Ein Tag im Leben einer Polizistin: Myrtille Xiao-Mei, 33 Jahre alt, Lieutenant in einem Pariser Kommissariat. Als ihr V...
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Ein Tag im Leben einer Polizistin: Myrtille Xiao-Mei, 33 Jahre alt, Lieutenant in einem Pariser Kommissariat. Als ihr Vater stirbt, fliegt sie zur Beerdigung nach Toulon, wo sie unmittelbar nach der Landung Zeugin eines brutalen Raubüberfalls wird. Dabei lernt sie auch Commandant Rembrandt von der „Crim" kennen. Als er Myrtille für seine Zwecke einzuspannen versucht, hält sie endlich die Zeit für gekommen zu zeigen, was in ihr steckt. Das erweist sich jedoch als nicht ganz ungefährlich. Denn Rembrandt hat es auf einen skrupellosen tschetschenischen Waffenhändler abgesehen, den er für den Drahtzieher des Überfalls hält, und der sich in einer Enklave von Superreichen eingenistet hat. Doch da kochen noch ganz andere Kaliber ihr Süppchen. Und je später der Abend, desto höher die Leichenberge ...
Olivier Mau
Myrtille am Strand Roman
FUNNY CRIMES bei SHAYOL »Myrtille
am Strand« Die Originalausgabe erschien 2003 unter dem Titel »Myrtille
ERSTER TEIL Morgens »Wie heißt denn dieser ganz weiße Vogel?« fragt Nicole. »Das ist eine Möwe«, antwortet Martine. Gilbert Delahaye, Martine ä la 1 Seit sie über die alte Frau hergefallen waren, hatte sich Franck Perugin mit den Möwen wieder ausgesöhnt. Irgend etwas schien in der Luft zu liegen, denn schon letzte Woche hatten sie im Hafen von Cannes einen Yorkshire Terrier massakriert. Im Sturzflug hatten sie ihn förmlich unter sich begraben, zerfetzt und gefressen -das alles vor den entsetzten Augen seines Besitzers,
eines englischen Touristen, der auf offener Straße in Tränen ausgebrochen war. Perugin hatte es in der Zeitung gelesen. Da er weder alte Frauen noch kleinformatige Hunde ausstehen konnte, waren solche Meldungen für ihn jedesmal ein Hochgenuß. Er war hingerissen, und eine Menge wunderbarer, gleichwohl widersprüchlicher Dinge tobten durch seinen Schädel und jagten ihm, während er so vor sich hin grübelte, einen sehr angenehmen Schauder über den Rücken. Eigentlich war Denken ja nicht seine Stärke. Seine Kollegen richteten selten das Wort an ihn, und das nicht nur, weil er erst kürzlich zur Mannschaft gestoßen war. Perugin war eine jämmerliche Gestalt, eingebildet, aggressiv und wortkarg. Aber an diesem Morgen lächelte er, was sonst nur sehr selten vorkam. Und nicht allein wegen der Möwen. Es war 8 Uhr 40. Die Sonne brannte schon heiß auf die Küste des Departements Var herab, und man konnte sich auf einen weiteren dieser Hundstage gefaßt machen. Perugin saß hinter dem Steuer. Normalerweise kümmerte er sich lieber um die Ladung. Die Muskeln spielen lassen, das Gefühl des Revolvers, der ihm gegen den Schenkel schlug, das empfand er als viel befriedigender. In dieser Rolle fühlte er sich wohl. Er spürte dann förmlich die lüsternen Blicke der Schaulustigen auf seinem breiten Rücken. Was für ein tolles Gefühl, wie bedeutend kam er sich da immer vor! Aber dieses eine Mal war es ihm ausnahmsweise lieber, groß und breit hinter dem Armaturenbrett zu sitzen. Seine beiden Teamkollegen waren vor fünf Minuten weggegangen. Er hatte ihnen nachgesehen, wie sie sich Kaugummi kauend entfernten. Dann hatte er die Seitentür verschlossen, und als er sich wieder in den Sitz zurückfallen ließ, bemerkte er das Mädchen. Er hatte nicht sofort realisiert, daß ihr aufreizender Gang ihm galt. Mit solchen 3 Prachtexemplaren kam er sonst nur in seinen Hochglanzzeitschriften in Berührung. Und deshalb lächelte er nun, daß die Kiefer nur so knirschten. Diese da konnte er sich gut als Pin up-Girl vorstellen. Blond, na logisch! Bekleidet nur mit einem reich verzierten Pareo und einem winzigen Handtäschchen. Braun gebrannt. Großartig. Wirklich verdammt schön, dachte Franck Perugin voller Anerkennung, während er sie beobachtete, wie sie mit einem Hüftschwung wie nicht von dieser Welt auf die abgeflachte Schnauze seines Mercedes-Transporters zu stolzierte. Das Mädchen sagte etwas zu ihm, aber Franck verstand sie wegen der gepanzerten Scheiben nur zum Teil. Immerhin bekam er mit, daß sie mit
einem leichten Akzent sprach. Umso besser. Eine Ausländerin, stellte er sich vor, ist viel leichter rumzukriegen. Vielleicht hielt sie ihn in seiner ganzen Aufmachung ja sogar für einen Bullen. Er überprüfte kurz die Umgebung. Unter dem Vordach des Flughafengebäudes stieg ein verantwortungsbewußter Familienvater aus einem Taxi und zog seinen Anhang im Laufschritt mit sich zur Abfertigungshalle. Er beobachtete, wie die kleine Schar von den automatischen Schiebetüren verschluckt wurde, um sich dann erneut auf das Mädchen zu konzentrieren. Aus der Nähe betrachtet war sie gleich noch beeindruckender. Eine unwiderstehliche Schönheit. Sie machte ihm ein Zeichen, die Scheibe runterzukurbeln, und Franck fühlte, wie er zu schwitzen begann. Trotz der Klimaanlage im Fahrerhaus verlor er auf einen Schlag zweihundert Gramm, allein aus den Achseln. Er fühlte sich unwohl in seiner Haut und wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn. Man sollte ihn nur ja nicht für einen Anfänger halten. Franck Perugin war neu in diesem Beruf, das schon. Aber deswegen mitten in einem Auftrag einer unbekannten Frau das Fenster zu öffnen, das hieße, gegen die wichtigste Sicherheitsregel zu verstoßen. Das kam gar nicht in Frage. Er hing an seinem Job. Er hätte sie im übrigen noch nicht einmal anschauen dürfen. Mit einem Augenaufschlag sandte er ein weiteres Lächeln in Richtung des Mädchens und versuchte, möglichst viel Gefühl hineinzulegen: Er fühlte sich geschmeichelt, daß sie ihn auserwählt hatte, offenbar hatte sie Geschmack, aber Geschmack hatte er auch, signalisierte er ihr und deutete auf seine schweißnasse Stirn, also von mir aus wann du willst, meine Hübsche, aber nicht jetzt, ich 4 habe nicht nur breite Schultern, sondern trage auch Verantwortung, verstehst du? Die unwiderstehliche Schönheit verstand vollkommen. Im Gegenzug zog sie ihm eine entzückende kleine Schnute. Sag mal, schien sie anzudeuten, während sie ihn mit ihren Blicken auszog, du bist ja ein ganz Starker, oder? Ohne zu zögern glitt ihre sonnengebräunte Hand zur Handtasche. Sie zog einen kleinen Quo Vadis-Kalender und einen Füller heraus und notierte ihre Telefonnummer. Oh, dieses Weibsbild, murmelte Franck Pérugin unwillkürlich und wurde auf seinem Sitz ganz unruhig, also so was, ich glaub's ja nicht. Die junge Frau schenkte ihm ein strahlendes Lächeln, dann zeigte sie mit dem Kinn auf das runde Klappfenster an der Seitentür.
Die Schießscharten, die sie noch nie benutzt hatten. Eigentlich waren sie dazu gedacht, den Lauf einer der beiden pump guns durchzuschieben, die in der Halterung angebracht waren. In den Vorschriften war dazu lediglich vermerkt: Nur zur Verteidigung. Franck schoß hoch und riß das Fenster auf. Wahnsinn, dachte er, immer noch ohne recht daran zu glauben, ich leg sie flach, das steht fest. Aber im nächsten Augenblick stand für ihn etwas ganz anderes fest - das Mädchen war die Königin aller Schlampen. Franck bekam ein rundes, schwarzes Ding auf den Fuß. Etwas Schweres, das ihn zurückweichen ließ. Sein Lächeln verschwand. Ihm ging alles Mögliche durch den Kopf. Seine alte Mutter, die kleinen Hunde, die letztlich gar nicht so schlimm waren, die Möwen, all das. Der Geldtransporter vibrierte nur ganz leicht. Draußen war ein dumpfes Geräusch zu hören, nicht lauter als ein feuchter Furz. Das Fahrerhaus füllte sich mit grauem Rauch, und auf der gepanzerten Windschutzscheibe formte sich ein Sternenmuster aus kleinen blutigen Punkten. Und während ein Teil seines Hirns in Richtung Deckenlämpchen zischte, dachte Franck Pérugin noch, daß er besser schleunigst aussteigen sollte, denn das Ding war eine verdammte Handgranate. Unter dem Heck der DC 10-30 standen Berthold Clouet und André Murillo mit beiden O-Beinen fest auf dem Boden der einzigen Rollbahn, die in Richtung Meer zeigte. Berthold, eine Ray-Ban für acht 5 zig Euro auf der Nase, hatte am Vortag seinen 25. Geburtstag gefeiert. Er kaute einen Freedent, den Spezial-Kaugummi für Leute, die sich nicht gern mit einer Zahnbürste aufhielten. Er hatte eine Hand auf seinen Gurt gelegt, die andere schloß sich um den Holzkolben seiner sechsschüssigen Waffe. Er ließ es sich nicht anmerken, aber er war sehr beeindruckt. Über seinem Kopf brüllten die Triebwerke. Er selbst war noch nie geflogen. Und in Paris war er auch noch nie gewesen. Alles, was er darüber wußte, stammte aus irgendwelchen Fernsehserien. Eigentlich wäre Berthold Clouet gerne Polizist geworden. Aber ohne Abi, hatte man ihm gesagt, sei das unmöglich. Deshalb war er Geldtransportbegleiter geworden: Er bekam 991 Euro netto, alle Zuschläge inbegriffen, und dazu sogar einen Revolver. Und die Uniform. Das konnte sich schon sehen lassen. Ein paar Meter entfernt nahm André Murillo die Ladung in Empfang. Zwei Typen waren extra deswegen aus Paris gekommen und flogen sofort wieder zurück. Ein wichtiger Kunde, mutmaßte er. Er wußte nicht, wer es war, aber
das Vorgehen war außergewöhnlich. Der Auftrag war am Vorabend eingegangen. Und im selben Moment, in dem er sich den Aktenkoffer gegriffen hatte, der flach war wie eine Zeichenmappe, war ihm klar, daß es sich nicht um Bargeld handelte. Er war schon sehr lange im Geschäft, ein alter Hase, der die wichtigsten Aufträge der Firma erledigt hatte, und ein reinrassiger Varois, dem die Sonne des Südens viele Furchen ins Gesicht gemeißelt hatte. Wenn er auf seiner Terrasse saß, der Hund zu seinen Füßen und ein alkoholfreies Bier in der Hand, schwärmte er oft seiner Frau vor, wie er den Davis-Cup-Pokal transportiert hatte, den Mondstein, ein master tape der Beatles und sogar den größten Diamanten der Welt. »Man muß nur immer die Augen offen halten«, wurde er nicht müde zu wiederholen. Murillo quittierte die Empfangsbescheinigung, grüßte lässig seine Pariser Kollegen, und während die ersten Passagiere bereits über das Rollfeld zum Flugzeug unterwegs waren, das schon wieder zum Abflug bereit stand, gingen sie zurück zum funkelnagelneuen Abfertigungsgebäude von ToulonHyères. Berthold Clouet war mit seinen Gedanken nicht so recht bei der Sache. Er betrat als erster die Halle. Wie vorgeschrieben hatte er seinen Revolver halb aus dem Halfter gezogen, den Zeigefinger am stählernen Abzug. Unwillkürlich mußte er an diesen fetten Idio 6 ten Pérugin denken, der im Geldtransporter geblieben war, was ihm recht geschah, diesem Affenarsch, von dem man nicht einmal wußte, wo er eigentlich herkam, der mit seinem aufgeblasenen Getue. Mit Sicherheit ein Protege der Direktion. Murillo folgte ihm mit schnellem Schritt. Sein Blick blieb an Bertholds Schultern hängen, auf denen die kugelsichere Weste schwer lastete. Ein guter Junge, dachte er, er hätte glatt sein Sohn sein können. Eine weibliche Stimme kündigte an, daß das Einchecken für den Flug um 9.25 Uhr beendet sei - alle Passagiere werden gebeten, sich zum Schalter von Air Liberté zu begeben, letzter Aufruf, danke. »Das wird wieder eine Urlaubssaison werden«, murmelte Murillo, der Touristen nicht sonderlich schätzte. Sie kamen an einem Monitor vorbei, auf dem große gelbe Buchstaben auf schwarzem Hintergrund alle Flüge des Tages ankündigten, und der junge Berthold Clouet ertappte sich erneut dabei, wie er vor sich hinträumte. Das
war alles andere als professionell. Kein Wunder, daß er die beiden Typen mit Sturzhelm übersah, die direkt auf ihn zukamen. Der erste trug Strandschuhe, weite Shorts, ein Hawaii-Hemd und eine halbautomatische Pistole, Marke Ceska Zbrojovka, dreizehn Schuß im Magazin, ein zusätzlicher im Lauf. »Gute Mutter Gottes ...«, preßte André Murillo mühsam hervor. »Was?« fragte Berthold Clouet. Der zweite Mann war kleiner als der erste. Er wirkte ziemlich jung. Ein weiches Fell aus blonden Haaren bedeckte seine sonnengebräunten Waden. Er trug Bermuda-Shorts, darüber ein Trikot des französischen FußballWeltmeisterteams und einen seltsamen Regenmantel. Seine Augen waren hinter dem abgedunkelten Visier des Helms nicht zu sehen. In der linken Hand trug er die gleiche Halbautomatik wie der andere, aber zu einer .40 Smith & Wesson umgebaut, im Lauf ein Drehgewinde. Was er in der anderen Hand hielt, war nicht zu erkennen. Die blieb unter dem seltsamen Regenmantel verborgen, was recht merkwürdig aussah. André Murillo ließ den Koffer los und stieß einen Fluch aus. Berthold Clouet drehte sich verblüfft zu ihm um. »Alles okay, Kollege? Du bist ja ganz blaß.« Murillo hatte keine Zeit zu antworten. Er fragte sich, was bei der Heiligen Mutter Gottes er denn bloß verbrochen hatte, daß er mit so einem Tagträumer im Team gestraft worden war, selbst wenn 7 er ihn gut leiden konnte. Dann drang die erste Kugel in sein Auge, ohne wieder auszutreten. Er schien einen Moment lang zu schweben, dann schlug er der Länge nach hin. In dem Abfertigungsgebäude aus Beton und Glas hallte der explosionsartige Knall wie ein Donnerschlag wider. Es folgte ein bedrückender Moment der Stille, gerade genug Zeit für jeden, sich das Schlimmste auszumalen, und dann stieß der verantwortungsbewußte Familienvater einen Schrei aus und warf sich blindlings über seine Kinder. Berthold Clouet dachte noch bei sich, der Zug ist abgefahren, Scheiße, wie in Julie Lescaut. Er zog seinen Revolver, und während er sich um seine eigene Achse drehte, merkte er, daß das im Leben ganz anders war als im Fernsehen. Dem Gerichtsmediziner zufolge, der ihn später untersuchte, hätte er an seinen Verletzungen mehrmals sterben können, noch bevor er die Augen das letzte Mal schloß. Ein echtes Massaker. Alle lebenswichtigen Organe zerfetzt, vierzehn Kugeln im Brustkorb, drei in der Schulter und zwei im Kopf.
Die beiden Mörder hatten sich kaum bewegt. Mit vorgestreckten Armen standen sie in einer sauren Wolke aus Kordit, umgeben von einem Beet noch glühender Patronenhülsen. Man hörte den Aufprall eines Magazins auf dem Boden, das war praktisch alles. Das Weltmeistertrikot steckte die Waffe ein, machte fünf Schritte nach vorne, schnappte sich den Koffer, eine Hand immer noch unter dem Regenmantel verborgen, und dann machten die Mörder in aller Ruhe kehrt. Die Schiebetüren öffneten sich und schlossen sich wieder. Man hörte zwei schwere Motorräder starten, deren Lärm langsam in Richtung Meer verebbte. Hinter dem AOM-Schalter stammelte eine leichenblasse Hostess mehrmals vor sich hin, daß man die Polizei rufen müsse. Und da mir jetzt keine große Wahl mehr blieb, antwortete ich, daß rein zufällig ich die Polizei sei. 2 »Das ist alles?« fragte der Capitaine der Gendarmerie. »Das ist alles«, bestätigte ich, »ich war am Schalter, als die Schießerei losgegangen ist. Der Größere war Linkshänder.« Der Mann kniff die Lippen zusammen. 8 »Und Sie kommen aus ...« »Paris«, sagte ich, »ich hab gerade einen Platz für den Rückflug reserviert.« Der Capitaine, ein schöner Junge mit Vierkantkinn, schüttelte niedergeschlagen den Kopf, dann blickte er sich um. Über die ganze Halle verteilt befragten seine Kollegen stehend oder auf den Plastiksesseln sitzend die anderen Zeugen. Der Zugang zum Flughafen war abgeriegelt, alle liefen kreuz und quer durcheinander. »Urlaub?« fragte er. »Wenn man so will«, sagte ich. An der Bar brüllte ein Journalist von TF 1 in sein Handy. »Und wie soll ich das ohne Kamera machen? Aber ich hab Ihnen doch gesagt, daß alle Flüge annulliert sind! So ein Scheißhaus! Das ist doch nicht so kompliziert! Ja, genau! Und ein bißchen zügig! Weiß ich nicht! Schickt mir ein Team aus Marseille! Wie? Verdammt noch mal, von mir aus mit der U-Bahn!« Der Journalist beendete wütend das Gespräch, als ein Team von France 3, Redaktion Cote d'Azur, vorbeikam, dermaßen hochgerüstet, daß es für die Landung in der Normandie gereicht hätte. Ich wühlte in meinem Rucksack und setzte meine uralte Billig-Sonnenbrille auf.
»Gut«, meinte der Capitaine und tippte auf sein Notizbüchlein, »ich schreib mir Ihren Namen und Ihre Adresse auf.« Ich gab sie ihm. »Myrtille«, wunderte er sich, »komischer Vorname, oder?« Ich wartete jetzt schon drei Stunden, also starrte ich demonstrativ auf meine Uhr. »Sind Sie Chinesin?« »Eurasierin«, sagte ich. »Aha«, hüstelte er verlegen, »da war ich noch nicht.« Nein, diese Schlagfertigkeit! Wo hatten sie bloß diesen Witzbold ausgelassen! Durch die Fensterfront bemerkte ich einen Polizei-Hubschrauber, der die Startbahn umflog und auf dem Rollfeld hinter der Absperrung aufsetzte. »Und hier«, fragte die exakte Kopie von Leutnant Blueberry, »wo wohnen Sie hier?« »Am Cap«, antwortete ich, was sofort Wirkung zeigte. Er blinzelte mich an, als hätte ich mich in Dornröschen verwandelt oder in etwas sehr Zerbrechliches. u »Aha, ich verstehe«, versicherte er mir, wobei er meine Drillichhose und meine Turnschuhe musterte, als würde irgendein Detail nicht so recht ins Bild passen. »Sehr gut. Sind Sie telefonisch erreichbar?« Ich gab ihm die Nummer. Er notierte sie. »Gut«, erklärte er, »es ist möglich, daß wir uns mit Ihnen noch mal in Verbindung setzen ...« Und ein wenig traurig fügte er hinzu: »Im Zuge der Ermittlungen ...« »Dann kann ich also gehen?« »Sind Sie sicher, daß Sie keine ärztliche Hilfe wollen? Wir haben einen psychologischen Dienst. Sie waren immerhin an vorderster Front.« Genau. Und um nicht zusammenzuklappen, sagte ich mir schon ständig vor, daß dies nicht mein erster Tatort war. Solange ich hier war, würde ich durchhalten. Nein, du klappst jetzt nicht zusammen, es ist alles in Ordnung, meine Liebe. Ich nickte dem Gendarmen zu und ging Richtung Ausgang. »Mademoiselle!« Ich hatte ihn vor fünf Minuten das erste Mal gesehen, kannte ihn aber schon in- und auswendig. Er trat von einem Bein aufs andere. Trotz seiner Bräune konnte ich sehen, wie er leicht errötete. »Capitaine?« fragte ich ihn mit unschuldiger Stimme.
»Ahm ... Hören Sie ... Vielleicht könnten wir ... Also, was ich sagen will: Es wäre ganz gut ...« »Sie sind wirklich reizend«, schnitt ich ihm das Wort ab, »aber die Antwort ist: nein.« Er breitete linkisch die Arme aus und schüttelte ein paarmal den Kopf, als würde er angestrengt nachdenken. Das konnte dauern, also warf ich erst mal meine Haare nach hinten. »Wer ist hier der Verantwortliche?« fragte plötzlich eine näselnde Stimme, die mir sofort mißfiel. Sie waren zu dritt. Derjenige, der gesprochen hatte, war höchstens 1,60 Meter groß, rothaarig, hatte eine milchige Haut voller Sommersprossen und trug spitze Stiefel, eine schwarze Lederweste und eine Art ausgefransten Borsalino. Er verbarg seine Augen hinter einer Spiegelbrille von Vuarnet, in der man sich selbst wie in Großaufnahme sehen konnte. 10 Die beiden anderen, hemdsärmelig und mit fluoreszierenden Armbinden mit dem Aufdruck Polizei, hielten sich im Hintergrund. Sie trugen ebenfalls Sonnenbrillen, ihre Revolver der Marke Manhurin unter der Achsel, silberne Köfferchen in der Hand, die Haare zerrauft - sicherlich, weil sie beim Verlassen des Hubschraubers zu nahe an die Rotoren geraten waren. »Commandant Rembrandt«, erklärte der Karottenkopf. »Wie der Maler«, präzisierte er, »Brigade criminelle. Und die beiden sind vom Erkennungsdienst. Der Rest meiner Gruppe kommt mit dem nächsten Flug über Marseille. Wer ist der Verantwortliche?« Der Capitaine der Gendarmerie deutete vage in Richtung Schalter. »Da drüben«, sagte er wenig liebenswürdig, »Colonel Masson.« »Masson«, wiederholte Rembrandt, »gut.« Und da ich immer noch da stand, deutete er mit dem Kiefer herablassend zu mir her. »Und wer sind Sie?« Mein schöner Capitaine plusterte seinen Oberkörper auf, als müsse er mich beschützen. »Sie ist eine Kollegin von Ihnen«, erklärte er, »im Rang eines Lieutenant.« Mit einem Wurstfinger schob Rembrandt seine Sonnenbrille nach oben, seine Rindsaugen musterten mich kalt. »Und was treiben Sie hier?« »Urlaub«, sagte ich. »Ich komme aus Paris.« »Ach wirklich?« »Definitiv.« »Na dann, schönen Urlaub, Mademoiselle«, meinte er und schob nervös seine Brille wieder auf die Nase.
Er gab den beiden Männern ein Zeichen und zog mit ihnen im Schlepptau ab in Richtung Zentrum des Spektakels, nicht ohne irgend etwas Unerquickliches zum Thema Frauen zu murmeln. Der Capitaine zuckte die Achseln und schüttelte mir die Hand. »Ich heiße Mathias«, sagte er grinsend, »aber jeder nennt mich Max. Schade, daß Sie nicht ... Na ja, gut, wenn Sie mich brauchen, wissen Sie, wo Sie mich finden.« Er tat mir ein bißchen leid, also warf ich ihm, bevor ich mich auf die Socken machte, eines meiner schönsten Lächeln zu, das mit dem schmachtenden Augenaufschlag, das beruhigt sie immer eine Weile, und tschüß Mathias. 11 Ich bahnte mir meinen Weg durch das allgemeine Chaos, während ich die ganze Zeit den Blick des Capitaine auf meinem verlängerten Rücken spürte. Um den Schauplatz der Schießerei hatte man das offizielle rot-weiße Absperrband gespannt. Karottenkopf redete schroff auf den Colonel der Gendarmerie ein, einen Fünfzigjährigen mit weißen Haaren, der es nicht zu schätzen schien, daß man in diesem Ton mit ihm sprach. »Was soll ich Ihnen denn noch sagen?« zischte Rembrandt, »ich habe hier ein Rechtshilfeersuchen. Diese Geschichte steht in direktem Zusammenhang mit meinen Ermittlungen. Wenn Sie damit ein Problem haben, klären Sie das mit dem Präfekten!« Die Antwort ging im allgemeinen Stimmengewirr unter, aber ich verstand, daß vom Ministerium die Rede war. »Ja, machen Sie nur!« ereiferte sich Rembrandt, ließ den Colonel stehen und ging mit großen Schritten zu den Leichen. »Und wenn Sie schon mal da sind, geben Sie dem Sohn des Kabinettchefs doch einen Kuß von mir, er ist mein Patenkind.« Der Colonel verzog angewidert das Gesicht, und die Bullen von der Spurensicherung knieten sich hin und öffneten ihre Köfferchen. Sie breiteten den ganzen Kram vor sich aus und streiften weiße Overalls und Handschuhe über. Mit einer antiken Nikon F3 knipste der erste den Tatort aus allen Blickwinkeln und verteilte um die Patronenhülsen herum kleine gelbe, nummerierte Metallplättchen. Einige Meter weiter schüttelte ein Feuerwehrmann verzweifelt den Kopf. Ich sah ihm lange in die Augen, weil ich nicht wagte, den Blick auf die blutüberströmten Leichen zu senken. »Er hat fotografiert«, erklärte der Familienvater einem Gendarmen, »beim Schießen hatte er eine Hand unter seinem Mantel. Ich hab das Objektiv gesehen. Er hat auf sie geschossen und gleichzeitig fotografiert.«
»Aha, und wissen Sie auch die Marke?« fragte der Gendarm, clever wie er war. Der andere schaute ihn entgeistert an, und ich beschloß, mir das Ganze nun doch aus der Nähe anzusehen. »Sind Sie immer noch da?« spuckte mir der kleine Commandant entgegen. »Können Sie nicht endlich abhauen?« Er war mir eindeutig unsympathisch. Es gibt so Leute, die trifft man das erste Mal und verabscheut sie sofort, ohne zu wissen warum. 12 Also ging ich einfach weiter. Ich brauchte ohnehin dringend frische Luft. Ich hatte die ganze Nacht nicht geschlafen, und das entstellte Gesicht des jungen Geldboten schien sich in meine Netzhäute eingebrannt zu haben. Aber es kam überhaupt nicht in Frage, in Ohnmacht zu fallen, noch dazu vor diesem Geisteskranken. Ich mußte weitergehen. Genau. Gehen. Einen Fuß vor den anderen setzen, bis ans Meer. Während man die anderen Zeugen durch das untere Stockwerk hinausbrachte, öffneten sich vor mir die Türen, worauf mir eine stickige Hitze an die Gurgel sprang. Getaucht in ein Meer von Blaulichtern drängelten sich die Leute rund um den gepanzerten Geldtransporter. Soweit das Auge reichte, sah man eine Flut von Fahrzeugen und Sturzhelmen. Blitzlichter. Schreie. Ein weiterer Hubschrauber dröhnte über unseren Köpfen und trug das Seine zu der apokalyptischen Szenerie bei. Ich lehnte mich an den Krankenwagen. Ein Notarzt rempelte mich an und bahnte sich fluchend seinen Weg. Ich ging zum Parkplatz hinunter. Einen Fuß vor den anderen. Ich passierte das Absperrband und die Neugierigen, die sich in ganzen Trauben zusammengefunden hatten. Jeder gab hier seinen Senf dazu, obwohl keiner wußte, was genau passiert war. Von einem Attentat war die Rede, von korsischen Nationalisten, von islamischen Fundamentalisten, von der Concorde, der man nicht mehr trauen konnte, und was weiß ich noch alles. Ich bekam nur die Hälfte mit. Der Busparkplatz war überflutet von einer hysterischen Menge, die schubste und drängte, um mehr zu sehen. Um mit etwas Glück einen Blick auf ein bißchen Blut zu erhaschen. Ich erreichte den Kreisverkehr. Auf der langen, geraden Straße, die am Meer entlang lief, war der Verkehr völlig zum Erliegen gekommen. Mit vollgedröhnten Ohren überquerte ich die Fahrbahn. Ein Autofahrer pfiff mir hinterher, was ich aber nicht weiter beachtete, woraufhin er mir den Mittelfinger zeigte und ir-
gendeine Obszönität hinterherrief, während ich über die niedrige Mauer zum Strand hinabstieg. Überall die typischen Franzosen. Ein zähflüssiger Haufen aus tropfenden Leibern. Spitze Schreie von Kindern, der süßliche und ekelhafte Geruch von Sonnenöl, Eisverkäuferinnen, Strandlatschen und Sonnenschirme. Ich ließ mich auf meinen Rucksack fallen und den Kopf zwischen die Hände sinken. 13 Zwanzig Jahre war ich nicht mehr hierher gekommen, Seit dem Tod meiner Mutter. Dieser Ort war mir seit jeher ein Greuel. »Ein Problem, meine kleine Dame?« Ich war weder klein noch eine Dame. Mit dreiunddreißig Jahren ist man noch keine Dame. Ich war bloß eine Bullin vom Polizeirevier. Vielleicht eine, die ganz gut gebaut war, ganz sicher aber eine, die sich immer allein durchgeschlagen hatte. Für den alten Schönling, der sich mit einem siegesgewissen Lächeln vor mir aufgepflanzt hatte, war ich nur ein weiteres Opfer. Er war sich der Wirkung seines Charmes sicher und wackelte mit seinen alten, in eine Badehose gezwängten Hoden vor meiner Nase herum. Wenn ich eine wirkliche Dame gewesen wäre, hätte er sich so etwas niemals erlaubt. »Zieh Leine!« riet ich ihm mit schneidender Stimme. Meine Mutter, die mein Vater gleich nach meiner Geburt verlassen hatte und die er, völlig vereinsamt, langsam hatte krepieren lassen, als sie vom Krebs zerfressen worden war. Der Typ schien schwer von Begriff. Seinen Daumen hatte er lässig in das Gummiband seiner Badehose eingehakt. »Holla«, lachte er hämisch, »wir sind hier im Urlaub. Entspann dich mal ein bißchen.« »Polizei!« wiederholte ich. »Und du haust jetzt ab.« Mein Vater, der sich nie für mich interessiert, der mich immer ignoriert hatte. Mein Vater, der nun selbst den Abgang gemacht hatte, und für den ich ein letztes Mal diese Reise unternommen hatte. Um ihn zu begraben. Hinter mir raste eine Sirene heulend vorüber, zwei junge Dummköpfe applaudierten, und erst jetzt, da der alte Lüstling sich endlich aus dem Staub und auf die Suche nach einem anderen Opfer machte, brach ich in Tränen aus. 3 Germain Pilon, fünfundfünfzig Jahre alt, kauerte auf allen vieren, den Hintern in die Höhe gereckt, in den Hortensien seines Nachbarn. Er spionierte Malewitsch nach. Und warum auch nicht, denn bei Kasimir Malewitsch alias
dem Tschetschenen war immer etwas geboten. Jetzt zum Beispiel war er mit seiner abgesägten Jagd 14 flirrte unterwegs. Nur mit einem Rüschen-Bademantel bekleidet, darunter vollkommen nackt, stand er auf der Treppe seines bezaubernden Anwesens mit Säulen und Trompe-l'oeils an den Wänden und zeigte mit einem Finger drohend auf einen Mann in Arbeitskluft, der ihn einen Dieb schimpfte. »Und ich gehe nicht ohne mein Geld«, preßte der Handwerker hervor. »Und ich dich töten!« antwortete der andere und spannte beide Hähne seines Gewehrs. Aus dem Pritschenwagen, der weiter unten auf dem weißen Kies parkte, war eine dünne Stimme zu hören. »Komm zurück, Liebling! Er ist verrückt!« »Ganz genau!« brüllte der alte Mann. »Ich verrückt! Und wenn ich will, ich Sie ruinieren! Sie verstehen! Hop! Nichts mehr zu essen!« Germain Pilon hatte die Augen zusammengekniffen und ließ sich kein Wort der lebhaften Auseinandersetzung entgehen. Während der Klempner leise murmelnd den Rückzug antrat, verjagte Pilon eine Wespe, die ihn umschwirrte. August war der Monat der Wespen, vor allem in den höheren Lagen. »Gibt's ein Problem, Patron?« Auf der obersten Stufe war ein Berg von einem Mann aufgetaucht. Irgend etwas Schwedisches oder Norwegisches. Blond, den gebräunten Körper voller Palmöl und ein Badetuch um die Hüften geschlungen, ähnelte er Schwarzenegger, aber in doppelter Ausführung. Die Adern, die an Hals und Armen hervortraten, blähten sich wie Gartenschläuche. Germain Pilon schluckte. Vor allem deshalb, weil er diesen Typen nie zuvor gesehen hatte. Gewöhnlich spionierte er Tatjana hinterher, der jungen, kaum volljährigen Blondine, die der Tschetschene als seine Tochter ausgab und die immer nackt in den Swimmingpool sprang. Jeden Morgen zur selben Zeit. »Hannibal!« bellte Malewitsch. »Patron?« »Ich dir läuten?« »Nein, Patron.« »Dann du wieder rein, und im Galopp!« »Gut, Patron«, antwortete die Jahrmarktsattraktion und befolgte lässigen Schritts den Befehl. 14
Pilon seufzte. Der Tschetschene, ein dicker Mann mit langem Bart und angegrautem Pferdeschwanz, beunruhigte ihn. Er war relativ neu am Cap, was äußerst ungewöhnlich war. Pilon, der alle und jeden kannte, spähte ihn seit seinem Einzug im vorigen Sommer aus. Dieser Mann, dachte Germain Pilon, war nicht wie die anderen Bewohner dieser Enklave. Hier verkehrten die Leute normalerweise unter ihresgleichen. Seit den 50er Jahren, als man diese Luxusvillen erbaut hatte, waren die Anwesen in den gleichen Familien geblieben. Die begüterten Eltern versuchten von Generation zu Generation, mal recht, mal schlecht, ihre Sprößlinge in die verantwortungsvollen Schlüsselpositionen ihrer florierenden Unternehmen zu hieven. Zweiundfünfzig Villen auf einer Halbinsel, die in Form eines Wals zwischen Le Lavandou und St. Tropez in den Golf ragte. Vielleicht eine der letzten Ecken Frankreichs, die bis zu einem gewissen Grad noch über einen eigenen Strand verfügen konnte. Eine Sommerfrische ausschließlich in Privatbesitz, diskret, weit entfernt vom Jet Set, die jedoch einige der größten Vermögen des Landes verbarg. Daß sich der Tschetschene hier niedergelassen hatte, war an sich schon eine Überraschung. Der frühere Eigentümer des Säulenhauses, ein Mann aus Lyon, war unerwartet ums Leben gekommen, als bei einem Unfall sein Auto ausgebrannt war. Die Erben hatten nichts Eiligeres zu tun gehabt, als den Besitz dem Tschetschenen zu verkaufen, der, wie man hörte, es zudem nicht einmal für nötig befunden hatte, die Maklerrechnung zu begleichen. Außerdem ging das Gerücht, daß er seine Lieferanten nie bezahlte. Er hielt sich ein ganzes Heer von Rechtsanwälten und zögerte nicht, sich ihrer zu bedienen. Und was seine Armee von Leibwächtern betraf: Darüber wagte man gar nicht erst zu reden. Germain, sein direkter Nachbar, beobachtete ihn mit einer Mischung aus Furcht und Begeisterung. In dem Haus waren immer eine Menge Leute, vor allem aber, wenn auch nicht an diesem Morgen, die wunderhübsche Tatjana. Wegen ihr konnte Germain schon nicht mehr schlafen. Er war völlig verknallt in sie. Mädchen wie sie, ausgenommen die vom Schloß, hatte er im richtigen Leben nie getroffen. In seinem ganzen Leben nicht. Allein beim Gedanken an sie stellte sich das dichte Haar seiner Unterarme steil auf. Er war überhaupt ein sehr sensibler Mensch. Und Pilon war am Cap auf seine Art ebenfalls eine Ausnahmeerscheinung. 15 Niemand hier konnte ihn wirklich leiden. Die gutmütigeren unter seinen Nachbarn meinten, daß daran sein Unfall Schuld sei. Als junger Mann hatte
der Sohn eines ehrwürdigen alten Herrn eine brillante Karriere im Versicherungsunternehmen seines Vaters begonnen. Eines Tages gab es dann beim Tauchen Probleme mit den Sauerstoffflaschen, wodurch in zehn Metern Tiefe einige Zeit seine Luftzufuhr blockiert war. Es hieß, sein Gehirn sei zu lange ohne Sauerstoff geblieben. Genau wußte man es nicht. Drei Monate danach verlor Germain Pilon im Alter von neunundvierzig Jahren zuerst seine Arbeit, dann seine Frau, dann seine Freunde. Seither wohnte er am Cap in der Villa seiner Großmutter, die nur mehr einmal im Jahr hierher kam. Er war nicht besonders groß, trug sein Haar kurz geschnitten und Sommer wie Winter grob gerippte Wollhosen. Seine kleinen Augen hatten Pupillen wie Nadelköpfe und standen so eng beieinander, daß einem die Art, wie er einen ansah, manchmal Angst einjagen konnte. Aber Germain war nicht bösartig, wobei er zu kaum jemandem genug Kontakt hatte, um dies unter Beweis stellen zu können. Nichtsdestotrotz wußte er über alles und jeden Bescheid, zumindest gab er das vor, und das hatte bei den wirklich kultivierten Leuten zu einiger Verärgerung geführt. Ohne einen Pfennig Geld lebte er von Gefälligkeiten hie und da und kleineren Diebstählen in den umliegenden Anwesen, wobei er sich in seiner Einsamkeit manchmal vorstellte, das ganze Cap gehöre ihm. Im Moment allerdings kauerte er immer noch auf allen vieren. Also, ganz ehrlich, dachte Germain Pilon, als er dem Tschetschenen zusah, wie dieser wieder die Treppe hochging, der Typ hat Klasse. Er war allerdings der einzige, der so dachte. Alle anderen hier, vom Verwalter bis zum Rettungsschwimmer, verachteten den Neuankömmling von ganzem Herzen. Keinerlei Erziehung, hieß es. Der Typ, der sich ins gemachte Nest hockt und es schafft, keine Steuern zu zahlen. Denn hier, das konnte man auf den ersten Blick erkennen, war der schlimmste aller Schrecken, der ultimative Alptraum: die Vermögenssteuer. Darüber hinaus galt der Tschetschene als bisexuell. Er lebte völlig zurückgezogen, ließ sich nicht einmal am Strand blicken, und im einmütigen Urteil der Miteigentümer war seine wenig achtbare sexuelle Verirrung der ideale Vorwand, sich von ihm fern zu hal 16 ten. In Wahrheit freilich ging man ihm aus dem Weg, weil man ihn fürchtete: Der Kerl war wirklich gefährlich. Germain sah, wie er sich in seinen zu großen Bademantel hüllte, während das Auto des Klempners knatternd verschwand. Wie durch Zauberei erschien in der freien Hand des Tschetschenen ein Handy. Aus dem Gedächtnis tippte er
eine Nummer ein und wartete einige Sekunden, wobei er mit einem Fuß auf die Stufen stampfte. »Monsieur Palladio!« sagte er. »Hier Malewitsch am Apparat. Ja. Das Auto, das gleich vorbeikommt an Pförtnerloge ... Da! Genau das! Ich nicht mehr will sehen. Sie verstanden? Nie wieder lassen passieren!« Er ließ das Handy in die Tasche seines flauschigen Bademantels gleiten und schien einen Moment lang zu überlegen, während er bewegungslos vor seinem neuesten Werk stehenblieb: einem Wintergarten mit Plexiglaskuppel, durch die man die Sterne sehen konnte. »Und du«, sagte er, ohne sich umzudrehen, »du sofort raus aus meinen Hortensien!« In seinem ganzen Leben war Germain Pilon noch nicht so schnell gerannt. Oder zumindest war es schon sehr lange her. Er tauchte unter den Zweigen eines Olivenbaums hindurch, übersprang vier Stufen auf einmal, stolperte über den Stumpf einer alten Pinie und erreichte schließlich völlig außer Atem sein Haus. Das zweistöckige Gebäude überragte, so wie alle Häuser am Cap, ein abschüssiges Gelände. Germain bewohnte ein kleines Appartement im Erdgeschoß, der Rest war für seine hundertjährige Großmutter reserviert. Er stürzte in die Wohnung, das Herz schlug ihm bis zum Hals. Hatte ihn der Tschetschene erkannt? Und wenn ja, dann war es das wohl mit seinen kleinen Onanierstündchen beim Swimmingpool. Doch was sollte ohne Tatjana aus ihm werden? Er hatte nicht eine ihrer morgendlichen Vorstellungen versäumt, und sie waren für ihn zu so intensiven Erlebnissen geworden, daß die junge Frau inzwischen Teil seines Lebens war. Er schloß die Fensterläden, ohne den Geruch zu bemerken, jder im Zimmer herrschte, weil er schon seit seinem Einzug in diesem Gestank lebte. Kalter Nikotingeruch, Schweiß, Sperma und vielleicht, seit neuestem, die Ausdünstungen des toten Eichhörnchens, das er vor drei Tagen mit seiner Harpune in der Korkeiche der Brüder De Lafouche aufgespießt hatte. 17 In einer Ecke aufgestapelt lagen dreizehn Bände der Enzyclo-paedia Universalis, aus denen er jeden Abend eine Passage las, die er am nächsten Tag sofort wieder an den Mann zu bringen versuchte. Es reichte ihm schon, die Unterhaltung irgendwie auf das jeweilige Thema zu lenken, womit er jedoch niemanden täuschen konnte. Denn Pilon fehlte die Gabe, Zusammenhänge herzustellen. Wenn man sich über elektrische Eisenbahnen unterhielt, faselte er von der Flora Madagaskars oder von Luftakrobatik Mitte der 30er Jahre, je nachdem, welches Thema er am Vorabend studiert hatte. Außerdem war sein
Gedächtnis begrenzt. Nach zwei Tagen hatte er das Gelesene wieder vergessen. Aber Germain Pilon war im Moment ohnehin nicht so recht bei der Sache. Einem Pornomagazin mit lauter echten Blondinen, das aufgeblättert auf dem Fußboden lag, gab er einen Fußtritt, dann setzte er sich auf seine schmutzige Matratze und vergrub sein Kinn zwischen den Knien, während er von der immergleichen Frage gemartert wurde: Hatte ihn der Tschetschene erkannt, und wenn ja, wie würde er reagieren? Ein paar Sekunden später sprang die Antwort direkt in seine vier Wände, als die Fensterläden unter einem kapitalen Fußtritt zersplitterten. Auf einen Schlag drang Sonnenlicht ins Zimmer, nicht für lange allerdings, denn durch die übergroße Silhouette Hanni-bals wurde es genau so schnell auch wieder dunkel. Germain Pilon zog sich auf seinem Lager zurück, bis er mit dem Rücken gegen die Betonmauer stieß. »Ich kann's Ihnen erklären«, stammelte er. »Nicht nötig«, versicherte der Koloß und warf den Tisch mit dem dreckigen Geschirr um. Pilons Augen suchten irgend etwas, womit er sich verteidigen könnte. Aber außer dem tahitianischen Pfeil, mit dem er das Eichhörnchen aufgespießt hatte, sah er nichts Scharfes, auch nichts Stumpfes. Der Pfeil lag aber weit außerhalb seiner Reichweite, und wozu wäre er schon gut gewesen? Er wußte genau, daß er es ohnehin niemals gewagt hätte, ihn gegen Hannibal zu richten. Jeder Widerstand ist zwecklos, dachte er, man tötet nicht ungestraft Leute, einfach so, bloß wegen eines schiefen Blicks. Jedenfalls nicht ihn, weil solche Dinge immer nur anderen zustießen. Eine saubere Abreibung war fällig, das wäre aber auch schon alles. Er würde versuchen, das Ganze noch ein wenig zu dra 18 matisieren, in Tränen ausbrechen und unter den Schlägen zusammenklappen. »Glaubst du an Gott?« fragte Hannibal. Pilon nickte hektisch. »Na, umso schlimmer.« Und was, wenn man heutzutage die Leute doch ungestraft töten darf, fragte sich Germain Pilon. Der Riese kam mit geballten Fäusten näher. Pilon schloß die Augen. 4
Ich hatte in der hinteren Reihe des Busses einen Platz gefunden. Aus den Lautsprechern tönte ein Chanson von Charles Trenet, und die Luft aus der Klimaanlage war zu kalt. Als wir uns La Londe näherten, lichteten sich die Staus. Obwohl ich mir die Nase am Fenster platt drückte, konnte ich nur mit Mühe die Landschaft erkennen. Die unberührten Bergmassive meiner Kindheit waren mit Betonpickeln übersät, die sich nahezu über die gesamte Hügelkette ausbreiteten. Wie ein Sperrgürtel wälzte sich Gebäude an Gebäude bis zur Küste hinunter. In Cavaliere hatte man einen künstlichen Hafen gebaut. Dort stand eine sechs Meter hohe, aufgeblasene Plastikgiraffe, gegen die ein fettleibiger Junge voller Begeisterung hechtete, um sich anschließend mit einem albernen Lächeln im Gesicht zu vergewissern, daß seine Eltern auch zusahen. »Na los, mein Liebling«, freuten sich letztere und filmten ihren Sohn mit einer Digitalkamera, »mach schon!« An den Pfosten kündigten Plakate die Ankunft des größten Off-Roaders der Welt an. Das Spektakel sollte auf dem Parkplatz am Strand stattfinden. Ein Ding, das das ganze Jahr über mit zwei Stundenkilometern die immer gleichen klapprigen Autowracks überrollt, Eintritt sechs Euro. »Das beste«, klärte mich mein Nachbar zur Linken auf, den ich bis dahin gar nicht bemerkt hatte, »sind die Stierspiele. Es gibt jede Menge zu gewinnen. Und stellen Sie sich vor: Zum ersten Mal ist in Europa auch ein amerikanischer Bison dabei zu sehen. Es wird sicher nett. Sind Sie Chinesin? Sind Sie zum ersten Mal 19 hier im Süden? Heute abend gastiert hier nämlich ein Zirkus. Wenn Sie wollen, lade ich Sie ein.« An der Haltestelle vor dem Cap war ich die einzige, die ausstieg. Von der Nationalstraße ging eine kleine Stichstraße ab und führte zu einem massiven Holztor mit zwei Flügeln. Ich tippte den Code in den digitalen Ziffernblock. Ein gelbes Licht flackerte auf, ich atmete tief ein, und mit einem elektronischen Pieps öffnete sich das Portal. Abgesehen von der neuen Mauer entlang der Durchfahrt hatte sich das Haus des Verwalters nicht verändert: hinten der Aufenthaltsraum, dessen Fenster offen stand, derselbe kleine, von Glyzinien dicht bewachsene Innenhof und an der Wand das ewig gleiche Schild: »Heute keine Post.« Dagegen war mir der Mann, der mir gegenüber stand, unbekannt. Etwa vierzig Jahre alt, getönte Brille, graues, lockiges Haar, schwarzer Traueranzug mit dazu passender Krawatte und Lackmokassins.
»Suchen Sie jemanden, Mademoiselle?« »Guten Tag«, sagte ich, »Myrtille Xiao-Mei.« Verständnislos schaute er mich an und runzelte die Stirn. »Ich habe den Namen meiner Mutter behalten«, präzisierte ich. »Ich bin die Tochter von ...« »Oh, ja, natürlich«, kam dem Mann die Erleuchtung. Er bedachte mich mit einem offenherzigen Blick. »Mein herzliches Beileid. Ihr Vater war ...« »Lassen Sie es gut sein.« Er ließ die Hände sinken. »Wünschen Sie, daß ich Ihre Schwester anrufe?« »Meine Halbschwester. Nein danke, ich geh zu Fuß.« »Soll ich Sie nicht schnell hinbringen«, blieb er hartnäckig hilfsbereit und zeigte auf einen roten Peugeot 205, der auf dem kleinen Parkplatz stand. »Sehr freundlich, aber ich gehe lieber.« »Ich verstehe«, sagte er, »hören Sie, wenn Sie etwas brauchen, egal was ...« »Sehr freundlich«, wiederholte ich und betrachtete erneut seine Krawatte, »wir sehen uns ja vermutlich gleich wieder.« Er sagte: »Ja, natürlich«, und ich ging die Straße hinauf, die durch dichte Vegetation führte. Eine wahrhafte Oase der Ruhe, von der, kaum sichtbar, einzelne Alleen zu den verschiedenen Grundstücken führten. Alles stand voller Erdbeer- und Lorbeerbäume und 20 Mimosen. Aber was einen verblüffte, war die Ruhe, fernab vom Tumult der Strände. Es gab eine Zeit, da hätte ich den Weg mit geschlossenen Augen gefunden. Ich hatte ihn hunderte Male zurückgelegt. Im Kinderwagen, zu Fuß, auf dem Skateboard, auf den Schultern meines Vaters, Rudolphe Tintoret, ehemaliger Auktionator und schon damals ein berühmter Schriftsteller. Heute empfand ich nichts mehr von alldem. All das war wie unter einer Falltür begraben, die ich verschlossen und mit der ich die Erinnerung für immer ausgelöscht hatte. Ich ging weiter, weil ich keine andere Wahl hatte, und ich hatte einen Horror davor, das Haus meiner Kindheit wiederzusehen. »Na, kleine Blume, bist du zurück?« Mein Herz machte einen Satz, und ich blieb einen Augenblick wie versteinert stehen. An seinen alten Lieferwagen gelehnt, so wie ich ihn in Erinnerung hatte, betrachtete mich Ahmed aus nur wenigen Metern Entfernung. Ich fühlte mich lächerlich, wie ich da so mitten auf der Straße wie angewurzelt stand.
Instinktiv fuhr meine Hand an meinen Gürtel auf der Suche nach der Knarre, die ich gar nicht dabei hatte. »Gute Reflexe«, sagte er. Genau wie seine alte Kiste hatte sich auch Ahmed nicht verändert. Vielleicht ein bißchen dicker, die Falten etwas tiefer, aber sein lachender Blick war noch der gleiche wie vor zwanzig Jahren. »Na mein Prinz, immer noch Gärtner?« »Immer noch.« Lächelnd betrachtete er mich mit einem Blick, als wolle er mich immer noch beschützen, so wie früher. Ich erkannte, wie gemein es gewesen war, auch ihn unter der Falltür verschwinden zu lassen. »Ich freue mich, dich zu sehen«, stammelte ich nicht besonders geistreich. Und ich freute mich wirklich. Plötzlich war ich glücklich wie ein kleines Mädchen. Ahmed war der einzige Mensch, der mich mit dieser Welt hier verband. Ich war immer ein Wildfang gewesen, er aber hatte mich stets verteidigt, die Wogen geglättet. Er sah mich groß werden, ohne mich jemals zu verurteilen. »Ich wußte es«, sagte er. »Ach ja? Und was hast du gewußt?« »Daß du einmal eine schöne Frau wirst.« Er lehnte seinen Rechen an den Wagen. 21 »Schon als Kleine warst du nicht übel. Zu jung für mich, aber verdammt gut gebaut.« »Ahmed?« »Kleine Blume?« »Nichts.« Wir gingen wie selbstverständlich aufeinander zu, und er nahm mich in die Arme. Für einen langen Augenblick, der mir unheimlich gut tat. »Das reicht«, drohte ich ihm, blieb aber dennoch an ihm kleben, »du läßt jetzt los, oder ich nehme dich fest.« Mit ernster Miene betrachtete er den Haufen Piniennadeln, den er gerade zusammengekehrt hatte. »Das mit deinem Vater tut mir leid«, murmelte er. »Tu mir einen Gefallen, Ahmed. Fang bitte nicht damit an.« Ein neuer rot-weißer Austin fuhr an uns vorbei. »Hör auf, sie anzubaggern!« rief ihm die Fahrerin mit starkem Lyoneser Akzent durch das offene Seitenfenster zu. Das Auto verschwand hinter der Kurve, Ahmed ließ mich los, dann schaute er mir tief in die Augen. »Ich hab seine Leiche geborgen«, sagte er.
Ich wühlte in meiner Hosentasche und zündete mir eine Camel an. Die erste des Tages. Ich war sauer auf mich, weil meine Hände zitterten. »Wovon redest du überhaupt?« »Er ist zum Strand gegangen, um seine Bahnen zu schwimmen. Wie jeden Morgen. Ich hab ihn rausgefischt. Er trieb in der Nähe der Bootsanlegestelle. Man hätte meinen können, er sei freiwillig gestorben. Als hätte er es so beschlossen.« »Ich will es nicht wissen«, murmelte ich. »Ich weiß nicht mal, warum ich überhaupt zurückgekommen bin.« »Ich muß es dir sagen, Myrtille. Er hatte sich sehr verändert.« Mit einem Fußtritt zerstreute ich seinen kleinen Nadelhaufen. »Zuletzt«, redete er weiter, ohne sauer zu werden, »haben wir viel miteinander geredet. Er hatte ...« »Ich hab ihn aus meinem Leben gestrichen, Ahmed! Verstehst du das? Er hat meine Mutter krepieren lassen, um dann mit dieser Schlampe zurückzukommen. Das weißt du ganz genau. Er hat uns verlassen! Du hättest die Fische lieber ihre Mahlzeit beenden lassen sollen.« 22 Ahmed kratzte sich die Wange, als hätte sich eine Fliege darauf gesetzt. »Also«, fragte er, »warum bist du zurückgekommen?« Ich warf meine Zigarette auf die Straße und nahm meinen Rucksack wieder auf. »Ich weiß es nicht! Das ist doch nicht schwer zu kapieren, oder? Ich weiß es nicht.« »Es geht wieder los«, hörte ich ihn noch auf arabisch murmeln, während ich mich mit großen Schritten entfernte, »die Tigerin ist zurück.« Ich ging die Allee zum Haus hinunter und gab mir erneut Mühe, mich an die Namen der Sträucher zu erinnern, aber vergeblich, meine Gedanken waren woanders. Was war nur über mich gekommen, meinen Fuß noch einmal hierher zu setzen, die wenigen schönen Erinnerungen, die mir noch geblieben waren, zu besudeln? Ich füllte meine Lungen mit Luft und blies die ganze Ladung auf die widerspenstige Strähne, die mir in die Stirn hing. Ein Tick, den ich mir angewöhnt hatte, um meine Gedanken zu sortieren. Das Haus erschien mir kleiner, als ich es in Erinnerung hatte. Zwei Gebäude ohne Putz in L-Form, funktional und rationell, darüber ein Dach mit Ziegeln aus der Provence. Das Dach war neu, der Rest ziemlich heruntergekommen. Im Hof standen die Sportausführung eines kleinen Clio und ein Leichenwagen amerikanischer Marke, der dem Stil des Hauses glich: streng,
massiv und grob. Ein Angestellter lehnte sich schlapp gegen den Kotflügel und fächelte sich mit seiner Mütze Frischluft zu. Mit der anderen Hand kratzte er sich am Arschloch und grunzte vor Erleichterung. »Schönen Tag auch«, machte ich mich bemerkbar. Der junge Mann kippte beinahe hintenüber. Er ließ seine Mütze fallen, bückte sich, um sie aufzuheben, und ließ sie erneut fallen. »Entschuldigen Sie bitte«, stammelte er und brachte seine Uniform wieder in Ordnung, »ich habe Sie nicht gesehen.« Ich erklärte ihm, das sei kein Problem, und hielt eine Hand an das getönte Fenster des Leichenwagens, um den Sarg sehen zu können. »Modell Senator«, erläuterte der Leichenbestatter schwungvoll. »Afrikanisches Holz. Eines unserer Sondermodelle.« 2S »Große Klasse«, beglückwünschte ich ihn. »Sind Sie allein?« Er nickte. »Die anderen Träger warten bei der Kirche, zusammen mit dem Leiter der Trauerfeier. Ich muß die Dame und die Kinder fahren. Deshalb warte ich hier. Es tut mir furchtbar leid, aber ich habe Sie nicht gesehen ...«, fügte er hinzu. Ich ließ ihn mitsamt seiner Verlegenheit stehen und ging um den Clio mit Pariser Kennzeichen herum. Offensichtlich ein Neuwagen. Sechzehn Ventile, Alu-Felgen. Ganz und gar Marguerites Stil. Ich nahm die Treppe, die zum Boule-Platz hinter dem Haus führte. Die Tür des Schuppens stand halb offen. In den verrosteten Regalen lagen kreuz und quer gestapelt die Relikte meiner Kindheit: Tauchermaske und Schnorchel, alte Schwimmflossen, Reste eines Surfbretts, Tischtennisschläger, Schachteln mit kleinen Plastiksoldaten, Spielzeugpanzer, alles hatten sie hier reingestopft. Alles aufbewahrt. Unter einer durchsichtigen Plastikplane stand die kleine Yamaha Enduro meines Vaters und starrte mich einäugig an. Im Bruchteil einer Sekunde durchlebte ich noch einmal die Spazierfahrten, die wir beide hier im Bergmassiv unternommen hatten. Die Brandschutzwege, die sich die Hügel entlang schlängelten, das Lachen meines Vaters, der aufrecht auf den Trittbrettern stand, und ich, die auf dem Rücksitz den Hintern zusammenkniff und sich vollkommen glücklich an ihn klammerte. Ich knallte die Tür zu und kehrte zur Terrasse zurück, auf die andere Seite des stillen Hauses. Die Fenster standen weit offen, und die Sonnensegel waren herabgelassen. Weiter unten konnte man die in der Bucht vor Anker liegenden Boote sehen. Vom Strand drang Kinderlachen herauf.
Ich fühlte mich schlecht. Ich ließ mich auf die Hollywood-Schaukel fallen und versuchte, mir einzureden, daß es an der Sonne lag. Ich zündete mir eine Zigarette an. »Es wäre nett, wenn du deine Kippen nicht überall rumschmeißen würdest«, zischte eine hohe Stimme. Meine Halbschwester stand kerzengerade am Rand der Terrasse, eingepfercht in ein schwarzes Kostüm, das die Fettpolster ihrer mittlerweile gut fünfzig Jahre perfekt zur Geltung brachte. Neben ihr standen ihre beiden Rotzlöffel, an jeder Seite einer, und starrten mich mit haßerfülltem Blick an. »Ich mach dich darauf aufmerksam, daß du zu spät bist«, zischte sie, ohne sich zu rühren. 24 Ich zertrat meine Kippe auf dem Boden und ließ sie liegen. »Ich mach dich darauf aufmerksam, daß wir seit zwei Stunden auf dich warten. Du bist definitiv immer noch die gleiche!« Arme Irre. Seit zwanzig Jahren hatte sie von mir nichts mehr gehört. Ich richtete mich auf, überwand die paar Schritte, die mich von ihnen trennten, und ging ohne ein Wort an ihnen vorbei ins Haus. »Darf man wissen, wo du hin willst?« Ich stieg die Treppe zum ersten Stock hoch. Sie folgte mir, wobei ihre Absätze auf den Holzstufen klapperten. Ihr süßliches Parfüm drehte mir den Magen um. »Darf man wissen, was du machst?« Ich öffnete die Tür zu meinem früheren Zimmer. Die beiden Betten waren nicht gemacht, und auf dem Boden lag ein bunt zusammengewürfelter Haufen Zeug. Ich warf meinen Rucksack auf das Bett neben dem Fenster. »Du sagst deinen beiden Scheißern, sie sollen ihren Saustall hier rausschaffen«, befahl ich. »Also wirklich ...«, würgte Marguerite hervor. Trotz ihrer Liftings wirkte sie immer noch genauso mittelmäßig. Abgeschmackt. Lediglich ihr langer Zinken verlieh ihr eine komische Note. »Also wirklich was?« fragte ich sie mit einem Blick, der töten konnte. Sie lief rot an, schnappte mit ihrem großen, mit Silikon aufgeblasenen Mund nach Luft und schrumpfte schließlich wie ein angestochener Luftballon zusammen. »Das klären wir später«, kläffte sie und trat den Rückzug an. »Ich mach dich darauf aufmerksam! So läuft das hier nicht! Das kannst du mir glauben!«
»Darauf würde ich mich nicht verlassen«, sagte ich und knallte ihr die Tür vor der Nase zu. Im eingebauten Wandregal lag immer noch meine Comic-Sammlung an ihrem Platz. Ich schnappte mir irgendein Heft und blätterte die Seiten durch, die sorgfältig und methodisch mit bunten Filzstiften vollgekritzelt waren. Ich öffnete die Läden und ging auf den Balkon hinaus, der zum Meer hin lag. Unten standen die Kinder immer noch an der gleichen Stelle und betrachteten mich mit kampflustiger Miene. Der 25 Junge war etwa achtzehn Jahre alt, sehr mager und bleich wie Kerzenwachs. Er trug die Haare sehr kurz, was seine Nase, wie die seiner Mutter, überdimensional groß aussehen ließ. Das Mädchen, Gräce, wenn ich mich recht erinnerte, war etwa vierzehn. Strohblond und übertrieben geschminkt ahmte das kleine Personellen, völlig von sich eingenommen, die herrischen Posen der Königin von England nach. »Gräce! Charles-Edouard!« jaulte meine Halbschwester. »Kommt, Kinder! Wir gehen.« Sie nahm sie bei den Händen und reckte ihren Zinken zu mir hoch. »Und? Was ist mit dir? Ich mach dich darauf aufmerksam, daß man auf dich wartet.« Ich zuckte die Schultern und sah in die Ferne, zur Bucht von Lavandou. »Ich nehme an, daß du kein Auto hast?« meinte sie noch. »Nein«, antwortete ich, »geht schon vor.« »Aber ... Das darf doch nicht wahr sein!« »Warum? Hast du Angst, daß ich das Haus durchsuche?« »Überhaupt nicht!« log sie. »Das stimmt nicht. Überhaupt nicht.« Sie holte Luft. »Aber ich mach dich darauf aufmerksam, daß nach dem Begräbnis der Notar auf uns wartet.« »Ach ja? Ich seh schon, du hast keine Zeit vergeudet.« »Ich mach ...« »Nein Marguerite. Du hörst auf, mich auf etwas aufmerksam zu machen. Du schnappst dir jetzt deinen Nachwuchs und haust ab.« »Sehr gut!« sagte sie. »Wenn du mir in dem Ton kommst!« Sie bogen um die Ecke, und ich hörte das Stampfen ihrer Schritte auf dem Kies. »Also wirklich!« flötete Gräce mit dünner, tief gekränkter Stimme. »Die traut sich vielleicht was!«
»Du brauchst sie nicht lange zu ertragen«, schniefte ihre Mutter. »Vertrau mir, sie verschwindet bald wieder dahin zurück, wo sie her gekommen ist.« Ich ließ mich auf das Bett fallen und versuchte, meine dritte Zigarette zu rauchen. Und zwar zu Ende, wenn möglich. 26 s Mit einem kurzen Klick schnappte das Feuerzeug wieder zu. Germain Pilon öffnete die Augen und sah Hannibal mit seinem Raubtierlächeln vor sich. »Sonst noch was?« fragte der Koloß. »Nein, ich hab alles, vielen Dank.« Pilon ließ die Eiswürfel in seinem mit Wodka gefüllten Kristallglas klirren und blies langsam den Rauch seiner handgerollten kubanischen Zigarre zur Zimmerdecke. Dann holte er tief Atem und bewunderte den echten Magritte an der Wand: ein Zug, der aus einem Kamin herauskam. »Es ist verblüffend«, erklärte Kasimir Malewitsch, »die Schnelligkeit, um nicht zu sagen Hast, mit der sich moderne Kunst hat entwickelt. Denken Sie nur: in weniger als vierzig Jahren von Impressionisten zu Abstrakten. Sie mögen abstrakte Kunst?« Obwohl er keine Ahnung hatte, um was es ging, hätte Pilon in solchen Fällen nun üblicherweise zu einem professoral konfusen Höhenflug angesetzt, von dem er selbst nichts verstanden hätte, aber dieses Mal nickte er nur. »Sehr, Monsieur Malewitsch. Besonders die flämische Malerei. Die rosa Periode vor allem. Ohne mich rühmen zu wollen«, konnte er sich nicht verkneifen hinzuzufügen, »auf diesem Gebiet kenne ich mich aus.« Ein doppeldeutiges Lächeln erhellte das Gesicht des Tschetschenen, der an einer Säule lehnte. »Literaten und Philosophen nicht verstehen Bedeutung von Form. Sie verwenden Begriffe, analysieren Gefühle, interpretieren Geschichten, aber sehen in Bildhauerkunst nur einfaches Ausdrucksmittel. Aber Form ist bedeutungsvoll in sich selbst. Sie verstehen?« »Ja, ja«, bestätigte Germain Pilon, dessen Freude sich mittlerweile verflüchtigt hatte. »Umso besser. Farbkompositionen, reine Formen sind Realität. Müssen betrachtet werden als solche.« Germain Pilon drückte sich ein wenig tiefer ins Ledersofa und blickte sich nach einem Aschenbecher um, in dem er seine Zigarre abklopfen konnte. »Hannibal!« befahl der Tschetschene.
27 In seinem makellosen Leinenanzug verließ der Rohling seinen Fensterplatz, wo er mit hinter dem Rücken verschränkten Armen vor sich hingeträumt hatte. Mit leichtem Schritt und unbewegter Miene holte er einen Aschenbecher und stellte ihn auf den niedrigen Tisch neben dem Sofa. Sein Verhalten verriet keinerlei Gefühlsregung. Pilon quiekte ein schwaches »Danke«, und Malewitsch wartete, bis der Scherge seinen Posten wieder eingenommen hatte. »Ich bin froh, daß wir haben selben Geschmack.« Unauffällig musterte Germain Pilon Meter für Meter den mindestens sechzig Quadratmeter großen Raum. Vier Säulen stützten das Dach in Form einer Kuppel, drei Stufen führten zu dem Kreis in der Mitte, in dem er sich befand. Die Wände waren übersät von Gemälden, darunter ein Porträt von Wladimir Putin, den Pilon allerdings nicht kannte, ausgestopften Köpfen wilder Tiere, afrikanischen und indonesischen Masken, einer Schweizer Kuckucksuhr und einem ultraflachen Riesenfernseher von Sony, den er im FNAC-Katalog schon einmal für 18 000 Euro gesehen hatte. Das Mobiliar war teuer und paßte überhaupt nicht zusammen. Es bestand aus einer Bar aus wertvollen Hölzern, verschiedenen großväterlichen Armsesseln und Empire-Tischchen, afghanischen Teppichen, vor allem aber aus griechischen, ausnahmslos männlichen Statuen. Durch die großen Fenster, die mit elektrischen Rolläden ausgestattet waren, sah man auf der einen Seite den Swimmingpool, auf der anderen das Pinienwäldchen und im Westen den Wintergarten mit seiner Plexiglaskuppel, durch die man die Sterne sehen konnte. Kasimir Malewitsch trug einen Leoparden-Slip, der hin und wieder zwischen seiner Wampe und den Zipfeln seines Bademantels hervorragte. Schweigend schien er das Interesse zu schätzen, das Germain Pilon seiner bescheidenen Inneneinrichtung entgegenbrachte. Germain Pilon verstand noch immer nicht die Wendung, die die Ereignisse genommen hatten. Denn auch wenn sein Gehirn vor langer Zeit einmal unter Sauerstoffmangel gelitten hatte, so konnte doch bislang niemand den endgültigen Beweis dafür erbringen, daß er definitiv verblödet war, und schließlich hätte bei einem derartigen Situationswechsel sicher jeder skeptisch dreingeschaut. Vor kurzem war er noch überzeugt, zwischen den Händen Hannibals zermalmt zu werden, und nun fand er sich von einem Augenblick auf den anderen wie ein Prinz behandelt. Ein leichter Verdacht keimte in seinem vom Alkohol benebelten Gehirn auf. 27
»Sie haben alles, was Sie brauchen?« fragte der Tschetschene mit zuckersüßer Stimme. »Perfekt«, sagte Pilon, der sich allmählich unwohl zu fühlen begann. »Sehr großzügig.« »Fast alles«, korrigierte Malewitsch, »also jetzt, wir reden.« Er nahm in einem Sessel Platz, befeuchtete die Lippen und verschränkte die Beine. »Sie schon lange wohnen am Cap, oder?« »Schon immer!« prahlte Pilon. »Gut. Dann Sie kennen viele Leute.« »Fast alle, ja«, antwortete Pilon, der noch immer keine Ahnung hatte, worauf der andere hinauswollte. »Großartig!« meinte der Tschetschene anerkennend, »ich Überraschung für Sie. Tatjana«, rief er, ohne Pilon aus den Augen zu lassen, der vom Sofa hochschreckte. Der Tschetschene machte eine beruhigende Handbewegung, und am anderen Ende des Raums trat aus einer förmlich mit der Wand verschmolzenen Tür, auf die ein Trompe-l'Oeil gemalt war, Tatjana. Pilon verschluckte sich fast an seinem Speichel. Tatjana war oben ohne und trug nur einen winzigen gelben Slip. Hüftschwingend ging sie die Stufen hinab, eine nach der anderen, bis sie vor dem Sofa stand. »Ich brauche nicht vorstellen«, sagte Malewitsch. Pilon schüttelte den Kopf heftiger als beabsichtigt. »Ich glaube zu wissen, daß Sie ... wie ausdrücken ... schätzen Tatjana sehr.« Pilon stieß ein nur schwer verständliches Blubbern aus. Jetzt hatte er Angst. »Sehr hübsches Mädchen, oder?« Pilon leerte sein Glas, hustete und füllte es neu auf, ohne lange um Erlaubnis zu fragen. Als er sich wieder umdrehte, stand die junge Schönheit mit gespreizten Beinen vor ihm, ihr Schamhügel erhob sich direkt vor seinen Augen. Sie warf ihre langen blonden Haare zurück und lächelte ihn an, ihre harten Brustwarzen nach vorne gereckt. Pilon hatte nie zuvor ein derart lüsternes Lächeln gesehen. Sein Geschlecht wurde augenblicklich hart, und seiner Kehle entrang sich ein Stöhnen. Malewitsch rollte seinen Sessel heran, beugte sich vor, klopfte ihm aufs Knie und starrte auf seinen Hosenschlitz. »Sie mir sagen ... Wie lang Sie nicht geschlafen mit einer Frau?« 28
»Was wollen Sie von mir?« stammelte Pilon, der sich zusammenkauerte, um seine Erregung zu verbergen. »Na also!« rief der Tschetschene, »endlich gute Frage! Tatjana mag viel Liebe. Große Liebhaberin ... Sehr raffiniert, Sie verstehen? Viele Partner.« »Das kann ich mir gut vorstellen«, knirschte Pilon und geriet allmählich ganz aus dem Häuschen. Er konnte den Blick nicht vom Unterleib der jungen Frau abwenden. Im Gebüsch versteckt hatte er sie schon ohne alles gesehen, aber das kleine gelbe Teil vervielfachte seine Erregung. Wie oft hatte er sich in seiner Phantasie ausgemalt, daß er es ihr mit seinen Zähnen herunterreißen würde, während sie ihn anflehte, noch einen Schritt weiterzugehen, vorwärts, mein schöner Hengst. »Ich glaube nicht«, sagte der Tschetschene, dessen Tonfall nun härter geworden war. »Ich sehr ernst. Tatjana schlimmer als Ihre Vorstellung.« Pilon stürzte einen riesigen Schluck Wodka hinunter. Malewitsch sagte ein paar Worte auf russisch und ließ dabei seine Finger knak-ken. Die blonde Schönheit warf Pilon einen angedeuteten, nichtsdestoweniger wollüstigen Kuß zu, machte kehrt und stolzierte zurück zu der Tür, aus der sie gekommen war. »Unglaublich«, stammelte Pilon, ohne die graziöse Bewegung ihres Hinterns aus den Augen zu lassen, bis sie hinter der Wand verschwunden war. »Sie gehört Ihnen«, sagte Malewitsch, »Sie machen kleinen Gefallen, und Sie können sie haben.« Pilon versuchte, wieder einen klaren Gedanken zu fassen. Er war nicht sicher, ob er alles richtig verstanden hatte. Er wollte es sich gerade bestätigen lassen, als irgendwo in dem großen Raum ein musikalisches Klingelzeichen ertönte. Für ihn hörte es sich an wie die Melodie zu L'île aux enfants. »Entschuldigung«, bat der Tschetschene und griff nach seinem Handy, das er auf einem der Möbelstücke hatte liegen lassen. Mit ernster Miene hörte der Mann seinem Gesprächspartner zu, und Germain Pilon fiel auf, daß sich die Gesichtsfarbe des Tschetschenen veränderte. Malewitsch wurde tatsächlich kreidebleich. Er lief auf und ab und brüllte ins Telefon. Es war ein phänomenales Wutgeschrei, das nur durch unkoordinierte Gesten unterbrochen wurde. Mit weit aufgesperrtem Mund sah Pilon zu, wie Malewitsch 29 ausflippte. Das Gespräch wurde komplett auf russisch geführt, so verstand Pilon als einziges Wort nur »Brink's«, das in der Unterredung gleich ein
paarmal vorkam, und da er eigentlich am liebsten verschwunden wäre, konzentrierte er sich auf Putins Porträt an der Wand. Das Gesicht kam ihm irgendwie bekannt vor, aber er kam einfach nicht darauf, wer das war. Endlich steckte der Tschetschene sein Handy in die Tasche seines Bademantels. Er holte tief Luft, warf seinem Leibwächter, der noch immer an der Wand lehnte, einen bedeutungsschwangeren Blick zu, dann nahm er wieder neben Pilon Platz, als wäre überhaupt nichts gewesen. »Tatjana«, bestätigte er, »plus fünfhundert.« »Fünfhundert?« »US-Dollar.« »Ja«, lallte Pilon, »natürlich, fünfhundert Dollar, das ist eine Summe ...« »Jeden Tag«, fuhr Malewitsch fort, »Sie für mich arbeiten.« Pilon wollte auf der Stelle raus hier. Aufstehen, sich für alles bedanken, in aller Ruhe zur Glastür gehen und dann Hals über Kopf abhauen. Danach würde er wegziehen. Er wußte nicht wohin oder mit welchem Geld, aber er würde verduften, so weit wie möglich weg von diesen gefährlichen Irren. »Sie das nicht tun«, erklärte der Tschetschene, dem es nicht schwerfiel, Pilons Gedanken zu erraten. Er deutete mit dem Kinn auf Hannibal. Der Riese fuhr mit den Fingern andeutungsweise quer über den Hals, mit der anderen Hand öffnete er sein Jackett. Pilon sah den metallenen Griff, der aus dem Holster ragte, und plötzlich verwandelte sich seine Furcht in nackte Angst, die ihm bis in die Eingeweide kroch. »Nachbarn ausspionieren«, meldete sich Malewitsch wieder zu Wort, »das ist nicht schön. Keine nette Art. Sehen Sie, als Beispiel, in Rußland wir stechen Augen aus.« »Ich flehe Sie an«, wimmerte Germain Pilon, »warum ich? Sie haben doch jede Menge Leute, die für Sie arbeiten.« »Sie spezial.« »Aber was um Himmels Willen wollen Sie denn?« »Nichts Illegales.« Der Tschetschene erhob sich, wandte sich einer der griechischen Statuen zu und strich sich lange über seinen Pferdeschwanz. 30 »Wir darüber reden später. Zuerst Sie sich amüsieren. Sehr normal. Gehen Sie hinter Tür. Tatjana erwarten Sie. Los sofort.« Pilon warf einen entsetzten Blick auf Hannibal, der ihn von seinen einhundertdreißig Kilo Muskeln herab musterte. Der Koloß lächelte nicht. Falls doch, dann sehr bösartig.
Germain Pilon begriff, daß er keine Wahl mehr hatte. Nichts Illegales, fünfhundert Dollar pro Tag und die schöne Tatjana ganz für ihn allein. Mehr konnte man sich eigentlich nicht erträumen. »Bitte«, brachte er mühsam hervor, um sich selbst Mut zu machen, »ich hätte gerne noch ein bißchen Wodka.« Der Tschetschene sah ihn kurz zweifelnd an, füllte dann aber höchstpersönlich das Glas, das in Nullkommanichts wieder leer war. Germain Pilon schnalzte mit der Zunge, drückte die Zigarre aus und stand auf. »Abgemacht«, sagte er und schwankte in Richtung Schlafzimmer. Er hatte nicht die geringste Idee, was man danach von ihm verlangen würde. Im Moment wollte er es auch gar nicht wissen. Später könnte er immer noch seine Meinung ändern. »Na dann«, sagte er und drückte die Türklinke nach unten. »Na dann«, wiederholte der Tschetschene, »natürlich.« Hannibal grinste, und die beiden Männer tauschten einen Blick, daß es einem kalt über den Rücken laufen konnte. »Sie sind sich ganz sicher?« fragte Germain Pilon, ehe er die Trompe-l'OeilTür aufriß. »Sie mich anschauen!« befahl der Tschetschene. »Also einverstanden«, schnurrte Germain Pilon und verschwand. 6 Das Motorrad startete mit dem ersten Kick. Ich drehte volle Kanne auf, um zu sehen, was das Ding alles unter dem Sattel hatte. Es lief sehr viel unruhiger als die Plastikmaschinen, die die Japaner heutzutage bauen. Eine einfache und robuste Maschine. Mit neunzig Sachen brauchte ich weniger als zehn Minuten nach Rayol. Die Kirche war verschlossen. Ich raste weiter zum Friedhof, der sich oberhalb des Ortes am Ende einer schmalen Bergstraße befand und einen Blick aufs Meer bot. Jede Menge Autos standen 31 kreuz und quer geparkt. Größtenteils Luxusmodelle mit Nummernschildern aus allen Regionen Frankreichs. Ich stellte mein Motorrad unter einem Baum ab und ging an der Aussegnungshalle vorbei die Allee hinauf. Mehrere Leute wandten sich mir zu, um mich quasi mit ihren Blicken zu töten, sicherlich, weil ich den Motor nochmal richtig hatte aufheulen lassen, bevor ich ihn ausschaltete.
Ein großes schmiedeeisernes Kreuz zwischen zwei Eiben dominierte den kleinen Friedhof. Alles in allem waren es nicht mehr als fünfzig Grabstätten. Natürlich hatte sich mein Vater die größte errichten lassen, und zwar genau in der Mitte. Hinter meiner dunklen Sonnenbrille bekam ich von der Zeremonie nichts mit, und auch die Ansprache hörte ich nur bruchstückhaft. Ich hielt mich im Hintergrund, während mein Kopf seltsam leer war und mein Blick im nahen Dickicht sorgfältig herausgeputzter Nackenpartien versank. Ich entdeckte Ahmed, dann den kleinen Sargträger, ebenso den Verwalter. Die anderen waren mir völlig unbekannt. Männer und Frauen, dem Anlaß entsprechend gekleidet. Es dauerte ziemlich lange. Meiner Schwester und ihren Sprößlingen wurde kondoliert, und nach und nach entfernten sich die Anwesenden im Gänsemarsch. Die meisten musterten mich neugierig. Sicherlich Leute, die mich hatten aufwachsen sehen, an die ich mich aber nicht mehr erinnern konnte. Viele Leute jedenfalls. Ich drehte mich zum Meer hin, um ihren Blicken zu entgehen, da stieß mein Blick ausgerechnet auf das verwirrte Gesicht von Karottenkopf. Er zuckte zusammen, als hätte ihn jemand gezwickt. Dann murmelte er irgend etwas zwischen seinen Zähnen hervor, drängelte sich durch die Menschenmenge und steuerte fuchsteufelswild auf mich zu. »Was treiben Sie denn hier?« bellte er mich an. Das Gleiche hätte ich ihn auch fragen können, aber ich wartete lieber erst einmal ab. Er packte mich heftig am Handgelenk und zerrte mich mit Gewalt unter eine Pinie. »Für wen halten Sie sich eigentlich?« fing er wieder an. »Darf ich vielleicht erfahren, was Sie hier zu suchen haben?« »Ich beerdige meinen Vater«, gestand ich, bevor er mir den Arm ausriß. »Tintoret? Sie wollen mich wohl verarschen, Lieutenant ...« 32 »Xiao-Mei. Myrtille Xiao-Mei. Ich hab den Namen meiner Mutter behalten.« »Was ist denn das für ein Durcheinander?« murmelte Rembrandt vor sich hin. »Und Sie?« ging ich zum Angriff über, völlig unbeeindruckt von den Manieren dieses kleinen Kläffers. »Was machen Sie hier?« »Mist!« sagte er. »Wohnen Sie am Cap?« »Und wenn?« »Spucken Sie hier bloß keine großen Töne, Giao-Mey!«
Ich fragte mich, ob er meinen Namen absichtlich verhunzte. Im allgemeinen haben Europäer ziemliche Schwierigkeiten mit dem chinesischen X. Wie auch immer, dies hier bewegte sich noch im Rahmen des Üblichen. Ein gewöhnlicher kleiner Polizeitrick, um die Verdächtigen zu verunsichern. »Hat mein Vater irgendwas mit der Schießerei am Flughafen zu tun?« »Nein«, sagte er und faßte sich an den Kopf. »Verdammt, das geht Sie nichts an!« Er musterte mich herausfordernd, scheiterte aber an meinem unverschämten Lächeln. Eine meiner Spezialitäten. Absolut nervtötend. »Wäre es vielleicht zuviel verlangt, wenn Sie ihren Hut abnehmen würden?« fragte plötzlich eine sanfte, aber feste Stimme. Rembrandt riß die Augen auf und schaute meinen Neffen, der sich hinter ihm aufgepflanzt hatte, an, als plagten ihn Halluzinationen. »Was ist denn das für einer?« würgte er hervor. »Charles-Edouard Tintoret«, antwortete Charles-Edouard, ohne ihm die Hand zu reichen. Seine Mundwinkel zitterten unmerklich, aber er hielt Rembrandts Blick stand. Irgendeine seltsame Kraft schien ihn zu bestärken. Ein verborgenes Körnchen Verrücktheit, das jeden Moment explodieren konnte. Oder aber es war seine enorme Trauer. »Myrtille«, fuhr er fort, »belästigt Sie dieser Monsieur?« »Verdammt noch mal!« fing Rembrandt wieder an und nahm seinen Hut ab. »Wissen Sie überhaupt, wer ich bin? Nein? Kriminalpolizei! Brigade criminelle!« »Na und? Hat sich meine Tante etwas vorzuwerfen?« »Das darf nicht wahr sein!« schimpfte Rembrandt. »Mist, verdammter!« »Mein Großvater hatte Beziehungen«, versetzte Charles-Edouard ihm einen weiteren Schlag. »Ich nehme an, daß Ihnen das sehr wohl bekannt ist. Wollen Sie, daß ich Namen nenne?« 33 »Ist schon gut«, gab Rembrandt nach. »In Ordnung. Aber Sie«, sagte er und deutete mit dem Finger auf mich, »Sie muß ich sprechen. Ich warte draußen auf Sie.« Er verschwand mit großen Schritten und führte fortlaufend Selbstgespräche darüber, wie sehr ihn doch solche kleinen Arschlöcher, die auf dem hohen Roß saßen, anekelten. Ich betrachtete Charles-Edouard plötzlich mit ganz anderen Augen. Er lächelte mich bleich an, und ich dankte ihm, machte ihm aber gleichzeitig klar, daß ich groß genug sei, um allein zurechtzukommen. Aber ich dankte ihm.
»Das war doch nichts Besonderes«, sagte er. »Ich glaube nicht alle Horrorgeschichten, die meine Mutter über Sie erzählt.« Ich zuckte die Schultern. »Hören Sie«, fuhr er fort, »ich würde Sie wirklich gern kennenlernen.« »Das ist zwar nett, aber ich glaube nicht, daß ich sehr lange in der Gegend hier bleibe. Ich hab nur drei Tage Urlaub genommen und ...« »Morgen abend«, schnitt er mir das Wort ab. »Wie bitte?« »Morgen abend, ich lade Sie zum Essen ein. Ich bitte Sie, lehnen Sie nicht ab. Ich finde Sie sehr hübsch.« Mein kleiner Neffe, gerade mal volljährig, baggerte mich doch wahrhaftig an. Ich fühlte mich müde, und meine dreiunddreißig Jahre lasteten mit einem Mal schwer auf meinen Schultern. »Vorsicht«, warnte ich ihn, »du weißt nicht, auf was du dich da einläßt.« »Ich bin härter im Nehmen, als man es mir ansieht.« Hinter meiner verdunkelten Brille musterte ich ihn eindringlich. Eindeutig zu jung, und viel zu mager. Ich fragte mich, was in mich gefahren war, überhaupt einen Gedanken daran zu verschwenden. Myrtille, sagte ich mir, dieses Bürschchen ist dein Neffe. »Sehr gut«, antwortete ich, um ihn nicht zu verletzen, »ich werde darüber nachdenken. Im übrigen glaube ich, Charles-Edouard, daß deine Mutter auf dich wartet.« Tatsächlich ließ uns die alte Schachtel nicht aus den Augen. Gräce, ihre Tochter, stand vorbildlich an ihrer Seite. Ich konnte mir schon vorstellen, welche Hauspredigt ihr kleiner Robin Hood über sich würde ergehen lassen müssen. Ich hoffte, sie würde ihm nicht den Nachtisch streichen. 34 Würdigen Schrittes ging Charles-Edouard wieder zu ihr. Seine Mama machte zwar keine Bemerkung, aber der Blick, den sie ihm zuwarf, sagte alles. Er nickte mir ein letztes Mal komplizenhaft zu, dann wandte sich die kleine Familie ihrer BMW-Limousine zu, die sie mit offenen Türen erwartete. »Wenn Sie mich fragen, wird das ein Riesenfest!« Mein kleiner Sargträger hatte gesprochen. Er schwitzte und wischte sich mit seiner Mütze über die Stirn. »Glauben Sie?« »Wie ich gehört habe, findet das Fest in einem Schloß statt. Nachdem ich gesehen habe, daß Sie sich ziemlich abseits gehalten haben, nehme ich an, daß Sie nicht eingeladen sind, oder täusche ich mich?« »Ganz und gar nicht«, sagte ich.
»Anscheinend war der Verstorbene eine herausragende Persönlichkeit. Ein Schriftsteller offenbar. Haben Sie ihn gekannt?« »Kaum.« »Ja, also, wenn Sie meine Meinung hören wollen, dann waren diese ganzen Leute nicht bloß da, um zu weinen, wenn Sie verstehen. In meinem Job, da hört man Dinge ...« »Tun Sie mir den Gefallen, und scheren Sie sich zum Teufel, bevor ich Ihnen eine in die Fresse haue.« Ich beschloß, Rembrandt noch ein bißchen zappeln zu lassen. Als ich wieder auf den Parkplatz kam, stapfte er wie ein Bär um mein Motorrad herum, in der Hand ein Handy. »Ich hab auch noch was anderes zu tun«, schimpfte er grantig. Auf dem terrassenartigen Parkplatz war nur noch sein Wagen übrig geblieben, ein gemieteter Citroen BX. »Was wollen Sie, Rembrandt?« »Commandant!« fing er wieder an. »Sagen Sie mal, Xang-Cheng, wo glauben Sie eigentlich, daß Sie sind?« »Myrtille«, sagte ich, »das ist einfacher. Was hat denn mein Vater mit Ihrer Geschichte zu tun?« »Ihr Vater nichts. Ich verfolge eine Spur, das ist alles. Vielleicht ist auch nicht viel dran.« Der Kerl log wie gedruckt. »Jetzt hören Sie aber auf, Commandant, Sie sind bei der Criminelle. Sie werden mir doch nicht erzählen, daß Sie sich wegen >nicht viel dran< hierher bemühen.« 35 Seufzend wandte er den Blick zum Himmel. Die Sonne stand jetzt im Zenit. »Okay«, sagte er, »ich brauche Ihre Hilfe.« »Ich habe Urlaub.« »Jetzt hören Sie endlich mal auf, ja?« Na gut. Aber nur für den Augenblick. »Meinetwegen. Schießen Sie los.« Ohne sich dessen bewußt zu sein, zog er mit seinem Stiefelabsatz eine Linie im Kies. »Das ist inoffiziell«, sagte er. »Ich brauche ein wenig Bewegungsfreiheit am Cap.« »Sie brauchen mich als Deckung.« »Ich bewege mich hier wie auf rohen Eiern«, bekräftigte er. »Die da oben können nichts für mich tun. Wenigstens nicht im jetzigen Stadium. Ich hab es Ihnen schon gesagt, ich hab nicht sehr viel in der Hand. Es gibt da einen Typen, der mich interessiert. Ich hab ihn hier nicht gesehen, obwohl doch
praktisch alle Einwohner vom Cap da waren. Sie, Sie sind von hier, verstehen Sie?« »Wir werden sehen«, sagte ich. »Und was wären Sie gern? Mein kleiner Freund?« »Und warum nicht?« »Hören Sie auf, Schwachsinn zu reden, Commandant. Schauen Sie sich doch nur einmal an.« »Sie sind eine echte Nervensäge, Lieutenant. Hat Ihnen das schon mal jemand gesagt?« »Nicht die Kerle, die die Absicht hatten, sich als meine Freunde auszugeben.« »Hören Sie, es ist ja nicht für lange.« Wie tief war ich doch gesunken. Erst ein rachitischer Jungspund und jetzt ein rothaariger Gnom. Noch dazu ein Geheimniskrämer. »Ich bin verheiratet«, preßte er zwischen den Lippen hervor. »Meinen Glückwunsch, Commandant! Bravo!« Wie seine Frau wohl aussehen mochte, versuchte ich mir lieber gar nicht erst vorzustellen. »Hören Sie auf mit Ihren Albernheiten.« »Gut. Für wen interessieren Sie sich?« »Kasimir Malewitsch.« »Nie von ihm gehört.« »Erst seit einem Jahr am Cap. Tschetschene. Multimillionär. Steht 36 Präsident Putin nahe. Hat Aufenthaltsverbot in Monaco und mehreren französischen Departements. Genießt immense politische Unterstützung. Protektion von überall her. Ist im Moment unangreifbar.« »Ich verstehe.« »Noch nicht. Der Kerl ist ein Psychopath.« »Und warum sind Sie hinter ihm her?« »Bei dem Überfall hat einer der Täter sein Magazin am Tatort zurückgelassen.« »Nicht sehr professionell.« »Es wird zur Zeit im Labor untersucht. Wir werden sehen. Jedenfalls hat mir das einen Floh ins Ohr gesetzt. Die Knarre ist eine tschechische CZ. Modell 100.« »Kenn ich nicht.« »Ein kleines waffentechnisches Juwel. Sehr einfallsreich. Wenn man sich auf eine feste Unterlage stützt, läßt es sich mit einer Hand bestücken. Kurz und gut, es handelt sich um eine Kaliber .40 Smith&Wesson-Version. Mit einem Zehn-Schuß-Magazin statt dreizehn. Aber: Diese Knarre ist nie in den Handel
gekommen. Als die österreichische Glock auf den Markt kam, wollten alle Waffenhersteller nur noch sie mit ihrer Schalenkonstruktion, ihrem Kunststoffgehäuse et cetera kopieren. Unsere CZ wurde 1995 beim Internationalen Waffensalon in Nürnberg vorgestellt. Wegen technischer Probleme hat man sie seither mehrmals modifiziert. Diese Version in Kaliber .40 gibt es nicht mehr.« »Beeindruckend.« »Ein paar Exemplare haben die tschetschenischen Separatisten in Umlauf gebracht. Sie haben die nicht für den Verkauf zugelassenen Lagerbestände in ihren Besitz gebracht. Bei den meisten Fällen, in die die Russenmafia verwickelt ist ...« »... taucht diese Waffe auf. Alles klar. Aber warum Malewitsch? Ich könnte mir vorstellen, daß er nicht der einzige Russe entlang der ganzen Cöte d'Azur ist.« »Laut Innenministerium gibt es über dreihundert Russen hier. Ungefähr fünfzig mit ständigem Wohnsitz. Gute zehn in der Gegend rund um Toulon. Malewitsch ist der einzige Tschetschene. Ich habe nichts anderes in der Hand. Es reicht nicht einmal, um ihn offiziell zu vernehmen. Ich möchte außerdem nicht unnötig hohe Wellen schlagen. Wir haben ihn schon ziemlich lange im Visier. Haben Sie schon vom Schloß gehört?« 37 »Das ist der größte Besitz hier in der Gegend. Sie können es nicht verfehlen, es liegt am Ende des Cap. Angela Brunelleschi verbringt dort ihren Urlaub.« »Sie machen Witze.« »Keineswegs.« »Angela Brunelleschi, das Super-Model?« »Ihrem Großvater hat das ganze Cap gehört. In den 50er Jahren hat er es dann in einzelne Parzellen aufgeteilt.« »Na so was!« »Ganz genau.« »Ich hab ja gewußt, daß sich hier die vornehme Gesellschaft trifft, aber ...« »Und was wollen Sie im Schloß?« »Ein Empfang. Heute abend.« »Tut mir leid, aber ich bin nicht eingeladen.« »Alle Bewohner des Caps sind eingeladen. Es ist ein Empfang, der jedes Jahr gegeben wird.« »Da wissen Sie mehr als ich, Commandant.« »Das ist auch mein Job.« »Und Sie wollen mich begleiten?« »Genau.« »Ich hab nicht die Absicht hinzugehen.« Er zupfte an seiner Hutkrempe herum und atmete tief durch. »Sagen Sie mal, Myrtille, was ist eigentlich Ihr Problem?«
Er brachte mich zum Lächeln, dieser kleine knallrote Commandant. Er sah aus wie ein launischer Knirps, dem man seine Spielsachen weggenommen hatte. Mein eigenwilliges Verhalten paßte ihm überhaupt nicht. »Ich mag es, wenn Sie mich Myrtille nennen«, sagte ich, um ihn ein bißchen aufzuziehen. »Das ist doch ein schöner Name. Also, was ist jetzt mit heute abend?« »Ich denke darüber nach.« .»Perfekt. Ich hole Sie um halb acht ab.« Ich schwang mich auf meine Maschine und drehte den Zündschlüssel. Rembrandt betrachtete meine Beine. Er sah aus, als wollte er noch etwas sagen, besann sich dann aber eines Besseren. »Commandant?« Ich riß ich ihn aus seinen Träumen. »Lieutenant?« »Ziehen Sie sich was anderes an.« 38 Er ging zu seinem Wagen, öffnete die Tür und blieb dann noch einen langen Augenblick stehen, um mich anzustarren. Sein Kopf überragte gerade einmal das Dach seines Autos. Er hatte durchaus auch eine attraktive Seite mit seinen winzigen, spitzen Stiefeln. »Noch etwas Persönlicheres«, sagte er. »Ich höre?« »Was wollen Sie eigentlich bei der Polizei? Ich meine nur, mit so einem reichen Vater.« Ich ließ meine Maschine anspringen. »Mein Vater hat mich nie offiziell anerkannt.« »Tatsächlich?« wunderte er sich. »Aber wieso denn nicht?« »Dann hätte er sich um meine Mutter kümmern müssen.« »Üble Sache. Hören Sie, es spielt zwar keine Rolle, aber wegen meiner Frau ... Also, in Wirklichkeit bin ich geschieden.« »Tut mir leid, Commandant«, rief ich ihm beim Losfahren noch zu, »das hab ich nicht mehr verstanden.« Ich zischte ab mit Vollgas und in der Gewißheit, daß er mir nicht einmal die Hälfte von dem gesagt hatte, was er wußte. 7 Charles-Edouard hatte sich auf der Couch im Wohnzimmer vor ein Videospiel hingefläzt, in dem es darum ging, mit einer pump gun möglichst viele Feinde zu massakrieren. Als er mich bemerkte, machte er eine abwehrende Geste und schenkte mir eines seiner krankhaften Grinsen.
»Tu einfach so, als wäre ich nicht da«, sagte ich und warf den Zündschlüssel auf die Kommode. Gräce bewunderte sich vor dem Spiegel. Sie trug eine rosa Lederhose und hochhackige Schuhe. Als ich an ihr vorbeiging, stieß sie einen genervten Seufzer aus. Ich ging in mein Zimmer hoch und pfiff den Refrain von Marche ä l'ombre. Meine Schwester saß auf meinem Bett und wartete schon auf mich. Sie hatte bestimmt meine Sachen durchsucht, das konnte ich an ihrem Gesicht ablesen. »Läuft alles nach Wunsch?« fragte ich sie. Sie trug noch immer ihr Trauergewand, ihre Augen waren verweint, und sie spielte nervös mit ihren Händen herum. Sie woll 39 te mir etwas sagen, traute sich jedoch nicht, es auszusprechen. Meine Schwester ist schon immer scheinheilig gewesen. Früher hatte sie immer versucht, mir all das aufzuhalsen, wozu sie zu feige war. Mittlerweile war das natürlich etwas schwieriger geworden. »Ich muß mit dir reden«, murmelte sie. »Ach ja?« Ich zog mein T-Shirt aus. »Sei bloß nicht kindisch«, kläffte sie, während sie ihren Blick von meiner Brust abwandte. »Es ist auch so schon schwer genug.« Ich streifte ein schwarzes Fred Perry-Polohemd über und tauschte meine Turnschuhe gegen Schnürschuhe mit Stahlkappen, die für die Gangschaltung meiner kleinen 125er besser geeignet wären. Meine Schwester sah mir voller Mißtrauen zu. »Ich weiß nicht, wie lange du vorhast, hierzubleiben«, begann sie, »aber ...« »Aber?« »Aber mir wäre es lieber, wenn du dir ein Hotel suchen würdest.« Ich schwieg. Ich hatte mit heftigen Vorwürfen gerechnet, aber nicht mit der offenen Aufforderung, ich solle mich vom Acker machen. »So, jetzt ist es raus«, sagte sie. »Hervorragend«, antwortete ich, »und ich war so blöd zu glauben, daß das Haus mit seinen fünf Zimmern ...« »Wir kommen zwar nur in den Sommerferien hierher«, fuhr sie fort, »aber wir haben so unsere Gewohnheiten, verstehst du?« »Aber kein Problem«, murmelte ich und bot all meine Kräfte auf, um ihr nicht sofort eine zu knallen, »ich versteh schon.« »Und außerdem hast du einen schlechten Einfluß auf die Kinder.« Daraufhin sagte ich nichts mehr. Ich rührte mich auch nicht mehr. Ich dachte an mein kleines Appartement in Paris, an mein kleines, wohlgeordnetes Leben
im Kommissariat, an einen Haufen Dinge weit weg von hier, um sie nicht auf der Stelle niederzumetzeln. »Also, was ist jetzt? Bist du einverstanden?« »Kein Problem«, wiederholte ich und machte meinen Rucksack zu. »Wenn du willst, kannst du das Motorrad behalten, anscheinend gefällt es dir. Charles-Edouard jedenfalls legt keinen Wert darauf. Er kann nicht damit umgehen.« 40 »Sehr liebenswürdig, aber ich ruf mir ein Taxi.« »Du würdest mir eine Freude machen, wenn du es nimmst«, sagte meine Schwester großzügig, »dann hättest du auch ein kleines Andenken an Papa.« Ich warf den Rucksack über die Schulter. »Wo willst du denn hin?« fragte sie. »Was geht dich das noch an, Marguerite?« »Aber so eilig ist es doch nicht ... Das hat doch Zeit bis heute abend, bis nach dem Termin mit dem Notar.« Ich stellte meinen Rucksack wieder ab. Meine Schwester tat mir leid. »Sag mal, gibt's eigentlich keinen Imbiß, zur Feier des Tages?« »Was für eine Feier?« »Papas Tod. Nach einer Beerdigung ist das doch üblich. Oder?« Sie schluchzte. Wie ergreifend. »Heute paßt es schlecht. Es hätte sich so gehört, ich weiß, aber heute abend ist doch schon das Fest im Schloß.« »Na und? Es wären nur wenig Leute gekommen, was? Ist es das? Hattest du Angst, es wird hier nicht voll?« »Du ...« »Ich kotz dich an. Und wann ist der Notartermin?« Sie sah auf die Uhr und wurde plötzlich panisch. »Halt! Um Himmels Willen! Er wartet sicher schon!« »Na dann. Salut.« Auf der Treppe begegnete ich der Rotzgöre. Als ich an ihr vorbeiging, drückte sie sich flach gegen die Wand und starrte ihre Ballettschuhe an. Dann hörte ich sie zu ihrer Mutter rennen. Charles-Edouard hatte sich nicht von der Stelle gerührt. Er zappelte immer noch an seinem Plastikknüppel herum. »Mach's gut«, sagte ich und schnappte mir den Schlüssel. »Wie bitte? Gehen Sie?« »Genau. Du kannst das Motorrad am Eingangstor abholen. Ich nehme den nächsten Bus.«
»Aber das können Sie doch nicht machen«, sagte er, ließ den Joystick fallen, riß sich vom Sessel hoch und stolperte über die am Boden liegende Videokonsole. »Doch«, antwortete ich. »Und unser Abendessen?« 41 Ich ging auf den Hof hinaus, wobei er mir nicht von der Pelle wich. »Jetzt hör mal, Charles-Edouard«, sagte ich und zerzauste sein Haar, »an jungen Mädchen ist doch hier echt kein Mangel.« »Auf die pfeif ich!« plärrte er und stampfte auf den Boden. »Tja, so ist das Leben.« Ich schnallte meinen Rucksack auf dem Motorrad fest. »Das können Sie mir doch nicht antun«, jammerte er. »Du wiederholst dich!« Ich schwang mich auf die Maschine. Sein ganzer Körper bebte. Sein Adamsapfel hüpfte hinter der Krawatte auf und ab, und er blitzte mich aus wütenden Augen an. »Miststück!« Ich war nicht sicher, ob ich richtig gehört hatte. Ich stellte das Motorrad wieder auf den Ständer und pflanzte mich vor ihm auf. »Was hast du gerade gesagt?« Es dauerte ziemlich lange, bis er sich wieder im Griff hatte. Ich dachte schon, er würde ohnmächtig, so aufgewühlt war er. »Entschuldigen Sie bitte«, murmelte er, »ich weiß nicht, was in mich gefahren ist. Es tut mir leid.« Er ließ mich stehen, drehte sich um und ging ins Haus zurück. Ich sah, wie er sich wieder in seinen Bambussessel fallen ließ und mit dem Videospiel weitermachte. Diese Familie - einer bekloppter als der andere. Ich startete die Maschine, um diesen ganzen Irren hier endgültig den Rücken zuzukehren. Vor der Pförtnerloge gab es einen kleinen Menschenauflauf. Gut zehn Leute standen um wild geparkte Luxusschlitten herum und debattierten über den Überfall am Flughafen. Alle schienen mittlerweile Bescheid zu wissen, und jeder steuerte seine eigene Version der Ereignisse bei. Ich parkte das Motorrad beim Mäuerchen und gab dem Verwalter die Schlüssel, dazu meine Handy-Nummer. »Für Ahmed«, erklärte ich ihm, »sagen Sie ihm bitte, er kann mich jederzeit anrufen. Er würde mir damit eine Freude machen.«
»Manche Kerle haben einfach Glück«, bemerkte ein junger Typ, der unser Gespräch mitbekommen hatte. Ein sehr hübscher Junge. Um die dreißig, groß und elegant, blon 42 des, kurzes Haar, mit Drei-Tage-Bart und stahlgrauen Augen, in Shorts und Polohemd von Lacoste. Er saß auf dem verchromten Kotflügel eines graublauen Audi TT Roadster, die Art von Coupe, bei dem ich seit jeher schwach werde. Seine linke Hand spielte lässig mit einem Schlüsselanhänger. Er lächelte mich offenherzig an, ich lächelte zurück, und er kam zu mir herüber. Er hatte einen sehr männlichen Gang. »Antonin de Messine«, stellte er sich vor und hielt mir die Hand hin. »Myrtille«, brabbelte ich und schüttelte sie. »Ist mir bekannt. Man hat mir schon erzählt, daß Sie sich prächtig gemacht haben, aber das war, wie ich sehe, eine glatte Untertreibung.« Bleib ganz ruhig, dachte ich, laß dir was Geistreiches einfallen, nur nicht naiv wirken, und keinesfalls zeigen, daß er dir gefällt, außerdem ist das plumpe Anmache, fall nicht darauf herein, du weißt genau, daß du so was gar nicht magst. Myrtille, du bist hier diejenige, die den Ton angibt, na los jetzt, komm schon, mein Täubchen, zeig ihm, wo's langgeht. Aber alles, was ich zustande brachte, war: »Sie sehen auch nicht übel aus.« Zu allem Überfluß errötete ich auch noch. »Wenn Sie mir das doch schon vor zwanzig Jahren gesagt hätten«, seufzte er. Vor zwanzig Jahren. Natürlich. »Am Strand«, fügte er hinzu, »damals hatte ich nur für Sie Augen.« De Messine. Ich durchforstete meine Erinnerungen und stieß auf ein pickeliges, verklemmtes Bürschchen, das seine ganze Zeit damit verbrachte, mir nachzulaufen. Ich sah ihn vor mir, als wäre es gestern gewesen: wie der aufgeblasene Spargeltarzan ein ums andere Mal erfolglos versuchte, das Segel seines Windsurfbretts aufzurichten, um bei mir Eindruck zu schinden. »Antonin. Ich hätte dich nicht wiedererkannt. Hast du immer noch dein Surfbrett?« »Ja«, gab er zu und senkte den Blick. »Ich hab's bis zum Juniorenweltmeister gebracht. Aber jetzt mach ich's nur noch zum Vergnügen. Ich bin mittlerweile Anwalt. Ich pendele zwischen New York und Paris«, präzisierte er. »Und du? Wie man hört, bist du bei der Polizei?« »Die Gerüchte verbreiten sich hier ja wie ein Lauffeuer«, antwortete ich nicht gerade originell. 42
Eine Zeit lang sagten wir beide nichts. Er bedachte mich mit einem schmachtenden Blick, und ich fühlte mich völlig lächerlich. »Bleibst du ein bißchen am Cap?« fragte er. »Ich bin gerade am Abreisen«, stammelte ich, »die Schlüssel fürs Motorrad hab ich schon abgegeben. Na ja, ich wollte gerade zum Bus. Aber ich glaube, ich nehme besser den Zug in Hyeres, das geht sicher schneller, weil der Flughafen doch noch gesperrt ist. Wahrscheinlich bin ich dann schon heute abend in Paris. Aber sag mal ehrlich, es ist heiß hier, was?« »Du nimmst nicht den Bus«, entschied er kurzerhand und deutete auf seinen Boliden. »Ich muß zwei, drei Dinge in Le Lavandou erledigen. Wenn du willst, bring ich dich zum Bahnhof.« »Also ehrlich gesagt, das ist zwar nett, aber ...« »Ich würde mich geschmeichelt fühlen«, schnitt er mir das Wort ab. »Wenn das so ist«, kapitulierte ich, und da er schon dabei war, meinen Rucksack zum Auto zu tragen, konnte ich jetzt nur noch schlecht nein sagen, oder? Er öffnete mir die Tür und setzte sich dann hinters Steuer. Meine Hände legte ich brav auf meine Knie. Er setzte eine Ray-Ban Wayfarer mit schwarzem Gestell auf. Er trug weder ein Armband, noch Goldkettchen oder sonstigen Schnickschnack, den man sonst gewöhnlich in der Grundausrüstung eines Pariser Schickimicki findet, nur eine sehr dunkle, stählerne Schweizer Tag Heuer ums Handgelenk. Das hat Klasse, dachte ich bei mir. Ich gab dem Verwalter ein Zeichen, der mich grüßend durchwinkte. Vor uns öffnete sich das Tor, und mit quietschenden Reifen düsten wir los. »Das ist wirklich nett von dir«, sagte ich, während ich meine widerspenstige Haarsträhne nach oben blies. »Das Vergnügen ist ganz auf meiner Seite«, lächelte mich Antonin mit all seinen prächtig weißen und herrlich geraden Zähnen an. 8 Glaubte man der internationalen Presse, so gehörte Angela Brunelleschi zum viel beneideten Klub der bezauberndsten Mannequins der Welt. Lange hatte man zwischen ihr und Laetitia Casta bei der Wahl zum Modell für die neue Marianne gezögert. Viel 43 leicht hatte letztlich ihre italienische Abstammung den Ausschlag zu ihren Ungunsten gegeben, aber ehrlich gesagt, Angela ließ das alles völlig gleichgültig.
Was sie momentan beschäftigte, war das Fest, das man am gleichen Abend im Schloß geben würde. Sie konnte sich davor nicht drücken. Die Tradition wollte es, daß jedes Jahr im Juli die Bewohner des Cap in diesen Mauern zusammenkamen, um an alte Freundschaften anzuknüpfen, wichtige Geschäftsbeziehungen zu festigen, das Adreßverzeichnis zu erweitern und, das allerdings sehr viel seltener, sich einfach zu entspannen. Angela konnte sich noch auf einen Monat Ruhe freuen, der ihr vom Arzt verordnet worden war. Den Rest der Zeit arbeitete sie hart, und so hatte sie auf alles Lust, nur nicht auf das ganze hier übliche gesellschaftliche Tamtam. Deshalb richtete sie es für gewöhnlich auch so ein, daß sie nur den September über hier war, wenn das Meer noch warm, der Strand aber praktisch schon leergefegt war. Ihre bloße Anwesenheit reichte aus, um dieses Jahr aus dem Ganzen ein riesiges Event werden zu lassen. Sie würde völlig Unbekannte anlächeln, höflich auf Lobreden antworten, Interesse für die schlimmsten Banalitäten heucheln, taktvoll alle Anbiederungen ignorieren und den Eindruck erwecken müssen, sich zu amüsieren, denn sie hatte schließlich auch auf ihr Image zu achten. Kurz und gut: Es würde ein unangenehmer Abend für sie werden, jenseits aller Entspannung, die sie hier gesucht hatte, aber es gab noch einen weitaus schlimmeren Aspekt. Eine Sache, die ihr das Leben hier gründlich verdarb. Seit Tagen schon stopfte sich Angela mit Beruhigungsmitteln voll, ging nicht mehr aus, empfing niemanden. Die Vormittage verbrachte sie auf ihrem Zimmer, stand erst gegen Mittag auf, nur um irgendwelche Romane anzufangen, die sie nie zu Ende lesen würde, zermürbt von einem Leiden, das sie nicht mehr überwinden konnte: Furcht. Das Gesicht des Top Models war ausgemergelt. Nur wenige Wochen hatten gereicht, und ihre elegante Gestalt wirkte nicht mehr schlank, sondern beinahe abgemagert. Es war nicht ihre Schuld, daß sie in eine solche Situation geraten war. Das alles war mit einem Schlag über sie hereingebrochen wie ein plötzlicher, heftiger Nackenschlag. Sie hatte nichts dazu getan. Sie hatte einfach nur die falschen Entscheidungen getroffen. Jetzt war sie allein, zum Warten verdammt. 44 Angelehnt an den Fensterrahmen, nur bekleidet mit einer Männerunterhose und einem T-Shirt, beobachtete sie ängstlich ein blaues Ausflugsboot, das vor dem Cap kreuzte. Ihr Radiowecker, auf France Info eingestellt, ratterte leise den Wetterbericht herunter, und von unten herauf drangen die Geräusche der Leute rund um den Swimming Pool, die das Buffet anrichteten, die Hecken
stutzten und alles vorbereiteten, damit das Fest am Abend ein voller Erfolg sein würde, wie jedes Jahr. Massimiliano Brunelleschi, der Besitzer des Schlosses, schlürfte in seinem behindertengerechten Liegestuhl, an dem seine Arme bereits ihre Spuren hinterlassen hatten, ein englisches Bier. Neben ihm dröhnte aus einem tragbaren JVC Ghettoblaster L'Adieu du ménestrel à son pays natal von John Thomas, in der Version von Martine Geliot, live aufgenommen in der evangelischen Kirche in der Rue Blanche, Paris, 1984. Schon seit seiner Studienzeit, und obwohl sich seine Freunde stets über ihn lustig gemacht hatten, schwärmte er für die Harfe. Seiner Meinung nach war sie das edelste aller Instrumente, das einzige, welches das Wesen der Musik zu Tage fördern konnte, die Anmut in reinster Form. Und auch wenn ihn heute nur noch wenige Dinge im tiefsten Innern berühren konnten, so fand er allein schon bei ihrem Klang seinen Frieden. Der ehemalige Bankier hatte in seinem Leben alles getan, alles gesehen, ein Firmenimperium geleitet, einen Formel 1Rennstall besessen und bei all dem waren die Niederlagen, die er hatte einstecken müssen, immer durch den Klang der Harfe gemildert worden. Aber abgesehen von dieser kleinen Schwäche war Brunelleschi immer ein Hai gewesen. Und selbst wenn ihn nun alle Welt auf dem Abstellgleis glaubte, so zog er doch mit eiserner Hand immer noch die zahlreichen Fäden seiner vielen Unternehmen. Nichts und niemand konnte ihn beeinflussen, und diejenigen, die es versuchten, mußten es bitter bereuen. Alle, bis auf einen. Oder besser gesagt: eine. Und dies war auch der Grund, warum Massimiliano Brunelleschi an diesem Morgen so unermeßlich traurig war. Der Achtzigjährige hatte nur diese eine Tochter und hätte alles für sie getan. Und sie in diesem Zustand zu wissen, bedrückte ihn. Mehr als einmal hatte er versucht, mit ihr zu reden, doch Angela hatte sich, obwohl sie ihm so nahe war, hinter ihrem traurigen Schweigen verschanzt. Schlimmer noch: Massimiliano Brunelleschi hatte das schmerzliche Gefühl, daß ihm seine Tochter seit einigen Wochen aus dem Weg 45 ging. Ihr Verhalten hatte sich ohne erkennbaren Grund völlig verändert. Er hatte alle ausgefragt, den geringsten Reaktionen Angelas nachspioniert, bei den meisten der seltenen Telefonanrufe, die sie empfing, mitgehört, tausendfach zu verstehen versucht. Doch das Fehlen jeden Anzeichens oder Hinweises hatte ihn in seiner traurigen Ratlosigkeit nur noch bestärkt.
Als der alte Mann nun seinen Blick zum Fenster seiner Tochter hob, das die höchste Öffnung im Westturm bildete, da erklang wie in Bestätigung seiner Verzweiflung und gleichsam als ironischer Kommentar Une chätelaine en sa tour von Gabriel Faure. Angela hatte sich ein Fernglas besorgt. Fieberhaft richtete sie es auf das Boot, das sich, als hätte es einen Schluckauf, im ständigen Auf und Ab der Wellen auf den Strand zubewegte. Massimiliano Brunelleschi erkannte die Palourde auf den ersten Blick. Das Boot gehörte der Familie Delafouche und war wahrscheinlich das älteste am Cap. Eine echte Kuriosität unter den Außenbordern und sonstigen Luxusyachten, die hier normalerweise vor Anker gingen. Papa Brunelleschi seufzte und hob eine Hand. Augenblicklich und wie aus dem Nichts tauchte eine junge Krankenschwester auf. Sie hatte braune Haare, sah ziemlich durchschnittlich aus und trug eine strenge Bluse. Folgsam näherte sie sich dem alten Mann, der auf italienisch einen Befehl grummelte. Die junge Frau griff ihm unter die Achseln und half ihm in den Rollstuhl, der neben dem Liegestuhl stand. Er dankte ihr leise, drückte auf die Elektrosteuerung und verschwand im Haus, während in der Ferne ein flaches Schnellboot der CRS, der Bereitschaftspolizei, mit seinen PS-starken Motoren die Wellen durchkämmte. Sie würden die Palourde kontrollieren. Angela biß sich mit den Schneidezähnen auf die Unterlippe und hielt den Atem an. Sie sah einen kleinen rothaarigen Mann mit Hut und Cowboystiefeln an Deck, und ließ das Fernglas los, das schwer auf den Boden prallte. »Jetzt ist es soweit ...«, murmelte sie und ließ sich auf das Bett fallen, »es geht los.« Philippe Orozco, ein Mann in den Fünfzigern, mit schelmischem Blick, ergrauenden Schläfen und gewinnendem Lächeln, legte im Urlaub ein sonniges und umgängliches Gemüt an den Tag. Er schätzte die neuesten Witze, die er heimlich in seinem Notizbuch 46 verewigte, und feierte die Feste bei seinen Kumpels, wie sie fielen. Er war stets hilfsbereit, nie um ein Bonmot verlegen, und er richtete es sich so ein, daß er möglichst oft ans Cap kommen konnte, um seine kleine Familie zu treffen und um ein wenig auszuspannen. Die übrige Zeit war er ein gefürchteter, aber anständiger und respektierter Geschäftsmann. Er war Boss einer großen Kaufhauskette, die auf der ganzen Welt Filialen besaß.
Er war gerade aus Korea zurückgekommen, hatte zuvor noch einen Abstecher nach Paris gemacht, zwischen dem Flughafen von Nizza und dem Cap rasch mehr als zwanzig Telefonate geführt und sich dann von den Zwillingen das Ausflugsboot geliehen, um bei den Inseln sein Versprechen einzulösen. Und so stand er nun in seiner geblümten Badehose an der Ruderpinne der Palourde. Als er das Schnellboot mit der französischen Trikolore als Hoheitszeichen näherkommen sah, glaubte er erst an einen Scherz, den man sich mit ihm erlaubt hatte. Ein abgekartetes Spiel, das nur die Brüder Delafouche heimlich ausgeheckt haben konnten, diese ewigen Kindsköpfe. Als sie noch jünger waren, hatten sie ihre Zeit damit verbracht, in Begleitung junger Mädchen auf den Felsen am Strand zu sitzen, den reichen Typen zuzusehen, die von hier aus in die weite Welt hinausfuhren, und außer Reichweite der Eltern Süßholz zu raspeln. Sie hatten aber auch die Boote sehr genau beobachtet. Und auf diese Weise konnten sie eines sehr stürmischen Tages einem künftigen Architekten das Leben retten, der back- und steuerbord verwechselt hatte. Als Orozco nun den kleinen rothaarigen Mann mit Gangsterhut und spitzen Stiefeln vor sich sah, der beim Anlegen nur mühsam das Gleichgewicht halten konnte, mußte er trotz seines Kummers unwillkürlich lächeln. Er stellte sich vor, wie die Brüder sich vor Lachen kugeln und in die Seite stoßen würden, wenn sie ihn von ihrem Grundstück aus beobachteten. Doch der Rothaarige schien angesichts seiner offen zur Schau getragenen Leutseligkeit ziemlich ungehalten zu sein. Und so kamen ihm erste Zweifel. Eigentlich müßten die Brüder bei der Beerdigung sein, und dies wäre ohnehin nicht der richtige Tag für solch einen Unfug. Philippe Orozco drosselte den Motor, als die Polizei nicht gerade sanft längsseits ging. Der Geschäftsmann glaubte einen Moment, 47 es ginge vielleicht um den illegalen Fang von Seeigeln im Juli oder um eine einfache Überprüfung der Papiere, aber als Rembrandt an Deck sprang und ihn fragte, ob er Monsieur Philippe Orozco sei, geboren 3. März 1950 in Troyes, wohnhaft in Paris, 118 boulevard de Saint-Germain, da begriff er, daß es sich doch um eine ernsthafte Angelegenheit handeln mußte. Er bestätigte alle Angaben, und der Polizist steckte seinen Dienstausweis wieder ein. »Sie waren nicht bei der Beerdigung von Rudolphe Tintoret«, bemerkte Rembrandt, der sich ans Kabinendach lehnte. Philippe Orozco hätte ihn beinahe gefragt, ob er nur deswegen mit dem Schnellboot hergekommen sei,
um ihn dies zu fragen, denn in einem solchen Fall hätte er das Geld der Steuerzahler nun wahrlich zum Fenster hinausgeschmissen, - er hielt sich aber noch rechtzeitig zurück. Einen kurzen Moment lang glaubte er, der Bulle wisse Bescheid. Doch das war unmöglich. »Tintoret war ein sehr enger Freund«, antwortete er, »und ich wollte seiner lieber allein gedenken. Auf den Inseln. Wir waren oft zusammen dort. Warum, Capitaine? Ist das gesetzlich verboten?« »Commandant«, berichtigte Rembrandt. »Commandant«, wiederholte der Geschäftsmann, »wie Sie wollen.« Am Heck standen die beiden Polizisten der CRS unbeweglich und wie aus Marmor gemeißelt. Dieser Fall ging sie nichts an, sie wußten nicht einmal, worum es hier ging, aber aus dem Tonfall, den der Mann in Bermuda-Shorts anschlug, folgerten sie, er sei trotz des Schiffes, dessen Alter nur schwer zu schätzen war, sicherlich nicht irgendwer, schon gar nicht hier am Cap. Rembrandt fixierte lange einen Punkt in der Ferne, wo ein Mann mit Fallschirm von einem Boot emporgezogen wurde, dann rückte er mit beiden Händen seinen Hosenbund zurecht, setzte sich auf eine Holzbank und seufzte erschöpft. »Ich verstehe«, sagte er, »Sie wissen es noch nicht.« Hing ganz davon ab, was. Philippe Orozco wartete und zog zweifelnd die Augenbrauen hoch. Dabei konnte er in aller Ruhe den Saum an der Hose des Polizisten bewundern. »Heute morgen«, fuhr Rembrandt fort, »am Flughafen ...« Orozco begriff immer noch kein Wort. Von der Küste her schien ihm ein ziemlicher Eukalyptusgestank herüberzuwehen. Er entspannte sich. 48 »Drei Tote«, sagte der Polizist und musterte den Mann, der sich über ihn lustig zu machen schien, von oben bis unten. Die beiden Bereitschaftspolizisten verdrehten unmerklich die Augen. Seit dem Morgen gab es kein anderes Gesprächsthema mehr. Ein abscheuliches und kaltblütig ausgeführtes Gemetzel. Der Mord an dem einen Transportbegleiter, der im Wagen geblieben war, war völlig überflüssig gewesen. Man hatte ihn nur zum Vergnügen per Handgranate in Stücke gerissen. Sie waren der Auffassung, die Schuldigen gehörten schlicht und ergreifend hingerichtet. Kurz und schmerzlos, aus den Augen, aus dem Sinn. »Sie wurden mit halbautomatischen Waffen und einer Granate getötet«, fuhr der Polizist fort, »Berthold Clouet, fünfundzwanzig Jahre. Franck Pérugin,
dreißig Jahre. André Murillo, ein Jahr vor der Rente. Alle drei wurden förmlich hingerichtet. Abgeschlachtet wie die Tiere.« Philippe Orozco schüttelte völlig verwirrt den Kopf. Er hatte keinen blassen Schimmer, was das mit ihm zu tun haben sollte. Der kalte und unverschämte Tonfall Rembrandts begann ihn ernsthaft zu beunruhigen. »Brink's«, fügte dieser hinzu, »verstehen Sie nun?« »Brink's«, wiederholte Philippe Orozco verstört. Es dauerte eine ganze Weile, bis er die Tragweite des Ganzen erfaßte. »Das soll doch wohl nicht heißen, daß ...« »Doch«, antwortete Rembrandt, der sich lässig hinter dem Ohr kratzte. »Genau das.« Erschüttert ließ sich der Geschäftsmann neben den Polizisten auf die Holzbank fallen. »Verflucht noch mal ...«, murmelte er. »Wenn Sie so wollen.« Die beiden Typen von der CRS wechselten einen vielsagenden Blick. Der Kerl, dem sie da auf die Pelle gerückt waren, war tatsächlich ein sehr großer Fisch. Instinktiv wanderten ihre Blicke zu den Handschellen, die an Rembrandts Gürtel hingen. »Und jetzt«, sagte dieser wiederum ganz besonders bösartig lächelnd, »werden Sie mir ein paar Dinge erklären müssen ...« Ein paar hundert Meter entfernt hob Angela Brunelleschi in ihrem Zimmer oberhalb der Steilküste tränenüberströmt den Telefonhörer ab und wählte mit zittriger Hand eine Nummer. ZWEITER TEIL Mittags »Hü!« ruft Martine »He!« antwortet Nicole. Gilbert Delahaye, Martine ä la mer 9 Ich hatte meinen Zug verpaßt. Echt blöd, aber in dem Moment, in dem ich in die Bahnhofshalle rannte, fuhr er los. Entlang der Waggons wedelten Opas und Omas mit ihren Taschentüchern, schade, aber ich konnte nichts mehr unternehmen, um die Abfahrt zu verzögern. »Echt blöd«, bedauerte Antonin und tätschelte meine Schulter. Mir lief es kalt den Rücken runter, und ich sagte, das sei ja lustig, weil mir gerade das Gleiche durch den Kopf gegangen sei.
Er breitete seine Arme aus, als wolle er andeuten, das sei ja tatsächlich lustig, und während ich mich fragte, ob ich an ihm nicht doch irgendeinen Fehler entdecken könne, sagte er leise, es gingen ja noch mehr Züge. Schon möglich, aber nach der Sperrung des Flughafens hatten sich die Passagiere sicher auf die letzten freien Plätze gestürzt. Ich würde wahrscheinlich keinen Platz mehr bekommen, und bei dem schönen Wetter war der Gedanke, in einen TGV eingepfercht zu sein, auch nicht sonderlich verlockend. Immerhin hatte ich noch zwei Tage Urlaub. Er sah sich um und gestand mir dann, er habe eine Idee, wage sie aber nicht zu äußern. Ich erwiderte, ein Versuch koste doch nichts, man werde ja sehen. Er schlug mir vor, ihn in ein kleines Restaurant zu begleiten, das etwas abgelegen in den Bergen liege, mit Swimmingpool und frischen Goldbrassen, nicht weit weg von hier, nur etwa zwanzig Minuten. Ich willigte ein, aber nur zum Essen, ich würde nämlich in Paris erwartet. »Du hättest mir kein größeres Vergnügen machen können«, strahlte er und nahm erneut meinen Rucksack. Ich dachte, das habe er sich auch redlich verdient, und schon fädelte sich der Wagen in den Stau zur Nationalstraße ein. Antonin fuhr schnell, aber umsichtig. Kein Vergleich zu den Pistensäuen, die ihr Auto mit Genitalien verwechseln, auch wenn mein Chauffeur, so auf den ersten Blick, durchaus einiges unter der Haube hatte. Er bog nach links, in Richtung Mole, und schon befanden wir uns auf einer entzückenden kleinen Landstraße, die sich durch Pinienwäldchen schlängelte. 50 Über dem Motorengeräusch vernahm ich den sirenenhaften Gesang einer Armee von Grillen, als ob sie mir ins Ohr zirpen wollten: ,Na los, meine Liebe, laß dich doch mal gehen, du hast immerhin den besten Fang der ganzen Cöte d'Azur gemacht Ich versuchte, mir einzureden, daß ich nicht so leicht herumzukriegen sei. Ohne Erfolg. »Alles okay?« »Alles okay«, brabbelte ich. Wir überholten jede Menge Radfahrer, die bei dieser Steigung Blut und Wasser schwitzten. Als wir oben angekommen waren, bog Antonin erneut nach links auf einen schmalen, von dichtem Gebüsch gesäumten Kiesweg ein, der kaum breiter war als das Cabrio. »Und da soll irgendwo ein Restaurant sein?« fragte ich. »Das beste.«
Und tatsächlich erreichten wir nach zwei, drei von Johannisbeersträuchern gesäumten Kilometern einen Parkplatz, auf dem bereits etwa ein Dutzend Fahrzeuge standen, die fast ausnahmslos ein aufklappbares Verdeck hatten. Antonin kam ums Auto herumgelaufen, um mir die Tür aufzumachen, und führte mich dann auf eine schattige Terrasse, die den Blick auf einen Swimmingpool fast schon olympischen Ausmaßes eröffnete. Weit draußen war das Meer zu sehen. Alle Tische waren besetzt, in der Mehrzahl von Pärchen, die sich leise unterhielten und sich gegenseitig mit verliebtem Lächeln die Hände kitzelten. Der Oberkellner erkundigte sich höflich, ob wir reserviert hätten, denn ansonsten würde es schwierig. Antonin verlangte den Chef des Hauses zu sprechen, und schon drei Minuten später nahmen wir am besten Tisch des Hauses Platz. Er bestellte zweimal Goldbrasse und eine Flasche Mineralwasser und fragte mich dann, auf wen ich denn vorhin angespielt hätte. »Vorhin?« »Du hast doch gesagt, du würdest in Paris erwartet, oder?« Logisch. Bevor er zum Angriff überging, wollte er wissen, ob es da jemanden gab. Wenn ich jetzt nein sagte, würde er mir zuflüstern, das treffe sich ja hervorragend, er finde mich nämlich bezaubernd. Und das Schlimmste war, genau darauf wartete ich ja nur. »Bloß eine Freundin«, antwortete ich und kam mir dabei reichlich lächerlich vor. »Im Moment hab ich keinen festen Freund.« 51 Doch nun schien er verlegen zu sein. Mit der Andeutung eines Lächelns gab er mir Feuer. »Und du?« »Ich?« »Hast du jemand?« »Ich bin auf der Suche«, sagte er und senkte auf wunderbare Art die Augen. Ein Englein flog leise vorüber. »Süß«, sagte er. »Was?« »Wie du die Haarsträhne immer wegbläst.« Mich überkam eine unbändige Lust, ihn zu küssen. Eine abscheulich wohlige Begierde bohrte sich in mein Herz, und ich begann dahinzuschmelzen. Ich starrte auf seine schmale, langgliedrige Hand, die sich der meinen näherte. Es war fast schon Nacht geworden. Alle anderen waren längst gegangen, der feuchte Duft von Tau stieg vom Garten her empor, seine heißen Lippen drückten sich auf meine. Meine Zunge suchte seine, während seine Hand unter mein Polohemd glitt. Als sie über meine harten Brustwarzen strich,
nötigte sie mir ein leises Stöhnen ab. Er zwickte so fest zu, daß mir, von Schmerz und Lust überwältigt, die Luft weg blieb. »Ist alles in Ordnung?« fragte der Kellner. Ich erwachte aus meiner dummen Träumerei und murmelte irgend etwas Unverständliches. »Du machst so ein komisches Gesicht«, flüsterte Antonin. »Woran denkst du?« Ich dachte, daß ich mir wohl einen Sonnenstich geholt haben mußte. »Das willst du doch jetzt gar nicht wirklich wissen«, sagte ich errötend, aber plötzlich hellwach. »Vielleicht später«, stammelte ich noch. Lauter Klischees, klar. Irgendwann werde ich es dir verraten, nur im Moment fällt mir einfach nichts Besseres ein, tut mir leid. »Du Flasche!« schienen da die Grillen zu kreischen, »arme Irre!« Ich benutzte die Serviette als Fächer, der Kellner stellte den Kaffee auf den Tisch, ein Geschenk des Hauses selbstverständlich, und Antonin verlangte mit einer diskreten Kopfbewegung die Rechnung. Ein paar Jungs tollten im Swimmingpool herum, und starker Lavendelgeruch drang zu uns herauf. 52 »Ich bewundere dich«, gestand Antonin mit ernster Miene. »Und warum?« »Was du mir erzählt hast. Was du heute morgen gesehen hast. Du machst einen sehr gefaßten Eindruck.« Ich zuckte mit den Schultern und biß leicht auf meine Lippen. »Ich hab's noch gar nicht richtig kapiert. Alles ist so schnell gegangen. Überall Blut... Ich war regelrecht gelähmt.« »So etwas muß ja schon ziemlich seltsam aussehen. Nicht daß du jetzt denkst, ich wäre krankhaft neugierig, aber ...« »Ich weiß nicht, was ich denken soll. Normalerweise komme ich ja erst, wenn die Schlacht geschlagen ist. Ich hab schon schreckliche Dinge gesehen, aber noch nie habe ich mich so ohnmächtig und hilflos gefühlt.« »Das müssen Verrückte gewesen sein«, murmelte er. »Diese zwei Typen ... so seelenruhig ... Ich weiß auch nicht. Es war gar nicht notwendig zu schießen. Man hätte glauben können, es macht ihnen einfach Spaß. Ich bin mir nicht sicher ... Aber ich glaube, einer hat sogar lauthals gelacht. Ein Geisteskranker.« Ohne den Ober mit der Rechnung auch nur eines Blickes zu würdigen, legte Antonin eine Kreditkarte in das Schälchen. »Möchtest du deine Schokolade?«
Eher nicht. Ich brauchte kein Aphrodisiakum. Obwohl - mir das alles noch mal in Erinnerung zu rufen, das hatte auf mich wie eine kalte Dusche gewirkt. »Und dein Vater?« fragte er weiter, während er sein Schokoladenstückchen auswickelte, »du hast ihn nie mehr wiedergesehen?« »Laß uns bitte von etwas anderem sprechen.« »Entschuldige. Weißt du, kein Mensch am Cap hat jemals verstanden, warum er dich damals im Stich gelassen hat. Das ist doch unglaublich. Fast zwanzig Jahre lang keine Nachricht ...« »Hör bitte auf!« Der Kellner kam mit einem Lesegerät zurück. Antonin tippte die Geheimzahl ein, doch der Apparat meldete, die Karte sei nicht mehr gültig. Sehnsüchtig schaute ich zum Roadster: vier Zylinder, fünf Ventile pro Zylinder, in 6,7 Sekunden von Null auf Hundert. Ein kleines Wunderwerk, das ich in Zeitschriften schon tausendfach angehimmelt hatte, das aber auf immer im Reich meiner Träume vergraben bleiben würde. 53 Während er mich mit einem Auge beobachtete, zog Antonin eine andere Geldkarte hervor. »237 Stundenkilometer«, sagte er, »Modell Quattro.« »Wow!« »Diese ist auch nicht mehr gültig«, sagte der Kellner. Antonin de Messine wurde ärgerlich. Ob das ein Scherz sein solle, fragte er den Mann, der prompt verneinte. »Ist schon in Ordnung«, sagte ich und suchte meine Geldbörse. »Ich zahle.« »Kommt gar nicht in Frage«, lächelte mein schöner Apollo und zog ein Bündel nagelneuer Banknoten aus dem Jackett. Das Pärchen am Nachbartisch schien sichtbar erleichtert, und der Kellner steckte ein, was ihm zustand. Antonin legte seine Hand auf meine. Gleich würde er mich küssen, endlich, der große Augenblick. Da plötzlich, ich hatte einfach kein Glück, vibrierte in meiner Tasche das Handy. »Entschuldige bitte.« »Kein Problem.« »Wir suchen Sie schon überall«, rauschte die Stimme Monsieur Palladios, des Gutsverwalters, aus der Leitung. »Ja bitte?« »Ihre Schwester ... beim Notar ... eine Unannehmlichkeit ... Sie werden dringend erwartet ... Ich wollte ihr Ihre Nummer nicht geben - darum hatten Sie mich ja gebeten - aber es handelt sich um etwas Ernstes.« »Welche Art Unannehmlichkeit?« fragte ich und fürchtete schon das Schlimmste.
»Keine Ahnung«, gestand Monsieur Palladio, »ich gebe Ihnen die Adresse. Es ist in Le Lavandou.« Marguerite hatte offenbar beschlossen, mir das Leben nachhaltig zu vermiesen. Da hatte ich den einzigen glücklichen Augenblick seit vierundzwanzig Stunden - und meine saudumme Schwester vermasselt mir alles. Ich notierte die Adresse auf der Rückseite meiner Zigarettenpackung, dankte M. Palladio und zuckte angesichts des fragenden Blicks Antonins mit den Schultern. »Und?« »Ich muß nach Le Lavandou.« »Was Ernstes?« 54 »Keine Ahnung.« Er zeigte auf sein kleines Monster, das weiter unten geparkt war. »Das schaffen wir in zwanzig Minuten. Ohne Geschwindigkeitsüberschreitung.« Ich überlegte. Schließlich hatte ich ja Urlaub. Und wenn ich mich schon hetzen mußte, dann wenigstens vorschriftsgemäß. »Gib mir die Schlüssel.« Ein Versuch. Das Schöne an Antonin war: Er sah nicht nur blendend aus, er war auch kein Egoist. Er legte den Zündschlüssel auf das Tischtuch und stupste ihn zu mir herüber. »Fünfzehn Minuten«, sagte ich. »Fünfzehn Minuten?« rief er und sprang vom Stuhl hoch. »Wetten?« »Wette gilt!« johlte ich und sprintete wie eine Verrückte zum Roadster. Vollgas voraus. 10 Germain Pilon hüpfte vor Freude auf dem gefliesten Boden seines Schlafzimmers herum. Auf seinem alten Tonbandgerät liefen die Rolling Stones, die ihn an seine Jugend erinnerten. Er ließ die Hüften kreisen und kreischte Let it bleed. Seit mehr als einer Stunde mistete er sein Studio gründlich aus. Fort mit den Pornoheftchen, hinaus mit dem Dreck, keine Dummheiten, kein Sich-gehenlassen mehr. Pilon war ein neuer Mensch. Er wirkte wieder ein wenig so wie vor seinem Unfall. Er trug nun wieder Verantwortung. Nein, Germain Pilon hatte mit der Sex-Bombe nichts angefangen. Das war auch besser so. Sie hatte ihm unglaubliche Dinge enthüllt. Während sie nebeneinander auf der Bettkante saßen, hatte Tatjana sich ihm völlig anvertraut, und obwohl er mit
einer ausschweifenden Phantasie gesegnet war, hatte Germain Pilon zunächst seinen Ohren nicht getraut. Mit nacktem Oberkörper stürzte er sich nun auf den Abwasch, danach würde er in die Nachbargärten gehen und ein paar Blumen pflücken. Seine Harpune konnte er erst mal im Schrank lassen. Denn jetzt hatte er Geld, um einzukaufen. Fünfhundert US-Dollar. Ganz was Neues. You got the silver, sang Mick Jagger, you got the gold! 55 Er würde vom Cap weg und in den Supermarkt nach Cavaliere fahren, dem direkt am Strand, und dort würde er ihnen schon zeigen, wer er wirklich war. Er würde Lachs kaufen und Toastbrot und zwölf Jahre alten Cognac. Ah, eine Packung Pariser würde er auch noch mitnehmen, nur um ihre Reaktion zu sehen. Er würde Tatjana wie eine Königin behandeln. Heute abend würde er Arm in Arm mit ihr zum Schloß gehen. Er wußte, daß er sie niemals haben könnte, da sie einen anderen liebte, aber er würde sie den anderen zumindest präsentieren. Das war also sein weiteres Programm. Er, am Abend, mit der Sex-Bombe im Arm, vor allen Leuten vom Cap. Sie hatte es ihm versprochen. Was die kleine Gefälligkeit betraf, um die ihn Malewitsch gebeten hatte: Was kümmerte ihn das noch? Er hatte zwar das Geld eingesteckt, aber da konnte der Russe lange warten. Nicht einmal der riesige Hannibal machte ihm noch Angst. Er würde Tatjana helfen. Das war seine Mission. Germain Pilon steckte den letzten Teller ins Abtropfgestell und deutete ein Tänzchen an, als sein Blick zufällig auf den überquellenden Abfalleimer fiel. Aus einem Haufen schmutziger Wischtücher sah eine hübsche, blonde Frau mit einladend gespreizten Beinen auf Hochglanzpapier zu ihm hoch und schien ihm zuzuzwinkern. Seine Lieblingsblondine. Gewiß eine Schwedin. Sie hatte ihn so oft in den Siebten Himmel begleitet. Germain Pilon zögerte. Und als ein Chor junger Frauen sanft das Intro zu You can't always get what you want anstimmte, ging er vor seiner verführerischen Ikone zitternd auf die Knie. »Ein letztes Mal«, murmelte er, als er das Magazin hochhob. Draußen sprang eine Katze einen Eichelhäher an. Es ertönte ein panisches Fiepen, dann ein verzweifeltes Flügelschlagen, gefolgt von einem Tumult im Gebüsch, und dann war es schlagartig wieder still. »Danach hör ich auf«, fügte Pilon hinzu. So diskret wie möglich, was ihm eine enorme Anstrengung abverlangte, legte Massimiliano Brunelleschi den Telefonhörer wieder auf.
Er saß hinter seinem Schreibtisch aus massivem Nußbaumholz, die Tür zu seinem Unterschlupf war sorgfältig und zweifach verriegelt. Obwohl es mit den edelsten Materialien und Parkettboden ausgestattet war, wirkte das Zimmer düster und funktionell. Seit einem Herzstillstand waren seine Beine gelähmt. Deshalb hatte man alles so umarrangiert, daß er alles Nötige von seinem 56 Rollstuhl aus erreichen konnte. Einzige Ausnahme war die umfangreiche Bibliothek, die an der Rückwand thronte und mit einem komplexen elektronischen System versehen war, für das der alte Mann ein Patent angemeldet hatte. An den Wänden hingen unbezahlbare Werke großer Meister. Ausschließlich italienische Renaissance: Giorgione, Bronzino und ein kleiner Akt von Antonio Allegri, genannt Corregio, den er ganz besonders liebevoll umhegte. Corregio war ein Maler des Fleisches, dessen körperliche Üppigkeit und sinnliche Poesie so gar nichts Religiöses an sich hatten und auf den alten Sammler einen verstörenden Reiz ausübten. Und dieses Porträt, das er nach zähem Ringen bei einer Auktion in Mailand erworben hatte, ähnelte auf verblüffende Weise Angela, seiner einzigen Tochter. Eine Ruheecke mit mehreren Lederkanapees war mit einer Harfe und einer Bronzeskulptur von Jean de Bologne verschönert, deren Wert jedes Begriffsvermögen überstieg. Durch die Fensterfront vor dem Schreibtisch blickte man auf eine Terrasse, die zur von Dornengestrüpp überwucherten Steilküste führte. Derweil zwang sich hinter dem Schreibtisch Massimiliano Brunelleschi, die Augen zu schließen. Es gelang ihm nur mühsam, das Zittern seiner Hände unter Kontrolle zu bringen. Wort für Wort wiederholte er für sich den Ablauf des Gesprächs zwischen seiner Tochter und einem Unbekannten, das er soeben belauscht hatte. Er hatte nur das Ende mitgehört, und Angela hatte den Unbekannten kein einziges Mal mit Namen angeredet, doch der alte Mann hatte verstanden. Dieser kleine Saukerl erpreßte sie. Er wußte nicht, ob das alles vom Tschetschenen gesteuert war, und er hatte nicht die leiseste Ahnung, wie weit der andere zu gehen wagte, doch sein kleiner Liebling, sein Augenstern, wurde durch sein eigenes Verschulden bedroht und in Angst und Schrecken versetzt, und genug war genug. Wie gewöhnlich brauchte Massimiliano nur sehr wenig Zeit, um eine grundsätzliche Entscheidung zu treffen. Er nahm ein zweites Telefon mit abhörsicherer Leitung, wählte aus dem Kopf eine Nummer und erklärte seinem geheimnisvollen Gesprächspartner, daß er ihn brauche. Und zwar so
schnell wie möglich, noch vor heute abend, und daß er die üblichen Konditionen verdopple. Schließlich verabschiedete er sich auf eine Weise, die keinerlei Widerspruch duldete. Danach rollte der alte Mann zu seinem Lieblings 57 gemälde, schwenkte es zur Seite und beugte sich vor zu seinem Tresor der Marke Fichet, Modell Carèna. Er gab auf der elektronischen Tastatur einen von elf Millionen möglichen Codes ein, worauf sich die schwere Tür mit einem leisen Klicken öffnete. Dort lagen sorgfältig gestapelte Akten, ein paar ausländische Banknoten und vor allem seine halbautomatische Beretta in Leicht-legierung, die an ihrem gezahnten Schlitten sofort zu erkennen war. Er durchwühlte das unterste Fach, bis er eine grüne Pappschachtel mit 9 mm-Parabellum-Munition von Fiocchi fand. Er öffnete die Schachtel, arretierte mit dem Sicherungshebel den Schlitten der Pistole, legte eine Patrone ins Lager, ließ den Schlitten kraftvoll zuschnappen, legte den Hahn um, steckte ein Magazin mit fünfzehn Schuß in den Griff, schlug mit der Handfläche kräftig dagegen, ganz angetan von dem Gedanken, sie auch zu benutzen. »Si vis pacem, para bellum«, dachte er. Die Pistole verschwand unter dem Plaid des alten Mannes, der systematisch alles wieder an seinen Platz räumte, während draußen die Festvorbereitungen in vollem Gang waren. Massimiliano Brunelleschi saß lange konzentriert vor seinem kleinen Gemälde. Er würde nicht gleich mit Angela reden. Er mußte sie schützen, und, wie üblich, würde er diese Geschichte selbst regeln. Und zwar umgehend. Darauf konnte man sich bei ihm verlassen. Vor der Fensterfront sah er, wie draußen irgendein Kerl mit einem Steigfallschirm von einem Boot wie ein Hampelmann nach oben gezogen wurde. So etwas hatte er noch nie gesehen. Massimiliano fragte sich, was man wohl noch alles erfinden würde, um in die Luft zu gehen, dann schloß er seine Tür auf und verließ das Zimmer. Rund um den Swimmingpool herrschte Hektik. Neben den Hausangestellten liefen auch verschiedene Lieferanten durcheinander, und die Musiker, die für das Fest engagiert worden waren, luden ihr Equip-ment ab. Es war eine Rockband, die man in einer Bar in Le Lavandou aufgegabelt hatte. Les Rageous Gratoons. Langhaarige junge Männer aus Bordeaux, die Massimiliano gern durch irgend etwas Klassisches ersetzt hätte, aber Angela hatte ihren Kopf durchgesetzt.
Er bahnte sich seinen Weg durch diese kleine Welt, während der rote Peugeot 205 von André Palladio, dem Gutsverwalter, langsam die von Oleander umsäumte Allee hochkam. Palladio parkte sein Auto hinter einem Lieferwagen, der gerade aus Saint Tropez angekommen war, und trug dann lächelnd eine 58 mit Alufolie abgedeckte Platte zum Büffet. Sein Gesicht strahlte Gutmütigkeit aus. Er war ein umgänglicher und besonnener Mann, zwar hatten seine Gesten etwas Phlegmatisches an sich, aber hinter diesem offenkundigen Gleichmut verbarg sich ein Handwerker erster Güte mit geradezu gefürchteter Präzision. Er war korsischer Abstammung und hatte feste Grundsätze, die man am besten nicht allzu sehr auf die Probe stellte. Brunelleschi, der bequem und sicher in seinem Rollstuhl saß, sah ihn stirnrunzelnd an. »Sind das die Beignets?« fragte er. Palladio nickte. Das mit Auberginenblüten gefüllte Gebäck seiner Schwägerin Maguie war in der ganzen Gegend berühmt. Am Cap kam kein Fest, das dieses Namens würdig sein wollte, ohne diese Appetithäppchen aus. Brunelleschi streckte gierig eine Hand nach der Platte, doch mit einem freundlichen, aber bestimmten Klaps beschützte Palladio seinen Schatz. »Sie sind herzlos«, schimpfte der alte Mann. »Was lange währt, wird endlich gut«, entgegnete der Verwalter und eilte in Richtung Büffet. Massimiliano lächelte traurig. »Das mag schon sein«, seufzte er und schaute nervös auf seine Armbanduhr. »Wir werden ja sehen.« 11 Ich hatte keine Zeit, genau auf ihn zu achten, aber ich glaube, er hatte sich die ganze Fahrt über nicht gerührt. Nichts, keine einzige Geste, nicht einmal, als es uns bei Canadel beinahe aus einer Haarnadelkurve getragen hätte. Ich holte jede einzelne Pferdestärke aus dem Motor heraus, aber er hatte kein Wort gesagt, bloß eine CD eingelegt und bis zum Anschlag aufgedreht. Und so waren wir dann auch beim Büro des Notars angelangt. Mit einem Affenzahn und J.J. Cale volle Pulle aus den Boxen, glücklich wie zwei Teenies. Ich hauchte einen Kuß in seine Richtung, und er gab mir mit einer Handbewegung zu verstehen, daß er auf mich warten werde. Ich stieß die Tür auf und dachte so bei mir selbst, daß ich vielleicht 58
wieder von Wolke Sieben herunterkommen sollte, denn schließlich war ich keine achtzehn mehr. Aber jetzt: Szenenwechsel. Mein psychopathischer Neffe lümmelte sich auf einem Plastikstuhl, alle Fingernägel der linken Hand im Mund. Er war allein im Wartezimmer, alle anderen Stühle waren leer. Auf einem niedrigen Tischchen lagen einige Stapel Fachzeitschriften, ihrem Zustand nach zu urteilen schon etwas älteren Datums. An der Wand hing ein billiger Druck von Claude Monets Impression au soleü levant. Der Blick, den er mir zuwarf, glich einem Erschießungskommando, dann drehte er den Kopf zum vergitterten Fenster. Ich hatte ihm nichts zu sagen. Das Geschrei meiner Schwester reichte mir völlig, und so ging ich zur gegenüberliegenden Tür und öffnete sie. Ohne anzuklopfen. Der Notar - ein Glatzkopf mit Schildpattbrille, dessen kurz geratener Körper in einem karierten Anzug steckte - klebte fast schon an der Wand. Marguerite, noch immer in Schwarz, bedrohte ihn mit ihrer spitzen Stimme. Ich konnte dem Tenor ihrer Ausführungen nicht recht folgen, aber egal. Als sie mich sah, verstummte sie schlagartig. So wie sie mich ansah, glaubte ich, sie würde sich jeden Moment auf mich stürzen, um mich abzumurksen. »Keine falsche Bewegung«, warnte ich sie. Sie machte einen Schritt auf mich zu, besann sich aber in letzter Sekunde eines Besseren. Ihre Frisur war zerrauft, und rote Flek-ken zogen sich wie Streifen über Wangen und Hals. »Myrtille Xiao-Mei?« fragte der Notar. Ich nickte, während ich meine Schwester weiterhin im Auge behielt. Hinter ihr saß Gräce in einem Sessel, in dem sie fast versank, und schluchzte vor sich hin. Von Zeit zu Zeit, gleichmäßig wie ein Metronom, überkam sie ein Schluckauf. »Nehmen Sie doch bitte Platz«, schlug der Notar vor, nachdem er sich mit gequältem Gesichtsausdruck den Schweiß von der Stirn gewischt hatte. »Das solltest du auch tun«, riet ich Marguerite. Sie zögerte eine ganze Weile, während der ich weiterhin vor ihr auf der Hut war, dann fiel sie buchstäblich in sich zusammen. Mit einem Schritt nach hinten sank sie kraftlos neben ihre Tochter, und umklammerte mit den Händen die Armlehnen. Jetzt erst setzte auch ich mich in den leeren dritten Sessel. »Darf ich mich zurückziehen, Maitre?« fragte eine leise Stimme. 59
Die Frau, die gesprochen hatte, war leichenblaß und praktisch unsichtbar, so sehr hatte sie sich gegen das Bücherregal gequetscht, das die gesamte Wand einnahm. »Danke, Francoise«, sagte der Notar, »Sie können gehen.« Françoise schloß leise die Tür hinter sich, dann blätterte der Notar lange in der Akte, die vor ihm lag. Offensichtlich wußte er nicht so recht, wo er anfangen sollte. »Also«, sagte er schließlich, »Ihr Vater, Monsieur Tintoret, hat mir die Ehre erwiesen, mir sein Testament anzuvertrauen. Ich habe es Ihrer hier anwesenden Schwester eröffnet ...« Grâce hickste. »Kurz und gut, er hat, wie es das Gesetz erlaubt, seine verschiedenen Besitztümer und ebenso seine Bankguthaben in drei Drittel geteilt...« »Miststück!« spuckte Marguerite. »Ich muß doch sehr bitten«, forderte der Notar. Ich konnte mir allmählich vorstellen, was nun folgen würde. Meine Schwester grummelte noch mehr Schwachsinn vor sich hin, und ich zerknüllte in meiner Tasche eine Schachtel Zigaretten. »Ein Drittel geht an Ihre Schwester«, fuhr der Mann fort, »das heißt, ein Appartement in Paris ...« »Ein Scheißhaufen!« keifte Marguerite, »ein Loch! Alles muß renoviert werden.« »Geschätzt auf 450 000 Euro«, erläuterte der Notar. »Für den Arsch!« »Sowie 120 000 Euro aus einer Lebensversicherung.« »Für die Steuern!« kläffte sie. »Das zweite Drittel sowie das Pflichtdrittel gehen an Mademoiselle Myrtille Xiao-Mei, geboren am 20. August 1967 in Tananari-vo, wohnhaft in Paris ...« Grâce hickste. »Kurz und gut, Ihr Vater hat dieses Papier unterzeichnet, in dem er Sie als rechtmäßige Tochter anerkennt.« »Schlampe!« keifte meine Schwester. »Das ist noch nicht bewiesen.« »Monsieur Tintoret hatte bereits alles in die Wege geleitet. Er hatte sich von einem Privatlabor eine Blutprobe für einen DNA-Test entnehmen lassen. Das habe ich Ihnen die ganze Zeit vergeb 60
lieh zu erklären versucht. Alles vorschriftsgemäß unter der Aufsicht eines Gerichtsbeamten. Wir brauchen nun auch von Ihnen eine Blutprobe, Mademoiselle Xiao-Mei, um die Ergebnisse vergleichen zu können, und ...« »Miststück!« keifte meine Schwester. »Das ist doch ein abgekartetes Spiel. Du hast das doch alles die ganze Zeit gewußt, oder?« »Also«, begann der Notar von neuem, »Ihr Vater hinterläßt Ihnen sein Haus am Cap, geschätzter Wert: knapp eine Million Euro, ein Grundstück in der Bretagne im Wert von 150 000 Euro, sowie diverse Giro- und Sparkonten von zusammen ungefähr 500 000 Euro.« Ich bat ihn um die Erlaubnis, rauchen zu dürfen, er gab sie mir, und Gräce hickste wieder, nun aber weit heftiger als zuvor, was mir jedoch egal war. In diesem Moment war mir alles egal. In etwa so wie am Morgen am Flughafen, ich war da, ohne da zu sein. Wie ein Windhauch, abwesend, vollkommen betäubt ... »Was seine Urheberrechte als Schriftsteller anbelangt, so werden sie auf die gleiche Weise geteilt: zwei Drittel für Mademoiselle Xiao-Mei, ein Drittel ...« »Das kannst du dir abschminken«, drohte Marguerite. »Ich mache Sie darauf aufmerksam ...« »Halt's Maul!« sagte ich. Der Notar räusperte sich. »Ich gebe zu, das ist eine ungewöhnliche Situation«, fuhr er fort, »aber ich versichere Ihnen, daß alles ...« »Ich will nichts davon«, unterbrach ich ihn. »Wie bitte?« »Ich will nichts von ihm.« Gräces Schluckauf war schlagartig vorüber, und meine Schwester stieß einen Seufzer aus, den ich gar nicht erst zu deuten versuchte. »Aber ...« Der Notar lief rot an. »Geben Sie alles irgendeiner Organisation, ja? Schicken Sie ein paar Kinder in die Ferien.« Ich stand auf und ging wie in Trance zur Tür. »Das ist unmöglich«, betonte der Notar, »wenn Sie auf Ihren Teil verzichten, fällt alles Ihrer Schwester zu. So will es das Gesetz.« Als ich das hörte, blieb ich abrupt stehen. »Was Sie anschließend damit machen, ist Ihre Sache. Aber wenn Sie Ihren Erbteil nicht antreten, wird alles Ihrer Schwester zufallen.« »Myrtille«, flennte Marguerite, »ich ...« 61 »Schnauze!«
»Denken Sie in Ruhe darüber nach«, empfahl mir der Notar, »da ist auch noch eine andere Sache. Ihr Vater hat mir einen Umschlag für Sie anvertraut. Er hat darauf bestanden, daß ich ihn nur Ihnen persönlich überreiche. Verstehen Sie mich bitte richtig, ich habe Ihren Vater drei Tage vor seinem Ableben gesprochen. Bevor Sie einen endgültigen Entschluß fassen, sollten Sie den Inhalt zumindest zur Kenntnis nehmen. Er hat wirklich sehr großen Wert darauf gelegt.« Er war aufgestanden, in der Hand hielt er einen kleinen, mit rotem Wachs versiegelten Umschlag. »Das ist für Sie«, wiederholte er. »Bitteschön.« Ich nahm den Umschlag. Marguerite starrte mich mit ihren Glupschaugen an, ihre Hand verkrampfte sich nun derart um Gräces Schulter, daß diese vor Schmerz das Gesicht verzog. »Ich werde es lesen«, sagte ich, »einverstanden. Ich rufe Sie heute nachmittag wieder an.« Marguerite erhob sich von dem Sessel und stürzte auf mich zu. »Ich bin untröstlich«, jammerte sie, »ich nehme alles zurück, was ich über dich gesagt habe. Ich habe es nicht so gemeint. Es war der Schock. Seit Papa tot ist, bin ich nicht mehr ich selbst. Ich schwöre es dir. Hör zu, ich brauche das Geld wirklich dringend, verstehst du? Da sind doch die Kinder. Ihre Ausbildung. Und das Appartement in Paris muß renoviert werden ...« Meine Schwester. Seit der Scheidung von ihrem Piloten erhielt sie dreitausend Euro Unterhalt monatlich. Ohne dafür einen Finger zu rühren. Am Telefon hatte sie damit noch geprahlt. »Was sagst du dazu, hm?« fuhr sie in flehendem Ton fort, »wir sollten in Ruhe darüber reden. Du bist doch allein. Und du bist doch gerne bei der Polizei, oder? Du brauchst so eine Summe doch gar nicht. Du würdest das Geld doch nur verschleudern. - Nein, warte. Das ist mir jetzt so rausgerutscht, aber ...« »Marguerite?« »Meine Liebe?« »Du hast zwei Stunden, um vom Cap zu verduften.« »Aber ...« »Du und deine Brut mitsamt deinem ganzen Kram.« Ich ließ sie in ihrem eigenen Gift ersticken, ging an Charles-Edouard vorbei, der inzwischen auf seine andere Hand einbiß. Er 62 warf mir einen Blick zu, als wäre er komplett übergeschnappt, worauf ich mich vollkommen fassungslos hinaus in die erdrük-kende Hitze flüchtete.
Antonin lehnte an seinem Auto. Er sprach in sein Handy und kratzte sich am Kopf. Zwei pubertierende Mädchen zeigten kichernd mit dem Finger auf ihn. Als er sah, in welcher Verfassung ich war, eilte er zu mir. »Es geht schon«, murmelte ich, »ich brauche nur einen Ort, wo ich meine Ruhe habe.« »Man könnte meinen, du hättest einen Toten gesehen.« »Stimmt genau.« Er fuchtelte mit dem Handy vor meiner Nase herum. »Ich hab gerade mit meiner Bank telefoniert«, entschuldigte er sich, »alles geregelt.« »Umso besser. Hör zu, es ist mir lieber, du fährst heim. Ich muß jetzt allein sein.« Er musterte mich verstohlen. »Was ist denn passiert? Geht es um deinen Vater?« »Ich brauche Zeit zum Nachdenken, Antonin, sei so lieb.« »Bist du sicher, daß ...« »Du fährst jetzt los, ja?« Ich war auf mich selbst sauer, daß ich so aggressiv war, aber allmählich wuchs mir alles einfach über den Kopf. In seiner Rolle als edler Ritter war Antonin die Idealbesetzung, aber als großen Bruder hatte ich ihn nicht nötig. »Hör mal«, fuhr ich etwas gemäßigter fort, »ich bleibe noch ein paar Tage am Cap. Wir sehen uns also noch. Ich nehme den Bus oder ein Taxi. Sei mir nicht böse, aber ... Sei einfach so gut, ja? Ich melde mich wieder.« Er sagte, das sei sehr bedauerlich, aber er verstehe mich schon, und er versicherte mir, daß ich schon bei der kleinsten Schererei sofort auf ihn zählen könnte. »Heute abend«, sagte er weiter, während er die Hände auf das Lenkrad legte, »steigt das Fest im Schloß. Ich wäre glücklich, wenn du mich begleiten würdest, falls sich deine Probleme bis dahin erledigt haben. Was hältst du davon?« »Ich überleg's mir.« Er ließ den Motor aufheulen und kuppelte aus. 63 »Antonin?« »Myrtille?« »Fahr vorsichtig.« Er winkte, bis er mit seinem Wagen am Ende der Straße verschwand. Und gerade als mir klar wurde, daß er mit meinem Rucksack losgefahren war, legte sich eine Hand auf meine Schulter. »Wie rührend!«
Karottenkopf. Der schon wieder! Ich drehte mich abrupt um. Der Typ ging mir allmählich ernsthaft auf den Senkel, so wie er mir an den Fersen klebte. Hinter dem Clio meiner Schwester stand sein BX mitten auf dem Bürgersteig. Zwei Männer warteten im Wagen. Typen mit Gangstervisagen, die mir am Flughafen nicht aufgefallen waren. »Was wollen Sie?« Mit unverhohlener, lüsterner Gier starrte er auf den versiegelten Umschlag in meiner Hand. »Eine kleine Nachricht von Papa?« fragte er. »Was geht denn Sie das an, Rembrandt?« »Das, meine Hübsche, werden Sie noch früh genug erfahren. Hängt ganz davon ab, was drin steht.« »Sie kotzen mich an, Commandant. Seien Sie so gut und schnüffeln Sie wo anders rum.« Ich stiefelte den Bürgersteig entlang, den Rotschopf immer im Schlepptau. So kamen wir wieder an den Strand, wo sich die Urlaubermassen drängelten. Gegenüber, auf der anderen Straßenseite, hatte man extra für die Touristen einen Petanque-Platz angelegt, und eine ganze Horde Fettwanste war gerade auf den Bahnen unterwegs, um sich mit ihren fetten Wampen in diesem Spiel zu messen. »Ich hab auch noch was anderes zu tun«, sagte Rembrandt, »es gibt Neuigkeiten, verstehen Sie?« »Ich hab Urlaub«, antwortete ich und ging schneller. »Vielleicht nicht mehr lang.« Rembrandt packte mich am Arm und zwang mich stehenzubleiben. »Es betrifft Sie direkt. Also, meine Kleine, es gibt zwei Möglichkeiten. Erstens: Wir unterhalten uns ganz gemütlich, und zweitens: Ich lasse Sie suspendieren, und meine Leute vernehmen Sie als Verdächtige in einem Mordfall. Das dann außerdem ganz offiziell, die Untersuchungsrichterin hat mir freie Hand gewährt. Was ist Ihnen nun lieber?« 64 »Wovon reden Sie überhaupt?« »Setzen wir uns?« »Sie gehen einem wirklich auf die Nerven, Rembrandt.« »Absicht«, sagte er und zog mich auf die Terrasse eines Cafes, »und Sie werden sehen, das ist erst der Anfang.« 12 Nicolas Mantegna, achtundzwanzig Jahre alt, stand an Deck des Schiffes und brüllte wie ein Irrer. Den Spitznamen Barjo le Nico hatte er ja nicht ohne Grund bekommen. Mantegna war wirklich total durchgeknallt.
Yves Tanguy zog an den Leinen des Fallschirms, zurrte ihn am Mast fest, schnallte das Geschirr ab, in dem der junge Mann steckte, und fragte ihn nach seinen Eindrücken. »Ganz große Klasse«, antwortete Mantegna und tippte auf das Gehäuse seiner Canon EOS. Er hatte kurze Beine, einen muskulösen Körper, und ein langer Pferdeschwanz schlug auf seinen braun gebrannten Rücken, der über und über von Pusteln mit weißen Pünktchen bedeckt war. Auf seinen Bizeps war ein farbiger Skorpion tätowiert, und seine Fingernägel waren praktisch bis zu den Halbmonden abgenagt. »Absolute Spitze«, wiederholte er und ließ sich auf die Sitzbank fallen. »Fahren wir zurück zum Steg.« Seit Beginn der Ferien hatte Mantegna sein Lager beim Landesteg des Strands von Cavaliere aufgeschlagen. Den ganzen Tag wartete er hier auf Kunden. Offiziell war er Fotograf. Er machte Aufnahmen von Familien beim Wasserski, Jetski oder beim Parasailing. Hier waren Kollegen von ihm schon Schnappschüsse von Johnny Hallyday, Henri Leconte, Sacha Distel, Richard Virenque und sogar von Angela Brunelleschi gelungen, die ganz in der Nähe wohnte. Die Porträts waren sorgfältig am Eingang der Landestelle angebracht und prangten dort ein wenig wie Trophäen, was auch den Durchschnittsurlauber auf der Suche nach Nervenkitzel anlockte. Mantegna bekam, genauso wie etwa zehn andere Kollegen, die ebenfalls am Strand unterwegs waren, für die Aufnahmen Prozente. Olivier Leratau, ein kluger Geschäftsmann, der sich diesen Ab 65 schnitt nach hartem Kampf vor fünf Jahren unter den Nagel gerissen hatte, war ein ruhiger Chef. Doch davon abgesehen hatte Mantegna auch noch andere Eisen im Feuer. Für Geld war er praktisch zu allem bereit. Und an den Abenden machte er regelmäßig einen drauf. Als überzeugtem Kokser und Quartalssäufer war ihm alles recht, was sich rauchen, schnüffeln und runterschütten ließ. Wenn es dunkel wurde, schlurfte er in seinen alten Basketballschuhen zur Bar Le Cagnard, wo das Durchschnittsalter nur selten sechzehn Jahre überstieg und wo er sich ganz seinen diversen dunklen Geschäften hingeben konnte. Und wenn er dann noch eine junge Spießertussi aufreißen und gleich im Sand flachlegen konnte, na, umso besser, selbst wenn die Kleine noch minderjährig war.
Mantegna stammte aus einem Vorort von Paris, verließ das Elternhaus, sobald er volljährig war, trieb sich in verschiedenen Boxhallen herum und posaunte überall herum, er sei Meister von Val de Marne geworden, bekam dann zwei Jahre Knast wegen bewaffneten Raubüberfalls aufgebrummt, aber trotzdem aus unerfindlichen Gründen mildernde Umstände zugebilligt, fing danach, kaum daß er aus Fleury-Merogis entlassen worden war, wieder mit seinen Diebstählen an, was ihm noch einmal fünf Jahre einbrachte, und landete dann, nachdem er diesmal die ganze Strafe abgebüßt hatte, schließlich hier an der Cöte d'Azur, wo ihm dieser Typ mit Sportwagen und Geld wie Heu über den Weg gelaufen war und wo er an diesem Morgen einen, wenn nicht zwei Transportbegleiter ermordet hatte. Er konnte sich nicht allzu deutlich daran erinnern, da er völlig überdreht gewesen war. Jetzt ging's wieder besser. Ausnahmsweise hatte er am Vorabend nichts getrunken. Das war Teil der Vereinbarung gewesen, und sein Kopf war nun klarer als üblich. Aber auch wiederum nicht klar genug, um zu begreifen, daß er praktisch von der Polizei ganz Frankreichs gesucht wurde und daß er an diesem Morgen kaltblütig gemordet hatte. Um alles vergessen zu können, hatte er den Gegenwert von 50 000 Euro in Dollar erhalten. Mehr als er je auf einen Schlag erbeutet hatte. Das Geld lag gut versteckt unter seinem Zelt, und alles blieb erst einmal beim alten. Von der lebenslänglichen Freiheitsstrafe, die ihm blühte, mal abgesehen. Aber Mantegna dachte selten länger als von zwölf Uhr bis Mittag. Er verdiente sich sein 66 Geld gern, und bis weitere Befehle kamen, war er eben Fotograf. Also hatte er den ganzen Vormittag Fotos gemacht. Und gute dazu. Das Boot legte am Steg an. Barjo le Nico stützte sich auf die muskulöse Schulter von Yves Tanguy und sprang auf die Holzplanken. »Das bleibt unter uns«, sagte er und drückte ihm eine 100-Dol-lar-Note in die Hand. »Wofür hältst du mich?« empörte sich Tanguy und ließ den Schein unauffällig in seine Badehose gleiten. Mantegna kam dieser kleine, gehorsame Speichellecker gerade recht. Er lief den Steg hoch zum Strand, wo sich die fröhliche Menge drängelte. Als er an der Holzbaracke der CRS vorbeikam, grüßte er einen der Polizisten lässig mit der Hand, und während ihm ein anderer prüfend nachblickte, überquerte er die Straße, um zu dem befestigten Parkplatz zu gelangen, wo ein Zirkus alles für die Abendvorstellung vorbereitete.
In der Nähe eines depressiven Elefanten, den sein Herrchen mit einem alten Wasserschlauch zu erfrischen versuchte, ging Nicolas Mantegna in die Hocke, band die Schnürsenkel seiner ausgetretenen Latschen und stieg dann einen Hügel hinauf, dessen Gras bereits verdorrt war. Ein paar Wohnwagen waren den Sommer über kreuz und quer abgestellt worden, auf einer eingezäunten Weide standen ein paar Ziegen und zwei Ponys herum, und ganz oben parkte im Schatten einer Pinie ein kleines metallic-graues BMW Coupe von 1975. Spießerkarre, dachte Barjo le Nico, als er näher kam. Neben einem Baumstamm lief ein großer, magerer, blasser Kerl auf und ab und schaute dauernd auf seine Armbanduhr von Cartier. Um die Wurzeln verteilt lag ein halbes Dutzend Zigarettenstummel, einer qualmte noch. »Das ist sehr unvernünftig«, kommentierte Mantegna, »du fak-kelst hier noch alles ab.« »Ich warte jetzt seit einer halben Stunde«, erwiderte der andere trocken. Barjo le Nico reagierte nicht weiter darauf, obwohl er normalerweise durchaus aus der Haut gefahren wäre. Er machte sich mit seiner feuchten Hose mit den vielen Taschen auf der Motorhaube des Cabrios breit und setzte mit dem Daumen den Motor in Gang, 67 der den Film in seiner Kamera zurückspulte. Eine Weile war nur das elektrische Brummen des Apparats zu hören. »Und?« fragte der Magere. »Was und?« fragte Barjo zurück, »willst du ein Foto von mir, oder was?« »Sehr geistreich«, bemerkte die Bohnenstange. Der Motor des Fotoapparats stoppte. Weiter unten ließ ein Tiger in seinem wackeligen Käfig ein kurzatmiges Brüllen hören, dem jede Überzeugung fehlte. »Hast du das Geld?« fragte Mantegna und zog die Filmkapsel aus dem Gehäuse. »Alles zu seiner Zeit.« Barjo le Nico war solche Art von Geschäften gewohnt. Als Käufer wie Verkäufer kannte er alle Kniffe und Tricks, er hatte schon alle möglichen Typen kennen gelernt, und über seinen neuesten Geschäftspartner konnte er nur milde lächeln. Ein Trottel, wie er im Buche stand. »Was ist denn dein Problem?« fragte er ihn. »Willst du jetzt die Fotos, oder willst du sie nicht?« Frederic Baboulene gefielen die Manieren des kleinen Boxers mit der platten Nase, der ihm hier die Stirn bot, ganz und gar nicht. Der ganze Kerl stank
nach Gosse. Die perfekte Karikatur des durchtriebenen Gauners, der, ohne jeden Anstand, Vater und Mutter verscherbeln würde, nur um aus jemandem Geld herauszupressen. Frederic Baboulene hatte die Handelsschule mit einem Diplom abgeschlossen. Logischerweise beherrschte er auch die Kunst zu verhandeln. Mit Rollenspielen hatte man ihm alles bis ins Detail beigebracht, und er war es gewohnt zu feilschen. Doch er konnte sich noch so sehr den Kopf zerbrechen, dieser Typ von Geschäftsmann war in seinen Lehrbüchern nicht aufgetaucht. Und Frederic Baboulene war wirklich scharf auf diese Bilder. Nicolas Mantegna wurde langsam ungeduldig. Er hatte den Film in der kleinen Plastikschachtel verstaut und ließ diese tief in seine Tasche gleiten. »Du willst sie also nicht«, sagte er und schickte sich an zu gehen. »Warten Sie!« quiekte Frederic Baboulene. Barjo le Nico blieb stehen, den Rücken seinem Gesprächspartner zugewandt. Er wollte vermeiden, daß letzterer sein spöttisches 68 Lächeln sah. Jedenfalls für den Moment. Das Ganze amüsierte ihn schon sehr. Er war jetzt ja reich. Ihm ging es gar nicht um die dreitausend Euro, die sie vereinbart hatten. »Ich muß erst die Negative sehen«, grummelte Baboulene, »ich kann Ihnen doch nicht einfach so das Geld geben, ohne zu wissen, was ich da kaufe.« Jetzt habe ich ihn, dachte Mantegna. »Nimm sie oder vergiß es. Entweder traust du mir oder nicht.« So jemandem trauen, dachte Baboulene, der zu träumen glaubte. Wenn er die Fotos in seiner Zeitung unterbringen konnte, würde er seinen Einsatz glatt verdoppeln. Aber wenn der Kerl log, konnte er alles aus eigener Tasche berappen. »Wir entwickeln sie, und danach bekommen Sie Ihr Geld«, schlug Baboulene vor, »ich hab es nicht eilig.« »Ich schon«, erwiderte Mantegna. Und ausnahmsweise stimmte das sogar. Nur noch eine oder zwei Formalitäten, dann ging es ab nach Italien. »Sie können mir vertrauen«, sagte er nun im Ton eines seriösen Geschäftsmannes, »mein Ruf steht schließlich auf dem Spiel.« Baboulene verschluckte sich beinahe. Der Ruf dieses Paparazzo war längst hinüber. Gerade weil er als übler und kampflustiger Bursche galt, hatte er sich ja an ihn gewandt. Doch statt den Ton zu verschärfen, beging er den Fehler zu fragen: »Was haben Sie denn zu bieten?«
»Den absoluten Hammer«, jubelte Mantegna und spielte mit dem Film in seiner Tasche. »Wie Sie es gesagt hatten: Angela Brunelleschi, splitternackt in den Armen von Julien Clerc. Lauter Großaufnahmen. Jede Wette, daß sie da oben immer noch zu Gange sind.« Baboulene konnte nicht anders, er stieß ein zufriedenes Glucksen aus. Er hatte dem Gerücht also zurecht Glauben geschenkt. Solche Negative waren ein Vermögen wert, und das Schmierblatt, für das er arbeitete, wartete mit der Drucklegung nur noch auf ihn. »Die Hälfte jetzt«, versuchte er es noch einmal, »den Rest schik-ke ich Ihnen, wenn wir den Film entwickelt haben.« »Nichts zu machen.« »Ich gebe Ihnen mein Wort.« »Ist ja kein Drama«, sagte Mantegna und wandte sich ab, um zu gehen, »ich finde schon noch jemanden.« 69 »Also okay«, gab Baboulène nach, »schon in Ordnung, ich kaufe den Film. Aber ich warne Sie ...« »Das sollten Sie lieber nicht tun«, zischte Barjo le Nico. »Sie sollten nicht einmal daran denken.« »Es wäre gar nicht in Ihrem Sinne ...« »Die Kröten!« Fred Baboulène ging um sein BMW Coupé herum und holte einen Umschlag, den er unter dem Sitz versteckte hatte. Mantegna kam wieder auf ihn zu. Er war ja schon allerhand Drecksäcken begegnet, aber momentan konnte er sich zu diesem hier nur mit Mühe eine Steigerung vorstellen. Denn wenn er im Knast eines gelernt hatte, dann den Wert der Privatsphäre. Und daß dieser Kerl mit der Privatsphäre anderer Menschen Geschäfte machte, versetzte ihm einen Stich ins Herz. Er packte den Umschlag, den ihm dieser Idiot zitternd hinhielt, und zählte das Geld, Schein für Schein. »Paßt alles? Sind Sie nun zufrieden?« Mantegna konnte sich nur mit Mühe eine passende Antwort verkneifen. Er steckte den Umschlag ein und warf den Film auf den Boden, dem tapferen Journalisten genau vor die Füße. »Geh mir aus den Augen«, schnauzte er ihn an, »setz dich in deine hübsche kleine Karre und fahr zurück nach Paris.« Baboulène ließ sich nicht lange bitten. Sauer wie er war, versuchte er einen gekonnten Kavalierstart mit durchdrehenden Reifen, um dieser Niete zu zeigen, welch große Klasse er hatte, würgte aber nur den Motor ab. Mantegna
sah ihm nach, wie er schließlich zwischen den drei Ziegen hindurch verschwand, die seinetwegen nicht einmal den Kopf hoben. »Um das Geld für meine Zigaretten brauche ich mir die nächste Zeit keine Sorgen mehr zu machen«, grinste er. »Und du, du wirst schön blöd aus der Wäsche gucken.« 13 Der als Zivilfahrzeug getarnte Citroen BX der Polizei stand auf der anderen Straßenseite, direkt gegenüber von dem Café, in dem Rembrandt und ich saßen. Die Bullen hatten einen deutschen Touristen von dem Parkplatz wegkomplimentiert, und der Pechvogel war, ohne einen weiteren Ton zu sagen, abgerauscht. Seither tele 70 fonierten sie ununterbrochen, ohne uns jedoch aus den Augen zu lassen. Anscheinend waren sie sehr nervös. Im Hintergrund, umgeben von einer bunt zusammengewürfelten Menschenmenge auf den Zuschauerrängen, standen sich zwei BeachVolleyball-Teams gegenüber, begleitet von den Erläuterungen eines näselnden, halb-professionellen Kommentators, der sich offenbar noch bei den Olympischen Spielen wähnte und bei jeder Ballannahme in sein Mikro brüllte. Der Brief meines Vaters lag auf dem Cafetisch, zwischen einem Bier und meiner kleinen Flasche Perrier. Rembrandt starrte wie gebannt darauf. Ich auch. Wenn er den Wortlaut erfahren wollte, würde er mir schon alles sagen müssen, hatte ich beschlossen. Mit der Geschichte von den tschechischen Pistolen ließ ich mich nicht abspeisen. Er hielt mit sehr viel wichtigeren Informationen hinter dem Berg. Besonders ärgerlich war allerdings, daß er der Comman-dant war. »Orozco«, fragte er, »sagt Ihnen der Name irgendwas?« »Vage. Jemand vom Cap?« »Bravo!« rief er. Ich ließ ihm seinen Spaß. Immerhin war er es, der es eilig hatte. »Es war gar nicht Bulgakov, den Sie bei der Beerdigung gesucht haben, stimmt's?« »Malewitsch, nicht Bulgakov. Philippe Orozco war ein Freund Ihres Vaters. Ein sehr einflußreicher Mann, Chef einer großen Kaufhauskette.« »Und weiter?« »Ein Mann«, antwortete Rembrandt, »der seit Jahren mit demselben Transportunternehmen zusammenarbeitet, verstehen Sie?« »Nicht das Geringste.«
»Ihr Vater, Myrtille, hatte Monsieur Orozco um einen Gefallen gebeten.« »Und Sie wollen andeuten, daß ...« »Laut Orozco - und ich habe allen Grund, ihm das zu glauben -war das, was die heute früh ermordeten Sicherheitsleute transportiert haben, für Sie bestimmt.« Er machte eine Pause, damit ich das eben Gesagte verdauen konnte. »Sie sind nicht witzig, Rembrandt.« »Commandant«, korrigierte er, »wenn Sie die Güte hätten.« 71 Ab diesem Moment gab ich jegliches Nachdenken auf. Ich gab mich damit zufrieden, auf die Fortsetzung zu warten und in meinem Stuhl zu versinken. Ich hatte keinen Saft mehr. Mir wurde allmählich alles zuviel. Ich konnte entweder die Ruhe bewahren oder einen hysterischen Anfall kriegen. Aufstehen, den Tisch umschmeißen, den nächstbesten Zug nehmen, alles hinter mir lassen. »Zehn Tage, bevor er verschwand«, fuhr Rembrandt fort, »hat ihm Ihr Vater einen Aktenkoffer anvertraut. Im Falle seines Todes sollte Orozco ihn Ihnen persönlich zukommen lassen. Ihr Vater hatte darauf bestanden, daß die strengsten Sicherheitsvorkehrungen getroffen würden. Unser Geschäftsmann hatte nur seine Anweisungen befolgt. Für Brink's ist diese Art Begleitschutz nichts Besonderes. Bisher gab es keine besonderen Vorkommnisse. Jetzt aber das Ergebnis haben Sie ja selbst gesehen. Man könnte sogar sagen, Sie saßen in der ersten Reihe. Geht's Ihnen nicht gut? Sie sehen so blaß aus.« Ich zuckte mit keiner Wimper, sondern konzentrierte mich auf das holländische Volleyball-Duo, das, glaubte man dem Kommentator, unsere Vertreter, zwei gebürtige Marseiller, die immerhin zur europäischen Spitze zählten, förmlich in der Luft zerfetzte. »Es ist also ganz einfach«, nahm Rembrandt den Faden wieder auf, während er den Brief fixierte. »Ich habe zwei Fragen an Sie. Was hatten Sie am Flughafen zum Zeitpunkt des Dramas zu suchen, und was befindet sich in dem verdammten Koffer?« Keine Ahnung. Am Flughafen, das war Schicksal. Reiner Zufall, daß der Überfall direkt vor meiner Nase stattgefunden hatte. Und von dem Koffer wußte ich schon gar nichts. Keinen blassen Schimmer. Und er war mir auch so was von egal. Ich mußte dringend nach Hause. Den Blick in die Ferne gerichtet, schubste ich den Umschlag zu Rembrandt hinüber. »Na los«, murmelte ich.
Er durchwühlte seine Taschen und zog sich schließlich unter den neugierigen Blicken eines fetten Touristenpärchens, das am Nebentisch saß, ein Paar Latexhandschuhe an. Vorsichtig brach er das Siegel, fand aber lediglich zwei sorgfältig zusammengefaltete DIN-A-4-Blätter. Er nahm sich noch die Zeit, seine Sonnen- gegen eine Lesebrille einzutauschen, dann begann er zu lesen. Sein Gesicht blieb ausdruckslos, aber seine Hände zit 72 terten. Von hinten konnte ich den Schriftzug der mit schwarzer Tinte niedergeschriebenen Zeilen durch das Papier erahnen. Unmerklich begann sich Rembrandts Gesichtsausdruck zu verändern. Sein Mund öffnete sich leicht, und mit den Fingern fummelte er am Hutrand herum, als versuche er, angestrengt nachzudenken. Er las die beiden Seiten erneut, dann stieß er einen tiefen Seufzer aus. »Es tut mir sehr leid«, sagte er trocken, »aber ich werde ihn behalten müssen.« Er legte die Blätter vor mich flach auf den Tisch und schüttelte den Kopf, als ich sie nehmen wollte. Er warf einen Fünf-Euro-Schein auf den Tisch, stand auf und legte mir eine Hand auf die Schulter. Jetzt erst las ich die letzte Nachricht meines Vaters. Meine Kleine, wenn du diese Zeilen liest, dann deshalb, weil man mich ermordet hat. Ich weiß, daß ich dir nicht fehlen werde, und ich glaube, du verabscheust mich wegen all der schlechten Dinge, die ich dir und deiner Mutter angetan habe. Ich konnte es mir nie verzeihen. Dieses Bekenntnis kommt ein wenig spät, aber zu meinen Lebzeiten brachte ich weder den Mut noch die Kraft auf, auf dich zuzugehen. Du sollst wissen, daß ich deine Mutter geliebt habe. Aber ich war jung. Du warst nicht geplant. Ich glaubte, sie hätte es vor allem auf mein Geld abgesehen. Damals habe ich sehr viel verdient. Als wir von Madagaskar zurückgekehrt sind, haben wir uns aus ganzem Herzen verachtet. Aus Gründen, die du weiter unten erfährst, mußte ich dich schützen. Jetzt habe ich nur noch eine Möglichkeit, das Versäumte nachzuholen, auch wenn das Geld nicht alle Wunden heilen kann. Deine Halbschwester ist leider eine Karrieristin. Du hast dich dagegen immer allein durchgeschlagen, und auch wenn es mir lieber gewesen wäre, wenn du einen anderen Beruf gewählt hättest, so bewundere ich und liebe ich dich doch. Das französische Gesetz verbietet es mir, sie zu enterben, was ich bedauere. Aber ich bitte dich, akzeptiere das, was ich dir hinterlasse. Das Haus am Cap gehört dir. Das
kleine Grundstück in der Bretagne kannst du verkaufen, um die Erbschaftssteuer zu bezahlen, 73 und ein bißchen was wird noch für dich übrig bleiben. Vielleicht wechselst du ja doch noch in einen anderen Beruf? Wie dem auch sei, zeige diesen Brief nicht deiner Schwester, denn ich glaube, sie hat die Botschaft bereits verstanden. Was dich betrifft, so geht es mir nicht darum, daß du mir vergibst, sondern darum, daß ich, vielleicht zum ersten Mal, meine Pflicht als Vater erfülle. Die schönen Momente, die wir miteinander erlebt haben, werden mir für immer bleiben, und niemand kann sie mir mehr nehmen. Als ich deine Mutter in Madagaskar kennenlernte, arbeitete ich im Edelsteingeschäft. Ich habe mich manchmal mit recht zwielichtigen Typen eingelassen. Damals ging es ähnlich zu wie im Wilden Westen, und ich fürchte, daran hat sich bis heute nicht viel geändert. Kurz und gut, ich mußte mich schleunigst aus dem Staub machen. Ich habe das Haus am Cap gekauft und einen anderen Namen angenommen. Du wirst verstehen, daß ich mich so bedeckt wie nur möglich halten mußte. Ein Geschäft mit Saphiren war schiefgelaufen. Als deine Mutter beschloß, mit dir nach China zurückzukehren, hielt ich das für die beste Lösung. Deine Halbschwester hatte damals ihre Mutter noch nicht verloren. Und sie war noch nicht dieses heuchlerische Miststück, zu dem sie geworden ist. Als du nach Frankreich zurückgekehrt bist, habe ich sehr wohl daran gedacht, mich bei dir zu melden, doch mir fehlte der Mut. Heute hat mich meine Vergangenheit eingeholt. Sie heißt Malewitsch. Er glaubt, ich hätte immer noch etwas, das ihm gehört. Das stimmt nicht. Er kann nichts beweisen, er hat mich auch nicht verklagt, und wenn, wäre es verjährt. Noch so ein schönes Geschenk, ich weiß, und es tut mir tausendfach leid, aber ich muß dir die Wahrheit sagen. Das Geld hat es mir ermöglicht, das Haus zu kaufen, das nun dir gehört. Von dem, was ich ihm schulde, ist nichts mehr übrig. Wenn er mich nun hat ermorden lassen, dann hat er einen Schlußstrich unter diese Schuld gezogen. Er wird dich nicht weiter belästigen. Falls doch, wende dich umgehend an die Polizei. All das bleibt unter uns. Vernichte den Brief, du sollst als einzige alles wissen. Dein dich liebender Vater 73 »Den behalte ich«, wiederholte Rembrandt und nahm den Brief an sich, »ich lasse Ihnen eine Kopie zusenden.«
Er faltete ihn sorgfältig wieder zusammen und steckte die Blätter in den Umschlag, der gerade noch in seine Innentasche paßte. Er stand immer noch hinter mir und stützte beide Hände auf die Rückenlehne meines Stuhls. Ich glaube, er wollte über den Brief reden, wußte aber nicht, wie er es anfangen sollte. Eine ganze Weile blieb er still, und ich fühlte mich ihm verbunden. Ein schönes Gefühl, das allerdings nicht lange anhielt. »Geschwätz«, sagte er trocken. »Das wäre zu einfach.« Ich hätte am liebsten gekotzt. Die Hitze war erdrückend, und ich leerte mein Glas in einem Zug. »Das paßt nicht mit dem mysteriösen Aktenkoffer zusammen«, begann er wieder, »den erwähnt er in dem Brief mit keinem Wort.« Ich ballte die Fäuste zusammen, daß meine Knöchel beinahe explodierten. »Jetzt haben Sie doch Malewitsch. Reicht Ihnen das immer noch nicht?« »Das steht noch nicht fest, Lieutenant. Vielleicht hat das alles überhaupt keine Bedeutung. Stellen Sie sich nur einmal vor, Ihr Vater hat diesen Brief geschrieben, weil er genau gewußt hat, daß wir ihn lesen. Oder damit Malewitsch davon Wind bekommt, wenn seine Geschichte stimmt. Und wenn nicht, nehmen wir mal an, Sie lügen. Vielleicht hat Ihr Vater vor seinem Tod noch Kontakt mit Ihnen aufgenommen. Und dieser Brief ist bloße Tarnung. Und ganz was anderes steckt dahinter. Drei Tote, beispielsweise.« »Keine Ahnung.« »Also mal ganz ehrlich, Myrtille ... Malewitsch soll nach zwanzig Jahren hier aufgetaucht sein und am Cap für allerhand Riesen ein Haus gekauft haben, nur um eine Geldsumme einzutreiben, die weit unter dem Preis für Ihre neue Nobelhütte liegt? Zum letzten Mal: Was war in diesem gottverdammten Aktenkoffer?« »Ich weiß es nicht.« »Und ich weiß nicht, was ich davon halten soll«, murmelte Rembrandt. »Hat jemand mit Ihnen Kontakt aufgenommen?« Ich schüttelte den Kopf. »Wissen Sie sonst irgendwas?« Ich schüttelte entschieden den Kopf. 74 »Geben Sie gut acht, Lieutenant: Wissen Sie vielleicht sonst irgendwas?« »Ich habe es Ihnen doch schon gesagt: nein. Nichts. Ich steh total auf dem Schlauch.« »Ich will Ihnen mal glauben, Myrtille. Im Moment jedenfalls. An Ihrer Stelle würde ich mich ein bißchen ausruhen«, empfahl er und kritzelte eine Nummer auf den Bierdeckel, der auf dem Tisch lag. »Wenn Sie irgendwas
erfahren, hier ist meine Handynummer. Ich will Sie nicht in Paris suchen müssen. Alles klar?« Ich nickte. Was sollte daran nicht klar sein. »Haben Sie eine Waffe?« Ich schüttelte den Kopf, kein Bedarf. »Für den Fall, daß Sie mich verarschen wollen, Lieutenant, und wenn ich nur den kleinsten Verdacht habe, dann sind Sie fällig.« Das glaubte ich ihm sofort. »Und was wollen Sie jetzt tun?« fragte ich ihn. »Bis später«, sagte er und wandte sich ab, »vergessen Sie nicht unser Rendezvous um 19.30 Uhr wegen dem Fest im Schloß.« Er stieg in den Wagen, pflanzte den Magneten seines Blaulichts aufs Dach, und während unter einer fast kollektiven Hysterie die beiden Marseiller den Ausgleich erzielten, verschwand der Citroen Richtung Stadtzentrum und hinterließ eine übelriechende Wolke, die nach verbranntem Gummi stank. Ich blieb sitzen, beide Arme flach auf den Stuhllehnen. Also einverstanden, dachte ich, sehr gut, es geht weiter. Ich legte den Kopf in den Nacken, sog die Düfte von Zuckerwatte ein, die über der kleinen Promenade schwebten, warf einen letzten Blick auf Rembrandts Handynummer und beschloß, daß jetzt Schluß sei mit dieser Komödie. Jetzt würde ich die Dinge selbst in die Hand nehmen. 14 Frederic Baboulenes Coupe bremste vor dem Laden. Bevor der Möchtegernjournalist ausstieg, richtete er seine Krawatte. Er konnte es nicht mehr rechtzeitig schaffen. Selbst wenn er mit 200 auf der Standspur dahinraste, würde er Paris nicht mehr vor Redaktionsschluß erreichen können. 75 Er stieß die Flügeltür auf und ging direkt zum Kaffeeautomaten, obwohl er sich schon fragte, ob das jetzt vernünftig sei. Schließlich sagte er sich, in seiner Situation spiele das auch keine Rolle mehr, und schon steckte er eine Münze in den Schlitz. »Auf der Autobahn«, schimpfte er laut, »schmeckt er ohnehin zum Kotzen.« »Da kann ich Ihnen nicht widersprechen«, antwortete ein Mann, den man um seine Meinung nicht gebeten hatte, der aber den BMW bemerkt hatte. Er stützte seine Ellbogen auf einen runden Tisch, der aussah wie ein umgedrehter Sonnenschirm.
Baboulène ignorierte die Bemerkung. Wenn er nichts zu verkaufen hatte, ging er sparsam mit seinen Worten um. Der Plastikbecher fiel in die Halterung, und eine dunkelbraune Brühe ergoß sich mit gurgelnden Geräuschen hinein. »Fährt er sich gut?« fragte der Mann mit Blick auf den Wagen. Frédéric Baboulène schnappte den Becher und starrte den Unbekannten an. Ein circa Fünfzigjähriger mit Sandalen, weißen Kniestrümpfen, fetten Schenkeln, dreckigen Shorts, offenem Hemd, behaart, mit finsterem Blick. »Und was geht Sie das an?« preßte er zwischen den Zähnen hervor. Er haßte solche Bauerntrampel. Dieser Niemand glaubte womöglich, ein gemeinsames Gesprächsthema würde ihn gleich auf sein Niveau hieven. »Ah, hab schon verstanden«, murmelte der Unbekannte und senkte den Blick. Baboulène ging zum Tresen und zahlte mit seiner goldenen Kreditkarte, ließ die junge Frau, die ihm den Kassenzettel gab, kommentarlos stehen, und während er in die brütende Hitze hinausging, rief ihm der Fettsack auch noch .Pariser Arschloch' hinterher. Baboulène drehte sich nicht um. Als er zum Wagen ging, wußte er, daß ihn der andere mit seinen Blicken durchbohrte, aber das kümmerte ihn nicht weiter. Baboulène hatte wichtigere Dinge im Kopf. Wie beispielsweise die Negative von Angela Brunelleschi. Er wußte, seine Chancen standen fiftyfifty, daß ihn Mantegna übers Ohr gehauen hatte. Um es herausfinden, müßte er sich noch etwas gedulden. Noch einmal versuchte er einen Kavalierstart, aber keine Chance. Er fuhr auf die Autobahn zurück und nahm die nächste Ausfahrt, Richtung Flughafen Valence. 76 Mantegna hatte nicht gelogen. Oder wenn, dann nur durch Auslassung. Der Möchtegernjournalist Baboulene hatte sehr wohl Fotos von Angela Brunelleschi bekommen, nur daß darauf von Julien Clerc keine Spur zu sehen war. Als ihn dieser Idiot auf die Sache angesetzt hatte, konnte Barjo le Nico dieser einmaligen Gelegenheit nicht widerstehen. Der Steg war gleich nebenan, das Boot fertig zum Auslaufen, und da er wegen der Hundewachmannschaft nicht direkt zum Cap konnte, nahm er den Weg übers Meer und schoß die Bilder eben beim Parasailing. Die Bohnenstange hatte das Spiel mitgespielt und das hatte er nun davon: Negative, die ihm selbst die Leute von der VIP-Redaktion bei Paris-Match nicht abnehmen würden: eine junge Frau mit müden Augen, T-Shirt und Männerhose, allein in ihrem Zimmer, ein Fernglas in der Hand.
»Und das auch noch in schwarz-weiß«, sagte Nicolas Mantegna zu sich selbst, als er das rote Licht seiner Dunkelkammer einschaltete. Es war kurz vor 15 Uhr. Wie jeden Tag machte Olivier Leratau seine Tour am Strand, das würde Barjo le Nico genügend Zeit lassen, seine kleinen Geschäftchen abzuklären und in aller Ruhe aus seinem Material Kapital zu schlagen. Wenn alles gut ginge, wäre er in einer Stunde ein gemachter Mann. Doch zuvor mußte er noch eine Kleinigkeit erledigen, die, wenn alles wie üblich liefe, seinen Gewinn verdoppelte. Das Gröbste war geschafft, jetzt mußte er nur noch die Negative entwickeln. Er legte den Film ins Entwicklerbad. Danach mußte er nur noch jemanden Bestimmten erpressen. Einen dicken Fisch, gewiß, aber er konnte sich nicht vorstellen, wie dieser seine Pläne durchkreuzen wollte. Was in Kürze vor seinen Augen auftauchen würde, konnte viele Leute hinter Schloß und Riegel bringen, und das lebenslänglich. Ihn selbst vielleicht auch, dachte er, aber dieses Risiko würde er eingehen. Mantegna setzte das Fixierbad an, dann kam das Stoppbad an die Reihe und schließlich spülte er die Negative mit Wasser nach. Doch als er den Filmstreifen an die Wäscheleine heftete, verschwand sein Lächeln schlagartig. Sein Herz pochte gegen seinen Brustkasten. Eine Sekunde später stellte er das ganz in rotes Licht gehüllte Zimmer auf den Kopf. Barjo le Nico bekam vor lauter Wut keine Luft mehr, er brüllte, so blöd könne man doch gar nicht sein, seine Hände suchten fieberhaft nach einem Okular. Er fand nur eine Lupe, betrachtete den Film näher und fand seine Befürchtungen bestätigt. 77 In vierfacher Vergrößerung starrte Angela auf einen Punkt am Horizont. Mit müden Augen, in T-Shirt und Männerhose und mit einem Fernglas in der Hand. Er hatte ja unbedingt in seiner Tasche herumspielen müssen, und dabei hatte er die Filme vertauscht. Frederic Baboulene hatte Nicolas Mantegnas Todesurteil in Händen. Für dreitausend Euro. Er ließ alles liegen und stehen und stürmte aus dem Zimmer, daß die Tür fast aus den Angeln flog. Er hastete aus dem kleinen Wohnzimmer, lief durch den Garten und sauste den Pfad den Hügel hinunter. Die Augen traten ihm schier aus dem Kopf. Barjo le Nico konnte keinen klaren Gedanken fassen. Er stürzte auf die Straße, prallte beinahe gegen einen Geländewagen, der gerammelt voll war mit plärrenden Kindern, wandte sich dann nach links, lief die kleinen Läden an
der Strandpromenade entlang und erreichte schweißgebadet den Eingang zum Campingplatz. Pfeilschnell schoß er an der Holzbaracke vorbei und stürzte auf den hinteren Teil des Geländes, wo sich jede Menge Zelte aneinanderreihten. Es war 15 Uhr 10, als er in sein Zelt stürzte. Er bewegte sich fahrig und ungeschickt. Er packte die Ledertasche, die mit Dollars vollgestopft war, und zerstörte ihren Schnappverschluß. Die Scheine stopfte er in einen Rucksack, der in dem allgemeinen Kuddelmuddel herumlag, pfiff sich aus der flachen Hand ein gutes Gramm Kokain durch die Nase, packte seinen Sturzhelm mit abgedunkeltem Visier und seine randvoll geladene, fürchterliche CZ, die er sich in den Hosenbund steckte. Das Ganze hatte nicht einmal eine Minute gedauert. Wie aufgezogen kam er aus dem Zelt heraus, den Rucksack auf dem Rük-ken, seine Gedanken ein heilloses Durcheinander. Nicolas Mantegna versuchte sich selbst davon zu überzeugen, daß er noch eine kleine Chance hatte. Das Kokain ließ seine Synapsen explodieren, und er nahm gar nicht mehr wahr, daß die Leute stehen blieben, um ihm, dem der Schaum auf den Lippen stand, nachzustarren. Er raste zum Tennisklub, und der Schatten der Eukalyptusbäume entlang der Straße tat ihm gut. Vor dem Klubrestaurant standen die Gäste lärmend um einen Swimmingpool herum. Der Radau hallte in seinem Kopf nach und brachte ihn zum Brodeln, das Hämmern seiner Schritte, der Helm, der ihm hin und wieder gegen das Knie schlug, die Schreie, das Wasser, das 78 auf die Fliesen spritzte. Er hatte schrecklichen Durst, beschleunigte aber dennoch seine Schritte. Er lief nach links auf ein Privatgrundstück, das einen sorgfältig mit Blumen geschmückten, aber verlassenen Ferienklub beherbergte. Dann wandte er sich erneut nach links und ging auf einen mit Dornengestrüpp überwachsenen Hügel zu. In Erwartung der Bauinvestoren war dieser Teil der Küste völlig verwildert geblieben, abgesehen von einer kleinen Brandschutzgasse, die von Rettungsfahrzeugen und ganz selten von Spaziergängern genutzt wurde. Barjo le Nico folgte dem Pfad, der eng und steil aufwärts führte. Die spitzen Zweige peitschten seine Waden, die bereits von blutigen Schnittwunden übersät waren. Auf allen vieren fand er den Markierungspunkt, einen flachen, im Boden eingelassenen Stein, wie ein kleiner Menhir. Er schlug mit seinem Motorradhelm die höheren Zweige zur Seite und tauchte in die Dornensträucher ein. Mühsam kämpfte er sich ein paar Meter weiter, und
obwohl er nur noch wenige Zentimeter davon entfernt war, dauerte es wahnsinnig lange, bis er sein Motorrad, das unter einem Armeenetz gut getarnt war, tatsächlich entdeckte. Mantegna riß es herunter und verfing sich in den Maschen. Es war schon nach 15.30 Uhr. Die Triumph Tiger 900 ruhte auf dem Ständer, praktisch vollgetankt, die Schlüssel im Zündschloß. Neu, noch nicht einmal eingefahren. Ein kleines Juwel, dessen perlmuttgelbe Farbe perfekt mit der glänzend schwarzen Mechanik harmonierte. Dafür hatte Mantegna jetzt allerdings kein Auge. Er griff in seine zerrissene Drillichhose und schob sich eine satte Portion Kokain in die Nase. Er gönnte sich keine Sekunde Rast, schob die Maschine zurück bis zum Pfad und betete dabei inständig, die zweihundertvierzig Kilo würden nicht umkippen. Sich mit dem Motorrad in aller Öffentlichkeit zu zeigen, war verrückt, denn er wußte, daß ihn jede Menge Zeugen am Flughafen gesehen hatten, aber er hatte keine andere Wahl mehr. Die Maschine sprang auf Anhieb an, und Barjo le Nico, der das ganze Gesicht mit weißem Pulver verschmiert hatte, ließ die drei Zylinder der Triumph aufheulen. Neben ihm stieg ein Vogelschwarm in den Himmel auf. Dann wurde die Stille ohrenbetäubend, als hinge die Natur von seinen weiteren Bewegungen ab. Mantegna setzte seinen Helm auf, befestigte seinen Rucksack und fuhr, aufrecht auf den Fußstützen stehend, den Weg hinab. 79 Lautstark machte er sich selbst Mut. Und als die Reifen endlich den Asphalt berührten, beugte er sich tief nach vorne über den Tank und schoß mit Vollgas davon. Alonso Berruquete, genannt Zozo, Chef des Zirkus Fratellino (der italienische Name machte mehr her), hatte die Mütze gestrichen voll, wie man bei ihnen zu Hause in der Gegend von Maubeuge so schön sagte. Die Saison hatte kaum begonnen, und schon hatte ein Tiger die Grippe, ein Wohnwagen war hinüber, und der Clown war ohne Vorwarnung mit seiner besten Kunstreiterin abgehauen. Und jetzt rückte ihm auch noch ein nervtötender Pariser gefährlich nah auf die Pelle, wobei er nicht von der Hupe seiner schwarzen Limousine ließ. Nicht mal in den Ferien können sie eine Sekunde lang warten, dachte Alonso Berruquete. Er wußte nicht, daß der Junge gerade von einer Beerdigung kam, die er im Maurin des Maures gefeiert hatte, einem berühmten Restaurant in Le Rayol, und daß er jetzt nur noch den Wunsch hatte heimzukommen.
Müde blickte Alonso Berruquete auf die andere Straßenseite, wo sein Sohn Pedro an jeder freien Stelle Zirkusplakate anbrachte. Aber der junge Pedro verlor wahnsinnig viel Zeit damit, immer wieder zum FKK-Strand hinab zu spähen, der ein wenig unterhalb der Bergstraße lag. In der Kurve nach Le Layet drängelten sich mehrere Autos unterschiedlicher Nationalitäten, und Alonso fragte sich, wie man denn wohl Spaß daran haben konnte, vor aller Welt nackt herumzulaufen, und ob sein Sohn Pedro nicht ein wenig davon besessen war. »Heute abend«, sagte er zum x-ten Mal und ohne jede Überzeugungskraft in das kleine Mikrophon, das mit dem Lautsprecher auf dem Dach seines Kleinlasters verbunden war, »für Jung und Alt, Vorstellung um 20 Uhr am Parkplatz beim Strand. Der Zirkus Fratellino ist stolz, Ihnen ...« Aber er ließ den Satz -unbeendet. Denn Alonso zeigte dem Pariser, der gerade mit einem Affenzahn aus der Schlange ausgeschert war, den Finger und beschimpfte ihn heftig übers Mikrophon, stieß einen Fluch aus, der bis an den Strand zu den Nudisten hallte, die alle den Kopf hoben, und kurz darauf war er tot. Bevor er starb, sah er alles nur noch in Gelb. Der abgetrennte, rotierende Kopf von Nicolas Mantegna mit dem Pferdeschwanz, der so seltsam durch die Luft peitschte, riß den Lautsprecher ab, 80 die Triumph durchschlug die Windschutzscheibe des alten Lieferwagens mit mehr als 110 Stundenkilometern, und alles explodierte in einer glühend roten Fontäne. »Ach du lieber Gott«, stöhnte Mathias Grünewald, Capitaine der Gendarmerie, zwanzig Minuten später, als er das ganze Ausmaß des Gemetzels begriff. Es war sein zweites Blutbad innerhalb weniger Stunden, und dieses war nicht viel erfreulicher als das erste. Die Bergstraße war von den Rettungsfahrzeugen blockiert, ein beispielloser Stau erstreckte sich über mehrere Kilometer, und am Unglücksort sammelten Feuerwehrleute die Einzelteile in Plastikplanen zusammen. »Und?« erkundigte sich Mathias Grünewald. »Zwei Tote«, antwortete der junge Mann, der ihm hierher gefolgt war, lakonisch. Der schöne Mathias lüpfte sein Käppi und wischte sich die Stirn ab. Auf dem Parkplatz hatte sich ein Menschenauflauf gebildet, und er wußte, er hatte nicht genügend Leute, um die Neugierigen in Schach zu halten. Noch dazu
irrten einige vollkommen nackt umher, als ob das Durcheinander nicht auch so schon ausgereicht hätte. »Das da drüben sollten Sie sich mal ansehen«, riet ein völlig durchgeschwitzter Feuerwehrmann. Grünewald folgte ihm zum Gestrüpp am Straßenrand, und da entdeckte er die tschechische Pistole. Er ließ den Rucksack aufmachen, den man bei der Leiche Nicolas Mantegnas gefunden hatte, und als er die Hundert-DollarNoten fand, wußte er, es war Zeit, Commandant Masson zu verständigen. Es war genau 16 Uhr, und Frederic Baboulene, der Möchtegernjournalist, startete mit dem Film, den ihm Mantegna irrtümlich gegeben hatte, nach Paris, den Blick aus dem Flugzeugfenster gerichtet. 15 Ich rief Palladio, den Verwalter, an. Seine Frau antwortete, er sei im Schloß, gab mir aber alle Informationen, die ich benötigte. Ich fragte nach Ahmed, der jedoch seinen freien Nachmittag hat 81 te und vor dem Abend nicht zu erreichen war. Ein Krankenwagen raste mit heulender Sirene vorbei. Ich stand auf. Das Fremdenverkehrsamt lag direkt hinter dem Platz. Ich stieg die wenigen Stufen hoch und ging zum Empfang. Dort erklärte mir eine junge Frau den Weg zu der Adresse, die ich ihr mit ausdrucksloser Stimme mitgeteilt hatte. Als ich das Gebäude wieder verließ, bemerkte ich den Bullen, den Rembrandt auf mich angesetzt hatte. Ich winkte ihm, alles sei in Ordnung, vielen Dank, und dann ging ich schnellen Schritts in Richtung Stadtmitte. Die vielen Leute hier schienen sorglos zu sein und sich des Lebens zu freuen. Ich fand das Schild des Arztes neben einer Buchhandlung, vor der Ständer mit Postkarten lockten, die immerhin dreißig Prozent des Gesamtumsatzes ausmachten. Seine Praxis lag im ersten Stock. Ich stieß die Tür auf, ging durch das leere Wartezimmer und stürmte in sein Sprechzimmer. Eine Frau in Unterwäsche stand auf einer Waage, der Doktor hinter ihr, ein Stethoskop auf einem ihrer Schulterblätter. Er trug einen weißen Kittel, sein silbergraues Haar war völlig zersaust. Ein sympathischer Kopf. »Polizei!« sagte ich und zeigte ihm meinen Ausweis. »Das gibt's doch nicht«, entrüstete sich der Mann. Die Frau schaute ihn mit einer seltsamen Mischung aus Furcht und Argwohn an.
»Doch, das gibt's«, widersprach ich. »Sind Sie der Arzt, der den Totenschein für ...« »... Rudolphe Tintoret ausgestellt hat? Ja, Mademoiselle. Das habe ich eben auch schon Ihren Kollegen erklärt. Gerade vor zehn Minuten sind sie wieder gegangen ...« Rembrandt. Offensichtlich war er mir eine Metro voraus. »Dann erzählen Sie mir alles noch einmal.« Jetzt schien er verständlicherweise verärgert, aber das interessierte mich momentan ganz und gar nicht. »Sie und ihre Kollegen platzen hier ohne Vorwarnung mitten in eine Untersuchung«, schimpfte er, »und zwar schon zum zweiten Mal. Allmählich reicht's mir ...« »Hören Sie gut zu, Doktor«, bluffte ich mit eisiger Stimme, »im Vergleich zu mir sind meine Kollegen Chorknaben. Also zum letzten Mal: Haben Sie den Totenschein für Rodolphe Tintoret ausgestellt?« 82 Er kratzte sich am Schopf, tat einen tiefen Seufzer und sagte, es sei schon schade. »Was ist schade?« reagierte ich gereizt. »So niedlich wie Sie sind«, bedauerte er, »da finde ich es schade, daß Sie so streitlustig sind.« Der Kerl machte sich über mich lustig. Und auch noch vor seiner Patientin, die mich mit einem Lächeln im Gesicht von Kopf bis Fuß musterte. »Ich höre!« schrie ich und versetzte dem IKEA-Schreibtisch einen kräftigen Tritt. »Ist ja gut«, antwortete der Arzt, »ich hab ihn ausgestellt. Beruhigen Sie sich doch.« »Und weiter?« Der Doktor umrundete den Schreibtisch und hob die Unterlagen auf, die durch den Stoß auf den Boden gefallen waren. »Sie können sich wieder anziehen«, sagte er. Eine Sekunde lang glaubte ich, er rede mit mir, und war schon drauf und dran, auf ihn loszugehen, aber da packte die Frau ihre Sachen und verkündete, sie werde nebenan warten. »Also?« »Also, die Feuerwehr hat mich verständigt. Am Donnerstag morgen, gegen neun Uhr. Kurz danach war ich dort. Ich konnte nicht mehr helfen. Er war ertrunken.« »Sind Sie sicher?«
»Das haben mich Ihre Kollegen auch gefragt. Ja, es lagen alle Anzeichen von Ertrinken vor. Keine Spuren von Schlägen oder einem Kampf, und die Lungen waren voll Wasser.« »Sie haben vermutlich keine Autopsie durchgeführt.« »Dazu, Mademoiselle, hätte man mir zunächst einmal einen Auftrag erteilen müssen.« »Arbeiten Sie als Gerichtsmediziner?« »Das kommt vor, ja.« »Wer war sonst noch dort?« »Die Feuerwehr, die Gendarmen, einige Neugierige. Ein Maghre-biner hat die Leiche geborgen. Er war ziemlich erschüttert.« »Wer hatte die Leitung, wissen Sie einen Namen?« »Capitaine Grünewald von der Gendarmerie in Le Lavandou.« »Kam Ihnen irgend etwas verdächtig vor?« »Nichts, Mademoiselle. Jedes Jahr ertrinken Menschen. Daran 83 ist nichts Ungewöhnliches.« »Haben Sie Rodolphe Tintoret gekannt?« »Vom Namen her. Ich habe seine Bücher gelesen.« »Gut?« »Nicht schlecht.« »Und am Strand ist Ihnen sonst nichts aufgefallen?« »Leider nein. Ich habe nichts weiter bemerkt.« Der Typ machte einen aufrichtigen Eindruck. Ich gab ihm meine Telefonnummer und bat ihn, mich anzurufen, wenn ihm noch etwas einfiele. Dann entschuldigte ich mich für die Unannehmlichkeiten. Ohne mich näher auszulassen, gestand ich ihm, daß ich einen echt harten Tag hinter mir hätte. Er begleitete mich zur Tür. »Es tut mir sehr leid«, sagte er. Verständnislos sah ich ihn an. »Wegen Ihres Vaters«, erklärte er, »es tut mir sehr leid.« Ich sagte noch immer keinen Ton. »Ihr Kollege hatte mich schon vorgewarnt. Der Kleine mit dem Gangsterhut. Er hat mir gesagt, Sie würden sicherlich vorbeikommen. Und er hatte recht, Sie sind wirklich sehr charmant.« Draußen war alles beim alten. Abgesehen von dem Polizisten, der vor der Tür auf mich gewartet hatte und gerade telefonierte. Er roch zehn Meter gegen den Wind nach Bulle. Ich ging direkt auf ihn zu. »Haben Sie einen Wagen?« fragte ich ihn. Er nickte ein wenig überrascht.
»Dann grüßen Sie Rembrandt doch recht herzlich von mir, und sagen ihm bei der Gelegenheit auch gleich, daß ich komme und daß Sie mich zum Cap fahren. So sparen wir wenigstens Zeit.« Der Junge ließ sich das vorher noch per Telefon genehmigen, dann winkte er mir, ihm zu folgen. Er war ungefähr dreißig, trug Jeans, Turnschuhe und Leinenblouson, hatte kurze Haare und sonst keine besonderen Kennzeichen. Wir kamen am Büro des Notars vorbei, dahinter parkte ein weiterer grauer Citroen BX. Er ließ mich einsteigen. Bis zum ersten Stau am Ortseingang von Le Lavandou sprach er kein Wort. Dann begann er, an der Gangschaltung herumzuspielen und immer wieder geräuschvoll ein- und auszuatmen. Ich zeigte ihm den Weg hinauf, für mich eine Jugenderinnerung, und wortlos benötigten wir eine halbe Stunde für die sechs Kilometer, die uns vom Cap trennten. 84 Ich ließ meinen Chauffeur am Eingangsportal stehen und holte die Schlüssel für meine kleine 125er. Leonie erklärte mir, daß Ahmed noch immer unauffindbar sei, aber wahrscheinlich sei er zum Einkaufen nach Toulon gefahren, und daß sich einige Herren von der Polizei in der Villa aufhielten. »Inkognito«, fügte sie hinzu. Sie hatte ihnen versprechen müssen, niemandem etwas zu verraten. Ich dankte ihr, wobei ich genau wußte, was mich erwartete. Und ich hatte mich nicht getäuscht. Von der Terrasse her hörte ich schon das Geschrei meiner Schwester. Rembrandts Auto stand hinter dem Clio. Dessen Kofferraum war voll von Nippes und sonstigem Gerumpel, das sie sich in aller Eile unter den Nagel gerissen hatte. Ich ging ums Haus herum und warf einen Blick aufs Meer. Dann sah ich Charles-Edouard, meinen Neffen, der immer noch genauso blaß war. Er saß in der Hollywoodschaukel und hatte seinen Arm um die Rotzgöre gelegt, die leise vor sich hinflennte. Rembrandt lehnte an einer Mauer, flankiert von seinen zwei Schergen, und meine Schwester spuckte ihm Beleidigungen ins Gesicht. »Dann dauert es vielleicht etwas länger«, antwortete der Polizist gelassen, »aber ich verspreche Ihnen, wir machen es auf alle Fälle. An Ihrer Stelle ...« »Ah, da bist du ja!« krächzte Marguerite, als sie mich sah. »Hast du schon gehört?! Ich mach dich darauf aufmerksam! Weißt du, was die sich in den Kopf gesetzt haben?!« Ich wußte es und sagte Rembrandt, es sei in Ordnung.
»Nein, bist du denn verrückt!? Verstehst du denn nicht? Sie wollen Papa ausgraben!« Ich dachte mir, dies sei der einzige Weg, Gewißheit zu erlangen. »Wie gehen wir vor?« fragte ich. »Der Staatsanwalt klärt das mit der Richterin«, antwortete Rembrandt. »Im allgemeinen sträuben die sich ja bis zuletzt. Sie wissen so gut wie ich, wie kostspielig eine Autopsie ist.« »Sie sind ein Monster«, schluchzte Marguerite. »Für den Moment«, fuhr der Commandant fort, »wäre es mir lieb, wenn Sie eine Einverständniserklärung unterschreiben würden. Meiner Meinung nach brauchen wir sie nicht unbedingt, mir wäre es aber lieber so.« »Eher sterbe ich!« würgte Marguerite hervor. 85 »Schön wär's«, sagte ich. »Was? Du drohst mir! Haben Sie das gehört, Commandant? Sie hat mich mit dem Tod bedroht! Ich zeig sie an! Auf der Stelle!« Rembrandt meinte, er habe nichts gehört. In der Tasche eines seiner Schergen klingelte ein Handy. Der Mann ging ran, hörte seinem Gegenüber lange zu und drehte sich dann zu Rembrandt, während er das Handy mit seiner Hand abdeckte. »Chef?« »Was?« »Nicolas Mantegna alias Barjo le Nico, sagt Ihnen das was?« Der kleine Commandant, der die Hände in den Hosentaschen seiner Jeans vergraben hatte, schien lange zu überlegen. »Negativ«, sagte er schließlich. »Er liegt drei Kilometer entfernt von hier im Straßengraben«, erklärte der Junge, »zumindest das, was von ihm übriggeblieben ist. Hatte ein ellenlanges Strafregister.« »Na und?« »Na ja, Commandant: tschechische Pistole, Kokain, Dollarnoten und ein schweres, gelbes Motorrad.« »Sag ihnen, ich bin schon unterwegs«, schrie Rembrandt und machte den beiden anderen ein Zeichen, ihm zu folgen. »Ich komme mit!« sagte ich. Das bremste Rembrandts Schwung. »Sie«, drohte er und fuchtelte mit seinem Zeigefinger vor meiner Nase herum, »wenn ich Sie da unten sehe, loche ich Sie ein! Ist das klar?«
»Wie Sie wollen«, antwortete ich, »aber die Einverständniserklärung können Sie sich dann abschminken.« Er lief knallrot an, und ich erwartete schon, Qualm aus seinen Ohren aufsteigen zu sehen. »Ich rate Ihnen, mit mir keine Spielchen zu treiben«, zischte er. »Sie bleiben hier, das ist ein Befehl. Und auf Ihr Einverständnis pfeife ich.« Da hatte ich nun gespielt und tatsächlich verloren. Hinter Rembrandts Fassade eines launenhaften Kindes verbarg sich ein Menschenjäger. Das hatte ich jetzt begriffen. Von der Hollywoodschaukel her gluckste die Rotzgöre weitere Unverschämtheiten in meine Richtung, und während ich sie noch mit Blicken tötete, waren die drei Polizisten bereits auf und da 86 von. Ich hörte den BX starten und sah ihn im ersten Gang den Pfad hochfahren, bis er in der Ferne verschwand. »Du bist richtig mies«, keifte meine Schwester, »das hab ich ja schon immer gewußt. Aber jetzt habe ich erst erkannt, wie mies du bist.« 16 Ausnahmsweise war sexy Tatjana bekleidet. Sie räkelte sich auf der Couch im Wohnzimmer und zappte vor dem Riesenbildschirm durch die hundertsechzig Satellitenkanäle. Hinter ihr sprach Malewitsch in sein Handy. In holprigem Französisch erklärte er gerade jemandem, er könne sich ein Ei drüber schlagen. »Ich Sie nicht bezahlen, klar?« Dann unterbrach er die Verbindung. Etwas weiter weg von ihm saßen an einem Empire-Tischchen zwei Männer mit nacktem Oberkörper - Hannibal war einer von ihnen - und setzten das 13,5 Kilogramm schwere Präzisionsgewehr GMG »Hecate II« zusammen, das eine theoretische Durchschlagskraft bis auf 1500 Meter hatte. Die elektrischen Jalousien waren heruntergelassen, das Haus verriegelt, die Überwachungsanlage mit ihren Infrarotkameras im Garten aktiviert, und obwohl draußen die Sonne schien, war drinnen die Szenerie von gedämpften Halogenlampen beleuchtet. Tatjana zappte durch die Programme und erwischte einen Nachrichtensender, der über die Schießerei am Flughafen berichtete. Alle im Zimmer erstarrten. Malewitsch befahl, lauter zu stellen. Mit ausdrucksloser Stimme berichtete der Sprecher, es habe drei Tote gegeben - Fotos wurden eingeblendet -, die Polizei verfolge eine heiße Spur, der Staatsanwalt verweigere nähere Angaben, und dann wechselte er, ohne
detaillierter auf den Vorfall einzugehen, zum internationalen Tagesgeschehen. Tatjana schaltete wieder auf den Dokumentarfilm über das Sexualverhalten der Paviane, den sie schon zuvor angeschaut hatte, und jeder kehrte wieder zu seiner Beschäftigung zurück. Sie ahnten nicht, daß draußen exakt an derselben Stelle, wo sich am Morgen Germain Pilon versteckt hatte, nun Capitaine Nicolas Poussin aus Rembrandts Ermittlungsgruppe kauerte, um das Haus 87 durch ein Fernglas zu beobachten. Er trug einen Leinenblouson und hatte sonst keine besonderen Kennzeichen. Aus der Schweizer Kuckucksuhr an der Wand kam das Vögelchen heraus und krakeelte fünfmal. Tatjana streckte sich, schnappte ihre lässig über einem Sessel hängende Strandtasche und stand auf. Hüftschwingend durchquerte sie das Zimmer, doch die beiden Männer an dem Tischchen blickten nicht einmal auf. Als sie an Malewitsch vorbeischlenderte, packte er sie am Handgelenk. »Wo du hingehst?« »Zum Strand«, antwortete sie. »Laß mich los.« Kasimir Malewitsch schenkte ihr ein unergründliches Lächeln und lockerte seinen Griff. »Du nie gehst zum Strand.« »Einmal noch, ich will in Ruhe baden.« »Es gibt Swimmingpool.« »Mir reicht's, dauernd eingesperrt zu sein, Kasimir. Ich will endlich ein normales Leben führen.« Hannibal schob das Magazin, das mit einem trockenen, metallischen Klicken einrastete, in das Scharfschützengewehr mit der enormen Reichweite. Damit war das Gewehr einsatzbereit. Der zweite Mann, der einen Vollbart trug und bis auf die Schultern hinauf behaart war, zündete sich eine Zigarre an, schaute starr in den Fernseher und schwieg. Und das mit gutem Grund. Er war stumm. Malewitsch warf einen Blick auf die Kuckucksuhr und streichelte nachdenklich seinen grauen Pferdeschwanz. »Flugzeug bald fertig«, sagte er. »Koffer gepackt?« »Ich brauche nichts«, murmelte Tatjana, »nun stell dich nicht so an und laß mich zum Strand runtergehen.« »Nicht vernünftig«, seufzte der Tschetschene. »Ich hechte kurz rein und komme dann gleich wieder hoch.« »Hechte?« wiederholte Malewitsch. »Das ist doch gehupft wie gesprungen«, ereiferte sich die junge blonde Schönheit und ging zur Tür.
Malewitsch machte ein unzufriedenes Gesicht, hielt sie jedoch nicht zurück. Kaum war Tatjana aus dem Zimmer, nickte er Hannibal kurz zu. Dieser streifte sich ein T-Shirt über, steckte seine Automatikpistole hinten in seinen Hosenbund, und während der Vollbart aufstand, um die Alarmanlage zu deaktivieren, verließ Hannibal auf leisen Sohlen den Raum. Das Präzisionsgewehr ließ er auf dem Tisch liegen. Als er Tatjana das Haus verlassen sah, wußte Nicolas Poussin nicht, wie er reagieren sollte. Seine Anweisungen waren zwar klar, aber widersprüchlich: Er sollte sich beim Haus verstecken, gleichzeitig aber alle Anwesenden im Auge behalten. Grausames Dilemma. Vor allem deshalb, weil dreißig Sekunden nach der himmlischen Erscheinung auch noch der Koloß herauskam. Logischerweise rief der Polizist Rembrandt an, der keine zwei Kilometer weiter dabei war, Mantegnas Zelt zu durchwühlen. Abgesehen von einem dreckigen Trikot der Fußball-Weltmeistermannschaft, das ihn als einen der mutmaßlichen Täter des Überfalls identifizierte, hatte er nichts Brauchbares für die laufenden Ermittlungen finden können. Momentan verstrickte er sich in mehrere Telefonate gleichzeitig. Mit leiser Stimme erklärte Poussin sein Problem. »Du rührst dich nicht von der Stelle«, befahl Rembrandt. »Du läßt Malewitsch nicht aus den Augen. Er hat ein Privatflugzeug zum Flughafen in La Mole bestellt.« »Schnappen wir ihn uns dort, Chef?« »Nein, Poussin, wir schnappen uns niemanden. Die Richterin will momentan nicht, daß wir Malewitsch anfassen. Der Kerl hat sich gut abgesichert. Wir beschränken uns darauf, den Flieger zu blockieren. Na und?« brüllte er gleichzeitig in ein anderes Telefon. »Was gibt's Neues von diesem Helikopter?« »Chef?« »Poussin, du bleibst, wo du bist. Wir bekommen noch ein zusätzliches Team aus Marseille zur Verstärkung. Ich brauche hier jeden Mann. Wir klappern wegen Mantegna die Umgebung ab. Hier ist schwer was geboten. Überall Journalisten.« »Und die kleine Myrtille, Commandant?« »Wir haben nicht genügend Leute, Poussin. Laß die Finger von ihr, ich kümmere mich um sie. Ich zische jetzt ab zum Friedhof. Wir buddeln Tintoret wieder aus. Ich habe einen Gerichtsmediziner aufgetrieben. Wenn wir was
finden, nehmen wir Malewitsch in die Mangel. Vorher nicht. Und was ist bei dir so los?« »Das Haus ist verbarrikadiert. Man könnte fast glauben, es handle sich um die Nationalbank. Die Garage ist zu, ich weiß also nicht, wieviele Fahrzeuge sie haben. Abgesehen von Malewitsch habe 89 ich zwei Männer und eine Frau ausgemacht, scheinen mir alles Europäer zu sein. Die Frau ist gerade fortgegangen, und ein Mann weicht ihr nicht von der Pelle. Der Typ ist ein wahrer Schrank -den hätten Sie sehen sollen. An der Sache ist was faul. Der Kerl beschattet sie.« Rembrandt fluchte. Dieser Fall nahm Ausmaße an, die ihm langsam über den Kopf wuchsen. Er fühlte sich eindeutig überlastet, selbst wenn er in seinem tiefsten Inneren genau das liebte. »Tut mir leid, Poussin, aber du rührst dich nicht vom Fleck, und wenn's was Neues gibt, egal was, rufst du mich an.« Nicolas Poussin klappte sein Handy in dem Moment zu, als er die tolle Blondine aus den Augen verlor. Sie hatte, statt den Weg zum Strand einzuschlagen, die entgegengesetzte Richtung genommen. Ein Badetuch über die Schultern geschlungen ging sie schnell davon, drehte sich aber immer wieder suchend um, die Augen hinter einer dunklen Sonnenbrille verborgen. Zusätzlich zu den zahlreichen anderen Techniken, die ihm die gefürchteten Marineinfanteriekommandos beigebracht hatten, denen er fünf Jahre lang angehört hatte, und trotz seiner gladiatoren-haften Statur konnte sich Hannibal Carrache vollkommen lautlos fortbewegen. Ebenso war er in der Lage, einen Menschen mit nur einem Finger zu töten. Oder mit einem Biß - je nachdem. Schon als sehr junger Mann hatten ihn Uniformen fasziniert. Erst spät war ihm dann allerdings klar geworden, daß seine wahre Leidenschaft etwas ganz anderem galt: dem Geld. Zuerst war er Boxer, dann Wachmann, Schuldeneintreiber und schließlich Räuber. Erst Malewitsch hatte ihn von der schiefen Bahn abgebracht, und seither hatte er sich ihm mit militärischer Treue verschrieben. Doch seit der Chef sich unsterblich in Tatjana verliebt hatte, ahnte er, daß es so nicht weitergehen würde. Er konnte nicht verstehen, was die beiden miteinander verband. Er ließ ihr jede Laune durchgehen und überschüttete sie mit Geschenken, gleichzeitig zögerte er nicht, sie jemandem anzubieten, wie auch heute morgen, ohne die geringsten Gewissensbisse zu zeigen. Hannibal spürte, daß Tatjana vor ihm auf der Hut war, weshalb er sich um so vorsichtiger und absolut lautlos durch die Gärten entlang der Straße schlich.
Er hatte gleich ein ungutes Gefühl gehabt. Und seine Intuition bestätigte sich, als das Mädchen den Weg in Richtung Schloß einschlug. 90 Aber anstatt die lange, von Oleander umsäumte Allee hochzulaufen, wandte sich Tatjana nach links, hin zu einer kleinen Treppe, die zur Spitze des Caps führte. Hannibal packte die Wut. Die Treppe war zu schmal, um ihr unmittelbar zu folgen. Ihm wäre es lieber gewesen, sie wäre zu den Brunelleschis gegangen. So hätte sie ihm endlich den lang ersehnten Vorwand geliefert, sie endgültig zu eliminieren. Er wartete eine Weile, dann erst betrat er die Stufen. Tatjana kam es so vor, als sei sie hier schon einmal gewesen. Germain Pilon hatte ihr alles genau beschrieben. Dieser Teil des Caps war menschenleer und führte auf die unwegsame Seite der Küste. Oben überragte ein quadratischer Turm, den die Deutschen während der Besetzung errichtet hatten, die Bucht. Er bildete quasi den Gipfel der zweihundert Meter hohen Steilküste. An den Abenden des 14. Juli war dies die beste Stelle, um das alljährliche Feuerwerk zu bewundern. Aber die übrige Zeit kam kein Mensch hierher, abgesehen von ein paar Jugendbanden, die hier heimlich ihre Joints rauchten. Als Tatjana oben ankam, war sie außer Atem. Prüfend blickte sie auf ihre Uhr. 17 Uhr 10. Sie war zu früh dran. Eine neu angelegte Betontreppe, gefolgt von in den Fels zementierten Stufen, führte auf das kaum zwei Meter hohe Türmchen. Sie stieg hinauf. Auf der Brüstung fanden sich noch Überreste eines Sockels, auf dem früher ein Maschinengewehr oder eine kurze Kanone montiert gewesen war. Die junge Frau genoß das weite Panorama, das sich vom Cap Benat bis zur Landspitze von La Chappe erstreckte. Draußen auf dem Meer, in der Verlängerung der Inseln vor Le Levant, schaukelten in der Ferne sanft ein paar Segel. Hinter ihr waren, verstreut in der Vegetation, nur wenige Dächer zu erkennen, darunter ganz in der Nähe ein seltsames, rundes und offenbar unbewohntes Haus. Kein Windhauch regte sich, und zu hören war nur die ewige Litanei der Grillen. Tatjana zerquetschte kurzerhand eine Ameise, die am Geländer herumkrabbelte, und steckte sie sich in den Mund. Schon als kleines Mädchen hatte sie den sauren Geschmack geschätzt. Dann sah sie ein weiteres Mal auf die Uhr, wobei sich bei ihr erste Zweifel einstellten. Hatte Pilon ihre Anweisungen wirklich befolgt? Sie versuchte sich zu beruhigen, indem sie sich sagte, daß sogar ein zweijähriges Kind das hinbekommen hätte. An seinem guten Willen gab es keinen Zweifel, seit sie ihm schöne Augen gemacht hat
91 te. Und dennoch lag hierin bereits eine erste Unsicherheit. Immerhin hatte Pilon einen merkwürdigen Ruf. Tatjana warf ihre lange blonde Mähne nach hinten, zerquetschte eine weitere Ameise, verzehrte sie und fragte sich, ob Kasimir, so wie sie es vorhergesagt hatte, tatsächlich in die Falle getappt war. Und falls ja, was wäre, wenn er ihr statt Hannibal den Stummen hinterher geschickt hätte. Auch das, beschloß sie, würde ihre Pläne nicht ändern. Vor Hannibal hatte Tatjana eine Heidenangst. Sie spürte, ja sie wußte, daß der Hüne sie heiß und innig haßte. Sie konnte deswegen schon nicht mehr schlafen. Sobald Hannibal in ihrer Nähe war und sie betrachtete, brach ihr der kalte Schweiß aus. Sie wurde das schreckliche Gefühl nicht los, daß er ihre geheimsten Gedanken lesen könne, daß er alles wußte. Tatjana war überzeugt davon, daß der Leibwächter nur auf eine Gelegenheit wartete, um ihr weh zu tun. Nicht ohne Grund, denn von allen Mitarbeitern Kasimirs war er der besonnenste, der treueste, der, auf den der Tschetschene am meisten hörte. Und auch der gefährlichste. Die absolute Stille hier oben war für sie der Beweis. Und wenn er vielleicht doch nicht hier sein sollte, irgendwo in den Büschen verkrochen, dann würde ohnehin alles glatt gehen. Das hieße, Malewitsch hätte noch keinen Verdacht geschöpft. Aber sie hätte auf das Gegenteil gewettet. Sie hatte schließlich alles getan, um bei ihm die Alarmglocken klingeln zu lassen. Die alles entscheidende Frage allerdings war: Würde der Mann, auf den sie wartete, den Mut haben, bis zum Äußersten zu gehen? Er war ein Einzelgänger, und der jungen Frau war durchaus bewußt, daß sie von ihm nicht sehr viel mehr wußte, als daß er einen herrlichen Körper hatte. Alles in allem verließ Tatjana nun doch langsam der Mut, und einen Moment lang wollte sie schon alles abblasen. Ihr ursprünglich so entwaffnend einfacher Plan entpuppte sich nun plötzlich als ziemlich wackelig, weil er überhastet beschlossen und mit Unwägbarkeiten gespickt war. Sie konnte auf der Stelle kehrt machen, heimgehen und Kasimir alles gestehen. Er würde sie verstehen und sie von hier wegbringen. Aber Tatjana liebte Antonin de Messine. Seit sie ihn das erste Mal gesehen hatte, war keine Minute vergangen, in der sie nicht an ihn gedacht hatte. Sie öffnete ihre Tasche, holte den Revolver heraus, der - Ironie des Schicksals -ein Geschenk Malewitschs war, und entsicherte die Waffe. 91 17 »Nanu?« sagte ich zu meiner Schwester. »Du bist ja immer noch da.«
»Nach dem, was sie Papa antun wollen«, antwortete sie angesäuert, »kommt es gar nicht in Frage, daß ich gehe. Du wirst uns ja wohl nicht alle drei auf die Straße setzen wollen.« Gekonnt hätte ich es schon. Aber ich hatte Wichtigeres zu erledigen. Ich teilte ihr also mit, sie könne sich bis morgen früh Zeit lassen, um die Koffer zu packen. »Auf die Art kannst du noch in Ruhe herumschnüffeln. Nur für den Fall, daß du ein paar Andenken brauchst.« Auf der Suche nach einer passenden Antwort rieb sie sich nachdenklich das Kinn, schüttelte dann den Kopf, weil ihr nichts einfiel, um schließlich, während ich sie mit einem verächtlichen Blick bedachte, ihre lange Nase auf mich zu richten. »Weißt du«, sagte sie seelenruhig, »eines Tages bekommt man für alles die Quittung. Vergiß das nicht.« »Was du nicht sagst«, antwortete ich und machte auf dem Absatz kehrt. Ich stieg die Treppe hoch und ging den Gang entlang zum Büro meines Vaters. Das Zimmer lag ganz am Ende des Flurs zum Obstgarten hin und war verschlossen. Ich stieg die Außentreppe wieder hinunter, durchwühlte die Garage und schnappte mir unter Charles-Edouards Augen, der den Clio belud, einen Schraubenzieher und eine Rolle Eisendraht. »Ich muß mit Ihnen reden«, sagte er, »es ist wichtig.« »Was willst du?« »Sie dürfen Großvater nicht ausgraben.« Er hielt eine Schachtel mit alten Fotos in den Händen und wußte offensichtlich nicht, wohin damit. »Und warum nicht?« »Wir müssen das verhindern. Man gräbt Leute nicht ohne Grund wieder aus.« »Es gibt einen Grund, einen sehr guten sogar«, erwiderte ich und ging wieder hoch. Er grummelte noch irgend etwas vor sich hin, das ich nicht mehr verstand. Hundert Pro eine Beleidigung, dachte ich, als ich durchs 92 Badezimmer spazierte und mit meinem Werkzeug das Schloß der Bürotür öffnete. Es war ein einziges Durcheinander. Die Fensterläden waren geschlossen, und ich stolperte ein paarmal, bevor ich sie aufmachen konnte. Das Sonnenlicht flutete grell ins Zimmer hinein, und ich mußte mir zum Schutz die Hand vor die Augen halten.
Auf den ersten Blick war mir klar, auch weil alles abgeschlossen gewesen war, daß es sich nicht um einen Einbruch handelte. Eher schon um Marguerite, die vor mir hier drin gewesen war. Der Boden war mit Papieren übersät, die Schubläden des Schreibtischs standen weit offen. Entlang der Fußbodenleisten lag eine beeindruckende Sammlung von Kunstbänden, die von den Etruskern bis zu den Jungen Wilden reichte. An der Wand hing ein kleiner Combas von 1986, den ich in der Hoffnung anhob, dahinter einen Tresor zu finden. Fehlanzeige. Ich wunderte mich, daß das Bild nicht längst im Clio gelandet war. Der Grund war wahrscheinlich, daß Marguerite von moderner Kunst nicht allzu viel Ahnung hatte. Ich nahm hinter dem Schreibtisch Platz und blätterte rasch die dort herumliegenden Papiere durch: Rechnungen, Kontoauszüge, Gutachten, Steuererklärungen, Zeitungsartikel über seine Bücher, aber meine Schwester war offensichtlich alles schon vor mir durchgegangen. Ich wußte also, daß ich hier nach etwas Wichtigem gar nicht mehr zu suchen brauchte. Ich nahm den Telefonhörer ab, der die Form einer Ente hatte, und rief die Auskunft an, wo man mir die beiden gewünschten Nummern durchgab. Bei der Gendarmerie wurde nach dem dritten Klingeln abgehoben. Ich verlangte Capitaine Grünewald zu sprechen. Man erwiderte mir frostig, er sei dienstlich unterwegs. Ich stellte mich als Tochter von Monsieur Tintoret vor und betonte, es sei dringend. Ich wurde um ein wenig Geduld gebeten, dann wurde mein Anruf auf ein Handy weitergeleitet. »Grünewald. Ja bitte?« sagte eine Stimme, die mir bekannt vorkam. »Bitte entschuldigen Sie die Störung. Ich bin Rodolphe Tintorets Tochter.« »Ach, guten Tag. Wie geht es Ihnen?« »Danke der Nachfrage, Capitaine, aber sagen Sie mir doch eines: Sie waren es doch, der zum Unglücksort gerufen wurde, als mein Vater den Unfall hatte, oder?« Eine verstörend lange Stille setzte ein. 93 »Soll das ein Scherz sein?« »Eigentlich nicht«, antwortete ich. »Aber das wissen Sie doch ganz genau! Was wollen Sie?« Ich verstand diesen aggressiven Ton nicht. Und mir war auch nicht klar, was ich denn hätte wissen sollen. »Mein Vater hat mir einen Brief hinterlassen«, fuhr ich fort, »in dem von Mord die Rede ist.« Wieder eine lange Pause. »Wer sind Sie?« fragte er trocken.
»Das habe ich Ihnen doch gerade eben gesagt, Capitaine.« »Augenblick mal, ich kenne Ihre Stimme gar nicht.« »Ich bin Myrtille Xiao-Mei, die Tochter von ...« »Myrtille? Die Pariserin vom Flughafen?« Jetzt kapierte ich, woher ich die Stimme kannte. »Dieselbe.« »Ich bitte Sie vielmals um Entschuldigung«, stammelte Blueberry nun ins Telefon, »ich habe Sie für Ihre Schwester gehalten. Hören Sie ... Also so was. Die Welt ist doch klein. Ich bin ... Wie soll ich sagen ... Ich bin entzückt, von Ihnen zu hören. So, so, Sie sind also Tintorets Tochter!« »Das hatten wir nun bereits dreimal, Capitaine, kriegen Sie sich wieder ein.« »Was kann ich für Sie tun? Das ist ja wirklich eine Freude.« Ich fragte mich, ob er tatsächlich völlig vertrottelt war, oder ob er mir das nur weismachen wollte. »Mein Vater hat einen Brief hinterlassen«, wiederholte ich. »Sie sind doch zum Strand gefahren, als man die Leiche gefunden hat. Ist Ihnen dabei irgendwas verdächtig vorgekommen?« »Überhaupt nichts. Das habe ich auch in meinem Bericht geschrieben.« »Das weiß ich. Aber trotzdem ...« »Hören Sie, es trifft sich gut, daß Sie mich angerufen haben. Die Frage ist vielleicht etwas direkt, aber was halten Sie von ...« »Ich hab schon nein gesagt, Capitaine.« »Gestatten Sie mir, daß ich dennoch einen weiteren Versuch ...« »Sagen Sie mal, Grünewald, kennen Sie meine Schwester?« »Sagen Sie Max zu mir. Ja, natürlich, sie hat Ihren Vater identifiziert.« »War sie vor Ort?« 94 1857 »Keineswegs, wir haben sie holen lassen. Sind Sie sicher, daß ...« »Danke Capitaine«, sagte ich, bevor ich auflegte, »ganz sicher.« Allmählich kamen mir doch ernste Zweifel an den brieflichen Wahnvorstellungen meines Vaters. Aber falls alles, was er da geschrieben hatte, falsch war, was wollte er damit erreichen? Gab es eine Botschaft, die ich nicht entschlüsselt hatte? Und wenn es stimmte, dann war das hier die größte Verschwörung seit Watergate. Ahmed, der Arzt, Blueberry, meine Schwester, und warum nicht auch der Notar - alle logen dann. Ich wählte die zweite Nummer, die ich auf einem Zettel notiert hatte, und bekam umgehend eine etwa vierzigjährige Frau an die Strippe, die ich nach den üblichen Höflichkeitsfloskeln nach Philippe Orozco fragte. Ich hörte
Schritte und Geschrei von Kindern, die in einem Swimmingpool spielten, dann nahm jemand den Hörer. »Philippe Orozco«, meldete er sich. »Myrtille Xiao-Mei«, antwortete ich. »Ah ja, ich habe Ihren Anruf erwartet.« Seine Stimme klang bedächtig und freundschaftlich. »Ich muß Sie sprechen. Es geht um meinen Vater.« »Ich Sie auch. Kommen Sie heute abend ins Schloß?« »Hundertprozentig.« »Dann bis bald. Ich zähle auf Sie.« »Hören Sie ...« »Nicht am Telefon, Mademoiselle.« »Kann ich vorbeikommen?« blieb ich hartnäckig. »Bitte verstehen Sie doch, es ist dringend!« »Jetzt geht es leider unmöglich, wir haben eine Familienfeier. Aber machen Sie sich keine Sorgen. Was ich Ihnen mitzuteilen habe, kann bis zum Abend warten.« Vielleicht täuschte ich mich, aber ich glaubte, einen Anflug von Heiterkeit in seiner Stimme entdeckt zu haben. Man hätte meinen können, er bereite einen gelungenen Scherz vor. »Na gut, dann bis nachher.« »Genau.« Er legte auf. Diese ganze Geheimniskrämerei ging mir allmählich auf den Keks. Eine Atemübung wäre jetzt das Richtige, beide Hände flach auf dem Schreibtisch. Doch ich hatte die Ente kaum aufgelegt, da klingelte mein Handy. Die Nummer auf dem kleinen Display sagte mir nichts. Trotzdem legte ich das Ding an mein Ohr und war auf alles gefaßt. 95 »Lieutenant! Rembrandt hier.« »Lange nichts mehr von Ihnen gehört.« »Haben Sie noch Ihre Maschine?« »Möglich.« »Hören Sie, wir fahren jetzt zum Friedhof. Wie wär's, wenn Sie ebenfalls hinkämen?« »Was ist los, Commandant? Haben Sie nicht mehr genügend Leute, um mir nachzuspionieren?« »Sie haben es erfaßt. Mir ist es lieber, ich hab Sie im Blick. Außerdem habe ich keine Zeit zu verlieren, also machen Sie sich auf die Socken, oder ich mache Ihnen höchstpersönlich Feuer unter Ihrem Hintern.«
»Das wird nicht nötig sein«, sagte ich, bevor ich das Handy in die Hosentasche steckte, »ich komme schon von allein.« Ich ließ alles liegen und stehen, jagte die Außentreppe hinunter, drängelte dabei Charles-Edouard zur Seite und stieg auf meine Maschine. »Wo fahren Sie hin?« fragte diese Kakerlake von Neffe. Immer noch ganz in schwarz gekleidet - der Schweiß lief ihm an den Schläfen herunter - erinnerte er mich tatsächlich an eine häßliche Schabe. Er war blaß, ließ die Schultern hängen, und über seine Lippen zuckte ein nervöses Zittern. Mit ihm und der Rotzgöre gestraft, tat mir meine Schwester fast schon wieder leid. »Hör zu, Charles-Edouard, wenn dich jemand fragt: Du weißt von nichts. Klar? Das ist sehr wichtig. Kann ich mich auf dich verlassen?« »Das ist nicht witzig.« Ich mußte ein paarmal treten, bis mein Hobel ansprang, und entging nur knapp einem üblen Rückschlag des Kickstarters gegen meine Achillessehne. Im einzigen Rückspiegel sah ich, wie mein Neffe seine Schachtel auf das Autodach stellte. Ein Schauer jagte mir über den Rücken. Automatisch schaltete ich in den Leerlauf, um notfalls die Hände frei zu haben - nur für den Fall, daß. Aber Charles-Edouard stürzte sich nicht auf mich. Er begnügte sich damit, mir einen haßerfüllten Blick hinterherzuwerfen, dann stürmte er wutentbrannt über den Kies zur Terrasse, wo seine Mutter sicherlich schon auf ihn wartete. Ein einziger Sauhaufen, dachte ich, als das Motorrad knatternd die lange Steigung hochfuhr. JOS 18 Es war 17 Uhr 15, als Antonin de Messine den Fuß auf die erste Stufe der Treppe setzte. Er haßte es, zu spät zu kommen, und so eilte er mit kurzen Schritten nach oben, obwohl er auf Tatjana sauer und überdies der Meinung war, sie hätte es verdient, daß er sie warten ließe. Er trug Bermudashorts und ein neues, kurzärmeliges Hemd von Lacoste. An Hannibal Carrache, der im üppigen Schatten einer Korkeiche kauerte, hastete er vorbei, ohne ihn zu bemerken. Antonin de Messine hatte für unvorhergesehene Änderungen nicht viel übrig. Er hatte sich doch deutlich genug ausgedrückt; Tatjana solle unter gar keinen Umständen von sich aus mit ihm Kontakt aufnehmen. Nicht einmal telefonisch. Es gab Fälle, die hatte die Polizei schon mit weniger Hinweisen
aufgeklärt. Aber warum sie ihm diesen Idioten als Mittelsmann geschickt hatte, war ihm unbegreiflich. Ihm blieb nun keine andere Wahl mehr. Pilon war ein toter Mann. Und jetzt war nicht gerade der passende Moment, um sich Fehler zu erlauben. Er mußte noch bis zum Abend warten, ehe er Frankreich verlassen konnte. Als er am Fuß des Turms angelangt war, zog Antonin seine Halbautomatik. Er hörte Schritte auf der Betontreppe und trat ein wenig zurück, um, wenn nötig, den Aufgang im Visier zu haben. »Ich hatte schon Angst, du kommst nicht mehr«, sagte Tatjana, als sie vor Antonin auftauchte. Eigentlich hätte das ganz beiläufig klingen sollen, aber jedesmal, wenn sie ihn wiedersah, fühlte sie sich förmlich dahinschmelzen. Die Hand, mit der sie mit aller Kraft den Revolver umklammerte, hielt sie hinter dem Rücken. Sie betete, er möge dies nicht in den falschen Hals bekommen. Erneut wurde ihr die Verrücktheit ihres Plans bewußt. »Ich hoffe, du hast einen guten Grund«, sagte Antonin, der sich nur mühsam zurückhalten konnte. Er hatte beschlossen, ruhig Blut zu bewahren, vor allem nachdem er die versteckte Hand bemerkt hatte. »Wir sollen in Kürze abfahren«, sagte sie, »Kasimir hat ein Flugzeug gechartert.« Das hatte er schon kommen sehen. Ein bißchen früh, dachte Antonin de Messine bei sich, aber sonst lief bisher alles nach Wunsch. »Ich bin noch nicht soweit«, sagte er. 97 Tatjana blickte kurz über Antonins Schulter. Sie hatte den flüchtigen Eindruck, als hätte sich etwas bewegt. Sie war sich nicht sicher. Vielleicht hielt sie ihren riskanten Wunsch schon für Realität. Jedenfalls müßte Hannibal aus seiner Deckung kommen, damit sie ihn erledigen konnten. Antonin hatte der Blick überrascht. Und wenn ihn Tatjana nun in eine Falle gelockt hatte? Worauf wartete sie dann noch? Er hatte die verborgene Waffe bemerkt, aber im Zweifelsfall wäre er schneller. Er brauchte seine Kanone nur hochzuheben und abzudrük-ken. Außer sie wäre nicht allein, und das seltsame Gefühl, das er gehabt hatte, als er vorhin an der Korkeiche vorbeigegangen war, wäre begründet. Antonin wich zur Seite und lehnte sich an die Turmmauer, was Tatjana ebenfalls zu einer Drehung zwingen sollte. Aber dann wäre die junge Frau mit dem Rücken zu den Büschen gestanden, also rührte sie sich nicht, obwohl sie nun den Kopf sehr weit drehen mußte, um Antonin anschauen zu können.
»Stimmt was nicht?« spöttelte Antonin. Jede Menge, dachte Tatjana. Sie wußte nicht, ob Hannibal es wagen würde, sie abzuknallen. Wenn er sie beseitigte, wie sollte er das Kasimir beibringen? Vielleicht war er aber auch schon wieder weg. Vielleicht war er schon bei Malewitsch und erzählte ihm brühwarm, was er gesehen hatte. Falls er ihr überhaupt nachgeschnüffelt hatte. Was aber noch dringender war: Tatjana mußte schleunigst die Situation mit Antonin entschärfen. Auch auf die Gefahr hin, Hannibal gegenüber ihren Plan zu enthüllen. Falls er denn noch da war. So ging es nicht weiter. Alles geriet durcheinander. Sie mußte ihn zwingen, sich zu zeigen. Sie brauchte irgendeinen Vorwand. »Ich gehe nicht zurück«, sagte sie. »Kasimir hat schon Verdacht geschöpft. Ich bleibe bei dir.« Der schöne Antonin de Messine hatte schon befürchtet, daß diese Situation eintreten könnte. Er griff mit der rechten Hand in seine Bermudas und zog ein Metallstück heraus, das Ähnlichkeit mit einer großen Zigarre hatte. Es war ein Schalldämpfer, den er auf seine umgebaute CZ schraubte. »Du wirst mich doch nicht erschießen«, rief Tatjana und zog ihren eigenen Revolver hervor. 98 »Ich weiß es wirklich nicht«, antwortete Antonin de Messine. »Was meinst du?« Hannibal Carrache hatte genug gesehen. Er konnte nicht zulassen, daß dieser Yuppie Tatjana abknallte, der Tschetschene würde ihm das nie verzeihen. Dafür würde er sie an beiden Ohren nach Hause schleifen. Und dann konnte sie sich erst recht auf was gefaßt machen. Er hatte den Chef schon in Aktion erlebt. Mit ein wenig Glück würde er sich sogar selbst um sie kümmern dürfen. Als erstes würde er sie fragen, was sie an diesem Morgen getrieben hatte. Woher sie Schlag neun Uhr gekommen war. Falls sie leugnen sollte, bei dem Überfall am Flughafen dabei gewesen zu sein, würde hier gleich Antonins Leiche seine Behauptungen untermauern. Und er, der Schwede, würde jede Sekunde aus ganzem Herzen genießen. Rund zehn Meter trennten ihn von seinem Ziel. Ein Kinderspiel. Im Geiste gestattete er sich nur eine einzige Kugel, genau in den Kopf. Er hatte Tatjanas Spielchen voll durchschaut. Eine Kugel für Antonin, und bereits in der nächsten Sekunde müßte er Tatjana im Visier haben, noch bevor sie auf ihn schießen konnte. Dafür müßte er sich aus seiner Deckung wagen, damit die Kleine ihn und seine Waffe auch sehen und nicht auf dumme Gedanken
kommen konnte. Schlimmstenfalls würde Tatjana eine Kugel ins Bein abbekommen. Hannibal hob den Arm und zielte auf den Kopf von Antonin. Was ihm merkwürdig vorkam, war die kleine Rauchwolke, die der Faust des Schönlings entsprang. Aber da prallte auch schon ein zentnerschweres Gewicht gegen seine Brust, und das mit einer Geschwindigkeit von dreihundert Metern pro Sekunde. Hannibal spürte noch, wie er herumgerissen wurde. Und mehr noch als der Gedanke, diese Welt zu verlassen, ließ ihn, bevor er zusammenbrach, die Tatsache aufstöhnen, daß er auf jemanden getroffen war, der schneller war als er. Weder lief der Film seines Lebens vor seinen Augen ab, noch spürte er die zwei weiteren Dumdum-Geschosse, die seine Eingeweide zerfetzten. Es war nicht das Geringste zu hören gewesen. Als die Schüsse abgefeuert wurden, flog gerade in einiger Entfernung knapp über der Meeresoberfläche ein Hubschrauber vorbei. »Gut gemacht«, murmelte Tatjana. Das Blut, der Ausbruch von Gewalt und der Geruch von Kordit hatten sie schon seit jeher begeistert. Mit Antonin war das Ganze real geworden. 99 »Das werden wir noch sehen«, antwortete Antonin, dem man nicht anmerkte, daß er gerade kaltblütig einen Menschen ermordet hatte. Es war heute auch erst der zweite. Oder der dritte, er wußte es nicht mehr. Am Flughafen war alles sehr schnell gegangen. Das Mädchen ging zu Hannibals reglosem Körper hinüber, ohne noch länger den Revolver zu verbergen, der in ihrer geballten Faust riesig schien. Mit dem Fuß stupste sie die Leiche an, dann wandte sie sich wieder Antonin zu. »Tot«, sagte sie. Das wußte Antonin bereits. Er hatte es gespürt, schon in dem Moment, als er auf den Abzug gedrückt hatte. »Erklär mir das mal«, sagte er, »und bring ja nichts durcheinander.« Tatjana steckte den Revolver in ihre Tasche. »Es mußte sein«, sagte sie, »alles ist nach Plan gelaufen. Abgesehen davon, daß ich ihn eigentlich hätte erledigen sollen. Ich konnte dich nicht erreichen. Ich mußte das Risiko eingehen. Aber alles wird gut. Siehst du? Alles wird gut.« Aber Antonin sah das ganz und gar nicht ein. Alles, was er sah, war, daß Tatjana die Initiative ergriffen hatte. Das war ihm ein Greuel. Antonin de Messine mußte alles selbst im Griff haben. Er ertrug es nicht, wenn die
Ereignisse seinen eigenen Entschlüssen vorauseilten. Der junge Mann war ein ziemlicher Spinner. Er war zwar charmant, perfekt erzogen und an den besten Schulen unterrichtet, aber im Internat war er zum ersten Mal so richtig ausgerastet, ohne daß jemand den Ernst der Lage erkannt hätte. Ein dummer Schülerstreich für Neuankömmlinge war übel ausgegangen. De Messine war einer der Quälgeister gewesen. Er hatte eine derartige Grausamkeit an den Tag gelegt, daß seine kleinen Kameraden, als sie zur Rede gestellt wurden, nicht den Mut aufbrachten, ihn als Anstifter hinzuhängen. Ein Kind hatte ein Auge verloren. Die Sache konnte erst durch zahlreiche Zusicherungen, Vertuschungen und unter Einsatz diverser Druckmittel und Schmiergelder in Ordnung gebracht werden. Antonin wurde vom Sportunterricht ausgeschlossen, und der Papa half ihm auf den rechten Weg zurück. Und er erwies sich sehr schnell als sehr brillant. Als berechnender, gewissenloser Geschäftemacher ohne jegliche Skrupel besaß er alle Eigenschaften, um sich einen guten Ruf als ehrgeiziger Rechtsanwalt zu schmieden. Er reiste viel, wobei sich sein Leben zwischen Luxussuiten und Sportautos abspielte, sein Bank 100 konto wuchs, Papa war zufrieden, und der junge Antonin war bald von einem mächtigen Höherwertigkeitskomplex besessen. Niemand konnte ihm das Wasser reichen. Er konnte sich alles erlauben. Den Anfang machte er mit einer Prostituierten. Keine Bordsteinschwalbe, sondern ein Callgirl aus den wohlhabenderen Vierteln New Yorks. Die Polizei hatte die Leiche bis heute nicht gefunden. Dann kam das Kokain, das quasi obligatorisch war, wenn man sich mit den Größen des Show Business sehen lassen wollte, gefolgt vom Glücksspiel, schlechtem Umgang und Schulden. Und dann kam letzten Monat die unverhoffte Gelegenheit, den Jackpot zu knacken. Antonin war schon viel zu weit gegangen, um jetzt noch umzukehren oder irgend etwas dem Zufall zu überlassen. Tatjana hatte von all dem nicht die geringste Ahnung. Sie sah vor sich einen harten, einen richtigen Mann, der wirklich sehr gut erzogen war, der aber nicht auf sich herumtrampeln ließ. Der Rest war okay so. Denn an der Seite von Malewitsch hatte sie schon mehrere Morde mit angesehen. »Was soll ich jetzt mit dir anstellen?« fragte er. »Alles wie geplant«, stammelte sie, »es läuft doch alles gut.« Antonin konnte sich nicht entschließen. Er fragte sich, wofür er sie noch brauchte. Er hielt sie für aufrichtig, das war nicht das Problem. Antonin de
Messine konnte sich nicht eine Sekunde lang vorstellen, daß eine Frau, die ihm eine Liebeserklärung machte, nicht aufrichtig war. Unten auf der Küstenstraße war kurz das Heulen einer Sirene zu hören. »Ich hab Lust auf dich«, sagte Tatjana, »willst du?« Antonin steckte die Waffe in seine Bermudas, ging dann zu Han-nibals Leiche und faßte sie unter den Achseln. »Sammle die Patronenhülsen auf«, befahl er. Tatjana sah sich nun auf der Gewinnerseite. Während ihr Liebster die Leiche zur Klippe schleifte, schnappte sie sich einen kleinen Zweig, suchte die drei Hülsen zusammen und sammelte sie in ihrer Hand. Antonin war von dieser Situation, wie er sich hier den Rücken krumm machte und schuftete, allerdings gar nicht begeistert. Er empfand das als erniedrigend. »Die Hülsen«, forderte er, »steck sie ihm in die Tasche.« Tatjana gehorchte. »Schmeißt du ihn da runter?« 101 »Wieso? Hast du eine bessere Idee?« Nein, hatte sie nicht. Heute abend würde alles vorbei sein. Sie und er wären dann weit weg von hier. Reich und - schon bald -am anderen Ende der Welt. Antonin lud Hannibal auf seine Schultern, schwankte einen Augenblick unter dem Gewicht und schleuderte ihn dann soweit wie möglich hinaus. Der Körper prallte auf die Felsen, schlug ein paarmal auf, riß dabei einige Steine und Dornenbüsche aus der Klippe und verschwand dann, sehr viel weiter unten, in der weißen Gischt der Wellen. Tatjana spuckte Hannibal hinterher. »Gute Reise«, sagte sie. Antonin rieb sich die Hände, stemmte sie in die Hüften und musterte lange die junge Frau. Er fand sie verführerisch. Ganz besonders schätzte er diese Glut in ihren Augen. Vielleicht war das der Moment, der ihr das Leben rettete. »Zieh dich aus«, befahl er. Ihr Pareo fiel zu Boden, ebenso ihr Stringtanga, und de Messine nahm das Mädchen aufrecht an der Turmmauer. »Und er?« seufzte sie zu den Wellen, die gegen den Felsen brandeten. Er zog sich zurück, steckte eine Hand zwischen ihre Schenkel und drang voller Begierde erneut in sie ein. »Du weißt von nichts. Ihr wartet, bis er wiederkommt. Und er kommt nicht wieder.«
Tatjana krallte ihre Nägel in seinen Nacken. »Und wenn Kasimir trotzdem abreisen will«, stammelte sie, »auch ohne ihn?« »Dann schau, wie du klar kommst. Leg ihn um.« Sie schrie. »Und Pilon?« »Der ist so gut wie tot. Dank dir.« Tatjana klammerte sich an Antonins Schulter und bekam einen langen Orgasmus. Noch immer zuckend, sank sie auf die Knie und bemächtigte sich seines steifen Geschlechts, rieb es an ihrem Gesicht und nahm es komplett in den Mund, bis auch er kam. Nur wenige Meter entfernt, bei der Terrasse des runden Hauses versteckt, hatte Germain Pilon nichts von dem ganzen Spektakel verpaßt. Er hatte alles gesehen, alles gehört und absolut nichts 102 kapiert. Sprachlos und seit zwanzig Minuten wie gelähmt, hatte er die Fäuste so fest geballt, daß seine Handflächen schon bluteten. »Das war das letzte Mal, daß ich jemandem einen Gefallen getan habe«, murmelte er. 19 Ehrlich gesagt dachte ich an gar nichts, sondern konzentrierte mich ganz auf mein kleines Motorrad. Ich merkte, daß der Zweitakter in den schattigen Abschnitten der Straße besser funktionierte. Wahrscheinlich wegen der kühleren Luftzufuhr für den Vergaser. Alles andere wollte ich einfach abwarten. Es in aller Ruhe auf mich zu kommen lassen, während ich mich in die engen Kurven legte und fortwährend im vierten Gang fuhr. In Le Canadel schien die kleine Feuerwehrstation regelrecht zu brodeln. Jungs mit Schutzhelm liefen zu ihren Wagen, während ein Feuerwehrmann mit ausladenden Armbewegungen die Straße blockierte, um die Ausfahrt frei zu halten. Im Slalom kurvte ich durch die stehengebliebenen Fahrzeuge, bis ich zur langen Strandpromenade des Hotels Tropicana gelangte. Etwas später kam ich an der immer noch verschlossenen Kirche vorbei und hielt auf dem Parkplatz des Friedhofs. Alles war ruhig und absolut still. Nur eine ältere Frau jätete an einem Grab Unkraut. Sie hatte feuchte Augen und führte leise Selbstgespräche. Ich wollte mich am Grab meines Vaters ein wenig sammeln, denn ich wußte immer noch nicht recht, was ich von all dem halten sollte. Nur eines war sicher: Seinetwegen war ich plötzlich reich. Ich wußte nicht, ob ich ihm dafür dankbar sein sollte. Ich wußte nicht, ob sich mein
Leben dadurch ändern würde und ob ich noch die gleiche bleiben könnte. Ich starrte auf den Grabstein und durchforstete mein Gedächtnis nach Bildern von gemeinsam verbrachten glücklichen Tagen. Doch ich konnte keine glücklichen Erinnerungen finden. In meinem Kopf herrschte die absolute Leere. Ein ohrenbetäubender Lärm erschütterte den kleinen Friedhof. Ich hob den Kopf und sah den Hubschrauber, der wie aus dem Nichts gekommen war. Neben zwei Eiben, die sich unter dem Wind seiner Rotoren beugten, machte er eine Drehung und dann landete er, nur ein paar Meter vom Eingang entfernt, in einem Wirbel aus Staub. 103 Rembrandt sprang als erster heraus. Trotz seiner geringen Größe zog er unter den Flügelblättern den Kopf ein, während er mit einer Hand seinen Hut festhielt. Er ging über die leergefegte Straße, durchschritt das Friedhofsportal und näherte sich mir unter dem entsetzten Blick der alten Frau. »Schämen Sie sich denn gar nicht?« brüllte sie, um sich inmitten all des Lärms verständlich zu machen. »Tut mir leid«, antwortete Rembrandt, ohne sie auch nur eines Blickes zu würdigen, »Gerichtsbeschluß.« Als sie die beiden Gestalten sah, die ihm mit Seilen und Brechstangen bewaffnet folgten, griff sie sich mit weit aufgerissenem Mund ans Herz. »Sie wollen doch nicht ...?« »Doch!« bestätigte Rembrandt. »Seien Sie so gut und machen Sie den Weg frei.« Entschlossen schob er sie zur Seite, pflanzte sich vor mir auf und verschränkte die Arme vor der Brust. »Ein kleines Vermögen«, sagte er. »Wie bitte?« »Ich sagte, Ihr Vater hat Ihnen ein kleines Vermögen hinterlassen.« »Na und?« »Nichts und. Ich stelle nur fest. Und das, obwohl Sie ihn anscheinend nicht einmal gut leiden konnten.« »Sagen Sie mal, Rembrandt, ist das alles, was Sie herausgefunden haben?« Die Rotoren hörten auf, sich zu drehen, und die nun einsetzende Stille wog umso schwerer. Allerdings nicht lange, bis nämlich eine Fahrzeugstaffel der Gendarmerie anrückte und vor dem Portal parkte - unmittelbar gefolgt von einem schwarzen Megane mit einem Kennzeichen des Departements Var. Rembrandt ging auf die beiden uniformierten Gendarmen zu. Blueberry war nicht dabei. Der Ranghöchste der Polizisten trug nur zwei Winkel auf der Schulter. Sie diskutierten einen Moment lang, dann wurde die fassungslose alte Frau aus dem Friedhof gebracht und der Eingang abgeriegelt.
»Wir können anfangen«, befahl Rembrandt, der, umrahmt von seinen beiden Männern, auf mich zukam. »Kommt nicht in Frage!« jaulte eine Stimme mit leichtem englischen Akzent. »Warten Sie bitte!« 104 Sehr schlank, mit hellgrauem Anzug und getönter Brille hätte man den Mann auf etwa fünfzig geschätzt. Um den Hals trug er einen Camcorder, der kaum größer war als ein Taschenbuch. Der Mann stand auf Zehenspitzen und fuchtelte mit den Armen über die Dienstmützen hinweg, weil ihm der Weg versperrt wurde. Rembrandt warf mir einen fragenden Blick zu. »Wer ist denn dieser Clown?« »Keine Ahnung«, sagte ich und setzte mich erschöpft auf das Grab meines Vaters. »Maitre Bacon«, rief der Kerl entschieden, »ich vertrete die Interessen von Marguerite Tintoret. Ich fordere Sie auf, mich durchzulassen.« Rembrandt nickte den Gendarmen zu, die zur Seite traten, und der Anwalt trabte zu uns herüber. »Zeigen Sie mir den Gerichtsbeschluß!« befahl er, ohne zu grüßen. Rembrandt wühlte lange in der Tasche seiner Lederjacke und zeigte ihm schließlich ein von der Richterin unterzeichnetes Dokument, wobei er es kaum auseinanderfaltete. »Das ist ein Fax!« strahlte der Anwalt. »Das ist ungültig.« Ich hatte das Kinn auf die Unterarme gelegt und beobachtete Karottenkopf. Er kam mir ungewohnt ruhig vor. »Und wie wär's mit einem Tritt in den Hintern?« Ich zündete mir eine Zigarette an und dachte, daß jetzt alles wieder seine Ordnung hatte. »/ beg your pardon?« verschluckte sich der Engländer fast. »Ein Tritt in den Hintern?« wiederholte Rembrandt. »Gültig oder ungültig?« »Ich ...« »Nichts da. Sie stellen sich dorthin und halten die Klappe. Wenn Sie das Ganze filmen wollen, kein Problem. Aber jetzt will ich nichts mehr von Ihnen hören. Klar?« »Klar«, stammelte der Mann, der mit zitternder Hand seinen Camcorder nahm, »aber Ihnen ist hoffentlich vollkommen klar, daß Sie mir damit nicht so einfach davonkommen.«
Rembrandt ließ seine Wurstfinger knacken, seine Männer ließen die Schultern rollen und rückten näher. »Gehen Sie aus dem Weg!« schnauzte er mich an. Ich trat meine Zigarette aus, erhob mich und wandte ihm den Rücken zu. 105 Zwei Gendarmen stellten eine Bahre auf dem Boden ab, und dann begannen sie zu viert, die schwere Granitplatte zu verschieben. Hinter seiner dunklen Brille starrte Rembrandt mich eindringlich an, dessen war ich mir fast sicher. Ich hörte die Seile gegen den Sarg schlagen, dann ein paar kurze Befehle und das Ächzen der Männer, die sich anstrengten, den Sarg herauszuheben. Nach zwanzig Jahren würde ich das Gesicht meines Vaters wiedersehen. Der Sarg erlitt noch ein paar Erschütterungen, es gab noch ein paar Flüche, und dann, endlich, schnaufte ein Mann vor Erleichterung auf. »In Ordnung«, sagte Rembrandt, »machen Sie auf.« Etwas fast greifbar Drückendes hing in der Luft, ein seltsames Gefühl der Verlegenheit, und mit einem morbiden Quietschen drehte sich der Sargdeckel um seine Achse. Lange Zeit blieb es still. Zu lange. Ich drehte mich um. Alle standen wie gebannt mit offenem Mund um den klaffenden Sarg gedrängt. Rembrandt stand in der Mitte wie ein Gartenzwerg. »Verdammt noch mal ...«, brabbelte er. Mit trockener Kehle tat ich'einen Schritt nach vorn und verschaffte mir mit den Ellbogen Platz. Pech gehabt: Der Sarg war leer. »Ich weiß es nicht«, sagte Rembrandt in sein Telefon, »gut, Frau Richterin ... Wie? Ja. Ich kümmere mich drum. Ein BMW Coupe, metallic-grau, Pariser Kennzeichen. Mehrere Zeugen haben gesehen, wie sie miteinander gesprochen haben. Ich habe über die Präfektur eine Suchmeldung rausgeschickt, aber das kann natürlich dauern ... Ganz bestimmt, Mantegna hat eine Parasailing-Tour vor dem Cap unternommen. Anscheinend hat er dabei Fotos gemacht. Alles weist auf ... Tintoret? Ja. Das Bestattungsunternehmen. Die Person, die den Leichnam hergerichtet hat, ist nicht zu Hause ... Nein, kein Handy. Aber der Chef hat den Leichnam gesehen. Einverstanden ... Was soll ich mit der Kleinen anfangen?... Sind Sie sicher?... Gut. Und Malewitsch? ... Gut. Verstanden. Ich halte Sie auf dem Laufenden. ... Ich Ihnen auch. Meine Verehrung, Frau Richterin.« Rembrandt stopfte sein Telefon tief in seine Tasche und wandte sich an den Hubschrauberpiloten. 105
»Kennen Sie einen Platz in der Nähe des Caps, wo Sie landen können?« Der Pilot bejahte. Und erst jetzt nahm mich Rembrandt wieder wahr. »Was haben Sie mitgehört?« regte er sich auf und stampfte mit den Füßen auf den harten Boden des Parkplatzes, »meine Güte, was kommen Sie mir denn dauernd in die Quere?« »Hören Sie, Rembrandt, ...« »Commandant! Und jetzt werden Sie erst einmal mir zuhören! Ich hab hier einen Dreifachmord am Hals. Sie erinnern sich? Die Leiche Ihres Vaters ist verschwunden. Na und? Egal! Ich hätte sie benötigt, um Malewitsch zum Sprechen zu bringen. Und wenn schon! Dann gehen wir eben über zu Plan B. Schauen Sie zu, daß Sie Ihren Vater wieder auftreiben. Das würde mir etwas Luft verschaffen. Ist das klar, Lieutenant? Und jetzt verziehen Sie sich, oder ich lasse Sie in Polizeigewahrsam nehmen!« Rembrandt ging mit großen Schritten Richtung Friedhof, doch ich blieb ihm auf den Fersen. »Und wenn er gar nicht tot ist?« »Nicht tot! Sie träumen wohl. Zehn Leute haben seine Leiche gesehen.« »Vielleicht gibt es da etwas - ich weiß auch nicht, ein Mittel, um seinen klinischen Tod vorzutäuschen. Vielleicht könnte ein Arzt...« »Seinen Tod vortäuschen? Sie gehen zu oft ins Kino.« Ich hatte das tatsächlich in einem obskuren amerikanischen Schundfilm gesehen. Irgend so ein Typ war tot, und im nächsten Moment, allez hop, war er wieder in Höchstform, tadellos gekämmt und topfit. »Dann stecken die alle unter einer Decke«, sagte ich. »Myrtille, Sie sind verrückt«, seufzte Rembrandt und blieb mitten auf der Straße stehen. »Ich verstehe ja, daß Sie durcheinander sind, ja? Entschuldigen Sie bitte, wenn ich etwas grob zu Ihnen bin. Sie wären sicherlich sehr erfreut, wenn Sie Ihren Vater lebend wiedersehen könnten. Ich verstehe das. Aber seien Sie so gut: Kommen Sie wieder auf den Teppich. Fragen Sie sich doch mal, wer nach den ganzen Vorbereitungen zur Bestattung allein bei der Leiche geblieben ist, das wäre schon mal ein Anfang. Jetzt habe ich aber keine Zeit mehr zu verlieren. Die Richterin hat gesagt, ich soll Sie in Ruhe lassen. Ich lasse Sie in Ruhe. Also Abflug!« 106 »Und wenn es gar nicht er war, da am Strand. Wenn es der Körper von jemand anderem war ...« »Ihre Schwester hat ihn identifiziert. Und sie war nicht die einzige. Das wissen Sie ganz genau. Hauen Sie ab, bevor mir der Kragen platzt.«
Er schob mich unsanft zur Seite und ging zu den beiden Bullen in Zivil, die am Portal immer noch auf ihn warteten. Sie unterhielten sich kurz und gingen dann zum Hubschrauber zurück. Wie am Boden zerstört blieb ich regungslos mitten auf der Straße stehen. Ich wußte nicht einmal, ob unsere Verabredung für den Abend noch galt. Ich war unfähig zu denken. Marguerite zum Beispiel war allein mit dem Leichnam gewesen. Zusammen mit der Rotzgöre und meinem psychopathischen Neffen. Na und wenn schon? Selbst wenn sie die Leiche meines Vaters beiseite geschafft hätten, wozu das Ganze? Ich hatte nicht die leiseste Ahnung. Doch genauso leise wie hinterhältig flüsterte mir meine innere Stimme etwas anderes ein. Ein sechster Sinn wollte mir erklären, daß mein Vater sehr wohl noch am Leben war. Daß er aus irgendwelchen Gründen im Hintergrund die Fäden zog. Aber Tatsache war, daß ich mit leeren Händen dastand. Mit nichts anderem als dem dringenden Bedürfnis zu weinen. Urplötzlich brach der ganze Streß des Tages über mich herein. Und das, was ich schon viel zu lange entbehrt hatte, das war Zärtlichkeit. Ich wollte nur noch alles vergessen. Ich sehnte mich nach jemandem, der sich um mich kümmerte, mich in seine Arme nahm und mir sagte, es werde sich schon wieder alles fügen. Ich schnappte mir mein Handy und rief Antonin an. 20 »Soll ich dich abholen?« »Warte mal 'ne Sekunde ...« Ich hielt die Hand über das Telefon, während der Hubschrauber mit einem Höllenlärm abhob. »Stimmt was nicht? Du hörst dich an, als würdest du weinen.« Direkt über mir sah ich, wie Rembrandt mit seinen dicken Kopfhörern über dem Hut zerknirscht zu mir herabschaute, dann den Blick abwandte und in einem Riesengetöse hinter dem Bergkamm verschwand. 107 »Antonin, ich brauche dich.« Mit sanfter Stimme antwortete er, er werde auf mich warten. »Außerdem habe ich immer noch deinen Rucksack.« Angelockt von dem Lärm hatten sich ein paar Gaffer dem Friedhof genähert. Sie bildeten ein kleines Grüppchen, in dessen Mitte die alte Frau ihr Abenteuer zum Besten gab. Sie erklärte gerade, so etwas dürfe man nicht durchgehen lassen, einfach die Toten auszugraben, so etwas gehöre sich nicht. Als ich zu meiner kleinen Yamaha ging, schauten sie mich abschätzig an, als wäre ich die einzig Verantwortliche. »Und das Allerschönste«, hörte ich noch, »sie ist auch noch eine Ausländerin.«
Mit einem kräftigen Fußtritt ließ ich sie meine 125 Kubikzentimeter hören, dann rauschte ich ab zur Küste. Diesmal fuhr ich über die ehemalige Eisenbahntrasse. Das war ein in den Hügel gebaggerter Feldweg, auf dem ich niemandem zu begegnen glaubte. Irrtum. Nachdem die größte Hitze jetzt überstanden war, fielen die Leute in einem zweiten Schub über den Strand her. Ihrem schwankenden Gang nach zu urteilen, kamen einige mehr oder weniger direkt vom Mittagessen. Ich wurde ausgiebig angestarrt und bog schließlich vor Pramousquier, wo die Autos immer noch im Schrittempo fuhren, wieder auf die Landstraße. Der Platz vor dem Eingangsportal war ein einziger, brodelnder Hexenkessel. Mehr als zehn Journalisten, die ungeduldig von einem Fuß auf den anderen stampften, stürzten mit erhobenen Mikrofonen und Kameras auf mich los. Wie eine Bande aggressiver und aufgebrachter Hyänen, aber noch nicht tapfer genug, sich mitten unter die Löwen zu wagen. »Kennen Sie Rudolphe Tintoret?« »Angeblich verdächtigt die Polizei Leute vom Cap, mehrere Verfahren sollen eingeleitet worden sein, wissen Sie irgendwas davon?« Kommentarlos ging ich vorbei. Leonie erwartete mich vor der Loge, umzingelt von Kleinkindern vom Cap, denen sie irgendwas über die interne Hausordnung erklärte. Sie verließ ihre Rasselbande und kam mit sorgenvoller Miene auf mich zu. »Ahmed hat doch nichts angestellt?« fragte sie mich ohne Umschweife. »Die Polizei hat gerade nach ihm gefragt.« 108 Ich beruhigte sie, so gut ich konnte, und bat sie, mir den Weg zu Antonins Haus zu beschreiben. »Es freut mich, daß Sie ihn besuchen, das ist ein wunderbarer Junge.« Er war allein auf dem Anwesen seiner Eltern. Eine moderne Villa, nicht sehr weit von der meines Vaters entfernt, mit weiß gestrichener Betonfassade und riesigen Fenstern zur Bucht hin. Das stufenförmige Gebäude war von dichter Vegetation umgeben und bestand aus mehreren wie Würfel übereinander gestapelten Stockwerken. Dahinter, auf einem Hof voll unterschiedlichster Kakteen, stand Antonins Audi Quattro. Ich stellte mein Motorrad daneben und klingelte. Antonin war barfuß und mit Shorts und einem kurzärmeligen Lacoste-Hemd bekleidet. Er sagte nichts, sondern öffnete mir nur die Tür und winkte mich hinein.
Ich kam in ein überdimensioniertes, sonnenüberflutetes Zimmer, das über eine Verbindungsschleuse mit einem abgerundeten Swimmingpool verbunden war. Das Wasser plätscherte sanft vor sich hin, und ich fühlte mich auf der Stelle wohl. Das Mobiliar war schlicht, aber edel. Leder, Marmor und edle Hölzer, alles geschmackvoll im Raum verteilt. »Geht's?« fragte er. »Möchtest du was trinken?« Ich warf mich auf eine Couch und schaute aufs Meer hinaus. Antonin verschwand für einen Moment, Eric Clapton stimmte eine Ballade an, und ich schloß die Augen. »Sehr schön«, sagte Antonin und stellte ein Glas Fruchtsaft auf den niedrigen Tisch. »Also, was ist los?« Ich atmete tief ein. Doch es half nichts. Was für ein gelungener Witz. »Mein Vater ist nicht tot.« Er bewegte sich keinen Deut von der Stelle. Er stand da, die Hände in den Taschen, und warf mir einen Blick zu, den ich nicht deuten konnte. »Was hast du gerade gesagt?« Ich wiederholte es. Er drehte sich um, schob die große Glastür zur Seite und ging am Swimmingpool entlang bis zum Balkon, der über den abschüssigen Garten hinwegragte. Dann blieb er einen Moment stehen, 109 stützte sich auf die Balustrade und kam schließlich mit einer Zigarette zwischen den Lippen zurück. »Wie kommst du auf diese Idee?« fragte er und setzte sich neben mich. »Der Sarg war leer.« Er beugte sich vor und zog einen mattgläsernen Aschenbecher heran. »Was ist denn das für eine Geschichte, Myrtille?« »Ich weiß auch nicht. Ich brauche Schlaf. Läßt du mich ein Stündchen schlafen?« Er zögerte. »Ist dir eigentlich klar, was du da gerade gesagt hast?« »Ich weiß es ja auch nicht sicher. Es ist nur so eine Intuition. Bitte, frag mich nicht weiter.« »Sehr gut«, murmelte er, »wie du willst.« Er stand auf, reichte mir die Hand, führte mich durch einen breiten Flur und stieß die Tür zu einem Schlafzimmer auf, das ebenfalls zur Terrasse führte. In der Mitte hing ein Baldachin aus cremefarbenem Leinen. Ich setzte mich aufs Bett, schnürte meine Schuhe auf und pfefferte sie auf den gefliesten Boden. Antonin lehnte am Türrahmen und sah mir zu. »Eine Stunde«, flehte ich, »bitte.«
Ein krampfhaftes Lächeln zog sich durch sein Gesicht. Ich hielt das für Schüchternheit und klopfte auf die Steppdecke. »Komm«, sagte ich, »komm her, wenn du magst.« Er bewegte sich nicht. Er schien intensiv nachzudenken. »Vielen Dank, aber ich bin nicht müde.« Die Tür schloß sich leise hinter ihm, ich zog die Vorhänge zu und legte mich aufs Bett. Ich glaubte noch, das Flüstern seiner Stimme zu hören, war mir aber nicht sicher, und dann: Gute Nacht und süße Träume. Der Möchtegernjournalist Frederic Baboulene fluchte, das sei ja das Allerletzte, immer müsse so was ihm passieren und warum verdammt noch mal nie jemand neues Klopapier holte, nachdem das letzte Blatt verbraucht war. Er blieb bewegungslos auf der Kloschüssel sitzen und spitzte die Ohren. Kein Laut war zu hören. Plötzlich zuckte ihm der Gedanke durch den Kopf, daß ihm das eigentlich alles egal sein könne, denn 110 er war ja jetzt schließlich reich. Ohne es erklären zu können, war er ganz und gar von der Qualität der Fotos überzeugt. Mantegna mochte sich ja wie der letzte Abschaum aufführen, aber er hätte nie riskiert, ihm zu so einem Preis einfach irgendwas anzudrehen. Jetzt, da er wieder in der Redaktion zurück war, konnte er sich so etwas überhaupt nicht mehr vorstellen. Es gab eine Gerechtigkeit im Leben. Ein solcher Knüller war mehr wert als zehn Riesen. »Jaah«, bemerkte er in vornehmer Zurückhaltung, »Fred, du machst sie fett.« Nach vorn gebeugt schob er den Riegel zurück in der Hoffnung, in der mittleren Kabine Papier zu finden. Er hatte die Hose immer noch wie eine Ziehharmonika an den Knöcheln herunterhängen, als er rausging und trällerte: »Baboulene, du bist der Chef, Fred, du machst sie ...« Doch das Liedchen blieb ihm im Hals stecken. Drei Personen warteten schon auf ihn, dem Anschein nach alle äußerst wütend. Darunter auch sein Boss, der Verleger höchstpersönlich, der mit einem schwarz-weißen 16 x 18 großen Abzug drohend hin- und herwedelte. »Baboulene«, fragte er trocken, »was ist denn das für ein ekelhaftes Zeugs?« Der Journalist zog sich die Hose hoch, wobei er sich bei dem Versuch, mit einer Hand seine Männlichkeit zu verbergen, die Knie anstieß, dann stammelte er irgend etwas, das kein Mensch verstand, und schließlich blieb sein Blick, da man es ihm ja direkt unter die Nase hielt, unwillkürlich auf dem Foto kleben.
Ein Mann in Brink's-Uniform hatte darauf völlig verblüfft die Augen aufgerissen, während ihm ganz offensichtlich eine Kugel ein Loch in die Stirn bohrte. Alles in Großaufnahme. »Was soll denn dieser Scheiß?« wiederholte der Chef. »Dürfte man das wissen?« fragte sein Assistent. Alle vom gleichen Schlag. Die einzige Antwort, die Frederic Baboulene einfiel, war: »Ich kann nichts dafür.« Es folgte eine unangenehme Stille, während der der Verleger, ein kleiner Mann mit pockennarbigem Gesicht, sich fragte, ob er seinen Journalisten mit einem Schrauben- oder dem Universalschlüssel abmurksen sollte, doch er hielt sich zurück, weil ihm schlagartig etwas viel Wichtigeres in den Sinn kam. 111 »Und was sollen wir nun Ihrer Meinung nach auf der Titelseite bringen, Baboulene?« Der Journalist war ratlos. Er war zu sehr damit beschäftigt, sich eine gute Entschuldigung auszudenken. Aber dann kam die junge Sekretärin herein und rettete die Situation. Nachdem sie zuvor vorsichtig an der Tür geklopft hatte, schob sie ihr hübsches Gesichtchen in die Toilette. »Baboulene«, sagte sie schüchtern, »Sie werden am Telefon verlangt.« »Die sollen später nochmal anrufen«, kreischte der Chef, dessen Gesicht merklich röter wurde, »oder besser: Sagen Sie ihnen, daß Monsieur nicht mehr hier arbeitet. Erklären Sie denen, daß dieser kleine ...« »Um genauer zu sein«, antwortete die junge Frau und wandte sich in Richtung des Journalisten, »die Polizei möchte Sie sprechen.« »Die Polizei?« »Es geht um Ihren Wagen.« »Entschuldigen Sie bitte«, murmelte Frederic Baboulene und eilte in die Redaktionsräume, »ich bin gleich zurück.« Doch die kleine Schar blieb auf Tuchfühlung und folgte ihm bis zum mit Papieren übersäten Schreibtisch, auf dem der Telefonhörer bereits auf ihn wartete. Zum dritten Mal inspizierte das kleine Narbengesicht die Abzüge. Es waren Bilder eines Massakers von beeindruckendem Realismus, aufgenommen offenbar in einer Art Flughafenterminal, dann auf anderen Fotos das lächelnde Gesicht eines Playboys, der vor einem Motorrad posierte, und dann noch eine sagenhafte Blondine, aber leider kein hinreichend prominentes Gesicht, das für die Titelseite seines Schmierblatts in Frage käme. Frederic Baboulene legte den Hörer ans Ohr, und als der Kripobeamte am anderen Ende der Leitung ihn aufforderte, seine Personalien durchzugeben,
und ihn danach fragte, ob ihm ein metallic-grauer BMW gehöre, antwortete er mit ruhiger Stimme. Warum auch nicht. Es waren ja auch leichte Fragen. Doch als der Anrufer ihn schließlich fragte, ob er nicht ganz zufällig den Morgen in Südfrankreich verbracht hatte, fiel Baboulene sofort Mantegna ein. Plötzlich erschien ihm die Antwort weit weniger offensichtlich. 112 »Sind Sie noch da, Monsieur Baboulène? »Äh ... Südfrankreich?« »Wissen Sie, wo Lyon liegt, Monsieur Baboulene?« »Sehr gut.« »Nun, Südfrankreich ist alles, was unterhalb von Lyon liegt. Wo sind Sie heute gewesen?« »Entschuldigen Sie bitte, aber die Verbindung ist schlecht.« »Haben Sie jemandem Ihr Auto geliehen, Monsieur Baboulene?« »Ich kann Sie kaum verstehen.« Frédéric Baboulène geriet in Panik. Er hatte sich nichts vorzuwerfen, aber das ging zu weit. Dreitausend Euro verbraten für nichts? Dann die ganzen Anstrengungen der Fahrt, der Streß, der Flug, die Angst, seine Arbeit zu verlieren, und nun auch noch die Blicke, die seine sogenannten Kollegen auf seine zitternden Hände warfen - auch wenn es ihm noch nicht bewußt war, er hatte sich nicht mehr unter Kontrolle. Eine krankhafte Angst hatte ihn gepackt. Trotz der Klimaanlage im Büro liefen ihm dicke Schweißtropfen herab. »Monsieur Baboulène, ich muß Sie bitten, Ihr Büro nicht zu verlassen.« »Hören Sie, ich muß aufhören ...« »Sie bleiben, wo Sie sind, Monsieur. Ich komme sofort vorbei. Haben Sie das verstanden?« »Ich ...« »Sollte ich Sie nicht antreffen, Monsieur Baboulène, müßte ich Sie zu meinem Bedauern suchen lassen. Sie wissen doch, was das bedeutet, oder?« »Ja, ja ...«, stammelte der Mann. »Dann bis gleich«, sagte der Kriminalbeamte, der mit einer Hand den Hörer auflegte und mit der anderen Zeichen gab, man solle ihm so schnell wie möglich einen Dienstwagen besorgen. Baboulène legte auf. Er war ganz grün im Gesicht. »Also, Fred«, fragte ihn sein Chef, »was sind das nun für abscheuliche Fotos?« 112 21 Tatjana war immer noch am Leben. Folglich, dachte sie, liebte Antonin sie tatsächlich. Daran gab es keinen Zweifel mehr. Damit hatte die junge Frau einen weiteren guten Grund durchzuhalten. Sie hatte ihm zugesehen, wie er die Treppe hinabgestiegen war und seine Kleidung in Ordnung gebracht hatte, als wäre nichts geschehen. Als hätte
Hannibal nie existiert. Der Überfall vom Morgen war kaum mehr als eine Reminiszenz. Nur noch eine Erinnerung unter vielen, die sich in Gedanken systematisch, eine nach der anderen, aneinanderreihten, letztlich nur noch ein unwichtiges Detail, das bald ausgelöscht sein würde. Tatjana war so. Sie hatte in ihrem Leben so viel gelitten, daß sie nicht mehr zurückschaute. Ein einziges Mal, in einem Augenblick des Zweifels, hatte sie sich über die Felswand gebeugt. Sie hatte nur die Gischt gesehen, die gegen das Kliff schlug. Beruhigt hatte sie daraufhin den Anweisungen von Antonin gehorcht. Sie war heimgegangen. Ohne Eile. Alles war ganz normal. Sie kam einfach nur vom Strand zurück, - du solltest es auch einmal versuchen Kasimir, das Wasser ist himmlisch. Unterdessen lag sie allerdings auf den Knien und war an den Fuß ihres Betts gefesselt, ihr linkes Auge war auf die doppelte Größe an-und völlig zugeschwollen, und außerdem hatte Kasimir überhaupt keine Lust, sich über die Wassertemperatur auszulassen. Der Tschetschene hatte seinen Diamanten, der immer Spuren hinterließ, vom Finger gezogen. Er stützte sich auf die Frisierkommode, ohne auf das Durcheinander der auf dem Boden verteilten, zertrampelten Dinge zu achten. Der Stumme saß in einer dunklen Ecke des Zimmers in einem niedrigen Sessel und säuberte seine Fingernägel mit Hilfe eines Messers mit krummer Klinge, das er nur für besondere Gelegenheiten hervorholte. Man hätte sagen können, die Stimmung war gedrückt. Tatjana versuchte, die blutverkrustete Strähne wegzustreichen, die ihr auf die Nase fiel, aber sie schnitt sich die Handgelenke nur noch tiefer ein. Die Handschellen waren solide, davon verstand sie was. »Schade, du nicht reden«, sagte Kasimir Malewitsch. »Ich scheiß auf dich«, antwortete Tatjana. 113 Der Stumme stieß ein Knurren aus. Er ahnte schon, daß er sich hier noch blendend amüsieren würde. »Gut«, sagte der Tschetschene, »du spielen Schlaukopf, einverstanden.« Als erstes hatte er ihre Strandtasche durchsucht und die Revolvertrommel der kleinen Ruger 38 SP überprüft. Alle sechs Patronen waren unberührt an ihrem Platz, und daraus folgerte er ganz richtig, daß Tatjana ihre Waffe nicht auf Hannibal abgefeuert hatte. Das war immerhin etwas. Aber über den Playboy sagte das gar nichts aus. Und das nervte ihn aufs Äußerste. Der Tschetschene verachtete den Playboy. Dem allgemeinen Tratsch
zufolge schwänzelte er schon viel zu lange um Tatjana herum. Und ohne daß ihm das jemand erlaubt hätte. »Welchen Finger willst du?« Tatjana antwortete nicht, und Malewitsch gab Igor mit dem Kinn ein Zeichen. Das Fabelhafte an Igor dem Stummen war, daß er nie mit einem diskutierte. Er stand auf und ging dann neben der jungen Frau in die Hocke. »Welchen Finger?« wiederholte der Tschetschene. »Du kannst auswählen den ersten.« Tatjana biß die Zähne zusammen. Mehr konnte sie nicht mehr tun. Und sie wußte, das war erst der Anfang. Igor machte sie vom Fuß des Bettes los, und die schweren Handschellen fielen auf den Boden. Einen Moment lang dachte Tatjana daran, einfach hochzuspringen. Zu schreien, auf alles loszugehen, was sich bewegte, und dann wegzurennen. Aber sie war noch nicht bereit dazu. Sie hatte noch nicht genug Haß in sich aufgestaut. Und es war auch kein günstiger Zeitpunkt. Momentan rechnete Kasimir mit allem. Denn er kannte sie. Tatjana hatte ihre Draufgängerqualitäten. Also hob sie drohend den Mittelfinger. Steil und kerzengerade nach oben. »Gut«, sagte der Tschetschene, »einverstanden.« Anfangs spürte Tatjana kaum Schmerzen. Sie sah, wie sich ihr Finger einmal um sich selbst drehte und dann bis zum Kopfkissen hinüber flog. Als ihr das Blut übers Gesicht spritzte, fühlte sie ein erstes Kribbeln. Sie begann zu weinen, aber nur ein wenig. »Ich Frage wiederholen«, sagte der Tschetschene. »Wo ist Hannibal?« Tatjana schüttelte den Kopf. Ein Speichelfaden tropfte ihr vom Kinn. 114 »Am Strand«, stöhnte sie. »Ich hab ihn unten gelassen. Er war mit einer Frau zusammen. Einer Blondine.« »Falsche Antwort«, beschloß Malewitsch, »Hannibal schwul.« Der Stumme fuhr mit der Klinge seines Messers über seine Drillichhose. Das war ihm neu. »Und du«, kreischte Tatjana, die die Wut langsam in sich aufsteigen fühlte, »du bist ein impotentes Arschloch.« Da war was dran. Denn Malewitsch hatte die junge Frau niemals angefaßt. Er liebte es, ihr zuzuschauen und sie in den Armen Unbekannter zu sehen. Aus diesem Grund hatte er über ihrem Bett auch einen venezianischen Spiegel anbringen lassen. Von seinem Büro aus hatte er so einen perfekten Einblick. Er brauchte nur den Pollock von der Wand zu rücken. So auch heute morgen.
Aber da war er enttäuscht worden. Mit seinem schlaffen Geschlecht in der Hand hatte er sich gefragt, was Tatjana Pilon wohl schon seit fünf Minuten erzählen mochte. Deshalb hatte er auch den Stummen herbeigeholt, der ein Meister im Lippenlesen war. »Anderer Finger«, sagte er. Igor der Stumme war zufrieden. Ebenso wie Hannibal hatte auch er Tatjana nie riechen können. Das hatte irgendwas mit natürlicher Abneigung zu tun. Die junge Frau machte ihm Angst. Er war wie geschaffen, Menschen zu durchschauen. Er war ein Beobachter. Da er nicht sprechen konnte, hörte er zu. Er spionierte. Er analysierte. Er war ein sehr wertvoller Mitarbeiter für den Tschetschenen. Und er war sich des Fünkchens Wahnsinn, der Tatjana innewohnte, durchaus bewußt. Er hielt sie für gefährlich, hinterhältig und leichtsinnig, und infolgedessen konnte sie ihren üblicherweise so sorgfältig ausgetüftelten Plänen nur schaden. Igor packte ihr Handgelenk und drückte es auf das Laken, das sich sofort rot färbte. Er stemmte seinen Unterarm gegen Tatjanas Kehle, und während sie nach Luft schnappte, schnitt er ihr den Zeigefinger ab. Es ging weniger glatt als beim Mittelfinger. Die Hand drückte sich tief in die Steppdecke, und so mußte er öfter hin- und herschneiden. In seiner Begeisterung merkte er gar nicht, daß er ihr auch einen Großteil des Daumens abtrennte. Tatjana warf alle ihre Pläne über den Haufen. Als sie die Klinge auf ihrem Knochen fühlte, war ihr Instinkt stärker als ihr Wille. Sie brüllte, warf sich herum und biß zu. 115 Zu Beginn fühlte Igor nur einen warmen Hauch im Nacken. Er war so sehr in seine Aufgabe vertieft, daß ihn das zunächst nicht weiter kümmerte. Aber in der nächsten Sekunde hörte er ganz nah an seinem Kopf ein lautes Geräusch, so als ob man direkt neben seinem Ohr Stoff zerreißen würde. Er wandte sich zu ihr um und sah voller Entsetzen, wie sich sein Ohr in Tatjanas blutverschmiertem Mund hin und her bewegte. Voller Panik stieß er mit aller Kraft mit dem Messer zu. So verlor Tatjana nun auch ihr gesundes Auge. Das Blut ergoß sich wie ein sprudelnder Wasserfall überall dorthin, wo sie verzweifelt den Kopf hinbewegte. Der Stumme wich zur Wand zurück, ließ sein Messer fallen und preßte beide Hände auf seine Wunde, während die junge, nun praktisch blinde Frau in Richtung Tür kroch. Im Zimmer machte sich langsam Gestank breit. Eine Mischung aus Hämoglobin und Schweiß.
»Ich bring dich um«, röchelte Tatjana, die bereits mit dem Tod kämpfte, mit letzter Kraft. Der Stumme zischte als Antwort wie eine Viper, und Kasimir Malewitsch, der immer noch an der Frisierkommode lehnte, beschloß, daß er genug gesehen hatte. Er zielte mit dem Revolver, und Schlag auf Schlag dröhnten zwei Detonationen durchs Zimmer. Der erste Treffer zerriß Tatjana die Schulter und warf sie zur Seite, die zweite Ladung zertrümmerte ihren Oberschenkel. Danach setzte Stille ein. Es dauerte lange, bis alle wieder ihre Fassung erlangt hatten. »Gut«, sagte der Tschetschene. »Andere Methode.« Trotz meiner Erschöpfung weckte mich meine innere Uhr um 19 Uhr 15. Was mir gerade noch Zeit ließ, heimzufahren und auf Rembrandt zu warten, nur für den Fall, daß unser Rendezvous noch aktuell wäre. Das Haus lag vollkommen still, nur ein leichter Wind spielte in den Vorhängen. Ich stand auf, band meine Schuhe und ging aus dem Zimmer. Das Wohnzimmer war verlassen. Ich rief, bekam aber keine Antwort. Ich ging den Flur, der parallel zum Swimmingpool verlief, entlang und öffnete sämtliche Türen. Ich fand eine geräumige, perfekt eingerichtete Küche vor, die zum Garten führte, dann ein riesi 116 ges Eßzimmer, ein Bad mit Whirlpool, eine Sauna, weitere Schlafzimmer, aber keinen Antonin. Ich wollte gerade umkehren und hatte schon die Klinke in der Hand, als ich meinen Rucksack erblickte. Das Zimmer war blau tapeziert, in der gleichen Farbe wie der Teppichboden und die Bettwäsche. Mein Rucksack lehnte an einer Wand neben mehreren vollgepackten und verschlossenen Koffern. Ich ging einen Schritt näher, blieb dann aber mitten im Zimmer stehen. Antonin befand sich hinter mir, er stand stocksteif da, ich konnte sein Spiegelbild in der Fensterfront sehen. Nichts Ernstes, dachte ich zunächst, bis auf die Tatsache, daß er eine sehr große Waffe in der Hand hielt. Ruckartig drehte ich mich um, gleichzeitig versuchte er vergeblich, die Waffe hinter dem Rücken zu verbergen. »Ich hab ein Geräusch gehört«, stammelte er und versuchte das, was ich als Halbautomatik samt Schalldämpfer identifizierte, in seine Shorts zu stecken. Mir fehlten die Worte. »Man kann nie vorsichtig genug sein«, versuchte er einen Scherz. »Hast du gut geschlafen?« »Was du da hast, ist eine sehr gefährliche Waffe.« »Ich leide
unter Verfolgungswahn«, sagte er. »Mit Schalldämpfer.« »Mein Vater ist Sammler.« »Dein Vater sammelt Kriegswaffen?« »Könnte man so sagen.« Ich schnappte mir den Rucksack und ging zur Tür. Antonin stellte sich mir in den Weg. »Ich kann es dir erklären.« »Ach ja? Dann zeig mir mal die Waffe!« Jetzt trat er einen Schritt zurück. »Beruhig dich doch, ich will dir doch nichts Böses.« »Ich bin Polizistin, Antonin. Zeig mir die Knarre!« Er schüttelte den Kopf. »Warum willst du alles verderben, Myrtille?« »Ich weiß nicht, wovon du sprichst, Antonin.« Wir starrten uns einen Moment lang an, und im nächsten Augenblick, wirklich ganz kurz darauf, kassierte ich einen lupenreinen Kinnhaken. 117 Ich hatte ihn überhaupt nicht kommen sehen. Beim Boxen ahne ich normalerweise, wenn der andere zuschlagen will. Da ist ein kleines Leuchten in den Augen, ein leichtes Zittern der Nasenflügel, und sofort hebe ich meine Fäuste zur Deckung. Aber in diesem Fall: nichts davon. »Arme Irre«, glaubte ich Antonin zu hören, »du hast es so gewollt.« Ich versuchte, mich wieder aufzurichten. Doch meine Muskeln reagierten nicht, das Zimmer schien zu wackeln, ich sah nur noch blau. Ich hatte es gerade geschafft, mich auf die Ellbogen zu stützen, da erwischte mich sein Absatz voll an der Schläfe. Wie betäubt fiel ich wieder hin. Meine Hände suchten nach irgendeinem Halt, ich verbrannte mir dabei aber nur die Finger auf dem Teppichboden. Ich fühlte, wie mir die Sinne schwanden. »Du bist echt zu blöd«, knirschte er. Mir schien, als zöge er mich nun an den Haaren davon, aber sicher konnte ich mir nicht mehr sein. Die Wände zogen an mir vorbei, und ich hatte Lust, mich zu übergeben, aber in einem gewissen Sinn ging es mir doch gut. Ich war vollkommen entspannt. Der Teppichboden verwandelte sich in Fliesen, mein Kopf schlug ein paarmal gegen stumpfe Gegenstände, und dann spürte ich, wie er mich irgendwo nach oben zog. Immer noch war alles recht verschwommen. Ich fühlte mich durch und durch kraftlos. »Mir wäre die andere Methode lieber gewesen«, sagte er. Ich hielt wohl besser den Mund.
»Ist dir eigentlich klar, wozu du mich zwingst?« Ich beschloß, mich nur bei wichtigen Fragen zu melden. »Hörst du mir zu, du Miststück?« Ich öffnete die Augen. Ich befand mich auf der Couch im Wohnzimmer. Antonin saß direkt vor mir. »He? Hast du kapiert?« Ich dachte, daß Rembrandt schon auf mich warten würde ... »Was soll ich jetzt mit dir anfangen?« ... Aber hier wird er mich ganz sicher nicht suchen. »Oder vielmehr mit deinem Körper? Wo schaff ich denn nur deine Leiche hin, Myrtille?« Antonin hatte die Pistole auf den Tisch gelegt. Sie lag genau zwischen uns. Aber der Kolben zeigte zu seiner Seite hin. Und ich war ziemlich hinüber. 118 »Antonin«, stammelte ich. »Myrtille?« »Du mußt es mir erklären.« Ich starrte auf die schwarze Waffe. Hinten am Verschlußgehäuse war zweizeilig in Großbuchstaben eingraviert: MADE IN CZECH REPÚBLICA. »Hör auf, mich zu verarschen. Du weißt genau, was ich will.« Ich dachte noch, das ist ja die Höhe. Ich hatte doch von Anfang an nicht das Geringste kapiert. »Jetzt wirst du mir sagen, wo das Bild ist.« Das Bild. Natürlich. »Natürlich«, sagte ich. Er zündete sich eine Zigarette an, nahm seine Pistole und vergewisserte sich in aller Ruhe, daß der Schalldämpfer richtig aufsaß. »Ich warte.« Und ich, ich dachte, wir würden beide nicht bekommen, was wir wollten. DRITTER TEIL Abends Eines würde Patapouf ganz sicher nie machen: einen Hechtsprung von der Giraffe herunter. Gilbert Delahaye, Martine apprend à nager 22 Nicolas Poussin hämmerte zitternd auf die Tasten seines Telefons. »Commandant?« »Ich höre, Poussin.« »Im Haus wurden zwei Schüsse abgefeuert.« Ein paar hundert Meter vom Cap entfernt zeichnete Rembrandt mit dem schrägen Absatz seiner Santiag-Stiefel mechanisch etwas in den Sand des Parkplatzes - es war ein Lothringerkreuz. Hinter ihm versuchten zwei Männer mit nacktem Oberkörper, ein störrisches Lama wieder in den Käfig zu bekommen. Der Hubschrauber stand in der Nähe einer Gruppe Ziegen, die
von der Landung in Panik versetzt worden waren und sich noch nicht wieder davon erholt hatten. Man hatte in aller Eile eine Art Feldhauptquartier errichtet, während die Leute vom Zirkus, die vom Unfall des Direktors auf der Landstraße erschüttert waren, wortlos ihr Zelt abbauten. Erschöpft konzentrierte sich der Polizist auf den kümmerlichen Elefanten, der ihn aus stumpfen Augen verächtlich anblickte, dann strich er mit den Fingern seufzend über die Krempe seines Huts. »Präzise bitte, Poussin, was gibt's?« »Das Mädchen ist allein zurückgekommen. Keine Spur von dem Kleiderschrank. Zwanzig Minuten später hat's geknallt. Zwei Schüsse fast gleichzeitig. Gerade eben. Bestimmt aus derselben Waffe, bin mir aber nicht ganz sicher.« Rembrandt bewunderte die Zeiger seiner Uhr, eine antike Kelton, auf der Mickey Maus abgebildet war und die ihm sein Gruppenleiter vor fünfzehn Jahren zum Geburtstag geschenkt hatte. »Sie bleiben, wo Sie sind«, sagte er, »wir schlagen zu.« »Allein, Patron?« »Nein, Poussin, nicht allein.« Ohne Rembrandt aus den Augen zu lassen, stieß der Elefant plötzlich ein lautes Trompeten aus. Wahrscheinlich hatte er begriffen, daß hier etwas nicht stimmte. Um die Zeit war er sonst immer auf dem Weg in die Manege. »Was haben Sie gesagt, Commandant?« »Ich hab gesagt, daß Sie in Ihrem Versteck bleiben sollen.« »Und wenn die Bande rauskommt?« 119 »Wenn die Bande herauskommt, dann rühren Sie sich nicht, ist das klar, Poussin? Kein unnötiges Risiko.« »Zu Befehl, Chef«, sagte Poussin. Das war ihm gerade recht. Rembrandt überquerte den Parkplatz, rempelte zwei, drei Jungs an, die ganz gebannt vor dem Tiger standen, der an der Rückwand seines Käfigs schlief, und tippte dann Francois Boisrond auf die Schulter, einem seiner Lieutenants, der gerade damit beschäftigt war, denselben Journalisten bereits zum dritten Mal abzuweisen. »Und?« fragte er. »Wir haben etwa hundert metallic-graue BMW Coupes mit Pariser Zulassung ermittelt«, antwortete der junge Mann. »Eine Einsatzgruppe kümmert sich vor Ort darum. Mehrere Personen konnten schon identifiziert werden. Die Kennzeichen von Mantegnas Motorrad waren falsch. Der Seriennummer
zufolge stammen sie aus einem Laden in Toulon. Letzte Woche gekauft. Bar bezahlt. Von einem Typen, der etwa fünfzig Jahre alt ist. Um die Papiere wollte er sich unbedingt selbst kümmern. Der Name war ebenfalls falsch. Wir lassen bereits ein Phantombild durch unseren Zentralcomputer laufen.« »Und was sonst?« »Alles okay«, sagte Boisrond, »das Flugzeug ist gestartet.« »Haben Sie die kugelsicheren Westen angefordert?« »Ist erledigt.« Rembrandt machte kehrt, und auf dem Weg zum Hubschrauber zog er seine Dienstpistole, eine Manurhin 73, hervor, die unter seiner Achsel baumelte. Dann überprüfte er, ob das Magazin fest im Griff saß und steckte sie danach mit einer mechanischen Bewegung wieder in sein Fichepain-Lederhalfter. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite versank die Sonne schon fast hinter den Bergen. Gemächlich kehrten die Leute mit ihrem Sonnenbrand vom Strand zurück und schienen zufrieden, sich nun woanders, nämlich größtenteils irgendwo auf einem Campingplatz, zusammenpferchen zu können. Ein paar Neugierige streckten ihre Köpfe über die Oleanderbüsche, die den Parkplatz umgaben, weil sie das rege Hin und Her zwischen Zirkus und Polizeieinsatz angezogen hatte und sie ungeduldig in Erfahrung zu bringen suchten, welches Schauspiel man ihnen nach dem Abendessen bieten würde. Weiter hinten sprang ein übergewichtiger Junge begeistert Kopf voraus gegen den Bauch der aufgeblasenen Plastikgiraffe. 120 Rembrandt holte seine Leute zusammen, gab letzte Anweisungen und verordnete sich dann zehn Minuten Pause, während der sein Handy pausenlos klingelte. In aller Ruhe aß er ein Sandwich und bewunderte das Cap. Einige kleine Wellen kitzelten die Sohlen seiner Stiefel. Es war 19 Uhr 30, und in den Diensträumen der Gendarmerie von Le Lavandou kam ein Fax für ihn an. Die Gesichtsfarbe des Möchtegernjournalisten Baboulene hatte sich noch immer nicht verändert. Er hatte jegliche Fassung verloren, war einfach zusammengeklappt und in Tränen ausgebrochen. Unter dem konsternierten Blick seiner Kollegen ließ er sich inmitten der Redaktion auf die Knie fallen. Niemand half ihm auf. »Eine Welt voller Wölfe«, bemerkte sein Chef lapidar und warf ihm seine abscheulichen Fotos ins Gesicht. »Ich weiß ja nicht, was diese Inszenierung soll, aber es wirkt doch sehr realistisch.« Und sogar die Sekretärin mit dem hübschen Gesichtchen, die doch eigentlich als sehr sanftmütig galt, grinste vor Abscheu ganz hämisch.
»Armer Baboulene«, sagte sie und wandte ihm den Rücken zu. Sie hatten ihn einfach so zurückgelassen und waren wieder ihrer Beschäftigung nachgegangen, während er noch mit zuckenden Schultern halb unter dem Tisch lag, den Kopf zwischen den Unterarmen begraben. Denn alles zu seiner Zeit, und das Wichtigste zuerst. Das Hauptproblem bestand nun darin, für die Titelseite des wöchentlich erscheinenden Schmierblatts ein anderes Opfer zu finden. Baboulene wäre natürlich am liebsten im Boden versunken. Er dachte, das alles geschehe ihm ganz recht. Schon seit langem hatte ihn jeder spüren lassen, daß er ein Drecksack war. Ein Mistkerl. Sogar seine Mutter, die seine Werke regelmäßig beim Friseur las, hatte zu ihm gesagt, darauf brauche er ganz und gar nicht stolz zu sein. Und nicht einmal sein toller Sportwagen konnte an all dem etwas ändern. Und dann waren auch noch die Bullen aufgekreuzt, kaum mehr als zehn Minuten nach dem Anruf. Eine ganze Armee, mit und ohne Uniform. Einer hatte ihn unter den Achseln gefaßt und hochgezogen, während ein anderer ausrief: «Ho ho, Jungs, schaut euch mal diese Fotos an!« 121 Danach die Handschellen, der unendlich lange Marsch durch die Redaktionsräume, vorbei an den haßerfüllten Blicken seiner ehemaligen Kollegen. Er hörte sie förmlich tuscheln siehst du, ich hab's ja gesagt - dann folgte die Autofahrt, bei der er zwischen zwei völlig überdrehten Wachleuten eingeklemmt war, und als sie schließlich am Ziel angelangt waren, fühlte er sich hier an dieser Adresse 36, Quai des Orfèvres, im obersten Stockwerk der Brigade criminelle, wie im Kino. Baboulène hatte alle hundertfünfzig Stufen mitgezählt und war den Gang mit dem dunkelgrauen Linoleumboden mit gesenktem Kopf entlang gegangen, bis sie bei dem blauen Zeichen der Crim angelangten. Man hatte ihm die »Flossen« abgenommen, wie man hier die Fingerabdrücke nannte, und jetzt saß er in dem Zimmer mit den abgeschrägten Wänden und wartete. Sein Gegenüber, ein junger Lieutenant in Hemdsärmeln, betrachtete ihn wortlos mit vor der Brust verschränkten Armen. Er fragte sich, ob er ihn wohl ins 315 bringen und ihm den sogenannten »Teppich« verpassen sollte: Zigaretten und Kaffee im Büro der Chefin. Im Allgemeinen reichte das, um die meisten der Kunden hier weichzukochen. Aber vermutlich würde das gar nicht nötig sein. Baboulène war bereits reif, das hatte er im Urin. »Heute früh um acht Uhr«, fragte er, »wo warst du da?«
»Könnte ich vielleicht einen Rechtsanwalt sprechen?« entgegnete Baboulène mit sehr leiser Stimme. »Den kriegst du schon noch«, sagte der Bulle zähneknirschend. »Ich hab nichts getan. Ich war im Hotel.« »Hat dich im Hotel wer gesehen? Und um wieviel Uhr?« »Ich hab dort gefrühstückt, das können Sie nachprüfen.« »Das werden wir tun, Frédéric, das werden wir tun. Und Mantegna, was hast du mit ihm ausgeheckt?« »Er war es, der mir die Fotos verkauft hat.« »Und wer ist das auf diesen Fotos?« »Ich schwöre Ihnen, ich weiß es nicht.« »Du kaufst Porträts von Leuten, die du gar nicht kennst?« »Das war ein Versehen.« »Ein tolles Versehen, was?« »Es tut mir so leid, glauben Sie mir doch.« Der Bulle schaukelte auf seinem Stuhl nach hinten und verschränkte die Hände im Nacken. 122 »Und was genau tut dir jetzt leid?« Das wußte Frederic Baboulene auch nicht so genau. Vielleicht tat es ihm einfach leid, am Leben zu sein. »Ich verstehe es nicht«, sagte er. Der junge Lieutenant hatte keine besonders gute Laune. Als Vierter in der Rangfolge seiner Abteilung wurden die Vernehmungen immer ihm aufs Auge gedrückt. Es war schon spät, und daß er zu einer solchen Uhrzeit diesen Fall entwirren sollte, begeisterte ihn nur mäßig. Vor allem, weil Rembrandt, der hier »Bleistift« genannt wurde, am Morgen in den Süden Frankreichs gefahren war. Jetzt hatte er einige Verantwortung am Hals, und das zehrte ganz schön an seinen Nerven. »Was hast du gesagt?« »Nichts.« »Wie bitte?« »Ich hab gesagt, daß ich nichts gesagt habe.« »Und wo ist dein BMW?« »In Valence. Ich hab ihn am Flughafen stehen lassen.« Ohne weiteren Kommentar stand der Lieutenant auf und ging aus dem Zimmer. Baboulene bewegte sich nicht. Er murmelte irgend etwas zwischen seinen Zähnen hindurch. Eine lange Litanei, den Blick ins Leere gerichtet. Seine gefesselten Hände hoben sich ein paarmal, fielen dann aber wieder sachte auf seine Schenkel zurück.
Im Büro nebenan holte der Lieutenant die Fotos von dem Blutbad. Er wollte sie Baboulene unter die Nase halten, nur um seine Reaktion zu sehen. Auch wenn ihm irgendwie schon klar war, daß der armselige Wicht mit dem dreifachen Mord am Flughafen nichts zu tun hatte. Noch so ein Hohlschädel, den er weichzu-kochen hatte. Das war einer dieser Kerle, die sich mit ihrem Hugo Boss-Anzug ziemlich arrogant aufspielen und den großen Macker heraushängen lassen, der sich dann aber, wie viele andere vor ihm, auf diesem Stuhl schnell als totaler Waschlappen erweist. Baboulene war aufgestanden und hatte sich der Wand zugedreht. Er führte immer noch Selbstgespräche, doch seine Worte hatten weder Hand noch Fuß. Als der junge Lieutenant wieder zur Tür hereinkam, begann Baboulene auf die Wand zuzurennen. Er hatte einen Beschluß gefaßt. Er hatte die Schnauze voll vom Leben. »He!« rief der Polizist. 123 Frederic Baboulene legte all seine Kraft in die Waden, machte mit der Stirn voraus vier lange Sprünge, bis sein Schädel mit voller Wucht gegen die Kante eines Metallschranks krachte. »Scheiße«, stammelte der Bulle, während Baboulene zu Boden sank. Man ließ vom Krankenhaus den Notarzt kommen, der zwar in weniger als fünf Minuten eintraf, doch Frederic Baboulene, dreiunddreißig Jahre alt, starb während der Erste-Hilfe-Maßnahmen in den Armen eines Sanitäters. »Was hat er gesagt?« fragte der junge Polizist, der daneben saß. »Er hat gesagt, daß es ihm leid tut«, antwortete der Sanitäter und zog die Infusion heraus, die jetzt nutzlos geworden war. 23 »Du wirst entschuldigen«, bemerkte Antonin, »aber ich hab nicht den ganzen Tag Zeit.« Nach und nach kam ich wieder zur Besinnung. Meine linke Gesichtshälfte pochte schmerzhaft, und es bereitete mir höllische Qualen, den Unterkiefer zu bewegen. Jedenfalls war ich entschlossen, ihn so wenig wie möglich zu öffnen. Antonin hatte sich in aller Ruhe ein Glas Whisky eingeschenkt, ohne mir etwas davon anzubieten. Seine Hände zitterten ein wenig, aber ich wußte nicht, ob vor Wut oder vor Erregung. Mir gegenüber saß meiner Meinung nach ein durch und durch Geistesgestörter. Ich sollte also lieber vorsichtig sein. »Es geht darum, daß ich noch Geld bekomme«, sagte er.
Na los, Freundchen, erzähl mir dein Leben. Mir war zwar nicht ganz klar, was mir ein Zeitgewinn bringen könnte, denn das Haus war abgelegen, und schreien würde gar nichts nützen. Doch auf der Polizeischule hatte ich gelernt (und jetzt würde ich sehen, ob es stimmte): Je mehr sie reden, desto größer die Aussichten, bei ihnen eine Schwachstelle zu finden. In diesem Fall mußte ich wohl eher mit einem Abgrund rechnen. Antonin zeigte alle Anzeichen von Schizophrenie. »Viel Geld«, wiederholte er. »Wieviel verdienst du?« »Achtzelmhundert.« »Kümmerlich.« 124 Er klimperte mit dem leeren Glas auf dem niedrigen Tisch herum, dann spielte er wieder mit seinem Schalldämpfer. Der Drecksack sah wirklich sehr gut aus. »Eigentlich würde ich gern noch einen trinken, aber ich brauche einen klaren Kopf für später.« »Ich hab deine Koffer gesehen. Willst du verreisen?« Mitleidig schaute er mich an. »Du bist besser als Tatjana«, sagte er. Tatjana? Keine Ahnung, wer das war. »Ist das das Mädchen vom Flughafen?« Er seufzte. Wenigstens das hatte ich gecheckt. »Zum letzten Mal, Myrtille. Wo ist das Bild?« »Ich weiß nicht, wovon du redest. Ehrlich, Antonin, ich steh total auf der Leitung. Aber ich kann dir helfen. Ich hab genug von diesem Leben. Du hast mich vorhin richtig glücklich gemacht. Ich hab mich seit Jahren nicht mehr so wohl gefühlt.« Regungslos schaute er mich an, während sich in seinen Mundwinkeln ein verächtliches Lächeln ausbreitete. »Du hast gerade einen großen Fehler gemacht.« »Ich verstehe nicht.« »Ich verstehe nicht!« äffte er mich nach. »Du hältst mich wohl für einen Vollidioten. Das kann ich auf den Tod nicht leiden. Du redest hier nicht mit einem kleinen Jungen, Myrtille.« »Ich hab's ehrlich gemeint.« Er zögerte. Ich ließ ihm keine Zeit zu antworten. »Was war denn nun in diesem Aktenkoffer, Antonin?«
»Verdammt, Myrtille, nichts war drin. Der Koffer war leer. Dein Vater hat alle aufs Kreuz gelegt. Der Koffer war leer, der Sarg war leer, er sitzt irgendwo gemütlich rum und lacht sich einen Ast.« Ich atmete tief durch. Jetzt würde ich alles erfahren. Antonin hielt sich für Gott weiß was. Er mußte reden und mir beweisen, wie clever er war. »In dem Koffer hätte eigentlich dieses berühmte Gemälde sein sollen, oder?« »Ein Renoir, Myrtille. Von unschätzbarem Wert. Nirgendwo katalogisiert, aber echt. Eine dritte Version der Moulin de la Galette. Eines der Gemälde besitzt der Staat, das andere wurde 1990 für achtundsiebzig Millionen Dollar bei Sotheby's in New York versteigert. Dieses Gemälde ist von unschätzbarem Wert.« 125 »Achtzehnhundert Euro«, murmelte ich. »Wie?« »Soviel verdiene ich.« »Kümmerlich«, wiederholte er. »Willst du einen Schluck?« »Gern«, antwortete ich mit gleichgültiger Stimme, doch in der Gewißheit, Boden gut gemacht zu haben. Er stand mit der Waffe in der Hand auf und ging zu der kleinen Bar an der Wand. Er kam mit einem Glas und einer Flasche Jack Daniel's zurück. »Wieso hatte mein Vater dieses Gemälde überhaupt?« »Der Italiener«, schnaubte Antonin und ließ sich eher fallen, als daß er sich setzte. Ich schraubte den Verschluß ab und füllte erst sein, dann mein Glas. In aller Ruhe, denn es war vielleicht mein letztes. »Brunelleschi?« fragte ich. Antonin nickte. »Er hatte es deinem Vater für ein Gutachten anvertraut. Vor allem aber hätte dein Vater dank seiner alten Beziehungen als Auktionator einen Käufer auftreiben sollen. Aber ganz zufällig verschwindet er mit dem Renoir.« »Hat Brunelleschi dich engagiert, um das Bild wieder zu beschaffen? Hat er gewußt, daß es am Flughafen ankommen würde?« »Das war so geplant. Nur war der Koffer leer, Myrtille. Das ganze Unternehmen für die Katz. Und ich sitze in der Scheiße. Brunelleschi glaubt nämlich, ich hätte den Schinken.« Der Alkohol tat mir irre gut. Mein erster Tropfen seit zwei Monaten und sieben Tagen. Und sicher auch der letzte, daran bestand für mich nun kein Zweifel mehr.
»Und Malewitsch?« fragte ich, weil ich den Faden nicht abreißen lassen wollte. Antonin grinste. »Ihr habt das Magazin gefunden.« »CZ«, bestätigte ich, »das gleiche Modell, das du in der Hand hältst.« »Eine Idee des Italieners. Tatjana hat Malewitsch die Knarren geklaut. Für sie war es leicht, er hat ein ganzes Lager davon. Der Tschetschene ist ein ganz übler Bursche. Seine politischen Freunde lassen ihn gerade fallen. Wir wußten, daß er Frankreich verlassen würde.« 126 Ich seufzte. Rembrandt war ihnen voll in die Falle getappt. So hatten sie einen ganzen Tag gewonnen. Aber was spielte das jetzt noch für eine Rolle? »Die Polizei«, fing Antonin wieder an, »hätte sich so und so aufs Cap konzentriert, weil der Transport von Orozco finanziert wurde. Das einzige Risiko bestand darin, daß dein Vater irgend jemandem etwas davon erzählt hatte.« »Und du hast geglaubt, dieser Jemand wäre ich?« »Ich hab's tatsächlich geglaubt, Myrtille. Wegen dem Brief.« Sein Gesicht verzerrte sich erneut. Offenbar war ihm gerade wieder eingefallen, daß ihm nichts anderes übrig blieb, als mich umzulegen. Ich biß mir auf die Lippen, wie konnte ich nur so blöd sein. »Ihr laßt den Tschetschenen also davonkommen und hetzt ihm stattdessen die Polizei auf den Hals?« »Ursprünglich wollte Brunelleschi ihn beseitigen.« »Brunelleschi bringt Leute um?« »Dafür hat er jemanden. Ich weiß nicht wen. Brunelleschi hatte deinem Vater versprochen, sich um Malewitsch zu kümmern. Das war ein Teil der Abmachung.« Ich dachte an den Brief. Die alte Saphir-Geschichte. Ein Punkt, bei dem mein Vater nicht gelogen hatte. »Und wer war der zweite Mann am Flughafen?« »Ein Kerl aus der Gegend. Zuverlässig.« Und am Lenker seines Motorrads umgekommen, dachte ich bei mir. »Und was willst du jetzt tun, Antonin?« »Ich geh zum Schloß und hol mir meine Moneten, drei Millionen alte neue Francs.« Er wurde nervös. Ich beobachtete ihn, wie er sich auf der Couch wand und mit dem Schlitten seiner Halbautomatik spielte.
»Brunelleschi zahlt dir, was er dir schuldet, ohne das Gemälde zu kriegen?« »Die Hälfte hab ich schon. Seine Tochter wird mir den Rest geben. Sie ist in alles eingeweiht.« »Du erpreßt Angela?« »Sie wußte von Anfang an Bescheid. Ich hab mich abgesichert für den Fall, daß was schief läuft. Sie ist bereit zu zahlen, damit sie nicht zusehen muß, wie ihr verkrüppelter Vater den Rest seines Lebens hinter Gittern verbringt. Das ist wie beim Poker. Ich bin ein Spieler. Und ich habe gewonnen. Wie immer.« 127 »Und du glaubst, daß sich Brunelleschi das gefallen läßt?« »Möglicherweise.« Er stand auf. In dem Moment, als er der Fensterfront den Rücken zuwandte, glaubte ich, einen Schatten am Swimmingpool vorbeihuschen zu sehen. Wahrscheinlich reine Einbildung. Ich hielt meine Träume schon für Realität, und jetzt war wirklich nicht der richtige Zeitpunkt zum Träumen: Antonin entsicherte seine CZ. »Wer sagt dir denn, daß sie nicht bei der Polizei war?« »Angela? Dazu liebt sie ihren Vater zu sehr. Er steckt bis zum Hals mit drin. Wenn ich dran bin, ist er mit dran. Abgesehen davon: Stell dir mal den Skandal vor! Es war angenehm, mit dir zu plaudern, Myrtille. Ich finde dich sympathisch und sexy, aber ich habe nunmal andere Pläne.« »Hör zu, Antonin, beruhige dich doch. Ich hab keine Lust drauf-zugehen. Bitte.« Ich heulte wie ein kleines Mädchen. »Tut mir echt leid, Myrtille. Ein bißchen Würde, bitte, du verdirbst ja alles.« »Ich bin Polizistin. Das kannst du nicht machen.« »Das wirst du ja sehen«, sagte er. »Da gibt's nichts mehr zu sehen«, sagte eine Stimme hinter meinem Rücken. Antonin erstarrte. Zwar hielt er die CZ in der Hand, doch sein Arm hing schlaff herab. Er öffnete und schloß ein paarmal hintereinander den Mund, wie ein Fisch auf dem Trockenen. Ich sah alles wie in Zeitlupe. »Was wollen Sie denn hier?« stammelte er, ohne jedoch seine Waffe zu heben. Ich blickte mich um. In der Tür stand André Palladio, der Gutsverwalter, und richtete ein Jagdgewehr auf Antonins Bauch. »Wie sind Sie ...« »Ich hab Schlüssel für alle Anwesen. Bitte lassen Sie die Waffe fallen.« Antonin gehorchte nicht. Er war um zehn Jahre gealtert. Ich drückte mich ein wenig tiefer in die Couch. Das würde nicht gut gehen. Ich hatte das Gefühl, sie würden sich gegenseitig umbringen. Ich wußte es.
»Ist Ihnen eigentlich klar, was Sie hier tun?« stotterte Antonin de Messine. 128 »Sonnenklar«, antwortete André Palladio und drückte auf den Abzug. Die Scheiben erzitterten, Antonin wurde vom Boden gerissen und zwei Meter nach hinten gegen die Wand geschleudert. Er war außer Gefecht, aber am Leben. Ungläubig betrachtete er sein Bein. Der Oberschenkel war zerschmettert. Blutfontänen schössen kerzengerade in die Höhe, im Rhythmus seines Herzschlags. Ohne Transfusion und Druckverband gab ich ihm drei Minuten. »Helfen Sie mir«, stammelte er, »Sie Vollidiot.« Er war schon leichenblaß. Palladio kam näher, hob die Pistole auf und hielt ihm die Kanone an die Stirn. »Davon steht nichts in meinem Vertrag«, antwortete der Verwalter. »Warten Sie! Tintoret ist am Leben. Das ändert alles. Scheiße, Palladio, Sie sind verrückt. Holen Sie den Notarzt.« Ich richtete mich leise auf. Der explosionsartige Knall hatte meine Kopfschmerzen wieder zum Leben erweckt, aber meine Gliedmaßen waren alle abmarschbereit. Ich konzentrierte mich auf die offene Wohnzimmertür. Raus hier. Aufs Motorrad. Irgendwo anhalten. Dann Rembrandt anrufen. Und endlich eine ganze Woche schlafen. Hinter mir knallte irgendwo ein Champagnerkorken, und plötzlich schien Antonins Kopf an der Wand zu explodieren. »Ich empfehle Ihnen, hierzubleiben und Ruhe zu bewahren«, sagte Palladio. Ich war wie gelähmt. »Monsieur Brunelleschi hat Sie eingeladen, Sie erinnern sich?« Ich stützte mich mit beiden Händen gegen den Türrahmen. »Warum sollte ich die Einladung annehmen?« fragte ich. »Glauben Sie nicht, daß es allmählich reicht?« . »Es ist ihm sehr wichtig.« Ich wandte mich zu ihm um und sah ihm in die Augen. Sein Blick war leer. Was Antonin betraf, stellte ich ihm lieber keine Fragen. »Sie haben einen Menschen getötet, Andre.« Ich war überrascht, wie selbstbewußt meine Stimme klang. »Dafür werde ich bezahlt«, antwortete er. Er trug Gärtnerhandschuhe und einen Rucksack, der mir erst auffiel, als er das Gewehr auf die Couch warf. »Andre, ich bin Polizeioffizier. Legen Sie die Pistole hin. Sie haben mir das Leben gerettet. Ich werde aussagen, daß es Notwehr 128
war. Machen Sie die Dinge nicht schlimmer, als sie sind. Noch kann man alles aufhalten. Ihr Chef ist sowieso geliefert. Haben Sie verstanden? Das alles ist viel zu weit gegangen.« »Sie sind wirklich freundlich, Mademoiselle. Aber wenn Sie Wert darauf legen, Ihren Vater wiederzusehen, dann, bitte, kommen Sie mit. Dort hinten ist ein Badezimmer, machen Sie sich ein bißchen frisch.« »Meinen Vater?« »Genau davon habe ich eben gesprochen.« Ich versuchte nicht länger, das alles zu verstehen. Ich ging am Jagdgewehr vorbei und schloß mich im Bad ein. Die Farbe meines linken Backenknochens schwankte zwischen preußischblau und smaragdgrün. Palladio lehnte sich gegen die Tür. »Wir gehen jetzt zu der Soirée, Mademoiselle. Es versteht sich von selbst, daß Ihr Vater, falls Sie nur das Geringste ausplaudern sollten, keine Sekunde länger lebt. Ich lasse Ihnen Kleidung hier.« Ich hörte, wie er wieder ins Wohnzimmer ging, sperrte die Tür auf und schnappte mir den Rucksack. Brunelleschi hatte alles genau geplant. Er wußte, daß mein Vater noch lebte, er wußte, daß ich mich hier befand, er wußte, daß Antonin das Gemälde nicht hatte. Ich zog ein Kleid heraus. Ein langes, schwarzes Abendkleid. Ich schlüpfte hinein, ebenso in die hochhackigen Schuhe, die mitgeliefert worden waren. Ich stopfte meine Sachen in den Rucksack und ging wieder ins große Zimmer zurück. Palladio hatte nichts angefaßt. Der verunstaltete Antonin badete in einer Blutlache, während Palladio dessen CD-Sammlung studierte. Die CZ war verschwunden, sicher unter seinem Hemd. Ich vermied es nachzudenken. Ich nickte ihm zu, daß ich bereit war, ihm zu folgen. »Wenn Sie gestatten«, gestand er, »das Kleid steht Ihnen wunderbar. Sie haben die gleiche Größe wie Mademoiselle Angela.« Ich nahm das als Kompliment, und André Palladio sperrte die Eingangstür hinter sich zu. »Sagen Sie mal ganz ehrlich«, fragte ich ihn, »glauben Sie wirklich, daß Sie einfach so davonkommen werden?« »Machen Sie sich darüber keine Sorgen, es ist alles sorgfältig geplant.« 129 Tatsächlich wußte ich nicht, warum ich mir deswegen hätte Sorgen machen sollen.
Wir gingen die Allee hinauf und nahmen dann in dem kleinen Peugeot 206 Platz, der an der Straße im Schatten einer Hecke geparkt war. André gurtete sich an, ein Telefon in seiner Tasche klingelte zweimal, dann war Ruhe. »Ihr Motorrad holen wir später ab. Geht's? Alles in Ordnung?« »Alles in Ordnung. Ich hab mich nie besser gefühlt.« »Hab ich mir schon gedacht«, bemerkte er und schenkte mir sein schönstes Lächeln. »Alle sagen, daß Sie ganz große Klasse sind.« Eine Sekunde später kotzte ich die Reste der Goldbrasse auf das Armaturenbrett. 24 Rembrandts kleiner Citroen BX wäre in Höhe der ersten Kurve beinahe von der Fahrbahn geflogen. Im Wageninneren krallten sich alle irgendwo fest und bissen die Zähne zusammen. Die Reifen kreischten, und der Wagen kam mit der Motorhaube nur wenige Zentimeter vor dem Eingangstor zum Stehen. Rembrandt sprang hinaus, ließ die Tür offen stehen und drückte den Knopf der Gegensprechanlage, die in die Umgrenzungsmauer eingelassen war. Sogleich tauchte Léonies Gesicht hinter einer Glyzinienreihe auf. Seufzend gab sie den Öffnungscode ein. »Was ist denn mit Ihnen los?« fragte sie den kleinen Commandant, der auf sie zustürzte. Rembrandt überlegte kurz, stieß einen Fluch aus und rannte zum Wagen zurück. Er setzte sich ans Steuer, ließ den Motor aufheulen, fuhr bis zur Pförtnerloge und trat dann wiederum voll auf die ächzenden Bremsen. Er sprang wieder heraus, rannte um das Auto herum und rollte das Fax aus, das er über die Gendarmerie erhalten hatte. Trotz der schlechten Qualität des Ausdrucks war das Bild klar zu erkennen. Tatjana und der Playboy, dem er kürzlich vor dem Büro des Notars begegnet war, waren im Halbprofil neben einem großen Motorrad zu sehen. Eins der schönen Fotos des irren Nico, die in Baboulènes Redaktion gelandet waren. »Nun?« Léonie runzelte die Stirn. 130 »Das hätte ich nie gedacht«, wunderte sie sich. »Was hätten Sie nie gedacht?« »Daß die beiden was miteinander haben. Soll ich Ihnen was sagen? Ich bin enttäuscht.« »Namen!« verlangte Rembrandt. »Schnell!« »Na ja, das da ist die Kleine, die bei Malewitsch wohnt.«
»Das hab ich mir schon gedacht«, entfuhr es dem Polizisten. »Und der andere?« »Der andere? Also wirklich!« »Was denn?« »Das ist Antonin.« »Antonin?« »De Messine. Ein junger, charmanter Mann. Wohnt hier, dort die mittlere Straße entlang, dann das vierte Grundstück rechts. Hat er irgendwas Verbotenes gemacht?« »Wann haben Sie ihn zum letzten Mal gesehen?« »Vorhin. Wieso?« »Wo genau?« »Na hier. Er ist heimgefahren. Mit seinem Sportwagen. Ist das wichtig?« »Wann?« »Ich weiß nicht, vor ein paar Stunden. Was spielt denn das für eine Rolle?« »War er allein?« »Moment mal«, sagte Leonie. »Bin ich verpflichtet, all diese Fragen zu beantworten?« Rembrandt strich wieder mit den Fingern über seine Hutkrempe, was ein schlechtes Zeichen war. »Das sind Sie, Madame. Und ich werde Ihre Antworten genau überprüfen.« »Ach, tatsächlich?« wunderte sich Leonie. »Und warum?« Während er in seiner Innentasche herumtastete, starrte Rembrandt mit leerem Blick über Leonies Schulter. Dann hielt er ihr seinen Dienstausweis vor die Augen. »Was lesen Sie da?« fragte er. »Tut mir leid«, antwortete sie, und es war ihr sichtlich peinlich, »aber ich hab meine Brille nicht dabei.« »Alles klar«, sagte Rembrandt, der seinen Ausweis wieder einsteckte und seine Handschellen hervorholte, »Sie sollen Ihren Willen haben.« I SO Léonie schien zu überlegen. »Er war mit einer jungen Frau unterwegs. Sie werden verstehen, aber ich muß das Privatleben der ...« »Beschreiben Sie die Frau!« schnitt ihr Rembrandt das Wort ab. »Beeilen Sie sich!« »Braune Haare. Ja, daran kann ich mich erinnern, sie hatte braune Haare.« »Schlitzaugen?«
»Jetzt, wo Sie es sagen ...« Rembrandt rasselte mit den Handschellen. »War es vielleicht Myrtille Xiao irgendwas? Tintorets Tochter?« »Ach ja! Das war sie! Ganz genau!« Rembrandt schaute sich Léonie genau an. Er hätte ihr sehr weh tun können, hier und sofort auf der Stelle, aber er hatte keine Zeit. »An Ihre Kooperationsbereitschaft werde ich mich erinnern«, sagte er kalt. »Fürs erste rühren Sie sich nicht von hier weg. Wir werden uns bald wieder sehen, dann gehen wir alles nochmal durch. In aller Ruhe, bei einer guten Tasse Kaffe. Sie werden sehen.« »Wie Sie wünschen«, antwortete Léonie und drehte ihm den Rücken zu, »aber ich warne Sie. Ich bin eine verheiratete Frau.« Rembrandt setzte sich wieder ans Steuer, und während Léonie zum Hörer griff, legte er den ersten Gang ein. Auf den verschlungenen Wegen des Caps hätte er beinahe einen Jugendlichen über den Haufen gefahren, der Probleme hatte, auf seinen Rollerblades das Gleichgewicht zu halten. Ein alter Mann schimpfte ihm empört hinterher und notierte sich das Kennzeichen. Schließlich erreichte Rembrandts BX Antonins Grundstück, das noch in die Abgasschwaden von Palladios kleinem 206 gehüllt war. Die Türen sprangen alle gleichzeitig auf, und die vier Polizisten warfen sich geradezu gleichzeitig aus dem Wagen und zogen ihre Waffen. Rembrandt inspizierte das Wageninnere des Audi, dann deutete er seinen Männern mit einer kreisenden Handbewegung an, daß sie ums Haus herumgehen sollten. Er wartete derweil auf der Freitreppe, spitzte die Ohren und lauschte auf das kleinste verdächtige Geräusch im Haus, während sein Blick sich starr auf die kleine 125er Yamaha richtete. Doch abgesehen vom leichten Blätterrauschen der Bäume war alles ruhig. Er klingelte an der Tür, bekam aber keine Antwort, und nicht einmal eine Minute später kehrte sein erster Mann mit ernster Mie 132 ne zurück. Er mußte gar nichts sagen, sein Chef verstand ihn auch so. Sie überquerten den Hof und bahnten sich dann den Weg durchs Gestrüpp zum Swimmingpool. Die anderen hielten sich draußen in Bereitschaft und gingen an der geschlossenen Fensterfront in Schußposition. Dahinter war entlang der Wand der dahin-gestreckte Körper Antonin de Messines deutlich zu sehen. Um den Kopf herum zeichnete sich ein rötlicher Heiligenschein ab, und am Loch in der Stirn erkannten sie sofort, daß das auf der Couch zurückgelassene Gewehr nicht die Tatwaffe war.
»Das hätte ich mir denken können«, murmelte der kleine Com-mandant. Er steckte die Waffe ins Holster zurück, durchsuchte seine Taschen, streifte sich seine Latexhandschuhe über und öffnete mit einem Dietrich das Schloß. Mit den Waffen im Anschlag durchsuchten die Männer sorgfältig Zimmer für Zimmer. Ohne rund um die Leiche etwas anzurühren, fanden sie in einem Schlafzimmer die aneinandergereihten Koffer, in einem zweiten ein ungemachtes Bett. Außerdem entdeckten sie, daß die Dusche erst vor kurzem benutzt worden war. Im Wohnzimmer roch es immer noch nach Schießpulver, eine Mischung aus Barium und Antimon, die den Polizisten wohl vertraut war. Die Indizien drängten sich förmlich auf. Angefangen mit der Flasche und den beiden Gläsern, auf denen es von Fingerabdrücken mit Sicherheit nur so wimmelte. »Was machen wir, Chef, sperren wir den Tatort ab? Das ganze Zeugs liegt im Wagen.« »Sperrt ihn ab«, bestätigte Rembrandt, »und vergeßt ja nichts. Nehmt euch auch das zerwühlte Bett vor und das Bad. Die Seife, den Abfluß, einfach alles.« »Kein Problem, Chef. Und Sie? »Ich«, sagte er im Gehen, »ich knöpf mir Myrtille vor.« Inzwischen war die Sonne hinter den Hügeln untergegangen. Draußen auf dem Meer zog sich ein roter, zu rosa verblassender öliger Film über die stille See, deren Wasser sich nur noch von den wenigen in den Hafen von Le Lavandou heimkehrenden Segelbooten kräuselte. Als ich zum Swimmingpool kam, schien mir das Stimmengewirr deutlich leiser zu werden. Denn hier gab es nur wohlerzogene Menschen, und so erntete ich auch keine ungebührlichen Blicke. Entlang der Allee standen bereits etwa zwanzig Luxusautos 133 ordentlich eingeparkt, und weitere trafen noch ein. Am Buffet herrschte das übliche Durcheinander aus Kostümen, Abendkleidern, Champagnerflöten und diskreten Lachern. André Palladio packte mich am Arm und drängte mich in Richtung Küche. »Folgen Sie mir«, flüsterte er mir ins Ohr, »Sie werden erwartet.« Was du nicht sagst! Ich befreite mich aus seiner Umklammerung, ging auf die nächstbeste Gruppe zu und traf auf eine Frau reiferen Alters und zwei rüstige Rentner mit nagelneuem Gebiß. »Guten Abend«, sagte ich. Die beiden Typen ließen die Frau sofort links liegen, um sich mit meinem Dekollete zu beschäftigen. Es war zum Verzweifeln.
»Haben Sie nichts zu trinken?« wunderte sich der eine, ohne freilich auf den Gedanken zu kommen, für mich seinen Arsch in Richtung Buffet zu schieben. »Andre Dunoyer de Segonzac«, stellte sich der andere vor und gab mir einen Handkuß, »ich bin entzückt!« »Umso besser«, bemerkte ich und zog meine Hand zurück, »kennen Sie Philippe Orozco?« Rot vor Wut hatte sich Palladio an den Stamm einer Palme gelehnt. Er wollte damit wohl andeuten, daß ich nur unnötige Risiken einging, und das mit unabsehbaren Folgen. Ich streckte ihm den Mittelfinger entgegen, was wiederum der alten Schachtel ein empörtes Gackern abnötigte. »Was ist jetzt? Kennen Sie Orozco?« »Äh ...«, stammelten die falschen Zähne, »also, wir sind nämlich nicht vom Cap.« »Oh!« empörte ich mich entsetzt. »Arme Schlucker!« Ich ließ sie stehen und ging weiter zur Bar. Ein junger Mann mit Fliege eilte herbei, um meine Bestellung aufzunehmen. Ich verlangte einen Whisky und drängte mich einer anderen Gruppe auf. Eine Dame erzählte von all den Schwierigkeiten, die ihr auf dem Weg zu einem kleinen, typischen, einfachen, aber doch so reizvollen Restaurant widerfahren waren. »Das nächste Mal nehme ich den Range Rover. Mit dem BMW war es ein einziges Martyrium.« Die anderen fühlten mit ihr. »Philippe Orozco?« fragte ich einfach so in den Raum. »Sagt Ihnen das irgendwas?« 134 Eine Hand legte sich auf meinen Arm. »Mademoiselle«, sagte Palladio, »könnte ich Sie kurz sprechen?« »Auf dich scheiß ich«, antwortete ich mit meinem schönsten Lächeln. Er biß sich auf die Unterlippe. »Sie sollten nicht ...« »Zieh Leine!« Meine neuen Freunde rollten die Augen wie Billardkugeln. Ihnen war nicht klar, ob der Dialog bloß inszeniert war. Bei dem Italiener mußte man auf alles gefaßt sein. Palladio machte kehrt, rempelte wütend einen Gast an und verschwand im Haus. Halogenlampen am Fuß der Bäume ließen die Szene in gelbem Licht erstrahlen. Ich hatte gar nicht bemerkt, daß es Nacht geworden war.
»Ich glaube nicht, daß Sie uns schon verraten haben, wie Sie heißen«, bemerkte ein Mann. »Kann schon sein«, sagte ich, »kennen Sie Orozco?« Ich hatte das unangenehme Gefühl, mich zu wiederholen. »Und was wollen Sie von ihm?« Ich wußte, mir würde nur noch wenig Zeit bleiben. Ich schaute mich um und war überrascht, wieviele Leute mittlerweile eingetroffen waren. Ungefähr hundert Figuren trieben sich jetzt am Swimmingpool herum, der Großteil in kleinen Grüppchen. Manchmal drang ein Frauenlachen durch die Lärmkulisse, das ich als dasjenige meiner Schwester erkannte. Ich war erleichtert zu sehen, wie gut sie den Tod ihres Vaters inzwischen verkraftete. Die Rotzgöre und meinen psychopatischen Neffen suchte ich vergeblich. Wahrscheinlich hockten sie in einer dunklen Ecke und heckten eine Intrige aus. »Vergessen Sie's«, sagte ich und entfernte mich. Eine kleine Steinmauer begrenzte das Grundstück, das zum Meer hin steil abfiel. Darauf verteilt standen mehrere Windlichter, und Harfenklänge begannen an den Wänden des Gebäudes widerzuhallen. Brunelleschi wollte mich sprechen? Sehr gut. Ich würde den Stier bei den Hörnern packen. Ich ging zum Haus. In dem Moment kam Palladio wieder heraus, eskortiert von zwei Männern im Smoking, die zuerst das Gesicht verzogen und dann auf mich zukamen. Ich ballte die Fäuste. »Ich hätte Sie sofort wiedererkannt«, sagte eine Stimme hinter meinem Rücken. 135 Ich blieb auf der Stelle stehen, drehte mich um und stand vor einem lächelnden Mann mit leicht ergrauten Schläfen, doch mir blieb keine Zeit, ihn genauer zu mustern. »Philippe Orozco«, sagte er und gab mir einen kräftigen Händedruck. »Ich glaube, wir müssen uns ein anderes Mal unterhalten«, entschuldigte ich mich. Palladio war jetzt auf unserer Höhe, seine beiden Begleiter hielten sich einen Schritt zurück und hatten ihre Hände hinter dem Rücken verschränkt. Sie traten sehr selbstsicher auf und erschienen mir äußerst unsympathisch. »Sie müssen mit mir mitkommen«, forderte Palladio mich auf, »und das sofort.« »Was ist ...«, mischte sich Philippe Orozco ein. »Bitte mischen Sie sich da nicht ein«, schnitt ihm der Verwalter das Wort ab.
»Es könnte zu leicht passieren, daß er auf Sie schießt«, ergänzte ich. »Na, Palladio? Sag ihm, daß du eine große Knarre dabei hast.« »Diese junge Frau ist gefährlich«, verteidigte er sich, »glauben Sie mir, die Sicherheit am Cap ist ...« »Verschwinden Sie!« zischte Orozco. Plötzlich begriff ich, daß er keiner von denen war, die sich so leicht auf den Zehen herumtrampeln ließ. Ein paar Neugierige drehten sich nach uns um, und Palladio schien sich plötzlich nicht mehr sehr wohl in seiner Haut zu fühlen. »Vergessen Sie nicht, was ich Ihnen wegen Ihrem Vater gesagt habe«, zischte er mir zu. Ich zögerte. »Sie haben nichts zu befürchten«, erwiderte Orozco nachdrücklich. »Was fällt Ihnen überhaupt ein, Palladio?« »Eine Privatangelegenheit. Zum letzten Mal, Madernoiselle, kommen Sie bitte mit.« »Sie bleibt bei mir«, ordnete Orozco an. »Ich gebe Ihnen den guten Rat, uns in Ruhe zu lassen. Ihr Verhalten ist unverzeihlich. Das wird nicht ohne Folgen bleiben.« Na ja, dachte ich, tut alle doch einfach so, als wäre ich gar nicht da. Als ich weiter rechts zum Strand hin blickte, glaubte ich den Lichtstrahl einer Taschenlampe über den Sand hinwegstreichen zu sehen. 136 Die beiden Männer starrten sich lange an, dann gab Palladio nach. Begleitet von seinen beiden schicken Anzugträgern ging er schmollend und alles andere als zufrieden ins Haus zurück. »Sie haben es so gewollt«, drohte er, bevor er verschwand. »Ich hoffe, Sie wissen, was Sie da tun«, sagte ich zu Philippe Orozco. Er gab mir ein Zeichen, ihm zu folgen, ein wenig weg von den Leuten. »Was ich Ihnen zu sagen habe«, erklärte er, »geht nur uns beide was an.« »Ich höre.« »Es geht um Ihren Vater.« »Hab ich mir schon gedacht.« Er stellte ein Windlicht beiseite und setzte sich auf das Mäuerchen. »Er ist nicht in Le Rayol begraben«, sagte er mit einem Seufzer. Ich rührte mich nicht. »Ist das alles, was Ihnen dazu einfällt?« »Wo ist er?« fragte ich.
Er stützte sich mit den Händen auf der Mauer ab und schwang die Beine auf die andere Seite. »Da draußen«, sagte er und deutete in die Weite, »genau vor uns.« Ich sah nur das Dunkel der Nacht. »Da draußen?« »Bei den Inseln von Le Levant.« Schlau. Brunelleschi versteckte meinen Vater fernab vom Cap. »Und woher wissen Sie das?« »Ich selbst hab ihn heute morgen dort hingebracht.« Orozco war ein Komplize. Soviel war schon klar. »Kann ich ihn sehen?« »Das sollte mich wundern.« Was würde er im Austausch wohl von mir verlangen? Den berühmten Renoir, den ich nicht hatte? Würde er die gleiche Litanei herunterbeten? Aber warum widersetzte er sich dann Palladio? »Na gut, Orozco. Was wollen Sie?« »Ich? Nichts. Ich mußte es Ihnen einfach sagen. Es war sein letzter Wunsch.« »Sein letzter Wunsch?« »Er wollte auf offener See die letzte Ruhestätte finden. Vor den Inseln. Er hatte mich darum gebeten. Also habe ich ihn heute 137 morgen mit der Palourde hinausgebracht. Übrigens hat mich Ihr Kollege mit dem Gangsterhut bei meiner Rückkehr schon befragt. Einen Moment lang hatte ich schon geglaubt, es gehe um ...« »Wollen Sie damit sagen, daß mein Vater von Anfang an tot war?« Er sah mich an, als hätte ich ihm gerade einen Witz erzählt, der gar nicht lustig war. »Von welchem Anfang an?« Ich setzte mich neben ihn und schaute aufs Meer hinaus. Jemand hatte geredet. Jemand, der bei der Exhumierung dabei gewesen war. Und alle glaubten, mein Vater sei noch am Leben. Deswegen zerfleischten sich alle seit dem Nachmittag gegenseitig. Und Brunelleschi, der wollte mich offenbar nur verarschen. Er hatte gar keine Geisel. Alles ganz einfach. Heute früh war mein Vater tot, eines natürlichen Todes gestorben. Ein paar Stunden später war es Mord. Dann war er plötzlich am Leben. Und jetzt zurück an den Start. Wirklich nichts, weswegen man den Kopf verlieren müßte. »Wer weiß sonst noch Bescheid?« »Ein kleiner Totengräber. Ich hab ihm Geld gegeben. Gestern abend hat er mir Rodolphes Leichnam übergeben. Sie müssen Ihren Vater verstehen. Alles war
sehr kompliziert. Er legte Wert auf Diskretion. Und ich glaube nicht, daß er für Ihre Schwester sehr viel übrig hatte.« »Jetzt gibt's was auf die Fresse«, sagte ich. »Ihrer Schwester?« »Nein. Sie hätte es zwar verdient, aber nein. Ich nehme diese ganze Bude auseinander.« »Tut mir leid, aber das wird noch ein wenig warten müssen«, hörte ich Rembrandts Stimme. »Jetzt, meine Hübsche, drehst du dich ganz langsam um, und keine hektischen Bewegungen.« 25 Als die ATR 42 der Aerospatiale Punkt 21 Uhr in Toulon-Hyeres landete, scheuchte sie eine Schar von Möwen auf, die trotz aller Bemühungen des herangerückten Personals weiter auf der Landebahn vor sich hingeträumt hatten. Die Maschine setzte am Ende der Piste gegenüber dem Terminal auf, und die beiden Turboprop138 Triebwerke der Marke Pratt & Whitney waren noch nicht zum Stillstand gekommen, da hielt auch schon ein Ziviltransporter mit abgedunkelten Scheiben neben dem Flugzeug. Die Seitentür öffnete sich, als die Gangway an den Kabinenraum andockte, und man sah zunächst einen belgischen Schäferhund mit hellem Fell aussteigen, der von einem Mann mit athletischer Statur an der Leine geführt wurde. Danach folgten seine vierzehn Kameraden, die - in Anbetracht ihrer Kampfausrüstung, mit einer schweren Tasche in der einen und einem kugelsicheren Keramikschutzschild in der anderen Hand - sicher nicht gekommen waren, um sich hier zu amüsieren. An der linken Schulter trugen alle das gleiche Wappen. Ein schwarzer, im Sprung gestreckter Panther und vier Buchstaben: RAID - was für Recherche, Assistance, Intervention, Dissuasion (Aufklärung, Unterstützung, Intervention und Abschreckung) stand. Im konkreten Fall ging es trotz des großen Verhandlungsgeschicks der Sondereinsatzgruppe eher um eine Intervention. Im Gänsemarsch nahmen die Polizisten Kurs auf den Mannschaftswagen, alles funktionierte präzise wie ein Uhrwerk. Ihre Kampfausrüstungen waren ausgestattet mit Klettverschlüssen, Karabinerhaken, speziellen Maschinenpistolen mit sorgfältig austariertem Abzugsverhalten, mit Faustfeuerwaffen aller Art, die sie je nach der ihnen zugewiesenen Aufgabe selbst auswählten, mit verschiedenen Kommunikationshilfsmitteln, mit Hiebund Stichwaffen und verschiedenen Arten von hinreichend erprobter
Munition, und auch einigen Glücksbringern, die zwar nicht den Vorschriften entsprachen, aber stillschweigend geduldet wurden. Die Ausrüstung war ein ausgefeilter Kompromiß zwischen unumgänglichen Schutzvorkehrungen und der Notwendigkeit, bei Einsätzen schnell und flexibel reagieren zu können. Vom Kontrollturm aus beobachtete ein Fluglotse das Ganze durch ein Marinefernglas. Vor Staunen bekam er den Mund kaum noch zu. Unter seinen Augen marschierte die Zerstörung in Reinkultur auf. Der Tod in voller Einsatzbereitschaft, das Chaos, die Apokalypse, die Übermenschen, denen er selbst in seinen schlimmsten Fieberträumen nicht einmal annähernd ähnlich war. Im Gefolge einer Limousine mit blinkendem Blaulicht verließ der Transporter das Flughafengelände und folgte dann der Küstenstraße. Den zwei Gendarmen, die das Tor geöffnet hatten, hatte es vor Bewunderung die Sprache verschlagen. 139 Im Transporter fand eine letzte Lagebesprechung statt. Man ließ ein letztes Mal die Satellitenaufnahmen vom Cap herumgehen, die Ortspläne des Katasteramtes, die Fotoabzüge der Ziele, die sie neutralisieren sollten, sowie die Unterlagen über die CZ-Bewaffnung und das Alarmsystem des Zielobjekts. Vor der Gruppe stand einer der Männer und ging noch einmal kurz und präzise alle notwendigen Informationen durch. Normalerweise begaben sich die Männer von RAID vor jeder Operation an den Ort der Intervention, verschmolzen dort mit der Menge, ließen die Atmosphäre auf sich wirken, beobachteten und belauschten das Umfeld. Aber nicht dieses Mal. Drei Stunden zuvor hatte das Telefon geklingelt, und das Büro des obersten Polizeichefs hatte unverzüglich die Nummer Eins des Sonderkommandos zu sprechen verlangt. Und jedem war klar gewesen, was das bedeutete. Die erste Gruppe hatte alle Vorbereitungen getroffen, während die folgende sich umgehend in Alarmbereitschaft versetzte. Die Maschinerie der Planierwalze hatte sich in Gang gesetzt. Alles weitere hatte man im Flugzeug erfahren und abgestimmt. In Le Lavandou schaltete die Limousine erstmals die Sirene ein, und die Autofahrer machten den Weg frei. Alle wußten, der Zielort war nicht mehr weit. Es wurden keine Blicke mehr gewechselt, jeder spulte noch einmal vor seinem geistigen Auge den Film seiner Mission ab. Im Hintergrund waren leise die Bässe eines Songs der irischen Band U2 zu hören. Mit den Kopfhörern in den Ohren bewegte Francis Gruber den Kopf heftig im Takt.
Niemand hatte mehr etwas zu sagen. Nicht einmal der Chef. Die RAID hatte zwar grundsätzlich eine strenge Hierarchie, doch bei einem Einsatz verwischten sich die Dienstgrade. Jeder hatte so seine kleinen Schrullen vor dem Gefecht. Francis Gruber war der Sprengstoffspezialist. In der Gruppe hatte jeder seine Vorlieben. Er zum Beispiel stand auf Zündkapseln und Granaten. Diesmal hatte er das ganze Sortiment dabei. Leucht-, Multiblitz-, Multiknall-, Blend-, Spreng- und Rauchgranaten. Francis Gruber liebte seinen Beruf. Er bedauerte nur, daß er nicht darüber reden konnte. Schließlich trainierte nicht jeder auf einem Vergnügungsboot oder einem TGV bei Höchstgeschwindigkeit. Aber Überheblichkeit zählte nicht zu seinen Fehlern. Er war ein in jeder Hinsicht bewundernswerter und vielseitig talentierter Mann, und seine Leute vertrauten ihm blind. Wenn man lange genug hätte 140 suchen wollen, wäre einem vielleicht sein Mangel an Humor aufgefallen. Francis Gruber lächelte grundsätzlich nicht. Seit seinem Wechsel auf die Militärschule von Autun hatte er diese Fähigkeit verloren. Schon seit einigen Jahren hatte nichts und niemand ihn mehr erheitern können. Sein Gesicht verriet keinerlei Gefühlsregung. Ob er nun einen Menschen tötete, oder ob man ihn unter den Achseln kitzelte, seine Haltung blieb stets dieselbe, ebenso wie die Querfalten auf seiner Stirn. Nur zwei Lieder später befand sich der Konvoi am offenen Portal zum Cap. Leonie stand am Eingang und ließ ausschließlich die geladenen Gäste passieren. Tatsächlich hatten auch wenige Auswärtige die erforderliche Einladungskarte erhalten und standen nun mit ihren Boliden Stoßstange an Stoßstange mit anderen protzigen Cabriolets. Das Fest im Schloß war ein größeres Ereignis als jeder Empfang in Saint-Tropez. Hin und wieder bat Leonie jemanden diskret um ein Autogramm, angeblich für ihre Großnichte, die doch eine so große Bewunderin sei. Sie hatte gerade Julien Clerc durchgelassen, als sie die Limousine einbiegen sah. Aber ihr blieb keine Zeit, lautstark zu protestieren. Ein Riesenkerl im Straßenanzug kam aus dem Nichts, packte sie am Arm und zog sie in den mit Glyzinien bedeckten Innenhof. »Polizeioperation«, sagte er und zeigte ihr kurz seinen Ausweis, auf dem die Trikolore prangte. »Und ich bitte Sie dringend um absolute Diskretion. Sind wir uns da einig? Madame ...?« »Palladio«, sagte Leonie. »Dürfte ich fragen, auf welches Grundstück Sie ...« »Nein, das dürfen Sie nicht, Madame Palladio. Schönen Abend.«
Der Mann verschwand, wie er gekommen war, und Leonie schaute dem Konvoi nach, der hinter der ersten Biegung verschwand. Wieder einmal griff sie zu ihrem Telefonhörer. Langsam wurde das zur Gewohnheit. Beim zweiten Klingeln ging Rembrandt ran. Mit finsterem Blick befahl er mir, mich ja nicht zu bewegen. Gerade war Julien Clerc angekommen, und die Begeisterung erreichte einen neuen Höhepunkt. Sogar bis hierher hörte ich noch das gackernde Lachen meiner Schwester. »In Ordnung, Poussin«, bellte Rembrandt, »sag ihnen, ich bin schon unterwegs.« Er steckte sein Handy ein, würdigte Orozco keines Blickes und 141 tastete mich oberflächlich ab. Die Leute in der Nähe begannen allmählich, sich ernsthaft Fragen zu stellen. »Keine Waffe?« fragte er. »Was hat das alles zu bedeuten?« mischte Orozco sich ein. »Sie, Herr Matrose, Sie halten den Mund. Und was dich betrifft, du bist verhaftet. Ich hab dich gewarnt. Wenn du einen Skandal vermeiden willst, dann komm mit.« Die Dinge liefen wirklich gut für mich! Irre. Wir ließen Philippe Orozco nachdenklich auf seiner Mauer sitzen und zwängten uns durch die Menge bis zur Lorbeerallee. Angela Brunelleschi unterhielt sich mit einer Rotte schöner Jünglinge, die mit schnellen Blicken die Umgebung absuchten, um sich zu vergewissern, daß sie auch tatsächlich in Angelas Gesellschaft bemerkt würden. »Sie sieht besser aus als im Fernsehen«, sagte ich. In ihren Augen allerdings lag eine grenzenlose Trauer. Sie begnügte sich mit einem Nicken, in Gedanken war sie ganz woanders. Ängstlich beäugte sie alle Neuankömmlinge. Aber Antonin würde nicht kommen. Obwohl. So wie die Dinge standen, mußte ich mit allem rechnen. Schließlich mußte ich Rembrandt einen Stoß geben, damit er weiterging. »Wollen Sie sie nicht um ein Autogramm bitten?« »Mach nicht alles noch schlimmer«, zischte er. Wir kamen an einem der beiden Smokings vorbei, die vorher Palladio begleitet hatten, und ich signalisierte ihm, daß er eben einfach Pech gehabt habe. Wenn sie vorhatten, mich kaltblütig umzulegen, so mußten wir das auf ein anderes Mal verschieben. »Dürfte ich vielleicht wissen, was Sie mir eigentlich vorwerfen?« fragte ich Rembrandt.
»Den Mord an Antonin de Messine. Du wirst mildernde Umstände bekommen, denn er gehörte zu dem Kommando heute morgen am Flughafen.« »Bravo! Das hab ich auch schon gewußt.« »Du hältst jetzt besser die Klappe, meine Kleine, ich hab keine Zeit mehr zu verlieren.« Wir erreichten seinen BX, der zwischen einem Jaguar und einem AstonMartin eingeklemmt war. Eigentlich hatte ich keine Lust, mir das weiter bieten zu lassen. 142 »Palladio hat Antonin umgebracht«, petzte ich, »ich war dabei.« »Kein Wort mehr«, befahl er. Ihm stand ins Gesicht geschrieben, daß er momentan geistig nicht sehr beweglich war. »Sie machen eine ziemliche Dummheit, Rembrandt.« Er öffnete die Autotür und zwang mich einzusteigen. Ohne mich aus den Augen zu lassen, ging er um das Auto herum und setzte sich ans Steuer, wühlte in seinen Taschen und holte eine Rolle Klebeband hervor. »Links- oder Rechtshänderin?« »Rechtshänderin. Sie verlieren nur Ihre Zeit.« »Her damit.« Ich streckte ihm die Hand hin, er nahm von allen Fingern Abdrücke, legte das Ganze in eine Plastikschachtel und ließ sie in seiner Tasche verschwinden. Ein echter Zauberkünstler. »Wenn wir auch nur die geringste Pulverspur finden ...« »Palladio hat Antonin getötet«, wiederholte ich, während er den Motor startete. »Papa Brunelleschi zieht hier alle Fäden. Es geht um ein Gemälde. Malewitsch hat eine reine Weste. Sie sollten auf mich hören, Rembrandt.« »Ich weiß nicht, wie tief du in dieser Sache mit drin steckst«, murmelte er, während er sich aus dem Parkplatz quälte, »aber du hast mich tüchtig an der Nase herumgeführt.« In Schrittgeschwindigkeit fuhren wir zum Eingangsportal. Rembrandt wollte der Wahrheit nicht ins Gesicht sehen. Er war auf Malewitsch fixiert und blendete alles andere einfach aus. Ich streifte meine hochhackigen Schuhe ab und zerriß mein Kleid der ganzen Länge nach. »Was soll das?« fragte er und glotzte auf meine nackten Schenkel. »Du glaubst doch nicht, daß ...«
»Glauben Sie mir, Rembrandt. Ich bitte Sie. Wenn Sie nichts unternehmen, geht Ihnen Brunelleschi durch die Lappen. Heute abend will er verschwinden.« Karottenkopf bremste ab und schaltete in den Leerlauf. »Seit heute früh spielst du die große Unschuld, Myrtille. Ich treffe dich bei einem Raubüberfall, du erbst eine Riesensumme, du behauptest, hier keinen Menschen zu kennen, aber alle kennen dich, du gehst mit de Messine Mittagessen, wie ich sehr wohl erfahren habe, und später wirst du noch einmal in seiner Begleitung 143 gesehen, danach ist er tot. Und jetzt tischst du mir alles Mögliche auf. Dein Motorrad steht bei ihm. Du bist also jetzt lieber ganz still, Myrtille. Und hör auf, dich auszuziehen, damit erreichst du bei mir gar nichts.« »Bin ich blöd«, sagte ich, »diesen Poussin hab ich ja ganz vergessen.« Verständnislos kratzte er sich am Kopf. »Poussin ist ein Mitarbeiter. Ich weiß gar nicht, warum ich mit dir überhaupt herumdiskutiere. Das kannst du von mir aus später alles der Richterin erklären, ich will nichts mehr hören. Ist das klar? Ich hab die Schnauze voll von deinen Hirngespinsten. Wir führen hier heute abend noch eine große Operation durch.« Ich sagte nur noch: »Ja, natürlich, Rembrandt, ich hab verstanden.« Und dann sprang ich aus dem Wagen. Rembrandt fluchte, und ich zischte ab wie ein geölter Blitz. Spätestens jetzt verstand er wahrscheinlich auch, warum ich mein Kleid zerrissen hatte. Ich flitzte die endlose Treppe zum Turm hinauf, Rembrandt mit seinen spitzen Stiefeln mir auf den Fersen. Aber nicht lange. Er gab bald auf. Ich wußte es zu diesem Zeitpunkt nicht, aber er wurde woanders erwartet. Und wenn am Cap auch nur ein Schuß gefallen wäre, hätte das seine ganze Operation gefährden können. Vor allem, weil er jetzt völlig verunsichert war. Er hatte die RAID herkommen lassen, nun mußte er das Ding auch durchziehen. Ich glaubte sowieso nicht, daß er auf mich schießen würde. Rembrandt mochte mich. So wie er auf meine Beine geschielt hatte. Ich brauchte nicht einmal bis ganz nach oben zu laufen. Als ich auf halber Höhe angelangt war, hörte ich ihn schon wegfahren. Ich überlegte nicht lange, sondern rannte sofort wieder hinunter. Eines war klar, denn inzwischen nahm ich das alles persönlich: Ob mit bloßen Händen oder mit den Zähnen, nun würde ich mir den Alten krallen. 26
José di Rosa war ein netter Mensch. Ein sympathischer und ehrlicher Handwerker, der seit fast zwanzig Jahren in dieser Gegend seinen Lebensunterhalt verdiente. Der verheiratete Vater zweier 144 ausgeglichener Kinder betrog seine Frau nicht, betrank sich nur sehr selten, und seine einzige Schwäche war ab und zu ein heimliches Lottospielchen. Ein aufrichtiger Mann, der wegen seiner Ernsthaftigkeit und seiner Sorgfalt bei der Arbeit sehr geachtet war. José di Rosa war ein netter Mensch, außer man hielt ihn für einen Trottel. In dem Punkt war er empfindlich, was wohl an seinem spanischen Blut lag. Und wenn man mit ihm umsprang wie an diesem Morgen, und das auch noch mit einem Gewehr in der Hand, dann sah José di Rosa rot. Es gab bestimmte Grenzen, die man bei ihm besser nicht überschritt. Sonst konnte es gefährlich werden. Im Moment marschierte er mit einer Sporttasche über der Schulter entschlossenen Schritts am Strand von Cavalière entlang. Den Weg leuchtete er mit einer Maglite ab, die ihm notfalls auch als Knüppel dienen konnte. Dicht hinter ihm folgten Luis und Tonio, seine jüngeren Brüder, dem Lichtstrahl. Sie hatten praktisch identische Taschen. In den Taschen hatte jeder sorgfältig eine pump gun verstaut. Die drei Brüder hatten neue Schrotpatronen geladen, jene großen Stahlkugeln, die man manchmal in den Filmen im Fernsehen zu Gesicht bekam, und die in einer Garbe abzischten und allem den Garaus machten, was sich ihnen in den Weg stellte, selbst Türen. Nicht sehr präzise, aber auf kurze Entfernung absolut tödlich. Die drei Männer waren keine Killer, und die Gewehre hatten nie zu etwas anderem gedient, als Konservendosen tanzen zu lassen. Sie hatten sie zusammen in einem Waffengeschäft in Marseille gekauft, an dem sie zufällig vorbeigekommen waren. So wie es eben jeder tut, und nur für den Fall der Fälle. Normalerweise waren sie ja fürs Verhandeln. Sie wußten, daß Gewalt wieder Gewalt erzeugt, und die wenigen Male, bei denen sie mit kritischen Situationen konfrontiert gewesen waren, hatten sie die Erfahrung gemacht, daß allein die Tatsache, zu dritt aufzutreten, oft schon das ausschlaggebende Argument gewesen war. Doch diesmal war es anders. Malewitsch war eindeutig zu weit gegangen. Ihren Pritschenwagen hatten sie in der Nähe von Le Cagnard an der Straße stehen lassen. Sie beschlossen, sich von unten her dem Cap zu nähern. So bekämen sie zwar nasse Füße, hätten aber das Überraschungsmoment auf
ihrer Seite. Der Tschetschene machte ihnen keine Angst. Weder er noch diese Jahr 145 marktsattraktion von Leibwächter. Wenn ihre Selbstachtung auf dem Spiel stand, machten die Brüder di Rosa keine Zugeständnisse. José hatte noch versucht, Malewitsch per Telefon aufs Dach zu steigen, als letzte Warnung, doch der hatte ihre Familie beleidigt und einfach aufgelegt. »Das hätte er nicht tun sollen«, zischte José zwischen den Zähnen hervor. »Beruhige dich«, antwortete Luis und klopfte ihm auf die Schulter. Sie kletterten über den kleinen Felsvorsprung und erreichten dahinter den menschenleeren Strand des Caps. Von oben wehte der sanfte Wind eine Harfenmelodie zu ihnen herab, unterbrochen von hysterischen Lachern. Der kleine Trupp überquerte den Sandstreifen und nahm dann die Treppe hoch zum weitläufigen, verlassenen Parkplatz. Zwischen den Bäumen war eine Außendusche versteckt, und eine ganze Ladung Hinweisschilder verkündete in mehreren Sprachen, daß das Betreten des Geländes streng verboten sei. Die drei Männer spülten sich die Füße ab und zogen dann ihre Wanderschuhe an, die sie in ihren Taschen verstaut hatten. Danach gingen sie schweigend die Straße entlang. José kannte sich aus, er hatte hier mehrere Kunden. Die meisten Häuser lagen im Dunkeln, da sich alle im Schloß amüsierten. Der Plan der drei Männer war kinderleicht: Entweder sie bekamen die zweihundert Euro, die Malewitsch José schuldete, oder sie würden im Haus alles über den Haufen ballern. Sie waren noch keine zehn Minuten unterwegs, als sie die Autos hörten, die den Hauptweg hinauffuhren. Jedes Mal, wenn ein Wagen vorbeikam, tauchten sie ins Dickicht ab. So kamen sie letztlich ungehindert bis zu der Allee, die zum Haus des Tschetschenen führte. Sie kauerten sich neben einen grauen Citroen BX, dessen Motor noch warm war, öffneten ihre Taschen und holten die Gewehre hervor. »Vamos?« fragte José. »Vamos!« antworteten die beiden Brüder. Doch kaum hatten sie einen Fuß auf die Allee gesetzt, tat sich vor ihnen eine wahre Hölle auf. José blickte als erster dem Tod in die Augen. Ihm war die Stille von Anfang an unnatürlich vorgekommen. Die Grillen waren zu hören, das war aber auch alles. Er wußte 145
nicht, was, und er hätte es auch nicht erklären können, aber für seinen Geschmack war hier irgendwas faul in der Umgebung, die viel zu ruhig war. Zögernd ging er dennoch weiter. Er wiederholte noch einmal die Sätze, die er sich seit dem Morgen schon hundertmal vorgesagt hatte, und jeden Schritt, den er unternehmen würde, doch je weiter er die von Eiben gesäumte Allee entlang ging, umso stärker verwandelte sich seine Wut in Furcht. Er fürchtete nicht so sehr den Tschetschenen - da vertraute José voll und ganz auf seine Brüder -, er fürchtete vielmehr sein Temperament. Er hatte die Kränkung noch nicht überwunden und konnte jetzt auf keinen Fall mehr umkehren. Als nicht einmal einen Meter vor ihm plötzlich zwei Augen aus der Dunkelheit auftauchten, schlug ihm das Herz bis zum Hals. Und genau an diesem für einen Hinterhalt idealen Ort schickten sich nun vier maskierte und übertrainierte Männer an, Hannibal Carrache, der möglicherweise bewaffnet und ganz gewiß gefährlich war, festzunehmen und das bestimmt nicht auf die sanfte Tour. Als José die Mündung der Maschinenpistole sah, die auf seinen Kopf zielte, dazu das allgemeine Gebaren dieses Außerirdischen, der sie wortlos in den Armen hielt, drückte sein Finger unwillkürlich auf den Abzug seiner pump gun. Der Polizist der RAID bekam die ganze Ladung in die Brust, und trotz der Schutzweste brachen unter dem Aufprall seine Rippen. Eine durchbohrte die linke Lunge und das Herz. José di Rosa hatte keine Zeit mehr, um zu begreifen, daß er soeben einen Menschen getötet hatte, so schnell explodierte sein Kopf. Natürlich fingen seine beiden Brüder an zu brüllen. So etwas waren sie nicht gewohnt. Entsetzt warf sich Luis zu Boden, was ihm das Leben rettete. Ein zweiter Außerirdischer tauchte wie aus dem Nichts auf und verurteilte ihn per Judogriff zur Bewegungslosigkeit, während Luis in seiner Muttersprache ein Gebet herunterrasselte. Tonio hatte nicht so viel Glück. Seine Nerven und sein Schließmuskel waren mit ihm durchgegangen. Schreiend begann er, um sich zu schießen. Aber nicht für lange. Als er die pump gun wieder nachladen wollte, wurden seine beiden Kniescheiben gleichzeitig von Kugeln durchschlagen. Zwanzig Meter davon entfernt blickte Rembrandt, ausgerüstet mit einem Schutzhelm und einer kugelsicheren Weste, die ihm ein 146 paar Nummern zu groß war, verwirrt zu den Männern in ihren Verstecken. Obwohl die Schüsse ganz in der Nähe abgegeben worden waren, hatte sich keiner der Polizisten von seinem Posten entfernt. Er hörte nur das Rauschen
seines Knopfs im Ohr, und eine ernste Stimme verkündete: Drei Mann am Boden, zwei davon tot. »Und Carrache?« fragte Rembrandt. »Negativ, Commandant.« Dann war wieder alles still. Drei Silhouetten bewegten sich auf das Haus zu, darunter Francis Gruber, der Mann ohne jeden Sinn für Humor. Rembrandt kniete sich in das Lorbeergebüsch, nahm den Helm ab, und während er auf dem Handy eine Nummer eingab, dachte Nicolas Poussin, daß er seinen Chef jetzt zum ersten Mal ohne Kopfbedeckung sah. »Monsieur Malewitsch?« sagte Rembrandt nach einem kurzen Moment. »Hier spricht die Polizei. Kommen Sie zur Vordertür heraus, halten Sie die Hände über dem Kopf.« Rembrandt verzog das Gesicht, weil er fürchtete, seine Stimme habe gezittert. Er war zutiefst berührt, denn es war das erste Mal, daß er mit der RAID zusammenarbeitete. Der Tschetschene stand aufrecht in seinem Wohnzimmer. Das Telefon zwischen Wange und Schulter geklemmt, schob er das gebogene Magazin mit dreißig Schuß in seine Kalaschnikow, eine alte AK 47 mit massivem Holzgriff. »Und warum?« fragte er. »Weil ich Sie dazu auffordere«, antwortete Rembrandt. »Sie haben eine Minute. Dann will ich alle Mann hier draußen sehen.« Malewitsch warf kurz einen Blick auf die Konsole seines Alarmsystems an der Wand. Das rote Lämpchen blinkte ganz normal. »Schüsse gehört haben«, sagte er, »was Sie treiben da draußen?« »Fünfzig Sekunden«, erwiderte Rembrandt, bevor er auflegte. Igor der Stumme runzelte die Stirn. Er hatte sich auf die Schnelle ein Badetuch um die Wunde am Kopf gewickelt, das sich schon ganz rot gefärbt hatte. An seinem Arm baumelte das Präzisionsgewehr Marke Hecate. »Wir haben Problem«, stellte Kasimir Malewitsch fest. Draußen prüfte Francis Gruber die Tür. »Ein gepanzertes Dreifachschloß«, erklärte er, »mit dem Rammbock richten wir hier nichts aus.« 147 Im Haus mit den heruntergelassenen Rolläden gingen die Lichter aus. Man hörte einen leisen Knall, gefolgt von einem erstickten Schrei, der aus der Nähe der griechischen Statue am Swimmingpool kam. »Zweites Fenster von rechts«, stellte eine Stimme im Hörknopf lakonisch fest, »ein Scharfschütze.«
»Dreißig Sekunden«, murmelte Rembrandt. Tatjana kroch auf dem gefliesten Boden des Flurs vorwärts und zog eine lange, scharlachrote Blutspur hinter sich her. Die junge Frau hatte nur noch eins im Sinn: Antonin wiederfinden, mit ihm weggehen, für immer an seiner Seite leben. Sie erreichte den Heizraum, dessen Tür offen stand, und schleppte sich weiter zur Garage. Dort parkten zwei Autos nebeneinander. Eine schwere, weiße Mercedeslimousine und ein gelber, tiefer gelegter und auffrisierter Lotus. Tatjana griff nach der Tür des Mercedes, weil dieser am nächsten stand. Stöhnend schwang sie sich auf den Fahrersitz. Die Schlüssel steckten im Zündschloß. Sie schaffte es, den Wagen zu starten. Auf dem Beifahrersitz lag die Fernbedienung für das automatische Garagentor. Mit der Faust drückte sie darauf einen Knopf und verriegelte mit dem Ellbogen die Autotüren. Lautlos öffnete sich das Garagentor. »Sie versuchen einen Ausfall«, drang es aus dem Hörknopf. »Verstanden«, antwortete eine zweite Stimme. »Es geht los«, ergänzte Rembrandt. Francis Gruber zündete den Sprengsatz. Die schwere Eingangstür schoß quer durchs Wohnzimmer, zerschmetterte die Fensterfront zum Swimmingpool hin und ramponierte die Rolläden. Hinter der Ledercouch leerte Kasimir Malewitsch sein ganzes Magazin in die gähnende Öffnung, und im gleichen Moment, wo er es aus dem Sturmgewehr riß, landete eine Rauchgranate direkt vor seinen Füßen. Igor der Stumme tauchte plötzlich im Zimmer auf, in jeder Hand eine CZ, und ging hinter eine Marmorsäule in Deckung. Malewitsch rannte zum Flur, während sein Handlanger in Richtung Eingang feuerte, um ihm Deckung zu geben. Der Lärm war ohrenbetäubend. Malewitsch drang in sein Büro vor, öffnete dort das Fach eines Schranks und holte zwei Magazine heraus, von denen er eins in die Kalaschnikow schob. 148 Mit ihrem gesunden Bein drückte Tatjana mit letzter Kraft aufs Gaspedal. Mit aufgeblendeten Scheinwerfern machte die schwere Limousine einen Satz nach vorn. Der Wagen schleuderte durch den Kies. Die Polizisten eröffneten sofort das Feuer. Die Kugeln peitschten mit vierhundert Metern pro Sekunde wie kleine Stahlbienen gegen die Karosserie. Tatjana schrie vor Schmerzen auf. Mit ihrem einzigen Auge, das von einem dunkelblauen Bluterguß zugeschwollen war, konnte sie fast nichts mehr sehen. Der Mercedes rollte in die Allee. Eine Kugel schlug in der Windschutzscheibe ein, die sich nur wölbte, während gleichzeitig die beiden linken Reifen platzten. Im ersten Gang schaffte es die junge Frau nur mit Mühe, die Richtung zu halten, doch
nach nicht einmal zehn Metern tauchte die riesige Kühlerhaube eines Transporters vor ihr auf. Von den drei Männern, die sich im Eingang drängelten, war Igor der Stumme echt beeindruckt. Hinter ihren Schutzschildern und ihrem Schutzhelm, ausstaffiert mit Gasmasken und Infrarotbrille, waren sie bis an die Zähne bewaffnet. Er glaubte, der Teufel selbst habe sie geschickt, um ihn zu holen. Er zögerte eine Sekunde zu lange, und schon war sein Schicksal besiegelt. Der Marmorpfosten um ihn herum löste sich förmlich auf, scharfe Splitter zerrissen sein Gesicht, und als er schützend eine Hand hob, schnitt ihn eine Salve von Hochgeschwindigkeitsgeschossen buchstäblich entzwei. Kasimir Malewitsch verließ sein Büro. Sämtliche Fenster standen unter Beschuß. Er glaubte sich im Epizentrum eines Erdbebens. Er schoß auf gut Glück und zerlegte dabei den ultraflachen Fernsehschirm. Dann eilte er zur Garage. Im Heizungsraum rutschte er in einer zähflüssigen Lache aus und brach sich beim Sturz das Handgelenk. Er schrie nicht, ließ nur das Sturmgewehr auf dem Boden liegen und stürzte weiter zum Lotus. Daß der andere Wagen fehlte, fiel ihm gar nicht weiter auf. Gerade als er den Türgriff packte, stürmten mehrere Männer herein. »Auf den Boden!« befahl eine Stimme. »Auf den Boden! Sofort!« Die Offensive hatte nicht einmal eine Minute gedauert. Gerade hatte Tatjana den zweiten Gang gefunden, da prallte der Mercedes gegen den Transporter. Im Wageninneren entfalteten sich mit einer zischenden kleinen Explosion die Airbags. Alle, bis 149 auf den des Fahrers. Der Wagen rutschte seitlich weg, blieb einen Moment in der Luft hängen und fiel dann schwer zurück. Tatjana ließ alles los, und die verrückt gewordene Limousine wurde in die Bäume hineingeschleudert. Aus irgendeinem Grund hatte sich das Radio eingeschaltet, aus dem in voller Lautstärke ein trauriges Lied der Negresses vertes dröhnte. »Wenn du mich wirklich liebst«, flehte der Sänger, »dann komm zu mir zurück ...« Zitronen prasselten auf die Motorhaube, Äste peitschten gegen die Windschutzscheibe, und für ein paar Sekunden hob der Wagen noch einmal ab, riß einen kleinen Olivenbaum mit sich, und landete schließlich mit abgewürgtem Motor auf dem Asphalt, während die zerschundene Karosserie nur so knirschte. In ihren Sitz gedrückt, hechelte Tatjana wie ein kleines Tier. Im Innenspiegel nahm sie den BX wahr, der in der Nähe stand. Dann entdeckte sie voller
Entsetzen ihr neues Gesicht. Total entstellt. Tatjana wollte laut losschreien, brachte aber keinen Ton heraus. Von allen Seiten bewegten sich Silhouetten auf das Auto zu. Keuchend versuchte sie, den Zündschlüssel zu drehen. Der Motor sprang an. Fausthiebe knallten auf die Karosserie, erstickte Schreie, und dann sah sie nur wenige Zentimeter vor ihrem Gesicht den Blick eines maskierten Mannes. Er rief ihr irgend etwas zu und versuchte, mit dem Gewehrkolben die gepanzerte Tür einzuschlagen. Tatjana drückte aufs Gaspedal, und der Mercedes schoß vorwärts. Der Mann blieb an der Tür hängen, dann war er plötzlich verschwunden. »Hab keine Angst auf deinem Weg«, sangen die Negresses vertes, »gestrandete Boote ...« Auf den Felgen schoß der Wagen funkensprühend geradewegs zum Schloß. 27 Die Rockband hatte gerade zu spielen angefangen und bot die energische Coverversion eines Songs der Sex Pistols. Darin ging es irgendwie um Anarchie, und die Gäste schienen das ganz interessant zu finden. Der Chef des Hauses war noch nicht aufgetaucht, was aber nicht weiter tragisch war, denn das Büffet war sensatio 150 nell. Dreißig oder vierzig Meter vor mir zeichneten sich die Konturen des Gebäudes mit den beiden Türmen gegen das Mondlicht ab. Ich war durch den Obstgarten gekommen, jetzt saß ich im Dik-kicht fest, versteckt hinter einer Batterie von Scheinwerfern, die die Laubkronen der Bäume bestrahlten. Trotz der malerischen Aussicht war ich ziemlich angefressen. Meine Sachen lagen immer noch in Palladios Peugeot 206, und ich wußte, ehrlich gesagt, nicht, wie ich das Ganze angehen sollte. Tja, ich konnte mich ja vielleicht locker unters Volk mischen, Palladio mit dem Schrei des Todes ausschalten, Brunelleschis Leibwächter ein wenig tanzen lassen, in jeder Hand einen, die Haustür eintreten, mich vor dem alten Knacker aufpflanzen, ihm seine Rechte vorlesen, wie sie es im Fernseher immer machen, alles, was Sie sagen, kann gegen Sie verwendet werden, und ihn dann unter dem Beifall der vor Begeisterung völlig weggetretenen Menge zur Gendarmerie begleiten, ich hoch zu Roß auf Jolly Jumper. Ich war mit meinen trübseligen Überlegungen noch nicht weit gekommen, als sich ganz in meiner Nähe in einem Gebüsch, direkt neben den Scheinwerfern, etwas bewegte. Zuerst schrieb ich das meiner steigenden Paranoia zu, aber dort bewegte sich wirklich etwas. Ein Tier war es nicht. Viecher verkriechen
sich nicht im Dickicht, um mitten in der Nacht Rock'n'Roll zu hören. Offenbar lag hier noch jemand auf der Lauer. Das war nicht gerade ein geeignetes Gelände für französisches Boxen, die einzige Kampfsportart, die ich praktizierte, also tastete ich den Boden ab und bewaffnete mich mit einem Ast. Wenn ich schon den Kampf Mann gegen Frau nur sehr unvollkommen beherrschte, vor allem, wenn es darum ging, einen Gegner bewegungsunfähig zu machen, so konnte ich den Ast doch immerhin dazu benutzen, dem Gegner ein Auge auszustechen. Ich bewegte mich langsam vorwärts und bemerkte einen Schatten unter einem niedrigen Erdbeerbaum. Einen gebückten Körper, der mir den Rücken zudrehte. Gerade mal zwei Meter von mir entfernt. Mir schien, als hörte ich ein ruckartiges Geklapper. Ich atmete tief durch und war zum Sprung bereit, als der andere sich plötzlich umdrehte und erschrocken aufschrie. Mir gefror das Blut in den Adern, und ich glaube, ich habe ebenfalls geschrieen. Der Kerl vor mir schoß hoch und wäre beinahe hintenüber ge 151 fallen. Ich stützte mich mit einem Knie auf den Boden und hob verzweifelt meinen Ast zur Verteidigung. »Ich warne Sie«, stammelte der Mann, »ich bin bewaffnet.« Tatsächlich. Er hielt zitternd eine Harpune auf mich gerichtet. Sein Gesicht war rußgeschwärzt, und er trug eine Skimütze mit einem großen phosphoreszierenden S, die er tief ins Gesicht gezogen hatte. Sakko und Pluderhosen waren voller Blätter und Geäst, die er notdürftig mit grüngelbem Stromkabel an seiner Kleidung befestigt hatte. »Vorsicht«, drohte er, »ich war in Indochina.« Ich schwieg, ließ aber meinen Ast nicht los. »Wer sind Sie?« nuschelte die Vogelscheuche. »Myrtille Xiao-Mei«, antwortete ich, »Tintorets Tochter. Ich tue Ihnen nichts.« »Myrtille? Du bist das?« »Genau. Tun Sie mir den Gefallen und legen Sie das Ding da weg.« »Aber erkennst du mich nicht? Ich bin's! Pilon!« Germain Pilon. Ich erinnerte mich. Noch einer, der mich hatte aufwachsen sehen. »Tu dein Ding da weg, ja?« »Kommt drauf an«, sagte er. »Was treibst du hier eigentlich?« »Ich treib gar nichts, ich bin Polizeioffizier.« »Gib nicht so an«, murmelte er. Er machte noch einen Schritt zurück. Und da fing ein Blatt, das ihm vom Knöchel hing, Feuer, da es über der heißen Scheibe eines Halogenscheinwerfers angeschmort war, woraufhin er einen
energiegeladenen Veitstanz aufs Parkett legte, so daß sein riesiger Schatten auf den Schloßturm geworfen wurde. »Runter mit dir!« schrie ich. Er sprang hoch, drehte sich um sich selbst und hätte beinahe vollkommen das Gleichgewicht verloren. Schließlich landete er neben mir auf dem Hosenboden, während ich voller Angst auf Reaktionen der dichten Menschenmenge unterhalb von uns achtete. Offenbar schienen sich alle mit der Rockband zu amüsieren, die gerade von schrecklichen Dingen sang, die sie der Königin von England antun wollten. »Tut mir echt leid«, sagte er, »ich hab schon wieder eine Dummheit gemacht.« »Sagen Sie mal, was treiben Sie hier eigentlich?« fragte ich. 152 »Es ist schrecklich! Eine Intrige. Ich passe auf Angela auf. Man muß sie beschützen. Antonin will ihr etwas antun. Deswegen bin ich hier. Aber das können Sie nicht verstehen. Er hat den Kleider-. schrank eiskalt umgebracht. Oben am Turm. Tatjana steckt mit drin. Angefangen hat alles mit Malewitsch. Er hat mir Geld gegeben, damit ich den Italiener im Auge behalte. Aber Tatjana hat mir alles erklärt und ...« Er zitterte am ganzen Körper. »Beruhigen Sie sich doch, Pilon.« »Hören Sie, Myrtille. Es kann sein, daß es hier bald Ärger gibt. Gehen Sie lieber nach Hause. Das hier ist was für Männer.« Ich musterte ihn eindringlich. Er hatte Angst, das sprang einem geradezu ins Auge. »Und mit Ihrem tahitianischen Pfeil wollen Sie also Angela Brunelleschi beschützen?« »Ein Messer hab ich auch noch«, prahlte er. »Ich war bei den Spezialkommandos. Ich bin ein Spezialist im Messerwerfen.« »Sehr gut, Pilon. Perfekt. Sie kommen mit mir mit.« »Kommt nicht in Frage. Meinen Posten verlaß ich nicht.« »Wir nehmen eine Verhaftung vor. Was sagen Sie dazu? Und Sie werden mir dabei helfen.« »Aber Antonin wird kommen und ...« »De Messine ist tot. Ich hab ihn umgelegt. Und wissen Sie, warum? Weil er mir nicht gehorchen wollte.« Er sah mich an, als wäre ich die Hexe aus Schneewittchen. »Machen Sie Witze?« stammelte er. »Ganz und gar nicht. Geben Sie mir Ihr Messer.«
Er holte ein Küchenmesser aus der Hosentasche und reichte es mir mit dem Griff voran. »Kennen Sie sich in dem Haus aus?« fragte ich. Er nickte gehorsam. »Dann kann's ja losgehen. Sie gehen voraus.« " »Und warum ich?« »Weil ich keinen großen Wert darauf lege, Sie mit Ihrer Harpune im Rücken zu haben, Pilon.« Wir liefen das Gelände hinab bis zur Umgrenzungsmauer, auf der die Windlichter standen. Wieder hörte ich dieses Geklapper. Dann kapierte ich: Es waren die Zähne meines Elitesoldaten, die da dauernd aufeinanderschlugen. 153 Wir schlichen um das Gebäude und unter den Türmen vorbei. Die hinteren Zimmer waren bis auf eines dunkel; dessen Fenster waren allerdings durch Vorhänge verhüllt, so daß unmöglich zu sehen war, was sich da drinnen vielleicht zusammenbraute. Etwas unterhalb fiel die Küste steil ab. »Das ist sein Büro«, schluckte Pilon. Ich ging über die Terrasse zu den Glastüren. Aber die Fensterfront war verschlossen. »Ich klopf an die Scheibe, Pilon. Los, kommen Sie her. Sobald jemand aufmacht, legen Sie an und drohen ihm mit diesem Ding, verstanden?« »Das schaffe ich nie.« »Ich denke, Sie waren in Indochina?« »Ich kann mich an nichts mehr erinnern.« In der Ferne glaubte ich, ein Feuerwerk zu hören. Doch es waren nur drei dumpfe Explosionen, das war alles. Ich ließ Pilon keine Zeit, der Erinnerung an seine fantastische Zeit als alter Dschungelkämpfer eine Träne nachzuweinen. Mit dem Messergriff hämmerte ich ein paarmal kräftig gegen die Scheibe. Nach zwanzig Sekunden zeigte sich hinter dem Vorhang eine kleine Gestalt, dann wurde der Vorhang auseinandergezogen. Der Kopf eines alten Mannes im Rollstuhl tauchte auf. Ich versteckte das Messer hinter meinem Rücken. »Machen Sie auf, Brunelleschi!« Er antwortete irgend etwas, das ich nicht hören konnte, dann glitt die Tür auf. Ich schob die schweren Vorhänge beiseite und trat ein. Der alte Mann war allein. Er hatte eine Decke über seine Knie gebreitet, aber seine Hände lagen flach auf den Armlehnen. Er tippte auf eine Fernbedienung, worauf sich der Stuhl drehte und zum Schreibtisch rollte. Ich nahm mir nicht die Zeit, das
Mobiliar zu bewundern. Dafür konnte ich seine Glatze in all ihrer Pracht studieren. »Massimiliano Brunelleschi?« fragte ich. Der Mann saß nun hinter dem Schreibtisch und betrachtete mich, ohne zu antworten. Er zeigte keinerlei Gefühlsregung. Zwei Augen aus Stahl, starr, kalt, hart. Beeindruckend. In seiner Jugend hatte er sicher mehr als einer Frau das Herz gebrochen. »Sie sind Myrtille«, sagte er. »Danke, aber soweit bin ich schon auf dem Laufenden.« 154 Kaum wahrnehmbar begannen seine Nasenflügel zu beben. »Ich hab mit Ihrem Neffen telefoniert«, sagte er trocken, »er hat mir schon gesagt, daß mit Ihnen nicht zu spaßen ist.« Ein Mafioso. Genau das war er. Ein Großpate, ohne jeden Funken Humor. »Sie werden mich jetzt begleiten«, befahl ich, »De Messine hat ausgepackt.« Er bewegte sich nicht. »Sie glauben doch nicht im Ernst, daß Sie mich mit dem Messer da beeindrucken können«, höhnte er. Er schien das alles sehr amüsant zu finden. »Pilon!« rief ich. »Kommen Sie rein!« Ich wartete. »Pilon! Wo bleiben Sie denn?« Immer noch nichts. Ich drehte mich um. Kein Mensch da. Nur die Vorhänge flatterten leicht im Wind. »Der arme Pilon«, seufzte Brunelleschi. »Dann machen wir's eben ohne ihn«, erwiderte ich. »Das sollte mich doch sehr wundern, Mademoiselle.« Als ich mich wieder zu ihm umdrehte, hatte der Greis weiß der Teufel woher eine Halbautomatik gezogen. Eine Beretta, wie ich an der gekrümmten Form des Griffes erkannte. »Es hätte mich schon sehr betrübt, mich von so einem jungen Ding schnappen zu lassen«, bemerkte er, »jetzt seien Sie so gut und lassen Sie das Messer fallen. Ich bin ein treffsicherer Schütze.« Das glaubte ich ihm gerne, vor allem aus zwei Metern Entfernung. »Ich bin Polizeioffizier«, versuchte ich ihn einzuschüchtern. »Das wissen wir ja allmählich«, brauste er auf. »Los! Machen Sie schon!« Ich schüttelte den Kopf.
»Ich habe nicht vor, Sie hier und auf der Stelle zu töten. Zwingen Sie mich nicht, Sie leiden zu lassen. Draußen ist ganz schön was los. Da wird uns niemand hören. Soll ich mit Ihrem Knie beginnen?« Ich verneinte. »Dann schmeißen Sie Ihr Gerät da weg.« Ich legte es auf den Schreibtisch. 155 »Gut. Wo ist das Gemälde?« »Keine Ahnung, wovon Sie reden.« Ich schaute ihn so unschuldig an, wie ich nur konnte. »Also dann das Knie.« Ich bat ihn um Geduld. »Der Aktenkoffer war leer«, antwortete ich schließlich. »Ich fürchte, damit liegen Sie völlig richtig. Also haben Sie es.« Wir begannen, uns im Kreis zu drehen. Und da - ich muß es in aller Bescheidenheit sagen - hatte ich eine geniale Idee. Er glaubte ja hartnäckig, daß Rodolphe Tintoret noch am Leben war. Na gut. Wenn er es so haben wollte. Zumindest gewann ich so ein wenig Zeit. »Mein Vater hat es«, phantasierte ich vor mich hin. Mit ein bißchen Glück würde Rembrandt bald auftauchen und das Ganze beenden. Wie ungerecht hatte ich ihn doch seit heute morgen behandelt. »Interessant«, kommentierte der Behinderte, »das müssen Sie mir erklären.« »Sie haben mir ausrichten lassen, daß Sie ihn als Geisel haben. Sie haben keine Sekunde daran gezweifelt, daß ich wußte, daß er noch lebt. Sie tappen im Dunkeln, Brunelleschi. Ihnen bleibt gar nichts anderes übrig, als mir zu glauben. Sie werden mich gegen das Gemälde austauschen. Danach lasse ich Ihnen zwei Stunden Zeit, um abzuhauen. Das ist alles, was ich für Sie tun kann.« Auf seinem Gesicht blitzte ein sehr bösartiges Lächeln auf. »Was Sie für mich tun können!« rief er. »An Unverschämtheit mangelt es Ihnen jedenfalls nicht.« »Danke.« »Wo ist er?« »Wenn Sie mir auch nur ein Haar krümmen, sehen Sie Ihr Gemälde nie wieder.« Ich tanzte hier auf sehr dünnem Eis. Sicherlich hatte er viel mehr Informationen als ich, und mir war klar, je mehr ich redete, desto größere Risiken ging ich ein. Hilfe! schrie ich im Geiste, Karottenkopf, wenn du jetzt kommst, heirate ich dich. »Wo ist Ihr Vater? Meine Geduld ist zu Ende.«
»Bei Malewitsch.« Nimm das, du alter Sack, dachte ich. 156 »Seit drei Tagen versteckt er sich bei ihm.« Der nächste Hieb. »An Ihrer Stelle würde ich aber nicht unbedingt hingehen und nachschauen. Malewitsch hat nämlich nicht mehr alle Tassen im Schrank.« Brunelleschi schien nachzudenken, aber nur kurz. »Okay, gut. So was hatte ich mir schon gedacht. Ich werde Palladio hinschicken.« Und ohne daß er irgend etwas gemacht hätte, klopfte es wie durch ein Wunder dreimal an der Tür, und Palladio trat ein. »Schaffen Sie sie weg. Sie wissen schon wohin«, befahl der Behinderte, während er im Zimmer herumfuhr, »danach kommen Sie wieder zurück. Ich gehe inzwischen zu meinen Gästen.« Palladio drehte mir den Arm auf den Rücken und gab mir einen Stoß. An der Brutalität, mit der er vorging, merkte ich, wie sehr ich ihn genervt hatte. Wir passierten einen sehr langen Flur. Von weitem konnte ich das Fest sehen und Leute, die vor der Rockband herumzappelten. Außerdem war Tatjana aufgekreuzt. Wenigstens etwas Erfreuliches. 28 Anfangs kapierte kein Mensch, was sich da tatsächlich abspielte. Von weitem sah jemand einen Mann in Anzug, der kreischend die Allee heraufrannte, konnte jedoch nicht erkennen, was seine wilden Gesten bedeuten sollten. Er wollte schon seine Begleiterin auf das Spektakel aufmerksam machen, diese war aber in einen leidenschaftlichen Bericht über ihren letzten Urlaub in Ägypten verstrickt. »Im übrigen«, prustete sie los, »mache ich das ganze Jahr über Urlaub.« »Nein, wie drollig«, antwortete ihr Gegenüber. Danach schoß die rote Motorhaube eines Peugeot 206 schlingernd vorüber, prallte gegen einen Baumstamm und köpfte anschließend den kleinen Rocksänger auf der Bühne. Alle schienen wie vom Donner gerührt. Vor allem, weil der kopflose Musiker weiter auf seiner Gitarre vor sich hinschrammelte. Die Dame fragte sich, wo Brunelleschi solche Zauberkünstler auftrieb, eine wirklich tolle Aufführung, und so unerwartet, finden Sie nicht, 156 als vor ihrem ohnmächtigen Gesprächspartner die schwere, gepanzerte Limousine mit Vollgas vorbeiraste, einen Kotflügel des 206 an den
Stoßdämpfern. Und noch bevor die Menge einen ersten Schrei zustande brachte, hatten die Schäden bereits das Ausmaß einer Katastrophe erreicht. Der Wagen mähte mehrere Personen wie Strohhalme nieder oder wirbelte sie wie Strohballen durch die Luft, ehe sie in alle Richtungen zu Boden geworfen wurden. Tatjana, schon halb hinüber, verwechselte die Pedale. Sie hatte schon längst die Kontrolle über die zwei Tonnen schwere Todesmaschine verloren, die alles zerfetzte, was ihr in den Weg kam. Von meinem Platz hörte ich jetzt auch erste Schreie. Eine wahrhaft apokalyptische Szenerie. Einige Leute standen da wie gelähmt und starrten auf den Wagen, der auf sie zubrauste. Doch keines ihrer Glieder schien ihnen mehr zu gehorchen. »Gottverdammte Scheiße«, murmelte Palladio. Er ließ mich los, aber auch meine Fluchtreflexe versagten. Ich blieb wie alle anderen auch wie angewurzelt stehen und hielt den Atem an. »Gottverdammte Scheiße«, wiederholte Palladio, »mein Auto!« Eine dumpfe Wut überkam mich. Mich packten eine Gewalttätigkeit und ein Ekel, die ich bei mir niemals vermutet hätte. Haß in Reinkultur. Ich schnappte mir den Kerl und verpaßte ihm einen Kinnhaken und danach einen satten Tritt in die Leber. Ich hatte mit aller Kraft zugeschlagen, und Palladio brach drei Meter weiter in den Trümmern einer riesigen Vase auf dem Boden zusammen. Draußen war der völlig durchgedrehte Wagen in die Rockband gerast und hatte mit dem Kofferraum die Instrumente, die in einem kakophonen Requiem durch die Luft wirbelten, von der Bühne wegrasiert, dann änderte der Wagen seine Richtung, schlug im Büffet ein, räumte es vollkommen ab und stürzte schließlich in den Swimmingpool. Mit dem schrecklichen Gefühl, kostbare Stunden verloren zu haben, stürzte ich nach draußen. Noch trieb der Mercedes im sprudelnden, sich schon rot färbenden Wasser. Verzweifelt klopfte Tatjana gegen die Fensterscheibe und die Tür, die sich nicht mehr öffnen ließ. Rundum herrschte eine benommene Stille, die nur von verzweifelten Klagen unterbrochen wurde. Am Swimmingpool schauten einige Leute untätig zu, wie Tatjana ertrank. 157 Bleich wie der Mond bahnte sich Brunelleschi seinen Weg zu einer kleinen Gruppe. Weiter oben sprang Rembrandt aus seinem BX. An seiner Seite drei Mitglieder der RAID. Angesichts des furchtbaren Spektakels hielten sie schlagartig und mitten in ihren Bewegungen inne. Jetzt kreischten die Menschen unaufhörlich. Praktisch von überall her kamen Hilferufe. Ein paar
Gäste irrten genauso orientierungslos wie erschüttert umher, rangen mit den Händen und leierten verzweifelt Litaneien vor sich hin. Andere stürzten von Opfer zu Opfer, um ihnen vielleicht helfen zu können. Es herrschte das totale Chaos. Instinktiv ging ich auf Brunelleschi zu. Ein Sterblicher unter Sterblichen, seine Augen blickten ins Leere. Zu seinen Füßen, den Kopf auf seine alten Knie gebettet, hatte Angela ihr Leben ausgehaucht. Ihre Augen waren noch geöffnet, hatten sich aber schon getrübt. Der spitze Splitter einer zerbrochenen Sektflöte ragte aus ihrem blutverschmierten Hals. Wortlos baute ich mich vor den beiden auf. Der Italiener streichelte die langen Haare seiner Tochter. »Daran sind Sie schuld«, stotterte er. Ich streckte die Hand nach ihm aus in der Hoffnung, ihn zu beruhigen. »Rühren Sie mich nicht an!« »Es ist vorbei. Beruhigen Sie sich.« Aber es war noch nicht zu Ende. Der alte Mann schwang drohend seine Halbautomatik. Irgend jemand in der Nähe schrie. Nicht lauter als die anderen in der Menschenmenge um uns herum, aber doch so intensiv, daß sich alle Blicke unerklärlicherweise auf uns richteten. »Machen Sie keine Dummheit«, riet ich ihm, »Sie können nichts mehr ändern.« Er feuerte den ersten Schuß ab, und ich spürte, wie die Kugel meine Wange streifte. Ich stolperte nach hinten und stürzte auf den Boden, so als wollte mein Körper unbewußt den Schock abfangen. Brunelleschi ließ sich Zeit, um die Kanone erneut auf mich zu richten. Deutlich sah ich, wie die Mündung der Pistole sich anhob, und dann folgten über meinem Kopf hinweg mehrere Explosionen. Brunelleschi wurde heftig durchgeschüttelt, und seine Hände fuchtelten wild durch die Luft. Dann überschlug sich sein Rollstuhl mit phänomenaler Wucht. 158 Rembrandt sprang über mich hinweg und beugte sich, noch mit der Manurhin in der Hand, über die Leiche des alten Mannes. Mit seinem Stiefel trat er dessen Beretta beiseite, dann drehte er sich zu mir um. »Um Himmels Willen, Myrtille, Sie sind ja immer noch da!« Ich hatte mich aufs Mäuerchen gesetzt. Die Morgendämmerung streckte schon ihre Fühler aus. Der letzte Hubschrauber war abgeflogen, und am Strand unten machte auch das Marineschnellboot kehrt. Rembrandt saß neben mir. Seine spitzen Stiefel baumelten ins Leere. Manchmal schlugen seine schrägen Absätze mit einem sehr unangenehmen Knirschen gegen die Steine. Wir beobachteten, wie der Kran den Mercedes aus
dem Wasser hob. Die Männer mußten die Tür mit dem Schweißbrenner öffnen, um die ertrunkene Tatjana zu bergen. Neun Tote. Das war der aktuelle Stand, aber wir warteten noch auf Nachricht aus dem Krankenhaus über jene, die noch immer um ihr Leben kämpften. Ein Wahnsinnsfest. Etwas weiter entfernt, nicht weit weg vom Haus, wurde Germain Pilon von Poussin vernommen. Man hatte ihn auf der Straße aufgegriffen, wo er in seinem komischen Aufzug ziellos herumirrte und jedem, der es hören wollte, erzählte, er sei Opfer einer Intrige geworden. Aufgrund seiner Hinweise kreuzte inzwischen ein Schnellboot hinterm Cap übers Meer auf der Suche nach der Leiche von Hannibal Carrache. Ich hatte Rembrandt erklärt, was ich den ganzen Tag so getrieben hatte, und diesmal hatte er beschlossen, mich ernst zu nehmen. Palladio hatte sich in der Gendarmerie von Le Lavandou zu Malewitsch gesellt, und Rembrandt hatte bei der Gelegenheit Palla-dios Frau vorsichtshalber gleich miteinkassiert. »Ich habe es geahnt«, vertraute mir Karottenkopf an. Die ganze hübsche Gesellschaft wurde noch zu dieser frühen Stunde von der Richterin höchstpersönlich vernommen. Wir schwiegen. Ich hatte nichts mehr zu sagen. Er hatte mir das Leben gerettet, und ich war müde. Die Bediensteten wischten mit feuchten Putzlumpen über die Terrasse. Die schwere Limousine baumelte am Kabel des Krans. Ein neuer Tag konnte beginnen. 159 »Brunelleschi hat gewußt, daß die Leiche meines Vaters nicht im Sarg gelegen ist«, sagte ich. »Der Typ kannte doch Hinz und Kunz«, antwortete er, während er weiter mit den Beinen schaukelte. »Die Angestellte vom Friedhof wird geplaudert haben. Wir überprüfen das.« »Und wenn nicht?« »Sagen Sie mal, Myrtille, geben Sie eigentlich nie Ruhe?« Er hatte Recht. Das alles hatte keine Bedeutung mehr. Palladio würde mit den Details herausrücken. Weit oben am Himmel zog ein Flugzeug aus Paris geräuschlos seinen Kondensstreifen. Seit meiner Ankunft waren genau vierundzwanzig Stunden vergangen. »Und das Gemälde?« fragte ich. Die Stiefel hörten auf, gegen die Mauer zu treten.
»Das Gemälde!« wiederholte Rembrandt. »Hat das jemals existiert? Hm? Es steht in keinem Verzeichnis, und soweit ich weiß, hat auch noch niemand deswegen Anzeige erstattet.« Natürlich. Ich drehte mich um und schaute zum Horizont. In der Verlängerung der Landspitze zeichneten sich bereits die Inseln von Le Levant ab. Das war's dann wohl. Danke, Papa. »Und was mache ich jetzt mit Ihnen?« fragte der kleine Commandant unvermittelt. »Das ist Ihre Sache. Ich habe Ihnen alles gesagt.« Und das stimmte auch. Er nahm seinen Hut ab und legte ihn zwischen uns. »Ein einziges Schlamassel«, murmelte er. »Ich hab von Anfang bis Ende Scheiße gebaut.« Ich widersprach ihm nicht. Plötzlich, aus heiterem Himmel, hatte ich Lust zu baden. Ins Wasser tauchen und alles von mir abwaschen. Einfach nur an den Strand gehen. »Ich werde bald in irgendein Kommissariat versetzt«, murmelte er weiter vor sich hin, »und kann mich dann mit Kleinkriminalität und häuslicher Gewalt herumschlagen. Das wird ruckzuck gehen.« Ich stand auf. »Bewerben Sie sich doch für das vierte Arrondissement«, empfahl ich ihm, »ich wäre begeistert, Sie als neuen Chef zu bekommen.« »Soll das heißen, Sie bleiben bei der Polizei?« »Warum denn nicht?« »Ich weiß nicht ... Mit dem vielen Geld ...« 160 »Ich liebe meinen Beruf, Rembrandt. Und außerdem, wer weiß, vielleicht könnten Sie ein bißchen Ihre Beziehungen spielen lassen, damit für mich eine Beförderung herausschaut?« »Lieutenant?« »Commandant?« »Würden Sie mir einen Gefallen tun?« »Kein Problem, Rembrandt, einen bin ich Ihnen schuldig.« »Seien Sie so gut und gehen Sie mir aus den Augen.« 29 Ich ging zurück zum Haus. Meinem Haus. Als ich die Allee entlangging, streichelte ich die Lorbeerblätter. Trotz der Sonne, die allmählich herunterknallte, fröstelte ich.
Auf der Kiesfläche stand nach wie vor der bis zum Anschlag vollgepackte Clio, wie ein fetter Parasit, bereit, sich mit seiner Beute aus dem Staub zu machen. Ich umrundete das Haus. Alles war ruhig, nichts rührte sich, als wäre nichts passiert. Ein Ferientag wie alle anderen. Ich stieg die Außentreppe hoch und spitzte vor dem Zimmer meiner Schwester die Ohren. Sie schnarchte. Aus dem Schrank im Flur holte ich ein Badetuch und zog dabei instinktiv das unterste aus dem Stapel heraus. Mit einer großen Zeichnung von Popeye, dem Seemann. Noch ein Erinnerungsstück. Im Wohnzimmer im Erdgeschoß stieß ich auf meinen psychopathischen Neffen. Er hatte immer noch die gleiche käsige Gesichtsfarbe und tiefe Ringe unter den Augen. Tief in den apfelgrünen Riesensessel gekuschelt, war er immer noch mit seinem Videospiel beschäftigt. Ich lehnte mich an die Wand. »Was gibt's denn da zu glotzen?« fragte er. »Nichts. Ich finde dich sexy.« »Wirklich sehr komisch«, grunzte er. Er geilte sich an seinem kleinen Joystick auf, die Zunge hing ihm ein wenig aus dem Mund. Ergreifend. »Hast du mit Brunelleschi gesprochen?« »Ja«, antwortete er und fuchtelte weiter vor dem Bildschirm herum. »Er hat mir ein paar Fragen über Sie gestellt.« »Schön. Und was sonst?« 161 Er setzte ein merkwürdiges Grinsen auf. Nicht meine Frage war ihm peinlich, sondern, daß sein Computerheld gerade eine Hacke oder sonst was in die Fresse bekommen hatte. Charles-Edouard schien verzweifelt. »Was wollen Sie denn hören?« Ich seufzte. Was für ein erbärmliches Kind. »Nichts.« Ich stieß mich von der Wand ab. »Sag deiner Mutter, wenn ich wieder hoch komme, will ich keinen von euch mehr hier sehen.« »Ach ja? Und wohin gehen Sie?« »Zum Strand. Salut.« Ein Auto schoß über den Kies, die Türen öffneten sich gleichzeitig, und drei Mann stiegen aus. Sie trugen Straßenanzüge und Sonnenbrillen. Bullen. Zweifelsfrei. Ich schob die Glastür zur Seite, und der erste ging gleich auf mich los. »Sie sind Myrtille Xiao-Mei?« »Richtig geraten.« »Wir haben ein Rechtshilfeersuchen bekommen«, sagte er und zeigte mir einen Wisch, »wir machen eine Hausdurchsuchung.«
Mein Neffe war aufgestanden. Seine Arme hingen herab und in der Hand hielt er immer noch den Joystick. Hinter ihm zerschnitt ein Weltraumkrieger seinen virtuellen Helden in kleine Scheiben. Was diesen, so ließ sich jedenfalls aus seinem mannhaften Gebrüll schließen, nicht davon abhielt, allein weiterzumachen. »Kannst du das mal auf Pause stellen?« forderte der Polizist. Charles-Edouard gehorchte. »Danke«, sagte der Bulle. »Kein Problem«, antwortete mein Neffe. »Urban Chaosl« fragte der Bulle. »Soul Reaver«, berichtigte mein Neffe, »aber auch von Eidos.« »Ja«, sagte der Bulle, »die machen gute Sachen.« »Genau«, antwortete mein Neffe, der gerade einen neuen Kumpel gefunden hatte. »Gut«, mischte sich ein zweiter Bulle ein, »können wir dann anfangen?« Charles-Edouard wandte sich an mich. »Was suchen sie denn?« »Ein Gemälde«, sagte ich. 162 Die Polizisten durchwühlten bereits die Kissen. Ich empfahl ihnen, mit dem Zimmer meiner Schwester anzufangen, und ließ sie dann mit meinem psychopathischen Neffen allein. Ich wiederhole mich, aber ich war müde. Fast eine Stunde lang bin ich geschwommen. Allein. Mit leerem Kopf habe ich das Wasser durchpflügt, bis ich nicht mehr konnte. Zumindest war ich nicht umsonst hergekommen. Zu Hause in Paris könnte ich nun mächtig angeben. Erschöpft schwamm ich Richtung Ufer. Vor dem Bambus, der den leeren Strand begrenzte, saß jemand und wartete auf mich. Mein Neffe, der in seinem edlen schwarzen Anzug steckte. Sobald ich wieder stehen konnte, erhob er sich. Den Popeye hielt er in der Hand. »Du schon wieder?« rief ich erstaunt. »Haben sie dich schon an die Luft gesetzt?« Er grinste. »Also, was ist? Hast du noch was vergessen, was du mir sagen willst?« »Kann schon sein«, antwortete er. Ohne seine Kleidung abzulegen, kam er zu mir ins Wasser. Ich wußte ja, daß er schwachsinnig war, aber das übertraf jetzt alles. »Deine Mama wird nicht begeistert sein.« Ich deutete auf seine Hose, die bis zu den Knien naß geworden war. »Lassen wir Mama, wo sie ist.«
Das war mir gerade recht. Sollte sie ruhig weiterpennen. »Was willst du?« »Ich weiß nicht.« Ich warf meine Haare nach hinten. Ich wartete, daß er mir mein Handtuch gab. Doch er rührte sich nicht, stand nur bis zu den Oberschenkeln im Wasser, wie ein Irrer. Sein Blick gefiel mir gar nicht. »Und?« fragte ich. »Was und?« Den Tonfall, den er angenommen hatte, schätzte ich ebenfalls nicht. Und auch nicht die Art, wie er auf meine Brüste glotzte. Alles an ihm jagte mir einen kalten Schauer über den Rücken. Ich beschloß, ihn einfach zu ignorieren. Ich gab ihm den Rat, sich irgendwo anders behandeln zu lassen, und ab da lief alles schief. Ich machte einen Schritt Richtung Ufer, doch er stieß mich 163 zurück. Ich fand mich in den Wellen wieder und schluckte ordentlich Wasser. »Ich rate dir, hör sofort mit deinen Spielchen auf«, brachte ich als erstes heraus, als ich mich wieder aufgerichtet hatte. »Und warum?« Jetzt sah er wirklich bedrohlich aus. Schnell warf ich einen Blick über den Strand. Immer noch kein Mensch zu sehen. »Weil du nicht das Format dazu hast.« Aber da war ich möglicherweise etwas voreilig. Denn vor den großen Dürren sollte man sich immer in Acht nehmen. »Das hat Opa auch gesagt. Er hat mir genau dasselbe erzählt.« Ich glaubte, mich verhört zu haben. »Opa?« »Dein Vater. Du erinnerst dich?« Er machte einen Knoten in den Popeye. Und ich begriff immer noch nicht. »Ich war es, der ihn getötet hat«, kicherte er. »Genau hier. Niemand hat was gesehen. Ich hab mich einfach gegen seinen Kopf gestemmt. Und schon war er tot. Es war ganz einfach.« »Faß mich ja nicht an«, sagte ich. »Du gehst jetzt besser zum Strand zurück, und dann reden wir über alles, in Ordnung?« »Aber dann sind Sie aufgetaucht«, fuhr er fort. »Sie haben uns das Haus geklaut. Das Haus und alles andere.« »Charles-Edouard, hör auf damit, ja1?« »Aber du hast niemanden. Wenn ich dich umbringe, bekommen wir alles. Ich hab mich erkundigt. Wir sind deine nächsten Angehörigen.« Die nächsten Angehörigen. Der Typ war ja völlig krank. »Und wenn sie dich schnappen, wandert ihr alle in den Knast«, erwiderte ich, »und ich erbe alles, weil man seinen Großvater nicht einfach umbringt.
Verstehst du? So was tut man nicht. Und schon gar nicht mit seiner Tante von der Polizei. Und jetzt beweg dich endlich, Charles-Edouard!« »Genau. Ich kann Sie nun nicht mehr gehen lassen.« Ich stand bis zur Taille im Wasser. Ihm einen Fußtritt zu verpassen, kam also nicht in Frage. Ausgerechnet das, was ich am besten beherrschte. Einen Fußtritt mitten ins Gesicht. Wie einen Peitschenhieb. Wie ein Geistesgestörter stürzte er sich auf mich. Er preßte mir 164 das Handtuch über den Kopf und versuchte, mich zu ertränken. Aber ich ließ mich einfach fallen. Das war die richtige Taktik. Er drückte mit aller Kraft, fand aber keinen Widerstand. Völlig außer sich versuchte er, mich an der Gurgel zu packen, doch dann fiel ihm wohl ein, daß er keine Spuren hinterlassen durfte. Ich kam von unten. Im Vorbeigleiten packte ich seine Genitalien und zerquetschte sie. Er stieß einen fürchterlichen Schrei aus, und - jedem das Seine - jetzt war er es, der Wasser schluckte. Ich blieb ihm nichts schuldig, sondern vermöbelte ihn nach allen Regeln der Kunst. Er hätte mir eben nicht auf die Nerven gehen sollen. Und das habe ich ihm dann auch gesagt, als ich ihn an den Haaren zum Strand hin zog. »Ich bring Sie um«, gurgelte er. Pfff. Darauf hatte er wirklich keine Antwort verdient. Stattdessen zeigte ich ihm einen meiner tödlichen Fußtritte. Ihn warf es bis zu den Bambussträuchern. Dann hörte ich plötzlich Schreie. Rembrandt kam zum Strand gelaufen, wobei er mit einer Hand seinen Hut festhielt. An dieses Bild erinnere ich mich noch gut. Seine kleinen Stiefel peitschten durchs Wasser, aber immer blieb eine Hand auf dem Hut. »Sie sind ja schlimmer als ein wildes Tier«, brüllte er. Ich bemerkte, daß ich beim Kampf mein Oberteil verloren hatte. Es trieb mit Popeye in den Wellen. »Nicht mal fünf Minuten kann man Sie aus den Augen lassen«, wetterte Karottenkopf los. Gleichzeitig wandte er schamhaft den Blick ab. »Nein, also wirklich ... Sie sollte man einsperren, Myrtille.« Ich versuchte, wieder zu Atem zu kommen. »Und was wollen Sie mir diesmal auftischen?« Ich sammelte mein Oberteil wieder ein. »Hm? Was für eine ausgefallene Entschuldigung wollen Sie mir diesmal anbieten, um sich zu rechtfertigen?« »Mein Neffe ist ein Mörder. Reicht Ihnen
das?« »Sonst nichts?« sagte Rembrandt und reichte mir seine Lederjacke. »Sie lügt!« stammelte Charles-Edouard. Die Jacke wog Tonnen. Original Supermarktware. Ich drehte mich zu meinem Psychopathen hinüber. »Wiederhol mal, was du mir vorher erzählt hast.« »Sie lügt«, wiederholte er und spuckte dabei Sand aus. »Das Miststück!« 165 »Paß auf, was du sagst, Charles-Edouard. Und erklär doch mal, warum ihr euch alle gegen die Autopsie gesträubt habt.« »Meine Mutter kann nichts dafür!« kläffte er. »Wofür kann sie nichts, Charles-Edouard?« Rembrandt hatte uns den Rücken zugewandt. Die Arme über seiner schmächtigen Brust verschränkt, schaute er ruhig in die weite Ferne. Etwa zweihundert Meter über uns stotterte ein Flugzeug vorbei und zog ein Werbebanner für Kuchenspezialitäten aus St. Tropez hinter sich her. »Sie sind bloß ein ...«, mein Neffe setzte an zu einem Schimpfwort, »bloß ein ...« »Das hast du uns schon gesagt.« Er stand auf, tat so, als wolle er nur seinen wassertriefenden Anzug ausschütteln, bis er plötzlich versuchte, über den Strand hin abzuhauen. Rembrandt bewegte sich immer noch nicht. Er griff lediglich zu seinem Handy. »Hallo, Poussin? Ja. Tu mir den Gefallen und halt das kleine Arschloch auf.« Charles-Edouard stolperte, fing sich wieder und rannte direkt auf den Parkplatz zu. Wo ihn aber schon der BX erwartete. Von weitem sahen wir, wie Poussin ihn niederstreckte und ihm Handschellen verpaßte. Eine SuperOrganisation. »Gut«, sagte Rembrandt, »ich begleite Sie nach Hause.« Seite an Seite machten wir uns auf den Weg. »Ich hab gedacht, Sie wollten mich nicht mehr sehen, Commandant.« »Stimmt schon. Ich hab trotzdem noch mal bei Ihnen vorbeigeschaut.« »Dann haben Sie ja Ihre Kollegen getroffen.« »Tut mir leid, Myrtille, das war die Steuerfahndung. Ein Geschenk der Richterin.« Ich war ganz fasziniert von den Spuren, die seine Stiefelchen im feuchten Sand hinterließen. »Kein Problem«, sagte ich.
»Ja. Ich war dort, weil ich Ihnen sagen wollte, daß Palladio ausgepackt hat. Er hat alle verpfiffen. Wegen der Friedhofsgeschichte, da hatte Brunelleschi ein U-Boot in der Gendarmerie.« »Blueberry?« fragte ich. 166 »Mathias irgendwas. Was ist denn das schon wieder für eine Geschichte mit diesem Blueberry?« »Vergessen Sie's, Commandant, wir reden vom gleichen Mann. Ich hab's mir schon irgendwie gedacht.« »Sie haben wirklich was drauf, Lieutenant. Was mich angeht, man hat mich von dem Fall abgezogen. Ich fahre nach Paris zurück.« Wir kamen zum BX. Charles-Édouard zog einen ziemlichen Flunsch und war auf dem Rücksitz zusammengesunken. Nicolas Poussin, immer noch ohne besondere Kennzeichen, saß auf der Kühlerhaube und wartete auf uns. »Soll ich Sie daheim absetzen?« fragte Rembrandt. Ich war einverstanden, warum auch nicht, und dann fuhren wir los, alle vier, wie gute alte Kumpels. 30 Ende der Geschichte. Gegen 15 Uhr sperrte ich das Haus ab. Die Steuerfahndung hatte eine unglaubliche Baustelle hinterlassen, ehe sie unverrichteter Dinge wieder abgezogen war. Meine Schwester und die Rotzgöre leisteten meinem psychopathischen Neffen Beistand, der auf der Gendamerie nach wie vor alles leugnete. Ein seltsames Gefühl, den Vorplatz ohne den Clio zu sehen. Rembrandt hatte ein Flugzeug zurück nach Paris genommen, und ich würde es ihm bald gleich tun. Morgen ging es wieder an die Arbeit. Ich wußte nicht, ob ich eines Tages hierher zurückkehren würde. Der Erbteil meiner Schwester würde wahrscheinlich auf Eis gelegt, bis entschieden war, ob es zu einer Anklage käme oder nicht. Und ich würde reich sein, beziehungsweise sehr reich. Jetzt lag alles hinter mir. Ich lief zu Fuß quer durchs Cap, so wie ich gekommen war, nur mit meinem kleinen Rucksack. Auf dem Weg zum Eingangstor war ich keinem Menschen begegnet. Ahmed hatte Palladios Platz eingenommen. Er saß auf der Veranda und schien auf mich zu warten. »Na, kleine Blume, verläßt du uns schon wieder?« »Wie du siehst.« Ich reichte ihm die Hausschlüssel. »In fünf Minuten geht mein Bus.«
»Und? Kommst du irgendwann mal wieder?« 167 Ich zuckte die Schultern, nicht besonders überzeugt. »Schade. Wenn du kommst, ist wenigstens was geboten.« »Über so was kann ich gar nicht lachen, Ahmed.« »Tja.« »Und was hast du so vor?« »Ich kaufe mir einen Porsche und eine Yacht und nehme meine Frau und die Kinder mit auf eine Weltreise«, spöttelte er ein wenig traurig. »Nein, im Ernst, Ahmed.« Resigniert breitete er die Arme aus. »Das Übliche. Wir kriegen einen neuen Verwalter, und ich kehre weiter meine Blätter zusammen. So ist das Leben, Myrtille.« »Kommst du mich mal in Paris besuchen? Du bist jederzeit willkommen.« Erneut breitete er die Arme aus. »Wart mal kurz«, sagte er und stand auf. Ahmed verschwand im Haus. Ich schaute unterdessen in den blauen Himmel. Er kam mit einer Zeichenmappe zurück, die mit einer braunen Schnur zusammengebunden war. »Das ist für dich.« »Gibt's was zu feiern?« »Nein. Gestern hab ich das völlig vergessen. Dein Vater hat es für dich da gelassen.« »Mein Vater?« »Er wollte es nicht im Haus lassen. Er hat gesagt, ich soll es dir geben, falls ... Na, du verstehst schon.« Ich verstand allerdings. Ich ließ den Rucksack auf die Straße plumpsen. »Gemach! Gemach!« sagte er lächelnd. »In Gottes Namen, Ahmed! Du hast es vergessen!?« Verwundert nickte er. »Total. Tut mir leid, aber ich hatte den Kopf woanders.« Zweiundzwanzig Tote. Genau zweiundzwanzig Tote wegen dieser Mappe, die er mir entgegenhielt. Rembrandt hatte sich die Zeit genommen, alle Toten zusammenzuzählen. »Weißt du überhaupt, was da drin ist?« fragte ich ihn und riß ihm die Mappe aus der Hand. »Keine Ahnung. Jetzt hör aber auf, Myrtille! Für wen hältst du mich eigentlich? Und mäßige deinen Ton. Ich darf dich daran erin167 nern, daß ich dir als Kind regelmäßig den Hintern abgewischt habe.«
Ich setzte mich mitten auf die Straße und blieb lange Zeit hok-ken, das alles unter Ahmeds Augen, der es nicht mehr wagte, mir näher zu kommen. »Kleine Blume«, sagte er schließlich sanft, »du wirst noch deinen Bus verpassen.« Ich riß die Mappe auf. Nur um sicher zu gehen. Es war der Renoir, na klar, in Seidenpapier eingewickelt. Ein Ball. Junge Frauen im Kleid und Männer mit Strohhut, die tanzten. Einfach so. In aller Ruhe. 1876. »Was ist denn das?« »Das, Ahmed, sind achtundsiebzig Millionen Dollar.« Er hat mir nicht geglaubt. Er sagte, ich hätte mich gar nicht geändert, aber er sei froh, daß ich endlich meinen Sinn für Humor wiedergefunden hätte. Dann begleitete er mich zum Bus und nahm mir das Versprechen ab, ihn auf dem laufenden zu halten. Kein Problem. Als erstes kaufte ich ihm einen Porsche. Dieser Roman ist reine Fiktion. Jede Ähnlichkeit mit realen Begebenheiten oder Personen ist rein zufällig. Man kann es nicht allen recht machen Olivier Mau über Myrtille, Fiktion und Realität Wenn man sich Ihre beeindruckende Bibliographie so ansieht, drängt sich zuallererst die Frage auf: Schlafen Sie auch hin und wieder? Meine Mutter war lange Zeit der Meinung, ich schliefe zuviel. Da Myrtille am Strand Ihr erster in Deutschland übersetzter und veröffentlichter Roman ist, können Sie uns ein wenig über Ihre anderen Bücher erzählen? Jedes Buch ist ein neues Abenteuer mit ganz eigenem Ansatz, der einer neuen Lust, einem Kampf oder einer bestimmten Lebenssituation entspricht. Ich kann hier unmöglich von allen erzählen. Myrtille hat in gewisser Weise eine Ausnahmestellung, weil es sich hierbei um eine Serie handelt, bei der ich - egal was passiert - die Verpflichtung und das Vergnügen habe, mich mit dieser Ich-Erzählerin zusammenzuraufen. Sie schreiben in vielen Genres Bücher. Ist dieser Genrewechsel für Sie eher schwierig oder aus dem einen oder anderen Grund wichtig? Ich habe eher die Befürchtung, nur in einem einzigen Genre zu schreiben, nämlich meinem. Allerdings schreibe ich auch Jugendbücher, in denen man gewisse Dinge nicht erzählen oder zeigen kann. Man muß sie umgehen. In diesem Bereich versuche ich die Bücher zu schreiben, die ich selbst gern gelesen hätte, als ich jung war. Eine Art Abrechnung mit meiner eigenen Jugend. Was bedeutet für Sie der roman noirl
Der roman noir ist in erster Linie ein Gesellschaftsroman, ein Zeitzeugnis für die jeweilige Epoche. Wenn ich einen roman noir aus den 50ern lese, erfahre ich, wer an der Macht war, wie teuer 169 das Leben war, welche Mode aktuell war etc. Im Gegensatz zum Polizeiroman, der einen Fall zum Mittelpunkt hat, steht im roman noir der Plot nur an zweiter Stelle. Die Personen spielen die Hauptrolle. »Verbrechen und Strafe« ist hierfür das beste Beispiel. Der Mörder ist von Anfang an bekannt. Entscheidend sind die Konsequenzen. Wie ist die Idee zur Myrtille-Trilogie entstanden? Am Anfang war Myrtille ein >one shoU. Mein Verleger hat mir dann vorgeschlagen, aus Myrtille eine Serienheldin zu machen. Die ursprüngliche Idee bestand darin, Geschichten zu erzählen, die innerhalb von 24 Stunden spielen. Im allgemeinen muß ein Serienheld im Hinblick auf künftige Abenteuer alles heil überstehen. Meistens ist er im Recht und kämpft für die gute Sache. Myrtille dagegen ist nervig, eingebildet, zynisch, käuflich und nicht immer sympathisch. Sie ist eine Anti-Heldin. Der erste Band, Myrtille am Strand, fordert eine erstaunliche Zahl an Opfern. Sind Sie nicht der Meinung, daß fiktive Gewalt reale Gewalt auslösen kann, eine in Deutschland sehr populäre Theorie? Erzählen Sie mir nicht, daß die Deutschen nicht zwischen Fiktion und Realität unterscheiden können. Wenn einen ein Buch nervt, kann man es zuklappen. Ich weiß seit langem, daß man es nicht allen recht machen kann. Diese Art von Theorien trifft sicherlich auf Medien zu, die von realen Ereignissen berichten. Die Bücher bleiben Fiktion. Man begegnet in diesem Roman nicht vielen sympathischen Personen: die geldgierigen, ja kriminellen Verwandten, die unfähigen und lächerlichen Polizisten, die Sensationspresse. Von den Reichen am Cap gar nicht erst zu reden. Entspricht diese ironische Darstellung Ihrem Bild von der französischen Gesellschaft, wie sie sich heutzutage präsentiert? Ich freue mich für die Leute, denen es gut geht, und wünsche ihnen ein langes Leben. Aber es sind die Verrückten, die mich interessieren. Geldgierige Leute gibt es ebenso wie zwielichtige Journalisten und unfähige Polizisten. In diesem Band sind einfach nur alle zur gleichen Zeit am gleichen Ort. 169 Ich möchte mit meinen Büchern vor allem unterhalten. Was mich jedoch nicht daran hindert, meine Augen offen zu halten. Die Russen machen sich tatsächlich im Süden Frankreichs breit. Polizisten werden wegen Korruption verhaftet. Das Schäbige ist Teil der Gesellschaft. Wie der Spott.
Lesen Sie selbst gerne Kriminalromane? Welches sind Ihre Lieblingsautoren und von wem fühlen Sie sich hauptsächlich beeinflußt? Zur Zeit begeistern mich besonders Autoren aus Florida wie Tim Dorsey, Vicky Hendricks oder Carl Hiaasen. Auf ebenso unprätentiöse wie unnachahmliche Weise beobachten und kommentieren sie, ohne einem ihre Meinung aufzudrängen. Möchten Sie den deutschen Leserinnen und Lesern noch irgendetwas sagen? Ganz liebe Grüße an Ronald Brandt. Dieses Interview wurde im Sommer 2006 per E-Mail geführt.