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Nachtschwimmer Roman
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dtv Joseph Olshan
Nachtschwimmer Roman
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›Nachtschwimmer‹ erzählt vom amerikanischen Großstadtleben der neunziger Jahre an den Schauplätzen New York, San Francisco, Fire Island und Vermont, zwischen Ozean und Landhaus, Disco und Sportstudio. Im Mittelpunkt steht die Liebesgeschichte von Will und Sean. Beide haben die Verletzungen durch frühere Liebhaber noch nicht überwunden, ihre Beziehung ist ein Auf und Ab zwischen Angst und Vertrauen. Umgeben von Körperkult und Ecstasy, Strandparties und Eifersuchtsdramen versuchen zwei Männer zu einer ganz normalen Beziehung zu finden. »Olshan ist ein abgründiger Roman gelungen. Auf den ersten Blick eine klassische, fast märchenhafte Geschichte, erweist sich der Text bei genauerem Hinsehen als psychologisch präzise Reflexion darüber, wie sich Sehnsucht und Angst ... die Waage halten können.« (Männer aktuell) Joseph Olshan hat bereits vier Romane geschrieben. ‹Claras Herz› wurde mit Whoopi Goldberg verfilmt und erschien 1988 auf deutsch. Olshan schrieb Rezensionen und Essays für namhafte amerikanische und britische Zeitungen. Er trainiert an vier Tagen in der Woche mit einer Schwimmannschaft und lebt in Vermont und New York City.
Joseph Olshan
Nachtschwimmer Roman Deutsch von Gerold Hens
Deutscher Taschenbuch Verlag
Ungekürzte Ausgabe Mai 1999 Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München © 1994 Joseph Olshan Titel der amerikanischen Originalausgabe: ›Nightswimmer‹ (Bloomsbury Publishing Ltd., London) © 1996 der deutschsprachigen Ausgabe: MännerschwarmSkript Verlag, Hamburg Umschlagkonzept: Balk & Brumshagen Umschlagfoto: ›Schwimmer‹ (1962) von Alex Colville Gesamtherstellung: C. H. Beck'sche Buchdruckerei, Nördlingen Dargestellt auf säurefreiem, chlorfrei gebleichtem Monitor Printed in Germany • ISBN 3-423-12631-0
Für Margaret Edwards und Charlet Davenport
Und, meinen Schmerz zu erhöhn, uns trennt kein gewaltiges Meer, uns trennt kein Gebirge, kein Weg, mit verschlossenen Türen nicht Mauern, nur ein geringes Wasser trennt uns. Ovid, Metamorphosen, Drittes Buch
PROLOG
Noch heute, zehn Jahre danach, warte ich auf seine Rückkehr. Draußen bei den Bojen warte ich, wassertretend, noch immer, daß die Sonne über Los Padres aufgeht, daß der ferne Horizont der Channel Islands wieder auftaucht. Ich weiß, daß er mich überraschen wird, wie er es immer getan hat, und daß ich ihn dafür büßen lassen werde, daß er mir solche Angst gemacht hat, dafür, daß er so viele Jahre draußen im Pazifik geblieben ist. In meiner Vorstellung taucht er ganz plötzlich auf, schwimmt zu mir herüber und legt mir die Arme um die Schultern. Gemächlich legen wir die letzten zweihundert Meter zurück, ziehen uns unsere Surfershorts über, schlendern den Boulevard entlang zu meiner Wohnung, schlafen miteinander als die vertrauten Fremden, die wir geworden sind, und verdösen dann den Tag. Ich wache als erster auf und liege da und lausche dem Heulen der Santa-Anna-Winde, den peitschenden Palmblättern vor meinem Fenster. Schließlich blicke ich zu ihm hinüber. Er schläft auf dem Bauch, und sein Rücken, ausgebreitet wie die geblähte Haube einer Kobra, hebt und senkt sich und beweist mir so, daß er tatsächlich am Leben ist. Zum allerersten Mal hatte ich ihn am Swimmingpool der Universität gesehen, am Tag, als ich aufhörte, mit der Schwimmannschaft zu trainieren. Mit glitzernden Streifen gechlorten Platins im Haar balgten sich die Wasserballer auf der Astroturf-Plattform, alberten herum und schubsten sich gegenseitig ins Wasser. Ich war in ein düsteres Büro gegangen, um einem gleichgültigen Trainer zu sagen, daß -9-
täglich 15000 Meter zu schwimmen mein Studium behindere, und wollte gerade gehen, als mein Blick den eines Mannes traf. Etwas in mir kam zur Ruhe, als er sich abwandte, quer über die Plattform rannte und einen Satz in die Luft machte. Einer seiner Freunde warf in hohem Bogen einen gelben Poloball über das Wasser. Er fing ihn, einen Arm nach hinten gestreckt, auf, preßte ihn an die Brust und hechtete ins blaue Wasser. Seitdem sind zehn Jahre vergangen, und ich wurde von anderen geliebt. Und dennoch, nach all dieser Zeit, glaubt ein Teil von mir, daß er da draußen ist, um die dreißig Meilen über den Kanal nach Santa Rosa zu schwimmen. Ein Teil von mir glaubt daran, daß er eines Tages der magischen Umklammerung dieses Ozeans entfliehen wird. Und auf diese Weise bleibe ich, wo immer ich mich auch befinde, dort, wo ich ihn verlor.
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EINS Weber 1. Manchmal gerate ich in Verwirrung und denke, du bist er. Du, er. Die gleiche Verwirrung, wie wenn ich über die Wellenbrecher hinausschwimme und vergesse, in welchem Ozean ich bin: im Atlantik, im Pazifik. Oder wenn ich in den Armen eines Fremden aufwache und es zu dunkel im Zimmer ist, um sein Gesicht zu erkennen, an das ich mich plötzlich nicht mehr erinnere. Du hast mich gebeten, dir zu schildern, was vorgefallen ist, also werde ich es tun. Es beginnt, natürlich, am Tag, als du begannst. Am Sonntag vor einem Jahr, im August, war ich zu Gast draußen auf Long Island, ein Wochenende, das in den Nachrichten als das perfekte Wochenende des Sommers bezeichnet wurde. Ich hatte mich bereit erklärt, jemanden von Zug abzuholen, und wartete am Bahnhof mitten in einer Masse ungeduldiger Manhattaner, die so schnell wie möglich ihre Gäste einsammeln und an den Strand düsen wollten. An den Wagen gelehnt las ich im New Yorker einen Artikel über Surfen und warf von Zeit zu Zeit einen Blick auf die in der Hitze flimmernden Schienenstränge, die sich in sanftem Bogen in Richtung Southampton erstreckten. Ich dachte an die Morning Party, die auf Fire Island gerade im Gang war. Dachte an die Parade der Männer, die für diesen Tag trainiert und sich zu diesem Anlaß sogar den Oberkörper rasiert hatten. Dachte daran, daß die Morning Party zugleich auch eine Trauerparty sein mußte, weil da, wo Tausende von Männern tanzten, über ihnen - 11 -
auch die Tausende von Seelen der Neuverstorbenen schwebten, die am gleichen Strand ein oder zwei Jahre zuvor getanzt hatten. Dachte daran, wie irgendwie schon den ganzen Sommer über, mich neu zu verlieben. Während jener ersten Tage und Wochen mit jemand Neuem erscheint die Welt wie eine Modereklame: Jeder ist in fließendes Leinen gehüllt und steht mit einem Martini in der Hand an einer kobaltblauen Bucht. Wenn ich jemanden kennengelernt hätte, hätte ich bestimmt die erste sich bietende Gelegenheit dazu genutzt, das Wochenende in Vermont in dem umgebauten roten Schulhaus aus dem letzten Jahrhundert, das ich damals immer mietete, zu verbringen, auf der Schlafebene unter dem Abendhimmel miteinander zu schlafen, auf dem Friedhof auf der anderen Straßenseite mitternächtliche Spaziergänge zwischen alten Gräbern aus dem Revolutionskrieg zu unternehmen. Aber der Zug fuhr nicht ein. Eine Frau in ärmelloser schwarzer Bluse und abgeschnittenen Jeans beklagte sich bei mir und forderte mich auf, vom Münztelefon aus bei der Long Island Rail Road anzurufen. Man ließ mich warten, und als mir das Kleingeld auszugehen drohte, meldete sich ein Angestellter und sagte, der Zug sei eine Station vor Sayville angehalten worden. Ich fragte nach der Ursache der Verspätung, und er teilte mir ganz sachlich mit: »Da hat sich irgend so 'n Kerl vor den Zug geworfen.« Genau in diesem Augenblick war mein Geld zu Ende. Gerade weil ich nicht wirklich weiß, was ihm zugestoßen ist, wühlen mich Geschichten auf, in denen Leute zu früh sterben oder verschwinden. Ich stelle wilde Vermutungen an. Ich fühlte mich erschüttert, als ich die Telefonzelle verließ. »Also, was ist los?« fragte die Frau in Schwarz. »Anscheinend hat sich jemand vor den Zug geworfen.« - 12 -
»Mein Gott, wie schrecklich!« rief eine in einen Kaftan gekleidete Dame mittleren Alters, die in der Nähe stand. »Junge, das ist ja wohl das Letzte!« sagte ein Kerl mit einem Motorradhelm unterm Arm. Als die Verspätung bekannt wurde, verließen viele den Bahnhof. Ich beschloß, noch eine Weile zu warten, zog mein Hemd aus und trug etwas Sonnenschutz auf. Als ich den Surfing-Artikel zu Ende lesen wollte, merkte ich, daß ich mich nicht konzentrieren konnte. Ich dachte mir für den Toten ein ganzes Leben aus, wie er an diesem letzten Morgen seines Lebens aufwachte und feststellen mußte, daß sein Lover, viel zu früh für einen Sonntag, aufgestanden und zur Morning Party gegangen war, ohne ihm etwas zu sagen. Und solch ein heimliches Verschwinden konnte nur bedeuten, daß der abtrünnige Liebhaber vorhatte, sich unter den fünftausend Männern, die da am Strand zusammenkamen, einen zu suchen und sich mit ihm wegzustehlen, vielleicht in ein Gästezimmer in einer der Blockhütten, die hälfteweise vermietet wurden. Diese Fantasien riefen die Erinnerung wach an die letzte Nacht, bevor er verschwand. Wir lagen im Bett, nachdem wir miteinander geschlafen hatten. Draußen heulten die Santa-Anna-Winde wie eine Turbine, aber ich war ganz ruhig, denn er war bei mir. Kein Streit, kein Stellungskrieg der Gefühle, nur unsere Glieder, lose ineinander verschlungen. Die Arme hinter dem Kopf verschränkt lag er da, und sein Blick irrte durchs Zimmer. Er war voller Unruhe. »Hey, Will«, sagte er mit seiner sanften, rauhen Stimme, während er sich auf die Ellbogen stützte und seine Beine unter meinen hervorzog. »Wollen wir 'ne halbe Meile raus?« Er deutete mit dem Kopf zum Pazifik. »Heute abend nicht«, sagte ich. »Ich bin erschöpft. - 13 -
Außerdem ist's zu windig.« Grinsend schüttelte er den Kopf. »Na komm schon, einfach 'ne Weile rein.« Er schlug spielerisch nach mir und hüpfte nackt aus dem Bett. Die Hände über die Augen gelegt, spähte er aus dem Fenster. Sein Rücken war vom Aufenthalt im Freien leicht gebräunt, mit kräftigen Muskeln bepackt und breit von vielen Millionen geschwommener Meter, seine Arschbacken ein Streifen weißen Fleischs, vor dem Braunwerden durch eine Badehose geschützt. Er war der Hübschere. »Warum muß es immer nur nachts sein?« fragte ich ihn. »Nachts ist's aufregender.« Er preßte die Stirn gegen das Fenster und starrte über die dunkler werdenden roten Dächer von Santa Barbara. »Hast du selbst gesagt. Du hast sogar mal damit angegeben, daß wir wahrscheinlich die einzigen in Kalifornien seien, die nachts bis über die Wellenbrecher hinausschwimmen.« »Aber ich habe auch gesagt, daß wir verrückt sind. So was verliert schnell seinen Reiz.« »Für mich nicht.« »Dann geh alleine.« Er drehte sich um und schaute mich zweifelnd an. »Komm schon, Will«, sagte er sanft. »Du weißt, wie wichtig es ist, nie alleine zu schwimmen.« »Schwimmen bei Nacht wird auch nicht gerade empfohlen.« »Nur ganz gemütlich 'ne halbe Meile, rein und raus. Grade mal zwanzig Minuten. Es ist vorbei, ehe du's merkst.« Ich sagte ihm, er sei gut im Leutebekehren, und das ermunterte ihn. »Genau! Schwimmen bei Nacht. Stell's dir vor! Du bist draußen zwischen den Wellen, in dem dunklen Bauch. Du siehst nichts vor und nichts hinter dir, - 14 -
zählst nur die Züge, bis du weißt, daß du deine halbe Meile geschafft hast.« »Können wir nicht einfach zum Pool gehen?« Er blieb fest entschlossen und verschränkte die Arme. »Du weißt genau, daß das nicht dasselbe ist, Will.« Seine Augen sagten mir, daß wir noch einmal miteinander schlafen würden, wenn ich nachgab. Diese Nacht, Mitte November, die letzte Nacht, in der wir gemeinsam schwammen, hielt er meine Hand, während wir die steinernen Stufen von meiner Wohnung zur Mason Street hinabstiegen. Unter mir wohnte eine rauhbeinige mexikanische Familie, die gutmütig mit dem Besen an die Decke klopfte, wenn wir zu laut waren; sie kicherten, als sie uns gehen sahen. Wir schlenderten mit nacktem Oberkörper unter Palmen und Jacarandas am Strand des West Beach entlang, wo die Bauarbeiten am alten Hafenpier für diesen Tag ruhten. Santa Barbara steckte eine Menge Geld in die Renovierung seines Kais, und es war nur eine Frage der Zeit, bis dort draußen Restaurants stehen würden, voller Touristen und einheimischer Vergnügungssüchtiger in verwaschenen Hawaiihemden und mit sonnengebleichten Haaren, die sich mit Tequila und Rum vollaufen ließen. In dieser Nacht jedoch bot der Kai noch seinen verwunschenen, verlassenen Anblick, und die einzigen, die sich dort draußen herumtrieben, waren die wirklichen Wracks, die Drogensüchtigen und die Schönwettergammler, die nach und nach die milden südkalifornischen Städte abklapperten. Im Licht des Monds, der über den Los Padres aufging, wirkte das Wasser wie erstarrt, und in zwanzig Meilen Entfernung konnten wir die dunkle Masse der Channel Islands sehen. Er drehte sich mit einem nervös verzerrten Lächeln zu - 15 -
mir um. »Bereit?« Einen Augenblick später sah ich ihn mitten in einen Brecher eintauchen. Dann war ich unmittelbar hinter ihm und schrie auf vor Kälte. Jedesmal wenn wir nachts schwimmen gingen, hatte ich das Gefühl, das launische Universum herauszufordern oder es zu verspotten. Ich fing an, die Stöße zu zählen, die ich brauchte, um die Linie der weißen Plastikbojen zu erreichen. Sie war zweihundert Meter vom Strand entfernt, eine Linie, an der sich die fanatischen Langstreckler orientierten, wenn sie die Strecke zwischen den Stränden von Ledbetter und Coral Casino zurücklegten. Die Bojen lagen etwa auf halbem Weg bis zu unserem imaginären Ziel. Unterwegs gerieten wir mehrmals in Wälder aus Seetang. Wenn ich die schleimigen Bänder aus Algen spürte, dachte ich im ersten Moment, ein Hai habe mich erwischt. Warum machst du das immer wieder mit, Will, fragte ich mich wieder und wieder, während ich mich weiter vom Ufer entfernte. Vor Monaten, als wir uns kennengelernt hatten, war es mir ein Bedürfnis gewesen, nachts mit ihm zu schwimmen, im Glauben, ich könnte mich dadurch seiner Liebe versichern. Nun aber glaubte ich, es würde ihn von noch größeren Wagnissen abhalten, wenn er gezwungen war, die Gesellschaft eines anderen Schwimmers zu berücksichtigen. Als wird die halbe Meile beinahe geschafft hatten, hörte ich eine Art donnernder Explosion. Ich hörte auf zu schwimmen, fing an, Wasser zu treten, und schaute mich um, bis ich ein walförmiges Boot, dessen Umrisse von etwas erleuchtet wurden, das mir wie Weihnachtskerzen erschien, direkt auf uns zukommen sah. Ich starrte hin, bis ich erkannte, daß es sich um einen Kahn handelte, der Sand in einem Teil des Hafens ausbaggerte und ihn in - 16 -
einem anderen ausleerte. Das Boot würde an sich saugen, was immer ihm in die Quere kam: Tang, Fische – und uns, wenn wir uns in seinem Bereich befinden sollten. Anscheinend hörte er nichts, denn er schwamm weiter, und ich mußte spurten, um ihn einzuholen, bis es mir gelang, ihn am Arm zu packen und ihm zuzuschreien: »Gib auf das scheiß Boot acht! Nichts wie weg hier!« Er murmelte etwas, und ich glaubte, er habe »Okay« gesagt. Ich fing an, zum Ufer zurückzuschwimmen. Ich schwamm mir die Seele aus dem Leib, bis ich endlich die Linie der weißen Bojen erreichte. Ich hielt einen Moment inne, um Atem zu schöpfen, und schaute mich nach ihm um. Horchte nach ihm. Mein Wahrnehmungsbereich war gewiß durch die Dunkelheit und das Geräusch der Wellen, die an den Strand schlugen, eingeschränkt, aber ich wußte sofort, daß er nicht bei mir war, daß ich dort draußen völlig allein war. Jetzt, zehn Jahre später und dreitausend Meilen weit weg, hörte ich auf einmal eine Eisenbahnglocke, die die Ankunft des Zugs ankündigte. Als die Waggons endlich in die Station einfuhren, schaute ich den mürrischen Fahrgästen beim Aussteigen zu, bis ich schließlich den Kerl entdeckte, den ich abholen sollte. Er war einer jener ewig bleichen East-Village-Typen, die sich von Kopf bis Fuß in Schwarz kleiden. Wir kannten uns nur flüchtig. »Hey, Will, tut mir leid wegen der Verspätung.« Er warf eine Reisetasche auf den Rücksitz meines Autos und stieg vorne ein. Er hatte ein langes spitzes Gesicht und kleine, blitzende, kieselsteingraue Augen. »Hoffe, du hast nicht zu lange warten müssen. Der Summer Express hat sich als Sonderzug für Lebensmüde entpuppt.« - 17 -
»Hab' davon gehört«, sagte ich beim Losfahren. »Eine Station vor Sayville. Du hättest die Typen sehen sollen, die zur Morning Party wollten. Stinksauer. ›Wie lang dauert's, um 'nen zermatschten Körper vom Gleis zu kratzen?‹« äffte er sie nach. »Scheiß New Yorker«, sagte ich. »Und, hast du was gesehen?« »Du meinst so was wie 'n abgetrennten Kopf?« Fehlanzeige. Das Gespräch stockte, bis wir durch die Innenstadt von East Hampton mit ihren Straßen voll teurer Klamottenläden und Lebensmittelgeschäfte fuhren. »Übrigens«, sagte mein Begleiter, »Im Zug hab' ich deinen Ex getroffen. Auf dem Weg zur Morning Party.« »Hatte er einen Hund dabei?« »Machst du Witze?« Mir fiel ein, daß es die Metro North war, auf der man Hunde mitnehmen durfte, nicht die Long Island Rail Road. »Vergiß es.« »Stimmt ja. Ich erinnere mich, von jemandem gehört zu haben, daß ihr das gemeinsame Sorgerecht für euren Hund habt.« »Er heißt Casey.« »Egal. Aber typisch Neunziger, gemeinsames Sorgerecht für einen Hund.« »Was hätten wir denn sonst tun sollen, wenn wir ihn beide gern haben?« Ich konnte es kaum erwarten, den Langweiler im Haus abzusetzen, wo wir beide wohnten, und zum Strand zu kommen. Die rote Flagge war aufgezogen, da sich weit draußen die unberechenbaren Brecher überschlugen; die Stimmung des Atlantiks paßte zu meiner eigenen. Der - 18 -
Strand summte von Menschen, und ich trottete am Ufer entlang, bis die eingeölten Körper allmählich seltener wurden. Ich breitete mein Badetuch aus, ließ das Buch fallen, in dem ich gerade las, und ging zum Wasser. Es hatte nach ihm eine Menge Männer in meinem Leben gegeben, und Greg Wallace war der bisher letzte in der Reihe. Kurz zurückliegende Erinnerungen neigten dazu, miteinander zu verschmelzen, während er es geschafft hatte, nach zehn Jahren noch unerbittlich deutlich vor mir zu stehen: das dunkle, widerspenstige, salzverkrustete Haar, die bleiche Linie seines Nackens, sein Duft nach Chlor und Schweiß und Eukalyptus, die blitzenden schwarzen Augen, die er vielleicht von seinem einzigen Latinovorfahren geerbt hatte. In den letzten Wochen hatte ich sehr viel öfter als gewöhnlich an ihn gedacht. Zehn Jahre sind ein schlimmes Jubiläum. Niemand am Strand wagte es, weiter als knietief in das trügerische Wasser zu gehen. Ohne viel nachzudenken, watete ich bis zum kritischen Punkt zwischen Ufer und Wellenbrechern, tauchte unter einer Welle hindurch und hinter ihr wieder auf und schwamm los. Ein weiterer Brecher schnappte nach mir, wirbelte mich auf wie ein Stück Holz und preßte mich tief auf den Meeresboden. Durch sandige Finsternis mühte ich mich an die Oberfläche, gerade als ein neuer über mich hereinbrach. Ich tauchte genau in der Mitte durch ihn hindurch und kam nach fünfundzwanzig Metern wieder heraus, wo die Gefahr, in die Höhe geschleudert zu werden, geringer war. Das Wasser war ganz trübe, und ich spürte, wie der Rachen der Gezeiten mich zu verschlingen drohte, während ich mit kreisenden Schultern und weit ausholenden Schwimmstößen die Gefahr herausforderte. Schließlich hörte ich auf zu schwimmen, um Wasser zu - 19 -
treten. Ich war ziemlich weit draußen gelandet, vielleicht zweihundert Meter vom Ufer, viel weiter, als sich normale Schwimmer selbst bei ruhigem Wasser hinauswagen. Eine Gruppe besorgter Leute hatte sich bereits an der Gezeitenlinie gesammelt und gab mir Zeichen zurückzukehren. Etwas in mir wollte jedoch immer weiter hinausschwimmen, Meile um Meile, bis ich gezwungen sein würde aufzugeben. Als ich dies erkannte, bekam ich Angst, und ich schwamm zurück, bis ich den Kamm einer Welle erwischte und mich ans Ufer tragen ließ. Während ich zu meinem Badetuch zurückging, redete ich mir ein, daß alles okay sei, daß es wirklich nicht so schlimm sei, ein Single zu sein. Zum einen brauchte ich mir keine Gedanken um eine Beziehung zu machen, darüber, Teil von etwas zu sein, das mir wie ein endloser Kompromiß erschien. Ich war frei, oder? Aber natürlich mußte ich das an dem Tag denken, an dem ich dich kennenlernte – dich, der genau in diesem Augenblick mit der Fähre von Fire Island zurückfuhr. Ich erinnere mich, auf die Uhr geschaut zu haben, die fünf vor fünf anzeigte. Du solltest mir viel später erzählen, daß irgend etwas dich dazu gedrängt hatte, die Morning Party früher als geplant zu verlassen, daß du gerade noch die Fünf-Uhr-Fähre zurück nach Sayville erwischt hattest, wo ein Polizeiarzt den zerfetzten Körper eines zweiunddreißigjährigen Manns untersuchte. Wir hatten beide keine Ahnung, daß du auf dem Weg in mein Leben warst. Wir hatten keine Ahnung, daß sein Tod etwas mit dir zu tun hatte.
2. Aber natürlich solltest du vor dem nächsten Morgen - 20 -
nichts Genaueres über seinen Tod erfahren. Zuerst würdest du die allgemeine Nachricht über einen Selbstmord hören – ich sollte es sein, der es dir noch in der gleichen Nacht erzählte –, aber noch immer würdest du nicht wissen, wer es war. Was die Medien betrifft, so ging, glaube ich, die Berichterstattung über den Vorfall nie über den üblichen Nachrichtentratsch hinaus, eine Belästigung für Tausende von New Yorker Bürgern. In der Times oder dem Journal, Zeitungen, für die ich gelegentlich schreibe, wurde er überhaupt nicht erwähnt. Vielleicht hätte ich die LongIsland-Nachrichten im Newsday lesen sollen. Als ich an diesem Sonntagabend nach Manhattan zurückkam, parkte ich auf einem Parkplatz auf der Lafayette gegenüber dem World Gym. Ich nahm meine Reisetasche und wollte gerade über die Straße gehen, als ich Peter Rocca bemerkte, einen rothaarigen Psychiater, mit dem ich den Sommer über gelegentlich zusammengewesen war. Im knappsten aller orangefarbenen Unterhemden stand er vor den riesigen Glasscheiben des Sportstudios, als warte er auf jemanden. Er ist verdächtig früh zurück von der Morning Party, dachte ich. Ich hielt an, um zu sehen, mit wem er sich wohl traf, und dachte daran, wie ich während der gesamten letzten Monate mit Peter auf den einen wirklich stürmischen Liebesakt gewartet hatte, dessen beiläufige Grausamkeit den Beginn einer romantischen Leidenschaft markieren würde. Und dann du. Du kamst aus dem World Gym. Peter stupste dich spielerisch mit der Schulter an, dann spaziertet ihr die Lafayette entlang. Wie süß, dachte ich eifersüchtig, die pumpen sich erst mal auf, bevor sie's miteinander treiben. Das muß irgend so 'ne heiße Nummer sein, die Peter auf der Morning Party aufgegabelt hat; kein - 21 -
Wunder, daß er so früh zurück ist. Natürlich hätte ich diese Bekanntschaft gerne sabotiert, aber mir war klar, daß es dafür keinen Anlaß gab. Es war nie etwas Ernstes zwischen Peter Rocca und mir gewesen. Während der gesamten Dauer unserer Affäre hatte er außerdem ein Verhältnis mit einem anderen Mann gehabt, mit dem er seit einigen Jahren immer wieder zusammengewesen war. Was mich ganz zu Anfang an Peter gereizt hatte, war in Wirklichkeit dieser Samstagnachmittag gewesen, an dem ich gerade auf der gleichen Straße entlangspazierte, als ich seine Superheldengestalt aus dem World Gym stolpern sah, dicht gefolgt von einer stämmigen dunkelhäutigeren Version, die ihre Haare zu einem übertriebenen Pompadour frisiert hatte. Der andere, der, wie ich erfuhr, Sebastian hieß, fing an, Peter mit Beschimpfungen zu überschütten. Anfangs versuchte Peter, ihn loszuwerden, als die Litanei aber nicht endete, wirbelte er schließlich herum, rannte zurück und stürzte sich auf offenem Gehsteig auf Sebastian. Ich beobachtete ihren Kampf, bis Peter die Oberhand gewann, Sebastian am Boden festhielt und anfing, ihn zu würgen. »Ich liebe dich, Peter, ich werde dich immer lieben«, gurgelte Sebastian, während ihm die Kehle abgedrückt wurde. Noch bevor ich darüber nachdenken konnte, was ich tun sollte, kamen ein paar Kerle aus dem Sportstudio und trennten die beiden. Was mich beeindruckte, war, wie der Mann mit dem Pompadour, noch während er gewürgt wurde, seine Liebe hatte erklären können. Man mag es verrückt vor Verzweiflung nennen, aber ich muß sagen, daß etwas in mir Respekt vor Leuten hat, die sich preisgeben, die das Risiko eingehen, als völlige Trottel dazustehen.
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Aus der Entfernung konnte ich sehen, daß du kräftig gebaut warst, mit aschfarbenem Teint und dichtem schwarzem Kraushaar. Ich war allerdings zu weit entfernt, um deine stechenden schmalen Augen sehen zu können. Peter entdeckte mich jedoch sofort und winkte. Ich wollte einfach weitergehen. »Komm schon, Will, hör auf, dich wie ein Arschloch zu benehmen, und komm rüber!« trompetete er. »Das ist Sean.« Er machte uns sofort bekannt. »Sean Paris.« Du sagtest kaum hallo; es war schwer zu sagen, ob du schüchtern oder arrogant warst, und ich ignorierte dich so, wie ich glaubte, daß du mich ignoriertest. Guter stämmiger Körper, das mußte man dir lassen. Tolle Beine, wie ein Hockeyspieler – okay, für Beine hab' ich nun mal eine besondere Schwäche. Ich dachte mir, daß Peter gerade im Begriff war, dich in seine Wohnung zu führen, dreizehn Stockwerke über der Sixth Avenue mit Aussicht auf die Innenstadt und das Empire State Building, dessen Lichter in den oberen Etagen Schlag zwölf romantisch erlöschen würden. Jene Lichter, die wir beide häufig nach dem Sex hatten ausgehen sehen. Als Peter mich aufforderte, euch beide über den Waverly Place zu begleiten, verwirrte mich diese Einladung und führte zu einem unbehaglichen Schweigen zwischen uns. Ich erinnere mich, daß mir auffiel, wie du mit leicht nach vorn fallenden breiten Schultern die Straße entlangschwebtest, ein Körper, dessen ruhende, schlaksige Schönheit bei schnellerer Bewegung zu anmutigem Leben erwachen würde. Du bewohntest jeden Zentimeter deines Körpers, anders als Peter, der mir, obgleich nach Sportstudiomaßstäben kräftiger und sexier, stets als ein knochiger Junge erschien, der in der Hülle eines Muskelmanns steckte. - 23 -
Als wir bei Peters Haus angekommen waren, lud er uns beide nach oben ein. Ich nahm an, du lehntest ab, und wir verabschiedeten uns voneinander. Peter ging mit mir in die Vorhalle. »Ich bin froh, daß du mit nach oben kommst, ich glaube nämlich, der Kerl hatte es auf mich abgesehen.« »Mir schien das auf Gegenseitigkeit zu beruhen, Peter.« »Ich red' keinen Scheiß, ich sag' die Wahrheit.« »Wahrheit oder nicht, er sieht toll aus.« »Halt bloß die Klappe, du.« Peter kniff mich in den Arm und biß mich dann in die Schulter. Er war unruhig, und ich wußte, daß er geil war. Soll mir recht sein, dachte ich in einem plötzlichen Anfall von Erregung, während Peter den Aufzug rief. Dann klopfte es an der Eingangstür. Du hattest deine Meinung geändert. Du hattest die Morning Party verlassen, weil du so eine Ahnung hattest, daß in New York City etwas geschehen würde. Zunächst schien es so, als sei dieses Etwas Peter Rocca, den du auf der Fähre zurück nach Sayville getroffen hattest. Aber dann, im Augenblick, als du an diesem Abend von seinem Haus weggingst, erkanntest du, daß das, was passieren würde, mit mir zu tun hatte. Und so saßen wir nun alle in Peter Roccas makellos eingerichtetem Wohnzimmer – du und ich auf einem Sofa mit Chintzbezug. In dem Raum standen eine Lampe, die aus einer Kristallkugel geschliffen war, und eine Kopie des Schreibtischs von Ludwig XIV. Auf dem glänzenden Parkettfußboden lag ein großer türkischer Teppich, an dem ich mir die Knie aufgescheuert hatte, als Peter und ich auf ihm zum ersten Mal in der Zügellosigkeit völliger Anonymität übereinander hergefallen waren. Peter war inzwischen durchaus kein Fremder mehr für mich, und doch - 24 -
ergab seine Doppeleinladung überhaupt keinen Sinn. Beim Sex hatte Peter schon seine Macken. Er stand auf morgendlichen Sex. Jedesmal, wenn ich die Nacht bei ihm verbrachte, wachte er früh auf, und als allererstes sprang er aus dem Bett und fing, noch immer nackt, an, wie wild die Teppiche in seiner Wohnung zu saugen und den gläsernen Couchtisch und die Möbel zu polieren. Nachdem er mit dem Putzen fertig war und bevor er zu seinen an Angststörungen leidenden Patienten eilte, hatte er dann Zeit für einen blindwütigen Zehn-Minuten-Quickie. Er fand es toll, es quer durch die Wohnung zu treiben. Wir standen, vom gegenüberliegenden Apartmenthaus aus voll sichtbar, an den Panoramafenstern, und entweder hob er mich oder ich ihn hoch, und ab ging's in ein anderes Zimmer. Wir machten es auf der Anrichte, auf dem Küchenboden – und landeten schließlich, wie vorauszusehen, unter der Dusche. Ich nannte die Übung unseren sexuellen Kreuzweg. Beim Gedanken daran mußte ich kichern. »Was hast du?« sagte er. »Nichts, laß mich in Ruhe.« »Dann sag, was du trinken möchtest.« »Bier.« »Und du, Sean?« »Hast du Red Label und Mineralwasser?« »Klar.« Gott, bist du genauso snobistisch wie dein Alkoholgeschmack, hätte ich fast gefragt. »Und wo kommst du her, Sean Paris?« sagte ich statt dessen. Du bemerktest meinen Sarkasmus und runzeltest die Stirn. »Von hier.« Alle zugezogenen New Yorker gehen in Verteidigungs- 25 -
stellung, wenn man ihnen diese Frage stellt. »Ich meine, woher ursprünglich.« »Von überall und nirgends. Mein Vater war beim Militär. Zuletzt wohnte ich mit meinen Eltern in Okinawa.« »Und wie lange in der Stadt?« »Vier Jahre.« »Dann bist du ja noch in den Flitterwochen«, folgerte ich ziemlich unvermittelt und fragte dann, womit du deine Brötchen verdienst. »Landschaftsarchitektur.« »Müssen ziemlich kleine Brötchen sein, bei all dem Beton.« Du verdrehtest die Augen. »Das krieg' ich ständig zu hören.« Dann erklärtest du, daß die Firma meist außerhalb der Stadt arbeitete. Ich verbuchte dich als einen jener wirklich hübschen, letztlich aber langweiligen Jungs vom Land, die in die Stadt gekommen sind, um sich neu zu definieren, und die nicht müde werden, sich in all den heidnischen Freuden zu suhlen: Nachtdiscos, Jack-Off-Parties, Designerdrogen. Genügte es dir, die Augensünden zu begehen? Vielleicht warst du ja nur schüchtern – im Zweifel für den Angeklagten –, keiner, der das Gespräch an sich reißt. Plötzlich läutete das Telefon, und Peter grinste grimmig über die Schulter, als er ging, um abzunehmen. Seinem aufgeregten Geplapper entnahm ich, daß er mit Sebastian, dem mit dem Pompadour, sprach. Du saßt inzwischen leicht vornübergebeugt und starrtest schwärmerisch in das Kristallglas mit gutem Scotch. Allmählich jedoch hobst du deinen listigen Blick und begegnetest meinem. Und wie mir scheint, war dies das erste Mal, daß ich dich geradewegs anblickte. Für Sekundenbruchteile versengte mich dein Blick, dann schautest du weg. - 26 -
»Warst du bei der Morning Party?« fragtest du. Aus Angst, dieser schaurige Blick könnte mich noch einmal treffen, war ich kaum in der Lage, zu erklären, daß ich beschlossen hatte, nicht hinzugehen, daß ich Probleme mit Menschenmengen habe. Was stimmte nicht mit mir? Jetzt wagte ich es, dich anzuschauen, und diesmal traf mich dein Blick mit Macht. Nun wußte ich, wer du warst. Ich wußte, warum du deine Meinung geändert hattest. Ich wußte, warum du hattest zurückkommen müssen. »Kommt er jetzt rüber?« fragte ich, als Peter vom Telefon zurückkam. »Ich hab' ihm erklärt, daß ihr beide hier seid, und gesagt, ich würde später zurückrufen.« »Bist du sicher, daß er nicht wieder hier auftaucht, wie beim letzten Mal?« »Warum sollte er? Er kann dich nicht leiden.« »Das kann man ihm auch nicht verdenken.« Ich lachte. »Er glaubt, daß Will zwischen uns steht«, erklärte dir Peter. »Das ist sicher einfacher für ihn, als der Tatsache ins Gesicht zu sehen, daß Peter ihn von sich fernhält«, gab ich zurück. Ich wandte mich Peter zu und sagte etwas wie: »Ich weiß nicht, warum du den ganzen Quatsch mitmachst. Heirate ihn entweder, oder verlaß ihn«, als ich dich hinter mir sagen hörte: »Laß ihn in Ruhe, Will!« Ich fuhr herum, war aber wie gelähmt von deinem dreckigen breiten Grinsen. Und von noch etwas; von etwas, das du ausstrahltest – eine gespannte Ruhe. Ein Gefühl wie mitten im Winter, wenn man in einem Tannenwald steht, den Schnee fallen sieht und seinem lautlosen Getöse lauscht. »Ein Grund, warum Sebastian rüberkommen möchte, ist, daß wir uns draußen auf der Insel treffen wollten«, fuhr - 27 -
Peter fort, »aber er hat es nicht geschafft hinzukommen. Offenbar hatten alle Züge Verspätung.« »Das kommt daher, daß sich jemand vor einen davorgeworfen hat.« Ich erklärte, woher ich das wußte. Ich erinnere mich genau, daß du einen Augenblick lang einen verstörten Eindruck machtest, worauf der gelassene Blick wieder zum Vorschein kam. Urplötzlich standst du auf. »Also, Jungs, ich muß los.« »Ich auch«, schloß ich mich an und stand ebenfalls auf. Peter warf mir einen verblüfften Blick zu, und ich behauptete, müde zu sein. Als wir endlich alleine vor Peters Wohnhaus standen, war es dann soweit. Es ist erstaunlich, wenn man bedenkt, daß das Ergebnis eines einzigen Gesprächs eine völlig neue Welt eröffnen kann. »Und in welche Richtung mußt du?« sagtest du. »Ich kann mit dir gehen.« »Na, dann komm.« Und irgendwie wußte ich, daß dreizehn Stockwerke über uns Peter kontrollierte, ob ich dich begleitete. Dann, nach einem halben Block, machte ich einen Schlenker, um zurückzuschauen; und Peter sah auch dies, die schuldbewußte Geste, den vergeblichen Wunsch, meine Spuren zu verwischen. Später sollte Peter mir erzählen, daß dieses Bild, wie ich mit dir davonging und dann in einem Moment des Zögerns mich umdrehte, die einzige Erinnerung wurde, die ihm von diesem Sommer geblieben ist, die ihm geblieben war. Nicht die Grillparties auf dem Dach in der Twentythird Street, nicht die Nummern im Splash oder auf Fire Island, nicht einmal die Morning Party. Nein, die Erinnerung an zwei dunkle Gestalten, die davongehen, und die eine, die sich umdreht wie Lots Weib, das auf die Städte in der Ebene zurückblickt. - 28 -
3. Wir schlenderten in Richtung Westen auf dein Viertel mit heruntergekommenen Brownstonehäusern zu, von denen die Farbe abblätterte, zwischen stillen, manchmal verwilderten Gärten. Wir gingen durch etwas, das wie ein Spalt in der Nacht erschien. Der Vollmond tauchte die Straßen in einen flirrenden Schimmer, und ein heißer Wind fegte durch Greenwich Village. Die Eingangstüren der Häuser quietschten und ächzten, wenn Leute hindurchgingen, an deren gedämpfter Unterhaltung wir gerade vorübergekommen waren. Die ganze Stadt schien zu unserer Begegnung zu werden, oder, besser gesagt, unsere Begegnung schien in ihrem Herzen stattzufinden. »Na, wer ist er?« fragtest du nach einigen Minuten des Schweigens. »Was meinst du mit: Wer ist er?« Du konntest Peter gemeint haben. Oder sogar den Eisenbahnselbstmord. Aber auf höchst geheimnisvolle Weise hattest du das Geheimnis von zehn Jahren erraten. »Der Kerl, der dich verletzt hat.« »Ich weiß nicht, wovon du redest. Mich hat niemand verletzt.« Du behieltst mich im Blick. »Das glaub' ich dir nicht.« So fremd, dein Beharren, und so beängstigend. Solch eine Verdrehung der Tatsache, daß normalerweise ich es bin, der unangemessen direkt mit völlig Fremden spricht. Du gingst ein paar Schritte voraus, zeigtest den Weg, der uns wo auch immer hinführen sollte, während deine Frage mich weiterhin verwirrte. Du warst der erste Mensch, der augenblicklich gespürt hatte, daß sein Leben das meine noch immer durchdrang. »Ich habe ihn geliebt wie ein verdammter Idiot«, sagte - 29 -
ich schließlich. »Okay? Wie niemanden vorher oder nachher.« »Und was ist dann passiert?« »Was spielt das für eine Rolle? Ich bin hier, oder? Er hat offensichtlich nichts mehr mit mir zu tun.« »Lebt er noch?« Ich sagte dir unumwunden, daß ich das nicht wisse, und erklärte, nicht mehr von ihm sprechen zu wollen. Als wir die Seventh Avenue entlanggingen, erzähltest du mir, du hättest ein Talent entwickelt, neuen Leuten »auf den Zahn zu fühlen«. Als Kind eines Soldaten warst du in verschiedenen Teilen Amerikas und auch in Okinawa aufgewachsen, und das hieß, du hattest bei vielen Abendessen dabeigesessen und still sein müssen. Und dadurch lerntest du, geschickt die kleinen Sünden herauszufinden, indem du dir den Klatsch über den Charakter der Leute anhörtest. Manchmal konntest du sogar spüren, welcher der Gäste deiner Eltern seinen Ehepartner betrog. Während du sprachst, konnte ich jedoch an nichts anderes denken als an die erste elektrisierende Berührung, ein Streicheln meiner Finger über deinen bleichen, wundervoll geformten Arm, nachdem wir sachte mit den Schultern zusammengestoßen waren. Endlich kamen wir bei deiner Wohnung in der Grove Street an, und unmittelbar vor dem Eingang des Gebäudes drehtest du dich zu mir um. »Will, ich würde dich gerne zu mir einladen für ein paar Minuten. Aber für ein paar unschuldige Minuten.« Ich runzelte die Stirn. »Und was soll das heißen?« »Genau das, was ich gesagt habe.« Nun, da ich anfing, einen ersten Funken von Persönlichkeit aus dir herauszuschlagen, fand ich dich noch reizvoller, und ich sagte mir, daß ich ein Nein nicht akzeptie- 30 -
ren und daß ich dich bekommen würde. Daß ich dich noch in dieser Nacht kriegen würde. Du wohntest im dritten Stock eines Hauses ohne Lift, dessen Treppenhaus mit einem roten Teppichläufer ausgelegt und mit alten buddhistischen Kalligraphien geschmückt war. Während wir zur obersten Etage kletterten, gestand ich, daß ich selbst einige Kalligraphien besaß. »Ich war mal Buddhismusanhänger«, sagte ich und erklärte, daß es dafür erotische Gründe gegeben hatte. Einer meiner Ex-Lover war Buddhist gewesen, und indem ich mich seiner Religion angeschlossen hatte, hatte ich mich ihm unentbehrlich gemacht. »Derselbe Kerl, der dich verletzt hat?« »Nein. Ein anderer.« »Bist ganz schön rumgekommen im Leben, was?« Du grinstest. Eine hohe Tür öffnete sich in eine Wohnung mit hohen Decken und großen Fenstern, die auf die Grove Street gingen. Wir wurden von einem Schwall aufgestauter Hitze und dem Geruch nach Wäschestärke getroffen, der bald zu einem deiner Düfte werden sollte. Du gingst durch das Zimmer, um alle Fenster zu öffnen und dich einen Augenblick hinauszulehnen. Die Nacht tönte vom Brummen der Klimaanlagen, Manhattans spezifischer Grillenart. Durch die dicken Äste eines Lebensbaums, der drunten in einem kleinen Innenhof wuchs, fiel hell das Licht des Mondes. In seinem fahlen Glanz sah ich matt schimmernd die dunklen Umrisse eines Klaviers. Nachdem du das Licht eingeschaltet hattest, konnte ich sehen, daß die Tastatur des Klaviers mit allen möglichen Zetteln und Papieren bedeckt war und daß auf dem Klavierhocker Berge von Unterwäsche und Socken und Trainingsshorts lagen – die Wohnung war ein einziges - 31 -
Chaos. Der Fußboden war übersät mit T-Shirts, Einkaufstaschen, Militärhosen – langen und abgeschnittenen –, einem Satz Campingklamotten von Patagonia, der auf sportliche Betätigung hinwies, und allen möglichen eselsohrigen Saatgut- und Blumenkatalogen. An einer Wand hingen Rahmen mit exotischen Schmetterlingen; und auf dem Kaminsims, zu beiden Seiten eines komisch aussehenden Korbs, der aus 16-mm-Film geflochten schien, standen zwei ausgestopfte Enten mit smaragdgrünen Köpfen und Ringen um den Hals. »Ich sehe, du magst tote Dinge.« »Gut erhaltene tote Dinge. Mein Onkel war Tierpräparator.« Unter einem der Fenster stand ein viereckiger MahagoniEßtisch, der mit schmutzigen Marmeladegläsern und den Überresten eines mehrere Tage alten Salats auf weißen Tellern bedeckt war. Ein recht auffälliger Gegensatz zu den sorgfältig erhaltenen Produkten der Taxidermie. Neben dem Geschirr lag ein kleines Häufchen dünner blauer Luftpostumschläge, jener nahezu gewichtslosen Briefe, die, wie ich mir ausmalte, von früheren Liebhabern geschrieben worden waren. Jeder einzelne Typ, in den ich mich bis dahin je verliebt hatte, war peinlich sauber gewesen und hatte mir immer vorgeworfen, eine Riesenschlampe zu sein. Als ich bemerkte: »Du bist ja noch schlampiger als ich«, blicktest du mit belustigtem Ausdruck im Zimmer umher und sagtest: »In letzter Zeit ist es etwas außer Kontrolle geraten.« Die meisten hätten sich entschuldigt; dich schien es kaum zu kümmern, welchen Eindruck ich von dir bekam. Es gab kein Sofa, daher setztest du dich auf einen Eßzimmerstuhl und botst mir den anderen an. Die Wohnung war ziemlich heruntergekommen gewesen, als du den Mietver- 32 -
trag abgeschlossen hattest. Daß du renoviert, den Kamin geschrubbt, die Wände abgeschabt und neu gestrichen (und dich dabei wahrscheinlich mit Blei verseucht) hattest – alles bekam ich geschildert. Und während du sprachst, bemerkte ich auf deinen Wangen eine leichte Röte, die sich normalerweise mit fünfundzwanzig verliert, deren schöner Farbton sich bei dir offenbar jedoch bis einunddreißig erhalten hatte. Weiche, dichte dunkle Locken und diese fahlen, wolfsähnlichen Augen. Mein Gott, er sieht wirklich toll aus, sagte ich zu mir selbst. Nicht die Art von Schönheit, nach der man auf der Straße den Kopf dreht, sondern eher die unauffällige Schönheit, die sich um so mehr entfaltet, je länger man sie anschaut. Es war mir beim besten Willen nicht möglich, noch länger oberflächliche Konversation zu machen. Ich wollte endlich handeln, in offener Mißachtung der Tatsache, daß ich zu »ein paar unschuldigen Minuten« in diese Wohnung eingeladen worden war. Ich schaffte es, nach vorn zu rutschen und eines deiner kräftigen Beine zwischen meinen Knien einzuklemmen. Ich wurde mit einem argwöhnischen Blick bedacht. »Du glaubst, ich nehme zurück, was ich gesagt habe?« »Das kommt vor.« »Nicht bei mir.« »Das heißt, du bist verbohrt.« Ein Achselzucken. »Ich würde gern mal mit dir essen gehen.« »Und das eine schließt das andere aus?« »Überhaupt nicht. Außer, hm, wenn du mein Knie zerquetschst.« Ich muß einen ziemlich geknickten Eindruck gemacht haben, denn du sprachst weiter: »Sieh mal, Will, ich finde - 33 -
dich attraktiv. Was soll die Hetzerei?« »Wir könnten unseren Spaß haben und danach essen«, schlug ich vor. Der argwöhnische Blick verwandelte sich in Ärger. »Bist du immer so hartnäckig? Erwartest du immer, jeden zu kriegen, den du willst?« »Erwartest du immer, daß dir jeder seine Geheimnisse erzählt?« »Ich habe Ruhe gegeben, oder?« »Vorerst.« Du entzogst dein Bein dem Druck meiner Knie und lehntest dich zurück. »Das wird ein harter Kampf.« »Warum muß es ein Kampf werden?« »Ich sag's nur so, wie ich's sehe.« Ein Blick, erklärtest du dann, und dir war klar gewesen, daß uns beide das gleiche bedrückte: daß ein Teil von uns herausgerissen worden, ans Herz eines Fremden geheftet und in der Glut der Liebe geschmolzen war. Es gab andere wie uns, die die Städte der Welt durchstreiften, die gebrochenen Heimatlosen, die den Müll der One-Night-Stands, der kurzlebigen Liebesbeziehungen nach diesem verlorenen Teil durchwühlten. Du sagtest, daß unsere Jagd vielleicht bis ans Ende unseres Lebens dauern werde und daß wir aller Wahrscheinlichkeit nach nie wieder vollständig sein würden. »Was ist das, deine Vampirtheorie?« fragte ich. »Aber du weißt doch, daß es stimmt«, sagtest du, und im gleichen Augenblick klingelte das Telefon. Wir schauten beide zur Uhr auf dem Nachttisch, die 12:35 zeigte. »Ziemlich spät. Ich geh' nicht ran. Wenn sie was von mir wollen, sollen sie eine Nachricht hinterlassen.« Also lauschten wir dem Läuten, ein, zwei, drei, vier Male, und warteten darauf, daß eine Stimme auf den - 34 -
Anrufbeantworter sprechen würde. Hallo, hier ist Sean, kann jetzt nicht ans Telefon, hinterlaß' bitte eine Nachricht. Piep. »Sean, hier ist Gary, Bobbys Mitbewohner.« Eine Pause, dann wurde die Nachricht mit zittriger Stimme fortgesetzt. »Also, du mußt mich sofort zurückrufen, wenn du das hörst. Ich will nicht mit deinem Band sprechen...« Ein kurzer Schreck in deinem Blick, aber deine übrige Miene war erstarrt, wie tot. Dann machtest du einen Satz aus dem Stuhl zum Anrufbeantworter, schaltetest ihn ab und packtest den Hörer. »Was ist los, Gary? Nein, ich war noch wach. Was gibt's?« Dann, als du auf das antwortetest, was er zu dir gesagt hatte, überschlug sich deine Stimme. »Komm schon. Das ist doch nicht dein Ernst. Erzähl mir nicht so was!« Natürlich war ich gefesselt und beobachtete deine Bewegungen, als du, wie in einer Art Trance, zielstrebig anfingst, das Chaos der Briefe und Rechnungen, die über die gesamte Tastatur verstreut lagen, zu sortieren und in mehrere ordentliche Häufchen einzuteilen. Dann jedoch hörtest du abrupt auf und fegtest alles, was du zuvor geordnet hattest, mit einer heftigen Bewegung beiseite. »Warum, um Himmels willen!« sagtest du dumpf und wandtest dich vom Klavier ab. »Nein, was stand da drin?« Stille. Dann: »Okay, ich komme gleich. Bleib da, bis ich komme.« Du legtest auf und starrtest mich mit deinem versteinerten Blick einen Moment lang unschlüssig an. »Wo wohnst du, Will?« sagtest du abwesend. »Vielleicht können wir uns ein Taxi teilen.« »Was ist passiert?« »Ich kann jetzt wirklich nicht drüber sprechen. Es ist - 35 -
einfach was, worum ich mich sofort kümmern muß.« »Aber irgendwann sagst du's mir?« »Klar, irgendwann.« »Warum glaube ich dir nicht?« Keine Antwort. Du nahmst deine Brieftasche und deine Schlüssel von dem überladenen Tisch, öffnetest die Wohnungstür und wartetest, bis ich an dir vorbeigegangen war. »Ich möchte nur wissen, ob der Anruf etwas mit einem Kerl zu tun hat«, sagte ich auf der Türschwelle. Du kamst dicht hinter mir, schlugst die Tür zu und eiltest zur Treppe. »Was glaubst du?« »Willst du nicht abschließen?« Du bliebst stehen und zucktest die Achseln. »Ist mir scheißegal. Sollen sie doch stehlen, was sie wollen. Meine Sachen haben höchstens sentimentalen Wert.« Da, soweit es Taxis betraf, die Seventh Avenue ausgestorben war, gingen wir durch die Bleecker Street zur Sixth Avenue. Mehrere der italienischen Bäckereien bekamen gerade ihre Brotlieferung, so daß die ganze Straße nach Hefeteig duftete. Dein Hunger machte sich durch ein Brummen bemerkbar, gefolgt von einem sehnsüchtigen Blick, als wir an Schachteln voll aufrecht stehender Brote vorüberkamen. »Kann ich irgend etwas tun?« fragte ich, nachdem wir den halben Block weitgehend schweigend hinter uns gebracht hatten. »Gib einfach erst mal Ruhe, Will. Das kannst du tun.« Als wir einen koreanischen Obstmarkt überquerten, der für die späte Stunde erstaunlich belebt war, sagtest du plötzlich in einem Ton verletzter Unschuld zu mir: »Ich frage mich überhaupt, was mit uns allen los ist, Will.« Unsicher, was du damit genau meintest, sagte ich nichts. Wir kamen zur Sixth Avenue und standen einen Moment - 36 -
lang an der Ecke und beobachteten die Rudel leerer Taxis, die vorüberrollten. Während du die Hand erhobst, um eines anzuhalten, drehtest du dich zu mir um. »Ich ruf dich morgen an, wie wär's?« »Du hast meine Nummer gar nicht«, sagte ich. »Du weißt nicht mal meinen Nachnamen.« Und da breitete sich dieser törichte Blick, den zu erwarten, auf den zu hoffen ich gelernt habe, über dein Gesicht, und unter den Augen des Taxifahrers bekam ich einen zärtlichen, umwerfenden Kuß. »Ich hab' dein erstes Buch gelesen«, sagtest du beinahe flüsternd. »Am Ende habe ich geweint. Und ich weiß, daß du im Telefonbuch stehst, ich hab' nämlich damals deine Nummer nachgeschaut.« Als ich nach Hause kam, meldete mir mein Anrufbeantworter drei Anrufe: der erste von Greg Wallace, meinem Ex, der mich daran erinnerte, daß wir uns am nächsten Tag treffen wollten. Die beiden nächsten Nachrichten waren von Peter Rocca; eine von 11.45: »Du bist noch nicht zu Hause. Ruf mich an, wenn du heimkommst. Ich wollte, daß du heute nacht bei mir bleibst, Scheißkerl!« Die andere von 12:30: »Das ist dann ja offensichtlich eine Nacht der Ausschweifungen.« Keine Spur von Ironie. Ich wünschte nur, es wäre eine Nacht der Ausschweifungen gewesen. Geladen und geil, wie ich war, verlangte es mich nach keiner Intimität, nur danach abzuspritzen, und ich beschloß, mein Glück mit einer Kontaktnummer zu versuchen. Ich nahm den Hörer ab, wählte und hörte das Besetztzeichen. Es war 1:15 Uhr nachts, vor einem Wochentag, und dieser Anschluß, der mit Hunderten von Anrufen gleichzeitig fertig wurde, war mit Leuten überlastet, die hofften, die richtige Stimme zu finden, zu der sie sich am Telefon einen runterholen konnten. - 37 -
Seit Jahren schon ist mein Alter ego am Telefon ein Typ namens Jim. Ich bin Italiener, kein Jude, und drei Zentimeter größer als in Wirklichkeit. Über meine Figur, die ich als die eines Wasserballspielers beschreibe, sage ich die Wahrheit; ich schwindle jedoch ein wenig, was meine Haare betrifft – ich behaupte, sie seien nur ein ganz klein wenig zurückgewichen – und unterschlage fünf Jahre bei meinem Alter. Wenn ich gefragt werde, was ich mag, sage ich muskulöse Männer, die sich straight benehmen, vorzugsweise verheiratete Typen mit Ehering. Ich spreche etwas tiefer und verleihe meiner Stimme etwas Schleppendes und den singenden Tonfall von Südkalifornien, den ich mühelos angenommen habe, als ich dort lebte. Und wenn sie mich fragen, was ich mache, sage ich, ich sei Journalist, nie Schriftsteller. Es ist erstaunlich, wie leicht sich die Leute dazu bringen lassen, sich zu jeder Tagesund Nachtzeit am Telefon einen runterzuholen – selbst in aller Frühe. Manchmal, wenn ich nachmittags anrufe, klingen die Stimmen der Typen angespannt, heimlichtuerisch, und oft höre ich andere Telefone, die die Stille um sie herum stören. »Bist du im Büro?« frage ich. »Ja«, murmeln sie. »Ich suche jemanden für nach der Arbeit.« »Aber du würdest lieber in deinem Büro abspritzen, stimmt's«, sage ich. »Ich wette, du hättest gerne, wenn ich jetzt gleich dort raufkommen und dir's unter dem Tisch besorgen würde, während du Anrufe entgegennimmst« – kleiner Schlenker zu Philip Roth, scherze ich mit mir selbst. Es gibt gewisse Stimmen, die mich leicht irre machen, bestimmte männliche Tonlagen, bei denen ich mehrmals hintereinander kommen kann. Ich mag die tiefen Obertöne des Südens, Texaner, Typen aus D.C.; Kalifornien ist mir immer recht, seinetwegen. Wenn es um Telefonsex geht, - 38 -
bin ich ein unheilbarer Spießer, ein erzkonservativer Chauvinist. Ich bemühe mich immer, mich einfach, aber doch kraftvoll auszudrücken. Mit ruhiger, vertrauenerweckender Stimme sage ich ihnen, wie sie auf ihrem Sofa liegen, wenn ich zur Tür hereinkomme, was sie tragen, wie sie sich auf meinen Besuch vorbereitet haben. Aber es ist kein schweinisches Hardcore-Gerede, sondern immer romantisch: ein Versprechen, die Nacht mit ihnen zu verbringen, sie in den Armen zu halten, sie zu küssen mit allem, was ich habe. Ich gehe nie sehr weit bei Leuten, die behaupten, mißbraucht und im Liebesakt erniedrigt werden zu wollen. Erst kürzlich sprach ich mit einem Typen über eine Begegnung (ein bevorzugtes Thema bei Telefonfantasien ist die letzte reale sexuelle Erfahrung), und er gestand, jemanden ohne Gummi gefickt zu haben. Als ich ihn fragte, ob er die Wahrheit sage, schwor er Stein und Bein, daß es stimme und daß es dem Kerl egal gewesen sei, ob er ein Risiko einging. Daraufhin gab ich alle Verstellung auf und sagte sachlich und bekümmert: »Du solltest so etwas nicht tun. Du solltest auch selbst etwas Verantwortung übernehmen.« Der Kerl knallte den Hörer auf die Gabel. In dieser Nacht sprach ich, als ich endlich durchkam, immer nur einzeln mit den Typen. Wenn mir einer nicht gefiel, drückte ich einfach die Umschalttaste, und schon war ich mit jemand anderem verbunden. Eine Art computerisiertes Adreßverzeichnis lebendiger männlicher Fantasie. Auf diese Weise durchstreifte ich die Vielfalt der Angebote, bis ich auf einen Kerl aus Queens mit einem rauhen, schweren italoamerikanischen Akzent stieß. Er behauptete, einsfünfundachtzig zu sein mit fünfundsiebzig Zentimetern Hüft- und hundertzwanzig Brustumfang, Tom - 39 -
of Finland in Vollendung. Große, kernig klingende Kerle fangen oft ganz dominant und machomäßig an, aber eine Menge von ihnen geben schließlich zu, daß sie einfach nur durchgefickt werden wollen. »Ich will, daß du mich zu Boden zwingst«, sagte der Kerl. »Mach schon, zeig mir, daß du der Stärkere bist. Nagel mich fest, zwing mich, ihn hinzuhalten, und dann stoß ihn mir richtig fest rein!« Plötzlich, höchstens drei Stöße vorm Orgasmus, kam die Anzeige: Anruf in der Leitung. Ich hätte sie vielleicht ignoriert, aber aus irgendeinem Grund dachte ich, du würdest mich anrufen. Ich murmelte eine Entschuldigung zu meinem Telefonsexpartner, dann schaltete ich auf die andere Leitung um. »Ist ja nicht zu glauben, daß du es endlich nach Hause geschafft hast!« sagte Peter. »Was willst du?« fragte ich mit einem Blick auf meinen knüppelharten Schwanz, der sich gerade von etwas verabschiedete, das ein sensationeller Orgasmus zu werden versprochen hatte. »Hast du 'n Gespräch auf der anderen Leitung?« »Ja.« »Wer ist dran?« »Meine Mutter.« »So spät?« »Sie lebt in Kalifornien. Was ist das, Zwanzig Fragen?« »Ist er da?« Ich seufzte. »Nein, Peter, ich bin ganz allein.« »Schön, ich hoffe, ihr hattet euren Spaß. Bei eurer Nacht der Ausschweifungen.« Ich schrie los. »Vorsicht mit den Zähnen! So ist's besser! Mehr mit den Lippen! Setz den Gaumen ein!« Peter wartete ab, bis ich aufhörte, ihn auf den Arm zu nehmen, und sagte dann düster: »Du lernst einen Freund - 40 -
von mir kennen, und dann grabschst du ihn dir. Direkt vor meinen Augen.« »Er ist ja wohl kaum ein Freund von dir, Peter. Du warst doch erst dabei, ihn abzuschleppen.« »Wer sollte wohl zu was kommen, wenn so 'n Barrakuda wie du in der Nähe ist? Ob du's glaubst oder nicht, ich habe dich gebeten mitzukommen, weil ich hoffte, wir beide könnten die Nacht zusammen verbringen. Ich dachte, daß Sean irgendwann die Fliege machen würde. Aber statt dessen...« »Peter. Komm, fangen wir nicht damit an.« Da mein Ständer beim Teufel war und ich jede Hoffnung, mit dem Kerl aus Queens zusammen abzuspritzen, aufgegeben hatte, versuchte ich, freundlich zu sein. »Es ist nichts passiert, okay? Wir haben nur geredet.« An Peters Ende gab es eine Pause, und dann sagte er: »Als ich euch beide weggehen sah und du dich ganz offensichtlich aus Schuldbewußtsein umgedreht hast, bin ich ausgeflippt. Ich hab' danach nicht schlafen können.« »Tut mir leid. Du hättest dir einen runterholen sollen.« »Hab' ich zweimal. Ich versteh' einfach nicht, wieso du die Nacht nicht mit mir verbracht hast, Will.« »Weil ich abgelenkt wurde. Du wirst ja auch manchmal abgelenkt... durch Sebastian.« »Wir haben eine lange Geschichte, Seb und ich. Außerdem, dieser Sean ist auch nicht gerade wählerisch!« »Komm schon, jetzt zieh nicht über ihn her.« »Ich wiederhole nur, was ich im Sportstudio gehört habe. Sean Paris vögelt rum.« »Auf einmal glaubst du den Tratsch, den diese Tucken in ihren Stretchklamotten so von sich geben.« »Es paßt.« »Als ob du nicht rumvögeln würdest.« - 41 -
»Okay, dann bin ich eben eifersüchtig!« »Einverstanden. Das akzeptiere ich. Warum versuchst du jetzt nicht einfach, ein bißchen zu schlafen? Ich bin allein. Ich habe nichts Böses getan.« »Du hast natürlich keine Lust, rüberzukommen und mir Gesellschaft zu leisten?« »Es ist spät, und ich will in meinem eigenen Bett schlafen. Gute Nacht, mein Schöner.« Völlig aufgedreht schaltete ich Peters Leitung ab und überlegte, zwecks schneller Entspannung erneut die Talkline anzurufen. Als ich anfing, die Nummer einzutippen, hörte ich, daß jemand mit mir zu sprechen versuchte: »Hey, hey!« »Hallo?« »Ich bin's«, sagte die Stimme. »Ich bin noch da.« Der Mann aus Queens hatte auf Anruf in der Leitung umgeschaltet. Ich hatte seinen Namen schon wieder vergessen. Nicht, daß das etwas ausgemacht hätte, wahrscheinlich hatte er mir ohnehin einen falschen genannt. »Mann«, sagte ich, »du hast gewartet!« Ich empfand eine erstaunliche Zärtlichkeit für diese körperlose Stimme, die, was ihr Aussehen betraf, wahrscheinlich log, die aber offensichtlich geduldig, vielleicht sogar treu war. Plötzlich war mir, als könnte ich seine Einsamkeit spüren, dort in dem abgelegenen Viertel zwischen La Guardia Airport und Flushing Bay, einem Wohngebiet, das von der Elite Manhattans als déclassé abgeschrieben worden war. Und während ich mich und diesen Kerl zu einem mitternächtlichen Höhepunkt schaukelte, kam mir der Gedanke, ich könnte ihn vielleicht dazu überreden, mein monogamer Telefonliebhaber zu werden.
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4. Am nächsten Morgen wurde ich um zehn Uhr durch meinem Redakteur vom Wall Street Journal geweckt. Ich hatte am Freitag zuvor versäumt, eine Besprechung abzugeben. Ich versprach sie für den Nachmittag, während ich gleichzeitig meinen Computer einschaltete, vor dem ich dann zwanzig Minuten lang saß und versuchte, den ersten Absatz runterzuschreiben. Meine Gedanken schweiften jedoch immer wieder zurück zu dir und deiner Wohnung und dem mysteriösen Anruf, der uns unterbrochen hatte. Du hattest versprochen anzurufen, aber vielleicht hattest du das nur so dahingesagt. Einem Impuls folgend wählte ich die Auskunft an und fragte nach einem Sean Paris in der Grove Street. Besorgt, die Nummer könnte vielleicht nicht verzeichnet sein, hörte ich erleichtert, wie das Telefonfräulein sagte: »Bleiben Sie am Apparat. Die Nummer wird angesagt«, und schrieb sie hastig auf. Ich überwand den Drang anzurufen, bis ich einen Becher Kaffee getrunken und mir die erste Fassung meiner Kritik eines langatmigen dänischen Romans aus den Fingern geleiert hatte. Als ich zum ersten Mal wählte, rechnete ich damit, deinen Anrufbeantworter dranzukriegen, da es Montagmorgen war und du, wie die große Mehrheit der Bewohner von Manhattan – alle außer mir, wie es schien – in deinem Büro sein würdest. Aber dein Telefon klingelte und klingelte, bis mir einfiel, daß du den Anrufbeantworter abgeschaltet hattest. Ich versuchte noch einmal, mich an die Besprechung zu machen, kam aber nicht weiter. Ich erinnerte mich, daß du gesagt hattest, du habest über mein Buch geweint. Beinahe hätte das den Wunsch in mir erweckt, gleich ein neues anzufangen. Beinahe. Die Leute glauben, ich hätte ange- 43 -
fangen, journalistisch zu arbeiten, weil »es« für Romane nicht mehr gereicht habe. Ich finde das ärgerlich. Mein erstes Buch war ein recht guter Erfolg gewesen, sowohl in Amerika als auch im Ausland. Fast hätte ich dieses erste Buch ihm gewidmet, folgte jedoch dem Rat eines Freunds, der mich warnte, das würde ihn zu sehr unter Druck setzen, Kontakt zu mir aufzunehmen. Es sei besser, ihn glauben zu lassen, ich hätte mein Leben fortgesetzt, hätte sogar ein gewisses Maß an Erfolg errungen, besser, ihn glauben zu lassen, ich sei aufgeblüht ohne ihn. Sobald der Roman erschienen war, meldeten sich alle möglichen Leute, die ich gekannt hatte und von denen ich manche seit dem Kindergarten nicht mehr gesehen hatte. Jedesmal, wenn ich von meinem Verlag einen Brief erhielt und meinen in Handschrift gekritzelten Namen sah, hoffte ich halb, er habe das Buch irgendwo in einem Laden gesehen, es gelesen und habe nun das Verlangen, Kontakt zu mir aufzunehmen. Aber ich hörte nie etwas von ihm. Mitten beim Schreiben an meinem zweiten Roman erkannte ich mit einemmal, daß es beim ersten eine der treibenden Kräfte gewesen war, daß ich, ohne es zu wissen, an ihn geschrieben hatte. In gewisser Weise war es, als hätte ich eine Flaschenpost verschickt, eine Botschaft, die nie gefunden werden würde. Den zweiten Roman widmete ich Greg Wallace. Die Kritiken waren lau, und ich war von mir und der Reaktion des Publikums so ernüchtert, daß ich beschloß, mich für eine Weile auf den Journalismus zu konzentrieren. Mein Telefon läutete, und ich stürzte hin. »Was ist denn los? Du hast mich nicht zurückgerufen. Sind wir verabredet oder nicht?« Greg, wer sonst. »Sind wir, tut mir leid. Ich hatte 'nen Abgabetermin.« »Ich bin gerade auf dem Weg zum Park.« - 44 -
»Ich komme hin«, sagte ich. Ich schnappte mir meine Schlüssel, ging ein Stockwerk tiefer und verließ das Haus. Es war nur zu deutlich, daß auch ein Anruf von Greg, der mir einmal alles bedeutet hatte, zu einem belanglosen Austausch von Informationen geworden war. Ungeachtet dessen war unser Casey, ein Labradormischling, in den letzten acht Monaten zwischen Greg und mir hin und her gependelt. Es hatte Zeiten gegeben, in denen Greg und ich aus logistischen Gründen, die den Hund betrafen (getrennte Schlüsselbunde für die jeweils andere Wohnung), gezwungen waren, Indizien sexueller Aktivitäten zur Kenntnis zu nehmen: ein offenes Päckchen Kondome, ein verkrustetes Handtuch neben dem Bett. Einmal hatte ich sogar die verschwommene schwarzweiße Polaroidaufnahme eines Muskelmanns mit nachlässig aufgerollten weißen Hemdsärmeln entdeckt. Meiner Meinung nach zwang uns die geteilte Betreuung des Hunds zuviel an Kontakten auf, und es war an der Zeit, für die Zukunft eine Regelung zu finden. Sobald Casey mich sah, versuchte er, mit großen Sprüngen den Zaun der Hundebahn zu überwinden. Ich steckte die Hand hindurch und ließ mich ablecken. »Kommst du rein?« fragte Greg. »Ja, Sekunde noch. Er soll sich erst beruhigen.« Auf den ersten Blick hätte niemand geglaubt, daß Greg siebenundzwanzig war. Um seine Augen zeichneten sich bereits Linien ab; seine bleiche Haut bekam immer mehr Sommersprossen, und in seinem kurzgeschnittenen blonden Haar wurden sogar dünne Stellen sichtbar. Er trug ein kariertes Button-down-Hemd mit an den Schultern abgeschnittenen Ärmeln, was seine Arme kräftiger, markanter wirken ließ. Das Hemd stand bis zum Nabel offen. Er sah - 45 -
aus wie ein wilder, scharfer Marine. »Ich hab' gehört, du warst auf der Morning Party«, sagte ich, nachdem wir uns über den Zaun hinweg umarmt hatten, nachdem ich Gregs vertrauten süßen Duft gerochen hatte, bei dem ich einen Stich irritierenden Begehrens verspürte. Er runzelte die Stirn. »Wer hat dir das gesagt?« »Ist doch egal. Halb New York war da.« »Ich hab' mich erst in letzter Minute entschlossen«, gestand er verlegen. »Mir war langweilig.« »Na, und wie war's? Hast du dich ... amüsiert?« fragte ich, weil ich wissen wollte, und doch vielleicht auch wieder nicht, ob Greg jemanden kennengelernt hatte. In den acht Monaten seit unserer Trennung hatten wir uns auf unserem Weg zu emotionaler Autonomie inzwischen weit genug voneinander entfernt, um beim Gedanken, der andere schlafe mit jemand anderem, nicht zusammenzubrechen. Und dennoch waren wir noch nicht weit genug gekommen, um freimütig über unsere Liebesabenteuer plaudern zu können. »Wie soll man bei solchen Geschichten jemanden kennenlernen? Oder ich sollte lieber sagen, wie sollte man annehmen können, man würde jemanden kennenlernen, wenn fast alle außer einem selbst auf Ecstasy sind?« »Ich bin dein bester Freund«, frotzelte ich. »Deine beste Freundin«, sagte Greg. »Wer bist du noch gleich? Wo haben wir uns getroffen?« sagten wir einstimmig und lachten. »Ziemlich beschissen, oder?« sagte Greg. »Ziemlich beschissen, wieder alleine zu sein.« Aus irgendeinem Grund erinnerte ich mich daran, daß Greg beim allerersten Mal, als wir miteinander schliefen, mir ein in Geschenkpapier gewickeltes Kondom mitge- 46 -
bracht hatte, und wie albern mir das damals vorgekommen war. Zwischendurch hatte es eine Zeit gegeben, in der ich es liebenswert gefunden hatte, aber jetzt erschien es mir wieder albern. Ich ging an der Hundebahn entlang und passierte das Tor. Casey raste auf mich zu, sprang hoch und legte mir ausgelassen die Pfoten auf die Schultern. Sein Körperbau war höher und drahtiger als bei den meisten Labradors, und Pfoten und Brust waren weiß gesprenkelt; sein Kopf war so schlank wie der eines Windhunds. Der blaue Squashball, den er im Maul trug, wurde mir zu Füßen gelegt, und ich hob ihn auf und warf ihn. Greg blickte wehmütig drein, als ich bei ihm ankam. »Was stimmt denn jetzt wieder nicht?« fragte ich ihn beinahe anklagend. »Mich hat einfach etwas traurig gemacht, okay?« sagte er abwehrend. »Und was war das?« Ich überlegte, ob ich den Arm um ihn legen sollte. Er bemühte sich, seine Stimme unter Kontrolle zu bringen. »Nur, daß wir jetzt, wo wir uns getrennt haben, offenbar besser miteinander klarkommen.« »Ist das so ungewöhnlich?« »Aber du bleibst auf Distanz. Nur um allem aus dem Weg zu gehen, was dir nicht paßt.« »Und was soll ich, bitte schön, machen. Mir immer nur an die Brust schlagen?« »Das hab' ich nicht gesagt.« Mir fiel ein, daß es genau ein Jahr her war, daß Greg mir verkündet hatte, er habe eine Sommeraffäre. Ironischerweise hatte er mir dieses Geständnis keine zehn Schritte von der Stelle, wo wir jetzt standen, gemacht, während - 47 -
Casey einem Ball nachgejagt war. Wenngleich mir das zu jenem Zeitpunkt noch nicht klar war, so stellte sich doch heraus, daß Greg sich auf diese Weise dafür rächte, daß ich ihn den Sommer über in der Stadt zurückgelassen und Casey mit hinauf nach Vermont genommen hatte, wo ich versuchte, in einem Haus, das ich gemietet hatte, einen neuen Roman zu schreiben, einen Roman, den ich am Ende dann aufgegeben hatte. »Du willst mich also immer so auf Distanz halten?« fragte mich Greg. »Mir war nicht klar, daß ich das getan habe«, sagte ich, obwohl die Worte mich an etwas erinnerten, das ich schon von einigen anderen Ex-Lovern gehört hatte. »Hör doch auf, natürlich hast du das. Und hat das nicht etwas damit zu tun, daß du Casey nicht mehr mit mir teilen willst?« Ich fing an, ein Loch in den Belag aus Holzspänen zu bohren, der die Hundebahn bedeckte. »Das haben wir jetzt schon so oft durchgekaut, Greg«, sagte ich. »Ich meine, soweit es mich betrifft, hat sich, abgesehen von der Tatsache, daß wir nicht mehr miteinander schlafen, überhaupt nicht so viel verändert. Vielleicht vertraue ich dir nicht mehr so sehr wie früher. Aber das ist ja auch nicht das, worum es dir wirklich geht, oder?« Casey hatte Greg den Ball vor die Füße fallen lassen und wartete noch immer darauf, daß er weggeworfen wurde. Allmählich schwand die Geduld des Hunds, und er wendete den Kopf von einer Seite auf die andere, als versuche er zu verstehen, was wir sagten. Schließlich entfuhr ihm ein frustriertes Winseln, und Greg nahm den Ball und warf ihn fort. Casey stürmte davon. »Ich bin immer dagegen gewesen, daß es etwas wie Casey gibt, das uns dazu zwingt, in Kontakt zu bleiben«, - 48 -
sagte ich. »Wir sollten uns aussuchen können, wann wir uns sehen wollen.« »Was mich dabei nervt, ist, daß du immer wieder so tust, als sei das alles für mich viel einfacher gewesen, als hätte ich nicht auch etwas durchgemacht.« »Einfacher nur insofern, als du deine Zerstreuungen hattest.« »Na, du bist auch nicht gerade ein Engel, Großer.« Greg spielte auf die Tatsache an, daß, nachdem er seine Affäre beendet hatte – praktischerweise, so wie ich es sah, am Ende des Sommers, als ich im Begriff war, nach Manhattan zurückzukehren –, ich selbst eine Affäre gehabt hatte. Die Dominotheorie der Vergeltung. Was mich jedoch störte, war, daß es anscheinend möglich war, in Windeseile über die Krise mit Greg hinwegzukommen und in Selbstgenügsamkeit zu versinken. Bei ihm war das ganz anders gewesen, damals hatte ich mich viel zu lange in Depression und Kummer vergraben. Ungeachtet dessen hatten Greg und ich pflichtschuldigst versucht, unsere Beziehung wiederzubeleben; mit Hilfe von Marathongesprächen, die nirgendwo hinzuführen schienen, mit getrennten Wochenendausflügen, auf denen wir herauszufinden versuchten, was wir von unserer Beziehung erwarteten. Dabei kam jedoch nur heraus, daß wir uns auf unser Mißtrauen zurückzogen, auf das Gefühl, verraten worden zu sein, das im Gefolge unserer Affären aufblühte. Unsere Beziehung starb schließlich während des Winters ab. Trotzdem beharrte Greg darauf, daß wir irgendeine Form von Kontakt aufrechterhalten sollten, während ich dazu tendierte, reinen Tisch zu machen. Und schließlich war da noch Casey, dessen bedingungslose Zuneigung zu jedem von uns beiden immer fordernder wurde. Die Entscheidung, was mit ihm geschehen sollte, fiel schwer. - 49 -
Zweieinhalbjahre zuvor hatten wir Casey an einem kalten stürmischen Morgen aus einem Tierheim adoptiert. Greg und ich waren mit der Long Island Rail Road an den nördlichen Strand von Long Island gefahren, wo wir uns beide unter Hunderten von Hündchen von einem sieben Wochen alten Labrador mit blauen Augen und einem dünnen Schwanz mit weißer Spitze, die wie die Birne eines kleinen Leuchtkugelschreibers aussah, angezogen fühlten. Im Zug zurück waren Hunde nicht erlaubt, und wir mußten ihn in einem Pappkarton, den wir als Verpackung eines Fernsehgeräts ausgaben, in die Stadt zurückbringen. Immer wenn Casey zu winseln anfing, stieß ich Greg den Ellbogen in die Seite, und Greg versuchte, die Leute durch andere Geräusche abzulenken. In der ersten Nacht, in der Casey bei uns wohnte, versuchten wir, ihm ein Bett in der Küche zu machen, aber jedesmal, wenn wir ihn alleine ließen, stieß er sein herzzerreißendes Jaulen aus. Ursprünglich wollte ich den Hund nie bei mir und Greg schlafen lassen – Greg hatte eine Menge Überzeugungsarbeit zu leisten –, aber als er mich endlich überredet hatte, Casey ins Bett zu lassen, schlief der Hund augenblicklich ein. Seither hatte er immer zwischen uns geschlafen, bis zu dem Tag, an dem Greg schließlich ausgezogen war. »Dann ist es also abgemacht, daß wir ihn nicht länger hin und her schieben?« Greg antwortete so schnell auf meine Frage, als habe er das gesamte Gespräch durchgeprobt. »Deine Eltern haben sich scheiden lassen. Du bist besser daran gewöhnt, dich von Sachen trennen zu müssen.« »Genausogut könnte man sagen, daß dadurch alles noch traumatischer für mich ist.« »Vermutlich ja.« - 50 -
So leicht wird ein Hund zum Kind von zwei Lovern, die niemals Kinder haben werden. »Hör mal zu, Greg. Du bist seltener zu Hause als ich.« Er schaute mich erschreckt an. »Aber uns ist beiden klar, daß du mehr an Casey hängst«, fügte ich hinzu. »Jetzt hörst du dich an, als wolltest du ihn gar nicht haben.« »Komm schon, es ist so schon schwer genug.« »Du hast recht. Tut mir leid.« Ich wußte, daß Greg dankbar dafür war, daß ich alles offen aussprach. »Aber du kommst ihn doch oft besuchen, oder?« sagte er jetzt. »Klar, und jedesmal, wenn ich nach Vermont fahre, kann er mitkommen.« Monatelang hatte ich versucht, die Schuld für unsere Trennung auf außereheliche Beziehungen zu schieben. Dennoch wußte ich tief im Herzen, daß ich Greg in einem viel grundsätzlicheren Sinn nicht gerecht geworden war. Als Folge des Verlusts von ihm hatte ich nämlich den innersten Zugang zu meinem Selbst vor jedem anderen verschlossen. Und dies auf eine Art, die eine viel grundlegendere Untreue war. »Ich bin fünfunddreißig, Greg«, hörte ich mich plötzlich sagen. »Ich fange gerade an, das eine oder andere zu verstehen. Ich kann mir nicht vorstellen, wie das für Leute sein muß, die das erkennen, wenn ihnen nicht mehr viel Zeit bleibt.« »Na, dann ändern sich natürlich ihre Prioritäten.« »Muß wohl so sein, nehme ich an.« Es folgte düsteres Schweigen, bis Greg sagte: »Will, ich glaube nicht, daß unser Entschluß unumstößlich sein sollte. Ich nehme an, du bist damit einverstanden, wenn wir versuchen, Casey bei mir zu lassen und zu sehen, ob's - 51 -
funktioniert.« Das Treffen mit Greg hätte mich vielleicht geschafft, wenn mir nicht die Aussicht, von dir zu hören, Kraft verliehen hätte. Als ich von der Hundebahn nach Hause kam, waren jedoch keine Nachrichten auf meinem Anrufbeantworter. Ich sagte mir immer wieder, daß bisher nichts zwischen uns passiert war und daß es bescheuert wäre, irgend etwas zu erwarten. Dennoch empfand ich den gesamten Nachmittag über ein unbestimmtes Gefühl von Leere, das ich nur zu gut zu kannte, und bis zum Abend hatte sich dieses Gefühl in den vertrauten Schmerz verwandelt. Bei mir wird aus Erwartung rasch Unbehagen: darauf zu warten, daß sich jemand meldet, zu wissen, daß, wenn der Nachmittag verstreicht, die Wahrscheinlichkeit für einen Anruf geringer wird. Warum reduzieren sich bei mir alle starken Erlebnisse auf dieses entsetzliche Verlangen, das ihn in meinem tiefsten Innern? Es ist kein Wunder, daß ich mir in den letzten zehn Jahren absichtlich nur Männer ausgesucht habe, die emotional so zurückhaltend waren, nicht bis in diesen Bereich vorzudringen. Gegen fünf Uhr war meine Stimmung am Boden, und das bedeutete, wie ich wußte, Ärger. Dann fiel mir plötzlich ein Heilmittel ein; und dadurch, daß ich einen Plan hatte, eine Absicht, war meine Übellaunigkeit schlagartig verschwunden. Mir fiel ein, daß du erwähnt hattest, dein Büro befinde sich in Turtle Bay; sicher würde einer meiner Architektenfreunde eine Reihe von Firmen in dieser Gegend kennen. Ich schaffte es, meinen Freund Sheldon an die Strippe zu bekommen, der mir ein halbes Dutzend Firmen herunterrasselte, bis ich die eine hörte, bei der mein Gedächtnis einrastete. - 52 -
»Sirjane, Wallis und Moody«, sagte die Telefonistin. »Ich versuche, Sean Paris zu erreichen.« »Bitte warten Sie«, sagte sie und schaltete mir das übliche Klassikgedudel zu. Als sie zurückkam, sagte sie: «Es tut mir leid, aber Sean Paris nimmt gerade einen Termin beim Arzt wahr.« »Einen Termin beim Arzt?« hörte ich mich sagen. (Ging es dir gut? War es HIV? Hattest du dich deshalb davor gescheut, mit mir zu schlafen?) Als die Frau nach meinem Namen fragte, gelang es mir, schnell zu schalten. »Ich bin ein Freund von Sean von der Oberschule, und ich bin nur heute in der Stadt.« Sie bot mir an, dir eine Nachricht zu übermitteln, hielt dann aber inne. »Oh«, sagte sie. »Hier steht, daß er danach die Stadt verläßt. Ich vermute, er kommt erst morgen zurück.« Die Stadt verläßt? Du hattest kein Wort davon gesagt, daß du wegfahren wolltest. Jetzt war ich wirklich außer mir. Der einzige Weg, mich etwas zu entspannen, war, zum Meisterschwimmertraining um sechs Uhr zu flitzen, an dem ich dreimal die Woche an der New York University teilnahm. Für ein ordentliches Training war ich jedoch zu sehr in Gedanken, und während ich gerade bei einem Wettschwimmen eine Fünfergruppe anführte, hörte ich mitten im Schlag zu schwimmen auf. Eine sehr ehrgeizige Frau, die mir hart auf den Fersen war, knallte mir gegen die Beine und fluchte: »Was machst du da für 'n Scheiß, Will?« Ich entschuldigte mich damit, daß ich mich beim Gruppenschwimmen immer schwer tue, dann stieg ich zur Überraschung aller aus dem Becken. Zu Hause lagen keine Nachrichten vor. Ich versuchte, dich in deiner Wohnung anzurufen. Noch - 53 -
immer keine Antwort. An diesem Abend nahm ich aus Anlaß einer Buchpräsentation in der SoHo Kunstgalerie an einer Party für einen lateinamerikanischen Schriftsteller teil, der nie ein Blatt vor den Mund nahm und den ich in einem Hochglanzmagazin porträtiert hatte. Ich nahm einige Drinks zu mir und versuchte, mit den Leuten, die ich traf, Konversation zu machen, aber was ich eigentlich wollte, war, nach Hause zu rennen und nachzusehen, ob das Lämpchen auf meinem Anrufbeantworter, das Nachrichten anzeigt, verführerisch glühte. Pech gehabt. Meine Frustration verwandelte sich in Ärger über zwei Menüzettel, die während meiner kurzen Abwesenheit unter der Tür hindurchgeschoben worden waren – ein rotes Tuch für mich – in Mißachtung des Schilds, das ich unten angeschlagen hatte und das in zehn Sprachen, einschließlich Chinesisch und Koreanisch, darauf hinwies, daß jegliches gedruckte Material, einschließlich Menüzetteln, in der Eingangshalle zu hinterlegen sei. Prompt nahm ich den Hörer ab und rief die beiden Restaurants an, um sie zu warnen, daß ich, sollte noch einmal ein Menüzettel unter meiner Tür durchgeschoben werden, eine Hundert-Dollar-Bestellung aufgeben und eine falsche Adresse nennen würde. Als ich auflegte, fühlte ich mich stark und in vollem Recht, allerdings nur ein paar Minuten lang. Bis ich es wieder bei dir versuchte und dein Telefon läutete und läutete und läutete. Vielleicht war es besser, wenn du dich nie wieder bei mir meldetest, denn nach einer Woche der Trennung würdest du dich sicher aus meinen Schaltkreisen verflüchtigt haben wie ein vorübergehender Infekt, und meine emotionale Temperatur würde wieder normale Werte annehmen. Dennoch konnte ich in dieser Nacht kaum schlafen. - 54 -
Irgendwann zwischen Mitternacht und Morgen wachte ich auf und sah die rote Null auf meinem Anrufbeantworter. Eine rote Null auf einem Anrufbeantworter gleicht einer Unendlichkeitsschleife der Einsamkeit. Eine digitale Eins sieht aus wie ein Treffer, ein Widerschein der Möglichkeit, irgend jemand könnte Interesse haben. Eine Zwei drückt eine noch größere Hoffnung auf vermutlich einen geschäftlichen oder unwichtigen Anruf und den Anruf, auf den man wirklich wartet, aus. Eine Drei ist in ihrer Verheißung von bestenfalls zwei romantischen Möglichkeiten noch vielversprechender und aufwühlender. Eine Vier signalisiert eindeutig Beliebtheit, Geschäft und Liebe wild durcheinander. Und eine Fünf verspricht mit ihrem SKringel demjenigen, der flink ist wie Merkur, ein erfülltes Leben. Jenseits der Fünf herrscht das reine Chaos. Ich bin besessen vom Telefon. Aber das hat damit zu tun, daß ich ungeheuer viel alleine arbeite. Alleine. Ich weiß, daß in bestimmten Monaten, in denen ich deprimiert bin oder mir Sorgen mache, meine Telefonrechnung ansteigt. Nachdem Greg mit seiner Affäre herausgerückt war, konnte ich zwei Wochen lang kaum schlafen und trieb meine Telefonrechnung in die Höhe, indem ich weit verstreute Freunde anrief, die in so fernen Zeitzonen lebten, daß ihnen die Tatsache, daß ich um vier Uhr früh anrief, zu ihrer Tageszeit wohl kaum als besondere Verzweiflungstat erschien. Durch Satellit übertragene neurotische Gespräche zu führen begeistert mich. Die neuesten Errungenschaften der Wissenschaft können selbst das rückständige menschliche Herz erreichen. Ich versuche, mir das neunzehnte Jahrhundert vorzustellen, als Liebende durch riesige kontinentale und ozeanische Distanzen getrennt waren, als Briefe zuweilen Wochen brauchten, um zwischen Verehrern und Angebe- 55 -
teten hin und her zu reisen. Wie konnten die Menschen so geduldig auf Nachricht warten? Was ermutigte sie während des langen, mühseligen Schweigens? Was ließ sie am Glauben festhalten, sie würden am Ende einer langen Trennung noch immer geliebt?
5. Schon nach drei Tagen ohne Nachricht von dir fing ich tatsächlich an, mich zu fragen, ob ich dich nicht heraufbeschworen hatte wie eine Art Liebesdämon, ob es dich überhaupt gab. Vor zehn Jahren hatte es nämlich im düsteren August, nachdem er verschwunden war, eine Zeit gegeben, in der es mir schwerfiel, die realen Ereignisse von meinen Fantasien zu unterscheiden, eine Zeit, in der alle Grenzen zu verschwimmen drohten. In den ersten Monaten glich die Erinnerung dem Phantomschmerz in einem amputierten Glied, vom dem Kriegsversehrte berichten. Unter meinen Fingerspitzen spürte ich das Vibrieren seiner Gegenwart, und zu den merkwürdigsten Zeiten stieg sein Duft nach Eukalyptus und Schweiß zu mir auf. Auf meinen langen einsamen Spaziergängen an den Biegungen des Rinco's Beach glaubte ich, ihn draußen bei den Surfern zu sehen, in seinen salzverkrusteten Haaren das Glitzern der Sonne. Nachts hätte ich schwören können, daß er zu mir ins Bett stieg und sich mit den seidenweichen Muskeln seines Kobrahauben-Rückens an mich schmiegte. Ich fragte mich, ob er vielleicht unbewußt in eine Parallelwelt geglitten sei. Manchmal, wenn ich stundenlang gefahren bin, ohne anzuhalten, kann ich mich mit einem Mal nicht mehr erinnern, daß ich das Auto gesteuert habe. - 56 -
Ich frage mich, ob ich in einen Unfall verwickelt und in eine Dimension geschleudert wurde, in der diejenigen versammelt sind, die ebenfalls in Autowracks starben und die auf irgendeiner himmlischen Rennstrecke weiterfahren, als wären sie sich ihrer plötzlichen Seelenwanderung nie bewußt geworden. Meine Trauer machte mich zum einsamen Nachtschwimmer. Ich schwamm alleine zu den Zweihundert-MeterBojen und, die eiserne Regel brechend, die er und ich aufgestellt hatten, darüber hinaus. Schwamm die dunkle halbe Meile, schwamm, bis ich fürchtete, der Ozean habe sich in mein eigenes, privates schwarzes Loch verwandelt. Schwamm leichtfertig in die Nähe von Untiefen, denn nur, wenn ich um mein Leben fürchtete, gelang es mir, den Schmerz zu betäuben. Drei Tage keine Nachricht von dir, und dann fuhr ich mit dem Taxi die Sixth Avenue hinauf, um mich verspätet mit einem deutschen Verleger zum Abendessen zu treffen. Während wir an einer roten Ampel warteten, glaubte ich plötzlich, dich in einer abgeschnittenen Militärhose über die Straße laufen zu sehen. In einem Tempo, bei dem dein Körper die perfekte Ausgewogenheit seiner Proportionen sichtbar werden ließ. Wie ein Lichtstrahl durchbrachst du die behäbiger sich bewegenden Wolken von Stadtbewohnern. Und durch das Fenster des Taxis konnte ich nur verblüfft zusehen, in der Furcht, ich fantasiere nur, in der Furcht, meine Stimme würde versagen, wenn ich dich anriefe. Und selbst wenn ich dich anriefe –»Sean Paris« –; würdest du lediglich aufschrecken und dich umschauen. Und das wäre noch schlimmer, zu sehen, wie du nach mir suchst. Nachdem das Taxi sich wieder in Bewegung gesetzt hatte, wurde mir jedoch klar, daß ich wenigstens - 57 -
hätte versuchen sollen, dich auf mich aufmerksam zu machen. Denn nun würde ich, darüber hinaus, daß ich nicht wußte, warum du nicht angerufen hattest, auch nie erfahren, ob ich dich wirklich gesehen hatte. Sobald ich in dem Restaurant angekommen war, ging ich zum Telefon. Keine Antwort auf deiner Leitung – und immer noch kein Anrufbeantworter. Ich stand da, um mich zusammenzureißen, bevor ich mich zu dem Verleger setzte. Es handelte sich um ein vietnamesisches Restaurant, das Telefon befand sich in einer kleinen Nische, deren Wände mit Rattan und mit Zeichnungen von Sampans, die über schlammige Reisfelder glitten, bedeckt waren. Ob ich dich nun gesehen hatte oder nicht, die Lage war verzwickt. Wenn ich dich gesehen hatte, dann hieltst du dich nicht außerhalb der Stadt auf (wie die Telefonistin behauptet hatte), und du riefst mich absichtlich nicht an. Wenn ich es mir nur eingebildet hatte, bedeutete das ... daß das von vor zehn Jahren wieder von vorne anfing. Sechs Monate, nachdem er mich verlassen hatte, glaubte ich, ich würde ihn plötzlich überall in Santa Barbara sehen – zum ersten Mal im Gewühl der Parade zur Sommersonnenwende in einem weit geschnittenen Hawaiihemd. Ich rannte ihm nach, stieß mit Leuten zusammen, die fluchten und mich festhielten, bis ich ihn schlicht aus den Augen verloren hatte. Und selbst nachdem ich seine Familie angerufen hatte, die die Beerdigung in die Wege geleitet und die Tatsache akzeptiert hatte, daß er wohl niemals angespült werden würde, und die mir versicherte, daß es nicht seine Art sei, einfach zu verschwinden, konnte ich, im plötzlichen Glauben, er sei mir absichtlich ausgewichen, tagelang nicht schlafen. Dann fuhr ich eines Abends am Paradise Cafe vorbei. Ich - 58 -
fuhr in seinem VW Käfer, den ich bekommen hatte, da seine Eltern es nicht ertrugen, ihn zu behalten. Ich glaubte, ihn zusammen mit einer Frau zu sehen; ich erkannte seine ausladenden Bewegungen, seine unverwechselbare Geste, mit der er sich im Nacken tätschelte. Als ich in die Bremsen stieg und seinen Namen brüllte, stürmte er in eine Gasse. Ich ließ den Wagen mitten auf der befahrenen Anacapa Street stehen und rannte ihm nach. Er war jedoch nirgends zu sehen. Die Autos hupten den mitten im Verkehr stehenden leeren VW an, während ich zum Paradise Cafe zurückrannte und ihn beschrieb: ein Kerl in schwarzem T-Shirt und türkisfarbener Hose mit Kordel. Niemand jedoch schien sich an ihn zu erinnern. Und von da an fing ich endlich an, zu Hause zu bleiben. Sechs Monate lang verließ ich meine Wohnung kaum. Lustlos, ohne jede Energie, litt ich an merkwürdigen nächtlichen Fieberanfällen, die auf etwa achtunddreißig Grad stiegen. Damals, zu Beginn der Achtziger, konnte man sich noch erlauben, Fieber zu bekommen, ohne sich davor fürchten zu müssen, was dieses Fieber ankündigte. Morgens wachte ich in eigenen Schweiß gebadet auf. Ein Arzt beim studentischen Gesundheitsdienst diagnostizierte irgendeine schwache Blutinfektion, gegen die ich eine Ladung bunter Antibiotika bekam. Das Medikament half jedoch nicht viel. Aus anderen Gründen, hauptsächlich aus dem, daß ich keinen der Professoren in meinem Hauptstudium mochte, verließ ich schließlich die University of California ohne Abschluß. Es ging mir allmählich besser, aber meine Mittel schrumpften. Die Zahl der Tage wuchs so langsam an wie die Striche eines Häftlings an der Wand seiner Zelle. Gefangen in meiner kleinen Privathölle, tat ich tagein, tagaus überhaupt nichts, während vor meinen Fenstern mit - 59 -
den römischen Bögen das kalifornische Wetter strahlend und trocken blieb. Die immergleichen verschlissen wirkenden Blätter der Palmen schabten am Fensterglas. Drunten im Vorgarten drohten mir die Paradiesvögel mit ihren orangefarbenen Schnäbeln; und eine Agave fing an, direkt vor meinen Augen abzusterben, wobei aus ihrer sterbenden Mitte heraus in einem letzten Aufbäumen des Lebens ein Speer hervorschoß, der auf lächerliche Weise einem Spargel glich. Der Verleger spürte sofort, daß etwas nicht stimmte, sagte zunächst jedoch nichts. Sein Akzent war zuweilen sehr stark, so daß ich Schwierigkeiten hatte, ihn zu verstehen. Und da ich, besonders wenn ich nervös bin, dazu neige, schnell zu sprechen, bat der Mann mich ständig, ich solle mich wiederholen. »Sie sehen nicht sehr frisch aus, Mr. Kaplan«, bekam ich zu hören, während wir auf die Rechnung warteten. »Ich glaube, ich bin nicht besonders in Form. Ich fühle mich sogar ein wenig fiebrig«, erklärte ich. »Ich hoffe, ich stecke mich nicht bei Ihnen an. Ich habe auf meiner Reise nämlich noch mit vielen Leuten Termine«, sagte der Mann leicht gereizt. Ich wußte, daß seine Ungeduld zum Teil mit der Erkenntnis zu tun hatte, daß ich noch nicht begonnen hatte, ein neues Buch zu schreiben. Als ich zu Hause ankam, hatte ich Schüttelfrost. Aus einem der oberen Regale im Wäscheschrank nahm ich ein Deckbett; und es war ein ganz verrücktes Gefühl, ins Bett zu gehen und mitten im August eingehüllt in den Duft von Mottenkugeln zu versuchen, mich warmzuhalten. Und als ich so dalag und versuchte, mich zu wärmen, fragte ich - 60 -
mich, ob es wohl ein Stück von ihm geschafft hatte, in mir weiterzuleben und all die Jahre zu schlafen, bis du vorbeikamst. Denn plötzlich erinnerte ich mich an Einzelheiten und Situationen, an die ich so lange nicht gedacht hatte. Zuerst hatte ich von ihm als diesem verrückten Doktoranden in Philosophie gehört, der nachts gerne alleine durchs Fünfzigmeterbecken schwamm, ein Kerl, der im Wasserball bereits in der College-Nationalmannschaft gewesen war und den man eingeladen hatte, mit der Wasserballmannschaft der University of Santa Clara zu trainieren. Ich hatte gehört, daß seine Eskapaden, von denen die Kerle bei der Aufsicht sehr wohl wußten, zu sehr bewundert wurden, um dem Campus-Sicherheitsdienst gemeldet zu werden. An dem Nachmittag, an dem sich unsere Blicke zum ersten Mal trafen, war ich nach Hause gegangen und hatte auf der Suche nach meinem »Nationale Langstreckenmeisterschaften«-T-Shirt, das mir ein Bekannter aus Tennessee mitgebracht hatte, beinahe meinen Kleiderschrank verwüstet. Als ich an diesem Abend beim Becken ankam, stellte ich fest, daß die mit einer Kette verschlossenen Tore leicht offenstanden, und ich hörte das unverkennbare Plätschern, das beim Butterflyschwimmen entsteht. Ich wagte mich durch die Absperrung und sah eine einzige silberne Lampe im Becken, die einen Schwimmer anstrahlte, der diese Kraftstöße ausführte, die nur von den trainiertesten Athleten geschwommen werden können. Ich beobachtete, wie er eine Wende machte und auf dem Rückweg durchs Wasser schoß, und registrierte die donnernden Geräusche seiner Delphinstöße. Es ist schwierig, Butterfly länger als hundert Meter zu schwimmen, noch schwerer, weiter als zweihundert zu kommen. Aber der da - 61 -
legte mit langen, gleichmäßigen Stößen Fünfzigmeterbahn um Fünfzigmeterbahn zurück. Ich wartete darauf, daß sein Rhythmus abflachen, seine Kraft schwinden würde, aber sein Tempo blieb dreihundert, vierhundert, fünfhundert Meter lang konstant. Als er endlich aufhörte, trat ich aus dem Schatten und wagte mich auf die Liegefläche. »Hey, Will.« Er begrüßte mich, und dann klatschte sein Arm auf die Wasseroberfläche. »Was machst du denn hier?« Woher, zum Teufel, kannte er schon meinen Namen? Einen Augenblick danach war er aus dem Becken, hatte die Arme über der Brust gekreuzt und rannte durch die kühle Luft zur Dusche, wobei sein kompakter Oberkörper, der kein Gramm Fett aufwies, bei der Bewegung leicht zuckte. Er bemerkte mein verblüfftes Gesicht und sagte: »Schau nicht so entgeistert. Ich habe in der Göttlichen Komödie gesessen.« Damit meinte er eine überfüllte Vorlesung, die ein Gastdozent aus Yale gehalten hatte. »Ich habe ein paar Reihen hinter dir gesessen. Und jetzt nimm mal 'ne Nase von diesem Nachtjasmin. Wie wär's?« Er versetzte mir einen spielerischen Klaps auf den Unterarm und besprühte ihn mit Wassertropfen. »Ganz schön stark, was?« Vielleicht ist er einfach nur freundlich, sagte ich mir. Aber dann fuhr er fort. »Warte bitte ein paar Minuten ... mach's dir am Becken bequem. Bin gleich wieder da.« Also wartete ich furchtbar nervös draußen in der kühler werdenden Luft, roch den Jasmin und sogar die KlebsameBäume, bis er in einer weiten Trainingshose und einem TShirt mit V-Ausschnitt zurückkam, die Kette am Tor zuzog und sie mit einem Vorhängeschloß sicherte. »Irgendwann, wenn das Wetter wieder mitspielt, werd' ich mal draußen im Becken schlafen«, sagte er, während - 62 -
wir zum Parkplatz schlenderten. »Dann laß' ich mich auf so 'nem Plastikfloß treiben, streck' mich aus und zähl' alles, was ich da oben sehe. Was hältst du davon?« »Ich hab' von dir gehört«, sagte ich und blieb stehen. »Du bist der Typ, der nachts schwimmen geht.« Er zeigte keine Reaktion, außer daß er automatisch seinen Schritt beschleunigte. »Und was hast du heute abend vor?« Ich zuckte die Achseln. »Fahr ein Stück mit«, drängte er mich. »Da geht's lang.« Er deutete auf den VW-Käfer, der widerrechtlich auf einem Platz für Lehrkräfte geparkt war. Er hatte einen Harvard-Aufkleber auf dem Rückfenster und auf der Stoßstange einen Sticker mit Rettet die Wale sowie ein dreizackiges Friedenszeichen, das offensichtlich während des Vietnamkriegs auf die Stoßstange geklebt worden war. »Warst du in Harvard?« »Gehört meinem Alten – er war dort. Sie haben's '65 von Boston bis hierher gefahren.« »Und dort bist du geboren?« »Massachusetts General Hospital.« Der enge Innenraum des Autos stank exotisch nach feuchtem Kunststoff und Bodenbelägen. Auf dem Rücksitz lag ein zerfetzter Schirm. Er ließ das Auto an, und wir fuhren los, ohne ein Ziel verabredet zu haben. Ich nehme an, es war mir ziemlich egal, wohin wir fuhren. Eine Weile folgten wir den verschlungenen Campusstraßen, die uns an Salzwasserlagunen und turmhohen australischen Eukalyptusbäumen vorbeiführten, die zwischen den Sandsteinkarrees der University of California verstreut standen. Irgend etwas rollte auf dem Boden herum. Schließlich schaute ich nach unten und fand eine alte matschige Orange. Mit den Füßen rollte ich sie hin und her. - 63 -
»Wie wär's, wenn wir den San-Marcos-Paß rauffahren?« schlug er endlich vor. »Ist das nicht 'n ganzes Stück?« »Mußt du irgendwo hin?« »Eigentlich nicht.« »Was riecht denn hier so angekokelt?« fragte ich, als wir auf halber Höhe zu den Santa-Ynez-Bergen waren. »Brauch' 'ne neue Kupplung.« Seine Augen blieben auf die Straße geheftet. »Werden wir's schaffen?« »Ich fahr' den Weg ein paar Mal die Woche. Seit einem Monat ungefähr macht's Mühe. Höchstwahrscheinlich geht uns der Sprit aus.« Er schielte nach der Treibstoffanzeige. Plötzlich nahm er die rechte Hand vom Steuer, packte mit geübtem Griff den Schirm auf dem Rücksitz, holte ihn nach vorn und faßte ihn am unteren Ende knapp hinter der Spitze »Was, zum Teufel, machst du da?« fragte ich, als er auf den Metallknopf auf einer der Scheiben des Armaturenbretts einschlug. Er zuckte die Achseln, während er den Schirm hinter sich warf. »Wenn man nicht draufhaut, zeigt's nicht an.« Er beugte sich erneut nach vorn und musterte die Anzeige. »N Achtel voll. Dammich, ich wußte nicht, daß es so wenig war.« »Machst du das absichtlich?« Er starrte mich an, und ich bemerkte, wie lang seine Wimpern waren. »Schau, sie ist kaputt. Manchmal vergesse ich, sie zu kontrollieren. Ich war abgelenkt. Du bist wirklich der erste, den ich je mit hierher genommen habe.« Plötzlich wirkte er verlegen. »Normalerweise fahre ich hier rauf, um von allen wegzukommen.« Der Brandgeruch der schleifenden Kupplung legte sich wie durch ein Wunder, sobald wir den Gipfel des San- 64 -
Marcos-Passes erreicht hatten. Er fuhr von der Straße auf den unbefestigten Seitenstreifen. Wären wir weitergefahren, wäre die Straße in eine steile Abfahrt ins trostlose Santa-Ynez-Tal übergegangen, eine Region, von der es heißt, sie gleiche der ostafrikanischen Steppe. Sechshundert Meter über dem Meeresspiegel lehnten wir an der Kühlerhaube und schauten zu den Sternen hinauf. Über uns zerstoben die Wolken zu Fetzen. Man konnte den Himmel besser sehen, die Luft war hier oben in den Bergen so viel wärmer als unten an der Küste; und die Brisen, die durch das Unterholz fegten, rochen würzig nach Kräutern. Wir starrten auf die ausgedehnte schwarze Masse des Pazifiks hinaus, wo sich eine leuchtende Kette von Bohrtürmen, die sich in die gebogene Küstenlinie schmiegte, wie eine mit Edelsteinen besetzte himmlische Rennstrecke bis nach Los Angeles wand. Es geschah etwas Seltsames mit mir, als ich da so auf dem Gipfel stand. Erst Jahre später erschloß sich mir seine Bedeutung. Aber in dieser Nacht, während ich zusammen mit ihm die Aussicht bewunderte, trat ich wahrhaftig aus mir heraus. Ich wurde die Weite, ich wurde zu allem, was ich sah, außer meiner selbst. Nicht mehr ich selbst, bekam ich Angst, daß es mir nie wieder gelingen würde, in meinen Körper zurückzukehren. War das eine Art Vorahnung seines Verschwindens und dessen, was mir einst zustoßen würde? War da draußen ein kleiner Kobold, der meine Seele lockte, ihren Körper zu verlassen, wie einer jener indianischen Chumashgeister, die sich angeblich bei Point Conception an der Küste versammeln und schnell wie die Finsternis über den Pazifischen Ozean fliegen? Aber ich wurde in mich zurückgerissen, als ich seine Arme spürte, die sich von hinten um mich schlangen. Ich machte einen Satz. - 65 -
»Was ist los?« sagte er. Da ich im Moment nichts erklären konnte, sagte ich: »Nichts, ich bin nur ein bißchen benommen.« Er wirbelte mich herum, küßte mich, öffnete die Lippen und umschloß damit meine. Woher nahm er die Kühnheit anzunehmen, ich würde ihm das gestatten? Es kümmerte ihn einfach nicht. Auf der Rückfahrt nach Santa Barbara war ich in Hochstimmung. Als der Motor stotterte und den Geist aufgab, zog uns die Schwerkraft die Bergstraße hinab, und es war, als befände man sich in einem Gleiter, der über einer Hügelkette auf den Winden schwebt und auf ein flaches Tal hofft, in das er absinken kann. Geschickt manövrierte er den Wagen durch alle Haarnadelkurven, die auf dem Weg nach unten lagen. Die letzten beiden nahm er viel zu schnell, und die Räder des VWs quietschten und schrammten fast von der Straße. »Du kannst jetzt wieder vom Dach runterkommen, Will.« Er grinste, während das Auto leicht durch die Ebene fuhr und schließlich eine Viertelmeile vor einer BPTankstelle stehenblieb. Er stieg aus und schob die restliche Strecke, während ich steuerte. Endlich bogen wir in die Tankstelle ein, und die Reifen rutschten weich über die ölverschmierten Inseln aus Beton. Während er Benzin einfüllte, beobachtete ich, wie er mit einem schmächtigen jungen Tankwart sprach. Sie standen ziemlich nahe beieinander, und während er den Zapfhahn in den Tank hielt, grinste er und gestikulierte mit der freien Hand. Und ich war tatsächlich eifersüchtig beim Gedanken, er könnte flirten. Das machte mir Angst. Ich saß da und wünschte mir halb, er würde mich zu meinem Auto zurückbringen, damit ich nach Hause käme und versuchen könnte, meine - 66 -
Gefühle zu ordnen. Aber dann hüpfte er ins Auto, und als wir davonfuhren, stellte ich fest, daß ich unfähig war, ihn anzuschauen. Schließlich konnte ich nicht mehr anders und schaute hin. Er starrte mich an, obwohl er doch eigentlich fahren sollte, und die Leidenschaft in seinen Augen war überwältigend. Er lachte laut los, und ich ließ den Kopf auf seine Schulter sinken. »Du bist klatschnaß«, bemerkte ich. »Ich bin ganz schön ins Schwitzen gekommen, als ich dich angeschoben habe«, gab er an. »Ich glaube, ich muß ins Wasser.« »Wo?« »Was glaubst du?« »Im Schwimmbecken?« »Neeeee.« Dann deutete er mit dem Kopf in Richtung Ozean, als sei das selbstverständlich. »Nachts geh' ich da nicht rein. Das ist gefährlich nachts.« »Wer sagt das?« »Ich geh' da auf keinen Fall rein!« »Auch wenn ich dir verrate, daß ich geprüfter Rettungsschwimmer bin? Auch wenn ich dir verspreche, daß ich dich rausfische, wenn du in Schwierigkeiten kommst?« »Das ist garantiert 'ne riesen Hilfe, wenn du selbst in Schwierigkeiten bist.« Wir bogen plötzlich in ein Mini-Einkaufszentrum ein, das für einen Supermarkt bekannt war, der Erfrischungsgetränke aus einem Brunnen verkaufte – 1981 etwas Seltenes – sowie ein chartreusefarbenes Zeug, das Slurpee hieß. Er sagte mir, er sei gleich zurück, trat auf die Bremse, ging vorn um das Auto herum und lief an den Läden entlang, vorbei am Supermarkt bis zu einem kleinen Laden, in dem Licht brannte. Kurz darauf erschien er wieder mit einer kleinen braunen Tüte, bat mich, das - 67 -
Handschuhfach zu öffnen, wo ich ein Schweizer Offiziersmesser finden würde. Er zerrte eine Limone aus der Tüte und dann eine Flasche Cuervo-Tequila. Er stellte den Motor ab, ließ sich das Messer geben und schnitt die Limone gekonnt in gleichmäßige Scheiben, die er auf den Kniescheiben seiner zusammengepreßten Beine balancierte. Er schraubte den Plastikverschluß von der Flasche, hob den Tequila an die Lippen und kippte einen ordentlichen Schluck hinunter. Er saugte an einer Limonenscheibe, lächelte mich mit der grünen Schale zwischen den Zähnen an und sagte: »Küß mich!« »Gib her.« Ich zog die Flasche und die Limone zwischen seinen Beinen hervor und nahm einen Schluck Tequila. Als wir den West Beach erreichten, fühlte ich mich abgestumpft und zu allem bereit. Das Mondlicht schien eine Brücke über das Wasser zu spannen, die bis zu den Channel Islands reichte. Auf dem Boden seines Autos lag ein Haufen Badehosen; er wühlte darin herum und gab mir die knappste, am wenigsten verbergende, die er finden konnte. »Ich möchte sehen, wie du in der aussiehst«, sagte er. »Ich hab' aber ganz schön einen sitzen«, beklagte ich mich. »Gut, sonst hättest du das hier vielleicht nicht gebracht.« Nein, aber mit dir hätt' ich's gebracht, dachte ich bei mir. Auch ohne Tequila. Er schälte sich aus seinen Kleidern, und zum ersten Mal sah ich ihn unbekleidet: den olivbraunen Teint mit einer kühlen bronzefarbenen Patina, die sich über Monate hinweg beim Sonnenbaden unter ungebremster Sonne gebildet hatte, dicke, sinnliche, karamelbraune Brustwarzen mit spärlichen Büscheln dunkler Haare. Ich fragte mich, ob ich je in der Lage sein würde, alles in mich - 68 -
aufzunehmen, was sein Körper bot, die beiden Rundungen seiner Brustmuskulatur, seinen breiten Rücken, die düstere Lüsternheit seiner Achselhöhlen, seiner Lenden. Ehe ich auch nur mein T-Shirt ausgezogen hatte, war er in der Badehose und musterte mich gründlich beim Ausziehen. Und als ich endlich nackt inmitten der Schatten am Strand stand, schloß er halb die Augen, streckte die Hand aus und fuhr mit den Fingern durch die Haare auf meiner Brust. Als Antwort darauf bildete ich mit meiner Hand einen dichten Rechen, den ich an seinem Nacken nach oben zog, bis er sich im Gewirr seiner salzverkrusteten Haare verfing. Langsam zog ich seinen Kopf nach hinten, bis ihm ungewollt ein Laut entfuhr, worauf ich ihn auf seine feste, sehnige Kehle küßte. Dann ließen wir uns in den Sand fallen und machten uns übereinander her. Ich fuhr mit der Zunge über seinen sonnengebräunten Leib, vergrub das Gesicht in seinen Schamhaaren und verschlang den Sack, der fest wie eine Birne war. »Baby, wir müssen aufhören«, stöhnte er schließlich unter einem langen, zärtlichen Kuß. »Um's deutlich zu sagen, wir dürfen das hier nicht.« Einen Augenblick später sah ich ihn einen Kopfsprung machen und in einem donnernden Brecher verschwinden. Natürlich zögerte ich, aber ich mußte ihm folgen. Sobald ich durch die eiskalte Wand der ersten Welle gebrochen war, wurde ich nüchtern. Als ich über den Wellenbrecher hinausschwamm, erschien der Ozean so formlos tief und weit, eine noch größere Masse als schon bei Tageslicht. Wellen rollten über mich hinweg wie Schatten. Und es gab während dieses ersten wagemutigen Schwimmens Momente, in denen ich die Orientierung verlor und nicht mehr wußte, wo ich mich im Verhältnis zum Strand oder zu den äußeren Inseln dreißig Meilen jenseits des - 69 -
Kanals befand. Er aber war wachsam, schwamm nie zu weit voraus. In dieser ersten Nacht war mir bei jedem Stoß, der mich weiter vom Strand fortbrachte, als überwände ich den eigenen Lebenserhaltungstrieb. Obgleich wir in den folgenden Wochen noch viel weiter hinausschwammen, manchmal mit Surfbrettern, manchmal zu zweit auf einem Floß, wußte ich, daß uns eine verhängnisvolle Fehleinschätzung unterlaufen könnte, infolge deren wir nach unten gespült, zum Ausgangspunkt unserer Existenz in dieser Welt zurückgerissen werden würden. Die ganze ungewisse Zukunft konnte durch ein einziges launisches Augenzwinkern entschieden werden. Der erste Genuß des Körpers eines anderen Mannes ist zugleich beglückend und verstörend. Ich sehne mich danach, von allem ausgefüllt zu werden, jedem Nippel und Bizeps und jedem Zentimeter seines Schwanzes, aber ich möchte es genießen, und dazu braucht es mehr als nur eine Gelegenheit. Wenn ich einen Mann eine Weile kenne, wenn mir die Teile seines Körpers vertraut werden, wie sein Duft, den ich in meinen Kleidern, auf meinen Unterarmen mit mir herumtrage, wenn er aufhört, nur ein Name zu sein, und zu einem vertrauten Menschen wird, dann erst fängt der richtige Sex an. Bis dahin hat er mir private Dinge erzählt, und ich kenne ein Stück seiner Geschichte; und wenn ich den Arm ausstrecke, um ihn, in einem Bett, in dem wir Nacht für Nacht zusammen geschlafen haben, zu berühren, kann nichts Zufälliges, gleichgültig wie elektrisierend es auch sein mag, der Kraft dieser Berührung gleichkommen. Denn diese Berührung ist nun mit dem Wissen verknüpft, daß ich alles verlieren könnte, und wenn ich mit ihm schlafe, ist mir bei jeder Bewegung mehr bewußt, was ich zu verlieren in Gefahr bin. - 70 -
6. Das Telefon läutete. Schweißgebadet strampelte ich die Decke weg und griff nach dem Hörer. »Hallo«, sagte ich, »hallo«, während ich im Hintergrund Geräusche hörte, die nach einer Kneipe klangen. »Ist er da?« fragte endlich jemand. »Ist wer da?« »Du weißt, wer.« Die Person klang eher traurig denn bedrohlich. »Wen haben Sie anzurufen versucht?« fragte ich, worauf der Unbekannte den Hörer auf die Gabel knallte. Danach konnte ich nicht wieder einschlafen. Natürlich bekomme ich die üblichen Anrufe von Spinnern und von Leuten, die sich verwählt haben. Das passiert zwangsläufig häufiger in Städten, wo innerhalb eines Fernamtes die Dichte von Nummern, die sich nur geringfügig unterscheiden, höher ist und wo man eher tatsächlich einen Anschluß erreicht, wenn man falsch oder auf gut Glück wählt. Dennoch hatte ich das Gefühl, daß derjenige, der mich angerufen hatte, mich irgendwie kannte. Ich versuchte, aufzustehen und mit der Arbeit an einem Reisebericht anzufangen, den ich für die Los Angeles Times schrieb, aber ich war zu müde und zu aufgeregt, um mich darauf konzentrieren zu können. Schließlich machte ich mich zum Swimmingpool der New York University auf. Ich schwamm glatte zweitausendfünfhundert Meter, wobei ich, gierig auf einen Endorphinstoß, in die letzten fünfhundert alle Kraft legte. Ich trocknete mich gerade in der Umkleidekabine ab, als ich zufällig hörte, wie zwei Typen sich über das Splash unterhielten, den neuesten Zuwachs zur Barszene, wo an bestimmten Wochentagen Gogo-Boys in Tangas auftraten, die vor den Gästen duschten. - 71 -
Das Splash war außerdem bekannt dafür, daß dort Videos von den zurückliegenden Wochenenden auf Fire Island vorgeführt wurden. »Gestern abend hab' ich mich bei der Morning Party gesehen«, meinte einer der beiden. Während ich ihnen zuhörte, wurde mir bewußt, daß das Leben in der westlichen Welt tatsächlich mit allen neuen Arten von Medien gesättigt war. Und daß die Leute immer weniger darauf achteten, welche Bilder sie auf Dauer festhalten wollten – inzwischen konnte man sich schon darauf verlassen, daß jede bescheuerte Wochenendorgie in den Fire Island Pines von irgend jemandem aufgenommen wurde. Ich versuchte, mir alleine nur den Raum vorzustellen, den diese Erinnerungsstücke in der ganzen Welt einnahmen, und mir fiel auf, daß der Prozentsatz dessen, was aufgenommen wurde von dem, was tatsächlich geschah, in alarmierendem Maß stetig anstieg. Da ich kein ausgesprochener Kneipengänger bin, war ich noch nie im Splash gewesen. Jetzt aber war ich neugierig, was es an Material über die Morning Party zu bieten hatte. Ich hinterließ auf Peter Roccas Anrufbeantworter eine Nachricht und schlug vor, daß wir uns später am Abend zu einem Drink treffen könnten. »Jesses, ein engeres T-Shirt hattest du wohl nicht«, sagte ich zu ihm, als er hereinspazierte und die Menge begutachtete. Er grinste mich nervös an, dann schaute er an seiner Brust, um die sich eine Haut aus grauer Baumwolle spannte, hinab auf die Spitzen seiner glänzenden Cowboystiefel. »Schnauze«, sagte er. »Wenn ich in so 'n Laden gehe, zieh' ich mich doch nicht an wie 'ne graue Maus.« »Du willst also vor meinen Augen auf Männerjagd gehen?« »Nicht mehr und nicht weniger als bestimmte andere - 72 -
Leute, die ich kenne.« »Jetzt mach aber 'n Punkt, Peter, das wollen wir doch mal klarstellen. Du hast schließlich gesagt: ›Keine festen Bindungen!‹« »Nur weil ich selbst noch nicht frei von Bindungen bin ... Herrje, was hast du eigentlich heute abend?« »Zuerst mal kann ich in letzter Zeit schlecht schlafen.« »Okay, wenn's nicht besser wird und du 'n Rezept brauchst, sag mir Bescheid.« Mir schwante, daß es praktisch sein könnte, mit einem Arzt befreundet zu sein. »Gibt es irgendwelche Drogen, die selektiv Erinnerungen löschen können?« »Ob du's glaubst oder nicht, das Beste sind immer noch Elektroschocks.« Elektroschocks, gab ich zu, gingen vielleicht ein klein wenig zu weit. «Besonders, wenn man seine Brötchen mit dem Gedächtnis verdient.« Peter legte mir den Ellbogen auf die Schulter. »Na, und warum hast du nicht schlafen können?« »Ich will dich etwas fragen. Was würdest du tun, wenn jetzt auf der Stelle ein Patient hier hereinkäme und dich in diesem Aufzug sehen würde?« »Höchst unwahrscheinlich, aber ich würde damit fertig.« Selbstbewußt verschränkte Peter die Arme über der Brust, zwinkerte mir zu und sagte: »Den einen oder anderen würde ich vielleicht sogar mitnehmen.« Ich prustete los. Es war ein Mittwochabend im Spätsommer, nur wenige Tage nach Vollmond, und das Splash platzte aus allen Nähten. Weiße T-Shirts, Sonnenbräune, die neueste Muskelfülle aus dem Sportstudio waren angesagt. Je freizügiger die Aufmachung, desto blasierter die Umgangsformen und, nicht selten, desto tiefer die Spuren der Unsicherheit. - 73 -
In den späten Siebzigern und frühen Achtzigern konnte man normalerweise in einer solchen Bar auf den ersten Blick erkennen, wer einen wollte und wen man haben konnte. Heutzutage jedoch, da Sex beim ersten Treffen nicht unbedingt bei jedem auf der Tagesordnung steht, ist man vorsichtiger, posiert mehr, alles hat einen Hauch von Taktik. Heutzutage geht es darum, zu gefallen, begehrt zu werden, nicht unbedingt darum, auch wirklich Sex zu haben. »Siehst du den aufgepumpten Kerl, den ohne Hemd?« fragte Peter. »Also, der hat ein paar Millionen an der Wall Street gemacht.« »Also, in solchen Fällen bin ich für eine Einkommensgrenze.« »Wieso? Laß dem Kerl doch seinen Spaß ... Als wenn du nicht auf Geld und Macht aus wärst.« »Peter, glaub mir, wenn ich hinter Geld her wäre, würde ich nicht das machen, was ich mache. Dann wär' ich im Wertpapiergeschäft oder Börsenmakler.« »Eine Menge Geld zu verdienen ist nur eine andere Form von Eitelkeit.« »Ist das der Grund, warum ihr Seelenklempner so viel davon habt?« sagte ich lachend. »Ich weiß nicht, wie's bei den andern ist, aber ich nehme, so viel ich kriege, damit ich meine Lover auf teure Urlaubsreisen mitnehmen kann.« »Das heißt, wenn ich ein bißchen länger drangeblieben wäre, hätte ich den Jackpot geknackt?« Peter zuckte die Achseln. »Wer weiß?« »Und wann genau hättest du mich mit dem Trip nach Istanbul überrascht?« »Ungefähr eine Woche später wahrscheinlich.« »Und was ist mit Sebastian?« - 74 -
»Och, der wäre mitgekommen – als Boy ... Sag mal, wieso stehen wir beide überhaupt hier rum?« Peters Tonfall wurde gereizt. »Zum Quatschen hätten wir nicht hierherkommen müssen.« »Wir sind hier, um uns das da anzuschauen«, sagte ich und deutete auf den Bildschirm uns gegenüber, auf dem gerade die Aufnahmen der Morning Party gezeigt wurden. »Das kenn' ich schon. Ich bin dagewesen, weißt du noch?« »Na schön, dann leistest du mir eben Gesellschaft«, sagte ich. Ich übernahm die erste Runde Bier, und wir drückten uns in eine Ecke und sahen uns das Video an. In der ganzen Bar standen Grüppchen von Männern, die gebannt den Streifen über den beliebtesten Knaller des Sommers, den massenhaft vollzogenen Kult unbehaarter Muskeln verfolgten. In voller Farbenpracht hüpften Männer auf einer riesigen Tanzfläche herum, die man mitten auf dem Strand von Fire Island aufgebaut hatte. Halsbänder, die anscheinend aus miteinander verbundenen Kugellagern bestanden, waren dieses Jahr der letzte Schrei. Mit Krügen eisgekühlten Biers in der Hand tanzten Heerscharen von Leibern wie aufgedreht unter dem Einfluß der großen Freundschaftsdroge Ecstasy. »Muß ja 'ne ziemliche Viecherei sein, ständig den ganzen Körper zu rasieren«, sagte Peter beim Anblick all der glatten Oberkörper. Ich stellte mir vor, wie Tausende von Typen in aller Herrgottsfrühe aufstanden, das Bad unter Dampf setzten und sich die Eier, das Arschloch, die Brust rasierten. Bataillone von Odalisken. Keine Kosten gescheut, um eine Illusion von Jugend zu schaffen. Aber, ganz offensichtlich, nur eine Illusion. Fasziniert von der Prozession unbehaar- 75 -
ter Kerle sagte ich: »Mann, da kommt man sich ja vor wie 'n Affe.« »Besser, du fängst erst gar nicht an, dich irgendwo zu rasieren«, warnte mich Peter. »Was soll's? Wir beide treiben's wahrscheinlich sowieso nicht mehr miteinander«, sagte ich unwillkürlich. Peter schaute mich verletzt an. »Warum hast du das gesagt?« fragte er und schaute mit zusammengebissenen Zähnen wieder auf den Videoschirm. »Weißt du, manchmal bist du ziemlich eklig zu mir.« »Stimmt. Tut mir leid, das hätte ich nicht sagen sollen. Schätze, ich bin nicht gut drauf heute abend.« »Und warum bist du so beschissen drauf?« Das würde ich nun ganz bestimmt nicht verraten. »Wahrscheinlich irgend so 'n chemisches Ungleichgewicht«, sagte ich. Wenn ich mich so in der Bar umschaute, fragte ich mich unwillkürlich, was wohl jemand aus einer anderen Kultur gesagt hätte, wenn er hier hereingekommen wäre: Warum sind hier nur Männer, und alle in weißen TShirts? Warum schauen sie alle auf Monitore? »Hast du dich schon selbst gesehen, Peter?« »Ich war die meiste Zeit schwimmen. Ob du's glaubst oder nicht, es war kaum jemand im Wasser. Fünftausend Typen, die am Strand auf und ab stolzieren, und vielleicht zwanzig von uns waren im Meer.« »Offenbar wollten sie ihre Frisur nicht ruinieren«, sagte ich und tätschelte nervös meinen sich lichtenden Skalp. »Muß schön sein, wenn man sich darum noch Sorgen machen muß.« Peter grinste und versetzte mir spielerisch einen Klaps. »Mach dir nichts draus, du brauchst nicht überall auf dem Kopf Haare. Du bist auch so ein echter Macker«, sagte er und gab mir einen Kuß. - 76 -
Einige der Kerle befummelten sich zaghaft beim Tanzen und schauten wachsam an ihren aufgeblähten Torsos hinunter, als wollten sie sich überzeugen, daß noch alles vorhanden war, daß alles funktionierte, als ob ihre Leiber von jemand anderem ausgeliehen wären und im Grunde nie ihnen selbst gehört hätten. »Will, was hast du hier zu suchen?« erinnere ich mich, mich gefragt zu haben, obgleich mir klar war, daß ich nach deinem Gesicht Ausschau hielt. Nach deinem Gesicht, wie es aussah nur ein paar Stunden, bevor du in mein Leben tratst. Daß ich Ausschau hielt nach den dunklen Locken, den Wolfsaugen. Bis ich mir einer Gruppe von Latinomackern bewußt wurde, die in unserer Nähe herumlungerten. Sie warfen flüchtige Blicke in unsere Richtung, zu kurz, um unbedingt Interesse zu signalisieren. »Was soll das heißen?« hörte ich einen von ihnen gehässig sagen. »Er hatte wirklich einen. Er war mit Sean Paris zusammen.« »Na, dann ist's kein Wunder«, murmelte ein anderer. Sie schauten zu uns herüber, auf Peters glatte Muskelberge, seine übertrieben aufgeblähten Supertitten. Da dein Name gefallen war, glotze ich zu der Gruppe hinüber, etwas, das man in einem Posierschuppen wie dem Splash nie tun sollte; glotzen wird augenblicklich als eine Art Selbsterniedrigung aufgefaßt. »Wieso machst du die an?« wollte Peter wissen, und ich sagte ihm, daß sie dich erwähnt hatten. »Sean Paris?« Peter blickte irritiert. »Sean scheint dich ja ganz außerordentlich zu interessieren. Hast du ihn seit dem bewußten Abend wiedergesehen?« Ich schüttelte den Kopf. »Im Ernst?« »Ich hab doch gesagt nein.« - 77 -
»Wie das?« »Hab' ihn nun mal nicht mehr getroffen, das ist alles.« »Dann ist er also dein nächstes Opfer?« Peter war jemand, der bereits andere Männer zu merkwürdigem Verhalten getrieben hatte, aber er wußte, daß ich ihm gegenüber so kühl war, weil ich bei dir Feuer gefangen hatte. An eine solche Rolle war er nicht gewöhnt. »Opfer«, wiederholte ich, »das ist ein komischer Ausdruck dafür.« »Gar nicht mal so sehr. Du kannst dich nämlich gar nicht völlig auf eine Erfahrung einlassen, du trittst immer einen Schritt zurück, um sie zu studieren. Aus dir wäre ein toller Arzt geworden«, rief er und schaute mich ernst an. »Ein viel besserer Seelenklempner, als ich es bin.« »Du stellst mich ja in ein komisches Licht.« »Aber es stimmt doch, oder?« Ich zögerte und sagte dann: »Ich glaube, das könnte der Grund sein, warum alle meine Beziehungen in letzter Zeit gescheitert sind.« »Und wie paßt Sean in das alles rein?« »Sei nicht eifersüchtig auf ihn«, versuchte ich Peter zu trösten. »Du bist ein guter Freund.« »O Mann, jetzt bin ich schon ein guter Freund für dich. Letzte Woche, als ich deinen Schwanz im Mund hatte, hat sich das noch ganz anders angehört.« »Ich will Sean Paris einfach nur kennenlernen, weiter nichts. Da ist etwas an ihm –« »Ich kann dir sagen, was da an ihm ist.« Peter kam jedoch nicht mehr dazu, es mir zu sagen. Raum und Zeit stürzten in sich zusammen, als ich zum Bildschirm aufschaute und dich in Großaufnahme Unterleib an Unterleib mit einem Schwarzen tanzen sah; auf euch beiden lag ein Glanz, beide wart ihr völlig anders als - 78 -
die um euch herum. Du hattest die Augen geschlossen, dein Gesicht war von Lust gezeichnet, und der andere Mann war so göttlich, wie keine Zeile aus meiner Feder es je sein wird. »Scheiße, da ist er ja, der beschissene kleine Herzensbrecher, die Sau!« plärrte einer der Latinojungs. »Die verdient 'ne Kanonenkugel in ihren kleinen Knackarsch.« Verwirrt schaute ich wieder zu der Gruppe hinüber. Warum waren sie so wütend? Aber dann wurde meine Aufmerksamkeit von einer fast übersinnlichen Strömung zum Eingang gezogen, und dort, völlig ahnungslos, daß dein Videodoppelgänger auf zwölf verschiedenen Monitoren in der ganzen Bar zu sehen war, standst du. Du trugst ein weites weißes T-Shirt und die abgeschnittene Militärhose, die mir am Abend zuvor aufgefallen war, als ich im Taxi saß und mir nicht sicher war, ob ich dich gesehen hatte. Also warst du doch die ganze Zeit über in der Stadt gewesen und hattest nur mich nicht angerufen! Mit äußerst angewiderter Miene erkundetest du die Tiefen des Splash, und als du mich bemerktest, erschien augenblicklich das blöde Grinsen. Ohne darüber nachzudenken, ob es besonders romantisch wirken würde, ging ich auf dich zu, und als ich bei dir ankam, zwicktest du mich spielerisch in die Schulter. »Hey, ich hab' dir gerade was auf den Anrufbeantworter gesprochen.« Und ich bemühte mich, wirklich ruhig und gelassen zu klingen, als ich antwortete: »Hey, ich bin nicht zu Hause.« »Was machst du hier?« Dich suchen hätte ich sagen sollen. »Ich häng' hier mit Peter rum. Du erinnerst dich doch an Peter Rocca«, witzelte ich, während wir zu ihm hinübergingen. - 79 -
»Hallo, Sean«, sagte Peter mit deutlichem Unbehagen. Deine Augen durchbohrten mich. »Sag mal, was ist denn los, Will? Deine Nummer steht nicht mehr im Telefonbuch. Ich habe versucht, dich zu erreichen.« »Wußtest du nicht, daß er inzwischen viel zu bedeutend ist, um im gewöhnlichen Telefonbuch zu stehen?« sagte Peter. »Jetzt mach' mal 'n Punkt«, erhob ich Einspruch. »Ich müßte in der neuesten Ausgabe stehen.« Allerdings, erklärte ich, hatte es da beim Druck des letzten Telefonbuchs einen Fehler gegeben; die Nummer war irrtümlich nur unter Gregs Namen eingetragen worden. »Ich habe angerufen, um es ändern zu lassen.« »Na, die haben's aber nicht geändert«, sagtest du. »Am Ende mußte ich in die Bibliothek gehen und sie aus einem alten Telefonbuch raussuchen.« »Was für eine Vorstellung, daß ausgerechnet du nicht drin stehst«, murmelte Peter. »Ist schon komisch. Wenn man bedenkt, daß du ohne Telefon eingehen und krepieren würdest.« »Mußt du unbedingt alle meine Schwächen rumposaunen?« Peter schaute verärgert drein. »Man braucht keine Leuchte der Wissenschaft zu sein, um dich zu durchschauen. Egal, ich glaube, ich mach' mich jetzt auf. Das wird mir hier ein bißchen zu gemütlich. Und« – er deutete quer durch die überfüllte Bar – »dort drüben habe ich jemanden gesehen, den ich gern kennenlernen würde. Man sieht sich später.« Er ging in Richtung des Muskelmeers, das sich für einen Moment teilte und ihn in die Tiefen seiner Steroide aufnahm. »Was hat der denn auf einmal?« sagtest du. »Er hat mitgekriegt, wie wir kürzlich zusammen von ihm - 80 -
weggegangen sind. Er ist 'n bißchen schräg drauf.« »Hat er niemanden?« »Du meinst, ob der Seelenklempner in Therapie ist?« »Nein, ich meine, hat er keinen Freund?« »Als ob das etwas heißen würde.« Es hörte sich etwas zynischer an als beabsichtigt. »Na ja, es gibt alle möglichen Arten von Beziehungen«, sagtest du und zwinkertest mir zu. »Und wie geht's dir?« Damit legtest du mir die Hand auf die Schulter. Ich hätte dir gerne gesagt, wie schwer mir die letzten Tage geworden waren, kam mir aber idiotisch vor, meine Misere schon wieder mit dir durchzukauen. »Herrgott, ich wünschte, ich hätte gewußt, daß meine Telefonnummer nicht drin steht«, sagte ich. »Ich hab' selbst x-mal versucht, dich anzurufen.« »Komm, mach' dir nichts draus. Mir ist das Telefon scheißegal, wie du wahrscheinlich gemerkt hast.« Das ernüchterte mich. Wußtest du, wie oft ich versucht hatte, dich zu erreichen, hattest du dich in deiner Wohnung verkrochen, das Läuten gehört und dich nicht gemeldet, dich über meine Hartnäckigkeit lustig gemacht? Um das Thema zu wechseln, deutete ich auf die wimmelnden Körper auf dem Videoschirm. »Hey, ich hab' dich gerade gesehen.« »Wohl auf der Hitparade, was?« »Du hast mit einem wahnsinnig schönen Schwarzen getanzt.« »Ach was?« sagtest du reserviert. »Ich hab' ihn mit Gott verwechselt.« Du lachtest, und die Hand auf meiner Schulter glitt weiter, bis dein Unterarm auf meinem Nacken lag. »Laß uns gehen, Will.« Eine perfekte Nacht zum Spazierengehen, trocken, mit - 81 -
einer Brise vom Fluß, die uns entgegenwehte, während wir die Seventh Avenue entlanggingen. Wir bewegten uns in einem solchen Einklang, daß es schien, als wären wir es gewohnt, zu zweien zu gehen. Der Frieden, den ich plötzlich empfand, entschädigte mich für die Sorgen, die ich mir in den letzten Tagen gemacht hatte. Warum hatte ich mich nur so gequält? »Bist weggewesen, stimmt's?« sagte ich schließlich. Ein Nicken. »Du hast dich überhaupt nicht darum geschert, den Anrufbeantworter wieder einzuschalten.« »Ich weiß.« »Kriegst du nicht gern Nachrichten?« »Die Leute haben meine Nummer auf der Arbeit; sie können mir jederzeit dort etwas hinterlassen.« »Und wo warst du?« »Unten in Pennsylvania ... Ein Freund von mir ist gestorben. Die Beerdigung war in seiner Heimatstadt.« »Jung?« sagte ich – ein taktvoller Ausdruck für »Aids?« Du nicktest. »So ein Jammer.« Auf dein Zeichen hin bogen wir in die Twelfth Street ab und wanderten nach Westen, in Richtung Hudson. Und plötzlich hatte ich ein ganz seltsames Gefühl im Ohr, die Luft flirrte, als etwas vorüberzischte. Ein dumpfes Geräusch hallte von der Kühlerhaube eines geparkten Autos wider. Jemand hatte einen Stein geworfen. Wir blieben beide wie angewurzelt stehen und erblickten im Schatten die Umrisse von Gestalten, die vor einem Lagerhaus unter einer Straßenlaterne standen. Eine von ihnen packte etwas, das wie ein Rohr aussah, und schlug auf eine Windschutzscheibe ein, bis sich ein Regen grüner Splitter wie zerstoßenes Eis über die Straße ergoß. »Hey, - 82 -
Sean ... Eisprinzessin!« sagte jemand. Schallendes Gelächter ertönte, als sie in einer Gasse verschwanden. Verstört schütteltest du den Kopf und schautest mich erschreckt an. »Was soll das Ganze?« fragte ich. »Woher soll ich das wissen? Die sind doch ganz klar besoffen.« »Hör auf mit dem Scheiß. Warum haben sie dich so genannt?« Du runzeltest die Stirn und sagtest grimmig: »Ich weiß nicht mehr als du.« Nach kurzem Zögern sagtest du schließlich: »Aber ich glaube, ich habe einen oder zwei von ihnen von der Beerdigung wiedererkannt. Die scheinen sich alle untereinander zu kennen.« »Und was hat das alles mit dir zu tun?« »Du willst ja ganz schön viel wissen.« »Na komm schon, was geht hier ab? Was ist das für 'ne Geschichte?« Du seufztest. »Ich war mit dem Kerl, der gestorben ist, eine Weile zusammen.« »Wie lange ist das her?« »Wir haben uns vor etwa einem Jahr kennengelernt. Es dauerte ein paar Monate, bis sich etwas entwickelte. Das letzte Mal habe ich ihn im Februar gesehen.« Ich konnte mir nicht verkneifen zu fragen: »Machst du dir überhaupt keine Sorgen um dich, um deine Gesundheit, meine ich?« Du schütteltest langsam den Kopf, während du aus der Spitze deines Tennisschuhs einen einzelnen Glassplitter herauszogst, der durch die Wucht wie ein Saatkorn bis zu uns geschleudert worden war. Du versuchtest, ihn noch weiter zu zerkleinern, aber er wollte nicht zerbrechen. »Ich hab' mich kürzlich noch mal testen lassen ... Ich war nega- 83 -
tiv.« Ich wartete darauf, daß du mich nach meinem Ergebnis fragen würdest, und als du es endlich tatst, stammelte ich: »Ich hab' mich nie testen lassen.« »Wieso nicht?« Wie die Ansage auf einem Anrufbeantworter spulte ich ab, daß es keine erprobte und wirksame frühe Behandlung gab, daß ich mich seit Jahren beim Sex so verhielt, als könnte ich oder mein Partner HIV-positiv sein. Daß es einfach zu viele Ansichten gab, was Safer Sex sei, zu viele verschiedene Möglichkeiten, sich zu infizieren. Was bedeutete, daß man als Single in der Tretmühle steckte, sich alle sechs Monate testen lassen zu müssen. HIVpositiv oder -negativ waren Etiketten, die mich an die Juden erinnerten, die man während des Zweiten Weltkriegs gezwungen hatte, einen gelben Stern zu tragen. Egal, was man auch sagte, HIV-positiv hieß immer noch Diskriminierung – sowohl außerhalb wie innerhalb der schwulen Gemeinde. Denn es war nun einmal eine traurige Tatsache, daß es vielen HIV-Negativen schwerfiel, mit einem ansonsten gesunden HIV-positiven Mann zu schlafen. Dadurch fühlten sich die ansonsten gesunden HIV-Positiven wie Ausgestoßene. Und schließlich erklärte ich, daß der Umstand, daß ich meinen HIV-Status nicht kannte, mich kompromißloser leben ließ, mir immer wieder bewußt machte, daß ich nicht unbedingt damit rechnen konnte, länger als die nächsten paar Jahre auf der Welt zu sein, und daß ich mich dadurch mit beiden Lagern identifizieren konnte. Du blicktest geradeaus, in Richtung West Side Highway, und ich glaubte schon fast, du hättest den Faden verloren. Aber dann sagtest du: »Klingt mir ganz schön nach Ausreden, Will. Klingt, als ob du einfach Angst hättest, es zu kriegen - 84 -
... das Ergebnis zu kriegen.« Dem war schwer zu widersprechen, denn ich wußte, daß an dem, was du gesagt hattest, etwas Wahres war. Wir gingen weiter und sagten nichts mehr, bis ich mich daran erinnerte, worüber wir gestritten hatten, bevor wir auf das Thema HIV gekommen waren. Als ich bemerkte, ich verstünde immer noch nicht, wieso dir jemand den Tod eines Mannes vorwerfen konnte, zucktest du die Achseln und sagtest, du könntest dir keinen anderen Grund denken als den, daß du der letzte gewesen warst, mit dem er zusammen war. Und daß es nicht funktioniert hatte, was ihm noch lange Zeit danach echt zu schaffen gemacht hatte. »War er schon krank, als ihr zusammen wart?« »Nicht die Spur.« Ich dachte daran, wie schrecklich es sein muß, wenn ein Lover, den man nicht richtig liebt, krank wird. Dann ist man, moralisch, verpflichtet, für ihn zu sorgen, ohne sich jedoch wirklich um ihn zu sorgen – ein ganz furchtbares Paradox. Du starrtest mich nun mit der angewiderten Miene an, die ich im Splash gesehen hatte. »Es ging schlimm zu Ende mit uns beiden. Also, ich war ja nur vier Monate mit ihm zusammen. Aber ich war die ganze Zeit aufrichtig zu ihm gewesen, aufrichtig von Anfang an.« Der Typ hatte einfach nicht glauben können, daß du dich nicht irgendwann in ihn verlieben würdest. Und dennoch spürte ich, daß du etwas verheimlichtest, was diesen Mann betraf. Mir war, als versuchte ich, mich an den dunklen Rändern deiner Geschichte entlangzutasten. Dann aber sagtest du mir den wahren Grund, warum du den Anrufbeantworter ausgeschaltet hattest und nicht ans Telefon gegangen warst. Der Ex-Lover dieses - 85 -
Mannes, jemand, mit dem er zusammengewesen war, bevor er dich kennenlernte, hatte dich angerufen und dir Vorwürfe gemacht. Wir waren am West Side Highway angekommen; der Hudson erschien als dunkle Leere, wie mit Perlen bestäubt von der Scheinwerfern der Circle-Line-Schiffe. Von irgendwoher glaubte ich Musik zu hören. Ich erinnerte mich an den Anruf in der ersten Nacht, als ich dich kennengelernt hatte und sagte: »Der Typ, der gestorben ist, hieß Bobby, stimmt's?« »Er hieß Bobby Garzino.« »Und womit genau nervt dich Bobby Garzinos ExLover?« »Na ja, vor allem will er Sachen zurückhaben. Sachen, die ich von Bobby bekommen habe. Der Typ denkt, alles stehe ihm zu, weil er Bobby wirklich geliebt hat und ich nicht. Und ich habe mich geweigert, weil Bobby sie mir geschenkt hat. Natürlich gehe ich davon aus, daß das, was Bobby mir gegeben hat, mir gehört.« Früher am Tag hatte Bobbys Ex dich erreicht, und als du seine Forderungen nicht erfüllen wolltest, hatte er dir gesagt, daß er Leute kenne, die Lust hätten, dein Gesicht für immer zu verunstalten. Einen Augenblick lang lähmte mich diese entsetzliche Vorstellung, dann knurrte ich: »Nicht, wenn ich dabei bin.« »Komm schon, Will, das kann er nicht ernst gemeint haben. Er hat nur versucht, mir Angst einzujagen. Und als Beschützer brauche ich dich ganz bestimmt nicht. Damit komme ich alleine klar.« »Moment mal, Sean. Nur einen Moment!« Ich blieb stehen, um zu unterstreichen, was ich sagen wollte. »Wenn uns jetzt jemand angreifen würde, sollte ich dann - 86 -
einfach zusehen? Sollte ich zulassen, daß sie dich verletzen?« Du lachtest spöttisch und blicktest zum Hudson. Wir blieben stehen und versuchten, unsere Verstimmung zu unterdrücken; wegen des Winds schlugen wir die Arme um uns. Der Augenblick verstrich, und als wir dann weitergingen, wandtest du dich mit glänzenden Augen mir zu. »Was würdest du tun, wenn ich eines Tages zu dir käme, und mein Gesicht wäre völlig entstellt? Würdest du mich dann sitzenlassen?« »Ich wußte nicht mal, daß ich dich überhaupt hätte, um dich verlassen zu können.« »Komm schon, du weißt, was ich sagen will. Nehmen wir an, du hättest mich ... zu verlassen.« »Wie wär's damit, Sean? Ich würde mich blenden, damit ich nicht sehen müßte, was man dir angetan hat.« Du warfst den Kopf zurück und brülltest vor Lachen. »Gott, wie großartig. Ganz neunzehntes Jahrhundert.« »Sag nichts gegen das neunzehnte Jahrhundert. Ein paar tolle Romane stammen aus dem neunzehnten Jahrhundert.« »Genau, und ein paar schlechte Opern«, sagtest du.
7. Das Durcheinander in deiner Wohnung war noch größer als ein paar Tage davor. Der Berg aus Wäsche und Zeitschriften mitten auf dem Fußboden war weiter angewachsen, und auf dem Eßtisch türmte sich eine erschreckende Ansammlung von schmutzigem Geschirr. Mittendrin jedoch saßt du in einem frischen weißen T-Shirt und in - 87 -
den Uniformshorts mit der rasiermesserscharfen Bügelfalte. Mir fiel auf, daß überall Schnittblumen standen: weiße Rosen bedeckten den Kaminsims wie Lilien, die in einer Glasschale schwimmen; über den Rand einer niedrigen bauchigen Vase hingen die Köpfe violetter Stiefmütterchen, deren dünne Stengel auf der Wasseroberfläche schaukelten. Alle Blumen sahen aus, als kämen sie aus dem Garten und nicht aus einem Blumenladen, was sich bestätigte, als ich später von dir erfuhr, daß du an den Wochenenden einen Garten in der Charles Street pflegtest, der zu einem Brownstonehaus, einem um die Jahrhundertwende üblichen Einfamilien-Reihenhaus aus Sandstein, gehörte. Du zogst dich in die kleine Ankleideecke zurück, wo ein Zeichentisch stand und eine Pinnwand mit Fotos von dir mit Freunden hing, außerdem eine einreihige Perlenkette, die dir einst eine Fummeltrine um den Hals geworfen hatte; eine Kette, an der eine Sammlung von regenbogenfarbenen Freedom Rings baumelte; eine blaue Unterhose, die an eine besonders denkwürdige sexuelle Begegnung erinnerte. Du zogst eine Reißzwecke aus einem Foto und brachtest es mir. »Das ist Bobby Garzino.« Ich wich zurück, halb in der Erwartung, ein ausgezehrtes Gesicht zu sehen, das ätherische Antlitz von jemandem, der die Welt zu früh verlassen hat. Tatsächlich war es das Foto eines gesunden Mannes, zweifellos aufgenommen, bevor du ihn kennengelernt hattest. Ich sah einen etwas dümmlich dreinblickenden hübschen Mann vor mir, das Kinn reizvoll von verstreuten Aknenarben entstellt, die Ohren etwas zu groß geraten und mit dunklen Augen, die ihm einen seelenvollen, wilden Blick verliehen. Es war nicht schwer, den Widerschein früherer Verletzungen darin auszumachen. - 88 -
»Er war begabt«, erklärtest du. »Er war Weber.« Ich runzelte die Augenbrauen. »Du weißt schon, gewebte Taschen und Seidenstoffe und so. Die ganzen Websachen hat er gemacht.« Du führtest mich zu einem Schrank, an dem ein kleiner rechteckiger Wandbehang aus Fäden unterschiedlicher Dicke hing, die zu einer Art HopiMuster verwoben waren. »Die Tasche im ägyptischen Stil da am Kamin und die da aus Sechzehn-Millimeter-Film, die sind von ihm. Ich habe auch Schals aus Rohseide. Ein paar Pullover aus Lammwolle. Jedenfalls hatte Bobby seinen eigenen Webladen mit Einzelstücken. Er nannte ihn The Loom's Desire. Jetzt fiel es mir schwer, das Foto anzuschauen, das ich noch immer in der Hand hielt. Fast so, als würde ich eine Aufnahme von mir sehen, nachdem du mir gesagt hattest, daß ich nie dein Freund sein könnte. »Er hat – hatte – zwei Webstühle in seiner Wohnung. Sie nahmen den größten Teil des Wohnzimmers ein. Er konnte Stunden damit zubringen, die wunderbarsten Dinge zu weben.« Du zogst die Augenbrauen hoch und zucktest dann mit den Achseln. »Vielleicht will sein Ex-Freund deshalb alles zurück. Egal, ich hing bei ihm rum, während er arbeitete, und machte selbst ein paar Zeichnungen. Er kam dann in eine Art Trance. Beinahe, als würde er auf einer stummen Harfe spielen.« Du hattest Bobby Garzino zum letzten Mal gesehen, als er irgendwann im Februar spät in der Nacht mitten in einem schweren Schneesturm unangemeldet in deiner Wohnung aufgekreuzt war. Du hattest seit über zwei Monaten nichts mehr von ihm gehört, allerdings hatte dich irgend jemand zu Hause und auf der Arbeit angerufen und immer, wenn er deine Stimme hörte, sofort aufgelegt. Du zögertest einen Augenblick. »Er hat sich vollkommen - 89 -
verrückt verhalten, Will. Er setzte sich mitten auf den Fußboden, hier in den Haufen, damals war es allerdings ein anderer Haufen, und sagte mir... er hat gesagt, daß diese Wohnung der schönste Ort sei, an dem er in seinem ganzen Leben gewesen sei. Er sagte, sie sei für ihn so etwas Ähnliches wie ein Heiligtum.« Ich weiß genau, was er meinte, dachte ich, während ich die Flügel der Schmetterlinge betrachtete, exotisch geäderte tiefe Pastelltöne, die auf keiner Palette nachzuahmen waren und die ich nur von tropischen Fischen kannte. Und auf der anderen Seite des Zimmers die schimmernden Köpfe der Holzenten. Du sprachst weiter. »Er erzählte mir, daß er, seitdem wir Schluß gemacht hatten, nicht mehr in der Lage sei, am Webstuhl zu arbeiten. Daß er einfach davorsitzen und ihn anstarren würde. Und daß er glaube, der einzige Ort, wo er noch weben könne, sei hier.« »Heißt das, er wollte seinen Webstuhl hierher bringen?« »Als ich ihm sagte, das gehe wirklich nicht, brach er zusammen und lag einfach mitten in meinen Klamotten. Er sagte mir immer wieder, ich hätte ihm etwas angetan, das ihn blockiere wie ... ›wie eine Nadel ein Ventil‹, wie er sich ausdrückte.« »Aber dann hast du mit ihm geschlafen?« »Ja.« »Aber warum, wenn du wußtest, daß es ihm dann nur noch schlechter gehen würde? Daß es ihm nur falsche Hoffnungen machen würde?« Du schautest verstört aus, dann machtest du eine Faust und schlugst dir damit an die Brust. »Vielleicht hab' ich das damals nicht erkannt, okay? Vielleicht dachte ich, daß er endlich von mir loskommen würde.« Du hieltst inne und warfst mir schwer atmend einen finsteren Blick zu. - 90 -
»Als er an dem Abend zu mir kam, bewunderte ich ihn wirklich für seine Offenheit, und ich dachte, vielleicht ... Ich weiß nicht!« schriest du. »Ich hab' keine Ahnung, verdammt noch mal.« Und dann fiel ich über dich her. Konnte es nicht länger erwarten. Ich mußte einfach diese weichen Lippen küssen. Und als du dich wehrtest, erinnerte ich mich an Kalifornien, an Nachmittage in meiner Wohnung, die er und ich mit Streitereien verbrachten, bescheuerten Streitereien im nachhinein, die daraus entstanden, daß einer von uns Lust auf Sex hatte und der andere nicht. Wenn die Chemie zwischen zwei Kerlen so stimmt, wie sie mit ihm stimmte, kann das verbinden wie nichts sonst. Und doch glaube ich inzwischen, daß in den meisten Fällen eine tolle Chemie mit einer ebenso großen Abneigung bezahlt wird, die erst entdeckt, und wenn sie entdeckt ist, überwunden werden muß, und daß sie sich dann, auf wunderbare Weise, in Anziehung verwandelt. Ich erinnere mich, daß wir uns immer stritten, bis wir an einem toten Punkt anlangten und er plötzlich schweigend aus meinem Fenster auf die pastellfarbenen Gebäude am Ufer und die Palmen entlang des Cabrillo Boulevard starrte. Aber wenn ich dann seinen Schweiß roch, gemischt mit Chlor und Eukalyptus, war mir, als müßte ich zerspringen, wenn nicht einer von uns beiden die Schranke durchbrechen und den andern zum Sex verführen würde. Bei dir jedoch war es etwas anderes, da du von Anfang an klargestellt hattest, was uns beide quälte. Und es gab weniger ein Geheimnis, das erforscht, als vielmehr eine Geschichte, die enthüllt werden mußte. Sanft löstest du dich aus meiner Umarmung. »Ich weiß nicht, ob ich das jetzt kann, Will. Ich bin aufgewühlt. Verstehst du?« - 91 -
»Nur zu gut.« »Weißt du, als ich den Kerl kennenlernte, war er völlig mit sich alleine zufrieden. Er war fröhlich, er liebte seine Arbeit. Und seine Sachen waren wunderschön. Er hatte tonnenweise Aufträge: Wandbehänge, Stoffentwürfe für Einzelstücke. Aber dann, nach ein paar Monaten mit mir, war er völlig am Ende.« »Manchmal glaube ich, daß ich mich oft gerade dann am einsamsten gefühlt habe, wenn ich eine Beziehung hatte«, sagte ich. »Du meinst, mit dem Kerl, von dem du mir nichts erzählst?« Ich zögerte. »Ich glaube ... mit ihm, ja.« »Der Kerl, von dem du mir nicht einmal den Namen nennen willst.« »Nur weil ich ihm nicht erlaube, einen zu haben ... Nicht mehr«, fügte ich nach einem Augenblick hinzu. »Ach komm, Will, wie melodramatisch. Als ob du zehn Jahre später immer noch so am Boden zerstört wärst, daß du nicht einmal seinen Namen aussprechen kannst.« Ich starrte dich zornig an, dann merkte ich, wie geschickt du das Thema gewechselt hattest. »Es fällt mir überhaupt nicht schwer, seinen Namen auszusprechen. Es ist ein ziemlich ungewöhnlicher Name«, sagte ich sachlich. Ich bemerkte, daß ich auf die gebogene Linie deiner Forellenangel schaute, auf ein blaßblaues Hemd, das, nachlässig über einen Bügel gehängt, am Griff einer Schranktür baumelte. »Aber wenn du ihn wirklich wissen willst, sag' ich ihn dir. Sein Name« – ich zögerte – »ist Chad.« Es folgte kurzes Schweigen, dann hörten wir ein flatterndes Geräusch, einen sanften Flügelschlag, als hätte ich, nur dadurch, daß ich ihn erwähnt hatte, eine Schar Tauben vom Dachfirst aufgescheucht. - 92 -
»Und warum ärgert es dich so, seinen Namen auszusprechen?« »Mir ärgert daran, daß ich immer noch wütend bin.« Du runzeltest die Augenbrauen, und ich fügte hinzu: »Ich spreche seinen Namen nicht aus, weil ich nicht weiß, ob er tot ist oder ob er mich verlassen hat. Ich spreche seinen Namen nicht aus, weil, wenn er mich verlassen hat, das meine einzige Möglichkeit ist... Ich weiß nicht, Sean, es war viel schlimmer, mit dem Gedanken zu leben, daß er vielleicht abhauen wollte.« »Aber was genau ist denn mit ihm passiert?« Ich schluckte und konnte zunächst nicht antworten, konnte die Worte nicht finden. Mußte warten, daß sie kamen, noch immer voller Angst, einzugestehen, warum es die ganze Zeit so schwer gewesen war. »Schau, wir wurden ... wir waren Nachtschwimmer«, fing ich schließlich an. »Aber eigentlich war es sein Ding. Er zwang mich dazu, im Meer zu schwimmen, wenn es dunkel war, weil er es liebte. Er war toll im Wasser, vollkommen furchtlos. Er war der einzige, den ich je kannte, der es schaffte, einen Kilometer Butterfly am Stück zu schwimmen.« Ich schilderte, wie wir zum letzten Mal schwimmen gegangen waren und wie urplötzlich dieser Lastkahn aufgetaucht und auf uns zugekommen war. Wie ich geglaubt hatte, wir würden beide umkehren und zurückschwimmen, wie am Ende jedoch nur ich es getan hatte. Du wartetest eine Weile, bevor du sagtest: »Und was willst du damit sagen? Daß er nie aus dem Wasser kam?« Ich erklärte, wie ich an den Zweihundert-Meter-Bojen auf ihn gewartet hatte, stundenlang, wie es mir schien, so daß ich am Ende eine schwere Unterkühlung davontrug. »Dann muß er also ertrunken sein ... wie Leander, als er über den Hellespont schwamm.« - 93 -
Ich seufzte. »Wir waren nahe genug am Ufer, daß... laß es mich so ausdrücken, normalerweise werden so große Gegenstände wie ein menschlicher Körper ziemlich schnell ans Ufer gespült.« »Normalerweise. Wenn ihn nicht vorher ein Hai erwischt hat.« Ein Schicksal, das ich mir hunderte Male ausgemalt hatte. »Dann würde immer noch ... es gibt fast immer irgendeinen Hinweis, der angespült wird: Knochen, Teile. Ich habe sehr oft mit der Küstenwache gesprochen. Aber sie haben nicht das Geringste gefunden.« »Aber da war doch dieses Schiff.« Ich stockte und fuhr dann mit Mühe fort. »Selbst wenn er in die Schiffsschraube gekommen wäre, hätte es irgendwelche Spuren gegeben. Eigentlich war es die Küstenwache, die mich auf den Gedanken brachte, er sei irgendwo hingeschwommen und einfach weggegangen. Ich glaube wirklich, sie sind letztlich zu diesem Schluß gekommen ... obwohl das nie amtlich wurde.« »Aber wieso? Warum, um alles in der Welt, hätte er so etwas tun sollen?« »Ich habe keine Ahnung. Ich kannte ihn erst seit acht Monaten.« »Und seine Eltern, was haben die gesagt?« »Daß es nicht seine Art sei, einfach zu verschwinden. Aber andererseits, was sollen Eltern auch schon sagen?« »Und du hast ihn wirklich geliebt, oder?« Ich senkte den Blick und nickte. »Und du glaubst wirklich nicht, daß er tot ist?« Da starrte ich dich an, bis ich das Gefühl hatte, mein Blick würde dich durchdringen. »Ich habe das sichere Gefühl, daß er nicht tot ist. Und das zu wissen, zu wissen, daß er wahrscheinlich gerade in diesem Augenblick am - 94 -
Leben ist, macht alles fast noch schlimmer.« »Das glaube ich nicht. Ich denke, es ist leichter für dich, zu glauben, daß er noch lebt.« Ich wurde wütend. »Ich wußte, daß du mich nicht verstehen würdest!« Erneut erklärte ich, daß es dann irgendwelche Spuren gegeben hätte und wie ich ähnliche Fälle nachgeforscht und erfahren hatte, daß es viele Leute gab, die genau das getan, sich ›verirrt‹ hatten und schließlich Jahre später wieder aufgespürt worden waren. »Wenn du hättest sehen können, wie er schwamm, würdest du verstehen, daß es unmöglich ist, daß er ertrunken sein könnte. Er ging bei jedem Wetter surfen und kam ohne die geringste Schramme wieder zurück. Er ging bei stürmischer See schwimmen, wenn keiner sonst auf die Idee gekommen wäre.« »Hört sich an, als sei er jemand gewesen, der sein Schicksal herausfordert. Aber manchmal verlieren solche Leute ihr Spiel.« »Er war einer, der immer davonkam. Wir wußten genau, daß der Kahn kam. Offensichtlich hat er flüchten wollen. Und ich werde nie erfahren, warum.« Du umarmtest mich, hieltst meinen Kopf an deine Schulter und streicheltest mir den Nacken. Und nach kurzem Schweigen sagtest du: »Du bist ein viel zu toller Mann, als daß dich jemand verlassen könnte, ohne es dir zumindest zu erklären.« Ich nahm das als Aufforderung und fuhr mit der Zunge über deinen Hals, küßte die Rundung deiner Schulter und setzte einen strategischen Biß, der ein Schaudern auslöste, erst dann kam eine Reaktion von dir. Du schautest mich traurig an, setztest dich auf und zogst dir in einer raschen, gleitenden Bewegung das T-Shirt aus. Makellose bleiche Haut und ausgebildete, aber nicht unnatürlich aufgeblähte - 95 -
Muskeln. Die Schwerkraft forderte bereits ihren ersten Tribut, aber es schien dich nicht zu kümmern. Von den Männern mit attraktivem Körper, die ich kannte, warst du einer der wenigen, die es nicht für nötig hielten, durch ihre Kleidung zu betonen, was sie zu bieten hatten. Wahrscheinlich, weil du ihn schon dein ganzes Leben lang hattest und das auf die gesündeste Weise für selbstverständlich hieltst. Wir standen auf, und nun streifte ich mein T-Shirt ab. Mit den Händen an meiner Hüfte beugtest du dich nach vorn und nahmst meine Brustwarze in den Mund, drücktest sanft mit den Zähnen zu und lecktest dann mit der Zunge darüber. Du hobst mich hoch und preßtest mich an dich, bis mein Rückgrat knackte, dann trugst du mich zu deinem Bett, warfst mich ab und warst mit einem Satz über mir. Ich denke oft an diese Nacht, in der ich dir von Chad erzählte; an dein volles Gewicht auf mir und wie ich aufs Bett gedrückt wurde, die Hände neben den Ohren festgenagelt, daran, wie ich dich nach oben stieß und wir diesen Käfig aus Armen bildeten, bevor ich dich zu einem Kuß wieder an mich zog. Ich denke daran, wie breit dein Rücken war, ebenso wie seiner, aber wieviel länger deine Beine waren und hart wie Stein. Und ich denke daran, wie lange es dauerte, bis du lockerer wurdest und mich küßtest, wie du zu fürchten schienst, daß meine Zunge zu einer Invasion ansetzten könnte, die damit enden würde, daß ich noch ein weiteres Stück von dir eroberte. Als du dich jedoch schließlich zu längeren, leidenschaftlichen Küssen überwinden konntest, war die Kraft, die in jedem einzelnen von ihnen lag, auf seltsame Weise ein Echo der Geschichte deiner Einsamkeit. In diesem Augenblick begann ich zu glauben, daß wir einander ebenbürtig - 96 -
sein könnten. In diesem Augenblick fühlte ich, wie sich in meinem Innersten, an einer Stelle, von der ich gefürchtet hatte, daß nie wieder jemand sie würde erreichen können, ein kleiner Funke entzündete. Dann hieltst du abrupt inne und wandtest den Kopf ab, und ich sah, daß aus deinen Augenwinkeln eine Träne hervorquoll. In einem Schluchzen bäumte sich dein Körper auf, und du zogst dich in dich selbst zurück. Ich wollte gerade fragen, ob etwas nicht stimmte, als das Telefon uns aufschreckte. Wir hörten, wie der Anrufbeantworter eine wilde Kakophonie aufnahm: ein Restaurant, das Scheppern von Geschirr, Lachsalven, Jazzfetzen. Niemand sprach. Plötzlich fiel mir ein, daß auch ich einen ähnlichen anonymen Anruf bekommen hatte. Ich fragte dich, ob es schon andere Anrufe wie diesen gegeben habe. Du trocknetest dir hastig die Augen und sagtest ja. »Bei mir nämlich auch. Heute früh.« »Wahrscheinlich nur ein Zufall. Dieser Ex-Lover weiß nicht, daß wir uns kennen.« Eine Weile lagen wir schweigend da. »Ich glaube, du erweckst ihn in mir zum Leben, irgendwie«, hörte ich mich sagen. Mit feuchter Wange wandtest du dich mir zu. »Was meinst du damit?« »Geradeheraus? Irgend etwas an deinen Augen.« Ich zögerte, dann fragte ich: »Erinnere ich dich eigentlich an... Bobby Garzino?« Du blicktest zur Decke und lächeltest dein bescheuertes Lächeln. »Nee. Du bist ganz anders als Bobby Garzino.« »In welcher Beziehung?« »Du hast viel mehr Selbstvertrauen. Bist offener. Er war ziemlich still. Vorsichtig. Unglaublich sensibel. In Wirk- 97 -
lichkeit war er, glaube ich, viel zu zerbrechlich, um lange auf dieser Welt zu leben.« Einen Augenblick lang ließ ich diesen Gedanken zu. »Fühlst du dich schuldig an seinem Tod?« »Es war seine Entscheidung, oder? Wieso, würdest du dich schuldig fühlen?« Plötzlich fiel mir ein, daß es Leute gibt, die sich lebendiger fühlen, wenn sie einem Sterbenden Hilfe leisten. Andere haben das Gefühl, ausgesaugt zu werden, wenn sie sich auch nur ansatzweise mit einem Kranken identifizieren. »Ich glaube, irgendwie schon«, bemerkte ich. »Ich meine, besonders, wenn ich der letzte gewesen wäre, mit dem er eine Beziehung hatte, bevor er krank wurde.« Ich hielt kurz inne, dann sagte ich: »Weiß ich alles, Sean?« »Was meinst du mit ›alles‹ ?« »Gibt es etwas, das du mir verschwiegen hast?« Ich konnte den Gedanken nicht abschütteln, daß du noch ein Geheimnis vor mir hattest. Plötzlich wurdest du ungeduldig. Als du antwortetest, war es mit einem scharfen Flüstern. Und aus irgendeinem Grund erkannte ich nicht, daß du auf meine Frage überhaupt keine Antwort gabst. »Schau, Will, ich sagte ihm, daß ich einmal sehr verletzt wurde. Daß ich nie darüber hinweggekommen bin.« Heute ist mir klar, daß deine Antwort nur eine Art Verteidigung war, ein Trick, wie ihn ein abgebrühter Verführer anwendet, wenn er von seiner Frau und seinen Kindern spricht, die er nie wird im Stich lassen können. »War es wirklich so schlimm?« fragte ich. »Du hast mir nie erzählt, was vor Bobby war.« »Ich mach' keine Romane aus meiner Vergangenheit. Und ich habe auch Bobby nicht viel erzählt, weil es einfach nicht nötig war. Ich habe Bobby Garzino nicht ge- 98 -
liebt. Und das wußte er.« Ich dachte einen Augenblick darüber nach. »Aber mir wirst du erzählen, was passiert ist, ja?« Am liebsten hätte ich hinzugefügt: »Und mich liebst du auch nicht, oder?« Du schautest mich sonderbar an und sagtest, indem du deine Finger mit meinen verschränktest: »Ist dir denn nicht klar, warum? Weil ich glaube, daß wir uns gegenseitig helfen können.« »Aber du hast einmal gesagt, es würde einen schweren Kampf geben.« »Ich hab' dich inzwischen etwas besser kennengelernt. Ich habe meine Meinung geändert.« Unter deinem Fenster kam ein chaotisches Stimmengewirr von Nachtschwärmern vorüber, aus dem ein Mann herauszuhören war, der Wild Horses von den Rolling Stones sang. »Du bleibst also heute nacht bei mir?« fragtest du. »Möchtest du's?« »Sehr.« »Okay.« Und kaum hatten wir es uns im Bett bequem gemacht und dein Kopf ruhte in meiner Armbeuge, schliefst du ein, während ich dalag und mir all das, was du mir über dich und über den Weber erzählt hattest, durch den Kopf gehen ließ. Immer deutlicher glaubte ich, in Umrissen den Kummer zu erkennen, der auf deiner Seele lastete. Das Telefon läutete noch zweimal. Ich erwachte von deinen Küssen. Langen, forschenden Küssen. Und mit einemmal wußte ich, daß wir nichts planen konnten, es mußte von selbst geschehen, der verschlossene Teil in uns mußte überlistet werden. Es mußte früher Morgen sein, denn am Himmel dämmerte ein lichtes Blau, und alle Sterne verblaßten, außer zweien, die - 99 -
nach wie vor über den Dächern der gegenüberliegenden Gebäude funkelten. Dein Mund glitt langsam an meinem Körper hinab, saugte ihn ein. Ich sah zu, wie deine Locken herabfielen und über meine Brust strichen. Du legtest dir meine Beine über die Schultern und batest mich, fest zuzudrücken. Du lecktest an meinem Schaft entlang, so daß ich mich fragte, ob du mir einen blasen wolltest, und das tatest du dann auch, und nach ein paar Bewegungen war ich derart erregt, daß ich dich bitten mußte aufzuhören. Wir tauschten die Plätze. Ich schlang die Arme um deine stämmigen Beine und preßte die Innenseiten deiner Schenkel an meine Wangen. Manchmal gehen meine Gefühle beim Sex geradezu ungehörig in eine Art spirituelles Hochgefühl über. Ich erinnere mich dann an Dinge, eher unschuldige als erotische, etwa, ich sei wieder ein Kind, warm eingepackt inmitten eines grausam kalten Nachmittags unter einem makellos kobaltblauen Himmel, und alles sei von kristallklarer Eiseskälte. Und so sah ich uns plötzlich im tiefen Winter, Monate voraus, auf einem gefrorenen Teich eislaufen. Mit rotem Kopf und vor Eifer blitzenden Augen brachtest du mir Hockeytricks bei: losspurten, abbremsen. Als ich deinen Schwanz in den Mund nahm, war mir fast, als hörte ich das Geräusch der Kufen, die ihre Linien ins Eis ritzten und feinen gefrorenen Staub aufwirbelten, während wir über den erstarrten Teich flogen. Und die Bäume gegenüber waren mit Schnee bedeckt, und da war dieser stumme Jubel, den der Winter, meine liebste Jahreszeit, mit sich zu bringen pflegt. »Ich glaub, ich hab' die Wand getroffen«, sagtest du. Ich drehte mich um und sah einen milchigen Fleck herunterrinnen. »Hast du«, bestätigte ich. »Ich frage mich, - 100 -
wie das so weit fliegen kann.« »Aufgestaute Gefühle vermutlich.« Nachdem wir eine Weile schlaff, wie man es nach dem Sex immer ist, beieinandergelegen hatten, drehtest du dich plötzlich zu mir um. »Er hieß also Chad, hm?« Ich nickte und sagte, »Ja, er hieß Chad.« Die Zeit verging, und der dunkle Himmel wurde jetzt klar. Du machtest eine Bewegung, und ich erklärte, es sei alles okay. Daß ich nicht abspritzen müsse. Daß ich einfach nur daliegen und ins Licht sehen wolle.
8. Mit seiner »Johnson and Dix Petroleum Marketeers«Mütze auf dem Kopf stand Greg in einem Rudel umhertobender Hunde auf der Hundebahn und warf für Casey den Ball. Ich schaute zu, wie unser Hund sich zwischen den anderen durchschlängelte und jedes Tier anknurrte, das ihm seinen Ball abjagen wollte. Als Casey mich bemerkte, ließ er den Ball fallen, rannte mir entgegen und sprang freudig bellend am Zaun hoch. »Du kommst von Westen«, bemerkte Greg, während er zu mir kam. »Stimmt.« »Und du brennst darauf, mir mitzuteilen, daß du die Nacht mit jemand anderem verbracht hast.« Ich runzelte die Stirn. »Ach, laß das doch.« »Warum kommst du denn sonst vorbei, wenn du wußtest, daß ich mit Casey hier bin?« Beim Klang seines Namens setzte Casey sich hin, stellte die Ohren auf und neigte den Kopf zur Seite. »Ich liebe den Hund«, sagte ich. »Und ich bin schon immer gern - 101 -
durch den Park gelaufen.« »Du bist so voll damit, Will. Bis obenhin voll mit Scheiße.« »Laß uns nicht anfangen zu streiten.« Casey ließ den Ball vor Gregs Füße fallen. Greg nahm ihn auf und warf ihn mit aller Kraft. Als er zweimal aufprallte und über den Zaun flog, wandte er sich an mich. »Würde es dir was ausmachen, ihn zu holen? Du stehst schon draußen.« »Nur, wenn du mich in Ruhe läßt.« »Dann hol' ich ihn mir eben selbst«, sagte er und ging auf das Tor zu. »Was hast du denn heute?« rief ich, aber Greg gab keine Antwort. Casey folgte ihm und winselte, als Greg ihn daran hinderte, mit ihm durch das Tor zu gehen, dann stieß er ein Wimmern aus, das mich an die erste Nacht erinnerte, als er in der Küche wie ein Lamm geblökt hatte. »Ich komme wieder, okay? Nur eine Minute.« Greg klang ganz sanft und beruhigend. Ich versuchte, mir zu sagen: Kümmere dich nicht zu sehr um die beiden, das fesselt dich nur an die Vergangenheit. Ich wollte die alten Gefühle ausbrennen, um nur noch an dem neuen Gift zu leiden, das durch mein Blut floß. Es wäre der richtige Zeitpunkt gewesen zu gehen, aber zuvor mußte ich den Streit beenden, den Greg vom Zaun gebrochen hatte. Schließlich war ich Greg gegenüber im Vorteil, und darauf hatte ich lange gewartet. Meine plötzliche, beinahe verderbte Fühllosigkeit ihm gegenüber war Teil der Vergiftung, die darin bestand, daß ich gerade das Bett mit jemand anderem geteilt hatte. Mit jemandem, der mich völlig überrumpelt hatte, wie ein Computerprogramm, das eine Datei mit einer anderen überschreibt. Und wegen des - 102 -
letzten Sommers, als ich darauf hatte warten müssen, bis Greg nach seiner Affäre wieder zu Verstand gekommen war, verspürte ich die große Versuchung, ihn mit meiner jetzigen Verknalltheit zu nerven. Greg hatte die Veränderung natürlich sofort registriert. »Und, wer ist es überhaupt?« fragte er, während er auf die Hundebahn zurückkehrte und wieder anfing, Caseys Ball zu werfen. »Ich dachte, wir wollten über dieses Thema nicht sprechen.« Er schaute mich verschmitzt an. »Eigentlich nicht, aber wenn du mich fragst, ist es genau das gleiche, um diese Zeit von Westen zu kommen, wie das Thema anzuschneiden. Ich weiß genau, daß du darauf brennst, es mir zu erzählen, und ich will dir den Spaß nicht verderben. Also los.« »Es wäre sowieso nur ein Name.« »Vielleicht kenne ich ihn. Glaub mir, Will, ich werd' damit fertig.« Diese letzte Äußerung machte mich wütend. »Okay«, sagte ich. »Sein Name ist Sean Paris.« Greg schüttelte den Kopf und stieß ein häßliches Kichern aus. »Und ich soll ihn nicht kennen, hm? Ich soll Sean Paris nicht kennen?« Mich packte lähmende Furcht. »Erzähl mir bloß nicht, du hast... was mit ihm gehabt.« »Verdirbt dir wohl die Schau, was?« »Hast du?« »Das ist meine Sache.« »Komm schon, Greg, red keinen Scheiß!« schrie ich. Er starrte mich an. »Wieso läßt du dich überhaupt auf so einen ein?« »Sag mir einfach, ob du mit ihm geschlafen hast!« - 103 -
»Ist das alles, worauf's dir ankommt? Mr. Seelentiefe, der über alle anderen herzieht, weil sie nur oberflächliche Rumficker sind.« Gregs Gesicht war verzerrt, und auf seinen bleichen Wangen erschienen rote Flecken. Zu seinen Füßen saß Casey, den matschbesudelten Ball neben sich. In seinem didaktischsten Ton fragte Greg: »Weißt du zufällig, daß derselbe Typ, der mit Sean Paris zusammen war, sich alle gemacht hat? Hast du davon gehört?« Die Neuigkeit prallte an mir ab. »Nein. Und ich bin sicher, das ist nur Tratsch. Wie hast du's erfahren?« »Wie ich's erfahren habe? Dadurch, daß 'ne ganze Menge Leute davon reden.« »Das sind entweder olle Kamellen oder dreckige Lügen.« »Denk doch mal nach, Will.« »Wovon redest du überhaupt?« Ich war streitlustig. »Wann?« »Grade neulich!« In Gregs Gesicht spiegelte sich eine jähe Erkenntnis. »Letzten Sonntag, genau gesagt. Weißt du noch, daß du mir erzählt hast, so 'n Typ hätte sich vor den Zug geworfen?« Das konnte nicht derselbe Typ sein. Ich fühlte mich benommen und merkwürdig zielbewußt, als ich mich erinnerte, wieviel Zeit ich damit zugebracht hatte, mir vorzustellen, wer der Selbstmörder gewesen war. Wenn man bedachte, daß er dich tatsächlich gekannt hatte. »Davon hat Sean nichts gesagt«, murmelte ich. »Sean hatte ihn schon abserviert. Schon vor einer ganzen Weile. Sean hat überhaupt schon 'ne Menge Leute abserviert.« »Du scheinst ja einiges über Sean zu wissen für jemanden, der ihn nie kennengelernt hat. Mir scheint, du bist ein - 104 -
bißchen eifersüchtig.« »Na und? Und wenn ich eifersüchtig bin? Ich werde wahrscheinlich immer auf jeden eifersüchtig sein, mit dem du absteigst. Aber das ändert nichts daran, daß der Kerl nichts Gutes bedeutet. Und er hat es dir verheimlicht.« Ich zwang mich zu sagen, »Vielleicht hatte er noch nichts davon gehört. Wenn er es gewußt hätte, hätte er etwas gesagt.« »Freut mich, daß du glaubst, ihn gut genug zu kennen, um das behaupten zu können.« »Okay, ich nehme an, er würde es mir sagen.« Nach einem kurzen Zögern sagte Greg sanft: »Will, du weißt, daß du schon immer 'nen Hang zu Schwierigkeiten hattest.« »Dann gibst du also zu, daß du schwierig warst.« Greg schüttelte heftig den Kopf. »Erst als ich unglücklich wurde. Erst als ich erkannte, daß du mich opferst: mich – uns – für deine Arbeit.« Sein Blick verschattete sich. »Ich habe dich geliebt, wie ich nur jemanden lieben kann. Und ich liebe dich immer noch, okay? Aber jetzt muß ich dieses Gespräch abbrechen.« Er ging schnell weg, auf Casey am anderen Ende der Hundebahn zu. Während ich ihn gehen sah, stellte ich fest, daß Casey den Kopf hängen ließ und würgte. Casey war ziemlich groß und schlank, und jedesmal, wenn er sich erbrach, dehnte sich sein Brustkasten aus und straffte sein glänzendes schwarzes Fell. Ich nahm an, der Brechreiz werde vorübergehen. Als er andauerte, rannte ich am Zaun entlang und ging durch das Tor. Gerade als ich bei dem Hund ankam, brach er zusammen und lag keuchend da, während seine langen dünnen Beine krampfhaft zuckten. Ich kam als erster bei ihm an. Ich beugte mich über ihn und hörte, wie Greg herbeigerannt kam. - 105 -
»Was fehlt ihm, verdammt noch mal?« schrie ich. »Um Gottes Willen, wir bringen ihn sofort zum Tierarzt!« Casey lag auf der Seite, und als er wieder würgte, trat gelber Schaum aus dem Maul. »Ich heb' ihn jetzt hoch«, kündigte Greg an. Kaum hatte er es ausgesprochen, gelang es Casey hochzukommen. Mit krummen, zitternden Beinen stand er da. »Mal sehen, ob er laufen kann«, meinte Greg und legte ihm die Leine an. Während wir Casey langsam von der Hundebahn führten, schien er sich zu erholen, fing aber wieder an, trocken zu würgen, sobald wir den Rand des Washington Square Park erreichten. Greg hob ihn hoch und trug ihn den Rest des Wegs zur Sixth Avenue. Zu dieser relativ frühen Zeit fuhren eine Menge leerer Taxis auf der Sixth Avenue. Sobald jedoch die Fahrer Casey erblickten, konnten wir förmlich sehen, daß sie den Kopf schüttelten, und hören, daß sie aufs Gas traten, um schnell an uns vorbeizukommen. Schließlich hielt eines an. Ich beugte mich nach unten und sah einen korpulenten Mann arabischer Herkunft mit wolligen Haaren, der Greg, mich und unseren offensichtlich kranken Hund mißtrauisch musterte, als sei etwas mit uns dreien nicht in Ordnung. Ergeben warteten wir, bis er sich entschieden hatte, ob er unser Fahrgeld haben wollte oder nicht, und endlich sprach er mich an und erklärte sich bereit, uns mitzunehmen, wenn der Hund auf dem Fußboden und weg von den Sitzen bleiben würde. Greg, der Casey noch immer an sich preßte, ging auf das Taxi zu, aber ich fühlte mich durch das unverfrorene Abtaxieren so gedemütigt, daß ich den Fahrer zurechtweisen mußte. »Hören Sie«, sagte ich wütend, »entweder Sie nehmen uns - 106 -
mit, oder Sie lassen es. Auf jeden Fall liegt der Hund bei uns auf dem Schoß.« Greg verdrehte die Augen über meine Unfähigkeit, mich zu beherrschen, und der Fahrer faßte einen Entschluß und richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf den Verkehr; gerade als das Taxi anrollte, sagte ich gehässig: »Haben Sie keinen Funken Mitgefühl?« Der Kerl stieg auf die Bremse und forderte uns auf einzusteigen. »Ich wäre stinksauer auf dich gewesen«, sagte Greg, als wir losgefahren waren. »Ich wäre auch stinksauer auf mich gewesen«, sagte ich. Obwohl ich dem Mann erklärte, wir müßten den Hund schleunigst zur Tierklinik bringen, fuhr er, als kutschiere er uns zu einem Picknick im Central Park. Greg löste mich ab und setzte seinen gesamten Charme ein, um ihn zum Schnellerfahren zu bewegen. Als wir jedoch an eine rote Ampel kamen, drehte sich der Fahrer um und knurrte: »Ich werde auf keinen Fall rasen.« Ich blickte auf Casey, der unbeweglich und schwer atmend in Gregs Schoß lag, während sein Kopf in meinem ruhte. »Jemand hat versucht, unseren Hund zu vergiften, okay?« sagte ich. »Und wir befürchten, daß er stirbt, bevor wir die Klinik erreichen.« Das schien zu wirken. Der Fahrer, der offensichtlich keinen toten Hund in seinem Auto haben wollte, gab Gas und kurvte schlingernd an den anderen Autos vorbei. Langsam strich ich mit der Hand über Caseys Flanke, dann beugte ich mich nieder und streichelte seinen Kopf, und als ich mich wieder aufrichtete, sah ich, daß Greg sein Gesicht zum Fenster gewandt hatte, wo die Sonne, die noch immer nur flach über dem Horizont stand, ihre Strahlen durch die Straßen schickte. Er versuchte, die Fassung nicht zu verlieren. Und ich saß da und kämpfte an zwei - 107 -
Fronten gegen die Angst: zum einen mit der Frage, ob du mir absichtlich verheimlicht hattest, daß du mit dem Kerl, der sich vor den Zug geworfen hatte, einmal zusammengewesen warst, und natürlich mit der unmittelbareren Sorge um Caseys Wohlbefinden. Ein oder zwei Tage, nachdem Greg und ich ihn adoptiert hatten, hatte Casey wegen eines Virus, mit dem er sich vor seinem kurzen Aufenthalt bei der North Shore Animal League infiziert hatte, nichts mehr gefressen. Nachdem wir ihn zum Tierarzt gebracht hatten und er eine Spritze bekommen hatte, wurde uns gesagt, Putenbrust würde seinen Appetit in Null Komma nichts wieder anheizen. Also hatten wir auf dem Heimweg bei einem Delikatessenladen angehalten und ein paar Scheiben dünn geschnittenes Fleisch bestellt, und als wir wieder in der Wohnung waren und es Casey hinhielten, stürzte er sich drauf. Er hatte jedoch kaum aufgehört zu fressen, als er prompt alles wieder erbrach, was er gerade geschluckt hatte. Dann verschlang er, ohne auch nur im geringsten zu zögern, was er gerade erbrochen hatte, worauf Greg und ich schallend lachen mußten. Der Hund wog damals knappe fünf Pfund. Inzwischen brachte er es auf nahezu siebzig. »Ich hoffe nur, es ist nicht irgend so 'n Gift«, flüsterte ich Greg zu. »Ich wüßte nicht, woher. Ich bin mit ihm von zu Hause direkt zur Hundebahn gegangen. »Nun, ich würde es manchen von den Spinnern, die hier herumrennen, zutrauen, daß sie Gift legen«, sagte ich. Die Leute, die in der Nähe der Hundebahn wohnten, hatten sich schon immer über das Gebell beschwert. Wir schauten beide zu Casey hinab. »Übrigens, es tut mir leid, daß ich dich vorhin mit der - 108 -
Sache genervt habe«, sagte Greg. »Mit Sean Paris.« Der Empfangsdame beim Tierarzt erklärte ich, ich glaubte, Casey könne vergiftet worden sein. Sie griff zum Telefon, sprach mit jemandem und führte uns kurz darauf in ein Kabuff, das nach Desinfektionsmitteln stank und voll großer Vitrinen stand, in deren Fächern Arzneiflaschen und glitzernde metallene Instrumente aufbewahrt wurden. Als Greg Casey hochhob und ihn auf den metallenen Untersuchungstisch legte, fingen seine dünnen Beine zu zittern an. »So war es, als er zum ersten Mal zusammenbrach«, berichtete Greg einer Frau mit kurzgeschnittenen graumelierten Haaren, die in einem fleckigen weißen Ärztekittel in den Raum geeilt kam. Die Tierärztin stellte sich vor, dann maß sie rektal Caseys Temperatur und fing an, ihn abzuklopfen. »Seine Temperatur ist normal«, sagte sie. »Wie oft hat er erbrochen?« »Eigentlich nur einmal«, sagte Greg. »Aber er ist zusammengebrochen.« Die Tierärztin hörte Casey mit einem Stethoskop ab und nahm dann würdevoll das Gerät aus den Ohren. »Nun, ich glaube nicht, daß es Gift ist«, verkündete sie. »Sein Magen hört sich nicht an, als sei er traumatisiert, aber ich werde ihn trotzdem auspumpen. Ich sehe jedoch keine unmittelbare Gefahr. Trotzdem werde ich ihn ruhigstellen«, erklärte sie, während sie sich zum Schrank umwandte. »Könnten Sie ihn bitte so lange halten?« Sie fing an, eine Spritze mit einer rosa Flüssigkeit zu füllen. Casey nahm seine Spritze mit einem kurzen resignierten Winseln in Empfang. Nachdem die Tierärztin die Spritze entsorgt hatte, schaute sie uns an und sagte: »Er lebt mit Ihnen beiden zusammen, nehme ich an.« - 109 -
»Nun ja, nicht ganz«, sagte ich. Sie schien verwirrt. »Ich meine, bisher war es so«, erklärte Greg. »Er lebte bei uns beiden. In letzter Zeit teilen wir ihn uns.« »Also, in Wirklichkeit versorgt er ihn«, sagte ich mit einem strengen Blick zu Greg. Die Tierärztin lächelte und schüttelte den Kopf. »Würden Sie mir bitte ganz einfach sagen, bei wem der Hund lebt.« »Er lebt bei mir«, sagte Greg. »Ich bin nicht neugierig«, sagte sie. »Ich muß nur wissen, wer ihm die Medizin geben wird.« Greg sagte, das hänge davon ab, wie oft am Tag die Medizin verabreicht werden müsse, und erklärte, daß er von fünf Uhr abends bis Mitternacht in der Computerabteilung einer Anwaltskanzlei arbeitete. Die Tierärztin sagte: »Ich denke, viermal am Tag sollte genügen.« »Dann mußt du wahrscheinlich rüberkommen, Will.« »Was glauben Sie, was es ist?« »Nun, erst mal steht das Erbrechen nicht unbedingt mit dem Muskeltrauma in Verbindung. Außer, daß es wahrscheinlich die anderen Symptome auslöst, was ein gutes Zeichen ist. Denn jetzt wissen wir, daß es ein Problem gibt. Ich habe eigentlich nur eine Frage: Ist er auf dem Land oder draußen auf Long Island gewesen?« Casey und ich hatten einen Freund in seinem Haus in East Hampton besucht. »Nun, das stützt meine Vermutung. Er hat einige Symptome des Lyme-Syndroms.« »Lyme-Syndrom!« riefen Greg und ich aus. Die Tierärztin versicherte uns, Casey werde gesund werden. »Gehen Sie beide doch zurück ins Wartezimmer, - 110 -
während ich etwas Blut abnehme.« Wir verließen den Untersuchungsraum und gingen durch einen auf Hochglanz polierten Flur. Die Tierklinik hallte wider von Jaulen und Miauen und sogar dem Krächzen von exotischen Vögeln. Greg drehte sich schließlich zu mir um. »Niemand scheint Verständnis für das gemeinsame Sorgerecht eines Hundes zu haben.« Er grinste. »Jeder, dem ich davon erzählt habe, hält es für total bekloppt.« Ich gab zu, die gleiche Reaktion erlebt zu haben. Nachdem Casey fertig untersucht war, nahmen wir ein Taxi zu Gregs Wohnung. Es kam mir immer komisch vor, seine neue Wohnung zu betreten. Seine Kleidung, seine Bücher, seine Kunstgegenstände und kitschigen Souvenirs, die sich einst mit meinen Sachen vermischt hatten, waren in ein kleineres Studioapartment verpflanzt worden, bei dem Spüle, Herd, Kühlschrank und Bett in einem Raum untergebracht waren. Die Wohnung lag in der Carmine Street, und für diese Lage sowie für ihre einzige Attraktion, einen funktionierenden Backsteinkamin, zahlte Greg eine exorbitante Miete. Obgleich es noch ziemlich früh am Morgen war, hatte sich der Raum bereits aufgeheizt, als wir eintraten. Greg schaltete sofort die Klimaanlage ein. In der Hoffnung auf einen ehrenvollen Abgang blieb ich unschlüssig an der Tür stehen, damit ich nach Hause gehen und dich auf der Arbeit anrufen konnte, um zu erfahren, was du wußtest und was nicht. Greg, der meine Nervosität spürte, nahm wahrscheinlich an, sie habe mehr mit Caseys Leiden zu tun. »Komm, wir setzen uns ein paar Minuten hin, trinken eine Tasse Kaffee und regen uns erst mal ab«, schlug er vor. Casey, obgleich noch immer teilnahmslos, schien ein - 111 -
klein wenig aufzuleben. Er lief ein paar Runden durch die Wohnung, wobei seine Krallen auf dem Parkettboden klickten. Dann kletterte er in Gregs Futonbett, legte sich hin und stieß einen seiner zufriedenen Seufzer aus. An einer Wand hing ein nur allzu vertrautes Foto des Mondes, riesig und schwer über den Wellenbrechern von Monterey Beach, ein Foto, das ich nicht mochte, mit dem ich aber früher einmal hatte leben müssen. Auf dem Kaminsims stand eine Galerie gerahmter Schnappschüsse, die zum Teil Greg und mich zeigten (beim Skilanglauf in Vermont, bei Lands End an der stürmischen Spitze von Cornwall). An der Wand gegenüber entdeckte ich etwas Neues, ein hastig mit Klebeband befestigtes Poster. Mit einem Seitenblick erkannte ich, daß es sich um den Blick durch ein millionenfach vergrößerndes Mikroskop handelte. Ich erkannte die Vergrößerung von zwei T-Zellen, die durch eine Linie in der Mitte des Posters getrennt wurden: eine vollkommen runde, deren Ketten mikroskopischer Materie alle gezielt in eine Richtung flossen; und eine nicht mehr runde, sondern im Prozeß der Auflösung begriffene, deren Ketten wie Rastalocken in alle Richtungen zerliefen. »Visualisieren Sie diese Seite« stand in roter Blockschrift unter der gesunden T-Zelle. »Warum hast du das aufgehängt?« fragte ich nervös. Bei unserem letzten Gespräch war Greg HIV-negativ gewesen. Er wich meinem Blick aus. Genau in diesem Augenblick pfiff der Teekessel, und Greg schüttete das brodelnde Wasser durch den Kaffeefilter. Schließlich drehte er sich um. »Warum denn nicht?« »Gibt es etwas, das du mir verschweigst?« »Nein!« Ich wandte mich wieder dem Poster zu. Der Gegensatz - 112 -
zwischen den beiden Zellen war beunruhigend: Ich konnte mir nicht vorstellen, besonders nach einer Nacht, in der ich schlecht geschlafen hätte, morgens aufzuwachen und ein Poster mit diesen Gleichnissen für Gesundheit und Krankheit anzuschauen. »Ich schau's mir an, damit ich nicht vergesse, was Sache ist«, erklärte Greg. »Ich schaue es an und visualisiere Heilung und die Entdeckung eines Mittels. Ich halte das für wichtig.« Ich bewunderte Gregs reife Haltung und wurde traurig, als ich mich daran erinnerte, wie leichtsinnig ich in seinem Alter gewesen war. Greg war so jung, daß er Sex ohne die direkte Verbindung zum Tod nie kennengelernt hatte. Vor zehn Jahren hätte jemand wie Greg – jemand wie ich – vielleicht einen Aphorismus über die Liebe, einen denkwürdigen Satz, Zeilen von e. e. cummings oder Khalil Gibran an die Wand gehängt. Wenn man jetzt die zerstörte befallene T-Zelle mit ihrem glatten gesunden Gegenstück verglich, war es, als vergleiche man das Schicksal zweier unterschiedlicher Generationen.
9. Als ich in meine Wohnung zurückkam, waren drei Nachrichten von dir im Abstand von jeweils einer halben Stunde auf dem Anrufbeantworter. Es war das erste Mal, daß du dich ziemlich fassungslos anhörtest. Angesichts der psychologischen Reifen, durch die ich deinetwegen schon gesprungen war, bereitete mir die Sorge in deiner Stimme einen Anflug von Genugtuung. »Bist du noch fünf Minuten da?« fragtest du, als ich dich endlich an deiner Arbeitsstelle erreichte. - 113 -
Ich sagte, ich sei noch da. In der Zwischenzeit schaute ich die Post durch und schaltete meinen Computer ein, fing jedoch nicht an zu arbeiten. Fünf Minuten hätten mir kaum genug Zeit gelassen, um mich zu konzentrieren. Als zehn Minuten vorübergingen, ohne daß du zurückriefst, lud ich eine halbfertige Buchbesprechung auf den Bildschirm und machte mich endlich an die Arbeit. Nach weiteren zehn Minuten ohne Unterbrechung war ich jedoch so wütend geworden, daß ich meine Gedanken nicht mehr zusammenhalten konnte. Warum hattest du fünf Minuten gesagt? Würde eine vereinbarte Zeit – bei Ankünften, Abreisen, Verabredungen – immer zu Streß mit dir führen? Fünfunddreißig Minuten später klingelte das Telefon, und obgleich ich darauf gefaßt gewesen war, schreckte ich dennoch bei dem Ton hoch. »Tut mir leid, daß ich nicht früher zurückrufen konnte. Hier war die Kacke am Dampfen. Die wollen mich aus heiterem Himmel nach Montana schicken. Um für einen Kunden ein paar Bäume auszusuchen.« »Wann fährst du?« »Heute abend.« Du würdest fünf Tage weg sein, gerade jetzt, da wir anfingen, uns kennenzulernen. »Aber schau«, fügtest du hastig hinzu, »ich muß noch eine Sache mir dir besprechen. Ich muß dich um einen Gefallen bitten.« »Was für einen?« Worauf du erklärtest, daß du, kurz nachdem ich an diesem Morgen um halb neun gegangen war, einen Anruf von Bobby Garzinos Ex-Lover José erhalten hattest. Nachdem er noch einmal darauf bestanden hatte, daß du alle Gegenstände von The Loom's Desire zurückgeben müßtest, hatte José gesagt, wenn du nicht mitspieltest, würde er einfach - 114 -
warten, bis du zur Arbeit seist, und dann in deine Wohnung einbrechen. »Dann ruf doch die Polizei«, sagte ich, «wenn er droht, bei dir einzubrechen.« »Glaubst du, die Polizei kümmert sich um so was... um irgend 'nen Streit zwischen zwei Schwulen? Glaub mir, dabei käme überhaupt nichts raus. Und überhaupt möchte ich nicht, daß José mit der Polizei zu tun kriegt.« Ich wurde sofort argwöhnisch. »Wieso nicht?« »Weil er Bobby ganz offensichtlich wirklich geliebt hat. Und das respektiere ich. Und wahrscheinlich ist es leichter für José, mir vorzuwerfen, ich hätte Bobby unglücklich gemacht, als die Tatsache zu akzeptieren, daß Bobby gestorben ist.« »Du hast also einfach vor, dir weiter von ihm auf der Nase rumtanzen zu lassen.« »Ich denke, irgendwann wird er damit aufhören.« Aber du wolltest, daß ich in deiner Wohnung bliebe, solange du weg warst. Wenn José dir tatsächlich nachspionierte, würde er bald herausfinden, daß niemand zu Hause war, und er hätte seine Chance. Warum schlug ich dir nicht vor, alle Websachen in meine Wohnung zu schaffen – warum schlugst du es eigentlich nicht vor? Vielleicht hatte ich Angst, daß, wenn ich es vorschlug und du nicht darauf eingingst, dies bedeuten würde, daß du an mir zweifeltest, mir nicht genügend vertrautest, um mir deine Wertsachen anzuvertrauen; keine so enge Verbindung zwischen uns beiden wolltest. »Paß auf, Sean«, sagte ich, »bevor wir irgend etwas absprechen, muß ich dich bitten, etwas klarzustellen.« Keine Antwort. Nur Schweigen. »Bist du noch da?« »Hm-mmh. Worum geht's?« - 115 -
»Auf dem Heimweg heute morgen hab' ich meinen Ex getroffen. Und dann wurde unserem Hund schlecht...« Ich fing an, die Fahrt zur Tierärztin zu schildern, und freute mich, als du mich unterbrachst und fragtest, ob es Casey gut gehe. Die Unterbrechung brachte mich wieder zum Thema zurück. »Bevor Casey übel wurde, unterhielten Greg und ich uns, wie wir es manchmal tun ... über Typen, die wir kennengelernt haben, blah, blah, blah, auch wenn es manchmal unangenehm wird. Wie heute.« »Und?« Ich war verblüfft, wie nervös mich das Gespräch machte. Ich bekam Herzrasen wie nach einem harten Training im Schwimmbecken. »Als ich deinen Namen erwähnte, wußte er sofort, wer du bist.« »Wie heißt er mit vollem Namen?« »Greg Wallace.« »Kann nicht behaupten, von ihm gehört zu haben.« »Er hat mir etwas erzählt, wovon ich hoffe, daß es nicht stimmt.« Ich atmete tief ein und aus. »Daß du mit dem Kerl, der sich vor einer Woche vor den Zug geworfen hat, zusammengewesen seist.« »Das stimmt, wir hatten eine Beziehung... früher mal.« »Also, hm, wer war das, der Typ, der sich umgebracht hat?« »Es war Bobby Garzino«, sagtest du ohne spürbares Zögern. Natürlich hatte ich die beiden Todesfälle bereits sofort, als Greg mir davon erzählt hatte, miteinander in Verbindung gebracht. Es erschien alles so unheimlich, das Gefühl, das sofort in mir aufgetaucht war, als ich von dem Tod unter dem Zug gehört hatte, und daß ich mir ausgemalt hatte, es sei ein Mann mit Liebeskummer, ein Mann, dem nicht zu helfen war. - 116 -
»Einen Moment mal, Sean«, sagte ich heiser. »Du hast mir erzählt, Bobby Garzino sei an Aids gestorben.« »Nein, du hast angenommen, er sei an Aids gestorben. Und deshalb habe ich dich in dem Glauben gelassen, zumal du ja gar nicht so weit von der Wahrheit entfernt warst. Er war krank, und er wäre gestorben. Und ich hatte vor, dir zu erzählen, wie er wirklich gestorben ist.« »Bis dahin hättest du mir aber etwas ziemlich Wichtiges verschwiegen.« »Na, okay, dann hätt' ich's eben. Das lag aber zum Teil daran, daß ich genervt war, daß ausgerechnet du der erste warst, durch den ich von seinem Tod erfuhr. Ich hätte gestern abend seinen Selbstmord erwähnen können, und natürlich ist es mir ein paarmal durch den Kopf gegangen. Aber der Abend gestern war doch unser erster richtiger gemeinsamer Abend. Und letzten Endes habe ich nichts gesagt, weil ich Angst hatte, es würde... den Abend verderben.« Nein, nur den Morgen, meinen Morgen, dachte ich. Ich sagte: »Ja, aber sieh doch, wie offen ich über mich und meine Vergangenheit gesprochen habe.« »Eben weil es die Vergangenheit war. Das hier ist die Gegenwart. Das ist etwas, das gerade passiert, etwas, das ich noch immer zu verstehen versuche. Ich meine, bei deinem Freund in der Wohnung, als du mir von jemandem erzähltest, der sich vor den Zug geworfen hatte, wurde ich vollkommen kalt. Mir war plötzlich richtig schlecht, und ich konnte mir nicht erklären, wieso. Das war der Grund, warum ich gehen wollte. Stell dir vor, als ich später an dem Abend erfuhr, daß ich den Toten kannte und daß es Bobby war. Es war alles so seltsam und unheimlich, daß ich es wußte, bevor ich es wußte.« »Aber mir war es auch unheimlich. Vor allem deshalb - 117 -
habe ich damit angefangen. Deshalb hättest du etwas sagen sollen.« »Ich hatte Angst, du würdest das gleiche denken wie die Leute, die dieses Gerücht aufgebracht haben.« »Was meinst du denn, wer dieses Gerücht aufgebracht hat?« Du stöhntest und fügtest dann hinzu: »Die Leute mögen nun mal solche Dramen. Sie nehmen nur allzu gern an, ich hätte etwas mit seinem Tod zu tun, ich hätte ihn mit Aids infiziert.« Eine Frage blitzte auf, aber ich wartete einen Augenblick, bevor ich sie stellte. »Bist du wirklich negativ?« »Ja, ich bin negativ.« »Aber man soll sechs Monate warten.« »Das habe ich, aber das wissen die Leute nicht. Und selbst wenn sie es wüßten, könnten sie annehmen, durch den Streß in unserer Beziehung sei er viel schneller krank geworden als sonst.« Du wiederholtest, daß du Bobby Garzino seit jener Nacht im Februar, als er mitten in deinem Haufen Klamotten gelegen hatte, wirklich nicht mehr gesehen hattest. Danach hatte er mehrere Briefe an dich geschrieben, in denen er sagte, er könne dich nicht vergessen, Briefe, die dich aufforderten, zu ihm zurückzukommen. Um ihn durch eine Antwort nicht zu ermutigen, hattest du dich entschlossen, überhaupt keine Verbindung mehr mit ihm aufzunehmen. Schließlich, eines abends Ende Juli, als die Stadt unter einer Hitzewelle litt, hatte er dich aus heiterem Himmel angerufen. Dir erzählt, mit seiner Gesundheit scheine es abwärts zu gehen, und er habe einen Aidstest vereinbart. Du nahmst ihm das Versprechen ab, dir die Ergebnisse mitzuteilen. Während des ganzen Gesprächs hatte er dich gebeten, dich mit ihm zu treffen, und am Ende hattest du - 118 -
eingewilligt und tatsächlich einen Termin zum Abendessen verabredet. Aber das war das letzte Mal gewesen, daß du von ihm gehört hattest. Am Tag des Abendessens rief er nicht mehr zurück. »Das heißt, du nimmst das alles nur an. Du hast nichts mehr von ihm gehört, und da gehst du davon aus, daß er schlechte Nachrichten bekommen hat?« »Was würdest du denken? Besonders, nachdem er auf einem Treffen bestanden und ich schließlich ja gesagt hatte.« »Aber warum kannst du dich nicht erkundigen?« »Wen soll ich fragen – José, der mir die Hölle heiß macht? Glaubst du, der wäre ehrlich?« Bobby hatte einen Mitbewohner gehabt, aber der war fast unmittelbar nach dem Zwischenfall in den Mittleren Westen gezogen. Und außerdem, je mehr du darüber nachdachtest, desto einsichtiger schien es, daß Bobby nicht unbedingt wollte, daß du von seiner Krankheit wußtest – eigentlich sollte niemand Bescheid wissen, aber du ganz besonders nicht. Denn er wußte, daß du HIV-negativ warst, und glaubte vielleicht, daß die Aussicht auf eine Beziehung noch unwahrscheinlicher würde, wenn du wüßtest, daß er HIV-positiv war. Virale Apartheid, dachte ich bei mir. »Er hat sich entschlossen, nicht die ganze Quälerei mitzumachen«, sagtest du bewundernd. »Er hat sich entschieden, in Vollkommenheit zu sterben.« Ich wußte, daß dich die Tatsache beeindruckte, daß jemand die Kontrolle über seinen eigenen Tod übernommen hatte, den unvermeidlichen Abstieg in Abmagerung und Häßlichkeit unterlaufen und das Leiden, das bekanntlich mit dieser Krankheit verbunden war, umgangen hatte. Wenn aber Bobby beschlossen hatte, in Vollkommenheit - 119 -
zu sterben, warum hatte er sich dann vor einen Zug geworfen? fragte ich mich. Aber es wäre zu niederträchtig gewesen, eine solche Frage jemals auszusprechen. Nach dieser Pause gingst du zwanglos zu einem anderen Thema über, zu der Tatsache, daß du nach der fünftägigen Geschäftsreise Anspruch auf eine freie Woche hattest. Ob ich Lust hätte, irgendwo mit dir hinzufahren? An irgendeinen ruhigen Ort. »Ich hab' noch Landschaftszeichnungen nachzuholen, aber ich kann auch daran arbeiten, wenn ich weg bin, und sie per Boten ins Büro schicken, wenn ich fertig bin.« »Kurz und bündig: ja.« Und ich erklärte, daß ich seit drei Jahren in jedem Sommer diese kleine Hütte, ein ehemaliges Einklassen-Schulhaus, in Vermont mietete. Du gabst zu, daß es sich toll anhörte. Nachdem ich aufgelegt hatte, ging ich unser Gespräch noch einmal durch. Einerseits neigte ich dazu, der Art, in der du mir die Geschichte von Bobby Garzino scheibchenweise erzähltest, zu mißtrauen. Andererseits mußte ich mir vor Augen halten, daß ich, anders als du, zu den Leuten gehöre, deren Phantasie schon bei den kleinsten Anlässen überreizt wird. Und manchmal kann ich nicht genau unterscheiden, was ich wirklich wahrgenommen und was ich dieser Wahrnehmung hinzugefügt habe.
10. Und dann warst du weg, und ich wurde du. Und seltsam, diese Tage, alleine in deiner Wohnung, bevor ich dich in Vermont wiedersah, waren meine glücklichste Zeit. Alleine in deiner Wohnung, als unser Idyll noch vor mir - 120 -
lag wie eine Boje vor der Hafeneinfahrt. Du mußtest die Stadt schnell verlassen, ohne daß dir Zeit zum Aufräumen blieb. Das war mir ganz recht, denn ich wollte den Schlüssel in der Tür umdrehen, als ob ich du wäre, am Ende eines ganz normalen Tages. Ich wollte auf alles, was zu dir gehörte, meinen Schatten werfen. Mich umschauen und seufzen über das langsam wachsende Chaos. Es gibt Menschen, deren natürlicher Stil selbst ihrem Durcheinander etwas Kunstvolles verleiht. Du warst so jemand. Ich stieß auf geschliffene Kristallgläser mit Resten von Scotch; weiße Keramikteller, verkrustet mit getrocknetem Radicchio; einen Süßweinfleck auf einer zerschlissenen Platzdecke; eine alte Angeltasche voller Bleigewichte und Fliegen, die du eigenhändig angefertigt hattest. Und all die Schnittblumen, die beinahe augenblicklich verwelkt waren, als hinge ihr Leben tatsächlich von deiner Anwesenheit ab. Instinktiv fing ich an aufzuräumen. Faltete T-Shirts und beige Sweatshirts und Handtücher. Staubte einen rosa Belag von den Bilderrahmen ab. Spülte geronnene Milch vom Boden eines Cocktailglases. Saugte. Spielte mein begrenztes Repertoire auf dem Klavier. Zog Bücher aus den Regalen, schmökerte hier und da, entdeckte, daß der Umschlag von Bleakhaus in der Mitte zwischen den Buchseiten steckte, fand Ovids Metamorphosen, sämtliche Romane und Kurzgeschichten von Kafka. Ich blätterte eine riesige schwarze Ledermappe mit all deinen Skizzen durch, erstaunt, wie gut du zeichnen konntest – die Promenade an einem Fluß, der Baumgarten eines Museums, das Gelände einer Gemeindeschule –, obwohl du gesagt hattest, dein Zeichnen sei lediglich eine »angelernte Technik«. Wir hatten vereinbart, daß ich den Anrufbeantworter ein- 121 -
geschaltet lassen und nur abnehmen würde, wenn ein Anruf für mich war. Nachdem ich jedoch die Stimmen von einigen deiner Freunde gehört hatte und sie interessant zu klingen schienen, konnte ich nicht anders. Ich erklärte, du seist geschäftlich außerhalb der Stadt, und schlug vor, sie sollten ihre Nachrichten in deinem Büro hinterlassen, da es keine Nummer für einen Ansagedienst gab. Die meisten Anrufer waren eingeschnappt, wenn sie meine Stimme hörten, wenn sie darin die Selbstverständlichkeit hörten, mit der ich dich zu kennen schien, obgleich sie dich wahrscheinlich viel länger kannten als ich und dich gut genug kannten, um zu wissen, daß es nicht typisch für Sean Paris war, jemanden seine Anrufe beantworten oder in seiner Wohnung wohnen zu lassen. Ich kam mir vor wie ein Verschwörer – und empfand Schadenfreude. Am ersten Abend in deiner Wohnung entdeckte ich unter dem untersten Bücherbrett drei schmale, gebundene Bände mit marmoriertem Einband. Ich hielt sie für Skizzenbücher von deinen Auslandsreisen. Ich schlug den dritten auf und fand die linierten elfenbeinfarbenen Blätter eines Tagebuchs vor, dessen Seiten mit schwarzer Tinte beschrieben waren. Das Schriftbild auf jeder Seite wies eigentümliche Über- und Unterschnörkel auf, die mir weniger zu einer Handschrift unserer Zeit zu gehören schienen, sondern vielmehr dem glichen, was ich der Hand eines mittelalterlichen Aristokraten zugeschrieben hätte, der, sagen wir, wegen Ketzerei im Kerker saß. Beim Überfliegen der Absätze stieß ich auf das Wort Liebe, das mir aus den Zeilen entgegensprang, und auf die Initialen R. M. Im ersten Band waren nur wenige Seiten beschrieben, der Rest war leer. Aber zwischen den leeren Blättern waren Briefe eingelegt, die zweizeilig auf dünnes Transparentpapier getippt, sorgfältig gefaltet und wie Akten in - 122 -
einem Vorordner abgelegt worden waren. Ich wagte es, einen zu öffnen, und sah, daß er an einen gewissen R. M. gerichtet war, mit deiner Unterschrift am Ende. Ich überflog einen weiteren und stellte fest, daß er an denselben R. M. gerichtet war – Briefe, die nie abgeschickt worden waren, vermutete ich. Waren sie für einen Mann bestimmt, den du einst geliebt hattest? Für den Mann, von dem du mir noch zu erzählen hattest? Ich war erstaunt, daß du mir genug vertrautest, um diese außerordentlich intime Korrespondenz nicht vor mir zu verstecken. Oder vielleicht warst du zu sehr in Eile gewesen. Ich fühlte mich schuldig wegen meiner Schnüffelei. Ich zwang mich dazu, die Bücher wegzulegen, ohne darin zu lesen. Am zweiten Abend in deiner Wohnung kam ein Anruf mit den Geräuschen einer verkehrsreichen Straße im Hintergrund. »Sean ist nicht da«, sagte ich. »Kann ich etwas ausrichten?« »Wann ist er wieder zurück?« fragte eine kultivierte, aber nervöse Stimme. »Wer ist am Apparat, bitte?« »Ein Freund. Sagtest du, er sei heute nacht aus?« Es war zu spüren, daß der Mann etwas wollte. »Würdest du mir bitte deinen Namen nennen?« fragte ich. Es entstand eine Pause, während der ich den Eindruck hatte, es werde um das Telefon gestritten. »Ich bin gleich fertig«, sagte der Mann gereizt zu jemandem. »Was hast du gesagt?« »Würdest du mir bitte deinen Namen nennen?« »Ich heiße José Ayala.« »Ich werde Sean sagen, daß du angerufen hast.« »Moment. Moment. Wer bist du?« Ich entschied mich dafür, so zu tun, als wüßte ich nicht, - 123 -
wer er war. »Ich bin ein Freund von Sean. Ich wohne eine Weile bei ihm.« »Bist du... ach, ich muß jetzt wirklich weg. Auf Wiedersehen«, sagte der Mann und legte auf. Und ich spürte sofort, zweifellos genau wie du, daß er weniger gefährlich als verzweifelt war, und daß er, obgleich er fähig sein mochte, Schaden anzurichten, wahrscheinlich nicht bösartig war. Dann erneut, früh am nächsten Morgen gegen sieben Uhr. »Könnte ich Sean jetzt sprechen, bitte?« »Tut mir leid, ich kann ihm höchstens etwas ausrichten.« »Er ist weg, stimmt's. Er ist nicht in der Stadt.« »Ist das wirklich ein so großer Unterschied? Er wird die Nachricht bekommen«, sagte ich. »Ich verspreche es.« »Ich bin sicher, du weißt alles über mich. Ich bin sicher, er hat dir erzählt, daß ich angerufen habe. Er würde nicht einfach wegfahren, ohne zu erklären, was hier los ist.« Der Mann hörte sich an, als kämen ihm gleich die Tränen. »Bitte sag mir, ob er die Stadt verlassen hat.« »Ich richte ihm deine Nachricht aus, okay? Vielleicht ruft er dich zurück. Ich geh jetzt wieder schlafen.« Natürlich war ich hellwach. »Leg nicht auf. Sprich einen Augenblick mit mir. Nur einen Augenblick.« Ich schwieg. Ich wartete ab. »Er ist ein schlechter Mensch. Ich möchte dir das einfach sagen, falls du's nicht schon weißt.« »Okay. Noch was?« »Er ist der charmanteste Mann der Welt, total charmant, aber er hat kein Herz.« »Du kennst ihn nicht richtig.« Ich projizierte lediglich meine eigenen Befürchtungen. - 124 -
»Du bist der Typ, mit dem er zusammen ist, der Schriftsteller.« Ich gab keine Antwort. »Ich weiß, wer du bist. Du bist der Typ, mit dem er neulich aus dem Splash gekommen ist, stimmt's?« »Kann sein.« »Ich würde gern rüberkommen und mit dir reden.« »Über meine Schriftstellerei?« fragte ich unwillkürlich. »Nein, über Sean Paris.« »Tut mir leid, aber das geht nicht.« »Sean hat Sachen, die mir gehören und die ich so schnell wie möglich brauche.« Ich überlegte, ob ich offen sagen sollte, daß ich wußte, was zwischen dir und José geschehen war. Schließlich sagte ich: »Du weißt, daß das so nicht ganz stimmt. Also versuch nicht, mich zu verarschen.« »Also weißt du, was los ist.« Ich gab zu, daß ich Bescheid wußte. »Ich habe einen Brief von Bobby, in dem steht, daß ich seine ganzen Sachen zurückbekommen soll. Ich habe einen Brief, in dem ...« »Hören Sie, das geht mich nichts an.« »So förmlich auf einmal?« Es hörte sich angewidert an, aber nicht feindselig. »Ich möchte, daß der Streit zwischen dir und Sean bleibt.« José schlug vor, ich könnte beiden einen Gefallen tun, indem ich den Vermittler spielte. »Ich werde zurückrufen und dir den Brief vor...« Ich sagte: »Wenn Bobby etwas zurückhaben wollte, hätte er Sean direkt danach fragen sollen.« Mir wurde klar, daß ich das Gespräch zu weit hatte kommen lassen, daß ich eigentlich meine Grenzen überschritten hatte. Ich hatte - 125 -
aufgehört, jemand zu sein, der deine Wohnung beschützte, und war unmerklich zu einem aktiv an deinen Angelegenheiten Beteiligten geworden, zu jemandem, über den du dich vielleicht ärgern würdest. »Bobby hat danach gefragt...« »Schau, ich wohne hier nur für eine Weile, okay?« Dann log ich auf einmal. »Sean hat mir diese Wohnung überlassen, um mir einen Gefallen zu tun.« »Ich warte einfach, bis du weg bist, dann komm' ich schon rein.« »Das würde gegen das Gesetz verstoßen.« »Ruf die Polizei, ist mir egal«, sagte José. »Es laufen einfach zu viele Sean Paris' herum. Zu viele Typen, die damit durchkommen, wenn sie lieben, wundervollen Menschen wie Bobby weh tun.« »Das ist nicht fair. Es ist nicht fair, Sean für seinen Tod verantwortlich zu machen.« »Du kennst sicher nicht die ganze Geschichte.« »Es war klar, daß du das sagen würdest. Du willst etwas erreichen« sagte ich und legte sachte den Hörer auf. Ich stand im heraufziehenden Zwielicht. Alle Gegenstände, die ich in deiner Wohnung mochte – die ausgestopften Holzenten, die Sammlung glatter, vom Meer gerundeter Steine, Muscheln und Fossilien auf dem Wandbehang –, alles vibrierte mit einer geheimnisvollen Intensität, als wären sie Schlüssel zu deiner rätselhaften Vergangenheit. Warum sollte ich ihm gestatten, Zweifel in meine Gedanken zu säen? Ich versuchte, mich darüber zu freuen, daß ich aufgelegt hatte. Aber es gab Zweifel, einfach aus dem Grund, daß ich selbst bereits etwas Unnahbares in dir gespürt hatte, das ebenso schwer erreichbar war wie die noch immer nicht geschilderte Geschichte deines gebrochenen Herzens. In - 126 -
meiner Aufgewühltheit ging ich zum offenen Fenster und beugte mich zur Grove Street hinaus, wie du es am Abend meines ersten Besuchs getan hattest. Dann trat ich zurück, zog mich völlig aus und wanderte nackt durch die Wohnung. Durchs Fenster kam der heiße Wind vom Hudson River. Ich fühlte, daß mir etwas fehlte, ohne daß ich hätte sagen können, was. Ich ging in deinen Schrank und stöberte in deinen Klamotten auf der Suche nach etwas zum Anziehen, das dir gehörte. Ich fand T-Shirts, die mit Orten aus deiner Vergangenheit bedruckt waren. Ich bewunderte eins von einem Golfplatz auf Okinawa, aber schließlich nahm ich eins mit dem Namen einer Bowlingbahn in San Diego heraus und legte es aufs Bett. Als ich den Stapel zurückpackte, stieß ich auf einen Stoß Militärhosen, die auf den Gesäßtaschen alle in Druckschrift den Namen Monroe trugen. Monroe. Ein Nachname? Der Nachname jenes R. M., an den deine Briefe gerichtet waren? Von Eifersucht angestachelt, fragte ich mich, wie du zu ihnen gekommen warst, und stellte mir am Ende vor, er hätte dir jedesmal, wenn er mit dir geschlafen hatte, eine geschenkt, bis keine mehr übrig war. Wer war dieser Mann? Und wo war er jetzt? R. M.s Arbeitshosen waren genauso abgetragen und mürbe wie die T-Shirts, die Chad immer getragen hatte. Nachdem Chad verschwunden war, hatte ich, um sein Verschwinden zu betrauern, seine Sachen getragen, und zwar nur seine Sachen, nur das angezogen, was eindeutig ihm und nicht mir gehörte. In der Hitze meines zeitweiligen Wahns hatte ich tatsächlich geglaubt, ich könnte ihn zurückbekommen, wenn ich mich kleidete wie er, als könnte mit einem Stück Stoff wirklich etwas überdeckt werden, was die Parzen schon gesponnen haben. Komm zurück, Sean Paris; komm zurück, R. M.; komm zurück, - 127 -
Chad. Im Schrank grub ich außerdem eine schmale Geschenkschachtel aus, die zwei Gegenstände enthielt, von denen ich annahm, daß Bobby Garzino sie hergestellt hatte: einen genoppten Schal aus auberginefarbe-nen und schwarzen Seidenfäden mit kunstvoller Struktur; ein kleines Kissen aus dem gleichen Material mit einem gedruckten Etikett, auf dem stand: Ein Traumkissen, handgefertigt von The Loom' sDesire. Der Schal war von extravaganter Länge. Ich schlang ihn einmal um den Hals und drapierte ihn auf meiner Brust wie ein Banner. Ich nahm das Kissen an mich und ging zu deinem Bett. Ich roch einen süßen, erdigen Duft und hielt das Kissen an meine Nase. Es war der Geruch von Beifuß, einem sanft einschläfernden Kraut, das ich während der Zeit genommen hatte, als ich nicht einschlafen konnte. Ich legte mich auf dein Bett, steckte mir das Kissen unter den Kopf und drapierte den weichen Schal über meinen Unterleib. Ich hatte gerade angefangen zu masturbieren, als das Telefon klingelte. Ich ließ den Anrufbeantworter laufen, und nachdem die Ansage zu Ende war, hörte ich mir die Nachricht an. »Hey«, sagtest du. »Bist du da?« Ich hörte auf, an mir herumzuspielen, und nahm ab. »Selber hey«, sagte ich. »Was machst du gerade?« »Wichsen.« »Hm-äh. Schlechtes Timing, tut mir leid. Möchtest du lieber später reden?« »Nein, ich will jetzt reden. Das Ding ist immer da, ich kann warten. Wo bist du?« »Am Arsch der Welt, ganz oben in Montana. Fast in Kanada.« »Schön?« - 128 -
»Trocken und wolkenlos. Perfekt, um den ganzen Scheiß in Manhattan zu vergessen.« »Klingt, als ob du am liebsten nicht zurückkommen würdest.« »Nein, ich will zurückkommen. Obwohl es hier oben in den Wäldern wirklich ziemlich toll ist. Es bereitet mich so richtig auf Vermont vor.« »Und wie läuft's mit dem Bäume aussuchen?« »Wir haben ein paar echte Prachtstücke gefunden. Wie geht's der alten Heimstatt?« Ich schaute mich im Zimmer um: die gespülten und abgetrockneten Cocktailgläser auf dem Küchenregal, der Frühstückstisch aus Mahagoni, der unter einer neuen Schicht Zitronenöl glänzte, der sauber aufgeschichtete Stapel von Rechnungen, den ich aufs Klavier gelegt hatte. »Besser als vor deiner Abreise.« »Du hast doch nicht etwa ...!« Du hörtest dich entgeistert an. »Es ist etwas anderes, wenn es nicht die eigene Wohnung ist.« »Schläft sich's gut in meinem Bett?« »Scheint so.« »Läßt du auch die Finger von meinem Zeug?« Bei diesen Worten kichertest du, und es klang, als wolltest du mich aufziehen oder sogar etwas herunterspielen, was du bereits als eine Schwäche von mir erkannt hattest. »Ich habe Klamotten von dir angezogen, wenn du das meinst... und du hast eine Menge Anrufe bekommen.« Absichtlich machte ich einen Vorstoß. »Alle sind sauer. Du hast anscheinend eine Menge Freunde.« Ein Seufzen. »Man hat schon gesagt, ich sei ein wesentlich besserer Freund als Liebhaber.« »Soll das eine Warnung sein?« - 129 -
»Und du hörst dich schon das ganze Gespräch über verkrampft an. Nur weil du ... unterbrochen wurdest?« »Nein, es kommt daher ... dieser Kerl hat angerufen, der Ex-Lover, José Ayala.« Am anderen Ende der Leitung entstand eine Pause, und ich konnte im Hintergrund etwas wie weißes Rauschen hören. »Hm, das hab' ich mir gedacht.« Ich berichtete dir das Wesentliche des Gesprächs. Allerdings ertappte ich mich dabei, daß ich unterschlug, daß der Mann versucht hatte, sich mit mir zu treffen, um über alles zu reden, über dich zu reden. »Der verarscht dich, Will. Der würde alles tun, um mir das Leben schwer zu machen.« »Das ist mir klar. Er versuchte, mich davon zu überzeugen, daß man besser die Finger von dir läßt.« »Das war zu erwarten.« »Trotzdem hörst du dich ziemlich gelassen an.« »Was bleibt mir anderes übrig? Egal, morgen komme ich zurück. Dann setzen wir uns mal zusammen. Und dann kannst du dir dein eigenes Bild von mir machen.« Nachdem ich mich jedoch von dir verabschiedet hatte, blieb wegen unseres Gesprächs und wegen der Verzweiflung von José, der Bobby geliebt hatte, ein schlechtes Gefühl bei mir zurück. Ich beschloß, eine Weile spazierenzugehen, und schlenderte kurz darauf die schwüle Seventh Avenue entlang in Richtung Splash. Die Bar war noch voller als bei meinem letzten Besuch. Dein T-Shirt lag eng an meinem Leib; um Aufmerksamkeit zu erregen, hatte ich die Ärmel aufgerollt. Vielleicht würde es mir dann gelingen, mich dir gegenüber nicht so verletzlich zu fühlen. Ein von Steroiden aufgeblähter Barkeeper servierte mir einen kalten Rolling Rock mit einem lüsternen Grinsen, bei dem sich meine Laune sofort besserte. - 130 -
Kurz darauf stand ich wieder in der Ecke, wo ich mir auf dem Videoschirm die Morning Party anschaute. Da der Sommer zu Ende ging und die Tage kürzer wurden, zeigte das Splash auf vielfachen Wunsch immer wieder die Aufnahmen von der Morning Party. Manchmal mischten sie sogar Aufnahmen vom Gegenstück an der Westküste, das in Palm Springs stattfand, darunter. Ich versuchte, mich an mein Lebensgefühl aus der Zeit zu erinnern, bevor ich auf dich fixiert war, als ich noch für die Vorstellung offen war, es könnte auch andere in meinem Leben geben. An diesem Abend jedoch, als ich deine Wohnung hütete, als ich mir noch große Hoffnungen machte, als ich noch glaubte, du könntest derjenige sein, dessen Hitze mich endlich von Chad kurieren würde, richtete ich meine Aufmerksamkeit auf den Videoschirm, bis ich endlich das sah, was ich, wie ich wußte, zu sehen bekommen würde: dich beim Tanzen mit dem Schwarzen. Und während ich zuschaute, versuchte ich, mir einzureden, daß ich der einzige auf der Welt war, der einen besonderen Platz in deinem Leben einnahm, der einzige, dem der Herzensbrecher am Ende die Geschichte seines eigenen gebrochenen Herzens erzählen würde. Von hinten kam eine Hand und packte mich am Kinn. Ich schaute hinunter auf den muskulösen, sommersprossigen Arm von Peter Rocca. »Na, was ist, ist das deine neue Stammkneipe?« sagte er. »Sieht aus, als wär's deine.« »Nee, ich bin mit Sebastian hier. Wir sind nur auf 'n Bier vor dem Abendessen reingeschneit.« »Klingt, als ob ihr beide wieder zusammen wärt.« »Und was ist mit dir? Du rufst gar nicht mehr an.« »Als ob du mich angerufen hättest.« »Das ist eine Frage des Stolzes. Die letzten beiden Male, - 131 -
als ich dich gesehen habe, hast du mich wegen Sean Paris stehenlassen.« Peter sah sich um. »Seid ihr zusammen hier?« »Nein, er ist nicht in der Stadt.« »Hey, Sebastian!« schrie Peter. Sein Freund mit der Pompadourfrisur stand ein paar Schritte entfernt und unterhielt sich mit ein paar anderen Typen. »Sean Paris ist tatsächlich nicht in der Stadt.« Sofort bereute ich es, diese Information geliefert zu haben, und gelobte, sofort in deine Wohnung zurückzukehren für den Fall, daß einer von denen, die bei Sebastian standen, Bobby Garzinos Ex-Lover war oder ihn kannte. Ich fragte Peter, wozu Sebastian das wissen wolle. »Ich weiß nicht. Jemand hat ihn vorhin danach gefragt.« Kurz darauf verabschiedete Sebastian sich von seinen beiden Kumpeln und kam mit absichtlich langsamen Schritten auf uns zu. »Was haste gesagt?« sagte er mit einer Art Knurren, wobei er sich besitzergreifend an Peter drängte und mich aus dunklen Augen anfunkelte. Sein längliches Gesicht war von einer Schönheit, wie sie bei bestimmten mediterranen Männern üblich ist, und er hatte eine große, aber gut geschnittene Nase. »Sean Paris ist tatsächlich nicht in der Stadt«, sagte Peter. »Wer interessiert sich für Sean Paris?« fragte ich. »Du.« Sebastian grinste mich mit blitzenden Zähnen an, von denen bei einem eine Ecke fehlte. »Große Liebe.« »Große Schnauze.« Ich warf Peter Rocca einen mißbilligenden Blick zu und wandte mich wieder an Sebastian. »Er sagte mir gerade, ein Freund von dir hätte nach ihm gefragt.« »Ach was? Bist du etwa das Kindermädchen von Sean Paris?« - 132 -
»Ich nehme Nachrichten für ihn entgegen.« »Du bist ganz schön schnell eingezogen, was?« »Sagen wir, ich habe mein eigenes, unnachahmliches Tempo.« »Ich weiß alles über dein Tempo, Mann. Erinnert mich an 'n paar Haie, die ich im Aquarium gesehen habe.« Der aggressive Unterton kam mir vertraut vor, und ich suchte in Sebastians Gesicht nach einem Hinweis, daß er den Anrufer möglicherweise kannte. »Und du kannst mir glauben«, fuhr Sebastian mit einem Blick auf Peter fort, »ich würde überhaupt nicht mit dir reden, wenn ich wüßte, daß du dich immer noch zwischen uns drängen wolltest.« »Hab' ich in diesem Gespräch eigentlich auch was zu sagen?« fragte Peter gereizt. Ich wandte mich zu ihm um und erinnerte mich an jenen kalten Nachmittag vor vielen Monaten, an dem ich um die Ecke der Lafayette Street gebogen war und gesehen hatte, wie er diesen dunkelhäutigen grüblerischen Mann gewürgt hatte. »Nur zu«, sagte ich. »Leg los.« Peter zog es jedoch vor, sein Psychiater-Pokerface aufzusetzen, und wegen seiner Zurückhaltung warfen Sebastian und ich uns einen verschwörerischen Blick zu, bevor sich die Fronten wieder schlossen. »Okay, betrachten wir doch alles einmal nüchtern«, faßte ich ernsthaft zusammen. »Tut mir leid, wenn ich dir Kummer gemacht habe, Sebastian. Ich wußte nicht, wie wichtig du für Peter bist. Können wir nicht einfach sagen: Schwamm drüber? Wenigstens so weit, daß wir freundlich miteinander umgehen können.« Sebastian fuhr sich mit den Fingern provozierend durch sein kräftiges onyxfarbenes Haar, fast als wolle er sich über meine immer lichter werdende Platte lustig machen. - 133 -
Schließlich sagte er: »Ich nehme deine Entschuldigung an, okay?« Dann stupste er mir mit einem Finger in die Brust. »Aber was du getan hast, ist nicht vergessen. Ich bin nämlich Malteser«, fügte er als Erklärung hinzu. »Ich werd' nicht mal versuchen, das zu verstehen.« »Würd' ich auch nicht an deiner Stelle«, sagte Peter zustimmend. Wieder in deiner Wohnung, rief ich bei mir zu Hause an, um den Anrufbeantworter abzuhören, und erhielt eine Nachricht von Greg, der angab, er müsse zu einem Termin, und fragte, ob ich am nächsten Tag kommen und Casey sein mittägliches Antibiotikum geben könne. Um seine Gefühle zu schonen, hatte ich ihm die Hintergründe erklärt, bevor ich erzählt hatte, daß ich bei dir wohnte. Jetzt sprach ich Greg eine Nachricht auf Band, daß ich am nächsten Mittag zur Stelle sein würde. Als ich in Gedanken versunken in deinem Bett lag, fiel mir ein, daß schon allzu oft meine ungezügelte Neugier auf die Vergangenheit meines Lovers das Glück in der Beziehung vergiftet hatte. In deinen in marmoriertes Papier gebundenen Tagebüchern stand, was du für R. M., den ich nicht kannte, von dem ich aber gern mehr erfahren hätte, empfunden hattest. Dagegen stand die Erkenntnis, daß alles, was ich lesen würde, mich vermutlich noch mehr verunsichern würde, um so mehr, als es aus dem Zusammenhang gerissen wäre. Und so lag ich in deinem Bett und kämpfte mit dem Drang, deine geheimsten Gedanken in mich aufzunehmen, und mit meiner Furcht vor ihnen, betrachtete die Lichter der Stadt, die die Zimmerdecke übersäten, und schaute nach draußen zu den Ästen des Lebensbaums im Hof. Schließlich faßte ich einen Entschluß. Als ich aus dem Bett stieg und die Schatten durch- 134 -
kreuzte, stellte ich mir schuldbewußt vor, wie du irgendwo im Norden von Montana in einem Motel schliefst, vor deinem Fenster die hohen Silhouetten von Nadelbäumen und dahinter ein schwarzer Horizont aus Bergen mit beschneiten Gipfeln. Wie ein armer Sünder kniete ich vor dem verstaubten untersten Bücherregal nieder, legte meine Hand auf den schmalen ersten Band und schlug ihn da auf, wo die Reihe der Briefe auf Transparentpapier verborgen war. Ich wählte einen davon aus und trug ihn zum Fenster, um ihn im Licht des Mondes zu lesen. Nur ein Brief auf gut Glück, sagte ich mir. Keinen mehr, keinen weniger. Dies sollte mein letzter Pakt mit dem Teufel der Neugierde sein. Dachte ich zumindest. Bevor ich zu lesen begann, roch ich an dem Blatt: der schwache, aber doch deutliche Geruch nach Waschraum, nach der Hand einer Mutter, die Kragen und Manschetten schrubbt, der süßere Duft eines jüngeren Mannes, für den besser gesorgt wurde, anders als dein steiferer Geruch heute, der eines Typen mit Achtstundenjob, der seine Wäsche und sein Bettzeug zur Wäscherei gibt. Okinawa, 9. Juli 1982 Lieber R. M. Das zweite Mal in zehn Tagen, daß Du mich versetzt hast. Wieso kannst Du nicht einfach anrufen und sagen, daß Du Schiß hast? Weißt Du nicht, wie verdammt nervenaufreibend es für mich ist, von der Demütigung ganz zu schweigen, immer wie ein Trottel vor dem Army-Laden herumzustehen und die ganzen Freunde von meinem Stiefvater sehen zu müssen ? Und daß sie zu Hause sein könnten, wenn Du anrufst, ist keine Entschuldigung dafür, daß Du nicht anrufst, um zu sagen, daß Du 's nicht schaffst. Es könnte jede Menge Gründe geben, warum Du mich an- 135 -
rufst. Ich bin alt genug. Ich darf Freunde haben ... Ich unterbrach die Lektüre, um auszurechnen, daß du 1982 einundzwanzig gewesen sein mußtest. Du führst ständig die Möglichkeit an, mein Stiefvater könnte uns auf die Schliche kommen. Ich weiß, daß das eine Vernebelungstaktik ist. Und Du weißt es auch, Du weißt, es gibt eine Menge Orte, wo wir uns weiterhin anonym treffen könnten. Ich hasse es, wenn Du nicht ehrlich sein kannst; dann komme ich mir wie ein Kind vor. Und ich bin kein Kind mehr, R. M.; ich weiß genau, was ich will. Ich kenne Dich lange genug, um zu wissen, daß ich mit Dir und nur mit Dir zusammensein will. Und Du weißt es auch, und deshalb hast Du Angst, daß ich, wenn meine Eltern etwas ahnen, wenn mein Vater fragt, nicht lügen würde. Aber natürlich würde ich lügen, ich würde für Dich lügen. Du hast gesagt, ich könne nicht richtig in Dich verliebt sein, aus irgendeinem Grund glaubst Du mir nicht, wenn ich es Dir sage. Dann erklär mir mal, was es ist, das mich nachts wach hält, das mir den Appetit raubt, das mein Herz rasen läßt, auch wenn ich überhaupt nichts tue ? Und woher kommt es, daß ich mir wie mein eigener Gefangener vorkomme, wenn Du nicht zur vereinbarten Zeit anrufst, und weiß, daß ich wieder die Ewigkeit eines ganzen Abends durchstehen muß, bis ich alleine bin und Du endlich anrufen kannst ? Und selbst dann kann ich nie Dich anrufen. Meine Eltern fragen mich ständig, wann ich nach Kalifornien zurückgehe; sie verstehen nicht, warum ich es hinauszögere, mir einen Job zu suchen oder mich für die Fachhochschule zu entscheiden. Sie merken, daß mein - 136 -
Leben stillsteht, sie können spüren, daß ich auf etwas warte. Inzwischen fange ich an, die Hoffnung aufzugeben. Weil Du aufgehört hast, davon zu reden, Dich zurück nach San Diego versetzen zu lassen. Weil Du aufgehört hast, über unsere gemeinsame Zukunft zu reden. Und weil Du mir nur noch sagst, daß Du mich liebst, wenn Du in mir bist und es mir weh tut und Du einfach nur vergißt, die Worte zurückzuhalten. Ich warte immer noch darauf, von Dir zu hören. In ewiger Liebe S.P.
11. Wir versuchten, erneut miteinander zu schlafen, kurz nachdem du in die Stadt zurückgekommen warst und nach der Reise in der Stratosphäre, nach Flugzeugbenzin und dem süßen Geruch von Plastikkopfhörern duftetest. Du kamst in deiner Arbeitshose herein, und dein Hals war rot von einem Sonnenbrand, wie Arbeiter ihn bekommen. Es jagte mir Angst ein, wie du die Arme um mich warfst. Immer wieder versuchte ich, die rote Linie des Sonnenbrands an der Grenze zur bleichen Haut abzulecken. Allzu rasch jedoch fühlte ich, wie der Marine zwischen uns trat, der Marine, der einst die Macht besessen hatte, dich in eine solche Erwartung und Begierde zu versetzen, der Marine, der dich gefickt hatte, bis es schmerzte. Etwas ließ mich zurückschrecken, und dann übertrug sich meine Stimmung auf dich, und schließlich lagen wir voller Zweifel nebeneinander da. »Gott«, sagtest du endlich, »es ist so komisch, denn die - 137 -
ganze Zeit im Flugzeug konnte ich an nichts anderes denken, als heimzukommen und mich auf dich zu stürzen.« »Es liegt an mir«, sagte ich. »Ich habe Angst.« Du sagtest eine Weile nichts und fragtest schließlich, wovor ich mich eigentlich fürchtete. Ich versuchte, mich zu verstellen. »Das Übliche«, sagte ich. »Mich zu verlieren ... verletzt zu werden.« »Okay, mir geht's genauso. Das heißt, wir verstehen uns wenigstens in dieser Beziehung.« »Denke schon.« »Ich glaube, es tut uns gut, wenn wir einige Zeit außerhalb der Stadt in einer anderen Umgebung miteinander verbringen.« »Eigentlich gefiel es mir, hier zu wohnen«, sagte ich, den Blick auf den wilden Haufen unserer Kleider gerichtet. »Ich hab' eine Menge Arbeit geschafft.« Plötzlich wurde mir bewußt, daß du auf einmal bereit warst, deine Wohnung unbewacht zurückzulassen. »Was ist mit Bobby Garzinos Ex-Lover?« »Falls José anruft, was er bestimmt tun wird, erzähl' ich ihm einfach, ich hätte alles, was Bobby mir gegeben hat, aus der Wohnung geschafft. Wir bringen's zu dir rüber, okay?« Wieso hatten wir das nicht schon früher getan? »Aber jetzt weiß er auch, wer ich bin.« »Woher soll er das wissen?« Ich erklärte, daß einige seiner Freunde uns offenbar zusammen aus dem Splash hatten kommen sehen. »Ich will genausowenig, daß er in meine Wohnung einbricht.« »Okay, verstanden. Ich bring' alles in mein Büro.« Von dort, wo ich lag, konnte ich die Gesäßtasche der Arbeitshose und den verwaschenen Aufdruck Monroe in Blockschrift sehen. Wie einen Stich spürte ich plötzlich - 138 -
Schuldgefühle wegen meiner Indiskretion. »Als du weg warst, habe ich nach einem T-Shirt gesucht und bin dabei auf einen Stapel Arbeitshosen mit dem Namen Monroe hinten drauf gestoßen.« »Ach, und?« »Wer ist dieser Monroe?« Du wartetest einen Augenblick, bevor du sagtest: »Monroe war mein Chad.« Es gelang mir zu lachen, obwohl innerlich das erstickende, Übelkeit erregende Gefühl zurückkam, das mich überschwemmt hatte, als ich zum erstenmal den Brief gelesen hatte. »Wo kommt er her?« »Aus Nevis hauptsächlich, obwohl er in Michigan geboren ist.« »Aus Nevis in der Karibik?« »Er ist schwarz«, fügtest du als Erklärung hinzu. Natürlich! Wieso hatte ich mir das nicht gedacht? Monroe war wahrscheinlich genauso toll wie der Typ, mit dem du auf dem Video getanzt hattest. Vielleicht fandest du schwarze Männer toll und jeden – mich eingeschlossen – im Vergleich dazu minderwertig und unscheinbar. »Wie lange ist es her, daß du mit ihm zusammen warst?« »Acht Jahre.« »Stehst du auf Schwarze?« »Nicht ausschließlich, nein.« Ich haßte es, zu wissen, wie sehr du diesen Monroe einst geliebt hattest. Und ich haßte es, zu wissen, daß euer Sex elektrisierend und verschlingend gewesen sein mußte. Und jetzt fühlte ich mich unglücklich, denn unser Sex war jetzt schon schiefgegangen. Aber dann fing das Telefon an zu klingeln, und wir hörten zu, bis der Anrufbeantworter ansprang und das Tohuwabohu einer Straßenecke wiedergab und dann ein einsames Freizeichen. - 139 -
»Und was hat er noch gesagt?« fragtest du düster. »Hat er dir gesagt, daß es noch immer Leute in der Stadt gibt, die mir das Gesicht verunstalten wollen?« Ich lächelte. »Er sagte, sie warten damit, bis du mir das Herz gebrochen hast.« »Das heißt dann vermutlich, dein Herz wird das letzte sein, das ich je brechen werde.« »Darin könnte sogar eine gewisse Auszeichnung liegen«, sagte ich. Du kichertest und kuscheltest dich enger an mich. »Hast du all diese Hosen von diesem Monroe-Typ, hm?« sagte ich. »Unter anderem.« Aus irgendeinem Grund versetzte mir das einen Stich. Ich setzte mich auf. »Was zum Beispiel? Was hat er dir sonst noch gegeben?« Verblüfft schautest du mich an und sagtest ein wenig defensiv: »Ich weiß nicht. Laß mich nachdenken. Eine präkolumbianische Statue. Einen Tennisschläger.« Ich schaute mich in der Wohnung um. »Und wo ist die Statue?« »Am Ende hat er sie kaputtgeschlagen.« Ich suchte deine Miene nach einem Anzeichen für Verlegenheit ab. »Dann war er also einer von der gewalttätigen Sorte, hm?« »Nicht sehr oft. Und eigentlich nur, wenn er provoziert wurde. Trotzdem haben wir eine Menge Kämpfe ausgetragen, verbal. Was natürlich auch sein Gutes hatte.« »Das brauchst du mir nicht zu sagen!« Und dann: »Nichts geht über Sex nach einem ordentlichen Streit.« »Wie ein Orgasmus, wenn dir das Herz bricht«, sagtest du mit düsterem Lächeln. Du wandtest den Blick ab, und nun konnte ich deine - 140 -
Trauer spüren, selbst darin, wie deine dunklen Locken über dein Kopfkissen streiften. Nach all den Jahren hatte dich dieser Monroe also noch immer in der Gewalt. Und nun wußte ich, daß Bobby Garzino wohl kaum für die Tränen verantwortlich war, die du in der ersten Nacht vergossen hattest, als ich erfuhr, wer er war und wie er gestorben war, der ersten Nacht, in der ich dir von Chad erzählt hatte. Ich wußte nun, daß dein Leben an diesen Marine gekuppelt war, schon lange, bevor du den Weber kennengelernt hattest.
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ZWEI Marine 12. Wir schwammen auch bei Tageslicht, aber er mochte es, wenn starker Seegang herrschte, vorzugsweise, wenn die rote Flagge wehte und mehrere Reihen von Wellen sich gleichzeitig brachen. Ich bevorzugte die stillen Spätnachmittage, wenn sich der Pazifik kobaltblau färbte und das Sonnenlicht von Westen einfiel und der Schaum wie Phosphor schimmerte. Wir folgten dann der Linie aus Bojen, die den Nichtschwimmerbereich abgrenzten, die sich zwei Meilen entlang der Santa-Barbara-Küste hinzog, vorbei am Schwimmpavillon von East Beach, vorbei am Matrosenfriedhof, der über den Kalksteinklippen thronte, die zum Nacktbadestrand abfielen, vorbei an den Steinbalustraden, an denen das Biltmore Hotel zu erkennen war. An das Training im Becken gewöhnt, genossen wir den größeren Auftrieb des Salzwassers. Er gab uns das Gefühl, ewig weiterschwimmen zu können. Chad war schneller und schwamm mir immer voraus, und ich strengte mich an, seinem Beinschlag dicht zu folgen. Aber schon bald hatte er so viel Vorsprung, daß mich die Dunkelheit des Wassers verschluckte und ich wieder völlig allein war. Manchmal war er mir so weit voraus, daß ich ihn an einer Boje wiederfand, wo er mit in den Nacken geworfenem Kopf, die Haare zerzaust und salzverkrustet, auf mich wartete. Das Grinsen in seinem Gesicht und seine Zähne, weiß wie gebleichte Knochen – einmal, als er so auf mich wartete, sagte er trocken und ohne mich provozieren zu - 143 -
wollen: »Du bist wahrscheinlich der einzige Schwimmer.« Seine ohnehin schon heisere Stimme klang besonders rauh. »Komm schon.« Ich fragte mich, ob er mir zu sagen versuchte, ich sei seine große Liebe. »Der erste, der letzte und alle dazwischen«, fügte er mit einem träumerischen Grinsen hinzu, das mich nun an dich erinnert. Er tauchte an der Boje ab und schwamm weiter. Wir hatten an diesem Tag am Strand unter dem Friedhof angefangen, bereits eine Meile entlang der Küste geschafft, und befanden uns auf dem Rückweg. Während ich weiterhin hinter ihm herschwamm, kam ich zu dem Schluß, daß das, was er gesagt hatte, damit zusammenhing, daß wir beide schwimmen konnten wie Besessene. Ich war der einzige Schwimmer, der es auch nur annähernd mit ihm aufnehmen konnte. Zuweilen ist es die Stärke eines Lovers und nicht sein Unvermögen, die die Aussicht auf eine Zukunft verleidet und verdirbt. Ich wartete jedoch, bis wir aufgehört hatten und uns abtrockneten, ehe ich direkt fragte, was er gemeint hatte. Er grunzte und trocknete sich noch ganz ab, bevor er antwortete: »Unterstellst du mir Hintergedanken?« »Ich versuch' nur, dich zu verstehen.« Er feuerte sein nasses Handtuch nach mir, und ich schnappte danach, damit es nicht in den Sand fiel. »Ist mir nur so rausgerutscht. Als hätt' ich 'n kleinen Fisch verschluckt«, sagte er dümmlich. »War nur als Kompliment gemeint.« Also glaubte ich ihm. Glaubte, daß unsere Liebe, ebenso wie unsere gemeinsame Schwimmleidenschaft, ein Glückstreffer der Natur sei. Und aus diesem Grund schmerzt mich sein Verschwinden noch immer. Er mußte eine dunkle Ahnung von dem gehabt haben, was er ein - 144 -
paar Monate später tun würde, denn er führte von da an das unberechenbare Leben eines Vagabunden, wurde ein Mann ohne Bindungen. Gut möglich, daß er während der Saison ein Muscheltaucher hätte sein können, ein Ölbohrer, der auf einsamen Bohrinseln im Golf von Mexiko arbeitet, Koch auf einem Shrimpsfänger. Er entzog sich immer mehr, bis es zum großen Abgang kam. Als ich ihn tagelang nicht erreichen konnte, nahm ich zunächst an, daß es außer mir noch jemanden in seinem Leben gäbe – vielleicht sogar eine Frau, denn es hatte in seiner Vergangenheit Frauen gegeben. 1980 gab es noch so gut wie keine Anrufbeantworter, und sich in jemanden zu verlieben, der schwer zu erreichen war, hieß, stündlich anzurufen, mitten in der Nacht anzurufen und das Telefon zwanzig, dreißig, vierzig Mal läuten zu lassen, bevor ich, den Hörer an mich geschmiegt, einschlief. Zuallerletzt fuhr ich angstgeschüttelt die fünfzehn Meilen von meiner Wohnung in der Mason Street bis hinaus nach Isla Vista. Es passiert mir immer wieder, daß ich das Objekt meiner Begierde überall, wo ich gehe oder stehe, zu sehen glaube, sogar hundert Meilen entfernt von jedem Ort, an dem das logischerweise möglich wäre: in einem Auto, das vor einem Supermarkt parkt, als einsame Gestalt, die im Dämmerlicht einer neonerleuchteten Bar Billard spielt. Und manchmal, wenn ich tagsüber auf der 101 nach Norden fuhr, glaubte ich tatsächlich, ich würde in dem Schwarm von Autos, die in südlicher Richtung nach Los Angeles fuhren, den verbeulten VW mit Harvard-Aufklebern und schwarz angesprayten Stoßstangen vor mir davonfahren sehen. Dann fuhr ich auf die Standspur und versuchte, herauszufinden, ob es Zweck hatte, noch bis zu seiner Wohnung zu fahren. Aber immer fuhr ich weiter. - 145 -
Manchmal fuhr ich sogar früh um drei Uhr hinaus, wenn sonst kaum Autos auf der Autobahn waren. In seinem Stadtteil fuhr ich dann ziellos durch alle Straßen im Studentenviertel und stellte mir vor, wie alle die Erstsemester, die an meinem Schreibseminar teilnahmen, unschuldig in ihren Fertighauswohnungen schliefen. Was würden sie wohl denken, wenn sie wüßten, daß ihr Dozent wie besessen durch Isla Vista fuhr, um seinem treulosen Liebhaber nachzuspionieren? Ich fuhr durch Straßen, die Namen trugen mit »Camino« oder »Calle«: Camino Pescadero, Camino del Sur, Calle del Barco, Calle Albrigado. Er wohnte in der Del Playa, einer Straße, die am Ozean entlangführte und in der es nahezu unmöglich war, ein freies Zimmer zu finden, da alle Häuser und Wohnungen von einem weitverzweigten Clan von Surfern bewohnt wurden. Sie waren gut organisiert und verschacherten frei werdende Zimmer an ihresgleichen, noch bevor sie offiziell angeboten wurden. Chad surfte nicht so häufig, er war nicht Mitglied irgendeiner Surfergemeinschaft; dennoch hatte er es geschafft, seine Mitbewohner immer wieder mit seiner Fähigkeit zu begeistern, sich bei jedem Wetter in die Meereswogen zu stürzen. Er hatte sein eigenes Zimmer und sein eigenes Telefon bekommen, und wenn ich ihn nicht erreichte, war es mir auch nicht möglich, seine Mitbewohner zu sprechen und zu erfahren, ob er aus der Stadt abgehauen war oder sonst irgendwo aus war oder ob er einfach nur den Stecker herausgezogen hatte. Noch vor meinem Auto bog mein Blick um die Ecke zu der von Unkraut überwucherten Einfahrt, und ich reckte den Hals, um zu sehen, ob sein verbeulter VW dort geparkt war. Meistens war er nicht da, und ich hatte dann um - 146 -
drei Uhr morgens eine einsame Fünfzehn-Meilen-Fahrt zurück zu meiner leeren Wohnung und eine weitere schlaflose Nacht vor mir. Wenn ich zu einer zivilen Zeit ankam, ging ich jedesmal hinein und versuchte, Informationen von seinen Mitbewohnern zu bekommen, die sich dann an ihren sonnenverbrannten Köpfen mit verfilzten Haaren kratzten und in gedehntem Südkalifornisch murmelten: »Hab' keine Ahnung, Will. Hey, Coz, wo is 'n unser Chad, wo is 'n unser seltener Gast diesmal hin?« Aber Coz wußte nie etwas, und Reese oder Dino auch nicht – ein anderer, der Tripp hieß, war immer zu bekifft, um überhaupt etwas zu wissen. Sie mißtrauten mir, diese Mitbewohner, und ich hatte oft den Verdacht, daß sie mir in seinem Auftrag etwas verheimlichten. Wären sie Dichter gewesen, hätten sie vielleicht gesagt, daß Chad ebenso unberechenbar sei wie einige ihrer Lieblingswellen, auf denen man toll reiten kann, bevor sie umkippen und einen durcheinanderwirbeln. Wenn er jedoch zu Hause war, verbrachten wir Stunden und Tage zusammen, ohne uns zu trennen. Wir saßen in der Bibliothek, acht Stunden und länger in völliger Stille, ich las Thackeray, er Schopenhauer; dann sprangen wir für fünftausend Meter ins Schwimmbecken und kehrten zurück. Ich erinnere mich, daß er einmal kam, nur um Burritos mit schwarzen Bohnen und spanischem Reis bei mir zu essen, und schließlich drei Tage und Nächte lang blieb, in denen er von Haas-Avocados und mexikanischen Papayas und Orangen aus Valencia lebte, die ich für ihn einkaufte, während er meine Popular-Library-Ausgabe von Der Zauberberg verschlang. Noch Tage danach konnte er von nichts anderem als dem Roman sprechen. Nachdem er verschwunden war, quetschte ich seine Mit- 147 -
bewohner nach Anhaltspunkten aus, und sie beschimpften mich, weil ich sie verdächtigte, mehr zu wissen, als sie mir sagten; denn auch sie waren außer sich. Es rührte mich, zu sehen, wie sein Verschwinden ihr Leben beeinflußte. Tagelang saßen sie in zerfetzten Surfershorts und teerverschmierten Sandalen untätig im Wohnzimmer. Immer wieder ließen sie mich die Geschichte erzählen, wie er mich gegen meinen Willen überredet hatte, schwimmen zu gehen, und daß er keine »letzten Worte« gesagt hatte, als wir den Cabrillo Boulevard entlanggegangen waren. Sie zerlegten meine Erzählung wie Detektive. »Du hast also den Kahn gesehen, ja? Und du hast's ihm gesagt, stimmt's? Er hat dich ganz bestimmt verstanden? Okay. Okay. Und du hast dich nicht mal umgeschaut, ob er da ist?« Es endete immer mit: »Ihr Typen ... nachts schwimmen zu gehen ... was war mit euch Typen los, verdammt noch mal?« Aber sie wußten, daß wir Nachtschwimmer waren. Sie kannten Chad. Und am Ende waren sie unterschiedlicher Meinung, was mit Chad geschehen sein mochte. Reese und Tripp waren sich sicher, daß er tot war. Dino und Coz glaubten wie ich, er sei absichtlich verschwunden. Drei Monate lang teilten die drei sich seinen Mietanteil in der Hoffnung, er werde irgendwann auftauchen, aber schließlich waren sie gezwungen, sein Zimmer weiterzugeben. Inzwischen war alles, was er besaß, zu seinen Eltern gebracht worden – außer dem geliebten VW. Es munterte mich etwas auf, als sie ihn mir gaben, denn für eine Weile gab mir das die Möglichkeit, mir vorzustellen, ich sei er. So, wie ich die wenigen Kleider, die er in meiner Wohnung zurückgelassen hatte, anzog; so, wie ich seine leicht vornübergebeugte Haltung nachahmte; so, wie ich aus Daumen und Zeigefinger einen Ring formte und - 148 -
schrill pfiff, wie er, wenn er inmitten der Wogen auf einem Brett stand. Die gesamte Anverwandlung brachte mich jedoch dem Geheimnis seines Verschwindens kein bißchen näher. Wenn ich ihn zu Hause antraf, was sich durch den triumphalen Anblick des zerbeulten beklebten VWs in seiner Auffahrt ankündigte, fuhr ich unwillkürlich mit den Händen über die Heckklappen, um zu sehen, ob der Motor noch warm war. Manchmal traf ich ihn auf der rückwärtigen Terrasse des Hauses, wo er zwischen den Terrakottatöpfen stand, die von Kräutern und Aloeablegern überwuchert waren, und auf den Ozean und die Girlanden aus Tang entlang der Küste hinausschaute. Er drehte sich dann zu mir um, grinste mich an, ohne Überraschung zu zeigen, und sagte: »Riecht ziemlich nach Teer heute, findest du nicht?« Selbst nach zehn Jahren noch deprimiert mich der Teergeruch von Pazifikstränden und macht mir Kopfschmerzen. Oder: »Ich wollte gerade anrufen. Dir sagen, daß du deine Knochen hier raufschleppen sollst. Willst 'n Bier?« Gewöhnlich war es Corona, farblose Flaschen mit blauen Etiketten, die sich in seinen starken, sehnigen Händen so gut machten; sie klingelten, wenn er mit seinem silbernen Türkisring dagegenschlug. Manchmal war es Dos Equis, manchmal Carta Bianca – aber immer mexikanisches. Ich trank schnell, um meine Angst zu ertränken. Während er seine Flasche zu einem Schluck anhob, erzählte er mir dann, daß er rauf nach Jalama zum Surfen gefahren war, daß er zwei Tage lang in der Nähe des Point Conception meditiert und abwechselnd Gurdijeff gelesen und versucht hatte, sich in die Seelen der Chumash-Indianer »einzuklinken«, bevor sie übers Wasser flogen. Hatte er das alles aber auch wirklich getan? - 149 -
Natürlich hatte ich den Wunsch, ihn dafür zu beschimpfen, daß er abgehauen war, ohne mir Bescheid zu sagen. Aber ich sagte nur: »Du solltest jemandem Bescheid geben, wenn du wegfährst. Sonst weiß keiner, ob du schwimmen gegangen und einfach nicht mehr rausgekommen bist.« »Sieh mal, wir sprechen dann miteinander, wenn ich dich gleich erreiche. Wenn ich's einmal versuche, und du bist nicht da, warte ich einfach nicht.« Den Blick hinaus auf die Wellen gerichtet, krümmte er eine seiner teerbefleckten Zehen auf den verwitterten Planken der Terrasse. »Du machst dir zu viele Gedanken über unsere Kommunikation, Will. Du machst dir Sorgen um mich, wenn es nicht nötig ist. Wenn ich sage, ich liebe dich, dann liebe ich dich. Ich verlasse dich nicht, ich lebe einfach nur. Wenn ich abkratzen würde, würdest du es definitiv wissen.« »Wie«, schrie ich. »Wie könnte ich es wissen?« Er zuckte die Achseln. »Ich würde dir ein Zeichen geben.« Dann grinste er, fixierte mich gierig mit seinen schwarzen Augen und sagte: »Aber selbst wenn ich tot bin, fick' ich irgendwie mit dir. Werde ein Inkubus und lutsch' dir mitten in der Nacht den Schwanz.« Chad nahm einen Riesenschluck Bier und schien einen Augenblick lang nachzudenken. »So bin ich nun mal, Will. Ich zigeuner' gern rum. Das ist alles. Mir gefallt der Gedanke, frei herumzustreunen oder an zwei Orten zugleich zu sein.« Damit trank er den Rest der Flasche aus, stellte die Flasche mit lautem Knall auf dem Geländer der Terrasse ab und grinste: »Ich denke sowieso immer an dich, wenn ich weg bin.« Damit führte er mich in sein Schlafzimmer, wo haufenweise gesammeltes Treibholz lag, das aussah wie Heiligenfiguren, wo Aschenbechern voller rundgewaschener - 150 -
Glasscherben standen, die er entlang der kalifornischen Küste gefunden hatte, und wo eine ganze Wand von deckenhohen Bücherregalen eingenommen wurde. Er zog improvisierte Vorhänge aus gefärbter indischer Baumwolle zu, zündete einige Kerzenstummel an, die nach Sandelholz rochen, und löste, den Blick auf mich gerichtet, den Lederriemen mit drei blauen afrikanischen Glasperlen von seinem Hals. Er legte Sting auf, schluckte sein Bier hinunter und wischte dann sehr zärtlich die Sandkörner von meinen Schultern. Zuerst stießen unsere Leiber so hart aneinander, daß die sexgeladene Reibung die Raumtemperatur erhöhte und den Eukalyptusduft noch intensiver machte. Wie um die Spannung zu mindern, goß er eine Linie aus Bier mitten auf meine Brust bis hinunter zwischen meine Beine, schlürfte es auf und umschloß dann meinen Schwanz mit seinem meereskalten Mund. Danach besserte er sich sehr, was das Anrufen anging, um mich zu benachrichtigen, wenn er mir nichts, dir nichts die Stadt verließ. Er legte sogar darauf Wert, mich von verrückten Orten wie Los Alamos anzurufen, wo er voraussichtlich einen Nachmittag verbringen würde, um den Kampfflugzeugen in Vandenburg beim Starten und Landen zuzuschauen. Und ich glaubte ihm. Bei Pismo Beach schwamm er durch die Felsformationen; bei Atascadero verbrachte er einige Tage, um freiwillig in einem Männergefängnis zu arbeiten. Die Anrufe waren beruhigend. Der Grund, warum er sich plötzlich gebessert hatte, mag jedoch gewesen sein, daß er bereits beschlossen hatte, was er tun würde. Und sobald er sich einmal entschieden hatte, hatte er es nicht mehr nötig, aus seinen täglichen Abwesenheiten eine schmerzhafte Quälerei zu machen. Er bereitete sich auf das grausame Geheimnis seines totalen Verschwindens vor. - 151 -
13. Dies alles erzählte ich dir in Vermont, während wir an einem Abhang über dem Ottauquechee River standen, etwa eine Meile vor der überdachten Taftsvillebrücke. Ich hatte dir die Uferstraße gezeigt, weil ich ihre unheimliche Atmosphäre mochte, die von Weiden verhangenen Ufer, die mit dunklen Schindeln gedeckten Hütten mit schmalen Treppen, die zum brackig aussehenden Wasser hinabführten, das wirbelte wie die Symbole auf der Wetterkarte im Fernsehen. Wir hatten mein Auto bei einem Schwungseil geparkt, und nun kletterte ich auf die Kühlerhaube, um etwas Höhe zu gewinnen. Casey hockte an den Hinterrädern des Wagens, den schmalen Leib aufgerichtet und neugierig, was ich als nächstes tun würde. Ich sprang hoch und schwang wie ein Pendel weit über den Fluß hinaus, und als ich den höchsten Punkt der Kurve erreicht hatte, ließ ich los und plumpste ins Wasser. Einen Augenblick später platschte es in meiner Nähe; Casey war zum Ufer gerannt und hineingesprungen. Entschlossen schwamm er auf mich zu, den schönen Hundekopf übers Wasser gereckt und die leichte Strömung mit seiner weißen Brust und den weißen Spitzen seiner Pfoten teilend. »Sieht toll aus!« krächztest du mir durch die trichterförmig aneinandergelegten Hände zu. Dann klettertest du zum Ufer hinunter, nahmst das Seil, klettertest wieder nach oben, schwangst dich hinaus und ließt dich neben mir ins Wasser fallen. Ein Stück stromabwärts sahen wir eine Linie großer orangefarbener Kunststoffbojen, die mit Seilen verbunden waren und sich wie eine Halskette von einem Ufer zum andern spannten. Sie schützten sowohl Ausflugsboote als - 152 -
auch Schwimmer wie uns davor, die steilen Wasserfälle jenseits der Brücke hinabzustürzen. »Das hab' ich im letzten Sommer am liebsten gemacht«, erklärte ich, als wir im flachen Wasser standen und Casey vergnügt zwischen uns hin und her paddelte. »Ich kam immer hierher und schwang übers Wasser, wenn ich richtig deprimiert war.« »Deprimiert? Du meinst wegen Greg?« »Ich bin sogar von ein paar Eisenbahnbrücken in den White River gesprungen.« »Warum das? Um Selbstmord zu simulieren?« »Manchmal bringt einen so ein kleiner Rausch wieder hoch.« Du schautest mich einen Moment lang zweifelnd an, doch dann nicktest du. Ich fuhr mit dir zu einer längeren Schwimmrunde an einen Ort, der Lake Echo hieß. Dort bemerkte ich, während wir in die Mitte hinausschwammen, daß du einen ziemlich gleichmäßigen Zug hattest, du hättest nur die Ellbogen etwas höher nehmen und etwas mehr in den Schultern kreisen müssen, aber die Grundvoraussetzungen waren alle gegeben. Ich schwamm einen langgezogenen leichten Crawl und sah zu, wie sich das Wasser gewölbeartig vertiefte, wenn Speere aus Sonnenlicht in die Tiefe drangen. An einer Stelle tauchte ich nach unten. Mit dem Rücken nach unten betrachtete ich die Wasseroberfläche, die über mir glitzerte wie ein lebendiger Spiegel, dessen Silberhaut von Casey durchbrochen wurde, der wachsam seine Kreise schwamm und wartete, daß ich wieder auftauchte. Als ich schließlich deinen Körper über mir kreuzen sah, tauchte ich auf, um Luft zu schöpfen. »Weißt du, wie Wasserquirl geht?« »Wasserquirl?« - 153 -
Ich erklärte, daß es Wassertreten mit den Beinen war, so daß man die Hände frei hatte. »Und was hat man davon?« »Außer daß es das Entscheidende beim Wasserball ist, ermöglicht es einem, gleichzeitig zu schwimmen und ein Thunfischsandwich zu essen«, sagte ich lachend. Da deine Beine kräftig waren, hattest du es schnell raus, und wir traten Wasser mit gegeneinander erhobenen Händen und tauschten wäßrige Küsse aus. Als wir wieder ins Auto stiegen, entdeckte Casey etwas Totes am Straßenrand und fing an, vorsichtig daran zu schnüffeln. Du gingst hin, um danach zu schauen, und zucktest zurück. Ein kleiner Vogel, komplett mit Flügeln, flaumigem Leib und gelbem Hals, war völlig flach auf die Straßendecke gepreßt, wie ein in Stein eingebettetes Fossil. Ein glitzerndes blutiges Organ war den vernichtenden Reifen irgendwie entgangen und an den Überresten hängengeblieben. Es ähnelte einem kleinen Gehirn. Das war das Komische am Land, erklärte ich, während wir zum Lebensmittelhändler fuhren. Trotz seiner besänftigenden Schönheit, seines Reichtums an Pflanzen und Tieren traf man stets auf die Überreste von Gewalt und hörte grausige Geschichten von Unfällen; betrunkene Fahrer, die Rotwild überfuhren und gegen hundertjährige Bäume rasten, jemand verlor die Kontrolle über eine Kettensäge und trennte sich eine Hand oder einen Fuß ab. Ich erzählte eine Geschichte, die ich kürzlich über einen Kerl gelesen hatte, der sich zwischen den Touristen auf einem Aussichtsplatz hundert Meter über der Ottauquecheeschlucht herumtrieb. Er hatte sich nett mit einem Paar unterhalten, und als die beiden sich wenige Augenblicke später umdrehten, standen sie vor einem Paar akkurat abgestellter schwarzer Schuhe. Der Mann war - 154 -
hinuntergesprungen. Beim Blick in das schäumende Wasser tief unter sich sahen sie den leuchtend roten Fleck seines Blutes auf den Steinen. Du schwiegst. Schließlich sagtest du etwas. »Und etwas an der Stadt läßt einen glauben, man kann den Tod besiegen. Man ist an einem Ort, wo man, wenn etwas schiefgeht, in eines dieser Mega-Krankenhäuser geht und am Leben erhalten wird.« Ich hatte in New York bleiben müssen, um ein Interview zu beenden, und du warst mit Casey nach Vermont gefahren und hattest ein paar Tage alleine in meiner Unterkunft verbracht, bevor ich eintraf. Zuerst hattest du wenig Lust gehabt, dich um einen Hund zu kümmern, aber als Greg davon Wind bekam, erinnerte er mich eindringlich daran, wie sehr Casey das Land liebte. Um nicht zum Auslöser eines Streits zu werden, hattest du schließlich eingewilligt, den Hund mitzunehmen. Und so wohntest du in meinem kleinen roten Haus und versuchtest wahrscheinlich – zumindest hoffte ich das –, dir vorzustellen, das Leben von Will Kaplan zu leben, ebenso, wie ich versucht hatte, mir vorzustellen, ich lebte das Leben von Sean Paris in der Grove Street. Ich stellte mir vor, wie du bei natürlichem Licht an deinen Landschaftszeichnungen arbeitetest, um später mit Casey auf dem Friedhof aus den Revolutionskriegen auf der anderen Straßenseite spazierenzugehen. Endlich kamen wir zur Hütte zurück. Sie war um 1800 als einklassiges Schulhaus erbaut worden. Sie hatte seither oft den Besitzer gewechselt und war renoviert und modernisiert worden. Die jüngsten Neuerungen bestanden in dreilöchrigen Steckdosen und neuen, gebleichten und versiegelten Eichenfußböden, die einen auffälligen Gegensatz zu den originalen gealterten und gut erhaltenen - 155 -
hundertjährigen Pfählen bildeten, die sich zur Schlafebene emporwölbten, die nur mit Hilfe einer Leiter zu erreichen war. Als wir mit unseren Einkaufstüten durch die Tür traten, bemerkte ich, daß die Küchenuhr die falsche Zeit zeigte. Du erklärtest, daß in der Nacht vor meiner Ankunft ein stürmischer Wolkenbruch mit Hagelkörnern groß wie Kirschen getobt hatte. Blitz und Donner hatten die Stromzufuhr lahmgelegt. »Du bist wirklich ein ziemlich guter Schwimmer«, bemerkte ich, als wir dann an meinem runden Eßtisch saßen und eiskaltes Bier tranken, das kreisförmige Flecke auf dem Tischtuch hinterließ. »Besonders dafür, daß du's nicht wettkampfmäßig betrieben hast.« Etwas zögernd sagtest du: »Ich gehe nicht besonders gern schwimmen. Das ganze Gehüpfe im Fluß und im See heute ... normalerweise hätte ich das nicht gemacht.« »Ich habe nicht bemerkt, daß du dich gelangweilt hast.« »Ich habe mich auch kaum gelangweilt. Wir waren draußen. Und es ist wunderschön hier«, sagtest du und trankst einen Schluck Bier. »Es ist nur so, daß ich mich an Land wohler fühle. Das kommt wahrscheinlich davon, daß ich als kleines Kind in den Tropen war. In heißen Gegenden wachsen und leben eine Menge komischer Dinge. Mit dem Leben in Okinawa assoziiere ich, daß ich ständig auf der Hut war, ob sich nicht irgendein Vieh auf mich stürzt.« »Und was, zum Beispiel?« »Die fiesesten, häßlichsten, beschissensten Spinnen, die du je gesehen hast.« »Große?« Bananenspinnen, erklärtest du, haben die Größe einer Männerhand. Für kleine Tiere tödlich giftig. »Ein Biß von solch einem scheiß Vieh ist so, als ob du von einer - 156 -
Klapperschlange gebissen wirst.« Das Thema hatte dich gepackt. »Die spinnen riesige baumwollartige Netze mit Zweigen und Blättern dazwischen, Netze, die so groß sind, daß sie sich manchmal zwischen parkenden Autos über die Straße spannen. Draußen vor meinem Fenster war so eins zwischen einem Busch und der Hauswand. Groß genug, um Vögel zu fangen! Mir war klar, daß ich, falls ich einmal aus dem Haus fliehen müßte, auf keinen Fall aus meinem Fenster steigen konnte. Bananenspinnen haben ganz lange spitze Leiber und gegliederte, sehr dünne Beine. Alles, was sie fangen, spinnen sie ein und saugen dann das Blut aus. Wenn Grillen oder Heuschrecken gefangen werden, kommt es gewöhnlich zu einem fürchterlichen Kampf. Beim Versuch zu entkommen zerreißen sie das Netz. Und inmitten all der Zerstörung rennt die Spinne ständig quer über das Netz und repariert die zerrissenen Stellen und versucht, den Schaden zu begrenzen. Dann gibt es noch die Wasserspinnen, die so groß wie, sagen wir mal, ein kleiner Doughnut sind. Diese Burschen können sich flach machen, indem sie die gesamte Luft ausatmen, und dann überall hinkriechen, wo es Wasser gibt. Sie sind bekannt dafür, daß sie sich unter dem Rand der Toilette verstecken und einem, wenn man sich hinsetzt, über den Hintern krabbeln.« Mich schauderte vor Ekel. »Okay, okay, das reicht«, sagte ich. »Jetzt verstehe ich, warum dir der Winter lieber ist.« An diesem ersten Abend teilten wir uns die Kocherei auf und bereiteten das Abendessen gemeinsam zu: Brathähnchen mit Zitrone und Rosmarin mit neuen Kartoffeln, gedämpften Karotten und Broccoli, dann frische Himbeeren - 157 -
zum Nachtisch. Bevor wir uns jedoch auf ein Menü einigten, gingen wir viele Möglichkeiten durch. Du stauntest, wie viele Rezepte ich auswendig wußte, Rezepte, die so unterschiedlich waren wie Moussaka und Couscous. Ich erklärte, daß ich als Kind von Eltern, die sich früh hatten scheiden lassen (und die beide ausgezeichnete Köche waren) und dessen Leben zwischen den beiden aufgeteilt war, an zwei verschiedene Küchen sowie an zwei verschiedene Kombinationen von kulinarischen Vorlieben und Abneigungen gewöhnt war. Und trotzdem warst du bei der Zubereitung viel methodischer und geschickter als ich. Du konntest die Zutaten mit sicherer Geschwindigkeit abmessen, danach räumtest du sorgfältig auf und schnittst das Gemüse mit einem Geschick, das offensichtlich mit deiner Fähigkeit zusammenhing, so schön und genau zu zeichnen. Als ich versuchte, eine Dose Preiselbeerkompott zu öffnen, der Öffner aber den Rand der Dose nicht faßte, fummelte ich damit herum, bis du kamst und mir die Arbeit abnahmst und ohne zu zögern mühelos schafftest, was mir nicht gelungen war. Ich wußte, daß dich meine handwerkliche Ungeschicklichkeit überraschte. Ich stellte mir vor, daß jemand wie Bobby Garzino wahrscheinlich Dinge wie Zwiebeln in winzige quadratische Stückchen schneiden konnte, Stunden damit zubrachte, an einem defekten Haushaltsgerät herumzubasteln, bis es wieder einwandfrei funktionierte. Später, nach dem Essen, setzten wir uns auf den Friedhof. Zwischen meinen Beinen liegend, lehntest du dich an mich, während ich an einem der Grabsteine aus dem Revolutionskrieg lehnte. Abwechselnd reichten wir uns eine Flasche kalten Chardonnay. Die Hütte stand auf der uns jetzt gegenüberliegenden Straßenseite, dunkel bis auf - 158 -
ein Licht, das noch im Badezimmer brannte. Der Mond stieg über dem Horizont auf und kämpfte mit einer Wolkenbank, aber die Sterne strahlten in voller Pracht, und die Gräber selbst lagen in einem gedämpften Schimmer. Die Nacht tönte vom Zirpen der Grillen, das hin und wieder vom Ruf einer Eule oder dem erstickten Schrei eines Vogels fern von seinem Nest unterbrochen wurde. Casey lag neben mir, den Kopf in meinem Schoß. »Und da ist schon wieder eine«, unterbrachst du die Stille. »Das macht drei. Ich habe schon drei Sternschnuppen gesehen, seit wir hier sind.« »Mein Rekord liegt bei sechs an einem Abend«, sagte ich. »Aber da habe ich die ganze Nacht hier gesessen und geschaut.« »Du hast die ganze Nacht alleine auf diesem Friedhof verbracht?« »Na und?« »War dir das nicht unheimlich?« »Ach wo, das ist schön. Besonders früher im Sommer, wenn die Libellen herumschwirren.« Die Gräber erinnerten in ihrem zerfallenen Zustand an bleiche Soldaten, die im letzten Abschnitt eines Schlachtfelds zusammengebrochen waren oder vielleicht auch an ein katastrophal schlechtes Gebiß. »Wenn hier irgendwo die Seelen von Leuten herumgegeistert sind, dann bin ich sicher, daß sie längst weg sind. Hier wurde vor hundert Jahren zum letzten Mal jemand beerdigt. Das ist nicht so ein moderner Friedhof mit frisch aufgeworfenen Hügeln.« Du lachtest. Und dann stießt du einen zitternden Seufzer aus. »Was?« »Nichts. Ich ... fühle mich glücklich hier ... Es ist ganz anders als der Trott in der Stadt.« - 159 -
»Ich könnte nicht in der Stadt sein, wenn ich nicht einen Platz wie diesen als Zuflucht hätte.« »Was glaubst du, wie ich mich dort fühle als jemand, der Gärten liebt? Manchmal frage ich mich, was mich eigentlich in New York hält.« »Was dich dort hält, ist die Achse.« Ich erklärte, daß ich die Achse Manhattan – Fire Island Pines meinte. »Und im Winter bildet sie ein Dreieck mit South Beach.« Du dachtest einen Moment darüber nach, dann sagtest du: »Das ist eine zu grobe Vereinfachung, finde ich.« »Heißt das, du stimmst mir nicht zu?« Ich konnte spüren, wie du die Schultern zucktest. »Ob ich zustimme oder nicht, ist nicht wichtig. Tatsache ist, daß du das Gefühl hattest, von dieser Achse – wie du es nennst – loskommen zu müssen. Du willst etwas anderes.« »Also, ich mußte davon loskommen, oder ich hätte nie etwas zustande gebracht. Vermont ist wohl kaum in Mode ... bei den Glatten und den Schönen.« »Na komm, sei nicht so. Keine abwertenden Äußerungen über die eigene Sippschaft.« »Okay«, sagte ich. »Außer daß ich eigentlich nicht das Gefühl habe, etwas wie eine ›eigene Sippschaft‹ zu haben.« Ich spürte einen plötzlichen Wechsel in deiner Stimmung. Ein paar Augenblicke lang herrschte bedeutungsschweres Schweigen. Und da ich erwartet hatte, daß du etwas Entgegengesetztes oder sogar Distanzierendes sagen würdest, war ich erstaunt. »Das mag sein, aber ich sag' dir was, Will. Ich sag's frei raus. Du hast eine Menge an dir, das ich bei einem Kerl mag. Intensität, Unabhängigkeit, du weißt, was es heißt, von jemandem verletzt worden zu sein ... und trotzdem macht mir der Gedanke, mit dir zusammenzusein, auch 'ne - 160 -
scheiß Angst.« »Sag nicht so was! Ich habe nicht den Eindruck, daß du vor dem Kerl in Okinawa Angst hattest.« Du hörtest dich verärgert an. »Woher, zum Teufel, willst du wissen, daß ich keine Angst vor ihm hatte?« »Es macht einfach nicht den Eindruck.« »Das ist deine Projektion. Und überhaupt war ich damals dümmer. Viel jünger. Und viel mehr bereit, mitten ins Feuer zu springen.« »Wir waren damals alle dümmer«, sagte ich. »Uns hatte – noch – nichts gebrochen.« »Ich sag' dir mal kurz, was uns unterscheidet.« Jetzt drehtest du dich um, um mich mit deinem traurigen und törichten Blick eindringlich anzustarren. »Egal an welchem Punkt in diesem ständig wechselnden Fluß dieser – was auch immer, Beziehung, Affäre – wir auch sind, fragst du dich wahrscheinlich nicht ein einziges Mal, warum ich mich für dich interessiere, stimmt's?« »Warum sollte ich mich das fragen?« »Also, ich verstehe nicht, wieso du dich für mich interessierst. Und komm mir erst gar nicht damit, daß ich körperlich dein Traumtyp bin oder so 'n Scheiß. Solche wie mich gibt's nämlich haufenweise. Und du weißt, wie lange so eine Fantasie hält.« »Ich würde nicht von Typ reden«, sagte ich, um mich zu verteidigen. »Aber okay, wenn du von der Liste deiner Vorzüge nichts hören willst«, sagte ich etwas gereizt, »schön, dann werd' ich dich nicht damit belästigen.« »An erster Stelle auf dieser Liste steht, denke ich, daß ich dir ihn zurückbringe, ich glaube, ich bringe Chad zurück.« »Wer sagt, daß das ein Vorzug ist? Wenn überhaupt, - 161 -
dann macht es das schwerer. Aber natürlich erkenne ich, je besser ich dich kennenlerne, wie verschieden ihr voneinander seid.« »Die andere Sache ist die, daß ich das Gefühl habe, daß du deine Lebensgeschichte schon mit anderen Leuten, mit deinen anderen Liebhabern durchgekaut hast. Ich aber nicht.« In diesem Augenblick glänzten die Augen eines Tiers quer über den Friedhof und schauten mit wildem Blick zu uns herüber. Casey konnte es riechen und hob den Kopf aus meinem Schoß, Ein leises Knurren drang aus seiner Kehle. »Sieh dir das an«, sagte ich. »Sieh dir diese Wahnsinnsaugen an.« »Was glaubst du, was es ist?« »Wahrscheinlich ein Waschbär. Vielleicht ein Opossum.« Als Casey Anstalten machte, das Tier zu verfolgen, schlang ich die Arme um ihn und preßte ihn an mich, bis das Wesen in der Dunkelheit verschwunden war. Du lehntest dich wieder an mich. »Und ich sage dir, ich habe noch nie einen so vollen Sternenhimmel gesehen. Nicht mal im Südpazifik.« Deine Vergangenheit glich einer riesigen Flutwelle, die geortet worden war und unaufhaltsam aufs Festland zukam. Und während wir weiter nach Sternschnuppen Ausschau hielten, sagte ich, daß mir nicht klar sei, wie lange du eigentlich in Okinawa gewesen warst. »Ich wurde dort geboren«, sagtest du. »Ich lebte dort, bis ich acht war. Dann wuchs ich vor allem in der Nähe von Camp Pendleton in San Diego auf. Aber unmittelbar nach dem College verbrachte ich ein Jahr in Okinawa bei meiner Mutter und meinem Stiefvater. Bei diesem letzten Aufenthalt habe ich Randall Monroe kennengelernt.« - 162 -
»Wie lange hat dein richtiger Vater mit euch zusammengelebt?« »Ich war zwei, als er zum erstenmal nach Saigon ging. Und dann kam er zurück, als ich vier war. Aber ich glaube, ich erinnere mich an die Zeit, bevor er zum erstenmal wegging. Die Psychologen, die Freudianer – wer auch immer – sagen, daß es eine Erinnerung an so frühe Ereignisse nicht gibt. Aber ich erinnere mich an viele Dinge. Ich erinnere mich an das Sonnenlicht in einem Zimmer und einen Mann mit weißen Haaren – mein Vater wurde früh grau. Er beugt sich über mich in der Wiege und läßt diese Dinger baumeln ... sie sehen aus wie ein Windspiel. Ich erinnere mich an das Geräusch, das sie machen, wie leere Muschelschalen, die sachte aneinanderstoßen. Er bläst sie an. Offensichtlich gab es damals in unserem Haus so ein Mobile. Aus Gräten und Muscheln und ausgehöhlten Nüssen, eines von diesen Babyspielsachen, die meine Mutter bald danach weggeworfen hat. Weil ihr das Geräusch, das es machte, auf die Nerven ging. Jedenfalls hab' ich ihn nur ein paar Mal in meinem Leben gesehen.« »Aber wann genau ist er gestorben?« »Kurz bevor ich acht wurde.« »War es schlimm, ich meine, hast du viel verstanden von dem, was da passierte?« »Ich habe alles verstanden. Einschließlich der Tatsache, daß meine Mutter danach für lange Zeit, für immer, wie es schien, ein emotionales Wrack war. Aber ob du's glaubst oder nicht, noch deutlicher ist meine Erinnerung daran, wie er zum letzten Mal heimkam, bevor er wirklich nach Vietnam zurückfuhr und fiel. Um seine Heimkehr wurde nämlich ein Riesentrara gemacht. Ständig kriegte ich zu hören, daß mein tapferer, toller Vater zurückkomme, und ich freute mich wirklich darauf, ihn zu sehen. Den Mann, - 163 -
der mir diese Tonbänder geschickt hatte, die er in Vietnam aufgenommen hatte. Auf denen redete er zu mir. Er beschrieb sein Leben in seinem Dorf, wie es war, der Befehlshaber zu sein, und die Leute, mit denen er zusammenarbeitete. Zum Schluß sagte er immer einen Vers aus Mother Goose auf: Jack, Be Nimble oder The Old Woman Who Lived in a Shoe.« Und manchmal hörte ich das Geräusch von Geschützfeuer im Hintergrund.« Ich fragte, ob du die Bänder noch hattest, aber anscheinend war es deiner Mutter gelungen, sie zu verlieren. Wie hatte sie etwas so Wichtiges verlieren können? Die Antwort war, daß schon die bloße Möglichkeit, die Stimme ihres toten Ehemanns zu hören, zu viel für sie gewesen war. »Aber am Tag seiner Ankunft sagte meine Mutter mir in letzter Minute, sie müsse ein paar Dinge unter vier Augen mit ihm besprechen, und schickte mich zu Roseanne, ihrer besten Freundin, deren Mann ebenfalls in Vietnam stationiert war. Ich regte mich sehr auf, denn ich hatte meinen Vater gleich bei seiner Ankunft sehen wollen, und auf einmal wurde ich nach nebenan zu Roseanne gescheucht und bekam diesen Betty-Crocker-Schokoladenkuchen ... Ich werde nie vergessen, daß sie den für mich gemacht hatte, diesen lächerlich schmeckenden Tütenkuchen, während meine Mutter ihren Kuchen immer selbst machte. Es hieß, sie würden anrufen, wenn ich nach Hause kommen sollte. So sah unser Leben damals aus, Warten auf Anrufe ... Wahrscheinlich hasse ich das Telefon deshalb so. Anrufe aus Saigon, Anrufe, die manchmal nicht kamen und meine Mutter so verzweifelt machten, daß sie mich ins Ehebett mitnahm, wo ich auf der Seite meines Vaters schlief. Als ich jedenfalls an diesem Nachmittag darauf wartete, - 164 -
daß sie mich nach Hause riefen, fürchtete ich, sie würden mich nie mehr anrufen. Ich fürchtete, daß ich den Rest meines Lebens mit Roseanne verbringen und ihre Pappkarton-Schokoladenkuchen essen müßte. Fürchtete, daß man mich zwingen würde, wieder in ›die Welt‹ – wie sie die Staaten nannten – zurückzukehren.« »Du wolltest also nicht zurück in die Staaten?« »Nein, mir gefiel es in Okinawa, obwohl ich die Spinnen und die Hitze nicht mochte. Die Staaten – ›die Welt‹ – waren etwas, worüber man ständig hörte, worauf ständig Bezug genommen wurde. Aber für mich waren sie das große Unbekannte ... Jedenfalls klingelte endlich bei Roseanne das Telefon. Und mir wurde gesagt, ich solle nach Hause gehen. Ich erinnere mich, daß ich ihre Stimmen hörte, als ich auf die Tür mit dem Fliegengitter zukam. Und das alleine war schon ungewöhnlich, denn immer, wenn ich von nebenan nach Hause kam, war es still, weil nur meine Mutter da war. Ich ging durch die Hintertür. Aber sie waren nicht in der Küche. Also ging ich bis zum Ende des Flurs, der an die Küche anschloß. Und meine Mom und mein Dad kamen gerade aus ihrem Schlafzimmer. Ich stehe am einen Ende des Flurs, und sie stehen am anderen Ende. Das Licht ist in meinem Rücken, und sie sind ... wie diese allzu dunklen Gestalten, diese dunklen Vögel. Und dennoch kann ich sehen, daß meine Mutter ein Lächeln lächelt, das ich noch nie zuvor bei ihr gesehen habe: ruhig und wissend. Dieses Lächeln ärgert mich richtig. Und ich möchte zu ihr sagen: ›Du hast dich ein ganzes Jahr lang aufgeregt, jetzt tu nicht so! Warum erzählst du ihm nicht, wie oft du wütend warst? Warum erzählst du ihm nicht, wie du ihm einmal einen bitterbösen Brief geschickt hast und wir den ganzen Tag am Briefkasten warten mußten, - 165 -
damit du ihn vom Postboten zurückbekommen konntest?‹ Aber dann sagte sie: ›Sean, komm und begrüß deinen Vater.‹« Du erinnertest dich, daß seine Wangen vom Rasieren rosa und glatt waren, an den metallischen Geruch seiner Uniform und daß sein weißes Haar stachelig und mit Öl gekämmt war. Du bekamst einen Kuß auf den Kopf und einen Händedruck. Aber du und dein Vater fühlten sich äußerst unbehaglich miteinander. Während seines Besuchs war er immer höflich zu dir und sprach immer mit sanfter Beherrschung. Aber er war ein Fremder, irgendwie anders, furchterregender, weniger greifbar sogar als seine Stimme, die von den Tonbändern zu dir gesprochen hatte. Du schlucktest und fuhrst dann fort. »Und dann starb er. Vielleicht einen Monat nach diesem letzten Besuch. Auf dem Weg zum Haareschneiden geriet er in irgendein Feuergefecht. Und gab seinen Löffel ab.« Wir schwiegen beide zum Lärmen der Grillen und der Baumfrösche. »Du klingst so sachlich, wenn du das sagst«, bemerkte ich schließlich. Natürlich, weil du schon so lange damit lebtest, antwortetest du. Schließlich nahm die Zeit, als dein Vater noch lebte, nur einen Bruchteil deines Lebens ein. Sein Tod war etwas, an das du dich gewöhnt hattest. »Wie an eine Narbe«, sagtest du. Aber ich glaubte dir nicht so ganz. Irgend etwas in mir stutzte angesichts der Art, in der du mechanisch wie eine Aufziehpuppe von einem traumatischen Erlebnis berichtetest. Und weil du auf dem Friedhof dann schwiegst und später gereizt wirktest, als wir zur Hütte zurückgingen. Als wir die Leiter zur Schlafebene hinaufkletterten, fing Casey zu winseln an und wollte mit nach oben genommen werden. - 166 -
»Willst du mir etwa erzählen, er schläft bei dir?« fragtest du, als ich Anstalten machte, hinunterzuklettern und den Hund mit nach oben zu nehmen. »Immer, wenn ich ihn mitnehme. Er ist daran gewöhnt.« »Meinst du nicht, daß das ein wenig zu nachgiebig ist?« Ich zuckte die Achseln und setzte meinen Abstieg fort. »Er ist wie mein Kind«, sagte ich, packte Casey bei beiden Vorderbeinen und hob ihn hoch, um die Pfoten über meine Schultern zu legen. »Ich bin wie sein Vater.« Casey beobachtete mich mit dem empfindsamen, beleidigten Blick, bei dem mir jedesmal das Herz blutete, und er leckte mich nervös ab, als ich mich anschickte, die Leiter hinaufzuklettern. Mit einem Arm preßte ich ihn an mich und benutzte den anderen, um mich hochzuziehen. Auf halbem Weg stieß er ein Knurren aus, und sobald wir oben angekommen waren, sprang er mir aus dem Arm. Einen Augenblick lang saß ich, vom Aufstieg schwer atmend, da. Casey ging gleich ans Ende des Betts, beschrieb einen engen Kreis und ließ sich dann bequem nieder. Du beobachtetest, wie Casey seinen Platz einnahm. »Ich könnte das nicht ertragen, diese Nähe ... zu einem Tier.« »Warum nicht?« fragte ich, wobei mir plötzlich der Lärm der Motten auffiel, die unten gegen die Läden schwirrten, und mir wurde im Innern kalt, weil du mir gefühllos vorkamst. »Weil ich mich zu sehr binden würde.« Das überraschte mich. »Und dann zehn Jahre später oder so gäbe es den Verlust und die Trauer und all die Leute, die keine Tiere hätten und die Trauer nicht verstehen würden.« »Leute wie dich?« mußte ich unwillkürlich fragen.
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14. Spät am folgenden Nachmittag lagen wir auf der Schlafebene meiner Hütte und schauten durch die Dachluken. Ein Sommergewitter prasselte gegen die Scheiben, und wir hatten gerade zum Rauschen des Wassers durch die Dachrinnen miteinander geschlafen. Schläfrig und träge und zufrieden fühlte ich mich wagemutig genug, um zu sagen: »Willst du mir nicht wenigstens ein kleines bißchen von Randall erzählen?« »Was willst du wissen?« »Ich weiß nicht. Wie es aufhörte ... wie es anfing.« Du schautest zum Regen auf, der gegen das Dachfenster trommelte. Seufzend murmeltest du: »Der Taifun. Es begann und endete während des Taifuns.« »Während desselben Taifuns?« Du winktest verächtlich ab. »Nein, natürlich nicht während desselben Taifuns. Zwei verschiedene. Ein Jahr auseinander.« »Hörte es unvermittelt auf?« »Ich sehe, du interessierst dich mehr für das Ende als für den Anfang.« »Mich interessiert, wie er dich verletzt hat.« Du schütteltest den Kopf. »Das ganze Drumherum hat mich verletzt. Weniger er selbst. Offen gesagt verschwand er ganz plötzlich, genau wie Chad.« »Wie kommt's, daß du mir das nicht schon früher erzählt hast?« »Ich erzähl's dir jetzt. Reicht das nicht?« »Aber warum ist er so plötzlich verschwunden?« Du schwiegst und rutschtest neben mir hin und her. »Weil ich ihn betrogen habe«, sagtest du schließlich. »Ganz einfach.« - 168 -
Daß du den Mann, den ich für deine große Liebe hielt, betrogen hattest, kam völlig überraschend für mich. Natürlich wollte ich wissen, wie es dazu gekommen war. »Weil ich plötzlich spürte, daß er sich zurückzog. Er hatte niemandem von seinem Schwulsein erzählt, und wir mußten uns immer heimlich treffen. Das machte es intensiver und erotischer, aber vieles kam überhaupt nicht zur Sprache. Wir hatten darüber gesprochen, in San Diego zusammenzuziehen, sobald seine Dienstzeit zu Ende war. Er wollte in einer Firma wie McDonnell Douglas arbeiten, und ich wollte auf die Fachhochschule für Landschaftsarchitektur gehen. Aber dann redete er davon, sich weiter zu verpflichten. Weiterhin im Ausland zu leben. Plötzlich kam ich in seinen Überlegungen überhaupt nicht mehr vor. Und darum habe ich's getan. Weil ich nicht mit der Tatsache fertig wurde, daß er mich nicht mehr zu lieben schien. Ich fing an, mich mit dem hübschen Typen zu treffen, der Kampfsport unterrichtete.« »Aber hast du dem anderen Kerl nicht von Anfang an erzählt, daß du eine Beziehung hattest?« »Nicht in der ersten Nacht. Das war so eine Situation, wo man plötzlich mit jemandem im Bett liegt. Aber ich hab' es ihm gesagt, als wir uns beim nächstenmal trafen. Er schien es zu akzeptieren. Sagte, er wolle einfach mit mir zusammensein, sooft es ginge. Ich war einverstanden. Ich erkannte es damals nicht, aber bei dem Ganzen ging es offensichtlich nur um Randall. Ich wollte, daß Randall spürte, daß mich etwas von ihm fortzog, damit ihn das zu mir zurückbringen würde. Aber der Schuß ging nach hinten los. Der Kerl flippte nämlich aus, weil er mich nicht jederzeit haben konnte, und hatte nichts Besseres zu tun, als zu Randall zu gehen. Ich hätte wissen müssen, daß das passieren würde. Er erzählte Randall alles. Aber Randall - 169 -
unternahm zunächst einmal gar nichts. Er wartete ab, ein paar Tage. Dann kam er eines Nachts und sagte es mir auf den Kopf zu. Wir hatten einen großen Streit. Und dann verließ er die Insel, ohne mir zu sagen, daß er wegging.« »Aber du hast ihn doch danach noch getroffen? Du sagtest so etwas.« »Klar, ich wußte, wohin er gegangen war – nach San Diego. Aber ich mußte erst einmal herausfinden, daß seine Dienstzeit zu Ende war und daß er mir absichtlich nichts davon gesagt hatte, wie kurz sein Maßband noch war – so nennen sie es, wenn ihre Dienstzeit bald zu Ende ist.« Als du Randall dann endlich erreicht hattest, behauptete er, er habe einfach nicht eingestehen können, was er vorgehabt hatte. Er fürchtete, er hätte es nicht mehr geschafft, die Insel zu verlassen, wenn er es dir vorher gesagt hätte. Und trotzdem war es ihm gelungen, während einer Warnstufe drei abzuhauen, kurz bevor der Flugplatz geschlossen wurde. Aber dazu mußte ich etwas über Taifune wissen. Bevor der Taifun losschlägt, herrscht fast immer eine Woche lang strahlendes Wetter. Wie zum Hohn. Es ist so klar und herrlich, daß, selbst wenn man nicht weiß, was kommt, man sich fragt, was sich wohl hinter solch einer Reihe von wundervollen Tagen verbirgt. Ähnlich wie in Kalifornien vor einem Erdbeben, wo das Licht so scharf wird, daß es scheint, als könnte es gleich zerbersten. In Okinawa wird das herrliche Wetter dann immer schlechter und schlechter. Als ob jemand langsam eine Jalousie vor diesen Teil der Welt ziehen würde. Gewöhnlich regnet es etwa eine Woche lang, bevor der eigentliche Taifun mit aller Kraft zuschlägt und der Ozean eine merkwürdige gelbbraune Farbe annimmt. Der erste Dauerregen wird Warnstufe vier genannt. Dann werden die Gartenmöbel weggepackt. - 170 -
Dann hamstern die Familien Spiritusgelatine, Kerzen, Taschenlampenbatterien und Bücher, die sie lesen wollen, solange sie von der Außenwelt abgeschlossen sind. Bei Warnstufe drei – bei der Randall abgehauen ist – werden zusätzliche Nahrungsvorräte angeschafft und Fässer mit Trinkwasser gefüllt. Bei Warnstufe zwei schließen die Schulen, und die Fenster werden mit Taifunklebeband abgedichtet – sehr schwerem Band, wie Isolierband. Warnstufe eins bedeutet Notfall. Vorsicht. Unterschlupf suchen. Mitten in Warnstufe eins gingen tatsächlich immer ein paar verrückte Marines besoffen an den Strand, um sich die aufgewühlte See anzuschauen. Und oft wurde einer ins Meer gespült und ertrank. »Stell dir vor, du entdeckst, daß du verlassen wurdest, bevor du gezwungen bist, eine Woche im Haus zu bleiben. Es war die schlimmste, bedrückendste Woche meines Lebens. Ich wußte, daß er gegangen war, und wurde fast verrückt, weil die Telefonleitungen tot waren und ich ihn nicht anrufen konnte. Und ich war mehrere Tage lang völlig allein zu Hause, da meine Mutter und mein Stiefvater wegen des Taifuns auf der japanischen Hauptinsel festsaßen.« Du seufztest nervös. »Ich glaube, ich habe die ganze Woche nicht geschlafen.« »Glaubst du, er könnte jemand anderen kennengelernt haben, und hielt einfach den Konflikt nicht aus?« Du zucktest die Achseln. »Ich werd's nie erfahren, oder? Manchmal ist es besser, im dunkeln zu tappen, als die Wahrheit zu kennen. Weil man nämlich nie die ganze Wahrheit über jemanden wissen kann. Genaugenommen weiß man nie die ganze Wahrheit über sich selbst. Und dann erzähltest du mir, daß er dir alle deine Briefe zurückgeschickt hatte. Die Briefe in deiner Wohnung! Also hattest du sie ab- 171 -
geschickt. Sie waren in Wirklichkeit seine gewesen. Vielleicht hatte er sie immer wieder gelesen. Sie gelesen und dann versteckt, in einem besonderen Fach oder einer Schublade – weil er fürchtete, jemand könnte sie finden. Und vielleicht konnte er sich nur schwer entscheiden, ob er sie dir zurückschicken sollte oder nicht. Und als er sie dann zurückgeschickt hatte, bereute er vielleicht seinen Impuls, ebenso, wie deine Mutter es bereut hatte, einen wütenden Brief an deinen Vater in Saigon geschickt zu haben, und am Ende den ganzen Tag am Briefkasten gewartet hatte, um den Postfahrer abzufangen. Ich weiß, ich hätte zugeben sollen, daß ich deinen privaten Brief und auch die Tagebücher gelesen hatte. Aber in diesem Augenblick erschien das zu riskant. Statt dessen fragte ich dich, wie du Randall eigentlich kennengelernt hattest. »Er arbeitete eine Zeitlang im Büro meines Stiefvaters ... meine Mutter hatte einen von Dads Offizierskameraden geheiratet, einen Oberst, einige Jahre, nachdem mein Vater gestorben war. Mein Stiefvater war es, der mich die Liebe zu Pflanzen lehrte, und er hat mich immer ermutigt, Treibhäuser zu bauen, während ich in San Diego aufwuchs. Ironischerweise wurde er während meines letzten Jahres am College nach Okinawa zurückversetzt. Bevor ich zur Fachhochschule ging, beschloß ich, ein Jahr freizunehmen, um bei ihm und meiner Mutter zu wohnen und Englisch zu unterrichten. Ein paar Monate, nachdem ich dort eingetroffen war, wollte ich einen Bretterschuppen bauen, um dort Orchideen zu ziehen und sie vor der Witterung zu schützen. Mein Stiefvater stellte mir ein paar Männer seines Marinestabs zur Verfügung, und Randall war einer davon.« »Aber, warte mal. Wußten deine Eltern nicht, was mit dir - 172 -
los war?« Ein Seufzer. »Mit achtzehn versuchte ich, es ihnen zu sagen. Besser gesagt, ich versuchte, es meiner Mutter zu erzählen. Aber sie wollte nichts davon wissen; ihr war nur wichtig, daß mein Stiefvater nichts davon erfuhr. Es wurde nie wieder darüber gesprochen. Und ich lebte so weit entfernt von ihnen, daß sie nie etwas mit meinen sogenannten Beziehungen zu tun bekamen. Randall war so paranoid, daß er darauf bestand, daß meine Eltern nie irgendwie in der Nähe sein durften, wenn wir uns trafen. Andererseits hatte er einen guten Grund dafür. Er arbeitete für meinen Stiefvater.« Ich fragte, ob Randall wirklich toll aussah, wie der Typ bei der Morning Party. Du schütteltest heftig den Kopf und betontest, daß du nie an jemandem interessiert gewesen seist, der so gut aussah wie der Typ auf der Morning Party, daß Randall eigentlich ziemlich normal war, aber daß sein Gesicht eine gewisse Vornehmheit hatte. Seine Augen hinter der Marinesbrille mit dem Metallgestell waren unglaublich ausdrucksvoll und strahlend gewesen. Zunächst war er dir nicht weiter aufgefallen, als er dir bei dem Bretterschuppen half. Du hattest damit zu tun, daß die Belüftung und die Beleuchtung richtig funktionierten. Aber dann kam er eines Nachmittags zurück, als du dabei warst, einige junge Dendrobien einzupflanzen. Statt der Uniform trug er enge Jeans, die alles zeigten, was er hatte: einen wunderschönen sehnigen Körper, kräftig und kompakt. Er sagte, er habe Pflanzen schon immer geliebt, beschrieb die Zuckerrohrfelder seiner Familie auf Nevis – da er in Miami geboren war, besaß er die doppelte Staatsbürgerschaft. Seine Familie hörte sich recht interessant an: schwarze Grundbesitzer, einige waren Politiker auf der - 173 -
Insel gewesen, ein paar weiße Vorfahren, obwohl er ziemlich dunkel war – wenn man ihn ansah, hätte man nicht erraten, daß er ein Mischling war. Und er hatte eine wunderschöne Stimme mit karibischem Akzent; er sprach immer weich, selbst wenn er wütend war, und seine Stimme klang wie ein Holzinstrument. Er konnte singen wie ein Engel. Er schien einiges von Gartenbau zu verstehen, so daß es viel Gesprächsstoff gab. Dann kam ein Taifun mit einigen kleineren Schäden am Schuppen, und er half dir freiwillig bei der Reparatur. Erst da, als er anfing, jeden Tag zum Helfen zu kommen, wurde dir klar, daß er sich außer für die Pflanzen auch noch für etwas anderes interessierte. Nach einiger Zeit schien ihm weit weniger am Helfen als am Reden zu liegen. Bald fing er an, dich auszufragen: Warst du je verliebt gewesen? Hattest du eine Beziehung mit jemandem daheim in den Staaten? »Moment«, unterbrach ich. »Eine Beziehung mit jemandem ›heimlich‹ in den Staaten?« »Nein« – du lachtest – und wiederholtest: »Daheim in den Staaten.« Dann, einen Monat nach dem Taifun, brach mitten in der Nacht noch ein Sturm über die Insel herein. Vielleicht kein Taifun, aber ein ziemlich heftiges tropisches Gewitter. Und da draußen waren die Teerosen, die du vor dem Haus deiner Eltern gepflanzt hattest. »Ich wachte mitten in der Nacht auf und flippte aus, weil ich wußte, daß sie gerade anfingen, sich zu öffnen, und in einem sehr empfindlichen Stadium waren. Ich wußte auch, daß sie schon ruiniert waren und daß es zu spät war, um sie noch zu retten. Daher lag ich einfach nur da, bis es hell wurde, ging nach draußen und stellte fest, daß alle Rosen ziemlich hinüber waren. Überall waren Stengel verstreut - 174 -
wie ausgerupfte Hühnerfedern. Sie waren so schön gewesen, und jetzt waren sie völlig zerfetzt. Ich war am Boden zerstört. Aber dann sah ich zwischen all den Trümmern aus Stengeln und zerstückelten Blüten diese eine Knospe. Sie war vollkommen, gerade dabei, sich zu öffnen. Ich erinnere mich, daß sie mit Regentropfen bedeckt war. Als ich mich über sie beugte, konnte ich sie riechen... Der Duft war schwach und doch unglaublich. Ich weiß nicht mehr, was über mich kam. Ich nahm sie einfach in den Mund. Legte sie mir auf die Zunge und lutschte zärtlich daran. Der Duft durchdrang mich von oben bis unten. Und ich hatte diese verrückte Art von ... Ich weiß nicht, wie du es nennen würdest. Irgendwie... fast so, als würde ich kommen.« Und er hatte alles gesehen. Er war zu Besuch herübergekommen und stand am Rand des Grundstücks. Du grinstest. »Dann folgte er mir in den Schuppen und sagte mir, daß er sich in mich verliebt habe.« In einer Art eifersüchtiger Trance lag ich sprachlos da, als du das sagtest. Eifersüchtig auf dein sinnliches Wesen, eifersüchtig auf solch einen romantischen Anfang. Da setzte unser Sturm aus, und einen Augenblick lang schien der Mond durch die Dachluke, und sein Licht fiel auf dich und wusch deine bleiche Haut alabasterweiß. Dann lächeltest du dein dümmliches Lächeln und sagtest zu mir: »Ich wette, du hast nie einen getroffen, der einer Rose einen geblasen hat.« Bald darauf schliefst du ein. Ich blieb wach und lauschte dem Regen, der wieder gegen die Hütte trommelte, und dem Wind, der durch die Bäume fegte. Ich konnte mir alles vorstellen, denn ich hatte deine Tagebücher gelesen.
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Manchmal, wenn deine Eltern ausgehen, kommt er herüber. Ihr faulenzt herum. Du liest möglicherweise, und aus dem anderen Zimmer hörst du diese wundervolle Stimme, wie die von Van Morrison, aber sexy und seelenvoll wie die von Marvin Gaye. Seine Freunde nennen ihn Belafonte. Er ist einer der DJs auf dem Stützpunkt Du liebst die samtweiche Dunkelheit seiner Haut und ihren Duft nach Seife, der seinen Schweißgeruch schwach überdeckt. Der ist würziger ab bei den anderen Männern, mit denen du geschlafen hast Du könntest ihn überall erkennen. Aber es ist auch der Duft seines Haaröls, dieses Zeugs, das er benutzt und das Black and White heißt, echte BrillantineHaarpflege. Mit Dauerhalt. Mit Lanolin angereichertes Zeug aus Tennessee. Er kremt seine Haut ein. Massiert sie mit Kakaobutter. Er macht sich große Sorgen um trockene Haut, ums Grauwerden, ums Ausbleichen. Manchmal läßt er dich es tun, ihn einkremen. Wenn deine Eltern weg sind, kommt er herüber, und du reibst sie in seine Schultern, über seinen Rücken und seine Schenkel Du kannst nichts dagegen tun, du liebst es, mit den Fingern über seinen Körper zu streichen, denn seine Haut ist so straff, und die Wellen auf seinem Bauch sind wie gemeißelt Und seine Pigmentierung verändert sich. Die Haut auf seinem Rücken hat diesen warmen, rosigen Ton, den gleichen wie die Haut auf seinen Schenkeln. Die Haut auf seinen Wangen und seiner Stirn jedoch hat eine gelblichere Färbung. Manchmal wird er wütend über die Art, wie du ihn berührst und anschaust. Er sagt, bei dir komme er sich vor wie ein Exot. Und du mußt ihm immer wieder erklären, daß er dein erster Schwarzer ist und daß die Unterschiede zwischen eurer Haut faszinierend sind Seine Fußsohlen sind blaß, noch blasser als seine Handflächen; und wenn er sich - 176 -
schneidet, bildet das Rosa während des Heilungsprozesses zu seiner dunklen Haut einen noch stärkeren Kontrast als zu deiner. Er darf sich nicht jeden Tag rasieren, sonst bekommt er solche grauen Hitzepickel im Gesicht, und sein Geruch ändert sich, wenn er sich aufregt oder wenn er kurz davor ist zu kommen. Ihr verlaßt das Grundstück deiner Eltern. Geht hinauf zu den Klippen jenseits des Korallenriffs. Wo das Unterholz in den Dschungel übergeht, seid ihr ganz für euch, obwohl man den Pazifik hören kann. Er hat den zärtlichsten Mund, groß und rosa und kraftvoll Seine Küsse lösen diese Explosionen in dir aus, und er kann mühelos deinen Schwanz bis zur Wurzel aufnehmen und im Mund hin und her schleudern. Er mag es, wenn du dich an einen Baum lehnst und ihn in den Mund vögelst, und manchmal, wenn du zum Orgasmus kommst, spürst du, wie dich die Moskitos in die Schultern und den Bauch stechen, und das macht es noch intensiver, wenn du schließlich kommst. Wenn er kommt, laufen buchstäblich seine Augen an. Und dann liegt ihr zusammen da und starrt zu den fremdartig wirkenden Bäumen des asiatischen Urwalds hinauf. Wenn das Tageslicht schwächer wird siehst du zu, wie er langsam neben dir verschwindet, wie dieser wunderbare schwarze Mann sich einfach in der Dunkelheit auflöst.
15. Daß du dich so ganz und so bereitwillig einem anderen hingegeben hattest, machte dich nur um so wertvoller für mich. Ich fühlte mich dir gegenüber so verletzlich. Ich hatte solche Angst. Und dann, früh am nächsten Morgen, einem vom Wind - 177 -
blankgefegten, wolkenlosen Morgen, wurden wir vom Telefon aufgeschreckt. Es hatte nicht geklingelt, seitdem wir hier waren. Es läutete und läutete, bis ich schließlich nackt die Leiter hinabkletterte, um abzunehmen. Im ersten Moment war Stille; manchmal schrillte das Telefon wegen einer Stromstörung von selbst los. Ich wollte gerade auflegen, als schließlich jemand sprach: »Na, und wieso fragst du ihn nicht?« Die kurze Verwirrung verflüchtigte sich urplötzlich wie Nebel. Ich versuchte, die Fassung nicht zu verlieren, und sprach ganz ruhig: »Was soll ich ihn denn fragen?«, während ich zur Schlafebene hinaufschaute und feststellte, daß sich dein Blick in meinen bohrte. »Sag ihm, er soll dir von Bobby Garzino erzählen.« »Ich weiß schon Bescheid.« »Das bezweifle ich.« Ich holte tief Atem. »Wieso erzählst du's mir nicht?« »Vielleicht will ich nicht, daß du glücklich bist.« »Was soll dann der Anruf? Und überhaupt, wie bist du an diese Nummer gekommen?« »Sie ist auf deinem Anrufbeantworter.« Die Verbindung wurde beendet. Ich nahm das Sonnenlicht wahr, das von allen Seiten in die Hütte strömte und sich überall verteilte, als wären wir von einem spiegelnden Teich umgeben. Ich legte den Hörer auf, drehte die Handflächen nach oben und sagte: »Das wird langsam ein wenig lästig.« Oben, noch immer im Bett, legtest du den Kopf zur Seite, als seist du Casey beim Versuch, einen unbekannten Befehl zu entschlüsseln. Du griffst nach einer Khakishorts und zogst sie hastig an. »Darf ich mal telefonieren?« Rasch klettertest du die Leiter hinunter. - 178 -
»Ganz zu deiner Verfügung.« Mit übertriebener Geste deutete ich zum Apparat. »Ich will nur sehen, ob in meiner Wohnung alles okay ist.« Aber dein Nachbar, der einen Satz Schlüssel hatte, war nicht zu Hause. Es gab einen Pfad, der durch dichten Wald hinauf zu einer Hütte etwa sechshundert Meter über dem Meeresspiegel führte, von der aus man einen Rundblick über die umgebenden Green Mountains hatte. Während des Aufstiegs konnten wir von verschiedenen Stellen auf die goldenen Weiden eines Gestüts und die dunkel schimmernden Silhouetten grasender Rennpferde hinunterschauen. Das Geräusch eines Traktors, der ein Feld mähte, stieg zu uns herauf, träge und entfernt wie das Summen einer Propellermaschine hoch in der Luft. Casey stürmte uns immer voraus, um mit gewaltigen Stöcken im Maul zurückzukommen. Dann wieder ließ er den Stock fallen und streunte auf der Suche nach Backenhörnchen und Kaninchen durch den Wald. Du gingst vor mir, und deine Beine befanden sich auf der Höhe meiner Augen. Wir stiegen weiter auf, bis der Pfad schließlich eine Ebene erreichte, die mit Tannennadeln bedeckt war und direkt zu der Redwoodhütte führte. Ich konnte den feuchten Moder des tiefen Waldes riechen. Du bliebst stehen und drehtest dich um, auf deiner Oberlippe sammelten sich Bäche von Schweiß. »Junge, bin ich geschafft.« »Willst du Schluß machen?« Du zucktest die Schultern. »Nein, wir können weitergehen.« »Okay«, sagte ich. »Aber bevor wir weitergehen ...« - 179 -
»Was?« »Ich möchte gern wissen, was José – ich nehme an, es war José, der angerufen hat – sagen wollte.« »Das würd' ich auch gerne wissen, Will, glaub mir.« »Hast du wirklich keine Ahnung?« »Wenn ja, meinst du nicht, daß ich dann etwas gesagt hätte?« »Ich ... nehm's an. Und?« Du verdrehtest die Augen. »Komm schon, Will, du willst mir doch nicht erzählen, du hörst auf so 'n Spinner, oder?« Ich sagte nichts. »Okay, wart mal. Sag du mir: Was für schreckliche Sachen könnte ich Bobby denn angetan haben?« Du strecktest den Daumen hoch. »Ich habe ihn nicht mit Aids angesteckt.« Dann den Zeigefinger. »Ich hab' ihn nicht verschaukelt. Ich war ehrlich zu ihm, ich hab' Schluß gemacht, so gut ich irgend konnte. Was könnte es noch sein?« Ich zögerte einen Augenblick und gestand dann, daß ich versucht hatte, José dazu zu bewegen, es mir zu sagen, als er letzte Woche bei dir angerufen hatte. Wir gingen weiter, diesmal Seite an Seite, über den weichen Boden aus Tannennadeln, der zu der Berghütte führte. »Ich frage mich, ob Bobby etwas über unser Sexualleben gesagt hat«, dachtest du nach einem Augenblick der Überlegung laut nach. »Und, was war damit?« fragte ich nervös. »Er wollte es unsafe mit mir treiben. Er wollte mit mir machen, was in den Siebzigern alle gemacht haben, aber jetzt nicht mehr können. Er sagte, er vertraue mir ... und das war so unglaublich bescheuert.« »Und, hast du ... etwas davon gemacht?« »Selbst wenn, ich habe dir schon erklärt, daß ich mich - 180 -
danach habe testen lassen.« »Warum kannst du mir's nicht einfach sagen?« »Ich nehme an, je mehr man mit jemandem verbunden ist, desto einschränkender kommen einem diese Einschränkungen vor.« »Du antwortest nicht auf meine Frage.« »Doch, das tu' ich, aber du verstehst mich absichtlich nicht.« Es trat ein lastendes Schweigen ein, und während ich mir noch vorstellte, was du mit Bobby Garzino getan haben könntest, murmeltest du: »Noch nie war der Preis echter Vertrautheit so hoch.« »Aber woran, meinst du, lag es, daß er nichts in dir zum Klingen gebracht hat?« Und ich fragte mich unwillkürlich, ob ich auch unfähig gewesen war oder sein würde, dich zu erreichen. Du schütteltest den Kopf. »Du weißt, woran, Will.« Randall Monroe. Schon der Name mit seinem elitären Klang war bedrohlich, der Name eines mächtigen Wesens, eines geschickten Verführers, der selbst das standhafteste Herz zu erschüttern vermochte. Du spürtest den Aufruhr in meinem Innern und runzeltest die Stirn. »Und, was jetzt?« »Mir fiel gerade ein, was du mir letzte Nacht erzählt hast. Das, was du mir erzählt hast, unmittelbar bevor du eingeschlafen bist.« Du sahst besorgt aus. »Moment. Ich bin ein bißchen durcheinander. Ich bin nämlich richtig eingenickt. Was habe ich gesagt?« Ein Gefühl der Schuld durchzuckte mich wegen allem, was ich in deinen Tagebüchern gelesen hatte. »Du hast über den Sex mit Randall geredet.« »Nein, das stimmt nicht. Das würde ich nicht tun.« - 181 -
»Na ja, nicht so ganz, aber ich bin sicher, es muß toll gewesen sein.« »Sagen wir mal so, wenn es nicht gut war, wäre ich dann nicht noch bescheuerter, mich wegen jemandem so fertigzumachen?« »Zur Leidenschaft braucht es nicht immer ein Feuerwerk.« »Ich weiß nicht, ob ich das richtig finde.« Vor uns stand die Hütte, dahinter das überwältigende Panorama einer Bergkette, sanfter Hügel, die sich bis zum Horizont dehnten: bläulichgrüne Gipfel, dicht bedeckt mit Laub und Immergrün, ohne einen einzigen freien Fleck – ganz anders als die kalifornischen Los Padres mit ihren schärferen Spitzen und sandfarbenen Senken. Die Hüttentür wurde von einem Gewicht an einem Flaschenzug geschlossen gehalten, und wir mußten uns ducken, als wir die Schwelle überschritten. Im Innern gab es einen rohen Holztisch und Stühle, eine gläserne Petroleumlampe und ein Gästebuch mit Namen und Daten und Eintragungen von Besuchern bis 1983 zurück. Mit einem Blick stellten wir fest, daß die letzten Wanderer drei Tage vor uns dagewesen waren. Wir trugen unsere Namen ein, gingen wieder nach draußen und setzten uns auf die Holzveranda neben einen dornigen Brombeerstrauch. »Die große Liebe«, murmelte ich gegen meinen Willen. »Dieser Randall Monroe.« »Ich habe nie gesagt, daß er meine große Liebe war.« »Der Mann, der dich davon abhält, jemand anderen zu lieben? Der Mann, der dich dir selbst geraubt hat?« »Klingt, als machtest du dich über mich lustig?« »Tu' ich nicht. Ich bin eifersüchtig.« »Laß es. Es war intensiv, weil es unrealistisch war, weil er nicht damit herausgekommen ist. Wegen der Gefahr, - 182 -
die ihm – oder uns – drohte, entdeckt zu werden, und ihm, entlassen zu werden.« In deiner Vorstellung war er ein Nachtvogel Er arbeitete beim Radiosender zwischen zwölf Uhr nachts und sechs Uhr früh, zweimal die Woche. Und du schlichst dich immer zu ihm, fuhrst mit dem Fahrrad vorbei an den ganzen Farmhäusern der Offiziere, vorbei an der Grundschule, die du ein Jahr lang besucht hattest und die früher eine Baracke für japanische Kriegsgefangene gewesen war, vorbei an den ganzen Verkehrszeichen, auf denen »Links halten« stand, da Okinawa einige Jahre davor vom Rechts- zum Linksverkehr übergegangen war. Du saßt neben ihm in der DJ-Kabine und hörtest zu, wie er zu allen Leuten auf der Insel sprach, die Englisch verstanden. Er sprach mit seiner Harry-Belafonte-Stimme zu ihnen. Du hieltst seine Hand und hörtest zu, wie seine Stimme Tausende von Schlaflosen in den Schlaf säuselte. Endlich legte er ein langes Jazz-Stück auf – Mingus, Duke Ellington, Tommy Dorsey – und führte dich dann zu der Couch in der Künstlergarderobe. Ihr machtet es immer in Missionarsstellung, denn er sagte, er liebe es, dein Gesicht zu beobachten, wenn er in dir war. Er mochte es, mit dir zu sprechen, dir zu sagen, wie es sich anfühlte, dort zu sein, wie eng du seist und wie sehr er diese Enge möge. Denn bei dieser Enge konnte er sich vorstellen, der einzige Mann zu sein, an dieser Enge lag es, daß es immer schmerzte, und auch, daß ihr euch am Ende beeilen mußtet zu kommen, bevor du ihn bitten mußtest aufzuhören. »Ich glaube nicht, daß mein Leben mit Randall dich kümmern sollte«, sagtest du. Du pflücktest eine Handvoll - 183 -
überreifer Brombeeren, begutachtetest sie sorgfältig und warfst sie zur Seite. »Aber ich habe immer gespürt, wie stark diese Verbindung war.« »Ich scheine bei solchen Sachen immer in Schwierigkeiten zu kommen. Du dagegen bist so ein unsterblicher Romantiker.« »Romantiker? Aber das bist du doch, Sean, merkst du das nicht? Mit deiner großen Vorstellung, daß jemand, den du liebst, dir einen Teil deiner selbst wegnehmen, dich unvollständig machen könnte. Und dann das, was du verloren hast, in jemand anderem zu suchen. Und dabei immer zu wissen, daß du es wahrscheinlich niemals finden wirst. Was, glaubst du, ist das, wenn nicht romantisch?« »Ich dachte, du hättest etwas Wahres darin gesehen.« »Sehe ich auch! Romantisch heißt nicht schwachsinnig, nicht für mich.« Mit deinem angewiderten Ausdruck wandtest du den Blick zu der Kette ferner Berge, die in pastellfarbene Flecke übergingen und schließlich mit dem Horizont verschmolzen. Nach einer Weile sagte ich: »Ich möchte einfach, daß du dir vorstellen kannst, mit jemand anderem tollen Sex zu haben.« Mit mir, hätte ich hinzufügen können, aber das war nicht nötig. »Will, ich hab mich nie über unseren Sex beklagt. Unser Sex ist in Ordnung.« »Aber, was denkst du, wie ich mich fühle, wenn du sagst, daß Sex nie wieder dasselbe sein wird?« »Ich sage nicht, daß das in Stein gemeißelt ist. Ich sage nur, bisher, seit Randall, seit zehn Jahren. Und trotzdem wußte ich, daß es mit ihm toll sein würde, noch ehe er mich mit dem Finger berührt hatte.« - 184 -
»Nur weil du dich entschieden hast, daß es so sein würde.« Das machte dich mit einem Mal wütend. »Mein Körper hat das entschieden, verdammt! Es war mein Körper. Natürliche Anziehung. Ich konnte den Typ riechen, klar? Bei seinem Geruch kringelten sich mir die Zehen vor Geilheit. Ich habe seitdem nie mehr einen Körper so gerochen, egal ob schwarz oder weiß oder gelb. Und ich hatte sie alle. Ich habe eine ganze Menge anderer Leute probiert. »Aber es muß Liebe dabeisein, damit die Anziehung bleibt.« »Ja, aber an irgendeinem Punkt stirbt die Anziehung immer.« Das wußte ich, und zwar besser, als du es dir vorstellen konntest. Und dennoch spürte ich, daß in mir etwas verdorrte, irgendeine rankende Hoffnung, die abstirbt wie eine vertrocknete Rebe. »Na komm schon, Will«, sagtest du verstimmt, »war es mit ihm nicht toll? Du hast gesagt, es sei atemberaubend gewesen mit Chad.« »Aber es gab seitdem tollen Sex für mich.« »Na schön, dann ist das ein Punkt, worin wir uns unterscheiden.« »Nein, Sean, wir unterscheiden uns darin ...« Aber du warfst die Hände in die Luft. »Ich kann darüber jetzt nicht weiterreden! Will, wenn wir so weitermachen, töten wir alles, was es Gutes zwischen uns gibt.« Verletzt starrte ich dich an. »Na schön, dann mach weiter. Sag's mir einfach. Ich weiß sowieso schon, was du sagen willst. Du willst das sagen, was schon andere Leute gesagt haben, daß ich meine Sache mit Randall als Barriere oder als Nebelwand - 185 -
oder so benutzt habe ... du hast garantiert eine Metapher dafür. Denn wenn ich keinen tollen Sex haben kann, folgt daraus, daß ich auch keine große Liebe empfinden kann. Und deshalb kann es mir nicht passieren, daß ich wieder so verletzt werde, wie ich zuvor verletzt wurde.« Natürlich war es genau das, was ich hatte sagen wollen. Du lächeltest unheimlich. »Und trotzdem gibt es einen Typen, mit dem ich mich manchmal treffe. Der ein- und ausgeht in meinem Leben. Ich weiß nicht einmal, wo er wohnt. Manchmal ruft er mich einfach um drei Uhr morgens an und fragt mich, was ich mache. Er kommt zu mir, und wir fallen übereinander her wie hungrige Schweine. Und ich muß sagen, es ist verdammt geil. Es kommt nahe dran. Körperlich. Aber als Mensch läßt er mich kalt.« Ich haßte es, davon zu hören. Mir war übel. »Das kommt daher, daß es so ist, als würdest du mit einem Gespenst schlafen«, zwang ich mich zu sagen. Du drehtest dich mit einem Blick verwirrten Ärgers zu mir um. »Genau, genau so ist es. Und genau so mag ich es. Ich hab' dir schon mal gesagt, ich sei ein besserer Freund als Lover. Und du dachtest, das sei so dahergesagt.« »Nein«, sagte ich. »Ich habe einfach gehofft, es sei nicht wahr.«
16. Er besucht dich ein letztes Mal, bevor er verschwindet Kommt bei Nacht während des Taifuns, denn er weiß, daß deine Eltern nicht da sind Obwohl die Sturmwarnung wohl bald auf Stufe drei angehoben wird, haben deine Eltern beschlossen, mit dem Hubschrauber zu einem wichtigen Empfang auf die Hauptinsel zu fliegen. Deine Mutter hält - 186 -
den diagonalen Regenbahnen einen Schirm entgegen; sie geht schwerfällig in ihrem pailettenbesetzten Abendkleid und stolpert, während sie versucht, den Schirm zu halten und sich ins Cockpit zu quetschen. Du bist alleine in deinem Zimmer und entwirfst einen Pavillon fürs Offiziersheim, als du seine Silhouette im Fenster siehst. Er preßt sich gegen die Scheibe wie eine Maske, und das Wasser strömt an ihm herab. Und irgendwie weißt du, obgleich er das noch nie getan hat, daß er ins Haus eindringen und dir weh tun wird. Es ist Wahnsinn, wenn die Person, die man am meisten liebt auf der Welt, gewalttätig wird. Wenn die Umarmung des Geliebten zum Würgegriff wird. Er beschuldigt dich, ihn zu betrügen. Erzählt dir, er habe ein paar Tage zuvor davon erfahren, und dann schlägt er dir mit der Faust gegen die Brust Du kannst nicht atmen. Es ist, als seist du wieder ein Kind, das vom Rad fällt und dem die Luft wegbleibt. Du fühlst dich wie Watte, völlig benommen, so ungeheuerlich ist es. Und dennoch hast du es irgendwie erwartet, du wußtest, daß der Augenblick kommen würde. Und du kannst dich nicht wehren. Deine Liebe zu ihm macht dich zum Krüppel. Und dir kommt der Gedanke, daß dies das Ende ist, daß die Beziehung nie wieder dieselbe sein wird, selbst wenn er dich am Leben läßt. Daß es, wenn es überhaupt weitergeht, zwischen Lust und Schmerz keinen Unterschied mehr geben wird und daß es ihn danach verlangen wird, dir Gewalt anzutun, wie es einen Drogensüchtigen nach einem Schuß verlangt. Er schlägt auf dich ein, bis du schließlich die Arme um ihn schlingst, um ihn von weiteren Schlägen abzuhalten. Du schreist, daß du dich nicht wehren wirst. Du schreist, bis er endlich aufhört und ihr beide zusammen weinend auf dem Teppich liegt. Dann macht er eine Bewegung. Du - 187 -
kannst es kaum glauben, daß du ihn einfach tun läßt, was er will. Und doch, in dem Augenblick, in dem er dich berührt wie früher, weißt du, daß du ihn verlieren wirst. Er spricht mit keinem Wort aus, daß er gehen wird, aber du spürst es, als er dich packt, schließlich in die Hand spuckt, sich einreibt und eindringt. Und du beobachtest sein Gesicht, wie du es früher beobachtet hast Erinnerst dich an andere Zeiten. Erinnerst dich daran, wie hungrig sich seine Augen immer in die deinen bohrten, um zur eigenen Befriedigung deinen Schmerz abzuschätzen. Erinnerst dich daran, wie er, wenn es vorbei war, herausglitt und deine untere Hälfte brannte. Aber da er es wußte, da er wußte, wie sehr es schmerzte, küßte er deinen Hals und deine Brust, bis du dich erholtest und es wieder ertrugst. Genau so war es. Nun aber sind seine Stöße leer und lieblos. Nun kommt ihm nicht einmal der Gedanke, daß er dich wundreiben könnte. Und als er endlich die Augen schließt, ist das der einsamste Augenblick deines Lebens.
17. Als ich wieder zu Hause ankam, fand ich einen Haufen Post vor, darunter etwas, das ich für mehrere gefütterte Umschläge mit Rezensionsexemplaren von Büchern hielt, die an der Wand des Vorraums lehnten. Aus irgendeinem Grund fiel mir eines der Päckchen sofort ins Auge. Anstatt mit einem maschinengeschriebenen Etikett beklebt zu sein wie die meisten solcher Sendungen, war mein Name direkt draufgekritzelt. Ein Absender war nicht angegeben. Auf etwas Seltsames und Abseitiges gefaßt, riß ich es an einem Ende auf und faßte hinein, fühlte etwas Weiches und Krat- 188 -
ziges und zog die Hand wieder heraus. Was konnte das sein? Ich hob das Päckchen zum Licht, spähte hinein und sah etwas, das ich zuerst für Holzspäne hielt, erkannte dann jedoch, daß die Stücke zu groß waren und mehr wie Zeitungsfetzen aussahen. Ein Geschenk vielleicht, das sehr weich eingepackt werden mußte? Ich faßte erneut hinein, um in dem Gewirr herumzuwühlen, fand aber noch immer nichts. Verwirrt und ohne darüber nachzudenken, was ich tat, schlug ich auf die Tüte ein, worauf ein Klumpen seines zerfetzten Inhalts herausfiel. Ausgefranste Papierschnipsel flatterten durch die Luft und sanken zierlich auf den Fußboden des Vorraums. Etwas an dieser herabrieselnden Wolke aus bedrucktem Papier erinnert mich heute an einen magischen Augenblick in Vermont, als ich einmal das Glück hatte, dabeizusein, als eine Lärche ihre Blätter abwarf. Dann erkannte ich, was genau ich da sah. Fragmente von Farbe und Einbandkarton verrieten es. Mein zweiter Roman. Es war ein Exemplar meines zweiten Romans, dessen Einband offenbar abgerissen und dessen gesamte dreihundertsieben Seiten zerfetzt worden waren. Das Päckchen mit beiden Händen festhaltend, stand ich einen Augenblick schwankend da. Wer hatte das getan? Nicht Hunderte, sondern Tausende von zerrissenen Seiten schienen nun den Fußboden des Vorraums zu bedecken wie Schnee. Langsam beugte ich mich nach unten und fegte sorgsam den Fußboden mit den Händen, bis ich es geschafft hatte, auch noch den letzten Papierschnipsel aufzusammeln und wieder in die Tüte zu füllen. Ich preßte das pulverisierte Buch an die Brust, während ich die Treppe zu meiner Wohnung im ersten Stock hinaufstieg, wobei mir auffiel, daß das Buch nun, da es völlig zerfetzt - 189 -
war, tatsächlich weniger zu wiegen schien. Gerade als ich durch die Wohnungstür trat, läutete das Telefon. Erschrocken ließ ich das Päckchen auf den Schreibtisch fallen und nahm den Hörer ab. »Du bist wieder zurück.« Voller Argwohn fragte ich: »Wer ist da?« »Greg, wer denn sonst?« Ich hatte seine Stimme überhaupt nicht erkannt. »Du klingst so komisch«, sagte er. »Alles in Ordnung? Ist jemand bei dir?« »Nein, zu beiden Fragen.« »Also dann, was stimmt nicht bei dir?« Ich erklärte es. »Das ist echt krank!« entfuhr es Greg. »Nur ein ... um Himmels willen, nur ein bescheuerter Irrer mit Jagdschein käme auf so einen Gedanken.« Ich preßte die Handfläche gegen den Umschlag, wobei eine Delle in dem aufgeplusterten Material entstand. »Noch da, Will?« »Ja, ich bin da«, sagte ich kaum vernehmlich. »Du rastest doch nicht aus?« »Was denkst du denn? Ich meine ... ich bin buchstäblich gerade nach Hause gekommen und habe das hier vorgefunden!« »Könnte es nicht der Typ gewesen sein, den du erwähnt hattest, der, der auf Sean Paris wütend ist?« »Wäre vielleicht besser, als annehmen zu müssen, daß es jemand war, dem mein Buch nicht gefallen hat.« Wir lachten beide. Aber als Greg darauf sagte: »Wenigstens hast du deinen Humor nicht verloren«, ärgerte ich mich. Unwillkürlich sagte ich: »Da drinnen steht irgendwo dein Name, weißt du? Deine Widmung. Jetzt allerdings als - 190 -
Anagramm.« »Du hast nicht gesagt, daß es mein Buch ist!« »Als ob das einen Unterschied machen würde ... Also, was gibt's, Greg?« Ich wollte wirklich weg vom Telefon. »Ich kam heim, und Casey war da, aber keine Nachricht. Ich rufe nur an, um zu hören, wie dein Ausflug war.« »Es war sehr schön. Noch was?« »Ich muß über ein paar Dinge mit dir reden. Aber das kann warten. Ich erwisch' dich schon noch mal.« »Worüber, worüber mußt du mit mir reden?« »Jetzt ist dazu offensichtlich nicht der richtige Moment.« Ich war zu sehr mit anderem beschäftigt, um Greg unter Druck zu setzen, wie ich es normalerweise getan hätte. Casey war fast den ganzen Tag in meinem Auto eingesperrt gewesen, und ich hatte vorgehabt, am Abend einen langen Spaziergang mit ihm zu machen. »Wann wirst du vorbeikommen?« fragte Greg. »Ich weiß nicht. Um neun oder zehn. Nach dem Essen jedenfalls. Aber was macht das für einen Unterschied, wenn du ohnehin nicht da bist?« Greg würde auf der Arbeit sein. Es gab eine Pause. Schließlich sagte er: »Je nachdem, wie spät du kommst, könnte jemand anderes dasein.« Meine erste Reaktion war Eifersucht. Und dann Angst, Gregs neue Beziehung könnte meine überdauern, und wenn das passierte, würde ich mich doppelt einsam fühlen. Warum sollte jemand andres – nicht ich – es schaffen, mit ihm klarzukommen? »War es das, was du mir erzählen wolltest?« »So in etwa.« »Jetzt sei nicht so schüchtern, okay? Also, wohnt der Typ jetzt richtig bei dir, oder was?« »Nein! Er trifft mich da nur nach der Arbeit.« - 191 -
Greg hatte ihm die Wohnungsschlüssel gegeben. Das war ein bedeutender Schritt. Ich fühlte mich seltsam hintergangen. » Warum? Warum hast du das getan? Wieso könnt ihr euch nicht bei ihm treffen?« »Das ist... kompliziert.« Ich wußte, was das bedeutete. »Hast du dich etwa auf ein Dreiecksverhältnis eingelassen?« »So etwas Ähnliches.« »Paß auf, ich will nicht, daß da irgend so ein Fremder bei meinem Hund rumlungert.« In Gregs Stimme schwang Genugtuung mit. »Wieso? Mir macht es nichts aus, daß Sean sich um Casey gekümmert hat. Er ist sogar mit ihm nach Vermont raufgefahren.« »Weil du darauf bestanden hast.« »Na ja, ich ich habe nun mal keine Schwierigkeiten mit anderen Männern.« »Paß auf, was ist, wenn der Lover von dem Typ eifersüchtig wird und etwas vermutet und ihm zu deiner Wohnung folgt? Dann wäre Casey in Gefahr.« »Verschon mich mit Horrorstories, ja?« Es entstand gereizte Stille, und dann seufzte Greg: »Du wüßtest wahrscheinlich ohnehin, ob sein Lover, oder besser Ex-Lover, zu so etwas fähig ist.« »Das hab' ich mir gedacht«, sagte ich eingeschnappt. »Du warst so komisch ... ich dachte mir, daß ich die Beteiligten kennen muß. Also, wer ist es?« Als Greg zögerte, fing es an, bei mir zu klicken. »Doch nicht ein Ex von mir?« sagte ich. »Davon gibt es so viele, daß das wirklich nicht unwahrscheinlich wäre.« »Greg!« »Nein, es ist kein Ex von dir.« - 192 -
»Wer dann?« Nach einem Augenblick sagte er: »Sebastian Seporia.« »Sehr witzig, Greg.« »Das ist kein Witz.« Ich war stinksauer. »Was? Na los! Raus damit... Sebastian Seporia. Spinnst du? Du weißt, daß er noch eine Beziehung hat ... mit Peter!« »Nicht mehr.« »Herrje, die trennen sich doch alle fünf Minuten. Aber die beiden kommen nie voneinander los.« »Na, dich hat das ja wohl nicht zurückgehalten.« Ich erinnerte Greg daran, daß Peter seine andere Beziehung heruntergespielt hatte, als ich ihn kennenlernte. »Ich wußte nicht mal, wie stark sie war, ehe ich ein dutzendmal mit ihm geschlafen hatte.« »Ein dutzendmal in zwei Tagen.« »Greg, ich fasse es einfach nicht! Nach allem, was ich dir über Peter und Sebastian erzählt habe, wie konntest du dich da auf sie einlassen?« »Als ob es bei dir anders wäre. Als ob du's an meiner Stelle nicht getan hättest!« »Wenn ich es gewußt hätte, hätte ich's bleiben lassen. Ich würde versuchen, keine Komplikationen zu schaffen.« »Was heißt hier Komplikationen schaffen? Du hast doch gar nichts mehr mit Peter.« »Worum geht's hier eigentlich, Greg?« Ich war fuchsteufelswild. »Geht's um mich? Versuchst du, mir aus irgendeinem Grund etwas heimzuzahlen?« »Jetzt mach dir nichts vor. Manchmal ist's einfach nett, 'ne Nummer zu schieben.« »Dazu hättest du 'ne Menge anderer Gelegenheiten. Du mußt dir nicht gerade so eine Inzestsituation aussuchen. Ist dir nicht klar, daß Sebastian weiß, daß Peter, wenn er's - 193 -
herausbekommt, sofort...« »Wer sagt, daß Peter es herausbekommt.« »Ich hab' Neuigkeiten für dich, Greg. Du weißt vielleicht ganz gut, was dieser kleine Malteser mit seinem Schwanz anstellt, aber glaub mir, du hast nicht die blasseste Ahnung, wozu er fähig ist. Wie hat die Bescherung überhaupt angefangen?« »Wir haben uns auf der Hundebahn kennengelernt.« »Der hat'n Hund?« »Nein, er hat angefangen, Casey zu streicheln.« Natürlich. Jetzt war alles klar. Sebastian konnte sich ausrechnen, wer Greg war, da er wußte, wer Casey war – er hatte mich mit dem Hund dort gesehen. In diesem Moment fiel mein Blick auf den Anrufbeantworter. »Greg, ich habe fünfzehn Nachrichten bekommen. Was willst du wetten, daß die Hälfte davon von Peter Rocca stammt?« »Ich glaub's dir auch so.« Der Umschlag mit meinem zerfetzten Roman lag auf meinem Schreibtisch. Ich machte mir klar, daß mir dies zugestoßen war, weil ich mich für ein anderes Leben entschieden hatte, einen anderen Liebhaber, jemand anderen als Greg. Ich war nicht mehr mit Greg zusammen, daher hätte es nicht mehr so wichtig sein sollen, was er tat. So sprach die Stimme der Vernunft. »Greg«, fuhr ich fort, »kümmert es dich überhaupt, daß Sebastian etwas gegen mich hat?« »Mir gegenüber hat er nie etwas Schlechtes über dich gesagt.« »Trotzdem.« »Schau, mir geht's prima zur Zeit, warum sollte ich mir um seine Motive Sorgen machen?« »Auch wenn er es nur tut, um mich zum Idioten zu machen?« - 194 -
»Ich sehe wirklich nicht, wie das gehen sollte. Versuch, nicht so egozentrisch zu sein. Es geht nicht immer nur um dich, oder? Und du bist nicht mein Lover. Nicht mehr.« Mit einem äußerst knappen Abschiedsgruß knallte ich den Hörer auf die Gabel. Überflüssig, zu sagen, daß ich seit dem Abend, an dem wir uns kennengelernt hatten, nicht mehr in Peters Wohnung gewesen war. Er sagte kaum hallo, als er die Tür öffnete. Er suche einen Schlüssel, erklärte er und eilte in die Wohnung zurück, um weiter ziellos in Tisch- und Kom-modenschubladen und zwischen chintzbezogenen Sofakissen zu wühlen. Peter hatte einen üppigen Vorrat an Haushaltswaren angesammelt. Sein häuslicher Wohlstand umfaßte ganze Sätze von Wedgewoodtellern, Champagnerflöten und Silber mit geschmackvollem italienischem Schnörkelmuster. Es gab viele polierte Möbelflächen. Hätte ich nicht gewußt, daß er schwul war, hätte ich gedacht, er habe bereits den wesentlichen Teil seines Hochzeitswunschzettels eingetrieben. Vor mir stand das innenstädtische Alter ego eines jungen Pärchens von der Upper East Side, das nicht in Armanianzüge gekleidet war, sondern in die typische hautenge Mode, die wirklich jede einzelne Rundung des Körpers betonte. Heute trug er eines seiner Lieblings-Polizei-T-Shirts, die er routinemäßig bei Revieren in den gesamten Vereinigten Staaten sammelte. Dieses hier war ein graues Exemplar aus Reno, Nevada. Obwohl seine Schränke mit Hosen aus Wolle und Leinen und T-Shirts aus feinstem Jersey vollgestopft waren, pflegte er, wenn er nicht arbeitete, abgeschnittene Jeans und immer die gleichen zwei oder drei T-Shirts zu tragen, bis sie im Wäschetrockner in der Küche, der immer, wenn ich kam, in Gebrauch zu sein schien, auseinanderfielen. Ich konnte mir nicht verkneifen zu sagen: »Hat Bloo- 195 -
mingdale's Pleite gemacht?« Stirnrunzelnd wandte er sich mir zu. »Wie kommst du an alle diese ... Sachen? Wo kriegt man so 'ne Ladung Teller her?« sagte ich und nahm einen mit einem mindestens anderthalb Zentimeter breiten Goldrand in die Hand. »Von wem hast du die?« »Ich hab' sie gekauft, okay?« Als Spezialist für die Behandlung von Phobien machte Peter ein paar Hunderttausend im Jahr und sah sich offenbar gezwungen, hie und da die Last von ein paar Riesen abzuwerfen, indem er solche Kleinigkeiten wie Geschirr anschaffte, das er nie benutzen würde. Der Kerl konnte sich kaum ein Ei braten. Liebenswürdig sagte ich: »Alles, was du brauchst, ist ein Tisch fürs Eßzimmer.« »Schnauze«, sagte Peter lachend. »Du siehst doch, daß ich heute abend nicht gut drauf bin.« »Ich bin auch nicht so toll drauf. Obwohl's kein Wunder ist, daß du schlechte Laune hast. Ich hab' hier noch nie so 'n Durcheinander gesehen. Da müssen dir ja echt die Analdrüsen platzen.« »Ich sagte doch, daß ich einen Schlüssel suche. Jetzt spiel nicht den Klugscheißer.« Es handelte sich um einen Ersatzwohnungsschlüssel, den Sebastian zu haben behauptete, was Peter für gelogen hielt. Den hatte ihm Peter vor ein paar Wochen gegeben, als Sebastian gekommen war, um sich sein Fahrrad auszuleihen. »Aber dann hab' ich ihn zurückgekriegt.« »Selbst wenn du ihn zurückgekriegt hast, hat sich Sebastian, wie ich ihn kenne, wahrscheinlich einen nachmachen lassen.« Peter brach seine Suche ab und drehte sich mit beunruhigtem Blick zu mir um. - 196 -
»Aber dann kommt er immer noch nicht am Portier vorbei«, bemerkte ich. »Von wegen ... das hat er schon geschafft«, sagte Peter höhnisch. »Na schön, dann mußt du denen eben sagen, daß sie niemanden hereinlassen sollen, wenn du's nicht erlaubst. Gib's ihnen schriftlich, um Gottes willen!« Peter winkte ab. »Die Portiers wissen alle schon seit einiger Zeit Bescheid. Der fälscht einfach eine Bescheinigung von mir oder kommt mit einem Gegenstand an, zum Beispiel einem Küchengerät, das er angeblich zurückgeben muß.« »Dann sind die noch dümmer als er.« Falls das möglich ist, fügte ich in Gedanken hinzu. »Paß auf, hier geht es nicht nur um Sebastians Dummheit«, sagte Peter, womit er auf unser Telefongespräch über Gregs und Sebastians Techtelmechtel anspielte. Ich schlug vor, Peter solle einfach die Schlösser austauschen. »Das kostet mich hundertfünfzig Mäuse.« »Du kannst dir's leisten.« Ich wies auf die Sachen, die uns umgaben. »Darum geht es nicht.« »Versetz ein paar Teller.« »Wenn du noch einen Ton über meine beschissenen Teller sagst...« »Was, knallst du mir dann eine?« »Nein ... dann stopf ich dir meinen Schwanz ins Maul.« »Und du glaubst, das laß ich zu, häh?« Peters Augen bohrten sich in mich. »Will, ich kann nicht fassen, daß du so 'ne Scheiße mit mir machst!« brüllte er. »Reg dich nicht auf, okay?« »Nicht aufregen? Ich fasse diese ganze Inzestgeschichte - 197 -
nicht.« »Ganz schön verfahren, was? Obwohl Greg behauptet, er hätte erst zwei und zwei zusammengezählt, als sie schon angefangen hatten, miteinander rumzuvögeln.« Endlich setzte Peter sich aufs Sofa und schlug die Beine übereinander. »Ich muß sagen, es hört sich ja nicht so an, als würde es dich allzu sehr aufregen.« »Ich rege mich fürchterlich auf.« Ehrlich gesagt war ich froh, daß Peter sich genug für uns beide aufregte. »Aber die werden sich bald satt haben.« »In der Zwischenzeit hast du ja jemanden, mit dem du dich beschäftigen kannst.« »Und es gibt eine Million Kerle, die sich liebend gerne mit dir treffen würden, falls du auf Gesellschaft aus bist.« »Ich könnte dem Scheißkerl den Hals umdrehen!« »Wem?« fragte ich vorsichtig aus Beschützerinstinkt gegenüber Greg. »Sebastian.« »Paß auf, je mehr du dich aufregst, desto mehr verschaffst du Sebastian die Genugtuung, auf die er offensichtlich aus ist.« Ich hatte mich bereits über Peter geärgert, weil er auf die Geschichte mit meinem zerfetzten Buch nicht eingegangen war. Aber jetzt war er immerhin bereit, gelassen an das Problem dieser Affäre heranzugehen. Sebastian hatte so etwas schon früher gemacht, erklärte Peter. Jedesmal, wenn sie sich getrennt hatten und Peter sich in der Zwischenzeit mit jemand anderem traf, kam Sebastian dahinter und stürzte sich dann auf denjenigen »wie ein beschissener Piranha«, um es mit Peters Worten auszudrücken. Da er wußte, daß ich besetzt war, hatte Sebastian sein Auge auf die zweitbeste Beute geworfen: Greg. - 198 -
»Also, der Kerl ist ein krummer Hund. Und du bist auch einer, wenn du bei ihm bleibst. Basta.« »Danke für dein Verständnis.« »Schau, ich habe meine eigenen Probleme.« Und dann schilderte ich rasch noch einmal, was für ein Gefühl es gewesen war, das eigene Totem zerfetzt mit der Post zu bekommen. Peter schien schließlich zu begreifen, was geschehen war. Sein verblüffter Gesichtsausdruck brachte mich auf einen beunruhigenden Gedanken. »Meinst du, Sebastian könnte so etwas getan haben? Mein Buch zerreißen und es mir mit der Post schicken?« Peter verzog das Gesicht und schüttelte den Kopf. »Bezweifle ich... Im Ernst, er ist nicht raffiniert genug, um sich etwas so, entschuldige, Interessantes auszudenken.« Dann mußte es derjenige gewesen sein, den ich zuerst im Verdacht gehabt hatte, José Alaya, Bobby Garzinos ExLover. Mit besorgter Miene sprang Peter vom Sofa hoch, lief durchs Zimmer und stützte sich mit seinen sommersprossigen roten Händen am Fensterrahmen ab, um zur Silhouette des Empire State Building hinüberzustarren, dessen Lichter im Dunst der nächtlichen Sommerhitze in der Ferne aufblinkten. »Schau, Will«, sagte er leise, den Blick noch immer auf die mächtige Spitze eines Gebäudes gerichtet, »ich möchte nicht mit Sebastian zusammenbleiben. Ich weiß, daß er nicht der Richtige für mich ist. Er ist nachtragend. Er ist besitzergreifend. Er beleidigt meine Freunde.« »Und vergiß nicht, daß er ein Goldgräber ist«, fügte ich mit einem Blick auf das ganze erlesene Eß- und Glasgeschirr hinzu. Peter fuhr fort, als ob er mich nicht gehört hätte: »Ich kann ihn nirgendwohin mitnehmen, ohne daß mir sein - 199 -
Mangel an Kultur peinlich ist oder seine allgemeine Ahnungslosigkeit, was Politik oder Manieren oder überhaupt alles betrifft. Und trotzdem ... liebe ich ihn.« Mit einemmal drehte er sich um, und in seinen Augen funkelten Tränen. »Ehrlich, ich komm' einfach nicht los von ihm. Der einzige Weg da raus wäre, daß ich jemand anderen kennenlerne.« »Gerade du solltest wissen, daß das viel zu schwammig ist. Der einzige Weg da raus ist, ihn zu verlassen.« »Ich ertrag's einfach nicht, alleine zu sein.« »Es gibt Schlimmeres.« »Und was?« »Ob du's glaubst oder nicht, einen Lover wie Sebastian zu haben, der eine einzige Nervensäge ist. Versuch, ohne ihn zu leben. Du wirst schon sehen.« (Mir war bewußt, daß ich mir diesen guten Rat schon oft selbst gegeben hatte.) Eine Weile schwieg Peter. Er kam wieder zum Sofa, um sich mir gegenüber hinzusetzen, ein Bein mit dem Knöchel über das andere zu legen und mit dem Knie nervös auf und ab zu wippen. »Glaubst du, das weiß ich nicht?« murmelte er. Er setzte an, wieder aufzustehen, dann schien er zu erkennen, daß er sich sprunghaft verhielt, und ließ sich wieder aufs Sofa fallen. Es hatte etwas Liebenswertes, wie er sich zusammennahm. »Du weißt«, fuhr er schließlich fort, »daß ich unsere Beziehung nie als ... nun ja, etwas angesehen habe, das neben meiner Beziehung zu Sebastian herläuft. Ich meine, bei all meiner beschissenen Ambivalenz habe ich wirklich gehofft, daß es irgendwohin führen würde.« Es wagte es jetzt, mich von der Seite anzuschauen. »Hast du nicht einfach nur gehofft, daß ich dich von ihm wegziehen würde?« - 200 -
»Vielleicht. Aber schau, ich bewundere deinen Verstand. Mit dir kann ich mich unterhalten. Wir haben tollen Sex. Wir sind uns intellektuell ebenbürtig. Und trotzdem hänge ich emotional an Sebastian. Und jetzt bist du mit Sean Paris zusammen, und ich bin ganz aus der Spur. Ich sagte ihm, ich sei mir sicher, daß er immer wieder zu Sebastian zurückgegangen wäre. Ich hatte nie etwas anderes erwartet. Peter seufzte. »Ich wünschte, er würde die Stadt verlassen. Er droht immer damit, nach Florida zu ziehen.« Plötzlich klingelte das Telefon. »Paß auf, jetzt wird er mir's ständig unter die Nase reiben. Er weiß einfach, wie er mich drankriegt. Der Wichser!« »Woher weißt du, daß er es ist?« Peter seufzte wieder. »Weil ich sein Klingeln kenne.« Dann stand er hastig auf, um abzunehmen.
18. Die Kratzer um das Schlüsselloch deiner Tür – tiefe Scharten im lackierten Holz – erinnerten an die Schnurrhaare einer Katze ohne Gesicht, die stümperhafte Studie eines ausgeflippten Künstlers. Es handelte sich jedoch lediglich um Vandalismus. Ein sehr trauriger, verzweifelter Mensch hatte das getan, dachte ich, als ich die Schrammen untersuchte. Du saßt an deinem Eßtisch, starrtest mich mit leerem Blick an und wartetest auf meine Reaktion. Dein grüner Sportbeutel stand mitten auf dem Fußboden, und die Kleider, die du am Tag zuvor von Vermont zurückgebracht hattest, waren noch nicht weggeräumt worden und lagen da wie die Eingeweide des überfahrenen Tiers von unserem Ausflug. Mit einem Finger - 201 -
brachtest du die verdorrten Stengel in der Vase durcheinander, Blumen, die an jenem Morgen vor ein paar Wochen, als wir das erste Mal zusammen geschlafen hatten, frisch geschnitten auf deinem Frühstückstisch geprangt hatten. »Warum hat José sich nur die Mühe gemacht?« sagte ich. Schließlich hattest du unmittelbar vor unserer Abreise mit ihm gesprochen. Du hattest ihm gesagt, daß du alle Websachen aus deiner Wohnung schaffen würdest. Als ich etwas genauer als tags zuvor am Telefon berichtete, was mit meinem Buch geschehen war, zog ich unwillkürlich eine Verbindung zu den Schrammen an deiner Tür. »Muß da unbedingt eine Verbindung bestehen?« Du hörtest dich gereizt an. »Also bitte, Sean.« Ich fragte nach Josés Nummer, halb in der Erwartung, du hättest sie nicht. »Wozu willst du sie?« Dein Widerstand überraschte mich. »Um herauszufinden, ob er mein Buch zerrissen hat.« »Ach komm, meinst du etwa, er gibt das zu?« »Zumindest kann ich hören, wie er es abstreitet. Ich kann ziemlich gut riechen, wenn ich angelogen werde.« »Ach, wirklich? Sogar bei jemandem, den du nicht kennst?« »In meinen Augen ist er der einzige Kandidat, der in Frage kommt.« Du knalltest die Hände auf den Tisch. »Er hat mich auf dem Kieker, Will, nicht dich. Also laß ihn in Frieden. Okay?« Ich war, offen gestanden, verblüfft, nicht allein wegen deines Zorns und weil du die Beschädigung deiner Tür - 202 -
hingenommen hattest, als sei nichts gewesen, sondern weil du José zu verteidigen schienst. »Fühlst du dich schuldig?« sagte ich. »Oder glaubst du, daß du dir irgend etwas vorzuwerfen hast?« Keine Antwort. Du lehntest dich im Stuhl zurück, bis dessen Vorderbeine sich vom Fußboden hoben, nicktest zur Tür hin und sagtest träumerisch, »Ich habe beschlossen, die Kratzer nicht zu überstreichen. Ich lasse sie so, wie sie sind.« »Weshalb?« »Um mich daran zu erinnern, wie weit Leute getrieben werden können, die normalerweise geistig gesund sind.« »Als ob du das je vergessen würdest.« Du hobst die Arme über den Kopf, bis dein Hemd ein paar Zentimeter nach oben gezogen wurde, so daß die schmale, dunkle Grenzlinie der Haare zwischen Nabel und Unterleib zu sehen war. Als es an der Zeit war, mit Casey auf die Straße zu gehen, beschlossen wir, einen Spaziergang durch das East Village zu unternehmen und dann wieder einen Bogen nach Westen zurück zu Gregs Wohnung in der Carmine Street zu machen. Während wir in Vermont gewesen waren, hatte es drunten in Louisiana einen fürchterlichen Hurrikan gegeben, und die Ausläufer des Sturms hatten jetzt gerade Manhattan erreicht. Ein feuchter Wind fegte durch die Grove Street, der Abfälle aufwirbelte und der Stadtluft einen Nachhall seiner früheren Gewalt beimischte. Eine Formation tropisch wirkender Wolken zog mit einer solchen Geschwindigkeit über den Himmel, daß die Gebäude zu schwanken und ihnen entgegenzustürzen schienen. Als wir durch das quietschende Eisentor des Wohnhauses traten, bestandest du darauf, meine Hand zu nehmen. - 203 -
Wir spazierten los, die Grove Street entlang. Ich hatte noch nie längere Zeit mit einem Mann in der Öffentlichkeit Händchen gehalten. Mit Greg hatte ich es gelegentlich einen oder zwei Blocks weit getan. Diesmal jedoch dauerte es länger, und jedesmal, wenn ich meine Finger unauffällig aus deinen befreien wollte, packtest du fester zu und schautest mich an. Mir war, als würde ich einem Test unterzogen. Es war schwer zu sagen, ob ich es mir einbildete oder nicht, aber ich glaubte, männlich-weibliche Paare zu sehen, die uns offen anstarrten und dann wegschauten. War es Ablehnung, oder versuchten sie, sich an etwas zu gewöhnen, das immer alltäglicher wurde? Zwei Männer, die Hand in Hand gingen, waren jetzt in den 1990ern nur noch eine unbedeutendere Störung des wilden städtischen Straßenbildes. Eine Meute Teenager gondelte mit breiten Jungmackerschritten durch die Straßen; sie schwangen einen metallenen Ghettoblaster, aus dem die neueste HipHop-Musik dröhnte. »Schwule Säue«, rief uns einer nach. Im Augenblick, als die Bemerkung mir ins Ohr schrillte, drehtest du dich mit einem sanften Lächeln, das den Ärger über die Beleidigung abmilderte, zu mir um. »In Europa macht man das so«, sagtest du schließlich. »Da gehen Kerle Hand in Hand. Dort ist das vollkommen unschuldig.« »Aber da ist's nur Kumpelhaftigkeit. Keine Schwulenpolitik.« Und ich werde nie vergessen, wie du plötzlich stehenbliebst und mich unvermittelt verwundert anschautest. »Also, ich glaube, es...« Du zögertest. »Was .... was willst du sagen?« »Daß sie endlich anfängt, sich zu entwickeln, Will«, sagtest du kaum vernehmlich. »Unsere Beziehung.« - 204 -
»Ich bin längst so weit«, murmelte ich. Danach jedoch blieben wir stumm und wanderten weiter, ohne uns zu berühren. Was für eine Unaussprechlichkeit hatte bisher zwischen uns gestanden, die, sobald man sie aussprach, jedes Gefühl von Leichtigkeit erstarren ließ? Fürchteten wir die Vertrautheit so sehr oder vielleicht sogar noch mehr als den Tod? Hatte sich die Todesdrohung in den Schild unserer Selbstverteidigung eingegraben? Wir gingen die Tenth Street weiter, bis wir von der vornehmen Ehrbarkeit des West Village und der Fifth Avenue in das irre Anything-goes des East Village kamen, wo gepiercte Körperteile, gruftiges Make-up und ausgefeilte nihilistische Frisuren viel abgefahrener wirkten als zwei Typen, die Händchen hielten. Es hatte Ärger im Tompkins Square Park gegeben, wo die Obdachlosen versuchten, ein eigenes Stammesgebiet zu gründen. Die Polizei war gezwungen worden, einzugreifen und diese widerspenstige Kolonie der Enterbten dichtzumachen. Und als ob du mich ein letztes Mal auf die Probe stellen wolltest, nahmst du wieder meine Hand, während wir am Rand des Parks entlangwanderten, wo buchstäblich Hunderte von uniformierten Bullen Wache hielten. Ich spürte ein paar Blicke, die uns nachschauten, hörte etwas, das ich vermutlich fälschlicherweise als mißbilligendes Zungenschnalzen interpretierte, aber dann regte sich etwas in meinem Innern, und ich fühlte mich nahezu frei. Hier wurden nicht die Bullen oder die Gesellschaft auf die Probe gestellt. Die Probe galt uns, dir und mir. Und als wir die Straße überquert hatten und die Avenue A in Richtung Innenstadt entlanggingen, legtest du mir, nachdem du meine Hand losgelassen hattest, eine Weile deinen Arm um den Hals. Als wir uns nach Westen wandten, um zu Gregs Woh- 205 -
nung zu gehen, fragte ich dich, ob du mitkommen und dann mit Casey Spazierengehen wolltest. Aber du schütteltest den Kopf, küßtest mich auf den Mund und flüstertest gute Nacht. Ich schaute dir nach, bis du auf der Carmine Street verschwunden warst. Sobald ich Gregs Wohnung betrat, fing Casey an, hin und her zu springen und mich abzulecken. Zweifellos glaubte er, ich würde ihn wieder mit nach Vermont nehmen. Ich roch etwas anderes als den normalen Geruch nach Gregs makrobiotischer Küche mit Kumin und braunem Basmatireis. Ich roch etwas Süßes und Wächsernes wie Haarpomade. Und richtig, als ich in Gregs Arzneischränkchen stöberte, fand ich eine kleine purpurrote Kunststoffdose mit Haarcreme, die ich noch nie gesehen hatte – Sebastians Utensil zur leichten Pflege seiner Pompadourfrisur, malte ich mir grimmig aus –, sowie einen riesigen Pumpbehälter mit dem allerneuesten Gleitmittel, versetzt mit Nonoxynol-9, der Komponente, die das Aidsvirus angeblich bei Kontakt abtötete. Die enorme Größe des Behälters signalisierte mir: geiler Sex mit einem andern. »Na komm, Casey«, sagte ich ärgerlich, »gehen wir.« Während ich mit Casey, der neben mir hersprang, an den West Side Piers spazierenging, schaute ich nach dem hypnotischen Funkeln der Lichter jenseits des Flusses in New Jersey. Das Glitzern eines Diamantohrsteckers lenkte mich davon ab. Ein Paar unbarmherziger Augen, ein zernarbtes Gesicht. Dann ein weiteres Gesicht, dieses jedoch fett, unnatürlich aufgedunsen. Sie griffen mich aus unterschiedlichen Richtungen an, und als sie mich zwischen ihre Schultern einzwängten, hörte ich bei der Berührung etwas krachen. Schmerzen schossen mir durch die Arme. »Laß los, Arschloch«, sagte einer von beiden. »Du hast - 206 -
ihn! Du hast ihn!« Als Casey sich wütend auf sie stürzen wollte, zerrte ich ihn versehentlich, aber instinktiv an der Leine zurück. Sein Gebell verwandelte sich in ein Winseln. Und dann saß ich, eher benommen als verletzt, auf der Erde; mein Kopf dröhnte vom Sturz auf das Pflaster, und meine Arme waren aufgeschürft. Ich brauchte eine Weile, bis ich merkte, daß Casey mir nicht übers Gesicht leckte, wie er es sonst immer tat, wenn ich hingefallen war. Die Erkenntnis, daß er nicht da war, überwältigte mich schlagartig. Auf der einen Seite das Wasser des Hudson River, auf der anderen der träge dahinfließende Verkehr, Musikfetzen, die blechern aus Autos drangen, Ströme von Typen, die zwischen den Bars und dem Wasser auf dem Nachhauseweg waren und die einen widerwärtigen Geruch ausdünsteten. Die Panik überfiel mich wie ein Fieber. »Casey!« schrie ich. »Casey!« Erschrocken blickten Passanten mich an. »Mein Hund!« Meine einzige Chance war, zu schreien und einen Aufruhr zu entfachen. »Mein Hund! Mein Hund!« Es bestand die Möglichkeit, daß Casey mit dem liebsten, vertrauensseligsten Gesicht der Welt genau in diesem Moment fortgezerrt, vielleicht sogar gequält wurde, um dann an ein illegales Labor verkauft zu werden und für den Rest seines kurzen Lebens hungern zu müssen und in qualvoller Verwahrlosung gefangengehalten zu werden. »Casey! Casey! Mein Hund ist gestohlen worden!« Während ich noch herumschrie, rannte ein grimmig aussehender Kerl mit blauen Kopftuch auf mich zu und sagte, er habe eine Bande von Kids mit einem Hund gesehen. - 207 -
»War es ein schwarzer Hund?« Der Mann nickte und erklärte, der Hund habe ihnen zu entkommen versucht. Ich konnte es nicht ertragen. Den Gedanken an eine Jugendbande, die einen Hund, der nur Gregs und meine liebevolle Behandlung kannte, dem Schock grausamer Behandlung aussetzte. »Casey! Casey!« schreiend rannte ich in die Richtung, die der Mann angegeben hatte, bevor ich mich in das Unvermeidliche fügte: Greg an seinem Arbeitsplatz anzurufen. Als er ans Telefon kam, klang er zunächst etwas kühl, zweifellos ein Nachklang unseres Streits vom Nachmittag. Als ich ihm aber berichtete, daß ich überfallen und daß Casey gestohlen worden war, erinnerte ich mich bei Gregs gequältem, ungläubigem Aufschrei daran, daß ihm schon einmal ein Hund weggenommen worden war. Und einen Augenblick lang verzieh ich ihm alles, was mit Sebastian vorgefallen war. »Ich versteh' das einfach nicht«, schrie er. »Wie haben sie ihn dir nur wegnehmen können?« »Greg, hast du nicht zugehört? Die haben mich niedergeschlagen. Ich muß ... bewußtlos gewesen sein. Sie sind nämlich mit ihm weggelaufen.« Nachdem Greg erfahren hatte, wo ich war, bat er mich, die Polizei zu verständigen, während er mit dem Taxi kommen würde. Unter Aufbietung aller Kräfte mußte ich mich beruhigen und der Polizei zusammenhängend schildern, was geschehen war; dann gelang es mir glücklicherweise, dich zu Hause zu erreichen. »Marinesmethode«, nanntest du es später. Ich werde nie verstehen, wie du überhaupt auf deinen Plan gekommen bist. Nachdem du die Nummer des Münztelefons aufgeschrieben hattest, fragtest du, ob die anderen Schlüssel an dem Bund, den ich dir für das Haus in Vermont gegeben - 208 -
hatte, meine Wohnungsschlüssel seien und ob die Liste der Hundebesitzer von der Washington-Square-Hundebahn in meinem Schreibtisch leicht zu finden sei. Um elf Uhr nachts unter der Woche würden die meisten anderen Hundebesitzer sicher zu Hause sein. Greg kam kurz vor der Polizei an, und während sie noch das Protokoll aufnahmen, klingelte das Telefon. Es war dir gelungen, fünfzehn Leute von der Hundebahnliste zu erreichen, bis du endlich an jemanden geraten warst, der glaubte, an der Ecke Fifteenth Street und Third Avenue möglicherweise einen Hund wie Casey in der Hand einer solchen Gruppe von Teenagern erkannt zu haben, während er selbst seinen Hund ausgeführt hatte. Er war jedoch nicht nahe genug gewesen, um ihn eindeutig zu identifizieren, und glaubte lediglich, der betreffende Hund habe eine erstaunliche Ähnlichkeit mit unserem Casey gehabt. Die Polizei rief das zuständige Revier an, und Greg machte sich sofort zu Fuß auf den Weg, während ich gezwungen war, meinen Bericht abzuschließen. »Unter Druck ist er ziemlich gut, was?« sagte Greg am nächsten Nachmittag. Wir saßen auf dem Futonsofa in seiner Wohnung. Zwischen uns döste Casey, den Kopf bequem in Gregs Schoß gelegt. Greg sprach von deiner Idee, die anderen Besitzer von der Hundebahn anzurufen, von denen die meisten Casey besser kannten als Greg oder mich. »Wir waren zu durcheinander, um klar zu denken«, beruhigte ich ihn. Greg zuckte die Achseln und verzog wegen der schwarzen Naht, die sich über seine linke Stirnhälfte zog, schmerzhaft das Gesicht; sie war die Folge einer Platzwunde, die er sich zugezogen hatte, als er zur Furie gewor- 209 -
den war und sich, aus vollem Hals brüllend, sie hätten Casey gestohlen, auf die Gruppe von Kids gestürzt hatte. Das war ein kluger Schachzug gewesen, denn indem er solch eine große Aufmerksamkeit erregte, hatte er sie gezwungen, den Hund loszulassen und sich in alle Winde zu zerstreuen. »Der Arzt sagte, es werde höchstwahrscheinlich eine Narbe geben. Macht aber nichts. Das ist es wert ... ihn nicht verloren zu haben.« Seine Stimme brach, während er Casey tätschelte, der ein befriedigtes Grunzen von sich gab und von allem, was passiert war, recht unbeeindruckt schien. »Ich möchte Sean anrufen und mich bei ihm bedanken. Vielleicht könnte ich euch beide ja irgendwann mal zum Essen einladen.« »Das ist nicht nötig.« »Wäre es dir unangenehm?« fragte mich Greg. »Nicht, wenn's für dich okay wäre.« Ich ertappte mich dabei, daß ich wieder Gregs T-ZellenPoster betrachtete, aber diesmal beunruhigte es mich nicht so sehr. Als Greg bemerkte, daß ich das Poster musterte, sagte er: »Weißt du, ich will immer noch, daß du derjenige bist, der die Entscheidungen trifft, wenn mir einmal was passiert ... falls Entscheidungen getroffen werden müssen.« »Okay«, sagte ich etwas beklommen. »Sollten wir nicht alles schriftlich festlegen? Es gibt jemanden in meiner Firma, der das umsonst macht. Es ist jetzt, wo wir nicht mehr unsere gegenseitigen Bezugspersonen sind, vielleicht um so wichtiger, so etwas zu tun.« »Ich will nicht wiederbelebt werden«, hörte ich mich sagen. Mir fiel auf, wie gesund wir aussahen und uns fühlten, zwei junge Männer, die sich auf einer Couch unterhielten, und Greg war erst siebenundzwanzig. - 210 -
»Und ich will auch nicht, daß meine Eltern in die Stadt kommen, Anspruch auf meinen Körper erheben und mich an irgend so einem langweiligen Platz beerdigen.« Greg wollte verbrannt werden. Ich fing an, hin und her zu rutschen. »Okay, aber jetzt Schluß mit dem morbiden Kram.« »Wann gäbe es eine bessere Gelegenheit, reinen Tisch zu machen. Besonders nach dem, was passiert ist.« »Ich weiß nicht.« »Und ich will, daß meine Asche verstreut wird, und zwar bei...« »Ach komm, Greg, bitte!« »Hör mir zu«, beharrte er. »Ich will, daß meine Asche verstreut wird ... auf dieser Kiefernlichtung, wo wir immer Skilanglauf gemacht haben. Und vielleicht sogar ein bißchen rund um das rote Schulhaus.« Er machte eine kurze Pause, dann fügte er hinzu: »Obwohl das rote Schulhaus ja jetzt deine neue Liebeshöhle ist.« Ich sagte ihm, er solle sich dadurch in seiner Entscheidung nicht beeinflussen lassen. Greg seufzte und machte eine Pause, bevor er sagte: »Tu' ich auch nicht. Ganz bestimmt nicht, aber es ist einfach so, daß es immer unser Haus gewesen ist. Unser kleines, romantisches Haus.« »Und wahrscheinlich das einer ganzen Menge anderer Leute.« »Aber von denen habe ich nie einen gekannt.« Gregs Augen begannen zu schwimmen, und sein Kinn zuckte. »Ach komm, nicht!« »Weißt du, Will«, fuhr er fort. »Sie hatten Casey nur eine halbe Stunde, aber in dieser halben Stunde gingen mir eine Million schrecklicher Sachen durch den Kopf. Ich hatte wirklich Angst, wir würden ihn verlieren und einfach ... - 211 -
nie erfahren, was passiert ist.« »Davor hatte ich auch Angst.« »Das hätte ich nicht geschafft.« »Ich auch nicht.«
19. Im September verbrachtest du einen großen Teil deiner Freizeit in dem Garten, den du in der Charles Street angelegt hattest. Am Nachmittag, wenn du von der Arbeit kamst, zogst du dir meistens eine ausgebleichte weite Jeans und ein weißes T-Shirt an, gingst die wenigen Blocks von deiner Wohnung zum Garten zu Fuß, um dann in der Dämmerung zu jäten und zu graben. Du düngtest die Erde mit Emulgatoren und setztest Zwiebeln fürs Frühjahr. Ich traf dich gewöhnlich zwei- oder dreimal die Woche in der Charles Street um die Zeit, zu der du mit der Arbeit fertig sein wolltest. Meistens hattest du nicht bemerkt, wie spät es schon war, und dann blätterte ich in der Times oder überflog ein paar Kapitel in einem Buch, das ich rezensierte, bis du endlich deine Gartenwerkzeuge beiseite legtest. Dann entschieden wir, ob wir bei einem bestimmten gesunden Thailänder essen oder die Zutaten zu einer kleinen Mahlzeit in deiner Wohnung besorgen wollten, wo es an einigen Abenden tatsächlich kühl genug war, um ein Feuer im Kamin anzuzünden. Gegen Ende Oktober erhielt ich den Anruf eines Mannes, der behauptete, José Ayala zu sein. Als er erklärte, er müsse mit mir über Sean Paris sprechen, sagte ich ihm, daß es nichts zu besprechen gebe und daß ich kaum glaubte, es gehe ihm dabei wirklich um mich – oder dich. Davon sollte ich nicht unbedingt ausgehen, sagte er. An - 212 -
dieser Stelle konnte ich es mir nicht verkneifen, ihn zu fragen, woher er komme. »Ursprünglich von den Philippinen.« Ich erwähnte, daß ich mich nicht daran erinnern könne, daß er beim letztenmal, als wir in Vermont miteinander gesprochen hatten, einen Akzent gehabt habe. Es folgte eine nachdenkliche Pause. Und dann sagte er ziemlich entschieden: »Ich habe dich nie in Vermont angerufen. Ich hatte deine dortige Nummer nicht.« »Die war hier auf meinem Anrufbeantworter.« »Ach, aber deine New Yorker Nummer steht nicht im Telefonbuch. Deshalb habe ich dich nicht angerufen. Bis heute abend. Glaub mir, ich habe lange gebraucht, um jemanden zu finden, der sie hatte oder sie besorgen konnte.« Das mußte ich erst einmal verdauen. Irgendwie hatte ich immer noch nicht daran gedacht, die Telefonauskunft zu bitten, meinen Namen und meine Nummer in ihre Liste aufzunehmen. Wer hatte mich dann in Vermont angerufen? »Und wie hast du sie letztlich bekommen?« fragte ich mißtrauisch. »Von Sebastian Seporia«, sagte er wie aus der Pistole geschossen. Dieser Mistkerl Greg! Wie kam er dazu, Sebastian meine Nummer zu geben? Anstatt mich damit aufzuhalten, beschloß ich, daß es jetzt an der Zeit war, geradeheraus nach meinem Roman zu fragen. »Dein Buch zerreißen und dir mit der Post schicken?« sagte José. Er lachte. »Tu nicht so überheblich. Ich habe nicht vergessen, was mit Seans Tür passiert ist.« »Oh ... natürlich. Das hätte ich wissen müssen.« José - 213 -
zögerte einen Augenblick, um dann ernst zu sagen: »Ich habe dein Buch nicht zerrissen. Ich bedauere inzwischen, was ich mit der Tür gemacht habe. Aber ich habe es aus Frust gemacht. Weil Sean Paris immer noch die Sachen hat, die ich haben sollte.« »Aber Bobby hat Sean das ganze Zeug gegeben.« Als ob er mich nicht gehört hätte, fuhr José fort. »Wir handeln unüberlegt, wenn wir verliebt sind.« Eine Pause. »Ich habe Bobby immer geliebt. Ich kann wohl nicht anders, als den, der ihn unglücklich gemacht hat, zu verabscheuen. Aber auch Bobby hat die Sachen zurückhaben wollen. Und das ist es, was ich in Sean nicht reinkriege. Oder auch in dich, genaugenommen.« »Moment mal, soll das heißen, es stand in einem Testament?« Nicht richtig, erklärte José, sondern eher in einer seiner letzten Bitten, bevor er sich umbrachte. Er hatte zwei Briefe geschrieben – einen an José und einen an dich. Josés Brief zufolge hatte in Bobbys Brief an dich gestanden, du solltest alle gewebten Sachen José geben. »Sean hat erwähnt, daß er Briefe von Bobby bekommen hat, aber nicht diesen einen. Vielleicht hat er ihn nie erhalten?« Du hattest ihn erhalten, erklärte José, denn er war für dich in Bobbys Wohnung hinterlegt worden. Bei der Beerdigung hatte Bobbys Mitbewohner bestätigt, daß du ihn an dem Abend, als du die Nachricht erhieltst, bekommen hattest. »Also muß er ihn gelesen haben. Er sagt dir einfach nicht die Wahrheit.« Dann erinnerte ich mich an den verrückten Anruf an dem Abend, an dem ich dich kennengelernt hatte, und daß du gefragt hattest: »Was stand drin?«; und an die Art, in der - 214 -
du ohne die mindeste Erklärung in die glühend heiße Nacht gestürzt warst. Hattest du mich die ganze Zeit angelogen? Als José weitersprach, zitterte seine Stimme. »Bobby kam sich so ungeliebt vor.« »Wenn Bobby sich so ungeliebt vorkam, wieso hat er dann absichtlich so viele schöne Dinge verschenkt?« »Ich glaube, diese Frage kannst du besser beantworten als ich, Will.« Nach einer Pause fuhr José fort. »Jedes Geschenk sagte auf gewisse Weise, dieser schöne Gegenstand bin ich. Liebe mich und liebe die Person, von der du mich hast. So, wie manche Leute Bücher lesen und sich dann in die verlieben, die sie geschrieben haben.« José war wohl schwerlich jemand, der gern Bücher zerfetzte. Aber wenn nicht er, wer dann, rätselte ich düster. Und warum hattest du nie etwas von dem letzten Brief von Bobby Garzino gesagt? Fast als ob er meine Zweifel erraten hätte, sagte José: »Wenn ich du wäre, würde ich Sean nach dem Brief fragen. Und wenn er bestreitet, ihn zu haben, dann weißt du, daß er lügt.« Ich fürchtete mich jedoch davor, dem Rat von jemandem zu folgen, der sich so wenig mit dir verstand, und noch mehr davor, daß du lügen könntest. »Du solltest wissen, wozu jemand wie Sean Paris fähig ist«, sprach José weiter. »Warum machst du nicht Schluß mit der Geheimniskrämerei und sagst mir einfach, wozu er deiner Meinung nach fähig ist?« »Und du glaubst wohl, es reicht nicht ... jemand anderen in den Selbstmord zu treiben?« »Es ist ein bißchen zu bequem, ihn für Bobbys Tod verantwortlich zu machen.« - 215 -
»Bequem?« »Und ob, ich meine ...« Ich wollte schonend vorgehen. »Angesichts der Tatsache, daß Bobby den Selbstmord dem langsamen Tod, dem Tod auf Raten vorgezogen hat.« »Ich glaube nicht, daß ich weiß, wovon du redest.« »Ich rede von der Tatsache, daß sein HIV-Test positiv war.« Am anderen Ende der Leitung ertönte ein dreckiges Kichern. »Ach, wirklich«, sagte er gekünstelt. »Also, das ist mir neu.« Und dann wurde sein Tonfall bösartig. »Dann muß es ein positiver Test post mortem gewesen sein. Solange er gelebt hat, war er nämlich HIV-negativ.« Ich verstummte. Saß einfach nur mit dem Hörer am Ohr da und versuchte weiterzuatmen. Gefesselt von einer Vision sehr ähnlich denjenigen, die vor mir auftauchen, wenn ich lange Strecken fahre, ein Aufblitzen unvertrauter Bildfolgen, eine Eruption von Gesprächsfetzen, die urplötzlich ein fehlendes Bindeglied liefern, ein schimmerndes, wenngleich trügerisches Paar von Gleisen, das durch eine Wildnis im Norden gelegt wurde. Mir drehte sich der Kopf. »Moment mal, bist du sicher, daß Bobby HIV-negativ war?« »Ja.« »Ich dachte, es sei sein positiver HIV-Status gewesen, weswegen er sich umbrachte.« Es folgt ein stahlharter Moment des Schweigens. »Wenn es das ist, was Sean Paris dir erzählt hat, dann hat er dich verarscht.« Nein, du glaubtest ebenso wie ich, daß das Ergebnis des HIV-Tests die Ursache war. Weil ihr euch nämlich treffen wolltet. Weil Bobby dich nach dem Test zurückrufen sollte. Und es nie getan hatte. »Sean weiß ganz genau, warum Bobby es getan hat. Frag - 216 -
ihn einfach. Er hat dich angelogen.«
20. Ich raste durch die Stadt, überquerte die gleichen Straßen, durch die wir an jenem ersten Abend im Hochsommer gegangen waren, als du, noch bevor ich dir irgend etwas gesagt hatte, alles über ihn zu wissen schienst und darüber, was er mir bedeutete. Ich schwitzte, als ich in der Sixth Avenue ankam und den Glockenturm der Jefferson Market Library und besonders die halb von einem Gerüst verdeckte Uhr bemerkte. Da es bis zur Halloween Parade nur noch wenige Tage waren, war man dabei, eine Schiene für die schwarze Spinne zu bauen, die am Zifferblatt auf und ab klettern würde. Als ich dann aber darauf wartete, daß die Ampel grün wurde, fragte ich mich, wieso ich mich beeilte. Wenn nicht gleich, dann würden wir eben später miteinander sprechen, und ich würde herausfinden, ob du mich belogen hattest oder nicht. Mußte ich das wirklich so schnell wissen? Daher blieb ich stehen, als es grün wurde. Es war unbestritten ein warmer Abend, das letzte Aufflackern des Altweibersommers, fast so warm wie jener Tag damals im August, als du aus einer Laune heraus mit der Fähre zurück nach Long Island gefahren warst. Was hatte dich dazu bewegt, die Insel zu verlassen? Wohin kehrtest du zurück, als du mit nur einer Handvoll von Leuten am Dock wartetest? Schließlich war die Morning Party noch in vollem Gang gewesen. Warum warst du nicht dort, um in überschäumendem Genuß des Sommers zu tanzen? Mit dem Schwarzen zu tanzen? Und gewiß gab es unter den Tausenden dort einen anderen tollen Mann, - 217 -
der bereitwillig so rasch und so vollständig in dein Leben getreten wäre wie ich. Statt dessen jedoch stiegst du in ein Schiff, das die Great South Bay überquerte, lerntest Peter Rocca kennen, nahmst mit ihm einen Zug zurück nach Manhattan und spaziertest in mein Leben. An deiner zerstörten Wohnungstür stand eine Nachricht für mich in deiner charakteristischen EingekerkerterAdliger-Klaue. Planänderung. Du gingst nicht ins Sportstudio. Ich sollte dich im Garten in der Charles Street treffen. Ich ging die Bleecker Street hinunter, vorbei an unserem Lieblingsthailänder, der wegen des wärmeren Wetters in kluger Voraussicht weiße Gartenstühle und wackelige runde Tische auf dem Gehsteig aufgestellt hatte. Das Lokal quoll über von Gästen, die sich gierig am Sommer festhielten, in der Hauptsache kräftige Männer in engen TShirts mit verblassender Sonnenbräune, die sie bald im Sonnenstudio würden aufbessern müssen. Vor dem Brownstonehaus befand sich eine eiserne Doppeltür, die in den Gehsteig eingelassen war und die von einer Stange offengehalten wurde. Ich kletterte die einzementierten Metallstufen hinab, um dann einen feuchten engen Gang zu durchqueren, dessen verschimmelte Decke sich nur wenige Zentimeter über meinem Kopf befand. An den brüchigen Zementwänden lehnten verrostete Teile alter Heizkessel, zerbrochene Rechen, aufgerollte grün fluoreszierende Schläuche. Ich kam an neueren Gegenständen vorüber: leuchtend weißen Säcken mit Dünger und Samen und, inmitten all dieser Überreste, einer blitzenden neuen Metallschaufel. Schweigend stieg ich die Stufen hinauf, die zu der Falltür auf der anderen Seite führten. Und da standest du im Profil inmitten eines in Schatten - 218 -
getauchten Gartens. Auf einem von Buchsbaum umrahmten Steinquadrat in Fischgrätmuster, in dessen Zentrum zu Beginn des Sommers Begonien geblüht hatten. Es war fast dunkel, und von der Seite her wurden die Pflanzen von einem Lichtschein angestrahlt, der aus der Küche darüber fiel, einer Küche, die man über eine schmiedeeiserne, mit Clematis bewachsene Wendeltreppe erreichte. Du standst reglos in einer Pose schwermütigen Staunens, der schönsten, glaube ich, in der ich dich je gesehen hatte. Ich sah, wie ein törichtes Lächeln entstand. »Hallo, du.« »Selber hallo.« Ein Teil eines Blumenbeets war aufgehackt, und vom Knien war Schmutz an deiner Hose. Ich vermutete, du setztest Blumenzwiebeln. Kurz darauf erzähltest du mir, du könntest machen, was du wolltest, den Garten würdest du nie ganz richtig hinbekommen. Einen Garten müsse man hegen, als würde man sich um einen Geliebten kümmern. Diese letzte Bemerkung irritierte mich. Gabst du dir mit mir auch solche Mühe? Du sagtest, du habest nur noch wenige Minuten zu tun, und wie es dann mit einer Steinofenpizza in der Houston Street wäre. Obwohl ich stillschweigend zustimmte, kanntest du mich inzwischen gut genug, um zu spüren, daß etwas nicht in Ordnung war. Du fragtest jedoch nicht gleich nach. Du griffst nach deiner Gartenschaufel und gingst neben einer, wie du mir erklärtest, Caladie, einer vielblättrigen bananenartigen Pflanze mit blutroten Adern, in die Knie. Schweigend sah ich zu, wie du kreuzförmige Einstiche in die kompostierte Erde machtest. Tief in mir verspürte ich ein starkes Ziehen, ein Verlangen, von dem ich fürchtete, es würde mich für den Rest meines Lebens quälen. Endlich hörtest du zu graben auf und schautest mich argwöh- 219 -
nisch an. Und ich sagte dir, daß ich außer mir sei. »José Ayala hat mich angerufen.« »Ach ja?« Du standst auf und wischtest dir sorgfältig die Hände an der Hose ab, wobei du die Schaufel von einer Hand in die andere nahmst. »José behauptet, daß Bobby Garzino in Wirklichkeit HIV-negativ war.« Du lachtest. »Der Kerl gibt auch nie auf. Er versucht alles, um zu kriegen, was er will.« »Ich glaube nicht, daß José lügt.« Du wandtest dich ab und schautest zur Gartenmauer, an der du ein Spalier angebracht hattest. Sie wurde von einer Laube aus Weinreben überragt, die anfingen, sich herbstlich-gelb zu färben. »Wieso machst du das? Hör auf, dich in Angelegenheiten einzumischen, die dich nichts angehen.« »Der Typ hat mich angerufen, Sean. Ich habe mich um meine eigenen Angelegenheiten gekümmert.« Endlich drehtest du dich zu mir zurück, und ich sah die glitzernden Spuren von Tränen auf deinen Wangen. Im Nu wußte ich, daß du nicht gelogen hattest, als du sagtest, Bobby habe sich wegen Aids umgebracht, daß du es selbst geglaubt hattest. »Und woher wissen wir, daß José Ayala nicht lügt?« fragtest du mit gebrochener Stimme. »Daß das nicht wieder ein Trick ist, um so eine Art Rache zu bekommen, um mich dazu zu kriegen, ihm die Sachen zu geben, die Bobby für mich gewebt hat? Es ist mir egal, was José tut oder sagt. Von mir kriegt er gar nichts zurück. Weil es mir nämlich etwas bedeutet.« Ich erwähnte den Brief, der angeblich Bobbys Wünsche enthalten sollte. Du schautest mich fest an und sagtest: »Ich habe den Brief nie gelesen.« - 220 -
Ich war vom Donner gerührt. »Soll das heißen, du hast ihn?« »Klar hab' ich ihn.« »Und warum hast du ihn nicht gelesen?« »Weil ich Angst vor dem habe, was drin steht.« Aber warum hattest du mir nie gesagt, daß es noch einen Brief gab, den du nicht gelesen hattest? Bei all unseren Diskussionen über Josés Anrufe, über seine Andeutungen, hattest du nie die Tatsache erwähnt, daß es noch diese ungeöffnete Nachricht von Bobby gab. Dein Atem ging schnell, und deine Augen glommen in der Dunkelheit des Gartens. Von all der harten Arbeit hattest du halbmondförmige Schweißflecken unter den Armen. »Ich hab' mich davor gehütet, dir von dem Brief zu erzählen. Ganz einfach, weil ich wußte, daß du versuchen würdest, mich zu zwingen, ihn aufzumachen.« »Natürlich hätte ich's versucht. Weil das nämlich eine Menge Dinge aufgeklärt hätte, die wir nicht verstehen.« »Ich wußte, daß das passieren würde!« Du balltest die Hände zu Fäusten. »Ich wußte, daß José alles tun würde, um Zweifel in dir zu wecken. Das ist genau das, was er wollte, und genau das, von dem ich hoffte, wir würden darum herumkommen.« »Der einzige Zweifel, den er in mir ausgelöst hat, war der, ob du wußtest, daß Bobby Garzino HIV-negativ war, oder nicht.« »Ich hab' dich nicht angelogen! Und wie kannst du so was nur denken, nach allem, was ich dir erzählt habe?« »Was hast du mir erzählt?« »Ich habe dir erzählt, daß ich zum letzten Mal mit ihm gesprochen habe, bevor er den Test machte!« Deine Augen blitzten vor Zorn. »Aber Sean, jetzt gibt es Informationen, die du absicht- 221 -
lich nicht zur Kenntnis nimmst.« »Wieso wundert dich das so sehr?« »Möchtest du nicht die Wahrheit wissen, egal, wie sie aussieht? Möchtest du nicht, daß diese ganzen Spekulationen aufhören?« »Du bist der einzige, der hier spekuliert.« Ich konnte mir unmöglich vorstellen, einen Brief von jemandem zu erhalten im Wissen, daß er einen Letzten Willen enthalten könnte, und ihn nicht aufzumachen. »Na schön, darin unterscheiden wir uns eben.« »Okay, und wie kommt es, daß José jedesmal, wenn er anruft, auf die gleiche Sache zurückkommt: daß etwas ganz Bestimmtes zwischen dir und Bobby Garzino vorgefallen ist, von dem ich nichts weiß?« »Was kann da schon passiert sein?« brülltest du. »Sag's mir! Was könnte ich ihm Fürchterliches angetan haben?« Ich dachte einen Moment darüber nach, dann sagte ich: »Wahrscheinlich steht alles in diesem Brief.« »Paß auf, mir ist scheißegal, was in dem Brief steht! Niemand kann mich dafür verantwortlich machen, daß sich jemand anderes umgebracht hat. Ob Bobby positiv war oder nicht, es war seine eigene Wahl zu sterben. Er hat sich selbst ganz verrückt damit gemacht. Und er war irre genug, es wahr zu machen.« Ich hatte Mühe, zu glauben, daß das wirklich deine Meinung war. »Wenn das stimmt«, erwiderte ich, »was hält dich dann davon ab, seinen Brief zu lesen? Ein Spinner hat ihn geschrieben, egal, was drin steht.« Darauf gabst du keine Antwort. Es verging eine Weile; über uns zog eine Schar Kanadagänse hinweg, ein ausladendes Naturschauspiel mitten in einer Stadt, wo die Gebäude das pflanzliche Leben auf kleine bestellte Parzellen begrenzen. Wir schauten den Vögeln zu, die laut - 222 -
schnatternd dahinflogen, und als ihre Schreie schließlich im Verkehrslärm untergegangen waren, schaute ich zu dir hinüber und bekam Mitleid. »Du hast etwas vor mir verborgen, Sean. Ich habe es die ganze Zeit gewußt. Ich spüre es sogar jetzt zwischen uns. Also bitte.« Daraufhin zeigte sich in deinem Gesicht ein Kummer, dessen Ursprung in einem anderen Land auf der anderen Seite desselben Ozeans, in dem ich Chad verloren hatte, lag, in einer Zeit lange bevor ich dich kannte. Du zogst einen schmutzigen Lappen aus deiner Gesäßtasche, nahmst die Schaufel, wischtest den gröbsten Schmutz ab und fingst an, die Klinge zu polieren, bis das Metall blitzte. Und ich wartete ab. Endlich sagtest du: »Ich konnte mich nicht überwinden, den Brief zu lesen ... weil ich wußte, daß er versuchen würde, mir wegen seiner Entscheidung zu sterben Schuldgefühle zu machen. Und damit kann ich nicht umgehen. Aber du hast recht. Es gibt noch etwas, etwas, das ich dir nicht erzählen konnte.« Angst brach über mich herein wie eine eisige Woge. Ich war jedoch imstande zu sagen: »Wenn heutzutage jemand so etwas sagt, bedeutet das gewöhnlich eines von zwei Dingen: entweder ›Ich habe Aids‹ oder ›Ich habe einen Freund, von dem ich dir nichts erzählt habe‹.« »Weder noch«, erklärtest du düster. »Es hat etwas... mit meinem Vater zu tun.« Ich muß ein ziemlich komisches Gesicht gemacht haben, denn du grinstest und sagtest: »Es ist nicht, was du denkst. Es ist nichts Sexuelles.« Zwei Wochen, nachdem dein Vater nach Vietnam zurückgegangen war, erwartete deine Mutter einen Anruf von ihm. Einen Anruf, der nie kam. Sie hatte noch nie so - 223 -
besorgt gewirkt. In einem fort lief sie durchs Haus, schaute auf die Uhr, rief ihre Freundin Roseanne zu Hilfe und brach in Tränen aus. Mit jedem Tag, den sie nichts von ihm hörte, wurde sie aufgeregter. Nach drei Tagen Wartezeit schlief sie kaum noch; sie war sicher, daß ihm etwas zugestoßen war, und ertrug es nicht, nichts Genaues zu wissen und rätseln zu müssen, ob er tot oder am Leben war. Endlich erreichte sie eine Notverbindung in Saigon. Man sagte ihr, daß auf die Telefonleitungen des Dorfes ein Anschlag verübt worden war und daß zeitweise die gesamte Kommunikation über offizielle Funkfrequenzen hatte stattfinden müssen. Aber selbst nachdem sie diese Information erhalten hatte, machte sie sich weiterhin Sorgen. Sie konnte nicht schlafen. Und du verstandst überhaupt nichts. Dein Vater machte sie offensichtlich unglücklich. Er hatte vergessen anzurufen. Er hatte euch beide im Stich gelassen. Warum hatte er das getan? Du warst wütend auf ihn. Endlich kam der Anruf. Und als er kam, sprudelte es aus ihr heraus, und sie plapperte in diesem falschen Tonfall. Sie erzählte ihm – du konntest es nicht fassen –, sie erzählte deinem Vater, daß sie sich keine großen Sorgen gemacht habe, daß sie angenommen habe, es müsse etwas mit den Telefonleitungen passiert sein, und daß sie die ganze Zeit darauf vertraut habe, daß sich die Dinge von alleine regeln würden. »Ich starrte sie an, während sie ihn anlog«, sagtest du. »Ich konnte nicht fassen, daß sie so unaufrichtig sein konnte. Und dann wollte mein Vater mir hallo sagen. Also ließ sie mich dran. Er sagte mir gleich, daß er mich vermissen würde und daß es ihm, obwohl er erst seit zwei Wochen wieder in Vietnam sei, schon so lange vorkomme und daß er sich darauf freue, mich wiederzusehen.« - 224 -
An dieser Stelle machtest du eine Pause; du warst sehr aufgeregt. Deine Schultern zuckten in einem plötzlichen Krampf, als ob du zusammenbrechen wolltest. »Aber ich sagte ihm, er solle dortbleiben. Ich war wütend, verstehst du. Ich sagte ihm, ich würde ihn hassen. Und ich sagte ihm, er solle nie wieder nach Okinawa zurückkommen.« Schweigend standst du da. Über den Garten war die Dunkelheit hereingebrochen. Die Damaszenerrosen und die Magnolien aus dem Süden, die du gepflanzt hattest, auch die Kupferlaternen versanken allmählich im Schatten. Schließlich traf dein verletzter Blick meinen. »Das Unglück ist, Will, daß ›Komm nie wieder!‹ tatsächlich das letzte war, was ich je zu ihm sagte.« Komm nie wieder! war das letzte, was du deinem Vater sagtest? Komm nie wieder! Daher glaubtest du, die Macht zu töten mit dir herumzutragen. Und vielleicht glaubte ich, ich könnte dir dabei helfen, diesen Glauben loszuwerden. Das sagte ich dir jedoch nicht direkt; statt dessen sagte ich, ich wüßte, daß du zu großen Gefühlen fähig seist, und wie traurig es mich machte, daß du glaubtest, dich abschotten zu müssen. Ich erklärte, daß ich diese weicheren Anteile von dir entdeckt hatte, als ich deine Tagebücher gelesen hatte. So leichthin gestand ich es ein. In deinen Augen erschien ein kurzes haßerfülltes Zittern, ein giftiger Funke, und dann wurde dein ganzes Gesicht schlaff. Du fingst an, mit dem Daumen über die blitzende Klinge der Schaufel zu reiben. »Das hast du nicht getan! Du verarschst mich, stimmt's?« »Nein, ich...« »Wie konntest du so etwas tun?« herrschtest du mich vollkommen fassungslos an. »Wie konntest du etwas - 225 -
lesen, das dir nicht gehört?« »Aber, würdest du's nicht tun?« Deine Reaktion erstaunte mich. »Wäre es keine Versuchung für dich, wenn jemand seine Tagebücher herumliegen lassen würde?« »Sie haben nicht herumgelegen. Sie waren in meinem Bücherregal!« Es schien, als sei für dich die Fläche eines Bücherregals gleichzusetzen mit etwas, das verriegelt und verrammelt war. »Aber ... wenn du gefürchtet hast, daß ich etwas Privates lesen könnte, warum hast du's dann nicht gleich weggelegt?« »Gefürchtet?« wiederholtest du ungläubig. »Es kam mir nicht mal in den Sinn, daß du überhaupt in Versuchung kommen könntest. Glaub mir, wenn ich die geringste Ahnung gehabt hätte, hätte ich die scheiß Tagebücher mit ins Büro genommen.« Unser Streit kam an dieser Stelle zum Stillstand, eine Unterbrechung, die offensichtlich dadurch entstand, daß wir beide in Gedanken versunken waren. »Hast du die Briefe auch gelesen?« fragtest du schließlich mit einem hoffnungslosen Unterton. »Nur einen«, gestand ich. »Welchen?« Deine Stimme war kaum noch hörbar. »Den über ... den, in dem es darum geht, daß Randall nie anrief, wenn er es sollte. In dem du darüber schreibst, wie du vor dem Army-Shop auf ihn wartest.« Du murmeltest etwas in deinen Bart und machtest einen Moment lang ein verwirrtes Gesicht; schließlich sagtest du: »Da klingelt nichts bei mir.« »Es tut mir wirklich leid, Sean«, sagte ich. »Ich weiß, es klingt nach einer dummen Ausrede, aber ich dachte wirklich, du würdest beinahe erwarten, daß ich sie lese.« Du ließt die Schaufel fallen, und dein Blick glich einem - 226 -
Röntgenstrahl, der mir unter die Haut drang. »Versuchst du jetzt, mich zu beleidigen?« »Nein, ich...« »Wieso, zum Teufel, sollte ich wollen oder erwarten, daß du meine persönlichen Sachen liest?« Hastig erklärte ich, daß ich in paranoider Furcht lebte, daß jemand lesen könnte, was ich geschrieben hatte, daß ich meine Tagebücher in einen feuersicheren Kasten einschloß, wenn mein Vermieter meine Wohnung betreten mußte. Und dabei war der alte Mann Tscheche und sprach nur schlecht Englisch. »Aber schau, du bist paranoid und nicht ich! Als du in meiner Wohnung warst, habe ich einfach angenommen, du seist dort, um mich zu beschützen, nicht, um meine Privatsachen zu lesen. Es ging mir darum, meine Wohnung vor José zu schützen. Dabei hätte ich sie eigentlich vor dir schützen sollen.« »Sean, erinnerst du dich, daß du noch Witze gemacht hast, als du aus Montana anriefst? Erinnerst du dich, daß du gefragt hast, ob ich auch deinen Kram in Ruhe lasse? Dadurch kam ich erst auf den Gedanken, daß du halb von mir erwartet hast, daß ich rumschnüffle.« Du starrtest mich immer noch an, jetzt jedoch verschleierter, schwerer zu entschlüsseln. Dann ließ mich dein Blick los, und deine Augen schweiften über den Garten, anfangs leicht verwirrt, dann, aus irgendeinem Grund, wild. »Das ist verrückt«, sagtest du schließlich und ranntest zu einem Bambusrechen hinüber, an dem, wie es schien, Klumpen feuchten, vermodernden Laubs hingen. »Was ist verrückt?« wollte ich wissen, während ich zusah, wie du anfingst, das Laub aus dem Rechen zu zupfen. »Ich vergesse alles, was ich heute abend hier machen - 227 -
muß ... Verrückt ist, daß du meinen Anruf aus Montana als Aufforderung zum Schnüffeln aufgefaßt hast.« Mit einemmal brachst du deine Arbeit ab und schautest mich finster an. Deine nackten Arme zitterten. »Will, wir sind einfach verschieden, weiter nichts.« Du seufztest. »Egal. Ich muß hier noch weiterarbeiten. Ich denke, ich bleibe noch eine Weile. Ich schlage vor, du gehst einfach.« »Paß auf, Sean, ich habe gesagt, daß es mir leid tut. Es ist ganz am Anfang passiert. Und es war absolut daneben. Ich gebe es zu, okay? Ich entschuldige mich.« Eine Pause. »Wenn es einmal passiert, wird's auch wieder passieren.« »Nein, wird es nicht.« Du hobst die Arme, als würde ich dich mit einer Schußwaffe bedrohen. »Na schön,« sagtest du. »Es wird nicht wieder passieren. Und ich nehme deine Entschuldigung an. Aber laß mich meine Arbeit machen.« Ich war wie betäubt. Gesagt zu bekommen, ich solle dich verlassen, erschien mir als eine ungeheuerliche Forderung. »Ich könnte mich doch einfach auf einen Stuhl setzen und auf dich warten. Dann essen wir rasch irgendwo einen Happen und regen uns ab.« Du wandtest den Blick ab und schirmtest deine Augen mit beiden Händen gegen den Lichtschein ab, um den hinteren Rand des Gartens zu überschauen. »Lieber nicht, Will. Ich fürchte, es ist mir lieber, du gehst einfach. Ich brauche hier ein bißchen Zeit für mich alleine.« Ich blieb jedoch noch, bis mir unbarmherzig klar wurde, daß du mich jetzt absichtlich ignoriertest. Und dann trat ich widerstrebend den Rückzug durch den Garten zur Kohlenrutsche an. Bevor ich die steile Leiter hinabkletterte, blickte ich zurück in der Hoffnung, du würdest mir nachschauen. Du hattest die Schaufel aufgehoben, wo du - 228 -
sie hattest fallen lassen, und dich wieder hingekniet, das Gesicht von mir abgewandt. Auf einem der Gartenstühle aus grünen Latten lag ein Bündel kürbisfarbener Chrysanthemen, die sorgfältig gepflückt und abgeschnitten worden waren und deren lange Stengel locker ineinandergeschlungen waren. Für wen hattest du sie wohl gepflückt? Etwa für mich?
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DREI Schwimmer 21. Von da an war ich wieder draußen, wartete darauf, daß du zu mir zurückkommen würdest, wie ich einst auf Chad gewartet hatte. Reue verdarb mir den Appetit, und rasch hatte ich sechs Pfund abgenommen. Wenn ich etwas aß, nahm ich Nahrung zu mir, die ich sonst nie angerührt hätte, Sachen wie Suppe mit Matzeklößchen und Schokoladetrüffel und Blutorangen. Wenn man von einem Liebhaber sitzengelassen wird, hat das merkwürdige Auswirkungen auf den Körper: Stimmungsschwankungen zwischen Anfällen von Hochstimmung und Verzweiflung, Gelüste, die unversehens in Ekel umschlagen können. Ich versuchte, nicht allzu oft anzurufen. Und wenn, dann leitete ich es immer mit einer Entschuldigung ein. Ich lud dich ins Kino ein und zu anderen Veranstaltungen, von denen ich wußte, daß du sie sehen wolltest. Aber entweder behauptetest du, zu tun zu haben, oder du erklärtest freundlich, daß noch mehr Zeit vergehen müsse, bevor wir uns wieder einigermaßen regelmäßig sehen könnten. Ironischerweise antwortetest du, verglichen mit der Unzuverlässigkeit am Anfang unserer Beziehung, als ich dich nur schwer erreichen konnte, nun auf jede meiner Nachrichten auf dem Anrufbeantworter. Vielleicht, weil du nie die Absicht hattest, dich zu verabreden. Was sonst hätte ich daraus folgern sollen, als daß du froh warst, einen Vorwand gefunden zu haben, um mich loszuwerden? Jedesmal, wenn wir telefonierten, schlief ich nachts unruhig. Im Traum verlor ich dich dann auf der dunklen - 231 -
Bahn beim Schwimmen im Ozean inmitten unruhiger See. Wenn ich dann aufwachte, legte sich mir dein Verlust wie ein Amboß auf die Brust. Wie kann ich ihn dazu bewegen, mir wieder zu vertrauen? fragte mein ermatteter Verstand. Was soll ich tun, um wieder Gnade vor seinen Augen zu finden? Ja, am Ende warst du zu ihm geworden, und weil du zu ihm geworden warst, fragte ich mich, ob mir ein Gespür für Verluste von Anfang an eingegeben war. Obwohl du dich plötzlich aus meinem Leben zurückgezogen hattest, war mir, als würde ich noch immer zu dir gehören. Ich fing an, einen schwarzen Lederriemen um den Hals zu tragen, der kundgab, daß mein Herz noch immer gebunden war. Ich war vergeben und gleichzeitig ungebunden, und davon teilte sich Fremden etwas mit. Plötzlich gingen Männer auf mich zu, die ich seit Jahren in Manhattan gesehen hatte, die mich jedoch nie zuvor auch nur einen Augenblick lang beachtet hatten. Bei OneNight-Stands mit anderen Männern versuchte ich die Eigenschaften zu finden, die ich an dir bewunderte: den Geist, die Einfühlsamkeit, die Verträumtheit, den schüchternen Charme. Ich schleppte einen Muskelmann ab, der mich in ein Brownstonehaus mitnahm, das er renovierte, und der mich bat, ihm als Vorspiel zum Sex Steroide zu injizieren. Ich lernte einen Tänzer kennen, der keine feste Arbeit finden konnte und gezwungen war, »Entspannungsmassagen«, wie er es nannte, zu geben, die 1990er-Version von SaferSex-Prostitution. Ich lernte einen nervösen engelsgleichen Typen kennen, der, nachdem er mir erklärt hatte, seine letzte Beziehung habe abrupt geendet, schließlich gestand, daß sie geendet hatte, weil sein Lover an Aids gestorben war. Diese Begegnungen nahmen stets den Stachel plötzlichen Verlustes, solange sie währten, doch sobald sie - 232 -
vorüber waren, fühlte ich mich niedergeschlagener denn je. Manchmal war ich so unruhig, daß ich durch die Stadt laufen mußte, um die Last meines Kummers zu mildern. Ich wanderte zwischen Typen mit abgeschnittenen TShirts, in deren durchstochenen Ohren goldene Ringe blitzten, den West Side Highway entlang durch die mit billigem Rasierwasser gewürzte Luft. Das Gemurmel von Gesprächen drang unverständlich an mein Ohr, und in meinem Gefühl der Entfremdung versuchte ich, mir vorzustellen, wie sich das englische Geschnatter für einen Ausländer anhören mochte. Ich selbst kam mir vor wie ein Ausländer. Ich fühlte mich aus deinem Leben ausgewiesen. Etwas mehr als zwei Wochen nach unserem Gespräch im Garten des Brownstonehauses ging ich eines Abends über eine Pier, die sich ins Meer hinaus erstreckte, vorbei an Männern, die im Dunkeln enge, nervöse Kreise zogen, vorbei an einer Hand, die zwischen zwei Beinen steckte, oder an den ineinandergeschlungenen Gestalten von Typen, die abseits knutschten. Ich stand an der Spitze der Anlegestelle und betrachtete die Hochhäuser von New Jersey mit den erleuchteten Wohnungen, darüber ein wasserblaues Fleckchen Himmel mit Federwolken, die von der kurz zuvor untergegangenen Sonne in Orange getaucht wurden. Ich konnte den brackigen Gestank des Flusses riechen. Ich wunderte mich, wie die Wassermassen unablässig in Bewegung bleiben konnten, während die Erde sich selbst ständig bewegte, so einfach und gleichzeitig so unbarmherzig. An diesem Abend wünschte ich, ich hätte dir über die letzte Zeit mit Chad die Wahrheit gesagt. Dir erzählt, wie es in meiner Wohnung gewesen war, erzählt, daß ich - 233 -
fürchtete, daß das, was zwischen mir und Chad geschehen war, etwas mit seinem Verschwinden zu tun hätte. Es dir zu erzählen, hätte nur deine Theorie bewiesen, daß Chad einen Teil von mir mitgenommen hatte, ein Stück meines Herzens, daß ich törichterweise in einem Fremden wiederfinden zu können glaubte. Daß ich es in dir gefunden haben könnte. Bis zu jenen letzten Wochen mit ihm hatte ich nie verstanden, wie es ist, einen Mann in mir haben zu wollen. Und jedesmal, wenn ich dieses Verlangen aufkommen fühlte, bekämpfte ich es. Es kümmerte ihn eigentlich nicht, daß ich mich nicht dazu überwinden konnte, die empfangende Rolle einzunehmen, obwohl er manchmal Witze darüber machte, daß wir eine sexuelle Demokratie haben sollten. Ich sagte ihm, daß ich es früher versuchte hatte, mich vögeln zu lassen, und daß es einfach zu schmerzhaft gewesen sei. Er sagte, daß der Genuß daran mehr eine Sache des Vertrauens als irgend etwas sonst sei. Und er hatte recht. Ich wußte, daß er recht hatte. Ich fing an, es mir vorzustellen, besonders, wenn er sich auf einem seiner Trips befand und ich nicht wußte, wo er war. Ich lag dann auf meinem Bett, spreizte die Beine und stellte es mir vor. Ich erinnerte mich an einige der Frauen, mit denen ich Sex gehabt hatte, und an den bestimmten Augenblick, an dem sie mir zu verstehen gaben, daß sie so erregt seien, daß sie mich in sich haben wollten. Nun, alleine, entdeckte ich, was es war. Wenn ich mich berührte, entflammte dies etwas in der tiefsten Tiefe meiner selbst. Und dann fragte ich mich, wie das nach einer Flasche Zinfandel oder mehreren Coronas sein mochte. Aber ich hatte Angst, denn in gewisser Weise bedeutete es totale Unterwerfung, ihm etwas zu überantworten, das zu geben mir unmöglich erschienen war. - 234 -
Meine Wohnung in der Mason Street. Spätnachmittag, die Sonne versank hinter den Königspalmen und Jakarandas, und die Schatten in meinem Schlafzimmer waren langgliedrig wie die Bäume, von denen sie geworfen wurden. Er war von Isla Vista hergeradelt, den Rucksack voller Bücher zum Studieren; er trug eine regenbogenfarbene Rugbyshorts, die seine braunen Beine sehen ließ. »Ich bin am Verhungern«, grunzte er, als er durch die Tür stürmte. »Was zu essen da?« »Nur 'n bißchen Käse und 'n paar Avocados.« »Sind die reif, die Avocados?« »Eine, glaube ich.« Seine Haare waren von den Santa-Anna-Winden zerzaust. Ich fragte, ob er beim Wasserballtraining gewesen war, und er schüttelte den Kopf und sagte, er habe zu viel studieren müssen. Mündliche Prüfungen standen bevor. Dann griff er in seinen Rucksack, zog ein Brötchen heraus, warf es mir zu wie einen Football und sagte: »Das müßte gut zu den Avocados und dem Käse passen.« Ich vergaß zu antworten, weil ich bereits an Sex dachte und es mich ängstigte, daß es mich so danach verlangte. »Na schön, was ist verkehrt?« »Nichts ist verkehrt.« »Du bist eingeschnappt. Ich kenne doch diese beleidigte Schnute.« »Die kennst du vielleicht, aber jetzt ist es was anderes.« »Okay, und was ist es?« Er hatte sich seit etwa einem Tag nicht rasiert, und sein Bartwuchs wurde dichter. Sein T-Shirt, eines seiner alten von Stanford, war so fadenscheinig, daß es an einigen Stellen auseinanderfiel und ich durch ein paar Löcher seinen Leib sehen konnte. Ich ging zu ihm hin, küßte ihn und versuchte dann, mit der Zunge seinen Mund aufzu- 235 -
stemmen. Er kicherte und sagte: »Ach so, du bist geil, deshalb tust du so ernst.« »Genau«, flüsterte ich und küßte an den Sehnen seines Halses abwärts. »Und was passiert, wenn ich nicht in Stimmung bin?« Ich sagte nichts, sondern fuhr einfach fort, ihn zu küssen. Schließlich legte ich eine von seinen Händen auf meine Arschbacke. Er schnüffelte mißtrauisch. »Hast du was getrunken?« »Nur 'n paar Bier.« Er guckte verwundert, aber dann grinste er. Der Schmerz: Wie kann ich den ersten Moment beschreiben, als er versuchte einzudringen. Es durchfuhr mich wie eine Messerklinge. Ich verkrampfte mich, worauf er herausflutschte, die Achseln zuckte und kicherte. »Worüber lachst du?« beschwerte ich mich. »Du siehst einfach nur so gequält aus.« »Na und, was hast du erwartet?« »Ich weiß, daß es weh tut. Mir tat es beim ersten Mal mit dir auch weh«, sagte er. »Schließlich willst du das doch machen.« »Ich weiß! Aber kannst du nicht vorsichtig sein?« Er kicherte. »Ich bin vorsichtig.« »Dann sei nicht gleich beleidigt.« »Bin ich nicht. Sei nicht so empfindlich.« »Halt einfach die Schnauze und tu's!« »Mann Gottes, kannst du nicht wenigstens 'n bißchen sexy dabei sein?« »Nicht einfach, wenn's mich dabei zerreißt.« »Ich glaube, wir kommen aus der Stimmung.« Und da packte ich ihn an den Armen. Packte ihn, als wollte ich ihn nicht mehr loslassen, bis erledigt war, was wir angefangen hatten. »Ich will das jetzt durchziehen«, - 236 -
beharrte ich. Jetzt erinnere ich mich daran, daß auf seinem Gesicht ein Ausdruck von Angst lag. Ich wünschte, ich hätte ein Foto von ihm in genau diesem Augenblick. Denn ich glaube, in diesem Blick liegt die Antwort auf alles, was ich wissen muß, das Rätsel seines Verschwindens. Warum er Furcht hätte verspüren sollen, kann ich nicht ganz nachvollziehen. Ich war derjenige, der bereit war, Schmerz zu ertragen, um Lust zu empfinden. Er fragte mich, ob ich Tequila da hätte, und ich sagte ihm, es seien noch ein paar Schluck übrig. Er ging, nahm die Flasche vom Kühlschrank und kam mit einem Streifen Salz auf der Hand ins Zimmer zurück, wobei sein Ständer zwischen den Beinen hüpfte. Ich leckte seine Hand ab und trank aus, was er in ein Wasserglas schenkte, und was ich nicht trank, schluckte er hinunter. Sein Atem war feurig, als er mich danach wieder küßte, und eine Weile lang unternahmen wir keinen weiteren Versuch, sondern verschlangen uns ineinander, küßten uns und bliesen uns gegenseitig. Schließlich spürte ich jedoch, wie sein Finger ansetzte. Er beugte sich auf eine Seite des Betts und griff nach der Tube mit Gleitcreme. Ich spürte seinen Finger wieder, glitschig wie eine eiskalte Sonde, und dann schloß ich die Augen und wartete. Keineswegs so sanft, wie er versprochen hatte, war er plötzlich in voller Länge drin, und das Gefühl, gespalten zu werden, war purer Schmerz, klar wie Wasser. Ich fürchtete, gleich hier unter ihm zu sterben. Merkwürdigerweise wünschte ich es beinahe. Er grunzte etwas davon, das sei die einzige Möglichkeit, aber ich war schon so wütend, daß ich ihn unwillkürlich von mir stieß. »Warte!« schrie er. »Wart's ab. Bleib da.« Nun war er es, der sich an - 237 -
mich klammerte, mich beharrlich aufspießte. »Es geht zu schnell. Du bist drin ... du machst zu schnell!« Dann aber, mitten in den Klauen der Pein, kündigte sich ein erster Hauch von Benommenheit an, ein Schleier, bevor es anfing gutzutun. »Entspann dich«, redete er auf mich ein. »Du zappelst so.« »Natürlich zapple ich.« Aber dann entfuhr ihm ein Kichern. »Das ist nicht witzig!« knurrte ich. Er sagte nichts, so versessen war er auf seine eigene Lust. »Ich glaube, du solltest aufhören«, sagte ich. Aber er würde nicht aufhören. Ich wußte, daß er es nicht tun würde, selbst wenn ich ihn noch einmal darum gebeten hätte, wenn ich darauf bestanden hätte. Und dann kommt plötzlich eine Brücke. Abzuspritzen muß nichts Äußerliches mehr sein. Er kann mich sogar noch näher heranbringen, hin zu diesem sengenden Verlangen, wenn er nur in der Lage ist, so weit vorzudringen. Das Ausgefülltsein in mir ist plötzlich das, was mir stets gefehlt hat, wenn ich unbefriedigt blieb, wenn ich das Gefühl hatte, nie genug von ihm, von wem auch immer, bekommen zu können, nie auch nur die ganze Geilheit seiner äußeren Erscheinung in mich aufnehmen zu können. Jetzt erkenne ich, ich kann das alles haben. Und in diesem Augenblick wurde ich wie irre, bockte und brüllte, während ich ihn in mich hineinzog und abspritzte wie nie zuvor, wobei weiße Schlieren mein ganzes Gesicht bedeckten. Und vielleicht wurde er meiner neuen Kraft gewahr. Er mußte es bemerkt haben, denn danach lagen wir da und sagten nichts. Ich weiß, ich habe einmal gesagt, wie glücklich ich an - 238 -
diesem letzten Nachmittag war, aber damals konnte ich dir gegenüber die Wahrheit nicht eingestehen. Die Wahrheit ist, daß ich nicht glücklich war, sondern daß ich an meine tiefsten Tiefen gekommen war. Als läge ich tot und verrottet am Grund des Ozeans. Kein geflüstertes: »Ich liebe dich«, kein Ausruf, daß es gut war. Nur Schweigen. Das klaustrophobische Schweigen, wenn man erkennt, daß der Geliebte nicht länger ein Geheimnis ist und daß die vierte Wand der Beziehung endlich steht: vollkommene Vertrautheit. Aus diesem Schweigen, so glaube ich jetzt, dämmerte sein Wunsch auf, über die Wellenbrecher hinauszuschwimmen, ein nächtliches Schwimmen, bei dem er darauf bestand, daß ich ihn begleitete. Jetzt, auf der Pier, griff ich in meine Gesäßtasche, und nach einem Augenblick der Panik, meine Brieftasche sei gestohlen worden, erinnerte ich mich, daß ich sie zu Hause gelassen hatte und daß ich nur einen Schlüsselbund bei mir trug. Den versteckte ich an einer geeigneten Stelle zwischen zwei losen Bohlen. Ich schälte mich aus meinen Kleidern, und bald stand ich in Unterhosen am westlichsten Punkt von Manhattan. Und dann war ich drin, irgendwie halb getaucht, halb gehüpft; mein Fuß streifte etwas Festes und Schleimiges auf dem Grund. Ich schnappte Luft, denn das Wasser war kühler, als ich erwartet hatte, und es roch überraschend nach Ruß. »Was, zum Teufel?« hörte ich jemanden sagen, während ich ein paar Stöße mit erhobenen Kopf machte – so wie Chad beim Wasserball immer angefangen hatte. Noch immer kämpfte ich gegen den Kälteschock, und meine Arme waren bereits schmerzhaft taub. Die Wassertemperatur mußte bei zehn Grad liegen. Ich fing mit langen, leichten Zügen an, bei denen ich mit - 239 -
dem Daumen meine Seite streifte, die Ellbogen hochnahm und noch ein paarmal mit erhobenem Kopf Atem holte, um sicherzugehen, daß mir nichts entgegenkam. Ich spürte den Sog einer Strömung, der anders war, als wenn man vom Ozean nach draußen gezogen wurde – es war mehr, als schwimme man in einem unausgesetzten Brodeln. Nachdem ich mich fünfundzwanzig Meter vom Pier fortgewagt hatte und zum Ufer zurückschaute, konnte ich mehrere winkende Schattengestalten ausmachen. Ihre Rufe drangen als abgehackte Laute zu mir herüber. Wassertretend hielt ich an. »Hey, Mann, was soll das? Wo willst du hin? Bist du übergeschnappt?« »Willst du dich umbringen, oder was?« »Spinner!« Beim Hinausschwimmen berührte ich Gegenstände, Wasser- und Bierdosen vielleicht. Ich dachte keinen Augenblick darüber nach, was im Hudson treiben könnte, sondern zog meine Bahn durch was immer da war und hielt weiter auf die kalte, Ungewisse Ferne zu. Mußte mir bestimmt keine Sorgen über Haie machen. Als Panik mich mit eiserner Faust packte, legte ich an Tempo zu, um einfach nur zweihundert Meter zu schaffen und dann umzukehren. Aber diesen Punkt ohne Wiederkehr mußte ich berühren wie einen Talisman, denn ich glaubte, es würde mich zu etwas hinführen, wonach ich gesucht hatte. Endlich hatte ich die zweihundert erreicht. Wassertretend machte ich Halt. Das Wasser war ölig-schwarz, mein Körper war klamm und taub, aber meine Kehle und mein Kopf brannten. Ich hatte diesen unsicheren, unwirklichen Ort im Hudson River bei Nacht aus eigenem Antrieb aufgesucht. Vielleicht wollte ich sterben. Und mir entfuhr ein lange angestautes Jammern, wie ein Geist, der sich, - 240 -
seit all diesen Jahren, von einer Seele genährt hatte. Es klang wie das Heulen, das mir in der Nacht, in der er verschwunden war, entfahren war, ein Aufschrei, bei dem die mexikanische Familie, die in der Mason Street unter mir wohnte, mit dem Besen an die Decke geklopft hatte, genau wie schon früher am Tag, als er und ich es so roh miteinander getrieben hatten. Aber von irgendwo flußaufwärts hörte ich das Stampfen eines riesigen Schiffes, und ich wandte mich dem blendenden Glanz der Deckslampen zu, die auf mich zukamen. Im Augenblick, bevor ich umkehrte, kam alles zurück: das Gefühl äußerster Leere, als ich gefickt wurde, ohne geliebt zu werden, das Gefühl, nichts Heiliges sei in mir zurückgeblieben, nur Roheit, und all das, was ich ihm noch sagen wollte, aber nie sagte, während wir zum West Beach wanderten. In meinem allerletzten Bild von ihm liegt ein verärgerter Ausdruck auf seinem Gesicht, weil ich versuchte, ihn daran zu hindern, auf der Mondbahn hinauszuschwimmen. Ich erinnere mich, wegen des Sandkahns nach ihm gerufen zu haben, und an die Vorahnung, die mich überfiel, lange bevor der große, weite Ozean uns getrennt hatte.
22. Am Pier erwarteten mich zwei Bullen. Sobald ich sie sah, machte ich einen Schlag zurück in der Absicht, umzudrehen und schnell in Ufernähe davonzuschwimmen, als ich einen von ihnen durch ein Megaphon sprechen hörte. »Hallo, Kumpel, Sie kommen jetzt besser raus aus dem Wasser. Und zwar sofort!« Ich wurde von Scheinwerfern geblendet. Was konnten - 241 -
sie mir schon tun? Ich hatte kein Verbrechen begangen, es sei denn, das Schwimmen im Hudson war mein Verbrechen. Aber für alle Fälle. Ich versuchte, mit befehlsgewohnter Stimme zu sprechen. »Hören Sie, ich weiß, was ich tue! Ich trainiere, okay? Für den Around Manhattan Swim.« Obwohl das Licht, das mir in die Augen stach, einen blinden Fleck verursachte, spürte ich, daß der Polizeieinsatz eine Menschenmenge ans Ende der Mole lockte. »Kommen Sie jetzt aus dem Wasser, oder sollen wir ein Boot und Froschmänner anfordern?« Nach wenigen Stößen dümpelte ich bei den Stützpfählen unter ihnen, und jeder Widerstand dagegen herauszuklettern, löste sich im Nu auf, als ich gegen etwas stieß, das sich wie eine treibende tote Ratte anfühlte. Kurz darauf stand ich wie ein Idiot in eine Polizeidecke gehüllt und triefend auf den hölzernen Planken des Piers. Die Bullen starrten mich in einer Art ungläubiger Mißbilligung an. Ich war mir bewußt, daß hinter ihnen eine Gruppe von Leuten stand, aber irgendwie war es mir gleichgültig, ob sie mich als Verrückten ansahen oder nicht. »Sie haben Glück, daß Sie noch leben«, sagte der eine. »Also, ich will Sie nicht noch einmal hier im Wasser sehen. Verstanden? Der nächste Beamte bringt Sie nach Bellevue, ohne Fragen zu stellen.« Damit nahmen sie die Decke und ließen mich stehen. Die Gaffer begannen, sich zu zerstreuen. Als ich Jeans und Sweatshirt anzog, kam mir der Gedanke, daß die eigentliche Gefahr bei der ganzen Geschichte darin bestanden hatte, daß mir meine Kleider hätten gestohlen werden können und ich wie in einem Freudschen Alptraum nackt auf der Straße gestanden hätte. Und dabei hatte ich an eine solche Möglichkeit nicht einmal gedacht, als ich ins - 242 -
Wasser gesprungen war. Wurde ich etwa ein bißchen verrückt? Als ich eben die Pier verlassen wollte, wurde ich am Unterarm gepackt. Du warst es. Was machtest du hier? Ich war begeistert. Schwimmen bei Nacht konnte zwar Chad nicht zurückbringen, aber dich. Noch in Arbeitskleidung – blauer Blazer und gebügelte Khakihose –, warst du gerade von einem Geschäftsessen gekommen und auf dem Heimweg zu deiner Wohnung, als du mehrere Leute bemerktest, die auf eine Mole hinauseilten, und das Gerücht hörtest, es sei jemand ertrunken. »Normalerweise bin ich ja nicht so sensationsgeil, aber als sie sagten, da sei so ein Kerl im Fluß, mußte ich natürlich nachschauen.« »Kam dir der Gedanke, daß ich es sein könnte?« Du zogst die Augenbrauen hoch, und ich stellte dabei fest, daß deine Wangen rot geworden waren. »Ja, der kam mir, leider. Und ich hoffte, daß du's nicht wärst.« Du warst ganz offensichtlich verstört, während ich einfach nur froh war, dich zu sehen. Also fragte ich dich, ob etwas nicht stimme. »Stimmt was nicht?« äfftest du mich nach. »Also wirklich, was glaubst du wohl, was nicht stimmt? Ich mache mir Sorgen, siehst du das nicht? Ich möchte wissen, was du da gemacht hast?« Anfangs war ich über deine Reaktion verwundert. Ich war schwimmen gegangen – was dachtest du denn? »Komm schon, Will, du redest mit mir. Warum versuchst du, mir was vorzumachen?« »Ich mach' dir nichts vor.« Schließlich hatte ich so etwas nicht zum ersten Mal gemacht. »Im Hudson, noch dazu im November.« Abrupt wandtest du dich von mir ab und ermahntest mich: »Komm schon, - 243 -
wir gehen besser. Du bist ja ganz durchnäßt!« Ich hatte mich nicht abtrocknen können, und auf meiner Kleidung erschienen riesige feuchte Flecke, obgleich meine Haare inzwischen fast trocken waren. Der Wind, der vom Fluß herüberwehte, war überraschend trocken und fuhr uns in den Rücken. »Und, wie ist es dir gegangen?« fragte ich, nachdem wir die Mole verlassen hatten und die Christopher Street entlanggingen. »Wie immer. Und dir?« Ich versuchte, hoffnungsvoll zu klingen. »Es wird besser.« Eine Pause. »Fein, das ist gut.« »Mit irgendwem zusammen?« konnte ich mir nicht verkneifen zu fragen. Du wandtest mir einen finsteren Blick zu. »Du weißt, daß ich mit niemandem zusammen bin, Will.« »Woher soll ich das wissen?« »Was hätte das für einen Zweck, sich gleich auf jemand anderen einzulassen?« »Das kommt vor. Ich meine, du bist ja der, der Schluß gemacht hat.« Wir gingen ein paar Schritte, bevor du antwortetest. »Du weißt, warum ich Schluß machen mußte. Ich sah, daß ich dich verrückt mache. Und das machte mich verrückt.« Dein Versuch, alles so zu vereinfachen, machte mich wütend, aber ich wollte nicht gleich wieder eine heiße Auseinandersetzung vom Zaun brechen. Schweigend gingen wir einen Block weiter, bis du schließlich wieder anfingst zu sprechen. »Paß auf, ich will nicht, daß du auf einmal anfängst auszuflippen, weil wir uns nicht mehr treffen.« Meintest du mit »ausflippen«, gefährliche Schwimm- 244 -
touren zu unternehmen? »Du weißt, wovon ich rede.« Und da dämmerte mir, daß du annahmst, meine Verzweiflung deinetwegen hätte mich auf den Pier und ins Wasser getrieben. Vielleicht glaubtest du, ich sei dabei, mich umzubringen – wie Bobby Garzino. Und ich wollte gerade erklären, daß du meine Handlungen völlig falsch verstanden hattest – daß, wenn überhaupt, meine Schwimmerei viel mehr mit Chad zu tun hatte –, als mir klar wurde, daß du es nie verstehen würdest. Was mich zum Schwimmen trieb, würde dein Begriffsvermögen niemals fassen können, da du nie wirklich verstanden hattest, wie sehr diese Beziehung oder sein Verschwinden mein Leben beeinflußt hatte. Deine Miene war voller Anteilnahme und Sorge, als du dich plötzlich zu mir umdrehtest und sagtest: »Du mußt frieren.« »Ja, ein bißchen.« »Möchtest du meine Jacke?« »Nein, Sean, mir geht's gut.« »Bestimmt? Ich will nicht, daß du krank wirst oder so was. Der Hudson ist kein Swimmingpool.« »Gleich wenn ich zu Hause bin, nehme ich eine heiße Dusche.« Wir gingen ein paar Schritte weiter. »Weißt du, es wird wahrscheinlich eine Weile dauern, um durch die Stadt zu deiner Wohnung zu kommen. Willst du nicht lieber mit zu mir kommen ... nur um zu duschen?« Nur um zu duschen. Du wolltest mir helfen, wolltest mir aber auch zu verstehen geben, daß eine solche Geste rein platonisch gemeint war. »Das ist nicht nötig.« - 245 -
»Es gibt überhaupt keinen Grund, hier den Prinzipienreiter zu spielen.« »Glaub mir, ich kann bis zu Hause warten.« Ein wenig beleidigt über meine Ablehnung zucktest du die Achseln. »Wirklich ein freundliches Angebot«, konnte ich mir nicht verkneifen. »Du brauchst überhaupt nicht so zynisch zu sein.« Ich blieb stehen und blickte dich an. »Weißt du, Sean, es stimmt, daß ich in den letzten Wochen ziemlich deprimiert war. Aber, ob du's glaubst oder nicht, die Aussicht auf eine Freundschaft wird mich nicht umbringen.« »Ich habe nie gesagt, daß es dich umbringt.« Also, du tust eindeutig so, hätte ich beinahe gesagt, ließ es aber bleiben. »Eigentlich«, fuhrst du fort, »war ich vollkommen glücklich so, wie es war. Auf eine Änderung habe ich nur gedrängt, als ich sah, daß du mit einer Beziehung nicht fertig wurdest.« »Nein, weil du wütend warst, daß ich herumgeschnüffelt hatte, weil du über meine Einmischerei wütend warst.« »Darüber bin ich ziemlich schnell weggekommen.« »Na, freut mich zu hören.« Ich zwang mich zu einem leichtherzigen Ton. »Will, was ich dir begreiflich machen will, ist, daß ich nicht so erleichtert bin, aus der Sache heraus zu sein, wie du dir das anscheinend vorstellst.« Ich glaubte dir nicht. Es schien, als gäbe es in dir immer noch einen Teil, der erwartete, vielleicht sogar wünschte, daß ich auf dich fixiert blieb, weshalb es dir schwerfiel, mir zu glauben, daß ich mitten im November einfach nur im Hudson River schwimmen war. Du sagtest: »Ich wünschte einfach, du würdest aufhören, - 246 -
zu versuchen, alles über mich herauszufinden. Das schreckt mich ab. Es wird dich nicht glücklicher machen. Und es ist ganz bestimmt nicht geeignet, irgendwelche Gespenster loszuwerden.« Ich verdaute das einen Moment und sagte dann: »Aufgeben, loslassen geschieht ganz natürlich, Sean. Es ist menschlich, daß wir das Gespenst der einen Liebe erst dann loslassen, wenn wir uns endlich aufeinander einlassen.« »Nein, da bin ich anderer Meinung. Zuerst müssen wir das Gespenst loslassen. Frei sein. Erst dann mit jemand Neuem Zusammensein. Sonst wird nur eine Gespensterliebe durch eine andere Gespensterliebe ersetzt. Dann gibt es keinen wirklichen Inhalt. Nur eine andere Form, eine andere Gestalt, die wir mit der gleichen Sehnsucht ausfüllen, die wir schon vorher hatten.« Wir gingen schweigend die Christopher Street weiter und die Bedford entlang, bis du in Richtung Grove Street abbiegen mußtest. Du erklärtest, du müßtest morgen früh aufstehen, sagtest auf Wiedersehen und küßtest mich sanft auf die Lippen. Und dieser Kuß war viel mehr, als ich erwartet hatte, weil ich gar nichts erwartet hatte.
23. »Versuch bloß nicht, alles mir in die Schuhe zu schieben«, sagte Greg. »Nur weil... das da mit Sean passiert ist. Ich bin nicht dein beschissener Sündenbock! Und zum hunderttausendstenmal, ich habe Sebastian nicht deine Telefonnummer gegeben. Er hätte sie Gott weiß wie herausfinden können. Er hätte mich nur mal besuchen und die zwei Einträge sehen und zwei und zwei zusammen- 247 -
zählen müssen. Entweder das, oder er hätte Stern 6-9 gedrückt, wenn er einmal in meiner Wohnung war, gleich nachdem du angerufen hattest.« »Stern 6-9?« Eine neue Funktion beim Telefon zeigte den letzten Anrufer an und rief ihn direkt zurück. Hatte ich noch nichts davon gehört? Ich hatte davon gehört, es war mir aber nicht bewußt gewesen, daß sie jetzt den Markt überschwemmte. Offensichtlich war Stern 6-9 jedoch seit sechs Monaten erhältlich. Greg hatte sie beantragt, da sein Telefon bereits mit Digitalanzeige ausgestattet geliefert worden war. Und es war durchaus denkbar, daß Sebastian, der schon einige Male dabeigewesen war, wenn ich angerufen hatte, die Anzeige abgelesen und sich meine Telefonnummer aufgeschrieben hatte. Unsere Auseinandersetzung fand in Gregs Wohnung statt, während er sich für seinen Nachtjob fertigmachte. Nur mit Boxershorts bekleidet, bügelte er sein Hemd. Er war sichtlich nervös, er könnte sich verspäten. »Und außerdem«, fuhr er fort, »zu deinem eigenen Schutz, falls jemand dir auf einer Telefonsexleitung seine Privatnummer gibt und du direkt anrufst, heißt das, daß einer möglicherweise deine Nummer herausfinden und dich danach zu jeder Tages- und Nachtzeit zurückrufen könnte.« Ein entsetzlicher Gedanke. »So ein perverses Szenario kannst auch nur du dir ausdenken«, sagte ich. »Warum, glaubst du, heißt es wohl Stern 6-9!« Greg warf mir einen seiner typischen »Ich kenn dich in- und auswendig«-Blicke zu, während er einen Hemdsärmel bügelte. »Ich weise nur auf eine weitere mögliche paranoide Fantasie hin.« - 248 -
Als ich ihm vorwarf, kaltschnäuzig und taktlos zu sein, wurde Greg rot im Gesicht. Er stellte das Bügeleisen auf und knallte es auf seine Halterung. »Jetzt halt aber mal die Luft an. Wer ist an Halloween bis drei Uhr früh mit dir aufgeblieben? Wer hat drei Parties und dann die Parade versäumt, weil du dich so elend gefühlt hast!« »Also, du warst selber auch deprimiert.« »Kein Scheiß. Paß auf, ich wollte mich um dich kümmern. Ich hätte dir aber auch einfach ein paar Pillen eintrichtern, dich ins Bett bringen und ausgehen können.« »Vielleicht hast du mir ja geholfen, weil du insgeheim froh darüber warst.« Das brachte Greg zum Kochen. »Weißt du, was eines der Dinge war, die ich haßte, als ich mit dir zusammen war, Will? Daß du in allem mittendrin immer ein schwarzes Loch gesehen hast. Ich konnte dir nicht einmal sagen, daß du mich gut gefickt hattest, ohne daß du dachtest, das Kompliment enthalte noch irgendwelche Untertöne.« Ich rang mir ein Lächeln ab. Greg fuhr fort. »Schau, du kennst meine Meinung zu dem Ganzen. Nach dem, was du gesagt hast, war Sean nie fähig, mit einer Beziehung umzugehen. Der klaustrophobische Typ, der bei der geringsten Schwierigkeit abspringt. Du hast es schon längst kommen sehen. Und jetzt, wo es passiert ist, wirst du erkennen: besser jetzt als später.« »Wer im Glashaus sitzt...« »Paß auf, ich habe nie behauptet, ich wäre vollkommen.« Greg nahm das Hemd vom Bügelbrett und hielt es gegen das Licht. Er überprüfte es auf Falten, dann traf sein Blick meinen. »Ich habe mich hunderttausendmal dafür entschuldigt, daß ich dir weh getan habe. Ich weiß nicht, was du noch willst.« »Also«, beklagte ich mich, »erstens möchte ich, daß du - 249 -
aufhörst, Sebastian zu nageln.« Greg starrte mich störrisch an. »Wieso hat der irgendwas damit zu tun?« »Er ist bösartig.« »Habe ich dir je gesagt, du solltest aufhören, Sean zu nageln?« »Sean hatte mit niemandem sonst eine Beziehung.« »Was ist eigentlich so groß dabei, Will? Ich meine, Seb ist doch nur was fürs Bett.« »Ach, Seb heißt er jetzt. Dein Stecher Seb, der mich nicht ausstehen kann.« »Das ist nicht« – Greg machte eine Pause – »unbedingt wahr.« Er griff nach einer Flasche mit Stärke, die neben seinem Fuß stand, und sprühte sein Hemd ein. »Egal, er weiß, daß ich dir gegenüber loyal bin.« Ich schwieg eine Weile und schaute Greg beim Bügeln zu, lauschte dem Gurgeln des heißen Wassers im Bügeleisen, das zu Dampf verzischte. »Ich glaube, ich werfe mir selbst vor, daß ich dich zu solch einem Ekel mache«, sagte ich schließlich. »Du warst nicht annähernd so stur, als wir uns kennenlernten.« Greg zuckte die Schultern und ging zum Schrank. »Tja, also ich habe lange mit dir zusammengelebt. Was erwartest du?« »Genau das meine ich ja.« Greg hatte sich von mir abgewendet und versuchte, eine Anzughose zu finden. »Ich gebe zu, daß ich mich von deiner Geschichte mit Sean bedroht fühlte. Es hörte sich ganz nach großer Leidenschaft oder so an.« Das ist es auch, wollte ich antworten. Aber ich sagte nichts, da Greg mir schon erzählt hatte, daß ich seiner Meinung nach während der paar Monate mit dir überreizt, unruhig, kaum noch ich selbst gewesen sei. - 250 -
»Ich muß zugeben, daß es mich wirklich getroffen hat, als du mit ihm nach Vermont fuhrst ... an unsere alte Stelle. Und dann, an dem Abend, an dem wir Casey fast verloren hätten, bemerkte ich, obwohl ich ziemlich außer mir war, sein Lächeln. Ein Lächeln, das einen Safe hätte sprengen können.« Greg wandte mir wieder das Gesicht zu. »Und dazu kommt dann mein Gefühl, daß ein Typ wie er niemanden allzu nah an sich ranläßt. Hauptsächlich, weil Typen wie er niemandem echte Zuneigung entgegenbringen. Und daß du bei Sean Paris von vornherein ins Leere laufen würdest.« In diesem Augenblick stand Casey von seinem Platz neben Gregs Kühlschrank auf und tappte zu einem Kauspielzeug hinüber, einem Plastikkürbis, der quiekte. Er hob ihn auf, ließ ihn ein paarmal quietschen, um ihn dann herzubringen und mir in den Schoß fallen zu lassen. Ich tätschelte ihn und warf den Kürbis ein Stück weg, worauf Casey sich auf ihn stürzte und anfing, alleine mit ihm zu balgen. »Jetzt bring ihn nicht noch auf Touren, kurz bevor ich gehen muß«, warnte mich Greg, während er schließlich eine dunkle Hose auswählte und hineinstieg. Er zog das Hemd an und knöpfte es schnell zu. »Ich glaube, ich nehme ihn heute abend mit zu mir«, sagte ich. »Wenn's dir nichts ausmacht.« Greg wandte mir darauf den liebenswürdigsten Gesichtsausdruck zu, den ich bisher in unserer Unterhaltung gesehen hatte. »Nichts ausmacht? Ich wünschte, du würdest ihn öfter zu dir mitnehmen.« »Vielleicht tu' ich das von jetzt ab auch.« Sobald Greg angezogen war und ich Casey die Leine angelegt und ein paar von seinen Spielbällen eingesteckt hatte, sagte ich: »Und wie oft genau hast du dich mit - 251 -
Sebastian getroffen?« Greg fing an zu grinsen. »Mein Gott, du bist ja echt fixiert auf diese Sebastian-Geschichte! Einmal die Woche ... höchstens. Aber, um die Wahrheit zu sagen, er redet tatsächlich ein bißchen zu viel von Peter.« »Kapierst du's nicht? Die können nicht ohne einander leben.« »Also, mit mir rumzuficken ist wirklich eine komische Art, ohne Peter nicht leben zu können!« An diesem Punkt wies ich darauf hin, daß das die einzige Möglichkeit sei, den Schrecken echter Intimität zu vertreiben. Casey und ich begleiteten Greg zur U-Bahn, um danach bei der Hundebahn vorbeizuschauen, wo ich ein paar Bälle warf, bis Casey müde wurde. Dann machten wir einen kleinen Spaziergang und kehrten schließlich zu meiner Wohnung zurück. Pulsierend wie ein wachsames Herz meldete mir das rote Licht des Anrufbeantworters eine Nachricht. Deine Stimme vom Band sagte: »Hallo, Will, hier ist Sean. Wollte nur mal hören, wie's dir geht. Ruf mich an, wenn dir danach ist.« Wir sprachen noch immer etwa ein- oder zweimal die Woche miteinander. Trotzdem erschienen mir die Abstände zwischen diesen Anrufen endlos, wie die großen Ebenen einer monotonen Landschaft. Ich glaubte immer, daß du im Lauf eines dieser oberflächlichen Anrufe zur Besinnung kommen würdest, daß ich dir so sehr fehlen würde, daß du nachgeben würdest, aber es kam nie dazu. Wenn man dann noch bedachte, daß du erst kürzlich gesagt hattest, es würde endlich anfangen, zwischen uns zu »klappen«. Obgleich ich wußte, warum wir uns getrennt hatten, war in mir noch eine wunde Stelle, die - 252 -
hartnäckig nachfragte: »Was ist passiert, Sean, was ist passiert?« Während ich deiner Nachricht zuhörte, beobachtete ich Casey, der in die Küche trottete und genau an der Stelle nach seinem Napf schnüffelte, an der er immer gestanden hatte, als Casey noch mit Greg und mir hier gewohnt hatte; seither stand er im Schrank. Als er ihn nicht fand, schaute er mich bekümmert an. Und ich wurde traurig. Denn ich erkannte, daß ich während jener vier Jahre mit Greg und Casey wahrscheinlich einer Art normalem, häuslichem Glück am nächsten gekommen war. 24.
Eines Abends stand ich im Splash und schaute mir Videoaufnahmen der Parade zu Halloween an, die verschiedenen Fummel und Vampire und androgynen Gestalten, die ich absichtlich versäumte hatte. In diesem Jahr schien es eine erstaunliche Menge von Eunuchen zu geben, die sich zwischen den traditionellen Gewändern hindurchschlängelten, unschuldig aussehende Boys mit goldenen Locken; ich fragte mich, ob es zur Zeit einen Trend zur Geschlechtslosigkeit gab. Nach den Aufnahmen von der Parade wurden ein paar Bilder von einem im Vergleich dazu recht tristen Veterans Day Picknick vorgeführt. Es war nur noch eine Woche bis Thanksgiving, und zum ersten Mal seit vielen Jahren hatte ich mir bewußt nichts vorgenommen. Ich hatte jedoch kaum Zeit, in Selbstmitleid zu versinken, denn ich bemerkte, daß ein scharfer blonder Typ mich anmachte. Es ist beängstigend, wie eine tiefe Depression sich urplötzlich wie Nebel verflüchtigen kann, wenn da ein Typ steht, der einem offen - 253 -
Interesse bekundet. Und immer gibt es dann den Augenblick, bevor es zum Gespräch kommt und man seine Stimme hört, in dem man die Vorstellung hochkommen läßt, daß dieser Typ derjenige sein wird, der an den Wochenenden bereitwillig mit dir zusammen liest oder ins Kino geht und der seine Zeit lieber in Vermont als auf Fire Island verbringt. Aber sobald er den Mund aufmacht, weiß man gewöhnlich, daß es bestenfalls zu einem One-NightStand reichen wird. Gleichwohl. Unsere Blicke trafen schließlich aufeinander, wir grinsten uns an, und als ich auf ihn zusteuerte, zog mich auf einmal jemand am Ärmel. Ein anderer Mann, exotisch mit goldfarbener Haut und mit Augen, die wie Mittelmeeroliven glänzten, dunkles gewelltes Haar, klein. Hätte ich nicht schon ein Auge auf den Blonden geworfen gehabt, wäre ich vielleicht freundlicher zu dem Typ gewesen. »Bist du Will?« Ich kontrollierte, ob der Blonde noch interessiert war; er wirkte verstört ob der Tatsache, daß ich zuließ, daß die Schwerkraft seiner Anziehung beeinträchtigt wurde. »Ja, ich bin Will.« Ich schlug einen schroffen Ton an, weil ich weitergehen wollte. »Ich bin José Ayala.« Jetzt drehte ich mich um, um ihn anzustarren, und der scharfe Blonde schrumpfte zu einem flüchtigen Gedanken. »Mein Gott! Ich habe versucht, dich zu finden!« rief ich. »Ich glaube, ich hätte dir meine Telefonnummer geben sollen, als wir miteinander gesprochen haben.« José schaute zu dem Blonden hinüber, der sich mit finsterem Gesicht an seinen ursprünglichen Platz zurückzog. »Ich möchte niemandem ins Gehege kommen.« - 254 -
»Mach dir keine Gedanken. Das war nur meine Einsamkeit, die ihr häßliches Haupt erhoben hat.« »Na, dann bist du ja genau am richtigen Ort.« Ich grinste und fragte, was er im Splash machte. »Das gleiche wie du. Mir einreden, daß ich heute abend vielleicht flachgelegt werde.« Wir lachten beide. »Ich hätte nie gedacht, daß du hübsch bist«, sagte ich unverblümt. »Hast du mich für einen Kobold gehalten?« Ich dachte einen Moment darüber nach. »Ehrlich gesagt, ich weiß nicht, was ich erwartet habe.« »Derjenige, dessen Liebe nicht erwidert wird, muß häßlich sein, stimmt's?« José grinste. Ich stimmte zu, daß das eine jämmerliche Annahme ist. Und ich dachte zurück an deine Überlegungen darüber, worin eine verhängnisvolle Anziehung genau besteht. José war besser gekleidet als die meisten Barbesucher. Er trug eine schwarze Jeans und einen weißen Kaschmirpullover mit rundem Ausschnitt, der die Schlüsselbeinknochen und den Ansatz einer strammen, leicht ausgebildeten Brust sehen ließ. Gedankenverloren mit dem Eis in seinem Cocktailglas klimpernd, fragte er, ob er mir noch ein Bier bringen könne. Ich erklärte, ich müsse bald gehen. »Egal«, sagte er, »Kann ich daraus, daß du alleine hier bist, schließen, daß du ... wieder alleine bist?« Ich nickte. »Du müßtest davon gehört haben.« »Hab' ich auch.« »Hat Sebastian dir's gesteckt?« José machte ein finsteres Gesicht. »Ich habe nicht mehr mit ihm gesprochen, seit... Ist er immer noch mit deinem Ex zusammen?« »Nein, Gott sei Dank. Greg hat ihm endlich den Laufpaß gegeben. Weil Sebastian anfing, mich schlechtzumachen.« - 255 -
»Das war loyal.« »Nun ja, das ist einer der Vorteile des schwulen Lebens. Deine früheren Lover werden oft deine besten Freunde.« Aber kaum hatte ich es gesagt, merkte ich, wie unsensibel diese Bemerkung im Hinblick auf Bobby Garzinos Schicksal war. »Es ist wie eine Art Waffenbrüderschaft«, räumte José ein, während er den Rest seines Drinks hinunterschluckte. »Unsere Seite muß zusammenhalten ... besonders heutzutage.« Ich fragte ihn, woran er mich erkannt hatte. Zu meiner Überraschung sagte er, er habe sich aus der Bibliothek eines meiner Bücher ausgeliehen (ironischerweise das, von dem ich geglaubt hatte, er habe es zerrissen) und sich aufmerksam das Foto des Autors angesehen. »Ich habe noch immer nicht herausgefunden, wer mein Buch zerrissen hat.« José wirkte besorgt. »Offen gesagt könnte es wirklich jeder gewesen sein.« »Versprochen, daß du's nicht warst?« Ich lächelte. »Ich schwöre dir bei meiner Mutter, daß ich es nicht war.« Ich blickte zu der Stelle hinüber, wo der Blonde gestanden hatte, und sah ihn mit einem kleinen, breitschultrigen Jungen sprechen, der mehr Haare auf dem Kopf hatte und besser gebaut und jünger war als ich. »Ich hole mir jetzt was zu Trinken«, sagte José. »Willst du wirklich nichts?« »Mach nur. Ich warte einfach hier.« José ging gelassen auf die Bar zu und machte selbstbewußt den Barkeeper mit nacktem Oberkörper auf sich aufmerksam, der ihn prompt bediente. Es war etwas von einem Patrizier an diesem kleinen Kerl, stellte ich fest, - 256 -
eine charmante Art von Selbstsicherheit, die einen deutlichen Kontrast zu der Person bildete, die in meiner Vorstellung verzweifelt an Holztüren herumbohrte und von Münztelefonen aus Leute mit Anrufen belästigte. Wieso hatte er sich derart an Bobby Garzino festgebissen? Andererseits konnten die meisten Menschen leicht von einer solchen Besessenheit erfaßt werden, wenn sie sich in einer derart unangenehmen Lage befanden. Als José zurückkam, fragte er mich, ob wir beide uns getrennt hatten, bevor du deinen Job aufgegeben hattest. Die Frage brachte mich völlig durcheinander. »Wußtest du das nicht?« sagte er. »Ich habe jetzt schon seit ein paar Wochen nichts mehr von Sean gehört.« »Also, er hat gekündigt, ›plötzlich‹, wie die Empfangsdame sagte.« »Wolltest ihn wohl wieder am Arbeitsplatz terrorisieren, hm?« brachte ich trotz der Angst, die in mir aufstieg, heraus. »So was hab' nicht mal ich gemacht. Nicht mal in meinen trostlosesten Zeiten.« »Du hattest nie eine Rechnung zu begleichen.« »Woher willst du das wissen?« »Na ja, eigentlich weiß ich es gar nicht.« Es kam zu einem kurzen Schweigen, und ich wollte schon gehen, als José sagte: »Paß auf, ich möchte mich entschuldigen, daß ich dir Dinge erzählt habe, die du vielleicht überhaupt nicht wissen wolltest.« »Sie hatten zweifellos die beabsichtigte Wirkung.« »Es ging mir nicht darum, euch beide auseinanderzubringen.« »Mich davon zu überzeugen dürfte dir schwerfallen.« »Also, wenn du das wirklich glaubst, warum redest du dann jetzt mit mir?« - 257 -
Ich dachte darüber nach. »Ich weiß nicht genau, warum. Ich nehme an, ich bin fasziniert. Fasziniert, daß wir beide auf verschiedene Art mit demselben Mann verbunden sind.« »Ich auf eher feindliche Art«, fügte José hinzu. »Obwohl das jetzt natürlich vorbei ist.« Das bezweifelte ich, verkniff mir aber, das zu sagen. Als ich José daran erinnerte, daß ich gehen mußte, fragte er, ob er mich irgendwann zum Essen einladen könne. Ich musterte ihn scharf. »Wozu?« »Als Ausdruck der Dankbarkeit.« »Wie bitte?« »Ich habe das Gefühl, ich schulde dir etwas. Ich habe endlich die gewebten Sachen zurückbekommen. Sean brachte sie mir eines Abends und stellte sie in einer Kiste vor meine Tür, und als ich nach Hause kam, lagen sie da. Ich nahm an, daß du etwas damit zu tun hattest.« Ich schnappte mir ein Taxi, das die Seventeenth Street entlangraste. Gab die Adresse in der Grove Street an, beugte mich in meinem Sitz nach vorn, packte den Türgriff und zuckte jedesmal bei Gegenverkehr zusammen. Der Rest lief wie am Schnürchen. Ein junges Paar, das über dir wohnte, verließ in dem Augenblick, als ich ankam, zufällig gerade das Haus und ließ mich ein, da sie mich von all den Nächten und Morgen erkannten, die ich hier verbracht hatte. Die beschädigte Tür war neu gestrichen, und die Spuren von Joses Qualen waren völlig getilgt worden. Ich drückte versuchsweise die Klinke, und zu meiner Überraschung war offen. Die geliebte Wohnung glich einer Bühne, in die der Blitz eingeschlagen hat, hastig verlassen und noch nicht ganz - 258 -
von allen persönlichen Gegenständen geräumt. Die Möbel waren weg, ebenso das Klavier; die Wände waren kahl, mit klaffenden Löchern, wo Bilder gehangen hatten; und all die Schmetterlinge und ausgestopften Vögel waren davongeflogen wie Geister. Zurückgeblieben waren ein digitaler Radiowecker und eine Kiste mit verschimmelten Taschenbüchern. Der Fußboden war übersät mit Büroklammern und mit Scherben zerbrochener Kacheln, die ich aus dem Garten auf der Charles Street kannte. Im Schrank hing ein zerrissenes Hahnentrittjackett. Ein häßlicher brauner Pullover war zu einem Ball gerollt und in eine Ecke gestopft worden. Wie konntest du mir das antun, Sean, wo du doch meine Geschichte kanntest? Bestraftest du mich dafür, daß ich dich nicht akzeptiert hatte, wie du warst, daß ich versucht hatte, Bedeutung aus deiner zerstörten Vergangenheit zu pressen? Dein Zeichentisch war zurückgeblieben, auf seiner weißen Platte lag die Gelenkarmlampe neben einem Kasten fast ausgetrockneter Wasserfarben und einem verkrusteten Pinsel. Da war außerdem ein Foto, das ein kleines Kind mit blonden Locken zeigte, dessen pummeliges Gesicht mit seinen selbst hier eisigen und durchdringenden Augen unverkennbar war. Auf der Vorderseite seines T-Shirts waren das Bild eines Bajonetts sowie der Spruch »Mein Daddy ist ein Marine« aufgedruckt. Mit dem Rücken zur Wand ließ ich mich langsam nach unten sinken, bis ich auf dem nackten Fußboden saß. Dann brach ich zusammen, und mein Schluchzen hallte in einem bizarren Echo wieder. Durch verschleierte Augen nahm ich schließlich das Telefon auf dem Anrufbeantworter wahr, der blinkte wie das letzte lebendige Organ in einem erkaltenden Körper. Ich ging hin, drückte die Abspieltaste - 259 -
und hörte das folgende. Piep. »Dies ist eine Nachricht für Sean Paris. Bitte rufen Sie Delia unter Citibank Visa 800-678-4567 an. Heute ist der fünfte November, fünf Uhr fünfunddreißig.« Piep. »Sean, hier ist Dan Telebon von der Arbeit. Es ist der Siebte um, äh, zehn Uhr morgens. Ich muß wegen des Santa-Fe-Hauses mit dir sprechen. Kannst du mich anrufen, sobald du das hier hörst?« Piep. »Sean, hier ist Howie Rosen von Barney's. Erinnerst du dich? Wie geht's? Ruf mich auf der Arbeit an. Oh, übrigens, diese Hosen sind in deiner Größe reingekommen.« Piep. »Sean, hier ist Robert Sirjane. Zehnter November. Wir müssen uns wegen verschiedener dringender Angelegenheiten mit Ihnen treffen. Bitte rufen Sie sofort zurück, wenn Sie diese Nachricht hören.« Piep. »Sean, hier ist Howie von Barney's. Ich höre, du hast deine Hosen nicht abgeholt. Ruf mich zu Hause oder auf der Arbeit an. Ich kann sie dir notfalls jederzeit nach der Arbeit vorbeibringen.« Piep. »Dies ist eine Nachricht für Sean Paris. Bitte rufen Sie Sabrina bei der Citibank Visa an. Wir müssen bis zum zwanzigsten November Mitternacht mit Ihnen sprechen.« Piep. »Sean, hier ist noch mal Robert Sirjane. Heute ist der fünfzehnte November. Sie haben sich nicht wie versprochen bei uns gemeldet. Es tut mir leid, aber ich mußte die Buchhaltung anweisen, ihren letzten Gehaltsscheck einzubehalten, bis Sie uns helfen können, hier ein paar Unklarheiten auszuräumen. Sie sollten sich so bald wie möglich mit dem Büro in Verbindung setzen.« Piep. »Sean, Howie von Barney's. Bitte ruf zurück. Ich würde mich freuen.« Piep. »Sean, hier ist Mutti. Wir haben nichts von dir - 260 -
gehört. Wir verlassen San Diego für einen Monat, und ich möchte noch mit dir sprechen, bevor wir fahren.« Eine gespenstische Erkenntnis überfiel mich: Ich kannte diesen Mann kaum. Piep. Straßengeräusche. Wie damals, als José immer angerufen hatte. »Hallo, Sean ...«, sagt ein fröhlich klingender Mann mit deutlichem Selbstvertrauen. »Hier ist Tom Whalen, der ... Gentleman, den du auf der Bleecker Street kennengelernt hast. Ich habe über dein schönes Gesicht nachgedacht. Darüber, daß wir uns wiedersehen könnten. Zusammensein. Ich bin ein paarmal an deiner Wohnung vorbeigegangen, sah, daß Licht brannte, aber wollte dich einfach nicht ... also, ich wollte dich einfach nicht belästigen. Ich ruf dich wieder an. Tschüs, mein Hübscher.« Diese Nachricht brannte in mir wie kochende Säure, aber ich wurde schnell ernüchtert, als ich das folgende hörte. Piep. Pause und ein Seufzer, diesmal jedoch ein Seufzer, den ich erkannte. »Hallo, Will, hier ist Sean. Ich weiß nicht, wieso ich annehme, daß du das hier hören wirst, aber irgendwie glaube ich, daß du's tust.« Deine Stimme hob sich beim letzten Wort. »Ich frage mich, wieso. Wie du siehst, bin ich abgehauen. Ich ... mußte weg. Wo ich bin, könntest du fragen. Also, gerade eben stehe ich an einem Münztelefon an einer Lastwagen-Raststätte bei Minneapolis. Genauer gesagt, von wo ich stehe, kann man den Lake Superior sehen. Ich fahre rüber nach Seattle, wo ich einen alten Freund besuchen will. Egal, ich möchte dich um folgendes bitten. Ich habe einen Stapel Post zurückgelassen. Auf dem Kaminsims. Ich denke, er müßte noch da sein, ich habe die Miete bis zum Ende des Monats bezahlt, daher sollte die Wohnung noch so sein, wie ich sie verlassen habe. Es ist ein geöffneter Brief dabei. Es ist - 261 -
der Brief. Ich habe ihn endlich gelesen. Wenn du ihn einfach auch lesen könntest, okay? Er erklärt alles besser, als ich es tun könnte, warum ich mich so komisch verhalten habe, warum ich weggehen mußte.« Ein Seufzer. »Warum ich etwas nicht zugeben konnte, etwas, das ich dir von Anfang an hätte sagen sollen, aber nicht konnte. Ich hab' keinen Mumm, glaube ich. Im Augenblick bin ich nicht im besten Zustand, um irgendwelche Erklärungen abzugeben. Wenn dich das irgendwie tröstet, es weiß niemand sonst, daß ich weggegangen bin. Niemand weiß, wohin ich gegangen bin. Aber ich ... ich liebe dich. Und es tut mir leid.« Piep. 31 Juli 1990 Lieber Sean: Der Arzt sagt, ich sei vollkommen gesund. Meine Blutwerte sind okay, HIV-negativ, normale T-Zellen, alles normal, aber ich möchte immer noch sterben. Ich habe Schuldgefühle, weil ich weiß, daß es im Krankenhaus genau in diesem Augenblick Jungs gibt, die an meine Stelle treten würden, Jungs, die ihre Krankheit gerne eintauschen würden gegen diese... wie soll ich sagen... unerwiderte Liebe? Aber alles ist relativ, und da ich keine lebensbedrohende Krankheit durchgemacht habe, fehlt mir der Kontrast, der mir helfen könnte, wieder ins Gleis zu kommen. Es hilft mir nichts, an die Jungs zu denken, nicht einmal, mich dazu zu zwingen, diejenigen zu besuchen, die es nicht mehr länger als ein paar Wochen machen werden, weil das an meinem Elend auch nichts ändert. Und mein Elend ist es, ohne dich zu leben, und der Rest meines Lebens liegt jetzt als eine zu weite Strecke vor mir. Ja, vielleicht würde es nicht immer so sein, aber es ist nun - 262 -
mal so, daß ich völlig fertig bin. Ich bin völlig leer. Ich kann nicht länger bleiben. Was es so schlimm macht, ist, daß ich weiß, daß du mir gegenüber nie das gleiche empfanden hast. Ich kann es immer noch nicht glauben. Ich komme immer noch nicht darüber hinweg, daß es mit uns beiden nicht geklappt hat. Denn damals, als wir zusammen waren, spürte ich, daß wir zusammengehörten, daß du derjenige warst, der immer für mich bestimmt war. Wie hätte ich das so stark fühlen können, wenn es nicht wahr gewesen wäre? Wie kann ich je wieder Vertrauen zu mir haben? José ist der einzige, der mich je vollkommen geliebt hat, er verdient diese Zuneigung, aber ich merke, daß ich ihm nicht geben kann, was er möchte. Daher kann ich letztendlich nur mir selbst die Schuld geben. Und dies ist ein weiterer Grund, warum ich es tun will. Sean, du empfindest nichts für mich. Und das kann ich immer noch nicht akzeptieren, auch wenn ich mich noch so anstrenge. Ich kann noch immer nicht ganz fassen, wie du gestern abend reagiert hast, als ich zuletzt sagte, daß ich sterben wolle, wenn wir nicht zusammensein könnten. Wie kannst du nur so kalt zu jemandem sein, dem du so viel bedeutest? Wenn ich es tue, gibt dir das vielleicht die Möglichkeit, wieder Gefühle zu empfinden, vielleicht gibt es dir die Möglichkeit, jemand anderen so zu behandeln, wie du mich hättest behandeln sollen. Vielleicht zwingt es dich, dir über die Macht, die du über andere hast, Gedanken zu machen. Und wenn ich das erreiche, dann habe ich in diesem Leben etwas erreicht. Und ich hätte gerne, daß du José alle die gewebten Sachen zurückgibst, die ich für dich gemacht habe. Vielleicht egoistisch, aber ich möchte einfach, daß er sie hat, - 263 -
weil er mich nicht haben kann. Bobby
25. Ich erzählte niemandem von Bobbys Brief. Ich behandelte ihn wie eine Reliquie. Bewahrte ihn in einem Fach in meinem Schreibtisch auf. Nahm ihn manchmal heraus, um ihn noch einmal zu lesen. Bobbys letzte Äußerung milderte den Schmerz, dich verloren zu haben; ich verstand, wie entscheidend es für dich gewesen war, die Wahrheit zu verschweigen. Denn wenn ich die Wahrheit früher gekannt hätte, hätte ich ganz sicher an dir gezweifelt; ich hätte Angst gehabt, mich in deinen offenen Armen zu entspannen, selbst meinen Kopf an deine Schultern zu schmiegen. Ich wußte nun, daß du dich niemals ändern würdest. Lange nachdem du die Stadt verlassen hattest, hatte ich diese wiederkehrenden Träume. Die Träume begannen mit Chad, aus dem einer von Loie Fullers chinesischen Tänzern aus dem Gedicht Lapis Lazuli von Yeats geworden ist. Er ist in asiatische Seide gekleidet und trägt auf dem Rücken einen langen schwarzen Zopf. Er wirbelt durch meine Wohnung und setzt sich ans Klavier. »Beseelte Finger beginnen zu spielen.« Und nachdem er ein paar Noten einer Nocturne angeschlagen hat, dreht er sich zu mir um. Seine dunklen Latinoaugen verwandeln sich nun in deine arktisblauen Augen. Und diese befehlen mir, ans Meer zu fahren, mich an einem dunklen Strand zu entkleiden und mich den dunklen, kalten Brechern des Atlantiks auszusetzen, bis mein Leib gefühlos wird. Ende Januar nahm ich die Beziehung zu Peter Rocca wieder auf, hauptsächlich, weil es niemanden gab, der - 264 -
auch nur entfernt interessant gewesen wäre, und weil ich einsam war und Sebastian für ein paar Monate nach Malta gegangen war. Peter war vertrautes Terrain, und das war weit weniger bedrohlich, als eine völlig neue Beziehung aufzubauen. Am Valentinstag gingen wir zusammen zu einem holländischen Abendessen im Provence, danach zum Sex zurück zu ihm, zu unserem üblichen wilden sexuellen Kreuzweg. Bei alledem war kein Platz für Valentinsgrüße. Danach, als wir, in Laken aus Oxford-Baumwolle gehüllt, in seinem Bett lagen, freute ich mich richtig darauf, die Nacht mit jemandem zu verbringen, den ich bewunderte, der warm und vertraut war. Und plötzlich erzählte ich von Bobbys Brief, den ich inzwischen schon so oft gelesen hatte, daß ich ihn Wort für Wort hersagen konnte. Peter konnte nicht verstehen, daß ich den Brief während der vergangenen Monate für mich behalten hatte. Ich beharrte darauf, daß ich das so gewollt hatte. Außerdem vertraute auch Peter mir wohl kaum alles an, was in ihm vorging. »Also, entschuldige, daß ich so begriffsstutzig bin. Aber ich bin mir nicht ganz sicher, was Bobby wollte. Sean hat ihm gesagt, daß er ihn nie geliebt hat. Was sollte Sean tun: wieder zu Bobby zurückkommen, weil Bobby drohte, sich etwas anzutun?« »Darum geht es nicht«, sagte ich. »Sean hat mir einfach eine Menge verschwiegen. Er wollte den Anschein erwecken, daß Bobby sich umgebracht hatte, weil er krank war. Ich habe Sean mehrmals gefragt, ob er mir alles gesagt hat. Er sagte ja. Und trotzdem hat er mir nie von diesem letzten, verzweifelten Anruf erzählt.« »Vielleicht hat Sean sich einfach eingeredet, daß Bobby ihn als Vorwand benutzte.« - 265 -
Ich schaute aus dem Fenster auf das Empire State Building, dessen obere Stockwerke zu Ehren von St. Valentin rot angestrahlt waren. »Aber manchmal frage ich mich, ob Sean vermutete oder sogar wußte, daß Bobby in Wirklichkeit HIV-negativ war.« »Das würde mich nicht überraschen«, sagte Peter. »So einfach ist das nicht. Sean ist eigentlich kein Lügner, Peter.« »Habe nie gesagt, daß er ein Lügner sei. Er glaubt einfach das, was ihm am besten paßt.« Ich erinnerte mich an das, was ich im Garten in der Charles Street erfahren hatte, die Geschichte mit dem »Komm nie zurück«. Ich scheute mich jedoch, Peter davon zu erzählen, weil ich befürchtete, er werde auch dies in Zweifel ziehen. »Ob du's glaubst oder nicht, ich habe nie aufgehört, über diesen Abend nachzudenken, an dem du mit Sean weggegangen bist«, fuhr Peter fort. »Zu sehen, wie ihr davongeht, zu sehen, wie ihr euch gegenseitig berührt. Ich frage mich, wieso mir das nicht aus dem Kopf geht. An diesem Abend... mit dir und Sean, ich habe geglaubt, ich werde verrückt.« Ich beugte mich hinüber und küßte ihn. »Ich war rücksichtslos an dem Abend. Tut mir leid. Ich verspreche dir, daß ich dir nie wieder so etwas antun werde.« Anscheinend zufriedengestellt, legte Peter sich, die Arme hinter dem Kopf verschränkt, zurück; sein Bauch glitzerte im Schweiß von unserem Sex. Obwohl er es nur ungern zugab, hatte er sich schließlich dem Druck der Mode gebeugt und rasierte sich nun die wenigen Haare ab, die er auf der Brust hatte. Verdammter Heuchler, hatte ich zu ihm gesagt, als er mich zum erstenmal wieder verführt hatte und ich die stoppelige Veränderung bemerkte. Er - 266 -
erklärte mir, er habe während der Abwesenheit von Sebastian eine kurze Affäre mit einem Model gehabt, das ihn eines Nachts high gemacht und ihn rasiert habe, und nun müsse er seine Superheldentitten glatt halten. Alles nachwachsen zu lassen sei unerträglich – das furchtbare Pieksen. »Sean fehlt dir, nicht?« fragte Peter liebevoll. »Ich sag's nicht gern, aber es stimmt«, gab ich zu, als im gleichen Augenblick die Türklingel summte. Peter sprang aus dem Bett, um zu antworten. Ich starrte seinen nackten Hintern an, während ich hörte, wie er rief: »Ach du lieber Gott. Nein! Sagen Sie nein! Sagen Sie ihm, daß ich ihn morgen bei ihm abhole. Sagen Sie ihm, ich schlafe schon.« Es gab eine Pause. »Na schön, dann sagen Sie ihm, ich sei bei brennendem Licht eingeschlafen.« »Sebastian«, sagte er, als er sich wieder umdrehte, als ob ich mir das nicht selbst hätte denken können. Ich war davon ausgegangen, daß Sebastian bis zum März weg sein würde. »Scheiße! Ich hätte wissen müssen, daß er früher zurückkommt, nur um hinter mir herzuspionieren.« »Also, schließlich haben wir Valentinstag«, konnte ich mir nicht verkneifen, während ich feststellte, wie orangefarben Peters Schambehaarung bei direkter Beleuchtung wirkte. Deutlich verstört saß er auf der Bettkante. Schließlich murmelte er: »Er weiß, daß du hier bist. Das ist das Problem.« »Wie kommst du darauf?« »Deshalb macht er doch den ganzen Aufstand mit dem Staubsauger.« »Dem Staubsauger?« »Ach, das hab' ich ja gar nicht gesagt. Er steht da unten mit meinem Staubsauger.« - 267 -
Offenbar hatte Sebastian einen von Peters Staubsaugern ausgeliehen, bevor er gefahren war, und sich nie die Mühe gemacht, ihn zurückzugeben. Der Portier hatte ihn schon einmal hereingelassen, ohne Peter anzurufen, als er etwas Ausgeliehenes zurückgebracht hatte. »Er denkt, wenn er irgend ein Haushaltsgerät bei sich hat, kann er raufkommen, ohne daß ich weiß, daß er im Haus ist.« »Aber Moment mal, wieso kommt er auf den Gedanken, es sei jemand bei dir? Oder ist er einfach nur so mißtrauisch?« »Warst du nach dem Sex nicht mal pinkeln?« »Na und?« Obwohl wir so weit oben waren, gab es nördlich von Peters Haus eine Stelle, von der aus Sebastian tatsächlich mit einem Fernglas ins Badezimmer schauen konnte. »Von dort aus hätte er sehen können, daß derjenige, der da gepinkelt hat, nicht ich war.« Entgeistert starrte ich Peter an. »Du machst Witze.« »Ich wünschte, es wäre so.« »Ich kann nicht fassen, daß du diesen Quatsch mitmachst.« »Also, mit ›diesem Quatsch‹ wird bald Schluß sein«, sagte Peter gerade, als der Summer erneut plärrte. Ich schüttelte den Kopf, weil ich wußte, daß der Quatsch nie enden würde. Alles, was mir übrigblieb, war zuzuschauen, wie dieser schöne nackte Mann, der mit einer unseligen Liebe geschlagen war, quer durch seine makellose Wohnung zur Sprechanlage hetzte. Trafen etwa er und ich und Greg und alle, die wir kannten, die falsche Wahl, weil wir uns von Natur aus im Unglück wohler fühlten? »Ja«, sprach Peter in die Sprechanlage. »Sagen Sie ihm, auf keinen Fall!« »Die sagen, er will, daß ich ans Fenster komme«, - 268 -
erklärte Peter. »Dann rede doch mit ihm.« »Ich will aber nicht!« »Früher oder später mußt du darauf reagieren.« In widerwilligem Ärger riß Peter das Fenster auf und beugte sich in die kalte Februarnacht hinaus. »Was willst du von mir?« schrie er auf die Straße hinunter. »Du Wichser!« schrie Sebastian zurück. »Ich komme den ganzen Weg zurück, um mit dir zusammenzusein, und du hast jemanden bei dir. Und ich weiß, wer bei dir ist! Du bist mit diesem beschissenen Arschloch Kaplan zusammen!« War schon ein klasse Fernglas, das er da hatte. »Na, und warum hast du mir nicht gesagt, daß du zurückkommst?« »Ich wollte dich überraschen, okay?« schrie Sebastian und brach darauf unter enttäuschtem Schluchzen auf dem Gehsteig zusammen. Als Peter wieder zu mir blickte, sah er bekümmert aus. Er beugte sich wieder in die Kälte hinaus; sein Körper war inzwischen vor Unterkühlung rot angelaufen. »Komm schon, laß das, Seb«, schrie er nun erstaunlich zärtlich. »Geh doch einfach heim. Ich ruf dich in einer halben Stunde an.« Ich wagte einen Blick aus dem Schlafzimmerfenster und gewahrte den erbarmungswürdigsten Anblick der Welt: Sebastian, der sich vornübergebeugt und flennend an einen aufrecht stehenden Staubsauger klammerte, als wäre es ein Rettungsanker. Schließlich trottete er auf dem Gehsteig davon, wobei er den Staubsauger hinter sich herzog, der über vereiste Stellen und Unebenheiten im Beton holperte. Als ich so das Finale seines eifersüchtigen Wutanfalls beobachtete, wußte ich plötzlich, daß er derjenige sein - 269 -
mußte, der meinen Roman zerfetzt hatte. »Warum gehst du nicht einfach mit zu ihm?« sagte ich, sobald Peter das Fenster geschlossen hatte und mit über der Brust verschränkten Armen zitternd vor mir stand. »Siehst du, was für ein Kind er ist?« »Aber er liebt dich«, stellte ich fest. »Genaugenommen betet er dich an. Und irgendwann werden Kinder auch erwachsen.« Peter schüttelte den Kopf. »Es ist so schwer mit ihm. Selbst die einfachsten Dinge werden kompliziert.« »Das ist doch das Entscheidende, Peter. Beziehungen. Du mußt etwas in ihm sehen; schließlich bist du jetzt ein paar Jahre mit ihm zusammen.« Peter bemerkte plötzlich, daß ich anfing, mich anzuziehen. »Hey, wo gehst du hin?« »Nach Hause ... wo soll ich sonst schon hingehen?« sagte ich und faßte den Entschluß, daß dies das letzte Mal gewesen war, daß ich mit Peter Rocca geschlafen hatte.
26. Wir fuhren gerade mit der Fähre hinüber nach Fire Island, als Greg erklärte, er habe sich für ein Jurastudium beworben. Er listete alle Universitäten auf, von denen einige außerhalb von New York lagen. Wir setzten uns nebeneinander hin, Casey war zwischen uns eingezwängt. »Soll das heißen, daß du mir meinen Hund wegnehmen und in eine andere Stadt ziehen willst?« »Auf einmal ist er nur noch dein Hund.« »Du weißt genau, was ich meine.« »Na ja, nicht, wenn ich an die Columbia oder an die New York University komme. Die sind meine erste Wahl. Ich - 270 -
will nicht weg von New York. Es sei denn, ich kriege zufällig Harvard oder Yale.« Ich fragte Greg, ob er eine Chance habe, an diese Unis zu kommen, worauf er versuchte, ohne allzu großen Stolz zu verkünden, daß er bei den Aufnahmeprüfungen neunundneunzig Prozent der Gesamtpunktzahl erreicht hatte. »Du machst mich wahnsinnig«, sagte ich, begeistert für ihn. »Neunundneunzig Prozent? An einem Tag beschließt du, Jura zu studieren, und am nächsten erreichst du neunundneunzig Prozent! Du wirst Anwalt, mein Gott, du wirst Anwalt, wie jeder zweite in New York!« »Stell dir doch nur vor, dann kann ich dich vertreten. Alle deine Verträge machen. Garantieren, daß die großen Multimediafirmen dich nicht übers Ohr hauen.« »Du träumst wohl. Das wäre das gleiche, als wolltest du die chinesische Armee mit nur einem Gewehr aufhalten.« Ich musterte sein Fire-Island-Outfit: ein Oberhemd mit abgeschnittenen Ärmeln und knappe Jeansshorts. »Du wirst dich noch umstellen müssen. Im Strafrechtseminar kannst du in diesem Aufzug nicht aufkreuzen.« »Mach' ich mit links«, sagte Greg, spreizte die Beine und lehnte sich zurück an die Lehne der Bank. Als waschechter New Yorker war ich noch nie auf den Fire Island Pines gewesen, und plötzlich wurde mir bewußt, daß sich nicht eine einzige Frau auf der Fähre befand. »Wir könnten zum Berg Athos fahren«, stellte ich fest, als im gleichen Augenblick das Dröhnen der Motoren eine Spur leiser wurde und die Fähre sich nach rechts neigte, um Kurs auf den Hafen der Pines zu nehmen. Von unserem Sitzplatz aus konnten wir in der Bucht der Insel eine Reihe verwittert aussehender Häuser ausmachen. Obwohl wir unter einem Vordach saßen, streifte greller Sonnenschein die untere Hälfte unserer Beine. - 271 -
Sobald wir von Bord waren, gingen wir direkt zum Haus eines Mannes, dessen goldfarbener Jagdhund immer mit Casey auf der Hundebahn spielte. Nachdem die Hunde in einem abgeschlossenen Hof untergebracht waren, schlossen wir uns den Scharen von Männern mit nackter Brust in Shorts oder Badehosen an, die sich auf dem Holzsteg zu den für die Morning Party vorbereiteten Pavillons drängten. Die Veranstaltung wurde von der Gay Men's Health Crisis gesponsert, und alle Einnahmen würden dazu verwendet werden, die verschiedenen Projekte zu unterstützen, die im Kampf gegen die Seuche standen. Unsere Eintrittskarten erhielten wir in Form von pinkfarbenen Armbändern, die man tragen mußte, wenn man Zugang zur Tanzfläche bekommen wollte. Sie erinnerten mich an Krankenhausarmbänder; wie makaber, dachte ich, bei einer Party Krankenhausarmbänder zu tragen. Die auf dem Sand aufgebaute Tanzfläche füllte sich rasch mit Tausenden von Männern, die bereits schwer unter Drogen standen, bevor sie noch den Rumpunsch runterkippten, der von den fröhlichen Gastgebern serviert wurde. Ich hatte in der Menge nur wenig nüchtern wirkende Leute gesehen. Die meisten Bedienungen waren schön, aber ihre Schönheit wirkte auf mich entweder improvisiert oder übertrieben: die zu starke Betonung einer perfekten Frisur, Massen schwer aufgeblähter Titten und Arme, die nicht zu spindeldürren Beinen paßten. Ich sah große, breite Rücken bei gleichzeitig eingefallenen Brustkästen oder riesige Brustkästen gepaart mit unterentwickelten Rücken. Ich sah kräftige Arme, die nicht den Brustmaßen entsprachen und umgekehrt – all dies erschien mir als das unausgegorene Ergebnis eines Trainings mit dem Ziel, schön zu sein, anstatt eines Trainings mit dem Ziel, fit zu sein. Es gab auch ein paar Supermänner, gewiß, aber die produ- 272 -
zierten sich bis zum Gehtnichtmehr. Was wollen die machen, wenn sie vierzig, fünfzig werden, fragte ich mich unwillkürlich. Was werden wir alle dann machen? Greg und ich tanzten eine Weile, und es war angenehm, weil wir uns berühren konnten, da wir uns im Einklang bewegten, und er konnte mir den Rücken zuwenden und sich beim Tanzen an mich schmiegen. Dann aber stieß er auf einen Typen, mit dem er sich ab und an getroffen hatte, und ich mußte anstandshalber einen weiten Bogen um sie machen. Nachdem wir verabredet hatten, daß wir uns an der Fünf-Uhr-Fähre treffen würden, machten sich Greg und sein Freund zu einem etwas abgelegeneren Teil des Strands auf. Und während ich zuschaute, wie sie davonspazierten, mußte ich gewaltsam das unheimliche Gefühl abschütteln, daß Gregs Morning-Party-Verabredung mir ausgesprochen ähnlich sah. Als ich jedoch wieder alleine war, wurde ich mir der Leidenschaftlichkeit der Meute noch mehr bewußt, der nach hinten in die Sonne geworfenen narkotisierten Gesichter, der Gesichter, die vornübergebeugt waren, um die neuesten Designermodedrogen zu inhalieren, die sehr praktisch in winzigen Bernsteinfläschchen geliefert wurden. Dann schloß sich ein riesiger Kranz aus gebräunten muskulösen Armen zu übermütigen Gruppen zusammen – alle aufgepeitscht vom sexuellen Puls sorgfältig ausgewählter Musik. Nie zuvor hatte ich so bewußt den Druck verspürt, körperlicher Vollkommenheit nachzueifern, beim Tanzen makellos und jugendlich zu sein. Ich konnte sogar begreifen, wieso sich Leute von dem Dreieck – New York, Fire Island, South Beach –anlocken und einsaugen ließen. Dann aber zogen einige Wolken vor die Sonne, und ein Schattenfleck schob sich über die Menge, und ich wurde mir der hauchdünnen Membran bewußt, die uns vom Rest - 273 -
des Rests der Welt trennte: des falschen Glaubens, daß das Krafttraining unser Schutz gegen die Seuche wäre. Und ich erinnerte mich, daß das Todesurteil des Narziß darin bestand, sich in Nichts aufzulösen. Als ich dann später mit einem anderen Einzelgänger tanzte, einem Typen mit nettem, gut ausgebildetem Körperbau, erwähnte ich, daß ich daran dachte, eine lange Runde im Ozean schwimmen zu gehen, und er sagte mir, er sei ebenfalls Schwimmer, und fragte, ob er sich mir anschließen könne. Ich glaube, ihm war klar, daß es mir wirklich ums Schwimmen ging. Wir verließen die Party, zogen uns bis auf Badehosen aus und waren im Nu jenseits der Wellenbrecher, durchpflügten die sanften Kämme der Wogen und begannen, gleichmäßig unsere Bahn entlang der Küstenlinie zu ziehen. Durch meine Schwimmbrille konnte ich seine perfekte S-Bewegung unter Wasser sehen, den abschließenden Stoß mit der Hand nach hinten, ehe der Ellbogen wieder weit nach oben ging. Ich war seit Chad mit niemandem mehr zusammen im Ozean geschwommen, und es erinnerte mich daran, daß es die Verantwortung mit sich brachte, ein Auge auf den anderen Schwimmer zu haben, um sicherzugehen, daß wir nicht in einem Brecher zusammenprallten oder uns ins Gehege kamen, wenn wir es am wenigsten erwarteten. Einmal schaute ich beim Schwimmen zurück zur Morning Party, und das Bild der Tanzenden, das sich mir über die Brandung hinweg bot, war das eines großen, sich windenden Gewimmels von Schlangen, so, wie es das Haupt der Medusa krönte. Der Schwimmer lud mich zu einem Drink in sein Haus ein, aber es war mir nicht danach zumute, mit einem Fremden zusammenzusein, und außerdem war nicht mehr viel Zeit, bis ich Greg an der Anlegestelle treffen sollte. - 274 -
Als ich dort ankam, wartete er tatsächlich bereits mit Casey; er schaute besorgt aus. Gerade hatte er fünf mit Blut vollgesogene Zecken aus unserem Hund gezogen. »Ich hoffe, die sind nicht von der Sorte, die das LymeSyndrom verbreiten«, sagte ich. »Das sieht man ihnen nicht an.« »Warum machst du dir dann solche Sorgen?« »Wenn man die Zecken herauszieht, bleibt manchmal der Kopf drin, und der kann in den Blutkreislauf kommen und solche Sachen wie Herzstillstand verursachen.« »Und auf Fire Island kann ein Meteor fallen.« Ich lächelte, und Greg schien sich zu beruhigen. Ich fragte ihn, wo sein »neuer Freund« geblieben sei. Offensichtlich hatte der Typ Lust gehabt, noch länger zu tanzen, aber sie hatten sich für später in der Stadt verabredet. »Muß schön sein, sich darauf zu freuen.« Er nahm den Unterton von Eifersucht wahr. »Paß auf, du könntest jede Menge Verabredungen haben. Ich habe gesehen, wie dich heute Typen angemacht haben.« Wir standen beide mit dem Rücken zum Wind, der vom Festland herüberwehte. »Weißt du, irgendwann mußt du einfach mal jemand anderem eine Chance geben«, sagte Greg schließlich. »Ja, sicher, aber im Augenblick deprimiert mich der Gedanke zu sehr.« Ich erwähnte einige meiner Beobachtungen von der Morning Party. Greg hörte aufmerksam zu und schüttelte den Kopf. »Ich weiß, was du meinst, Will, aber bis zu einem gewissen Grad sind wir alle so – du eingeschlossen. Und es ist nun mal so, daß es jetzt fast ein Jahr her ist, daß Sean Schluß gemacht hat und daß du keine richtige Verabredung hattest.« »Außer mit Peter«, betonte ich. »Peter zählt nicht.« - 275 -
»Ich glaube, allmählich komme ich so weit.« »Du kommst vielleicht so weit, aber auf dem Weg dahin quälst du dich ganz schön.« »Ich quäle mich am schönsten Ort der Welt«, fügte ich hinzu und wies zur Meeresküste. Wir bestiegen die Fähre mit nur wenigen anderen; die Mehrheit der Männer war noch am Feiern. Greg traf einige Bekannte, Leute, die ich nicht einmal vom Sehen kannte. Wie seltsam, es schien, daß er in den zwei Jahren, in denen ich nicht mehr mit ihm zusammen war, eine ganz neue Welt um sich geschart hatte, eine Welt, in der mich nicht mehr automatisch jeder kannte. Sobald das Schiff ablegte, schlenderte ich über das Oberdeck, um alleine zu sein. Ich beugte mich über die Schiffsreling und bewunderte das Wasser der Great South Bay, sein tiefes Indigo. In mir stieg die Erinnerung an die Zeit auf, als Chad und ich eines Morgens früh aufstanden, um Tiefseefischen zu gehen. Vor fast elf Jahren, aber, mein Gott, ich konnte mich an jede Einzelheit dieses Tages erinnern: kein einziger Fleck am kalifornischen Himmel, und die MontereyKiefern, die auf dem Gelände seines Apartmenthauses wuchsen, und der Duft nach Ahornsirup von den Disteln, die entlang seiner Einfahrt wuchsen. Und die Art, in der er sich im Dunkeln hastig rasierte, und seine braunen Wangen mit winzigen Blutstropfen von der Rasur. Wie er sich über mich hermachte, während ich uns zur Anlegestelle fuhr, obwohl ich ihm sagte, ich sei so müde, daß ich wahrscheinlich zehn Jahre brauchen würde, um zu kommen. Ich erinnere mich, gesagt zu haben: Zehn Jahre, bis ich komme. Und ich erinnerte mich an die Stelle in Bobbys Brief, die Stelle wo er schreibt: »Der Rest meines Lebens liegt jetzt als eine zu weite Strecke vor mir.« Bobby war tot, obwohl - 276 -
ich das noch immer nicht ganz fassen konnte; und dennoch, bevor er starb, war er imstande, etwas so stark zu empfinden, daß er sich dafür entschied, überhaupt nichts mehr zu empfinden. Ja, er war jetzt nicht mehr da, aber wie konnte er wirklich weg sein, und wie konnte seine innige Liebe zu einem anderen Mann mit seinem Verschwinden auch völlig verschwunden sein? Warum konnte ich Chad nicht loslassen? Warum konnte ich dich nicht loslassen? Ich schloß die Augen und flehte eine höhere Macht, welche auch immer es geben mochte, an, mir einfach zu sagen, ob Chad noch lebte oder nicht, mir ein Zeichen zu geben, ob er vor elf Jahren gestorben war oder ob er mich nur verlassen hatte. Bitte, murmelte ich dem Wasser zu, das am Schiff entlangströmte, und beugte mich tiefer, um das schmutzige Salzwasser der Bucht zu riechen. Laß es mich irgendwie wissen, dann verspreche ich, weiterzugehen. Noch immer kann ich nicht verstehen, was mich dazu bewegte, die Reling loszulassen. Mit dem Bauch auf dem Geländer balancierend, beugte ich mich nach vorn, um das Gesicht zu küssen, das ich mit einemmal vor mir sah, ein wächsernes Gesicht mit bestürzend düsterem Blick, das von den silbrigen Rückenflossen der Fische durchbrochen wurde, die in seinem Kopf umherschwammen. Und dann schlingerte das Boot überraschend, und durch den Stoß nach vorn verlor ich das Gleichgewicht. Ich glich dem Ball eines Jongleurs, der in einem Bogen hochgeworfen wird, langsamer wird und den Punkt des Stillstands erreicht, wo die aufwärts gerichtete Kraft und die Schwerkraft aufeinandertreffen. Aber da zog mich eine Hand zurück in die Vorwärtsbewegung des Schiffes – Gregs Hand zerrte mich in die Realität zurück. - 277 -
Der entgeisterte Blick in seinem Gesicht verblüffte mich. »Was hast du da grade gemacht, verdammt noch mal?« schäumte er. »Nichts, ich habe nur...« »Ist dir klar, was du da beinahe gemacht hättest?« Ich schüttelte den Kopf. Ich starrte ihn an, aber er schien unermeßlich weit entfernt zu sein. »Ich bring' dich um, verdammte Scheiße, wenn du so was Bescheuertes machst.« »Ich hab' doch nur ... ich hab' doch nur am Wasser gerochen«, protestierte ich schließlich. »Am Wasser gerochen«, äffte er mich nach. »Es hat ausgesehen, als wolltest du im nächsten Moment springen.« Nur eine Viertelmeile vor uns zeichnete sich die Küstenlinie von Long Island ab. »Greg, wenn ich wirklich springen wollte, meinst du nicht, daß ich dann in der Mitte gesprungen wäre?« »Was weiß ich, was du getan hättest?« rief er. »Also ehrlich, Will, manchmal glaube ich, du fängst echt an zu spinnen.« Trotzdem klang er erleichtert. »Ich wußte nicht, daß ich was Verrücktes tue.« Dann jedoch spürte ich, wie er sich neben mir verkrampfte und plötzlich ganz wachsam wurde. »Mein Gott«, murmelte er. »Ich glaub's nicht, wer da auf dem Schiff ist!« Noch ehe ich fragen konnte, wen Greg meinte, warf ich einen Blick zum Bug der Fähre und stellte fest, daß du dort standst und uns beobachtetest.
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EPILOG Und ich sage dir genau das, was ich auch Greg sagte. Ich wollte nicht springen. Und dann starre ich aufs Wasser hinaus, innerlich tot, taub dir gegenüber, als du mir sagst, daß ich dich zu Tode erschreckt hatte, daß du gerade hattest herüberrennen wollen, als du sahst, daß Greg mich packte. Meine Augen schweifen zum Kielwasser. Ich wünschte, du würdest einfach wieder zu der Stelle zurückgehen, wo du gestanden hattest. Bald werden wir anlegen. »Komm schon, Will, sei nicht so. Sag einfach etwas zu mir ... Was glaubst du, warum ich heute nach Fire Island rausgekommen bin?« Ich zucke die Schultern. Wie lange warst du schon zurück? Warst du je wirklich weg gewesen? »Willst du mich nicht mal anschauen?« Hartnäckiges Schweigen. »Und was soll das Halstuch da auf deinem Kopf? ... Du mußt nicht verstecken, daß du eine Glatze kriegst. Du bist schön, Will. Deine Glatze gefällt mir ganz besonders an dir.« Verschone mich mit Komplimenten. »Ich hätte dich angerufen, aber ich hatte Angst, du würdest nicht mit mir reden wollen. Ich nehme an, damit hatte ich recht. Dann dachte ich, du könntest vielleicht heute hier draußen sein. Du könntest vielleicht neugierig auf die Morning Party sein.« Ich schaue mich nach Greg und Casey um, aber sie haben sich an eine andere Stelle auf der Fähre verzogen. Die Motoren werden allmählich langsamer, wir nähern uns dem Land, und urplötzlich verspüre ich das dringende Bedürfnis, wissen zu wollen, wie es weitergeht. Also wage ich es schließlich, dich voll anzuschauen. - 279 -
Deine Haare sind länger, ein wenig mit Gel behandelt, um die Locken zu entspannen; deine Haut ist gebräunt, und deine Augen haben noch immer ein durchdringendes Blau. Ich hasse dich für dein gutes Aussehen. Und was am schlimmsten ist, ich kann in diesen Augen ein gewisses seelenvolles Schimmern erkennen. Da sich die Anlegestelle während unserer eingleisigen Unterhaltung nähert, brichst du das Schweigen erneut. »Ich mußte nach New York zurückkommen. Weil ich nicht zulassen konnte, daß du zweimal verlassen wirst.« Das zwingt mich zu sagen: »Das verstehe ich nicht.« »Ich wollte nicht sein wie er«, erklärst du. Diese Auffassungsgabe war es, die meine Verteidigungsmechanismen zu Beginn so rasch überwunden hatte. Aber inzwischen hat sie ihren Zoll gefordert. Ich kann noch immer nicht fassen, daß du fortgehen konntest, ohne mir etwas zu sagen, wo du doch wußtest, daß dies das Schlimmste war, was du mir hättest antun können. Ich warte noch etwas, dann sage ich: »Aber du bist wie er. Du machst dich davon, wenn du mit der Zuneigung von jemand anderem nicht zurechtkommst.« Es war mehr als das. Ich hatte doch die Nachricht auf dem Anrufbeantworter gehört, oder? Deine Nachbarn sagten, sie hätten mich ins Haus gehen sehen. Als sie dir deine gesamte Post nachschickten, fehlte der Brief, den du für mich zurückgelassen hattest. Hatte ich den Brief gelesen? Ich gebe zu, daß ich ihn gelesen habe. »Aber du hättest trotzdem bleiben können, Sean. Es wäre vielleicht schwer gewesen, aber du hättest dich dem stellen können.« »Du hast vollkommen recht, okay? Und es ist mir peinlich, das zuzugeben. Weil du zumindest den Mumm hattest, mir gegenüber offen zu bleiben. Zumindest warst du - 280 -
bereit, den Absturz zu riskieren.« »Was für ein beschissener Satz«, sage ich, während das Schiff endgültig anlegt, während die anderen Passagiere sich aufstellen, um zur ewigen Suche nach Vergnügen zurückzukehren, die das Leben in New York mit sich bringt. Du kommst näher, bis unsere Schultern zusammengequetscht sind, und als ich mich abwende, sagst du: »Ich möchte einfach, daß du mir ehrlich sagst, was du wolltest, als du dich da über das Wasser hinausgelehnt hast. Wolltest du wieder mal eine deiner unverhofften Schwimmtouren unternehmen?« Das Horn der Fähre ertönt, und die Passagiere fangen an, ihre Sachen aufzunehmen. Ich denke an Chad. Ich denke an die Fahrt zu den Channel Islands, auf der das Schiff, gleich hinter Santa Rosa, durch eine Herde blauer Delphine fuhr. Ich erinnere mich, wie sie, einem Marinebataillon gleich, an der Seite des Schiffes dahinschossen und wie sich das Licht in ihren trüben, sanften Augen fing, wie zufrieden sie in ihrer kraftvollen, ungezügelten Freiheit erschienen. Auf der Wasseroberfläche glitzerte von Osten das Sonnenlicht wie silberne Köder, und Chad lehnte mit freiem Oberkörper über der Reling wie ich jetzt. Er betrachtete die wellenförmigen Bewegungen der Delphine, die Kraft ihrer auf und ab gehenden Schwanzflossen, und hinter seinem umstrahlten Kopf ragten die blauen Kämme von Santa Rosa aus dem Nebel. »Himmel, was für ein Leben«, hatte er gesagt. »So ein Leben würd' ich mir gefallen lassen.« »Dein Leben ist doch okay«, sagte ich zu ihm. »Du kannst an Land leben. Du kannst schwimmen gehen, wann immer du willst.« Seine schwarzen Augen blinzelten, als er sich zu mir - 281 -
umdrehte. »Ich liebe dich«, sagte er. »Und ich würde es gern auf der Stelle mit dir treiben.« »Du willst das immer, wenn es grade nicht geht.« »Ich glaube, ich liebe das Unmögliche«, stimmte er zu und verabschiedete sich von den Delphinen, die endlich aufhörten, uns zu begleiten. Dies ist eine meiner mir liebsten Erinnerungen an ihn. Du wiederholst deine Frage. Was hatte ich gewollt, als ich mich über die Reling gebeugt hatte? Hatte ich vom Schiff springen wollen? Du mußt noch immer befürchten, daß das, was mit deinem Vater und Bobby geschehen ist, auch mir bald zustoßen könnte. Aber auch ich habe Angst, denn ich möchte nicht, daß du wieder gehst. Ich habe Angst, da ich nicht weiß, was ich mit dieser Beichte bezwecke, und weil ich dir alles innerhalb eines Lidschlags erzählt habe. Ich erkenne, daß es keine Bemühung ist, die dich oder ihn mir zurückbringen wird, sondern eher ein Exorzismus. Du bestehst noch immer auf einer Antwort. Das Boot legt jetzt an, und Greg kommt auf uns zu, mit Casey, der an der Leine zerrt, um zu mir zu gelangen. Ich winke ihnen zu, nehme meinen Beutel auf und hänge ihn mir über die Schulter. Und dann sage ich dir, daß ich gebetet habe.
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DANKSAGUNG Ich möchte den folgenden Personen danken, die auf unterschiedliche Weise zum Entstehen dieses Romans beigetragen haben: Charles Sprawson, dessen Haunts of the Black Masseur: The Swimmer as Hero mir einen hervorragenden Überblick über das Thema Schwimmen in der Literatur bot sowie über die zahlreichen Schriftsteller und Dichter, die von diesem Sport besessen waren; dem verstorbenen Allen Barnett, aus dessen Kurzgeschichtensammlung The Body and Its Dangers ich viele Anregungen zog; Andrew Sullivan, dessen Artikel Ecstasy and Intimacy in The New Republic mich zu Beginn der Arbeit an diesem Roman sehr inspirierte; Peter Davenport, der mir, zusammen mit Charlet, einen Ort bot, an den ich immer wieder kommen konnte, um zu schreiben; Margaret Edwards, die das Manuskript sorgfältig und voller Verständnis redigierte; Eric Steel von Simon & Schuster, New York, sowie Liz Calder und Maggie Traugott von Bloomsbury, Plc, in London, die mir mit hilfreichen Kommentaren ermutigend zur Seite standen; Steven Gaines, der mir emotionalen Rückhalt und Ermutigung zuteil werden ließ; Gordon Robinson, der mich lehrte, was es heißt, als Kind eines Armeeangehörigen in Okinawa aufzuwachsen; John Lynch, der sang, während ich schrieb.
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»Später sollte er mir erzählen, daß dieses Bild, wie ich mit dir davongehe und dann in einem Moment des Zögerns mich umdrehe, die einzige Erinnerung wurde, die ihm von diesem Sommer geblieben ist. Nicht die Nummern im Splash oder auf Fire Island, nicht einmal die Morning Party, nein, die Erinnerung an zwei dunkle Gestalten, die davongehen.« Nach einer tragischen Erfahrung hat Will Kaplan sich endlich wieder richtig verliebt. Trotzdem, er bleibt vorsichtig, und auch sein neuer Freund tut sich schwer, Vertrauen zu fassen. Umgeben vom schrillen Leben der amerikanischen Szene, versuchen diese beiden Männer zu einer ganz normalen Beziehung zu finden. Ein wunderschöner Roman über das, was Liebe ausmacht. Deutscher Taschenbuch Verlag
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