Judith Clarke
night train
Deutsch von Salah Naoura
Erika Klopp Verlag
© Erika Klopp Verlag, Hamburg 1999
Alle Re...
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Judith Clarke
night train
Deutsch von Salah Naoura
Erika Klopp Verlag
© Erika Klopp Verlag, Hamburg 1999
Alle Rechte für die deutschsprachige Ausgabe vorbehalten
© Judith Clarke 1998
Die Originalausgabe erschien bei Penguin Books Australia Ltd
unter dem Titel »Nighttrain«
Deutsch von Salah Naoura
Einband von Groothuis & Consorten
Gesamtherstellung: Clausen & Bosse, Leck
Printed in Germany 1999
ISBN 3-781 7-0341-X
Es ist nicht etwa so, dass Luke blöd wäre, oder aggressiv. Im Gegenteil. Dennoch: zweimal von der Schule, einmal durchs Abschlussexamen der Highschool geflogen – ein Loser, denken die Gleichaltrigen, ein fauler Nichtsnutz, die Erwachsenen. Nachts kann er nicht schlafen, hört einen Zug, den andere nicht wahrnehmen . Hört er Gespenster? Der Nachtzug wird für Luke zur Messlatte der Realität. Existiert er, soll ein Neubeginn möglich werden… Die packende Geschichte eines Jugendlichen, der in seiner Andersartigkeit mit gesellschaftlichen Konventionen bricht.
Für Heather
Im Regen
Mrs Richards telefonierte noch. Hastig griff Naomi nach ihrem Parka und schlüpfte durch den Hinterausgang hinaus in den Regen. Sie ließen sie nicht zu Lukie! Sie hatten ihr erzählt, Lukie sei unterwegs zu irgendeinem weit entfernten Ort und sie alle würden ihn für lange, lange Zeit nicht wieder sehen. Das hatten sie behauptet, aber es war gelogen, denn gestern Abend, als Naomi in die Küche gegangen war, um sich ein Glas Wasser zu holen, hatte sie gehört, wie sich Mrs Richards im Wohnzimmer mit ihrem Mann unterhielt. Naomi hatte reglos in der Diele gestanden und gelauscht. Ma, Dad und Molly würden am nächsten Tag zu Lukie gehen. Onkel Ted und Tante Maisie würden mitkommen, sogar Tante Irene. Nur Naomi durfte nicht mit; sie sei noch zu klein, hieß es. Naomi wusste, wo das Treffen mit Lukie stattfinden würde: Fiorelli, so hieß das Gebäude. Und bis dahin sei es gar nicht weit, sagten sie, gleich hinter den Läden, ein niedriger, grauer Bau mit breiter Steintreppe und leeren Schaufenstern und einer leuchtend grünen Rasenfläche rundum. Manchmal parkten draußen vor dem Eingang große, schwarz glänzende Wagen, über und über mit Blumen bedeckt, und auf der Treppe und dem Rasen wimmelte es von Leuten, die ihre besten Kleider trugen, wie bei einer Hochzeit. »Was ist denn das für ein Haus?«, hatte Naomi ihre Mutter einmal gefragt, und sie hatte geantwortet »Fiorelli«, mehr nicht.
Naomi kannte den Weg dorthin, dieselbe Strecke, die ihre Mutter immer zum Kindergarten fuhr: erst Mrs Richards’ Straße hinunter bis zu der großen Kreuzung, dann bis zur Ampel und schließlich die kurvenreiche Straße entlang, die zu den Läden führte. Es war nicht weit, aber weiter, als sie je allein gegangen war. Naomi wurde nass. Der Reißverschluss an ihrem Parka klemmte, aber dafür war jetzt keine Zeit; sie hatte Angst, dass Mrs Richards den Telefonhörer auflegte und Naomis Abwesenheit bemerkte und ihr hinterherlief. Als sie an der Ecke in die große Querstraße einbog, fühlte sie sich sicherer, aber jetzt begann der Wind an ihr zu zerren, er riss ihr die Kapuze vom Kopf und der kalte Regen durchweichte ihr Haar. Der graue Himmel schien so tief zu hängen, als könne man einfach so die Hand nach ihm ausstrecken und ihn berühren; die Straße schimmerte schwarz, im Rinnstein brauste und toste das Wasser, die Autos fuhren mitten am Vormittag mit hellem Scheinwerferlicht. Naomi rannte und rannte, aber an der Ampel musste sie stehen bleiben und warten, bis es grün wurde. »Naomi!« Sie hob erschrocken den Kopf. Neben ihr hielt ein blauer Wagen und eine Frau beugte sich heraus und hielt ihr die Tür auf. Nicht Mrs Richards, die einen grünen Wagen fuhr, sondern eine der Frauen aus dem Kindergarten, Kelly Bibers Mutter. Nein! Naomi vergaß die Ampel und rannte einfach auf die Straße, hastig den Autos ausweichend, die überall um sie herum hupten und kreischten und quietschten. Sie erreichte die andere Seite und rannte weiter; das Herz hämmerte in ihrer Brust, das Blut pochte in ihren Ohren.
Mrs Biber würde ihr folgen, das wusste Naomi. Sie würde wenden und ihr hinterherfahren; aus dem Wagen würde sie springen und Naomi nachrennen und sie zurück zu Mrs Richards bringen. Man wollte sie daran hindern, Lukie zu sehen. Naomi bog in die lange, kurvige Straße ein und verschwand blitzschnell durch die Gartenpforte eines großen weißen Gebäudes mit einem grauen Lattenzaun davor. Sie musste sich verstecken. Hinter dem Zaun kauernd, lugte sie durch einen schmalen Spalt zwischen den Brettern und wartete, dass der blaue Wagen um die Ecke bog. Tatsächlich, da kam er, im Schritttempo, mit Mrs Bibers besorgtem Gesicht am Fenster, die suchend auf die Straße hinausspähte. Naomi drückte sich an die nasskalten, stacheligen Büsche und hielt den Atem an. Als der Wagen vorüber war, blieb sie sitzen, falls er noch einmal zurückkäme. Und so war es. Aber diesmal fuhr er schneller und Mrs Biber blickte einfach ganz normal durch die Windschutzscheibe nach vorn. An der Kreuzung bog sie auf den Highway ein und nun lag die Straße verlassen da, nichts als Regen. Naomi kroch hinter den Büschen hervor und zog die Kapuze wieder über ihr tropfnasses Haar. Sie musste sich beeilen; vielleicht kam sie zu spät, vielleicht würde sie in diesem Gebäude, das Fiorelli hieß, ankommen und Lukie wäre schon weg. Sie schoss zum Gartentor hinaus und rannte die kurvige Straße hinauf. Sie rannte und rannte und rannte.
West Chapel
Der Raum hieß West Chapel, wirkte aber überhaupt nicht wie eine Kapelle, fand Molly. Er war einfach nur groß, mit dunklen Wänden, polierten Fußböden und schmalen Fenstern, die so weit oben lagen, dass man nicht nach draußen sehen konnte. Alles war in schattenloses blaues Licht getaucht. Jemand hatte die Türen geschlossen und es roch unangenehm nach nasser Wolle und Blumen und Schweiß und nach dem widerlichen Dunst der Belüftungsanlage. Die Kiste – sie konnte es nicht Sarg nennen, sie würde dieses Wort niemals aussprechen – lag auf einem Podest, das wie eine kleine Bühne aussah. Neben ihr stand Dad, aufrecht und steif, in seinem besten grauen Anzug. Molly sah, wie seine Augen kurz auf die Kiste hinabblickten und dann wieder abschweiften. »Margaret«, sagte er zu Ma, aber sie sah einfach nicht hin. »Nein, ich möchte nicht«, flüsterte sie und löste sich von seiner Hand. Die Kapelle war überfüllt: Dads Freunde von der Arbeit und Mas Kollegen aus dem Büro, Tante Maisie und Onkel Ted, die sie seit Weihnachten nicht mehr gesehen hatten, und Tante Irene, die den weiten Weg von Wagga angereist war. Schüler und Lehrer aus Lukes früheren Schulen waren gekommen. Molly erkannte Danny Pearson und Tom Griffin von der Riversdale-Schule und Mark Conlan von der St. Crispin’s. Das war in Ordnung, denn sie waren früher mit Luke befreundet gewesen, und gegen die Anwesenheit von Lionel, ihrem Freund, hatte Molly auch nichts, denn obwohl er ihren Bruder nie kennen gelernt hatte, bewunderte er ihn sehr. Aber all die anderen, die Schüler aus der Glendale-Oberstufe – sie hatten
überhaupt nichts hier zu suchen; man hätte ihnen nicht erlauben dürfen herzukommen. Es waren keine Freunde von Luke, wahrscheinlich hatten sie ihn nicht einmal gekannt. Sie waren nur gekommen um zu gaffen. »Molly!« Ihr Vater winkte sie heran. Sie ging hinüber, stellte sich neben ihn und blickte hinab auf ihren Bruder. Was sie sah, war ein Junge mit fest geschlossenen Augen, der nicht im Entferntesten an Luke erinnerte. Auf der Straße wäre dieser Junge ihr völlig fremd gewesen und sie wäre achtlos an ihm vorbeigelaufen. Irgendetwas hatten sie mit seinem Gesicht gemacht. Als hätte man alle Einzelheiten seiner Züge, Nase, Mund, Augen und Augenbrauen, fortgenommen und neu geordnet, sodass er nicht mehr zu erkennen war. Sein Haar! Der Anblick seiner Haare war zum Weinen. Lukes Haare waren lang und strähnig gewesen und hatten nach allen Seiten abgestanden. Das Haar dieses Jungen hier war sorgfältig gekämmt und gescheitelt. »Sieh nur, was sie getan haben!«, schrie Molly. »Was?«, flüsterte ihr Vater erschrocken. »Sieh doch, was sie mit seinen Haaren gemacht haben!« Molly beugte sich über die Kiste und griff mit der Hand hinein; sie zerzauste dem fremden Jungen das Haar, versuchte den Scheitel zu verwischen, damit es normal aussah. Aber das Haar fiel einfach nicht normal – es sackte nach unten, glitt ihr durch die Finger wie ausgeleierte Baumwolle. Es fühlte sich komisch an, weich und kalt. »Molly, hör auf!« Dads Hand griff nach ihrer. »Lass mich in Ruhe!« Sie stürzte von ihm weg und stellte sich neben die Wand. Ein blondes Mädchen mit dunklen, keilförmigen Schatten unter den Augen kam zu ihr herüber und reichte ihr zur Begrüßung die Hand. Ihrer Schuluniform nach
zu urteilen gehörte sie zur Glendale-Schule. »Ich bin Caroline«, stellte sie sich vor. Molly nickte, ergriff die ausgestreckte Hand aber nicht. Sie hatte dieses Mädchen nie zuvor gesehen; eine Caroline hatte Luke niemals erwähnt. Der Arm des Mädchens sank zur Seite. »Es tut mir Leid.« Sie begann zu schluchzen. »Es tut mir so Leid!« Molly lief zurück und stellte sich neben die Kiste mit dem Jungen darin. Sie beugte sich zu ihm hinunter. »Hi«, flüsterte sie. »Ich bins, Käpten Coolibah.« So hatte er sie immer genannt. Sie hatte es gehasst. »Luke, ich habs nicht so gemeint«, sagte sie. »Wie ich dich behandelt habe, das habe ich nicht so gemeint. Das weißt du doch, oder? Du weißt es doch, Lukie?« Der fremde Junge lag einfach nur da. Er sah aus, als sei ihm alles gleichgültig. Blinde Wut stieg plötzlich in ihr auf. »Warum hast du denn nichts gesagt?«, schrie sie ihn an. »Warum nicht?« Sie trat gegen das Podest unter der Kiste. Wieder und wieder. »Molly!« Ihr Vater packte sie an den Schultern. Und dann flog die Tür auf. Dort stand Naomi. Im Raum herrschte Totenstille. »Wo ist Lukie?«, schrie Naomi und blickte in die Runde. Niemand antwortete. Niemand tat etwas – außer dass sich die Menge schweigend teilte und einen schmalen Gang zwischen Tür und Kiste freigab. Es war wie auf diesem Bild, das sonntags beim Kindergottesdienst an der Wand hing, dachte Molly: Moses mit seinem Gefolge am Roten Meer, das zu beiden Seiten zurückwich, um das Volk Israel nach Kanaan zu lassen. Naomi rannte den schmalen Gang entlang, weil sie sonst nirgendwo hätte hinlaufen können. Vor dem Podest blieb sie
stehen; sie war gerade groß genug, um über den Rand hinweg in die Kiste hineinzugucken. Molly beobachtete, wie die Augen ihrer Schwester sich senkten. Sie erkannte ihn nicht. Molly hatte es gewusst. Naomi starrte hinunter auf den fremden Jungen in der Kiste und verzog irritiert das Gesicht. Dann blickte sie wieder auf. Wütende rote Flecken brannten auf ihren Wangen. Ihre Stimme klang vorwurfsvoll, wie die einer Betrogenen. »Wo ist Lukie?«, rief sie fordernd. »Wo ist er hingegangen?«
Die Laube
Luke rannte über das Hamilton-Grundstück Richtung Laube. Inzwischen gehörte es natürlich nicht mehr den Hamiltons, und er konnte sehen, dass sich hier vieles verändert hatte: Das Trampolin war verschwunden, hinten am Zaun, wo Mrs Hamiltons Rosenbüsche gestanden hatten, lag nun ein Gemüsegarten, und der Zitronenbaum war in die Höhe geschossen; wie fette gelbe Vögel saßen die Früchte auf seinen Zweigen. Er hatte in der Mittagspause auf dem Schulhof gestanden, als ihm die alte Gartenlaube plötzlich in den Sinn gekommen war. Seit Jahren hatte er nicht mehr an sie gedacht, auch an Alex nicht, obwohl Alex damals in der Grundschule sein bester Freund gewesen war. Die Hamiltons waren nach Amerika gezogen, als Luke in die sechste Klasse ging. Wahrscheinlich lebten sie inzwischen schon nicht mehr dort; Mr Hamilton hatte diese Art von Job, bei dem man ständig den Wohnsitz wechseln musste. Die Fenster der Laube zwinkerten ihm zu, das unvermittelte Aufblitzen eines eingefangenen Sonnenstrahls. Gartenlauben hatten normalerweise keine Fenster, aber diese schon. Mrs Hamilton hatte damals darauf bestanden, dass die offenen Seiten verglast wurden. Der Winter hier konnte neun Monate dauern, meinte sie, und Alex und Luke sollten einen Platz zum Spielen haben, wo sie niemanden störten. »Einen Platz zum Rumhängen!«, verbesserte Alex ihr kindisches Vokabular. »Nicht zum Spielen.«
Mrs Hamilton hatte gelacht. »Na, dann eben zum Rumhängen. Ein Platz für euch beide, wo ihr rumhängen könnt, okay? Euer eigenes Refugium.« Luke stand nun auf der Treppe. Die Tür wollte einfach nicht aufgehen. Er zog und drehte am Knauf, aber das Ding verweigerte jede Bewegung. Abgeschlossen. Er wusste auch nicht, warum ihn plötzlich diese merkwürdige Panik überfiel, als er dort vor verschlossener Tür auf der Treppe stand, das heftige Gefühl, von jemandem verfolgt zu werden, als sei diese Laube der letzte Winkel der Welt, der ihm als Versteck dienen konnte. Er riss an dem Türknauf, stemmte sich mit dem ganzen Gewicht seines Körpers dagegen – wenn diese Tür nicht nachgab, das fühlte er, dann würde er wohl anfangen, auf sie einzuhämmern und dagegen zu treten, sie einzuschlagen, um endlich hineinzukommen. Es war nicht nötig. Der Knauf in seinen schweißigen Händen drehte sich plötzlich und die Tür schabte über einen Haufen alter Zweige und Blätter, die der Wind zusammengeweht hatte, nach innen. Luke blinzelte und starrte neugierig hinein. Offensichtlich war die Laube seit Jahren nicht mehr genutzt worden. Überall lag Staub. Jemand hatte die Vorhänge mit dem Muster aus roten Rennwagen abgenommen. Die Bastmatten waren verschwunden, nur der nackte Fußboden aus löchrigem, schmutzigem Beton war geblieben. Luke ließ seine Schultasche zu Boden fallen und sank in den alten Korbsessel. Draußen, auf der anderen Seite der Straße, ertönte der Schulgong zur sechsten Stunde. Warum nur war er hierher gekommen? Als wären seine Füße ganz von selbst losgelaufen. In der sechsten Stunde hatten sie Englisch bei Ms Brennan. Er würde nicht hingehen, auf keinen Fall, obwohl er Ms Brennan mochte. Sie vertraute ihm. »Na, was macht deine Schreibmappe?«, hatte sie sich letzte Woche fröhlich bei ihm
erkundigt, ohne eine Spur von drohendem Unterton. »Okay«, hatte er geantwortet, ebenso gut gelaunt, als brauche er sich um nichts auf der ganzen Welt zu sorgen. Sie sollte denken, dass er gut vorankam, schließlich hatte er ihren Literaturkurs Kreatives Schreiben für Fortgeschrittene gewählt. Ihr hatten seine Gedichte gefallen, die er für die Schülerzeitung abgeliefert hatte. Bestimmt konnte sie sich überhaupt nicht vorstellen, dass er mit dem kreativen Schreiben Schwierigkeiten hatte. Es war unmöglich, ihr die Wahrheit zu sagen. Er wusste selbst nicht genau, was mit ihm los war. Lukes Blick glitt zu der Tasche hinunter, die er auf dem Boden abgeladen hatte. Abladen. Manchmal genügte ein einzelnes Wort, um gewisse Dinge wieder in die Gegenwart zurückzuholen, und urplötzlich brach Dads Stimme über ihn herein, die brüllte: »Warum musst du immer alles auf unserem Rücken abladen?« Unter der offenen Klappe der Tasche lugte die verknickte Ecke der blauen Schreibmappe hervor, die er hineingestopft hatte; er schleppte sie überall mit sich herum. Bis jetzt war noch nicht mal ein Anfang gemacht, jedenfalls gab es nichts, das er hätte vorzeigen können, obgleich er ganze Nächte lang in seinem Zimmer gesessen hatte, gegen den Schreibtisch gepresst, verzweifelt um Einfälle ringend. Der Abgabetermin für die Schreibmappe war am nächsten Montag, also in nur vier Tagen, das Wochenende nicht mitgerechnet. Das Ergebnis würde dreißig Prozent seiner Endnote in Englisch ausmachen, und zwei Schüler hatten ihre Arbeiten bereits bei Ms Brennan abgegeben. Heute würden es sicher noch ein paar mehr sein, Schüler, die ihre Werke endlich loswerden wollten, damit sie mit dem Wiederholen des Stoffes beginnen konnten. Das leise Klappen der Ordner, die auf Ms Brennans Lehrerpult landeten, hatte
Luke in den Ohren geklungen, wie Türen, die irgendwo in einem weit entfernten Haus ins Schloss fielen. War das vielleicht der Grund, warum er hergekommen war? Weil er dieses Geräusch nicht wieder hören wollte, nicht, bevor er etwas zustande gebracht hatte, nicht, bevor er mit der Schreibmappe fertig war? Irritiert starrte er hinunter auf den sandigen Boden. Es gab eine Menge anderer Plätze, wo er die Englischstunde hätte schwänzen können: im Waschraum, draußen unter dem kleinen Vordach hinter der Schulkantine, im Schuppen hinter dem Kesselraum. Er könnte auch einen Spaziergang machen, hinunter zu den Läden. Warum hatte er plötzlich wieder an die Gartenlaube gedacht? Und an Alex? Er hatte nie wieder einen so guten Freund gefunden wie Alex Hamilton. Natürlich hatte er andere Freunde gehabt: Danny und Tom an der Riversdale-Schule, Mark Conlan an der St. Crispin’s, Schulkameraden, zu denen er den Kontakt verloren hatte, seit er aufs Glendale-Gymnasium ging. Aber jemand wie Alex war ihm später nie wieder begegnet. Sie hatten sich verstanden, ihre Art zu denken war gleich gewesen. Alex musste jetzt achtzehn sein, genau wie er. Bestimmt ging er irgendwo auf ein College, denn er war ein guter Schüler gewesen. Und wahrscheinlich würde er anders aussehen als damals. Luke hatte sich auch sehr verändert, das wusste er. Jedes Mal, wenn er das alte Foto auf Mas Frisierkommode betrachtete, das Dad am Pier von Fairlie gemacht hatte, konnte er kaum glauben, dass dieser stämmige kleine Blondschopf mit dem breiten Grinsen tatsächlich er selbst sein sollte. Es lag nicht nur daran, dass er inzwischen groß und hager war und dunklere Haare hatte; er war auch innerlich ein anderer geworden. Damals war er selbstsicher gewesen. Jetzt bestand er nur noch aus lauter Einzelteilen, aus Ängsten und Zweifeln und Sorgen und kleinen Hoffnungsschimmern, die wild
durcheinander wirbelten, wie Teile eines Puzzles, die klappernd in ihrer Schachtel umhersprangen. Luke musste plötzlich gähnen und rieb sich die Augen. Er fühlte sich müde. In letzter Zeit war er andauernd müde. Im Unterricht und abends, wenn er versuchte zu arbeiten, schlief er fast ein, aber sobald er ins Bett kroch, fühlte er sich plötzlich hellwach. Er gähnte wieder und ließ sich tiefer in den kratzigen Korbsessel sinken, lehnte den Kopf zurück, streckte die langen Beine aus, machte es sich bequem. Es war gemütlich und warm hier drinnen, mit dem Sonnenlicht, das durch die Fenster hereinfiel. Gemütlich und warm und ein sicheres Versteck. Die staubigen Korbsessel knarrten leise, wie kleine Insekten, die sich unterhielten. Draußen leuchtete der Garten. Luke schloss die Augen und konzentrierte sich, gab sich die größte Mühe, die Person zurückzuholen, die er all die Jahre gewesen war; er versuchte, sich wieder so zu fühlen, wie diese Person sich damals gefühlt hatte. Deswegen war er hergekommen, wurde ihm auf einmal klar. Das musste es sein. Wenn er sich einfach selbstsicher fühlen könnte, nur für einen kurzen Moment, dann… Ein klopfendes Geräusch am Fenster neben ihm, kurz und hart, wie ein Befehl in getrommelten Morsezeichen. Luke zuckte zusammen, seine Augenlider klappten nach oben und er erblickte ein Gesicht, das ihn anstarrte. Nicht das von Alex Hamilton, natürlich nicht, sondern ein anderes, das Luke ebenso in- und auswendig kannte: ein starres, blasses Gesicht mit zusammengekniffenen, stechenden Augen. Es war Clyde A. Stringer, der stellvertretende Rektor der Glendale-Schule. Unbefugtes Betreten
Clyde A. Stringers Geduld mit Schülern wie Luke Leman war am Ende, mit Schülern, die den Unterricht schwänzten, unbefriedigende Leistungen erbrachten und es nicht schafften, den Anforderungen zu genügen. Zudem drückten sie das Niveau der ganzen Schule. Ein einziges miserables Ergebnis bei der Abschlussprüfung konnte das Glendale-Gymnasium auf der Rangliste um mehrere Plätze zurückwerfen. Sechs Jahre zuvor hatte Glendale sich noch rühmen können, die viertbeste Erfolgsquote im ganzen Bundesstaat zu haben. Zwei Jahre später rangierten sie nur noch auf dem zwanzigsten Platz und im vergangenen Jahr waren sie sogar bis auf Platz 26 abgerutscht. Ungeduldig blätterte Stringer Lukes dicke Akte durch, hin und wieder mit der Zunge schnalzend, während sich seine kleinen, strengen Augen von links nach rechts bewegten. Dieser Junge hätte die zwölfte Klasse nicht wiederholen dürfen, er besaß ganz offensichtlich keine Arbeitshaltung. »Sie haben hier ja recht umfangreiche Papiere«, sagte er schließlich. Luke gab keine Antwort. Wieder gellte Dads Stimme durch seinen Kopf: »Begreifst du das denn nicht: Was die Leute von dir zu sehen bekommen, sind deine Papiere!« »Und wofür steht dieses P?«, erkundigte sich Stringer. Es klang eine Spur gemein. »Welches P?« »Der Anfangsbuchstabe Ihres zweiten Vornamens.« »Peter.« »Ich dachte, es bedeutet vielleicht Problemfall.« Genau wie dein A in Clyde A. Stringer Arschloch bedeutet, dachte Luke wütend, aber er behielt die Retourkutsche lieber für sich. Den Blick auf Stringers Gesicht geheftet, musterte Luke dessen wächserne Glätte, den kleinen schwarzen Schnurrbart, der wie eine Nacktschnecke über dem Mund saß,
die beiden glänzenden runden Beulen an seinen Schläfen, die aussahen, als wolle Stringer sich zwei Hörner wachsen lassen. Aber natürlich war er nicht der Teufel oder etwas Ähnliches. Nach dreizehn Jahren Schule hatte Luke genügend Erfahrung, genau zu spüren, was für eine Art Mensch Stringer war: ein Loser, der es niemals geschafft hatte, Schulleiter zu werden, der sein Leben lang nur Vize bleiben würde. Vor solchen Leuten musste man sich in Acht nehmen. In seiner alten Schule, der St. Crispin’s, war Gosser der große Loser gewesen. Aber diese Erkenntnis half einem auch nicht weiter, solange man von solchen Typen abhängig war. Sie wussten, dass man gewisse Dinge erreichen wollte, sobald man die zehnte Klasse hinter sich gelassen hatte – oder die Eltern wollten, dass man sie erreichte: eine gute Abschlussnote, einen Studienplatz an der Uni, eine Eintrittskarte in die weite Welt. »Ihre Glückssträhne ist vorbei, was, Leman?«, sagte Stringer. Die Schadenfreude war ihm anzuhören. Luke wäre am liebsten aufgestanden und gegangen. Er wollte von seinem Stuhl aufspringen, aus dem Zimmer laufen, den Flur hinunter, das Schulgelände verlassen, hinaus auf die Straße. Aber er blieb sitzen; man wurde zum Feigling, wenn man Dinge erreichen wollte. »Denn es war reiner Zufall, dass ich Sie in diesem Haus erwischt habe. Reines Glück, dass ich zufällig vorbeifuhr.« Stringer hielt einen Moment inne, die Fingerspitzen am Kinn, und musterte Luke über die Ränder seiner rosigen, sauber geschrubbten Nägel hinweg. »Ich kenne die Familie Mills nämlich, wissen Sie?« Luke starrte ihn verständnislos an. Wovon redete er überhaupt? Was für eine Familie Mills? Für einen Augenblick kam ihm der Gedanke, Mrs Chambers könnte Stringer die falsche Akte gebracht haben, die Akte eines anderen Schülers, der mit zweitem Vornamen ebenfalls »Problemfall« hieß.
»Die Familie Mills?«, wiederholte er. Stringer stöhnte genervt auf. »Die Leute, die in dem Haus wohnen, in das Sie eingedrungen sind.« »Ich bin nicht eingedrungen«, erwiderte Luke hastig. »Ich habe das Haus überhaupt nicht betreten. Ich…« Aber Stringer unterbrach ihn. »Mr Mills und ich sitzen im selben Ausschuss. Ich weiß, dass er keine Kinder hat. Deshalb war mir sofort klar, dass ein junger Mann in einer GlendaleSchuluniform, der um Mr Mills’ Haus herumschleicht, dort nichts zu suchen hat.« Seine Stimme wurde scharf. »Oder hatten Sie dort vielleicht etwas zu suchen?« Luke zuckte mit den Achseln und dann ließ Stringer seine Bombe platzen: »Von Rechts wegen sollte ich die Polizei informieren.« Die Bombe zeigte den gewünschten Effekt. Luke war perplex; der Schrecken stand ihm ins Gesicht geschrieben, er konnte es nicht verhindern. Das Schlimmste, was er erwartet hatte, war Nachsitzen. »Die Polizei? Aber ich habe doch gar nichts getan!« »Einbruch und unbefugtes Betreten«, erwiderte Stringer aalglatt. »So nennt man das, was Sie getan haben.« »Ich habe nicht eingebrochen. Ich bin doch gar nicht im Haus gewesen, das hab ich Ihnen doch schon gesagt. Ich habe nichts angefasst. Ich habe nur die Gartenlaube betreten, und die war nicht abgeschlossen. Ich habe einfach nur dort gesessen, das war alles…« Luke hielt jäh inne, angewidert von der Furcht in seiner Stimme, seinem hektischen Geplapper. »Und aus welchem Grund?«, bohrte Stringer weiter. »Woher soll ich denn wissen, was Sie vorhatten? Vielleicht bin ich gerade noch rechtzeitig gekommen.« »So etwas würde ich niemals tun«, protestierte Luke. »Irgendwo einbrechen. Nie.«
Kühl und berechnend, wie Stringer war, gab er keine Antwort. Stattdessen warf er einen Blick auf die Akte, einen bedeutsamen Blick, als habe sie sich zu Wort gemeldet und Luke als Lügner entlarvt. Doch Luke wusste, dass nichts dergleichen in seiner Schülerakte stand, nichts wirklich Ernstes, was für die Polizei von Interesse gewesen wäre. Es waren ganz gewöhnliche Vergehen wie Unpünktlichkeit und Erscheinen in Zivil, weil er keine Lust hatte, die Schuluniform zu tragen, freche Antworten, Arbeitsverweigerung – der einzig schlimme Vorfall war diese Sache gewesen, die ihm am Bahnhof von Wood Hill mit Gosser passiert war. »Grober Ungehorsam«, so hatte man sein Verhalten damals genannt. »Immerhin haben Sie sich des unbefugten Betretens schuldig gemacht«, sagte Stringer hochtrabend. »Und wie gesagt, von Rechts wegen sollte ich die Polizei informieren.« Sollte. Luke klammerte sich an das rettende Wort. »Sollte« bedeutete, dass Stringer es nicht tun würde, dass er ihm nur einen Schrecken einjagen wollte. Genauso wie er der armen Mrs Chambers einen Schrecken eingejagt hatte, als er leise das Büro betrat, wo sie an ihrem Tisch saß und in einer Frauenzeitschrift blätterte. »Die Akte bitte!«, hatte er sie angeschnauzt und Mrs Chambers war von ihrem Stuhl aufgesprungen, erschrocken und ganz durcheinander, als sei es ihre eigene Akte, die der Vizerektor zu sehen wünschte. »Natürlich zögere ich mit Rücksicht auf Ihre Eltern, die Polizei einzuschalten.« Das war ausgemachter Schwachsinn. Als ob sich Stringer um Ma und Dad scherte. Lukes Mutter würde sich vor dem stellvertretenden Rektor fürchten. Sein Vater würde den Mann vielleicht unsympathisch finden, aber er würde sehr vorsichtig mit ihm umgehen, weil Stringer die Macht besaß, die Zukunft
seines Sohnes zu beeinflussen. Dad würde ihm auch glauben. Er würde alles glauben, was Stringer ihm auftischte. Das war nicht immer so gewesen. Früher hatten Ma und Dad sich Lukes Version eines Vorfalls immer angehört und sie hatten ihn sogar in Schutz genommen. Aber Glendale war nun schon die dritte Schule; aus Riversdale und St. Crispin’s war er rausgeflogen und im vergangenen Jahr war er bei der Abschlussprüfung an der Glendale durchgefallen, mit so schlechten Ergebnissen, als hätte er sich keinerlei Mühe gegeben zu bestehen. »Sie könnten es sich sehr viel einfacher machen, indem Sie mir genau sagen, aus welchem Grund Sie dieses Haus betreten haben«, fuhr Stringer fort, »den genauen Grund, was Sie dort wollten.« Luke schwieg. Er konnte Stringer doch nicht erzählen, dass er zur Gartenlaube gegangen war, weil er sich wieder so selbstsicher fühlen wollte wie damals als kleiner Junge. Stringer würde denken, dass er freche Antworten gab, ihn auf den Arm nehmen wollte. Menschen wie er hielten wirklich wichtige Dinge für Lügen oder schlechte Späße oder »groben Ungehorsam«. Lukes Augen glitten hinüber zum Fenster, während er verzweifelt nach einer Ausrede suchte, mit der er eine Chance hatte durchzukommen. Dort draußen auf dem grünen Wall oberhalb der ovalen Rasenfläche machte Mrs Barlow mit einer siebten Mädchenklasse gymnastische Übungen. Sie erhoben sich langsam auf die Zehen, die spindeldürren Arme nach beiden Seiten ausgestreckt. Das letzte Mädchen in der Reihe wackelte. Kinder in der siebten Klasse sahen so klein aus! Stringers Stimme überschlug sich. »Wollen Sie mir jetzt endlich sagen, was Sie dort zu suchen hatten?«
Irgendetwas musste er ja antworten. »Mein Freund hat früher dort gewohnt«, begann er verlegen. »Ich meine, ich hatte mal einen Freund, der dort gewohnt hat.« Stringer griff nach dem Füller. »Name?« »Was?« »Den Namen dieses ›Freundes‹. Und selbst wenn er stimmt, Leman, ist dies kein Grund sich dort herumzutreiben, wenn – wie Sie ja selbst zugegeben haben – Ihr Freund nicht mehr dort wohnt. Überhaupt keinen Grund.« »Hamilton«, brachte Luke mit Mühe heraus. »Alex Hamilton. Aber das werden Sie nicht nachprüfen können, Mr Stringer. Sie sind nach Amerika gezogen.« »Wann?« Wieder verharrte der Füller abwartend in der Luft. »Das ist schon ewig her.« Ungeduldig beklopfte Stringer mit seinem Füller die glänzende Tischplatte. »Wie lange genau?« »Neunzehnhundertneunundachtzig«, murmelte Luke und augenblicklich spürte er die Verblüffung des Vizerektors, wie einen Stromschlag, der durch den ganzen Raum schoss. »Wollen Sie mich zum Besten halten, Leman?« »Nein, Mr Stringer.« »Also, habe ich das richtig verstanden: Sie sind zu diesem Haus gegangen, haben dafür den Unterricht geschwänzt, was sich jemand wie Sie mit einer solchen Schullaufbahn wohl schwerlich erlauben kann, haben ein fremdes Grundstück unbefugt betreten, also eine Straftat begangen – und all dies nur, weil Sie vor neun Jahren einen Freund hatten, der dort wohnte?« Luke nickte. Es hatte das ihm längst bekannte Gefühl, dass etwas an sich Unbedeutendes und Harmloses bis zur Unkenntlichkeit verdreht und aufgebauscht wurde. »Und Sie erwarten allen Ernstes, dass ich Ihnen das glaube?«
»Es ist wahr.« »Nun gut.« Stringer warf seinen Füller hin. »Sie weigern sich also, mir eine vernünftige Erklärung für Ihr Verhalten zu geben.« Er räusperte sich. »Ich muss Sie warnen, dass ein Schulverweis in Betracht gezogen werden kann.« Schulverweis. Das konnte er doch nicht ernst meinen! Es war nur ein weiterer Einschüchterungsversuch. Oder doch nicht? Luke spürte ein Aufflackern von Panik. Wenn Stringer meinte, was er sagte, wäre dies sein drittes Mal. Er würde das dritte Mal von der Schule verwiesen, und das knapp einen Monat vor der Prüfung. Nicht mal ein Zeugnis bekam er, wenn sie ihn jetzt hinauswarfen. Und ohne Zeugnis würde es schwer sein, einen Job zu finden – er würde als letzter Dreck auf der Müllkippe landen, wie sein Vater es ihm immer prophezeit hatte. »Und ein Schulverweis gerade zu diesem Zeitpunkt wäre recht unangenehm«, sagte Stringer leise. »Nicht wahr?« »Ja, Sir.« Draußen auf dem Korridor waren Schritte zu hören. Nicht mehr lang und es würde zur Pause klingeln. Stringer warf einen Blick auf seine Uhr; dieser Junge hatte genug von seiner Zeit in Anspruch genommen. Er würde ihn an Glenda Lewis verweisen, vielleicht war sie ja dazu in der Lage, ihn ein wenig zur Vernunft zu bringen, vielleicht sogar, ihn zum Lernen zu motivieren, falls der Junge die Bedeutung dieses Wortes überhaupt kannte. »Bevor irgendeine Entscheidung getroffen wird, möchte ich, dass Sie sich bei der Vertrauenslehrerin einfinden.« Er wirbelte in seinem Drehstuhl herum, um einen Blick auf den Stundenplan zu werfen, der an der Wand prangte. »Morgen Nachmittag um drei, denke ich. Da haben Sie freie Studien und Mrs Lewis hat gerade Zeit.«
Mrs Lewis hatte meistens Zeit, dachte Luke, weil niemand zu ihr hingehen wollte, wenn es sich irgendwie vermeiden ließ. Stringer schwang zurück zum Schreibtisch, ergriff seinen Füller wieder und machte einen Vermerk in Lukes Akte. »Haben Sie mich verstanden, Leman? Ich möchte, dass Sie morgen um drei bei Mrs Lewis erscheinen.« »Nein«, erwiderte Luke unvermittelt. »Wie bitte?« »Ich sagte nein. Ich möchte nicht zu Mrs Lewis.« Stringer starrte ihn an. »Und warum nicht?« »Sie spricht…« Er hielt sich gerade noch rechtzeitig zurück. Es wurde nicht gern gesehen, wenn man etwas Negatives über andere Lehrer sagte. »Ich möchte einfach nicht«, murmelte er. Stringers schmale Lippen wurden noch schmaler. »Ich fürchte, in diesem Fall haben Sie keine andere Wahl. Ich gebe Ihnen eine Chance, Leman, und es könnte Ihre allerletzte sein. Morgen Nachmittag um drei, pünktlich, sonst…« Den Rest sparte er sich. Der Gong ertönte. Das Zuschlagen von Türen war zu hören, lautstarkes Geschrei und etwas Schweres, das draußen über den Gang schlitterte, schließlich ein dumpfer Aufprall an der Wand. Eine Jungenstimme brüllte: »Das zahl ich dir heim, Simmo, nimm dich bloß in Acht!« Stringer schob seinen Stuhl zurück und schritt hinüber zur Tür. Er brauchte sie nur zu öffnen und dort zu stehen, und augenblicklich herrschte Ruhe. Eine Ein-Mann-Friedenstruppe, dachte Luke, obgleich Stringer ihn eigentlich mehr an kriegerische Auseinandersetzungen erinnerte. »Das wäre im Moment alles.« Stringer drehte sich nach Luke um. »Sie können gehen.« Luke erhob sich. Eigentlich wollte er schweigend den Raum verlassen, ohne ein weiteres Wort, aber auf halbem Wege
hinaus gab etwas in ihm nach und die Frage platzte aus ihm heraus, in diesem Tonfall, den er so an sich hasste, mit dieser weinerlichen Jammerstimme: »Werden Sie es meinen Eltern sagen? Werde ich von der Schule verwiesen?« Doch Stringer ließ ihn zappeln. Er lächelte kalt. »Das kommt ganz auf Sie an.«
Verrat
»Jetzt sieh dir das an!« Liz sprang vom Tisch auf, wo sich ihre und Caros Lernzettel stapelten, und lief zum Fenster hinüber. »Sieh dir das an!«, jammerte sie, drückte ihr Gesicht an die Scheibe und starrte hinaus in den trüben, grauen Nachmittag. Draußen ging ein heftiger Platzregen nieder. »Ist das zu fassen? Kannst du dir vorstellen, dass wir Oktober haben?« »Australischer Frühling!« »Von wegen Frühling«, rief Liz spöttisch. Sie beobachtete einen dicken Regentropfen, der die Scheibe hinunterrann. »Oh, ich hoffe so, dass wir am Samstag schönes Wetter kriegen!« Ihre Stimme zitterte bei der Vorstellung, dass es am Samstag regnen könnte. Damit würde ihre Grillparty ins Wasser fallen, ihre allerletzte Party vor der Prüfung – ihr Leben wäre zerstört, jedenfalls kam es ihr im Moment so vor. »Es wird schon klappen«, beruhigte Caro sie. »Da glaubst du doch im Traum nicht dran«, seufzte Liz. »Und Caro, du kommst doch wirklich, oder? Du wartest doch hoffentlich nicht bis zur letzten Sekunde und sagst mir dann, dass es so kurz vor der Prüfung nicht geht und du noch einen Riesenhaufen Zeug lernen musst? Das tust du mir doch nicht an, oder?« Caro lachte. »Nein«, sagte sie. »Dann ist es ja gut.« Liz drehte sich zum Fenster zurück und sah wieder in den Regen hinaus. »Bringst du Luke mit?«, fragte sie leise und obwohl Caro das Gesicht ihrer Freundin nicht sehen konnte, verriet doch die Neigung ihres hübschen kleinen Kopfes, eine gewisse Anspannung ihres Nackens und der Schultern, den genauen Ausdruck ihrer Züge: eine
erwartungsvolle Miene, wie eine hockende Elster auf einem Picknicktisch, darauf wartend, dass ein paar Krümel für sie abfielen. Darauf wartend, dass Caro etwas über Luke erzählen würde. Caro sprach niemals über Luke. Er war so… kompliziert, so schwer zu beschreiben, und irgendwie wusste sie, dass ein solcher Versuch bei Liz ohnehin nur strenge Blicke und Vorwürfe provoziert hätte. Und schließlich gab es Dinge, die privat waren. Caro hasste es, wie die Mädchen in der Pause und beim Mittagessen zusammengluckten und ununterbrochen über ihre Freunde redeten. Plötzlich kam es ihr vor wie eine Art Striptease, als ob alle insgeheim im Chor brüllten: »Ausziehen! Ausziehen! Ausziehen!« Nichts schien wirklich wichtig zu sein außer Sex. »Wie ist er denn so?«, fragten sie ständig, und in Wirklichkeit meinten sie nur, wie er im Bett war. Sie ging nun schon seit ein paar Monaten mit Luke, aber weiter als bis zum Küssen waren sie nicht gekommen; das konnte man schon merkwürdig finden. Und Luke war nicht mal ein besonders guter Küsser. Er war nervös; seine Lippen streiften immer nur leicht über ihre, dann hielt er inne, zog den Kopf zurück und sah sie an, als wolle er fragen: »Ist das okay?« Caro nahm sich jedes Mal vor, es bei der nächsten Gelegenheit besser zu machen; sie würde ihn näher zu sich heranziehen, ihn langsam küssen, richtig. Aber wenn es dann so weit war, brachte sie es nicht fertig. Seine Nervosität steckte an. »Was ist, bringst du Luke mit?« »Wahrscheinlich«, erwiderte Caro. Sie versuchte locker zu klingen. Wahrscheinlich nicht, dachte sie bei sich. Luke hielt nicht viel von Glendale-Feten. Er mischte sich einfach nicht gern unter Leute. Er hing an ihr wie eine Klette und wenn sie es mal
schaffte, sich ein paar Schritte von ihm zu entfernen, brauchte sie nur kurz über ihre Schulter zu sehen. Ganz gleich, wie dicht das Gedränge war, ihre Augen fanden ihn immer und jedes Mal stand er irgendwo abseits, starrte in sein Glas und sprach nie mehr als nur ein paar Worte mit jemandem. Wut stieg plötzlich in ihr auf; er gab sich einfach keine Mühe. Manchmal fragte sie sich, was sie eigentlich an ihm fand. Sie wusste, dass es die kleinen Dinge waren. Wie damals, als sie in der Stadt Kaffee trinken gewesen waren und dieser alte Grieche ihnen ein ganz besonderes, selbst gebackenes Gebäck gebracht hatte. Caro hatte es nicht geschafft, ihr Stück aufzuessen, und als sie gehen wollten, hatte Luke ihr zugeflüstert: »Steck es lieber ein. Wenn du was übrig lässt, ist er bestimmt verletzt.« Keiner von den anderen Jungen, mit denen sie ausgegangen war, hätte je an so etwas gedacht – nie im Leben. Sie hätten es einfach gar nicht bemerkt. »Nick Lawson kommt auch.« »Was?« »Wach auf, du bist ja völlig weggetreten! Ich sagte, Nick Lawson kommt auch zu meiner Grillparty.« »Aha.« Caro wusste schon Bescheid. Nämlich, dass Liz der Meinung war, sie habe etwas Besseres verdient. Das fanden alle. »Er mag dich wirklich.« »Mag!« Caro musste grinsen. »Aber es stimmt, Caro. Was ist denn daran verkehrt? Und was ist verkehrt an Nick Lawson? Er ist doch ein netter Typ.« »Dagegen sag ich ja auch gar nichts.« Liz warf entrüstet den Kopf zurück. »Wenigstens ist er normal. Nicht so wie…« Sie stockte kurz, redete im nächsten Moment aber unverdrossen weiter, als müsse sie jemanden zur
Vernunft bringen. »Sieh mal, Caro, ich weiß, dass du viel mit Luke zusammen bist, aber das heißt doch nicht…« Caro sprang vom Tisch auf; die Zettel und Notizen, Zusammenfassungen und zusammengefassten Zusammenfassungen wirbelten wie ein Schneesturm um sie herum. Ehe sie es merkte, war sie schon halb an der Tür. »Wo willst du denn hin?« »Nirgends. Nur mal kurz ins Bad.«
Ihr Gesicht war ganz heiß geworden, wie immer, wenn Liz auf sie einzureden begann, wenn sie andeutete, dass Luke ein Loser sei und Caro etwas Besseres verdient habe. Vielleicht hatte sie sogar nicht ganz Unrecht, denn zuweilen merkte Caro, dass Luke sie einfach verrückt machte. Trotzdem, es war ihre Sache. Und ausgerechnet Nick Lawson! Caro beugte sich über das Waschbecken und schöpfte kaltes Wasser auf ihre brennenden Wangen. Vielleicht war Nick Lawson ja ein netter Typ, aber er war total langweilig. Alles, worüber er reden könnte, war Football und Fitness-Training, fettarme Kost und – sie richtete sich auf, warf den Kopf zurück und blinzelte sich das Wasser aus den Augen… Und was war daran eigentlich verkehrt? Entwickelte sie sich etwa zu einer arroganten Ziege? Sie nahm sich ein Handtuch vom Halter und vergrub ihr Gesicht in den dicken, weichen Stofffalten. Als sie wieder hochblickte, bedeckten plötzlich Sonnenflecken die Badezimmerwände. Caro stellte sich auf die Zehenspitzen und spähte durch das kleine Fenster oben nach draußen. Ein schmaler blauer Streifen zeigte sich über dem Horizont, ein Schwerthieb durch die graue Wolkendecke. Die Straße funkelte, Licht blitzte von Baumkronen, Büschen und den Pfützen auf dem Asphalt.
Und dann entdeckte sie ihn, ganz am Ende der Straße, eine kleine Gestalt, weit entfernt, aber sie erkannte ihn an seinem komischen Gang, mit hochgezogenen Schultern und gesenktem Kopf, die Augen gen Boden gerichtet. Luke. O Gott, nicht jetzt! Nicht, wenn Liz gerade da war. Liz würde ihn beobachten, würde sie beide beobachten, ergründen, wie sie zueinander standen, ob sie sich berührten oder nicht, wie sie sich ansahen und miteinander sprachen… und was all diese Dinge vielleicht bedeuteten. Liz war so scharfsinnig. Und Luke – er würde einfach in der Gegend rumstehen. Und wenn er wieder fort war, würde Liz sagen: »Also ehrlich, ich verstehe einfach nicht, was du an ihm findest.« Nein, das musste Caro sich nicht antun. Aber wie sollte sie Luke abfangen? Sie konnte ihm doch nicht die Tür öffnen und ihn bitten, nicht hereinzukommen, weil Liz da war. Wie sollte sie so etwas erklären? Völlig unmöglich. Einen Augenblick stand Caro da, die Stirn in Falten gelegt, und biss sich auf die Lippen. Dann warf sie das Handtuch fort, rannte aus dem Badezimmer, raste den Flur hinunter, bremste schlitternd vor der Küche ab. »Mal«, keuchte sie hastig, ganz außer Atem. »Ma, Liz und ich müssen unbedingt bis morgen mit dieser Arbeit fertig werden. Falls jemand kommt, kannst du bitte sagen, dass ich nicht da bin?« Ihre Mutter schob gerade eine Kasserolle in den Ofen. Sie hatte Caro den Rücken zugewandt und ließ nicht alles stehen und liegen um zu antworten, sondern schloss sorgfältig die Ofentür und nahm sich reichlich Zeit zum Abwischen ihrer Hände am Geschirrhandtuch. »Ma…« »Ich habe dich gehört.« Sie sah Caro ins Gesicht. »Egal, wer es ist?«, fragte sie mit Nachdruck, und Caro wusste, dass sie eigentlich meinte: »Auch wenn er es ist?«
Sie errötete. Ma konnte Luke nicht leiden. Sie hatte eine ganze Menge Getratsche von den anderen Müttern gehört und glaubte das meiste davon. »Ja, egal, wer es ist«, erwiderte Caro. »Sag einfach, dass ich nicht da bin.« Ihre Stimme klang schrill, aber nicht wegen Luke oder weil ihre Mutter diese leicht triumphierende Miene zur Schau trug; der Grund war sie selbst, ihr Verrat an Luke. Aber hätte sie eine andere Wahl gehabt?
»Alles in Ordnung?«, fragte Liz, als Caro ins Zimmer zurückkam und die Tür hinter sich schloss. »Klar, wieso nicht?« Liz zuckte mit den Achseln. »Weiß nicht. Ich dachte bloß, du bist irgendwie so… angespannt.« »Oh, es liegt an… an diesem ganzen Zeug hier!« Caro deutete zum Schreibtisch hinüber, wo sich das Papier stapelte, auf die Ordner, die aus ihrer Tasche herausguckten, auf den Stundenplan, der drohend von der Wand herunterstarrte. »O ja! O Gott, es ist alles so schrecklich!«, rief Liz. »Weißt du, dass mir morgens beim Aufwachen richtig schlecht wird, wenn ich an die Prüfung denke?« »Es sind doch nur noch vier Wochen«, sagte Caro und ließ sich auf das Bett sinken. »Dann ist alles vorbei.« »Sag das bloß nicht! Ich werde nie und nimmer fertig mit der ganzen Lernerei, die Zeit reicht einfach nicht.« Liz setzte sich neben Caro aufs Bett. »Findest du nicht auch, dass es ist, als sei man mitten im Krieg? Man sitzt einfach nur da und wartet darauf, dass die Bomben fallen.« Ihre Stimme schlug in Gejammer um. »Und wir haben nicht mal einen Bunker!« Caro nickte, obwohl sie eigentlich kaum zuhörte. Sie lauschte auf die Geräusche von unten, wo Luke jeden Moment eintreffen musste, und betete, dass Liz nichts davon merken
würde. Ihr Zimmer lag nach hinten raus; von hier aus konnte man die Klingel unmöglich hören, beruhigte sie sich selbst, auch kein Klopfen oder Stimmen an der Haustür. Trotzdem sprang sie auf, um das Radio anzuschalten, und wie mächtige Herztöne, lauter und lauter, begann die Musik durch das kleine Zimmer zu bummern.
Dornenzimmer
Wie hübsch, dachte Naomi, als sie die Katalogseite umblätterte und das Foto mit dem tiefblauen Pullover entdeckte. Das war genau das Richtige für Luke. Sie legte den Katalog nach unten auf den Teppich und holte die Papierpuppen aus ihrer Schachtel. Es waren keine, wie man sie in den Läden kaufen konnte, keine Cindys oder Barbies, die schon fix und fertig mit ihren Kleidern und Schuhen und Perücken geliefert wurden, sodass man gar nichts für sie suchen musste und sich auch keine echten Geschichten auszudenken brauchte, weil die Puppen total falsch aussahen. Naomis Puppen waren selbst gemacht. Sie hatte die Umrisse der Figuren auf dicke weiße Pappe gemalt und sie dann mit ihrer rosaroten Plastik-Kindergartenschere ausgeschnitten, ganz langsam, immer der Linie nach. Eigentlich hatte sie eine richtige Schere dazu benutzen wollen, eine glänzende, silberne, aber Ma war der Meinung, dafür sei sie noch zu klein. Naomis große Schwester Molly fand, dass die Papierpuppen alle gleich aussahen – wie Pfefferkuchenmänner, witzelte sie. Aber das lag bloß daran, dass Molly nicht richtig hinguckte. Deswegen hatte sie nicht bemerkt, dass ihre Haare und die Gesichter völlig unterschiedlich waren. Die Puppe, die Luke darstellte, hatte zum Beispiel strähniges, braunes Haar und lange Wimpern, deren Braun ein wenig dunkler war. Und Mas Haare fielen in einer leichten Kurve bis hinab auf die Schultern, genau wie in Wirklichkeit. Und der Puppenvater hatte dichte, buschige Augenbrauen, genau wie Dad. »Und das bist du«, hatte Naomi Molly erklärt und die Puppe mit den kleinen braunen Sommersprossen auf der Nase hochgehalten.
Aber alles, was Molly erwiderte, war »Phh!«, und dann war sie davonstolziert. Naomi legte die Puppen schön der Reihe nach auf den Teppich, dann nahm sie den Katalog wieder auf den Schoß, griff nach der rosaroten Schere und begann vorsichtig den einen Ärmel des blauen Pullovers auszuschneiden, dann noch vorsichtiger am Kragen entlang – das war der schwerste Teil – und dann ganz ruhig den zweiten Ärmel hinunter und einmal ganz herum. Der Pullover löste sich und einen Moment lang hielt sie ihn hoch und betrachtete das glänzende, tiefe Dunkelblau. Dann legte sie ihn neben die Luke-Puppe und begann mit ihrer Geschichte: Sie selbst kam gerade mit Ma vom Kindergarten nach Hause und rannte voraus den Gartenweg hinauf und dort stand Luke in seinem knallblauen Pullover und erwartete sie schon vorne auf der Veranda, obwohl es erst Nachmittag war. Er eilte die Stufen hinunter und sein Gesicht strahlte diese Freude aus, an der man merkte, dass er fantastische Neuigkeiten hatte. »Ich habe die Prüfung geschafft!«, schrie er. »Ich hab das beste Ergebnis von ganz Australien!« Und da tauchte Dad auf, lächelnd vor lauter Begeisterung, und er sprach sogar mit Luke, er unterhielt sich mit ihm, so wie früher. »Wir machen ein Fest!«, sagte er. »Ein Picknick!«, rief Ma. Naomi griff nach der kleinen Schachtel, in der sie das Puppenessen aufbewahrte. Sie kippte sie aus und der Inhalt purzelte auf den Teppich: glänzende Brathähnchen und Glitzerfische, ein fettes Schwein mit einem Apfel im Maul, Karotten, Tomaten, Backkartoffeln, grüne Erbsen, alle möglichen Torten, mit Sahne und Schokolade und buntem Zuckerguss, allesamt aus Papier ausgeschnitten. Aber genau in diesem Moment kam Ma ins Zimmer. »Naomi«, fing sie an und dann sagte sie »Oh!« und bückte
sich, um eine lange Papierschlange zu entheddern, die sich um ihren Absatz gewickelt hatte. »Naomi«, begann sie aufs Neue, während sie sich aufrichtete und die Papierschlange in ihrer Hand zusammenknüllte, »ich möchte, dass du diesen Kram hier wegräumst, und zwar sofort. In ein paar Minuten können wir essen.« Naomi warf einen raschen, besorgten Blick zum Fenster. Inzwischen war es draußen dunkel, fast schon Nacht. »Aber Lukie ist doch noch nicht zu Hause«, sagte sie leise. »Wir können nicht länger auf Luke warten«, erwiderte ihre Mutter und sie ging zum Fenster hinüber und riss die Vorhänge zu. Es gab ein hartes, kratzendes Geräusch. »Wo ist er?«, fragte Naomi. »Wo ist Lukie?« Wie so oft antwortete ihre Mutter nicht. Naomi hasste das. »Wo ist er?«, wiederholte sie. Ma drehte sich nach ihr um, aber sie sagte bloß: »Nun beeil dich, Naomi, bitte. Räum die Sachen weg und trag die Schachtel in dein Zimmer. Ich versteh sowieso nicht, warum du nicht oben damit spielst, anstatt hier im Wohnzimmer Unordnung zu machen.« »Mir gefällt es hier«, flüsterte Naomi. Vorsichtig legte sie die Puppen in ihre Schachtel zurück. Sie war nicht gerne oben in ihrem Zimmer, wenn Lukie so spät nach Hause kam. Denn dann veränderte es sich: Es wurde kleiner und die Möbel begannen zu wachsen und bekamen scharfe Ecken und Kanten, als ob auch das Bett und der Stuhl und der Schreibtisch und die Kommode allesamt auf ihn warteten, als ob sie sich fragten: »Wo ist Lukie?« Immer und immer wieder.
Als Naomi die Schachtel weggeräumt hatte, schlich sie sich leise den Flur entlang zum Zimmer ihres Bruders. Er würde
nicht da sein, das wusste sie, aber sie musste einfach trotzdem hineingehen und nachsehen. Lukies Zimmer war nicht so unordentlich wie das von Molly, wo Kleider und Schuhe und Becher und Teller und Zeitschriften über den ganzen Fußboden verstreut lagen. Ma hatte verkündet, dass sie Mollys Zimmer nicht mehr sauber machen würde, und Molly hatte geschrien: »Gut! Das will ich auch gar nicht!« Lukies Zimmer dagegen war aufgeräumt, wie ein Raum, in dem gar keiner wohnte. Alles war ordentlich weggeräumt, als besäße er überhaupt keine Sachen außer den Büchern, den Unterlagen auf dem Schreibtisch und den zusammengeknüllten Zetteln im Papierkorb. Die Luft hier drin fühlte sich merkwürdig an, wie… wie voller Dornen. Naomi zitterte. Die Tür vom Kleiderschrank stand einen Spalt breit offen und sie schlich sich auf Zehenspitzen heran, um einen Blick hineinzuwerfen. Gleich an der Innenseite der Tür hing der blaue Blazer mit der Goldtasche, den Lukie an der anderen Schule getragen hatte, darunter die blaue lange Hose. Naomi war noch klein gewesen, als Lukie auf diese Schule ging. Sie streckte die Hand nach dem Stoff aus und die Bügel begannen zu klappern, kaum hörbar, wie Stimmen von Gespenstern, die sich leise unterhielten. Ihre Finger zuckten zurück. Sie schloss die Schranktür. »Naomi!« Ma rief nach ihr. Hastig schlüpfte Naomi aus dem Zimmer und rannte den Flur hinunter. Auf der Hälfte der Treppe blieb sie für einen Moment an dem kleinen, runden Fenster stehen und warf einen Blick hinaus. Inzwischen war es richtige Nacht. Die dunkle Straße war menschenleer und die Gartentore entlang dem Gehweg waren geschlossen, jetzt, wo jeder sicher in seinem Haus saß. Naomi hatte die Pforten selbst zugemacht, hatte sich, als Ma gerade oben gewesen war, zur Haustür
hinausgeschlichen, um schnell die eine Seite der Straße hinaufund die andere hinunterzurennen und dabei alle Pforten zuzuziehen, so wie sie es immer tat, wenn sich Lukie abends verspätete. Denn wenn sie nicht alle geschlossen waren, wenn sie nur eine einzige von ihnen offen ließ, auch nur einen winzigen Spaltbreit, den allerklitzekleinsten, dann konnte etwas Schlimmes… »Naomi!« Sie rannte die Treppe hinunter.
Als Vorspeise gab es Tomatensuppe. »Wo ist Lukie?«, fragte Naomi wieder, aber niemand antwortete. Beim ersten Löffel war Naomi sich sicher, absolut sicher, dass Lukie wieder da sein würde, bevor sie mit der Suppe fertig war, dass er dort am anderen Ende des Tisches auf seinem Platz sitzen würde, wo der Teller und das Glas und das Messer und die Gabel und der Löffel für ihn gedeckt waren. Sie lauschte auf das Geräusch seiner Schritte auf dem Gartenweg, auf der Treppe und der Veranda, auf das laute Zuschlagen der Tür und das Plumpsen seiner Schultasche auf den Dielenboden. Sie lauschte so angestrengt, dass ihr die Ohren wehtaten, aber als sie die Suppe aufgegessen hatte, war Lukie noch immer nicht zu Hause. Ihre Mutter trug das dampfende Brathähnchen in der großen grünen Kasserolle herein; sie lud Naomi einen Flügel und ein Stück Brust mit rotbrauner Bratensoße auf den Teller. Alle ließen die Köpfe hängen und aßen. Niemand redete von Lukie. Niemand sagte, dass er zu spät kam, oder fragte die anderen, wo er bloß steckte, obwohl es draußen Nacht war und er sonst nie so spät nach Hause kam. Naomi fürchtete sich, seinen Namen erneut auszusprechen, aber als die Uhr in der Diele sieben schlug, musste sie einfach fragen.
»Wo ist Lukie?« Ihre Mutter runzelte die Stirn. Ohne von ihrem Teller aufzublicken, sagte sie: »Könntest du bitte endlich damit aufhören, Naomi.« Aber nach einer Weile legte sie die Gabel beiseite und ihre Stimme klang nun sanfter: »Luke hat sehr viel zu tun, Liebes: Bestimmt sitzt er noch in der Bibliothek.« Von Molly war ein gedämpftes Schnauben zu hören. »In der Bibliothek!«, wiederholte sie und verdrehte die Augen. »Molly, es reicht!« Mas Blick schoss zur Seite, hinüber zu Dad und dann wieder zurück. Dad mochte es nicht, wenn man von Lukie sprach. Dann kam der Nachtisch. Bratapfel mit Streuseln, und schon der erste kleine Löffel davon fühlte sich trocken und kratzig an in Naomis Hals. Sie musste ein ganzes Glas Milch trinken, bevor der Apfel runterging, und ihr Geschlucke war so laut, dass es den ganzen Raum zu füllen schien. Jemand berührte sie am Arm und sie sah Mollys große grüne Augen, die zu ihr hinunterblickten. »Mach dir keine Sorgen um Luke«, flüsterte Molly. »Es geht ihm gut. Er ist jetzt ein großer Junge, er kann auf sich selber aufpassen.« Naomi griff nach ihrem Löffel und diesmal blieb der Streuselapfel nicht so schlimm in ihrem Hals stecken. Draußen begann es zu regnen. Erste riesige Tropfen klopften und klapperten auf dem Blechdach der Veranda, wie Steine, die aus dem Himmel fielen, und Sekunden später begann der Regen richtig niederzuprasseln, ein dumpfes, tiefes Brausen, wie ein rauschender Fluss bei Überschwemmung. Dad legte seinen Löffel beiseite und rieb die Hände aneinander. »Brrr, das ist vielleicht eine Nacht!«, sagte er und lächelte in die Runde. »Da jagt man ja keinen Hund vor die Tür!« Naomi sprang auf und rannte zum Fenster. Wenn es regnete, kam man nach Hause. Dann sollte man nicht vor der Tür sein,
wie Dad gesagt hatte. Im Licht der Straßenlaternen sah sie, wie die Regentropfen fielen, gerade, deutlich erkennbare Linien, wie eine ganze Armee silberner Soldaten, die die Straße entlangmarschierten. Sie schloss die Augen und drückte die Lippen an die Fensterscheibe. »Wo ist Lukie?«, flüsterte sie, aber sehr, sehr leise, damit die anderen es nicht hörten und böse wurden, und ihr warmer Atem malte einen Kreis aus Dampf auf das Glas.
Unterwegs
Nach seiner Sitzung mit Stringer und einer merkwürdig verschwommenen Zeitspanne, die wohl die Bio-Doppelstunde gewesen sein musste, fand sich Luke draußen am Schultor wieder. Von Caro, die manchmal hier auf ihn wartete, war nichts zu sehen. Weit und breit keine Spur. Seine Füße gingen einfach los. Er lief kreuz und quer durch den Vorort: die Jolimont Road hinunter und an den Tennisplätzen vorbei, die Ferndale Avenue entlang, um die Ecke, vorbei an der Grundschule, dann den Amhurst Drive hinauf und durch das Einkaufszentrum. Vor der Post hingen zwei Schüler aus der Siebten herum. Als Luke vorüberging, grinsten sie und stießen sich an. »Der bekloppte Leman!«, kicherten sie, aber Luke hörte es nicht und er bemerkte auch nicht, wie es zu regnen begann und wie bald darauf die Sonne wieder durch die Wolken brach. Gedanken gingen ihm durch den Kopf, erst langsam, dann immer schneller und schneller, wie ein Karussell, ein Kreisel, dessen wahnwitziges Gedrehe ihm die Sicht auf die Außenwelt nahm. Meinte Stringer es ernst mit dem Schulverweis? Und wenn sie ihn wirklich hinauswarfen, könnte er trotzdem noch einen Abschluss machen? Seine Eltern… Mrs Lewis… Bei dem Gedanken an sie beschleunigte sich sein Gang. Er wollte nicht zu Mrs Lewis. Sie erzählte persönliche Dinge weiter, sie rief bei Eltern an und setzte in der Schule Gerüchte in Umlauf. Caro hatte ihm alles über sie erzählt; ihre beste
Freundin Liz war damals in der achten Klasse zu Mrs Lewis gegangen. Zu jung, um es besser zu wissen, sagte sie heute. Sie hatte befürchtet schwanger zu sein und zu viel Angst gehabt, es ihren Eltern zu sagen. Und Mrs Lewis war sehr freundlich gewesen. Sie beruhigte Liz und rief nicht bei ihren Eltern an, sie erklärte ihr, wo sie einen Schwangerschaftstest bekam, und schließlich hatte Liz festgestellt, dass sie doch nicht schwanger war. Sie hatte geglaubt, damit sei die ganze Sache erledigt, aber eine Woche später, als sie mit ein paar anderen Schülern vor der Kantine stand, war Mrs Lewis vorbeigegangen. Und Mrs Lewis hatte Liz zugerufen, tatsächlich gerufen, mit lauter, gut hörbarer Stimme, sodass sogar die Mütter hinter dem Tresen, die Wurstpasteten und Donuts austeilten, alles mitbekamen: »Hast du deine Periode schon gekriegt, mein Kind?« Und dann gab es noch diese Geschichte mit Jennifer Brady, einem Mädchen aus der Zehnten, die letztes Jahr bei Mrs Lewis gewesen war. Ein paar Wochen später verbreitete sich in der Schule plötzlich das Gerücht, Jennifer sei schizophren. Nicht viele an der Glendale-Schule wussten, was dieses Wort überhaupt bedeutete, aber die Schüler begannen sich zuzuflüstern, Jennifer bilde sich ein, Stimmen von Engeln und Teufeln zu hören, und dass ihre Eltern jedes Mal Angst hätten, wenn sie ins Bad ging und die Tür hinter sich abschloss. Jennifer Brady hatte die Schule ganz plötzlich verlassen und niemand wusste, was aus ihr geworden war. Vielleicht hatte sie ja nur die Schule gewechselt, hoffte Luke, und ging jetzt auf eine gute Schule wie die St. Catherine, wo Molly war. Dort merkte man gleich, wenn man zur Tür hereinkam, dass eine angenehme Atmosphäre herrschte. Man sah es den Gesichtern der Schüler und auch der Lehrer an, man hörte es an ihren Stimmen und spürte es an der Luft, die man einatmete. Ja, vielleicht war es ja das, was aus Jennifer Brady
geworden war, und an der St. Catherine gab es sicher auch einen guten Schulpsychologen, jemanden wie Mr Erlinger an der Riversdale-Schule, auf die Luke früher gegangen war. Lukes Freund Danny Pearson war nach der Scheidung seiner Eltern bei Mr Erlinger gewesen und er sagte, Mr Erlinger hätte ihm sehr geholfen. Mrs Lewis war nicht wie Mr Erlinger. Kaum ein Schüler der älteren Jahrgänge vertraute sich ihr an, es sei denn, man war vollkommen verzweifelt oder wurde gezwungen, so wie Luke von Mr Stringer. Denn das war die Kernaussage von Stringers Forderung gewesen, begriff Luke plötzlich: Entweder er ging zur Vertrauenslehrerin oder man verwies ihn sofort von der Schule. Das hatte Stringer mit seiner »letzten Chance« gemeint. Der Termin bei Mrs Lewis war sein Teil des Kuhhandels, aber wenn er hinging, würde Stringer sich dann an seinen Teil halten? Lukes Füße blieben stehen. Er befand sich in der Birkwood Street, direkt vor Caros Haus. Caroline war der einzige Mensch an der Glendale-Schule, mit dem er befreundet war. Letztes Jahr hatte er es geschafft, sich mit einem Jungen namens Artie Symons anzufreunden, aber Artie hatte den Highschool-Abschluss gemacht und das Studium begonnen, während Luke die Prüfung nicht schaffte und die zwölfte Klasse wiederholen musste. Seit zwei Monaten ging er nun mit Caro; sie hatten sich durch ihre Mitarbeit an der Schülerzeitung kennen gelernt. Er stieß die Pforte auf und rannte auf die Tür mit der kleinen Veranda zu, aber als er die Hand hob um zu klingeln, hielt er plötzlich inne und ließ den Arm sinken. Es war nach vier und Caroline würde mit Sicherheit gerade lernen. Sie war fest entschlossen, nächstes Jahr Tiermedizin zu studieren; schon als kleines Mädchen hatte sie Tierärztin werden wollen. Im Moment sollte er sie wirklich nicht stören, nicht, wenn sie
gerade am Arbeiten war. Er schwor sich, bloß ein paar Minuten zu bleiben, nur… Er musste einfach mal kurz mit ihr reden. Er drückte auf die Klingel. Es war nicht Caro, die durch die Diele kam, das wusste er; die Schritte waren zu schwer und die Gestalt, die sich nun undeutlich hinter der Milchglasscheibe abzeichnete, war zu klein und kompakt für Caros schlanke Figur. Es war Mrs Hunter, Caros Mutter. Mrs Hunter öffnete die Fliegengittertür nicht, sondern blieb dahinter stehen und starrte ihn durch den Maschendraht hindurch an, die Augen auf die Stelle seines Pullovers geheftet, wo seit der Biostunde der große hässliche Tintenfleck prangte, weil ihm der Füller ausgelaufen war. Auch seine Hände waren voller Tinte. »Oh, du bist es, Luke«, sagte sie. »Ich nehme an, du willst zu Caroline.« Luke nickte und lächelte sie an, obgleich er Mrs Hunter nicht mochte und wusste, dass sie nicht begeistert war, wenn er mit Caro loszog. Sie erwiderte sein Lächeln nicht. »Tut mir Leid, Caroline ist nicht da. Sie ist bei einer Freundin, zum Lernen. Sie wird erst spät zu Hause sein.« »Ist sie bei Liz?« »Wirklich, ich weiß es nicht.« Mrs Hunter hob eine Hand, um eine verirrte Haarsträhne zurechtzuzupfen. »Caroline hat doch so viele Freundinnen. Da verliert man leicht den Überblick.« Luke nickte wieder. Er zog seine Schultasche ein Stück höher und Mrs Hunter begann sie nun ebenfalls zu fixieren, mit zusammengekniffenen Augen schien sie durch den schmutzigen Segeltuchstoff hindurch geradewegs auf die blaue Mappe mit den Eselsohren zu starren, als ahne sie irgendwie, dass er mit seiner Arbeit noch nicht mal richtig angefangen hatte.
»Ich sage ihr, dass du da warst.« Sie drückte einen Schalter neben der Tür und die Lampe der kleinen Veranda ging an und überflutete ihn mit strahlendem Licht. »Es wird schon dunkel«, seufzte Mrs Hunter. »Besser, du gehst schnell nach Hause, mein Lieber.« Der nächste Satz glitt auf ihn zu wie eine Schlange. »Du hast sicher noch wahnsinnig viel für die Prüfung zu lernen.« Als Luke die Gartenpforte schloss, sah er Licht in Caros Fenster an der seitlichen Hauswand. Er schob den Gedanken beiseite, sie könne vielleicht doch in ihrem Zimmer sein, und lief eilig die Straße hinunter, zurück durch das Einkaufszentrum, unter der Bahnbrücke durch, den Amhurst Drive entlang Richtung Highway. Sein Haus lag nun nicht mehr weit entfernt, weniger als einen halben Block, aber er wollte einfach noch nicht zurück. An diesem Morgen hatte er sich vorgenommen, nach der Schule direkt nach Hause zu gehen und vor dem Abendessen ein paar Stunden zu arbeiten. Aber nun… Nun hatte er einfach keine Lust. Nein, es war schlimmer als das, fast so, als könne er nicht, als wollten seine Füße ihn nicht nach Hause tragen. Allein schon der Gedanke an sein Zimmer, an seinen Schreibtisch, die Vorstellung, seine Schultasche zu öffnen und die blaue Mappe herauszuholen… Er lief weiter, den Hang hinauf zu dem kleinen Park, wo Ma manchmal mit Naomi zum Spielen hinging. Am Eingang kam er an einer älteren Dame mit Hund vorbei, die mit leichter, fröhlicher Stimme »Gleich regnet es wieder!« sagte wie ein Kind und Luke dabei anlächelte, als könne sie überhaupt nichts Ungewöhnliches an ihm finden, als sei er nichts weiter als ein ganz gewöhnlicher Junge, der gerade von der Schule nach Hause ging und ganz gewöhnliche Gedanken im Kopf hatte. Er folgte dem schmalen Pfad zwischen den Bäumen hindurch zum Spielplatz, setzte sich auf eine der Schaukeln und zog die
langen Beine ein. Luke mochte diesen kleinen Park auf dem Berg, ein ruhiger und friedlicher Ort, so hoch über der Vorstadt gelegen, dass man bei Tageslicht meilenweit sehen konnte – über die endlosen Flächen aus Dächern und Baumkronen hinweg zu den glänzenden Hochhäusern und Türmen des Stadtkerns in der Ferne, jetzt, bei Einbruch der Dunkelheit, wurde all dies zu einem Meer aus funkelnden Lichtern, und hoch darüber schaukelte Luke, während ihm quälende Gedanken im Kopf herumschwirrten. Konnte man wirklich von der Schule fliegen, weil man in einer Laube gesessen hatte? Selbst wenn diese Laube fremdes Eigentum war? Es kam ihm so belanglos vor, aber Luke wusste, dass es Menschen gab – und Stringer gehörte mit Sicherheit dazu –, die Belanglosigkeiten so lange drehten und wendeten, bis sie wie durch eine Art Magie etwas Riesiges, Falsches oder sogar Kriminelles daraus gemacht hatten. Von der Riversdale war er geflogen, weil er sich den Kopf rasiert hatte. Es war ebenfalls belanglos gewesen und zudem ziemlich dumm; heute begriff er das, damals mit vierzehn noch nicht. Und das Dümmste daran war, dass er nicht mal einen Grund gehabt hatte. Er hatte es weder getan, um eine neue Mode zu kreieren, noch um cool auszusehen oder aus dem Rahmen zu fallen. Es war nicht mal als Protest gemeint gewesen. Er war einfach nur an einem Montagmorgen aufgewacht und der Anblick seiner ordentlich über dem Stuhl hängenden Schuluniform – das vorschriftsmäßige Hemd mit Blazer, Hosen, Krawatte, Socken und Schuhen, sogar vorschriftsmäßige Unterwäsche – hatte ihm plötzlich ganz seltsam die Kehle zugeschnürt, als sei alle Luft aus seinem Zimmer gewichen. Statt das Fenster zu öffnen war Luke ins Bad gegangen und hatte sich die Haare abrasiert.
Sie hätten ihn vom Unterricht ausschließen können, bis die Haare wieder nachgewachsen waren – das hatte Ma damals gesagt und sogar Dad war derselben Ansicht gewesen. Und wenn Mr Erlinger zu diesem Zeitpunkt nicht gerade in Urlaub gewesen wäre, hätte er dafür gekämpft, ihn an der Schule zu behalten, das wusste Luke. Aber Mr Erlinger war verreist und Riversdale entpuppte sich als gnadenlos. »Untragbar« hatte der Rektor in seinem Bericht vermerkt und bis heute überkam Luke ein Gefühl, den Kopf einziehen zu müssen, wenn er das Wort hörte oder es in einem Buch oder einer Zeitschrift gedruckt sah. Der Grund für seinen Rausschmiss bei St. Crispin’s war nicht so banal gewesen. Auf dem Bahnhof von Wood Hill hatte Luke vor den Augen einer größeren Menschenmenge, ein paar Kindern und Lehrern von anderen Privatschulen, den alten Chemielehrer Dr. Gosser angeschrien, er sei krank und nicht ganz dicht. »Sie sind hier derjenige, der die Schule in Verruf bringt!«, hatte er gebrüllt. Wenigstens gab es dafür einen Grund. Die St.-Crispin’sSchule lag ganz in der Nähe des Bahnhofs und Gosser hatte es sich zur Aufgabe gemacht, nach Schulschluss dort auf dem Bahnsteig zu patrouillieren, um nach Jungen Ausschau zu halten, die »dem Ansehen der Schule schadeten«, indem sie rauchten, fluchten oder herumalberten. Oder die – wie Gosser sich ausdrückte – zumindest so aussahen, als hätten sie es vor. Er sprach einzelne Jungen sogar an, hob seinen zusammengerollten Regenschirm wie einen Knochen, zeigte auf jemanden und brüllte los: »Du kommst morgen früh mal als Erstes in mein Büro!« Jeder wusste, was das bedeutete: Innerhalb von St. Crispin’s Schulmauern benutzte Gosser den Rohrstock. Auf dem Bahnhof verhielten sich die Schüler ruhig, aber sobald der Zug losfuhr, drehten sie völlig durch, begannen zu
kreischen, zu schreien und die Gänge in den Waggons hinunterzurennen. Sie schubsten, rempelten, boxten und fielen übereinander her wie eine Horde höllischer Dämonen. An jenem Nachmittag, Lukes letztem Tag an der St. Crispin’s, hatten zwei Jungen aus der Zehnten, die gerade von Gosser in sein Büro bestellt worden waren, im Zug einen kleinen Jungen aus der Siebten gepackt und seinen Arm zwischen die zuschnappenden Zugtüren gehalten. »Jetzt wird dir der Arm abgehackt!«, johlten sie und der kleine Junge, dem vor Angst die Augen hervortraten und Schweißtropfen wie Tränen über die Wange liefen, hatte ihnen aufs Wort geglaubt. Als die Türen wieder zurücksprangen und sein Arm frei war, sank er zu Boden und übergab sich auf seine Schuhe. Er flennte die ganze Strecke bis nach Carlingford und wahrscheinlich noch viel länger, aber in Carlingford war Luke ausgestiegen. Er rannte die Stufen hinauf, über die Brücke hinüber auf den gegenüberliegenden Bahnsteig und nahm den nächsten Zug zurück nach Wood Hill, wo Gosser immer noch den Bahnsteig unsicher machte. Was diesem kleinen Jungen passiert war, daran war Gosser schuld, als hätte er selbst ihn gepackt und seinen Arm zwischen die Türen gehalten. So jedenfalls sah es Luke. Gosser jagte den Schülern solche Angst ein, dass sie ihre Wut bei der nächsten sich bietenden Gelegenheit an Schwächeren ausließen. Und das machte Luke wütend, so wütend, dass er direkt zu Gosser hinging und ihm sagte, wie mies er war. Er fand noch immer, dass es richtig gewesen war. Die St. Crispin’s-Schule allerdings war anderer Meinung gewesen und Lukes Vater natürlich auch. »Denk doch nach, bevor du handelst!«, hatte er gebrüllt. »Du ruinierst dir dein ganzes Leben!« Ob man sich im Recht fühlte, sei ganz egal, meinte er. Was in der Schülerakte stand, darauf kam es an, denn das war es, was die Leute von einem zu sehen bekamen, und in Lukes
Fall war dies nun ein Verweis von einer der besten Schulen wegen »groben Ungehorsams«. Mit Gefühlen komme man in der Welt nicht weiter, hatte Dad ihn gewarnt. Man bestand keine Prüfungen und schaffte es nicht bis zur Uni und ins Berufsleben. Man landete höchstens auf der Müllkippe. In dem kleinen Park oben auf dem Berg schaukelte Luke nun langsamer, ließ die Spitzen seiner Turnschuhe über die feuchten Sägespäne schleifen, die unter den Schaukeln lagen. Wenn Stringer ihn wirklich hinauswarf, was würde Dad dann tun? Er würde ihn sicher nicht anbrüllen, denn seit dem Halbjahrszeugnis hatte Dad aufgehört, mit ihm zu sprechen. Er sprach nie mit Luke, sagte nicht mal »Hallo« oder »Reich mir mal das Salz«, wenn sie zu Abend aßen. Dad tat, als wäre Luke überhaupt nicht anwesend. Das löste ein merkwürdiges Gefühl von Unwirklichkeit in ihm aus, fast als verhielte es sich tatsächlich so. Es veränderte seinen Gang, wenn er sich im Haus aufhielt, ließ ihn vorsichtige Schritte machen, als habe er kein Recht, dort zu sein. Vielleicht würde er ziemlich bald wirklich nicht mehr dort sein. Wenn Stringer ihn hinauswarf, dann tat Dad es vielleicht auch. Schon möglich. Bisweilen, beim Abendessen oder wenn sie alle zusammen vor dem Fernseher saßen, fühlte er, dass sein Vater ihn ansah, spürte seine Blicke. In solchen Momenten senkte Luke den Kopf, wagte es nicht hochzuschauen, aus Angst davor, Dads Enttäuschung zu sehen. Wieder fing es an zu regnen. Luke sprang von der Schaukel, griff nach seiner Schultasche und machte sich auf den Weg, zurück durch den Park. Inzwischen war es spät und richtig dunkel. Durch das Geäst der Bäume sah er den Schein der Straßenlaternen drüben auf der Hillcrest Avenue. Er musste wer weiß wie lange auf der Schaukel gesessen haben. Der Regen wurde stärker. Luke begann zu rennen.
Als er in seine Straße einbog, kam ihm der Gedanke, Stringer könne bei ihm zu Hause angerufen haben – vielleicht wussten Ma und Dad schon längst Bescheid und warteten auf ihn. Als er den Gartenweg entlanglief, flog die Haustür auf und sein Herz machte einen Satz, aber es war nur seine kleine Schwester. »Lukie!«, rief sie. »Lukie!« Er stürmte die Stufen hinauf, schloss Naomi in die Arme und wirbelte sie im Kreis herum, wieder und wieder. »Na, wie geht es meiner Sternenprinzessin heute?«, rief er. »Wie gehts dir, Prinzessin?« Über ihren Kopf hinweg konnte er sehen, dass die Diele leer war. Ma wartete nicht auf ihn. Kein Dad, der schweigend hinter ihr stand. Stringer hatte also nicht angerufen.
Nächtliches Telefonat
Lukes Mutter konnte nicht schlafen. Margaret war schon vor elf zu Bett gegangen und hatte sich eine halbe Stunde lang unruhig hin und her gewälzt. Manchmal lag sie auch nur still da und lauschte auf die Tür zu Lukes Zimmer. Ob sie geöffnet wurde, auf Schritte im Flur, irgendein Zeichen, dass er noch wach war und am Lernen. Er brauchte es nötiger denn je. Seine Noten im Halbjahrszeugnis waren so schlecht gewesen, dass er bei der Abschlussprüfung ohne weiteres wieder durchfallen konnte. Sie verstand es einfach nicht; er war ein so aufgewecktes Kind gewesen – was war nur schief gelaufen? Warum… Sie seufzte laut, in der Hoffnung, Dan würde aufwachen und sie könnten dort nebeneinander liegen und über ihre Kinder sprechen, so wie andere Eltern es taten. Aber irgendwie waren solche normalen kleinen Dinge bei ihnen mit der Zeit unmöglich geworden. Dan sprach einfach nicht mehr über Luke; wenn sie es versuchte, wimmelte er sie jedes Mal ab. Und er sprach auch nicht mehr mit Luke, nicht ein einziges Wort seit dem letzten Zeugnis. »Er muss jetzt sehen, wie er alleine zurechtkommt«, hatte Dan gesagt. Margaret hielt eine solche Bestrafung für sinnlos; es war grausam, es war… einfach unnatürlich. Das ganze Haus fühlte sich eigenartig und fremd an; oft stellte sie fest, dass sie auf Zehenspitzen umherschlich. Margaret warf die Decke zurück. Es hatte keinen Sinn, hier wach zu liegen, immer und immer wieder über die alten Dinge nachzudenken. Sie ging besser hinunter und machte sich eine Tasse Tee.
Groß und gemessenen Schrittes schwebte Margaret in ihrem langen blauen Morgenmantel durch das Haus, aber im Flur vor der Küche verfing sich ihr Fuß plötzlich wie in einer Schlinge. Sie verlor das Gleichgewicht und stieß gegen die Wand. Margaret sah nach unten. Wenige Zentimeter über dem Fußboden verlief das Telefonkabel, gespannt wie ein Stolperstrick, von der Dose in der Fußleiste hinüber zu Mollys Zimmer. Die Tür war geschlossen. Margaret warf einen prüfenden Blick auf den schmalen Spalt am Boden. Auf der einen Seite schimmerte Licht hindurch, der Rest war abgedunkelt. Dieser Schatten musste Molly sein, die dort unten neben dem entführten Telefon kauerte. Durch die Stille des Hauses hörte Margaret die leise, zuckersüße Stimme ihrer Tochter – innerhalb der Familie schlug sie einen ganz anderen Ton an. »Oh!«, sagte Molly gerade. »Oh, das habe ich doch nie und nimmer gesagt!« Sie lachte auf, ein Ausdruck purer Freude, wie das unbekümmerte Bimmeln kleiner Goldglöckchen. »Nein, hab ich nicht!« Margaret tappte weiter Richtung Küche. Schließlich gehörte es sich nicht, seine eigenen Kinder zu belauschen, oder? Warum mussten sie denn immer so viele Geheimnisse haben? Warum erzählten sie ihr nicht mehr alles, so wie früher, als sie noch klein gewesen waren? Wo ging Luke zum Beispiel abends immer hin, wenn er erst so spät nach Hause kam? Saß er in der Bibliothek und arbeitete? War er bei einem Mitschüler, um dort zu lernen? Tat er überhaupt etwas für seine Prüfung? Und wenn er es nun auch dieses Mal nicht schaffte? Was sollte er dann bloß tun? Margaret knipste das Licht an und stand einen Moment lang blinzelnd im grellen Schein der Küchenlampe. In ihrem Kopf brodelte es wie in einem kochend heißen Hexenkessel. »Schluss jetzt«, ermahnte sie sich streng. Es hatte keinen Sinn, sich solche Sorgen zu
machen, sich derartig aufzureiben. Im Moment gab es nichts, was sie für Luke hätte tun können. Mit Molly war es etwas anderes. Margaret nahm den Kessel vom Herd und trug ihn hinüber zum Spülbecken. Bei Molly konnte sie etwas tun. Sie wusste, mit wem Molly so spät noch telefonierte, nach elf an einem gewöhnlichen Wochentag, obwohl sie am nächsten Morgen zur Schule musste. Molly hatte einen Freund. Dagegen hatte sie eigentlich nichts einzuwenden, ihre Tochter war sechzehn, alt genug, um sich mit Jungen zu verabreden. Molly hatte schon mit vierzehn einen Freund gehabt, einen netten kleinen Jungen namens Brian Gibbon. Sie waren zusammen ins Kino gegangen und hatten bei McDonald’s zu Abend gegessen. Sonntag Nachmittag war Brian immer zu ihnen gekommen und die beiden hatten zusammen in der Küche gesessen, Kuchen und Chips gegessen und Cola getrunken. Aber dieser Freund hier war etwas anderes. Margaret hatte ihn noch nie zu Gesicht bekommen. Warum nicht?, fragte sie sich, während sie den Kessel mit Wasser füllte und ihn krachend auf den Herd zurückstellte. Warum versteckte Molly diesen Freund vor ihr? Sie hatte noch nie etwas über ihn erzählt, nicht ein einziges Mal. Sie hatte ihn noch nie mit nach Hause gebracht und wenn er sie mit dem Wagen abholte, wartete Molly draußen auf der Straße auf ihn. Sogar etwas weiter die Straße hinauf, vor dem Haus der Tibbets, wo der große Eukalyptusbaum alles verdeckte. Für diese Geheimnistuerei konnte es doch nur einen Grund geben: Irgendetwas stimmte mit diesem jungen nicht, etwas, das Molly vor ihnen verbergen wollte. Vielleicht war er ein Skinhead, von oben bis unten tätowiert, oder ein esoterischer Hippy mit irrem Blick und Nadeleinstichen an den Armen. Vielleicht war es gar kein Junge, grübelte Margaret, sondern
ein Mann, so um die dreißig, der Frau und Kinder zu Hause sitzen hatte. Der Teekessel pfiff und Margarets Hand zitterte ein wenig, als sie das kochende Wasser in ihren Becher goss. Sie tauchte den Teebeutel hinein und setzte sich an den Tisch. Bis jetzt hatte sie dieses Thema bei Molly noch nicht angesprochen, denn das war einfach schwierig, wenn man so völlig im Dunkeln tappte, wenn man nicht einmal den Namen der betreffenden Person kannte. Wie sollte sie ein Gespräch über jemanden führen, von dem sie eigentlich gar nichts wissen durfte? Und Molly war in letzter Zeit so aggressiv und wurde bei jeder Kleinigkeit gleich wütend, wie eine zornige große Spinne, die den Eingang zu ihrem Versteck verteidigte. Den ganzen Tag über trug Margaret Mollys Geheimnis mit sich herum, wie einen kleinen, kalten Kiesel in ihrem Herzen, der sich neben Lukes großem Stein breit machte. Aber an diesem Abend – Margaret war fest entschlossen – würde sie die Sache mit Molly besprechen. Sobald Molly den Hörer aufgelegt hatte, würde sie zu ihr hingehen und vorschlagen, dass sie ihren Freund einlud, um ihn der Familie vorzustellen – und zwar mit Nachdruck. Sie würde darauf bestehen. Margaret trank ihren Tee und ließ dabei weitere zehn Minuten verstreichen. Sie trug den Becher zur Spüle und wusch ihn ab, gleich zweimal, ließ sich Zeit, trocknete ihn sorgfältig ab. Dann atmete sie tief ein, straffte die Schultern und ging hinaus in die Diele. Molly telefonierte immer noch. Margaret ging zurück in die Küche und deckte den Tisch für das Frühstück. Sie holte Weetabix und Cornflakes aus dem Schrank, stellte Honig und Marmelade hin, tiefe und flache Teller, Becher, Messer, Gabeln und Löffel. Es dauerte ein ganze Weile, aber als sie
fertig war, tönte Mollys liebreizendes Gemurmel noch immer durch die Tür. »Ich glaube dir nicht!«, gurrte sie. »Nein, nein. Kein Wort!« Wieder ertönte ihr Glöckchenlachen. Es war nach halb zwölf und Margaret wurde müde, aber sie wollte nicht aufgeben, diesmal nicht; sie würde ausharren, egal wie lange Molly brauchte. Man soll das Eisen schmieden, solange es heiß ist, sagte sie sich, schritt durch den Flur hinüber ins Fernsehzimmer, nahm Naomis Kindergartenkittel vom Sofa, kramte ihren Nähkasten hervor und setzte sich hin. Sie konnte sich ebenso gut mit dem zerrissenen Saum beschäftigen, während sie wartete. Zwanzig Minuten später, als sie gerade bei den letzten Stichen war, hörte sie, wie sich Mollys Tür öffnete, Schritte in der Diele, das Krachen, mit dem das Telefon auf den Tisch zurückgestellt wurde. Mollys Schritte entfernten sich, ihre Tür knallte zu. Peng! Das ganze Haus erzitterte, als wohne sie ganz allein hier. Margaret biss sich auf die Lippen. Sie legte den Kittel ordentlich zusammen, verstaute den Nähkasten und ging wieder hinaus in die Diele. Als sie an die Tür ihrer Tochter klopfte, kam keine Antwort. »Molly, ich bin es«, flüsterte sie. »Kann ich einen Moment reinkommen?« Ein gedämpftes Brummen drang durch die Tür. Hieß das ja oder nein? Aber sie hatte in diesem Haus doch auch Rechte, dachte Margaret wütend. Schließlich war es genauso ihr Zuhause, ihre Familie und ihr Leben. Sie drückte die Tür auf. Molly lag im Bett, die Decke bis zum Kinn hochgezogen. »Was willst du?«, fragte sie, als sie ihre Mutter sah. Ihr Tonfall war barsch, abweisend. Wie der eines kleinen Ladenbesitzers, der bereits geschlossen hatte und Feierabend machen wollte. »Ich möchte nur…« Margaret setzte sich auf die Bettkante, vorsichtig, als wisse sie, dass sie eigentlich kein Recht dazu hatte. »Ich möchte nur etwas mit dir bereden, Molly.«
»Und was?« Argwöhnisch blitzten Mollys Augen unter ihren Wimpern hervor. Margaret zupfte einen kleinen Faden von der Steppdecke und rollte ihn zwischen den Fingern. »Es geht um…«, begann sie zögernd und unterbrach sich gleich wieder, verwirrt, weil ihr der Name fehlte, der nun hätte folgen müssen. »Worum?«, fuhr Molly sie an. Ja, worum eigentlich?, dachte Margaret, wütend über Mollys Ton. Plötzlich war ihre Verlegenheit wie weggeblasen. »Molly«, sagte sie schnell, »Liebes, ich fände es wirklich schön, wenn du deinen Freund am Sonntag zum Tee mitbringst und ihn uns vorstellst.« Sie hielt den Atem an. Wahrscheinlich würde Molly nun »Was für einen Freund?« brüllen – und damit würde ihre Auseinandersetzung beginnen. Doch ihre Tochter tat etwas Erstaunliches. Eine ganze Weile sagte sie gar nichts und als sie schließlich zu reden begann, klang ihre Stimme ganz ruhig, mit nur einem leichten Anflug von Spott. »Aber wir wollen doch nicht heiraten!«, erwiderte sie zu Margarets Überraschung. Heiraten? Margaret runzelte die Stirn. In ihrem Kopf gingen sämtliche Alarmglocken los. Warum bloß sollte Molly so etwas sagen? »Heiraten?«, wiederholte sie ängstlich. Molly richtete sich ein wenig auf. »Ja, heiraten. Oder sich verloben. Seinen Freund mit nach Hause bringen und ihn der Familie vorstellen – so was tut man doch nur, wenn man sich verloben will!« Molly hatte den einen Ellbogen auf ihre Kissen gestützt und sah ihre Mutter genervt an. »Ma, heutzutage laden Mädchen ihre Freunde nicht mehr zum Tee ein. Weißt du das denn nicht?« »Nicht? Aber Brian Gibbon hast du damals doch auch mit nach Hause gebracht!«
»Brian Gibbon!«, schnaubte Molly. »Ma, da war ich noch ein Kind. Brian Gibbon, das war Kinderkram!« Ach so?, dachte Margaret. Molly beugte sich vor, ihre Augen funkelten. »Warum willst du eigentlich, dass Lionel unbedingt zum Tee kommt?« Lionel. So hieß er also. Der Name klang schrecklich, fand Margaret. Unheil verkündend. Alt. Ihre Vision eines verheirateten Mannes nahm Gestalt an. »Das hab ich dir doch schon gesagt, Liebling. Einfach, damit wir ihn kennen lernen, weiter nichts.« Molly warf sich in ihre Kissen zurück. »Molly«, begann Margaret, aber ehe sie weitersprechen konnte, fauchte ihre Tochter sie an: »Ich weiß genau, warum du willst, dass er herkommt!« »Warum?« Molly setzte sich kerzengerade auf. Ihr Gesicht war so puterrot angelaufen, dass nur ein Schrei sie erlösen konnte. »Weil du mir nicht vertraust!«, brüllte sie. »Du hast kein Vertrauen zu mir; du glaubst, du müsstest mich die ganze Zeit beaufsichtigen. Du glaubst doch, dass ich alles vermassele. Dass ich mein Leben ruiniere!« Margaret errötete. »Nein, nein«, protestierte sie schwach. »So ist es nicht, Molly – ich glaube ganz bestimmt nicht, dass du dein Leben ruinierst.« Aber es war eine glatte Lüge und Molly wusste es. »Und ob du das tust!« Mollys Stimme wurde zu einem rauen Flüstern. »Du denkst doch, ich bin so wie er?« »Wie er?« Aber noch bevor Molly mit dem Kopf gen Decke deutete, wo Lukes Zimmer lag, wusste Margaret, wen ihre Tochter meinte. »Wie er«, wiederholte Molly. »Luke. Das ist doch alles nur wegen ihm, stimmts? Du denkst, dass ich so bin wie er. Du meinst, dass man mir nicht vertrauen kann. Und dass ich genau
so ein…«, Tränen schossen ihr in die Augen, »… Problem bin!« Problem. Was für ein schreckliches Wort, dachte Margaret, wenn man es auf einen Menschen bezog. Molly liefen die Tränen hinunter. »O nein, das stimmt doch nicht«, rief Margaret hastig. »Das hat überhaupt nichts mit Luke zu tun. Ich finde, du bist kein bisschen wie…« Sie hielt entsetzt inne. Was redete sie denn da? Sie liebte Luke, liebte ihn vielleicht mehr als alle anderen, und nun saß sie hier und hörte sich an, als ob… Nervös sah sie zur Decke hinauf und ließ dann beschämt den Kopf sinken. »Ein hoffnungsloser Fall«, schluchzte Molly, ohne dass Margaret hätte sagen können, ob sie die Worte auf sich selbst oder auf Luke bezog. Margaret legte den Arm um sie, drückte ihr nasses Gesicht in die Falten des alten blauen Morgenmantels. »Wein doch nicht, Liebling«, sagte sie verzweifelt. »Bitte, wein doch nicht!« »Ich kann so viel weinen, wie ich will«, gab Molly mit erstickter Stimme zurück, aber als Margaret ihr zärtlich über den Kopf strich, wurde ihr Schluchzen schwächer; sie ließ sich trösten und legte sich sogar wieder hin, um zu schlafen. Reglos lag sie da, während ihre Mutter sie zudeckte. »Soll ich das Licht ausmachen?«, fragte Margaret schuldbewusst. Sie blieb neben dem Bett stehen. »Ja«, kam Mollys gedämpfte Antwort zwischen den Kissen. Margaret langte nach dem Lichtschalter, doch ihre Hand erstarrte auf halber Höhe, ihre Augen weiteten sich und hefteten sich plötzlich auf das Gesicht ihrer Tochter. Molly sah abends einfach zum Fürchten aus! Wangen und Stirn waren dick mit fettiger Hautcreme bestrichen, einzelne Klümpchen klebten wie fette, weiße Maden in ihren Augenbrauen. Und ihr Haar erst! Es war zu Unmengen von winzigen Rattenschwänzen geflochten, die ihr vom Kopf
abstanden wie Stopfnadeln in einem Kissen. Auf diese Weise erreichte sie, dass es tagsüber locker und luftig nach allen Seiten fiel. Damit sie schön aussah – für diesen Lionel, dachte Margaret. Mollys Augen klappten auf. Sie spürte den Blick ihrer Mutter. »Was ist denn?«, fragte sie. »Was starrst du mich so an?« »Schon gut, Liebling«, sagte Margaret. Sie löschte das Licht. Draußen im Flur lehnte sie sich für einen Moment an die Wand, mit hängenden Schultern, ein Zeichen ihrer Niederlage. Diese Runde hatte sie verloren. Sie hatte etwas über Lionel erfahren wollen, was er tat, ob er noch zur Schule ging, ob er bereits einen Beruf ausübte oder arbeitslos war. Sie hatte herausfinden wollen, wie alt er war. Sie hatte sich vorgenommen, Molly – vorsichtig – zu fragen, warum er sie immer weiter oben an der Straße abholte statt vor ihrer Tür. Und nun wusste Margaret nichts als seinen Namen. Und irgendwie – wie nur? – hatte Molly sie davon abgebracht, auf der Einladung zum Tee zu bestehen. Natürlich, mit Tränen. Durch ihre Tränen hatte Molly sie abgelenkt – und durch dieses schreckliche Gerede über Luke. Noch eine Niederlage. So war es immer. Ihre Kinder waren ihr haushoch überlegen. Margaret hatte sich nie behaupten können, nicht einmal, als sie noch klein gewesen waren. Vor Jahren hatte sie einen Kursus zum Thema »Effektive Erziehung« mitgemacht, aber die dort vermittelten Strategien hatten zu Hause keine Wirkung gezeigt. Luke legte nur den Kopf schief, blickte sie nachdenklich an und fragte: »Ma, was ist denn mit dir los?« »Sie übt für die Armee«, kicherte Molly. Mit ihren zehn Jahren war sie damals ein stämmiges Mädchen, das kein Blatt vor den Mund nahm, selbstbewusst wie Naomi. Luke, im Alter von zwölf, war bereits ziemlich in die Höhe geschossen. »Ja«,
stimmte er zu. »Weißt du was? Ich glaube, sie macht eine Revolution. Einen Aufstand!« Sie sahen sich viel sagend an. »Ma macht einen Aufstand!«, grölten sie und rannten lachend davon. Im Kursus für »Effektive Erziehung« hatte Margaret den anderen Müttern zugehört, die mit glühenden Gesichtern von ihren triumphalen Erfolgen berichteten. Vielleicht war alles nur gelogen gewesen? Margaret ging nach oben. Lukes Zimmer lag ganz am Ende des Korridors, neben ihrem und Dans Schlafzimmer. Sie wusste, dass es schon spät war, weit nach Mitternacht, aber sie hätte es trotzdem lieber gesehen, wenn er lernte. Bis zur Abschlussprüfung waren es nur noch vier Wochen. Monica Sleetons Tochter Amy, die mit Luke im selben Jahrgang war, arbeitete jede Nacht bis eins. Und alle ihre Freundinnen taten dasselbe, hatte Monica erzählt und seufzend hinzugefügt: »Es ist ein Jammer. Sie sind noch so jung, da sollte es so was nicht geben.« Sollte es wirklich nicht, dachte Margaret. Aber es gab solche Dinge, so war es nun mal. Und wenn Luke überhaupt eine Chance hatte, dann… Sie schlich sich an seine Tür und horchte. Drinnen war es totenstill. Ihr Herz schlug und sie wagte kaum den Blick zu senken, um nach dem Türspalt zu sehen. Wenn Licht hindurchschimmerte, bestand zumindest die Möglichkeit, dass er lernte. War alles dunkel, dann hatte er für diesen Abend aufgegeben. Vielleicht gab er ständig auf. Oder er… Hastig sah sie hinunter – und ihre Mundwinkel hoben sich zu einem überraschten Lächeln. Das Licht brannte! »Luke«, rief sie leise. »Bist du am Arbeiten, Liebling?« »Ja.« Seine Stimme klang schroff, abweisend. Sie hörte das leise Geraschel von Papier, Seiten, die umgeblättert wurden. Er war tatsächlich am Lernen!
»Soll ich dir einen heißen Kakao machen? Oder eine Tasse Tee?« »Nein danke. Ich komm schon klar, Ma.« Es war alles in Ordnung. Er lernte. Vielleicht ging es am Ende doch noch gut aus, vielleicht bestand er die Prüfung diesmal. Möglicherweise – wer konnte das wissen – sogar mit einem guten Ergebnis. Und als Margaret die wenigen Schritte zum Schlafzimmer hinüberging, umfing sie plötzlich ein Moment des Friedens, wie eine weiße Taube, deren weiche, warme Flügel sich um ihr Herz schlossen.
Mathematik
Luke hatte tatsächlich gearbeitet. Wenn man es so nennen konnte. Er hatte an seinem Schreibtisch gesessen, die wenigen Notizen für seine Schreibmappe vor sich ausgebreitet, nach einer Idee suchend, die ihn weiter brachte als nur ein paar Zeilen, als eine Zeile, ein paar Wörter, die er hingeschmiert hatte. Hingeschmiert, durchgestrichen, wieder neu geschrieben, mit Kritzeleien wie Albträume, die den Seitenrand von oben bis unten bedeckten. Wenn man es Arbeiten nennen konnte, dann hatte er gearbeitet. Von acht bis zehn hatte er durchgehalten, dann hatte er sich für einen Moment auf sein Bett fallen lassen und der Schlaf hatte ihn übermannt, ein tiefer, traumloser Schlaf, urplötzlich und gewaltsam, wie eine Axt, die vom Himmel fiel. Er erwachte, als seine Mutter an die Tür klopfte. »Luke! Bist du am Arbeiten, Liebling?« Er hatte mit der Stimme eines Meisterschauspielers geantwortet, sein Ja klang geistesabwesend, nur einen Hauch gereizt, als habe sie ihn bei einem wichtigen Gedankengang gestört. Er produzierte sogar Sound-Effekte, langte vom Bett aus über den schmalen Zwischenraum hinüber zum Schreibtisch und raschelte mit den Papieren, als blättere er in seinen Notizen. Es funktionierte; sie ging weg. Er hasste das alles: ständig zu lügen, zu betrügen und etwas vorzutäuschen. Sein Innerstes sagte ihm, dass es eigentlich gar nicht zu ihm passte. Er stand auf und setzte sich wieder an den Tisch, zwang seinen Blick auf das Blatt, das dort noch immer lag. Ganz oben hatte er Stringers »Unbefugtes Betreten« notiert, weil es sich
nach einem guten Titel für ein Gedicht anhörte, fand er. Aber mehr als diese Worte brachte er nicht zuwege, sie saßen einfach dort und die spitzen, senkrechten Striche seiner Handschrift waren wie ein Lattenzaun, der ihn aussperrte. Sechs Gedichte sollten in der Schreibmappe enthalten sein und er hatte noch nicht mal eins geschrieben. Es war nicht so, dass er nicht arbeiten wollte, wie alle dachten. Er konnte es einfach nicht mehr. Damals in der Grundschule war er seit der ersten Klasse in der besten Lesegruppe gewesen, in der sechsten Klasse hatte er den Englischwettbewerb gewonnen und war auch in den anderen Fächern gut gewesen. Vor seinem Rausschmiss bei Riversdale hatte er gute Noten gehabt. Erst an der St. Crispin’s hatte er Probleme bekommen, zunächst in Mathematik. Er musste wohl irgendetwas nicht mitgekriegt haben, irgendeinen kleinen, wichtigen Schritt, ohne den man nichts begreifen konnte. Vielleicht hatte er ja wirklich nicht aufgepasst, so wie es später in seinem Zeugnis stand. Bei dem Wort »unaufmerksam« war Dad ausgerastet. Dann hatte er einen Zettel genommen und selber eine kleine Rechnung aufgestellt: Lukes Schulgebühren geteilt durch die Anzahl aller Unterrichtsstunden. Jede Stunde, die Luke damit vergeudete, vor sich hinzuträumen, sagte Dad, waren fünfzig Dollar, die er zum Fenster rauswarf. Dad hatte Schulden gemacht, um Lukes Privatschule zu finanzieren. Er wollte das Beste für seinen Sohn und hatte bei der Bank einen Kredit aufgenommen; deswegen waren sie schon seit Jahren nicht mehr in Urlaub gefahren. Okay – also hatte Luke damit begonnen, im Unterricht aufzupassen. Er hatte aufgepasst, bis ihm die Ohren klingelten und die Augen brannten, aber sein Mathechaos war immer größer geworden, ein undurchdringlicher, dunkler Dschungel, in dem er nicht mehr durchblickte.
Dad hatte ihm einen Nachhilfelehrer besorgt (noch mehr zum Fenster rausgeworfenes Geld!), aber es hatte nichts genutzt. »Begreifst du?«, fragte der Typ jedes Mal, wenn er ein Problem erklärt hatte, und Luke musste dann zugeben, dass er es nicht begriffen hatte. Der Typ erklärte das Ganze von vorne, diesmal langsamer, und Luke begriff es immer noch nicht. Ebenso gut hätte der Nachhilfelehrer Holländisch oder Suaheli reden können, denn Luke hatte ihn auch beim dritten Mal nicht verstanden. Schließlich war er nicht mehr hingegangen, weil er es peinlich fand, so begriffsstutzig zu wirken. Es war unmöglich gewesen, Ma und Dad die ganze Sache zu erklären. Sie hatten geglaubt, er habe keine Lust auf Nachhilfe. Luke konnte es ihnen nicht mal verübeln, denn dieser Eindruck drängte sich natürlich geradezu auf. Seine Blindheit, das Gefühl, ein Brett vor dem Kopf zu haben, war auch auf Physik und Chemie übergesprungen und hatte sich weiter ausgebreitet, wie eine schleichende Krankheit, auf Fächer, bei denen er es nie für möglich gehalten hätte, Fächer wie Biologie, Geografie und Recht, die ihm früher leicht gefallen waren. Als er in die zehnte Klasse ging, hatte der Rektor Ma und Dad mitgeteilt, er sei der Meinung, dass Luke mit der elften Klasse vielleicht Schwierigkeiten haben würde. Luke war dabei gewesen, denn an der St. Crispin’s brüstete man sich damit, die Schüler bei solchen Gesprächen mit einzubeziehen. Aber der Rektor hatte ihn gar nicht nach seiner Meinung gefragt, sondern nur mit Ma und Dad gesprochen. Und seine Bemerkung über die »Schwierigkeiten mit der elften Klasse«, die Art, wie er es sagte, und noch dazu mit dieser Miene – als würde dieser Fall gar nicht vielleicht, sondern mit absoluter Sicherheit eintreten –, das alles hatte Luke Angst eingejagt. Man bekam das Gefühl, es nicht schaffen zu können, und dieses Gefühl wurde ein Teil der eigenen Persönlichkeit, als
wäre man tatsächlich so. Man verschmolz damit. Man wurde zu einem Schüler, der nicht zurechtkam, zu jemandem, der scheitern würde. Inzwischen sogar in Englisch. Englisch war immer sein bestes Fach gewesen. Es war ihm leicht gefallen, wie jemandem, der nicht schwimmen zu lernen brauchte, weil das Wasser sein Zuhause war. Aber Englisch als Prüfungsfach war etwas ganz anderes; wie ein riesiger, glänzender Ozean, der auslief und zu einer schlammigen Pfütze voller Fallen wurde. Man musste die Fragen auf eine bestimmte Art und Weise beantworten, man musste den Prüfern genau die Antworten geben können, die sie erwarteten; fast alle Lehrer sagten das. Und man begann darüber nachzudenken, dass eine Antwort, auch wenn sie einem richtig vorkam, einfach falsch sein konnte. Sogar ein Gedicht konnte einfach falsch sein. Zu dichten hatte ihn immer am meisten begeistert, doch jetzt, wo es das Wichtigste in seinem Leben war, ein paar Gedichte zu schreiben, brachte er es einfach nicht fertig. Seine Sätze verdorrten wie die kleinen Pflanzen, die Ma zuweilen aus der Gärtnerei mit nach Hause brachte; zuerst noch gesund und stark, welkten sie in ihrer Erde dahin. Die Englischprüfung zu bestehen war so wichtig, dass man Angst bekam. Sechs Gedichte für die Schreibmappe. Sechs bis nächsten Montag und heute war Dienstag. Er sah auf seine Uhr. Nein, inzwischen war schon Mittwoch. Luke kaute an seinem Füller. Das Problem war, dass er offenbar nicht denken konnte, wenn er etwas für die Schule tun sollte. Sein Gehirn klemmte, es schien irgendwie einzurasten, klick! Wie ein großes, dummes Vorhängeschloss, das einfach zuschnappte. Aber so etwas konnte man doch niemandem erzählen; es würde klingen wie eine Ausrede, etwas, das er
sich ausgedacht hatte. Das jedenfalls würde Mrs Lewis mit Sicherheit denken. Oder sie würde ihn seltsam finden. Er griff nach den Uni-Bewerbungsunterlagen, die weiter hinten auf dem Schreibtisch lagen, und überflog die endlosen Zahlenreihen. Die Zulassungsbeschränkungen für Studiengänge wie Jura oder Medizin waren so hoch, dass man in sämtlichen Schulfächern 90 Punkte und mehr erreichen musste. Ebenso gut hätte er versuchen können, die Hand nach dem Mond auszustrecken. Dad hatte einen Rechtsanwalt aus ihm machen wollen. Er selbst besaß keine besonders gute Schulbildung, war mit sechzehn abgegangen, und nun, mit fünfundvierzig, arbeitete er immer noch als kleine Bürokraft beim Bruxton Chemiekonzern. Er wünschte sich, dass es sein Sohn einmal besser haben würde, dass Luke jemand war, sich einen Platz in dieser Welt eroberte. Tja, Jura konnte er wohl vergessen. Luke zerknüllte die Tabelle in seiner Hand und warf sie in den Papierkorb. Er würde froh sein müssen, überhaupt irgendein Fach belegen zu dürfen. Zahlen waren das Einzige, worauf es ankam. Selbst wenn man ein Gedicht schrieb, das sich mit Shakespeare hätte messen können, etwas, das tausend Jahre überdauerte – die Prüfung im Kreativen Schreiben würde man trotzdem nicht bestehen, weil man statt sechs Gedichten nur eins geschrieben hatte. Als er im Bett lag, konnte er nicht einschlafen, denn wieder begann sich der Kreisel in seinem Kopf zu drehen. Zahlen und Gesichter wirbelten umher, Dads Gesicht, das sich von ihm abwandte, Mas ängstliche Miene, Stringers schwarzer Schnurrbart, der bei dem Wort Schulverweis einen Satz nach oben machte. Luke setzte sich auf. Er rutschte auf den Knien zum Fußende und zog die Vorhänge zurück, um in die Nacht hinauszusehen.
Dunkel lagen die Häuser im Orchard Court da. Nirgendwo brannte Licht; niemand war so spät noch auf, um ein Buch zu lesen, einen Brief zu schreiben oder einen Film zu sehen. Niemand trat auf die Straße oder kam gerade nach Hause oder machte einen kleinen Rundgang durch den Garten um zu sehen, wie der Orchard Court morgens um zwei aussähe, in einem der letzten Jahre des ausgehenden zwanzigsten Jahrhunderts. Luke zog die Vorhänge wieder zu, legte sich zurück und starrte an die Decke. Da hörte er den Zug. Er hörte sein Pfeifen, zunächst weit entfernt, dann lauter und mehr in der Nähe. Er hörte das ferne Geratter der Räder auf den Gleisen. Jede Nacht fuhr der Zug genau um diese Zeit vorbei – es war merkwürdig, mysteriös sogar, denn jeder wusste, dass der letzte Zug aus der Stadt kurz nach Mitternacht hier vorbeikam. Was für ein Zug war das also? Ein Güterzug, der weiter landeinwärts fuhr, konnte es nicht sein, denn die Strecke führte nirgendwohin; sie endete an der nächsten Station. Luke schloss die Augen und wieder war draußen das Pfeifen zu hören, inzwischen weiter entfernt, ein schwacher Ton, einsam und verlassen, ein letztes Mal. Es war der Nachtzug, beschloss Luke schläfrig, der Zug für Nachtschwärmer, für all die, die nicht einschlafen konnten, die nachts wach lagen und grübelten, die Kreisel in ihrem Kopf hatten – und Vorhängeschlösser, große, blitzende Vorhängeschlösser, so wie er.
Vertrauen
Mrs Lewis’ Büro hatte etwas Mütterliches, es war ein Raum, den man eher in einem Wohnhaus als in einer Schule erwartet hätte, mit einem normalen Tisch anstelle eines Schreibtisches, zwei großen, gemütlichen Sesseln, einem kleinen Flauschteppich auf dem Boden und hübschen Vorhängen an den Fenstern. Ein Raum, der Vertrauen erweckte. Und auch Mrs Lewis hatte etwas Mütterliches und Vertrauenerweckendes; sie war mollig und hatte ein weiches, rundliches Gesicht, schöne Locken, und wenn sie lächelte, erschienen auf ihren Wangen Grübchen. Kein Wunder, dass jüngere Schüler sie für nett hielten, für jemanden, dem man sich anvertrauen konnte, der einem wirklich helfen wollte. Aber Luke war nicht mehr jung. Er hatte überhaupt kein Vertrauen und er wollte ihr auch nichts erzählen. Immer wieder fragte sie ihn nach der Laube, aber er konnte ihr für sein Verhalten nicht mehr Gründe nennen als die, die er auch bei Stringer schon angegeben hatte. Sie würde ihn für sonderbar halten, so viel stand fest. »Wie bist du nur darauf gekommen, so etwas zu tun? Was ging in dir vor, Luke?« »Nichts«, murmelte er. »Nichts?«, wiederholte Mrs Lewis. Sie lächelte und die Grubchen in ihren Wangen sackten tiefer, wie Treibsand, dachte Luke. »Gar nichts? Willst du damit sagen, du warst auf dem Schulhof und im nächsten Moment standest du plötzlich im Garten eines völlig fremden Grundstücks?« Er hatte das Gefühl, schreien zu müssen. Er wollte sie anbrüllen: »Es war doch kein völlig fremdes Grundstück, nicht
für mich!« Warum hackten sie die ganze Zeit auf seinem Besuch in der Laube herum? Es war so eine Lappalie und er hatte all diese anderen, wirklich wichtigen Dinge im Kopf, über die er sich nicht zu sprechen traute. Die Laube spielte überhaupt keine Rolle. »Ich dachte…«, begann er. Seine Stimme erstarb. Mrs Lewis schob sich dichter heran. Sie saß direkt neben ihm, ihren Sessel freundschaftlich an den seinen gerückt. »Ja?«, fragte sie. Der Saum ihres Kleides streifte sein Knie und er musste zur Seite ausweichen, um Abstand zu schaffen. »Nichts«, wiederholte er. Sein Kiefer verbiss sich in dem Wort, sodass es seltsam gepresst klang. »Ich kann dir nicht helfen, wenn du mir nicht hilfst, Luke.« »Ich weiß.« Das war genau die falsche Antwort; sie wurde sofort ärgerlich. »Immerhin, Luke, war es eine große Dummheit. Etwas, was dich einen Schulverweis kosten könnte!« Schulverweis. Sie betonte das Wort stärker als alle anderen und Luke spürte ihren leicht gehässigen Unterton. Irgendwo tief in seinem Innersten stellte er ganz nüchtern fest, dass Mrs Lewis eine Person war, die einfach nicht zur Vertrauenslehrerin taugte. Sie wollte die Schüler lächerlich machen, wollte einem beweisen, dass man im Unrecht war und sie im Recht. Mit so einer Vertrauenslehrerin hatten die Schüler der Glendale-Oberstufe eben Pech. »Dass du dich selbst in derart dumme Schwierigkeiten bringen musst! Und noch dazu so kurz vor den Prüfungen! Aber daran hast du nicht einen Moment gedacht, Luke, nicht wahr? An die Prüfungen!« Er antwortete nicht. Schon seit Monaten dachte er kaum noch an etwas anderes. »Auf diesem Gebiet sieht es bei dir nicht allzu gut aus, oder? Was deine schulischen Leistungen angeht, meine ich.«
»Nein.« »Du strengst dich offenbar überhaupt nicht an! Du kniest dich nicht in die Arbeit hinein!« Mrs Lewis hatte seine Akte auf dem Schoß liegen, den Schulbericht über die Person, für die sie ihn hielt. Sie klopfte mit Nachdruck auf den Ordner. »Du scheinst dir kein bisschen Mühe zu geben.« »Doch, ich gebe mir Mühe«, erwiderte er steif. »Das merkt man aber nicht.« Er wusste, dass man es nicht merkte. Am nächsten Montag, sofern er dann noch auf der Schule war, würde Ms Brennan seine Schreibmappe lesen, sechs miese Gedichte, die er in letzter Minute schreiben würde, nichts im Vergleich zu denen, die er ihr für die Schülerzeitung gegeben hatte, und dann würde sogar sie der Meinung sein, dass er sich keine Mühe gab. Dass er einfach keine Lust hatte. Und er würde es ihr nicht mal übel nehmen – wie sollte sie ahnen, dass er nächtelang dagesessen und es immer wieder probiert hatte. Er begriff es ja selber kaum. »Ich gebe mir Mühe«, wiederholte er stumpfsinnig. Er dachte an den Mathe-Nachhilfelehrer, wie er mit geduldiger Stimme die Aufgabe noch einmal erklärte, wie er zum Schluss fragte: »Hast du es jetzt verstanden?« »Manchmal hab ich wohl Probleme, etwas zu verstehen«, begann er zögernd. »Ich kann nicht…« Mrs Lewis schüttelte ungeduldig den Kopf. »Das glaube ich nicht, Luke.« Wieder klopfte sie auf den Ordner. »Du hast einen sehr hohen Intelligenzquotienten. Das weißt du doch, oder?« Er nickte. Das gehörte zu seinem Problem, einer der Gründe, warum man ihn für faul hielt. »Mit diesem Testergebnis gehörst du zu den Begabtesten in ganz Australien. Das bedeutet, du bist absolut fähig. Eigentlich
müsstest du es mit Leichtigkeit packen. Bist du anderer Meinung?« »Ich weiß nicht.« »Es steht völlig außer Frage, dass du imstande bist zu verstehen. Das ist Unsinn, Luke. Es ist nur eine Entschuldigung, und eine ziemlich schlechte dazu. Es gibt an dieser Schule eine ganze Menge Kinder, die deine natürliche Begabung nicht besitzen, die nicht deine Vorteile genießen und die trotzdem bestens zurechtkommen. Das ist eine Frage der Arbeitshaltung, Luke, eine Frage der Organisation und wie sehr man sich bemüht und sich in eine Sache hineinkniet, sonst nichts. Das ist alles, worauf es ankommt.« Es entstand eine Pause. Ein kleiner Windstoß fuhr durch das Fenster, bauschte die Vorhänge nach innen und außen; sie gaben einen seufzenden Ton von sich. »Fliege ich wirklich von der Schule, Mrs Lewis?«, fragte Luke unvermittelt. Sie ignorierte die Frage. »Deine Eltern, Luke – hast du auch mal an sie gedacht? Sie haben dir jede Chance geboten, sie haben Opfer für dich gebracht – zwei Privatschulen, Luke, ein Haufen Geld. Und was tust du?« Diesmal schlug sie den Ordner, wie zur Strafe. »Du enttäuschst sie, immer wieder. Du machst sie sicher sehr unglücklich. Ist dir das denn völlig unwichtig?« Natürlich war es das nicht. Aber wenn er ihr die Wahrheit sagte, wie sehr er es hasste, seine Eltern unglücklich zu machen, würde sie bloß erwidern: »Das merkt man aber nicht.« Er drehte den Kopf weg, aber ihre Stimme holte ihn ein. »Gibt es denn irgendetwas, irgendjemanden, der dir wichtig ist, Luke?« Er dachte an Naomi, sah sie vor sich, wie sie vorne auf der Veranda stand, mit strahlendem Gesicht, wenn er an der
Gartenpforte auftauchte. Aber allein bei dem Gedanken, ihren Namen in diesem Raum hier zu erwähnen, wurde ihm schlecht. »Luke, sieh mich an!« Langsam drehte er den Kopf. Ihre Augen waren dunkel vor Zorn und ihre Stimme begann zu zittern. »Du stehst an einem äußerst entscheidenden Punkt deines Lebens, Luke. Die Anstrengungen, die du in diesen letzten Wochen hier in deine Arbeit investierst…« In diesen letzten Wochen. Hoffnung keimte in ihm auf; also wollten sie ihn hier behalten. Sie würde so etwas doch nicht sagen, wenn man vorhatte, ihn von der Schule zu werfen. »… bestimmen dein ganzes restliches Leben. So eine Chance bekommst du nicht noch mal, Luke.« Das sagten sie immer: Die Prüfung war die große Chance, die einzige, und wenn man sie verpatzte, hatte man sein Leben ruiniert. Es wurde einem so oft vorgebetet, bis man sich daran gewöhnte und es als Tatsache akzeptierte. Aber plötzlich erinnerte sich Luke an etwas, das er letzten Sommer im Studienhandbuch gelesen hatte. Er hatte es damals nicht richtig beachtet, weil Dad ihn so gedrängt hatte, die Prüfung zu wiederholen, dieses Jahr. Es gab ein paar Universitäten, an denen man sich auch später um einen Studienplatz bewerben konnte, wenn man älter war, über zwanzig. Und diese Bewerbungen wurden berücksichtigt, selbst wenn man in der Schule nicht gerade umwerfende Noten gehabt hatte. Quereinstieg hatte das geheißen. Also gab es vielleicht ja doch eine zweite Chance. »Ich dachte…«, fing er an. »Ja?« »Ich habe mal was über diesen Quereinstieg gelesen und ich dachte, na ja, vielleicht könnte ich ja auch noch später auf die Uni gehen. Also, erst mal ein bisschen arbeiten und dann…« Mrs Lewis schüttelte den Kopf.
Er musste irgendetwas falsch verstanden haben. Vielleicht war das Studienhandbuch nicht mehr auf dem neuesten Stand gewesen. »Sie meinen, das geht nicht? Gibt es das nicht mehr?« »Oh, das gibt es noch«, erwiderte Mrs Lewis. »Geben tut es das schon!« »Also könnte ich doch…« Sie fiel ihm ins Wort. »Und solche Kinder wie du halten so etwas immer für eine Lösung. Du denkst dir, dass du das Lernen, die ganze Arbeit, einfach auf später verschiebst.« »Aber nicht…« Wieder unterbrach sie ihn. »Wenn du älter bist, hast du vielleicht nicht mehr die Gelegenheit, Luke. Schließlich könnte es sein, dass du mit fünfundzwanzig eine eigene Familie zu versorgen hast. Hast du daran gedacht?« »Nein«, erwiderte er perplex. »Dann hast du vielleicht Frau und Kinder und könntest dir ein Studium gar nicht mehr leisten! Du hättest weder Zeit noch Geld, all das, was du jetzt für selbstverständlich hältst. Aber das Hauptproblem ist…«, sie beugte sich wieder zu ihm vor und er roch das Make-up auf ihrem Gesicht, ein Geruch wie nach Lutschern, die Kinder in kleinen weißen Papiertüten kauften, »… das Hauptproblem ist, Luke, dass du einfach nicht der Typ bist!« »Wie bitte?« »Du bist einfach nicht der Typ, der bereit ist, sich anzustrengen. Du lernst doch jetzt schon nicht, wie kommst du also darauf, dass du dich hineinknien wirst, wenn du älter bist? Woher willst du wissen, dass du dann nicht wieder alles schleifen lässt?« »Ich…« »Nein, Luke. Mit Zaudern stiehlst du dir nur die Zeit.«
Darauf konnte er nichts erwidern. Luke starrte auf seine Füße hinunter, erstaunt, dass sie so fest und normal aussahen, denn er fühlte sich, als sei ein großes Stück von ihm einfach abgetrennt worden, und nun breiteten sich die Risse über seinen ganzen Körper aus. Wieder herrschte Stille im Raum. Die Vorhänge blähten sich auf und sanken wieder auf die Fensterbank zurück. Draußen auf dem Korridor hallten die Schritte einer Frau mit hohen Absätzen, die eilig vorüberging. »Ich weiß auch nicht, ich bin mir einfach sicher.« Mrs Lewis seufzte erschöpft. »Ihr Kinder!« Sie ergriff ihren Kugelschreiber, betrachtete ihn eingehend und ließ dabei die Mine ein paar Mal vor und zurückklicken. »Möchtest du mit jemandem sprechen?«, fragte sie. Luke erstarrte. Er wusste, dass sie einen Psychologen meinte, einen Seelenklempner. Er wusste, dass es gute gab, solche wie Mr Erlinger an der Riversdale. Vielleicht gab es ja sogar einen, mit dem er über dieses Vorhängeschloss-Gefühl hätte sprechen können, der ihm vielleicht sagen konnte, wie er es wieder loswurde. Aber er war sich ziemlich sicher, dass ein Psychologe, den Mrs Lewis auswählte, anders sein würde. Er würde so sein wie sie, er würde derselbe Typ Mensch sein. Er blickte kurz zur Seite und sah ihr prüfend ins Gesicht. Sie hielt ihn für krank, wie Jennifer Brady damals. Die Sache, die ihm inzwischen jedes Mal Angst einjagte, wenn er an Jennifer Brady dachte, war die: Wenn sie nun gar nicht verrückt gewesen war, wie alle behauptet hatten? Wenn sie auf Mrs Lewis’ Fragen einfach nur falsch geantwortet hatte? Oder wenn sie geschwiegen hatte, um ihre privaten Dinge für sich zu behalten oder weil sie sich vielleicht merkwürdig angehört hätten? Wenn sie bloß ein bisschen so gewesen war wie… wie er?
»Ich habe gefragt, ob du mit jemandem sprechen willst, Luke.« »Nein, ich möchte mit niemandem sprechen«, erwiderte er aggressiv. »Ich möchte nicht!« »Es könnte gut sein, dass in dieser Angelegenheit andere für dich entscheiden.« Mrs Lewis erhob sich von ihrem Stuhl und Luke stand ebenfalls auf. Sie öffnete ihm die Tür. Noch immer wusste er nicht, ob ihn ein Schulverweis erwartete.
Mrs Lewis stand in der Tür und sah dem Jungen nach. Geistesabwesend schlenderte er den Korridor entlang in die falsche Richtung. Sogar die Kinder aus dem siebten Jahrgang, die erst seit Februar auf der Schule waren, wussten, dass es dort keine Tür gab, die nach draußen führte. Er lief bis ganz nach hinten, bevor er seinen Irrtum bemerkte, blieb dann einfach stehen und starrte auf die Wand, als könne er es gar nicht fassen, dass sie da war. Hoffnungslos, dachte Mrs Lewis. Und dazu noch dermaßen aggressiv! Was für einen Ton er ihr gegenüber angeschlagen hatte! Sie schloss ihre Tür ab und hastete hinüber zu Mr Stringers Büro, Lukes dicke Akte unterm Arm. Wenn sie sich beeilte, erwischte sie ihn vielleicht noch, bevor er nach Hause ging. Aber Mr Stringer war bereits gegangen. Mrs Lewis schlug den Weg zum Lehrerzimmer ein, ihr war nach Gesellschaft. Nach dieser kleinen Sitzung eben musste sie einfach mit jemandem sprechen. »Luke Leman war gerade bei mir«, würde sie sagen, während sie durch die Tür hineinrauschte. »Meine Güte, dieser Junge hat wirklich einen Haufen Probleme!« Einige Dinge, die in seiner Akte standen… Du lieber Himmel! Sich die Haare abzurasieren, eines Morgens vor der
Schule einfach alles abzuschneiden, aus heiterem Himmel und ohne ein Wort der Erklärung! Ohne Sinn und Verstand. Völlig irrational. Und dann dieser Zwischenfall auf dem Bahnhof von Wood Hill! Zumindest so etwas hatte Phoebe noch nie getan. Phoebe war Mrs Lewis’ Tochter. Und sie war ein Problem, das Mrs Lewis nie hatte lösen können. Manchmal sprach Phoebe einfach nicht mit ihrer Mutter, aus keinerlei ersichtlichem Grund. Sie schwieg dann tagelang, abgesehen von ein oder zwei Worten ab und an, mit einem kalten, kleinen Lächeln, ihre Mutter von oben bis unten musternd, als sei sie eine ausgestellte Ware in einem Geschäft, etwas, das Phoebe selbst sich nie und nimmer kaufen würde. Das war ein Problem, zweifellos. Aber nicht dieselbe Art von Problem wie das mit Luke Leman oder die Schwierigkeiten einiger anderer Schüler, die zu ihr kamen. Im Lehrerzimmer war niemand, also machte Mrs Lewis sich auf den Heimweg. Als sie die Haustür aufsperrte, stand Phoebe dort in der Diele neben den Mantelhaken wie ein Gespenst. Sie blickte an ihrer Mutter hinunter. »Du blöde Kuh«, sagte sie mit ihrem kalten kleinen Lächeln.
Verwirrungen
Schon seit Wochen hatte Luke sich vorgenommen, Caro von seinem Vorhängeschloss-Gefühl zu erzählen. Zweimal war es ihm gelungen, seinen ganzen Mut zusammenzunehmen und sogar die ersten Worte zu finden, doch dann geriet er wieder ins Wanken und bekam keinen Ton mehr heraus. Er befürchtete sie zu verlieren, war sich nicht sicher, ob sie ihn verstehen würde. Er konnte sich leicht vorstellen, wie sie mit ihren ernsten grauen Augen zu ihm aufblickte, ihm ins Gesicht sah und sagte: »Luke, ich glaube, es ist besser, wenn wir uns mal für eine Weile nicht sehen.« Aber heute, nahm er sich vor, als er in ihre Straße einbog, heute würde er es ihr endlich erzählen. Er würde es tun. »Du bist ja nass bis auf die Haut«, sagte Caro, als er vor ihr in der Diele stand. Aus seinen wirren Haaren und dem durchweichten Jackensaum triefte das Wasser. »Nur ein bisschen.« Caro wischte ihm die Regentropfen von Armen und Schultern; dann starrte sie erschrocken auf die Matschspuren, die er auf Mas neuem Teppich hinterlassen hatte. »Caroline!« »Schnell!« Caro riss ihren Mantel vom Garderobenständer, als sie die Stimme ihrer Mutter hörte. »Lass uns gehen.« Sie schob Luke Richtung Tür. »Aber es regnet doch!«, protestierte ihre Mutter, die in die Diele gelaufen kam. »Es hat aufgehört.« Caro war schon auf der Veranda. »Aber…«
»Bin gleich wieder da!« Sie knallte die Tür zu. Sie stapften die Birchwood Street hinunter, durch schmutzige Pfützen und nasse Blätterhaufen. Luke sprach kein Wort. Schon in dem Moment, als sie die Tür öffnete, hatte Caro gemerkt, dass irgendetwas Schlimmes passiert war; sein Gesichtsausdruck verriet es. Hatte er gestern vielleicht Verdacht geschöpft, sie könnte zu Hause sein? Sie hätte ihn gestern Abend gerne angerufen, aber mit Luke zu telefonieren war so gut wie unmöglich. Es gehörte zu den Eigentümlichkeiten ihrer Beziehung (und sie hasste den Gedanken, Liz könnte es herausfinden), dass sie noch nie bei Luke gewesen war; er hatte sie nie eingeladen. Irgendetwas musste bei ihm zu Hause nicht in Ordnung sein, er sprach nie über seine Familie. Vor längerer Zeit hatte sie einmal bei ihm angerufen und ein Mann hatte sich gemeldet – vermutlich Lukes Vater. Aber als sie Luke sprechen wollte, hatte der Mann einfach den Hörer aufgelegt. Verwählt, hatte Caro gedacht und es noch mal versucht. Aber wieder war derselbe Mann am Apparat gewesen und wieder hatte er den Hörer aufgelegt. Als sie Luke davon erzählte, sagte er: »Das war mein Vater. Er tut so, als ob ich nicht existiere.« »Wie meinst du das?«, hatte Caro gefragt, aber mehr wollte Luke dazu nicht sagen. Es war einfach unheimlich. Also rief sie ihn niemals an. Und heute war er in der Schule nicht aufzufinden gewesen. In der freien Studienzeit war er nicht in der Bibliothek gewesen und nach Unterrichtsschluss hatte er auch nicht am Tor gewartet. Sie warf einen Blick zur Seite und sah ihn an. Er wirkte unglücklich, und plötzlich verspürte sie einen heftigen Anflug von Wut – ständig war er so in sich verstrickt. Wenn sie sich trennten, würde es ihn wahrscheinlich gar nicht weiter kümmern.
Als sie um die Ecke bogen, begann er endlich zu reden. »Ich war heute bei Mrs Lewis.« Caro starrte ihn überrascht an. Sie konnte es kaum glauben. »Wieso denn das? Worüber hast du mit ihr gesprochen? Du weißt doch, dass sie alles weitertratscht.« Er zuckte mit den Achseln. »Klar weiß ich das. Aber ich hatte keine andere Wahl.« »Was meinst du damit?« »Stringer hat mich gezwungen hinzugehen.« Caro ballte die Fäuste in ihren Manteltaschen. Kein Zweifel, er war wieder mal in Schwierigkeiten. Das passierte ihm oft und manchmal fiel es ihr schwer, den Grund dafür zu verstehen. »Was war los?« Während sie sich die Geschichte mit der Laube, Stringer und Mrs Lewis anhörte, wurde Caro immer ärgerlicher. Wie schaffte er es bloß immer, sich in solche dummen Situationen hineinzumanövrieren? Warum konnte er nicht wie alle anderen Schüler auch im Einkaufszentrum rumhängen, wenn er den Unterricht schwänzen wollte? Warum musste er bei fremden Leuten im Garten umherwandern? Warum konnte er nicht einfach etwas ganz Gewöhnliches tun? »Wieso tust du so was?«, rief sie. »Es war doch nichts Schlimmes, Caro. Ich wollte nur gucken, ob es dort noch so aussieht wie damals, sonst nichts. Wie konnte ich denn ahnen, dass ich Stringer über den Weg laufe?« Caro trat gegen einen Haufen durchgeweichter Blätter. »Er wird dich sowieso nicht rauswerfen, nicht jetzt.« »Meinst du wirklich?« »Er hat dir einfach nur Mist erzählt!« »Das habe ich auch erst gedacht, aber wer weiß, ob das sicher ist. Er…«
… hasst Kinder, vollendete Caro seinen Satz im Stillen. Alles, was Stringer interessierte, war »die Schule«, was immer er darunter verstand, denn die Schüler waren ihm egal. »Oh, Luke«, sagte sie genervt, »es gibt nichts, was sicher ist. Die Sache wird sich schon wieder einrenken. Komm, jetzt reg dich ein bisschen ab.« Sie nahm seine Hand und drückte sie, um ihren harten Tonfall abzumildern. »Caro…« »Was?« Er holte tief Luft, als hätte er ihr etwas Wichtiges zu sagen, zur Abwechslung einmal etwas, worauf sie sich einen Reim machen konnte. Aber dann schien er es sich offenbar anders zu überlegen. »Ach, nichts. Sieh doch mal!« Er deutete auf das Haus, an dem sie vorbeigingen, wo eine Traube bunter Luftballons fröhlich über der Gartenpforte schaukelte. Durch das Fenster waren kleine Kinder zu sehen, die im Wohnzimmer herumrannten, kreischend und schreiend, mit freudig aufgerissenen Mündern. »Eine Party!« Der Samstag fiel ihr wieder ein. »Kommst du mit zur Grillparty von Liz?« Er schüttelte den Kopf. »Kann nicht. Ich muss mit meiner Schreibmappe weiterkommen. Ich hab noch nicht mal angefangen.« »Was?« Bei dem Gedanken, sie selbst wäre an diesem Morgen aufgewacht und hätte noch keinen Schlag getan, machte Caros Herz einen Sprung. »Du hast noch nicht mal angefangen?« Sofort nahm er es zurück. »Doch, natürlich hab ich angefangen. Aber es ist noch ganz schön viel Arbeit. Gedichte zu schreiben ist nicht leicht.« »Aber das kannst du doch! Du hast ja Gedichte für die Schülerzeitung geschrieben.«
»Das war etwas anderes«, sagte er schnell. »Das war ja nicht für eine Prüfung.« »Aber es ist das Gleiche, Luke.« »Nein, ist es nicht.« Sie standen an der Kreuzung gegenüber vom Einkaufszentrum und warteten darauf, dass die Ampel auf Grün sprang. Seine Stimme wurde so laut, dass ein alter Mann, der neben ihnen stand, den Kopf drehte und zu ihnen hinstarrte. »Verstehst du denn nicht«, brach es aus ihm heraus. »Ich kann… ich kann einfach nicht mehr schreiben!« Und ehe sie ihn zurückhalten konnte, ließ er sie stehen und sprang blindlings auf die Straße. Autos hupten, jemand schrie, Caro schloss die Augen; sie konnte nicht hinsehen. Als sie sie wieder öffnete, stand Luke sicher auf der anderen Straßenseite und der alte Mann warf ihr einen wütenden Blick zu, als sei alles ihre Schuld. Vor dem Musikgeschäft holte sie Luke ein. Er ging die CDs auf den Verkaufstischen durch, drehte sie um und tat, als lese er die Texte auf der Rückseite. »Du hättest überfahren werden können!«, fuhr sie ihn an. »Einfach so über die Straße zu rennen!« »Ich wusste, dass mir nichts passiert«, erwiderte er ruhig. Wütend kehrte Caro ihm den Rücken zu, stellte sich an die Bordsteinkante neben das Wartehäuschen der Bushaltestelle und blickte die Straße hinunter. Es wurde langsam spät, einige der Läden schlossen bereits. Sie musste bald nach Hause; Ma würde bereits auf der Lauer liegen und die Sekunden zählen. Und wenn Caro hereinkam, würde sie über den Dreck auf dem Teppich lamentieren und ihr als Nächstes erklären, Spaziergänge mit Luke seien reine Zeitverschwendung und dass es bis zu den Prüfungen nur noch vier Wochen waren. Als ob Caro das nicht selber wüsste! Wie konnte man es denn vergessen, wenn einen ständig jemand dran erinnerte! Dieses
Zählen der Tage drückte auf die Stimmung. Aber wenigstens sie kam damit klar. Anders als Luke. Sie konnte nicht begreifen, warum er alles immer erst in letzter Minute tat. Wenn man die Dinge vor sich herschob, wurde alles nur schlimmer. Man geriet in Panik. Kein Wunder, dass er Englisch geschwänzt hatte. Es musste furchtbar sein, unter einem solchen Druck zu leben, dachte sie. Einfach furchtbar. Beklemmend. Sie drehte sich wieder nach ihm um und berührte ihn leicht an der Schulter. »Du schaffst das«, sagte sie. Erschrocken fuhr er herum. »Was?« »Die Schreibmappe. Du schaffst das schon, Luke.« Seine Züge entspannten sich. Er lächelte sie an. »Caro…« »Ja?«, flüsterte sie. Wieder holte er tief Luft. »Weißt du, es ist so. Wenn ich mich hinsetze um zu arbeiten, dann…« »Was dann?« Die Worte sprangen ihr von den Lippen, wohl irgendwie zu laut. Er zog sich wieder in sich zurück. »Ist nicht so wichtig«, sagte er mit einer Heftigkeit, die Caro spüren ließ, dass sie einen Fehler gemacht hatte. »Los, komm.« Luke packte sie an der Hand und zerrte sie die Straße entlang Richtung Bahnhof, so kräftig ausschreitend, dass sie rennen musste, um mit ihm Schritt zu halten. Sie liefen an dem Bürofenster mit dem großen Schild vorbei: BESTNOTEN! NACHHILFESCHULE: ERFOLG GARANTIERT. Caro sah, wie seine Augen zuckten und in eine andere Richtung blickten. Ein Zug heulte auf und glitt in den Bahnsteig. »Hey, hörst du manchmal den Nachtzug?« »Was für einen Nachtzug?« »Der Zug, der ganz spät in der Nacht vorbeifährt, so um zwei.« »Das kann kein Zug sein, Luke. So spät fährt doch keiner mehr.«
»Aber es ist einer«, sagte er beharrlich. »Man hört das Pfeifen und die Räder – du weißt doch, dieses typische Geratter.« Sie kamen an den Schranken vorbei. Massen von Pendlern drängten im Laufschritt auf die Straße hinaus, sich anrempelnd, einer wie der andere im tadellosen grauen Anzug. Wie Roboter, dachte Caro. »Hoffentlich werden wir später mal nicht genauso«, sagte sie. Luke schien nicht zuzuhören. Er starrte über ihre Schulter hinweg, geschockt, als sähe er auf der Straße etwas, das ihm Angst einjagte. Caro drehte sich um, aber alles, was sie sah, war ein Briefträger auf seinem Motorroller, mit glänzender gelber Regenjacke, der die enge Gasse hinunter Richtung Post fuhr. »Hör mal, ich muss gehen«, sagte Luke hastig. »Wie bitte?« »Ich muss nach Hause… Mir ist gerade was eingefallen. Kommst du klar? Ich meine, wenn du allein nach Hause gehst?« »Natürlich komme ich klar!«, fuhr sie ihn an. »Aber wieso…« Sie konnte es nicht fassen, dass er sie einfach so stehen ließ, rückwärts davonsprang, die Straße hinunter, die Augen immer noch auf sie gerichtet. »Wegen Stringer!« »Stringer?« Caros Augen suchten die Menge nach dem Vizerektor ab. Sie konnte ihn nirgends entdecken. Und warum sollte er überhaupt hier sein? Eine diffuse Angst stieg in ihr auf. Was war nur los? »Luke!« Er blieb stehen. »Vielleicht hat er meinen Eltern einen Brief geschickt!«, brüllte er über die Köpfe der verdutzten Pendler hinweg. »Ist mir gerade eingefallen! Ich muss unbedingt in unseren Briefkasten sehen, ich muss…« »Aber…«
Er drehte sich um und rannte. War im nächsten Moment verschwunden. Einfach so. Caro ging die Straße hinunter, zurück nach Hause, zu Ma. In ihrem Kopf wirbelten die Gedanken durcheinander, sie wusste nicht, was sie von alldem halten sollte, fand es einfach… seltsam. Sie wusste nicht, was in ihm vorging, was eigentlich los war, zog plötzlich den Mantel enger um sich, als sie die eisige Kälte des Regenschauers spürte. Ob er sich überhaupt etwas aus ihr machte? Nicht einmal das wusste sie. Wie konnte er einfach so fortrennen und sie stehen lassen? Ihre Augen brannten, ihr war zum Heulen zumute; ein Gefühl von Niedergeschlagenheit und Verwirrung überkam sie. So war es immer. Wie sollte es mit ihnen nur weitergehen?
Tore schließen
Margaret sortierte die Wäsche aus dem Trockner; Hemden und Röcke und Socken und Unterwäsche, Jeans und Handtücher und Tischdecken. Danach, überlegte sie, war vielleicht ja noch Zeit, Naomi vor dem Abendbrot die Haare zu waschen. Heute Abend würden sie nur zu viert essen, weil Dan länger arbeitete. In letzter Zeit kam das häufiger vor, und manchmal hatte sie den Eindruck, dass er es tat, um Luke aus dem Weg zu gehen. Und um ihr aus dem Weg zu gehen, weil er wusste, dass sie mit ihm darüber sprechen wollte, wie er Luke behandelte, über dieses schreckliche, alberne, kindische Schweigen, das alles nur noch schlimmer machte. Es war schwer, an Dan heranzukommen. Als sie an diesem Morgen aufgewacht war, stand er schon im Badezimmer, und als sie versuchte mit ihm zu reden, hatte er sie angefahren: »Jetzt nicht, siehst du denn nicht, dass ich mich gerade rasiere?« Beim Frühstück miteinander zu sprechen war unmöglich, weil die Kinder dabei waren, und abends ging er zeitig ins Bett und schlief offenbar auf der Stelle ein, sobald sein Kopf nur das Kissen berührte. Es kam ihr vor, als sei er unerreichbar, wie ein einsamer, leuchtender Punkt auf einem Radarschirm, der plötzlich verschwand. Margaret hielt beim Zusammenlegen der Wäsche inne, um sich die feuchten, verklebten Haare aus dem Gesicht zu streichen. Hier in der Waschküche war es heiß und stickig, das ganze Haus war stickig. Luke hatte sich noch nicht blicken lassen, obwohl es bereits nach sechs war. Sie machte sich Sorgen, wenn er nach der Schule nicht gleich nach Hause kam, und ertappte sich dabei, dass sie wartete und auf seine Schritte
lauschte, genau wie Naomi. Aber es hatte keinen Sinn, ihn zu fragen, wo er gewesen war. Er antwortete zwar, aber wie sollte sie wissen, ob es stimmte. Er… Die Tür flog auf. In ihren Gedanken noch bei Luke, erwartete Margaret ihn dort stehen zu sehen. Aber es war ihre Tochter. »Hast du mein großes weißes T-Shirt?«, wollte Molly wissen. »Ich brauch es morgen für Sport.« »Es liegt dort drüben auf dem Tisch.« Molly drängte sich an ihrer Mutter vorbei und fiel über den Stapel zusammengelegter Wäsche her. Sie zog einzelne Stücke heraus und warf sie beiseite, aber Margaret sagte nichts, in stiller Erwartung des Wutausbruchs, der nun folgen musste. »O nein!« Molly hielt das T-Shirt in die Höhe. Margaret hatte den Kopf noch immer gesenkt. Hastig versteckte sie die knallroten Socken unter einem Handtuch. »Es ist rosa!«, jammerte Molly. »Oje.« »Warum tust du so was?«, schrie Molly. »Warum färbst du meine weißen Sachen jedes Mal rosa? Warum kannst du nicht besser aufpassen? Weißt du nicht, dass man weiße Sachen separat wäscht?« »Natürlich weiß ich das.« »Warum tust du es dann nicht? Warum versaust du dauernd meine Sachen?« »Ich habs dir doch schon erklärt, Molly. Ich bin in Eile. Wenn ich von der Arbeit nach Hause komme, habe ich tausend Dinge zu erledigen, ich habe keine Zeit, um genau nachzukontrollieren, was im Wäschekorb liegt. Ich habs einfach nicht gemerkt.« »Du merkst nie etwas!«, brüllte Molly. »Du machst nie etwas richtig!« »Jetzt hör aber mal zu«, begann Margaret, aber Molly schnitt ihr das Wort ab.
»Du bist gar keine richtige Mutter«, sagte sie kalt. Margaret wollte gar nicht wissen, was sie damit meinte. »Dann mach es doch selber!«, fuhr sie Molly an. »Wasch deinen Kram in Zukunft gefälligst selbst!« »Das werde ich auch!« Das verfärbte T-Shirt an ihre Brust gedrückt, stürmte Molly aus der Waschküche und knallte die Tür hinter sich zu. Margaret holte die roten Socken unter dem Handtuch hervor und warf sie auf den Tisch. Sie legte noch eine weitere Jeans zusammen und zwei Hemden von Dan, dann ordnete sie den Stapel, den Molly durchwühlt hatte. Ihre Hände bewegten sich langsam, mechanisch, aber ihr wäre eher danach gewesen, die Wäschestücke zu nehmen, alles kurz und klein zu reißen, es durch die Gegend zu schmeißen, sich in dem ganzen Chaos niederzulassen und lauthals loszuheulen. Warum schlugen sie ihr gegenüber einen solchen Ton an? Als sei sie nichts weiter als eine Dienstmagd. Welches Recht hatten sie dazu? Warum beschwerten die beiden, Molly und Luke, sich ständig darüber, wie sie wusch und wie sie kochte und dass sie nicht wusste, wo ihre Sachen waren, die sie irgendwo im Haus liegen ließen? Ihre Hände hielten inne. Eigentlich war es in letzter Zeit nur Molly, die mit ihr stritt. Luke hatte damit aufgehört; er lamentierte weder über seine Kleider noch über das Abendessen, schon sehr, sehr lange hatte er es nicht mehr getan. Letzte Woche hatten seine neuen weißen Socken beim Waschen versehentlich einen leichten Grünstich abbekommen und er hatte kein Wort darüber verloren. Plötzlich wünschte sie sich, er hätte sie lieber angebrüllt. Er wäre zu ihr gekommen, die Socken in den Händen, und hätte sie angeschrien, wie er es früher immer getan hatte: »Ma, was ist das hier wieder? Was machst du da eigentlich?« Er war still geworden.
Margaret verließ die Waschküche und lief durch den Flur ins Wohnzimmer hinüber. Zeit für Naomis Haare. Aber ihre jüngste Tochter war nicht da. Ihre Schachtel und die ausgeschnittenen Sachen, ihre Papierpuppen und die Kataloge waren über den ganzen Boden verstreut, aber von Naomi keine Spur. Sie war weder in der Küche noch im Bad und auch nicht oben in ihrem Zimmer. Ihr kleines Bett war leer, der Stuhl an ihrem Schreibtisch ebenfalls. Von der Schubladenkommode starrten die Porzellankatzen in Reih und Glied zu Margaret hinüber, mit einem wissenden Lächeln zwischen ihren gemalten Schnurrhaaren. Sie waren ein Geschenk von Luke. »Naomi!«, rief Margaret. Sie rannte den Flur entlang, öffnete alle Türen, warf einen Blick in die Zimmer, geriet in Panik. Sie lief die Treppe hinunter zu Mollys Zimmer. Molly lag auf ihrem Bett und blickte versonnen auf ein Foto, das sie in ihrer hohlen Hand verbarg. Das T-Shirt lag vergessen als kleiner, zerknüllter Haufen auf dem Teppich. »Molly«, keuchte Margaret, ganz außer Atem. »Hast du Naomi gesehen?« »Naomi?« Molly sah sie mit großen Augen an. »Ja, Naomi. Deine kleine Schwester!« Molly schob das Foto unter ihr Kopfkissen. »Sie war im Wohnzimmer«, erklärte sie unbestimmt. »Mit ihrem ganzen Kram.« »Ja, aber da ist sie nicht mehr. Sie ist nicht im Haus. Sie ist weg!« »Weg?« Molly stützte sich auf einen Ellbogen und musterte ihre Mutter gelassen. »Wo könnte sie schon hingehen?« »Keine Ahnung!« »Oh, meine Güte, reg dich nicht so auf, Ma! Sie ist bestimmt nicht weg – sie wird schon irgendwo in der Nähe sein. Du hast bestimmt nicht richtig nachgesehen.«
Als wäre Naomi eine verlegte Sonnenbrille, dachte Margaret wütend, während sie den Flur entlang zurückhastete, durch die Küche, zur Hintertür hinaus. »Naomi!«, rief sie in den dunklen Garten. »Naomi! Naomi!«
Naomi war losgegangen, um die Gartenpforten zu schließen. Sie hatte gewartet, bis ihre Mutter in der Waschküche verschwand, war durch den Hinterausgang hinausgeschlüpft und hatte die Tür leise hinter sich zugezogen. Vorne am Gartentor blieb sie einen Moment stehen und blickte die Straße hinauf und hinunter, wie sie es jeden Abend tat, wenn Lukie spät nach Hause kam. Erstens, um zu gucken, ob er gerade kam, und dann, um sicherzugehen, dass niemand anders mehr unterwegs war. Es war schon fast dunkel, aber noch nicht ganz, denn am Himmel waren immer noch die Farben zu sehen, ein rosaroter Streifen am Horizont, die perlmuttgrauen Wolken und tiefblauen Flecken dazwischen. Ein sonderbarer alter Mond ging auf, wie ein hubbeliges Knubbelgesicht, das über die Dächer lugte und sie beobachtete. »Hau ab!«, zischte sie wütend, bückte sich tief nach unten, machte sich klein und rannte über den Bürgersteig zum Nachbarhaus. Dort war die Gartenpforte schon zu, also lief sie weiter zum nächsten Haus, wo die Tibbetts wohnten. Mr und Mrs Tibbett und Sammy Tibbett, die eigentlich fast noch ein Baby war und nicht mal in den Kindergarten ging. Auch hier war die Pforte zu; das war sie meistens, damit Sammy nicht auf die Straße hinausrennen konnte. Beim nächsten Haus stand das Tor nur ein bisschen offen und Naomi schloss es rasch, sie brauchte nicht mal richtig stehen zu bleiben. Doch die nächste Pforte stand sperrangelweit offen und sie musste sich hineinschleichen, um sie richtig fassen zu
können. Aber das machte nichts, denn die Vorhänge an den Fenstern waren zugezogen, also konnte niemand sie sehen. Nun hatte sie das Ende ihrer Straße erreicht. Es war eine kleine Straße, eine Seitengasse mit nur vier Häusern auf jeder Seite, und ihr eigenes lag ganz hinten. Sie überquerte die Straße, guckte gewissenhaft nach links, nach rechts und dann wieder nach links, obwohl sich nicht gerade viele Autos hierher verirrten. Wenn einmal eins vorbeikam, machte Naomi sich ganz klein und drückte sich an die Zäune, verbarg sich in ihren Schatten, reglos und ohne einen Mucks. Einmal war Mr Tibbett in seinem Wagen die Straße entlanggefahren und hatte sie gesehen. Er hielt an und fragte, was sie denn so spät allein noch draußen täte. Zuerst wusste Naomi nicht, was sie antworten sollte, aber dann hatte sie sich einfach eine Lüge einfallen lassen und behauptet, sie suche nach ihrem Tennisball. Mr Tibbett stieg aus und half ihr beim Suchen, auf den bepflanzten Seitenstreifen und in den Büschen, und Naomi hatte es Leid getan, dass er sich so viel Mühe machte, aber sie konnte es ihm nicht sagen. Mr Tibbett meinte, sie solle nie allein hinausgehen, wenn es draußen schon dunkel war, auch nicht, wenn sie etwas suchte. »Warte bis zum nächsten Morgen«, hatte er gesagt. Das erste Haus auf dieser Straßenseite hatte keine Gartenpforte, nur eine Einfahrt. Einfahrten zählten nicht und Naomi lief weiter zum nächsten. Diese Pforte quietschte, aber es war nur ein leises Quietschen, wie das Piepsen einer winzig kleinen Maus. Beim nächsten Haus wurden Naomis Schritte langsamer und sie musste sich vorsichtig anpirschen, denn hier wohnte Mrs Jackson. Ihre Einfahrt hatte ein großes Holztor mit zwei Flügeln. Wenn ihr Mann zu Hause war, hielten sie die Torflügel geschlossen, war er aber unterwegs, dann standen sie weit offen, zurückgeklappt bis dicht an den Gartenzaun.
Vor zwei Tagen hatte Mrs Jackson Naomi erwischt. Sie war die Verandatreppe heruntergekommen und über den Rasen gelaufen, so schnell, dass Naomi sie nicht mal rechtzeitig gehört hatte. »Kannst du mir bitte erklären, was du hier zu suchen hast, Naomi Leman?«, fragte sie scharf, und als Naomi keine Antwort gab, wurde Mrs Jackson noch wütender. »Ich will dich nicht noch mal erwischen«, hatte sie gesagt. Naomi betete, dass die Torflügel an diesem Abend geschlossen sein würden, aber nein, sie standen offen, bereit für Mr Jacksons Wagen. Naomi sah zum Haus hinüber. Auf der Veranda brannte Licht und auch die Wohnzimmerfenster waren hell erleuchtet, die Vorhänge zurückgezogen. Drinnen konnte Naomi Mrs Jackson sehen. Sie saß in einem großen Sessel und blätterte in einer Zeitschrift. Naomi schlich sich auf Zehenspitzen zum Tor, mit angehaltenem Atem, die Augen fest auf die Fenster gerichtet. Mrs Jacksons Kopf war nun richtig über die Zeitschrift gebeugt, sie hatte mit dem Blättern aufgehört und las etwas. Naomi schoss in die Einfahrt hinein und packte den ersten Torflügel. Er war groß und schwer und hatte sich unten auf dem Betonboden der Auffahrt festgeklemmt. Naomi zog und zog. Peng! Eine Tür knallte zu. Mrs Jackson war auf die Veranda hinausgetreten. Naomi kroch hinter den Torflügel, quetschte sich in den schmalen Spalt zwischen Tor und Zaun. Von hier aus konnte sie Mrs Jackson nicht sehen, aber sie wusste, dass Mrs Jackson nichts gemerkt hatte, denn sonst hätte sie angefangen zu brüllen. Sie war auf die Veranda gekommen, um nach Mr Jacksons Wagen Ausschau zu halten. Naomi hielt den Atem an und horchte auf das erneute Zuschlagen der Verandatür. Sie wartete so lange, dass ihre Beine anfingen wehzutun und sie am liebsten losgeheult hätte.
Wie sollte sie die Torflügel schließen, wenn Mrs Jackson dort oben auf der Veranda war? Und was würde passieren, wenn Mr Jackson jetzt nach Hause kam? Sie musste das Tor schließen. Sie musste es einfach. Jeden Abend musste sie alle Tore und Pforten an der Straße schließen, sonst… sonst würde Lukie etwas zustoßen. Naomi spürte es, sie spürte es unter ihrer Haut, in ihren Knochen, in ihrem Blut, in ihren Haaren: Wenn sie nicht alle Tore im Orchard Court schloss, dann würde Lukie etwas Schlimmes passieren. Peng! Die Verandatür fiel wieder zu. Naomi lugte hinter dem Torflügel vor. Mrs Jackson war wieder drinnen im Wohnzimmer; den großen Sessel hatte sie nun herumgedreht, mit der Rückenlehne zum Fenster. Sie sah fern. Naomi kroch aus ihrem Versteck hervor und packte den Torflügel mit beiden Händen, hob ihn an – und nun bewegte er sich schnell, ganz plötzlich, entglitt dabei ihren Händen und schwenkte nach vorn bis zur Schwelle, mit einem schabenden Geräusch, das Naomi einen Schauer über den Rücken jagte. Aber es war alles in Ordnung. Mrs Jackson hatte nichts gehört. Sie blieb in ihrem Sessel sitzen, die Augen auf den Fernseher gerichtet. Vorsichtig schloss Naomi den zweiten Torflügel. Gerade als der Riegel mit einem Klicken einrastete, hörte sie, wie ihre Mutter rief: »Naomi, Naomi!« Naomi rannte an dem letzten Haus vorbei, wo es weder Zäune noch Tore gab, sondern nur ein Rasengrundstück, das bis zum Bürgersteig ging. Sie schlüpfte durch die eigene Gartenpforte und lief den Pfad entlang, der seitlich am Haus vorbeiführte. Als sie um die Ecke bog, stand ihre Mutter am Hintereingang. »Naomi, wo bist du gewesen?« »Nirgends.« »Nirgends?«
»Ich war bloß hier auf dem Seitenweg«, log Naomi. »Ich habe… nach meinem Tennisball gesucht.« »Aber ich rufe schon seit einer Ewigkeit. Wieso gibst du keine Antwort?« Naomi senkte den Kopf. Aus einem Augenwinkel heraus sah sie die Holzgitterverkleidung, die die Stützpfähle des Hauses abdeckten. Die Seiten des Hauses waren nicht verkleidet, dort konnte man unter den Holzboden kriechen. »Ich… ich bin unters Haus gekrochen«, sagte sie zu Ma. »Der Ball, er hat dort gelegen.« So wie sie aussah, hätte sie tatsächlich unter dem Haus gewesen sein können; in dem schmalen Spalt hinter Mrs Jacksons Tor waren ihre Kleider ganz staubig geworden und in ihrem Haar hing eine Spinnwebe. Margaret wischte die Spinnwebe fort. »Schau nur, wie du aussiehst!«, schimpfte sie. »Hab ich dir nicht schon tausendmal gesagt, dass du nicht unters Haus kriechen sollst? Du könntest von einer Spinne oder sonstwas gebissen werden. Und wenn du mich rufen hörst, möchte ich, dass du auf der Stelle herkommst, Naomi. Hast du mich verstanden?« Naomi nickte. »Ja, Ma«, sagte sie.
Nachtwölfe
Von dem Moment an, als er den Briefträger unten am Bahnhof sah, hatte Luke die merkwürdige Gewissheit verspürt, dass Stringer seinen Eltern per Brief mitteilte, ihr Sohn sei von der Schule verwiesen worden. Stringer war einfach der Typ, der so etwas schriftlich erledigte, damit er ihnen nicht ins Gesicht zu sehen brauchte oder ihre schockierten, beschwörenden Stimmen hören musste. Eine Briefbombe. Stringer hatte tatsächlich etwas von einem Terroristen, denselben ausdruckslosen Blick, als könne er gar nicht begreifen, dass es um echte Menschen aus Fleisch und Blut ging. Aber es war kein Brief da. Der Kasten war leer, auf dem Tisch in der Diele lagen nichts als Rechnungen und Ma und Dad sagten nichts. Doch Luke hatte immer noch keine Ruhe. Er konnte überhaupt nicht einschätzen, ob Stringer wirklich die Absicht hatte, ihn hinauszuwerfen, oder ob er einfach nur Mist redete, wie Caro sagte. Wie auch immer, Luke durfte sich nicht sicher sein, und das Nichtwissen war fast genauso schlimm, als würde es wirklich passieren. Die Ungewissheit gab einem das Gefühl, durch tückisches Dickicht zu tappen, mit angehaltenem Atem, bis einem der Brustkorb wehtat, und darauf zu warten, dass eine Falle zuschnappte. Es hatte gar keinen Sinn, jetzt zu arbeiten. »Du schaffst das schon«, hatte Caro gesagt, aber seit dem Abendessen hatte er nur untätig in seinem Zimmer gehockt. Schon der Anblick der blauen Mappe mit den Eselsohren löste leichte Übelkeit bei ihm aus, als hätte er sich den Magen verdorben.
Morgen war Donnerstag. Was, wenn er am Sonntagabend immer noch hier sitzen würde, immer noch ohne eine Idee? Was, wenn es wirklich passierte? Genau das? Konnte es passieren? Dieses Vorhängeschloss-Gefühl in seinem Kopf war einfach verrückt. Wenn er es doch nur geschafft hätte, Caro an diesem Nachmittag davon zu erzählen. Es war doch schon fast ausgesprochen gewesen, aber dann hatte er sich wieder zurückgezogen, so wie immer. Es gab einfach niemand anders, dem er davon hätte erzählen können. Ms Brennan wollte er es nicht sagen, sie wäre nur enttäuscht von ihm gewesen. Und Ma würde sich bloß aufregen. Was Dad betraf… Man konnte sich ja schlecht mit jemandem unterhalten, der nicht mit einem redete, der sogar so tat, als sei man gar nicht da. Als sein Vater mit dem Schweigen begann, dachte Luke, die Bestrafung würde nur ein paar Tage dauern und er müsste einfach den Atem anhalten und leiser auftreten, bis sich die Wogen wieder glätteten. Aber es hörte gar nicht mehr auf. Luke hatte versucht, das Schweigen zu brechen; er pickte sich kleine Abschnitte aus Zeitungsartikeln heraus, verrückte Stellen oder witzige Absätze, über die er und Dad früher zusammen gelacht hätten. Wenn sein Vater im Fernsehzimmer saß, ging er hinüber zu ihm, sagte: »Hey, Dad, hör dir das an!«, und las den Absatz laut vor. Aber schon nach der Hälfte oder sogar früher merkte er, dass sein Vater nichts dazu sagen würde. Dann bekam Lukes Stimme einen ganz merkwürdigen Klang, aber er las den Absatz trotzdem zu Ende, denn abzubrechen wäre noch viel schlimmer gewesen. Schweigen. Danach hatte er immer noch einen Moment abgewartet, war in der Tür stehen geblieben, voller Hoffnung, weil er einfach nicht daran glaubte, dass sein Vater ihn weiterhin so behandeln
würde. Dann erst machte er kehrt, schlich mit leichten, kaum hörbaren Schritten davon, fühlte sich tatsächlich leichter, als sei er weniger geworden, als hätte sich etwas in ihm in nichts aufgelöst. Er beachtete Dad nicht mehr. Alex Hamilton wäre jemand gewesen, dem er alles hätte erklären können. Alex hätte diese Sache mit dem Vorhängeschloss nicht seltsam gefunden, sondern interessant. Und er hätte pausenlos darüber reden wollen, hätte über jedes winzige Detail diskutiert. Er würde verstehen, wie so etwas passieren konnte und dass man vielleicht trotzdem richtig im Kopf war, weder dumm noch seltsam oder verrückt oder sonst was. Aber Alex war nicht mehr da; es hatte nicht mal mehr Sinn, immer noch an ihn zu denken. Er hätte mit Caro sprechen müssen. Caro! Plötzlich sah er sie vor sich, auf der Straße vor dem Bahnhof, den Mantel enger um sich ziehend, als fröre sie, wie sie verwirrt zu ihm herüberstarrte. Er hatte sie einfach dort stehen lassen! War sofort losgerannt, als er den Briefträger sah und an Stringer denken musste, hatte sie allein nach Hause gehen lassen. Luke sprang auf, lief die Treppe hinunter zum Telefon und wählte Caros Nummer. Er wartete eine ganze Weile, dann war Mr Hunters Stimme zu hören, belegt und benommen, als habe er gerade geschlafen. »Ja? Wer ist da? Wer spricht denn, bitte?« Bevor Luke antworten konnte, zeterte Mr Hunter: »Wissen Sie eigentlich, wie spät es ist?« Wie spät? Luke warf einen Blick auf seine Uhr; die Zahlen seiner Digitalanzeige sprangen ihm entgegen: 1.35 Uhr! Er hatte nicht gewusst, dass es schon so spät war. Ungefähr elf, hatte er angenommen.
»Bist du Caros Freund?«, fragte Mr Hunter. »Was zum Teufel fällt dir ein, mitten in der Nacht hier anzurufen?« Der Hörer entglitt seiner nervösen Hand. Er hatte die Situation gründlich verpatzt. Und obwohl er kein Wort gesagt hatte, war Mr Hunter irgendwie sofort darauf gekommen, dass er es sein musste. Wie bloß? Luke schleppte sich die Treppe hinauf. Morgen würde er Caro den Anruf erklären müssen. »Warum tust du so was?«, würde sie fragen. Als er auf Zehenspitzen durch den Flur schlich, hörte er einen leisen Aufschrei aus Naomis Zimmer. Er öffnete die Tür. Seine kleine Schwester saß aufrecht im Bett und drückte sich in der Ecke ängstlich an die Wand. Er setzte sich neben sie. »Hey, was ist los, Sternenprinzessin? Was hast du denn?« Naomi schluckte. »Da sind Wölfe drin!« Luke verdrehte die Augen auf die Art, mit der er sie immer zum Lachen bringen konnte. »Guck mal«, flüsterte er und legte einen Finger an den Mund. Er stand auf, schlich hinüber zum Schrank und riss die Türen weit auf. »Ooh!«, kreischte Naomi. Erschrocken presste sie sich noch dichter an die Wand, aber Luke schüttelte den Kopf. »Keine Wölfe da«, sagte er. Er ließ sich auf den Teppich fallen und guckte unter das Bett. »Hier auch nicht.« Er ging hinüber zur Kommode, zog die oberste Schublade auf, griff eine lange, gestreifte Socke heraus und wedelte sie durch die Luft. Naomi kicherte. »Habt ihr vielleicht irgendwelche Wölfe gesehen?«, fragte er die Porzellankatzen, die in Reih und Glied standen. Er beugte sich tief zu ihnen hinunter, um ihre Antwort zu verstehen. »Gar nichts haben sie gesehen«, versicherte er Naomi. Sie zeigte an die Decke. »Da oben!« Luke sah hinauf. Das Licht der Straßenlaterne draußen vor dem Fenster tanzte flackernd an der Decke. Kein Wunder, dass
sie an Wölfe gedacht hatte; die Schatten dazwischen waren schmal und grau, unheimlich. »Das sind doch nur die Schatten von den Bäumen da draußen«, erklärte er. »Der Wind bewegt ihre Blätter, das ist alles.« Er setzte sich wieder zu ihr ans Bett. »Die Nachtwölfe«, sagte Naomi. »Ich hab gedacht, das sind die Nachtwölfe, die mich holen kommen.« »Das trauen die sich nie«, sagte Luke. »Dazu hätten sie gar nicht den Mut. Außerdem gibt es in Australien doch gar keine Wölfe, Prinzessin.« »Aber Gedankenwölfe«, flüsterte Naomi. »Was?« Luke beugte sich vor. Er musste sich verhört haben. »Nachtwölfe sind Gedankenwölfe«, sagte Naomi. Ein heimlicher Schauer stahl sich seinen Rücken hinunter. Aber sie konnte es nicht so meinen, wie es sich anhörte, beruhigte er sich; Ängste, die sich mitten in der Nacht aus ihren Ecken an einen heranpirschten und in die Gedanken einschlichen wie Wölfe. Das konnte sie einfach nicht meinen, dazu war sie nicht der Typ. Naomi war ein starkes Kind. Wahrscheinlich meinte sie bloß »erfundene« Wölfe, das war es. »Lukie, was ist denn?« »Nichts.« Er ergriff ihre Hand; warm und fest lag sie in der seinen. »Nachtwölfe, Gedankenwölfe, schwarze Wölfe, braune Wölfe, große Wölfe, kleine Wölfe, egal, was für blöde Wölfe – die kriegen dich nie, weil sie nämlich viel zu viel Angst haben. An die Sternenprinzessin kommen sie einfach nicht ran!« »Niemals?« »Nie-niemals.« Er ließ ihre Hand los und stand auf. Dann ging er zum Fenster und zog die Vorhänge zusammen. »Siehst du«, sagte er und deutete hinauf zur Decke. »Alle weg!«
Naomi nickte und ließ sich wieder in die Kissen sinken. Luke zog das Federbett hoch und deckte sie zu. »Okay?«, fragte er. »Okay«, sagte sie.
Draußen auf dem Flur stand seine Mutter. »Luke, was machst du denn hier? Hast du Naomi etwa aufgeweckt?« »Sie war wach«, sagte Luke. »Sie hatte einen Albtraum.« Seine Mutter griff nach der Türklinke. »Es geht ihr gut«, sagte er schnell. »Sie schläft wieder.« »Oh.« Er sah ihr ins Gesicht. An ihren Augen war deutlich abzulesen, dass sie zwischen Hoffnung und Zweifeln schwankte. Sie überlegte, ob er log oder die Wahrheit sagte. Aber ein bisschen Vertrauen hatte sie noch in ihn, das wusste er. Sie hatte ihn nicht völlig abgeschrieben, so wie Dad. Die Hoffnung siegte. Seine Mutter lächelte ihn an. »Entschuldige«, sagte sie leise. Es war zwei Uhr. In weiter Ferne pfiff der Nachtzug, der sich hinter dem Golfplatz in die Kurve legte und Richtung Bahnhof raste. Fast sah Luke ihn vor sich, die dunklen Räder, die über glänzende Schienen donnerten, die Reihe erleuchteter Abteilfenster, die leeren Blicke der Nachtmenschen, die vor sich hin starrten. »Hörst du das?«, fragte er seine Mutter. »Was?« »Diesen Zug. Den Nachtzug.« »Ich höre gar nichts.« Sie runzelte die Stirn. »So spät nachts fahren keine Züge mehr. Luke, geh ins Bett, bitte. Es ist schon nach zwei.«
»Okay.«
»Gute Nacht«, sagte sie. Es klang etwas sanfter.
»Gute Nacht.«
Morgens um halb acht
Jetzt aber! Margaret hob das Kinn, straffte den Rücken und klopfte an Mollys Tür. »Was willst du?«, brummte Molly. Nie hörte man mal ein »Guten Morgen, Ma« oder »Herein!«, dachte Margaret. Sie mussten einem ständig das Gefühl geben, nicht willkommen zu sein. Molly saß auf ihrem Bett und kämmte ihre Rattenschwänze aus. Auf einer Seite fiel das Haar schon locker und luftig, auf der anderen war es noch immer zusammengebunden und die kleinen Zöpfe saßen so straff, dass Mollys Auge sich verzog. Dadurch wirkte ihr Gesicht merkwürdig schief: die eine Hälfte jung und sanftmütig, die andere alt, gewieft und scharfsinnig. Falsch zusammengesetzt, dachte Margaret, wie ein verrücktes Körperpuzzle in diesen Klappbilderbüchern für Kleinkinder. Sie kam sofort auf den Punkt: »Schluss jetzt mit diesen Mätzchen, Molly«, sagte sie streng. »Ich möchte, dass du den Jungen am Sonntag zum Tee mitbringst, damit wir ihn kennen lernen. Und zwar an diesem Sonntag!«, fügte sie hinzu. Molly schwieg. Sie drehte ihr Gesicht weg und starrte beleidigt an die Wand, als sei diese interessanter. Aber in Wirklichkeit wollte Molly sich nur zurückziehen. Sie fand die Idee ihrer Mutter unmöglich, sie wollte nichts davon hören. Am Sonntag zum Tee! Hier in diesem Haus! Mollys Halsmuskeln zuckten; eine Abfolge schrecklicher Bilder flimmerte an ihrem geistigen Auge vorbei. Lionel, der durch die Haustür hereintrat, und alle standen bereit, um ihn zu begaffen wie einen Bräutigam aus dem Versandhauskatalog. Ma wäre ganz die stolze Mutter und
würde so tun, als seien Molly und Lionel verlobt oder dergleichen. Dad würde ihn in die Zange nehmen: Was studierte er? Wie sahen seine beruflichen Pläne aus? Was machte sein Vater? Nach dem Beruf der Mutter würde er natürlich nicht fragen, dazu war Dad viel zu altmodisch. Naomi würde den armen Lionel anstarren und davonrennen, um eine ihrer idiotischen Papierpuppen anzufertigen, mit rundlichen Armen und Beinen und Rosinenaugen und splitternackt. Und dann würde sie ankommen, Lionel die Puppe auf den Schoß legen und sagen: »Das bist du.« Aber der Schlimmste von allen war Luke. Er würde zu Hause sein, da ging sie jede Wette ein. Meistens war er unterwegs und streunte durch die Straßen wie ein Penner, aber an diesem Tag würde er zu Hause bleiben, unter Garantie. Sie konnte sich die Situation genau vorstellen: Er käme die Treppe heruntergetappt, in seiner speckigen alten Schuluniform, obwohl es Sonntag war, denn in letzter Zeit schien er kaum mehr die Kleider zu wechseln. Seine langen, fettigen Haare würden nach allen Seiten abstehen wie bei einem verrückten Professor, der unten in seinem Kellerlabor irgendwelche scheußlichen Monster züchtete. Kopten Coolibah würde er Molly nennen, diesen dämlichen Spitznamen hatte er ihr gegeben, als sie noch ein kleines Mädchen gewesen war. »Käpten Coolibah ist ganz schön aufbrausend«, würde er zu Lionel sagen. »Du hast echt Mut, Sportsfreund.« Selbst wenn Luke gar nichts sagte – Molly wollte einfach nicht, dass Lionel diesen Loser zu Gesicht bekam, den sie zum Bruder hatte. Diesen Loser, der sich selbst zum Narren machte, ohne Grund, ohne den geringsten Grund! Immer wieder passierte es, dass auf Partys oder in Diskotheken irgendwelche wildfremden Leute auf sie zukamen und sie fragten: »Bist du nicht Luke Lemans Schwester?« Molly hasste das.
Sie wollte nicht, dass Lionel dieses Haus betrat, denn es war einfach nicht normal, es war schrecklich, das reinste Irrenhaus. Manchmal war es ganz und gar still hier, so still, als ob selbst die Holzbohlen des Fußbodens sich nicht zu knarren trauten. Man hatte Beklemmungen im Brustkorb, man hatte das Gefühl, schreien und brüllen zu müssen, um diese Stille zu zerschlagen. Manchmal aber entlud sie sich ganz von selbst, konnte von einer Sekunde auf die andere aufbrechen. Dann saß man in seinem Zimmer, hörte flüsternde Stimmen von draußen und die Stimmen schwollen an wie ein Wind, der den Sturm ankündigte, und plötzlich rannten Menschen durch das Haus und schrien und weinten, wegen nichts und wieder nichts, wegen irgendwelcher Kleinigkeiten. Es war wie ein durchgedrehtes Karussell. Oh, wie sie es hasste, dieses Haus. Sobald Molly mit der Schule fertig war, würde sie ausziehen, das stand fest. Es kam nicht in Frage, Lionel hierhin mitzubringen, auf gar keinen Fall! Weder Ma noch Dad konnten sie dazu zwingen. Dad wusste noch gar nichts von Lionel. Dinge, die nichts mit Luke zu tun hatten, bekam er sowieso nicht mit. Luke war das Einzige, was ihm wichtig war, obwohl er nie mit ihm sprach. Ma hatte ihm bestimmt nichts von Lionel erzählt, denn inzwischen war Dad so schweigsam geworden, dass er richtig unheimlich wirkte. Ma hatte Angst vor Dad und Dad hatte Angst um Luke und sogar Naomi wurde schon ängstlich. Es war einfach schaurig, wie sie jedes Mal »Wo ist Lukie?« fragte, wenn er zu spät zum Abendessen kam. Das war alles Lukes Schuld. Warum war er so geworden? Warum vermasselte er in der Schule dauernd alles, obwohl er Grips im Kopf hatte? Warum machte er sich zum Loser, obwohl es keinen Grund dafür gab, obwohl er früher einmal ganz anders gewesen war? Er war Mollys größtes Vorbild gewesen. Ein furchtbares Gefühl von Traurigkeit legte sich auf
Mollys Brust; das Problem mit der Einladung zum Tee hatte sie fast schon vergessen, sogar, dass Ma noch in der Tür stand und auf eine Antwort wartete. Molly warf sich in die Kissen und brach in Tränen aus. Margaret lief zu ihr hinüber. »Molly, was hast du denn?« Molly hielt sich den Bauch und weinte. »Ist dir schlecht?« »Nein«, keuchte Molly. »Hast du Probleme in der Schule?« »Nein.« »Hat es… Hat es was mit Lionel zu tun?« O Gott, was für ein Idiot Ma doch war. Molly schüttelte den Kopf, die Hände noch immer in die Magengrube gepresst. Margarets Augen hefteten sich auf diese verzweifelten Hände und ein uralter Verdacht begann an ihren Nervensträngen zu zerren. »Du bist doch nicht etwa schwanger, Molly?« Molly setzte sich kerzengerade auf. Ihre Tränen versiegten auf der Stelle. »Nein, ich bin nicht schwanger!« Ihre Stimme war kalt, geradezu frostig. Voller Verachtung sah sie ihre Mutter an. Ma war wirklich vorsintflutlich, genau wie Dad – Mr und Mrs Noah! »Weißt du, was dein Fehler ist, Ma?«, fragte sie. »Nein, was denn?« »Du denkst immer nur das Schlimmste. Das Schlimmste über uns. Du denkst wie eine Zeitung, wie eine ziemlich alte Zeitung, aus den Fünfzigern oder so, total frauenfeindlich und altmodisch, wo ein Haufen Scheiße drinsteht. Ihr glaubt, dass irgendwas mit uns nicht stimmt und dass aus uns nichts wird, bloß weil wir jünger sind als ihr. Von den Jungs glaubt ihr immer, dass sie drogenabhängig werden und auf der Müllkippe enden…« Mollys Stimme wurde zu einem Kreischen. »Was soll das überhaupt heißen, Ma? Auf der Müllkippe!«
Margaret schnappte nach Luft. »Ich weiß es nicht«, sagte sie. Es war ohnehin nicht ihr Vokabular. Es war Dan, der dieses Wort benutzte, wenn er von Luke sprach. »Molly, ich…« Aber Molly hörte nicht zu, sie war viel zu wütend. »Und von den Mädchen glaubt ihr immer, dass sie sexwütig sind, mit jedem Jungen ins Bett springen und schwanger werden. Ihr denkt, wir sind Idioten, nur weil wir jung sind. Aber so bin ich nicht. Ihr seid die Idioten, du und Dad! Es ist einfach idiotisch, so zu denken!« Margaret sprang vom Bett auf, die Hand an der Wange wie nach einer Ohrfeige. Aber diesmal würde sie nicht nachgeben, diesmal nicht. »Am Sonntagnachmittag«, wiederholte sie mit fester Stimme. »Denk dran, Molly. Diesen Sonntag.«
Als Molly fünfzehn Minuten später den Wäschekorb nach ihren Turnhosen durchwühlte, bemerkte sie plötzlich einen Schatten, der den Raum verdunkelte. Sie hob den Kopf und sah ihren Bruder, der durch die Tür in die Waschküche geschlendert kam. Er sah sie an, musterte ihr verweintes Gesicht und die verquollenen, rotumränderten Augen. »Was glotzt du denn so?«, fuhr sie ihn an. Luke schüttelte den Kopf. »Warum tust du das, Käpten Coolibah?« Er grinste sie verschmitzt an und rollte mit den Augen. »Du sollst mich nicht so nennen!« »Es hat dir doch immer gefallen.« »Das war früher, als ich noch klein war.« Molly zog ihre Turnhose unter einem Tischtuch hervor. Sie war dreckig! »Was tue ich denn?«, fauchte sie ihren Bruder an. »Das weißt du doch…« Er deutete mit dem Kopf Richtung Küche, wo die anderen beim Frühstück saßen. »Sie reizen. Warum bringst du sie so auf die Palme?«
»Und was tust du?«, kreischte Molly. Sie drängte sich an ihm vorbei zur Tür hinaus. »Und was tust du?« Das verschlug ihm die Sprache. Aber nur für einen Moment, dann verfolgte er sie durch den Flur. »Was tue ich denn?«, schrie er. Molly antwortete nicht. Sie verschwand in der Gästetoilette und schlug die Tür hinter sich zu. Luke hämmerte mit den Fäusten dagegen. »Was tue ich denn?«, brüllte er. »Was tue ich denn?«
Lukes und Mollys Vater las gerade die Morgenzeitung, als der Tumult losbrach. Margaret bestrich ihren Toast mit Marmelade und Naomi goss sich vorsichtig Milch über ihre Reis-Crispies. Sie beugte den Kopf nach unten, bis dicht über die Schüssel, den Milchkrug immer noch in der Hand. Das Poltern und Brüllen draußen im Flur war so laut, dass man das Knistern und Rascheln der Reis-Crispies gar nicht hören konnte! Naomi sah zu ihrer Mutter hinauf. »Die streiten sich«, sagte sie. »Molly streitet sich mit Luke im…« Sie unterbrach sich und schnappte erschrocken nach Luft. Die Milch war über den Schüsselrand gelaufen und tropfte ihr auf den Schoß. »O nein!«, rief Margaret. »Schau mal, was du angerichtet hast, Naomi! Nun sieh dir das an!« Sie sprang auf, um den Lappen zu holen, während das Schreien und Hämmern draußen im Flur weiterging. Dan Leman legte die Zeitung beiseite. Er schob seinen Stuhl zurück und ging in die Diele hinaus. »Molly!«, rief er, obwohl Luke den größten Radau veranstaltete. Sein Vater sah ihn nicht an, sondern blickte durch ihn hindurch wie eine elegante Dame auf einer belebten Einkaufsstraße, die einen Bettler ignoriert. Stattdessen betrachtete er das Bild an der Wand, ein großes
weißes Segelschiff, das gegen die stürmischen Wellen ankämpfte. »Es ist morgens um halb acht«, teilte er dem Segelschiff mit. »Halb acht, also lasst uns bitte ein bisschen Ruhe und Frieden haben.« Die Ruhe kehrte ein. Alle verfielen in Schweigen. Aber was den Frieden anging, dachte Margaret, während sie Naomi die Milch vom Schoß tupfte, friedliche Zeiten würde es in diesem Haus vielleicht nie wieder geben.
Affektive Störung
Diese gehässige Kuh!, dachte Rosa Brennan, als sie sah, wie sich Mrs Lewis durch das Lehrerzimmer an Stringer heranschob, wie sie mit glühenden Wangen und glänzenden Augen begann, über Luke Leman zu hetzen. Denn genau das war es im Grunde: Sie hetzte und petzte. Wie ein kleines Schulmädchen, das im Unterricht die Hand hob, um dem Lehrer zu sagen, dass auf den hinteren Bänken jemand Unfug trieb. »Ich konnte nicht das Geringste aus ihm herausbekommen«, klagte Mrs Lewis. »Er hat sich einfach geweigert zu reden.« »Widerspenstig und unkooperativ«, stimmte Stringer zu und Physiklehrer Bob Grace, soeben unterwegs zu seiner zehnten Klasse, blieb in der Tür stehen, um Rosa einen Blick zuzuwerfen und mitfühlend den Kopf zu schütteln. Rosa spürte einen Anflug von Ärger. Es war ja nett, wenn jemand Mitgefühl zeigte, aber warum sagte Bob denn nichts? Warum sagten sie alle nichts, warum unternahm niemand etwas gegen Stringer und Mrs Lewis? Es gab kaum einen Lehrer im Kollegium, der Stringers Methoden und Mrs Lewis’ Getratsche nicht verabscheute. »Er schien mir gar nicht folgen zu können, nicht mal die Hälfte der Zeit«, schnatterte Mrs Lewis fröhlich weiter. »Kaum zu glauben, dass er einen so hohen Intelligenzquotienten hat.« Stringer dachte einen Moment darüber nach. »Vielleicht stimmen die Zahlen ja nicht«, sagte er. »Die Tests sind woanders gemacht worden.«
»Und letztes Jahr hat er nur in zwei Fächern bestanden. Das ist doch kein Ergebnis, das man von einem begabten Kind erwarten würde.« »Tja, er ist offensichtlich faul.« Das war zu viel für Rosa. »Jetzt hören Sie mal, ich weiß zwar, dass seine Noten es nicht zeigen«, brach es aus ihr heraus, »aber ich bin wirklich davon überzeugt, dass Luke Leman einer der begabtesten Schüler ist, die wir je hatten.« »Tatsächlich?« Mrs Lewis machte große Augen. »Ja, tatsächlich.« »Aber er tut sich doch so schwer. Wenn er so intelligent wäre, wie man behauptet…« »Es könnte doch sein, dass er einfach nur Angst hat. Angst kann so etwas auslösen, sie kann den Verstand lähmen und normales Lernen erschweren. Haben Sie sich denn noch nie über irgendetwas so viele Sorgen gemacht, dass Sie sich nicht mehr konzentrieren konnten, gar nicht mehr normal denken?« »Nein«, erwiderte Mrs Lewis sehr entschieden. »Und begabte Kinder können in der Schule große Schwierigkeiten haben«, fuhr Rosa fort. »Fünfundsiebzig Prozent aller High-School-Abbrecher in Amerika sind überdurchschnittlich intelligent.« Stringer hob die Augenbrauen. Das war alles, aber schon diese kleine Geste genügte um Rosa zu verunsichern. Sie wusste, dass sie diese Zahlen über die Schulabbrecher irgendwo aufgeschnappt hatte, aber wo genau? Hatte sie es in einer pädagogischen Fachzeitschrift gelesen? Oder in einem Buch? War es vielleicht eine Radiosendung gewesen? Wenn Stringer sie nach der Quelle fragte, würde sie die nicht nennen können. Er würde denken, sie hätte sich alles ausgedacht. Und hatte sie sich die Zahl auch richtig gemerkt? Sie war wirklich erschreckend hoch gewesen, aber gleich fünfundsiebzig
Prozent? Vielleicht waren es ja auch nur fünfzig gewesen und… Rosa rief sich zur Ordnung. Sie ließ ihn viel zu dicht an sich heran, das war genau Stringers Methode. Er schwieg einfach, bis man schwach und unsicher wurde, bis man sich irgendwie im Unrecht fühlte. »Dass Luke intelligent ist, merkt man im Gespräch mit ihm«, sagte sie leise. »Gespräch!«, höhnte Mrs Lewis. »Und außerdem schreibt er Gedichte.« »Gibt es das nicht öfter, dass Schizophrene eine Schreibbegabung haben?«, erkundigte sich Mrs Lewis mitfühlend. Rosa schoss das Blut in den Kopf. »So ein Problem hat Luke nicht, Mrs Lewis«, erwiderte sie. »Und Sie sollten solche Gerüchte gar nicht erst in die Welt setzen!« Mrs Lewis starrte sie wütend an. »Dieser junge hat eine affektive Störung«, sagte sie finster. »Eine affektive Störung?« »Er kennt kein Gefühl«, erklärte Mrs Lewis, nun zu Stringer gewandt, als habe sie es aufgegeben, Rosa zu überzeugen. »Ihm fehlt die Fähigkeit, auf die Gefühle anderer Menschen einzugehen, sich auf jemanden einzulassen. Ist Ihnen aufgefallen, dass er kaum Freunde hat?« Sie machte eine Pause, dann wurde ihre Stimme plötzlich schrill. »Dieser junge Mann fühlt für nichts und niemanden etwas!« Stringer nickte, aber Rosa erwiderte heftig: »Natürlich fühlt er! Er ist nur ein isolierter Junge mit sehr wenig Selbstbewusstsein, das ist alles. Er ist von einer anderen Schule hierher gekommen…« »Von zwei anderen Schulen«, korrigierte Stringer mit einem winzigen Lächeln. Er zeigte mit erhobenem Finger auf Rosa. »Wohlgemerkt zwei Schulen, Ms Brennan.«
»Dann eben zwei Schulen«, sagte Rosa ärgerlich. »Die Zahl spielt doch keine Rolle. Es ist auf jeden Fall schwer, in einer zwölften Klassen Anschluss zu finden, wenn der Rest der Klasse sich seit dem siebten Schuljahr kennt.« »Für ihn ist es schwer«, sagte Mrs Lewis. »Und diese Beziehung mit Caroline Hunter, haben Sie davon gehört?« »Ja.« »Gibt es da einen Anlass zu Besorgnis?« »Nicht dass ich wüsste«, erwiderte Rosa kalt. »Denn ich denke, das wäre außerordentlich bedauerlich. Caroline Hunter ist ein nettes Mädchen und hat sehr gute Noten. Vielleicht sollte ich mal mit ihr reden. Ich bin sicher, ihre Eltern…« »Tun Sie das bitte nicht!«, rief Rosa. »Bitte mischen Sie sich da nicht ein, Mrs Lewis. Luke hat sowieso kaum jemanden, mit dem er reden kann, und er steht so unter Druck…« »In der zwölften Klasse stehen alle Schüler unter Druck, Ms Brennan«, erwiderte Mrs Lewis schnippisch. »Aber anstatt sich in Gartenlauben zu verkriechen, lernen sie, mit diesem Druck umzugehen.« Stringer schaltete sich mit einem Räuspern ein und ließ ein kurzes, gebieterisches Husten hören. »Ja, diese Sache mit der Laube: Ich habe gründlich darüber nachgedacht und da wir so kurz vor den Prüfungen stehen, denke ich, dass sie ohne Folgen bleiben sollte.« »Folgen?«, fragte Rosa. »Was denn für Folgen?« »Nun, im Normalfall könnte so etwas einen Schulverweis zur Folge haben. Zumindest eine vorübergehende Suspendierung vom Unterricht.« »Einen Schulverweis!« Rosa starrte ihn sprachlos an. »Das kann doch nicht Ihr Ernst sein! Einen Schüler der zwölften Klasse von der Schule zu verweisen, weil er bei jemandem durch den Garten gelaufen ist. Das ist einfach lächerlich!«
Lächerlich. Das Wort schien zitternd im Raum zu stehen. Mrs Lewis warf Rosa einen kurzen, tadelnden Blick zu. Stringers Augen zuckten. Sein Gesicht erstarrte, wurde kalt und gefährlich wie Eis, und Rosa spürte plötzlich, dass dieser kleine, überhebliche Mann ihr Angst einjagte. »Wie gesagt«, wiederholte er. »Ich werde nichts unternehmen. In einem solchen Fall muss man an die Eltern denken. Die Lemans sind anständige Leute und haben alles für ihren Jungen getan, was sie konnten. Es tut mir aufrichtig Leid um sie.« Seine Worte hatten einen unerwarteten Effekt auf Mrs Lewis. Ihre hübschen Gesichtszüge begannen zu wabern, als sei sie plötzlich unter Wasser getaucht, und ihre blauen Augen wirkten so trübe und abwesend, dass man hätte meinen können, sie lausche verirrten Schritten auf dem eigenen Grab. »Diese Kinder!«, jammerte sie. »Sie werfen einfach alles fort! Man gibt ihnen alles, man gibt und gibt und gibt und gibt – und sie werfen es einem einfach so vor die Füße!« Rosa stand stocksteif da; plötzlich tat Mrs Lewis ihr unendlich Leid. All das Gerede über Eltern und undankbare Kinder hatte die Vertrauenslehrerin an ihr eigenes undankbares Kind erinnert. Worüber sie in Wahrheit jammerte, war ihre bedauernswerte Tochter Phoebe, und in ihrer Stimme schwang echter Kummer mit. Es war offensichtlich. Aber nicht für Stringer. Er starrte Mrs Lewis mit leicht verdutzter Abneigung an. Wieder zuckten seine Augen. »Hm, ja«, sagte er. Stringer hatte etwas von einem Blinden, dachte Rosa. Er war wie ein kleines, nachtblindes Tier, das ein schweres Erdbeben aus seinem dunklen Bau an die Erdoberfläche katapultiert hatte, mit wackelndem Kopf und rudernden Beinen, vom Tageslicht geblendet.
Rosa nahm ihre Tasche und drängte sich an den beiden vorbei Richtung Tür.
Im Park
Es war nach sechs Uhr und im ganzen Vorort saßen an diesem Abend Schüler des zwölften Jahrgangs und arbeiteten oder dachten zumindest darüber nach, blätterten in Büchern, machten sich Notizen und hackten auf ihre Tastaturen ein, während sie sehnsüchtig auf die Stimmen ihrer Mütter lauschten, die sie zum Abendessen rufen würden. Sie hätten sich verändert, versicherten ihre Onkel und Tanten ihnen ständig, sie sähen schockierend aus, sagten ihre Großmütter. Manche hatten beim Lernen Kekse und Schokolade in sich hineingestopft und dadurch zugenommen, andere waren dünner geworden, weil sie einfach nichts mehr herunterbekamen. Sie hätten keine Zeit zum Essen, erklärten sie ihren Müttern, und außerdem schmecke sowieso alles nach Pappe, nach Papier, nach Lehrbüchern, Prüfungszetteln und Kopien früherer Prüfungsfragen. Es schmeckte nach Selbstzweifeln. Bei Liz sprossen am Kinn Unmengen von Pickeln, riesige, fast so groß wie reife Erdbeeren, fand Liz, wenn sie in den Spiegel guckte. Sie wusste, der Grund dafür war die Angst, dass es am Samstag auf ihrer Grillparty regnen könnte. »Überwiegend freundlich«, hatte die Wettervorhersage angekündigt, aber das konnte alles und nichts bedeuten. »Du bist doch verrückt, so kurz vor den Prüfungen eine Party zu veranstalten«, sagte ihre Mutter ein ums andere Mal, aber Liz antwortete dann, dass sie verrückt würde, wenn sie es nicht täte. »Wir würden alle verrückt«, sagte sie. »Wir brauchen diese Party.«
Caro war nicht zur Schule gegangen. Sie hatte sich erkältet und lag mit Halsschmerzen, verstopfter Nase und einem Druckgefühl hinter den Augen im Bett. Die Augenschmerzen waren so schlimm, dass sie nicht lernen konnte und in Panik geriet, weil sie einen ganzen Tag verlor. Als sie einschlief, träumte sie von Luke. »Ich denke, wir sollten uns mal für eine Weile nicht sehen«, sagte er zu ihr und sie wachte in ihrer zerwühlten, verschwitzten Bettwäsche auf und wunderte sich, weil eigentlich sie diejenige hätte sein müssen, die so etwas sagte. Auch Molly lag auf ihrem Bett. Sie träumte von Lionel, stellte sich die süße Haartolle über seiner Stirn vor, die wunderbare Form seiner Nase, seiner Lippen – und dann musste sie plötzlich an ihren Bruder denken, wie er sich immer benahm. Molly rollte sich herum und vergrub ihr Gesicht im Kissen.
In ihrer Küche bereitete Rosa Brennan das Abendessen vor. Sie machte Gnocchi, kleine Klößchen aus gestampften Kartoffeln, Kräutern und Grieß. Die fertigen Klößchen kippte sie in einen großen Topf voll dampfender Brühe, sie sanken hinunter auf den Boden und nach einer Weile tauchten sie wieder an der Oberfläche auf, eingehüllt in winzige Luftblasen, wie Goldfische, die auf ihre Fütterung warteten. »Ach ja«, seufzte Rosa, und ihr kleiner Hund Penn hob erwartungsvoll den Kopf und schnupperte. »Jetzt noch nicht«, sagte Rosa zu ihm und nahm die Hundeleine von dem Haken an der Wand. »Zuerst machen wir einen Spaziergang.« Die Nacht war kalt und klar, mit einem eisigen Sternenhimmel. Frost lag in der Luft, der folgende Tag würde kalt werden. Am Parkeingang machte Rosa die Leine los und
der kleine Hund sprang durch das Gras davon, rannte in immer größeren Kreisen durch den Park, aber Rosa blieb stehen, wo sie war, an einen Baum gelehnt. In letzter Zeit fühlte sie sich nach der Schule müde, ausgelaugt, als wäre sie doppelt so alt. Und an diesem Abend gelang es ihr einfach nicht, diesen Vorfall zu vergessen, der sich nachmittags im Lehrerzimmer abgespielt hatte. Als Kinder hatten sie und ihre Freundinnen über Lehrer wie Stringer oder Mrs Lewis gekichert und sie als Steinzeitmenschen bezeichnet. Früher hatte sie über solche Leute bloß gelacht. Heute hatte sie Angst vor ihnen und sie verfolgten sie bis in ihre Träume. Sie waren wie unberechenbare Kinder, dachte Rosa, die Sorte Kinder, die höflich bitte und danke sagten und im nächsten Moment Fliegen die Flügel ausrissen. »Kopf hoch, Rosa«, sagte ihr alter Vater immer. »Lass dich durch die Dinge nicht so runterziehen. Was kannst du denn dann noch bewirken?« Und natürlich hatte er Recht. Drüben beim Spielplatz begann Penn laut zu bellen. Er hatte irgendetwas gefangen, belagerte es, möglicherweise eine Katze, vielleicht sogar einen Kusu. Aber als sie zum Spielplatz hinüberlief, sah Rosa, dass dort jemand auf der Schaukel saß. Kein Kind, sondern die große, in sich zusammengesunkene Gestalt eines Mannes. Sie erschrak; der Park war menschenleer und die hell erleuchteten Häuser der Hillcrest Avenue lagen ziemlich weit entfernt. »Penn!«, rief sie, aber der kleine Hund hörte nicht auf zu bellen und hopste steifbeinig im Gras herum. Der Mann erhob sich von der Schaukel und sie sah, dass es nur ein Junge war. Als er unter der Laterne neben dem Spielplatz vorbeiging, erkannte sie Luke Leman, seinen typischen Gang, mit hochgezogenen Schultern und gebeugtem Kopf, so als suche er etwas auf dem Rasen. Was tat er denn hier noch so spät, auf einer Kinderschaukel?
»Luke!«, rief sie und sofort stürzte ihr Hund sich freudig bellend auf ihn und wetzte seine dreckigen Pfoten an seiner Hose. »Sitz!«, befahl Rosa. »Runter mit dir, Penn!« Penn beachtete sie gar nicht. Rosa packte ihn am Halsband und machte die Leine fest. »Entschuldige«, sagte sie zu Luke. »Er hat dich ganz schmutzig gemacht.« »Macht nichts.« Luke klopfte ein wenig an seiner abgetragenen Glendale-Hose herum. »Die ist eh schon alt.« Er bückte sich, um Penn den Kopf zu tätscheln. »Bist du auf dem Weg nach Hause?«, fragte Rosa. »Willst du mich nicht ein Stück begleiten? Ich wohne gleich dahinten in der Hillcrest Avenue. Das liegt doch auf deinem Weg, oder?« Der Junge nickte, aber sie spürte seinen Widerwillen und wusste, dass er befürchtete, sie würde über die Schule reden, über Prüfungen und Fleiß und Aufgaben, oder dass sie sogar fragen könnte, wie er mit seiner Schreibmappe vorankam. Er ging neben ihr her, weil sie ihn gebeten hatte und er zu höflich war um abzulehnen, doch sie hatte das Gefühl, mit einem Luftballon neben sich zu laufen, der auf und ab hüpfte und an seiner Schnur zerrte, sich danach sehnte, auf und davon zu fliegen. Sie verließen den Park und betraten die Straße. In den erleuchteten Fenstern der Häuser spielten sich Familienszenen ab: Menschen, die Essen kochten, an Tischen saßen, im Fernsehen die Nachrichten sahen. Ein kleines Mädchen fütterte ihre Katze in der Küche und ein kleiner Junge in einem Kinderstuhl leerte plötzlich seinen Napf über dem Kopf aus und fing an zu weinen, als der Brei ihm über die Wangen herunterlief. Sein Vater nahm eine leere Schüssel vom Tisch und machte es ihm nach; der kleine Junge hörte auf zu weinen und lachte.
»Sieh dir das nur an!« Rosa drehte sich nach Luke um und lächelte, aber sein Gesicht wirkte seltsam ernst, als müsse er gleich in Tränen ausbrechen. »Mein Vater spricht nicht mehr mit mir«, brach es aus ihm heraus. »Schon seit Monaten. Wenn er mich sieht, wenn ich ihm in der Diele oder sonst irgendwo über den Weg laufe, geht er einfach an mir vorbei, als wäre ich gar nicht da… Als würde ich gar nicht existieren!« Rosa war entsetzt. »O Luke, das tut mir so Leid.« »Es ist ihm ganz egal, was aus mir wird. Er hat mich abgeschrieben.« »Das glaube ich nicht. Ich bin sicher, dass du ihm wichtig bist, ganz bestimmt.« Ihre Antwort klang falsch und einfach nur so dahingesagt. Sie war sich überhaupt nicht sicher. Eltern konnten manchmal unheimlich sein. »Nein«, sagte Luke. Seine Stimme klang klar und sachlich. »Ich bin ihm nicht mehr wichtig. Er macht sich bloß Sorgen, sonst nichts.« »Er würde sich doch keine Sorgen um dich machen, wenn du ihm nicht wichtig wärst«, erwiderte Rosa, obwohl sie genau verstand, was er meinte. Sie bekam es jedes Mal am Elternabend mit: die Sorgen, die ganze Anspannung, die Ängste. Das zwölfte Schuljahr, so kam es ihr vor, war wie ein Strudel, der alles in sich hineinzog. Ein schwarzes Loch. Kein Wunder, dass die Schüler nur schwer glauben konnten, dass es auf der anderen Seite Licht gab. »Kommt mir vor wie ein schlechter Scherz«, murmelte Luke. »Was denn?« »Alles.« Plötzlich warf er ihr von der Seite einen Blick zu und grinste. »Ich mir selbst.« »Du bist kein schlechter Scherz, Luke. So solltest du niemals über dich denken. Nie.« Er gab keine Antwort, aber seine Gesichtszüge entspannten sich, wodurch er jünger wirkte. Ungefähr wie dreizehn, dachte
sie, und plötzlich überkamen sie Hassgefühle auf diesen schweigenden Mr Leman. Sie wollte sagen: »Mach dir doch wegen der Prüfungen nicht so viele Sorgen. Selbst wenn du es nicht schaffst, wäre das nicht das Ende der Welt.« Aber sie brachte es einfach nicht fertig. Vielleicht würde er dann aufhören zu lernen, und diese letzten Wochen konnten die entscheidenden für seine Noten sein, für seine Chance, aus alldem endlich rauszukommen. Sie standen vor Rosas Gartenpforte. Penn jagte den schmalen Weg entlang zur Haustür. »Hier wohne ich«, sagte Rosa. »Oh.« Er zog verlegen den Kopf ein. »Dann geh ich jetzt mal.« »Wart noch einen Moment. Hör mal, Luke. Deine Situation wird sich auch wieder ändern. Ich weiß, dass du es gerade schwer hast in der Schule, aber das geht doch vorüber. Wenn du die Schule verlässt, wenn du erst mal auf der Uni bist…« Sein Gesicht wurde hart wie Stein. O Gott, sie hatte alles verpatzt, sie hätte die Universität nicht erwähnen dürfen, sie hätte das Wort nicht aussprechen sollen. Es bedeutete Prüfungen, es bedeutete alles. Es war ihr rausgerutscht, bevor sie nachgedacht hatte, durch die Macht der Gewohnheit. »Luke!«, rief sie, aber er rannte bereits davon, war fast schon zur Hälfte die Straße hinunter. Sie hätte ihm sagen sollen, dass er sich keine Sorgen zu machen brauchte, dass es nicht das Ende der Welt bedeutete, wenn er durchfiel. Das hätte sie tun müssen. Als Rosa durch ihre Gartenpforte trat, spürte sie ein Frösteln, das schmerzliche Gefühl einer verpassten Gelegenheit. Etwas war ihr aus der Hand geglitten, sie hatte es losgelassen.
Heimfahrt
Dan Leman hatte Feierabend und war auf dem Weg nach Hause. Er fuhr den Wagen mechanisch, hielt bei Rot, fuhr bei Grün an, nahm den Verkehr und die Vororte, die an ihm vorbeirauschten, kaum wahr. An manchen Abenden überraschte ihn der Anblick der wohl bekannten Häuser beim Einbiegen in seine Straße – dann hatte er nicht die geringste Erinnerung an seine Fahrt vom Chemiekonzern Bruxton bis nach Hause. Dann hatte er die ganze Zeit an Luke gedacht. An diesem Abend war ihm sein Sohn nicht aus dem Kopf gegangen, weil Margaret wieder mal angerufen hatte. Sie hatte ihn im Büro überrumpelt, ihm vorgeworfen, ungerecht zu Luke zu sein. Irgendwie musste es ihn getroffen haben, denn in dem Moment, als er den Wagen anließ, hatte er angefangen nachzugrübeln. Vielleicht war es ja doch ein Irrtum zu glauben, dass Luke ein zweites Mal durch die Prüfung fiel. Sein Halbjahrszeugnis war miserabel gewesen, eine Schande, wenn man bedachte, dass es der Stoff vom letzten Jahr war, aber immerhin war er mit Ach und Krach durchgekommen, außer in Mathematik. Also bestand eine Möglichkeit, zumindest eine Möglichkeit, dass er es diesmal vielleicht schaffte und einen ausreichend guten Abschluss machte, um an irgendeiner Uni in irgendeinem Fach unterzukommen. Geisteswissenschaften vielleicht, an einer kleineren Uni. Und mit diesem Abschluss konnte er ja dann in den öffentlichen Dienst gehen, und wenn das gelang, wenn er erst mal einen ordentlichen Job hatte, würde er sich vielleicht zusammenreißen und doch noch etwas aus sich machen.
Endlich mal erwachsen werden. Es war zwar nicht dasselbe wie eine Stelle als Arzt oder Jurist, aber als Bettler konnte man es sich nicht leisten, wählerisch zu sein, und es war doch immerhin möglich, irgendwo im öffentlichen Dienst unterzukommen, wenn man nur hart genug arbeitete, wenn man… Dan Lemans Hände, groß und knochig wie die seines Sohnes, griffen fester um das Lenkrad. Er fing schon wieder damit an! Er schöpfte Hoffnung, gab einem Gefühl nach, das kaum mehr sein konnte als eine Seifenblase. Luke würde eine Seifenblase daraus machen. Bei einem Jungen wie Luke musste man der Wahrheit ins Auge sehen, musste sich auf das Schlimmste gefasst machen und sich der Katastrophe stellen, um nicht ständig wieder enttäuscht zu werden, um sich nicht zum Narren zu machen. Ja, Luke würde sehr wahrscheinlich durchfallen. Und er würde stempeln gehen, auf der Müllkippe landen, weil es einfach typisch war für seine Haltung. Luke war so, das musste man einfach akzeptieren. Dan hasste ihn für das, was er ihnen angetan hatte. Nicht nur wegen der Enttäuschung, der Ratlosigkeit und Wut, die in einem aufstieg, wenn man mitansehen musste, wie Luke seine Chancen verspielte, wie er ihnen all die Vorteile, die sie ihm mit Müh und Not verschafften, wieder vor die Füße warf – sondern wegen der Schande. Die Schande, die Dan die Schamröte ins Gesicht trieb, wenn sein Kollege Bob Teale ihm die Erfolge seiner Kinder auflistete – die Tochter studierte Medizin, der Sohn war mit einem erstklassigen Stipendium in den Staaten – und ihn dann fragte: »Und was macht Luke?« Die Schande, in Schulbüros herumsitzen zu müssen, die Mütze in der Hand, und um eine neue Chance für den Sohn zu betteln. Beim letzten Mal, in der Glendale-Schule, hatten Margaret die Tränen in den Augen gestanden.
Luke hatte sie zu Bittstellern degradiert, genau so war es. Dan hasste es, abends nach Hause zu kommen. Er konnte den Anblick des Jungen nicht ertragen, seine Art am Tisch zu sitzen, den Kopf über den Teller gebeugt, ungeschickt mit Messer und Gabel hantierend. Oder im Fernsehzimmer, wie er auf dem Sofa hockte und den Kopf wegdrehte, wenn Dan hereinkam. Wie er zusammenzuckte, als erwarte er geschlagen zu werden. Er hatte Luke noch nie geschlagen, er hielt nichts davon, Kinder zu prügeln. Er hielt nach wie vor nichts davon; das jedenfalls konnte nicht die Ursache dafür sein, dass etwas schief gelaufen war. »Bitte sprich mit Luke«, hatte Margaret ihn angefleht, aber was konnte das nutzen? Sie beschuldigte ihn, grausam zu sein, aber sie verstand ihn völlig falsch. Sie begriff nicht, dass er Luke aus dem Weg ging, um sich selbst zu schützen, um Abstand zu halten. Die Nähe hatte ihn früher immer nur verletzt. Seine Hoffnungen würden nur wieder aufkeimen, wenn er mit Luke redete. Im Grunde wünschte er sich sogar, Luke nicht sehen zu müssen. Denn manchmal, wenn er ihn ansah, überkam ihn ein schreckliches Gefühl von Mitleid und er wurde den Gedanken nicht los, dass irgendwie, aus irgendeinem Grund vielleicht sie selbst an allem schuld sein könnten. Er selbst. Wie zum Teufel kam er nur darauf? Hatten sie nicht alles für den Jungen getan? Die Privatschulen, der Einzelunterricht, die Nachhilfelehrer? Alles hatten sie versucht. Wie konnte es ihre Schuld sein? Und doch lauerte diese Angst in ihm, wie eine geheime Krankheit, die bislang noch niemandem aufgefallen war. Was konnte er nur… Dans Hände klammerten sich wieder um das Lenkrad. Hör endlich auf!, ermahnte er sich. Hör auf, dir über ihn den Kopf zu zerbrechen!
Er sah aus dem Fenster und stellte fest, dass er durch seine Wohngegend fuhr, nicht weit von zu Hause, in der Mitte der Chelmsford Road, unweit der Bibliothek. Die Bibliothek. Wenn Luke spät nach Hause kam, wenn er bis zum Abendessen nicht auftauchte, behauptete Margaret jedes Mal, er sitze bestimmt drüben in der Bibliothek und lerne. Niemand glaubte ihr, außer Naomi. Margaret selbst glaubte nicht daran. Kurz darauf, mitten auf der Chelmsford Avenue, fragte sich Dan plötzlich, ob sie Luke nicht Unrecht taten. Wenn er die vielen Male wirklich in der Bibliothek gesessen hatte, wenn er nach der Schule dorthin ging, um in aller Ruhe ein paar Stunden zu lernen, bevor er nach Hause kam? Wenn er ihnen bloß nichts davon sagte, aus Angst, sie aufs Neue zu enttäuschen? Dan parkte den Wagen. Er betrat die Bibliothek. Luke war nicht da, natürlich. Natürlich. Aber in einer der Arbeitsnischen saß ein Junge in Lukes Alter, Bücher und Zettel vor sich ausgebreitet. Er trug den dunkelblauen Blazer der St.-Crispin’s-Schule. Dan starrte ihn an. Er registrierte alles: die wohl geordneten Bücher und Papiere auf dem Schreibtisch, wie der Junge seinen Füller hielt, elegant und locker, während sich ein Strom von Notizen auf das Blatt ergoss, seine selbstbewusste Miene. Er hasste diesen Jungen. Er hasste ihn, weil es nicht Luke war, der dort saß. Und zugleich liebte er ihn. Er war alles… all das, was Dan sich von seinem Sohn immer erhofft hatte. All das, was Luke sein könnte, wenn er es nur versuchen würde. Dan verließ die Bibliothek und ging zurück zum Wagen. Er wählte den längeren Nachhauseweg, den Hang hinauf im
weiten Bogen um den Golfplatz und die Bowlingwiese. Dahinter begann das vornehme Viertel. Dort fuhr er den Firbank Crescent entlang, vorbei an den großen Villen, die tief eingebettet in ihren Gärten lagen, Häuser von Ärzten und Juristen, von Leuten, die einen Platz in der Welt hatten.
Der Brief
Als Luke vom Park nach Hause kam, lag Stringers Brief im Postkasten. Darauf war er nicht vorbereitet. Im Laufe des Tages hatte er angefangen, sich sicherer zu fühlen. Den ganzen Vormittag über war er jedes Mal nervös geworden, wenn knisternd eine Ansage über die Lautsprecheranlage kam, hatte befürchtet, ins Rektorat gerufen zu werden, wo man ihm mitteilen würde, er sei von der Schule verwiesen worden. Aber als bis zum Mittagessen noch nichts passiert war, atmete er so langsam auf, und nach Unterrichtsschluss entschied er sich sogar, Caro Recht zu geben: Stringer hatte nur Mist erzählt. Nach der Schule war Luke erst bei Caro vorbeigegangen, aber dort hatte niemand aufgemacht. Dann ging er zum Park, denn dieser Ort strahlte für ihn nach wie vor Ruhe aus und wenn er ruhiger wurde, kam ihm vielleicht eine Idee für ein Gedicht. Aber es kam ihm keine, denn er begann wieder über Zahlen nachzudenken, über sechs Gedichte, für die er nur noch drei Tage Zeit hatte, und über den merkwürdigen Umstand, dass all die Unterrichtsstunden und Hausaufgaben und Aufsätze und Prüfungen, dreizehn volle Jahre, nun zu dieser einen und letzten Aufgabe zusammengeschrumpft waren, zu einer Schreibmappe, Kreatives Schreiben für Fortgeschrittene. Zu sechs Seiten, auf denen die sechs Gedichte stehen sollten, die er anscheinend nicht zuwege brachte. Es war wie ein schlechter Scherz. Es war unheimlich, wie in einem alten Märchen: Schreibe sechs Gedichte, sonst… Wie
die Geschichte von der Müllerstochter, die vom König den Befehl erhielt: »Spinne dieses Stroh zu Gold!« Er hatte Ewigkeiten auf der Schaukel gesessen, über die Müllerstochter nachgedacht und über ihren Vater, der so stolz auf seine Tochter gewesen war, dass er zum König ging und ihm eine Lüge auftischte. Luke stellte sich den Raum vor, in dem sie eingesperrt war, mit den Strohballen, die sich bis unter die Dachbalken türmten. Also verdeckten sie auch die Fenster, sodass die Müllerstochter nicht hinaussehen konnte. Er hatte nicht gemerkt, dass es dunkel geworden war, bis der kleine Hund zu bellen anfing und er hörte, wie Ms Brennan seinen Namen rief. Und als er zu Hause ankam, lag schließlich Stringers Brief im Kasten. Für einen Moment konnte er es gar nicht glauben, obwohl er ihn in der Hand hielt. Ein länglicher weißer Umschlag, auf dem der Name seiner Eltern sauber über die Mitte getippt war, mit dem Wappen der Glendale-Schule oben in der Ecke. Für Sekunden hoffte er, sich geirrt zu haben, dass es das Wappen irgendeiner anderen Institution war, der Stadtverwaltung, der Elektrizitätswerke, vielleicht ja auch der Heilsarmee. Aber kein Zweifel, es war das der GlendaleSchule, und obwohl er die Augen schloss wie ein kleines Kind und hoffte, dass der Brief verschwände – Geschenke von Feen verschwanden ja auch, wenn man log –, blieb er dort, fest in seiner Hand. Naomi hatte ihn gehört und kam in den Garten herausgelaufen. Er steckte den Brief in seine Schultasche, tief hinunter, wo er nicht zu sehen war. Stunden nach dem Abendessen lag er noch immer dort, am Boden seiner Tasche. Er hatte es noch nicht geschafft, ihn den Eltern zu geben. Vor der Reaktion seines Vaters hatte er keine Angst; Dad hatte ihn längst aufgegeben. Das Problem war Ma. Sie glaubte immer noch ein wenig an ihn und er konnte den Gedanken
nicht ertragen, was für ein Gesicht sie machen würde, wenn sie den Brief las, wie ihr Blick sich veränderte. Ihre Augen würden völlig erstarren. Schon bevor sie den Brief öffnete, schon in dem Moment, wo sie nur das Schulwappen sah, würde sie wissen, dass es eine schlechte Nachricht war. Und sie würde genau wie er reagieren, sich an die idiotische Hoffnung klammern, der Brief könne ein Irrtum sein und sei eigentlich für jemand anders bestimmt. Er würde ihn ihr morgen geben. Die letzten vier Wochen an der Schule blieben ihm also erspart, die ganzen Tipps, die Wiederholung des Stoffes. Aber die Prüfung könnte er trotzdem machen, das hatte er im Handbuch nachgeschlagen: In der Stadt gab es eine Stelle, wo man sich prüfen lassen konnte, wenn man auf keiner Schule war. Und was war mit seiner Schreibmappe? Darüber gab das Handbuch keine Auskunft. Alles, was er jetzt noch zustande brachte, würde Mist sein, aber er wollte die Gedichte trotzdem abgeben. Würde man ihn lassen? Würde Ms Brennan sie benoten dürfen? Er hätte sie im Park fragen können, aber da wusste er ja noch nichts von dem Brief. Und sie ebenso wenig. Stringer hatte ihr sicher nichts davon erzählt, dass Luke von der Schule flog. Er würde nicht mehr zur Schule gehen, um sich zu erkundigen. Er würde nie wieder einen Schritt in die Nähe dieses Gebäudes setzen. Luke legte eine Hand auf seine Stirn und die Hand wurde nass; der Schweiß floss ihm in Strömen über die Haut… und, o Gott, er war am Laufen, er war tatsächlich die ganze Zeit in seinem Zimmer hin- und hergelaufen und hatte dabei nicht einmal gemerkt, was er tat. Er setzte sich aufs Bett und sprang sofort wieder auf. Er konnte einfach nicht stillsitzen. Wie Petie, der Cousin von Danny Pearson.
Petie stand ständig unter Strom. Er konnte nicht für eine Sekunde ruhig sein. Er sprang immer wieder auf und lief herum, nahm etwas in die Hand und stellte es zurück, öffnete Schubladen und Schränke und schloss sie wieder. Wenn man bei ihm im Zimmer saß und sich mit ihm unterhielt, zog er sich dauernd um, erst Jeans, dann Shorts, dann wieder Jeans. Allein vom Zusehen wurde man kribbelig. Luke legte sich aufs Bett. Und dann setzte er sich wieder auf. Er musste einfach wissen, ob er die Schreibmappe noch abgeben durfte, musste es jetzt wissen. Plötzlich schien es die wichtigste Sache der Welt zu sein. Er würde Caro fragen; Caro kannte sich mit solchen Dingen aus. Er sprang auf. Er musste sie sofort fragen. Anrufen konnte er nicht mehr, dazu war es zu spät, schon nach eins. Aber er konnte ja bei ihr vorbeigehen. Caro würde wahrscheinlich noch wach sein, sie lernte oft bis nach eins. Er würde einfach ums Haus herumgehen und nachsehen, ob in ihrem Zimmer Licht brannte, und wenn nicht, dann musste er eben wieder zurück nach Hause. Luke griff nach seiner Jacke, die über der Stuhllehne hing, und bückte sich nach seinen Schuhen. So vornübergebeugt fiel sein Blick auf die Schultasche, in der sich der Brief befand, und ein komisches Gefühl überkam ihn. Als wäre er winzig klein und sähe direkt vor sich Füße und Beine der Person, die er auf der ganzen Welt am meisten fürchtete.
In Caros Zimmer
Bei Caro brannte kein Licht mehr. Aber Luke kehrte nicht um, wie er es sich vorgenommen hatte, sondern blieb draußen auf dem Gartenweg wie angewurzelt vor ihrem Fenster stehen. Und obwohl er meinte, kein Geräusch gemacht zu haben, ging bei ihr plötzlich das Licht an und sie tauchte hinter der Scheibe auf und starrte zu ihm hinaus. Das Fenster glitt nach oben. »Schnell«, flüsterte sie und packte ihn unsanft am Arm. Luke kletterte über das Sims hinein. In ihrem Zimmer war es heiß und das Licht blendete ihn, sodass die Einrichtung vor seinen Augen zu tanzen und zu zittern begann. Caros Finger gruben sich in seinen Arm. »Was bitte tust du hier?« »Ich wollte dich nur etwas fragen«, antwortete er unbeholfen. »Ich bin schon nach der Schule hier gewesen, aber da hat keiner aufgemacht.« »Ich habe geschlafen«, sagte Caro, »und Ma war in der Apotheke.« Sie betupfte sich die Nase mit einem zusammengeknüllten Taschentuch und er sah, dass ihr Gesicht ganz verquollen war und ihre Augen rot unterlaufen. Sie war erkältet: Deswegen war das Zimmer so überheizt und roch nach Eukalyptus. Und deswegen war sie auch nicht in der Schule gewesen. Sie war krank und nun hatte er sie auch noch geweckt. »Warst du das, der gestern Nacht angerufen hat?«, fragte sie plötzlich. »Es tut mir Leid«, sagte er. »Und es tut mir außerdem Leid, dass…«
Caro starrte ihn wütend an. »Dad hat sich schon gedacht, dass du es warst. Was wolltest du?« Einen Moment lang konnte er sich gar nicht mehr erinnern. Letzte Nacht, das schien schon ewig her zu sein. »Ich wollte mich entschuldigen«, sagte er schließlich. »Entschuldigen?« »Weil ich davongerannt bin… und dich einfach so hab stehen lassen.« Caro runzelte die Stirn. »Aber warum hast du denn so spät angerufen? Und warum bist du jetzt hergekommen?« »Jetzt?«, wiederholte er ausweichend. Denn das Merkwürdige war, dass er den Grund schon fast vergessen hatte, obwohl ihm die Frage, ob und wo er seine Schreibmappe abgeben konnte, zu Hause in seinem Zimmer noch so ungeheuer wichtig vorgekommen war. Jetzt plötzlich merkte er, dass es einfach verrückt von ihm war, mitten in der Nacht hierher zu kommen und Caro zu wecken, um sie so etwas zu fragen. Warum hatte er es bloß getan? »Ja, jetzt«, erwiderte sie gereizt. »Du hast doch gesagt, dass du vorbeigekommen bist, um mich was zu fragen. Also, worum geht es?« Sein Fuß stieß gegen eine leere Colaflasche. Krachend rollte sie über den Fußboden. »Pst! Herrgott noch mal, Luke, du weckst sie noch auf! Und Dad ist sowieso schon total sauer auf dich.« »Tut mir Leid.« »Hör endlich auf, dich dauernd zu entschuldigen! Und setz dich!« Sie drückte ihn fast in den Stuhl, der neben dem Fenster stand. »Also, worum geht es?«, fragte sie wieder. Er würde ihr nicht diese verrückte Frage mit der Schreibmappe stellen, ganz bestimmt nicht. Stattdessen erzählte er ihr lieber von Stringers Brief. War das vielleicht der
wahre Grund für sein Kommen und er hatte es nur nicht gemerkt? Er war völlig durcheinander. »Stringer schmeißt mich raus«, sagte er. »Was?« Caro sank aufs Bett. »Das glaub ich einfach nicht! Ich glaube einfach nicht, dass er dich wegen so einer Kleinigkeit rauswirft, nicht mal Stringer. Bloß, weil du dich bei jemandem im Garten rumgetrieben hast.« Sie sah ihn durchdringend an. »Was hat er denn gesagt?« »Er hat gar nichts gesagt. Er hat meinen Eltern einen Brief geschrieben.« Caro zog ein neues Papiertuch aus der Box neben ihrem Kissen. »Und was haben sie gesagt, deine Eltern?« Luke rutschte unruhig auf seinem Stuhl herum. »Ich habs ihnen noch nicht gesagt.« »Was? Ich denke, Stringer hat ihnen einen Brief geschrieben!« »Hat er ja auch. Aber sie haben ihn noch nicht bekommen. Ich meine… ich habe ihn im Briefkasten entdeckt und ihn meinen Eltern noch nicht gegeben.« »Luke! Du musst ihnen diesen Brief geben! Du kannst ihn doch nicht einfach verstecken. Sie werden es sowieso erfahren.« Sie fuhr sich zornig durch die zerzausten Haare. »Wie willst du ihnen denn erklären, warum du nicht mehr zur Schule gehst? Und die Prüfung…« Caro unterbrach sich; er hörte ihr nicht mal zu, sondern saß einfach nur da und starrte Löcher in die Luft. Aber Luke lauschte angespannt, wenn auch nicht auf das, was Caro sagte. Weit entfernt näherte sich der Nachtzug, deutlich drang sein Pfeifen bis zu ihnen herüber in das kleine, stickige Zimmer. »Hörst du das?«, fragte er. Caros Augen schossen Richtung Tür; waren ihre Eltern etwa aufgewacht? Aber im Haus war alles still. »Was denn?«, flüsterte sie.
»Den Nachtzug.« »Nachtzug?« »Weißt du nicht mehr? Das habe ich dir doch erzählt, dieser Zug, der hier mitten in der Nacht vorbeifährt.« Sie schüttelte unwillig den Kopf. »Ich habe überhaupt nichts gehört.« Das passierte ihm nun schon zum zweiten Mal, dachte Luke. Gestern Nacht vor Naomis Zimmer hatte Ma den Zug auch nicht gehört. Obwohl er so laut war. Ein furchtbarer Verdacht kam ihm in den Sinn, wie das Gesicht eines Ertrunkenen, das plötzlich aus dem Wasser auftauchte. Wenn… Er schob den Gedanken von sich. »Hör zu, Luke, reiß dich jetzt mal zusammen, okay? Was willst du tun?« »Ich muss etwas rauskriegen.« »Nämlich? Hör mal, morgen früh musst du es als Erstes deinen Eltern sagen, okay? Gib ihnen den Brief.« »Klar.« Er lächelte sie schuldbewusst an, schockiert darüber, wie erschöpft sie aussah. Er hätte nicht herkommen sollen. Es wäre gemein, sie jetzt noch wegen der Schreibmappe zu quälen. Er würde die Gedichte einfach in den Schulbriefkasten werfen. Wenn Ms Brennan sie nicht benoten durfte, würde sie die Mappe schon an die richtige Stelle weiterleiten. Er blinzelte benommen; wieso war er vorhin nicht schon darauf gekommen? »Und weißt du, Luke, ich denke…« Er fixierte ihre Lippen. Er war sich absolut sicher, was sie nun sagen würde: »Ich denke, wir sollten uns mal für eine Weile nicht sehen.« Aber ihr blieb gar keine Zeit, überhaupt etwas zu sagen, denn plötzlich waren draußen im Flur Schritte zu hören und dann ein heftiges, hartes Klopfen an der Tür. Caro sprang vom Bett auf. »Schnell! Aus dem Fenster!« »Caroline!« Der Türknauf begann zu zittern und zu klappern.
»Es ist Dad, beeil dich!« Luke war nicht schnell genug. Die Tür flog auf und Mr Hunter kam ins Zimmer gestürzt. Luke fuhr hoch, griff stolpernd nach seiner Jacke, die über der Lehne des leichten Stuhles hing. Der Stuhl kippte um und Mr Hunter packte Luke am Arm. »Du kleines Dreckschwein!« »Lass ihn los!«, kreischte Caro. »Lass ihn los!« Verdutzt ließ Mr Hunter Lukes Arm fallen und fuhr herum. »Dad, es ist nicht so, wie du denkst«, sagte Caro schnell. »So, wie ist es dann?« »Luke ist nur hergekommen, um mit mir zu reden. Er hat Probleme in der Schule, das ist alles.« »Er ist hergekommen um zu reden? Um zwei Uhr nachts? Glaubst du, ich bin von gestern?«, brüllte Mr Hunter. Er drehte sich um und schob sein Gesicht so dicht an Luke heran, dass der Junge die Wärme von Mr Hunters Haut spürte. »Ich will, dass du meine Tochter in Ruhe lässt, verstanden? Lass deine Finger von ihr oder ich verpasse dir eine, dass du erst übermorgen wieder aufwachst!« »Mr Hunter, wir haben wirklich nur geredet. Ich weiß, ich hätte so spät nicht mehr herkommen sollen, aber…« »Glaubst du vielleicht, ich weiß nicht, was hier los ist?« »Dad!« »Was willst du?« »Sei still, sei endlich still!« »Du verbietest mir nicht den Mund, du kleine Schlampe. Nach dem, was du dir heute hier geleistet hast!« Mr Hunter warf einen wütenden Seitenblick auf das zerwühlte Bett. »Du hast wirklich nichts als Sex im Kopf!«, sagte Caro scharf. »Was? Was hast du da gesagt?« Mr Hunters Gesicht lief dunkelrot an.
»Du hast nichts als Sex im Kopf, Dad. Und zwar du, nicht ich oder Luke. Bei jedem Jungen, mit dem ich ausgehe, bei jedem, mit dem ich mich bloß unterhalte, denkst du immer nur an… Sex!« Caro sackte plötzlich in sich zusammen und brach in Tränen aus. Luke machte einen Schritt in ihre Richtung, aber Mr Hunter stieß ihn zurück. »Raus mit dir!« Caro hob den Kopf. »Ja«, sagte sie schnell. »Besser, wenn du jetzt gehst, Luke… Geh lieber.« »Es tut mir Leid«, flüsterte er, aber sie blickte nicht einmal in seine Richtung. Luke war schon mitten auf dem Gartenpfad, als Mr Hunters Stimme hinter ihm in die Nacht hinausbrüllte. »Deine Eltern hören noch von mir!«
Der heiße Draht
Wenn Luke versuchte einzuschlafen, sah er manchmal Gesichter. Meist kannte er sie, zuweilen waren sie ihm aber auch völlig fremd, Gesichter von Menschen, denen er noch nie im Leben begegnet war. Ein paar Nächte zuvor hatte er eine Frau gesehen, der ein langer blonder Zopf den Rücken hinunterhing. Sie öffnete die Tür eines hohen Schrankes und drehte sich um, warf einen Blick über ihre Schulter, als hörte sie jemanden kommen. Einmal hatte er ein kleines Mädchen mit Löwenzahn im Haar gesehen – es war ihm so real vorgekommen. Die eine Blüte hing schief über ihrem Ohr und ihre Wange war dreckverschmiert gewesen. Das Gesicht, das er an diesem Abend sah, erschreckte ihn. Es war ein gewöhnliches Gesicht, ein junger Mann mit grüner Schirmmütze, der durch eine große Windschutzscheibe starrte, über die riesige Scheibenwischer langsam hin- und herglitten. Hinter ihm war eine erleuchtete Kabine zu erkennen, mit Armaturen, Schaltern und Hebeln. Was Luke erschreckte, war der Gesichtsausdruck des jungen Mannes, seine überraschten, vor Entsetzen geweiteten Augen, als spiele sich vor seinen Augen die schlimmstmögliche Katastrophe ab, ohne dass er etwas dagegen tun konnte. Luke warf die Decke zurück; es hatte keinen Sinn noch einschlafen zu wollen, der Morgen brach fast schon an. Er schlüpfte wieder in seine Kleider und zog sich sogar die Jacke über, denn das ganze Haus schien eisig kalt zu sein. Dann holte er Stringers Brief hervor und steckte ihn in seine Hosentasche; er würde ihn Ma im Laufe des Tages geben. Und außerdem
würde er Caros Vater anrufen oder vielleicht sogar vorbeigehen. Luke schlich die Treppe hinunter ins Fernsehzimmer. Er schloss die Tür hinter sich, schaltete das Gerät ein und drehte den Ton leise. Anzeigen für Singles flimmerten über den Bildschirm: »Warum allein sein?«, fragte eine samtweiche Stimme. »Warum den Samstagabend zu Hause verbringen, wenn der ganz persönliche Wunschpartner im heißen Liebesdraht vielleicht schon auf Sie wartet? Wenn Sie einfach nur diese Nummer zu wählen brauchen, um mitzumachen?« Luke rutschte unruhig auf dem Sofa herum. Mr Hunter hatte geglaubt, er und Caro hätten miteinander geschlafen. Wenn es nur so einfach wäre. Wenn er der Typ wäre, der völlig normal und unbekümmert einfach so durch Caros Fenster hereingesprungen kam, weil er Sex wollte. Zumindest war das etwas, das man nicht erst umständlich erklären musste, nicht einmal vor sich selbst – Sex, das konnte jeder verstehen. Die Anzeigenwerbung war zu Ende und ein Dokumentarfilm begann. Mütter suchten nach den Leichen ihrer Söhne, die in einem Krieg gefallen waren, irgendwo am anderen Ende der Welt. Es schien eine kalte Gegend zu sein, mit grauen Straßen, schmutzigen Haufen aus Schneematsch und hageren, blattlosen Bäumen, die der Wind zur Seite drückte. Die Mütter trugen dicke Mäntel, Pelzmützen und breite Stiefel, die bis zu den Knien gingen. Sie scharten sich um diesen Typen vom Militär, der ihnen helfen sollte, und zerrten an seinem Ärmel wie kleine Kinder. Der Mann versuchte nicht, die vielen Hände abzuschütteln. »Ich muss es wissen!«, schrie eine der Frauen. »Ich muss es wissen!« »Morgen«, antwortete der Soldat und holte einen zerknitterten Zettel aus seiner Tasche hervor. »Ich denke, morgen wissen wir mehr.« Seiner Stimme war anzumerken,
dass er keine Hoffnung für die Frauen sah und sie schon seit Ewigkeiten auf morgen vertröstete. Trotzdem tat er sein Bestes, dachte Luke. Man merkte es an seinem freundlichen, erschöpften Gesicht, an seiner grenzenlosen Geduld mit den Müttern. Er gab sich die größte Mühe, obwohl er wusste, dass sein Zettel völlig nutzlos war und man die vermissten Söhne nie finden würde. Er versuchte es. Er hatte immer noch Mitleid mit ihnen. Einen Augenblick lang rührte sich etwas in Luke, ein seltsames Gefühl von Freude, wie eine Hoffnung, wenn er nur herausfände, was es war. Ja, selbst in einer wirklich schlimmen Situation wie dieser war es möglich, dass… Da sah er den zweiten Soldaten am Straßenrand, ein Gewehr über der Schulter, der die Mütter aus leeren Augen gelangweilt betrachtete, als wären sie keine Menschen, sondern Gegenstände, nichts weiter als die Trümmer der zerstörten Häuser oder die kaputten Munitionskisten, mit denen die Straße übersät war. Er hatte dasselbe Gesicht wie Stringer. Luke sprang auf und rannte fast aus dem Zimmer, die Diele hinunter zum Telefon. Er schlug Stringers Adresse nach und wählte den heißen Draht der Liebe. Die ganze Sache war so einfach, dass er sein Glück kaum fassen konnte; nicht mal die Nummer der Kreditkarte musste man angeben. Luke meldete Clyde A. Stringer beim heißen Draht an: Name und Adresse und eine Selbstbeschreibung, die ihm die ganz persönliche Wunschpartnerin ins Haus brachte. Clyde war jung und unerschrocken, stand auf Leder, Motorräder, Hard Rock und Drogen und suchte nach einer heißen Puppe, die ihn hart rannahm. Stringer würde so etwas wohl als einen »Fall für die Polizei« ansehen, dachte Luke, während er den Hörer auflegte, aber für die Motorradbraut in Nieten und Leder, die ihre Kawasaki vor
Stringers Tür parkte und bei ihm klingelte, war es die Sache einfach wert. Als er wieder im Fernsehzimmer war, waren die Mütter mit ihren dicken Stiefeln und den Pelzmützen verschwunden und eine knallbunte Comedy-Sendung füllte den Bildschirm. Luke stellte den Ton ab. »Luke, was machst du denn hier unten?« Er fuhr herum. Seine Mutter stand verlegen in der Tür, unschlüssig, ob sie sich trauen sollte hereinzukommen. »Ich konnte nicht einschlafen«, sagte er. »Deshalb bin ich runtergegangen.« »Aber Liebling, es ist doch so spät.« »Ich weiß, der Nachtzug ist schon längst vorbei.« Er hatte es nicht sagen wollen. Die Worte waren ihm einfach so herausgerutscht und im selben Moment überkam ihn wieder diese Angst, die er in Caros Zimmer gespürt hatte. Er kämpfte sie nieder, wollte nicht mehr daran denken, nie mehr. »Wie bitte?« Ihre Augen blickten noch sorgenvoller. Er hasste diese Besorgnis, sie machte ihn wütend, gab ihm das Gefühl, dass irgendwas mit ihm nicht stimmte. Am liebsten hätte er sie angeschrien: »Glotz nicht so!« »Was hast du gesagt?«, fragte sie wieder. »Nichts.« Margaret blieb stehen, wo sie war, und musterte ihn. Ihr Sohn lief um vier Uhr morgens angezogen herum, sogar mit Jacke. Gegen das tiefe Dunkelgrün wirkte seine Gesichtsfarbe wie vergilbtes Papier. Er sah benommen aus. Schlafmangel, sagte sie sich. Luke schien so gut wie gar nicht zu schlafen. Manchmal wachte sie mitten in der Nacht auf und hörte ihn im Haus herumgeistern, durch den Flur, die Treppe hinunter. Letzte Nacht war sie fast sicher gewesen, das Klicken des Telefonhörers gehört zu haben, als er aufgelegt wurde, und vorhin hatte sie es auf jeden Fall gehört, das stand fest.
Wen rief er um diese Zeit noch an? Irgendeinen Klassenkameraden, der bis spät in die Nacht lernte? Sie kannte seine Freunde nicht, wusste nicht mal, ob er welche hatte. Es war schon sehr lange her, dass er jemanden mit nach Hause gebracht hatte. Ewigkeiten. Wie lange genau? Seit er nicht mehr auf der St. Crispin’s war. Also seit fast zwei Jahren, stellte sie erschrocken fest. Zwei Jahre! Am liebsten wäre sie durch das Zimmer gelaufen, hätte ihn in die Arme geschlossen und direkt gefragt: »Liebling, was ist los? Was ist es? Sag es mir!« Aber er würde zurückweichen, das wusste sie. Er hasste es, wenn sie sich Sorgen um ihn machte, ihn mit Fragen belästigte. Manchmal fiel es ihr schwer zu glauben, dass er derselbe Junge war, der ihr als kleines Kind früher immer alles erzählt hatte. »Warum bist du angezogen?« Das Risiko, diese Frage zu stellen, konnte sie eingehen. »Mir war kalt.« »Ich wäre froh, wenn du nicht so lange aufbleiben würdest.« »Ich bin nicht lange aufgeblieben. Ich konnte nicht schlafen, das hab ich dir doch schon gesagt.« »Du musst aber schlafen, Liebling.« Wie dünn er war, dachte sie. Die grüne Jacke hing ihm in Falten von den Schultern; er sah aus wie ein Stock, als habe ihn jemand, der mit dem Schnitzmesser nicht umgehen konnte, so lange zurechtgestutzt, bis fast nichts mehr übrig war. »Brauchst du einen Arzt?«, fragte sie. Luke brachte keinen Ton heraus. Vielleicht hatte Mrs Lewis ja bei seiner Mutter angerufen und vorgeschlagen, er solle einen Therapeuten aufsuchen, schoss es ihm durch den Kopf. Hatte sie nicht gesagt: »Es könnte gut sein, dass in dieser Angelegenheit andere für dich entscheiden«? Er geriet in Panik. Vielleicht war alles ja schon abgesprochen und sie hatten einen Termin vereinbart, ohne ihn zu informieren.
»Was für eine Art von Arzt?«, erkundigte er sich vorsichtig. »Was für eine Art? Wie meinst du das?« »Ich meine: Was für eine Art von Arzt ist das?« »Tja… ich weiß nicht. Dr. Franklin ist einfach ein ganz gewöhnlicher praktischer Arzt, oder?« Luke atmete auf. Sie meinte bloß Dr. Franklin. Den alten Dr. Franklin, der in der Klinik arbeitete. »Vielleicht gibt er dir ein Mittel, damit du schlafen kannst.« »Nein, ist schon okay, Ma.« »Wirklich?« Er nickte. »Ich komme schon klar.« »Möchtest du einen Tee oder irgendwas?« »Nein, danke.« Sie sah ihn unsicher an, blieb zögernd im Türrahmen stehen wie ein armes Gespenst, das verzweifelt versucht sich bemerkbar zu machen. »Na gut. Aber bitte geh jetzt schlafen, Liebling.« »Mach ich«, versprach er. »Gleich.« Doch er tat es nicht. Er wartete, bis sie nach oben gegangen war, bis sich die Schlafzimmertür hinter ihr schloss, dann zog er den Reißverschluss seiner Jacke zu und lief zur Hintertür. Als er an Mollys Zimmer vorbeikam, verspürte er ganz plötzlich das Bedürfnis sie zu sehen. Er wollte sie einfach nur sehen, weiter nichts. Luke öffnete die Tür. Das Licht aus der Diele schien auf ihr Bett, sie schlief tief und fest. »Hi«, flüsterte er. »Hi, Käpten Coolibah.« Unerwarteterweise schlug sie die Augen auf, hob den Kopf und starrte ihn an. Aber Luke sah, dass sie trotzdem immer noch schlief; am nächsten Morgen würde sie sich nicht einmal daran erinnern, ihn gesehen zu haben. »Früher warst du lieb«, murmelte sie schlaftrunken, dann fielen ihr die Augen wieder zu und sie sank zurück ins Kissen.
Luke schloss die Tür. Er lief durch die Waschküche hinaus in den Garten, eilte den kleinen Pfad hinauf bis zur Pforte und trat auf die Straße. Seine Füße liefen einfach los.
Fahrt durch die Wolken
Langsam schlenderte Luke den Orchard Court hinunter, vorbei an den Gartenpforten, die seine kleine Schwester Naomi jeden Abend schloss, damit ihm nichts passierte. Dann bog er links ab, auf den Highway. Es war halb fünf Uhr morgens und immer noch dunkel. Nebel hatte sich über die Stadt gelegt, Häuser und Bäume schienen seltsam zu schwanken, tauchten in den Schwaden ab und wieder auf wie Schiffe auf bewegter See. Er war fast eine Meile gelaufen, als er hinter sich das dumpfe Dröhnen eines müden Motors hörte, der sich langsam den Berg hinaufquälte. Luke drehte sich um und sah über dem Straßenkamm zwei große runde Scheinwerfer auftauchen, die den Nebel durchbrachen. Ein Bus. Luke hob die Hand. Mit einem Bus käme er ein gutes Stück weiter, vorausgesetzt, dass er für Luke anhielt. Er hielt. Das Gesicht des Fahrers starrte ihn durch die hell beleuchtete Windschutzscheibe an, über die sich große Scheibenwischer langsam hin- und herbewegten. Lukes Herz machte einen Satz. Er erinnerte sich an das Gesicht, das er im Halbschlaf so deutlich vor sich gesehen hatte. Aber es war ein junger Mann gewesen; der Busfahrer war alt und an Stelle einer grünen Schirmmütze trug er eine aus Wolle, die er wegen der Kälte tief heruntergezogen hatte. »Wohin?« Luke hatte kein bestimmtes Ziel. Er wusste nicht, wohin der Bus fuhr, nicht einmal, wo er selbst eigentlich hinwollte. Er musste nur eine Zeit lang von zu Hause fort, um in Ruhe nachdenken zu können. »Endstation«, sagte er zum Fahrer,
holte eine Zweidollarmünze aus der Hosentasche und zog den dünnen Papierfahrschein aus dem Automaten. Er würde Stringers Brief abgeben, gleich wenn er nach Hause kam. Das war das Erste, was er tun musste. Anderer Leute Briefe zurückzuhalten war mit Sicherheit irgendeine Straftat; Stringer hatte dafür bestimmt die offizielle Bezeichnung parat, genau wie für das Sitzen in der Laube der Hamiltons: unbefugtes Betreten. Auf diese offizielle, nüchterne Art und Weise betrachtet war es tatsächlich unbefugtes Betreten gewesen, in der Sprache der Formulare, Akten und Berichte jedenfalls. Er hatte in der Tat kein Recht dazu gehabt, dieses Grundstück zu betreten. Sein Grund, sich an eine Zeit erinnern zu wollen, wo er ein anderer gewesen war, zählte nicht in der realen Welt. Das war seine private, seine persönliche Angelegenheit. Luke glitt in eine Sitzbank und legte das Gesicht an die kalte Fensterscheibe. Die Vororte draußen zogen lautlos an ihm vorbei. In den Tälern hing der Nebel dick wie Wolken, als fahre der alte Bus durch den Himmel. Die gelben Lichter der Straßenlampen wirkten wie Leuchtfeuer oder feurige Schwerter von Helden, die loszogen, um die Welt zu retten. Er war sich selbst wie ein Held vorgekommen an jenem Tag, als er Gosser auf dem Bahnhof von Wood Hill die Meinung sagte, als er ihm sagte, er sei krank und nicht ganz dicht, weil er Kindern gerne Angst einjagte und sie so dazu brachte, dasselbe mit kleineren Kindern zu tun. Er hatte sich völlig im Recht gefühlt. Aber inzwischen fragte er sich, ob es nicht einfach nur Dummheit gewesen war. War das, was diesem kleinen Jungen in dem Zug passiert war, vielleicht nur etwas gewesen, das jeden Tag irgendwo auf der Welt vorkam und ihn gar nichts anging? Vielleicht stimmte es, was Dad sagte, und es war nur wichtig, was in Papieren und Akten über einen stand, weil es das war, wofür die Leute einen hielten?
Damals in der vierten Klasse – an diesem Tag musste er wohl seine Hausaufgaben vergessen haben – hatte Mrs Tully ihn vor die Klasse gezerrt, zusammen mit Alex Hamilton, der seine Hausaufgaben dabeigehabt hatte. Und dann verkündete sie, er und Alex seien beides begabte Kinder aus netten Familien, aber Alex Hamilton sei der Typ, der es im Leben zu etwas brachte, wohingegen Luke Leman immer nur Probleme haben würde. »Ärgere dich nicht über sie«, hatte Alex später auf dem Schulhof gesagt. »Sie ist eine dumme alte Kuh. Sie hat keine Ahnung.« Damals war Luke derselben Meinung gewesen, aber nun fragte er sich, ob der alten Mrs Tully vielleicht etwas an ihm aufgefallen war. Vielleicht hatte er ja etwas an sich, was die Leute einfach spürten, wie ein Zeichen, das ihm auf die Haut gebrannt war. Tief im Innersten hatte Luke immer gespürt, dass er nicht dumm war, auch wenn seine Noten schlechter wurden, auch wenn das Vorhängeschloss in seinem Kopf zuschnappte. Er hatte daran geglaubt, dass die Dinge, die ihm im Moment so schwer fielen, eines Tages vielleicht leichter würden, wenn er sich nur genügend Mühe gab. Dass sich seine Situation ändern würde, so wie Ms Brennan gesagt hatte. Aber Mrs Lewis war anderer Meinung gewesen. Er würde immer alles falsch machen, hatte sie gesagt, und zwar deshalb, weil er einfach der Typ dafür sei. Hatte sie Recht? Hatte die alte Mrs Tully Recht? Sogar Stringer? Der Bus beschleunigte auf einem langen Stück freier, gerader Strecke und das Motorengeräusch wurde tiefer. Sie haben Recht, schien er zu dröhnen, sie haben Recht, sie haben Recht. Hatte er sich etwas vorgemacht? War er in der Grundschule und später auf der Riversdale wirklich gut gewesen? Oder hatte es an den geringeren Anforderungen gelegen,
Kinderkram, den eben jeder konnte? Selbst seine Gedichte für die Schülerzeitung – waren sie nicht nur ein Glückstreffer gewesen? Denn wäre er wirklich begabt, dann hätte er doch diese Gedichte für die Schreibmappe zustande gebracht. Ganz gleich, wie viel Angst er vor den Prüfungen oder vor was auch immer hatte – mit dem kleinsten bisschen Talent hätte er sie zustande gebracht. Vielleicht hatten sie alle Recht. »Wo willst du denn so früh schon hin?« Die Frage des Busfahrers erinnerte ihn an den bösen Wolf in Rotkäppchen. Dad hatte ihm das Märchen vorgelesen, als Luke noch nicht zur Schule ging. Dad hatte ihm immer alles vorgespielt, war knurrend auf allen vieren über den Teppich gehüpft, auf das Sofa gesprungen, die Zähne zu einem breiten Grinsen gefletscht. Auch sein Vater schien damals ein anderer gewesen zu sein. »Na?«, drängte der Busfahrer. »Ich besuche meine Großmutter.« »Die steht aber früh auf, was?« »Ja.« Er selbst war der Grund, warum Dad sich so verändert hatte, wurde Luke plötzlich klar. Er verletzte andere Leute – Dad und Ma, Caro und sogar Molly, die ihren Bruder inzwischen für einen völligen Idioten hielt. Und er würde Ms Brennan verletzen, die ihm vertraut hatte und den Schock ihres Lebens kriegen würde, falls sie seine Schreibmappe jemals zu Gesicht bekam. »Wir sind da!« Der Bus steuerte eine Haltestelle an. Luke sah durch das Fenster. Sie waren am Busbahnhof des Eastland Einkaufszentrums. Als er aufstand, wurde ihm leicht schwindelig; so langsam spürte er die Müdigkeit. Beim
Aussteigen stolperte er die Treppen hinunter. Sie schienen unter seinen Füßen zu schwanken. Es wurde hell. Frühschichtarbeiter standen in kleinen Grüppchen an den Haltestellen und warteten auf ihre Busse, eingepackt in Mäntel und Schals, stampften mit den Füßen auf, um sich warm zu halten. Der Haupteingang zum Einkaufszentrum war noch verschlossen und mit Gittern gesichert, aber an einer Seite fand Luke eine kleine offene Tür für die Putzkolonne. Er schlüpfte hinein, lief einen schmalen Gang hinunter und stand plötzlich mitten in einem Innenhof. Es war ein merkwürdiges Gefühl, zu dieser Tageszeit hier zu sein, mit all den Lichtern, dem Plätschern des Springbrunnens, den leuchtenden Schaufenstern mit Kleidern, Anzügen, Schmuck, Parfüm und Porzellan, ohne einen einzigen Menschen weit und breit. Als sei er der einzige Überlebende auf der ganzen Welt. Luke ging weiter, mit quietschenden Turnschuhen auf dem frisch gewischten Boden. Er warf einen Blick in die Auslage eines Asia Shops, wo dicke weiße Tofuscheiben lagen, getrockneter Fisch und duftende Zitronengrashalme, geschnitzte Essstäbchen, Teekannen mit Drachenmotiven und kleine Döschen mit Tiger-Balsam. Er stellte sich eine kleine chinesische Oma in schwarzen Seidengewändern vor, die den Laden betrat und eines der Döschen kaufte, weil es sie an ihre Heimat erinnerte. Vor dem Maklerbüro blieb er stehen, sah sich die Fotos im Schaufenster an und versuchte sich vorzustellen, was für ein Haus er später als Erwachsener wohl einmal haben würde. Es klappte nicht. Dads Müllkippe schoss ihm plötzlich durch den Kopf: ein riesiger Berg aus Abfall, der bis in den Himmel hinaufragte, mit Kindern, die kopfüber in dem Haufen steckten und deren Arme und Beine herausguckten wie einzelne Zweige eines Lagerfeuers.
Eine Hand legte sich schwer auf seine Schulter. Luke hob den Kopf und sah in das Gesicht eines Wachmanns. »Was hast du hier zu suchen, junger Mann?« »Ich gucke nur«, sagte Luke. »Sehe mir die Läden an.« »Bist ja ziemlich früh dran.« »Stimmt.« Luke stand reglos da und wartete darauf, dass der Typ ihm sagte, was er getan hatte. Wieder einmal unbefugtes Betreten? Geplanter Diebstahl? Würde er auf der Polizeiwache landen? Der Wachmann war groß und kräftig gebaut, trug eine stramme blaue Uniform und an seinem Gürtel hing ein Lederetui, vielleicht mit einer Waffe darin? Aber sein Gesicht war in Ordnung, ein müdes Gesicht, mit klugen, freundlichen Augen. Ein bisschen erinnerte er Luke an den Soldaten aus dem Fernsehbericht, an den, der so nett zu den Müttern gewesen war. »Ihr Kinder«, sagte der Aufseher. »Ihr wisst wohl nicht, wie ihr die Zeit totschlagen sollt, was?« Er lächelte. Vielleicht hatte er ja einen Sohn in Lukes Alter zu Hause, einen Sohn, den er liebte und mit dem er sich abends beim Fernsehen unterhielt. »Nun mach, dass du weiterkommst«, sagte er. »Geh nach Hause, wenn du ein Zuhause hast. Es ist schon fast Zeit fürs Frühstück.«
Ein Bruder
In ihrem Büro dachte Margaret daran, wie Luke um vier Uhr morgens zusammengesunken vor dem Fernseher gesessen hatte, völlig angezogen und in seiner Jacke, als wolle er irgendwohin oder sei eben erst wiedergekommen. Sein Anblick verfolgte sie den ganzen Tag. Sein blasses Gesicht, wie benommen und mit hohläugigem Blick, starrte Margaret vom Monitor ihres Computers an. Wo konnte er nur sein, wenn er abends erst so spät nach Hause kam, fragte sie sich immer wieder. Und mit wem telefonierte er mitten in der Nacht? Sie dachte an Drogen. Drogen wären eine einleuchtende Erklärung für Lukes Probleme in der Schule. Sie hatte seine nackten Arme schon oft beobachtet, nach Einstichen gesucht, hatte ihm in die Augen gesehen, was völlig sinnlos war, weil sie sich einfach nicht merken konnte, ob sich Pupillen erweiterten oder zusammenzogen, wenn man Rauschgift nahm. Sie hatte seinen Schrank durchsucht, seine Schubladen, das ganze Zimmer. Eines Abends, als er unter der Dusche gewesen war, hatte sie seine Schultasche durchwühlt, lautlos wie ein Dieb, bei jedem Geräusch über ihre Schulter blickend, und das Herz hatte ihr im Brustkorb gehämmert, laut wie ein Motor. Sie hatte nichts gefunden. Aber sicherer fühlte sie sich dadurch nicht. Diese nächtlichen Telefonate, dass er immer dünner wurde – es hatte keinen Sinn, ihn danach zu fragen. Wenn er Drogen nahm, würde er es niemals zugeben, und wenn nicht, wäre ihre Frage unverzeihlich. Um drei Uhr hatte sie Feierabend und fuhr los, um Naomi vom Kindergarten abzuholen. Das Geplapper der Kleinen
machte sie fast wahnsinnig. Simon Forster hatte Sarahs Haare mit Farbe beschmiert, Kelly Biber hatte Mrs Lester angeschrien, und jemand wurden von allen Bumpty genannt, das klang wie ein Meerschweinchen, obwohl er ja keins sein konnte, weil er redete. »Sei endlich still!«, schimpfte Margaret und dann musste sie anhalten und sagen, dass es ihr Leid tat, und ihre arme Tochter trösten. Als sie nach Hause kamen, war Luke nicht da, aber das hätte er sowieso nicht schaffen können, dachte Margaret, selbst wenn er nach der Schule direkt heimkam. Es war noch nicht mal halb vier. Molly war da; an der St.-Catherine’s-Schule wurde Freitagnachmittag Sport unterrichtet. Ihre Spur zog sich durchs ganze Haus. Gleich in der Diele fiel man über ihre Schultasche, der Fernseher plärrte und auf dem Sofa standen ihre schmutzigen Schuhe, die einen klebrigen Teller voller Krümel bewachten. Margaret lief den verstreuten Sachen hinterher, hob sie auf, räumte sie weg. Mollys Spur führte sie in die Küche, wo sie Mollys Blazer fand, achtlos auf den Tisch geworfen, einer der tiefroten Ärmel in der Butterdose. Dieser Blazer für die Schuluniform hatte ein Vermögen gekostet! Und wenn sie Molly daran erinnerte, wie vor drei Tagen, als er völlig durchnässt und platt getreten auf dem Badezimmerboden gelegen hatte, wurde sie angeschrien. Schließlich seien diese Kosten nicht ihre Schuld, hatte Molly gebrüllt, sie habe ja nie verlangt, auf eine Privatschule zu gehen. Sie könnten sie ja rausnehmen, wenn sie wollten. Aber bei diesem letzten Satz hatte ihre Stimme gezittert, denn Molly ging wirklich gern auf die St. Catherine. Margaret nahm den Blazer vom Tisch und schüttelte die Krümel und Falten heraus. Sie warf einen kurzen Blick auf den fettigen Ärmelaufschlag: Die Butter ging bestimmt heraus, er
würde wieder wie neu aussehen. Manchmal musste man die Sache positiv sehen – Molly kam zumindest in der Schule gut zurecht, zumindest das, sie war nicht wie ihr Bruder. Die Sorgen um Luke kehrten schlagartig zurück. Blindlings lief Margaret aus der Küche und stieß in der Diele mit Molly zusammen. Ehe sie sich zurückhalten konnte, platzte die Frage aus ihr heraus: »Molly, hast du eine Ahnung, was mit Luke nicht stimmt?« »Nicht stimmt?«, wiederholte Molly. Ihre Augen schweiften ab und blickten an Margarets Gesicht vorbei. »Ja doch! Weißt du, ob er Ärger in der Schule hat?« »Ich kenne niemanden von seiner Schule.« »Aber hat er dir nicht selber was erzählt?« »Nein«, erwiderte Molly. »Wirklich, Ma, er würde mir nie und nimmer was erzählen; er spricht nicht mit mir. Naomi ist hier doch die Einzige, mit der er sich abgibt.« »ja, aber weißt du nicht vielleicht, wo er abends nach der Schule immer hingeht?« Margaret rückte dichter an Molly heran, kam bei jeder Frage näher, ohne es zu merken. »Nein! Woher soll ich das wissen?« Molly wich zurück zur Wand. »Er zieht einfach so durch die Gegend«, fügte sie schließlich hinzu. »Einfach so durch die Gegend?« »Er treibt sich rum, verstehst du? Läuft wie ein alter Penner durch die Straßen. Einmal hab ich ihn im Park gesehen, da hat er auf der Schaukel gesessen.« »War er allein?« Wieder musste Margaret an Drogen denken, an Dealer, die hinter Bäumen lauerten. »Natürlich war er allein. Hör mal…« »Letzte Nacht hat er jemanden angerufen, um vier Uhr morgens!« Molly zog eine Grimasse. »Wahrscheinlich den NachtgebetService.«
Margaret zuckte zusammen und redete einfach weiter. »Er war angezogen und…« Molly hielt sich die Ohren zu. »Bitte! Hör endlich auf, mich wegen Luke auszuquetschen! Hör bitte auf! Ich weiß nichts.« Sie stockte. »Ich habe es dir doch schon vorhin gesagt: Ich habe keine Ahnung!« Sie sah zu Boden. »Er ist einfach… einfach ein hoffnungsloser Fall, das ist alles.« »Ein hoffnungsloser Fall? Meinst du damit, dass er Drogen nimmt?« Molly ließ die Hände sinken und presste sie fest an ihren Körper. »Nein, das meine ich nicht damit! Ma, wieso musst du immer…« »Aber jeder kann doch drogenabhängig werden, Molly, jeder. Und du sagst doch selbst, dass du nichts über ihn weißt.« »Das weiß ich jedenfalls genau.« »Aber er sieht manchmal so sonderbar aus. Seine Augen…« »Er nimmt keine Drogen, okay? Dazu ist er einfach nicht der Typ.« »Aber was ist es denn sonst?« Molly drängte sich an ihr vorbei. »Ich muss jetzt gehen, Ma, ich bin spät dran.« »Spät dran?«, wiederholte Margaret. Jetzt erst sah sie, dass Molly sich zurechtgemacht hatte, wenn man es so nennen konnte. Sie trug diese zerrissene alte Jeans, die sie ihr »bestes Stück« nannte, und ihre neue Bluse, die Margaret nicht einmal berühren durfte. »Gehst du weg?« »Das habe ich dir doch gesagt«, rief Molly ihr über die Schulter zu. »Ich bin heut Abend nicht zum Essen da, das hab ich dir schon am Dienstag gesagt.« Tatsächlich? Margaret konnte sich nicht erinnern. Draußen auf der Straße hupte ein Wagen.
»Bin bis Mitternacht zurück!«, rief Molly und rannte hinaus. Krachend fiel die Tür ins Schloss. Draußen hupte der Wagen zweimal zu Mollys Begrüßung. Lionel! Margaret stürzte zur Tür, riss sie auf und hastete den Gartenweg hinunter durch die Pforte auf die Straße. Diesmal würde sie Lionel sehen! Der Wagen stand mit laufendem Motor vor dem Haus der Tibbetts. Molly riss die Tür auf und stieg ein. Die Scheiben waren dunkel getönt, sodass Margaret das Gesicht des Fahrers nicht erkennen konnte. Sie rannte den Bürgersteig hinunter. Und dann geschah etwas Erstaunliches. Das Motorengeräusch erstarb, die Fahrertür flog auf und ein junger Mann stieg aus und kam ihr mit ausgestreckter Hand entgegen. Er lächelte. »Ich bin Lionel Bersee, Mrs Leman. Wie schön, Sie kennen zu lernen.« Margaret starrte ihn mit offenem Mund an, sie war sprachlos. Er war völlig anders, als sie ihn sich vorgestellt hatte; es war überhaupt nichts an ihm auszusetzen. Keine Tätowierungen, keine Lederkluft. Er war weder betrunken noch high und er war nur ein bisschen älter als Molly. Er trug sogar ein Jackett! Lionel konnte sich absolut sehen lassen, er war… ein netter junger Mann. Margaret ergriff seine Hand, ganz überrascht, dass junge Leute heutzutage noch Hände schüttelten. »Vielen Dank«, sagte er. Wofür eigentlich?, überlegte Margaret. Doch sicher nicht für Molly? Da bemerkte sie, dass sie noch immer Mollys Blazer über dem Arm trug. Lionel nahm ihn ihr ab, er musste wohl gedacht haben, dass sie Molly die Jacke hinausbrachte, für den Fall, dass die Nacht kalt wurde. »Bis zwölf bringe ich Ihre Tochter zurück«, versprach er. »Keine Sorge.« »Ach, nein«, protestierte Margaret schwach. »Ich habe mir überhaupt keine Sorgen gemacht.«
Lionel schwang sich wieder in den Fahrersitz, der Motor sprang an, der Wagen glitt vom Bordstein auf die Straße. Fast kam es Margaret so vor, als sähe sie auf Mollys Seite eine Bewegung, ein Winken, aber ganz sicher war sie sich nicht. Wie benommen stand sie auf dem Bürgersteig. Warum hatte Molly Lionel vor ihnen versteckt? Warum nur? Was ging hier vor? »Ma!« Naomi stand schaukelnd auf der Gartenpforte. »Ma, darf ich dich was fragen?« »Natürlich, Liebling.« »Versprich, dass du nicht böse wirst!« »Ganz bestimmt nicht.« »Wo ist Lukie?« »Ach, Liebling«, seufzte Margaret und strich ihrer kleinen Tochter übers Haar. »Es ist doch noch früh, noch nicht mal vier. Er ist bestimmt drüben in der Bibliothek.«
Sie hatten das Auto geparkt und liefen die Straße hinunter Richtung Läden, als Molly ihn aus dem Augenwinkel heraus bemerkte. Luke. Er stand auf der anderen Straßenseite, die Hände in den Hosentaschen, den Kopf gesenkt, mit einem Fuß im Rinnstein und dem anderen auf dem Gehweg, so hinkte er vorwärts wie ein kleines Kind. Er trieb sich herum, genau wie sie es Ma erzählt hatte. Molly wandte den Blick ab, aber sie konnte die Drehung seines Kopfes fast spüren. Er hatte sie gesehen. Sie wusste es. Jetzt gleich, im nächsten Moment, würde er zu ihnen herüberkommen und irgendetwas Dummes sagen, würde sie
Käpten Coolibah nennen. Sie verkrampfte sich, lauschte auf seine Schritte, seine Stimme, umklammerte Lionels Hand. Die Schritte blieben aus. Sie musste sich umdrehen. Dort stand er, vollkommen reglos, und sah ihnen nach. Er folgte ihnen mit den Augen, das war alles. Nur mit den Augen. Wieder wandte sie den Blick ab. Er würde zum zweiten Mal durch die Abschlussprüfung fallen, davon war sie überzeugt. Und dann, was würde er dann tun? Sie konnte sich nicht vorstellen, dass er dasselbe tat wie andere: eine Zeit lang einen miesen Job annehmen, Hamburger auf dem Grill wenden oder Einkaufswagen zusammenschieben und das Geld sparen, um durch die Welt zu gondeln. So nicht. Nicht so, wie er jetzt war. Das bekam er einfach nicht hin. Eine ganz normale Arbeit konnte sie sich für ihn auch nicht vorstellen, in einem Büro oder bei einer Bank. Sie konnte sich nicht mal vorstellen, dass er eine Bank überfiel. Trotz all der Schwierigkeiten, in die er ständig geriet, war er ein ehrlicher Typ. Als Verbrecher würde er es nicht weit bringen. Das Einzige, was sie sich tatsächlich vorstellen konnte, war, dass er dort oben zusammengesunken in seinem Zimmer saß und wieder von vorne anfing, zum dritten Mal versuchte die Prüfung zu schaffen. Und wieder und immer wieder. Und dieser Gedanke war furchtbar, so furchtbar, dass Molly sich umdrehte und ihm zuwinkte. Es war nur die Andeutung eines Winkens. Sie beschleunigte ihre Schritte und klammerte sich noch fester an Lionels Hand. Aber nun drehte Lionel sich ebenfalls um. »Wer ist das?« »Niemand«, murmelte Molly. »Aber er scheint dich zu kennen.« Ganz plötzlich gab Molly auf. Sie konnte Luke nicht auf ewig verstecken. Irgendwo würde Lionel ihm sowieso begegnen,
dafür würde Ma schon sorgen. Wahrscheinlich am Sonntag. »Das ist Luke«, sagte sie leise. »Mein Bruder.« »Ich wusste ja gar nicht, dass du einen Bruder hast.« Wieder drehte Lionel sich um. »Er sieht dir nicht sehr ähnlich!« »Nein, wirklich nicht«, stimmte sie heftig zu. »Er ist kein bisschen wie ich!« Und auf einmal schämte sie sich. Ihre Wangen brannten. Luke. Hatte sie ihn früher nicht am allerliebsten gehabt? Als sie klein gewesen war, hatte sie ihn Lukie genannt, genau wie Naomi. Molly ließ Lionels Hand los und fuhr herum, um ihrem Bruder richtig zuzuwinken. »Luke!«, rief sie. »Luke!« Er war nicht mehr da, war verschwunden, um die Ecke gebogen. »Luke Leman«, sagte Lionel nachdenklich. »Hey, ist das nicht der Typ, den sie bei St. Crispin’s rausgeschmissen haben, weil er diesem blöden Gosser am Bahnhof die Meinung gesagt hat?« Mollys Augen weiteten sich. »Woher weißt du das?« »Mein Bruder war auf der St. Crispin’s. Luke Leman ist dort so ‘ne Art Legende. Gosser war ein Dreckschwein – wirklich bösartig.« Lionel starrte auf die leere Stelle, wo Luke gerade noch gestanden hatte. Er seufzte. »Weißt du, so etwas würde ich eines Tages auch gern tun.« »Was? Aus der Schule rausgeschmissen werden?« »Nein. So einem wie Gosser mal die Meinung sagen. Ganz egal, was passiert.« Molly strahlte ihn an, allein für diesen Satz liebte sie ihn mehr denn je. Er meinte es wirklich ernst, das merkte man. »Warte einen Moment«, sagte sie. »Bin gleich wieder da.« Und sie stürmte die Straße hinauf bis zu der Ecke, wo ihr Bruder verschwunden war. Sie musste es ihm einfach erzählen, ihm sagen, dass er in seiner alten Schule eine Legende war, ein
Held für andere Schüler, die ihm niemals selbst begegnet waren! Molly erreichte die Ecke und spähte die Straße hinunter, suchte sie ab nach Lukes vertrauter Gestalt. Aber Luke war nirgends zu entdecken, sie hatte ihn verpasst. Er war irgendwo auf der Straße wieder abgebogen.
Durchgedrehtes Karussell
Langsam ging Luke den Gartenpfad hinauf. Er würde Ma den Brief geben, jetzt sofort. Er war den ganzen Tag umhergelaufen und irgendwann um die Mittagszeit in einer Straße stehen geblieben, die er nicht kannte. »Ma!«, hatte er laut gesagt. Und dort, vor einem hellen Backsteingebäude mit gestreiften Markisen über den Fenstern und einer Katze, die auf dem Torpfosten saß und ihn aus großen gelben Augen anstarrte, genau dort hatte er sich entschieden. Er würde ihr den Brief geben, wenn er nach Hause kam, aber zuerst musste er versuchen, ihr alles zu erklären. Er musste, denn sie setzte immer noch ein wenig Vertrauen in ihn und er konnte es nicht ertragen, wenn auch dieser letzte Rest verloren ging. Alles wollte er erzählen: dass er sich mit den Schulaufgaben wirklich Mühe gegeben hatte, es immer wieder versucht hatte, aber es einfach nicht mehr konnte. Er würde von seinem Vorhängeschlossgefühl erzählen und warum er in der Laube gewesen war und Caro mitten in der Nacht besucht hatte. Für sie würde das alles seltsam klingen, das war ihm klar, aber er wollte einfach, dass sie es wusste. Sie sollte nicht denken, dass er all diese Dinge nur tat, weil ihm alles egal war. Als er zur Tür hereinkam und die Diele betrat, war sie gerade am Telefonieren. Caros Vater? Aber Mas Stimme klang so leicht und fröhlich, dass der Anruf nichts mit ihm zu tun haben konnte. »Lukie!« Naomi stürzte sich auf ihn und ergriff seine Hand. »Komm mal mit! Ich muss dir was zeigen!«
»Was denn?« Er ließ sich ins Wohnzimmer zerren und nahm zwischen ihren vertrauten Papierpuppen Platz, die überall herumlagen. »Das ist für dich«, sagte sie und drückte ihm ein Stück Papier in die Hand. Er schaute nach unten und sah einen tiefblauen Pullover. »Für mich, ja?« Sie nickte. »Mitternachtsblau«, sagte er. »Genau meine Farbe.« »Und das hier sind meine Häuser, siehst du? Das ist das Haus von Ma und Dad.« Das hübsche, reetgedeckte Landhaus mit den Kletterrosen rund um die Tür war bestimmt genau das Richtige für Ma. Aber zu Dad hätte eher ein hoher schwarzer Turm gepasst, ganz für ihn allein. »Und das ist Mollys Haus.« Ein Haus wie ein Raumschiff mit glänzenden Rundungen und blitzenden Silberdecks, bereit zum Abheben ins All. »Und das ist deins.« Er wagte kaum hinzusehen. Dads Müllkippe schoss ihm wieder durch den Kopf, der Abfallberg, auf dem Kinder zum Verbrennen abgeladen wurden. Naomi stieß ihn an. »Willst du’s dir nicht angucken?« Er betrachtete das Bild in ihrer Hand. Ein weiße Burg mit Türmchen, schmalen Spitzbogenfenstern und goldgrünen Bannern, die stolz von ihren hohen Zinnen wehten. Und drumherum Wolken, eine Himmelsburg. Er umarmte seine kleine Schwester. »Danke«, sagte er. »Danke für das schöne Haus, Prinzessin. Es ist toll.« Über ihnen waren Schritte zu hören. Ma war mit Telefonieren fertig und lief oben durch den Flur zum Schlafzimmer.
Jetzt. Er tastete in seiner Hosentasche nach dem Brief und richtete sich auf. »Wo gehst du hin?« »Nur nach oben, um mit Ma zu reden. Bin gleich wieder da, Prinzessin.« Der Brief sah inzwischen ziemlich mitgenommen aus. Der Umschlag war ganz schmutzig und hatte in der Mitte einen tiefen Knick, als hätte Luke ihn nicht erst einen Tag, sondern wochenlang mit sich herumgetragen. Er ging kurz in sein Zimmer und versuchte ihn zu säubern, rieb den Umschlag mit einem Papiertuch ab und versuchte die Knicke zu glätten. Besser ging es nicht. »Ma!«, rief er vor dem Elternschlafzimmer, aber es kam keine Antwort; sie war wieder nach unten gegangen, das Zimmer war leer. Sein Blick fiel auf die Frisierkommode, wo die alten Fotos standen: Naomi als Baby, Molly in ihrem Wichtelkostüm und ein kleiner, blonder Junge, der an der Mole stand und in die Welt hinausgrinste. »Damals wusstest du noch nichts von all dem Mist«, sagte Luke zu ihm. »Deshalb bist du noch so fröhlich.« Er steckte den Brief in die Hosentasche und lief eilig die Treppe hinunter. Im Wohnzimmer war ein Streit im Gange: ein lautstarker Streit, die Sorte, die Molly immer als durchgedrehtes Karussell bezeichnete. »Du hast es mir versprochen!«, brüllte Naomi. »Du hast es mir versprochen!« »Oh, Liebling, das weiß ich doch. Aber jetzt muss ich wirklich zu Mrs Richards rübergehen, um ihr bei Sophies Kleid zu helfen. Das hab ich auch versprochen.« »Mir hast du zuerst was versprochen!« »Ich weiß, es tut mir Leid. Hör zu, lass uns morgen gehen, okay? Gleich morgen früh geh ich mit dir hin.«
»Ich will aber heute Abend. Ich will es sehen, wenn die Lichter an sind!« »Was ist denn los?«, fragte Luke, als er hereinkam. Ma drehte sich nach ihm um, ihr Gesicht war ganz rot und erhitzt. »Oh, ich habe ihr versprochen, heute Abend mit ihr ins Kaufhaus zu gehen und die kleine Spielzeugstadt anzugucken. Aber dann hat Mary Richards angerufen. Sie ist völlig aufgelöst wegen Sophies Kostüm morgen fürs Konzert und ich habe gesagt, ich komme schnell rüber und helfe ihr. Und dein Vater arbeitet heute länger und…« »Das macht doch nichts«, sagte Luke. »Ich kann mit ihr hingehen. Wir nehmen den Bus.« Der Brief musste wohl warten; er musste mit Ma sprechen, wenn sie allein war. Wenn sie von Mrs Richards zurückkam und Dad schon schlief, dachte er, das wäre vielleicht der rechte Moment. »Ja!« Naomi strahlte ihre Mutter an. »Ich kann mit Lukie hingehen!« Aber da geschah etwas Unerwartetes. »Nein, nein, das kannst du nicht«, sagte Ma hastig. Ihre Stimme klang panisch und sie warf sich schützend vor ihre Tochter, was Luke an eine Tierfilmszene erinnerte, wie eine Löwin, die ihr Junges vor Gefahr schützen wollte. Und zwar vor ihm. Sie wollte ihm Naomi nicht anvertrauen! Der Schmerz durchzuckte ihn wie eine lange, scharfe Klinge, die sich in seinen Körper bohrte, sogleich wieder herausgezogen wurde und dort eine leere Stelle für den Schock hinterließ. Luke konnte es kaum fassen. »Warum denn nicht?« Naomi zerrte an Mas Rock. »Lukie kennt den Weg doch. Warum darf ich nicht mit ihm hingehen?« »Weil es eben nicht geht.« Margarets Gesicht war hochrot angelaufen und sie vermied es, Luke anzusehen. »Ich möchte
nicht, dass du abends mit Luke herumziehst. Ich möchte nicht, dass du zu jeder Tages- und Nachtzeit unterwegs bist und verloren gehst!« »Sie würde nicht verloren gehen«, erwiderte er leise. »Nicht mit mir.« Er griff nach dem Brief in seiner Tasche, denn jetzt konnte sie ihn ebenso gut gleich lesen. Es hätte sowieso keinen Sinn, ihr irgendetwas erklären zu wollen. Wenn sie der Meinung war, ihm Naomi nicht anvertrauen zu können, wenn sie glaubte, seine Schwester bedeute ihm so wenig, dass er sie verlieren könnte, dann würde sie seine Erklärungsversuche nie und nimmer glauben. Sie würde denken, dass diese Geschichte mit dem Vorhängeschloss nur eine Ausrede war, oder ihn für verrückt halten. Er hielt ihr den Brief hin. »Was ist das?«, fragte Margaret, aber im nächsten Moment begann die Klingel heftig zu schrillen und hörte überhaupt nicht mehr auf. Draußen schien jemand wütend den Finger auf den Klingelknopf zu pressen. Caros Vater, mit Sicherheit. Ma schob Lukes ausgestreckten Arm fort und hastete an ihm vorbei zur Tür. Er steckte den Brief zurück in seine Tasche und beschloss, ihn später einfach auf den Telefontisch zu legen. Eine wütende Stimme hallte durch die Diele, aber Mr Hunter war es nicht. »Oh!«, keuchte Naomi, als sie es hörte. »Sie ist es!« »Sie?«, wiederholte Luke. »Wer denn? Was ist denn los?« »Na, diel« Naomi rannte an ihm vorbei und tauchte hinter dem Sofa ab. Ma kam mit Mrs Jackson herein, die auf der anderen Straßenseite wohnte. »Die rasende Jackson« hatten Luke und Alex Hamilton sie früher immer genannt, weil sie jedes Mal brüllend auf die Straße gerannt war, wenn ein Fußball über ihren Zaun flog.
Mrs Jacksons Gesicht war starr vor lauter Entrüstung. »… und dann hat sie es wieder getan, Mrs Leman! Als hätte ich nicht schon längst mit ihr darüber gesprochen. Als ich sie das letzte Mal erwischt habe, hab ich gesagt: ›Naomi Leman, wenn ich dich noch einmal am Tor erwische, dann gibt es Ärger!‹« »Wo ist Naomi?«, fragte Ma. Luke schüttelte den Kopf, aber das leise Gewimmer hinter dem Sofa war deutlich zu hören, und an der einen Seite guckte gut sichtbar ein kleiner Fuß mit knallrotem Turnschuh heraus. »Naomi, komm da auf der Stelle raus!« Naomi kroch hinter dem Sofa hervor und stürzte auf Luke zu. »Komm her!« Ma packte sie am Arm. »Naomi, bist du alleine auf die Straße gegangen? In der Nacht? Nach allem, was ich dir gesagt habe?« »Nicht in der Nacht«, flüsterte Naomi. »Nicht, wenn es schon richtig dunkel ist. Nur, wenn es gerade erst anfängt dunkel zu werden.« Ma schüttelte sie am Arm. »Wie oft habe ich dir schon gesagt, du sollst abends nicht alleine rausgehen? Und auch sonst nicht. Und wieso hast du Mrs Jacksons Tor zugemacht? Hast du es zugemacht, obwohl sie dir gesagt hat, dass du es nicht tun sollst? Stimmt das, Naomi?« Mrs Jacksons Augen funkelten vor Wut. »Natürlich stimmt es! Und sie macht nicht nur unser Tor zu; sie macht es bei jedem in der Straße. Ich hab sie immer und immer wieder dabei beobachtet. Sie läuft die Straße rauf, sie läuft die Straße runter und dabei macht sie alle Tore zu!« »Tust du das, Naomi?« »Ja«, murmelte Naomi und vergrub ihr Gesicht im Rock ihrer Mutter. »Warum?« »Weil ich einfach muss!«, nuschelte Naomi in den Rock.
»Du musst? Warum denn? Wozu bitte muss man die Tore von fremden Leuten zumachen?« »Bestimmt eine Mutprobe«, sagte Luke. »Ein Kind vom Kindergarten will sie auf die Probe stellen. Es war eine Mutprobe, stimmts, Prinzessin?« »Luke, lässt du sie bitte alleine antworten? Also, Naomi?« Naomis Gesicht tauchte aus dem Stoff des Rockes auf, rund, wie ein kleiner Mond. An der Stelle, wo ihre Wangenknochen hervortraten, leuchteten zwei flammend rote Flecken. »Weil, wenn ich es nicht tue, dann…« Sie hielt inne und biss sich auf die Unterlippe. »Was dann?« »Nichts!«, schrie Naomi. »Ich muss einfach. ICH MUSS DIE TORE ZUMACHEN!« Sie riss sich von Mas Hand los und raste durch das Zimmer. »Ich hasse dich!«, schrie sie, als sie an Mrs Jackson vorbeikam. »Ich hasse dich, ich hasse dich, ich hasse dich!« »Also so was!«, keuchte Mrs Jackson. Sie standen schweigend da und horchten auf Naomis Schritte, die die Treppe hinaufstürmte und durch den Flur in ihr Zimmer rannte. Die Tür knallte zu. »Also so was!«, sagte Mrs Jackson wieder. Sie befeuchtete ihre Lippen. »Was für eine unverschämte kleine Person!«
Keine einzige fröhliche Minute
»Es war einfach unmöglich, an sie ranzukommen. Sie hat mir keinen Grund genannt.« Margaret saß im Bett, hatte die Arme um ihre Knie geschlungen und berichtete Dan die Sache mit Naomi. »Sie hat bloß immer wieder gesagt: ›Ich muss das!‹, immer wieder.« Dan Leman stand in der Mitte des Schlafzimmers, knöpfte sorgfältig seine blaue Schlafanzugjacke zu, einen winzigen Knopf nach dem anderen, und wünschte sich, weit fort zu sein, um sich all das nicht anhören zu müssen. »Warum um Himmels willen könnte sie so etwas tun?«, fragte Margaret ihn. »Warum?« Am liebsten hätte Dan sich die Ohren zugehalten, aber ihm war klar, dass er zuhören musste. Er musste sogar versuchen eine Erklärung zu finden. Er hatte keine Erklärungen. Im Augenblick spürte er deutlich, dass er überhaupt nichts wusste. »Kleine Kinder sind manchmal unberechenbar«, murmelte er. »Aber Naomi doch nicht. Sie ist immer so ein liebes Kind gewesen, das weißt du doch. So fröhlich. Ein fröhliches Kind. Wirklich, Dan, wie sie dagestanden hat und mir freche Antworten gab! Ich dachte, ich traue meinen Ohren nicht! Und was sie zu Mrs Jackson gesagt hat!« »Diese alte Ziege!« »Ja, aber darum geht es doch nicht, Dan. Es geht um Naomi – sie war plötzlich wie ein anderes Kind, als hätte jemand sie verhext oder so was.« Dan stieg ins Bett. Er legte sich hin, aber Margaret blieb sitzen und hörte nicht auf, über Naomi zu reden. Sein sicherer Instinkt sagte ihm, dass sie jeden Moment von Luke anfangen
würde, dass er an diesem Abend um dieses Thema nicht herumkam. Einmal hatte er durch die dünnen Wände eines Hotels zwei Kinder gehört, die ihre Eltern anschrien. »Dauernd müsst ihr Erwachsenen uns quälen!«, hatten sie gebrüllt. Es war genau umgekehrt, fand Dan. »Ich werde den Gedanken einfach nicht los…«, begann Margaret zögernd. »Welchen Gedanken?«, fragte Dan und seufzte. »Na ja, dass Luke…«, sie sprach den Namen schuldbewusst aus und warf einen schnellen Blick zu Dan hinüber, »dass Luke vielleicht etwas damit zu tun haben könnte.« Na bitte. Dan stellte sich tot und lag reglos wie ein großes, ängstliches Tier unter seinem Federbett. »Vielleicht ist es irgend so ein albernes Spiel, eine verrückte Idee, die er ihr in den Kopf gesetzt hat«, fuhr Margaret fort. »Naomi ist die Einzige, mit der er wirklich spricht, ist dir das schon aufgefallen? Und neulich stand er mitten in der Nacht vor ihrer Tür. Er sagte, sie hätte einen Albtraum gehabt und er hätte sie wieder ins Bett gebracht. Aber ich weiß nicht, wirklich…« Dan lag einfach nur da und sagte keinen Ton, mit abgewandtem Gesicht, den Kopf auf seinem Kissen zur Seite gedreht, als könne er sich auf diese Weise entziehen. Und dann spürte er einen Schlag, einen kleinen, aber immerhin einen Schlag auf seinem Arm, durch den dünnen Stoff seines Schlafanzugärmels. Seine Augen klappten auf; er drehte den Kopf. Margaret schaute wütend auf ihn hinunter. »Hör endlich auf damit!«, fuhr sie ihn an. »Womit denn?« Dan rieb sich den Arm. »Mit dieser Masche. Hör auf damit, hör auf, dich zu verstecken!« »Verstecken?«
»Vor Luke. Du ignorierst ihn. Du sprichst nie mit ihm, du sprichst nie über ihn und lässt mich nicht über ihn sprechen. Hör auf damit!« »Ich lasse dich doch über ihn sprechen.« »Nein, das tust du nicht. Du läufst davon. Du tust so, als wäre er gar nicht da.« Sie rang stockend nach Luft und atmete tief ein. »Es ist einfach schrecklich, wie du immer an ihm vorbeiläufst. Ich kann das gar nicht mit ansehen. Er ist doch dein eigener Sohn! Das ist… grausam.« »Er…«, begann Dan, aber ehe er weitersprechen konnte, hielt Margaret ihm den Mund zu. »Sag das nicht, sag das nicht!« Dan schob ihre Hand weg. »Was nicht?« »Sag nicht: ›Er muss jetzt sehen, wie er alleine zurechtkommt.‹ Ich hasse es, wenn du das sagst.« »Das wollte ich doch gar nicht sagen«, protestierte Dan gekränkt. Er richtete sich auf und legte seiner Frau den Arm um die Schulter. »Ach, Dan, ich mache mir solche Sorgen um ihn«, brach es aus ihr heraus. »Ich weiß nicht, wo er hingeht oder was er tut. Ich weiß nicht, ob er lernt oder nicht, wenn er sich stundenlang in sein Zimmer zurückzieht. Ich habe Angst, dass er einfach nur auf seinem Bett liegt, Dan. Ich habe Angst, hineinzugehen und nachzusehen.« Wieder atmete sie tief ein, so heftig, dass die Spitzen ihrer Haare sich im Luftstrom bewegten. »Mit Luke kommt man nicht einen Moment zur Ruhe. Irgendwas geht immer gerade schief, immer wieder. Und wenn ich so zurückdenke, weißt du, kann ich mich manchmal an keine einzige fröhliche Minute mit ihm erinnern.« Ihre Stimme hallte durch das Zimmer, wurde von den dünnen weißen Wänden zurückgeworfen. »Das kann doch nicht wahr sein, oder, Dan? Das kann doch einfach nicht wahr sein.« »Nein«, flüsterte er. »Es ist nicht wahr.« »Irgendetwas stimmt nicht mit ihm. Ich weiß es!«
»Pst. Beruhige dich doch, Margaret.« Sie saßen einen Moment schweigend da. »Vielleicht liegt es ja irgendwie an uns«, sagte Dan leise. Es klang unsicher. »Dass etwas mit ihm nicht stimmt, meine ich.« Margaret sah ihn an, erstaunt, dass ausgerechnet er so etwas sagte. »An uns? Wie kommst du darauf?« Er schüttelte langsam den Kopf. »Ich weiß nicht. Ich denke bloß immer, es könnte so sein – aus irgendeinem Grund.« Er nahm den Arm von ihrer Schulter und stand auf. »Was ist los? Wo willst du hin?« »Nur mal mit ihm reden.« Er sah die Panik in ihren Augen. »Was ist denn? Ich dachte, du wolltest, dass ich mit ihm rede. Die ganze Zeit hast du…« »O ja, ja doch, natürlich. Aber schrei ihn nicht an, Dan. Fang keinen Streit mit ihm an.« »Tu ich nicht«, sagte er. Dan brauchte nicht weit zu gehen, Lukes Zimmer lag gleich nebenan. Er stand vor seiner Tür. Plötzlich wusste er nicht mehr, was er ihm sagen sollte. Monate waren vergangen, seit er zum letzten Mal mit seinem Sohn gesprochen hatte, und auf einmal kam ihm sein strafendes Schweigen albern vor – und grausam, wie Margaret gesagt hatte. Wie hatte er so etwas nur tun können? Er hatte sich benommen wie ein beleidigtes Kind, wie ein kleiner Junge, der sein Weihnachtsgeschenk auspackte und sich beschwerte, weil er nicht das Richtige bekam. »Luke!«, rief er verlegen, und als keine Antwort kam, öffnete er die Tür und schaute ins Zimmer. Luke schlief; eine große, reglose Ausbuchtung unter der Daunendecke.
»Was ist?« Margaret erwartete ihn, immer noch aufrecht im Bett sitzend, die Augen auf die Tür geheftet.
»Nichts. Er schläft. Ich rede morgen früh mit ihm.« Dan legte sich hin und knipste das Licht aus. Er schloss die Augen. Margaret blieb wach. Sie musste an die Zeit denken, als Luke noch klein gewesen war. Einmal, erinnerte sie sich, war sie in sein Zimmer gekommen, um etwas aus dem Kleiderschrank zu holen, und hatte im Schrank ganz hinten einen alten Pappkarton gefunden. Sie klappte den Deckel auf; der Karton war voller Brot. Voll gestopft bis obenhin mit Krusten und Kanten, sogar verschimmelte Sandwiches waren dabei gewesen. »Was ist denn das?«, hatte sie gefragt. »Brot.« »Ja, das sehe ich, mein Schatz. Aber warum ist es da drin? Was hat es in deinem Schrank zu suchen? Warum hebst du es auf?« Er wollte nicht antworten. Stopfte sich die Faust in den Mund und starrte zu Boden. Sie hatte sich neben ihn gekniet und die Faust vorsichtig herausgezogen. »Warum liegt das Brot da, Schatz? Du kannst es mir ruhig sagen.« »Für den Krieg«, flüsterte er. »Krieg?« Sie war schockiert gewesen. Sie hätte nicht im Traum daran gedacht, dass er dieses Wort überhaupt kannte. »Liebling, was denn für ein Krieg?« »Der Krieg mit den Bomben«, sagte er. »Der im Fernsehen. Damit wir was zu essen haben, wenn hier auch Krieg ist.« Margaret sah sein kleines, weißes Gesicht vor sich, das zu ihr hochgeschaut hatte. Durch das schreckliche Geheimnis, das er mit sich herumgetragen hatte, war es blass und verkniffen gewesen. Ganz benommen. Genauso hatte er gestern Nacht ausgesehen, dachte sie. Und genauso hatte Naomi heute Abend ausgesehen.
Nighttrain
Luke hatte nicht geschlafen. Durch die dünnen Wände waren die Worte seines Vaters nicht zu verstehen gewesen, er hatte zu leise gesprochen. Aber Luke hatte gehört, was seine Mutter sagte. »Keine einzige fröhliche Minute!«, hatte sie gesagt. Er hatte sich in ihr getäuscht, das war ihm in dem Moment klar geworden, als sie ihm Naomi nicht anvertrauen wollte. Als sein Vater auf dem Flur stand und durch die Tür nach ihm rief, hatte Luke sich schlafend gestellt. Er wollte nicht mit ihm sprechen. Weder mit ihm noch mit ihr. »Keine einzige fröhliche Minute.« In diesem Augenblick war in Luke etwas zerrissen, fast konnte er es hören. Und jener Gedanke, der ihm in Caros Zimmer gekommen war, trat nun plötzlich deutlich hervor, wie etwas, das die ganze Zeit im Haus gelauert hatte, abwartend, bis draußen klickend die Pforte zufiel und die Schritte der Eltern sich langsam auf der Straße entfernten. Der Gedanke war: Dieser Nachtzug existierte gar nicht. In Caros Zimmer und auch in der Nacht davor, als er mit Ma vor Naomis Zimmer gestanden hatte, war das Pfeifen des Zuges laut und deutlich zu hören gewesen. Doch Ma und Caro hatten nichts gehört. Nicht das Geringste. Sie hatten nichts gehört, weil nach Mitternacht keine Züge mehr vorbeifuhren. Sie hatten nichts gehört, weil es keinen solchen Zug gab. Er war der Einzige, der ihn hörte, weil er nur in seiner Vorstellung existierte, wie die Stimmen der Engel und Teufel, die Jennifer Brady gehört hatte.
Irgendetwas mit ihm stimmte also nicht. Das hatte Ma im Zimmer nebenan gerade gesagt. Und Mrs Lewis schien der gleichen Meinung zu sein. Und vielleicht dachte sogar Ms Brennan genauso und hatte nur versucht, es nicht zu zeigen, so wie Ma. Und was sie damit meinten, war nicht, dass er durch Prüfungen fiel und von Schulen verwiesen wurde, keine gewöhnlichen Dinge dieser Art. Sie meinten, dass etwas in seinem Kopf nicht stimmte. Dass er verrückt war. Vielleicht hatten sie ja Recht. Luke knipste das Licht an und griff nach seinen Kleidern, die über dem Stuhl hingen. Er musste sich sicher sein, er musste es wissen. Denn sie konnten sich auch irren, und falls es den Nachtzug tatsächlich gab, dann hatten sie sich eben getäuscht. So einfach war das. Wenn man Antworten auf wichtige Fragen brauchte, wurde man im Unklaren gelassen, so wie Stringer und Mrs Lewis ihn im Unklaren gelassen hatten, als er fragte, ob man ihn von der Schule verwies. Ein deutliches »Ja« oder »Nein« bekam man von niemandem. Doch diesmal würde er die Antwort auch allein finden. Er angelte seine Joggingschuhe unter dem Schreibtisch hervor. Die Socken fehlten. Wo waren die Socken? Er kniete sich auf den Boden, guckte unter den Tisch und unters Bett, doch er konnte sie nirgends entdecken. Egal, die Hauptsache war, dass er irgendwie bis zum Bahnhof kam und den Nachtzug vorbeifahren sah. Falls er vorbeifahren würde. Wenn dieser Zug vorbeifuhr, dann war er nicht verrückt. Er konnte alles ertragen, solange er nicht verrückt war. Er konnte wieder ganz von vorne beginnen, irgendwie, sich ganz von unten hocharbeiten, ganz egal, was die Leute über ihn dachten, egal, ob er wieder durch die Prüfung fiel. Er dachte an das gütige Gesicht des Soldaten aus dem Dokumentarfilm gestern Nacht, wie er den Müttern geholfen hatte, deren Söhne
gefallen waren. Das war es, was man schaffen musste, irgendwie: nicht aufzugeben und freundlich zu bleiben. Luke schnürte die Joggingschuhe über seinen nackten Füßen, wickelte die Schuhbänder bis nach oben um die Knöchel und knotete sie zusammen, damit sie sich beim Laufen nicht lösen konnten. Er warf einen Blick auf seine Uhr. Es war früher, als er gedacht hatte, erst halb eins, noch zu früh um aufzubrechen. Er legte sich aufs Bett, ließ eine weitere Stunde verstreichen. Dann stand er auf und verließ das Zimmer. Draußen auf dem Flur blieb er für einen Moment vor Naomis Tür stehen. Wegen Mas Strafpredigt war sie ganz bedrückt ins Bett gegangen und wollte nicht mal mehr runterkommen, als Ma schließlich zu Mrs Richards rübergegangen war. Luke hatte ihr Schokoladenmilch und ein Stück Kuchen raufgebracht, aber sie wollte ihm immer noch nicht sagen, warum sie die Tore zugemacht hatte. Er machte die Tür auf. Sie hatte die Vorhänge wieder nicht ganz zugezogen. Im schwachen Licht, das durch das Fenster hereinfiel, sah er, dass sie fest schlief. Luke schloss die Vorhänge und schlich auf Zehenspitzen zur Schubladenkommode hinüber. Von der kleinen Glasschale, die neben den Porzellankatzen stand, löste er vier goldene Glitzersterne ab. Er wollte Naomi eine Freude machen, etwas, worüber sie lachen konnte. Vorsichtig, neben ihrem Bett kniend, klebte er ihr die Sterne in einer Reihe auf die Stirn. Sternenprinzessin!, dachte er, als er sich wieder aufrichtete und lächelnd auf sie runtersah. Sie würde die Sterne am nächsten Morgen entdecken, würde sie beim Zähneputzen im Badezimmerspiegel sehen und völlig hingerissen sein. Unten in der Diele warf er Stringers Brief auf den Telefontisch, neben die Stromrechnung und den Kontoauszug von der Bank.
Luke hatte den Brief nie geöffnet. Vier Tage später, am Dienstag, würde seine Mutter es schließlich tun und darin eine Einladung zum Elternabendessen des 12. Jahrgangs finden. Nur eine Einladung, doch an jenem Dienstag, als Margaret sie fand, setzte sie sich hin und weinte.
Der Eingang zum Bahnhof war zu, abgeschlossen. Achselzuckend wandte Luke sich ab. Schließlich brauchte er keine Fahrkarte und wollte nicht verreisen. Er wollte den Zug bloß sehen. Er überquerte den leeren Parkplatz, folgte dem schmalen Pfad hinter den Bahnhofshäuschen und kletterte die Grasböschung hinauf auf die Gleise. Luke blickte die Strecke hinunter Richtung Innenstadt; dort hinten war nichts zu sehen, nichts, das auf einen Zug hindeutete, kein kleiner, leuchtender Punkt, der durch das Dunkel näher kam. Links, am Fuß der Böschung, hoben sich die scharf umrissenen, pechschwarzen Silhouetten der Häuser und Telegrafenmasten auf der Harlow Street gegen die Dunkelheit ab. Zu seiner Rechten verdeckte eine Reihe flüsternder Tannen die verborgenen Winkel und Hügel des Golfplatzes. Hoch über seinem Kopf zogen die Sterne am leuchtenden Himmel ihre Bahnen; der Regen hatte sich verzogen, der nächste Tag würde schön werden. Auf seiner Uhr war es fast zwei, und noch immer war kein Zug in Sicht. Hatte er sich vielleicht in der Richtung geirrt? Konnte es sein, dass der Zug von der anderen Seite kam und Richtung Innenstadt fuhr? Luke drehte sich um, aber auch dort war nichts zu entdecken, nur das abgeschlossene Bahnhofsgebäude, das im fahlen Mondlicht schimmerte. Er unterdrückte die aufkommende Panik, die ihn durchzuckte – der Zug hatte Verspätung, das war alles. Züge kamen immer zu spät, auch ein Nachtzug konnte sich verspäten. Vielleicht kam
er erst um zehn nach zwei oder sogar erst um zwanzig nach. Noch lange kein Grund um aufzugeben. Er lief ein Stück, die Stadt nun im Rücken, schritt vorsichtig von Schwelle zu Schwelle, wie ein Kind, das Tritt-nicht-in den-Spalt spielte und das raue blau glänzende Metall im Zwischenraum übersprang. Ein kleiner, scharfer Stein geriet in seinen Schuh, schnitt ihm schmerzhaft in den Fuß. Luke balancierte auf einem Bein und zog am Schuh. Der Schuh bewegte sich kaum, saß wegen der verknoteten Schnürsenkel ziemlich fest. Luke zog und zog, schwankte einbeinig mitten auf den Schienen. Schließlich gaben die Schnürsenkel nach und der Schuh löste sich vom Fuß, hing aber durch den Knoten noch immer am Fußgelenk fest. Urplötzlich kam heftiger Wind auf, Nordwind, der an den Bäumen neben den Gleisen zerrte. Unten in der Harlow Street krachte und klapperte ein Wellblech und oben am Himmel begannen die Sterne zu tanzen. Die hohen Tannen schlugen zur Seite, peitschten die Dunkelheit. Ihr Rauschen sauste Luke in den Ohren. Es klingt wie die Brandung, dachte er, während er immer noch an seinem Schuh zog. Es klingt wie das Meer. Helligkeit überflutete ihn, grell wie das Licht eines Suchscheinwerfers. Ein langer Pfiff zerriss den Wind. Luke fuhr herum, trat unbeholfen auf den Schuh, schwankte. Da war er, direkt vor ihm. Der Nachtzug, der Postzug, der um 1.30 Uhr in der Stadt abfuhr. Er sah die hell erleuchtete Kabine, die gerundete Windschutzscheibe mit den großen Scheibenwischern, das Gesicht des jungen Zugführers, panisch verzerrt unter seiner grünen Schirmmütze. Also gab es ihn. Es gab den Nachtzug. Er hatte Recht gehabt. Nun konnte er… Luke stolperte und fiel. Die Bremsen kreischten, der Wind toste und es gab ein seltsames, dumpfes Geräusch, als hätte jemand einen Sack Mehl auf die Straße geworfen.
Luke hörte das Geräusch. Es täte nicht weh, hieß es, der Schlag, der einen für immer auslöschte, der die Seele vom Körper trennte. Doch das stimmte nicht, es tat weh. »Nein!« Von irgendwo hörte er eine Stimme und dann sah er Naomi, die in einer dunklen Straße stand, ihre Hand auf dem Riegel irgendeines fremden Gartentores. Es stürmte und über ihre Finger fiel ein Schatten wie ein Zeichen. Er spürte, wie er sich hob und wieder fiel, wie auf dem Kamm einer riesigen Welle, hinabgezogen wurde in eine Dunkelheit, die seinen Mund füllte, Ohren, Nase und Augen.
Zu Hause im Orchard Court wurde Naomi plötzlich wach und schrie kurz auf, schoss kerzengerade hoch und klammerte sich an ihre Decke. Es war ihr wieder eingefallen. Mrs Jackson, die zu ihnen gekommen war und mit ihr geschimpft hatte. Naomi schrie. Denn nun würde sie die Tore nicht mehr schließen können, nie mehr… Und Lukie würde etwas Schlimmes zustoßen.
Eine Legende
Obwohl am Samstag schönes Wetter war, heller Sonnenschein, fand die Grillparty bei Liz nicht statt. Caro blieb den ganzen Tag in ihrem Zimmer. Sie saß auf dem Stuhl, wo Luke in jener Nacht gesessen hatte. Sie hielt den Rücken sehr gerade. Die ganze Zeit dachte sie daran, wie Luke sich entschuldigt hatte und wie sie gesagt hatte: »Hör endlich auf, dich dauernd zu entschuldigen!« Hör endlich auf, hör endlich auf, hör endlich auf.
Molly lief am Schlafzimmer ihrer Eltern vorbei und hörte sie drinnen reden. Ob Lukes Tod wirklich ein Unfall gewesen war oder ob er es so gewollt hatte, fragten sie sich. »Das hat er nicht!«, brüllte sie und stürmte zu ihnen hinein. »Hat er nicht! Hat er nicht! Hat er nicht!« Ihre Schreie wurden lauter, bis sie plötzlich ein schrilles Fiepen im Ohr hörte. Sie verstummte, wartete, dass das Geräusch aufhörte, dass ihre Stimme im Raum verhallte. »Dazu war er einfach nicht der Typ«, sagte sie. Ihre Eltern starrten sie mit verständnislosen Mienen an, wie kleine Vögel, die zum ersten Mal über den Nestrand in die unheimliche Welt hinausblickten. Nesthocker, die keinen blassen Schimmer hatten, dachte Molly, und fast hätte sie gleich wieder losgebrüllt: »Ihr hattet doch keinen blassen Schimmer!«, doch der bedauernswerte Anblick ihrer beiden Gesichter ließ sie innehalten und stattdessen sagte sie ganz ruhig: »Luke ist an der St.-Crispin’s-Schule eine Legende! Ein Vorbild für alle!«
Mary Richards nahm Naomi zum Konzert ihrer Tochter mit und hielt ihre kleine Hand, während Sophie auf der Bühne tanzte. Sie trug das rosarote Kleid, das Margaret am Freitagabend mitgeholfen hatte zu nähen. Mary fand es nicht richtig, dass man Naomi nichts über Luke gesagt hatte. Jedenfalls nicht die volle Wahrheit. Falls Naomi sich umdrehte und bei ihr nachfragte, würde sie ihr nichts verschweigen, entschied sie. Aber Naomi drehte sich nicht um. Sie sagte keinen Ton, saß steif da, die Augen geradeaus gerichtet, mit leichtem Stirnrunzeln, während sie Sophie beim Tanzen zusah.
Am Sonntagnachmittag machten drei hagere Schüler aus der Siebten einen Ausflug zu den Gleisen, um nach Blutspuren zu suchen. Der Tod war etwas, das ihnen unwirklich vorkam. Sie kicherten und prusteten, rempelten und schrien herum, aber jeder von ihnen spürte ein merkwürdiges, ängstliches Gefühl von Verlassenheit, das er verschwieg. Sie fanden nichts. Die schmalen Schienen funkelten im Sonnenlicht, die hohen Tannen wiegten sich und flüsterten, drüben auf dem Golfplatz riefen die Spieler sich zu: »Wohl eher ein Glückstreffer!« und »Tja, Pech, hier ist es uneben!« Alles ging seinen gewohnten Gang – das war das Unheimliche. »Lasst uns abhauen!«, zischte einer der drei und plötzlich begannen sie alle zu rennen, rutschten und stolperten die Grasböschung hinab, stürmten die Harlow Street entlang, mit fliegenden Beinen, weit ausholenden Ellenbogen, jeder mit klopfendem Herzen in seinem schmalen Brustkorb. Als sie die Kreuzung erreichten, stoben sie blindlings auseinander, ein jeder in seine Richtung, so schnell wie möglich nach Hause.