K L E I N E
B I B L I O T H E K
D E S
W I S S E N S
LUX-LESEBOGEN NATUR-
UND
K U LT U R K U N D L I C H E
HEINZ
...
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K L E I N E
B I B L I O T H E K
D E S
W I S S E N S
LUX-LESEBOGEN NATUR-
UND
K U LT U R K U N D L I C H E
HEINZ
H E F T E
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NAUTILUS MIT DEM ATOM-UNTERSEEBOOT UNTER DEM POLAREIS
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Digitally signed by Mannfred Mann DN: cn=Mannfred Mann, o=Giswog, c=DE Date: 2005.02.27 11:54:06 + 01'00'
VERLAG S E B A S T I A N LUX M U R N A U • M Ö N C H E N . I N N S B R U C K . BASEL
Telefonanruf in der Nacht William R. Anderson, 37 Jahre alt, Kommandant des ersten amerikanischen Atom-Unterseebootes „USS Nautilus", war Überraschungen gewohnt. Mary, seine junge Frau, hatte sich längst damit abgefunden, daß von den 365 Tagen eines Jahres nur wenige Tage ihrer Ehe mit William gehörten. Sie teilte das Schicksal aller Frauen, deren Männer zur See fahren — ein Leben des Wartens und der Einsamkeit, der Angst und der Hoffnung. Vor wenigen Tagen erst hatten sie Silvester gefeiert und mit vollen Gläsern auf das Jahr 1958 angestoßen. „Daß es Friede bleibe in der Welt!" hatte William gesagt. Es war ihm ernst mit diesem Wunsch gewesen, obwohl er Commander der amerikanischen Kriegsmarine war und eine der modernsten und gefährlichsten Waffen befehligte: Amerikas erstes Atom-U-Boot. „Daß du von allen Fahrten heil zurückkommst!" hatte Frau Mary leise und mit einem leichten Beben in der Stimme geantwortet. Eine Weile waren sie stumm und nachdenklich geblieben. Draußen läuteten die Glocken das neue Jahr ein, Feuerwerkskörper zersprühten zischend in vielen bunten Farben am Nachthimmel. In der Fröhlichkeit der Stunde vergaßen sie schnell wieder die Sorgen, die sie wie dunkle Schatten gestreift hatten. Sie tanzten, wie überall die Menschen in der Neujahrsnacht, und sie freuten sich auf die gemeinsamen zwei Urlaubswochen, die vor ihnen lagen. Drei Tage waren seit Silvester vergangen. In der Nacht zum vierten Tag schrillte in Andersons Haus das Telefon. Der Commander fuhr aus dem Schlaf, knipste die Nachttischlampe an, griff schlaftrunken nach dem Hörer. Das Gespräch dauerte nur wenige Minuten. Als er den Hörer wieder zurücklegte, hatte sich Mary aufgerichtet. Sie starrte William aus erschreckten Augen an. In ihrem Blick lag schon keine Frage mehr, sondern bereits die Gewißheit, die wieder einmal Abschied hieß.
„Tut mir leid, Mary", sagte er. „Ich muß nach Washington, mit dem nächst erreichbaren Zug. Man erwartet mich im Pentagon, im Kriegsministerium.'1 Mehr sagte Commander Anderson nicht, und mehr wußte er auch nicht. Es gehörte nicht zu den Gepflogenheiten des Pentagons, seine Geheimnisse dem Telefon anzuvertrauen. Anderson zog sich an, rasierte sich, packte mit wenigen schnellen, geübten Handgriffen den Koffer und war fertig, als Mary ihm die Tasse heißen Kaffee hinschob. Als sie sich am Bahnhof verabschiedeten, wußten sie wieder einmal nicht, für wie lange Zeit. Mary 6chaute dem Nachtschnellzug nach, bis die roten Lichter des letzten Pullmanwagens von der Dunkelheit verschluckt wurden... Commander William R. Anderson lag zurückgelehnt in den Polstersesseln des luxuriös eingerichteten Abteils und zerbrach sich den Kopf darüber, was man in Washington von ihm wollte. Vor zwei Monaten war er zum letzten Mal im Pentagon gewesen. Vom August bis zum Oktober hatte er mit der Nautilus zu einer Erkundungsfahrt in den arktischen Gewässern gekreuzt. Er erinnerte sich jeder Phase dieser gefährlichen Fahrt, während der Zug durch die Nacht raste. Bis auf 180 Meilen war damals die Nautilus an den Nordpol herangekommen. Mit Echolot wurde die Eisdecke über dem AtomB-Boot abgetastet, sicher hatte sich das Schiff den dunklen, unterseeischen Weg durch das Packeis zwischen Grönland und Island gebahnt. Dann aber trat eine Störung am elektrischen KreiselKompaß auf. Die Nautilus war zur Umkehr gezwungen. Der Versuch, unter dem Eis den Nordpol zu erreichen, war gescheitert. Anderson erinnerte sich der Frage, die ihm Eisenhowers Pressechef, James Hagerty, nach seiner Rückkehr gestellt hatte: „Glauben Sie nach wie vor. daß die Nautilus die Arktis vom Pazifischen zum Atlantischen Ozean durchqueren kann?'"" Damals war ein klares und entschiedenes Ja seine Antwort gewesen. Und nun war er wieder auf dem Weg nach Washington. Hing es damit zusammen, daß die Nautilus einen zweiten Versuch unternehmen sollte, den Norpoi unter dem Eis zu erreichen? Immer wieder stellte sich Anderson die Frage. Schließlich gab er es auf zu grübeln. Mit ein paar Handgriffen verwandelte er die
Polstersitze in ein Liegebett, löschte das helle Licht, so daß nur die matte blaue Birne geisterhaft das Abteil beleuchtete, und schlief ein. Über Washington lag ein klirrend kalter Januartag. Am Rande der Stadt dehnte sich das Pentagon, der riesige Gebäudekomplex des Kriegsministeriums der USA, das Herz der militärischen Kommandostellen von Heer, Marine und Luftwaffe. Drei- und vierfache Kontrollen mußte jeder über sich ergehen lassen, der den Eingang passieren wollte. Immer wieder mußte Commander William R. Anderson seine Ausweise vorzeigen. Nach einigem Warten stand er endlich im Büro des Vizeadmirals L. R. Daspit, des Chefs der Unterseekriegsführung der amerikanischen Marine. Ein kurzer Wink des Vizeadmirals, und der Adjutant verließ den Raum. Daspit und Anderson waren allein. Wir wissen nicht die Einzelheiten, die an diesem Januartag 1958 hinter verschlossenen Türen besprochen wurden. Die Akten, die darüber später angefertigt wurden, sind noch immer „Geheime Kommandosache", liegen streng bewacht in den unterirdischen Stahltresoren des Pentagons. Was über dieses entscheidende Gespräch an die Öffentlichkeit dringen durfte, faßte Commander William R. Anderson Monate später in folgende Sätze zusammen: „Vizeadmiral Daspit sah mich an und fragte: ,Anderson, was halten Sie davon, wenn Sie in absehbarer Zeit mit der Nautilus den Nordpol unterqueren?' Er erzählte mir, daß Admiral Burke, der Chef des Marine-Operationsstabes, Präsident Eisenhower vorgeschlagen habe, den längst erwogenen Plan jetzt zur Ausführung zu bringen, und daß der Präsident zugestimmt habe." Anderson hatte kein Verlangen nach Ruhm und öffentlicher Anerkennung. Übersteigerter Ehrgeiz gehörte nicht zu seinen Charaktereigenschaften. Noch weniger kannte er allerdings das Wort Feigheit. Er hatte seine eigene Meinung, die er offen und klar zum Ausdruck brachte —, auch seinen Vorgesetzten gegenüber. Jeden Augenblick war er sich bewußt, daß er die Verantwortung für das Leben der 116 Männer trug, die zur Besatzung der Nautilus gehörten. Aus diesem Grunde war auch die Antwort, die er dem Vizeadmiral gab, wohl überlegt und vorsichtig formuliert: „Es müßte zu machen sein", sagte er. „Das Packeis nördlich von Grönland und Island wird uns weniger Schwierigkeiten machen als
Route der Nautilus bei der Fahrt vom Stillen Ozean in den Atlantischen Ozean
die Bering-Straße und die Gewässer nahe der Tschuktschenhalbinsel. Hier ist die Eisdecke wesentlich dicker. Es wird alles davon abhängen, daß wir die Passage durch die wenigen tiefen Ozeantäler finden, die ins Nordpolmeer führen. Im Durchschnitt sind die Gewässer dort oben ja nur knapp dreißig Meter tief. Für ein U-Boot mit 3000 Tonnen Wasserverdrängung und einer Länge von mehr als 90 Metern wird das Manövrieren in diesem schmalen Spielraum zwischen Eisfläche und Meeresboden nicht einfach sein. Und dann hängt natürlich alles von zuverlässigen Kreisel-Kompaßen und absolut genauen Navigationsgeräten ab. Wenn man uns solche Geräte zur Verfügung stellt, wenn man alles sorgfältig plant und berechnet, dann .. . ja, es müßte zu machen sein!" „Operation Sonnenschein" Wochen und Monate vergingen. Hinter verschlossenen Türen wurde die „Operation Sonnenschein" — so nannte man mit einem Tarnnamen den Versuch, zum ersten Mal die Arktis zu unterqueren — vorbereitet. Nur eine Handvoll Menschen war in den kühnen Plan eingeweiht. Immer wieder prägte ihnen Admiral Burke ein, wie wichtig es sei, die Aktion geheimzuhalten: „Die Nautilus wird beim Passieren der Beringstraße fremden Hoheitsgewässern und fremden U-Boot-Stützpunkten gefährlich nahe kommen. Die Möglichkeit, daß sich in diesem Gebiet Zwischenfälle ereignen, ist nicht von der Hand zu weisen. Geheimhaltung ist daher bei der Operation Sonnenschein wichtiger als bei jeder früheren Marine-Expedition." In der Weltpresse erschien in diesen Monaten der Vorbereitung nur eine kurze Notiz: „Das US-Marine-Oberkommando kündigt für den Sommer 1958 Manöver der Atom-U-Boote Nautilus, Skate und Halfbeak in den arktischen Gewässern an". Über einen Punkt machte man sich die wenigsten Gedanken: Nicht ein einziger der unmittelbar Beteiligten hatte die Befürchtung, daß die Nautilus versagen könnte. Seit dem Stapellauf am 21. Januar 1954 war das Atom-U-Boot auf Herz und Nieren geprüft worden. In 225 Tagen Seefahrt hatte es eine Strecke von insgesamt 60000 Seemeilen zurückgelegt, davon die Hälfte unter Wasser. Die
längste ununterbrochene Tauchfahrt hatte in 84 Stunden über eine Strecke von mehr als 1300 Seemeilen geführt. Die Frischluftanlage des Bootes, die mit Flaschensauerstoff und dem Sauerstoff des Meerwassers arbeitet und von der Aufnahme von Luftsauerstoff unabhängig ist, hatte sich bewährt. Der Atomreaktor, der wichtigste Teil des Antriebsmaschinensatzes, hatte sich den Anforderungen gewachsen gezeigt. Wie vorgeschrieben, funktionierte alles ohne eine einzige Panne. Der Reaktor (Uranbrenner), in dern Wärme durch Spaltung von Atomkernen entsteht, erhitzt Wasser zu Dampf, der die Turbinen treibt. Er sorgt für Wärme in den Kabinen und für Kühlung in 'den elektrischen Eisschränken. Er verleiht dem stromlinienförmigen Boot, das außer dem flossenähnlichen Turm keine weiteren Aufbauten besitzt, unter Wasser eine Geschwindigkeit von 20, über Wasser von 28 Seemeilen pro Stunde. Die Nautilus ist also fast doppelt so schnell wie die bisher üblichen normalen U-Boote mit Dieselmotoren. Die erste Ladung Uran 235 hatte für eine Strecke von 60 000 Seemeilen genügt, obwohl es nur aus wenigen Pfund bestand. Nein — an ein Versagen des Atom-U-Bootes dachte keiner der Verantwortlichen, die die Operation Sonnenschein vorbereiteten. Bei einer Unterquerung des arktischen Eises und des Nordpols lagen die Schwierigkeiten fast ausschließlich auf dem navigatorischen Gebiet. Navigation ohne Sonne und Sterne — das war das Problem, das gelöst werden mußte. Komplizierte elektronische Geräte wurden erprobt und in die Nautilus eingebaut. Das Wichtigste dieser Geräte war der sogenannte „Trägheitsnavigator", der ohne äußere Anhaltspunkte den Weg zum Pol zeigen sollte. Von diesem Trägheitsnavigator, der noch immer zu den streng gehüteten Geheimnissen der amerikanischen Marine zählt, sagte Commander Anderson: „Als ich zum ersten Mal die erstaunlich verzwickte Anordnung dieser elektronischen Geräte sah, hatte ich das Gefühl: ,Das kann nie funktionieren'. Glücklicherweise täuschte ich mich. Nachdem die Kinderkrankheiten überwunden waren, arbeitete der Trägheitsnavigator tadellos und hielt uns ständig über unsere Position auf dem laufenden.
Dieser Apparat dürfte, wenn er einmal in größerer Anzahl für die Schiffahrt zur Verfügung stehen wird, die uralte Kunst der Navigation revolutionieren." Neben diesem Trägheitsnavigator spielten zusätzliche Sonargeräte eine entscheidende Rolle. Mit ihrer Hilfe sollte es möglich sein, durch elektrische Impulse den Meeresboden, die Wasseroberfläche und die Eisdecke abtasten zu können. Diese Sonargeräte, ebenfalls noch sorgsam gehütete Geheimnisse der amerikanischen Marine, sollten sozusagen künstliche Augen sein, um das Atom-U-Boot durch die ewige Nacht unter dem Polarkreis sicher hindurchzumanövrieren. Aber Commander Anderson war nicht der Mann, um sich blindlings und bedingungslos auf diese hochempfindlichen optischen und elektronischen Geräte zu verlassen. Viele Tage und Nächte lang saß er mit Dr. Waldo Lyon, dem Arktis-Spezialisten der Marine, zusammen. Mit ihm studierte er die Expeditionsberichte der bekannten Polarfahrer aus früheren Zeiten, die Aufzeichnungen eines Fridtjof Nansen und Roald Amundsen, eines Wilkins und Peary. Und er war bescheiden genug, später zuzugeben: „Wir hätten niemals diese Fahrt unternehmen können, hätten nicht andere Forscher die Wege so gut vorbereitet". Eine Konferenz jagte die andere. Es war April geworden. Das Atom-U-Boot Nautilus lag im Hafen von Groton an der Atlantikküste. Noch ahnte die Besatzung nichts von dem kühnen Plan, der im Sommer verwirklicht werden sollte. Nur Korvettenkapitän Frank Adams, Erster Offizier auf der Nautilus, war eingeweiht. Da die Fahrt zum Pol vom Pazifischen Ozean aus begonnen werden sollte, um den schwierigeren Teil der Strecke zuerst zu bewältigen, gab Admiral Burke der Öffentlichkeit die folgende Ablenkungsnachricht bekannt: „Die Nautilus wird an die Westküste Amerikas beordert, um die dortige U-Boot-Abwehr mit den Möglichkeiten eines AtomU-Bootes vertraut zu machen. Folgende Häfen sollen angelaufen werden: Baiboa, Panama, San Diego, San Franzisko und Seattle. Am 8. Juni wird die Nautilus von Seattle aus die Rückfahrt zur Ostküste Amerikas antreten und eine sechsundzwanzigtägige Unterwasserfahrt nach Panama machen." Daß diese sechsundzwanzigtägige Unterwasserfahrt auf ganz an8
Nautilus ist 91,5 Meter lang, 8 Meter breit und hat eine Wasserverdrängung von 3000 Tonnen
derem Kurs zur Ostküste zurückgehen sollte, wußten nur die paar Eingeweihten. Die Operation Sonnenschein war nach wie vor streng gehütetes Geheimnis. Dennoch ahnten die Männer der Besatzung der Nautilus aus mancherlei Anzeichen, daß sich hinter dem Befehl Admiral Burkes ein Geheimnis verbergen müsse. Korvettenkapitän Frank Adams befahl das gesamte Personal zu einem Appell in die Mannschaftsmesse und stellte die überraschende Frage: „Sind welche unter euch, die es vorziehen, während gewisser Übungen im Eis, die wir vornehmen wollen, Urlaub zu nehmen?" Die Männer hörten die Frage und sahen sich an. Es sollten also nur Freiwillige die Eisübungen mitmachen? Jeder konnte Urlaub nehmen? Frank Adams stand vor den Männern und wartete. Nicht ein einziger wählte den Urlaub, obwohl niemand wußte, was ihn erwartete.
Unter falschem Namen Am 25. April glitt die Nautilus aus dem amerikanischen Atlantikhafen Groton — ein dunkler, stromlinienförmiger Schatten. Wie eine schmale Silhouette hob sich vom Kommandoturm die Gestalt Commander Andersons ab. Die erste Phase der Operation Sonnenschein hatte begonnen: die manövermäßige Überführung des AtomU-Bootes durch den Panama-Kanal zum Hafen Seattle an der Küste des Pazifik. Es war eine routinehafte Angelegenheit, wie sie die Nautilus seit ihrer Jungfernfahrt am 21. Januar 1954 unzählige Male bewältigt hatte. Anfang Juni legte das Atom-U-Boot am Pier von Seattle an. William Anderson übergab das Kommando seinem Ersten Offizier, vertauschte die Uniform des Commanders mit Zivilkleidern und verließ unbemerkt die Nautilus. In schneller Fahrt brachte ihn ein Wagen zum Flugplatz Seattle. Der Mann, der ihn in der Halle vor den Flugsteigen begrüßte, war Dr. Lyon, der Polarfachmann der Kriegsmarine. „Zwei Plätze auf der planmäßigen Verkehrsmaschine nach Alaska sind gebucht", sagte er. „Sie reisen nicht unter dem Namen William H. Anderson und sind erst recht nicht Commander der Nautilus; Admiral Bnrke hielt es für richtiger, auch diesen Erkundungsflug, 10
der vor uns liegt, völlig geheim zu halten. Hier ist ein Personalausweis, ausgestellt auf den Namen Charles A. Henderson. Von Beruf sind Sie Ziviltechniker des Marine-Elektronenlabors in San Diego." Anderson, jetzt Henderson, las sorgfältig den Personalausweis und schob ihn in die Tasche. „Hoffentlich gewöhne ich mich schnell genug an meinen neuen Namen und meinen neuen Beruf", meinte er lachend. Dann fragte er Dr. Lyon: „Und Sie — reisen Sie auch unter falschem Namen?" Dr. Waldo Lyon schüttelte den Kopf. „Nein. Ich bin nicht so bekannt wie Sie, ich spiele die Rolle des Mannes hinter den Kulissen. Aber von Ihnen darf niemand wissen, daß Sie mit mir Erkundungsflüge über dem Packeis der Beringstraße durchführen." Der Flug von Seattle nach Fairbanks in Alaska verlief planmäßig und ohne Zwischenfälle. Niemand unter den Passagieren der Verkehrsmaschine kümmerte sich um Dr. Lyon und den Mann, der neben ihm saß. Der Wissenschaftler und der Commander unterhielten sich über alltägliche Dinge. Wer ihnen zufällig zuhörte, konnte nicht ahnen, welcher Auftrag die beiden Männer nach Alaska führte. In Fairbanks, dem Ende aller planmäßigen Verkehrswege, charterte Dr. Lyon eine einmotorige Maschine. Dem Piloten Cairns stellte er Anderson als seinen Assistenten vor. Er selbst, sagte er, wolle von der Luft aus wissenschaftliche Beobachtungen über die Bewegungen des Eises in der Beringstraße vornehmen. Auch Cairns schöpfte keinerlei Verdacht. Eine Stunde, nachdem die beiden „Verschwörer" gelandet waren, waren sie in der einmotorigen Maschine schon wieder unterwegs, in nördlicher Richtung, zur Beringstraße. der schmalen Meerenge, die Amerika von Asien trennt. Cairns hatte Auftrag, so niedrig wie möglich zu fliegen. Angespannt starrten Lyon und Anderson auf das eintönige und trostlose Bild der Landschaft, die unter ihnen hinweghuschte. „Cap Barrow!" sagte Cairns und deutete auf eine Felsenklippe, den nördlichsten Punkt der Vereinigten Staaten. Soweit man blickte, Packeis, ab und zu von dunklen Streifen offenen Wassers durchzogen, schmale Rinnsale in einer weißen, unheimlichen Wüste, die ohne Ende zu sein schien. Eine Zeitlang 11
nahm Cairns Kurs nach Osten. Ein Blick auf den Benzinanzeiger aber zwang ihn, wieder Kurs auf Fairbanks zu nehmen, früher als es Dr. Lyon und Anderson lieb war. Plötzlich aber schimpfte der Pilot vor sich hin. Hatte der Benzinmesser in der Kälte versagt? War die Maschine in Fairbanks nicht voll aufgetankt worden? Schon lief der Motor unregelmäßig. Cairns wußte in der Nähe des Gebiets, das er überflog, eine Station der amerikanischen Luftwaffe. Er funkte um Landegenehmigung. „Wer ist an Bord?" kam die Frage zurück. „Zwei Zivilisten — Wissenschaftler, wie ich annehme". Cairns bekam keine Landegenehmigung. Anderson, der die Funksprüche mitgehört hatte, überlegte. Sollte er sein Geheimnis lüften? Sollte er seinen Namen und Dienstgrad bekanntgeben? Nein — er durfte nichts riskieren. Jeder Funkspruch konnte von fremden Stationen aufgefangen werden. Und selbst wenn sie in dieser eisigen Wildnis notlanden mußten, das Geheimnis sollte bewahrt werden! Im letzten Augenblick tauchte in der Einöde eine Eskimosiedlung auf. Cairns kannte sich mit den Gepflogenheiten im wilden Norden der Vereinigten Staaten aus, er wußte, daß in fast allen diesen Siedlungen kleine Treibstofflager angelegt waren — für alle erdenkbaren Notfälle. Er entschloß sich zur Landung. Minuten später schon rollten die Eskimos Benzinfässer an. „Es geht nichts über eine gute Organisation", meinte Cairns lachend und schob seinen Kaugummi von der einen Backe zur anderen. Der Rückflug nach Fairbanks verlief glatt. Am Sonntag, dem 8. Juni, hatte sich der Ziviltechniker Henderson aus San Diego wieder in den Commander Anderson zurückverwandelt. An Bord der Nautilus, die im Hafen von Seattle vor Anker lag, wartete er an diesem Sonntag auf den endgültigen Befehl aus Washington. Wenn die Operation Sonnenschein gestartet werden sollte, war es höchste "Zeit. Er selbst, seine Besatzung und sein Boot jedenfalls waren bereit... Tauchfahrt ins Ungewisse In der Nacht vom 8. zum 9. Juni ging Commander Anderson in seiner kleinen Kajüte unruhig auf und ab. Die Männer seiner Be12
Satzung, soweit sie nicht zur Deckwache eingeteilt waren, saßen im Mannschaftsraum vor dem Fernsehapparat. Als die Sendung sie zu langweilen begann, ging einer der Matrosen zum Filmprojektor, die Spulen begannen zu surren, und auf der kleinen Leinwand rollte ein spannender Wildwestfilm ab. Nein, die Männer der Nautilus konnten sich nicht beklagen. Für Abwechslung in ihrem eintönigen Dienst war zur Genüge gesorgt. Commander Anderson aber öffnete in dieser Nacht zwei Mappen, die ein Kurier aus Washington gebracht hatte. Auf der einen Mappe stand mit roten Buchstaben: Vertraulich! Anderson las: „Die USS Nautilus verläßt am 9. Juni, 23.30 Uhr, Seattle in Richtung Panama. Weitere Befehle folgen auf dem Funkweg . . . " Also war die Operation Sonnenschein doch abgesagt? Enttäuschung lag auf Andersons Gesicht. Alle Vorbereitungen, die beinahe ein halbes Jahr lang getroffen worden waren, um die kühne Unterquerung des Polareises zu wagen, hielt man anscheinend im Pentagon doch noch für ungenügend. Beinahe gleichgültig nahm Anderson die zweite Mappe zur Hand. Auf dem Umschlag las er: „Streng geheim! Nur vom leitenden Offizier zu öffnen!" Seine Hände waren unruhig, als er die Siegel aufbrach, als er Wort um Wort, Satz um Satz las: „Alle anderen Anordnungen sind hinfällig, wenn Vizeadmiral Daspit, der Chef des Marine-Operationsstabes, den Befehl zur Polarfahrt gibt. Dann fährt die Nautilus sofort unter dem Nordpol nach Portland in England. Sollte dieser Versuch scheitern, läuft die Nautilus Pearl Harbour an." Commander Anderson sah auf die Uhr. Sachlich stellte er fest: 9. Juni, 0.45 Uhr. Wenn bis 23.30 Uhr kein anderer Befehl kam, galt die Anweisung in der ersten Mappe, hieß das Zieh Panama. In dieser Nacht schlief Commander Anderson unruhig. Seine Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Erst gegen Morgen wurde er ruhiger und fiel in einen tiefen, fast bleiernen Schlaf. Sein Erster Offizier hatte Mühe, ihn wachzurütteln. „Commander", sagte er, er schrie es fast, „Admiral Rickover aus Washington ist gekommen, um die Nautilus zu besichtigen!" Anderson fuhr hoch. „Rickover? Admiral Rickover?" wiederholte 13
er. Er hörte den Namen, und nun zweifelte er nicht mehr, wie der endgültige Befehl lauten werde. Riekover, einer der ältesten und erfahrensten Ingenieur-Offiziere der amerikanischen Marine, war der Vater der Atom-U-Boote, war der unermüdliche Verfechter des Gedankens gewesen, Atomkraft zum Antrieb von Schiffen zu verwenden. Wenn Riekover gekommen war, konnte das nur eines bedeuten: Nautilus wird die Unterquerung der Arktis wagen! Zwei Stunden lang inspizierte Admiral Riekover die Nautilus. Als er sich von Commander Anderson verabschiedete — es war indessen drei Uhr nachmittags geworden —, meinte er: „Wenn wir uns wiedersehen, Commander, wissen wir hoffentlich mehr von den Geheimnissen, die die Welt bisher noch verbirgt. Und nun sollten Sie vielleicht Vizeadmiral Daspit in Washington anrufen." „Ist das ein Rat — oder ein Befehl, Admiral?" fragte Anderson. „Wenn Sie so fragen — natürlich ein Befehl!" kam die Antwort. Anderson glaubte ein Zittern in der Stimme Rickovers zu hören. Er sah dem alten Admiral, der gar nichts Militärisches an »ich hatte, nach, wie er über die Gangway ging. Ehe Riekover in seinen Wagen stieg, stand er noch eine Weile unbeweglich an der Pier des Hafens von Seattle. Dann hob er flüchtig, nur für den Bruchteil einer Sekunde, die Hand zum Gruß an die Mütze. Die Verbindung mit Washington kam in wenigen Minuten zustande. „Die Nautilus ist seeklar!" meldete Commander Anderson an Vizeadmiral Daspit. Eine Weile blieb es still in der Leitung, Sekunden nur, aber sie schienen Ewigkeiten zu währen, die Ewigkeiten vor einer großen Entscheidung. Anderson preßte den Hörer ans Ohr, seine Hand zitterte, sein Blick fiel auf die beiden Mappen, die auf dem kleinen Tisch lagen. Panama oder ...? Die klare Stimme Daspits riß ihn aus seinen Gedanken: „Operation Sonnenschein startet!"' Drei Worte nur, nicht mehr. Längst hatte Daspit aufgelegt, aber Commander Anderson hielt noch immer den Hörer in der Hand. Nun, da die endgültige Entscheidung gefallen war, erfüllte ihn ein merkwürdiger Zwiespalt von Freude und Bedrückung. Nicht, daß er sich wie ein neuer Kolumbus gefühlt hätte, dazu war er viel zu 14
W. R. Anderson, Commander der Nautilus, mit dem Navigationsoffizier, Leutnant Jen ks
bescheiden. Aber wenn die Operation Sonnenschein gelang, gab es eine denkwürdige Seereise mehr in der Geschichte der Schiffahrt. Die wenigen Stunden bis zur befohlenen Startzeit um 23.30 Uhr verliefen nicht anders als vor allen Ausfahrten der Nautilus. Jeder Offizier, jeder Mann, wußte, was er zu tun hatte. Nur eine einzige zusätzliche Sorge gab es diesmal für Commander Anderson: Dr. Lyon und sein Assistent, Rex Rowray, sollten befehlsgemäß die Polarunterquerung mitmachen. Wenn jemand die beiden Wissenschaftler mit ihren Koffern an Bord gehen sah, konnte leicht das Gerücht von einer ungewöhnlichen Unternehmung entstehen. Aber wie sollte man die beiden Zivilisten unbemerkt in ihre Kabine schaffen? Denn auch die Mannschaft durfte nichts ahnen. Als Ziel des U-Bootes war noch immer Panama genannt. Erst wenn die Nautilus auf offener See war und kein Geheimnisverrat befürchtet zu werden brauchte, durfte das wirkliche Ziel auch der Besatzung genannt werden. Commander Anderson befahl seinen Ersten Offizier zu sich: „Versammeln Sie in einer Stunde die gesamte Besatzung in der Mannschaftsmesse zu einem Appell. Die Brückenwache soll von einem Offizier übernommen werden!" Eine Stunde später betraten Dr. Lyon und Rex Rowray unbemerkt das Deck der Nautilus. Anderson wies ihnen eine Offizierskabine an und schloß selbst die Tür hinter ihnen ab. Erst wenn das Boot auf hoher See war, sollten sie ihr freiwilliges Gefängnis verlassen dürfen. Wenn die Besatzung das genaue Ziel der Fahrt kannte, durfte sie auch von der Anwesenheit der zivilen Gäste erfahren. Die Nacht brach herein. Es war fast 24 Uhr, aber immer noch verzögerte sich die Ausfahrt. Am Hauptturbinensystem des Bootes war eine technische Störung aufgetreten. Ein ungünstiges Vorzeichen? Anderson war nicht abergläubisch. Diese Störung erlebte er nicht zum ersten Mal. Fast jedesmal, wenn die Antriebs-Maschinensätze längere Zeit stillgelegen hatten, war sie aufgetreten. Genau um Mitternacht konnte der Leitende Ingenieur der Nautilus dem Commander melden: „Nautilus auslaufbereit!" Die Leinen wurden losgeworfen, leise begannen die Motoren zu laufen, und langsam schob sich die Nautilus aus dem Hafen von Seattle. Eines der kühnsten Abenteuer des Atom-Zeitalters hatte begonnen. 16
Es war eine stockdunkle Nacht, kaum, daß man vom Turm des Bootes das Verdeck sah. Tief wehten die Wolken über das Firmament, nirgendwo eine Spur von Sternen. Längst waren die Leuchtfeuer der Pazifikküste verschwunden. Nacht und Finsternis überall. Commander Anderson wußte: Nun war der Augenblick gekommen, daß er seiner Besatzung das Geheimnis enthüllen durfte. Er schaltete die Lautsprecheranlage des Bootes ein, und seine Stimme drang in alle Räume der Nautilus: „Hier spricht der Kommandant! Die Nautilus ist zur Operation Sonnenschein gestartet. Das Ziel ist nicht Panama. Der Befehl lautet: Die Nautilus fährt durch die Beringstraße, unterquert das Eis des Nordpols und steuert an Grönland und Island vorbei den Hafen von Portland in England an. Danke — das ist alles!"
Am Tode vorbei Atom-U-Boot Nautilus war aufgebrochen zum Vorstoß in die unbekannte Eiswelt der Arktis, auf dem kürzesten Seeweg vom Pazifischen in den Atlantischen Ozean, der unter der Eiskappe des Nordpols und des Polarmeeres hindurchführt. Noch in der Nacht hatte Commander Anderson den Befehl gegeben, die Zahl 571 auf dem grauen Kommandoturm zu übermalen. Nichts sollte an die Nautilus erinnern. Als der Morgen dämmerte, hallten zwei kreischende Signale durch den Bootsrumpf. Sie bedeuteten: „Tauchalarm!" Noch waren kaum sechzig Sekunden vergangen, und schon war die Nautilus verschwunden. Die Wellen des Pazifik schlugen über ihr zusammen, eine Weile noch schäumte der Gischt silbern und weiß, dann verriet nichts mehr, daß dort in der dunklen Tiefe ein schlankes, stählernes Boot mit höchster Geschwindigkeit nach Norden preschte. Navigationsoffizier Leutnant Jenks legte den genauen Kurs zu der Inselgruppe der Aleuten fest, dann wurde die Steuerungs- und Tiefenkontrolle des Bootes auf „automatisch" eingestellt. Schnell, wie ein riesiger Fisch, glitt die Nautilus in etwa 80 Meter Tiefe durch das Wasser. Alles ging routinemäßig. Die Stürme, die an der Meeresoberfläche tobten, reichten nicht bis in die Regionen, in denen die Nautilus fuhr. Dort unten herrschte ewige Ruhe. 17
Fast wie nach genauem Fahrplan tauchten am 12. Juni, nach einer Unterwasserfahrt von fast 1700 Seemeilen (1 Seemeile = 1853 m), die Inseln der Aleutengruppe auf. Commander Anderson ließ die Nautilus bis auf Seerohrtiefe auftauchen. Durch das Periskop sah er zerklüftete Schneeberge, Riffe und steil abfallende Felsen. Die Nautilus lief jetzt mit halber Kraft der Motoren. Peilung um Peilung nahm der Navigationsoffizier vor, um die geeignetste Stelle zur Durchfahrt durch die Inselwelt, die in weitem Halbkreis das Bering-Meer im Norden und Westen begrenzt, zu finden. Es war Mitternacht, als die Nautilus die Aleuten hinter sich ließ und in das gefährliche Bering-Meer vorstieß. Noch einige Male stieg das U-Boot bis auf Schnorcheltiefe hoch, um — so lange es möglich war — Frischluft zu tanken. Wenn die geschlossene Eisdecke kam, gab es im Boot nur noch das sonst übliche Luft-Erneuerungssystem, den Sauerstoff aus Flaschen und die maschinelle Absaugung der verbrauchten Luft. Samstag, der 14. Juni, brach an. Commander Anderson stand vor der ersten schweren Entscheidung: Durch welches der beiden schmalen „Tore" sollte er das Boot in die enge Beringstraße, die gefährlichste Wasserstraße der Welt, manövrieren? An der sibirischen Seite vorüber, zwischen der Tschuktschenhalbinsel und der St.-Lorenz-Insel — oder dicht an der Alaskaküste entlang? Anderson besprach sich mit Dr. Lyon und mit seinen Offizieren. Die Wahl fiel auf das Tschuktschentor. Als es Nacht wurde, zeigten die Elektronengeräte das erste Eis über der Nautilus an. Noch war es verhältnismäßig dünn, aber von Meile zu Meile türmte es sich dicker und stärker. Zwischen der Eisdecke und dem flachen Meeresgrund schlich die Nautilus vorsichtig weiter nach Norden. Unablässig standen die Männer an den Schall-Ortungsgeräten. Das geringste unvorsichtige Manöver mußte zur Katastrophe führen; denn zwischen dem Kiel der Nautilus und dem Meeresboden lagen nur knapp 13 Meter, zwischen dem Kommandoturm und der Eisdecke sogar nur knapp 7 Meter Zwischenraum! Treibeis meldeten jetzt die Elektronengeräte; Eisblöcke, die von den Eisfeldern der sibirischen Küste abgebrochen waren und oft
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viele Meter unter die Wasseroberfläche reichten, näherten sich dem Boot — eine tödliche Gefahr für die Nautilus, eine Barriere, die jeden Weiterweg versperrte. Commander Anderson besprach sich unter vier Augen mit Dr. Lyon. Hilflos zuckte der Wissenschaftler mit den Schultern. „Treibeis ist unberechenbar", meinte er. „Dicke und Tiefgang dieser Eisschollen entziehen sich allen Berechnungen." Die Situation ließ nicht viel Zeit zu langen Überlegungen. Es mußte schnell gehandelt werden. Der 37jährige Anderson mußte ganz allein entscheiden — und ganz allein für seine Entschlüsse die Verantwortung tragen. Es gab keine Funkverbindung nach Washington oder Seattle, in einem Meer von Einsamkeit fuhr die Nautilus. Und nie zuvor hatte Anderson so sehr gespürt, was es heißt, verantwortlich zu sein für eine Unternehmung, deren Gelingen oder Mißlingen die ganze US-Marine anging, für das Leben von 116 Männern und schließlich für ein Boot, das 50 Millionen Dollar gekostet hat. Der Kurs durch das andere Tor, an der Küste Alaskas entlang, war ein nicht minder großes Wagnis. Anderson wußte, wie seicht dort das Wasser war. Die Nautilus würde lange Strecken nur auf Sehrohrtiefe fahren können, manchmal vielleicht sogar mit dem Kommandoturm aus dem Meer auftauchen müssen. Die Gefahr, daß in diesen Augenblicken die Radargeräte entlang der sibirischen Küste den Kurs der Nautilus kontrollieren und genau verfolgen würden, wuchs ins Riesenhafte. Wie ließ sich diese Gefahr mit dem Befehl zur absoluten Geheimhaltung der Fahrt vereinbaren? Nacht der einsamen Entschlüsse für Commander Anderson! Nacht, dis seine menschliche Größe mehr bewies als unzählige andere Tauchfahrten zuvor. Der erste Angriff der Nautilus, zum Polarmeer vorzustoßen, war abgeschlagen — daran zweifelte Anderson nicht mehr! — gescheitert schon am ersten Tor. Der Kommandant versammelte die Offiziere mitten in der Nacht um sich und gab ihnen seinen Entschluß bekannt, durch das AlaskaTor erneut die Durchfahrt durch die Beringstraße zu versuchen. Der Wachoffizier erhielt Befehl, auf Gegenkurs zu gehen. Die Besatzung der Nautilus erfuhr von der veränderten Lage erst am Nachmittag, als das Boot schon mit Kurs auf das Alaska-Tor fuhr. 19
Enttäuscht, aber nicht entmutigt, nahmen die Männer der NautiluB den Bericht ihres Kommandanten entgegen. War der erste Versuch, ins Polarmeer vorzustoßen, gescheitert, so hofften doch alle, daß der zweite Angriff — längs der Küste Alaskas — gelingen werde. In den Alaska-Küstengewässern, wo Commander Anderson noch vor wenigen Wochen von dem kleinen einmotorigen Flugzeug aus kompaktes, gefährliches Eis gesichtet hatte, nur von wenigen schmalen Wasserrinnen durchzogen, zeigte sich nun fast völlig offenes Meer. Es war wie ein Wunder: In seiner unberechenbaren Drift war das Treibeis weiter nach Norden gewandert. Die Fahrt durch das Alaska-Tor der Beringstraße gelang deshalb ohne jede Schwierigkeit. Am 17. Juni, morgens um 5.30 Uhr, fuhr die Nautilus in die flache Tschuktschen-See ein, deren Tiefe zwischen 30 und 60 Meter beträgt. Um schneller vorwärts zu kommen, beschloß Anderson, über Wasser die Fahrt fortzusetzen, bis — nach den Berechnungen etwa 400 Meilen weiter nördlich — die Zone des ewigen Eises begann. Vor dem Auftauchen gab Anderson Befehl, den Eissucher auszufahren, eine Art lange Funkantenne, die man durch das Periskop beobachten kann. Wenn sie gegen Eis stößt, beginnt sie sich zu biegen und zeigt damit die akute Gefahr an. Dann kommt es nur darauf an, schnellstens wieder tiefer zu tauchen. Die Antenne blieb gerade, die Nautilus tauchte aus ihren verborgenen Tiefen an die Oberfläche der Tschuktschen-See. Mit voller Kraft ihres Atom-Motors nahm sie Kurs nach Norden. Als eben der Navigationsoffizier den neuen Standort in die Positionskarte einzeichnete, meldete der Wachoffizier vom Kommandoturm: „Eisbarriere im Norden, soweit das Auge reicht!" Sowohl Dr. Lyon als auch Anderson waren überzeugt, daß es sich um das Polarpackeis am Rande des Polarmeeres handeln müsse. Wieder tauchte die Nautilus. »Wenn wir das nächste Mal auftauchen, werden wir auf der anderen Seite der Erdkugel sein!" meinte der Erste Offizier und schlug verlegen lächelnd dreimal gegen das Holz seines Kartentisches. Der Verlauf der Fahrt schien seinen Worten zunächst recht zu 20
Der Maschinenkontrollraum des Atom-U-Bootes Nautilus
geben. Die Zahlen, die der Navigationsoffizier meldete, waren beruhigend: „150 Meter Zwischenraum bis zur Eisdecke, 120 Meter bis zum Meeresgrund!" Commander Anderson saß vor dem Schall-Ortungsgerät und sah auf die Striche, die der Stift auf das Papier zeichnete — Linien, die genau die Umrisse der Unterkante des Eises widergaben: eine endlose Linie aus feinen Zacken, die wie winzige Berge und Täler aussahen. „Geschwindigkeit auf zehn Knoten erhöhen!"' befahl der Kommandant. Er glaubte, diese Erhöhung verantworten zu können; denn seit Stunden blieben die Linien gleichförmig, änderten sich die Zahlen, die der Navigationsoffizier durchgab, fast kaum um einen Meter. Am späten Abend dieses 17. Juni ging Anderson in seine Kabine. Er war übernächtigt, seine Augen brannten. Schlafen, nur schlafen — war sein einziger Gedanke. Wenigstens ein paar Stunden. Plötzlich fuhr er aus tiefem Traum auf. Immer wieder tönte es aus dem Lautsprecher in seiner Kajüte: „Sofort kommen, Commander! Sofort kommen, Commander!" Anderson sah anf die Uhr. Es war 11 Uhr nachts. Eine Minute später saß er im Kommandoraum und starrte auf den Schreibstift des Schall-Ortungsgerätes. Er hatte tief nach unten ausgeschlagen, gefährlich tief. Dr. Lyon sagte, kaum daß er die Erregung in seiner Stimme unterdrücken konnte: „Ein Eisblock huschte über ans hinweg. Knappe drei Meter lagen noch zwischen ihm und dem Boot." „Tiefer gehen!" befahl Anderson Sekunden später. „Scharfe Wendung nach Backbord!" In Minuten war der Befehl ausgeführt. Zehn Meter über dem Meeresgrund glitt die Nautilus dahin. Und schon kam eine neue Alarmmeldung eines Maats, der an einem Sonar-Gerät saß: „Zwei Eiskämme direkt voraus!" „Maschinen stoppen!" schrie Anderson in das Mikrophon. Nun jagte eine Meldung die andere, alle Gewalten der Natur schienen eich gegen die Nautilus verschworen zu haben. „Eisblock von zwei Kilometer Länge dicht über uns!" Und schon 22
zuckte der Schreibstift tief nach unten, so tief, daß er mit seiner Linie die gestrichelte Ebene, die den Kurs der Nautilus darstellte, fast berührte. Die Männer im Kommandoraum zogen die Schultern ein und duckten die Köpfe, als könnten sie durch diese automatische Bewegung die drohende Katastrophe eines Zusammenstoßes vermeiden. Wie gebannt starrten sie auf den Schreibstift, der lautlos die Linien zeichnete — Linien, die Leben oder Tod bedeuteten. Endlieh, nach Ewigkeiten, glitt der Stift wieder nach oben. Aber keine Atempause. Schon meldeten die Geräte einen neuen Eisblock, wieder zuckte der Stift tiefer . . . tiefer . .. tiefer .. . Im Logbuch des Commanders Anderson konnte man später über diese Sekunden und Minuten der Höllenqualen lesen: „Ich zog unwillkürlich den Kopf ein und wünschte, die Nautilus könnte dasselbe tun. Gleich würden wir eingeklemmt sein. Und dann .. .? Ich erwartete jeden Augenblick das Krachen von Stahl gegen kompaktes Eis. Ich und wohl auch die anderen in der Zentrale wandten uns an an den einzigen, der jetzt noch helfen konnte, an Gott . . . In Todesangst, wie versteinert und verkrampft, standen wir auf unseren Stationen. Keiner rührte sich oder sprach . .." Und noch einmal ging die Katastrophe an den Männern und dem Boot vorüber. Die Linien, die Leben und Tod bedeuteten, entfernten sich auf der Skala wieder voneinander. Wer sie zu lesen vermochte, wußte: Kaum ein Meter Zwischenraum war noch zwischen der Unterkante des Eisbergs und dem Boot gewesen! Die Ortungsgeräte meldeten weitere Ketten solcher Eisberge im Norden. Aus . . . vorbei . . . abgeschlagen . . . Die Natur war stärker als jede Technik. Die Wissenschaftler hatten sich in allen ihren Berechnungen über die Dicke des Eises, über die Drift der Eisberge getäuscht. Die Naturgesetze entzogen sich allen menschlichen Überlegungen. In dieser Nacht des 17. zum 18. Juni gab Commander Anderson den schwersten Befehl seines bisherigen Lebens: „Nautilus wechselt Kurs von Nord auf Süd!" Der Befehl hieß Umkehr, er hieß: zurück! Aber er bedeutete nicht Aufgabe des Zieles. 23
„Wir müssen ein paar Wochen warten, bis die Eisgrenze in tieferes Wasser zurückgewichen ist", sagte Anderson zu Dr. Lyon. Er sagte „zurück", aber nicht „unmöglich". Für ihn war die Operation Sonnenschein in dieser schicksalhaften Nacht zwar aufgeschoben, aber nicht aufgehoben worden. Für den Rückzugsbefehl aber nahm er die volle Verantwortung auf sich. Als die Nautilus Stunden später die Packeisgrenze hinter sich gelassen hatte, als sich wieder offenes Wasser über ihr dehnte, ging Anderson mit seinem Boot auf Sehrohrtiefe und schickte die Funkbotschaft an Admiral Burke ab. Was würde der Admiral antworten — nach den mühsamen Monaten der Vorbereitung, nach den Hoffnungen, die sie alle in sich getragen hatten, nach dem Vertrauen, das sie dort in Washington in das Boot und seine Führung gesetzt hatten? In der Beringstraße konnte Commander Anderson die RadioAntenne ausfahren lassen. Sie fing Admiral Burkes großartige Antwort an die Männer der Nautilus ein: „Ich billig? voll und ganz Ihre Handlungsweise. Es war richtig, sich aus dem Packeis zurückzuziehen. Ich bin einverstanden mit Ihrem Vorschlag, in Pearl Harbour günstigere Bedingungen abzuwarten. Ich erkenne Ihre Bemühungen an und weiß, daß Sie nichts unversucht gelassen haben."
Der neue Versuch Die Welt erfuhr nichts von der mißlungenen Expedition; anscheinend waren auch die gewechselten verschlüsselten Funksprüche nicht aufgefangen oder nicht entziffert worden. Die Zeitungen meldeten: „Nach längerer Tauchfahrt in den Gewässern von Panama warf die Nautilus Anker im Hafen von Pearl Harbour." Die Männer der Besatzung lasen die Meldung und schmunzelten. Aber sie hatten alle Schweigen gelernt. Anfang Juli gab Commander Anderson seinem ersten Navigationsoffizier, Shep Jenks, Befehl, nach Alaska zu fliegen, um aus der Luft festzustellen, wie weit das Eis nach Norden zurückgewichen sei. Als Jenks zurückkam, meldete er günstigere Verhältnisse. Im Pentagon zu Washington wurde deshalb der 23. Juli 1958 als neuer Starttag für die Nautilus festgelegt. 24
Schematischer Durchschnitt durch den U-Bootskörper der Nautilus
Verlassen lag der Hawaii-Hafen Pearl Harbour, als zwei Stunden nach Mitternacht das Atom-U-Boot die Anker lichtete. „Die Stimmung unserer Besatzung", schrieb Anderson in sein Logbuch, „war diesmal ganz anders als bei der Abfahrt von Seattle. Die fiebrige Erregung von damals war einer soliden, nüchternen Entschlossenheit gewichen. Weiser, erfahrener und vertrauter mit dem geforenen Element, das vor uns lag, würden wir, so Gott wollte, Erfolg haben." Wie beim ersten Versuch war das Endziel auch diesmal wieder der Hafen von Portland in England. Sechs Tage fuhr die Nautilus unter Wasser mit einer Geschwindigkeit von durchschnittlich 20 Knoten nordwärts. Die Felsenriffe der Aleuten wurden wieder im Periskop sichtbar. Schon war alles Routine, alle Manöver der Passage gingen fast schulmäßig vonstatten. Und zum zweiten Male kreuzte die Nautilus — nach einer Unterwasserfahrt über eine Strecke von beinahe 2900 Seemeilen — vor der Beringstraße. Nun aber begann der Abschnitt, der die unbekannten Gefahren barg: Felsklippen, die noch in keiner Seekarte eingezeichnet waren, Unterwassergebirgszüge, tiefe Taleinschnitte im Meeresboden und schwarze Finsternis im eiskalten Wasser. Der Kalender verzeichnete den 1. August, als die Nautilus Kurs auf das Unterwassertal der Barrow-See nahm. Dieses Tal verlauft von Cap Barrow an der Alaskaküste aus nordwärts in das durchschnittlich 3600 Meter tiefe Nördliche Eismeer. Das Tal selbst sinkt über 100 Meter tief gegenüber dem umgebenden Meeresboden ab und hat eine Breite von mehr als sieben Kilometern. „Auf dieser unterirdischen Straße, tief unter der Meeresoberfläche und ihren glitzernden Eisflächen, waren wir erst so richtig in unserem Element und kamen schnell voran", schrieb Anderson später über diesen Teil der Fahrt. In Tiefen bis zu 120 Meter hielt die USS Nautilus nun direkten Nordkurs. Commander Anderson mußte sich fast völlig auf das automatische Selbststeuerungssystem verlassen. Zehn Funkpeilgeräte, Echolote, eine ganze Reihe komplizierter Kreiselgeräte und Beschleunigungsmesser kontrollierten laufend den Abstand des Bootes zur Packeisdecke, tasteten die Eisprofile ab, registrierten den Abstand vom Meeresboden und zeichneten in Linien und Kurven 26
viele bisher unbekannte Einzelheiten und Geheimnisse des Polarmeeres auf. Interessant war es, festzustellen, daß sich die Eismassen an der Oberfläche in dauernder Bewegung befanden, getrieben von starken Unterwasserströmungen und vom Wind. Später fand man, daß das Eis unmittelbar am Nordpol fest steht und daß das Wasser keinerlei Strömung aufweist — eine fast unheimliche Erscheinung! „Noch 1094 Meilen bis zum Nordpol", verkündete der Navigationsoffizier. Commander Anderson hörte es und dachte an die Wegstrecke, die noch vor ihnen lag. Vorläufig fuhren sie ziemlich sicher durch das Barrow-Unterwassertal, das sie mit viel Glück gefunden hatten. Er wußte, daß jede Minute Eisberge auftauchen konnten, die sie, wie im Juni, vielleicht wieder zur Umkehr zwingen würden. Am 2. August schrieb er in das Logbuch: „Peary, der erste Mensch am Nordpol, beschreibt das Packeis in der Nähe des Nordpols als ein wegloses, farbloses Chaos zerbrochenen, aufeinandergeschichteten Eises. Und Sir John Ross schrieb: Vergessen wir doch nicht, dieses Eis ist ein Stein, ein treibender Fels im Strom, ein Vorgebirge oder eine Insel, so hart wie Granit. Sie hatten beide recht — aber sie wußten eben noch nichts von der Nautilus und der Atomkraft des Jahres 1958, die es ermöglichen, Wege unter diesem pfadlosen Eis zu suchen." 83 Grad 30 Minuten hatte die Nautilus erreicht, fast dauernd in einer Tiefe von etwa 120 Meter fahrend, mit voller Kraft ihres Atomantriebs auf Kurs Null unter der kompakten Eisdecke, die im Durchschnitt vier bis sechs Meter dick war. An einzelnen Stellen ragte sie allerdings 40 bis 50 Meter unter die Oberfläche. Aber die Nautilus hatte genügend Raum zum Navigieren nach unten. 83 Grad 30 Minuten nördlicher Breite bedeutete den „Pol der Unerreichbarkeit", den geographischen Mittelpunkt des arktischen Packeises, ein Name, der noch aus früheren Jahrzehnten stammt, im Zeitalter des Atom-U-Bootes und des Flugzeuges aber nur noch relative Bedeutung hat. Dr. Lyon saß fast ununterbrochen am Sonargerät, um die Konturen des Eises zu beobachten und die Gebirgszüge, die sich oft 3000, ja 4000 Meter über dem Meeresboden erhoben. 27
Eine fieberhafte Erregung hatte allmählich Offiziere und Mannschaft gepackt. Anderson konnte schon längst nicht mehr schlafen. Ruhelos ging er durch alle Räume des Bootes, um immer wieder die komplizierten technischen Einrichtungen zu kontrollieren. Oft stand er am Sehrohr und blickte durch das Periskop. Er glaubte seinen Augen nicht zu trauen, als er in der ewigen Nacht des Wassers unter der Eisdecke phosphoreszierende Streifen entdeckte, ein grünliches Licht, das auf die Nautilus von der Oberfläche herabschimmerte. Der 84. Breitengrad war passiert. Man schrieb den 3. August. Es war kurz nach Mitternacht. Das Ziel — der Nordpol — lag greifbar nahe. Noch immer folgte man dem Lauf des Unterwassertales, noch immer brauste die Nautilus mit höchster Motorenkraft dahin. „In knapp 24 Stunden könen wir am Pol sein", berechnete der Erste Offizier. Aber in 24 Stunden konnte in dieser unbekannten, gefahrdrohenden W«lt noch viel Unvorhergesehenes geschehen. Anderson traf alle erdenklichen Vorsichtsmaßnahmen. Besondere Aufmerksamkeit widmete er den Kompaßgeräten, die hier in der Nähe des Nordpols außergewöhnlichen Belastungen ausgesetzt waren. Immer wieder ließ er die Geräte auf ihr fehlerfreies Arbeiten überprüfen. Es gab keine Möglichkeit, mit Hilfe von Standortmessungen die Navigationsinstrumente zu kontrollieren. 3. August, 23.15 Uhr Navigationsoffizier Jenks gab seinem Kommandanten ein Zeichen mit der Hand. Gleich darauf klang die Stimme Andersons durch alle Räume der Nautilus: „Hier spricht der Kapitän. Der Nordpol liegt vier Zehntel Meilen voraus. Ich schlage vor, daß wir jetzt eine Gedenkminute abhalten. Erstens, um Gott zu danken, der uns so getreulich geführt hat, zweitens, um für den Weltfrieden zu beten, drittens, um jene tapferen Männer zu ehren, die uns hier vorangegangen sind, sei es als Sieger oder als Besiegte." Es war ganz still im Boot. Nur das Ticken der dreizehn Ortungsgeräte war zu hören, die pausenlos den Meeresboden und die Eisdedee abtasteten. Stumm standen Offiziere und Männer an ihren 28
Stationen und hingen ihren Gedanken nach. Namen wie Nansen, Amundsen, Peary wurden lebendig, Pioniere der Wissenschaft und des Fortschritts. Der Entfernungsmesser lief. Laut zählte Commander Anderson. Als der Zeiger auf Null stand, rief er: „3. August 1958, östliche Sommerzeit 23.15 Uhr. Für die Vereinigten Staaten von Amerika und ihre Flotte: Nordpol erreicht!" In das Logbuch schrieb er einige Zahlen: „Wassertemperatur fast Null Grad, Wassertiefe 4090 Meter, Eisdicke 7,62 Meter!" Das erste Schiff der Welt passierte den Nordpol. Es war ein historischer Augenblick. Der schlanke Stahlkörper der Nautilus durchschnitt leicht und schnell die einsame Tiefe. Eine seltsame Erregung hatte sich der Mannschaft bemächtigt. Alle spürten die Bedeutung der Stunde, die sie still machte, die zu groß war für Worte . . . Erst allmählich löste sich die Spannung und machte jubelnder Freude Platz. Santa Claus, der amerikanische Knecht Ruprecht, brachte Geschenke, der Koch kam mit einer Nordpoltorte aus der Kombüse, mit einem Abdruck der Polarregion in Zuckerguß und mit der Aufschrift „Submerged Polar Transit 1958 — UnterwasserPolfahrt 1958." In seiner Kajüte schrieb Commander Anderson zwei handgeschriebene Botschaften, eine an Präsident Eisenhower und eine zweite an seine Mannschaft. Die Botschaft kündete von der Unterquerung des Nordpols, einer meisterlichen Leistung der Technik unserer Zeit. Der Pol war erreicht, aber das Ziel hieß Portland, und es lag noch Hunderte von Seemeilen entfernt. Nun hieß es, einen Weg durch das Grönland-Svalbard-Tor in den Atlantik zu finden. Ohne Kurswechsel navigierte die Nautilus direkt nach Süden. Und wieder die monotone, ermüdende Beobachtung der Ortungsgeräte, der Navigationsmesser, der unzähligen Geräte. Insgesamt wurden über 10 000 Messungen unter der Polareiskappe durchgeführt, die interessante Aufschlüsse ergaben. Das merkwürdigste Ergebnis ist wohl die Feststellung, daß die bisher als sicher angesehene Tatsache, das Polareis bilde eine geschlossene Decke, falsch ist. Es gibt an vielen Stellen große offene Eislöcher, die es einem Unterseeboot wohl 29
erlauben könnten, aufzutauchen, seinen Luftvorrat zu ergänzen oder Reparaturen an Deck durchzuführen. Am 5. August, vier Uhr morgens, stellten die Ortungsgeräte wieder eine schmale Rinne offenen Wassers fest. Stunden später zeigte der Tiefenmesser 4389 Meter Meerestiefe an. Auf keiner Karte war eine solche Tiefe zwischen dem Pol und Grönland verzeichnet. Eine bange Frage durchzuckte Anderson: Haben wir uns verfahren? Sind wir im Kreis gesteuert? Aber er schüttelte die schweren Gedanken von sich ab. Nein, die Instrumente konnten nicht versagt haben. Es gab nur eine Folgerung, und Dr. Lyon sprach sie aus: „Wir haben ganz nebenbei ein neues tiefes Unterwassertal, das bisher unbekannt war, entdeckt." Das Wasser war außergewöhnlich kalt, wie die Messungen zeigten. Neue Zweifel, neue Überlegungen. Trieb die Nautilus vielleicht in der Ostsibirischen See? Plötzlich aber sah Commander Anderson durch das Periskop an der Oberfläche klares, blaues Wasser. Alle Ortungsgeräte zeigten offenes Meer an. Die Maschinen liefen halbe Kraft, vorsichtig tauchte die Nautilus auf Seerohrtiefe. Die Eisantenne wurde wieder ausgefahren, sie krümmte sieh nicht. „Auftauchen!" kam das Kommando aus der Befehlszentrale in alle Räume des Bootes. Nach über 96 Stunden, nach vier vollen Tagen und Nächten anstrengender und abenteuerlicher Unterwasserfahrt, fiel irgendwo in der Nähe von Spitzbergen wieder volles Tageslicht durch die geöffnete Luke. Die Mannschaft schaute blinzend in die Helle, rieb sich die Augen und blickte den kleinen Eisinseln nach, die in strahlender Sonne auf der Grönlandsee dahintrieben. Die Radarantennen wurden klar gemacht, die genaue Position vom Navigationsoffizier bestimmt. 1830 Meilen Tauchfahrt unter dem Polareis, ohne Möglichkeit einer direkten Standortberechnung, hatte die Nautilus zurückgelegt. Nur kaum zehn Meilen war sie dabei vom errechneten Positionsstand — 79 Grad nördlicher Breite, Länge Null — aufgetaucht. Zum ersten Male seit ihrem Auslaufen aus Pearl Harbour am 23. Juli brach nun die USS Nautilus die streng eingehaltene Funkstille. Drei Worte nur funkte sie an die Zentrale in Washington: 30
„Clear of ice — frei von Eis!" Nun überschlugen sich die Ereignisse. Ein Hubschrauber holte Commander Anderson Stunden später von Bord der Nautilus, die ihren Kurs auf Portland hielt, und flog ihn nach Island. Von Island ging es im Direktflug nach Washington. Der Kommandant erstattete Präsident Eisenhower und den hohen Offizieren der Marine seinen ersten Bericht. Wieder ging es zurück nach England. In Portland traf Anderson von neuem mit seiner Besatzung zusammen. Es war der 8. August 1958, als durch die ganze Welt die Meldung ging, daß die Nautilus, das erste atomgetriebene U-Boot der Welt, die Route von Pearl Harbour nach Island unter dem Paokeis des Nordpolarmeeres erkundet und erfolgreich zurückgelegt habe. Fast dreizehn Tage lang war man unter Wasser gefahren. Die Wissenschaftler in aller Welt aber erfuhren neue wichtige Einzelheiten über die Geheimnisse des Polarmeeres. Es war durch die Nautilus bewiesen, daß die Eisdecke im Durchschnitt 3,6 Meter dick ist, daß sie aber an einzelnen Stellen auch mehr als 15 Meter in die Tiefe reicht. Das gesamte Bodenprofii des fast 3000 Kilometer langen Weges unter dem Packeis war vermessen worden. Ein neues Zeitalter künftiger Seefahrt deutet sich an. Die Schifffahrtexperten hoffen, daß es eines Tages möglich sein wird, Übersee-Frachtgüter auf dem gleichen Wege, wie ihn die Nautilus nahm, zu befördern. Die Polarroute mit Unterseehandelsschiffen, von Atomkraft getrieben, wird den alten Seeweg-von Tokio nach London um fast die Hälfte, also um 5000 Seemeilen verkürzen.
Umschlaggestaltung: Karlheinz Dobsky Fotos: Amerika-Dienst. Bild auf der 2. Umschlagseite: Die Nautilus auf der Höhe von Cap Barrow (Alaska), kurz vor der Packeisdecke des nördlichen Polarmeeres L u x - L e s e b o g e n 2 9 1 (Erdkunde) H e f t p r e i s 2 5 P f g . Natur- und kulturkundliclie Hefte - Bestellungen (vlerteljährl. 6 Hefte DM 1.50) durch jede Buchhandlung und jede Postarmult — Alle früher erschienenen Lui-Lesebogen sind In jeder guten Buchhandlung vorrätig oder können dort nachbestellt werden — Druck: BuchdTucfcere! Auer, Donauwörth Verlag: Sebastian Ltu, Murnau vor München
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