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Jean‐Patrick Manchette, geboren 1942 in Marseille, liebte Jazz, Kino und Literatur. Entsprechend virtuos wußte er Bilder aus Alltag, Abenteuer und Sozialkritik mit den Klängen eines großen Roman noir zu verbinden. Durch seinen erzähleri‐ schen Reduktionismus, knappe Dialoge, kurze Sätze, und hintergründigen Humor hat Manchette – an die Tradition von Raymond Chandler und Dashiell Hammett anknüpfend – eine moderne, auf Europa zugeschnittene Form des amerika‐ nischen «hard‐boiled» Krimis gefunden. Manchette gilt als Begründer des neueren sozialkritischen französischen Krimi‐ nalromans, des sogenannten Néo‐polar. Er arbeitete als Dreh‐ buchautor und veröffentlichte neben zahlreichen Essays u.a. zehn Kriminalromane, von denen die meisten verfilmt wurden, so «Nada» von Claude Chabrol, «Morgue pleine» («Volles Leichenhaus») von Jacques Bral und «Que d’os!» («Knüppeldick») von und mit Alain Delon. 1995 starb Manchette im Alter von nur 52 Jahren in Paris. Er wurde zur Leitfigur für eine neue Generation von Krimi‐ autoren in Frankreich.
Jean‐Patrick Manchette
Nada Aus dem Französischen von Stefan Linster
Lektorat: Gudrun Gründken Copyright © 2002 by Distel Literaturverlag GmbH Sonnengasse 11, 74072 Heilbronn Die Originalausgabe erschien 1972 unter dem Titel «Nada» in der Serie Noire bei Editions Gallimard (Paris) Copyright © Editions Gallimard 1972 Umschlagentwurf: Jürgen Knauer, Heilbronn Druck und Bindung: Fritz Steinmeier, Nördlingen ISBN 3‐923208‐55‐3
Das Herzklopfen für das Wohl der Menschheit geht dar‐ um in das Toben des verrückten Eigendünkels über, in die Wut des Bewußtseins, gegen seine Zerstörung sich zu erhalten, und dies dadurch, daß es die Verkehrtheit, welche es selbst ist, aus sich herauswirft und sie als ein Anderes anzusehen und auszusprechen sich anstrengt. Hegel Dies ist auch richtig so, und da man bisweilen schießen muß, sollte man es lieber sauber und ordentlich erledi‐ gen, ohne sich unnötig mit dem Handikap großer Kaliber und ihren schwerwiegenden Auswirkungen zu belasten. Sauber und ordentlich ... In der Tat muß das tadellose Erlegen die größte Sorge des guten Jägers sein: Dem gilt das Hauptaugenmerk dieser Abhandlung. Im Kapitel über den waidgerechten Schuß werden wir uns den zwingenden Geboten widmen, die unserer Ansicht nach dieses Gesetz bedingen. Für den Augenblick aber wer‐ den wir uns damit begnügen, ein mehr als ausreichendes Kaliber zu wählen. (Le Chasseur français, Der französische Jäger)
1 Meine liebe Mama, diese Woche warte ich nicht erst bis zum Samstag, um Dir zu schreiben, weil ich Dir einiges zu erzählen ha‐ be, oh, lá, lá!!! Wir, also unsere Einheit, waren das nämlich, die die Anarchisten geschnappt haben, die den Botschafter der Vereinigten Staaten gekidnappt hatten. Ich will Dir aber lieber gleich sagen, daß ich persönlich nicht einen einzigen getötet habe. Das stelle ich hier klar, weil ich ja weiß, daß Dich das vcrdrißen dich zu verdrießen Du darüber ziemlich verdrossen wärst, meine kleine Mama. Trotzdem sage ich noch mal, daß das etwas ist, das wir ohne Schwäche ins Au‐ ge fassen müssen, falls wir eines Tages gezwungen sind, den Staat mit Gewalt zu verteidigen. Die Wange hinhalten ist ja gut und schön, aber was willst du ma‐ chen, wenn dir Leute gegenüberstehen, die alles zer‐ stören wollen, das frage ich Dich. Unser guter Pater Castagnac ist da ziemlich meiner Meinung (wir haben uns nämlich noch neulich an dem Sonntag, an dem ich nach der Messe gekommen bin, eingehend mit der Frage befaßt). Sein Standpunkt ist folgender: Wenn die
Polizisten nämlich nicht wie ich zu allem bereit sind, dann gibt es doch überhaupt keinen Grund, daß sich gewisse Individuen nicht alles Mögliche erlauben, und das ist auch mein Standpunkt. Ganz im Ernst, kleine Mama, hättest Du gern ein Land ohne Polizei? Wür‐ dest Du wollen, daß der Sohn vom alten Barquignat (ich nehme den jetzt nur so als Beispiel) freie Bahn hätte, mit seinen lüsternen Händen über Deine Tochter herzufallen, die auch meine Schwester ist? Würdest Du wollen, daß sich Gleichmacher und solche Ele‐ mente, die alles teilen wollen, auf unser mühsam Zu‐ sammengespartes in einer Orgie der Zerstörung stür‐ zen? Ich sag ja nicht, daß im Dorf nicht die Mehrheit der Einwohner brave Leute sind, aber trotzdem, schon in unserer kleinen ländlichen Gemeinschaft, wenn man nicht wüßte, daß es eine Polizei gibt, und daß die wenn nötig auch schießt, dann weiß ich bereits einige, die sich nicht zurückhalten würden, von den Zigeunern gar nicht zu reden. Auf alle Fälle habe ich gestern nur getan, was mir befohlen wurde. Ich war mit Francois zusammen, von dem ich Dir schon erzählt habe, und wir haben ziem‐ lich viel gefeuert, aber ohne Erfolg. Schließlich sind andere Ordnungskräfte von der anderen Seite des Ge‐ bäudes her in die Räumlichkeiten eingedrungen und konnten diese Individuen niederstrecken. Auf diese blutige Schlachterei, die einem den Magen umdreht, gehe ich nicht näher ein. François bedauert, daß er keinen dieser Anarchisten zu fassen bekommen hat, um ihn eigenhändig umzubringen. So weit gehe ich per‐ sönlich nicht, aber ich respektiere seinen Standpunkt. Das ist jetzt aber ein ziemlich langer Brief gewor‐ den, und ich weiß nicht mehr, was ich Dir noch schrei‐
ben soll. Daher höre ich für heute auf. Umarme den Vater von mir, wie auch Nadége. Ich drücke Dich an mein klopfendes Herz. Dein dich liebender Sohn, Georges Poustacrouille* PS: Könntest Du mir, wenn es Dir keine Mühe macht, den «Quietsch‐Camembert» schicken, weil ich den nämlich brauchte, da wir den Unteroffizier Sanchez wegen seiner neuen Streifen mit einem Fest überra‐ schen wollen. Dank Dir im voraus. * Bemerkungen zu den Namen, Erklärungen zu einigen Wörtern und Begriffen am Ende des Buches (Anm. d. Übers.).
2 Épaulard parkte seinen Cadillac halb auf dem Gehsteig und ging dann die Straße hinauf bis zum Pissoir an der Ecke Mosquée und Jardin des Plantes, wo er sich er‐ leichterte. Anschließend machte er wieder kehrt und zündete sich im Gehen eine Française Filter an. Épau‐ lard, ein großer hagerer Mann, hatte die Visage eines Militärarztes, stahlgraues Haar, Bürstenschnitt, er trug einen kittfarbenen Regenmantel mit Schulter‐ klappen. Er betrat eine Weinhandlung mit Ausschank und bestellte einen Sancerre, den er sich schmecken ließ. Mal abgesehen davon, daß man nicht mehr besonders viele Geschmacksnerven besitzt, wenn man sechzig Zigaretten am Tag raucht. Es war fünf nach zwölf. D’Arcy war spät dran. Im selben Moment betrat der junge Mann den Schankraum. Er klopfte dem kittfarbenen Regenmantel mit der fla‐ chen Hand auf die Schulter. «Ciao.» «Salut.» «Ich hab um zwei eine Verabredung und noch nichts gegessen. Steht dein Auto in der Nähe?» «Gegenüber», meinte Épaulard, während er zahlte.
Sie überquerten die Straße. Unter dem Scheibenwi‐ scher des Cadillac steckte schon ein Strafzettel. Epau‐ lard warf ihn in den Rinnstein. Sie stiegen in den weißen, schlammbespritzten Wagen. «Bist du schon lange wieder in Frankreich?» fragte D’Arcy. «Seit drei Wochen.» «Hast du irgendeinen von den Jungs wiedergesehen?» «Nein, keinen.» «Was machst du zur Zeit?» Während des Gesprächs hatte D’Arcy das Hand‐ schuhfach geöffnet und kramte darin herum. «Im Seitenfach», sagte Épaulard. D’Arcy griff hinein, fischte einen silbernen Flachmann hervor und trank direkt daraus. Er hatte ein rotes Gesicht und schwitzte. Immer noch genauso versoffen, dachte Épaulard. Als D’Arcy zu Ende getrunken hatte, steckte der fünfzigjährige Épaulard den Flachmann wie‐ der weg. Darauf eingraviert war ein Vogel, der gerade eine Schlange verputzte, und ein Motto in schwülstigen Lettern: Salud y pesetas y tiempo para gustarlos. «Du warst also in Mexiko», bemerkte D’Arcy. «Ich war so ziemlich überall. Algerien, Guinea, Me‐ xiko.» «Und Kuba.» «Ja, Kuba.» «Sie haben dich rausgeschmissen», sagte D’Arcy. Épaulard nickte. «Und was machst du zur Zeit?» wiederholte D’Arcy. «Du gehst mir langsam auf den Wecker», erwiderte Épaulard. «Was willst du eigentlich von mir?» «Ein paar Genossen und ich», erwiderte D’Arcy, «bräuchten einen Fachmann.»
«Fachmann für was? Ich bin Fachmann für einen Haufen Sachen.» «Die bewußten Genossen und ich werden uns den Botschafter der Vereinigten Staaten in Frankreich kau‐ fen», sagte D’Arcy. Épaulard stieg aus dem Auto und knallte heftig die Tür zu. Er überquerte erneut die Straße. D’Arcy lief hinter ihm her. Es begann zu nieseln: ein garstiger kalter und feiner Regen. «Mach keinen Scheiß», rief der Alkoholiker. «Ich hab dir doch noch gar nicht alles erklärt.» «Ich will gar nicht mehr darüber hören. Verpiß dich!» Épaulard ging zurück in den Weinausschank und be‐ stellte sich einen weiteren Sancerre. D’Arcy blieb un‐ glücklich dreinblickend auf der Türschwelle stehen. «Ach, leck mich doch am Arsch», sagte er schließlich und verschwand.
3 «Aus diesem Grunde», schloß Treuffais, «können wir mit Schopenhauer sagen, daß ‹der Solipsist ein Verrückter ist, der in einer uneinnehmbaren Festung eingesperrt ist›. Hat irgendjemand hierzu eine Frage?» Niemand hatte eine. Die Glocke läutete. Mit einer Handbewegung versuchte Treuffais vergeblich, sich dem Radau, der sogleich das Klassenzimmer erfüllte, entge‐ genzustellen. «Beim nächsten Mal werden wir uns mit dem zeitge‐ nössischen Rationalismus und seinen Varianten befas‐ sen», sagte er noch mit erhobener Stimme. «Ich möchte einen Freiwilligen für ein Referat über Gabriel Marcel.» Zwei Hände fuhren in die Höhe. «Mir wäre lieber, es wären nicht immer dieselben», meinte Treuffais sarkastisch. «Monsieur Ducatel, sagen Sie mal, sind Sie über das Wochenende vielleicht zu sehr beschäftigt?» «Ja, klar», antwortete der Schüler Ducatel arglos, «ich gehe auf die Jagd.» «Auf Hetzjagd womöglich?» meinte Treuffais ironisch. «Ja, Monsieur.»
«Trotzdem werden Sie für mich dieses Referat über Gabriel Marcel ausarbeiten. Für Montag. Und nun dür‐ fen sie ganz ruhig hinausgehen.» Die Horde von Einfaltspinseln verschwand mit großem Getöse. Treuffais schnallte seine Mappe zu und hörte dabei, wie sich das Getrampel der teuren Quadrat‐ latschen entfernte. Er verließ das Cours Saint‐Ange durch eine kleine Tür. Im selben Augenblick fuhr der Ford Mustang des Schülers Ducatel röhrend vorbei, und Treuffais bekam einen Schwall schlammiges Wasser auf seine Hosen. Ducatel bremste scharf und hangelte sich halb aus seiner Karre. «Tut mir leid, m ’sieu», rief er. Er konnte sich das Lachen nicht verkneifen. «Armes Arschloch», entgegnete ihm Treuffais. «So etwas darf man doch nicht sagen», bemerkte Du‐ catel bösartig. Schon hatte Treuffais ihm den Rücken zugekehrt und stieg auf der anderen Straßenseite in seinen 2 CV. Der junge Philosophielehrer fuhr schnell aus Bagneux hinaus bis zur Porte d’Orléans und bog dort in westlicher Richtung auf die äußeren Boulevards. Er lief Gefahr, seine Anstellung zu verlieren. Der Schüler Ducatel wür‐ de sich bei seinem Papa darüber beklagen, beleidigt worden zu sein. Und Vater Ducatel würde Monsieur Lamour, dem Direktor des Privatgymnasiums, nebenbei bemerkt eine echte Mißgeburtsvisage, sein Herz aus‐ schütten. «Sie sollten sich besser Monsieur Bouillon nennen», wandte sich Treuffais an seinen Schalthebel. «Dann könnten Sie Ihrer Einrichtung nämlich auch Ihren Na‐ men geben: Cours Bouillon.» Die Ampel sprang auf Grün.
«Aber ich scheiß auf das alles», ergänzte Treuffais. Hinter ihm wurde gehupt. Der junge Mann lehnte sich aus dem geöffneten Seitenfenster. «Ihr Franzosenschweine!» schrie er mit übertrieben deutschem Akzent. «Wir haben euch schon 1940 kräftig in den Arsch gefickt. Und wir werden euch noch mal in den Arsch ficken.» Ein Mofafahrer in Lederjacke stieg sogleich von seiner Maschine, um auf den 2 CV zuzustürzen. Treuffais klappte ängstlich die Seitenscheibe herunter. Der Mofa‐ fahrer klopfte mit der Faust gegen das Blech der Wa‐ gentüre. Er sah Raymond Bussiéres ähnlich. «Komm da raus, du kleines Arschloch!» schrie er. Treuffais ließ sein Springmesser aufschnappen und öffnete die Fahrertür. Dann richtete er die Klinge auf den Angreifer. «Me kill you!» knurrte er diesmal mit Negerakzent á la Hollywood. «We make Hosenträger with your Ge‐ därm!» Der Lohnempfänger kapierte im wesentlichen, worum es ging, sprang zurück, geriet mit den Füßen irgendwie in sein Solex und flog auf die Fresse. Treuffais startete lachend, fuhr bei Gelb über die Ampel und sauste allein auf den Boulevard Lefebvre. «Sono schizo», bemerkte er. «Und polyglott. Primo‐ que in limine Pyrrhus exultat!» Er fand einen Parkplatz in der Rue Olivier‐de‐Serres, nur ein paar Schritte von seiner Wohnung entfernt. Schon im Fahrstuhl hörte er das Telefon in seinem Ap‐ partement klingeln. Er hastete in die Wohnung und hob ab. Am anderen Ende der Leitung war D’Arcy. «Was meint dein Fachmann?» fragte Treuffais. «Er weigert sich.»
«Dann machen wir’s eben ohne ihn.» «Das ist blöd.» «Wir kommen schon klar. Entschuldige mich bitte, es klingelt an der Tür.» «Gut, ich leg auf. Ich ruf dich später wieder an.» «Nicht nötig. Wir sehen uns ja heute abend.» «Richtig. Bis heute abend.» «Bis dann.» Er legte auf und ging öffnen. Ein kleiner, aber breit‐ schultriger Typ mit Pomade im Haar, so um die Fünf‐ undzwanzig, also in Treuffais’ Alter, hielt ihm eine billige Illustrierte hin. «Wir schauen wie jedes Jahr vorbei», erklärte er. «Wir sind von der Föderation bretonischer Medizinstipen‐ diaten.» «Ficken Sie sich selbst», empfahl Treuffais und schubste den Typen mit der flachen Hand weg. «Sagen Sie mal, mein Alter ...» «Ich bin nicht Dir Alter!» schrie Treuffais grimmig und stieß den bretonischen Stipendiaten wütend nach hinten. Dieser schlug ihm mit den Magazinen ins Ge‐ sicht. Treuffais verpaßte ihm einen linken Leberhaken. Der Hausierer ließ seine Hefte fallen. Und Treuffais verteilte sie mit einem Fußtritt im Treppenhaus. «Scheißkerl!» schrie der Student. «Ich muß doch mei‐ nen Lebensunterhalt verdienen!» «Was für ein Irrtum!» rief Treuffais aus und stieß den bretonischen Stipendiaten mit beiden Händen zurück, so daß dieser im Treppenhaus auf den Rücken fiel und ei‐ nen sehr echten und heftigen Schmerzensschrei ausstieß. Treuffais kehrte in die Wohnung zurück und knallte die Tür zu. Wieder klingelte das Telefon. Der junge Mann spurtete los, um sich schnell eine Flasche Kro‐
nenbourg aufzumachen und eine Gauloise anzuzünden, dann hob er ab: «Marcel Treuffais am Apparat.» «Buenaventura Diaz.» «Schon wach?» «Dieser Blödmann von D’Arcy hat mich gerade ange‐ rufen. Also, sein Scheißfachmann weigert sich, einfach so.» «Ja, so ist es halt. Ist uns aber scheißegal.» «Mir aber nicht», sagte Buenaventura Diaz. «Der Kerl weiß jetzt Bescheid. Wir müssen dem erst mal auf den Zahn fühlen.» «Ach, vergiß es.» «Ich geh heut abend zu ihm. Kommst du mit?» «Was willst du ihm denn sagen?» «Daß er die Schnauze halten soll.» «Vergiß es doch», riet ihm Treuffais abermals. «Nein.» «Wie du willst. Und unser Treffen?» «Ich werd vielleicht etwas später kommen.» «Gut.» «Das wär’s. Und sonst?» fragte der Katalane. «Nichts. Und bei dir?» «Nichts.» «Gut. Dann also salut.» «Salut.» Treuffais legte wieder auf und öffnete dann seine Post. Marie‐Paule Schmoulou und Nicaise Hourgnon haben die Freude, Ihnen bekanntzugeben ... Scheiße, jetzt ist die Ärmste doch noch unter die Haube gekom‐ men. Nächster Wisch. Das Möbelhaus Radieuse, sensa‐ tionelle Preise. Treuffais schlug den Prospekt auf und studierte die rustikalen und Stil‐Bücherwände. Dann
warf er die Werbung in den Papierkorb und ging sich ein zweites Bier aufmachen. Er zitterte vor Zorn. Er kam zu‐ rück und ließ sich in dem großen Sessel nieder. Roßhaar quoll aus den Löchern des Leders, das Vaters Arsch durchgescheuert hatte. Und der Teppichboden vor dem Sessel war bis zu den Kettfäden durchgewetzt, so sehr hatten ihn Vaters Füße traktiert. Treuffais riß einen weiteren Umschlag auf, der mit dreißig Centime fran‐ kiert war. Alljährliches Diner der Libertären Vereini‐ gung des XV. Arrondissements (Gruppe Errico Malate‐ sta). Im Anschluß an das Essen folgt ein zwangloser Vortrag: Die Libertären und der jüdisch‐arabische Kon‐ flikt, einige Vorschläge mit gesundem Menschenverstand von unserem Genossen Parvulus. Blödsinn. Treuffais knüllte das Blatt zusammen und beförderte es ans andere Ende des Zimmers. Schließlich noch eine Post‐ karte – Vorderseite: Reisanbau in der Nähe von Abidjan; Rückseite: Den 5.12. Mein Allder. Werde auch dieses Jahr noch nicht heimkehren. Werde wahrscheinlich nie mehr heimkehren. Du solltest mir hierher nachkommen. Ich habe mir bei der Tochter eines Häuptlings die Sy‐ philis geholt. Ich werde sie dir weitergeben, wann immer du willst. Du darfst mich ganz herzlich am Arsch lecken. Popaul. Treuffais stopfte die Karte in eine Schublade des Büfetts, auch ein Familienerbstück, trank sein Bier aus und ging zum Mittagessen in die Kneipe an der Ecke.
4 Nach dem Mittagessen hatte Meyer eine heftige Diskus‐ sion mit seiner Frau, die wie immer endete: Annie ver‐ suchte ihn zu erwürgen. «Hör auf, Herrgott noch mal!» schrie er, doch sie war schon im Begriff, ihm den Kehlkopf zu zerquetschen. Daher tastete seine Hand auf dem Tisch herum, der in Reichweite stand. Es gelang ihm, die dreiviertel volle Evian‐Flasche aus Glas zu packen und der jungen Frau einen leichten Schlag auf den Kopf zu versetzen, nur so als Warnung. Annie war mitten in einem Anfall. Sie reagierte nicht. Sie grub vielmehr ihre Nägel in Meyers Hals. Dieser seufzte verzweifelt und schlug zu. Beim dritten Schlag ließ Annie von ihm ab, legte die Hände um ihren Kopf und wälzte sich schließlich kreischend auf dem Fußboden. «Na, komm schon, Schätzchen», sagte Meyer. «Na komm.» Annie schrie jedoch weiter, er hielt sich die Ohren zu. «Scheiße!» brüllte Meyer. Er lief ins Bad und spritzte sich Wasser ins Gesicht. Als er den Kopf wieder hob, sah er in dem kleinen Spie‐
gel, daß Annie ihm auf beiden Seiten des Halses tiefe Kratzer beigebracht hatte. Es blutete. Er tat etwas Alko‐ hol auf die Wunden, und seine Augen füllten sich mit Tränen. Doch es blutete weiter. Rasch zog er sein weißes Hemd aus, aber zu spät, der Kragen hatte schon Flecken. Wieder betrachtete er sich im Spiegel. Er sah einen Typ von dreiundzwanzig Jahren, blond und schlaff, mit kleinen Augen in der Farbe toter Austern. Er hatte eine Gänsehaut. Er puderte sich den Hals mit Talkum ein, um das Blut damit aufzusaugen. Aus dem angrenzenden Zimmer hörte er, wie Annie mit dem Schädel gegen die Wand schlug. Er ging zu ihr zurück. «Komm schon, mein Schatz, hör doch auf, ich liebe dich.» «Du kannst krepieren, du Saukerl», entgegnete ihm Annie. «Dreckiger Jude», fügte sie noch hinzu. «Ich ver‐ abscheue dich. Ich werd nach Belleville gehen und mich von Afrikanern ticken lassen. Ich werd mich durchbum‐ sen lassen», beharrte sie ziemlich grob. Sie rieb sich den Kopf und begann vor Schmerzen zu weinen. Dir Haar war schön und fein. Meyer hatte Lust, sich zu erschießen oder einfach nur zur Arbeit zu gehen, schwer zu sagen. Er schaute auf seine Armbanduhr. Vierzehn Uhr fünfzehn. Er mußte sofort aufbrechen, wenn er pünktlich sein wollte. Annie hörte plötzlich auf zu weinen und rappelte sich hoch. «Letzte Nacht habe ich ein schönes Bild gemalt.» «Willst du es mir nicht zeigen?» «Nein. Ich hasse dich. Mistkerl.» «Bitte, mein Schatz», sagte Meyer. «Is ja gut, is ja gut», meinte Annie mit vulgärer Stim‐ me. «Ich hol’s dir.»
Während sie im anderen Zimmer war, wischte Meyer sich ein letztes Mal den Hals ab, zog sich ein sauberes Hemd an und band eine fertig geknotete schwarze Fliege um. Dann schlüpfte er in ein abgewetztes Samtjackett. Seine weiße Kellnerjacke würde er erst nach seiner An‐ kunft in der Brasserie anziehen. Annie kam mit dem großen Aquarell einer Burg in der Wüste zurück. Kleine Männchen mit überdimensionalen Tropenhelmen auf den Köpfen schienen die Festung im Sturm erobern zu wollen, doch offensichtlich ohne Er‐ folg: Annie hatte mit dem Pinsel zahlreiche braune Brocken angedeutet, die auf sie herabfielen. «Das sind Kothaufen von Afrikanern», erklärte die junge Frau. «Das ist mein Haus.» «Sehr hübsch», sagte Meyer. Annie schaute auf den Wecker. «Liebling!» rief sie plötzlich. «Du mußt sofort gehen, sonst kommst du zu spät.» «Ja», erwiderte Meyer, «ich hau ab.» «Verzeih mir wegen vorhin. Heute abend geht’s mir besser. Ich werd Gardenal nehmen.» «Nimm nicht zuviel davon», riet ihr Meyer. An der Tür drehte er sich noch mal um. «Ich komm heute abend später heim. Wir haben noch unser Treffen.» «Du kannst mir ja davon erzählen.» «Ja», log Meyer. «Tut mir leid, daß ich so in Rage geraten bin. Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist. Ist die Nervosi‐ tät ...» «Macht doch überhaupt nichts. Entschuldige bitte die Schläge mit der Flasche.» «Ich liebe dich.»
«Ich dich auch», sagte Meyer und ging davon. Er kam fünf Minuten zu spät zur Arbeit. Die Brasserie ganz in der Nähe des Gare Montparnasse war brechend voll. Meyer zog seine Kellnerjacke an und machte sich sofort ans Werk. «Vorsicht, Platz, bitte!» «Haben Sie sich schon wieder beim Rasieren ge‐ schnitten?» fragte Mademoiselle Labeuve, die Kassiere‐ rin, ironisch. «Nein», antwortete Meyer. «Diesmal ist es mein Ek‐ zem. Wenn ich ein Ekzem hab, kann ich einfach nicht anders, dann muß ich mich kratzen.» Mademoiselle Labeuve musterte ihn voller Abscheu. Meyer arbeitete weiter. Er dachte an das Treffen am Abend, und das machte es ihm ein wenig leichter.
5 Nach seinem Telefongespräch mit Treuffais hatte Bue‐ naventura noch mal ein Nickerchen gehalten, aus dem er schließlich um drei Uhr nachmittags durch das Rasseln seines Weckers herausgerissen wurde. In Unterwäsche setzte er sich im Bett auf, sein Mund war trocken, denn er hatte bis fünf Uhr morgens geraucht, getrunken und Poker gespielt. Er rieb sich mit den Fäusten den Schlaf aus den Augen. Zog sich ganz aus, ging hinüber in den Waschraum, wusch sich die Füße, die Achseln und zwi‐ schen den Beinen, putzte sich die Zähne und rasierte sich. Anschließend schlüpfte er in eine Kordsamthose und einen an den Ellbogen gestopften Rollkragenpulli. Wieder zurück im Zimmer, räumte er ein wenig auf, machte notdürftig das Bett, brachte die schmutzigen Gläser ins Waschbecken und stellte die leeren Liter‐ flaschen neben der Tür an die Wand. In einem Plastik‐ behälter war noch ein Rest Margnat. Buenaventura kippte ihn hinunter, wurde von einem fürchterlichen Zittern geschüttelt und hätte beinahe wieder alles von sich gegeben. Dann öffnete er die Fensterläden und betrachtete die Rue de Buci. Langhaarige Studenten
schwatzten auf den überdachten Terrassen der Bistros. Buenaventura schloß das Fenster wieder, sammelte die mit Wein besudelten Spielkarten ein, die auf dem klei‐ nen Klapptisch herumlagen, und warf sie in den Papier‐ korb. Nicht vergessen, ein Dutzend versiegelter Karten‐ spiele zu kaufen! Er setzte sich auf sein Bett und machte in einem Notizheft seine Buchführung. Letzte Nacht hatte er fünfhundertdreiundsiebzig Franc gewonnen. Gut. Die Pechsträhne schien ein Ende zu nehmen. Bue‐ naventura brauchte einen Mantel oder zumindest eine lange Jacke. Es wurde allmählich kalt. Er verstaute das Geld, indem er es auf die verschiede‐ nen geflickten Taschen seiner Hose und seines ange‐ schimmelten Ledermantels, der an etlichen Stellen Lö‐ cher hatte, verteilte. Zog sich schmutzige Socken und Gummischuhe an, schlüpfte in den Mantel, wickelte sich einen schwarzen Schal um den Hals und setzte sich ei‐ nen schwarzen Filzhut auf, der vor dem Zweiten Welt‐ krieg in Harrisburg, Pennsylvania, hergestellt worden war. Mit seiner hageren blassen Visage und seinen bu‐ schigen Koteletten sah er aus wie ein Gauner in einer neorealistischen Aufführung von Carmen. Buenaventura verließ das Hotel Longuevache und be‐ gab sich zu Fuß zu D’Arcy, der ein winziges Apparte‐ ment mit Kochecke in einem Gebäude mit herunterge‐ kommener Fassade in der Rue Rollin, beim Place de la Contrescarpe, bewohnte. Er klopfte. «Ja!» schrie der Alkoholiker. «Es ist nicht abge‐ schlossen!» «Ich bin’s», verkündete Buenaventura vorsichtig, als er die Tür aufstieß. D’Arcy hätte ja einen seiner guten Tage haben und, mit einem Hammer in der Hand, hinter dem Türflügel
lauern können, bereit zuzuschlagen. Buenaventura trat ein und war erleichtert, als er den Säufer am anderen Ende des Zimmers auf seinem Diwan ausgestreckt, mit einer Flasche Mogana auf dem Bauch, erblickte. Der Fußboden war unter einer dicken Schicht zertre‐ tener Speisereste und Kippen nicht mehr zu sehen. In der Kochnische entdeckte Buenaventura Kaffee, der in einem Topf vor sich hin brodelte. Er goß sich ein Glas ein, zerquetschte eine Ameise auf dem Rand der Zuckerdose und ging zum Telefon. «Ich hab gerade geträumt, daß mir einer geblasen wird», erklärte D’Arcy geistesabwesend. Buenaventura antwortete nicht. Er blätterte das neben dem Telefon liegende Adreßverzeichnis durch und fand die Anschrift des besagten Épaulard. D’Arcy schaute zur Decke. «Ich muß meiner Mutter schreiben», sagte er, «damit sie mir Geld schickt. Könntest du mir nicht zwanzig oder dreißig Mäuse leihen?» Buenaventura lachte höhnisch auf und leerte sein Glas. «Danke für den Kaffee. Bis heute abend.» «Haust du wieder ab?» fragte D’Arcy erstaunt. Doch der Katalane war schon draußen. Er ging zu Fuß in Richtung Nordwesten. Am Boulevard Saint‐Michel wurde er von einem Mann in blauem Mantel angehalten. «Polizei. Ihre Papiere!» Der Bulle zeigte seinen Ausweis. Buenaventura hätte ihm liebend gern eine aufs Maul gehauen, doch ein klei‐ ner Trupp von circa sechzig CRS in Helmen und mit Gewehren bewaffnet stand nicht weit entfernt am Brun‐ nen herum. Der Katalane zückte seine Ausländerpapiere.
«Beruf?» «Musiker.» «Da steht aber ‹Student›», bemerkte der Flic und zeigte mit seinem dicken Finger auf die Stelle, wo es stand. «Der Ausweis ist schon älter. Zu der Zeit war ich noch Student.» «Das müssen Sie mir aber auf den neusten Stand bringen lassen.» «Ja, Monsieur.» Der Flic gab Buenaventura seine Papiere zurück. «In Ordnung.» Der Katalane setzte seinen Weg zu Fuß fort. Die Zeit der Entwerter war lange vorbei, als man noch kostenlos mit gewaschenen Bustickets herumfahren konnte. Da er zügig marschierte, erreichte Buenaventura rasch die Rue Rouget‐de‐Lisle, neben dem Jardin des Tuileries. Er betrat das Gebäude, in dem Épaulard wohnte, und über‐ flog die Liste der Mieter hinter der Scheibe der Con‐ iergeloge. Dann ging er die Treppe hoch in den zwei‐ ten Stock. An der Tür verwies ein neues Messingschild auf: André Épaulard, Rechtsberater. Das Türblatt war mit einem Spion versehen. Buenaventura hielt die Linse mit seinem Finger zu und klingelte. Er hörte, daß sich hinter der Tür etwas bewegte. «Was soll das?» rief eine Männerstimme. «Raten Sie mal», erwiderte Buenaventura liebenswür‐ dig. Das Schloß klickte. Die Tür öffnete sich einen Spalt, Buenaventura versetzte ihr einen Tritt. Sie flog weit auf, Épaulard bekam sie gegen die Brust und fiel nach hin‐ ten. Buenaventura sprang rasch in die Wohnung und schlug die Tür hinter sich zu. Sein Opfer reagierte aber
viel schneller als erwartet, umklammerte ihn am Knö‐ chel und brachte ihn zu Fall. Überrascht stieß Buena‐ ventura mit dem Fuß zu, verfehlte jedoch sein Ziel. Er wurde an den Ohren gepackt und mit dem Schädel gegen die Wand geknallt. «Ist jetzt Schluß, du Niete?» Buenaventura schaute den fünfzigjährigen Mann an. Die beiden Widersacher starrten sich äußerst verblüfft an. «Thomas!» rief der Katalane aus. «Carlos!» «Ich nenne mich nicht mehr Carlos», erklärte Buena‐ ventura, während er aufstand. «Und ich nicht mehr Thomas», erwiderte Épaulard. «Ich heiße jetzt André Épaulard. Ist übrigens mein rich‐ tiger Name.» «Buenaventura Diaz», sagte der Katalane. «Ist ebenfalls mein richtiger Name.» «So was erfindet man auch nicht», bemerkte Épaulard. «Was ist eigentlich in dich gefahren, mir eine aufs Maul zu hauen?» «Ich wußte ja nicht, daß du das bist.» «Versteh ich nicht. Komm, wir trinken was, und du erklärst es mir.» Die beiden Männer gingen durch den Flur und er‐ reichten ein Büro mit einem schweren Tisch und zwei Ledersesseln. An einer Wand stand ein khakifarbener Metallschrank. Épaulard machte ihn auf und holte eine Flasche polnischen Wodka und zwei Gläser heraus. Er setzte sich an den Schreibtisch und Buenaventura in ei‐ nen der Sessel. «Ist eine Ewigkeit her», bemerkte letzterer. «Seit 62.»
«Was hast du so getrieben?» ₁ «Algier. Ich hab mit den Pablisten am ‹Großen Plan› gearbeitet.» «Blödmann.» «Immer noch Anarcho?» «Wie du siehst.» «Ja, verdammt noch mal!» rief Épaulard unvermittelt aus. «Du arbeitest nicht zufällig mit einem gewissen D’Arcy zusammen?» «Doch.» «Bei dem Coup mit dem Botschafter?» «Genau.» «Ihr seid vollkommen bescheuert», meinte Épaulard. «Und dieser D’Arcy ist der totale Saufkopf. Bleib weg von dem.» «Darüber kann man streiten.» «Nicht mit mir. Aber erklär mir doch mal, was du hier eigentlich vorhattest und warum du mir eins aufs Maul geben hast, meine kleine Seele dürstet nach Erkennt‐ nis.» «Ganz einfach, D’Arcy sollte uns einen Fachmann bringen. Einen gewissen André Épaulard. Ich hatte keine Ahnung, daß du das bist. Als er uns dann gesagt hat, sein Fachmann würde nicht mitmachen, wollte ich dem Kerl einen kleinen Besuch abstatten. Um dafür zu sorgen, daß der über unser Vorhaben die Klappe hält.» «Ist doch lächerlich», meinte Épaulard. «Wenn eine Information einmal raus ist, dann ist sie raus.» «Na ja, es ist ja nichts passiert», meinte Buenaven‐ ra. 1 Trotzkistische Splittergruppe.
«Ihr wollt diesen schwachsinnigen Coup wirklich durchziehen?» «Ja.» Épaulard leerte sein Glas und schüttelte betrübt den Kopf. «Ihr seid mir eine nette Bande von Witzbolden.» «Wir waren auch schon 1960 eine nette Bande von Witzbolden», erwiderte Buenaventura. «Und du hast da‐ zugehört.» «Das führte wenigstens zu was.» «Daß ich nicht lache», brüllte der Katalane los. «Gefällt dir etwa das Ergebnis? Gefällt dir der mohammedanische Marxismus?» «Ach, Scheiße», sagte Épaulard. «Wir werden doch nicht wieder mit den theoretischen Diskussionen anfan‐ gen.» «Einverstanden. Du machst, was du willst. Heute abend haben wir ein Treffen. Bei einem Typ namens Treuffais. Ich laß dir die Adresse hier.» «Die brauch ich bestimmt nicht.» «Ich laß sie dir trotzdem hier.» Buenaventura nahm einen Block und einen Bleistift vom Schreibtisch und schrieb sie schnell hin. «Übrigens», meinte er, «was soll eigentlich dieser Quatsch mit dem Rechtsberater?» «Da ist ein Coup in die Hose gegangen», antwortete Épaulard. «Wir hatten damals einen Deppen an der An‐ gel und wollten ihn mit der klassischen Geschichte von der Wiederbeschaffung der FLN‐Kriegskasse schröpfen, weißt schon, die Knete der Algerischen Befreiungsfront, die Khider unterschlagen hat. Dafür brauchte ich eine Fassade. Endergebnis war: Mein Partner hat sich letzte Woche in Deutschland von Türken aufs Kreuz legen las‐
sen, und der Depp ist auf und davon. Jetzt sitze ich hier mit einem bis Ende des Monats bezahlten Büro und ei‐ nem 56er Cadillac und guck in die Röhre.» Buenaventura lachte kurz auf und schenkte sich einen weiteren Wodka ein. «Wir könnten dich als Fachmann anheuern», sagte er. «Wahrscheinlich mit dem Lösegeld des Botschaf‐ ters?» «Genau.» «Das kriegt ihr nie.» «Was weißt du schon? Komm doch heute abend.» «Nein.»
6 Wieder allein, ging Épaulard mit Angstgefühlen in seiner Wohnung auf und ab. Das Büro an dem einen Ende des Flurs. Und am anderen das Schlafzimmer mit einem Bett, einem Stuhl, einem kleinen Tisch und einem gro‐ ßen Schrank. Auf dem Tisch ein dickes juristisches Le‐ xikon für Familienväter, die Écrits Intimes von Roger Vailland und einige alte Kriminalromane, allesamt ziem‐ lich ramponiert. Im Schrank zwei Slips, zwei Bettlaken, sechs Paar Baumwollsocken, zwei unifarbene Krawatten, zwei Nylonhemden und ein zehn Jahre alter Kamel‐ haarmantel. In einer der Taschen des Mantels eine Schachtel mit Mausermunition Kaliber 30, in der ande‐ ren eine chinesische Halbautomatik Typ 31. Was den kittfarbenen Regenmantel betraf, der lag über dem Stuhl. Épaulard ging hinüber in das Badezimmer und unter‐ suchte sein Gesicht, das bei Buenaventuras Eindringen den Schlag mit der Tür abgekommen hatte. Der fünf‐ zigjährige Mann hatte eine hellrote Quetschung am lin‐ ken Mundwinkel, und seine Lippen begannen anzu‐ schwellen. Er schüttelte den Kopf. Schaute sich genau an. Er hat das schmerzliche und vertraute Gefühl, sein
Leben verpfuscht zu haben. Er erinnert sich: Er kommt in den zwanziger Jahren auf den Antillen zur Welt. Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs ist er Waise, mittellos, sitzt aber ein Boot, mit dem er nach Südamerika über‐ setzt. Die Blockade Norwegens führt auf dem Weltmarkt zu einer Verknappung von Lebertran. Épaulard geht auf Haifischfang und macht mit Haifischlebertran ein Ver‐ mögen. Ein paar Monate später ist er in Frankreich und verliebt. Und aus Liebe tritt er der Résistance bei. Im Jahr 1944 verliert er, als Partisan bei der FTPF, während eines heftigen Gefechts im Dauphine seine Einheit. Zu diesem Zeitpunkt ist er nicht mehr verliebt. Da all seine Kontakte abgerissen sind, knüpft er neue zu gaullistischen Kräften und findet sich daraufhin im Ver‐ cors‐Bergmassiv wieder. Nach der Vernichtung des Widerstandes im Vercors empfindet Épaulard, der dem Gemetzel entkommen ist, einen ausgeprägten Haß auf die Bourgeoisie und die Gaullisten. Er ist ein einsamer Mann. Und wird Killer. In den Jahren zwischen 1945 und 1947 tötet er fünf oder sechs Menschen, aus Überzeugung und für Geld. Da es ihm mit Glück und Raffinesse gelingt, sowohl seinen Kunden gegenüber als auch bei der Polizei Frankreichs ein Unbekannter zu bleiben, kann er in die Kommunisti‐ sche Partei Frankreichs, PCF, eintreten. Streiks im Nor‐ den Épaulard verübt Sabotageakte an den Eisenbahn‐ strecken, auf denen die Panzerwagen und die Repressi‐ onstruppen ankommen. Er hat den Geschmack von Asche im Mund. Beschließt, Jules Moch zu töten. Nimmt wieder Abstand davon. Er ist völlig aus dem Lot. Betreibt eine kleine Druckerei in der Pariser Banlieue. Und bezahlt seine Beiträge an die Partei nicht mehr. Von 1957 an druckt er alle möglichen Untergrund‐
bulletins von diversen oppositionellen Fraktionen der PCF. Schon bald darauf wird er für die französische Fö‐ deration des algerischen FLN arbeiten. Er begegnet Buenaventura, der sich Carlos nennt. Begegnet D’Arcy, der bereits Alkoholiker ist. Er verläßt Frankreich im Jahr 1962 und arbeitet in Algier zusammen mit Pablisten am «Plan». Nach dem Sturz Ben Bellas im Jahr 65 verläßt er Algerien. Hält sich kurzzeitig in Guinea auf. Später trifft man ihn dann wieder in Kuba, wo er unter Enrique Li‐ ster arbeitet. Zu dieser Zeit ist Épaulard schon korrupt. Bereits in Algerien hat er mit dem Verschieben von her‐ renlosem Gut Geld gemacht. In Kuba widmet er sich dem Schwarzhandel. Er wird kaltgestellt. Reist in Süd‐ amerika herum. Bis man seine Spur verliert. Und jetzt ist er wieder zurück in Frankreich. Er hatte die chinesische Pistole aus seinem Mantel geholt und drückte sich den Lauf an den Hals. Er hatte den Finger am Abzug. «Da kann ich mich auch gleich erschießen», erklärte er seinem Spiegel. Er seufzte und erschoß sich nicht. Verstaute die Pi‐ stole, ein Nachbau der russischen Tokarew, wieder. Er schaute auf seine Uhr. Punkt fünf. Épaulard entschied, daß er am Abend zu diesem Treffen gehen würde. «Scheiße, was soll’s!» sagte er zu seinem Spiegel.
7 Der Tagesablauf des Botschafters der Vereinigten Staaten ist ziemlich unregelmäßig», erklärte Buenaven‐ tura. Er breitete einen Stadtplan von Paris auf dem Tisch aus, und um Platz dafür zu schaffen, schoben Meyer, Treffais und D’Arcy die soeben geöffneten Bierfla‐ schen etwas zur Seite. Während Épaulard mit seinem Kronenbourg in der Hand zunächst stehen blieb und in, die andere Hand hinterm Rücken, das Kinn im Hals vergraben und den Filter seiner Française zwischen seinen schmalen Lippen fast zerquetscht, langsam um den Tisch herum ging. Von Zeit zu Zeit warf ihm einer Anwesenden einen flüchtigen Blick zu. «Poindexter ist Episkopalist», fuhr Buenaventura mit seinem Bericht fort, «und nimmt jeden Sonntag am Acht‐Uhr‐Gottesdienst der Amerikanischen Kathedrale der Avenue George‐V teil. Er schläft nie in seiner Dienstwohnung in der Botschaft, sondern fährt jeden Abend, nur eben zu unterschiedlichen Zeiten, nach Hau‐ se in seine Privatwohnung, nicht weit von der Ciné‐ mathéque Chaillot. Die Spanne reicht von dreiundzwan‐
zig Uhr abends bis vier Uhr in der Frühe. Außerdem be‐ gibt er sich ab und zu ins Amerikanische Krankenhaus von Neuilly. Dreimal in den drei Monaten, in denen wir ihn jetzt observieren.» Beim Reden zeigte der Katalane auf dem Stadtplan die von dem Diplomaten frequentierten Orte. Er nannte noch einige andere, doch auch diese suchte der Bot‐ schafter nur gelegentlich auf. «Allerdings gibt es da etwas, auf das er programmiert ist wie eine Zeitbombe», ergänzte Buenaventura. «Jede Woche Freitag verbringt er den Abend in einem Club an der Ecke Avenue Kleber und Rue Robert‐Soulat.» Épaulard blieb stehen und fragte: «Könnten Sie mir das noch mal wiederholen?». Buenaventura fragte sich, weshalb der Ex‐FTPler ihn siezte. Er wiederholte: «Botschafter Poindexter verbringt jede Woche den Freitagabend in einem Privatclub an der Ecke Avenue Kleber und Rue Robert‐Soulat.» «Das ist ein Bordell», erklärte Épaulard. «Was?» «Ein exklusives Freudenhaus. Eins der besten in Paris, von der sauberen und kostspieligen Sorte.» «Verflixt», lachte D’Arcy höhnisch. «Noch eine Bresche in den Errungenschaften der Volksfront.» «Es ist der Pariser Puff, der dem Palais des Staatsprä‐ sidenten am nächsten liegt», hob Épaulard hervor. «Na‐ türlich von der Polizei beschützt und mächtig gesichert, wenn irgendein afrikanischer Staatschef in Paris an‐ tanzt.» «Wunderbar», sagte Buenaventura. Die anderen schauten ihn an. «Was für ein Skandal», sagte der Katalane. «Seine
Exzellenz von der linken Linken aus einem Bordell entführt. Der Canard enchaîné wird sich daran berau‐ schen.» Allgemeine Heiterkeit. Selbst Épaulard lächelte. Und prustete los. «Das ist so schön wie ein toter Pfaffe», gab er zu, «doch wir müssen trotzdem noch andere Möglichkeiten erwägen.» «Der unregelmäßige Tagesablauf», wandte Buena‐ ventura noch mal ein. «Wir könnten ihn beim Gottesdienst überfallen.» «Oder zu Hause», schlug Meyer vor. «Bei Nacht.» «Bei ihm zu Hause können wir doch auf alles Mögli‐ che treffen», wandte Épaulard ein. «Auf ein ganzes Erd‐ geschoß voller Typen vom FBI, zum Beispiel, oder von was weiß ich was. Das sollten wir von vornherein aus‐ schließen. Der protestantische Gottesdienst wär ein ganz schönes Risiko, weil da leicht hundert Personen zusam‐ men sind. Um die alle in Schach zu halten, müßten wir ein riesiger Haufen Leute sein mit Maschinenpistolen.» «Also doch das Bordell», triumphierte Buenaventura. «Muß man erst mal sehen», meinte Épaulard. Sie blickten sich an, mit Ausnahme von Treuffais, der auf seine Nägel schaute. Der Ex‐FTPler ging zu einem Sessel und setzte sich. «Wie habt ihr das eigentlich angestellt, seine Wege herauszubekommen?» «Durch unauffällige Beschattung.» «Unauffällig? Dieser Typ dürfte doch die meiste Zeit von den französischen Diensten beschützt und ständig von seinen eigenen Leibwächtern umringt sein. Wie könnt ihr da sicher sein, daß ihr unauffällig genug wart?»
«Können wir nicht. Wir haben ein Maximum an Vor‐ sichtsmaßnahmen getroffen. Wir haben Treuffais’ 2 CV benutzt, der bei ausreichendem Abstand nicht auffällt. Und die Typen vom Staatsschutz RG haben uns bislang noch keine Scherereien gemacht.» Épaulard wandte sich Treuffais zu. «Kein unangemeldeter Gasmann? Kein hartnäckiger Hausierer?» «Nein.» Épaulard rieb sich die Nase. Ließ seinen Blick über die Anwesenden schweifen. «Ich würd gern euren ‹Stammbaum› erfahren», sagte er schließlich. «Ob ihr aktenkundig geworden seid, und wann und weshalb ...» Er fixierte Buenaventura. «D’Arcy und du, ihr wart doch zur Zeit der Unter‐ grundorganisationen ziemlich im Visier. Habt ihr seither irgendwelchen Ärger gehabt?» Buenaventura zuckte mit den Schultern. «Nur zwei vorläufige Festnahmen zur Personenüber‐ prüfung im Jahr 68. In Paris und in Flins. Beide Male bin ich im ehemaligen Krankenhaus Beaujon gelandet, wo sie uns damals ja immer zusammengetrieben haben.» «Bei mir überhaupt nichts», gab der Alkoholiker an. Épaulard nahm sich auch die anderen zur Brust. Treuffais hatte noch nie Kontakt mit der Polizei gehabt. Meyer ebenfalls nicht. «Das Ganze scheint ja ziemlich sauber zu sein», er‐ klärte Épaulard.
8 Am Montag morgen hatte der unverschämte Ducatel kein Referat über Gabriel Marcel vorbereitet. «M’sieu, ich hab keine Zeit gehabt», erklärte er. Er feixte leise vor sich hin, man konnte seine un‐ gleichmäßigen gelben Zähne sehen, die wie die Zähne eines Hundes aussahen. Treuffais musterte ihn einge‐ hend. Jeder Widerstand war zwecklos. Kohle war bei diesem Degenerierten reichlich vorhanden und im Cours Saint‐Ange sehr willkommen ... Der Schwachkopf war unantastbar. «Dann also für Freitag, mein junger Freund», sagte Treuffais. Daraufhin erhob er sich von seinem Stuhl und nahm eine Unterrichtsstunde über den zeitgenössischen Ra‐ tionalismus und seine Varianten in Angriff. Mehrere Male schlief er dabei fast ein. Endlich läutete die Zehn‐ Uhr‐Pausenglocke. Draußen schüttete es fürchterlich, Treuffais ging im Lehrerzimmer vorbei, um seinen Re‐ genmantel zu holen, der seit Mitte der vergangenen Wo‐ che dort hing. Mademoiselle Kugelmann korrigierte ge‐ rade Klassenarbeiten. Monsieur Duveau stand in der Nähe der Tür – die Hände in den Taschen seines Nadel‐ streifenjacketts, der kahle Schädel blank gewienert, die
Hose faltenlos, Weinfahne. Er wippte auf den Absätzen hin und her. Betrachtete die klatschnassen Fenster‐ scheiben, die daran herunterlaufenden Tröpfchen. «Mieses Wetter», sagte er zu Treuffais. Der junge Mann streifte seinen Regenmantel über, ein großes khakifarbenes Etwas aus altertümlichem, quit‐ schendem Wachstuch, in dem Gerüche lange haften blieben. «Miese Zeiten», fügte Duveau hinzu. «Trinken Sie ei‐ nen Kaffee mit mir?» Treuffais blickte mechanisch auf seine Kelton‐Uhr und schüttelte sogleich den Kopf. «Ich geh nach Hause», glaubte er erklären zu müssen. «Ich hab erst wieder was um zwei.» «Sie würden besser daran tun, einen Kaffee mit mir zu trinken. Und etwas zu plaudern. Ein Philosophieleh‐ rer!» (Duveau brummelte wütend vor sich hin.) «Was verstehen Sie in Ihrem Alter schon vom Leben, das frag ich Sie?» Er streckte die Hand aus und packte Treuffais beim Revers seines Regenmantels. «Altes Wrack», entgegnete Treuffais und verpaßte ihm wie rasend einen Faustschlag an den Hals. Duveau stieß einen lauten Schrei aus und stürzte zu Boden. Mademoiselle Kugelmann sprang wie elektrisiert hoch und kreischte los. Sie stürzte zu Duveau und half ihm, sich auf dem Fußboden aufzusetzen. Treuffais war erstaunt. Er rieb sich nachdenklich die Faust. «Tut mir leid. Ich wollte Sie nicht ... hatte nicht die Absicht ...» Plötzlich schüttelte ihn ein Lachanfall. «Gangster! Gangster!» schrie Duveau schwach. «Um Himmels willen!» kreischte Mademoiselle Ku‐
gelmann. «Was ist denn passiert? Was ist denn nur in Sie gefahren? Ist Ihnen eigentlich klar, was Sie da getan haben? Ein Kriegsversehrter! Monsieur Lamour wird alles erfahren!» «Monsieur Lamour hat doch keine Ahnung», erklärte Treuffais. «Sein Schädel ist hohl und voller Scheiße.» «Das habe ich gehört, Treuffais», sagte Monsieur Lamour, der gerade lautlos hereingekommen war. «Monsieur Lamour, ich fick Sie in den Arsch.» «Sie sind doch krank!» «Ich werd Ihnen die Fresse einschlagen.» Puterrot warf sich Monsieur Lamour in die Brust. Er war ein kleiner Mann. Treuffais hätte einen Teller Suppe auf seinem Kopf essen können, eine abscheuliche Aus‐ sicht! Der junge Philosophielehrer trat ganz nah an sei‐ nen Vorgesetzten heran und fragte sich dabei, wo er hin‐ schlagen sollte. Der Direktor blieb jedoch starr und würdevoll stehen, ängstlich darauf bedacht, vor Made‐ moiselle Kugelmanns weit aufgerissenen Augen nur nicht klein beizugeben. Duveau hatte sich derweil erneut in seiner ganzen Länge an der Wand hinuntersacken las‐ sen, um nicht in die Schlägerei verwickelt zu werden; er täuschte Atemnot vor. Treuffais gab der purpurroten Zange des Direktors einen leichten Klaps, ging um den nichtigen Menschen herum und knallte die Tür hinter sich zu. «Ich hab es ja schon immer gewußt, aber ich wollte ihm eine Chance geben», verkündete Monsieur Lamour, während er sich seine Brillengläser putzte, die vor Angst und Schrecken ganz beschlagen waren. «Dieser Junge ist keinen Pfifferling wert», schloß er. «Der ist eine Null.» Draußen hatte Treuffais unterdessen in seinem 2 CV Platz genommen. Als er die Wagentür zugeknallt hatte,
war ihm dabei zum hundertsten Mal das Seitenfenster auf die Finger geklappt, er fluchte heftig. Er blickte auf seine Armbanduhr. Acht nach zehn. Er fuhr los. Der 2 CV sauste zur Porte d’Orléans. In Paris angelangt, bog er am Place Denfert‐Rochereau nach Osten, fuhr dann über die Kreuzung Avenue des Gobelins und fand schließlich einen Parkplatz unweit der Fakultät, doch außer Sichtweite der ungeheuren Mengen von Flics, die sich, den Karabiner am Schulterriemen und den «Anti‐ aufruhrhelm» am Oberschenkel baumelnd, um die Ge‐ bäude herum aufhielten. In einer Brasserie am Boulevard Saint‐Marcel warteten Buenaventura und Épaulard am Tresen vor ihren Muscadets. Treuffais gesellte sich zu ihnen. Es regnete nicht mehr. «Für mich dasselbe», sagte der Philolehrer zu dem Barmann. «Zehn Uhr vierzig», meinte Épaulard. «Wir haben uns schon mal umgeschaut. Zu jeder vollen und halben Stunde kommt jeweils eine ganze Fuhre Bullen an. Wir sollten besser auf die um elf warten. Hast du die Kittel mitgebracht?» «Ja.» «Und die Bleibarren?» «Ja. Liegen im Kofferraum des 2 CV, mit den Kit‐ teln.» «Stehst du weit weg?» «Hundert Meter.» «Gut.» Die drei Männer leerten ihre Gläser. «Noch mal dasselbe», sagte Épaulard. «Es überrascht mich, dich hier zu sehen», meinte Treuffais zu dem Ex‐FTPler.
«Warum?» Treuffais zuckte mit den Schultern. Die Gläser wur‐ den gefüllt. «Der Unterschied ist», erklärte Buenaventura, «daß Épaulard heute mit uns hier steht, weil er nicht mehr an die Revolution glaubt, wogegen wir mit ihm hier stehen, weil wir daran glauben. Épaulard handelt aus Ver‐ zweiflung.» «Wirst du kleines Arschloch endlich dein großes Maul halten?» fragte der ehemalige FTPler, lachte aber dabei. «Zehn Uhr fünfundvierzig», sagte Treuffais. Sie leerten ihre Gläser. Épaulard zahlte. Sie verließen die Brasserie, gingen durch die engen Gassen zum 2 CV und kletterten hinein. Treuffais beugte sich über die Lehne der Rückbank und holte aus dem Kofferraum drei weiße Kittel. Sie streiften die Regenmäntel, be‐ ziehungsweise den angeschimmelten Ledermantel ab, schlüpften in die Kittel, stiegen wieder aus dem Wagen, Treuffais trug eine stattliche schwarze Aktentasche, die vier Bleibarren enthielt. Die drei Männer gingen zurück durch die kleinen Gassen und kamen wieder auf dem Boulevard Saint‐Marcel heraus, ungefähr gegenüber dem Zentrum für Tuberkulosefrüherkennung. Auf dem anderen Bürgersteig betraten gerade die letzten unifor‐ mierten Polizisten einer Gruppe das Gebäude. Andere kamen heraus. «Punkt elf», sagte Épaulard. «Ihr braucht euch nicht zu beeilen. Lassen wir ihnen ruhig Zeit, hinaufzustapfen und sich die Klamotten auszuziehen.» Niemand hielt die drei Männer am Eingang oder im Flur des Vorsorgezentrums auf. Sie sahen ganz so aus, als wüßten sie genau, wohin sie wollten, und im übrigen
wußten sie es ja auch, und sie sahen ziemlich professio‐ nell aus. Sie schienen von einem offenbar recht amü‐ santen Fachgespräch mächtig gefesselt zu sein. «...Blutsenkungsgeschwindigkeit», warf Épaulard in den Raum, «und Sie werden niemals erraten, was wir da gefunden haben ...» Unterwegs begegneten sie zwei anderen Personen in Kitteln, einer kleinen Rothaarigen und einem dunkel‐ haarigen Typ, die ihnen keinerlei Beachtung schenkten. Die drei Männer erreichten einen Treppenabsatz, bo‐ gen dort ohne Zögern ab und gingen durch eine Dop‐ peltür. Vor ihnen tat sich ein Saal auf so lang wie eine Bahnhofshalle, mit Fenstern auf der Linken, und Türen von Umkleidekabinen zur Rechten. Durch diese Türen waren die Polizisten verschwunden. In den Kabinen hatten sie sich ausgezogen oder waren noch dabei, man hörte noch das Rascheln von Stoff, das Klicken von Koppeln, das Ächzen fetter Männer, einen gelegentli‐ chen Furz. War der Insasse der Kabine erst mal in Un‐ terhosen, verließ er sie durch eine Tür gegenüber dem Einlaß, und unterzog sich der ärztlichen Untersuchung. Währenddessen blieb die Kabine leer, zum Saal hin durch einen Klappriegel verschlossen. Die Kleidung des Polizisten, sein Koppel und seine Waffe ruhten derweil auf einem Hocker im Halbdunkel oder hingen an einem Haken. In der ersten Kabine waren noch Geräusche zu hören, dann schlug eine Tür. Épaulard holte aus seiner Innenta‐ sche ein kleines starres Sägeblatt heraus, schob es zwi‐ schen Kabinentür und Zarge, hob den Klappriegel an und öffnete die Tür. Die Kabine war leer, bis auf Uni‐ formstücke, Koppel, Waffe. Treuffais öffnete seine Ak‐ tentasche und reichte Épaulard einen der Bleibarren.
Dieser schloß die Tür hinter sich. Treuffais und Buena‐ ventura schlichen weiter zu den nächsten Kabinen. Im Innern der ersten klappte Épaulard das Holster mit der Halbautomatik des Flics auf, zog die Manhurin (Lizenz Walther) heraus, steckte sie ein, schob den Bleibarren in das Holster und schnallte es wieder zu. Mit diesem ge‐ wohnten Gewicht am Koppel würde der Polizist sehr wahrscheinlich eine Zeitlang brauchen, bis ihm das Ver‐ schwinden seiner Pistole auffiel, womöglich würde er es sogar erst am Ende seines Dienstes bemerken. Épaulard verließ die Kabine, wobei er den Riegel behutsam halb zuklappte, ihn dann mit dem Sägeblatt festhielt und dieses anschließend derart herauszog, daß der Riegel wieder zuschnappte. In der nächsten Kabine verfuhr Buenaventura ganz genau so. Als Treuffais dann die dritte öffnete, sah er sich plötzlich einem Polizisten mit rotem Gesicht gegenüber, er ihn, nur noch mit einer Unterhose und einer einzel‐ nen Socke bekleidet, die andere hielt er in der Hand, verdutzt anstarrte. «Verzeihen Sie, ich suche Doktor Moreau», behaupte Treuffais lächelnd und zog die Tür sofort wieder zu, entfernte sich, ließ vier Türen hinter sich und konnte se‐ hen, wie Épaulard am anderen Ende der Reihe erneut in einen Umkleideraum eindrang. Treuffais schwitzte aus allen Poren, als er es an der nächsten Tür versuchte, unter dieser war niemand. Der junge Mann bemächtigte ich der Pistole und trat wieder hinaus. Épaulard kam mit großen Schritten zurück, Buenaventura war auch gerade eben herausgekommen, die drei Männer scharten ich wieder zusammen. «Ich hab eine», flüsterte Treuffais.
«Ich auch», sagte der Katalane. «Das macht dann vier, alles klar», meinte Épaulard und hastete schon zum Ausgang. «Wir treffen uns dann unten auf der Straße.» Treuffais war schweißgebadet, er blickte auf seine Armbanduhr, elf Uhr sechs. «Pfff!» stieß er hervor. «Schnell zum Auto, schnell», wiederholte Épaulard. Auf dem Bürgersteig des Boulevards trieben sich ei‐ nige Flics herum. Die beiden Anarchisten und Épaulard wechselten die Straßenseite. «Kinderleicht», bemerkte Buenaventura. «Wo wir schon dabei waren, hätten wir ihnen auch gleich die Munition wegnehmen können.» «Die Munition wird kein Problem sein», entgegnete Épaulard. Er führte den kleinen Trupp bis zur Rue des Plantes, wo der Cadillac geparkt war. Noch im Gehen zogen sie die Kittel aus und legten sie zusammen. Sie stiegen in den weißen Wagen und verstauten die gefalteten Kit‐ tel, in denen die Waffen steckten, unter den Vordersit‐ zen. «Wir setzen dich bei deinem 2 CV ab», sagte Buena‐ ventura zu seinem Kumpel. «Wir beide essen in Couzy, denn Épaulard will das Versteck inspizieren, da haben wir keine Zeit, dich bis vierzehn Uhr wieder zurückzu‐ bringen.» «Das ist völlig unwichtig», erwiderte Treuffais, «ich hab nämlich gerade meine Stelle verloren. Ich geh nicht mehr ins Saint‐Ange.» «Was ist denn passiert?» «Nichts Besonderes, aber ich werd wohl knapp bei Kasse sein.»
«Ärgerlich.» «Was soll’s», erwiderte Treuffais gleichgültig. «Nach dieser Operation werden wir doch alle reich sein, oder?» Der Katalane warf ihm einen erstaunten Blick zu. «Das regeln wir später», meinte Épaulard, der all‐ mählich die Geduld verlor, und fuhr los. «Na gut», sagte Buenaventura. «Kommst du dann mit uns nach Couzy?» «Wenn ich’s mir recht überlege, nein. Setzt mich lie‐ ber bei meinem 2 CV ab.» Der Cadillac kurvte durch die engen Straßen, mal mehr, mal weniger mühelos, hielt dann einen Augen‐ blick neben Treuffais’ Wagen. Der Philolehrer sprang auf die Straße, warf die Tür zu und winkte zum Ab‐ schied. Der Cadillac fuhr davon. «Dein Kumpel ist merkwürdig», sagte Épaulard. «Ein unruhiger Geist eben», erwiderte Buenaventura. «Er stellt sich Fragen.» Der Katalane grinste. Treuffais war inzwischen in seinen 2 CV gestiegen, er startete und wollte nach Hause fahren. Als an der Rue d’Alesia eine Ampel auf Grün schaltete, trat der junge Mann zu heftig aufs Gas, so daß die Rückholfeder des Pedals brach. Es gab dem Fuß von Treuffais vollständig nach. Röhrend überquerte der 2 CV im ersten Gang die Kreuzung. Treuffais kuppelte aus. Der Motor lief auf vollen Touren, das Gaspedal blieb weiter durchgetreten. Treuffais lenkte den Wagen zu einem markierten Fuß‐ gängerüberweg, schaltete die Zündung ab, das Fahrzeug stieß leicht gegen die Bordsteinkante und blieb stehen. Der junge Mann stieg aus, öffnete die Motorhaube und entdeckte den Schaden. Fünfzig Meter entfernt lag eine Buch‐ und Schreibwarenhandlung. Treuffais ging darauf
zu. Eine Holztafel riet: «Machen sie es wie alle. Lesen Sie France‐Soir». Treuffais räusperte sich und spuckte einen satten Batzen auf die Tageszeitung. Er betrat den Laden, kaufte ein Gummiband für Aktenmappen, kehrte zu seinem Auto zurück und ersetzte die gebrochene Fe‐ der durch das breite dicke Gummi. Dann startete er wie‐ der. Der 2 CV fuhr genauso gut wie zuvor, nur war das Gaspedal halt sehr lasch geworden. Treuffais erreichte sein Viertel, drehte eine Runde, ohne in den vollge‐ stopften Straßen einen Parkplatz zu finden, und stellte den Wagen schließlich in der Rue des Morillons ab. Er stieg hinauf in seine Wohnung. Fünf nach zwölf. Keine Post. Treuffais machte sich ein Kronenbourg auf und ließ sich in Vaters Sessel nieder. Er zog das Transi‐ storradio zu sich heran und drückte auf einen Knopf. «...wurde die Arbeit nach einer geheimen Urabstim‐ mung wieder aufgenommen», verkündete Europe 1. «Bei den Gouraud‐Werken hingegen dauert der Konflikt weiter an. Eine Abordnung von Gewerkschaftern wurde heute morgen im Arbeitsministerium empfangen, wo sie Monsieur Lhareng ihren Standpunkt dargelegt hat. Nun zur Dreierwette: Achtzehn Pferde werden heute nach‐ mittag in Longchamp an den Start gehen beim ersten Ren ...» Treuffais hatte abgeschaltet. Er fühlte sich äußerst unwohl. Fragte sich, wieso. Die Leber vielleicht. Den‐ noch trank er sein Bier aus und verließ dann erneut sein Appartement, um in einem nahegelegenen Bistro zu es‐ sen. Danach fühlte er sich nicht besser. Sein Unbehagen, so überlegte er, mußte einen intellektuellen Ursprung haben. Er kehrte nach Hause zurück, legte sich wütend in seinem Schlafzimmer aufs Bett und versuchte einzu‐ schlafen.
9 Auf dem Feldweg rumpelte der Cadillac fürchterlich und ließ Fontänen kalten Schlamms aufspritzen, die seine Seitenflächen beschmutzten. Er fuhr über die schlecht instand gehaltene Fahrbahn einer kleinen, als «Gemein‐ deweg» eingestuften Straße und hielt schließlich mit der Motorhaube unmittelbar vor einer Absperrung. Es war ein einfaches Gatter, ein paar mit Stacheldraht unterein‐ ander verbundene Pflöcke zwischen zwei Zaunpfosten. Buenaventura stieg aus dem Wagen, um sie zu öffnen. Er rollte die Absperrung zusammen und lehnte sie gegen einen der Pfosten. Der Cadillac fuhr auf das von grauem und gelbem Gras bedeckte Gelände, das das Gebäude umgab. Die Landschaft war hügelig und durch Rainhecken gegliedert. Der lehmige Boden von Wasser durchtränkt, auf den Kuppen und in den schmalen Tälern sah man kleine kahle Wälder, die sich schwarz vom schwärzli‐ chen Grün der Wiesen und grau vom grauen Himmel abhoben. Der Bauernhof hatte die Form eines flachen eckigen U: zwei kurze Seitenflügel im rechten Winkel zum
wuchtigen Haupthaus aus Steinmauern mit gräulichem Verputz, eingedeckt mit braunen Ziegeln. Das obere Ge‐ schoß war zu Mansarden ausgebaut, der linke Flügel bloß eine Garage und der rechte ein alter, nicht reno‐ vierter Stall. Das ganze Gehöft ziemlich klein. Dieses alleinstehende Gebäude überraschte etwas in dieser Ge‐ gend von zusammengewachsenen Weilern und Markt‐ dörfern. Da es recht alt war, hätte es sicherlich das Inter‐ esse der Ethnologen oder eines auf Besiedlung und Bo‐ dennutzung spezialisierten Geographen wecken können. Buenaventura und Épaulard war diese Frage völlig egal. Nachdem der Cadillac zwischen den beiden Seitenflü‐ geln angehalten hatte und Buenaventura die Absperrung wieder geschlossen hatte, gingen die beiden Männer auf die Front des Hauses mit der verglasten Tür zu. Der Katalane klopfte an die Scheibe. Keine Reaktion. Er probierte die Klinke, die Tür ging auf. Die beiden Män‐ ner betraten einen gefliesten Gemeinschaftsraum, ausge‐ stattet mit einem gigantischen Tisch, einem riesigen Kamin mit eisernem Rauchfang und einer sich zum Dachgeschoß hinaufschwingenden Treppe. «Cash!» rief Buenaventura. Keine Antwort. Die Hände in den Taschen seines feuchten Regenmantels machte Épaulard einen Rund‐ gang durch den Raum: annähernd fünfzig Quadratmeter, drei große Sprossenfenster mit kleinen Scheiben und Holzläden, eine Bank, vier Stühle, zwei durchgesessene Gobelinsessel neben der Feuerstelle. Unter der Treppe, die an der hinteren Wand schräg nach oben führte, zwei Türen, die eine führte zu einer Küche, die andere zum hinteren Hof des kleinen Bauernhauses; sie öffnete sich in diesem Augenblick: eine Erscheinung. Épaulard run‐ zelte die Stirn, weil das nicht richtig zusammenpaßte:
Was machte ein solches Mädchen bei diesem faulen Coup? Denn sie war schön, aber nicht nur das. Sie war zurechtgemacht. Hellblondes Haar bis auf die Schultern, eine entzückende Nase, Typ Hedy Lamarr, braun‐grüne Augen, hohe Wangenknochen. Das Make‐up war «bri‐ tish» inspiriert (Épaulard lächelte unwillkürlich, wäh‐ rend er die junge Frau bewundernd betrachtete); auf ihre Wangen hatte sie erst Rouge und dann etwas Puder auf‐ gelegt, ihr Mund war rot, sie war hinreißend zierlich ge‐ baut und trug eine schwarze Baumwollhose und ein rot‐ schillerndes Hemd mit schreiend bunten Längsstreifen in Rot, Rosa, Orange und Weiß. Buenaventura ging an Épaulard vorbei und küßte das Mädchen auf beide Wangen. «Salut, Cash.» «Monsieur?» sagte Cash zu Épaulard. Der fünfzigjährige Mann stopfte sich eine Française in den Mund, und seine Lippen zerdrückten den Filter. Dann stöberte er auf der Suche nach Streichhölzern in seinen Taschen herum. «André Épaulard», stellte Buenaventura vor. «Salut», sagte Cash. Sie drückte Épaulards Pranke. Ihre kleine Hand war kräftig. «Er ist bei dem Coup dabei», sagte der Katalane. «Dem Coup?» «Der Botschafter.» Cash zog die nachgezogenen Augenbrauen hoch. «Ich hab euch nicht erwartet und überhaupt nichts zu essen hier.» «Wir haben in Couzy Halt gemacht und Kartoffeln und Entrecotes im Auto. Können wir es in die Garage fahren?»
«Natürlich.» Der Katalane schaute fragend zu Épaulard. Der zog die Wagenschlüssel aus der Tasche seines Regenmantels und reichte sie ihm. Als er die Schlüssel nahm, sagte Buenaventura: «Also gut, ich bring die Fressalien mit rein», und ging durch die verglaste Tür hinaus. Épaulard zündete seine Zigarette an. Cash beobachtete ihn durch den Rauch. «Wollen Sie was trinken? Einen Scotch?» «Ja, gern.» Der ehemalige Partisan setzte sich auf die Bank, an den riesigen Tisch. Cash öffnete ein dunkles Büfett und holte daraus drei Gläser sowie eine dreiviertel volle Flasche hervor, einen Johnny Walker Red Label mit einer kleinen Wertmarke des Supermarktes Prisunic oben auf dem Schraubverschluß aus Weichmetall. «Ich geh Eis holen.» Sie verließ den Raum durch die Verbindungstür, die sie offen ließ. Épaulard konnte einen Blick in die Küche voller resopalbeschichteter Einbauschränke werfen. Das Mädchen kramte in einem großräumigen Kühlschrank herum und kehrte mit einer Schale Eiswürfel und einer großen Flasche Perrier zurück. Sie schenkte in alle drei Gläser etwas ein, tat jeweils zwei Eiswürfel hinzu und ließ sich Épaulard gegenüber nieder. Dieser betrachtete sie weiter bewundernd und fand sie erregend. Er war er‐ regt. «Sie gleichen Roger Vailland», bemerkte Cash. Das war eine kalte Dusche für Épaulard. Ich bin eine Persönlichkeit, die sich in keine Schublade stecken läßt, kein Typus, beteuerte sein Ich still und leise (während sein Es sich damit begnügte zu muhen); es ist nicht ein‐
fach, das zu behaupten, mit einer Fresse wie ich sie mir leiste und mit einer Laufbahn als zur Kanaille abge‐ drehter Aktivist und Exkiller, ich habe gelebt, fünfzig Jahre gut hinter mich gebracht. Seit achtzehn Monaten hatte er schon kein Mädchen mehr angefaßt, und das Schlimmste war, daß er bis zu diesem Augenblick auch nicht das Bedürfnis danach verspürt hatte. Er rief sich eine einfallsreiche kubanische Prostituierte ins Gedächt‐ nis und errötete dämlicherweise. Er drückte seine Fran‐ caise mit kurzen wütenden Stößen aus, rieb sie über den Boden des weiß‐goldenen Martini‐Aschenbechers, zog eine neue hervor und zündete sie sogleich an. «Keine Literatur, bitte», meinte er. «Mögen sie Roger Vailland nicht?» «Doch, ein wenig.» «Haben Sie ihn gekannt?» «Nein. Reden wir doch bitte von was anderem. Lite‐ ratur ist nicht interessant.» «Ich bin eine Figur wie die junge Frau aus bürgerli‐ chem Haus in Drôle de Jeu», insistierte Cash. «Was soll mich das Ihrer Meinung nach denn jucken? Oder wollen Sie vielleicht, daß ich Ihnen die Unschuld raube?» fragte Épaulard in einem Anfall äußerster Derb‐ heit. «Wissen Sie, ihr macht mir allmählich Sorgen», fügte er hinzu. «Ich hab überhaupt keine Lust, mit ir‐ gendwelchen Clowns an einer Geschichte wie ... wie der, um die es hier geht, zu arbeiten.» «Schon gut, schon gut.» «Zeigen Sie mir lieber mal die Räumlichkeiten», meinte Épaulard im Aufstehen, sein Glas in der Hand und seine Zigarette im Mund. Cash gehorchte. Die kleine Tür unter der Treppe, durch die sie herein‐
gekommen war, ging nach draußen auf mehrere Hektar grasbewachsener Obstgärten. An der Rückseite des Ho‐ fes standen Kaninchenställe aufgereiht, in denen die Ka‐ ninchen vor sich hin mummelten. «Ich hab sie gerade gefüttert, als Sie ankamen», er‐ klärte Cash. «Aber seien Sie unbesorgt. Langweilige und leichte Arbeiten sind nicht meine Art. Ich weiß sowieso nicht, was meine Art ist. Ich bin nicht viel mehr als eine kleine Nutte.» Quatsch du nur, dachte Épaulard. Der Ex‐FTPler er‐ kundete das Gelände. Die zahlreichen Bäume boten möglicherweise Schutz gegen einen gezielten Beschuß. Ja, spinn ich denn eigentlich? fragte sich Épaulard plötzlich. Wir sind doch nicht hier, um einer Belagerung standzuhalten. Falls es so weit kommt, sollten wir uns besser gleich ergeben, dann ist eh alles verloren. Er kehrte in den Gemeinschaftsraum zurück. Buenaventura hatte den Cadillac bereits in die Garage gefahren und war gerade mit zwei Einkaufsnetzen beladen, in denen sich die Kartoffeln und die Entrecotes befanden, wieder hereingekommen. «Ich mache eine Besichtigung», sagte Épaulard zu ihm. «Mach nur weiter. Ich zünd uns ein Feuer an.» Der Katalane schlürfte einen Schluck Scotch und marschierte zum Kamin. Er legte zunächst zusammen‐ geknülltes Zeitungspapier zwischen den Feuerböcken zurecht und machte dann etwas Kleinholz. Cash zeigte Épaulard die Küche. Ein Fenster zur Rückseite des Hau‐ ses; eine Verbindungstür zu einer nicht mehr genutzten Werkstatt voller Spinnweben. Das Mädchen schloß die Tür wieder, durchquerte er‐ neut den Gemeinschaftsraum und ging zur Treppe.
Épaulard folgte ihr. Während sie hochstiegen, schaute Épaulard auf ihren Arsch, herrlich klein und muskulös wie der Körper eines jungen Boxers. Am oberen Ende der Stufen ein Treppenabsatz, ein Flur mit Luken nach hinten hinaus, so schmal wie Schießscharten, und vier Türen. «Ein Bad und drei Schlafzimmer», sagte Cash. Épaulard warf einen Blick ins Bad, in das durch große matte Glasbausteine Tageslicht fiel, betrat dann nach‐ einander jedes der Zimmer, sie waren einander ziemlich ähnlich: weiße Wände, zwei kleine Mansardenfenster, ein französisches Doppelbett in dem einen, je zwei Ein‐ zelbetten in den beiden anderen, hier ein Regal, dort eine Kommode. Ganz in Gedanken hob der Fünfzigjährige ein ziemlich schmuddeliges und zerfleddertes broschier‐ tes Buch vom Boden auf. Es handelte von der «maoisti‐ schen Bewegung in Frankreich». «Du bist doch hoffentlich keine Maoistin?» «Ich bin doch nicht völlig bescheuert», antwortete Cash. Épaulard warf das Werk auf eines der Betten, trat wieder hinaus ins Dämmerlicht des Flurs, der nach Harz oder Wachs roch. Cash schloß die Tür hinter dem Mann und schob ihn sanft zur Treppe. «Das ist alles, was es hier zu sehen gibt. Der Bot‐ schafter sollte meiner Meinung nach in einem der Zim‐ mer mit zwei Betten untergebracht werden, zusammen mit einem von euch zur Bewachung. Das mit dem gro‐ ßen Bett werd ich behalten, es ist sowieso mein Schlaf‐ zimmer. Demnach bleiben noch zwei Betten für vier. So oder so, denk ich, muß unten jemand Wache halten, und wenn das zwei von euch machen, könnt ihr dabei Karten spielen.»
«Haben Sie denn nicht einen von uns zum Liebha‐ ber?» erkundigte sich Épaulard ganz nebenbei, während sie die Treppe wieder hinabstiegen. «Weder den einen noch die anderen. Soll ich Ihnen noch die Garage und die Scheune zeigen, oder sollen wir jetzt essen?» «Ist noch nicht fertig», bemerkte Buenaventura, der zugehört hatte, da Épaulard und die junge Frau gerade am Fuße der Treppe ankamen. «Das sehen wir gleich», sagte Épaulard. «Wir sollten uns erst etwas entspannen. Und endlich dieses Glas hier trinken.» Er hatte noch immer seinen Scotch in der Hand. Leerte ihn, schenkte sich einen weiteren ein, drückte seine Zigarette aus, zündete sich die nächste an, hustete heftig, setzte sich. Buenaventura fachte das Feuer an, kratzte an den bereits rotglühenden Scheiten. Der Kata‐ lane schob Kartoffeln in die Glut, bedeckte sie mit Asche, packte die Entrecotes aus und steckte sie in einen langstieligen Klapprost. «Mit dem Fleisch werd ich noch warten», sagte er. «Es dauert mindestens zwanzig, fünfundzwanzig Minuten, bis die Kartoffeln gut sind.» Nachdem er die Entrecotes im Gitter neben dem Feuer abgelegt hatte, kam er zum Tisch, setzte sich ans Ende und nahm einen Schluck. «Ist dir das Haus recht?» fragte er Épaulard. «Ja.» «Natürlich mußt du noch die Straßenkarten und all das studieren. Willst du die Karte sehen?» «Das kann warten.» «Ist irgendwas nicht in Ordnung?» Épaulard begann unvermittelt zu lachen.
«Die Nähe junger Mädchen bringt mich durcheinan‐ der.» «Ich bin kein junges Mädchen, ich bin eine Nutte», sagte Cash. «Übertreib nicht, Cash!» meinte der Katalane. «Ich bin eine ausgehaltene Frau», erwiderte sie. «Zum Beispiel dieses Haus hier. Dir könnt dem Freier auf Knien danken, der es mir zur Verfügung gestellt hat, während er den Winter in den Staaten damit verbringt, sich in den Techniken des Marketing und Racket, des Racketing und Market zu perfektionieren.» «Und sie hat sich nicht mal besteigen lassen», lachte Buenaventura. «Doch», sagte Cash. «Das hast du mir aber verheimlicht.» «Ja», meinte sie. «Aber ihr sollt trotzdem nicht glau‐ ben, ich war unnahbar», erklärte sie, während sie Épau‐ lard sehr kühl ansah. Der Fünfzigjährige wußte nicht, was er davon halten sollte. Sein Verstand machte es sich leicht, und er sagte sich, dieses Mädchen ist eine Schlampe, und er würde sie bumsen, wann und wo es ihm paßte, auf einem Heu‐ haufen. Er leerte sein Glas, senkte den Blick auf den Holztisch. «Kann man mal erfahren, warum Sie eigentlich bei so einem krummen Ding wie diesem hier mitmachen?» Cash verzog ironisch den Mund. «Ich bin für die universelle Harmonie», antwortete sie, «und für das Ende des jämmerlichen zivilisierten Staates. Hinter meiner kalten und geschminkten Fas‐ sade verbergen sich und lodern die Flammen des brennendsten Hasses auf den technobürokratischen Ka‐ pitalismus, dessen Möse die Gestalt einer Wahlurne
und die Fresse die eines Schwanzes hat. Soll ich fort‐ fahren?» Épaulard starrte sie mit großen Augen an. «Verausgab dich nicht, Genosse», sagte Buenaventura. «Sie ist die große Rätselhafte, diese Nutte.»
10 Treuffais fuhr aus dem Schlaf hoch, weil das Telefon klingelte. Er stand auf und hob ab. «Marcel Treuffais am Apparat.» «Buenaventura Diaz.» «Wo bist du?» «Wir sind eben zurückgekommen und jetzt bei mei‐ nem Kumpel, er meint, alles war bestens, er wird versu‐ chen, auch das Problem mit den Autos zu regeln, und wenn das schnell gelöst ist, können wir die Sache für diesen Freitag ins Auge fassen.» «Diesen Freitag schon!» «Tja, was glaubst du denn? Und wieso eigentlich nicht?» «Wir haben aber noch nicht ... Na ja, doch, doch, gut», entgegnete Treuffais, während er die Haare, die ihm in die Augen fielen, zurückstrich. «Wir sehen uns dann morgen abend bei dir. Sag den anderen Bescheid.» «Ja.» «Na dann, salut. André und ich haben noch jede Men‐ ge zu klären.» «Ist gut.»
Der Katalane legte auf und drehte sich zu Épaulard um. Dieser hatte an seinem Schreibtisch des angeblichen Rechtsberaters Platz genommen. Die Tischplatte hatte er völlig freigeräumt, einen der Kittel zum Schutz ausge‐ breitet, und nun baute er die Pistolen auseinander, um sich zu vergewissern, daß sie in einem einwandfreien Zustand waren. «Väterchen Treuffais ist irgendwie eigenartig, finde ich», sagte Buenaventura. Épaulard hob den Blick. «Hat er Angst?» «Weiß ich nicht. Ist auch nicht das Problem. Du wirst dich schieflachen, aber ich bin mir nicht ganz sicher, ob er wirklich mit allem einverstanden ist, politisch gese‐ hen.» «Warum soll ich mich darüber schieflachen?» «Du bist doch auch nicht so ganz mit allem einver‐ standen, politisch gesehen», meinte Buenaventura. «Und trotzdem steigst du gerade voll in den Coup ein. Wie ich schon gesagt habe, aus reiner Verzweiflung.» «Geh mir nicht auf die Nerven, Kleiner. Kann man auf Treuffais zählen, ja oder nein?» «Er ist mein Freund», erwiderte Buenaventura. «Das hab ich dich nicht gefragt.» «Das antworte ich dir aber.» «In dem Fall erledigen wir die Sache eben zu viert», sagte Épaulard. «Du machst Witze.» «Absolut nicht.» «Treuffais ist aber doch auf unserer Seite!» entgeg‐ nete Buenaventura. «Er hat den wesentlichen Teil des Manifests verfaßt. Er ... Nein, nein, also wirklich, ver‐ dammte Scheiße, du machst Witze.»
Der Katalane hatte begonnen, mit großen Schritten im Büro auf und ab zu gehen, seine schwarzen Strähnen fielen ihm in die Augen, während sein Mund sich zu ei‐ nem nervösen Grinsen verzerrte und die Zähne entblöß‐ te. Schließlich ließ er sich in einen Ledersessel fallen. Im selben Augenblick klingelte das Telefon. Épaulard hob ab. «Kanzlei Épaulard, Rechtsberater», verkündete er und horchte dann, verzog mißmutig den Mund und reichte Buenaventura den Hörer. «Ist für dich», sagte er, «Treuf‐ fais.» «Hallo?» «Buen, ich muß dich sehen.» «Warum?» «Ich muß mit dir reden. Unter vier Augen, bitte.» «Dann heute abend. Kommst du bei mir vorbei?» «Ins Hotel? Wenn du willst. Um wieviel Uhr?» «Um acht?» «Gut. Wir gehen dann zusammen was essen. Na ja, vielleicht.» «Aha, ‹vielleicht›?» erwiderte Buenaventura. «So weit sind wir also gekommen? Naja, einverstanden. Um acht also.» «Salut.» Der Katalane antwortete nicht. Treuffais blieb in der Leitung, Buenaventura hörte ihn atmen. «Hallo? Bist du noch dran?» fragte er. Buenaventura legte auf. Épaulard blickte ihn scharf an. «Steigt er aus?» «Hab keine Ahnung. Kann schon sein. Ich werd ihn später sehen.» «Gut», sagte Épaulard. «Reden wir morgen drüber.
Ich verzieh mich jetzt. Ich muß noch nach Ivry, wegen der Munition und der Autos. Falls dein Kumpel ab‐ springt, dann vergiß nicht, Meyer und D’Arcy zu kon‐ taktieren und ihnen zu sagen, daß wir uns morgen abend hier treffen.» Schnell setzte der Fünfzigjährige die halbautomati‐ schen Waffen wieder zusammen, wickelte sie abermals in die Kittel, rollte das Ganze zu einer Art Bündel und verstaute es in dem khakifarbenen Metallschrank. Die beiden Männer genehmigten sich noch einen Wodka, verließen das Büro, und dann ging jeder seiner Wege.
11 Noch am selben Abend (Montag) verkaufte Épaulard seinen Cadillac und erhielt im Tausch dafür zweihun‐ dertfünfzig Patronen – 32er ACP, die die Manhurin ohne Schwierigkeiten schlucken würden –, sowie das Ver‐ sprechen, am Freitag gegen vierzehn Uhr zusammen mit einer nicht allzu falschen Zulassung einen alten grünen Jaguar zu bekommen, der zwar völlig verrottet war, aber noch ein paar hundert Kilometer halten würde. Praktisch veranlagt, bestand Épaulard noch auf ein paar zusätzli‐ chen Kanistern Öl, und da die Handbremse selbstver‐ ständlich total hinüber war, nahm er sich vor, sich zudem mit einem anständigen Holzkeil auszurüsten, für den Fall, daß er in die Verlegenheit käme, an einem Hang parken zu müssen. Er nutzte den Besuch in Ivry und seine Verhandlungen dort, um in einer Kaschemme ein ausgezeichnetes Mahl einzunehmen und mit dem Zi‐ geuner, mit dem er wegen des Jaguars verhandelt hatte, die guten alten Zeiten am Mittelmeer heraufzubeschwö‐ ren, die Schießereien mit den pistoleros der französi‐ schen Internationale SFIO und den ehemaligen Gestapo‐ schergen, die beim Nachrichtendienst DGER unterge‐
taucht waren – jede Menge Tote und jede Menge Le‐ bende. Schließlich kehrte er tüchtig besoffen und ziem‐ lich guter Laune nach Hause zurück. Unterdessen trafen sich Buenaventura und Treuffais wieder im Zimmer des Katalanen. Treuffais verkündete seine Absicht, am Coup nicht mehr teilnehmen zu wol‐ len, und nannte seine Beweggründe. Daraufhin gab es eine zwar recht kurze, aber scharfe und entmutigende Aussprache; und danach waren die beiden Freunde keine Freunde mehr und gingen auch nicht mehr zusammen essen. Am späten Abend gab Buenaventura D’Arcy Be‐ scheid, daß man am nächsten Tag bei Épaulard zusam‐ menkommen würde, und bat ihn noch, deswegen bei Meyer vorbeizugehen, der kein Telefon hatte. Am Dienstag morgen traf sich Buenaventura mit Épaulard wieder in dessen Wohnung und informierte ihn über Treuffais’ Ausstieg. Er erklärte ihm, das Zerwürfnis sei theoretischer Natur, infolgedessen habe man von Treuffais auch nichts zu befürchten, er sei ein Freund, den man nicht verdächtigen könne, mit der Polizei in Verbindung zu stehen. Er könne schweigen. «Das gefällt mir nicht», erklärte Épaulard. «Ich verbürge mich für Treuffais’ Loyalität», erwiderte Buenaventura etwas steif. «Ich habe mindestens genauso viel Vertrauen zu ihm wie zu dir.» Épaulard dachte einen Augenblick nach. «Gut», meinte er dann. Am Dienstag abend kamen Meyer, D’Arcy, Buena‐ ventura und Épaulard im Büro des letzteren zusammen. Meyer und D’Arcy wurden über Treuffais’ Ausstieg unterrichtet. Meyer enthielt sich jeder Bemerkung. D’Arcy machte abfällige Bemerkungen, fügte jedoch hinzu, ihm sei es ziemlich scheißegal. Alle stimmten mit
dem Katalanen überein, daß darin kein zusätzliches Ri‐ siko zu sehen sei. Anschließend entschieden sie, soweit sie es überhaupt konnten, wie die Dinge bei der Entführung des Bot‐ schafters Poindexter sowie in den Tagen danach ablau‐ fen sollten. Hier darf angemerkt werden, daß besagter Poindexter zum selben Zeitpunkt einer Aufführung von Tristan und Isolde beiwohnte, zu der er sich im Anschluß an einen Empfang in den Salons des Hotels George V begeben hatte. Der Mann war groß, sein Schädel spitz und kahl, die Augen wässrig blau hinter einer Brille mit goldenem Gestell. Er trug fortwährend einen leicht erstaunten, auf‐ richtig interessierten und gepflegt amüsierten Gesichts‐ ausdruck zur Schau. Wagners Musik verschaffte dieser Physiognomie eine leichte Wandlung. Das Interesse er‐ rang die Oberhand über das Erstaunen, und das Amü‐ sierte verschwand. All dies war sorgfältig dosiert. Die Frau des Botschafters saß an seiner Seite, eine große Person mit dürrem Hals und Pferdegebiß, im Milieu der dauerhaft Unbefriedigten war man sich einig, sie schön und rassig zu finden. Ständig langweilte sie sich sehr, war sich dessen aber schon seit mehr als vierzig Jahren nicht mehr bewußt. Die beiden bildeten ein distinguier‐ tes Paar. Sie schliefen in getrennten Zimmern und machten einmal am Tag Aa. Abgesehen von ihnen war die Loge leer, doch hinter der Tür standen zwei junge blonde Bullen, entschlossen, körperlich gut bestückt und vom FBI und der US‐Geheimdienstbehörde NSA ausge‐ bildet, darüber hinaus waren da noch zwei weitere in ei‐ nem nahe der Oper parkenden Citroen DS21, und ein dritter in Chauffeursmontur rauchte neben dem offiziel‐ len Dienst‐Lincoln eine Pall Mall.
In Épaulards Büro ließ Buenaventura aus amerikani‐ schen Zeitschriften herausgeschnittene Fotografien von Poindexter herumgehen, einige sogar in Farbe. Bald dar‐ auf endete das Treffen. Am Mittwoch blieben die Terroristen zu Hause. Un‐ terdessen holte Véronique Cash ihren verrosteten Dau‐ phine aus der Garage des kleinen Bauernhofs und be‐ gann mit den Besorgungen. Hier kaufte sie einen Karton Bier und zwei Kartons Nudeln, dort fünf Kilo Kartoffeln und einen ganzen Schinken, woanders Wein, Fleisch‐ konserven, wieder woanders dies und jenes und so wei‐ ter. Sie kehrte in regelmäßigen Abständen zum Abladen auf den Hof zurück. Die leicht verderblichen Lebens‐ mittel stapelten sich im Gefrierschrank, der Rest fand seinen Platz im ehemaligen Stall. Donnerstag machte niemand irgendwas. Treuffais lag langgestreckt in seinem Schlafzimmer, rauchte ohne Unterlaß, der Raum stank nach kaltem Tabakqualm, nach warmem Tabakqualm, nach schmutzigen Füßen; der junge Mann hatte einen Dreitagebart. Er kaute un‐ ablässig an den Nägeln. Versuchte zu lesen, doch es gelang ihm nicht. Er stand einmal auf, um Buenaventura anzurufen, hängte aber wieder ein, noch bevor er die Nummer des Hotels Longuevache zu Ende gewählt hatte. Am Freitag kidnappte das anarcho‐terroristische Kom‐ mando den Botschafter der Vereinigten Staaten.
12 Um vierzehn Uhr hatte Épaulard den grünen Jaguar und dessen Papiere in Ivry entgegengenommen. Die Karre stammte aus dem Jahr 1954. Die Federung war grauen‐ voll, die nach und nach aus den aufeinanderfolgenden Batterien ausgetretene Säure hatte in die Blechwand zwischen Motor‐ und Innenraum Löcher gefressen. Épaulard spürte einen eisigen Zug an den Knien. Er fuhr zurück nach Paris und traf seine Genossen am Place d’Italic Alle stiegen ein. Épaulard überließ D’Arcy das Steuer. Die Hände des Alkoholikers zitterten. Sie legten sich auf das Lenkrad und hörten auf zu zittern. Der Wa‐ gen fuhr gemächlich zurück in Richtung Porte d’Italie. D’Arcy machte sich mit dem Wagen vertraut. Die vier Männer rauchten unablässig und warfen ihre Kippen auf den Fahrzeugboden. D’Arcy fädelte sich auf die Auto‐ route du Sud ein, wurde kühner, jagte die Karre hoch. Knapp unter hundertzwanzig Stundenkilometer begann sie zu schwimmen und zu ruckeln. D’Arcy stieß ein Knurren hervor, klammerte sich ans Lenkrad, beschleu‐ nigte weiter, doch die Vibrationen wurden fürchterlich, das Hinterteil brach nach allen Seiten aus, schlimmer als bei Sophia Loren, der Fahrer nahm den Fuß vom Gas,
ließ den Wagen wieder auf hundert zurückfallen, wischte sich mit dem Ärmel über die Stirn. «Dieser Scheißkerl von Pepito», bemerkte Épaulard, «der hat mir doch versprochen, das Ding würde hundert‐ vierzig schaffen.» «Bei den Straßen, die wir benutzen», wandte D’Arcy ein, «würd sich sowieso keine Gelegenheit dazu ergeben. Wird auch so gehen.» Er verließ die Autobahn in Longjumeau und fuhr über alle möglichen kleinen Straßen und Gassen nach Paris zurück, um das Verhalten des Autos in Kurven, beim Bremsen und auf Kopfsteinpflaster zu testen. Schließ‐ lich gelangten sie über die Porte d’Orléans wieder nach Paris. «Zwanzig vor fünf», stellte Épaulard fest. «Beeilen wir uns, bevor die Straßen dicht sind.» Um fünf Uhr nachmittags parkte der Jaguar ganz brav im dritten Untergeschoß der Tiefgarage Champs‐Ely‐ sees‐George‐V ein. Man schloß die Türen ab, man nahm den Aufzug, um das Parkhaus zu verlassen, dann die Metro bis zur Station Concorde und stieg schließlich hinauf in Épaulards Wohnung, um dort zu warten. «Das ist praktisch hier bei dir», bemerkte D’Arcy. «Nur ein paar Schritte von der Botschaft entfernt.» Sie machten es sich im Büro bequem, um mit Haus‐ haltszündhölzern statt Jetons fuck‐you‐buddy zu spielen. Je mehr Zeit verstrich, desto nervöser wurden die Spie‐ ler. D’Arcy und Meyer verließen am Ende sogar den Tisch und ließen sich in Épaulards Schlafzimmer nieder. Der Alkoholiker verharrte reglos, schweigsam, rau‐ chend, müßig, mit zitternden Händen, wogegen Meyer sich, auf einen Ellbogen gestützt, auf dem Bett aus‐ streckte und versuchte, ein Buch mit dem wenig ermuti‐
genden Titel Den Toten ist’s egal von Jonathan Latimer zu lesen. Épaulard und der Katalane blieben derweil im Büro und spielten Treibsand, eine hundsgemeine Poker‐ variante, bei der die Karte in der Hand bei jeder Runde einen anderen Wert bekommt und zum Joker wird, so‐ fern sie mit der aufgedeckten Karte zusammenpaßt. Buenaventura gewann ständig. «Du übertreibst», behauptete Épaulard. «Poker ist mein Broterwerb», entgegnete der Katala‐ ne. «Meine einzige redliche Einkommensquelle.» «Das nennst du redlich!» Buenaventura grinste. «Worüber beklagst du dich? Wir spielen doch nicht um Knete.» D’Arcy kam aus dem Schlafzimmer. «Es ist sieben, wir könnten vielleicht was essen ge‐ hen.» «Wenn du die Meinung des Fachmanns wissen willst, dann gehen wir jetzt nicht essen. Um ‘nen leeren Bauch zu haben, falls wir ‘ne Kugel reinbekommen sollten.» «Dieser Kerl ist wirklich aufbauend», meinte D’Arcy. «Zum Sehen», sagte Épaulard zu Buenaventura, indem er den Haufen Streichhölzer ausglich. «Drei Buben.» «Scheiße.» Der Katalane sackte die Zündhölzer ein. Als er merk‐ te, daß man ihn nicht mehr beachtete, kehrte D’Arcy murrend ins Schlafzimmer zurück. Etwas später war es acht Uhr abends, und Épaulard kündigte an, daß es Zeit sei, an die Arbeit zu gehen. Mit einem Kombischrauben‐ zieher und einer Reihe von Wechseleinsätzen ausgerü‐ stet, verließ D’Arcy die Wohnung. Am Ende der Straße machte er noch mal Halt, um sich in einer Kneipe einen
doppelten Ricard zu gönnen, ging dann zu Fuß zum Pla‐ ce de la Concorde und von dort weiter in Richtung Etoile. Dabei prüfte er jedes parkende Auto. In der Nähe des Petit Palais entdeckte er einen Consul Kombi mit ei‐ ner offenen Seitenscheibe. Er drang in den Wagen ein und brauchte gut zehn Minuten, bis er die Zündung kurzgeschlossen und das Lenkradschloß geknackt hatte. Er fuhr los und stürzte sich in den noch immer recht massiven Verkehr, machte einen Umweg, um an der Rue de Rivoli wieder in die ost‐westliche Richtung biegen zu können, fand einen Parkplatz, schüttete sich noch einen doppelten Ricard rein und stieg wieder hinauf zu Epau‐ lard. «Wir sollten uns beeilen», riet er. «Ich steh auf einem Taxistandplatz.» «Dämliches Arschloch», sagte Épaulard und reichte ihm eine halbautomatische Pistole, die der Säufer ein‐ steckte. Die anderen waren startklar – Knarre in der Tasche, Turnschuhe an den Füßen, außer Épaulard, der Leder‐ schuhe trug, und allesamt in Pulli und Jackett. Sie ha‐ steten die Treppen hinunter, erreichten die Rue de Rivo‐ li, fröstelten in der kalten Luft, stiegen in den Consul und rasten zum Étoile. Einundzwanzig Uhr zehn. Place de d’ Étoile, fließender Verkehr, ein dünner eisi‐ ger Nieselregen, sie bogen ab, der Consul schwenkte in die Avenue Kleber. Épaulard zählte die Ampeln. «Nächste rechts.» «Ich weiß», sagte D’Arcy. Mit zusammengekniffenen Augen erforschte Épaulard die parkenden Fahrzeuge und die Bürgersteige. «Hier ist es! Stopp!»
Der Consul fuhr über die Kreuzung, blinkte und blieb auf dem Fußgängerüberweg stehen. Épaulard und Bue‐ naventura stiegen aus. «In exakt fünf Minuten geht Meyer rein», sagte Épaulard. «Fünf Minuten darauf hältst du mit dem Wa‐ gen in der zweiten Reihe vor dem Puff.» «Wissen wir», sagte D’Arcy. Die Tür knallte zu. Der Consul startete erneut zu einer kurzen Rundfahrt, die ihn genau fünf Minuten später wieder an dieselbe Stelle zurückbringen sollte. Épaulard und der Katalane bogen in die Straße des Bordells ein. Die erste Tür, zu der drei Stufen hinaufführten, war aus braun lackiertem Holz und mit einer Klappe versehen. Winzige Lettern in vergoldetem Metall zeigten kaum er‐ kennbar an: CLUB ZERO . Épaulard klingelte kurz und wartete. Fünfzig Meter von ihm entfernt, in dem untadelig längs zum Gehsteig geparkten Triumph Dolomite, den Botschafter Poindexter für seine wöchentlichen Eska‐ paden benutzte, unterbrach Agent Bunker die Lektüre von Ramparts, um die beiden Männer, die dort drüben an der Eingangstür des Bordells erschienen waren, gründlich zu betrachten. Er bemerkte, daß der eine von ihnen Turnschuhe trug. Mit dem Ellbogen stupste der Sicherheitsbeamte Bunker den neben ihm dösenden Agent Lewis an und wies ihn mit dem Kinn auf den Ge‐ genstand seines Interesses hin. «Ein alter Beau und eine kleine Tunte», vermutete Agent Lewis. Die Klappe in der Tür ging vor dem Gesicht einer gut frisierten Dunkelhäutigen mit geschminkten Augen und Schmollmund auf. «Messieurs?»
«Ich bin schon seit etlicher Zeit nicht mehr hier gewe‐ sen», flüsterte Épaulard mit weltmännischer Gewandt‐ heit. «Wir kennen uns nicht, und ich nehme an, Sie wer‐ den mir nicht bloß auf mein ehrliches Gesicht hin Einlaß gewähren. Ich bin zwar kein Mitglied des Clubs, verfüge aber über die Empfehlung von Freunden, deren Namen Madame Gabrielle sicherlich wiedererkennt.» Als Beispiel nannte er den kindischen Spitznamen, den ein Senator in den fünfziger Jahren verwendet hatte, wenn er das Etablissement besuchte. «Einen kleinen Augenblick, bitte, Monsieur», sagte die Dunkelhäutige, und die Klappe schloß sich wie‐ der. Épaulard schaute auf seine Armbanduhr. Einhundert‐ undzehn Sekunden waren verstrichen. Es verstrichen weitere dreißig, dann ging die Tür auf; eine Dame im Chanel‐Kostüm stand im Türrahmen, die Dunkelhäutige ein wenig dahinter – die Stoffvorhänge hinter den beiden Frauen waren zugezogen. «Ihr Gesicht sagt mir gar nichts», erklärte Madame Gabrielle. «Da Sie aber ‹Lämmchen› kennen ... Darf ich Sie an die Bar einladen, Monsieur ...?» «Lucas», erwiderte Épaulard. «Und dies hier ist Geor‐ ges, mein Schützling.» Buenaventura küßte der Dame die Hand, was sie nur in Maßen entzückte. «Gut, gut», sagte Madame. «Treten Sie ein.» Man ging durch die Vorhänge und fand sich plötzlich in einem falschen Louis‐quinze‐Vestibül wieder, in dem sich eine Wendeltreppe nach oben schwang. Madame Gabrielle lotste die beiden Neuankömmlinge zu einer Tür im Erdgeschoß. Man gelangte in einen Barbereich mit gedämpften Lichtern, ebenfalls nachgemachtes
Louis‐quinze, mit Lilien in Vasen und einem roten Tele‐ fon auf der Theke. Hinter der Theke stand ein Barmann in weißem Jackett, groß und kräftig, mit mehr als nur beginnender Glatze und buschigem Schnurrbart, er sah dem Saxophonisten Guy Lafitte ähnlich. Vor der Theke thronte ein großer, blonder junger Mann mit Bürsten‐ schnitt auf einem der Hocker und las, einen Chartreuse vor sich, The Greening of America in der Taschenbuch‐ ausgabe. Zwei Minuten waren vergangen, seit Épaulard und Buenaventura aus dem Consul gestiegen waren. Madame Gabrielle maß den Katalanen von oben bis un‐ ten. Seine schäbige Kleidung erweckte ihren Argwohn. «Sie scheinen die Einfachheit meines Schützlings, ja seine herbe Schlichtheit, möchte ich beinahe sagen, zu schätzen», säuselte Épaulard. Die Puffmutter schaute ihn von der Seite an. Das war ein echter Mann von Welt! Sie entspannte sich. «Das erste Glas geht auf mich», sagte sie und schickte sich schon an, hinter die Theke zu wechseln, als Agent Ricardo unauffällig den Blick von seinem pocket‐book hob, um die Ankommenden in Augenschein zu nehmen, die Beule in Buenaventuras Jackentasche bemerkte, so‐ fort zur Ansicht kam, daß der junge Mann eine Waffe trug, und mit der Hand in sein Jackett griff. Épaulard packte ein Bein des Hockers und kippte ihn um. Agent Ricardo schoß durch die Tasche, die Kugel bohrte sich in die Decke, die durch den Stoff gedämpfte Detonation konnte mit dem Knall eines Champagner‐ korkens verwechselt werden. Épaulard schlug den Ame‐ rikaner sofort mit einem Hieb seines Pistolengriffs auf den Schädel nieder. Im gleichen Augenblick hatte Bue‐ naventura seine eigene 7,65 gezückt, deren Lauf sich nun auf den Barmann richtete.
«Versuch nur ja nicht, unter die Theke abzutauchen», riet der Katalane. «Dreh dich um, leg die Hände an die Flaschen, mit geschlossenen Fäusten! Laß die Finger schön zusammen.» Der Barmann gehorchte. Madame Gabrielle blieb völlig reglos stehen. «Hier gibt’s kein Geld», sagte sie nur. «Sie sind eine Lügnerin, werte kleine Dame», entgeg‐ nete ihr Épaulard, während er rasch zur Eingangstür der Bar zurückwich, und als das Zimmermädchen, vom Lärm angelockt, erschien, verpaßte er diesem einen Fausthieb auf die Kinnlade, und das Mädchen fiel um wie ein nasser Sack. Zweieinhalb Minuten. Épaulard wich noch weiter zurück, trat über die Schwelle der Bar, streckte die Hand aus, riß die Stoff‐ vorhänge vor dem Eingang herunter und kam in den Raum zurück. Dort zerriß er die Vorhänge. Schon bald fanden sich die Dunkelhäutige, Agent Ricardo und der Barmann (vorsorglich mit einem Handkantenschlag in den Nacken betäubt) gefesselt und geknebelt wieder. Nun wandte er sich der Puffmutter zu. Dreieinhalb Minuten. «Wie viele Personen befinden sich im Augenblick im Innern Ihres Palastes?» Die Kupplerin antwortete ihm nicht. Épaulard packte das Messer, das der Barmann normalerweise benutz‐ te, um Zitronen zu schneiden. Und näherte sich der Frau. «Ich hab’s eilig. Antworten Sie mir, oder ich verbreitere Ihnen den Mund mit diesem Messer.» «Drei Kunden und drei Mädchen», sagte die Puff‐ mutter hastig. «Es ist ja noch sehr früh», erklärte sie.
«Erwartest du noch mehr?» «Ja.» «Wann?» Die Kupplerin starrte auf das Messer. «Die werden gleich eintreffen. Du solltest besser auf‐ geben, mein Junge.» «In welchem Zimmer befindet sich Botschafter Poin‐ dexter?» «Seid ihr etwa wegen dem gekommen? Seid ihr Linksradikale?» «Halt’s Maul. In welchem Zimmer?» «Im Blauen», seufzte die Puffmutter. «Und wo genau liegt dieses Blaue Zimmer?» Vier Minuten. «Erster Stock. Zweite Tür rechts.» «Gut», sagte Épaulard, während er die Überreste der Vorhänge zusammenklaubte. «Ihr werdet nicht davonkommen», sagte die Puffmut‐ ter. «Ich genieße Schutz. Niemand kann mir so was an‐ tun und davonkommen, Dir würdet besser daran tun ... Oh, ich bitte Sie, knebeln Sie mich nicht, ich habe es doch so mit den Nerven, ich habe Angst zu ersticken.» «Halt’s Maul.» Épaulard verschnürte die Frau, umwickelte ihr den Kopf mit den Stoffen, machte Knoten. Sie wimmerte undeutlich. Fünf Minuten. Meyer klingelte an der Tür des Freudenhauses. In dem Triumph Dolomite beugte sich Agent Bunker nach vorn. «Da ist schon wieder so ein junger Typ in Turnschu‐ hen», stellte er mit Nachdruck fest. «Wir sollten besser mal nachsehen. Das stinkt.»
«O Hölle», fluchte Agent Lewis beiläufig und betä‐ tigte die Zündung. Drüben öffnete sich die Tür, Meyer trat ein, Épaulard empfing ihn. «Du gehst mit mir hoch», erklärte der Ex‐FTPler. «Buen bleibt in der Bar und paßt auf.» Gegenüber dem Freudenhaus, in der ersten Etage der Nummer 2, hockte ein blasser Ganove namens Bou‐ boune, sogenanntes «überzähliges» und demnach inof‐ fizielles Mitglied einer internen Abspaltung der Aus‐ landsaufklärung und Spionageabwehr SDECE, und lang‐ weilte sich neben seiner Sankyo‐Kamera und seiner Li‐ terflasche Qualitätswein Corbières zu Tode. Gleichwohl bemerkte er, daß der Triumph des amerikanischen Bot‐ schafters ausscherte und langsam bis auf Höhe des Club Zero fuhr. Im ersten Stock des Puffs, an der zweiten Tür rechts, platzten Épaulard und Meyer, die Waffe in der Faust, lautlos in das Blaue Zimmer. Botschafter Poindexter schreckte äußerst überrascht hoch. Er war noch nicht zum Akt übergegangen. Vielmehr saß er völlig ange‐ kleidet, mit blaurotem Gesicht, einen erlesenen Wein‐ brand in der Hand in einem Sessel und schaute seinem fast völlig nackten Lieblingscallgirl zu, wie es langsam seine Strümpfe herunterstreifte. Es handelte sich um ei‐ ne wundervolle milchweiße Blondine mit hohlen Wan‐ genund einem ziemlich verächtlichen Gesichtsausdruck. Sie erstickte einen kleinen Schrei und verhielt sich ruhig, die Augenbrauen hochgezogen. Meyer richtete seine Waffe auf Poindexter. «Keiner rührt sich!» befahl Épaulard halblaut. Er trat hinter das Mädchen. «Keine Sorge, wir sind weder Gangster noch Sadi‐
sten», flüsterte er. «Entspann dich, ich will dich nur be‐ wußtlos schlagen, aber davon wird man später nichts se‐ hen.» Das Mädchen entspannte sich mit philosophischer Gelassenheit. Épaulard versetzte ihm einen Handkanten‐ schlag in den Nacken und fing es auf, als es nach vorn fiel, berührte dabei mit Vergnügen die feste Brust der jungen Frau. Er legte sie aufs Bett, fesselte sie mit ihren Kleidungsstücken, stopfte ihr einen Strumpf zwischen die Zähne und stülpte ihr den anderen über den Kopf. «Gnade!» rief Poindexter. «Halt’s Maul. Wir werden dir nichts tun, wenn du ge‐ horchst. Verstehst du Französisch?» «Ja, ja, natürlich.» Der Botschafter sprach zittrig. «Gnade», wiederholte er. «Ich habe eine Frau.» «Halt’s Maul. Steh auf. Meyer, geh vor ihm raus. Und du folgst ihm. Los, mach schon. Gehorch, dann wird al‐ les gut gehn. Wenn du nicht gehorchst, töte ich dich. Ist das klar?» «Ja. Gnade.» «Halt’s Maul. Los jetzt. Schneller.» Acht Minuten. Die Gruppe erreichte das Erdgeschoß. Plötzlich klin‐ gelte es an der Tür. Épaulard stieß Poindexter in die Bar. «Meyer, paß auf ihn auf. Reiß die Telefonkabel raus. Ich geh aufmachen. Bleib du hier, Buen.» Die halbautomatische Pistole in seiner Rechten hin‐ term Rücken verborgen, trat Épaulard zur Tür und öff‐ nete sie einen Spalt. Agent Bunker stand vor der Schwelle. Er musterte Épaulard. «Monsieur?» fragte der Fünfzigjährige. «Würden Sie Madame Gabrielle bitte ausrichten, daß
wir eine äußerst dringende Nachricht für den Amerika‐ ner haben», sagte Agent Bunker mit starkem Akzent. «Sehr gern», antwortete Épaulard. (Über Agent Bun‐ kers Schulter hinweg sah er den in zweiter Reihe ste‐ henden Triumph mit einem Mann am Steuer und laufendem Motor.) «Treten Sie doch ein, Sie werden einen Augenblick an der Bar warten müssen.» Acht Minuten vierzig. D’Arcy beendete gerade seine zweite Rundfahrt etwas zu früh. Er hielt auf dem Fußgängerüberweg, an der Ecke Avenue Kleber. Von dort konnte er den Eingang des Freudenhauses sehen, die halbgeöffnete Tür, den Mann auf den Stufen. Er runzelte die Stirn. «Nein, danke», sagte Bunker und tat dabei einen Schritt zurück. Épaulard ging einfach das Risiko ein, daß sich ein Schuß lösen könnte, und schlug dem Mann brutal mit dem Lauf seiner Waffe in die Magengrube. Bunker stöhnte schrecklich auf und kippte nach hinten. Épaulard wollte ihn noch am Kragen packen, um ihn ins Haus zu ziehen, wie wenn nichts geschehen wäre, doch dazu blieb ihm keine Zeit, seine Hand schloß sich um die ge‐ streifte Krawatte des Sicherheitsbeamten, der aber trotz‐ dem weiter nach hinten kippte, noch einen Augenblick am Ende seiner Krawatte baumelte, bis Épaulard losließ und Bunker mit dem Rücken auf den Bürgersteig fiel und seinen Hut verlor. D’Arcy startete den Consul Kombi und schoß auf das Haus zu. Der Ganove Bouboune griff nach seiner Kamera. «Los, raus hier! Raus! Raus!» schrie Épaulard seinen Gefährten zu, denn er sah den Consul heranfahren; gleichzeitig stieg Agent Lewis zur Straßenseite hin aus
seinem Triumph und richtete seine S & W Bodyguard Airweight auf den Ex‐FTPler. Épaulard feuerte sofort los. Die Windschutzscheibe des Triumphs zersplitterte. Agent Lewis hechtete auf die Fahrbahn. D’Arcy kam ge‐ rade angefahren und statt zu stoppen, trat er heftig aufs Gaspedal und überrollte den Mann. «Unauffällig kann man das nicht gerade nennen», meinte er, als er den Consul abbremste. Der Ganove Bouboune hatte seine Kamera in Gang gesetzt und filmte aufgeregt die Straße. Beim Knall des Schusses gingen an den Vorderfronten der Wohnhäuser ein paar Fenster auf, zwei oder drei. Und mit lautem Motorengeheul tauchten am anderen Ende der Straße, aus einer Toreinfahrt, zwei Motorrad‐ polizisten auf und rasten auf den Puff zu, aus dem Mey‐ er, Buenaventura und Épaulard, den vor Angst stockstei‐ fen Botschafter mitschleifend, gerade herausstürzten. «Hau ab!» schrie Épaulard D’Arcy zu, denn er hatte eben beschlossen, sich zu ergeben, solange noch Zeit dazu war, solange noch kein Menschenleben zu bekla‐ gen war (wie er hoffte). «Leck mich am Arsch, alte Oma!» entgegnete D’Arcy, während er bereits aus dem Consul sprang und das Feuer auf die beiden Streifenpolizisten eröffnete. Der erste Schuß ging zu hoch. Die zweite Kugel zer‐ trümmerte die Schulter des ersten Flics, der mitsamt sei‐ ner Maschine geräuschvoll umstürzte. Dann hatte die Pi‐ stole eine Ladehemmung. «Na ja, was soll’s», sagte Épaulard, indem er seine Waffe in Anschlag brachte. «Na ja, Feuer!» ergänzte Buenaventura, der einen Sinn für Zitate hatte, und prompt schossen die beiden Männer in Richtung auf den zweiten Motorradbullen,
der wie ein Kunstreiter mit einem Satz von seiner Ma‐ schine sprang. An seinem Fenster frohlockte der Ganove Bouboune und filmte alles. Das Motorrad des Flics prallte von einem Straßenrand zum anderen, wobei es die parkenden Wagen zerbeulte, und kippte schließlich auf die Seite. Neuneinhalb Minuten. Der Streifenpolizist mit der zerschmetterten Schulter wand sich mitten auf der Fahrbahn. Der zweite Flic lag bewußtlos auf der Motorhaube eines Peugeot 404. Der Verwundete zückte seine Waffe. Meyer und Épaulard verfrachteten den Botschafter unsanft hinten in den Consul. Und während Buenaventura in Windeseile um den Wagen rannte, um auf dem Beifahrersitz Platz zu nehmen, stand D’Arcy noch immer daneben und be‐ merkte die krampfhaften Bewegungen des verletzten Flics, der wild entschlossen schien, um sich zu ballern. Der Alkoholiker steckte die klemmende Halbautomatik weg, zog eine Schleuder aus Aluminium der Versand‐ firma Manufrance aus der Tasche, belud sie mit einer Stahlkugel, spannte das Gummiband. Unmöglich, dachte der Motorradflic, dieser Typ zielt mit einer Schleuder auf mich, dann hörte er, wie das Gummiband sich plötz‐ lich entspannte, und schon traf ihn die Stahlkugel mitten auf den Helm, durchbohrte diesen, durchbohrte den Kopf, der völlig verdutzte Polizist stürzte tot aufs Ge‐ sicht. D’Arcy stieg wieder in den Wagen. Alle Mann waren an Bord. «Gnade! Gnade!» jammerte der Botschafter weiter, was den Entführern nur auf den Geist ging. D’Arcy setzte, so schnell er konnte, zurück. Agent
Lewis, der halbtot unter dem Kombi lag, stieß ein er‐ bärmliches Gebrüll aus, als die Räder erneut über ihn hinwegrollten. Der Wagen fuhr bis zur Ecke Avenue Kleber, bog dann, wieder im Vorwärtsgang, in die Ave‐ nue ein und raste mit hoher Geschwindigkeit zum Étoile. Es war zwanzig vor zehn Uhr abends. «Jetzt bin ich ein Mörder», sagte D’Arcy. «Beruhige dich», entgegnete ihm Épaulard. «Du hast einen amerikanischen Agenten umgefahren und einen Flic niedergestreckt. Das ist alles.» «Ich hab diesen Flic getötet.» «Mit einer Schleuder?» «Ich hab ihn umgebracht», wiederholte D’Arcy mit ruhiger Stimme. «Ich würd mich gern bis zur Besin‐ nungslosigkeit besaufen.» «Ist jetzt nicht der richtige Augenblick», meinte Buenaventura. Um viertel vor zehn Uhr fuhr der Consul in die Tief‐ garage Champs‐Élysées. Im dritten Untergeschoß wech‐ selten sie den Wagen. Gefesselt und geknebelt, mit ei‐ nem Sack über dem Kopf nahm Botschafter Poindexter im Kofferraum des grünen Jaguar Platz. Unterdessen wienerte Épaulard sorgfältig Lenkrad, Bedienungsele‐ mente sowie Türgriffe des Consul. Anschließend setzte er sich zu den anderen in den Jaguar, der daraufhin die Tiefgarage durch die Ausfahrt Avenue George‐V ver‐ ließ. Über die Schnellstraße des rechten Seineufers er‐ reichte der Wagen ein paar Minuten nach zweiundzwan‐ zig Uhr den Boulevard Peripherique. Er verließ Paris über die Porte de Bercy, nur wenige Augenblicke, bevor diese von Polizeikräften abgeriegelt wurde, die inzwi‐ schen in Alarm versetzt worden waren, sich nun überall aufbauten und durch die Nacht streiften.
Danach wurde die ganze Sache weniger brenzlig, dafür aber komplizierter. Die Banlieue war ein wirres Geflecht von Straßen und Gassen, durch das Épaulard eine peinlich genau ausgearbeitete Route festgelegt hatte. Hinter Chelles, wo es allmählich ländlicher wurde, wim‐ melte es von kleinen Straßen. Die Ordnungshüter waren keineswegs in der Lage, alle zu sperren. Kurz nach Mit‐ ternacht, nachdem sie mehr als zwei Stunden gebraucht hatten, um weniger als sechzig Kilometer Luftlinie (doch mehr als doppelt soviele auf dem Tacho) zurückzulegen, erreichte der grüne Jaguar das kleine Gehöft bei Couzy. Genau in diesem Moment begann es zu schneien.
13 Am Freitag war der Innenminister nach dem Mittagessen in ein langes Wochenende zu seinem Schloß im Depar‐ tement Indre‐et‐Loire aufgebrochen. Um zweiundzwan‐ zig Uhr zehn verfolgte er gerade mit einem gewissen Abscheu eine Fernsehdebatte über Abtreibung, als man ihn durch einen Telefonanruf von Richard Poindexters Entführung in Kenntnis setzte. Sein Büroleiter bestellte zu dieser Zeit bereits Vertreter der Polizei, der Armee, der Gendarmerie und vom Staatsschutz RG zum Place Beauvau. Nach Maßgabe der für solche Situationen ent‐ worfenen Pläne, hatte er den Befehl gegeben, sowohl im Stadtgebiet als auch außerhalb Straßensperren zu er‐ richten. Der Premierminister, der Elysée‐Palast und das Außenministerium waren alarmiert. Der Innenminister meinte, dies sei gut so, und forderte einen Hubschrauber an. Dann ließ er auf den Rasenflächen des Schlosses die entsprechenden Scheinwerfer einschalten, und schon bald kam vom Himmelsgewölbe ein SA 316 herab. Um halb zwölf Uhr in der Nacht befand sich der Minister in seinem Ministerium, wobei er zwischenzeitlich per Funk über den weiteren Stand der Dinge unterrichtet worden war, der übrigens praktisch unverändert war.
Zur gleichen Zeit rauchte Marcel Treuffais, mit den Nerven völlig am Ende, seine letzte Gauloise, er hatte sich gerade die Elf‐Uhr‐Nachrichten angehört, die nichts von einer Entführung meldeten, und ging nun vor die Tür, um neue Zigaretten zu kaufen. Er begab sich zu Fuß zur Kreuzung Rue de la Convention, wo er einen offenen Tabac fand und vier Päckchen kaufte. Als er dann aus dem Laden trat, brausten gerade zwei Motorradpoli‐ zisten über die Kreuzung in Richtung Westen. Treuffais verspürte einen Stich in der Magengrube, schaute ihnen nach und entdeckte so, daß ein paar hundert Meter wei‐ ter, an der Kreuzung Rue Lecourbe und Rue de la Con‐ vention, eine Straßensperre aufgebaut war. Im Umdre‐ hen bemerkte er noch eine auf der Rue de Vaugirard, ei‐ nen halben Kilometer weiter in Richtung Norden. Seine Kehle schnürte sich zu, sein Herz schlug schneller, er kehrte eilig nach Hause zurück. Dort schaltete er erneut sein altes Radialva ein, gerade rechtzeitig, um ein den «Pop Club» unterbrechendes Kommuniqué des Innen‐ ministeriums mitzubekommen: «Heute Abend ist Ri‐ chard Poindexter, Botschafter der Vereinigten Staaten in Frankreich, in Paris beim Verlassen eines Clubs, in dem er diniert hatte, angegriffen und von einem unbekannten Kommando entführt worden, das sogleich das Feuer auf das Gefolge des Botschafters eröffnete. Dabei wurden der Chauffeur des Diplomaten wie auch ein französi‐ scher Polizist schwer verletzt, und ein weiterer französi‐ scher Polizist getötet. Die Regierung ist fest ent‐ schlossen, diese empörende Tat schonungslos aufzuklä‐ ren und deren Urheber in kürzester Zeit dingfest zu ma‐ chen, um sie einer exemplarischen Strafe im Rahmen des Gesetzes zuzuführen. Die ersten Feststellungen der Ermittler erlauben es schon jetzt, zu behaupten, daß die‐
ser Anschlag ein Werk jener Elemente sein muß, die aus Irrsinn und Kalkül beschlossen haben, Chaos zu stiften, koste es, was es wolle. Jene Kräfte dürfen von seiten des Staates mit keinerlei Schwäche rechnen und können nur dann auf etwas Milde hoffen, wenn sie unverzüglich ihr verwerfliches Tun aufgeben, das vom französischen Volk nur mißbilligt und verachtet werden kann.» Ein Journalist berichtete live vom Place Beauvau und fügte noch einige Bemerkungen über die Abriegelung der Hauptstadt sowie die sofortige Entsendung eines Regierungsvertreters durch die Vereinigten Staaten hin‐ zu – Treuffais rauchte eine Zigarette nach der anderen. Er versuchte es mit den anderen Radiostationen, die je‐ doch nur Musik oder Unterhaltungssendungen ausstrahl‐ ten, kam wieder auf France Inter zurück, wo nunmehr Gato Barbieri gespielt wurde, darauf folgte ein Interview mit einem Forschungsreisenden zu dessen Buch. Um Mitternacht wiederholte man das Kommunique des Mi‐ nisteriums und teilte noch einige Details über das Kom‐ men und Gehen diverser Persönlichkeiten mit, doch nichts weiter über die Aktion des Kommandos selbst. Auf Europe 1 und RTL dieselbe Leier. Als die Nach‐ richtensendungen beendet waren, sagte Treuffais sich, daß all dies kein Grund sei, seinen Gewohnheiten untreu zu werden. Er schaltete auf die Mittelwelle, fand die Voix de l’Amérique und traf just auf die schöne warme Stimme von Willis Conover. Die Jazz‐Stunde sollte Don Cherry gewidmet werden. Treuffais beschloß, es sich bequem zu machen, er machte eine Flasche Bier auf und lauschte der Musik. Auf dem kleinen Hof in Couzy lauschte Buenaven‐ tura etwas konzentrierter derselben Musik. Sie hatten Poindexter gezwungen, zwei Tabletten Nembutal und
sechzig Tropfen Nozinan zu schlucken. Der Mann war k.o. Sie hatten ihn in eins der Zimmer mit zwei Bet‐ ten im ersten Stock gelegt. Meyer hielt mit einer Knarre bei ihm Wache. Buenaventura hockte mit D’Arcy, der der Rasche Scotch den Garaus machte, im Gemein‐ schaftsraum. Die beiden Männer aßen dicke Käsesand‐ wiches. Épaulard und Cash waren mit dem Dauphine des Mädchens wieder aufgebrochen und fuhren auf der Route Nationale 34 in Richtung Paris. An der Ausfahrt nach Lagny entdeckten sie eine Straßensperre mit Rei‐ fenfallen und dem ganzen Krempel, allerdings wurden nur die aus Paris kommenden Wagen kontrolliert. Sie setzten ihre Fahrt fort, sahen eine weitere, noch besser ausgestattete Sperre an der Porte de Vincennes, da stand ein grauer Mannschaftsbus, ein halbes Dutzend Polizi‐ sten fror sich den Arsch ab, denn es wurde zunehmend kälter, es blies ein schneidender Wind, Schnee wirbelte umher, schnell zu fahren war unmöglich. «Vorhin war’s wirklich höchste Zeit abzuhauen», meinte Épaulard. Cash lenkte den Wagen. Sie antwortete nicht. «Macht Ihnen das eigentlich keine Angst, jetzt, wo es passiert ist?» fragte Épaulard. «Ist mir scheißegal.» «Sie sind ein richtiger Hitzkopf.» Épaulard versuchte witzig zu sein. «Wenn das alles ist, was du zu sagen hast, solltest du besser still sein.» Der Dauphine durchquerte halb Paris, das allmählich zuschneite. Er fuhr den Boulevard de Sewastopol hoch, bog zweimal nach rechts, um die Rue Saint‐Martin wie‐ der hinunterzufahren. Die Nutten waren zahlreich und
spärlich die Flics; wie man weiß, ist die Unterwelt die Stütze der Ordnung; in diesem Quartier würden die Flics heute abend ganz gewiß nicht auf Kundenfang gehen. Deshalb hielt der Dauphine auch hier. Épaulard und Cash stiegen aus und gingen durch die Straßen. In der Nähe von drei verschiedenen Tabakläden fanden sie Briefkästen, in die sie jeweils ein paar Umschläge steck‐ ten, die an die wichtigsten Pariser Tageszeitungen, die französischen und ausländischen Presseagenturen wie auch ans Innenministerium adressiert waren. In den Umschlägen befand sich das von Treuffais, Buenaventura und Meyer verfaßte Manifest, das sie mit Hilfe eines dicken Filzstiftes und einer Schriftschablone peinlich genau auf gestohlenem Durchschlagpapier reproduziert hatten. Zwischen zwei Briefkästen in einem der zahlreichen Hauseingänge, in die sich die frierenden Mädchen drückten – sie waren zwar in Synthetikpelze gehüllt, aber gezwungen, trotz der Eiseskälte ausladende Dekol‐ letes zu tragen – bewunderte Épaulard eine Nutte von außerordentlicher Schönheit: groß, hochmütig, leichen‐ blaß. Der fünfzigjährige Mann fühlte sich sowieso schon recht aufgewühlt durch Cashs Nähe, beinahe hätte er seiner Gefährtin vorgeschlagen, zusammen für einen Moment in eins der Stundenhotels hochzugehen, in sei‐ nem Kopf verschmolz er die schöne Hure und Cash, stellte sich vor, sie gleichzeitig zu besitzen, ein flüchti‐ ger Moment nur, schon waren die letzten Umschläge aufgegeben, Cash drehte sich zu ihm um. «Was glotzt du mich eigentlich dauernd so dämlich an?» «Ich friere», stammelte Épaulard, packte Cash und umschlang sie, sie wehrte sich nicht, verhielt sich wie
eine, die zwar überrumpelt, doch keineswegs abgeneigt scheint, schließlich ließ er sie kurzatmig wieder los. «Ich bin ein alter Esel», lachte er. «Kokettier hier nicht rum», entgegnete Cash. «Laß uns zum Auto zurückgehen.» Das Mädchen nahm ihn beim Arm und schmiegte sich wie selbstverständlich an ihn. Sie stiegen wieder in den Dauphine, verließen Paris, wurden dreimal durch Stra‐ ßensperren gestoppt. Jedesmal mußten sie den Koffer‐ raum öffnen und die Bullen ließen den Strahl ihrer Ta‐ schenlampen durch das Innere schweifen. Doch man hielt sie nicht fest. Diese Zwangsstopps und die Angst stachelten Épaulards Gefühle weiter an. Eine wilde Freude übermannte ihn, als Cash sich an ihn lehnte, während er jetzt am Lenkrad des Dauphine saß, und der schlecht beheizte Wagen schlingerte über den Schnee, sie kehrten nach Couzy zurück, es war drei Uhr dreißig, Samstagmorgen.
14 In der Nacht von Freitag auf Samstag schlief der Innen‐ minister sehr wenig. Er beratschlagte sich zunächst mit den Vertretern der Polizei, der Gendarmerie, der Armee und den Staatsschützern der Renseignements Généraux, informierte sich über die genauen Umstände des Kid‐ nappings, ließ Madame Gabrielle, ihr Personal sowie die beiden zur Tatzeit im Bordell anwesenden Kunden nebst ein paar anderen Callgirls aus dem Bestand vorläufig in Gewahrsam nehmen. Mit der Untersuchung betraute er persönlich einen gewissen Kommissar Goémond, der zur Zeit keiner besonderen Verwendung zugeteilt war und sich dem Staat gegenüber stets außergewöhnlich ergeben gezeigt hatte. Er hielt den Élysée, den Premierminister im Hôtel Matignon, das Außenministerium und die Ver‐ einigten Staaten über alles auf dem laufenden. Befahl eine gigantische Razzia in den ultralinken Kreisen. Ge‐ dachte, so schnell wie möglich den Gerichtshof für Staatssicherheit anzurufen, um diese nächtlichen Durch‐ suchungen, und sei es auch im nachhinein, zu legalisie‐ ren. Samstag morgen um fünf Uhr fünfzig ging er hinauf in den obersten Stock des Ministeriums, um ein Nicker‐
chen zu machen. Um sieben Uhr fünfzehn wurde er von seinem persönlichen Referenten geweckt, der überhaupt nicht geschlafen hatte und blaß, hohlwangig und unra‐ siert erschien. «Es ist etwas ziemlich Erstaunliches passiert», ver‐ kündete der Büroleiter. «Erzählen Sie.» «Es scheint fast so, als wäre die Entführung gefilmt worden.» «Gefilmt? Was wollen Sie damit sagen? Von den Linksradikalen?» «Nein, nein. Unten sind zwei Typen von den RG, es scheint so, als hätte gegenüber vom Club Zero ein freier Mitarbeiter der Spionageabwehr SDECE mit einer Kamera auf der Lauer gelegen. Hm. Mit der Absicht, Dossiers zu erstellen. Hm. Nun ja, verstehen Sie, Druckmittel gegen Persönlichkeiten, die das Etablisse‐ ment besuchen. Und, hm, nun scheint es so, als habe dieser freie Mitarbeiter der SDECE die Operation ge‐ filmt; die SDECE hat uns aber nicht offiziell davon in Kenntnis gesetzt, und genau da drückt der Schuh, die In‐ formation scheint von eingeschleusten Elementen in der RG zu kommen.» «Eingeschleust? Wie, eingeschleust?» fragte der Mi‐ nister noch recht verschlafen. «Was ist denn das wieder für eine bescheuerte Geschichte?» «Ich habe Kaffee mitgebracht, hier, wenn Sie möch‐ ten ...» «Ja. Nein, keinen Zucker. Noch mal, was ist das für eine bescheuerte Geschichte?» «Ein Typ vom Staatsschutz», erklärte der Büroleiter, «der von denen bezahlt wird, ist in die Spionageabwehr SDECE eingeschleust worden, und zwar in die Grabe‐
liau‐Abspaltung, hm, dieser Typ also hat denen den Hinweis geliefert.» «Welchen Hinweis? Und wem? Was erzählen Sie mir da eigentlich, Himmel, Herrgott noch mal!» «Den Hinweis eben», erläuterte der Büroleiter gedul‐ dig, «daß die ‹Sektion Grabeliau› des SDECE gegenüber vom Club einen Typ auf die Lauer gelegt haben soll, ei‐ nen Typ mit einer Kamera und dem Auftrag, die wichti‐ gen Kunden zu filmen, mit dem Ziel gewisse Dossiers zu erstellen ... Diesen Hinweis haben die Staatsschützer von einem Element erhalten, das sie in die SDECE ein‐ geschleust haben.» Der Minister leerte seine Tasse Kaffee und tupfte sich mit einer Papierserviette das Kinn ab. Sein Blick wirkte starr und hart. Seine Hängebacken zitterten. «Und wo ist er, dieser Typ, der Kameramann?» «That is the question», erwiderte der Büroleiter ele‐ gant. Der Minister sprang, heftig mit dem Kopf schüttelnd, aus dem Bett. Barfuß und nur mit seinem himmelblauen Pyjama bekleidet, ging er hinüber ins Badezimmer und schaltete seinen Elektrorasierer ein. Der Büroleiter blieb ihm auf den Fersen und rieb sich mit dem Zeigefinger die Lippe. «Diese Geschichte stinkt», meinte der Minister. «Sie stinkt um so mehr», pflichtete ihm der Büroleiter bei, «als die beiden Typen von den RG, die unten sind, behaupten, hm, es sei wahrscheinlich nötig, mit der Sektion Grabeliau zu verhandeln, um den Film zu be‐ kommen.» «Schicken Sie diese beiden Typen zu Goémond», sagte der Minister. «Himmel, Herrgott noch mal! Es müßte doch ganz klar auf der Hand liegen, daß wir nicht
mit der Sektion Grabeliau verhandeln werden. Zumin‐ dest nicht im Ministerium. Erstellen Sie einen ausführli‐ chen Vermerk für Goémond, damit er die Situation ge‐ nau erfaßt, und schicken Sie ihm dann diese beiden Hampelmänner.» «Gut», meinte der Büroleiter, rührte sich aber nicht. «Was gibt es denn noch?» «Goémond ist nicht ermächtigt zu verhandeln.» «Herrgott noch mal!» wiederholte der Minister. «Um worüber zu verhandeln?» «Über die Filme. Die Sektion Grabeliau wird die Aufhebung aller Sanktionen und die Wiedereinsetzung der abgesägten Verantwortlichen fordern, und, hm, wo wir gerade von SAC reden, Sie wissen ja, daß die ausge‐ schlossenen Mitglieder des Service d’Accentuation Ci‐ vique und die Sektion Grabeliau teilweise unter einer Decke stecken. Die Sektion wird sicherlich verlangen, daß man die Dissidenten erneut finanziell unterstützt und daß die gerichtliche Verfolgung der Mondiali‐ stischen Druidenbruderschaft des Vexin eingestellt wird ...» Der Minister verzog mißmutig das Gesicht. Er rasierte sich eine Weile, ohne etwas zu sagen. Dann: «Der Beruf des Staatsmannes ist kein Zuckerschlek‐ ken!» verkündete er schließlich mit Nachdruck. Er legte den Rasierapparat weg und ging wieder ins Schlafzimmer, sein Büroleiter trottete weiter hinter ihm her. «Das kann ich nicht billigen», erklärte der Minister noch, während er sich auf die Bettkante setzte und nach seinen Zigaretten suchte. «Hier, nehmen Sie eine von meinen», sagte sein Bü‐ roleiter und hielt ihm eine Schachtel Gitanes hin. «War‐
ten Sie, ich habe Feuer. Hier. So. Hm. Es gibt da noch eine andere Lösung. Wir lassen sie durch Goémond ein‐ buchten und versuchen, sie durch Einschüchterung zu packen. Und wo wir dann schon dabei sind, greifen wir uns auch gleich noch möglichst viele Elemente der Sek‐ tion Grabeliau, Dissidenten des SAC inbegriffen, wir können sie sogar bezichtigen, mit den Kidnappern unter einer Decke zu stecken, da diskreditieren wir dann alle Mann auf einen Streich. Und die Filme, die kriegen wir zu guter Letzt auch noch, indem wir diese Herren abko‐ chen. Da werden sich schon ein paar finden, denen dann die Muffen gehen.» «Das wird einigen Schaden anrichten.» «Man muß den Abszeß aufstechen.» «Hören Sie», meinte der Minister, «tun Sie Ihr Bestes. Ich behalte mir das Recht vor, anschließend persönlich einzugreifen.» «Um mich zu desavouieren?» «Meine Güte, Sie wissen ja, wie das ist. Eventuell ja.» «Ist gut», erwiderte der Büroleiter ohne einen Hauch von Bitterkeit. «Ich rufe Goémond an.» «Genau», sagte der Minister. «In der Zwischenzeit werde ich nachdenken.» Der Büroleiter ging hinaus.
15
PLUMPE PROVOKATION GEGEN DIE FORTSCHRITTE DER VOLKSUNION! Ein ultra‐«linkes» Kommando streckt kaltblütig zwei Polizisten und den Chauffeur des Botschafters der Vereinigten Staaten nieder, ehe es den Diplomaten entführt
DIE KRÄFTE DER ARBEITERSCHAFT UND DEMOKRATIE BEREITEN SICH AUF EINEN MÄCHTIGEN GEGENSCHLAG GEGEN DIE PROVOKATEURE VOR!
16 Épaulard schreckte aus dem Schlaf hoch und setzte sich mit einem Ruck in seinem Bett auf. Er brauchte einige Sekunden, bis er das Zimmer wiedererkannte. Gleißen‐ des Licht strahlte durch die Zwischenräume der Fen‐ sterläden und schillerte durch das unebenmäßige Glas der Scheiben. Meyer lag im Nachbarbett auf der Seite. Er schnarchte leicht bei geöffnetem Mund. Während Épaulard ihn betrachtete, stieß er ein Grunzen aus, drehte sich zur Wand und zog dabei das Bettzeug mit beiden Händen wieder über sich. Im Zimmer war es alles andere als warm. Épaulards Atem verwandelte sich in eine weiße Wolke. Der Fünfzigjährige schaute auf seine Armbanduhr. Zehn Uhr, zehn Uhr morgens, denn draußen hinter den Läden war es hellichter Tag. Der Mann stieg geräuschlos aus dem Bett, er sah keinen Grund, Meyer zu wek‐ ken. Er hatte in Unterwäsche und Pulli geschlafen; nun nahm er seine Hose von der Lehne eines Stuhls neben dem Bett und schlüpfte hinein. Er war nachdenklich. Die Ereignisse des Vorabends fielen ihm in allen Einzelhei‐ ten wieder ein. Er ließ das Ganze in seinem Kopf Revue passieren. Zwei Tote, letzten Endes, und ein Schwer‐
verletzter, hatte es im Radio geheißen. Es gab keinen Grund, stolz zu sein. Épaulard holte seine Halbautomatik unterm Kissen hervor, steckte sie in die Tasche seines Jacketts und trat leise hinaus. Im Flur öffnete er die Nachbartür. Buenaventura saß auf einem Stuhl und las einen Kriminalroman. Neben ihm stand ein weiterer Stuhl mit einem vollen Aschenbecher, einem Päckchen Gauloises, einem Briefchen Streichhölzer, einer Pistole und einem Reservemagazin auf dem Sitz. Der Botschafter Richard Poin‐dexter lag ausgestreckt auf seinem Bett, der Oberkörper auf den Kissen leicht aufgerichtet, die Augen hinter der schief sitzenden Brille geschlossen, die Unterlippe hing herab. «Salut», sagte Épaulard. «Ist er nicht wach?» «Er wacht seit Stunden immer wieder mal halb auf. Und schläft andauernd wieder ein. Er zappelt nicht rum. Hab keine Probleme mit ihm.» Der Botschafter schlug die Augen auf. Seine Hände tasteten nach der Brille, um sie zurechtzurücken, ließen es dann aber wieder. «V ...Verrückte!» krakeelte er mit teigiger Stimme. «S’sind völl’g v ...verrückt.» «Siehst du», meinte der Katalane. «Er fängt sich lang‐ sam: er sagt nicht mehr ‹Gnade, Gnade› ...» «Ich will mit Ihrem Vorgesetzten sprechen», sagte Poindexter. «Ich verlange ...» Dann brabbelte er irgend etwas, und seine Augen schlossen sich wieder. «Verrückte!» sagte er noch einmal ganz deutlich und schlief dann abermals ein. «Geht’s dir gut, hältst du durch?» fragte Épaulard Buenaventura.
«Klar.» «Keine Reue?» «Keine Reue. Und du?» «Ich auch nicht», versicherte Épaulard. «Du kannst dich verziehen», sagte der Katalane. «Fahr zurück nach Paris. Das Wichtigste ist getan. Ist ja nicht nötig, daß du irgendwelche Risiken eingehst für etwas, woran du gar nicht glaubst.» «Vergiß es», entgegnete Épaulard. «Also ich geh jetzt runter, einen Bissen essen und was Warmes trinken, dann komm ich wieder hoch und lös dich ab.» «Hat keine Eile. Ich spür noch keine Müdigkeit.» «Okay.» Épaulard schloß die Tür wieder und stieg hinunter ins Erdgeschoß. Im Gemeinschaftsraum loderte ein hüb‐ sches kräftiges Feuer im Kamin. Cash saß daneben in einem Gobelinsessel mit einer Schale Milchkaffee auf dem Schoß, in die sie ein Butterbrot tunkte. Sie trug einen Morgenmantel aus rotem Frottee über einem schwarzen Pyjama, und weiße Pantoffeln an den Fü‐ ßen. «Sie sehen entzückend aus», sagte Épaulard aufrich‐ tig. «Du wirst mich doch nicht noch länger siezen.» Der fünfzigjährige Mann zuckte mit den Schultern und nahm die letzten Stufen. Cash stand auf, stellte Schale und Butterbrot auf dem Tisch ab. «Setz dich ans Feuer», meinte sie. «Ich bring dir Kaffee und ein paar Butterbrote.» Épaulard nickte, voller Dankbarkeit. Während Cash in die Küche hinüberging, trat er an die Fenster, deren Läden geöffnet waren, und das seit einigen Sekunden empfundene Gefühl von Behaglichkeit und Freude ver‐
stärkte sich noch, als er den hohen Schnee auf den Fel‐ dern bewunderte. Die Flocken waren die ganze Nacht gefallen. Inzwischen strahlte eine weiße Sonne über ei‐ ner dicken flauschigen Decke so zart wie Schweine‐ schmalz, Schlagsahne oder Champagnereis. Schließlich drehte sich Épaulard wieder um, und das Gefühl von Behaglichkeit verschwand jäh, denn da lag eine Sten auf der Sitzbank am Tisch. «Was ist denn das für ein Gerät?» schrie er. «Das ist eine Maschinenpistole», antworte Cash aus der Küche. «Das seh ich selbst. Wo kommt die her?» «Die gehört mir. Ein Familienandenken.» «Toll. Und was soll die hier?» «Das Ding könnte doch nützlich sein, oder?» «Hör zu, mein Täubchen», sagte Épaulard und ging in Richtung Küche, «schreib dir das hinter die Ohren: Falls die Flics uns finden, ergeben wir uns. Selbst in meinem Alter ist mir der Knast noch lieber als der Sarg. Du wirst mir jetzt den Gefallen tun und das Ding auseinander‐ nehmen und wo immer du willst verstauen, aber ich will es nicht mehr hier sehen. Ist das klar?» Er betrat die Küche, in der Cash Butterbrote schmier‐ te. «Ja, Chef», erwiderte das Mädchen. Épaulard verstrubbelte ihr die Haare. «Ich mein’s ernst», sagte er lächelnd. «Ich weiß, Chef.» Auf dem Küchentisch spielte ein auf France‐Inter‐ Paris 514 eingestellter Melody Boy gerade Route 66 von King Cole. «Hast du die Nachrichten um zehn mitbekommen?» fragte der Exhaifischer, Expartisan, Exkiller und Ex‐
traumtänzer und griff dabei in Chashs Haar. «Was sagen die?» «Nichts Interessantes. Eintausend vorläufige Fest‐ nahmen und Personenüberprüfungen in den ultralinken Kreisen in Paris ...» «Scheiße.» «Ja, was denn? Das war doch absehbar, oder nicht?» «Ja. Trotzdem Scheiße.» «Die Zeitungen haben unseren Text erhalten, aber da‐ von ist nur andeutungsweise die Rede, so als wüßten Sie noch nicht ganz, was sie machen sollen.» «Stimmt, wissen sie ja auch nicht.» «Wir haben den Innenminister um den Schlaf gebracht, er hat die ganze Nacht am Place Beauvau mit Beratungen verbracht und Maßnahmen getroffen. Es gab noch ein zweites Kommuniqué im Stil ‹die republikanische Ordnung wird gewahrt›. In Marseille haben sie protestierende Kaufleute mit Dynamit im Auto festgenommen.» «Und der Ford Consul?» «Über den sagen sie nichts.» «Dann haben sie ihn wahrscheinlich gefunden», meinte Épaulard. Cash legte die Butterbrote auf ein Blechtablett mit freundlichem Dekor, stellte eine Schale dazu, goß Milch und Kaffee hinein. «Wieviel Zucker?» «Zwei. Was sagen sie sonst noch?» «Ein paar bescheuerte Stellungnahmen», antwortete Cash, während sie den Cafe au lait zuckerte, dann ergriff sie das Tablett und das Radio und ging mit Épaulard im Schlepptau wieder in den Gemeinschaftsraum. «Die Kommunistische Partei PC verurteilt selbstverständlich
die Provokation. Die Vereinigten Sozialisten von der PSU sind der Ansicht, daß die revolutionäre Front durch diese unverantwortliche Tat gefährdet wird. Die trotzki‐ stische Revolutionäre Kommunistische Liga fordert Massengewalt, statt abenteuerliche Handstreiche. Die Libération hat ein Kommuniqué von einer sogenannten Neuen Roten Armee veröffentlicht, das die kleinbürger‐ lichen Nihilisten – also uns – als, objektiv gesehen, Handlanger der Macht anprangert und die Parole ‹Nie‐ der mit den Kleinen Neumanns› verbreitet.» «Neumann? Alfred?» hakte Épaulard bestürzt nach. «Heinz Neumann», erklärte Cash, als sie Tablett und Radio auf dem Tisch abstellte. «Ein Typ, der irgend et‐ was mit der Kommune von Kanton im Dezember 1927 zu tun hat.» «Aha», meinte Épaulard. Er ließ sich mit gerunzelter Stirn vor seiner Schale nieder, begann seine Butterbrote zu essen und warf Cash dabei kurze Blicke zu. Das Mädchen hatte sich ihm ge‐ genüber hingesetzt, die Ellbogen auf den Tisch gestützt, und beobachtete nun etwas lächelnd, das Kinn auf ihre aneinandergelegten Fäuste gelegt, den fünfzigjährigen Mann. «Du bist ein komisches Mädchen», sagte Épaulard. «Und du, du bist ein alter Blödmann», verkündete Cash. «Ich hab letzte Nacht eine ganze Stunde lang in meinem Zimmer auf dich gewartet, stell dir vor. Warum bist du nicht gekommen?» Épaulard verschluckte sich an seinem Butterbrot, um Zeit zu gewinnen. «Offen gestanden», meinte er, «war mir der Gedanke schon gekommen ...» «Das will ich hoffen!» rief Cash.
«Doch dann hab ich geschwankt ...» fuhr er fort. «Na ja, ich hab mir eben die Frage gestellt, ob ich ... Und ... und während ich mir also die Frage gestellt hab, äh, tja, Scheiße noch mal, bin ich eingeschlafen.» Er sah Cash an, die gegen einen Lachkrampf an‐ kämpfte. «Tut mir leid», fügte er hinzu. «Was für ein Mann!» rief das Mädchen aus. «Schläft doch tatsächlich ein, während er sich die Frage stellt, ob ... und dann tut’s ihm leid. Das ist doch lächerlich. Hast du Lust, mit mir zu schlafen?» «Ja.» «Gut. Heute abend. Trink deinen Kaffee aus. Komm, laß uns Spazierengehen.» «Okay», sagte Épaulard, trank aus und stand auf. «Ich muß aber hoch, um Buenaventura abzulösen», bemerkte er. «Was für ein Blödmann!» rief Cash aus. «Das wird ’ne jämmerliche Liaison werden, das spür ich jetzt schon.» Sie trat hinaus in die Sonne. Épaulard folgte ihr. Er fühlte sich beschissen. Cash erwartete ihn und nahm sei‐ nen Arm. So drehten sie eine Runde um den Hof, das junge Mädchen an die Schulter des alten Knackers ge‐ lehnt. Durch die offenstehende Tür des ehemaligen Stalls schauten sie dem schlafenden D’Arcy zu, der bis zum Hals in einem Haufen von verrottetem Stroh steck‐ te. Der Alkoholiker verzog im Schlaf das Gesicht zu einer Grimasse. «Heute abend», wiederholte Cash, und der Mann stieg hinauf, um Buenaventura abzulösen.
17 Samstag morgen um elf Uhr empfing der Büroleiter des Innenministers Goémond. «Wie weit sind Sie?» Der Kommissar faltete die Hände unter seinem Kinn zusammen und streckte die Zeigefinger ab, die sich auf diese Weise zu beiden Seiten seines Mundes anlegten und diesem einen noch bittereren Ausdruck als gewöhn‐ lich verliehen. Der Kommissar war ein recht großer Mann, hielt sich jedoch ständig gebeugt, wodurch er den Eindruck erweckte, schmächtig zu sein. Ein unförmig weiter schwarzer Mantel schlotterte ihm um den Leib. Seinen birnenförmigen Kopf zierten eine wächserne ho‐ he Intellektuellenstirn, deprimierte Augenbrauen und ein fliehendes Kinn. Sein schmaler Schnurrbart machte das Ganze auch nicht besser. «Na, nun reden Sie schon, Goémond.» «Wir haben den Ford Consul gefunden, der bei der Entführung zum Einsatz kam. In einer Tiefgarage an den Champs‐Élysées, wie ich Ihnen ja schon am Telefon sagte. Keine verwendbaren Fingerabdrücke. Textilrück‐ stände, Staub, das Ganze ist ins Labor gewandert. Wir
haben noch nichts entdeckt, was uns erlauben würde, zügig zu handeln.» «Das ist unerfreulich. Höchst unerfreulich», bemerkte der Büroleiter mit hellem Zorn in der Stimme. «Wissen Sie, daß wir nach dem merkwürdigen Manifest dieser Leute bis Montag mittag Zeit haben?» Goémond holte eine kleine holländische Zigarre hervor und zündete sie mit düsterer Miene an. «Gut, fahren Sie fort», sagte der Büroleiter des Mini‐ sters. «Machen Sie schon!» «Der Wagen gehört einem EDV‐Fachmann», erklärte der Kommissar. «In dieser Hinsicht ist nichts zu erhof‐ fen, die Kiste ist gestohlen worden. Im Parkhaus hat niemand irgend etwas gesehen oder bemerkt. Das ist ei‐ ne Welt!» Goémond stieß einen tiefen Seufzer aus. Der Büroleiter trommelte auf seinen Schreibtisch. «Ich komme nun zu dem Problem Madame Gabriel‐ le», fuhr der Kommissar fort. «Sie ist noch immer in vorläufigem Polizeigewahrsam und quengelt herum. Nun ja, vielleicht werden wir ja bald das Phantombild der beiden Typen hinkriegen, die ...» «Zur Sache!» unterbrach ihn der Büroleiter gereizt. «Zur Sache, Goémond, zur Sache!» «Ich bitte um Verzeihung?» «Der normale Gang der Ermittlungen ist mir völlig schnuppe. Sagen Sie mir doch um Himmels willen, was mit diesen Exzentrikern von den RG los ist.» «Exzentriker ist wohl das richtige Wort», meinte Goémond. «Zunächst einmal sind die überhaupt nicht vom Staatsschutz. Es sind angeblich ‹Korrespondenten›. Ich habe denen sehr schnell begreiflich gemacht, daß momentan nicht die Zeit für Scherze ist. Zwei Stunden
in der Zelle. Damit hatten sie nicht gerechnet. Die haben tatsächlich geglaubt, wir würden großzügig über die sektiererische Arbeit von Grabeliau und seiner Gruppe hinwegsehen und die Strafverfolgung gegen die Mon‐ dialistischen Druiden einstellen. Nun ja, das sind nur Details. Ich habe ihnen jedenfalls klargemacht, daß man die französische Justiz so nicht manipulieren kann.» «Hören Sie auf zu spotten, Goémond», sagte der Bü‐ roleiter des Ministers drohend. «Es ist mir völlig schnuppe, wie Sie Ihre Arbeit machen. Haben Sie diesen berühmten Film? Das ist alles, was ich wissen will.» «Ich kenne die Identität des Mannes, der gefilmt hat, ein gewisser Jean‐Pierre oder Jean‐Paul Bouboune. Wir suchen ihn, und wir werden ihn schnappen, seien Sie unbesorgt.» «Wann?» Goémond breitete die Arme aus. «Natürlich könnten wir ihn schneller schnappen», antwortete er, «wenn wir der Gruppe Grabeliau Konzes‐ sionen machen würden, doch wie ich Ihnen bereits sagte, habe ich diesen Herren erklärt, daß das unmöglich ist.» Der Büroleiter musterte seinen Polizisten haßerfüllt. «Ist das alles, was Sie mir zu sagen haben?» «Das ist alles.» «Gut. Kehren Sie an Ihre Arbeit zurück, Goémond. Wir haben beide schon zuviel Zeit verloren.» Goémond stand auf. Er hatte noch immer denselben düsteren Gesichtsausdruck. «Rufen Sie mich an?» fragte er. «In welcher Angelegenheit?» «Wenn es was Neues gibt.» «Sie werden benachrichtigt. Auf Wiedersehen, Goé‐ mond.»
18 Einige Jahre zuvor, in der Vorbereitungsphase der Prä‐ sidentschaftswahlen, hatte der Service d’Accentuation Civique, SAC, mehrere Säuberungen über sich ergehen lassen müssen, einschließlich der seines Landessekre‐ tärs, Joseph Grabeliau. Nicht im mindesten gewillt, arm und machtlos zu sterben, nahm Grabeliau sein ganzes Archiv mit und machte sich anschließend daran, seine eigenen Netze innerhalb verschiedener Sicherheits‐ und Ordnungsdienste aufzubauen, Netze, die er auf verschie‐ denste Art und Weise finanzierte. Gleichzeitig wurde er zum Großmeister der Mondialistischen Druidenbruder‐ schaft des Vexin. Einige Monate später war er zusam‐ men mit ein paar Mitgliedern seines Führungsstabs ver‐ haftet und der Erpressung von Geldern angeklagt wor‐ den. Zum Zeitpunkt der Entführung des amerikanischen Botschafters saß Joseph Grabeliau in Fresnes ein. Tags darauf wurde er gegen Mittag wegen seines Gesund‐ heitszustandes vorläufig aus der Haft entlassen. Und noch am selben Abend übernachtete er bereits in Ma‐ drid. Nur wenige Stunden nach dem Abflug seiner Ma‐ schine schnappten zwei höhere Polizeibeamte den Ga‐
noven Bouboune in einer Familienpension in Enghien. In seinem Zimmer fanden sich eine Kamera Marke San‐ kyo und ein Dutzend 8‐mm‐Filmspulen. Sie schafften das Ganze, Mann und Filme, zu Goémond.
19 Treuffais hatte mehrere Morgenzeitungen gekauft, und gegen sechzehn Uhr dreißig ging er hinunter, um Le Monde und France‐Soir sowie ein mittelmäßiges Sauer‐ krautgericht in der Dose zu erstehen. Dann stieg er wie‐ der in seine Wohnung hoch. Nachdem er die Tür ge‐ schlossen hatte, erblickte er sein Gesicht im Flurspiegel und stieß einen Seufzer aus. Viertagebart, rote Augen, Pickel, zottelige Haare, das schmutzige und zerknitterte Hemd unter einer Jacke, auf der vier oder fünf neue Brandlöcher von Zigaretten zu erkennen waren. Er ver‐ staute das Sauerkrautgericht oben im Hängeschrank in der Küche, holte sein altes Radialva aus seinem Schlaf‐ zimmer und machte es sich mitsamt Radioapparat und Zeitungen im Badezimmer bequem. Er ließ sich ein Bad ein und blätterte die Gazetten durch. Kaum neue Infor‐ mationen. Treuffais hatte bereits durch das Radio erfah‐ ren, daß Zeitungen und Presseagenturen Texte erhalten hatten, die während der Nacht innerhalb von Paris auf‐ gegeben worden und mit «Gruppe Nada» unterzeichnet waren, welche sich zur Entführung des Botschafters be‐ kannte und die Veröffentlichung eines Manifestes im
ganzen Land forderte sowie ein Lösegeld von zweihun‐ derttausend Dollar, das der französische Staat zahlen sollte. Der Staat hatte achtundvierzig Stunden Zeit für seine Antwort, also bis Montag mittag. Falls dieser die Forderungen ablehnte, würde der Botschafter exekutiert werden. Sollte er einwilligen, müßte das Manifest sogleich in der Presse erscheinen und in Funk und Fern‐ sehen verlesen werden. Und die Gruppe Nada würde neue Instruktionen bezüglich der Lösegeldzahlung be‐ kanntgeben. Le Monde brachte schon eine Zusammenfassung und Analyse des Manifests. «Der Stil ist obszön», versi‐ cherte das Blatt, «und die alberne Infantilität gewisser Behauptungen von geradezu archaischem und unge‐ trübtem Anarchismus würde unter anderen Umständen zum Schmunzeln verleiten. In der gegenwärtigen Situa‐ tion aber erwecken diese doch eher Besorgnis, ja eine tiefe Furcht vor dem Nichts, zu dem sich diese Gruppe Nada wie aus purem Vergnügen bekennt, die sich zwar einen treffenden Namen gegeben hat, sich aber sowohl in ihrem Text als auch in ihrer Tat auf nicht zu rechtfer‐ tigender Art und Weise artikuliert.» Die Wanne war voll. Treuffais drehte die Hähne zu, zog seine Kleider aus und stieg ins Wasser. Er setzte seine Lektüre fort, während er den Schmutz sich lang‐ sam auflösen ließ. Dem Leitartikler des France‐Soir zu‐ folge nähmen sich die Terroristen der Gruppe Nada die Tupamaros zum Vorbild, indem sie die Veröffentlichung ihres Manifestes verlangten. «Jedoch», unterstrich der Leitartikler, «sind gerade die Tupamaros kein nachah‐ menswertes Vorbild, insbesondere nicht in Frankreich, das ja demokratisch und keineswegs unterentwickelt ist. Und wenn der bisweilen gewalttätige Protest auch leider
Einzug in unsere Sitten und Gebräuche gefunden hat, so entspricht der politische Terrorismus doch weder den Bedürfnissen noch dem Wunsch der Bevölkerung.» Die Gruppe Nada müsse sich dessen allmählich bewußt wer‐ den, und der Leitartikler wollte hoffen, daß die Vernunft siegen möge. Le Monde beschrieb im übrigen lang und breit die Polizeioperationen und fragte sich, wem der infernali‐ sche Teufelskreis aus Gewalt und repressiven Maßnah‐ men wohl nützen werde. Unter der Überschrift Eine schwarze Seite zog ein für seine Ernsthaftigkeit ge‐ rühmter Jurist eine schwachsinnige Parallele zwischen der Schwärze der begangenen Tat und der schwarzen Anarchistenfahne. Eine ganze Seite war den Kommuni‐ ques und Erklärungen diverser Organisationen und Per‐ sönlichkeiten gewidmet, mit einem gesonderten Kasten für die Standpunkte von annähernd fünfzehn ultralinken Splittergruppen. Treuffais döste beinahe in seiner Ba‐ dewanne ein und ließ die Zeitung ins Wasser fallen. Er fluchte und legte sie zum Trocknen auf den Wannen‐ rand. Wusch sich voller Wut den Kopf, kratzte mit den Nägeln über die Kopfhaut. Wieder hatte er das schmerz‐ liche Treffen mit Buenaventura vor Augen. Am Montag abend, in dem schmutzigen Zimmer des Katalanen, überall liegen Spielkarten auf dem Boden herum, Ziga‐ rettenkippen in einer Kaffeetasse, Buenaventura steht im Halbdunkel mit dem Rücken zum Fenster, das von den Reklameschildern auf der Straße hell erleuchtet ist. «Du verlangst aber doch nicht, daß wir die Operation aufgeben?» «Doch», antwortet Treuffais. «Steig aus, wenn du willst.» «Du kapierst nicht. Ich will mich doch nicht von euch
trennen. Ich bitte euch nur, die Operation solange auszu‐ setzen, bis wir darüber diskutiert haben.» «Zwischen uns ist kein Dialog mehr möglich. Bedauere, Treuffais. Du bist zur anderen Seite übergewechselt.» «Verdammt noch mal, Buen, gerade weil ich libertärer Kommunist bin, bitt ich euch doch, die Operation auszusetzen.» «Libertärer Kommunist, meine Fresse. Ihr fangt sie euch alle ein, du bist nicht der erste, bei dem ich das seh, ihr holt euch doch allesamt die Syphilis der Politik, die Syphilis des Kompromisses, den marxisierenden Syph. Hau ab. Treuffais, ich weiß schon alles, was du mir gern sagen würdest, und die Presse der Obrigkeit wird in fünf Tagen dasselbe sagen. Aufhören, um zu diskutieren? Nein, du machst wohl Witze. Wir wissen doch, wohin das führt. Ich erinnere dich daran, daß mein Vater 1937 in Barcelona gestorben ist.» «Und ich habe die Schnauze voll davon, das ständig von dir zu hören. Nur weil dein Vater während des Auf‐ stands kaltgemacht wurde, ist sein posthumer Sohn nicht schlauer als die anderen. Du bist sogar noch bescheuerter. Du verfällst dem Terrorismus, und das ist wirklich bescheuert. Terrorismus läßt sich nur in einer Situation rechtfertigen, in der die Revolutionäre keine andere Möglichkeit haben, sich auszudrücken, und in der die Bevölkerung die Terroristen unterstützt.» «Ist das alles, was du zu sagen hast?» «Ja», sagt Treuffais, mit einemmal erschöpft und krank vor Verzweiflung. «Ich werd meinen Genossen deine Vorbehalte über‐ mitteln. Jetzt verzieh dich.» «Buen, wir kennen uns doch schon vier Jahre und ...» «Hau ab, oder ich hau dir eine rein.»
«Dann geh ich, ich will nämlich nicht, daß wir es so weit kommen lassen. Das war zum Kotzen. Das ist tat‐ sächlich zum Kotzen.» Treuffais spülte sich ab, stieg aus der Badewanne und trat zum Rasieren ans Waschbecken. Das Schlimme ist nicht, mit einem Bekloppten nicht einer Meinung zu sein, sondern ihn geliebt und vier Jahre lang geglaubt zu haben, man stünde Schulter an Schulter.
20 «Setzen Sie sich, Madame Gabrielle, es wird nicht mehr sehr lange dauern und Sie können nach Hause. Doch ich muß Sie noch bitten, sich diese Fotos anzuschauen.» Die Puffmutter nickte seufzend. Sie gewöhnte sich so langsam an alles. Goémond ging um den Schreibtisch herum, damit er sich neben sie stellen konnte, und lehnte sich mit der Hüfte an das Möbelstück. Er hatte zwei Aktendeckel in der Hand, einer davon enthielt vergrö‐ ßerte Abzüge aus dem filmischen Werk des Ganoven Bouboune. Der Kommissar legte der Puffmutter ein Bild nach dem anderen vor. «Oh! Aber, ja doch!» rief Madame Gabrielle plötzlich aus. «Oh, ja! Wo kommen denn diese Fotos her?» «Die Polizei ist eben gut organisiert», behauptete Goémond unvorsichtig. «Wenn sie so gut organisiert wäre, dann war das alles nicht passiert!» schrie die Kupplerin. «Ich zahle wahr‐ haftig genug, ich hab genügend Zusicherungen erhalten, um doch wirklich hoffen zu können ...» «Erkennen Sie sie wieder?» fiel ihr Goémond ins Wort.
Die Puffmutter stutzte, ihre Lippen bewegten sich noch kurz lautlos weiter, dann stieß die Frau einen er‐ neuten Seufzer aus und machte sich ans Werk. «Die sind ja nicht sehr scharf», sagte sie, «aber, nun ja, der reifere Mann da und der hier mit seinen Zotteln, das sind die beiden, die hereingeplatzt sind und uns an‐ gegriffen haben. Die anderen hab ich nicht gesehen, die hatten mir doch meine Stoffvorhänge um den Kopf ge‐ wickelt, ich dachte, ich ersticke. Ich hab für mindestens zweitausend Franc Sachschäden», fügte sie wütend hin‐ zu, «aber das war ja noch gar nichts! Doch erst der ge‐ schäftliche Schaden, Kommissar! Sind Sie sich eigent‐ lich im klaren, daß mein Laden im Eimer ist? Im Ei‐ mer!» «Das wird man noch sehen. Kommen wir zu den Fotos zurück.» «Ich sag Ihnen doch, ich habe die anderen nicht gese‐ hen. Nur die zwei da. Diese Schweinehunde!» Der Kommissar deutete auf eine dritte, etwas fette Person. «Und der hier? Ihre ... Hosteß, die sich bei dem Bot‐ schafter aufhielt, erkennt ebenfalls den reiferen Mann wieder, aber sie glaubt, daß er zusammen mit diesem hier ins Zimmer gekommen ist. Den Langhaarigen hat sie nicht gesehen.» «Das ist schon möglich. Ich konnte ja nicht sehen, was passiert ist, nachdem sie mir meine Stoffvorhänge um den Kopf gewickelt haben. Sie waren zu mehreren. Ich hab nichts gesehen.» «Gut», sagte Goémond und klappte den Aktendeckel wieder zu. «Sehen Sie sich jetzt mal diese hier an.» Diesmal legte er der Puffmutter einen größeren Stoß Abzüge vor. Allerdings ohne große Hoffnung. Er hatte
alle möglichen Fotografien von linksradikalen, mit Steinschleudern bewaffneten Demonstranten zusam‐ mentragen lassen. Es handelte sich um Aufnahmen recht unterschiedlicher technischer Qualität, Schnappschüsse bei dieser oder jener Demonstration, diesem oder jenem Aufruhr seit 1968 aufgenommen. Leider schien es nun ziemlich sicher, daß Madame Gabrielle den Schleuder‐ schützen, den Mörder des Motorradpolizisten nicht ge‐ sehen hatte. Goémond baute weit mehr auf die Burschen vom Erkennungsdienst, die zur Zeit dabei waren, aus dem Film abgezogene Aufnahmen mit Fotos karteimäßig erfaßter Linksradikaler sowie einer Hand voll Bilder nicht identifizierter, mit einem Taschentuch maskierter Individuen (weitere Witzbolde mit Schleudern!) abzu‐ gleichen. Der Kommissar war daher recht überrascht, als die Puffmutter unvermittelt einen rachedurstigen Schrei ausstieß. «Da ist er!» meinte sie und zeigte mit dem Finger dar‐ auf. «Da ist ja mein Langhaariger! Auf dem Bild hier ist er viel schärfer drauf! Ich erkenne seine bösen Augen wieder! Der hat einen Blick, das können Sie sich gar nicht vorstellen. Der Kerl hat mich vielleicht angese‐ hen!» «Das ist ja gut», murmelte Goémond, während er auf Madame Gabrielles Finger starrte, der auf ein zorniges Gesicht gepreßt war. Es war der reine Zufall, daß sich dieses Gesicht auf dem Abzug befand. Tatsächlich hatte man lediglich eine Teilvergrößerung der Fotografie angefertigt, um einen Schleuderschützen mit Motorradhelm auf dem Kopf, Skibrille vor den Augen und Taschentuch vorm Mund herauszustellen. Der Schütze war darauf in voller Aktion und hielt mit seinen Zähnen das Taschentuch fest, das
ihn vermummte und ihn etwas vor den Kampfgasen schützte und gerade herunterzurutschen drohte. Doch nicht etwa ihn hatte die Puffmutter erkannt; sondern den Langhaarigen dahinter, man konnte seine wild drein‐ blickende Visage über der Schulter des behelmten Schützen erkennen. «Man könnte meinen, Sie haben recht», sagte Goe‐ mond, der die Aufnahme des Demonstranten mit dem verschwommenen und körnigen Filmabzug verglich, auf dem der Langhaarige gerade die Beifahrertür des Consul öffnete. «Sind Sie sicher?» fügte er mechanisch hinzu. «Na ja, hören Sie, ich könnte das sicherlich nicht unter Eid aussagen, aber ...» «Machen Sie sich keine Sorgen, das wird man nie von Ihnen verlangen.» «Nun, ich habe es einfach im Gefühl, daß er’s ist.» «Ich werde mir noch nähere Angaben beschaffen. Schauen Sie sich aber trotzdem auch die anderen Fotos an. Man weiß ja nie, Sie könnten ja ‘ne Doppelnummer schaffen, so was ist ja schon vorgekommen.» Madame Gabrielle warf dem Kommissar, dessen Vul‐ garität sie mißbilligte, einen eisigen Blick zu. Der Mann schenkte dem keinerlei Beachtung, ging zur Tür seines Büros, öffnete sie einen Spalt und unterhielt sich dort halblaut mit jemandem im Flur. Dann schloß er sie wie‐ der und kehrte zu der Kupplerin zurück. Diese blätterte die Fotos noch zu Ende durch, war allerdings nicht mehr mit dem Herzen bei der Sache. «Gut, dann kann ich ja wohl jetzt gehen?» fragte sie. «Einen Moment noch. Die Jungs vom Erkennungs‐ dienst versuchen gerade, dieses Individuum zu identifi‐ zieren.» «Aber das wird doch noch Stunden dauern!»
«Tss, tss, tss», meinte Goémond umgänglich. «Die haben einen Computer. Ist nur eine Frage von Minuten.» Und in der Tat brachte man Madame Gabrielle fünf‐ undzwanzig Minuten später eine neue Auswahl an Fo‐ tos, nur schärfere diesmal und nur zwölf, und sie hatte auch keine Mühe, ihren langhaarigen Angreifer zu er‐ kennen. «Buenaventura Diaz», wiederholte Goémond, an den Türrahmen gelehnt, und lächelte einem Polizeibeamten zu. «Warum duldet man dieses Gesocks eigentlich noch auf unserem Staatsgebiet? Nun denn. Das Hotel Longue‐ vache kenn ich. Eine Spielhölle für Amerikaner. Dann mal los.» «Jetzt kann ich doch nach Hause gehen, oder?» schrie Madame Gabrielle aus der Mitte des Büros. «Ja, aber halten Sie sich zu unserer Verfügung. Wache, begleiten Sie Madame hinaus.»
21 «Ich bin jetzt vollkommen wach», erklärte Richard Poindexter. «Ich will mit Ihrem Chef sprechen.» «Einen Chef haben wir hier nicht», sagte Épaulard. «Nun ja, Sie verstehen aber doch, was ich sagen will.» «Wir haben keinen Chef. Sie können sich mir anver‐ trauen, wenn Sie mit jemandem zu sprechen wünschen.» Der Botschafter leckte sich mit belegter Zunge über seine kleinen fleischigen Lippen. «Hätten Sie eine Zigarette?» Épaulard warf ihm das Päckchen Gauloises, das auf dem Stuhl neben ihm lag, und ein Briefchen Zündhölzer zu. «Versuchen Sie ja nicht, Feuer zu legen, oder mir ir‐ gendwas ins Gesicht zu schmeißen.» «Wie? O nein! Ich bin doch kein Idiot.» Richard Poindexter zündete sich eine Gauloise an. «Dürfte ich die Uhrzeit erfahren?» fragte er daraufhin. «Viertel vor sechs abends. Und wir haben Samstag.» «Ich sehe schon. Ich wurde unter Drogen gesetzt.» «Schlafmittel», berichtigte Épaulard. «Nichts Gefähr‐ liches, allerdings werden Sie vielleicht Verdauungsbe‐ schwerden bekommen.»
«Im Moment hätte ich eher ... wie sagen Sie noch gleich? ... Einen ‹Wolfshunger›.» «Man wird Ihnen etwas raufbringen. Geben Sie mir die Streichhölzer zurück, statt so dämlich zu versuchen, sie in Ihrem Bett zu verstecken. Sie sagen doch, Sie sind kein Idiot. Das kann ich kaum glauben, wenn ich so was seh. Sie müßten doch erkennen, daß Ihr Leben nur an einem dünnen Faden hängt.» Der Botschafter holte das Briefchen unter dem Bett‐ zeug hervor und warf es Épaulard hin. Er verzog amü‐ siert den Mund. «Gut», sagte Épaulard. «Ich sag Bescheid, damit man Ihnen was zu essen raufbringt.» Er erhob sich und stampfte mit dem Absatz auf den Holzfußboden. Dabei hielt er seine Halbautomatik in der Hand, für den Fall, daß dem Diplomat abermals danach wäre, den Clown zu spielen. Dann setzte er sich wieder. «Für einen Gefangenen ist alles hilfreich, kann alles nützlich sein, meistens weiß er selbst zunächst noch nicht, wozu», dozierte Poindexter versonnen. «Ich war Gefangener in Deutschland. Sie vielleicht auch ...» «Versuchen Sie nicht, mich zum Reden zu bringen.» Der Botschafter gluckste leise. Die Tür ging auf. D’Arcy trat herein. «Was ist los? » «Er ist richtig wach. Und hat Hunger.» «Wollen Sie ein Sandwich?» fragte der Alkoholiker. «Sie können nämlich auch was Warmes bekommen, aber dann müssen Sie noch einen kleinen Moment bis zur Abendessenszeit warten.» «Wie Sie wünschen, mein Freund», erwiderte Richard Poindexter. «Ich sehe, daß ich in guten Händen bin. Sie behandeln mich wie einen Pascha.»
«Das sieht man, daß du Diplomat bist, mein Kleiner», bemerkte D’Arcy. «Ich bring dir ein Sandwich hoch. Und dann werd ich dich ablösen», setzte er an Épaulard gerichtet hinzu. «Was sind Sie eigentlich genau?» fragte Poindexter, als der Alkoholiker wieder fort war. «Maoisten?» «Das wirst du später erfahren, mein Kleiner», entgeg‐ nete Épaulard gereizt. Was war er eigentlich genau? Er war verdammt noch mal außerstande, dies zu sagen, und das machte ihm zu schaffen. «Darf ich mich anziehen?» fragte Poindexter. «Nein.» «Beabsichtigen Sie, mich lange festzuhalten?» «Das wirst du schon sehen.» «Beabsichtigen Sie, mich zu töten?» «Wenn ich dir das sagen würde, wo war da die Über‐ raschung?» bemerkte Épaulard. «Ich hab keinen Aschenbecher», bemerkte Poindexter. «Mach die Asche auf den Boden.» Der Botschafter verstummte, rauchte schweigend, schaute Épaulard an, der ihn anschaute. Nach einer gan‐ zen Weile ergriff er wieder das Wort. «Politische Entführung ist keine Vorgehensweise von einem zivilisierten Volk.» «Ich bin kein zivilisiertes Volk.» «Amüsant», meinte Poindexter und lächelte gering‐ schätzig. Épaulard antwortete nichts darauf. «Wollen Sie denn nicht versuchen, mich unter Um‐ ständen von der Richtigkeit Ihrer politischen Ansichten zu überzeugen?» fragte Poindexter nach, den Blick auf seine Zigarette gerichtet.
«Nein.» «Ich dachte, das wäre in solchen Fällen üblich.» «Kleiner, du bist ein Diener des Staates auf höchstem Niveau. Du bist nichts weiter als ein Ding.» «Wagen Sie doch das Wort: ein Stück Scheiße.» «Nein. Ein Ding. Ein armseliges Ding.» «Sie sind Anarchisten», sagte Poindexter. «Ich weiß das, weil Sie so haßerfüllt den Begriff ‹Diener des Staa‐ tes› benutzt haben.» D’Arcy kam mit zwei Sandwiches auf einem Teller herein. «Gut» meinte Épaulard, «ich denke, die Unterhaltung ist hier zu Ende.» Er stand auf. Deckte D’Arcy mit seiner Pistole, wäh‐ rend der Alkoholiker die beiden Sandwiches auf den Schoß des Botschafters legte und sich mit dem Teller wieder zurückzog. «Du solltest dich in acht nehmen», meinte Épaulard. «Dieser Herr ist gesprächig. Er macht einen auf unge‐ zwungen, ist aber ein ganz Heimtückischer. Er versucht, sich Informationen zu verschaffen.» «Schon klar.» D’Arcy nahm die Halbautomatik an sich und setzte sich auf den Stuhl. «Bis nachher dann», sagte Épaulard und ging hin‐ aus. «Es ist verflucht kalt in diesem Haus, finden Sie nicht?» sagte Poindexter zu D’Arcy. «Du hältst dein Maul», erwiderte der Alkoholiker. «Du bist still, oder ich zieh dir eins mit der Knarre über. Ich hab keine Lust zu quatschen.» «Wie Sie wünschen», antwortete Poindexter, zog die Decken über sich und kauerte sich wieder zusammen,
und so blieben die beiden reglos hocken und beäugten sich argwöhnisch, während der Diplomat seine Sandwi‐ ches kaute.
22 Der Gesichtsausdruck von Kommissar Goémond wurde immer düsterer, was bei ihm aber nicht auf Traurigkeit hindeutete. Er sah sich Buenaventura Diaz’ Zimmer ge‐ nauestens an. Machte umsichtig einen Rundgang, bückte sich sogar, um die Titel auf den Rücken von zwei oder drei neben dem Bett liegenden Büchern zu entziffern. Seine Untergebenen wanderten schnüffelnd in umge‐ kehrter Richtung durch den Raum. «Hier, sehen Sie», meinte einer von ihnen, «ein Anar‐ chistenheftchen. Schwarz und Rot ... Damit ist doch alles gesagt!» «Sie sind wirklich zu blöd, mein Junge», entgegnete Goémond. «Das ist doch ein Roman von Stendhal.» «Verzeihen Sie mir, wenn ich mich entschuldige», sagte der Untergebene, «aber das Ding hier, das schwa‐ felt von ‹anarchistischen Kollektiven im revolutionären Spanien›. Sie müssen da was verwechseln.» «Lassen Sie mal sehen. Tatsächlich, das stimmt. Ist schon komisch, ich hätte schwören können ... Aber Sie haben recht, ich hab es mit der Kartause von Parma verwechselt. Gut, Sie nehmen mir das Ganze da genau unter die Lupe, ich geh wieder runter.»
Im Erdgeschoß suchte Goémond den Geschäftsführer Edouard auf und zeigte ihm ein Foto von Buenaventura. «Ja, ja, genau, das ist er», sagte der Geschäftsführer blaß und schwitzend. «Bei dir wird doch gespielt», sagte Goémond. «Was?» «Bei dir wird doch nachts gepokert. Wer kommt denn nachts so zum Pokern hierher. Na?» «Weiß ich nicht.» «Klar, also, dann werd ich’s dir sagen. Amerikaner. Poker ist doch ein Spiel für Ganoven und Amerikaner. Aber bei dir gibt’s doch keine Ganoven.» «Das kann ich Ihnen schwören, Kommissar.» «Also Amerikaner. Unter Umständen sogar amerika‐ nische Deserteure.» «Ich weiß jedenfalls nichts davon, ich schwör’s Ih‐ nen.» «Hör auf zu schwören», sagte Goémond. Ein Untergebener, der gerade gekommen war, trat ins Büro des Geschäftsführers Edouard. «Ich komm aus der Firma», sagte er. «Ich bring die Fotos. Die Freunde von dem Hispano‐Pinguin, über die wir was in der Kartei haben.» «Setz dich», sagte Goémond zu Edouard. «Du wirst dir das jetzt ansehen.» «Alles, was Sie wollen, ich schwö ... ich versprech’s Ihnen, Kommissar. Ich weiß ja nicht, wer hier so kommt und geht, aber ich werd mich anstrengen.» «Genau. Streng dich an.» Die Fotos wurden in zwei Stößen auf den Schreibtisch gelegt. Auf einem die amerikanischen Deserteure, auf dem anderen die französischen Freunde von Buena‐ ventura Diaz. Geschäftsführer Edouard betrachtete sie
höchst angestrengt. Bei den Deserteuren glaubte er ver‐ sichern zu können, daß er einige von ihnen wiederzuer‐ kennen glaubte. Auf Seiten der Franzosen legte er seinen Finger auf eins der Bilder. «Der hier, da bin ich sicher.» Goémond sah nach der Nummer der Aufnahme und zog die Karteikarten zu Rate: Treuffais, Marcel, Eu‐ gene / 3.4.41 in Paris, X. Arrond. / PSU 60‐62 / Liber‐ täre Vereinigung des XV. Arrondissements (Gruppe Er‐ rico Malatesta) 62‐63 / Aktionskomitee der Arbeiterstu‐ denten im XV. Arrondissement 68 /... Der Untergebene beugte sich zu Goémond hinunter. «War nicht auf dem Film.» «Ich weiß.» Geschäftsführer Edouard forschte weiter, konnte aber niemanden mehr identifizieren. «Dieser Typ hier», sagte Goémond und wedelte mit dem Foto von Marcel Treuffais. «Ist der oft hergekom‐ men?» «Ja, ja. Zwei‐ oder dreimal die Woche, eine Zeitlang.» «Zu welcher Zeit?» «Letztes Jahr. Naja, ich mein im Frühjahr.» «Und davor?» «Ich glaube nicht.» «Und seitdem?» «Ja, ja. Aber nicht so oft.» «Wann hast du ihn das letzte Mal gesehen?» «Tja, stellen Sie sich nur mal vor, das war Anfang der Woche. Dienstag, nein, Montag abend, na ja, glaub ich jedenfalls. Die haben sich angebrüllt, falls Ihnen das was nützen kann, Monsieur le Commissaire.» «Angebrüllt?» «Ja, nun, ich hatte wenigstens den Eindruck. Diaz und
er, na ja, die haben, wie man so sagt, Beleidigungen ausgetauscht. Im Zimmer von Diaz, wie gesagt. Aber ich hab sie gehört, das heißt, ich bin hochgegangen, weil die Toiletten verstopft waren, ich muß Sie ja nicht mit Ein‐ zelheiten belästigen, jedenfalls war ich da also mit mei‐ ner Rute beschäftigt und hab durch die Tür gehört, wie sie sich beschimpft haben.» «Eine sexuelle Auseinandersetzung?» «Nein, nein, eher was Politisches, wie man so sagt. Das heißt, da hat der eine den anderen Marxist genannt. Oder Revolutionär. Ich hab nicht so genau aufgepaßt.» «Die Sache ist ja nicht sehr klar», meinte der Kom‐ missar. «Das müssen wir noch mal durchgehen.» «Wegen was suchen Sie den Diaz eigentlich?» fragte der Geschäftsführer Edouard. «Kümmer du dich um deinen Arsch, mein Guter; er wird nicht gesucht, kapiert?» «Kapiert, Kommissar. Aber wenn er wiederkommt, ruf ich Sie an, he?» «Tu das, ja.» «Werd ich keine Scherereien kriegen?» «Das sehen wir noch», erwiderte Goémond. «Deine Absteige ist eine Spielhölle.» «Aber ich schwör Ihnen doch, das stimmt nicht, na ja, wie soll ich denn wissen, was sich da in den Zimmern abspielt? Ich horch nicht an den Türen.» «Jedenfalls bin ich ja nicht vom Dezernat Glücksspiel», entgegnete Goémond. «Solange du schön in der Spur läufst, brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Wenn du aber einen der Typen von den Fotos wiedersiehst, die ich dir eben gezeigt hab, solltest du dich schleunigst an die Strippe hängen, klar?» «Ja, ja.»
Das Telefon läutete. Goemonds Untergebener hob ab, lauschte, reichte den Hörer an den Kommissar weiter. «Ja», sagte Goémond. «Sind Sie sicher? Seit 62? Das erklärt einiges. Ja, ich verstehe. Ich notiere.» Der Untergebene reichte ihm etwas zum Schreiben. Goémond schrieb: André, Épaulard, und das Geburts‐ datum, und das Datum der Rückkehr nach Frankreich («der Kerl hat aber keine Zeit verloren», kommentierte er) und die Adresse. Dann dankte er kurz. Hängte ein. Und zog den Untergebenen mit in die Eingangshalle. «Die haben noch einen anderen aus der Kartei durch den Film identifiziert und das Ganze von der Bordellbe‐ sitzerin bestätigen lassen. Eine alte Akte. Ein alter Hart‐ gesottener aus dem kommunistischen Widerstand. Ge‐ hörte zu den FLN‐Netzen während des Algerienkriegs. Ich hab die Adresse. Du kommst mit uns.» In der Rue Rouget‐de‐Lisle hielten die Flics einfach in der zweiten Reihe und blockierten die schmale Durch‐ fahrt beinahe vollständig. Goémond stieg mit zwei Män‐ nern nach oben. Der dritte ging bei der Concierge vorbei und stieß mit einem Generalschlüssel in der Hand auf dem Treppenabsatz wieder zu seinen Kameraden. Sie traten ein, machten einen Rundgang durch die Wohnung, als wäre es die eigene, und stöberten die chinesische halbautomatische Pistole ganz unten im Schrank auf. «Da wird sich der Minister aber freuen», sagte einer der Subalternen. «Garantiert kriegen wir da mal wieder das berühmte internationale Komplott um die Ohren, das volle Programm.» Goémond durchbohrte ihn mit Blicken, und der Be‐ amte verstummte sogleich. Einer der Männer mußte sich in der Wohnung auf die Lauer legen. Der Kommissar und seine beiden vertrau‐
enswürdigsten Polizeibeamten fuhren daraufhin Rich‐ tung 15. Arrondissement. Es war tiefe Nacht, als sie bei Treuffais ankamen. Der arbeitslose Philolehrer reagierte beim zweiten Klingeln. Er öffnete die Türe einen Spalt‐ breit. «Was ist denn ...» Sofort versetzte Goémond dem Türflügel mit ganzer Kraft einen Fußtritt. Treuffais wurde nach hinten ge‐ schleudert. Die drei Polizisten drangen blitzschnell ins Innere der Wohnung vor. So wie der Kommissar die Tür hinter sich zuknallen hörte, packte er Treuffais, der ge‐ rade sein Gleichgewicht wiedererlangte, bei den Haaren, knallte seinen Kopf gegen die Wand, verpaßte ihm mit der Linken einen Leberhaken und mit dem Knie einen Schlag in die Weichteile. Treuffais klappte zusammen, ein quietschendes Geräusch drang aus seiner Kehle, er fiel auf die Knie und erbrach sich auf den Fußboden. Goémond machte einen Satz nach hinten, gerade noch rechtzeitig, um nicht vollgespritzt zu werden, und ver‐ paßte Treuffais einen Tritt seitlich an den Kopf. Der junge Mann fiel endgültig zu Boden und krümmte sich an der Wand zusammen. Er versuchte sich zu schützen. Goémond trat ihm auf die Hand. Packte ihn dann erneut an den Haaren und schleifte ihn durch die ganze Diele bis ins Wohnzimmer. Dort kniete er sich dann auf den Bauch des Philolehrers, ergriff ihn an den Ohren und knallte seinen Schädel auf den Fußboden. «Wo ist der Botschafter?» Treuffais versuchte auszuspucken, schaffte es aber nur, sich selbst übers Kinn zu sabbern. Goémond haute ihm den Kopf abermals aufs Parkett. «Wo ist der Botschafter?» «Fick dich selbst», murmelte der junge Mann.
Der Kommissar ließ ihn los und stand lächelnd auf. «Du fragst mich gar nicht, wer ich überhaupt bin? Hast du sofort kapiert, daß wir Flics sind? Du fragst gar nicht, welcher Botschafter? Und wovon ich eigentlich rede? Hast du das sofort kapiert? Das ist doch merkwürdig.» Treuffais sah ihn an. «Sie sind von der Polizei!» rief der Philolehrer. «Ich glaub Ihnen nicht! Zeigen Sie mir mal Ihren Ausweis!» «Spiel nicht den Deppen, dafür ist’s zu spät», sagte Goémond und setzte sich in den Sessel von Treuffais’ Vaters. «Du weißt, daß wir Flics sind. Es sei denn, du nimmst an, wir könnten die CIA sein und würden nach Poindexter suchen. Klar, der Gedanke dürfte dir durch deine kleine romantische Birne gespukt sein. Tja nun, vergiß die Romantik und sei Realist. Wir haben Buena‐ ventura Diaz und André Épaulard geschnappt. Épaulard ist ein ganz Zäher. Der will nicht reden. Aber dein Kumpel Diaz, den hast du richtig eingeschätzt, das ist ein Scheißkerl. Mich persönlich widert der wirklich an. Ich hab ja schon Typen die Hose runterlassen sehen, aber nicht in dem Tempo. Schon nach einer Viertelstun‐ de hat der uns deinen Namen und deine Adresse ge‐ nannt. Er behauptet sogar, du hättest den Motorradpoli‐ zisten bei dem Überfall getötet. Aber ich glaub das nicht, weil ich weiß, daß du nicht am Tatort warst. Ich weiß bestens Bescheid, wie du siehst. Du brauchst dir also gar keinen mehr abbrechen.» Goémond lächelte und wartete auf eine Antwort. Sie kam nicht. «Wo ist Botschafter Poindexter?» fragte der Kommis‐ sar noch einmal. Schweigen. Goémond seufzte und machte seinen Un‐
tergebenen mit dem Kopf ein Zeichen. Diese packten Treuffais und begannen nun, richtig auf ihn einzuprü‐ geln. «Wenn du’s satt hast, dann sag’s mir», meinte Goé‐ mond.
23 Meyer, Buenaventura, Épaulard und Cash aßen zusam‐ men im Gemeinschaftsraum, vor einem schönen roten und zischenden Holzscheit, das von Zeit zu Zeit knackte. Sie redeten wenig. Dann ging Buenaventura hinauf, um D’Arcy bei dem Gefangenen abzulösen, und der Alko‐ holiker kam seinerseits zum Essen herunter, und zum Trinken. Sie hielten sich mehrere Stunden vor dem Feu‐ er auf und beschworen Erinnerungen und plauderten. «Ich versteh eure Beweggründe nicht», sagte Épaulard. «Du verstehst deine eigenen», erwiderte Cash. «Das genügt.» «Wenn’s nur um meine ginge, dann hätte diese Ent‐ führung niemals stattgefunden.» «Das gilt auch für mich», erklärte Meyer, der fast nie etwas sagte. «Ich hatte die Schnauze voll vom Leben, so wie wir’s führen, ja. Da mußte einfach irgendwas kra‐ chen. Vielleicht hätte ich meine Frau umgebracht. Oder ‘ne Tankstelle überfallen. Aber das hier ... Was wir getan haben, nein, niemals. Buenaventura und Treuffais haben sich doch das Ganze ausgedacht.»
«Aber politisch gesehen, ist das blödsinnig», meinte Épaulard. «Dann denkst du also wie Treuffais?» «Weiß ich nicht, vielleicht. Ich weiß nicht, was Treuf‐ fais denkt.» «Treuffais hat die Muffen bekommen», meinte D’Arcy. «Der ist ein Intellektueller. Der wird sein gan‐ zes Leben lang weiter Scheiße fressen und Danke sagen und bei den Wahlen einen ungültigen Stimmzettel abge‐ ben. Die neuere Geschichte kann nur Scheißefresser produzieren.» Der Alkoholiker goß sich ein Glas ein. «Ich trink auf uns», fügte er mit schwerer Zunge hin‐ zu. «Ich trink auf die Desperados. Und es ist mir scheiß‐ egal, ob ich politisch gesehen richtig oder daneben liege. Die neuere Geschichte hat uns geschaffen, und das be‐ weist, daß die Zivilisation ihrem Untergang entgegeneilt, auf die eine oder andere Weise, und glaubt mir, ich will lieber im Blut als in der Kacke enden.» Er leerte sein Glas. «Dir seid so beschissen langweilig wie der Tod», setzte er noch mal an. «Hört auf zu quatschen. Haltet den Mund. Ihr kotzt mich an.» Cash stand auf. «Ich geh ins Bett. Komm», sagte sie zu Épaulard. Épaulard lachte kurz auf und erhob sich ebenfalls. «Schönen Abend», wünschte er den anderen. «Schönen Abend, Genosse», sagte Meyer. «Schönes Bumsen, ihr Verliebten», schloß D’Arcy. Épaulard stieg die Treppe hoch. Cash war vorgegangen, und als er das Zimmer betrat, erwartete sie ihn be‐ reits fröstelnd unter der Decke des großen Bettes. Épau‐ lard zog sich mit einer gewissen Nervosität aus, schlief
mit Cash und zeigte sich dabei zunehmend nervöser, und dann war alles sehr rasch zu Ende. Épaulard kochte in‐ nerlich vor Scham und Enttäuschung. Nach einer Weile versuchte er es wieder von neuem. Er rackerte sich lange ab. Seine Anstrengungen blieben fruchtlos. Letzten En‐ des schob Cash ihn sanft weg. Den Kopf auf dem Kissen, schnaufte Épaulard wie ein Maulesel und knirschte mit den Zähnen. Cash küßte ihn auf die Schulter. «Ich taug zu nichts mehr, auf keinem Gebiet», sagte Épaulard. «Alter Idiot», entgegnete Cash zärtlich. «Das ist die Anspannung. Das ist die Angst. Morgen wird’s besser gehen.» Sie streichelte ihm freundlich die Wange, Épaulard sah jedoch, daß sie enttäuscht war, und das war nicht wiedergutzumachen. Cash irrte sich, morgen würde es nicht besser gehen. Morgen würden sie tot sein.
24 Treuffais befand sich in einem halbkomatösem Zustand. Einer der Polizeibeamten bearbeitete ihn ziemlich lust‐ los mit Fußtritten. Der andere filzte währenddessen die Wohnung. In Vaters Sessel niedergelassen, betrachtete Goémond verärgert seinen am Boden liegenden Gefan‐ genen, der nicht mehr auf die Schläge reagierte. Er stand auf und ging hinüber in die Küche, zu seinem anderen Subalternen, der die oberflächliche Haussuchung gerade beendete. «Redet er noch immer nicht?» fragte der Mann. Goémond schüttelte den Kopf. «Haben Sie mal versucht, ihm die Eier zu zwirbeln?» «Das war Folter», erwiderte Goémond. «Bei uns wird nicht gefoltert. Na ja, werden mal sehen, wenn er stur bleibt. Haben Sie irgendwas entdeckt?» Der Polizeibeamte nickte und breitete auf dem Kü‐ chentisch diverse Gegenstände aus. Einen bleigefüllten Schlagstock. Ein Dutzend Scheckhefte auf verschiedene Namen, allesamt neu. Einen Terminkalender. «Gestohlene Schecks», sagte er. «Ziemlich mager.» «Ich geh jede Wette ein, daß die Dinger von dieser
BNP‐Filiale stammen, die am 27. Mai 1970 von der Proletarischen Linken GP geplündert wurde.» «Die Wette halt ich», meinte Goémond, «aber viel‐ leicht haben Sie ja recht. Das bringt uns aber nicht viel weiter. Sehen wir uns mal den Terminkalender an.» Er blätterte ihn durch. Das Büchlein war noch jung‐ fräulich. Ganz hinten aber befand sich ein Adreßver‐ zeichnis. Der Kommissar studierte es mit Interesse und fand schließlich die Anschriften von André Épaulard und Buenaventura Diaz. «Du rufst die Firma an», sagte Goémond. «Sag denen, sie sollen zu sämtlichen Adressen in diesem Verzeichnis Männer hinschicken, damit die sich dort mal umsehen, ob was faul ist, ob die entsprechenden Leute da sind. Aber ohne ihnen möglicherweise ‘nen Floh ins Ohr zu setzen. Sie sollen sich plausible Vorwände ausdenken.» «Plausible Vorwände mitten in der Nacht», rief der Polizist aus. «Die werden schon welche finden.» «Versuchen wir es auch bei den Adressen in der Pro‐ vinz?» «Wir versuchen alles. Aber was die Provinz angeht, da warten wir noch bis morgen früh. Ich werd das direkt mit dem Ministerium regeln.» «Gut.» Der Polizeibeamte ging zum Telefonieren in die Diele. Goémond kehrte in das schäbige Wohnzimmer zurück. Er hatte nicht zu Abend gegessen und fühlte sich allmählich müde. Treuffais lag nach wie vor am Boden. Der andere Polizist hatte sein Jackett abgelegt und rauchte eine Zigarette, in einem Leinenholster unterm Arm trug er einen Colt .38, eine nicht vorschriftsmäßige Waffe.
«Noch immer nicht willig?» fragte Goémond Treuf‐ fais. «Ich fick dich in den Arsch, Dreckschlampe», mur‐ melte jener. Der hemdsärmelige Polizeibeamte verpaßte ihm einen trägen Tritt. «Du begreifst also nicht, daß wir deine Kumpels so‐ wieso kriegen, wo wir Diaz und Épaulard doch schon haben? Wenn du uns hilfst, verschaffst du uns nur einen kleinen Zeitgewinn. Ist doch wirklich nicht unehrenhaft, sich geschlagen zu geben, wenn man’s sowieso ist. Ich nenn das Realismus. Und falls du uns hilfst, könnte ich auch was für dich tun.» «Sie haben schon viel zuviel für mich getan, Dreck‐ schlampe.» Das ist gut, dachte sich Goémond, er entschließt sich, die Schnauze ein bißchen aufzumachen. Auch wenn er’s nur macht, um mich eine Dreckschlampe zu nennen, so ist es doch ein Fortschritt. Der Kommissar kaute auf sei‐ nem Schnurrbart herum. «Sie werden noch ganz schön in die Scheiße kommen, das kann ich Ihnen versprechen», sagte Treuffais matt. «Wir sind noch lange nicht miteinander fertig, wenn Sie wirklich Bullen sind. Weil ich nämlich nichts getan hab, ich weiß von gar nichts, und Sie, Sie tanzen einfach ohne Haftbefehl hier an und foltern mich. Ich garantier Ihnen, daß ich Strafanzeige erstatten werde.» «Armes Lämmchen», erwiderte Goémond. «Das redet von Folter und weiß gar nicht, wovon es redet.» «Sie werden mir niemals irgendwas zur Last legen können, weil ich nämlich nichts getan hab», versicherte Treuffais erschöpft. «Hehlerei mit gestohlenen Schecks», lachte Goémond
hämisch. «Das reicht erst mal für eine Weile. Anschlie‐ ßend werden wir Angriff auf die Sicherheit des Staates und Beihilfe zum Mord ins Auge fassen. Ich kann dich so lange festhalten, wie ich will. Ich werd dich so lange festhalten, bis du redest.» «Dann verhaften Sie mich doch», sagte Treuffais. «Stecken Sie mich doch ins Gefängnis. Sie haben über‐ haupt kein Recht dazu, in meiner Wohnung zu bleiben und mich hier festzuhalten.» «Das Recht nehm ich mir, wie’s mir gefällt», entgeg‐ nete Goémond. «Na gut, wenn das so ist», sagte Treuffais und begann aus Leibeskräften zu brüllen. Der Kommissar sprang auf und drückte Treuffais sei‐ ne Schuhsohle auf den Mund. Es kam zu einem kurzen Kampf. Der andere Polizist stürzte hinzu. Treuffais war es gelungen, sich aufzurichten, und nun schrie er aus voller Lunge. Goémond holte einen Ochsenziemer aus seiner Jacke und schlug ihn dem jungen Mann auf den Kopf, der sofort verstummte und ganz schlaff wurde. Ir‐ gendwo in den unteren Stockwerken hämmerten über den Lärm verstimmte Hausbewohner mit einem Besen gegen die Rohrleitungen. «Was machen wir jetzt?» fragte der Polizist. «Buchten wir ihn ein?» «Ich glaub, es muß sein. Nichts Offizielles, he? Wir werden ihn nur eine Weile in der Firma festhalten.» «Bei den Politischen muß man sich trotz allem in acht nehmen», hielt der Polizeibeamte dagegen. «Der ist im‐ stande und stellt hinterher Strafanzeige.» «Hinterher, mein Kleiner, das kannst du mir glauben», sagte Goémond, «wird ihm der Sinn nicht mehr unbe‐ dingt danach stehen.»
25 «Worum geht’s?» «Ich bin hier doch richtig bei Monsieur Lamour?» «Ja. Der bin ich. Worum geht’s? Wissen Sie eigentlich, wie spät es ist? Wer sind Sie denn?» «Renseignements Généraux.» «Sie sind von der Polizei?» «Ja.» «Aha, dann treten Sie doch ein, treten Sie ein! Was kann ich für Sie tun?» Monsieur Lamour entriegelte beflissen das Gartentor. Die beiden Polizisten folgten ihm über den Sandweg und betraten das freistehende Einfamilienhaus. Madame La‐ mour, in Lockenwicklern, stand besorgt an der Treppe. «Um was geht es denn, Joseph?» «Diese Herren sind von der Polizei. Geh nur hoch und leg dich wieder schlafen.» «Aber was ist denn los?» «Madame Lamour, vermutlich?» sagte einer der Poli‐ zisten. «Ja. Was ist denn los?» «Sie kennen doch einen gewissen Marcel Treuffais?»
«Diesen Taugenichts!» erwiderte Huguette Lamour. Monsieur Lamour, Direktor des Cours Saint‐Ange, hatte anschließend eine seines Erachtens zu kurze Unter‐ redung mit den beiden Flics. Bedauerlicherweise kannte er Treuffais’ Freunde nicht, Sie können sich ja wohl denken, daß er mit solchen Leuten nicht verkehrte, und leider sagten ihm auch die Namen Buenaventura Diaz und André Épaulard nichts. Aber was hatte dieser Gau‐ ner Treuffais eigentlich getan? «Eine einfache Überprüfung. Allerdings muß sie rasch und behutsam durchgeführt werden. Die Untersuchung darf sich nicht herumsprechen, verstehen Sie? Jedenfalls nicht vor Montagmorgen. Ich hoffe, wir können auf Ihre Verschwiegenheit zählen?» «Die französische Polizei kann immer auf mich zäh‐ len», bekräftigte der Direktor der Lehranstalt. An verschiedenen anderen Punkten von Paris und der Banlieue, bei den Anschriften, die in dem Adreßbuch von Marcel Treuffais eingetragen waren, fanden ähnliche Besuche statt.
26 Annie Meyer starb fast vor Angst. Das war schon die zweite Nacht, die sie allein verbrachte, und sie wußte nicht einmal, wo sich Meyer aufhielt, auch nicht, in wieviel Tagen er wieder nach Hause kommen würde. Sie malte. Auf ihrem Bild waren zwei in der Wüste stehende Gebäude zu sehen, die jedoch durch einen grauenerre‐ gend dahinströmenden Wildbach aus Schlamm und Scheiße voneinander getrennt waren. Um die Häuser zu verbinden, malte Annie einen Steg, der ihr aber gefähr‐ lich zerbrechlich erschien. Plötzlich sprang sie auf, denn sie glaubte, ein Geräusch gehört zu haben. Sie nahm das Küchenmesser, das ihr zwar angst machte, das sie aber überall in der Wohnung mit sich herumtrug, um sich ge‐ gen jeden Angriff verteidigen zu können. Die Klinge voran, schritt sie die beiden Zimmer ab. Dann kehrte sie zu ihrem Zeichentisch zurück und verbesserte den Steg. Sie machte daraus einen hängenden, hermetisch ge‐ schlossenen Tunnel. Anschließend fing sie an, all die Taipings zu zeichnen, und die Boxer, Thugs, Sikhs, Bo‐ ches und Mandingos, die vom Horizont herbeirannten
und versuchten, das Doppelhaus zu stürmen. In diesem Moment klingelte es an der Tür. Annie erstarrte. Sie verharrte reglos, hielt den Atem an. Wieder klin‐ gelte es, länger diesmal. Die junge Frau begann mit den Zahnen zu klappern. Sie hörte Geflüster auf dem Trep‐ penansatz oder glaubte, es zu hören, sowie das Schar‐ ren von Füßen. Dann endlich, nach mehrmaligem hefti‐ gem Klingeln, ging der Aufzug. Fuhren die Eindringlinge tatsächlich wieder hinunter, oder war das bloß eine Falle? Nachdem sie noch einige Dutzend Sekunden völlig bewegungslos geblieben war, schlich Annie auf Zehen‐ spitzen zum Fenster, öffnete es, beugte sich hinaus. Zwei dunkle Mäntel waren gerade aus dem Wohnhaus getreten, und der eine von ihnen hob den hellen Fleck seines Gesichts zur Fassade empor. Schon reckte er den Zeigefinger in Annies Richtung. «Aber da oben ist doch jemand!» hörte sie ihn zu sei‐ nem Komplizen sagen. Die junge Frau warf sich zurück. Ihre Zähne schlugen fürchterlich aufeinander. Einen Augenblick später hörte sie sie schon die Treppe heraufkommen, sie nahmen die Stufen schnell, laut, forsch. In dem Moment wurde ihr jäh bewußt, daß sie ja eine Verrückte, eine Geisteskranke war, und daß Meyer nur fortgegangen war, um sie von Krankenpflegern mit prallem Geschlecht, die sie in die Irrenanstalt schaffen würden, abholen zu lassen. Und wie dann plötzlich ein Hagel Faustschläge auf die Woh‐ nungstür niederging, stürmte Annie ins Badezimmer, er‐ griff Meyers großes Rasiermesser und schlitzte sich un‐ geschickt die Kehle auf. Beim Anblick des spritzenden Blutes packte sie helles Entsetzen. Sie stieß ein Brüllen
aus. Und rannte genau in dem Augenblick in die Diele, als die Flics die Tür aufbrachen. «Zu Hilfe!» schrie Annie ihnen zu, während sie, die Hände auf ihren Hals gepreßt, versuchte, ihr Blut zu‐ rückzuhalten.
27 Im Morgengrauen glitt Cash aus dem Bett, in dem Épaulard schlief. Der fünfzigjährige Mann schlug die Augen auf. «Wo gehst du hin?» «Meine Kaninchen füttern.» «Kommst du zurück?» «Ja. Schlaf weiter.» Cash ging hinaus. Épaulard setzte sich im Bett auf. Er verzog das Gesicht. Seine nächtlichen Anstrengungen hatten ihm unangenehme Gliederschmerzen eingebracht. Er stöberte in den Taschen seiner auf dem Holzfußboden liegenden Hose und zog seine Zigaretten und Streichhöl‐ zer daraus hervor. Er rauchte im grauen Dämmerlicht. Es gelang ihm nicht, sich eine Zukunft auszumalen. Er glaubte nicht, daß das Lösegeld gezahlt, daß er in der kommenden Woche reich sein würde. Er konnte sich nicht einmal vorstellen, noch am Leben zu sein. Schließlich stand er auf und zog sich an. Er ging hin‐ unter. Der Kamin im Gemeinschaftsraum war kalt und schwarz. Buenaventura trank Kaffee und hörte leise Ra‐ dio.
«Salut», sagte Épaulard und hustete auf seine Ziga‐ rette. «Salut.» «Hast du Cash gesehen?» «Sie füttert ihre Kaninchen.» «Hmm», brummelte Épaulard und ließ sich am Tisch nieder. Er schenkte sich Kaffee ein. «Ein komisches Mädchen», sagte er. «Ein prima Mädchen», hielt Buenaventura dagegen. «Kennst du sie schon lange?» «Ja, ziemlich.» «Habt ihr miteinander geschlafen?» «Nein», erwiderte Buenaventura. «Sie wollte nichts von mir wissen.» Épaulard senkte den Blick auf seinen Kaffee. «Du hast kaum gepennt», bemerkte er. «Fünf Stunden. Das reicht völlig.» «Was Neues im Radio?» «Nichts. Die gehen mir auf den Wecker. Wir brauchen gar nicht damit zu rechnen, daß die uns wegen des Lösegelds eher ‘ne Antwort geben als im allerletzten Moment. Aber trotzdem. Ich werd langsam nervös.» In einer schmierigen Schaffellwendejacke kam Cash hinten von der Hofseite her wieder in den Raum, ihr blondes Haar hing ihr ins Gesicht. Sie warf die Strähnen mit der Hand zurück. «Dann stehen jetzt wohl alle auf, wenn ich das richtig sehe ... Ich trink auch was.» Sie setzte sich, goß sich eine Schale Kaffee ein und drehte die Lautstärke des Radios hoch. Der Transistor begann jämmerlich zu meckern. «Scheiße. Die Batterien.»
«Haben wir keine zum Wechseln?» «Nein.» «O Scheiße.» «Ich werd um neun welche besorgen», meinte Cash. «Wenn die Geschäfte in Couzy aufhaben.» «Ich fahr mit dir», sagte Buenaventura. «Warum?» «Ich hab’s satt, hier untätig rumzuhocken. Das geht mir auf die Nerven.» «Dann fahr du sie doch mit dem Dauphine holen. Ich bleib genauso gern hier.» «Okay.» Buenaventura stand auf. «He», meinte Cash. «Du mußt trotzdem noch warten. Die Geschäfte machen erst um neun auf.» «Gut.» Der Katalane setzte sich wieder.
28 Goémond hatte es seinen Untergebenen überlassen, sich weiter um Treuffais zu kümmern, und war gegen zwei Uhr morgens nach Hause gegangen, um sich ein Schläf‐ chen zu gönnen. Um acht schreckte ihn das Klingeln des Telefons hoch, er torkelte aus dem Bett und ergriff den Apparat. «Hallo?» rief er, auf seine Armbanduhr blickend, und fluchte innerlich, als er feststellte, wie spät es war. «Kommissar, ich glaub, wir haben sie!» Am anderen Ende der Leitung bebte die Stimme des Subalternen vor jugendlichem Überschwang. Er teilte die näheren Einzelheiten mit. Im Rahmen der Über‐ prüfung aller Adressen aus Marcel Treuffais’ Termin‐ kalender hatten sie gerade einen Hotelpächter ein biß‐ chen ausquetscht, und zwar in bezug auf die besagte Véronique Cash, die angeblich in dessen Etablissement wohnte, aber seit zwei Wochen nicht mehr dort auf‐ getaucht war. «Na und?» meinte Goémond wutschnaubend. Er fühlte sich erschöpft. Die sechs Stunden Schlaf schienen ihm in keiner Weise gutgetan zu haben. Über‐
dies haßte er es und fand es höchst kränkend, daß wich‐ tige Entwicklungen eintraten, während er schlief. Er hatte eine Stinklaune. Da stand er nun im weinroten Py‐ jama neben dem Bett und betrachtete grimmig sein Stu‐ dio‐Küche‐Bad, eine kürzlich getätigte Anschaffung. Er fand das eine Zimmer mit einemmal abscheulich, eng, stinkend und total schlecht geschnitten. «Weil sie zu dieser Sorte von Mädchen gehört, nicht wahr, zu den undurchsichtigen und, wie’s scheint, mehr oder weniger ausgehalten, eine Giftnudel mit unverhoh‐ lenen Sympathien für das Chaos, sind unsere Jungs ei‐ genmächtig vorgeprescht und haben ihm Fotos gezeigt.» «Wem?» «Na, dem Pächter, Kommissar ...» «Klar, und?» «Er hat Diaz identifiziert.» Goémond biß auf seinen Schnurrbart, suchte mit der linken Hand nach seinen kleinen holländischen Zigarren und gab sich dann einer recht verzwickten Gymnastik hin, um sich eine anzuzünden, ohne den Hörer loszulas‐ sen. «Diese Monique ...» «Véronique, Kommissar, Véronique Cash.» «Monique oder Véronique ... Unterbrechen Sie mich nicht!» brüllte Goémond. «Diese Puppe da, ist das die mit den zwei Adressen in dem Buch?» «Genau, Kommissar. Ihre andere Adresse ist sechzig Kilometer außerhalb von Paris, mitten in der Pampa auf dem flachen Land, und da haben wir uns ein paar Fragen gestellt und uns Antworten dazu überlegt ...» «Mein kleiner Pascal», sagte Goémond mit leuchten‐ den Augen, «rühren Sie sich nicht vom Reck, tun Sie absolut nichts, ich flitze erst zum Inneren.»
«Zum Inneren wovon?» fragte der Subalterne, der nach einer schlaflosen Nacht nicht intelligenter war als am Tag zuvor. «Zum Place Beauvau, Hornochse!» röhrte Goémond. «Warten Sie meine Befehle ab!» Er legte auf, zog seinen Schlafanzug aus, vernachläs‐ sigte seine täglichen Leibesübungen, kleidete sich an wie der Blitz (weißes Kunstfaserhemd, dunkelbrauner Anzug, blaue Krawatte mit rotem Karo) und rasierte sich elektrisch. Bevor er losging, öffnete er noch das Fenster zum Lüften. Unten im Haus gab es zwischen einem Waschsalon und einem Jugendclub eine hell erleuchtete Imbißstube, dort stürzte er eine Tasse starken schwarzen Kaffee hinunter. Das Wohnhaus war ein Neubau in der Nähe der Seine. Dort, wo sich im Erdgeschoß keine Ge‐ schäfte befanden, waren die weißen Wände mit Graffiti in schreienden Farben vollgeschmiert, meist obszön, immer beleidigend, im allgemeinen drohend. Goémond bezahlte seinen Kaffee und verließ den Imbiß. Er stieg in seinen Renault 15, der vor dem einem großen roten Graf‐ fito Stand: ZITTERT, IHR REICHEN, EUER PARIS IST UMZINGELT, WIR BRENNEN ES NIEDER. Der Wagen raste zum Place Beauvau. Der Büroleiter des Innenministers hatte dunkle Ringe unter den Augen. «Und diese Selbstmörderin?» fragte er. «Genau darum geht es!» rief Goémond aus. «Diese Frau Meyer liegt im Hôtel‐Dieu auf der Intensivstation und ist noch nicht in der Verfassung, vernommen zu werden, doch sie wird es überstehen. Die kann wirklich behaupten, daß sie uns das Leben verdankt!» «Haben Sie sonst irgendwelche Neuigkeiten?» «Das will ich meinen!» entgegnete Goémond und be‐
richtete seinem Gegenüber von dem, was er soeben er‐ fahren hatte. «Sie haben keinerlei Beweise, nur Vermutungen», sagte der Büroleiter, «daß sie sich auf dem Land bei dieser Monique Cash aufhalten.» «Véronique», berichtigte Goémond automatisch. «Mir reichen diese Vermutungen, um das Gelände umstellen zu lassen.» «Gut. Was ziehen Sie vor: CRS oder mobile Gendar‐ merie?» «CRS.» «Nun, ich gebe Ihnen aber lieber die mobile Gendar‐ merie. Damit sich nicht immer dieselben die Hände schmutzig machen. Ich werde den Minister der Streit‐ kräfte anrufen. Und außerdem muß ich den Präfekten des Departement Seine‐et‐Marne unterrichten. Er wird an den Ort des Geschehens kommen wollen. Wir werden ihn am Ende der Belagerung benachrichtigen, wenn es überhaupt zu einer Belagerung kommt.» «Würde mich wundern, wenn’s zur Belagerung kä‐ me», meinte Goémond. «Die französischen Linksradi‐ kalen sind doch Schlappschwänze. Die werden sich er‐ geben.» «Die haben schon zwei Leute getötet, darunter einen Motorradpolizisten.» «Die werden sich trotzdem ergeben.» «Ich bin ganz im Gegenteil davon überzeugt, daß sie schießen werden», wandte der Büroleiter ein. Goémond warf ihm einen scheelen Blick zu und zog eine kleine Zigarre hervor, die er bedächtig anzündete, um sich Zeit zum Nachdenken zu verschaffen. «Und außerdem», fragte der andere, «glauben Sie denn, es ist die Mühe wert, sie lebend zu bekommen?»
«Wenn’s nach mir allein ginge, dann würd ich die an die Wand stellen, das wissen Sie doch genau.» «Davon weiß ich nichts, Goémond!» «Gut, nun ja, ich sag’s ja nur Ihnen. Aber ich denke an ihre Geisel, nicht wahr ...? Ein Botschafter ...» «Ja», meinte der Büroleiter. «Wenn die ihn während des Sturmangriffs liquidieren, wie entsetzlich! Es kommt vor, daß eine winzige Minderheit der Öffentlichkeit eine unreflektierte Sympathie für die extreme Linke empfin‐ det, allerdings ist diese Sympathie nicht mehr möglich, wenn diese Linksradikalen ihre wahre Natur offenbaren und kaltblütig einen wehrlosen Gefangenen ermorden.» «Ja», überlegte Goémond, «und was diese Leute be‐ trifft, die wir suchen, so haben die bereits den Beweis für ihre Grausamkeit geliefert, als sie zwei Polizisten umgebracht haben.» «Einen Polizisten, Goémond. Einen Polizisten und ei‐ nen Hausangestellten.» «Das ist richtig. Was für eine Verachtung des mensch‐ lichen Lebens!» seufzte der Kommissar. «Ich wäre nicht überrascht, wenn die ihre Geisel er‐ mordeten», meinte der Büroleiter. Goémond schaute ihn an. «Und Monsieur le Ministre, wäre der denn nicht über‐ rascht?» «Nein.» «Und die Amerikaner, wären die denn nicht über‐ rascht?» «Goémond, ein disziplinierter Polizist darf sich nicht um Politik scheren, vor allem nicht um internationale, muß ich Sie daran erinnern?» «Nein, Monsieur. Gut, Monsieur», sagte der Kommis‐ sar.
29 Treuffais war mit einem Paar Handschellen an den Heizkörper gefesselt. Er saß auf dem Boden, den Rük‐ ken an der Wand. Goémond kam herein, seine kleine Zi‐ garre im Maul. «Kleiner», sagte der Kommissar, «ich wollte dich noch mal sehen, bevor ich aufbreche. Wir wissen, wo sich deine Kumpels aufhalten und wo der Botschafter Poindexter ist.» Treuffais antwortete nicht. «Willst du rauchen?» «Gern.» Goémond holte den Zigarillo aus seinem Mund und hielt ihn Treuffais vor die Nase. «Wenn es dir nichts ausmacht, was zwischen die Lip‐ pen zu nehmen, das ein Flic schon mal im Mund hat‐ te ...» «Was soll mich das schon jucken?» Goémond zuckte mit den Schultern und steckte dem Gefangenen den Zigarillo in den Mund. Treuffais be‐ gann genüßlich zu rauchen. Der Kommissar richtete sich wieder auf.
«Du bist mir sympathisch», behauptete er. «Ich werd dir gegenüber mit offenen Karten spielen. Ich will zugeben, daß ich mir überhaupt nicht sicher bin. Ich ge‐ be zu, daß ich nicht weiß, wo deine Kumpels stecken und daß ich weder Diaz noch Épaulard verhaftet hab.» Treuffais nahm den Zigarillo mit der Linken von den Lippen. Er zitterte leicht vor Kälte. Der Heizkörper war abgestellt. Der junge Mann trug nur ein hellblaues Baumwollhemd und eine sehr abgetragene Samthose. Sein Körper schmerzte, und sein Atem roch ekelerre‐ gend, aber sein Gesicht war nicht gezeichnet. Sämtliche Schläge hatten woanders getroffen. Er beobachtete Go‐ émond nachdenklich. «Andererseits glaube ich zu wissen, wo deine Freunde sind», fuhr der Kommissar fort. «Und wenn sie wirklich da sind, wo ich sie vermute, könntest du mir das doch bestätigen, damit würd ich ein wenig Zeit gewinnen, deine Kumpels wären auch nicht schlechter dran, und dir, dir würd’s nicht schaden, ein wenig guten Willen an den Tag zu legen.» Treuffais schwieg. «Abgesehen von Diaz und Épaulard», erklärte Goé‐ mond, «gibt’s da noch zwei weitere Typen, und ich denk, die sind bei Véronique Cash, in Couzy. Was sagst du dazu?» Treuffais sagte nichts dazu. Nur sein Schlottern ver‐ stärkte sich. Goémond zuckte mit den Achseln und ent‐ riß ihm den Zigarillo. Er zermalmte ihn in seiner Faust, zerbröselte ihn und ließ einen Regen aus Tabak, Glut und Asche auf dem Kopf des Gefangenen niedergehen. «Wie du willst», sagt er noch. «Ich fahr jedenfalls nach Couzy. Und sollte ich da schiefliegen, nehmen wir diese kleine Unterhaltung später wieder auf.»
«Warten Sie», rief Treuffais. «Ich hab die Schnauze voll. Ich werd Ihnen sagen, wo sie sind.» Goémond ging zur Tür. «Sie sind auf Korsika!» schrie Treuffais. «Sie haben ein Privatflugzeug benutzt. Sie wollten sich irgendwo auf Korsika verstecken, aber ich weiß nicht wo. Ich schwör’s Ihnen, das ist die Wahrheit.» «Erzähl mir nichts, du Niete», sagte Goémond nur und ging hinaus.
30 «Monsieur wünschen?» fragte der Eisenwarenhändler vom Lande kauzig. «Sechs Batterien, anderthalb Volt.» «Welche Größe, Monsieur? Wir hätten die hier, und die hier ...» «Die da.» «Sechs, haben Sie gesagt?» «Ja.» Der Kaufmann packte die sechs Batterien in eine kleine Tüte mit Werbeaufdruck. Buenaventura bezahlte und verließ den Laden. Er hatte keine Lust, sofort wie‐ der auf den Hof zurückzukehren. Das Nichtstun machte ihn langsam rasend. Er ging an dem am Bürgersteig par‐ kenden Dauphine vorbei und betrat das «Civette de Couzy», eine Bar‐Tabac, die an der Ecke von Route Départementale und Marktplatz des Örtchens lag. Der Katalane stellte sich an die Theke und bestellte einen Marc. Am Ende des Tresens tranken dick eingemummte, verdreckte Kohlenhändler Glühwein. Eine fünfzigjähri‐ ge Frau mit einem Busen so gewaltig wie ein Bauch strickte hinter der Kasse, vor den grauen Päckchen mit billigem Tabak. Deprimiert von der allgemeinen At‐
mosphäre aus Geduld, Dämmerzustand, Alkoholismus und Feuchtigkeit, drehte Buenaventura seinem Trester‐ schnaps den Rücken zu und lehnte sich an die Theke, um die Straße durch die Glastür zu beobachten. Die Fahr‐ bahn war naß, doch der Schnee darauf schon geschmol‐ zen, zurück blieben nur noch ein paar gräuliche, schwammige und abscheuliche Häufchen im Rinnstein. Der Katalane hätte sich gewünscht, daß Treuffais da wä‐ re. Er stellte sich vor, wie er mit seinem Kumpel eine Partie Poker spielte, eine Partie southern cross mit neun «Witwen» über Kreuz in der Mitte und fünf Karten in der Hand, ein ziemlich gemächliches Spiel, das einem Zeit zum Quatschen läßt. Ein großer grauer Bus voller Gendarmen fuhr auf der Straße vorbei. Buenaventura steckte die Hand in seine Tasche, zog einen Franc her‐ vor, legte ihn auf den Tresen, leerte sein Glas und ging eilig hinaus. Ein zweiter Bus kam vorbei. Der Katalane sah ihm nach, während er zum Dauphine rannte. Die nassen Gehsteige waren etwas rutschig. Der Katalane kletterte in den Wagen. Der Motor war zwar alt, aber noch warm. Er war bereit, sofort anzuspringen, und der Dauphine löste sich vom Bordstein. Buenaventura fuhr einmal um den kleinen Platz her‐ um und bog, den Gendarmeriebussen folgend, auf die D6partementstraße. Er entdeckte den zweiten gerade noch, als dieser acht‐ oder neunhundert Meter vor ihm in der Kurve eines kleinen Waldstücks verschwand. Der Katalane beschleunigte. Die alte Kiste vibrierte. Sein hinterer, völlig durchgerosteter Kotflügel schepperte und klapperte. Buenaventura erreichte die Kurve, schaltete zurück. Unweit davon zweigte linker Hand eine schma‐ le, als «Gemeindeweg» eingestufte Straße von der Departémentstraße ab und führte zu dem Gehöft. Einer
der Busse stand auf dem rechten Randstreifen; der ande‐ re war in den Gemeindeweg eingebogen und hatte mit‐ ten in der Einmündung angehalten, um sie zu versperren. Aus dem einen wie dem anderen Bus stiegen in Win‐ deseile Gestalten, in weiten schwarzen Regenmänteln mit Helmen und Karabinern bewaffnet. Buenaventura bremste im Vorbeifahren kaum ab. Er warf einen beiläu‐ figen Blick auf die Geschehnisse. Die Kohorten preschten schnurstracks den Gemeindeweg hinunter. Das einen halben Kilometer weiter gelegene Gehöft war von hier aus wegen der von den vielen Hügeln und Büschen ge‐ prägten Landschaft nicht zu sehen. Der Anarchist über‐ schlug kurz, daß die Flics den Hof in fünf bis zehn Mi‐ nuten erreichen konnten, doch sehr wahrscheinlich wür‐ den sie sich die Zeit nehmen, ihn behutsam zu um‐ zingeln, ohne die Bewohner aufzuschrecken, also gut zwanzig Minuten. Buenaventura gab Gas und versuchte, sich wieder an die Beschaffenheit des Geländes und der Verkehrswege in der Umgebung des Hofs zu erinnern. Legte ungefähr zwei Kilometer zurück, bis er auf eine weitere Abzweigung zur Linken stieß. Er bog ab, brauste durch den schmelzenden Schnee. Pfützen von kaltem Matsch zerplatzten unter seinen Reifen, stoben hoch, verdreckten die Seitenflächen des Dauphine und be‐ spritzten die Windschutzscheibe. Die Scheibenwischer arbeiteten nicht gut und das Wagenheck schlenkerte von einem Rand der schmalen Straße zum anderen. Als er glaubte, daß der Hof nun ungefähr zwischen ihm und den Flics liegen mußte, suchte der Katalane nach einem nach links abzweigenden Feldweg. Und er fand ihn. Buenaventura bremste, aber zu scharf. Die Rä‐ der blockierten. Der Dauphine drehte sich zweimal um die eigene Achse und rutschte über den rechten Rand‐
streifen von der Fahrbahn. Seine Vorderräder rutschten in einen Graben, und der Wagen blieb stehen. Buena‐ ventura wurde gegen das Lenkrad geschleudert, der Aufprall nahm ihm den Atem. Er öffnete die Tür und hechtete nach draußen. Zehntausend Schweißperlen schossen aus seiner Haut. Seine Kiefer waren zusammengepreßt. Ein dumpfes Grollen stieg aus seiner Kehle. Er streifte den löchrigen Ledermantel ab und warf ihn auf den Boden in den Schnee. Trat hinter den Dauphine, bückte sich und packte die Stoßstange. Mühsam stemmte er sich im Schlamm ab und zog mit ganzer Kraft an dem Wagen. Sein Gesicht wurde rot, die Adern an seinen schmalen Schläfen schwollen an. Plötzlich rutschte sein linker Fuß weg, und der Katalane fiel auf die Schnauze. «El Cristo en la mierda!» brüllte er grimmig. Er stand wieder auf und ging zur Vorderseite der Kar‐ re. Er sprang auf die Böschung, mitten durch das ver‐ schneite Dornengestrüpp. Stützte sich, seine Sohlen in den kalten Lehm gerammt, an der Böschung ab. Packte die vordere Partie des Wagens. Stieß einen Schrei hervor und hob dabei den Dauphine an, die Räder kamen aus dem Graben hervor, das Fahrzeug rollte rückwärts auf die Straße, und Buenaventura fiel mit allen vieren in den Graben voller Schlamm. Er bekam einen Schwächeanf‐ all und erbrach wütend den eben getrunkenen Marc – ein entschlossenes, nützliches und kurzes Würgen. Daraufhin kletterte er aus dem Graben, hob seinen Ledermantel wieder auf, setzte sich wieder ans Steuer. Ein vorsichtiges Manöver brachte den Dauphine zurück zur Einmündung des Feldwegs. Buenaventura bog im er‐ sten Gang in einen Weg ein, auf dem die Traktoren mächtige Radspuren hinterlassen hatten. Er beschleu‐
nigte ganz behutsam. Hier und da hatten sich tiefe Pfüt‐ zen gebildet, die er mit dem Schwung, den er hatte, überwinden mußte. Der Wagen schlitterte ständig zwi‐ schen den Rändern der Wagenspuren hin und her, wäh‐ rend er mit circa vierzig Stundenkilometern auf das Ge‐ höft zufuhr. Dieses war für Buenaventura noch nicht sichtbar. Baumgruppen, die Neigung des Geländes und die Mulde des Hohlwegs verbargen es vor ihm. Der Katalane klammerte sich ans Steuer. Sein blei‐ ches Gesicht war von Angst und dem Wunsch zu töten verzerrt. Der Schweiß auf seinem Gesicht war getrock‐ net, doch sein Oberkörper und seine Kleidung fühlten sich noch klatschnaß an. Er knirschte mit den Zähnen. Plötzlich kam der Dauphine auf offenes Gelände. Der Hof lag auf einem kleinen Plateau. Im Westen der zu ihm führende Gemeindeweg. Im Osten der schwarze Obstgarten, ein ausgedehntes verschneites Stoppelfeld – und Buenaventura. Gerade als er an den Rand des Plateaus gelangte, be‐ merkte der Katalane auf seiner Rechten, in einer Entfer‐ nung von einem Kilometer, schimmernde und bewaff‐ nete Schemen, die behende durch einen Streifen Busch‐ werk schlichen. Der Feldweg machte eine Biegung, führte ihn genau in jene Richtung. Buenaventura hielt an, stieg aus dem Auto, öffnete ein Wiesengatter. Wieder hinterm Steuer, fuhr er den Wagen auf das Feld und beschleunigte dann so stark wie möglich, und zwar so, daß der Dauphine einen Moment lang dicht über dem klebrigen Boden zu fliegen schien und dem Hof entge‐ gen sauste, aus dem kein Lebenszeichen kam, nichts au‐ ßer ein wenig hellgrauem Rauch vor dem hellgrauen Himmel.
Dort drüben zur Rechten brachen die schimmernden Gestalten nun aus der Deckung des Gestrüpps, und Bue‐ naventura erkannte aus dem Augenwinkel, daß sie von einer kleinen Schar von Männern in Zivil in dunklen Überziehern und hellen Regenmänteln angeführt wur‐ den. Plötzlich blieb der Dauphine stecken. Die Räder fraßen sich in eine Bodenwelle aus weichem, fettem Humus. Buenaventura schaltete zurück und gab Gas. Die Kupplung riß. Der Motor röhrte vergeblich, während der Wagen in die lehmige Erde einsank. Seinen Ledermantel unterm Arm, verließ Buenaventura das Auto und be‐ gann, auf das dreihundert Meter entfernte Gehöft zuzu‐ rennen. Er brüllte dabei aus voller Lunge.
31 Als Buenaventura aus voller Lunge zu brüllen begann, war es zehn Uhr morgens, und Sonntag. Der Botschafter Richard Poindexter aß gerade Eier mit Schinken, die man ihm ans Bett gebracht hatte. Meyer bewachte ihn, die Pistole auf dem Stuhl neben sich, und las mit einem Auge einen zerfledderten Science‐Fiction‐Roman. Die anderen waren unten. In der Küche wuschen Épaulard und Cash mit kaltem Wasser das Geschirr ab. Im Ge‐ meinschaftsraum trank D’Arcy neben dem Feuer ein Bier und schickte sich an, hinauf ins Bett zu gehen, denn er hatte seit zwei Uhr in der Frühe auf den Botschafter aufgepaßt. Der Alkoholiker runzelte die Stirn, stellte sein Bier ab und wandte sich mit schweren Schritten zum Eingang der Küche. «He! Hört ihr nichts?» Épaulard drehte sich um. «Nein», sagte der Ex‐FTPLer, doch als er D’Arcys besorgtes Gesicht sah, runzelte er seinerseits die Stirn, griff nach dem Hahn und stellte das Wasser ab. In der plötzlichen Stille hörten alle drei ein anhalten‐
des schwaches Brüllen. Cash öffnete mit nassen Händen das Küchenfenster, das nach hinten hinausging. Sofort erblickte sie zwischen den schwarzen Bäumen die aufge‐ regte Gestalt, die über die Stoppeln rannte und schrie und näherkam. «Das ist Buen», meinte D’Arcy. Épaulards Blick schweifte suchend über die Felder, und der Mann spürte einen Stich im Herz, denn da bewegten sich noch andere Gestalten, zur Linken, tief geduckte schimmernde Gestalten. «Da links», sagte er. «Die Bullen.» «Ich seh vorne nach», erwiderte D’Arcy. «Ich setz den Jaguar in Gang. Schafft den Botschafter runter.» Er verließ die Küche, schoß wie ein Pfeil durch den Gemeinschaftsraum und öffnete die verglaste Haustür, jenseits des Grundstücks, das sich vor dem kleinen Hof bis zum Gemeindeweg erstreckte, konnte der Alkoholi‐ ker nichts Besorgniserregendes erkennen, alles war weiß und menschenleer. Er eilte zur Garage, stürzte hinein, kletterte ins Auto und ließ den Motor an. Cash rannte, je vier Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hoch. Épaulard verharrte bewegungslos vor dem geöffneten Fenster, beobachtete den Katalanen, der mittlerweile im Obsthain angekommen war. Im Vorbeilaufen hatte Bue‐ naventura seinen Mantel dem Stacheldraht überlassen. Nun lief er zwischen den schwarzen Bäumen hindurch. Er brüllte nicht mehr, hatte keine Puste mehr. «André Épaulard! Buenaventura Diaz! Véronique Cash! Und die anderen!» schrie plötzlich eine Stimme, so mächtig und fern wie die des Zeus. «Sie sind umzin‐ gelt!» Das Megaphon übertrug ein Ächzen. Zweihundert
Meter von ihnen entfernt waren nämlich auch die Flics außer Atem. Goémond machte eine Pause, hielt das Me‐ gaphon von seinen Lippen weg. Drei höhere Polizeibe‐ amte in Zivil standen um ihn herum, dazu noch ein Gen‐ darmerieoffzier, flankiert von einem Funker. Atem‐ und wortlos fuchtelte der Kommissar in Richtung Walkie‐ Talkie. Der Gendarm reichte es ihm. Goémond lehnte sich gegen den Stamm eines Kirschbaums. «Blau Zwo», japste er. «Blau Zwo, sind Sie da? Hier Goémond. Sprechen Sie.» «Blau Zwo», antwortete der Apparat. «Wir stehen an der Westgrenze des Gehöfts, auf dem Gemeindeweg. Wir sind sechzig Meter vom Hof entfernt, direkt an der Rainböschung. Wir rücken nicht weiter vor. Ich erwarte Ihre Befehle. Da ist soeben jemand aus dem Gehöft ge‐ kommen und hat den Nordflügel betreten. Sprechen Sie.» «Ich selbst übernehme die Aufforderung zur Kapitu‐ lation», sagte Goémond. «Wenn das Feuergefecht eröff‐ net wird, verhindern Sie, daß irgend jemand auf Ihrer Seite ausbricht. Schießen Sie einfach auf die Fassade und setzen Sie Granaten ein. Ende.» «Verstanden. Ende.» Goémond gab dem Funker sein Walkie‐Talkie zurück und führte das Megaphon erneut an den Mund. «Hee! Sie da! Der Typ, der auf diesen Hof zurennt! Bleiben Sie sofort stehen, oder wir schießen! Hier spricht die Polizei! Bleiben Sie sofort stehen!» Buenaventura begann im Zickzack zwischen den Bäumen hin und her zu laufen. «Eröffnen Sie das Feuer auf ihn», befahl Goémond. «Aber Kommissar», wandte der Offizier ein ... «Schießen Sie auf ihn, Herrgott noch mal!»
Der Offizier verzog das Gesicht und drehte sich zu seinen Gendarmen um, die ungefähr zwanzig Meter ab‐ seits, zur Rechten, Aufstellung genommen hatten. «Estéve!» schrie er. «Eröffnen Sie das Feuer auf diesen Typen, der da hinten rumrennt!» Der Gendarm Estéve, Scharfschütze, setzte ein Knie auf den Boden, brachte seinen Karabiner in die richtige Position. Buenaventura setzte gerade zum Endspurt auf den Hof an. «Zielen Sie auf die Beine!» schrie der Gendarmerieof‐ fizier. «Zielen Sie egal wohin!» brüllte Goémond. Recht verwirrt, schoß der Gendarm ziemlich aufs Ge‐ ratewohl. Buenaventura wirbelte einmal herum, ruderte mit den Armen durch die Luft, um sein Gleichgewicht wiederzuerlangen, dann fiel er auf den Rücken. Er rap‐ pelte sich augenblicklich wieder hoch und hechtete mit dem Kopf voran gegen die Tür des Gehöfts. Der Flügel sprang auf, der Katalane fiel bäuchlings ins Innere, zog wie von Sinnen seine Beine unter sich heran und knallte die Tür mit einem Tritt des Absatzes zu. Im selben Au‐ genblick tauchte am Küchenfenster ein weißer Lumpen auf und wurde hin und her geschwenkt. «Die ergeben sich», rief der Gendarmerieoffizier er‐ leichtert. «Das ist eine Falle», versicherte Goémond. Im dem oberen Stockwerk des kleinen Hofes, aus ei‐ ner Dachluke so schmal wie eine Schießscharte, eröff‐ nete jemand das Feuer mit einer Maschinenpistole.
32 Cash war, je vier Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hochgerannt. Sie war in das Zimmer des Botschafters gestürzt. Meyer stand mitten im Raum, seine Halbauto‐ matik in der Hand. Der Science‐Fiction‐Roman war auf den Boden gefallen. Der Brasseriekellner schien beun‐ ruhigt. «Was ist denn los? Wer schreit da so?» «Schnell! Wir müssen den Botschafter nach unten schaffen!» schrie Cash und stürmte zum Fenster, das nach vorn hinausging. Sie sah die offenstehenden Garagentüren. Und sah, von ihrer erhöhten Position aus, auch eine lange Prozession schwarz behelmter Köpfe, die sich sechzig Meter weiter vorne, den Gemeindeweg entlang, in den Schnee der Rainböschung duckten. «Scheiße», sagte sie zu Meyer, «schon zu spät. Rühr dich nicht weg von hier. Paß auf dieses alte Arschloch auf. Rühr dich nicht vom Fleck. Ich komm wieder.» Sie verschwand pfeilschnell im Flur, ging in ihr Zimmer mit dem ungemachten Bett. Griff mit der Hand dar‐ unter, zog die Sten, die zusammen mit einigen Magazi‐
nen in alte Lumpen gewickelt war, hervor. Schob ein Magazin in die Waffe. Unten krachte ein Karabiner‐ schuß. Unmittelbar darauf polterte es an der Hintertür. Während der ganzen Zeit stand Épaulard am Küchen‐ fenster, plötzlich von einer außerordentlichen Unschlüs‐ sigkeit und Betäubung gepackt, und sah den Katalanen herumwirbeln, fallen, sich wieder aufrappeln, hörte ihn gegen die Tür krachen. Der Fünfzigjährige ergriff einen Lappen und schwenkte ihn. «Feuer einst ...» Cash preschte durchs Zimmer, schlug die Luke im Flur mit dem Lauf der Sten ein und drückte noch im selben Moment auf den Abzug, schoß ihr ganzes Maga‐ zin aufs Geratewohl leer. Die Kugeln stoben kreuz und quer, peitschten die schwarzen Äste der schwarzen Bäume. «Feuer!» schrie Goémond aus voller Lunge. Elektrisiert von dem Ruf, von der Salve, von den Holzsplittern, die ihnen auf die Helme hagelten, ge‐ horchten die Gendarmen nun wie ein Mann. Um Épau‐ lard herum zerplatzten die Scheiben. Recht verwundert darüber, daß er nicht getroffen worden war, machte der Fünfzigjährige auf dem Absatz kehrt, um zur Küchentür zu stürzen, und da schien ihm jemand einen mächtigen Schlag auf den Rücken zu verpassen. Épaulard schloß die Augen und fiel bäuchlings auf die Fliesen. Über ihm schlugen die Kugeln in die Wände ein, prallten ab und schossen durch die Küche, massakrierten ein Segelboot auf dem Kalender von der Post, durchlöcherten den Kühlschrank. «Wo ist meine Knarre?» fragte Épaulard mit schwerer Zunge, aber niemand antwortete ihm. Zur gleichen Zeit verwüstete das Gewehrfeuer der
Gendarmen die an der Rückseite des Gehöfts aufge‐ stellten Kaninchenställe, und man sah Karnickel durch die Luft schleudern und sich im Kreis drehen und gewis‐ sermaßen zerplatzen, und man hörte sie laut quieken, was dieses verfluchte Pandämonium noch entsetzlicher machte. Im selben Moment tat der Gendarmerieoffizier, ganz weiß vor Zorn, drei Schritte zur Seite und brüllte dabei «Feuer einstellen!», und die Hälfte von Cashs zweitem Magazininhalt flatterte munter im hohen Bogen auf ihn zu, und die meisten Geschosse prallten gegen seine Pan‐ zerweste, doch andere drangen in seinen Kopf. Er fiel auf die Seite und begann vor Schmerzen zu brüllen. Sei‐ ne Schreie waren quälend, unerträglich. Die Gendarmen feuerten noch heftiger, um sie nicht mehr hören zu müs‐ sen und um ihren Chef zu rächen, von Goémond per Megaphon angestachelt. Der Kommissar zog sich mit seinen Untergebenen etwas zurück und stieß zur linken Flanke der Gendarmen. Indes robbte der Funker bis zu seinem verwundeten Offizier. Er drehte ihn auf den Rücken, was diesen noch grauenhafter schreien ließ. Er packte ihn unter den Armen, um ihn aus dem Schußfeld der Anarchisten zu schleppen. Der Offizier wurde ohn‐ mächtig, und sein Gebrüll verstummte. Auf allen vieren, mit Schmerzen im linken Arm, kroch Buenaventura zum Fuß der Treppe. Die zersplit‐ ternden Fenster der Vorderfront prasselten herunter wie Kronleuchter. Die andere Abteilung Gendarmen auf der Vorderseite des kleinen Gehöfts griff anweisungsgemäß ein. Ihre Projektile durchsiebten die Rückwand und die Treppe. Eine leere Bierflasche explodierte auf dem Tisch. «Ist hier unten jemand?» schrie Buenaventura.
«Ja», antwortete Épaulard aus der Küche, doch seine Stimme war zu schwach, als daß der Katalane sie hören konnte. «Schießt die Granaten ab, wir werden sie ausräu‐ chern, in ihrem Rattenloch!» befahl Goémond mit vi‐ brierender Stimme. Plonk! machten die Granatwerferbüchsen. Zwei der Geschosse drangen durch das Küchenfenster und prall‐ ten auf den Fliesen ab. «Wahrscheinlich ist meine Wirbelsäule zerschmet‐ tert», erklärte Épaulard, die Lippen am Boden. «Ich kann weder Arme noch Beine bewegen. Holt mich bloß nicht, ihr könntet mich sowieso nicht transportieren.» Er wußte nicht, ob ihm jemand zuhörte oder nicht. Dann detonierten die beiden Sprengkörper. Es handelte sich nicht um Offensivgranaten, sie bewirkten nur eine Druckwelle von geringer Reichweite und setzten CS‐Gas frei. Épaulards Körper fuhr hoch, und sogleich bohrten sich Splitter in seine Seiten, seine Beine und seinen Rücken. Er begann mühsam zu husten. Die Küche war voller Gas, das ziemlich langsam durch das Fenster ent‐ wich. Buenaventura lag zusammengekauert am Fuß der Treppe. Er tastete seinen linken Arm ab. Fand das Loch in seinem Pullover, wo die Kugel eingedrungen war. Steckte den Finger hinein und zerriß die Wolle, vom Eintritts‐ bis zum Austrittsloch, um die Wunde zu unter‐ suchen. Sein durchschossener Bizeps war bereits ganz angeschwollen und purpurrot und blutig und tat irrsinnig weh. Jemand wollte gerade die Treppe hinunterstürzen. «Komm nicht runter!» schrie Buenaventura. Meyer nahm die Warnung überhaupt nicht zur Kennt‐
nis. Auf der Vorderseite ballerten die Flics weiter. Auf der sechsten Stufe bekam Meyer eine Kugel ins Herz. Er setzte sich tot auf die Stufen und beendete rutschend seinen Abstieg. Fiel schließlich auf Buenaventura. «Bist du getroffen? Meyer! Sag, bist du getroffen?» fragte der Katalane die Leiche. Im oberen Stockwerk schoß Cash nicht mehr, denn sie schaffte es nicht, das leere Magazin aus ihrer Waffe her‐ auszuziehen. Sie hatte Meyer aus dem Zimmer des Bot‐ schafters stürmen sehen. «Das reicht jetzt!» hatte er ihr im Vorbeilaufen noch zugerufen. «Wir sind erledigt! Ich werd mich ergeben! Ich hab ‘ne Frau!» Dann war er verschwunden. Cash überwachte inzwi‐ schen die Zimmertür. Sie fragte sich, ob Meyer in seiner Aufregung seine Pistole dort zurückgelassen hatte. Und sie fragte sich, wo Épaulard war, ob Buenaventura ver‐ letzt war und was D’Arcy machte. Von der vorderen Einheit abgefeuerte Granaten schlugen in den Gemeinschaftsraum und in die drei obe‐ ren Räumen ein und detonierten. Cash hörte einen Schrei aus dem Zimmer des Botschafters, der Mann stürzte in Unterhosen heraus und hielt sich dabei eine Hand schützend vors Gesicht; die andere war leer. «Schießen Sie nicht auf mich, bitte!» rief der Diplo‐ mat, als sie den Lauf ihrer unbrauchbaren Sten auf ihn richtete. «Ist gut. Leg dich flach auf den Bauch, da an die Wand, du altes Arschloch. Und rühr dich nicht.» «Sie sollten sich ergeben», meinte der Botschafter. «Sie sehen doch, daß Sie nichts tun können. Die haben überhaupt nicht die Absicht, mit Ihnen zu verhandeln.» «Halt’s Maul.»
Am Fuß der Treppe machte Buenaventura sich die Gasschwaden zunutze, die den Gemeinschaftsraum er‐ füllten. Er schnappte sich Meyers Halbautomatik und versuchte sein Glück. Stürmte die Treppe hoch, bekam keine Kugel ab, erreichte das oberen Stockwerk. Cash richtete die Sten auf ihn, bevor sie ihn erkannte. Der Botschafter lag dicht an der Wand auf dem Bauch. Bue‐ naventuras Gesicht war schneeweiß. Und seine linke Hand blutüberströmt, daß es auf die Dielen tropfte. «Buen, was hast du?» fragte Cash. «Was hast du vor?» brüllte sie. Der Katalane stieß sie zur Seite, setzte neben Richard Poindexter ein Knie auf den Boden und schoß dem Mann eine Kugel in den Kopf. Cash stieß einen Schrei des Abscheus aus. Der Schädel des Botschafters war hinten zertrümmert, sein Haar vom Pulverdampf ver‐ brannt, Blut quoll um das Gesicht herum auf die Dielen. Buenaventura stand wieder auf. Er schaute Cash an, die reglos dastand, die Augen weit aufgerissen, den Mund verzerrt vor Ekel. «Die schießen, um zu töten», sagte der Katalane. «Die sind gekommen, um uns niederzumetzeln, und nicht, um uns zu schnappen.» Er sah nachdenklich aus. «Jedenfalls macht das einen Diplomaten weniger», fügte er abwesend hinzu. Cash ließ die Sten zu Boden fallen. «Ich werd mich ergeben.» «Tu das nicht. Die bringen dich um.» Cash blieb an die Wand gelehnt stehen, den Kopf völlig leer. Der Katalane hob die Maschinenpistole auf, entfernte das verklemmte Magazin und tauschte es ge‐ gen ein volles aus.
Immer noch schlugen Granaten durch die offenen Fenster ein und detonierten in den Schlafzimmern und im Erdgeschoß, machten jede Menge Lärm. Das Gas verbreitete sich im Flur des oberen Stocks, schwebte in Wolken aus den Fenstern, umgab die Treppe. «Wo ist Épaulard? Wo ist D’Arcy?» erkundigte sich Buenaventura. Er mußte seine Frage wiederholen, wegen des hölli‐ schen Krachs und wegen Cashs Zerstreutheit. «D’Arcy ist in der Garage», sagte das Mädchen dann. «Épaulard ... ja, wo ist Épaulard?» «Das frag ich dich doch!» «Er ist runtergegangen. Der ist unten.» Cash drehte sich um und wollte zur Treppe. «Geh nicht runter! Wir können von hier aus über die Dächer in die Garage durchbrechen. Cash!» Das Mädchen machte drei sehr schnelle Schritte und sauste die Treppe herunter, verschwand in der Gaswol‐ ke. Schon sah Buenaventura Cash nicht mehr, hörte sie nur noch husten. «O Scheiße», knurrte er. «Es lebe der Tod!» Er verstaute die Halbautomatik in seiner Hosentasche und rannte, die Sten unter den rechten Arm geklemmt, bis ans Ende des Flurs, am Ende des Gebäudetrakts. Mit seinem linken Arm machte er einige rasche Pumpbewe‐ gungen, um gegen die Versteifung anzukämpfen. Der Schmerz war ziemlich heftig, und sein durchschossener Muskel blutete wieder stärker. Cash gelangte hustend ans untere Ende der Treppe. Inzwischen fielen keine Schüsse mehr. Meyers Leiche lag am Fuß der Stufen. Immer noch hustend schritt sie über ihn hinweg und wandte sich zu der offenen Hin‐ tertür, und plötzlich stand sie Goémond, zwei seiner
Untergebenen und einem mit Maschinenpistole bewaff‐ neten Gendarmen gegenüber. Die vier Männer trugen Gasmasken und starrten sie durch die grün‐weiße Wolke Chlorbenzylidenmalodinitril (CS) an. «Ich ergeb mich», sagte Cash hustend, indem sie die Hände über den Kopf hob. Goémond schoß ihr eine Kugel in die Brust. Durch den Aufschlag wurde sie nach hinten geschleudert. Und fiel rücklings in den Gemeinschaftsraum. «Du», sagte Goémond zu dem Gendarmen, «du vergißt das hier. Denk an deine Pension.» Mit einem Satz überwand er die Türschwelle zur Kü‐ che. Er warf einen Blick hinein und sah dort Épaulard auf dem Gesicht liegen. Er gab den anderen ein Zeichen fortzufahren. In Schüben rückten die drei Flics bis zur Treppe vor und gingen dort in Deckung. Der Gendarm feuerte blindlings eine Salve ab, mitten in den Nebel, die beiden Polizeibeamten stürmten los und erklommen die Treppenstufen. Goémond betrat die Küche. Er beugte sich über Épau‐ lard, der von Brechkrämpfen geschüttelt wurde. Packte ihn an den Haaren, um seinen Kopf hochzuheben. Die Augen des Verletzten waren rot und verquollen, sein ganzes Gesicht war purpurrot. «Fassen Sie mich nicht an», murmelte Épaulard. «Meine Wirbelsäule ist gebrochen.» Goémond ließ den Kopf des Fünfzigjährigen wieder fallen, schob ihm einen Fuß unter den Brustkorb und drehte ihn mit einem Ruck um. Épaulard stieß ein maus‐ artiges Quieken aus, und seine Zunge quoll ihm aus dem Mund. Goémond faßte nach seinem Puls und richtete sich dann zufrieden wieder auf. Im Obergeschoß war Buenaventura in das Badezim‐
mer geeilt und hatte unsinnigerweise noch den Riegel vorgeschoben. Er hatte die Platten des Dämmaterials und die Teerpappe weggerissen, die ihn von den Dach‐ ziegeln trennten. Auf dem Badewannenrand stehend, hob er nun vorsichtig einen Ziegel an, um die Umgebung zu erkunden. Er befand sich am Nordende des Hauptge‐ bäudes, wo dessen Dach auf das des Nordflügels traf (in dem die Garage lag). Im Grunde hätte Buenaventura, wenn er das geeignete Werkzeug gehabt hätte, die Wand über der Badewanne durchbrechen und direkt in die Ga‐ rage dringen können. Von seinem Beobachtungsposten aus lag das Gara‐ gendach in der Mitte seines Gesichtsfelds. Zur Rechten sah er das freie Land. Aus dieser Richtung war bislang keinerlei Angriff erfolgt, da der kleine Hof zu der Seite ja keine Öffnung aufwies. Gleichwohl waren auch dort Gendarmen zu erkennen, ein kleiner, unter einer Baum‐ gruppe kauernder Haufen, in ungefähr hundert Meter Entfernung. Auf der Linken fiel Buenaventuras Blick zwischen die beiden Flügel des Gemäuers, auf das schlammige Stück Land, das sich bis zum Gemeindeweg erstreckte. Auf diesem Weg stand gut sichtbar eine starke Einheit Gen‐ darmen. Die Männer hatten das Feuer eingestellt, sei es nun, weil sie den Befehl dazu erhalten hatten oder weil es aus dem Hof nicht mehr erwidert wurde. Offensicht‐ lich warteten sie nun auf Instruktionen, um dann vorzu‐ rücken. Der Katalane hielt die Maschinenpistole quer vor sich und stieß einmal kräftig zu. An die fünfzehn Ziegel lö‐ sten sich und fielen hinunter. Der junge Mann hechtete nach vorn, kippte kopfüber, rutschte auf dem Bauch die Dachschräge entlang. Er landete an einer gegenläufigen
Schräge, der des Garagendachs, und machte sich wie wahnsinnig daran, Ziegel abzudecken. Er war voll im Blickfeld der auf dem Gemeindeweg zusammengezoge‐ nen Gendarmen wie auch derjenigen, die im Norden unter der Baumgruppe hockten. «Heda! Sie auf dem Dach!» rief ihm eine Megaphon‐ Stimme zu. «Nehmen Sie die Hände hoch und rühren Sie sich nicht! Oder wir eröffnen das Feuer auf Sie!» Im Innern des kleinen Gehöfts hatte Goémond gerade Épaulard erledigt und hörte nun, wie ein Gendarmerieof‐ fizier jemandem die Möglichkeit einräumte, lebend da‐ vonzukommen, und er verfluchte ihn innerlich. Buenaventura riß noch drei weitere Ziegel vom Dach und tauchte in dem so geschaffenen Loch ab, bevor je‐ mand auf ihn schoß. Er landete auf einer Zwischendecke aus Holz, die allerdings nur über einen Teil des Stock‐ werks reichte. Dieser Flügel des Hofes war früher für landwirtschaftliche Arbeiten vorgesehen. Der größte Teil seiner Fläche war zwischen dem gestampften Bo‐ den und dem sechs Meter hohen, von altertümlichen Balken getragenen Dach nicht weiter unterteilt. Der Katalane stand also auf einer Art Heuboden, den der rechtmäßige Eigentümer des Hofes erst unlängst in eine Loggia hatte umbauen wollen. Buenaventura schlich bis an den Rand der Zwischendecke, von wo er, im Halb‐ dunkel des Gebäudes, unten den grünen Jaguar mit lau‐ fendem Motor und offener Tür stehen sah ... und D’Arcy, der auf dem Fahrersitz hockte, die Beine seit‐ lich aus dem Auto baumeln ließ und direkt aus einer Einliterflasche Rotwein trank. Der Alkoholiker hielt eine Pistole in seiner anderen Hand, und während er weiter trank, waren seine Augen auf Buenaventura geheftet.
«Ich bin’s» sagte der Katalane. D’Arcy nahm den Flaschenhals vom Mund. «Seh ich», meinte er. «Was ist los? Wie weit sind wir?» Eine Leiter verband die Heubühne mit dem Lehmbo‐ den. Buenaventura stürmte sie hinunter. «Sie sind alle tot, nehm ich an», sagte er, als er den Boden berührte. «Ich hab den Botschafter umgelegt. Wir sind vollständig umzingelt und können uns nicht mal er‐ geben.» D’Arcy trank die Flasche leer und warf sie an die Wand. Sie zerschellte. «Gut», erwiderte er. «Dann laß uns krepieren. Wir fahren mitten rein in den Haufen.» «Es lebe der Tod», sagte Buenaventura noch einmal. Er ging um den Jaguar, öffnete die Beifahrertür und setzte sich hinein. Mit dem Lauf der Sten schlug er die Windschutzscheibe ein und kratzte die Glassplitter weg, die noch an den Rändern hafteten. D’Arcy knallte die Tür auf seiner Seite zu. «Genau gegenüber der Ausfahrt», setzte der Alkoho‐ liker an, «liegt der Feldweg, über den wir neulich abends angekommen sind. Ich düse los. Wir werden ihn nicht erreichen.» «O.k.» «Adieu, altes Arschloch.» «Adieu.» Der Jaguar verließ die Garage, noch langsam zu‐ nächst, da er ja gleich umschwenken mußte, und dann schwenkte er um und raste auch schon auf die versperrte Ausfahrt zu. Die Gendarmen öffneten gerade das Gatter und woll‐ ten weiter vorstoßen. Sie wurden überrascht, soweit
sie es in dieser Situation werden konnten, das heißt kaum. D’Arcy hatte sich tief in seinen Sitz gepreßt, den Oberkörper gegen das Lenkrad gedrückt, die Augen ge‐ rade an der Oberkante des Armaturenbretts, und gab wie ein Verrückter Gas. Den Lauf der Sten auf den Rahmen der herausgeschlagenen Windschutzscheibe gelegt, be‐ strich Buenaventura den Weg großzügig mit Kugeln, leerte sein Magazin noch, bevor der Wagen die Absper‐ rung erreichte. Die Gendarmen liefen wild auseinander und sprangen in die Gräben, so daß überall um sie her‐ um Schnee und Matsch aufspritzte. Andere Gendarmen, diese mit Karabinern und jene mit Maschinenpistolen, eröffneten das Feuer auf den Jaguar, zwar völlig unko‐ ordiniert, aber wirkungsvoll. Das Fahrzeug wurde von Kugeln durchsiebt. «Auf die Reifen!» brüllte der Offizier so laut, wie er konnte. Der Jaguar durchbrach die Absperrung an der Aus‐ fahrt, überquerte den Gemeindeweg und verschwand in den Feldweg, der am Hang eines kleinen, mit Büschen bestandenen Tals entlanglief. Im Vorbeifahren zersplit‐ terten die Seitenfenster. Das Feuer der Ordnungshüter senkte sich. Die Reifen wurden kleingehackt. Weitere Kugeln bohrten sich ins Heck der Karosserie. D’Arcy hatte zwei Projektile in die Brust bekommen, eines in den Hals und eins in die Nierengegend. Er ließ das Lenkrad los und sackte darüber zusammen, die Nase nach vorn, die Arme herabhängend. Stoßweise sprudelte ein starker Blutstrahl aus seiner Halsschlagader. Sein Fuß lag schwer auf dem Gaspedal. Der Jaguar raste immer schneller den Feldweg hin‐ unter, verfehlte eine Kurve, riß einen Busch mit, kippte
um und rutschte in eine tiefe schmale Schlucht, die als Schuttabladeplatz diente. Der Wagen überschlug sich dreimal mitten im Müll, ehe er schließlich auf den Grund des Tals prallte und liegenblieb. Buenaventura fand sich auf allen vieren im Müll wie‐ der, ohne überhaupt zu wissen, wie er dorthin gekom‐ men war. Er sah das Auto mit aufgesprungenen Türen, platten Reifen, eingedrücktem Dach und ohne Motor‐ haube unbeweglich zwanzig Meter unterhalb liegen, und genau in dem Moment geriet es in Brand, zunächst spie der Tank eine große züngelnde Flamme aus, dann ent‐ zündete sich der Motor, daraufhin explodierte der Tank und eine Garbe aus Rauch und Trümmern schoß über dem kleinen Tal in die Höhe. Der Katalane begann ein‐ fach am Hang entlang drauflos zu rennen, wobei er im‐ mer wieder nach unten abrutschte. Die verdutzten Flics auf dem Gemeindeweg sahen den Wagen nicht mehr. Er war hinter der Biegung des Feldwegs verschwunden, und nun brannte es plötzlich und explodierte auch noch unterhalb davon, außerhalb ihres Gesichtsfelds. Der Offizier ordnete ein Dutzend Männer ab, um nachzusehen, und sie rannten los, über ihre Waffen gebeugt. Als sie in Sichtweite des brennenden Wracks kamen, war der Katalane bereits in den schwärzlichen Büschen, am Ende der schmalen Schlucht, verschwunden. Er fand einen Pfad, der parallel zur Départementstraße in Rich‐ tung Couzy verlief. Er rannte aus Leibeskräften. Das Gelände war bewaldet. Der Flüchtling also nicht zu se‐ hen. Der Weg machte einen Bogen. Buenaventura stieß auf die Departementstraße. Couzy lag noch einen halben Kilometer entfernt, aber weniger als hundert Meter weit erhob sich eine kleine BP‐Tankstelle. Buenaventura lief
auf der Straße weiter. Sein Atem ging pfeifend. Er fühlte sich sehr schwach, aber im Kopf ganz leicht. Sein Arm blutete noch immer. Sein rechter Knöchel war ver‐ staucht. Er rannte. Vor der Werkstatt wurde gerade ein sehr alter Liefer‐ wagen, ein Peugeot 203 Kombi, mit Benzin versorgt. Sein Besitzer im Blaumann plauderte mit dem Tankwart, einem dicken, fröhlichen Burschen mit schwarzen Hän‐ den voller Wagenschmiere. Der Katalane kam stolpernd auf sie zu und zog seine Halbautomatik aus der Tasche. «Volltanken», sagte er. «Rühren Sie sich nicht.» Die beiden Männer rührten sich nicht. Der Kfz‐Me‐ chaniker ließ weiter Benzin in den Tank laufen. Buena‐ ventura lehnte sich mit der Schulter gegen den 203. «Wollen Sie etwa meinen Wagen haben?» fragte der Blaumann mit tonloser Stimme. «Ja». Der Blaumann versuchte zu kichern, hätte sich aber fast dabei verschluckt. «Der taugt doch nichts», meinte er. «Ist nur ‘ne alte Klapperkiste.» «Hören Sie», sagte Buenaventura. «Ich bin der einzige Überlebende der Gruppe ‹Nada›, des anarchistischen Kommandos, das am Freitagabend den Botschafter der Vereinigten Staaten in seine Gewalt gebracht hat. Die Polizei hat uns auf einem Hof in der Gegend hier aufge‐ spürt, und sie hat meine Genossen kaltblütig niederge‐ metzelt. Verstehen Sie, was ich Ihnen da sage?» «Sie sind die Anarchisten, die den Coup mit dem amerikanischen Botschafter gemacht haben.» «Hören Sie», fuhr Buenaventura müde fort. «Versu‐ chen Sie das zu behalten, Sie können es der Presse wei‐ tergeben, Sie werden mit Foto in die Zeitungen kom‐
men ... Die Polizei hat uns niedergemetzelt. Die Flics haben alle auf dem Hof getötet. Und der Botschafter ist getötet worden, weil die Flics es nicht zugelassen haben, daß wir uns ergeben. Kapieren Sie?» «Wer hat denn den Botschafter getötet?» fragte der Tankwart. «Oh, du blödes Arschloch», seufzte der Katalane. Der Tank war voll. Der Kfz‐Mechaniker zog den Rüs‐ sel der Zapfpistole aus dem Stutzen. Und setzte den Tankverschluß wieder auf. «Drehen Sie sich um, alle beide», befahl Buenaventu‐ ra. Die beiden Männer drehten sich um. Der Katalane schlug dem Blaumann den Pistolenlauf auf den Schädel, der Mann stieß einen Schmerzensschrei aus und brach zusammen. Der Tankwart aber nahm die Beine in die Hand. Und floh in Richtung Büro. Buenaventura unter‐ drückte den Wunsch, auf ihn zu schießen, und sprang in den 203. Er startete, wendete und fuhr in Richtung Paris davon. Der Tankwart stand schon wieder auf der Tür‐ schwelle und schoß dem Lieferwagen mit seiner Sim‐ plex hinterher, und eine Ladung feiner Schrotkugeln Nummer 7 peitschte auf das Fahrzeug. Der Katalane be‐ schleunigte. Der 203 verschwand in der Kurve. Es war zehn Uhr fünfundzwanzig am Morgen. Das Gemetzel hatte weniger als eine halbe Stunde gedauert.
33 Die Neuigkeit wurde am späten Vormittag im Radio verkündet, wo sie Anlaß zu einem kurzen Sonderbericht gab, und dann um eins, zur Zeit des Mittagessens, weiter ausgebreitet und kommentiert, vor allem im Fernsehen, wo sie «das tragische kleine Gehöft», die Glassplitter auf den Fliesen, das geronnene Blut des Botschafters sowie das schwarze Wrack des Jaguars zeigten. Kom‐ muniqués und Telegramme wurden verfaßt. Beileidsbe‐ kundungen des Französischen Staates an die Witwe des Botschafters, an den Amerikanischen Staat. Kommuni‐ qué des Innenministeriums, das erklärte, daß die Ord‐ nung wiederhergestellt sei, und es sich dazu beglück‐ wünsche, während es gleichwohl jeden vor der Wieder‐ kehr solcher gewalttätigen Auswüchse warnte, und nicht vergaß, sich voller Hochachtung vor dem Andenken Ri‐ chard Poindexters zu verneigen. Telegramm des Heiligen Vaters an den Präsidenten der Französischen Republik. Botschaft des Erzbischofs von Paris. Telegramm des Premierministers an die Familie des Gendarmerieof‐ fiziers, der in einem Krankenhausbett mit dem Tode rang. Glückwunschtelegramm des Ministers der Streit‐
kräfte an die in Couzy zum Einsatz gelangte Mobile Gendarmerieeinheit. Proklamation einer bordighisti‐ schen Splittergruppe, die die Ordnungskräfte beschul‐ digte, ohne jede Vorwarnung das Feuer auf den Hof er‐ öffnet zu haben und allein für den Tod des Botschafters verantwortlich zu sein (diese Proklamation führte beina‐ he dazu, daß der Minister der Streitkräfte Anzeige we‐ gen Verleumdung erstattete). Vertraulicher Bericht des Kommandanten der inkriminierten Mobilen Gendarme‐ rieeinheit an den Leiter der Gendarmerie und der Mili‐ tärgerichtsbarkeit, in dem er sich namentlich über Kommissar Goémond beklagte (woraufhin der Minister der Streitkräfte davon absah, eine Strafanzeige wegen Verleumdung zu erstatten, und sich in aller Dringlich‐ keit mit dem Innenminister traf). Kommuniqué der ORL (Organisation Révolutionnaire Libertaire, illegal, zwölf Mitglieder, darunter vier eingeschleuste Flics), das sämtliche Revolutionäre dazu aufrief, «mindestens fünf‐ zig Flics» zu töten, um die Toten von Couzy zu rächen. Kommunique des Autonomen Gewerkschaftsverbands der Oto‐Rhino‐Laryngologen, welcher die Öffentlichkeit darüber informierte, daß er mit der vorgenannten Orga‐ nisation überhaupt nichts gemein habe. Usw. Ein Team Gerichtsmediziner bereitete eine Reihe von Autopsieberichten vor, doch der Ablauf der Ereignisse war für die öffentliche Meinung schon klar: Die umzin‐ gelten Terroristen hatten, anstatt sich zu ergeben, es vorgezogen, ihre Geisel zu töten und auf die Ordnungs‐ kräfte zu schießen, die daraufhin das Haus gestürmt hatten. André Épaulard, «eine merkwürdige Gestalt von einem internationalen Abenteurer», Nathan Meyer, «ein Kellner, den seine Kollegen als aggressiv, introvertiert und seelisch gestört beschrieben» und Véronique Cash,
«die ‹Pasionaria› der Gruppe» waren bei der Aktion, mit der Waffe in der Hand, getötet worden. Benoit D’Arcy, «Sproß aus gutem Hause, doch heruntergekommen und Alkoholiker», war einen Augenblick später niederge‐ streckt worden, als er am Steuer eines kostspieligen Sportwagens eine Straßensperre durchbrechen wollte und dabei auf die Polizisten schoß. Buenaventura Diaz, «sicherlich der Gefährlichste von allen, ein langjähriger Anarchist ohne bekannte Existenzgrundlage», hatte flie‐ hen können und wurde nunmehr eifrig gesucht. Das Fernsehen strahlte sein Bild aus, er hatte eine hagere, blasse Gaunervisage mit langen Haaren und Augen, die einem Angst machten, und so schauderte man unter den Dächern Frankreichs.
34 Buenaventura betrachtete sein Bild auf dem Fernseh‐ schirm. Der Mann war in dem Peugeot 203 bis zum Morin‐ Tal vorgedrungen und dort auf unbekannten Straßen umhergeirrt. Nach einer Stunde Fahrt hatte er den Lie‐ ferwagen in einen Steinbruch gelenkt. Was genau hier gebrochen wurde, wußte der Katalane nicht, aber auf je‐ den Fall ragten hier gelbliche, leicht tonhaltige Felswän‐ de wie Wehrmauern um ein mit Pfützen übersätes Areal auf, wo verdreckte orangefarbene Lastwagen, Schienen und rostige Loren schlummerten. In einer Ecke stand ei‐ ne stahlgraue vorgefertigte Baustellenbaracke. Nachdem Buenaventura den 203 außer Sichtweite der Straße, hin‐ ter einem Laster abgestellt hatte, stemmte er die Tür der Baracke mit einer Brechstange auf. Ihm war warm, ihm war kalt, er schwitzte, er schlotterte. Im Innern der Hütte entdeckte er eine leere Schlafstelle, einen Schreibtisch, Plastikhelme, gelbe Wachstuchjacken, eine angebroche‐ ne Literflasche Wein, diverse Papiere, ein Solex. Wirklich ein Glücksfall. Buenaventura legte in der Hütte eine kurze Ver‐
schnaufpause ein. Der Steinbruch würde zwar wahr‐ scheinlich bis Montagmorgen menschenleer bleiben, war aber dennoch ein heikles Versteck. Und außerdem konnten hier im Tal Tanzabende stattfinden und irgend‐ welche Pärchen, ganz versessen auf Schmusen, im Auto bis zur Baustelle hochfahren und den 203 bemerken, der bestimmt schon als gestohlen gemeldet war. Da seine Wunde von Zeit zu Zeit wieder zu bluten begann, legte sich der Katalane einen Druckverband aus einem unsauberen Lappen und einem elastischen Spann‐ gurt an. Anschließend streifte er seinen dunklen Pullover mit dem zerrissenen und vor Blut starrenden Ärmel wie‐ der über. Er fühlte sich sehr schwach. Trank etwas Wein, den er aber sofort erbrach. Er taumelte, wischte sich das Kinn und die Stirn mit dem rechten Handrücken ab, zog unbeholfen eine gelbe Wachstuchjacke an und verließ mit dem Solex die Hütte. Der Hilfsmotor des Gefährts wollte nicht laufen. Bue‐ naventura war mit der Funktionsweise nicht vertraut. Er hätte noch lange an allem möglichen, was ihm dafür ge‐ eignet erschien, herumfingern können, das Ding sprang einfach nicht an. Vielleicht war es defekt. Der Katalane fand sich damit ab, trotz seiner großen Schwäche in die Pedale treten zu müssen. Er fuhr im Zickzack wieder auf die Straße, war glücklich, wenn es bergab ging, plagte sich bei Steigungen und bemühte sich, eine ordentliche Distanz zwischen sich und den 203 zu bringen. Wegen des Schnees und des tristen feuchten Wochen‐ endwetters war der Verkehr nicht besonders stark. Nur wenige Autos begegneten dem Katalanen oder überhol‐ ten ihn, doch niemand achtete im Augenblick auf ihn. Schließlich war er von der Straße abgebogen, um ei‐ nen breiten Weg hinaufzufahren, der zu einem abge‐
schiedenen Haus führte. Das Gebäude, ein ziemlich trostloses Einfamilienhaus, erhob sich zwischen Bäu‐ men, auf einem quadratischen Grundstück, mit einem steinigen, doch akkurat geschnittenen und gepflegten Rasen auf der Vorderseite und einer Wiese an den Sei‐ ten und im hinteren Bereich. Es war offenbar ein Wo‐ chenendhaus, und es war verschlossen. Buenaventura drang zunächst durch die Garage ein (er schlug die Mattglasscheibe eines kleinen Fensters ein) und brach dann die Verbindungstür zwischen Garage und Wohn‐ haus auf. Er kam in einer kleinen gefliesten Eingangs‐ halle heraus, öffnete die erste Tür, die sich ihm bot, und befand sich in einem stattlichen, mit nachgemachten Bauernmöbeln eingerichteten Salon. Am Ende des Zimmers stand ein tragbarer Fernseher auf den Fliesen. Buenaventura schaute auf seine Armbanduhr. Sie war um zehn Uhr dreiundzwanzig stehengeblieben. Er mar‐ schierte zu dem Fernsehgerät und schaltete es an. Als der Bildschirm aufleuchtete, erblickte er sein Gesicht.
35 Den ganzen Sonntag über wurden im Departement Seine‐et‐Marne zahlreiche Kontrollen durchgeführt, ebenso wie in Paris, wo in den ultralinken Kreisen erneut Razzien stattfanden. Am Boulevard de la Chapelle bildete sich eine kleine, mehr oder minder spontane Demonstration unter den Rufen «Goémond, du Dreck‐ sack! Dir zieht das Volk demnächst das Fell ab!» und wurde wieder aufgelöst, doch die Keilereien sollten sich noch den ganzen Abend hinziehen, jüdische Geschäfte wurden von Kabylen geplündert und ein malischer Zu‐ hälter von einer Revolverkugel verletzt. Am Place de l’Étoile wurden andere Demonstranten, die zur rech‐ ten Bewegung Ordre Renouvelé gehörten, zur Avenue Hoche zurückgedrängt, die sie dann mit den Rufen «Demokratie, so verrottet wie nie!» rasch hinunter zo‐ gen. Ein Redner der Action Française Nationale Révo‐ lutionnaire, der die Terroristen kurioserweise «unsere verirrten Kameraden» nannte, wurde von den Aktivisten des Ordre Renouvelé mit Stöcken verprügelt.
36 Buenaventura sah keine Notwendigkeit, Wache zu schieben. Er hatte den Fernseher abgeschaltet. Er ging zur Hintertür des Ferienhauses, öffnete diese und schob sein Solex in den Flur, geschützt vor möglichen Blicken. Anschließend suchte er nach dem Badezimmer, fand es, ließ sich ein Bad ein. Die auf Sparbetrieb laufende Öl‐ heizung versorgte ihn mit heißem Wasser. Buenaventura kleidete sich aus, nicht ohne das Gesicht zu verziehen. Sein Arm war steif und tat sehr weh. Er nahm den Ver‐ band ab, untersuchte die Wunde. Sein Bizeps war schwarz und rot. Ein schöner Anarchistenbizeps, dachte er mit einem höhnischen Grinsen, das ihm die Lippen verzerrte. Er öffnete das Arzneischränkchen, entdeckte darin etwas Äther und schüttete sich einen ordentlichen Schwall davon auf den Muskel. Plötzlich wirbelte das ganze Badezimmer um ihn herum. Er sackte, mit dem Hintern voran, gegen die Badewanne, während ihn eine große Kälte übermannte. War das der Tod? fragte er sich in einer hemmungslos romantischen Anwandlung. Es war nicht der Tod, es war nur der Äther. Der Katalane rappelte sich wieder auf und trampelte auf der Stelle, weil seine Verletzung brannte. Mit einem Mal ließ der
Schmerz nach. Der Mann stieg ins Wasser und tauchte dabei vorsichtig seinen linken Arm ein. Dann durchstö‐ berte er mit der rechten Hand seine Kleider, die er auf einen Holzhocker neben der Wanne geworfen hatte. Und während sein ganzer Körper sich bereits im heißen Bad entspannte, zündete er sich eine ganz krumme und platt gedrückte Gauloise an und rauchte genüßlich. Die Asche fiel dabei ins Wasser. Er blieb eine Weile reglos liegen, das Gesicht verzerrt vom Grübeln oder von irgend etwas anderem, was ihm das Gesicht verzerrte. Dann griff er nach seiner halbautomatischen Pistole und zog ungeschickt das Magazin heraus. Er hatte nur einen einzigen Schuß abgefeuert, ihm blieben also noch Sieben, aber keine Reservemunition. Er schob das Maga‐ zin wieder in den Griff, lud eine Patrone in die Kammer und kletterte aus der Wanne, wobei er die Fliesen reich‐ lich naßspritzte. Dann trocknete er sich nur mit einer Hand unvollständig ab. Er wandte sich abermals zur Ba‐ dewanne, tauchte den Kopf ins schmutzige Wasser und zog ihn triefend wieder heraus. Nun schnappte er sich eine Friseurschere aus dem Arzneischränkchen und be‐ gann, seine nasse Mähne auszudünnen. Er perfektio‐ nierte das Ganze noch mit einem Gillette‐Rasierer und Rasierschaum aus der Dose und hatte seinen Spaß daran, auch etwas davon auf den Spiegel zu sprühen, wo er ei‐ nen Kringel zog. Als er danach in den Salon zurückkehrte, war er bar‐ fuß und in einen alten Morgenmantel gehüllt, seine Halbautomatik in der Tasche. Sein Haar war nun kurz geschoren und zur Bürstenfrisur hochgekämmt, mehr oder weniger gelungen. Er hatte sich den Nacken rasiert, flicht ohne sich zu schneiden, und die Wangen, hatte al‐
lerdings eine Art Schnurrbart stehenlassen, einen nicht sonderlich buschigen, genauer gesagt ein paar Dreita‐ gestoppeln über der Oberlippe. Er hatte auch einen Teil seiner Augenbrauen wegrasiert, in der Hoffnung, so sei‐ nen Blick zu verändern, doch das Ergebnis war einfach nur eigenartig und dazu geeignet, die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Er hinterließ die Abdrücke seiner nassen Füße auf den Fliesen. Ihm war kalt. Den Thermo‐ stat der Zentralheizung spürte er in der Diele auf und stellte ihn auf 20° Grad ein. Anschließend erforschte er das Haus. Im Obergeschoß fand er im Schrank eines der Zimmer etwas zum An‐ ziehen, Wochenendkleidung für mittlere Angestellte‐ Kordsamthosen und einen weißen Rollkragenpulli, der elastisch genug war, um dem Verband aus Gaze und Heftpflaster, den Buenaventura sich nach dem Bad ange‐ fertigt hatte, in seinem Ärmel Platz zu bieten. Der Kata‐ lane nahm noch eine grünblau karierte, an den Ellbogen mit Leder verstärke Jagdjacke mit. All diese Kleidungs‐ stücke waren ein wenig zu weit für ihn, und die Hose flatterte ihm an den Hinterbacken. Aber man darf nicht zu viel verlangen, wenn man ein Mörder, ein Flüchtling, ein gehetztes Tier ist. Während dieses Tier so durch den Zweitwohnsitz streifte, begann es auf einmal zu knurren, und sein Knur‐ ren verwandelte sich bald in Gesang, ein altes schwach‐ sinniges und sinnloses Lied, einen Walzer: Il m’a dit, «Voulez‐vous danser?» J’ai dit oui presque sans y penser. Immer noch singend, stieg Buenaventura wieder ins Parterre hinunter. Hinter den verschlossenen Läden ließ er das Licht überall auf seinem Weg brennen. Il m’a dit, «Voulez‐vous danser?»
Der Katalane betrat das sehr männlich eingerichtete Bü‐ ro und betrachtete sich dort in einem Spiegel an der Wand, der ihm sein merkwürdiges Bild zurückwarf: «Du mußt Paris zum Tanzen bringen!» röhrte er. Er drehte sich wieder weg und ging um den Arbeits‐ tisch aus dunklem Holz. Seine Augen glänzten. «Von wegen, Paris zum Tanzen bringen, die Sache ist danebengegangen, mein Freund», erklärte er ironisch. Er pflanzte sich vor dem Waffenständer auf, das zwei Geräte enthielt, eine Flinte und ein Repetiergewehr. Er nahm sie nacheinander von ihren Haken, um sie sich ge‐ nau anzusehen: eine Doppelflinte Charlin Modell H mit Kipplauf, er ließ sie kippen, klappte sie wieder zu; und eine Repetierbüchse für mittlere Angestellte, eine Erma mit Unterhebel, Kaliber .22 Long Rifle. «Gut vorgesorgt für die Zukunft», knurrte Buenaven‐ tura, als er die Waffen wieder an ihren Platz hängte. Es interessierte ihn nicht mehr sonderlich. «Y a se van los pastores a Estremadura», hob er mit Fistelstimme an. «Du armes Arschloch, du scheißnachgemachter Ope‐ rettenspanier», stieß er hervor, als er beim Verlassen des Büros wieder an dem Spiegel vorbeikam. Er war hungrig. Suchte die Küche auf, öffnete eine Dose Cassoulet‐Eintopf und vertilgte die weißen Bohnen mit einem Kaffeelöffel, er war kalt, er war fett, er war zum Kotzen. Buenaventura trank einen billigen schwe‐ ren Roten direkt aus der am Hals zerschlagenen Flasche, auf deren Etikett zu lesen war: «Specialement mis en bouteille au domaine pour MONSIEUR VENTRÉE ». Gesättigt kehrte der Katalane in den Salon zurück und ging noch ein bißchen hin und her. Sein Kopf war schwer. Er war gereizt. In dieser Scheiß‐Ali‐Baba‐
Ventrée‐Höhle gab es noch nicht einmal ein verdammtes Radio. Doch da kam ihm eine Idee. Er ging noch einmal in dieses komische Büro, in dem ein Telefonapparat stand. Wählte INF 1, bekam aber nur obskure Geräusche und Töne, die man wahrlich kaum Musik nennen konn‐ te. Vermutlich mußte da noch irgendeine Mist‐Vorwahl davor, Buenaventura war zu faul, um im Telefonbuch nachzuschlagen. Also kehrte er wieder ins Wohnzimmer zurück und schaltete den Fernseher ein. Es lief gerade Die Brücken von Toko‐Ri, ein stumpfsinniger Film über den Koreakrieg. Der Katalane setzte sich in einen Sessel vor den Bildschirm und wurde sofort ohnmächtig, wegen des hohen Blutverlustes. Als er wieder zu sich kam, war Admiral Fredric March gerade im Begriff, sich Grace Kelly anzuvertrau‐ en, über seine Frau, die einen gehörigen Schlag abbe‐ kommen hatte, weil ihr Sohn von den Roten liquidiert worden war. «Sie sitzt den ganzen Tag nur da und strickt Baby‐ jäckchen», erklärte der Admiral bekümmert. «Die sollte sich besser mal durchbumsen lassen», be‐ merkte Buenaventura und drehte den Ton ab. Dann ging er leicht schwankend abermals in das Büro. Auf dem dunklem Holztisch zeigte eine kleine elektri‐ sche Uhr, die in einem massiven, grünlich kristallenen Block, wahrscheinlich erstarrter Kacke, eingebettet war, daß es fast sechs Uhr abends war, und tatsächlich, es war schon dunkel draußen. Buenaventura stieß einen Fluch aus und marschierte in aller Eile durchs ganze Haus, um überall das elektrische Licht auszuschalten. Kehrte dann ins Büro zurück, eine kleine Taschenlampe in der Hand, und öffnete eine Schublade, um nach Pa‐
pier zu suchen. Dabei entdeckte er eins dieser billigen kleinen Tonbandgeräte, eine Art Minikassettenrekorder. «Das ist ja noch besser», verkündete er im Halbdun‐ kel. Er durchstöberte das gesamte Schubfach, es war voller Kassetten, er nahm aufs Geratewohl eine davon heraus, sie trug einen handgeschriebenen Aufkleber: Joël mit drei Monaten. «Fick Joel», sagte Buenaventura. «Fickt euch doch alle.» Er schob die Kassette in den Apparat, prüfte nach, ob die Batterien noch genügend Energie hatten, stellte dann das Mikro zurecht, drückte auf Aufnahme und diktierte einen vollständigen Bericht der Entführung des Bot‐ schafters und der Belagerung des kleinen Gehöfts. Um seine Aussage zu beglaubigen, nannte er die Serien‐ nummer der Halbautomatik, mit der der Botschafter ge‐ tötet worden war, und gab noch deren Herkunft an. Anschließend suchte und fand er einen Umschlag, steckte die Kassette hinein, klebte ihn zu. Vorne drauf schrieb er die Adresse einer Presseagen‐ tur. Dann suchte er nach Briefmarken, fand jedoch kei‐ ne. Gut. Würde er eben später sehen. Er verstaute das Päckchen in der Tasche seiner Jagdjacke. Hatte große Lust zu rauchen, aber keine Zigaretten mehr. Er stellte das Büro und den Salon vollkommen auf den Kopf, fand jedoch nicht einen Krümel Tabak. Er kehrte an den Schreibtisch zurück, nahm das Tonband wieder zur Hand und steckte eine neue Kassette hinein, mit dem Titel auf einem Schildchen: Die Hochzeit von Maryse. «Also hat sie sich doch endlich ficken lassen», be‐ merkte Buenaventura, der einen Gedanken oft schmerz‐ haft konsequent zu Ende dachte.
Er ergriff das Mikro, drückte auf die Aufnahmetaste und verharrte dann einen Moment reglos mit offenem Mund, während das Band sich schon aufzuspulen be‐ gann. Sein Gesicht war genauso verzerrt wie zu Beginn des Nachmittags in der Badewanne. «Ich habe mich geirrt», sagte er plötzlich. «Der Terro‐ rismus von links und der Staatsterrorismus sind, auch wenn ihre Motive nicht zu vergleichen sind, die beiden Schlagbügel der ...» Er hielt zögernd inne. «... derselben Falle für Idioten», schloß er den Satz und fuhr sogleich fort: «Das Regime wehrt sich selbst‐ verständlich gegen den Terrorismus. Das System jedoch verwahrt sich nicht dagegen, es ermutigt ihn, betreibt Werbung für ihn. Der Desperado ist eine Ware, ein Tauschwert, ein Verhaltensmuster wie der Flic oder die Heilige. Der Staat träumt von einem grauenhaften und triumphalen Ende im Tode, in einem absoluten und all‐ gemeinen Bürgerkrieg zwischen den Kohorten aus Flics und Söldnern und den Kommandos des Nihilismus. Dies ist die Falle, die den Aufständischen gestellt wird, und ich bin hineingetappt. Und ich werde nicht der einzige bleiben. Und das kotzt mich wirklich an.» Der Katalane starrte ins Dunkel und rieb sich mecha‐ nisch den Mund mit der Hand. Plötzlich überkam ihn ei‐ ne Vision seines Vaters, den er nie gesehen hatte: Der Mann steht aufrecht auf einer Barrikade, genauer gesagt, er macht gerade einen großen Schritt, einer seiner Füße schwebt in der Luft; es ist der Abend des 4. Mai 1937, in Barcelona, das revolutionäre Proletariat hat sich gegen die Bourgeoisie und gegen die Stalinisten erhoben, im nächsten Bruchteil einer Sekunde wird eine Kugel Bue‐ naventura Diaz’ Vater treffen, im Bruchteil einer Se‐
kunde wird der Mann tot sein, in ein paar Tagen wird die Kommune von Barcelona niedergeschlagen sein, schon bald begraben unter Verleumdungen. «Die Verurteilung des Terrorismus», sprach Buena‐ ventura ins Mikro, «ist keine Verurteilung der Aufleh‐ nung, sondern ein Aufruf zur Auflehnung.» Er brach abermals ab, und ein Grinsen verzerrte ihm den Mund. «Infolgedessen», fügte er hinzu, «erkläre ich die Gruppe ‹Nada› für aufgelöst.» Er stoppte die Aufzeichnung. «Und dazu sogar noch einstimmig!» schrie er in die Dunkelheit. «Die alten Traditionen werden gewahrt.» Er holte die Kassette aus dem Rekorder, stopfte sie in einen weiteren Umschlag, den er ebenfalls zuklebte und mit folgender Aufschrift versah: Erster und letzter theo‐ retischer Beitrag von Buenaventura Diaz zu seiner eige‐ nen Geschichte. Auch diesen Umschlag steckte er in die Tasche der Jagdjacke und ging dann wieder hinüber ins Wohnzimmer, um die Fernsehnachrichten mitzukriegen. «Kommissar Goémond, der heute morgen den Sturm‐ angriff zur Befreiung des Botschafters der Vereinigten Staaten geführt hat», verkündete der Kommentator, noch bevor sein Bild auf dem Schirm erschien, «... und ich gebe Ihnen diese noch unbestätigte Nachricht unter Vor‐ behalt weiter», fügte er hinzu, während sein Oberkörper erschien, «ich lese Ihnen die Eilmeldung vor, die uns ge‐ rade eben erreicht ... Also, Kommissar Goémond soll, ich betone, soll auf unmittelbares Eingreifen des Innen‐ ministers hin suspendiert worden sein.» «Na, das ist ja mal was ganz Neues!» sagte Buena‐ ventura.
37 «Das können Sie nicht machen!» schrie Goémond. «Aber natürlich kann ich das, Goémond. Für wen halten Sie sich?» erwiderte der Büroleiter des Ministers. «Ich habe Ihren Weisungen entsprechend gehandelt.» «Man hat Ihren Namen am heutigen Nachmittag in den Straßen von Paris gebrüllt», sagte der Büroleiter. «Man hat ‹Goémond, du Drecksack, dir zieht das Volk demnächst das Fell ab!› und ‹Goémond, du altes Arsch‐ loch, du landest noch im Fleischwolf !› gebrüllt.» «Das sind Morddrohungen.» «Reden Sie kein dummes Zeug, Goémond.» «Na gut, dann werde ich eben was Sinnvolles sagen», erklärte der Kommissar matt. «Glauben Sie wirklich, dies war der richtige Moment, sich einem Skandal aus‐ zusetzen, indem Sie mich rausschmeißen?» «Sie sind nicht rausgeschmissen, Sie sind suspen‐ diert.» «Beantworten Sie meine Frage!» schrie Goémond. «Wenn ich das will!» brüllte der Büroleiter mit puter‐ rotem Gesicht im Aufstehen. «Goémond, es liegt in Ih‐ rem Interesse, wirklich ganz in Ihrem Interesse, klein beizugeben! Verstehen Sie mich, Goémond? Klein bei‐ geben! Und setzen Sie sich erst mal wieder hin!»
Goémond setzte sich stumm wieder hin. Sein Gegen‐ über ging mit zornigen großen Schritten im Büro auf und ab. «Kommissar, Sie bilden sich seit einiger Zeit ein biß‐ chen zuviel ein. Glauben Sie denn, Sie stehen über dem Gesetz? Sie haben diese Operation mit einer Brutalität durchgeführt, die nicht geduldet werden kann und es auch nicht wird. Eigenmächtig ...» «Eigenmächtig?» fiel ihm Goémond ins Wort. «Seien Sie still! Sie sind nicht in der Position, mich zu unterbrechen. Eigenmächtig haben Sie den Befehl zum Sturm auf dieses Gehöft erteilt, obwohl Sie doch sehr genau wußten, daß dies den Botschafter Poindexter das Leben kosten konnte. Sie haben sich von einer blin‐ den parteiischen Leidenschaft mitreißen lassen, Goé‐ mond, von einer krankhaften Leidenschaft. Sie stehen am Rande einer Psychose, Goémond! Ich erinnere mich genau an Ihre eigenen Worte: ‹Wenn’s nur nach mir ginge, würd ich die an die Wand stellen!›» «An Ihre eigenen Worte kann ich mich zwar nicht er‐ innern», meinte der Kommissar plump. «Aber ich weiß sehr wohl, was ich verstanden habe.» «Kein Wort mehr, Goémond!» schrie der Büroleiter des Innenministers. «Ich kann auf Ihre Hirngespinste verzichten!» Der Mund des Kommissars zuckte noch einen Au‐ genblick, aber es kam nichts raus, dann beruhigte sich Go6mond und atmete mehrmals tief durch. Der Büro‐ leiter war inzwischen stehengeblieben und schaute ihn inquisitorisch an. «Na gut», seufzte Goémond endlich. «Ich bin also der Sündenbock.» «Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie diesen absurden
und tendenziösen Ausdruck nicht mehr verwenden wür‐ den, nachdem Sie dieses Büro verlassen haben», erwi‐ derte der andere mit verkniffener Miene. «Dankbar in welchem Maße?» Der persönliche Referent des Ministers trat wieder hinter seinen Arbeitstisch und setzte sich. Zündete sich eine Gitane Filter an und faßte Goémond, durch den Rauch blinzelnd, scharf ins Auge. «Sehr wahrscheinlich müssen Disziplinarmaßnahmen ergriffen werden, das will ich Ihnen nicht verhehlen», sagte er. «Darüber hinaus ... Ein wenig räumlicher Ab‐ stand würde Ihnen nicht schlecht bekommen. Sie werden uns also verlassen und ein bißchen technische Hilfe bei den Negern leisten.» «Bei den Negern!» rief Goémond nervös zitternd aus. «Irgendwo in Afrika, ja, das wird keine schlechte Lö‐ sung sein. Falls Sie sadistische Triebe haben, so können Sie sich da unten austoben. Na ja, das sehen wir noch. Ich hab das nicht zu entscheiden, wissen Sie.» Goémond sagte nichts darauf. Der Büroleiter des In‐ nenministers zuckte mit den Schultern. «Es tut mir leid für Sie», fuhr er fort. «Doch die Din‐ ge haben sich eben gehäuft. Der Selbstmordversuch von Meyers Frau. Die Beschwerden der Gendarmen, Sie wissen ja, wie die sind ... Diese ganze Geschichte stinkt für die Öffentlichkeit nach Brutalität, und selbst die Amerikaner werden sich dessen allmählich bewußt. Ich hatte das Außenministerium an der Strippe. Da ist die Kacke am Dampfen, wenn Sie mir den Ausdruck verzei‐ hen. Nun ja, kurzum, es ist halt so.» Der Büroleiter erhob sich erneut, womit er bekundete, daß die Unterredung lange genug gedauert hatte. Rot
und glotzäugig richtete sich Goémond, mit zitterndem Schnurrbart, ebenfalls auf. Er riß sich zusammen. «Sehen Sie zu, daß wir den letzten Anarcho auch noch fassen», fügte der Kommissar noch heiser an. «Falls der nämlich das Maul aufmacht, wird die Kacke erst richtig am Dampfen sein.» «Auf Wiedersehen, Goémond», entgegnete der per‐ sönliche Referent des Innenministers. «Es ist Ihnen ge‐ stattet, noch mal in Ihrem Büro vorbeizuschauen, um die anhängigen Dinge zu erledigen und alles zu übergeben. Und dann ab ins Kämmerchen, Goémond. Ist das klar? Hüten Sie das Zimmer!» «Auf Wiedersehen», sagte Goémond und ging hinaus. Auf seiner verschwitzten Haut empfand er die kühle Nachtluft wie eine eisige Dusche. Er ging zögernd zu seinem Wagen, stieg ein und blieb reglos hocken, die Hände um das Lenkrad gekrampft und den Blick starr ins Leere gerichtet. Der Kommissar war ein gebrochener Mann, zumindest für etwas mehr als dreißig Sekunden. Dann wußte er plötzlich, was ihm zu tun blieb (das Gan‐ ze stand wie in flammenden Lettern vor seinem geistigen Auge), um sich zu rächen. Er startete und sauste zu seinem Büro. Als er den Raum betrat, in dem Treuffais mit Hand‐ schellen an den Heizkörper gekettet war, hob der Philo‐ lehrer nur schwach den Kopf. Seine Augen lagen sehr tief in den Höhlen. Goémond zückte seinen Ochsenziemer aus der Innentasche und hieb ihn Treuffais auf den Schädel. Der junge Mann schloß prompt die Augen, sein Kiefer fiel herab, er selbst rutschte an die Fußleiste. Zwei Untergebene waren hinter dem Kommissar ins Zimmer getreten. «Schaffen Sie ihn durch die Tür zum Innenhof raus
und setzen Sie ihn in meinen Wagen», befahl Goémond. «In fünf bis zehn Minuten fahren Sie dann los. Warten Sie vor seiner Wohnung auf mich.» «Chef», wandte der jüngere Polizeibeamte ein, «sind Sie sicher, daß Sie wissen, was Sie da tun? Ich mein ... Warum lassen Sie’s nicht einfach sein?» «Warum?» schrie Goémond, und man hätte es für das wütende Fauchen einer Katze halten können. «Warum!» wiederholte er etwas sachter und verließ schulterzuk‐ kend den Raum, wobei er das Wort noch ein paarmal amüsiert vor sich hin sagte. Unten angelangt wartete er ein paar Augenblicke, da‐ mit die Journalisten, aufgescheucht durch eine gezielte Indiskretion, auch genügend Zeit hatten, hinzuzukom‐ men, trat dann aus dem Gebäude, und schon empfin‐ gen ihn die Blitzlichter auf dem Bürgersteig und er‐ hellten die Nacht, die Mikros wurden gereckt und die Fragen abgefeuert. Geblendet bahnte sich Goémond wie ein Ruderer bei Victor Hugo einen Weg durch die Menge. «Lassen Sie mich doch durch. Machen Sie den Weg frei. Los, gehen Sie weiter.» Schließlich erreichte er den schwarzen Citroen DS, den er zum Eingang hatte bringen lassen. Er drehte sich zu dem Gewühl um, das ihn belagerte. «Ich habe nur eine Sache zu sagen. Ich habe nur eine Sache zu sagen!» wiederholte er in den Heidenlärm hin‐ ein. «Man will mich zum Sündenbock machen, und den‐ noch habe ich in der Angelegenheit um den Botschafter lediglich genauen Befehlen gehorcht.» Er lachte hämisch. Die Fragen prasselten nur um so heftiger auf ihn ein. Man schubste sich, um an ihn her‐ anzukommen. Man trat sich auf die Füße. Er kostete sei‐
ne Macht aus. Schweiß tropfte ihm erneut von seiner großen, krankhaften Stirn. «Und noch etwas!» schrie er. «Wir waren bereits seit letztem Monat über den geplanten Coup gegen den Bot‐ schafter der Vereinigten Staaten informiert. Ich hatte ei‐ nen Informanten in der Gruppe ‹Nada›. An der unmittel‐ baren Vorbereitung des Coups hat er selbst zwar nicht mitgewirkt, wurde aber bis Anfang letzter Woche über das Vorhaben der Anarchisten auf dem laufenden gehalten. Nur der genaue Zeitpunkt des Anschlags war ihm nicht bekannt, sonst wußte er alles.» Und seht zu, was ihr daraus macht, dachte Goémond bei sich, während er sich die Leichenbittermiene des Bü‐ roleiters ausmalte. «Jaja!» rief er den Journalisten zu. «Und dieser In‐ formant ist noch am Leben. Und ja, er ist sogar auf frei‐ em Fuß. Und nein, ich kann Ihnen seine Identität nicht preisgeben.» Doch Buenaventura Diaz wird das tun können, dachte der Kommissar und frohlockte innerlich, während er die Fahrertür des DS öffnete, einstieg, die Tür wieder zu‐ knallte. Er ließ den Motor an. «Nein, ich hab keine weiteren Erklärungen ab‐ zugeben!» Er kurbelte die Scheibe wieder hoch. Der DS löste sich vom Bürgersteig, löste sich aus der Menge und brauste über die nasse Fahrbahn, auf die die Straßenla‐ ternen Lichtgespenster warfen, davon. Es ging bereits auf elf Uhr abends zu, als der Kom‐ missar die Straße erreichte, in der Treuffais’ Wohnung lag. Eine kleine Straße, ohne Passanten. Der Renault 15 parkte in zweiter Reihe. Goémond stellte den DS direkt dahinter ab und stieg aus. Einer der Polizeibeamten
wartete am Steuer des Renault. Der andere saß im Fond, neben dem bewußtlosen Treuffais. «Helfen Sie mir, ihn hinauf in seine Wohnung zu schaffen», sagte Goémond. Als sie im Appartement angelangt waren, legte der Kommissar den jungen Mann auf den Wohnzimmerfuß‐ boden. «Haut jetzt ab, Leute. Ich brauch Euch nicht mehr.» «Chef, lassen Sie mich hierbleiben», sagte der jüngere Untergebene. «Kommt nicht in Frage. Wollt Dir noch etwas für mich tun?» Der Kommissar zog sein Jackett aus und reichte es seinen Leuten. «Fahrt meinen Wagen hoch nach Bercy», sagte er dann, «und laßt ihn einfach an irgendeiner Stelle stehen, wo er stört. Auf einem Zubringer zur Schnellstraße bei‐ spielsweise. Und dann laßt Dir meine Jacke auf dem Vordersitz liegen und verstreut meine Papiere ein biß‐ chen darüber, meinen Polizeiausweis und den ganzen Kram ...» «Das wird aber auffallen.» «Genau das will ich doch, du kleiner Einfaltspinsel. Das wird die Flics eine Weile beschäftigen», erklärte der Polizeikommissar. «Okay.» «Was alles übrige angeht, zieht die Dinge so weit wie möglich in die Länge.» «Okay.» «Bis bald, meine Kleinen», sagte Goémond. «Na dann, toi, toi, toi», erwiderte der junge Unterge‐ bene.
38 Als eine Spätausgabe der Fernsehnachrichten die Neuig‐ keit verbreitete und Kommissar Goemonds Erklärungen unter allem Vorbehalt anführte, benötigte Buenaventura, der vor dem Empfänger gerade Pastete aß und Cognac trank, einige Sekunden, eher er begriff, was der Polizist im Schilde führte. Dann: «Der Schweinehund!» rief er mit Nachdruck. Er blieb noch einige Augenblicke reglos sitzen. Schließlich leerte er seinen Cognac und ging hinunter in die Garage. Beim Einbruch in das Haus hatte er dort eine Werkbank bemerkt. Der Katalane stöberte in den Ge‐ rätschaften herum und fand etwas, was ihm geeignet er‐ schien. Seine Taschenlampe in der einen Hand und drei Sägen in der anderen stieg er wieder nach oben und suchte das Büro auf. Dort sägte er dann fast zwei Stun‐ den lang. Er beeilte sich nicht. Er dachte nach, und er war ziemlich schwach. Er paßte auf, seine Wunde nicht durch zu heftige Bewegungen erneut aufzureißen. Nachdem er mit Sägen fertig war, verfügte er über ei‐ ne auf ihre einfachste Form reduzierte Charlin‐Flinte von fünfunddreißig Zentimetern Länge ohne Kolben und
Läufe, und zum andern über das Erma‐Repetiergewehr in annähernd dem gleichen Zustand, wenn auch etwas länger, jener Stutzwinchester recht ähnlich, die dem Helden in der Fernsehserie Der Kopfgeldjäger lieb und teuer war. Der Anarchist stopfte sich seine Jackentaschen voll mit Patronen Kaliber 12 und lud .22er Long Rifle ins Magazin des Repetiergewehrs. Dann stöberte er noch einmal im oberen Stockwerk herum, bis er einen unför‐ mig weiten khakifarbenen Regenmantel mit zwei In‐ nentaschen fand. Die durchlöcherte er mit einer Schere und steckte die beiden abgesägten Waffen hinein, sie verschwanden vollständig im Innern des Futters und hingen mehr oder weniger senkrecht in den beiden Mantelseiten herunter. Buenaventura streifte das Klei‐ dungsstück über die Jagdjacke. Um mehrere Kilo schwe‐ rer und mit seiner halbautomatischen Pistole in der In‐ nentasche der Jacke, kehrte er ins Erdgeschoß zurück, machte den Fernseher aus, indem er einmal mit dem Stuhl zuschlug, und verließ mit dem Solex das Haus durch die Hintertür. «Tod den Bullen», sagte er voller Inbrunst, als er sich auf seinen Drahtesel schwang. Ohne anderes Licht als das der Taschenlampe fuhr er langsam über kleine Straßen. Als er dann in eine schla‐ fende Ortschaft kam, schlug er das Seitenfenster eines Fiat 128 ein, stieg in das Auto, setzte es ohne Probleme in Gang und fuhr weg. Es gelang ihm, Paris zu erreichen, ohne auf irgendeine Straßensperre zu stoßen, und ohne daß sich irgend etwas seinem Vorhaben in den Weg gestellt hätte, man hätte meinen können, er habe das Schicksal bestochen. Er verließ den Périphérique an der Porte de la Plaine,
raste nach Paris hinein, parkte am Boulevard Lefebvre. Er blieb am Steuer des Fiat sitzen, hielt zunächst einen Moment inne und trällerte: «Bestimmt ist das Haus umstellt!» Er sang es auf die Melodie von Il m’a dit, «Voulez‐vous danser?» Schließlich stieg er aus dem Wagen. Mit einiger Ver‐ zögerung bereitete ihm der Cognac Herzflattern. Gegen den Fiat gelehnt, zog er mühsam die Erma‐Büchse aus dem rechten Jackenfutter. Sein linker Arm schmerzte unablässig, allerdings nicht mehr, als wenn ihm ein höl‐ zerner Pflock im Muskel stecken würde. Er nahm die «Stutzwinchester» in seine rechte Hand und schob den Kolbenstummel in den Ärmel, bis wirk‐ lich nicht mehr viel vorstand. In der linken Hand hielt er seine halbautomatische Pistole. Derart gewappnet setzte er sich mit den schlingernden Bewegungen eines Sauf‐ bruders in Marsch. Er war der Ansicht, daß er schon bald auf die Flics stoßen müßte, die rund um Treuffais’ Wohnblock postiert waren. Und hatte die wahnwitzige Absicht, sie allesamt umzubringen, sich einfach einen Weg zu seinem Freund zu bahnen. Er war erstaunt, noch auf niemanden gestoßen zu sein, als er die Ecke des Ge‐ bäudekomplexes erreichte. Die Flics mußten also im In‐ nern des Wohnhauses selbst stecken, und zweifelsohne auf dem Dach, und darauf lauern, daß er in Goémonds plumpe Falle stolperte.
39 «Sie sind vollkommen verrückt», sagte Treuffais. «Nein.» «Haben Sie etwa vor, hier lange zu warten?» «Zwei Tage. Drei Tage. So lange wie nötig.» Treuffais schüttelte den Kopf. Er war erneut mit Handschellen an einen Heizkörper gefesselt. Er saß auf dem Boden, den Rücken gegen die Wand seines schäbi‐ gen Wohnzimmers gelehnt. Kommissar Goémond hatte es sich in Hemdsärmeln und kugelsicherer Weste in Vaters Sessel bequem gemacht, seine vorschriftsmäßige Dienstpistole im Schulterhalfter und einen Colt Cobra auf dem Schoß. Nur in der Küche brannte Licht und warf ein gelbes Rechteck auf den Wohnzimmerboden. Treuffais und Goémond saßen zu beiden Seiten dieses Rechtecks und beobachteten sich im Halbdunkel des Raums. Der Gefangene war äußerst müde. Ein Dreitage‐ bart bedeckte die hohlen Wangen. Seine Augen lagen tief und schwarz wie Gullys in ihren Höhlen. Sein Hemd war besudelt und zerrissen, die Hose ekelerregend. Im Verhältnis zu ihm wirkte Goémond, obwohl er naßge‐ schwitzt war, geradezu sauber.
«In ein paar Stunden werden Ihre Vorgesetzten diesem Scherz ein Ende gemacht haben», sagte Treuffais. «Vielleicht.» «Buenaventura Diaz wird nicht mehr kommen», fügte Treuffais hinzu. «Er wird herkommen und dich töten, kleine Schlam‐ pe», erwiderte Goémond. «Ich kenn doch diese Art von Typen. Wenn so einer anfängt zu töten, dann hört der nicht mehr damit auf.» «Der ist schon in Italien, du altes Arschloch», sagte Treuffais. «In Italien? Warum in Italien?» «Oder in Belgien», meinte Treuffais. «Sei still, Schwuchtel. Du störst mich beim Denken.» «Um so besser. Ach ja, ich werd Ihnen mal ein Gedicht aufsagen. Was ziehen Sie vor: Klassik oder Barock?» «Halt’s Maul», rief Goémond. «Halt’s Maul. Wenn es nachher oder morgen an der Tür klingelt, dann schließ ich deine Handschellen auf, und du gehst fragen, wer da ist. Und machst dann die Tür auf. Das ist deine einzige Chance, lebend davonzukommen.» «Niemand wird an der Tür klingeln», erwiderte Treuf‐ fais und fügte hinzu: «O Rose, thou art sick. The invi‐ sible worm that flies in the night, through the howling storm, has found out thy bed of crimson joy ...» «Hältst du jetzt mal dein großes Maul, du kleines Arschloch?» fragte Goémond, sprang aus dem Sessel auf und trat seinem Gefangenen mit dem Absatz ins Gesicht.
40 Buenaventura hatte das Nachbarhaus betreten. Und war zum Dachgeschoß hochgestiegen. Senkrecht zum letzten Treppenabsatz war eine Klapptür zu erkennen, die aufs Dach führte. Sie war aber verschlossen, er hätte einen Vierkantschlüssel gebraucht, um diese Art von Schloß aufzubekommen. Der Katalane wollte sie aufbrechen, aber dazu mußte er sie erst einmal erreichen, sie war zu hoch, und es gab keinen Hocker oder ähnliches. Der junge Mann schlich in den Flur zu den Mansarden‐ und Dienstbotenkammern. Er versuchte im Vorbeigehen, lei‐ se eine der Türen zu öffnen. Der Griff der dritten gab nach. Er öffnete den Flügel einen Spalt. Im Halbdunkel erblickte er jemanden, der in einem Einzelbett schlief. Er wartete, bis das Flurlicht, das er beim Hinaufsteigen eingeschaltet hatte, wieder erlosch. Dann drang er in das Zimmer, das durch das Mansardenfenster von den fortwährenden Lichtreflexen der Stadt schwach erhellt wurde. Der Mann in dem kleinen Bett schnarchte. Bue‐ naventura trat zu ihm, um ihn genauer zu betrachten. Es war ein Greis, recht ungepflegt und ökonomisch
schwach auf der Brust, nach seinem ranzigen Geruch zu urteilen. Er pofte wie ein Sack. Der Katalane trat vom Bett zurück, öffnete sehr be‐ hutsam das Fenster, stieg auf eine Kommode aus unbe‐ arbeitetem Holz und kletterte hinaus auf den Fenster‐ sims. Dort vollführte er eine weitere Gymnastik, um das Repetiergewehr erst mal wieder ins Futter zurückzube‐ fördern. Neben dem Fenster führte eine schiefergedeckte Dachschräge zur Terrasse hinauf. Als er beide Hände endlich frei hatte, verließ er die Fensterbrüstung und rutschte mit seinem hageren Körper flach auf die feuch‐ ten Schieferplatten. Diese Feuchtigkeit kam ihm entge‐ gen. Die Temperatur lag leicht unter Null, und infolge‐ dessen war das Wasser noch nicht gefroren, aber auch nicht rutschig, begünstigte vielmehr die Haftung. Zenti‐ meter um Zentimeter robbte Buenaventura vorwärts, das Dach hinauf. Endlich erreichte er die Terrasse und blieb zunächst still liegen, erkundete die Dunkelheit: Schornsteine, Fernsehantennen. Keinerlei Anzeichen menschlicher Präsenz. Der Katalane zögerte einen Moment, entschloß sich dann aber, den Fuß auf die Terrasse zu setzen. Hier und da knirschten Kieselsteine unter den Sohlen seiner Turnschuhe. Immer noch niemand. Buenaventura machte sich ernsthaft Gedanken. Er malte sich eine Horde Flics aus, die bereits jede seiner Bewegungen belauerte. Oder warteten sie etwa allesamt in Treuffais’ Treppenhaus? Oder hatte er sich womöglich getäuscht, und es gab hier an diesem Ort weder eine Falle noch einen Treuffais noch einen Kommissar Goe‐ mond? Rasch überwand er das Mäuerchen, das die Terrasse,
auf die er gelangt war, von der nebenan trennte. Er be‐ fand sich nun auf dem Dach von Treuffais’ Wohnhaus. Nichts. Niemand. Die Schornsteine und Antennen ragten unbeweglich in die Dunkelheit, und Buenaventu‐ ra hatte nicht den Eindruck, daß sie ihn höhnisch beo‐ bachteten. Er schaute auf seine Armbanduhr, die er im Wochenendhaus der Ventrees wieder aufgezogen und neu gestellt hatte. Vier Uhr morgens. Das Proletariat schlief unruhig mit einem Auge in seinen Banlieues, die mittleren Angestellten tief auf ihren beiden Eselsohren in ihren Superkaninchenställen entlang der Seine. Die letzten Pizzerien des Quartier Saint‐Germain schlossen ihre Türen hinter den müden, aber hinreißenden Trans‐ vestiten. Von Alkohol und Shit benebelte Töchter aus gutem Hause ließen sich in der westlichen Banlieue durchrammeln und mimten orgiastische Lust, um gegen die Übelkeit anzukämpfen. Die Clochards gaben sich unter den Brücken ihre Geschlechtskrankheiten weiter. La Coupole hatte gerade geschlossen, und einige Intel‐ lektuelle gingen an der Kreuzung zum Boulevard Raspail auseinander mit dem Versprechen, sich anzuru‐ fen. Die Linotypesetzer machten sich in den Werkdruk‐ kereien bereits zu schaffen. Fette Schlagzeilen bezüglich der Metzelei vom vergangenen Morgen wurden gesetzt. Diverse Leitartikel waren eingegangen, die je nach Richtung der betreffenden Zeitungen folgende Über‐ schriften hatten: WOFÜR? oder DAS BLUT oder BIS WOHIN? Oder DER TEUFELSKREIS oder TOLL‐ KÜHNER ALPHONSE BISTRO‐BAGUETTE IN HÖCHSTFORM GEGEN DIE DEUTSCHEN. Buena‐
ventura schlich sehr langsam um jeden einzelnen Schornstein, da er bestrebt war, nicht von hinten abge‐ knallt zu werden.
Als er sicher war, daß es auf dem Dach weder eine Katze noch einen Flic gab, war er etwas verblüfft. Diese Verblüffung verleitete ihn jedoch nicht dazu, sich in Treuffais’ Treppenhaus vorzuwagen. Vielmehr machte er sich über die Fernsehantennen her. Nahm ihnen die Verspannungskabel weg, die verhindern sollten, daß sich die Drahtrechen bei starkem Wind verbogen oder gar brachen, und knüpfte sie mit festen Knoten aneinander. Das dadurch entstandene, mit Plastik ummantelte lange Kabel war furchtbar glitschig. Buenaventura befestigte es an einem Schornstein, legte es sich zum Abseilen um und ließ sich dann, zur Straßenseite hin, ins Leere fallen. Seine rechte Hand, um die er das Kabel geschlungen hatte, ließ ihn nur sehr langsam hinabgleiten. Der Mann kletterte wie eine Spinne die Fassade hinunter, bis zu der Etage, auf der Treuffais wohnte. Seine Sohlen streiften zunächst leicht und lautlos die Balkonbrüstung, dann faßte er Fuß. Nun stand er hinter den Scheiben und konnte den vom Küchenlicht schwach erhellten Salon erkennen, und die beiden Schatten, die nicht in seine Richtung sahen.
41 «Haben Sie mir diesen Goémond noch immer nicht auf‐ gespürt?» «Nein, Monsieur.» «Haben Sie mal daran gedacht, der Wohnung dieses Individuums ... Treuffais, Marcel Treuffais, einen Besuch abzustatten?» «Nein, Monsieur.» «Na, dann machen Sie das mal. Worauf warten Sie denn noch?» «Auf nichts. Zu Befehl.»
42 Mit einem Gebrüll der Freude und der Verzweiflung brach Buenaventura Diaz durch die Fensterscheibe des Wohnzimmers. Er hielt das gestutzte Repetiergewehr in seiner linken Hand, und während die Glastrümmer noch um ihn herumflogen, setzte er ein Knie auf den Boden und eröffnete das Feuer auf Goémond, indem er den Unterhebel der Erma mit seiner Rechten betätigte. Die .22er Long‐Rifle‐Kugeln prallten auf den Rücken des Kommissars. Goémond wurde nach vorn geschleudert. Seine Stirn stieß hart gegen den Rahmen der Verbin‐ dungstür. Er federte sofort zurück und warf sich auf den Bauch hinter Vaters Sessel, den die Geschosse durch‐ bohrten. Da der Kommissar jedoch eine kugelsichere Weste trug, war er zwar ziemlich durchgeschüttelt, aber über‐ haupt nicht verletzt. Plötzlich klackte der Schlagbolzen der Erna ins Leere, und Buenaventura schleuderte sein Repetiergewehr in die Mitte des Raums und zückte seine halbautomatische Pistole mit der linken Hand. «Tod den Bullen!» schrie er, und Goémond feuerte,
hinter der Sesselkante hervor, auf ihn und zertrümmerte ihm den Ellbogen. Buenaventura brüllte los und wirbelte auf seinen Ab‐ sätzen einmal vollständig um die eigene Achse. Goé‐ mond schoß ihm mit dem Colt Cobra eine zweite Kugel in die Brust. Die Lunge des Katalanen platzte, und der Mann stürzte nach hinten, stieß gegen das Fenster und plumpste auf den Rücken. Er griff mit der Rechten unter seinen Regenmantel. Die Pistole lag mitten auf dem ab‐ genutzten Teppichboden. Goémond stieß einen Freudenschrei aus und hechtete, den Colt Cobra in der Faust, auf den Terroristen zu. «Es lebe der Tod!» sagte Buenaventura und zog die abgesägte Charlin aus seinem linken Futter und feuerte beide Läufe in das Gesicht des Polizisten. Auf diese Distanz wirkt Schrot wie eine einzige Ku‐ gel, und die Ladung riß Goémond den Kopf ab und ließ ihn förmlich explodieren. Knochentrümmer, Hirnstück‐ chen und Haarbüschel verteilten sich wie die Garbe ei‐ nes Feuerwerkskörpers in der Luft und klatschten als feiner Hagel auf die Decke, den Fußboden, die Wände. Der kopflose Körper des Kommissars hüpfte aus dem Stand in die Luft und stürzte in der Mitte des Raums mit einem schmatzenden Geräusch auf den Rücken. Buena‐ ventura warf die abgesägte Flinte weg und begann Blut zu spucken. «Buen», sagte Treuffais. «Bist du getroffen?» «Ich krepier», antwortete der Katalane in einem Gur‐ geln. Treuffais wand sich wie irre, gelangte zum Körper des kopflosen Kommissars und durchsuchte seine Ta‐ schen. Er fand den Handschellenschlüssel. Buenaventura blieb derweil reglos zu Füßen des Fensters liegen, das
Kinn auf der Brust, und ein scharlachroter Schwall schoß aus seinem Mund und aus der Nase und besudelte den weißen Pulli, die Jagdjacke, den Regenmantel. Da es sich um Blut aus der Lunge handelte, war es voller Bläschen, schäumte wie verschüttetes Bier. «Die Tonbänder sind in meinen Jackentaschen», sagte der Verwundete. «Was sagst du?» Der Katalane antwortete nicht. Treuffais befreite sich von den Handschellen und stürzte mit einem großen Schritt über Goémond hinweg zu seinem Freund. Er kniete sich neben Buenaventura. Dieser sah ihn noch ei‐ nen Augenblick wortlos an und starb. «Adieu, altes Arschloch», sagte Treuffais, und dabei schossen ihm die Tränen aus den Augen und heftige Schluchzer schüttelten ihn so, daß ihn ein nervöser Brechreiz überkam. Er ging zur Wohnungstür und öffnete sie. Im Trep‐ penhaus brannte Licht. Irgendwelche Leute riefen ein‐ ander von einem Absatz zum anderen zu. Man sprach von Schüssen, von Telefon und Funkstreife. Treuffais kehrte in das Appartement zurück, schob die Riegel vor, ging zum Telefon und hob ab. Wählte die Nummer einer ausländischen Presseagentur und bat darum, einen Jour‐ nalisten zu sprechen. Man verband ihn. Durch die zerbrochenen Scheiben drang von unten der unheilvolle Lärm herbeirasender Mannschaftswagen der Polizei herauf. «Hören Sie zu, mein Alter, und notieren Sie fix», er‐ klärte Treuffais, während er die Leichen anschaute. «Ich werd Ihnen jetzt die kurze und vollständige Geschichte der Gruppe ‹Nada› erzählen ...»
WORTERKLÄRUNGEN Action Française Nationale Révolutionnaire: Nationalre‐ volutionäre Französische Aktion, extrem rechte Abspal‐ tung der Royalisten. Banlieue: «Vorort, Vorstadt», im besonderen das gesamte Einzugsgebiet einer Großstadt, vor allem von Paris. Bordighisten: Nach dem Revolutionär Bordigha benannte Trotzkisten. Bussiéres, Raymond: eher zweitklassiger französischer Schauspieler der 50er und 60er Jahre. Canard enchaîne: «An die Kette gelegte Ente», überaus beliebtes satirisch‐politisches Wochenblatt, deckt gern und häufig Skandale auf. Cours Bouillon: in Anspielung an den gleichklingen Sud court‐bouillon, in dem Fisch oder Fleisch gekocht wer‐ den. CRS: Compagnies Républicaines de Sécurités, dem Innen‐ ministerium unterstellte, vor allem seit den 68er De‐ monstrationen berüchtigte, streng organisierte und hart auftretende «Sicherheitspolizei» mit diversen Zuständig‐ keiten (Straßen‐, Strandwacht etc.). DGER: Direction Générale des Enquêtes et Recherches, «Hauptabteilung für Untersuchungen und Recherchen», 1944‐47 Vorläufer der militärischen Spionageabwehr DGSE; hauptsächlich im Inland tätig. FLN: Front de Libération National, Nationale Befreiungs‐ front in Algerien, seit der Unabhängigkeit Algeriens 1962 zunächst die Einheitspartei mit dem Ziel eines «Is‐ lamischen Sozialismus». FTP(F): Francs‐Tireurs et Partisans Français, kommuni‐ stisch geprägte Organisation von Freischärlern und Par‐ tisanen, gegründet 1943.
Gendarmerie: paramilitärische, dem Verteidigungsministe‐ rium unterstehende Polizeieinheit mit zahlreichen Unter‐ abteilungen (Militär, Justiz, Kripo, Verkehr), die auch in besonderen Fällen dem Innen‐ bzw. Justizministerium unterstehen, was zu Kompetenzgerangel führt; die Police nationale (Kripo, CRS, Grenzpolizei, Geheimdienste) un‐ tersteht nur dem Innenministerium – und fühlt sich der Gendarmerie überlegen. INF 1: telefonisch unter «4631» innerhalb von Paris zu er‐ reichende Nachrichtenansage. Khider, Mohammed: algerischer Abgeordneter und Befrei‐ ungskämpfer des FLN, zusammen mit Ben Bella führen‐ des Mitglied des FLN, wurde 1967 ermordet. Malatesta, Errico: italienischer Anarchist (1853‐1932), vor allem in Argentinien tätig. Marcel, Gabriel: Philosoph und Schriftsteller (1889‐1973), Vertreter des christlichen Existentialismus. Moch, Jules: Sozialist (1893‐1985), nach 1944 verschiede‐ ne Ministerämter und 1944/45 an der Schaffung der CRS und 1947/48 an der gewaltsamen Unterdrückung von Streiks beteiligt. Ordre Renouvelé: «Erneuerte Ordnung». Verballhornung der 1968 von rechtsextremen Studenten gegründeten Ordre Nouveau, «Neue Ordnung», 1973 aufgelöst. Pablisten: nach einem Revolutionär namens Pablo be‐ nannte Trotzkisten. Pasionara, La: «Die Leidenschaftliche», Dolores Ibárruri, Mitbegründerin der spanischen KP, bekannt durch ihre flammenden Reden und Rundfunksendungen während des Bürgerkriegs. Primoque in limine Pyrrhus exultat: Pyrrhus entschuldigt sich erst, wenn er im Schlamm liegt.
PSU: Partie Socialiste Unifié, 1990 aufgelöste kleinbür‐ gerliche Vereinigte Sozialistische Partei, die u.a. eine auf Selbstverwaltung gestützte Umwälzung der Gesell‐ schaft zum Ziel hatte; schied 1958 aus der SFIO aus. Ramparts: Zeitschrift der Neuen Linken, erschien von 1962/63 bis 1974/75 in Berkeley, Kalifornien, besprach u.a. Rockmusik, aber enthüllte vor allem die Machen‐ schaften des CIA. Unter anderem arbeitete auch Le‐ roy Eldridge Cleaver, der «Informationsminister» der schwarzen Bürgerrechtsorganisation Black Panther Par‐ ty, für das Organ. RG, Renseignements Généraux: Inlandsnachrichtendienst der Polizei, im weitesten Sinne Staatsschutz. Rue Robert‐Soulat: die nach dem langjährigen Heraus‐ geber der Serie noire genannte Straße sucht man im Pariser Stadtplan leider auch heute noch vergebens. SAC: Service d’Accentuation Civique, «Dienst zur staats‐ bürgerlichen Verstärkung», Verballhornung des unter Mitterand 1982 aufgelösten Service d’Action Civique, «Staatsbürgerliche Aktion», ein gaullistischer «Ord‐ nungsdienst», der wegen diverser Gewalttaten in Verruf geriet und juristisch verfolgt wurde. SDECE: Service de Documentation Extérieur et de Contre‐ Espionnage, Auslandsaufklärungs‐ und Spionageab‐ wehrdienst. SFIO: Section Française de l’Internationale Ouvriére, Französische Sektion der Internationalen Arbeiterbewe‐ gung. Vailland, Roger: französischer Schriftsteller (1907‐1965), Begründer der dem Surrealismus nahestehenden Zeit‐ schrift: Le Grand Jeu (1928). Mitglied der Résistance, der kommunistischen Partei, Austritt 1956, zusammen mit anderen Intellektuellen nach der «Geheimrede»
Chruschtschows auf dem XX. Parteitag der KPdSU, in der u. a. Verbrechen unter Stalin zugegeben wurden. Im Alter resigniert über die Vergeblichkeit jedes politischen Engagements. Der Text des Walzers auf Seite 186 lautet ungefähr so: Er hat mich gefragt, «Wollen Sie mit mir tanzen?» ich hab’ ja gesagt, beinah’ ohne zu überlegen. Zum Schluß noch einige Bemerkungen zu den Namen bei Manchette: Manchette verwendet gern «sprechende» Namen. Manche klingen einfach nur spaßig, andere sollen vom Lautbild her auf die Eigenschaften der Namensträger – oder Einrichtungen – verweisen, wie etwa Schmoulou, Hourgnon (‐› Trottel, Kleinbürger). Folgende Assoziationen bieten sich an: Barquignat: ländlich bäuerlicher Name. Castagnac: von castagne (Gascogne: Kastanie), castagner, prügeln, kräftig draufkloppen. Civette: Zibet, Zibetkatze oder auch Schnittlauch. D’Arcy: frz., auch in Irland vorkommender Name mit Adelspartikel, erinnert an den Musketier d’Artagnan. Duveau: du veau, vom/n Kalb. Épaulard: Schwert‐, Grindwal, Butzkopf; oder von épaule, Schulter, bzw. épauler, schultern, helfen, stützen; die Endung –ard weist zudem auf abfällige oder vulgäre Wortinhalte hin. Goémond: von goémon, Tang, Seegras.
Gourand: von se gourer, falschliegen, schiefgewickelt sein, der Schiefgewickelte. Grabeliau: Zwitter aus crabe und cabillaud, Kabeljau‐ Krabbe. Labeuve: weibliche Form von le boeuf, der Ochse, das Rind. Lamour: l’amour, die Liebe. Lhareng: l’hareng, der Hering. Longuevache: longue vache, lange Kuh bzw. langue de va‐ che, Kuhzunge. Poustacrouille: Pousse ta crouille, crouille ist ein rassisti‐ sches Schimpfwort für Araber, in etwa: Räum dein Arschgesicht weg. Treuffais: klingt wie truffé: angeschmiert, betrogen; eine truffe ist auch eine Pfeife, ein Trottel. Ventrée: reiches Mahl, voller Bauch. Zentauer 08‐05‐17