Ninja-Rache
Sinclair Crew John Sinclair TB Nr. 121 von Jason Dark, erschienen am 09.04.1991, Titelbild: Romero
Yakup ...
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Ninja-Rache
Sinclair Crew John Sinclair TB Nr. 121 von Jason Dark, erschienen am 09.04.1991, Titelbild: Romero
Yakup hatte sich von der Welt entfernt und in die Berge zurückgezogen. Zu schlimm peinigten ihn die Schatten der Vergangenheit. Er lebte wie ein Einsiedler am Rande der Zivilisation, um das Grab des jungen Ali zu pflegen. Shimada hatte ich getötet. Und ihm gehörte Yakups Rache. Irgendwann würde er ihn erwischen. Der Tag kam. Plötzlich zog das Grauen in Yakups stille Welt ein. Shimada schickte seine schlimmsten Boten, die Tengus. Gegen sie zu gewinnen, war beinahe unmöglich. Yakup nahm den Kampf auf. Auch Suko, Shao und mich zog er in den Strudel mit hinein. Gemeinsam gingen wir den Weg der Ninja-Rache...
Er sah sich noch immer so wie vor einiger Zeit, denn das Bild wollte einfach nicht aus seinem Kopf verschwinden. Es war zu stark, zu einprägsam und zu bestimmend für sein weiteres Schicksal gewesen. Er hatte versucht, es zu verdrängen und sich dabei der fernöstlichen Praktiken bedient, aber es brachte nichts. Das Bild blieb. Mal schwächer, mal stärker. Immer wieder kehrte es zurück, wie aus einer gewaltigen Nebelwelt hervorsteigend, als wollte ihn dieses Bild an die Dinge erinnern, die einmal so lebenswert für ihn gewesen waren. Wenn es dann scharf in seiner Erinnerung stand, ließ es sich so leicht nicht mehr vertreiben, und es änderte sich nicht. Es lief immer nach demselben Schema ab. Zumeist drang es nachts in die Träume des Mannes. Dann riß es ihn aus der tiefen Leere des Schlafes, um sie in einen Alptraum zu verwandeln. Yakup Yalcinkaya sah stets denselben schrecklichen Ablauf, in dessen Mittelpunkt er selbst stand. Er lief weg von dem, was ihm einmal lieb und teuer gewesen war. Aber er war nicht allein, auf seinen Armen trug er den steifen Körper eines Toten. Ein Halbwüchsiger noch. Ali, gerade sechzehn Jahre alt. Grausam ermordet, durch den Stich eines Samurai-Schwertes. Das Blut aus Alis tiefer Brustwunde floß nicht mehr, doch darauf hatte der einsame Mann nicht geachtet. Er hatte alles zurückgelassen, das Kloster, seine Freunde, seine Zukunft und auch seine Energie. Er hatte gehen müssen, denn in diesen furchtbaren Stunden konnte ihm niemand helfen. Da mußte er mit seinem Problem allein fertig werden. Er und Ali, das war einmal... Der Junge war ihm zum Schutz und zur Ausbildung überlassen worden. Er hatte im Kloster eine perfekte Erziehung genossen und die asiatischen Kampfsportarten erlernt. Yakup hatte auch versucht, ihm die entsprechende Geisteshaltung zu vermitteln. Daß man Bedürftigen helfen sollte und daß der Griff zur Waffe nur im äußersten Notfall gestattet war. Ali war ein sehr gelehriger Schüler gewesen. Er hatte Yakup und seinen Freunden das volle Vertrauen geschenkt. Und er war auch bereit, sich gegen die Mächte der Finsternis zu stellen, denn er selbst hatte erleben müssen, wie damals in seiner Heimat Marokko dämonische Kräfte seine Eltern töteten. Der Kampf gegen das Böse, gegen Dämonen, Monstren und gefährliche Geschöpfe hatte Vorrang. Da ging es vor allen Dingen um einen Gegner: Shimada, einen untoten Ninja und Samurai. Eine Ausgeburt der Hölle, die in der blauen Festung saß und nicht zu fassen war. Shimada war es, der Ali durch den Schwertstich getötet hatte, und Shimada sollte dafür büßen.
Es war Yakup nach einem harten Kampf gelungen, an das Schwert der Sonnengöttin heranzukommen. Er trug es bei sich und wollte mit dieser Klinge Shimada töten. Bisher ohne Erfolg. Der Dämon mit den grausamen Augen hielt sich zumeist zurück und schlug nur dann zu, wann es ihm paßte. So hatte er das Kloster zerstört und die Getreuen, die noch geblieben waren, zu lebenden Leichen gemacht, um sie in seine Dienste stellen zu können. Er herrschte jetzt - Yakup befand sich auf der Flucht. Doch er war nicht tot, zwar geschlagen, aber nicht außer Gefecht, das sollte Shimada irgendwann einmal spüren. Das Bild des Traums stabilisierte sich. Yakup lag auf seiner Matte. Keine Nebelschwaden nahmen ihm mehr die Sicht, er stöhnte. Dieser Traum wühlte ihn auf. Die Hände des Mannes zuckten einige Male, bevor sie sich zu Fäusten ballten. Der Traum lief weiter, entführte ihn in die Welt der karstigen Berge, in die einsamen Täler, manche fruchtbar, andere stauberfüllt. Er lief wie eine Maschine, und der tote Ali lag auf seinen Armen. Yakup lief hinein in den Sonnenaufgang. Die Kühle der Nacht verschwand, dafür kam die Hitze, doch er hatte mit beiden Extremen nichts zu tun. Irgendwann erreichte er einen Wald und tauchte ein in den kühlen Schatten der Bäume. Erhörte das Plätschern eines Bachs und dachte daran, eine friedliche Welt getroffen zu haben. Wo Frieden war, wollte er Ali begraben! Er besaß kein Werkzeug und war deshalb gezwungen, seine Hände zu benutzen. So schaufelte er Ali mit bloßen Händen das Grab. In seinem Gesicht regte sich nichts. Es war zur Maske erstarrt, doch in seinem Innern kochte eine Hölle. Irgendwann war die Grube tief genug, um Ali hineinlegen zu können. Behutsam hob erden toten Körper des Jungen an und legte ihn in die Erde. Die starren Augen erzählten Yakup in ihrer stummen Sprache noch immer von den unbegreiflichen Dingen, die Ali in den letzten Sekunden seines Lebens erlebt hatte. Er hatte einfach nicht glauben können, daß Shimada gekommen war, um ihn zu töten. Dann war es passiert. Ali fand in der Grube Platz, und Yakup schaufelte das Grab wieder zu. Erst als er zum Abschluß einen schweren Stein auf die letzte Ruhestätte legte, rann eine einsame Träne aus seinem linken Auge an der Wange entlang. Sein Abschied . .. Der Traum endete hier. Yakup träumte nicht mehr von den Dingen, die anschließend passiert waren. Daß er die Strecke noch einmal zurück zu seinem Kloster gelaufen war, daß er im Keller Abschied von dem Leichenbaum genommen hatte und sich bei Nacht und Nebel so heimlich
davongestohlen hatte, wie er gekommen war. Nicht seine Art, in diesem Fall blieb ihm nichts anderes übrig. Yakup hatte nur das Nötigste aus dem Kloster geholt, dabei zählten natürlich seine Waffen mehr als alles andere. Der Kampf war mit Alis Tod nicht beendet, es hatte nur eine andere, noch härtere Phase begonnen. Das lag lange zurück. Fast zwei Jahre war es her. Shi-mada und seine Vasallen existierten noch immer. Einmal hatte er mit großer Macht versucht, die ehemaligen Insassen des Klosters gegen seine Feinde zu schicken, was ihm nicht gelungen war, denn Amaterasu/Shao — Sonnengöttin und Mensch zugleich — hatte seinen Aktivitäten einen Riegel vorgeschoben.* Yakup war allein geblieben. Das Kloster sah er noch als eine Erinnerung an. Er hatte mit dem Gedanken gespielt, nach Asien zu gehen, sich im Hochland von Tibet in einem der Klöster zu verbergen, doch der Gedanke daran wollte ihm nicht so recht gefallen. Es wäre seiner Ansicht nach einer Flucht gleichgekommen, und fliehen vor seinen Feinden wollte er auf keinen Fall. So entschloß er sich zu bleiben und sich dort ein Haus zu bauen, wo auch Alis Grab lag. Yakup lebte in der Einsamkeit des kalifornischen Hochlandes. Weitab von den Farmen, Plantagen, den Touristenrouten, den Wochenendhäusern der Städter. Es hatte ihn keiner besucht, es war nie ein Mensch vorbeigekommen. Die hohen Bäume der Tannen und Fichten boten Sichtschutz. Wasser besaß er immer, und seine Hütte duckte sich gegen den Hang. Yakup gehörte zu den Menschen, die sich autark ernähren konnten. Was er zum Leben benötigte, das baute er selbst an. Da er Geld besaß, konnte er sich den Rest kaufen. Da wanderte er dann tagelang zu Fuß in den nächsten Ort, erreichte ihn in der Mittagszeit, wenn kaum jemand auf den Straßen war, kaufte das Nötigste ein , und verschwand ebenso lautlos, wie er gekommen war. Man erinnerte sich kaum an ihn, obwohl er eigentlich hätte auffallen müssen. Hochgewachsen, sehr muskulös und durchtrainiert. Seine Haare hatte er dunkler getönt. Sie wuchsen so kurz wie ein Pelz auf seinem Kopf. Yakup war kein Ostasiate, sondern Türke. Einer der wenigen Menschen außerhalb des Reiches der aufgehenden Sonne, die sich hervorragend mit den Ritualen und Gebräuchen dieses Landes auskannten. Er wußte natürlich, daß er nicht immer an diesem Platz wohnen bleiben konnte.
* Siehe John Sinclair Band Nr. 648: >Der Tod, der Ninja und ich<.
Er war auch schon ausgebrochen und hatte in London seinen Freund John Sinclair angerufen, um ihn vor Shimada und seinen Schergen zu warnen, die einen Angriff versucht hatten. Doch er hatte John nicht verraten, wo er zu finden war. Wichtig waren auch die Waffen, die sich in seinem Besitz befanden. Nicht nur das Schwert der Sonnengöttin, das einen bestimmten Namen besaß. Kusa-nngi-no-tsuguri — das Schwert, welches Gras bezähmt. Er besaß auch noch die Krone der Ninja und die heilenden Handschuhe, die ihm ein alter Mönch überlassen hatte und deretwegen es zwischen ihm und Shimada zu einem mörderischen Kampf gekommen war. Es waren mächtige Waffen, nur konnte er sie nicht einsetzen, wenn keine Gegner da waren. Daß sie schliefen, daran glaubte er nicht. Irgend etwas würde geschehen, und Yakup war stets wachsam. Wenn die Feinde erschienen, wollte er ihnen entgegentreten und sie so empfangen, wie sie es verdienten. Mit dem Schwert der Sonnengöttin Amaterasu in der Hand. Wann der Zeitpunkt kommen würde, das wußte er nicht. Es war wie immer nach dem schlimmen Traum, Yakup erwachte schweißgebadet. Er stand jedoch nicht auf, sondern blieb auf der Matte liegen und schaute gegen die Decke, die ebenfalls aus rohen Holzbalken bestand. Er hatte die Stellen zwischen ihnen nicht richtig abgedichtet, manchmal blies noch der Wind hindurch. Der Traum war wieder einmal sehr intensiv gewesen und ließ ihn nicht los. Wie eine Statue lag Yakup flach auf dem Rücken, er hörte sein eigenes Herz schlagen und dachte darüber nach, wann es einmal aufhören würde und durch wen. Shimada? Yakup wußte genau, ohne selbst in die Zukunft sehen zu können, daß der Kampf zwischen ihm und diesem verfluchten Dämon aus der blauen Festung unvermeidbar war. Sie würden aufeinandertreffen, das stand fest, das Schicksal hatte längst seine Karten gemischt, doch einen Zeitpunkt wußte keiner von ihnen. Sie hatten Respekt voreinander. Auch Shimada wußte um die Stärke des Yakup Yalcinkaya und war auch über dessen Waffen genau informiert. Sehr gern hätte er die Krone der Ninja besessen, die Handschuhe ebenfalls, doch sie befanden sich in Yakups Besitz, und er hatte beide Dinge sehr gut versteckt. Auch wenn ihm Shimada die Haut in Streifen vom Körper schneiden würde, das Versteck würde er nie verraten. Wie immer nach diesem Traum kehrten seine Gedanken in die Vergangenheit zurück. Erdachtedann an sein Kloster, an die Freunde, an ihr Leben, an die Feinde. Viele Stürme und Angriffe hatte es überstanden, und dennoch war die andere Seite schließlich stärker gewesen. Auch Schuldgefühle plagten Yakup. Er hatte Ali damals allein gelassen
und war in die Eiswüste des nördlichen Kanada gefahren, um sich auf die Suche nach dem Schwert zu machen. Ja, er hatte es gefunden, war zurückgekehrt und hatte einen toten Ali wegtragen müssen. Ich bin schuld. Ich trage die Verantwortung! Wie oft hatten sich diese beiden Sätze in sein Gewissen eingegraben. Solange er lebte, würde er nie darüber hinwegkommen. Er wußte, daß die Nacht noch nicht beendet war, auch ohne daß er auf eine Uhr schaute. Es mußte ungefähr die vierte Morgenstunde sein, die Natur schlief noch, es war Winter geworden, und eine gewisse Kälte hatte auch in Kalifornien Einzug gehalten. Zwar war in seiner Region kein Schnee gefallen, weiter östlich jedoch, in den richtigen Rockies, hatte sich die weiße Pracht längst ausgebreitet. Er stand auf. Nicht müde oder langsam, mit einer ruckartigen Bewegung schnellte er hoch. Neben seiner Liegematte blieb er stehen, er drehte den Kopf und schaute gegen das schmale Fenster. Yakup konnte sich eines nicht erklären. Es war das Gefühl der Gefahr, das plötzlich vorhanden war. Einen Grund konnte er nicht nennen, er hatte nichts gesehen, es war einfach nur das Gefühl, von dieser Gefahr umgeben zu sein. Yakup rührte sich nicht. Er atmete kaum, seine Sinne waren gespannt, auch dann noch, als er sich bückte und das schlichte, aber so mächtige Schwert der Sonnengöttin Amaterasu anhob. Die einzige Waffe, die Shimada Paroli bieten konnte. Er behielt es nicht in der Hand, band den schmalen Gürtel mit der Scheide um und ließ es darin verschwinden. Um die anderen Waffen kümmerte er sich nicht. Selbst die Wurfsterne ließ er zurück. Türen hatte er in sein Haus nicht eingebaut. Er brauchte nur einige Schritte nach vorn zu gehen, um einen anderen Raum zu erreichen. Dort wohnte er, dort befand sich auch der schmale, von ihm gemauerte Kamin, der im Winter Wärme spendete. Jetzt war es abgekühlt. Es roch nach kalter Asche. Auf dem Boden standen einige Bücher. Eine Waschgelegenheit existierte ebenfalls. Die große Schüssel war mit Wasser gefüllt, das Yakup dem nahen Bach entnahm. Seine Tür war verschlossen. Er zog sie vorsichtig auf, ohne das Haus zu verlassen. Im toten Winkel stehend, schaute er hinaus und spürte, wie die kalte Luft über sein Gesicht strich. Es hatte sich in der Nacht stark abgekühlt. Die Temperaturen mußten dicht über der Frostgrenze liegen, aber nicht ein Schauer rann über das Gesicht des Mannes.
Wo lauerte die Gefahr? Sein Gefühl war nicht verschwunden. Also ging Yakup davon aus, daß sie noch vorhanden war. Sie mußte sich innerhalb der nächtlichen Schatten verbergen, die über der Landschaft lagen, wobei diese in einen leichten Nebeldunst getaucht war, der die Rük-ken der Berge den Augen des Mannes vorenthielt. Es gab für ihn keine schlimme oder weniger schlimme Gefahr. Wenn sie vorhanden war, konnte er sie auch als tödlich bezeichnen. Niemand nahm da Rücksicht. Mit einer geschmeidigen Bewegung drückte er sich durch den Spalt und verließ sein schützendes Haus. Er stand im Freien, schaute sich um, eine Hand auf den Griff des Schwertes gelegt. Nichts war zu sehen. Kaum eine Bewegung. Nur der bleiche Dunst bewegte sich lautlos durch das weite 'Tal. Es gab keinen Weg, denn Yakup hatte sein Haus inmitten des Geländes gebaut. Er schaute nach Westen. Wenn sich irgendwelche Feinde blicken ließen, dann würden sie von dort kommen, aber auch dort lag die Natur ruhig und erstarrt. Nichts . . . Yakup ging weiter. Nach zehn Schritten blieb er erneut stehen. Jetzt hatte er den Schutz der Tannen verlassen, auf deren Nadeln eine feine Schicht aus Rauhreif lag. Es hatte in der Nacht tatsächlich gefroren. Die Natur schwieg. Bis auf das in der Stille überlaut wirkende Plätschern des Bachlaufs war nichts zu hören. Yakup hatte den Traum längst verdrängt. Die Vergangenheit existierte nicht mehr, er dachte nur an die Gegenwart und an irgendwelche Feinde im Hintergrund. Aber wo verbargen sie sich? Im dichten Nadelwald? Es war schwer, dort hineinzukommen, denn manchmal wirkten die Bäume wie eine Mauer, die einen Eindringling festhalten wollten. Aber dort bewegte sich etwas! Eigentlich grundlos waren zwei Vögel erwacht und stiegen flatternd in den graudunklen Himmel, um in Richtung Westen zu fliegen. Es waren große Saatkrähen, die sich auch nicht im Winter in wärmere Gefilde verzogen. Yakup drehte sich um. Er schaute dorthin, wo die Vögel in die Höhe geflattert waren. Das mußte einen Grund gehabt haben. Er wollte einfach nicht glauben, daß er der Grund gewesen war, denn er war ein Freund der Tiere. Hatte sie ein anderer gestört? Yakup zog sein Schwert!
Ein Geräusch wie ein schwerer Atemzug entstand, als er es mit einer glatten Bewegung aus der Scheide holte. Für einen Moment dachte er darüber nach, ob er aus seiner Hütte noch andere Waffen holen sollte, darauf verzichtete er. Yakup traute sich viel zu, wenn er das Schwert hielt. Er war ein absoluter Meister, was den Umgang mit dieser Waffe anging. Bisher kannte er nur einen Gegner, der ihm ebenbürtig war - leider Shimada. Sollte er den Weg zu ihm gefunden haben? Yakup versuchte, sich mit diesem Gedanken anzufreunden. Es wollte ihm nicht so recht gelingen, obwohl er andererseits froh gewesen wäre, wenn es endlich zu einer Entscheidung gekommen wäre. Noch blieb er ruhig, aber wer ihn kannte, hätte seine Anspannung sehen können. Nur die Augen bewegten sich. Sie glichen dunklen, funkelnden Diamanten, die in einem kristallklaren Wasser schwammen und seine Gefühle speicherten. Dort wo die beiden Vögel aus dem dichten Wald hochgestiegen waren, befanden sich nicht nur die dunkelgrünen Bäume. In deren unmittelbarer Nähe lag auch das Grab des jungen Ali. Urplötzlich dachte Yakup daran. Für ihn war es wie ein Heiligtum, und er würde keine Gnade kennen, wenn irgend jemand versuchte, sich an dem Grab zu schaffen zu machen. Yakup schaute sich um, bevor er seine Schritte in die Richtung lenkte. Der Ninja war nicht zu hören, er konnte lautlos gleiten wie ein Schatten. Selbst das harte Gras raschelte nicht, als Yakup darüber hinwegglitt. Das Grab lag nicht im Wald, nur direkt an seinem Rand. Er hatte es stets von Unkraut befreit, damit es dort liegen konnte wie eine Insel der Erinnerung. Auch in der Dunkelheit war der freie Platz genau für ihn zu erkennen, doch er sah noch mehr, und er hörte auch etwas. Neben dem Grab hockte ein kompakter Schatten, tiefgeduckt und mit überlangen Armen ausgestattet. Wenn es bei ihm so etwas wie einen Rücken gab, dann wandte ihm dieses Wesen den Rücken zu, denn ein Gesicht konnte Yakup nicht erkennen. Die langen Arme besaßen ebenso lange Finger, die leicht gekrümmt waren, als sie über die Graberde kratzten. Dieses Geräusch gefiel ihm gar nicht, zudem machte das Wesen den Eindruck, als wollte es das Grab aufkratzen oder aufwühlen und die Leiche hervorholen. Alles würde Yakup zulassen, nur das nicht. Ali war für ihn wie ein Heiligtum und sein Gewissen. Er verspürte keine Furcht, als er näher an das Wesen heranschlich, das sich nicht stören ließ und auch weiterhin über die Graberde kratzte. Dabei bewegte sich auch sein Rücken. Bei jedem Vorschnellen der Arme zuckte er auf und ab, als würden durch den Körper Stromstöße
schnellen. Der Ninja beging nicht den Fehler, dicht an die Person heranzutreten, zwei Schrittlängen ließ er Distanz. Erst dann sprach er das Wesen an. Nur ein Zischen aus seinem Mund, ein fremdes Geräusch in der dunklen Nacht. Es reichte aus. Auf der Stelle hüpfte das Wesen herum, vergrößerte sich kaum, aber zwei grausame Augen starrten Yakup aus einer Masse hervor an, die so etwas wie ein Gesicht darstellen sollte. Yakup hatte ein derartiges Gebilde noch nie zuvor zu Gesicht bekommen, er wußte es nicht einzuordnen und ahnte deshalb nicht, daß es sich um einen der gefährlichsten Dämonen handelte, die überhaupt existierten. Es war ein Tengu! *** Sekunden verstrichen, in denen beide Gegner so etwas wie Überraschung zeigten. Doch keiner rührte sich. Auch Yakup bewegte sich nicht vom Fleck, obwohl er sein Schwert bereits festhielt. Er schaute schräg nach unten und dabei zwangsläufig in das >Gesicht< des Wesens, das aus einer breiten, leicht aufgeplusterten Fläche bestand, in der sich die Sinnesorgane nur undeutlich abzeichneten. Dunkel und haarig präsentierte sich die Haut. Die Augen dominierten innerhalb der Fläche. Aus ihnen strahlte Yakup eine derartige Grausamkeit entgegen, daß er diese schon gleichsetzte mit dem Blick der kalten Eisaugen Shimadas. Und damit war er beim Thema. Shimada selbst hatte den Weg nicht zu ihm gefunden, er konnte sich allerdings vorstellen, daß dieses Wesen von ihm geschickt worden war. Die Kreatur besaß auch ein Maul, was Yakup sehr bald sah, als innerhalb des flachen Gesichts Muskeln zuckten und dann eine offene Höhle entstand. Das Maul und die Zähne! Lange Reißer, die einen Menschen zerfleischen konnten und zwischen denen ein dünner Rauch quoll. Dann sprang es vor. Yakup war schnell. Er gehörte bestimmt zu den Menschen auf der Welt, die sich blitzschnell auf neue Situationen einstellen konnten und sich auch wehrten. Hier hatte er Glück. Nicht das Maul mit den Reißzähnen wollte nach ihm schnappen, es waren die überlangen Greifarme mit den Krallenhänden, die wie Dolche durch seine dünne Kleidung stechen wollten.
Der Ninja bewegte sich nicht nur selbst, auch das Schwert machte diese Bewegung mit. Er zog es nach dem Sprung zur Seite, von unten nach oben, und hackte den rechten Greifarm in der Mitte durch. Ein Teil flog davon. Da hing die Kralle noch fest, und sie bewegte sich zuckend in der Luft, als wollte sie nach irgend etwas greifen. Daß sie zu Boden klatschte, sah Yakup nicht mehr, denn sein Gegner war längst nicht erledigt. Er sprang erneut. Yakup sah ihn wie einen haarigen Klotz dicht vor sich auftauchen und mußte wieder sein Schwert schwingen. Über seinem Kopf drehte die Klinge einen Kreis, während sie einen Lidschlag später in den widerlichen Körper hackte und ihn tatsächlich in zwei Hälften teilte. Das Schwert besaß die perfekte Schärfe. Kraftvoll geschlagen, hätte es auch einen Baumstamm geteilt. Den Körper erst jetzt, der nicht den Widerstand entgegensetzte. Was aus den Wunden quoll, sah aus wie Gedärm, aber das konnte der Ninja nicht genau erkennen. Er ging davon aus, diese böse Kreatur erledigt zu haben. Yakup irrte. In zwei Hälften hatte er den Tengu zerteilt, aber jede Hälfte lebte für sich weiter. Und die eine, die noch ihren Arm besaß, startete einen erneuten Angriff. Diesmal erwischte ihn die Klaue. Er hatte tatsächlich den Eindruck, als würden kleine Messer in seine Kleidung hacken, und sie zerfetzten sie in Sekundenschnelle. Daß auf der Haut des Mannes blutige Streifen zurückblieben, verstand sich von selbst. Der Tengu war zu Boden gefallen, und von oben her bohrte ihm Yakup das Schwert in den Balg. Er zerrte es wieder hervor, um sich um die zweite Hälfte zu kümmern, die auf ihn zukugelte und ihn aus seinen roten Glotzaugen anstrahlte. Als es sich in Kniehöhe hochgeschwungen hatte, drosch Yakup abermals zu. Wieder landete er einen Volltreffer. Er zerteilte das Wesen und hieb auch weiter darauf ein, so lange, bis es nur mehr Stückwerk war, wobei er den anderen Teil nicht aus den Augen ließ und feststellen mußte, daß mit ihm etwas Schreckliches geschah. Der Körperteil begann damit, sich zu regenerieren. Plötzlich wuchs aus ihm ein glitschiger Stumpf, vergleichbar mit einem Pfahl, an dessen Ende es noch zuckte, wobei sich dort Finger abspalteten, die sicherlich bald zu einer Klaue wurden. »Das ist nicht wahr!« keuchte Yakup, der die Nerven zu verlieren schien.
Mit einem gewaltigen Sprung erreichte er das Wesen. Noch in der Luft hob er sein Schwert an, das er im nächsten Moment mit vehementer Wucht nach unten drosch. Etwas Undefinierbares spritzte ihm entgegen, möglicherweise eine Mischung aus Blut und Gedärm. Das war ihm egal, er schlug so lange auf das Wesen ein, bis es sich nicht mehr rührte. Hätte er Säure besessen, er hätte sich nicht gescheut, sie über die Reste zu kippen. Tief atmete er durch. Von seiner Verletzung spürte er nichts, zu stark war die Spannung, unter der er stand. Ein Schütteln durchrann seinen Kopf, er verstärkte es, indem er den Kopf schüttelte und auf die Reste schaute, die zurückgeblieben waren. Schrecklich ... Eines sah er nicht. Ein Stück Arm mit der Klaue daran hatte sich hinter seinem Rücken selbständig gemacht und bewegte sich so lautlos wie möglich auf den Ninja zu. Dabei glitt er nicht glatt über den Boden, er bewegte sich wie auf Wellen, einmal oben, dann wieder im Tal, und er kam tatsächlich immer näher an Yakup heran. Der mußte diesen mörderischen Kampf zunächst verkraften. Zum Glück hatte ihn seine Ahnung gewarnt. Einen Überfall dieses Wesens im Schlaf hätte er nicht überlebt. Er bückte sich. Dabei blieb er stehen, und das genau war sein Fehler. So gab er dem wandernden Stück Arm mit der Klaue daran Gelegenheit, noch näher an ihn heranzukommen. Mit der Schwertspitze durchrührte Yakup die leicht dampfenden Überreste des Wesens. Er mußte einige Male schlucken, denn noch immer wußte er nicht, wer ihm diesen Besuch abgestattet hatte. Da griff die Klaue zu! Selbst Yakup erschreckte sich. An seinem rechten Bein und in Höhe der Hacke spürte er den Schmerz wie einen scharfen Biß, der hoch in seine Wade stieg und erst am Knie abflachte. Yakup drehte und bückte sich. Es war schwer für ihn, den Beißer zu erkennen. Dabei stellte er endlich fest, daß es sich um keinen Beißer handelte, sondern um die verfluchte Klaue. Mit der linken Hand griff er durch das Drejeck zwischen seinen Beinen und bekam auch den Ai.n zu fassen. Dicht hinter dem Handgelenk hielt er ihn fest und versuchte, die Hand von seiner Hacke zu zerren. Er schaffte es nicht! Dafür griffen die Klauen noch härter zu, drangen durch seine Haut und gerieten in die gefährliche Nähe der Knochen.
Dieser Griff war so stark wie der Biß eines Kampfhundes. In den nächsten Sekunden mußte Yakup etwas einfallen. Er ließ sich zu Boden fallen, landete auf dem Rücken und riß das rechte Bein mit der daran verkrallten Klaue in die Höhe. Dann schlug er gezielt zu. Sein Schwert trennte einen Teil der Klaue ab. Die Fetzen wirbelten davon, aber erst nach dem dritten Schlag hatte er es geschafft. Da war so gut wie nichts mehr zurückgeblieben, und die Reste, die sich im Gras verteilten, besaßen nicht mehr die Kraft, sich regenerieren zu können. Er hatte gewonnen. Keuchend blieb er zunächst in der Haltung liegen, das verletzte Bein angewinkelt. Er hatte nur flache Riemensandalen getragen, die bei einem Biß kein Hindernis darstellten. Er schaute auf die Hacke, sah die Wunde und auch das Blut, das aus ihr hervorströmte. Yakup hoffte, daß ihm die Klaue keine Sehne zerrissen hatte, rollte sich herum und stand auf, wobei er sein Gewicht auf das linke Bein stemmte und nur dieses belastete. War die Sehne angegriffen? Nein, sie war es zum Glück nicht, sonst hätte Yakup das rechte Bein nicht mehr belasten können. Er blieb stehen und schaute sich um. Aber weitere Gegner sah er nicht. Er war wieder allein. Als er ging, humpelte er, zog das rechte Bein nach und wandte sich dem Grab des jungen Ali zu, weil er sehen wollte, wie weit es dieses Monstrum dort schon getrieben hatte. Neben dem Rechteck blieb er stehen. In der Mitte hatte die Kreatur gewühlt und mit beiden Krallen die Erde aufgekratzt, als wollte sie das hervorholen, was tief in ihr verborgen lag. Warum? Welcher Grund hatte da bestanden? Er wußte es nicht, er wollte jetzt nicht einmal nachdenken. Für ihn zählte nur, daß er die verfluchte Kreatur, die ihm unbekannt war, besiegt hatte. Gewonnen? Nein, wenn überhaupt, dann hatte er nur einen Teilsieg errungen, einen sehr kleinen allerdings. Yakup ging dorthin, wo er sich ein Regal zurechtgezimmert hatte. Dort stand alles, was er für seine persönlichen Bedürfnisse benötigte. Viel war es nicht, doch unter den Dingen befand sich auch eine von ihm nach alten Rezepten selbst hergestellte Wundsalbe, die besser war als die Dinge, die es in den Apotheken zu kaufen gab. Sie würde die Wunde heilen, die er zuvor säuberte. Er verteilte sie sorgfältig und ging erst zu einer bestimmten Stelle, wo er sich bückte. Er schob eine Matte zur Seite. Nun zeichneten sich die Umrisse einer Luke ab, die er anhob.
Das Loch darunter war nicht tief. Es reichte allerdings aus, um die Waffen aufzunehmen, die er vor fremden Augen versteckt hielt. Die Krone der Ninja, die ihren Träger unsichtbar machte, wenn sie auf seinem Kopf saß, interessierte ihn nicht. Sie bestand aus grauem Eisen. In der oberen Hälfte lief sie halbkreisförmig zusammen. Daneben lag ein Paar schwarzer Handschuhe. Es waren besondere Handschuhe, die ein alter und sehr weiser Shaolin-Mönch hergestellt hatte. Handschuhe, die die Schlagkraft eines Menschen vervielfachten, die heilten, aber nicht töteten. In ihnen steckte nicht nur die Kraft des Drachengottes, auch die des großen Geistes Buddha, dem menschliches Leben über alles ging. Sie waren schwarz und etwas Besonderes, weil sie auf ihren Außenseiten eine sehr intensive Bemalung zeigten, und zwar das Zeichen des Drachen. Ein roter Kreis bildete den Außenring. Im Innern war das Abbild des Drachen zu erkennen. Eine Riesenechse mit ihrem langen, peitschenartigen Schwanz, der über dem Rücken des 1 leres lag und bis hin zu seinem Kopf reichte, dessen Maul weit offen stand, als würde jeden Augenblick eine Feuerlohe daraus hervordringen. Und noch eine besondere Eigenschaft besaßen die Handschuhe. Wer sie überzog, bei dem blieben die Finger frei. Sie reichten nur bis zu ihrem Ansatz, paßten sich aber wegen ihrer Dehnbarkeit jeder Handform an. Yakup streckte den Arm aus und holte die beiden Handschuhe hervor. Über seinen Rücken rann ein Schauer, als er sie sich behutsam überstreifte. Er wirkte wie ein Mensch, der sich der Bedeutung dieser Minute sehr wohl bewußt war, und es glich einer rituellen Handlung, wie vorsichtig Yakup damit umging. Als die Handschuhe seine Hände bedeckten, dehnte und spreizte er sie, war zufrieden, denn sie warfen keine Falten. Wie eine zweite Haut hatten sie sich seinen Händen angepaßt. Yakup saß noch auf dem Boden, die Beine ausgestreckt. Das rechte Bein zog er an seinen Körper, damit er sich nicht tief zu bücken brauchte, um die mit Salbe bedeckte Wunde zu erreichen. Sie und die Handschuhe sollten für eine sekundenschnelle Heilung sorgen. Yakup schloß die Augen. Er konzentrierte sich, er mußte eine innerliche Ruhe bei sich einkehren lassen, dann erst beugte er den Körper leicht vor und strich sehr sanft mit dem Rücken der Handschuhe und mit dem Abbild des Drachengottes über die Wunde hinweg. Und nun trat dieses unerklärliche magische Phänomen auf, das ihn noch immer faszinierte.
Sichtbar für ihn schloß sich die Wunde. Sie wuchs von zwei Seiten zusammen. Aus dem normalen Fleisch bildete sich frisches, eine helle Haut zog sich darüber hinweg, und wenige Sekunden später war von der Wunde nichts mehr zu sehen. Ausgeheilt. . . Yakup nickte, als wollte er allein seinen beiden Handschuhen für diese wundersame Tat danken. Die Salbe hatte er nur aus Sicherheitsgründen aufgetragen. Er benötigte sie nicht mehr und wischte sie mit einem Tuch ab. Erst dann stand er auf. Nichts war zurückgeblieben, kein Schmerz durchzuckte sein Bein. Er konnte es bewegen wie immer, konnte es knicken, strecken oder drehen, ohne Schmerzen zu spüren. Das war schon gut. Tief holte er Luft. Plötzlich fühlte er sich besser, er dachte daran, daß er den Kampf aufnehmen würde. Die Handschuhe legte er nicht wieder in das Versteck zurück. Statt dessen zog er sich nackt aus, wusch seinen Körper mit eiskaltem Wasser aus dem Bach und zog sich erst dann seine Kleidung an. Es war keine Kampfkleidung im eigentlichen und erkennbaren Sinne, aber sie bestand schon aus reißfestem Stoff, der so weit geschnitten war, daß Yakup unter ihm wichtige Waffen verbergen konnte. Zum einen das Schwert, ohne das er nie ging. Auch die Handschuhe steckte er ein und hängte noch einen Beutel mit Wurfsternen an seinen Gürtel. Er gehörte ebenfalls zu den Meistern, was die Beherrschung dieser Shuriken anging. Das hatte schon mancher Gegner zu spüren bekommen. Eigentlich wäre die Krone der Ninja auch wichtig gewesen, die aber ließ er zunächst in ihrem Versteck. Wenn er sie brauchte, würde er sie hervorholen. Yakup war mit sich selbst zufrieden, weniger mit der Situation, in der er steckte. Dieser Angriffeines mörderischen Wesens war nicht grundlos erfolgt. Da mußte einfach System dahinterstecken, und er konnte sich nur vorstellen, daß Shimada kräftig mitmischte. Warum? Weshalb hatte er die Leiche seines toten Freundes Ali aus der Erde holen wollen? Vielleicht, um ihn zu locken, ihn auf eine neue Spur zu bringen? Ihm fiel ein, daß sein Versteck zwar vor Menschenaugen verborgen geblieben war, den Nachforschungen eines willenstarken Dämons aber nicht standhalten konnte. Was war zu tun? Yakup Yalcinkaya war ein Mensch, der scharf und logisch nachdenken konnte. Motivlos ging er keine lebensgefährlichen Risiken ein, auch in diesem Fall nicht, doch er war einfach sicher, daß dies hier nicht mehr sein Platz für die nahe Zukunft sein konnte. Er mußte weg. Shimada
hatte ihm den Fehdehandschuh hingeworfen, und er würde ihn aufnehmen und zurückschlagen. Stellte sich das große Problem, wo er Shimada finden konnte. Eine Lösung wußte er auch, denn dieser Dämon reiste innerhalb seiner blauen Festung durch die Zeiten. Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft, das alles schrumpfte bei Shimada zusammen, denn diese Festung war nicht nur einfach ein Haus oder ein Gebäude, nein, sie bestand aus reiner Magie und konnte sich innerhalb weniger Augenblicke so verändern, daß sie eine völlig andere Gestalt annahm und jeweils zu einer lebensgefährlichen Falle wurde. Daß Shimada etwas vorhatte, stand fest. Nur wußte Yakup nicht, welche genauen Pläne er verfolgte, aber ihm war etwas anderes bekannt, Shimada hatte mit großem Vergnügen sein Kloster zerstört. Er hatte es regelrecht zerschlagen und Yakups Diener zu seinen untoten Knechten degradiert. Etwas hatte er jedoch nicht zerstören können. Die Quelle der alten Magie in den finsteren Kellerräumen des Klosters. Dort befand sich das Zentrum. In dieser tiefen Dunkelheit stand der Totenbaum, gespickt mit den Leichen der ehemaligen Klosteräbte, deren Körper zwar dahinmoderten, deren Geister aber durchaus einen Kontakt mit der Person aufnehmen konnten, die an den Leichenbaum herantrat und um Hilfe bat. Für Yakup war es die einzige Möglichkeit, etwas zu erfahren, vorausgesetzt, es gab den Leichenbaum noch. Im Kloster hatte es kein elektrisches Licht gegeben. Die Insassen hatten sich stets auf die Leuchtkraft der Kerzen verlassen, und das wollte Yakup ebenfalls. Deshalb trat er noch einmal an das Regal, um Kerzen und Zündhölzer einzustecken. Danach verließ er das Haus. Fr ging nicht sofort weg. Sein Weg führte ihn noch einmal zu Alis Grab, wo er minutenlang und mit zuk-kenden Mundwinkeln stehenblieb. Ihm kam es vor wie ein Abschied für immer. »Du bist nicht umsonst gestorben, Ali«, flüsterte er und drehte sich abrupt um. Dann ging er weg. Das Ziel lag im Westen. In die Richtung schritt er auch. Ein einsamer Mann, die langsam aufgehende Sonne in seinem Rücken... *** Yakup hatte lange, sehr lange wandern müssen. Und dieser Tag meinte es besonders gut mit ihm. Ein Hochdruckgebiet hatte den Himmel fast wolkenfrei werden lassen. Die Sonne zeichnete sich in der hellblauen Unendlichkeit wie ein
weißgelber Ball ab, aber dessen Strahlen besaßen keine Wärme mehr. Sie tauten zwar das dünne Eis weg, doch die kalte Luft aus dem Norden sorgte für winterliche Temperaturen. Yakup liebte die Einsamkeit. Deshalb mied er die Straßen und Wege. Er behielt nur die Richtung bei, kletterte über Hügel oder durchwanderte Täler und schmale Canyons, die in diesem Gebiet nicht sehr tief waren. Hin und wieder hatte er Tiere gesehen. Mal einen Hasen, auch Füchse rannten vor ihm fort, aber auf Menschen war er nicht gestroffen. Er umging auch die Ortschaften. Immer nach Westen, wie damals vor über zweihundert Jahren die ersten Siedler, die aus Europa gekommen waren, um den Riesenkontinent in Besitz zu nehmen. Seine Gedanken drehten sich nur um ein Thema. Er baute sich innerlich auf, falls es zum großen Kampf mit Shimada kommen sollte, und er nahm sich vor, sich nach Möglichkeit nicht in die Festung hineinlocken zu lassen. Da war er dem Dämon unterlegen. Die war so gut wie unbesiegbar. Das heißt, einmal hatte es Shao in der Gestalt der Sonnengöttin Amate-rasu geschafft, ihren Freund Suko aus dieser Festung herauszuholen. Ob ihr das ein zweites Mal gelingen würde, war mehr als fraglich. Je näher Yakup sich seiner ehemaligen Heimat näherte, um so stärker veränderte sich sein Gefühl. Es war keine Angst, die er spürte, sondern mehr eine Spannung, die sich in ihm ausbreitete. Sie war wie Gummi, das sich dehnte, wieder zusammenzog, abermals ausbreitete und seine Gedanken nur in die eine Richtung lenkte. Das Kloster war brutal zerstört worden. Wenn überhaupt, dann standen nur mehr einige Mauerreste. Shimada und seine Schergen hatten gewütet und so einen Sieg errungen. Aber es gab noch die Welt unter dem Kloster. Der Weg dorthin war zwar beschwerlich, nur wenn jemand vor dem Leichenbaum stand und mit den Geistern der Toten Kontakt aufnehmen konnte, hatte es sich auch gelohnt. In der Ferne sah Yakup eine Staubfahne, die sich über einer Straße verteilte. Er wußte genau Bescheid. Das war die Straße, die auch zu seinem ehemaligen Kloster führte. Kurz vor Erreichen des Ziels hatte der Besucher dann abbiegen müssen, um die Felder und Gartenanlagen zu durchqueren, die das Kloster umgaben. Es war ein wunderschöner Hort für die Menschen gewesen, die sich dort wohl fühlten. Dann aber war Shimada erschienen und hatte alles vernichtet. Grausam, brutal, gnadenlos.
Yakup ballte seine kräftigen Hände zu Fäusten, als er daran dachte, und er schwor sich, abzurechnen. In einem blassen Blau strahlte der Himmel. Und tief darunter zeichneten sich die Umrisse des ehemaligen Klosters ab. Der Begriff ehemalig paßte Yakup zwar nicht, doch er hatte sich damit abfinden müssen, denn er sah, daß von den ehemals so stolzen Gebäuden nur mehr Reste übriggeblieben waren. Durch seine Seele flutete die Trauer, er riß sich zusammen und näherte sich mit langen Schritten dem Ziel. Wo einst das Getreide auf den Feldern in vollem Wuchs gestanden hatte, breitete sich nun Unkraut und struppiges Buschwerk aus, das sehr schnell nachgewachsen war. Wie verloren standen die Trümmer unter der blassen Wintersonne. Nichts mehr erinnerte an das damalige Leben zwischen den hohen Mauern. Auch der Turm, in dem Yakup sein Zimmer bewohnt hatte, war teilweise zusammengesackt. Der Ninja nahm das Bild der Verwüstung, der Trauer in sich auf und stieg schon sehr bald über die ersten Reste hinweg, die einmal starke Mauern gewesen waren. Er wußte noch sehr gut, wie er den Mittelpunkt des Klosters und damit auch die Wege erreichen konnte, die zu seinem Ziel tief unter der Erde führten. Der Wind fing sich in den Resten, er blies in das Gesicht des einsamen Wanderers, als wollte er dessen Tränen trocknen, die in seinen Augen schillerten. Nicht durch alle Lücken schien die Sonne. Sehr bald erreichte Yakup ein Gebiet, wo sich die Düsternis ausbreitete und herumliegendes Geröll ein normales Gehen unmöglich machte. Hier führten auch mehrere Treppen zusammen, deren Stufen ebenfalls unter dicken Steinlawinen verschwunden waren. Wenig später stand er vor dem Schacht. Durch eine Lücke im Trümmerwerk strahlte etwas Licht, das sich allerdings sehr schnell verlor. Innerhalb des hellen Schimmers tanzten unzählige Staubpartikel und es stank nach Verwesung, nach Fäulnis. Beides zusammen drang wie eine unsichtbare Wolke aus dem Schacht in die Höhe, in den sich Yakup würde hineingleiten lassen, was nicht so einfach war, denn er mußte sich in den über dem Schacht schwebenden Korb hineinstellen und die Physik des Flaschenzugs ausnutzen, damit er in die Tiefe gleiten konnte. Der Flaschenzug bestand aus drei mit Kerben versehene Rollen, über die Seile liefen. Yakup kannte sich aus. Er brauchte nur an einem bestimmten Seil zu ziehen. Dieser Mechanismus sorgte dann dafür, daß er in die Tiefe fuhr, ohne sich groß anzustrengen.
Auch der Korb war von einer dicken Staubschicht bedeckt. Das war er eigentlich immer, und Yakup sah es auch nicht als das eigentliche Problem an. Er wußte nicht, ob dieses aus Weidengeflecht bestehende Behältnis auch sein Gewicht aushalten würde. Yakup kletterte mit dem rechten Bein über den Schachtrand, der an die Umrandung eines alten Brunnens erinnerte, zerrte an den Seilen und war zufrieden, daß sie nicht zerfaserten. Das wiederum gab ihm die Hoffnung, den Weg ohne Schwierigkeiten zurücklegen zu können. Vorsichtig stieg er in den Korb. Er überprüfte dann den Boden, drückte einige Male mit den Füßen hart dagegen. Das Holzgestell des Flaschenzugs beschwerte sich ächzend, brach jedoch nicht zusammen. Für ihn war es so etwas wie das Startsignal. Noch einmal prüfte er die Festigkeit des Seils, nickte zufrieden und umklammerte anschließend ein bestimmtes, um daran zu ziehen, denn nur so konnte der Korb mit ihm in die Tiefe gleiten. Es war kein Weg für Menschen mit schwachen Nerven. Die besaß Yakup sowieso nicht, erdachte vielmehr daran, daß Seile und Korb auch die doch relativ weite Strecke über halten würden. Mutterseelenallein ließ er sich in die stockfinstere Tiefe hinab. Auch früher hatte er nur den Weg fahren dürfen, keiner anderen Person war es erlaubt gewesen, aber damals waren seine Freunde noch da gewesen, heute befand er sich allein auf weiter Flur. Während der ersten Yards hatte der Korb noch geschaukelt. Das aber legte sich schnell, als Yakup das optimale Gleichgewicht gefunden hatte und immer tiefer glitt. Das Zittern und Quietschen der Rollen störte ihn nicht. Seine Gedanken eilten bereits voraus in die Tiefe des Schachtes, wo sich der Keller ausbreitete wie eine gewaltige Gruft. Er wußte ja, was ihn dort unten erwartete. Dort stand der geheimnisvolle Totenbaum mit den verwesten Leichen. Ihre Geister hatten ihn stets empfangen. Aber würden sie auch jetzt noch so reagieren wie damals? Oder hatte sich auch bei ihnen etwas verändert? Darüber mußte er einfach nachdenken, während er sich weiterhangelte. Er hatte stets eine bestimmte Zeitspanne gebraucht, um sein Ziel erreichen zu können. Das war auch jetzt nicht anders. Obwohl er nichts sah, wußte er, daß es nicht mehr lange dauern konnte, bis er Grund unter seinen Füßen spürte. Das geschah. Yakup atmete auf. Nur drang in seine Lungen keine frische Luft. Hier stank es widerlich nach Verwestem, nach Moder und altem Fleisch. Der Ninja verließ den Korb und dachte daran, daß dies hier unten einmal zu seiner Welt gehört hatte, in der er sich sehr wohl gefühlt hatte. Hier hatte
er sich den nötigen Mut für die großen Auseinandersetzungen geholt und aus dem Jenseits hervor auch oft genug die entsprechenden Hinweise bekommen. Yakup griff in die Tasche. Er holte die Kerze und die kleine Schachtel mit den Zündhölzern hervor. Wenige Augenblicke später hatte der Docht Feuer gefangen. Das Flackern beruhigte sich, die Kerze brannte ruhig und schuf über ihrer Spitze einen kleinen Kreis, der sich auch an der niedrigen Decke abzeichnete. Altes, sehr feuchtes und von Spinnweben verklebtes Gemäuer umgab den einsamen Mann. Er befand sich in einer Welt, in der andere Menschen vor Furcht vergangen wären. Er aber hatte das Gefühl, nach Hause zu kommen, so jedenfalls war es früher immer gewesen. Und heute? Seltsam, an diesem Tage nicht. Obwohl er nichts sah, was sich verändert hatte, kam er sich doch ziemlich fremd vor in dieser unheimlichen Umgebung. Da war etwas anders geworden. Da hatte sich einiges gedreht, und natürlich brachte er dies in einen unmittelbaren Zusammenhang mit Shimadas Auftreten. Der Leichenbaum war wichtig. Er stand nicht in der unmittelbaren Nähe des Schachtes, sondern tiefer im Gewölbe, wo er von keinen Gangwänden eingeengt wurde, denn er brauchte Platz, um seine Äste auszubreiten. In diesem Wirrwarr aus Zweigen lagen die Leichen wie in alten Betten. Dort moderten sie vorsieh hin, aber sie verwesten nicht ganz. Irgendeine geheimnisvolle Kraft bewahrte sie vor dem endgültigen Zerfall. Den Leichenbaum zum erstenmal zu sehen, war wie ein Schock. Jedensfalls für Fremde. Yakup aber dachte anders. Er freute sich darauf, endlich Antworten auf seine Fragen zu bekommen. Mit vorgestreckter rechter Hand durchwanderte er den Stollen. Das Licht der Kerze wies ihm dabei den Weg und hinterließ auf den Wänden ein zuckendes Schattenspiel, das Yakup wie ein geheimnisvoller Zauber begleitete. Der Gang blieb nicht so schmal. Er endete dort, wo er sich gleichzeitig öffnete und genügend Platz für den Leichenbaum schuf. Weit brauchte Yakup nicht mehr zu gehen. Die letzten Yards bewegte er sich schneller, der Drang in ihm verstärkte sich. Er sah den Baum nicht, aber er hörte die Geräusche. Und die waren einfach schlimm, grauenhaft und widerlich. Ihm drang ein Schmatzen und Schlürfen entgegen, untermalt von einem schon grausam klingenden Knacken, als wäre jemand dabei, einige Knochen zu brechen.
Yakup wollte einen Schrei ausstoßen, statt dessen drang nur ein Zischlaut über seine Lippen. Damit er schneller gehen konnte, schirmte er die Flamme mit der Hand ab, so verlosch sie nicht. Dann stand er vor dem Baum! Er kannte ihn, er kannte die starren Leichen, die alten, staubigen Äste, und er wußte auch, daß sich weder die Leichen noch das Geäst irgendwo bewegt hatten. Im Gegensatz zu jetzt! Im Astwerk bewegten sich die kompakten Schatten, die rote Glutaugen besaßen. Drei zählte er. Und er wußte, wo er sie schon mal gesehen hatte. Vor einigen Stunden hatte eine dieser Kreaturen an Alis Grab gesessen. Jetzt taten sie etwas anderes. Sie hockten im Geäst und beschäftigten sich mit den uralten Toten. Die gräßlichen Geräusche bekamen plötzlich einen Sinn, denn die Tengus waren dabei, die Leichen zu fressen... *** »Nein!« sagte Suko, als er aus dem Schlaf in die Höhe fuhr. »Das darf nicht wahr sein.« »Doch, mein Lieber, ich bin es.« Die Frauenstimme hatte ihm von der Tür die Antwort gegeben. Wie erlöst atmete Suko auf. Es war kein Einbrecher, kein schattenhafter Dämon, der ihn in dieser Nacht besuchte, sondern eine Person, die er liebte. Shao! Die Frau, die ihn hatte verlassen müssen, um den Befehlen der Sonnengöttin Amaterasu nachzukommen und praktisch deren Nachfolge anzutreten, denn sie war die letzte in der Reihe der langen Ahnenkette. Suko schwang sich herum. Auf dem Bettrand blieb er sitzen und fragte: »Willst du ins Bett kommen?« »Im Prinzip gern, doch es geht nicht.« Der Inspektor lachte. »Dann bist du praktisch dienstlich hier, wie ich dich kenne.« »So ungefähr.« Suko stand auf, schritt auf sie zu und umarmte sie. »Das ist mir doch gestattet - oder?« »Immer.« Sie blieben eine Weile so stehen, dachten nur an sich, und es war Shao, die ihren Partner schließlich wegdrückte. »Ich habe mit dir über andere Dinge zu reden.« »Kann ich mir denken.« Suko schielte auf die Uhr. Mitternacht war vorbei. »Wäre es nicht besser, wenn wir John Sinclair zu unserer Unterhaltung bäten.«
»Das wollte ich gerade vorschlagen.« »All right, dann rufe ich an.« Suko lachte leise. »John wird vor Freude ein Tänzchen machen.« Im Wohnraum brannte kein Licht. Suko schaltete es ein, rieb seine Augen und griff zum Telefon. Shao war ihm gefolgt. Sie trug wieder ihre Berufskleidung^ Hose und Jacke aus schwarzem Leder, dazu die Armbrust über den Rücken gehängt und daneben den Köcher mit den Pfeilen. Es war ihre stärkste Waffe, und Shao beherrschte sie perfekt. John hatte sich nach dem vierten Läuten gemeldet. Obwohl Shao einige Schritte entfernt stand, hörte sie sein Fluchen über die Störung bis zu sich. »Hör auf, ich habe Besuch.« »Warum weckst du mich dann?« »Weil es Shao ist, John.« »Gut, ich bin in zweieinhalb Minuten bei dir.« Suko legte den Hörer auf. »Möchtest du einen Schluck zu trinken haben, Shao?« »Nein, danke.« »Dann hole' ich mir ein Wasser.« Als Suko zurückkehrte, hatte Shao mir schon geöffnet, und ich schaute beide verwundert an. »Das müßt ihr mir erklären.« Suko hob die Schultern, während er aus der Dose trank. »Nicht ich, John, sondern sie.« Ich schaute Shao unter den hochgezogenen Augenbrauen an, sie lächelte und nickte. »Es ist eigentlich ganz einfach, John. Er ist wieder aktiv geworden.« Da Suko wieder schluckte, gab ich die Antwort. »Du meinst doch nicht Shimada.« »Doch!« Ich ließ mich in einen Sessel fallen und strich über meine Augen. »Verflucht, da denke ich noch an den letzten Fall, als du im Kloster warst und als Sonnengöttin aufgetreten bist. Ich habe es durch das Bild beobachten können. Dieser Soto Lamar hätte mir mehr gesagt, aber er zog es vor, sich selbst zu töten. Da war die Spur abgebrochen. Wie läuft es jetzt, Shao?« »Noch schlimmer, fürchte ich.« Suko fragte: »Willst du uns Angst einjagen?« »Nein, sicherlich nicht. Ich befürchte tatsächlich das Schlimmste, denn Shimada ist wieder aktiv geworden und hat es geschafft, neue Helfer zu gewinnen.« Ich winkte ab. »Wen könnte der sich schon geholt haben?« »Tengus!« Fast hätte ich mich an meinem eigenen Speichel verschluckt. Dafür wurde ich bleich, und Suko erging es nicht anders. Auch sein Gesicht verlor an Farbe. »Kein Irrtum?« flüsterte er.
»Nein, leider nicht.« »Wieso?« »Soto Lamar hatte Verbindung zum Club der weißen Tauben. Leider habe ich das zu spät herausgefunden, Freunde.« Es war nicht Getue, daß wir so reagierten, denn der Begriff Tengu ließ unseren Blutdruck in die Höhe schnellen. Nicht allein das, wir bekamen auch Angst. Wer waren die Tengus? Für uns die allerschlimmsten aller Dämonen; sie stammten aus Japan. Diese Kreaturen waren keine Zombies, sondern weitaus schlimmer. Man konnte einen Tengu in drei Teile schlagen und hatte ihn noch immer nicht getötet, weil er es immer wieder schaffte, sich zu regenerieren. In Japan selbst erzählte man sich, daß die Tengus mehr als tausend Jahre alt sein sollten. Ihre Seelen suchten sich Gastkörper, das waren zumeist die schwarzen Totenvögel. Sie konnten aber auch einen Menschen übernehmen. Wenn der von einem Tengu besessen war, dann gute Nacht. Da war er kaum zu stoppen. Er hatte eine unbeschreibliche Angriffswut bekommen. Seit kurzer Zeit gab es sie wieder im asiatischen Raum, zum Leben erweckt durch den Club der weißen Tauben, einer starken Verbindung konservativer Männer, die es nicht überwunden hatten, daß die Amerikaner damals im Zweiten Weltkrieg Japan besiegt und gedemütigt hatten. Sie wollten Rache am Westen, sie wollten Japan zu einem Weltreich hochbringen, und sie kannten dabei keine Rücksichten, wobei sie davon ausgingen, daß die Amerikaner auch beim Abwurf ihrer Atombomben ebenfalls keine Skrupel gekannt hatten. Sogar mit den Strigen hatten die Tengus Verbindung aufgenommen, sie liebten die Nähe zu den schwarzen Vögeln, denen sie auch oft genug ihre Seelen überließen. Ihr Verhältnis zu den Menschen kannte ich nicht, wir gingen jedoch davon aus, daß die Samurais ihnen negativ gegenüberstanden, denn diese Wesen paßten nicht in den Ehrenkodex dieser Kaste.* »Jetzt wißt ihr es«, sagte Shao. »Was ist mit Soto Lamar?« »Er ist tot, John. Du hast es gesehen.« »Richtig, Shao. Aber du hast herausgefunden, daß er Verbindungen zum Club der weißen Tauben pflegte. Gibt es da schon eine Spur?« »Eine vage, die ihr allerdings erst einmal vergessen solltet, denn Shimada ist wichtiger. Er hat es tatsächlich geschafft, die Tengus auf seine Seite zu ziehen. Vielleicht ist es ihm gelungen, sie in seine Festung zu lok-ken. Er kennt keinen Ehrenkodex mehr, er will nur die Macht, und das mit Gewalt.« »Wie der Club der weißen Tauben«, sagte Suko.
* Siehe John Sinclair Band 630: »Das Tengu-Phantom«
Shao, die ihre Halbmaske hochgeschoben hatte, bekam einen sehr ernsten Gesichtsausdruck. »Ich befürchte ebenfalls, daß es in diese Richtung laufen könnte. Nun hat Shimada einen Gegner, der sich auch vor einem Tengu nicht fürchten würde.« »Yakup«, sagte Suko. »Erfaßt.« Ich streckte Shao den Arm entgegen. »Aber der ist verschwunden, das weißt du selbst. Ich habe damals nur einen Anruf von ihm bekommen, eine Warnung, mehr nicht. . .« »Stimmt alles. Yakup ist verschwunden, aber er ist nicht tot. Yakup trauert, weil er es nicht überwinden kann, daß Ali durch Shimada ermordet wurde und sich die Schuld am Tode des Jungen gibt. Das ist eine Tatsache.« »Nein, das ist Unsinn!« widersprach ich. »Willst du es ihm ausreden?« »Dazu müßte ich erst einmal wissen, wo er sich aufhält.« »Noch in den Staaten.« Wir horchten beide auf, und Suko fragte: »Verflixt, Shao, du weißt mehr als wir!« »Nur wenig. Es rumort in den anderen Dimensionen. Die Sonnengöttin hat festgestellt, daß sich etwas veränderte. Einiges befindet sich im Umbruch. Shimada hat natürlich nicht vergessen, welche Niederlagen ihm Yakup beibrachte. Er besitzt die Krone der Ninja, auch die Handschuhe sind unter seiner Kontrolle. Shimada hätte sie gern gehabt, hat sie aber nicht bekommen. Das heißt natürlich nicht, daß er seine Pläne aufgegeben hätte, er hat sie nur umstrukturiert. Wahrscheinlich hat man ihm vom Club der weißen Tauben gewisses Bedingungen gestellt. Um die zu erfüllen, muß Shimada den Rücken freihaben, das heißt, er wird versuchen, Yakup zu vernichten.« »Weißt du das genau?« fragte Suko. »Nein, natürlich nicht. Es ist eine Annahme. Allerdings weiß ich, daß Shimada sich nicht mit der Vernichtung des Klosters zufrieden gibt. Er hat den Ring enger gezogen, und er will jetzt direkt an seinen Feind heran.« »Ist er das schon?« »Ich befürchte es. Jedenfalls deuten Spuren darauf hin, daß er sich dem alten Kloster genähert hat.« »Da wird er Yakup nicht finden!« rief ich. »Er kann ihn dorthin locken.« Ich schaute Shao an. Ja, sie hatte recht. Er könnte den Ninja dorthin locken. »Das sieht nicht gut aus«, murmelte Suko. Shao winkte ab. »Ich denke allerdings auch, daß sich Yakup wehren kann. So leicht läuft er nicht in eine Falle, davon bin ich überzeugt. Nur sollten wir ihn unterstützen.« »Also ins Kloster«, schlug Suko vor.
»Würde ich von abraten. Ich habe einen anderen Plan. Eine Spur zum Club der weißen Tauben führt nach Frisco. Ich glaube, daß wir dort den Hebel ansetzen sollten.« Ich schaute Suko an. »Was ist deine Meinung?« Er breitete die Arme aus. »Es gibt nur wenige Flecken auf der Welt, wo das Wetter mieser ist als zur Zeit hier in Eondon. Ich würde gern fliegen.« »Einspruch«, sagte Shao. Suko lachte. »Du willst uns mit auf die Reise nehmen?« »Ja, wir müssen uns auf die Kraft der Sonnengöttin verlassen. Sie hat mir mitgeteilt, daß sie noch einmal nachgibt, weil die Gefahr eben so immens groß ist.« Als ich lachte, da schauten mich beide verwundert an. Suko wollte wissen, was ich so spaßig fand. »Das kann ich dir genau sagen, Alter. Das Gesicht unseres Chefs, wenn er in einigen Stunden das Büro betritt und die beiden leeren Stühle sieht.« »Du kannst ihn ja anrufen«, schlug Suko vor. Ich stand auf und winkte mit beiden Händen ab. »Gott bewahre, nur das nicht.« Dann verließ ich die Wohnung, um mich umzuziehen. Die Müdigkeit war schlagartig vergessen. Dafür spürte ich im Magen einen widerlichen Druck. Das lag nicht am letzten Essen, sondern an dem Wissen, daß wir es mit Tengus zu tun bekamen... *** Yakup hatte mit schlimmen Dingen gerechnet, was jedoch da vor seinen Augen ablief, war unbeschreiblich. Erstand da, als hätte ihn jemand einfach abgestellt. Er wollte denken, aber er konnte es nicht. Sein Gehirn war eingefroren. Nichts lief mehr. Er dachte an die Toten und daran, daß in diesem Baum auch ein Platz für ihn reserviert gewesen wäre. Nicht daß er sich auf diesen Zeitpunkt gefreut hätte, aber er hatte doch gewußt, wo sein eigentlicher Platz nach dem Ableben war. Es hatte zwischen ihm und den Geistern der Toten eine Verbindung gegeben, die Körper waren eigentlich unwichtig gewesen, doch nun änderte sich alles schlagartig. Diese furchtbaren, kaum zu vernichtenden Kreaturen waren erschienen, um die Leiber zu vernichten. Sie reagierten da wie Ghouls, und sie ließen sich auch von dem einsamen Zuschauer nicht stören. Es dauerte eine Weile, bis sich Yakup wieder bewegen konnte und die Kerze zu Boden stellte. Er brauchte die Freiheit seiner beiden Hände
und legte die rechte Hand auf den Schwertgriff. Seine Wurfsterne ließ er stecken, denn er glaubte nicht daran, daß sie eine dieser Kreaturen vernichten konnten. Es gab ein schleifendes Geräusch, als er die Waffe aus der Scheide zog. Yakup ließ sich Zeit. Sein Blick glitt durch das verwinkelte, graue und wie abgestorben wirkende Geäst des Totenbaumes, in dem auch Spinnweben hingen, die zwischen den Zweigen klebten. Er suchte sich das Monstrum aus, das ihm am nächsten war, das er mit einem Hieb erreichen konnte. Links von ihm und im unteren Bereich, dabei noch im Lichtschein der brennenden Kerze bewegte sich das schwarzbehaarte Wesen mit dem Reißmaul. Zwischen den Zähnen klemmte ein langer, bleicher Knochen, der vom Staub grau gepudert war. Das Wesen wollte er haben! Yakup trat vor. Er nahm Augenmaß, hob seine Waffe schon an, doch es kam alles anders. Plötzlich fauchte die Kreatur auf. Sie sprang hoch, zwei Äste zerknackten unter dem Druck, dann war das schwarze, böse Etwas verschwunden, hatte sich fluchtartig zurückgezogen in die oberen Regionen des Leichenbaumes. Yakup war wütend. Er wollte ihm trotzdem folgen, als er das Flattern hörte und einen Moment später die zuckenden dunklen Schatten sah, die über seinen Kopf hinweghuschten, ohne daß sie ihm etwas taten. Er sprang zurück, drehte sich — und schaute auf drei Vögel, die in unterschiedlicher Höhe durch den dunklen Gang flogen und in Richtung Schacht verschwanden. Es hatte auch keinen Sinn, einen Wurfstern hinter ihnen herzuschleudern. Der wäre nur vergeudet gewesen. Für eine Verfolgung zu Fuß war Yakup nicht schnell genug. Er mußte sich eingestehen, daß er wieder einmal verloren hatte. Was blieb zurück? Nur der Baum und vielleicht noch einige starre Körper, so genau konnte er das nicht erkennen. Am meisten aber sorgte es ihn, daß die Kreaturen es geschafft hatten, in diesen Teil des Klosters zu gelangen. Und den Weg konnte ihnen nur Shimada gewiesen haben. Es gab einfach keine andere Möglichkeit. Was tun? Yakup fühlte sich so leer und ausgebrannt. Man hatte ihm vor seinen eigenen Augen die letzte Hoffnung geraubt. Jetzt ging nichts mehr. Shimada war der vorläufige Sieger. Hatte es noch Sinn, nachzuschauen, wie viele der alten Leichen noch innerhalb des Baumes existierten? Seine Gedanken drehten sich darum, doch sie wurden abrupt unterbrochen.
Auf einmal war die Stimme da. Shimada! Er hörte ihn reden, aber er sah ihn nicht. Sicherlich hockte der verfluchte Dämon gut versteckt in seiner blauen Festung, die ja ständig eine andere Getalt annehmen konnte. Sie erweiterte sich wie ein gewaltiger Berg oder schmolz zusammen auf die Größe eines Mauselochs. Dazwischen gab es noch alle anderen Möglichkeiten. »So sieht ein Verlierer aus, Yakup!« »Nein!« widersprach der Ninja. »So sieht kein Verlierer aus. Ich freue mich, daß ich dich höre. Aber wir sollten es austragen. Zeige dich. Ich will die Entscheidung!« »Die will ich auch!« »Dann komm!« »Noch nicht, Yakup! Ich habe dich bisher gequält, das stimmt. Es reicht mir nicht, ich möchte dich weiterhin quälen. Ich möchte dich vor allen Dingen am Boden sehen, verstehst du das? Du sollst am Boden liegen und wimmern. Du sollst glasklar erkennen können, mit wem du es hier zu tun hast.« »Das weiß ich.« »Ich werde dich fertigmachen und dann erst vernichten.« »Warum? Weshalb nicht sofort? Was stört dich? Oder bist du feige geworden?« »Nein, nicht ich, Yakup! Wir werden noch kämpfen, keine Sorge. Aber ich verfolge andere Pläne. Ich habe Verbündete gefunden, die sich an alte Dämonen erinnert haben. Selbst ich hatte sie vergessen. Du hast sie gesehen, Yakup. Du hast sogar einen von ihnen töten können, was selten genug vorkommt, denn sie sind so gut wie unbesiegbar.« »Was sind das für Wesen?« »Tengus!« erklärte die Stimme aus dem Nichts. Yakup schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, ich kenne sie nicht. Sie sind mir kein Begriff.« Shimada bewies, daß er auch lachen konnte. Es hörte sich mehr an wie ein Dröhnen. »Das ist nicht weiter schlimm. Du wirst sie noch näher kennenlernen.« »Wann?« »In der nächsten Zeit. Es sind die besten Verbündeten, die ich je gehabt habe. Du kannst alle anderen dagegen vergessen. Die Samurais, die Ninja — alle. Was sind sie schon gegen einen Tengu? Er zerreißt sie in der Luft. Vielleicht bekommst du dies noch einmal zu sehen. Ich aber bin auf dem Weg zur Weltherrschaft. Ich und der Club der weißen Tauben haben uns wieder an die Ursprünge erinnert, die das gewaltige Reich Japan einmal groß gemacht haben.« »Damit kommst du nicht durch.« »Doch, wir komen durch, denn wir werden alle Hindernisse, dich eingeschlossen, aus dem Weg räumen.« »Ich bin bereit.«
Shimada amüsierte sich. »Das weiß ich, doch ich habe von Hindernissen gesprochen, also in der Mehrzahl. Es gibt noch welche, die ich nicht mag, die ich hasse.« »Kenne ich die?« »Und ob du sie kennst. Eines der Hindernisse steht genau vor dir, Yakup.« Der Ninja schrak zusammen. Es konnte nur der Leichenbaum gemeint sein. Als Hindernis sah er ihn nicht an, doch Shimada mußte anders darüber denken. Er war ihm schon immer ein Ärgernis gewesen, weil die Geister der Verstorbenen es geschafft hatten, auch durch den Baum entsprechenden Kontakt aufzunehmen. Wenn er und die Geister nicht mehr waren, gab es diese Brücke nicht mehr. Der Ninja ging einen Schritt nach vorn, als wollte er den Leichenbaum beschützen. Dann schrak er zurück, denn hinter oder zwischen ihm flammte es plötzlich auf. Nein, es war kein Feuer, wenn es auch im ersten Augenblick so ausgesehen hatte. Es war ein blaues, gefährliches Licht, in das dunkle, ebenfalls blaue Schatten hineindrangen, aber dennoch nicht so düster waren, als daß sie die beiden Augen überdeckt hätten, die sich groß, kalt und grausam darin abzeichneten. Die Augen des Shimada! Schlimmeres konnte es nicht geben. Wer in sie hineinschaute und über ihn nicht Bescheid wußte, bekam es mit der Angst zu tun. Es sollte in früheren Zeiten Menschen gegeben haben, die nach dem Anblick der Augen Harakiri begangen hatten. Yakup blieb stehen! Er wußte, daß sie zwar zu Shimada gehörten, leider aber nur eine Projektion waren, wie auch das Licht, das für den Dämon so etwas wie ein schützender Vorhang war. Der Ninja ließ sich nicht einschüchtern. Er versuchte, Shimada aus der Reserve zu locken. »Da bist du ja. Wenn du dich jetzt in deiner normalen Gestalt zeigst, können wir es austragen.« »Später, das sagte ich dir doch. Und das ist keine Ausrede. Erst sollst du dabei zuschauen, wie auch die letzte Verbindung zu deinen Helfern zerstört wird. Sieh auf den Leichenbaum!« Das tat Yakup bereits die ganze Zeit über. Doch nach den Worten des Dämons fing die Veränderung an. Plötzlich zuckten halbkreisförmige Funkenspuren aus dem Zentrum des Lichts. Sie,waren wie Ketten, deren Glieder sehr dicht zusammenhingen. Sie schlugen ihre Bögen, sie erwischten die Äste und Zweige. Es
dauerte nur Sekunden, bis sie es geschafft hatten, den Baum in Brand zu setzen. Überlaut hörte sich das Knistern an. Das Geäst zersprang mit knackenden Lauten, und ein Geräusch übertönte dabei alle anderen. Es war ein Schrei! Yakup Yalcinkaya hatte ihn ausgestoßen. Wild, grausam, enttäuschend, gepaart mit Schmerz und einer irren Wut. Er stand breitbeinig vor dem brennenden Leichenbaum und sackte auch ebenso breitbeinig in die Knie, als wollte er eine neue Form des Spagats ausprobieren. Nichts konnte den in hellen Flammen stehenden Leichenbaum noch vor dem Untergang retten. Da mischten sich magisches und normales Feuer miteinander, und nicht nur das Astwerk wurde ein Raub der Flammen, das gleiche geschah mit den Leichen. Sie hatten zuvor in Astgabeln oder anderen Stellen gelegen, wo sie einen entsprechenden Halt bekommen hatten. Der war einfach zerrissen worden. Die Kraft des Feuers hatte die Leichen in die Luft geschleudert und sie zu glühenden Teilen gemacht, die vor Yakups Augen von der Kraft des Feuers zersprengt wurden. Heiße Asche rieselte zu Boden und auf Yakup Yalcin-kaya nieder, für den in diesen langen, schrecklichen Augenblicken ein Traum zerbrach. Er kniete vor dem brennenden Baum, sein Gesicht zuckte, die Augen bewegten sich, und seine Hände hielt er ausgestreckt, als wollte er die Flammen noch zurückhalten. Shimada war stärker! Er stand als ein Abbild hinter der Flammenwand, und seine blauen Augen überstrahlten selbst das Feuer. Aus dem Maul drang ein tiefes, widerliches und häßliches Gelächter. Er war derjenige, der die Zerstörung wollte, und das hatte er erreicht. »Demütigen, Yakup, werde ich dich. Ich habe dir versprochen, daß ich dich demütigen werde. Weißt du das? Hast du das genau gehört und behalten?« Der Ninja gab keine Antwort. Er war geschlagen worden, er hatte verloren und wollte mit Shimada nicht reden. Die Stimme des Dämons versickerte, nur die Geräusche des Feuers umgaben den einsamen Mann. Rauch wallte ihm entgegen und hüllte ihn ein. Er stank widerlich, denn an einigen Toten hatten noch Fleischreste gehangen, die ebenfalls mit verbrannt waren. Trotz der äußerlichen Zerstörung des Klosters hatte er hier noch ein Stück Heimat gefunden. Dieser letzte Rest unter der Erde, doch auch der war ihm genommen worden. Es war das Ende, und nur er hatte überlebt — bis jetzt. Dabei fragte er sich, ob es überhaupt einen Sinn ergab, daß auch er noch am Leben war. Ihm war zuviel genommen worden. Shimada und seine Schergen hatten sich letztendlich als stärker erwiesen.
Mit zeitlupenhaft langsamen Bewegungen stand er auf. So reagierte nur jemand, der am Ende ist. Er schaute auf die glühenden Reste. Deralte Leichenbaum war ineinandergefallen. Ein Haufen Asche, in dem die letzten Teile verglühten, mehr war davon nicht zurückgeblieben. Wie oft hatte er vor dem Baum gestanden und mit den Geistern derToten Kontakt aufgenommen. Sie waren es immer gewesen, die ihm den Weg wiesen. Das war jetzt vorbei. Trotzdem versuchte er es. Auch wenn er nur vor den Resten stand, wollte er die Konzentration finden, die nötig war, um die Geister in den anderen Welten zu finden. Es gelang ihm trotz aller Mühen nicht, weil der Leichenbaum mit seinen Toten fehlte. Die starren Körper hatten die Botschaft des einsamen Kämpfers weitergeleitet und für Reaktionen gesorgt. Das war vorbei, vergessen, vergangen. Yakup drehte sich um. Am liebsten hätte er seine Hand gegen die Augen gepreßt, um nichts mehr von der Welt sehen zu müssen. Doch er war Realist genug, um zu wissen, daß Shimada noch längst nicht aufgegeben hatte. Wenn er aufräumte odervernichten wollte, dann blieb er nicht auf der Stelle stehen, da ging er dann weiter, da würde er die furchtbaren Taten bis zum bitteren Ende durchziehen. Yakup spürte die Stiche in der Brust. Er war stets ein Optimist gewesen, allmählich wandelte sich seine Überzeugung. Plötzlich kam er sich wie jemand vor, der auf der Straße des Verlierers immer rascher in die Tiefe rutschte und irgendwo landen würde, wo ihn das Feuer der Verdammnis erwischte. Wie ein gebrochener Mann ging er zurück zum Schacht. Manchmal stützte er sich aufsein Schwert, und bei jeder Bewegung schüttelte erden Kopf, als könnte er es nicht fassen, was ihm widerfahren war. Wenn Shimada auch den Korb oder die Seilwinde zerstört hatte, sah es böse für ihn aus, aber darauf hatte der Dämon verzichtet. Er führte seine eigenen Pläne durch, und eine Person wie Yakup spielte darin eine gewichtige Rolle. Müde kletterte er in den Korb, blieb dort für eine Weile stehen, bevor er sich den Seilen zudrehte, um sich in die Höhe zu befördern. Er umfaßte den Strick mit beiden Händen, zog daran und hatte den Eindruck, daß er nichts bewegte. Seine Muskeln waren schlapp geworden. Die innere Leere hatte sich auch auf seine körperliche Form übertragen. Irgendwann wurde ihm klar, daß er nicht für immer hier unten bleiben konnte, denn er merkte, wie er anfing zu frieren. Mit müde aussehenden Bewegungen zerrte er an dem Strick. Der Korb schaukelte zunächst, dann hob er vom Boden ab, und der einsame Ninja zog sich hoch. Diesen Weg hatte er oft genommen. Nie aber hatte er so lange gedauert wie an diesem Tag der großen Niederlage. Auf dem Weg nach oben war
er hin und wieder versucht, einfach aufzuhören, dann mußte er sich jedesmal einen Ruck geben, um weiterzumachen. Wie lange es dauerte, bis er sein Ziel erreichte, wußte er nicht zu sagen. Irgendwann jedenfalls hatte er es geschafft und konnte aus dem Korb klettern. Müde schwang er sich über den gemauerten Brunnenrand hinweg. Sein Kopf dröhnte, er steckte voller schlimmer Gedanken, die Yakup nicht kanalisieren konnte. Zwischen Schutt und Geröll blieb er stehen, gestützt auf das Schwert der Sonnengöttin. Staub klebte in seinem Gesicht. Zusammen mit dem Schweiß sah es aus, als hätte sich über die Haut eine schmutzige Ölspur gelegt. Er atmete tief durch, blickte geradeaus gegen das alte Mauerwerk, das ihm und seinen Getreuen einmal Schutz geboten hatte, und er dachte dabei an die neuen Helfer an der Seite des gefährlichen Dämons. Tengus waren es. Der einsame Ninja dachte über diesen Begriff nach. Er fragte sich, ob er diese Wesen hätte kennen müssen. Im Prinzip schon, auch wenn sie einer ihm fremden Mythologie entstammten. Es waren Wesen, wie er sie noch nie zuvor erlebt hatte. So gefährlich und gleichzeitig so einmalig in ihrer Grausamkeit und Widerstandskraft. Er dachte auch darüber nach, wie er sie einstufen sollte, doch die Lösung wollte ihm einfach nicht einfallen. Sie hatten sich in schwarze Vögel verwandelt. Nicht in Geier, Adler oder Falken, sondern in übergroße Raben, die auch als Totenvögel bekannt waren. Kamen sie von dort? Je länger sich der Ninja darüber den Kopf zermarterte, um so mehr stellte er fest, wie wenig er doch eigentlich wußte. Die andere Seite war ihm stets einen Schritt voraus, und daran konnte er beim besten Willen nichts ändern. Zwischen den Trümmern war es kühl und düster. Das Licht des hellen Tages drang nur an bestimmten Stellen in das Gebiet der Verwüstung. Da sah es dann aus, als hätte jemand Schleier ausgebreitet, die sich irgendwo verloren. Er drehte sich um und ging. Vorbei an den eingestürzten Zellen seiner Getreuen. Er passierte auch die Küche, von der ebenfalls so gut wie nichts vorhanden war. Nur der lisch stand noch dort. Er hatte dankseiner schweren Eichenplatte den Einstur/, wie durch ein Wunder überlebt. Mit dem Schwert schabte der Ninja über die Staubschicht und hinterließ einen Streifen. In den Turm des Gemäuers, wo er und Ali gelebt hatten, konnte er nicht mehr hinein. Da waren die Stufen der Treppe zusammengebrochen und hatten alles verschüttet.
Durch eine Lücke schob er sich nach draußen. Der Tag war herrlich, die Sonne strahlte blaß vom winterlichen Himmel. Yakup kam sich vor wie jemand, der aus der tiefen Hölle gekommen und in das Licht hineingetreten war. Nicht einmal Wolkenstreifen verteilten sich auf dem seichten Hellblau des Firmaments. Deshalb fielen ihm auch die drei Punkte auf, die hoch über seinem Kopf schwebten und dort ihre Kreise zogen. Da sie dicht beisammen blieben, erinnerte ihr Flug an eine Formation, was den Ninja mißtrauisch machte. Wer sich derart bewegte, der tat das nicht aus freien Stücken, der hatte etwas vor. Natürlich waren ihm augenblicklich die verwandelten Tengus eingefallen. Drei rabenähnliche Tiere hatten ihren Weg durch den Gang in die Freiheit gefunden. Es gab keinen Grund für sie, wegzufliegen, wenn sie zu Shimada gehörten. Sie konnten von ihm als Aufpasser durchaus eingesetzt worden sein. Yakup steckte sein Schwert zurück in die Scheide. Er trat bis in den Schatten einer noch stehenden und relativ hohen Mauer, um den Flug der Tiere auch weiterhin zu beobachten. Die Höhe blieb. Wenigstens konnte er keine Veränderung feststellen, aber ihre Kreise besaßen nicht mehr den großen Umfang wie bei der ersten Entdeckung. Mittlerweile zogen die Vögel sie enger, als hätten sie inzwischen ein Ziel ausgemacht. Was? Yakup dachte daran, daß Shimada mit allen Tricks arbeitete. Nicht nur er war ein Meister der Verwandlung, wenn er in seiner blauen Festung steckte, seine Helfer reagierten ähnlich und ließen einen Gegner oft genug im Unklaren, bis sie dann blitzschnell und überraschend zuschlugen. Yakup beobachtete auch weiterhin die drei Vögel. Von Shimada und seiner Festung sah er keine Spur. Ihm reichte es aus, seine Beobachter geschickt zu haben. Und die fielen plötzlich nach unten! Die Steine, die irgend jemand losgelassen hatte, sackten ab, als wollten sie sich selbst zerstören, indem sie auf den karstigen Boden droschen. Soweit ließen sie es nicht kommen. Sie warteten zwar bis dicht vor dem Aufprall, dann streuten sie in drei verschiedene Richtungen hinweg, wie Flugzeuge bei einem Kunstflug. Sie stachen wieder in den blauen Himmel hinein, und Yakup ließ den Griff seines Schwertes los, den er sicherheitshalber umklammert hatte. Die Vögel blieben in einer gewissen Höhe und setzten sich dort fest. Manchmal löste sich einer aus der Gruppe, flog in Richtung Osten davon, drehte aber sehr schnell wieder, um zu den anderen Tieren zurückzukehren.
Yakup begriff nicht so recht. Möglicherweise wollten ihm diese Tiere ein Zeichen geben, und als er darüber nachdachte, kam ihm plötzlich ein schlimmer Verdacht. Als hätten die Tiere ihn verstanden, rotteten sich zusammen, um einen Augenblick später gemeinsam den gleichen Kurs einzuschlagen. In Richtung Osten. Dort lag der gewaltige Kontinent Nordamerika praktisch vor ihnen in all seiner Weite und seiner wilden Landschaft. Aber es gab noch etwas anderes im Osten. Yakups Hütte und Alis Grab! Plötzlich hatte es der Ninja sehr eilig... *** Das Boot schaukelte auf der langen Dünung. Wir hatten es uns bei einem Verleiheram Hafen zu einem horrenden Preis gemietet und waren damit hinausgefahren an die westlichste Seite der Stadt San Franzisco, denn von dort konnten wir am besten durch die starken Ferngläser unser Ziel beobachten. Der Tip stammte von Shao, die sich zwischen Suko und mich hingesetzt hatte, die Beine gegen eine Strebe der Reling stemmte und ebenso wie wir eine Mütze mit Schirm trug, um uns vor dem hellen Sonnenlicht zu schützen, das sich auch auf den Wellen des Pazifiks widerspiegelte und dort zu einem gekräuselten Meer aus hellem Licht verlief. Südlich von uns, gar nicht einmal weit entfernt, lag das Bauwerk, für das Frisco weltberühmt geworden war — die Golden Gate Bridge! Ein Traum, ein auch jetzt futuristisch wirkendes Gebilde aus Stahl und Beton, ein Wunder der Technik, über das die Fahrzeuge in langen Kolonnen rollten. Jeden Morgen lag sie versteckt im tiefen Nebel, um später aus ihm hervorzudringen wie aus einer anderen Welt kommend. Wir hatten das Schauspiel leider nicht erleben können. Als wir unseren Beobachtungsposten einnahmen, war sie schon zu sehen gewesen. Aber dafür hatten wir keine Augen, auch wenn wir hin und wieder zu ihr hinschielten. Ein anderes Ziel war wichtiger, und das besaß ebenfalls einen berühmten Namen. Presidio! Fort Presidio, besser gesagt. Der gewaltige Militärstützpunkt der amerikanischen Marine, der eine Stadt und gleichzeitig eine Anlage für sich war. Ein großes Gebiet mit Kasernen, Straßen, Golfplätzen/Leichen, Hügeln und Ebenen.
Bewohnt von den Marines, von denen einige abgezogen worden waren, um am Golf einen irren Diktator zu stoppen. Es war bestimmt nicht leicht, auf dieses Gelände zu gelangen. Die Einfahrten wurden gut bewacht, und auch von der Seeseite her mußte mit Schwierigkeiten gerechnet werden, obwohl die Zufahrt zur Golden Gate durch das Gelände führte. Und sicherlich unmöglich war es, in die Zentrale zu gelangen. »Müssen wir tatsächlich dort hin?« fragte Suko. »Ja.« Es entstand eine Denkpause, die Suko wieder unterbrach. »Die Besucher werden doch herumgeführt.« »Klar«, erwiderte Shao. »Nur werden sie den Teil des Programms schon abgehakt haben.« Suko kapitulierte. »Ich sehe schon, daß du uns mal wieder um vier Nasenlängen voraus bist.« Sie gab es zu. »Das kann schon sein, nur die hohen Militärs wissen nicht, wen sie sich da in ihr Nest geholt haben. Wenn ich einen Vergleich finden müßte, so würde ich von einem tödlichen Kuckuck sprechen, der alles sprengen kann.« Mit dem tödlichen Kuckuck hatte Shao die Personen gemeint, die als Besucher aus Japan gekommen waren, um zusammen mit den Amerikanern über militärische Strategien nachzudenken, besonders über diejenigen, die sich an den Küstenregionen abspielten. Damit war Japan nun reich gesegnet. Diese Informationen hatten wir aus der Zeitung. Mehr wußte Shao, denn ihr war bekannt, daß sich innerhalb der japanischen Delegation auch Mitglieder des Clubs der weißen Tauben befanden. So etwas peitschte die Gefahr natürlich hoch. Zwar gehörte Japan zu den Staaten mit den geringsten Ausgaben für Verteidigung, aber innerhalb des Landes war es doch zu starken Gegenströmungen gekommen. Gruppen hatten sich gebildet, die dies nicht mehr länger hinnehmen wollten. Japan war eine Wirtschaftsmacht, es sollte auch militärische Verantwortung übernehmen. Daß sich der Club der weißen Tauben darin besonders hervortat, brauchte nicht extra betont zu werden. Diese Mitglieder dachten nur an Vergeltung, denn sie hatten den Zweiten Weltkrieg nicht vergessen. Sie innerhalb des Forts zu wissen, konnte uns schon Unbehagen bereiten, denn sie waren die Wölfe im Schafspelz, und man hatte sie direkt in die Zentrale geführt. »Ist denn keiner gewarnt worden?« fragte Suko. Shao schüttelte den Kopf. »Von wem?« »Von dir, zum Beispiel?« Sie mußte so laut lachen, daß es sogar das Geräusch der gegen die Bordwand klatschenden Wellen übertönte. »Nein, Suko, ich habe es erst
gar nicht versucht. Man hätte mich doch für verrückt erklärt.« »Das wäre möglich gewesen.« »Eben. Deshalb müssen wir zu dritt versuchen, die Gefahr zu bannen. Ist ganz einfach.« Ich legte die Stirn in Falten. »Du glaubst, daß wir es ohne weiteres schaffen?« »Kann ich dir nicht sagen. Es muß uns auf jeden Fall gelingen, in die Nähe der japanischen Delegation zu kommen.« »Ganz einfach — oder?« »Möglich. Denk daran, daß es innerhalb der Anlage auch ein Hotel für Gäste gibt.« Ich kniff ein Auge zu. »Wird das nicht bewacht?« »Schon.« »Leider können wir uns nicht unsichtbar machen. Wir hätten Mark Baxter einweihen sollen, aber der treibt sich wer weiß wo herum. Oder Yakup mit seiner Krone.« »Wir sollten ihn vorerst in Ruhe lassen. Außerdem wissen wir nicht, wo er sich befindet.« »Da hast du recht.« Ich hob das Glas wieder an und beobachtete das Gelände von der Seeseite her. Wir fielen nicht auf, da unser Boot nicht das einzige war, das auf der langen Meeresdünung dümpelte. In unmittelbarer Nähe schaukelten andere Boote der unterschiedlichsten Größen und Preisklassen. Dazwischen jagten auch die kleinen, flachen und schnellen Boote über die Wellen, als wollten sie diese regelrecht abreiten. Zum Meer hin deckte das grüne Gelände das Fort ab. Hin und wieder ragte ein Wachturm über die Bäume hinweg. Ich sah ein Maschendrahtgitter, das rasch durchtrennt werden konnte. Elektronische Sicherheitsanlagen waren bestimmt vorhanden. Nur hatte man sie so angelegt, daß sie nicht sichtbar geworden waren. Raffiniert gemacht. Auf dem Boot zu hocken und andere zu beobachten, kann wunderschön sein. Allerdings nur im Urlaub, nicht wenn eine Gefahr drohte wie hier, und das sagte ich den beiden auch. »Du willst also weg?« »Genau, Shao.« Sie rieb über ihre Stirn, während Suko in den Himmel starrte. »Das ist im Prinzip gut. Nur finde ich, daß wir damit noch eine Weile warten sollten.« »Bis es dunkel ist.« Sie lächelte. »Nicht ganz, John, dämmrig.« Ich schaute auf die Uhr. »Das wird noch einige Stunden dauern. Im Prinzip habe ich keine Lust, hier an Deck zu hängen und gegen das Gelände zu starren.« »Geh unter Deck. Da kannst du dir etwas zu essen machen.« »Verzichte.«
»Da ist ein Vogel!« Sukos Bemerkung stoppte unseren etwas kontroversen Dialog. »Na und?« Ohne das Glas von den Augen zu nehmen, schüttelte Suko den Kopf. »Ich weiß nicht, was mit dir los ist, Alter, aber ich beobachte den Vogel schon eine ganze Weile, und irgendwo gefällt mir sein Verhalten einfach nicht.« »Was macht er denn?« »Er fliegt nicht weg. Er zieht seine Kreise, was mich auch nicht stören würde, aber er dreht sie direkt über unseren Köpfen. Das will mir nicht gefallen.« Ich gab mich noch immer locker. »Was ist das für ein Tier? Ein Gänsegeier, ein Papagei...« »Nein. Sieht mir eher wie ein Rabe aus. Fast hätte ich gesagt, daß es eine Strige ist.« Ich schluckte. An die Strigen, die Satanseulen, hatten wir schlimme Erinnerungen. Besonders deshalb, weil die furchtbaren Tengus sich mit ihnen verbündet hatten. Einem von ihnen war es praktisch gelungen, Geist und Körper der Strigen zu übernehmen. »Meinst du das ernst?« »Schau selbst.« Das tat ich auch. Suko hatte mir noch die ungefähre Richtung angezeigt, so wußte ich, wie ich das Glas zu halten hatte. Der Himmel schimmerte durchweg in einem hellen Blau. Nur weit im Westen und hoch über dem Meer schwebend zeichneten sich flache Wolkenstreifen ab, die so aussahen, als hätte sie jemand gegen das Blau gepinselt. Dann sah ich den Vogel! Er kreiste von rechts her in mein Blickfeld hinein, und ich mußte Suko recht geben, denn ein Geier oder ein Raubvogel wie Adler, Falke oder Sperber war es nicht. Ich tippte auf einen Raben. Sollte das jedoch der Fall sein, dann gehörte er zu den sehr großen. Meiner Schätzung nach war er doppelt so groß wie ein normaler. »Siehst du was?« Ohne das Glas abzusetzen, nickte ich. Irgendwo mußte ich meinem Freund zustimmen, denn dieser Vogel verhielt sich tatsächlich ungewöhnlich. Der gesamte Himmel bis weit zum Horizont hin stand ihm zur Verfügung, er aber drehte seine Kreise auf einer Stelle, die er nicht ausweitete, und so konnte er unser Boot unter Kontrolle halten. Vom längeren Heben waren mir die Arme steif geworden. Ich ließ das Glas sinken. »Willst du einen Kommentar hören?« »Wenn's geht.« Ich fuhr durch mein Haar. »Seltsam ist das Benehmen des Vogels schon. Der sieht mir aus, als wäre er geschickt worden.« »Und zwar von unseren Freunden.« Shao war mit einer Erklärung sehr schnell zur Hand.
»Abwarten.« »Er könnte ein Tengu sein!« Ich bekam einen trockenen Hals, wenn ich daran dachte, daß sie möglicherweise recht hatte. Der Kampf mit einem Tengu war verdammt schlimm. Noch schlimmer aber würde es werden, wenn wir uns auf einem sc h wankenden Boot gegen ihn wehren mußten. Das konnte für uns sehr leicht tödlich enden. Diesmal hielt ihn Suko unter seiner Kontrolle. »Noch tut sich nichts«, meldete er und mußte sich Sekunden später korrigieren. »Verflucht, er verliert an Höhe.« »Wo fliegt er hin?« »Ist noch nicht zu erkennen, John.« Ich verfolgte ihn mit dem bloßen Auge. Das Tier verlor schlagartig an Höhe. Wenn es landete, dann nicht auf unserem Boot, sondern weit draußen auf dem Wasser. Wenig später war es nicht mehr zu sehen, denn zwischen ihm und uns lagen die Aufbauten des Boots. Wir warteten . . . Die Zeit verging. Leider konnten wir nur an den Vogel denken, ihn aber nicht sehen. Das änderte sich. Ich fuhr als erster herum, als ich dicht hinter mir das Flattern der Flügel hörte, sah das Tier, wie es dicht über unsere Köpfe hinweghuschte, einen Bogen schlug und auf den Bug unseres Bootes zuflog, wo es absackte und aus unserem Sichtfeld geriet. Jetzt standen wir auf. »Es gibt zwei Möglichkeiten«, sagte Shao. »Entweder ist das Tierchen gelandet, oder es lernt schwimmen. Was ich mir nicht vorstellen kann.« Breitbeinig, um die lange Dünung auszugleichen, schritt ich dem Bug entgegen. An der Steuerbordseite drückte ich mich am Aufbau vorbei und bekam einen freien Blick. Dort hockte das Wesen. Nur war es kein Vogel mehr, sondern ein widerlicher schwarzer Klumpen mit langen Armen und glühenden Augen, in denen das Feuer der Hölle zu brennen schien. Es war ein Tengu! *** Ich sagte nichts, ich hielt sogar den Atem an, aber durch mein Hirn schössen Szenen aus der Vergangenheit, als wir erlebt hatten, wie grausam, wie beinahe unbesiegbar diese verfluchten Tengus sein konnten. Als wir gegen sie antraten, hatten wir genügend Ausweichmöglichkeiten gehabt. Hier auf dem Schilt war unser Platz begrenzt, ein
Vorteil für den Tengu, der es in eine Hölle verwandeln konnte, die schließlich von den Wellen des Meeres verschluckt wurde. Aus dem Augenwinkel bemerkte ich, daß Suko an der Backbordseile stand, auch er wußte Bescheid, und seine Hand bewegte sich sehr langsam auf den Griff der Dämonenpeitsche zu. Der Tengu tat nichts. Wie ein zusätzlich hingehockter Zwerg hielt er seinen Platz auf dem Deck. Sein Fell zeigte sich gesträubt, als würden unsichtbare Bürsten darüber hinwegwischen. »Ich würde ja sagen, daß wir versuchen sollten, ihm den Kopf abzuschlagen«, sagte Suko, »aber das hat hier keinen Sinn, denn er besitzt keinen. Das ist alles nur Masse, aus der noch die beiden roten Augen leuchten.« »Ich nehme die Peitsche.« »Okay, dann . . .« Etwas zischte zwischen uns entlang. Während wir noch redeten, hatte Shao längst gehandelt, einen Pfeil aus dem Köcher geholt, ihn auf die Armbrust gelegt und sie gespannt. Ungemein wuchtig jagte der Pfeil in das Ziel. Es sah so aus, als wollte er den Tengu durchbohren, jedenfalls drang er tief in seinen Körper hinein und blieb auch dort stecken. Ein Maul erschien, als sich zwei Hälften öffneten. Wir sahen die mächtigen Zähne und vernahmen einen wütenden Laut. Ich wußte auch nicht wieso, aber irgendwie erinnerte mich die Szene hier an eine andere, wie ich sie in dem Film >Die Vögeb gesehen hatte. Der nächste Pfeil sirrte auf den Tengu zu. Und diesmal jagte er in das offene Maul hinein, bohrte sich mit seiner Spitze tief in den rötlichen Schleimrachen hinein und blieb dort stecken. Wieder hörten wir diesen verrückten, irren Laut des Monstrums und waren davon überzeugt, daß Shao ihn nicht vernichtet hatte, denn so leicht waren Tengus nicht zu töten. Der anscheinend doch. Wir kamen zu keinem Angriff mehr, denn der eklige Körper geriet in eine schnelle Rückwärtsbewegung, schnellte noch in die Höhe und verschwand blitzschnell mit einer Rollbewegung über die Reling hinweg. Wir hörten es noch klatschen, als er ins Wasser glitt und die Wellen über ihm zusammenschwappten. Zeugen hatte es wohl keine gegeben. Es war zu schnell gegangen, und die Skipper in der Nähe waren einfach zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Suko und ich drehten synchron die Köpfe, nur in verschiedenen Richtungen. Shao stand auf dem Dach des Aufbaus. Die Armbrust hatte sie wieder über ihre Schulter gehängt, und sie nickte uns beide einige Male lächelnd zu.
»Und jetzt?« »Können wir davon ausgehen, daß er noch nicht erledigt ist, Suko«, sagte die Chinesin, bevor sie die Planken mit einem Sprung erreichte. »Vertraust du deinen Pfeilen so wenig?« »Das nicht. Aber ich kenne die Tengus.« »Stimmt.« Ich wanderte auf dem Boot umher und hielt mich dabei dicht an der Reling, von wo aus ich ins Wasser schauen konnte. Wellen klatschten gegen die Bordwände und schäumten. Sonst war es verhältnismäßig klar, ich konnte sogar ein Stück in die Tiefe sehen, nur nichts erkennen, was den Tengu anging. Er war und blieb verschwunden. Noch . . . »Wir starten!« hörte ich Suko rufen. Als ich mich umdrehte, verschwand mein Partner unter Deck. Shao blieb in meiner Nähe. Ihr schmales Gesicht wirkte ernst. Ihre Befürchtungen teilte sie mir lautstark mit. »Hoffentlich gelingt es dem Tengu nicht, uns zu verfolgen. Wenn er plötzlich in diesem kleinen Hafen auftaucht, wäre das fatal.« »Mal den Teufel nicht an die Wand!« Suko ließ die Maschine an. Sie war PS-stark und von der Firma RollsRoyce hergestellt worden. Unser Bug schnitt einen schaumigen Streifen in die blaugrüne See. Der Kurs lief in nördliche Richtung, denn dort befand sich der Yachthafen, wo wir vor Anker gehen wollten. Er grenzte praktisch an das nördliche Ende des Forts. Von dort konnten wir auch das Gelände betreten. Shao und ich blieben während der Fahrt auf dem Deck. Sie stand an der Steuerbordseite, ich hielt mich gegenüber auf. Unsere Blicke waren starr auf das Wasser gerichtet. Wenn der Tcngu tatsächlich wieder auftauchen sollte, wollten wir ihn so früh wie möglich entdecken. Aber er hielt sich zurück. Je mehr wir uns der Küste und damit auch dem Yachthafen näherten, um so stärker wurde der Betrieb auf dem Wasser. Die Golden Gate lag jetzt in unserem Rücken. Suko erwies sich als guter Steuermann. Kein Wunder, bei unseren Einsätzen hatten wir oft genug auf Boote zurückgreifen müssen und eine dementspre-chende Routine bekommen. Der kleine Yachthafen unterschied sich kaum von allen anderen in der Welt. Zum Meer hin waren Wellenbrecher eingebaut worden, die bei einem Orkan halfen. Eine relativ schmale Zufahrt führte in dieses offene Karree hinein, aus dem schon von weitem her die Masten der dort vor Anker liegenden Segler grüßten.
Ein wunderschönes Bild, vor allen Dingen deshalb, weil es von der Sonne beschienen wurde und die schlanken, angemalten Bootskörper einen Feil des Lichts reflektierten. Auch ich ließ mich von dieser friedlichen Szene umgarnen und vergaß sogar den Tengu. Gemächlich schipperten wir in die Einfahrt hinein. Wir mußten an den ankernden Booten vorbei, um dorthin zu gelangen, wo sich die Verleiher befanden. Das Wasser war ruhig, aber nicht mehr so klar wie draußen. Hin und wieder schwammen schillernde Ölflecken auf der Oberfläche wie breite Augen. Unser Verleiher, der fast so aussah wie Popeye, hatte uns schon im Blick und winkte mit beiden Armen in eine bestimmte Richtung, wo Suko anlegen sollte. Shao kam zu mir herüber. »Was denkst du, John? Ist er vernichtet oder nicht?« »Frag mich nicht so was Schweres. Allerdings spüre ich eine gewisse Unruhe, die kannst auch du mir nicht nehmen.« Ich stieß sie an. »Gib acht, der Skipper wirft uns eine Leine zu.« Wir machten uns bereit, das hell gestrichene Tau aufzufangen. Es war sehr stark und würde das Boot selbst dann halten, wenn es stürmte. Gemeinsam hielten wir es fest, während Suko den Motor bereits ausgestellt hatte und mit dem letzten Schub an den Anlegeplatz heranglitt. Der Skipper rief uns zu, daß alles in Ordnung war, die schwarzen Andockreifen erschienen zum Greifen nahe, das Boot drehte sich nach steuerbord und rutschte mit der Außenseite bereits an den Reifen vorbei. Noch befand sich Platz zwischen der Bordwand und der Anlegemole. Der Skipper hatte sich gebückt, weil er das Tau um einen Poller wickelte. Niemand ahnte etwas, auch unsere Wachsamkeit dem Tengu gegenüberhatte nachgelassen, weil wir uns auf das Anlegen konzentrierten. Deshalb traf uns der Angriff wie ein flammer! Genau innerhalb des Zwischenraums tauchte er auf. Ein klumpiger, glatter, glitschiger, widerlicher Körper mit langen Armen und Krallenhänden, einem offenen Maul, aus dessen oberer Hälfte die Pfeilspitze schaute. Sie hatte ihn nicht vernichten können. Er schnellte hoch, wie vom Katapult geschleudert. Der Skipper schrie noch ein »He, was soll das?!« dann röchelte er auf, als sich der Tengu gegen ihn warf und zielsicher die Kehle des Mannes mit seiner rechten Klaue zu fassen bekam. Der Mann fiel zurück auf das holprige Katzenkopfpflaster. Wir konnten leider nicht erkennen, was mit ihm geschah, denn der klotzige Körper des Tengu verdeckte unsere Sicht. Die Überlebenschancen waren gering, dafür kannten wir das Monstrum gut genug.
Ich hatte mich aufgestellt und war mit einem Sprung von Bord. Über die Reling hinweg flog ich, zog meine Waffe, kam auf und schoß sofort. Die Kugel schüttelte den Tengu durch, als sie in seinen Rücken drang. Er wurde wütend, fuhr herum und schleuderte seine langen Arme vor, von denen eine Kralle blutverschmiert war. Der Pfeil war noch schneller. Und er traf genau in ein Auge der dämonischen Bestie. Die anderen Schreie der Menschen hörte ich kaum, ich sah nur den Tengu, wie er sich um die eigene Achse drehte und aus seinem getroffenen Auge eine rote Schleifspur drang. Dann huschte Suko an mir vorbei. Lebensgefährlich nahe ging er an das Monstrum heran. Er drosch zu. Die Peitschenriemen zeichneten Streifen in die Haut, und sie erwischten auch das flache Gesicht des Tengu, als dieser sich drehte, wobei ein Riemen auch das zweite Auge zerstörte. Genau diese Tatsache läutete das Ende des Tengu ein. Zurück blieb eine Hülle, die wie ein dunkler Teerfleck aussah, die sich zum Glück nicht regte. Shao kümmerte sich um den Bootsverleiher, der auf dem Rücken lag und sich nicht rührte. Um seine Kehle herum breitete sich eine rote Lache aus. Auch sein hellgrauer Bart war blutbefleckt, aber er lebte, denn Shao brüllte nach einem Arzt. »Schon unterwegs!« schrie ein Zeuge. Es war ein junger, der ankam und einen hellen Knüppel schwang. Heftig atmend blieb er vor uns stehen. »Verdammt, was war das?« brüllte er. »Keine Ahnung.« »Sie haben es gesehen. Sie haben auch geschossen.« »Seien Sie froh.« Shao winkte uns zu. Wir blieben bei ihr und hörten die scharf geflüsterten Worte. »Was sagen wir der Polizei?« »Die Wahrheit«, erwiderte Suko. »Es gibt ja genügend Zeugen.« »Daß es verdammt eilt, wissen wir. Ich will nur nicht, daß wir so lange aufgehalten werden.« »Klar, du hast recht, Shao. Mal sehen, wie der Hase läuft. Aber eines ist sicher, Freunde. Dieser Tengu ist nicht mit dem zu vergleichen, den wir schon einmal kennengelernt haben, in dieser komischen Schule, wo nur Japaner unterrichtet wurden. Damals war es ein Mensch, hierein undefinierbares Monstrum.« »Stimmt«, sagte Suko. »Das ist ja das Fatale an der Sache. Die TenguGeister können sich alle möglichen Körper aussuchen. Da kann fast jeder einer sein, wenn er sich nicht gerade von einem Raben in ein derartiges Monstrum verwandelt.« »Sogar hohe Militärs«, sagte Shao.
Wir hatten sie sofort begriffen. Die Chinesin dachte an die Delegation aus Japan, die Fort Presidio einen Besuch abstattete. Daß unsere Gesichter erbleichten, war nicht zu vermeiden. »Meinst du, daß sich unter den Typen der eine oder andere Tengu befindet?« »Ich befürchte es, John...« *** Immer wieder gibt es Tage im Leben eines Menschen, wo er es bereut, gewisse Dinge getan zu haben. Auch Yakup machte da keine Ausnahme. Er hatte sich bewußt in die Einsamkeit zurückgezogen und auf allen technischen Schnickschnak verzichtet. Sogar einen Wagen wollte er nicht fahren, nur einfach in der Einsamkeit leben, ohne auch nur von der Zivilisation gestreift zu werden. Das rächte sich nun. Mit einem Fahrzeug hätte er die Strecke wesentlich schneller geschafft. So war er gezwungen, einfach nur zu laufen, und die Meilen reihten sich aneinander. Sie zogen sich für einen Menschen, der es eilig hatte, noch mehr in die Länge. Der Ninja war davon überzeugt, daß Shimada mittlerweile zum dritten Schlag ausgeholt hatte, und er fragte sich, wie er seine Hütte wohl vorfinden würde. Mit langen Schritten durchmaß er die kalte, öde und menschenleere Gegend. Daß er sich in der USA befand, war nicht zu erkennen. Er hätte sich auch ebensogut auf einer nicht bewohnten Insel bewegen können, die Umgebung wäre kaum anders gewesen. Die Sonne stand nun ziemlich tief und blendete den einsamen Läufer hin und wieder. Yakup besaß eine Kondition für drei. Deshalb konnte er sich auch so rasch und geschmeidig bewegen, wobei er kaum außer Atem geriet und sich gut unter Kontrolle hatte. Vor seinem Mund dampfte der Atem, der einfach nie abreißen wollte. Er kämpfte sich durch, übersprang schroffe Einschnitte, mied jetzt die Deckungen der Mulden und Canyons, glitt auch über Hügelrücken hinweg, nur um rasch an sein Ziel zu gelangen. Er konnte selbst nicht genau erklären, weshalb sich seine Gedanken um den toten Ali drehten. Vielleicht deshalb, weil er einen der Tengus an seinem Grab entdeckt hatte. Unter Umständen wollte sich Shimada an ihn rächen, indem er seine Monstren zu der Leiche schickte. Was die mit ihr anstellten, das konnte sich der Mann leicht ausmalen. In seinem Körper zog sich einiges zusammen, als er daran dachte. Hin und wieder schüttelte er den Kopf, weil es ihm einfach nicht in den Sinn wollte und es auch nicht normal oder logisch war.
Doch was war schon logisch bei einem Wesen wie Shimada? Der war einfach nur grausam, mehr nicht, und er handelte aus dem Instinkt heraus. Eine Ninja-Rache interessierte ihn dabei nicht, obgleich sich Yakup längst vorgenommen hatte, sich böse zu rächen. Er vergaß auf seinem Weg auch nicht, in den Himmel zu schauen. Möglicherweise flogen die Vögel langsamer, praktisch in seinem Lauftempo, um ihn weiterhin unter Kontrolle halten zu können. Der Himmel blieb fast leer. Nur sehr weit entfernt und von scharfen Augen zu erkennen, entdeckte er die langen Schatten in der Luft. Sie kreisten über den Bergen der fernen Rockies, das waren normale Jagdvögel, keine dämonischen Kreaturen. Allmählich veränderte sich die Umgebung. Der dunkle Wald zeigte Yakup an, wie nahe er seinem Ziel bereits gekommen war. Auch seine Hütte stand im Schutz des Waldes, konnte von ihm noch nicht gesehen werden. Er lief nicht mehr so schnell. Sollten ihn die drei Ten-gus erwarten, wollte er nicht außer Atem sein. Da benötigte er dann seine gesamte Konzentration. Seine Sinne waren geschärft wie vor einem Zweikampf. Wo lauerte der Feind? Sichtbar nicht, aber Yakup wurde den Eindruck nicht los, daß sich die Luft verändert hatte. Sie war zwar so kalt geblieben, doch sie steckte voller Gefahren, denn etwas Fremdes, das nicht hergehörte, war hineingedrungen. Die Hütte schmiegte sich gegen den Wald. Sie stand dort einsam und verlassen. Kein Vogel hockte auf dem Dach, und der kleine Friedhof mit dem einen Grab war von Yakup auch nicht zu sehen, da sich sein Platz hinter der Hütte befand, parallel zum Waldesrand. Manchmal kroch ein Eishagel über seinen Rücken. Da wollten sich die Nackenhaare sträuben. Er witterte wie ein Raubtier, das nach einer Gefahr suchte. Yakup bewegte die Augen. Erschaute nach links und rechts, hörte dann und wann ein geheimnisvolles Knacken, mehr drang nicht an seine Ohren. Es waren die normalen Tiere, die es verursacht hatten, keine weitere Gefahr also. Die kalte Luft saugte er durch die Nase ein. Der Wind wehte ihm frisch ins Gesicht, die Sonne stand fast waagerecht zu seinen Augen und fing allmählich an, sich zu verfärben. Jetzt würde die Zeit der romantischen Minuten beginnen. Das Licht war selten so klar, eine ideale Szenerie für Naturliebhaber und auch für Maler. Yakup dachte anders. Seine Gedanken drehten sich um den Tod, um die Vernichtung und die Rache.
Er überwand die letzten Yards mit langen Sprüngen und rutschte bis auf die Bohlenwand seiner primitiven Behausung zu, gegen die er sich preßte. Abwarten . .. Sekunden reihten sich aneinander. Der Ninja ließ ungefähr eine halbe Minute verstreichen, bevor er sich wieder regte. Noch steckte das Schwert in der Scheide, doch er war bereit, es innerhalb einer winzigen Zeitspanne zu ziehen. Um den Eingang seiner Hütte zu erreichen, mußte er an der Schmalseite entlanggehen. Schritt für Schritt setzte er, war sehr vorsichtig, wobei sein Blick immer wieder die nähere Umgebung durchstreifte, auf der Suche nach irgendwelchen Gefahren. Nichts fiel ihm auf. Die Hütte lag in einer unnatürlichen Ruhe. An der Ecke zur Längsseite hin stoppte er und zog sein Schwert. Hart hielt er den Griff umklammert. Diese Waffe nur konnte es bringen, eine andere Chance gab es nicht. Mit einem weit angesetzten Sprung warf er sich vor, erreichte eine freie Fläche und drehte sich. Er zielte mit der Spitze auf den Eingang der Hütte, der still und wie eingefroren vor ihm lag. Da rührte sich nichts. Es gab für ihn keinen Grund anzunehmen, daß sich etwas Fremdes in der unmittelbaren Nähe bewegte. Er atmete aus, war aber nicht beruhigt, denn der nächste Weg sollte ihn zu Alis Grab führen. Yakup gehörte nicht zu den Hellsehern, doch er hatte im Laufe der Zeit ein gewisses Gespür für bestimmte Dinge bekommen. Ohne daß er etwas sah oder beweisen konnte, wußte er mit einemmal, daß nichts so war, wie es hätte sein sollen. Es hatte eine Veränderung gegeben, das stand für ihn fest. Die andere Seite war schneller gewesen. Er ging durch den von ihm angelegten Garten. Daß er Pflanzen zertrat, kümmerte ihn nicht mehr. Es kam ihm vor wie ein Zeichen dafür, daß er diesen Ort bereits aus seinem Gedächtnis gestrichen und aufgegeben hatte. Die Zweige der Nadelbäume bewegten sich hüpfend im leichten Wind, als wollten sie dem einsamen Mann zuwinken oder ihn davor warnen, noch einen Schritt weiter zu gehen. Doch Yakup ging weiter. Er wollte sehen, was sich verändert hatte, auch wenn es grausam war. Dann stand er vor dem winzigen Friedhof, schaute auf das Grab, die Hand mit dem Schwert sank nach unten, und ein nie erlebtes Zittern durchrann seinen Körper, denn dieser furchtbare Anblick hatte ihm einen fürchterlichen Schock versetzt. Fast so schlimm wie es gewesen war, als er Alis Leiche entdeckte.
Er starrte dorthin, wo das Grab einmal gewesen war und stieß einen markerschütternden, furchtbaren Schrei aus... *** Erst als man unsere Ausweise sorgfältig geprüft hatte, fielen die Handschellen. Die Polizisten waren ziemlich rüde gewesen und hatten sich auch über Shaos Kleidung mokiert, sie schließlich akzeptiert, weil in Frisco viele bunte und auffallende Typen umherliefen. Nicht umsonst war sie früher die Stadt der Hippies und der Blumenkinder gewesen, die Liebe statt Krieg machen wollten. Eine erfreuliche Nachricht erhielten wir auch. Der Bootsverleiher würde überleben. Einen zweiten Prankenschlag hätte er allerdings nicht überstanden. Nun, wir waren zum Glück schnell genug gewesen. Irgendwann erschien auch der Chef der Hafen-Polizei, ein rotgesichtiger Mensch mit starken, durchdringenden Augen, deren Pupillen eine granitgrauc Farbe besaßen. Er hieß Thompson und stand im Range eines Majors. Natürlich wollte er von uns wissen, was da für ein Gebilde aus den Fluten gekrochen war, wir wollten ihm keine Auskunft geben und redeten uns heraus. »Ich lasse die Reste untersuchen, darauf können Sie sich verlassen.« Dann kam er auf unseren Job zu sprechen und natürlich darauf, daß wir die Stadt nicht in einer offiziellen Mission besucht hatten. Das konnten wir nicht abstreiten. »Weshalb sind Sie dann liier?« »Eigentlich wollten wir Urlaub machen«, meinte Suko. Thompson sagte zunächst nichts. Er schaute durch die große Fensterscheibe auf den Wirrwarr im Hafen. »Sagen Sie mal, wollen Sie mich verarschen?« »Nein, Mister!« »Urlaub.« Er schlug mit der Faust auf den Schreibtisch. »Das glaubt Ihnen doch kein Mensch.« »Was Sie glauben, ist Ihre Sache«, erwiderte Suko. »Wir jedenfalls sehen es so, und Sie haben keinen Grund, uns festzuhalten.« »Was ist denn mit den Waffen?« »Wollen Sie die Waffen der Kollegen einziehen lassen, Major?« Thompson grinste. »Ich kcinnte es. Aber ich werde darauf verzichten und möchte Sie nur bitten, die Stadt in den nächsten Tagen nicht zu verlassen. Wissen Sie eigentlich schon, wo Sie sich aufhalten werden?« »Wenn Sie wollen, im Hotel«, sagte ich. »In welchem?«
»Hyatt.« Dort waren wir tatsächlich gemeldet, das konnte der Knabe ruhig nachprüfen. Thompson lehnte sich zurück. Er hatte dabei einen Bleistift aufgenommen und bewegte ihn wie den starren Zeiger eines Metronoms. »Sie gefallen mir nicht.« »Sie uns ebenfalls nicht!« »Mann, Sinclair, wollen Sie mich . . .?« »Nein, Major, ich möchte nur, daß wir in Ruhe gelassen werden. Das ist alles.« »Ach ja? Wo wollen Sie noch überall herumschnüffeln? In was werden Sie Ihre Nasen stecken?« Ich sagte die Wahrheit. »Presidio.« Er wußte nicht, ob er lachen oder weinen sollte. »Sie wollen ins Fort?« »Ja.« »Wie schön. Da sind Sie ja unter Kontrolle.« Giftig starrte er uns an. »Ich sage Ihnen was. Sie bleiben in Ihrem Hotel. Ich werde heute abend noch einmal zu Ihnen kommen, und dann will ich erfahren, was Sie wirklich in dieser Stadt zu suchen haben.« »Können Sie gern«, sagte Suko. Wir waren in Ungnade entlassen, was uns allerdings nicht weiter störte. Wir wohnten tatsächlich im Hyatt und ließen uns mit einem Taxi zu diesem Prunkpalast bringen. Obwohl der Verkehr beinahe schon nageldicht war, fiel Suko auf, daß uns ein Wagen verfolgte. »Thompsons Leute?« fragte ich vom Beifahrersitz aus. »Keine Ahnung.« »Was ist es denn für eine Automarke?« »Du wirst lachen, John, ein Japaner. Toyota, wenn mich nicht alles täuscht.« »Das läßt tief blicken.« »Muß aber nichts zu sagen haben. Japanische Wagen gibt es hier wie Sand am Meer.« Der Wagen hielt vor dem Hyatt, wo wir für einen Moment von den tollen gläsernen Außenaufzügen abgelenkt wurden. Ich zahlte, legte ein Trinkgeld hinzu und betrat hinter Shao und Suko die weite Halle mit dem vielen Glas und dem großen Wasserfall. Jemand tippte mich an. Es war ein Angestellter des Hotels, ein Page, der mich ansprach: »Mr. Sinclair?« »Stimmt.« »Eine Nachricht, Sir.« Er hielt mir ein Tablett hin. Ich nahm den Umschlag, fetzte ihn auf und zog ein zusammengefaltetes Blatt Papier hervor. Suko und Shao waren neugierig nähergetreten. Sie lasen beiden mit und schluckten auch gemeinsam. Mir war ebenfalls nicht wohl, denn in ungelenken Druckbuchstaben hatte uns jemand mitgeteit, daß es unseren Freund Yakup bereits erwischt hatte.
Ich knüllte den Zettel zusammen. »Also doch. Sie haben eine Spur zu Yakup.« »Im Gegensatz zu uns«, flüsterte Shao. Sie hatte ihre Waffe unter einem weitfallenden Cape verborgen. »Dann haben sie auch genau gewußt, wo er sich verborgen hat«, erklärte Suko. »Wer denn?« »Der Club.« Ich schielte den Inspektor von der Seite her an. »Das kann ich nicht so recht glauben. Ich tendiere eher zu Shimada, denn er und Yakup sind wie Feuer und Wasser, obwohl sie sich immer gegenseitig anziehen.« »Dann müßte sich Shimada auch mit den Tengus verbündet haben«, sagte Shao. Ich schaute sie an. »Weißt du was?« »Nein.« »Das wäre furchtbar...« *** Er schrie und schrie, denn er konnte einfach nicht anders. Die Enttäuschung hatte sich wie eine scharfe Säure in seine Seele gefressen und Teile in ihm zerstört. Es war furchtbar, schlimmer, als er es sich vorgestellt hatte, und aus seinen Augen rannen die Tränen. Jetzt hätten ihn seine Feinde wehrlos erwischen können, doch sie ließen ihn in Ruhe, als wollten sie seinen Schmerz auskosten. Der Schrei des einsamen Ninja hallte durch das menschenleere Land und schien dem Lümmel entgegenfliegen zu wollen. Er erzeugte ein schauriges Echo, er wiederholte sich immer und immer wieder, wenn er von den Felsen zurückgeworfen wurde, bis er schließlich verklang und Yakup langsam den Kopf senkte. Er schluchzte nur noch, wobei seine mächtigen, breiten Schultern bebten, als würden sie von mächtigen Stromstößen durchschüttelt. Am liebsten wäre er geflüchtet, irgendwohin gelaufen, um sich einfach nur zu verstecken. Aber er blieb stehen, starrte das Grab an, das keines mehr war, weil es geschändet wurde. Nur allmählich verschwand der Tränenschleier, so daß sich sein Blick wieder klären konnte. Es grenzte an Masochismus, daß Yakup vor dem schlichten Grab stehenblieb, um die Eindrücke aufzunehmen, als wären diese in einen Computer einprogrammiert worden. Die Graberde sah so aus, als wäre sie von zahlreichen Hacken und Schaufeln aufgewühlt worden. Wer immer das getan hatte, seine Arbeit war gründlich gewesen, denn er hatte es nicht beim Aufhacken der Erde belassen, er hatte die Leiche des Jungen aus der Tiefe hervorgeholt.
Was dann mit dem Toten geschehen war, das konnte Yakup nur vermuten, daran wollte er auch nicht denken, aber er wurde durch die grausamen Tatsachen immer daran erinnert. Sie hatten bewußt etwas zurückgelassen. Ein Büschel Haare zum Beispiel, ein Fetzen Stoff, denn der Junge war in seiner Kleidung begraben worden. Sein Körper war noch nicht vollständig verwest gewesen, das dauerte länger, und auch davon hatten die oder hatte der Killer ein schauriges Souvenir zurückgelassen. Der Knochen hob sich farblich von der braunschwarzen Graberde ab. Er steckte schräg im Boden, und Yakup konnte es nicht länger mit ansehen. Er bückte sich und zog den Knochen hervor. Es war der Teil einer Hand, denn er hielt gleich zwei fleischlose Finger fest. Sie fielen wieder, und Yakup wandte sich ab. Plötzlich kam ihm die Sonne schwarz vor, da war die ansonsten strahlende Welt in ein 'Totengrau getaucht, und er wußte einfach nicht mehr, was er noch tun sollte, um das Grauen zu stoppen. Allmählich stieg in ihm die Gewißheit hoch, daß die andere Seite, angeführt von Shimada, doch stärker sein konnte, als er bisher angenommen hatte. Daß der Gedanke daran ihm nicht behagte, stand fest, aber er mußte sich damit abfinden. Nein, zurückschauen wollte er nicht mehr, als er mit gesenktem Kopf auf die Hütte zuschritt. Für ihn stand fest, daß er wieder einmal eine Heimat oder einen Schlupfwinkel verloren hatte. Er war ihm durch den grausamen Dämon brutal entrissen worden, und er wußte nicht mehr, wie es in der Zukunft weitergehen sollte. Yakup schaute auf seine Hütte, deren Konturen verschwammen. Er mußte sich die Augen freiwischen. Tief atmete er ein. Die Luft schmeckte wie ein eisiger Totenhauch. Einige Male schüttelte er den Kopf, als könnte er den Schrecken nicht begreifen. Dicht vor der Tür hielt er an und schaute zurück. Da lag das Grab mit seiner aufgewühlten Erde, und der bleiche Knochen des toten Ali schimmerte wie ein makabres letztes Souvenir, das Shimada bewußt hinterlassen hatte. »Du Teufel!« flüsterte der Ninja-Kämpfer. »Du verfluchter, grausamer Teufel. Alles hast du mir weggenommen und zerstört, aber mich hast du noch nicht...« Er hatte die Sätze kaum ausgesprochen, als er dicht über sich das Schlagen der Flügel vernahm. Einer der drei Vögel huschte dicht über seinen Kopf und dann über das flache Hüttendach hinweg. Mit krächzenden, höhnisch klingenden
Lauten verschwand er aus Yakups Blickfeld, um seinem Artgenossen Platz zu schaffen, der sich von einem der nahen Bäume gelöst hatte. Er flog heran - und ließ etwas aus der Höhe herabfallen. Es war ein alter, mit dunkler Erde verschmierter Schuh. Yakup wußte, daß Ali ihn getragen hatte und er damit auch begraben worden war. Scharf drehte sich der einsame Ninja herum. Die Leere in seinem Innern war schlimm. Er kam sich vor wie jemsnd, dem die Seele entrissen worden war. Es dauerte einige Sekunden, bis er sich entschlossen hatte. Mit einer hart wirkenden Bewegung legte er die Hand auf den primitiven Holzgriff und drückte ihn nach unten. Er mußte hart zerren, um die Tür überhaupt öffnen zu können, denn sie schleifte stark mit der Unterkante über den unebenen Grund. Durch seine Gestalt ging ein Ruck. Er wirkte jetzt wie ein Mann, der mit seiner Vergangenheit gebrochen hatte und sich nur mehr für die Zukunft interessiert. In der Hütte waren sie nicht gewesen. Jedenfalls entdeckte er keine Spuren, die auf irgendwelche Fremden hingewiesen hätten. Er zerrte die Tür wieder zu, blieb für einen Moment stehen und ging dann auf die Stelle zu, wo sich die Luke im Boden verbarg. Das Versteck für die Krone der Ninja. Yakup hatte sie nicht oft eingesetzt, vielleicht war sein Respekt noch zu groß, in diesem besonderen Fall jedoch wollte er auf die Krone nicht verzichten. Er räumte den Weg frei, hob die Klappe an und schaute in das nicht sehr tiefe Viereck. Seine Befürchtungen bewahrheiteten sich nicht. Die Krone der Ninja lag noch immer so, wie er sie zurückgelassen hatte. Auch Shimada wußte nicht alles . .. Als er an ihn dachte, wunderte er sich darüber, daß der Dämon noch nicht erschienen war. Zumeist kam er ja, um seinen Triumpf zu genießen. Der Keller des Klosters war das beste Beispiel gewesen. Er hob die Krone mit beiden Händen aus ihrem Versteck. Da sie aus Eisen bestand, besaß sie ein entsprechendes Gewicht. Das kannte der Ninja, wenn er sie aufsetzte. Sobald jedoch die Magie wirksam wurde, verschwand der Druck. Er ließ die Luke offen, auch wieder ein Beweis dafür, daß er seinen Abschied längst eingeplant hatte. Mit der Krone in den Händen drehte er sich um und schritt dem Fenster entgegen. Noch konnte er gegen die Sonne schauen. Tiefrot stand der Winterball zwischen den fernen Bergen und tauchte die schnee- und eisbeckten Gipfel in eine blutige Pracht. Wäre er abergläubisch gewesen, hätte Yakup es als böses Vorzeichen ansehen können. So aber nahm er es gelassen hin, stellte die Krone noch einmal ab und streifte seine Handschuhe über.
Sie waren wichtig, denn sie vervielfachten die Wirkung seiner Schläge. Yakup bewegte die Hände. Auf dem Stoff schimmerten die beiden Drachen in einem düsteren Rot. Er konnte nur hoffen, daß ihm der Drachengott die nötige Kraft für den Kampf gegen Shimada gab. Daß dieser bevorstand, davon ging er aus. Zudem wollte er auch seine Ninja-Rache. Dieser uralte Dämon sollte keinen mehr knechten können. Leider konnte man Shimada nicht suchen und finden. Er erschien, wann und wo er es für richtig hielt. Dann war er urplötzlich da, zumeist inmitten seiner blauen Festung, mit der er durch die Zeiten glitt. Yakup Yalcinkaya verließ seine Hütte, ohne die Krone der Ninja aufgesetzt zu haben. Er dachte an die drei Totenvögel und rechnete damit, daß sie noch in der Nähe lauerten. Deshalb ging er langsam und schaute sich ständig um. Nur die Stille des allmählich hereinbrechenden Abends umgab ihn. Die Schatten waren da und zogen ihre langen Bahnen durch das Hochtal. Im nahen Wald bewegten sich die Zweige zitternd unter den Berührungen des Westwinds. Sogar ein Flugzeug glitt himmelhoch über der einsamen Gestalt hinweg. Diesmal verzichtete er auf irgendwelche Deckungen. Offen schritt er seinen Weg, er stellte sich zur Schau, denn er wollte, daß die Tengus oder Shimada angriffen. Von beiden sah er nichts. Er ging in Richtung Westen, wo irgendwann die Millionenstadt San Franzisco lag. Er kannte sie, aber er hatte sich in dieser hektischen und quirligen Atmosphäre nie wohl gefühlt. Der Weg dorthin war lang. Es konnte durchaus sein, daß Shimada ihn in der Stadt erwartete. An einem bestimmten Punkt blieb er stehen und dachte nach. Von dieser Hügelkuppe hatte er den besten Ausblick in der Umgebung, und er dachte daran, daß gar nicht weit entfernt eine Straße vorbeiführte. Vielleicht nahm ihn jemand mit. Yakup entschied sich für diese Möglichkeit. Etwa eine halbe Stunde später stand er vor dem grauen Band der Straße, die rechts als auch links in die Unendlichkeit zu führen schien. Kein Wagen war zu sehen, dafür ein Reklameschild, das auf eine Raststätte hinwies, die sich fünf Meilen entfernt befand. Raststätten waren immer gut, um Mitfahrgelegenheiten zu ergattern. Yakup beschloß, sie aufzusuchen. Fünf Meilen können lang werden. Er schaffte sie schnell. Schon ein weites Stück vorhersah er die Lichter der Raststätte wie Sterne in der Dunkelheit funkeln. Er schritt schneller aus, um bei Erreichen seines Ziels enttäuscht zu werden.
Nur ein Wagen stand vor dem Bau. Es war ein Ford Station Car, der bereits einige Jahre auf dem Buckel hatte. Bevor Yakup die Raststätte betrat, schaute er durch eines der Fenster. Nur wenige Tische standen in dem kahlen Raum. Er sah den Tresen, dahinter den großen Mikrogrill, aber keinen Menschen, der sich im Raum aufhielt und bediente. Da stimmte etwas nicht.. . Um nicht sofort aufzufallen, hatte Yakup die Scheide des Schwerts unter der Kleidung an seinem Rücken verborgen und die Waffe auch dort hineingesteckt. Er würde sie ebenso schnell ziehen können, als hinge sie an seiner linken Seite. Geduckt zog er sich vom Fenster zurück und hätte eigentlich weitergehen können, was er nicht tat. Irgendwie zog ihn diese Raststätte an. Er hatte das Gefühl, daß sie wichtig für ihn war. Die schwere Krone hatte er mit einem Metallhaken an seinem Gürtel befestigt. Auch wenn sie an der Seite zog, das machte ihm nichts aus, Yakup wollte beide Hände frei haben. Yakup riß die Tür auf und betrat mit schnellen Schritten den Gastraum. Vorhin hatte er keinen Kunden gesehen. Nun aber saß jemand an einem Tisch. Ein dunkelhaariger Mann in brauner Lederjacke. Er hockte da, schlürfte seinen Kaffee und starrte ins Leere, dabei mußte er Yakups Auftauchen wahrgenommen haben. Erst als sich der Ninja räusperte, schaute der Mann hoch. Er sah aus wie ein Indianer, besaß eine dunkle Hautfarbe und hatte, das konnte Yakup erst jetzt sehen, die fettigen Haare im Nacken zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Beide Männer schauten einander an. Der Ninja spürte, daß von diesem einsamen Gast etwas Ungewöhnliches ausging. Es war der Hauch einer Gefahr und gleichzeitig der einer Warnung, der ihn streifte. Die langen sehnigen Finger umklammerten die große Kaffeetasse. Yakup nickte ihm zu. Er war der zuletzt Gekommene und wollte sich auch entsprechend verhalten. »Guten Abend«, sagte er höflich. Der einsame Gast nickte nur. »Sie haben etwas bekommen. Kann ich auch einen Kaffee bestellen? Wenn ja, wo?« Der Mann mit dem indianerhaften Aussehen fuhr über die Spitze seiner etwas platt wirkenden Nase hinweg und schüttelte den Kopf. »Was heißt das?« Die Antwort gab der Fremde flüsternd. »Sie müssen sich ihn schon holen. Das habe ich auch getan. Die Kaffeemaschine steht auf der Theke. Sie läuft ja noch.«
»Danke.« »Oh — bitte sehr.« Yakup ging hin. Um besser an die Maschine heranzukommen, mußte er hinter die Theke. Ein schmaler Durchgang erlaubte ihm dies. An sein Ziel gelangte er nicht. Auf halbem Weg blieb er stehen. Hinter der Theke lag der Wirt. Soeben noch an seiner Kleidung zu erkennen, denn die gestreifte Fliege war noch vorhanden. Ansonsten lag dort ein blutiger Klumpen, über dem bereits einige Fliegen summten... *** Wieder war Yakup wie versteinert. Die grausamen Überraschungen rissen einfach nicht ab, und der einsame Gast lachte plötzlich krächzend auf. Yakup drehte sich um. Der Mann hatte seine Beine ausgestreckt und seine Unterlippe in Richtung Kinn gezogen. »Ist dir jetzt der Durst vergangen, Mann?« Yakup atmete durch die Nase. »Ihnen ist wohl nicht gut, wie?« Er zog sich vom Durchgang zurück. Der kalte Gastraum erinnerte ihn plötzlich an eine kalte Hölle. »Nein. Ich brauchte einen Kaffee.« »Wer war es?« Der Gast verzog sein Gesicht, bevor er lachte. »Keine Ahnung. Ich jedenfalls nicht. Aber ich habe auch nicht die Bullen gerufen, das sollen andere tun. Als ich kam, fand ich ihn so vor wie du. Ich nahm mir Kaffee und trank ihn.« Wie zur Bestätigung seiner Worte hob erdie Tasse an und leerte den Rest. Danach grinste er und meinte zynisch. »Zu zahlen brauche ich wohl nicht.« Yakup überhörte die Bemerkung. »Ist der Mann dort der einzige Tote hier in der Raststätte?« »Keine Ahnung, ich habe jedenfalls nicht nachgeschaut.« »Das werde ich machen.« »Wie du willst.« Yakup zögerte noch. »Fahren Sie jetzt?« »Hatte ich vor — warum?« »Weil ich einen brauche, der mich in Richtung Frisco mitnimmt. Oder haben Sie eine andere Richtung vor?« »Bis jetzt nicht.« »Kann ich mit?« »Wenn Sie hier nicht zu lange nach anderen Leichen suchen, dann schon, Mann.« »Keine Sorge, das klappt bestimmt.« Yakup hatte die Tür zu den Toiletten entdeckt. Er fand sich in einem gekachelten Gang wieder, rechnete eigentlich mit dem Schlimmsten, als er die Kabinen aufstieß und war beruhigt, daß er dort keine weiteren Leichen mehr fand.
Er schaute auch in der kleinen Küche und einer Vorratskammer nach, ohne jedoch einen weiteren Toten zu finden. Dafür sah er ein Telefon. Es hing an der Wand, funktionierte auch, so daß Yakup eine Meldung an die Polizei in Frisco absetzen und über den Leichenfund berichten konnte. Als der Mann aufgeregt nach dem Namen des Anrufers fragte, hatte Yakup längst aufgelegt. Den Gastraum fand er leer. An den Bewegungen der Tür allerdings stellte er fest, daß der Mann den Raum noch nicht lange verlassen haben konnte. Er hatte über den Kerl nachgedacht und festgestellt, daß dieser ihm kaum sympathisch war. Zudem wollte er nicht glauben, daß dieser Mensch nichts mit der furchtbaren Bluttat zu tun hatte. Der hatte praktisch wie bestellt aul Yakup gewartet. Das roch nach einer Falle . . . Draußen hörte er das Geräusch eines Anlassers, dann sprang der Motor an, und er lief schnell hinaus. Der Typ schaute aus dem Fenster. »Verdammt, hat lange gedauert. Fast wäre ich ohne dich gefahren.« »Sorry.« Yakup stieg ein und schloß die Tür. »Einen Termin hast du nicht in der Stadt — oder?« »Nein, warum?« »Meine Kiste fährt nicht sehr schnell. Es kann jedenfalls dauern, bis wir da sind.« »Macht nichts. Wie heißen Sie eigentlich?« »Sag einfach Pedro. Und wie heißt du?« »Yakup.« »Was ist das denn für ein Name?« »Europäisch bis asiatisch.« »Ach ja?« In einer breiten Kurve hatten sie den Rastplatz verlassen und waren auf die Straße eingebogen. Wie mit dem Lineal gezogen zerteilte sie die Landschaft. »Da wäre noch etwas«, sagte Yakup. »Ich habe mir erlaubt, die Polizei anzurufen.« »Die Bullen?« »Ja. Schließlich ist ein Mord geschehen.« »Himmel und Arsch, bist du gesetzesgeil. Sollen sie doch sehen, wie sie mit ihrem Kram fertig werden. Mir jedenfalls wäre das nicht eingefallen, darauf kannst du wetten.« »Jeder ist eben anders.« »Ich weiß, Partner. Eine Frage so am Rande. Was treibt dich eigentlich an die Küste?« »Nun ja, ich will mich umschauen.« Pedro lachte grunzend. »Ein irres Motiv. Die Antwort hätte auch von mir sein können. Sei ehrlich, Partner, welche Bullen sind dir auf der Spur? Die Highway-Cops, FBI oder andere?«
»Keine.« Pedro hob die Schultern. »Egal, ist deine Sache.« Vor ihnen entstand ein Lichtschwall. Der erste Wagen kam ihnen entgegen. Ein flaches Fahrzeug, das wie eine Flunder auf der Straße lag. Der Sportwagen huschte mit weit überhöhter Geschwindigkeit an ihnen vorbei. »Der hat es besser!« sagte Pedro. »Bis sie ihn schnappen.« »Kaum, hier patrouillieren die Bullen wenig. Ich kenne mich hier aus.« Pedro drückte sich in den Sitz. Auf den nächsten Meilen war die Straße kurvenlos. Wer die entsprechenden Nerven besaß, konnte beruhigt seinen Wagen steuern. Die Hügel standen wie Schatten zu beiden Seiten der Straße. Inzwischen hatte der Himmel eine bleichgraue Farbe bekommen, wobei sich die unterschiedlichen Konturen scharf voneinander trennten. Es würde wieder eine kalte Nacht werden, und fern im Westen, wahrscheinlich schon über dem Meer, zeigte der Himmel eine rote Färbung. Dort verabschiedete sich die Sonne, um der Nacht zu weichen. »Magst du das Land?« fragte Pedro. »Ja.« »Ich nicht.« »Das ist deine Sache.« Wieder lachte Pedro grunzend. »Weißt du, man hat mich herumgeschubst. Meine Mutter ist Mexikanerin, der Vater ein Indianer und trunksüchtig, wie ein Arzt so vornehm sagte. Ich meine, daß er gesoffen hat, weil ihm die Weißen keinen Job gaben. Er war immer der Beschissene, der Farbige, der miese Indianer. So ist Amerika auch.« »Ich weiß.« »Hattest du keine Schwierigkeiten?« Yakup schüttelte den Kopf. »Nicht daß ich wüßte. Ich habe mich immer durchschlagen können.« »Ist auch was wert.« Der Ninja wurde aus seinem Fahrer nicht schlau. Wenn er ehrlich war, dann traute er ihm nicht über den Weg. Manchmal schaute ihn der Mann von der Seite her an, und Yakup gelang es nicht, dessen Blick richtig einzustufen. »Du fragst nichts mehr.« »Was soll ich auch sagen?« Yakup grinste. »Denkst du an den Toten?« »Auch.« »Ja ...«, dehnte Pedro, »wer könnte das getan haben? Da ist einer durchgedreht. War bestimmt ein Wahnsinniger. Oder bist du anderer Meinung, Mann?« »Ich habe keine Ahnung.« »Aber du wirst dir Gedanken gemacht haben?«
»Klar. Vielleicht ein Amokläufer oder jemand, der einen Koller bekommen hat. Ist ja alles möglich, finde ich. Wir sollten uns da keine Gedanken machen. Ich habe die Bullen angerufen. Sie werden sich um den Mord kümmern.« Pedro lachte. Fr wollte gar nicht aufhören. Frst als Yakup ihn nach dem Grund fragte, wurde er wieder ernst. »Bist du wirklich so naiv, oder tust du nur so?« »Das mußt du mir erklären.« »Gerne, Partner. Kann es nicht sein, daß ich den Wirt getötet habe? Fs ist doch leicht, eine Ausrede zu benutzen. Du hast sie mir abgenommen, bist sogar in meinen Wagen gestiegen, obwohl du eigentlich davon ausgehen müßtest, daß ich den Kerl umgelegt habe.« »Ich vertraue dir eben.« »Das glaube ich nicht. So siehst du nicht aus. Wer mir vertraut, muß nicht ganz richtig im Kopf sein.« Yakup fragte: »Hast du ihn umgebracht oder nicht?« »Klar, ich bin der Killer!« Pedro zog seine Lippen zurück und fletschte die Zähne. »Ich habe ihn zerrissen, zerstückelt. Ich habe mich seiner angenommen.« Yakup räusperte sich. »Dann wäre ich wohl der nächste auf deiner Liste — oder?« »Nein.« »Danke.« »Wofür?« »Daß du mich verschonen willst.« Pedro gab keine Antwort. Statt dessen ließ er das Lenkrad los und hob die Arme an. Er wollte demonstrieren, daß er freihändig fahren konnte. »Na, ist das nicht irre, Partner?« Mit einem Kuck drehte er Yakup den Kopf zu. Der Ninja wollte protestieren und erklären, daß sich Pedro um das Lenkrad zu kümmern habe, die Worte blieben ihm im Hals stecken, denn sein Fahrer hatte sich verändert. Das Gesicht sah aus wie eine Maske aus gebranntem 'Fon. Da sah er keine Haut mehr, das war einfach nur scheußlich, und die Augen waren weit bis in die Höhlen zurückgetreten. »Glaubst du mir nun?« röchelte er tief aus der Kehle hervor, wobei auf seinen Händen plötzlich dünne Haare wuchsen. Der Ninja hatte sich über Tengus und deren Herkunft sowie über deren Werden keine Gedanken gemacht. Er erlebte jedoch mit, daß sie es durch Verwandlung schafften, daß Tengus auch Menschen sein konnten, und der Fahrer neben ihm gehörte zu dieser Sorte. »Was willst du jetzt tun?« »Dich töten!« »Sieh nach vorn!«
Er hatte die Aufforderung derart intensiv ausgestoßen, daß Yakup ihr wie unter Zwang folgen mußte. Es war auch gut so, daß er es getan hatte, denn vor ihnen auf der Sttaße und breit zwischen den Hügeln stand eine blaue Wand. Die Festung! Nicht als solche zu erkennen. Sie besaß keine Mauern und Türme, keine Wehrgänge oder Tore, aber ihr tiefblauer, kalter und abweisender Schein reichte aus und wirkte gleichzeitig wie ein Magnet, der den Wagen an sich heranriß. Sie war ja nie gleich, sie konnte auf die Größe eines Konfettistücks zusammenschrumpfen oder gewaltig werden wie ein Berg, aber sie war tödlich. Pedro atmete wie jemand, der damit Mühe hatte. Es hörte sich an, als würde ein Raubtier nach Luft schnappen. Hin und wieder lachte er scharf auf. Sie rasten unbeirrt auf das Ziel zu. Es gab keine Chance, ihm zu entwischen. Die Festung war da, sie würde bleiben, sie würde den Wagen und die Personen schlucken. »Glaubst du mir nun?« fragte Pedro, dessen Wagen an Tempo gewann, obwohl er das Gaspedal nicht berührte. »Du bist der Killer!« »Richtig!« »Bist du ein Mensch?« Yakup mußte weiterreden und seinen Nebenmann ablenken. »Auch!« sagte dieser, drehte wieder seinen Kopf nach rechts und riß seinen Mund auf. Für Yakup sah es so aus, als würden die Lippen des anderen platzen, gleichzeitig erweiterte sich der Mund, und eine schwarze Woge aus Schleim schoß daraus hervor! Er war beides, Mensch und Tengu! Eine andere Erklärung hatte der Ninja nicht. Zudem wollte er nicht länger darüber nachdenken, denn mit dem Erscheinen der Festung hatte der Dämon Shimada die letzte Runde in diesem mörderischen Kampf eingeläutet. »Jetzt rettet dich nichts mehr!« Der Tengu sprach, als wäre sein Mund ebenfalls mit Schleim gefüllt. Yakup hatte die Krone der Ninja gelöst. Er nahm sie in beide Hände und setzte sie auf seinen Kopf. In diesem Augenblick raste der Wagen in die blaue Festung. Und der Tengu brüllte vor Wut auf, als er sehen mußte, daß der Platz neben ihm plötzlich leer war. Yakup Yalcinkaya war unsichtbar geworden! ***
Das Gelände des Forts war einfach zu sehr in die Stadt Frisco integriert, als daß man es hätte an allen Stellen absperren können. Deshalb war es einfach für uns gewesen, auf das Areal zu gelangen, das eigentlich aussah wie ein großer Park, dessen gewaltige Grünflächen zwar von Straßen durchzogen waren, die aber nicht weiter auffielen, denn die Bäume überwogen doch. Dabei konzentrierten sich die militärischen Anlagen in der Mitte des Reservats. Dort standen die Baracken, die Quartiere, die Paradeplätze, das Gästehotel, die Stores, in denen die Angehörigen alles einkaufen konnten, was sie zum Leben brauchten. Hier konnte ein Mensch geboren werden und auch sterben, ohne das Gelände nur ein einziges Mal verlassen zu müssen. Das war Pre-sidio. Es war ein Energiezentrum, ein Wasser-Reservoir, ein Football-Feld, Sporthallen und so weiter. Aber das alles interessierte uns nicht. Wir hatten Pre-sidio während der Dunkelheit betreten und hielten uns ziemlich im Hintergrund auf, wo es dunkel war. Vor uns schwebte die Lichtglocke. Da ballten sich die Anlagen, da pulsierte das Leben, wir aber standen in der Stille am Rande einer schmalen Straße, geschützt durch eine Strauchgruppe. Es war nur zu hoffen, daß man unser Verschwinden aus dem Hotel nicht bemerkt hatte. Major Thompson würde Gift und Galle spucken, wenn er unser Verschwinden bemerkte, das war uns egal. Wichtig war allein das Ziel, das es zu erreichen galt. Bis dorthin mußten wir noch einen sehr langen Weg gehen, denn wir wußten praktisch nichts. Wir kannten uns nicht aus, wir wußten nicht, wo sich die japanische Delegation genau befand, ob im Hotel oder bei den amerikanischen Offizieren, es hing alles in der Schwebe, und das gefiel uns überhaupt nicht. Uns war auch nicht bekannt, ob die Zeit drängte und die Tengus in dieser Nacht angriffen. Ich nickte meinen Freunden zu. Wir standen zusammen und auch abseits der Laternen, deren Kuppeln von einem bläulichweißen Lichtschein umgeben waren, durch die hin und wieder Dunstfahnen krochen, als wollten sie sich einen bestimmten Weg suchen. »Und du weißt nicht mehr, Shao?« »Nein, es besteht nur der Verdacht, daß einige aus der Delegation vom Club der weißen Tauben sind.« »Müssen die denn auch Tengus sein?« fragte Suko. »Nicht unbedingt — oder?« Shao nickte mir zu. »Du hast recht, John. Es ist möglich, daß sie den Tengus den Weg bereiten. Daß es ihnen zum Beispiel gelungen ist, etwas für sie zu öffnen.«
»Könnten wir dann davon ausgehen, daß sich die Tengus im dunklen Gelände und in guter Deckung herumtreiben?« »Das ist fast zu befürchten.« Ich schaute Suko ins Gesicht und hob die Schultern. »Was ist deine Meinung dazu?« »Ich geb' ihr recht.« »Machen wir uns auf die Tcngu-Suche?« »Wäre nicht schlecht, John. Nur könnten wir den Fall auch von einer anderen Seite anfassen.« »Okay, und welcher?« »Wenn es uns gelingt, die amerikanischen Militärs zu warnen, könnten sich diese auch ebenfalls auf die Tengus einstellen. Oder sehe ich das falsch? »Ganz falsch.« »Wieso?« »Du kennst unsere Militärs und weißt, wie schlecht wir mit denen zurechtkommen. Hier in den Staaten wird es noch schlimmer sein, das kannst du mir glauben.« »John hat recht«, sagte Shao. »Von offizieller Seite werden wir kaum Unterstützung bekommen.« Suko schaute für einen Moment zu Boden. »Also allein, das wird spaßig.« Unter Spaß verstand ich zwar etwas anderes, aber ich wollte ihm nicht widersprechen. Natürlich mußten wir auch mit patroullierenden Wachtposten rechnen. Die allerdings vermuteten wir mehr am Zentrum dieser gewaltigen Anlage. Das hatten wir noch längst nicht erreicht. Die Straße an der wir standen, führte dem Ausgang zu. Ein leicht gekrümmtes Band, dessen Belag dunkel und leicht feucht schimmerte. Wenn es Frost gab, würde sie sich in eine Rutschbahn verwandeln. Einmal hatten wir uns ducken müssen, weil uns ein Fahrzeug entgegenkam. Es war ein Motorrad gewesen, besetzt mit zwei Leuten, die das Gebiet verlassen wollten, ansonsten schwebte die Ruhe wie eine große Decke über uns. »Also, Freunde«, sagte Suko. »Wir müssen uns langsam entscheiden. Wohin?« »In das Hotel«, sagte Shao. Sie hatte mich dabei angeschaut, und ich nickte, denn der Vorschlag war gut. Wenn es möglicherweise eine Chance gab, in das Zentrum unbeobachtet zu gelangen, dann war es das Hotel, in dem ja auch die japanische Delegation untergebracht sein mußte. Zum Glück kam es anders. Wir standen noch immer zusammen, als wir das typische Geräusch eines hochtourig laufenden Motors hörten. Von der rechten Seite her, aus der Tiefe des Geländes, näherte sich uns ein Fahrzeug, und das nicht gerade langsam.
Der Wagen besaß einen Motor, wie ihn nur ein VW-Käfer hatte. Und es war ein Käfer, der plötzlich aus der Kurve hervorschoß, sich noch ziemlich weit von uns entfernt befand, aber mit Fernlicht fuhr, so daß die hellen Lichtstreifen wie ein gespenstischer Schleier die Umgebung abtasteten. »Der fährt zu schnell«, sagte Shao. Sie hatte die Worte kaum ausgesprochen, da geschah es schon. Die Feuchtigkeit auf der Straße mußte bereits gefroren sein. Nicht an allen Stellen, aber an der, über die der VW-Käfer raste und dessen Reifen nicht mehr packten. Der Wagen verwandelte sich innerhalb von Sekunden in einen Kreisel, wurde kaum langsamer, drehte sich immer weiter um die eigene Achse und hatte das Glück, auf der Straße bleiben zu können. Die Kraft katapultierte ihn nicht auf irgendeine Seite und damit hinein in das Gelände. Er rutschte drehend auf uns zu. Die Scheinwerfer verursachten einen zuckenden Lichtwirbel, der auch über uns hinwegglitt und unsere Gestalten zu gespenstischen Wesen machte. Den Fahrer sahen wir nicht. Doch das Glück blieb ihm auch weiterhin treu, denn seine unfreiwillige Karussellfahrt endete nicht im Graben, sondern ein Stück davor und genau auf unserer Seite. Es wurde still. Der Motor war in den letzten Sekunden abgewürgt worden, der Wagen blieb stehen, und wir brauchten nur wenige Schritte zu gehen, um ihn zu erreichen. Hinter der Scheibe sahen wir ein helles Gesicht. Es konnte allerdings auch an den blonden Haaren liegen, daß es uns so hell erschien. Shao flüsterte: »Das ist eine Frau, glaube ich.« »Dann öffne du die Tür.« Sicherlich stand die Person unter einem Schock. Es war besser, wenn sie sich einer weiblichen Person gegenübersah, als vor einem fremden Mann zu stehen. Wir blieben im Hintergrund und überließen Shao die Initiative, die am Griff der Fahrertür zerrte, sie öffnete und zunächst einmal das Fernlicht ausschaltete. Sie blieb in der gebückten Haltung und schaute gegen das Profil einer leichenblassen jungen Frau, die wie eine Puppe und zum Glück angeschnallt auf ihrem Sitz hockte. Die Frau trug eine schwarze Lederjacke, Jeans und einen Pullover unter der Jacke. Ihr blondes Haar war stufig und struppig geschnitten und sah aus, als wären die Spitzen von Mäusezähnen angeknabbert worden. Shao sprach die Frau leise an, erzielte leider keine Reaktion, denn die Fahrerin schaute nur stur geradeaus. Noch immer gebückt, drehte sich Shao um und fragte: »Was sollen wir machen?« »Versuche es noch einmal.«
»Okay, Suko.« Sie redete und berührte die Fahrein an der Schulter. Ihr Finger drang tief in das weiche Leder der Jacke, und die Blonde zuckte plötzlich zusammen. Sie drehte den Kopf, schaute Shao an. Sekunden blieb dieses maskenhafte Gesicht erhalten. Dann bebten die Lippen, danach zuckten die Wangen, und einen Moment später brachen die Tränen als Ströme aus ihren Augen. Auf dem Sitz sackte sie zusammen und zur Seite, wo der Gurt sie allerdings hielt. Shao trat zurück. »Wir lassen sie weinen, das ist besser.« Von uns gab es keinen Einwand. Nach wenigen Minuten hatte sich die blonde Frau wieder beruhigt und auch zweimal die Nase geputzt. Shao hatte den Gurt geöffnet, so konnte die Fahrerin aussteigen. Sie zitterte noch immer, obwohl ihre Bewegungen so steif wirkten. Sie war noch jung, ich schätzte sie auf knapp über zwanzig. Shao hielt sie in der Höhe des Ellbogens fest. Suko und ich lösten uns aus dem Dunkel der Dek-kung. Die Frau sah uns, versteifte sich und wollte schreien, aber Shao war schneller. »Keine Sorge1, wir gehören zusammen und sind Freunde.« Die Fahrerin entspannte sich wieder. Shao machte uns bekannt. Wir sagten nichts und warteten darauf, daß die Fremde redete. Sie spielte mit den Händen, bewegte die Augen und flüsterte: »Ich heiße Julia Horn.« »Sie wohnen hier?« fragte Suko. »Nein, nein, ich war nur zu Besuch. Mein . . .Verlobter ist First Lieutenant. . .« »Sie haben ihn gesprochen?« »Nur kurz. Er hat zu tun, denn er muß sich um eine Besuchergruppe aus Japan kümmern.« Wir schauten uns an, lächelten, wir hätten vor Freude in die Luft springen können, statt dessen taten wir nichts, nickten nur und gaben uns ziemlich gleichgült'S»Die Japaner sind noch da?« »Ja.« Ich fragte weiter. »Sie wohnen doch sicherlich im Hotel.« »Auch das.« »Jetzt auch?« »Nein, sie sind noch mit den anderen Offizieren zusammen. Man redet über gewisse Gemeinsamkeiten, wenn Sie verstehen. Man sitzt im Kasino. Es sind zwar keine offiziellen Verhandlungen oder Gespräche, aber man will die Kontakte vertiefen.« »Können Sie uns sagen, wie groß die Gruppe der Besucher ist?« wollte Suko wissen. »Es sind sechs Leute. Nur Männer. Ich weiß nicht einmal, ob sie alle zu den Militärs gehören. Jedenfalls trägt nur einer von ihnen eine Uniform,
die anderen nicht. Sie . . . sie machen auch einen etwas komischen Eindruck, wenn ich das so sagen darf.« »Wie denn?« »Na ja, sie sind sehr schweigsam. Sie sagen nicht viel, und sie kommen mir schon komisch vor.« »Es ist eben ein anderer Kulturkreis.« Suko räusperte sich. »Ist Ihnen noch etwas aufgefallen, Julia?« »Wie meinen Sie das?« »An den Besuchern.« Die junge Frau überlegte, sie starrte zu Boden und hob die Schultern. »Vielleicht das, daß sie alle ziemlich alt sind. Also nicht mehr die jüngsten Männer. Unter sechzig wird keiner von ihnen sein, das glaube ich bestimmt.« »Und sonst nichts?« Sie räusperte sich. »Ich weiß nicht so recht. Da ist mir schon etwas ins Auge gestochen.« »Reden Sie!« Julia schaute mich an. »Die trugen allesamt, bis auf den Uniformierten, Abzeichen an ihren Jacketts.« »Wie sahen die aus?« Wir bekamen eine indirekte Antwort. »Sie fielen mir deshalb auf, weil sie weiß waren und von dem dunklen Stoff der Anzüge abstachen. Es waren kleine Tauben, ja, kleine weiße Tauben.« Es war die Spur. Verdammt, wir hatten sie. Diese kleinen weißen Tauben, die Abzeichen derjenigen Personen, die dem gefährlichen Club angehörten. Shao nickte. Er war ihr Triumph, sie hatte uns den Weg gewiesen, der zum Ziel führen mußte. »Und die Gruppe befindet sich im Kasino?« hakte ich noch einmal nach. »Ja, da sind sie. Alle hockten zusammen, natürlich mit den Amerikanern. Aber es ist. . .« Sie schaute mich scharf an. »Hören Sie mal, weshalb interessieren Sie sich so stark für diese Besuchergruppe? Was haben Ihnen die Japaner getan?« »Noch nichts, aber wir gehen einem bestimmten Verdacht nach. Es kann sein, daß die Marines sich hier einen bösen Kuckuck ins Nest gesetzt haben.« Julia Horn bewies, daß sie schnell überlegen und Sachinhalte erfassen konnte. »Wenn ich darüber nachdenke, könnte es sein, daß die Japaner spionieren wollen.« »So ist es.« Julia strich über ihre Stirn. »Das gefällt mir aber gar nicht«, murmelte sie. »Uns auch nicht, aber deshalb sind wir hier. Es könnte sein, daß noch einiges auf uns zukommt.« »Was denn?«
Eine gute Frage, auf die ich ihr keine direkte Antwort geben konnte. Wenn ich ihr jetzt von den Tengus erzählte, würde sie mich entweder auslachen oder in Panik verfallen. Suko und Shao dachten ebenso wie ich. Das erkannte ich sehr deutlich an ihren Blicken. »Wir können es Ihnen nicht sagen, Julia, aber ich möchte Sie bitten, daß Sie uns vertrauen.« In ihrem Gesicht fiel der schmale Mund mit den vollen Lippen auf. An den Seiten begannen sie zu zucken. »Daß Sie viel verlangen, wissen Sie. Ich weiß nicht einmal, wo Sie herkommen. Der Aussprache nach sind Sie keine Amerikaner.« »Wir kommen aus London!« erklärte Suko. »Engländer?« staunte die junge Frau. »Wieso das?« Um sie zu beruhigen, zeigten wir ihr unsere Ausweise. Sie ging einige Schritte zur Seite und hielt die Dokumente in das Licht einer Laterne. Den Namen Scotland Yard kannte sie und war überrascht, zwei leibhaftige Beamte aus diesem >Club< vor sich zu sehen. »Reicht Ihnen das?« »Ja, im Prinzip schon.« Sie hob die Schultern und schaute den Weg zurück. »Was wollen Sie denn jetzt machen?« »Sie einspannen, Julia.« Die Blonde lachte Suko leise an. »Mich? Was kann ich schon für Sie tun?« »Zumindest kennen Sie sich auf dem Gelände aus.« »Das stimmt.« »Na bitte. Dann können Sie uns dorthin bringen, wo wir gern hinmöchten. Hier stehen wir einfach zu stark abseits. Das Zentrum ist für uns wichtiger.« Julia Horn holte mit offenem Mund Luft. »Ja«, sagte sie leise. »Da haben Sie eigentlich recht.« »Sehen Sie.« »Und was wollen Sie dort?« »Wenn Sie uns wirklich vertrauen«, sagte Suko leise, »dann stellen Sie bitte keine Fragen. Hier bahnen sich Dinge an, die eigentlich unfaßbar sind.« »Was meinen Sie damit?« »Bitte, Julia«, sagte auch ich. Sie lachte leise und glockenhell. »Ich hätte nie gedacht, daß mir so etwas passieren könnte. Da treffe ich Sie in der Nacht hier auf dem militärischen Gelände, Sie sind mir völlig fremd, und plötzlich habe ich Vertrauen zu Ihnen. Das ist doch nicht normal.« »Vielleicht haben Sie ein gutes Gespür für gewisse Dinge. Daran sollten Sie auch denken. Manchmal muß man sich auf sein Gefühl verlassen und dann genau das Richtige tun.« »Möglich.«
»Und Sie haben sich bestimmt nicht falsch entschieden«, sagte ich. »Bringen Sie uns bitte hin.« Julia schaute auf ihren Wagen, dann auf uns. »Ja, drei Erwachsene kann ich transportieren.« »Und bitte vorsichtig fahren!« batShao. »Eine zweite Rutschpartie endet meistens nicht so glimpflich wie die erste. Sie haben ja großes Glück gehabt.« »Das kann man wohl sagen.« Ich war der Längste-und setzte mich nach vorn, nachdem Suko und Shao sich in den Fond geklemmt hatten. Um unser Ziel erreichen zu können, mußte Julia den Käfer wenden. Sie tat es vorsichtig, spielte mit dem Gas und erschrak leicht, als die Räder doch einmal kurz durchdrehten. Schließlich hatten wir das Wendemanöver geschafft, aber Julia fuhr noch nicht an. Mitlaufendem Motor blieben wir am Straßenrand stehen. »Ist noch was?« »Mir ist da etwas eingefallen, John.« Sie beugte sich vor, bis ihr Gesicht die Scheibe beinahe berührte. »Etwas Schlimmes?« »Das ist eben mein Problem. Ich habe es nicht herausfinden können, aber ich hatte tatsächlich den Eindruck, auf meinem Weg verfolgt zu werden.« »Wir haben keinen zweiten Wagen gesehen«, meldete sich Shao. »Es war auch kein Auto.« »Sondern?« Sie drehte sich um. »Ich kann es nicht beschreiben. Wahrscheinlich ein Schatten.« »Mit Umrissen?« Sie hob die Schultern. »Das ist ebenfalls schwer zu sagen, wenn Sie damit einen Menschen meinen. Auf jeden Fall war der Schatten vorhanden, denn ich habe ihn nicht nur einmal, sondern mehrere Male gesehen. Auch vordem Wagen, als er durch das Licht der Scheinwerfer huschte. Er muß schneller gewesen sein als ich. Ich wußte, daß es glatt werden könnte, bin jedoch schneller gefahren, weil ich dem Schatten entwischen wollte.« »Haben Sie es geschafft?« Sie hob die Schultern. »Das ist möglich. Ich konnte mich nicht mehr konzentrieren. Fr war auch zu schnell und für mich irgendwie nicht zu fassen. Okay, ich habe ihn gesehen, was er jedoch genau wollte, war mir unbekannt.« Ich schaute Suko an. Mein Freund und Shao nickten synchron. Sie dachten an das gleiche wie ich. Doch keiner von uns sprach den Begriff Tengu aus. Zudem war dieses Gelände für ein Monstrum wie den Tengu ideal. Es gab genügend Deckung, er konnte sich verbergen und gedankenschnell aus seinem Versteck erscheinen. Julia Horn hatte unsere Reaktionen genau mitbekommen und sich ihre Gedanken gemacht. »Sie wissen Bescheid?«
Ich wich aus. »Nicht direkt, aber wir können uns vorstellen, daß Sie sich in einer Gefahr befunden haben.« »Also ging es um den Schatten?« »Ja, er gehört nicht hierher. Er ist geschickt worden. Wir werden die Augen offenhalten.« Julia hatte ihre Hand bereits auf den Schaltknüppel gelegt, fuhr aber noch nicht an. »Mal ehrlich, rechnen Sie denn mit einem Überfall?« »Es kann passieren.« »Dann wissen Sie doch mehr.« »Das hat niemand bestritten«, sagte ich. »Aber aus bestimmten Gründen können wir Ihnen nichts sagen.« »Sie erinnern mich an meinen Freund und Fast-Verlobten. Der hält auch oft genug den Mund, wenn es dabei um gewisse Dinge geht.« »Da tut er auch recht daran.« Sie strich einige Haarsträhnen aus dem Gesicht. »Soll ich denn jetzt fahren?« »Das wäre uns sehr recht.« »Okay.« In der nächsten Sekunde waren wir unterwegs. Wie Julia uns erklärte, befanden wir uns auf der richtigen Straße, die irgendwann einen Bogen schlug und auf das Zentrum des Forts zulief. Sie hieß Presidio Boulevard und gehörte zu den Straßen, die von den Militärs angelegt worden waren. Mit den offiziellen hatte sie nichts zu tun. Wenn es uns mal gelang, frei nach Norden zu schauen, da konnten wir auch die Zufahrt zur Golden Gate erkennen, denn dort bewegten sich noch immer die Wagen in einer langen Reihe. Hier unten war es dunkel, abgesehen von den Laternen, deren Lichter immer wieder weiße Flecken in die Finsternis rissen. »So, noch eine Kurve, dann können Sie die Anlage sehen«, erklärte Julia. Sie ging leicht vom Gas, als sie in die Kurve hineinfuhr. Das Fernlicht hatte sie nicht mehr eingeschaltet, und so sahen wir das quer über der Straße liegende Hindernis erst sehr spät, aber trotzdem noch rechtzeitig genug. »Verdammt, das ist. ..« »Bremsen!« rief ich. Julia sprach nicht mehr, sie gehorchte wie ein Roboter, der seine Befehle einprogrammiert hatte. Wäre es auch an dieser Stelle glatt gewesen, hätten wir für nichts garantieren können. So war es nur feucht, und die Reifen konnten packen. Welch ein Baum vor uns lag, konnte ich nicht erkennen. Jedenfalls war es keine Tanne, sondern ein Laubbaum, versehen mit einem breiten und mächtigen Astwerk, dessen Krone sich wie ein mächtiger Kranz über der Fahrbahn ausbreitete. Die ersten Zweige kratzten über die Motorhaube, als ich die Tür aufstieß und den gestoppten Wagen verließ. Aus dem Käfer hörte ich die Kommentare, besonders für Julia Horn war es unbegreiflich, daß sich der Baum quergelegt hatte.
»Das hat doch jemand getan, wir haben keinen Sturm und ...« Die nächsten Worte verstand ich nicht, weil ich mich bereits auf den Straßenrand zubewegte, denn mir war ein bestimmter und auch schlimmer Verdacht gekommen, den ich nachprüfen wollte. Nicht nur wegen der Kälte floß ein Schauer über meinen Rücken und verdichtete sich zu einer Gänsehaut. Ich dachte an den Tengu und gleichzeitig an seine Kraft. Der schaffte es ohne weiteres, einen normalen starken Baum umzureißen und ihn über die Straße zu schleudern. Wenn eres tatsächlich getan hatte, um uns hierzu stoppen, dann mußte er auch gewußt haben, wo wir fuhren. Ich drehte mich noch einmal um. Suko und Shao waren ebenfalls ausgestiegen, auch Julia stand neben dem Wagen. Shao hielt ihre Armbrust schußbereit. Suko hatte seine Dämonenpeitsche ausgefahren. Beide wußten, auf was es ankam, und beide wurden auch wegen ihrer Waffen von Julia Horn angestaunt. Die Erde neben der Straße war noch frosthart. Das Gras wirkte ebenso sperrig wie das zwischen ihm wachsende Unkraut. Ein Blick in den Wald gelang mir nicht, dazu standen die Bäume hier zu dicht, aber ich konnte erkennen, wie der Baum herausgerissen worden war. Mitsamt seinem Wurzelwerk, das jetzt frei lag. Da bildete sich schon ein Klumpen in meinem Magen. Ganz klar, hier hatte der Tengu gewütet und wieder einmal bewiesen, mit welch übermenschlicher und unnatürlicher Kraft er ausgestattet worden war. Daß ich ihn nicht sah, besagte überhaupt nichts. Ich mußte einfach davon ausgehen, daß dieses Wesen hier in der Nähe lauerte und uns beobachtete. Es war dunkel. Die nächste Laterne leuchtete am Ende der Kurve. Ihren Lichtschein konnte ich nur sehen, wenn ich mir fast den Kopf verrenkte. Ich drehte mich wieder um. Suko sprach mich scharf flüsternd an. »Hast du etwas entdecken können?« »Ja, der Baum wurde herausgerissen.« »Dann war er es!« »Genau.« »Wer war es, verdammt?« rief Julia. »Ich komme mir langsam wie verarscht vor.« »Keine Panik, Mädchen«, hörte ich Suko sprechen, als ich mich umdrehte. »Wir packen das schon.« »Nein, den Baum räumen wir nicht weg, der ist. . .« Julia stockte mitten im Satz. Nicht nur sie hatte mitbekommen, wie sich das mächtige Astwerk plötzlich bewegte. Einige Zweige knackten einfach weg, zwei Äste sprangen in die Luft. Und das alles nur, um ihm Platz zu schaffen, dem Tengu!
Suko reagierte am schnellsten. Zudem stand er günstig, packte die angststarre Julia und zerrte sie zurück, während innerhalb des Astwerks ein Körper hochwuchs, der uns Furcht einjagte. Ein gewaltiger schwarzer Klumpen mit unförmigen menschlichen Umrissen, langen Greifarmen und den rötlichen Augen innerhalb der widerlichen Masse. DerTengu stieß ein unbeschreibliches Geräusch aus, als er sich vom Astwerk löste und noch einmal auf dem Baumstamm abgefedert war. So sprang er dem VW entgegen. Shao schoß. Der Pfeil jagte in den Körper hinein, bevor der Tengu das Dach erwischte. Dann aber krachte es zusammen, als bestünde es aus Pappe. Wir hörten das Knirschen, Streben verbogen sich, Scheiben platzten weg, den Tengu erwischte ein zweiter Pfeil, den er sich mit einer Hand aus dem Körper riß und mit der anderen das Polster der Rückbank auffetzte, als würde er dafür bezahlt. Er drehte sich, sprang aus dem Wagen und duckte sich vor ihm zusammen. Suko stand mit der Peitsche bereit, ich hielt mich in seinem Rücken auf, doch der Tengu kümmerte sich um keinen von uns. Er interessierte sich nur für den zerstörten VW. Den riß er an sich. Es war kaum zu glauben, mit welcher Kraft das Monstrum den Wagen einfach in die Höhe hob und so tat, als wäre es ein Spielzeug. Unter der vorderen, noch nicht verbogenen Stoßstange bekam er ihn zu fassen, kantete ihn senkrecht und stemmte ihn mit dem Heck zu Boden, wobei er das Fahrzeug gleichzeitig als Deckung benutzte. Wenn Shao jetzt schießen wollte, mußte sie erst um den Wagen herumlaufen. Bei Suko war es nicht viel anders. Zudem wollte er in der Nähe der Frau bleiben, um sie schützen zu können. Nur ich hatte freie Bahn. Trotzdem verzichtete ich darauf, die Beretta einzusetzen. Erstens hätte es nichts gebracht, über geweihte Silberkugeln konnte ein Tengu nur lachen, und zweitens wäre der Schuß bei dieser Stille sehr weit zu hören gewesen und hätte einige Leute aufgeschreckt. Also nahm ich den Dolch. Ks war ein verfluchtes Risiko, gegen einen Tengu zu kämpfen. Wir hatten schon einmal erlebt, wie er ein Fahrzeug mit bloßen Pranken zertrümmerte, aber diesmal war er damit beschäftigt, den Wagen anzuheben, und das kam mir entgegen. Sein Rücken lag frei! Wie ein Blitzstrahl fuhr der Dolch durch die pelzige Haut und hinein in den widerlichen Körper. Die Klinge hinterließ auch eine Wunde, aus der allerdings kein Blut tropfte, sondern ein zäher, dunkler, sirupartiger Schleim, derauf dem Fell eine nasse Bahn hinterließ, als hätte eine Zunge darüber hinweggeleckt.
Der Tengu zitterte. Ich wußte, daß ich ihn nicht getötet, höchstens wütend gemacht hatte, und ein wütender Tengu war noch unberechenbarer als ein normaler. Sicherheitshalber sprang ich wieder zurück, behielt den Dolch aber in der Hand und dachte daran, daß auch mein Kreuz gegen dieses Monstrum nichts ausrichtete. Der Tengu bäumte sich auf, ohne seine Beute loszulassen. Aus seinem Maul drang ein Geräusch, als würde Wasserdampf hervorzischen. Er war wie von Sinnen, der zerstörte Wagen wurde für ihn zu einer Waffe, mit der er angreifen konnte. Er drehte sich auf der Stelle! Den VW hatte er hochgerissen, und er blieb durch die Fliehkraft auch oben. Der Wagen drehte sich mit, wobei sich der Tengu nicht von der Stelle rührte und nur in diese Kreisbewegung hineingeraten war. Dann ließ er den Wagen los. Und der VW verwandelte sich in ein breites, tödliches Geschoß aus zerbeultem Blech, aufgerissenen Sitzen und verbogener Verschalung. Wo er hinflog, war nicht zu erkennen. Es kam darauf an, wann der Tengu ihn losließ. Nach einer Drehung schleuderte er den Wagen weg. Ich lag längst flach, Suko und Julia ebenfalls. Auch Shao hatte sich zurückgezogen, und der VW, ein mörderisches Geschoß, jagte genau in meine Richtung. Ich hatte richtig kalkuliert. Der Schwung war zu groß, das Gebilde konnte mich nicht erwischen. Außerdem lag ich zu nahe an der Stelle und sah ihn als Schatten über meinen Körper hin wegfliegen. Dann krachte er in den Wald! Es war ein Geräusch, wie man es selten hört. Er zog seine Bahn mit einer wahren Brachialgewalt, er zerdrückte das Unterholz, er riß junge Bäume um, prallte gegen harte Stämme, schüttelte die Bäume durch und fiel dann auseinander. Er landete verstreut inmitten des Waldes. Aus und vorbei! Der Wagen hatte seine Existenz ausgehaucht. Es gab ihn nicht mehr. Und auch nicht den Tengu. Der hatte es plötzlich mehr als eilig. Bevor noch einer von uns ein- und angreifen konnte, war er bereits in die Dunkelheit getaucht und weggerannt. Der Richtung nach mußte er auch unser Ziel haben, das heißt, er lief dem Zentrum entgegen. Ich rappelte mich wieder hoch. Shao stand auf den Beinen. Sie war am weitesten von uns entfernt in Dek»Zum Beispiel?« »Das Waffenlager, das Tanklager. Wenn er wirklich so eine immense Kraft hat, kann er Leitungen zerreißen, wo Energie fließt. Wenn er den
Dampf anzündet oder das Kerosin in Brand steckt, wird ganz Presidio in die Luft fliegen.« »Das habe ich befürchtet«, sagte Shao leise. »Noch ist es nicht soweit«, warf ich ein. »Deshalb müssen wir ihn vorher schnappen.« »Dann finde ihn mal, Shao.« »Wir könnten fragen.« »Okay und wen?« »Die Japaner.« Shao nickte. »Ja, die Japaner«, wiederholte sie. »Aber bitte nicht ihr. Ich möchte das machen.« »Nein!« widersprach Suko. »Das kommt nicht in Frage. Du stehst allein gegen . ..« »Suko, hör auf.« Sie redete mit sanfter Stimme. »Ich bin nicht mehr die, die du einmal gekannt hast. Ich stehe Amaterasu sehr nahe. Die Sonnengöttin ist mächtig. Oder muß ich dir sagen, daß sich auch das japanische Kaiserhaus auf sie beruft. Wir können nicht zusammenbleiben. Kümmert ihr euch um den Tengu, ich werde mich mit den Japanern beschäftigen. Das ist die beste Lösung.« »Und was mache ich?« fragte Julia. »Du wirst mir den Weg zum Kasino zeigen. Dann wirst du dich zurückziehen.« Julia Horn überlegte und nickte Suko schließlich zu. »Es wird wohl so am besten sein.« Dann hob sie die Schultern und hatte trotzdem einen Einwand. »Was ist mit meinem Freund? Kann ich ihn nicht warnen? Wenn er ins Verderben läuft.. .« »Ist er denn bei der japanischen Delegation?« erkundigte sich Suko. »Natürlich.« »Dann also auch telefonisch zu erreichen.« »Sicher.« Ich wußte, wohin der Hase lief, und war dagegen. »Nein, Julia, auf keinen Fall werden Sie Ihren Freund mit in die Sache hineinziehen. Das will ich nicht. Wenn Sie mit ihm telefonieren, müssen Sie Erklärungen geben, und er wird auch Fragen stellen. Das können wir einfach nicht verantworten. Lassen Sie ihn aus dem Spiel.« Julia suchte bei Shao Hilfe, sie aber gab mir recht. »Gut, dann können wir gehen.« Es war kein Abschied mit einem Lächeln auf den Lippen. Jeder von uns wußte, daß sehr viel auf dem Spiel stand. Ein Tengu bereits konnte Presidio in eine Hölle verwandeln... *** Er war da, und er war nicht da!
Daß der Wagen in die blaue Wand hineinjagte, bekam Yakup zwar mit, nur konnte ihn der Fahrer nicht sehen. Er hockte geduckt hinter dem Lenkrad und gab Laute von sich, die an ein Grunzen und Hecheln erinnerten. Es war klar, daß er etwas tun wollte, nur konnte er sich nicht entscheiden, was da ablaufen sollte. Ob der Wagen noch fuhr oder nicht, war für Yakup nicht genau feststellbar. Er konnte das Abrollgeräusch der Räder nicht mehr hören, ihm kam es vor, als würden sie durchdrehen oder durch eine düstere Leere gleiten. Der Ninja wollte nicht so lange warten, bis die Fahrt endete, und er hatte auch keine Lust, sich gegen den Fahrer zu verteidigen, für ihn kam es darauf an, Eigeninitiative zu entwickeln, und die begann mit dem Öffnen der Tür. Er stieß sie auf, löste den schmalen Sicherheitsgurt -und ließ sich nach draußen fallen. Mit dem Rücken zuerst, so daß er noch gegen den Fahrer schauen konnte, dessen Gesicht einer staunenden Maske glich, dann war auch sie verschwunden. Und Yakup fiel! Natürlich war seine Aktion ein Risiko gewesen. Er wußte nicht, wo er landen würde und in was der Dämon Shimada die Festung verwandelt hatte. Vielleicht besaß sie keine Grenzen mehr, möglicherweise war alles an ihr aufgehoben, das aber spielte keine Rolle. Diese Welt war sowieso anders, die war verkehrt, und sie war nicht mehr zu begreifen, wenigstens nicht für einen normalen Menschen, und Yakup zählte sich trotz seines extremen Lebensstils dazu. Das Fahrzeug huschte so schnell über ihn hinweg, als wäre es nur ein Trugbild gewesen. Wo es letztendlich verschluckt wurde, konnte er nicht sagen, denn Yakup hatte genug mit sich selbst zu tun, weil ihn ein gewaltiger Sog erfaßte, der rücksichtslos an ihm zerrte. Die Winde drangen von allen Seiten auf ihn ein, sie spielten mit ihm, sie drehten ihn, sie schleuderten ihn hoch, sie zerrten ihn zur Seite, sie drückten ihn nieder, und die Krone der Ninja saß dabei auf seinem Kopf wie fest angeleimt. Es fiel selbst ihm schwer, gegen die Kräfte anzusteuern, doch er schaffte es, sich in eine Richtung zu bewegen — und spürte auf einmal festen Boden unter den Füßen. Sichtbar war er nicht, doch er konnte in seine Umgebung hineinschauen und wartete darauf, daß die dichte Bläue verschwand und sich eine andere Umgebung hervorschälte. Noch konnte er nichts erkennen. Auch der Wagen war nicht mehr zu sehen, die Weite der Festung hatte ihn verschluckt, wie alles hier war auch er zu einem Spielball des Dämons geworden. Zeit existierte in dieser Umgebung nicht. Man mußte alles Menschliche vergessen, hier regierten andere Gesetze, hier wurde getäuscht, hier
waren die Illusionen die Wahrheit, und die Wahrheit war Illusion. Hier lief einfach alles anders ab. Shimada mußte sich zeigen, denn Yakup rechnete damit, daß er dem Dämon durch das Verlassen des Fahrzeugs bereits einen Streich gespielt hatte. So etwas ließ sein Gegner nicht auf sich sitzen. Und die Dichte der Bläue verschwand. Um ihn herum erschien eine besondere Szenerie. Sie wirkte wie aufgebaut, als stünde er inmitten einer Dekoration auf einer Bühne. Das Bild paßte zu Shimada. Eine düstere Welt umgab den Ninja. Sic erinnerte ihn an ein großes Gewölbe, das tief unter der Erde lag, das aber nicht leer war, denn in seiner unmittelbaren Umgebung verteilten sich einige Gegenstände, die auch in ein normales Haus gepaßt hätten. Ein lisch, Stühle davor, auf denen tumbe Gestalten hockten. Yakup starrte in blaßgraue Gesichter ohne Ausdruck. Die stumpf wirkenden Augen paßten ebenfalls dazu. Zahlreiche Schädel waren kahlrasiert, die Männer trugen alte, schmuddelige Gewänder, und ihre Finger hinterließen kratzende Geräusche auf der rauhen Fisch-platte. Er hatte bisher nur einen flüchtigen Blick auf die Gestalten werfen können. Wäre er sichtbar gewesen, wäre sein plötzliches Stutzen aufgefallen, so aber blieb es verschwunden, denn er wußte auf einmal, wer da vor ihm saß. Falls Shimada ihn nicht mit einer optischen Täuschung genarrt hatte, war es furchtbar für ihn, denn die tumben Gestalten am Tisch kannte er sehr gut. Sie waren einmal seine Freunde gewesen, seine Schüler, hatten mit ihm zusammen im Kloster gelebt, doch nun zeigten sie alle Anzeichen der lebenden Toten. Ja, es waren Zombies . . . Wie immer es Shimada auch geschafft haben mochte, Yakup konnte die Tatsache nicht wegdiskutieren. Nicht alle seine Freunde hielten sich am Tisch auf, einige fehlten, waren längst vernichtet worden, als Suko und Shao vor einiger Zeit den Ruinen des Klosters einen Besuch abgestattet hatten, aber der kleine Rest war geblieben und würde nie mehr zu Yakup zurückkehren. Auf dem kleinen Friedhof mit dem einzelnen Grab hatte er bereits die schreckliche Leere in sich gespürt, und wiederum überkam ihn der Findruck, völlig ausgebrannt zu sein. Da gab es kein Zurück mehr, die Zeit war fortgeschritten und hatte sich nicht gegen Shimada gestellt. Wie lange die Zombies am Tisch hockenblieben, konnte Yakup nicht sagen. Irgendwann standen sie auf. Das geschah gemeinsam, als hätten sie einen Befehl bekommen. Wo gingen sie hin? Zwei Stühle kippten, als sie sich umdrehten und sich der Boden plötzlich nach links senkte.
Auch Yakup hatte Mühe, das Gleichgewicht zu halten, weil er damit nicht rechnen konnte. Die Zombies aber rutschten vor, sie bewegten hektisch ihre Arme, als wollten sie sich festhalten. Das schaffte nur Yakup. Er blieb auf den Beinen und sah plötzlich, wie die Untoten ins Nichts stürzten, tiefer hinein in die Festung, an einen Ort, den Yakup nicht unbedingt besuchen wollte und sich deshalb auf den Boden legte, weil der Boden noch schräger wurde. Yakup schaute in die Tiefe . .. Und da sah er es. Es war grauenhaft, es war nicht zu fassen. Wie Steine kippten die Zombies in ihr Verderben, denn tief unter ihnen, eingehüllt durch blaurotes Licht, lauerten die Tcngus. Genau konnte es der Ninja nicht erkennen. Er sah nur die schrecklichen Arme, die sich den fallenden Gestalten entgegenstreckten und diese auffingen. Was die Tengus dann mit ihnen anstellten, war einfach zu grausam, um noch länger hinschauen zu können. Sie taten das gleiche, was Zombies und Ghouls normalerweise mit den Menschen machten. Yakup wollte weg. Es war nicht einfach, sich entgegen der schiefen Ebene zu bewegen. Verfolgt wurde er von schrecklichen Geräuschen, da hörte er ein Schmatzen, Gurgeln, Stöhnen und Schlürfen, als wären die Tengus dabei, Blut zu schlürfen. Grauenhaft. . . Der Ninja schaffte es. Daß die Festung unzählige Überraschungen bereithielt war ihm bekannt. Deshalb wunderte er sich nicht einmal über die breite Öffnung, die sich vor ihm auftat. Er ging hindurch. Im nächsten Augenblick glaubte er, eine andere Welt zu betreten. Sie erschien ihm grenzenlos, obwohl sie von blaugrauen Nebelschwaden durchwabert wurde. Auf ihn machte es den Eindruck, als wäre er vom Haus her ins Freie getreten, was durchaus sein konnte, denn Shimadas Festung konnte dann und wann von einem Garten umgeben sein. Ein Garten voller Gefahren, mit fremden Pflanzen und monsterhaften Tieren. Bei Shimada war nichts unmöglich. Er verstand es, mit den Menschen und ihren Ängsten zu spielen, um irgendwann blitzschnell und grausam zuschlagen zu können und die Verzweifelten in den Tod rasen zu lassen. Yakup schob Entscheidungen nicht gern auf die lange Bank. Schon immer hatte er dem Dämon mit den blauen Augen im direkten Kampf gegenüberstehen wollen. Das war ihm einige Male gelungen, nun aber fühlte er sich trotz der Umgebung sicherer, denn er besaß das Schwert der Sonnengöttin
Amaterasu, von dem es hieß, daß es in der Lage war, auch einen Dämon wie Shimada zu besiegen. Noch steckte es in seiner Nackenscheide, noch war sein Leben nicht unmittelbar bedroht worden. Er fragte sich, ob es gut war, wenn er als Unsichtbarer sich durch diese Welt bewegte. Zwar gehörte sie Shimada, und er regierte auch hier, aber es war fraglich, ob er ihn entdeckt hatte. Deshalb wollte ihn Yakup locken. Er nahm die Krone ab! Schlagartig war er wieder sichtbar geworden. Für sein persönliches Befinden hatte sich nichts geändert, nur für die Gegner, die eventuell in seiner Nähe lauerten und ihn aus sicheren Verstecken unter Kontrolle hielten. Vielleicht auch Shimada? Yakup vertraute auch auf seine Handschuhe. Sie erhöhten die Kraft der Schläge gegen Monstren. Menschen konnte er nicht mit seinen Handschuhen erschlagen. Er schritt durch eine Welt in Blau. Nebelverhangen, unheimlich. Kaltes Grauen kroch wie Tücher über seine Haut. Auf seiner Kopfhaut spürte er das Kribbeln. Es gab keinen Himmel, keine Gestirne, nur allein diese dumpfe, neblige Finsternis, die ihn mit tausend Armen umgab und ihn zu ersticken drohte. Das war die Welt des Shimada, das war Grauen pur, in das sich die Kälte des Todes mischte. Schatten wallten heran, waren zunächst eins geworden mit dem Nebel, um sich einen Augenblick später aus dem Dunst zu lösen und auf ihn zuzusegeln. Sie sahen aus wie riesige Vögel, die eine Totenbotschaft überbringen wollten. Daß sie etwas in ihren gewaltigen Schnäbeln gehalten hatten, bekam er erst später zu spüren, als die Gegenstände auf ihn niederfielen und er sie erkannte. Die Tengus mußten sich in Vögel verwandelt haben, denn sie hatten die Reste der Zombies einfach weggeworfen. Yakup tat nichts, obwohl es ihn drängte, sein Schwert zu ziehen und nach den grauenhaften Wesen zu schlagen. Er ließ die Klinge stecken, die Vögel waren einfach zu schnell, und er befürchtete, sich lächerlich zu machen. So glitten sie vorbei und tauchten ein in die unheimliche Nebelwelt, wo sie verschluckt wurden. Und weiter ging er. Irgendwo mußte doch ein Ziel sein. Er wollte an Shimada heran, er war sicher, daß der Dämon ihn erwartete, sonst hätte dieser ihn nicht in diese Welt hineingelockt. Doch er zeigte sich nicht.. . Er blieb versteckt im Hintergrund, schickte noch einmal einen Schatten in Yakups Nähe, der fast seinen Kopf berührte. Yakup konnte ihn im letzten Augenblick zur Seite drehen.
Die eigenen Schritte hörte er. Sie klangen knirschend und gleichzeitig schleifend. Über seinen Rücken rannen kühle Schauer. Er spürte, daß jemand in der Nähe lauerte. Yakup blieb stehen. Getäuscht hatte ersieh nicht, denn plötzlich vernahm er die Stimme des mächtigen Dämons. »Ah, ich freue mich, daß du den Weg zu mir gefunden hast, Ninja. Willkommen in meiner Festung.« »Es war nicht schwer«, sprach Yakup in den Nebel hinein und schaute sehr genau nach, ob sich Shimada irgendwo zeigte. Noch waren seine kalten Augen nicht zu sehen. Sie hätten es durchaus geschafft, den Nebel zu durchdringen. »Du hast mitbekommen, was mit deinen letzten Dienern geschah?« »Sicher.« »Ich überließ sie den Tengus, denn ich brauchte sie nicht mehr. Ich habe mich an die Tengus erinnert, denn es gibt Menschen, die sich ebenfalls an diese Wesen erinnerten und dabei zwangsläufig auf mich stießen. Es ist der Club der weißen Tauben. Diese Vereinigung soll Japan wieder zu seiner ursprünglichen Größe heranwachsen lassen. Sie sind es, die das Land zu einer grandiosen Weltmacht werden lassen, und ich bin dabei, um sie zu unterstützen, denn sie haben den richtigen Weg eingeschlagen. Hindernisse werden zur Seite geräumt, unser Ziel heißt Rache, Ninja. Und das führen wir durch.« »An wen willst du dich rächen?« »Es ist ganz einfach. Ich und die anderen werden sich an dem Volk rächen, das Japan damals fast zerstört hat. Zuerst an den Amerikanern, dann weiten wir unsere Macht aus.« »Ich habe begriffen. Deshalb willst du nicht kämpfen.« »Was meinst du damit?« »Ich bin gekommen, weil ich den Kampf will, Shimada. Das weißt du genau.« »Stimmt, ich will ihn ebenfalls.« »Davon merke ich nichts. Verlasse dein Versteck und stell dich mir!« »Noch nicht, Ninja, denn ich bestimme den Ort und die Zeit, wo es geschehen soll.« »Sag es mir.« »Nicht in meiner Festung. Vielleicht doch. Ja, in meiner Festung und an einem bestimmten Ort in Amerika, an der Westküste, wo die große Stadt San Francisco liegt. Dort gibt es das Fort Presidio, einen militärischen Stützpunkt, eine Zentrale der Macht, wie die Amerikaner immer sagen. Dort werde ich anfangen. Ich werde ihre Arroganz in einer gewaltigen Feuersbrunst in die Luft jagen. Nichts mehr wird von dem stolzen Presidio zurückbleiben. Es wird sterben, und ich werde jubeln, wenn ich dabei zuschauen kann.«
Yakup war entsetzt, er zeigte es nicht, er riß sich zusammen und hielt sogar dagegen. »Es ist ja durchaus möglich, daß ich auch mit von der Partie bin . . .« »Das sollst du sogar. Du sollst dabeisein und der Mittelpunkt des Chaos werden. Dort stelle ich mich dir zum Kampf. Um uns herum werden die Flammen eine Hölle entfachen, wird Amerika verbrennen, und wir beide kämpfen es aus.« »Und du schickst die Tengus?« Der Dämon mit den kalten, blauen Augen mußte über die einfache Frage einfach lachen. »Die Tengus schicken?« höhnte er. »Das brauche ich gar nicht. Nein, zumindest nicht alle, denn einen von ihnen habe ich bereits vorgeschickt. Er befindet sich auf dem Gelände und wird mir den Weg bereiten. Mit seiner Kraft wird er zerstören, wird er Leitungen zerreißen, wird er dafür sorgen, daß dieses Fort, der Stolz der Westküste, in die Luft fliegt. Die Flammenhölle wird alles vernichten, aber auch alles. Keiner kann ihr entkommen.« Yakup kannte den Dämon gut genug, um zu wissen, daß er nicht bluffte. Er war schrecklich, er setzte sich über alle Gesetze hinweg und opferte Menschenleben wie Fliegen. Selbstverständlich kannte der Ninja die Anlage. Er hatte lange genug in der Nähe von Frisco gelebt, betreten allerdings hatte er sie noch nicht. Das würde bald passieren, leider nicht freiwillig, denn Shimada schaffte es, mit der Festung überall hinzukommen. »Wann wird es soweit sein?« Shimada lachte in den Dunst hinein. »Was glaubst du?« »Ich weiß es nicht.« »Aber ich bin bereit. Über Presidio liegt die Finsternis. Die Nacht des Schreckens ist bereits angebrochen. Wir beide wercien hinreisen, zusammen mit meinen Freunden. Du kennst die Festung, und du weißt, daß Zeit für mich nicht existiert.« Das wußte Yakup, und er kam nicht dazu, eine Antwort zu geben, denn die schreckliche Reise begann... *** »Das hätte ich nie gedacht!« flüsterte Julia. »Was, bitte?« »Daß so etwas passieren könnte. Es ist alles so schrecklich. Es kam über mich wie ein gewaltiger Orkan, der alles hinwegschwemmte. Ich habe plötzlich eine ganz neue Position in meinem Leben bekommen. Wissen Sie, bisher bin ich ziemlich behütet aufgewachsen. Verbrechen kannte ich nur aus dem Fernsehen. Mein Vater war auch Soldat, und er war glücklich, daß ich ebenfalls einen Soldaten heiraten will.«
Shao hörte zu, ohne eine Antwort zu gehen, denn sie mußte sich auf die dunkle Umgebung konzentrieren. Bewußt mieden sie den Schein der Lampen, schritten auch nicht über Wege, sondern schlugen sich quer durch das Gelände. Shao hatte den Tengu nicht vergessen. Deshalb rechnete sie auch mit einem urplötzlichen Angriff. Wie sie sich dann verhalten sollte, wußte sie nicht, jedenfalls durfte er nicht dazu kommen, seine fürchterlichen Kräfte auszuspielen. Das Zentrum lag bereits vor ihnen. Ein großer, heller Komplex, von Straßen und Wegen durchzogen, wobei vor einigen Gebäuden Wachtposten standen. Das hatte Shao etwas beunruhigt, aber sie war von Julia wieder in die Schranken gewiesen worden. »Keine Sorge, man kennt mich hier. Wenn ich es will, kommen Sie überall hinein.« »Bist du so berühmt?« »Nicht ich, mein Vater. Er ist General, befindet sich aber leider am Golf.« »Verstehe.« Das Thema schnitten sie nicht mehr an, und Julia hatte auch nicht nach ihrer Waffe gefragt, die so auffällig war. Sie wurde von dem capeartigen Mantel verborgen. Die Ruhe war dahin. Sie vernahmen Stimmen und auch die Geräusche startender Wagen. Julia deutete gegen die breiten Scheinwerferlanzen, die in einer gewissen Entfernung an ihnen vorbeiwehten. »Wir können nicht mehr in Deckung bleiben, jetzt müssen wir den offiziellen Weg nehmen, wenn wir das Ziel erreichen wollen.« »Einverstanden.« Der weiche Boden verschwand, denn sehr bald schon schritten sie über den Beton, sahen vor sich die hellen Bogenleuchten und einen rot-weiß gestreiften Sperrbalken, der ihnen den weiteren Weg versperrte, zusätzlich zu den beiden Wachtposten, von denen einer aus seinem kleinen Betonhaus trat. »Laß mich nur machen«, flüsterte Julia. Der Soldat kannte sie. Unter seinem Stahlhelm verzog sich das Gesicht zu einem Lächeln. Der Atem dampfte vor den Lippen. »Schon wieder hier, Miß Horn?« Julia riß sich zusammen. Ihr Herz klopfte laut. Sie hatte das Gefühl, daß der Mann es hören konnte. Hoffentlich merkte der Soldat nichts. Die Ausrede hatte sie sich schon zurechtgelegt. »Ich habe noch etwas vergessen, sorry.« »Okay, Miß Horn.« Dann schaute der Soldat Shao an. »Und was ist mit der Lady dort?« »Sie ist eine Freundin.« Der Satz kam ihr glatt über die Lippen. »Der Passierschein?« »Den hat sie nicht.«
Der Soldat hob die Schultern. »Es tut mir außerordentlich leid, aber sie muß hier warten oder in unserem Wachhaus, wo es wärmer ist. Sie können natürlich gehen, Miß Horn.« Julia hätte am liebsten losgeflucht. Statt dessen zwang sie sich zu einem Lächeln. »Bitte, können Sie nicht eine Ausnahme machen? Das ist doch nicht schlimm.« »Ich habe meine Vorschriften.« »Weiß ich, Bill. Hat mein Vater auch immer gesagt. Er steht jetzt am Golf, und Sie erzählen mir was von irgendwelchen Vorschriften. Das paßt doch njcht zusammen.« »Weiß ich selbst, Miß Horn . . .« »Dann geben Sie Ihrem Herzen einen Stoß. Spione sind wir nicht, außerdem sieht es keiner.« Julia hatte den guten Mann in eine Zwickmühle gebracht. Er hatte sich tatsächlich zwischen zwei Stühle gesetzt und wußte nicht, auf welche Seite er rutschen sollte. »Nun?« Bill schaute sich um wie ein Dieb in der Nacht. Dann nickte er. »Ja, es ist gut. Sie können passieren.« »Danke, Bill, Sie sind ein Schatz.« Julia drehte sich um. »Komm, Shao, wir holen die Sachen eben ab.« Die Chinesin lächelte, als sie den Wachtposten passierte. Sie lächelte auch weiter, als Julia Horn kalkbleich wurde und zitternd ausatmete. »Himmel, das war knapp.« »Hast du daran gezweifelt?« »Ja, Shao, das habe ich. Soldaten können manchmal große Sturköpfe sein. Ich entstamme selbst einer Soldatenfamilie. Da hat es oft genug gekracht, das kannst du mir glauben.« »Klar.« Shao drehte sich um. »Sag mir nur, wohin wir müssen!« Julia umfaßte ihren Arm und zog sie mit. »Komm weiter, Mädchen. Der Bau liegt etwas versteckt.« »Dann sind sie nicht im Hotel?« »Nein.« »Warst du schon da? Hast du etwas von den Besprechungen mitbekommen?« »Ich doch nicht. Nein, das sind Vordiskussionen über eine eventuelle Zusammenarbeit. Man will gegenseitig Informationen austauschen. Der eine soll vom anderen profitieren.« Da Shao in die Worte hineinlachte, fragte Julia nach dem Grund »Es sind genau deine Worte gewesen, Mädchen. Profitieren werden nur die Japaner. Sie schauen sich alles an, die hören zu, sie merken sich viel. Und einige von ihnen haben ihren Haß nicht vergessen. Der Krieg liegt zwar lange zurück, aber in zahlreichen Seelen findet er noch immer statt. Das kannst du mir glauben.« »Tatsächlich?« »Ja, die weißen Tauben, und denk an den Tengu. Der hat sich von keiner Wache erwischen lassen.«
»Stimmt.« Julia runzelte die Stirn. »Ich bin nur gespannt, was geschieht, wenn der querliegende Baum gefunden wird. Großalarm möglicherweise.« »Das wäre dem Tengu bestimmt nicht unrecht. Er ist ein Wesen, das das Chaos liebt. Aus der Angst, dem Grauen und dem Tod schöpft er seine Kraft, und er wird von den Leuten unter Kontrolle gehalten, die euch besucht haben.« Julia winkte hastig ab und drängte Shao in einen schmalen Weg, der eine Abkürzung darstellte. »Mach mir nicht unnötig Angst, Shao. Es reicht wirklich.« Sie gingen schneller. Sorgfältig gestutztes Buschwerk begleitete ihren Weg. Sie sahen Schilder, die zu den Sportanlagen hinführten. Das war nicht ihr Ziel. Sie wandten sich in die entgegengesetzte Richtung und sahen schon sehr bald ein flaches Gebäude, das in drei Stockwerke aufgeteilt worden war. »Ist es das?« »Ja, Shao.« Die Chinesin blieb stehen. Das Kasino befand sich in der untersten Etage, zu erkennen an den sehr großen Fenstern, hinter denen sich hellerleuchtete Säle befanden. Wenn die Frauen sich auf die Zehenspitzen stellten, konnten sie die Köpfe der Männer sehen. »Sie sind noch da!« wisperte Julia. »Da haben wir Glück gehabt.« Shao nickte. Sie wollte wissen, wie sie in das Kasino hineinkam und ob sie sich dort verstecken konnte. »Das ist nicht möglich.« »Gibt es da keine Küche?« »Schon,aber.. .« »Dann ist doch alles klar.« »Stimmt, Shao, nur muß ich bei dir bleiben, wenn du verstehst. Ohne mich kommst du auch nicht in das Kasino.« Shao kniff den Mund zusammen. »Dabei wollte ich dich aus der Gefahrenzone haben.« »Sorry.« Shao überlegte. »Okay, bringen wir den Rest auch noch hinter uns. Stehen da Wachtposten?« »Nein, aber ich habe eine Code-Karte.« »Phantastisch.« Der Eingang lag im hellen Licht. Beide Frauen kamen sich vor wie auf dem Präsentierteller, als sie der Front entgegenschritten. Nicht weit entfernt parkten die Dienstlimousinen der hohen Offiziere und Besucher. Chauffeure warteten in den Wagen. Einerstieg aus und rief Julia zu, daß First Lieutenant Tangy noch im Kasino war. »Ja, danke.« »Beruhigt es dich, daß dein Freund dort ist?«
Julia schob die Karte in den Schlitz. Eine Lampe leuchtete auf, Julia drückte gegen die Tür und nickte. »Und ob es mich beruhigt. Walter kann sich wehren.« »Nicht gegen einen Tengu.« »Bitte, raube mir nicht alle Illusionen.« »Sorry, das wollte ich nicht.« Sie betraten einen Flur. Shao hatte sich alles genau eingeprägt. Links lagen die Besprechungsräume. Zur Küche aber mußten sie geradeaus gehen. »Kennst du das Personal?« »Nicht besonders. Nur vom Ansehen. Um diese Zeit sind die meisten sowieso weg.« »Ja, stimmt.« Die Küche bestand nicht nur aus einem Raum. Drei Räume standen in verschiedenen Winkeln zueinander. Shao interessierte sich für den, der dem Besprechungsraum am nächsten lag, denn durch einen Türspalt konnten sie alles überblicken. Eine Ordonnanz schaute die beiden Frauen groß an, als sie plötzlich vor ihm standen. In diesen Sekunden wuchs Julia über sich selbst hinaus, als sie einen Finger auf die Lippen legte und sich ihre Augen weiteten. »Bitte, Mr. Cossner, kein Wort zu meinem Freund.« »Aber das ist. ..« »Ich will ihn überraschen, verstehen Sie?« Cossner rieb über seinen rötlich schimmernden Bürstenhaarschnitt. Er trug eine korrekt sitzende Uniform und wirkte vornehmer als mancher Ober. »Das ist natürlich Ihre Sache, Miß Horn. Aber ich finde es schon außergewöhnlich.« Julia widmete ihm ein strahlendes Lachen. »Für ungewöhnliche Dinge bin ich immer zu haben, das wissen Sie doch.« »Schon, aber .. .« »Bitte, wir wollen ihn ja nur überraschen. Sie brauchen nichts anderes zu tun, als uns hier in die Küche zu lassen. Militärische Geheimnisse werden wir schon nicht ausplaudern.« »Natürlich, das ist klar. So habe ich es auch nicht gemeint.« Sie zwinkerte ihm zu. »Alles klar?« »In Gottes Namen, Miß Horn.« »Danke.« Cossner hatte zu tun, denn die Herren hatten Kaffee bestellt. Als die Ordonnanz verschwunden war, mußte sich Julia einfach gegen die Wand lehnen, denn ihr zitterten plötzlich die Knie. »Das war knapp, sogar sehr knapp. Manchmal ist es wirklich gut, wenn man einen General zum Vater hat. Das kannst du mir glauben.« Shao war mit ihren Gedanken woanders. »Ich würde gerne hören, was sie sich zu sagen haben. Kann man die Tür festklemmen?«
»Da wird Cossner wohl nicht mit einverstanden sein.« »Laß es uns trotzdem versuchen.« Sie ließen der Ordonnanz den Vortritt und warteten gespannt ab. Jemand erklärte Cossner mit lauter Stimme, daß er jetzt seinen Dienst beenden könne. Julia rieb ihre Hände. »Besser hätten wir es nicht antreffen können. Das läuft wahnsinnig gut.« Cossner kehrte zurück. »Sie können ruhig Feierabend machen«, sagte Julia. »Okay, und gesehen habe ich nichts.« »So ist es.« Er verbeugte sich knapp vor den beiden Frauen und verschwand. Als seine Schritte verklungen waren, schlug Shao ihren Mantel zurück und legte die Armbrust frei. Julia bekam große Augen. »Du ... du willst doch nicht schießen — oder?« »Ich will bereit sein.« Shao hatte ein Tuch gefunden. Sie feuchtete es leicht an, faltete es zusammen und klemmte es dann unter die spaltbreit geöffnete Tür, damit diese nicht mehr zufallen konnte. »Was mache ich?« fragte Julia. »Zieh dich am besten zurück. Ich möchte hören, was die Herren miteinander reden.« »Meinst du, daß es Ärger gibt?« »Davon gehe ich eigentlich aus. Der Abend neigt sich dem Ende entgegen. Irgendwas müssen die Japaner tun. Den Tengu haben sie laufenlassen, er wird gewisse Dinge vorbereiten, damit sie ihre Ultimaten stellen können.« Julia hielt sich zurück. Sie sah ein, daß Shao besser Bescheid wußte. Noch saßen sich die Japaner und Amerikaner völlig normal gegenüber und tranken ihren Kaffee. Der Rauch von Zigarren und Zigaretten mischte sich mit dem Duft des Kaffees. Man unterhielt sich angeregt, aber leise, eben wie es Gentlemen taten. Die Männer aus dem Fernen Osten wirkten harmlos. Das war wie so oft. Man unterschätzte die Japaner, ihr Lächeln hielt man für Nichtwissen oder einfach nur für Höflichkeit. Ihre Zurückhaltung reizte viele Europäer und Amerikaner, so daß sie sich herausgefordert fühlten und eigentlich mehr erzählten, als sie im Prinzip wollten. Darauf hatten es die Japaner abgesehen. Informationen zu erhalten, denn hinter den lächelnden Masken verbargen sich oft genug eiskalte Geschäftsleute. Nicht alle Europäer oder Amerikaner hatten dies begriffen. Nur so war es überhaupt möglich gewesen, daß die Japaner bei manchen Entwicklungen einen derartig großen Vorsprung herausholen konnten. Besonders auf dem Gebiet der Chip-Entwicklung.
Auch bei dieser Konferenz verhielten sich die Asiaten kaum anders. Sie hörten zu, sie lächelten, stellten Zwischenfragen, nickten hin und wieder höflich, hielten die Diskussion in Gang und lockten einen jungen Offizier dermaßen aus der Reserve, daß dieser Mann seine Erklärungen durch heftige Gesten unterstrich. »Das ist mein Freund!« wisperte Julia Horn. »Er... er engagiert sich immer gleich so stark.« Shao runzelte die Stirn. »Hoffentlich nicht zur falschen Zeit, Julia. Ich bin da etwas vorsichtiger.« »Meinst du?« »Sicher.« Julia schaute auf die Uhr. »Irgendwann müssen sie doch einmal zu einem Ende kommen.« »Ich schätze, daß es nicht mehr lange dauern wird.« Shao hatte genau hingeschaut und auch die weißen Tauben auf einigen Revers entdeckt. Da war es diesem Geheimbund tatsächlich gelungen, in die Höhle des Löwen zu gelangen. Jede Diskussion bekommt irgendwann einen Bruch. So war es auch hier. Das nutzte einer der Japaner, um gegen sein Wasserglas zu klopfen und die Aufmerksamkeit der anderen auf sich zu lenken. Als man ihn anschaute, erhob er sich. Er gehörte zum Club der weißen Tauben. Das Abzeichen war nicht zu übersehen. Gespannt wartete Shao ab. Sie hatte einfach das Gefühl, dicht vor einer entscheidenden Phase zu stehen. Es mußte sich einfach etwas tun, und der Japaner gab sich sehr höflich, denn vor seinen Ausführungen verbeugte er sich. »Das ist der Chef«, wisperte Julia Horn. »Hatte ich mir schon gedacht.« »Was wird er wohl wollen?« Shao hob die Schultern. »Ich hoffe, daß es nicht zum Allerletzten kommen wird.« Der Mann sprach und blieb dabei sehr freundlich. Er bedankte sich für die Höflichkeit und die Aufmerksamkeit, mit der sie hier in den Staaten empfangen worden waren. Das floß den Militärs runter wie Öl. Man saß entspannt, hörte zu, aber die Leute mußten auch mitbekommen, wie die Rede allmählich kippte und auf einen bestimmten Punkt zusteuerte. Es ging um die alte Sache. Plötzlich stand der Zweite Weltkrieg wieder im Raum. Der Kampf der beiden Völker, der damit endete, daß die Amerikaner die Atombomben auf zwei japanische Städte warfen. Ein Thema, an das sie sich nicht mehr gern erinnerten. Auch jetzt nicht, obwohl viel Zeit dazwischen lag. Shao sah es ihren Gesichtern an.
Einige Zuhörer zeigten sich unangenehm berührt, andere wiederum schon recht ärgerlich. »Die Toten sind nicht vergessen«, sagte der Sprecher und stand völlig ruhig an seinem Platz. »Wer das glaubt, der irrt. Es gibt in unserem Land Strömungen, die sich dafür einsetzen, daß wir alles besser machen und daß wir auch abrechnen. Die Zeiten der Abrechnung sind da. Wir können nicht länger warten.« Ein hoher Offizier meldete sich mit ziemlich deutlichen Worten. »Was wollen Sie damit sagen? Wollen Sie das Feuer des Krieges wieder entfachen?« »Ja!« Die Amerikaner rissen sich noch zusammen, aber ihre Sitzhaltungen spannten sich. »Da haben wir uns doch verhört, nicht?« »Nein, das haben Sie nicht«, erklärte der Japaner in seinem gepflegten Oxford-Englisch. »Wir konnten nicht vergessen, was Sie unserer Nation antaten, und wir sind fest entschlossen, zurückzuschlagen und Rache zu nehmen.« »Was wollen Sie?« »Rache, Gentlemen. Wir wollen Rache für die Schmach, die man uns angetan hat. Und wir haben den konkreten Weg bereits eingeschlagen. Die Vorbereitungen sind abgeschlossen worden, wir stehen in den Startlöchern, doch nicht nur das. Der Schuß ist bereits gefallen, meine Herren. Hier machen wir den Anfang. Hier — in Fort Presidio.« Keiner der Amerikaner wußte, ob er lachen oder weinen sollte. Sie wollten die Worte nicht ernst nehmen, und ein General versuchte es mit einer diplomatischen Lösung. »Ich finde, daß wir unsere Besprechung auflösen sollten. Wir alle scheinen mir doch ein wenig überarbeitet zu sein. Es war für uns ein harter Tag.« »Sie irren, General!« Die Stimme des kleinen Japaners klang plötzlich schneidend. »Sie sind einem großen Irrtum verfallen, der Countdown läuft längst. Presidio befindet sich bereits in unserem Besitz. Während Sie hier sitzen und mit uns diskutieren, hat sich außerhalb der Mauern längst einiges verändert, denn auch wir haben Helfer. Nur kann man bei ihnen nicht von Soldaten im eigentlichen Sinne sprechen.« Da die Amerikaner unruhig wurden, wechselte er das Thema. »Ich bitte Sie noch um etwas Geduld, meine Herren, weil ich Ihnen gern erklären möchte, wie wir uns den Kampf vorgestellt haben. Nicht mit Panzern, nicht mit Raketen, auch nicht mit Gewehren . ..« »Atombomben etwa?« rief Walter Tangy dazwischen. Sein Einwand klang spöttisch. »Nein, auch damit nicht.« »O Gott, wenn das nur gutgeht!« hauchte Julia und schaute ebenfalls durch den Türspalt.
Der Japaner stand noch immer. »Weder durch das eine noch durch das andere. Wir haben uns wieder auf unsere jahrtausendealte Tradition besonnen. Ks gibt die Kraft der Menschen und die der Dämonen. Beide zusammen sind unschlagbar. Deshalb haben nicht nur Menschen dieses Fort in Besitz genommen, sondern auch Dämonen. Ks ist der Tengu, der sich bereits umschaut.« »Der — was?« »Kin Tengu ist ein Dämon, den wir wiedererweckt haben. Und ich kann Ihnen versichern, daß er so gut wie unschlagbar ist. Sie werden es kaum schaffen, ihn zu töten. Aber nicht nur auf ihn verlassen wir uns, denn aus den Tiefen zwischen Zeit und Raum wird der Dämon erscheinen, der in seiner Festung die Zeiten durchreist. Es ist Shimada, ein Stück Macht, jemand, bei dem die Tengus gut aufgehoben sind. Der sich mit ihnen angefreundet hat. Seine Festung, die sich laufend verändern kann, wird einmal hier sein und Sekunden später an einem ganz anderen Ort in der Vergangenheit, das ist für ihn kein Problem. Wenn seine Festung auf dem Gelände von Fort Presidio landet und die Tengus freie Bahn haben, kann ich Ihnen versprechen, daß es hier keine Überlebenden geben wird. Presidio ist der Beginn, andere Stellen werden folgen. Japan nimmt endlich seine Rache.« »Das ist doch Unsinn!« rief der General. Und Walter Tangy sagte scharf: »Gehen Sie mal zu einem Arzt, der Sie untersucht. Wir lassen uns mit diesem reaktionären Quatsch einfach nicht abspeisen!« »Leider ist es kein Quatsch, sondern die reine Wahrheit!« erklärte Shao, die in diesem Augenblick die Tür öffnete und den Versammlungsraum betrat... *** Wo steckte der Tengu? Eigentlich hätten wir ihn leicht finden müssen, denn er gehörte zu den Wesen, die nach ihrem Auftritt ein Bild der Zerstörung hinterließen. Die vernichteten und töteten, wobei es ihnen egal war, ob es sich um Menschenleben handelte oder um irgendwelche Sachbeschädigungen. Hauptsache, töten und zerstören. »Der narrt uns«, erklärte Suko, als wir am Rande eines Baseball-Feldes stehenblieben. »Ich weiß es nicht.« Auf derStelle stehend schaute ich mich um. »Ich kann mir gut vorstellen, daß er sich dort aufhält, wo er an die Energieversorgung herankommen kann.« »Das wäre dort.« Suko wies mit dem Arm an mir vorbei, wo unterschiedlich hohe Gebäude dicht zusammenstanden und von einem schlanken Schornstein überragt wurden.
»Dann laß uns dort hingehen.« Der Weg war leicht zu finden, Lampen knallten ihr kaltes Licht auf die Betonplatten der Wege. Es waren sehr breite Pisten, über die auch Panzer fahren konnten. Wir hielten uns außerhalb des Lichtscheins und achteten stark auf verdächtige Geräusche. Nichts drang an unsere Ohren. Nur die eigenen Schritte hörten wir. Der Himmel wirkte wie eine graue Masse, die einfach alles verdeckte. Kalt rann es mir den Rücken hinab. Ich sah die wohlgestutzten Hecken und entdeckte zwischen ihnen ein einsames Wachhaus. Ich winkte Suko noch dichter an meine Seite und deutete auf das neue Ziel. »Laß uns dort mal nachschauen.« Er hatte nichts dagegen. Sekunden später standen wir vor dem Eingang, entdeckten die offene Tür und bekamen einen Schock. Die beiden Posten lagen am Boden. Ihr Blut verteilte sich überall. Ein Zeichen dafür, wie grausam und schrecklich derTengu gewütet hatte. Für uns aber auch ein Beweis, daß wir uns auf dem richtigen Weg befanden. Unsere Gesichter sahen bleich aus. Mein Magen fühlte sich an, als wäre er vollgepumpt worden. Am Nacken spannte sich die Haut, ich griff unwillkürlich zur Beretta, obwohl ich wußte, daß die Silberkugeln gegen einen Tengu nicht ausreichten. »Er will zerstören«, flüsterte Suko. Ich gab ihm keine Antwort. Mit schleichenden Schritten verließ ich den Ort des Todes. Die kalte Luft kam mir noch eisiger vor. Über uns fiel der Gebäudeschatten der Energiezentrale, und wir kamen uns plötzlich sehr einsam vor. Ich hob die Schultern, weil ich fröstelte. Neben mir blieb Suko stehen. »Auch wenn der Bau noch so uneinnehmbar aussieht, der'Tengu wird es geschafft haben.« »Sicher. Sehen wir nach.« Beide bewegten wir uns sehr vorsichtig. Das Bild der beiden toten Soldaten wollte einfach nicht weichen. Aber so war er, so grausam, so gefährlich, so erbarmungslos. Leitungen sahen wir keine. Sie waren in der Erde verlegt worden, um keine Hindernisse zu bilden. Gesichert war die Energiezentrale durch schwere Türen. Das hatte nichts gebracht. Dem Tengu war es trotzdem gelungen, in das Herz der Anlage zu gelangen. Er hatte eine Tür kurzerhand aus den Angeln gerissen. Ein vorsichtiger Blick glitt in die Dunkelheit der Halle. Die großen Generatoren summten ihre typischen Melodien. Von dem Tengu sahen wir nichts. Etwa auf halber Höhe zwischen Erdboden und Decke umlief eine Galerie den Innenraum. Von dort aus war der Überblick ausgezeichnet. Es
brannte die Notbeleuchtung. Bläulich-kalte Lichter, deren Schein sich auf den Maschinen widerspiegelte. Wir gingen davon aus, daß derTengu die Energiezufuhr lahmlegen wollte. Noch hatte er es nicht geschafft, wir aber fanden einen dritten Toten. Er lag dort, wo sich die Steuerzentrale befand. Ein breites, computerüberwachtes Pult, das eine indirekte Beleuchtung besaß. Grünliches Licht wanderte über das Blut des Toten hinweg, das aus einer breiten Halswunde rann. Ich atmete scharf aus, auch Suko spürte einen unbändigen Zorn auf den Tengu. »Wir müssen ihn packen, John, verdammt, wir müssen es!« »Okay. Und wo?« »Sollen wir uns trennen?« Er fragte es ernst, denn er wußte, in welch eine Gefahr sich jeder von uns begab. Ich wußte, worauf er hinauswollte und zeigte auf die Galerie. »Von dort haben wir einen besseren Ausblick.« »Ist okay.« Wir trennten uns stumm. Ich schlich durch die Halle. An das Summen der Maschinen hatte ich mich gewöhnt. Es wunderte mich nur, daß man sich nur auf menschliche Wachtposten verlassen und die elektronische Überwachung weggelassen hatte. Dabei waren Energiezentralen Schwachstellen innerhalb eines abgestimmten Systems. Ich fand eine Metalltreppe, die mich auf die Galerie brachte. Wie weit Suko mittlerweile gekommen war, konnte ich nicht sehen. Er bewegte sich im Halbdunkel, weit entfernt auf der gegenüberliegenden Seite der Halle. Und der Tengu? Ich lief an der Wand entlang. Unter und vor mir war alles leer. Nur über meinem Kopf befand sich unter der Decke eine stählerne Konstruktion, ähnlich wie bei einem Theater. Da liefen blanke Schienen entlang, die zum Transport von Scheinwerfern oder irgendwelchen Maschinen dienten. Suko sah ich schließlich auf der gegenüberliegenden Seite. Auch er hatte mich gesehen und winkte kurz. Keine Gefahr also. Hatte der Tengu die Halle bereits verlassen? War sein Auftrag bereits erfüllt? Nein, so war es nicht, denn plötzlich sah ich ihn. Unter der Decke, direkt auf oder in der Konstruktion sah ich die Bewegung. Gleitend und schnell glitt etwas Dunkles durch die entsprechenden Lücken. Ein Klumpen mit langen Armen, der sich plötzlich löste und wie ein geschleuderter Ball durch die Luft wirbelte. »Suko!« schrie ich.
Mein Freund war gewarnt worden, aber nicht ihn wollte der Tengu angreifen, sondern mich. Und er fiel mit einer erschreckenden Zielsicherheit auf die Galerie zu. Ich hatte meine Waffe hervorgerissen und schoß. Zwei Silberkugeln feuerte ich ab. Eine fehlte, die andere erwischte den pelzigen Körper noch im Fall. Dann krachte er auf. Er berührte noch das Geländer. Meine Hoffnung, daß der Aufprall ihn in die Tiefe schleudern würde, erfüllte sich nicht, denn er landete leider auf meiner Seite. Das Metall unter meinen Füßen zitterte stark. Der Tengu war mit seiner gesamten Wucht niedergefallen. Von der gegenüberliegenden Seite hörte ich Suko rufen. Er wollte mir zu Hilfe eilen. Bis zu seinem Eintreffen würde Zeit vergehen, und die wiederum konnte der Tengu nutzen. In seinem Fell schimmerte es naß. Wasser war es bestimmt nicht, sondern Blut der Opfer. Jetzt wollte er mich. Auf der Galerie konnte ich ihm nicht ausweichen, sie war einfach zu schmal. Wenn er angriff, würde er mich immer erwischen, das stand fest. Vielleicht hätte ich ihn mit einem Schwert geschafft. Man konnte ihm den Kopf abschlagen, man mußte dann noch seinen Torso zerstören, nur so konnte man auf Nummer Sicher gehen. Er knurrte mich an. Ich wußte, daß Tengus auch andere Formen annehmen konnten und nicht nur diese affenartigen Körper. Gefährlich waren sie dabei immer. Sie würden ein Opfer zerreißen, und ich bekam schon weiche Knie, als ich mit gezogener Beretta vor ihm stand. Er lebte, er besaß ein magisches Zentrum. Vielleicht das eine noch erhaltene Auge. Der dritte Schuß peitschte. Trotz meiner Nervosität hatte ich noch die Nerven aufgebracht, genau zu zielen. Die geweihte Silberkugel klatschte geradewegs in das Auge hinein. Es war ein Schlag wie mit der Faust. Etwas spritzte aus der Höhle nach außen. Der Tengu röhrte furchtbar auf, er drehte sich auf der Stelle. Wahrscheinlich hatte ich ihn blind geschossen, aber war er damit auch erledigt? Nein, er sprang in die Höhe, wuchtete sich dabei nicht auf mich zu, sondern streckte seine Arme vor, um den Geländerlauf umklammern zu können. Eisern hielt er fest. Ich wollte auf ihn zulaufen, als ich das reißende Geräusch hörte. Einen Moment später bewegte sich das Geländer. Der Tengu zerrte es nach
außen, riß sogar eine Lücke, und ich sprang zurück, um aus der unmittelbaren Reichweite zu gelangen. Zusammen mit dem Geländer kippte der Tengu in die Tiefe. Er heulte dabei auf, und ich sah Suko, wie er herangehetzt kam. Er schoß nicht, er hielt seine Dämonenpeitsche fest. Ich fuhr herum. »Ich habe ihn blind geschossen.« »Okay, und jetzt?« »Der wird fallen.« »Ich versuche es noch einmal.« Bevor ich mich versah, war Suko schon an mir vorbeigehuscht. Die Gehfläche war nicht aus der Verankerung gerissen worden, nur das Geländer bog sich nach außen, woran sich der Tengu mit einer Klaue festhielt. Wenn Suko ihn treffen wollte, mußte er sich beim Schlagen vorbeugen. Er holte aus und drosch zu. Ich sah, wie die drei Riemen den pelzigen Körper erwischten und hörte auch das harte Klatschen. Ein jaulender Schrei drang aus dem Maul der Bestie. Es sah so aus, als wollte sie sich abstoßen, was sie auch tat, denn plötzlich segelte der Klumpen durch die Luft dem Boden entgegen. Unter uns klatschte er auf. Nur für die Dauer einer Sekunde schauten wir in die Tiefe, bevor wir losrannten. Wir wußten beide nicht, ob wir den Tengu geschafft hatten. Silberkugeln plus Peitsche, das war im Prinzip eine hervorragende Mischung. Das Monstrum lebte noch. Es wälzte sich über den Boden, schlug mit den überlangen Armen um sich und zog die Krallen kratzend über den Betonboden. An den Stellen, wo ihn die Riemen der Peitsche erwischt hatten, war das Fell nicht mehr zu sehen. Statt dessen durchzogen den Körper graue Streifen, die aussahen wie breite Hosenträger. Es war gefährlich, in seine direkte Nähe zu gelangen. Wer von seinen Klauen erwischt wurde, den würde er so leicht nicht mehr loslassen. Suko schob mich zur Seite. »Warte, ich werde ihm noch einmal die Peitsche zu schmecken geben.« »Okay.« Suko war sehr vorsichtig. Er schlug sogar einen kleinen Bogen, als er sich der Bestie näherte. Der Tengu drehte sich auf der Stelle. Immer und immer wieder schleiften die langen Arme über den Boden, hackten die Krallen kratzend in den Beton, wo sie sogar Rillen hinterließen, derartig stark waren sie. Da hatte ein Mensch keine Chance. Suko sprang hoch wie ein Seilspringer. Er wollte den Armen entgehen und drosch von oben herab. Wieder traf er die Bestie!
Das Maul öffnete sich. Es schnellte sogar ein Stück Zunge hervor, wie eine blau geäderte Schlange, aber die drei Riemen hatten ihn erwischt. Er rollte sich herum, lag auf dem Rücken. Seine Arme schlugen in die Luft, und Suko mußte hastig zur Seite springen, um nicht noch erwischt zu werden. Dann brach es aus ihm hervor. Wir konnten zusehen, wie der Tengu verging, aber wir wollten es nicht, weil es einfach zu schlimm war, denn sein Inneres wurde nach außen gestülpt, als hätte man ihm die Haut vom Körper gezogen. Was da aus dem Maul kam, stank widerlich und erinnerte mich an einen Ghoul. Auch Suko zog sich zurück. Er schüttelte sich. »Verdammt noch mal, John, ich hätte nicht gedacht, daß ihn die Peitsche schafft. Gibt es unterschiedliche Tengus? Ich meine, was ihre Kraft angeht.« Ich winkte ab. »Ist mir egal, Hauptsache ist doch, daß wir die Gefahr gebannt haben, bevor der Tengu hier alles außer Kraft setzen konnte. Presidio wird weiterleben.« »Meinst du?« Ich wunderte mich. »Du nicht?« »John«, sagte Suko und lächelte kantig. »Das war erst der Anfang, glaube es mir.« »Dann weißt du mehr? »Nein, das nicht. Wenn die Mitglieder vom Club der weißen Tauben das Fort in Besitz nehmen wollen, verlassen sie sich nicht nur auf einen Tengu. Ich rechne damit, daß dieser hier so etwas wie eine Vorhut war und den Weg für die anderen freimachen sollte.« Sukos Worte hatten mich nachdenklich gestimmt. In der Tat würden sich die Feinde nicht mit einem Tengu zufrieden geben, obwohl dieser auch eine Hölle hätte entfachen können. Hinzu kam, daß Fort Presidio nicht mehr hundertprozentig besetzt war. Man hatte zu viele Soldaten in die Golf-Region abgezogen, und das kam irgendwelchen Feinden natürlich entgegen. Ich schaute nicht mehr zurück, als ich die Halle verließ. Dicht vor dem Tor blieb ich stehen, weil ich den Eindruck hatte, daß sich etwas veränderte. Nicht äußerlich. Nach wie vor lag über dem Gelände eine trügerische Ruhe. Aber in meinem Innern spürte ich bereits, wie es anfing zu kribbeln. Es war der nicht sichtbare Wecker, der einen ersten Alarm schlug. Auch Suko kam, sah mein Gesicht und wußte sofort, daß etwas nicht stimmte. »Was hast du, John?« »Im Prinzip nichts. Aber es liegt etwas in der Luft. Wir werden bald nicht mehr . . .« »Da!« Suko zerrte mich an den Schultern zurück, damit ich es genau sehen konnte.
Mein Blick glitt gegen den Himmel. Ein Großteil war noch finster, hatte sich nicht verändert, aber wie aus der Dunkelheit herausgeschnitten wirkte die blaue Wand, die sich langsam niedersenkte. Sekunden vergingen. Wir wußten beide, was da auf uns zukam. »Shimada und die blaue Festung«, sagte Suko, aber es hörte sich mehr an wie ein Keuchen... *** Eine Reise kann lange dauern oder nur wenige Sekunden in Anspruch nehmen. Sie kann aber auch so gut wie zeitlos sein, und das erlebte der einsame Ninja Yakup Yalcinkaya. Shimada hatte es geschafft, die Festung samt ihrer Magie unter seine Kontrolle zu bringen, und er setzte sie ein. Yakup spürte kaum mehr als ein leichtes Ziehen unter seinen Füßen. Die Umgebung zog sich zusammen, alles verschwand vor seinen Augen, dafür bildete sich der blaue Nebel, und er hatte den Eindruck, als würden sich darin die Geister verstecken. Wieder griff er zur Krone und setzte sie auf. Einen Moment später war er nicht mehr zu sehen und schien selbst eine der Wolken geworden zu sein. Wohin ging die Reise? Yakup hatte den Gedanken kaum beendet, als er sich schon am Ziel befand. Er sah es nicht, er fühlte es einfach. Zudem vernahm er Geräusche. Schritte, ab und zu ein hechelndes Atmen, das sich durch den Nebel bewegte. Der Ninja konzentrierte sich darauf und stellte fest, daß sich die Geräusche in eine Richtung bewegten. Alle kamen zusammen, es gab also nur ein Ziel. Auch Yakup wollte nicht warten. Obwohl er nicht einmal Umrisse erkannte, ging auch er. Die Krone nahm er nicht ab, er wollte zunächst unsichtbar bleiben. Shimada ließ sich nicht blicken. Seine eisblauen Augen hätten selbst den Nebel durchdringen können, nicht einmal als Ahnung zeichneten sie sich in der Suppe ab. Aber die schwächte sich ab. Yakup, der nach vorn schaute, erkannte vor sich eine Bewegung. Jemand hüpfte wie ein Ball, während ersieh stets auf seinen langen Armen abstieß. Ein Tengu. Und dann passierte es. Yakup hatte sein Schwert aus der Nackenscheide gezogen. Er dachte nicht lange nach, er schlug einfach zu. Die Klinge teilte die
Nebelschwaden und einen Moment später den pelzigen Körper des Tengu, der in zwei Hälften auseinanderbrach. Yakup hörte einen dumpfen Schrei. Es war nicht der Todesschrei der kleinen Bestie, denn die beiden Hälften bewegten sich getrennt voneinander weiter, führten ein Eigenleben, das Yakup so nichtzulassen konnte. Die Klinge der Sonnengöttin Amaterasu zerteilte noch einmal die beiden Tenguhälften. Diesmal war es aus mit ihm. Und Yakup ging weiter. Als Unsichtbarer konnte er sich bewegen, ohne selbst gesehen zu werden. Er wußte nicht genau, wann die Tengus angreifen würden, aber er hatte sich entschlossen, alles in seiner Kraft stehende zu tun, um die Attacke aufzuhalten, auch wenn er dabei auf verlorenem Posten stand. Am liebsten wäre es ihm gewesen, Shimada stellen zu können, der hielt sich vorerst im Hintergrund auf. Yakup kam sich vor, als würde er eine andere Welt verlassen, um wieder in die normale hineinzutreten. Die Festung war an einer bestimmten Stelle gelandet, den Blick nach vorn verwehrte sie nicht. Der unsichtbare Ninja sah die Bauten, den hohen Schornstein, er sah die Lichter, und es wirkte alles so verdammt normal, als würde Presidio in einem tiefen Schlaf liegen. Doch nicht alle. Yakup, selbst nicht sichtbar, wollte seinen Augen nicht trauen, als er sah, wer sich da aus dem Eingang eines bestimmten Gebäudes löste. Es waren zwei Männer. Yakup kannte sie nicht nur, sie gehörten sogar zu seinen besten Freunden. John Sinclair und Suko! *** Waren vorhin nur die Amerikaner durch die Erklärungen der japanischen Delegation überrascht worden, so zeigte Shaos plötzlicher Auftritt eine verblüffende Wirkung, denn nun wußten auch die Japaner nicht, wie sie sich verhalten sollten. Der Redner stand noch immer. Er rückte seine schmale Brille zurecht, mehr ein Zeichen seiner Nervosität, zwinkerte mit den Augen, um anschließend der Frau mit der Halbmaske und der gespannten Armbrust direkt ins Gesicht zu sehen. Damit hatte keiner von ihnen rechnen können. Shao mußte ihnen vorkommen wie ein Fabelwesen aus einer anderen Welt. Sicherlich spürte er auch die Feindschaft, die ihm und seinen Leuten von Shao entgegenschlug. Die Amerikaner waren ebenfalls überrascht. Zudem hatte ihnen Shaos Auftritt die Sprache verschlagen, aber sie hielten die Hierarchie bei, denn
es war der General, der aufstand, scharfe Wote sagen wollte, einen Blick der Frau auffing und die Luft ausstieß wie eine alte Lokomotive den Dampf. »Sagen Sie nichts, Sir«, erklärte Shao. »Halten Sie sich zurück. Das ist meine Sache, und es geschieht zu Ihrem Besten, glauben Sie mir. Die Feinde sitzen Ihnen gegenüber, denn ich stehe auf Ihrer Seite.« Der Mann räusperte sich. »Ja, aber . ..« »Auch kein Aber. Was jetzt geschieht, das geht nur den Club und mich etwas an.« Shao hatte das Wort Club bewußt ausgesprochen. Sie erzielte einen Erfolg, denn der Sprecher schrak zusammen. »Wer sind Sie?« »Nur eine Frau«, erwiderte Suko spöttisch. »Eine Frau, die in Ihrer Gesellschaft ja nicht viel zählt, zumeist überhaupt nichts. Aber ich bin gekommen, um euch zu stoppen. Iis wird keine Vernichtung des Forts geben.« »Das wollen Sie verhindern?« »So ist es.« Die anderen lauschten dem Dialog. Manch einer fragte sich, ob er einen Film erlebte oder die Realität. »Wie wollen Sie es verhindern? Mit den Pfeilen einer Armbrust?« »Auch das.« »Es wird nicht klappen . ..« »O doch, denn ich bin nicht allein gekommen. Ich weiß, daß ich gegen die Tengus keine Chance habe, mit einer gewissen Unterstützung allerdings können wir es schaffen.« Der Japaner wurde nervös. Er strich über sein Gesicht. »Wie ist es möglich, daß du sie kennst?« »Es gibt nicht nur euch.« »Wer bist du wirklich?« »Ich heiße Shao.« »Der Name sagt mir nichts.« »Schön.« Shao war stehengelieben und richtete die Pfeilspitze auf den Sprecher. »Ich kann noch einen Namen hinzufügen, der euch allen bekannt sein dürfte. Amaterasu .. . « »Die Sonnengöttin, die im Dunklen Reich gefangen ist?« »Sehr gut.« »Was hast du mit ihr zu tun?« »Du weißt von ihrer Ahnenkette. Selbst der Tenno stammte der Legende nach von ihr ab. Ich ebenfalls, denn sie ist meine Ahnherrin, und ich bin die letzte Person innerhalb der langen Ahnenkette. Ich habe von ihr meinen Auftrag bekommen, das Böse, das von Japan aus seinen Weg in die Welt nehmen will, zu stoppen. Ich bin ein Feind der Tengus, ich bin auch ein Feind der Tauben.« »Die auch du nicht aufhalten kannst. Wir sind einfach mächtig. Du kannst uns mit deinen Pfeilen an die Wand nageln, doch unsere Vereinigung ist größer, als du annimmst. Wenn wir sterben, werden
andere unsere Plätze einnehmen. Wir haben jahrelang gebraucht, um die Organisation aufzubauen, und wir werden zuerst Amerika und anschließend Europa infiltrieren, um Japan zur Weltmacht zu verhelfen und die alten Gesetze wieder herrschen zu lassen.« »Das ist mir bekannt!« »Dann stelle dich auf unsere Seite. Wechsele die Fronten, Shao, kämpfe bei uns mit!« »Nein. Fs geht mir gegen den Strich. Außerdem bin ich keine Japanerin, sondern eine Chinesin. Aber genug geredet. Ihr wolltet, daß die Zeiten der Worte vorbei sind. Stimmt, ich will es auch. Fs sollen Taten folgen, und ich möchte die hier anwesenden Herren bitten, mich zu unterstützen. Führen wir diese Männer gemeinsam ab.« »Moment mal«, sagte der General. »Langsam drehe ich durch. Ich werde hier von einem kalten Wasser ins nächste geworfen. Was soll das alles bedeuten?« »Verlassen Sie sich auf mich!« »Wie käme ich dazu, Ihnen zu trauen!« »Dann sei du wenigstens vernünftig, Walter!« First Lieutenant Tangy fuhr von seinem Sitz in die Höhe, als er die Stimme seiner Freundin hörte. Er drehte sich um und sah Julia Horn, wie sie den Raum betrat. Sie mußte sich unheimlich zusammenreißen, das war ihr anzusehen, aber sie wuchs in diesen Augenblicken über sich hinaus und unterstützte Shao verbal. »Was Shao gesagt hat, stimmt alles«, erklärte sie. »Nichts ist gelogen! Begreifen Sie das endlich!« Tangy schob seinen Stuhl zurück, damit er freie Bahn hatte. Er schaute seine Freundin an und konnte nicht begreifen, daß sie in Dinge eingeweiht war, über die er nicht Bescheid wußte. »Hilf uns!« Der Japaner sprach. »Es ist zu spät. Bitte, Sie können uns hier herausführen, ich wäre sogar dafür, denn dann werden Sie erleben, wie recht wir hatten. Wer die Traditionen und die Magie unseres Volkes unterschätzt, der ist verloren. Sie hätten es wissen müssen, wenn Sie sich länger mit meinem Land beschäftigt hätten.« »Sie sind verrückt!« »Nein, Mr. Tangy, der Mann ist nicht verrückt!« widersprach Shao heftig. »Während Sie hier gesessen haben, sind andere Kräfte dabei, das Fort in Besitz zu nehmen. Es wird unter ihre Kontrolle gelangen, falls es nicht schon soweit ist.« Einer der Amerikaner erhob sich. Er war ein kleiner Mann und trug einen sorgfältig gestutzten Oberlippenbart. »Ich werde nachschauen. Warten Sie hier.«
»Gut!« Walter Tangy hatte das Kommando übernommen. Er wandte sich direkt an die Japaner. »Wir werden Sie in eine Arrestzelle sperren. Wer unsere Gastfreundschaft mißbraucht. . .« »Aber was reden Sie da«, wurde er unterbrochen. »Sie haben dieTatsachen nicht begriffen. EsgibtfürSie kein Zurück mehr. Es ist alles aus, begreifen Sie das? Wir haben die Kontrolle des Forts längst übernommen. Das ist eine Tatsache.« »Wie kam es, daß wir nichts merkten?« »Mister Tangy. Wer sich auf Freunde verlassen kann, die mächtig sind, wird eine Sicherheit bekommen, die .. .« Schwere Schritte unterbrachen seine Rede. Der Offizier kehrte zurück. Er sah aus wie ein Mann, der verletzt ist und sich nur mühsam auf den Beinen halten kann. »Was ist?« fragte Tangy. Sein älterer Kollege nickte. »Die Japaner haben recht. Es hat sich etwas verändert.« »Und was?« »Eine blaue Wand!« flüsterte der Mann. »Auf dem Gelände des Forts steht eine blaue Wand .. .« Nach dieser Antwort zuckte auch Shao zusammen. Sie zischte nur einen Namen. »Shimada!« Aber keiner begriff sie... *** Er war gekommen, er war da, und er würde diese Welt zu der seinen machen. Die blaue Festung war sein Markenzeichen, und ich dachte daran, daß ich schon in ihr gesteckt hatte, ebenso wie Suko. Jetzt stand sie hier. Als Schloß, Burg oder Festung hatten wir sie ursprünglich ansehen müssen, weil sie einfach so gebaut worden war. Starke Mauern, aus denen das blaue Licht hervorstrahlte. Wir wußten auch, daß die Festung hinter den Mauern schreckliche Dinge verbarg. Da lauerte das Böse mal sichtbar, mal unsichtbar. Denn urplötzlich konnte es wieder Gestalt annehmen, so daß Monstren regelrecht ausgespien wurden. Sie veränderte ihr Inneres, auch äußerlich war sie nie gleich, obwohl sie nun inmitten des blauen Lichts vor uns stand wie eine breite Wand, um wabert vom blauen Schein, der che Wesen entließ, die wir so sehr haßten, die Tengus. Von Shimada sahen wir nichts, aber wir wußten, daß er in der Festung steckte. Er und die Tengus! Das war der berühmte Tiefschlag, der nicht nur mich erwischt hatte, denn Suko schaute ebenfalls sehr beklommen. Ich hatte ihn selten derart
pessimistisch gesehen wie in diesen Augenblicken, als er die Tengus mit seinen Blicken verfolgte und flüsterte: »Verdammt noch mal, das schaffen wir nicht. Das bringen wir nicht in die Reihe, John. Es sind einfach zu viele.« Er hatte recht. Aber sollten wir deshalb aufgeben? Nein, wir mußten es versuchen. Zudem waren Soldaten im Fort, die man auch mit entsprechenden Waffen ausgerüstet hatte. Wenn es einen Großalarm gab, konnten die Tengus bekämpft und möglicherweise zurückgeschlagen werden. Ihre Vernichtung würden die Soldaten kaum schaffen. Suko hatte leise mitgezählt. Bei der Zahl fünf stoppte er. »Die reichen aus, um die Hölle zu entfachen.« Ich nickte. »Nimmst du die Peitsche?« »Ja, aber nicht sofort. Wir können sie uns aussuchen und werden dort hingehen, wo dieGefahrenpunkteam dichtesten sind. Eine andere Möglichkeit sehe ich nicht.« »Wer kümmert sich um Shimada?« »Keiner.« »Sollte Shao nicht. . .?« »Verdammt, John, sie muß Bescheid wissen! Wir können es uns nicht leisten, sie irgendwo zu lassen. Ihre Kampfkraft zusammen mit der Macht der Sonnengöttin . ..« »Glaubst du denn, daß sie ...?« Ich verschluckte mich mitten im Satz, weil ich etwas gesehen hatte, das mich an ein Trugbild erinnerte. Aber es stimmte, auch wenn die blaue Farbe zusammen mit den Wolken eine Schicht über die Szene legte. Einer der haarigen Körper flog plötzlich in die Höhe, als hätte er einen Tritt bekommen. Er befand sich noch in der Luft, als es ihn abermals erwischte. Wir sahen nicht, was es war, aber sein Körper zerfiel plötzlich in zwei Hälften. Sie klatschten zu Boden. Noch einmal wurde hineingehackt .. . »Das ist . . .«, flüsterte Suko, der den Kopf schüttelte und seine Dämonenpeitsche festhielt. »Yakup!« schrie ich. Der Ninja hatte angenommen, daß ich ihn direkt gemeint hatte, denn von ihm erfolgte die Antwort. »Ja, John, ich bin es. Ich habe die Krone!« Dieser Satz ließ meinen Adrenalinspiegel um einiges steigen. Ich spürte den innerlichen Schub und fühlte mich so, als wäre ich in die Höhe geschleudert worden. »Packen wir sie, Suko?« »Und ob!« *** Zwischen ihnen herrschte Stille. Die Amerikaner wußten nicht, was sie mit dem Begriff Shimada anfangen konnten, aber der Japaner begann zu
sprechen. »Der große Dämon ist da. Er kam in seiner Festung, und er hat die Tengus geschickt.« »Stimmt das?« rief Shao. Sie wollte eine Antwort von dem Offizier haben, der aber hob die Schultern. »Was sind Tengus?« »Ziemlich haarige, kompakte Wesen. Das sollte zunächst als Erklärung genügen.« Der Mann zitterte und nickte im Zeitlupentempo. »Ja, die habe ich gesehen.« »Wie viele?« »Ich kann es nicht sagen.« Tangy hatte sich entschlossen, etwas zu tun. »Ich werde Großalarm geben. Nur so können wir sie stoppen.« »Nein, Mr. Tangy, das werden Sie nicht!« Scharf und entschieden hatte Shao gesprochen. »Oder wollen Sie, daß Ihre Männer ins Verderben laufen! Sie schaffen ...« »Es sind ausgebildete Soldaten!« »Nicht gegen die Tengus!« rief auch Julia. »Ich habe einen erlebt. Er hätte mich um ein Haar getötet, wenn Shao und ihre beiden Freunde nicht eingegriffen hätten.« »Stimmt das?« Shao nickte. Der First Lieutenant ballte die Hände. »Verdammt, was sollen wir denn machen?« »Ich werde gehen!« »Sie?« Shao nickte. »Ja, Mr. Tangy, und behalten Sie die Menschen hier im Auge. Lassen Sie keinen Ihrer Besucher gehen. Wenn möglich, müssen wir sie arrestie-ren.« »Gut, viel Glück!« Julia wollte noch einen Schritt auf Shao zugehen, die ließ sich nicht mehr aufhalten. Beim Hinausgehen streifte sie die Japaner mit ihren Blicken. Das siegessichere Lächeln auf den Lippen blieb ihr nicht verborgen. Und sie konnten durchaus recht behalten. Viel hatte sich draußen nicht verändert. Die Soldaten befanden sich in den Quartieren. Das Grauen war praktisch auf einen bestimmten Punkt konzentriert. Shao wandte sich nach rechts. Weit mußte sie nicht laufen, denn die blaue Festung stand dort wie eine Wand, als hätte man einen Teil der Dunkelheit aufgeschnitten. Davor war es zum Kampf gekommen. Nicht nur John und Suko sah sie, auch die Tengus, die sich in Angriffswut befanden und nur darauf warteten, die Menschen zerreißen zu können.
Die Pupillen hinter den Sehschlitzen der Halbmaske schimmerten plötzlich wie blankpolierter Stahl, als Shao startete. Wurden die Tengus jetzt nicht vernichtet, gab es keine Chance mehr... *** Das wußten auch wir. Nur fühlte ich mich so verdammt hilflos mit meiner Silberkugel-Beretta. Suko hatte es da mit seiner Dämonenpeitsche schon besser. Die Tengus huschten durch den blauen Schein wie gefräßige Kobolde, immer auf der Suche nach Opfern. Wegen meiner zu konventionellen Waffen mußte ich mich zwangsläufig zurückhalten. Suko hatte es da besser. Ich verteidigte mich mit der Beretta und dem Dolch, allerdings nur dann, wenn einer der Tengus in meiner unmittelbaren Nähe erschien. Der Star aber war Yakup! Noch immer unsichtbar schlug er zu, was die Klinge hergab. Wir sahen sie nicht, wir hörten sie nur zischen, und es war gewaltig, wie der Ninja aufräumte. In der Luft gelang es ihm, einen Tengu zu zerteilen. In verschiedene Richtungen flogen die beiden Hälften weg. Eine rutschte an mir vorbei, die zweite landete dicht vor Sukos Füßen, der sich die Chance nicht entgehen ließ und zuschlug. Es war ein Treffer mit der Wucht einer Granate. Ich wollte ebenfalls nicht abseits stehen. Wie fließend fand meine Dolchklinge das rötliche Auge der widerlichen Bestie. Es lief aus, der Tengu häutete sich abermals und kehrte sein Inneres nach außen. Ohne Yakup hätten wir es nie geschafft. Und er schrie all seinen Haß hinaus. »Das ist die Rache, das ist meine Ninja-Rache! Ich werde dich holen, Shimada. Ich werde dich zur Rechenschaft ziehen. Ich werde Alis Tod rächen!« Wir hörten das Fauchen der Klinge, ohne sie zu sehen, aber aus der verdammten Festung erschien der Tengu-Nachschub. Einer der Tengus wirbelte auf mich zu, tickte kurz vor mir noch einmal auf und hätte mich auch an der Kehle erwischt, aber etwas anderes war schneller. Dicht an meinem Ohr huschte der Pfeil entlang und bohrte sich tief in den haarigen Körper. Der Angriff wurde gestoppt, aber er war nicht beendet. Ich drehte mich kurz herum.
Shao huschte heran. Sie hatte geschossen und war beinahe so schnell wie der Pfeil. Sie wirbelte an mir vorbei und feuerte aus kürzester Entfernung den nächsten ab. Damit nagelte sie den Tengu fast gegen den Boden, aber er war nicht zu killen. Ein mächtiges Gebrüll drang aus seinem reißzahn-bewehrten Rachen, als er sich wieder in die Höhe stemmte und sich zu einem zweiten Angriff entschloß. Ich war zu nahe bei ihm. Mit einer wischenden Bewegung seiner langen Arme erwischte er meinen Schuh, krallte sich für einen Moment daran fest, was allerdings ausreichte, um mich zu Boden zu schleudern. Ich rollte mich herum. Die Pranke verfehlte mich zum Glück, aber dem nächsten Schlag konnte ich nicht entkommen. In einer Reflexhandlung kantete ich den Dolch, damit die Spitze nach oben zeigte. Das haarige Etwas drosch genau hinein! Plötzlich war die Klinge nicht mehr zu sehen, das heißt, nur mehr die kleine Spitze, die aus dem Prankenrücken hervorstach wie ein schimmernder, dreieckiger Fingerhut. Ich zerrte das Messer zurück und gleichzeitig vor. Die Hand zeigte einen tiefen Schnitt. Aus ihm rann die dunkle Flüssigkeit hervor, und ich rollte mich weiter. Nur weg aus der unmittelbaren Gefahrenzone. Keinen direkten Kampf, in dem ich unterlegen war. Ich sprang wieder auf. Ein Tengu flog auf mich. Er hatte sein Maul aufgerissen. Ich sah darüber die wilde Glut in den Augen, gepaart mit einem Vernichtungswillen. Ich schoß und stieß zu. Der Tengu und ich prallten zusammen. Zum erstenmal hatte ich einen derartig direkten Kontakt mit dem schrecklichsten aller japanischen Dämonen. Er bestand jetzt nur noch aus Maul. Gegen ihn war ein Kampfhund so harmlos wie ein Frosch. Ich rammte den Dolch in das Maul, schnitt ein Stück ab, sah die Schatten dicht vor meinen Augen vorbeihuschen, hörte das Klatschen, und dann war es passiert. Der Tengu zischte auf, er warf sich röhrend herum, denn Sukos Schläge hatten ihm schwer zu schaffen gemacht. »Kriech weg, John!« Das tat ich auch und sah, wie Shao und Yakup kämpften. Der Ninja war sichtbar geworden, er hatte auf seine Krone verzichtet, so daß ich ihn bei seinem Kampf beobachten konnte. Es war der nackte Wahnsinn. Er ging mit dem Schwert der Sonnengöttin um wie ein Artist. Zudem wirkte sein gesamter Kampf wie eine wohleinstudierte Choreographie.
Schnell und tänzerisch gewandt, dabei absolut sicher und tödlich. Er hebelte mit seiner Klinge einige Tengus hoch, schleuderte sie dann fort und schlug zu, bevor sie sich zu Boden fallen lassen konnten. Die Festung lag rechts von mir. Als ich durch den Nebel kroch, hatte ich das Gefühl, durch Rauch gleiten zu müssen. Das blaue Licht irritierte mich nicht mehr, doch als ich genauer hinschaute, da sah ich etwas Schreckliches und gleichzeitig Normales. Ein Augenpaar! Blau, kalt und grausam. Dazu eine mächtige Gestalt, die inmitten der Festung stand und sie dirigierte. Ich konnte mich nicht zurückhalten, ich mußte einfach schreien. Ein Name gellte durch den blauen Nebel. »Shimada!« *** Es war so, als hätte ein unsichtbarer Regisseur alles gekippt. Natürlich hatte nicht nur ich meinen eigenen Schrei vernommen, Yakup war es nicht anders ergangen. Er gehörte zu den Leuten, die man aus dem tiefsten Schlaf hervorreißen und ihnen sagen konnte. >Kämpfe, denn dein Todfeind steht bereit!< Er würde dem Befehl sofort Folge leisten. Auch hier! Plötzlich waren die Tengus Nebensache geworden, denn es riß ihn herum, damit er auf die Festung starren konnte, und er sah Shimada dort ebenfalls stehen. Aus seinem weit geöffneten Mund drang ein irrer Schrei. Ich wollte ihn zurückhalten, weil ich mir auf die Fahne schrieb, daß ich ihn von den Tengus weggelockt hatte, aber Yakup Yalcinkaya war nicht mehr zu halten. Er wollte seine Ninja-Rache bis zum bitteren Ende durchführen. Also mußten wir ohne seine Unterstützung gegen die verfluchten Tengus auskommen. Ich hörte Suko fluchen, auch mir war danach zumute, aber die Worte blieben mir im Hals stecken, denn plötzlich bekamen wir Hilfe von einer ganz anderen Seite. Mit einem Offizier an der Spitze griffen mehrere Soldaten an. Nicht mit Gewehren oder Pistolen, sie hatten sich andere Waffen besorgt, wobei meine Augen sich weitete, als ich sie sah. Es waren Flammenwerfer! Und damit hatten sie genau die richtigen Waffen geholt. Wenn es ein Element schafft, die Tengus zu vernichten, dann war es das Feuer, denn gegen Flammen gab es keine Rettung. Ein Flammenwerfer flog auf mich zu. Ich griff blitzschnell nach ihm und hielt ihn fest.
Suko hatte ebenfalls einen bekommen, nur für Shao war keiner mehr da. Sie huschte an uns vorbei und rannte mit langen Sätzen auf die Festung zu, weil sie Yakup nicht allein lassen wollte. Ob Wahnsinn oder nicht, darum konnten wir uns nicht kümmern, denn nun hieß es Feuer frei. Die Soldaten machten es mir vor. Suko und ich hatten uns eingereiht. Aus den unhandlichen und kompakt wirkenden Waffen schössen die langen Flammenstrahlen hervor. Da wir die Flammenwerfer schwenkten, war es leicht, an die Tengus heranzukommen. Zudem taten sie nichts, um der Hölle zu entfliehen. Als der erste von einer Feuerlohe erfaßt wurde, brannte er wie Zunder. Sein Fell loderte, es knisterte, und er jagte als Fackel in die Höhe. Beim Aufprall zerbrach sein Körper in zahlreiche Teile, die als Funken davonstoben. Das war der erste. Danach ging es schnell. Wir kamen uns vor wie ein eingespieltes Team, als wir diese widerlichen Wesen durch das Feuer zerschmorten. Mitleid durften wir nicht haben. Es kam uns vor, als hätten wir eine gewaltige Insektenplage aus dem Weg geräumt. Wir hörten sie nicht einmal schreien. Die Tengus starben lautlos, aber sie waren nicht alles. Denn im Hintergrund lauerte ihr Chef, Shimada. Dem konnten wir so leicht nicht beikommen... *** Trotzdem versuchte es Yakup! Er wollte ihn endlich aus der Welt schaffen. In seinem Besitz befand sich das Schwert, welches das Gras bezähmt. Es stellte einen Machtfaktor dar, dem auch ein Wesen wie Shimada nichts entgegensetzen sollte. Der Ninja war schnell gelaufen, hatte seine Schritte aber deutlich verlangsamt, als er in die Festung hineinlief. Jetzt hieß es aufpassen und vorsichtig sein. Das Schwert hielt er in der rechten Hand. Die Drachenzeichen auf seinen Handschuhen glühten in einem tiefen Rot. Nicht nur die Kraft des Schwertes war wichtig, seine Handschuhe ebenfalls, denn sie sorgten für ein Mehrfaches an Wucht, wenn Yakup seine Ziele anvisierte. Aber Shimada war zurückgetaucht. In irgendeiner nebligen Ecke seiner Festung hielt er sich verborgen. Der einsame Ninja versuchte es noch einmal. »Shimada!« brüllteer. »Zeig dich endlich! Laßes uns austragen . . .« Austragen . . . austragen . .. So hallten seine letzten Worte nach. Es zeigte ihm, daß es Shimada gelungen war, die Festung zu verändern. Wahrscheinlich hatte er das
Innere erweitert, damit ein Echo entstehen konnte wie in einem gewaltigen Dom. Sollte er ruhig. Yakup kannte jetzt keinen Rückzug mehr. Er wollte ihn haben. Aber Shimada blieb verschwunden. Yakup kannte ihn gut genug, um eine neue Schweinerei hinter dem Sich-nicht-Melden zu vermuten. Er steckte voller Haß und Wut. Er dachte an Ali und daran, wie grausam Shimada den Jungen getötet hatte. Seine Wangenmuskeln zuckten. Es fiel ihm schwer, sich zu beherrschen. Yakup hatte heulen können. Wohin er seinen Blick auch drehte, keine Spur von dem Dämon mit den blauen Augen. Dafür hörte er hinter sich die Schritte. »Du, Shao?« Er wußte es, ohne sich umgedreht zu haben. Der Klang war entsprechend gewesen. »Wer sonst? Ich kann dich nicht allein lassen.« »Doch, ich werde ihn packen!« Shao schüttelte den Kopf. »Du irrst dich, mein Freund. Er ist so einfach nicht zu stellen. Du brauchst Hilfe, vielleicht auch die Kraft der Sonnengöttin .. .« Der Ninja schüttelte den Kopf. »Was willst du mit Amaterasu, Shao? Sie kann uns nicht helfen. Sie ist eine Gefangene des Dunklen Reichs. Ich muß es allein durchstehen.« »Ich habe schon einmal geholfen.« »Stimmt, du holtest Suko. Denk daran, daß auch die Kraft der Sonnengöttin begrenzt ist.« Er hatte normal gesprochen, aber seine Worte hatten völlig anders geklungen. Leiser und dumpfer. Das war auch Shao nicht entgangen. Sie schaute sich um, und sie merkte es als erste. Die Festung wuchs an der Stelle, wo sie standen, zusammen. Da bewegten sich Grenzen oder Wände von vier verschiedenen Seiten auf sie zu, um sie irgendwann einzuklemmen und zu zerdrücken. Yakup brüllte seine Wut hinaus. »Shimada . . .! Verflucht noch mal, ich will dich sehen . . .« Er erntete ein Lachen und spürte, wie Shao seinen Arm umklammerte. »Es hat keinen Sinn, Yakup. Die Tengus haben wir vernichten können, Shimada noch nicht.« Saugend holte er Luft. »Ich will ihn haben!« Hart riß er sich los und ließ das Schwert über seinem Kopf kreisen wie einen Propeller. Die Spitze der Schneide erwischte einen Widerstand, sie riß ihn auf, und sie spaltete Risse in die auf sie zuwachsenden Wände. Dahinter loderte Feuer!
Es schimmerte in einer rotblauen Farbe und bildete eine Grenze zu dem, der dahinterstand. Es war Shimada! Er hielt einen Arm in die Höhe gereckt. Das Schwert wuchs aus seiner Faust hervor, und unter seinen kalten, bösen Augen, wo sich das Maul befand, drang ein widerliches und gleichzeitig triumphierendes Lachen hervor, als wäre er der große Sieger. »Wir sehen uns wieder, Ninja! Wir sehen uns ganz bestimmt wieder. Den Zeitpunkt aber bestimme ich!« Einen Moment später bewies er, wer der Herr der blauen Festung war. Die Kraft schleuderte Shao und Yakup zu Boden. Ein gewaltiger Sturm tobte gegen sie, und ihm konnten sie nichts entgegenstemmen. Er wirbelte sie weg wie Papier. Beide hatten das Gefühl, in die Unendlichkeit zu fliegen, doch sie blieben da, wo sie gekämpft hatten und die verbrannten Reste der Tengus am Boden lagen, deren Körper stanken, als wäre altes, fettiges Fleisch verbrannt worden... *** Wir waren gegangen und hatten die Tengus liegenlassen. Die Festung war nicht mehr wichtig für uns, denn nun wollten wir uns die Japaner anschauen. Sie hielten sich dort auf, wo Shao sie verlassen hatte. Wie Schulbuben hockten sie an einer Seite des Tisches, das Lächeln klebte in ihren Gesichtern. Vor ihnen blieb ich stehen. Neben mir keuchte Walter Tangy. Er versprach den Besuchern eine Hölle. Die aber lächelten nur. Und sie hatten recht, verdammt. Ich zog Tangy zur Seite. »Sie werden ihnen nichts anhaben können, Mr. Tangy. Das ist nicht möglich.« »Warum nicht?« »Haben Sie Beweise?« »Wie meinen Sie das?« »Können Sie beweisen, daß Ihre Gäste mit den Vorfällen in einem unmittelbaren Zusammenhang standen?« Der First Lieutenant schnappte nach Luft. »Nein, eigentlich nicht.« »Deshalb müssen Sie die Leute laufenlassen.« Der Offizier fluchte, was mich nicht kümmerte. Zusammen mit Suko verließ ich den Raum. Als wir nach draußen traten, kreischten Alarmsirenen. Es war viel zu spät. Lichter zuckten durch die Nacht und griffen auch nach den beiden Menschen, die uns entgegenkamen. Shao und Yakup . . .
Ihren Gesichtern sahen wir an, daß Shimada abermals entkommen war. Ich wollte Yakup trösten, doch er schaute ins Leere. Dann berichtete er mit tonloser Stimme und ohne von uns aufgefordert zu sein, wie es ihm ergangen war und wie die Tengus Alis Grab geschändet hatten. »Nichts ist mehr von ihm zurückgeblieben, John. Nur noch die Erinnerung in mir.« Ich legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Hast du dir schon überlegt, wie es bei dir weitergehen soll?« »Nein, aber ich werde ihm auf der Spur bleiben. Ich werde Shimada erwischen, irgendwann…« Es gab wohl keinen Menschen auf der Welt, der ihm das sehnlicher wünschte als ich...
ENDE