Agatha Christie Mörderblumen
AGATHA CHRISTIE
Mörderblumen
Scherz
Einmalige Ausgabe 1997 Einzig berechtigte Übertra...
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Agatha Christie Mörderblumen
AGATHA CHRISTIE
Mörderblumen
Scherz
Einmalige Ausgabe 1997 Einzig berechtigte Übertragung aus dem Englischen von Edith Walter, Hella von Brackel und Felix von Poellheim Titel des Originals: »The Listerdale Mystery« Copyright: © SOS 1925, © The Rajah’s Emerald 1926, © The Dressmaker’s Doll 1958, © The Listerdale Mystery 1925, © The Golden Ball 1929, © A Fruitful Sunday 1928, © The Hound of Death 1933, alle Agatha Christie Alle deutschsprachigen Rechte beim Scherz Verlag, Bern, München, Wien.
Inhalt
SOS................................................................................7 Der Smaragd des Radschas .........................................31 Die Puppe der Schneiderin ..........................................55 Etwas ist faul ...............................................................83 Die goldene Kugel.....................................................105 Sonntag ......................................................................121 Der Hund des Todes ..................................................135
SOS
»Ah!« sagte Mr. Dinsmead beifällig. Er trat ein paar Schritte zurück und betrachtete prüfend den runden Tisch. Das grobe weiße Tischtuch, Messer, Gabeln und das Geschirr schimmerten im Feuerschein. »Ist – ist alles fertig?« fragte Mrs. Dinsmead zögernd. Sie war eine kleine, verblühte Frau mit farblosem Gesicht und schütterem, straff aus der Stirn gekämmtem Haar. Sie war ständig nervös. »Alles ist fertig«, sagte ihr Mann mit einer Art grimmiger Freundlichkeit. Er war groß, hielt den Rücken gebeugt und hatte ein breites rotes Gesicht. Seine Schweinsäuglein schauten blinzelnd unter buschigen Brauen hervor, und sein großer Schädel war völlig kahl. »Limonade?« fragte Mrs. Dinsmead beinahe flüsternd. Ihr Mann schüttelte den Kopf. »Tee. Das ist in jeder Beziehung besser. Schau dir doch das Wetter an, es regnet in Strömen, der Wind heult. An einem solchen Abend braucht man eine Tasse guten, heißen Tee zum Essen.« Er zwinkerte scherzhaft und betrachtete wieder den Tisch. »Ich möchte ein paar Eier, kaltes Corned beef, Brot und Käse zum Abendessen. Los, Mutter, sieh zu, daß es fertig wird! Charlotte wartet schon in der Küche und wird dir helfen.« 7
Mrs. Dinsmead stand auf, wobei sie sorgfältig die Wolle ihres Strickzeugs aufrollte. »Sie ist zu einem sehr hübschen Mädchen herangewachsen«, sagte sie leise. »Zu einer lieblichen Schönheit würde ich sagen.« »Ah!« rief Mr. Dinsmead. »Sie ist das Ebenbild ihrer Mutter. Und jetzt beeil dich, wir wollen keine Zeit mehr verlieren.« Er ging eine Weile im Zimmer hin und her und summte vor sich hin. Einmal trat er ans Fenster und schaute hinaus. »Ein schlimmes Wetter«, sagte er zu sich selbst. »Es ist unwahrscheinlich, daß sich heute abend ein Besucher zu uns verirrt.« Dann verließ er den Raum. Etwa zehn Minuten später kam Mrs. Dinsmead wieder herein. Sie trug eine Platte mit Spiegeleiern. Hinter ihr gingen ihre beiden Töchter mit dem übrigen Essen. Mr. Dinsmead und sein Sohn Johnnie bildeten den Schluß. Mr. Dinsmead setzte sich auf den Platz des Hausherrn. »Und segne, was du uns bescheret hast, und so weiter«, sagte er humorvoll. »Gesegnet sei auch der Mann, der die Konserve erfunden hat. Ich möchte wissen, was wir in unserer Einöde ohne Konserven anfangen würden, wenn der Fleischer wieder mal vergißt, auf seiner Wochenrunde bei uns hereinzuschauen.« Geschickt schnitt er das Corned beef in Scheiben. »Ich frage mich nur, wem es wohl eingefallen sein mag, ein Haus wie dieses zu bauen, meilenweit von jeder anderen menschlichen Behausung entfernt«, sagte seine Tochter Magdalen verdrießlich. »Wir kriegen nie eine Menschenseele zu sehen.« »Ja«, sagte ihr Vater, »nie eine einzige Menschenseele.« »Ich kann nicht begreifen, warum du’s gekauft hast, Vater«, sagte Charlotte. 8
»Wirklich nicht, mein Mädchen? Nun, ich hatte meine Gründe – ich hatte meine Gründe!« Er warf seiner Frau einen verstohlenen Blick zu, doch sie runzelte nur die Stirn. »Außerdem spukt es hier«, sagte Charlotte. »Um keinen Preis der Welt würde ich allein in diesem Haus schlafen.« »So ein Unsinn!« antwortete ihr Vater. »Du hast noch nie etwas gesehen, oder? Gib es zu!« »Gesehen vielleicht nicht, aber ...« »Aber was?« Charlotte antwortete nicht, aber sie schauderte leicht. Eine heftige Bö peitschte den Regen gegen die Fensterscheiben, und Mrs. Dinsmead ließ einen Löffel auf das Tablett fallen, daß es klirrte. »Du bist doch nicht etwa nervös, Mutter?« fragte Mr. Dinsmead. »Es ist eine schlimme Nacht, sonst nichts. Hab keine Angst, hier an unserem Kamin sind wir sicher, und kein Mensch wird uns stören. Es wäre ein wahres Wunder, wenn jetzt jemand käme. Und Wunder gibt es nicht. Nein«, fügte er mit einem Unterton sonderbarer Befriedigung hinzu, als spräche er zu sich selbst, »Wunder gibt es nicht.« Kaum hatte er die Worte ausgesprochen, klopfte es an die Haustür. Mr. Dinsmead schien zu erstarren. »Wer kann das sein?« murmelte er. Mrs. Dinsmead stieß einen leisen, wimmernden Schrei aus und zog sich den Schal enger um die Schultern. Magdalens Gesicht bekam etwas Farbe, sie beugte sich vor und sagte zu ihrem Vater: »Das Wunder ist geschehen. Geh lieber aufmachen und laß denjenigen herein, der draußen steht – wer es auch ist.« Zwanzig Minuten früher hatte Mortimer Cleveland im Nebel und strömenden Regen dagestanden und seinen Wagen betrachtet. Das war wirklich ein verdammtes Pech! 9
Zwei Reifenpannen innerhalb von zehn Minuten, und da war er nun, gestrandet, meilenweit von irgendwo, mitten in den kahlen Wiltshire Downs, die lange Nacht vor sich und nirgends eine Zuflucht. Doch es geschah ihm recht, warum hatte er versucht, die Abkürzung zu nehmen? Wäre er nur auf der Hauptstraße geblieben! Jetzt hatte er sich in den Hügeln auf einem Feldweg verfahren, saß mit dem Wagen fest und hatte keine Ahnung, ob es in der Nähe überhaupt ein Dorf gab. Beunruhigt schaute er sich um, und auf einmal entdeckte er über sich auf dem Hügel einen Lichtschimmer. Im nächsten Moment verschwand er wieder im Nebel, aber Cleveland wartete geduldig und sah kurz darauf das Licht zum zweitenmal. Nachdem er kurz überlegt hatte, begann er den Hügel hinaufzusteigen. Bald hatte er den Nebel hinter sich gelassen und stellte fest, daß der Lichtschein aus dem Fenster eines kleinen Hauses fiel. Dort gewährte man ihm ganz gewiß Unterkunft. Cleveland beschleunigte den Schritt und senkte den Kopf, um sich gegen den wütenden Angriff von Wind und Regen zu stemmen, die sich größte Mühe gaben, ihn zurückzutreiben. Cleveland war auf seine Weise eine Berühmtheit, obwohl zweifellos die Leute in der Überzahl waren, die weder seinen Namen kannten noch wußten, was er geleistet hatte. Er war eine Autorität auf dem Gebiet der Erforschung des menschlichen Geistes und hatte zwei hervorragende Bücher über das Unbewußte geschrieben . Er war Mitglied der »Gesellschaft zur Erforschung des Übersinnlichen« und beschäftigte sich auch mit Okkultismus, soweit er seine eigenen Erkenntnisse und Forschungen berührte. Er war von Natur aus besonders empfänglich für Stimmungen und hatte diese Gabe durch zielbewußte Schulung noch weiter ausgebildet. Als er das kleine Haus schließlich erreicht hatte und an die Tür klopfte, empfand er Erregung, 10
eine immer größer werdende Neugier, als seien alle seine Sinne plötzlich aufs höchste angespannt. Er hatte deutliches Stimmengemurmel gehört, aber nachdem er geklopft hatte, trat Stille ein. Dann wurde ein Stuhl zurückgeschoben. Kaum eine Minute später riß ein ungefähr fünfzehnjähriger Junge die Tür auf. Über seine Schulter hinweg blickte Cleveland direkt in ein erleuchtetes Zimmer. Die Szene erinnerte ihn an das Gemälde eines niederländischen Meisters. Ein runder, zum Essen gedeckter Tisch, eine Familie, die sich an diesem Tisch versammelt hatte, ein paar flackernde Kerzen und über allem der glühende Schein des Kaminfeuers. Der Vater, ein großer, breiter Mann, saß an der einen Seite des Tisches, ihm gegenüber eine kleine, farblose Frau mit einem verängstigten Gesicht. Der Tür zugewandt saß ein Mädchen. Sie sah Cleveland an. Ihre erschrockenen Augen schauten direkt in die seinen, und ihre Hand, die eben die Tasse an die Lippen heben wollte, hielt mitten in der Bewegung inne. Sie war, das sah Cleveland sofort, ein schönes Mädchen und ein höchst ungewöhnlicher Typ. Ihr rotgoldenes Haar umgab ihr Gesicht wie eine Wolke, ihre sehr weit auseinanderstehenden Augen waren von reinem Grau. Sie hatte den Mund und das Kinn einer frühitalienischen Madonna. Einen Augenblick herrschte tödliche Stille. Dann trat Cleveland ins Zimmer und erklärte seine mißliche Lage. Als er seine banale Geschichte zu Ende erzählt hatte, folgte wieder eine rätselhafte Pause. Schließlich stand der Vater auf, doch es sah aus, als müsse er sich dazu zwingen. »Kommen Sie herein, Sir – Mr. Cleveland, wenn ich richtig verstanden habe?« »So heiße ich«, erwiderte Cleveland lächelnd. »Ah! Ja. Also herein mit Ihnen, Mr. Cleveland! Bei einem solchen Wetter jagt man keinen Hund auf die Straße, nicht
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wahr? Kommen Sie ans Feuer. Mach die Tür zu, Johnnie! Steh nicht die halbe Nacht dort herum.« Cleveland trat näher und setzte sich auf einen hölzernen Hocker neben dem Kamin. Johnnie machte die Tür zu. »Dinsmead ist mein Name«, sagte der Hausherr. Erwar jetzt sehr freundlich. »Das ist meine Frau, und die beiden Mädchen sind meine Töchter, Charlotte und Magdalena Zum erstenmal sah Cleveland das Gesicht des Mädchens, das ihm den Rücken zugekehrt hatte. Sie war, obwohl ihre Schönheit von ganz anderer Art war, genauso reizvoll wie ihre Schwester. Sehr dunkel, mit einem Gesicht von marmorner Blässe, einer zarten, leicht gebogenen Nase und einem ernsten Mund. Es war eine erstarrte, strenge und beinahe beängstigende Schönheit. Nachdem ihr Vater sie dem Gast vorgestellt hatte, neigte sie den Kopf und sah ihn mit einem forschenden Blick an. Es war, als schätze sie ihn ab, messe ihn mit dem Maß ihres jungen Verstandes. »Möchten Sie einen Schluck trinken, Mr. Cleveland?« »Besten Dank«, antwortete Mortimer. »Eine Tasse Tee genügt mir völlig.« Mr. Dinsmead zögerte eine Weile, nahm dann die fünf Tassen, eine nach der anderen, und goß sie in einen leeren Krug. »Der Tee ist kalt«, sagte er schroff. »Mach uns frischen, ja, Mutter?« Mrs. Dinsmead erhob sich rasch und hastete mit der Teekanne hinaus. Cleveland hatte den Eindruck, daß sie froh war, das Zimmer verlassen zu können. Der frische Tee war bald fertig, und dem unerwarteten Gast wurde außerdem ein komplettes Abendessen aufgedrängt. Der Hausherr redete und redete. Er war überschwenglich, leutselig, geschwätzig. Er erzählte dem Fremden alles über sich. Er hatte sich kürzlich aus dem Baugewerbe zurückgezogen – ja, er hatte recht anständig verdient. Er und seine 12
Frau hätten gemeint, ein bißchen Landluft könne nicht schaden. Sie hatten bisher noch nie auf dem Land gelebt. Es war natürlich nicht die richtige Jahreszeit, die sie sich ausgesucht hatten, jetzt im Oktober, November, aber sie hatten nicht warten wollen. »Das Leben ist eine recht unsichere Sache, nicht wahr, Sir?« Und sie hatten dieses kleine Haus gekauft. Acht Meilen vom nächsten Nachbarn und neunzehn Meilen von der nächsten Ortschaft entfernt, die man mit einiger Berechtigung eine Stadt nennen konnte. Nein, sie beklagten sich nicht. Die Mädchen fanden es ein bißchen öde, aber er und seine Frau genossen die Ruhe. Er redete und redete und hypnotisierte Cleveland fast mit seiner leicht dahinplätschernden Wortflut. Ganz gewiß war nichts Ungewöhnliches hier zu finden, nur ziemlich alltägliche Häuslichkeit. Und doch hatte Cleveland bei seinem ersten Blick ins Innere dieses Hauses etwas anderes gespürt, eine nervöse Spannung, die von einem dieser vier Menschen ausging – er wußte nicht, von welchem. Doch das war purer Unsinn! Seine Nerven spielten verrückt. Sein plötzliches Auftauchen hatte sie erschreckt, mehr steckte nicht dahinter. Er fragte zurückhaltend, ob er vielleicht im Haus übernachten könne, und man forderte ihn bereitwillig zum Bleiben auf. »Sie müssen mit uns vorlieb nehmen, Mr. Cleveland, Sie finden meilenweit kein anderes Haus. Wir haben ein Zimmer für Sie, und obwohl mein Pyjama Ihnen vielleicht ein bißchen zu weit sein wird, ist er besser als nichts, und Ihre Sachen können bis zum Morgen trocknen.« »Das ist sehr freundlich von Ihnen.« »Nicht der Rede wert«, entgegnete der Hausherr herzlich. »Wie ich vorhin schon sagte, würde man in einer solchen Nacht keinen Hund auf die Straße jagen. Magdalen, Charlotte, geht hinauf und bringt das Zimmer in Ordnung.«
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Die beiden Mädchen verließen den Raum. Kurz darauf hörte Cleveland sie oben hin und her gehen. »Ich verstehe sehr gut, daß zwei so anziehende junge Mädchen wie Ihre Töchter es hier öde und langweilig finden«, sagte er. »Sind beide bildhübsch, wie?« sagte Mr. Dinsmead mit väterlichem Stolz. »Nicht wie ihre Mutter und ich. Wir sind einfache Leute, aber wir hängen sehr aneinander, das kann ich Ihnen sagen, Mr. Cleveland. Eh, Maggie, ist es nicht so?« Mrs. Dinsmead lächelte steif. Sie hatte wieder angefangen zu stricken. Ihre Nadeln klapperten geschäftig. Sie strickte sehr schnell. Bald darauf meldeten die Mädchen, das Zimmer sei bereit. Cleveland bedankte sich noch einmal und erklärte, er wolle jetzt Schlafengehen. »Habt ihr ihm eine Wärmflasche ins Bett gelegt?« fragte Mrs. Dinsmead, die sich plötzlich auf ihre Hausfrauenpflichten besann. »Ja, Mutter, zwei sogar.« »Das ist recht«, sagte Dinsmead. »Geht mit ihm hinauf, Mädchen, und kümmert euch um ihn, falls er noch einen Wunsch hat.« Die Kerze in die Höhe haltend, stieg Magdalen vor Cleveland die Treppe hinauf. Charlotte ging hinter ihm. Das Zimmer war freundlich, klein und hatte eine schräge Wand, das Bett sah bequemaus. Die ziemlich staubigen Möbel waren aus altem Mahagoni. In der Waschschüssel stand ein Krug mit heißem Wasser, und über einem Stuhl lag ein rosafarbener Pyjama von üppigen Ausmaßen. Das Bett war gemacht und die Decke zurückgeschlagen. Magdalen ging zum Fenster und prüfte, ob es ordentlich geschlossen war. Charlotte überzeugte sich mit einem letzten
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Blick, daß auf dem Waschtisch nichts fehlte. Dann blieben beide ein wenig unsicher an der Tür stehen. »Gute Nacht, Mr. Cleveland. Haben Sie auch wirklich alles?« »Ja, besten Dank, Miss Magdalen. Es ist mir ein bißchen peinlich, weil ich Ihnen beiden so viel Mühe mache. Gute Nacht.« »Gute Nacht.« Sie gingen hinaus und schlossen die Tür hinter sich. Cleveland war allein. Langsam und nachdenklich zog er sich aus. Nachdem er sich in Mr. Dinsmeads rosafarbenen Schlafanzug gehüllt hatte, sammelte er seine nassen Sachen ein und legte sie vor die Tür. Sein Gastgeber hatte ihn darum gebeten. Aus dem Erdgeschoß hörte er noch immer das Dröhnen von Dinsmeads Stimme. Was für ein Schwätzer dieser Mann doch war! Alles in allem ein merkwürdiger Mensch – aber eigentlich hatte die ganze Familie etwas Merkwürdiges an sich. Oder bildete er sich das nur ein? Langsam kehrte er in sein Zimmer zurück und schloß die Tür. In Gedanken versunken blieb er neben dem Bett stehen. Und dann zuckte er zusammen ... Der Mahagonitisch neben dem Bett war mit Staub bedeckt, und jemand hatte deutlich sichtbar drei Buchstaben in den Staub geschrieben: SOS. Er starrte die drei Buchstaben an, als traue er seinen Augen nicht. Sie waren eine Bestätigung seiner unklaren Vermutungen und Ahnungen. Er hatte also recht. Irgend etwas stimmte nicht in diesem Haus. SOS. Ein Hilferuf. Doch wer hatte ihn in den Staub geschrieben? War es Magdalen oder Charlotte gewesen? Sie hatten, wie er sich erinnerte, beide kurz vor dem Tisch gestanden. Wer hatte heimlich diese drei Buchstaben in den Staub gemalt? Er sah die beiden Mädchen wieder vor sich. Magdalens Gesicht, dunkel und unnahbar, und Charlottes Gesicht, wie er es das erstemal gesehen hatte: großäugig, etwas Uner15
gründliches im Blick ... Wieder ging er zur Tür und öffnete sie. Mr. Dinsmeads dröhnende Stimme war nicht mehr zu hören. Es war still im Haus. Heute kann ich nichts mehr tun, dachte Cleveland. Morgen – nun ja, wir werden sehen ... Cleveland erwachte früh. Er ging hinunter ins Wohnzimmer und dann in den Garten. Nach dem Regen war der Morgen frisch und klar. Außer ihm war noch jemand so früh aufgestanden. Charlotte lehnte am Ende des Gartens am Zaun und blickte auf die hügelige Landschaft der Downs. Clevelands Puls begann zu hämmern, während er auf sie zuging. Von Anfang an war er insgeheim davon überzeugt gewesen, daß die Botschaft von Charlotte stammte. Als er auf sie zutrat, wandte sie sich um und wünschte ihm einen guten Morgen. Ihr Blick war offen und kindlich und verriet keine Spur eines heimlichen Einverständnisses. »Einen schönen guten Morgen«, erwiderte Cleveland lächelnd. »Was für ein Unterschied zu gestern abend!« »Wie recht Sie haben.« Cleveland brach von einem in der Nähe stehenden Baum einen Zweig ab und begann, als habe er nichts Besseres zu tun, etwas in den glatten Sand zu seinenFüßen zu malen. Er schrieb ein S, dann ein O und wieder ein S und beobachtete Charlotte dabei genau. Doch wieder entdeckte er keinen Funken Verständnis bei ihr. »Wissen Sie, was diese Buchstaben bedeuten?« fragte er übergangslos. Charlotte zog leicht die Stirn kraus. »Ist das nicht das Signal, das Schiffe – Dampfer funken, wenn sie in Seenot geraten sind?« Cleveland nickte. »Jemand hat es gestern abend auf den Tisch neben meinem Bett geschrieben«, sagte er ruhig. »Ich dachte, daß Sie es vielleicht gewesen sind.« 16
Sie sah ihn mit großäugigem Erstaunen an. »Ich? O nein!« Dann hatte er sich also geirrt. Er fühlte die Enttäuschung wie einen scharfen Stich. Er war so sicher gewesen – so völlig sicher. Es geschah nicht oft, daß seine Intuition ihn täuschte. »Sie waren es bestimmt nicht?« fragte er hartnäckig. »Nein, bestimmt nicht.« Sie machten kehrt und gingen langsam auf das Haus zu. Charlotte schien irgend etwas zu beschäftigen. Auf seine wenigen Bemerkungen antwortete sie nur zerstreut. Plötzlich sagte sie leise und hastig: »Es – es ist wirklich merkwürdig, daß Sie nach diesen Buchstaben fragten. Ich habe sie natürlich nicht geschrieben, aber –ich hätte es sehr leicht tun können.« Er blieb stehen und sah sie an, und sie fuhr rasch fort: »Es klingt albern, ich weiß, aber ich hatte Angst, so schreckliche Angst, und als Sie gestern abend kamen, schien mir das wie – wie eine Antwort zu sein.« »Wovor haben Sie Angst?« fragte er. »Ich weiß es nicht.« »Sie wissen es nicht?« »Ich glaube, es ist das Haus. Seit wir eingezogen sind, ist diese Angst in mir gewachsen und gewachsen. Alle scheinen irgendwie verändert. Vater, Mutter und Magdalen, alle sind anders.« Cleveland antwortete nicht sofort, und dann sprach Charlotte auch schon weiter: »Wissen Sie, daß es in diesem Haus angeblich spukt?« »Was?« Sein Interesse wurde immer größer. »Ja, ein Mann hat hier seine Frau ermordet, vor – oh, es ist schon einige Jahre her. Wir haben es erst erfahren, als wir schon hier wohnten. Vater sagt, Gespenster seien nichts als Unsinn, aber ich – ich weiß nicht ...« 17
Cleveland überlegte schnell. »Sagen Sie«, fragte er sachlich, »wurde der Mord in dem Zimmer verübt, in dem ich heute nacht schlief?« »Darüber weiß ich nichts«, antwortete Charlotte. »Wäre es möglich –«, sagte Cleveland halb zu sich selbst. »Ja, so könnte es gewesen sein.« Sie sah ihn verständnislos an. »Miss Dinsmead«, sagte Cleveland freundlich, »hatten Sie je Anlaß zu glauben, daß Sie über mediale Fähigkeiten verfügen?« Sie starrte ihn nur wortlos an. »Ich denke, Sie wissen, daß Sie gestern abend dieses SOS geschrieben haben. Ganz unbewußt, natürlich. Ein Verbrechen verunreinigt gewissermaßen die Atmosphäre. Das kann sich auf einen empfindsamen Menschen wie Sie so auswirken. Sie haben die Gefühle und die Eindrücke des Opfers nachvollzogen. Vor vielen Jahren schrieb vielleicht jene Frau SOS auf die Tischplatte, und Sie haben gestern abend nur wiederholt, was sie damals tat.« Charlottes Gesicht hellte sich auf. »Ich verstehe«, sagte sie. »Glauben Sie wirklich, das ist die Erklärung?« Jemand rief aus dem Haus nach ihr, und sie ging hinein, während Cleveland seinen Spaziergang durch den Garten fortsetzte. War er mit dieser Lösung zufrieden? Schloß sie alle Tatsachen ein, die er kannte? Erklärte sie auch die Spannung, die er gestern abend beim Betreten des Hauses gespürt hatte? Vielleicht, und doch hatte er noch immer das sonderbare Gefühl, daß sein plötzliches Erscheinen fast so etwas wie Bestürzung ausgelöst hatte. Ich darf mich von solchen übersinnlichen Erklärungen nicht irreführen lassen, dachte er. Sie mag für Charlotte zutreffen, aber nicht für die anderen. Mein Auftauchen hat 18
sie schrecklich aufgeregt, alle außer Johnnie. Was es auch ist, Johnnie ist nicht daran beteiligt. Davon war er fest überzeugt. Merkwürdig, daß er es so sicher wußte, doch so war es nun einmal. In diesem Augenblick tauchte der Junge aus dem Haus auf und kam dem Gast entgegen. »Das Frühstück ist fertig«, sagte er verlegen. »Kommen Sie bitte mit rein.« Cleveland fiel auf, daß Johnnie fleckige und verfärbte Finger hatte. Der Junge bemerkte seinen Blick und lachte leise. »Ich spiele dauernd mit Chemikalien herum, wissen Sie«, sagte er. »Es macht meinen Vater manchmal ziemlich wütend. Ich soll Maurer lernen, aber ich möchte Chemie studieren und in die Forschung gehen.« Mr. Dinsmead erschien an dem Fenster vor ihnen, breit, wohlwollend, lächelnd, und bei seinem Anblick erwachten in Cleveland wieder Mißtrauen und Feindseligkeit . Mrs. Dinsmead hatte schon am Tisch Platz genommen. Sie wünschte ihm mit ihrer farblosen Stimme »guten Morgen«, und wieder hatte er den Eindruck, daß sie sich aus irgendeinem Grund vor ihm fürchtete. Magdalen kam als letzte herein. Sie nickte ihm kurz zu und setzte sich ihm dann gegenüber. »Haben Sie gut geschlafen?« fragte sie plötzlich. »War das Bett bequem?« Sie sah ihn sehr ernst an, und als er ihre Fragen höflich bejahte, merkte er, daß so etwas wie der Schatten einer Enttäuschung über ihr Gesicht huschte. Was hatte sie wohl von ihm zu hören erwartet? Cleveland wandte sich an seinen Gastgeber. »Ihr Sohn scheint sich ja sehr für Chemie zu interessieren«, sagte er liebenswürdig.
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Seinen Worten folgte ein lautes Klirren. Mrs. Dinsmead hatte ihre Teetasse fallen lassen. »Aber, aber, Maggie!« sagte ihr Mann. Cleveland schien es, als enthalte Dinsmeads Stimme eine Ermahnung, eine Warnung. Dann wandte der Hausherr sich seinem Gast zu und sprach flüssig über die Vorzüge des Baugewerbes und darüber, daß man halbwüchsige Jungen nicht ihren Willen lassen dürfe. Nach dem Frühstück ging Cleveland allein in den Garten und rauchte. Allmählich wurde es Zeit, daß er die Dinsmeads verließ. Es war etwas anderes, ob man für eine Nacht ein Obdach suchte oder die gewährte Gastfreundschaft ohne Grund über Gebühr in Anspruch nahm. Und welchen Grund hätte er nennen können? Dennoch hatte er absolut keine Lust, sich zu verabschieden. Die Frage, wie er das Problem lösen könnte, ließ ihn nicht los, und ganz in Gedanken schlug er einen Weg ein, der um das Haus herumführte. Seine Schuhe hatten Kreppsohlen und machten wenig oder gar kein Geräusch. Als er am Küchenfenster vorbeikam, hörte er Dinsmead drinnen sprechen, und was er sagte, erregte sofort Clevelands Aufmerksamkeit. »Es ist ein ziemlicher Haufen Geld«, sagte der Hausherr. Mrs. Cleveland antwortete, doch ihre Stimme war zu leise, so daß Cleveland nicht verstand, was sie sagte. »Fast sechzigtausend Pfund, hat der Anwalt gesagt«, entgegnete Dinsmead. Cleveland hatte nicht lauschen wollen, war aber, als er weiterging, sehr nachdenklich. Durch diese Bemerkung über Geld schien die Situation festere Umrisse anzunehmen. Auf diese oder jene Weise ging es um sechzigtausend Pfund, das machte die Dinge klarer – und häßlicher.
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Magdalen kam aus dem Haus, doch die Stimme ihres Vaters rief sie beinahe sofort zurück, und sie ging wieder hinein. Kurz darauf schloß Dinsmead sich seinem Gast an. »Einen so schönen Morgen wie heute gibt es selten«, sagte er. »Ich hoffe nur, Ihr Wagen hat in der Nacht nicht noch mehr Schaden genommen.« Er möchte herausfinden, wann ich verschwinde, dachte Cleveland. Dann bedankte er sich noch einmal für die Gastfreundschaft. »Nicht der Rede wert, nicht der Rede wert«, sagte Mr. Dinsmead. Magdalen und Charlotte verließen das Haus und schlenderten Arm in Arm zu einer etwas entfernt stehenden grob behauenen Bank. Der dunkle und der rotblonde Kopf waren ein reizvoller Gegensatz, und Mortimer sagte aus einem Impuls heraus: »Ihre beiden Töchter sind sich sehr unähnlich, Mr. Dinsmead.« Der Hausherr, der eben seine Pfeife anzünden wollte, zuckte heftig mit der Hand und ließ das Streichholz fallen. »Finden Sie?« fragte er. »Ja, nun, vermutlich stimmt es.« Da kam Cleveland eine blitzartige Erkenntnis. »Aber natürlich sind nicht beide ihre Töchter«, sagte er gelassen. Er merkte, daß Dinsmead ihn ansah, einen Augenblick zögerte und dann einen Entschluß faßte. »Das haben Sie sehr gut beobachtet, Sir«, sagte er. »Ja, die eine wurde von uns adoptiert. Wir haben sie als Baby zu uns genommen und wie unsere eigene Tochter großgezogen. Sie ahnt die Wahrheit nicht, wird sie aber bald erfahren müssen.« Er seufzte. »Handelt es sich um eine Erbschaft?« fragte Cleveland. Dinsmead warf ihm einen mißtrauischen Blick zu, schien jedoch zu der Ansicht zu gelangen, daß Ehrlichkeit das beste sei. Seine Haltung bekam in ihrer Offenheit fast etwas Angriffslustiges. 21
»Wie sonderbar, daß Sie das sagen, Sir.« »Ein Fall von Telepathie, was?« Cleveland lächelte. »Die Sache ist die, Sir. Wir haben sie gegen Bezahlung bei uns aufgenommen, um der Mutter einen Gefallen zu tun und weil wir Geld brauchten, da ich damals gerade meine Baufirma gründete. Vor ein paar Monaten entdeckte ich in einer Zeitung eine Anzeige, und mir schien, daß es sich bei dem gesuchten Kind nur um unsere Magdalen handeln konnte. Ich habe die Anwälte aufgesucht, und es wurde eine Menge hin- und hergeredet. Sie waren mißtrauisch, und das, was man ruhig sagen kann, nicht ohne Grund, doch inzwischen ist alles geklärt. Ich fahre nächste Woche mit ihr nach London, aber bis jetzt weiß sie von der ganzen Sache noch nichts. Ihr Vater war offensichtlich ein reicher jüdischer Geschäftsmann, der erst ein paar Monate vor seinem Tod von der Existenz des Kindes erfuhr. Er beauftragte ein paar Detektive, seine Tochter zu suchen, und hinterließ ihr für den Fall, daß sie gefunden würde, sein ganzes Vermögen.« Cleveland hörte sehr aufmerksam zu. Er hatte keinen Grund, Mr. Dinsmeads Geschichte anzuzweifeln. Sie war die Erklärung für Magdalens dunkle Schönheit und vielleicht sogar für ihr unnahbares Wesen. Trotzdem – obwohl die Geschichte selbst wahr sein konnte, steckte mehr dahinter. Dinsmead hatte irgend etwas verschwiegen. Doch Cleveland hatte nicht die Absicht, ihn mißtrauisch zu machen. Im Gegenteil. »Eine sehr interessante Geschichte, Mr. Dinsmead«, sagte er. »Ich beglückwünsche Miss Magdalen. Als Erbin und von solcher Schönheit hat sie ein schönes Leben vor sich.« »Das hat sie«, pflichtete ihr Vater ihm mit Wärme bei, »und sie ist auch ein ungewöhnlich braves Mädchen, Mr. Cleveland.« »Also«, sagte Cleveland, »ich muß jetzt wohl aufbrechen. Lassen Sie mich Ihnen noch einmal für Ihre Gastfreund22
schaft danken, Mr. Dinsmead. Sie kam genau im richtigen Augenblick.« In Begleitung seines Gastgebers ging er ins Haus zurück, um sich von Mrs. Dinsmead zu verabschieden. Sie stand am Fenster, kehrte ihnen den Rücken zu und hörte sie nicht eintreten. »Mr. Cleveland ist da und möchte Lebewohl sagen, Mutter.« Mrs. Dinsmead zuckte nervös zusammen, fuhr herum und ließ etwas fallen, das sie in der Hand gehalten hatte. Cleveland hob es auf. Es war eine Miniatur von Charlotte, in einem Stil gemalt, der vor etwa fünfundzwanzig Jahren modern gewesen war. Er bedankte sich auch bei Mrs. Dinsmead, und wieder fiel ihm ihre verängstigte Miene auf. Sie senkte halb die Lider und warf ihm einen verstohlenen Blick zu. Die beiden Mädchen waren nirgends zu sehen, doch es gehörte zu Clevelands Plan, so zu tun, als sei er nicht besonders interessiert daran, sich auch von ihnen zu verabschieden. Außerdem hatte er eine ganz bestimmte Vermutung, die sich bald als richtig erweisen sollte. Er war auf dem Weg zu seinem Wagen etwa eine halbe Meile den Hügel hinuntergegangen, als sich auf der einen Seite des Pfades die Büsche teilten und Magdalen heraustrat. »Ich mußte Sie noch einmal sehen«, sagte sie. »Ich habe Sie erwartet«, erwiderte Cleveland. »Sie waren es doch, die gestern abend das SOS auf die Tischplatte schrieb, nicht wahr?« Magdalen nickte. »Warum?« fragte Cleveland freundlich. Sie wandte sich zur Seite und begann Blätter von einem Strauch abzureißen. »Ich weiß es nicht«, sagte sie. »Ich weiß es wirklich nicht.« 23
»Erzählen Sie.« Magdalen holte tief Atem. »Ich bin eine praktisch denkende Person«, sagte sie, »ich bilde mir keine Dinge ein und neige nicht zu Übertreibungen. Sie, das weiß ich, glauben an Geister und Gespenster. Ich nicht. Und wenn ich Ihnen sage, daß in diesem Haus«, sie wies den Hügel hinauf, »etwas nicht geheuer ist, dann meine ich damit, daß man es ganz deutlich spüren kann. Es ist nicht nur ein Echo der Vergangenheit. Es fing schon an, als wir herkamen. Jeden Tag wird es schlimmer. Vater ist verändert, Mutter ist verändert, Charlotte ist verändert ...« »Ist Johnnie verändert?« fiel Cleveland ihr ins Wort. Mit wachsendem Verstehen im Blick sah Magdalen ihn an. »Nein«, sagte sie, »wenn ich genau überlege – Johnnie ist wie immer. Er ist der einzige, der von allem unberührt bleibt. Auch gestern abend beim Tee war er wie immer.« »Und Sie?« fragte Mortimer. »Ich hatte Angst – entsetzliche Angst, wie ein Kind, und ich wußte nicht, wovor. Vater benahm sich so seltsam. Ich finde kein anderes Wort dafür – er war seltsam. Er redete über Wunder, und ich betete – betete wirklich darum, daß ein Wunder geschehen möge. Und dann klopften Sie an die Haustür.« Sie brach unvermittelt ab und musterte ihn herausfordernd. »Ich komme Ihnen wohl ziemlich verrückt vor«, sagte sie dann. »Nein«, erwiderte Cleveland, »im Gegenteil, ich halte Sie für äußerst vernünftig. Alle vernünftigen Leute spüren eine nahende Gefahr.« »Sie verstehen mich nicht«, sagte Magdalen, »ich hatte keine Angst um mich ...« »Um wen dann?« Doch wieder schüttelte sie nur verwirrt den Kopf. 24
»Ich weiß es nicht. Als ich das SOS schrieb, geschah es ganz impulsiv. Ich hatte die zweifellos lächerliche Idee, daß ich nicht mit Ihnen sprechen dürfte. Daß die anderen es nicht erlauben würden, meine ich. Ich weiß nicht, um was ich Sie eigentlich bitten wollte und was Sie tun sollten. Ich weiß es auch jetzt nicht.« »Macht nichts«, sagte Cleveland. »Ich tue es trotzdem.« »Was denn?« Cleveland lächelte leicht. »Nachdenken.« Sie sah ihn zweifelnd an. »Ja«, sagte Cleveland, »auf diese Weise kann man viel erreichen, mehr als Sie für möglich halten. Sagen Sie, haben Sie gestern vor dem Abendessen zufällig ein Wort oder einen Satz gehört, der Ihnen besonders auffiel?« Magdalen runzelte die Stirn. »Ich glaube nicht«, antwortete sie. »Das heißt, ich habe gehört, wie mein Vater zu meiner Mutter sagte, Charlotte sei ihr Ebenbild, und dann lachte er irgendwie komisch – aber daran ist doch nichts merkwürdig, oder?« »Nein«, entgegnete Cleveland langsam, »nichts. Außer daß Charlotte ihrer Mutter nicht ähnlich sieht.« Er blieb ein paar Minuten in Gedanken versunken stehen, blickte dann auf und bemerkte, daß Magdalen ihn unsicher beobachtete. »Gehen Sie nach Hause, Kind«, sagte er, »und machen Sie sich keine Sorgen! Überlassen Sie alles mir!« Gehorsam lief sie den Weg zurück, auf das Haus zu. Cleveland schlenderte ein Stückchen weiter und legte sich ins Gras. Er schloß die Augen, verbannte alle bewußten Gedanken und Überlegungen aus seinem Kopf und ließ die Bilder an seinem geistigen Auge vorüberziehen, wie sie ihm gerade einfielen. Johnnie. Immer wieder kam er auf Johnnie zurück. Johnnie, völlig arglos, völlig unberührt von dem Netz aus Mißtrauen und Intrigen, aber trotzdem der Angel25
punkt, um den sich alles drehte. Er erinnerte sich an das laute Klirren, mit dem Mrs. Dinsmeads Teetasse heute morgen auf der Untertasse zerbrochen war. Warum war sie so erregt gewesen? Wegen seiner beiläufigen Bemerkung, daß der Junge gern mit Chemikalien experimentierte? In jenem Augenblick hatte er nicht auf Mr. Dinsmead geachtet, doch jetzt sah er ihn deutlich vor sich: Er saß da, und die Hand, mit der er die Teetasse an die Lippen führen wollte, schwebte wie erstarrt in der Luft. Das brachte ihn zu Charlotte zurück. Als sich am vergangenen Abend die Tür geöffnet hatte, hatte sie ihn über den Rand ihrer Teetasse hinweg angestarrt. Und diese Erinnerung führte sehr schnell zu einer anderen. Zu Mr. Dinsmead, wie er eine Tasse nach der anderen ausgoß und sagte: »Dieser Tee ist kalt.« Jetzt fiel ihm ein, daß es aus den Tassen noch gedampft hatte. So kalt konnte der Tee also nicht gewesen sein! Ein bestimmter Gedanke begann sich in seinem Kopf zu regen. Die Erinnerung an eine Geschichte, die er vor nicht allzu langer Zeit gelesen hatte, irgendwann im vergangenen Monat mußte es gewesen sein. Eine ganze Familie war durch den Leichtsinn eines Sohnes vergiftet worden. Ein Päckchen mit Arsen hatte im Küchenschrank gelegen. Durch ein Loch im Brett war Gift auf das darunterliegende Brot gerieselt. Cleveland hatte in der Zeitung über den Fall gelesen. Und Mr. Dinsmead wahrscheinlich auch. Die Dinge wurden allmählich klarer ... Eine halbe Stunde später stand Mortimer Cleveland energisch auf. Im Haus auf dem Hügel war es wieder Abend geworden. Es gab verlorene Eier und Schweinskopfsülze aus der Büchse. Bald darauf brachte Mrs. Dinsmead auch die große Teekanne aus der Küche herein. Die Familie setzte sich um den runden Tisch. 26
»Was für ein Unterschied zum Wetter von gestern«, sagte Mrs. Dinsmead und sah zum Fenster. »Ja«, bestätigte Mr. Dinsmead, »heute abend ist es so still, daß man eine Stecknadel fallen hören könnte. Also, Mutter, schenk ein!« Mrs. Dinsmead füllte die Tassen und reichte sie weiter. Als sie die Teekanne abstellte, stieß sie plötzlich einen leisen Schrei aus und preßte die Hand auf die Brust. Mr. Dinsmead fuhr auf seinem Stuhl herum und sah in die Richtung, in die ihre entsetzten Augen blickten. Auf der Schwelle stand Mortimer Cleveland. Mit freundlicher und um Entschuldigung bittender Miene trat er ein. »Ich fürchte, ich habe Sie erschreckt«, sagte er. »Aber ich mußte zurückkommen, um etwas zu holen.« »Sie mußten zurückkommen, um etwas zu holen?« rief Mr. Dinsmead mit rotem Gesicht. »Was wollen Sie denn holen, wenn ich fragen darf?« »Ein bißchen Tee«, antwortete Cleveland. Mit einer raschen Bewegung zog er etwas aus der Tasche, nahm eine Tasse vom Tisch und schüttete ein wenig von ihrem Inhalt in das Reagenzglas, das er in der linken Hand hielt. »Was – was tun Sie da?« fragte Mr. Dinsmead keuchend. Sein Gesicht war kreideweiß geworden, die dunkle Röte wie von Zauberhand ausgelöscht. Mrs. Dinsmead stieß einen hohen, dünnen Angstschrei aus. »Sie lesen doch Zeitung, Mr. Dinsmead? Ich bin überzeugt, daß Sie es tun. Manchmal liest man Berichte darüber, daß ganze Familien vergiftet wurden, der eine überlebt, der andere nicht. In unserem Fall würde ein Familienmitglied nicht überleben. Zuerst würde man natürlich der Schweinskopfsülze die Schuld geben, doch angenommen, Ihr Arzt ist ein mißtrauischer Mensch, der Ihnen die Theorie, die Konserve müsse verdorben gewesen sein, nicht abnimmt? In Ihrem Küchenschrank liegt ein Päckchen Arsen, auf dem 27
Brett darunter ein Päckchen Tee. Im oberen Brett ist ein sehr praktisches Loch, was wäre da natürlicher als die Vermutung, das Arsen sei durch einen entsetzlichen Zufall in den Tee gelangt? Man würde Ihrem Sohn Johnnie Leichtsinn vorwerfen, mehr würde nicht geschehen.« »Ich – ich weiß nicht, was Sie meinen!« Dinsmead bekam noch immer keine Luft. »Ich glaube, Sie wissen es sehr gut.« Cleveland nahm eine zweite Tasse und füllte ein zweites Reagenzglas. Auf das eine klebte er ein rotes und auf das andere ein blaues Etikett. »Das Glas mit dem roten Etikett enthält den Tee aus der Tasse Ihrer Tochter Charlotte, das andere Tee aus der Ihrer Tochter Magdalen. Ich bin bereit zu schwören, daß ich im ersten Glas vier- oder fünfmal soviel Arsen finden werde wie im zweiten.« »Sie sind verrückt«, sagte Dinsmead. »Ach, du meine Güte, nein, das bin ich wirklich nicht. Sie haben mir heute erzählt, Mr. Dinsmead, Magdalen sei nicht Ihre eigene Tochter. Sie haben gelogen. Magdalen ist Ihre Tochter. Denn Charlotte ist das Kind, das Sie adoptierten. Charlotte sieht ihrer Mutter so ähnlich, daß ich, als ich heute die Miniatur dieser Mutter in der Hand hielt, zunächst glaubte, es sei ein Bild von Charlotte selbst. Ihre eigene Tochter, Mr. Dinsmead, sollte das Vermögen erben, und da es sicherlich nicht möglich gewesen wäre, Ihre angeblich leibliche Tochter ständig vor der Welt zu verstecken, und da jemand, der Charlottes Mutter gekannt hatte, das Geheimnis dank der großen Ähnlichkeit vielleicht durchschauen würde, entschlossen Sie sich – nun ja, zu einem bißchen weißen Arsen auf dem Boden einer Teetasse.« Mrs. Dinsmead stieß plötzlich ein hohes gackerndes Gelächter aus und wiegte sich in einem Anfall von wilder Hysterie hin und her. 28
»Tee«, quietschte sie, »das hat er gesagt! Tee und nicht Limonade.« »Halt den Mund!« schrie ihr Mann wütend. Cleveland merkte, wie Charlotte ihn über den Tisch hinweg mit großen Augen erstaunt ansah. Dann spürte er eine Hand auf seinem Arm, und Magdalen zog ihn außer Hörweite. »Diese –« sie wies auf die Reagenzgläser, »Vater ... Sie werden doch nicht...« Cleveland legte ihr die Hand auf die Schulter. »Mein Kind«, sagte er, »Sie glauben nicht an Vergangenes. Ich schon. Ich glaube an die Atmosphäre dieses Hauses. Wäre Ihr Vater nicht hierhergezogen, hätte er sich vielleicht – ich sage vielleicht! – diesen Plan nie ausgedacht. Ich behalte die beiden Reagenzgläser, um Charlotte jetzt und in Zukunft zu schützen. Weiter werde ich nichts unternehmen, aus Dankbarkeit, wenn Sie so wollen, für diese Hand, die SOS auf eine staubige Tischplatte schrieb.«
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Der Smaragd des Radschas
Mit ernsthafter Willensanstrengung konzentrierte sich James Bond abermals auf das kleine gelbe Buch in seiner Hand. Es trug auf der Vorderseite den schlichten, aber gefälligen Titel: Möchten Sie dreihundert Pfund mehr im Jahr verdienen? und kostete einen Shilling. James hatte sich gerade durch die ersten zwei Seiten hindurch gelesen, auf denen er lakonisch aufgefordert wurde, seinem Chef ins Gesicht zu blicken, ein dynamisches Auftreten zu entwickeln und einen Eindruck von Tüchtigkeit auszustrahlen. Nun war er bei den subtileren Ratschlägen angelangt. »In manchen Situationen ist Offenheit angebracht, in anderen dagegen mehr Wert auf Diskretion zu legen«, belehrte ihn das kleine gelbe Buch. »Ein tüchtiger Mann sagt nicht immer alles, was er weiß.« James klappte das Büchlein zu, hob den Kopf und starrte gedankenverloren auf die blaue Weite des Meeres hinaus. Es quälte ihn plötzlich der schreckliche Verdacht, daß er kein tüchtiger Mann war. Ein tüchtiger Mann wäre in seiner derzeitigen Situation Herr der Lage und nicht ihr Opfer. Zum sechzigsten Mal an diesem Vormittag zählte sich James im Geist alles Ungemach auf, das ihm widerfahren war. Dies war sein Urlaub. Sein Urlaub! Haha! Höhnisches Auflachen. Wer hatte ihn überredet, in einen mondänen Badeort wie Kimpton-on-Sea zu fahren? Grace. Wer hatte ihn gedrängt, mehr auszugeben, als er sich leisten konnte? 31
Grace. Und er hatte auch noch freudig ihrem Plan zugestimmt. Sie hatte ihn hierher gelockt, und was war nun das Resultat? Während er in einer obskuren Frühstückspension hauste, fast eineinhalb Meilen vom Strand entfernt, hatte Grace, die in einer ähnlichen Pension hätte absteigen sollen (nicht in derselben: in James’ Kreisen sah man auf Schicklichkeit), ihn schnöde im Stich gelassen und sich in nichts geringerem als dem Hotel »Esplanade«, direkt am Meer, einquartiert. Anscheinend hatte sie Freunde dort. Freunde! Wieder lachte James sarkastisch auf. In Gedanken durchlief er noch einmal die letzten drei Jahre seines gemächlichen Werbens um Grace. Wie überaus geschmeichelt sie anfangs gewesen war, als sein Augenmerk ausgerechnet auf sie fiel. Aber damals hatte sie bei Bartels, Fachgeschäft für Damenbekleidung in der High Street, auch noch nicht die oberste Sprosse der Erfolgsleiter erklommen. In jenem Anfangsstadium war es James gewesen, der das große Wort führte. Jetzt verhielt es sich leider gerade umgekehrt. Grace verdiente jetzt, wie man zu sagen pflegte, eine »schöne Stange Geld«, und das hatte sie hochnäsig gemacht. Jawohl, richtig hochnäsig. Bruchstücke eines Verses aus einem Gedichtband kamen James in den Sinn. Sie lauteten etwa: »Danke fastend dem Herrn für eines wackren Mannes Liebe.« Doch bei Grace war von einem derartigen Verhalten wahrlich nichts zu bemerken. Wohlgenährt vom Frühstück im »Esplanade« trampelte sie achtlos auf des wackren Mannes Liebe herum. Ja, nicht nur das, gleichzeitig ließ sie sich die Aufmerksamkeiten eines gräßlichen Schwachkopfs namens Claud Sopworth gefallen, eines Menschen, der, wie James fest überzeugt war, nicht die geringsten charakterlichen Werte besaß. James bohrte einen Absatz in die Erde und starrte mit finster gerunzelter Stirn zum Horizont. Kimpton-on-Sea. 32
Was hatte ihn bloß bewogen, an einen solchen Ort zu kommen? Kimpton war in erster Linie Treffpunkt der Reichen und Mondänen, es besaß zwei große Hotels und unendlich lange Reihen von eleganten Sommerhäusern, die berühmten Schauspielerinnen, vermögenden Bankiers und solchen Mitgliedern der englischen Aristokratie gehörten, die reiche Frauen geheiratet hatten. Die Miete für den kleinsten möblierten Bungalow betrug fünfundzwanzig Guinea die Woche. Was die großen kosten mochten, das wagte er sich gar nicht vorzustellen. Eine dieser palastartigen Villen lag direkt hinter James’ Sitzplatz. Sie gehörte dem berühmten Lord Edward Campion und beherbergte zur Zeit eine ganze Schar vornehmer Gäste, darunter den Radscha von Maraputna, dessen Reichtum sprichwörtlich war. James hatte an diesem Morgen im lokalen Wochenanzeiger einen ausführlichen Bericht über ihn gelesen: über seine riesigen Besitzungen in Indien, seine Paläste, seine wundervolle Juwelensammlung, wobei besonders ein berühmter Smaragd erwähnt wurde, der, wie die Zeitung begeistert versicherte, die Größe eines Taubeneis besaß. Da James in der Stadt aufgewachsen war, hatte er nur eine etwas verschwommene Vorstellung von der Größe eine Taubeneis, aber der Bericht hatte einen vorteilhaften Eindruck bei ihm hinterlassen. »Wenn ich einen solchen Smaragd hätte«, sagte James und starrte abermals stirnrunzelnd zum Horizont, »dann würde ich’s Grace aber zeigen!« Seinen Empfindungen auf diese, wenn auch unbestimmte Weise Ausdruck verliehen zu haben, erleichterte James’ Gemüt. In diesem Augenblick riefen lachende Stimmen hinter ihm seinen Namen. Er drehte sich jäh um und erblickte Grace. Bei ihr waren Clara Sopworth, Alice Sopworth, Dorothy Sopworth und – Claud Sopworth! Die Mädchen gingen untergehakt und kicherten. 33
»Na, man kennt dich ja überhaupt nicht mehr«, rief Grace kokett. »Ja«, sagte James. Bestimmt hätte er eine treffendere Antwort finden können, dachte er sofort. Mit dem simplen Wörtchen »Ja« konnte man nicht den Eindruck einer dynamischen Persönlichkeit erwecken. Mit tiefem Abscheu blickte er auf Claud Sopworth. Dieser war beinahe so schön herausgeputzt wie der jugendliche Held in einer Operette. James wünschte sehnsüchtig den Moment herbei, in dem ein menschenfreundlicher Hund seine nassen, sandigen Pfoten auf Clauds makellos weiße Flanellhosen legen würde. Er selbst trug ein Paar praktische dunkelgraue Flanellhosen, die schon bessere Tage gesehen hatten. »Ist die Luft nicht herrlich?« Clara schnupperte genießerisch. »Macht richtig Laune, wie?« Sie kicherte. »Reiner Ozon«, rief Alice Sopworth. »Das schlägt jedes Stärkungsmittel.« Und sie kicherte ebenfalls. Am liebsten würde ich allen dreien die dummen Köpfe zusammenstoßen, dachte James. Was haben die bloß ständig zu lachen? Sie sagten doch wahrhaftig nichts Komisches. Der makellose Claud murmelte lässig: »Sollen wir schwimmen gehen oder ist das zu mühsam?« Der Vorschlag wurde mit schrillem Beifall aufgenommen. James schloß sich der Gruppe an. Es gelang ihm sogar mit einiger List, Grace ein paar Schritte von den anderen abzusondern. »Ich seh dich kaum noch«, begann er vorwurfsvoll. »Na, jetzt sind wir ja alle beisammen«, entgegnete Grace. »Und du kannst ja mit uns im Hotel zu Mittag essen. Allerdings ...« Sie warf einen zweifelnden Blick auf James’ Hosen. »Was ist los?« fragte James wütend. »Wohl nicht schick genug für dich, wie?«
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»Mein Lieber, ich finde wirklich, du könntest dich etwas sorgfältiger kleiden. Hier sind alle so wahnsinnig elegant. Sieh dir nur Claud Sopworth an!« »Das habe ich schon«, erwiderte James grimmig. »Und ich habe noch nie einen Mann gesehen, der so dämlich aussieht wie er.« Grace richtete sich zu voller Größe auf. »Du brauchst gar nicht meine Freunde schlechtzumachen, James, das schickt sich nicht. Er ist genauso angezogen wie alle anderen vornehmen Herrn im Hotel.« »Pah!« stieß James hervor. »Weißt du, was ich neulich in den ›Notizen aus der Gesellschaft gelesen habe? Daß der Herzog von – also ich komme jetzt nicht auf den Namen, irgendein Herzog jedenfalls, daß der also der am schlechtesten angezogene Mann von ganz England ist, jawohl!« »Meinetwegen«, gab Grace zurück, »aber der ist eben ein Herzog.« »Na und?«fragte James erbost. »Wer sagt, daß ich nicht auch eines Tages ein Herzog sein werde? Na, vielleicht nicht direkt ein Herzog, aber ein Pair.« Er klopfte auf das gelbe Buch in seiner Tasche und zählte ihr eine lange Reihe von Pairs von England auf, die noch viel bescheideneren Verhältnissen entstammten als James. Grace kicherte bloß. »Sei nicht so albern, James«, sagte sie. »Man stelle sich vor, du als ein Earl von Kimpton-on-Sea!« James betrachtete sie mit einem Blick, in dem sich Wut und Verzweiflung mischten. Die Luft von Kimpton-on-Sea war Grace tatsächlich zu Kopf gestiegen. Kimpton besaß einen langen, geraden Sandstrand. Darauf erstreckte sich über eineinhalb Meilen eine ununterbrochene Front von Badehäusern und Kabinen. Die Gruppe hatte inzwischen vor einer Reihe von sechs Badekabinen haltgemacht, die sämt-
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lich die imposante Aufschrift trugen: »Nur für Gäste des Hotels Esplanade«. »Da sind wir«, verkündete Grace heiter. »Aber ich fürchte, du wirst nicht mit uns hereinkommen können, James; du mußt zu den öffentlichen Badezelten dort drüben gehen, wir treffen uns dann im Wasser. Bis gleich.« »Bis gleich!« entgegnete James und strebte in die angegebene Richtung. Zwölf schäbige Zeltkabinen blickten dort feierlich aufs Meer, bewacht von einem betagten Matrosen mit einer blauen Papierrolle in der Hand. Nach Entgegennahme eines Geldstücks riß dieser ein blaues Billett von seiner Rolle, warf James ein Handtuch zu und wies mit dem Daumen über die Schulter. »Sie müssen warten, bis Sie dran sind«, brummte er. Erst jetzt kam James zu Bewußtsein, daß er nicht konkurrenzlos im Rennen lag. Außer ihm waren noch andere auf die gute Idee gekommen, ein Bad im Meer zu nehmen. Nicht nur waren sämtliche Kabinen besetzt, es hatte sich vor einer jeden obendrein eine stattliche Gruppe von Menschen versammelt, die einander mit finster entschlossenen Blicken maßen. James gesellte sich zu der kleinsten Gruppe und wartete. Plötzlich teilte ein Windstoß die Zeltflügel, und ein schönes, spärlich bekleidetes junges Mädchen wurde sichtbar, das sich so gemächlich die Bademütze über die Haare zog, als gedenke es, sich den ganzen Vormittag damit Zeit zu lassen. »Da komme ich niemals dran«, sagte James zu sich selbst und trat schleunigst zu einer anderen Gruppe. Nachdem er fünf Minuten gewartet hatte, wurde es in dem zweiten Zelt lebendig. Die Zeltwand tat sich ächzend auf, und es quollen nacheinander vier Kinder nebst Vater und Mutter hervor. Angesichts der Miniaturausgabe des Zelts fühlte sich James 36
ein bißchen an gewisse Jahrmarkttricks erinnert. Sofort schössen zwei Frauen vor und ergriffen je einen Zipfel Zeltleinwand. »Ich bin dran«, stieß die eine Frau atemlos hervor. »Nein, ich«, erwiderte die andere erbost. »Ich muß Ihnen mitteilen, daß ich gute zehn Minuten vor Ihnen hier war«, erklärte die erste Frau. »Ich stehe bereits seit über einer Viertelstunde hier«, gab die andere trotzig zurück. »Na, na.« Der alte Matrose trat bedächtig näher. Die beiden jungen Frauen redeten in schrillen Tönen auf ihn ein. Als sie fertig waren, deutete er mit dem Daumen auf die zweite und erklärte knapp: »Siesind dran.« Damit machte er kehrt, ohne sich um die Proteste hinter ihm zu kümmern. Er hatte keine Ahnung, wer von den beiden Konkurrentinnen zuerst an der Reihe war, und es kümmerte ihn auch nicht, doch seine Entscheidung war, wie es bei Zeitungspreisausschreiben hieß, unanfechtbar. James ergriff ihn verzweifelt am Arm. »Sie – hören Sie mal!« »Was ist, Mister?« »Wie lange wird es noch dauern, bis ich ein Zelt kriege?« Der alte Seebär warf einen gleichgültigen Blick auf die wartende Menge. »Eine Stunde vielleicht, vielleicht auch eineinhalb, ich weiß nicht genau.« In diesem Augenblick sah James in einiger Entfernung Grace und die Sopworth-Mädchen leichtfüßig über den Sand zum Wasser eilen. »Verdammt!« sagte James zu sich. »Oh, verdammt!« Er zupfte den Altmatrosen noch einmal am Rockärmel. »Kann ich nicht sonst irgendwo eine Kabine kriegen? Was ist denn mit den Badehütten dort oben? Die scheinen alle leer.« »Die Hütten dort sind privat«, entgegnete der Altmatrose würdevoll. 37
Nachdem er diese Zurechtweisung ausgesprochen hatte, schritt er von dannen. Mit dem bitteren Gefühl, einem üblen Trick aufgesessen zu sein, kehrte James den wartenden Menschenschlangen den Rücken und stapfte wütend den Strand entlang. Jetzt hatte er es satt! Bis obenhin satt! Zornig blickte er im Vorbeigehen auf die schmucken Badekabinen. In diesem Moment verwandelte er sich von einem unabhängigen Liberalen in einen knallroten Sozialisten. Warum eigentlich sollten die Reichen eigene Badekabinen haben und zu jeder beliebigen Zeit zum Schwimmen gehen können, ohne sich in einer Schlange drängeln zu müssen? »Dieses Gesellschaftssystem in unserem Land«, murmelte James, »ist total verkehrt.« Vom Wasser her schallte kokettes Geschrei. Die Stimme von Grace! Und ihr Quietschen übertönend hörte James das dümmliche »Ha, ha!« von Claud Sopworth. »Verdammt!« entfuhr es James abermals, und er knirschte dabei mit den Zähnen, etwas, das er noch nie zuvor selbst probiert hatte, sondern bislang nur aus Romanen kannte. Wütend seinen Spazierstock schwingend blieb er stehen und kehrte dem Meer den Rücken zu. Stattdessen starrte er mit haßerfülltem Blick auf die privaten Badehäuschen, die, wie es in Kimpton-on-Sea Brauch war, mit blumigen Namen wie »Adlerhorst«, »Buena Vista« und »Mon Desir« beschriftet waren. »Adlerhorst« fand James schlicht albern, und bei »Buena Vista« versagten seine Sprachkenntnisse. Französisch verstand er jedoch gut genug, um die Bedeutung des dritten Namens ermessen zu können. »Mon Desir«, brummte er. »Das kann man wohl sagen!« Und in diesem Moment entdeckte er, daß, während die Türen der übrigen Badehütten fest verschlossen waren, die von »Mon Desir« einen Spalt offen stand. James blickte nachdenklich nach beiden Seiten den Strand entlang. Dieser war hier hauptsächlich von Müttern bevölkert, die alle 38
Hände voll zu tun hatten, ihre zahlreichen Sprößlinge zu beaufsichtigen. Es war erst zehn Uhr; zu dieser frühen Vormittagsstunde begab man sich bei der Aristokratie von Kimpton-on-Sea wohl noch nicht zum Baden. »Wahrscheinlich liegen die alle noch im Bett und lassen sich von ihren betreßten Lakaien auf einem Silbertablett Austern servieren. Pah, die kommen bestimmt nicht vor zwölf herunter!« dachte James. Er blickte abermals zum Meer. Wie auf ein Signal schallte prompt das schrille Quieken von Grace durch die Luft, untermalt vom lauten »Ha, ha« von Claud Sopworth. »Ich tu’s«, stieß James zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Er drückte die Tür von »Mon Desir« auf und ging hinein. Zuerst erschrak er, als er die Kleidungsstücke an der Wand sah, aber er beruhigte sich schnell wieder. Die Hütte war durch eine Zwischenwand in zwei Hälften geteilt. Auf der rechten Seite hingen an einem Holzpflock ein gelber Damenpullover, ein zerknautschter Strohhut und ein Paar Strandschuhe. Auf der linken Seite verrieten eine alte graue Flanellhose, ein dicker Pullover und ein Südwester, daß hier auf säuberliche Trennung der Geschlechter geachtet wurde. James verfügte sich hastig in die Herrenabteilung und zog sich, so schnell er konnte, um. Drei Minuten später pflügte er bereits prustend und schnaufend durch die Wellen, wobei er wichtigtuerisch kurze Spurts einlegte – Kopf unter Wasser, Arme im Schmetterlingsstil die Wogen peitschend – und generell bemüht war, mit seinen Schwimmkünsten zu glänzen. »Oh, da bist du ja!« rief Grace. »Ich hab gedacht, du kommst bestimmt noch lange nicht, bei den vielen Leuten, die dort Schlange stehen.«
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»Tatsächlich?« erwiderte James. Liebevoll dachte er an das kleine gelbe Buch: »Der tüchtige Mann weiß, wann er zu schweigen hat.« Für den Augenblick fühlte er sich wieder ganz obenauf. Er brachte es sogar fertig, Claud Sopworth, der Grace gerade das Kraulschwimmen beizubringen suchte, freundlich aber bestimmt zu sagen: »Aber nein, alter Freund, das ist ganz verkehrt. Ich werde es ihr zeigen.« Und sein Ton war von einer solchen Selbstsicherheit, daß Claud sich verlegen zurückzog. Leider jedoch war sein Triumph nur von kurzer Dauer. Die Temperatur der englischen Gewässer verlockte Badende nicht dazu, sich für längere Zeit in ihnen aufzuhalten. Grace und die Sopworth-Mädchen hatten bereits blaue Lippen und klapperten hörbar mit den Zähnen. Wenig später rannten sie den Strand hinauf, und James kehrte mutterseelenallein zu »Mon Desir« zurück. Während er sich kräftig abrubbelte und in sein Hemd schlüpfte, war er sehr mit sich zufrieden. Er hatte zweifelsohne ein dynamisches Auftreten gezeigt, fand er. Und dann erstarrte er plötzlich vor Schreck. Von draußen erklangen weibliche Stimmen, und zwar ganz andere als die von Grace und ihren Freundinnen. Einen Augenblick später erkannte er die Wahrheit: die rechtmäßigen Eigentümer von »Mon D£sir« waren im Anmarsch. Wäre James vollständig angezogen gewesen, so hätte er sich möglicherweise ein Herz gefaßt, die Ankömmlinge abgewartet und sich herauszureden versucht. So wie die Dinge lagen, geriet er in Panik. Die Fenster von »Mon Desir« waren sittsam durch dunkelgrüne Vorhänge verhängt. Mit einem Satz stürzte James zur Tür und klammerte sich verzweifelt am Knauf fest. Vergeblich versuchte jemand von draußen, daran zu drehen. »Jetzt ist doch zugesperrt«, sagte eine Mädchenstimme. »Ich dachte, Pug hätte gesagt, es wäre offen.« 40
»Nein, Woggle hat das gesagt.« »Woggle ist wirklich ein Idiot«, schimpfte das andere Mädchen. »Sowas Blödsinniges, jetzt müssen wir extra nochmal zurück, um den Schlüssel zu holen.« James hörte, wie ihre Schritte sich entfernten. Er holte lange und tief Luft. Dann fuhr er in hektischer Eile in seine Kleider. Zwei Minuten später bereits schlenderte er mit fast schon aufreizend unschuldiger Miene den Strand entlang. Nach etwa einer Viertelstunde gesellten sich auch Grace und die Sopworth-Mädchen zu ihm. Den Rest des Vormittags verbrachte man vergnüglich mit harmlosen Neckereien, Steinewerfen und Sandburgenbauen. Schließlich blickte Claud auf die Uhr. »Zeit zum Mittagessen«, verkündete er. »Wir machen uns besser langsam auf den Heimweg.« »Ich habe schrecklichen Hunger«, rief Alice Sopworth. Die anderen Mädchen beteuerten ebenfalls, schrecklichen Hunger zu haben. »Kommst du mit, James?« fragte Grace. James war zweifellos übertrieben empfindlich. Er fühlte sich genötigt, an ihrem Tonfall Anstoß zu nehmen. »Nicht, wenn meine Kleidung dir nicht gut genug ist«, brauste er auf. »Da du es damit so genau zu nehmen scheinst, sollte ich wohl besser nicht mitkommen.« Das war das Stichwort für Grace, das Gegenteil zu beteuern, doch die Seeluft hatte offenbar einen ungünstigen Einfluß auf sie. Sie antwortete bloß: »Na gut, wie du willst. Dann bis heute nachmittag.« James verschlug es die Sprache. Stumm starrte er den Davongehenden nach. »Sowas!« stieß er schließlich hervor. »Das ist doch wirklich ...« Er schlenderte in bedrückter Stimmung zum Ort zurück. In Kimpton-on-Sea gab es zwei Imbißstuben, beide stickig, laut 41
und überfüllt. Es war wieder das gleiche wie bei den Badekabinen: James mußte warten, bis er an der Reihe war. Er mußte sogar noch länger warten, denn als endlich ein Platz frei wurde, schnappte eine skrupellose Matrone, die gerade erst gekommen war, ihm diesen vor der Nase weg. Endlich konnte er an einem freien Tisch Platz nehmen .Dicht neben seinem linken Ohr gaben drei junge Damen mit schlechtgeschnittenen Bubiköpfen ein kunterbuntes Potpourri aus italienischen Opern zum Besten. Glücklicherweise war James unmusikalisch. Die Hände tief in den Hosentaschen vergraben, studierte er ohne nennenswertes Interesse die Speisekarte. Egal, was ich bestelle, es ist bestimmt schon von der Karte gestrichen, dachte er. Ich bin schon ein Pechvogel. Plötzlich stieß seine rechte Hand im untersten Zipfel seiner Hosentasche auf einen fremdartigen Gegenstand. Er fühlte sich an wie ein Kieselstein, ein großer runder Kieselstein. Wozu habe ich mir bloß einen Kieselstein in die Tasche gesteckt, dachte James. Seine Finger schlossen sich um den Stein. Eine Kellnerin schlängelte sich an seinem Tisch vorbei. »Gebackene Scholle mit Bratkartoffeln, bitte«, sagte James. »Gebackene Scholle gibt es nicht mehr«, murmelte die Kellnerin, die Augen träumerisch zur Decke gerichtet. »Dann nehme ich das Rindfleisch in Curry«, sagte James. »Rindfleisch in Curry gibt es nicht mehr.« »Gibt es vielleicht irgend etwas auf dieser dämlichen Speisekarte, das nicht aus ist?« schnaubte James. Die Kellnerin verzog gequält das Gesicht und deutete mit einem bläßlichgrauen Zeigefinger auf das Hammelfleisch mit Bohnen. James schickte sich ins Unvermeidliche und bestellte Hammelfleisch mit Bohnen. Noch immer innerlich bebend vor Zorn über den miserablen Service in gewissen Lokalen zog er die Hand mit dem Stein aus der Tasche. Er 42
öffnete die Faust und warf einen zerstreuten Blick auf den Gegenstand darin. Dann fuhr ihm ein Schock durch die Glieder, der ihn alles andere vergessen ließ, und er starrte mit weitaufgerissenen Augen. Das Ding, das er in der Hand hielt, war kein Kieselstein, es war ohne allen Zweifel ein Smaragd, ein riesiger grüner Smaragd. James betrachtete ihn voll Entsetzen. Nein, das konnte kein Smaragd sein, bestimmt war esb loß gefärbtes Glas. Es konnte unmöglich einen Smaragd in dieser Größe geben, es sei denn – vor James’ Augen tanzten plötzlich Druckbuchstaben: »Der Radscha von Maraputna – berühmter Smaragd – von der Größe eines Taubeneis«. War es – war es etwa dieser Smaragd, den er hier vor Augen hatte? Die Kellnerin kam mit seinem Hammelfleisch, und James schloß krampfhaft die Finger. Heiße und kalte Schauer liefen ihm abwechselnd über den Rücken. Er hatte das Gefühl, in ein fürchterliches Dilemma geraten zu sein. Wenn dies jener Smaragd war – aber war er es denn auch? Konnte er es überhaupt sein? Angstvoll spähte er in die halbgeöffnete Faust. James war kein Fachmann für Juwelen, aber der tiefe, leuchtende Glanz des Steins überzeugte ihn endgültig von dessen Echtheit. Er stützte sich auf beide Ellenbogen und starrte blind auf den Hammelfleisch- und Bohneneintopf, der in der Schüssel vor ihm langsam erkaltete. Er mußte unbedingt nachdenken. Wenn dies der Smaragd des Radschas war, was sollte er damit tun? Das Wort »Polizei« kam ihm in den Sinn. Wenn man etwas Wertvolles fand, brachte man die Fundsache zur Polizei. Nach diesem Grundsatz war James erzogen worden. Ja, aber wie um alles in der Welt war der Smaragd in seine Hosentasche gelangt? Das war zweifellos die erste Frage, die die Polizei an ihn stellen würde? Hilflos blickte er an seinen Hosenbeinen hinunter, als plötzlich eine böse Ahnung in ihm aufstieg. Er sah genauer hin. Ein Paar alter grauer Flanellhosen gleicht so 43
ziemlich jedem beliebigen anderen Paar alter grauer Flanellhosen, dennoch hatte James instinktiv das Gefühl, daß dies hier nicht seine eigene Hose war. Von seiner Entdeckung wie vor den Kopf geschlagen, sank er auf seinem Stuhl zurück. Er sah nun genau, was geschehen war: in seiner Hast, aus der Badekabine zu kommen, hatte er die falsche Hose erwischt. Er erinnerte sich, daß er seine eigene Hose an einen Haken neben die andere alte Flanellhose gehängt hatte, die schon dortgewesen war. Jawohl, bis hierhin war die Sache klar, er hatte die Hosen vertauscht. Aber dennoch, was zum Kuckuck hatte ein Smaragd im Wert von Tausenden von Pfund an einem solchen Platz zu suchen? Je mehr er darüber nachdachte, desto merkwürdiger erschien ihm die ganze Sache. Er könnte der Polizei natürlich erklären ... Es war peinlich, daran bestand kein Zweifel, es war entschieden peinlich. Er würde den Umstand erwähnen müssen, daß er bewußt in die Badehütte anderer Leute eingedrungen war. Sicherlich, das war kein ernsthaftes Vergehen, aber es gab ihm eine schlechte Ausgangsposition. »Kann ich Ihnen sonst noch etwas bringen, Sir?« Das war wieder die Kellnerin. Sie starrte anzüglich auf den unberührten Hammeleintopf. Hastig löffelte James etwas davon auf seinen Teller und verlangte die Rechnung. Als er sie erhalten hatte, zahlte er und ging. Während er noch unentschlossen auf der Straße stand, fiel sein Blick auf einen Zeitungsaushang. Der Nachbarort Harchester verfügte über eine Abendzeitung, und es war eine Anschlagtafel dieses Blattes, die James ins Auge stach. Sie warb mit einer knappen Sensationsmeldung: Maharadscha-Smaragd gestohlen. »Mein Gott«, stöhnte James und lehnte sich gegen einen Laternenpfahl. Dann riß er sich zusammen, fischte eine Münze aus der Jackentasche und kaufte sich ein Exemplar 44
der Zeitung. Er brauchte nicht lange zu suchen. Riesige Schlagzeilen schmückten die Titelseite. Sensationeller Einbruch bei Lord Edward Campion. Berühmter historischer Smaragd gestohlen. Radscha von Maraputna beklagt schrecklichen Verlust. Der Bericht selbst enthielt nur wenige simple Tatsachen.Lord Edward Campionhatte am Vorabend einige Freunde zu Gast geladen. Als er einer der anwesenden Damen den Stein zeigen wollte, hatte er entdeckt, daß dieser verschwunden war. Man hatte die Polizei eingeschaltet. Bisher war noch kein Hinweis zur Aufklärung des Verbrechens gefunden worden. James ließ die Zeitung zu Boden fallen. Ihm war noch immer nicht klar, wie der Smaragd in die Tasche einer alten Flanellhose in einer Badehütte gelangt war, aber es kam ihm mit jeder Minute deutlicher zu Bewußtsein, daß der Polizei seine eigene Geschichte bestimmt verdächtig vorkommen würde. Was, um Himmels willen, sollte er tun? Hier stand er, mitten auf der Hauptstraße von Kimpton-on-Sea, Diebesgut von unermeßlichem Wert lose in der Tasche, während die Polizei des ganzen Bezirks emsig damit beschäftigt war, nach eben diesem Diebesgut zu fahnden. Es gab nur zwei Möglichkeiten: Nummer eins, sofort zur Polizei zu gehen und die Wahrheit zu erzählen – aber es muß leider gesagt werden, daß James vor diesem Weg ängstlich zurückscheute. Und Möglichkeit Nummer zwei: den Smaragd auf irgendeine Weise wieder loszuwerden. Einen Augenblick lang erwog James, den Stein säuberlich zu verpacken und per Post an den Radscha zurückzuschicken. Dann schüttelte er den Kopf; dafür hatte er zu viele Kriminalromane gelesen. Er wußte, daß jeder bessere Detektiv, mit Vergrößerungsglas und allen möglichen sonstigen Hilfsmitteln ausgestattet, das Päckchen untersuchen und binnen einer halben Stunde Beruf, Alter, Aussehen und persönliche 45
Merkmale des Absenders herausbekommen würde. Danach wäre es dann bloß noch eine Frage von Stunden, bis man ihn fände. Und da geschah es, daß sich James plötzlich ein Plan von verblüffender Einfachheit aufdrängte. Es war Mittagszeit und der Strand sicherlich verhältnismäßig leer. Er würde zu »Mon Desir« gehen, die Hose dorthin zurückhängen, wo er sie gefunden hatte, und sich dafür wieder seine eigene anziehen. Mit schnellen Schritten machte er sich auf den Weg zum Strand. Dabei plagten ihn trotz allem leise Gewissensbisse. Eigentlich müßte der Radscha den Smaragd wiederbekommen. Er überlegte, ob er nicht vielleicht selbst ein wenig Detektiv spielen sollte – allerdings erst, nachdem er wieder im Besitz seiner eigenen Hose war und die fremde an ihren Platz zurückgehängt hatte. In Verfolgung dieser Absicht lenkte er seine Schritte auf den alten Seemann zu, in dem er zu Recht eine unerschöpfliche Informationsquelle über Kimpton vermutete. »Entschuldigen Sie«, sagte James höflich, »aber ich glaube, ein Freund von mir hat eine Badekabine an diesem Strand, ein gewisser Mr. Charles Lampton. Soviel ich weiß, heißt sie ›Mon Desir‹.« Der alte Matrose saß breit und behäbig auf einem Stuhl, eine Pfeife im Mund, und schaute sinnend aufs Meer hinaus. Er rückte die Pfeife ein wenig zur Seite und antwortete, ohne den Blick vom Horizont zu wenden: »›Mon Desir‹, gehört Seiner Lordschaft, Lord Edward Campion, das weiß jedes Kind. Von einem Mr. Charles Lampton hab ich nie gehört, der muß neu hier sein.« »Danke«, sagte James und entfernte sich. Die Auskunft stürzte ihn in Verwirrung. Der Radscha würde doch nicht etwa selbst den Smaragd in die Tasche gesteckt und dort vergessen haben? James schüttelte den Kopf; diese Theorie befriedigte ihn nicht. Dann aber mußte 46
offensichtlich einer der Hausgäste der Dieb sein. Die Situation erinnerte James an bestimmte Lieblingsromane von ihm. Sein eigener Plan allerdings blieb davon unberührt. Es schien alles ganz einfach. Der Strand war, wie er gehofft hatte, praktisch menschenleer. Und noch ein weiterer glücklicher Umstand, die Tür von »Mon Desir« stand immer noch offen. In Sekundenschnelle war James in der Hütte verschwunden. Er nahm gerade seine eigene Hose vom Haken, als eine Stimme hinter ihm ihn jäh herumfahren ließ. »Hab ich Sie also erwischt!« sagte die Stimme. James starrte mit offenem Mund. In der Tür von »Mon Desir« stand ein Fremder, ein wohlgekleideter Mann von etwa vierzig Jahren mit scharfen, raubvogelähnlichen Gesichtszügen. »Hab ich Sie also erwischt!« wiederholte der Fremde. »Wer – wer sind Sie?« stotterte James. »Inspektor Merrilees von Scotland Yard«, entgegnete der andere knapp. »Und ich möchte Sie bitten, den Smaragd herauszugeben.« »Den – den Smaragd?« James versuchte Zeit zu gewinnen. »Das sagte ich.« Merrilees sprach in kühlem, geschäftsmäßigem Ton. James gab sich einen Ruck. »Ich weiß nicht, wovon Sie reden«, erklärte er mit gespielter Würde. »O doch, mein Lieber, ich glaube, das wissen Sie sehr wohl.« »Das Ganze ist ein Mißverständnis«, stieß James hervor. »Ich kann Ihnen genau erklären ...« Er stockte. Das Gesicht des anderen hatte einen gelangweilten Ausdruck angenommen. »Das behaupten sie immer«, murmelte der Mann von Scotland Yard. »Sie haben ihn wohl beim Spazierengehen am Strand gefunden. Das wollten Sie doch erklären, wie?« 47
Seine Erklärung kam dem in der Tat sehr nahe, das mußte James zugeben, dennoch versuchte er ein Ausweichmanöver. »Woher weiß ich, daß Sie auch wirklich sind, wofür Sie sich ausgeben?« sagte er schwach. Merrilees klappte kurz seinen Rockaufschlag zurück und ließ ein Abzeichen sehen. James starrte ihn entgeistert an. »Da sehen Sie, worauf Sie sich eingelassen haben!« sagte der andere fast freundlich. »Sie sind noch ein Anfänger in diesem Geschäft, das sehe ich. Ihr erstes Ding, was?« James nickte stumm. »Das dachte ich mir. So, mein Lieber, werden Sie mir nun diesen Smaragd aushändigen, oder muß ich Sie durchsuchen?« James fand seine Sprache wieder. »Ich – ich habe ihn nicht bei mir.« Dabei dachte er angestrengt nach. »In Ihrem Hotel gelassen?« erkundigte sich Merrilees. James nickte. »Na schön«, sagte der Inspektor, »dann gehen wir zusammen dorthin.« Er faßte James am Arm. »Ich möchte nicht riskieren, daß Sie mir davonlaufen«, sagte er sanft. »Wir gehen jetzt zu Ihrem Hotel, und Sie händigen mir den Stein aus.« »Wenn ich es tue, werden Sie mich dann laufen lassen?« fragte James zitternd. Merrilees schien in Verlegenheit zu geraten. »Wir wissen, auf welche Weise der Stein entwendet wurde«, sagte er, »und daß eine Dame dabei eine Rolle spielt, und natürlich ist insofern – kurz und gut, der Radscha möchte, daß die Sache vertuscht wird. Sie wissen doch, wie diese orientalischen Potentaten sind.« James, der mit Ausnahme eines berühmten Falles absolut nichts von orientalischen Potentaten wußte, nickte verständnisvoll. 48
»Es wäre natürlich ganz und gar wider die Regel«, fuhr der Inspektor fort, »aber vielleicht kämen Sie ungeschoren davon.« James nickte wieder. Sie hatten inzwischen die Strandpromenade hinter sich gelassen und bogen in den Ort ein. James gab die Richtung an, doch der andere lockerte keinen Augenblick seinen festen Griff um James’ Arm. Plötzlich verlangsamte James seinen Schritt und unterdrückte einen Ausruf. Merrilees blickte ruckartig auf, dann lachte er. Sie gingen gerade an der Polizeistation vorbei, und er bemerkte den verängstigten Seitenblick von James. »Ich gebe Ihnen ja zuvor noch eine Chance«, sagte er gutgelaunt. Von diesem Augenblick an überstürzten sich die Ereignisse. James’ Mund entrang sich ein lauter Schrei und erpackte seinen Begleiter am Arm: »Hilfe! Ein Dieb! Hilfe! Ein Dieb!« In weniger als einer Minute hatte sich eine Menschenmenge um sie versammelt. Merrilees versuchte sich aus James’ Umklammerung zu befreien. »Ich erstatte Anzeige«, schrie James. »Ich erstatte Anzeige. Dieser Mann hat mich bestohlen.« »Was reden Sie da für einen Unsinn?« entgegnete der andere laut. Ein Polizist nahm die Sache in die Hand. Mr. Merrilees und James wurden in die Polizeistation gebracht, wo James seine Anschuldigung wiederholte. »Dieser Mann hat mir soeben die Brieftasche gestohlen«, rief er aufgeregt. »Er hat sie in seine rechte Tasche gesteckt.« »Der Mann ist übergeschnappt«, brummte der andere. »Schauen Sie doch selber nach, Inspektor, dann werden Sie ja sehen, ob er die Wahrheit sagt.«
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Auf ein Zeichen des Inspektors versenkte der Polizist respektvoll die Hand in Merrilees Tasche. Er zog einen Gegenstand hervor und hielt ihn mit einem Ausruf der Überraschung dem anderen entgegen. »Mein Gott!« stieß der Inspektor fassungslos hervor. »Das muß der Smaragd des Radschas sein.« Merrilees machte ein noch ungläubigeres Gesicht als alle anderen. »Das ist grotesk«, stotterte er. »Grotesk. Der Mann muß mir das Ding selbst in die Tasche gesteckt haben, als wir nebeneinander hergingen, um mich in falschen Verdacht zu bringen.« Das energische Auftreten von Merrilees ließ den Inspektor unsicher werden. Sein Mißtrauen richtete sich plötzlich gegen James. Er flüsterte dem Polizisten etwas ins Ohr, und dieser verließ eilig den Raum. »Bitte, meine Herren«, sagte er dann. »Machen Sie Ihre Aussage, einer nach dem anderen.« »Gern«, erwiderte James. »Also, ich ging gerade am Strand spazieren, da begegnete ich diesem Herrn, der behauptete, mich zu kennen. Ich konnte mich nicht erinnern, ihm je begegnet zu sein, war aber zu höflich, ihm das zu sagen. Wir gingen zusammen weiter, ich war aber von Anfang an mißtrauisch. Und gerade als wir an der Polizeistation vorbeikamen, spürte ich seine Hand in meiner Tasche. Ich hielt ihn fest und schrie um Hilfe.« Der Inspektor heftete seinen Blick auf Merrilees. »Und jetzt Sie, Sir.« Merrilees schien etwas verlegen. »Die Geschichte stimmt fast«, sagte er langsam, »aber nicht ganz. Nicht ich habe seine Bekanntschaft gesucht, sondern er die meine. Zweifellos wollte er den Smaragd loswerden und steckte ihn mir, während wir uns unterhielten, in die Tasche.«
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Der Inspektor hörte auf zu schreiben. »Aha!« bemerkte er unparteiisch. »Nun, es wird gleich ein Herr hierherkommen, der uns gewiß helfen kann, diese Sache aufzuklären.« Merrilees runzelte die Stirn. »Es ist mir wirklich unmöglich, noch länger zu warten«, murmelte er, indem er seine Taschenuhr hervorzog. »Ich habe eine Verabredung. Inspektor, Sie werden sich doch nicht lächerlich machen und etwa glauben, ich würde einen Smaragd stehlen und dann mit diesem in der Tasche seelenruhig durch die Gegend spazieren.« »Es klingt unwahrscheinlich, Sir, da stimme ich Ihnen zu«, erwiderte der Inspektor. »Aber Sie werden sich leider noch fünf bis zehn Minuten gedulden müssen, bis wir den Fall geklärt haben. Ah, da kommt Seine Lordschaft ja schon.« Ein hochgewachsener Mann von etwa vierzig Jahren trat ins Zimmer. Er trug ein Paar zerknautschte Hosen und einen alten Pullover. »Nun, lieber Inspektor, was höre ich da?« rief er. »Sie haben den Smaragd wiederbeschafft, sagen Sie? Das ist ja fabelhaft, wirklich ausgezeichnete Arbeit. Wer sind diese Leute hier?« Seine Augen wanderten über James hin und blieben an Merrilees haften. Dieser schien in sich zusammenzuschrumpfen. »Jones!« rief Lord Edward Campion aus. »Sie erkennen diesen Mann, Lord Edward?« fragte der Inspektor scharf. »Allerdings«, entgegnete Lord Edward trocken. »Er ist mein Kammerdiener, kam vor etwa einem Monat zu mir. Dieser Mann, den Sie mir von London geschickt haben, hatte ihn von Anfang an im Verdacht, aber man fand den Smaragd nicht unter seinen Sachen.«
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»Er hatte ihn in seiner Rocktasche«, erklärte der Inspektor. »Der Herr hier hat uns auf ihn aufmerksam gemacht.« Er deutete auf James. Einen Augenblick später wurde James von allen Seiten beglückwünscht, und man schüttelte ihm die Hand. »Mein Bester«, rief Lord Edward Campion, »Sie haben ihn also von Anfang an im Verdacht gehabt, sagen Sie?« »Ja«, antwortete James. »Ich mußte diese Geschichte mit dem Taschendiebstahl inszenieren, um ihn in die Polizeistation zu locken.« »Na, das ist ja fabelhaft«, rief Lord Edward. »Wirklich fabelhaft. Sie müssen unbedingt mitkommen und mit uns zu Mittag essen, falls Sie nicht schon gegessen haben. Es ist zwar etwas spät, ich weiß, schon fast zwei Uhr.« »Nein«, entgegnete James, »ich habe noch nicht gegessen, aber ...« »Keine Widerrede«, unterbrach ihn Lord Edward. »Wissen Sie, der Radscha wird sich unbedingt bei Ihnen bedanken wollen, daß Sie ihm seinen Smaragd wieder beschafft haben. Allerdings habe ich immer noch nicht ganz begriffen, wie das vor sich gegangen ist.« Sie waren unterdessen aus der Polizeistation auf die Straße getreten. »Wissen Sie«, sagte James, »eigentlich würde ich Ihnen gern die wahre Geschichte erzählen.« Er tat es. Seine Lordschaft war über dieMaßen erheitert. »Die beste Geschichte, die ich je in meinem Leben gehört habe«, erklärte er. »Jetzt verstehe ich alles. Jones muß, sobald er das Ding geklaut hatte, zur Badehütte hinunter gelaufen sein, denn ihm war klar, daß die Polizei das Haus gründlich durchsuchen würde. In dieser alten Hose, die ich manchmal anziehe, wenn ich zum Fischen hinausfahre, würde bestimmt kein Mensch nachschauen, und er konnte sich den Stein später in aller Ruhe wiederholen. Muß ein 52
arger Schock für ihn gewesen sein, als er heute hinkam, und das Ding war verschwunden. Sobald Sie auf der Bildfläche erschienen, war ihm natürlich sofort klar, daß Sie derjenige gewesen waren, der den Stein weggenommen hatte. Ich verstehe allerdings immer noch nicht, wie es Ihnen gelungen ist, seine Maskerade als Kriminalinspektor zu durchschauen!« Ein tüchtiger Mann weiß, wann er die Wahrheit sagen und wann er besser schweigen soll, dachte James. Er lächelte bescheiden, während er mit den Fingerspitzen sanft über die Unterseite seines Rockaufschlags strich und nach dem kleinen silbernen Abzeichen des Fahrradklubs von Merton Park tastete. Es war ein wenig bekannter kleiner Klub. Wirklich ein erstaunlicher Zufall, daß dieser Jones ausgerechnet ebenfalls dort Mitglied war, aber so etwas kam vor! »Hallo, James!« Er drehte sich um. Grace und die Sopworth-Mädchen riefen ihn von der anderen Straßenseite. Er wandte sich zu Lord Edward. »Würden Sie mich bitte einen Moment entschuldigen?« Er überquerte die Straße und trat zu den Mädchen. »Wir wollen ins Kino«, sagte Grace. »Ich dachte, du würdest vielleicht gern mitkommen.« »Tut mir leid«, antwortete James. »Ich bin gerade mit Lord Edward Campion auf dem Weg zu ihm nach Hause, zum Mittagessen. Ja, der salopp gekleidete Herr dort drüben. Er möchte mich mit dem Radscha von Maraputna bekanntmachen.« Er lüftete höflich den Hut und gesellte sich wieder zu Lord Edward.
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Die Puppe der Schneiderin
Die Puppe lag in einem tiefen samtbezogenen Sessel. Im Zimmer herrschte Halbdunkel; der Himmel über London war wolkenverhangen. In dem graugrünen Dämmerlicht schienen die salbeigrünen Möbelbezüge, die Vorhänge und die Teppiche farblich miteinander zu verschmelzen. Auch die Puppe war eins mit ihrem Hintergrund. Mit bemaltem Maskengesicht, die langen, schlaksigen Glieder von sich gestreckt, ruhte sie regungslos in ihrem grünsamtenen Kleid und ihrer Samtkappe. Sie war keine gewöhnliche Puppe, wie Kinder sie kennen. Sie war eine Luxuspuppe, Spielzeug reicher Frauen, ein Ziergegenstand, der neben dem Telefon zu sitzen pflegt, oder zwischen Sofakissen. Wie sie so da lag, leblos und doch sonderbar lebendig, glich sie einem dekadenten Produkt des zwanzigsten Jahrhunderts. Sybil Fox, die mit einigen Schnittmustern und einem Entwurf ins Zimmer geeilt kam, blickte mit einem leichten Gefühl der Überraschung und Verwirrung auf die Puppe. Sie wunderte sich – aber worüber sie sich auch immer wunderte, es nahm in ihren Gedanken keine konkrete Gestalt an. Stattdessen dachte sie: Wo mag bloß das blaue Samtschnittmuster hingeraten sein? Wo habe ich es nur hingetan? Eben hatte ich es noch, das weiß ich ganz bestimmt. Sie trat vor die Tür und rief durchs Treppenhaus nach oben zum Atelier. »Elsbeth! Elsbeth! Haben Sie das blaue Schnittmuster oben? Mrs. Fellows-Brown kann jede Minute hier sein.« 55
Sie ging in das Zimmer und schaltete die Lichter an. Dabei warf sie abermals einen Blick auf die Puppe. »Also, wo zum Kuckuck – ach, da ist es ja.« Sie hob das Schnittmuster vom Boden auf, wohin es ihr aus der Hand geglitten war. Aus dem Treppenhaus ertönte das übliche Knarren, als der Fahrstuhl anhielt, und gleich darauf kam Mrs. FellowsBrown, begleitet von ihrem Pekinesenhündchen, ins Zimmer geschnauft, einer Dampflok ähnlich, die würdevoll in einen Landbahnhof einfährt. »Es wird gleich anfangen zu gießen«, verkündete sie. »Regelrecht zu gießen!« Sie streifte Handschuhe und Pelz ab. Alicia Coombe kam ins Zimmer. In letzter Zeit kam sie nicht immer, sondern nur noch, wenn besondere Kundinnen erschienen, und Mrs. Fellows-Brown war eine besondere Kundin. Elsbeth, die Direktrice des Ateliers, brachte das Kleid von oben, und Sybil streifte es Mrs. Fellows-Brown über den Kopf. »So«, sagte sie. »Es steht Ihnen wirklich ausgezeichnet. Eine entzückende Farbe, nicht wahr?« Alicia Coombe lehnte sich ein wenig in ihrem Stuhl zurück und betrachtete prüfend das Kleid. »Ja«, sagte sie. »Ich finde, es ist gut geworden. Doch, entschieden gelungen.« Mrs. Fellows-Brown drehte sich zur Seite und betrachtete sich im Spiegel. »Ich muß sagen, Ihre Sachen kaschieren immer fabelhaft meinen Po.« »Sie sind jetzt aber viel schlanker als vor drei Monaten«, versicherte ihr Sybil. »Das bin ich eben nicht«, entgegnete Mrs. Fellows-Brown, »obwohl ich gestehen muß, in dem Kleid hier sieht es tatsächlich so aus. Irgendwie haben Ihre Sachen einen Schnitt, der meinen Po schrumpfen läßt. Ich sehe fast so aus, 56
als hätte ich keinen – das heißt, eben nur den üblichen, wie ihn die meisten Menschen haben.« Sie seufzte und strich behutsam über den störenden Körperteil. »Der war immer ein gewisses Problem für mich. Natürlich konnte ich ihn viele Jahre einfach einziehen, wissen Sie, indem ich meine Vorderseite rausstreckte. Aber das geht jetzt nicht mehr, denn jetzt habe ich zu dem Po obendrein auch noch einen Bauch. Und ich meine – na ja, man kann schließlich nicht beides auf einmal einziehen, nicht wahr?« »Sie sollten mal einige meiner Kundinnen sehen!« tröstete sie Alicia Coombe. Mrs. Fellows-Brown probierte beide Versionen. »Ein Bauch ist schlimmer als ein Po«, stellte sie fest. »Es fällt mehr auf. Oder vielleicht bildet man sich das auch nur ein, weil man den Leuten die Vorderseite zukehrt, wenn man mit ihnen redet, und sie einem in dem Moment nicht auf den Po schauen können, aber auf den Bauch. Na jedenfalls, ich hab’s mir zur Regel gemacht, den Bauch einzuziehen und den Po sozusagen Po sein zu lassen.« Sie verdrehte den Hals noch weiter nach hinten und sagte dann plötzlich: »Also, Ihre Puppe dort, die verursacht mir eine richtige Gänsehaut! Wie lang haben Sie die schon?« Sybil blickte unsicher zu Alicia Coombe, deren Gesicht einen verblüfften, aber auch irgendwie bekümmerten Ausdruck angenommen hatte. »Ich weiß nicht genau ... eine ganze Weile, glaube ich – ich kann mir einfach nichts mehr merken. Es ist schrecklich in letzter Zeit – ich kann mir nichts mehr merken. Sybil, wie lange haben wir sie schon?« »Ich weiß nicht«, antwortete Sybil kurz. »Nun«, erklärte Mrs. Fellows-Brown, »mir verursacht sie eine Gänsehaut. Direkt gruselig! Ich finde, sie sieht aus, als würde sie uns alle beobachten und sich dabei ins Fäustchen lachen. Also, ich an Ihrer Stelle würde sie wegtun!« Sie schauderte leicht zusammen. Dann stürzte sie sich wieder in 57
schneidertechnische Details. Sollte sie die Ärmel vielleicht zwei Zentimeter kürzer machen oder nicht? Und wie stand es mit der Länge? Nachdem alle diese wichtigen Punkte zur Zufriedenheit geregelt waren, schlüpfte Mrs. Fellows-Brown wieder in ihre eigenen Kleider und machte sich zum Gehen bereit. Als sie an der Puppe vorbeikam, wandte sie noch einmal den Kopf. »Nein«, erklärte sie mit Nachdruck. »Ich kann diese Puppe nicht leiden. Sie sieht mir zu sehr danach aus, als gehörte sie hierher. Es ist irgendwie ungesund.« »Was sollte das jetzt heißen?« fragte Sybil, während Mrs. Fellows-Brown über die Treppe nach unten verschwand. Ehe Alicia Coombe antworten konnte, tauchte Mrs. Fellows-Brown wieder auf und streckte den Kopf zur Tür herein. »Du meine Güte, ich habe wahrhaftig Fou-Ling vergessen. Wo bist du, Schnuckelchen? Na, so etwas!« Sie starrte auf den Pekinesen, und die beiden anderen Frauen taten es ihr nach. Fou-Ling saß neben dem grünen Samtsessel und glotzte unverwandt auf die schlaffe Gestalt der Puppe, die darauf ruhte. Sein kleines Gesicht mit den hervorquellenden Augen war ausdruckslos, es zeigte weder Vergnügen noch Abneigung. Er glotzte ganz einfach. »Na, komm schon, bist doch Mamas Liebling«, flötete Mrs. Fellows-Brown. Mamas Liebling nahm nicht die geringste Notiz von ihr. »Er wird jeden Tag unfolgsamer«, bemerkte Mrs. FellowsBrown in einem Ton, als hebe sie eine Tugend hervor. »Komm schon, Fou-Ling. Fressi-Fressi. Feines Leberchen.« Fou-Ling drehte den Kopf um ein paar Zentimeter zu seiner Herrin herum und wandte sich dann verachtungsvoll wieder der Puppe zu. »Sie hat wahrhaftig großen Eindruck auf ihn gemacht«, stellte Mrs. Fellows-Brown fest. »Ich glaube nicht, daß sie 58
ihm schon früher aufgefallen ist. Mir übrigens auch nicht. War sie schon da, als ich das letzte Mal kam?« Die beiden anderen Frauen wechselten einen Blick. Diesmal nahm Sybils Gesicht einen fragenden Ausdruck an, und Alicia Coombe erwiderte stirnrunzelnd: »Ich habe Ihnen ja schon gesagt – ich kann mir in letzter Zeit nichts mehr merken. Wie lange haben wir sie denn nun eigentlich, Sybil?« »Wo kommt sie her?« fragte Mrs. Fellows-Brown. »Haben Sie sie gekauft?« »O nein.« Irgendwie war Alicia Coombe bei dieser Idee schockiert. »O nein. Vermutlich hat sie mir jemand geschenkt.« Sie schüttelte den Kopf. »Es ist zum Verrücktwerden!« stieß sie hervor. »Absolut zum Verrücktwerden, wenn einem sofort alles wieder entfällt.« »Nun sei nicht albern, Fou-Ling«, rief Mrs. Fellows-Brown streng. »Komm sofort hierher. Na, dann werde ich dich eben tragen.« Sie hob ihn hoch. Fou-Ling stieß ein jämmerlich protestierendes Kläffen aus. Während sie ihn aus dem Zimmer trug, drehte er sein glotzäugiges Gesichtchen über das flaumige Schulterfell hinweg nach hinten und starrte weiterhin mit ungeheurer Konzentration auf die Puppe im Sessel. »Also, bei der Puppe da«, sagte Mrs. Groves, »da läuft’s einem richtig kalt den Rücken runter, jawohl.« Mrs. Groves war die Putzfrau. Sie war soeben damit fertiggeworden, rückwärts rutschend wie ein Krebs den Fußboden zu wischen. Nun stand sie aufrecht und bewegte sich gemächlich mit einem Staubtuch durchs Zimmer. »Komisches Ding«, fuhr sie fort. »Ist mir eigentlich erst gestern aufgefallen. Und dann direkt schlagartig sozusagen.« »Sie gefällt Ihnen nicht?« fragte Sybil. »Ich sag Ihnen doch, Mrs. Fox, wenn ich sie anschaue, läuft’s mir kalt den Rücken runter. Irgend was ist mit der 59
nicht richtig, verstehen Sie. Diese langen Schlackerbeine, und wie sie da hockt, und dieser tückische Blick, den sie in den Augen hat. Ich sage Ihnen, mit der stimmt was nicht.« »Sie haben bisher nie etwas über sie gesagt«, wandte Sybil ein. »Ich sag Ihnen doch, sie ist mir nie aufgefallen – bis heute morgen ... Na sicher, ich weiß, daß sie schon ‘ne ganze Weile hier ist, aber –« Sie hielt inne, und ein nachdenklicher Ausdruck huschte über ihr Gesicht. »Die könnte einem nachts im Traum erscheinen.« Damit suchte sie ihre Putzutensilien zusammen, verließ den Raum, wo die Anproben stattfanden, und ging durchs Treppenhaus ins gegenüberliegende Zimmer. Sybil betrachtete die ruhende Puppe. Ihre Miene nahm einen Ausdruck wachsender Verblüffung an. Als Alicia Coombe ins Zimmer trat, fuhr Sybil abrupt herum. »Miss Coombe, nun mal im Ernst, seit wann haben wir dieses Geschöpf?« »Was, die Puppe? Meine Liebe, Sie wissen doch, daß ich so vergeßlich geworden bin. Gestern – also es ist einfach zu albern! Ich wollte zu diesem Vortrag gehen und war noch nicht halb die Straße hinunter, als ich plötzlich merkte, daß ich vergessen hatte, wo ich hinwollte. Ich überlegte hin und her. Schließlich sagte ich mir, bestimmt wollte ich zu Fortnums. Ich erinnerte mich, daß ich bei Fortnums etwas hatte besorgen wollen. Also, ob Sie es glauben oder nicht, erst als ich längst wieder zu Hause war und meinen Tee trank, da fiel mir der Vortrag wieder ein. Selbstverständlich habe ich immer gehört, daß man mit fortschreitendem Alter allmählich senil wird, aber bei mir geht das viel zu schnell. Jetzt habe ich schon wieder vergessen, wo ich meine Handtasche hingetan habe – und meine Brille auch. Wo habe ich bloß die Brille hingelegt? Gerade eben hatte ich sie noch – ich las etwas in der Times.« 60
»Die Brille liegt hier auf dem Kaminsims.« Sybil reichte sie Alicia Coombe. »Woher haben Sie die Puppe? Wer hat sie Ihnen geschenkt?« »Auch das ist mir total entfallen. Vermutlich hat sie mir irgend jemand gegeben oder zugeschickt... Aber eigentlich scheint sie mir sehr gut in das Zimmer zu passen, nicht wahr?« »Ein bißchen zu gut, finde ich«, sagte Sybil. »Das Komische ist, auch ich kann mich nicht erinnern, wann ich sie zum ersten Mal dort gesehen habe.« »Nun nehmen Sie sich bloß kein Beispiel an mir«, ermahnte sie Alicia Coombe. »Sie sind schließlich noch jung.« »Nein, wirklich, Miss Coombe, ich weiß es nicht mehr. Gestern, da habe ich sie mir angesehen und dabei gedacht, die hat sowas – also, ich finde, Mrs. Groves hat ganz recht – sowas Unheimliches an sich. Und dann dachte ich mir, das habe ich ja schon mal gedacht, und dann habe ich versucht, mich zu besinnen, wann das war, und – also ich wußte es einfach nicht mehr! Irgendwie war es so, als hätte ich sie noch nie zuvor gesehen – aber andererseits kam es mir nicht so vor. Mir war, als wäre sie schon seit langer Zeit hier, aber als hätte ich sie gerade erst bemerkt.« »Vielleicht kam sie eines Tages auf einem Besenstiel durchs Fenster hereingeflogen«, meinte Alicia Coombe. »Jedenfalls, jetzt gehört sie hierher.« Sie blickte sich um. »Man könnte sich den Raum kaum ohne sie vorstellen, nicht wahr?« »Nein«, bestätigte Sybil mit einem leichten Schaudern, »aber ich wünschte mir, ich könnte es.« »Sie könnten was?« »Mir den Raum ohne sie vorstellen.« »Wollen wir hier eigentlich alle verrückt spielen wegen dieser Puppe?« rief Alicia Coombe ungeduldig. »Was ist denn verkehrt an dem armen Ding? Für mich sieht sie aus 61
wie eine verwelkte Kohlstaude, aber vielleicht«, fügte sie hinzu, »liegt das daran, daß ich meine Brille nicht aufhabe.« Sie setzte sich die Brille auf die Nase und blickte die Puppe fest an. »Ja, jetzt verstehe ich, was Sie meinen. Sie ist tatsächlich ein bißchen unheimlich ... Traurig sieht sie aus, aber – irgendwie auch hinterhältig und ziemlich energisch dazu.« »Komisch«, meinte Sybil, »daß Mrs. Fellows-Brown eine so heftige Abneigung gegen sie gefaßt hat.« »Ach, das ist eine, die nie ein Blatt vor den Mund nimmt.« »Aber es ist eigenartig«, beharrte Sybil, »daß ausgerechnet diese Puppe einen solchen Eindruck auf sie gemacht haben soll.« »Oh, manchmal überfallen einen ganz plötzlich solche Antipathien.« »Vielleicht«, sagte Sybil mit einem leichten Auflachen, »war die Puppe bis gestern tatsächlich noch nicht da ... Vielleicht ist sie – ist sie einfach durchs Fenster geflogen, wie Sie sagten, und hat sich hier häuslich niedergelassen.« »Nein«, entgegnete Alicia Coombe, »ich bin mir sicher, sie ist schon seit einer ganzen Weile da. Vielleicht ist sie bloß erst gestern sichtbar geworden.« »So kommt es mir ebenfalls vor«, bestätigte Sybil, »als wäre sie schon seit einer ganzen Weile da ... aber trotzdem kann ich mich nicht erinnern, sie vor dem gestrigen Tag direkt wahrgenommen zu haben.« »Nun machen Sie aber einen Punkt, meine Liebe«, rief Alicia Coombe energisch. »Mir wird ganz sonderbar bei Ihrem Gerede; es läuft mir schon richtig kalt den Rücken hinunter. Bitte, steigern Sie sich nur nicht in irgendwelchen übersinnlichen Quatsch hinein, wegen dieser Puppe.« Sie ergriff die Puppe, schüttelte sie aus, richtete ihre Schultern gerade und setzte sie in einen anderen Sessel. Sofort sackte die Puppe leicht zusammen und streckte die Glieder. »Sie ist 62
nicht ein bißchen naturgetreu«, sagte Alicia Coombe und starrte dabei wie gebannt auf die Puppe. »Und trotzdem wirkt sie auf eine komische Weise lebendig, nicht wahr?« »Oh, hab ich mich erschrocken«, rief Mrs. Groves, während sie staubwischend durch den Vorführraum ging. »Derartig, daß – ich eigentlich gar nicht mehr gern in den Anproberaum gehe.« »Wobei haben Sie sich so erschrocken?« fragte Miss Coombe, die an einem Schreibtisch in der Ecke saß und verschiedene Kundenkonten bearbeitete, zerstreut. »Diese Person«, fuhr sie mehr zu sich als zu Mrs. Groves gewandt, fort, »bildet sich ein, sie kann jedes Jahr zwei Abendkleider, drei Cocktailkleider und ein Kostüm bestellen, ohne mir je einen Penny dafür zu bezahlen! Also wirklich, Leute gibt’s!« »Bei der Puppe«, antwortete Mrs. Groves. »Was, schon wieder unsere Puppe?« »Jawohl. Wie die da am Schreibtisch sitzt, genau wie ein echter Mensch. Huch, hab ich mich erschrocken!« »Wovon reden Sie da eigentlich?« Alicia Coombe sprang auf, ging mit langen Schritten durchs Zimmer, über den kleinen Vorplatz im Treppenhaus und in den gegenüberliegenden Raum – den Anproberaum. In einer Ecke davon stand ein zierlicher Sheratonschreibtisch, und dort, auf einem herbeigerückten Stuhl, die langen, schlaffen Arme auf der Schreibplatte, saß die Puppe. »Da scheint sich irgend jemand einen Spaß geleistet zu haben«, bemerkte Alicia Coombe. »Was für eine Schnapsidee, diese Puppe so dorthin zu setzen. Sie sieht tatsächlich ganz wie lebendig aus.« In dem Augenblick kam Sybil Fox mit einem Kleid, das an diesem Vormittag anprobiert werden sollte, die Treppe herunter.
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»Kommen Sie her, Sybil. Sehen Sie sich das an, jetzt sitzt unsere Puppe schon an meinem Privatschreibtisch und schreibt Briefe.« Die beiden Frauen standen da und schauten. »Wirklich«, sagte Alicia Coombe schließlich, »das ist doch zu albern! Ich möchte wissen, wer sie dort hingesetzt hat. Waren Sie das?« »Nein«, entgegnete Sybil. »Es muß eins von den Mädchen oben gewesen sein.« »Ein recht törichter Scherz eigentlich.« Alicia Coombe nahm die Puppe vom Schreibtisch und warf sie wieder aufs Sofa. Sybil legte das Kleid vorsichtig über einen Stuhl, dann ging sie hinaus und die Treppe zum Atelier hinauf. »Ihr kennt doch diese Puppe«, begann sie, »die Samtpuppe in Miss Coombes Zimmer unten – im Anproberaum?« Die Direktrice und drei der Mädchen blickten auf. »Ja, Miss, natürlich kennen wir die.« »Wer von euch hat sie heute morgen zum Spaß an den Schreibtisch gesetzt?« Die drei Mädchen starrten sie an, dann sagte Elsbeth, die Direktrice: »Sie an den Schreibtisch gesetzt? Na, ich bestimmt nicht.« »Ich auch nicht«, erklärte eines von den Mädchen. »Und du, Marlene?« Marlene schüttelte den Kopf. »Vielleicht doch ein kleiner Scherz von Ihnen, Elsbeth?« »Nein, wirklich!« entgegnete Elsbeth, eine strenge Frau, die aussah, als müßte sie eigentlich ständig den Mund voller Stecknadeln haben. »Ich habe Besseres zu tun, als mit Puppen herumzuspielen und sie an Schreibtische zu setzen.« »Nun hört doch mal«, sagte Sybil, und zu ihrer eigenen Überraschung zitterte ihre Stimme leicht, »es war ja – es war
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ja ein ganz gelungener Scherz, ich würde eben bloß gern wissen, wer es gewesen ist.« Die drei Mädchen wurden ärgerlich. »Wir haben Ihnen doch gesagt, Mrs. Fox, keine von uns ist es gewesen, stimmt’s, Marlene?« »Also, ich war’s nicht, und wenn Nellie und Margaret sagen, sie waren’s auch nicht, na, dann war’s keine von uns.« »Meine Antwort darauf haben Sie bereits gehört«, erklärte Elsbeth. »Um was geht es bei der ganzen Sache überhaupt, Mrs. Fox?« »Es kam mir bloß so merkwürdig vor«, sagte Sybil langsam. »Vielleicht war es Mrs. Groves?« meinte Elsbeth. Sybil schüttelte den Kopf. »Mrs. Groves kann’s nicht gewesen sein. Sie hat selbst einen Heidenschreck bekommen.« »Ich komme mit hinunter und sehe es mir selber an«, sagte Elsbeth. »Jetzt ist sie nicht mehr dort«, erwiderte Sybil. »Miss Coombe hat sie vom Schreibtisch weggenommen und wieder aufs Sofa gelegt. Also –« Sie machte eine kurze Pause. »Ich meine nach wie vor, es muß sie jemand auf den Stuhl vor den Schreibtisch gesetzt haben – fand das wohl witzig, nehme ich an. Und – und ich verstehe nicht, warum die Betreffende das nicht zugeben will.« »Ich hab’s Ihnen schon zweimal gesagt, Mrs. Fox«, erklärte Margaret. »Ich sehe nicht ein, wieso Sie uns immerzu vorwerfen, wir würden lügen. Keine von uns würde so etwas Dummes tun.« »Ich bitte um Entschuldigung«, sagte Sybil rasch. »Ich wollte euch nicht kränken. Aber – aber wer könnte es bloß sonst gewesen sein?« »Vielleicht ist sie aufgestanden und selber dorthin gegangen.« Marlene kicherte. 65
Aus irgendeinem Grund hörte Sybil diese Erklärung nicht gern. »Ach, ist ja sowieso alles Unfug«, rief sie und ging wieder die Treppe hinunter. Alicia Coombe kramte leise summend im Zimmer herum, als Sybil hereinkam. »Ich habe schon wieder meine Brille verlegt«, verkündete sie, »aber eigentlich schadet es nichts. Ich will momentan gar nichts sehen. Das Dumme ist dabei freilich, wenn man so blind ist wie ich, daß, wenn man seine Brille verlegt und keine andere hat, die man aufsetzen kann, um sie wiederzufinden, man sie nicht wiederfinden kann, weil man sie nicht sieht.« »Ich suche sie Ihnen«, versprach Sybil. »Eben hatten Sie sie ja noch.« »Ich war kurz nebenan, als Sie nach oben gingen. Wahrscheinlich habe ich sie mit hinübergenommen.« Sie ging in das andere Zimmer hinüber. »So etwas Lästiges«, rief Alicia Coombe. »Ich möchte die Abrechnungen fertig durchgeben. Aber wie kann ich das, wenn ich meine Brille nicht habe.« »Ich laufe hinauf und hole Ihnen Ihre Ersatzbrille aus dem Schlafzimmer«, schlug Sybil vor. »Ich habe im Moment keine Ersatzbrille.« »Nanu, was ist denn damit passiert?« »Tja, ich glaube, ich hab sie gestern liegengelassen, als ich beim Lunch war. Ich hab schon dort angerufen und in den beiden Geschäften, in denen ich war, auch.« »Du liebe Zeit!« rief Sybil. »Sie werden sich wohl drei Brillen anschaffen müssen.« »Wenn ich drei Brillen hätte«, entgegnete Alicia Coombe, »dann würde ich bestimmt mein ganzes Leben damit zubringen, nach der einen oder anderen zu suchen. Nein, ich
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glaube wirklich, es ist am besten, nur eine einzige zu haben. Dann muß man solange suchen, bis man sie findet.« »Na, irgendwo wird sie schon sein«, sagte Sybil. »Sie sind ja außer in diesen beiden Räumen nirgends gewesen. Hier ist sie bestimmt nicht, also müssen Sie sie drüben im Anproberaum verlegt haben.« Sie ging hinüber und schaute sich überall gründlich um. Schließlich, als letzte Möglichkeit, hob sie die Puppe vom Sofa auf. »Ich hab sie«, rief sie. »Oh, wo war sie, Sybil?« »Unter unserer liebreizenden Puppe. Wahrscheinlich haben Sie sie dort hingelegt, als Sie die Puppe wieder aufs Sofa setzten.« »Das habe ich nicht. Ich bin ganz sicher.« »Oh«, rief Sybil gereizt, »dann hat sie wohl die Puppe genommen und vor Ihnen versteckt.« »Wissen Sie«, sagte Alicia, während sie die Puppe nachdenklich betrachtete, »eigentlich würde ich ihr das direkt zutrauen. Sie sieht sehr intelligent aus, finden Sie nicht, Sybil?« »Ich glaube nicht, daß mir ihr Gesicht gefällt. Sie sieht aus, als wüßte sie etwas, was wir nicht wissen.« »Finden Sie nicht, daß sie irgendwie traurig und süß aussieht?« fragte Alicia Coombe bittend, aber ohne Überzeugung. »Ich finde sie nicht im geringsten süß«, erwiderte Sybil unwirsch. »Nein ... vielleicht haben Sie recht... Na gut, machen wir weiter. Lady Lee wird in zehn Minuten hier sein. Ich will nur eben noch diese Rechnungen fertig machen und zur Post geben.« »Mrs. Fox! Mrs. Fox!« »Ja, Margaret?« fragte Sybil. »Was gibt’s?«
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Sybil stand über einen Tisch gebeugt und war damit beschäftigt, ein Stück Satin zuzuschneiden. »Oh, Mrs. Fox, es ist schon wieder diese Puppe. Ich habe das braune Kleid runtergebracht, wie Sie mir aufgetragen haben, und da sitzt die Puppe schon wieder am Schreibtisch. Und ich war das nicht – keine von uns war’s. Bitte, Mrs. Fox, wir würden so etwas bestimmt nicht machen.« Sybils Schere rutschte ein Stück zur Seite. »Da«, rief sie ärgerlich. »Sehen Sie nur, was jetzt passiert ist. Na ja, ist wohl nicht so arg. Also, was ist mit der Puppe?« »Sie sitzt schon wieder am Schreibtisch!« Sybil ging hinunter und trat in den Anproberaum. Die Puppe saß in der gleichen Haltung am Schreibtisch wie zuvor. »Du weißt wohl genau, was du willst, was?« sagte Sybil zu ihr. Dann nahm sie sie ohne weiteres Federlesen hoch und setzte sie wieder aufs Sofa. »Da ist dein Platz, mein Mädchen«, sagte sie. »Da bleibst du.« Sie ging in das Zimmer gegenüber. »Miss Coombe.« »Ja, Sybil?« »Hier treibt tatsächlich jemand einen Schabernack mit uns. Diese Puppe saß doch schon wieder am Schreibtisch.« »Wer, glauben Sie, setzt sie dorthin?« »Es muß eins von den drei Mädels oben sein. Findet das Ganze wohl wunders wie spaßig. Natürlich werden sie alle Stein und Bein schwören, daß sie es nicht gewesen sind.« »Wer ist es, was glauben Sie – Margaret?« »Nein, nicht Margaret. Das glaube ich nicht. Sie sah selbst ganz merkwürdig aus, als sie hereinkam und es mir sagte. Ich tippe auf diese ewig kichernde Marlene.« »Auf jeden Fall ist es sehr albern, so etwas zu tun.« 68
»Allerdings – idiotisch«, sagte Sybil. »Aber«, fügte sie grimmig hinzu, »ich werde der Sache ein Ende bereiten.« »Wie wollen Sie das anfangen?« »Warten Sie es ab.« An diesem Abend sperrte Sybil beim Weggehen den Anproberaum von außen ab. »Ich sperre diese Tür jetzt zu«, verkündete sie, »und nehme den Schlüssel mit.« »Ach, ich verstehe«, meinte Alicia leicht belustigt. »Sie fangen an zu glauben, ich selber sei es gewesen, nicht wahr? Sie glauben, ich sei so zerstreut, daß ich hineingehe, um etwas zu schreiben, aber statt meiner die Puppe an den Schreibtisch setze, damit sie für mich schreibt. Ist das Ihre Vorstellung? Und daß ich hinterher das Ganze vergesse?« »Nun ja, es wäre eine Möglichkeit«, räumte Sybil ein. »Auf jeden Fall werde ich dafür sorgen, daß heute nacht hier kein alberner Schabernack getrieben wird.« Am nächsten Morgen ging Sybil nach ihrer Ankunft als allererstes in den Anproberaum. Entschlossen sperrte sie die Tür auf und marschierte hinein. Mrs. Groves wartete bereits, Besen und Staublappen in der Hand, mit gekränkter Miene im Treppenhaus. »So, jetzt werden wir mal sehen!« sagte Sybil. Dann zuckte sie zusammen und zog scharf die Luft ein. Die Puppe saß am Schreibtisch. »Puh!« flüsterte Mrs. Groves hinter ihr. »Das ist direkt unheimlich! Jawohl! Aber, aber, Mrs. Fox, Sie sehen ja ganz blaß aus, als ob Ihnen übel wäre. Ein Schnäpschen, das würde Ihnen jetzt guttun. Wissen Sie, ob Miss Coombe ein Schlückchen oben hat?«
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»Mir fehlt nichts«, sagte Sybil abwehrend. Sie ging auf die Puppe zu, hob sie vorsichtig hoch und trug sie durchs Zimmer. »Da hat Ihnen schon wieder einer ‘nen dummen Streich gespielt«, meinte Mrs. Groves. »Ich verstehe nicht, wie sie das diesmal fertiggebracht haben sollen«, sagte Sybil langsam. »Ich habe diese Tür gestern abend abgesperrt. Sie wissen ja selbst, daß niemand hineinkonnte.« »Vielleicht hat noch jemand ‘nen Schlüssel«, wandte Mrs. Groves ein. »Das glaube ich nicht«, entgegnete Sybil. »Wir haben uns bisher nie die Mühe gemacht, diese Tür abzuschließen. Es ist einer von diesen altmodischen Schlüsseln, und es gibt nur einen davon.« »Vielleicht paßt der andere Schlüssel auch – der von der Tür gegenüber.« Nacheinander probierten sie sämtliche Schlüssel im Atelier aus, aber keiner paßte in die Tür zum Anproberaum. »Es ist wirklich rätselhaft«, bemerkte Sybil, als sie später zusammen beim Mittagessen saßen. Alicia Coombe sah beinahe erfreut aus. »Meine Liebe«, sagte sie, »ich finde es einfach phantastisch. Ich meine, wir sollten es diesen PSI-Leuten mitteilen. Wissen Sie, vielleicht schicken die uns einen Prüfer – ein Medium oder so jemanden –, um festzustellen, ob an dem Zimmer irgend etwas Besonderes ist.« »Es scheint Sie gar nicht zu stören«, sagte Sybil. »Ach, in gewisser Weise macht es mir sogar Spaß«, erklärte Alicia Coombe. »Wissen Sie, in meinem Alter findet man es ganz lustig, wenn etwas geschieht! Trotzdem – nein«, fügte sie nachdenklich hinzu, »eigentlich gefällt es
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mir doch nicht so sehr. Ich meine, diese Puppe nimmt sich allmählich wirklich zu viel heraus, nicht wahr?« An diesem Abend sperrten Sybil und Alicia Coombe die Tür abermals von außen ab. »Ich glaube noch immer«, sagte Sybil, »daß man uns vielleicht doch an der Nase herumführt, wenn ich auch nicht recht einsehe, warum ...« »Glauben Sie, die Puppe wird morgen früh wieder am Schreibtisch sitzen?« fragte Alicia forschend. »Ja«, antwortete Sybil, »das glaube ich.« Aber sie irrten sich. Die Puppe saß nicht am Schreibtisch. Sie kauerte stattdessen auf der Fensterbank und schaute auf die Straße hinunter. Und wieder war ihre Haltung von außergewöhnlicher Natürlichkeit. »Das Ganze ist furchtbar albern, finden Sie nicht?« sagte Alicia Coombe, als sie an diesem Nachmittag während einer Arbeitspause rasch eine Tasse Tee tranken. Sie waren stillschweigend übereingekommen, dies nicht wie gewöhnlich im Anproberaum, sondern in Alicia Coombes Zimmer gegenüber zu tun. »Albern inwiefern?« »Nun, ich will sagen, es gibt eigentlich nichts Greifbares. Bloß eine Puppe, die immerfort an einem anderen Platz sitzt.« Im Verlauf der folgenden Tage schien diese Feststellung noch zutreffender. Es geschah nun nicht mehr nur des Nachts, daß die Puppe ihren Platz wechselte. Alle Augenblicke konnte es jetzt passieren, daß man, selbst wenn man den Anproberaum nur für ein paar Minuten verließ, bei der Rückkehr die Puppe an einer anderen Stelle vorfand. Es konnte sein, daß man sie auf dem Sofa sitzend zurückgelassen hatte und sie danach auf einem Stuhl entdeckte. Dann saß sie wiederum auf einem anderen Stuhl. Manchmal 71
pflegte sie auch auf der Fensterbank zu sitzen, oder wieder am Schreibtisch. »Sie wechselt ihren Platz, wie es ihr beliebt«, sagte Alicia Coombe. »Und ich glaube, Sybil, ich glaube, es macht ihr Spaß.« Die beiden Frauen standen und blickten hinab auf die regungslos daliegende Gestalt in ihrem weichen, schmiegsamen Samtkleid und dem Gesicht aus bemalter Seide. »Dabei besteht das Ganze aus nichts als ein paar Samt- und Seidenflicken und ein paar Tupfen Farbe«, fuhr Alicia in gezwungenem Ton fort. »Wissen Sie, eigentlich könnten wir – hm – könnten wir sie wegtun.« »Was meinen Sie, wegtun?« Sybils Stimme klang fast schockiert. »Na ja«, meinte Alicia, »wir könnten sie ins Feuer werfen, wenn wir ein Feuer hätten. Sie verbrennen, meine ich, wie eine Hexe ... Aber natürlich«, fügte sie nüchtern hinzu, »könnten wir sie auch einfach in die Abfalltonne werfen.« »Ich glaube nicht, daß das ginge«, erwiderte Sybil. »Wahrscheinlich würde sie irgendwer aus der Tonne herausholen und uns zurückbringen.« »Oder wir könnten sie irgendwo hinschicken«, schlug Alicia Coombe vor. »Sie wissen schon, an einen von diesen Vereinen, die einem ständig Bettelbriefe schreiben – zum Verkaufen oder für einen Basar. Ich denke, das wäre die beste Idee.« »Ich weiß nicht«, sagte Sybil. »Ich hätte beinahe Angst, das zu tun.« »Angst?« »Nun ja, ich glaube, sie würde zurückkommen.« »Sie meinen, sie würde hierher zurückkommen?« »Ja.« »Wie eine Brieftaube?« »Ja, genau so.«
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»Wir werden hier doch hoffentlich nicht alle langsam närrisch, oder?« meinte Alicia Coombe. »Vielleicht bin auch ich inzwischen total verkalkt, und Sie wollen mir bloß nicht widersprechen. Ist es so?« »Nein«, antwortete Sybil. »Aber ich habe ekelhafte Angst – ich habe das scheußliche Gefühl, daß die Puppe uns überlegen ist.« »Was? Dieses Bündel Lumpen?« »Jawohl, dieses gräßliche schlappe Bündel Lumpen. Denn sehen Sie, sie ist so entschlossen.« »Entschlossen?« »Ihren Willen durchzusetzen. Das ist jetzt ihr Zimmer, wissen Sie.« »Ja.« Alicia Coombe blickte sich um. »Das stimmt. Eigentlich war das von Anfang an so, wenn man sich’s recht überlegt – die Farben und all das ... Ich dachte immer, sie paßt so gut hier herein, aber es ist das Zimmer, das zu ihr paßt. Ich muß allerdings sagen«, fuhr sie mit einem Anflug von Härte fort, »es ist schon ein starkes Stück, daß eine Puppe einfach so daherkommt und von den Dingen Besitz ergreift. Sie wissen, daß Mrs. Groves nicht mehr hier drinnen saubermachen will.« »Sagt sie, sie hätte Angst vor der Puppe?« »Nein. Sie hat nur immer irgendeine Ausrede.« Dann fügte Alicia mit einem Unterton von Panik hinzu: »Was sollen wir tun, Sybil? Diese Geschichte macht mich ganz fertig, wissen Sie. Ich bin seit Wochen nicht mehr fähig, ein Kleid zu entwerfen.« »Ich kann mich auch nicht richtig aufs Zuschneiden konzentrieren«, gestand Sybil. »Ich mache ständig die dümmsten Fehler. Vielleicht«, setzte sie zögernd hinzu, »wäre Ihre Idee, an die PSI-Leute zu schreiben, doch nicht so übel.«
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»Wir würden uns nur lächerlich machen«, entgegnete Alicia Coombe. »Es war nicht ernst gemeint. Nein, ich fürchte, wir werden so weitermachen müssen bis ...« »Bis was?« »Ach, ich weiß nicht.« Alicia lachte unsicher. Am folgenden Tag fand Sybil, als sie ins Atelier kam, die Tür zum Anproberaum verschlossen. »Miss Coombe, haben Sie den Schlüssel? Haben Sie gestern abend hier zugeschlossen?« »Ja«, erwiderte Alicia Coombe, »ich habe diese Tür abgeschlossen und sie bleibt abgeschlossen.« »Wie meinen Sie das?« »Ich meine damit lediglich, daß ich das Zimmer aufgegeben habe. Wir brauchen keine zwei Räume. Wir können die Anproben auch hier drinnen machen.« »Aber es ist doch Ihr eigenes privates Wohnzimmer.« »Ach, ich brauche es nicht mehr. Ich habe ein sehr hübsches Schlafzimmer. Daraus kann ich sehr gut ein Wohnschlafzimmer machen, nicht wahr?« »Wollen Sie damit sagen, daß Sie wirklich nie wieder in diesen Raum gehen werden?« fragte Sybil ungläubig. »Genau das wollte ich sagen, ja.« »Aber – aber wie ist es mit dem Saubermachen? Es wird doch bald fürchterlich aussehen da drinnen.« »Soll es doch!« rief Alicia Coombe. »Wenn dieses Zimmer nun schon mal von einer spukenden Puppe heimgesucht wird, na gut – soll sie es behalten. Und es selber saubermachen.« Und sie fügte hinzu: »Die haßt uns nämlich.« »Was soll das heißen?« fragte Sybil. »Die Puppe haßt uns?« »Ja«, erwiderte Alicia. »Haben Sie das nicht gewußt? Sie müssen es gewußt haben. Sie müssen es ihr doch angesehen haben.« 74
»Ja«, sagte Sybil nachdenklich, »ich glaube schon. Ich glaube, ich habe das von Anfang an gespürt – daß sie uns haßte und uns von dort vertreiben wollte.« »Sie ist eine boshafte kleine Person«, bestätigte Alicia Coombe. »Immerhin, jetzt dürfte sie ja zufrieden sein.« Danach wurde es etwas friedlicher. Alicia Coombe verkündete ihren Angestellten, daß sie vorläufig den Anproberaum nicht mehr benützen werde – es seien zu viele Zimmer zum Staubwischen und Saubermachen, erklärte sie. Es half ihr allerdings kaum, als sie am Abend des gleichen Tages mitanhörte, wie eine der Näherinnen zu einer anderen sagte: »Jetzt ist sie wirklich übergeschnappt, unsere Miss Coombe. Ich hab mir ja schon immer gedacht, daß sie ein bißchen plemplem sein muß – so wie sie ständig alles verliert und vergißt. Aber jetzt ist’s ganz aus, was? Sie spielt ja richtiggehend verrückt wegen dieser Puppe da unten.« »Oh, du glaubst doch nicht etwa, sie wird echt überschnappen?« gab das andere Mädchen zurück. »So daß sie vielleicht mit dem Messer auf uns losgeht oder so?« Sie gingen schwatzend weiter, und Alicia richtete sich entrüstet in ihrem Sessel auf. Überschnappen – unerhört! Dann sagte sie resignierend zu sich selbst: »Wenn Sybil nicht wäre, würde ich wahrscheinlich selber glauben, daß ich bald überschnappe. Aber ich und Sybil und Mrs. Groves – wir alle drei – na, es muß doch etwas dran sein. Bloß eines kann ich mir nicht vorstellen, wie soll das enden?« Drei Wochen später sagte Sybil zu Alicia Coombe: »Irgendwann müssen wir einmal in dieses Zimmer.« »Warum?« »Na, ich meine, es muß doch in einem schauderhaften Zustand sein. Die Motten werden überall hineinkommen und
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überhaupt. Wir sollten bloß mal kurz staubwischen und ausfegen und dann wieder zusperren.« »Ich würde es viel lieber abgeschlossen lassen und nicht mehr hineingehen«, wandte Alicia Coombe ein. »Also wissen Sie«, sagte Sybil, »Sie sind ja noch abergläubischer als ich.« »Mag sein. Ich war viel eher dazu bereit, an all diese Dinge zu glauben als Sie, aber am Anfang, wissen Sie, da – fand ich es sonderbarerweise irgendwie aufregend. Ach, ich weiß nicht. Ich habe einfach Angst und möchte dieses Zimmer lieber nicht mehr betreten.« »Ich schon«, entgegnete Sybil, »und ich tu’s auch.« »Wissen Sie was?« sagte Alicia Coombe. »Sie sind einfach neugierig, das ist alles.« »Also meinetwegen, dann bin ich eben neugierig. Ich möchte gern sehen, was die Puppe gemacht hat.« »Ich glaube immer noch, es wäre viel besser, sie in Ruhe zu lassen«, sagte Alicia. »Jetzt, wo wir nicht mehr in das Zimmer gehen, ist sie zufrieden. Lassen Sie es lieber dabei.« Sie seufzte gereizt. »Was reden wir bloß für einen Unsinn!« »Ja, ich weiß, daß wir Unsinn reden, aber wenn Sie mir verraten können, wie wir nicht Unsinn reden sollen – also los, geben Sie mir den Schlüssel.« »Schon gut, schon gut.« »Ich glaube, Sie haben Angst, ich könnte sie rauslassen oder so. Ich denke mir, die ist von der Sorte, die durch Fenster und Türen gehen kann.« Sybil sperrte die Tür auf und ging hinein. »Wie furchtbar merkwürdig!« »Was ist merkwürdig?« fragte Alicia Coombe, während sie ihr über die Schulter spähte. »Das Zimmer scheint fast überhaupt nicht staubig, nicht? Man möchte doch meinen, nachdem es so lange abgeschlossen war ...« 76
»Ja, das ist allerdings merkwürdig.« »Da ist sie«, sagte Sybil. Die Puppe war auf dem Sofa. Sie lag nicht in ihrer gewöhnlichen schlaffen Haltung da. Sie saß aufrecht, ein Kissen im Rücken, und sah aus wie die Dame des Hauses, die sich anschickt, ihre Gäste zu empfangen. »Na, die scheint sich hier ja richtig eingelebt zu haben, was?« bemerkte Alicia Coombe. »Ich habe fast das Gefühl, ich müßte mich entschuldigen, daß wir hereingekommen sind.« »Gehen wir«, stieß Sybil hervor. Sie ging rückwärts hinaus, zog die Tür hinter sich zu und sperrte wieder ab. Die beiden Frauen sahen einander an. »Ich wüßte gern«, sagte Alicia Coombe, »warum wir uns dabei so fürchten ...« »Du liebe Güte, wer würde sich da nicht fürchten?« »Ich meine, was passiert schließlich schon? Eigentlich gar nichts – bloß daß eine Art Marionettenpuppe im Zimmer herumbewegt wird. Ich nehme an, es ist gar nicht die Puppe selbst – es ist ein Poltergeist.« »Das ist eine Idee.« »Ja, aber eigentlich glaube ich nicht dran. Ich glaube, es ist – es ist doch die Puppe.« »Wissen Sie auch ganz bestimmt nicht mehr, wo sie wirklich hergekommen ist?« »Ich habe nicht die leiseste Ahnung. Und je länger ich darüber nachdenke, desto mehr bin ich davon überzeugt, daß ich sie nicht gekauft und daß sie mir auch niemand geschenkt hat. Ich glaube, sie ist – na ja, sie ist einfach gekommen.« »Meinen Sie, sie wird – je wieder weggehen?« »Eigentlich«, erwiderte Alicia, »sehe ich nicht recht, warum. Sie hat ja alles, was sie will.«
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Aber anscheinend hatte die Puppe doch nicht alles, was sie wollte. Am nächsten Tag, als Sybil in den Vorführraum ging, hielt sie plötzlich den Atem an. Dann rief sie die Treppe hinauf. »Miss Coombe, Miss Coombe, kommen Sie bitte mal herunter.« »Was ist los?« Alicia Coombe, die spät aufgestanden war, kam etwas mühselig die Treppe herunter. Sie hatte Rheumatismus im linken Knie. »Was ist denn mit Ihnen los, Sybil?« »Sehen Sie her. Sehen Sie, was jetzt passiert ist.« Sie standen in der Tür zum Vorführraum. Auf einem Sofa saß, lässig an die Armstütze gelehnt, die Puppe. »Sie ist ausgebrochen«, rief Sybil. »Sie ist aus dem Zimmer drüben ausgebrochen! Sie will auch dieses Zimmer haben.« Alicia Coombe ließ sich neben der Tür auf den Boden nieder. »Am Ende«, sagte sie, »wird sie wahrscheinlich das ganze Atelier haben wollen.« »Gut möglich.« »Du widerwärtiges, hinterhältiges, boshaftes Geschöpf«, schrie Alicia die Puppe an. »Warum kommst du zu uns und belästigst uns so? Wir wollen dich nicht haben.« Es kam ihr so vor, und Sybil ging es geradeso, als ob sich die Puppe ganz leicht bewegte. Es war, als ob sie ihre Glieder noch ein bißchen lässiger von sich streckte. Einer ihrer langen Arme ruhte auf der Sofalehne, und es schien, als ob ihr Gesicht, halb verborgen, darunter hervorspähte. Und es war ein listiger, boshafter Blick. »Ein gräßliches Ding«, stieß Alicia hervor. »Ich halte das nicht mehr aus! Ich halte es nicht mehr länger aus!« Plötzlich rannte sie zu Sybils völliger Überraschung quer durchs Zimmer auf die Puppe zu, packte sie, lief zum 78
Fenster, riß es auf und schleuderte die Puppe hinaus auf die Straße. Sybil rang nach Luft und stieß einen leisen Schreckensschrei aus. »Oh, Alicia, das hätten Sie nicht tun dürfen! Bestimmt, das hätten Sie nicht tun dürfen!« »Ich mußte etwas tun«, keuchte Alicia Coombe. »Ich konnte es einfach nicht mehr aushalten.« Sybil trat neben sie ans Fenster. Drunten auf den Pflastersteinen lag die Puppe mit gespreizten Gliedern, das Gesicht nach unten. »Sie haben sie umgebracht«, flüsterte Sybil. »Reden Sie kein dummes Zeug ... Wie kann ich etwas umbringen, das aus ein paar Stoffetzen besteht. Sie ist ja nicht lebendig.« »Sie ist gräßlich lebendig«, sagte Sybil. Alicia hielt plötzlich den Atem an. »Um Himmels willen. Das Kind dort...« Ein kleines zerlumptes Mädchen stand neben der Puppe auf dem Bürgersteig. Es blickte die Straße entlang – eine Straße, die zu dieser Morgenstunde noch nicht übermäßig belebt war, obgleich schon ein paar Autos fuhren. Dann bückte sich das Kind anscheinend befriedigt, hob die Puppe auf und rannte über die Straße. »Halt, halt!« rief Alicia. Sie drehte sich zu Sybil herum. »Das Kind darf die Puppe nicht mitnehmen. Das darf es nicht! Diese Puppe ist gefährlich – sie ist böse. Wir müssen es aufhalten.« Es waren jedoch nicht sie, die das Kind aufhielten. Es war der Verkehr. In diesem Augenblick kamen drei Taxis aus der einen Richtung und zwei Lieferwagen aus der anderen. Das Mädchen war auf einer Verkehrsinsel in der Fahrbahnmitte gefangen. Sybil rannte die Treppe hinunter, und Alicia Coombe folgte ihr. Sich zwischen einem Lieferwagen und einem Personenauto hindurchschlängelnd, erreichte Sybil, dicht gefolgt von Alicia Coombe, die Verkehrsinsel, bevor 79
das Mädchen durch die vorbeifahrenden Autos die gegenüberliegende Fahrbahn überqueren konnte. »Du kannst diese Puppe nicht mitnehmen«, sagte Alicia Coombe. »Gib sie mir zurück.« Das Kind blickte sie an. Es war ein mageres kleines Mädchen von etwa acht Jahren, das leicht schielte. Sein Gesicht war trotzig. »Warum soll ich sie dir geben?« fragte es. »Hast sie doch aus dem Fenster geworfen, ich hab’s genau gesehen. Wenn du sie aus dem Fenster wirfst, dann willst du sie nicht haben, also gehört sie jetzt mir.« »Ich kaufe dir eine andere Puppe«, sagte Alicia beschwörend. »Wir gehen in einen Spielwarenladen – in welchen du willst, und ich kaufe dir die schönste Puppe, die wir finden können. Aber gib mir diese hier zurück.« »Ich will nicht«, sagte das Kind. Seine Arme legten sich beschützend um die Samtpuppe. »Du mußt sie zurückgeben«, befahl Sybil. »Sie gehört dir nicht.« Sie streckte die Hand aus, um dem Kind die Puppe wegzunehmen. Da stampfte die Kleine mit dem Fuß auf, drehte sich um und rief mit schriller Stimme: »Das tu ich nicht! Das tu ich nicht! Das tu ich nicht! Sie gehört mir ganz allein. Ich hab sie lieb. Ihr habt sie nicht lieb. Ihr haßt sie. Wenn ihr sie nicht hassen würdet, würdet ihr sie nicht aus dem Fenster geworfen haben. Ich hab sie lieb, sag ich euch, und das will sie. Sie will liebgehabt werden.« Und damit rannte das Kind, sich wie ein Aal zwischen den Fahrzeugen hindurchwindend, quer über die Straße und war in einer engen Gasse verschwunden, ehe sich die beiden Frauen entschließen konnten, ihm durch den Verkehr hindurch zu folgen. »Sie ist weg«, sagte Alicia. »Sie hat gesagt, die Puppe will liebgehabt werden.« 80
»Vielleicht – vielleicht hat sie das die ganze Zeit gewollt ... liebgehabt werden ...« Mitten im Straßenverkehr von London standen die beiden Frauen und starrten einander erschrocken an.
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Etwas ist faul
Mrs. St. Vincent rechnete. Ein- oder zweimal seufzte sie, und ihre Hand stahl sich zu ihrer schmerzenden Stirn. Zahlen zu addieren hatte sie immer gehaßt. Unglücklicherweise schien ihr Leben im Augenblick nur aus einer bestimmten Art von Zahlen zu bestehen. Das Zusammenzählen kleiner notwendiger Ausgabenposten ergab jedesmal eine Gesamtsumme, die sie immer wieder überraschte und entsetzte. Sicherlich konnte sie nicht so hoch sein! Sie begann noch einmal von vorne. Sie hatte sich bei einem Pfennigbetrag geirrt, sonst stimmte alles. Mrs. St. Vincent seufzte wieder. Ihr Kopfweh war jetzt wirklich sehr schlimm. Dann blickte sie auf. Ihre Tochter Barbara war ins Zimmer gekommen. Sie war ein außergewöhnlich hübsches Mädchen, hatte das zarte Gesicht ihrer Mutter und auch die gleiche stolze Kopfhaltung, aber ihre Augen waren dunkel statt blau, und sie hatte einen anderen Mund, einen trotzigen roten Mund, der nicht ohne Reiz war. »Ach, Mutter!« rief sie. »Kämpfst du immer noch mit diesen schrecklichen alten Rechnungen? Wirf sie doch ins Feuer!« »Wir müssen wissen, woran wir sind«, antwortete Mrs. St. Vincent unsicher. Das Mädchen hob die Schultern. »Wir sitzen immer in derselben Klemme«, sagte sie trocken. »Verdammt knapp bei Kasse. Abgebrannt bis auf den letzten Penny, wie gewöhnlich.« 83
Mrs. St. Vincent seufzte. »Ich wünschte ...« begann sie und schwieg dann. »Ich muß mir Arbeit suchen«, sagte Barbara in energischem Ton. »Und zwar schnell. Schließlich habe ich einen Steno- und Schreibmaschinenkurs absolviert. Aber wie ich merke, hat das eine Million Mädchen auch getan. ›Was für Erfahrungen haben Sie?‹ Dann stottere ich: ›Nun, eigentlich ...‹ Und schon heißt es ›Vielen Dank, guten Tag. Wir geben Ihnen Bescheide Aber sie geben einem nie Bescheid! Ich muß etwas anderes finden. Irgend etwas!« »Nicht jetzt, meine Liebe«, bat ihre Mutter. »Warten wir noch etwas.« Barbara trat ans Fenster und blickte hinaus, ohne die schäbigen Häuser gegenüber wahrzunehmen. »Manchmal bedaure ich es«, sagte sie langsam, »daß Amy mich letzten Winter mit nach Ägypten nahm. O ja, ich weiß, es hat mir großen Spaß gemacht – das einzige Mal, daß ich so etwas erlebt habe. Und es wird wohl auch das einzige Mal bleiben. Ich habe es genossen – richtig genossen. Aber es hat mich auch aus der Bahn geworfen. Ich meine – hierher zurückzukommen ...« Sie deutete mit einer alles umfassenden Geste durch das Zimmer. Mrs. St. Vincent folgte ihrer Hand mit den Augen und zuckte zusammen. Es war ein typisches billiges möbliertes Zimmer. Eine staubige Aspidistra, pompöse Möbel, eine geschmacklose Tapete, die an manchen Stellen verschossen war. Es gab Anzeichen dafür, daß sich der Geschmack der Mieter gegen den der Vermieterin durchzusetzen versucht hatte. Ein oder zwei Porzellanfiguren standen da, mit Sprüngen und geklebten Stellen, so daß ihr Wert gleich Null war, jemand hatte ein Stück Stickerei über die Sofalehne geworfen, und ein Aquarell hing da, das ein junges Mädchen in der Mode von vor zwanzig Jahren zeigte und dem Mrs. St. Vincent auch heute noch ähnlich sah. 84
»Es wäre nicht so schlimm«, fuhr Barbara fort, »wenn wir nichts anderes gewohnt wären. Aber die Erinnerung an ›Ansteys‹ ...« Sie brach ab, weil sie nicht den Mut hatte, über das geliebte Haus zu sprechen, das den St. Vincents Jahrhunderte gehört hatte und jetzt im Besitz von fremden Leuten war. »Wenn Vater nicht... wenn er nicht spekuliert... wenn er sich nicht Geld geliehen hätte ...« »Meine Liebe«, sagte Mrs. St. Vincent. »Dein Vater war in keinem Sinne des Wortes ein Geschäftsmann.« Sie sagte es in einer freundlichen, endgültigen Art, und Barbara ging zu ihr und gab ihr einen flüchtigen Kuß. »Meine liebe alte Mama«, murmelte sie. »Ich sage nichts mehr.« Mrs. St. Vincent nahm ihren Stift wieder auf und beugte sich über ihren Schreibtisch. Barbara kehrte zum Fenster zurück. »Mutter«, sagte sie, »Ich habe heute morgen von Jim Masterton gehört. Er möchte mich besuchen kommen.« Mrs. St. Vincent legte den Stift hin und blickte auf. »Hier?«, fragte sie. »Na ja, wir können ihn wohl kaum zum Abendessen ins ›Ritz‹ einladen«, spottete Barbara. Ihre Mutter machte ein unglückliches Gesicht. Wieder blickte sie angeekelt durch das Zimmer. »Ja, du hast recht«, sagte Barbara. »Es ist schrecklich hier. Verarmter Adel! Klingt alles ganz hübsch – ein kleines weißgetünchtes Haus auf dem Land, schäbiger Chintz, aber mit schönem Muster, Vasen voll Rosen, hauchdünnes Teegeschirr, das man selbst abwäscht. So liest man es in Romanen. Im wahren Leben – wenn der Sohn ganz unten auf der Leiter des Geschäftslebens anfangen muß – bedeutet es London. Schmuddelige Vermieterinnen, schmutzige Kinder im Treppenhaus, Mitbewohner, die immer Mischlinge zu 85
sein scheinen, Bückling zum Frühstück, der nicht mehr ganz – ganz ... und so weiter.« »Wenn nur ...« begann Mrs. St. Vincent. »Wirklich, ich fange allmählich an zu fürchten, daß wir uns bald auch so ein Zimmer nicht mehr leisten können.« »Das würde heißen, wir schlafen und wohnen zusammen in einem Raum!« sagte Barbara. »Einfach schrecklich! Und ein Klappbett für Rupert. Und wenn Jim mich besucht, muß ich ihn unten in dieser scheußlichen Halle empfangen, wo die alten Jungfern herumsitzen und stricken und uns beobachten und ständig so einen würgenden Husten haben.« Es entstand eine Pause. »Barbara«, sagte Mrs. St. Vincent schließlich. »Willst du – ich meine – würdest du ...« Sie errötete etwas und schwieg. »Du brauchst nicht taktvoll zu sein, Mutter«, antwortete Barbara. »Das ist heute kein Mensch mehr. Du meinst, ob ich Jim heiraten würde? Mein Ja käme wie aus der Pistole geschossen, wenn er mich fragt. Aber ich habe schreckliche Angst, daß er es nicht tut.« »Ach, liebste Barbara!« »Nun, es ist etwas anderes, wenn er mich mit Kusine Amy trifft, irgendwo in der feinen Gesellschaft, wie es in Romanen heißt. Da verliebte er sich nämlich tatsächlich in mich. Jetzt möchte er herkommen und erlebt mich hier, in dieser Umgebung. Er ist ein komischer Kerl, weißt du, anspruchsvoll und altmodisch. Mir – mir gefällt das eigentlich an ihm. Es erinnert mich an ›Ansteys‹ und das Dorf – so hundert Jahre hinter der Zeit, aber auch ... ich weiß nicht, so duftend! Wie Lavendel!« Sie lachte, etwas beschämt über ihre Begeisterung. »Mir würde es gefallen, wenn du Jim Masterton heiratest«, sagte Mrs. St. Vincent ernst und direkt. »Er gehört zu uns. Er ist sehr vermögend, das auch, aber ich finde es nicht so wichtig.« 86
»Ich schon«, antwortete Barbara. »Ich habe es satt, immer knapp bei Kasse zu sein.« »Aber, Barbara, es ist nicht alles ...« »Du glaubst, nur deshalb möchte ich ... nein, das stimmt nicht. Ich – ach Mutter, spürst du es denn nicht?« Mrs. St. Vincent sah sehr unglücklich aus. »Ich wünschte, er könnte dich in der richtigen Umgebung erleben, mein Liebling«, sagte sie betrübt. »Ach, warum sich Sorgen machen!« rief Barbara. »Wir können genausogut versuchen, die Dinge positiv zu sehen. Tut mir leid, daß ich so schlechte Laune hatte. Sei wieder fröhlich, Mutter.« Sie neigte sich über sie, küßte sie leicht auf die Stirn und ging hinaus. Mrs. St. Vincent gab alle Versuche, Ordnung in ihre Finanzen zu bringen, auf und setzte sich auf das unbequeme Sofa. Ihre Gedanken liefen im Kreis, wie Eichhörnchen in einem Käfig. Man kann sagen, was man will, überlegte sie, aber Männer geben was auf Äußerlichkeiten. Später nicht mehr, wenn sie erst verlobt sind. Dann wird er schon begreifen, was für ein süßes liebes Mädchen sie ist. Junge Leute passen sich so schnell ihrer Umgebung an. Rupert hat sich so verändert. Er ist ganz anders als früher. Natürlich sollen meine Kinder nicht arrogant sein. Das möchte ich selbstverständlich nicht. Aber es würde mir nicht besonders gefallen, wenn sich Rupert mit dem schrecklichen Mädchen aus dem Tabakladen verlobt. Na ja, sie ist ein ganz reizendes Kind, aber sie gehört nicht zu uns. Es ist alles so schwierig. Die arme kleine Barbara. Wenn ich ihr doch helfen könnte – irgendwie. Nur – woher soll ich das Geld nehmen? Wir haben alles verkauft, damit Rupert einen guten Start hat. Und eigentlich könnten wir uns nicht einmal das leisten.
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Um sich abzulenken, nahm sie die Morning Post und las die Anzeigen auf der ersten Seite. Die meisten kannte sie auswendig. Leute, die Kapital suchten, Leute, die welches hatten und es anlegen wollten, Leute, die Zähne kaufen wollten – sie fragte sich jedesmal erneut, warum –, Leute, die Pelze und Kleider verkaufen wollten und bezüglich der Preise optimistische Vorstellungen hatten. Plötzlich wurde sie hellwach. Wieder und wieder las sie den Text der Anzeige. »Für Anspruchsvolle! Kleines Haus in Westminster, reizend eingerichtet, an Liebhaber gegen kostendeckende Miete. Keine Makler.« Eine ganz gewöhnliche Annonce. Sie hatte eine Menge dieser Art gelesen – zumindest ähnliche. Kostendeckende Miete – das war meistens der Haken an der Geschichte. Doch da sie so unruhig war und ihren Gedanken entfliehen wollte, setzte sie den Hut auf und nahm den Bus, der in die Richtung der genannten Adresse fuhr. Wie sich herausstellte, war es ein Maklerbüro, keine moderne große Firma, eher schäbig und altmodisch. Etwas verlegen holte sie die Anzeige heraus, die sie aus der Zeitung herausgerissen hatte, und fragte nach näheren Einzelheiten. Der weißhaarige alte Gentleman, der sie empfangen hatte, strich sich nachdenklich das Kinn. »Perfekt! Ja, perfekt, Madam. Es handelt sich um das Haus am Cheviot Place 7. Möchten Sie es mieten?« »Ich hätte vorher gern gewußt, wie hoch die Miete ist«, antwortete Mrs. St. Vincent. »Ach, die Miete! Die genaue Höhe steht noch nicht fest, aber ich kann Ihnen versichern, sie soll nur die Kosten decken.« »Darüber, was kostendeckend ist, gehen die Meinungen ziemlich auseinander«, sagte Mrs. St. Vincent. Der alte Gentleman gestattete sich ein leises Kichern. 88
»Ja, das ist ein alter Trick – ein sehr alter Trick. Aber ich gebe Ihnen mein Wort, daß er in diesem Fall nicht zutrifft. Zwei oder drei Guineas die Woche vielleicht, nicht mehr.« Mrs. St. Vincent beschloß, sich eine Besichtigungserlaubnis geben zu lassen. Natürlich war es höchst unwahrscheinlich, daß sie sich das Haus leisten konnte. Aber ansehen konnte sie es sich schließlich. Wenn man es so billig hergab, mußte es irgendwelche Nachteile haben. Als sie vor Cheviot Place 7 stand, machte ihr Herz einen Satz. Ein Schmuckstück von einem Haus! Im Queen-AnneStil erbaut und sehr gepflegt. Ein Butler öffnete. Er hatte graues Haar und kleine Koteletten und strahlte die Ruhe und Würde eines Erzbischofs aus. Mit gütigem Gesicht nahm er den Erlaubnisschein in Empfang. »Selbstverständlich, Madam, führe ich Sie herum. Sie könnten sofort einziehen.« Er schritt ihr voraus, öffnete Türen, erklärte die Räumlichkeiten. »Dies ist das Wohnzimmer, dies das weiße Arbeitszimmer, dann eine Toilette, bitte, hier durch, Madam.« Es war vollkommen – ein Traum, alles Stilmöbel, jedes Stück verriet, daß es oft gebraucht worden war, liebevoll gepflegt und gewachst. Die Teppiche hatten gedämpfte alte Farben. In jedem Raum standen Vasen mit frischen Blumen. Die Rückseite des Hauses ging auf den Green Park hinaus. Das Ganze strahlte einen altmodischen Charme aus. Mrs. St. Vincent traten die Tränen in die Augen, die sie nur mit Mühe zurückhalten konnte. So hatte »Ansteys« ausgesehen, »Ansteys« ... Sie fragte sich, ob der Butler ihre Rührung bemerkt hatte. Falls ja, war er zu gut erzogen, um es zu zeigen. Sie mochte diese alten Diener, man fühlte sich so geborgen bei ihnen, so sicher. Sie waren wie gute Freunde.
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»Ein schönes Haus«, sagte sie leise. »Sehr schön. Ich habe mich gefreut, es ansehen zu dürfen.« »Ist es für Sie allein, Madam?« »Für meinen Sohn und meine Tochter und für mich. Nur fürchte ich ...« Sie schwieg. Sie hätte es so gern gemietet – so schrecklich gern! Sie spürte instinktiv, daß der Butler sie verstand. Ohne sie anzusehen sagte er in seiner kühlen, unpersönlichen Art: »Zufällig weiß ich, Madam, daß dem Besitzer vor allem an den richtigen Mietern gelegen ist. Die Miete spielt für ihn keine Rolle. Er möchte, daß in dem Haus jemand wohnt, der es wirklich liebt und sich um alles ordentlich kümmert.« »Das würde ich tun«, sagte Mrs. St. Vincent. Dann fügte sie, schon zum Gehen gewandt, hinzu: »Vielen Dank, daß Sie mich herumgeführt haben.« »Es war mir ein Vergnügen, Madam.« Er stand unter der Haustür, sehr korrekt und aufrecht, während sie die Straße hinunterging. Er weiß Bescheid, überlegte sie. Ich tue ihm leid. Er gehört auch noch zur alten Garde. Er hätte gern, daß ich dort wohne und nicht ein Abgeordneter der Arbeiterpartei oder ein Knopffabrikant. Unsere Art stirbt aus, aber wir halten zusammen. Am nächsten Morgen lag ein Brief neben ihrem Teller. Er stammte von der Maklerfirma. Man machte ihr das Angebot, Cheviot Place 7 auf sechs Monate für zwei Guineas in der Woche zu mieten, und dann hieß es weiter: »Sicherlich haben Sie den Umstand bedacht, daß die Angestellten weiterhin vom Eigentümer bezahlt werden? Es ist ein einmaliges Angebot.« Das war es wirklich. Sie war so aufgeregt, daß sie den Brief sofort laut vorlas. Ein Feuerwerk von Fragen folgte, und sie erzählte von ihrem gestrigen Besuch. 90
»Was für eine Heimlichtuerin du bist!« rief Barbara. »Ist es wirklich so entzückend?« Rupert räusperte sich und begann ein richtiges Kreuzverhör. Dann meinte er: »Dahinter steckt noch etwas anderes. Es stinkt, wenn ihr mich fragt. Bestimmt ist was faul daran.« »Ach, Unsinn«, sagte Barbara und rümpfte die Nase. »Warum soll was dahinterstecken? Das sieht dir ähnlich, Rupert, immer witterst du Geheimnisse, wo gar keine sind. Die schrecklichen Kriminalromane sind schuld, die du immer liest.« »Die Miete ist ein Witz«, erklärte Rupert. »Wenn man in der Stadt arbeitet«, fügte er gewichtig hinzu, »erlebt man die seltsamsten Sachen. Ich kann euch nur sagen, daß das Angebot mehr als faul ist.« »Das glaube ich nicht«, meinte Barbara. »Das Haus gehört eben einem Mann mit viel Geld, er liebt es und möchte, daß nette Leute drin wohnen, während er verreist ist. Irgend sowas. Geld ist vermutlich für ihn völlig unwichtig.« »Wie war noch die Adresse?« fragte Rupert seine Mutter. »Cheviot Place 7.« »Hu, wie aufregend!« Er schob seinen Stuhl zurück. »Der verschwundene Lord Listerdale wohnte dort.« »Bist du sicher?« fragte Mrs. St. Vincent zweifelnd. »Völlig. Er hat noch eine Menge anderer Häuser, überall in London, aber in dem dort wohnte er. Eines Abends erklärte er, er ginge jetzt in seinen Klub, und seitdem hat ihn kein Mensch mehr gesehen. Angeblich ist er nach Ostafrika oder so abgehauen, aber niemand weiß, warum. Vielleicht ist er in dem Haus auch ermordet worden. Sagtest du nicht, daß es viel Täfelung gibt?« »Ja, schon«, antwortete Mrs. St. Vincent hilflos, »aber...« Rupert ließ sie nicht aussprechen. »Die Wandtäfelung!« rief er fasziniert. »Na also! Bestimmt gibt es irgendwo einen 91
verborgenen Alkoven. Die Leiche wurde dort versteckt und ist immer noch da. Vielleicht hat man sie vorher einbalsamiert.« »Rupert, mein Lieber, rede keinen Unsinn!« sagte seine Mutter. »Sei kein Idiot!« rief Barbara. »Du bist mit deiner Wasserstoffblondine zu oft im Kino gewesen.« Rupert erhob sich würdevoll – jedenfalls mit soviel Würde, wie sein schlaksiges und ungelenkes Alter es zuließ – und sprach ein Ultimatum. »Du mietest das Haus, Mama, und ich erforsche das Geheimnis. Du wirst schon sehen!« Rupert verabschiedete sich eilig, weil er Angst hatte, zu spät ins Büro zu kommen. Die Blicke von Mutter und Tochter trafen sich. »Wäre es möglich, Mutter?« fragte Barbara ängstlich. »Ach! Wenn wir es doch mieten könnten.« »Die Angestellten müssen essen«, sagte Mrs. St. Vincent betrübt. »Nicht, daß sie das nicht sollten, nur – das ist ein Nachteil, finde ich. Man kann so gut ohne gewisse Dinge auskommen – wenn man allein ist.« Mitleidig sah sie Barbara an. Barbara nickte. »Wir müssen noch einmal darüber nachdenken«, sagte ihre Mutter. Aber in Wirklichkeit hatte sie sich schon entschlossen. Sie hatte das Leuchten in den Augen ihrer Tochter gesehen. Jim Masterton muß sie in der richtigen Umgebung treffen, überlegte sie. Das ist eine Chance – eine großartige Chance. Ich darf sie uns nicht entgehen lassen. Sie setzte sich und schrieb dem Maklerbüro, daß sie das Angebot annehmen würde. »Woher kommen die Lilien, Quentin? Ich kann wirklich keine teuren Blumen kaufen.«
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»Sie wurden von ›King’s Cheviot‹ geschickt, Madam. Das ist so üblich.« Der Butler zog sich zurück. Mrs. St. Vincent stieß einen erleichterten Seufzer aus. Was würde sie nur ohne Quentin tun? Er machte alles so leicht und einfach. Es kann nicht lange dauern, dachte sie, es ist zu schön, um wahr zu sein. Irgendwann wache ich auf, ich weiß es, und stelle fest, daß alles nur ein Traum war. Ich bin hier so glücklich – schon zwei Monate, und sie sind vergangen wie im Flug. Das Leben war wirklich erstaunlich angenehm gewesen. Quentin, der Butler, hatte sich zum Herrscher von Cheviot Place 7 entwickelt. »Überlassen Sie alles mir, Madam«, hatte er respektvoll gesagt. »Sie werden sehen, daß es so am besten ist.« Jede Woche brachte er ihr das Haushaltsbuch. Die Ausgaben waren erfreulich niedrig. Es gab nur noch zwei andere Angestellte, eine Köchin und ein Hausmädchen. Sie waren freundlich und tüchtig, aber es war Quentin, der den Haushalt führte. Wild und Geflügel erschienen manchmal auf dem Tisch, was Mrs. St. Vincent Sorgen bereitete. Doch Quentin beruhigte sie. Es sei von Lord Listerdales Landsitz »King’s Cheviot« geschickt worden, oder von seiner Jagd in Yorkshire. »So war es immer üblich, Madam«, pflegte er zu sagen. Insgeheim bezweifelte Mrs. St. Vincent, daß der abwesende Lord Listerdale mit dieser Behauptung einverstanden sein würde. Sie hatte vielmehr den Verdacht, daß Quentin sich Befugnisse seines Herrn anmaßte. Es war klar, daß er Gefallen an ihr und den Kindern fand und für sie in seinen Augen nichts gut genug war. Durch Ruperts Bemerkung war damals ihre Neugier erwacht, und bei ihrem nächsten Besuch im Maklerbüro hatte sie vorsichtig die Sprache auf Lord Listerdale gebracht. Der weißhaarige Gentleman hatte sich sofort dazu geäußert. 93
Ja, Lord Listerdale sei in Ostafrika, schon seit achtzehn Monaten. »Unser Klient ist ein ziemlich exzentrischer Mann«, sagte er und lächelte breit. »Er verließ London auf höchst unkonventionelle Art, wie Sie vielleicht wissen. Er sagte zu niemand ein Wort. Die Zeitungen bekamen Wind davon. Sogar Scotland Yard interessierte sich für die Sache. Glücklicherweise kam von Lord Listerdale selbst Nachricht, aus Ostafrika. Er erteilte seinem Vetter, Oberst Carfax, Handlungsvollmacht. Oberst Carfax ist es auch, der jetzt für Lord Listerdale alle Geschäfte führt. Ja, ziemlich exzentrisch, fürchte ich. Er ist immer viel in der Wildnis herumgereist – möglich, daß er für lange Zeit nicht nach England zurückkehrt, obwohl er auch schon in die Jahre kommt.« »Sicherlich ist er noch nicht sehr alt«, sagte Mrs. St. Vincent, die sich plötzlich einbildete, sein gutmütiges bärtiges Gesicht einmal in einer Illustrierten gesehen zu haben. Das Bild hatte sie an einen mittelalterlichen Seemann erinnert. »Im besten Alter«, antwortete der weißhaarige Gentleman. »Im Debrett steht, daß er dreiundfünfzig ist.« Von dieser Unterhaltung hatte Mrs. St. Vincent Rupert erzählt, weil sie dem jungen Mann einen Dämpfer geben wollte. Doch Rupert blieb unbeeindruckt. »Ich finde, die Sache sieht noch viel fauler aus, als ich dachte«, sagte er. »Wer ist dieser Oberst Carfax eigentlich? Vermutlich erbt er den Titel, wenn Listerdale was zustößt. Der Brief aus Ostafrika war sicher gefälscht. In drei Jahren oder so wird dieser Carfax ihn für tot erklären lassen und sich seinen Titel aneignen. Inzwischen verwaltet er den ganzen Besitz. Na, wenn das nicht zum Himmel stinkt!« Er hatte sich herabgelassen zuzugeben, daß das Haus ihm gefiel. In seiner Freizeit klopfte er manchmal eine Täfelung 94
ab und maß die Wände genau nach, weil er hoffte, er könne ein Geheimzimmer finden, aber nach und nach ließ sein Interesse für den geheimnisvollen Lord Listerdale nach. Auch was die Tochter des Tabakhändlers anging, war er nicht mehr so begeistert. Atmosphäre spielt eben eine wichtige Rolle. Für Barbara war das Haus ein großer Gewinn. Jim Masterton hatte die Familie besucht und war jetzt ein häufiger Gast. Er und Mrs. St. Vincent verstanden sich prächtig. Eines Tages machte er eine Bemerkung zu Barbara, die diese verblüffte. »Dieses Haus ist ein großartiger Rahmen für deine Mutter, findest du nicht?« »Für meine Mutter?« »Ja. Als wäre es für sie gebaut worden. Es paßt zu ihr auf eine ganz seltsame Weise. Es hat eine komische Atmosphäre, irgendwie unheimlich, geisterhaft.« »Du bist genau wie Rupert«, beschwerte sich Barbara. »Er glaubt felsenfest, daß der verrückte Oberst Carfax Lord Listerdale ermordete und die Leiche unter dem Fußboden versteckte.« Masterton lachte. »Ich bewundere Ruperts kriminalistische Phantasie. Nein, so was meinte ich nicht. Aber irgend etwas liegt in der Luft, eine rätselhafte Stimmung, die ich nicht genau erklären kann.« Sie wohnten drei Monate in Cheviot Place 7, als Barbara ihrer Mutter mit glücklichem Gesicht erzählte: »Jim und ich – wir haben uns verlobt. Ja, gestern abend! Ach, Mama, es ist wie im Märchen.« »Meine Liebe! Ich freue mich so – so sehr.« Mutter und Tochter umarmten sich.
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»Weißt du eigentlich, daß Jim fast genauso heftig in dich verliebt ist wie in mich?« fragte Barbara schließlich mit einem kleinen mutwilligen Lachen. Mrs. St. Vincent errötete, was ihr sehr gut stand. »Wirklich, es stimmt«, beharrte Barbara. »Du dachtest, das Haus würde die richtige Umgebung für mich sein, und dabei paßt es viel besser zu dir. Rupert und ich – wir gehören nicht richtig hier her. Du schon.« »Rede keinen Unsinn, Liebling.« »Es ist kein Unsinn. Es hat etwas von einem verzauberten Schloß, und du bist die verzauberte Prinzessin, und Quentin – ja, er ist der gute Zauberer.« Mrs. St. Vincent lachte und gab zu, daß sie mit ihrer Bemerkung über Quentin recht habe. Rupert nahm die Neuigkeit, daß Barbara sich verlobt hatte, gelassen auf. »Ich dachte schon, daß so was im Busch ist«, bemerkte er weise. Er und seine Mutter aßen allein zu Abend, Barbara war mit Jim ausgegangen. Quentin stellte das Glas Portwein vor ihn hin und zog sich geräuschlos zurück. »Ein komischer alter Knabe«, sagte Rupert und nickte in Richtung der geschlossenen Tür. »Er hat was Verdächtiges an sich, weißt du, irgendwas ist...« »... ist faul?« fragte Mrs. St. Vincent dazwischen und lächelte leicht. »Na nu, wieso wußtest du, was ich sagen wollte?« fragte Rupert erstaunt. »Weil es ein Lieblingswort von dir ist. Du entdeckst sehr häufig etwas, das faul ist. Vermutlich glaubst du jetzt, daß Quentin Lord Listerdale umbrachte und ihn unter dem Fußboden versteckte?«
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»Hinter der Täfelung«, verbesserte Rupert. »Du bringst immer alles durcheinander, Mutter. Nein, ich habe mich erkundigt. Quentin war damals in ›King’s Cheviot‹.« Mrs. St. Vincent lächelte ihm zu, stand auf und ging in ihr Wohnzimmer hinauf. In mancher Hinsicht brauchte Rupert lange, bis er erwachsen wurde. Trotzdem dachte sie dann darüber nach, warum Lord Listerdale England so plötzlich verlassen hatte. Für diesen überstürzten Entschluß mußte es doch einen Grund geben. Sie grübelte immer noch darüber nach, als Quentin mit dem Kaffeetablett eintrat. »Sie sind lange bei Lord Listerdale gewesen, nicht wahr?« fragte sie direkt. »Ja, Madam. Seit ich ein Bursche von einundzwanzig war. Da lebte sein Vater noch. Ich fing als dritter Diener an.« »Sie müssen Lord Listerdale sehr gut kennen. Was für ein Mann ist er?« Der Butler verschob das Tablett etwas, damit sie den Zucker besser erreichen konnte, und antwortete in leidenschaftslosem Ton: »Lord Listerdale war ein sehr selbstsüchtiger Mann, Madam. Er dachte nie an andere.« Er nahm das Tablett und trug es aus dem Zimmer. Mrs. St. Vincent saß mit der Kaffeetasse in der Hand da und runzelte erstaunt die Stirn. Irgend etwas war seltsam an dieser Antwort gewesen, abgesehen vom Inhalt selbst. Ein paar Sekunden später wurde es ihr blitzartig klar. Quentin hatte »war« gesagt, nicht »ist«. Aber dann mußte er glauben ... dann dachte er ... sie riß sich zusammen. Sie war schon so schlimm wie Rupert! Sie fühlte sich äußerst unbehaglich. Später glaubte sie immer, daß sie in jenem Augenblick den ersten Verdacht gehabt hatte. Barbaras Glück und Zukunft waren gesichert, und sie hatte Zeit, ihren eigenen Gedanken nachzuhängen, und gegen ihren Willen begannen sie sich immer mehr mit dem 97
geheimnisvollen Lord Listerdale zu beschäftigen. Was steckte wirklich dahinter? Was es auch sein mochte, Quentin wußte etwas. Jene seltsamen Worte, die er gesagt hatte ... »ein sehr selbstsüchtiger Mann, er dachte nie an andere«. Was meinte er damit? Er hatte es gesagt wie ein Richter reden würde, sachlich und unparteiisch. Hatte Quentin mit Lord Listerdales Verschwinden etwas zu tun? Falls es zu einer Tragödie gekommen war – hatte er seine Finger im Spiel gehabt? Ruperts Vermutungen hatten zwar zu Anfang lächerlich geklungen, aber schließlich war nur ein Brief mit der Handlungsvollmacht aus Ostafrika gekommen, was eigentlich ziemlich verdächtig war. So sehr sie sich auch bemühte, sie konnte nicht glauben, daß Quentin zu einer schlechten Tat fähig war. Quentin, sagte sie sich wieder und wieder, war ein guter Mensch. Sie benützte das Wort im einfachsten Sinn, wie ein Kind es tun würde. Quentin war gut. Und doch – er wußte etwas. Sie unterhielt sich nie wieder mit ihm über seinen Herrn. Das Thema geriet anscheinend in Vergessenheit. Rupert und Barbara hatten andere Dinge im Kopf, es gab keine weiteren Diskussionen über Lord Listerdale. Gegen Ende August änderten sich die Dinge. Ihr vager Verdacht wurde Wirklichkeit. Rupert machte mit einem Freund, der ein Motorrad besaß, vierzehn Tage Ferien. Etwa zehn Tage nach seiner Abreise stürmte er zu ihrem Erstaunen in das Zimmer, in dem sie saß und schrieb. »Rupert!« rief sie verblüfft. »Ja ja, Mutter, du erwartest mich frühestens in drei Tagen zurück. Aber es ist etwas passiert. Anderson – du weißt schon, mein Freund –, also Anderson war es egal, wohin wir fuhren, und da schlug ich vor, ›King’s Cheviot‹ zu besuchen ...« »›King’s Cheviot‹? Warum denn ...« 98
»Du weißt ganz genau, Mutter, ich dachte immer, daß hier was faul ist. Na, da habe ich mir den alten Kasten angesehen. Übrigens ist er vermietet. Nichts Verdächtiges zu finden. Hatte ich auch nicht erwartet. Ich habe nur ein wenig herumgeschnüffelt, wie man so schön sagt.« Ja, dachte sie, Rupert war manchmal genau wie ein Hund. Er jagte im Kreis hinter irgend etwas Vagem, Undefinierbarem her, geleitet von seinem Instinkt, und war dabei glücklich. »Als wir durch ein Dorf ungefähr acht oder neun Meilen entfernt fuhren, da passierte es – ich meine, da sah ich ihn.« »Wen?« »Quentin. Er ging gerade in ein kleines Haus. ›Da ist doch was faul‹, sagte ich mir, und wir hielten an, und ich ging hin. Ich klopfte an die Haustür, und er öffnete.« »Ich verstehe gar nichts mehr. Quentin war immer hier ...« »Dazu komme ich gleich, Mutter. Wenn du doch nur zuhören und mich nicht unterbrechen würdest. Es war Quentin, und er war es wieder nicht, wenn du verstehst, was ich meine.« Mrs. St. Vincent verstand absolut nicht, was er meinte, und deshalb erläuterte er die Sache etwas näher. »Es war Quentin, jawohl, nur war es nicht unser Quentin. Es war der richtige Quentin.« »Rupert, ich bitte dich!« »Hör mir doch zu! Zuerst war ich auch verwirrt. ›Sie sind doch Quentin, nicht wahr?‹ fragte ich. Und der alte Knabe antwortete: ›Ja, stimmt, Sir, so heiße ich. Was kann ich für Sie tun?‹ Da erkannte ich, daß er nicht unser Mann war, obwohl alles sehr ähnlich war, Stimme und so. Ich stellte ein paar Fragen, und die Wahrheit kam ans Licht. Der alte Knabe hatte keine Ahnung, daß irgend etwas faul war. Er war Lord Listerdales Butler gewesen, das stimmte. Man hatte ihn in Pension geschickt und ihm das kleine Haus 99
gegeben, ungefähr zu der Zeit, als Lord Listerdale angeblich nach Afrika reiste. Begreifst du, was das bedeutet? Unser Mann ist ein Betrüger – er spielt Quentins Rolle nicht ohne Grund. Nach meiner Theorie kam er an jenem Abend nach London, tat, als sei er der Butler aus ›King’s Cheviot‹, sprach mit Lord Listerdale, tötete ihn und versteckte die Leiche hinter der Täfelung. Es ist ein altes Haus, bestimmt gibt es hier Geheimkammern ...« »Oh, fang nicht schon wieder damit an«, unterbrach ihn Mrs. St. Vincent wütend. »Ich ertrage es nicht. Warum hätte er ihn umbringen sollen, das würde ich gern wissen, warum? Wenn er es getan hat – und das glaube ich keine Minute lang, hörst du –, was für einen Grund hatte er?« »Du hast recht«, antwortete Rupert. »Das Motiv – das Motiv ist wichtig. Deshalb habe ich Nachforschungen angestellt. Lord Listerdale hat viel Hausbesitz. In den vergangenen beiden Tagen entdeckte ich, daß praktisch alle seine Häuser in den letzten achtzehn Monaten an Leute wie uns vermietet wurden, zu einer niedrigen Miete und mit der Auflage, daß alle Angestellten bleiben müßten. Und in allen diesen Fällen war Quentin selbst – der Mann, der sich Quentin nennt – einige Zeit als Butler dort. Mir sieht es so aus, als ob irgend etwas – Schmuck, wichtige Papiere – in einem von Lord Listerdales Häusern versteckt ist und die Verbrecherbande nicht weiß, in welchem. Es ist nur eine Vermutung, daß eine Bande im Spiel ist, natürlich könnte Quentin auch ein Einzelgänger sein. Es ...« »Rupert!« unterbrach ihn Mrs. St. Vincent mit ziemlicher Entschiedenheit. »Hör mal eine Minute auf zu reden. Mir wird schon ganz schwindlig. Außerdem –was du da erzählst, ist alles Unsinn – Verbrecherbanden, versteckte Papiere ...« »Ich habe noch eine andere Theorie«, gestand Rupert. »Quentin könnte auch jemand sein, dem Lord Listerdale Unrecht getan hat. Der echte Butler erzählte mir eine lange 100
Geschichte über einen Mann namens Samuel Lowe, einen Untergärtner, ungefähr so groß und von ähnlicher Statur wie Quentin. Er hatte was gegen Listerdale ...« Mrs. Vincent schreckte zusammen. »Er dachte nie an andere.« Die Worte des Butlers fielen ihr wieder ein und der sachliche, unbeteiligte Ton, in dem er sie gesagt hatte. Was für dürftige Worte. Worum ging es in Wirklichkeit? Sie war so in Gedanken versunken, daß sie Rupert kaum zuhörte. Er erklärte ihr hastig etwas, das sie nicht verstand, und lief aus dem Zimmer. Dann tauchte sie aus ihren Grübeleien auf. Wo war Rupert? Was würde er tun? Sie hatte seinen letzten Worten nicht richtig zugehört. Vielleicht lief er zur Polizei. In diesem Fall... Sie stand abrupt auf und drückte die Klingel. Wie üblich erschien Quentin sofort. »Sie haben geläutet, Madam?« »Ja. Bitte, kommen Sie herein und schließen Sie die Tür!« Der Butler gehorchte. Mrs. St. Vincent schwieg einen Augenblick und musterte ihn mit ernsten Augen. Er war so freundlich zu mir, dachte sie. Keiner ahnt, wie freundlich er war. Die Kinder können es nicht verstehen. Ruperts Geschichte ist bestimmt völliger Unsinn. Andrerseits könnte aber ... ja, vielleicht ist doch etwas dran. Warum sollte ich ihn verurteilen? Man weiß nie. Ich meine, was richtig und was falsch an so einer Sache ist... ich würde mein Leben verwetten –ja, mein Leben –, daß er ein guter Mensch ist. »Mr. Rupert ist gerade zurückgekommen, Quentin«, sagte sie errötend mit unsicherer Stimme. »Er war in ›King’s Cheviot‹ und in einem Dorf in der Nähe ...« Sie schwieg, weil sie bemerkte, daß er gegen seinen Willen zusammengezuckt war. »Er ist jemand – er ist jemand begegnet«, fuhr sie vorsichtig fort. So, jetzt ist er gewarnt, dachte sie. Auf jeden Fall ist er gewarnt. 101
Nach der kurzen Reaktion von eben hatte Quentin seine Gelassenheit wiedergefunden. Seine Augen sahen sie wachsam und forschend an. Ein Ausdruck lag in ihnen, den sie bisher noch nicht an ihm bemerkt hatte. Zum erstenmal blickte er sie mit den Augen eines Mannes an und nicht mit denen eines Dieners. Er zögerte einen Augenblick, dann fragte er in einem Ton, der sich ebenfalls etwas verändert hatte: »Warum erzählen Sie mir das, Mrs. St. Vincent?« Ehe sie antworten konnte, flog die Tür auf und Rupert kam herein. Ihm folgte ein würdevoller Mann mit kleinen Koteletten und der Miene eines gütigen Erzbischofs. Es mußte Quentin sein. »Hier ist er«, sagte Rupert. »Der echte! Er wartete draußen in einem Taxi. Also, Quentin, sehen Sie sich diesen Mann mal an und sagen Sie mir, ob er Samuel Lowe ist!« Es war Ruperts großer Augenblick. Doch er war nur kurz, denn er erkannte fast sofort, daß etwas nicht stimmte. Eine Zeitlang sah der echte Quentin verlegen und ziemlich unsicher aus, der zweite Quentin lächelte, ein breites Lächeln voll ehrlichen Vergnügens. Er klopfte seinem verwirrten Doppelgänger freundlich auf den Rücken. »Es ist schon in Ordnung, Quentin. Irgendwann mußte ich ja mal die Katze aus dem Sack lassen. Sie können ihnen erzählen, wer ich bin.« Der würdevolle Fremde straffte sich. »Dies, Sir«, verkündete er in vorwurfsvollem Ton, »ist mein Herr, Lord Listerdale, Sir.« In den nächsten Minuten geschahen viele Dinge. Zuerst brach Ruperts Selbstsicherheit völlig in sich zusammen. Ehe er wußte, wie ihm geschah, wurde er freundlich zur Tür manövriert. Der Mund stand ihm vor Verblüffung immer noch offen, eine freundliche Stimme, die ihm vertraut klang und doch wieder nicht, sagte an seinem Ohr: »Es ist alles in 102
Ordnung, mein Junge. Es gab keine Scherben. Gute Arbeit hast du geleistet. Mich einfach so aufzustöbern.« Dann stand er draußen auf dem Treppenabsatz und sah auf die geschlossene Tür. Der echte Quentin stand neben ihm. Ein freundlicher Strom von Erklärungen floß von seinen Lippen. Drinnen im Zimmer sagte Lord Listerdale zu Mrs. St. Vincent: »Ich möchte es Ihnen gern erklären – falls ich es kann. Mein Leben lang war ich ein egoistischer Teufel gewesen, und eines Tages merkte ich es. Ich dachte, ich sollte es mal mit der Nächstenliebe versuchen, und da ich ein verrückter Kerl bin, fing ich das auch ziemlich verrückt an. Ich wollte in bestimmte Organisationen Geld stecken, irgend so etwas, doch dann hatte ich das Gefühl, es müßte etwas Persönlicheres sein. Mir taten die Leute schon immer leid, die nicht bitten können, die schweigend leiden – der verarmte Adel zum Beispiel. Ich besitze eine Menge Häuser. Da kam mir die Idee, diese Häuser an Menschen zu vermieten, die – nun, die es nötig hatten und es zu schätzen wußten. Junge Ehepaare auf dem Weg nach oben, Witwen mit Söhnen und Töchtern, die ihre ersten Schritte ins Leben machten. Quentin ist mehr als nur ein Butler. Er ist mein Freund. Mit seinem Einverständnis und seiner Hilfe lieh ich mir seine Persönlichkeit. Ich hatte immer schon ein schauspielerisches Talent. Die Idee zu all dem kam mir, als ich eines Abends unterwegs zum Klub war, und ich fuhr sofort zu Quentin, um sie mit ihm zu besprechen. Als ich entdeckte, daß es um mein Verschwinden eine so große Aufregung gab, arrangierte ich es so, daß aus Ostafrika ein Brief von mir eintraf. Darin gab ich meinem Vetter Maurice Carfax alle Vollmachten. Und – nun, das ist die ganze Geschichte.« Er schwieg hilflos und warf Mrs. St. Vincent einen bittenden Blick zu. Sie stand sehr aufrecht da und sah ihn ruhig an.
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»Es war ein freundlicher Plan«, sagte sie. »Und ein sehr ungewöhnlicher, und man muß Ihnen die ganze Sache hoch anrechnen. Ich bin – ich bin Ihnen äußerst dankbar. Nur, Sie werden natürlich verstehen, daß wir jetzt nicht mehr bleiben können.« »Das habe ich erwartet«, antwortete er. »Ihr Stolz wird nicht zulassen, daß Sie etwas annehmen, was in Ihren Augen eine milde Gabe ist.« »Stimmt das denn nicht?« fragte sie ruhig. »Nein«, antwortete er. »Denn ich verlange dafür etwas.« »Und das wäre?« »Alles.« Seine Stimme klang fordernd, wie die Stimme eines Menschen, der gewohnt ist, andere zu beherrschen. »Als ich dreiundzwanzig war«, fuhr er fort, »heiratete ich das Mädchen, das ich liebte. Ein Jahr später starb sie. Seit damals bin ich sehr einsam. Ich habe mir immer so gewünscht, eine bestimmte Frau zu finden – die Frau meiner Träume ...« »Und das bin ich?« fragte sie leise. »Ich bin zu alt –verblüht...« Er lachte. »Alt? Sie sind jünger als Ihre Kinder. Aber ich bin alt, wenn Sie so wollen.« Da mußte auch sie lachen, es war ein sanftes, vergnügtes Lachen. »Du? Du bist immer noch ein kleiner Junge. Ein kleiner Junge, der sich gern verkleidet.« Sie streckte ihm die Hände entgegen, und er nahm sie.
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Die goldene Kugel
George Dundas stand mitten in der City von London und dachte nach. Rings um ihn wogten die werktätigen und lohnabhängigen Massen gleich einer alles verschlingenden Flut. Aber George in seinem eleganten Anzug, mit makellosgebügelten Hosen, nahm keine Notiz davon. Er war vollauf mit der Überlegung beschäftigt, was er jetzt anfangen sollte. Es war etwas vorgefallen! Zwischen George und seinem reichen Onkel (Ephraim Leadbetter von der Firma Leadbetter & Gilling) hatte es etwas gegeben, was man gemeinhin einen Wortwechsel zu nennen pflegt. Um genau zu sein, waren die Worte allerdings fast ausschließlich von Mr. Leadbetters Seite gekommen. In einem ununterbrochenen Strom bitterer Entrüstung waren sie von seinen Lippen geflossen, und daß es sich dabei hauptsächlich um Wiederholungen ein und desselben Themas handelte, schien ihn nicht im geringsten gestört zu haben. Einen Tatbestand einmal präzise zu formulieren und es dann dabei bewenden zu lassen, solches gehörte nicht zu Mr. Leadbetters Gepflogenheiten. Dabei ging es um ein sehr einfaches Thema – die verwerfliche Torheit und Gottlosigkeit eines aufstrebenden jungen Mannes, der sich mitten in der Woche einen Tag freigenommen hatte, ohne auch nur um Erlaubnis zu fragen. Als Mr. Leadbetter alles gesagthatte, was ihm dazu in den 105
Sinn kam, und etliches auch zweimal, machte er eine Atempause und fragte George, was er sich dabei eigentlich gedacht habe. George antwortete schlicht, er habe einfach Lust auf einen freien Tag gehabt. Einen Urlaubstag sozusagen. Und für was, erkundigte sich Mr. Leadbetter, halte er Samstagnachmittag und Sonntag? Ganz zu schweigen von den Pfingsttagen unlängst und dem bevorstehenden Bankfeiertag im August? Samstagnachmittage, Sonntage und Bankfeiertage, aus denen mache er sich nichts, erwiderte George. Er meine einen richtigen Tag, an welchem eventuell die Möglichkeit bestehe, einen Platz zu finden, wo nicht bereits halb London versammelt sei. Mr. Leadbetter erklärte daraufhin, er persönlich habe für den Sohn seiner verstorbenen Schwester wahrhaftig sein Bestes getan – niemand könnte behaupten, er habe ihm keine Chance gegeben. Aber wie sich nun leider herausstelle, sei dies alles vergebliche Liebesmüh gewesen. In Zukunft stünden George daher außer Samstag und Sonntag weitere fünf richtige Wochentage zur Verfügung, die er ganz nach Belieben verbringen könne. »Das Schicksal hat dir seine goldene Kugel zugeworfen, mein Junge«, schloß Mr. Leadbetter in einer letzten dichterischen Anwandlung. »Und du hast sie nicht aufgefangen.« Eigentlich, so scheine ihm, habe er doch genau das getan, wandte George ein, worauf Mr. Leadbetters poetische Stimmung in Zorn umschlug und er ihm kurzerhand die Tür wies. Dies war der Grund für Georges derzeitige Nachdenklichkeit. Würde sein Onkel einlenken oder nicht? Wohnte in seiner Brust noch ein Rest von Zuneigung für George oder bloß kalte Verachtung? Genau in diesem Moment geschah es, daß eine Stimme – eine höchst unerwartete Stimme – laut »Hallo!« rief. Ein knallroter Sportwagen mit unglaublich langer Kühlerhaube hatte neben ihm am Straßenrand angehalten. Am Steuer saß die »wunderschöne und bekannte junge Dame der 106
Gesellschaft«, Mary Montresor. (Die Beschreibung entstammte den Illustrierten, die mindestens viermal im Monat ein Foto von ihr veröffentlichten.) Sie schenkte George ein berückendes Lächeln. »Ich habe nie geahnt, daß ein Mann derartig einer einsamen Insel im Meer gleichen kann«, sagte sie. »Möchtest du vielleicht bei mir einsteigen?« »Nichts, was ich lieber täte«, entgegnete George ohne zu zögern und kletterte auf den Nebensitz. Sie fuhr langsam, da ihr bei dem Verkehr nichts anderes übrig blieb. »Ich bin die Großstadt leid«, erklärte Mary Montresor. »Ich wollte bloß mal wieder sehen, wie es hier ist. Ich werde nach London zurückfahren.« George unterließ es, ihre geographischen Vorstellungen zu berichtigen, und sagte bloß, er halte das für eine glänzende Idee. Sie setzten ihre Fahrt fort, manchmal langsam, dann wieder in halsbrecherischem Tempo, sobald Mary Montresor eine Lücke im Verkehr zu erspähen meinte. George kam diese Meinung zumeist etwas optimistisch vor, aber er dachte sich, man könne schließlich nur einmal sterben. Immerhin hielt er es für besser, keine Konversation vom Zaun zu brechen, um seine schöne Fahrerin nicht von ihrer Tätigkeit abzulenken. Es war Mary Montresor selbst, die die Unterhaltung wieder aufnahm, wofür sie genau den Augenblick wählte, in welchem sie mit quietschenden Reifen um Hyde Park Corner herumschlitterten. »Würdest du mich gern heiraten?« erkundigte sie sich beiläufig. George rang nach Luft, doch das mochte auch an dem riesigen Bus liegen, der sie mit dem sicheren Tod zu bedrohen schien. Er war stolz auf seine geistesgegenwärtige Reaktion. »Wahnsinnig gern«, antwortete er leichthin. 107
»So«, bemerkte Mary Montresor unbestimmt. »Na, vielleicht tust du’s eines Tages.« Sie hatten unversehrt die geradeaus führende Fahrbahn erreicht, als George neben der U-Bahn-Station am Hyde Park Corner einige Zeitungsanschläge mit dicken Schlagzeilen erblickte. Zwischen Politische Krise und Oberst vor Gericht verkündete die eine: Junge Dame der Gesellschaft heiratet Herzog, und die andere: Herzog von Edgehill und Miss Montresor. »Was ist mit dir und dem Herzog von Edgehill?« fragte George streng. »Mit mir und Bingo? Wir sind verlobt.« »Aber dann – du sagtest doch eben ...« »Ach das«, meinte Mary Montresor wegwerfend. »Weißt du, ich habe mich noch nicht entschieden, wen ich tatsächlich heiraten werde.« »Warum hast du dich dann mit ihm verlobt?« »Bloß um zu sehen, ob ich’s schaffe. Alle Welt schien zu glauben, es wäre schrecklich schwierig, und dabei war’s überhaupt nicht schwer!« »Pech für – äh – Bingo.« George überwand mannhaft seine Verlegenheit darüber, einen leibhaftigen Herzog beim Spitznamen zu nennen. »Ganz und gar nicht«, erwiderte Mary Montresor. »Es wird Bingo guttun, falls ihm überhaupt etwas guttun kann – was ich bezweifle.« George machte schon wieder eine Entdeckung – abermals mit Hilfe eines Zeitungsanschlags. »Aber natürlich«, rief er. »Heute ist doch das Pokalrennen in Ascot. Ich hätte gedacht, bei so etwas würdest du unter gar keinen Umständen fehlen.« Mary Montresor seufzte. »Ich wollte einmal einen freien Tag haben«, sagte sie kläglich.
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»Genau das wollte ich auch«, rief George entzückt. »Und die Folge war, daß mich mein Onkel rausgeworfen und dem Hungertod überliefert hat.« »Dann kämen dir, falls wir heiraten, meine zwanzigtausend Pfund im Jahr vielleicht ganz gelegen?« »Sie wären sicherlich geeignet, uns mit ein paar häuslichen Bequemlichkeiten auszustatten.« »Da wir gerade von häuslichen Bequemlichkeiten sprechen«, meinte Mary, »wie wär’s, wenn wir aufs Land führen und uns nach einem Haus umsähen, in dem wir gern wohnen würden.« Dies schien George ein ebenso schlichter wie reizender Vorschlag. Nachdem sie Putney Bridge erfolgreich überquert hatten, erreichten sie die Umgehungsstraße bei Kingston, und mit einem Seufzer der Befriedigung trat Mary voll aufs Gaspedal. Sie gelangten sehr schnell aufs Land. Eine halbe Stunde später stieß Mary plötzlich einen lauten Ruf aus und deutete mit dramatischer Gebärde in die Weite. Vor ihnen erhob sich, an eine sanfte Anhöhe geschmiegt, ein Haus von »nostalgischem Charme«, wie Immobilienmakler dergleichen (allerdings meist unzutreffend) zu beschreiben pflegten. Man stelle sich vor, die übliche Beschreibung von Landhäusern entspreche ausnahmsweise einmal genau der Wirklichkeit, dann hat man eine ziemlich gute Vorstellung von diesem Haus. Mary hielt vor einem weißen Gartentor an. »Komm, wir lassen den Wagen hier stehen, gehen hinauf und sehen es uns an. Das ist unser Haus!« »Unbedingt«, stimmte George zu. »Nur scheinen momentan andere Leute darin zu wohnen.« Mary wischte die anderen Leute mit einer Handbewegung beiseite. Sie gingen nebeneinander die schön geschwungene Einfahrt hinauf. Aus der Nähe betrachtet sah das Haus sogar noch attraktiver aus. 109
»Wir wollen außen herumgehen und durch alle Fenster schauen«, schlug Mary vor. George zögerte. »Meinst du nicht, die Hausbewohner ...« »Die interessieren mich nicht. Das ist unser Haus – diese Leute wohnen gewissermaßen nur zufällig da. Außerdem ist heute ein herrlicher Tag, und bestimmt kein Mensch zu Hause. Und wenn uns doch einer erwischt, dann sage ich – dann sage ich einfach, ich hätte geglaubt, es wäre das Haus von Mrs. – von Mrs. Pardonstenger, und es täte mir schrecklich leid, daß ich mich geirrt hätte.« »Na ja, da kann eigentlich nicht viel schiefgehen«, meinte George nachdenklich. Sie schauten durch die Fenster. Das Haus war entzückend eingerichtet. Sie waren gerade bis zum Schreibzimmer gekommen, als hinter ihnen Schritte auf dem Kies knirschten und sie sich beim Umdrehen einem untadelig gekleideten Butler gegenübersahen. »Oh!« rief Mary. Dann setzte sie ihr bezauberndstes Lächeln auf und sagte: »Ist Mrs. Pardonstenger zu Hause? Ich wollte eben mal nachsehen, ob sie vielleicht im Schreibzimmer ist.« »Mrs. Pardonstenger ist zu Hause, gnädige Frau«, antwortete der Butler. »Wenn Sie mir bitte folgen wollen.« Sie taten das einzige, was ihnen unter diesen Umständen übrigblieb. Sie folgten ihm. George berechnete unterdessen, wie hoch in etwa die Wahrscheinlichkeit eines solchen Zufalls sein mochte. Bei einem Namen wie Pardonstenger kam er zu einem Ergebnis von ungefähr eins zu zwanzigtausend. Seine Begleiterin flüsterte: »Überlaß alles mir. Ich kriege das schon in Ordnung.« George überließ nur allzu gerne alles ihr. Die Situation, fand er, forderte geradezu weibliche Raffinesse. Sie wurden in einen Salon geführt. Der Butler war kaum gegangen, als sich schon wieder die Tür öffnete und eine stattliche, voll110
busige Dame mit wasserstoffblondem Haar hereingerauscht kam. Mary Montresor trat einen Schritt auf sie zu und hielt dann mit gutgespielter Überraschung inne. »Ach!« rief sie aus. »Sie sind gar nicht Amy! Das ist ja merkwürdig!« »Das ist allerdings merkwürdig«, sagte eine grimmige Stimme. Ein Mann war hinter Mrs. Pardonstenger aufgetaucht, ein Riese mit dem Gesicht einer Bulldogge und einem finsteren Ausdruck in den Zügen. George meinte, noch niemals einen so unerfreulichen Typ gesehen zu haben. Der Mann schloß die Tür und lehnte sich mit dem Rücken dagegen. »Wirklich sehr merkwürdig«, wiederholte er höhnisch. »Aber mir scheint, wir haben euer Spielchen durchschaut!« Er brachte plötzlich einen Revolver von Übergröße zum Vorschein. »Hände hoch! Durchsuch sie, Bella!« George hatte sich beim Lesen von Kriminalromanen oft gefragt, wie es sich anfühlen mochte, wenn man durchsucht wurde. Jetzt wußte er es. Bella (alias Mrs. Pardonstenger) überzeugte sich gründlich davon, daß weder er noch Mary irgendwelche tödlichen Waffen an ihrer jeweiligen Person versteckt hatten. »Hieltet euch wohl für mächtig schlau, was?« höhnte der Mann. »Einfach hier aufkreuzen und die Unschuldigen spielen. Aber diesmal habt ihr einen Fehler gemacht – einen schlimmen Fehler. Ja, ich bezweifle sehr, ob euch eure Freunde und Verwandten überhaupt jemals wiedersehen werden. – Haha, denkste!« knurrte er, als George eine rasche Bewegung machte. »Mit sowas kommt ihr bei mir nicht durch. Ich würde euch glatt über den Haufen schießen.« »Sei vorsichtig, George«, sagte Mary mit zitternder Stimme. »Ich werde vorsichtig sein«, erklärte George betont. »Sehr sogar.« 111
»Und jetzt los, marsch«, befahl der Mann. »Mach die Tür auf, Bella! Haltet die Hände über den Kopf, ihr zwei! Die Dame zuerst – so ist’s richtig. Ich gehe direkt hinter euch. Jetzt durch die Diele. Die Treppe hinauf ...« Die beiden gehorchten. Was blieb ihnen anderes übrig? Mary stieg mit erhobenen Händen die Treppe hinauf. George folgte ihr. Hinter ihnen ging der grobschlächtige Riese, den Revolver in der Hand. Mary erreichte die oberste Treppenstufe und bog um die Ecke. Im gleichen Augenblick ließ George ohne die leiseste Warnung seinen Fuß mit einem gewaltigen Tritt nach hinten schnellen. Er traf den Mann genau in die Magengrube, und dieser stürzte sich rücklings überschlagend die Stufen hinab. In Sekundenschnelle hatte George sich umgedreht, war hinter ihm die Treppe hinuntergelaufen und kniete auf seiner Brust. Mit der rechten Hand hob er den Revolver, der dem anderen beim Sturz entfallen war, vom Boden auf. Bella stieß einen Schrei aus und verschwand durch eine Tapetentür. Mary kam die Treppe heruntergerannt; ihr Gesicht war weiß wie Papier. »George, du hast ihn doch nicht etwa umgebracht?« Der Mann lag da, ohne sich zu rühren. George beugte sich über ihn. »Ich glaube nicht, daß ich ihn umgebracht habe«, meinte er bedauernd. »Aber bis neun auf die Bretter geschickt hab ich ihn.« »Gott sei Dank.« Sie atmete schnell. »Saubere Arbeit«, bemerkte George mit verzeihlichem Stolz. »Was man von einem braven alten Maulesel so alles lernen kann, was?« Mary zerrte an seiner Hand. »Komm mit«, rief sie hektisch. »Schnell weg von hier.« »Wenn wir bloß was hätten, um den Burschen hier festzubinden«, murmelte George, in seine eigenen Pläne vertieft. »Glaubst du nicht, du könntest irgendwo ein Stück Seil oder eine Schnur auftreiben?« 112
»Nein, das glaube ich nicht«, erwiderte Mary. »Komm jetzt, bitte – bitte –, ich hab solche Angst.« »Du brauchst keine Angst zu haben«, versicherte George mit männlicher Überheblichkeit. »Ich bin doch da.« »Liebster George, bitte – um meinetwillen. Ich will in diese Sache nicht verwickelt werden. Bitte, laß uns gehen.« Die reizende Art, in der sie die Worte »um meinetwillen« hauchte, brachte Georges Entschlossenheit ins Wanken. Er ließ es geschehen, daß Mary ihn aus dem Haus zerrte und mit ihm die Auffahrt hinunter zu dem wartenden Wagen eilte. Dort bat sie mit schwacher Stimme: »Fahr du. Ich fühle mich außerstande dazu.« George nahm also das Steuer in die Hand. »Aber wir müssen dieser Sache nachgehen«, sagte er. »Weiß der Himmel, was für Schurkereien dieser ekelhafte Kerl im Schilde führt. Wenn du willst, laß ich die Polizei aus dem Spiel, aber ich werde auf eigene Faust etwas unternehmen. Ich kriege schon heraus, was die vorhaben.« »Nein, George, das möchte ich nicht.« »So ein fabelhaftes Abenteuer, und du willst, daß ich kneife? Nie im Leben!« »Ich hatte keine Ahnung, daß du so blutrünstig bist«, schluchzte Mary. »Ich bin nicht blutrünstig. Ich habe nicht angefangen. So eine Unverschämtheit von dem Kerl – uns mit diesem Riesending von Revolver zu bedrohen. Nebenbei bemerkt, warum um alles in der Welt ist dieser Revolver eigentlich nicht losgegangen, als ich den Burschen die Treppe hinunterwarf?« Er hielt an und fischte den Revolver aus der Seitentasche des Wagens, wohin er ihn zuvor gesteckt hatte. Nachdem er ihn gründlich untersucht hatte, stieß er einen Pfiff aus.
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»Also, das ist mir ja ein Ding! Der ist überhaupt nicht geladen. Wenn ich das gewußt hätte ...«Er hielt gedankenvoll inne. »Mary, das ist eine äußerst sonderbare Geschichte.« »Ich weiß. Deshalb bitte ich dich ja auch inständig, dich da herauszuhalten.« »Kommt nicht in Frage«, erklärte George fest. Mary stieß einen herzzerreißenden Seufzer aus. »Ich sehe schon, ich muß es dir doch sagen. Und das Schlimmste ist, ich habe nicht die leiseste Idee, wie du es aufnehmen wirst.« »Mir sagen – was meinst du damit?« »Ja, siehst du, die Sache ist nämlich so.« Sie machte eine Pause. »Ich finde, Frauen sollten heutzutage zusammenhalten – sie sollten die Männer, die sie kennenlernen, unbedingt ein bißchen genauer unter die Lupe nehmen.« »Na und?« fragte George total verwirrt. »Und das wichtigste für eine Frau ist, wie sich ein Mann in einer kritischen Situation verhält – besitzt er Geistesgegenwart – Mut – Entschlossenheit. Das ist etwas, was man schwer feststellen kann – ehe es zu spät ist. Eine kritische Situation tritt vielleicht erst ein, wenn man schon jahrelang verheiratet ist. Alles, was man von einem Mann weiß, ist, wie er tanzt und ob er Talent hat, nachts bei Regen ein Taxi aufzutreiben.« »Beides sehr nützliche Talente«, gab George zu bedenken. »Ja, aber man möchte gern das Gefühl haben, daß ein Mann ein Mann ist.« »Die weite, weite Prärie, wo Männer noch Männer sind«, murmelte George zerstreut. »Genau. Aber wir haben nun mal keine weite, weite Prärie in England. Deshalb muß man eben künstlich eine kritische Situation schaffen. Und genau das habe ich getan.« »Du meinst...« 114
»Das meine ich. Das Haus dort gehört zufällig mir. Wir kamen absichtlich dort vorbei – nicht durch Zufall. Und der Mann – dieser Mann, den du beinahe umgebracht hättest...« »Ja?« »Das war Rube Wallace – der Filmschauspieler. Er spielt meistens Preisboxer und so, weißt du. In Wirklichkeit ein schrecklich lieber und sanftmütiger Mensch. Ich habe ihn engagiert. Bella ist seine Frau. Deshalb war ich so entsetzt bei der Idee, du könntest ihn umgebracht haben. Selbstverständlich war der Revolver nicht geladen. Er ist ein Bühnenrequisit. Oh, George, bist du jetzt sehr böse?« »Bin ich der erste, an dem du deinen – äh – Test ausprobiert hast?« »O nein. Insgesamt waren es – laß mich überlegen –waren es neuneinhalb!« »Und wer war der halbe?« fragte George. »Bingo«, antwortete Mary trocken. »Ist irgendeiner von den anderen auf die Idee gekommen, wie ein Maulesel mit dem Fuß auszuschlagen?« »Nein – kein einziger. Ein paar haben lahme Drohungen ausgestoßen, ein paar haben sofort klein beigegeben, aber alle sind lammfromm die Treppe hinaufmarschiert und haben sich fesseln und knebeln lassen. Natürlich ist es mir danach gelungen, mich von meinen Fesseln zu befreien – so wie in den Büchern –, ich habe die anderen losgebunden, und wir haben uns aus dem Staub gemacht, wobei wir selbstverständlich das Haus leer fanden.« »Und kein einziger kam auf den Mauleseltrick oder sowas ähnliches?« »Nein.« »In dem Fall«, erklärte George großmütig, »sei dir verziehen.« »Danke, George«, sagte Mary sanft.
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»Eigentlich«, fuhr George fort, »hätten wir dann nur noch ein Problem: wo fahren wir jetzt hin? Ich weiß nicht genau, ist es Lambeth Palace oder Doctor’s Commons, wo auch immer das sein mag.« »Wovon redest du überhaupt?« »Von der Heiratslizenz. Ich halte in diesem Fall eine Sonderlizenz für angebracht. Du neigst mir zu sehr dazu, dich mit einem Mann zu verloben und unmittelbar darauf einen anderen um seine Hand zu bitten.« »Ich habe dich nicht um deine Hand gebeten!« »Doch, das hast du. Am Hyde Park Corner. Nicht unbedingt ein Ort, den ich persönlich für einen Heiratsantrag wählen würde, aber jeder Mensch hat in diesen Dingen seinen eigenen Geschmack.« »Das ist überhaupt nicht wahr. Ich habe dich bloß gefragt, zum Spaß natürlich, ob du mich gern heiraten würdest. Es war nicht ernst gemeint.« »Würde ich die Meinung eines Anwalts einholen, so bin ich sicher, er würde mir sagen, es habe sich um einen echten Heiratsantrag gehandelt. Außerdem weißt du ganz genau, daß du mich gern heiraten willst.« »Das tu ich nicht.« »Auch nicht nach neuneinhalb Fehlschlägen? Stell dir vor, was für ein Gefühl der Sicherheit es dir geben wird, mit einem Mann durchs Leben zu gehen, der dich aus jeder kritischen Situation heraushauen kann.« Bei diesem schlagenden Argument schien Marys Widerstand leicht ins Wanken zu geraten. Aber sie sagte fest: »Ich würde nie einen Mann heiraten, wenn er nicht vorher vor mir auf die Knie fällt.« George sah sie an. Sie war bezaubernd. Aber George besaß außer dem Fußtritt auch andere Eigenschaften eines Maulesels. Er erklärte mit der gleichen Festigkeit: »Vor einer Frau auf die Knie zu fallen, ist blamabei. Das tue ich nicht.« 116
»Wie schade«, erwiderte Mary in berückend sehnsüchtigem Ton. Sie fuhren nach London zurück. George war ernst und schweigsam. Mary hielt das Gesicht hinter der Krempe ihres Hutes verborgen. Als sie Hyde Park Corner passierten, sagte sie leise: »Könntest du nicht doch vor mir niederknien?« »Nein«, antwortete George fest. Er fand, er benahm sich außerordentlich männlich. Bestimmt war sie von seiner Haltung beeindruckt. Aber bedauerlicherweise hegte er den stillen Verdacht, daß auch ihr gewisse mauleselhafte Charakterzüge zu eigen waren. Er hielt plötzlich an. »Einen Moment«, sagte er. Er sprang aus dem Wagen, lief ein paar Schritte zurück bis zu dem Obststand, an dem sie soeben vorbeigefahren waren, und war so schnell wieder zurück, daß der Polizist, der aus einiger Entfernung auf sie zumarschierte, um sich nach dem Zweck ihres Manövers zu erkundigen, ihn nicht mehr einholen konnte. Während George losfuhr, warf er Mary nonchalant einen Apfel in den Schoß. »Iß mehr Obst«, sagte er. »Auch symbolisch.« »Symbolisch?« »Ja. Ursprünglich war es Eva, die dem Adam einen Apfel gab. Heutzutage gibt Adam der Eva einen. Verstehst du?« »Ja«, sagte Mary zweifelnd. »Wohin soll ich dich fahren?« fragte George förmlich. »Nach Hause, bitte.« Mit unbewegter Miene fuhr er weiter zum Grosvenor Square. Dort stieg er aus und ging um den Wagen herum, um ihr beim Aussteigen zu helfen. Mary unternahm einen letzten Versuch. »Liebster George, könntest du nicht doch?« sagte sie flehentlich. »Mir zuliebe?« »Niemals«, erwiderte George. 117
Und in diesem Augenblick passierte es. Er rutschte aus, versuchte sein Gleichgewicht wiederzuerlangen, aber vergeblich. Er fiel vor Mary im Straßenstaub auf die Knie. Sie stieß einen Freudenschrei aus und klatschte in die Hände. »Liebster George! Jetzt werde ich dich heiraten. Du kannst auf der Stelle zum Lambeth Palace fahren und mit dem Erzbischof von Canterbury alles arrangieren.« »Das wollte ich nicht«, protestierte George hitzig. »Es war eine gottv – äh, eine Bananenschale.« Er hielt den schuldigen Gegenstand vorwurfsvoll in die Höhe. »Ganz egal«, sagte Mary. »Es ist passiert. Wenn wir mal streiten und du mir vorwirfst, ich hätte dir einen Heiratsantrag gemacht, dann kann ich immer sagen, du hättest vor mir auf die Knie fallen müssen, ehe ich dich geheiratet habe. Und alles wegen dieser gottgesegneten Bananenschale! Gottgesegnete Bananenschale, das hast du doch eben sagen wollen, nicht wahr?« »So ungefähr«, bestätigte George. Am selben Nachmittag um halb sechs erhielt Mr. Leadbetter die Nachricht, daß sein Neffe gekommen sei und ihn zu sprechen wünsche. »Aha, er will zu Kreuze kriechen«, sagte Mr. Leadbetter zu sich. »Ich fürchte, ich war etwas streng mit dem Jungen, aber es geschah schließlich nur zu seinem Besten.« Und er gab Anweisung, George zu ihm zu führen. George trat munter ins Zimmer. »Ich möchte dir etwas sagen, Onkel«, begann er. »Du hast mir heute morgen bitter Unrecht getan. Ich wüßte gern, ob du in meinem Alter in der Lage gewesen wärst, verstoßen von deinen Verwandten auf der Straße zu stehen und in der Zeit zwischen elf Uhr fünfzehn und siebzehn Uhr dreißig dir ein Einkommen von zwanzigtausend Pfund im Jahr zu ergattern. Genau das nämlich habe ich getan!« 118
»Du bist verrückt, mein Junge.« »Nicht verrückt, erfindungsreich! Ich werde eine junge, reiche, schöne Dame der Gesellschaft heiraten. Eine, die obendrein auch noch um meinetwillen einem Herzog den Laufpaß gibt.« »Eine Frau wegen ihres Geldes heiraten? Das hätte ich nicht von dir gedacht.« »Und du hättest recht gehabt. Ich hätte nie gewagt, sie um ihre Hand zu bitten, wenn sie nicht glücklicherweise mich darum gebeten hätte. Hinterher hat sie einen Rückzieher gemacht, aber ich konnte sie umstimmen. Und weiß du, Onkel, wie ich das gemacht habe? Indem ich zur richtigen Zeit zwei Pence investierte und zupackte, als mir das Schicksal seine goldene Kugel entgegenwarf.« »Wofür die zwei Pence?« erkundigte sich Mr. Leadbet-ter, den dieser Punkt aus finanztechnischen Gründen interessierte. »Für eine Banane – vom Obststand. Ich muß selbst sagen, auf die Idee mit dieser Banane wäre nicht jeder gekommen. Wo kriegt man übrigens eine Heiratslizenz? Doctor’s Commons oder Lambeth Palace?«
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Sonntag
»Also, das nenn ich mir ein Vergnügen!« flötete Miss Dorothy Pratt zum vierten Mal. »Ich wünschte bloß, diese alte Ziege könnte mich jetzt sehen. Die und ihre Janes!« Mit der »alten Ziege«, von der hier so unfreundlich die Rede war, war Miss Pratts Gnädige, Mrs. Mackenzie Jones, gemeint, welche sehr bestimmte Ansichten hinsichtlich der angemessenen Rufnamen für Stubenmädchen besaß und den Namen Dorothy zugunsten von Miss Pratts verabscheutem zweiten Taufnamen Jane verworfen hatte. Miss Pratts Begleiter antwortete nicht sogleich – aus gutem Grund. Wenn man erst kürzlich für die Summe von zwanzig Pfund einen Austin-Mini aus vierter Hand erworben hatte und mit diesem gerade zum zweiten Mal unterwegs war, so mußte man seine ganze Aufmerksamkeit notgedrungen auf die knifflige Aufgabe konzentrieren, beide Hände und Füße so zu gebrauchen, wie es die momentane Situation erforderte. »Ah!« murmelte Mr. Edward Palgrove und meisterte eine verkehrstechnische Krise unter fürchterlichem Protest des Getriebes, bei welchem jedem routinierten Autofahrer die Haare zu Berge gestanden hätten. »Na, du bist ja nicht sehr gesprächig«, beklagte sich Dorothy.
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Mr. Palgrove blieb eine Antwort erspart, da gerade in diesem Augenblick der Fahrer eines Autobusses ihn ebenso nachdrücklich wie lautstark beschimpfte. »Also, so eine Unverschämtheit.« Miss Pratt warf den Kopf in den Nacken. »Ich wünschte bloß, diese Fußbremse funktionierte«, sagte ihr Verehrer bitter. »Ist etwas damit nicht in Ordnung?« »Da kannst du drauftreten, bis du schwarz wirst«, entgegnete Mr. Palgrove. »Es passiert überhaupt nichts.« »Na ja, Ted, für zwanzig Pfund kannst du schließlich nicht alles verlangen. Immerhin, hier sitzen wir, in einem richtigen Auto, und fahren am Sonntagnachmittag ins Grüne, genau wie alle anderen Menschen auch.« Wieder ließen sich kratzende und knirschende Töne vernehmen. »Ah«, rief Ted triumphierend. »Das war schon besser geschaltet.« »Du fährst vielleicht gut!« sagte Dorothy bewundernd. Durch dieses Lob aus weiblichem Mund ermutigt, wagte Mr. Palgrove einen Blitzstart quer über den Hammersmith Broadway, was ihm eine ernste Ermahnung seitens eines Verkehrspolizisten eintrug. »Also wirklich«, entrüstete sich Dorothy, während sie in gemäßigterem Tempo auf die Hammersmith Bridge zusteuerten, »ich weiß nicht, was neuerdings in diese Polizisten gefahren ist. Man möchte meinen, die würden ein bißchen höflicher sein, bei all den Geschichten, die einem in letzter Zeit zu Ohren gekommen sind.« »Und außerdem wollte ich gar nicht hier lang fahren«, bemerkte Edward traurig. »Ich wollte runter zur Great West Road und da mal richtig auf die Tube drücken.«
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»Und höchstwahrscheinlich dabei erwischt werden«, gab Dorothy zurück. »Genau das ist unlängst dem Herrn passiert. Fünf Pfund plus Gebühren.« »Die Polizei ist eben doch nicht so beschränkt«, räumte Edward ein. »Die schröpfen auch die Reichen. Keine Extrawurst. Ich kriege es richtig mit der Wut, wenn ich an diese Lackaffen denke, die in einen Autosalon gehen und sich seelenruhig zwei Rolls-Royce kaufen können, ohne daß es ihnen eine Spur ausmacht. Das gibt doch keinen Sinn. Ich bin genauso gut wie die.« »Und Schmuck«, seufzte Dorothy. »Diese Geschäfte in der Bond Street. Diamanten und Perlen und was weiß ich noch alles! Und ich mit meiner Perlenkette von Woolworth.« Sie verstummte, während sie in Gedanken diesem betrüblichen Thema nachhing. Edward konnte seine Aufmerksamkeit wieder ungeteilt dem Chauffieren widmen. Es gelang ihnen, ohne weiteres Mißgeschick Richmond zu durchqueren. Der Zusammenstoß mit dem Polizisten hatte Edwards Wagemut einen Dämpfer aufgesetzt. Er wählte nunmehr den Weg des geringsten Widerstandes, indem er bei jeder Straßenkreuzung blindlings hinter seinem Vordermann herfuhr. Auf diese Weise befanden sie sich schließlich auf einem schattigen Feldweg, den zu finden manch erfahrener Autoausflügler seine rechte Hand gegeben hätte. »Gute Idee, daß ich da hinten von der Straße abgebogen bin«, bemerkte Edward, sich mit fremden Federn schmückend. »Wunderbar«, lobte Miss Pratt. «Und was seh ich, dort ist doch tatsächlich ein Mann mit einem Obststand.« Und wahrhaftig, an einer Wegbiegung stand ein kleiner Tisch aus Weidengeflecht und darauf Körbe voll Obst, sowie eine Tafel mit der Aufschrift: »Eßt mehr Obst.«
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»Wieviel?« erkundigte sich Edward besorgt, nachdem ein verzweifelter Ruck an der Handbremse das gewünschte Resultat erzielt hatte. »Herrliche Erdbeeren«, rief der Händler. Er war ein unangenehm aussehender Mensch mit stechendem Blick. »Genau das Richtige für die Dame. Reife Früchte, ganz frisch gepflückt. Kirschen hab ich auch. Echt englische Kirschen. Ein Körbchen Kirschen gefällig, Lady?« »Die sehn wirklich schön aus«, meinte Dorothy. »Prima Ware, jawohl«, krächzte der Mann. »Es wird Ihnen Glück bringen, das Körbchen, Lady.« Endlich ließ er sich herab, auf Edwards Frage zu antworten. »Zwei Shilling, Sir, und spottbillig dafür. Das würden Sie auch finden, wenn Sie wüßten, was in dem Korb ist.« »Sie sehen wirklich ganz herrlich aus«, sagte Dorothy. Edward seufzte und bezahlte die geforderten zwei Shilling. Dabei rechnete er fieberhaft. Später der Tee, dazu Benzin – so ein Sonntagsausflug kam einen nicht gerade billig. Das war das Ärgste daran, wenn man Mädchen ausführte. Sie wollten immer gleich alles haben, was sie sahen. »Danke, Sir«, sagte der unangenehm aussehende Mann. »Da haben Sie ein gutes Geschäft gemacht mit diesem Korb Kirschen.« Edward trat heftig aufs Pedal, und der Austin Mini schoß mit einem Satz, wie ein wütender Schäferhund, auf den Kirschenverkäufer zu. »Entschuldigung«, sagte Edward. »Hatte ganz vergessen, daß der Gang drin war.« »Du solltest ein bißchen aufpassen, mein Lieber«, mahnte Dorothy, »du hättest ihn verletzen können.« Edward gab keine Antwort. Nach einer weiteren Meile kamen sie zu einem idealen Platz am Ufer eines Flüßchens. Der Austin wurde am Straßenrand abgestellt, und Edward und Dorothy ließen sich einträchtig am Flußufer nieder und 124
aßen Kirschen. Zu ihren Füßen lag unbeachtet eine Sonntagszeitung. »Was gibf s Neues?« fragte Edward schließlich, während er sich flach auf dem Rücken ausstreckte und den Hut zum Schutz gegen die Sonne über die Augen zog. Dorothy überflog die Schlagzeilen. »Die unglückliche Gattin – spannender Tatsachenbericht. Achtundzwanzig Menschen ertrunken. Todessturz eines Fliegers. Sensationeller Juwelenraub. Rubinhalsband im Wert von fünfzigtausend Pfund verschwunden. Oh, Ted! Stell dir bloß vor, fünfzigtausend Pfund!« Sie las weiter. »Das Halsband besteht aus einundzwanzig platingefaßten Steinen und war mit der Post per Einschreiben von Paris geschickt worden. Bei der Ankunft enthielt das Paket lediglich ein paar Kieselsteine; die Rubine waren verschwunden.« »Unterwegs geklaut«, stellte Edward fest. »Die Post in Frankreich ist furchtbar, glaube ich.« »So ein Halsband würde ich gern mal sehen«, sagte Dorothy. »So richtig blutrot glänzende Steine – Taubenblut nennt man diese Farbe. Wie es sich wohl anfühlen mag, wenn man so ein Ding am Hals baumeln hat?« »Das wirst du sicher nie erfahren, meine Liebe«, scherzte Edward. Dorothy warf den Kopf in den Nacken. »Wieso eigentlich nicht, möchte ich mal wissen. Frauen können die erstaunlichsten Karrieren machen. Vielleicht geh ich zum Theater.« »Anständige Mädchen machen keine Karriere«, sagte Edward trocken. Dorothy öffnete den Mund zu einer Antwort, besann sich dann eines Besseren und sagte bloß: »Gib mir mal die Kirschen rüber. Ich hab mehr gegessen als du. Den Rest teilen wir uns und – nanu, was liegt denn da zuunterst im Korb?« W
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ährend sie sprach, zog sie das Ding heraus – eine lange glitzernde Kette aus blutroten Steinen. Beide starrten sie erstaunt an. »Und das lag im Korb, sagtest du?« fragte Edward schließlich. Dorothy nickte. »Ganz zuunterst – unter den Kirschen.« Sie wechselten einen langen Blick. »Wie, glaubst du, ist es da hineingekommen?« »Keine Ahnung. Ist doch komisch, Ted, gerade nachdem wir das in der Zeitung gelesen haben – das mit den Rubinen.« Edward lachte. »Du glaubst doch nicht etwa, du hältst da fünfzigtausend Pfund in der Hand, was?« »Ich hab bloß gesagt, daß es komisch ist. Platingefaßte Rubine. Platin, das ist so ein stumpfes silbernes Zeug – wie das hier. Schau mal, wie die glänzen. Ist das nicht eine herrliche Farbe? Mal sehen, wie viele es sind?« Sie zählte. »Du, Ted, es sind genau einundzwanzig.« »Nein!« »Doch. Die selbe Zahl, die in der Zeitung genannt wird. Oh, Ted, du glaubst doch nicht...« »Unmöglich.« Aber seine Stimme klang unentschlossen. »Es gibt irgendeine Methode, wie man das feststellen kann – auf Glas damit kratzen.« »Das gilt für Diamanten. Aber weißt du, Ted, das war eben schon ein sehr seltsam aussehender Mann – der Mann am Obststand – direkt ekelhaft hat er ausgesehen. Und er hat so komisch geredet – wir hätten ein gutes Geschäft gemacht mit dem Korb Kirschen.« »Ja, aber sieh mal, Dorothy, weshalb sollte der uns fünfzigtausend Pfund schenken?« Miss Pratt schüttelte entmutigt den Kopf. »Es klingt unlogisch«, gab sie zu. »Es sei denn, die Polizei wäre hinter ihm her.« 126
»Die Polizei?« Edward wurde ein wenig blaß. »Ja. In der Zeitung heißt es weiter, die Polizei hätte schon eine Spur.« Edward lief ein kalter Schauer über den Rücken. »Die Sache gefällt mir nicht, Dorothy. Angenommen, die Polizei ist plötzlich hinter uns her?« Dorothy starrte ihn mit offenem Mund an. »Aber wir haben doch gar nichts getan, Ted. Wir haben das Ding doch nur in dem Korb gefunden.« »Die Geschichte würde uns kein Mensch abkaufen. Sie klingt nicht gerade sehr wahrscheinlich.« »Ist sie auch nicht«, gab Dorothy zu. »Oh, Ted, glaubst du wirklich, das ist es? Das wäre ja wie in einem Märchen!« »Das finde ich eigentlich nicht«, entgegnete Edward. »Ich finde, das klingt mehr wie eine von den Geschichten, wo der Held unschuldig zu vierzehn Jahren Zuchthaus verurteilt wird.« Aber Dorothy hörte ihm nicht zu. Sie hatte das Halsband angelegt und begutachtete die Wirkung in einem kleinen Taschenspiegel. »Wie eine Herzogin«, murmelte sie verzückt. »Ich glaub’s einfach nicht«, stieß Edward hervor. »Das ist eine Imitation. Das muß eine Imitation sein.« »Ja, Liebling«, sagte Dorothy, noch immer in die Betrachtung ihres Spiegelbilds versunken. »Höchstwahrscheinlich. « »Alles andere wäre ein zu großer – zu großer Zufall.« »Taubenblut«, flüsterte Dorothy versonnen. »Es ist absurd, sage ich. Ganz absurd. Sag mal, Dorothy, hörst du mir überhaupt zu?« Dorothy legte den Spiegel beiseite und drehte sich zu ihm um. Ihre eine Hand ruhte auf den Rubinen um ihren Hals. »Wie sehe ich aus?« fragte sie.
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Edward starrte sie an. All sein Ärger war verflogen. So hatte er Dorothy noch nie gesehen. Etwas Triumphierendes strahlte von ihr aus, eine Art hoheitsvoller Schönheit, die ihm vollständig unbekannt war. Die Überzeugung, daß sie Juwelen im Wert von fünfzigtausend Pfund um den Hals trug, hatte aus Dorothy Pratt eine neue Frau gemacht. Sie sah unverschämt überlegen aus, gleichsam Kleopatra, Semiramis und Zenobia in einer Person. »Du siehst – du siehst einfach toll aus«, sagte Edward demütig. Dorothy lachte, und auch ihr Lachen war völlig anders als sonst. »Paß auf«, sagte Edward. »Wir müssen etwas tun. Wir müssen das Ding zur Polizei bringen oder so.« »Unsinn«, erwiderte Dorothy. »Du hast eben selbst gesagt, die würden uns nicht glauben. Die würden dich wahrscheinlich als Dieb ins Gefängnis stecken.« »Aber – aber was sollen wir denn sonst tun?« »Es behalten«, sagte die neue Dorothy Pratt. Edward sah sie aus aufgerissenen Augen an. »Es behalten? Du bist verrückt.« »Wir haben es schließlich gefunden, nicht wahr? Woher sollten wir wissen, daß es wertvoll ist? Wir behalten es, und ich werde es tragen.« »Und die Polizei wird dich schnappen.« Dorothy überlegte einen Augenblick. »Also gut«, sagte sie dann, »wir verkaufen es. Und du kannst dir einen Rolls-Royce kaufen oder meinetwegen auch zwei, und ich kaufe mir so ein Dingsda auf den Kopf aus Brillanten und dazu ein paar Ringe.« Edward starrte sie noch immer entgeistert an. Dorothy wurde ungeduldig. »Da hast du deine Chance – es liegt jetzt an dir, ob du sie nützt oder nicht. Wir haben das Ding nicht gestohlen – von 128
sowas halte ich nichts. Es ist uns in den Schoß gefallen, und wahrscheinlich werden wir nie wieder im Leben die Chance haben, alles das zu kriegen, wovon wir träumen. Hast du denn überhaupt keinen Mumm, Edward Palgrove?« Edward fand endlich seine Sprache wieder. »Verkaufen, sagst du? Das ist nicht so einfach. Jeder Juwelier würde wissen wollen, woher ich das verflixte Ding habe.« »Du bringst es auch nicht zu einem Juwelier. Liest du denn nie Kriminalromane, Ted? Sowas bringt man natürlich zu einem Hehler.« »Und woher, bitte, soll ich einen Hehler kennen? Ich bin anständig erzogen worden.« »Männer sollten alles wissen«, entgegnete Dorothy. »Dafür sind sie da.« Er schaute sie an. Sie war gelassen und unerschütterlich. »Das hätte ich nie von dir gedacht«, sagte er schwach. »Und ich hätte gedacht, du hättest mehr Schneid.« Eine Weile herrschte Schweigen. Dann erhob sich Dorothy. »Na ja«, sagte sie leichthin, »fahren wir jetzt lieber nach Hause.« »Und du mit dem Ding um den Hals?« Dorothy nahm das Halsband ab, betrachtete es ehrfürchtig und ließ es in ihre Handtasche gleiten. »Jetzt hör mal zu«, sagte Edward. »Du gibst mir das Ding!« »Nein.« »O doch. Ich bin anständig erzogen worden, meine Liebe.« »Dann bleib anständig. Du brauchst ja nichts damit zu tun zu haben.« »Ach, gib schon her«, rief Edward in einem plötzlichen Entschluß. »Ich tu’s. Ich werde einen Hehler ausfindig machen. Wie du sagst, es ist die einzige Chance, die wir je im Leben kriegen. Wir haben das Ding ehrlich erworben – 129
für zwei Shilling. Es ist genau das gleiche, was die feinen Herren tagtäglich in Antiquitätenläden tun und worauf sie nachher auch noch stolz sind.« »Genau!« erklärte Dorothy. »Oh, Edward, du bist fabelhaft!« Sie gab ihm das Halsband, und er steckte es in die Tasche. Er fühlte sich erregt, über sich selbst hinausgehoben, ein rechter Teufelskerl! In dieser Stimmung startete er den Austin. Beide waren sie zu aufgeregt, um wie ursprünglich geplant noch irgendwo eine Tasse Tee zu trinken. Sie fuhren schweigend nach London zurück. Einmal, bei einer Straßenkreuzung, trat ein Polizist auf den Wagen zu, und Edwards Herzschlag setzte aus. Durch ein Wunder gelangten sie heil nach Hause. Edwards Abschiedsworte zu Dorothy waren durchdrungen von Tatendurst. »Wir machen es! Fünfzigtausend Pfund! Das ist die Sache wert!« In dieser Nacht träumte er vom Zuchthaus Dartmoor, und als er frühmorgens aufstand, fühlte er sich schlapp und übernächtigt. Er mußte einen Hehler ausfindig machen – und hatte nicht die geringste Ahnung, wie er das anstellen sollte! Bei seiner Arbeit im Büro schlampte er, was ihm noch vor der Mittagspause zwei scharfe Rügen eintrug. Wie fand man einen Hehler? Wahrscheinlich war Whitechapel die richtige Gegend dafür – oder Stepney? Bei seiner Rückkehr ins Büro kam ein Anruf für ihn. Es war Dorothy – sie sprach mit leiser, tränenerstickter Stimme. »Bist du’s, Ted? Ich benutze unser Telefon hier, aber meine Gnädige kann jeden Augenblick kommen, und dann muß ich aufhören. Ted, du hast doch noch nichts unternommen, oder?« Edward verneinte.
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»Hör zu, Ted, du darfst es nicht tun. Ich bin die ganze Nacht wachgelegen. Es war schrecklich. Ich habe fortwährend daran denken müssen, daß es in der Bibel heißt, du sollst nicht stehlen. Ich muß verrückt gewesen sein gestern – einfach verrückt. Du wirst es nicht tun, nein, Ted?« Fühlte sich Mr. Palgrove heimlich erleichtert? Möglich – doch dergleichen würde er nie zugeben. »Wenn ich sage, ich mache etwas, dann mache ich es auch«, erklärte er mit stahlharter Stimme, wie sie einem Mann von eisernem Willen anstand. »Ach nein, Ted, tu’s bitte nicht. Du lieber Gott, da kommt sie. Hör zu, Ted, sie geht heute abend zum Essen aus. Da kann ich unbemerkt fort und dich treffen. Tu nichts, ehe du mit mir gesprochen hast. Acht Uhr. Warte auf mich an der Ecke.« Ihre Stimme wurde zu einem sanften Flöten. »Ja, gnädige Frau; ich glaube, da hat jemand falsch gewählt. Er wollte Bloomsbury 0243.« Als Edward um sechs Uhr abends aus dem Büro kam, fiel ihm eine riesige Schlagzeile ins Auge. Das Neueste vom Juwelenraub Hastig kramte er einen Penny hervor. Als er endlich sicher in der U-Bahn saß, wo er sich mit Geschick einen Sitzplatz ergattert hatte, überflog er eilig das Extrablatt. Er brauchte nicht lange zu suchen. »Also, da hol mich doch der ... « Er stieß einen halblauten Pfiff aus. Und dann fiel sein Auge auf eine weitere Meldung. Er las sie und ließ dann die Zeitung achtlos zu Boden fallen. Pünktlich um acht Uhr wartete er am vereinbarten Treffpunkt. Dorothy, die blaß aber hübsch aussah, kam atemlos auf ihn zugeeilt. »Du hast doch noch nichts unternommen, Ted?«
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»Ich habe nichts unternommen.« Er zog das Rubinhalsband aus der Tasche. »Du kannst es anziehen.« »Aber, Ted ... « »Die Polizei hat die Rubine bereits – und auch den Kerl, der sie geklaut hat. Und jetzt lies mal das!« Er hielt Dorothy einen Zeitungsartikel unter die Nase. Neuer Werbetrick »Mit einem geschickten neuen Werbetrick versucht derzeit All English Fivepenny Fair der berühmten Woolworth Konkurrenz zu machen. Beginnend mit dem gestrigen Sonntag werden landesweit Körbchen mit Obst verkauft, von denen jeweils eines von fünfzig ein Halsband aus imitierten verschiedenfarbigen Edelsteinen enthält. Mit diesen Halsbändern macht der glückliche Käufer ein ausgezeichnetes Geschäft. Die erste dieser Verkaufsaktionen, die gestern unter dem Motto ›Eßt mehr Obst‹ gestartet wurde, rief daher allgemein große Aufregung und Heiterkeit hervor, und die nächste Aktion am kommenden Sonntag wird sich zweifellos eines kräftigen Zulaufs erfreuen. Wir gratulieren Fivepenny Fair zu ihrem Einfall und wünschen ihnen viel Glück für ihren Werbefeldzug ›Kauft britisch‹.« »Also wirklich ... «murmelte Dorothy und nach kurzem Schweigen noch einmal lauter: »Also wirklich!« »Tja«, sagte Edward. »Das fand ich auch.« Ein Mann drückte ihnen im Vorübergehen einen Zettel in die Hand. »Nehmt eines, Bruder«, sagte er. »Eine tugendhafte Frau steht weit höher im Wert als alle Rubine«, las Edward. »Da siehst du! Ich hoffe, das heitert dich wieder auf.« »Ich weiß nicht«, meinte Dorothy zweifelnd. »Eigentlich möchte ich wenigstens nicht so aussehen wie eine tugendhafte Frau.«
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»Tust du auch nicht«, tröstete sie Edward. »Deshalb hat der Mann mir ja das Blatt gegeben. Mit diesen Rubinen um den Hals siehst du nicht die Spur aus wie eine tugendhafte Frau.« Dorothy lachte. »Du bist schon ein lieber Kerl, Ted«, sagte sie. »Komm, gehen wir ins Kino.«
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Der Hund des Todes
Es war William P. Ryan, ein amerikanischer Zeitungskorrespondent, durch den ich zuerst von der Geschichte erfuhr. Am Tag vor seiner Rückreise nach New York aß ich mit ihm in London zu Abend und erwähnte dabei gesprächsweise, daß ich am nächsten Morgen nach Folbridge fahren wolle. Er blickte auf und fragte scharf: »Nach Folbridge in Cornwall?« Nun weiß unter tausend vielleicht gerade einer, daß es über-haupt ein Folbridge in Cornwall gibt. Die allermeisten halten es für selbstverständlich, daß der Ort Folbridge in Hampshire gemeint ist. Daher erweckte Ryans Ortskunde meine Neugier. »Ja«, erwiderte ich. »Kennen Sie es?« Er bemerkte lediglich, da hole ihn doch dieser und jener. Dann fragte er, ob ich da unten zufällig ein Haus namens »Trearne« kenne. Meine Neugier wuchs. »Allerdings, sehr gut sogar. Genau da fahre ich nämlich hin. ›Trearne‹ gehört meiner Schwester.« »Na sowas«, sagte William P. Ryan. »Wenn das einen nicht glatt vom Stuhl haut!« Ich ersuchte ihn, sich nicht länger in rätselhaften Andeutungen zu ergehen, sondern zu erklären, was er meine. »Tja«, sagte er, »um das zu tun, muß ich bis zu einem Erlebnis von mir bei Ausbruch des Krieges zurückgehen.« 135
Ich seufzte. Die Ereignisse, von denen hier die Rede ist, fanden im Jahr 1921 statt. Kein Mensch wünschte damals, an den Krieg erinnert zu werden. Wir begannen ihn gottlob gerade zu vergessen ... Außerdem pflegte William P. Ryan, wie ich wußte, unglaublich weitschweifig zu werden, sobald er auf seine Kriegserlebnisse zu sprechen kam. Aber er war nicht mehr zu bremsen. »Bei Ausbruch des Krieges war ich, wie Sie vermutlich wissen, für meine Zeitung in Belgien tätig und kam dort ziemlich viel herum. Nun, es gibt dort ein kleines Dorf – ich will es mal X nennen. Ein richtiges Kuhdorf, aber es gab ein ziemlich großes Kloster am Ort. Nonnen in Weiß – den Namen des Ordens kenne ich nicht. Er tut auch nichts zur Sache. Also, dieses Nest lag genau auf dem Weg des deutschen Vormarschs. Die Ulanen kamen ... « Ich rutschte unruhig auf meinem Stuhl hin und her. Willliam P. Ryan hob beschwichtigend die Hand. »Keine Angst, es ist keine Geschichte über deutsche Kriegsverbrecher. Es hätte vielleicht eine werden können, aber es ist keine. Eigentlich liegt der Fall hier genau umgekehrt. Die Deutschen marschierten zum Kloster ... und als sie hinkamen, flog das ganze Ding in die Luft.« »Oh!« bemerkte ich etwas erschrocken. »Sonderbare Geschichte, nicht? Auf Anhieb würde ich sagen, die Deutschen haben eben gefeiert und dabei ihren eigenen Sprengstoff hochgejagt. Aber anscheinend hatten sie gar keinen dabei. Es war kein Sprengkommando. Also frage ich Sie, was sollte ein Haufen Nonnen von Sprengstoff verstehen? Das wären mir schöne Nonnen, was?« »Das ist allerdings sonderbar«, stimmte ich zu. »Es war mir interessant, den Bericht der Bauern über das Ereignis zu hören. Für die lag der Fall sonnenklar. Nach ihrer Meinung war es schlicht ein erstklassiges, hundertprozentig funktionierendes modernes Wunder gewesen. Eine 136
der Nonnen hatte nämlich anscheinend als eine angehende Heilige gegolten – Trancezustände, Visionen und so. Und die hatte nach Auffassung der Bauern die Explosion ausgelöst. Sie habe den Blitz herabgerufen, um die gottlosen Hunnen in die Luft zu sprengen – was er dann auch tat, und alles übrige im weiteren Umkreis dazu. Ein recht gründliches Wunder, muß ich sagen! Ich hatte keine Zeit, der Wahrheit auf den Grund zu gehen. Aber Wunder standen zu der Zeit hoch im Kurs – die Engel von Mons und so weiter. Ich brachte also die Geschichte zu Papier; ich drückte gründlich auf die Tränendrüse, ging mit dem religiösen Kram richtig in die Vollen und schickte das Ganze an meine Zeitung. Es kam in den Staaten sehr gut an. Die lasen zu der Zeit sowas gern. Aber – ich weiß nicht, ob Sie das verstehen – beim Schreiben wurde ich neugierig. Es interessierte mich, was wirklich passiert war. An der Stelle selbst war nichts zu sehen. Da standen bloß noch zwei Mauern, und auf der einen war ein schwarzer Rußfleck, der genau die Form von einem riesigen Wolfshund hatte. Die Bauern in der Gegend fürchteten sich zu Tode vor diesem Fleck. Sie nannten ihn den Hund des Todes und weigerten sich, nach Einbruch der Dunkelheit dort vorbeizugehen. Abergläubische Ideen sind immer interessant. Es reizte mich, die Dame kennenzulernen, die das Ganze inszeniert haben sollte. Anscheinend war sie nicht ums Leben gekommen, sondern mit einem Häufchen von anderen Flüchtlingen nach England gegangen. Ich nahm mir die Mühe, ihre Spur zu verfolgen, und fand heraus, daß man sie nach Folbridge in Cornwall geschickt und in Haus ›Trearne‹ einquartiert hatte.« Ich nickte. »Meine Schwester hat bei Kriegsausbruch eine ganze Menge von belgischen Flüchtlingen in ihrem Haus aufgenommen. Ungefähr zwanzig.« 137
»Ich hatte mir immer vorgenommen, die Frau mal aufzusuchen und mir von ihr selbst erzählen zu lassen, wie das Unglück geschah. Aber vor lauter Arbeit und dem ganzen sonstigen Hin und Her hab ich schließlich nicht mehr dran gedacht. Cornwall liegt ja auch ein bißchen weit ab. Inzwischen hatte ich die Geschichte sowieso total vergessen; erst als Sie eben von Folbridge sprachen, ist sie mir wieder eingefallen.« »Ich muß meine Schwester fragen«, sagte ich. »Vielleicht hat sie etwas davon gehört. Die Belgier sind inzwischen natürlich längst wieder in ihre Heimat zurückgekehrt.« »Freilich. Trotzdem, sollte Ihre Schwester tatsächlich etwas von der Sache wissen, würde ich mich freuen, wenn Sie mir Bescheid gäben.« »Selbstverständlich«, beteuerte ich. Damit war der Fall erledigt. Es war am zweiten Tag nach meiner Ankunft in »Trearne«, als mir die Geschichte wieder einfiel. Meine Schwester und ich saßen gerade beim Tee auf der Terrasse. »Kitty«, sagte ich, »hattest du nicht eine Nonne unter deinen Belgiern?« »Du meinst doch nicht etwa Schwester Marie-Angelique?« »Möglicherweise«, erwiderte ich vorsichtig. »Erzähl mir was von ihr.« »Oh, mein Lieber, sie war eine höchst unheimliche Person. Sie lebt übrigens noch hier.« »Was? Hier im Haus?« »Nein, nein. Im Dorf. Dr. Rose – du erinnerst dich an Dr. Rose?« Ich schüttelte den Kopf. »Ich erinnere mich an einen alten Herrn von ungefähr dreiundachtzig.«
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»Ach, das war Dr. Laird. Der ist tot. Dr. Rose ist erst seit ein paar Jahren hier. Er ist noch ganz jung und sehr aufgeschlossen für neue Ideen. Er hat sich ganz ungeheuer für Schwester Marie-Angelique interessiert. Sie hat Halluzinationen und dergleichen, weißt du, und ist deshalb anscheinend vom medizinischen Standpunkt aus hochinteressant. Die Arme, sie wußte nicht wohin – meiner Meinung nach ist sie einfach nicht richtig im Kopf, aber irgendwie beeindruckend eben, wenn du verstehst, was ich meine ... na, wie gesagt, sie wußte nicht wohin, und da hat Dr. Rose sie freundlicherweise im Dorf untergebracht. Ich glaube, er schreibt eine Monographie über sie, oder wie man das bei Ärzten nennt.« Kitty machte eine Pause und fragte dann plötzlich: »Aber wieso weißt du denn von ihr?« »Mir ist da eine recht merkwürdige Geschichte zu Ohren gekommen.« Ich gab die Geschichte so weiter, wie ich sie von Ryan gehört hatte. Kitty hörte interessiert zu. »Sie sieht aus wie jemand, der einen in die Luft sprengen könnte«, bekräftigte sie am Schluß. »Mir scheint«, entgegnete ich mit wachsender Neugier, »ich muß diese Frau kennenlernen.« »Tu’s. Ich möchte gern wissen, was du von ihr hältst. Aber erst mußt du Dr. Rose aufsuchen. Warum gehst du nicht gleich nach dem Tee hinunter ins Dorf?« Ich stimmte ihrem Vorschlag zu. Dr. Rose war zu Hause, und ich stellte mich vor. Er schien ein angenehmer junger Mann zu sein, doch es lag etwas in seinem Wesen, das mich abstieß, eine Forschheit, die mich nicht sehr sympathisch berührte. Sobald ich Schwester Marie-Angeliques Namen erwähnte, richtete er sich gespannt auf. Offenbar war er brennend an ihr interessiert. Ich wiederholte ihm Ryans Erzählung. 139
»Aha!« sagte er nachdenklich. »Das erklärt allerdings vieles!« Nach einem schnellen Blick auf mich fuhr er fort: »Der Fall ist wirklich hochinteressant. Als die Frau hierherkam, hatte sie offenbar kurz zuvor einen schweren seelischen Schock erlitten. Außerdem befand sie sich in einem hochgradigen geistigen Erregungszustand. Sie neigte zu Halluzinationen von äußerst erschreckender Natur. Ja, sie ist eine höchst ungewöhnliche Persönlichkeit. Vielleicht würden Sie gern mit mir kommen und sie kennenlernen. Sie ist wirklich einen Besuch wert.« Ich erklärte mich nur zu gern einverstanden. Wir machten uns zusammen auf den Weg. Unser Ziel war ein winziges Haus am Rande der Ortschaft. Folbridge ist ein höchst malerisches Dorf. Es liegt an der Mündung des Flusses Fol, mit dem Hauptteil am Ostufer, da das Westufer zu steil zum Bauen ist. Dennoch kleben dort ein paar Häuser am Hang, und das Haus des Doktors selbst erhob sich am äußersten westlichen Punkt der Steilklippe. Von dort blickte man direkt hinunter auf die hohen Wellen, die gegen schwarze Felsen brandeten. Das Häuschen, zu dem uns der Weg nun führte, lag dagegen weiter im Land, außer Sichtweite des Meeres. »Die Gemeindeschwester wohnt dort«, erklärte Dr. Rose. »Ich habe für Schwester Marie-Angelique bei ihr ein Zimmer besorgt. Es kann nicht schaden, wenn sie eine ausgebildete Pflegerin in der Nähe hat.« »Wirkt sie in ihrer Art ganz normal?« fragte ich neugierig. »Das werden Sie gleich selbst beurteilen können«, antwortete er lächelnd. Die Gemeindeschwester, eine füllige freundliche kleine Frau, schwang sich gerade auf ihr Fahrrad, als wir ankamen. »Guten Abend, Schwester, was macht Ihre Patientin?« rief der Arzt.
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»Ungefähr das gleiche wie immer, Doktor. Sitzt mit gefalteten Händen da und ist in Gedanken irgendwo weit weg. Oft antwortet sie nicht einmal, wenn ich sie anspreche, obwohl man natürlich bedenken muß, daß sie selbst heute noch sehr wenig Englisch versteht.« Rose nickte, und während die Gemeindeschwester davonradelte, ging er auf die Haustür zu, klopfte energisch und trat ein. Schwester Marie-Angelique ruhte auf einer Chaiselongue neben dem Fenster. Sie wandte uns das Gesicht zu, als wir das Zimmer betraten. Sie hatte ein seltsames Gesicht-bleich, fast durchsichtig, mit riesigen Augen, in denen eine unendliche Tragik zu liegen schien. »Guten Abend, Schwester«, sagte der Arzt auf Französisch. » Guten Abend, Monsieur le docteur.« »Gestatten Sie, daß ich Ihnen einen Freund vorstelle – Mr. Anstruther.« Ich verbeugte mich, und sie neigte leise lächelnd den Kopf. »Und wie geht es Ihnen heute?« erkundigte sich der Arzt, während er neben ihr Platz nahm. »So ziemlich wie immer.« Sie verstummte kurz. »Alles erscheint mir so unwirklich. Sind es Tage, die vergehen, oder Monate – oder Jahre? Ich merke es kaum. Nur meine Träume sind Wirklichkeit für mich.« »Dann träumen Sie also immer noch so viel?« »Immerzu – immerzu – und, verstehen Sie, die Träume erscheinen mir wirklicher als das Leben.« »Sie träumen von Ihrem Heimatland – von Belgien?« Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Ich träume von einem Land, das es nie gegeben hat – niemals. Aber das wissen Sie doch, Monsieur, das habe ich Ihnen schon oft erzählt.« Sie hielt inne und fragte dann un-
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vermittelt: »Doch vielleicht ist dieser Herr auch Arzt – vielleicht ein Arzt für Geisteskrankheiten?« »Aber nein«, antwortete Rose beruhigend. Als er lächelte, fiel mir auf, wie ungewöhnlich spitz seine Eckzähne waren. Ich fand plötzlich, daß der Mann etwas Wolfsähnliches an sich hatte. »Ich dachte bloß, es würde Sie vielleicht interessieren, Mr. Anstruther kennenzulernen«, fuhr Rose fort. »Er kann Ihnen von Belgien erzählen. Er hat unlängst Nachricht von Ihrem Kloster bekommen.« Ihre Augen hefteten sich auf mich. Eine schwache Röte stieg in ihre Wangen. »Es ist eigentlich nichts Besonderes«, sagte ich hastig. »Ich aß bloß neulich mit einem Freund zu Abend, und dieser hat mir bei der Gelegenheit von der Ruine des Klosters erzählt.« »Es liegt also in Trümmern!« Ein leiser Ausruf, der eigentlich mehr ihr selber galt als uns. Dann fragte sie zögernd: »Sagen Sie, Monsieur, hat Ihr Freund Ihnen erzählt, wie – auf welche Weise das Kloster zerstört wurde?« »Es flog in die Luft«, erwiderte ich und setzte hinzu: »Die Bauern fürchten sich, nachts dort vorbeizugehen.« »Warum fürchten sie sich?« »Wegen eines schwarzen Flecks an einer Wand der Ruine. Sie haben eine abergläubische Angst davor.« Sie beugte sich vor. »Sagen Sie mir, Monsieur – rasch, rasch – sagen Sie mir: Wie sieht der Fleck aus?« »Er hat die Form eines riesigen Wolfshunds«, antwortete ich. »Die Bauern nennen ihn den Hund des Todes.« »Ah!« Ein schriller Schrei entrang sich ihrem Mund. »Dann ist es also wahr – es ist wahr. All das, an was ich mich erinnere, ist wahr. Es ist kein Alptraum. Es ist geschehen! Es ist wirklich geschehen!« »Was ist geschehen, Schwester?« fragte der Arzt sanft. 142
Sie wandte sich voll Eifer ihm zu. »Ich erinnerte mich. Dort auf den Stufen erinnerte ich mich. Ich wußte wieder, auf welche Weise es zu geschehen hatte. Ich gebrauchte die Kraft, wie wir sie damals gebrauchten. Ich stand auf den Stufen des Altars und gebot ihnen, keinen Schritt weiter zu tun. Ich bat sie, in Frieden fortzugehen. Sie wollten nicht hören, sie kamen näher, obwohl ich sie warnte. Und da ...« Sie beugte sich vor und machte eine merkwürdige Handbewegung. »Und da ließ ich den Hund des Todes auf sie los ...« Am ganzen Leib zitternd sank sie auf ihre Chaiselongue zurück und schloß die Augen. Der Arzt sprang auf, holte ein Glas aus dem Schrank, füllte es halb mit Wasser, fügte ein paar Tropfen aus einem Fläschchen hinzu, das er seiner Rocktasche entnahm, und brachte ihr das Glas. »Trinken Sie«, befahl er. Sie gehorchte – völlig mechanisch, wie es den Anschein hatte. Ihre Augen starrten in die Ferne, als erblickten sie eine nur ihr sichtbare Vision. »Dann ist alles wahr«, murmelte sie. »Alles. Die Stadt der Kreise, das Volk des Kristalls – alles. Es ist alles wahr.« »Es scheint so«, sagte Rose. Seine Stimme klang leise und beruhigend, offenbar mit dem Zweck, Schwester Marie-Angelique zu ermutigen und ihren Gedankenflug nicht zu stören. »Erzählen Sie mir von der Stadt«, sagte er. »Die Stadt der Kreise, so nannten Sie sie wohl?« Sie antwortete mechanisch. »Ja – es gab drei Kreise. Der erste Kreis war für die Erwählten, der zweite für die Priesterinnen und der äußere Kreis für die Priester.« »Und im Mittelpunkt?« Sie sog scharf den Atem ein, und in ihre Stimme trat ein Ton ehrfürchtiger Anbetung. 143
»Das Haus des Kristalls ...« Während sie die Wort flüsterte, hob sie die rechte Hand zur Stirn und beschrieb mit dem Finger dort ein Zeichen. Ihr Körper schien zu erstarren, ihre Augen schlossen sich. Sie schwankte ein wenig – und dann fuhr sie plötzlich in die Höhe, als schrecke sie aus tiefem Schlaf auf. »Was ist?« stammelte sie verwirrt. »Was habe ich gesagt?« »Es ist nichts«, antwortete Rose. »Sie sind müde. Sie brauchen Ruhe. Wir werden jetzt gehen.« Sie schien mir ein wenig benommen, als wir uns verabschiedeten. »Nun«, sagte Rose, sobald wir draußen waren, »was halten Sie davon?« Er warf mir von der Seite her einen scharfen Blick zu. »Ich nehme an, ihr Geist ist total verwirrt«, erwiderte ich langsam. »Das war Ihr Eindruck?« »Nein – eigentlich wirkte sie ... nun ja, merkwürdig überzeugend. Als ich ihr zuhörte, hatte ich das Gefühl, daß sie tatsächlich getan hatte, was sie behauptete, nämlich eine Art gigantisches Wunder bewirkt. Sie selbst scheint jedenfalls fest daran zu glauben. Das ist der Grund, warum ... « »Das ist der Grund, warum Sie meinen, sie müsse den Verstand verloren haben. Ganz recht. Aber betrachten wir die Sache einmal von einer anderen Warte aus. Angenommen, sie hat tatsächlich dieses Wunder bewirkt – angenommen, sie – sie hat tatsächlich ganz allein ein Gebäude und mehrere hundert Menschen vernichtet.« »Durch bloße Willenskraft?« wandte ich lächelnd ein. »Ich würde es nicht ganz so ausdrücken. Sie werden zugeben, daß eine einzige Person eine große Menschenmenge vernichten kann, indem sie beispielsweise auf einen Knopf drückt, der ein Minenfeld zur Explosion bringt.« »Ja, aber das ist ein technischer Vorgang.« 144
»Stimmt, das ist ein technischer Vorgang, aber dem liegt die Dienstbarmachung und Beherrschung natürlicher Kräfte zugrunde. Ein Gewitter und ein Kraftwerk sind im Grund ein und dasselbe.« »Ja, aber um das Gewitter zu beherrschen, brauchen wir technische Mittel.« Rose lächelte. »Ich möchte kurz vom Thema abschweifen. Es gibt eine Substanz namens Wintergrün. In der Natur kommt sie in pflanzlicher Form vor. Sie kann aber auch vom Menschen auf synthetischem und chemischem Weg im Laboratorium hergestellt werden.« »Was wollen Sie damit sagen?« »Ich möchte damit sagen, daß es oft zwei Möglichkeiten gibt, zum gleichen Ergebnis zu gelangen. Zugegeben, unsere ist synthetisch. Vielleicht gibt es aber noch eine andere. Die außergewöhnlichen Resultate zum Beispiel, die von indischen Fakiren erzielt werden, lassen sich nicht einfach wegdiskutieren. Dinge, die wir übernatürlich zu nennen pflegen, sind keineswegs unbedingt übernatürlich. Einem Wilden würde eine elektrische Taschenlampe als etwas Übernatürliches erscheinen. Das Übernatürliche ist bloß das Natürliche, dessen Gesetze man nicht versteht.« »Sie meinen also ...« sagte ich fasziniert. »Daß ich die Möglichkeit, ein Mensch könnte unter Umständen in der Lage sein, irgendeine ungeheure zerstörerische Kraft anzuzapfen und sie seinen eigenen Zwecken dienstbar zu machen, nicht völlig ausschließen kann. Die Mittel, durch die das bewerkstelligt wird, mögen uns übernatürlich erscheinen – aber sie sind es in Wirklichkeit nicht.« Ich starrte ihn an. Er lachte. »Das ist eine theoretische Überlegung, sonst nichts«, meinte er leichthin. »Sagen Sie, ist Ihnen eine
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Bewegung aufgefallen, die Schwester Marie-Angelique machte, als sie von dem Haus des Kristalls sprach?« »Sie legte die Hand auf die Stirn.« »Genau. Und beschrieb dort einen Kreis. Sehr ähnlich wie die Katholiken, wenn sie das Kreuzzeichen machen. Nun werde ich Ihnen etwas sehr Interessantes erzählen, Mr. Anstruther. Da das Wort Kristall so oft in den Reden meiner Patientin vorkam, versuchte ich ein Experiment. Ich lieh mir von jemand eine Kristallkugel und zeigte sie eines Tages unvorbereitet meiner Patientin, um deren Reaktion zu testen.« »Und?« »Nun, das Resultat war sehr merkwürdig und aufschlußreich. Ihr ganzer Körper wurde steif, und sie starrte auf den Kristall, als vermöge sie ihren Augen nicht zu trauen. Dann sank sie davor auf die Knie, murmelte ein paar Worte und verlor das Bewußtsein.« »Wie lauteten die Worte?« »Sehr eigenartig. Sie sagte: ›Der Kristall! Dann ist der Glaube also noch lebendig!‹« »Erstaunlich!« »Aufschlußreich, nicht wahr? Und nun die nächste Merkwürdigkeit. Als sie aus ihrer Ohnmacht erwachte, hatte sie alles vergessen. Ich zeigte ihr den Kristall und fragte sie, ob sie wisse, was das sei. Sie antwortete, sie nehme an, es sei eine Kristallkugel, wie Wahrsager sie benutzten. Ich fragte sie, ob sie schon einmal eine solche gesehen habe. Sie antwortete: ›Noch nie, Monsieur le docteur. ‹ Dann bemerkte ich einen verwunderten Ausdruck in ihren Augen. ›Was beunruhigt Sie, Schwester?‹ fragte ich. Sie antwortete: ›Es ist seltsam. Ich habe noch nie einen solchen Kristall gesehen, und doch scheint es mir, als sei er mir wohlbekannt. Da ist irgend etwas ... Wenn ich mich bloß erinnern könnte!‹ Die Gedächtnisanstrengung war offensichtlich so belastend für 146
sie, daß ich ihr verbot, weiter darüber nachzudenken. Das Ganze ist nun zwei Wochen her. Ich habe absichtlich eine Zeitlang gewartet. Morgen will ich ein weiteres Experiment vornehmen.« »Mit dem Kristall?« »Mit dem Kristall. Ich werde sie dazu bringen, hineinzuschauen. Ich denke, das Resultat dürfte recht interessant sein.« »Was erhoffen Sie sich davon?« fragte ich neugierig. Die Frage war ohne Hintersinn, aber sie hatte eine unerwartete Wirkung. Rose erstarrte, das Blut stieg ihm ins Gesicht, und als er mir antwortete, hatte sich sein Tonfall fast unmerklich verändert. Er sprach förmlicher und sachlicher als zuvor. »Aufschlüsse über gewisse, bisher nur unvollkommen erforschte geistige Störungen. Schwester Marie-Angelique ist ein hochinteressanter Fall.« War Roses Interesse also doch nur rein professionell, fragte ich mich. »Würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn ich auch mitkäme?« Vielleicht bildete ich es mir bloß ein, aber mir schien, als zögere er, bevor er antwortete. Ich hatte das plötzliche Empfinden, daß er mich nicht dabeihaben wollte. »Gewiß. Ich sehe nichts, was dagegen spräche.« Nach kurzer Pause fügte er hinzu: »Sie werden wohl nicht mehr sehr lange in Trearne bleiben, nehme ich an?« »Nur noch bis übermorgen.« Ich hatte den Eindruck, daß meine Antwort ihn befriedigte. Seine Miene erhellte sich, und er begann mir von einigen seiner jüngstes Experimente mit Meerschweinchen zu erzählen.
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Ich traf den Doktor am folgenden Nachmittag zur verabredeten Stunde, und wir gingen zusammen zu Schwester Marie-Angelique. Heute war der Arzt von äußerster Liebenswürdigkeit. Ich nahm an, er war bemüht, den Eindruck, den er am Vortag auf mich gemacht hatte, zu verwischen. »Sie müssen das, was ich gesagt habe, nicht zu ernst nehmen«, bemerkte er lachend. »Ich möchte nicht, daß Sie mich für einen Dilettanten der okkulten Wissenschaften halten. Das Schlimme bei mir ist, ich habe eine fatale Schwäche für das Aufstellen von Theorien.« »Wirklich?« »Ja, und zwar je phantastischer, desto lieber.« Er lachte, wie man über eine amüsante Schwäche lacht. Als wir zu dem Haus kamen, hatte die Gemeindeschwester etwas mit Rose zu besprechen, und so blieb ich mit Schwester Marie-Angelique allein. Ich sah, wie sie mich aufmerksam musterte. Schließlich begann sie zu sprechen. »Meine gute Pflegerin hier erzählt mir, daß Sie der Bruder der freundlichen Dame von dem großen Haus, in dem ich einquartiert wurde, als ich aus Belgien kam, sind.« »Ja«, entgegnete ich. »Sie war sehr freundlich zu mir. Sie ist ein guter Mensch.« Sie schwieg und schien irgendwelchen Gedanken nachzuhängen. Dann fragte sie plötzlich: »Und Monsieur le docteur, ist er auch ein guter Mensch?« Ich geriet in leichte Verlegenheit. »O ja. Ich meine – ich denke schon.« »Aha!« Sie stockte und sagte dann: »Zu mir ist er ohne Zweifel sehr freundlich gewesen.« »Davon bin ich überzeugt.« Sie warf mir einen durchdringenden Blick zu.
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»Monsieur – wenn Sie jetzt so mit mir sprechen – halten Sie mich für verrückt?« »Aber, Schwester, so eine Idee wäre mir niemals ...« Sie fiel mir kopfschüttelnd ins Wort. »Bin ich verrückt? Ich weiß es nicht. Ich erinnere mich an Dinge ... ich vergesse Dinge ...« Sie seufzte, und in diesem Augenblick trat Rose ins Zimmer. Er begrüßte sie munter und erklärte ihr, was sie tun sollte. »Gewisse Menschen besitzen die Gabe, Dinge in einer Kristallkugel zu sehen, wissen Sie. Und ich habe das Gefühl, daß auch Sie diese Gabe besitzen könnten, Schwester.« Sie schien bestürzt. «O nein, das kann ich nicht. In die Zukunft blicken zu wollen – das ist Sünde.« Rose war betroffen. Das war der Standpunkt der Ordensschwester – den hatte er nicht bedacht. Er wich geschickt aus. »Man soll nicht in die Zukunft schauen, da haben Sie vollkommen recht. Aber in die Vergangenheit zurückzuschauen, das ist etwas anderes.« »Die Vergangenheit?« »Ja – es gibt viele seltsame Dinge in der Vergangenheit. Bilder, die bruchstückhaft aus der Erinnerung auftauchen – und wieder verlöschen. Versuchen Sie nichts in der Kristallkugel zu erblicken, da Ihnen das nicht gestattet ist. Nehmen Sie sie nur in die Hände –so. Blicken Sie hinein – tief hinein. Ja – tiefer – noch tiefer. Sie erinnern sich, nicht wahr? Sie erinnern sich. Sie hören meine Stimme. Sie können meine Fragen beantworten. Können Sie mich nicht hören?« Schwester Marie-Angelique hatte wie geheißen die Kristallkugel ergriffen und hielt sie nun mit eigentümlicher Ehrfurcht zwischen den Händen. Als sie hineinblickte,
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wurde ihr Blick starr, ihr Kopf sank herab. Sie schien zu schlafen. Sanft nahm der Doktor die Kristallkugel aus ihren Händen und legte sie auf den Tisch. Er hob das Augenlid der Frau hoch. Dann kam er und setzte sich neben mich. »Wir müssen warten, bis sie aufwacht. Es wird nicht lange dauern, denke ich.« Er hatte recht. Nach Ablauf von fünf Minuten regte sich Schwester Marie-Angelique. Sie schlug die Augen auf. »Wo bin ich?« »Sie sind hier – zu Hause. Sie haben ein wenig geschlafen. Sie haben geträumt, nicht wahr?« Sie nickte. »Ja, ich habe geträumt.« »Sie haben von dem Kristall geträumt?« »Ja.« »Erzählen Sie uns davon.« »Sie werden mich für verrückt halten, Monsieur le docteur. Denn sehen Sie, in meinem Traum war der Kristall ein heiliges Zeichen. Ich sah in meinem Traum sogar einen zweiten Christus, einen Lehrer des Kristalls, der für seinen Glauben starb, dessen Anhänger gejagt und verfolgt wurden. Aber der Glaube blieb bestehen.« »Der Glaube blieb bestehen?« »Ja – fünfzehntausend volle Monde lang – ich meine, fünfzehntausend Jahre.« »Wie lang war ein voller Mond?« »Dreizehn gewöhnliche Monde. Ja, es war im fünfzehntausendsten vollen Mond – ich war Priesterin vom Fünften Zeichen im Haus des Kristalls. Es war in den ersten Tagen des Sechsten Zeichens ... « Sie runzelte die Brauen, ein Ausdruck von Furcht überschattete ihr Gesicht.
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»Zu bald ...«murmelte sie. »Zu bald. Ein Fehler ... Ah ja, jetzt erinnere ich mich! Das Sechste Zeichen!« Sie sprang halb auf die Füße, fiel dann wieder zurück, strich sich mit der Hand über das Gesicht und flüsterte: »Aber was sage ich denn da? Ich rede irre. Dies alles ist ja nie geschehen.« »Nun regen Sie sich bitte nicht auf.« Doch sie blickte den Arzt aus ängstlichen, verständnislosen Augen an. »Monsieur le docteur, ich begreife das nicht. Warum sollte ich solche Träume haben – solche Wahnvorstellungen? Ich war erst sechzehn, als ich in den Orden eintrat. Ich bin nie gereist. Und doch träume ich von Städten, von fremden Völkern, von seltsamen Gebräuchen. Warum?« Sie preßte beide Hände gegen den Kopf.« »Sind Sie jemals hypnotisiert worden, Schwester? Oder in Trance gefallen?« »Ich bin niemals hypnotisiert worden, Monsieur le docteur. Was das andere anbetrifft, so hat sich während des Gebets in der Kapelle mein Geist oftmals von meinem Körper gelöst, und ich bin viele Stunden lang dagelegen wie tot. Ich sei von Gott gesegnet, sagte die Mutter Oberin, im Stand der Gnade. O ja!« rief sie plötzlich aus, »ich erinnere mich, auch wir nannten es Stand der Gnade!« »Ich würde gerne ein Experiment versuchen, Schwester«, sagte Rose ruhig. »Es könnte vielleicht diese quälenden, bruchstückhaften Erinnerungen vertreiben. Ich möchte Sie bitten, noch einmal in den Kristall zu blicken. Ich werde dann ein bestimmtes Wort zu Ihnen sagen, und Sie werden mir mit einem anderen Wort antworten. Wir werden damit fortfahren, bis Sie müde werden. Konzentrieren Sie Ihre Gedanken auf den Kristall, nicht auf die Worte.« Als ich die Kristallkugel wieder aus ihrer Umhüllung nahm und sie in Schwester Marie-Angeliques schmale Hände legte, fiel mir abermals die ehrfürchtige Art auf, mit der sie 151
sie berührte. Ihre schönen, leuchtenden Augen blickten hinein. Eine kurze Weile herrschte Stille, dann sagte der Doktor: »Hund.« Sofort antwortete Schwester Marie-Angelique: »Tod.« Ich will das Experiment hier nicht in vollem Umfang wiedergeben. Der Doktor brachte absichtlich viele unwichtige und bedeutungslose Worte ins Spiel. Andere Worte wiederholte er mehmals, wobei er dieselben, manchmal aber auch eine unterschiedliche Antwort erhielt. An jenem Abend sprachen wir in Doktor Roses kleinem Haus auf der Klippe über das Resultat des Experiments. Rose räusperte sich und zog sein Notizbuch näher zu sich heran. »Die Ergebnisse, die wir hier vorliegen haben, sind sehr interessant – sehr sonderbar. Auf die Worte ›Sechstes Zeichen‹ zum Beispiel bekommen wir als Antwort abwechselnd ›Zerstörung‹ ›Purpur‹, ›Hund‹, ›Macht‹, dann wieder ›Zerstörung‹ und am Ende noch einmal ›Macht‹. Wie Sie vielleicht bemerkt haben, verfuhr ich später umgekehrt und erhielt dabei folgendes Resultat: Auf ›Zerstörung‹ erfolgte die Antwort ›Hund‹, wiederum ›Tod‹, und auf ›Macht‹ – ›Hund‹. Das alles paßt zusammen, aber bei einer zweiten Wiederholung des Wortes ›Zerstörung‹ erhalte ich die Antwort ›Meer‹, was völlig irrelevant erscheint. Auf die Worte ›Fünftes Zeichen‹ bekomme ich ›Blau‹, ›Gedanken‹, ›Vogel‹, noch einmal ›Blau‹ und schließlich den recht aufschlußreichen Ausdruck ›Sich im Geiste einander eröffnen‹. Aus dem Umstand, daß auf ›Viertes Zeichen‹ das Wort ›Gelb‹ erfolgt und später ›Licht‹, und daß ich auf ›Erstes Zeichen‹ als Antwort ›Blut‹ erhalte, schließe ich, daß jedes Zeichen eine bestimmte Farbe hatte und möglicherweise auch ein bestimmtes Symbol, beim Fünften Zeichen etwa ein ›Vogel‹, beim Sechsten Zeichen ein ›Hund‹. Ich nehme an, 152
daß das Fünfte Zeichen etwas repräsentierte, was wir unter dem Begriff Telepathie kennen – Gedankenübertragung, ein ›sich im Geiste einander eröffnen‹. Das Sechste Zeichen wiederum bezeichnet ohne allen Zweifel die Macht der Zerstörung.« »Was ist die Bedeutung von ›Meer‹?« »Ich gestehe, dafür habe auch ich keine Erklärung. Ich habe das Wort später noch einmal verwandt und als Antwort ein banales ›Boot‹ erhalten. Auf ›Siebentes Zeichen‹ bekam ich zuerst ›Leben‹, und das zweite Mal ›Liebe‹. Auf ›Achtes Zeichen‹ kam die Antwort ›Keines‹. Ich entnehme daraus, daß die Summe und Anzahl der Zeichen sieben betrug.« »Aber das Siebente wurde nicht erreicht«, sagte ich aus einer plötzlichen Eingebung heraus. »Denn durch das Sechste kam ›Zerstörung‹!« »Ach, meinen Sie? Ich finde übrigens, wir nehmen diese – diese wirren Reden sehr ernst. Dabei sind sie eigentlich nur aus medizinischer Sicht von Interesse.« »Bestimmt werden sie in der Psychiatrie Aufsehen erregen.« Der Doktor kniff die Augen zusammen. »Mein lieber Mr. Anstruther, ich habe nicht die Absicht, sie zu veröffentlichen.« »Und Ihr Interesse daran?« »Ist rein persönlicher Natur. Ich werde selbstverständlich ein Protokoll über den Fall anfertigen.« »Ich verstehe.« Doch zum ersten Mal hatte ich das Empfinden, daß ich gar nichts verstand. Ich erhob mich. »Nun, dann wünsche ich Ihnen eine gute Nacht, Doktor. Ich muß morgen wieder in die Stadt zurück.« »Ach!« Mir schien, als spräche Genugtuung, vielleicht sogar Erleichterung aus diesem Ausruf. 153
»Ich wünsche Ihnen viel Glück bei Ihrer Untersuchung«, fuhr ich in ungezwungenem Ton fort. »Lassen Sie nur ja nicht den Hund des Todes auf mich los, wenn wir uns das nächste Mal begegnen!« Seine Hand ruhte in der meinen, als ich das sagte, und ich spürte, wie er zusammenzuckte. Doch er hatte sich rasch wieder in der Gewalt und entblößte die langen, spitzen Zähne zu einem Lächeln. »Welche Macht wäre das für einen Mann, der die Macht liebt!« sagte er. »Das Leben eines jeden Menschen in der eigenen Hand zu halten!« Und sein Lächeln wurde breiter. Meine direkte Verbindung mit dem Fall war damit zu Ende. Später gelangte das Tagebuch des Arztes in meine Hände. Ich will die spärlichen Eintragungen daraus an dieser Stelle wiedergeben, obwohl man bedenken möge, daß sie erst eine ganze Zeit später in meinen Besitz kamen. »5. Aug. Habe entdeckt, daß Schwester M. A. unter ›den Erwählten‹ jene versteht, denen die Fortpflanzung der Rasse oblag. Sie standen offenbar in höchstem Ansehen, höher als die Priesterschaft. Vergleiche die ersten Christen! 7. Aug. Habe Schwester M. A. überredet, sich hypnotisieren zu lassen. Es gelang mir, sie in Hypnoseschlaf und Trance zu versetzen, fand aber keinen Rapport. 9. Aug. Hat es in der Vergangenheit Zivilisationen gegeben, mit denen verglichen die unsere ein Nichts ist? Seltsam, wenn es so wäre, und ich der einzige, der den Schlüssel dazu in Händen hielte ... 12. Aug. Schwester M. A. sagte heute, daß ›im Stand der Gnade das Tor geschlossen sein muß, auf daß kein anderer Gewalt über den Leib gewinne‹. Interessant! Aber verwirrend. 18. Aug. Das Erste Zeichen ist also nichts anderes als ... (die folgenden Worte wurden ausradiert) ... wieviele Jahr154
hunderte wird es dann noch dauern, bis das Sechste erreicht ist? Aber wenn es einen abkürzenden Weg gäbe zur Macht... 20. Aug. Habe veranlaßt, daß M. A. mit Krankenschwester zu mir zieht. Sagte, Patientin müsse unter Morphiun gehalten werden. Bin ich wahnsinnig? Oder werde ich der Übermensch sein, der die Macht über den Tod in seinen Händen hält?« (Hier brechen die Aufzeichnungen ab.) Es war, glaube ich, am 29. August, als ich den Brief erhielt. Er war unter der Anschrift meiner Schwester an mich adressiert, in schrägen, fremdländisch wirkenden Schriftzügen. Ich machte ihn mit einiger Neugier auf. Sein Inhalt lautete wie folgt: »Chèr Monsieur, ich habe Sie nur zweimal gesehen, aber ich habe gefühlt, daß ich Ihnen vertrauen kann. Ob meine Träume wahr sein mögen oder nicht, sie sind in der letzten Zeit deutlicher geworden ... Und, Monsieur, einer zumindest, der Hund des Todes, ist kein Traum ... In jener Zeit, von der ich Ihnen erzählte (ob sie wirklich existierte oder nicht, weiß ich nicht), tat Er, der Hüter des Kristalls, das Sechste Zeichen zu früh den Menschen kund ... Das Böse hielt in ihren Herzen Einzug. Sie hatten die Macht, nach Belieben zu töten – und sie töteten ohne Gerechtigkeit – im Zorn. Sie waren vor Machtlust trunken. Als wir das sahen, wir, die wir noch rein waren, erkannten wir, daß wir den Kreis auch dieses Mal nicht vollenden und zum Zeichen des Ewigen Lebens gelangen sollten. Er, der der nächste Hüter des Kristalls gewesen wäre, war aufgerufen zu handeln. Damit das Alte sterbe und das Neue, nach endlosen Zeitaltern, wiederkehre, ließ er den Hund des Todes über das Meer (wobei er achtgab, den Kreis nicht zu schließen), und das Meer erhob sich in Gestalt eines Hundes und verschlang das ganze Land ... Die Erinnerung daran ist mir schon einmal gekommen – auf den Stufen des Altars in Belgien ... 155
Dieser Dr. Rose, er gehört zur Bruderschaft. Er kennt das Erste Zeichen und die Form des Zweiten, wenn auch dessen Bedeutung allen außer wenigen Auserwählten verborgen ist. Nun sucht er das Geheimnis des Sechsten Zeichens von mir zu erfahren. Ich habe ihm bislang widerstanden – aber meine Kräfte lassen nach. Monsieur, es ist nicht gut, daß ein Mensch vor seiner Zeit zur Macht gelange. Viele Jahrhunderte müssen vergehen, ehe die Welt so weit sein wird, daß die Gewalt über den Tod in ihre Hände gelegt werden kann ... Ich beschwöre Sie, Monsieur, der Sie das Gute und Wahre lieben, helfen Sie mir ... ehe es zu spät ist. Ihre Schwester in Christo Marie-Angelique.« Ich ließ das Blatt sinken. Der Grund unter meinen Füßen schien mir etwas weniger fest als gewöhnlich. Dann riß ich mich zusammen. Beinahe hätte der Glaube der armen Frau, subjektiv und aufrichtig wie er war, selbst mich überzeugt! Eines stand fest. In seinem ehrgeizigen Forscherdrang mißbrauchte dieser Dr. Rose auf das Gröblichste seinen ärztlichen Stand. Ich würde sofort hinfahren und ... Plötzlich bemerkte ich unter meiner übrigen Post einen Brief von Kitty. Ich riß ihn auf. »Es ist etwas Furchtbares passiert«, las ich. »Du erinnerst Dich an das Häuschen von Dr. Rose oben auf den Klippen? Es wurde in der vergangenen Nacht von einem Erdrutsch in die Tiefe gerissen, und der Doktor sowie diese arme Nonne, Schwester Marie-Angelique, kamen dabei ums Leben. Der Strand unten ist übersät mit Trümmern – sie haben sich zu einem höchst seltsam geformten Haufen getürmt – aus der Ferne sieht es fast aus wie ein riesiger Wolfshund ...«
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Der Brief entfiel meiner Hand. Die übrigen Geschehnisse mögen reiner Zufall sein. In der selben Nacht starb plötzlich ein gewisser Mr. Rose, ein reicher Verwandter des Arztes wie ich erfuhr – es hieß, der Blitz habe ihn getroffen. Soweit bekannt, hatte es zu der Zeit in der fraglichen Gegend kein Gewitter gegeben, aber ein oder zwei Leute erklärten, sie hätten einen einzigen gewaltigen Donnerschlag vernommen. An dem Toten wurde ein Brandmal von »merkwürdiger Form« festgestellt. In seinem Testament hatte er sein ganzes Vermögen seinem Neffen, Dr.Rose, vermacht. Nehmen wir einmal an, es sei Dr. Rose gelungen, Schwester Marie-Angelique das Geheimnis des Sechsten Zeichens zu entreißen. Ich hatte ihn gefühlsmäßg immer für einen skrupellosen Mann gehalten – er wäre gewiß nicht davon zurückgeschreckt, seinen Onkel unzubringen, wenn er hätte sicher sein dürfen, daß ihm die Tat nicht angelastet werden konnte. Aber ein Satz aus Schwester Marie-Angeliques Brief geht mir nicht aus dem Sinn. »... wobei er achtgab, den Kreis nicht zu schließen ...« Dr. Rose übte keine solche Vorsicht, wußte vielleicht nicht, welche Vorkehrungen zu treffen waren oder daß überhaupt eine Notwendigkeit dafür bestand. Also vollendete die Kraft, die er benutzte, ihren Kreis und wendete sich gegen ihn ... Aber das ist natürlich alles Unsinn! Es gibt für jedes der geschilderten Ereignisse eine natürliche Erklärung. Daß der Arzt an Schwester Marie-Angeliques Wahnvorstellungen glaubte, beweist bloß seine eigene geistige Labilität. Und dennoch träume ich manchmal von einem Kontinent unter dem Meer, wo einst Menschen lebten und einen Grad der Zivilisation erlangten, der der unseren weit voraus ist ... Oder kehrte sich in Schwester Marie-Angeliques Erinnerung die Zeit um – was manche für möglich halten – und liegt diese Stadt der Kreise in der Zukunft und nicht in der Vergangenheit? 157
Unsinn – das Ganze war natürlich eine bloße Halluzination!
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Sammler-Edition «Agatha Christie ist ein Genie.» Die Zeit
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orhang auf für Agatha Christies bitterböse Mörderblumen. Ihre brillantesten Fälle und ihre unsterblichen Detektive sind hier in einem Band versammelt. «Die Geschichten der Agatha Christie sind wie die Kunst der Fuge, aber das Leitmotiv ist Fuchs, du hast die Gans gestohlen.» Peter Ustinov
Scherz Krimi-Klassiker
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