen wegräumen. Du weißt besser, wohin sie gehören.“ „Du willst den Abwasch machen? Wenn Grandma das sieht...“, sagte Sarah. „Die hält auf der Veranda ihren wohlverdienten Mittagsschlaf. Bin ich dir etwa nicht ordentlich genug?“ zog er sie auf. Er nahm, ein Trockentuch vom Haken und band es sich um die Hüften. „Es ist zwar schon eine Weile her, aber als ich den ersten Stapel Schmutzgeschirr abgewaschen habe, mußte ich auf einer leeren Apfelkiste stehen, um über den Spülbeckenrand zu gucken. Das ist wie mit dem Fahrradfahren. Wenn man das erst mal kann, vergißt man es nicht mehr.“ Sarah beobachtete stumm, wie Nicholas fachmännisch drei Teller abwusch und dann zum Abtropfen neben das Spülbecken stellte. Der weiße Spülmittelschaum betonte die Sonnenbräune seiner Arme. „Trockne lieber ab, sonst kommst du nicht mehr mit.“ Er - 84 -
schmunzelte. „Du kannst mir nicht ständig aus dem Weg gehen, weißt du. Deine Verwandten schließen bereits Wetten ab.“ „Das werden sie nicht wagen“, protestierte Sarah und verbesserte sich sofort: „O doch. Genau das werden sie tun.“ Sie griff schicksalergeben nach einem Geschirrtuch. Nicholas lachte. „Ich mag deine Familie.“ „Manchmal, muß ich sagen, gäbe ich ihnen am liebsten einen Tritt in den...“ „Verlängerten Rücken?“ half er aus. „Das wäre schade. Sie könnten auf die Idee kommen, Gleiches mit Gleichem zu vergelten. Und ich, erinnere mich, daß es sich da bei dir um ein besonders hübsches Exemplar handelt.“ „Nicholas!“ Sie sah sich erschrocken um. „Keine Angst, es ist niemand da. Sie haben sich alle auf der Veranda versammelt. Außerdem war ich leise.“ Sarah entspannte sich wieder. „Sie mögen dich auch. Grandpa sagt, für einen Stadtmenschen gäbst du auf dem Traktor gar kein schlechtes Bild ab. Glaub mir, das ist ein großes Kompliment.“ „Ich bin schon als Junge Trecker gefahren.“ „Das habe ich nicht gewußt.“ Nicholas musterte sie ernst. „Wir wissen überhaupt sehr wenig voneinander, Sarah. Ich hoffe...“ „Was hoffst du?“ Ich hoffe, daß du mir vergibst, wenn du erfährst, warum ich zurückgekehrt bin, dachte er. Und daß ich irgendwann weiß, was mich an dir und dieser Gegend so anzieht. Aber er wollte nicht länger darüber nachdenken. „Daß wir das Glück haben, einander richtig kennenzulernen“, sagte er rasch und lächelte. „Ich glaube an das Sprichwort, daß jeder seines Glückes Schmied ist“, sagte Sarah. Nicholas sah sie an. Sie verlangte zuviel. Seit Tagen vermied sie jedes Alleinsein mit ihm. Wußte sie nicht, daß das genauso war, als verweigere man einem Durstenden das Wasser? War ihr nicht klar, daß Männer dazu neigten, jede Herausforderung anzunehmen? Begriff sie denn nicht, daß sie ihn sozusagen dazu aufforderte, einfach mal sein Glück zu versuchen? Ohne sie aus den Augen zu - 85 -
lassen, wischte er sich die Hände ab und streckte die Arme nach ihr aus. Wie gebannt stand sie da und sah ihn an. Sie mußte etwas sagen, irgend etwas tun. Wenigstens zurückweichen. Doch dann stellte sie fest, daß sie sich nicht bewegen konnte. Sie spürte, daß er ihr die Hände auf die Schultern legte, und atmete tief das Aroma des nach Limonen duftenden Rasierwassers ein. Er beugte sich über sie und küßte sie so zärtlich, daß die dahinter verborgene Sehnsucht allenfalls zu ahnen war. Dieser Kuß hatte nichts von dem explosionsartigen Gefühlsansturm, der die beiden am Wasserfall überwältigt hatte. Die Flamme der Leidenschaft brannte deutlich, aber kontrolliert, die sich daraus entwickelnde Hitze stand jener anderen in nichts nach. Sarahs Widerstand schmolz dahin. Nicht mehr lange, und sie warf alle Bedenken über Bord. Sie wußte, daß sie verloren war, wenn sie sich nicht von ihm löste. Daß sie es schließlich tatsächlich versuchte, war reiner Selbsterhaltungstrieb. Nicholas spürte die innere Abwehr, bevor Sarah etwas sagen konnte. „Oh, Sarah“, raunte er ihr in den noch halbgeöffneten Mund. „Die Bitte, mein Glück selbst zu schmieden, war sehr riskant.“ Er hielt sie noch einen Augenblick umfangen, dann ließ er sie los und tauchte die Hände wieder ins Spülbecken. „Schnell, trockne ab. Da kommt jemand.“ In dem Moment betrat T. J. die Küche. Nicholas wandte sich zu ihm um, damit sich Sarah im Schutz seines breiten Rückens sammeln konnte. Aber T. J. achtete nicht darauf. „Du mußt kommen, Sarah. Es geht um Großmutter:“ „O nein, nicht schon wieder“, seufzte Sarah. Sie. warf ihrem Cousin das Tuch zu und eilte hinaus. „Na, dann will ich mal“, meinte T J. lachend und begann abzutrocknen. „Schwierigkeiten?“ fragte Nicholas neugierig, doch dann besann er sich: „Verzeihung, das geht mich nichts an.“ Nachdem er die letzte Tasse gereinigt und aufs Abtropfbord gestellt hatte, lehnte er sich an die Spüle und sah T J. zu. „Das ist kein Geheimnis“, erklärte T. J. „Meine Großmutter wird alt - 86 -
und wohnt allein auf einem Berg bei Hogscald Hollow. Wir finden, sie sollte ins Tal ziehen, und bei dem Thema geht es in der Familie immer hoch her. Dabei spielt das, was wir denken, gar keine Rolle. Großmutter sagt ohnehin nein.“ „Aber warum hast du Sarah geholt? Wenn ich das richtig verstanden habe, sind eure Großmütter Schwestern. Also ist Sarah eine Großnichte deiner Großmutter. Sie ist also längst nicht so eng mit ihr verwandt wie zum Beispiel dein Vater.“ „Ja, aber Sarah ist die einzige, die in diesem Punkt für Frieden sorgen kann. Denn außer ihr ist ohnehin keiner in der Lage, Großmutter gut zuzureden. Sie sind eben beide...“ Er zögerte unmerklich, dann fuhr er fort: „Sie stehen einander sehr nahe. Das war schon immer so.“ Die winzige Pause war Nicholas nicht entgangen. T. J. hatte etwas anderes sagen wollen und sich dann eines Besseren besonnen. Aber Nicholas drängte nicht, denn schließlich ging es um eine Familienangelegenheit. Allmählich wurde ihm klar, was Sarah mit den Pflichten gegenüber Angehörigen meinte. T. J. hängte das Geschirrtuch an den Haken und winkte Nicholas zu sich. „Komm, wir gehen auf die Veranda. Inzwischen hat Sarah die Situation sicher im Griff.“ Nicholas folgte ihm lächelnd. Auf andere wirkte Sarah offenbar beruhigend, aber nicht auf ihn. Im Gegenteil.
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8. KAPITEL Sarah ließ das Haar auf dem Rückweg vom Wasserfall in der Sonne trocknen. Es umrahmte ihr Gesicht in weichen Wellen und glänzte so golden, wie Nicholas es vom ersten Treffen her in Erinnerung hatte. Auf der Auffahrt zur Farm blieb Nicholas ein, zwei Schritte hinter ihr. Er bewunderte die perfekte Rundung ihrer Hüften in den engen Jeans und den anmutigen Gang, der eine Sinnlichkeit bewies, die Sarah nicht bewußt zu sein schien. Wie hatte er nur annehmen können, daß ihm eine rein geistige Beziehung zu dieser hinreißenden Frau reichen würde? Dabei begehrte er sie mit jeder Faser seines Herzens. Seit sie sich beim Geschirrspülen in der Küche geküßt hatten, hatte sich die Situation entspannt. Nicholas hatte darauf geachtet, Sarah nicht zu bedrängen. Hier und da ein flüchtiger Kuß, eine fast zufällige Berührung, damit hatte er sich zufriedengegeben. Zumindest hätte er so getan. Aber er konnte sich noch so oft einreden, daß Sarah nicht ahnte, wie sehr er sie begehrte. Die Blicke, die sie ihm zuwarf, wenn sie sich unbeobachtet wähnte, bewiesen das Gegenteil. Dann wandte er sich immer hastig ab. Sie sollte nicht merken, wie er auf das unbewußte Versprechen in ihren Augen reagierte. Dennoch war er ständig versucht, sie einfach an sich zu ziehen. Nicholas sehnte sich danach, ihr mit den Fingern durch das seidig schimmernde Haar zu fahren und zu spüren, wie sie unter seinen Liebkosungen erbebte. Er sehnte sich danach, daß sie sich unter ihm bewegte, sich ihm schenkte und zuließ, daß er eins mit ihr wurde. Nicht weit vom Farmhaus holte Nicholas Sarah wieder ein und griff nach ihrer Hand. Es war eine kameradschaftliche Geste, so wie sie unter Freunden üblich ist. Vielleicht konnte er seinen erotischen Phantasien dadurch Einhalt gebieten. Hand in Hand betraten sie die Veranda. In einer Ecke saß Jimmy Joe und schaute unglücklich drein. Sarah blieb stehen. „Was ist los, Jimmy Joe, warum bist du so traurig?“ erkundigte sie sich liebevoll „Grandma ist böse. Wir wollten zu Billy Hawkins. Aber ohne - 88 -
Tennisschuhe darf ich nicht mit, und ich finde sie nicht.“ Er schluchzte trocken auf. „Kannst du nicht die anderen Schuhe anziehen?“ „Grandma sagt, wir würden ja doch wieder im Wasser herumwaten. Die guten Schuhe könnte ich dabei nicht anlassen, und barfuß würde ich mir weh tun. Deshalb muß ich erst meine Tennisschuhe finden.“ Eine dicke Träne rollte ihm über die Wange. „Aber ich habe schon überall gesucht, Janie.“ Sie zauste ihm lächelnd die roten Locken. „Das glaube ich nicht. Wetten“ Nicholas beobachtete, wie Sarah in der Bewegung innehielt und die Augen schloß. Dann sagte sie: „Du warst gestern nachmittag am Kühlhaus. Vorgestern hat Grandpa dort eine Mokassinschlange erschlagen, und er hat dir verboten, es zu betreten, solange er das Nest noch nicht gefunden hat. Stimmt's?“ Nicholas hielt den Atem an. Den gestrigen Nachmittag hatte Sarah mit ihm verbracht. Woher wußte sie, wo sich Jimmy Joe in der Zeit aufgehalten hatte? Hatte sie das erraten? Schuldbewußt sah Jimmy Joe zu ihr hoch. „Es war so heiß, und im Kühlhaus ist es angenehm. Ich war nur ganz kurz drin.“ „Ja, bei der Hitze wirkt das Kühlhaus erfrischend, Jimmy Joe. Das wissen die Schlangen auch. Deshalb hat Grandpa dir verboten hineinzugehen. Du wirst das nie wieder tun, klar?“ Die Augen des Jungen füllten sich erneut mit Tränen. „Da habe ich doch meine Tennisschuhe vergessen. Gerade ist es mir eingefallen. Sarah seufzte. „Ich weiß. Bleib hier, ich hole sie.“ Sie verließ die Veranda und verschwand um die Ecke des Hauses. „Janie ist mir böse, stimmt's?“ meinte Jimmy Joe. „Ich glaube eher, sie macht sich Sorgen“, widersprach Nicholas. „Eine Mokassinschlange ist eine ernste Sache, und deine Cousine möchte nicht, daß dir etwas zustößt.“ Der Junge senkte den Kopf. Kurz darauf kam Sarah mit den Tennisschuhen in der Hand zurück. „Erzählst du Grandpa, was ich gemacht habe?“ fragte er. „Nicht, wenn du mir versprichst, das nie wieder zu tun. Egal wie - 89 -
heiß es ist. Abgemacht?“ „Ganz bestimmt nicht. Großes Indianerehrenwort. „ Jimmy Joe fiel ihr um den Hals. „Bitte entschuldige, Janie. Ich wollte dir keine Angst machen.“ „Ich weiß“, versicherte sie lächelnd. „Vergiß nicht, was du versprochen hast. Jetzt lauf, Grandma wartet sicher schon.“ Jimmy Joes Miene hellte sich wieder auf. „Danke schön, Janie. Ich bin sehr froh, daß du so gut sehen kannst.“ Er rannte ins Haus. Immer noch lächelnd sah ihm Sarah nach, dann wandte sie sich an Nicholas. Als sie seinem erstaunten Blick begegnete, erstarb ihr das Lächeln auf den Lippen. Er hatte alles beobachtet. Wie hatte sie das nur vergessen können? Sie überlegte fieberhaft. Würde es ihr gelingen, sich einfach herauszureden? „Tja, wenn man einen achtjährigen Jungen im Auge behalten will, muß man wissen, wo er eigentlich nicht stecken dürfte.“ Sie verstummte. Es war zwecklos. Die Frage fiel ihr schwer, aber sie mußte sie stellen: „Du weißt es, nicht wahr?“ Nicholas nickte. Er hatte keine Ahnung, was Sarah daran so schlimm fand. „Jimmy Joe hat es mir damals am See erzählt, erinnerst du dich? Mir ist nur nicht klar, warum du das um jeden Preis, geheimhalten willst.“ „Ich habe meine Gründe.“ „Sarah...“ „Du kennst das nicht“, unterbrach sie ihn. „Nein, und deshalb möchte ich wissen, was los ist.“ Nicholas trat einen Schritt auf sie zu. Als sie zurückwich, blieb er stehen. „Sarah, wir hatten abgemacht, daß wir einander besser kennenlernen wollen. Wie soll ich das schaffen, wenn du etwas vor mir verbirgst, das so offensichtlich zu dir gehört?“ Sarah dachte nach. „Du hast recht“, gab sie schließlich zu. „Also laß uns darüber reden.“ Sie mied seinen Blick. Auch wenn sie sich das nicht eingestanden hatte: Diesen Moment hatte sie gefürchtet, seit Nicholas zurückgekehrt war. Sie konnte ihm erklären, soviel sie wollte, er würde sie nicht verstehen. Genau wie alle anderen. Als Nicholas sah, wie bedrückt sie war, wünschte er, er hätte damit gar nicht erst angefangen. „Das soll kein Verhör sein, Sarah“, - 90 -
versicherte er freundlich. „Wenn dich das Thema so aufregt, lassen wir es einfach fallen.“ Er hielt irritiert inne. Warum hatte er das gesagt? Sarah war endlich bereit, sich ihm anzuvertrauen, da forderte er sie auf zu schweigen. Sarah widerstand der Versuchung auszuweichen. Dadurch würde sich nichts ändern. Ob sie jetzt oder später darüber sprachen, spielte keine Rolle. Sie würde sich wohl oder übel damit abfinden müssen, daß er gehen würde. Das hatte sie von Anfang an gewußt. Aber sie hatte gehofft, den Termin hinausschieben und noch ein bißchen träumen zu können. Aber wie so oft im Leben, hatte sie keinen Einfluß auf die Ereignisse. Es war besser, wenn sie die Angelegenheit sofort hinter sich brachte. „Nein, du hast recht“, erklärte sie leise. „Wir müssen darüber reden. Ich weiß nur nicht, womit ich beginnen soll. „Mit dem Anfang, sagt Alice immer.“ „Welche Alice?“ „Alice im Wunderland.“ „Mir ist nicht nach Scherzen zumute“, fuhr Sarah ihn an. Der unerwartete Angriff erschütterte Nicholas. „Mir auch nicht, Sarah. Ich wollte mich nicht über dich lustig machen.“ „Ich weiß.“ Sie ließ den Kopf hängen. „Komm, wir gehen spazieren.“ Nicholas legte ihr den Arm um die Taille. Das hatte er in den letzten Tagen oft gemacht, doch diesmal zuckte sie zurück. Aber er tat, als hätte er Nichts gemerkt, und allmählich entspannte sie sich. „Was weißt du über übersinnliche Fähigkeiten?“ erkundigte sich Sarah. Nicholas fand den Zeitpunkt nicht günstig, um ihr die ganze Wahrheit zu sagen. Das würde sie nur wieder unnötig beunruhigen. Also sagte er nur: „Hier und da habe ich natürlich etwas darüber gelesen. Aber ich habe noch nie jemanden kennengelernt, der wirklich welche besitzt. Die Fälle, von denen ich gehört habe, erwiesen sich stets als Betrug.“ Das war immerhin nicht gelogen. - 91 -
„Das ist es auch meistens. Vor allem bei Menschen, die sich damit brüsten. Aber eben nicht immer. Manchmal...“ Sarah nahm allen Mut zusammen, trat einen Schritt zurück und sah Nicholas offen an. „Du mußt das verstehen, Nicholas. Ich besitze solche Kräfte. Von Zeit zu Zeit weiß ich Dinge, die ich mir nicht erklären kann. Ich möchte sie oft gar nicht wissen, aber sie sind plötzlich da.“ „Erzähl mir doch einfach, was du machst. Mal abgesehen davon, daß du kleinen Jungen sagst, wo sie ihre Tennisschuhe verloren haben, oder auf Fragen antwortest, die ich noch gar nicht gestellt habe.“ „Ist das dein Ernst? Habe ich deine Gedanken gelesen?“ Nicholas wunderte sich über ihr Erstaunen. Sie war sich ihres Handelns damals nicht bewußt gewesen. Aber das hatte er darauf zurückgeführt, daß sie sich längst daran gewöhnt hatte. „Ist das so ungewöhnlich?“ „Teils, teils“, meinte Sarah. „Das heißt, ich mache das schon mal bei Leuten, die mir nahestehen. Sonst nicht.“ „Oh. Ich fühle mich geschmeichelt.“ Er sah, daß in ihren Augen Angst aufflackerte. „Du kannst also Gedanken lesen und in die Vergangenheit gucken, wie zum Beispiel vorhin. Was sonst noch?“ „Während des Studiums habe ich versucht, mich genauer zu informieren. Ich wollte wissen, welche Erklärungen auf meine Fähigkeiten zutreffen. Dabei sind mir die feinen Unterschiede klargeworden. Ich kann zwar hellsehen, aber nicht die Zukunft voraussagen. Weißt du, wie ich das meine?“ Nicholas nickte. „Du siehst, was woanders passiert und was in der Vergangenheit geschehen ist, hast jedoch keinen Einblick in Dinge, die sich noch ereignen werden.“ „Ja, so ungefähr. Manchmal kann ich die Hellsichtigkeit herbeizwingen, so wie bei Jimmy Joes Schuhen. Wenn ich außerhalb unserer Gemeinde und der Familie unter vielen Leuten bin, stürmen ab und zu Eindrücke auf mich ein, die ich nicht zuordnen kann. Obwohl ich meistens weiß, wie das Wetter am nächsten Tag wird, kann ich, die Zukunft nicht auf Wunsch voraussagen. Manchmal gelingt mir ein kurzer Blick auf andere Abläufe, oder ich werde gewarnt. Wie zum Beispiel bei der Betonplatte im Freilichttheater - 92 -
von Monte Ne.“ „Du hast gewußt, was passieren würde?“ „Nicht genau. Aber es hat gereicht, um mich rasch unter die Bank zu ducken. Meine eigene Zukunft ist mir völlig verschlossen, sonst hätte ich mir schon eine Menge Ärger ersparen können. Gelegentlich ist mir vorher unbehaglich zumute, aber ich bin mir nie sicher, ob das bereits eine Warnung oder bloß ganz normale Angst ist.“ Nicholas sah, daß sie zitterte, und legte ihr fürsorglich den Arm um die Schultern. „Ich verstehe trotzdem nicht, warum du das alles geheimhalten willst, Sarah. Schließlich ist das eine ganz besondere Gabe. Ich nehme an, daß du vielen Menschen hilfst. Wovor fürchtest du dich?“ „Vor dem Rummel in der Öffentlichkeit und vor eventuellen Drohungen. Es ist ohnehin schwierig genug, damit zu leben.“ Ihm war klar, daß sie sich das nicht einbildete, sondern aus Erfahrung sprach. Sie gingen schweigend nebeneinander her, bis der Wald zu Ende war. Dann traten sie hinaus in den Sonnenschein. Vor ihnen erstreckte sich das gleichmäßige Grün der Weiden, in der Ferne sah man die Gartenlaube. „Hier bin ich sicher“, stellte Sarah plötzlich fest. „Woanders bin ich verletzbar. Als ich wegzog, um zu studieren, sah ich auf einmal Dinge, die nichts, mit mir oder meiner Familie zu tun hatten. Ich konnte sie nicht für mich behalten, weil ich dieses Wissen nicht kontrollieren konnte. Außerdem merkte ich, daß mich niemand verstand.“ Nicholas musterte sie verblüfft. „Hattest du denn vorher nicht gewußt, was mit dir los war? „O doch.“ Ihre Stimme bebte, „Mir ist seit dem neunten Lebensjahr klar, daß ich anders bin als die anderen. Damals starben meine Eltern, und ich zog zu meinen Großeltern. Vorher hatte ich meine Kräfte zwar genutzt, aber das ist mir nicht bewußt gewesen. Ich war einfach gut darin, Verlorenes wiederzufinden und, selbst bei strahlendem Sonnenschein zu wissen, ob es später regnen würde. Bevor die ersten Wolken aufzogen, hatte ich meine Spielsachen längst ins Haus gebracht.“ - 93 -
Auf dem Weg zur Gartenlaube hatte Sarah geschwiegen. Drinnen zog Nicholas sie neben sich auf eine, der gepolsterten Bänke. Diesmal zuckte sie nicht vor ihm zurück. Nach einer Weile nahm sie die Erzählung wieder auf. „Ich weiß noch, wie meine Mutter mich beim Einsammeln der Spielsachen beobachtet hat. Sie hat keine Fragen gestellt, nur die Wäsche von der Leine genommen. So als ob das etwas völlig Natürliches sei. Heute ist mir klar, daß meine Eltern Bescheid wußten. Sie wollten einfach, daß ich wie ein ganz normales kleines Mädchen aufwuchs. Wenn ich gewußt hätte, daß ich anders bin, hätte ich ihren Tod vielleicht verhindern können.“ Sie starrte eine Weile vor sich, dann brach sie in Tränen aus. Nicholas strich ihr zärtlich mit den Fingerspitzen über die feuchten Wangen. Er hätte sie gern an sich gezogen, sie festgehalten und getröstet. „Sarah, bitte... nicht weinen.“ „Laß nur, Nicholas. Das ist schon in Ordnung. Irgendwann mußte ich dir das ja erzählen. Ich besaß immer schon übernatürliche Kräfte. Meine Eltern nicht. Als sie an jenem Abend wegfuhren, war mir klar, daß sie nicht zurückkommen würden. Wenn ich etwas gesagt hätte, wären sie eventuell zu Hause geblieben. So stand ich nur an der Haustür und wußte, daß ich ab sofort allein war. Deshalb fühle ich mich an ihrem Tod mitschuldig. Ich habe es vorausgesehen und sie nicht gewarnt.“ „Mein Gott, Sarah, du warst erst acht. Wie bist du in der Nacht darauf mit deinen Ängsten fertig geworden?“ „Tante Cinda kam.“ „Ist das die alte Dame, die nicht umziehen will?“ „Richtig. Anscheinend liegt die Begabung in der Familie. Tante Cinda hat nichts vorausgeahnt, aber sie hat gespürt, daß ich in Schwierigkeiten war.“ Sarah holte tief Luft und fuhr fort: „Sie hat sich sofort auf den Weg gemacht, damit ich in dieser schrecklichen Nacht nicht allein war. Dann hat sie mich unter ihre Fittiche genommen. Die Familie hat mir die Eltern ersetzt, mich beschützt und umsorgt, und so ging das Leben weiter. Mit Tante Cindas Hilfe lernte ich allmählich, mit meinen Fähigkeiten umzugehen. Jedenfalls solange ich hier wohnte. - 94 -
Später merkte ich bald, daß ich eine Außenseiterin bin.“ Als er merkte, wie weh ihr diese Bemerkung tat, konnte er nicht mehr widerstehen. Er nahm sie in die Arme und streichelte ihr den Rücken. „Was hat dich so verletzt, Sarah?“ Die liebevolle Zuwendung tat ihr so gut, daß sie sich erleichtert an Nicholas Brust sinken ließ. „Ich hatte keine Ahnung, was auf mich zukam“, erzählte sie mit angespannter Stimme. „Daher machte ich keinen Hehl. aus meinen Fähigkeiten. Mir war einfach nicht klar, wie unheimlich ich dadurch auf andere Menschen wirkte.“ „Hatte deine Tante dich nicht davor gewarnt?“ Ihre Augen waren dunkel wie die eines Kindes, das einen soeben überstandenen Alptraum erzählt. „Nein. Sie hat es nicht gewußt, denn sie hat nie woanders gelebt. Hier gelten wir einfach als Menschen, die ein bißchen anders sind. Dadurch entsteht ein gewisser Abstand zu Leuten, die nicht zum engeren Kreis der Familie gehören. Aber man erkennt uns an, glaubt uns und schirmt uns sogar ab. Die restliche Welt hat mich dagegen als Monster behandelt.“ „Was ist geschehen?“ fragte Nicholas ruhig. Sarah sah zu ihm auf. „Als ich noch studierte, stürzte in den Bergen nahe der Universität ein Privatflugzeug mit Regierungsvertretern ab. Plötzlich tauchten überall Leute von Presse, Funk und Fernsehen auf.“ Er konnte sich denken, wie es weiterging. „Du wurdest in die Sache hineingezogen, und alles kam heraus.“ „Ja. Ich wußte, wo sich das Unglück ereignet hatte. Um mich nicht zu verraten, sagte ich nur, wo es passiert sein könnte. Aber niemand hörte auf mich. Sie suchten den falschen Berg ab. Also mußte ich was unternehmen. Ich überredete ein paar Freunde zu einer Wanderung, und dabei stießen wir wie zufällig auf das verunglückte Flugzeug. Der Pilot war tot, aber die anderen lebten. Wir hatten sie gerade noch rechtzeitig gefunden.“ „Das hat vermutlich Aufsehen erregt.“ „Und wie. Aber das war noch nicht alles. Irgend jemand erinnerte sich an die Gerüchte, die man sich über mich erzählte. Und daraufhin fiel den Leuten vom Suchtrupp natürlich ein, daß ich ihnen, Tips - 95 -
gegeben hatte.“ Sie erschauerte. „Es war einfach grauenhaft.“ Nicholas musterte sie voller Mitleid. Er konnte sich gut vorstellen, wie sie damals gewesen war. Jung, unsicher, verwirrt und von allen Seiten bedrängt. Was sollte er tun? Obwohl die Beweise fehlten, war er überzeugt, daß Sarah die. Wahrheit sagte. Sie besaß übernatürliche Kräfte. Er hatte die Möglichkeit zwar stets in Betracht gezogen, aber nie wirklich daran geglaubt. Jetzt waren alle Zweifel beseitigt, und er wußte nicht, wie er reagieren sollte. Zu alledem kam das voreilige Angebot an Jack, seinen Agenten, der natürlich eine Story von ihm erwartete. Was sollte er ihm sagen? Und was noch wichtiger war: Wie sollte er das alles Sarah erklären? „Das muß wirklich furchtbar gewesen sein“, sagte Nicholas nach langem Schweigen. „Ich wünschte, ich könnte dich über diese Erfahrung hinwegtrösten, aber das geht nicht. So kann ich dir nur versichern, wie leid mir das alles für dich tut.“ Sarah nickte. „Ich hab's überlebt, wenn auch mehr schlecht als recht. Das laufende Semester habe ich noch abgeschlossen, dann bin ich nach Hause gefahren und habe mich an der Uni von Fayetteville eingeschrieben.“ „Hast du dich da wohler gefühlt?“ „O ja, ich habe dort viel gelernt. Außerdem hatte ich es nicht so weit nach Hause. Dazu kam, daß Sheriff Bascomb in Fayetteville ein paar Leute kennt. Dadurch hatte ich immer jemanden, mit dem ich reden konnte, wenn ich Probleme hatte.“ Sie stand auf und trat an eins der Fenster. „Ich habe noch öfter schlechte Erfahrungen gemacht, Nicholas. Manche waren schrecklich, andere nur enttäuschend. Das Gerede ist dabei für mich noch nicht einmal das Schlimmste.“ „Erzähl weiter, Sarah bat er. „Vielleicht kann ich dir ja helfen. „Mir kann niemand helfen, das ist ja das Problem. Mit der Zeit ist mir klargeworden, daß mich niemand versteht. Manche behaupten zwar, daß sie es täten. Aber dann passiert irgend etwas Unerwartetes, und er... Sie ziehen sich zurück, als hätte ich eine ansteckende Krankheit. Deshalb fühle ich mich oft so allein.“ - 96 -
Plötzlich haßte Nicholas alle Menschen, die ihr je weh getan hatten. Er trat hinter Sarah. „Stell mich auf die Probe“, bat er leise. „Gib mir eine Chance. Sie fragte sich, ob sie das wirklich wagen sollte. Würde sie es aushalten, wenn er sie dabei auf ganz bestimmte Weise musterte? Sie schloß die Augen und nahm sich vor, daß sie nicht darauf achten würde. Obwohl sie noch immer ängstlich war, erklärte sie mit fester Stimme: „Ich erzähle dir ein Beispiel. Kurz bevor ich St. Louis verließ, wurde ein kleiner Junge entführt.“ Nicholas hielt den Atem an. Hätte er Sarah doch nicht dazu aufgefordert. Gerade hatte er sich noch erfolgreich eingeredet, daß Gerüchte und mögliche Zufälle nicht reichten, um einen Artikel zu schreiben. Nun berichtete sie von dem Fall, den er bereits kannte und der auf nachweisbaren Tatsachen beruhte. „Der Kleine war verletzt, allein und hatte Angst. Aus irgendeinem Grund konnte ich eine Zeitlang so deutlich in ihm lesen, als ob wir eins wären. Ich fühlte seinen Schmerz und die Furcht, aber ich hatte keine Ahnung, wo er war. Ich wußte nur, was er auch wußte. Doch dann sah ich plötzlich, was geschähe, wenn ihm nicht sehr bald geholfen würde.“ Als sich Sarah umdrehte, legte er beschützend die Arme um sie. „Kannst du dir vorstellen, wie mir zumute war, Nicholas? Seine Angst zu spüren war schlimm genug. Aber zu wissen, was ihm zustoßen würde, wenn ich ihm nicht half? Wenn ich seinen Aufenthaltsort nicht rechtzeitig bestimmen konnte?“ Er sah ihr an, was sie empfunden haben mußte, und zog sie noch enger an sich. Sie schien es nicht zu merken. „Zum Glück ging diese Geschichte gut aus. Ich habe jemanden angerufen, der Junge wurde gerettet. Was dabei in mir vorging, kann niemand nachvollziehen. Das kann ich auch nicht vermitteln. Außerdem gibt es Fehlschläge, die alles noch schlimmer machen. Die Schuld quält mich. Ich bin ihr hilflos ausgeliefert. Warum fühle ich Dinge, an denen ich nichts ändern kann? Das will ich nicht. Aber ich kann nichts dagegen tun.“ Nicholas suchte sekundenlang nach Worten. „Du irrst“, meinte er schließlich. „Zumindest teilweise. Ich weiß zwar nicht, was der - 97 -
Junge gefühlt und welches Schicksal ihn erwartet hat. Aber das Grauen kann ich sehr wohl nachempfinden.“ Er legte ihr die Hände auf die Schultern, trat etwas zurück und sah ihr in die Augen. „Menschen, die einander kennen und mögen, teilen solche Gefühle andauernd miteinander. Du mußt sie manchmal mit Fremden teilen. Trotzdem ist der Unterschied nicht so groß.“ Sarahs zweifelnder Blick zeigte ihm, daß sie das weder glaubte noch verstand, was er meinte. Er drückte sie wieder an sich und versuchte erneut, es zu erklären. „Wenn jemand etwas Trauriges erlebt, tut mir das leid. Das geht den meisten so. Ich kann mir jedenfalls nicht vorstellen, daß man davon hört oder liest, ohne etwas dabei zu empfinden. Du kannst sogar manchmal versuchen zu helfen. Gelingt dir das nicht, ist das nicht deine Schuld. Aber im Gegensatz zu einem normalen Menschen hast du immerhin die Chance.“ „Mir ist klar, daß ich mein Mitleid nicht mit deinen Empfindungen vergleichen kann“, fügte Nicholas, mit fester Stimme hinzu. „Aber eine Ähnlichkeit ist vorhanden. Der Unterschied besteht wahrscheinlich darin, daß du die Gefühle anderer deutlicher spürst, weil du besonders sensibel bist. Aber auch hier gilt, daß geteiltes Leid halbes Leid ist.“ Bevor sie ihn unterbrechen konnte, fuhr er fort: „Stößt jemandem etwas zu, den ich kenne oder mag, wächst mein Mitgefühl. Falls sich Jimmy Joe den Arm bräche, täte mir das nicht genauso weh wie ihm, aber ich könnte es nachempfinden. Bei der Erzählung vom Tod deiner Eltern hat sich mir die Kehle zugeschnürt, Sarah, und tief in mir war ein dumpfer Schmerz. Wenn man diese Art Leid teilt, läßt es sich leichter ertragen.“ Die Zuneigung in Nicholas Stimme ließ Sarah erschauern. Unwillkürlich dachte sie an das letzte Mal, als er sie so in den Armen gehalten hatte. Sie erinnerte sich an ein Gefühl grenzenloser Nähe, obwohl ihr Geheimnis noch zwischen ihnen gestanden hatte. Er sah, daß ihr Gesicht tränenüberströmt war, und suchte ihren Blick. Plötzlich war ihm, als könne er ihr bis auf den Grund der Seele schauen. Oder war es umgekehrt? Nein, dachte er. Das geht nicht. - 98 -
Mehr darf ich nicht annehmen, ohne Sarah die Wahrheit zu sagen. Doch sein Wille war nicht stark genug, um die Sehnsucht zu unterdrücken. Als er ihr die Tränen von den Wangen tupfte, seufzte Sarah leise auf. Sie hob. den Kopf, lächelte ihn an und fuhr ihm zärtlich mit dem Zeigefinger über den Mund. Nicholas knabberte spielerisch an ihrem Finger, hielt ihre Hand fest und küßte sie auf die empfindsame Innenfläche. Ohne darüber nachzudenken, schmiegte sie, sich an ihn und gab sich den berauschenden Gefühlen des Verlangens und der Vorfreude hin, die sie bisher stets unterdrückt hatte. Sie verkreuzte die Hände hinter seinem Nacken, stellte sich auf die Zehenspitzen und strich ihm mit den Lippen über den Mund! Nicholas erbebte unter der zarten Berührung. Als Sarah mit der verführerischen Liebkosung fortfuhr, beschwor er sich ein letztes Mal, vernünftig zu bleiben. „Sarah“, protestierte er, aber es klang wie ein Flehen. „Bist du dir darüber im Klaren, was du mit mir anstellst?“ „Ich weiß“, flüsterte sie, ohne ihre Bemühungen zu unterbrechen. Schließlich küßte sie ihn auf's Kinn, dann bot sie ihm den Mund zum Kuß. Nicholas preßte sie an sich und ließ seine Zunge zwischen ihre geöffneten Lippen gleiten. Sie streichelte ihm Schultern und Nacken und zupfte mit den Fingern an seinen Ohrläppchen. Die Süße ihrer Zärtlichkeiten nahm ihm den Atem, und er stöhnte halblaut auf. Der zuerst noch zurückhaltend forschende Kuß entwickelte sich rasch zu einem leidenschaftlichen Geben und Nehmen. Sarah war erstaunt, wie sanft Nicholas sie streichelte, obwohl sie deutlich merkte, wie sehr er sie begehrte. Sein Körper war wie ein Bogen gespannt und ließ die volle Kraft seiner Männlichkeit spüren. Sarah bog sich ihm noch mehr entgegen. Sie wußte nicht, ob er sie anschließend auf den Boden gebettet oder sie ihn mit sich heruntergezogen hatte. Irgendwann lagen sie jedenfalls nebeneinander auf den Kissen, die normalerweise auf die Polsterbänke gehörten. Er zog sie an sich und vertrieb mit seiner Nähe die innere Leere, die im Laufe der Zeit zu einem Bestandteil ihres Lebens geworden war. „Sarah“, raunte er ihr ins Ohr, während er ihr zärtlich das Haar aus - 99 -
der Stirn strich. Als er sah, daß sie ihm die Lippen zum Kuß bot, flüsterte er noch einmal ihren Namen, dann beugte er sich über sie. „Ich möchte dir gehören, Nicholas“, sagte sie kaum hörbar. Sie meinte nicht nur die Befriedigung des körperlichen Verlangens, das er in ihr hervorgerufen hatte. Sie weigerte sich jedoch, darüber nachzudenken, daß er die Bitte anders auffassen mochte als sie. Sein Kuß wurde leidenschaftlicher, die Begierde immer deutlicher. Er streichelte Sarah unaufhörlich, und seine Berührung steigerte ihre Vorfreude auf ein noch sinnlicheres Vergnügen bis ins unendliche. Sarah glaubte, unter seinen Zärtlichkeiten dahinzuschmelzen, und reagierte bereitwillig auf jeden Beweis männlicher Lust. Von draußen strömte der Duft wilden Geißblatts in die Laube und verstärkte Nicholas leidenschaftliche Gefühle, bis er darin zu versinken drohte. Die Welt um ihn herum schien sich aufzulösen, und die Wirklichkeit beschränkte sich auf das, was Sarah ihm wortlos mitteilte. Sie machte sich ihm verständlich durch die Liebkosungen ihrer Hände, durch die wohlklingende Musik in ihrer Stimme und die Magie, die in ihren Blicken lag. Mit vor Erregung bebenden Fingern knöpfte sie ihm das Shirt auf und tastete mit den Fingerspitzen über seine nackte Haut. Nicholas hielt sie an den Handgelenken fest und holte tief Luft. Es war ein letzter Versuch, doch noch zur Vernunft zu kommen. Aber als Sarah klar wurde, daß er sich zurückziehen wollte, protestierte sie energisch und grub ihm die Finger in die Schultern. Sie zeigte ihm eindringlich, daß sie gehalten und liebkost werden wollte, und zwar von ihm. Damit lösten sich seine Bedenken endgültig in Nichts auf. „O Sarah“, sagte Nicholas heiser. Er öffnete die restlichen Hemdknöpfe und bat: „Streichel mich.“ Sie strich ihm mit den Fingern über die Brust und umkreiste eine Zeitlang die harten Spitzen, bis er lustvoll aufstöhnte. Kurz darauf zog er sie aus und zahlte ihr die soeben erlittene süße Qual mit gleicher Münze heim. Anschließend musterte er sie eine Zeitlang schweigend, ohne sie zu berühren. „Nicholas?“ flüsterte sie. Sie war unsicher, wie sie ihre Frage formulieren sollte, aber sie wußte, daß er der einzige war, der sie - 100 -
beantworten konnte. „Keine Angst, Sarah, ich werde dir nicht weh tun. Sie begann sich unter seinen Blicken zu winden, bis er sich wieder über sie beugte. Er streichelte ihren Busen und konzentrierte sich dann auf die zarten Knospen, die sofort hart und dunkel wurden. Er küßte sie erst auf die eine, dann auf die andere Brust und tupfte ihr mit der Zunge kleine feuchte Male auf die Haut. Endlich umschloß er die Spitze einer Brust mit den Lippen und sog spielerisch daran. Er hatte nicht aufgehört, sie zu streicheln, und näherte sich dabei immer mehr dem Zentrum ihrer Lust. Als er die geheimsten Regionen ihres Körpers erreichte, stöhnte sie laut auf. Er hob erschrocken den Kopf. „Sarah, hast du noch nie mit jemandem geschlafen?“ Sie wurde verlegen. „Doch, aber so noch nie. Tut mir leid, Nicholas.“ Das Wissen, daß seine Liebkosungen Sarah dermaßen erregten, ließ ihn alle Geduld vergessen. Er legte sich auf sie und drückte sie mit seinem Gewicht in die Kissen. Er fuhr ihr mit der Zunge über die Mundwinkel und preßte ihr die Lippen auf den Mund. Er tastete mit den Händen ihren Körper ab, genoß jede Rundung, jede Höhlung, das Gefühl der seidenweichen Haut unter seinen Fingerspitzen. Die Hitze in ihr wuchs, bis sie es nicht länger aushielt. Ihre Bewegungen wurden immer ruheloser, drängender, fordernder. Sie öffnete die Augen und sah ihn an. „Ich habe von Anfang an gewußt, daß mehr zwischen uns ist“, stellte er mit belegter Stimme fest. „Viel, viel mehr als körperliche Anziehungskraft und Begierde.“ In dem Bewußtsein, ihm die gleiche Freude schenken zu können wie er ihr, liebkoste und provozierte sie ihn nach Herzenslust. Sie fuhr ihm mit den Fingern über das gekräuselte Haar auf der Brust und zeichnete die Linie nach, die es zum Bauchnabel hin bildete. Als sie schließlich anfing, sich ausgiebig der vor Erregung pulsierenden Männlichkeit zu widmen, schob er ihr endlich, die Beine auseinander und bettete sich zwischen ihre Schenkel. Er drang in sie ein, und sie nahm ihn willig in sich auf. Sie stellte sich auf seinen zögernden Rhythmus ein und trieb ihn mit einem - 101 -
verführerischen Kreisen der Hüften zu heftigeren Bewegungen an. Der nicht enden wollende Sturm der Leidenschaft löste immer neue Wellen der Erregung in ihnen aus. Endlich erreichten, sie gemeinsam den Höhepunkt, erlebten die höchste Erfüllung aller Sehnsüchte, die es je zwischen einem Mann und einer Frau gegeben hat. Erschöpft lagen sie nebeneinander und hielten sich an den Händen, als müßten sie sich vergewissern, daß dies kein Traum, sondern Wirklichkeit war. Sarah lächelte. Sie wußte nicht, wie es weitergehen würde, aber sie hatte etwas, woran sie sich immer erinnern konnte.
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9. KAPITEL Sarah nahm die letzten zwei goldbraun gebratenen Hähnchen aus der heißen Pfanne und legte sie auf eine vorgewärmte Platte. Sie breitete eine weiße Serviette darüber und stellte alles zu den anderen Sachen auf den Tisch. Wie jedes Jahr, veranstaltete die Familie am vierten Juli ein Gartenfest. Die dazu erforderliche Planung hätte jeden berufsmäßigen Ausrichter kalter Buffets abgeschreckt, aber die Angehörigen waren ein eingespieltes Team. Jeder kümmerte sich um einen bestimmten Bereich. So hatte Sarah schon als Kind gelernt, mit Buttermilch bestrichene Hähnchen zu braten, eine Spezialität ihrer Großmutter. Mit dem ersten Hahnenschrei hatten sie und Grandma heute morgen die Küche betreten. Inzwischen war es zehn Uhr. Als vor einer Stunde die ersten Autos in, den Hof fuhren, hatte sie die Großmutter überredet, hinauszugehen und die Gäste zu begrüßen, während Sarah die Hähnchen fertig briet. Sie zog die Schürze aus und trat auf die rückwärtige Veranda, um ein bißchen frische Luft zu schnappen. Sie betrachtete die aus Sägeböcken und Baumstümpfen hergestellten Tische und Stühle auf der großen Wiese. Nach dem Andrang am frühen Morgen zu urteilen, war das heutige Familientreffen eins der größten seit Jahren. In der Auffahrt reihte sich bereits ein Wagen an den anderen. Nicholas blauer Jeep war noch nicht darunter. Schmunzelnd dachte Sarah daran, wie er sie angesehen hatte, als sie ihn eingeladen und gleichzeitig gewarnt hatte. „Denk dir schon mal ein paar Antworten aus. Für meine Großtanten ist das vorhandene oder auch fehlende Liebesleben der jüngeren Generation nämlich eine Angelegenheit öffentlichen Interesses, und eine alleinstehende Person gilt als Freiwild.“ Unwillkürlich fiel ihr der gestrige Nachmittag in der Gartenlaube ein. Sarah bedauerte nichts, obwohl sie sich darüber im Klaren war, daß das zauberhafte Erlebnis für sie wichtiger war als für ihn. Nicholas hatte sich ungewöhnlich nachdenklich von ihr verabschiedet. - 103 -
Sarah überlegte bedrückt, ob er den Vorfall vielleicht bedauerte oder sich Vorwürfe machte. Seit Nicholas Rückkehr nach Mountain Springs hatte ihre Beziehung einem Schwelbrand geglichen. Sie hatte gewußt, daß sie diejenige war die bestimmte, ob die Flammen endgültig entfacht würden, und sie hatte sich bewußt dafür entschieden. Sie hatte ihn haben wollen, ihn gebraucht und gewußt, daß er genauso fühlte. Sie hatte es nicht für möglich gehalten, je eine so starke Zusammengehörigkeit zu erleben. Hätte sie sich gar nicht erst darauf einlassen dürfen? Ihre Verwandten fanden es sicher falsch, jedenfalls die meisten. Und Tante Cinda? Das konnte sich Sarah nicht vorstellen. Sie und Tante Cinda waren auf die gleiche Art anders. Sarah war seit langem klar, daß sie nie eine Liebe erfahren würde wie die zwischen ihren Eltern oder Großeltern. Tante Cinda hatte zwar geheiratet und eine große Familie gegründet, aber die Beziehung zwischen ihr und ihrem Mann war nie so eng gewesen. Nein, Tante Cinda würde sie nicht verurteilen. Sarah hatte vorübergehend eine Bindung erfahren, die mehr war als körperliche Befriedigung. Tante Cinda würde verstehen, daß sie die Gelegenheit genutzt hatte, solange das möglich war. Sie hatte nicht vor, Luftschlösser zu bauen. Irgendwann würde Nicholas wieder abreisen. Sarah schwor sich, in dem Moment stark zu sein und ihn gehen zu lassen. Daran zu denken tat weh. Sie wandte sich ab und ging wieder hinein. Heute würde die Familie sie und Nicholas nicht aus den Augen lassen. Das war schade, denn dadurch würden sie keine Minute lang allein sein. Außerdem hatten sie Jimmy Joe versprochen, abends mit ihm nach Springdale zu fahren, um T. J. beim Rodeo zuzuschauen. An diesem Tag mußten sie sich also wieder wie gute Freunde benehmen. Alles andere mußte warten. Nicholas war so oft von Mountain Springs zum Farmhaus gefahren, daß er den Weg auswendig kannte. Obwohl er auf den Verkehr achtete, war er mit den Gedanken woanders. Wie konnte er zulassen, daß sie miteinander schliefen? Aber im - 104 -
Grunde war da nichts mehr zu erlauben oder verbieten gewesen. Sie hatten beide die Beherrschung verloren. Schließlich war er nicht Superman. Er träumte seit Wochen von ihr, doch die Träume waren nur ein schwacher Abglanz dessen, was sie zusammen erlebt hatten. Eine so deutliche körperliche und geistige Harmonie hatte er noch nie erfahren. Sarah hatte ihn mit ihren natürlichen rückhaltlosen Reaktionen auf seine Zärtlichkeiten völlig in ihren Bann gezogen. Das Liebesspiel hatte einen anderen Menschen aus ihm gemacht. Er wußte nicht, wie es weitergehen würde. Ihm war nur klar, daß nie wieder etwas so sein konnte, wie es vorher war. Die Erinnerung an den merkwürdigen Abschied gestern bereitete ihm Unbehagen. Sarah hatte irgend etwas gesagt, das ihn störte. Danach war sie ihm vorausgeeilt, ohne daß er Gelegenheit gehabt hätte, etwas zu erwidern. Was hatte ihn beunruhigt? Sie hatte ihm erklären wollen, warum sie ihre Begabung geheimhielt. Vor lauter Anstrengung, sich zu erinnern, zog er die Stirn in Falten. Auf einmal fiel es ihm ein. Sie hatte Angst, aufgespürt, bekannt, bedroht und öffentlich lächerlich gemacht zu werden. Bedroht? Wie hatte sie das gemeint? Er wollte keine Vermutungen anstellen, sondern Sarah noch heute danach fragen. Die vielen Leute störten ihn nicht. Irgendwann würde sich schon eine Gelegenheit bieten. Er war sich nicht sicher, warum, aber er ahnte, daß die Antwort wichtig war. Obwohl Sarah gesagt hatte, daß ihre Familie sehr groß sei, war er überrascht, wie viele Autos in der Auffahrt parkten. Er stellte den Jeep hinter dem letzten Wagen ab. Kaum war er ausgestiegen, tauchte Jimmy Joe auf und redete auf ihn ein. Sarah hätte ihn gebeten, nach Nicholas Ausschau zu halten, sie würde beim Haus auf ihn warten, und ob Nicholas bitte sein Partner beim Wettrennen auf drei Beinen sein könne, erzählte er, ohne ein einziges Mal Atem zu holen. Obwohl sich Nicholas auf Jimmy Joe konzentrierte, bemerkte er die neugierigen Blicke der Leute, die ebenfalls die Auffahrt hinaufgingen. Bis jetzt hatte er angenommen, Sarahs engere Verwandtschaft zu kennen. Wenn das hier lauter Angehörige der - 105 -
Familie Lutteral waren, hatte er sich wohl geirrt. Nervös sah er sich um. Er hätte gern gewußt, ob ihn diese Menschen guthießen, aber es irritierte ihn, daß ihm das überhaupt wichtig war. Er versuchte, die freundlichen, aber wißbegierigen Blicke zu übersehen, und lenkte seine Aufmerksamkeit wieder auf Jimmy Joe. „Ich hätte nichts dagegen, dein Partner zu sein“, sagte er. „Aber ich weiß nicht, ob ich dir eine Hilfe bin. Das ist mein erstes Wettrennen dieser Art.“ „Es reicht, wenn du besser bist als Janie. Letztes Jahr hat sie so gekichert, daß wir hingefallen sind.“ „Sarah hat gekichert?“ Nicholas musterte Jimmy Joe ungläubig. Er hatte Sarah fröhlich, heiter, nachdenklich und ernst erlebt, aber gekichert hatte sie in seiner Anwesenheit nie. „Ehrlich“, beteuerte Jimmy Joe. „Sie hat sich geschüttelt vor Lachen, bis wir auf der Wiese lagen. Dabei waren wir vorher besser als T. J. und Sally.“ „Ich glaube dir, Partner. Aber ich habe Sarah noch nie so ausgelassen gesehen.“ „Na ja, das ist sie auch selten. Aber warum fängt sie damit ausgerechnet mitten im Wettkampf an?“ Nicholas lächelte. „Also gut, Jimmy Joe. Wenn du willst, mache ich mit und werde mein Bestes tun. Ich verspreche dir, daß ich auf jeden Fall versuchen werde, nicht zu kichern.“ „Dann paß auf, daß du nicht hinter Mabel und ihren Mann gerätst“, flüsterte Sarah ihm ins Ohr. Nicholas drehte sich um. Ihr Anblick raubte ihm den Atem. Sie war wunderschön, ihr Lächeln herzlich, in ihren blaugrünen Augen lag ein Ausdruck magischer Verheißung, ganz weit dahinter verborgen allerdings auch der Schatten einer leisen Unruhe. Nicholas konnte weder den Blick abwenden, noch wußte er, ob er seiner Stimme trauen durfte. Die Luft zwischen ihnen schien zu knistern. „Du hast gesagt, ich soll ihn holen, Janie“, erklärte Jimmy Joe und brach damit den Bann. „Da ist er. Er hat mir sogar versprochen, beim Wettrennen mitzumachen.“ Verlegen fügte er hinzu: „Du bist doch einverstanden, Janie, oder? Ich hatte mir überlegt, daß du dieses Jahr - 106 -
sicher nicht mitmachen willst.“ Sarah lachte. „Das hast du richtig gemacht, Jimmy Joe. Dann kann ich euch wenigstens ordentlich anfeuern.“ Der Junge grinste erleichtert. „Tante Cinda hat übrigens gemeint, du solltest mal zu ihr kommen. Sie sitzt unter der großen Eiche. Ich gehe jetzt mit Bobby Wade Hufeisen werfen, wenn's dir recht ist. Oder brauchst. du mich noch?“ „Erst zum Lunch, vorher nicht. Lauf und amüsier dich solange.“ Sie beobachtete Jimmy Joe, bis er im Haus verschwunden war. Dann wandte sie sich langsam um. „Guten Morgen, Sarah“, grüßte Nicholas. „Guten Morgen, Nicholas“, erwiderte sie, und ein rosa Hauch überzog ihre Wangen. „Wie geht es dir? „Ich habe alles heil überstanden. Die Sache ist es wert.“ Sie sah sich erschrocken um. „Hat jemand...“ Nicholas schmunzelte. „Bis jetzt noch nicht, aber ich sehe ihnen die unausgesprochenen Fragen an.“ Er zwang sich, ruhig zu bleiben und den Abstand zu ihr einzuhalten. Zwei winzige Schritte, und er hätte sie an sich ziehen können. Sie musterte ihn verständnisvoll. „Normalerweise kommen keine Außenstehenden zum Picknick. Fast alle sind miteinander verwandt, verheiratet oder verlobt. Cousine Sue hat mal einen Freund mitgebracht. Sie mochte ihn nicht besonders, aber die ewige Bettelei um ein Rendezvous ging ihr auf die Nerven. Da hat sie ihn kurzerhand hierher eingeladen.“ Der arme Kerl hatte Nicholas Mitgefühl. „Hat es gewirkt?“ Sarah nickte. „Er hat sie nie wieder behelligt.“ „Hast du mich aus dem gleichen Grund hergebeten?“ Sie war schockiert. „Natürlich nicht. Ich hatte dich doch gewarnt.“ „Stimmt.“ Er trat neben sie und ließ beiläufig den Arm um ihre Taille gleiten. „Und ich habe es ernst gemeint. Die Sache ist es wert.“ Sarah war offensichtlich überrascht und zögerte, zog sich jedoch nicht zurück. „Na, ich weiß nicht, Nicholas. Die Party fängt gerade erst an. Jetzt muß ich dich erst mal mit Tante Cinda bekannt - 107 -
machen.“ „Ist sie tatsächlich von ihrem Berg herabgestiegen?“ „Ja, sie nimmt seit Jahren zum ersten Mal wieder am Picknick teil. Ich habe keine Ahnung, warum.“ „Du scherzt. Sie will mich kennenlernen.“ Er strich ihr beschwichtigend über den Arm. „Mach dir keine Sorgen. Man hat mir versichert, daß ich im Umgang mit reizenden alten Damen sehr geschickt sei.“ „Denk bloß nicht, daß Tante Cinda das ist, was du dir unter einer reizenden alten Dame vorstellst“, warnte Sarah. „Nein. Ich erwarte eine weise, etwas betagte Lady, die dich liebt. Warum sollte ich sie also nicht mögen? Komm, gehen wir zu ihr.“ Sie schlenderten durch den Garten zu der alten Eiche. Als Nicholas Tante Cinda entdeckte, erinnerte sie ihn an die Puppen aus getrockneten Äpfeln, die in den Souvenirläden dieser Gegend zuhauf angeboten wurden. Sie war noch kleiner als Sarah, machte einen beinahe zerbrechlichen Eindruck und saß betont aufrecht auf einem Gartenstuhl im Schatten der riesigen Krone. Ihr von weißer Spitze gesäumtes Kleid aus pastellfarbenem Batist war hochgeschlossen und hatte lange Ärmel. Trotzdem schien ihr darin nicht zu warm zu werden. Unter der altmodischen Spitzenhaube schauten ein paar weiße Locken hervor. Ein paar Leute hatten sich um sie versammelt und unterhielten sich mit ihr. Doch sobald Sarah und Nicholas näher kamen, verstummte das Gespräch, und alle sahen den beiden entgegen. Nicholas hatte das Gefühl, die alte Dame schaute ihm direkt bis auf den Grund der Seele, und es dauerte eine Weile, bis er merkte, daß sie im herkömmlichen Sinn fast blind war. Kein Wunder, daß die Familie sie dazu bewegen wollte, ins Tal zu ziehen. Wenn ihr etwas zustieße, wäre sie in der Einsamkeit der Berge so hilflos wie ein verwundeter Vogel. Sarah bahnte sich mit Nicholas einen Weg durch die Umstehenden und blieb vor Tante Cinda stehen. „Tante Cinda, ich möchte dir meinen Freund Nicholas Matthias vorstellen. Nicholas, das ist meine Großtante, Mrs. Cinda Shields.“ „Guten Tag, Mrs. Shields. Ich freue mich sehr, Sie - 108 -
kennenzulernen“, grüßte Nicholas förmlich. „Du kannst ruhig Tante Cinda zu mir sagen“, meinte sie und streckte ihm die Hand entgegen; „Ich werde dich Nicholas nennen.“ Ihre Stimme klang erstaunlich energisch und lebhaft. Nicholas zögerte. Er wußte, daß die Frauen ihrer Generation die in der Geschäftswelt unter Fremden übliche Geste des Händeschüttelns nicht übernommnen hatten. Doch dann schlug er lächelnd ein. Als sie sein Lächeln erwiderte, atmete er erleichtert auf. „Würdest du mir bitte ein Glas Limonade holen, Sarah?“ bat Tante Cinda. „Nicholas wird mir solange Gesellschaft leisten. Erst jetzt stellte Sarah fest, daß die anderen um sie herum verschwunden waren. Als sie Nicholas unsicher ansah, nickte er ihr beschwichtigend zu. „Ich bin gleich wieder da“, versicherte sie und ließ die beiden allein. „Setz dich, mein Junge“, forderte ihn Tante Cinda auf. Nicholas ließ sich vor ihr ins Gras sinken. Da sie keine Anstalten machte, die Hand zurückzuziehen, hielt er sie weiterumfangen. „Ich freue mich wirklich, Sie kennenzulernen. Sarah hat mir viel von Ihnen erzählt.“ „Tante Cinda und du, bitte.“ Sie machte eine Pause, dann lächelte sie wissend. „So, so, sie hat dir also von mir erzählt. Dadurch sparen wir vermutlich eine Menge Zeit. Und was halten Sie von meiner Großnichte?“ Er spürte, daß sie aus seinen Worten Bedeutungen herauslas, die er nicht ausgesprochen und auch nicht beabsichtigt hatte, obwohl sie zutrafen. Er sah die alte Frau bewundernd an. Ob sie ihre Unterhaltungen immer auf zwei Ebenen führte? Es würde schwierig, ja, fast unmöglich sein, ihr etwas vorzumachen. „Sarah ist ein ganz besonderer Mensch“, erklärte er. Tante Cinda hatte so lange geschwiegen, daß Nicholas schon fürchtete, die Unterhaltung sei beendet. Doch dann nickte sie unmerklich. „Was ist mit dir, Nicholas Matthias, hast du gefunden, was du gesucht hast?“ - 109 -
„Ja erwiderte er zögernd. „Jedenfalls glaube ich das.“ „Das klingt nicht sehr überzeugt. Diesmal klang seine Stimme klar und., fest. „Doch, ich bin mir sicher, Tante Cinda, aber es überrascht mich immer noch. Ich habe nämlich lange nicht gewußt, wonach ich suchte. Trotzdem habe ich genau das gefunden, was ich haben wollte. Vielleicht ist das Zufall oder auch Schicksal.“ Nicholas hatte diese Gedanken noch nie in Worte gefaßt und war verblüfft, wie klar ihm die Situation dadurch wurde. Tante Cinda nickte unmerklich. „Was wirst du jetzt, machen, nachdem du es gefunden hast?“ „Ich weiß es noch nicht, Tante Cinda“, gab er zögernd zu. „Für mich ist das alles sehr neu. Mir ist nur eins klar. Ich möchte das, was ich habe, nicht wieder verlieren.“ Die letzten Worte waren eine Herausforderung. Aber anstatt darauf einzugehen, wandte sich Tante Cinda an Sarah. Nicholas hatte nicht einmal bemerkt, daß sie sich genähert hatte. „Da bist du ja wieder, mein Kind. Du hättest dich nicht zu beeilen brauchen. Nicholas ist ein unterhaltsamer Gesprächspartner. Wir kommen gut miteinander zurecht.“ Sarah sah fragend von ihrer Großtante zu Nicholas. Sein ebenso zärtlicher wie belustigter Blick beruhigte sie. „Setz dich, Sarah. Der junge Mann hier ist groß genug. Er kann auf sich selbst aufpassen, auch bei einem alten Scheusal, wie mir“, belehrte Tante Cinda sie streng. „Außerdem hatte ich nicht vor, ihn zu fressen.“ Sarah nahm so nahe neben Nicholas Platz, daß sie bloß die Hand auszustrecken brauchte, um ihn zu berühren. „Du bist eine alte Schwindlerin“, erklärte Nicholas. Er wußte, daß Tante Cinda ihn schon verstehen würde. „Denn unter deiner harten Schale steckt ein ganz weicher Kern.“ Er drückte ihr liebevoll die schmalen Finger. Tante Cindas herzliches Lachen klang durch die Sommerluft. „Dein junger Mann hat nichts von mir zu befürchten“, sagte sie zu Sarah. „Wir verstehen uns. „Er ist nicht mein... mein...“ Die Großtante ließ sie nicht ausreden. - 110 -
„Dann bist du dümmer, als ich dachte.“ Sarahs Blick war hilflos, aber Nicholas zwinkerte ihr lächelnd zu. „Wo sind eigentlich die anderen?“ fragte Tante Cinda plötzlich. „Nach all dem Theater, um mich herzulocken, sollte man annehmen, daß sie mir wenigstens etwas Gesellschaft leisten.“ „Sie sind aus Angst vor einem Blutbad geflohen“, mischte sich T. J. ein. Er hatte sich zu der kleinen Gruppe gesellt und Tante Cindas letzte Bemerkung gehört. Nun beugte er sich vor und küßte seine Großmutter auf die Wange. „Guten Morgen, Großmutter. Hast du Nicholas etwa noch nicht den Kopf abgerissen?“ „Wirst du wohl still sein, Timothy James. Wenn du so weitermachst, ergreift er am Ende vor mir die Flucht.“ T. J. lachte „Glaub. mir, Großmutter, ich bin nicht der richtige Mann, um Nicholas zu vertreiben, solange er nicht gehen will.“ Er wandte sich an Nicholas und lächelte ihn an. „Du hast also vor, es mit der ganzen Familie auf einmal aufzunehmen. Wie ist es dir dabei ergangen?“ „Gut. Nicholas erwiderte T. J.'s Lächeln. „Bis jetzt habe ich jedenfalls überlebt. Wie das nach dem Wettrennen auf drei Beinen aussieht, weiß ich allerdings auch nicht.“ T. J. wechselte das Thema. „Schön, daß du endlich mal hier bist, Großmutter. Jetzt mußt du doch zugeben, daß das Tal gar nicht so übel ist. Willst du nicht umziehen, damit sich Sarah endlich keine Sorgen mehr machen muß?“ „Halt dich da raus, Timothy James“, empörte sich Tante Cinda. „Du hast mir nichts zu sagen.“ „Das habe ich auch nicht vor. Aber wenn der Winter kommt, kannst du nicht da oben wohnen bleiben. Die Familie hat Sarah gebeten, sich darum zu kümmern, und die weiß vor Angst um dich bald nicht mehr aus noch ein.“ Seine Stimme wurde weich. „Du hast mir mal beigebracht, daß man nicht immer genau das bekommen kann, was man haben möchte. Gib nach, Großmutter. Wir wollen doch nur dein Bestes.“ Tante Cindas ärgerliche Miene war milde geworden. „Bevor der erste Schnee fällt, werde ich den Berg verlassen. Also hört auf, euch den Kopf zu zerbrechen. Alles wird gut werden.“ - 111 -
„Ach, wie ich mich freue, Tante Cinda“, sagte Sarah erleichtert. „Du wirst sehen, es wird dir gefallen. Onkel Hiram will dir ein besonders hübsches großes Zimmer...“ „Bei meinem Sohne, werde ich keinesfalls wohnen. Ich habe ihn schon einmal erzogen. Das ist genug.“ Nicholas lächelte in sich hinein, als er sah, wie entschlossen die alte Dame das Kinn vorschob. „Und damit ihrs gleich wißt, zu meiner Schwester ziehe ich genausowenig. Es reicht, daß, wir zusammen aufgewachsen sind.“ „Aber Tante Cinda“ wollte Sarah protestieren. Die Großtante ließ sie wieder nicht ausreden. „Ich werde mir ein kleines Haus mieten, und ich weiß auch schon, welches.“ Verträumt fuhr sie fort: „Es ist nach Osten hin ausgerichtet, so daß morgens die Sonne in die Zimmer scheint. Die Veranda erstreckt sich über die gesamte Vorderfront, und die Eingangstür ist hellrot gestrichen. Es ist überhaupt sehr modern. Nichts mehr mit Eimer und Pfad und so. Kurz es gefällt mir und ich werde mich wohl fühlen. Obwohl es im Tal steht.“ Sarah und T. J. tauschten einen besorgten Blick. „Wo, genau, Großmutter?“ erkundigte sich T. J. „Hör endlich auf, Timothy James. Ich habe euch das erzählt, damit ihr euch keine Gedanken mehr macht. Im übrigen kann ich sehr gut allein für mich sorgen. Wenn ich das Haus brauche, wird es dasein. So, und, jetzt sprecht über was anderes. Da kommt eure Cousine mit dem spindeldürren Ehemann. Ich will nicht, daß sich das halbe Tal um meine Angelegenheiten kümmert.“ Nicholas drehte sich nach den Neuankömmlingen um. Die Frau war groß und sehr stattlich, der Mann kleiner und auffallend hager. Hastig ließ Nicholas Tante Cindas Hand los und holte Gartenstühle. Als Tante Cinda ihn mit den beiden bekannt machte, wurde ihm klar, warum Sarah, ihn so amüsiert beobachtete. Die Vorstellung, daß sich dieses äußerlich so ungleiche Paar an zwei Beinen zusammenbinden ließ, um dann an einem Wettlauf teilzunehmen, war wirklich zu komisch. „Mabel, das ist mein Freund, Nicholas Matthias“, erklärte Tante - 112 -
Cinda in einem Ton, der klar erkennen ließ, daß sie Nicholas schätzte. „Nicholas, das sind Mabel und ihr Mann Harris. Mach es dir bequem, Mabel.“ Mabel musterte Nicholas neugierig, aber Tante Cindas Worte hatten jede weiterführende Frage unmöglich gemacht. Sie nahm seine Anwesenheit daher zur Kenntnis und wandte sich an T. J. „Willst du dir das Caldwell-Grundstück wirklich entgehen lassen?“ Als sich Sarahs Miene verdüsterte, beugte sich Nicholas zu ihr hinüber und flüsterte: „Das mit dem Wasserfall?“ Sie nickte. T. J. hob ratlos die Schultern. „Mir wird nichts anderes übrigbleiben, Mabel. Ich habe vergebens versucht, es noch mal zu mieten. Sie wollen unbedingt verkaufen. Das erste Angebot wurde abgelehnt, aber sobald mehr geboten wird, ist es weg.“ „Dein Urgroßvater hat einen Fehler gemacht“, sagte Mabel zu Sarah. „Das Land hätte in der Familie bleiben müssen.“ Zum Glück mischte sich Tante Cinda ein, und Sarah blieb die Antwort erspart. „Erstens ist das lange her, und zweitens war der Tausch damals nicht schlecht, Mabel.“ Sie sah Nicholas an. „Geht und amüsiert euch ein bißchen. Mabel und ich müssen noch ein paar Leute begrüßen.“ Die drei verabschiedeten sich und wandten sich ab. Nach wenigen Schritten rief Tante Cinda ihnen nach: „Nicholas, paß gut auf Sarah Jane auf, hörst du?“ Ihm war, als striche ihm ein kühler Hauch über den Nacken. Er drehte sich um. Täuschte er sich, oder lag ein Schatten über Tante Cindas Gesicht? Das ist nur die Spitzenhaube, redete er sich ein. Aber obwohl er versprach, sein Bestes zu tun, hinterließ Tante Cindas Bemerkung ein ungutes Gefühl. Am Farmhaus sagte Sarah: „Ich muß jetzt in der Küche helfen. Kommt ihr ohne mich zurecht?“ „Na klar“, meinte T. J. „Ich, werde mich solange um Nicholas kümmern.“ Sarah sah Nicholas an. „T. J. kann dir alles zeigen. Bis nachher.“ Sie lächelte und ging davon, bevor er etwas einwenden konnte. „Na, Nicholas, wie wär's mit Hufeisenwerfen?“ fragte T. J. - 113 -
In Gedanken war Nicholas noch bei Tante Cindas Abschiedsworten. Er erwiderte abwesend: „Das habe ich schon lange nicht mehr gemacht“, und starrte dabei auf die Tür, durch die Sarah verschwunden war. „Sie kommt gleich wieder“, beteuerte T. J. Er legte Nicholas eine Hand auf die Schulter und schlenderte mit ihm um das Haus herum. „Bis dahin kannst du dich ja wieder in Hufeisenwerfen üben. In dieser Gegend fangen die Jungen damit an, sobald sie groß genug sind, um eins aufzuheben.“ Nicholas fand sich mit den Gegebenheiten ab und folgte T. J. zu einem seitlich neben dem Haus aufgebauten Stand. Hab Geduld, ermahnte er sich. Du wirst die Fragen eben später stellen müssen, die dich auf der Fahrt hierher beschäftigt haben. Irgendwann wird sich heute bestimmt eine Gelegenheit bieten, um ein paar Minuten mit Sarah allein zu sein. Das hoffte er jedenfalls.
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10. KAPITEL Die Rodeo-Arena war hell erleuchtet, daß die Zuschauer nicht merkten, wie die Dunkelheit allmählich das letzte Dämmerlicht verschluckte. Für Nicholas hatte der Tag aus einer endlosen Folge von Mahlzeiten und fremden Gesichtern bestanden. Trotzdem war es ein Erfolg gewesen. Bei dem Wettrennen war es ihm und Jimmy Joe gelungen, sich von der scharfzüngigen Cousine Mabel fernzuhalten Diese Taktik hatte bestimmt nicht unerheblich zum dritten Platz bei der Siegerehrung beigetragen. Sarah hatte am Rand gewartet und die beiden kräftig angefeuert. Zur Belohnung hatte sie ihn auf die Wange. geküßt. Jimmy Joe hatte jedoch ein Stück selbstgebackenen Pfirsichkuchen vorgezogen. Nicholas zog Sarah enger an sich und atmete den Duft nach wildem Geißblatt ein, der ihrem Haar anhaftete. Er hatte sich nicht ein einziges Mal mit ihr in Ruhe unterhalten können. Vielleicht ergab sich eine Chance, sobald sie Jimmy Joe nach Hause gebracht hatten. Ohne auf die Leute zu achten, lehnte Sarah den Kopf an Nicholas Schulter. Jimmy Joe lachte laut über den Clown, der mit seinen Witzen die Pausen zwischen den einzelnen Auftritten überbrückte. Im Moment machte er die komischsten Verrenkungen, um einen aufgeregten jungen Bullen zum Ausgangstor zu locken. Das sah lustig aus, aber Sarah wußte wie gefährlich es war. Sie war froh, daß sich T. J. beim Rodeo darauf beschränkte, mit Ochsen zu ringen und Kälber mit dem Lasso einzufangen. Aus dem Lautsprecher ertönte die Stimme des Ansagers. „Hinter Tor Nummer vier bereitet sich soeben Jack Perkins vor. Er will auf Devil Boy reiten. Die meisten hier kennen Jack, er kommt aus Oklahoma. Für die, die gestern abend nicht hier waren: Jack sollte eigentlich auf Thunder reiten, aber der Stier war in der Box so wild geworden, daß wir ihm eine Spritze geben mußten. Daher hat ihn die Jury für diesen Wettbewerb gestrichen. Im nationalen Standard nimmt Jack Rang fünf ein. Er bietet immer eine gute Show.“ Lauter fügte er hinzu: „Komm raus, Jack. Wir freuen uns auf dich.“ - 115 -
T J. setzte sich auf den freien Platz neben Jimmy Joe. „Er kann von Glück sagen, daß Thunder ausfällt. Der Bulle ist verrückt, das könnt ihr mir glauben.“ „Hast du gewonnen, T. J.?“ fragte Jimmy Joe. Sein Cousin grinste. „Na ja, das Kälberfangen hat zumindest genug gebracht, um die Teilnahmegebühr zu decken. Aber er machte eine Pause und schloß triumphierend: „... ich habe drei Pferde verkauft.“ „Drei!“ rief Sarah überrascht aus. „Das ist wirklich großartig, T. J. Hast du damit gerechnet?“ „Nein, bestenfalls mit zweien.“ Er sah Nicholas fragenden Blick und erklärte: „Bei den meisten Wettbewerben werden die Pferde vom Veranstalter gestellt. Aber beim Kälberfangen und Ochsenringen reitet man auf eigenen Tieren und kann deren Fähigkeiten vorführen. Die Profis halten immer Ausschau nach einem gut trainierten Pferd.“ In seiner Stimme schwang Stolz mit. „Wenn heute abend einer von denen auf meinem Pferd gesessen hätte, hätte er damit ne Menge Geld verdienen können. Das wissen die Leute. Gerade beim Kälberfangen ist ein gutes Pferd unerläßlich, und meine Tiere sind die besten.“ „Deine Verkaufsstrategie ist völlig neu“, meinte Nicholas. T. J. lachte und wandte sich wieder an Jimmy Joe. „Für dich habe ich noch was Besonderes, Kleiner. Der Veranstalter sagte, wir könnten nach dem Rodeo beim Verladen zuschauen.“ Der Junge jubelte. „Dann kann ich mir Thunder angucken!“ „Nur aus sicherer Entfernung“, wandte T. J. ein. „Ich traue dem Bullen nicht. Er ist schon immer, hinterhältig gewesen, und jetzt ist er völlig durchgedreht.“ Sarah war froh, daß T. J. die zahlreichen Fragen von Jimmy Joe beantwortete. Die frische Abendbrise bot einen willkommenen Anlaß, sich noch enger an Nicholas zu schmiegen. Sie warteten, bis die meisten Zuschauer fort waren, bevor sie die Pferche hinter der Arena aufsuchten. Hier ging es noch geschäftiger zu als beim Rodeo selbst. Unter den lauten Rufen der Cowboys wurden Pferde und Rinder durch ein ausgeklügeltes System von Gängen zu den Transportern getrieben. Immer wieder drängten die Tiere gegen die tragbaren Stahlrohrgatter, die dann scheppernd - 116 -
aneinanderstießen: Als ein Cowboy zwei tänzelnde Pferde am Zügel vorbeiführte, wichen die drei Erwachsenen aus und achteten darauf, daß Jimmy Joe zwischen ihnen blieb. Sie bezweifelten, daß der aufgeregte Junge vorsichtig genug war, um sich nicht in Schwierigkeiten zu bringen. Dafür war seine Wißbegier einfach zu groß. ,,Wo sind denn die Pferde, die immer so bocken?“ fragte Jimmy Joe. „Du hast gerade zwei der besten gesehen“; erwiderte T. J. „Die haben sich doch gar nicht aufgebäumt.“ Geduldig erklärte T. J. „Nein, das sind ja auch keine Wildpferde. Sie wurden nicht in der Prärie gefangen, sondern stammen aus einer Zucht und sind nur noch nicht zugeritten.“ Jimmy Joe schien enttäuscht. „Und wo sind die Stiere? Ich möchte zu Thunder.“ „Die sind am anderen Ende, möglichst weit weg vom allgemeinen Trubel, und werden erst jetzt verladen. Bevor wir dahingehen, mußt du mir etwas versprechen, Jimmy Joe. Keine Dummheiten. Die Bullen sind die gefährlichsten Tiere im Rodeo, sowohl in als auch hinter der Arena. Habe ich dein Wort, daß du tust, was ich dir sage?“ Er wich nicht von der Stelle, bis Jimmy Joe ernst nickte. Die ersten Stiere standen schon auf dem Lastwagen und warteten auf die Abfahrt zum nächsten Rodeo. Nicholas und Sarah folgten T. J., der Jimmy Joe an der Hand festhielt. Der Junge zog den Älteren ungeduldig mit sich. „Schnell, T. J., bitte. Sonst ist Thunder weg, bevor ich ihn gesehen habe.“ „Du hast noch viel Zeit, Kleiner“, sagte ein Cowboy, der zufällig vorbeikam. „Thunder wird erst ganz zum Schluß verladen. Wahrscheinlich müssen wir dem boshaften Ungeheuer vorher noch eine Beruhigungsspritze verpassen,“ „Tobt er denn noch immer herum?“ fragte T. J. „Toben ist gar kein Ausdruck“, erwiderte der Mann. „Der dreht total durch und gehört eigentlich längst auf die Weide. Nach dem Vorfall mit Pete Johnson wird sich bestimmt kein Idiot mehr finden; - 117 -
der dämlich genug ist, sich acht Sekunden lang, auf dem Rücken dieses Teufels halten zu wollen.“ Er sah Sarah an. „Verzeihung; Madam. Aber dafür gibt's keine vornehme Umschreibung.“ Sarah nickte verständnisvoll. Im Grunde fand sie die für einen Cowboy ungewöhnliche Höflichkeit eher lustig. Sie beobachteten, wie er mit großen Schritten davonging. Offenbar war Jimmy Joe nicht der einzige, der sich für Thunder interessierte. Vor der Abzäunung standen viele Leute und schoben und schubsten sich gegenseitig in dem Bemühen, einen Blick auf den Stier zu werfen. Jimmy Joe zerrte T J. an der Hand näher zum Zaun. In dem großen Mittelgehege, das normalerweise ein halbes Dutzend Stiere faßte, stand der Bulle im Scheinwerferlicht und betrachtete die Menschenmenge aus rotgeränderten Augen. Als die Unruhe größer wurde, senkte er schnaubend den Kopf und rannte, auf das Stahlrohrgatter zu. Die Leute sprangen erschrocken zurück. Aber dann stemmte er alle viere in den mit Sägemehl bestreuten Boden und hielt so plötzlich inne, wie er losgelaufen war. Er hob den. Kopf, trottete drohend am Zaun entlang und kehrte in die Mitte des Geheges zurück. Als er wieder zum Angriff überging, stieß jemand aus der. Menge einen Cowboyschrei aus. „Einfaltspinsel“, murmelte T. J. „Der Bulle ist doch ohnehin schon nervös genug. Komm, Jimmy Joe, wir haben genug gesehen.“. „Welcher Idiot hat das Tor entriegelt?“ gellte eine Stimme, während die Leute geschlossen zurückwichen. Geschlossen - bis auf Jimmy Joe. Er hatte sich losgerissen, und sich einen Weg nach vorn gebahnt. T J. und Nicholas waren mit einem Satz hinter ihm her. Als Nicholas hörte, wie Metall gegen Metall scheuerte, konnte er nur hoffen, daß das Geräusch durch das Schließen der Verriegelung entstanden war. In der Zwischenzeit wurde Sarah von den Menschen hin und her geschoben. Plötzlich spürte sie, daß jemand ihre Taille umfaßte, und sie atmete erleichtert auf. Doch dann fühlte sie, wie sie hochgehoben und nach vorn geschleudert wurde. Inzwischen hatte Nicholas den Jungen als erster erreicht. Er legte ihm die Hand auf die Schulter und packte fest zu. Im gleichen - 118 -
Moment vernahm er den entsetzten Aufschrei einer Frau. Die Menge stöhnte auf, danach herrschte unheilverkündende Stille. Ihm wurde eiskalt. Er fuhr auf dem Absatz herum und zog Jimmy Joe mit sich. Auf dem staubigen Boden hinter dem Zaun lag eine zusammengekrümmte Gestalt. Zwei Meter davon entfernt stampfte der Stier mit den Vorderhufen auf. Sarah. Nicholas versagte die Stimme. O Gott, nein! Einem der Umstehenden drückte er Jimmy Joe in die Arme, einem anderen entriß er einen sicherheitshalber mitgebrachten Regenmantel und rannte los. Nicholas flankte über den Zaun und rief: „Hier bin ich, du räudige Kreatur. Komm her.“ Das Tier drehte den schweren Kopf in seine Richtung, dann musterte es wieder die auf der Erde liegende Frau. Laut schreiend ging Nicholas zwei, drei Schritte weiter nach vorn. Thunder sah ihm entgegen. „So ist's recht, alter Knabe. Ich bin hier.“ Er hieb mit dem Regenmantel in die Luft. Es klang wie ein Pistolenschuß. Der Stier drehte sich so schwerfällig um, als sei ihm das eigene Körpergewicht lästig. Nicholas riß den Mantel wieder mit heftigem Ruck nach unten. „Weiter so, Kumpel.“ Er ließ das Tier nicht aus den Augen. „Sarah, um Himmels willen, beweg dich nicht. Falls du mich hörst, bleib bitte ganz still liegen.“ Thunder sah unentschlossen von Nicholas zu Sarah. Um die Aufmerksamkeit wieder auf sich zu lenken, stieß Nicholas noch einmal einen gellenden Schrei aus. Gleichzeitig merkte er, daß jemand näher kam. „Ich bin's, sagte T. J. ruhig. „Bring Sarah hier weg.“ Als der Bulle das Haupt senkte, verstummten sie. Thunder trat einen Schritt zurück und stampfte auf, blieb aber stehen. „Nein, Nicholas. Du holst Sarah, ich kümmere mich um Thunder. Hier kenne ich mich besser aus als du.“ „Wir haben jetzt keine Zeit, uns zu streiten, T. J. Hol Sarah. Ich glaube, sie ist bewußtlos. Wenn sie zu sich kommt, könnte sie - 119 -
stöhnen oder sich sonst wie rühren, und Thunder entscheidet sich am Ende doch noch für das bequemere Opfer am Boden.“ „Na gut. Ich hoffe, du weißt, was du tust.“ „Keine Bange.“ Nicholas hatte den Blick nach wie vor fest auf den Stier gerichtet. „Halt dich bereit. Ich werde dafür sorgen, daß die Bestie auf mich zuläuft.“ „Gott beschütze dich, Nicholas. Sei vorsichtig. Die Bullenreiter sagen, er bricht meistens nach rechts aus.“ Nicholas nickte. Er wartete, bis ihm die Geräusche verrieten, daß T. J. den Zaun erreicht hatte. Im stillen schätzte er die Zeit ab, die T. J. brauchen würde, um zu Sarah zu gelangen. Die Anspannung der Menschen hinter dem Gatter war beinahe körperlich spürbar. Eine unheimliche Ruhe breitete sich aus. Schweigt, beschwor Nicholas die Leute stumm. Schweigt und bewegt euch nicht. Alles, was den Stier jetzt ablenkte, mochte ihn dazu bringen, sich erneut Sarah zuzuwenden. Hoffentlich war das den Leuten klar. Schweißtropfen perlten ihm über Stirn und Lider. Er blinzelte sie fort, ohne Thunder aus den Augen zu lassen. Vorsichtig ging e rückwärts, um den Bullen von Sarah wegzulocken. Thunder schnaubte, senkte die Hörner und setzte sich langsam in Bewegung. Nicholas verharrte reglos. Er umklammerte mit einer Hand. den Mantel und verlagerte das Gewicht auf die Fußballen. Jetzt war nur eins wichtig. Thunder durfte seine Meinung nicht ändern. Also mußte Nicholas warten, bis der Stier mit voller Geschwindigkeit auf, ihn zulief. Trotz seines beeindruckenden Gewichts würde er die Entfernung innerhalb weniger Sekunden zurücklegen. Habe ich den Abstand zum Gatter richtig in Erinnerung? fragte sich Nicholas. Er durfte sich nicht umschauen und mußte sich blindlings auf sein Gedächtnis verlassen. „Komm her, du Ausgeburt der Hölle“, schrie er und wedelte mit dem Mantel. Thunder hielt inne und blähte die Nüstern. „Na los, du elendes...“ Nicholas verstummte. Der Bulle ging zum Angriff über. Als er auf Armeslänge - 120 -
herangekommen war, schleuderte ihm Nicholas den Regenmantel entgegen und warf sich gleichzeitig nach links. Sowie er den Boden berührte, ließ er sich über die Schulter in Richtung Zaun rollen. Hilfsbereite Menschen, packten ihn an Armen und Beinen und hoben ihn über die Absperrung. Eine Weile blieb er dort liegen, sog die Nachtluft ein und wartete, daß sich seine Aufregung legte. Dann fiel ihm Sarah ein. Er saß mit einem Ruck aufrecht da und rief ihren Namen. Die Umstehenden halfen ihm auf die Füße. „Die Lady ist in Sicherheit“ „ sagte einer der Männer. „Ihr Freund hat sie aus dem Pferch geholt.“ „Wo ist sie?“ Soviel ich weiß hat man sie in einen Wohnwagen gebracht.“ Ein dunkelhaariger Cowboy begleitete Nicholas durch die Menge. Er trug die übliche Rodeokleidung und unterschied sich von den anderen nur durch ein gelbes Schild mit der Aufschrift Butler. Er gehörte also zum Rodeopersonal. Viele Menschen streckten Nicholas die Hände entgegen und wollten ihm gratulieren. Er nickte ihnen zu, während er sich bei seinem Begleiter noch einmal nach Sarah erkundigte. „Sie ist gesund und wartet mit dem anderen Mann und dem Jungen im Wohnwagen des Chefs. Ich bringe Sie zu ihr.“ Butler musterte ihn von der Seite. „Sie haben schon oft in der Arena gestanden, was?“ „Um Himmels willen, nein. Noch nie. Ein oder zweimal war ich in Südamerika, dabei, wenn die jungen Stierkälber durch die Straßen getrieben werden. Aber das sind Leichtgewichte ohne Hörner. Heute habe ich das, erste Mal Auge in Auge mit einem erwachsenen Stier gestanden, und von mir aus darf das auch gern das letzte Mal gewesen sein.“ „Das müssen phantastische Kälber gewesen sein. Mir ist jedenfalls aufgefallen, daß Sie alles richtig gemacht haben. „Das war kein Können, sondern Glück.“ Butler blieb vor einem hellerleuchteten Wohnwagen stehen. „So, da sind wir. Ihre Lady ist drinnen.“ Seine Lady... Nicholas klopfte, an die Tür und stieß sie auf, ohne ein „Herein“ abzuwarten. Er nahm die sich bietende Szene mit einem - 121 -
einzigen Blick, in sich auf. Sarah saß in einer Sitzecke auf der Bank und hatte die Finger um einen Becher gelegt, der mit dampfendem Inhalt vor ihr auf dem Tisch stand. An ihrem Haar hafteten noch Reste des Sägemehls. Sie war blaß, die Augen waren groß und ängstlich. Jimmy Joe kuschelte sich an sie und hatte bis auf die Sommersprossen ebenfalls keine Farbe im Gesicht. Die Schmutzspuren auf seinen Wangen zeigten, daß er geweint hatte. T. J. stand neben Sarah und hatte ihr die Hand auf die Schulter gelegt. „Sarah“, flüsterte Nicholas und zog die Tür hinter sich zu. Ihre Miene hellte sich auf, und im nächsten Moment lag sie in seinen Armen. Plötzlich waren sie von Leuten umgeben, deren Anwesenheit Nicholas bis jetzt nicht aufgefallen war. Man schlug ihm auf die Schulter, sprach ihm Anerkennung aus, aber Nicholas merkte das alles nicht. Sein Denken und Fühlen galt nur noch der Tatsache, daß sich Sarah wohlbehalten an seine Brust lehnte. Als er spürte, daß sie sich entspannte, lockerte er die Umarmung und sah sie an. „Wie fühlst du dich, hast du dich auch nicht verletzt?“ „Ach, Nicholas. Ich habe solche Angst um dich gehabt:“ Er strich ihr mit einer Hand über den Rücken. „Pst, jetzt ist alles in Ordnung. Du bist in Sicherheit, und mir geht's gut.“ Nicholas nahm Sarah bei der Hand und ging mit ihr zum Tisch. Jimmy Joe machte es sich in der Ecke gemütlich, Sarah nahm neben ihm Platz, und Nicholas setzte sich ans Kopfende. Irgend jemand drückte ihm ein Glas Bier in die Hand. „Guten Abend, Mr. Matthias“, grüßte ein älterer Cowboy und ließ sich auf die Bank sinken. „Herrje, das war aber auch ein...“ Nicholas winkte ab. Das Thema würde Sarah nur zusätzlich aufregen. „Na gut. Ich wollte auch bloß sagen, daß wir uns um den Bullen kümmern werden.“ „Bringen Sie ihn nach Hause und stellen ihn auf die Weide. Dort - 122 -
wird er sich bald wohl fühlen.“ Der Mann zögerte. „Ich wollte ihn eigentlich töten lassen.“ „Warum?“ fragte Nicholas. „Für einen Stier hat er ganz normal reagiert. Wir sind schließlich in sein Gebiet eingedrungen.“ Er wandte sich an Sarah. „Sag mal, wie bist du überhaupt in das Gehege gekommen?“ Sie hob die Schultern. „Das war merkwürdig. Nachdem ich eine Zeitlang in der Menge herumgestoßen worden war, legte mir jemand die Hände um die Taille. Ich freute mich schon, weil ich dadurch Halt zu finden hoffte. Statt dessen flog ich auf einmal durch die Luft. Mehr weiß ich nicht. Ich kam erst wieder zu mir, als mich T. J. hinaustrug, und sah, wie der Stier auf dich zurannte.“ Nicholas schnappte nach Luft. „Man hat dich hineingeworfen?“ Plötzlich wurde ihm übel. Tante Cinda hatte ihn gebeten, auf Sarah aufzupassen, und er hätte beinahe versagt. Er sah sich fragend nach T. J. um. „Ja, höchstwahrscheinlich“, raunte ihm T. J. zu. „Die Riegel hatten sich zwar gelockert, aber das Gatter war zu.“ Sarah hatte ihn nicht gehört. „Es muß ein Unfall gewesen sein“, erklärte sie leise. Die beiden Männer tauschten einen vielsagenden Blick. Als hätten sie sich verabredet, standen sie gleichzeitig auf. „Los, Jimmy Joe. Das waren genug Abenteuer für heute. Ich bringe dich nach Hause.“ T. J. wartete, bis der Junge aus der Ecke herausgeklettert kam. „Du kannst mir helfen, die Pferde zu verladen.“ „Und du kommst mit mir, Sarah“, befahl Nicholas ruhig und legte ihr beschützend den Arm um die Schultern. In dem Moment tauchte Sam Bascomb in der Tür auf. Nicholas war dem Sheriff ein paarmal in Mountain Springs begegnet. Sie hatten einander gegrüßt, eine Unterhaltung hatte sich dabei nie ergeben. Er wußte nur, daß dies der Mann war, der Hoyston auf Sarah aufmerksam gemacht hatte. Sam sah sich prüfend um. Daß er sich hier außerhalb seines Bezirks aufhielt und somit keine Befehlsgewalt hatte, schien ihm gleichgültig zu sein. Schließlich lenkte er seine Aufmerksamkeit auf Sarah. „Was ist passiert, Sarah? Wie geht es dir?“ - 123 -
„Gut, Sam. Mir ist nur ein bißchen schwindelig.“ Sarahs Tonfall bestätigte Nicholas Vermutung, daß Sam ein ganz besonderer Freund war. Er konnte dessen Zorn gut verstehen, denn er fühlte genauso. Außerdem war er zutiefst besorgt. Irgend jemand hatte Sarah aus unerfindlichen Gründen. schaden wollen. Nicholas begriff einfach nicht, was einen Menschen zu einer solchen Tat veranlassen konnte. T J. schilderte kurz, was geschehen war. „Gibt es Zeugen?“ Sam musterte jeden im Raum, doch die Anwesenden schüttelten die Köpfe. „Wer war dabei? Irgend jemand muß doch was gesehen haben.“ „O Mann“, sagte jemand, dessen Stimme Nicholas nicht kannte. „Am Gatter standen mindestens zwanzig, dreißig Leute. Ein paar davon treiben sich bestimmt noch draußen herum.“ „Gut, dann werde ich mal nachgucken.“ Er wandte sich an Sarah. „Und was dich betrifft, kleine Miss, du gehst jetzt nach Hause. Wir können uns morgen weiterunterhalten.“ „Ja, Sam“, stimmte Sarah müde zu. „Nicholas, bring mich bitte heim.“ Nicholas drückte sie an sich und führte sie hinaus. Die anderen folgten. Sam, T. J. und Jimmy Joe schlugen den Weg zu den Boxen ein, Sarah und Nicholas gingen schweigend nebeneinander her zum Parkplatz. Wie gut, daß ihm nichts, passiert ist, dachte Sarah dankbar. Sie würde nie vergessen, wie angsterfüllt sie zusehen mußte, als sich der wütende Stier auf Nicholas stürzte. Nacktes Grauen hatte sie gepackt und war so übermächtig gewesen, daß es alles Denken und Fühlen beherrscht hatte, Sarah hatte nicht einmal einen winzigen Blick in die Zukunft werfen können. Mit der sich einstellenden Erleichterung wurde ihr klar, wieviel Nicholas ihr inzwischen bedeutete. Er war zu einem wichtigen Teil ihres Lebens geworden. So weit hatte sie es nie kommen lassen wollen. Als sie ihn noch nicht gekannt hatte, war sie einsam gewesen. Wie sollte das erst werden, wenn er wieder abgereist war? Zuvor hatte sie nur geahnt, daß es ihr an irgend etwas mangelte, aber sie hatte dieses Etwas nicht näher bestimmen können. Jetzt war ihr - 124 -
der fehlende Bestandteil ihrer Existenz mit erschreckender Klarheit bewußt geworden. Nicholas mußte ihre Unsicherheit bemerkt haben. Er hielt im Schatten der Haupttribüne inne und drehte Sarah so weit zu sich herum, daß er sie ansehen konnte. Das Mondlicht erhellte seine markanten Gesichtszüge, während er sie mit forschendem Blick musterte. „Stimmt irgend etwas nicht? Bist du sicher, daß es dir gut geht und du dich nicht verletzt hast?“ Seine Stimme klang liebevoll, jedes einzelne Wort verriet, wie sehr er sich um sie sorgte. Sarah hatte das Gefühl, von dieser Fürsorge umhüllt zu werden wie von einem warmen Mantel, den man zum Schutz gegen die Kälte des Winters anzieht. „Mir fehlt nichts, Nicholas. Ehrlich nicht. Nur die Knie sind mir noch ein bißchen weich, das ist alles.“ Nicholas lächelte sie zärtlich an. „Ich glaube, das ist nach allem, was du erlebt hast, nur zu verständlich.“ Dann wurde er ernst und schüttelte den Kopf, als könne er es immer noch nicht so recht fassen. „Wenn ich bedenke, was...“ Er brach mitten im Satz ab. „Wenn du was bedenkst?“ fragte sie. „Ach, nichts. Für heute reicht's. Wir können morgen darüber sprechen.“ Er machte eine Pause und verzog die Mundwinkel zu einem jener winzigen Lächeln, die wenig verrieten, aber alles zu versprechen schienen. „Ist dir eigentlich aufgefallen, daß wir soeben zum ersten Mal an diesem Tag allein sind?“ Sarah warf einen prüfenden Blick in die Runde. Die Lichter in der Arena waren erloschen. Die Weide, auf der die Zuschauer ihre Autos abgestellt hatten, lag fast leer vor ihnen. Aus der Ferne drangen die Geräusche der Tiere und des Rodeopersonals an ihr Ohr. Nichts störte die momentane Zweisamkeit. „Tatsächlich“, sagte sie und sah betont unschuldig zu ihm auf. „Und was sollen wir deiner Meinung nach jetzt tun?“ „Oh, ich wüßte schon, was“, erwiderte Nicholas. „Und zwar das hier.“ Er beugte sich über sie und berührte ihren Mund ganz leicht mit den - 125 -
Lippen. Dann zog er sie an sich und drückte ihr seine Wange ins Haar. So verharrte er eine ganze Weile, machte sich klar, daß er nicht träumte, und gab sie schließlich zögernd frei. „Ich glaube, es wird Zeit, daß ich dich nach Hause bringe“, erklärte er mit einem Blick auf ihr von Erschöpfung gezeichnetes Gesicht. „Wenn ich's mir recht überlege, war der Tag nämlich ganz schön anstrengend.“ Sie ließ ihn nur ungern los. Trotz ihrer Müdigkeit hatte seine Berührung in ihr ein Feuerwerk an Gefühlen ausgelöst, und sie fragte sich, ob er genauso empfand.
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11. KAPITEL Vorsichtig stellte Sarah ihre Kaffeetasse ab und sah Sam Bascomb entgeistert an. T. J. war in aller Frühe hier gewesen, hatte sie gründlich ausgefragt und war wieder gegangen. Daß der Sheriff ebenfalls auftauchte, bevor Sarah wenigstens frühstücken konnte, war ungewöhnlich genug. Aber was er gerade gesagt hatte, war wirklich unglaublich. „Du mußt dich irren, Sam. Warum sollte mir jemand Schaden zufügen wollen? Es war ein Unfall, was anderes kann es nicht gewesen sein.“ „Da bin ich mir nicht so sicher, Sarah. Für meinen Geschmack häufen sich die Unfälle in der letzten Zeit zu sehr.“ Er musterte sie unter zusammengezogenen Brauen. „Und sie sind alle passiert, nachdem dieser Fremde angefangen hat, nach dir zu suchen. Dabei hatte ich dich extra gebeten, vorsichtig zu sein.“ „Ach Sam.“ Sarah lächelte geduldig. „Ich weiß, wie sehr du Fremden mißtraust. Aber Nicholas ist über jeden Verdacht erhaben. Er hat mir das Leben gerettet. Ohne sein rasches Eingreifen hätte mich der Stier zu Tode getrampelt.“ „Was ist, wenn du dich irrst? Oft ist man Dingen gegenüber blind, die sich vor der eigenen Nase abspielen. Was will er noch, eine Geschichte über Monte Ne schreiben? Inzwischen hält er sich, schon so lange hier auf, daß die Zeit gereicht hätte, um die Stadt neu aufzubauen.“ „Der Artikel ist fertig und wird im September veröffentlicht, Sam. Jetzt macht Nicholas Urlaub.“ „Männer wie er machen nicht einfach Urlaub. Er hat was vor, Mädchen, sieh das endlich ein. Ich wette, daß er dabei nichts Gutes im Schilde führt.“ Sarah begann sich zu ärgern. „Du hast nicht zugehört, Sam. Es spielt keine Rolle, warum er hier ist. Nicholas will mir nicht weh tun. Niemand will das. Sonst wüßte ich Bescheid.“ „Das Argument zieht bei mir nicht, Sarah. Ich weiß so gut wie du, daß du die eigene Zukunft nicht voraussagen kannst. In diesem Punkt bist du genauso ahnungslos wie alle anderen.“ - 127 -
„Das stimmt, aber ich würde etwas spüren, das mich warnt“, widersprach sie. „Nur wenn du etwas dagegen machen kannst. Außerdem achtest du meistens nicht darauf.“ „Diese Unterhaltung ist albern, Sam. Mir will niemand etwas zuleide tun. Niemand. Am wenigsten der Mann, der sein eigenes Leben riskiert hat, um meins zu retten.“ „Hast du dir schon mal überlegt, daß das vielleicht gar kein Risiko war?“ „Hältst du es für ungefährlich, zu einem wütenden Stier in den Pferch zu gehen?“ fragte Sarah zurück. „Aha, du gibst immerhin zu, daß dir Gefahr drohte.“ „Natürlich, aber das hat niemand gewollt. Nicholas war genauso bedroht und hat mir trotzdem geholfen. Selbst wenn du der festen Überzeugung bist, daß mich jemand absichtlich hineingestoßen hat, mußt du mir erst mal erklären, warum das ausgerechnet Nicholas gewesen sein soll.“ Sams Augen funkelten triumphierend. „Der Bursche hat genau gewußt, was er tat. Zumindest hat er dem Personal erzählt, daß er in Südamerika mal Bullen gezähmt hat. Also hat er gestern gar nichts riskiert. Er mußte nur noch dafür sorgen, daß sein Auftritt echt wirkte, damit ihn niemand verdächtigte.“ „Sam... „ Er merkte, daß er sie überfordert hatte. „Tut mir leid, Sarah, ich will dich nicht ärgern. Irgend etwas geht vor. Ich bin zwar kein Seher, aber ich kläre seit über dreißig Jahren Verbrechen auf. Ich weiß, wenn eine Sache faul ist. Gestern abend bist du gerade noch einmal davongekommen. Das ist das dritte Mal in diesem Sommer.“ Sam zählte auf: „Zuerst der Vorfall am Bald Mountain, dann die Betonplatte in Monte Ne, jetzt der Stier. Einmal wäre ich bereit, an Zufall zu glauben. Vielleicht auch ein zweites Mal, aber nicht drei. Und jedesmal war dieser Journalist dabei.“ „Am Bald Mountain saß ich mit T. J. im Wagen.“ „Ja, nachdem du dich gerade erst am Indian Bluff von dem Fremden verabschiedet hattest.“ „Hätte ich dir doch nur nichts von dem Unfall im Freilichttheater - 128 -
erzählt erwiderte Sarah heftig. „Davon hätte ich auch ohne dich erfahren.“ Sarah sah ihm an, daß er sich ernsthaft Sorgen machte. Sie wußte, daß er Fremden gegenüber grundsätzlich mißtrauisch war. Außerdem war die Häufung der Unfälle wirklich ungewöhnlich. Aber in Monte Ne war sie von einer inneren Stimme gewarnt worden, und alles andere wer ohnehin gut ausgegangen. „Wir wissen, daß ein Blitz durchaus zweimal in denselben Baum fahren kann, obwohl das Sprichwort das genaue Gegenteil behauptet“, meinte sie freundlich. „Ein Tourist erkennt die Gefahr nicht und fährt zu schnell den Berg hinunter. Eine Steinplatte liegt zehn Jahre unter Wasser und löst sich aus den Verstrebungen. Eine Menschenmenge gerät in Panik und stößt dabei jemanden über den Zaun. Alle diese Unfälle lassen sich erklären.“ „Vielleicht, weil eine gründliche Planung dahintersteckt“, beharrte Sam. „Der Tourist pickt sich zufällig genau den Tag heraus, an dem du ebenfalls über die Hangstraße fährst. Die Platte löst sich ausgerechnet dort, wo du dich gerade ausruhst. Und von dreißig oder mehr Leuten, die um den Pferch herumstehen, stürzt niemand hinein, nur du. Und das ereignet sich alles innerhalb von zirka sechs Wochen. Blitze haben kein Lieblingsziel, Kleines. Irgend jemand beobachtet dich und schlägt zu gegebener Zeit zu.“ „Ich kann mich nicht vor zufälligen Unfällen schützen.“ Sarah seufzte. „Ach, was soll's, ich habe ohnehin keine Chance dich zu überzeugen, nicht wahr?“ „Genaugenommen nicht. Ich weiß, daß du deine eigene Zukunft nicht sehen kannst, und das macht mir Sorgen. Weißt du was? Ich werde diesen Journalisten überprüfen.“ Als sie protestieren wollte, winkte er ab. „Vielleicht irre ich mich, aber für mich ist er der Hauptverdächtige. Sicherheitshalber werde ich mir auch die Ewells vorknöpfen, obwohl sie seit Jahren keinen Ärger mehr gemacht haben. Ich werde das unterste nach oben kehren. Versprich mir nur eins, Sarah. Sei vorsichtig. Gib jemandem Bescheid, wenn du Mr. Matthias triffst. Ich werde ihm offen sagen, was ich denke. Wenn ich mich nicht täusche, wird er dann keinen neuen Versuch mehr wagen.“ - 129 -
Sarah hätte ihn gern umgestimmt. Sie wußte, daß er sich wegen Nicholas keine Gedanken zu machen brauchte. Sobald der von Sams Anschuldigungen erfuhr, hatte er allen Grund abzureisen. Er war ohnehin. schon länger geblieben, als sie gedacht hatte. Aber was sie auch sagte, Sam würde seine Meinung nicht ändern. Er trank seinen Kaffee aus und erhob sich. Das Angebot, ihn hinauszubegleiten, lehnte er ab. „Laß nur, ich finde den Weg allein. Du mußt erst mal in Ruhe frühstücken. Und vergiß meine Bitte nicht. Paß auf dich auf.“ Vielleicht ist es gut so, dachte sie. Ich habe von Anfang an gewußt, daß, ich mich irgendwann von Nicholas verabschieden muß. Als ihr klar wurde, daß das Unvermeidliche nun kurz bevorstand, umklammerte sie die Kaffeetasse mit beiden Händen. Mit dem Verstand konnte sie den Gedanken ertragen. Ihr Herz war nicht so leicht zu überzeugen. Vor dem Farmhaus stellte Nicholas den Motor ab und blieb noch eine Weile im Wagen sitzen. Einerseits war das Gespräch mit dem Sheriff ermutigend gewesen. Sam Bascomb war überzeugt, daß die sogenannten Unfälle absichtlich herbeigeführt worden waren. Das vermuteten auch Nicholas und T. J. Sarah dagegen war unbekümmert. Andererseits verdächtigte der Sheriff vor allem ihn. Das fand Nicholas lästig, aber auch verständlich. Er war der Fremde in dieser Stadt. Was sollte er tun? Bei jedem Treffen wuchs der Wunsch, sich Sarah anzuvertrauen. Aber wenn er ihr die Wahrheit sagte, wäre sie enttäuscht und verletzt. Am Ende schickte sie ihn fort. Fortschicken? Die Familie würde ihn mit Schimpf und Schande aus der Stadt jagen. Er hatte ihr Vertrauen mißbraucht. Falls er also bei Sarah bleiben wollte, mußte er den Mund halten. Er versuchte erst gar nicht, sich weiszumachen, daß er die Hintergründe des Geschehens aufdecken wollte. Ihm war völlig klar, worum es ihm ging. Er wollte auf Sarah aufpassen. Die Story war ihm nicht mehr wichtig, aber das Problem würde er mit seinem Agenten - 130 -
lösen müssen. Sich um Sarahs Sicherheit zu kümmern war nicht einfach, solange sie darauf bestand, nicht in Gefahr zu sein. T. J. hatte gesagt, daß ihre übernatürlichen Kräfte versagten, sobald es sie selbst betraf. Einen Grund für die Übergriffe hatte er allerdings auch nicht nennen können, obwohl Nicholas immer wieder in ihn gedrungen war. Der Sheriff wiederum machte Nicholas für die Taten verantwortlich. Somit lag der Schluß nahe, daß er ebenfalls keine Ahnung hatte, wer dahintersteckte. Nicholas blieb keine andere Wahl. Er mußte Sarah endlich fragen, was sie mit den Drohungen gemeint hatte. Dabei würde er ihr weitere Geheimnisse entlocken, ohne die eigenen preiszugeben. Langsam, ermahnte er sich. Geh Schritt für Schritt vor. Erster Schritt, deck die Hintergründe der Gefahr auf. Zweiter Schritt, sag ihr die Wahrheit über dich in der Hoffnung, daß sie dich versteht. Dritter Schritt... Er weigerte sich, darüber nachzudenken. Er war sich noch nicht einmal sicher, ob sie einen für beide annehmbaren Weg fänden, um sein und ihr Leben miteinander zu verknüpfen. Vor dem dritten Schritt mußte er abwarten, was sich aus den ersten beiden ergab. Nicholas stieg aus und zwang sich, sich zu entspannen. Wenn es selbst T. J. und dem Sheriff nicht gelungen war, Sarah von der drohenden Gefahr zu überzeugen, würde er das erst recht nicht schaffen. Vielleicht hatte er mehr Erfolg, wenn er das Thema beiläufig zur Sprache brachte. Aber als ihm Sarah dann gegenüberstand und er ihre von Schmerz umschatteten Augen sah, verwarf er die Idee wieder. „Was ist los, Sarah?“ Er zog sie an sich. Sarah schmiegte sich an ihn. Sie wollte die wohltuende Nähe noch ein bißchen genießen. In wenigen Minuten würde sie von Sams Verdacht erzählen, und Nicholas würde gehen. „Bitte sag etwas“, bat er. Sie löste sich schweren Herzens aus seinen Armen, wandte sich ab und trat ans Fenster. „Es ist wegen Sam“, meinte sie leise. „Er behauptet, gestern das sei kein Unfall gewesen.“ „Der Meinung bin ich auch.“ Sarah fuhr zu ihm herum. „Verstehst du denn nicht, Nicholas? Er hat dich im Verdacht.“ - 131 -
„Ich weiß. Das hat er mir heute morgen selbst gesagt.“ Sie starrte ihn so entgeistert an, daß er unwillkürlich auf sie zuging. „Ist das der Grund für deine Sorgen? Weil mich dein Freund auf seiner Liste möglicher Täter an die erste Stelle gesetzt hat? Wäre ich der Sheriff, würde ich genauso handeln. Ich bin fremd, ein Außenseiter in einer geschlossenen Gemeinschaft. Aber er hat erkannt, daß jemand versuchen könnte, dir etwas anzutun, und dafür bin ich ihm dankbar. Wir brauchen Antworten. Ich hoffe, der Sheriff wird welche finden.“ Sie lächelte. „Du bist genauso verrückt wie Sam. Es war ein Unfall. Niemand hat einen Grund, mir zu schaden.“ „Ich wünschte, du hättest recht“, sagte er. „Aber du irrst dich. Das mit der Betonplatte kann Zufall gewesen sein. Was gestern passiert ist, nicht. Das war Absicht.“ Sarah schwieg. Es irritierte, sie, daß Sam, T. J. und nun auch noch Nicholas darauf bestanden, sie sei in Gefahr. Sicher, sie bekam trotz ihrer Fähigkeiten kaum Hinweise auf die eigene Zukunft, und wenn, höchstens in letzter Minute. Aber sie hätte zumindest, ein leises Unbehagen spüren müssen, und das war nicht der Fall. Außerdem hätte Tante Cinda bestimmt etwas vorausgeahnt, selbst wenn Sarah nichts wußte. Nicholas hatte nur zwei Vorfälle erwähnt und den am Bald Mountain ausgelassen. Also hatte er davon noch nichts gehört. Nun, sie hatte nicht vor, ihm etwas zu erzählen. Das würde ihn nur noch in seiner Ansicht bestärken. Andererseits war er über Sams Verdacht nicht empört und hatte auch nicht vor abzureisen. Auf einmal fühlte sich Sarah schon viel besser. „Ich hatte Angst, du wärest wütend auf Sam und wolltest...“ „Gar nicht. Ich freue mich zwar nicht gerade, wenn mich jemand verdächtigt, der dich mag, aber ich kann es verstehen. Sam erledigt das offensichtliche zuerst, und das ist gut so. Er wird mich überprüfen und sich dann anderen Möglichkeiten zuwenden. War das der einzige Grund für deine Aufregung?“ „Ja“, gab Sarah zögernd zu. Kopfschüttelnd meinte Nicholas: „Wir kennen einander noch immer nicht richtig, stimmt's?“ Er trat zu ihr, zog sie an sich und küßte sie auf - 132 -
das seidig schimmernde Haar. Gestern abend hatte er befürchtet, sie nie wieder in den Armen halten zu können. Um so glücklicher war er jetzt, sie gesund und in Sicherheit zu wissen. Sarah fühlte, daß sie hierhin gehörte. Obwohl sie einander erst vor kurzem begegnet waren, glaubte sie in diesem Augenblick, er sei schon immer ein Teil ihres Lebens gewesen. Ihr Verstand sagte, ihr zwar, daß sie irgendwann wieder allein sein würde. Aber anstatt jetzt über das Morgen nachzudenken, wollte sie lieber das Heute genießen. Er preßte sie kurz an sich, dann lockerte er die Umarmung. „Ich hätte fast übersehen, daß, es in dieser Küche lebhafter zugeht als auf dem Hauptbahnhof“, scherzte er. „Falls du es noch nicht bemerkt hast, ich neige in deiner Gegenwart überhaupt dazu, alles um mich herum zu vergessen.“ Sarah konnte ihn gut verstehen, denn umgekehrt empfand sie genauso. Sie zweifelte nicht daran, daß die Familie wußte, was mit ihr los war. Trotzdem wurde nicht darüber geredet. Obwohl sie diese Zurückhaltung zu schätzen wußte, war ihr das jetzt nicht genug. Sie war unendlich erleichtert, daß Nicholas nicht abreiste. Jedenfalls noch nicht. Um so mehr sehnte sie sich in diesem Moment danach, mit ihm allein zu sein. „Wir machen ein Picknick am Fluß“, schlug sie vor. „Mir ist heute danach, ein bißchen zu faulenzen.“ „Sarah...“ Er zögerte. „Du hast schon etwas vor, meinte Sarah enttäuscht. „Nein. Oder doch.“ Nicholas holte tief Luft. „Ein Picknick am Fluß klingt verlockend, aber vorher muß ich mit dir noch über etwas anderes reden. Man brauchte keine übersinnlichen Kräfte, um zu merken, wie unbehaglich ihm zumute war. „Über ein Thema, das ich nicht mag“, riet Sarah. „Ja, aber es ist wichtig. Es geht um etwas, das du mal erwähnt hast. Und zwar, als du mir deine Fähigkeiten beschrieben und von deiner Vergangenheit erzählt hast.“ Sie wandte sich ab. „Du hattest recht. Das Thema mag ich nicht.“ Nicholas hätte gern eine Überleitung gefunden, um die Situation für Sarah erträglicher zu machen. Ihm fiel jedoch keine ein, und so - 133 -
beschloß er, einfach zur Sache zu kommen. „Tut mir leid, Sarah. Du hast damals gesagt, deine Kräfte könnten dazu führen, daß du bedroht wirst. Hat das schon mal jemand getan?“ „Ach nein, das war nur so eine Idee“, warf Sarah möglichst lässig hin. Sie sah Nicholas an, daß sie den gewünschten Tonfall nicht getroffen hatte. „Wenn es dir nicht ernst gewesen wäre, hättest du die Drohungen nicht an erster Stelle genannt. Entschuldige, daß ich dich danach frage. Die Antwort könnte wichtig sein.“ „Nur weil du, Sam und T. J. mir nicht glauben wollt.“ „Ich wünsche mir nichts sehnlicher, als daß du recht hast und wir uns irren. Bis wir das wissen, antworte mir zuliebe. Du hättest die Drohungen nämlich nicht ins Gespräch gebracht, wenn sie dir unwichtig gewesen wären. So, und jetzt sag mir bitte, was passiert ist. Wer hat dich wann bedroht?“ Sie fuhr herum und sah ihn an. Die eben noch empfundene Hochstimmung war erloschen. „Meistens weiß ich nicht, von wem es ausgeht“, gestand sie erbittert. „Sobald mein Name in der Zeitung steht, ist e s wieder soweit. Was glaubst du, warum ich mich verstecke? Man nennt mich eine Hexe oder Ausgeburt der Hölle. Manche sind erbost, weil ich nicht viel oder etwas nicht früh genug gesehen habe. Sah ich nichts, wurde mir auch schon unterstellt, ich hielte bewußt den Mund. Was ich auch tue, ich habe keine Chance zu gewinnen.“ Nicholas war blaß geworden und kämpfte gegen die Übelkeit an, die ihn zu überwältigen drohte. „Ich habe nicht gewußt, daß es so schlimm ist, Sarah“, verteidigte er sich. „Habe ich dir nicht gleich gesagt, daß mich niemand versteht? Schluß jetzt, ich möchte nicht mehr darüber reden.“ Obwohl er ihr weh tat, durfte er nicht aufhören. Er mußte sie um ihrer selbst willen zwingen, ihm alles anzuvertrauen, und konnte nur hoffen, daß sie, ihn am Ende nicht haßte. „Verzeih mir, Sarah, aber das geht nicht. Denk gut nach. Irgendein Name wird dir bestimmt einfallen.“ „Warum tust du mir das an?“ Sie begann zu weinen. - 134 -
„Du willst es nicht wahrhaben, aber irgend jemand versucht, dir etwas anzutun. Das muß etwas damit zu tun haben, wer und wie du bist. Du mußt mir alles erzählen, Sarah. Zu deiner eigenen Sicherheit.“ Sie ließ sich erschöpft auf einen Stuhl sinken. „Glaub mir, ich habe meistens keine Ahnung, wer dahintersteckt. Die Briefe sind nicht unterschrieben, am Telefon wird kein Name genannt.“ „Meistens? Dann erzähl mir von denen, die selten sind.“ „Gibst du jemals auf?“ „Nicht solange du in Gefahr bist, Sarah. Ich sorge mich um dich. Bitte laß dir helfen.“ Sie zögerte. „Ich erinnere mich nur an ein oder vielleicht zwei Fälle. Meistens hatten die Ewells damit zu tun. Sam will sie sicherheitshalber überprüfen.“ Endlich kamen sie weiter. „Wer sind die Ewells?“ erkundigte sich Nicholas ruhig. „Sie wohnen oder wohnten im Nachbarbezirk. Zwischen ihnen und unserer Familie herrscht seit Generationen böses Blut. Ich weiß nicht, was den Ärger ausgelöst hat, denn er fing schon vor Tante Cindas Geburt an. Das Problem ist, daß wir ganz entfernt miteinander verwandt sind. Daher wissen die Ewells über die besondere Begabung in unserer Familie Bescheid. Sie sind, oft gekommen und haben Fragen gestellt, aber Tante Cinda hat nie etwas gesehen und ich auch nicht.“ Sarah lehnte sich zurück. „Ich habe keine Ahnung, ob der Streit dadurch entstanden ist oder ob wir aufgrund des Streits nichts erkennen können. In ihren Augen sind wir jedenfalls immer schuld, wenn ihnen ein Mißgeschick widerfährt. Davon lassen sie sich nicht Abbringen.“ „Wann ist das das letzte Mal passiert?“„ fragte Nicholas. „Vor fast zehn Jahren. Ich war damals noch ein Kind. Mit der Zeit ist die Familie kleiner geworden. Soviel ich weiß, sind die letzten Ewells vor ein paar Jahren nach Kalifornien umgezogen.“ „Warten wir also ab, was Sam über die Familie herausfindet. Du hast von zwei Fällen gesprochen. Was ist mit dem anderen?“ „Da bin ich mir nicht so sicher“, meinte Sarah zweifelnd. - 135 -
„Erzähl's mir trotzdem.“ „Ich habe vor drei Jahren mal in Tulsa unterrichtet. In der Zeit habe ich der Polizei Informationen über einen Unfall mit Fahrerflucht gegeben. Die einzige Zeugin konnte sich an nichts erinnern, bis sie unter Hypnose eine Autonummer nannte, die mit meinen Angaben übereinstimmte. Das ist bekannt geworden.“ „Wie ging es weiter?“ „Der Fahrer wurde gefunden, angeklagt und zu einer Haftstrafe verurteilt, obwohl er behauptete, sein Wagen sei gestohlen worden.“ „Und die Drohungen?“ drängte Nicholas. „Die folgten unmittelbar auf den Zeitungsartikel. Ich wurde aufgefordert, mein Teufelswerk nicht an unschuldigen Menschen zu verrichten und ähnliches. Lauter schmutziges Zeug.“ Er zwang sich, ruhig zu bleiben. „Hast du eine Ahnung, wer dahintergesteckt haben könnte?“ „Nur eine persönliche Vermutung“, gab sie zu. „Der Fahrer war nämlich sehr religiös. Schon fast fanatisch, und in den Briefen kam immer wieder der Teufel vor.“ „Was hat die Polizei dazu gesagt? Hielt sie einen Zusammenhang für möglich?“ „Ich habe ihr gar nichts davon erzählt.“ Nicholas war fassungslos. „Oje, Sarah. Du hast verschwiegen, daß dich jemand bedroht? Warum?“ „Ich konnte nichts beweisen. Außerdem hatte ich gerade erst traurige Berühmtheit erlangt. Noch mehr dieser Art hätte ich nicht verkraftet. „ Ihr stiegen Tränen in die Augen, und sie senkte rasch den Kopf. Aber Nicholas hatte genug gesehen. Plötzlich war ihm alles klar. Der Mann hatte Sarah zutiefst verletzt. So sehr, daß sie ihre Gefühle seitdem gegen alles abschirmte, was ihr eventuell weh tun konnte. Dieser Lump hatte einiges auf dem Gewissen. „Bist du endlich fertig?“ fragte Sarah. „Fast. Wie heißt der Mann, ist er noch im Gefängnis?“ „Ja, wahrscheinlich. Er kann daher mit den Vorfällen nichts zu tun haben, Seinen Namen habe ich vergessen.“ „Kein Problem, Sam wird ihn schon herausfinden.“ „Nein. Sam - 136 -
hat, keine Ahnung, und dabei soll es bleiben.“ „Sarah...“ Sie hob abwehrend die Hand. „Wenn du ihn einweihst, setzt du ihn nur auf die nächste falsche Fährte an, und ich bekomme wieder seine Ermahnungen zu hören.“ Ihre Augen schimmerten feucht. „Das ist mir ernst, Nicholas. Es gibt keinen Grund, Sam davon zu erzählen. Ich will nicht, daß er erfährt, was... Ich habe deine Fragen beantwortet. Versprich mir, daß du Sam nichts sagst, sonst... sonst...“ Nicholas überlegte fieberhaft. Er hatte einen Freund in Tulsa, der konnte der Sache nachgehen, während Sam die Ewells überprüfte. Auf die Art wurden immerhin gleich zwei verschiedene Spuren verfolgt. „Na schön, Sarah. Wenn du das wirklich willst, werde ich Sam nichts sagen. Ich werde mich selbst ein bißchen umhören.“ „Damit vergeudest du nur Zeit.“ „Das macht nichts. Warum bist du damals nach Tulsa gezogen? Ich dachte, du wolltest damals hier in der Nähe bleiben.“ „Mir wurde dort eine Stelle angeboten, und ich habe sie angenommen. An der Universität von Fayetteville finden jährlich Abschlußprüfungen für Lehrer statt. Viele bleiben, weil der Partner oder die Partnerin noch studiert. Andere wollen dort arbeiten, um nebenbei zu promovieren. Deshalb gibt es in der Gegend mehr Lehrer als freie Stellen. Außerdem war Tulsa zwar zu weit entfernt, um täglich hin- und zurückzufahren, aber am Wochenende konnte ich jederzeit nach Hause.“ „Waren für St. Louis ähnliche Gründe ausschlaggebend?“ Sarah war dankbar, daß Nicholas das Thema gewechselt hatte. „Nein. Ich wollte meine Flügel ausprobieren. Solange ich jederzeit hierhin zurück kann, werde ich allmählich mutiger. St. Louis ist nur zirka vierhundert Kilometer von hier entfernt.“ Die Flügel ausprobieren. Nicholas ließ den Satz in sich nachklingen. Er fragte sich, ob sich unter ihrer Heimatverbundenheit vielleicht eine heimliche Wanderlust verbarg. Der Gedanke wirkte wie ein Sonnenstrahl, der nach langer Nacht durch den Morgennebel dringt. Nicholas schmunzelte unwillkürlich. „Was denkst du gerade?“ fragte Sarah. Sie hatte, beobachtet, wie sich die verschiedenen Gefühle in seiner Miene widerspiegelten. - 137 -
„Lauter Unsinn.“ Plötzlich konnte er der Versuchung nicht widerstehen. Er küßte sie mitten auf den Mund. Sarah war verblüfft. „Ich finde, wir sollten hier nicht...“ „Bring mich nicht vom Thema ab“, unterbrach Nicholas lachend. „Ich lasse mich immer viel zu leicht von dir ablenken.“ Er ergriff ihre Hand, trat einen Schritt zurück und musterte schweigend ihr Gesicht. Sie erschauerte. Der liebevolle erwartungsvolle Ausdruck in seinen Augen verwirrte ihr die Sinne. Doch hinter dem unausgesprochenen Verlangen lag noch etwas anderes. „Ich habe eine Idee“, erklärte er. „Laß uns fortgehen.“ Sie musterte ihn verblüfft und schüttelte den Kopf. Je länger Nicholas über den spontan erfolgten Vorschlag nachdachte, desto besser gefiel er ihm. Sarahs Verfolger wußte immer, wo sie sich gerade aufhielt, und konnte daher nach Belieben eingreifen und wieder verschwinden. Nicholas mußte Sarah dazu bewegen, eine Zeitlang unterzutauchen, damit die Gleichförmigkeit des Alltags unterbrochen wurde. Dann hätten Sam und T. J. die Zeit, die sie brauchten. „Warum nicht?“ fragte er. „Nur für ein, zwei Tage. Komm mit mir, Sarah. Bitte. Drei Tage lang. Für ein verlängertes Wochenende. Am Montag sind wir wieder hier.“ „Aber wohin denn? Wieso?“ „Wir könnten nach Eureka Springs fahren. Aus verschiedenen Gründen.“ Er streifte ihr mit den Lippen die Wange. „Das geht nicht, Nicholas.“ „Vertraust du mir nicht?“ „Nein. Ja. Doch, natürlich“, antwortete sie stockend. Nicholas lachte leise. „Du bist einfach süß, wenn du so verwirrt bist. Deshalb ziehe ich dich auch so gern auf.“ Sie trat einen Schritt zurück. „In meinem Ferienhaus sind drei Schlafzimmer, und man kann jedes abschließen“, fügte er hastig hinzu. „Du hättest die freie Wahl zwischen Einzel- und Doppelzimmer. Kein Zwang, Sarah. Ich glaube, es täte dir wirklich gut, wenn du für ein paar Tage verreist, und ich wäre in der Zeit gern bei dir.“ - 138 -
Drei Tage ohne Familie, ohne Sorgen, allein mit Nicholas? Die Vorstellung war verführerisch. Sollte sie es wagen? Er hielt ihr die Hand hin. „Wie wär's mit einem Dinner im Basin Park Hotel? Ich versichere dir, du wirst es nicht bereuen. Wir werden uns prächtig amüsieren.“
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12. KAPITEL Nicholas hätte später nicht sagen können, wann er zum ersten Mal merkte, daß er und Sarah beobachtet wurden. Solche Dinge zu spüren hatte er als Journalist gelernt. Daher war er normalerweise stets darauf gefaßt, überwacht zu werden, auch wenn die inneren Alarmglocken noch gar nicht schrillten. Diesmal traf ihn das Gefühl unvorbereitet. Sie waren kurz vor Mittag in Eureka Springs eingetroffen, und alles war verlaufen wie geplant. Als Sarah ihm die Innenstadt zeigte, hatte Nicholas darauf geachtet, daß er an der Außenseite des Bürgersteigs ging. Sie waren Hand in Hand an den Häusern aus der Jahrhundertwende vorbeigeschlendert, die sich eng an den Berghang schmiegten. Vor einem Schaufenster mit Holzschnitzereien trat Nicholas unauffällig hinter Sarah. Eine Straße weiter bewunderte sie die Auslagen einer Galerie mit Kunstwerken aus buntem Glas, während Nicholas die sich in den Scheiben reflektierende Straße beobachtete. Auf dem Spaziergang durch einen kleinen Park neben der Hauptstraße durchforschte er die Gesichter der Entgegenkommenden nach irgendwelchen ungewöhnlichen Anzeichen. „Was ist los, Nicholas?“ fragte Sarah unvermittelt. „Wonach suchst du?“ „Nichts“, erwiderte er lächelnd. Er hatte Sarah nicht überzeugen können, ihre Miene blieb zweifelnd. Nicholas ließ den Blick über die Köpfe der Passanten hinweg zur kurvenreichen Straße wandern. Der Verkehr war dicht, die Autos kamen nur langsam voran. Er sah Kombi und Lieferwagen, die üblichen Familienlimousinen, daneben vereinzelte Sportmodelle. Keines der Fahrzeuge schien besonders bemerkenswert. Lediglich ein verrosteter alter Lieferwagen zog Nicholas Aufmerksamkeit, länger auf sich. „Was hast du, Nicholas?“ erkundigte sich Sarah. „Nichts. Ich dachte nur, ich hätte jemanden gesehen, den ich kenne.“ Sie sollte nicht merken, was ihn beschäftigte. Aber er wurde - 140 -
das Gefühl nicht los, beobachtet zu werden. Er sah noch einmal zur Straße. Der alte Lieferwagen verschwand gerade um eine Kurve. War er ihnen schon einmal begegnet? Wahrscheinlich. Nicholas mußte über sich selbst lachen. In Eureka Springs gab es nur diese eine Hauptstraße, und die meisten Autos schienen auf der meist vergeblichen Suche nach einem freien Parkplatz ständig hin- und herzufahren. „Ich habe nur daran, gedacht, wie gut dein Vorschlag war, am Stadtrand zu parken und von dort den Bus zu nehmen“, sagte Nicholas, und sie gingen Arm in Arm weiter. Sarah lächelte zu ihm auf. Sie freute sich, daß seine heitere Stimmung wiederhergestellt war. „Was machen wir jetzt?“ fragte Nicholas. Hoffentlich merkte sie nicht, welchen Gefühlsansturm sie mit ihrem Lächeln in ihm ausgelöst hatte. „Wußtest du schon, daß das Basin Park Hotel in den Hang hineingebaut wurde? Jede Etage hat einen eigenen Ein- und Ausgang zur Straße. Ich wollte schon immer mal im Erdgeschoß anfangen, in der ersten Etage wieder raus, in der zweiten wieder rein und so weiter. Bis ganz nach oben.“ Nicholas schmunzelte. „Das macht bestimmt Spaß. Gehen wir.“ Danach werden wir den Berg zur Hälfte bestiegen haben, fügte er im stillen hinzu. Er hatte zwar keinen eindeutigen Anhaltspunkt dafür gefunden, daß ihnen jemand folgte, aber er mochte sich trotzdem nicht leichtfertig über den Verdacht hinwegsetzen. Den Hang innerhalb eines Gebäudes hinaufzuklettern war ein gutes Ablenkungsmanöver. Im sechsten Stock wurde Nicholas einen rostigen Lieferwagen gewahr, der langsam am Eingang vorüberfuhr. War das derselbe gewesen wie vorhin? Er warf im letzten Moment einen Blick auf das Nummernschild. Aus Oklahoma also. Unwillkürlich legte er Sarah den Arm um die Schultern. Plötzlich wünschte er sich, sie wären nie nach Eureka Springs gekommen. Trotz aller Sorge bemühte er sich, die äußerliche Unbeschwertheit zu bewahren. Sie besuchten zahlreiche Boutiquen, besichtigten verschiedene Sehenswürdigkeiten und genossen die aus dem - 141 -
Stegreif aufgeführten Konzerte der Straßenmusikanten. Aber so sehr Nicholas auch versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, die innere Anspannung blieb. Selbst beim Dinner im eleganten Restaurant des Basin Park Hotels kehrte die lockere Atmosphäre zwischen ihm und Sarah nicht zurück. Als sie zu seinem Ferienhaus aufbrachen, war es längst dunkel geworden. Auf den ersten Blick sah das Blockhaus aus, als gehöre es seit Anbeginn der Zeit in diese Landschaft. Erst bei näherer Betrachtung fiel Sarah auf, daß es eins jener Fertighäuser war, aus denen die meisten Ferienhaussiedlungen in dieser Gegend bestanden. Es paßte gut zu dem dahintergelegenen Bergwald und bot einen wundervollen Ausblick auf den Kings River. Nicholas schloß auf, knipste die Lampe an und ließ Sarah eintreten. Der warme Schein tauchte das Zimmer in goldenes Licht. Vor dem offenen Kamin am anderen Ende des Raums stand eine bequeme Sitzgruppe, auf den Holzdielen lagen handgewebte Teppiche. Die Einrichtung vermittelte den Eindruck friedlicher Behaglichkeit. Erschöpft ließ sich Sarah auf einen Sessel sinken, streifte die Sandaletten ab und massierte sich die Füße. „Wanderschuhe wären besser gewesen“, stellte sie reumütig fest. „Jetzt weißt du auch, warum man Eureka Springs Little Switzerland nennt.“ Als Nicholas etwas sagen wollte, winkte sie ab und lehnte sich mit geschlossenen Augen zurück. „Ich möchte mich erst ein bißchen ausruhen. Im Moment bin ich sogar zu müde, um mich zu unterhalten.“ Sie spürte, daß sein Blick auf ihr ruhte. Dennoch zwang sie sich, gleichmäßig weiterzuatmen und ruhig zu bleiben. Ihre Gedanken drehten sich im Kreis. Daheim hatte die Aussicht auf dieses Wochenende ebenso verlockend auf sie gewirkt wie eine verbotene Frucht, nach der man sich schon immer gesehnt hat. Jetzt war sie allein mit Nicholas, ohne die vertraute Umgebung und ohne Angehörige. Angesichts dieser Wirklichkeit ließ die Begeisterung nach. Dabei hatte alles so gut angefangen. Sie waren ausgelassen gewesen wie Kinder, die unerwartet schulfrei bekommen. - 142 -
Dann war irgend etwas passiert, und Nicholas hatte sich immer mehr in sich selbst zurückgezogen. Warum? Hätte sie nicht mit ihm hierher fahren dürfen? Was erwartete er jetzt von ihr? Nicolas beobachtete sie eine Weile, dann nahm er schweigend ihre Reisetasche und ging hinaus in die Diele. Wäre er länger dageblieben, hätte er Sarah einfach hochgehoben und ins nächste Schlafzimmer getragen. Sie brauchte Zeit, Ruhe und Sicherheit. Vor allem Sicherheit. Und er brauchte Sarah. Bei dem Gedanken schnürte sich ihm die Kehle zu. Ihre Bedürfnisse zu stillen hieß, die eigenen zu unterdrücken. Er sah keine andere Möglichkeit, ihr zu helfen. Alles andere mußte warten. Auch das Gespräch, bei dem er ihr endlich die Wahrheit über sich selbst sagen wollte. Jetzt war sie immerhin erst einmal bei ihm. „Sarah, bist du wach?“ flüsterte er, als er wieder im Wohnzimmer war. Sie lag noch genauso da wie vorhin, als er sie allein gelassen hatte. „Natürlich, ich bin nur müde.“ Und ich muß mich verstecken, dachte sie. Solange sie die Augen nicht öffnete, konnte sie so tun, als sei alles in Ordnung. „Ich habe deine Reisetasche in dein Schlafzimmer gebracht. Es liegt etwas weiter vom Bad entfernt als das andere Gästezimmer, aber das Bett ist bequemer.“ Sarah sah ihn an. Ihr Schlafzimmer? Sie war gleichzeitig erleichtert und enttäuscht. Was hatte sie denn erwartet? Nicholas hatte von Anfang an klargestellt, daß er sie zu nichts zwingen wollte. Sie hätte also nicht überrascht sein dürfen, zumal er im Laufe des Abends immer nachdenklicher und stiller geworden war. Was sie irritierte, war seine zwischen Angriff und Rückzug schwankende Verhaltensweise und ihre eigene Unentschlossenheit. Er beobachtete ihr Mienenspiel, in dem sich das Hin und Her ihrer Gefühle widerspiegelte, und stöhnte leise auf. „O Sarah. Guck mich nicht so an.“ Erschrocken schmiegte sie sich noch enger in die Polster. „Verzeihung“, bat er. „Hinter uns liegen zwei anstrengende Tage. Du bist erschöpft. Das geht mir genauso. Ich wollte dir keine Angst - 143 -
machen.“ „Ist schon gut, Nicholas. Ich war wohl schon halb eingeschlafen und bin ein bißchen verwirrt, aber ich fürchte mich nicht vor dir. Ehrlich nicht.“ Nicholas schob die Hände in die Hosentaschen, wandte sich ab und trat ans Fenster. Draußen war alles finster. „Was hast du, Nicholas?“. „Nichts“, erwiderte er ruhig. „Es ist spät, und wir sind müde. Ich halte es für besser, wenn wir jetzt ins Bett gehen. Morgen unterhalten wir uns weiter.“ Er hörte, wie sie sich erhob, den Raum durchquerte und an der Tür innehielt. Etwas entspannter drehte er sich zu ihr um. Als er die Schatten unter ihren Augen sah, zuckte er innerlich zusammen. „Das Bad liegt hinter der ersten Tür links, dein Schlafzimmer am Ende des Flurs. Ich habe das Licht eingeschaltet.“ Sie nickte zögernd. „Danke schön. Ich finde mich schon zurecht. Gute Nacht, Nicholas.“ „Gute Nacht, Sarah. Schlaf gut.“ Er wartete, bis sie in ihrem Zimmer verschwand. Dann öffnete er geräuschlos die Haustür und trat hinaus auf die Veranda. Durch das offene Fenster schien der Mond, und eine leichte Brise bewegte die Vorhänge. Aus dem Wald erklang der Ruf eines Käuzchens. Sonst war alles still. Mit geschlossenen Lidern lag Sarah auf dem Bett und sah in sich hinein. Sie wartete auf das allumfassende Verständnis, das den Nebel der Ungewißheit in ihrem Inneren auflösen würde. Die Vergangenheit war noch nicht abgeschlossen, die Zukunft ungewiß und die Gegenwart ein sich überschneidendes geheimnisvolles Muster aus Gestern und Morgen. Alles schien stillzustehen und darauf zu hoffen, daß die Entwürfe der Vergangenheit vervollständigt werden, um die Zukunft bestimmen zu können. Sarah zwang sich, tief und gleichmäßig durchzuatmen, und versuchte den Traum zu verstehen, falls es überhaupt ein Traum - 144 -
gewesen war. Sie hatte sich schon oft gefragt, ob die nächtlichen Wachträume ein Produkt ihrer Phantasie waren, auf unbewußten Ängsten beruhten oder durch übersinnliche Kräfte hervorgerufen wurden. Die ihr durch diese Kräfte vermittelten Bilder erschienen oft unerwartet, waren aber immer deutlich und klar. Manche glichen einem einzelnen Schnappschuß in einem Fotoalbum, andere erfolgten in einer ganzen Serie wie Einzelaufnahmen zu einem Zeitlupenfilm. Sie erklärten sich nie von allein. Was vorher oder nachher geschah oder auch zum Zeitpunkt des Ereignisses selbst, war stets eine Sache der Auslegung. Auf jeden Fall wirkte Sarah in allen Szenen mit. Nicht persönlich, sondern stellvertretend für jemanden, der daran beteiligt war. Diesmal war alles anders. Die Bilder waren so unscharf, als läge ein Schleier darüber. Sie nahm selbst teil, nicht in der Rolle einer anderen Person. Auch Nicholas war da, wenn auch halb im Dunkel verborgen. Was völlig fehlte, waren Hinweise, an denen sie sich hätte orientieren können. Sie war auf sich allein gestellt. Sarah öffnete die Augen und richtete den Blick auf den Mondschein, der durch das Fenster ins Zimmer fiel. Da das Durcheinander verschwommener Bilder und wirrer Töne weder Hilfe bot noch Sinn ergab, versuchte sie einfach, es nicht zu beachten. Plötzlich hörte sie Tante Cindas strenge Stimme: „Eines Tages wirst du nicht wissen, was auf dich zukommt. Dann mußt du das Risiko auf dich nehmen, ohne dir deswegen Sorgen zu machen. Richte dich nur nach deiner inneren Stimme.“ Auf einmal war Sarah das Zimmer zu eng, Sie stand auf, streifte sich ihren weißen Bademantel über das Shorty und öffnete leise die Tür. Auf Zehenspitzen schlich sie an Nicholas Schlafzimmer vorüber ins Wohnzimmer, schob lautlos den Riegel an der Haustür zurück und ging auf die Veranda hinaus. Die Blätter rauschten im Wind. Aus dem Wald rief wieder das Käuzchen und erhielt Antwort von der anderen Seite des Flusses. Wie einfach und übersichtlich die Natur alles eingerichtet hatte. Das Weibchen gab ein Signal, das Männchen reagierte. Jedes Tier wußte instinktiv, woran es den Partner erkennen kann. Im stillen wünschte - 145 -
sich Sarah, genauso sicher zu sein. „Sarah?“ Nicholas löste sich aus dem Schatten des Hauses und trat zu ihr. Ohne darüber nachzudenken, ging sie auf ihn zu. Er wollte sie an sich ziehen. Doch dann besann er sich und legte ihr nur die Hände auf die Schultern. „Stimmt irgend etwas nicht, Sarah?“ Sarah erschauerte unter der Berührung. „Es ist alles in Ordnung sagte sie leise. „Ich wollte nur ein bißchen frische Luft schnappen. Entschuldige, daß ich dich geweckt habe.“ „Ich war wach.“ Er hatte seit einer Stunde hier draußen gesessen und gewartet. Sobald er überzeugt sein konnte, daß sie fest schlief, wollte er sich ebenfalls hinlegen. Er wußte nicht, ob er vorher genug Willenskraft hatte, um Sarah wirklich in Ruhe zu lassen. Zögernd ließ er die Hände sinken. Während sie sich innerlich gegen die Angst vor dem Alleinsein wappnete, rief das Käuzchen. „Hast du das gehört?“ fragte sie: „Das Männchen ist am Fluß. Horch.“ Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten. Offenbar hatte sich der Abstand zwischen den Vögeln verringert. „Da“, sagte Nicholas, „es hat den Ruf des Weibchens gehört. Jetzt fliegt es hin.“ Sie sah ihn an. In ihren Augen schimmerte ein warmer Glanz. Nicholas zauderte. Einerseits wollte er sie nicht drängen, andrerseits das klar Ersichtliche auch nicht leugnen. „Sarah?“ „Hör auf deine innere Stimme“, mahnten Tante Cindas Worte. Sarah sehnte sich nach Nicholas Nähe, wollte seinen Trost und seine Kraft spüren. Er war als Fremder hierher gekommen, und man hatte ihm mißtraut und ihn nicht verstanden. Aber er hatte nichts verlangt, nur darum gebeten, den Frieden zu erleben und zu begreifen, den er hier vorgefunden hatte. Der Wunsch war erfüllt worden. Er hatte nicht nur die Gegend kennengelernt, sondern auch Sarah, ihre Geheimnisse und Ängste, und war zu einem Teil von ihr geworden. Vor allem letzteres ließ sich nicht leugnen, aber aus irgendeinem Grund schien die Sehnsucht nach ihr erloschen. - 146 -
Das Käuzchen rief wieder, und die Antwort kam so schnell, daß Nicholas die beiden Vögel vor sich sah, wie sie nebeneinander saßen und ihre Rufe zum nächtlichen Himmel emporschickten. Unwillkürlich ahmte er den Laut mit leicht gespitzten Lippen nach. Sarah zögerte. Ob er sich dessen bewußt war oder nicht, er sehnte sich noch immer nach ihr. Er hatte sie gerufen, und sie wollte antworten. Bevor sie etwas sagen konnte, las er ihr die Antwort an den Augen ab. Er kämpfte mit sich. Der Zeitpunkt war ungeeignet. Sie brauchte Schutz vor ihm, vor sich selbst, vor dem Unbekannten, der sie bedrohte. Aber sie hatte seinen Widerstand überwunden, seine Vernunft besiegt, seine Sinne überwältigt. Er ergab sich in sein Schicksal und zog sie wortlos an sich. Nicholas beugte sich über Sarahs Mund. Er streifte ihn jedoch nur, ließ die Lippen zu ihrer Wange gleiten, über Nase, Stirn und Schläfen zu ihrem Haaransatz. Eine Weile genoß er den frischen Duft ihres Haars, dann liebkoste er ihr Ohr, das Ohrläppchen und verharrte schließlich in der Halsbeuge, wo das Pochen der Schlagader zu spüren ist. Bei alledem streichelte er ihr unablässig den Rücken, fuhr ihr mit den Händen über die verlockend geschwungenen Hüften und drückte sie an sich, bis ihr die Kraft seines Verlangens den Atem raubte. Seine Begierde war so groß, daß es fast weh tat. Er berührte ihre Zungenspitze mit seiner und kostete die Süße ihres Mundes aus. Als Sarah die Liebkosung erwiderte, erbebte er vor Lust. Er spürte, daß die Beine unter ihr nachzugeben drohten. „Halt dich an mir fest, Sarah. Keine Angst, ich bin hier. Ich bin ja hier.“ Sarah schmiegte sich an ihn, barg den Kopf an seiner Brust und sah zu ihm auf. Sie verschränkte die Hände hinter seinem Nacken. In seinen Armen lernte sie sich von einer neuen Seite kennen. Mit ihm zusammen war sie vollständig, ohne ihn nur ein Teil des Ganzen. Sie brauchte ihn, um ihre Bestimmung als Frau zu erfüllen. Eine Frau, die bereit war, ihr Wissen, ihre Bedürfnisse und ihre Gaben zu teilen. „Laß uns hineingehen“, bat sie kaum hörbar. Sie hatte ausgesprochen, was er gedacht hatte. Nicholas umfaßte ihre Taille, und sie kehrten eng aneinandergeschmiegt ins Haus zurück. - 147 -
Im Schlafzimmer öffnete er ihr den Gürtel, streifte ihr den Bademantel von den Schultern und ließ ihn auf den Boden gleiten. Nun hatte sie nur noch das fast durchsichtige Shorty aus spitzenbesetzter Seide an. Er trat einen Schritt zurück. „Wie schön du bist“, flüsterte er. Er löste den Blick nur von ihr, um sich seiner Kleidung zu entledigen. Schließlich war er bis auf einen knappen weißen Slip ebenfalls nackt. Sarah musterte ihn ausgiebig. Sie fing bei den breiten Schultern an, betrachtete seinen muskulösen Oberkörper, den flachen Bauch, die durchtrainierten Schenkel... Sie hob den Kopf und sah ihn verwundert an. Nicholas lachte leise. „Das ist nur eine äußerliche Andeutung dessen, wie sehr ich mich auch innerlich nach dir sehne. „Er nahm sie in die Arme und küßte sie. „Du bringst mein Blut in Wallung“, raunte er ihr ins Ohr, während er sie zum Bett trug. Ohne sie loszulassen, ließ er sich mit ihr in die Kissen sinken. „Ich habe es nicht gewußt, aber ich habe dich zeit meines Lebens gesucht.“ Als er sich über sie beugte, bot sie ihm die Lippen zum Kuß. Sie ließ ihm die Arme um den Hals gleiten und streichelte seinen Rücken. Mit einer fließenden Bewegung schob er ihr die zarten Träger des Shortys über die Arme nach unten, liebkoste ihren kleinen festen Busen und rieb die zarten Spitzen zwischen Daumen und Zeigefinger. Sofort verhärteten sich die rosigen Knospen und reckten sich ihm entgegen. Sarah erschauerte unter seinen Zärtlichkeiten. Sie klammerte sich an ihn und fuhr ihm mit der Zunge über die Lippen. Aus der sanften Liebkosung wurde rasch ein heftiger und leidenschaftlicher Kuß, bis beide außer Atem waren. „O Sarah, was mache ich nur mit dir?“ meinte Nicholas mit belegter Stimme. „Das ist doch ganz einfach“, erwiderte sie lächelnd. „Nimm mich.“ Die Worte klangen flehentlich und befehlend zugleich. Sie hob ihm die Hüften entgegen, damit er ihr das Shorty und den Bikinislip abstreifen konnte. Dann ließ sie die Hände zu seiner Taille gleiten, schob die Finger unter den elastischen Bund des Slips und schob ihn nach unten. Sie wollte Nicholas nahe sein, und dabei wirkte jeder Stoff störend. - 148 -
Nicholas stöhnte laut auf, während er mit den Lippen bereits wieder ihren Mund suchte. Er wollte, daß dieser Taumel der Leidenschaft ewig währte, und kostete die süße Qual aus bis an die Grenze des Schmerzes. Er legte sich mit seinem ganzen Gewicht auf Sarah, um das ungeduldige Begehren abzuschwächen, das sie beide zu verzehren drohte. Sie spürte seinen Atem auf ihrer Wange und grub ihm die Fingernägel in die Schultern. Sie tastete mit den Händen über seine erhitzte Haut und genoß den Schauer der Erregung, der ihn unter ihrer Berührung erbeben ließ. Sie bewegte sich unruhig unter ihm, rieb sich an ihm, sehnte sich nach ihm. Endlich hielt er es nicht länger aus. Er hob sich so weit an, daß sie die Beine spreizen konnte, und drang mit einem lustvollen Stöhnen in sie ein. Zuerst bewegte er sich provozierend langsam, aber sie ging so temperamentvoll auf ihn ein, daß sich das Tempo rasch steigerte. Schließlich bäumte sie sich unter ihm auf und warf den Kopf in den Nacken. Nicholas konnte sich nicht mehr länger zurückhalten, und Sekunden später mündeten die Gefühle unstillbarer Begierde in einer Explosion, die die beiden in die Unendlichkeit des Alls hinauszuschleudern schien. Befriedigt ließ sich Nicholas neben Sarah aufs Bett sinken und zog sie an sich. Auch draußen war alles still geworden, der Mond hinter dem Berg verschwunden. Im Schutz von Nicholas Arm schlief Sarah friedlich ein. Er langte mit einer Hand nach der Decke und breitete sie über sich und Sarah aus. Durch das Fenster wehte eine kühle Morgenbrise ins Zimmer, während am Himmel ein Stern nach dem anderen verblaßte und die Schwärze der Nacht einem lichten Grau wich. Nicholas bewachte Sarahs Schlaf. Nichts war schöner, konnte je schöner sein, als den neuen Morgen Seite an Seite mit ihr zu erleben. Beim ersten Mal hatte sie sich ihm hingegeben, weil sie seine Bestätigung und Anerkennung als Frau brauchte. Das Erlebnis war unvergleichlich schön und vollkommen gewesen. Diesmal hatte die Leidenschaft dem Feuer und Glanz eines weiß aufglühenden Sterns geglichen und sich in seine Seele eingebrannt, bis sie zu einem - 149 -
unveräußerlichen Teil seiner selbst geworden war. Jetzt wußte er, daß er Sarah liebte. Sie gehörte zu ihm, war so untrennbar mit seinem Sein verbunden wie das Herz in seiner Brust. Plötzlich wurde ihm eiskalt vor Angst. Selbst wenn sie seine Liebe erwiderte, würde sie ihm die wahren Gründe für seine Rückkehr nach Mountain Springs verzeihen? Konnte Sarah überhaupt einen Mann lieben, der sie belogen hatte, um hinter ihre Geheimnisse zu kommen und diese zu veröffentlichen? Er würde den Artikel natürlich nicht schreiben. Seit er wußte, wieviel Leid er ihr damit zufügen würde, war das für ihn keine Frage mehr. Das hatte nichts mit seiner Liebe zu ihr zu tun, sondern mit der Erkenntnis, wie schutzbedürftig sie war. Er war nicht der Typ, der sich für einen Scheck und eine Überschrift über alle Skrupel hinwegsetzt. Das war einer der Gründe, warum er unabhängig geblieben war. Wenn ein Herausgeber eine Story verlangte, ohne auf die Folgen für die Betroffenen Rücksicht zu nehmen, wollte Nicholas nein sagen können. Würde Sarah das verstehen? Vor allem, würde sie ihm vergeben, daß er so lange geschwiegen hatte? Sie hatte sich ihm rückhaltlos offenbart. Hätte sie von ihm nicht ein Gleiches verdient? Sag es ihr jetzt, sagte ihm sein Gewissen. Nein, das war unmöglich. Wenn sie ihn dann wegschickte, konnte er sie nicht mehr beschützen. Denn so sehr sie es auch leugnete, sie war in Gefahr. In dem Punkt vertraute er seiner Beobachtungsgabe und seinen Instinkten. Irgend jemand wollte ihr etwas antun. Nicholas mußte mit seinem Bekenntnis warten. Das Schicksal, das ihn zu ihr geführt hatte, würde ihm eine schönere Zeit nicht verwehren. Bis dahin mußten noch viele Schwierigkeiten überwunden werden. Mountain Springs war Sarahs Prüfstein. Ohne diese Stadt würde sie nie wirklich glücklich werden. Mit ihm in der Welt herumzureisen wäre kein Ersatz. Zu seinem Erstaunen stellte er fest, daß ihm daran ebenfalls nicht mehr viel lag. Die alte Wanderlust war zwar nicht völlig verschwunden, aber sie war nicht mehr so zwanghaft wie früher. Er hatte gefunden, was er gesucht hatte. Damit würden sie schon fertig. Er würde sich ein Problem nach dem anderen vornehmen und lösen. Das erste und wichtigste war - 150 -
Sarahs Sicherheit. Er zog Sarah unwillkürlich enger an sich. Sie murmelte etwas im Schlaf und bewegte sich unruhig. Nicholas lockerte den Zugriff ein bißchen und streichelte sie, bis sie wieder entspannt dalag. Er betrachtete lange ihre Lippen, die von seinen Küssen noch rot und geschwollen waren. Wie friedlich sie schlummerte und sich dabei vertrauensvoll an ihn schmiegte. Nicht einmal zwei Leben würden reichen, um genug von ihr zu bekommen. Er mußte es schaffen, die Bedrohung und Gefahr, in der sie schwebte, zu beseitigen und ihre Vergebung zu erlangen.
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13. KAPITEL Sarah parkte ihr Auto im Schatten einer überhängenden Eiche und betrachtete die Wolken, die sich im Südwesten gebildet hatten. Sie wußte aus Erfahrung, daß sie wahrscheinlich weder Regen noch Abkühlung bringen würden. Jedenfalls noch nicht heute. Als sie ausstieg, sprangen zu ihren Füßen in alle Richtungen Grashüpfer davon. Die hektische Betriebsamkeit erinnerte Sarah an den Zustand ihres Verstandes in den letzten zehn Tagen. Leider konnte sie sich über die wirren Gedanken nicht so erfolgreich hinwegsetzen wie über die Insekten. Sie schlug den steilen Pfad zu Tante Cindas Haus ein. Es würde schwer sein, der zielstrebigen alten Dame irgendein Zugeständnis abzuringen. Doch trotz dieser Herausforderung drehte sich ihr ganzes Denken um einen einzigen Punkt. Nicholas. Seit der Rückkehr aus Eureka Springs hatte sie ihn nur noch zweimal gesehen, obwohl sie fast täglich miteinander telefoniert hatten. Das war nicht das gleiche. Sie hatte nicht gewußt, wie sehr sie sich an seine Gegenwart gewöhnt hatte, an seine markanten Gesichtszüge, das liebevolle Lächeln und das Aufleuchten in seinen Augen, wenn er sie ansah. Manchmal könnte man meinen, die ganze Welt hätte sich gegen ein Treffen mit ihm verschworen. Zuerst war Sarah der Großmutter beim Einmachen zur Hand gegangen. Dann hatte sie Jimmy Joe gepflegt, der sich ein Zweitagesfieber zugezogen hatte. T. J. hatte um ihre Hilfe bei einem kranken Fohlen gebeten. Heute hatte sie endlich frei, Nicholas jedoch nicht finden können. In der letzten Zeit war er oft weggefahren, ohne zu sagen, wohin. Aber der geheime Nachrichtendienst in Mountain Springs hatte einwandfrei funktioniert. Es hieß, er sei in Fayetteville, in Rogers und einmal in Springdale gewesen. Heute morgen hatte Cousine Mabel am Telefon erzählt, sie hätte ihn gestern vor dem Gericht in Bentonville gesehen. Neugierig wie immer, hatte sie natürlich gefragt, was er da wollte. Das hätte Sarah nicht gesagt, auch wenn sie es gewußt hätte. Aber sie überlegte ebenfalls, was er vorhatte, denn von einer neuen - 152 -
Story war ihr nichts bekannt. Sarahs Hauptproblem war die Frage, inwiefern und ob sie überhaupt in seine Pläne für die Zukunft paßte. Ein einziges Mal hatte er nebenbei erwähnt, daß er in St. Louis ein größeres Apartment suchen wolle. Er hatte ihr erzählt, daß seines klein war und er sich selten dort aufhielt. Sarahs Vertrag mit der Schule lief dagegen erst nächstes Jahr aus. In zirka einem Monat würde sie daher nach St. Louis zurückkehren müssen. In Eureka Springs hatte es keinen Zweifel an der Beziehung zwischen ihnen gegeben. Sie waren meistens in Nicholas Ferienhaus geblieben und einander so nahe gewesen, daß Worte überflüssig waren. Der heutige Tag würde wahrscheinlich ebenso enttäuschend werden wie die letzten zehn. Bedrückt verließ Sarah den Pfad und betrat die Lichtung vor dem Haus ihrer Großtante. Sie hatten sich seit dem Picknick nicht mehr gesehen, nur T. J. war einmal hier gewesen. Er hatte erzählt, seine Großmutter benähme sich so rätselhaft und widerspenstig wie immer. „Wo steckt dein junger Mann?“ ertönte Tante Cindas energische Stimme schon aus der offenen Haustür, bevor Sarah die Veranda erreicht hatte. Sarah hatte nicht erwartet, Tante Cinda mit ihrem Besuch überraschen zu können. Aber mit dieser Begrüßung hatte sie erst recht nicht gerechnet. „Keine Ahnung.“ Sarah schob das Fliegenschutzgitter beiseite und trat ein. Die Großtante saß wie immer in ihrem Schaukelstuhl, diesmal ohne Schal. Den hatte sie über die Armlehne gehängt. „Wie geht es dir, Tante Cinda? Die Hitze ist fast unerträglich, nicht wahr?“ „Versuch nicht, das Thema zu wechseln, Sarah Jane. Wo ist dein Freund, Nicholas?“ „Ich weiß nur, daß er nicht in der Stadt ist.“ „Aha. Du leugnest also nicht mehr, daß er dein Freund ist. Das ist immerhin ein Fortschritt.“ Sarah küßte Tante Cinda auf die Wange. „Wenn du beschlossen hast, in Nicholas meinen Freund zu sehen, kann ich daran ohnehin nichts ändern. Weshalb sollte ich also widersprechen?“ - 153 -
„Ich brauchte nichts zu beschließen, Er gehört zu. dir. Das heißt, falls du ihn willst.“ „Du hast also nichts dagegen?“ fragte Sarah lächelnd. „Natürlich nicht. Es ist nicht gut, allein zu sein. Besonders nicht für Menschen wie dich und mich. Ich habe das leider erst erkannt, als Udell schon tot war. Deshalb sage ich es dir jetzt.“ Mit weicher Stimme fügte Tante Cinda hinzu: „Die Entscheidung liegt bei dir. Ich will mich nicht einmischen. Aber ich bin sicher, daß du jemanden brauchst. Eine alte Tante ist nicht genug, und Nicholas ist in Ordnung.“ „Ich mag ihn sehr“, gab Sarah leise zu. „Schwindel mich nicht an, Sarah Jane.“ Tante Cinda lachte leise. „Als ich jung war, hat man das anders genannt.“ Sarah stimmte in das Lachen ein. „Eigentlich wollte ich mit dir über etwas anderes reden, Tante Cinda.“ Sie ging zum Spülbecken auf der anderen Seite des Raums, nahm ein Glas vom Regal und hielt es unter den Aufsatz mit der Handpumpe. „Glaubst du, das wüßte ich nicht?“ meinte Tante Cinda mißbilligend. „Da du schon mal dabei bist, kannst du mir auch ein Glas Wasser bringen. Direkt aus der Quelle schmeckt es nämlich herrlich. So was Gutes findest du im Tal nicht.“ „Dafür muß man dort im Winter das Eis nicht mit der Spitzhacke losschlagen“, entgegnete Sarah. Die Großtante seufzte. „Ich weiß. Aber du mußt zugeben, daß es an einem heißen Sommertag nichts Erfrischenderes gibt als klares kaltes Quellwasser.“ „Ja du hast recht“, sagte Sarah zärtlich. „Und heute ist es besonders heiß.“ Sie füllte zwei Gläser, reichte Tante Cinda eins und setzte sich ihr gegenüber auf einen Stuhl. „Mit der Zeit ändert sich alles“, erklärte Tante Cinda. „Als mein Daddy, dein Urgroßvater, dieses Haus damals direkt über einer Quelle gebaut hat, haben ihn alle für verrückt erklärt. Aber er hat sich nicht beirren lassen, und bald haben es andere nachgemacht und ihre Häuser auch über einer Quelle errichtet. Mama war sehr stolz, daß sie die erste war, die im Haus fließendes Wasser hatte. - 154 -
Ich möchte wetten, daß nicht mehr viele Brunnen übrig sind, die noch funktionieren. Inzwischen dreht man einfach an einem Hahn, und das heiße oder kalte Wasser kommt aus der Leitung, wie man es gerade haben will.“ „Du wirst sehen, das ist sehr bequem“, warf Sarah ein. „O ja, davon bin ich überzeugt. Und meine alten Knochen können ein bißchen Bequemlichkeit gebrauchen. Aber ich werde das Haus vermissen. Ich wohne hier, seit ich sechs war. Gertie war damals, noch gar nicht geboren. Die besten Jahre des Jahrhunderts habe ich auf diesem Berg verbracht. Viele Menschen leben gar nicht so lange und erst recht nicht an ein und demselben Ort. Ich bin hier sehr, sehr tief verwurzelt.“ Sarah tätschelte ihr die Hand. „Ich weiß, wie schwer das für dich sein muß, Tante Cinda. Vor allem am Anfang. Aber allmählich wirst du dich daran gewöhnen.“ „Das ist mir klar. Im Grunde freue ich mich ja auch schon auf meine neue Umgebung. Das habe ich dir doch erzählt.“ „Stimmt.“ Sie zögerte. „Tante Cinda, was das neue Haus betrifft...“ „Ja? Was ist damit?“ „Na ja, ich habe es nicht gefunden und T. J. auch nicht. Aber die Zeit wird immer knapper.“ „Ach, so ein Unsinn. Wir haben Zeit genug. Oder hast du etwa das Gefühl, daß es morgen schneien könnte? Wie gesagt, wenn ich es brauche, wird es dasein.“ „Aber...“ „Nichts da. Hör endlich auf, dir meinetwegen den Kopf zu zerbrechen. Kümmer dich lieber um deine Angelegenheiten. Ich kann allein für mich sorgen. Tu nicht immer, als müßtest du mich bewachen wie eine Glucke ihr Küken. Ich habe deine Windeln gewechselt, als du noch nicht einmal deinen eigenen Namen kanntest, und könnte das jederzeit wieder tun, wenn es sein muß. Vergiß das nicht. Es wäre mir allerdings lieber, wenn es sich dabei um deine Babys und nicht um dich selbst handelt. Ich kann Babys saubermachen, aber keine mehr bekommen. Das ist deine Aufgabe, und damit solltest du dich auseinandersetzen. Nicht mit einer alten - 155 -
Lady.“ „Tante Cinda! „ rief Sarah teils belustigt, teils entsetzt. „Sarah Jane!“ ahmte die Großtante sie nach. „Denkst du ich bin von gestern? Ich brauche keine Seherinnenfähigkeit um zu wissen, was dich beschäftigt. Außerdem finde ich ohnehin, daß es höchste Zeit ist. Von mir aus kannst du jetzt ruhig sagen, daß mich das nichts angeht. Das Recht dazu hast du. Aber falls du mit jemandem sprechen möchtest, bin ich jederzeit für dich da. Du hast wahrscheinlich schon gemerkt, daß mir der junge Mann sympathisch ist.“ Lächelnd beugte sich Sarah vor und umarmte Tante Cinda. „Wenn es so weit ist, bist du sicher die erste, an die ich mich wenden würde. Das weißt du doch. Aber das hängt nicht nur von mir ab.“ „Erwidert er deine Zuneigung nicht?“ „Doch, ich glaube ja. Sicher bin ich mir nicht. Jedenfalls nicht, ob seine Gefühle dauerhaft genug sein werden. Er hat sich dazu noch nicht geäußert, und ich kann seine Gedanken nicht lesen.“ „Hab ein bißchen Vertrauen, Sarah Jane. Zu dir selbst und auch zu dem jungen Mann. Im Buch der Bücher steht, daß Glaube Berge versetzen kann. Das darfst du nie vergessen.“ „Ich werde daran denken, Tante Cinda.“ „Sehr gut. Hol mir bitte noch ein Glas Wasser. Dann machen wir es uns gemütlich und unterhalten uns noch etwas über andere Dinge. Ab und zu plaudere ich ganz gern ein bißchen. T. J. kann interessant erzählen, aber es gibt doch noch andere Themen als kranke Pferde und das Heumachen auf der Südweide.“ Am Nachmittag darauf sah Sarah, wie T. J. aus dem Lebensmittelladen kam. Sie wartete vor der Post, bis er sie eingeholt hatte. „Hast du gestern bei Großmutter etwas erreichen können?“ fragte er ohne Einleitung. Sarah bedauerte. „Nicht viel. Sie behauptet immer wieder, sie - 156 -
könne allein für sich sorgen. Ich habe ihr, gesagt, daß wir das. Haus nicht gefunden hätten, von dem sie spricht. Wenn ich es brauche, wird es dasein, hat sie erwidert. Aber ich habe das Gefühl, daß sie dem Umzug nicht mehr ganz abgeneigt ist.“ „Fürs erste müssen wir uns damit wohl zufriedengeben. Ich weiß nicht, Sarah. Vielleicht sollten wir wirklich aufhören, uns deswegen Sorgen zu machen. Sie hat meistens recht.“ „Das stimmt.“ Sarah lachte. „Und falls meine sorglose Miene so aussieht wie deine, fällt auf uns nicht einmal eine Fliege herein.“ T. J. verzog die Mundwinkel zu einem schiefen Grinsen. „Wie wahr. Aber ich habe keine Ahnung, was wir noch tun können.“ „Geduld haben“, schlug sie vor. „Wie Tante Cinda gestern sagte, sieht es nicht so aus, als ob es bald schneien könnte. Bis dahin erledigt sich das Problem vielleicht von allein.“ „Schön wär’s.“ T. J. wechselte das Thema. „Wo ist Nicholas? Oder bist du allein in die Stadt gekommen?“ „Falls du es noch nicht bemerkt hast“, erwiderte Sarah schnippisch, „ich bin inzwischen ein großes Mädchen und kann seit geraumer Zeit allein entscheiden, wohin ich gerade will.“ Er ließ sich nicht beirren. „Mit anderen Worten, Nicholas ist nicht bei dir. Und Jimmy Joe oder Tante Gertie? Ach, zum Kuckuck, Sarah. Du hattest versprochen, vorsichtig zu sein.“ „Fang nicht schon wieder damit an.“ „Also, wo ist Nicholas?“ „Warum willst du das wissen, um dich am Dorfklatsch zu beteiligen?“ „Spar dir deine Sticheleien, Sarah. Du weißt genau, daß wir dir helfen wollen. Außerdem will Sam mit ihm sprechen.“ „Was will er denn von Nicholas?“ „Keine Ahnung. Guck nicht so ungläubig. Mir erzählt keiner was. Ich bin nur ein unschuldiger Zuschauer.“ „Ja, du und Bobby McGee. Wahrscheinlich geht’s wieder um die blöde Idee, daß Nicholas mich in den Pferch gestoßen hat.“ „Quatsch!“ protestierte T. J. „Nicholas ist in Ordnung. Sam hat mich nur gefragt, ob ich wüßte, wo er steckt.“ „Ja, und ihr kümmert euch mit Freuden gemeinsam um meine - 157 -
Angelegenheiten. Du und Sam und Nicholas.“ „Du und deine Angelegenheiten. Paß nur auf, Sarah. Du wirst meiner Großmutter mit jedem Tag ähnlicher.“ „Jedenfalls kann ich ihren Standpunkt immer besser verstehen“, fuhr sie ihn gereizt an und wandte sich ab. „Hey, was soll das, wohin willst du?“ „Zu Sam“, warf sie über die Schulter zurück. Sam wirkte nicht sonderlich erfreut über Sarahs Besuch. Anstatt zu lächeln, sah er ihr stirnrunzelnd entgegen. „Du scheinst dich richtig zu freuen, daß ich hier bin.“ „Natürlich freue ich mich.. Geht es um was Dienstliches, oder wolltest du nur mal vorbeischauen?“ Jetzt war Sarah sicher, daß irgend etwas nicht stimmte. „Das kommt darauf an“, erwiderte sie. „Du suchst Nicholas?“ „Ja.“ Er gab sich arglos. „Ich wollte nur mal mit ihm reden. Ist er mit dir in die Stadt gekommen? „Nein, ich bin allein hier.“ Sie musterte ihn eindringlich. „Was soll das alles, Sam?“ Er ging nicht darauf ein. „Allein? Verflixt, wir hatten abgemacht...“ „Du meinst, du, T. J. und Nicholas habt etwas abgemacht“, unterbrach Sarah ärgerlich. „Mich hat niemand gefragt. Ich will wissen, was du von Nicholas willst. Wenn du immer noch an die verrückte Idee mit dem Anschlag auf mich glaubst...“ „So abwegig ist sie nicht, Sarah, und es wäre besser, du nähmest sie ebenfalls ernst.“ „Das Rodeo war vor zwei Wochen, Sam. Seitdem ist nichts mehr passiert.“ „Weil du vernünftig warst und nie allein. Oder nur selten.“ .“Aber Nicholas war die ganze Zeit dein Hauptverdächtiger, nicht wahr? Oder waren das die Ewells?“ „Sowohl der eine als auch die anderen.“ „Ach so. Was machen die Ewells denn so?“ erkundigte sich Sarah betont unschuldig. „Denen geht’s gut, soviel ich weiß.“ Sam gab widerstrebend zu: - 158 -
„Die meisten leben allerdings in Kalifornien. Deshalb bin ich mit der Überprüfung noch nicht ganz fertig.“ „Aha. Und Nicholas?“ Sie ließ nicht locker. „Du hast nichts gefunden, stimmt’s? Keinen dunklen Fleck in seinem Leben, keinen heimlichen Grund, weshalb er mir etwas tun sollte. Sonst hättest du mir Bescheid gesagt.“ Sam mied ihren Blick. Sein Schweigen beunruhigte Sarah. „Dein Verdacht hat sich nicht bestätigt. Das weiß ich. Andernfalls hättest du mich benachrichtigt“, bekräftigte sie noch einmal. „Schon gut, du hast recht. Es gibt nichts, was ihn belastet. Aber das mußte ich erst überprüfen.“ „Das klingt, als hättest du deine Meinung über ihn inzwischen geändert“, stellte sie erleichtert fest. „Dir ist also endlich klargeworden, daß du dich geirrt hast.“ „Kann sein. Er hatte beredsame Fürsprecher, die Gutes über ihn ausgesagt haben. Du hast ihn oft getroffen, nicht wahr?“ „Als ob du das nicht längst wüßtest“, meinte Sarah gereizt. „Für so was hast du doch deinen persönlichen Geheimdienst.“ „Ich wüßte nicht, was dich berechtigt, so mit mir zu reden, Sarah Jane Wilson“, herrschte Sam sie an. Sarah starrte ihn entgeistert an. Diesen Ton war sie von ihm nicht gewöhnt. „Und ich wüßte nicht, was dich berechtigt, mir andauernd auszuweichen, Sam Bascomb“, entgegnete sie und versuchte gleichzeitig, die Panik niederzukämpfen, die sich ihrer zu bemächtigen drohte. „Dein Geschimpfe nützt dir gar nichts. Ich merke doch, daß du etwas vor mir verbirgst.“ Sie zwang sich tief durchzuatmen und fuhr ruhiger fort: „Du hast T. J. gesagt, du wolltest Nicholas sprechen. Wenn du mir in die Augen schauen und mir dabei versichern kannst, daß das nichts mit mir zu tun hat, lasse ich das Thema sofort fallen. Wenn nicht, sag mir, was los ist. Ich bin es leid, daß jeder meint, er wüßte genau, was für mich gut ist und was nicht.“ „Hör auf, Sarah“, bat Sam müde. Ihre Angst wurde immer größer. „Sam“, beschwor sie ihn. „Es gibt etwas, das ich deiner Ansicht nach nicht erfahren sollte. Aber - 159 -
meine Entscheidungen kann mir keiner abnehmen. Das weiß niemand besser als du. Je mehr du darum herumredest, um so sicherer bin ich, daß ich es wissen muß. Nur weil du Nicholas anfangs für den Täter gehalten hast...“ „Das habe ich nie behauptet. „Nicht wörtlich, aber du warst nicht weit davon entfernt.“ „Ich habe immer gesagt, daß ich mich irren könnte. T. J. mag ihn, und T. J. besitzt ziemlich viel Menschenkenntnis. Deine restliche Familie auch, und Hoyston hat sogar...“ „Sergeant Hoyston vom Police Department in St. Louis?“ Sarah wurde übel vor Schreck. Was hat der mit Nicholas zu tun?“ „Hoyston ist mein Kontaktmann in St. Louis, und Mr. Matthias hat erzählt, daß er aus St. Louis kommt. Da ist es doch nur natürlich, daß ich mich bei Hoyston nach ihm erkundige.“ Irgend etwas stimmte nicht an dieser Erklärung, das fühlte Sarah. „Was geht hier vor? Kennen sich die beiden?“ „Hör auf, Sarah. Ich will, erst mit Mr. Matthias sprechen.“ „Sag mir auf der Stelle, was los ist. Ich bestehe darauf.“ „Sarah“, begann Sam, aber sie winkte ab. „Je länger du schweigst, um so schlimmer wird es. Das haben wir oft genug erlebt. Ich will die Wahrheit wissen. Jetzt.“ „Na gut.“ Sichtlich niedergeschlagen zog er die oberste Schreibtischschublade auf, holte einen Schnellhefter hervor und schob ihn Sarah hin. Sie wagte kaum zu atmen, blätterte in den Unterlagen, betrachtete stumm die Zeitungsausschnitte mit den Fotos, las die Titel. Wahrsagerin als Betrügerin entlarvt. Hellseher hat Informanten an der Börse. Wunderheiler läßt Patienten sterben. Unter jeder Überschrift stand der Name des Autors. Nicholas D. Matthias. Die Buchstaben verschwammen Sarah vor den Augen. „Hat Hoyston dir das geschickt?“ „Nein. Er kennt Mr. Matthias“, gab er zu. „Sie sind miteinander befreundet. Aber er war nicht meine einzige Quelle.“ „Wie nennt man so jemanden wie Nicholas, Sam? Einen Meister der Magie?“ Ihre Stimme bebte. - 160 -
„Die Storys beweisen nichts, Sarah. Deshalb wollte ich ja mit ihm reden. Er hat einen guten Ruf, richtet sich nur nach Fakten, überprüft alles persönlich und sehr genau.“ Er merkte, daß er es mit jedem Wort schlimmer machte, und schwieg. Sarah erhob sich und stützte sich mit beiden Händen auf der Schreibtischfläche ab. „Schon gut, Sam. Ich hätte eben von Anfang an auf dich hören sollen.“ „Warte, Sarah. Sprich erst mit ihm. Vielleicht...“ „Das werde ich ganz sicher tun. Leider wird er nicht viel dazu sagen können.“ „Das weißt du nicht. So wie es aussieht, ist er zwar deswegen gekommen. Aber er könnte seine Meinung geändert haben.“ „Das hätte er mir sagen können.“ Sie ergriff den Schnellhefter und ging zur Tür. „Ist das nicht komisch, Sam? Ich wußte nicht einmal, daß er zwei Vornamen hat. Was mag die Abkürzung wohl bedeuten?“
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14. KAPITEL Im Auto war es noch heißer als draußen. Sarah drehte die Seitenfenster herunter. Dabei glitt der Schnellhefter vom Beifahrersitz und klappte auf. Schwindel, Betrug, Trick, Gaunerei, stand dort in großen Blockbuchstaben. Mit tränenblinden Augen starrte Sarah durch die Windschutzscheibe nach vorn. Von der anderen Straßenseite kam T. J. auf sie zugeschlendert. Aber sie wollte jetzt mit niemandem sprechen, auch nicht mit ihrem Cousin. Sie ließ den Motor an und lenkte den Wagen aus der Parklücke auf die Straße. Im Vorbeifahren winkte sie T. J. lächelnd zu. Zuerst war sie wie betäubt, dann wurde sie wütend. Wie hatte sie sich nur so irren können? Aber selbst Nicholas Gemeinheit konnte sein Bild nicht aus ihrem Gedächtnis löschen. Wie er sich über sie gebeugt, sie betrachtet und liebkost hatte. Lauter Lügen, nichts als Lügen. Die Erinnerung verstärkte das Gefühl, hintergangen worden zu sein. Sie versuchte, sich irgendeines Vorfalls zu entsinnen, der für Nicholas Treulosigkeit bezeichnend war. Doch so sehr sie sich auch bemühte, ihr fiel nichts ein. Eins stand jedenfalls fest. Nicholas war nach Mountain Springs gekommen, um sie aufzuspüren und des Betrugs zu überführen. Er hatte seiner Artikelserie eine weitere Story hinzufügen wollen. Hoyston mußte ihm einen Tip gegeben haben. Der Polizist hatte die Abmachung gebrochen und ihr damit den letzten Zufluchtsort genommen, an dem sie sich wohl gefühlt hatte. Für Nicholas mußte der Sommer enttäuschend gewesen sein. Nicht ein einziges aufregendes Geheimnis hatte er lüften können, keine Vortäuschung übernatürlicher Kräfte aufgedeckt. Ihre Seherinnenfähigkeit hatte geruht und ihr nicht den geringsten Hinweis auf die Katastrophe gegeben, die sich direkt vor der Haustür anbahnte. Sie ahnte eben selten Dinge voraus, die sie selbst betrafen. Sarah blinzelte gegen die Tränen an, die ihr die Sicht zu nehmen drohten. Daß alles gelogen war, hätte sie auch ohne ihre sogenannte Gabe erkennen müssen. Die Welt, die sie in Nicholas - 162 -
Armen erlebt hatte, war nicht für Menschen wie sie geschaffen. Das wußte sie schon lange. Mit der Geschichte über Monte Ne hatte Nicholas einen guten Köder für sie ausgelegt. Sie fragte sich, ob er schon vorher etwas über die alte Siedlung gewußt oder erst hier davon erfahren hatte. Aber das spielte jetzt keine Rolle mehr. Doch. Es gab etwas, das ihr auch in diesem Augenblick wichtig war. Die Familie. Ihre Angehörigen sollten nicht sehen, wie sehr sie litt. Sie würden Sarahs Unglück als ihr eigenes anerkennen und sich die Schuld dafür geben, was sie mitmachte. Wenn sie nur wüßte, was Nicholas vorhatte. Dann könnte sie sich etwas überlegen, um sich und die Verwandten vor dem Ärgsten zu schützen. Wieviel Zeit blieb ihr noch? Wann wollte er die Geschichte über sie veröffentlichen? Ihr war klar, was sie machen mußte. Wo immer er jetzt war, er würde irgendwann in sein Ferienhaus zurückkehren. Dort würde sie auf ihn warten, ihn zwingen, ihr seine Pläne zu verraten, und ihm offen ins Gesicht sagen, was sie von ihm hielt. Sarahs Mut sank, als sie Nicholas Jeep vor dem Haus entdeckte. Als sie jedoch den Schnellhefter mit den Beweisen an sich drückte, überwog der Zorn die Angst. Auf das erste Klopfen antwortete niemand. Also versuchte sie es erneut, diesmal lauter. Plötzlich wurde die Tür von innen aufgerissen, und Nicholas stand vor ihr. Er hatte Shorts an, Oberkörper und Beine waren nackt. Die Tropfen auf der Brust, das feuchte Haar und das lässig über die Schulter geworfene Handtuch zeigten, daß er geradewegs aus der Dusche kam. Sein Anblick tat ihr so weh, daß sie kein Wort hervorbrachte. „Sarah.“ Aus seinem Mund klang der Name wie eine Liebkosung. Er. trat beiseite, um Sarah einzulassen, und streckte die Arme nach ihr aus. „Ich habe nur rasch geduscht. Sobald ich fertig war, wollte ich zu dir auf die Farm fahren.“ Sie wich zurück. Nicholas ließ die Hände sinken und musterte Sarah prüfend. „Was ist passiert, Sarah?“ - 163 -
Wortlos reichte sie ihm den Schnellhefter und vermied jede Berührung. Er nahm die Unterlagen in die eine Hand und blätterte sie mit der anderen durch. Sein Gesicht wurde aschfahl. Als er wieder aufsah, stand in seinen Augen ein beinahe flehentlicher Ausdruck. „Sarah, bitte. Das habe ich nicht gewollt.“ „Natürlich nicht. Wahrscheinlich sollte ich es erst durch den Zeitungsartikel erfahren, nicht wahr?“ fragte sie tonlos. „Nein, du verstehst mich nicht. Ich wollte nicht...“ Sarah winkte ab. „O doch, ich verstehe dich sogar sehr gut, Nicholas. Du bist mir von St. Louis aus gefolgt, weil du eine weitere Geschichte für deine Unterlagen gesucht hast. Denn du schreibst Geschichten über Betrüger, die behaupten, übernatürliche Kräfte zu besitzen, oder nicht?“ „Nein“, sagte Nicholas und verbesserte sich: „Doch. Aber nur nebenbei. Normalerweise im Urlaub.“ „Ach so. Nebenbei. Als Ferienzeitvertreib.“ Ihre Stimme brach. Sie wandte sich ab und rang um Fassung. Als sie spürte, daß Nicholas mit erhobenen Händen näher kam, wirbelte sie zu ihm herum und fuhr ihn an: „Faß mich nicht an. Ich könnte es nicht ertragen, mich noch einmal von dir berühren zu lassen.“ Nicholas trat mit immer noch ausgebreiteten Armen zurück. „Warum, Nicholas?“ fragte Sarah. „Ich habe dir vertraut. War das nicht genug? Mußtest du auch noch dafür sorgen, daß ich mich in dich verliebte? Machst du das immer so, wenn du Informationen brauchst?“ Sie wartete, bis ihre Stimme wieder sicherer war, dann fügte sie leise hinzu: „Habe ich deine Erwartungen erfüllt und eine aufregende Story geliefert?“ Erst jetzt ließ Nicholas die Arme wieder fallen. „Ich habe gar nichts über dich geschrieben.“ „Merkwürdig“, meinte sie mit grimmigem Spott. „Aber aus irgendeinem Grund kann ich das nicht so recht glauben.“ „Sarah Schau mich an. Es gibt keine Story. Warum sollte ich lügen? Ich habe dich noch nie belogen.“ „O nein, noch nie. Du bist nur wegen der Geschichte über Monte Ne hierher gekommen. In deinem Wörterbuch wird das, - 164 -
Wort Lüge offenbar anders erklärt als in meinem.“ „Der Artikel über Monte Ne wird veröffentlicht. Mein Agent hat ihn bereits an einen großen Verlag verkauft.“ „Das ist völlig unwichtig.“ „Kann sein. Gut, ich gebe zu, daß ich nicht die ganze Wahrheit gesagt habe.. Aber ich habe nicht gelogen, Sarah. Seit ich dich kenne, weiß ich, daß ich über dich keine Story schreiben kann. Ich habe dir nie weh tun wollen.“ Ungeweinte Tränen brannten Sarah in den Augen. „Klar. Wer's glaubt, wird selig.“ „Das ist mir ernst, Sarah. Ich wollte mit dir darüber reden, aber ich habe nie den richtigen Zeitpunkt erwischt.“ „Das nehme ich dir unbesehen ab. Es ist immer schwer, den richtigen Zeitpunkt für ein Geständnis zu finden, wenn man jemanden betrügt.“ „So war das nicht gemeint. Immer wenn wir zusammen waren, gab es etwas Wichtigeres zu besprechen oder zu erledigen, als über Artikel zu reden, die ich irgendwann verfaßt habe. Artikel, die nichts mit unserer Beziehung zu tun hatten.“ „Wirklich nicht? Das sehe ich anders.“ Nicholas hielt Sarah den Hefter hin. „Hast du sie gelesen?“ „Ein paar.“ „Diese Leute waren ausnahmslos Betrüger und haben die Gutgläubigkeit anderer Menschen ausgenutzt. Nicht eine dieser Geschichten enthält Gerüchte. Ich habe alles genau überprüft. Diese Gangster hatten es verdient, entlarvt zu werden.“ „Mit dem Ziel bist du auch nach Mountain Springs gekommen. Du wolltest mich überprüfen. Wie gesagt, hat es sich gelohnt?“ „Du bist keine Schwindlerin. Nicholas trat einen Schritt auf sie zu. „Du bist ehrlich, Sarah. Der ehrlichste, wichtigste Mensch, der mir je begegnet ist. Es tut mir leid, daß du auf diese Weise von den Geschichten erfahren mußtest. Das ist mein Fehler. Wenn ich es dir selbst erzählt und alles erklärt hätte, wären sie dir unwichtig gewesen. Sie sind auch jetzt nicht wichtig und werden es für uns nie sein. Vertrau mir.“ Sarah floh zur Tür. „Dir vertrauen? Einmal und nie wieder.“ - 165 -
„Hör mir doch endlich mal zu, Sarah. Bitte. Ich habe dich nicht hintergangen. Die Geschichten stammen aus einer Zeit, als ich dich noch nicht kannte. Sie haben nichts mit uns zu tun.“ Leise fuhr er fort: „Ich will dir freiwillig etwas erzählen, was ich nicht erzählen müßte. Nachdem ich dich kennengelernt hatte, war ich erst recht entschlossen, von dir zu berichten. Du warst der erste Mensch, der tatsächlich übernatürliche Fähigkeiten besaß. Als mir klar wurde, welche Folgen das für dich haben würde, verwarf ich die Idee. Die Geschichte wäre ein durchschlagender Erfolg, aber ich werde sie nie schreiben. Bitte lauf nicht weg, Sarah. Wirf nicht fort, was uns verbindet. Schenk mir Vertrauen.“ „Ich kann nicht.“ Sie öffnete die Tür und ging hinaus. „Sarah!“ Nicholas lief ihr nach. Auf der Veranda hatte er sie fast eingeholt, doch dann warf sie einen Blick zurück. In ihren Augen stand nackte Angst. Er hielt abrupt inne und sah ihr mit schmerzverzerrter Miene nach. Erst als sie im Auto saß und gesehen hatte, daß er stehengeblieben war, rief er ihr zu: „Denk darüber nach, Sarah. Bitte. Ich werde dir jetzt nicht folgen. Aber das ist nicht das Ende. Ich komme wieder.“ Er mußte ihr Zeit lassen, damit sie sich alles noch einmal in Ruhe durch den Kopf gehen lassen konnte, bevor sie sich wiedersahen. So leicht gab er nicht auf. Das würde, das mußte sie verstehen. Sie war doch sein Leben... Nicholas fuhr am Farmhaus der Shields vorbei und hielt nach T. J.s altem Lieferwagen Ausschau. Als er ihn neben der großen Scheune entdeckte, stellte er den Motor ab und ließ den Jeep ausrollen, bis er vor dem Zaun stehenblieb. Der Gedanke an das bevorstehende Gespräch war nicht besonders erfreulich, aber Nicholas hatte leider keine andere Wahl. T. J. war der einzige, an den er sich mit seiner Bitte wenden konnte. Das heißt, falls er ihn dazu brachte, ihm zuzuhören. T. J. hatte Nicholas Ankunft offenbar bemerkt und trat ihm am Scheunentor entgegen. „Verschwinde. Ich habe dir nichts zu sagen. Wenn du dir einen Gefallen tun willst, verläßt du auf dem - 166 -
schnellsten Weg die Stadt.“ Eine Begrüßung in dieser Art hatte Nicholas erwartet, aber er mußte es trotzdem versuchen. „Wenn du möchtest, daß ich gehe, wirst du mir erst zuhören müssen, T. J. Sarah weigert sich, mich zu sehen. Deshalb fällt meine Wahl auf dich. Irgend jemand muß auf sie aufpassen.“ T. J. rammte die Heugabel in den Boden und stützte sich auf den Griff. „Was geht dich das an? Bist du noch nicht zufrieden, hast du sie noch nicht genug gequält?“ Obwohl Nicholas wußte, daß T .J. ihm nicht glaubte, sagte er ruhig: „Denk von mir aus, was du willst, aber ich wollte Sarah nie weh tun.“ „Ach. Fast hätte ich's geglaubt. Wenn am Ende eine gute Story dabei herauskommt, sind alle Mittel recht, was?“ „Das stimmt nicht“, protestierte Nicholas. „Wer kann das schon beurteilen? Ich nicht, und Sarah auch nicht. Ich weiß nur eins. Sarah ist so verletzt, daß wir ihr nicht einmal helfen können. Vielleicht hast du das wirklich nicht gewollt. Aber man sagt, der Weg zur Hölle ist mit guten Vorsätzen gepflastert. Mach, daß du wegkommst, Nicholas, und zwar schnell. Sonst vergesse ich, daß ich Sarah versprochen habe, dich nicht in der Luft zu zerreißen.“ Der letzte Satz ließ Nicholas Hoffnung schöpfen. Doch dann fiel ihm ein, daß Sarah wahrscheinlich nicht ihn, sondern ihren Cousin vor Unheil schützen wollte. „Ich werde keinen Artikel über Sarah schreiben.“ „Das ändert nichts an der ursprünglichen Absicht.“ „So kommen wir nicht weiter, T. J. Ja, ich habe Sarah sehr weh getan. Damit müssen wir uns auseinandersetzen, Sarah und ich. Das Problem müssen wir unter uns lösen. Trotzdem ist ihr klar, daß ich nie versucht habe, ihr körperlichen Schaden zuzufügen. Irgend jemand hatte das vor. Oder glaubst du, das mit der Betonplatte oder der Vorfall beim Rodeo seien normale Unfälle gewesen?“ Er beobachtete, wie die Kampflust aus T. J.s Miene wich, und zwang sich, seine Antwort geduldig abzuwarten. „Nein. Das kann ich mir nicht vorstellen, und die Sache mit dem - 167 -
verrückten Touristen war bestimmt auch keiner. „Wie meinst du das?“ „Hat sie dir denn nicht erzählt, was passiert ist, als ich sie damals am Indian Bluff abgeholt hatte?“ „Nein“, erwiderte Nicholas entsetzt. „Was denn?“ „Auf der Rückfahrt über den Bald Mountain hat jemand versucht, uns von der Straße abzudrängen. Ich hatte erst gedacht, das sei irgendein dämlicher Tourist gewesen. Aber nach den anderen Zwischenfällen erscheint mir das unwahrscheinlich.“ „Ja, das kenne ich. Einen Zufall nimmt man noch hin. Aber mehrere hintereinander nicht.“ „So sehe ich das auch.“ T. J. starrte eine Zeitlang unentschlossen auf seine staubigen Schuhspitzen. Als er aufsah, war die Feindseligkeit aus seinem Blick verschwunden. „Na gut. Was schlägst du also vor?“ „Ich muß nach Tulsa“, erklärte Nicholas erleichtert. „Paß gut auf Sarah auf. Sie darf die Farm nicht allein verlassen. Sprich mit Sam. Ich glaube, er hält mich inzwischen nicht mehr für den Täter. Er wird dir helfen, aber im Unterschied zur Familie kann er Sarah nicht rund um die Uhr bewachen.“ T. J. betrachtete ihn aufmerksam. „Was willst du in Tulsa? Vor ein paar Jahren hat Sarah dort große Probleme gehabt.“ „Ja, und ich möchte mehr darüber erfahren. Aber auf die Entfernung ist das schwierig.“ „Wehe, du quälst sie mit deiner Schnüffelei noch mehr.“ Nicholas merkte, daß T. J. wieder mißtrauisch geworden war. „Weißt du, was damals passiert ist?“ „Nicht genau“, gab T. J. zu. „Es ging um irgendeinen Mann. Zuerst war Sarah glücklich, aber nach ein paar Wochen kam sie am Boden zerstört heim. Es war fast so schlimm wie diesmal“, fügte er hinzu, ohne seine Abscheu zu verbergen. „Hat sie dir was von den Drohungen erzählt?“ T. J. wurde blaß. „Nein. Verflixt, wenn sie schon nichts gesagt hat, hätte Sam uns wenigstens informieren müssen.“ „Sam weiß nichts. Vor allem nicht, daß Sarah ahnt, wer - 168 -
dahintersteckt. Anscheinend erlebt sie das jedesmal, wenn was an die Öffentlichkeit dringt. Ich mußte ihr versprechen, Sam nichts zu verraten.“ Nicholas musterte T. J. nachdenklich. „Die Drohungen hingen irgendwie mit einem Fall von Fahrerflucht zusammen. Der Täter wurde verurteilt, und die Sache kam in die Zeitung. Ich möchte herausfinden, ob da irgendeine Verbindung besteht. Sarah meint, sie hätte keine Beweise, nur eine Vermutung, deshalb hätte sie nie etwas erwähnt. Ich möchte jeder noch so geringen Spur nachgehen. Falls irgend etwas passiert, wenn ich nicht hier bin...“ Er verstummte. Würde Sarah in diesem Gespräch einen neuen Vertrauensbruch sehen? Aber das spielte keine Rolle. Ihre Sicherheit ging vor. „Schau, T. J., Sarah hat mein Wort, daß ich Sam nichts sage. Deins nicht. Das heißt, falls sich irgend etwas Verdächtiges ereignet, wende dich an Sam und erzähl ihm alles. Er wird sich um Sarah kümmern.“ T. J. sah ihn zweifelnd an. „Das ist eine ausgesprochen dünne Fährte, nicht wahr?“ „Ja“, gestand Nicholas ein. „Die Ewells klingen vielversprechender. Aber die werden bereits von Sam überprüft.“ „Falls sich von denen jemand hier herumtreibt, hält er sich gut versteckt. Andererseits kennen sie die Gegend so gut wie die eigene Westentasche. Trotzdem würden sie nicht lange unentdeckt bleiben.“ „Ich würde einen Ewell auch dann nicht erkennen, wenn ich über ihn stolperte. Deshalb fahre ich nach Tulsa. So kann ich wenigstens etwas tun, und wenn ich damit nur eine der Möglichkeiten ausschließe. Vielleicht finde ich ja auch zufällig den verrosteten Lieferwagen aus Oklahoma.“ „Welchen Lieferwagen, was ist damit?“ „Keine Ahnung. Er ist mir ein paarmal in Eureka Springs begegnet. Ich war mir nicht mal sicher, ob es immer der gleiche war. Aber hinterher fiel mir ein, daß bei den Ruinen in Monte Ne ein Lieferwagen aus Oklahoma gestanden hatte, der dem in Eureka Springs zumindest sehr ähnlich sah.“ „Kannst du ihn beschreiben?“ drängte T. J. „Hm, es war ein älteres Modell, ziemlich mitgenommen und so - 169 -
rostig, daß man die Farbe des Lacks nicht mehr bestimmen konnte. Ich habe schon mehrere in der Art hier herumstehen sehen. Mit dem Unterschied, daß dieser weitaus älter war und trotzdem noch gefahren wurde. Warum, sagt dir das irgendwas?“ „Vielleicht“, meinte T. J. bedächtig. „Das Auto, daß uns abdrängen wollte, war auch ein alter Lieferwagen. Was ist in Eureka Springs passiert? Sarah hat nichts gesehen.“ „Nichts Besonderes. Ich hatte nur das Gefühl, daß wir beschattet wurden. Aber ich kann mich geirrt haben.“ „Jimmy Joe hat uns erzählt, du hättest gemerkt, daß er dich beobachtet hat. Damals hast du dich auch nicht getäuscht.“ „Stimmt“, gab Nicholas zu. „Falls ich den Namen des Unfallflüchtigen herausfinde, werde ich das Verkehrsregister überprüfen lassen. Vielleicht stoße ich dabei auf die Nummer, des alten Lieferwagens.“ „Ja, und wenn es der gleiche ist, treibt sich der Fahrer seit Anfang des Sommers hier herum. Was bedeutet, daß er sich gut versteckt gehalten hat. Das könnte wiederum auf die Ewells hinweisen. Hier wohnen genug Verwandte, die ihnen Unterschlupf gewähren würden. Sehr gut. Jetzt weiß ich wenigstens, worauf ich achten muß. Falls er noch in der Gegend ist, werde ich ihn erwischen.“ „Laß vor allem Sarah nicht aus den Augen“; mahnte Nicholas. T. J. s Miene verdüsterte sich. „Das wird ihr aber gar nicht gefallen.“ Sarah schlenderte über die Auffahrt zum Briefkasten. In diesem Sommer reihte sich ein Mißerfolg an den anderen. Tante Cindas Sturheit, der überstürzte Verkauf des Caldwell-Grundstücks und jetzt auch noch die Panne mit ihrem Auto. Luther hatte gemeint, es würde mindestens eine Woche dauern, bis die nötigen Ersatzteile kämen. Und zu alledem die Sache mit Nicholas. Sarah trat ärgerlich gegen einen Stein, der ihr im Weg lag. Im Vergleich zu dem Kummer mit Nicholas wirkte die restliche Pechsträhne beinahe lächerlich. Er war fort, wie vom Erdboden verschluckt. Wenn er noch - 170 -
irgendwo in der Nähe gewesen wäre, hätte sie das erfahren. Nicht von ihren Angehörigen natürlich. Die erwähnten seinen Namen nicht mehr. Aber in der Stadt hatte ihn auch niemand mehr gesehen. Das ließ nur einen Schluß zu. Er war einfach abgereist. Ist das nicht genau das, was du wolltest? fragte sie sich. Natürlich. Aber wenn er mir auch nur ein bißchen zugetan gewesen wäre, hätte er versucht, mich noch einmal zu treffen. Also traf ihre Vermutung zu, daß er ihre Zuneigung nicht erwiderte. Sie hatte recht gehabt, doch das half ihr nicht weiter. Im Briefkasten lag ein großer brauner Umschlag. Sie zog ihn heraus und betrachtete den Adreßaufkleber. Ihr Name stand darauf und als Absender eine Presseagentur aus New York. Gleichgültig öffnete sie das, Couvert und entdeckte drei Fotokopien von maschinegeschriebenen Seiten. Dann fiel ihr Blick auf die erste Zeile, und ihr stockte der Atem. Bericht von Nicholas D. Matthias, stand da. Sarah hielt den Artikel über Monte Ne in den Händen. Hastig durchforschte sie die drei Blätter nach irgendeiner Notiz oder einem Gruß, aber sie fand nichts. Sie fing an, die Geschichte von Anfang an durchzulesen. Er hatte ein so lebendiges Bild der alten Stadt entworfen, daß man sie beinahe vor sich sah, strahlend schön, von Erholungsuchenden belebt, vom Lachen der Menschen erfüllt. Genauso hatte sich Sarah die Siedlung immer vorgestellt, ohne das je in Worte fassen zu können. Die letzten drei Absätze beschrieben die umwälzende Idee des Gründers. Nicholas zufolge handelte es sich dabei um einen Vorläufer für jene Städte, die am Reißbrett entstehen und erst bezogen werden, wenn alles fertig angelegt ist. Sehr scharfsinnig, dachte Sarah stolz. Außerdem hatte sie das Gefühl, etwas zu dieser Leistung beigetragen zu haben, und das erfüllte sie mit Zufriedenheit. In dem Moment fiel ihr ein, daß sie keine Gelegenheit mehr haben würde, ihm das zu sagen. Sie stopfte die Seiten achtlos in den Umschlag und machte sich auf den Rückweg zum Haus. In diesem Sommer schienen die Verhängnisse kein Ende nehmen zu wollen. - 171 -
15. KAPITEL „Ist dir eigentlich klar, daß du diese Woche fast täglich hier gefrühstückt hast, T. J.?“ fragte Sarah und stellte einen Teller mit Wurst und Eiern vor ihn auf den Tisch. „Du warst noch nie besonders feinfühlend. Ich weiß genau, was das soll.“ „Ich auch. Bei dir gibt’s nämlich das beste Frühstück im ganzen Bezirk. „Von wegen. Ihr habt das zwischen euch abgemacht, Sam und du. Wann gebt ihr endlich zu, daß ihr euch geirrt habt?“ „In Hinsicht auf dein Frühstück?“ T. J. schüttelte den Kopf. „Erst wenn ich eins finde, das besser ist. Na komm, Sarah, hör auf zu grübeln, und trink lieber eine Tasse Kaffee mit mir. Ich habe nämlich Neuigkeiten.“ Lächelnd fügte er hinzu: „Über das Grundstück von den Caldwells.“ „Du mußt dir schon was Besseres einfallen lassen, T. J. Ich weiß, daß sie unten an der Straße angefangen haben zu bauen.“ „Ich hatte auch nicht vermutet, daß du plötzlich blind geworden bist“, zog T. J. sie auf. „Die Planierraupen waren nicht zu übersehen. Ach, was rede ich da, man hört sie ja bis hierhin. Nein, ich meine was anderes.“ „Na gut.“ Sarah holte sich eine Tasse Kaffee und nahm T. J, gegenüber auf einem Stuhl Platz. „Also, schieß los. Was hast du erfahren?“ „Nichts. Ich habe etwas getan.“ Er lachte so triumphierend wie ein Zauberer, der soeben. im Begriff ist, ein lebendiges Kaninchen aus dem Hut zu ziehen. „Ich habe das Grundstück gekauft. Gestern wurden die Verträge unterschrieben.“ Er hatte zu Recht vermutet, daß diese Nachricht einschlagen würde wie eine Bombe. Sarah stellte die Kaffeetasse mit einem Ruck ab, lief rot an und begann zu husten. Sofort sprang T. J. auf und klopfte ihr kräftig auf den Rücken. Sie winkte ab. „Deine Kur ist gefährlicher als die Krankheit selbst“, stieß sie mühsam hervor. T. J. wartete, bis sie sich einigermaßen erholt hatte. „Tut mir leid, Sarah, ich wollte dich nicht...“ - 172 -
„...überraschen?“ ergänzte Sarah. „Oder zu Tode erschrecken?“ Sie lachte gutmütig. „Ist schon gut, T. J., ich kann dich ja verstehen. Was ich allerdings nicht begreife, ist, wie du das geschafft hast. Ich dachte, der Platz sei verkauft.“ Nach einer Pause meinte sie: „Baust du etwa auch...“ „Natürlich nicht“, unterbrach er sie. „Ich kaufe auf Mietbasis. Der Bauplatz und ein weiterer, der noch nicht erschlossen ist, gehören nicht dazu. Oh, und eine Zweitausendquadratmeterparzelle wurde ebenfalls vom Vertrag ausgeschlossen. Das Grundstück zwischen dem alten Obstgarten und dem Fluß.“ „Wenn jemand bauen will, ist es nur natürlich, daß er sich die hübschesten Grundstücke sichert“, meinte sie bedrückt. „Der alte Obstgarten ist eben besonders schön. Aber wie bist du an den Rest gekommen?“ T. J. lachte. „Der wurde mir auf dem Silbertablett serviert. Aus heiterem Himmel rief mich ein Rechtsanwalt aus Rogers an und sagte, ein Teil des Lands sollte weiterverkauft werden. Er hätte den Auftrag, es mir anzubieten, bevor es öffentlich würde. Ich hielt das für einen Witz, aber das war es nicht. Ich habe einen Fünfjahresleasingvertrag mit Kaufoption abgeschlossen. Das heißt, ich kann mir aussuchen, wann ich das Ganze zu einem erstaunlich geringen Aufpreis kaufen will, wobei achtzig Prozent der Leasingraten angerechnet werden.“ „Wer ist der Eigentümer? Er ist offenbar nicht besonders geschäftstüchtig. Entspricht das alles überhaupt dem Gesetz?“ „Das habe ich mich auch gefragt, und der Rechtsanwalt aus Rogers sich offenbar auch. Jedenfalls, was die Intelligenz seines Klienten betrifft. Er sagte, er hätte seine Anweisungen. Aber Dads Rechtsanwalt hat alles überprüft und nichts gefunden. Wer genau dahintersteckt, weiß ich nicht, aber ich habe so meine Vermutungen.“ „Sag schon“, drängte Sarah. „Ich werde mich hüten. Wenn ich recht habe, werden wir es ohnehin bald erfahren. Wenn nicht, stehe ich wenigstens nicht als Dummkopf da. Ach ja, noch was. Bis alles bebaut und abgezäunt ist, habe ich zu allen Grundstücken freien Zutritt. Das heißt, du - 173 -
kannst wieder im Fluß baden. Ich erlaube es dir.“ Sarah sah entrüstet auf. „Seit das Land verkauft ist, habe ich es nicht mehr betreten, und ohne ausdrückliche Genehmigung werde ich das auch nicht tun.“ „Die habe ich dir gerade erteilt. Was hast du heute vor? Die anderen sind alle ausgeflogen, nicht wahr?“ „Ja. Ich muß nach Fayetteville fahren und einkaufen. Grandpa leiht mir sein Auto.“ „Warte bis morgen, dann kann ich mit.“ „T. J., hör endlich auf. Ich brauche keinen Aufpasser.“ „Ich muß auch nach Fayetteville, Sarah, ehrlich“, beteuerte er verletzt. „Und das Auto von deinem Großvater hat eine Klimaanlage. Warum willst du mich nicht mitnehmen?“ „Weil du genauso schlecht lügst wie du schauspielerst“, entgegnete Sarah. „Du mußt nämlich nicht nach Fayetteville.“ „Du auch nicht. Also sei brav und bleib daheim. Nur noch ein bißchen, Sarah. Bis wir ganz sicher sein können.“ „Ich bin’s schon lange. Na, gut“, gab sie nach. „Vielleicht gehe ich auch schwimmen.“ „Dagegen ist nichts einzuwenden. Wie ist's mit heute abend, sollen wir essen oder auch ins Kino gehen?“ „Nein, danke.“ „Ich schau später noch mal rein. Vielleicht änderst du deine Meinung noch.“ „Du meinst, du willst mich später noch mal kontrollieren.“ „Stimmt. Woher weißt du das?“ fragte er lachend. Er erhob sich, nahm seinen mittlerweile leeren Teller und stellte ihn ins Spülbecken. Plötzlich drehte er sich um und küßte Sarah auf die Wange. Du. machst wirklich das beste Frühstück weit und breit. Aber erzähl Mom nicht, daß ich das gesagt habe. Ich wäre gezwungen zu leugnen.“ Sie sah ihm kopfschüttelnd nach. Obwohl Nicholas seit fast achtundvierzig Stunden nicht mehr - 174 -
geschlafen hatte, spürte er keine Müdigkeit. Er hatte nur einen Gedanken. Fahr zu Sarah und vergewissere dich, daß es ihr gutgeht. Als er in Tulsa die letzten Teile der Geschichte aneinandergefügt hatte und ihm die Zusammenhänge klargeworden waren, war er zuerst enttäuscht gewesen. Dennoch wußte er, daß sie ihn nicht absichtlich hinters Licht geführt hatte. Sie war so ahnungslos und hatte einfach nicht erkannt, was vor sich gegangen war. Ab jetzt mußte sie ihm alles erzählen. Sie durfte keine Drohungen oder Warnungen mehr für sich behalten. Dafür brauchte sie sich nicht mehr damit auseinanderzusetzen. Denn von nun an würde er sich um diese Dinge kümmern. Auf der Hauptstraße in Mountain Springs hatte er zum ersten Mal in seinem Leben das Gefühl, nach Hause zu kommen. Geduld, sagte er sich, während er das Auto in eine Seitenstraße lenkte und vor dem Rathaus parkte. Als er Sams Büro betrat, sah der Sheriff auf, seine Miene verdüsterte sich. „Ist mit Sarah alles in Ordnung?“ fragte Nicholas sofort. „Natürlich, warum auch nicht? Ich dachte, Sie hätten die Stadt verlassen.“ „Jetzt bin ich wieder da.“ Er beschloß, sich durch Sams offene Unhöflichkeit nicht reizen zu lassen. Der Sheriff konnte nichts dafür. Er hatte ebenfalls keine Ahnung gehabt. Nicholas legte zwei Fotokopien auf den Schreibtisch. „Das ist der Mann, der Sarah verfolgt.“ Er wartete, bis Sam die Bögen mit den Fotos an sich genommen hatte und fuhr fort: „Er heißt Billy Clyde Jackson. Sarah hat der Polizei in Tulsa vor drei Jahren seine Autonummer genannt. Er wurde wegen Fahrerflucht zu einer Gefängnisstrafe verurteilt, im letzten Mai nach zweiundzwanzig Monaten auf Bewährung entlassen und hat mit seiner Abreise gegen die Auflagen verstoßen.“ „Vor drei Jahren?“ Sam überlegte kurz. „Damals kam Sarah völlig verstört nach Hause. Aber ich verstehe nicht, wo Sie den Zusammenhang mit Sarahs Unfällen sehen.“ - 175 -
„Darin, daß der Mann ein Spinner ist und sie bedroht hat. Er fing damit schon im Gerichtssaal an.“ „Das hat sie mir nie erzählt. Außerdem hätte sie nach dem Gesetz aufgrund der Drohung vor seiner Entlassung gewarnt werden müssen.“ „Das ging nicht, weil niemand Bescheid wußte. Bis auf Sarah, und die hatte beschlossen zu schweigen.“ „Moment mal. Er bedroht sie vor Gericht, und das bekommt niemand mit. Wo bleibt denn da die Logik?“ fragte Sam empört. „Entschuldigung, ich muß mir wahrscheinlich mehr Mühe geben.“ Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar. Sam schien ihn zum ersten Mal richtig anzusehen. „Sie wirken erschöpft“, stellte er nicht unfreundlich fest. „Nehmen Sie besser Platz, sonst fallen Sie noch um.“ Er wies mit dem Kinn auf den freien Stuhl neben dem Schreibtisch. „So, und jetzt erzählen Sie mir endlich, was hier vor sich geht.“ Nicholas ließ sich dankbar auf den Stuhl fallen. „Sarah gab der Polizei die Autonummer des Unfallflüchtigen. Die einzige Zeugin hat unter Hypnose die gleiche Nummer genannt. Die Presse hat aus dieser Übereinstimmung eine Sensationsgeschichte gemacht, durch die Sarah überall bekannt wurde.“ „Sie hat damals sehr wenig erzählt“, warf Sam ein. „Als sie heimkam, war die Sache bereits ausgestanden. Ich wollte sie nicht drängen.. Sie war ziemlich elend dran.“ „Ich weiß nicht, warum Sarah zu der Verhandlung ging. Jackson behauptete, sein Wagen sei gestohlen worden. Vielleicht wollte sie sich vergewissern, daß sie den richtigen Mann geschnappt hatten. Auf jeden Fall war sie da. Jackson könnte sie erkannt haben, denn in einer Zeitung waren Fotos von ihr erschienen. Eventuell hat er sie auch gar nicht gesehen. Aber aus irgendeinem Grund war er plötzlich nicht mehr zu halten. Er drehte total durch, so daß sie ihn mit Gewalt aus dem Gerichtssaal entfernen mußten.“ Nach einer Pause fuhr Nicholas fort: „Ich habe mit einem der Polizisten gesprochen, die dabei waren. Er sagte, Jackson hätte geschrien und getobt und immer wieder dem Teufel Rache geschworen, der dem Allmächtigen ins Werk pfuschte. Daß Sarah - 176 -
damit gemeint war, hat niemand erkannt. Aber sie wußte es, weil sie schon mehrere anonyme Telefonanrufe und Briefe ähnlichen Inhalts erhalten hatte. Es war nicht einfach, ihr das zu entlocken. Sie hat. mir noch nicht mal Jacksons Namen verraten. Deshalb hat es auch so lange gedauert, bis ich wieder zurückkommen konnte.“ Nachdem Nicholas seinen Bericht beendet hatte, schwieg Sam lange. Schließlich meinte er leise: „Sarah hat nichts von Drohungen erzählt, und Sie haben auch nie etwas davon erwähnt. Wenn ich das gewußt hätte, wäre ich der Sache längst nachgegangen. So war ich fast überzeugt, daß sie recht und ich mich geirrt hatte.“ „Tut mir leid, Sam. Ich mußte ihr versprechen, Ihnen nichts zu sagen. Sie bestand darauf, daß es nicht wichtig sei und Sie dadurch nur auf eine neue falsche Fährte gelockt würden. Vermutlich glaubt sie das wirklich. Um ehrlich zu sein, hielt ich die Ewells auch eher für die aussichtsreicheren Kandidaten.“ Nicholas schloß die Augen, um seiner Enttäuschung Herr zu werden. „Jetzt bin ich sicher, daß Jackson dahintersteckt. Ich habe mich auch mit einigen seiner Mitgefangenen unterhalten. Sie bestätigten einhellig, daß er bei der Entlassung noch immer Drohungen ausgestoßen hat.“ „Herrje, sie braucht jemanden, der sich um sie kümmert.“ „Sie hat jemanden.“ Sam musterte ihn eindringlich, aber Nicholas hielt dem prüfenden Blick stand. Nach. einer Weile nickte Sam und beugte sich über die Verbrecherfotos. „Ich glaube, den habe ich hier noch nie gesehen. Wahrscheinlich hält er sich versteckt.“ „Er hat im Gefängnis annähernd dreißig Kilo zugenommen. Anscheinend hat's ihm da gut geschmeckt.“ „Dann sollten wir vielleicht dafür sorgen, daß er möglichst bald dorthin zurückkommt.“ Sam betrachtete noch einmal die Fotos. „Schwerer, vollere Wangen, Doppelkinn.“ Er stand auf. „Ich werde ihn finden. Was machen Sie jetzt?“ „Ich werde Sarah suchen, ihr die Meinung sagen, und sie dann heiraten. Das heißt, falls ich sie dazu überreden kann.“ - 177 -
„Also, hören Sie mal, Mr. Matthias“, begann Sam, aber Nicholas ließ ihn. nicht ausreden. „Gewöhnen Sie sich ruhig schon mal an meinen Vornamen. In Zukunft werden wir uns nämlich ziemlich oft über den Weg laufen.“ Die beiden starrten einander eine Weile schweigend an. Dann wurde die Tür aufgestoßen, und T. J. kam herein. „Ich habe mir doch gleich gedacht, daß das dein Jeep ist, Nicholas. Du bist gerade rechtzeitig wiedergekommen. Ich glaube, ich habe den Lieferwagen gefunden.“ „Welchen Lieferwagen?“ erkundigte sich Sam. „Von dem Typ, der Sarah und mich am Bald Mountain fast von der Straße gedrängt hätte. Nicholas hat ihn bei Monte Ne gesehen und vermutlich auch in Eureka Springs, als er mit...“ „Wo ist er jetzt?“ fiel ihm Nicholas ins Wort. „Luther hat ihn gerade mit einer gebrochenen Achse abgeschleppt, direkt in seine Werkstatt. Der Fahrer ist auch da.“ Nicholas nahm Sam die Fotos ab und hielt sie T. J. hin. „Ist er das? Er ist inzwischen ein bißchen dicker.“ „Wie heißt er?“ fragte Sam gleichzeitig. „Jackson“, antwortete T. J. „Lenny Jackson.“ Ersah sich die Bilder an. „Der sieht ihm sehr ähnlich, aber es ist nicht derselbe. Der Mann bei Luther ist jünger.“ „Lenny ist Billy Clydes jüngster Bruder“, stieß Nicholas hervor. „Dann kann Billy nicht weit sein.“ Er wandte sich an T. J. „Wo ist Sarah?“ „Auf der Farm. Sie wollte zum Fluß, schwimmen gehen.“ „Allein?“ „Klar, das Gebiet; gehört fast zur Farm. Was habt ihr denn?“ Aber Nicholas eilte schon zur Tür hinaus. „Nicholas“, rief Sam ihm nach. „Nimm T. J. mit. Sobald ich mich um Lenny gekümmert habe, komme ich nach. Los, T. J. Nicholas kann dir unterwegs erzählen, was los ist.“ Sarah frottierte sich noch einmal das Haar und warf es mit einer - 178 -
knappen Bewegung über die Schultern zurück. Dann stopfte sie das Handtuch zu der leeren Thermoskanne und den Sandwichresten in den Korb. Sie sah sich noch einmal um. Das Bad hatte sie körperlich erfrischt. Ihre Seele war so wund wie zuvor. Hier erinnerte alles an Nicholas. Unter der schattigen Eiche hatten sie die Decke ausgebreitet. Von jenem überhängenden Baum aus waren sie um die Wette geschwommen. Wohin sie auch sah, tauchte Nicholas Bild auf. Sie dachte daran, wie er den Kopf zurückgeworfen hatte, so daß das Wasser nach allen Seiten wegsprühte. An die mühelosen Schwimmzüge, mit denen er durch den Fluß geglitten war. Wie er sich neben ihr auf der Decke ausgestreckt und sie zärtlich angelacht hatte. Vorbei. Endgültig vorbei. Nur weil sie weder der Stimme ihres Herzens noch Nicholas selbst vertraut hatte. Er hatte zwar gesagt, er käme wieder, aber das war vor einer Woche gewesen. Sie war selbst schuld, denn sie hatte ihn weggeschickt. Traurig trat sie den Rückweg an. Am besten fuhr sie bald nach St. Louis zurück. Wenn sie blieb, tat sie niemandem einen Gefallen. Tante Cinda sprach kaum noch mit ihr. T. J. ließ sie keinen Schritt allein tun. Selbst Jimmy Joe mied sie. Ihr Trübsinn wirkte ansteckend. Sarah ging durch das Unterholz und von dort quer über die von Stacheldraht eingezäunte Weide zur Straße. Sie achtete nicht auf das Auto, das dort langsam entlangfuhr, sondern wartete nur, daß sich der Staub setzte, den es aufgewirbelt hatte. Dann kletterte sie über den Zaun. Inzwischen hatte der Fahrer den Wagen gewendet und kam auf sie zu. Hinter der Kurve vor der Auffahrt zur Farm hielt er am Straßenrand an. Sie schlenderte weiter. Es kam öfters vor, daß sich Fremde auf den kaum beschilderten Straßen verfuhren und sich nach dem Weg erkundigten. Er stieg aus und wartete neben dem Auto. Die große massige Gestalt kam ihr irgendwie bekannt vor. Neugierig musterte sie sein Gesicht. „Na, weißt du noch, wer ich bin?“ Die zischend hervorgestoßenen Worte ließen Sarah erstarren. - 179 -
„Ich habe dich jedenfalls nicht vergessen.“ Er trat einen Schritt auf sie zu. „Aber ich hatte ja auch einen guten Grund, mich an dich zu erinnern. An dich und dein Teufelswerk.“ Sie riß erschrocken die Augen auf. O nein. Nicholas, T. J., Sam. Sie haben recht gehabt, war alles, was sie denken konnte. Dann ließ sie den Korb fallen und rannte davon. Der Fluchtweg zur Farm war durch den Mann versperrt. Auf der Straße konnte er sie mit dem Auto einholen. Das flache Weideland bot keine Möglichkeit, sich zu verstecken. Ein Sprung über den Straßengraben, dann kletterte sie über den Stacheldrahtzaun. Fluchend setzte sich der Mann ebenfalls in Bewegung. Er hatte zugenommen, seit sie ihn zuletzt gesehen hatte, und war wahrscheinlich körperlich aus der Übung. Aber er war kräftig und besaß die starre Zielstrebigkeit des Wahnsinnigen. Sarah hatte Nicholas gesagt, daß er verrückt sei, aber sie wußte nicht, wie verrückt er wirklich war. All diese Gedanken jagten ihr durch den Kopf; während sie so schnell lief, daß ihre Füße kaum den Boden berührten. Kurz vor dem Ende der Weide sah sie sich um. Ihr Verfolger hatte den Zaun ebenfalls überklettert und bereits die Hälfte des Pfads zurückgelegt. Das Unterholz war ihre einzige Chance. Dort konnte sie sich verstecken. Vorher mußte sie nur den Vorsprung vergrößern, damit der Mann nicht merkte, daß sie sich seitwärts; in die Büsche begeben hatte. Sie preßte eine Hand in die Seite, um den stechenden Schmerz zu mildern, und holte tief Luft. An der nächsten Kurve drehte sie sich um. Zum Glück war er noch nicht da. Sie sprang seitwärts über das Dornendickicht, achtete darauf, keine Blätter oder Triebe zu knicken, kroch in das Buschwerk von Sassafrasbäumen und Geißblattranken und kauerte sich flach auf den Boden. Die Schritte des Manns kamen näher. Würde er die Stelle finden, an der sie den Fußweg verlassen hatte? Sie hörte seine lauten Flüche, mit denen er die Günstlinge Satans verwünschte. Schweratmend wartete sie, bis er vorüberging. Spätestens am Fluß, dort, wo der Pfad endete, mußte ihm klar werden, daß er - 180 -
überlistet worden war. Bis dahin mußte sie ausgeruht genug sein, um weiterzukommen. Hier war sie viel zu nahe am Weg. Den Geräuschen nach befand er sich noch auf dem Weg. Hätte er ihn verlassen, hätte sie, das am Rascheln des Vorjahreslaubs unter seinen Füßen und am Zerbrechen trockener Zweige gehört. Vorsichtig hob sie den Kopf. Der Mann bog gerade um die nächste Kurve und würde gleich außer Sicht sein. Vorher durfte sie sich nicht von der Stelle bewegen. Geh weiter, flehte sie stumm. Bleib auf dem Pfad. Nur noch ein bißchen. Sobald sie ihn nicht mehr sah, kroch sie durch das Unterholz. Sie hielt immer wieder an, horchte und hoffte, daß alles still blieb. Langsam stand sie auf und orientierte sich. Dann begann sie, bergauf zu gehen. Nachdem Nicholas alles erzählt hatte, was er in Tulsa erfahren hatte, verfiel er in Schweigen, während T. J. aufgebracht vor sich hin schimpfte. Nicholas bezweifelte nicht, daß sie es mit einem Verrückten zu tun hatten. Lenny Jacksons Anwesenheit in Mountain Springs bestätigte, daß Billy Clyde nicht weit sein konnte. Es blieb nur zu hoffen, daß er Sarah noch nicht aufgespürt hatte oder zu feige war, etwas zu unternehmen, solange er allein war. Sobald sie den Highway verlassen und die Nebenstraße erreicht hatten, drosselte er die Geschwindigkeit. Noch nie war ihm die Strecke zur Farm so lang vorgekommen. Endlich bogen sie in die Auffahrt ein und hielten kurz darauf neben dem Farmhaus an. Ohne das Lenkrad loszulassen, blieb Nicholas im Jeep sitzen. „Willst du denn nicht mit?“ fragte T. J., nachdem er ausgestiegen war. „Noch nicht. Schau erst nach, ob Sarah da ist.“ Eine innere Stimme sagte ihm, daß das nicht der Fall war. „Sie ist weg“, bestätigte T. J. wenig später. „Falls sie zum Schwimmen an den Fluß gegangen ist, können wir ein Stück fahren. Auf die Art kommen wir schneller voran.“ - 181 -
Nicholas nickte, wartete, bis T. J. eingestiegen war, und setzte auf die Straße zurück. Nach der nächsten Kurve sahen sie das fremde Auto am Seitenrand stehen. Nicholas stellte den Motor ab, beide sprangen aus dem Jeep und trennten sich in stummem Einvernehmen. T. J. ging auf den unbekannten Wagen zu, Nicholas in der entgegengesetzten Richtung die Straße entlang. „Abgeschlossen“, teilte T. J. mit, sobald er Nicholas eingeholt hatte.. „Vom Fahrer keine Spur. Das Nummernschild stammt aus Oklahoma.“ In dem Moment entdeckte Nicholas auf dem Seitenstreifen den Korb mit dem Handtuch und erstarrte. Er ließ den Blick schweifen. Vor ihnen erstreckte sich das Weideland, in der Ferne ragten schweigend die Bäume empor. Keine Bewegung, kein Laut. Von Sarah war nichts zu sehen. „Der Wald“, stieß er schließlich hervor. „Sie muß sich ins Unterholz geflüchtet haben.“ Sie liefen gleichzeitig los. Sarah bewegte sich möglichst lautlos, um den Mann nicht auf sich aufmerksam zu machen. Wenn er außer Sicht blieb, bis sie die andere Seite des Bergs erreicht hatte, würde er sie vielleicht gar nicht erst entdecken. Ab und zu hielt sie inne und achtete auf jeden verräterischen Laut. Beim Gehen schlugen ihr Ranken und Zweige ins Gesicht und zerkratzten ihr die bloßen Arme und Beine, doch das merkte sie nicht. Nur noch ein kleines Stück, sagte sie sich. Dann bin ich weit genug weg und kann mich etwas ausruhen. Sie spähte vorsichtig voraus. Noch ungefähr drei Meter, dann lichtete sich das Unterholz. Dahinter lag die felsige Bergkuppe, die sie unbeobachtet überwinden mußte. Doch dann geschah das Verhängnis. Noch ein Schritt, und unmittelbar vor ihr erhob sich ein ganzer Schwarm lärmender Wachteln aus dem Gebüsch. Sarah duckte sich unwillkürlich. Von dem Pfad unterhalb ihres Verstecks erklang ein wütender - 182 -
Aufschrei, dann das Geräusch schwerer Stiefel, die sich einen Weg durch das Gehölz bahnten. Sarah drehte sich nicht nach ihrem Verfolger um, sie kletterte in Windeseile auf die Kuppe zu. Ihr Atem ging schwer, die Seitenstiche wurden immer schlimmer, die Wunden und Kratzer brannten wie Feuer. Sie merkte es kaum, konzentrierte sich nur auf die Schritte des Mannes hinter sich. Endlich kam sie bei den Felsen an, und der Abstieg konnte beginnen. Es würde ein paar Minuten dauern, bis der Mann den Bergkamm erreichte. Der Vorsprung war nicht groß, sie mußte sich beeilen. Auf der anderen Seite des Bergs wuchsen keine Büsche oder Bäume. Wie eine grüne Matte breitete sich die Hangwiese vor ihr aus, auf der vereinzelte Felsbrocken lagen. Es gab nur zwei Möglichkeiten, sich zu verstecken. Das Brombeergebüsch neben einem der größeren Felsen und ein schmaler Streifen kleiner Bäume und Sträucher, der einen tiefen Felsspalt säumte. Sarah entschied sich für die Brombeeren. Der Spalt schien zwar einleuchtender, aber sie hoffte, die wenig einladenden Dornen würden ihren Feind eher von einer genaueren Untersuchung abhalten. Ihr Verfolger gab sich keine Mühe, sein Vorwärtskommen zu verheimlichen. Sie hörte seine Flüche, das Schimpfen und die endlosen Verwünschungen, während er sich der Bergkuppe, über knackende Aste und raschelndes Laub hinweg näherte. Sarah lief um das kleine Wäldchen herum, ließ sich auf die Knie fallen und kroch von unten zwischen die dornigen Brombeerranken. Vom Berg wäre jetzt nicht zu erkennen, daß sich hier jemand verbarg, denn auf der nach oben gelegenen Hangseite war kein Zweig, kein Blatt bewegt oder gar abgerissen worden. Sie robbte behutsam auf die Mitte des Dickichts zu. Vor dem größten Gesteinsbrocken fand sie eine flache Mulde. Ein leichter Felsüberhang wölbte sich darüber und bot unter den gegebenen Umständen den besten Schutz. Erschöpft rollte sich Sarah darunter zusammen und verharrte reglos, wenn auch mit angespannten Muskeln. Als die Spatzen im Gebüsch merkten, daß ihnen von dem neuen - 183 -
Eindringling keine Gefahr drohte, zwitscherten sie wieder um die Wette. Das war das beste Zeichen für Sarah, daß sie sich fürs erste sicher fühlen durfte. Allmählich beruhigte sich ihr Puls, der Atem kam gleichmäßiger. Vielleicht schaffte sie es doch noch, ihren Jäger zu täuschen. Ach, hätte ich doch nur auf Sam und Nicholas gehört, dachte sie voller Reue. Vor allem auf Nicholas. Sie hatte ihm bitter unrecht getan, nicht nur, was die sogenannten Unfälle betraf. Das wußte sie jetzt. Aber wahrscheinlich würde sie nie Gelegenheit haben, ihm das zu sagen. Dafür würde der Mann aus Oklahoma schon sorgen. In diesem Punkt machte sie sich keine falschen Hoffnungen. Er war gefährlich. „Sarah ist sicher nicht auf dem Pfad geblieben“, meinte T. J., als er mit Nicholas das Unterholz erreichte. „Sie weiß, daß er am Fluß endet. Wir müssen auf Stellen achten, wo jemand den Weg verlassen hat.“ Nicholas nickte und rannte weiter. Er unterdrückte jeden Gedanken an den Tag, als er mit Sarah am Fluß gewesen war. Jetzt mußte er sie finden, alles andere war unwichtig. Sie entdeckten gleichzeitig die abgebrochenen Zweige im Gehölz. Nicholas fluchte. So unachtsam wäre Sarah nie gewesen. Das konnte nur eines bedeuten. Jackson war klargeworden, daß sie den Weg verlassen haben mußte, und war ihr gefolgt. Nicholas lief voraus. Er orientierte sich an den unübersehbaren Spuren des Verbrechers und kürzte ab, sobald das möglich war, ohne die Fährte zu verlieren. T. J. kam so dicht hinter ihm, daß sie knapp hintereinander das sich allmählich lichtende Unterholz durchbrachen. Dann hielten sie nebeneinander inne und suchten die blanke Felskuppe nach Sarah ab. In dem Moment entdeckten sie den Mann. „Da“ rief T. J. und wies nach oben. Nicholas rannte los. Aber Jackson hatte T. J. gehört. Er änderte die Richtung und hastete parallel zum Bergkamm weiter. T. J. vergeudete keine Zeit. Er schnitt ihm den Weg ab, setzte von einem Felsen zum Sprung an, umklammerte im Fallen von hinten die Knie des Gegners und - 184 -
stürzte mit ihm zusammen hin. Sekunden später stand Nicholas mit geballter Faust neben Jackson. „Wo ist Sarah?,“ herrschte er ihn an. Der Mann war so außer Atem, daß er nicht sprechen konnte. „Er hat sie nicht gefunden“, stellte T. J. erleichtert fest, während er Jackson in aller Ruhe einen Arm auf den Rücken drehte. „Geh und such sie.“ Nicholas sah unentschlossen von den beiden zur Bergkuppe. „Na los“, drängte T. J. „Ich habe ihn. Wir brauchen nur noch auf Sam zu warten. Bis dahin hast du bestimmt noch eine Viertelstunde Zeit.“ „Kommst du solange allein zurecht?“ „Na klar. Der Typ hier ist fertig. Nun mach schon. Sie hat sich bestimmt an einem Platz versteckt, den normalerweise, niemand in Betracht zöge.“ Nicholas sah T. J. dankbar an und wandte sich ab. Kurz bevor er den Hang hinabstieg, rief ihm T. J. nach: „Sie wird sich freuen, dich zu sehen. Also verdirb nicht wieder alles.“ Sarah lag absolut still und lauschte. Suchte der Mann sie in der Felsspalte? Nein, die war so nahe bei dem Versteck, daß die Vögel in den Sträuchern unruhig geworden wären. Aber inzwischen war genug Zeit vergangen. Er mußte längst die Kuppe überschritten haben. Sie sah ihn vor sich, wie er dort oben stand und den Blick über das Gelände schweifen ließ. Er würde auf irgendein Zeichen hoffen, das ihm verriet, wo sie sich aufhielt. Obwohl es so heiß war, daß ihr der Schweiß in Strömen über die Stirn rann, konnte sie ein plötzliches Schaudern nicht unterdrücken. Die Sekunden schienen sich zu dehnen, aus Minuten Stunden zu werden. Sarah harrte aus und horchte auf die Geräusche der Natur. Sie bangte vor dem Augenblick, da sie sich änderten und sein Kommen ankündigten. Wo mochte er stecken, ob er hingefallen oder sogar umgekehrt war? Das war unwahrscheinlich. Ihr blieb nichts anderes übrig, als abzuwarten. Mittlerweile meinte sie, jeden Muskel einzeln zu spüren. Um sie - 185 -
herum war alles so, still, daß sie sich bereits überlegte, ob sie einen raschen Blick aus dem Versteck wagen sollte. Doch dann schlugen die Vögel Alarm, und sie hörte, daß jemand ihren Namen rief. Vor Angst, sich durch das geringste Geräusch zu verraten, hielt Sarah die Luft an. „Sarah?“ Sie schloß die Augen. Hör auf zu phantasieren, beschwor sie sich. Es hat keinen Zweck, dir vorzustellen, daß Nicholas hier ist. Das war nicht seine Stimme. Du bist ganz allein. Du hast ihn weggeschickt. Auf einmal war ihr alles egal. Falls der Mann aus Oklahoma sie aufgestöbert hatte, mußte sie sich damit abfinden und ihm entgegentreten. Sie war es leid, sich zu verstecken. „Sarah, du kannst herauskommen. T. J. hat Jackson gefangen.“ Jackson, dachte. sie. Richtig, so hieß er. „Bitte, Sarah. Wenn du mich nicht sehen willst, gehe ich wieder. Sag mir bitte nur, daß du gesund bist.“ Sie zögerte nicht länger. Auf allen vieren kroch sie rückwärts aus ihrem Versteck. Sie hatte seine Stimme gehört, wußte, daß er sie gerufen hatte. Sie wollte zu ihm. Sekunden später lag sie in Nicholas Armen. Nicholas drückte sie an sich, als müsse er sich beweisen, daß er nicht träumte. Er hatte solche Angst um sie gehabt und davor, daß sie nie wieder mit ihm zu tun haben wollte. Aber nun war sie hier. Würde sie auch bei ihm bleiben, wenn der Schock über die Verfolgungsjagd verflogen war? Könnte sie ihm jemals wieder vertrauen, würde sie ihm eine neue Chance geben? „Nicholas“, flüsterte sie. „Was machst du hier, woher hast du gewußt, wo ich bin?“ Sie hob den Kopf und sah ihn an. Nicholas musterte sie entsetzt. „Hat er dich... hat dieser Lump dir was getan?“ Er tastete ihr vorsichtig über den Bluterguß auf der Stirn. „Nein, das waren die Zweige, Äste und Dornen“, erwiderte sie atemlos. „Mir geht's gut, Nicholas. Wirklich. Ich habe nur ein paar Kratzer.“ Der Drang, sie zu küssen, wurde immer stärker. Nicholas, hielt sie noch einen Moment fest, dann gab er sie vorsichtig frei und trat - 186 -
einen Schritt zurück. „Ich bin auf jeden Fall froh, daß du gesund und wohlbehalten bist.“ Sarah vermißte seine Nähe sofort. „Sam muß jeden Augenblick hier sein“, erzählte Nicholas. „Außerdem müssen wir T. J. beruhigen. Er macht sich Vorwürfe, weil er dir erlaubt hat, schwimmen zu gehen.“ „Das ist doch albern. Seine Aufpasserei hat mich ohnehin genervt. Was sollte er denn noch machen, mich auf der Farm anbinden?“ Nicholas lachte. Dann wurde er wieder ernst. „Sag bloß nichts gegen T. J. Ohne ihn wären wir vielleicht nicht hier. Er hat Jacksons Bruder in der Stadt entdeckt. Daher wußten wir, daß Billy Clyde nicht weit sein konnte.“ „Woher kannte er denn Jacksons Bruder?“ fragte sie verständnislos. „Darüber sprechen wir später. Versprich nur eins, Sarah. Wenn alles vorüber ist, hör mich bitte an.“ Sarah schwieg. Aber sie hatte auch nicht nein gesagt. Das nahm Nicholas als gutes Zeichen. Leider blieb ihm keine Zeit, darauf zurückzukommen, denn von der Bergkuppe erscholl T. J.s Stimme. „Siehst du, da ist dein Cousin schon.“, sagte Nicholas. „Ich begreife nicht, warum Cinda dich nicht gewarnt hat“, beklagte sich Sarahs Großmutter, als alle auf der Farm versammelt waren. „Sonst hat sie solche Dinge immer vorausgeahnt.“ Daß sie in Nicholas Anwesenheit darüber sprach, war ein Beweis rückhaltloser Anerkennung. Von nun an gehörte er dazu. Ob er das wußte? Sarah suchte seinen Blick. Ihr Pulsschlag beschleunigte sich, als sie das Funkeln in seinen Augen sah. Sie zwang sich, sich auf das Gespräch zu konzentrieren. „Aber dafür gibt es keine Garantie, Grandma“, erklärte sie. „Wenn ohnehin alles gut ausgeht, bekommt man vielleicht keine Hinweise, und letzten Endes ist mir nichts passiert.“ „Du hast mal gesagt, daß du merkst, wenn Tante Cinda irgend - 187 -
etwas braucht“, protestierte die Großmutter. „Das ist etwas anderes. Wir können geistig miteinander in Verbindung treten. Wenn sie irgend etwas von mir haben will, könnte sie mir das auf die Art mitteilen. Ich hätte sie natürlich rufen können, aber sie wäre nicht in der Lage gewesen, mir zu helfen. Deshalb habe ich es gar nicht erst versucht.“ Nun traf auch Sam auf der Farm ein. Nachdem er sich auf dem Berg vergewissert hatte, daß Sarah gesund war, hatte er Billy Clyde Jackson erst einmal in Gewahrsam genommen. „Er wird in Oklahoma wegen Verstoßes gegen die Bewährungsauflage angeklagt. Leider habe ich keinen Grund, Lenny festzunehmen. Aber ich werde ihm soviel Angst einjagen, daß er froh ist, wenn er hier verschwinden kann.“ Auf Nicholas’ Protest hin erklärte Sam, daß es besser sei, die beiden nach Oklahoma zurückzuschicken. Ab jetzt seien die Behörden gewarnt. Wenn Jacksons nächste Entlassung bevorstand, würde Sarah benachrichtigt. Sam hatte die meisten Begleitumstände aufklären können, die zu Sarahs Unfällen geführt hatten. Nachdem Billy Clyde herausgefunden hatte, wo Sarah lebte, hatte er sie oft verfolgt, wenn sie die Farm verließ. Auch auf dem Ausflug nach Monte Ne. In Eureka Springs dagegen war der Bruder tätig gewesen. Die beiden gefährlichsten Zwischenfälle - einmal auf der Fahrt über den Bald Mountain und dann nach dem Rodeo - fanden allerdings aufgrund zufälliger Begegnungen statt. Nicholas schwor sich insgeheim, daß Jackson nie wieder Gelegenheit haben sollte, in ihre Nähe zu gelangen. Inzwischen war die Dämmerung hereingebrochen. Sam verabschiedete sich als erster, dann folgte T. J. und nahm Jimmy Joe mit. Wenig später entschuldigten sich auch die Großeltern. Sarah und Nicholas blieben allein zurück und nahmen auf der Hollywoodschaukel Platz. Nicholas hatte zwiespältige Gefühle. Auf dem Berg hatte Sarah ihn freudig begrüßt. War er ihr auch willkommen, wenn es darum ging, das Leben mit ihm zu teilen? Er war fest entschlossen, ihr keine andere Wahl zu lassen. Er brauchte sie. - 188 -
„Verzeih mir, Nicholas“, bat sie mit bebender Stimme. „Ich hätte auf dich hören sollen.“ „Laß nur, Sarah. Ich kann deine Reaktion verstehen. Woher sollst du ahnen, daß dich jemand über Jahre hinweg mit solchem Haß verfolgt.“ „Das meine ich nicht. Ich sprach von unserem Streit in deinem Ferienhaus. Damals hätte ich dir zuhören und dir glauben müssen. Aber ich war...“ Nicholas ließ sie nicht ausreden. Er zog sie an sich und küßte sie auf die Stirn. „Gott sei Dank“, raunte er ihr ins Ohr. „Ich rede andauernd von etwas anderem, weil ich mich kaum traue, das Thema anzusprechen. Im Grunde hatte ich nur Angst, dich zu fragen, ob du mir noch einmal vergeben kannst.“ „O Nicholas, natürlich. Du hast vollkommen richtig gehandelt. Ich hätte dir vertrauen müssen“, entgegnete Sarah ernst. „Pst, mein Liebling. Das ist jetzt nicht mehr wichtig. ich liebe dich.“ Sie schmiegte sich an ihn. Soviel Glück konnte sie kaum fassen.. Er liebte sie. Das hatte er noch nie gesagt. Vor wenigen Stunden hatte sie noch befürchtet, ihn nie wiederzusehen. Nicholas drückte sie an sich. „Bitte heirate mich, Sarah Ein Leben ohne dich ist für mich undenkbar geworden.“ Sarah war so selig, daß sie nicht sprechen konnte. Aber er las ihr die Antwort von den Augen ab und küßte sie zärtlich auf den Mund. Der Kuß war eine Verheißung für die Ewigkeit. „Wann Sarah? Ende dieser Woche? Wie lange dauert es in Arkansas, bis man die Genehmigung bekommt?“ Sie hatte sich noch nicht von dem Gefühlsansturm erholt, den er mit seinen Küssen in ihr ausgelöst hatte. „Ende der Woche?“ wiederholte sie schließlich. „Aber ich muß in zwei Wochen zurück nach St. Louis.“ „Ich weiß, Liebling. Wenn wir diese Woche heiraten, haben wir noch eine Woche Zeit für die Flitterwochen. Inzwischen habe ich in St. Louis ein größeres Apartment gefunden. Ich glaube, es wird dir gefallen. Es liegt nicht weit von deiner Schule entfernt.“ Sarah musterte ihn ungläubig, dann lachte sie verlegen. - 189 -
„Geht dir das zu schnell? Möchtest du lieber eine große Hochzeitsfeier?“ Nicholas seufzte. „Entschuldige, ich wollte dich nicht überrumpeln. Ich mag deine Familie, und ich hoffe, sie mich auch. Andererseits sehne ich mich nach dir, und ich fürchte, deine Angehörigen wären nicht begeistert, wenn wir einfach zusammen leben. Falls du jedoch mehr Zeit und eine große Hochzeit haben möchtest, werde ich mich eben gedulden.“ „Darum geht es nicht“, erklärte Sarah. „Aber was ist mit dir? Irgendwann wirst du wieder verreisen müssen, und ich bin noch ein Jahr an die Schule gebunden.“ „Ich bleibe in St. Louis. Oder hast du gedacht, ich ließe dich allein - nach allem, was passiert ist? Sarah, du bist mir das Wichtigste im Leben. Ich bin ständig unterwegs gewesen, weil ich nichts Besseres zu tun hatte. Das ist jetzt anders. Ich habe einen Vertrag für ein Buch abgeschlossen. Damit werde ich fast ein Jahr lang beschäftigt sein. Danach müssen wir Pläne schmieden. Zusammen. Außerdem können wir in der Zeit unser Haus bauen. Dann haben wir hier immer eine Bleibe, egal, wofür wir uns entscheiden.“ „Hier in Mountain Springs?“ Plötzlich wurde Sarah alles klar. „Du hast das Grundstück der Caldwells gekauft.“ „Natürlich. Die Lösung ist perfekt. Wir bauen unsere Traumvilla. Tante Cinda bekommt ein neues Haus, und T. J. kann endlich mit seiner Pferderanch anfangen.“ „Tante Cinda?“ wiederholte sie. „Meinst du das Haus an der Straße?“ „Ja. Der Platz ist gut, oder nicht? Er ist nahe genug, um ein bißchen auf sie aufzupassen, und weit genug weg, um ihre Privatsphäre, zu respektieren.“ „Du mußt dir deiner Sache ja sehr sicher gewesen sein.“ „Überhaupt nicht, um ehrlich zu sein. Ich wußte nur, was ich wollte. Außerdem hatte ich gehofft, dich für mich einzunehmen, wenn ich dir zeige, daß ich dir helfen kann.“ „Ach, Nicholas, das ist einfach wundervoll!“ Sie hob ihm das Gesicht entgegen und flüsterte: „Ich liebe dich.“ Sobald er mit den Lippen, ihren Mund berührte, verlor sie sich im Zauber seiner - 190 -
Liebkosungen. Ob sich Nicholas wohl vorstellen kann, daß meine Familie imstande ist, innerhalb von drei Tagen eine Riesenhochzeit auszurichten? überlegte Sarah noch, und danach dachte sie sehr, sehr lange gar nichts mehr.
- ENDE -
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