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Die Autorin Harriet K. Feder wuchs in der Bronx auf und ging dort zur Schule. Nach dem Besuch des Colleges unterrichtete sie 16 Jahre lang Sozialkunde. Aber Schreiben war immer schon ihre große Liebe. Nachdem ihre Kinder erwachsen waren, begann sie für die Kinder anderer Leute zu schreiben. H. K. Feder ist Mutter von drei Kindern und hat vier Enkelkinder. Ihre Bücher werden sowohl im In- als auch im Ausland geschätzt. Sie arbeitet als Dozentin am Institut of Children's Literature in Redding, Connecticut, und lebt mit ihrem Mann in New York. Ihr erster Vivi-Hartman-Krimi, »Mystery in Miami Beach«, erschien 1997 im Erika Klopp Verlag.
Klappentext Statt von ihrer Mutter wird Vivi in Istanbul von einem wildfremden Mädchen empfangen – mit der seltsamen Geschichte von einer alten Schriftrolle, die ebenso verschwunden ist wie Vivis Mutter. Im Hotel hat sich jemand an Vivis Koffer zu schaffen gemacht. Vivi weiß nicht mehr, wem sie trauen kann. Aber eins ist sicher: Sie muss sich zu ihrer Mutter bringen lassen, auch wenn die Umstände bedrohlich sind ... Nach »Mystery in Miami Beach« der zweite Fall für die Rabbitochter Vivi Hartman aus Amerika
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Dieses eBook ist nicht zum Verkauf bestimmt.
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Harriet K. Feder
MYSTERY in Istanbul Ein Fall für Vivi Hartman Aus dem amerikanischen Englisch von Angelika Eisold-Viebig
Erika Klopp Verlag Die Deutsche Bibliothek – CIP-Einheitsaufnahme Feder, Harriet K.: Mystery in Istanbul: ein Fall für Vivi Hartman Aus dem amerikan. Engl. von Angelika Eisold-Viebig. München: Klopp, 1998 ISBN 3-7817-0550-1 In neuer Rechtschreibung Deutsche Ausgabe © 1998 Erika Klopp Verlag GmbH, München Alle Rechte vorbehalten Titel der Originalausgabe »Mystery of the Kaifeng Scroll. A Vivi Hartman Adventure« Lerner Publications Company, Minneapolis, 1995 © 1995 Harriet K. Feder Einbandillustration: Reinhard Michl Satz: Filmsatz Schröter, München Druck und Bindung: Wiener Verlag Printed in Austria 4
Für Ben, Ari, Michael, Molly, Ilana und alle, die noch kommen werden
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1 Freitag, 24. Juni, Buffalo, New York
H
» ier, beiß mal ab und mach nicht so ein Gesicht, Vivi.« Rachael bot mir ihren angebissenen Schokoriegel an. »Die neunte Klasse haben wir hinter uns. Jetzt müssen wir bloß noch unseren Schrank ausräumen. Dann sind wir frei und können nach Hause gehen.« »Frei? Du vielleicht, ich nicht. Ich sitze morgen im Flugzeug nach Istanbul, hast du das vergessen?« Ich versuchte cool zu bleiben und widmete mich dem Kombinationsschloss. Schließlich öffnete ich die Tür. Igitt, was für ein Chaos! Wenn Rachael nicht meine beste Freundin wäre, müsste ich sie dem Gesundheitsamt von Buffalo melden. »Oh Gott, das hätte ich fast vergessen«, rief sie aus. »Ich wollte dich gerade fragen, was du am Samstagabend zum Barbecue anziehst. Ach Vivi, kannst du nicht wenigstens mal einen Sommer hier bleiben? Wir werden alle jeden Tag unten am See sein, schwimmen und Wasserski oder Boot fahren. Kannst du deinem Dad nicht klarmachen, wie viel Spaß dir entgeht?« Spaß? Das war noch das Wenigste. Was ich am meisten vermissen würde war Mike. Seit wir uns kannten, sahen wir uns wenigstens einmal pro Monat und die Telefonleitung zwischen Buffalo und Toronto war auch ziemlich strapaziert. Aber wie viele Telefongespräche würde ich von der Türkei aus nach Alaska führen können, wo er in den Ferien bei einer archäologischen Grabung mitarbeitete? Ich hielt Rachael ein vergammeltes altes Notizbuch unter die Nase. »Willst du das der Wissenschaft widmen?« Rachael schüttelte den Kopf und ich warf das Notizbuch in einen der Abfalleimer, die im Flur standen. Überall entlang des Flures warfen Schüler irgendwas weg. Die Lehrer besahen sich die Schränke und strichen Namen von einer langen Liste. »Kein sauberer Schrank, kein Zeugnis«, hatte der Rektor schon die ganze Woche per Lautsprecher verkündet. 6
Rachael wühlte sich durch unseren Müll. »He, hier sind die pelzbesetzten Winterstiefel, die deine Mutter dir letzten Herbst aus der Schweiz geschickt hat. Die haben mir meine Zehen schön warm gehalten. Willst du sie wiederhaben?« Ich griff nach den Stiefeln. Meine Mutter! Warum konnte sie nicht zur Abwechslung mal hierher kommen? Warum musste ich jeden Sommer dorthin fahren, wo sie war? Der Gedanke ans Fliegen machte mich wie immer nervös, aber es hatte keinen Sinn mit Dad darüber zu reden. Ich kannte die Antwort. »Auch wenn wir geschieden sind, ist und bleibt sie deine Mutter. Sie liebt dich und ich habe versprochen, dass du die Sommerferien bei ihr verbringst. Ein Versprechen ist ein Versprechen, Ahuva.« Ahuva. Herzblatt. Mike nennt mich auch so. Ich seufzte und holte eine durchgeweichte Papiertüte aus dem Schrank. Igitt! Alte Salami und verfaulte Bananen. Rachael grinste. »Ach, da hat sich also das Pausenbrot vom letzten Dienstag versteckt! Schade, dass du es vorige Woche nicht gefunden hast. Da bin ich den ganzen Tag vor Hunger fast umgekommen.« »Und jetzt kannst du es wegwerfen«, sagte ich und reichte ihr vorsichtig die Tüte. Sie griff danach. »Vielleicht sollten wir den Abfall im Schrank lassen. Dann kommen wir nicht durch die Inspektion und erhalten auch keine Zeugnisse. Der Rabbi würde dich ja wohl kaum zu deiner Mutter in die Türkei schicken, wenn du ihr nicht mal dein Zeugnis zeigen kannst, oder?« »Nein, das würde er wahrscheinlich nicht tun.« Ich rettete meinen Thesaurus aus einem Haufen Sportsocken. »Aber er wird mich morgen Abend um acht ins Flugzeug setzen, und wenn er diesen Schrank selbst leer machen und mein Zeugnis abholen müsste.« Als Rachael am Abend zu uns zum Essen kam, brachte sie mir ein Abschiedsgeschenk mit – einen Deostift, der Monkey’s Breath hieß. »Angeblich klettern die Männer bei diesem Affenatemduft für dich sogar auf Bäume«, versicherte sie mir, bevor wir zu Tisch gingen. 7
»Es schmeckt einfach toll, Rabbi Hartman«, lobte sie und nahm sich eine zweite Portion. »Sie sollten meiner Mutter mal beibringen, wie man koscher kocht.« Dad lächelte. »Das Gericht heißt Volaille Angeline.« »Komischer Name für Hühnchenbrust mit Getreidekörnern«, sagte ich. »Spaghetti mit Fleischklößchen wären mir lieber.« Dad hielt Farfel einen Bissen hin. »Bo, Farfel!«, rief er. Der kleine Hund sprang hoch und kam zu ihm. »Shev!«, befahl Dad. »Sitz!« Farfel setzte sich zu seinen Füßen und wurde mit einem Stück Fleisch belohnt. Glücklicher Hund! Ich hatte Hebräisch lernen müssen ohne eine Belohnung zu bekommen. Es war schon spät, als ich Rachael schließlich gehen ließ. Meinen Rucksack packte ich praktisch in letzter Minute, als ich es wirklich nicht mehr hinausschieben konnte – den knappen Bikini, den Mom mir aus Spanien geschickt hatte, die Sandalen aus Israel. Und das übliche Notfallgepäck, falls der Koffer nicht rechtzeitig ankam: Jeans, T-Shirt, Unterwäsche, Zahnbürste. Die Lederhose aus Italien schob ich zur Seite. Selbst Mom würde nicht erwarten, dass ich die mitbrachte. In der Türkei hatten sie im Sommer bestimmt vierzig Grad im Schatten. Zum Schluss warf ich noch eine Tüte Kaugummis in meinen Rucksack, zog den Reißverschluss zu und machte mich bettfertig. Vielleicht würde ich schlafen können. Wahrscheinlicher war jedoch, dass ich mich im Bett hin und her warf und mir über den Flug am nächsten Abend Sorgen machte. Früh am Samstagmorgen ging ich mit Dad in den Tempel, wie ich es jeden Schabbat tue, wenn ich zu Hause bin. Obwohl es schon Zeit war den Gottesdienst zu beginnen, waren außer uns nur acht alte Männer und eine Frau da. »Nicht genug für eine Minjan«, sagte Dad. »Wir müssen noch warten.« Ich sah mich um. »Es sind mehr als zehn mit Mrs. Katz und mir.« Dad seufzte und erwiderte nichts. Es gab viele Tempel, in denen Frauen und Mädchen über dreizehn als Teil der Gebetsgruppe akzeptiert wurden. Aber nicht bei Dad. Er würde den Gottesdienst erst beginnen, wenn die traditionelle Minjan von 8
zehn Männern versammelt war. »Würden Sie bitte nachsehen, ob noch jemand draußen ist?«, bat er zwei alte Männer, die ganz hinten saßen. Einer der Männer ging hinaus und wenige Minuten später zerrte er einen großen, mageren Jungen herein, den ich aus dem Religionsunterricht kannte. Der Junge sah zu mir, wurde rot und ließ sich auf eine Bank fallen. Nachdem ich mir ein Lächeln verkniffen hatte, sah ich hoch zur Bima und dem weißen Samtvorhang, der den Schrein bedeckte, in dem die Torarollen aufbewahrt wurden. An der Wand darüber standen die zehn Gebote in Goldbuchstaben und schimmerten wie Sonnenstrahlen. Mein Vater gab dem Jungen ein Zeichen. Zusammen öffneten sie den Schrein, während wir anderen aufstanden und das Gebet zur Entnahme der Schriftrollen sprachen. Der Junge trug die schwere Torarolle den Gang hinauf und hinunter, wo die Männer sie mit den Fransen ihrer Gebetsschals berührten und dann die Fransen küssten. Mrs. Katz und ich taten das Gleiche mit unseren Gebetbüchern. Dann nahm mein Vater die silbernen Verschlüsse und die blaue Samtumhüllung ab. Mit Hilfe des Jungen legte er die Tora auf die Bima, das alte Lesepult aus Eichenholz, und entrollte sie langsam. Ich sah, wie die breiten Schultern meines Vaters sich hoben und senkten, als er den Abschnitt der Tora für diesen Tag sang. Sein von dem kurzen kastanienbraunen Bart eingerahmtes Gesicht sah angespannt und blass aus. Ich war froh, dass auch er bald Ferien hatte, aber ich würde ihn vermissen. Das geht mir immer so. Er wollte diesen Sommer mit einer Jugendgruppe durch Europa reisen und nach den Spuren längst vergangener jüdischer Gemeinden suchen. Jede Woche würde er mir eine Karte schreiben. Doch wenn ich die Karte bekam, würde ich zwar wissen, wo er gewesen war, aber nicht, wo er sich gerade aufhielt. Es musste wohl an meiner eigenen Unsicherheit liegen, dass ich der Geschichte von Balak besonders aufmerksam zuhörte. Bei der Lesung des Abschnitts aus den Propheten wurde ich abgelenkt. Was konnte ich dafür, dass der heutige Prophet Micah war? »Die Völker werden ihre Schwerter zu Pflugscharen 9
machen und keinen Krieg mehr führen«, hörte ich. Da musste ich an Micah Abramson denken und wie er mich zum ersten Mal geküsst hatte. Ich dachte an den letzten Winter in Miami und an den alten Nazi, den wir erwischt hatten. Und ich dachte an Marc und Rosita, unsere Freunde vom Mossad, die uns geholfen hatten, die Sache lebend zu überstehen. Als ich mit Nachdenken fertig war, war Dad mit dem Lesen fertig und wir standen auf, als die Torarolle wieder in den Schrein zurückgelegt wurde. Als Nächstes kam die Predigt, dann ein Gebet für die Kranken. Zum Schluss sah Dad mich an und lächelte und ich wusste, was nun kam. »Möge es dein Wille sein, oh Herr, dass du meine Tochter Aviva segnest, wenn sie ihre Ferienreise unternimmt. Mögest du ihre Schritte lenken, damit sie ihre Bestimmung im Leben findet, Glück und Frieden. Mögest du sie erretten aus der Hand jedes Feindes und Hinterhalts und behüten vor allem Bösen auf Erden.« So alt dieses Gebet auch ist, es muss letztes Jahr geholfen haben, dachte ich. Aber wer brauchte schon Schutz bei einem langweiligen Kongress in der Türkei? Ich wusste noch nicht, dass ich in den Tagen, die vor mir lagen, diesen alten Segen mehr brauchen würde als je zuvor.
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2 Flughafen von Istanbul, Montag, 27. Juni
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ch hatte meine Mutter ein ganzes Jahr nicht gesehen und konnte es nun kaum erwarten. Die Passkontrolle lag hinter mir und ich beeilte mich zum Zoll zu kommen. Als der uniformierte Beamte am Schalter auf meinen Rucksack deutete, zog ich den Reißverschluss auf und versuchte unbekümmert auszusehen. Nicht, dass ich etwas zu verbergen gehabt hätte. Mein alter Schulrucksack war randvoll mit dem Nötigsten. Selbst wenn ich etwas hätte schmuggeln wollen, was hätte da noch reingepasst? »Drogen?« Der Zollbeamte fuhr mit der Hand in meine vergammelten Notfall-Turnschuhe. Drogen? Mir wurde eiskalt vor Schreck. Ich hatte mal einen Film gesehen, in dem ein junger Amerikaner vom türkischen Zoll gefasst wurde. Ein Krümelchen Haschisch und du sitzt im Knast. Der Vater des Jungen war gekommen und hatte ihn frei gekriegt, doch vorher war er misshandelt worden. Oh Gott, stöhnte ich innerlich, ich weiß nicht einmal, wo mein Vater im Augenblick ist! Zum Glück hatte ich noch nie mit Drogen zu tun gehabt. Ich versuchte es mit einem sorglosen Lachen. »Ich habe alles so schön gepackt«, antwortete ich. »Sie werden es mir doch nicht durcheinander bringen?« Die englischen Worte kamen bei dem Zollinspektor genau richtig an und ich bekam die Alles-Ausleeren-Behandlung. Innerhalb von Sekunden lag meine Unterwäsche auf dem Tisch, wo alle sie sehen konnten. Mein unverschlossenes Tagebuch lag aufgeblättert neben einem Taschenbuch und meinem Gebetbuch. Musste er denn wirklich alles auseinander nehmen? Was sollte denn in einem Zahnseidebehälter sein außer Zahnseide? Der Zollbeamte hielt meine Haarbürste in Augenhöhe vor sich und berührte jede der steifen Drahtzinken. Ich gebe zu, ich hatte ein paar Haare dringelassen. War das in der Türkei ein Verbrechen? Nur gut, dass Dad meinen großen Koffer bereits vor zwei Wochen abgeschickt hatte, sonst hätte mein ganzes Privatleben hier zur Schau gestanden. 11
Schließlich winkte der Mann mich weiter. Ich atmete tief durch und stopfte meine Sachen wieder in den Rucksack. Was hatte ich ihm getan, dass er es so auf mich abgesehen hatte? Nur weil ich ihm auf Englisch geantwortet hatte? Ich seufzte. Wenn ich nur so gut Türkisch könnte wie Mom. Sie hätte sich mühelos durch den Zoll reden können ohne einen solchen Aufstand. Wo ist sie denn überhaupt?, fragte ich mich, als ich die Halle betrat und mich umsah. Neben mir schleppten zwei alte Frauen eine abgegriffene Reisetasche. Ihre weißen Gesichtsschleier bedeckten alles außer ihren Augen. Nicht gerade die verführerischen dunklen Schleier, die man im Kino zu sehen bekommt, dachte ich. Ein Baby im Tragetuch weinte auf dem Rücken seiner Mutter, während ein dunkelhaariger Mann sich mit seinem Ticket Luft zufächelte. Ich ging auf und ab und war schweißgebadet, als ich das Schild in Türkisch und Englisch las: Air Condition defekt. Ich blickte auf meine Uhr. Sie zeigte immer noch die Zeit von Buffalo. Ich stellte die Zeiger sechs Stunden weiter. Viertel nach drei. Das sah Mom gar nicht ähnlich. Sie holte mich immer pünktlich ab. Was sollte ich tun, wenn sie nicht kam? Ein Taxi zum Hotel nehmen? Es wird dir gefallen, Vivi, hatte sie mir geschrieben. Es ist ganz anders als die kleine Pension, in der wir letztes Mal am Goldenen Horn gewohnt haben. Das Hotel ist groß und luxuriös, es gibt mehrere Konferenzräume, einen Kongresssaal und einen eigenen Privatstrand in einer Bucht am Bosporus. Es heißt… Oh Gott, wie hieß es noch? Ich biss auf einem Fingernagel herum. Hotel Tarabya! Ich seufzte erleichtert auf und gähnte. Seit gestern hatte ich nicht mehr richtig geschlafen. Im Flugzeug kann ich nie schlafen. Als ich mich auf eine Bank sinken ließ, ertönte eine Stimme aus dem Lautsprecher. Bayan Aviva Hartman. Miss Aviva Hartman. Dringend! Bitte kommen Sie zum Schalter der Turkish Airlines! Bayan Aviva Hartman, bitte… Das musste eine Nachricht von Mom sein. Ich nahm meinen Rucksack und rannte zum Schalter. »Ich bin Vivi. Aviva Hartman«, stieß ich hervor. 12
»Passport«, sagte der Uniformierte und nahm den Blick nicht vom Computerbildschirm. Ich zog den Reißverschluss der Vordertasche auf und tastete nach meinem Pass. »Sir.« Ich hielt ihm den Pass hin. Der Mann sah nicht einmal auf. Er tippte etwas in den Computer. »Efendi, Sir«, versuchte ich es auf Türkisch. Er blickte mich an, die Augenbrauen hochgezogen. »Passport.« Ich schob ihm den Pass zu. Er blätterte im Pass, bis er zum Foto kam, und verglich es mit mir. Schließlich griff er unter die Theke und holte einen kleinen weißen Umschlag hervor. Was hieß gleich noch Danke? »Teşekkür ederim«, brachte ich heraus. »Gern geschehen, Miss Hartman. Mein Englisch ist gut, ja?« Er lächelte mich an. »Großartig!« Ich riss den Umschlag auf. Liebe Tochter, bitte verzeih mir. Ich muss eine sehr dringende Arbeit fertig stellen. Ich werde dich im Hotel beim Abendessen sehen. Meine Freundin Shari Bashadi wird dich dorthin bringen. Sie erwartet dich am internationalen Zeitungsstand. Du wirst sie an der gelben Rose im Haar erkennen. Deine Mutter, Miriam Markham Davis Ich fasste die Mitteilung so fest, als könne sie mir davonfliegen. Tochter? Seit wann nannte Mom mich so? Und die Sätze klangen komisch, so gestelzt. Und was sollte das mit ihrem Namen? Glaubte sie vielleicht, ich könnte ihn vergessen haben? Ich studierte die Unterschrift. Es sah aus wie ihre Unterschrift. Und doch wusste ich, dass meine Mutter diese Nachricht nicht geschrieben hatte. Meine viel beschäftigte, karrierebewusste Mutter hatte nicht einmal Zeit gefunden, mir mit der Hand eine kurze Nachricht zu schreiben. Ein Wunder, dass sie die Zeit geopfert hatte, ihren berühmten Namen darunter zu setzen. Und wer war diese Shari Bashadi, die sie mir schickte? Shari. Eine Abkürzung für Sharon? 13
Ich starrte aus den großen schmutzigen Fenstern des Flughafens, auf die Soldaten in grünen Uniformen, die dort patrouillierten. Sonnenstrahlen spiegelten sich auf ihren Gewehrspitzen. Wie anders war es hier als auf dem Flughafen zu Hause in Buffalo. All diese Waffen! Eine Gänsehaut lief mir über den Rücken. Wenn nun die ganze Nachricht gefälscht war? Wenn nicht einmal die Unterschrift von meiner Mutter stammte? Wenn Mom in diesem fremden Land in Schwierigkeiten war? Ich schauderte und glaubte plötzlich, dass meiner Mutter etwas passiert war. Dann wieder hielt ich meine Angst für Verfolgungswahn. Hol tief Luft, Vivi, sagte ich zu mir und wischte mir die verschwitzten Hände an den Jeans ab. Es gibt nur eine Möglichkeit herauszufinden, was los ist. Ich steckte die Nachricht ein und ging in Richtung Zeitungsstand.
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Das Mädchen war ziemlich groß – ungefähr einssiebzig, wie ich. Ein dünnes bedrucktes Baumwollkleid bedeckte ihre Schultern und endete ein gutes Stück unter ihren Knien. Ein Gürtel mit silberner Spange zeigte, dass sie eine schmale Taille und schlanke Hüften hatte. Ich strich über die ausgeblichenen Blue Jeans, die an mir klebten, als befände ich mich in einem türkischen Dampfbad. »Mager«, nannte mich meine Großmutter. »Gertenschlank«, verbesserte ich sie immer. Gertenschlank – das Wort gefiel mir. Ich hatte die Rose schon aus einigen Metern Entfernung entdeckt. Jetzt, beim Näherkommen, konnte ich das Gesicht des Mädchens sehen. Ihr Haar, schwarz wie meines, aber nicht gelockt, hing in einem langen Zopf über ihrer Schulter. Es war straff zurückgekämmt, so dass man beide Ohren sah, an denen kleine goldene Ohrringe baumelten. Ihre Haut war glatt und olivfarben, ohne Make-up. Ihre dunklen Augen blickten auf ein Foto in ihrer Hand und dann zu mir. »Aviva?« Ich nickte. Ihre Schultern wurden steif. Sie streckte die Hand aus. »Merha-ba. Ismim Shari.« Sie sprach jede Silbe langsam und deutlich aus, damit ich besser verstand. Es funktionierte, aber ich bezweifelte, dass es lange gut gehen würde. Mein türkischer Wortschatz war sehr begrenzt. »Merhaba. Ismim Vii-vii«, sagte ich und übertrieb mit der Betonung meines Namens. Was sollten wir nun sagen, nachdem wir uns begrüßt hatten? Wie war noch dieser Satz gewesen? Ich strengte meine müden Gehirnzellen an. »İngilizce konuşur musunuz?«, brachte ich mühsam heraus. Sie öffnete den Mund, als wolle sie lachen, verkniff es sich aber. »Ja, ja«, antwortete sie. »Ich spreche Englisch, natürlich. Wir werden Englisch sprechen, du und ich.« Der Akzent klang gar nicht türkisch. Wonach dann?, fragte ich mich. Normalerweise bin ich gut darin Akzente zuzuordnen, ein nützliches 15
Talent, das ich von meiner Mutter geerbt habe. Dieser klang fast wie… Nein, das konnte nicht stimmen. Trotzdem wurde ich aufmerksam. Das Mädchen sah mich an. »Habe ich mich falsch ausgedrückt?« Ich nahm meinen Rucksack. »Nein, nein, ganz cool.« »Cool? Aber es ist hier nicht cool!« »Das soll heißen in Ordnung. Du hast dich richtig ausgedrückt«, erklärte ich. Sie suchte meinen Blick, als wolle sie sich davon überzeugen, dass sie mir trauen könne. »Wenn ich mich nicht richtig ausdrücke, verbesserst du mich bitte?« »Logo!«, versicherte ich. »Logo?« »Das bedeutet ja«, sagte ich. »Aber klar mach ich das. Also, wie kommen wir jetzt zum Hotel?« Sie führte mich hinaus auf den lichtüberströmten Bürgersteig, wo sie »Taxi!« rief und eines herbeiwinkte. In Istanbul Auto zu fahren erinnert mich an Psalm 115. Die Fahrer haben Augen, sehen aber das Licht nicht. Die Fußgänger haben Ohren, hören aber die Hupen nicht. Füße haben sie, aber sie gehen nicht, stehen nur schwatzend in der Straßenmitte. Und obwohl sie Nasen haben, riechen sie nicht den Eselsmist, den Schweiß und die Abgase. Motorradfahrer fluchten und schimpften. Frauen in Karren voller Hausrat ließen Peitschen auf die Rücken ihrer Esel knallen. Unser Fahrer suchte im Radio nach einem brauchbaren Sender und fuhr im Schritttempo durch die Menge, als zwei Jungen grinsend die Köpfe durch die offenen hinteren Fenster steckten. Man musste nicht viel Türkisch können um zu wissen, dass das, was sie sagten, obszön war. Der Fahrer spuckte aus. Ich kurbelte schnell mein Fenster hoch. »Boschtakim«, fauchte Shari. Boschtakim? Ich starrte sie an. Poschtakim bedeutet auf Hebräisch so was wie »unverschämter Kerl«. Ich hatte es oft in Israel gehört. Aber nur ein Araber würde das B mit dem P vertauschen. Shari! Natürlich. Die Abkürzung für Sharazad. 16
Rabenschwarze Bilder tauchten vor mir auf: Ein voll besetzter Bus in Israel, dessen Insassen bei einem Angriff arabischer Heckenschützen getötet oder verletzt worden waren. Ein jüdischer Tourist aus Amerika, den moslemische Fanatiker hingerichtet hatten. Wohin brachte mich dieses Mädchen? Was hatte sie zum Fahrer gesagt? Warum fuhren wir auf einmal so schnell? Ich blickte aus dem Fenster. Wir hatten die Innenstadt verlassen und befanden uns auf einer Autobahn. Ein grünweißes Schild Richtung Norden zeigte Tarabya an. Zumindest fuhren wir den richtigen Weg. Das Hotel Tarabya musste in Tarabya sein, oder? Ich entspannte mich ein wenig. Was ist los mit dir, Vivi?, fragte ich mich. Nicht alle Araber sind Terroristen. Du bist voreingenommen. Das ist es. Würde Mom denn eine Terroristin schicken um dich abzuholen? Ich lehnte mich an die klebrige Rücklehne und schloss die Augen, ließ mich von dem türkischen Rock aus dem Radio berieseln. Aber wenn Mom nun dieses Mädchen gar nicht geschickt hatte? Ich warf einen Blick auf Shari. Sie starrte mit zusammengekniffenen Lippen nach vorne auf die Straße. Ihre Füße steckten in Sandalen und einer davon tappte zum Rhythmus der Musik, allerdings doppelt so schnell. »Also, was ist das denn nun für eine dringende Arbeit, die meine Mutter praktisch bis gestern fertig haben muss?«, fragte ich sie. »Praktisch bis gestern? Der Tag vor heute?« Ich seufzte. »Was ist daran so dringend?« Shari sah mich an und drehte sich dann wieder zum Fenster. »Ich weiß es nicht. Ich bin nur eine Studentin.« »An der Uni in Istanbul?« »Nein«, sagte Shari in Richtung Fenster. »In Frankreich, an der Sorbonne, wo meine Mutter lehrt?« »Nein.« Ich hatte das Gefühl in einem Ratequiz mitzuspielen. »Wo denn dann?« 17
Sie drehte sich mit einem entschlossenen Blick zu mir. »In Jerusalem. Dort wohne ich.« Ost-Jerusalem, dachte ich. Der arabische Teil. »Woher kennst du dann…?« »Ich habe Dr. Davis bei einem Englisch-Seminar kennen gelernt, das sie dieses Jahr an meiner Universität gab. Sie ist eine gute Dozentin. Ich habe viel von ihr gelernt.« »Und jetzt hast du sie hier wieder bei der Konferenz getroffen?«, fragte ich. »Sie hat mich hergebracht«, sagte Shari. »Dich hergebracht? Du meinst, sie hat dir bei der Zulassung zu dem Kongress geholfen?« Sharis Augen funkelten. »Ich war bereits zugelassen. Ich bin eine viel versprechende Studentin, sagen meine Dozenten.« Ja, und eine sehr bescheidene, dachte ich. »Aber warum hat dann…« »Ich bin erst achtzehn. Mein Vater hatte natürlich Einwände. Es ist sehr gefährlich für Mädchen, ohne den Schutz von Vater oder Bruder zu reisen. Mein Vater muss arbeiten und…« »Dein Bruder konnte nicht weg?« »Nein.« Sharis Lippen zitterten. »Dr. Davis hat versprochen mich zu beschützen. Sie hat mich in Jerusalem abgeholt.« Wunderbar! Gut gemacht, Mom. Du reist bis nach Jerusalem, um dieses Mädchen nach Istanbul zu bringen. Aber du hast nicht genug Zeit, um deine eigene Tochter vom Flughafen abzuholen. Plötzlich hasste ich dieses arabische Mädchen. »Das ist ziemlich altmodisch«, sagte ich. Shari starrte mich an. »Nicht für uns. Wir Muslime führen nicht so ein lockeres Leben wie…« »Wie die Amerikaner?«, schoss ich zurück. Sie drehte sich weg. »Wie die Israelis. Vielleicht auch die Amerikaner.« Sie tippte dem Fahrer auf die Schulter. »Buraya ne kadar mesafede?« Er stieß etwas hervor und deutete vor sich. »Wir sind fast da«, sagte Shari zu mir und zog einige Geldscheine aus ihrem Portemonnaie.
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Gut, dachte ich. Ich konnte eine Dusche und einen Kleiderwechsel gut gebrauchen. Ich sah auf die Uhr. »Wann werde ich meine Mutter treffen?« Moms kluger Schützling schürzte die Lippen. »Bald.« »Hotel Tarabya«, sagte der Fahrer und hielt mit quietschenden Reifen an. Shari bezahlte und stieg aus dem Taxi. »Schnell!«, sagte sie. »Komm mit.«
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Das Hotel Tarabya lag auf einem grünen Hügel wie ein Märchenschloss mit der smaragdgrünen Meerenge als Burggraben. Ich folgte Shari zwischen antik aussehenden Säulen an dem Portier vorbei in die mit Teppichen ausgelegte, wie verzaubert wirkende Halle. Die Farben der Teppiche erinnerten mich an eine Blumenwiese. »Wunderschön«, sagte ich, aber Shari schien es gar nicht zu bemerken. Sie packte mich am Arm und zog mich zur Rezeption. »Miss Aviva Hartman«, sagte sie auf Englisch zu dem Angestellten. »Sie ist zum Kongress hier.« »Hartman. Hartman. Ah, hier haben wir Sie. Ein Mann hat für Sie angerufen«, sagte er zu mir. »Mike Abramson?« Der Angestellte zuckte mit den Schultern. Er reichte mir einen Schlüssel. »Mit Bayan Bashadi in Nummer Neunachtundzwanzig.« Mit Shari? »Nein, warten Sie! Das muss ein Irrtum sein. Ich wohne im Zimmer meiner…« »Scht«, flüsterte Shari. Einen Finger auf den Lippen, zog sie mich zum Aufzug. »Ich erkläre es dir später.« »Nein, nicht später. Jetzt!«, forderte ich. Ihre Sandale senkte sich auf meinen Turnschuh, ihr Fuß schien keineswegs zierlich und klein zu sein. »Autsch!«, rief ich aus. »Oh, tut mir Leid, Miss. Habe ich Sie getreten?«, sagte Shari. Sie nannte mich Miss, als würde sie meinen Namen nicht kennen, dann blinzelte sie und lächelte die anderen Leute im Fahrstuhl an. »Neunter Stock bitte«, rief sie. Ich tappte ungeduldig mit dem Fuß, als der Aufzug in jedem Stockwerk mit einem Ächzen anhielt. Im siebten Stock biss ich mir auf die Lippe. Im achten glaubte ich zu spüren, dass sich ein blauer Fleck auf meinem Fuß bildete. Wo war meine Mutter? Wohin führte mich dieses Mädchen? Und warum, um Himmels willen, ging ich überhaupt mit ihr? 20
»Dokuz«, rief der Fahrstuhlführer und öffnete die Tür. Shari ging auf die Tür zu. Ich blieb wie angewurzelt stehen. »Neun«, wiederholte der Mann auf Englisch. Meine Füße waren plötzlich zentnerschwer. Shari lächelte und zog mich raus. »Nun komm, wir müssen uns zum Abendessen umziehen«, sagte sie, als sich die Fahrstuhltür hinter uns schloss. »Deine Mutter wird bald hier sein.« Ich überlegte, ob ich schreien oder zur Treppe laufen oder dieses Mädchen niederschlagen und flüchten sollte. Aber ich tat nichts dergleichen. Vielleicht war ich einfach zu müde oder ich glaubte nicht, dass Weglaufen helfen würde. »Feiglinge lösen keine Probleme«, pflegte mein Vater zu sagen. Aber Leichen auch nicht, Dad, dachte ich, als Shari die Schlüsselkarte in den Schlitz steckte. Das Zimmer hatte elfenbeinfarbene Satintapeten, die wunderbar zu den grüngestreiften Polsterstühlen passten. Der Teppich war ein Kayseri von herrlichem Blau und Gold. Ich hielt die Luft an. Shari bemerkte es und zuckte mit den Schultern. »Veredelte Baumwolle, keine Seide. Kaum Knoten darin. Hotelausstattung. Was kann man da schon erwarten!« Man merkte, dass sie noch nie in einem Holiday Inn übernachtet hatte. Egal, wichtiger als der Teppich war mir das Bild, das neben dem elfenbeinfarbenen Telefon auf dem Nachttisch zwischen den beiden Betten stand. Es war ein Foto von meiner Mutter mit diesem Mädchen, sie lächelten beide. Shari deutete nach links. »Dort ist eine Dusche. Dein Koffer ist in der Garderobe. Du hast hoffentlich den Schlüssel nicht vergessen?« Wie könnte ich? Dieser winzige Messingschlüssel, zehn verknitterte Dollar und eine Visakarte waren alles, was mich von der Armut trennte. Ich berührte mein T-Shirt, unter dem der Schlüssel in einer kleinen Ledertasche steckte. Ganz bestimmt würde ich ihn jetzt nicht herausholen. Jedenfalls nicht vor ihr. Und ich würde auch ihre Dusche nicht benutzen. Ich presste meinen Rucksack an mich und starrte sie an. »Okay, was soll das mit den Zimmern? Und versuch nicht mich zu verarschen, verstanden?« 21
»Verarschen? Nein. Dieses Wort verstehe ich nicht.« »Anlügen. Du sollst mich nicht anlügen. Warum ist mein Koffer in deinem Zimmer statt in dem meiner Mutter?« Sie sah mich an. »Deine Mutter hat ihn hierher gebracht. Sie will, dass du mit mir das Zimmer teilst.« Ich starrte zurück. »Das ist eine Lüge!« »Nein. Es ist die Wahrheit.« »Ich glaube dir nicht! Warum sollte meine Mutter das wollen?« Shari wandte sich ab ohne zu antworten. Oh mein Gott! Ein Freund? Ich schüttelte den Kopf um diesen Gedanken abzuschütteln. Das konnte nicht sein. Niemals! Mom liebte Dad immer noch. Irgendwann würde sie nach Hause kommen und dann… »Setz dich!« Bei diesem Ton schauderte ich. Kein Freund. Etwas Schlimmeres. Ich blieb stehen und verschränkte die Arme. »Ich stehe lieber, danke.« »Wie du willst.« Sharis Schultern sackten mit einem Mal nach unten, als sei sie erschöpft. Ihre Brust hob sich in einem tiefen Seufzer. Sie sah mich an. »Dr. Davis ist nicht in Istanbul«, stieß sie hervor.
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Ich stand da wie versteinert. Die Worte blieben mir im Hals stecken und ich musste mich zwingen, die Lippen zu bewegen. »Wo ist meine Mutter? Was hast du mit ihr gemacht?« »Ich? Sei keine Närrin«, entgegnete Shari. »Ich bin nur eine ihrer Studentinnen. Sie verließ das Hotel vor vier Tagen und wollte gestern Abend zurück sein.« Mein Herz blieb fast stehen und ich packte Shari am Arm. »Okay, was geht hier vor, Sharazad?« Shari wand sich aus meinem Griff. »Wenn ich das nur wüsste. An dem Abend, bevor Dr. Davis abfuhr, kam sie zu mir. ›Ich werde rechtzeitig wieder zurück sein um meine Tochter vom Flughafen abzuholen‹, sagte sie. ›Ihr Flugzeug kommt am Sonntag Nachmittag um drei Uhr an.‹ Sie schien sich so auf dich zu freuen. Und doch…« Ich beugte mich vor. »Was und doch?« Shari runzelte die Stirn. »Es war alles so merkwürdig. Sie bat mich ihr zu helfen, deinen Koffer in mein Zimmer zu bringen. Sie sagte, du solltest mit mir das Zimmer teilen.« Ich packte sie bei den Schultern. »Du lügst!« »Nein!« »Warum sollte sie das tun? Du musst sie doch gefragt haben.« »Dr. Davis fragen?« Shari starrte mich an. »Sie ist meine Lehrerin. Meine Beschützerin. Ich dachte, sie wollte nicht, dass ich alleine bin.« Ich drehte mich weg. Wie mütterlich! Gute alte Mom! »Bevor wir deinen Koffer herüberbrachten, schaute Dr. Davis in den Flur. ›Schnell‹, sagte sie dann. ›Niemand soll das sehen.‹ Wir zogen den Koffer in mein Zimmer und sie schloss die Tür und sagte zu mir: ›Hör zu, Shari: Niemand darf wissen, dass Vivi meine Tochter ist.‹« Ich sank auf einen Stuhl. Also ging es doch um einen Mann. Versuchte Mom sich als junge Frau von fünfundzwanzig auszugeben? Eine fünfzehnjährige Tochter passte da ganz sicher nicht dazu. 23
Ich sprang auf und nahm meinen Rucksack. Ich musste weg. Ich musste zurück zum Flughafen, zurück nach Buffalo. Shari sprach wie zu sich selbst. »Dr. Davis war anders. Als ob sie…« »Als ob sie was? Sich für ihre eigene Tochter schämte?« Shari schüttelte den Kopf und die Bewegung schien sie aus ihrer Trance aufzurütteln. »Sich schämen? Nein, das war es nicht. Als ob sie Angst hätte! So war es. Dann ging sie. Der Sonntag kam. Es war schon Mittag und sie war immer noch nicht zurück. Wer würde ihre Tochter vom Flughafen abholen? Ganz sicher würde sie nicht mit einer Fremden mitkommen. Ich tippte die Nachricht und unterschrieb sie. Die Unterschrift deiner Mutter habe ich schon oft gesehen. Sicher wird Dr. Davis bald kommen, dachte ich. Und nun ist sie immer noch nicht da. Kappadokien kann doch nicht so weit sein… Oh!« Shari fuhr sich mit der Hand an den Mund. »Sie hat gesagt, ich dürfe niemandem sagen, wohin sie gefahren ist.« »Ich bin nicht niemand, ich bin ihre Tochter!«, schrie ich. »Und was um Himmels willen tut sie dort? Das ist ja tief unten in Anatolien!« »Ich studiere Sprachen, nicht Geographie«, sagte Shari steif. Am liebsten hätte ich ihr eine runtergehauen oder einfach losgeschrien. Ich kämpfte beide Regungen nieder und sah sie stattdessen nur böse an. »Sag mir, warum sie dorthin gefahren ist. Und zwar sofort!« Die Antwort bestätigte meinen Verdacht. »Sie wollte einen Mann treffen. In einem Hotel in Kayseri.« Ich wandte mich ab und ließ mich wieder auf den Stuhl fallen. Kayseri. Ja, das konnte stimmen. Vor vier Jahren waren wir zusammen dort gewesen. Ich erinnerte mich an ihre Begeisterung. Wir werden uns die Felsenkirchen in Göreme ansehen, Vivi, wo die Christen sich vor ihren römischen Verfolgern versteckt haben. Die Fresken sind intakt, weil die Höhlen so trocken sind. Oh, und vergiss nicht genug Kaugummi mitzunehmen. Die Bauernkinder an den Straßenrändern mögen ihn so gern…
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Nichts geht über eine Romanze mit historischen Baudenkmälern im Hintergrund. Hast du auch an den Kaugummi gedacht, Mutter? »Was für einen Mann wollte sie treffen?«, fragte ich Shari und blickte starr zur Decke. »Es ging um eine alte Schriftrolle. Ein Mann hat mehrmals deswegen angerufen. Nur Dr. Davis könne beurteilen, ob die Schriftrolle echt sei, sagte er.« Oh Gott, steh mir bei. Wenn das nicht der perfekte Köder für meine Mutter war! »Nach jedem Anruf war sie so…« Shari dachte einen Augenblick nach. »Sie war wie besessen.« »Von einer Schriftrolle? Einer blöden alten Schriftrolle?« Shari beugte sich zu mir. »Du verstehst gar nichts. Würde Dr. Davis ihre wertvolle Zeit verschwenden? Es ging um eine alte Torarolle aus Kaifeng!« Das reichte. Ich ließ den Kopf hängen und fing an zu weinen. »Was nützen nun Tränen?«, hörte ich Shari zwischen meinen Schluchzern sagen. »Sicher hat deine Mutter inzwischen die Schriftrolle gesehen. Dusch dich jetzt lieber und zieh dich um, damit du fertig bist, wenn sie kommt.« Ich wischte mir über die Augen, holte tief Luft und erhob mich wie unter einem geheimen Zauberspruch vom Stuhl. Für heute Abend bekam ich wahrscheinlich sowieso keinen Flug mehr nach Buffalo. Wie lange stand ich wohl unter der Dusche? Ich weiß es nicht. Das Wasser wurde heißer und heißer. Ich drehte den Messingknopf. Ups! Falsche Richtung. Er fiel ab und ich schraubte ihn schnell wieder auf, bevor ich mich noch verbrühte. Als ich schließlich, in einen Bademantel gewickelt, das Badezimmer wieder verließ, sah ich Shari nirgendwo. Ich ging einem Summen nach, auf die andere Seite ihres Bettes. Shari kniete auf dem Boden, den Oberkörper nach vorne gebeugt, ihr Kopf berührte mehrmals den Boden, während sie auf Arabisch sang. Haltung und Stimme machten klar, dass es sich ganz bestimmt um keinen Jane-Fonda-Workout handelte. Der Gebetsteppich, auf dem sie kniete, war auch nicht mit einer Aerobicmatte zu 25
verwechseln. Aber wenn sie glaubte sich nach Mekka zu verneigen, hatte sie vorhin Recht gehabt – Geographie war mit Sicherheit nicht ihre Stärke. Ich öffnete die Schiebetür aus Glas und ging hinaus auf den schmalen, schmiedeeisernen Balkon. Von hier hatte ich einen wunderbaren Ausblick über den Garten und auf das jetzt tiefblaue Wasser des Bosporus, der unter dem dunkler werdenden Himmel schwach glänzte. Unmittelbar neben dem Balkon führte eine Feuerleiter nach unten. Etwa achtzig Grad nach links, schätzte ich, drehte mich in Richtung Jerusalem und begann mit meinem Abendgebet. »Und bitte, Gott«, flüsterte ich zum Schluss, »lass das mit meiner Mutter nicht wahr sein. Du weißt, ich neige dazu voreilige Schlüsse zu ziehen. Lass es auch diesmal so sein, bitte.« Plötzlich hatte ich das Gefühl, dass mich jemand beobachtete. »Jerusalem liegt in dieser Richtung?«, fragte Shari. »Ja«, antwortete ich. »Genau wie Mekka.« Sie ließ den Kopf hängen. »Oh, Vater, wie Recht du hattest. Seit ich fort bin, habe ich sogar falsch gebetet.« Ich zuckte mit den Schultern. »Keine Sorge, Gott wird dir verzeihen. Erkläre ihm einfach alles.« »Erklären? Gott?« »Klar. Das tu ich auch immer. Gott ist gar kein so schlechter Zuhörer. Ein Typ namens Abraham hat ihm das vor Jahren beigebracht.« Sharis Augen wurden schmal. »Allah etwas beibringen? Du denkst, Allah kann man etwas beibringen? Niemand liebte Allah mehr als Ibrahim, der Prophet, der unseren heiligen Schrein in Mekka gebaut hat.« Ihre Geschichte unterschied sich etwas von meiner Version, aber ich war zu aufgeregt wegen Mom, um deshalb mit ihr zu streiten. Ich blickte auf meine Uhr – beinahe sieben – und sah zur Tür. Fast erwartete ich, das Klopfen meiner Mutter zu hören und dann ihr atemloses: »Oh nein, komm ich wieder mal zu spät?« Immer mit der Ruhe, Vivi, sagte ich mir. Vergiss nicht, wir sind in Istanbul. In dieser Stadt isst man nicht vor neun Uhr zu Abend. 26
Ich schloss meinen Koffer auf. Dann, zu müde, um nach der richtigen Kleidung zu suchen, zog ich lediglich meine NotfallJeans aus dem Rucksack und ein frisches T-Shirt. »Habt ihr, du und meine Mutter, ein Lieblingslokal?«, fragte ich. Shari zuckte mit den Schultern. »Wir treffen uns immer im Kosem Bistro, unten am Bosporus.« »Wir?« »Dr. Davis und einige ihrer Studenten und Kollegen. Die anderen können es kaum erwarten, zu ihrem Wein und Bier zu kommen und zu diskutieren. Deine Mutter und ich, wir bummeln immer am Wasser entlang und kommen erholt zum Essen.« »Gut.« Ich seufzte. »Ich könnte jetzt auch einen Spaziergang gebrauchen.« Shari schüttelte den Kopf. »Seit Dr. Davis fort ist, esse ich hier auf meinem Zimmer. Wenn sie zum Abendessen nicht zurück ist, werden wir beide das auch tun.« Iih! Hotelessen? Im Zimmer? Ich ging vom Bett zum Balkon und wieder zurück und fühlte mich bereits wie im Gefängnis. »Lass uns ein wenig frische Luft schnappen«, schlug ich vor. »Wir könnten doch zu diesem Restaurant laufen und uns unterwegs als Vorspeise ein paar yaprak dolması kaufen.« Mir lief das Wasser im Mund zusammen beim Gedanken an die leckeren, mit Reis und Kräutern gefüllten Weinblätter. Ich ging zur Tür. Shari wurde blass. »Nein! Wir müssen auf deine Mutter warten.« »Kein Problem. Wir hinterlassen beim Portier eine Nachricht für sie. Dann kann sie nachkommen ins Lokal.« Ich runzelte die Stirn. »Das heißt, wenn sie nicht zu müde ist nach der anstrengenden Fahrt.« Ich fasste den Türgriff. »Gehen wir!« Shari umklammerte meine Hand wie ein Schraubstock. Sie schob mich fort und stellte sich vor mich. Den Mund entschlossen zusammengekniffen, versperrte sie mir den Zugang zur Tür. Oh Gott, ich war eine Gefangene!
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Ich stieß mein Knie in Sharis Bauch. »Aaaau«, schrie sie und zog mich an den Haaren. Als ich mir mit den Händen an den Kopf fuhr, drückte sie mich zu Boden. Sie setzte sich rittlings auf meine Beine und hielt meine Arme nach unten. »Gib auf!«, forderte sie. Hatte ich eine Wahl? Meine Lippen zitterten und ich kämpfte dagegen an. »Okay, du hast mich«, stieß ich hervor. »Dann sag mir jetzt wenigstens: Wo ist meine Mutter? Wer ist dieser Kerl mit der Schriftrolle? Du hast das alles erfunden, nicht wahr? Warum?« Ein Schlag ließ meinen Mund brennen. »Sei still!« Dann unterbrach das schrille Klingeln des Telefons unsere Rangelei. Shari beugte sich über mich und nahm den Hörer ab. »Inshallah, wenn Gott will, ist das endlich deine Mutter! Hallo?« Shari hob warnend einen Finger und drückte mir den Hörer in die Hand. »Vivi«, hörte ich meinen Vater sagen. »Du bist gut angekommen! Gott sei Dank! Ich hatte es schon einmal versucht, aber…« »Dad? Bist du’s?« »Natürlich bin ich das. Leidest du noch unter dem Jetlag? Wach auf, Vivi, ein Ferngespräch von Rom kostet ein Vermögen. Die Reise zu der alten Synagoge in Ostia war schon teuer genug.« »Aber Dad…« »Die Bima ist immer noch dort. Stell dir mal vor! Und wenn wir schon von Synagogen sprechen, geh am Schabbat zu Neve Schalom. Vor einigen Jahren hat man dort zwanzig Juden beim Gebet erschossen. Man sieht immer noch die Kugellöcher in der Tür, heißt es. Deine Mutter wird das sicher auch sehen wollen.« »Aber Mom…« »Keine Sorge. Es sind jetzt Wachen dort. Und sag ihr, dass wir uns dann bei der Hochzeit sehen.« »Hochzeit?« 28
»Marcs und Rositas. Am ersten August. In Jerusalem. Hat sie es dir nicht erzählt?« Ich blickte zu Shari. »Dad, Mom ist nicht hier. Sie…« »Arbeitet sich wieder mal zu Tode, was?« Zu Tode? Ich schauderte. Sharis Augen wurden schmal. Ich sollte es ihm lieber schnell erzählen, bevor ich selbst sterben musste. »Hör mal, Dad, Mom ist bei…« »… einem Treffen?« Ich umklammerte den Hörer. »Ja, mit…« »So sprich doch, Vivi. Das hier kostet Geld.« Ich stellte mir meinen Vater vor, wie er auf die große goldene Taschenuhr blickte, die meinem Großvater gehört hatte, und die Dollar zusammenrechnete. Natürlich fragte er nach meiner Mutter. Er liebte sie bestimmt immer noch. Armer Dad. »Mit wem, Vivi?« Wie sollte ich es ihm sagen? »Mit… äh… einer KaifengSchriftrolle.« »Einer Kaifeng-Schriftrolle? Lieber Himmel, Vivi! Es gibt eine in Istanbul?« »Nein, in Kappadokien.« Shari merkte auf. Aber ich musste die Gelegenheit wahrnehmen. »Dad? Was ist Kaifeng?« »Nicht was. Wo. Ein Ort in China. Der Sitz einer alten jüdischen Gemeinschaft. Die Kaifengjuden waren wirklich etwas ganz Besonderes. Sie verließen Jerusalem unter der Regierung von Antiochos IV. Wussten nicht einmal etwas vom Aufstand der Makkabäer. Haben niemals Chanukka gefeiert. Ich schreibe dir Näheres. Grüß deine Mutter von mir. Ich muss jetzt Schluss machen.« »Nein, warte! Hör mal, Dad. Ich weiß noch nicht, wann ich Mom sehe.« Lieber Gott, würde er begreifen? Dads Stimme wurde lauter. »Du hast deine Mutter noch nicht gesehen? Du bist allein vom Flughafen ins Hotel gefahren?« Er hatte mich verstanden. Gott sei Dank. Ich sah zu Shari und zwang mich zu einem falschen Lächeln. »Nein, mit einem Mädchen, Dad. Sie ist meine Zimmergenossin hier. Eine Studentin von Mom aus Jerusalem.« Ich holte tief Luft. Es war 29
meine einzige Chance. »Aus…« Aber das Wort »OstJerusalem« brachte ich nicht mehr heraus. »Ein israelisches Mädchen?«, unterbrach mich Dad. »Gottes Wege sind wunderbar. Es war sein Wille, dass du diesen Sommer dein Hebräisch verbessern sollst. Schalom, Ahuva. Ich schick dir eine Ansichtskarte.« Die Verbindung brach ab und ich ließ die Hand sinken. Shari nahm den Hörer und legte ihn auf die Gabel zurück. »So, die Stimme deines Vaters hat dich beruhigt. Und jetzt, da du wieder bei Vernunft bist, werden wir reden. Nicht einmal Dr. Davis zuliebe kann ich dich beschützen, wenn du dich wie eine Wilde aufführst.« Ich stieß sie gegen die Brust. »Du willst mich beschützen? Ha!« Sie lehnte sich stärker auf mich. »Still, Tiger! Hör dir an, was deine Mutter mir gesagt hat: ›Niemand, Shari, niemand darf wissen, dass Vivi meine Tochter ist. Wenn mir irgendetwas passiert, wenn irgendjemand versucht ihr etwas zu tun, beschütze sie.‹« Ich starrte sie an, überzeugt, dass sie log. Shari stand auf und beugte sich über mich, einen Fuß noch auf meinem Bauch. »Du wirst tun, was ich sage, damit dir nichts passiert.« Sie nahm meine Hand und zog mich hoch. »Allah-u akbar, Allah ist groß.« Aber Gott hilft jenen, die sich selbst helfen, dachte ich. Durch das Fenster sah ich, dass der Himmel sich verdunkelt hatte. Von einem Dock am Bosporus ganz in der Nähe kam das düstere Signal einer Fähre. Konnte ich entkommen, an Bord springen? Nein. Selbst wenn eine Flucht möglich wäre, wie könnte ich jetzt fortgehen? Ich musste meine Mutter finden, die Polizei um Hilfe bitten und dieses Mädchen einsperren lassen. Aber welchen Beweis hatte ich gegen sie? Wenn Mom nun wirklich in Kappadokien war? Und wenn sie, Gott behüte, wirklich eine Affäre hatte? Ihre ganze Karrierre konnte durch einen Skandal ruiniert werden. Nein. Wenn irgendjemand meine Mutter fand, musste ich es sein, und Shari war die einzige Verbindung zu ihr. Arbeitete sie allein? Wahrscheinlich nicht. Aber wer waren ihre Komplizen? Die Leute im Kosem Bistro? 30
Ich hielt meinen Bauch, als ob ich Schmerzen hätte. »Ach, Mom, ich bin so hungrig«, stöhnte ich. »Es ist fast Abend und ich habe seit heute Morgen nichts mehr gegessen. Du weißt, dass mich Hotelessen krank macht. Warum lässt deine Studentin mich verhungern?« Shari studierte mein Gesicht. Sie schloss die Augen und rieb sich über die Stirn. »Allah, oh Allah, warum hast du mich zur Beschützerin dieser Wilden gemacht? Wie können wir am Abend ausgehen, zwei junge Frauen ohne Beschützer?« Ihre Augen öffneten sich langsam wieder. Ich schwankte, als ob ich gleich ohnmächtig würde. »Wir gehen nachher ins Kosem Bistro«, sagte Shari und verschränkte die Arme. »Aber nur unter einer Bedingung.«
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Gelächter drang durch die warme Nachtluft. Rücksichtslos schiebende Männer ohne Jackett und Frauen in bunten Miniröcken drängten sich unter den Laternen auf der breiten Straße am Ufer des Bosporus. War es nur vier Jahre her, dass Mom und ich hier ebenfalls lachend zusammen spazieren gegangen waren? Als ich die Straßenverkäufer betrachtete, die ihre mit frischem Obst gefüllten Karren vor sich herschoben, fiel mir der Pfirsich ein, den Mom mir damals gekauft hatte, so groß und saftig wie eine Grapefruit. Aus einem Straßencafé drang türkische Rockmusik. Ich starrte auf ein Plakat, das die Bauchtänzerinnen im Lokal freizügig anpries. Shari zog mich zur Ufermauer, ihr Blick war auf die Spalten im Pflaster gerichtet. »Nun komm schon«, befahl sie. Ich machte einen größeren Schritt und stolperte. »Trödle nicht.« Ich kämpfte um mein Gleichgewicht zu bewahren, schaffte es jedoch nicht und fiel hin. »Trödeln?« Ich schlug empört mit der Hand auf das staubige Pflaster. »Wer trödelt hier? Mein Absatz hat sich im Saum dieses blöden Tschadors verfangen.« Ich wackelte mit dem Schuh. Shari beugte sich über mich. »Zieh ihn aus.« Das war die beste Idee, die sie bisher gehabt hatte. Ich fasste den Tschador und zog. »Nicht den Tschador! Deinen Schuh!«, flüsterte sie durch den schweren Stoff, der ihr Gesicht bis auf die Augen verdeckte. Ich machte meinen Fuß los, stand unbeholfen auf und stolperte weiter. Shari verlangsamte ihren Schritt um neben mir zu bleiben. Einen halben Kilometer weiter hielten wir bei einem niedrigen Gittertor an. Im Garten dahinter legten Kellner blütenweiße Stoffservietten und Besteck aus schimmerndem Silber auf runde Tische. Shari fasste meinen Schleier zusammen mit einem Stück meines Ohres. »Vergiss nicht, du bist Yasmin Yaldani. Niemand 32
darf wissen, dass du Dr. Davis’ Tochter bist. Benimm dich wie eine Muslima und sie werden keinen Verdacht schöpfen.« Ausnahmsweise einmal stimmte ihr Plan mit meinem überein. Weshalb sollte ich ihren Freunden mehr vertrauen als ihr? Sie winkte. Niemand reagierte. »Ich bins, Shari«, rief sie. Eine große, magere Rothaarige kam auf uns zu. »Shari? Was machst du denn in diesem gespenstischen Ding? Wir haben doch nicht Halloween.« Der Akzent klang nach Boston. Shari seufzte. »Nein, Vanessa, ich weiß. Das ist ein Tschador. Ich habe meinem Vater versprochen, ihn zu tragen, wenn Dr. Davis nicht bei mir ist. Zum Schutz.« »He, nicht schlecht.« Vanessa lachte, ihre sonnengebleichten Augenbrauen kräuselten sich. »Das ist besser als Reizgas. Niemand wird ein Mädchen überfallen, das so verhüllt ist. Vielleicht sollten wir diese Dinger in die Staaten importieren.« »Nein, danke«, sagte ich. Vanessa drehte sich zu mir. »Ah, eine weitere Erscheinung. Wer steckt denn unter diesem Grabtuch hier?« »Das ist Yasmin Yaldani.« Shari blinzelte. »Meine Cousine aus den Staaten. Sie ist heute angekommen.« »Großartig, eine Landsmännin.« Vanessa nahm meinen Arm. »Ich komme aus Boston. Und du?« »Sie ist aus Cleveland«, sagte Shari schnell. »Komm, wir sind am Verhungern. Gehen wir zu den anderen, damit wir essen können.« Cleveland? Kein Wunder, dass ihre Lehrer von ihr begeistert waren. Jedenfalls kannte sie sich mit Akzenten aus. In Cleveland und Buffalo spricht man so ähnlich, dass nur ein Profi wie Mom einen Unterschied entdecken könnte. »Aber ich gehe in Buffalo zur Schule«, sagte ich, während wir uns dem Tisch näherten. Wer weiß, vielleicht gab es hier noch mehr Sprachexperten. »Buffalo?«, sagte eine sanfte Stimme. »Du warst schon dort, Li Chen?« In Sharis Stimme schwang ein Hauch Furcht mit. Der junge Mann schüttelte den Kopf und schob sich eine Strähne seines schwarzen Haars aus der Stirn. »Aber Dr. Davis kommt doch von dort, oder?« 33
Ich zuckte mit den Schultern. »Wer ist das?« »Lieber Himmel, Mädchen! Du hast noch nie von Miriam Markham Davis gehört?« Ein großer, älterer Mann mit rötlichem Gesicht starrte mich an. Ein Kanadier, ein echter Kanadier. Wie sein Akzent mich an Mike erinnerte! Das Gesicht des Mannes wäre wahrscheinlich noch röter geworden, wenn er mein Lächeln unter dem Schleier gesehen hätte. »Und du willst Linguistin sein?«, fügte er hinzu. Shari schob mich auf einen Stuhl. »Oh nein, Lawrence! Meine Cousine ist ja erst auf der High School, praktisch noch ein Kind.« Ich biss die Zähne unter dem Schleier zusammen. »Sie will Sprachen studieren?«, fragte eine blonde junge Frau. »Nein.« Shari seufzte. »Bedauerlicherweise ist sie nicht besonders klug. Sie wird kaum ein Stipendium für eine Universität erhalten wie du und ich, Ursula.« »Ganz sicher nicht Dr. Davis’ Kragenweite, was?«, sagte ein Mann mit dunkler Hautfarbe. »Was ist überhaupt so gut an Miriam Davis?«, warf Ursula ein. »Professor von Rosenberg in Berlin ist viel mehr gut.« Meine Schultern versteiften sich. Ich öffnete den Mund um etwas zu sagen, aber auf einen warnenden Blick von Shari hin schloss ich ihn wieder. »Na, dann sag mal«, meinte Vanessa, »wenn von Rosenberg so toll ist, wie kommt es dann, dass seine Studenten mehr gut statt besser sagen?« Ursula starrte sie ärgerlich an. »Du hast kein Recht, dich über einen anerkannten deutschen Professor lustig zu machen.« »Ich bin Amerikanerin, hast du das vergessen?« Vanessa warf ihre lange rote Mähne über die Schulter. »Da gibt es die Redefreiheit. Ich kann sagen, was ich will!« Li Chen seufzte. »Redefreiheit? In meinem Land sterben Menschen dafür. Aber was hat diese Freiheit für einen Sinn, wenn sie benutzt wird, um sich gegenseitig zu verletzen?« »Gut gesagt, Chen!« Mit einer ausladenden Handbewegung verbeugte sich der Afrikaner vor Shari und mir. Er hatte einen ausgeprägten britischen Akzent. »Die beiden hier sind praktisch gerade erst aus den Windeln. Dr. Davis würde sicher nicht wollen, dass wir ihnen jetzt schon alle Illusionen rauben, oder?« 34
Ursula zuckte mit den Schultern. »Wie du meinst, Ken.« Sie blickte zu Shari. »Und wenn wir schon von der großen Professorin sprechen, wo ist sie denn? In den Ruinen ihres geliebten Kappadokien?« Der Schleier verbarg, dass ich nach Luft schnappte. Ich blickte zu Shari. Wenn sie nur mir erzählt hatte, wo Mom war, woher wusste es Ursula dann? »Miriam liebt die alten Felsenkirchen in Göreme«, sagte Lawrence. Er schob Ursula eine Speisekarte zu. »Wolltest du nicht gerade bestellen, meine Liebe?« Er winkte einem Kellner und studierte dann mit gerunzelter Stirn seine eigene Karte. Shari senkte ihren Gesichtsschleier und griff nach einem Glas Wasser. Ich nahm meinen eigenen Schleier ab und schaute zuerst sie und dann das Mädchen aus Deutschland an. Oh Gott, dachte ich dann, was habe ich gemacht? Ich bedeckte meinen Mund mit der Serviette und hoffte, dass niemandem meine Ähnlichkeit mit Mom auffallen würde.
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Ich hielt den Atem an und spähte zu den anderen. Sie schienen mehr mit der Auswahl des Essens beschäftigt als mit mir. Dann blickte ich zum Kellner. »Ich nehme yaprak dol…« »Meine Cousine und ich nehmen bahk«, sagte Shari. »Und als Vorspeise imam bayıldı, bitte.« Ich biss die Zähne zusammen. Es konnte kein Schweinefleisch sein. Muslime essen auch kein Schwein. Aber was hatte sie bestellt? Ein anderes schreckliches, unkoscheres Essen? Wenn ich nur mehr Türkisch könnte. »Nicht für mich!«, sagte ich schnell, aber der Kellner hatte sich bereits entfernt. Auf sein Fingerschnippen hin kam ein junger Mann zu uns, der ein riesiges rundes Tablett mit rohem Fisch balancierte. Ursula lachte. »Hast du immer noch Angst Fleisch zu bestellen, Sharazad? Denkst du, sie könnten ein klein wenig Schweinefleisch hineinschmuggeln und so deine Chancen ruinieren, ins Paradies zu kommen?« Shari warf ihr einen kühlen Blick zu und deutete dann auf eine große Forelle. »Der alabalık sieht gut aus.« »Eine gute Wahl. Und ganz frisch.« Der Kellner wies auf den Jungen mit dem Fisch. »Mustafa hat ihn selbst gefangen. Aber zuerst etwas Hummus für Sie, wie immer, ja?« Hummus! Mir lief das Wasser im Mund zusammen. Das war fast so gut wie gefüllte Weinblätter, fast. Also, warum sagte meine »Cousine« nicht ja? Warum saß sie da und starrte den Jungen an? Er sah ganz nett aus, aber nicht so gut, dass man für ihn hätte hungers sterben müssen. Ich stieß sie unter dem Tisch an. Sie fuhr zusammen und wurde rot. »Hummus? Natürlich!« Ihre Hand zitterte, als der Kellner ihre Speisekarte nahm. Ich schluckte den letzten Krümel baklava hinunter und schob den Teller weg. Hatte ich wirklich vorher noch die Hälfte der Forelle verdrückt? Ich blickte auf den leeren Teller, auf dem sich das imam bayıldı befunden hatte. 36
»Die Auberginen haben dir geschmeckt, was?«, sagte Lawrence. »Imam bayıldı bedeutet so was wie ›der Priester fiel in Ohnmacht.‹« »Weil es so gut war?«, fragte ich. Lawrence zuckte mit den Schultern. »Wer weiß? Vielleicht wegen des Preises.« Wenn Dad gesehen hätte, wie rasch ich alles verzehrte, wäre auch der Rabbi in Ohnmacht gefallen. Dad! Wenn er nur hier wäre und mir helfen könnte, Mom zu finden! Ich sah auf meine Uhr. Mitternacht war schon seit einer halben Stunde vorbei und Mom war immer noch nicht da. Hatte sie die Nachricht erhalten, die ich für sie hinterlassen hatte? Vielleicht war sie zurück und nur zu müde um noch essen zu gehen. Vielleicht… »Zeit zu gehen!« Shari stand auf. Sie legte Geld auf den Tisch, zog ihren Gesichtsschleier nach oben und bedeutete mir, mit meinem das Gleiche zu tun. »Gute Nacht, Lawrence. Gute Nacht, Ken. Gute Nacht, Li Chen. Gute Nacht, Vanessa.« Sie blickte zu dem deutschen Mädchen. »Gute Nacht, Ursula«, sagte sie mit eisiger Stimme. »Ich wünsche euch schöne Träume.« Ich hob die Hand und winkte allen zu, froh, endlich wieder ich selbst sein zu können. Musik vom Klub nebenan klang uns noch ein ganzes Stück die hell erleuchtete Straße hinunter nach. Shari blickte hinter sich und fasste meinen Arm. »Komm, schnell. Hier entlang!«, flüsterte sie. Wir bogen von der Hauptstraße mit den Cafés in eine dahinter liegende Allee ab. Jemand trat aus einem Haus, stellte einen Müllsack hinaus und ging wieder ins Haus zurück, wobei er die Tür angelehnt ließ. Ich rümpfte die Nase. »Igitt. Wohin schleppst du mich denn?« In dem schmalen Lichtband der offenen Tür sah Sharis Gesicht blass aus. »Scht! Eine Abkürzung.« Ein Topf schepperte. Ein Geschirrspüler röhrte. Küchengeräusche drangen in die Dunkelheit. Dann hörte ich ein anderes Geräusch, das Scharren von Schuhen auf dem Gehsteig aus Tonziegeln. Oh nein! Anscheinend sollte ich die Tontaube sein! Da sah ich die schmale Passage zwischen zwei Gebäuden. 37
»Ich will hier weg!« Ich wollte loslaufen, aber Shari fasste mein Haar. »Autsch!« Ich machte mich aus ihrem Griff frei und steuerte auf die Hauptstraße zu. Lichter, Menschen und Musik bedeuteten Sicherheit. Ich sah das Reklameschild mit den Bauchtänzerinnen und stürmte mit Shari auf den Fersen zur Tür, ins flackernde grelle Licht des lauten Cafés. Als ich drin war, sah ich mich verzweifelt um, wie ein gehetztes Kaninchen. Da entdeckte ich das Zeichen: Kadinlar Tuvaleti. Ich lief in die Damentoilette und wollte die Tür hinter mir zuschlagen, aber Shari hatte ihren Fuß in den Spalt geschoben. Ich schwang herum und drückte ihre Arme an die Wand. »Okay, Sharazad, wer ist dein Freund? Warum folgt er uns?« Sie starrte mich an, ihre Lippen aufeinander gepresst. Ich schüttelte sie heftig. »Was versucht ihr beiden hier abzuziehen?« »Abzuziehen?« »Ja, abzuziehen!«, schrie ich sie an. Es war hoffnungslos. Oder doch nicht? Abziehen! Meine Hand fuhr nach oben zu meinem Gesicht. Ich riss mir den Schleier ab, packte meinen Tschador und zog ihn über die Jeans und das T-Shirt. Jetzt würde man mich nicht mehr erkennen. Ich ging zur Tür. »Warte, Vivi!« Ich konnte Sharis Gesicht nicht sehen, als sie an ihrem Tschador zog. »Vater, vergib mir.« Ihr Kopf tauchte aus den elfenbeinfarbigen Falten des Tschadors auf. »Ich glaube nicht, dass uns jemand gefolgt ist, aber wenn du doch Recht hast, folgt er zwei arabischen Frauen.« Sie eilte zum Spiegel, zupfte an ihrem Zopf und sah mit zusammengekniffenen Augen auf ihr Spiegelbild, als sie mit den Fingern durch ihr dunkles Haar fuhr. »Niemand wird uns jetzt noch für die beiden von vorhin halten.« Als ich auf die verwandelte Shari starrte, hakte sie sich bei mir ein. »Wir gehen jetzt zusammen zurück wie zwei amerikanische Freundinnen, ja?«
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Ein kleines gelbes Papier steckte in unserem Fach. Eine Nachricht! Sie musste von Mom sein. Ich deutete darauf und bat um unseren Schlüssel. »Haben die Damen gut gegessen?« Der Mann an der Rezeption hielt uns die Nachricht hin und ich griff danach, aber Shari war schneller und riss sie ihm aus der Hand. »Danke«, sagte sie, den Blick auf das Papier gerichtet. Ihre Schultern sanken, als sie mir das Fax reichte. Vivi. Bin bei der Grabung am Klondike. Hab dich leider nicht erreicht. Rufe später noch einmal an. Alles Liebe, Mike. Später? War das heute Nacht noch? Morgen? Wann? Warum war er nicht in Toronto, wo ich ihn erreichen konnte? Warum war niemand dort, wo er sein sollte? Ich spürte Tränen auf meinen Wangen, dann eine Hand auf meiner Schulter. »Weine nicht, Vivi. Sie wird schon kommen«, sagte Shari. »Allah-u akbar.« Sie nahm meine Hand und führte mich zum Aufzug. War es möglich, dass sie auf meiner Seite stand? Wenn ich das nur wüsste. Heute Abend musste ich es darauf ankommen lassen. Ich ging ins Badezimmer und putzte mir die Zähne, dann öffnete ich meinen Koffer um ein Nachthemd herauszuholen. Hatte ich Recht oder war ich nur paranoid? Hatte ich nicht erst meine Shorts hineingelegt und dann meine T-Shirts? Den Badeanzug hatte ich ganz zum Schluss obenauf gelegt. Und was hatte meine Bibel im Seitenfach zu suchen? Ich steckte sie immer ins Innenfach. Ich hatte den Koffer heute Abend geöffnet, um frische Kleidung herauszuholen, und dann meine Meinung geändert. Hatte ich ihn unverschlossen gelassen? Ich öffnete meine Bibel bei der Widmung. Wenn ich nicht für mich einstehe, wer wird es für mich tun? Wenn ich nicht für andere einstehe, was bin ich dann? Wenn nicht jetzt, wann dann? Als Nächstes las ich: Was könnte ich den Worten Hillels noch hinzufügen? In Liebe, Dad.
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Ich legte das Buch wieder zurück. Das war nicht meine Bibel. Da war ich mir ganz sicher. Auch wenn die Druckbuchstaben fast genauso aussahen – in meiner Widmung gab es kein Komma zwischen den Worten In Liebe und Dad. Mein Vater kümmerte sich nicht um solche Kleinigkeiten. Er hatte die Bibel nicht einmal als Geschenk eingepackt, als er sie mir damals mitgebracht hatte. »Ein Geschenk aus Jerusalem«, hatte er gesagt. Ich blickte zu Shari, die bereits ihr Nachthemd trug und ihr langes dunkles Haar in Zöpfe flocht. Sie musste die Bibeln ausgetauscht haben. Wer sonst konnte es gewesen sein? Aber welchen Grund sollte sie dafür haben? Weshalb auch immer, ich durfte sie nicht wissen lassen, dass ich ihr auf die Schliche gekommen war. Mach es wie in Hollywood, Vivi, sagte ich mir. Tu so, als ob du die Hauptrolle in einem Film hättest. Shari rollte den Gebetsteppich aus. »Was für ein schöner Teppich«, sagte ich. »Bestimmt ist er handgeknüpft.« Sie lächelte. »Natürlich. Weißt du nicht, woran man das erkennt?« Ich schüttelte den Kopf. »Komm her. Sieh ihn dir genau an. Sag mir, was du siehst.« Ich betrachtete den Teppich und bewunderte das komplizierte Muster. »Nun?« »Die Farben sind wunderschön«, sagte ich. Shari seufzte. »Es sind ineinander verschlungene Rautenmuster und dann noch eine Art Schlangenmuster«, versuchte ich es noch einmal. »Ah. Du siehst also ein Muster?« Ich nickte. »Aber was ist damit? Sieh es dir genau an.« Ich kniete mich neben den Teppich, betrachtete ihn eingehend und setzte mich dann auf meine Fersen. »Ich gebe auf.« »Geben? Ich habe um nichts gebeten.«
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Ich warf die Hände in die Luft. »Wenn ich sage: ›Ich gebe auf‹, bedeutete das nicht, dass ich dir etwas gebe! Es bedeutet, ich weiß nicht weiter.« Shari schüttelte den Kopf. »Englisch ist eine sehr eigenartige Sprache.« Sie kniete sich neben mich. »Sieh mal hierher! An diesem Ende ist das Muster vollkommen, ja?« Ich nickte. »Aber an diesem Ende gibt es einen Fehler.« Ich beugte mich über den Teppich. Eines der Schlangenmuster war andersherum. »Na ja«, sagte ich, »wir sind alle nur Menschen. Es ist trotzdem ein schöner Teppich. Vielleicht hatte der Teppichknüpfer einen schlechten Tag.« »Einen schlechten Tag?« Shari legte den Kopf in den Nacken und lachte. »Weißt du nicht, dass ein guter Knüpfer das mit Absicht macht?« »Mit Absicht? Aber warum denn?« »Nur Allah macht Dinge vollkommen. Ein fehlerloses Muster zu knüpfen heißt Ihn vielleicht zu beleidigen. Also macht man absichtlich einen Fehler. So kannst du die handgeknüpften von den maschinengewebten Teppichen unterscheiden.« Einen Fehler! Natürlich! Hatte ich nicht daran erkannt, dass es nicht meine Bibel war? Dad hatte einen Kommafehler gemacht, einen Fehler, den der Dieb nicht nachgeahmt hatte. Aber warum nicht? Wende das Pilpul an, Vivi, sagte ich mir. Diese alte Tora-Logik hat dir schon einmal geholfen. Doch es war schwer sich zu konzentrieren, während Shari sprach. »Ich gebe auf. Gebe auf«, wiederholte sie. »Wie kann das bedeuten, ich weiß nicht weiter? Habe ich nicht gelernt, geben bedeutet etwas verschenken? Englisch ist eine sehr eigenartige Sprache.« Ich starrte sie an. Das war es! Wenn man eine Fremdsprache lernte, prägte man sich die Regeln ein und wendete sie möglichst immer an, sogar bei der Kommasetzung. Wer immer meine Bibel ausgetauscht hatte, dessen Muttersprache war vermutlich nicht Englisch. Es musste Shari sein. Es sei denn… es war einer ihrer Freunde. Für Vanessa, Ken und Lawrence war Englisch die Muttersprache, aber für Chen und Ursula war es eine Fremdsprache. Ich fragte mich, ob sie meine Bibel gestohlen hatten, dann ver41
warf ich diesen Gedanken wieder. Wie hätten sie in das Zimmer kommen sollen? Nein, es konnte nur Shari gewesen sein. Und doch sah Shari nicht wie eine Verdächtige aus, als sie sich neben den Gebetsteppich stellte, jetzt in der korrekten Richtung, und sich zum Gebet rhythmisch verneigte. Wie eigenartig, dachte ich. Sie verneigt sich genau wie ich es bei bestimmten Gebeten tue, wenn ich Gottes Namen sage. Ich muss mehr beten als je zuvor, um Gott näher zu kommen, nahm ich mir vor. Ich fasste den Türgriff zum Balkon und drehte ihn, und eine Gänsehaut fuhr mir über den Rücken. Das Schloss war nicht eingeschnappt.
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Der Schlaf wollte sich nicht einstellen. Jeder hätte die Feuerleiter zum Balkon hochsteigen können. Jeder hätte unser Zimmer betreten können. Wenn Shari meine Bibel nicht gestohlen hatte, hatte sie die Tür für den Dieb unverschlossen gelassen? Und wo war nur meine Mutter? Tot? Krank? Lag sie verletzt in irgendeinem Straßengraben? Oder kuschelte sie sich in die Arme eines fremden Mannes? Für einen Moment wünschte ich fast, es wäre das Letztere. Aber das konnte nicht sein. Warum hätte dann jemand meine Bibel stehlen und eine andere in meinen Koffer legen sollen? Ich kämpfte mit dem Kissen, mit der Zudecke, mit den Fragen und fiel schließlich in einen Schlaf voller Alpträume. Ich stand auf einer Eisscholle und streckte die Arme aus – erst nach Mom, dann nach Dad, dann nach Mike. Meine Hände waren taub vor Kälte. Ich hörte ein Geräusch wie von aufplatzendem Popcorn, das zu Donnergrollen wurde. Eisspalten taten sich überall um mich herum auf. Tosendes Wasser drang hindurch. Das Eisfloß brach in zwei, dann in drei, dann in vier Teile. Meine Mutter befand sich im Wasser, ihre Arme ruderten wie wild, sie schrie etwas von einer Schriftrolle. Worum ging es? Warum konnte ich sie nicht verstehen? Ich versuchte ins Wasser zu springen und sie zu retten, aber meine Beine bewegten sich einfach nicht. »Wiedersehen, Ahuva«, rief mein Vater und winkte mir zu, als seine Scholle vorbeischwamm. »Lern gut Hebräisch. Ich schicke dir eine Ansichtskarte.« Ich rief nach Mike. »Alaska ist toll, Vivi. Voller cooler Artefakte«, rief er über den Abgrund hinweg. Er deutete auf ein verbeultes, rostiges Werkzeug. »Sieh dir diese alte Spitzhacke aus dem Goldrausch an. Kannst du dir vorstellen, dass man sich mit diesem Ding Nuggets geholt hat?« Er schwang sie über seinem Kopf, während seine Eisscholle davongetragen wurde. »Kommt zurück, kommt zurück, alle zusammen!«, rief ich, aber Dad und Mike wurden kleiner und kleiner. Ich blickte auf 43
die Stelle, wo Mom gewesen war, aber alles, was ich sah, war Eis und Wasser. Dann schaute ich nach unten. Oh nein! Meine eigene Eisscholle war zu einem winzigen Würfel zusammengeschmolzen. Kurz bevor sie völlig verschwand, zwang ich mich aufzuwachen. Ich blickte zu Sharis Bett, aber sie lag nicht darin. Vom Balkon her hörte ich Stimmen – Geflüster in einer fremden Sprache. Türkisch? Nein. Ich rieb mir den Schlaf aus den Augen. Es klang mehr wie Hebräisch. Arabisch! Natürlich! Gott sei Dank hatte Mom mich dazu gebracht es zu lernen. Ich bemühte mich, Sharis ärgerliches Flüstern zu verstehen. »Was tust du hier? Warum folgst du mir? Wir dachten alle…« »Dass ich im Libanon sei, zusammen mit den anderen Gefangenen, die sie ins Exil geschickt haben? Nein, Schwester, die Israelis werden Mahmud Bashadi niemals bekommen. Übrigens heiße ich hier Mustafa. Heute haben sie mich zum ersten Mal in den Garten an deinen Tisch gelassen. Bisher habe ich nur drin im Restaurant gearbeitet. Ich bin hier, seit du angekommen bist. Ich kam, um dich zu beschützen.« »Vielen Dank, aber ich brauche deinen Schutz nicht.« »Nein? Aber deine jüdische Mentorin ist fort, oder nicht?« Ich hörte, wie Shari scharf die Luft einsog, dann kam eine Pause, und schließlich Sharis Stimme. »Also hast du mit ihrem Verschwinden zu tun. Aber warum? Warum?« Moms Entführer? Ich fasste ein Stück meiner Zudecke und hielt sie mir an den Mund. »Das Warum verstehst du nicht, Sharazad. Du bist schließlich eine Frau.« »Dann kämpfst du also immer noch den Jihad, den heiligen Krieg? In Allahs Namen, wann wird das Töten endlich aufhören?« »In Allahs Namen kämpfe ich gegen jene, die unser Land gestohlen haben.« »In Allahs Namen, nein! Die Israelis sprechen jetzt vom Frieden und geben uns Land zurück. Aber du bestehst darauf, dass es das ganze Land sein soll. Wann wirst du endlich begreifen? Wurde nicht unser eigener Vater fast von euch Fanatikern getötet? Und wofür? Weil er Verhandlungen dem Krieg vorzieht.« 44
»Ich hoffe, dass Vater sich inzwischen erholt hat.« »Deinetwegen ist er krank vor Kummer.« »Aber hatte ich nicht versucht ihn zu warnen? Frieden nur für einen Teil unseres Landes kann es nicht geben. Unser Vater ist ein eigensinniger Mann. Er wählt einen gefährlichen Weg, wenn er mit den Israelis spricht. Der Koran sagt uns: Kämpft gegen jene, denen das Buch zugekommen ist, die weder an Allah noch an den letzten Tag glauben.« »Es sieht dir ähnlich, lieber Mahmud, nur das aus dem Koran zu zitieren, was mit deinem Willen übereinstimmt. Sagt das heilige Buch nicht auch: Kämpfe um Allahs Willen gegen jene, die dich angreifen, aber greife nicht zuerst an. Allah liebt die Friedfertigen.« »Jene, die mein Land rauben, greifen mich an, meine Schwester. Ich werde sie bis zu meinem Tode bekämpfen.« »Lieber Bruder, sei doch vernünftig. Du bist erst achtzehn – zu jung um zu sterben. Überlass den Streit um das Land den Staatsmännern.« »Staatsmänner? Ich spucke auf sie und ihr weibisches Gezänk. Was weißt du von Ruhm und Ehre? Du, ein Mädchen? Ich habe keine Angst. Wer für Allahs Land kämpft, erreicht das Paradies.« »Aber Dr. Davis ist Amerikanerin. Sie hat unser Land nicht genommen. Sie hat gar nichts genommen. Was wollt ihr von ihr?« »Sie ist Jüdin und liebt Israel – eine Zionistin. Sie ist unsere Feindin.« »Unsinn. Du bist mein Zwillingsbruder, Mahmud. Wir teilten den Bauch unserer Mutter. Ich kenne dich allzu gut. Welche Belohnung erwartet ihr? Was soll ihr Lösegeld sein?« »Ihr Lösegeld?« Mahmud lachte und ich schauderte. »Deine Professorin ist nicht halb so viel wert wie der Schatz, auf den wir gestoßen sind. Für einen solchen Fund werden die Israelis Omar Kahleej austauschen, unseren großen Anführer, der in ihrem Gefängnis schmachtet. Sie haben viele Gefangene frei gelassen seit dem jämmerlichen Friedensabkommen, aber ihn gehen zu lassen weigern sie sich.« 45
»Erwartest du, dass sie Mörder frei lassen? Omar Kahleej hat eine Mutter und zwei kleine Kinder vor einem Laden getötet.« »Allah weiß, es geschah in seinem Namen. Hilft er uns nicht jetzt, Omar frei zu bekommen?« »Allah hilft euch, das zu tun?« »Ja, liebe Schwester. Während ich dich beschützte, hat Allah mich zu einem Schatz geführt – einer echten KaifengSchriftrolle. Zumindest ließ man uns das glauben. Unglücklicherweise denkt deine Professorin anders. Sie ist eine halsstarrige Frau und weigert sich ein Gutachten zu schreiben, das die Echtheit des Dokuments bestätigt. Ohne solch ein Papier ist die Schriftrolle wertlos. Um deinetwillen bat ich um ihr Leben, aber meine Freunde verlieren die Geduld. Sie suchen einen anderen Experten. Ohne meinen Plan wäre sie jetzt bereits tot.« »Deinen Plan?« »Ja. Hör gut zu. Du musst mir das Mädchen übergeben – ihre Tochter.« Mich? Ich tauchte unter die Decke und hielt die Luft an. »Aber ich kenne ihre Tochter nicht. Sie ist nicht hier.« Mahmud ließ sich nicht täuschen. »Liebe Schwester«, sagte er, »verschone mich mit deinem Theater. Deine Cousine war mit dir im Restaurant, doch ich habe keine Cousine in Amerika. Als du heute Abend unterwegs warst, hat ein Freund von mir das Schloss an eurer Balkontür geöffnet. Er brachte mir die Bibel des Mädchens mit der Widmung ihres Vaters. Ich habe sie bereits durch Boten zu ihrer Mutter schicken lassen um ihr zu zeigen, dass wir vor nichts Halt machen um unser Ziel zu erreichen. Aus Furcht um ihr Kind wird eine Mutter gehorchen.« Ich krümmte mich entsetzt und das Bett knarrte. »Was war das?«, fragte Mahmud. »Ich habe nichts gehört«, antwortete Shari. »Vivi schläft. Sie kann uns nicht hören, und selbst wenn, glaubst du, sie versteht Arabisch? Das arme Kind behält ja kaum ein paar Brocken Türkisch. Ich frage mich manchmal, ob sie wirklich die Tochter einer so klugen Frau wie Dr. Davis ist.«
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»Die Ähnlichkeit ihrer Gesichtszüge enthüllt die Wahrheit, Schwester. Versuche nicht mich zu täuschen. Selbst eine kluge Frau ist kein Gegner für einen Mann.« Mein Blut kochte bei Mahmuds Geringschätzung. Ich ballte die Fäuste. »Mach dich bereit nach dem Abendessen loszufahren«, sagte er. »Die Reise wird fast zwei Tage dauern.« »Zwei Tage? Wohin fahren wir? Wo haltet ihr Dr. Davis gefangen?« »Das brauchst du jetzt noch nicht zu wissen. Im Augenblick musst du dich nur bereit halten. Inshallah. Heute Abend werde ich zum letzten Mal Mustafa der Hilfskellner sein. Wir fahren nach dem Essen mit dem Auto vom Kosem Bistro los. Das Mädchen darf auf der Reise nicht hungrig oder unzufrieden sein, sodass sie nicht schreit und mich in Verdacht bringt. Und sie soll wieder den Tschador tragen. Sie sieht ihrer Mutter zu ähnlich.« »Aber was soll ich ihr sagen, damit sie friedlich mit uns kommt?« »Das, liebe Schwester, überlasse ich deinem weiblichen Instinkt. Aber sollte sie Schwierigkeiten machen wie ihre Mutter, benutze das hier. Eine Tablette in ihren Kaffee – und sie wird sich über gar nichts beschweren. Und jetzt muss ich fort. Ich warne dich, Sharazad, enttäusche mich nicht. Sei heute Abend um neun im Kosem Bistro.«
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Der
Klang von Mahmuds Tritten wurde schwächer und schwächer, während er die Feuerleiter hinunterstieg. Shari lief ins Zimmer und nahm den Telefonhörer ab. Ihr angespanntes Gesicht wurde von dem Wecker auf dem Nachttisch schwach erleuchtet. Es war vier Uhr morgens. »Hallo? Turkish Airlines? Ich brauche für heute einen Flug in die Vereinigten Staaten. Um zwölf Uhr mittags? Nach New York, Kennedy? Ah. Aber meine Cousine muss nach Buffalo. Machen Sie die Anschlussverbindung, ja? Eine Reservierung, bitte. Nein! Morgen ist zu spät. Es muss heute noch sein. Nur erster Klasse? Also gut. Nein! Nein! Keine Kreditkarte. Ich bezahle in Lira. Der Name des Passagiers? Bayan Aviva Hartman. Hartman, ja. Hart-man. Eine Stunde vorher? Sie wird da sein. Danke.« Das »Danke« kam zitternd und fast unhörbar, nicht wie der gespielt fröhliche Tonfall, in dem sie mich Stunden später weckte: »Bokar tov! Guten Morgen, Vivi!«, rief sie auf Hebräisch. »Zeit aufzustehen.« Sie zog die Vorhänge zurück und heller Sonnenschein drang herein. Ich hob ein Augenlid und tat so, als wache ich gerade erst auf – als würde ich nicht seit Stunden wach liegen und Pläne schmieden. Sharis munterer Ton passte nicht zu ihren dunklen Augenringen. »Komm, Vivi, steh auf. Ich habe bereits gebetet und Frühstück bestellt.« Mit geschlossenen Augen flüsterte ich das Gebet: »Höre, Israel, der Ewige ist Gott, der Ewige ist einzig.« Shari lächelte. »Spiegeleier, amerikanisches Frühstück. Und türkischen Kaffee. Du magst das, ja?« Ich drehte mich um und gähnte. »Klar. Das ist toll, Shari. Danke.« Ich ging ins Badezimmer und lockerte rasch den Wasserhahn in der Dusche. Dann ging ich hinaus auf den Balkon. Als ich 48
das Morgengebet beendet hatte, hörte ich das Klopfen und den Ruf: »Frühstück. Bayanlar!« Unser Essen wurde auf einem niedrigen Messingtisch serviert. Die Eier waren sehr gut, das Eigelb war weich und das Weiß an den Rändern knusprig, genau wie Dad sie immer macht. Der Kaffee war trüb und süß und bitter. Eine kleine Tasse davon zog einem normalerweise den Zahnschmelz ab und verwandelte einen gleichzeitig in ein Energiebündel. Warum kam es mir dann so vor, als würde mir der Kaffee heute nicht einmal helfen wach zu bleiben, sondern mich im Gegenteil in eine Art lebenden Zombie verwandeln? Shari plauderte weiter, während wir aßen. Sie erzählte von dem Kongress, den großartigen Vorträgen, die sie gehört, den interessanten Menschen, die sie getroffen hatte. »Kluge Menschen aus der ganzen Welt«, sagte sie und attackierte ihr Frühstück mit bedächtigen kleinen Hieben. Die Hiebe schienen an die Eier verschwendet. Galten sie dem Besucher der letzten Nacht oder mir? »Trink deinen Kaffee, Vivi. Dann zieh dich an. Ich nehme dich mit zu meiner Arbeitsgruppe.« Sie blinzelte. »Wenn wir zurückkommen, müsste deine Mutter hier sein.« Ich wischte mein Eigelb mit dem Toast auf. »Ja, du hast wahrscheinlich Recht. Ich war dumm, mir gestern solche Sorgen zu machen. Aber zuerst muss ich duschen und es stimmt etwas nicht mit dem Wasserhahn. Wir sollten lieber bei der Rezeption anrufen, dass sie uns einen Installateur schicken.« »Installateur?« Shari sprang auf, genau wie ich es vermutet hatte. »Wir brauchen niemanden zu rufen. Der Hahn ist wahrscheinlich nur locker. Das kann ich selbst richten.« Sie ging ins Badezimmer. Das war meine Chance, aber als ich die Tassen vertauschte, hatte ich Schuldgefühle. Versuchte Shari nicht, mich zu schützen? Zum ersten Mal seit wir uns kannten war ich nicht mehr so sicher, dass sie meine Feindin war. »Wie ich gedacht hatte«, sagte sie, als sie zurückkam und sich wieder setzte. »Der Hahn war nur locker. Das passiert ständig.« Sie nahm ihre Tasse und trank den Kaffee aus. »Hm, gut. Trink 49
auch deinen Kaffee, Vivi. Er wird dir die Knochen wärmen, wie meine Mutter immer sagt.« Ich hob die Tasse an die Lippen und fragte mich, wie lange es dauern würde, bis die Tablette wirkte. Wann würde die Wirkung nachlassen? Würde Shari ohnmächtig werden? Ich hatte keine Ahnung. Ich wusste nur, dass ich heute in kein Flugzeug steigen würde. Ich musste meine Mutter finden.
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Shari sang unter der Dusche ein hebräisches Lied, das ich im israelischen Rundfunk gehört hatte: »Heirate mich heut Abend, liebe mich bis zum Morgen, liebe mich, solang ich lebe.« Ob Shari wohl einen Freund hatte? Ich fragte mich, ob es da jemanden gab, den sie liebte, und dachte an Mike. Das Wasser wurde abgedreht, aber das Singen ging weiter. Shari wechselte ins Arabische über: »Mutter, wenn du wählst, wähle ihn. Vater, wenn du segnest, segne ihn. Ich werde seine Eltern erfreuen, ihnen Kaffee servieren und wir werden heiraten, werden heiraten, werden heiraten.« Sie kam aus dem Badezimmer und rubbelte ihr dunkles Haar, das ihr ins Gesicht fiel. »Hübsches Lied«, sagte ich. »Die zweite Strophe habe ich aber noch nie vorher gehört.« Shari hörte auf zu rubbeln und starrte mich an. »Du verstehst die Worte?« Ich zuckte mit den Schultern. Ihre Augen wurden groß. »Du verstehst Arabisch?« »Ein wenig. Mom hat es mir beigebracht.« Ich trat einen Schritt näher zu ihr. »Jedenfalls genug, um deinen Bruder gestern Nacht zu verstehen. Genug, um von der Flugreservierung zu wissen.« Tränen traten ihr in die Augen. Sie schwankte und lehnte sich gegen die Wand. »Fühlst du dich nicht gut?« »Doch. Mir ist nur etwas schwindelig.« Sie packte meinen Arm. »Vivi! Du hast doch nicht die Tassen vertauscht?« Ich senkte den Kopf und nickte. »Tut mir Leid, Shari. Aber ich kann nicht zulassen, dass du mich in dieses Flugzeug setzt. Ich muss meine Mutter finden. Verstehst du? Ich muss zur Polizei und deinen Bruder anzeigen.« Sie starrte mich an und kämpfte darum, die Augen offen zu halten. »Aber Mahmud würde der Polizei niemals etwas sagen. Du kennst ihn nicht. Er würde eher seinen eigenen Vater verra51
ten als seine Kameraden. Er würde eher sterben als diese Bande zu verraten.« Mein Puls raste. Sie hatte wahrscheinlich Recht. Ich holte tief Luft. »Dann muss ich mich von ihm dorthin bringen lassen.« »Nein, Vivi. Nein!« »Wie sonst soll ich sie finden? Es ist der einzige Weg.« »Dann muss ich mitkommen«, flüsterte sie und schwankte. Ich zog sie auf das Bett und hängte das »Bitte nicht stören«Schild an die Tür. Auf keinen Fall durfte das Zimmermädchen hereinkommen und sie so finden. Ich sah auf die Uhr. Fast zehn. Mahmud hatte gesagt, wir sollten um neun Uhr abends im Restaurant sein. Wie lange würde Shari schlafen? Würde sie rechtzeitig aufwachen um sich anzuziehen? Sie war immer noch im Bademantel, genau wie ich. Sie soll einen Tschador tragen. Sie sieht ihrer Mutter zu ähnlich, hatte Sharis Bruder verlangt. Aber unsere Tschadors hatten wir in der Toilette des Cafés zurückgelassen. Man hatte sie inzwischen wahrscheinlich weggeworfen. Besaß Shari noch andere? Ich durchforschte ihren Kleiderschrank. Weiße Blusen und lange dunkle Röcke. Ein gemustertes Baumwollkleid. Keine Jeans. Keine Sweatshirts. Kein Tschador. Ich nahm mir die Schubladen vor. Unterwäsche und Strumpfhosen. Großartig! Ich hatte keine Ahnung, wo man in Istanbul einen Tschador kaufen könnte. Seit dem Ende des Ersten Weltkriegs waren selbst Schleier in der Türkei nicht mehr so üblich. Es waren meist die Frauen vom Land, die Kopftücher trugen oder sich verhüllten. Wahrscheinlich nähten sie diese Kleidungsstücke selbst. Ich erinnerte mich an die beiden alten Frauen am Flughafen, deren weiße Körperschleier alles verhüllten bis auf ihre Augen. Shari stöhnte leise auf und umklammerte das Leintuch. Das Leintuch! Natürlich. Es war zwar nicht der beste Stoff, aber es würde genügen müssen. Ich riss das Leintuch von meinem Bett. Gott sei Dank hatte ich mein Nähzeug eingepackt. Ich machte einen kleinen Schnitt mit der winzigen Schere, dann riss ich das breite Tuch in zwei 52
Hälften. Ich wühlte in meiner Tasche und fand einen Stift. Als Nächstes drapierte ich ein Stück des Tuches über meinen Kopf und Körper und kennzeichnete mein Gesicht, Schultern und Hals. Dann nahm ich das Ding wieder ab. Nachdem ich die Öffnung für das Gesicht herausgeschnitten hatte, schnitt ich den Rest so, dass ich ein Stück des Stoffes von der Seite her über Mund und Nase ziehen konnte. Dann nähte ich die Säume, wie ich es im Handarbeitsunterricht gelernt hatte. Als ich schließlich fertig war, sahen die Nähte zwar nicht sehr gerade aus und die untere Hälfte des Stoffs war ziemlich verknittert. Aber ich war trotzdem mit meiner Arbeit zufrieden. »Besser als nichts«, sagte ich und blickte zu Shari. Ihr Mund stand leicht offen und sie schnarchte ein wenig. Ich dachte daran, wie sie ihrem Bruder gegenüber für meine Mutter eingetreten war. Ich wollte so gerne glauben, dass sie auf meiner Seite stand und ich nicht so furchtbar alleine war. Aber sie und Mahmud waren schließlich Zwillinge. Zwillinge, hörte man immer, standen einander so nahe, dass es fast unheimlich war. Hatte er nicht gesagt, er sei in die Türkei gekommen um sie zu beschützen? Er hatte noch etwas gesagt – etwas über die Schriftrolle. Ich hatte das Gefühl, es sei wichtig, und es nagte immer weiter in meinem Hinterkopf. Ich seufzte, nahm meine Schere und begann mit dem zweiten Tschador. Shari war zwar im Augenblick sauer auf ihren Bruder, aber auf lange Sicht, würde sie da seine oder meine Partei ergreifen? Um ein Uhr schlief Shari immer noch und ich war hungrig. Ob ich ins Café hinunter sollte um etwas zu essen? Bist du verrückt, Vivi, tadelte ich mich sofort selbst. Bei deinem Glück läufst du wahrscheinlich genau der fröhlichen Clique vom Kosem Bistro in die Arme. Ich nahm den Telefonhörer ab und rief den Zimmerservice an. »Patlıcan salata, bitte«, bestellte ich. »Ve ekmek.« »In der Türkei brauchst du dir niemals über koscheres Essen Sorgen zu machen«, hatte Mom mir einmal erzählt. »Auberginensalat und Fladenbrot bekommst du überall.«
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Ich war mit dem Essen fast fertig, als das Telefon klingelte. Shari drehte sich im Schlaf um und seufzte. Ich nahm den Hörer ab. »Hallo?« »Vivi«, sagte Mike. »Endlich erreiche ich dich! Es hat Stunden gedauert, bis ich durchkam. Ich bin froh deine Stimme zu hören.« »Mike, bist du das wirklich?« »Darauf kannst du wetten, Ahuva. Wie gehts dir denn, hm?« »Gut, außer dass ich dich vermisse«, antwortete ich und versuchte fröhlich zu klingen. Was hatte es für einen Sinn ihn zu beunruhigen? »Ich vermisse dich auch. Wenn ich daran denke, dass ich dich bis zu der Hochzeit nicht mehr sehe, halte ich es kaum aus. Wie findest du es denn, dass Marc und Rosita endlich heiraten?« »Es ist toll.« »Ich hoffe, deine Mutter kommt auch. Ich kann es kaum erwarten sie endlich kennen zu lernen.« »Mom?« »Ja. Sie hat sich bestimmt gefreut dich endlich wieder zu sehen.« Sollte ich es ihm sagen? Aber Mike war so weit weg. Es hatte wirklich keinen Sinn Alarm zu schlagen. Ich wählte einen Mittelweg. »Mom geht es gut, glaube ich jedenfalls. Ich habe sie allerdings noch nicht gesehen. Sie ist irgendwo auf Achse und sieht sich eine alte Kaifeng-Schriftrolle an.« »Was, eine Kaifeng-Schriftrolle? Ich hab letztes Jahr den Schrein gesehen, in dem so eine Schriftrolle früher aufbewahrt wurde. Datiert um das Jahr Tausend unserer Zeitrechnung.« »Tatsächlich? Wo denn?« »Im Royal Ontario Museum. Ich musste ein Referat über die Sung-Dynastie machen, dabei habe ich den Schrein zufällig entdeckt. Wenn deine Mom ein Foto möchte, sag ihr, ich kann ihr eines schicken, wenn ich wieder zu Hause bin.« »Ich kann ihr gar nichts sagen!«, rief ich aus und war den Tränen nahe. »He, Vivi. Stimmt etwas nicht?« »Nein. Es ist nichts. Ich bin nur müde.« 54
»Dann ruh dich ein bisschen aus. Ich rufe dich morgen wieder an.« »Nein, nicht! Ich meine, hör mal, Mike. Ich bin für einige Tage nicht in Istanbul. Ich weiß nicht, wann wir wieder hier sind. Ich mache einen Ausflug nach Anatolien.« »Kein Problem. Ich ruf dich dort an!« »Nein! Ich meine… na ja, ich weiß nicht genau, wo wir übernachten werden. Ich…« »Allein?« »Nein. Mit meiner Zimmergenossin und… ihrem Bruder.« »Verstehe.« Sein Ton war eisig. »Nein, Mike. Hör doch. Nicht, was du denkst. Er ist nur ein verrückter Junge, aber er kennt sich aus. Er bringt uns zu meiner Mutter. Jetzt erzähl mir von deiner Grabung. Macht es viel Spaß?« »Ohne dich macht gar nichts viel Spaß. Ich hätte mit in die Türkei kommen sollen. Wann wirst du irgendwo sein, wo ich anrufen kann?« »Pass auf, ich rufe dich an. Wie wäre es übermorgen?« »Okay, aber erst abends.« Ich schrieb die Nummer auf, die er mir gab, und hörte die Besorgnis in seiner Stimme. »Ist auch bestimmt alles in Ordnung, Vivi?« »Aber klar.« Ich legte auf. Meine Hände zitterten.
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Vielleicht lag es an Mikes Anruf, dass ich plötzlich Heimweh bekam und mich total schlapp und hilflos fühlte. Vielleicht war es auch nur die schlaflose Nacht. Mein Magen hob sich beim Anblick meines restlichen Mittagessens. Ich stellte das Tablett vor die Tür, ließ mich aufs Bett fallen und versuchte nachzudenken. Wie sollte ich meine Mutter retten ohne selbst gefangen genommen zu werden? Wer waren sie? Wie viele waren es? Selbst allein klang Mahmud gefährlich. Ich schauderte, als ich an den drohenden Ton in seiner Stimme dachte. Wenn mir nur irgendjemand helfen könnte! Ich blickte zu Shari, die auf dem Rücken schlief. Ihre Brust hob und senkte sich gleichmäßig. Ihre Gesichtszüge wirkten friedlich, das nervöse Zwinkern war fort. Und plötzlich wurde mir klar, dass sie nur blinzelte, wenn sie log. Sie ist nicht daran gewöhnt zu lügen, dachte ich, und mein Herz sagte: Vertraue ihr. Mein Verstand widersprach dem jedoch heftig. Wenn es hart auf hart kommt, sagte er mir, wird sie sich niemals gegen ihren Bruder stellen. Nie! Niemals! »Ach, Mike!«, flüsterte ich. »Warum bist du so weit weg? Dad, wo bist du jetzt?« Aber was hatte es für einen Sinn? Ich würde sie erst auf der Hochzeit in Israel sehen. Die Hochzeit! Genau! Es waren ja nicht alle so weit weg! Meine Hände zitterten, als ich den Hörer abnahm. »Vermittlung, ich möchte ein Gespräch nach Israel anmelden. Die Nummer? Die weiß ich nicht. Ich möchte den Mossad. Ja, stimmt. Den israelischen Geheimdienst. Ja. Ich warte.« Die Uhr auf dem Nachttisch glich einer Zeitbombe mit Drähten, die direkt an mein Herz angeschlossen waren. Ich drückte den Hörer fester an mein Ohr, um das Pochen zum Schweigen zu bringen. »Mossad. Schalom. Sie sprechen mit Ari.« »Schalom«, flüsterte ich. »Mein Name ist Aviva Hartman. Ich möchte bitte mit Marc Steinhardt sprechen. Was? Aber Sie 56
müssen ihn kennen. Er arbeitet bei Ihnen. Er ist ein Agent. Er ist ein Freund von mir. Bitte! Ich bin in Istanbul und habe Schwierigkeiten. Ich brauche ihn!« Das Schalom, Guvarett klang so entschieden wie das Klicken, als aufgelegt wurde. Auf Wiedersehen, Fräulein. Ich saß da, umklammerte den Hörer und schlug ihn mir gegen die Stirn. Wie dumm, dumm, dumm! Welcher vernünftige Mensch würde beim Mossad anrufen, nach einem Agenten fragen und dabei dessen richtigen Namen nennen? Ich knallte den Hörer auf die Gabel, nähte meinen zweiten Tschador fertig und hängte beide in den Schrank. Shari bewegte sich im Schlaf und begann zu reden. »Lauf, Papa! Versteck dich!«, schrie sie auf Arabisch. »Mach, dass sie aufhören, Mahmud! Sie bringen ihn ja um!« Plötzlich fuhr sie hoch. Sie starrte mich verständnislos an, dann schlug sie die Hände vors Gesicht und ließ sich zurück aufs Bett fallen. Ihre Schultern zuckten. Sie weinte. »Ist schon in Ordnung«, beruhigte ich sie. »Du hast geträumt. Hol tief Luft.« Ich blickte auf meine Hände und überlegte, was ich sagen sollte. Aber mir fiel nichts ein. Also saß ich einfach da und dachte an Mahmud, hasste ihn noch mehr als zuvor und versuchte mich an seine komische Bemerkung über die Schriftrolle zu erinnern. »Wie spät ist es? Wie lange habe ich geschlafen?« Shari sah auf die Uhr. »Allah-u akbar. Allah ist groß. Ich habe mein Mittagsgebet versäumt.« Ich stand auf und öffnete die Vorhänge. Ein grauer Nebel hatte sich auf den Balkon gesenkt. »Es ist bereits Zeit für das Abendgebet«, sagte ich. »Sprich einfach beide zusammen.« »Zusammen?« »Klar. In Dads Gemeinde tun wir das auch. Wir sagen Mincha und Maariv zur gleichen Zeit.« Shari runzelte die Stirn. »Und kennt Allah, der beides gemacht hat, den Tag wie die Nacht, nicht den Unterschied?« »Und weiß Gott, der die Menschen gemacht hat, nicht, wer ihn liebt und wer nicht?«, erwiderte ich. Ich wartete nicht auf ihre Antwort, sondern ging zum Balkon und wandte mich in Richtung Jerusalem. »Gesegnet sind jene, 57
die in Deinem Hause weilen«, begann ich auf Hebräisch. »Sie werden Dich immer preisen.« Als ich am Ende meiner Gebete angekommen war, stand ich einen Augenblick da und sehnte mich danach, durch die dunklen Wolken das Heilige Land zu sehen. »Und bitte, Gott«, fügte ich hinzu, »wegen Mom… Du weißt, dass sie keine Affäre hat. Du wusstest die ganze Zeit von der Schriftrolle, nicht wahr? Also musst Du auch wissen, dass meine Mutter nie eine Torarolle als echt erklären würde, die nicht wirklich dir gehört. Um keinen Preis würde sie ihren Namen unter ein falsches Gutachten setzen. Vater im Himmel, glaub mir, ich weiß, dass Du es weißt. Trotzdem, Du hast ja so viel zu bedenken. Also kann es nicht schaden, Dich daran zu erinnern. Und könntest Du mal nach ihr sehen, für mich? Selbst wenn ich Mincha und Maariv zusammen spreche?« Shari flocht ihr Haar, als ich eintrat. »Wir sollten uns anziehen«, sagte sie. Dann wurden ihre Augen groß. »Die Tschadors! Wir haben sie gestern Abend in der Toilette zurückgelassen. Was sollen wir jetzt tun?« Ich ging zum Schrank und warf ihr einen Tschador zu. »Voilà! Ich habe den ganzen Tag damit verbracht das hier zu nähen.« »Du?« Shari betrachtete das Leintuch. »Du hast einen Tschador genäht?« »Zwei«, sagte ich. »Such dir einen aus. Wenn die Nähte halten, sind wir im Geschäft.« »Geschäft? Aber ich bin eine Studentin. Wie kann ich Geschäfte…« Ich hob die Hand. »Schon gut. Die Säume werden halten. Meine Handarbeitslehrerin war eine absolute SteppstichFanatikerin.« Shari betrachtete die Nähte sorgfältig. »Du hast in der Schule so gut nähen gelernt? Großartig, Vivi. Ich könnte es nicht halb so gut, obwohl meine Mutter stundenlang versucht hat es mir beizubringen.« Mein Stolz verwandelte sich in ein Gefühl des Neides, als ich mir vorstellte, wie Mutter und Tochter sich gemeinsam über die Arbeit beugten. 58
»Nicht der Rede wert«, sagte ich. »Jeder musste in der achten Klasse Handarbeit absolvieren um versetzt zu werden.« Ich sah auf das Foto von Mom. Plötzlich legte Shari den Arm um meine Schultern. »Vivi, ich habe deiner Mutter versprochen dich zu beschützen. Bitte, bitte, geh nicht mit meinem Bruder. Fahr zum Flughafen, jetzt! Du hast das Flugzeug nach New York verpasst, aber du kannst ein anderes nehmen, das irgendwohin fliegt, solange du nur meinem Bruder fern bleibst.« Ich schüttelte den Kopf und machte mich aus ihrer Umarmung los. »Und was passiert mit meiner Mutter, wenn ich das tue?«
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Ich steckte zwei Paar Shorts und einige T-Shirts in meinen Rucksack. Als ich vor vier Jahren in Anatolien war, hatte es vierzig Grad im Schatten. Wer würde schon sehen, was ich unter einem Tschador trug? Ich griff nach meinen Sandalen und der Bibel, die Mahmud letzte Nacht hatte austauschen lassen. Auch wenn ich mir sagte, dass die Worte die gleichen waren, wollte ich dennoch lieber meine, die mit der echten Widmung meines Vaters. Aber vor allem wollte ich meine Mutter wiederhaben. Lieber Gott, hilf mir beide zurückzubekommen, betete ich und füllte meine Taschen mit Kaugummi. Mit dem Taxi durch die belebten Straßen zum Restaurant zu fahren dauerte fast so lange wie wir gebraucht hätten, dorthin zu laufen. Shari nutzte jede einzelne Minute. Immer und immer wieder schärfte sie mir ein: »Vergiss nicht, Vivi, benimm dich wie eine Muslima. Fordere nicht Mahmuds Zorn heraus.« Ich schauderte bei der Erinnerung an ihren Bruder. »Shari, wenn er heute Abend dabei ist, werde ich ganz bestimmt nichts abziehen.« »Das ist gut. Zieh nichts ab. Du musst den Tschador immer…« »Ja, ja, ich weiß«, flüsterte ich. »Aber der Tschador kann mein Wesen auch nicht verändern. Er wird mir nicht helfen ruhig zu bleiben, wenn dein Bruder sich wie ein Chauvi benimmt. Warum lässt du ihm überhaupt solchen Unsinn durchgehen?« Shari drehte sich weg. Sie hatte immer noch nicht geantwortet, als das Taxi vor der Tür hielt. »Hör mal«, sagte ich, »es tut mir Leid. Wir sind einfach unterschiedlich erzogen worden.« Als wir unsere Taschen aus dem Auto holten, hörte ich das laute Gelächter der Clique im Kosem Bistro. Die leeren Weinflaschen auf dem Tisch zeugten davon, dass die anderen bereits eine Weile da waren.
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»Na, wenn das nicht unsere hauseigenen Bistro-Geister sind!«, kicherte Vanessa. »Setzt euch und trinkt etwas. Ihr beide seht heute Abend etwas blass aus.« Sie schob einen Aktenkoffer mit Nummernschloss zur Seite und griff nach einer Weinflasche und einem Glas. »Muss das hier unbedingt auf dem Tisch liegen, Lawrence?« »Dummkopf!«, sagte Ursula. »Du weißt doch, dass sie nichts anderes als Wasser trinken.« Lawrence hob sein Wasserglas. »Dann trinken wir eben alle Wasser.« Der kanadische Akzent erinnerte mich so sehr an Mike, dass ich am liebsten die Hand ausgestreckt und Lawrence berührt hätte. »Genau!« Ken lachte. »Zeit für einen Toast. Stimmts, Chen?« Der Chinese sah ihn stirnrunzelnd an. »Nein, noch nicht.« Lawrence klopfte ihm auf die Schulter. »Aber es dauert nicht mehr lange, was?« Worauf sie wohl warteten? Lawrence setzte sich, sah mich an und lächelte. Wenn ich ihm nun die Wahrheit über meine Mutter erzählte? Wenn ich ihm erklärte, was Shari und ich vorhatten? Ihm verriet, dass Mustafa, der Hilfskellner, in Wirklichkeit ein militanter Palästinenser namens Mahmud war? Irgendetwas hielt mich zurück. Etwas, das mir im Kopf herumging. Etwas, was Mahmud Shari erzählt hatte. Wenn es mir doch nur einfallen würde! Chen sah auf die Uhr. »Wieso dauert das denn heute Abend so lange?« Seine Finger trommelten auf den Tisch. »Immer mit der Ruhe, alter Freund«, sagte Ken. »Sie werden schon noch kommen, um unsere Bestellung aufzunehmen.« Er blickte sich um. »Sie haben viel zu tun. Es wird langsam voll.« Ich folgte seinem Blick. Die Leute an den anderen Tischen unterhielten sich leise bei gedämpfter Musik. Ich versuchte die Speisekarte zu entziffern, gab jedoch bald auf. »Keine Sorge, kleine Cousine«, sagte Vanessa. »Nach einigen Wochen in Istanbul kannst du so gut Türkisch wie Ursula. Und vergiss nicht, sie studiert bei dem großen von Rosenberg in Berlin.« 61
Ursula starrte Vanessa böse an. »Okay Vanessa, lass uns nicht wieder von vorne anfangen.« Lawrence lachte. »Benehmt euch, oder ihr bekommt die Kraft meiner neuesten Waffe zu spüren.« »Lawrence! Du hast die Streitaxt, hinter der du her warst?«, rief Vanessa aus. »Zeig mal.« Lawrence schüttelte den Kopf und klopfte auf seinen Aktenkoffer. »Hier sind nur die Papiere drin. In Toronto – unter Glas im Royal Ontario Museum – kannst du sie bewundern.« Er lächelte. »Ich kann es kaum erwarten sie auszustellen. Sie ist ägyptisch, aus dem Jahr 1300 vor Christus, und es gibt nur eine oder zwei ähnliche auf der Welt. Ich habe den ganzen Etat dieses Jahres dafür verbraucht.« Er senkte die Stimme, als der Kellner sich mit Mahmud und seinem Tablett voller Fische näherte. Ursula bestellte zuerst, dann Ken und Vanessa. Der Kellner blickte mit gezücktem Stift zu mir. »Und für Sie, Bayan?« Ich zögerte. Ursula kicherte. Vanessa sah sie strafend an. Mahmud senkte sein Tablett. »Heute Abend vielleicht einen schönen ıstakoz?«, fragte er. Ich ballte die Hände. Hummer sind nicht koscher. Wusste er das? Wollte er mir eine Falle stellen? »Ich nehme baklava und dazu imam-bayan, bitte«, sagte ich. Gelächter erschallte. Der Tisch wackelte richtig. Baklava, das süße Mandelgebäck, als Hauptgericht und imam-bayan, Priester-Frau. Hatte ich zu dick aufgetragen? »Guter Versuch!«, rief Lawrence. Der Kellner räusperte sich. »Sie meinen balık und dazu imam bayıldı, Bayan? Fisch und eingelegte Auberginen?«, wiederholte er auf Englisch. »Habe ich das nicht gesagt?«, fragte ich. Ein neuerliches Gelächter erschallte. »Und etwas Hummus wie gestern?«, fragte Mahmud. »Natürlich!«, antwortete ich und sah ihm in die Augen. Für meine Darstellung der unwissenden Kleinen hätte ich einen Oscar verdient. 62
Shari sah mich an und lächelte. Mahmud warf ihr einen Blick zu, der sie hätte töten können. Was für ein Beschützer!, dachte ich. Und da fielen mir seine Worte von der vorherigen Nacht ein: Während ich dich beschützte, hatte er zu Shari gesagt, hat Allah mich zu einem Schatz geführt. Er musste hier im Kosem Bistro von der Schriftrolle erfahren haben. Wahrscheinlich versuchte jemand, sie ihm zu verkaufen. Aber Mahmud war nicht dumm – er bestand darauf, dass die Echtheit der Rolle bestätigt würde. Dafür brauchte er einen Experten. Meine Hände fühlten sich wie taub an. Ich starrte entsetzt auf die Gesichter am Tisch. Wer von ihnen hatte ihm meine Mutter ausgeliefert?
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Um elf brachte »Mustafa« die Nachricht. »Für Sie, Bayan«, sagte er zu seiner Schwester und ging. Shari schauderte und deutete auf die Tür zum Zeichen, dass wir gehen müssten. »Bleibt doch und feiert noch mit«, sagte Vanessa. »Dr. Davis ist nicht da. Niemand kontrolliert euch heute Abend.« Shari schüttelte den Kopf. Ursula runzelte die Stirn. »Professor von Rosenberg würde niemals einen Kongress vorzeitig verlassen.« »Warum nicht? Ihn würde doch sowieso niemand vermissen«, erwiderte Vanessa. »Außer dir natürlich. Wenn dein Idol so toll ist, wie kommt es dann, dass er nicht an diesem Kongress teilnimmt, einen Vortrag hält und versucht, die internationalen Fördermittel zu bekommen?« »Gute Frage«, antwortete Ursula. »Vielleicht überrascht er dich noch!« »Dr. Davis’ Vortrag ist erst am Freitag«, sagte Chen. »Sie hält den Schlussvortrag, nicht wahr? Bis dahin wird sie sicher zurück sein. Die Vergabe der Fördermittel ist sehr wichtig für sie. Geld für Forschung und Stipendien, die vielen Studenten helfen können.« Lawrence lächelte. »Einschließlich einer ganz besonderen Studentin aus Beijing, was? Tja, wir alle haben unsere Probleme mit den Zuschüssen. Meine sind auch immer schwer zu bekommen. Andererseits beschwert sich die Öffentlichkeit lautstark, wenn ein Museum keine Neuerwerbungen hat. Aber diesmal muss ich mir keine Sorgen machen. Ich kann mich zurücklehnen und die Vorträge genießen. Der Wettbewerb spielt sich unter euch Theoretikern ab.« »Dr. Davis fliegen die Fördermittel auch nicht zu, mein Lieber«, sagte Ken. »Aber bei Wettbewerben ist sie mit ihren Forschungen meist an der Spitze. Ich weiß, wovon ich rede. Ich trete ja auch an. Sie hat fast immer ihr Geld bekommen und so wird es auch dieses Mal sein. So Leid es mir tut das sagen zu müssen.« 64
»Außer natürlich, sie ist nicht rechtzeitig zurück«, warf Ursula ein. Ich stieß einen unterdrückten Laut aus und Lawrence sah zu mir. Einen Augenblick lang starrte er mich an, dann blickte er wieder in die andere Richtung. Hatte er meine Ähnlichkeit mit Mom bemerkt? Schnell zog ich den Tschador weiter über mein Gesicht. Vanessa blickte zu Ursula. »Dann hätte dein heiß geliebter von Rosenberg eine Chance, stimmts?« Sie schüttelte den Kopf. »Also, ich bin froh, dass ich in das Import-Export-Geschäft meines Freundes einsteige statt an irgendeiner armseligen Universität zu unterrichten. Um Gelder zu betteln ist nicht meine Sache.« »Wenn du glaubst, dass du als Geschäftsfrau schnelles Geld machen kannst, musst du mal meinen Vater fragen«, sagte Shari. Sie legte einige Geldscheine auf den Tisch. »Hast du Münzen für das Trinkgeld, Yasmin?« Als ich nicht sofort antwortete, stieß sie mich an. Ich fummelte in meiner Tasche und merkte, dass Lawrence mich beobachtete. »Lass nur, kleine Cousine. Ich gebe dem Kellner für euch Trinkgeld«, sagte er mit einem aufmunternden Lächeln. »Ich werde mich sogar um den Hilfskellner kümmern. Keine Sorge, ja?« Ich murmelte »danke«, folgte Shari in den Vorraum und nahm meinen Rucksack. Draußen ging Mahmud vor einem wartenden Taxi auf und ab, seine Ledersandalen verursachten ein klatschendes Geräusch auf dem Boden. Sein schwarzgestreiftes Tuch blähte sich unter dem Band auf, das es am Kopf hielt. Unter der arabischen Kopfbedeckung wirkten sein kariertes Hemd und die Jeans so unpassend, dass ich gelacht hätte, wenn mir nicht vor Angst das Lachen vergangen wäre. Er öffnete die hintere Tür und sah uns an. Seine Augen glichen Sharis, so dunkel und funkelnd. Er nahm einen Zigarettenstummel aus dem Mund. »Wenn ich ein Kommando gebe, meine Damen«, sagte er auf Arabisch, »dann habt ihr nicht zu trödeln. Jetzt steigt ein!« 65
Shari gehorchte. Ich zögerte und rutschte dann auf den warmen Ledersitz neben ihr. Mahmud schlug die Tür zu und setzte sich auf den Beifahrersitz. »Flughafen!«, sagte er auf Türkisch. »Und zwar schnell!« Flughafen? Er hatte gesagt, die Reise würde zwei Tage dauern. Zwei Tage in der Luft? Dann wären wir außer Landes und mein Pass lag im Hotel. Mir wurde heiß. Wenn uns die Zollbehörden anhielten, konnte das Moms Todesurteil sein. Ich blickte zu Shari, aber sie starrte auf die Glatze des Fahrers, als hätte sie kein Wort verstanden. Ich sah aus dem Rückfenster. Ein Auto fuhr aus der Allee neben dem Bistro. Ich dachte an meine Mutter, die irgendwo gefangen gehalten und womöglich sogar gequält wurde. Warum? Dann hörte ich in Gedanken die Stimme meines Vaters. Denke logisch, Vivi, benutze das Pilpul. Es hat den Weisen des Altertums geholfen. Es hilft mir. Es wird dir auch helfen. Es war einen Versuch wert. Wer immer Mom an Mahmud vermittelt hatte, versuchte ihm die Schriftrolle zu verkaufen. Mahmud brauchte meine Mutter, um die Echtheit zu bestätigen. Das war logisch, oder? Die Schriftrolle kam aus Kaifeng in China. Der Einzige hier aus China war Li Chen. Aber er schien kein Vermögen zu erwarten. Er wollte, dass Mom rechtzeitig zurück war, weil die Fördermittel einer Studentin helfen würden… einer ganz bestimmten aus Beijing. Chens Freundin? Was war mit den anderen? Ken, der die Fördermittel immer an meine Mutter verlor. Doch er schien es mit Humor zu nehmen. Dabei war Kenia ein armes Land. Zweifellos konnte seine Universität Geld gut gebrauchen. Versuchte Ken es mit dem Verkauf der Schriftrolle? Sie hat fast immer ihr Geld bekommen und so wird es auch diesmal sein. So Leid es mir tut das sagen zu müssen, hatte er gesagt. Und doch wirkte er nicht sehr betrübt. Weil er eine andere Geldquelle hatte? Ich ballte die Fäuste, als mir Ursulas Antwort einfiel: Außer natürlich, sie ist nicht rechtzeitig zurück – dann hätte dein heiß geliebter von Rosenberg eine Chance, stimmts?, hatte Vanessa sie aufgezogen. Ihr Professor würde uns vielleicht noch überraschen, hatte Ursula gesagt. Würde von Rosenberg am Freitag auf dem Kongress sprechen, während Mom in Anatolien gefan66
gen gehalten wurde? Nur Ursula hatte gewusst, dass sie dort war. Hatte sie Mahmud geholfen, meiner Mutter eine Falle zu stellen? Und was war mit Vanessa, der Studentin aus Boston? Um Geld zu betteln war nicht ihr Ding, hatte sie gesagt. Sie stieg in das Import-Export-Geschäft ihres Freundes ein. Dazu brauchte sie Anfangskapital, oder nicht? Und welche Dinge importierte ihr Freund? Konnte eine Kaifeng-Schriftrolle dazu gehören? Dann war da natürlich noch Lawrence. Aber wenn er eine Kaifeng-Schriftrolle hätte, würde er sie sicher nicht verkaufen. Er würde sie für sein Museum behalten wollen. Zumal es einen leeren Schrein in Toronto gab, wie Mike gesagt hatte. Außerdem bekam Lawrence seine Gelder von anderen Stellen – er stand nicht mit Mom im Wettbewerb. Warum sollte er sie also aus dem Weg haben wollen? Er hatte sie sogar Miriam genannt, erinnerte ich mich, als seien sie alte Freunde. Ich zuckte zusammen. Wenn das der Fall war, hatte Mom ihm wahrscheinlich erzählt, dass ich kam, ihm vielleicht sogar ein Bild von mir gezeigt. Ich dachte daran, wie er mich vorhin im Bistro angestarrt hatte. Er musste erraten haben, wer ich war. Zum Glück stand der nette Kanadier nicht ganz oben auf meiner Liste der Verdächtigen.
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Das Taxi hielt quietschend an. Mahmud sprang hinaus und reichte dem Fahrer einige Scheine. Der Mann zählte sie und spuckte aus dem Fenster. Mahmud fluchte auf Arabisch und drehte sich zu uns. »Schnell! Wir müssen zum Flugzeug.« »Passagiere für den Flug nach Ankara bitte Gate neun«, kam es auf Türkisch und Englisch aus dem Lautsprecher. »Gate neun. Da entlang!«, rief Mahmud über seine Schulter. Ankara! Ich schloss kurz die Augen. Gott sei Dank! Ankara war die Hauptstadt der Türkei. Wir verließen das Land also nicht. »Ist es weit?«, flüsterte Shari, während wir rannten. »Nein«, antwortete ich schwer atmend. »Etwa dreihundert Kilometer. Mom und ich sind mit dem Auto dorthin gefahren.« An Gate neun hielt Mahmud unsere Tickets hin. »Frau, Frau«, sagte er auf Türkisch und deutete erst auf Shari, dann auf mich. »Ihre Sitze sind hinter meinem, ja?« »Natürlich, Efendi!« Die Stewardess im Minirock verbeugte sich übertrieben. »Sie haben Reihen fünf und sechs hintereinander, mein Herr, gleich nach dem Vorhang zur ersten Klasse.« Während Mahmud vorging, zwinkerte uns die Stewardess zu. »Ihre Bordkarten, Efendi«, hörte ich sie sagen, während wir unserem »Ehemann« zu der wartenden kleinen Maschine folgten. Shari nahm den Platz am Fenster. Ich ließ mich in den Sitz am Gang fallen und schloss meinen Gurt. »Wie lange wird es dauern?«, flüsterte sie auf Englisch. »Ungefähr fünfzig Minuten«, antwortete ich und fügte hinzu: »Inshallah!« und ein stilles Gebet. Mit Gottes Wille würde die kleine Maschine es schaffen. Die Stewardess von vorhin kam an Bord und gab die Sicherheitsinstruktionen. Nach dem Start ging sie langsam mit einem Tablett den Gang entlang. »Kaffee?« Sie fragte in jeder Reihe – jeder, außer Mahmuds. »Kaffee?«, sagte sie zu Shari und mir. »Ja, bitte«, sagte Shari. Ich nickte. 68
»Sie haben mich vergessen!«, bellte Mahmud auf Arabisch. »Tatsächlich?«, fragte die Stewardess auf Türkisch nach. »Tut mir Leid, Efendi. Ich komme zurück, sobald die Damen ihre Getränke haben.« Was Mahmud als Nächstes sagte, waren Worte, die Mom mich niemals gelehrt hatte. Ich hatte sie von den Straßenhändlern in Jerusalem gelernt. Der Kaffee war stark und heiß und schlug sich geradewegs auf meine Blase. Kurz darauf stand ich auf und verschwand durch den Vorhang in den vorderen Teil der Maschine, wo sich die Toilette befand. Ich war auf dem Rückweg, vorbei an den vier Erste-Klasse-Sitzen, als ich Lawrence sah. Ich stolperte und versuchte, nicht zu ihm zu starren. Er lächelte mich an, dann senkte er den Blick. »Was ist los?«, fragte Shari, als ich wieder auf meinen Sitz sank. »Du siehst aus, als ob du den Tod gesehen hättest.« »Nein, nicht den Tod«, flüsterte ich. »Vielleicht das Leben. Das Leben meiner Mutter.« Ich lehnte mich näher zu ihr. »Ich habe gerade Lawrence gesehen. Vorne in der ersten Klasse.« Sharis Augen wurden groß. »Er ist uns gefolgt? Oh nein!« »Aber du verstehst nicht. Er will uns helfen.« Sie fasste meinen Arm. »Welchen Beweis hast du dafür?« »Keinen Beweis. Nur Pilpul.« »Was?« »Logik. Ich war mir im Bistro ziemlich sicher, dass Lawrence wusste, wer ich bin. Aber weshalb sollte ich so tun, als wäre ich jemand anders? Er muss erraten haben, dass ich in Schwierigkeiten bin.« »Du ähnelst so sehr deiner Mutter, Vivi. Zu vertrauensselig. Sind alle Amerikaner so?« »Zu vertrauensselig?« Ich lachte. »Es hat ziemlich lange gedauert, bis ich dir vertraut habe.« Unwillkürlich musste Shari grinsen. »Aber die Kanadier sind unsere Nachbarn«, erklärte ich. »Wenn ich über den Niagara blicke, kann ich von Buffalo aus Kanada sehen. Die Brücke, die beide Länder dort verbindet, wird Friedensbrücke genannt. Ich überquere sie jedes Mal, wenn ich meinen Freund Mike besuche, und er tut das Gleiche, 69
um zu mir zu kommen. Im Sommer können wir sogar zu Fuß von einem Land ins andere gehen, als ob es eines wäre.« »Aber bestimmt durchsuchen dich die Soldaten an der Grenze.« »Es gibt keine Soldaten. Und wenn du dich nicht allzu verdächtig benimmst, fragen die Grenzbeamten nur nach deiner Staatsangehörigkeit.« »Was für eine Träumerin du bist, Vivi. Wenn es nur wirklich Länder wie diese gäbe.« »Es ist wahr. Kanadier und Amerikaner sind die besten Freunde. Das haben sie schon oft in der Geschichte bewiesen. Zum Beispiel haben 1980 Kanadier amerikanische Gefangene aus unserer Botschaft im Iran befreit. Du wirst sehen, Shari, Lawrence wird uns helfen Mom zu befreien.« »Ich hoffe, du hast Recht«, erwiderte Shari zweifelnd. »Bitte die Gurte anlegen«, forderte uns die Stewardess auf. »Wir befinden uns im Anflug auf Ankara.« Und plötzlich überkam mich Panik. Hatte Lawrence überhaupt eine Waffe? Er war schließlich nicht Superman. Er war nicht vom CIA und nicht einmal ein kanadischer Mountie. Lawrence war nur ein netter Museumskurator, der beim Versuch meine Mom zu retten womöglich ums Leben kam. Ich musste mit ihm reden – ihn davon überzeugen, dass wir die Sache allein erledigen konnten. Aber die Passagiere der ersten Klasse stiegen vor uns aus. Und im Flughafen war Lawrence plötzlich verschwunden.
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» ewegt euch!«, schrie Mahmud, zündete sich eine Zigarette an und eilte zum Schalter der Autovermietung. Es sei Hochsaison, erklärte der Angestellte auf Englisch. Es gab nur noch zwei Autos – ein Wohnmobil, das für Mahmuds Familie ideal sei, und einen Sedan, der ein wenig älter war. »Und auch um einiges billiger, ja?«, fragte Mahmud. Nachdem sie um den Preis gefeilscht hatten, knallte der Angestellte die Schlüssel auf die Theke und deutete nach draußen. Der Sedan war ein ’79er Murat, der selbst in der Dunkelheit aussah wie ein Wrack. »Du sitzt hinten, Sharazad«, befahl Mahmud. »Das Mädchen kommt neben mich. Ich bin froh, dass sie kein Arabisch versteht. Es wird Spaß machen mit einer Amerikanerin zu reden, die nicht widersprechen kann.« Shari warf die Autotür zu, als ich saß, und ich lehnte mich zurück. Als wir losfuhren, quietschte das Auto ohrenbetäubend. Mahmud schloss das Fenster und drehte die Klimaanlage an. Sie funktionierte nicht. Mit so einem Auto kommen wir nicht weit, dachte ich. Mom muss hier in Ankara sein. Das war ein Trugschluss. Einige Stunden später hatten wir immer noch nicht angehalten. Auf dem Armaturenbrett neben Mahmuds Zigaretten lagen eine Taschenlampe und eine Landkarte, aber ich wagte nicht sie zu studieren. Ich sah auf meine Uhr, konnte aber in der Dunkelheit nichts erkennen. Es musste gegen zwei Uhr nachts sein. Lawrence hat uns verloren, dachte ich und war gleichzeitig traurig und erleichtert. Das einzige andere Auto auf der Straße war ein Wohnmobil, wahrscheinlich eine Touristenfamilie. Manchmal zuckelte es hinter uns her, manchmal überholte es uns. Dabei sah ich, dass niemand auf dem Beifahrersitz saß. Mahmud ließ den Wagen nie lange vor uns fahren. Wenn er ihn überholen konnte, lachte er.
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»Na, Schwester«, sagte er und blickte im Spiegel zu Shari, »gefällt es dir, wie ich fahre? Unser Anführer hat es mir beigebracht. Er sagt, ich bin ein sehr guter Fahrer.« »Wie nett von ihm«, erwiderte Shari sarkastisch. Ich starrte in die Dunkelheit und dachte an die Autobomben in Israel. Wenn Mahmud den Befehl bekommt, eines dieser Todesautos zu fahren und sich selbst in die Luft zu jagen, hat er dann Angst?, fragte ich mich. Oder wäre er glücklich in dem Glauben, ins Paradies zu kommen? Seine nächsten Worte gaben mir die Antwort. »Ich werde dich beschützen, Sharazad. Ich bin ein Soldat Allahs und habe keine Angst zu sterben.« Er stellte das Radio an. Nichts geschah. Er schlug mit der Faust auf das Armaturenbrett, dann deutete er auf mich. Meine Hand zitterte, als ich nach dem Drehknopf langte. Wenn ich nur Musik hereinbekommen könnte um ihn zu beruhigen. Aber alles, was ich fand, war lautes Rauschen. »Genug! Genug!«, schrie er auf Arabisch, dann schob er meine Hand fort und stellte das Radio ab. »Zu-nichts-zugebrauchen-Zionistin. Wie kommt es nur, dass du nicht für die feigen Israelis kämpfst, die sich im Krieg hinter ihren Frauen verstecken? Wirst du auch bald eine Uniform tragen wie ihre Soldatenhuren? Einmal hab ich eine von ihnen beim Trampen gesehen. Ihr Rock…« Das war zu viel! Mir reichte es. »Ich brauche eine Toilette«, flüsterte ich heiser auf Englisch. Mahmud konnte schließlich etwas Englisch, wie ich im Bistro festgestellt hatte. Er blickte wütend in den Spiegel zu Shari, griff nach der Landkarte und der Taschenlampe am Armaturenbrett und warf beides zu ihr nach hinten. »Wir sind erst nach Süden und an dem angekreuzten Punkt nach Osten gefahren. Finde die nächste Stadt, los!« »Bala! Das ist der nächste Ort. Noch ungefähr fünf Meilen«, sagte Shari. »Ah, gut.« Mahmud trat aufs Gas. Aber als wir den Ort erreicht hatten, sahen wir, dass Bala nichts als eine Ansammlung weniger Häuser neben einem riesigen Silo war. Mahmud zuckte mit den Schultern und fuhr weiter. Einen halben Kilometer von 72
den Häusern entfernt hielt er neben einer Reihe von Büschen und drehte sich zu Shari. »Sag ihr hier!« Hier? Shari stieg aus, öffnete meine Tür und nahm meine Hand. Als wir hinter den Büschen wieder hervorkamen, trat Mahmud seine Zigarette aus. Dann bedeutete er uns ins Auto zu steigen und fuhr wie verrückt los. Es dauerte nicht lange, bis wir das Wohnmobil eingeholt und überholt hatten. »Himaar!«, rief Mahmud. »Du Arsch! Hast du gedacht, du könntest mir davonfahren?« Er blickte zu mir und lachte, als ob er meine Bewunderung suchte, aber durch seine blöde Verfolgungsjagd war ich wie gelähmt. Ich schloss die Augen. »Mom«, flüsterte ich, »halte aus! Wenn dieser hitzköpfige Idiot uns nicht umbringt, bin ich bald bei dir.«
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As ich aufwachte, nahm ich das Knirschen der Reifen wahr und sah den Himmel im Osten heller werden. Am westlichen Horizont hingen noch die Schatten zwischen den Hügeln, als wollten sie den neuen Tag herausfordern. In dieser Dämmerzone zwischen Schlaf und Erwachen sah ich das Dach des Wohnmobils weit vor uns, hörte Mahmud leise fluchen und den Chor von blökenden Schafen. Dreißig oder vierzig umgaben uns wie eine niedrige, weiße, flaumige Wolke. Ein Schäfer in ausgebeulten Hosen und einem Wollkaftan trieb sie halbherzig mit einem langen Ast, an dem sich noch die Rinde befand. Mahmud drohte mit der Faust, aber die einzige Antwort, die er bekam, war ein vielstimmiges Määä. Er griff nach den Zigaretten, änderte seine Meinung und stieg aus dem Auto. Wie ein Verkehrspolizist an der Kreuzung vor einer Schule winkte und drängte er die Herde auf die Seite. Ich war so fasziniert von diesem Schauspiel, dass ich für einen Augenblick ganz vergaß, wer er war und warum wir hier waren. »He, das macht er gut«, stellte ich fest. Sharis Blick wurde traurig. »Als Kind war er der beste Schäfer in unserem Dorf. Dann wurde auf unserem Weideland eine jüdische Siedlung gebaut. Mein Vater beschloss, mit uns nach Jerusalem zu ziehen, und ich war glücklich. Dort gab es bessere Schulen und so viele Dinge zu sehen und zu tun. Aber Mahmud vergab den Juden und Vater niemals. An seinem vierzehnten Geburtstag lief er weg. Er schloss sich einem Trainingscamp an. Er wollte lernen sich zu wehren.« »Sich zu wehren? Komm schon, Shari. Das Land würde euren Leuten immer noch gehören, wenn sie es nicht in den Kriegen verloren hätten, die sie angefangen haben. Aber das ist jetzt alles vorbei – oder es kann zumindest vorbei sein. Hast du im Fernsehen gesehen, wie sich euer PLO-Führer und Israels Premierminister auf dem Rasen vor dem Weißen Haus in Washington die Hände geschüttelt haben?«
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»Ja, ja. Ich habe es gesehen. Und Arafat versprach, mit dem Terrorismus Schluss zu machen.« »Und Rabin versprach, die besetzten Gebiete zurückzugeben. Sie wollen Frieden schließen und die Soldaten nach Hause zu ihren Familien schicken. Aber Fanatiker wie Mahmud wollen das verhindern.« Shari seufzte. »Und so geht das Töten weiter.« Ich nickte. »Letzte Woche waren es zwei israelische Wanderer im Wadi. Zwei Tage später ein West-Bank-Siedler und sein Kind.« »Und erst gestern hat ein israelischer Siedler einen arabischen Bauern getötet. Wann wird es aufhören, Vivi? Weißt du, wie viele von uns Palästinensern jeden Tag wegen Fanatikern wie meinem Bruder getötet werden? Einmal hat unser Vater zu Mahmud gesagt: ›Die Israelis geben uns Gaza und Jericho zurück. Eines Tages werden wir unseren eigenen Staat haben. OstJerusalem wird unsere Hauptstadt sein, du wirst sehen.‹ Aber Mahmud hat nicht geantwortet. Und seine Freunde haben Vater zusammengeschlagen, weil er zu Versammlungen geht und der Meinung ist, dass wir Palästina mit den Juden teilen müssen.« »Mein Gott, nicht einmal seinen eigenen Vater wollte er schützen? Sie werden das Friedensabkommen noch zum Scheitern bringen.« Sharis Schultern sanken. »Allah-u akbar. Das darf nicht geschehen.« Das letzte der Schafe hatte die Straße verlassen und Mahmud fasste den Schäfer bei den Armen. Er küsste den alten Mann auf die Wangen, dann kam er zurück zum Auto und wischte sich über die Augen. »Verdammte Schafe!«, schimpfte er. »Sie wirbeln so viel Staub auf!« Er holte einen Benzinkanister aus dem Kofferraum und füllte den Tank auf. Die Tür war noch nicht einmal richtig geschlossen, da startete er bereits und ich hörte das gleiche Quietschen wie in Ankara. Ein Klang, der meinen Vater sofort dazu bewegt hätte, die nächste Werkstatt anzusteuern. Aber Mahmud verzog nur das Gesicht und schlug die Tür zu. Eine dunkle Locke schlüpfte aus seinem Kopftuch und hing in seine glatte, gebräunte Stirn. Er blickte noch einmal zurück auf die Schafe, wie ein Kind, das 75
zögernd einen Spielzeugladen verlässt. Er gäbe einen guten Schäfer ab, dachte ich und sah ihn an, während er sich schon wieder ein Krebsstäbchen anzündete. Die Sonne brannte heiß, als wir nach Südosten fuhren, vorbei an den endlosen Gersten- und Weizenfeldern, die die Landschaft von Anatolien durchzogen. Auf jeder Seite der Straße beugten sich Frauen über ihre Hacken, ihre weiten Hosen in kräftigen Farben wie Frühlingsblüten. Dann, auf einmal, hielten sie inne. Von einer Moschee in der Nähe hörte ich die Bandaufnahme des Rufs eines Muezzins zum Gebet. Die Bäuerinnen breiteten ihre Gebetsteppiche auf dem Boden aus und ließen sich auf die Knie fallen. Mahmud verlangsamte die Fahrt und hielt an. Er holte einen abgewetzten Teppich aus dem Kofferraum und breitete ihn neben dem Auto aus. Shari stieg aus und breitete ihren Teppich ebenfalls auf dem Boden aus. Ich stieg auch aus und stellte mich neben sie. »Gerade rechtzeitig für Schacharit«, flüsterte ich und sprach mein Morgengebet. Wieder zurück auf der Straße, konnte ich das Wohnmobil nirgends entdecken, doch ab und zu überholten wir einen Esel, der Weizengarben transportierte. Die Reiter waren immer Männer oder Jungen. Manchmal liefen ein oder zwei Frauen hinterher. Hin und wieder kamen wir an einem kleinen Café vorbei. Männer saßen davor an Tischen mit Backgammonbrettern darauf, rauchten und tranken Tee. Ein Stück weiter, auf einer kahlen, felsigen Lichtung, tauchte eine Ansammlung von Holzhäusern auf. Ihre Dächer waren mit gebrannten Lehmziegeln und Stroh gedeckt. Zwei Jungen – ungefähr acht und zehn Jahre alt – winkten von ihren Eseln herunter. Mahmud fuhr langsamer und blickte zu einer Gruppe von Frauen, die im Fluss am Fuß eines Berghanges Wäsche wuschen. »Deine Mama dort?«, fragte er in gebrochenem Türkisch. Die Jungen stiegen von den Eseln. Der ältere nickte und deutete auf das Armaturenbrett. »Ich dich bringen. Dann geben Zigarette, ja?«, sagte er auf Englisch. 76
Mahmud öffnete die Tür und streckte die Hand nach den Zigaretten aus. Empört schlug ich ihm auf die Hand, kurbelte das Fenster hinunter und warf dem Jungen ein paar Kaugummis zu. Oh weh, was hatte ich getan! Er würde mich umbringen! Ich schloss die Augen und bewegte schweigend die Lippen. Schema Israel Adonai Elohenu Adonai echad. Nichts geschah. Ich blinzelte vorsichtig. Mahmud starrte mich an, die Hand bereits erhoben um zuzuschlagen. Doch dann ließ er sie wieder fallen. »Was du brauchst, junges Fräulein, ist ein Ehemann, der dir zeigt, wo dein Platz ist.« Er glitt hinter dem Steuerrad hervor und lief den Abhang hinunter zum Fluss. Die Frauen blickten von ihrer Wäsche auf und zogen sich schnell die Schleier vor die Gesichter. Nach einer Weile kam er zurück, hinter ihm eine Frau, die Pumphosen unter dem Schleier trug und einen Korb auf dem Kopf hatte. Sie setzte ihn neben einer flatternden Wäscheleine ab und winkte die Jungen zu sich. Der ältere rannte zum Auto. »Mama will ihr kommen trinken Tee«, sagte er zu Shari und mir auf Englisch. Der kleinere Junge rannte ins Haus und brachte uns Holzstühle. Die Esel, die in der Nähe festgebunden waren, schnaubten leise, während wir im Schatten saßen und starken, heißen Tee tranken. Die Mutter der Jungen reichte Mahmud ein Fladenbrot. Er brach sich ein Stück ab, dann reichte er es weiter, in dem Kreis kichernder, verschleierter Frauen, der sich allmählich um uns gebildet hatte. Sie nannten uns ihre Namen und in seinem gebrochenen Türkisch sagte Mahmud, er sei Al-Baz Ali, ein Geschäftsmann aus Saudi Arabien, der mit seiner Frau und seiner Schwester reise. Die Lüge wurde ohne weiteres geschluckt, während der ältere Junge bereits einen vorherigen misafir beschrieb. Dieser Besucher sei in einem großen Auto gekommen, in dem sich ein Bett und ein Herd und sogar ein Fernseher befand, erzählte er. Es muss das Wohnmobil gewesen sein, dachte ich. Es war also nur eine Person in dem Wagen. Die Teekanne sollte noch einmal herumgereicht werden, aber Mahmud schüttelte den Kopf und machte sich zur Toilette auf. Der Blick, mit dem er mich ansah, gab mir das Gefühl, sieben 77
Jahre alt zu sein. Es war wie damals, wenn Mom mit vor der Brust verschränkten Armen vor mir stand und sagte: Aber du musst zur Toilette gehen, Vivi, wir haben eine lange Reise vor uns. Mit einem unguten Gefühl machte ich mich auf den Weg zur Toilette. Das Sonnenlicht und die Luft, die durch die Spalten des roh gezimmerten Holzverschlags strömte, konnten den Geruch nicht abmildern. Ich hielt die Luft an und stellte meine Füße auf die getrockneten Lehmfußabdrücke neben einem tiefen, dunklen Loch, das die Toilette war. Nach mir kam Shari, dann wuschen wir uns am Fluss die Hände, dankten unseren Gastgebern und winkten zum Abschied. »Güle-güle, auf Wiedersehen«, riefen die Frauen. Mahmud ließ das Auto an, aber der ältere Junge rannte neben uns her, deutete auf den Mund und tat, als ob er kaue. Ich lächelte, öffnete das Fenster, warf ihm die restlichen Kaugummis zu und zuckte dann bei dem unvermeidlichen Quietschen des Autos zusammen.
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Mahmud fluchte, als uns ein grauer Renault links überholte und die leichte Steigung hinauffuhr, wo ein Schild »Archäologische Stätten der Hethiter« ankündigte. Bevor wir die Spitze des Hügels erreicht hatten, überholten uns noch vier weitere Autos. »Verdammte Touristen!«, schrie Mahmud. »Warum bleibt ihr nicht in Ankara, anstatt mir die Straße zu versperren?« Ich blickte auf den Tachometer: Wir fuhren nur dreißig. Warum schlichen wir so? Auf dem Weg den Hügel hinunter trat Mahmud auf die Bremse und zündete sich eine Zigarette an. »Du wirst eines Tages genau wie die, Sharazad«, prophezeite er, »wenn du diesen weibischen Typ heiratest, den unsere Eltern für dich gewählt haben. Ja, er wird dich mit nach Amerika nehmen und seine nichtssagenden Worte vor der UN plappern. Und du lässt dich von ihnen diesem schlappschwänzigen Diplomaten versprechen statt einem richtigen Mann.« Er nahm einen tiefen Zug. »Ja, wie zum Beispiel mein Freund Hassan. Die Mädchen sind alle ganz verrückt nach ihm. Nun ja, vielleicht nicht alle. Manche mögen auch mich.« Er grinste und blickte zu mir. »Sogar das amerikanische Flittchen neben mir. Hast du gesehen, wie sie mich mit den Augen verschlingt?« Ich biss mir auf die Lippen und hatte das Gefühl, gleich losschreien zu müssen. »Nun gut, zumindest ist sie gehorsam, stimmts?«, fuhr er fort. »Und ich weiß bereits alles über sie. Mit ihren dunklen Locken und Augen wie Ebenholz könnte sie leicht als eine von uns durchgehen. Ich wette, sie würde mich auf der Stelle heiraten. Sie müssen ihre Eltern nicht um Erlaubnis fragen, weißt du das? Ihr Vater ist ein heiliger Mann, habe ich gehört, sodass sie vielleicht ihren Glauben behalten möchte. Der Koran sagt, dass das möglich ist, aber die Kinder müssen natürlich Muslime werden. Und vor allem muss sie mir Respekt erweisen. Nicht wie ihre
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Mutter, die Dung in die Gesichter von Männern wirft. Kein Wunder, dass ihr Mann sich von ihr scheiden ließ.« Er drückte seine Zigarette im überquellenden Aschenbecher aus, dann öffnete er das Fenster und leerte ihn nach draußen. Wieder quietschte das Auto so stark, dass ich zusammenzuckte. Mahmud murrte. »Das wird ja immer schlimmer. Die Karre kann jeden Moment zusammenbrechen. Zu gefährlich! Wir werden in Kırşehir anhalten müssen und den Wagen reparieren lassen. In der Zwischenzeit können wir etwas essen.« Es war höchste Zeit. Ich kam vor Hunger fast um. Die Hügel wurden steiler, wir fuhren an großen Bauernhöfen vorbei. In einem Tal sah ich einen kleinen See, der so blau schimmerte, dass es fast unwirklich schien. Schilder entlang des Weges deuteten auf historische Stätten der Seldschuken und Moscheen aus dem 12. Jahrhundert christlicher Zeitrechnung hin. » Kırşehir«, verkündete Mahmud. Wir kamen an baufälligen Häusern vorbei, die neben neuen, modernen Gebäuden standen, und schlichen weiter zu einer Tankstelle. Mahmud fand einen Mechaniker und zeigte ihm den Murat. Er deutete auf ein Rad, dann hielt er sich die Ohren zu und schwankte, wie unter Schmerzen, und fügte einige Brocken Türkisch hinzu. Als der Mann nickte, dass er verstand, fragte Mahmud mit vielen Handbewegungen nach einem Restaurant. In diesem Augenblick rief der Muezzin zum Mittagsgebet. »Allah-u akbar«, sagte Mahmud. »Das Essen wird warten müssen. Zuerst zur Moschee. Die Jüdin soll sich wie eine muslimische Frau benehmen, muss aber nicht wirklich beten.« Mein Magen knurrte voller Protest, aber ich folgte Mahmud zur Moschee. Das Gebäude war nicht klein, aber nicht halb so groß und kunstvoll ausgestattet wie die Moscheen in Istanbul. Die silberne Kuppel schimmerte in der Sonne. Für einen Augenblick blieb ich unsicher zurück. »Lieber Gott«, flüsterte ich, »ich kann diesmal nicht anders, das weißt du. Aber zumindest werde ich in die richtige Richtung blicken. Und ich werde dich nicht Allah nennen, ich verspreche es.« Danach folgte ich den Gläubigen wie eine von ihnen. 80
Am Eingang zur Moschee winkte uns ein Mann zu einem Regal mit Slippern. Ich schlüpfte aus meinen Sandalen und hatte bereits einen Fuß in einem Slipper, als Mahmud mir den anderen wegnahm und sich zu Shari drehte. »Sag ihr, dass man dafür bezahlen muss. Es ist eine Touristenfalle. Wascht euch stattdessen die Füße, alle beide!« Er führte uns zu einem Tisch, auf dem ein Krug stand und Handtücher lagen. Barfuss trat ich ein. Meine Augen gewöhnten sich nur langsam an das Dämmerlicht, während ich in der nur schwach erleuchteten Halle nach Stufen suchte, die zur Empore führten. Ich wusste, dass dort die Frauen hin mussten. Shari war hinter mir, als ich die Treppenstufen hinauf eilte, als sei ich es nicht anders gewöhnt. In der orthodoxen Synagoge meines Großvaters hatte ich das Hunderte von Malen gemacht. Selbst der Vorhang, der uns vor den Augen der Männer verbarg, schien vertraut. Der Chor des arabischen Gesanges ähnelte so sehr den Gesängen der Juden, dass ich mir Großvaters ernste Worte in Erinnerung rief: »In der Synagoge sollen die Männer Gott suchen und nicht die Frauen.« Sicher hinter den Vorhängen, betete ich auf meine Weise, während Shari sich auf den dünnen, abgenutzten Teppich kniete. Ich fragte mich, ob es sie nicht störte hier oben zu sein, wo sie nicht einmal den Imam sehen konnte, der die Gebete vorsprach. Wahrscheinlich nicht, dachte ich dann, als ich die Hingabe in ihren Augen sah, während ihre Lippen die heiligen Worte nachsprachen. Als wir wieder draußen auf dem heißen Pflaster standen, schien es mindestens vierzig Grad zu haben. Ich fühlte mich schwindlig und benommen. Kein Wunder, dachte ich, schließlich habe ich den ganzen Tag nichts weiter als Tee und ein Stück Brot zu mir genommen. Wo gab es das Essen, das Mahmud uns versprochen hatte? Shari und ich gingen mit ihm bis zur Hauptstraße, dann fanden wir Schatten unter einem Baum und warteten, während ihr Bruder zur Werkstatt ging um zu fragen, wie weit sie mit dem Auto seien. »Sie arbeiten daran«, sagte er, als er zurückkam. »Inzwischen suche ich ein Café. Mein Magen knurrt, als hätten wir den heiligen Fastenmonat Ramadan.« 81
Ich wollte aufstehen, aber Shari hielt mich am Saum fest, während Mahmud davonging. »Nur Männer dürfen dort eintreten«, sagte sie. »Mahmud wird uns etwas bringen.« Aber was ist, wenn es nicht koscher ist?, knurrte mein Magen. Und? Du weißt, wie man fastet, oder nicht? antwortete mein Verstand. Du tust das schließlich einmal im Jahr, seit du zwölf bist. Aber wir hatten nicht Jom Kippur, den Versöhnungstag, den letzten der zehn Bußtage, an dem gefastet wird. Und natürlich wusste Gott das. Er sorgte dafür, dass Mahmud mit Käse und Fladenbrot zurückkam. Mahmud stellte die Tüte mit Essen vor unsere Füße und eilte zurück zur Tankstelle, während er an einem tropfenden Schokoladeneis leckte. Shari seufzte und sagte auf Englisch: »Wahrscheinlich müssen wir froh sein, dass er nichts zu trinken gebracht hat. Sonst brauchten wir nur wieder eine Toilette.« »Aber im Augenblick hätte ich nichts gegen eine Pepsi und einen Busch«, antwortete ich und wir fingen beide an zu lachen. Unsere gute Laune verging jedoch, als Mahmud mit dem Auto zurückkam. »Steigt ein!«, befahl er. »Sie können es nicht reparieren. Sie haben das Ersatzteil nicht. Wir müssen in Kayseri ein neues Achslager kaufen.« Als ich meinen letzten Bissen Brot hinunterschluckte und auf den heißen Vordersitz rutschte, fuhr ein weißes Wohnmobil vom Straßenrand an.
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Als wir auf der Landstraße weiterfuhren, wurden die endlosen Weizenfelder von gelbbraunen Bergen und ocker- und lavendelfarbenen Beeten unterbrochen. Diese Berge gleichen der Landschaft im Süden Utahs, dachte ich und erinnerte mich an eine Reise mit meinem Vater. Aber Dad hatte keinen abgewrackten Murat gefahren wie diesen, der jetzt schmale, steile Pässe hoch kroch. Ich richtete meine Augen auf die Straße genau vor mir und vermied es, die senkrecht abfallenden Abgründe hinunterzublicken. Bei einem plötzlichen Hupen drehte ich mich um und sah, dass auch Shari die Augen weit aufgerissen hatte. Ein großer, schwerer Laster befand sich unmittelbar hinter uns. Mahmud, halt an!, bat ich lautlos. Fahr zur Seite. Lass ihn vorbei. Der Lastwagenfahrer drückte wieder mehrmals auf die Hupe. Mahmud zeigte ihm den Mittelfinger und schlich weiter. Ich rutschte in meinem Sitz so weit nach unten wie möglich, fuhr aber hoch, als Mahmud laut auflachte. Der große Lastwagen steckte fest. Ich hielt die Luft an, als der Laster langsam rückwärts rollte und dann hielt. Zehn Minuten später schlief Shari wieder, aber ich kaute den Rest des Weges an meinen Nägeln – bis ich den großen Vulkankegel des Berges Erciyes über Kayseri auftauchen sah. »Jetzt müssen wir eine Werkstatt finden«, sagte Mahmud. Frag in der Touristeninformation, wollte ich sagen. Aber Mahmud kam selbst darauf. Er parkte das Auto auf dem dünnen Grasstreifen und führte uns dem Hinweisschild nach. Im Sog der anderen Fußgänger schlenderten wir an der Hunat-HatunAnlage vorbei. Der Geruch nach Knoblauch und getrocknetem Rindfleisch aus dem überdachten Basar weckte Erinnerungen. Pastırma ist eine Spezialität dieser Gegend, hatte meine Mutter mir erklärt. Wir hatten damals hier eingekauft. Man erwartet, dass du um alles feilschst, Vivi, hörte ich meine Mutter sagen. Sei es um einen Teppich, um Schmuck oder einen Messingsamowar. Zum Schluss musst du weggehen. Sie werden 83
dich immer zurückrufen und es dir zu einem niedrigeren Preis anbieten. Als wir jetzt so ganz in der Nähe vorbeiliefen, berührte ich meinen goldenen Ring und dachte daran, wie Mom darum gefeilscht hatte. Meine Kehle war vom Staub und von der Hitze völlig ausgetrocknet. Als wir das steinerne Kuppeldach des türkischen Bades Hunat-Hamam erreicht hatten, war mein Körper schweißgebadet. Sehnsüchtig stellte ich mir das klare Wasser und den kühlen marmorgetäfelten Raum vor, während wir zur Touristeninformation nebenan gingen. Zurück im Auto entfaltete Mahmud die Karte, die man ihm gegeben hatte. »Wir sollen in den neuen Teil der Stadt fahren. Dort sind alle Autowerkstätten.« Fünfzehn Minuten später fanden wir eine Werkstatt. Ein Schild in Englisch besagte: Touristen willkommen. Kreditkarten werden akzeptiert. Aber das Geschäft war geschlossen. Mahmud hämmerte an die große hölzerne Tür, bis ein sonnenverbrannter, schnurrbärtiger Mann in einem Overall herauskam, gähnte und sich die Augen rieb. Mahmud deutete auf das Auto. »Wir brauchen ein neues Achslager. Wann kann es fertig sein?«, fragte er in einer Mischung aus Türkisch und Englisch. Der Mann kratzte sich am Kopf. »Übermorgen am Abend.« »Aber ich brauche es heute!«, rief Mahmud aus. »Ich muss nach Göreme.« Göreme? Wo die Höhlenkirchen waren? »Ich muss heute noch dorthin«, drängte Mahmud. Der Mann zuckte mit den Schultern. Mahmud zählte etwas Geld ab und drückte es ihm in die Hand. Der Mann deutete zur Seite. »Lasst euer Auto hier. Kommt übermorgen Abend wieder.« »Aber…« »Keine Sorge, Efendi. Ich besorge euch eine Fahrgelegenheit nach Ürgüp. Von dort aus kann man nach Göreme laufen. Die Hotels sind alle voll, aber mein Bruder ist Fremdenführer. Für ein paar amerikanische Dollar…« »Inshallah«, sagte Mahmud. 84
Shari und ich setzten uns nach hinten. Mahmud stieg vorne ein und setzte sich neben den Fahrer, der prompt aus dem Fenster deutete. »In diesen Höhlen zur Rechten leben unsere Obdachlosen. Links…«, begann er auf Englisch. »Hör auf!«, schrie Mahmud. »Ich brauche keinen Führer. Besorg uns einfach nur ein billiges Zimmer.« Ein Zimmer für uns alle? Ich starrte ihn an und blickte um Unterstützung heischend zu Shari, aber sie reagierte nicht. Sie starrte aus dem rechten Seitenfenster auf eine Familie, die auf dem Boden neben einem kleinen Ständer saß, auf dem ein Topf stand und unter dem ein rotes Feuer aus Dung brannte. In der Ferne sah ich drei hohe, orangefarbene Felsen, deren Spitzen mit flachen Steinhauben gekrönt waren. Die drei Schwestern hatte Mom sie genannt. Sie behüten den Ort. Behüten sie auch meine Mutter?, fragte ich mich, als plötzlich das weiße Wohnmobil links an uns heranfuhr. Der Fahrer streckte den Kopf zum Fenster hinaus. »Geht es hier nach Ürgüp?« Beim Klang seiner Stimme drehte Shari sich um. Mahmuds Schultern wurden steif. Ich konnte es kaum glauben! Es war Lawrence.
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Die Pension Europa pries ein Restaurant und saubere Zimmer mit »Duschen« an, aber »Tropfen« wäre zutreffender gewesen. Als ich mich abtrocknete, fühlte ich mich immer noch schmutzig. »Die Hitze ist unerträglich«, sagte Shari und wischte sich über die Stirn. »Ich fühle mich ganz elend. Wenn es nur einen Ventilator im Zimmer gäbe!« Ich öffnete meinen Rucksack und holte Shorts und ein T-Shirt heraus. »Zieh das hier an«, sagte ich. »Ich habe noch ein Paar. Es ist so heiß hier drin, dass man ein Ei auf dem Boden braten könnte.« Shari blickte sehnsüchtig auf die Kleidung und gab nach. »Es ist besser als krank zu sein vor Hitze. Und solange ich hier im Zimmer bleibe, ist es wohl in Ordnung.« Ich zog mich um, erleichtert, den Tschador los zu sein. Mahmud hatte uns Obst, Käse und Brot zurückgelassen. Dann war er mit dem einzigen Schlüssel verschwunden und hatte gesagt, er sei abends wieder zurück. Ich setzte mich auf das schmuddelige, harte Bett, dachte voller Wut an ihn und fürchtete seine Rückkehr. »Wenn dein Bruder irgendwas Komisches versucht, bring ich ihn um«, sagte ich. Shari runzelte die Stirn. »Komisches? Mahmud ist nicht komisch. Er ist voller Zorn. Das ist er immer. Aber er wird dir nichts tun, Vivi. Ich glaube, du gefällst ihm. Hat er nicht gesagt, er würde dich zur Frau nehmen? Ein Mann würde seine zukünftige Frau nicht entehren, oder?« Sie kicherte. »Ich finde das gar nicht lustig. Außerdem habe ich einen Freund«, sagte ich. »Hast du das schon vergessen? Er heißt Micah Abramson.« »Ah ja, der aus Toronto. Wie kommt es, dass dein Vater einen Kanadier für dich ausgewählt hat?« »Mein Vater? Er hat nichts damit zu tun. Ich habe mir Mike selbst ausgesucht, letzten Winter in einem Flugzeug nach Mia-
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mi.« Ich seufzte. »In Amerika lässt man sich nicht von seinen Eltern den Ehepartner aussuchen wie du.« Sharis Augen funkelten. »Eltern haben Lebenserfahrung. Sie wissen am besten, aus wem ein gutes Ehepaar wird. Sie würden mich jedoch niemals zwingen jemanden zu heiraten, den ich nicht mag. Nur wenn ich lerne ihn zu mögen, werde ich ihn heiraten.« Sie warf den Kopf zurück. »Wenn nicht, werden sie einen anderen für mich suchen.« Sie drehte sich um und blickte aus dem Fenster auf die hoch aufragenden Felswände mit den Höhlen in der Ferne. »Tut mir Leid«, sagte ich. »Ich verstehe das wohl nicht richtig.« Zum ersten Mal in meinem Leben wünschte ich wie Mom zu sein, die immer das Richtige zu sagen wusste. Sie kümmerte sich um alle Leute auf der Welt – um alle außer um mich. Dieser Gedanke stieg in mir auf wie eine schwarze Wolke. Ich schüttelte den Kopf um sie zu vertreiben. Ich musste hier raus. Ich musste Lawrence finden. Warum hatte er sich eingemischt? Der naive Kurator hatte sein Leben aufs Spiel gesetzt um mich wissen zu lassen, dass er hier war. Und jetzt wusste Mahmud es auch. Wollte Lawrence ihn wissen lassen, dass ich nicht schutzlos war? Ich blickte zur Tür. Sie hatte ein altmodisches Schloss, das zu öffnen nicht schwer sein dürfte. Ich holte meine Kreditkarte heraus und schob sie gegen das Schloss. »Voilà!«, rief ich. Shari sah mich verblüfft an. »Wie hast du denn das gemacht?« Ich zuckte mit den Schultern. »Genauso wie man es immer im Fernsehen sieht.« Sie schüttelte den Kopf. »Aber wofür ist die Freiheit gut, wenn man nirgendwohin kann? Wir wissen nicht einmal, wo deine Mutter ist. Wenn wir es nur wüssten.« Sharis Lippen bewegten sich lautlos, als bete sie. »Wenn Mahmud vorhat mich als Geisel zu benutzen, werde ich bald wissen, wo sie ist«, antwortete ich. »Ja«, antwortete Shari. »Es war sehr klug von meinem Bruder, dich zu ihr zu bringen. Eine Mutter würde alles tun, um das Leben ihres Kindes zu retten.« Sie hatte Recht. Sie musste Recht haben. Mom würde eher ihr eigenes Leben riskieren, bevor sie ihren Namen unter eine Fäl87
schung setzte, die diesen Mördern half. Aber wenn mein Leben auf dem Spiel stand, würde sie alles tun, was man von ihr verlangte. Trotz der Hitze in unserem kleinen Zimmer schauderte ich. »Natürlich«, sagte ich laut, »würde meine Mutter alles tun um mich zu retten.« Mom würde dieses Dokument unterzeichnen und man würde uns gehen lassen. Wenn wir erst einmal frei waren, konnten wir den Betrug immer noch anzeigen. Ich ging auf die Tür zu. »Gott sei Dank wird dieser Alptraum bald vorbei sein. Aber jetzt muss ich Lawrence finden und ihn abwimmeln. Wenn diesem netten alten Herrn etwas passiert, mache ich mir die größten Vorwürfe.« Shari packte meinen Arm. »Nein! Du darfst nicht gehen. Du musst hier bleiben und auf Mahmud warten. Wenn er nun früher zurückkommt?« »Dann sag ihm, wir seien nicht angezogen und er könne im Moment nicht reinkommen. Irgendetwas, damit er noch eine Weile wegbleibt.« »Vergiss nicht den Tschador«, sagte sie, als ich nach der Türklinke griff. »Du bist angeblich eine muslimische Ehefrau. Muslimische Frauen gehen nicht halb nackt auf die Straße.« Ich zog mir den Tschador über und trat in den Flur. Wenn ich ihr widersprach, verlor ich vielleicht eine Freundin. Freundin? Ich dachte darüber nach und es war ein gutes Gefühl. Dann dachte ich daran, wie Mom sich amüsieren würde, wenn sie mich in diesem Gewand sah und erfuhr, dass ich es auch noch selbst genäht hatte. Oh Mom! Ich sehnte mich so sehr danach ihr Lachen zu hören, ihre Umarmung zu spüren. Draußen stand die Sonne hoch am Zenit und ich schirmte meine Augen ab, während ich den Parkplatz vergeblich absuchte. Da entdeckte ich das Schild, auf dem »Camping« stand, mit einem Pfeil zur anderen Seite der Straße. Ich überquerte den steinharten Sandboden und entdeckte das weiße Wohnmobil. Die dunklen Rollos waren vor den offenen Fenstern heruntergezogen. Ich rannte auf das Auto zu, dann blieb ich stehen, weil ich Stimmen hörte. »Deine Geschichte klingt rührend, aber mein Klient will nicht mehr warten. Er ist nicht an deinen Problemen 88
interessiert. Die Schriftrolle wurde vor über einer Woche geliefert, oder? Also, wann hast du nun das Geld, he?« »Heute Abend, ich schwöre es«, antwortete Mahmud auf Englisch. »Rufen Sie Ihren Klienten an und sagen Sie ihm: Auch wenn wir seine Redlichkeit nicht anzweifeln wollen, brauchen wir die Unterschrift eines Experten zur Bestätigung, dass die Schriftrolle echt ist. Kommen Sie um zehn Uhr an diesen Ort. Er ist nicht leicht zu finden. Hier, nehmen Sie meine Karte und die Lampe. Ich finde den Weg auch so.«
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Einen Augenblick lang stand ich da wie angewurzelt, dann rannte ich hinter einen Anhänger und versteckte mich. Zitternd beobachtete ich, wie Mahmud verstohlen zur Straße schlich. Er blickte auf die Touristen, die darauf warteten die Höhlenkirchen zu besichtigen, dann ging er in Richtung der Höhlen der Obdachlosen. Lawrence stieg aus dem Wohnmobil, sah Mahmud nach und verzog das Gesicht, als hätte er Schmerzen. »Oh Gott, war ich vielleicht blöd«, sagte ich immer wieder zu mir selbst, als ich mich zurück in unser Zimmer schlich. Shari blickte von einem großen saftigen Pfirsich hoch. Der Saft lief ihr das Kinn hinunter und sie wischte ihn rasch mit der Hand weg. »Schon wieder zurück? Was ist los? Du siehst ganz elend aus.« Ich ließ mich aufs Bett fallen. »Du hattest Recht. Lawrence steckt mit drin. Und er war der Einzige, den ich nicht im Verdacht hatte.« Ihre Augen funkelten. »Ja, nur weil er aus Kanada ist wie dein Mike!« Ich wurde rot, denn ich wusste, dass sie Recht hatte. Ich dachte wieder an das Telefongespräch mit Mike: KaifengSchriftrolle? Ich hab im letzten Jahr den Schrein einer solchen Rolle gesehen. Datiert um 1000 u. Z. – Tatsächlich? Wo denn? – Im Royal Ontario Museum. Ich musste ein Referat über die Sung-Dynastie machen, dabei habe ich ihn zufällig entdeckt. Ich blickte zu Shari. »Er hat es mir gesagt, aber ich habe nicht richtig zugehört.« »Wer?« »Mike. Lawrence ist dort Kurator im Museum.« »Wo?« »Im Royal Ontario Museum in Toronto.« »Und?« »Verstehst du denn nicht? Sie sammeln Gegenstände aus der Sung-Dynastie. Mike war dort und hat den leeren Schrein einer Kaifeng-Schriftrolle gesehen. Wenn Lawrence die Schriftrolle 90
hätte, würde er sie niemals an Mahmud verkaufen, er würde sie für das Museum behalten. Er hatte sie also nicht, wusste aber vielleicht, wer sie hatte.« »Ich verstehe nicht.« »Lawrence gibt sich als Vermittler der Person aus, die deinem Bruder die Schriftrolle verkauft. Er will sie wahrscheinlich unbedingt selbst haben. Ich glaube, er will sie Mahmud stehlen.« »Aber das macht doch keinen Sinn, Vivi. Wenn Lawrence wusste, wer die Schriftrolle hatte, warum sollte er sich dann mit Mahmud abgeben? Warum hat er sie nicht gleich dem Besitzer gestohlen?« »Ich weiß auch nicht. Vielleicht hat er es zu spät herausgefunden, nachdem Mahmud sie bereits hatte.« »Oder er will einfach das Geld kassieren.« »Vielleicht. Ich weiß einfach nicht, wie das alles zusammenhängt. Und stell dir nur vor, welche Sorgen ich mir seinetwegen gemacht hatte. War ich vielleicht blöd!« Shari schüttelte den Kopf. »Ja. Aber ich auch. Die ganze Zeit hatte ich Vanessa im Verdacht.« »Ja, an sie hatte ich auch gedacht. Aber nicht zu ernsthaft. Schließlich ist sie Amerikanerin.« Shari seufzte. »Oh nein«, rief ich aus. »Schon wieder! Sag es nur, sag es! Sag, dass ich voreingenommen bin.« Sie zuckte mit den Schultern. »Ist irgendeiner von uns frei von dieser Krankheit? Seit langem hörte ich Gerüchte über Mahmud und seine Bande, aber ich wollte es nicht glauben. Er ist mein Bruder. Sie waren seine Freunde. Waren wir nicht alle im gleichen Ort aufgewachsen? Im Schoß unserer Familien. Es ist jüdische Propaganda, dachte ich. Dann kam der Tag, als er dabeistand, als seine Freunde brutal auf meinen Vater einprügelten. Erst da habe ich die Wahrheit erkannt.« Sie kam zu mir und legte ihre Hand auf meine Schulter. »Und so frage ich dich, Vivi: Wie sollte ich dir vorwerfen, dass du deine Augen verschlossen hast?« Mir standen Tränen in den Augen, als ich sie umarmte. »Ach Shari, was sollen wir nur tun?« 91
»Was wir tun? Du hast einen Plan. Du musst ihn durchführen. Mahmud wird dich zu deiner Mutter führen. Wenn Lawrence ebenfalls dort ist, soll es wohl so sein. Ich werde euch in großem Abstand folgen. Wenn ich weiß, wohin mein Bruder dich bringt, rufe ich die Polizei. Jetzt komm, nimm einen Pfirsich. Dann müssen wir schlafen. Es liegt eine lange Nacht vor uns.« Mahmud kam nach dem Abendgebet zurück und klopfte laut an die Tür. Ich rieb mir den Schlaf aus den Augen. Schweiß lief meine nackten Beine hinunter, als ich immer noch benommen zur Tür wankte. Shari drehte sich im Bett und stöhnte leise. Mahmud starrte auf meine bloßen Beine, dann zu Shari, die immer noch meine Shorts trug. Er ging zu ihrem Bett. »Hure!« Der Schlag war blitzschnell. »Ist es das, was meine Schwester von den Amerikanern lernt?« Er warf einen Tschador auf das Bett, dann drehte er sich um und warf mir ebenfalls einen zu. »Zieh dich an, Ya Hartman«, sagte er auf Arabisch. »Ich werde dieses Flittchen hier fesseln und einschließen, damit sie mir nicht in die Quere kommt. Dann gehen wir zu deiner Mutter.«
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Die letzten Strahlen der untergehenden Sonne ließen die Felsen schimmern, verwandelten ihren Rotton in Orange. Ein Pärchen schlenderte Arm in Arm auf ein Restaurant zu. In der Stille des Abends war laut eine Frauenstimme auf Englisch zu vernehmen. »Jimmy, lauf nicht zu weit weg. Wir wollen dich nicht verlieren.« Ich ließ die Touristen hinter mir und folgte Mahmud. Einmal blieb ich stehen, um Steinchen aus meinen Sandalen zu schütteln. Mahmud biss das Ende einer Zigarre ab. »Inshallah, du wirst eines Tages noch lernen anständige Schuhe zu tragen«, sagte er auf Arabisch. Ich hob ratlos die Hände und gab vor, ihn nicht zu verstehen. »Wenn du meine Frau bist«, fuhr er fort, »wirst du nicht mehr in Sandalen in die Berge gehen, mit nackten Beinen unter dem Tschador.« Ich starrte ihn wütend an. Er lächelte. »Ich wusste, dass ich dich dazu bringen würde, deine Maske fallen zu lassen, Ya Hartman. Es war mir schon im Auto klar, dass du meine Sprache verstehst.« Ich stampfte mit dem Fuß auf. »Dann sei dir auch darüber klar, Mahmud Bashadi: Ich würde dich niemals heiraten, und wenn du der letzte Mann auf der ganzen Welt wärst!« »Amerikanisches Flittchen!« Sein Fuß kickte einen Kiesel aus dem Weg. »Glaubst du, ich möchte wirklich so jemanden wie dich?« Er stolzierte davon und ich musste rennen, um mit ihm mitzuhalten. Ich folgte seiner Gestalt im schwachen Licht des Dungfeuers der Obdachlosen. Einige Meter hinter der letzten roten Flamme stieg er einen steilen Weg hinauf. Langsam hüllte die Nacht ihn ein und ich hörte nur noch seine Schritte auf dem schmalen Pfad. »Autsch!« Ich stolperte und stieß mir das Knie an einem Felsvorsprung. Ich wollte mich daran festhalten und merkte, dass es eine Stufe war. Als der Mond hinter einer Wolke hervorkam, 93
sah ich jemanden über mir, der die steile in den Fels geschlagene Treppe hoch lief. Ich ging ihm nach und zählte mit, während ich ging, bis ich den Eingang einer Höhle erreichte. Ich schnappte nach Luft und starrte in die Dunkelheit. Igitt! Nach fünfzig Steinstufen war Zigarrenrauch das Letzte, was ich brauchte. »Mahmud«, fuhr ich ihn an. »Verflixt noch mal, mach diese stinkende Zigarre aus!« Etwas berührte mich und flatterte. Ich schrie auf. Mahmud lachte. »Hast du Angst vor Fledermäusen, Ya Hartman? Hier entlang! Komm!« Der dunkle, enge Durchgang schlängelte sich tief in den Berg. Ich folgte Windungen, bis mich der Geruch nach niedergebrannten Kerzen zum Würgen brachte. »Öffnet den Luftschacht«, schrie Mahmud, als wir eine schwach erleuchtete Kammer erreicht hatten. Der Raum schien die Küche zu sein. Ein eiserner Topf hing über einer runden Feuerstelle aus Stein und eine grün, schwarz, weiß und rote palästinensische Fahne war mit Klebeband an der Mauer befestigt. An der gegenüberliegenden Mauer hing ein Bild von einem Mann mit Palästinensertuch und einer Handgranate in der Hand. Ein junger Mann saß auf dem Boden und dippte ein Stück Fladenbrot in grüne Soße. Er steckte das Brot in den Mund und grüßte mit einer Handbewegung. »Also hast du sie.« »Ja, Hassan, und außerdem noch Ärger. Der Verkäufer hat uns einen Mittelsmann nachgeschickt. Er verlangt sofortige Zahlung.« »Was hast du ihm gesagt?« »Dass er das Geld heute Nacht bekommt. Er solle um zehn hier sein.« Der junge Mann stand auf. »Gut gemacht, Mahmud.« Er blickte auf seine Uhr und leckte sich die Finger ab. Dann lächelte er. »Zehn ist gut, ja. Um zehn Uhr wird er bekommen, was ihm zusteht.« Er warf mir einen Blick zu und verbeugte sich spöttisch. »Hier entlang, bitte, Ya Hartman. Deine Mutter erwartet dich.« 94
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Der nächste Raum war mit zwei Steinplatten ausgestattet, die auf Felssockeln lagen. Von einer dieser Sitzgelegenheiten aus starrte mich ein junger Mann finster an. Er hielt ein Maschinengewehr quer über den Knien. Ich schauderte und wandte mich ab, blinzelte in das Gaslicht einer Laterne, die über dem anderen Sitzplatz hing. Dort saß eine Frau über eine alte, gelbliche Schriftrolle gebeugt. Haarsträhnen fielen ihr ins Gesicht. »Mom?« Sie blickte auf. »Ich bins, Vivi!« Ich rannte zu ihr. »Vivi?« Ihre Augen wurden groß. Ich warf die Arme um sie und barg meinen Kopf an ihrer Brust. Sie schob mich weg. »Na, komm schon, es reicht!«, sagte sie auf Arabisch. »Ich bin es, nicht dein Vater, dieser Weichling. Warum bist du nicht zu Hause bei ihm, wo du hingehörst?« Ich ließ die Arme sinken, trat zurück und starrte sie an. »Was hast du angestellt?«, fragte meine Mutter. »Bist du weggelaufen? Er wird dir die Polizei nachschicken. Warte nur.« Mit einem Blick auf den Mann mit dem Maschinengewehr hob sie die Hände. »Ich weiß, meine Herren, es war gut gemeint. Aber mein Mutterinstinkt ist schwach ausgeprägt. Nichts kann eine Karriere so ruinieren wie ein Kind.« Sie runzelte die Stirn. »Ich bin keine Mutter mehr, seit sie sieben Jahre alt war. Bringt sie weg. Setzt sie in ein Flugzeug nach Amerika. Ich werde die Kosten gern übernehmen.« Der Mann mit dem Maschinengewehr stand auf. Er musterte Moms Gesicht, dann blickte er zu Mahmud. »Ich wusste von Anfang an, dass sie nicht normal ist – ein Dämon in Frauengestalt!« »Dein Verstand ist der einer Frau, Ali«, antwortete Mahmud. »Siehst du denn nicht, was sie vorhat? Sie will uns glauben machen, dass ihre Tochter ihr nichts bedeutet. Dass sie das Zer95
tifikat nicht unterzeichnet, nicht einmal um des Lebens ihres Kindes willen. Sie will, dass wir ihre Tochter wieder in Sicherheit bringen. Dämon, ha! Sei ein Mann!« Er spuckte aus. »Hassan, gib ihr den Stift. Ich nehme das Mädchen!« Ali hob seine Waffe. Meine Beine zitterten, als Mahmud mich am Arm fasste und ein langes Messer hervorholte. Nur noch zwei Sekunden, sagte ich mir, und sie wird unterzeichnen und wir können gehen. Da hörte ich Moms zitternde Stimme. »Bitte verzeihen Sie mir. Es war dumm von mir zu denken, ich könnte Sie täuschen. Aber ich sage es nochmals: Diese Schriftrolle hier ist nicht die verschollene aus Kaifeng, bekannt als die Schriftrolle von Moses. Hier, das zweite Wort in der zweiten Zeile, sehen Sie: T-a-k-l, das bedeutet: wird vernichten. In einer koscheren Schriftrolle müsste t-sh-k-l stehen. Das bedeutet so viel wie: wird den Tod bringen.« Sie seufzte. »Aber der Vater meiner Tochter ist in diesen Dingen sehr bewandert. Erlauben Sie ihr, ihn anzurufen. Vielleicht hat er eine Erklärung für die falsche Schreibweise.« Dad? War sie verrückt? Ich wusste ja nicht einmal, wo er war. Oh Gott, lass sie diese Urkunde unterschreiben, betete ich. Bitte, rette uns! Plötzlich hörte ich ein Knirschen. Mahmud fasste mein Haar und legte das Messer an meinen Hals. »Was war das?« »Dein Unterhändler?«, flüsterte Hassan. Mahmuds Hand zitterte. Die Klinge berührte meine Wange, als er zu Mom sah. »Ihre letzte Chance, unterzeichnen Sie!« »Nein!«, ertönte ein Ruf. Ich blinzelte in den blendenden Lichtkegel einer Taschenlampe. Es war Shari und hinter ihr stand Lawrence, einen Arm um ihre Kehle geschlungen, den anderen gegen ihren Rücken gedrückt. »Lass die beiden Frauen sofort frei«, befahl er, »oder ich töte deine Schwester!« Mahmud erstarrte, dann ließ er langsam mein Haar los und warf das Messer weg. Hassan hob es auf. Da richtete Ali blitzschnell sein Gewehr auf Mahmud. »Verräter!«, rief er. Getroffen von einer Salve aus dem Maschinengewehr fiel Mahmud zu Boden. 96
Der Schütze zielte auf mich. Doch anstelle eines weiteren Schusses durchdrang ein Schrei die Luft und Alis Hand fuhr an seinen Hals. Als er fiel, sah ich das Messer. Vom Schaft tropfte Blut. Mom und ich hielten uns fest umschlungen. Shari wiegte Mahmud in ihren Armen und flüsterte die alten Worte: »Herr! Die Sterne scheinen und die Augen der Menschen sind geschlossen. Die Könige haben ihre Tore geschlossen und jeder Liebende ist allein mit seinem Liebsten. Herr! Hier bin ich allein mit dir.« Hassan kniete neben ihr. »Inshallah«, schluchzte er, »wir werden uns im Paradies Wiedersehen. Allah-u akbar.« »Allah-u akbar«, wiederholte Shari. Sie wiederholte es immer und immer wieder, bis Mom sie sanft von ihrem toten Bruder wegzog. »Jigadol vejikadasch schema rabah belemah«, flüsterte ich. »Verherrlicht und geheiligt werde Gottes großer Name in der Welt.« Mom und ich gingen in den Ort, um die Polizei zu verständigen und ein Telegramm an Sharis Familie zu schicken. Lawrence blieb mit Hassan bei den Toten, bis die Polizei mit einem Hubschrauber kam, um die Leichen zu holen und Hassan festzunehmen. Wir mussten unsere Aussagen zu Protokoll geben und unsere Personalien hinterlassen. Es war bereits früher Morgen, als wir mit dem Taxi zum Flughafen von Kayseri fuhren. Shari wollte so schnell wie möglich nach Jerusalem, um ihren Eltern beizustehen. Mahmuds sterbliche Überreste sollten nach Abschluss der Ermittlungen nach Jerusalem überführt werden. Bis Ankara flogen Mom, Lawrence und ich mit Shari. Mom saß neben ihr und sie unterhielten sich flüsternd. Am Flughafen umarmten wir uns, Shari und ich, bis Mom uns auseinander zog. »Wie soll ich sie jetzt verlassen?«, fragte ich Mom. »Wie kannst du es? Du bist ihre Beschützerin.« Meine Mutter lächelte unter Tränen. »Shari möchte es so. Sie will ihr Leben von nun an selbst in die Hand nehmen.« 97
Wir bekamen einen Anschlussflug nach Istanbul. Das Flugzeug würde am Freitag um sechs Uhr morgens dort landen. Ich muss mich immer noch im Schockzustand befunden haben, denn zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich keine Angst, als das Flugzeug abhob. Durch eine Art Nebel hörte ich die Frage meiner Mutter. »Wie kam es dazu, dass du Shari mitgebracht hast?« »Durch Zufall«, antwortete Lawrence. »Ich war auf der Suche nach deiner Tochter. Als du nicht rechtzeitig zurück warst, um sie vom Flughafen abzuholen, begann ich mir Sorgen zu machen. Es dauerte nicht lange, Sharis Cousine als deine Tochter zu identifizieren.« »Sind Sie uns deshalb aus dem Bistro gefolgt?«, fragte ich, jetzt wieder hell wach. »Genau. Von dem Augenblick an, als ich euch mit dem Hilfskellner ins Taxi steigen sah, war ich euch auf den Fersen. Ich hatte nach dir gesucht, Vivi, als ich in der Pension Europa Shari gefesselt und geknebelt vorfand. Sie ließ vielleicht eine Schimpftirade los, als ich ihren Knebel gelöst hatte! Sie beschuldigte mich aller bösen Taten, von der Entführung deiner Mutter bis zur Verschwörung mit ihrem Bruder und der Absicht, ihn anschließend zu bestehlen. Ich konnte sie dann aber doch davon überzeugen, dass ich auf eurer Seite stand. Sie schlug selbst vor, ich solle sie als Geisel benutzen. Sie war ganz sicher, dass ihr Bruder ihr nichts antun könne.« »Aber warum haben Sie nicht einfach die Polizei gerufen?« Lawrence zuckte mit den Schultern. »Die Zeit drängte. Und wir hofften, die Sache ohne Aufsehen lösen zu können. Außerdem wollte ich Chen nicht in Schwierigkeiten bringen.« »Das verstehe ich nicht«, sagte ich. »Woher wissen Sie denn, dass Chen der Verkäufer der Schriftrolle ist?« Lawrence seufzte. »Liebe, mein Kind, und Geld. Er braucht Geld, um seine Verlobte aus China zu holen. Sie gehörte zu den Studenten, die am Tianmen-Platz demonstriert hatten, und sie hat sich auch danach für Demokratie und Menschenrechte eingesetzt. Sie wurde jetzt von der Universität verwiesen und Chen fürchtet, dass man sie in ein Arbeitslager bringen wird. Chen hatte von dem Toraschrein aus China in unserem Museum ge98
hört und meinen Namen auf der Teilnehmerliste des Kongresses gefunden. Also hat er die Rolle, ein altes Familienerbstück, aus China herausgeschmuggelt in der Hoffnung, sie mir verkaufen zu können. Wir haben uns im Kosem Bistro getroffen, in einer der Nischen. Er hat mir die Rolle gezeigt und ich habe ihm gesagt, ich könne sie nur mit einem Herkunftsnachweis und einem Echtheitszeugnis kaufen. Außerdem hätte ich meinen Etat bereits ausgegeben und müsste versuchen einen Sponsor zu finden. Aber Chen konnte nicht warten. Er braucht das Geld sofort.« »Natürlich!«, sagte ich. »Mahmud hat zuerst drin im Restaurant gearbeitet. Er muss alles mit angehört und Chen ein Angebot gemacht haben.« Mom runzelte die Stirn. »Er hat schnelle Bezahlung versprochen, aber seine Freunde bestanden auf einem Echtheitszeugnis. Mit meiner Unterschrift, so hofften sie, könnten sie die alte Torarolle in Israel zum Freipressen von Gefangenen benutzen.« »Gegen einen ihrer Anführer wollten sie die Torarolle austauschen«, bestätigte ich. »Mahmud hat es seiner Schwester gesagt.« Mom seufzte. »Ich habe es leider erst zu spät begriffen. Mahmud hat sich mir gegenüber als Kunsthändler ausgegeben. Die Rolle befände sich in Kayseri, sagte er. Ich schöpfte Verdacht, weil er mich in einem Hotel treffen wollte und nicht in einem Büro. Aber ihr kennt mich. Die Aussicht, eine KaifengTorarolle zu sehen, war mir das Risiko wert.« Sie nahm meine Hand. »Ich kam mir selbst fast paranoid vor, aber ich machte mir Sorgen um dich. Also bat ich Shari auf dich aufzupassen. Nur vorsichtshalber. « »Und das hat sie auch versucht«, fuhr Lawrence fort. »Aber ich bin sicher, dass Chen nichts von deiner Entführung wusste. Er war genauso verblüfft wie wir alle, dass du plötzlich, mitten im Kongress, wegfährst.« Mom schüttelte den Kopf. »Armer Chen. Wie schwer muss es ihm fallen, sich von so einem Erbe zu trennen.« Lawrence nickte. »Es war bestimmt nicht einfach für ihn. Die Schriftrolle ist seit Jahrhunderten im Besitz der Familie Li. Sie wurde von Generation zu Generation jeweils an den ältesten 99
Sohn weitergegeben. Dabei ging das Wissen darüber verloren. Chens Eltern wussten nicht, wie wertvoll sie ist. Sie wussten nur, dass sie aus Kaifeng stammt, wo einige ihrer Vorfahren begraben waren. Die Familie war schon vor langer Zeit nach Beijing umgesiedelt. Chen sollte die Rolle an seinen Sohn weitergeben. Aber er sagte mir, er würde nie einen Sohn haben, wenn er die Frau, die er liebt, nicht heiraten könne. Und wenn er die Rolle nicht verkaufte, würde die zukünftige Mrs. Li vielleicht lebenslang eingesperrt.« »Li«, sagte Mom. »Natürlich! Der Name der Familie ist in die 1489. Tafel eingraviert.« »In welche Tafel?«, fragte ich. »In eine Steintafel«, erklärte Lawrence. Moms Augen funkelten. »Und diese Tafel gehörte zur Kaifeng-Synagoge. Die Namen der wichtigen Familien waren in den Stein eingraviert. Li ist chinesisch für Levi. Chen ist ein Levite.« Ich starrte sie entgeistert an. »Ein Abkomme von einem von Jakobs zwölf Söhnen? Aber er sieht wie ein Chinese aus.« Mom nickte. »Die meisten der Kaifengjuden heirateten nach und nach Chinesen. Sie verloren die Spuren ihrer eigentlichen Herkunft. Aber im alten Kaifeng taten die Leviten das, was sie früher in Israel getan hatten.« »Den Priestern bei den religiösen Pflichten zu helfen?« »Ja. Zum Beispiel halfen sie, die Heiligen Schriften zu bewahren. Von dieser hier fehlte bisher jede Spur. Die Familie Li hat sie seit Jahrhunderten bewahrt, obwohl der Grund dafür verloren ging.« »Aber du hast gesagt, sie ist nicht echt«, rief ich. »Ein Wort sei falsch.« Mom zuckte mit den Schultern. »Was hast du denn unter diesen Umständen von mir erwartet? Das waren Fanatiker. Glaubst du etwa, ich helfe ihnen bei ihrem Handel? Außerdem hatte ich ihre Gesichter gesehen und konnte sie identifizieren. Meinst du wirklich, sie hätten mich einfach gehen lassen, sobald ich das Papier unterzeichnet hatte? Als sie mich in die Höhle brachten, war mir sofort klar, dass sie mich zumindest solange dort festhalten würden, bis der Deal perfekt war.« 100
»Dann ist die Schriftrolle echt?« »Es muss die verschollene Kaifeng-Rolle sein«, sagte Mom. »Alles deutet darauf hin. Ich habe sie mir sehr genau angesehen. Aber natürlich wird es noch umfassende Untersuchungen geben.« Lawrence seufzte. »Wenn ich sie doch nur kaufen könnte.« »Mom«, rief ich, »du wirst doch bestimmt die Fördermittel bekommen. Dann könntest du Lawrence das Geld leihen und er zahlt es dir zurück, wenn er einen Geldgeber gefunden hat.« »Okay«, sagte Mom und umarmte mich. »Für eine KaifengSchriftrolle findet sich in Israel oder Toronto ganz bestimmt ein Sponsor. Und man wird einen fairen Preis dafür zahlen. Irgendwie schaffen wir es schon, für Chen inzwischen eine Überbrückungssumme aufzutreiben.« Sie lächelte. »Und wenn ich die Mittel bekomme, schlage ich meiner Universität die Förderung von zwei chinesischen Studenten vor.«
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Als das Taxi uns vor dem Hotel Tarabya absetzte, war gerade noch genug Zeit, zu duschen und das Morgengebet zu sprechen. Ich blickte auf die Stelle, wo Shari immer gebetet hatte. Wie leer das Zimmer ohne sie schien. Ich hatte ihr versprochen, ihre Sachen zu packen und sie mit nach Jerusalem zu bringen, wenn Mom und ich im August zur Hochzeit dorthin kamen. Ich würde es morgen tun. Jetzt musste ich mich für Moms Vortrag fertig machen. »Viel Glück«, wünschte ich ihr unten im Kongressraum. Ich gab ihr einen Kuss und sah ihr nach, als sie zum Podium ging. »Hierher, Vivi!« Lawrence winkte mir über die Köpfe der Clique aus dem Kosem Bistro hinweg zu. Langsam bahnte ich mir einen Weg zu ihnen durch den immer voller werdenden Saal. Die ganze Clique war da. Ken streckte mir die Hand entgegen. »Schön, dich wohlbehalten wieder zu sehen.« »Also hast du doch Beine, kleine Cousine«, stellte Vanessa fest. »Oder sollte ich sagen kleine Tochter, nachdem wir nun wissen, wer du wirklich bist?« Sie musterte mich von oben bis unten. »Du solltest öfter Miniröcke tragen.« Ursula sah sie gereizt an. »Ist Kleidung alles, was dich interessiert?« »Nein.« Vanessa lächelte höhnisch. »Ich interessiere mich auch für den Abschlussvortrag, den Doktor Davis jetzt halten wird. Also sei still, ja?« »Was ist schon so toll an Miriam Davis?« Ursula warf ihr blondes Haar zurück. »Professor von Ro…« »Genug! Es reicht!«, fuhr Lawrence dazwischen. »Haltet den Mund! Alle beide! Schon aus Achtung gegenüber Shari, die so gerne dabei gewesen wäre.« Ich blickte zum Podium, wo ein Mann die Hand hob. Es wurde still und er stellte meine Mutter vor. Dann übernahm Mom das Mikrofon. Ihre große, schlanke Gestalt steckte in einem maßgeschneiderten blauen Kostüm, keine einzige ihrer dunklen 102
Locken entkam der schimmernden, hochgesteckten Frisur. Wie kann sie ohne Schlaf so perfekt aussehen, fragte ich mich und strich eine Falte in meinem T-Shirt glatt. Und wie kann sie ohne Notizen sprechen? »Ich ändere meinen Vortrag, Vivi«, hatte sie mir vor einer Stunde erklärt. »Ich werde über die Schriftrolle sprechen.« Oh Gott, betete ich, mach, dass alles gut geht. Ich kann nicht einmal ein Referat in der Schule halten, ohne dass ich es mir vorher aufschreibe und übe. »Guten Morgen«, begrüßte uns meine Mutter. »Ich werde heute über das Analysieren von alten Dokumenten sprechen. Mein Beispiel wird eine Torarolle aus Kaifeng in China sein.« Als sie über Schriftzeichen und Transkription sprach, über die Interpretation von Nuancen und den historischen Hintergrund, schrieben die Leute wie verrückt mit und hörten erst eine Stunde später auf, als Mom zu den Schlussworten kam. »Damals«, sagte sie, »lebten in China unterschiedliche Volksgruppen zusammen. Zwischen Juden und Muslimen, beides Minderheiten, gab es viele kleinere Querelen. Und doch waren sie, trotz all ihrer ethnischen Rivalitäten, für ihre Gastgeber gleich. ›Sie sind alle se mu ren, sagten die Chinesen über sie, Menschen, die farbige Augen haben.‹ Waren sie nicht auch in anderen Dingen gleich? Beide Gruppen kamen aus Zentral- und Westasien. Beide glaubten an einen alleinigen Gott, beide hatten einen Ruhetag in der Woche, beschnitten ihre Söhne und aßen kein Schweinefleisch. Die Muslime nannten ihre weisen Männer Mulla. Die Israeliten nannten die ihren Manla, eine Abwandlung des gleichen Wortes. Beide Gruppen waren streng religiös und beteten einige Male pro Tag. Adam, Noah, Abraham, Isaac, Jacob und Moses sind Patriarchen von ihnen allen. Im zehnten bis zum zwölften Jahrhundert«, fuhr Mom fort, »während der Sung-Dynastie, war in China Hui Hui der Begriff für Menschen muslimischen Glaubens. Die Muslime trugen zum Beten einen weißen Turban, wohingegen die Israeliten einen blauen trugen. Im dreizehnten und vierzehnten Jahrhundert, der Zeit der Yuan-Dynastie, waren beide Religionsgemeinschaften in den Augen der Chinesen so ähnlich, dass sie die Israeliten Lan Hui Hui nannten, Blaue Muslime.« 103
Mom lächelte ins Publikum. »Wir sind heute aus vielen verschiedenen Ländern hier zusammen gekommen, um von der Sprache und den Gebräuchen der anderen zu erfahren. Ich hoffe, wir haben gelernt, dass wir trotz aller Unterschiede eher gleich als verschieden sind, dass wir alle se mu ren sind, Menschen mit farbigen Augen. Wenn wir nun in unsere Heimatländer zurückkehren, wo so oft Zwietracht zwischen den Kulturen gesät wird, bitte ich Sie, jeden Tag in den Spiegel zu sehen. Um des Friedens in der Welt willen, betrachten Sie jeden Tag die Farbe Ihrer Augen!« Der Applaus war ohrenbetäubend. Die Clique aus dem Kosem Bistro stand auf und rief laut »Bravo«. »Ist sie nicht die Größte?«, rief Vanessa und fasste aus einem Impuls heraus Ursulas Hand.
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Während der nächsten Wochen reisten Mom und ich durch die Türkei. Oft lagen wir auch erschöpft von all den Besichtigungen an weißen Sandstränden und erzählten uns gegenseitig von unserem Leben. Ihre Augen glänzten, als sie mir von dem Buch berichtete, an dem sie gerade schrieb, und von den Seminaren, die sie nächstes Jahr abhalten würde. Ich erzählte von der Schule, von Rachael und meinen anderen Freunden. Aber am meisten erzählte ich von Mike. »Du wirst ihn bei der Hochzeit treffen«, sagte ich. »Ich glaube, du wirst ihn mögen.« »Da bin ich sicher«, erwiderte meine Mutter. Sie strich mir übers Haar. »Vivi? Ihr zwei habt doch nicht…?« Es war das erste Mal seit ich denken konnte, dass Mom einen Satz unbeendet ließ. Es war eine »mütterliche« Frage, die Art von Frage, über die Rachael sich immer beschwerte. Mein Herz klopfte heftig. »Du hast kein Recht, mich das zu fragen«, sagte ich und tat so, als sei ich ärgerlich. Dabei dachte ich bereits daran, wie ich Rachael davon erzählen würde. Mom lächelte. »Nein, wahrscheinlich nicht. Du bist ja jetzt praktisch schon eine erwachsene Frau. Ich habe kein Recht, mich in dein Privatleben einzumischen.« Dann wechselte sie das Thema und ich seufzte. Sie hätte wenigstens noch ein wenig nachbohren können. Die Hochzeit in Israel war wunderschön. Marc sah toll aus in seinem weißen Hochzeitsanzug, der zu Rositas Volant-Kleid aus Tüll passte. Als sie in Bruno-Magli-Schuhen aus weißem Satin den Hauptgang hinunter schritt, sah ich auf die hohen Absätze. Ich dachte an unser Abenteuer in Miami Beach und fragte mich, ob sie wohl auch in diesen Absätzen etwas versteckt hatte. Shari und ihre Eltern kamen nur kurz vorbei, da sie in Trauer waren. Ich freute mich, dass sie Mike und Dad kennen lernten. 105
»Ich freue mich sehr, dich kennen zu lernen«, sagte Mrs. Bashadi auf Arabisch zu mir. Ihr Mann verbeugte sich und sprach Englisch. »Vielen Dank, dass du meine Tochter beschützt hast.« »Oh nein«, erwiderte ich. »Es war anders herum. Shari hat auf mich aufgepasst.« »Und jetzt passt sie auf sich selbst auf, sagte Mr. Bashadi.« »So muss es wohl sein.« Er blickte zu Dad, der nickte und seufzte. »Dann kann sie mich doch bestimmt bald einmal in Amerika besuchen?«, fragte ich. Mr. Bashadi zögerte und blickte zu seiner Tochter. »Möchtest du das?« »Vielleicht eines Tages«, antwortete Shari. Dann blinzelte sie. Das hatte sie schon lange nicht mehr getan und ich fragte mich, wen sie täuschen wollte. Als die Band anfing zu spielen, verabschiedeten sich die Bashadis, doch Shari blieb kurz zurück und umarmte mich ein letztes Mal. »Wäre es dir in den Herbstferien zu bald?«, flüsterte sie. »Ich habe mir bereits einen Flug reservieren lassen.« »Hallo, schöne Frau«, hörte ich, als ich Shari nachwinkte. »Kannst du ein wenig Zeit für Buck vom Klondike erübrigen?« Mike schob mich zur Tanzfläche. Von der anderen Seite des Orchesterpavillons aus winkte Dad uns zu. Fit und gebräunt von seinen Wanderungen, sah mein Vater äußerst attraktiv aus. Und so eng wie Mom mit ihm tanzte, konnte ich mir vorstellen, dass sie das Gleiche dachte. »Sieh nur, Mike«, sagte ich. »Was glaubst du, worüber sie flüstern?« Mike trat mir auf den Fuß, als die Musik das Tempo änderte. »Mach dir nicht zu viele Hoffnungen, Vivi. Du weißt, dass sie nach Paris zurückgeht. Du siehst sie erst nächsten Sommer wieder. Bis dahin wirst du mit dem Rabbi und mir vorlieb nehmen müssen.« Er zog mich an sich und rieb seine Nase gegen meine. »He, Ahuva, hab ich dir schon gesagt, dass du in diesem Mini toll aussiehst?« »Du siehst auch nicht gerade schlecht aus«, antwortete ich und sah lächelnd in seine großen braunen Augen mit den gelben 106
Pünktchen, die mich schon fasziniert hatten, als ich ihn das erste Mal sah. »Ich habe dich so vermisst, mein Lieblings Lan Hui Hui se mu ren.«
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Anmerkung der Autorin Im Herbst 1993, bald nach der Unterzeichnung des Friedensabkommens, unternahmen mein Mann und ich eine Reise nach Israel. Sukkot, das Laubhüttenfest wurde gerade gefeiert und überall waren farbenfroh geschmückte Stände zu sehen. Sukkot ist ein fröhliches jüdisches Fest und die Feiern in diesem Jahr schienen noch fröhlicher zu sein als sonst, da die Menschen vom Frieden sprachen. In der Stadt Jericho grüßten uns Araber mit einem herzlichen »Salaam.« Von einem lächelnden Ladenbesitzer kaufte ich ein T-Shirt, auf das ein Olivenzweig und das Wort Frieden in Arabisch und Hebräisch gedruckt waren. Auf weiß gekalkten Wänden prangten Graffiti: »Willkommen, Arafat«. Am achten Tag in Jerusalem sangen wir ausgelassen, während wir auf dem Weg zur Westmauer hinter einer Gruppe von Studenten hertanzten, die Torarollen trugen. Es war Simchat Tora, der Tag der Gesetzesfreude. Als der letzte Feiertag vorbei war, kaufte ich im Basar ein, dem alten Markt in Jerusalem. Erst letztes Jahr waren Juden in den schmalen Kopfsteinpflasterstraßen des arabischen Teils getötet worden. Jetzt durchstreifte ich sie furchtlos und hielt oft an, um arabische Leckereien zu probieren, während Frauen im Kaftan und bärtige Jeschiva-Studenten in schwarzen Mänteln an mir vorbeigingen. An unserem letzten Tag in Jerusalem liefen wir über die Promenade. Die herrliche Straße brachte uns hoch hinauf über die Stadt, die golden schimmerte. Unten im Wadi sah man Wanderer zwischen Felsen und Bäumen. Arabische und jüdische Kinder hüpften und sprangen und lachten miteinander, während ihre Eltern geruhsam hinterdrein gingen. Oben auf dem Berg endete die Straße vor einem Restaurant. Ich saß draußen an einem Tisch und trank eine Cola. Von einem Kunsthandwerker am nächsten Tisch kaufte ich eine Anstecknadel: zwei Friedenstauben, ihre Schwanzfedern wie ein Händedruck ineinander verwoben. Drei Tische weiter saß ein Mann, der eine Kipa trug, mit einer Frau und zwei kleinen Kindern. Ich lächelte sie an, 108
dann blickte ich noch einmal genauer hin. In der Gesäßtasche des Vaters steckte eine Pistole. »Man merkt, dass er aus den besetzten Gebieten kommt«, sagte der Kunsthandwerker. »Die sind immer gerüstet.« Am nächsten Morgen, dem Tag unserer Abreise aus Israel, wachte ich auf und hörte in den Nachrichten, dass drei jüdische Wanderer im Wadi von arabischen Fanatikern getötet worden waren. Als wir zum Flughafen fuhren, kamen wir an einem Plakat vorbei, einem Bild von Jitzchak Rabin. Der Lügner stand darüber. Ich steckte meine Friedensnadel an und trug sie den ganzen Weg nach Hause über meinem Herzen.
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Geschichtliche Anmerkung Am 13. September 1993 schüttelten sich auf dem Rasen vor dem Weißen Haus in Washington der israelische Premierminister Jitzchak Rabin und der Vorsitzende der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) Jassir Arafat beim Abschluss des historischen Friedensabkommens die Hände. Nach einem halben Jahrhundert arabisch-israelischer Feindschaft brachte die Unterzeichnung dieser Absichtserklärung für den Frieden einen Schimmer von Hoffnung für beide Seiten. Seitdem hat der Friedensprozess sowohl Fortschritte wie Rückschläge erfahren. Während die meisten Araber und Juden in Erinnerung an fünf Kriege für eine friedliche Lösung ihrer Konflikte eintreten, versuchen einige wenige Militante, den zerbrechlichen Frieden durch Terrorakte zu stören.
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Danksagung Mein Dank gilt: Donna Prentiss für eine faszinierende Autotour durch die Türkei und dafür, dass sie mich an ihren Kenntnissen über die Menschen und ihre Kultur teilhaben ließ. Jacob G. (Jack) Abramowitz für seine geduldigen Erklärungen der kalligraphischen Unterschiede bei Torarollen und der möglichen Verzerrung von Bedeutungen einzelner Worte. Vivian Zaharani, die mir freundlicherweise bei der türkischen Sprache behilflich war. Martha Brennecke, meiner Lektorin, deren freundliche Unterstützung und überragende Sachkenntnis wieder einmal alles zu einem Ganzen werden ließ. Mein ganz besonderer Dank gilt Dr. Mark A. Heller und Professor Sari Nusseibeh, deren herausragendes Buch »No Trumpets, No Drums« mir verstehen half, wie schwierig es ist, im Mittleren Osten einen dauerhaften Frieden zu schaffen. Zu seiner eigenen Hoffnung hinsichtlich eines solchen Friedens sagt Dr. Heller: »Ich habe immer gehofft, meine Kinder könnten das erleben, was Präsident Clinton ›das Wunder eines normalen Lebens‹ genannt hat: ihren Interessen nachzugehen, frei von Schatten vergangener Kriege und ohne Furcht vor zukünftigen Kriegen. Ich möchte, dass sie ihre Nachbarn kennen lernen, in deren Länder reisen und die Araber als Individuen kennen lernen, nicht nur als namenlose, gesichtslose Menschen voller Feindseligkeit. Jetzt, aufgrund des Arabisch-Israelischen Friedensprozesses, habe ich zum ersten Mal Anlass zu glauben, dass mein Traum wahr werden könnte, dass viele Araber und Israelis weniger Zeit mit den Problemen von Terrorismus und Krieg werden zubringen müssen. Sie könnten Zeit haben Dinge zu entdecken, die sie miteinander gemein haben, und lernen, jene zu verstehen, die sie trennen.« Professor Nusseibeh drückt ähnliche Hoffnungen für seine Kinder und zukünftige Generationen aus: 111
»Sobald wir unsere eigene Regierung einsetzen… wird mein Sohn sich wie ein normales Kind fühlen, das zu Menschen gehört, die frei sind. Er sieht dann vielleicht sogar einen Polizisten als Freund und nicht als Feind an. Aber vor allem wird er das Gefühl haben, an der Gemeinschaft gleichberechtigt teilhaben zu können und Dinge mit zu entscheiden, die für sein Leben bestimmend sind… Die Zeit wird kommen, dass sich die Verhältnisse so normalisiert haben, dass auch Beziehungen zu jüdischen Kindern normal sind. Dann wird es einen Austausch auf schulischer und sportlicher Ebene geben. Wir müssen die Kinder dazu erziehen, auf neue Weise miteinander umzugehen.«
Zitat von Mark Heller – Abdruck genehmigt. Zitat von Sari Nusseibeh aus »A Palestinian Looks Forward« von Barbara Sofer, Hadassah Magazine, November 1993, Abdruck genehmigt.
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