Mr. BRONX FRANK REYNOLDS New York Detective
Schatten über New York Sie wollten nur der Enge der Stadt entfliehen – und...
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Mr. BRONX FRANK REYNOLDS New York Detective
Schatten über New York Sie wollten nur der Enge der Stadt entfliehen – und lassen sich auf einen Pakt mit dem Teufel ein
Ein Krimi von Martin Clauß
Manchmal erlebt man Dinge, die über einen bloßen Kriminalfall hinausgehen. Noch während sie sich ereignen, begreift man, dass man sie das ganze Leben über nie vergessen wird. Jeder Amerikaner, der am Tage von John F. Kennedys Ermordung alt genug war, um die Nachricht von der Bluttat verstehen zu können, erinnert sich genau, wo er sich befand und was er gerade tat, als er davon erfuhr. Dasselbe gilt für die Ereignisse des 11. September 2001. Für mich gibt es seit kurzem einen weiteren solchen Tag. Ein prägendes Erlebnis, das immer in meiner Erinnerung präsent sein wird. Denn ich war viel mehr als nur ein unbeteiligter Beobachter, als sich ein riesiger Schatten über New York senkte ...
Er bot ein Bild des Elends. Frank schloss den Mund und atmete durch die Nase, obwohl er kaum genügend Sauerstoff bekam. Er tat es, um sich keine Blöße zu geben. Seine Gegner sollten nicht wissen, wie fertig er war. Er sollte gefasst wirken, ganz Herr der Situation. Psychologie. Sie sollten ihn nicht mit einer aufgeregt umherhuschenden Schabe verwechseln, die man unter dem Absatz zermalmte, ohne dabei Reue zu empfinden. Sie sollten einen Menschen in ihm sehen, der Würde und Stolz bewahrte, auch wenn es ihm dreckig ging. Sollten davor zurückschrecken, ihm den Rest zu geben. Es war ein Schauplatz, wie geschaffen für die letzten Minuten des Mannes, den man Mr. Bronx nannte. Und Frank war tatsächlich am Ende. Hatte den Tod vor Augen. Die Bronx fraß jene, die allzu tief in ihren Sümpfen stocherten – irgendwann erwischte sie alle. In den Tiefen dieses
Die südliche Bronx, Mott Haven. Ein Hinterhof in einem Stadtteil, den manche als den Hinterhof von New York bezeichnen. Der frühe Abend. Müll und Schmutz, aber keine Ratten. Jetzt nicht. Ratten verkriechen sich, fliehen vor Licht und Lärm. Müll läuft nicht weg. Und Frank Reynolds war im Begriff, ein Teil der stinkenden Abfallberge zu werden. Äußerlich hatte er jetzt schon eine frappierende Ähnlichkeit mit den zerfetzten Müllsäcken – seine cremefarbene Jacke war am Kragen zerrissen, das Hemd war aus seiner Hose gerutscht und flatterte im böigen Sommerwind, der durch die Klüfte zwischen den dunklen Häusern blies. Seine Schnürsenkel waren aufgegangen. Die Haare klebten ihm schweißnass auf der Stirn, und von einer Platzwunde an der Braue lief ein Blutfaden wie ein gefrorener Blitz quer über sein Gesicht. 2
vermutete eine Angelegenheit von größerer Tragweite und wollte in Ruhe die nötigen Informationen sammeln und Vorbereitungen treffen – das konnte dauern. Frank hatte den Fall angenommen, hatte zwei Tage lang recherchiert und war schließlich in einem kleinen Geschäft für Lacke und Farben gelandet. Der blonde Lockenkopf musste einen siebten Sinn für Schnüffler wie ihn haben, denn keine fünf Minuten, nachdem Reynolds den Laden durch den Vordereingang betreten hatte, verließ er ihn durch die Hintertür wieder. Er tat es so stürmisch, dass die klapprige Holztür dabei zu Bruch ging. Er flog geradezu in den Hinterhof, wie ein Stück Sperrmüll, das man gar nicht schnell genug loswerden konnte. Drei Kerle waren es insgesamt, die ihn dort in die Mangel nahmen. Den ersten konnte er mit einem lehrbuchhaften Kinnhaken geschickt ausschalten; der Körper des Bewusstlosen lag jetzt etwas abseits auf dem Bauch, aus seinem Mund rann Speichel in den Schmutz, der den Boden bedeckte. Doch nach diesem viel versprechenden Anfang war das Ende der Fahnenstange schnell erreicht gewesen. Der Blonde hatte Frank an den Schultern erwischt und mit solcher Wucht gegen die Wand geschmettert, dass er kaum mitbekam, wie der Schwarze mit einem gezielten Griff unter Franks Jacke griff und den Colt aus der Halfter zog. Als er seine Sinne wieder beisammen hatte, sah er die hübsche Waffe in hohem Bogen durch die Gasse fliegen – in zehn Meter Entfernung verschwand sie hinter einer Mauer aus Müllsäcken. Unmöglich, sie zu erreichen. Der Schwarze hatte nach Franks Beinen getreten, bis dieser zu Boden gegangen war. Als er versuchte, sich aufzurappeln, hatte der Blonde ihm weitere Tritte und Schläge versetzt. Jeder einzelne davon tat richtig weh. Die Muskeln des Lockigen generierten Kräfte, die einem Rhinozeros besser zu Gesicht gestanden hätten als einem Vertreter der Homo Sapiens.
Stadtteils lauerte ein Ungeheuer mit tausend Zähnen und tausend Krallen. Der Privatdetektiv Frank Reynolds kauerte auf dem Boden des Hinterhofs, sein Rücken gegen die Ziegelsteinwand eines alten Gebäudes gepresst. Seinen Colt hatte er nicht mehr – der war ihm in den letzten zwei Minuten abhanden gekommen, bei einem der kürzesten und härtesten Kämpfe seines Lebens. Eine großkalibrige, schwarze Waffe lag an einer unbequemen Stelle neben seinem Ohr an – hart, schmerzhaft und unmissverständlich. Der Mann, der den Revolver hielt, war ein glatzköpfiger Farbiger, nicht einmal besonders groß oder massig, aber mit einem Funkeln in den Augen, das kaum mehr menschlich zu nennen war. Einen Schritt neben ihm stand ein zweiter Kerl, ein blonder, lockenköpfiger Weißer, die Augen eisgrau, das Gesicht quadratisch, die Nase gebrochen. Früher hatte man sich Seemänner so vorgestellt. Er hatte nicht einmal eine Waffe, doch seine Fäuste sahen aus, als könnten sie eine Ziegelwand wie diese in Stücke schmettern. Er sprach mit einem harten russischen Akzent. Aber er sprach nicht viel. Frank betastete eine volle Abfalltüte, die direkt neben ihm lag, riss mit dem Fingernagel ein Loch hinein und schob zwei Finger in die Öffnung. Nichts, was sich als Waffe hätte verwenden lassen. Nur verfaulende Lebensmittel von gallertartiger Konsistenz. Er unterdrückte das Ekelgefühl und setzte die Suche fort. Eine fast schon alltägliche Spur hatte ihn in diese Gegend geführt. Drogen, immer wieder Drogen. Manche Lehrer hier hatten das Gefühl, die Polizei unternehme zu wenig dagegen. Einer davon hatte ihn auf die Spur eines Dealers geführt, dessen Geschäfte ihre Spuren in seiner Schule hinterlassen hatten. Ein halbes Dutzend seiner Schüler waren süchtig geworden – Kinder im Alter von zwölf und dreizehn Jahren. Die New York Police ging die Sache ohne Hast an, zu langsam, wie der Lehrer fand. Sie
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„Ein Cop?“ fragte der Mann mit der Waffe. Frank schüttelte schwach den Kopf. „Nein. Nein ...“ Er hustete, und Blutstropfen spritzten aus seinem Mund. Er betete, dass sie nur von seiner Lippe kamen. Wenn es innere Blutungen waren ... Er kniff die Augen zusammen und schluckte. In diesem Augenblick rettete jemand sein Leben. Im ersten Moment wusste er nicht, was geschehen war, als der blonde Koloss vor ihm mit einem dumpfen Gurgeln nach hinten überkippte und reglos liegen blieb. Es war, als hätte ihn ein Blitz getroffen. Der Mann hatte den Schatten nicht gesehen, der aus dem obersten, dem dritten Stockwerk des Hauses herab geflogen kam. Frank auch nicht. Aber er hörte das laute Geräusch, als das schwere, metallene Etwas, das zunächst den Kopf des Russen erwischt hatte, von ihm herab kippte und auf den asphaltierten Boden krachte. Der Russe hörte es nicht mehr. Sein Kopf hatte eine andere Form bekommen. Oberhalb seiner Augenbrauen war nun nichts mehr. „Verfluchter Mist!“ stieß der Farbige hervor und riss seinen Revolver hoch. Der Lauf der Waffe streifte Franks Ohr, doch er spürte es kaum. Er begriff nur, dass einer seiner beiden Gegner tot und die Waffe des anderen nicht mehr auf seine Schläfe gerichtet war. Der Schwarze zielte in den dritten Stock hinauf, auf ein Fenster. Von dort oben hatte offenbar jemand etwas herab geworfen. Etwas sehr Schweres. Der Mann gab zwei Schüsse auf das Fenster ab. Für Frank waren es die Startschüsse zum Handeln, die unüberhörbare Aufforderung, das allerletzte aus seinem Körper zu holen. Der Privatdetektiv stieß seine Füße mit aller Macht nach vorne und riss sie mit einem Brüllen nach oben, bis sie tief in der Magengrube des Kerls verschwanden. Der Bewaffnete, der für ein, zwei Sekunden den Blick von ihm genommen
Einmal gelang es Frank, dem Russen einen Schlag in die Weichteile beizubringen, sich zur Seite zu rollen und für einen Augenblick aus der Schusslinie des Schwarzen zu gelangen. Doch der momentane Vorteil verpuffte wirkungslos, denn er konnte ihn nicht umsetzen. Um aus dem Hinterhof zu fliehen, hätte er an beiden Gegner vorbeikommen müssen, und bis zu seinem Colt war es eine halbe Weltreise. Der Farbige gab einen Warnschuss ab, der knapp vor seinen Füßen aufschlug und als Querschläger nicht weit von seiner Hüfte vorbeipfiff. Frank erstarrte, denn er wusste, dass die nächste Kugel tödlich sein würde, wenn er auch nur die geringste Bewegung versuchte. Also blieb er in leicht gebeugter Haltung stehen, keuchend, erschöpft, sein Leib ein schmerzendes Etwas. Und holte sich die nächste Abreibung ab, in die der Hass des getretenen Blonden einfloss und die ihn beinahe umbrachte. Ja, er hatte plötzlich eine Vision, während er kraftlos und geschunden zum zweiten Mal zu Boden sank ... Nicht eine Kugel aus der klobigen Waffe würde ihn treffen. Nein, die Fäuste dieses Ungeheuers würden eines seiner Glieder nach dem anderen zermalmen, bis er in einem Brei aus Blut und Knochensplittern verging. „Aufhören“, stöhnte er. „Aufhören.“ Der Farbige lachte und zeigte ein makelloses, weißes Gebiss. Der Blonde konnte nicht lachen. Er wusste nicht, wie das ging. Sein kantiges Gesicht blieb ausdruckslos. „Das hättest du dir früher überlegen sollen“, meinte der Schwarze mit der spöttischen Überlegenheit eines Schulmeisters. „Wer bist du? Ich möchte wissen, wen ich erledigt habe.“ „Rey ... nolds“, antwortete der Privatdetektiv. „Frank Reynolds.“ Er war nicht in der Lage, sich einen anderen Namen auszudenken. Er konnte sich überhaupt auf nichts anderes mehr konzentrieren als auf seinen Tod. Seinen schmerzhaften, hässlichen Tod.
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breitete sich eine glänzende Blutlache immer weiter aus. Verdammt, er würde doch nicht etwa die Hauptschlagader erwischt haben! Frank tastete nach seinem Handy und schaffte es, eine Ambulanz auf den Weg zu bringen. Er nahm seine restlichen Kräfte zusammen, zerfetzte sein eigenes Hemd und befahl dem Verletzten, seinen Oberschenkel abzubinden. Als der Mann es nicht auf die Reihe bekam, tat er es selbst – so gut er es eben mit einer Hand schaffte, denn das Risiko, den Revolver aus der Hand zu legen, wollte er nicht eingehen. Im Hinterhof tauchte ein Mann auf und betrachtete die Szene mit erschrockener Miene und offen stehendem Mund. Frank wies ihn dazu an, ihm zu helfen. Der Fremde war ein dicklicher, mittelgroßer Farbiger mit einer Hornbrille. Er trug einen billigen, hellen Anzug, und seine Hände zitterten so sehr, dass es auch im schlechten Licht des Hinterhofs auf einige Meter Entfernung noch zu erkennen war. Ein wahrer Schüttelfrost hatte den armen Kerl ergriffen. Im ersten Moment begriff Frank nicht, warum dieser Mann gerade jetzt hier erschien und warum er einen so durch und durch bestürzten Eindruck machte. Ohne näher darüber nachzudenken, ging er davon aus, dass der Anblick des schrecklich zugerichteten Toten und des Verwundeten dem Mann zusetzten. Ein eingeschlagener Schädel und eine Blutlache von einem Meter Durchmesser waren nichts für schwache Nerven. Doch dies war nur ein Teil der Wahrheit. Erst später wurde Frank Reynolds klar, dass dieser Fremde es gewesen war, der den Kampf aus einem Fenster des dritten Stocks beobachtet und eine kiloschwere Geldkassette genau über dem Kopf des Russen fallen gelassen hatte. Dieser Mann hatte Frank Reynolds das Leben gerettet, gleichzeitig jedoch einen anderen Menschen getötet. Und darüber musste er erst einmal mit sich ins Reine kommen.
hatte, stöhnte auf und klappte zusammen. Noch einmal gab er einen Schuss ab, und dieser traf eines der Fenster über ihnen. Ein Scherbenregen ergoss sich wenige Meter neben ihnen – sie selbst blieben davon verschont. Noch etwas anderes fiel klappernd auf den Asphalt. Der Revolver. Der Farbige war vor Reynolds zu Boden gegangen, und Frank wusste, dass er das Blatt wenden konnte. Aber nur, wenn er jetzt sehr, sehr schnell war. Knurrend wie ein waidwundes Tier kroch der Privatdetektiv an der Hauswand entlang. Zwei endlose Meter, bis er die Waffe zu fassen bekam. Als der Revolver fest in seiner Rechten lag, rollte sich Frank zur Seite, und sein Finger fand den Abzug. Er lag nun rücklings auf der Erde und reckte den Kopf, um nach seinem Gegner zu sehen. Er hätte sich gewünscht, der Kerl hätte bewusstlos dort gelegen, wo er zusammengeklappt war. Wehrlos und ungefährlich. Dann hätte er nicht auf ihn zu feuern brauchen. Doch der Mann war auf die Beine gekommen und taumelte mit hasserfülltem Gesicht auf ihn zu. Frank musste abdrücken, ob er wollte oder nicht. Zunächst hatte er die Mündung auf den Kopf des Farbigen gehalten – ein Instinkt vielleicht. Im letzten Moment riss er die Waffe herunter und verpasste ihm eine Kugel in den linken Oberschenkel. Der Angreifer kippte zur Seite und brach zusammen. Stöhnend krümmte er sich zwischen dem Müll und fluchte dabei einen ganzen Katechismus rauf und runter ... „Schön brav sein“, keuchte Frank schwankend und kraftlos. „Schön brav. Ich habe keine Lust, dich abzuknallen ...“ Er brauchte Minuten, um sich aufzurichten. Er zitterte am ganzen Körper, und der Hinterhof bot ein Bild des Grauens. Der erste Mann bewusstlos, der zweite tot. Der dritte lag verletzt am Boden, und von seinem Schenkel aus
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schieben wollte, blieben einige Zusammenhänge aufzuklären. Zu schaurig war das Resümee ausgefallen: Ein grässlich zugerichteter Toter, drei Verletzte, ein Mann unter Schock. Vor allem galt es zu beweisen, dass der Russe in Notwehr getötet worden war. Der Mann, der die Geldkassette im dritten Stock aus dem Fenster gehalten hatte, um sie anschließend den Gesetzen der Schwerkraft zu überlassen, wurde eifrig verhört. Frank war es äußerst unwohl bei der Vorstellung, dass sich sein Lebensretter vielleicht bald wegen Totschlags vor Gericht verantworten musste. „Phil, tu mir einen Gefallen, und besorge diesem Mann schleunigst einen guten Anwalt. Zum Beispiel diesen Rogers aus Queens. Wir haben früher schon einmal gute Erfahrungen mit ihm gemacht, stimmt’s?“ „Schon möglich“, erwiderte der Captain, der an Franks Bett saß und auf seine Fingernägel starrte. Ihm bereiteten Krankenbesuche so wenig Spaß wie den meisten anderen Leuten. „Aber ich habe nicht den Eindruck, dass dieser Mann sich jemanden wie Rogers leisten kann ...“ Frank grübelte zwei Minuten mit geschlossenen Augen, schließlich sagte er: „Dann übernehme ich selbst die Rechnung. Phil, dieser Mann hat mir das Leben gerettet! Ohne ihn wärst du heute auf meinem Begräbnis – und würdest garantiert noch begossener aus der Wäsche schauen als du es ohnehin schon tust.“ Stuart lachte leise und humorlos. „In einem schwarzen Anzug sehe ich bescheuert aus.“ „Hab ich’s nicht gesagt? Dann hat er sogar uns beiden etwas Gutes getan.“ Seine Mitarbeiterin Mandy Torrance kam ebenfalls auf ein kurzes Schwätzchen bei ihm vorbei. Sie brachte Blumen, was er im ersten Moment unpassend – und bei näherem Nachdenken sehr nett von ihr fand. Sie war guter Hoffnung, dass der Fall schnell vom Tisch sein würde. Ein paar Kinder hatten die beiden Verletzten als
* Die folgenden zwei Tage brachte Frank im Krankenhaus zu. Das Union-Hospital in der 188. Straße hatte ein Bett für ihn frei, und obwohl er sich des Gefühls nicht erwehren konnte, seine Krankenversicherung in den letzten Jahren über Gebühr belastet zu haben, gönnte Mr. Bronx sich den Klinikaufenthalt in den engen, aber freundlichen Vier-BettZimmern. An Abwechslung und Ansprache fehlte es ihm in diesen zwei Tagen nicht. Wenn nicht gerade jemand irgendeinen Teil seines Körpers abklopfte oder er grinsend vor dem Schwesternzimmer anstand, um seine Urinproben abzugeben, berichtete ihm sein betagter griechischer Bettnachbar von der Schönheit der griechischen Inseln, die er als Achtjähriger einmal gesehen und seither nie wieder hatte vergessen können. Der ebenfalls nicht mehr ganz taufrische Knabe auf der anderen Seite des Zimmers versuchte hartnäckig aus ihm herauszuquetschen, mit welcher der Nachtschwestern er gerne mal „ein U-Boot versenken“ würde, und im vierten Bett lag ein Mittzwanziger, der den ganzen Nachttisch voller Spirituosen hatte, den größten Teil des Tages über betrunken war und nachts schnarchte wie ein Mähdrescher, dem ein Baumstamm ins Getriebe geraten war. Zu allem Überfluss beschwerten sich seine Zimmergenossen auch noch unablässig darüber, dass Frank zu häufig Besuch erhalte. Und damit hatten sie nicht einmal Unrecht. Die Polizeibeamten gaben sich gegenseitig die Klinke in die Hand. Abgesehen von den Gesprächen, die er mit seinem alten Freund Captain Phil Stuart führte, waren es nicht immer angenehme Dialoge. Auch wenn man ihm die Schuld für das, was in jenem Hinterhof in der Südbronx geschehen war, nicht offen in die Schuhe
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ausgesprochen sympathisch grinsen konnte, wenn die Situation es erlaubte. Die auffällige Hornbrille sah aus, als hätte er sie aus einem 50er-Jahre-Film entwendet, und sein abgewetzter beigefarbener Anzug glich dem, den er an jenem Abend getragen hatte. Vielleicht war es sogar derselbe. Kelly war einfach in Franks Büro aufgetaucht, und da Frank Mandy bereits vom Krankenhaus aus informiert hatte, dass er in Kürze in der Washington Avenue eintrudeln würde, bat sie ihn, auf den Privatdetektiv zu warten. In Franks Sprachlosigkeit hinein sagte er: „Ich bin gekommen, um mich bei Ihnen zu bedanken, Mr. Reynolds. Ich hatte gestern ein Gespräch mit einem Anwalt, den ich mir nie leisten könnte, Mr. Rogers, und ... ja, ich bin überzeugt, dass er mich unbeschadet aus der Sache heraus lotst. Ich hoffe, es wird kein teures Verfahren, und ich kann die Kosten irgendwann einmal ...“ Frank Reynolds hob die Hand auf Mundhöhe des Mannes – ein Zeichen, dass dieser schweigen sollte. „Reden Sie bloß nicht in diesem Ton mit mir, Mr. Kelly!“ Als sein Gegenüber zusammenzuckte, ergriff Mr. Bronx die Hand des Mannes und drückte sie fest. „Gestatten Sie mir, Mr. Kelly, dass ich mich von Herzen bei Ihnen bedanke. Sie haben mir das Leben gerettet. Ohne Sie wäre an diesem Abend für mich alles aus gewesen. Was Sie getan haben, war keine Selbstverständlichkeit, und ... ich stehe tief in Ihrer Schuld. Das mindeste, was ich tun kann, ist, Ihnen diese lästige Sache so schnell wie möglich vom Hals zu schaffen.“ Oswald Kelly antwortete nichts, stand nur da wie ein begossener Pudel und sah alles andere als glücklich aus. „Kommen Sie doch in mein Büro“, lud ihn Frank ein, und Kelly trat mit hängenden Schultern ein. Nachdem sie beide Platz genommen hatten, machte Mr. Bronx einen zweiten Anlauf: „Sie haben ein Problem, Mr. Kelly? Wenn Ihnen ein Privatdetektiv dabei von Nutzen ist, bin ich Ihr Mann.
jene Dealer identifiziert, die sie mit Drogen in Kontakt gebracht hatten. Den Russen konnte oder wollte niemand identifizieren. Offenbar hatte er keine Verwandten hier, und falls es eine Freundin oder Lebensgefährtin gab, zog sie es vor, sich nicht bei der Polizei zu melden. Verständlich. Zwei Tage lang kurierte Frank Reynolds eine angebrochene Rippe, eine leichte Gehirnerschütterung und zahllose Prellungen aus. Er hatte so viele Schrammen davongetragen wie ein New Yorker Taxi in seinem ganzen Leben. Aber auch die fünfte Röntgenaufnahme in Folge hatte keine Verletzungen an den inneren Organen nachweisen können, und das war eine gute Nachricht. Am Morgen des dritten Tages hatte er genug Krankenhausluft geschnuppert und entließ sich selbst. Er wollte als erstes einen kleinen Abstecher in sein Büro machen und danach seinen Lebensretter aufsuchen. Das wichtigste, was es jetzt zu tun gab, war, einfach „Danke“ zu sagen und seine Hilfe für alle Probleme anzubieten, die nun auf den armen Menschen zukommen würden. Als er in seinem Büro in der Washington Avenue eintraf, erlebte er eine Überraschung. Sein Lebensretter saß bereits im Vorzimmer und wartete ungeduldig auf sein Eintreffen. * Der Mann hieß Oswald John Kelly, war 45 Jahre alt und Buchhalter. Buchhalter in einer kleinen Handelsfirma für Kosmetika, die ihr Büro drei Stockwerke über dem Farbengeschäft hatte. Die Geldkassette, die in einer Schublade von Kellys Schreibtisch verstaut war, enthielt keine großen Beträge – die Portokasse hatte zu dem Zeitpunkt, als er sie in den Hinterhof fallen ließ, knapp hundert Dollar in ihrem stählernen Bauch gehabt. Allerdings in Münzen. Oswald Kelly war untersetzt und hatte ein breites, gutmütiges Gesicht, das gewiss
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flüstern. „Es geht um meine Tochter. Um Lizza. Sie ist mein einziges Kind. Und sie hat ein großes Problem.“ „Erzählen Sie mir etwas darüber, Oswald.“ „Lizza ist ... na ja ... Hip Hop-Sängerin. Natürlich ist sie noch weit vom großen Ruhm entfernt, aber es ist ihr Traum, eines Tages eine Platte aufzunehmen. Sie hatte schon zwei kleinere Engagements für einen Background-Chor, und zurzeit ist sie in einem Musicvideo auf MTV zu sehen. Okay, die meiste Zeit über sitzt sie am Pool und schlürft ihren Cocktail ...“ „Im Video ...“ „Natürlich, Frank.“ Er grinste gequält. „Und welche Sorgen hat Ihr Fräulein Tochter?“ „Sie ist achtzehn und sehr hübsch ... Sie können sich vorstellen, Frank, wie die Kerle hinter ihr her sind. Wenn sich bei uns zu Hause einer blicken ließe, würde ich ihn sofort hochkant an die frische Luft befördern, das können Sie mir glauben, aber ... Lizza ist eben viel unterwegs – Veranstaltungen, Castings, Partys ...“ „Kontakte wollen geknüpft werden. Das Business ist hart.“ „Richtig. Natürlich kann ich nicht hinter ihr herrennen. Ich habe meinen Job zu erledigen. Und überhaupt – wie würde das aussehen? Vor kurzem hat sich wohl ein Kerl aus dem Showbiz Hoffnungen auf sie gemacht. Und als Lizza ihn abblitzen ließ, hat er ihr gedroht, ihr keine ruhige Minute mehr zu lassen, bis sie ihn erhört. Seither klingelt oft das Telefon, Geschenke kommen mit der Post, und jemand schleicht nachts um das Haus. Jetzt hat der Kerl gedroht, sie sich im Laufe der nächsten Woche zu holen – mit allen Mitteln.“ „Sie hätten zur Polizei gehen können, Oswald.“ Kelly seufzte. „Das habe ich getan. Aber der Officer hat sich nur das Foto von Lizza lange angesehen. Wissen Sie, was der Beamte mir gesagt hat? Nicht einmal die Polizei könne verhindern, dass der Regen
Falls ich Ihnen nicht selbst helfen kann, werde ich jemanden auftreiben, der es kann.“ Kelly starrte ins Leere, als er sagte: „Eigentlich sind es zwei Probleme. Für das erste bräuchte ich einen Pfarrer, für das zweite einen Bodyguard.“ „Sie machen sich Gedanken, weil Sie glauben, einen Menschen auf dem Gewissen zu haben“, vermutete Frank ernst. „Ja.“ Viel Schmerz lag in diesem einen Wort – und gleichzeitig viel Erleichterung, es ausgesprochen zu haben. „Das würde jedem anständigen Menschen so ergehen, Mr. Kelly. Aber Sie haben sich nicht schuldig gemacht. Sie haben mit Abstand das Beste getan, was diese Situation hergab. Sie sind das, was man einen Helden nennt, und das dürfen Sie nie vergessen, ganz besonders dann nicht, wenn es zu einem Prozess kommen und im Gerichtssaal das Wort ‚Totschlag’ fallen sollte. Das hat damit nichts zu tun. Die Beamten tun auch nur ihre Pflicht. Ich weiß, was Sie getan haben, und Sie wissen es auch. Am Ende wird nur die Wahrheit übrig bleiben, im Gerichtssaal und in Ihrem Herzen.“ Der Mann nickte und lächelte unsicher. „Bitte, sagen Sie Oswald zu mir.“ „Gerne. Ich bin Frank.“ „Frank, ich bin sicher, ich werde das irgendwie durchstehen, und ... eigentlich bin ich auch viel mehr wegen der zweiten Sache zu Ihnen gekommen.“ „Der Bodyguard? Sie glauben, jemand ist hinter Ihnen her? Hat es etwas mit diesen Kerlen vom Farbenladen zu tun?“ „Nein.“ Kelly rutschte nervös auf dem Stuhl hin und her. „Es geht nicht einmal um mich persönlich, sondern um ...“ Der Detektiv sah ihn aufmerksam an, und endlich pendelte auch Oswald Kelly seinen Blick auf die Augen seines Gegenübers ein. Es schien ihn zu beruhigen, denn er hörte auf herumzuzappeln. Stattdessen beugte er sich vor und rückte seinen Stuhl näher an den Schreibtisch heran, als wolle er Frank etwas Vertrauliches ins Ohr
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Frank brauchte nur einen Moment, um eine Entscheidung zu treffen. Vielleicht hätte er länger nachdenken sollen. Er sah eine echte Chance, um sich wenigstens ein Stückweit bei Oswald zu revanchieren. Er brachte es nicht übers Herz, den Mann abzuwimmeln. Es wäre undankbar gewesen. Außerdem wateten die Synapsen in seinem Hirn bis zu den Knien in Testosteron. „Ich bin zwar kein Bodyguard, aber wenn Sie möchten, Oswald, kann ich nächste Woche auf Lizza aufpassen. Allerdings muss ich arbeiten – sie müsste mich also überallhin begleiten, auch hier ins Büro beispielsweise.“ Und, fügte er in Gedanken hinzu, es ist schon Jahrzehnte her, seit ich zum letzten Mal Babysitter gespielt habe ... Oswald Kelly strahlte zum ersten Mal. „Das würden Sie für mich tun, Frank?“ Frank hob die Schultern. „Ich würde.“ „Und Lizza würde Ihnen nicht zur Last fallen?“ Entrüstetes Kopfschütteln. „Würde sie nicht. Ganz bestimmt nicht.“ Und in diesem einen Punkt irrte sich Frank Reynolds ganz gewaltig ...
nach unten fällt und der Rauch nach oben steigt. Genau so hat er es formuliert.“ Frank musste lachen. „Ein Poet. Haben Sie das Foto bei sich?“ Oswald Kelly zog das Bild aus seiner Innentasche und schob es über die große Schreibtischplatte. Frank warf einen Blick darauf und musste das Grinsen gewaltsam unterdrücken. Das Foto zeigte ein bildschönes, meisterhaft geschminktes Mädchen mit tausend Zöpfen, dessen kirschrote Lippen mit einer absolut tödlichen Mischung aus kindlicher Unschuld und reifer Erotik in die Kamera lächelten. Ihre dunklen, scharf konturierten Augen lächelten mit, auf eine herausfordernde, neckische Weise. Das Girl trug einen schneeweißen Bikini, und man brauchte keine 3-D-Brille, um zu erkennen, dass die Natur sie trotz ihres geringen Alters und ihrer schlanken Figur mit einem wichtigen Attribut verführerischer Weiblichkeit großzügig ausgestattet hatte. Die Aufnahme war nicht am Strand, sondern unter einer größeren Zahl komplett angezogener Männer und Frauen gemacht worden, bei einem Casting vielleicht. Es ließ das Bikini-Outfit nur noch gewagter erscheinen. Dieses junge Ding versprühte reinen, unverfälschten Sex. Frank, der spürte, wie in seinem Körper die Hormon-Aktien in eine Hausse taumelten, gab dem Vater das Foto zurück. Jetzt konnte er die Bemerkung des Officers verstehen und gab sich alle Mühe, nichts Gleichwertiges von sich zu geben. „Eine süße Tochter“, sagte er, das Nüchternste, was seine Zunge hervorbrachte. „Ich habe Angst um sie“, meinte Oswald Kelly mit finsterer Miene. „Die nächste Woche über werde ich keine ruhige Minute haben. Dabei muss ich gerade nächste Woche jeden Abend Überstunden schieben und kann nicht auf sie aufpassen. Ich habe Lizza verboten, das Haus zu verlassen, solange ich niemanden für ihren Schutz gefunden habe. Aber ich weiß nicht, was so ein Aufpasser kostet.“
* Julian Spade flog zum tausendsten Mal denselben Kurs. Über die Flussmündung hinweg, dann rechts des Stromes entlang. Über die Reisfelder, die sanften Hügel, die immer flacher wurden, und schließlich hinab auf die weite, graugelbe Ebene. Bei seinen ersten Flügen war sie noch grün gewesen, tiefgrün, und dicht die Bäume des Dschungels – Symbole wuchernden, vor Kraft strotzenden Lebens. Die Luft über den Wäldern war frisch und würzig gewesen, selbst an drückenden, heißen Sommertagen, wie er sie oft erlebt hatte. Schon nach den ersten Einsätzen allerdings war das Blattwerk verdorrt. Selbst die Moose auf den Baumstämmen waren verbrannt, und die Landschaft hatte
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markierte. Es gab auch Mittel namens Agent Blue oder Agent Red, aber sie waren fast nicht zum Einsatz gekommen. Natürlich war Spade den Flugzeugen ausgewichen. Aber nicht sehr weit. Zu faszinierend war es gewesen, ihnen bei der Arbeit zuzusehen. Von oben hatte er einen hervorragenden Ausblick gehabt, und wann immer er es mit einem Auftrag verbinden konnte, überflog er die besprühten Wälder und beobachtete ihren langsamen Verfall. Er sah auch Menschen aus den Wäldern kommen. Menschen, die tagelang dort ausgeharrt und die Chemikalie geatmet hatten, ehe sie einsehen mussten, dass der Dschungel ihnen keinen Schutz mehr bot. Manche flohen erst, als die Bäume vollkommen nackt und wie verbrannt dastanden. Agent Orange wurde nicht eingesetzt, um jemanden zu vergiften. Es galt als für Menschen vollkommen unschädlich. Mindestens einmal pro Woche flog Julian Spade den Kurs ab. Jahrzehntelang, nachts, in seinen Träumen. Der Dschungel war stets der Dschungel danach. Nie wieder sah er die grünen Flächen, die er vor der Entlaubung gesehen hatte. Immer waren es die fahlen Baumskelette, die gelbe Einöde. Und jedes Mal gab er sich Mühe, die Huey noch ein bisschen höher zu ziehen. Damals, mit neunzehn Jahren, hatte er gar nicht nahe genug dran sein können. Jetzt fühlte er sich unsicher, bedroht von der leidenden, sterbenden Natur. Immer höher musste er hinauf, um ihren Anblick zu ertragen. Höher. Höher. Nur aus der Ferne ließ es sich noch aushalten, nur ganz oben in den Wolken fühlte er sich noch als Herr der Lage. Eine Vielzahl der Einsätze waren nachts geflogen worden, und auch von diesen träumte er. Doch nur die Flüge bei Tageslicht jagten ihm Angst ein. Wenn er erwachte, war er schweißgebadet. Es war nicht die Sorte Albträume, aus denen man schreiend und
sich auf beeindruckende Weise verändert. Wenn er den Helikopter knapp über die letzten Hügel hinweg gleiten ließ, breitete sich vor ihm eine andere Welt aus. Eine sterbende Welt. Das typische Geräusch des HU-1, das so genannte „Teppichklopfen“, war immer in seinen Ohren. Er fühlte sich stolz, am Steuer dieses Hubschraubers sitzen zu dürfen. „Huey“ nannte man diese Maschine liebevoll, auch wenn die militärische Bezeichnung Irokese lautete. Ein prächtiges, vielseitiges Fluggerät, wie geschaffen für die unterschiedlichen Anforderungen, die der Krieg gegen den Vietcong an die US-Army stellte. Hauptsächlich wurde der HU-1 für Truppentransporte und Evakuierungen eingesetzt, doch auch im unmittelbaren Kampf war er zu gebrauchen. Das Feuern der Geschütze zu hören, war ein seltenes Erlebnis gewesen. Meistens hatte er Evakuierungseinsätze geflogen. Gerade deshalb dachte er oft an das Beschießen zurück. Es war ein besonderes Gefühl, den Menschen auf der Erde Angst und Tod aus dem Himmel zu bringen. Mörderische Hagelstürme, alles verwüstende bleierne Insektenschwärme. Wenn die kahlen Wälder unter ihm auftauchten, zog Julian Spade seine Maschine automatisch höher. Das Entlaubungsmittel Agent Orange hatte diesem Landstrich das Grün entzogen. An grüne Reisfelder schloss sich ein gespenstischer, fahlgelber Wald an. Damit die Mitglieder und Sympathisanten des Vietcong im dichten Laubwerk der Urwälder keine Versteckmöglichkeiten mehr fanden, sorgte man dafür, dass die Bäume ihre Kleider abwarfen. Mehr als ein Dutzend Mal hatte Spade mit eigenen Augen beobachtet, wie die Flugzeuge niedrig und in Formation über die Dschungel hinwegflogen und weiße Wolkenstreifen der Chemikalie hinter sich herzogen. Langsam senkten sich die hellen Nebel auf das tiefe Grün der Urwälder. Orangefarben war an Agent Orange lediglich ein Streifen, der die Fässer
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Montagmorgen von Zuhause abholte und mit ins Büro nahm. Nach der Arbeit würde er sie noch irgendwohin ausführen, wenn die Zeit dazu blieb, und sie schließlich am späten Abend zu Hause wieder abliefern. Er würde seine Bodyguard-Funktion ernst nehmen und erst dann von ihrer Seite weichen, wenn ihr Vater aus der Firma zurückkehrte und wieder bei ihr war. Auf diese Weise würde man die Woche verbringen und sehen, ob der Bursche, der ihr gedroht hatte, sich damit aus der Reserve locken ließ oder nicht doch lieber aufgab. Vielleicht rannte er ja in der Zwischenzeit schon hinter einem anderen hübschen Hintern her – umso besser für sie alle. Frank merkte, wie er sich darauf freute, das zauberhafte Wesen auf dem Foto in Natura kennen zu lernen. Es würde gewiss eine der entschieden angenehmeren Wochen seiner Karriere werden. Dachte er. Wie gesagt, es kam anders. Am Montagmorgen um sechs Uhr klingelte es in Franks Wohnung an der Tür. Mit einem Fluch auf den Lippen öffnete er – und verschluckte sich beinahe daran. Lizza Kelly-C. stand mit zwei gigantischen Koffern im Flur. Zuerst dachte der noch verschlafene Privatdetektiv, die Achtzehnjährige hätte sich entschlossen, die USA zu verlassen und bei Verwandten in Übersee Unterschlupf zu suchen. Vielleicht war sie ja gekommen, um sich bei ihm mit einem Küsschen auf die Wange für die überhastete Entscheidung zu entschuldigen. Doch das reizende Girl quetschte sich nach einem kurzen „Hi!“ in sein Apartment und walzte ihn dabei psychisch und physisch über den Haufen. Sie durchquerte die Wohnung und sah sich um. Dabei roch sie so intensiv nach Orangen, als wäre sie in die Obstauslage bei Walmart gefallen. Wahrscheinlich gehörte sie zu den Leuten, die Parfums nicht ausstehen konnten und sich stattdessen bei der morgendlichen Dusche mit einer halben Packung Duschgel
in Todesangst erwachte. Es war jene Art von Träumen, die einem langsam die Kehle zuschnürten, die einen niederdrückten und zu einem ernsten, verschlossenen Menschen machten. Träume, die einen schneller altern ließen. Jeder, der an einem Krieg teilgenommen und ihn überlebt hatte, brachte Erinnerungen zurück, die ihn plagten wie Gespenster. Die meisten kamen nicht damit zurecht, Tod gesät zu haben, Menschen nicht gerettet oder verschont zu haben, wo es ihnen möglich gewesen wäre. Tausende von Veteranen waren deswegen in psychiatrischer Behandlung – ehemalige Vietnam-Soldaten bildeten die größte Gruppe. Bei Julian Spade war es anders. Er hatte akzeptiert, getötet zu haben. Er hatte es bisweilen sogar genossen, das Ungeziefer unter ihm zu zertreten. Nur eines hatte er sich sein Leben lang nicht verziehen. Dass er nicht höher geflogen war. * Frank hatte sich eingebildet, auf eine Achtzehnjährige aufzupassen, würde sich etwas anders gestalten als Babysitter für sechsjährige Gören zu spielen, was er als Jugendlicher ein paar Mal getan hatte. Erfreulich anders. Er täuschte sich. Hatte er Lizza Kelly-C., wie das angehende Hip Hop-Sternchen sich nannte, für eine bezaubernde Verbindung aus dem Charakter ihres gutmütigen Vaters und dem Luxuskörper einer unschuldigen Sexgöttin gehalten, hatte er die Rechung ohne ihre dominante Persönlichkeit gemacht. Sie war wie ein schwarzer Blizzard, der über ihn, sein Leben und seine Wohnung kam und alles in Unordnung brachte, was er sich mühsam aufgebaut hatte. Sie war ... wie sagte man noch gleich ... a hundred percent lethal ... vollkommen tödlich ... Sie hatten abgemacht, dass er sie am
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und ja, ich habe eingewilligt, eine Woche lang auf dich aufzupassen. Aber wenn ich auch nur angedeutet habe, du könntest bei mir wohnen, dann muss ich wohl schizophren sein. Ich kann mich nämlich an nichts dergleichen erinnern.“ „Hau ruck“, machte sie und wuchtete einen ihrer Koffer in die horizontale Lage. Sie ließ die Verschlüsse aufschnappen, und ein Berg von Unterwäsche wogte ihr entgegen wie eine gut aufgeschäumte Flutwelle. Während sie die Kleidungsstücke geschäftig in kleine Häufchen sortierte und auf die Couch legte, meinte sie: „Natürlich konntest du mich nicht offen in deine Wohnung einladen. Ich meine, was hätte denn mein Vater dazu gesagt?“ „Und – was sagt dein Vater dazu?“ „Wer? Mein Vater? Nichts. Er schläft noch, glaube ich.“ Frank fand das Telefon auf dem Wohnzimmertisch und reichte es ihr. „Du rufst ihn auf der Stelle an und bittest ihn, dich hier abzuholen.“ Sie starrte ihn an. „Einen schwer arbeitenden Mann um diese Zeit aus den Federn holen? Ich dachte, du wärst ein netter Onkel.“ Sie nahm das Telefon entgegen und tippte mit ihren zentimeterlangen, orangefarbenen Nägeln eine Nummer. Sie tat es sehr, sehr langsam, wie in Zeitlupe. Und zwischen zwei Ziffern warf sie ihm jedes Mal einen traurigen, anklagenden Blick zu, als hätte er ihr eben gestanden, ihren Schoßhund vergiftet zu haben. „Okay“, gab Frank sich geschlagen, nahm ihr das Gerät ab und legte den Hörer auf. „Hast du ihm wenigstens eine Nachricht hinterlassen, damit er sich keine Sorgen macht?“ „Klar!“ lächelte Lizza. „Glaubst du, ich weiß nicht, was sich für eine wohlerzogene Tochter gehört?“ Mit einem Stapel Slips lief sie zu Franks Schlafzimmerschrank, schaffte dort ein wenig Platz und verstaute ihre Unterwäsche. „Du könntest das Bett neu beziehen“, verlangte sie. „Ich brauche noch
überschütteten. Und dann mit einem Blick auf die Badezimmeruhr feststellten, dass es zu spät war, um das aufdringliche Zeug richtig abzuwaschen ... „Bang & Olufsen, keine schlechte Anlage“, kommentierte sie . „Aber der Teppich ist eine billige Imitation. Hm, nichts sagen, ich verstehe schon. Man verdient immerhin genug für ein paar Statussymbole, aber zu wenig, um es sich richtig gemütlich zu machen. Geht den meisten Leuten aus der Mittelschicht so, also lass dir deswegen keine grauen Haare wachsen, Frank. Äh, keine zusätzlichen, meine ich.“ Lizza stellte die Koffer ab und ging auf Erkundungsreise. Sie riss sämtliche Türen auf und musste innerhalb einer Minute den Grundriss der Wohnung vollständig im Kopf haben. „Das Bett sieht aus, als hättest du darin geschlafen“, bemerkte sie. Sie stand mitten im Schlafzimmer und teilte missbilligende Blicke nach allen Seiten aus. „Habe ich getan“, gab Frank augenreibend zurück. „Bis vor ein paar Sekunden noch.“ „Hä? Heißt das, ich soll mich auf den Laken räkeln, in denen eben noch ein älterer Herr geschwitzt hat? Hältst du das für gastfreundlich, witzig oder charmant? Ich würde es eher pervers nennen, falls das Wort in deinem Alter noch eine Bedeutung hat ...“ Frank Reynolds gehörte nicht zu den Menschen, die sich alles gefallen ließen. Schon gar nicht innerhalb seiner eigenen vier Wände. „Jetzt hör mal gut zu, Mädchen“, sagte er, lauter, als er jemals um diese Tageszeit geredet hatte. „Ich habe dich nicht hergebeten, und ich habe dich auch nicht nach deiner Meinung zu Dingen gefragt, die dich nichts angehen.“ „Aber du bist doch Frank Raymond, mein Babysitter?“ gab sie mit weit aufgerissenen Augen und einer großen theatralischen Geste der Hände zurück. Ihre Brüste machten eine entschlossene Hüpfbewegung nach oben. Er holte Luft. „Ich bin Frank Reynolds,
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ausbreiteten. Das Wohnzimmer bot ein Bild der Verwüstung, denn mit ihrem Wutausbruch hatte die Achtzehnjährige noch einige aufgestellte Bilder und andere Einrichtungsgegenstände umgeworfen. Zum Glück hatte Frank nicht die Angewohnheit, sein Apartment mit Blumenvasen zu schmücken. „Womit habe ich eigentlich diese Feindseligkeit verdient?“ kreischte Lizza. Sie stand breitbeinig mitten im Zimmer. „Habe ich vielleicht irgendetwas getan, etwas Falsches gesagt, oder passt dir einfach meine Visage oder meine Hautfarbe nicht?“ Ich sollte sie rauswerfen, sagte eine Stimme in Frank überdeutlich. Nein, ich sollte ihr vorher den Hintern versohlen. Nein, zuerst sollte ich ... Er seufzte und ließ den Kopf sinken. Er wusste, er würde nichts von alldem tun. So einfach war die Situation nicht. Dass er jetzt überhaupt noch in der Lage war, sich über dieses eingebildete Gör aufzuregen, hatte er einzig Oswald John Kelly zu verdanken. Diesem sanften, schüchternen, liebenswürdigen Mann. Diesem viel zu milden und nachgiebigen Vater, dessen Erziehung offenbar vollkommen in die Hose gegangen war und der seine aparte Tochter, natürlich ganz ohne es zu wollen, zu einem verwöhnten Monstrum gemacht hatte. Frank musste sich zwingen, gerecht zu sein, nicht egoistisch zu denken. Der Mann, der eine Anklage wegen Totschlags riskiert hatte, um einem Unbekannten das Leben zu retten, anstatt sich einfach aus dem Staub zu machen und sich die Unannehmlichkeiten zu ersparen, wie es tausend andere getan hätten – dieser Mann war Lizzas Vater. Seine selbstlose Hilfsbereitschaft und seine Unfähigkeit zur Strenge waren nur die zwei Seiten einer Medaille. Wenn Frank die eine Seite schätzte, musste er die andere wohl oder übel akzeptieren. Das war nur fair. Eine Woche mit Lizza Kelly-C. war nichts im Vergleich zu dem, was in den nächsten Wochen auf Oswald zukommen
ein paar Stunden Schönheitsschlaf. Ich nehme an, es ist dir lieber, ich genehmige ihn mir hier als anschließend in deinem Büro. Ach ja, und ich brauche den Schlüssel für die Schlafzimmertür, nein, alle Schlüssel. Ich trage grundsätzlich nichts am Leib, wenn ich ... ruhe. Du wirst verstehen, dass ich kein Auge zutun könnte, wenn ich befürchte müsste, dass die ganze Zeit über ein Onkel an meinem Bett steht und darauf wartet, dass die Decke vielleicht ein bisschen verrutscht ...“ „Pass bloß auf, dass mir nicht gleich was anderes verrutscht“, presste Frank zwischen den Zähnen hervor. Lizza blieb in ihrer momentanen Haltung stehen, wie ein ägyptisches Relief, und starrte ihn mit riesigen Augen an. „Gewalt?“ sagte sie und machte eine lange, bedeutungsvolle Pause. „Gewalt als Mittel der Kommunikation? Gewalt gegen Frauen: Einschüchtern, mobben, anfassen, anschreien, verspotten, vergewaltigen, nicht für voll nehmen, nicht zu Wort kommen lassen. Männergewalt.“ „Es gibt keine Schlafzimmerschlüssel“, meinte Frank kalt. „Sie existieren nicht.“ Sie schwieg, schürzte die Lippen, hob die Schultern. Schien nachzudenken. „Pfadfinderehrenwort?“ „Indianerehrenwort. Wer traut schon einem Pfadfinder?“ „Okay“, sagte sie. „Ich vertraue dir. Aber ich brauche unbedingt etwas, um das Schlüsselloch zuzuhängen.“ Frank ging nicht darauf ein. „Kleine Zwischenfrage: Wo soll ich deiner Meinung nach schlafen? Es dürfte nicht im Sinne der Sache sein, wenn ich ins Hotel ziehe.“ „Hast du keine Couch, Frank?“ „Doch. Aber da liegt der gesamte Inhalt deines Kleiderschranks drauf.“ Aus heiterem Himmel rastete die eben noch so überlegene und entspannte Lizza aus. Sie rannte auf die Couch zu, nahm die säuberlich aufgestapelten Kleidungsstücke und schleuderte sie so kraftvoll und geschickt durchs Zimmer, dass sie sich fast gleichmäßig über den ganzen Boden
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tun. Es genügte, den Schlangen jede dritte Nacht reichlich Futter anzubieten. Die Nattern waren ein kleines Hobby von Spade. In einer Garage hielt er sich fünf der bissigen Tiere in einem geräumigen Terrarium, fütterte sie mit Ratten und Kaninchen und beobachtete sie. Die etwa zwei Meter langen, schlanken Reptilien liebten es, sich in den oberen Regionen der Bäume aufzuhalten und wie der Blitz auf ihre ahnungslos am Boden kriechenden Opfer hinabzustoßen. Spade hatte für sie ein Habitat aus großen, trockenen Ästen gebaut. An diesen Tieren faszinierte ihn, dass sie kaum jemals auf dem Erdboden anzutreffen waren. Die schwarzen Schlangen mit der gelben Musterung wickelten sich um die Äste und ruhten vornehmlich in den obersten Astgabeln. Dort waren sie dem Blickfeld ihrer Opfer entzogen. Das Terrarium zog sich an den Wänden der Garage entlang und ließ nur noch einen kleinen Innenraum frei. Dort – durch Glasscheiben von seinen bissigen Gesellschaftern getrennt – saß Julian Spade häufig an einem kleinen Tisch und betrieb seine bescheidenen Studien. Er war kein Wissenschaftler, doch eine tiefe Besessenheit trieb ihn dazu, sich mit den unterschiedlichsten Themen zu befassen. Mal waren es die Gesetze der Tierwelt, die sein Interesse fesselten, mal vertiefte er sich in Bücher über den Krieg, den er mitgemacht hatte. In letzter Zeit beschäftigte ihn ein völlig anderes Thema, das keinen Anknüpfungspunkt zu seinen anderen Obsessionen zu bieten schien: er informierte sich umfassend über die Stromversorgung der Vereinigten Staaten, ihre Strukturen, Stärken und Risiken. Einem Polizeipsychologen, der ihn Tag und Nacht begleitet hätte, wäre vermutlich nicht aufgefallen, welche Kreise seine Gedanken zogen, welche kruden Zusammenhänge sie herstellten zwischen den zahlreichen, oft in der Nacht durchgeführten Einsätzen, die er als Helikopterpilot in Vietnam geflogen hatte,
würde. Eine Woche war schnell vorüber ... „Äh ... wolltest du dich nicht aufs Ohr legen?“ fragte er beinahe väterlich. Ein neuer Anlauf, ein Vorschlag zur Güte. Anscheinend hatte er diesmal den richtigen Ton getroffen. Sie war es gewohnt, dass ihr Vater sie zu beschwichtigen versuchte, anstatt sich auf einen Streit einzulassen. Ihre Züge glätteten sich. „Okay, ich bin dir nicht mehr böse“, erklärte Lizza großzügig. „Aber du musst Entschuldigung sagen.“ Vor Jahren, als er noch bei der Polizei gewesen war, hatten Ermittlungen in einem Entführungsfall Frank in einen SM-Club geführt. Er hatte eine Domina vernommen. Es war eine besonders interessante Vernehmung gewesen, und aus irgendeinem Grund musste er gerade jetzt daran denken ... „Es tut mir Leid, meine Gebieterin“, sagte er devot. „Königin“, verbesserte Lizza ernst. „So darf mich eigentlich nur mein Vater nennen. Aber für dich mache ich eine Ausnahme, Frank.“ „Königin“, wiederholte Frank und wartete darauf, ob er sich geehrt fühlen würde. Aber das Gefühl wollte sich nicht einstellen. Keine Chance. * Die Mangroven Nachtbaumnatter war ein hochaggressives Tier. Zwar gehörte sie nicht zu den giftigsten Schlangen dieser Erde, aber ihr Biss konnte auch beim Menschen durchaus ernsthafte Verletzungen nach sich ziehen. Für kleinere Tiere war sie ein absolut tödlicher Gegner. Sie war in vielen Gegenden Südthailands beheimatet und – wie ihr Name es schon andeutete – nachts aktiv. Daher stand Julian Spade um zwei Uhr morgens auf, um seine Schützlinge zu füttern. Er brauchte es nicht jede Nacht zu
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von einem kleinen Mädchen nur erwarten konnte. Sie zertrümmerte keine Möbel, formatierte keine Festplatten und löste die Sprinkleranlage nicht aus. Als Belohnung dafür konnte sich Frank am Abend tatsächlich dazu durchringen, sie zum Essen auszuführen. Es wurde den Umständen entsprechend sogar ein angenehmer Abend. Lizza hatte sich traumhaft in Schale geworfen und sah in ihrem ultrakurzen, sektfarbenen Einteiler und den hohen Stöckelschuhen aus wie aus einem Magazin ausgeschnitten und in die Wirklichkeit eingeklebt. Die neidischen Blicke der männlichen Gäste waren wie Balsam auf Franks malträtiertes Nervenkostüm; er wuchs von Minute zu Minute und schwebte auf Wolke Sieben, als Lizza damit begann, ihm die Kaviarhäppchen der Vorspeise eines nach dem anderen in den Mund zu stecken. Irgendwann ertappte er sich dabei, wie er ihre Finger ableckte, bis einer ihrer Fingernägel eine schmerzhafte Wunde auf seiner Unterlippe hinterließ. Es war schön, so schön. Es entschädigte für vieles. Es gab ihm seine Würde, seinen Stolz ... und seine Jugend zurück. Auch die bedauerliche Tatsache, dass ihm Lizza bei dem Versuch, den Salzstreuer zu öffnen, dreißig Gramm Salz über den Hauptgang des 80 Dollar-Menüs kippte, änderte nichts daran. Als sie lachend und kichernd in Franks Apartment ankamen, fragte Lizza, ob „Onkel Frank“, wie sie ihn mittlerweile nannte, nicht Lust hätte, die Nacht mit ihr zusammen in einem Bett zu verbringen. Frank schüttelte verwirrt den Kopf. Daraufhin erklärte ihm Lizza prustend, dass es nur ein Scherz gewesen war. Frank schaffte es, müde zu lächeln. Immerhin. Auf dem Anrufbeantworter war eine Botschaft von Oswald Kelly gespeichert. Er wollte wissen, wie es seiner Königin ging. Frank rief ihn zurück und erzählte eine Lügengeschichte von einem harmonischen, ereignislosen Tag. Als
zwischen den nachtaktiven, in hohen Bäumen lauernden Nattern und dem Stromnetz der USA. Doch es gab einen Zusammenhang. Vielleicht war Julian Spade im Augenblick noch der einzige Mensch auf dieser Erde, der ihn sah. Bald schon würden ihn andere ebenfalls sehen – überdeutlich. Dafür würde er sorgen. * Der Montag war ein Fiasko, der Dienstag eine Katastrophe und der Mittwoch die Hölle. Danach wurde es richtig ungemütlich. Wie Frank bereits befürchtet hatte, war das Verhältnis zwischen Lizza und seiner Mitarbeiterin Mandy Torrance ein fatales. Die angenehm freundschaftliche Atmosphäre, die gewöhnlich am Arbeitsplatz des Mr. Bronx herrschte, verwandelte sich in das entzückende Ambiente einer Schlangengrube. Binnen zehn Minuten waren sie so weit gekommen, dass Lizza von ihm verlangte, seine „vorlaute Vorzimmerdame“ fristlos hinauszuwerfen, während Mandy ihm damit drohte, sich selbst zu entlassen, falls das eingebildete Popsternchen die Luft des Büro-Apartments noch weiter mit ihren unguten Vibrationen verpestete. Dabei hatte Lizza nichts kaputt gemacht. Gut, sie rappte lautstark, während Mandy mit Kunden und Behörden telefonierte. Sie legte sich quer über Franks Schreibtisch, während er sich alle Mühe gab, liegen gebliebene Korrespondenz aufzuarbeiten. Sie verstopfte die Toilette bei dem Versuch, eine ganze Rolle Papier auf einmal hinunterzuspülen (das Blümchenmuster auf dem Papier passte nicht zu dem auf ihrem Slip). Sie löschte einige Adressen und Telefonnummern auf Franks Notebook, bis sie ihm endlich glaubte, dass er keine Patiencen installiert hatte, mit denen sie sich die Zeit vertreiben konnte. Kurz: Sie betrug sich so brav, wie man es
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untersucht hatte, erwähnte sie nicht. Es war klar, dass sie nur deshalb zu so früher Stunde im Büro angerufen hatte, um Frank auf keinen Fall an den Apparat zu bekommen. Mr. Bronx ahnte, dass seine Mitarbeiterin diese Woche nicht mehr zur Arbeit erscheinen würde. Nach dem Abhören des Bandes fühlte er sich elend. Er löschte die Botschaft umgehend. Doch Mandys leeren Schreibtisch konnte er nicht so einfach ausblenden. Seine Kollegin fehlte ihm, und daran hätten auch ein Dutzend Lizzas nichts zu ändern vermocht. Der Tag war eine Qual. Er schleppte Lizza in die Bibliothek, wo er ein paar Dinge nachzuschlagen hatte, und verließ das Gebäude rechtzeitig, ehe man seinen Ausweis eingezogen und ihm lebenslängliches Zutrittsverbot erteilt hätte. Am Nachmittag wurde ihm ein lukrativer Auftrag angeboten – eine Beschattung in der zweiten Wochenhälfte, für die der Auftraggeber fürstlich bezahlen wollte. Frank musste freilich ablehnen, denn die Vorstellung, mit Lizza im Schlepptau jemanden heimlich verfolgen zu wollen, war so lächerlich, dass einem die Tränen kamen, wenn man nur daran zu denken versuchte. Den Abend verbrachten sie diesmal Erdnüsse knabbernd vor dem Fernseher. Die Fernbedienung lag fest in Lizzas Hand. Der Privatdetektiv musste feststellen, dass er auch nach fünfzig Musikvideos nicht begriffen hatte, wo der Unterschied zwischen Hip Hop, Trip Hop, House und R&B lag. Noch nie hatte er sich mit seinen 38 Jahren so alt gefühlt. Besser alt als tot, sagte er sich. Besser das Gespött der Jugend als der Dünger der Grabblumen. Oder so ähnlich. Der Mittwoch schleppte sich dahin, als hätte ihn jemand festgenagelt. Keine Nachricht von Mandy. Zwei, drei neue Aufträge, die er prüfen musste. Aber es fiel ihm schwer, sich zu konzentrieren. Das Mädchen schwirrte um ihn herum wie ein Schmetterling, schien niemals ausruhen zu müssen, und wenn, dann tat sie es
Oswald darauf bestand, mit seiner Tochter zu sprechen und Frank sie ans Telefon rief, erschien sie, nur in ein Laken gehüllt, setzte sich auf die Couch, auf der es sich Frank eigentlich hatte gemütlich machen wollen, und palaverte zwei volle Stunden mit ihrem armen Daddy. Der musste todmüde sein, denn es ging auf zwei Uhr morgens zu, als sie endlich auflegte. Mr. Bronx hatte die ganze Zeit über hilflos dagesessen und die telefonierende Lizza betrachtet. Nach der ersten Stunde war es ihm ein wenig, als könne er durch das Laken sehen, und er vermutete, dass diese neuentdeckte übernatürliche Fähigkeit mit den fünf Röntgenuntersuchungen zu tun hatte, die ihm im Union-Hospital zuteil geworden waren ... Das Mädchen erzählte ihrem Vater eine Story, die weder mit der Wirklichkeit noch mit Franks Schilderung irgendetwas gemein hatte. Sie redete schnell und scheinbar, ohne Atem zu holen. Sie sprach nicht, sie rappte. Während sie das tat, bewegte sie ihren Oberkörper zu einem alles durchziehenden Rhythmus kaum merklich vor und zurück. Frank Reynolds hatte das vage Gefühl, dass er seinen Enkeln von diesem Abend erzählen würde, falls er je welche haben würde. Natürlich erst, sobald sie alt genug für die interessanten Details der Beschreibungen waren, die er geben würde. Der Montagabend war die letzte glückliche Zeit, die er mit Lizza verbringen sollte, denn schon am darauf folgenden Morgen spitzten sich die Dinge zu. Mandy Torrance erschien am Dienstag nicht im Büro. Sie hatte in aller Herrgottsfrühe um 5.39 Uhr eine Botschaft auf den Anrufbeantworter gesprochen. Darin hieß es, sie leide unter mütterlicherseits vererbter Migräne, könne nicht arbeiten und bitte darum, sie auf keinen Fall anzurufen, da ihr der Arzt strenge Bettruhe und Dauerschlaf verordnet habe. Welcher Arzt sie noch vor Tagesbruch wegen Kopfschmerzen
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am Leben zu sein. Er hörte in sich hinein, versuchte eine Stimme zu hören, die ihm bewies, dass er lebte und dass es sich lohnte zu leben. Er hörte seinen Herzschlag, unendlich leise, in weiter Ferne, wie es schien. Sonst war da nichts. Keine Botschaft, keine Weisheiten und Ratschläge, kein Leitsignal, das ihn führte. Er trieb allein mitten in einem Ozean, der Leben hieß. Zehn Meter weiter, hinter der geschlossenen, aber nicht verriegelten Schlafzimmertür, lag Lizza. Nackt. Aber nicht einfach nur nackt wie das Kindlein in der Krippe. Anders nackt. Dunkel nackt. Samtig nackt. Umgeben von einer staubigen Pfütze aus Krümeln vielleicht, denn sie liebte es, im Bett Kekse zu essen. Eine ihrer harmlosesten Angewohnheiten. Bestimmt dachte sie nicht nach wie er, sondern schlief. Ihren Schönheitsschlaf. In diesen Momenten kam sie ihm wie ein kleines Mädchen vor, wie ein Kind, das noch keine Sorgen kannte. Er fing fast an, sie zu beneiden. Frank war ein junger Mann. Natürlich. Noch keine Vierzig, sportlich und durchtrainiert, in der Blüte seiner Jahre, körperlich und geistig auf der Höhe. Auch wenn man ihn brutal durch die Mangel nahm, stand er nach zwei, drei Tagen wieder auf der Matte. Wie er letzte Woche bewiesen hatte. Nur seelisch war er etwas anfällig geworden. Nachdenklicher, wenn man es milde ausdrücken wollte. Manchmal war es, als liefe irgendeines der tausend Rädchen in seinem Inneren nicht mehr rund, als sei ein winziger Zahn abgebrochen. Zwischen Wachen und Träumen lauschte er, ob er es klacken hören könnte. Doch da war nur der Herzschlag. Was hatte diese Unruhe nur zu bedeuten? War wirklich nur Lizza an allem schuld? Oder war es dieses seltsame Gefühl, diese Vorahnung, dass bald etwas geschehen würde? Vielleicht morgen schon.
ausgestreckt auf seinem Schreibtisch. Das Wetter trug seinen Teil dazu bei, ihn auf dem Zahnfleisch gehen zu lassen. Die Temperaturen stiegen auf 98 Grad Fahrenheit und machten jede körperliche oder geistige Betätigung an der frischen Luft zur Last. Es blieb nichts, als sich im klimatisierten Büro zu verkriechen. Von dem Kerl, der gedroht hatte, sich Lizza zu krallen, hörten sie nichts mehr. Weder bei Lizza zu Hause noch hier meldete er sich. Vielleicht hatte ihm jemand verraten, dass sie zwar die unwiderstehlichste Versuchung seit Eva im Garten Eden war, dafür aber jedes vernunftbegabte Lebewesen im Verlauf einer Woche reif für die Klapsmühle machen konnte. Den Mittwochabend verbrachte Frank Reynolds damit, Lizzas Wäsche zu waschen. Obwohl sie noch Dutzende Stücke zum Wechseln hatte, bestand sie darauf, dass die Sachen gereinigt wurden, und zwar behutsam von Hand, damit der edle Stoff nicht litt. Zuerst hatte er sich eingebildet, es könne auf eine schlüpfrige, erwachsene, Onkel-Frank-hafte Weise Spaß machen, aber es artete in echte Arbeit aus. Er begann, die vier Tage, die er sie noch würde ertragen müssen, in Stunden umzurechnen. Seine Kollegin Mandy erschien ihm in dieser Zeit wie eine Offenbarung idealer Weiblichkeit. Intelligent und humorvoll, hübsch und zurückhaltend, ruhig und ausgeglichen, keine Frau, die einem einen Herzanfall bescherte, sondern eine, bei der man sich geborgen fühlen konnte. Die Nacht von Mittwoch auf Donnerstag brachte dem Privatdetektiv kaum Schlaf. Zu aufgewühlt war er, zu blank lagen seine Nerven. Es war nicht nur die Anwesenheit der jungen Rapperin, die ihn keine Ruhe finden ließ. Er nutzte die Nacht auch, um das Geschehen der letzten Woche aufzuarbeiten. Es war beileibe nicht das erste Mal gewesen, dass er dem Tod ins Auge gesehen hatte, aber es fiel ihm noch immer schwer, sich daran zu gewöhnen. Er dachte darüber nach, was es bedeutete,
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unter das Jackett. In eine Aktentasche packte er ein Nachtglas, eine Taschenlampe und Ersatzbatterien. Außerdem ein kleines schwarzes Päckchen von der Größe einer Videokassette. Dieses Objekt hatte er sich in einschlägigen Kreisen besorgt. Er war kein großer Techniker vor dem Herrn. Seine Brötchen verdiente er mit zwei gut gehenden Bars in Soho, die ihm gehörten. Als Betriebswirt hatte er ein glückliches Händchen. Bei dem Versuch, eigenhändig eine Bombe zu bauen, hätte er sich vermutlich selbst in die Luft gesprengt. Julian Spade steckte noch ein Päckchen mit Aufputschtabletten ein. Sein Handy legte er in das Regal. Er brauchte im Laufe des kommenden Tages niemanden anzurufen und musste für niemanden erreichbar sein. Er wusste nicht, ob man auch ein ausgeschaltetes Mobiltelefon orten konnte – auch dazu fehlte ihm das technische Wissen. Es war besser, auf Nummer Sicher zu gehen und keines bei sich zu tragen. Spade kehrte ins Erdgeschoss zurück. Er bewohnte dieses Haus nördlich der Bronx alleine. Es gab zwei Garagen: in der einen stand sein weißer Dodge Viper stand, in der anderen hatte er die Schlangenterrarien aufgestellt. Er öffnete das linke Tor, stieg in das Auto, legte seine Aktentasche auf den Beifahrersitz und ließ den Motor an. Dann kletterte er noch einmal aus dem Sportwagen und betrat durch eine Zwischentür die Garage nebenan. In einem Plastikgefäß tummelten sich zwei Dutzend weiße Mäuse. Er öffnete eine Klappe an der Decke des Schlangenkäfigs und schüttete die Tiere auf einmal hinein. In der einen Minute, die Julian zusah, hatte jedes der fünf Tiere sein erstes Opfer gefunden. Mit ernster Miene kehrte er in die linke Garage zurück. Es roch nach Abgasen, doch er mochte den Geruch. Ein fahlgelber Streifen zeichnete sich am Horizont ab. Der Tag brach an. Julian Spade stieg zum zweiten Mal in
* Julian Spade hatte in der Nacht von Mittwoch auf Donnerstag auf den Schlaf verzichtet. Kurz nach Einbruch der Dunkelheit hatte er sich in die Garage zu seinen Schlangen zurückgezogen. Immer wieder studierte er die Notizen und Zeichnungen, die er angefertigt hatte. Zwischendurch erhob er sich und sah nach den Nattern. Alle fünf lagen sie in Astgabeln bereit, ihre Köpfe starr erhoben. Sie waren unruhiger als sonst. In diesem Punkt ähnelten sie ihm. Seit fünf Tagen hatte er sie nicht gefüttert, und sie mussten ausgesprochen hungrig sein. Eine der Schlangen schnellte gegen die Scheibe, als er seinen Finger dagegen drückte. Die Nervosität der Tiere überdeckte sich mit der eigenen, und das gefiel ihm. Es war wie damals vor den Einsätzen. Die Unruhe in den Blicken der Kameraden zu erkennen, dazu das Kribbeln im eigenen Bauch. Es war schön, dieses Gefühl noch einmal haben zu dürfen. Im Laufe der Nacht wurde die Erregung beinahe unerträglich. Die Schlangen begannen, Aggressionen zu zeigen, bedrohten sich gegenseitig. Und Julian Spade packte irgendwann in den frühen Morgenstunden all seine Aufzeichnungen zusammen, ging nach oben in sein Büro und ließ die zweihundert eng beschriebenen Seiten durch den Aktenvernichter rattern. Das Geräusch, das das Gerät verursachte, erinnerte ihn an das Flappen der Rotorblätter. Er schwitzte, und sein Magen knurrte, aber er aß nichts, trank nur große Mengen Wasser. Schon in Vietnam hatte er vor einem wichtigen Einsatz darauf geachtet, keine feste Nahrung zu sich zu nehmen. Ein voller Magen war nicht gut, wenn man einen klaren Kopf behalten wollte. Als der Morgen anbrach, zog er sich um und machte sich bereit, das Haus zu verlassen. Jetzt trug er einen grauen Anzug, der ihn aussehen ließ wie einen Firmenangestellten. Er nahm seinen Revolver aus dem Schrank und steckte ihn
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Angebot vermutlich angenommen. Aber die Stimme eines Mannes meldete sich. Eine Stimme, die er nicht kannte. „Mein Name ist Putlasky, Will Putlasky.“ Der Mann klang nervös. „Schön. Was kann ich für Sie tun, Mr. Putlasky?“ „Ich habe Ihre Nummer von der Auskunft. In Ihrem Büro war nur der Anrufbeantworter dran. Auf dem Band wird Ihre Mobilfunknummer durchgegeben.“ „Das ist mir bekannt“, meinte Frank und klemmte das Telefon zwischen Ohr und Schulter, während er die Tür seinen Apartments verschloss. Lizza drückte gerade den Aufzugknopf. Sie machte sich nützlich. „Womit kann ich Ihnen denn dienen?“ „Mr. Reynolds, ich habe es schon bei der Polizei versucht, aber ... da wollte oder ... konnte man mir offenbar nicht helfen. Es geht nicht um mich, sondern um meine Tochter.“ „Um Ihre Tochter?“ Während Frank noch mit dem Schlüssel hantierte, öffneten sich die Türen des Fahrstuhls, und Lizza stieg hinein. Er wandte sich gerade zu ihr um und nahm das Handy wieder in die Hand, als die Türen vor dem winkenden Popsternchen zuglitten. „Halt! Verflucht ...“ „Wie bitte?“ Putlasky. „Ich meinte nicht Sie, Sir. Ich ... ach, dieses verdammte Gör ... Äh, Sie sagten eben, es gehe um Ihre Tochter. Was für ein Problem hat sie denn?“ Frank drückte den Aufzugsknopf und wartete. „Mr. Reynolds, meine Tochter wird erpresst.“ „Aha.“ Mr. Bronx beobachtete, wie die Stockwerksanzeige langsam nach unten wanderte. Wenn Lizza unten zügig ausstieg, konnte der Lift in einer Minute wieder bei ihm sein. „Wissen Sie, Mr. Reynolds, meine kleine Jessica ist ein hübsches Mädchen, und ... sie hält sich viel in Discos auf und lernt
seinen Dodge und fuhr auf den Weg hinaus. * Donnerstag, der vierzehnte August begann mit einer unliebsamen Überraschung, wie schon die letzten drei Tage. Lizza hatte offenbar ebenso schlecht geschlafen wie er, und um sich die Zeit zu vertreiben, hatte sie zweierlei getan: Sie hatte die Taschenlampe, die sie in seinem Nachttisch fand, benutzt, um im Bett zu lesen. Warum sie die Deckenbeleuchtung nicht eingeschaltet hatte, wagte Frank nicht zu fragen. Als die Lichtstärke nachließ, hatte sie einen zweiten Satz Batterien ganz hinten in der Schublade aufgestöbert und diesen ebenso plattgemacht. Außerdem war es ihr gelungen, an sein Handy zu kommen. Da ihre Ladestation keinen Platz mehr im Koffer gehabt hatte, war der Akku ihres Mobiltelefons schon seit Montagnachmittag leer, und sie litt sehr darunter, so grausam von der Außenwelt abgeschnitten zu sein. Auf ihrem Weg zur Toilette hatte sie Franks Handy stibitzt und nutzte es, um ein anderthalbstündiges Gespräch mit ihrer Tante zu führen, die gerade geschäftlich in Indien zu tun hatte, wo es heller Tag war. Bis auch diese Akkus schließlich den Geist aufgaben. Frank steckte das Mobiltelefon geräuschvoll in die Ladestation und versuchte seine Gedanken auf die anstehenden Aufgaben zu konzentrieren. Lizza war so übernächtigt, dass sie erstmals beim Frühstück die Klappe hielt. In himmlischer Ruhe verzehrte der Privatdetektiv seinen Toast. Als er eben im Begriff war, mit seinem weiblichen Schützling die Wohnung zu verlassen, klingelte sein Handy. „Reynolds“, meldete er sich. Insgeheim hatte er die Hoffnung, Mandy würde aus ihrem Schneckenhaus herauskommen und ihm anbieten, wieder im Büro zu erscheinen, falls er nur einwilligte, Lizza zu fesseln und zu knebeln. Er hätte das
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verliere ich vielleicht meinen Job, und ...“ „Mr. Putlasky.“ Frank machte auf dem Treppenabsatz im zweiten Stock Halt. Dann sagte er etwas, von dem er schon, als er es aussprach, ahnte, dass er es in Kürze bereuen würde. „Es tut mir Leid. Aber ich bin nicht der richtige Mann für Sie. Versuchen Sie es an anderer Stelle. Ich bin sicher, man kann Ihnen helfen. Rufen Sie einfach verschiedene Polizeidienststellen an, bis Ihnen jemand zuhört.“ Unterlassene Hilfeleistung. Fiel das, was er eben tat, in diese Kategorie? Er unterbrach die Verbindung und fühlte sich so elend wie selten zuvor. Er war gewöhnlich kein Mann, der Menschen in Not abwies. Aber die Worte dieses Putlasky waren Oswald Kellys Worten so verdammt ähnlich gewesen, dass er dieses verwöhnte, verzogene Gör namens ... Jessica schon in allen Details vor sich sah, ohne ihr jemals begegnet zu sein. Die Situation war doch klar: Ein vermutlich allein erziehender Vater, einfache, vielleicht sogar ärmliche Verhältnisse. Dad arbeitete sich zu Tode, um seinem hübschen, bezaubernden Töchterlein jeden Wunsch von den Augen ablesen zu können. Die Zeit, die Vater und Tochter gemeinsam verbringen konnten, war zu knapp, zu kostbar, um durch Verbote oder Tadel beschmutzt zu werden. Mädchen wie Lizza und Jessica wuchsen in dem Glauben auf, die Welt drehe sich um sie. Bestimmt wollte Jessica auch Sängerin werden, oder Schauspielerin. Oder Präsidentin der Vereinigten Staaten. Jemand drohte, sie zu entführen. Na und? In gewissen Kreisen fielen solche Drohungen schon einmal. Bis jetzt hatte sich niemand in Lizzas Nähe gezeigt. Auch in Jessica Putlaskys Fall würde es bei der Drohung bleiben – bestimmt. Eine zweite Lizza würde Frank nicht überstehen. Schon gar nicht gleichzeitig. „Nehmen Sie sie unter Ihre Fittiche“, hatte Putlasky ihn angefleht. Wie romantisch das klang! Die Wirklichkeit würde anders aussehen. Falls Jessica ebenfalls bei ihm
dort eine Menge Männer kennen. Na ja, sie ist erst sechzehn, aber ... Sie verstehen schon, Mr. Reynolds.“ Frank murmelte: „Deja vu.“ So leise, dass sein Gesprächspartner es nicht verstand. Der sprach aufgeregt weiter: „Sie muss da wohl in schlechte Gesellschaft geraten sein. Jedenfalls hat sie gestern einen Drohbrief bekommen.“ Der Aufzug kam nicht zurück. Er stand unten im Erdgeschoss, aber er machte keine Anstalten, sich wieder in Bewegung zu setzen. Frank ballte die freie Hand zur Faust. Es war wirklich zum Aus-der-Hautfahren. Er wartete einen Moment und entschied sich dann für die Treppe. Fünf Stockwerke. Lästig, aber machbar. Lizza Kelly-C. mochte vielleicht zu jung sein, um die Funktionsweise eines Fahrstuhls zu begreifen – er, Frank Reynolds, war jedenfalls nicht zu alt zum Treppensteigen. Noch lange nicht. Er würde noch Treppen steigen, wenn Lizza schon längst an Drogen und Popcorn zugrunde gegangen war. Nein, das war kein schöner Gedanke. Keiner, auf den man stolz sein konnte. Aber Gedanken konnte man nicht mehr ungeschehen machen. „Mr. Reynolds, man hat meiner kleinen Jessica gedroht, sie zu entführen, wenn ich nicht im Laufe des heutigen Tages etwas ganz bestimmtes tue.“ „Und das wäre?“ Frank nahm die ersten Stufen. „Das kann ich Ihnen am Telefon schlecht sagen. Verstehen Sie, ich möchte nicht, dass man denkt, ich ...“ „Ich verstehe leider überhaupt nicht, was Sie meinen, Mr. Putlasky. Sie müssen da schon etwas deutlicher werden.“ „Mr. Reynolds, bitte! Beschützen Sie meine Tochter! Fahren Sie zu ihr, nehmen Sie sie unter Ihre Fittiche, tun Sie irgendetwas, damit sie und ich, damit wir uns sicher fühlen können. Bitte, sie ist mein Engel, mein Ein und Alles. Ich würde alles, alles für sie tun! Sie müssen mir helfen. Ich wäre ja selbst bei ihr geblieben, aber wenn ich nicht zur Arbeit erscheine,
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Eine gute Nachricht, die Oswalds Tochter Lizza zunächst verschlief. Frank weckte sie aus Pflichtgefühl zum Mittagessen, obwohl er nichts dagegen gehabt hätte, alleine zu speisen. Minuten später aß sie müde die Tomaten von einem gemischten Salatteller herunter, den sie sich bestellt hatte, und ließ den Rest unberührt. Frank verschlang unterdessen mit großem Appetit einen köstlichen Hamburger und fiel anschließend noch über ihren Salat her. Es ging wieder bergauf mit seiner Laune. Seine Lebensgeister erwachten. Vielleicht lag es daran, dass es Donnerstag ein Uhr mittags war und nach Adam Riese die Hälfte der Woche damit hinter ihm lag. Egal, was jetzt noch kommen mochte – das Wochenende war in Sicht, und spätestens am Sonntag um Mitternacht würde er Oswald Kelly sein entzückendes Töchterlein zurückgeben können. Und am Montagmorgen – da war er ganz sicher – würde das Leben weitergehen wie bisher. Er würde wieder in seinem Bett schlafen, und wenn er ausgeruht und gutgelaunt im Büro eintrudelte, würde ihn das zurückhaltende Lächeln von Mandy Torrance begrüßen. Das Lächeln der besten Mitarbeiterin diesseits und jenseits des Rio Pecos. Der Nachmittag verlief zunächst so angenehm wie der Vormittag. Auch wenn Lizza jetzt nicht mehr schlief, sondern auf Mandys PC Ballerspiele spielte, die Frank ihr aus dem Internet heruntergeladen hatte. Da sich Lizza weigerte, die Kopfhörer aufzusetzen, und stattdessen die Boxen voll aufdrehte, war die Geräuschkulisse aus pfeifenden Geschossen und explodierenden Panzern enorm, aber Frank kam damit klar. Bis sich elf Minuten nach vier Uhr die Welt veränderte. Von einer Sekunde auf die andere ging in dem Büro-Apartment der Strom aus. Die Monitore der beiden PCs wurden schlagartig dunkel. Aus Mandys Boxen kam ein Laut wie von einem abstürzenden
einzog, würde es zuerst zu einem Kampf ums Bett kommen. Ganz gleich, wie das blutige Duell der beiden Mädchen ausging, für Frank stand das Ergebnis schon fest. Er würde in der Badewanne schlafen, denn auf Bett und Couch würde kein Platz für ihn sein. Inzwischen hatte er das Erdgeschoss erreicht. Nicht ohne Genugtuung stellte er fest, dass er kein bisschen außer Atem war. Lizza stand im Fahrstuhl und besserte ihr Make-up aus. Die reflektierende ChromInnenseite des Aufzugs benutzte sie dabei als Spiegel, und mit einer Hand hielt sie die Lichtschranke unterbrochen, damit die Tür sich nicht schloss. Für einen Augenblick hatte Frank das Gefühl, richtig gehandelt zu haben, als er Putlasky abwies. Schon bald würde er seine Sicht der Dinge allerdings ändern ... * Natürlich traf er Mandy nicht im Büro an. Und natürlich fehlte sie ihm. Die übermüdete Lizza hatte es sich auf Mandys Stuhl bequem gemacht und döste vor sich hin – ein ungewohntes Bild. Trotz der schlechten Nacht gelang es Frank sogar, sich auf seine Arbeit zu konzentrieren. Er nahm Kontakt mit einem Klienten auf und besprach die Einzelheiten eines Falles, den er in der kommenden Woche übernehmen würde. Zwischendurch rief er bei Captain Phil Stuart an und erkundigte sich, wie die Aktien für Oswald Kelly standen. Phil konnte vorerst Entwarnung geben. Mittlerweile hatte man in einem hervorragend getarnten Versteck unter dem Farbenladen eine größere Menge Drogen gefunden. Der Lehrer, der Frank beauftragt hatte, hatte inzwischen alle betroffenen Schüler dazu überreden können, auszusagen, und der Fall bewegte sich unaufhaltsam in Richtung Gerechtigkeit. Mit etwas Glück würde Oswald nicht als Angeklagter vor Gericht stehen müssen, sondern lediglich als Zeuge.
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erwischt. Sein nächster Griff galt dem Telefon. Gewöhnlich ließ es sich auch in Fällen wie diesem weiter benutzen, da es über ein unabhängiges Stromnetz lief. Tatsächlich blökte ihm der Freiton entgegen. Frank versuchte Phil Stuarts Nummer, doch es war besetzt. Drei weitere Leute fielen ihm auf Anhieb ein, doch entweder war das Netz überlastet, oder alle führten gerade in diesem Moment ein Gespräch. Ein Zufall? Als nächstes probierte er die Nummer seiner Eltern. Sie lebten in Albany im Staat New York. Doch auch bei ihnen war besetzt. Kopfschüttelnd legte er auf. Ganz Amerika telefonierte. Verdammt, das verhieß nichts Gutes. Wer blieb jetzt noch? Mandy? Es war ein perfekter Moment, um seinen Stolz hinunterzuschlucken. Ein perfekter Moment, um wieder an das Verhältnis anzuknüpfen, das sie bis vor kurzem noch zueinander gehabt hatten. Mandy wohnte in der East Bronx, Schuylerville, zwischen den beiden Teilen des St. Raymond’s Friedhof. Das war fast drei Meilen von hier entfernt. Seine Mitarbeiterin meldete sich verwirrt. Sie sagte ihm, was er wissen wollte, ohne dass er danach fragen musste: Auch bei ihr war der Strom ausgefallen. „Ich habe ein kleines, batteriebetriebenes Radio hier“, teilte sie ihm mit. Ihrer Stimme war die Aufregung anzumerken. „Sie sagen, sie haben Informationen, dass es bis nach Detroit keine Elektrizität gibt.“ „Detroit?“ Frank glaubte sich verhört zu haben. „Genau das haben sie gesagt.“ „Mandy, bis nach Detroit sind es vierhundert, fünfhundert Meilen!“ „Ich weiß, Frank.“ Für eine Weile schwiegen sie sich an. Lizza hatte das Büro verlassen und festgestellt, dass der Fahrstuhl nicht mehr funktionierte. „Da kommt ein Pochen aus dem Aufzugsschacht“, sagte sie mit weit aufgerissenen Augen. „Irgendjemand sitzt im Fahrstuhl fest.“
Flugzeug, der plötzlich abbrach. Das grüne Licht an dem kleinen Kühlschrank in der Ecke von Franks Büro flackerte und verlöschte lautlos, und als letztes verabschiedete sich die Klimaanlage – trotzig keuchte sie noch einen Schwall kühler Luft aus, ehe auch sie verstummte. Frank blieb auf seinem Stuhl sitzen. „Stromausfall“, konstatierte er. „Vielleicht nur eine Sicherung.“ Lizza hatte ein protestierendes „Hey!“ von sich gegeben, als der Bildschirm erloschen war. Kurz darauf war sie schon auf den Beinen und probierte den Lichtschalter – immer und immer wieder. „Was ist das? Was zum Teufel ist das?“ fragte sie. Ohne etwas zu antworten, stand Frank langsam auf und sah aus dem Fenster. Die Washington Avenue lag vor ihm wie immer. Der Himmel präsentierte sich in strahlendem Blau, von vereinzelten Wolkenbahnen durchzogen. Ein Flugzeug zog einen Kondensstreifen hinter sich her. Der Verkehr unten auf der Straße schien normal weiterzulaufen, und auch die Passanten benahmen sich nicht anders als sonst. Bis die ersten Leute aus den Häusern gerannt kamen. Frank konnte hinter dem geschlossenen Fenster im dritten Stock des Bürogebäudes nicht hören, was die Leute sagten, und er war zu weit entfernt, um ihnen von den Lippen zu lesen. Aber es war nicht zu übersehen, dass einige aufgeregt wirkten. Jetzt warf er einen Blick auf die nahe liegende Kreuzung, und ihm fiel auf, dass die Ampeln ausgefallen waren. Binnen einer Minute hatte sich ein Knäuel von Fahrzeugen auf der Kreuzungsmitte gebildet. Aufgeregtes Hupen war zu hören. Für einen Moment einigte man sich, winkende Hände wurden aus den Fenstern gestreckt, die Kreuzung wurde frei, dann kamen schon die nächsten Fahrzeuge nach und verstopften die Straße erneut. Der Stromausfall beschränkte sich nicht auf Franks Büro oder das Gebäude; mindestens den ganzen Straßenzug hatte es
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auflegen und es noch mal bei Phil Stuart versuchen.“ Fünf Minuten und zehn Versuche später hatte er den Captain tatsächlich an der Strippe. Phil klang heiser, als hätte er die letzten Zeit über viel geschrien. „Frank, du kannst dir nicht vorstellen, wie es hier zugeht.“ „Keine Sorge, ich halte dich nicht lange auf. Kannst du mir sagen, was los ist?“ „Das weiß in diesem Moment noch keiner. Es gibt noch keine Hinweise auf einen Terrorakt, falls du das meinst – aber wir können natürlich trotzdem ein Verbrechen nicht ausschließen. Es kommt zu den ersten Panikreaktionen, die Leute sitzen in den U-Bahn-Tunnels fest und wissen nicht, ob sie wieder lebend rauskommen. Alle wollen mit der Polizei telefonieren, aber wir können nichts für sie tun, können nur versuchen, sie zu beruhigen. Wir haben keine Informationen.“ „Hat sich der Präsident schon gemeldet?“ „Frank, der Stromausfall ist keine zwanzig Minuten alt. Ich nehme an, er wird eben über die Situation unterrichtet.“ „Ist wirklich der ganze Big Apple ohne Strom?“ „Der Big Apple und noch viel mehr.“ „Ich habe gehört, bis Detroit ist kein Saft da. Sie haben das im Radio behauptet.“ „Detroit? Rate mal, Frank, mit welcher Stadt ich gerade telefoniert habe.“ „Washington?“ „Toronto. Ich hatte jemanden von der Royal Canadian Mounted Police in der Leitung. Kannst du dir denken, was er mir erzählt hat?“ „Du willst mir doch wohl nicht weismachen wollen, in Toronto gäbe es keinen Strom!“ „Kein Watt, Frank. Die Stadt ist ausgeknipst wie die unsere auch. Irgendjemand muss einen riesigen Schalter umgelegt haben.“ Stuart lachte humorlos über seinen eigenen Scherz. „Nur die Telefone funktionieren noch – und ich weiß nicht einmal, ob ich glücklich darüber sein soll.“ Im Hintergrund legten sich
„Glaubst du, dass es ein Anschlag ist?“ kam Mandys Stimme aus dem Telefon. „Diese Al Qaida-Leute vielleicht? Hatten sie nicht irgendetwas angekündigt?“ „Nicht, dass ich wüsste“, sagte Frank abwesend. Ein Terroranschlag ... Ein zweiter 11. September. Ohne sich darüber bewusst zu werden, warf er einen Blick auf den Kalender an der Wand. Der 14. August 2003. Würde dieses Datum bald in aller Munde sein? Würde es eine zweite tiefe Kerbe in den Kalender der amerikanischen Geschichte schlagen? War es islamischen Fundamentalisten gelungen, ein Flugzeug in ein Kraftwerk stürzen zu lassen? Oder hatte es eine Bombenexplosion gegeben? Was ereignete sich in diesem Moment da draußen? Ohne Strom würde in New York nicht mehr viel gehen. Frank versuchte sich auszumalen, was noch funktionieren würde und was nicht. Autos würden selbstverständlich fahren, aber wegen der ausgefallenen Ampeln würde es vermutlich zu einem Verkehrschaos kommen. Die Züge mussten stehen geblieben sein. Und mit ihnen die U-Bahnen. Wie die Aufzüge. „Mandy, hörst du, ich denke, es wird nur ein paar Minuten dauern. Ich glaube nicht an einen Terroranschlag. Es muss eine Überlastung sein – es ist ein heißer Tag, jede Klimaanlage in Nordamerika läuft auf Hochtouren. Wir hatten so etwas schon einmal. Erinnerst du dich?“ Mandy Stimme kam schwach zurück: „Ja, das war ... vor vier oder fünf Jahren.“ „Damals hatte es auch eine Hitzewelle gegeben. Heute geschieht es aus genau demselben Grund, davon bin ich überzeugt.“ „Aber sie sagten damals, es könne nicht wieder vorkommen ...“ „Ja, natürlich. Das werden sie dieses Mal wieder sagen, wetten? Wir müssen einfach nur die Ruhe bewahren. Es geht vorbei. In ein paar Minuten oder Stunden. Lehnen wir uns zurück, lesen wir ein Buch. Du hast doch Kerzen im Haus, oder?“ „Sicher, Frank.“ „Gut. Hör zu, Mandy, ich muss jetzt
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verengten und weiteten sich abwechselnd. Die Frage passte nicht zu ihr. Warum hatte ausgerechnet sie, die weder Rücksicht noch Anstand kannte, in dieser Situation Angst? Die Antwort war einfach: Weil sie in Wirklichkeit noch ein Kind war. „Bomben? Auf die Bronx bestimmt nicht“, erwiderte Frank. Ja, vor Terroranschlägen waren sie hier weitgehend sicher. Die Ziele, die die Terroristen anvisieren würden, lagen jenseits des Harlem Rivers, in dem Stadtteil, den die meisten Nicht-New Yorker meinten, wenn sie „New York“ sagten: In Manhattan. Ein bisschen froh war er insgeheim schon, dass er sich jetzt nicht zwischen den Häuserschluchten der Wolkenkratzer aufhielt. Ihm wäre noch wesentlich mulmiger zumute gewesen. Aber vom Himmel fallende Flugzeuge waren nicht die einzige Gefahr, mit der sie rechnen mussten. Wenn die Elektrizität nicht zurückgekehrt war, ehe die Nacht einbrach, konnte sich die Acht-MillionenStadt in ein Albtraum-Szenario verwandeln. Vor allem in den ärmeren Stadtteilen hier in der Bronx und in Harlem konnte die Gewalt eskalieren. In die ohnehin düsteren Seitengassen würde sich kein Lichtstrahl mehr verirren, und im Schutz der Dunkelheit würden Diebe und Räuber die Chance ihres Lebens sehen – und ohne zu zögern danach greifen. Banden würden sich zusammenrotten, um die Bewohner der Bronx ihre Macht spüren zu lassen – weitgehend unbehelligt von der Polizei, denn man konnte nicht an jede Ecke einen Police Officer stellen. Vielleicht würden sogar bürgerkriegsähnliche Verhältnisse einkehren, und Horden von sozial Schwachen würden plündernd und brandschatzend durch die Straßen ziehen. Auch Menschen, die nie ein Verbrechen begangen hatten, konnten die Gunst der Stunde nutzen, um sich ungesehen an den Gütern ihrer Nachbarn zu bereichern. Wenn an irgendeiner Stelle der Stadt das Chaos ausbrach, würde es sich wie ein Lauffeuer ausbreiten. Es war schwer, die
zahllose verschiedene Klingeltöne übereinander. Menschen redeten und fluchten. Mr. Bronx war sprachlos. New York, Detroit, Toronto – ein gewaltiges Dreieck spannte sich zwischen diesen drei Millionenstädten. Er merkte, wie sein Herz zu klopfen begann. Ein ungutes Gefühl erfüllte ihn. Erinnerungen an verschiedene Katastrophen, die er miterlebt hatte, wurden wach. Natürlich stand der Terrorangriff auf das World Trade Center vor zwei Jahren an vorderster Stelle. Nine/Eleven, wie die Amerikaner diesen Tag nannten. „Brauchst du mich, Phil?“ fragte er. „Offen gestanden weiß ich das nicht, Frank. Wir mobilisieren alles, was möglich ist. Ich glaube ehrlich gesagt nicht, dass du sehr weit kommen würdest. In Manhattan sind die meisten Straßen schon dicht, und auch in der Bronx fängt der Verkehr zu stocken an. In Kürze ist da mit einem Auto kein Durchkommen mehr. Vielleicht kannst du in deiner Nachbarschaft nach dem Rechten sehen. Ich ... ich muss auflegen, Frank. Drei Leute brüllen gerade auf mich ein, und ich verstehe keinen davon.“ Frank Reynolds nickte nachdenklich und unterbrach die Verbindung. Als er den Kopf hob, stand Lizza vor ihm. Sie hatte sich verändert. In ihren Augen lag plötzlich etwas, das er an ihr bisher noch nicht wahrgenommen hatte. Unsicherheit, vielleicht sogar Angst. Die Tür hinter sich hatte sie offen gelassen, und man konnte sehen, dass einige Leute aus den höheren Etagen die Treppe herab kamen. Die meisten wirkten gelassen, lachten sogar und rissen Witze, auch wenn sie das Pochen aus dem Aufzugsschacht sichtlich irritierte. Einige drückten auf den Knöpfen herum und diskutierten, was zu tun war. „Werden sie Bomben auf uns werfen?“ fragte Lizza und biss sich auf die kirschrote, volle Unterlippe. Ihre riesengroßen Augen fixierten ihn,
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wo es wirklich wichtig ist, habe ich keinen Saft mehr! Und das nur, weil du die halbe Nacht mit Kalkutta oder Delhi oder weißder-Henker-wo telefonieren musst! Und meine Taschenlampe hast du auch unbrauchbar gemacht – vielleicht wären wir heute Nacht noch froh, wenn wir eine funktionierende Taschenlampe hätten. Wenn diese ganze Stadt nämlich im Dunkeln verschwindet. Hast du schon mal so weit gedacht?“ Frank konnte sich plötzlich nicht mehr beherrschen. Jähzorn gehörte absolut nicht zu seinen Charaktereigenschaften, aber die Vorstellung, dass ihm jemand vielleicht etwas Lebenswichtiges mitzuteilen hatte und es nun nicht konnte, weil Oswald Kelly es versäumt hatte, seine Tochter zu erziehen, machte ihn halb wahnsinnig vor Wut. Er lief im Zimmer auf und ab und schüttelte immer wieder den Kopf. Ich habe es getan, hatte Will Putlasky in die Muschel gekeucht. Ich habe es getan. Ich wusste ja nicht. Ich wollte ja nicht. Und im Nordwesten der USA war der Strom ausgefallen. Natürlich musste das nicht zusammenhängen. Ja, es wäre sogar verrückt, wenn es eine Verbindung gäbe. Aber ... „Hast du nachgesehen, ob die Akkus wirklich leer sind?“ erlaubte sich Lizza Kelly-C. die unverschämte Frage. Ohne einen Blick auf das Display zu werfen, hielt Frank der Achtzehnjährigen das Mobiltelefon hin. „Siehst du es?“ brummte er. „Siehst du es?“ „Sie sind nicht leer“, sagte Lizza leise, aber ein bisschen trotzig. „Was?“ Der Detektiv starrte auf das Display. Tatsächlich war ein Teil des vierteiligen Energie-Balkens schwarz, während die anderen drei nur als Umriss zu sehen waren. Die Akkus waren wirklich nicht ganz leer. Natürlich. Er hatte das Handy ja am Morgen fast zwei Stunden in die Ladestation gestellt, ehe sie seine Wohnung verließen. Lizza sah ihn nicht an. Sie hielt den Blick gesenkt und starrte auf einen Punkt vor
Situation und ihre Konsequenzen abzuschätzen. New York war zu einer Zeitbombe geworden. Franks Armbanduhr zeigte halb Fünf. Solange es noch hell war und es zu keinen Terrorakten kam, würde das Verkehrschaos das größte Problem bleiben. Sobald jedoch die Nacht hereinbrach, konnte es nötig werden, sich in den Häusern zu verbarrikadieren. „Was machen wir jetzt, Onkel Frank?“ erkundigte sich Lizza, und es war eine wirklich gute Frage. Frank setzte zu einer Antwort an, die keine war, als sein Handy klingelte. „Reynolds“, meldete er sich gespannt. „Mr. Reynolds“, kam eine Stimme schwach über den Äther. „Ich bin’s, Will Putlasky. Sie erinnern sich doch.“ Frank brauchte einen Augenblick, dann kam ihm die Erleuchtung. Der Mann, der ihn am Morgen angerufen hatte, um ihn zu bitten, den Babysitter für seine Tochter zu spielen. Wie war noch gleich der Name der Sechzehnjährigen gewesen? Jenny? Jackie? „Mr. Reynolds, ich bin so froh, Sie zu erreichen. Ich ... es ... ich habe es getan. Ich wusste ja nicht, ich meine ... ich wollte nicht ... Jessica – ich habe versucht, sie zu erreichen. Aber sie war nicht .... sie ist nicht zu Hause. Das ... macht mir Sorgen, g-große Sorgen. Sie hat mir versprochen, nicht aus dem Haus zu gehen, und ...“ Frank runzelte die Stirn und wandte sich von Lizza ab. „Wiederholen Sie bitte noch einmal in Ruhe, wovon Sie sprechen, Mr. Putlasky. Ich verstehe Sie nicht.“ „Es ... es geht um Jessica“, kam die Antwort. Und dann – nichts mehr. Die Leitung war auf einmal tot. „Verdammt, Lizza!“ brüllte Frank, knallte das Mobiltelefon gegen seinen Schenkel und wirbelte herum. Er sah rot. „Die Akkus!“ rief er mit überschnappender Stimme. „Jeden gottverdammten Tag meines Lebens lade ich die Akkus, und soll ich dir was verraten? Bisher sind sie mir noch nie ausgegangen. Und jetzt – jetzt,
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und warum stand er so breit und schwer auf dem Schlauch? Er ließ sich die Nummer anzeigen und wollte sie schon in das Telefon auf Mandys Schreibtisch tippen, als er es sich anders überlegte, einen Notizzettel von dem Block abriss und die Ziffern darauf notierte. Sicher war sicher. Falls die Akkus doch noch den Geist aufgaben, war die Nummer dahin. In diesen Minuten wurde ihm bewusst, wie unsicher es im Grunde war, auf elektronischen Medien Informationen zu speichern. Selbst an die Daten auf seinem Notebook würde er nur kommen, solange die Akkus hielten. Er fragte sich, was noch alles seinen Geist aufgegeben hatte – Dinge, an die man im ersten Moment nicht dachte: Elektrische Garagentore zum Beispiel, die Alarmanlagen von Banken und Museen. Lebenserhaltungssysteme in den Krankenhäusern. Gut, es gab Notstromaggregate, aber nicht überall. Und nicht alle funktionierten. Nun wählte er Putlaskys Nummer. Es war besetzt. Nach zehn erfolglosen Versuchen gab er es auf und setzte sich nachdenklich auf den Schreibtisch. Lizza hatte wieder auf Mandys Stuhl Platz genommen und sah ausdruckslos auf den dunklen Schirm. Wenn er den Mann nicht erreichte, musste er wenigstens herausfinden, von wo aus er angerufen hatte. Vielleicht war es ganz in der Nähe, und er konnte ihn persönlich aufsuchen. Aber die Telefonauskunft anzurufen, würde einem Lotteriespiel gleichkommen. Blieb wieder einmal nur Phil Stuart. Er versuchte es nahezu eine Stunde lang, doch er bekam den Captain nicht an die Strippe. Erwartungsgemäß galt dasselbe für die Auskunft. Auch bei Putlasky hatte er keinen Erfolg. Warum rief der Mann nicht einfach noch einmal über das Festnetz an? Hatte er nicht behauptet, er habe Franks Handynummer von dem Anrufbeantworter dieses Apparates? Dieses Apparates hier, den Frank nun anstarrte, als wolle er ihn hypnotisieren?
seinen Füßen. „Es tut mir Leid, Lizza“, brachte er hervor. Das Mädchen antwortete nichts. Himmel, wenn sie ihn wenigstens auf ihre hochnäsige, arrogante Art angepflaumt hätte! Sie starrte nur auf den Teppichboden und sah aus, als würde sie jeden Moment zu weinen beginnen. Unter dem weißen, viel zu engen Top hoben sich ihre Brüste langsam und zitterten ein wenig. „Aber warum ist das Gespräch überhaupt abgebrochen, wenn die Batterien in Ordnung sind? Das ist doch unmöglich ...“ Frank drückte mehrmals den Einschaltknopf. „Ich glaube“, sagte Lizza nach kurzem Überlegen, „alle Leute in New York haben in den letzten Minuten versucht, ihre Verwandten und Freunde zu erreichen. Das Handynetz ist einfach zusammengebrochen.“ Frank sah sie an. Ja, das war durchaus denkbar. Das Mobilfunknetz war nicht immun gegen Überlastung – immer wieder hatten die Fachleute davor gewarnt. Vermutlich hatten die Bewohner von New York in der letzten halben Stunde seit dem Stromausfall vor allem eines getan: Sie hatten telefoniert. Er selbst hatte die ganze Zeit über nichts anderes gemacht. Und das bedeutete, es würde keine vorübergehende Erscheinung sein. Die Leute würden es weiter versuchen, würden unablässig die Wahlwiederholtasten drücken – würden ihre Familien anzurufen versuchen, ihre Arbeitgeber, die Medien, die Polizei, die Behörden, ja, vielleicht sogar das Weiße Haus ... Selbst wenn in Amerika in der nächsten Sekunde die Lichter wieder angingen, würde für die nächsten Stunden mit dem Handy kein Durchkommen mehr sein. „Wie erreiche ich jetzt nur diesen Putlasky?“ murmelte Frank im Selbstgespräch. „Über das Festnetz“, erklärte Lizza ernst. „Wenn dich jemand anruft, wird seine Nummer auf dem Handy gespeichert.“ Ja. Verdammt, warum hatte sie so Recht,
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„Wenn dort die Bildschirme nicht auch schon schwarz sind ...“ „Mal den Teufel nicht an die Wand!“ Frank fuhr das Notebook hoch und stellte die Verbindung zum Internet her. In die Adresszeile des Browsers gab Frank verschiedene Phantasienamen von Seiten ein, die ihm spontan einfielen: LAFind, LA-Web, LA-Search ... Er wusste nicht, ob Seiten dieses Namens existierten und ihm weiterhalfen, aber ihm blieb nichts übrig, als es mit der größten Stadt an der Westküste zu versuchen. Jede der Adressen versah er mit einer com-Endung. LosAngeles-Search.com war sein fünfter Versuch – und da war sie auch schon: Eine schlichte Katalogseite mit einer integrierten Suchmaschine baute sich auf. Angeblich erfasste sie nicht nur LAspezifische Seiten, sondern durchsuchte das gesamte Netz. Frank gab die Telefonnummer ein, die er eben notiert hatte. Wenn er Glück hatte, wusste er bald, von wo Will Putlaskys Anruf gekommen war. Lizza war neugierig geworden, hatte ihren hübschen Nabel Nabel sein lassen und sich hinter Frank gestellt. „Fehlanzeige“, kommentierte sie, als die Meldung „Suchbegriff nicht gefunden“ auf dem LCD-Monitor erschien. Aber Mr. Bronx gab nicht auf. Angenommen, die Nummer gehörte zu einem Apparat innerhalb einer Firma, dann würde nicht jeder einzelne Anschluss auf der Website der Firma aufgeführt sein. Er löschte die letzten drei Ziffern aus dem Eingabefeld und startete die Suche erneut. Und damit würde er fündig. „Heiliger Fuck!“ fluchte Lizza. „Das kannst du laut sagen.“ Frank traute seinen Augen nicht. Für die Nummer, die er eingegeben hatte, gab es nur ein Suchergebnis. Und dieses war nichts anderes als die Internetpräsenz eines Elektrizitätswerkes im Bundesstaat Ohio. Von dort aus hatte Will Putlasky Frank angerufen. Schon Stunden vor dem wahrscheinlich größten Stromausfall in der
Vermutlich dachte Putlasky, der Privatdetektiv hätte die Verbindung absichtlich unterbrochen, weil er nicht mit ihm reden wollte. Schließlich hatte Frank schon das erste Gespräch recht taktlos abgebrochen. Ich will mit Ihnen reden, Mr. Putlasky, ich will, dachte er verbissen. Plötzlich sah er auf. „Lizza“, sagte er. Das Mädchen hatte sich auf dem weich gefederten Bürostuhl zurückgelehnt und schaukelte ein wenig vor und zurück. Ihre orangefarbenen Fingernägel spielten mit dem Saum ihres Tops. Das Kleidungsstück ließ ihren Bauchnabel frei, und sie hatte eine Büroklammer aufgebogen und rund um ihren Nabel gelegt – vermutlich, um zu sehen, ob ihr ein Piercing in dieser Form stehen würde. „Lizza, du sitzt auf dem Assistentinnenstuhl, also bist du jetzt meine Assistentin. Hilf mir einen Moment beim Nachdenken, ja? Es ist wichtig herauszufinden, wo diese Telefonnummer hingehört. Unter normalen Umständen hätte sich dafür die Auskunft angeboten, oder das Internet. Aber die Auskunft ist überlastet, und für das Internet fehlt mir der Strom.“ „Kannst du mit deinem Notebook nicht ins Netz?“ fragte Lizza eher beiläufig. Sie angelte sich eine zweite Büroklammer und verwandelte sie in ein Dreieck. „Doch.“ Er fuhr sich aufgeregt durch die Haare und dachte nach. „Wenn das Telefonieren klappt, komme ich auch ins Internet, das ist richtig. Und die Akkus müssten voll sein – das heißt, ich habe ein, zwei Stunden.“ „Was ist mit den Servern?“ meinte das Mädchen. „Keine Power – keine Server. Keine Server – kein Internet, oder?“ „Das gilt für die Server in den betroffenen Gebieten. Aber wenn ich eine Suchmaschine erwische, die woanders steht, irgendwo, wo es noch Strom gibt, dann habe ich eine Chance. Ja, das ist es. Die Westküste! Ich muss an die Westküste kommen.“
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es tatsächlich geschehen würde. Doch Jessica kannte ihren Vater. Er würde reagieren, wie man es von ihm verlangte. Wie lange würde er zögern, wie lange mit sich hadern, ehe er einsah, dass ihm keine andere Wahl blieb? Die Geduld der beiden wurde auf eine schwere Probe gestellte. Erst kurz nach vier Uhr war es soweit. Die Beleuchtung in dem kleinen, fensterlosen Raum, in dem Jessica alleine saß, erlosch mit einem kurzen Flackern. Eine Gänsehaut rannte ihr über den Rücken. Bis vor einer Sekunde war es ein grotesker Einfall gewesen, und nun war es plötzlich Realität. New York hatte keinen Strom mehr, und mit New York ein großer Teil des amerikanischen Nordostens. Jessica hielt es nicht mehr auf ihrem Stuhl. Das große Abenteuer hatte begonnen. Sie brannte darauf, einen Blick aus einem Fenster zu werfen, sie wollte wissen, wie die Stadt jetzt aussah. Im ersten Moment würde noch nicht zu erkennen sein, welche Gebäude über Notstromaggregate verfügten und welche nicht. Das würde erst die hereinbrechende Nacht offen legen. Die Nacht würden sie auf dem Dach des Hochhauses erwarten. Es war wie in einem Film – schöner noch ... Als die Sechzehnjährige in den Gang huschte, hörte sie aufgeregte Stimmen. Alle Angestellten der umliegenden Büros strömten in die Flure und redeten durcheinander. Die Situation war anders, als Frank Reynolds sie in der Bronx erlebte. Nur die wenigsten Leute lachten. Es war der fünfzehnte Stock, die Midtown von Manhattan. Die Leute waren nervös. Seit dem 11. September 2001 hatten sie mehrfache Rettungsdrills erlebt, hatten sich die Köpfe heiß diskutiert, was zu tun war, wenn der nächste Anschlag kam. Einige starrten aus den Fenstern, suchten mit den Blicken den Himmel ab. Andere strömten in die Treppenhäuser. Nur ein oder zwei verwirrte Leute taten das Falsche und liefen zu den Aufzügen. Die Lichter in den Knöpfen und Anzeigen
Geschichte der USA, am Morgen des Tages. Und eine halbe Stunde, nachdem die Lichter ausgegangen war, noch einmal. Man hat meiner kleinen Jessica gedroht, sie zu entführen, wenn ich nicht im Laufe des heutigen Tages etwas ganz bestimmtes tue. Und dann: Ich habe es getan. Ich wusste ja nicht. Ich wollte nicht. „Mein Gott“, würgte Frank Reynolds hervor. Er lehnte sich in seinem Sessel zurück und schloss die Augen. Ein Gefühl der Übelkeit überkam ihn. * Der verrückte Plan zweier junger Leute hatte geklappt wie am Schnürchen. Cesare hatte Jessica einfach in das Bürogebäude eingeschleust, ohne dass es jemandem aufgefallen war. Ihn, den Fensterputzer, kannte man hier in der Gegend, und das junge Mädchen sah in ihrer lieblosen Kluft aus, als gehöre sie ebenfalls zur Riege der Putzfrauen. Das zwanzigstöckige Gebäude befand sich in der Seventh Avenue, eine halbe Meile nördlich vom berühmten Madison Square Garden entfernt, auf der Höhe der 37. Straße. Es beherbergte einige Boutiquen und Restaurants auf den unteren Etagen und die Büroräume von Firmen und Versicherungen in den höheren Stockwerken. Von den obersten Etagen abgesehen, herrschte reger Publikumsverkehr, und es war unmöglich, alle Personen zu kontrollieren, die ein und aus gingen. Es gab einen kleinen Raum im fünfzehnten Stock, in dem nicht nur die Putzutensilien untergebracht waren, sondern auch ein kleiner Tisch mit vier Stühlen aufgestellt war, an dem sich das Reinigungspersonal ausruhen oder einen kleinen Imbiss einnehmen konnte. Jessica verbrachte den größten Teil des Tages dort, während Cesare seiner Arbeit nachging, als wäre es ein Tag wie jeder andere. Noch wussten sie nicht mit Sicherheit, ob
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uns Angst einjagen.“ Zwei Frauen zuckten lächelnd die Schultern, und die eine meinte gelassen: „Mein Horoskop für diese Woche war eigentlich gar nicht so schlecht ...“ Dann drehte sie den Kopf und entdeckte die beiden Jugendlichen, die den Fliehenden nachsahen. „Hey“, rief sie im Gehen. „Ihr zwei da! Ihr habt jetzt ein ganzes Hochhaus für euch. Viel Spaß damit!“ Jessica erstarrte, doch Cesare lächelte nur zurück und winkte ihr zu. „Sie weiß nichts“, flüsterte er. „Natürlich.“ Jessica nickte tapfer. „Aber wir warten besser noch ein paar Minuten.“ Das taten sie. Erst, als sie relativ sicher waren, dass auch die Menschen aus den obersten Stockwerken genügend Zeit gehabt hatten, das Gebäude zu verlassen, betraten sie das Treppenhaus und gingen langsam nach oben. Im neunzehnten Stock kam ihnen trotzdem noch eine junge Frau entgegen. „Wir kommen gleich nach“, sprach Cesare sie an, doch sie achtete nicht auf die beiden Jugendlichen. Sie sah aus, als hätte sie mit ihrer eigenen Angst genug zu tun. Eine Stahltür riegelte den Dachbereich ab. Cesare hatte einen Schlüssel dafür. Er hatte Schlüssel zu vielen Türen in diesem Haus – zu den Kellerräumen, den Heizungskellern, den Toiletten. Natürlich nicht zu den Büros, doch diese standen nun ohnehin alle offen. Man hätte eine Menge Dinge abstauben können, aber darum ging es ihnen gar nicht. Sie wollten nur aufs Dach. Wollten ganz weit oben sein – und zusehen, was unten passierte. Je weiter oben du bist, desto mächtiger bist du. So einfach ist das. Du darfst dir nicht einbilden, du müsstest dich nach oben arbeiten. Das schafft keiner. Wenn du von unten kommst, hast du keine Chance. Du musst einfach von oben kommen. Ein Mann namens Julian Spade hatte ihnen das erzählt. Sie hatten ihn in einer Bar in Soho kennen gelernt, die ihm gehörte. Er hatte sich neben Jessica
waren erloschen, kein Geräusch war aus den Aufzugschächten zu vernehmen. Eine schwergewichtige Frau in einem teuren Anzug nahm Jessica in den Arm und sagte: „Es ist nur ein Stromausfall. Keine Panik. Wir verlassen alle das Gebäude. Du gehst auch mit, mein Kind.“ Sie roch nach Kaffee. Jessica kannte die Frau nicht. Sie kannte niemanden hier. „Okay“, sagte sie leise und befreite sich aus ihrem Griff. „Ich muss nur noch schnell etwas holen.“ Sie lief gegen den Strom der Leute an und suchte nach Cesare. Sie hatten verabredet, dass er sie abholen würde, aber sie war zu ungeduldig, um auf ihn zu warten. Eine Außenreinigung der Fenster kam heute nicht in Frage, denn der Lift, den er benutzte, war ebenfalls vom Stromnetz abhängig. Wie viele Fensterputzer in den amerikanischen Großstädten in diesem Moment in der Luft hingen, wusste sie nicht. Es interessierte sie auch nicht. Sie begegnete Cesare in einem der Großraumbüros. Eben hatten noch fünfzig Leute hier gearbeitet, nun war der Raum leer. In Tassen dampfte Tee, und in hohen Gläsern perlten kohlensäurehaltige Getränke mit Eis. Cesare war nur einen Meter fünfundsechzig groß, aber ein junger Mann, der einem Mädchen den Kopf verdrehen konnte. Seine kräftigen schwarzen Haare hatte er an den Spitzen blondiert, und selbst der fleckige Arbeitsanzug brachte seinen durchtrainierten Körper zur Geltung. In Cesares Augen flackerte es stets angrifflustig, und er war jederzeit bereit, etwas Verrücktes oder Riskantes zu tun. Jessica war diesem Blick verfallen. „Komm“, flüsterte er, nahm sie an der Hand und zog sie aus dem Raum. Auch die Flure leerten sich nun allmählich. Ein paar Männer führten sich auf, als hätten sie das Kommando. „Raus hier! Alle raus!“ rief ein großgewachsener Mann mit riesigen Augenbrauen. „Das ist die Al Qaida! Diese Wüstenkäfer wollen
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„Manchmal wünsche ich mir“, hatte Cesare mit glänzenden Augen begonnen, „ich könnte nachts da oben sein. Wenn mich niemand sieht. Dann würden mir die Insekten da unten noch hilfloser vorkommen. Aber man müsste diese verfluchten Scheinwerfer abschalten, die die Häuserfronten beleuchten. Niemand dürfte mich sehen.“ „Da müsste ich wohl meinen Dad mobilisieren“, hatte Jessica eingeworfen. Es war das erste Mal, dass sie sich in das Gespräch einschaltete. „Ja?“ hakte Julian Spade interessiert nach. Jessica lachte, nahm einen tiefen Schluck aus ihrem Cocktail leckte sich über die glänzenden Lippen. „Nur ein Scherz“, sagte sie. „Mein Dad arbeitet bei einem Elektrizitätswerk. Er ist Techniker.“ Spade, der eben noch so redselig gewesen war, verstummte. Mit einem Wink bestellte er sich einen zweiten Whisky und schüttete sich erst dann den Rest, der noch im Glas war, in die Kehle. Eine Minute lang sagte niemand etwas. Spades Whisky kam, und er trank die Hälfte davon in einem Schluck. „Du meinst, dein Dad könnte den Strom abschalten?“ erkundigte er sich dann mit gedämpfter Stimme. Im Hintergrund lief ein gefühlvoller Song von Whitney Houston. Ein paar Leute in mittlerem Alter tanzten eng umschlungen auf der kleinen Tanzfläche. Der Tresen war etwa zur Hälfte belegt – neben Spade saß niemand. „Keine Ahnung“, antwortete Jessica. Und dann, mit einem verklärten Lächeln: „Ich wette, er würde es auf die Reihe kriegen.“ Nachdem das Gespräch diese Wendung genommen hatte, schien Spade geistig immer mehr abzudriften. Er begann unzusammenhängend von Vietnam zu erzählen, von der Mangroven Nachtbaumnatter, die sich aus den Bäumen auf ihre Opfer stürzte, und von vielen anderen Dingen, die die beiden nicht verstanden. „Ihr jungen Leute hattet kein Vietnam“, murmelte er zwischen zwei Schluck
gesetzt, und zuerst hatte Cesare ihn für einen dirty old man gehalten, der es darauf anlegte, sein Mädchen anzumachen. Dann waren sie ins Gespräch gekommen. Er hatte sie zu einem Drink eingeladen, und der Barkeeper hatte erwidert: „Jawohl, Boss.“ Von dem Moment an interessierte sie, was er zu erzählen hatte. „Der American Dream“, hatte Julian Spade gesagt, „ist eine Lüge. Opium für die Massen. Kennst du einen, der es wirklich geschafft hat, vom Tellerwäscher zum Millionär? Klar, es gibt diese Leute. Aber die meisten, die heute ganz oben sind, waren schon immer da. Warum es die Kleinen nicht schaffen, willst du wissen? Ganz einfach: Weil sie in ihrem Herzen immer die Kleinen bleiben, und wenn sich ihnen mal die Chance ihres Lebens bietet, verpatzen sie sie, einfach weil sie sich nicht vorstellen können, wie es da oben ist, wie man sich dort zu benehmen hat. Ich komme von oben – mit neunzehn war ich Hubschrauberpilot. Lach nicht, in Vietnam habe ich gelernt, dass man immer von oben kommen muss, wenn man gewinnen will. Wenn du aus dem Himmel kommst, kannst du die Wälder entlauben. Kannst du dir so was Verrücktes vorstellen? Glaub mir, wenn du auf dem Boden sitzt, brauchst du gar nicht erst zu versuchen, den Himmel zu entwolken. So einfach ist das.“ Cesare lachte über den Scherz. Ihm gefiel der Gedanke irgendwie. Wälder entlauben. Himmel entwolken. Er war Fensterputzer, seit seinem sechzehnten Lebensjahr. Etwas anderes hatte er nie gelernt. Er war weit oben – und doch ganz unten. Fast jede dieser winzigen Ameisen, die Dutzende von Metern unter ihm durch die Straßen New Yorks krochen, verdiente mehr als er. Das kam ihm ungerecht vor. Immer schon hatte er das Gefühl gehabt, er stehe über ihnen. Wenn er auf seinem kleinen Außenaufzug stand, kam er sich vor wie der heimliche König der Stadt. Dass ein Mann, dem zwei Bars in Soho gehörten, die gleiche Meinung vertrat, berauschte ihn.
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Selbst an Cesares Hand wurde es Jessica schwindelig, und sie ging in die Hocke. Der Wind zerrte an ihrem T-Shirt. Gott, was hatten sie getan? Sie hatten einfach den Big Apple angehalten! Ihr Leben würde nie mehr so sein, wie es gewesen war. „Wir sind genau da, wo wir hinwollten“, sagte Cesare. „Genießen wir es.“
Whisky. „Ihr solltet eure Chance bekommen, die Welt von oben zu sehen. Unbedingt. Und wenn ich sie euch verschaffen muss.“ Als die beiden die Bar verließen, fand Jessica in ihrer Jackentasche zwei kleine rosafarbene Tabletten. Sie versuchten sie, als sie bei Cesare zu Hause angekommen waren. Beide hatten sie bereits Modedrogen wie Ecstasy oder Amphetamine genommen, doch an diesem Abend erlebten sie ihren ersten LSD-Trip. Ob Spade das gemeint hatte, als er von einer Chance sprach, „die Welt von oben zu sehen“, wussten sie nicht. Doch von diesem Abend an waren sie dem schrulligen Barbesitzer verfallen. Cesare öffnete die Stahltür und ließ Jessica den Vortritt. Der Junge war schon öfters auf Dächern wie diesem gewesen, doch für das Mädchen war es heute das erste Mal. Und sie war überwältigt. Die Sonne brannte heiß auf sie herab und blendete sie. Sie blieb einfach nur stehen und wartete, bis ihr Freund sie an die Hand nahm und führte. Die Ränder des ebenen Daches waren lediglich mit einem kniehohen Geländer versehen, und auch das nur teilweise. Gewaltige Lüftungsschächte und Kamine wuchsen wie kleine Häuser rings um sie empor. In allen Schächten herrschte Stille. Nur der Wind heulte in den Kaminen. Vorsichtig näherten sie sich dem östlichen Geländer und sahen auf die Seventh Avenue hinab. Die Straße verlief etwa sechzig Meter unter ihnen. Der Verkehr war ins Stocken geraten, und zahllose Menschen liefen zwischen den stehenden oder schleichenden Autos hindurch. Viele rannten, manche schlenderten beinahe lässig über die breite Straße. Es war, als hätte jeder von ihnen andere Anweisungen erhalten, wie er sich zu verhalten hatte. Nach kurzer Zeit ging es auch für die Fußgänger nur noch langsam vorwärts, denn von überall her strömten mehr und mehr Menschen aus den Gebäuden in die Straßen.
* Es dauerte nicht lange, bis sich der Ausfall der Klimaanlage bemerkbar machte. In Frank Reynolds’ Büro wurde es so heiß wie schon lange nicht mehr. „Gehen wir raus auf die Straße, Lizza! Sehen wir uns an, wie es sich entwickelt“, schlug der Privatdetektiv vor. Sich von Telefon und Internetanschluss zu entfernen, behagte ihm nicht. Aber im Büro festzusitzen und nichts tun zu können, war noch viel weniger sein Ding. Wenn Will Putlasky den Stromausfall tatsächlich verursacht hatte, dann traf Frank eine Mitschuld, zumindest eine moralische, denn er hatte nicht auf ihn gehört. Eigentlich wäre es nur natürlich gewesen, wenn sein Hass auf Lizza weiter gewachsen wäre, denn schließlich hatte ihr Verhalten ihn dazu getrieben, den Fall Jessica Putlasky barsch abzulehnen. Aber er schaffte es nicht mehr, ihr böse zu sein. Jetzt nicht mehr. Die Situation hatte ein Ausmaß angenommen, das solche Kleinlichkeiten nicht mehr zuließ. Jetzt galt es, zusammenzuhalten und zu retten, was zu retten war. Es war halb Sieben, als Frank mit Lizza auf die Washington Avenue trat. Sein Mercedes CL 600 war keine hundert Meter entfernt geparkt. Er gönnte ihm nicht einmal einen Blick. Der Verkehr war zum Stehen gekommen, die Leute waren ausgestiegen und unterhielten sich über das Geschehene. Schulterzucken war die häufigste Geste. Abgesehen von drei Frauen, die sich auf dem Gehsteig lautstark auf Spanisch unterhielten und dabei wild mit den Armen fuchtelten, schien sich
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Propangas aus Flaschen gekocht wurde, bot duftende Currygerichte an. Auf den Tischen brannten Kerzen, und die Theke war ebenfalls mit Kerzen romantisch beleuchtet. Frank und Lizza setzten sich auf die letzten beiden freien Stühle. Die Aufregung hatte sie hungrig gemacht, und das ging offenbar nicht nur ihnen so. Die Bedienungen, die mit ihren dunklen Gesichtern und Gewändern wie Schemen aus dem Zwielicht auftauchten, hatten alle Hände voll zu tun. An ihrem Tisch saß eine etwa vierzigjährige, langhaarige Frau vor einem Tandoori-Gericht. Sie hatte etwas von einem alternden Hippie-Mädchen an sich, ihre Bluse war mit einem riesigen Blütenmuster bedeckt, und an ihren Ohren hingen schwere, afrikanische Ohrringe, die nicht zu ihrem blassen weißen Gesicht passten. „Das schlimmste ist, dass ich meine Tochter nicht erreichen kann“, erklärte sie. „Ich bin sicher, Ihrer Tochter geht es gut“, meinte Frank höflich. „Das bezweifle ich nicht“, entgegnete die Frau und grinste. „Sehen Sie, Sir, ich bin neun Monate nach dem großen Stromausfall von 1965 zur Welt gekommen – und wissen Sie, wann ich meine Tochter geboren habe? Neun Monate, nachdem 1986 in einem Teil dieser Stadt der Strom ausfiel. Jetzt wäre es an meiner Tochter, die Familientradition fortzusetzen, aber sie ist erst siebzehn, und vielleicht denkt sie ja, ihre Mutter hätte kein Verständnis dafür ...“ Frank musste lachen, und Lizza stimmte ein. Sie sah gelöst aus, war ein anderer Mensch geworden. Nur in einem Punkt hatte sie sich nicht verändert: Sie war noch immer zum Anbeißen schön, und Frank wurde es beinahe flau im Magen, wenn er sie im Kerzenschein betrachtete und sich ihre Füße zufällig unter dem Tisch berührten. Langsam brach die Dunkelheit herein.
niemand aufzuregen. Man nahm es mit Gelassenheit. Wenn keiner vom Fleck kam, war es plötzlich nicht mehr so wichtig, dass man es eigentlich eilig hatte. Die Sportübertragung im Fernsehen würde man ohne Strom sowieso nicht verfolgen können, und der Chef würde einem nicht den Kopf abreißen, nur weil man eine Ware nicht lieferte oder einen Kunden nicht besuchte. Mehr lächelnde als finstere Gesichter waren zu sehen. Im Augenblick schienen die New Yorker die Situation im Griff zu haben. Fragte sich nur, was geschah, wenn in ein paar Stunden die Nacht hereinbrach ... Die meisten Händler schlossen ihre kleinen Läden, manche vernagelten aus Angst vor Plünderungen sogar ihre Schaufenster mit Brettern. Andere machten das Geschäft ihres Lebens. Ein Elektrogeschäft an der Ecke zur 174. Straße verkaufte Taschenlampen und Batterien zum doppelten Preis. Die Kunden fluchten, aber sie kauften. Frank warf einen Blick in den kleinen Laden und entdeckte noch eines dieser winzigen Radios, die man in die Hemdtasche stecken und nur über einen Kopfhörer abhören konnte – ein koreanisches Fabrikat, die Schachtel dicht mit Staub bedeckt. Er erwarb das Gerät für dreißig Dollar und war sicher, damit den fünffachen Preis bezahlt zu haben. Einen der Ohrhörer steckte er sich ins Ohr, den anderen bot er Lizza an, die ihn mit einem Lächeln annahm. Wie ein verliebtes Teenagerpärchen, das sich einen Walkman teilte, promenierten sie nebeneinander her. Der Präsident hielt eine Ansprache. Der Bürgermeister von New York löste ihn ab. Dann ein hoher Polizeibeamter. Der Innenminister. Immer wieder der Aufruf, die Ruhe zu bewahren. Tausende steckten in U-Bahnen und Aufzügen – nach und nach wurden sie befreit. Viele kleine Dramen spielten sich allerorten ab, aber zu Katastrophen schien es bislang nicht gekommen zu sein. Eine indische Gaststätte, in der mit
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schwankend zwischen den Fahrzeugen hindurch. Unwillkürlich fragte sich der Mediziner, wie sie nach Hause kommen würde. Ihr helles Kleid klebte mit dunklen Flecken an ihrem Körper. Sie machte nicht den Eindruck, als wäre sie zu einem langen Fußmarsch fähig. Im nächsten Augenblick wurde dieses Problem auf grauenvolle Weise nichtig gemacht. Der Arzt konnte später nicht sagen, ob er einen Schuss gehört hatte. Die Geräuschkulisse war vielfältig – manche Leute riefen etwas, und die Automotoren brummten monoton. Die füllige Frau war keine fünf Meter von ihm entfernt, als sie einen Schlag in den Rücken erhielt. Es war ein heftiger Stoß, ausgeführt von einer unsichtbaren Hand. Doch direkt hinter ihr befand sich niemand. Ohne einen Schrei auszustoßen, fiel die Frau nach vorne auf den Asphalt. Ihre letzte Reaktion war, die schweren Arme nach oben zu reißen, wie, um ihren Sturz aufzuhalten. Ihr rechter Oberarm lag vor ihrem Kopf, als sie auf den harten Untergrund prallte, und verhinderte, dass sie sich das Gesicht aufschlug. Zwei oder drei Passanten hatten es mitangesehen und wichen zurück. Jemand schrie etwas von einem Herzanfall. Offenbar hatte er den Schlag nicht gesehen, den die Frau erhalten hatte. Der Mediziner stürzte auf die Frau zu. Er wusste, was geschehen war. Sie hatte eine Kugel gefangen. Jemand musste auf sie geschossen haben. Er schluckte, als er neben ihr niederkniete. Für einen Moment warf er einen Blick schräg nach oben. Er war sicher, dass der Schuss nicht aus der Menge gekommen sein konnte, sondern von weiter oben. Die Seventh Avenue war von Wolkenkratzern gesäumt wie viele Straßen Manhattans. Finster ragten die Giganten in den sich verdüsternden Himmel. Der Arzt hielt den Atem an. Der
Man nannte die Gegend zwischen der Fifth und der Ninth Avenue das Fashion Center. Doch nur ein Teil der Firmen, die sich hier angesiedelt hatten, gehörten der Modebranche an. Tausende von Menschen überquerten die Seventh Avenue an Stellen, an denen sie sie nie überquert hatten. Die meisten von ihnen traten einen Heimweg an, den sie zahllose Male mit der U-Bahn oder dem Bus zurückgelegt hatten. Die Busse standen jetzt zwischen Personenwagen, Lieferwagen und Taxis im Stau – die meisten Fahrgäste waren ausgestiegen, die Sitzreihen leer. Auch aus den U-Bahn-Schächten kamen jetzt allmählich Menschen. Sie hatten lange Wege durch die Tunnels hinter sich. Einigen sah man an, dass sie geweint hatten. Viele hatten sich wegen der Hitze die Kleider vom Leib gerissen. Glattrasierte, durchgestylte Geschäftsleute liefen mit geöffneten Hemden umher und zeigten eine dicht behaarte Brust. Es war nach neun Uhr, die Dämmerung hatte begonnen. Ein junger Arzt überquerte die Straße. Er hatte eben erst seine Praxis geschlossen. Dehydrierte und überhitzte Menschen hatten sein Wartezimmer gefüllt, und er hatte sie nicht einfach wegschicken können. An allen Ecken machten Ärzte Überstunden, versorgten Leute, die mit Panikattacken oder Sonnenstichen zu kämpfen hatten. Noch immer drängten sich die Menschen auf den großen Verkehrswegen. Viele der Autofahrer hatten ihre Motoren nicht abgestellt, obwohl sie schon seit Stunden nicht mehr vom Fleck gekommen waren. Ohne den Motor lief die Klimaanlage nicht, und ohne die Klimaanlage war es in den Fahrzeugen unerträglich heiß. Die Nacht würde bald Linderung bringen, zumindest in diesem Punkt. Der Arzt quälte sich durch den Auspuffqualm eines Kleinlasters. Vor ihm ging eine große, dicke Frau mit kurzen, blondierten Haaren. Mit ihren schweren, baumgleichen Beinen stapfte sie
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Person von einer Kugel getroffen. Ein junger Kaufmann chinesischer Abstammung. Der Schuss traf ihn in den Oberarm und riss eine tiefe, aber nicht lebensgefährliche Wunde in das Fleisch. Und doch hatte dieser zweite Schuss eine gewaltige Wirkung. Er löste eine Panik unter den Menschen aus. Plötzlich wollten alle weg von diesem Ort, raus aus der Seventh Avenue, irgendwohin, wo sie sich nicht wie auf dem Präsentierteller fühlten. Eine Nachricht machte die Runde: Ein irrer Mörder zielte aus der Dunkelheit auf Passanten. Vermutlich aus einem der umliegenden Hochhäuser. Aber aus welchem? Aus welchem Stockwerk, aus welchem Fenster? Während die Menschen zu rennen begannen und ein gewaltiges Gedränge entstand, ließen viele von ihnen ihre Blicke kreisen, versuchten, den Aufenthaltsort des Killers ausfindig zu machen. Der Lärmpegel stieg. Obwohl viele die Ruhe bewahrten, schrien sich andere aufgebracht an, meinten, ihre Vordermänner dazu antreiben zu müssen, schneller Platz zu machen. Immer wieder glaubte jemand etwas gesehen zu haben und brüllte: „Da oben! Da ist er!“ Und Hunderte von Augenpaaren folgten einer ausgestreckten Hand. „Oh Gott, das ist ein Albtraum, ein verdammter Albtraum!“ kreischte ein grauhaariger Mann im hellen Anzug. Mit jeder Minute senkte sich nun die Dunkelheit der Nacht über New York herab. Und wie ein gewaltiger Schatten begann die Drohung des unsichtbaren Killers das Zentrum von Manhattan einzuhüllen.
Gedanke, dass von irgendwo hinter einem der Fenster jemand einen Schuss in die Menge abgegeben hatte, ließ ihn erschauern. Wenn das so war, dann befand auch er sich in der Schusslinie. Die Menschen bildeten einen Kreis um die Frau und ihn – der Radius betrug mehrere Meter. Es war wie eine Zielscheibe. Er war das Schwarze auf der Scheibe. Als er den Blick wieder auf die Frau richtete, hatte sich ein gewaltiger Blutfleck auf ihrem Rücken gebildet. Das Zentrum lag eine Handbreit links von der Wirbelsäule, gleich unterhalb der Schulter. Eine schlechte Stelle. Eine der schlechtesten. Er hätte eigentlich weglaufen müssen. Der Frau war nicht mehr zu helfen. Ihr Kleid saugte sich mit ihrem Blut auf, wie zuvor mit ihrem Schweiß. Sie hatte keinen Puls mehr. Irgendetwas Verrücktes brachte ihn dazu, sie nicht alleine dort liegen zu lassen, sondern neben ihr zu knien. Vielleicht war es das Bewusstsein, dass New York in diesen Stunden Menschen brauchte, die sich keine Angst einjagen ließen. Die einfach das taten, was sie unter anderem Umständen auch getan hätten. Und damit zu dem wurden, was man später die „Helden“ nennen würde. Es dauerte viele lange Minuten, bis zwei uniformierte Polizisten eintrafen und ihn mit Fragen zu löchern begannen. Der Arzt ließ sich wegführen und beobachtete mit zwiespältigen Gefühlen, wie die Beamten den Ort des Verbrechens abriegelten. Ein merkwürdiger, bizarrer Anblick. Sie zogen eine Schranke um ein Quadrat von etwa fünf Meter Seitenlänge. Ganz, als gäbe es dort irgendwelche Spuren zu sichern. Oder, als würde der nächste Schuss wieder dieselbe Stelle treffen. „Es war gefährlich, bei ihr zu bleiben“, erklärte ein Polizist. Der Arzt nickte mechanisch. Keine zehn Minuten später wurde in hundert Metern Entfernung eine zweite
* „Geh nicht so nahe ran“, flüsterte Jessica. „Du machst mir Angst.“ Cesare lief am Rand des Daches entlang. Er tat es lässig, als schlendere er im Park dahin, ohne die Arme auszubreiten und sich auszubalancieren. „Es ist, als ginge man auf einem Randstein“, sagte er.
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gegenüberlagen. Wenn sie sich nicht getäuscht hatte, war der Blitz ungefähr aus ihrer Höhe gekommen. „Cesare“, wisperte sie gebannt. „Da unten ...“ Ein kleiner Kreis bildete sich aus der anonymen Masse der Menschen. In der Mitte des Kreises befanden sich ein oder zwei Leute. Ja, es sah aus, als hätte sich dort jemand über einen anderen gebeugt. Die anderen wichen zurück. Irgendwo dort unten leuchteten zwei, drei Taschenlampen auf. „Hast du den Knall gehört?“ fragte Jessica. Cesare verneinte, kauerte sich neben sie, streichelte ihren Rücken und starrte mit ihr auf die Seventh Avenue hinab. Nach fünf Minuten tauchten Polizisten auf. „Ich habe einen Schuss gehört“, sagte Jessica. „Und irgendwo auf der anderen Straßenseite hat etwas geblitzt. Es kam aus einem der Fenster gegenüber von uns.“ „Mündungsfeuer?“ stieß Cesare ungläubig hervor. Das Mädchen zuckte die Schultern. Der Junge starrte auf die Wand aus Gebäuden, die immer mehr in der Dunkelheit verschwand. „Ein Fernglas müsste man haben“, meinte er erregt. Den zweiten Lichtblitz sah Cesare unmittelbar vor sich. Jessica, die nach unten geblickt hatte, hatte ihn diesmal nicht wahrgenommen. Aber sie hörte den Knall. Unten brach jemand zusammen, und die Menschen begannen zu rennen. „Mein Gott“, flüsterte die Sechzehnjährige. „Was ist das?“ „Sei still“, zischte Cesare. „Ich habe genau gesehen, aus welchem Fenster es kam. Da drüben ist jemand und schießt auf die Leute. Verdammt, ich kann ihn nicht erkennen. Es war das Gebäude da drüben, mit den hohen Fenstern.“ „Welches Stockwerk?“ drängte Jessica. Cesare starrte angestrengt auf das Haus. Es war nicht leicht, sich das Fenster zu merken, aus dem der Blitz gekommen war. Jeder Stock und jedes Fenster sah exakt
Demonstrativ steckte er beide Hände in die Hosentaschen. Neben ihm gähnte ein über fünfzig Meter tiefer Abgrund. Es schien ihm nichts auszumachen. „Siehst du die Sterne?“ fragte Cesare. „Sie kommen langsam aus dem Himmel heraus. Sterne über Midtown Manhattan! Das ist unglaublich – man sollte so was jede Nacht machen!“ Der junge Mann war stehen geblieben und hatte den Kopf in den Nacken gelegt. „Was machst du, wenn dich jemand von unten sieht?“ wollte Jessica wissen. „Sie werden raufkommen und uns holen.“ „Die haben andere Sorgen da unten, als die Dächer der Häuser abzusuchen“, meinte Cesare nur. Jessica Putlasky, die noch immer auf dem Dach kniete, rutschte langsam ein Stück weiter hinaus, bis sie die Seventh Avenue unter ihnen sehen konnte. Vorsichtig legte sie sich auf den Bauch, die Hände an den Rand des Daches geklammert. Die Menschen auf der Straße waren nur noch undeutlich zu erkennen. Sie verschwanden allmählich in dem Dämmerlicht zwischen den Lichtern der Autos. Einige der Geschäfte verfügten offenbar über Generatoren, denn aus einigen Fenstern drang weiterhin gelbliches Licht, doch es waren nur wenige. Jessica betrachtete die Häuser auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Langsam leckten ihre Blicke an den Fassaden empor. Einige der Wolkenkratzer überragten das Gebäude, auf dem sie sich befanden, um das Doppelte. Andere erreichten eine ähnliche Höhe. Dächer konnte sie nur vereinzelt erkennen. Nur ein kleiner Teil der Gebäude in der direkten Umgebung war weniger als zwanzig Stockwerke hoch. Sie blieb eine halbe Stunde in dieser Haltung liegen ... bis sie plötzlich einen winzigen Lichtblitz im Augenwinkel zu sehen glaubte. Gleichzeitig hörte sie ein knallendes Geräusch. Sie konnte nicht genau sagen, woher der Blitz gekommen war – möglicherweise aus einem der vier oder fünf Gebäude, die dem ihren direkt
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SWAT-Team hoch und schnappen ihn sich.“ „Früher oder später“, echote Jessica. Die Worte ihres Freundes hatten sie nicht überzeugt. „Und wie viele Menschen muss der Verrückte noch abknallen, bis es soweit ist? Macht es dir nicht aus, diese Leute auf dem Gewissen zu haben? Wir machen uns schuldig an ihrem Tod ...“ Cesare stieß abfällig die Luft aus. „Darüber hättest du dir früher Gedanken machen müssen. Ich dachte, wir wären uns einig gewesen. Dass der Stromausfall vielleicht ein paar Opfer fordert. Dass irgendeine Oma an der Herz-LungenMaschine möglicherweise den Löffel abgibt, wenn der Saft wegbleibt und die Notstromaggregate noch vom letzten Weltkrieg sind ... Jess, hör mir zu!“ Er nahm ihren Kopf in beide Hände. Die Geste hatte nichts Zärtliches an sich, fiel eher brutal aus. „Du hast mir versprochen, kein Theater zu machen. Wir haben nur den Strom ausgeschaltet. Wir haben niemandem etwas getan. Wenn die Ameisen da unten sich selbst Probleme machen, können wir nichts dazu. Ich kann nicht den Aufpasser für Millionen Amerikaner spielen. Unfälle passieren einfach. Denkst du, mich würde jemand auffangen, wenn ich bei der Arbeit von dem Außenlift falle?“ Jessica riss sich von ihm los. Sie kam auf die Beine und stand schwankend am Rand des Daches. Als sie registrierte, wo sie war, stieß sie einen tonlosen Schrei aus und machte zwei schnelle Schritte von der Kante weg. Der Wind kam in schwachen Böen, doch es war nicht kalt. Sie schwitzte. „Es ist kein Unfall, wenn jemand aus dem Dunkeln auf Menschen schießt“, sagte sie und bewegte sich mit kleinen, langsamen Schritten auf die Tür zu, durch die sie gekommen waren. Sie war mehr fast zwanzig Meter entfernt. „Die kriegen meinen Dad nicht“, sagte sie mit zitternder Stimme. „Die werden nicht erfahren, dass er es war. Dann spielt es auch keine Rolle, dass ich seine Tochter bin.“
identisch aus. Sobald man zu zählen begann, verlor man den Punkt aus den Augen. „Einundzwanzigster Stock“, sagte Cesare nach einer Weile. „Fünftes oder sechstes Fenster von links. Sechstes. Glaube ich.“ Jessica sprach die Information nach. Sie hatte nichts dabei, um sich Notizen zu machen. „Wir müssen nach unten, die Polizei informieren. Schnell.“ Der Junge drehte den Kopf sehr langsam zu ihr herum. Seine Augen waren groß, seine Nasenflügel hoben und senkten sich bei jedem Atemzug. Es war schwer zu sagen, welche Emotionen in diesem Moment in ihm waren – er sah wütend und verunsichert zugleich aus. „Das ... geht nicht, Jess“, sagte er mit unnatürlich weicher Stimme. Er versuchte sie zu beruhigen, und sich selbst ebenfalls. Seine Hand schloss sich beinahe schmerzhaft fest um ihre Schulter. „Wir hängen da mit drin. Sie werden uns fragen, was wir auf dem Dach getrieben haben.“ „Das interessiert die Polizei doch jetzt nicht!“ Das Mädchen wandte ihren Blick abwechselnd nach unten und zu dem Jungen. „Und ob die Bullen das interessiert.“ „Dann sagen wir, wir wollten einfach nur ungestört sein, als der Strom ausfiel. Ein paar romantische Stunden auf dem Dach. Das ist sogar die Wahrheit.“ Cesare sog hörbar die Luft ein. „Verstehst du denn nicht? Die Bullen nehmen auf jeden Fall unsere Personalien auf, und du bist die Tochter des Mannes, der den Strom abgestellt hat. Glaubst du, die halten das für einen witzigen Zufall?“ Jessica erstarrte. „Wir bleiben schön hier, hörst du?“ fuhr Cesare fort. Sein Tonfall wurde hektischer. „Mir gefällt auch nicht, was da passiert, aber wir dürfen uns nicht einmischen. Wenn wir etwas unternehmen, stehen wir bis zum Kinn in der Scheiße. Wir bleiben hier, rühren uns nicht vom Fleck. Die kriegen den Kerl schon. Früher oder später merken sie, aus welcher Richtung die Schüsse kommen. Dann schicken sie ein
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dich an seine Worte? Weißt du nicht, wie er damals, in seiner Bar, von Vietnam erzählt hat? Davon, dass man immer von oben kommen muss? Erinnerst du dich an das, was er über seine komischen Schlangen erzählt hat, über diese ... diese ...“ Cesare suchte nach dem Namen, fand ihn jedoch nicht. „Mangroven Nachtbaumnatter“, ergänzte Jessica kaum hörbar. Sie wunderte sich selbst, wie klar sich der Begriff in ihr Gedächtnis eingegraben hatte. „Ja, genau, diese Nachtbaumnatter. Wie sie sich im Dunkeln aus den Bäumen auf ihre Opfer stürzt, und ...“ Jessica konnte sehen, wie sich Cesares Augen weiteten. Sie selbst verstand in diesem Moment noch nicht. Sie hatte zu sehr mit ihrer Angst und ihren widersprüchlichen Gefühlen zu tun, um die richtigen Schlüsse zu ziehen. Dabei war es so einfach. Da drüben in einem Haus schoss ein Verrückter auf Menschen, die fast ziellos unter ihm durch die Straßen irrten. Vor wenigen Wochen hatte Julian Spade ihnen in seiner Bar in Soho bereits eine wirre Erklärung geliefert. Eine Erklärung für das Unglaubliche, das jetzt vor ihren Augen ablief ... „Ich wette, der Mann da drüben ist Julian“, meinte Cesare, und seine Bemerkung hatte etwas Beiläufiges, Lockeres, als stelle er eine Vermutung über den Ausgang eines Baseball-Matches an. Doch auf Jessica hatte die Eröffnung eine drastische Wirkung. Die Sechzehnjährige stockte für eine Sekunde, brach dann zusammen, kauerte sich auf dem Dach zusammen und begann zu weinen. Krämpfe schüttelten ihren kleinen, zierlichen Körper, und sie hämmerte mit den Fäusten gegen den harten Untergrund. „Er hat uns ... betrogen“, brachte sie mühsam hervor. „Er hatte das von Anfang an geplant. Er hat mich benutzt ... mich und Dad ...“ „Julian Spade ist einer von uns, Jess“, sagte Cesare. „Er hat einfach nur ein bisschen mehr Mut als wir.“
„Wenn du den Bullen deinen Namen sagst, werden sie es erfahren. Dann ist dein Vater hundert Pro geliefert. Weißt du nicht, wie die das machen, mit ihren Computern? Sie füttern sie mit Daten, und wenn irgendein Steinchen zum andern passt, schnappt die Falle zu. Willst du deinen Vater ins Gefängnis bringen?“ Darauf fiel der Sechzehnjährigen keine Erwiderung ein. Eine Minute lang standen sie sich schweigend gegenüber. Es war dunkel geworden. Die Sterne strahlten heller, und aus der Seventh Avenue kam das Blinken eines roten Signallichts herauf. Es kreiste in der Häuserschlucht und strich über die einförmigen Häuserwände. Es wirkte bedrohlich. Als habe dort unten jemand dem unsichtbaren Killer den Kampf angesagt. „Cesare“, sagte Jessica leise. „Cesare ...“ „Was ist?“ „Ich habe mir überlegt, was wohl wäre, wenn ...“ Sie schluckte, und ihr Blick pendelte zur Tür hinüber, die sich in einem schmucklosen Quadrat aus Stein befand, das über die Fläche des Daches herausragte. „Ich ... frage mich, ob der Kerl nicht als nächstes auf uns zielen wird. Vielleicht hat er uns schon im Visier. Er kann uns bestimmt sehen, unsere Schatten, unsere Konturen. Wir stehen auf einem Dach – und er ist praktisch mit uns auf gleicher Höhe ...“ Cesare kam auf sie zu, unterließ es jedoch, sie anzufassen. „Jess, mein Schatz, keine Angst! Das tut er nicht.“ „Woher willst du das wissen?“ Langsam breitete er die Arme aus, spreizte sie vom Körper ab, wie um ein ideales Ziel abzugeben. „Weil er nach unten schaut“, sagte der Junge. „Weil er die da unten möchte. Er möchte abrechnen, mit den Ameisen da unten. Gott, ich kann ihn wirklich verstehen. Ich meine, nicht, dass ich es tun könnte, aber ... Du musst nur einmal an Julian denken. Julian Spade. Erinnerst du
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Terroristen, die einen Anschlag planten? Der Radiosender, den Frank und Lizza hörten, brachte längst keine Musik mehr, sondern hielt seine Hörer durch Neuigkeiten aus der Zone, in der der Strom ausgefallen war, auf dem Laufenden. Erste Stimmen gaben Kanada die Schuld für die Situation. Kanada versuchte umgekehrt, den USA den schwarzen Peter zuzuschieben. Wenn Franks Vermutung stimmte, dann war Kanada aus dem Schneider – und die Ursachen in Ohio zu suchen. Die Berichterstattung wurde ständig von brandaktuellen Nachrichten unterbrochen, und so hörte Frank zunächst nur mit halbem Ohr hin, als die Rede von einem Mord in Midtown Manhattan war. Erst einige Minuten später konkretisierte sich die schwammige Meldung. Frank umgriff Lizzas Schultern und bedeutete ihr damit, stehen zu bleiben. In der Seventh Avenue hatte offenbar ein Unbekannter aus einem der Hochhäuser auf zwei Passanten geschossen. Sein erstes Ziel, eine Frau, war getötet, sein zweites Opfer verwundet worden. In der Dunkelheit war es nahezu aussichtslos, den Attentäter ausfindig zu machen. Dazu würde man mindestens ein Dutzend der gewaltigen Gebäude stürmen und durchsuchen müssen – dieses Polizeiaufgebot in kurzer Zeit zusammenzuziehen, war ein Ding der Unmöglichkeit. Für die Mannschaftstransporter der NYPD würde kein Durchkommen sein. Frank Reynolds starrte mit weit aufgerissenen Augen ins Leere, während er dem Bericht lauschte. „Das muss ein ... Verrückter sein“, stotterte er. „Glaubst du, dass dieser Irre hinter dem Stromausfall steckt?“ fragte Lizza. Ihre Augen wurden schmal. „Völlig undenkbar“, erwiderte Frank abrupt. „Kein Mensch würde einen solchen Aufwand betreiben, ohne wenigstens eine Bombe zu ...“ An dieser Stelle stockte er.
Jessica Putlasky hob den Kopf und starrte den jungen Mann an. Ihre Augen glänzten hell von den Tränen, die darin standen. * Die Menschen, die Frank und Lizza auf der Washington Avenue begegneten, hatten sich bereits auf die kommende Nacht eingestellt. Manche hatten Taschenlampen bei sich, andere trugen sogar Kerzen spazieren. Wer reflektierende Kleidung hatte, hatte sie sich angezogen. Obwohl sich an einigen Straßenecken Cliquen aus düsteren Gestalten sammelten, schlug die Atmosphäre nicht in Bedrohung oder Gefahr um. Lustige, ausgelassene Menschen feierten in den Straßen spontane Partys, teilweise mit den fremden Leuten, deren Autos vor ihren Haustüren stecken geblieben waren. Der Andrang auf die Geschäfte war groß – Händler machten Überstunden und freuten sich über leere Regale. Hamsterkäufe hatten begonnen. Lediglich Gefrierkost verkaufte sich schlecht. Eissalons hatten ihre Ware bereits in den Stunden nach dem Stromausfall billig an den Mann gebracht, ehe sie in der Sommerhitze dahin schmolz. Die beiden schlenderten in nördlicher Richtung weiter. Frank kam sich beobachtet vor, doch bald fiel ihm auf, dass es wohl das knackige Mädchen an seiner Seite sein musste, das die Blicke auf sich zog. Lizza machte keine Anstalten, Frank mit ihren üblichen Ungezogenheiten zu nerven, sondern schmiegte sich an ihn und suchte seinen Schutz. Plötzlich war Onkel Frank zu etwas nutze. Obwohl die harmonische Stimmung dazu verleitete, sich zu entspannen, konnte Frank nicht abschalten. Angestrengt versuchte er, sich den Hergang des Ganzen auszumalen: Wenn Will Putlasky tatsächlich von einem Erpresser dazu gezwungen worden war, einen Sabotageakt in seinem Elektrizitätswerk zu unternehmen – welche Absicht steckte dann hinter der Erpressung? Waren es tatsächlich
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Händen und verfiel in ihren typischen RapRhythmus. Es hätte amüsant sein können, ihr zuzusehen, wäre die Situation nicht so verdammt ernst gewesen. „Ich habe eine Idee“, verkündete Frank Reynolds. „Wir müssen uns jetzt mächtig beeilen. Und vor allem Glück haben – viel Glück.“
„Um Himmelswillen, ich muss nach Midtown!“ „Blödsinn!“ rief Lizza in ihrer direkten Art. „Was willst du dort? Das ist was für die Bullen, nicht für einen Detektiv. Außerdem musst du auf mich aufpassen.“ Sie hatte nicht Unrecht. Mit beiden Argumenten nicht. Trotzdem ... „Ich weiß ein paar Dinge, von denen die Polizei nichts ahnt. Die Sache mit Ohio, mit Will und Jessica Putlasky.“ „Das nützt nichts! Du kennst ihren Erpresser nicht.“ Das musste Frank zugeben. Aber vielleicht war es in der Eile möglich, Zusammenhänge herzustellen, eine Spur zu finden. Wenn es den Leuten von der Polizei gelang, Will Putlasky oder seine Tochter rasch aufzutreiben, konnte man vielleicht herausfinden, wer sie erpresste. Und daraus ergab sich vielleicht ein Ansatzpunkt, um den Mann aufzuhalten. Gesetzt den Fall, der Erpresser war tatsächlich mit dem Wahnsinnigen identisch. Eine Möglichkeit war, die Polizei telefonisch zu informieren. Dazu hätte er vom Festnetz aus anrufen müssen. Doch er wusste nicht, ob er es fertig bringen würde, die Geschichte von Will Putlasky zu erzählen, von den Gesprächen, die er mit ihm geführt hatte, und davon, wie er ihm die Hilfe verweigert hatte ... Der einzige, dem er sich jetzt vielleicht anvertraut hätte, wäre Phil Stuart gewesen, aber der würde in dieser Situation nicht mehr an die Strippe zu bekommen sein. „Ich muss nach Midtown“, wiederholte er, diesmal nachdenklich und leise. Lizza hob die Schultern und schüttelte den Kopf. „Hey, Mann, komm zu dir! Das sind fünfzehn Meilen bis ...“ „Acht oder neun!“ unterbrach sie Frank hart. „Okay, dann meinetwegen neun. Wie willst du die zurücklegen? Mit dem Hubschrauber? Oder vielleicht zu Fuß? Mit dem Auto geht hier nichts mehr, falls dir das noch nicht aufgefallen ist.“ Während sie sprach, gestikulierte sie wild mit den
* „Sybil? Ich bin’s, Frank. Frank Reynolds. Bist du da, Sybil? Bitte, mach mir auf. Es ist verdammt dringend!“ Er kam sich merkwürdig vor, wie er an die Fensterscheibe klopfte und halblaut seine Bitte wiederholte. Die Türglocke hatte nicht funktioniert, und auf sein Pochen an der Haustür hin hatte niemand geöffnet. Um die Nachbarn nicht zu alarmieren, versuchte er, seine Stimme zu dämpfen. Es war dunkel, und er stand in einem handtuchschmalen Hinterhof. Es war ein kleines, dreistöckiges Wohnhaus mit einer Garage davor. Auf der Straße davor staute sich der Verkehr wie überall in New York. Ein paar Leute standen an ihre Autos gelehnt, rauchten Zigaretten oder tranken Erfrischungsgetränke. Mittlerweile war eine sternenklare Nacht hereingebrochen. Frank wusste, dass Sybils Wohnung nach hinten hinaus lag, und da sie im Erdgeschoss wohnte, musste sie ihn hören – falls sie überhaupt zu Hause war. Und sich nicht im Keller verkrochen hatte. Lizza stand einige Schritt entfernt Schmiere. „Nicht da?“ flüsterte sie. „Ja, ich glaube, sie ist wirklich nicht zu Hause. Verflucht!“ zischte Frank. „Dann muss ich zum Einbrecher werden. Es wird nicht der einzige Einbruch heute Nacht in der Bronx bleiben. Mann, ich hätte mir das gerne erspart.“ Kurzentschlossen zog er seinen Colt, umwickelte ihn mit einem Taschentuch ... und zerschmetterte erstaunlich leise die Fensterscheibe. Lizza sah ihm erschrocken zu. „Weißt du wirklich, was du tust?“ Hektisch blickte sie sich um, unsicher, was
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Ihre Braut, einverstanden?“ „Das hättest du mich gestern um die Zeit fragen sollen, da standen die Chancen für den Deal nicht einmal schlecht“, brummte Frank, und Lizza warf ihm einen erschrockenen Blick zu. In diesem Moment sprang der Motor an. Es war ein wunderbares Geräusch. Es gab Frank neue Hoffnung. Wortlos setzte sich Lizza hinter ihm auf die Maschine. Frank aktivierte die Sirene und das rote Stroboskoplicht und gab Gas. Drei oder vier der Autofahrer, die zugesehen hatten, applaudierten lachend. Die Polizei-Harley legte das erste Stück auf dem Gehsteig zurück, fand dann eine Lücke im Stau und nutzte sie. Am Anfang kamen sie nur langsam vorwärts. Viele der Kraftfahrer zündeten ihre Motoren, als sie die Polizeisirene hörten, und gaben sich Mühe, ihre Fahrzeuge aus dem Weg zu schaffen. Die meisten versuchten es erst gar nicht. Sie standen mehrreihig eingepfercht, Auto an Auto. Da blieb nicht viel Spielraum zum Ausweichen. Als sie die erste Meile in südlicher Richtung zurückgelegt hatten, erkannte Frank, dass der Stau nicht überall gleich dicht war. War auf einigen Wegen nicht einmal mit dem Motorrad mehr ein Durchkommen, standen die Autos in den breiteren Straßen in größerem Abstand. Auf der Third Avenue, einer Parallelstraße der Washington Avenue, kam er erstaunlich gut vorwärts. Nach fünfzehn Minuten hatte er die Third Avenue Bridge über den Harlem River erreicht, die die Bronx von Manhattan trennte. Bis zur Höhe des Central Parks kamen sie gut voran, dann musste Frank die Geschwindigkeit deutlich drosseln. Hier bewegte sich bei den Fahrzeugen nichts mehr. Viele der Insassen standen um ihre Autos herum und diskutierten. Als sie die Sirene hörten, schlossen sie eilig die offenen Türen und gingen aus dem Weg. War es noch eine einfache Übung gewesen, bis hierher zu gelangen, wurde die Fahrt nun immer nervenaufreibender
sie tun sollte, falls jemand den Hinterhof betrat. Frank Reynolds verschwand durch das zerbrochene Fenster ins Innere des Hauses. Fast fünf Minuten lang sah und hörte sie nichts mehr von ihm. Die Zeit wurde zu einer Ewigkeit. Dann hörte sie Geräusche an der Vorderseite des Hauses. Sie zuckte zusammen und stieß unwillkürlich einen Schrei aus, als ein Mann in der dunklen Motorraduniform der New York City Police sichtbar wurde. Er hatte ein Motorrad bei sich, eine weiße Harley mit blauen Streifen und dem NYPD-Logo darauf. An seinem linken Arm hingen zwei Helme, von denen er sich den ersten selbst aufsetzte. Den anderen hielt er Lizza hin. „Komm schon, Mädchen“, sagte er. „Ich bin’s, Frank!“ Lizza rannte los, nahm den Helm entgegen und setzte ihn auf. „Was soll der Mummenschanz?“ fragte sie atemlos. „Erinnere mich bei Gelegenheit daran, dass ich dir von Sidney Davenport erzähle. Er war einer meiner Kumpels beim Police Department. Ein guter Officer. Leider hat er in Ausübung seines Berufes sein Leben verloren. Das ist jetzt ungefähr fünf Jahre her. Seine Frau Sybil hält noch immer alles in Ehren, was an ihren Mann erinnert – die Uniform, das Motorrad ... Wäre doch gelacht, wenn wir nicht schon bald in Midtown wären ...“ Frank hatte in der Garage in einem Kanister noch etwas Benzin gefunden und den Kraftstoff in den Tank der Maschine gekippt. Falls der Sprit seit Sidneys Tod hier stand, konnte es problematisch werden, den Motor in Gang zu bekommen. Benzin ließ sich schließlich nicht unbegrenzt lange lagern. Er bestieg die Maschine und probierte den Kickstarter mehrmals, zunächst ohne Erfolg. Es war nicht zu vermeiden, dass einige der Menschen, die im Stau steckten, ihn bei seinen Bemühungen beobachteten. „Hey, Officer!“ rief jemand aus einem breiten Pickup heraus. „Meine Kiste gegen
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Menschen, die auf der Flucht waren. Auf der Flucht vor dem Grauen, das sich im Fashion Center abspielte. Frank brüllte und gestikulierte, weigerte sich, das Motorrad aufzugeben, versuchte sich mit Gewalt einen Weg durch die herbeidrängende Menschenwand zu bahnen. Doch es war aussichtslos. Wenn er so weitermachte, war es nur eine Frage der Zeit, bis sein Fahrstil die ersten Opfer forderte. Fluchend und kopfschüttelnd hielt er an. Es war eine unbeschreibliche Szenerie. Einige Leute rannten voller Panik durch die Straßen, andere schlenderten fast unbeteiligt dahin. Wieder andere waren stehen geblieben und unterhielten sich atemlos, versuchten die bruchstückhaften Informationen, die sie hatten, wie die Teile eines Puzzles zusammenzusetzen. Manche waren erschöpft zu Boden gesunken, und andere bildeten besorgt einen Wall um sie, damit sie von der Menge nicht übersehen und niedergetrampelt wurden. Es gab Menschen, die fotografierten, Menschen, die sich umarmten, Menschen, die sich stritten, Menschen, die weinten. Keiner schien das zu tun, was sein Nebenmann tat. Jeder verhielt sich anders. Es war laut und chaotisch. Vor allem aber war es eines: dunkel. Obwohl ein Teil der Autos die Scheinwerfer eingeschaltet hatte, lagen tiefe, schwarze Schatten über den breiten Straßen. Etwa in jedem zwanzigsten Haus brannten Lichter, betrieben von privaten Stromaggregaten, doch das reichte nicht aus, um die Stadt zu erhellen. Mit den Straßenlaternen und der Beleuchtung in den Geschäften und Schaufenstern waren auch die großen Leuchtreklamen erloschen, und man erkannte die Umgebung kaum wieder. Frank schob das Motorrad mühsam in eine Seitengasse und hoffte, dass es noch da sein würde, wenn sie zurückkehrten. Er ließ es verdammt ungern zurück; es war beinahe, als würde man einen Freund im Stich lassen. Grimmig kämpfte er sich durch die menschliche Mauer, zog eine
und verlangte Frank alles ab. Mit einer Geschwindigkeit von zwanzig, dreißig Meilen pro Stunde schlängelte er sich zwischen den Fahrzeugen durch. Hatte er weiter im Norden noch auf Gehsteige ausweichen können, wenn es nötig war, schied diese Option hier aus. Nicht mehr nur Autos verstopften die Straßen, auch die Zahl der Fußgänger nahm ständig zu. Die Gehsteige konnten die vielen Fußgänger nicht mehr aufnehmen, und immer mehr Menschen strebten auf den Fahrbahnen ihren diversen Zielen entgegen. Nicht immer wichen die Leute dem Polizeimotorrad aus. Manche hatten keinen Platz dazu oder waren zu sehr in Gedanken vertieft, um rechtzeitig zu reagieren. Frank stieß einen Fluch nach dem anderen aus. Mehr als einmal streifte er Fußgänger und Autotüren. Immer aggressiver wurde sein Fahrstil, immer heftiger wechselte er Bremse und Gas, immer abrupter fielen seine Lenkbewegungen aus. Lizza drückte sich eng an ihn und legte ihren Kopf gegen seinen Rücken. Sie hatte Angst bekommen, wagte es offenbar nicht mehr, die Augen zu öffnen. Einige New Yorker schimpften über den vermeintlichen Motorrad-Cop, andere applaudierten und johlten, wenn er es schaffte, Hindernissen geistesgegenwärtig auszuweichen und immer wieder aufs Neue einen Weg durch das Labyrinth aus Blech zu finden. Die meisten Straßen in New York waren Einbahnstraßen, und auch die Third Avenue änderte immer wieder ihre Richtung. Frank Reynolds interessierte es nicht. Er blieb ihr treu bis hinunter zur 42. Straße, wo er nach rechts bog, in Richtung Times Square. Doch bis zu dem berühmten Platz kam er nicht. Als er das dichte Geflecht aus Autos und Menschen sah, das die 42. erfüllte, scherte er aus und versuchte eine Nebenstraße. Keine Chance. Eine gewaltige Menschenmenge kam ihm entgegen. Menschen, die nicht bereit waren, dem Polizeifahrzeug auszuweichen.
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„Wer sind Sie eigentlich?“ erkundigte sich der Polizist argwöhnisch. Er war nicht ganz bei der Sache. Offenbar erhielt er durch einen Ohrhörer ständig Anweisungen oder Informationen über Funk. „Ihre Polizeimarke?“ Frank atmete durch. Natürlich hatte er keine Zeit gehabt, in Sybil Davenports Wohnung nach der Dienstmarke ihres verstorbenen Mannes zu suchen. „Ich bin nicht von der Polizei“, sagte er. „Ich bin Privatdetektiv. Mein Name ist ...“ „Verdammt, wie kommen Sie dann an diese Uniform, Freundchen?“ Der Tonfall wurde schärfer, drohender. Das Gespräch bewegte sich entschieden in die falsche Richtung. Hektisch sah sich Frank um und suchte nach einem Cop, der vertrauenswürdiger aussah. In diesem Moment knallte ein Schuss. Eine junge Polizistin mit langen, roten Haaren brach zusammen. Sie hatte keine zehn Schritte von Frank und Lizza entfernt gestanden und ihnen den Rücken zugewandt. Offenbar hatte eine Kugel sie ins rechte Bein getroffen, denn sie hielt es eng an ihren Körper gepresst, wand sich auf dem Asphalt und schrie mit einer hohen, hohlen Stimme ihren Schmerz in die Nacht hinaus. Hoffentlich hatte ihr die Kugel nicht das Knie zerschmettert ... „Weg hier!“ brüllte der grauhaarige Cop scharf und versetzte Frank einen Stoß vor die Brust. „Ohne eine kugelsichere Weste hat hier niemand etwas verloren!“ Frank Reynolds besaß eine, aber er trug sie in diesem Moment nicht. Und natürlich war auch Lizza schutzlos. Drei Polizisten kümmerten sich um ihre verletzte Kollegin. Gemeinsam trugen sie sie weg. Benommen vor Schreck taumelten Frank und Lizza ein paar Schritte zurück. Frank starrte an den Häuserfassaden nach oben. Er hatte nicht genau sehen können, aus welcher Richtung der Schuss erfolgt war. Nicht einmal auf eine Straßenseite wollte er sich festlegen. „Komm, wir ziehen uns zurück!“ stieß Frank hervor. Erneut packte er Lizzas
stumme, apathische Lizza hinter sich her. Es war nach zehn Uhr, als er das Fashion Center und die Seventh Avenue erreichte. Hier bot sich ihm ein völlig anderes Bild. Die Polizei bemühte sich, einen etwa fünfzig Meter langen Teil der Straße abzuriegeln. Erst zwei, drei Dutzend Beamte waren eingetroffen, und es fiel ihnen schwer, die Menge zurückzuhalten. Obwohl den meisten Leuten der Sinn nur danach stand, diesen Ort zu schnell wie möglich zu verlassen, schienen eine ganze Menge New Yorker genau das Gegenteil vorzuhaben. Die City Police versuchte, die Absperrung immer weiter voranzutreiben, doch immer wieder hatten die Cops mit Uneinsichtigen zu kämpfen, die – aus welchen Gründen auch immer – die Absperrung zu stürmen versuchten. Frank, der kein Radio mehr gehört hatte, seit er bei der Witwe seines ehemaligen Kollegen eingebrochen war, wusste nicht, wie sich die Dinge in der letzten halben Stunde entwickelt hatten. Hatte es neue Opfer gegeben? Eines wurde aus der hektischen Szenerie klar: Die Gefahr war noch nicht gebannt – die Polizeikräfte hatten den Verrückten in der Dunkelheit noch nicht erledigt. Was sollte er tun? Mit Lizza im Schlepptau lief er auf den erstbesten Beamten zu. Es war ein kleiner, untersetzter Cop mit schütteren grauen Haaren und einer lustigen runden Nase. Er beäugte den heranhetzenden Mann in der Motorraduniform skeptisch. „Sir!“ rief Frank. „Ich muss unbedingt mit jemandem sprechen, der hier das Kommando führt.“ „So, müssen Sie das?“ sagte der Beamte und schielte auf Lizza, die ihren Schutzhelm noch nicht abgenommen hat. „Ist Captain Stuart vielleicht in der Nähe?“ „Captain wer?“ Gut, einen Versuch war es wert gewesen. Es wäre zu schön gewesen, um wahr zu sein, wenn er mit seinem Freund hätte sprechen können.
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zu rennen.
Hand, diesmal fester als zuvor. Der Griff musste ihr wehtun, doch sie beschwerte sich nicht. Er zerrte sie ein Stück weit von der Absperrung weg. In diesem Moment fiel ihm auf, wie unverantwortlich es gewesen war, das achtzehnjährige Mädchen in diesen Gefahrenbereich mitzuschleppen. Er hatte sie nicht alleine zurücklassen wollen, nicht in dieser Nacht, nicht an irgendeinem Ort, wo er für ihre Sicherheit nicht garantieren konnte. Er fühlte sich für sie verantwortlich, hatte versprochen, sie zu beschützen. Freilich wäre es am klügsten gewesen, sie zu ihrem Vater Oswald Kelly zu bringen. Doch dazu war keine Zeit gewesen. Stattdessen hatte er sie fast gewaltsam an einen Ort gezerrt, wo die Kugeln eines verrückten Killers durch die Luft flogen. Ein Schauer rann ihm über den Rücken. Niemand wusste, wann der Irre wieder zuschlug. Es konnte im nächsten Augenblick schon geschehen. Und jeder Mensch in dieser Straße konnte sein nächstes Opfer sein. „Lauf weg, Lizza!“ sagte Frank nachdrücklich und sah durch das saubere, klare Visier des Helms tief in ihre großen, dunklen Augen. „Überall in dieser Stadt bist du besser aufgehoben als hier! Überall!“ Lizzas Hände zitterten. „Du wolltest doch auf mich aufpassen, Onkel Frank“, kam es dumpf und kindlich unter dem Helm hervor. Frank schüttelte verzweifelt den Kopf. „Ich weiß, Lizza. Aber das geht jetzt nicht. Lizza, bitte, bitte! Schließ dich irgendwelchen Leuten an, guten Leuten. Es gibt eine Menge von ihnen hier. Du musst einfach nur weg aus dieser Straße!“ „Okay“, sagte das Mädchen leise. „Wo treffen wir uns, wenn alles vorbei ist?“ Frank überlegte einen Moment. „Bei dem Motorrad. Du weißt doch noch, wo wir es zurückgelassen haben, oder?“ Lizza nickte. Frank ließ ihre Hand los. Das Mädchen drehte sich um und begann
* Und noch ein zweites Mädchen rannte. Jessica Putlasky. Rannte durch eine Finsternis, wie sie undurchdringlicher nicht sein konnte. In diesem Haus war selbst die Notbeleuchtung ausgefallen. Immer wieder schluchzte sie, sog pfeifend die Luft ein und kämpfte gegen neue Weinkrämpfe an. Wo die Tränen auf ihren Wangen trockneten, spannte die Haut, und ihr Hals fühlte sich an, als hätte sie Säure getrunken. Es war ein Wunder, wie ihre Füße die Treppenstufen fanden. Obwohl nichts zu sehen war. Obwohl sie in einem fremden Haus in vollkommener Dunkelheit durch ein gewaltiges Treppenhaus hastete. Sie stolperte, strauchelte, prallte gegen die Wand oder gegen das Geländer auf der Innenseite der Treppe, aber irgendwie schaffte sie es, sich dabei nicht zu verletzen. Jessica hatte nicht sagen können, wie es ihr gelungen war, Cesare zu überwältigen. Es war so schnell gegangen. Sie hatte sich an seine Brust geworfen, wie um sich dort auszuweinen. Ja, als sie es tat, war genau dies ihre Absicht gewesen. Doch kaum spürte sie Cesares Berührung, hörte seinen kaum beschleunigten Herzschlag ... da geschah etwas mit ihr. Plötzlich waren ihr viele Dinge so unglaublich viel wichtiger als dieser gutaussehende Junge, in den sie sich verknallt hatte. Plötzlich dachte sie an ihren Vater, an ihre Verwandten, ihre Bekannten, ihre Freunde. Alle diese Leute kamen ihr unendlich bedeutungsvoll vor. Und sie wollte etwas für sie tun, etwas für ihre Sicherheit, wollte sie beschützen und zu ihnen zurückkehren. Als Cesare ihren schlaffen Leib in die Arme nahm, ging ein Ruck durch sie. Sie straffte alle Muskeln, stieß sich vom Boden ab und warf sich mit aller Kraft gegen seine Brust, stieß seinen kleinen, leichten Körper nach hinten und schmetterte ihn
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zwischen zwei Polizisten, und wenige Sekunden später mischten sich weitere Uniformierte ein, die die beiden Streithähne zu trennen versuchten. Jessica blieb vor dem Haus stehen und sah nach oben. Nicht in Richtung Dach, wo sie eben noch mit Cesare gewesen war, sondern auf die andere Straßenseite hinüber. Von hier aus fiel es ihr schwer, sich zu orientieren. Die grellen roten Lichter blendeten sie, und sie war sich nicht mehr sicher, welches Gebäude es gewesen war, in dem Cesare das Mündungsfeuer hatte aufblitzen sehen. „Sir! Sir ...“ keuchte sie und schwankte auf einen jungen Beamten zu. Er hatte eben von den beiden sich prügelnden Cops abgelassen und wirkte verstört. „Bitte hören Sie mir zu!“ Ihre Stimme überschlug sich. „Ich bin Jessica Putlasky. Mein Vater ist Will Putlasky. Mein Vater hat den Strom abgestellt. Und ich weiß auch, wer der Killer ist!“ Der Polizist wischte sich die Hände an der Uniform ab und musterte sie für einige Sekunden. Dann packte er brutal ihre Schultern und schob sie vor sich her. „Verschwinde aus dem abgesperrten Bereich“, presste er zwischen den Zähnen hervor. „Ich will nicht schuld sein, wenn dir etwas passiert.“ Dabei warf er immer wieder ängstliche Blicke an den Himmel. „Aber es stimmt wirklich! Hören Sie doch erst einmal zu! Mein Vater hat den Strom abgestellt, weil er dachte, man würde mich erpressen. Aber in Wirklichkeit haben wir ihm das nur vorgespielt, mein Freund Cesare und ich. Wir haben es für diesen Julian Spade getan, aber das war ein Fehler, weil ...“ Der Cop verdrehte nur die Augen, als hätte er eine Geistesgestörte vor sich, und versetzte ihr einen letzten kraftvollen Stoß. Jessica taumelte einige Schritte rückwärts. Ungeachtet der schrecklichen Gefahr hielten sich noch eine Menge Schaulustige in der Nähe auf, und das Mädchen prallte gegen eine kleine Frau im mittleren Alter. Die Frau trug trotz der Wärme einen dicken, grauen Strickpullover und ein
gegen den Betonboden. Sofort entspannten sich seine Glieder, und er blieb ausgestreckt auf dem Rücken liegen. Sein Hinterkopf war lautlos gegen den harten Untergrund geknallt, und er hatte sofort das Bewusstsein verloren. Jessica spürte, wie sein Herz schlug, wie sein Atem ging, und dankte Gott, dass sie ihn nicht getötet hatte. Sie schleppte seinen Körper durch die Tür, die zur Treppe führte, und legte ihn dort ab. Hier war er geschützt. Hier konnte niemand auf ihn schießen. Als nächstes musste sie zwanzig Stockwerke in der Dunkelheit zurücklegen. Sie wusste nicht, ob man die Menschen, die im Fahrstuhl stecken geblieben waren, bereits geborgen hatte. Kein Klopfen war mehr zu hören. Vielleicht legten sie eine Pause ein, wie viele Leute es auch immer sein mochten. Erschöpft, schwindelig und mit blauen Flecken übersät, erreichte sie das Erdgeschoss. Sie war außer Atem, ertastete eine Tür und taumelte durch eine gigantische Eingangshalle. Zweimal stolperte sie über Seile, die zur Abgrenzung gespannt waren, wie man es in Hotels und anderen Gebäuden manchmal sah. Das erste Licht, das in ihre Augen drang, war das kreisende rote Stroboskop eines Polizeiautos. Benommen stolperte sie ins Freie, mitten hinein in die abgesperrte Zone. Jessica beobachtete, wie man eine junge, rothaarige Polizistin über den freien Platz zu einer Ambulanz trug. Offenbar war sie verletzt. Den letzten Schuss des Verrückten hatte die Sechzehnjährige nicht hören können. Als er fiel, hatte sie sich in dem riesigen Treppenhaus befunden. Sie versuchte, einen Cop zu finden, mit dem sie reden konnte, aber es herrschte ein allgemeines Durcheinander, und niemand schien sie wahrzunehmen. Ein paar der Beamten hatten die Flucht ergriffen. Andere brüllten ihnen nach, befahlen ihnen, die Stellung zu halten, hielten sie fest. Unweit von der Stelle, an der Jessica ins Freie trat, entbrannte ein Handgemenge
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„Dein Vater wird erpresst“, kam Frank sofort zur Sache. Ihm blieb nicht viel Zeit zu erklären, unter welchen Umständen er ihren Vater kennen gelernt und von der Sache erfahren hatte. Entscheidend war, rasch herauszufinden, was sie wusste. „Ja ...“ Sie sagte es abwesend, nachdenklich. Dann riss sie plötzlich die Augen weit auf. „Ich muss Ihnen etwas Furchtbares beichten, Frank. Versprechen Sie mir bitte, dass Sie mir zuhören!“ „Sicher“, entgegnete der Detektiv. „Aber gehen wir ein Stück weg von hier. Hier ist es verdammt gefährlich.“ Er berührte ihre Schulter und wollte sie aus der Straßenmitte zur linken Seite ziehen, doch sie sträubte sich. „Nein“, sagte sie. „Auf die andere Seite. Da sieht er uns nicht. Das ist genau unter ihm.“ Nun war es an Frank, die Augen vor Erstaunen aufzureißen. „Wer sieht uns nicht? Der Killer? Du weißt, wo er ist?“ Jessica nickte. „Ich weiß auch, wie er heißt, und noch ein paar Dinge mehr. Ich muss ihn aufhalten. Vielleicht“, sie unterbrach sich, schloss die Augen und schluckte trocken, „vielleicht bin ich die einzige, die das kann.“ Frank ließ sich von dem Mädchen führen. Sie erreichten ein Gebäude, dessen Erdgeschoss von einer dunklen Schaufensterfront bestimmt wurde. Undeutlich zeichneten sich im lichtlosen Inneren die Konturen der Puppen ab, die exklusive Herrenmode trugen. Frank sah mehrmals hin, weil er stets das Gefühl hatte, einen Schatten dort drinnen umherhuschen zu sehen. Es waren die Reflexe auf der Scheibe, die diese Illusion erzeugten. Eine kleine Passage führte etwa fünfzehn Meter weit in das Gebäude hinein bis zu einer gläsernen Tür. Am Eingang der Passage stand ein Polizist und sah den beiden skeptisch entgegen. Frank hob die Hand und grüßte den Beamten. „Alles klar“, sagte er. „Die junge Dame hier hat etwas Wichtiges im Haus vergessen. Ich begleite sie.“ Der Cop zuckte die Schultern und wandte den Kopf
Kopftuch. Ihre Augen waren weit aufgerissen und machten einen entrückten Eindruck. „Entschuldigung“, murmelte Jessica. „Kein Problem, Kindchen“, erwiderte die Frau. „Bist du auch von Gott gesandt, um den Teufel auszutreiben?“ Ein gütiges Lächeln stand starr und unbeweglich auf ihrem Gesicht. Jessica erwiderte nichts. Stattdessen wirbelte sie herum und brüllte dem Polizisten nach, der sich bereits wieder von ihr entfernte: „Ich bin die Tochter von Will Putlasky! Will Putlasky!“ * Frank Reynolds erstarrte. Er hatte Lizza nachgesehen, wie sie – noch immer den Motorradhelm auf dem Kopf – in der Menge verschwunden war. Keine fünf Meter von ihm standen zwei Frauen. Eine davon war klein und trug einen farblosen Strickpullover. Die andere hatte ein beigefarbenes T-Shirt und eine schwarze Jeanshose an. Sie war noch ein Kind, sehr zierlich, mit langen, glatten dunkelblonden Haaren. Sie war völlig außer Atem und in heller Aufregung. Und sie schrie einen Namen, den Frank kannte. Ich bin die Tochter von Will Putlasky. Der Detektiv atmete tief ein. Er machte einen Schritt auf das Mädchen zu. „Jessica? Jessica Putlasky?“ Der Kopf der Sechzehnjährigen ruckte herum. Fahrig und verwirrt starrte sie den Mann an, der sie angesprochen hatte. Sein Gesicht sagte ihr nichts. „Ke- ... kenne ich Sie?“ fragte sie atemlos. „Nein“, erwiderte er. „Wir sehen uns zum ersten Mal. Aber ich kenne deinen Vater – Will. Mein Name ist Frank.“ Erst jetzt schien sie wahrzunehmen, dass er in der Motorraduniform der Polizei steckte. Ihr Kinn klappte nach unten. „Gott“, hauchte sie. „Ich dachte schon, keiner hört mir zu. Gott, bin ich froh ... Ich ... kenne keinen Frank, aber ...“
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wieder versucht, die Verantwortlichen auf die Problematik hinzuweisen. Ohne Erfolg. Immer wieder hatte er ungläubig den Kopf geschüttelt und seiner Tochter das Szenario in allen Einzelheiten ausgemalt. Sie verstand nichts davon und konnte mit den meisten seiner Ausführungen nichts anfangen. Eines jedoch begriff sie – wenn ihr Vater einen ernsthaften Versuch wagte, hatte er eine echte Chance, Amerika das Licht auszuknipsen. Natürlich war sie von dem Gedanken fasziniert. Aber es war ein Fehler gewesen, Cesare und Julian davon zu erzählen. Bei Cesare hielt sie sich nicht lange auf. Er war nicht wichtig, spielte nur eine Nebenrolle. Er hatte Julian lediglich auf diese irrwitzige Idee gebracht, unwissentlich. Frank interessierte sich am meisten für Julian Spade. Das war verständlich. Sie versuchte, alles wiederzugeben, was er mit den jungen Leuten gesprochen hatte. Sein Erinnerungen an Vietnam. An Agent Orange. An die Hubschraubereinsätze, die er geflogen hatte. Die Entlaubungen. Jessica erzählte von der Mangroven Nachtbaumnatter, von der er geschwärmt hatte und die er sich offenbar als Haustier hielt – und von seiner merkwürdigen Philosophie, laut der man von oben kommen, von oben zuschlagen müsse, um zu siegen. Der Privatdetektiv lauschte ihrer gedämpften Stimme und sog die Informationen in sich auf. Immer wieder sah er sich um, horchte in die Dunkelheit hinein, ob Schritte zu hören waren. Falls Spade nach unten kam, wollte er vorbereitet sein. Seinen Colt hatte er längst gezogen und wog ihn unruhig in der Hand. „Frank“, sagte die Sechzehnjährige plötzlich. „Ich möchte Sie um einen Gefallen bitten.“ Frank sah sie an. „Ich weiß, es klingt verrückt, aber ich möchte nicht, dass Sie ein Einsatzkommando da hoch schicken. Ich würde lieber selbst gehen. Er kennt mich. Vielleicht kann ich mit ihm reden.“
in die andere Richtung. Frank und Jessica durchquerten die Passage und erreichten die Eingangstür, die in der Eile niemand abgeschlossen hatte. Daher hatte man wohl den Polizisten dort platziert. Man wollte ausschließen, dass es zu Plünderungen kam. Im Inneren herrschte tiefste Dunkelheit. Selbst, als sich ihre Augen daran gewöhnt hatten, war nicht viel zu erkennen. Die Konturen einer großen Theke, wo die Rezeption war. Die meisten Häuser hier hatten so etwas. Der Detektiv legte seinen Motorradhelm lautlos dort ab. „Der Killer schießt aus diesem Gebäude heraus?“ vergewisserte sich Frank noch einmal, dass er sie richtig verstanden hatte. „Ja, aus dem einundzwanzigsten Stock. Das heißt, wenn er sich nicht von der Stelle bewegt hat.“ Sie sah sich unsicher um. Beide blieben sie eng beieinander, wie um sich gegenseitig in der Dunkelheit Schutz zu geben. In fünf Minuten erzählte Jessica Frank, was sie wusste. Sie begann bei der Tatsache, dass sie die Erpressung nur erfunden hatte, um ihren Vater dazu zu bringen, den Strom abzuschalten. Den Brief hatte Cesare geschrieben. Will Putlasky hatte eine verantwortungsvolle Position in einem großen Elektrizitätswerk in Ohio inne. In den letzten Monaten hatte er seiner Tochter, die seit dem Tod seiner Frau seine ganze Familie war, viel über die Schwachstellen in der Elektrizitätsversorgung erzählt. Er machte sich große Sorgen, und er konnte diese Sorgen nicht für sich behalten. Will gehörte zu den zahllosen Leuten, die vor einem Zusammenbruch des gesamten Stromnetzes warnten – die einzelnen Kraftwerke waren so sehr voneinander abhängig, dass bereits die Überlastung eines einzelnen Relais zu einer landesweiten Katastrophe führen konnte. Weil ein Kraftwerk nach dem anderen abgeschaltet werden musste, sobald Spannungsstörungen im Netz auftreten. Wie viele andere hatte auch Will immer
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haben. Dafür war er bereit, sich in tödliche Gefahr zu begeben. Er tat es nicht nur für die Menschen, die in Gefahr waren, er tat es auch für sich selbst, um besser weiterleben zu können. Jessica hatte dieselben Beweggründe. Hatte er ein Recht, ihr ihre Chance zu nehmen? Er ließ seinen Kopf sinken und atmete schwer aus. „Wir müssen schnell sein“, sagte er dann leise. „Ehe er wieder zuschlägt. Und ehe die Polizei einen Einsatztrupp in jedes Gebäude schickt.“ Jessicas Augen wurden schmal. „Wir gehen gemeinsam“, fuhr Frank fort. „Du zuerst. Ich folge dir. Ich bleibe immer ein paar Schritte hinter dir. Er wird mich in der schwarzen Kleidung nicht sehen. Dein helles T-Shirt wird alles sein, was er in der Dunkelheit erkennen kann. Sobald wir auf ihn treffen, sprichst du mit ihm, gibst dich zu erkenne, versuchst ihn in eine Diskussion zu verwickeln. Frag ihn nach seinen Beweggründen – Leute wie er reden gerne darüber. Sie möchten sich mitteilen, wollen, dass andere sie verstehen. In dem Moment, in dem ich erahnen kann, wo er sich befinden, schieße ich auf ihn. Ich werde versuchen, ihn nur zu verwunden ... Du musst dich so wenig wie möglich bewegen, um mir nicht in die Schusslinie zu kommen.“ „Verstanden“, antwortete Jessica. „Ich mache mit.“ Ihre Hand umfasste Franks Linke. Sie zitterten beide. „Wenn wir auf der Treppe sind, reden wir kein Wort mehr miteinander. Du musst ihn rufen. Die ganze Zeit über. Vielleicht ist er schon nicht mehr im einundzwanzigsten.“ Frank lächelte ihr ernst zu. Er wusste nicht, ob sie es in der Dunkelheit wahrnehmen konnte. Er sah sie nicken.
„Das ist zu gefährlich!“ gab Frank erschrocken zurück. „Für so etwas gibt es Spezialisten.“ „Ich weiß, dass es die gibt. Ich bin kein kleines Kind. Aber ich glaube, er könnte eine Bombe haben. Es sieht ihm ähnlich. Er war Hubschrauberpilot in Vietnam. Ich glaube, er erinnert sich in diesen Minuten daran. Ich glaube, er wird etwas abwerfen wollen, etwas Großes. Es ist nur so ein Gefühl, aber ... Wenn er das Spezialkommando kommen hört, wird er eine Bombe werfen, und dann gibt es hier unten ein paar Dutzend Tote, vielleicht mehr. Diese Leute, all diese religiösen Leute, und die Verwirrten, die einfach nur dastehen und nicht wissen, was mit ihnen passiert ...“ Frank schwieg. In seinem Kopf arbeitete es. Möglicherweise hatte sie Recht mit ihrer Einschätzung. Und trotzdem konnte er nicht zulassen, dass sie sich in die Klauen dieses Irren begab. Dieser Mann hatte sie rücksichtslos benutzt, hatte ganz Amerika benutzt. Er hatte unschuldige Menschen hingerichtet, die er nicht einmal kannte. Er focht eine Art Krieg aus und würde keine Rücksicht auf das Mädchen nehmen. Andererseits ... wenn er tatsächlich Vertrauen zu ihr hatte ... „Ich glaube, du möchtest das nur tun, weil du dich schuldig fühlst“, sagte Frank langsam. „Du möchtest es wiedergutmachen. Aber das hast du schon, indem du mir das alles erzählt hast. Ich kann dich wirklich nicht da hinaufgehen lassen.“ „Frank“, sagte sie. „Ich möchte wissen, warum Sie mir zugehört haben. Nur, weil Sie meinen Vater kennen? Woher kennen Sie ihn überhaupt? Nicht von der Arbeit, oder?“ Wieder antwortete der Detektiv nichts. Aber ihm fiel etwas auf. Er, Frank, hatte eine halsbrecherische Fahrt durch New York hinter sich, um eine Rechnung zu begleichen. Um den schrecklichen Fehler wieder auszubügeln, Will Putlasky die Hilfe verweigert zu
* Es wurde ein anstrengender Aufstieg. Einundzwanzig Stockwerke waren kein Kinderspiel. So mancher, der sich in
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Sie erreichten das einundzwanzigste Stockwerk. Es sah aus wie alle anderen. Finster. Für einen Augenblick hielt Jessica inne, versuchte sich zu orientieren. In diesem Moment bellte ein Schuss. Und mit dem Schuss wurde für einen Augenblick ein langer Gang vor ihnen erhellt. Grauer Teppichboden. Helle Wände mit Bildern in unregelmäßigen Abständen. Eine lange Reihe von Neonröhren, die dunkel blieben. Es gab fünf oder sechs Nischen auf der rechten Seite, die Türen enthielten. Das Bild stand noch vor ihren Augen, als die Finsternis längst zurückgekehrt war. Frank und Jessica zuckten beide zusammen. Sie hatten keine Kugel pfeifen hören. Der Schuss war nicht in ihre Richtung abgegeben worden. Jessica musste wie er am Ende des Flures die Biegung erkannt haben, hinter der der Mündungsblitz aufgeflammt war. Julian Spade hatte wieder einen Schuss abgegeben. Den wievielten? „Julian ...“ Jessicas Stimme klang jetzt dünner als zuvor. „Julian, sind Sie das? Hier ist ... Jessica ...“ Frank verschwand in der ersten Nische und probierte die Tür. Sie war verschlossen. Er wollte gerade zur nächsten Nische huschen, als er Schritte am Ende des Flure vernahm. Er hielt den Atem an und presste sich gegen die verschlossene Tür. War die Nische tief genug, um Franks Körper zu verbergen, falls Julian eine Lichtquelle hatte? Zunächst blieb es bei den Schritten. Keine Stimme, kein Licht. „Julian? Bitte ... schießen Sie nicht! Ich bin es nur, Jessica. Niemand weiß, dass ich hier bin ...“ Ein klapperndes Geräusch, das Frank zusammenfahren ließ. Erst dann flammte das Licht einer Taschenlampe auf. Der gelbliche Lichtkegel wanderte durch den Flur, zuerst über den grauen Teppichboden, dann über die Wände. Mit angehaltenem Atem sah Frank an sich hinab, als der Strahl in seine Richtung kam. Kein Lichtstreifen auf seiner
weniger guter Verfassung befand als Frank und Jessica, hätte ihn nicht geschafft. Anfangs hatte die Sechzehnjährige die Treppe zu hastig erklommen, und er musste sie zurückhalten. Es war nicht gut, wenn sie zu sehr außer Atem war, wenn sie mit Julian sprach. Und auf gar keinen Fall durfte Franks schweres Atmen zu hören sein. Der Privatdetektiv hatte sich zwei Leuchtstreifen vom Lederdress gerissen. Mit Ausnahme seines Gesichts und seiner Haare war er nun ganz in Schwarz getaucht. Es war schwierig, die dunkle Treppe empor zu steigen, ohne zu stolpern oder schlurfende Geräusche zu verursachen. Frank lauschte nach oben und nach unten. Mindestens ebenso wie vor Julian Spade fürchtete er sich vor den Cops, die jeden Moment von unten einrücken konnten. Wenn das Einsatzkommando kam, würden Jessica und er zwischen den Fronten stehen. Dann war ihr Leben nicht mehr viel wert. Fieberhaft zählte Mr. Bronx die Stockwerke. Beim zwanzigsten wurde er unsicher. Hatte er sich auch nicht verzählt? Es war ein merkwürdiges Gefühl, in Sidney Davenports Lederkluft zu stecken. Der Mann hatte sie getragen, als man ihn umgelegt hatte. Sidney war damals 37 gewesen, ein Jahr jünger als Frank jetzt. Frank fiel ein, dass er vergessen hatte, seiner Witwe Sybil eine Nachricht zu hinterlassen. Wenn sie nach Hause kam, würde sie einen mächtigen Schrecken bekommen. Er konnte nur hoffen, dass sie gut damit fertig wurde. Ein dummer, unnötiger Patzer ... Jessica benahm sich wie ein Profi. Sie wandte sich nicht nach ihm um, wartete nicht auf ihn, lief ihm nicht davon. Sie setzte ihre Schritte laut auf die steinernen Treppenstufen, damit die seinen nicht zu hören waren. Und ständig rief sie den Namen des Mannes. „Julian! Julian, ich bin’s, Jessica. Ich muss unbedingt mit Ihnen reden. Es ist sehr wichtig. Hören Sie mich, Julian?“
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sprach, desto weniger zitterte ihre Stimme. Frank zog innerlich den Hut vor der Sechzehnjährigen. Sie schlug sich wacker im Angesicht des Todes. Und erstaunlicherweise schien Julian Spade auf sie einzugehen, schien keine Gefahr zu wittern. „Du meinst das Agent Orange?“ begann der Mann und holte tief Luft. Es war beinahe, als bereite er sich auf eine längere Rede vor. Doch sie durften sich nicht in Sicherheit wiegen. Menschen wie Spade konnten von einem Moment zum anderen ihre Stimmung wechseln. „War eine giftige Mischung. Dioxine und anderes Zeug – ich könnte dir die Liste auswendig aufsagen. Ich habe mindestens ein Dutzend Mal vom Hubschrauber aus zugesehen, wie die Flieger es unter mir versprüht haben. Bin ganz nahe rangegangen. Habe das Zeug geatmet.“ Frank lauschte den Worten des Mannes fasziniert. Es war, wie er vermutet hatte: Spade brannte geradezu darauf, seine Geschichte zu erzählen. Vermutlich, weil sie niemand sonst hören wollte. Weil es eine Geschichte war, mit denen andere nicht mehr konfrontiert werden wollten. „Ich bereue nur, dass ich nicht höher geflogen bin“, sprach der Veteran weiter. „Seit kurz nach dem Krieg leide ich an Diabetes, seit fünf Jahren an Krebs – die Prostata. Und heute weiß ich, dass es von dem Zeug kommt. Die ganze Zeit über habe ich es schon geahnt, und heute geben sie es endlich zu. Das schlimme ist, dass ich es nicht hätte bekommen müssen. Wenn man mich darüber informiert hätte, wäre ich einfach höher geflogen, verstehst du?“ Jessica zögerte. „Ich glaube, ich verstehe Sie, Julian“, antwortete sie. „Aber ich bin mir nicht sicher.“ „Nur ganz oben bist du sicher. Da kriegen sie dich nicht. Hier oben zum Beispiel. Weißt du, dass ich heute Abend schon auf neun Menschen geschossen habe? Ich habe alle Zeit der Welt – sie haben mich noch immer nicht erwischt. Das ist der Beweis. Es ist nur eine Frage der Höhe. Und
Lederkluft. Die Nische verbarg ihn. Der Detektiv begriff jetzt, dass Julian Spade zunächst die Tür hinter sich zugezogen hatte, ehe er die Lampe einschaltete. Man sollte das Licht draußen nicht sehen können. Der Mann reagierte geistesgegenwärtig und besonnen, trotz der Überraschung, die Jessica ihm bereitete. Vielleicht würde es dem Mädchen das Leben retten, dass Spade nicht die Nerven verlor. Vielleicht würde es ihr Tod sein. Mann konnte nie wissen ... „Jessica“, sagte er der Mann leise. Keine Emotion klang in seiner Stimme. Keine Drohung, nicht einmal Verwunderung. „Was suchst du hier?“ Der Lichtkreis hatte sich nun auf die Sechzehnjährige eingependelt, und sie musste geblendet die Augen schließen. „Ich wollte mit Ihnen reden, Julian“, sagte das Mädchen tapfer. „Es ist vielleicht nicht der richtige Zeitpunkt, aber ...“ Frank konnte sich vorstellen, was sie jetzt dachte. Sie dachte: Schieß doch endlich! Los, mach ihn unschädlich, bevor er mich umlegen kann! Doch so einfach war das nicht. Im Moment konnte er Julian Spade nicht sehen, und auch Jessicas Standort kannte er nur ungefähr. Solange der Mann sich auf den Flur konzentrierte und das Licht nach vorne gerichtet hatte, durfte Frank es nicht wagen, seinen Kopf vorzustrecken. Ehe er sich gegen den blendenden Lichtstrahl orientieren konnte, würde Spade längst abgedrückt haben. Er musste noch warten. Abwarten, bis der Mann abgelenkt war. „Erzählen Sie mir mehr“, forderte Jessica. „Ich habe über das nachgedacht, was Sie in der Bar zu mir sagten. Erzählen Sie mir mehr. Über Vietnam.“ Spade lachte. „Ich habe dir alles gesagt, was du wissen musst.“ Er schwenkte den Lichtstrahl von oben nach unten über ihren Körper, als spiele er mit ihr. „Dann erzählen Sie mir, was ich nicht wissen muss“, brachte das Mädchen spontan hervor. „Es gibt noch ein Geheimnis. Ich spüre es. Etwas, das Sie uns nicht verraten haben.“ Je länger sie
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Geh ihm aus dem Weg, Jessica! schrie Frank in Gedanken. Tu ihm den Gefallen! Er weiß sonst, dass du etwas verbirgst! In diesem Augenblick ging alles durcheinander. Ein dumpfer Schlag erklang, und ein zweifacher Schrei mischte sich hinein. Sowohl Jessica als auch Julian hatten geschrien. Das Mädchen war dem Mann nicht aus dem Weg gegangen, sondern hatte sich ansatzlos gegen ihn geworfen und ihn gegen die Wand geschleudert. Dabei hatte sie den Revolver in seiner Hand nicht aus den Augen gelassen. Da Julian ihn nicht fallengelassen hatte, als er gegen die Wand prallte und zu Boden rutschte, hatte Jessica mit dem Fuß nachgetreten und die Waffe aus der Hand des Kriegsveteranen gekickt. Sofort versuchte sie ihm die Taschenlampe zu entwinden. Spade hielt ihr stand, stieß sie zurück, rappelte sich auf und holte mit der Lampe aus. Der Schlag war auf ihren Kopf gemünzt und hätte sie vermutlich getroffen. Hätte Frank Reynolds nicht eingegriffen. Beim ersten Geräusch hatte er sich aus seiner Türnische abgestoßen, war herumgewirbelt und hatte auf den Mann angelegt. Julian Spade, ein mittelgroßer, korpulenter Mann mit schlohweißen Haaren und einer Adlernase, nahm ihn in diesem Moment wahr und hielt in der Bewegung inne. Seine Blicke suchten nach der Waffe, doch sie lag irgendwo in der Dunkelheit, unerreichbar für ihn. „Wer sind Sie?“ fragte Spade und gab vor, sich zu entspannen. Er zauberte sogar ein Lächeln auf seine Lippen. Es war vollkommen unpassend. So unpassend wie die schnelle Bewegung, mit der er unter sein graues Jackett griff. Frank tat es ungern, aber jetzt musste er schießen. Die Kugel aus dem Colt traf Spade in die Schulter und schleuderte den Mann zurück. Er fiel wie ein nasser Sack zu Boden. Dort wand er sich mit einem wütenden Stöhnen. Seine Taschenlampe war durch die Luft geflogen und vor Jessicas Füßen liegen
natürlich ist es gut, wenn es dunkel ist. Das verdanke ich dir, liebe Jessica.“ Plötzlich stockte er. „Du trägst doch keine Waffe bei dir, oder? Du willst mich doch nicht reinlegen ...“ Seine Stimme hatte sich verändert, war misstrauisch geworden. Jessica spreizte die Arme vom Körper ab und zeigte ihre Handflächen. Im Flur war es totenstill geworden. Frank wagte nicht zu atmen. Die Geste des Mädchens schien Spade nicht zu überzeugen. „Vielleicht ist dir jemand gefolgt ... und versteckt sich jetzt in der Nähe ...“ „Nein“, sagte Jessica und schüttelte sanft den Kopf. Noch immer hatte sie sich meisterhaft unter Kontrolle. „Ich bin alleine. Cesare ist ...“ „Wo ist Cesare?“ „Auf dem Dach gegenüber. Er wollte nicht ... mitkommen.“ „Warum nicht? Hat er Angst?“ Jessica nickte. „Ich glaube, dir ist jemand gefolgt“, sagte Spade plötzlich. „Vielleicht wusstest du ja gar nichts davon. Vielleicht ist dir heimlich jemand nachgegangen.“ Verdammt! Frank umklammerte den Colt mit seinen schweißnassen Fingern. Wie konnte der Mann das wissen? Hatte er ein Geräusch verursacht, das Spade unbewusst aufgenommen hatte? Witterte er ihn wie ein wildes Tier eine Beute? In den Lichtkegel kam Bewegung. Schritte waren zu hören. Julian Spade kam näher. Jetzt wurde es brenzlig. Alles in Frank drängte ihn dazu, die Initiative zu ergreifen, brüllend aus seinem Versteck herauszuschnellen und das Überraschungsmoment zu nutzen, um Spade unschädlich zu machen. Doch das Risiko war zu groß. Jessica rührte sich nicht, als Spade sie erreichte. Erst jetzt erkannte sie den Revolver in seiner Hand. Bisher war der Mann hinter der Taschenlampe nur vage sichtbar gewesen. „Da ist jemand! Warum gehst du mir nicht aus dem Weg?“
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geblieben. Das Mädchen hob sie auf und stellte sicher, dass der Revolver weit genug von Spade entfernt lag, um keine Gefahr mehr darzustellen. Frank stieg über den Mann hinweg und barg die Waffe. Dann durchsuchte er Spade und fand ein schwarzes Päckchen, das offenbar eine Bombe enthielt. Jessica hatte mit ihrer Vermutung Recht behalten. In Kürze hätte die Seventh Avenue ein Albtraumszenario erwartet, denn zweifellos hätte Spade von dem Sprengkörper Gebrauch gemacht, ehe es der Polizei gelang, die Gegend vollkommen zu evakuieren. Eine schreckliche Vorstellung ... „Gott, warst du gut“, sagte er, an Jessica gewandt. Er war aufrichtig beeindruckt. Jessica senkte den Kopf und erwiderte nichts. „Die Batterien gehen zur Neige“, meinte sie nach einer Weile. Tatsächlich wurde der Lichtschein der Taschenlampe schwächer. Eine Gänsehaut lief über seinen Rücken, bei dem Gedanken, den verletzten Spade durch das stockfinstere Treppenhaus nach unten schleppen zu müssen. Dann kam er auf die Idee, nach Ersatzbatterien zu suchen, und er fand sie in dem Raum am Ende des Flures, vor dem Fenster, von dem aus Spade seine Exekutionen ausgeführt hatte. Zusammen mit einem Nachtglas, mit der er seine Opfer ausgewählt hatte. Zuerst dachte er daran, Jessica mit der Taschenlampe nach unten zu schicken, damit sie Hilfe holen konnte, während er hier oben auf Spade aufpasste. Doch das Risiko, dass sie der Polizei in die Arme lief, die womöglich noch auf sie schießen würde, war ihm zu groß. Er hatte keine Möglichkeit, die Cops auf ihr Kommen vorzubreiten. Also mussten sie es wohl oder übel umgekehrt machen. Jessica blieb bei Spade. Frank überließ ihr die Taschenlampe, obwohl auch er gute Verwendung dafür gehabt hätte, und machte sich in der Finsternis alleine an den Abstieg durchs Treppenhaus.
Der Rest der Nacht verlief so hektisch für den Privatdetektiv, dass er sich später kaum mehr entsinnen konnte, was er alles getan hatte. Er hatte mit zahllosen Cops gesprochen, und in den frühen Morgenstunden war sogar sein alter Freund Phil Stuart noch am Schauplatz des bizarren Verbrechens aufgetaucht. Dazwischen war er zu dem Treffpunkt zurückgekehrt, an dem Lizza Kelly-C. auf ihn wartete, und hatte sie wieder in seinen Schutz genommen. Inzwischen waren Jessica und Cesare von der Polizei abgeführt worden. Es war schon gegen drei Uhr morgens, als Frank die Zeit fand, gemeinsam mit Phil Stuart und Lizza in einem Café am Broadway einen Espresso zu trinken und ein Sandwich zu verspeisen. Einige Restaurants und Cafés, die längst hätten geschlossen sein müssen, bewirteten ausnahmsweise auch zu so später Stunde noch ihre Gäste. Allerorten wurde improvisiert, man half sich gegenseitig und sorgte dafür, dass jene, die in dieser Nacht nicht mehr nach Hause zurückkehren konnten, noch etwas zu essen bekamen und ein Plätzchen fanden, an dem sie ein wenig dösen und sich von den Strapazen der Nacht erholen konnten. Schon bevor der Strom wieder floss, begann sich das Leben in New York zu normalisieren. Viele hatten von den Ereignissen in der Fifth Avenue nichts mitbekommen und erfuhren erst viel später davon. Gegen fünf Uhr hatten die ersten Stadtteile wieder Strom, und auch wenn es in einigen Vierteln und in anderen Städten noch zwei Tage dauern sollte, bis das Stromnetz wieder funktionierte, ging vieles schon bald wieder den Weg des Gewohnten. Und doch war es ein Schreck gewesen, der den Vereinigten Staaten noch lange in den Knochen stecken würde. So, wie die Dinge standen, war es leichter, Nordamerika den Strom abzudrehen als ein Kartenhäuschen am Broadway zu
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über seine Probleme zu sprechen. Auch, als ihm klar wurde, dass das Entlaubungsmittel Agent Orange bei ihm schwere gesundheitliche Schäden hinterlassen hatte, behielt er dies und seine ständig wiederkehrenden Albträume für sich, kapselte sich völlig von der Außenwelt ab, verschloss sich anderen Menschen und verließ die Armee schließlich, um in seiner zweiten Lebenshälfte noch ein erstaunlich erfolgreicher Barbetreiber zu werden. Doch der finanzielle Erfolg tröstete ihn nicht. Je mehr er gesundheitlich abbaute, desto besessener wurde er von seinen Vorstellungen. Die Krebsdiagnose warf ihn vollends aus der Bahn. Seit er sich fünf Nachtbaumnattern als Haustiere hielt, begann er sich mehr und mehr mit diesen Tieren zu identifizieren. Doch ausgelöst hatte sein Verbrechen schließlich die zufällige Begegnung mit Cesare und Jessica. Die beiläufige Bemerkung des jungen Fensterputzers, er wünsche sich, nachts im Dunkeln dort oben zu sein. Und Jessica, die von ihrem Vater erzählte. Wie so oft im Leben war es eine schicksalhafte Verkettung von Umständen gewesen. Und wie so oft wäre alles ganz anders gekommen, wenn eines dieser winzigen Kettenglieder ein wenig anders geformt gewesen wäre. Julian Spade verschwand hinter Gittern, wo er ein halbes Jahr später dem Krebs erlag. Ein Buch, dass sich mit ihm und seiner Tat beschäftigte, dominierte zwei Monate lang die Bestsellerlisten. Auch Will Putlasky, seiner Tochter Jessica und deren Freund Cesare war kein Happy End vergönnt. Schadensersatzklagen aus den ganzen USA und aus Kanada stapelten sich meterweise auf den Schreibtischen ihrer Anwälte. Zwar hatten die spektakulären Umstände hochkarätige Juristen angezogen wie das Licht die Motten, und einige der prominentesten Rechtsverdreher Amerikas beschäftigen sich mit dem Fall, doch alles sprach dafür, dass sich die Verhandlungen
überfallen – wenn man nur zur richtigen Zeit am richtigen Ort war und über die nötigen Kenntnisse verfügte. Jetzt lag es an den Regierungen, Vorkehrungen zu treffen, dass etwas Derartiges künftig ausgeschlossen wurde. Überraschend erfreulich fiel die Bilanz von Julian Spades Verbrechen aus, denn von den neun Personen, auf die er von seinem Hochsitz aus gezielt hatte, war nur die erste, die dicke Frau, ums Leben gekommen. Die anderen hatten leichte bis mittlere Verletzungen davongetragen und konnten die Krankenhäuser bald wieder verlassen. Spade hatte in seinem skurrilen Höhenwahn einen zu hohen Ort gewählt, um präzise zielen zu können – ein Glück im Unglück für die Opfer des verwirrten Mannes. Frank beschäftigte sich in den folgenden Wochen unwillkürlich mit der Vorgeschichte von Spade und erhielt interessante Einblicke in die Polizeiakten gewährt. Anscheinend hatte Julian Spade schon sehr bald nach dem Ende des Vietnamkrieges psychische Störungen gezeigt, die darauf hindeuteten, dass er mit dem Erlebten nicht zurechtkam. Was genau seine Seele so sehr belastete, würde man wohl nie herausfinden – mit Sicherheit war mehr geschehen, als er von sich aus preisgab. An einem Punkt stieß Frank auf eine besonders hässliche Stelle in der amerikanischen Militärspraxis. Zwar gab es prinzipiell für jeden US-Soldaten die Möglichkeit, psychologische Unterstützung in Anspruch zu nehmen, wenn er glaubte, dieser zu bedürfen, doch wurde jeder Besuch beim Psychologen in den Akten vermerkt und schloss jede Beförderung innerhalb des Militärs aus. Mit anderen Worten: Wer auf der Karriereleiter der Armee aufsteigen wollte, konnte es sich nicht leisten, den Psychologen auch nur auf dem Flur zu grüßen. Julian Spade hatte aus eben diesem Grund darauf verzichtet, mit jemandem
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hatte die Washington Avenue wieder Saft, Mandy hatte wie üblich ihren Dienst angetreten, und Oswald Kelly war eben hereingekommen, weil er sich Sorgen um seine Tochter machte. Er hatte die ganze Nacht über in Franks Wohnung und Büro angerufen, jedoch niemanden erreicht. Mandy fragte nicht, wo Frank und Lizza die ganze Nacht über gewesen waren und was sie getrieben hatten. Ihre Stimme klang unterkühlt. Vielleicht war es keine offene Eifersucht, die sie an den Tag legte, aber doch ein deutlicher Schritt in diese Richtung. Frank nahm sich vor, seiner Kollegin erst von dieser unglaublichen Nacht zu berichten, sobald er einen Zeitungsbericht vorliegen hatte, mit dem er seine Worte beweisen konnte. Er hatte keine Lust, sich von einer Frau eine Ohrfeige wegen der unverfrorensten und dreistesten Lügengeschichte aller Zeiten einzufangen. Sicher war sicher.
über Jahre, vielleicht Jahrzehnte erstrecken würden. Wenn auch die Tendenz bestand, den Vater Will von den meisten Anklagen freizusprechen, so standen die Gerichte Jessica und Cesare weniger gnädig gegenüber. * Frank und Lizza machten sich an jenem Abend auf Sidney Davenports Motorrad auf den Weg zu Franks Wohnung. Sie waren mehr als eine Stunde unterwegs. Während der Detektiv auf seiner Couch einschlief, schaffte es Lizza nicht einmal mehr bis ins Schlafzimmer, sondern verlor bereits im Wohnzimmersessel den Kampf gegen den Sandmann. Um zwölf Uhr mittags wurden sie beide vom Telefon geweckt. Es war Mandy Torrance. Sie rief vom Büro aus an und erkundigte sich unschuldig, ob Frank und seine reizende Begleitung heute nicht mehr auftauchen würden. Seit sechs Stunden
Eigentlich hatte ich mir vorgenommen, mehr über den Mann zu erzählen, dessen Motorrad mich durch das Chaos in den Straßen von New York sicher an mein Ziel gebracht hatte. Über den Menschen und den Polizisten Sidney Davenport, über das, wofür er gekämpft, über das, was ihn getötet hatte. Damit er kein Name bleibt, kein Schatten ohne Gesicht. Aber ehrlich gesagt: seine Geschichte war mir zu groß, zu wichtig, um sie in ein paar Sätzen am Rande abzuhandeln. Vielleicht berichte ich eines Tages davon. Dann aber in der Ausführlichkeit, die ein Schicksal wie das seine verdient. Vielleicht schweige ich auch darüber. Nicht alles, was geschieht, muss erzählt werden.
ENDE
Im Dezember erscheint Mr. Bronx Nummer 10: „Die Thailand-Connection“ von Alfred Wallon atc pxd
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Mr. Bronx erscheint bei vph Verlag & Vertrieb Peter Hopf, Goethestr. 7, D-32469 Petershagen. © Copyright aller Beiträge 2003 bei Alfred Wallon und vph. Nachdruck, auch auszugsweise, nur nach schriftlicher Genehmigung durch den Verlag gestattet. Cover: Thomas Knip Die in diesem Roman geschilderten Ereignisse sind rein fiktiv. Jede Ähnlichkeit mit tatsächlichen Begebenheiten, mit lebenden oder verstorbenen Personen wäre rein zufällig und unbeabsichtigt.
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