Freder van Holk Mordpalaver
SUN KOH-Taschenbuch erscheint monatlich
im Erich Pabel Verlag KG, Pabelhaus, 7550 Rasta...
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Freder van Holk Mordpalaver
SUN KOH-Taschenbuch erscheint monatlich
im Erich Pabel Verlag KG, Pabelhaus, 7550 Rastatt
Neu bearbeitet von Heinz Reck
Copyright © 1980 beim Autor und Erich Pabel Verlag, Rastatt
Agentur Transgalaxis
Titelbild: Nikolai Lutohin
Alle Rechte vorbehalten
Gesamtherstellung: Clausen & Bosse, Leck
Vertrieb: Erich Pabel Verlag KG
Verkaufspreis inkl. gesetzl. MwSt.
Unsere Romanserien dürfen in Leihbüchereien nicht verliehen
und nicht zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden;
der Wiederverkauf ist verboten.
Alleinvertrieb und Auslieferung in Österreich:
Pressegroßvertrieb Salzburg, Niederalm 300
A-5081 Anif
Abonnements und Einzelbestellungen an
PABEL VERLAG KG, Postfach 1780, 7550 RASTATT,
Telefon (0 72 22) 13-2 41
NACHDRUCKDIENST:
Edith Wöhlbier, Burchardstraße 11, 2000 Hamburg 1,
Telefon (0 40) 3 01 96 29, Telex 02 161 024
Printed in Germany
September 1980
Scan by Tigerliebe 03/2006
Bearbeitet von Brrazo
1.
Man führte in diesen Tagen merkwürdige Gespräche in Washington. Sie fanden ganz unabhängig vonein ander statt und besaßen doch zwei starke Gemein samkeiten: die Teilnehmer der Gespräche waren Ausländer, obgleich sie ausnahmslos die englische Sprache akzentfrei gebrauchten. Im Mittelpunkt stand ebenfalls immer die gleiche Angelegenheit. Im schalldichten, gediegen und würdig eingerich teten Zimmer eines exterritorialen Gebäudes standen sich in später Nachtstunde zwei Männer gegenüber. »Sie werden nun verstehen«, sagte der ältere, »daß ich Sie anfordern mußte, obgleich Ihre sonstigen Aufgaben nicht erledigt waren. Sie sind unsere letzte Hoffnung hier. Unsere Abteilung hat seit Wochen al les Mögliche versucht, aber an die Leute ist einfach nicht heranzukommen. Ich brauche Ihnen wohl kaum zu sagen, daß es noch eine ganze Reihe von Interes senten gibt, denen es nicht anders ergangen ist. Seit gestern sind nun zu den dreien, die ich schon nannte, also Gorm, Barnes und Wighton, noch einige dazu ge kommen, wenigstens einer, der mit seinen beiden Die nern der Führer des Ganzen zu sein scheint. Immerhin sechs Mann – es müßte gelingen, bei diesem oder je nem Erfolg zu haben. Es muß, Kapitän, verstanden?« 5
»Vollkommen«, entgegnete der andere knapp. »Ich zweifle nicht daran, daß ich Ihnen in Kürze Ge naueres mitteilen kann. Meine Mittel sind wie üb lich?« »Unbegrenzt – mit der gewöhnlichen Ausnahme, daß sie offiziell nicht gedeckt werden. Die acht Leu te, die bisher den Fall bearbeiteten, stehen zu Ihrer Verfügung.« »Stehen die Leute in Verbindung mit der Regie rung?« »War nicht einwandfrei festzustellen, wird aber vermutet.« »Also offenbar weniger Politik, sondern mehr Wirtschaft und Finanz. Eine Erfindergruppe viel leicht?« Der Ältere hob die Schultern. »Das ist es ja eben, was wir genau wissen wollen. Unsere Vorposten im Land können nichts erfahren und wandern einer nach dem anderen in die Gefän gnisse, und hier ist erst recht nichts zu wollen.« Der Jüngere schüttelte den Kopf. »Es ist offengestanden für mich kaum begreiflich, wie sich innerhalb weniger Wochen die Situation so völlig wandeln soll.« Der andere lächelte düster. »Sie werden es vielleicht begreifen, wenn Sie die Leute sehen, gegen die Sie anzugehen haben, wenn 6
Sie ferner die Unterlagen durchgelesen haben, die ich Ihnen über die Vergangenheit jener Leute zur Verfü gung stellte, soweit ich sie erlangen konnte. Lesen Sie zum Beispiel recht aufmerksam den Bericht durch, in dem von dem Vortrag dieses Barnes über die Atomzertrümmerung die Rede ist, und versuchen Sie eine Erklärung dafür zu finden, warum der Mann plötzlich so spurlos verschwand, obgleich er unge heure Chancen hatte. Sie werden meine Bedenken begreifen, wenn ich Ihnen verrate, welche Gelder hinter diesen Leuten stehen. Es ist vielleicht die wichtigste Nachricht, die ich in dieser Sache erhielt – und sie kam aus dem Ausland. Bitte, behalten Sie Ih re Fassung – diese Männer verfügen augenblicklich über ein bankmäßiges greifbares Kapital von hundert Milliarden Mark.« Sein Gegenüber sprang trotzdem auf. »Unmöglich!« »Leider nicht. Die Angabe ist zuverlässig. Dabei gehen ungeheure Summen ständig aus und ein. Das wahre Vermögen läßt sich nur in einer phantasti schen Zahl schätzen.« »Hm, sollten damit die Gerüchte über die riesigen Goldfunde in Alaska zusammenhängen? Jedenfalls kann mit solchen Beträgen allerhand Unheil ange richtet werden.« »Ja, man kann die Welt damit kaufen, zumal wenn 7
es sich um Goldbestände handelt, und nicht um die fragwürdige Währung irgendeines Landes. Das ist es ja gerade. Dieses an sich gefährliche Amerika kommt plötzlich mit Leuten in Kontakt, die nicht abgeneigt scheinen, gewisse geniale Erfindungen und zugleich riesige Geldsummen ausgerechnet in diesem Land zu investieren. Die Auswirkung läßt sich nicht absehen. Man müßte sofort eingreifen. Aber zuvor muß man Bescheid wissen. Unser Land baut darauf, daß Sie uns dieses Wissen verschaffen, Kapitän. Sie stehen vor der größten und dankbarsten Aufgabe Ihres Le bens.« »Ich werde alles daransetzen, sie zu lösen«, erwi derte der Kapitän ohne Pathos. »Hoffentlich. Und vergessen Sie bitte nie, daß Sie gleichzeitig auch gegen die anderen Interessengrup pen zu kämpfen haben. Sie sind als Konkurrent ge fürchtet wie kein anderer.« Der Jüngere lächelte nur. »Vorläufig weiß man nichts von meiner Ankunft, und wenn man es erfährt, hoffe ich fertig zu sein.« Er wußte um diese Zeit noch nicht, daß sein Wa gen eine Stunde später mit einem anderen Wagen zu sammenstoßen sollte und daß er in den nächsten Ta gen sehr viel zu tun hatte, um sein Leben zu erhalten. Insgesamt wußte er nicht, daß es der größte Fehler seines Lebens gewesen war, in dieses Washington zu 8
kommen, in dem die unterirdischen Elitetruppen der Welt schon seit langem ihre Stellungen bezogen hat ten. * Im Hinterzimmer einer verräucherten Vorstadtkneipe saßen vier biedere Bürger, deren Gesichter besser als jeder Paß ihre Harmlosigkeit bekundeten, beim Kar tenspiel. Sie spielten mit Andacht und Hingebung und erfrischten sich zuweilen durch einen Schluck Bier. Es war schon fast Polizeistunde, als ein fünfter Mann eintrat, auf den Tisch klopfte und sich zu ihnen setzte. Kurz darauf brachte der Wirt Bier, lauschte einen Augenblick sachverständig einer erregten Aus führung über die Notwendigkeit, im letzten Spiel mit Trumpflusche statt mit dem Alten zu stechen, und ging dann in den Vorraum zu seiner Theke zurück. Jetzt geschahen einige merkwürdige Veränderun gen. Die Spieler spielten nur insofern weiter, als sie mechanisch Karten in der Hand behielten und gele gentlich mit Nachdruck ein Blatt auf den Tisch schlugen. Ihr Interesse war jedoch bei der Unterhal tung, die jetzt einsetzte, und die hatte mit dem Spiel gar nichts zu tun. Außerdem wurde sie in einer Spra che geführt, die diese braven Bürger seltsamerweise fließend beherrschten. 9
»Nun?« fragte einer den späten Ankömmling. »Sie kommen spät, mein Lieber.« »Der Kapitän ist tatsächlich angekommen. Ich ha be erst die entsprechenden Vorbereitungen treffen müssen.« »Gute Fahrt«, wünschte einer spöttisch. »Wir müssen nun zum Ziel kommen«, sagte ein anderer verweisend. »Nicht nur, weil wir die anderen auch noch zu fürchten haben, sondern vor allem, weil es das Interesse unseres Landes unbedingt erfordert. Es steht wohl nun fest, daß die Leute Verbindung mit der gesamten Großindustrie aufgenommen und an sie Aufträge vergeben haben, die in die Milliarden ge hen. Ich kenne allein sechs Werke, die seit einigen Tagen ein fieberhaftes Arbeitstempo eingeschlagen haben. Die Produktion wird verdoppelt und verdrei facht, und dabei weiß kein Mensch, was eigentlich da so plötzlich fabriziert wird.« »Die Männer im Astoria wissen es«, murmelte ei ner. »Jawohl«, kam es heftig zurück, »und wir haben bereits fünf Leute eingebüßt und sind genauso weit wie am Anfang. Von morgen an gibt es keine Ruhe mehr. Die Regierung hat mir neuerdings zehn Mil lionen zur Verfügung gestellt. Unsere Mittel sind un beschränkt. Es müßte sich die Hölle gegen uns ver schworen haben, wenn es nicht gelingen sollte. Was 10
melden Ihre Leute?« Der Angesprochene schüttelte unwirsch den Kopf. »Nichts. Die Verbindungen brechen völlig ab. Das Telefon wird kaum mehr benutzt. Peilversuche sind noch immer erfolglos. Wie die Leute ihre Geschäfte erledigen, ist mir rätselhaft. Vielleicht legen sie we gen der Ankunft ihres Chefs eine Ruhepause ein.« »Das glauben Sie selber nicht. Haben Sie festge stellt, wo er herkam?« »War nicht festzustellen.« »Zum Verrücktwerden. Wie steht’s mit dem Oberst?« Ein anderer antwortete: »Nichts, was zur Sache Beziehung hat. Es ist bekannt, daß dieser Gorm vor acht Tagen in der Kanzlei vorgesprochen hat. Zweck unbekannt. Die als sicher angenommene Unterre dung mit dem Oberst hat nicht stattgefunden. Wir beobachten weiter.« »Sehr erfreulich«, bemerkte der Wortführer bissig. »Also, nun ist Schluß. Wir gehen mit den letzten Mitteln vor. Lächerlich, wenn wir die Kerle nicht kleinbekommen würden. Merken Sie sich nun bitte Ihre Anweisungen.« Flüsternd sprach er weiter, während eintönig die Karten klatschten. * 11
In einer ledergepolsterten Zelle in einer Villa, deren Tür durch Bücherregale verdeckt war, befand sich ein massiver Mann mit harten Gesichtszügen, vor dem Mund ein Mikrophon, über dem Kopf den Hör bügel. »Nichts, sagen Sie? Ja, ich verstehe nicht…« »Sparen Sie Ihre Vorwürfe«, kam es messerscharf zurück. »Wir tun, was wir können.« Der Mann in der Zelle machte eine ärgerliche Be wegung. »Das ist nicht genug. Habe ich dazu das berühmte ste Institut der Welt, wie Sie Ihr Unternehmen nen nen, in Bewegung gesetzt, damit Sie mir diese Re densarten vorsetzen? Ich zahle Ihnen täglich enorme Summen und außerdem …« »Eine Million Dollar Prämie, ich weiß schon«, antwortete der andere kalt. »Sie brauchen mir das nicht immer zu erzählen. Wenn es Ihnen beliebt, dann ziehen Sie den Auftrag zurück. Ich habe dank barere Aufgaben.« »Ich denke nicht daran«, schrie der massige Mann wütend. »Sie müssen mir die Auskünfte verschaffen, mag es kosten, was es wolle. Ich erhöhe Ihre Prämie auf zwei Millionen, Mann. Ich muß wissen, was die se Bande vorhat, verstehen Sie? Seit einigen Tagen fiebern die Börsen, die Industriepapiere klettern wie 12
verrückt, man munkelt von riesigen Aufträgen einer unbekannten Finanzgruppe, spricht von Milliarden, wirft sich wie verrückt darauf und kann doch kein einziges Papier mehr erhalten, alles gesperrt und ich – ich stehe mit blinden Augen vor dem Ganzen und weiß nicht, warum dieses höllische Karussell plötz lich losgeht. Mann, Sie wissen, wer ich bin. Können Sie die Bedeutung dieser Vorgänge nicht erfassen? Die Arbeit von Jahrzehnten, die finanzielle Beherr schung der Erde geht mir hier zum Teufel, und ich kann keinen Finger rühren. Ahnen Sie nicht, was es heißt, daß ich auch nicht eine einzige, lumpige Aktie gewisser Fabriken kaufen kann, selbst wenn ich eine Million für eine zahle?« »Ich ahne es schon«, erwiderte die ferne Stimme mit kühler Gleichgültigkeit. »Das ändert aber nichts daran, daß meine Versuche bisher scheiterten. Sie dürften wissen, daß ich nicht gerade unter Gewissens bedenken leide und außerdem kein Stümper bin.« »Erfolg sollen Sie haben, weiter nichts«, knurrte der Mann am Mikrophon. »Erfolg ist alles. Und wenn Sie nichts erfahren können, dann lassen Sie die Leute gefälligst hopps gehen, machen Sie die Kerle unschädlich, stumm!« »Dazu ist das Risiko zu groß.« »Teufel! Fünf Millionen Dollar, wenn die Leute erledigt sind.« 13
Kurze Pause, dann ganz knapp. »Angenommen. In drei Tagen ist alles erledigt.« * »Mein Lieber, mein Lieber«, sinnierte der sommer sprossige Junge, der am Fenster des Hotelzimmers lehnte. »Da nennt man nun dieses Washington die Stadt ohne Unterwelt. Ich danke. Die Sahara mit ih ren wilden Burschen war für uns zuträglicher als die ses Viertel um das Astoria herum.« Der hünenhafte Neger neben ihm nickte zustim mend. »Wenn das so weitergeht wie in den beiden letzten Tagen, können wir uns wenigstens nicht über Lange weile beklagen. Viel zu viele Leute hier. Ich habe nie so eine Masse vollkommen überflüssiger Blumenund Zeitungsverkäufer, Schuhputzer, defekter Autos und was noch alles auf einem Platz gesehen wie jetzt um das Hotel herum. Und die Bude selbst ist geram melt voll von Leuten, die uns zum Fressen gern ha ben.« »Mich wundert bloß, daß die Polizei nicht ein schreitet, wo die doch so tüchtig sein soll.« »Sie müßte dich höchstens wegen deiner dämli chen Bemerkungen verhaften«, antwortete Nimba bissig. »Wo soll sie denn einschreiten? Es ist noch 14
lange kein Verbrechen, hier zu wohnen oder draußen herumzulaufen. Wer freilich aktiv wird und sich er wischen läßt, der muß dran glauben. Du weißt doch, daß wir gestern allein drei haben hopps gehen las sen.« »Na, wenn schon, dafür hätten wir aber auch je desmal hopps sein können. Das ist es doch gerade, was mich wurmt. Wir stecken hier wie in einer Falle drin, schön geschützt durch unsere Wachen an den Treppenaufgängen. Wir müssen abwarten, bis uns einer angreift, damit wir dann in der letzten Angst durchrutschen können. Das klappt zehnmal, aber paß auf, eines Tages geht der Laden schief, und dann sitzt irgendeiner von uns in der Tinte. Mir wäre es viel lieber, wir holten mal tief Luft und räumten mit der ganzen Kolonne, die sich draußen herumtreibt, gründlich auf.« Ein schnurrendes Klingeln drang aus den Taschen der beiden. Im Nu strafften sich ihre Körper wie un ter einem elektrischen Schlag. »Die Wachen haben den Kontakt losgelassen!« schrie Hal. »Raus!« brüllte der Neger auf. Schon flogen die beiden Gestalten durch das Zimmer. Der Neger riß die Tür auf, wofür Sun Koh später eine Wandreparatur zu bezahlen hatte. Dicht hinter ihm huschte Hal in den Gang. 15
Einen Augenblick vorher hatte sich bereits eine an dere Tür mit der gleichen Geschwindigkeit geöffnet. Das Gangstück, das zwischen zwei aufsteigenden Treppen lag, war ungefähr zwanzig Meter lang. An jedem Ende stand gewöhnlich ein Mann und sicherte die Zugänge zu den Türen. Diese Männer hielten in ihrer linken Hand eine kleine Dose, aus der ein roter Stift ragte. Diesen Stift drückten sie mit dem Zeige finger dauernd nieder. Sobald sie ihn frei ließen, schnurrte in den Taschen der Männer das Alarmzei chen auf. Die Wächter waren augenblicklich nicht mehr zu sehen, man konnte ihre Körper nur hinter Gruppen von mehreren Männern vermuten, die die Enden des Ganges besetzten. Diese Männer besaßen höchst merkwürdige Gesichter. An ihren Nasen klemmten Apparate, die den Mund deckten, und wie sich an schließend zeigte, eine Konstruktion von Gasschutz darstellten. Die gleichen Apparate trugen auch zwei Männer, die bereits in den Gang eingedrungen waren. Sie wa ren offensichtlich bereit, die mattglänzenden Kugeln zu werfen, die sie in den Händen hielten. Sicher hatten sie kaum damit gerechnet, daß sich die Türen so schnell öffnen würden, denn sie stutz ten, als plötzlich Sun Koh und seine beiden Leute herausstürzten. 16
»Achtung! Gasbomben!« schrie Sun Koh. In der gleichen Sekunde sprang er auch schon auf den Mann zu, der auf seiner Seite war. Der Mann warf den mattblitzenden Ballon. Er zer platzte an Sun Kohs Schulter. Doch der kümmerte sich nur insofern darum, als er sich vor dem Einat men hütete. Leicht und gleichmäßig sparsam drückte er die Luft aus der Brust. Jetzt landete er neben dem Mann. Die Faust häm merte dumpf gegen dessen Kinn, so daß er sofort oh ne weitere Bewegung nach rückwärts schlug. Sun Koh verlängerte seinen Sprung durch ein leichtes Abwippen und kam damit über die Gruppe an der Treppe, die sich bis jetzt noch zu keinem Ent schluß hatte aufraffen können. Der Wirbelwind der stählernen Fäuste, der ihnen die Gesichter verbog, gleichzeitig aber auch die Masken herunterwischte, zwang sie nun zum Handeln. Entsetzt jagten sie hin auf und hinunter, soweit sie nicht am Boden lagen. Sun Koh eilte ein Stück mit hinauf und schlug zwei Leute nieder. Dann sog er tief die Luft ein, die seine Lunge nunmehr notwendig brauchte. Im Vergleich zu Sun Koh war Nimba unbeholfen und langsam, aber für den Angreifer genügte die Schnelligkeit dieses einst weltberühmten Boxers vollkommen. Dieser Angreifer war so verwirrt, daß er seine Gaskugel daneben warf, so daß der Neger 17
ungehindert weiteratmen konnte. Kaum hatte er ge worfen, da hatte ihn Nimba schon erreicht und mit einem Schlag versehen, von dem er sich nicht so bald wieder erholen sollte. Die Gruppe war etwas schneller als die andere, gegen die Sun Koh anlief. Sie warf den Neger nicht weniger als drei solcher handgroßen Kugeln entge gen, von denen eine auf dem vorgereckten Schädel, die andere auf der Brust und die dritte an der Wand zerplatzte. Über dieser mannhaften Gegenwehr ver gaßen sie die Flucht. Das zeigte sich durchaus als Fehler. Obgleich der Hüne allerhand Gas schluckte, arbeiteten seine Fäuste noch in halber Bewußtlosig keit mit einer Präzision und Schlagkraft, die für ein mittleres Lokal gereicht hätten. Er sank erst zusam men, als sich der letzte mit eigenartig verzerrtem Ge sicht sanft auf den kleinen Menschenhügel gelegt hatte. Hal hatte den Gasballon, der für Nimba bestimmt gewesen war, direkt auf die Stirn bekommen und hatte sich darauf mit halb erstaunter, halb entrüsteter Miene lang hingelegt. Es gab darüber von seiner Sei te später allerlei zu bemerken, das dem Neger weni ger angenehm erschien, als eine volle Ladung dieser Gasmischung. Die drei jungen Männer, mit denen Sun Koh zu sammen gearbeitet hatte, waren alles andere als be 18
griffsstutzig. Einer sauste sofort an die Fenster und riß sie weit auf, die beiden anderen hielten den Atem an und sprangen mit schußbereiter Pistole Sun Koh und Nimba zu Hilfe. Wenn sie auch nichts mehr zu tun vorfanden, so sicherten sie doch für alle Fälle die Zugänge. Das Gas mußte sehr flüchtig sein, denn nach we nigen Minuten kehrten die Betäubten allmählich wieder ins Leben zurück, mit Ausnahme derer, die nicht vom Gas betäubt worden waren. Sie erwachten erst in den liebevollen Armen stämmiger Polizisten, die sie mit lächelnder Höflichkeit zu einer Autofahrt aufs Polizeipräsidium einluden. Sun Koh kehrte mit seinen Leuten in die Zimmer zurück. Der Vorfall war zu alltäglich, um sich lange darüber aufzuhalten. Man hatte eben einen Teil der Interessenten kaltgestellt. An ihrer Stelle würden sich andere Gruppen bemerkbar machen. »Unverschämtheit«, schimpfte Hal nun vor sich hin, aber laut genug, daß es Nimba zu hören bekam. »Man sollte nicht denken, daß erwachsene Menschen so feige sind, ihren Ballon wegzunehmen, damit der Ballon anderen Menschen an den Ballon schlägt. Naja, schließlich ist es ja auch kein Wunder. Man kann von armen Halbwilden nicht soviel Bildung verlan gen, wie dazu notwendig wäre.« Nimba wandte sich gleichmütig um. 19
»Ich habe immer so das Gefühl, als ob du von mir redest.« Hal starrte ihn sprachlos an. Er mußte erst ein paarmal tief Luft holen, bevor er wieder Worte fand. »Du – du angebrannter Eierkuchen, du willst mich wohl veräppeln? Ich rede schon über eine Stunde mit dir, falls du das noch nicht bemerkt haben solltest.« Nimba hob die Schultern. »Tja, eigentlich kam es mir ja schon öfter so vor. Übrigens, in einer Viertelstunde muß ich Sun Koh fahren.« »Weiß ich doch selber«, knurrte Hal, »Du fährst spazieren und unsereiner spielt natürlich wieder Nachtwächter.« Nimba grinste. »Jedem das, wozu er sich am besten eignet.« »Da müßtest du als Mistkäfer herumkrabbeln, elender Stänker«, erboste sich der Junge. »Kleiner Mann, zerreiß dir das Maul nicht. Hole lieber den Anzug rüber. Sun Koh muß sich noch um ziehen. Ich lege mittlerweile das andere zurecht.« Hal rümpfte die Nase und schlenderte in den Ne benraum, in dem sich die mächtigen, bis zur Decke reichenden Garderobeschränke befanden. Nach drei Minuten war er noch nicht zurück. »Hallo!« schrie Nimba durch die angelehnte Tür hinüber. »Du bist wohl eingeschlafen?« 20
Keine Antwort. »Lausejunge, verfluchter«, murmelte der Neger und ging kopfschüttelnd hinüber. Der Garderoberaum war leer. Von Hal nichts zu sehen. Die eine Schranktür war leicht angelehnt. Die Tür zum Flur war verschlossen. Der Schlüssel steckte in nen. Die beiden Riegel des Fensters lagen vor. Es gab nur einen Ausgang aus dem Raum, und der führ te zum Nebenzimmer, in dem sich Nimba aufgehal ten hatte. »Verrückt!« brummte der Neger und prüfte nun Fußboden, Wände und Decke. Sie waren leicht zu übersehen, doch es fand sich nirgends ein Anzeichen für einen geheimen Zugang. Aha, das wäre eine Möglichkeit! Er stieg in die geräumigen Schränke. Die Prüfung des Bodens ergab keine verdächtigen Hinweise, ebensowenig die Prüfung der Hinterwände. Aber… Nimba schalt sich nachträglich alles Mögliche, was nicht im Lexikon stand, daß er die Mörtelteile, die an der einen Stelle im Schrank lagen, bisher so wenig beachtet hatte. Ein einziger aufmerksamer Blick in die Höhe zeigte nämlich, wo sich der ge suchte Zugang befand. Im Schutz der Schrankwand hatte man von oben her eine Öffnung aus der Decke 21
ausgeschnitten und nur notdürftig überlegt. Jetzt löste sich im Augenblick das ganze Rätsel. Hal hatte die Sachen aus dem Schrank herausneh men wollen. Ein oder mehrere Unbekannte waren von oben her in den Schrank eingedrungen und hat ten den Jungen mühelos gegriffen und nach oben ge zogen. Seit Minuten hatten sie ihn in ihrer Gewalt. Nachdem der Neger das einmal erfaßt hatte, han delte er mit aller gebotenen Schnelligkeit. Er nahm den Anzug heraus, den Sun Koh anziehen wollte, stürzte ins Nebenzimmer, legte mit ein paar Griffen alles Notwendige zurecht, dann jagte er durch einen augenblicklich unbenutzten Raum in das Arbeits zimmer, in dem Sun Koh, wie fast immer in den letz ten Tagen mit Gorm, Barnes und Wighton saß und arbeitete. »Sir«, meldete er, »es ist soweit. Die Sachen lie gen bereit.« Sun Koh erhob sich unverzüglich. »Den Wagen, Nimba!« »Jawohl, Sir!« Sun Koh verließ das Zimmer. Sofort stürzte Nim ba auf die drei jungen Leute zu und flüsterte: »Hal ist gerade entführt worden. Im Garderoberaum ist von oben her die Decke durchgeschnitten worden. Er muß sich noch oben befinden. Kommen Sie, wir wol len nachsehen.« 22
»Du nicht, Nimba«, erwiderte Gorm, der wie die beiden anderen aufsprang. »Kümmere dich um den Wagen.« »Aber ich muß wissen, was mit Hal…« »Wir erledigen das«, sagte Wighton kurz. »Du mußt Sun Koh fahren. Die angesetzte Unterredung muß stattfinden.« »Du bist dafür verantwortlich, daß Sun Koh wohlbe halten und pünktlich dort eintrifft«, ergänzte Barnes. Der Neger nickte. »Keine Sorge! Wenn ich nur wüßte, was mit Hal …« Die drei eilten schon hinaus. Auf der Treppe begegneten sie zwei Leuten, die die Kleidung der Bahnhofsträger trugen und einen schweren Koffer hinunterschleppten. Sie achteten wenig auf sie – bedauerlicherweise, wie sie später einsahen. Ohne lange zu fragen, drangen sie in das Apparte ment ein, das über dem ihren lag. An dem riesigen Schreibtisch saß ein strengblickender, tadellos ge kleideter Herr mit kalten Zügen. Er blickte erstaunt auf, als er so plötzlich Besuch erhielt. »Was wünschen Sie?« »Den Jungen, der soeben von Ihnen entführt wor den ist!« erwiderte Gorm kurz und drohend. »Sie sind verrückt!« kam es zurück. »Ich bin Lord 23
Myrsdal und verbitte mir Unterstellungen dieser Art.« »Von mir aus können Sie der Kaiser von Frank reich sein«, erwiderte Gorm kalt. »Tatsache ist, daß zu diesem Appartement ein Garderoberaum gehört, der genau über dem unseren liegt. Die Decke zwi schen den beiden Räumen ist durchbrochen. Durch diese Decke ist vor wenigen Minuten einer unserer Leute verschwunden. Was haben Sie dazu zu erklä ren?« »Nichts! Ich bin sprachlos.« »Ach nee! Vielleicht haben Sie die Güte, sich we nigstens zu überzeugen.« »Aber selbstverständlich, mit dem größten Ver gnügen!« Sie schritten gemeinsam in den Garderoberaum hinüber. Ein kurzer Blick bestätigte alles, was Gorm gesagt hatte. Der Lord zeigte unter den ernsten Blicken der drei Männer keine Spur von Verlegenheit. Gelassen wie bisher erklärte er: »Ja, meine Herren. Sie werden mir glauben, daß ich selbst vor einem Rätsel stehe. Wahrscheinlich sind verbrecherische Elemente von außen eingedrungen und haben sich die Gunst der Verhältnisse zunutze gemacht. Ich bedaure Ihren Verlust außerordentlich und werde alles tun, um Ih nen zu helfen. Was an mir …« 24
»Reden Sie nächstes Frühjahr weiter«, unterbrach Gorm schroff. »Durchsucht die Zimmer!« »Herr!« protestierte der Lord. »Sie glauben doch nicht etwa…« »Der Koffer!« schrie Wighton plötzlich auf. Auf einmal wußten alle drei, wo sich Hal befand. Sie ließen den Lord stehen und eilten auf den Flur. Der Etagenkellner kam gerade vorüber. »Hallo!« rief ihn Barnes an. »Es ist hier gerade ein Koffer heruntergeschafft worden. Wissen Sie zufällig aus welchen Räumen?« »Der Koffer gehörte zum Gepäck des Lord Myrs dal«, gab der Bedienstete sofort Auskunft. Die drei stürzten die Treppe hinunter und hielten plötzlich an. »Stop!« befahl Gorm. »Sun Koh verläßt soeben das Hotel. Wenn wir ihm jetzt über den Weg laufen, beteiligt er sich an der Suche nach Hal und verzichtet auf die Unterredung. Warten wir einen Augenblick.« Sie standen kaum eine halbe Minute auf der Trep pe, als unten ein Schuß durch die Hotelhalle knallte. Sun Koh hatte sich innerhalb weniger Minuten umgekleidet und war hinuntergegangen. Er durchquerte die Hotelhalle, ohne sich um das gewöhnliche Zischeln und Raunen der Gäste zu kümmern. Das hinderte ihn freilich nicht, aufmerk sam auf alles zu achten, was irgendwie Gefahr in 25
sich bergen könnte. Er wußte nur zu genau, daß in diesem Augenblick Dutzende von Menschen bereit waren, mit allen Mitteln diese entscheidende Unter redung zu verhindern. In der Nähe des Ausgangs, durch dessen Glastüren er bereits das Auto mit dem wartenden Neger sehen konnte, kreuzte ein schwarzgelockter, auffallend bleicher Jüngling seinen Weg. Die Nervosität dieses kaum zwanzigjährigen Mannes war so offenbar, daß Sun Koh sofort aufmerksam wurde. Es war lächerlich, was sich jetzt abspielte. Der Schwarzgelockte hatte offenbar, bevor er sich zur Tat entschloß, schlechte Theaterstücke gelesen. Er be nahm sich kaum anders als ein Schmierenkomödiant minderster Sorte. Der Jüngling stellte sich Sun Koh in den Weg und warf seine linke Hand dramatisch nach oben, wäh rend die rechte mit feierlicher Geste einen Revolver zückte. »Ha, Verruchter!« rief er mit tremolierender Stimme. »Deine Stunde hat geschlagen. Ich werde mein Vaterland von dir erlösen. Stirb, Elender!« Während ein Teil der Gäste entsetzt aufsprang, schüttelte Sun Koh mitleidig den Kopf und sagte ru hig: »Ich empfehle Brauselimonade.« Dabei beobachtete er sorgfältig den Zeigefinger seines heißblütigen Gegners. Der war viel zu sehr in 26
Fahrt, um sich noch abschrecken zu lassen. Nichts ist schwerer niederzuschlagen, als zwanzigjährige Be geisterung aus Liebe, Alkohol und schlechter Lektü re, zumal wenn man eine dichterische Ader in sich hat. Er schoß. Leider in die Decke, denn eine Kleinigkeit vorher hatte ihm Sun Koh mit einer kaum sichtbaren Bewe gung die Hand nach oben geschlagen. Die Waffe klirrte zur Erde. Sun Koh setzte seinen Weg fort. Nimba riß den Schlag auf, klappte ihn wieder zu und nahm dann am Steuer Platz. Gewohnheitsmäßig beugte er sich noch einmal hinaus, bevor er Gas gab, um zu sehen, ob er nicht gerade von einem anderen Wagen überholt wurde. Dabei fiel ihm ein Mann auf, der gerade die Straße überquerte und dabei dicht an der Rückseite des Wa gens entlanggegangen war. Vielleicht war es der merkwürdige Blick, vielleicht eine Bewegung, die den Neger stutzen ließ, jedenfalls stieg er schnell wieder aus und lief nach hinten. An der hinteren Stoßfeder hing ein länglicher dunkler Körper. Man hatte ihn mit einem Drahthaken einfach darübergehängt. Nimba nahm das schwarze Ding ab, musterte es kurz und holte aus. Der verdächtige Mann, der als 27
einziger den merkwürdigen Gegenstand angebracht haben konnte, lief in scharfem Tempo davon, war aber trotzdem kaum mehr als dreißig Meter entfernt. Eben näherte er sich den buschbestandenen Rasen flächen. »Hallo!« schrie der Neger hinter ihm her. »Sie ha ben etwas vergessen. Aufgepaßt, fangen Sie’s auf!« Der Mann blickte sich um und sah den Neger wurfbereit stehen. Sein Gesicht verzerrte sich, dann begann er zu rennen. Aber der schwarze Gegenstand war schneller. Der Neger warf ihn mit voller Kraft hinterher, dem Mann direkt vor die Füße. Dann ging er wieder nach vorn, um seinen Platz einzunehmen. Er war kaum im Wagen, als ein schmetternder Krach ihn veranlaßte, sich umzusehen. Himmel! Der unbekannte Körper konnte nichts anderes als eine Bombe gewesen sein. An der Stelle, an der eben der Mann noch gelaufen war, sah es böse aus. Nimba verständigte kurz Sun Koh und fuhr dann los. Die Zeit war knapp. An einer Straßenkreuzung zwang ihn das rote Licht, zu halten. Während seine Bremsen noch knirschten, fuhr links ein anderer Wagen auf. »Hände hoch!« kam eine freundliche Aufforde rung herüber. Bevor Nimba sich noch umwandte, war der Zwi 28
schenfall bereits erledigt. Sun Koh war alles andere als müßig gewesen. Der verfolgende Wagen war ihm schon aufgefallen. Als er sich nun heranschob und die zwei Leute ihre Pistolen zogen, schoß er sie ih nen in Sekundenschnelle aus der Hand. Im Anschluß daran jagte er einen dritten Schuß in den rechten Pneu, so daß diesem die Luft ausging. Der Lärm der Schüsse war im Verkehrsgeräusch untergegangen. Als das grüne Licht aufflammte, summte Nimbas Wagen weiter, während sich der an dere zum Verkehrshindernis entwickelte. Als sie in das Regierungsviertel einbogen, ereigne te sich ein neuer Zwischenfall. Ein Wagen überholte sie in rasendem Tempo und stoppte mit kreischenden Bremsen vor ihnen ab. Drei uniformierte Polizisten und zwei Männer in Zivil sprangen heraus, stellten sich mitten auf die Straße und forderten mit hocher hobenen Händen Halt. Der Wagen hielt, die Polizisten und die beiden an deren traten heran. Einer von diesen klappte den Rockaufschlag herum und sagte in selbstbewußtem hartem Ton: »Polizei! Sie sind verhaftet!« Sun Koh musterte mit durchdringenden Blicken die Männer. Nichts war unwahrscheinlicher, als daß er gerade in diesem Augenblick verhaftet werden sollte. Andererseits aber befand man sich hier im Regierungsviertel, in dem mehr echte Polizisten he 29
rumliefen als an irgendeiner anderen Stelle der Stadt. »Warum?« erkundigte Sun Koh sich knapp. »Sie werden hochverräterischer Bestrebungen be schuldigt. Außerdem stehen Sie in Verdacht, ein At tentat zu beabsichtigen«, entgegnete der eine. »Sie haben Waffen bei sich?« »Allerdings!« erwiderte Sun Koh. »Aha, das genügt. Liefern Sie die Waffen ab und machen Sie Platz. Sie werden mit uns zum Polizei präsidium fahren.« »Einen Augenblick! Ihre Papiere bitte, dazu den Haftbefehl.« Die Männer reichten bereitwillig ihre Ausweise. Man hätte beim besten Willen nichts an ihnen auszu setzen gefunden. Sun Koh war tatsächlich unsicher geworden, wie er sich entscheiden sollte. Was er nun tat, war weiter nichts als ein unverschämter Bluff. Er sah die Männer scharf an und sagte bedeutungs voll: »Meine Herren, wollen Sie mir Auskunft geben, warum die Geheimzeichen fehlen? Wenn Sie auf tragsgemäß handeln, dann müßten Sie wissen, daß die Ausweise in diesem Zustand nicht mehr sind als wertlose Papiere.« Die Leute erschraken nur für den Bruchteil von Sekunden. Aber das genügte. Sun Koh wußte nun, daß er Betrüger vor sich hatte. »Geheimzeichen?« polterte der eine Zivilist. »Se 30
hen Sie denn nicht, daß wir zu einem Sonderdezernat gehören, das kein Geheimzeichen benötigt?« Die Ausrede war nicht ungeschickt, aber sie kam etwas reichlich spät. Sun Koh gab die Ausweise zu rück und hielt an deren Stelle plötzlich eine Pistole in der Hand. »Hände hoch, Herrschaften«, sagte er liebenswür dig. »Nimba, nimm ihnen die Waffen ab.« Das ließ sich der Neger nicht zweimal sagen. Er ging die Taschen der Männer, die wohl oder übel die Arme hochgenommen hatten, mit der Geschwindig keit und Sorgfalt eines Zollwächters durch. Als er damit fertig war, verließ Sun Koh den Wagen und bat höflich: »Bitte, steigen Sie ein. Ich brauche Sie wohl nicht weiter zu warnen.« Das war tatsächlich nicht nötig. Die Leute mußten ganz genau wissen, mit wem sie es zu tun hatten, denn sie bemühten sich, jede verdächtige Bewegung zu vermeiden. Sie stiegen in den Wagen ein. Es machte etwas Schwierigkeiten, alle fünf unterzubrin gen, aber infolge allseitigen guten Willens gelang es. Nimba setzte sich wieder ans Steuer, Sun Koh kniete sich neben ihn auf die Sitzbank und hielt die Insassen des Wagens mit der Pistole in Schach. Nimba gehörte zu den unglücklichsten Menschen der Erde, als er Sun Koh nach beendigter Ausladung der falschen Beamten die breite Freitreppe hin 31
aufgehen sah. Das hing mit der Uhr zusammen, die in diesem Augenblick unerbittlich Nimbas Verbre chen feststellte. Zwei Minuten über die angesetzte Zeit. 2. Hal Mervin war sprachlos, als er plötzlich gepackt wurde, während er sich ahnungslos in den Gardero beschrank hineinbeugte. Anschließend hatte man ihm einen Knebel in den Mund geschoben, der zum Überdruß auch noch nach Petroleum roch. Die drei Männer, die in dem mäßig möbilierten Raum um ihn herumstanden, sahen ihn kalt an. »Nun«, wiederholte der eine der Männer mit eisi ger Freundlichkeit, als Hal schwieg, »willst du uns nicht ein bißchen was erzählen?« Der Junge holte tief Luft, mahlte eine Weile mit seinen mißhandelten Kiefern, legte den Kopf schief und stieß heraus: »Hä?« »Du willst dich wohl dummstellen?« erkundigte sich der kleinste der drei knurrend. »Da kommst du uns gerade recht. Wir wissen ganz genau, daß du ein helles Köpfchen hast. Also los, raus mit der Sprache. Wer ist dein Herr, und weshalb hält er sich hier in Washington auf?« Hal nahm die kleine Schmeichelei bezüglich sei 32
nes hellen Kopfes nicht unwillig in Empfang, aber er ließ sich dadurch in seiner Taktik nicht beirren und fragte zum zweitenmal: »Hä?« Der kleine Mann holte aus und wollte ihm eine Backpfeife verabreichen. Hal bückte sich jedoch schnell, so daß der wuchtige Schlag einem der bei den anderen Männer den Atem aus der Kehle nahm. Dieser quittierte mit einem Fluch. Der Kleine wurde dadurch nicht gemütlicher, sondern schrie den Jun gen zornig an: »Du willst uns wohl veralbern? Erzäh len sollst du, erzählen!« Hal tat freudig überrascht. »Ach so«, sagte er gedehnt, »erzählen soll ich? Sie müssen schon ein bißchen Rücksicht nehmen, ich bin nämlich schwerhörig. Erzählen soll ich? Was denn zum Beispiel? Ich weiß da eine hübsche Geschichte von einem Kanarienvogel, der zum Fenster hinausge flogen war und …« »Quatsch«, knurrte der Sprecher der drei gereizt. »Du sollst uns erzählen, welche Pläne dein Herr hat.« Hal markierte wieder den Stolz einer Idiotenan stalt. »Kähne? Kähne? Was für Kähne soll er denn ha ben?« Der Mann nahm Anlauf und donnerte ihm erbost ins Ohr: »Pläne! Pläne! Keine Kähne, sondern Pläne! Was er hier will, wollen wir wissen.« 33
Der Junge nickte eifrig, wobei er nicht verfehlte, ein bedauerndes Gesicht aufzusetzen. »Ach, Ihnen ist etwas zerrissen? Was denn?« »Wissen wollen wir etwas!« verbesserte der Klei ne schreiend. »Zerrissen ist nichts, wissen, wissen, was dein Herr vorhat. Hörst du denn gar nichts?« Hal grinste freundlich. »Ich höre ganz gut, bloß manchmal kommen Sie mir ein bißchen leise vor. Aber wenn Sie nichts da gegen haben, kann ich ja meinen Gehörverstärker benutzen.« Die Männer atmeten erleichtert auf. »Gott sei Dank, daß du so ein Ding mit dabei hast«, knurrte der größte der drei. »Die Geschichte wäre ja zum Auswachsen geworden. Nimm das Ding her.« »Hä?« erkundigte sich Hal liebenswürdig, tastete aber in seiner Tasche herum, um die Sprechdose her auszuholen. Da es ihm mit den gebundenen Händen nicht gelang, hielt er sie dem Kleinen hin. »Sie werden mir schon die Hände freimachen müssen, sonst kann ich den Verstärker nicht heraus holen und halten.« Der Kleine zog ohne weiteres sein Messer und schnitt die Stricke durch. Darauf holte Hal seinen Apparat heraus und hielt ihn ungefähr in die Mitte zwischen Mund und Ohr. Ohne daß es die anderen merkten, drückte er den Knopf, der das Alarmzei 34
chen gab und gleichzeitig die Verbindung mit den anderen herstellte. Beim Sprechen achtete er darauf, daß der Schall seiner Stimme nach Möglichkeit den Apparat traf. »So«, meinte er befriedigt, »jetzt können Sie mir sagen, warum Sie mich hierher geschleppt haben.« Die drei Männer hatten ihre Ruhe wiedergewon nen. Der Kleine nahm die so erfolgreich begonnen Verhandlung im ursprünglichen Stil auf. »Wir brauchen von dir einige Auskünfte, die du uns geben wirst.« »Da konnten Sie mich doch im Hotel fragen!« fing Hal schnell ein. »Sie brauchen sich doch nicht zu drei Mann hierherzustellen, mich erst wie einen Raubmörder fortzuschleifen und nun zu verhören. Das war nämlich Freiheitsberaubung, wenn Sie da etwa nicht im Bilde sind. Wo haben Sie mich denn eigentlich hingebracht?« »Das ist unwichtig. Ich habe dir schon gesagt, daß wir Auskünfte von dir haben wollen. Also zunächst: Wer ist dieser Sun Koh?« Hal zwinkerte. »Aha, Sie sind wohl von der Presse? Nee, das gibt’s nicht. Mein Herr hat es gar nicht gern, wenn er in den Zeitungen herumgeschmiert wird.« »Ob wir von der Presse sind oder nicht, ist gänz lich gleichgültig. Du wirst uns jedenfalls sagen, war 35
um er sich hier in Washington aufhält.« Hal hob die Schultern. »Gott, Washington ist eine schöne Stadt. Warum soll er sich …« Der Kleine trat dicht an den Jungen heran. In sei nen Augen funkelte es gefährlich auf, als er drohend antwortete: »Ich sehe, du willst uns Märchen erzäh len. Wir haben nicht die geringste Lust, sie anzuhö ren. Ich gebe dir jetzt die letzte Gelegenheit, vernünf tig zu reden. Wir werden dich mit jedem Mittel aus quetschen. Machst du nicht freiwillig mit, werden wir dich foltern, daß dir Hören und Sehen vergeht!« Hal schüttelte den Kopf und meinte vorwurfsvoll: »Wie kann man nur so unfreundlich sein? Ich will Ihnen doch gern alles erzählen, aber Sie müssen mich auch genauer fragen. Ich kann doch nicht rie chen, was Sie wissen wollen. Wenn ich freilich etwas nicht weiß, kann ich es Ihnen auch nicht sagen. Also, legen Sie ruhig los.« »Hm«, würgte der andere. »Aber wenn du uns noch einmal erzählen willst, daß Sun Koh nach Wa shington gekommen ist, weil Washington eine schö ne Stadt ist, dann werde ich verdammt ungemütlich.« »Tja«, gab Hal bedenklich zurück. »Sie meinen, daß er aus einem anderen Grund nach Washington gekommen ist? Sie machen mich richtig gespannt.« »Teufel noch mal«, zischte der Kleine, »sind wir 36
dazu hier, daß du mich fragst, oder daß ich dich fra ge? Du sollst mir doch gerade verraten, warum dein Herr sich in Washington aufhält.« Der Junge spielte den Enttäuschten. »Ach so – und ich dachte, ich erfahre von Ihnen etwas Neues. Ich weiß doch bloß, daß er sich Wa shington einmal ansehen wollte, ob Sie es mir nun glauben oder nicht.« Wieder flüsterte der Mann von der Seite dem Kleinen etwas zu. Der nickte und sagte dann laut: »Gut, du willst uns an der Nase herumführen. Die nächste Frage werde ich etwas nachdrücklicher an dich stellen. Jim, mach die Eisen fertig.« »Sie«, warnte Hal, »wenn Sie mich hier etwa quä len wollen, dann kann Ihnen das drei Tage einbrin gen. Mehr als ich weiß, kann ich Ihnen nicht sagen.« »Das wollen wir gerade sehen, ob du nicht mehr weißt«, erwiderte der andere bissig. Er hatte immerhin eine ganze Weile in die Sprech dose hineingesprochen. Es war als sicher anzuneh men, daß sein Gespräch von den anderen gehört worden war. Diese befanden sich sicher schon auf der Suche. Die Frage war nur, ob es ihnen gelang, den kleinen Sender so schnell und so genau anzupei len und den Ort zu bestimmen, daß sie Hilfe bringen konnten. Es war sehr viel wahrscheinlicher, daß sie zu spät kommen würden. 37
Jetzt kam der Mann aus dem Hintergrund. Er trug in seiner rechten Hand eine Zange, die ein rotglü hendes Eisen umschloß. Mit einem bösen Lächeln hielt er es dem Jungen unter die Nase und knurrte: »So, mein Sohn, damit werden wir dir die Zunge lö sen. Brandwunden sind verflucht unangenehm, tun sehr weh und heilen langsam. Außerdem kann man darüber verrückt werden oder auch sterben.« »Ich protestiere«, erklärte Hal mit Würde. »Bin ich ein Roastbeef?« »Nee, aber ein Dummkopf, wenn du etwa weiteren Unsinn faselst. Also, was will dein Herr in Washing ton?« Die Situation war mehr als kritisch. Das glühende Eisen befand sich schon so dicht an Hals Haut, daß sie schmerzte. Ein unpassendes Wort, und es fraß sich in sein Fleisch. »Hm«, meinte er, »das ist nicht so einfach zu sa gen. Einesteils ist die Sache nicht leicht verständlich, und anderenteils ist sie so verzwickt, daß man nicht genau weiß, an welchem Ende …« » … an welchem Ende man eigentlich anfangen soll«, fuhr Hal fort. »Sie werden mir nicht glauben, aber es ist schon so, daß …« »Hände hoch!« schrie eine harte Stimme von der Tür, die plötzlich aufgerissen wurde. Die drei Män ner fuhren herum. 38
Sie blickten in Revolvermündungen und hoben daraufhin unverzüglich die Arme. Vier Männer drangen in das Zimmer ein. Ihre Ge sichter waren durch vorgebundene fleischfarbene Halbmasken unkenntlich gemacht. Mit der Ge schwindigkeit und Sicherheit geübter Leute nahmen sie den dreien die Waffen ab, fesselten und knebelten sie. Als sie damit fertig waren, machten sie sich über Hal her, um auch ihn zu fesseln und zu knebeln. »Halt, halt!« protestierte Hal. »Ich gehöre nicht zu denen. Ich bin doch der, den Sie befreien wollen.« Schon hatte er einen faustgroßen Ballen im Mund. »Befreien?« echote der eine der Männer. »Das ist ein kleiner Irrtum, mein Freund. Wegen dir sind wir schon gekommen, aber aus einem anderen Grund, als du meinst. Vorwärts!« Teils geführt, teils gestoßen, schritt Hal mit den Männern durch einen langen Gang bis zu einer im oberen Teil verglasten Tür. Dort nahmen die Männer ihre Masken ab und steckten sie in die Tasche. Dann zogen sie Hal den Knebel aus dem Mund. Einer hängte sich freundschaftlich bei ihm ein und setzte ihm die Mündung der Pistole in die Rippen. »So«, erklärte er, »jetzt werden wir auf die Straße gehen. Sobald du schreist oder durch sonst irgendein Zeichen die Leute auf uns aufmerksam machst, jage ich dir eine Kugel in die Rippen verstanden?« 39
»Ich bin schwerhörig«, entgegnete Hal patzig, setzte dann aber schleunigst hinzu: »Aber nicht, so lange ich meinen Gehörverstärker in der Hand habe. Ich bin nämlich gar nicht gut auf den Ohren.« »Darüber reden wir nachher«, brummte der ande re. »Jetzt hübsch das Maul halten!« Wie ein paar gute Freunde gingen sie durch das breite Treppenhaus zur Straße hinunter und stiegen in das bereitstehende Auto ein. Die Vorhänge des Wagens rollten nieder, die Fahrt begann. Wohin sie führte, war dem Jungen unbe kannt. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als nach Möglichkeit den Sender in Betrieb zu halten, damit seine Freunde die Fahrt verfolgen konnten. Also begann er seinen Begleitern einen Vortrag zu halten. »Also, hören Sie mal«, meinte er im Ton eins vä terlichen Beraters. »Finden Sie die Sache nicht auch etwas reichlich bunt? Ich weiß nicht, ob Sie mich überhaupt kennen.« »Davon kannst du überzeugt sein«, warf der ande re ein. »So? Na, da werden Sie mich hoffentlich gleich zum Astoria bringen. Ich wohne nämlich dort. Nun stellen Sie sich bloß mal die verrückten Kerle vor! Sie holten mich aus dem Astoria und führten mich in irgendeine Gegend, bloß um zu erfahren, warum sich 40
mein Boß in Washington aufhält. Das ist doch Quatsch. Erstens können sie ihn das selber fragen und zweitens, wo soll ich denn das herwissen? Ich bin doch schließlich weiter nichts als der Laufbur sche. So ein Quatsch!« Der Schwarzhaarige, der vor ihm saß, drehte sich um. »Nicht ganz. Du wärst der erste Dienstbote – wenn du überhaupt einer bist –, der über die Verhältnisse seines Herrn nicht ganz genau Bescheid wüßte. Mach dir darüber nur keine Sorgen. Wir werden schon aus dir herausholen, was du weißt.« Hal seufzte. »Du lieber Gott, Sie reden ja genauso wie die an deren. Sind wir denn nicht bald beim Astoria?« Die Männer lachten auf. »Astoria?« antwortete der eine. »Wir fahren in ei ne ganz anderen Richtung.« »Was?« empörte sich Hal. »Nicht zum Astoria? Wo soll denn die Fahrt da eigentlich hingehen?« »Nach Morchill, wenn du es genau wissen willst. Bereite dich nur inzwischen vor. Du sollst uns näm lich das erzählen, was du den anderen nicht erzählt hast.« Hal stöhnte schmerzlich. »Da schlag einer lang hin. Jetzt sind Sie wohl ebenfalls von der Presse?« 41
»Hölle und Teufel!« schrie der Chauffeur auf. Die Bremsen kreischten, die Insassen ruckten nach vorn, dann traf fast gleichzeitig ein Stoß von der Seite her den Wagen, so daß sie wie Puppen gegen die Seiten wand schlugen. Im selben Augenblick klirrten auch schon die Scheiben, und ein merkwürdig beizender Geruch drang in die Nasen. Hal sah einen großen roten Wagen schräg vor dem Auto stehen, dann verlor er wie alle anderen das Be wußtsein. Er wußte nichts mehr davon, daß einige Feuer wehrleute den Schlag des Wagens aufrissen und ihn und seine Begleiter herausholten und in den anderen Wagen, der nichts anderes als einer der großen roten Sanitätswagen war, einluden. Er hatte keine Gele genheit, die Schnelligkeit, mit der die Leute arbeite ten zu bewundern. Ebensowenig konnte er sich über die Dreistigkeit und Sicherheit entrüsten, mit der sich der ganze Vorgang unter den Augen der Öffentlich keit abspielte. Als er die Augen wieder aufschlug, war er genau so gefesselt wie vorher, außerdem standen, genau wie zu Anfang einige Männer um ihn herum. Auch sie hatten verschlossene Gesichter, erschienen jedoch insofern etwas merkwürdig, als sie die Uniformen von Feuerwehrleuten trugen. Zum drittenmal an diesem Tag war er in die Hän 42
de einer Kolonne geraten, die mit fieberhafter Span nung auf die Offenbarungen lauerte, die aus seinem Mund dringen sollten. Er begriff allmählich, daß man es förmlich auf ihn abgesehen hatte. Wahrscheinlich hielt man ihn für denjenigen von Sun Kohs Leuten, den man am leichtesten zum Sprechen bringen konn te. Vermutlich hatten sich die einzelnen Spionage trupps sehr genau im Auge, so daß die Bewegungen der einen Kolonne von der anderen beobachtet wur de. Nur so war es zu erklären, daß Hal aus einer Hand in die andere wanderte. Der Junge hatte es nun gründlich satt. Deswegen war es auch kein Wunder, daß er sofort ausfällig wurde, als ihm die Leute nun ebenfalls die berühmte Frage nach seinem Herrn vorlegten. Er ließ eine Antwort vom Stapel, derer sich der älteste See mann nicht zu schämen brauchte, und als man ihm darauf Gewaltmaßnahmen androhte, erwiderte er mit einer Aufforderung, die zwar häufig gebraucht wird, der man aber im allgemeinen nicht nachzukommen pflegte. Damit waren die diplomatischen Beziehungen von vornherein abgebrochen. Es wäre höchstwahrschein lich sehr bald zu unangenehmen Ereignissen für den Jungen gekommen, wenn sich nicht endlich das Blatt gewendet hätte. Während die Leute noch mit höchst unmißverständlichen Drohungen auf ihn eindrangen, 43
brach klirrend die Fensterscheibe, und Sun Koh streckte den Arm in das Zimmer. In seiner Hand lag eine Pistole und aus seinem Mund kam der übliche Befehl, die Hände hochzuheben. Ihm wurde Folge geleistet. Das bewies erstens, daß diese uniformierten Männer immerhin schon eine ganze Menge über Sun Koh wußten, und zweitens, daß sie mit den Um gangsformen gewisser Kreise ausgezeichnet vertraut waren. Wenige Sekunden nach Sun Kohs Erscheinen drang die ganze Meute durch die Tür ein – voran Nimba, dann Gorm, Barnes und Wighton. Damit hat te Hal die Schrecken des Tages überwunden. * Sun Koh und seine Leute hatten es in diesen Tagen nicht leicht. Sie mußten ständig auf der Hut sein. Die Gefahren wurden mit jeder Stunde für sie größer. Anfangs waren die Gegner nur neugierig gewesen, aber jetzt gingen verschiedene von ihnen auf Mord aus. Zuerst hatte man das Gas nur verwendet, um zu betäuben. Jetzt gebrauchte man es, um zu vergiften. Erst hatte die Pistole eine Drohung bedeutet, jetzt verhieß sie den Tod. Dabei mußte Sun Koh seine Arbeit weiterführen. Eine verwirrende Fülle von Problemen und Aufga 44
ben mußte geordnet und gemeistert werden. Ent schlüsse von größter Tragweite waren zu fassen, Abmachungen und Verträge auf allen möglichen Ge bieten zu schließen. In der Sonnenstadt wäre alles viel leichter gewesen, aber es war unmöglich, Dut zende von sonst ahnungslosen Leuten dorthin zu be ordern und sie in Dinge Einblick nehmen zu lassen, von denen sie nichts wissen sollten. Sun Kohs Arbeitskraft schien unerschöpflich zu sein. Sein Schlaf wurde auf die denkbar kürzeste Zeit beschränkt. Ob Tag oder Nacht, er saß an seinem Schreibtisch und arbeitete. Auch das ging zu Ende. An dem Tag aber, an dem Sun Koh die letzten Verhandlungen führte und hof fen konnte, endlich wieder zu einem längeren Schlaf zu kommen, traf eine niederschmetternde Alarmmel dung ein. Der Verbindungsmann in Liberia war er mordet worden. Man hatte ihm seine Papiere geraubt – mit ihnen die geheimsten Anweisungen Sun Kohs für den Ernstfall. Sie waren zwar chiffriert, aber das bedeutete bei der Intelligenz und Erfahrung der Geg ner keine absolute Garantie. Und wenn es jemand ge lang, sie zu entziffern, dann klaffte an einer entschei denden Stelle eine Lücke. Sun Koh entschloß sich sofort, sich selbst um die se Angelegenheit zu kümmern. So kam er nach Wo chen zum erstenmal wieder richtig zur Ruhe, wäh 45
rend Nimba die schnellste Düsenmaschine über den Atlantik nach Afrika flog. 3. Die Motorjacht »Falke« lag vor Monrovia. Auf dem Hinterdeck wurde das Flugzeug, mit dem Sun Koh eben angekommen war, vertäut. An der Reeling stan den Sun Koh, Hal Mervin und der Kapitän. Ringsum lag die weite blaue Bucht, über die sich jenseits der weißen Brandungslinie das grüne Vorge birge erhob, in dem die hellen Häuser der Hauptstadt von Liberia wie weiße Tupfen ruhten. Um das Schiff drängte sich eine ganze Flottille von Booten, aus de nen mit einem Riesenaufwand von Geschrei Lebens mittel und andere Dinge angeboten wurden. Dunkel häutige nackte Eingeborene machten den Versuch, an Bord zu kommen, wurden aber unentwegt zurück gewiesen. »Also einwandfrei Mord?« fragte Sun Koh ernst den Kapitän. »Kein Zweifel«, bestätigte dieser. »Es war ein glücklicher Zufall, daß wir gerade anliefen, sonst hätten Sie wahrscheinlich erst sehr spät Nachricht erhalten. So dürften noch alle Möglichkeiten zur Nachforschung offen sein.« »Haben Sie bereits Feststellungen machen können?« 46
»Nein, ich wollte nicht vorgreifen.« »Gut. Wann können wir an Land?« »Dort kommt das Regierungsboot. Sie entschuldi gen mich bitte.« Nach einer Weile näherte sich der Kapitän mit zwei uniformierten Schwarzen, die inzwischen an Bord gestiegen waren. Der eine erwies sich als Arzt, der andere als Zollbeamter. Sie erledigten die not wendigen Formalitäten. Nimba meldete die Vertäu ung als beendet, das Motorboot der Jacht übernahm Sun Koh und seine beiden Begleiter. Die Dünung wurde schnell härter, die weiße Bran dung der Barre stemmte sich auf. Sausend glitt das Boot hinein, kippte in ein Tal hinunter, schwebte plötzlich hoch oben auf einer Schaumkrone, ein Berg Wasser brach über ihm zusammen, dann schnurrte es aus dem schäumenden Brodel heraus in die Lagune. Am Steg wurde Sun Koh vom Sekretär des Poli zeiministers empfangen, der sich anscheinend nur mühsam in dem wilden Durcheinander drängender und schreiender Menschen behauptete. »Du lieber Himmel«, ächzte Hal entgeistert, als er das Gewimmel überblickte, »da kommen wir aber in eine Räuberhöhle hinein.« Sein Entsetzen war einigermaßen begreiflich. Die Hafenbevölkerung, die sich hier in dicken Haufen herumtrieb, wirkte geradezu wüst. Die schwarzen 47
schwitzenden Leiber, die man nicht nur sah, sondern auch eindringlich genug roch, stolzierten mit den Lumpen und letzten Abfällen Europas herum. Zerris sene schmutzige Hemden, verbeulte, ausgefranste und zerschlitzte Hosen und abgenutzte Hüte aller Jahrzehnte bildeten die Hauptbestandteile der Klei dung bei den Männern und gaben den Eindruck einer erschreckenden Verlumptheit und Verkommenheit, der durch die häßlichen, zum Teil tätowierten Ge sichter nicht gerade abgeschwächt wurde. Manche liefen mit verschmierten Mützen herum, einige mit fleckigen Zylindern, hier war ein wollener Schal um den Leib gewickelt, dort wurde ein grellfarbener Schlips auf nacktem Hals getragen. Dazwischen aber stolzierten Stutzer mit recht neuer europäischer Klei dung und weißen Kragen oder gar mit unglücklich sitzenden Fräcken, Gehröcken und anderen feierli chen Kleidungsstücken. Selbst an Hornbrillen und weißen Sonnenschirmen fehlte es nicht. Etwas angenehmer wirkten insgesamt die Frauen, da ihre Kleidung nicht gar so wild durcheinander ge würfelt war. Geblümte Kattuns und buntfarbige Schals für Hals und Wollkopf herrschten vor. Viele der Frauen trugen kleine Kinder in den Hüfttüchern. Die Zu gehörigkeit der zahlreichen halbwüchsigen Kinder, die in zerfetzten Lumpen zwischen den Erwachsenen herumstrudelten, ließ sich schwer bestimmen. 48
Sun Koh ließ geduldig den Wortschwall des Be amten über sich ergehen, dann ging es vorwärts. Ein Stück vom Steg entfernt stand erstaunlicherweise ein Auto mit einem schwarzen Fahrer, in das sie einstei gen durften. »Aus einem Museum gemaust«, bemerkte Hal Mervin, als er den altertümlichen, klapprigen Kasten entdeckte. »Besser, als zu Fuß hier durchzudrücken«, tröstete Nimba, während er auf die vor ihnen liegende Ge schäftsstraße wies. Sie stiegen ein. Die Fahrt ging langsam durch die belebte Geschäftsstraße, an der rohgezimmerte nied rige Häuser mit Wellblechschuppen abwechselten, zwischen und vor denen grellbunte Reklametafeln sich über das quirlende und tobende Gewühl der schwarzen Fußgänger erhoben. Aber dann, als es aus der Senke des trägen Flusses hügelhaft aufwärts ging, wurde es ruhiger. Hier oben rechts und links der breiten, aber ungepflasterten Straße wohnten die Weißen und die reichen Liberia ner. Der Seewind strich kühler durch die dunklen Man gobäume und üppigfarbenen Sträucher, über denen sich gelegentlich die gefiederten Kronen von Kokos palmen wiegten. Dann hielt das ratternde Auto. Sie traten in das 49
stille Haus. Scheu grüßte ein sauber gekleideter, in telligent aussehender Diener und führte die An kömmlinge in einen verhältnismäßig kühlen Raum hinunter. Dort lag auf einer einfachen Holzbahre der Tote wie ein Schlafender. Sein eigener Körper deckte die blutüberronnene Wunde zwischen den Schulterblät tern, die ein heimtückischer Dolch bis zum Herz durchstoßen hatte. In langem unbewegtem Schweigen nahm Sun Koh Abschied von einem seiner Getreuen. Oben im Arbeitszimmer bat er dann den Sekretär um Auskünfte. Dieser bedauerte jedoch. »Es war leider nicht möglich, etwas zu ermitteln. Irgend jemand vom Hafengesindel, der auf reiche Beute hoffte, wird es wohl gewesen sein, vielleicht auch mehrere. Aber es ist unmöglich, eine Spur zu finden, obwohl wir alle fieberhaft tätig waren.« »Ich danke Ihnen. Die Einzelheiten des Begräbnis ses am Abend sind wohl schon geordnet?« »Der Konsul war so liebenswürdig.« »Ich werde ihn dann aufsuchen.« »Der Polizeiminister würde Wert darauf legen …« »Vielleicht ist es mir heute noch möglich, zu ihm zu kommen, sonst hoffe ich, morgen die Ehre zu ha ben.« Der Beauftragte des Ministers empfahl sich, dann 50
wurde der schwarze Diener gerufen. Er sprach sehr gut Englisch, mischte aber dann und wann einen Brocken des vermanschten Negerenglisch mit hinein. Der Tote war für ihn der »Big Massa«, der große Herr. Es war unverkennbar, daß er ihm mit großer Verehrung und Anhänglichkeit gedient hatte. »Wie heißt du?« fragte Sun Koh.
»Bob, Sir. Der Big Massa hat mich so genannt.«
»Du hast ihn als erster tot aufgefunden?«
»Ja, Sir, er lag unter der Piazza zwischen den Ran
ken.« »Wann war das?« »Gestern morgen, als ich aus der Stadt kam.« »Hast du während der Nacht nicht im Haus ge schlafen?« »Sonst immer, Sir, aber Nobo feierte ein großes Fest, und Big Massa hatte mir erlaubt hinzugehen.« »Wer ist Nobo?« »Der Boy von Big Massa Almeida. Er hatte alle seine Freunde eingeladen, und es gab viel zu trinken, so daß das Fest bis zum Morgen dauerte.« »Also befand sich niemand im Haus?« »Nein, Sir. Der Koch und der Junge gingen mit mir, der Big Massa aber besuchte den Klub.« »Wann dein Herr zurückgekehrt ist, weißt du nicht?« »Nein, Sir.« 51
»Dieses Zimmer war bereits durchsucht worden, als du es betratst?« »Ja, Sir, das ganze Haus.« »Weißt du, wer es getan hat?« »Nein, Sir.« »Hatte dein Herr Feinde?« Bisher hatte der Neger immer schnell und klar ge antwortet. Jetzt zögerte er zum erstenmal. »Ich weiß nicht, Sir. Der Big Massa wollte, daß kein Fremder ohne seine Erlaubnis das Haus betrat. Er war sehr ungehalten, als ich einmal Big Massa Almeida in dieses Zimmer führte, weil er auf den Big Massa Hull warten wollte.« »Almeida?« wiederholte Sun Koh nachdenklich den Namen, der zum zweitenmal gefallen war. »Wa ren sämtliche Diener bei dem Fest?« »Ja, Sir.« »Es ist gut. Du kannst uns später zum Konsul füh ren.« Bob verließ den Raum. Nimba schloß sich ihm an. Sun Koh und Hal Mervin gingen daran, den Inhalt der verschiedenen, zum Teil gewaltsam aufgebroche nen Behältnisse durchzusehen. »Schluß!« befahl Sun Koh nach einer Weile. »Es ist zwecklos. Ich konnte es mir schon denken, als der Brustbeutel fehlte. Und dieser geöffnete Wand schrank sagt genug.« 52
»Mich wundert es, daß sie ihn überhaupt entdeckt haben.« »Das war eben kein Gelegenheitsverbrecher. Man hat nicht das Geld gesucht, sondern die Geheimpa piere.« »Au verflucht!« entfuhr es Hal. »Meinen Sie wirk lich, Sir?« Sun Koh nickte. »Ein Neger hätte sich wahrscheinlich damit be gnügt, Hull die Taschen auszuleeren. Die Papiere hätte er sicher nicht mitgenommen. Das ist ein schwerer Schlag für uns.« »Waren sie so wichtig?« »Es genügt. Die chiffrierten Notanweisungen für den Fall, daß die Verbindung über die Sender aus setzte, waren dabei.« »Das ist böse. Aber sie sind doch chiffriert.« »Auf die Dauer ist jede Chiffre zu lösen.« Hal schüttelte den Kopf. »Hm, aber wer sollte ausgerechnet hier ein Inter esse daran haben, sich die Papiere zu holen? Das hät te man doch auch in London oder New York oder sonstwo machen können.« »Eben nicht, denn dort sind die Sicherungen zu gut. Du weißt ja, was man für Versuche in der letzten Zeit gemacht hat. Hier, in unserer kleinsten Station, die nur von einem Mann besetzt wurde, hat man 53
schließlich die schwache Stelle gefunden. Es war mein Fehler, daß ich hier nicht für bessere Sicherung sorgte.« »Wir müssen die Papiere eben wieder holen«, schlug Hal vor. »Der Mann hat keine zwei Tage Vor sprung, und ich glaube, man kann nicht aus Monro via hinaus, ohne daß die ganze Bevölkerung davon weiß. Wir werden also bald erfahren, wer der Täter war.« »So dumm wird er kaum gehandelt haben, daß er die Stadt gestern oder heute verließ. Aber wir müs sen ihn trotzdem bald ausfindig machen. Es kommt nur ein Weißer in Frage, und viele Weiße gibt es nicht in Liberia. Und wenn meine Vermutung stimmt, dann muß der Mann erst vor kurzem hier hergekommen sein. Fahren wir zum Konsul.« Der Konsul hatte seinen Besucher bereits erwartet. »Ich freue mich, Sie kennenzulernen«, sagte er herzlich, »aber es tut mir leid, daß es aus solchem Anlaß geschehen mußte. Dieser Mord hat die ganze weiße Kolonie schwer getroffen. Ich persönlich habe in Hull einen lieben jungen Freund verloren. Hof fentlich haben Sie nicht auch noch geschäftlichen Schaden durch diesen Mord erlitten?« »Der Tod eines tüchtigen Kameraden ist der schwerste Verlust«, erwiderte Sun Koh ernst. »Der Diebstahl, der in Verbindung mit ihm erfolgte, hat 54
mich allerdings auch darüber hinaus geschädigt.« »Auch das noch! Ich dachte, er sollte hier nur vor läufig die Verhältnisse studieren.« Sun Koh wußte, daß der Konsul in ihm nur den Leiter der Westafrikanischen Handelsgesellschaft sah, als deren Vertreter Hall gegolten hatte. Er ließ es dabei. »Gewiß, aber er besaß wichtige Papiere, die jetzt verschwunden sind. Ich bin gezwungen, alle An strengungen zu machen, um den Täter zu finden. Da bei hoffe ich auf Ihre Unterstützung.« »Aber selbstverständlich«, versicherte der Konsul. »Ich würde allerhand dafür geben, wenn ich den Kerl ans Messer liefern könnte. Freilich, die Aussichten sind denkbar gering. Dieses Monrovia ist ein großer Sumpf, in dem der einzelne spurlos verschwinden kann.« »Auch wenn es sich um einen Weißen handelt?« »Dann allerdings nicht. Aber Sie glauben doch nicht etwa, daß es sich um einen Weißen handelt? Das halte ich für ausgeschlossen, für völlig ausge schlossen.« »So über jeden Zweifel erhaben sind hier alle Wei ßen?« Der Konsul hob die Schultern. »Gott, das nicht. Es gibt auch hier Leute, die ei nem unsympathisch sind und denen man dies und je 55
nes zutraut. Aber bedenken Sie, daß das Leben eines Weißen hier zehnmal schwerer wiegt als in Europa und daß schon überwältigende Gründe für ein sol ches Verbrechen vorliegen müßten, wenn sich ein Weißer daran wagen sollte. Aber welchen Sinn hätte es für einen aus der Kolonie, einen anderen niederzu stechen? Das Motiv fehlt. Eine Frau war nicht im Spiel, das wüßte die ganze Kolonie. Und Geld schei det auch als Beweggrund aus, denn die Weißen sind mehr oder weniger alle wohlhabend. Glauben Sie mir, irgend jemand von diesem schwarzen Hafenge sindel hat den Mord auf dem Gewissen.« »Glauben Sie«, fragte Sun Koh zurück, »daß ein solcher Mann sich die Mühe macht, alle Schubladen aufzubrechen und ausgerechnet ganz bestimmte wichtige Papiere an sich zu nehmen?« Der andere hob die Brauen. »Hm, allerdings, das wäre merkwürdig.« »Wie viele Weiße leben eigentlich jetzt in Monro via?« »Annähernd hundert. Aber meinen Sie wirklich …« »Ich gehe nur einer Vermutung nach. Können Sie mir sagen, welche von den ansässigen Weißen zu letzt nach Monrovia gekommen sind?« »Ganz genau«, sagte der Konsul. »Warten Sie. Zu letzt, das war vor vierzehn Tagen, kam ten Mollen hier an. Das ist ein Holländer, der den alten Zuiben 56
borg ablöste. Er hat es mit der Leber zu tun. Ich ken ne ten Mollen erst seit dieser Zeit, aber ich möchte die Hand für ihn ins Feuer legen.« Sun Koh lächelte beruhigend. »Meine Fragen sollen keinen Verdacht erwecken. Kam noch jemand in letzter Zeit nach Monrovia?« »Vor drei Wochen landete Almeida, ein Portugie se, der sein Glück auch hier versuchen will. Mit ihm zusammen kam sein Sekretär, sein Small Massa, wie die Einheimischen sagen. Dann kam vor annähernd einem Vierteljahr…« »Danke«, unterbrach Sun Koh, da die früher Zu gezogenen keine Bedeutung für ihn besaßen. »Wel chen Eindruck haben Sie von Almeida?« »Tja, mein Geschmack ist er nicht ganz«, sagte der Konsul und wiegte den Kopf dabei hin und her, »aber er macht einen guten Eindruck. Er versteht es, mit den Leuten umzugehen. Im Klub ist er augen blicklich Hahn im Korb. Von seinem Sekretär will man allerdings nicht viel wissen. Beja, so heißt er, schielt zu sehr. Ich halte ihn für verschlagen und heimtückisch. Er läßt sich aber selten sehen.« »Haben Sie bemerkt, daß Hull mit einem dieser beiden jemals Streit hatte?« »Ich bezweifle, daß er mit Beja öfter als zweimal zusammengetroffen ist. Und Almeida ist kein Mann, der sich mit jemand streitet. Dazu ist er zu höflich, 57
vielleicht auch zu glatt. Ich entsinne mich allerdings, daß Hull einmal eine merkwürdige Bemerkung über ihn machte. Es war vor einigen Tagen, da sagte er beiläufig, Almeida sei ein vollendeter Schauspieler. Wir wurden leider gestört, so daß er mir die Bemer kung nicht näher erklären konnte. Denken Sie aber um Gottes willen nicht, daß er deswegen hinter dem Mord stecken könnte. Ganz abgesehen davon, daß ein solcher Verdacht unsinnig wäre, könnte ich be schwören, daß Almeida bis gegen Morgen den Klub nicht verlassen hat. Ich war mit ihm zusammen, als Hull ermordet wurde.« »Und Beja?« »Beja? Der lag krank in Almeidas Haus seit zwei Tagen schon. Wahrhaftig, das klingt alles schon nach einem ernsthaften Verdacht.« »Aber nein«, beruhigte Sun Koh abermals den Konsul, dessen Ehrlichkeit es nicht damit vereinba ren konnte, einen Mann in Verdacht geraten zu las sen, den er für unschuldig hielt. »Ich taste nur die verschiedenen Möglichkeiten ab. Hull befand sich vorgestern mit Ihnen zusammen im Klub?« »Bis nach Mitternacht, dann ging er nach Hause, weil er sich langweilte und lieber schlafen wollte. Ich blieb noch.« »Was ist das für ein Klub?« »Der Sportklub, der Mittelpunkt unseres Gesell 58
schaftslebens. Ihm gehören alle Weißen der Kolonie an.« »Auch Liberianer?« »Wo denken Sie hin?« rief der Konsul förmlich entsetzt. »Schwarze haben in dem Klub nichts zu su chen. Darauf ist hier stets streng geachtet worden, obgleich die Liberianer es sonst gar nicht lieben, den Fremden Ausnahmerechte einzuräumen.« »Sind nicht die Weißen der eigentliche Machtfak tor in Liberia?« »Kein Gedanke daran. Die Liberianer fühlen sich durchaus als ein Volk und haben entsprechende Ge setze geschaffen. So darf zum Beispiel kein Weißer Grundbesitz erwerben oder ein Staatsamt bekleiden. Die weißen Händler werden geduldet, weil man sie für Ein- und Ausfuhr braucht, aber darüber hinaus ist so ziemlich Schluß. Nein, im Klub werden Sie nur Wei ße finden, ein paar Damen und im übrigen Herren.« »Wird es Ihnen möglich sein, mich dort einzufüh ren?« Der Konsul lachte kurz. »Möglich? Der ganze Klub erwartet Sie heute abend. Man würde sich schwer wundern, wenn Sie nicht kämen. Übrigens werden Sie die einzelnen Weißen schon vorher flüchtig sehen, denn keiner wird es sich nehmen lassen, bei dem Begräbnis an wesend zu sein.« 59
»Dann bitte ich Sie, mich bekanntzumachen.« »Selbstverständlich. Übrigens will ich Ihnen gern in jeder Weise behilflich sein, wenn es irgendwie nottut.« »Ich danke Ihnen. Eine Frage noch, bitte: Hat in den letzten Tagen jemand Monrovia verlassen?« »Nein bestimmt nicht. Der Postdampfer ist erst in einigen Tagen fällig.« * Abends im Sportklub. Es waren wirklich fast alle Gesichter vertreten, die Sun Koh während des Begräbnisses flüchtig gesehen hatte. Die Stimmung in den langgestreckten, sehr luf tigen Räumen war anfangs begreiflicherweise ziem lich gedrückt. Man unterhielt sich ruhig und ernst und sprach dabei vorzugsweise mit oder über die neuen Gäste, denn Hal Mervin hatte sich anschließen dürfen. Allmählich lockerte sich die Laune der An wesenden jedoch auf, was wohl mit den auffallend reichlich genossenen alkoholischen Getränken aller Art zusammenhing. Sun Koh ließ sich geduldig von einem zum ande ren führen. Er wechselte höfliche Worte, wich neu gierigen Fragen aus und prüfte dabei die Gesichter. Besonders aufmerksam beschäftigte er sich mit den 60
beiden Männern, die zuletzt nach Monrovia gekom men waren. Ten Mollen ließ er bald außer acht, da dieser breitgesichtige gutmütige Holländer wirklich unfähig schien, um ein solches Verbrechen zu bege hen. Um so lebhafter richtete er seine Aufmerksam keit auf Almeida, auf den die Umstände am stärksten als Täter hinwiesen. Sein Sekretär Beja war leider nicht anwesend. Wie man hörte, lag er noch immer krank im Bett. Almeida war ein schöner schwarzbärtiger Mann in der Nähe der Vierzig, der sich durch elegante Klei dung, sehr gewandtes Benehmen und eine Unterhal tungsgabe auszeichnete. Man sah ihn anscheinend gern hier, denn er wurde dauernd von den verschie densten Seiten in Anspruch genommen. Er bewegte sich mit vollkommener Ruhe und Sicherheit, und in seiner Stimme schwang Mitgefühl, als er Sun Koh bei der Vorstellung ein paar Worte über den Tod Hulls sagte. Trotzdem gewann Sun Koh nicht die Überzeu gung, daß Almeida nicht mit der Tat in Verbindung stehen könne. Gegen Mitternacht waren sie beide wie zufällig wieder zusammengetroffen. »Nun, wie gefällt es Ihnen hier?« erkundigte sich Almeida liebenswürdig. »Eine nette Gesellschaft, nicht wahr?« 61
»Zweifellos«, gab Sun Koh zu. »Die Fremde schließt die Menschen enger zusammen, als es wohl sonst in der Heimat der Fall wäre.« »So ist es. Diese wohltuende offene Herzlichkeit berührt angenehm. Ich muß sagen, daß man Ihnen sogar außergewöhnlich herzlich entgegenkommt. Man rechnet es Ihnen hoch an, daß Sie als Leiter ei ner so großen Gesellschaft persönlich gekommen sind, um am Begräbnis Ihres Angestellten teilzu nehmen.« »Ich betrachte meine Angestellten als Kameraden und empfinde ihren Verlust entsprechend.« »Eine ausgezeichnete Auffassung. Ist es übrigens richtig, daß zugleich mit dem Mord auch wichtige Papiere Ihrer Gesellschaft gestohlen wurden?« »Ja und nein«, sagte Sun Koh lächelnd. »Insofern kann ich wohl von einem gewissen Glück im Un glück reden. Ich befand mich gerade auf dem Weg nach hier, um meinen Mitarbeiter wichtige Unterla gen zu bringen. So ist der Schaden nicht groß, aber nach meinem Besuch wäre er kaum absehbar gewe sen.« »Dann darf man Sie beglückwünschen, wenigstens in dieser Hinsicht«, erwiderte Almeida wohlwollend und folgte dann dem Ruf eines Bekannten. Hal hatte das kurze Gespräch mit angehört und war neugierig. 62
»Warum haben Sie das mit den Papieren gesagt, Sir?« »Manche Menschen muß man wie Tiere ködern. Wenn mein Verdacht richtig ist, wird sich Hulls Mörder bald rühren.« »Wir auch«, murmelte Hal. Eine halbe Stunde später traf Sun Koh abermals mit Almeida zusammen. Wieder wechselten sie Re densarten, die scheinbar völlig belanglos waren, aber doch verborgene Fragen enthielten. Keinem der bei den Männer war dabei anzusehen, daß sie ihren Wor ten tieferen Sinn unterlegten. Sie benahmen sich durchaus wie gute Freunde. * Während Sun Koh und Hal Mervin im Klub eine Reihe von Leuten kennenlernten, unterhielt sich Nimba mit Bob, dem Diener des Ermordeten. Die beiden Männer trugen die gleiche Hautfarbe. Trotzdem waren sie weit davon entfernt, sich als gleichrangig zu betrachten. Die Kluft war zwischen ihnen ebenso groß, wie zwischen einem Diener und einem vermögenden Reisenden. Wenn dieses Ge spräch trotzdem ergiebiger war, so lag das daran, daß die inneren Voraussetzungen gleicher Rasse vorhan den waren und Nimba aus der Erkenntnis gewisser 63
Eigenarten heraus schärfer und deutlicher spüren konnte, wo er einhaken mußte. »Das ist doch Palaver«, betonte er nachdrücklich nach einigem Hin und Her. »Wenn ich nicht erfahre, wer den Massa Hull getötet hat, wird es böse für Sie aussehen. Sie sind sein Diener und hätten wachen sollen, anstatt bei anderen zu liegen und zu trinken.« »Ich hatte die Erlaubnis«, wehrte sich Bob be drückt. »Massa Hull wußte nicht, was ihm bevorstand. Aber Sie mußten Augen und Ohren für ihn haben. Es geschieht nichts, ohne daß man darüber spricht. Si cher hat es wegen dieses Mordes große Palaver ge geben.« Bob nickte. »Es wird viel darüber gesprochen, aber erst jetzt. Der Big Massa hätte mir glauben sollen, als ich ihn warnte. Aber er lächelte, und jetzt ist es zu spät.« »Sie haben ihn gewarnt?« fragte Nimba zweifelnd. »Wollen Sie sich nur reinwaschen?« »Es war wegen der großen Schlange«, berichtete Bob. »Vor einer Woche fand der Big Massa sie unter seinem Tisch, als er sich setzen wollte. Sie hat ihn fast gebissen, er konnte sie aber noch rechtzeitig er schlagen.« »Eine Giftschlange?« »Eine Gabun-Viper«, erklärte Bob. »Sie ist sehr 64
giftig. Aber sie kommt in Monrovia überhaupt nicht vor. Ich sagte dem Big Massa, daß ein Mann sie her gebracht haben müßte, aber er wollte es nicht glau ben. Heute könnte ich ihm den Mann zeigen, der sie gefangen hat. Ich habe ein großes Palaver darüber gehört, wie er sich wunderte, was ein Manoh mit ei ner Giftschlange anzufangen wüßte.« »Wer ist der Mann?« »Ein Bassa-Neger, ein Jäger, der jetzt wieder eini ge Tage in der Stadt ist.« »Kann ich ihn sprechen?« »Ich will Sie gern hinführen.« »Gut. Was erzählt man sich sonst über diesen Mord?« »Es wird viel geschwatzt«, erwiderte Bob. »Erzählen Sie mir, was geschwatzt wird.« Bob zögerte noch etwas, dann murmelte er: »Man wundert sich, daß Small Massa Beja spazieren gehen kann, obwohl er krank ist. Es gibt Leute, die ihn ge sehen haben wollen in der Nacht, in der Big Massa ermordet wurde.« »Ah – in der Nähe dieses Hauses?« »Nein, in der Krutown, unten am Meer, wo die Hütten der Kru-Neger stehen. Aber es war schon ge gen Morgen.« »Trotzdem, das ist sehr wichtig. Hält man ihn für den Mörder?« 65
»Man sagt nicht, daß er der Mörder sei. Man wun dert sich nur über mancherlei.« »Worüber noch?« Bob machte ein geheimnisvolles Gesicht. »Boudoo wird immer dicker, und seine Mammi lädt immer viele Freundinnen ein, denen sie viele feine Sachen zu essen und zu trinken gibt.« »Ist Boudoo ein Diener?« »Er ist der Boy von Massa Beja.« »Ach! Und wie kommt er zu dem vielen Essen?« »Die einen sagen, er würde stehlen, die anderen aber, der Small Massa habe keinen Hunger, weil er krank sei.« »Ist Boudoo ein Manoh?« »Nein, er ist ein Kpelle.« Später suchten sie gemeinsam den Bassa-Jäger auf, der das Palaver über die Gabun-Viper abgehal ten hatte. Sie trafen ihn in einer Hafenspelunke. Er trug einen alten verschwitzten Farmerhut, ein derbes Jacket und auffallend gute Lederstiefel über einer langen Baumwollhose. Um den Hals hatte er einen bunten Schal gewickelt, der zu seiner sonst recht männlich wirkenden Kleidung nicht recht passen wollte. Er saß mit einigen Männern zusammen, die ganz ähnlich gekleidet waren und sicher wie er zur Gruppe der streifenden Buschjäger gehörten. Um sie herum 66
hockten und grölten halbnackte Hafenneger in allen möglichen Aufzügen. Schnaps schien hier das einzi ge Getränk zu sein, und die Anwesenden machten durchaus den Eindruck, als hätten sie schon eine ganze Menge davon vereinnahmt. Die Ankunft Nimbas erregte Aufsehen, aber es dauerte nicht lange, da tobten die meisten wie vorher und kümmerten sich kaum mehr um ihn. Nur einige, bei denen die Neugier noch die Trunkenheit über wog, drängten sich hartnäckig in seine Nähe, um nichts von dem Gesprochenen zu versäumen. Die Jäger rückten zusammen, um die beiden her anzulassen. Man merkte ihnen an, daß sie sich geehrt fühlten. Wenn sie anfangs mißtrauisch waren, so ver schwand die Zurückhaltung recht schnell, als sich Nimba großzügig zeigte und auf seine Kosten ihre Gläser füllen ließ. Es wurde ein merkwürdiges Gespräch, merkwür dig weniger wegen des Inhalts als wegen der Form. Der Bassa-Neger sprach ein schreckliches Englisch, das er ziemlich wüst mit seinem und dem Dialekt al ler Liberia-Völker vermischte. Nimba konnte oft nicht folgen und mußte sich von seinem Begleiter oder von den anderen den Sinn erklären lassen. Nimba erfuhr auf reichlich umständlichem Weg von ihm, daß eines Tages zwei Manoh-Neger zu sei nem Lager am Japaca-Creek gekommen seien, um 67
eine giftige Schlange zu kaufen. Er habe sich über die verdammten Narren gewundert, ihnen aber eine ausgewachsene Gabun-Viper verschafft, mit der sie dann losgezogen seien. Nimba brauchte nicht erst zu fragen, um zu wis sen, daß dieser Kauf wirklich etwas Außergewöhnli ches darstellte, so sehr er andererseits verständlich war. Ein Neger ist nicht so leicht dazu zu bringen, eine Schlange lebend zu fangen. Er haßt und fürchtet die Schlangen, von denen er keinen Augenblick si cher ist, da er mit nackten Füßen durch den Urwald läuft. Andererseits ist es aber auch nicht leicht für ihn, eine Schlange zu fangen, weil sie sehr scheu ist und bei der Annäherung eines Menschen gewöhnlich schnell zur Seite gleitet und im Busch verschwindet. Dieser Busch aber, der wuchernde Urwald, ist be stimmt nicht geeignet, um einer Schlange nachzustel len. So ist ein gewöhnlicher Neger, vor allem aber ein Hafenneger, schon auf die Hilfe eins Jägers an gewiesen, wenn er einmal zu einer lebenden Schlan ge kommen will. Andererseits hatte natürlich kein Hafenneger das Bedürfnis, eine Schlange zu besitzen oder gar Geld für sie auszugeben. Der Bassa schwor aber darauf, daß die beiden Manoh aus Monrovia gekommen sei en, und behauptete sogar, er habe einen der beiden vor zwei Tagen in der Stadt gesehen. Es stand für ihn 68
außer Zweifel, daß die beiden im Auftrag eines Wei ßen gehandelt hatten, denn nur die Weißen waren solche verrückte Narren, eine giftige Viper zu kau fen. Am Schluß des ermüdenden Palavers versprach Nimba dem Jäger eine Belohnung, wenn er einen der beiden Manohs ausfindig machen und zu ihm brin gen würde, worauf der Bassa wortreich schwor, er werde morgen alle beide auftreiben und mit ihnen zu Nimba kommen. Nimba war nahe daran aufzubrechen, als ihn Bob auf einen Mann aufmerksam machte, der eben mit einigen Freunden eingetreten war. »Das ist Boudoo«, flüsterte er, »der Boy von Small Massa Beja.« Boudoo war recht gut gekleidet und fühlte sich of fenbar als Mittelpunkt. Er hatte an diesem Abend schon viel getrunken. »Versuchen Sie, ihn herzulocken«, riet Nimba, »damit ich mit ihm sprechen kann.« Es war nicht schwer, diesen Wunsch zu erfüllen. Boudoo wurde von Neugier geplagt und trat von selbst heran, begrüßte Bob reichlich gönnerhaft und wunderte sich mit großen Gesten, daß ein so feiner Herr wie Nimba in dieser Schenke zu finden sei. Nimba versicherte darauf, daß er nicht feiner sei als gewisse andere Leute und daß er sich freuen würde, 69
wenn Boudoo ein Glas mit ihm trinken würde. Der Kpelle ließ sich das nicht zweimal sagen und ließ sich neben Nimba nieder. Sie unterhielten sich über den Schnaps, die Stadt und manche anderen unwichtigen Dinge. Boudoo zeigte sich dabei bemüht, einen guten Eindruck zu machen. Er schnitt fürchterlich auf, soweit sich die Gelegenheit dazu bot. Es fiel Nimba nicht schwer, diesen Mann auf ein bestimmtes Gebiet zu bringen. Eine verwunderte Frage genügte, um den Kpelle selbstbewußt versi chern zu lassen, daß er durchaus kein gewöhnlicher Diener sei, sondern eine wichtige Vertrauensstellung einnehme. Nimba hörte auch, daß sich Small Massa Beja nur von Boudoo bedienen lasse und daß es vielleicht ein aufregendes Palaver gebe, wenn er alles erzählen würde, was er wüßte. Der Kpelle machte noch eine ganze Reihe von An deutungen, er war aber nicht dazu zu bringen, alles zu erzählen. Nimba entnahm aus seinem Geschwätz, daß Beja sich anscheinend überhaupt nicht mehr in Mon rovia befand, erhielt aber keine Gewißheit darüber. Die holte er sich gegen Morgen selbst. Es ergab sich, daß Boudoo infolge übermäßigen Alkoholge nusses nicht mehr gerade stehen konnte. Nimba ließ es sich nicht nehmen, ihn nach Hause zu bringen. Ja, 70
er bestand sogar darauf, seinen Freund bis in dessen Schlafkammer zu bringen, die unmittelbar neben dem Zimmer des kranken Beja lag. Während der Kpelle in tiefen Schlaf sank, unter suchte Nimba unverfroren den Nebenraum. Er fand ein unbenutztes Bett und keine Spur von einem Be wohner, geschweige denn von einem Kranken. * Gegen Mittag des neuen Tages stand Sun Koh vor Almeida. Die Mitteilungen, die Nimba gebracht hat te, zwangen zu einem schnellen Vorstoß. Wenn Beja tatsächlich Monrovia verlassen hatte, wurde es Zeit, ihm zu folgen. Almeida hatte gerade sein erstes Frühstück beendet. »Ich bin überrascht, freudig überrascht«, begrüßte er Sun Koh, »Sie so schnell bei mir zu sehen. Wie ist Ihnen der Klubabend bekommen? Darf ich Ihnen ei ne Erfrischung bringen lassen?« »Danke«, sagte Sun Koh. »Ich möchte Sie nur bit ten, mir einige Fragen zu beantworten.« »Mit dem größten Vergnügen. Um was handelt es sich denn?« »Um – übrigens, wie geht es Mr. Beja?« »Danke für die Nachfrage, es geht ihm leidlich.« »Das ist erfreulich. Wäre es möglich, ihm einen 71
kurzen Besuch abzustatten?« Almeida zuckte flüchtig mit den Brauen, dann nahm er mit betonter Sorgfalt ein Stäubchen von sei nem Ärmel. »Hm, er würde sich bestimmt sehr freuen, aber heute und morgen ist es nicht ratsam. Eine gewisse Ansteckungsgefahr verbietet es sozusagen.« »Ach«, meinte Sun Koh beruhigend, »ich fürchte keine Ansteckung. Führen Sie mich getrost zu ihm.« Almeida rührte sich nicht. »Ich würde es ja gern tun, aber ich muß Sie trotz dem bitten, noch etwas zu warten. Wir müssen schon Rücksicht auf seinen Zustand nehmen und uns den Anordnungen des Arztes fügen. Wie gefällt Ihnen ei gentlich Monrovia?« »Ausgezeichnet«, sagte Sun Koh und ging schein bar auf die Ablenkung ein, »wenn es auch eine Stadt ist, die ihre Eigenheiten hat. Die Neger haben wohl eine besondere Vorliebe für den Klatsch. Denken Sie, man behauptet zum Beispiel steif und fest, Mr. Beja sei überhaupt nicht krank und habe Monrovia schon lange verlassen.« Der Schlag saß. Almeida hielt einige Sekunden ganz still. Dann sprang er lebhaft auf und lachte. »Unglaublich, was diese Schwarzen alles zusam menschwatzen. Beja soll nicht mehr in Monrovia sein? Aber ich bitte Sie!« 72
Er schwieg einen Augenblick, dann wechselte er die Tonart. »Ach«, murmelte er bestürzt, »darum äußerten Sie wohl den Wunsch, Beja zu sehen? Nun, wenn Sie länger hier sind, werden Sie wissen, was man von solchem Gerede zu halten hat.« Sun Koh sah ihn unentwegt an. »Es entspricht also nicht den Tatsachen?« »Natürlich nicht. Hm, allerdings, ich muß geste hen, daß Sie mich nun selbst neugierig gemacht ha ben. Es sind schon einige Tage her, daß ich nicht bei Beja war – wegen der Ansteckungsgefahr, wissen Sie. Einer der Diener kümmert sich um ihn. Aber es ist undenkbar, daß Beja in seinem Zustand und ohne meine Erlaubnis das Haus verlassen hat. Warten Sie, ich will Boudoo rufen lassen.« Er klingelte und gab dem erscheinenden Diener den Auftrag, den Kpelle herunterzuholen. Boudoo erschien halb verschlafen und noch nach Schnaps stinkend. »Befindet sich Massa Beja in seinem Zimmer?« herrschte Almeida ihn an. Der Kpelle nickte geistesabwesend. »Ja, der Small Massa schläft.« »Hast du ihn heute gesehen?« »Ich war vorhin bei ihm«, sagte Boudoo grinsend. »Geh!« wies Almeida ihn hinaus und wandte sich 73
triumphierend an Sun Koh. »Nun, Sie haben es selbst gehört.« »Aber nicht selbst gesehen. Es soll Menschen ge ben, die auch die Unwahrheit sagen können.« Almeida breitete die Hände aus. »Tja, da …« »Verzeihen Sie«, unterbrach Sun Koh höflich, »wäre es nicht doch einfacher, wir würden uns selbst überzeugen? Sie wissen ja, daß ein Mord begangen wurde. Vielleicht ist er nicht der einzige gewesen? Es wäre peinlich für Sie, wenn nach Tagen oder Wo chen festgestellt werden würde, daß Mr. Beja tat sächlich nicht anwesend ist.« Almeida zeigte sich überrascht. »Ach«, murmelte er, »das habe ich freilich nicht bedacht. Sie haben recht. Kommen Sie, wir wollen uns selbst überzeugen.« Sun Koh schloß sich dem Portugiesen an. Dieser Almeida war ein geschickter Gegenspieler. Bisher hatte er den Eindruck aufrechterhalten, daß er nichts von Bejas Verschwinden wüßte. Zweifellos würde er sich bald mehr erstaunt zeigen als jeder andere. Boudoo riß den Mund auf, als die beiden Herren erschienen und die Absicht zeigten, in das Kranken zimmer zu gehen. Er ahnte Böses und versuchte, sich zu drücken, aber Sun Koh packte ihn einfach beim Handgelenk und empfahl ihm, lieber dazubleiben. 74
»Der Mann wird nicht ausreißen«, beruhigte Al meida sofort. »Geh auf mein Zimmer, Boudoo. Dort wirst du auf uns warten.« Sun Koh lächelte über diese Harmlosigkeit. Er lä chelte, weil sich Almeida jetzt zum zweitenmal eine Blöße gegeben hatte. »Wir wollen ihn lieber hierlassen, Mr. Almeida«, entschied er freundlich. »Wie leicht könnte es doch sein, daß er flüchtet, und dann würde man sagen, Sie wären ihm dabei behilflich gewesen.« »Unsinn«, murrte Almeida freundlich. »Verzei hung, ich meinte, wir werden doch Beja gleich se hen.« Almeida konnte es einfach nicht fassen, daß er ein unberührtes und ein seit Tagen unbenutztes Zimmer vor sich sah. »Unmöglich«, stöhnte er. »Wer sollte dem armen Beja etwas angetan haben? Wir müssen sofort Nach forschungen darüber anstellen. Boudoo, rufe die Dienerschaft zusammen.« Wieder lächelte Sun Koh. »Sie werden sicher erst das Bedürfnis haben, Bou doo selbst zu verhören. Er wird uns das meiste sagen können, denn er hat ja Mr. Beja bedient. Außerdem versicherte er vorhin noch, daß er sich in seinem Bett befände. Wie ist es damit, Boudoo?« Der Neger zeigte sich nur leicht verlegen. 75
»Small Massa ist verreist«, erklärte er ohne Zögern. »Er hat befohlen, so zu tun, als ob er krank sei.« »Seit wann ist er verreist?« fragte Sun Koh schnell. »Schon lange, sehr lange. Fünf, sechs Tage sind es her.« »Ach«, sagte Sun Koh verwundert. »Wie ist es dann möglich, daß man ihn vor zwei Tagen in Mon rovia gesehen hat?« Jetzt zog Boudoo den Kopf ein. »Ich weiß nicht.« »Du weißt«, erwiderte Sun Koh hart, während er schärfer Zugriff. »Wenn du nicht alles sagst, werde ich dir die Hand brechen.« »Sie dürfen ihn nicht foltern«, mischte sich Al meida unmutig ein. Sun Koh blickte ihn flüchtig an. »Es liegt in Ihrem Interesse, Mr. Almeida, wenn der Neger die Wahrheit sagt. Man könnte sonst leicht auf die Vermutung kommen, daß Sie selbst von dem Verschwinden Bejas wußten.« Boudoo bog sich stöhnend. »Ich will alles sagen«, ächzte er. »Small Massa ist vor zwei Tagen fort.« »Wohin?« »In den Wald nach – au, nicht, das sollte ich sa gen, aber er ist zu den Kru und hat sich auf dem 76
Dampfer mit hinübernehmen lassen, der vor zwei Tagen abfuhr.« »Warum ist er fort?« »Es gefiel ihm nicht mehr, und der Big Massa soll te es nicht wissen.« Mehr war aus dem Kpelle nicht herauszuholen. Sun Koh wollte nicht nach dem Mord fragen, um den Neger nicht auf Zusammenhänge zu bringen, die dem Ansehen der Weißen nur schaden konnten. Über den Dampfer, mit dem Beja abgereist sein sollte, wußte er schon Bescheid. Der deutsche Konsul hatte ihm versichert, daß seit dem Mord kein Dampfer die Stadt verlassen habe. Er hatte dabei aber nur an Dampfer zur Personenbeförderung gedacht und noch während des Klubabends Sun Koh mitgeteilt, daß ein kleiner Frachtdampfer in der Mordnacht draußen ge legen habe, der am Morgen abgefahren sei. Es han delte sich dabei um eines jener Küstenschiffe, die von einer Stadt zur anderen pendelten und gewohn heitsgemäß in Monrovia ihre eingeborene Besatzung, die Kru-Leute, austauschten beziehungsweise er gänzten. Für Passagiere waren sie nicht eingerichtet, das schloß natürlich nicht aus, daß sie einen einzel nen Mann mitnehmen konnten. Sun Koh und Almeida standen sich wieder allein gegenüber. »Sie werden begreifen«, sagte Sun Koh ruhig, 77
»daß mich das Verschwinden Ihres Sekretärs nicht unberührt läßt. Mein Vertreter ist ermordet worden, und es gibt kaum Zweifel für mich, daß der Mord von einem Weißen begangen wurde.« »Sie wollen doch nicht Beja für den …« »Ich halte ihn für den Mörder.« Almeida hatte in den letzten Minuten ziemlich teilnahmslos auf den Boden gestarrt. Jetzt wurde er plötzlich sehr erregt. »Das ist eine sehr kühne Behauptung«, antwortete er herausfordernd. »Beja hat sich bisher immer als zuverlässig erwiesen und besaß keinen Grund für ei nen Mord.« »Ich bestreite beides nicht«, gab Sun Koh langsam zurück. »Vielleicht war er zuverlässig, besaß keinen persönlichen Grund und beging doch den Mord.« »Herr!« brauste Almeida auf. »Wie soll ich das verstehen?« »Mr. Beja war Ihr Sekretär.« Almeida fuhr zusammen. »Wollen Sie mich beschuldigen, mit dem Mord in Verbindung zu stehen?« »Nein«, gab Sun Koh zurück. »Ich würde sonst kaum mit so wichtigen Papieren, wie sie sich in mei ner Tasche befinden, allein zu Ihnen gekommen sein.« Wenn er gehofft hatte, Almeida durch diese Be 78
merkung verleiten zu können, dann sah er sich ent täuscht. Der Portugiese zuckte nur mit den Schultern. »Was sollen also Ihre Andeutungen? Wenn Sie Beja in Verdacht haben, dann sehen Sie zu, daß Sie ihn stellen. Ich werde der erste sein, der ihn zur Ver antwortung zieht. Im übrigen haben Sie keinen An laß, mich für Dinge haftbar zu machen, die Beja al lein angehen. Ich bin von seiner Flucht genauso überrascht gewesen, wie Sie.« »Gewiß«, stimmte Sun Koh höflich zu, »ich habe mich davon überzeugt. Verzeihen Sie, daß ich Sie um diese Stunde störte.« Beiderseits erfolgte eine knappe Verbeugung, dann ging Sun Koh hinaus. 4. Fast zweitausend Kilometer von Monrovia entfernt liegt Lagos, der Eingangshafen zu Britisch Nigeria. Lagos war das Ziel des kleinen Frachters »Laurentia«, das dieser ohne Zwischenaufenthalt erreichen sollte, wie man in Monrovia versichert hatte. Wenn sich Beja auf ihm befand, dann mußte man ihn in Lagos wie dertreffen, vorausgesetzt, daß er sich nicht doch in ei ner anderen Stadt an der langen Küste absetzen ließ. Sun Koh hatte an diesem Tag noch allerlei in Monrovia zu erledigen. Bevor jedoch der neue Tag 79
anbrach, saß er mit seinen Begleitern im Flugzeug und flog nach Lagos, um es zu erreichen, bevor die »Laurentia« dort anlegte. Er überholte den kleinen Dampfer ein ganzes Stück vor der Lagune, so daß er nach der Ankunft in Lagos noch einige Stunden Spielraum behielt. Dieses Lagos machte in der Nähe des Hafens ei nen ganz anderen Eindruck als Monrovia. In schönen exotischen Gärten standen die großen Villen der Eu ropäer. Draußen auf der Lagune wiegten sich zahl reiche Ölpalmen. Auf dem glatten festen Pflaster rollten eine ganze Menge Autos. Eigenartig wirkten die zahlreichen Rikschas, die hier als Hauptbeförde rungsmittel zu dienen schienen. Eingeborene gab es genug, aber sie machten einen sauberen und zivili sierten Eindruck. Nimba spielte den Fremdenführer. Nördlich von Lagos lag seine Heimat, und Lagos war die Hafen stadt, von der aus er in die Welt gereist war. Bevor er sein erstes Schiff gefunden hatte, war er wochenlang einer der stets zahlreichen Nichtstuer dieser Stadt gewesen. Daher kannte er sie und wußte zu erzählen. »Gewiß, die Weißen wohnen schön«, sagte er auf eine Bemerkung Hals hin. »Aber die schwarzen Mil lionäre wohnen noch viel luxuriöser. Sie haben ihre großen Paläste dort drüben, gleich anschließend an das Viertel der Weißen.« 80
»Millionäre?« fragte Hal. »Das ist dir wohl damals nur so vorgekommen, als du nichts in der Tasche hat test.« Nimba schüttelte den Kopf. »Nein, es gibt mindestens ein paar Dutzend Mil lionäre in Lagos, lauter Schwarze. Die Neger sind hier mächtig. Es gibt auch Neger, die Ärzte und An wälte sind. Hier wird sogar eine besondere Zeitung für Neger gedruckt.« »Hm.« »Lagos ist einer der wichtigsten Stützpunkte für die politischen Bestrebungen der Neger«, mischte sich Sun Koh ein. »Die Forderung, daß Afrika den Schwarzen gehören solle, ist hier schon vor vielen Jahren öffentlich aufgestellt worden. Lagos ist poli tisch gesehen ein unruhiger und auch gefährlicher Boden.« Die Eingeborenenstadt unterschied sich wesentlich von dem großzügig angelegtem Viertel um die Mari ne herum. Trotzdem merkte man hier auf Schritt und Tritt, daß diese Neger von Lagos trotz der gleichen Hautfarbe zu einem ganz anderen Schlag gehörten als die verkommenen Gestalten von Monrovia. Das schwarze Lagos war ein weitverzweigtes Ge wirr von Gassen und freien Plätzen, auf denen sich das gesamte Leben in völliger Unbekümmertheit ab spielte. Niedrige Lehmhütten mit braunen oder schon 81
wettergrauen Palmdächern, brusthohe geweißte Zie gelgewölbe und neuere Wellblechhallen begrenzten die Gassen. Auf den Plätzen standen häufig mächtige Bäume mit zahlreichen grotesken Luftwurzeln, auf denen Neger neben dicken Eidechsen einträchtig hockten. Die Neger trugen meist bunte Kattunkleider mit nicht gerade geschmackvollem Druck. Zwischen ih nen tauchten aber auch fremde Typen auf, Händler aus den Haussaländern mit Turban und wallendem Umhang, die stolz und würdevoll durch das Gewim mel spazierten. Die Eindrücke änderten sich mit jeder Minute. Aber Nimba war mit dem Trubel von früher her ver traut, und gewisse Eindrücke wiederholten sich oft genug, um ihn mißtrauisch zu machen. »Sir«, sagte er, als sie vor dem Lager eines Per lenhändlers standen, »ich glaube, wir werden ver folgt. Hinter uns sind zwei Leute, die ich schon auf der Marine beobachtet habe, und während der ganzen Zeit hinter uns sah. Der eine trägt einen breiten Strohhut, der andere hat eine Schnur Kaurimuscheln und ein rotes Band um den Hals gebunden.« »Ich werde sie mir ansehen«, erwiderte Sun Koh. »Aber du mußt dich irren. Wer sollte sich hier in La gos um uns kümmern?« Sie brachen ihr Gespräch ab, denn vor ihnen 82
tauchte eine groteske Erscheinung auf, ein wild mas kierter Mann, der mit Verrenkungen und komischen Tanzschritten fast die ganze Gasse sperrte. Zwei Männer gingen hinter ihm her und schlugen einen eintönigen Rhythmus auf kleinen Trommeln. Die Menge, die sich an den Wänden vorbeidrückte, lach te und witzelte über den Aufzug. »Ein Egun«, erklärte Nimba, »ein Maskentänzer. Früher waren sie sehr angesehen, weil sie zu den mächtigen Geheimbünden gehörten, die vielen Men schen das Leben nahmen. Aber heute bestehen die Geheimbünde nicht mehr, und die Maskentänzer werden ausgelacht. Man gibt ihnen Bettelpfennige.« »Wir wollen zur Seite treten und ihn vorüberlas sen.« »Nicht nötig, Sir«, erwiderte Nimba. »Er tut zwar so, als ob er Hanf geraucht hätte, aber er wird sich verdrücken, wenn er einen Weißen sieht.« Nimba irrte sich diesmal. Der Egun tanzte direkt auf Sun Koh zu, und als dieser nun doch zur Seite wich, ging er nicht weiter, sondern verharrte gestiku lierend um ihn herum. Dabei strömten ununterbro chen Worte über seine Lippen. Sun Koh achtete zu nächst nicht darauf, doch plötzlich horchte er auf. »Weißer Mann«, zischte der Maskentänzer auf englisch, während er fortwährend dicht vor Sun Koh herumsprang. »Großer mächtiger Herr, ich weiß, wer 83
du bist. Der Egun weiß alles. Du wirst den Mann fin den, den du suchst, wenn du um Mitternacht in das kleine Haus hineingehst, das Oduscha, dem mächti gen Mann, gehört und bei seinem großen Haus steht. Um Mitternacht, großer weißer Mann, in dem klei nen Haus Oduschas.« Er stieß einen gellenden Schrei aus und lief weiter. Die drei, die die Worte verstanden hatten, sahen sich an. »Eine seltsame Botschaft«, meinte Sun Koh nach denklich. »Man scheint hier doch schon mehr über uns zu wissen, als wir bisher annahmen.« »Eine Falle«, warnte Nimba. »Eine Einladung hätte man uns jedenfalls auf harm losere Weise überbringen können«, bemerkte Hal. »Wer ist Oduscha?« erkundigte sich Sun Koh. »Es gibt hier einen George Oduscha, das ist einer der schwarzen Millionäre. Er gilt als einflußreicher Mann. Vermutlich war er gemeint.« »Es ist unverständlich«, meinte Sun Koh verwun dert. »Wir sind doch gerade erst angekommen und dürfen annehmen, daß hier niemand von den Vorfäl len in Monrovia weiß. Es wäre allenfalls möglich, daß Almeida oder ein anderer hier Freunde hat, mit denen er in Funkverbindung steht. Nun, warten wir ab. Einstweilen hoffe ich noch, daß ich Beja finde, wenn er hier an Land geht.« 84
Eine Stunde später wurde ein Boot der »Lauren tia« von schwarzen Armen über die Lagune gerudert. Es legte am Ladungssteg an. Ein einzelner Mann stieg aus und schlenderte an Land. Er war ein Wei ßer, ein Südländer mit gelblichem Gesicht und wenig ansprechenden Zügen. Trotzdem stutzte Sun Koh. Er hatte sich den gesuchten Beja doch anders vorge stellt. Dieser Mann glich in Gang und Haltung mehr einem Seemann als dem Sekretär Almeidas. Sun Koh trat auf ihn zu, als er vorübergehen wollte. »Mr. Beja?« Der andere blieb stehen. »Beja?« knurrte er verwundert. »Sie irren sich. Ich heiße Mertalo und bin Steuermann der »Laurentia« die Sie draußen liegen sehen.« »Ach, dann kommt Mr. Beja wohl später an Land.« »Ich kenne keinen Beja«, sagte der andere kopf schüttelnd. »Auf der »Laurentia« gibt es diesen Herrn nicht.« Das klang ehrlich, aber Sun Koh sah, daß der Mann log. Die Augen verrieten ihn. »So?« fragte er deshalb gedehnt. »Mir wurde aber mitgeteilt, daß sich Mr. Beja in Monrovia an Bord Ihres Schiffes begeben habe.« »Ich weiß nichts davon«, brummte der Steuer mann. »Wir haben in Monrovia nur Kru-Neger über 85
nommen. Aber Sie können ja den Kapitän selbst fra gen, wenn Sie wollen. Fahren Sie getrost hinaus, Sie finden in an Bord. Wenn Sie ein paar Minuten war ten, will ich Sie mit zurücknehmen.« »Danke«, sagte Sun Koh ablehnend, »ich helfe mir selbst.« Mertalo hob die Schultern und ging weiter. »Also stimmt unsere Berechnung doch nicht«, flü sterte Sun Koh. »Es stehen noch unbekannte Größen gegen uns. Beja weiß Bescheid. Dabei versicherte man mir nachdrücklich in Monrovia, daß der Damp fer keine Funkanlage besitzt. Kommt!« Sie mieteten ein Motorboot und ließen sich über die Lagune zu dem niedrigen Frachter hinausfahren, an dessen Bug in goldenen Buchstaben der Name »Laurentia« prangte. Das Schiffsdeck wimmelte förmlich von schwar zen Händlern und Arbeitern. Die einen suchten ihre Waren an den Mann zu bringen, die anderen luden schwitzend Ballen, Säcke und Kisten aus. Trotzdem blieb Sun Kohs Ankunft nicht unbemerkt. Als er nach oben kam, stand dort schon ein auffallend nach lässig gekleideter, breitschultriger Mann zu seinem Empfang bereit, der sich als Kapitän vorstellte und sich nach Sun Kohs Wünschen erkundigte. »Ich möchte Mr. Beja sprechen«, erklärte Sun Koh. Überraschenderweise nickte der Kapitän. 86
»Das habe ich mir gedacht. Kommen Sie, ich will mit Ihnen darüber sprechen. Ihre beiden Leute kön nen einstweilen auf Deck warten.« Sun Koh folgte in eine verräucherte Kabine hinun ter, in die der Deckslärm nur noch gedämpft hinein drang. Der Kapitän machte wenig Umstände. »So«, knurrte er barsch, während er auf einen Stuhl wies, »da können Sie sich setzen. Und nun he ben Sie mal schleunigst die Hände hoch, wenn Sie nicht eine Kugel in den Bauch haben wollen.« Sun Koh blickte in die Mündung einer veralteten Pistole. Er vergaß darüber, sich zu setzen, und hob die Arme. Als sie halb oben waren, drehte er seinen Körper plötzlich aus der Schußrichtung heraus und schlug gleichzeitig mit der rechten Hand scharf zu. Die Handkante knallte auf den Speichenknochen des Kapitäns, ein Schuß löste sich, aber schon flog auch die Pistole weg. Der Kapitän stieß einen Schrei des Schreckens und des Schmerzes aus. Bevor er sich fassen konnte, riß ihn Sun Koh hart über sein Bein zurück, so daß der Vierschrötige unsanft auf den gleichen Stuhl krachte, den er kurz vorher Sun Koh angeboten hatte. »Verd…« »Sie sollten mit mir über Mr. Beja sprechen«, er innerte Sun Koh. 87
»Was ist denn – wo ist…«, stotterte der andere. »Ihre Pistole liegt dort in der Ecke«, verriet Sun Koh. »Sie sollten damit vorsichtiger umgehen. Also, wo befindet sich Mr. Beja?« Der Kapitän glotzte noch einige Sekunden, dann stemmte er sich hoch. »Teufel noch mal, denken Sie etwa, ich lasse mich von Ihnen…« Sun Koh gab ihm einen Stoß gegen den Brustkorb, so daß der Mann zurückfiel. »Bleiben Sie sitzen. Es ist besser für Sie, wenn Sie Ihre Kräfte nicht überschätzen. Was haben Sie mir also zu sagen?« »Nichts«, knurrte der andere wütend. »Ich …« Sun Koh sprang geschickt zur Seite und entging dadurch dem aufschnellenden Tritt, der ihm gegolten hatte. Dieser Kapitän war ein heimtückischer Bur sche. Heimtückisch und dumm. Er hatte nicht dazuge lernt und glaubte allen Ernstes noch, Sun Koh allein durch größere Kraft in der Gewalt zu haben. Sun Koh ließ ihn zuschlagen, wich aus und riß ihn dann nach vorn, was bei der Enge des Raumes dazu führte, daß der Kapitän schmerzhaft an dem Schrank landete. Bevor er sich wieder aufraffen konnte, lag Sun Kohs Hand wie eine stählerne Klammer um den Nacken des Kapitäns. 88
Der Griff machte gefügig. Blaß und verstört fand sich der Mann wieder auf seinem Stuhl und bemühte sich, Sun Kohs Fragen zu beantworten. »Wir haben ihn an Bord genommen«, sagte er. »Er kam mit den Kru-Negern und zahlte gut.« »Nur deshalb? Sie vergessen doch nicht, daß Sie eben einen Mordversuch unternahmen. Zählt dieser auch mit zu den Gegenleistungen für eine Schiffs passage?« »Ich habe Anweisungen von meiner Gesellschaft erhalten, ihn aufzunehmen und seine Anordnungen zu befolgen«, gab der andere mürrisch zu. »Sie fahren für die Angola-Westafrika-Company?« »Ja.« »Wo und wann erhielten Sie die Anweisung?« »Als ich das letztemal hier in Lagos lag.« »Schön. Beja kam also zu Ihnen an Bord. Befindet er sich noch auf dem Schiff?« »Nein.« »Wann hat er es verlassen?« »Heute morgen.« »Erzählen Sie darüber.« »Das darf ich nicht«, knurrte der Kapitän. »Über haupt, wie…« »Schmerzt Ihr Nacken noch?« erkundigte sich Sun Koh drohend. »Ich sehe, daß ich …« »Lassen Sie Ihre Hände weg!« wehrte der Kapitän 89
erschrocken ab. »Beja wurde abgeholt. Ein Motor boot kam von der Küste her auf uns zu und über nahm ihn.« »Wie einfach!« meinte Sun Koh spöttisch. »Pfle gen Sie immer gleich zu stoppen, wenn ein Motor boot auf Ihr Schiff zufährt?« »Es gab uns ein Zeichen, an dem ich merkte, daß es zu meiner Gesellschaft gehörte.« Sun Koh wollte nach diesem Zeichen fragen, ver zichtete aber darauf, weil er es für unwichtig hielt. »Warum wurde Beja abgeholt?« erkundigte er sich stattdessen. »Weil Sie ihn in Lagos abfangen wollten. Er sagte es mir und gab mir den Auftrag, Sie in meine Gewalt zu bringen.« »Wo befindet sich Beja jetzt?« »Woher soll ich das wissen?« »Wahrscheinlich hat er Ihnen das auch gesagt.« »Nicht!« wehrte der Kapitän die drohende Bewe gung ab. »Ich weiß es nicht, Teufel noch mal!« »Nicht?« fragte Sun Koh. »Dann ist er in diesem Punkt übertrieben schweigsam gewesen. Man erzählt es sich in Lagos schon auf der Straße, wo er sich be findet.« »Das können Sie einem anderen erzählen«, sagte der Kapitän frech grinsend. »Sie wären kaum hier hergekommen, wenn Sie darüber Bescheid wüßten.« 90
»Richtig«, bestätigte Sun Koh. »Übrigens, was hat Oduscha mit der Sache zu tun?« »O-Oduscha?« stammelte der andere fassungslos. »Wie kommen Sie auf den?« »Antworten Sie lieber!« »Oduscha ist der Hauptaktionär unserer Gesell schaft.« »Ein Neger?« Der Kapitän hob die Schultern. »Was kann ich dafür, wenn die Aktien in schwarze Hände gehen?« Sun Koh winkte ihm aufzustehen. »Führen Sie mich nach oben.« * In Lagos gab es ein ausgezeichnetes Fremdenhotel. Dort lernte Sun Koh am Abend einige hilfsbereite Menschen kennen, die ihm wichtige Aufschlüsse über die Verhältnisse in der Stadt geben konnten. »Oduscha?« meinte ein englischer Kaufmann auf Sun Kohs Fragen hin. »Oduscha ist einer dieser schwarzen Millionäre, wahrscheinlich reicher als je der andere. Aber Oduscha ist noch mehr. Man spricht davon, daß er das Oberhaupt der Saki ist.« »Der Saki?« »Saki heißt Löwe. Das ist aber mehr ein Haussa 91
als ein Negerwort. Dahinter steckt ein Geheimbund, der sich in letzter Zeit bemerkbar gemacht hat.« »Ich denke, es gibt solche Geheimbünde nicht mehr?« Der Engländer lachte kurz. »Ja und nein. Es handelt sich nicht gerade um ei nen Geheimbund nach dem alten Muster mit allem möglichen Brimborium, sondern vermutlich um eine recht moderne politische Organisation, die im Unter grund aufgezogen worden ist, um der Regierung den Zugriff zu erschweren. Sie müssen wissen, daß Odu scha auch als Führer aller Strömungen gilt, die auf ein unabhängiges Negerafrika hinzielen. Er ist für die Regierung jedenfalls ein schwer verdaulicher Brok ken.« »Obwohl man so viel von ihm weiß?« »Man kann ihm nichts nachweisen. Es sind letzten Endes alles nur Gerüchte, die umgehen.« Sun Koh war nach solchen Erklärungen durchaus davon überzeugt, daß er durch die geheimnisvolle Einladung des Maskentänzers in eine Falle gelockt werden sollte. Er traute sich aber zu, die Falle offen zuhalten. Deshalb brach er kurz vor Mitternacht mit Hal und Nimba zusammen auf. Das kleine Haus, von dem der Egun gesprochen hatte, war ein zweistöckiges Gartengebäude, eine Art Pavillon mit Oberbau, der seitlich des Haupthauses 92
lag. Es war still in dem fremden Park, nur die Grillen kreischten, als sie an den Bäumen entlanggingen. Ein aufmerksamer Beobachter mußte allein schon an die sem Geräusch ihren Weg verfolgen können. Die Luft war unangenehm warm. In der linken Hand die Scheinwerferlampe, in der rechten die schußbereite Waffe, so betrat Sun Koh als erster das Haus. Hinter ihm folgte Hal, diesem wieder Nimba. Die Tür war nur angelehnt. Ihre Vorsichtsmaßnah men wirkten jedoch leicht komisch, als unmittelbar nach dem Öffnen der Tür ein schwarzer Diener er schien, sich feierlich verneigte und sagte: »Der Herr läßt bitten.« Er schritt voran und führte sie über einen hell er leuchteten kurzen Flur in einen Raum mit schwerer gediegener Einrichtung. Hier wurden sie von Oduscha erwartet. Das war ein Neger, der sich sehen lassen konnte. Seine Kleidung, die von einem erstklassigen Schnei der stammte, drückte jene zurückhaltende Vornehm heit aus, die als Zeichen des guten Geschmacks gilt. Der Graukopf mit den beherrschten Zügen störte trotz der schwarzen Hautfarbe den vorteilhaften Ein druck nicht. Das war ein Mann von Bildung und ein Mann, der sich seines Werts bewußt war. Wenn es den Typ eines schwarzen Geheimrats gab, so vertrat 93
ihn Oduscha sicherlich ausgezeichnet. Seine schlan ke, fast zierliche Gestalt, seine bedachten Bewegun gen und seine ruhige, gepflegte Sprechweise unter strichen diese Auffassung. »Ich heiße Sie willkommen«, sagte er mit ge dämpfter Stimme und wies auf einen Sessel. »Bitte, nehmen Sie Platz. Ich danke Ihnen, daß Sie meiner Einladung gefolgt sind.« Sie setzten sich und Sun Koh erwiderte: »Wir hat ten allen Grund, daran zu zweifeln, daß diese seltsa me Einladung von Ihnen stammte.« »Gewiß.« Oduscha neigte höflich den Kopf. »Die Form mag Ihnen merkwürdig erschienen sein. Ich hat te aber bestimmte Gründe, sie zu wählen. Vor allem wäre es mir unangenehm, Unbeteiligte in eine Ange legenheit hineinzuziehen, die nicht für die Öffentlich keit bestimmt ist. Sie werden zwar ohnehin Ihren Be kannten gegenüber von diesem nächtlichen Besuch gesprochen haben, aber das schadet nicht weiter.« Offenbar erwartete er, daß sein Gast zu der ange deuteten Frage Stellung nehmen würde, aber Sun Koh verzichtete darauf und wartete ab. »Ich habe Sie hierher gebeten«, fuhr Oduscha nach einer Pause fort, »um einen Fehler gutzumachen, der von einem meiner Angestellten begangen wurde. Sie kamen doch hierher, um einen gewissen Beja zu stel len?« 94
»Das ist richtig.« »Ich erfuhr leider zu spät, was in Monrovia vorge fallen ist. Dieser Beja hat einen Ihrer Angestellten ermordet und ihm wichtige Papiere geraubt. Im An schluß daran ist er geflohen. Ich erhielt diese Mittei lung gestern von Monrovia her und erfuhr gleichzei tig, daß sich Beja auf der »Laurentia« befinde. Es schien mir meine Pflicht zu sein, ihn sofort abzuho len und festzusetzen.« »Ist Beja Ihr Angestellter?« »Ja.« »Der Portugiese Almeido also auch?« »Nur bis zu einem gewissen Grad. Doch das ist weniger wichtig, als der Umstand, daß ich die ge stohlenen Papiere bei Beja fand. Ich ließ sie mir aus händigen und bitte Sie nunmehr, sie mit den Aus drücken meines größten Bedauerns zurückzuneh men.« Er holte einen ganzen Stoß Papiere aus einer Schublade und schob sie Sun Koh zu. Dieser war recht überrascht, da er sich den Verlauf des nächtli chen Besuchs doch wesentlich anders vorgestellt hat te. Er ließ sich jedoch nicht viel davon anmerken. »Ich bin Ihnen sehr dankbar«, sagte er höflich. »Ihr Eingreifen erspart mir manche Mühe. Sie erlau ben doch, daß ich die Papiere flüchtig durchsehe.« »Aber selbstverständlich, bitte sehr«, erwiderte 95
Oduscha. »Ich hoffe, daß Sie mir erlauben, Ihnen ei ne Tasse Kaffee vorzusetzen, da ich annehme, daß Sie noch einige Fragen an mich richten möchten.« »Bitte.« Während Oduscha klingelte und seinem Diener den Auftrag gab, der eine halbe Minute später schon erfüllt war, blätterte Sun Koh die Papiere durch. Sie schienen vollzählig zu sein. Hal Mervin war aufgestanden und neben Sun Koh getreten, so daß er die Blätter mit durchsehen konnte. Er fühlte sich von dem Verlauf der Unterredung durchaus nicht befriedigt, sondern witterte eine Falle. Wenn Oduscha ein ehrlicher Mann war, dann hätte er sich die verrückte Einladung, die Mitternachtsstunde und das Gartenhaus sparen können. So vieler Um stände bedurfte es nicht, um einem Mann einen Stoß Papiere zurückzugeben. Er nahm an, daß man inzwischen Zeit gefunden habe, die Papiere abzuschreiben. Gar zu gern hätte er Sun Koh seinen Verdacht mitgeteilt, aber er wagte es nicht, weil Oduscha jedes Wort hören mußte. Sein Mißtrauen schärfte seine Augen. Während Sun Koh den Inhalt überprüfte, achtete er auf Äußer lichkeiten. Dabei entdeckte er in den Ecken der Blät ter die kleinen Löcher. Also doch! Man hatte die Papiere aufgezweckt und photographiert. 96
Er legte eine Hand auf das Blatt, das Sun Koh ge rade umschlagen wollte, und meinte dabei harmlos: »Da haben wir aber Glück gehabt, Sir, daß wir die Papiere zurückbekamen. Dieses Blatt ist ja allein ein Vermögen wert. Hoffentlich hat Beja keine Zeit ge funden, die Papiere abzuschreiben.« Sein Zeigefinger rutschte dabei auf die Ecke zu und blieb kurz davor liegen. »Sie können in dieser Hinsicht unbesorgt sein«, mischte Oduscha sich ein. »Beja hatte ja auch keinen Anlaß, die Papiere abzuschreiben.« »Ganz recht«, stimmte Sun Koh zu. »Ich bin auch davon überzeugt, das keins der Papiere fehlt. Du kannst sie einstecken, Hal.« Inzwischen hatte sich ein kleiner Zwischenfall zu getragen, der Oduscha wie Sun Koh und Hal entgan gen war. Während Hal zu Sun Koh trat, fuhr ein Diener ei nen Servierwagen herein. Nimba verfolgte seine Be wegungen, stutzte, sah wie der Diener zusammen zuckte, und wollte aufspringen. Ein Zwinkern des andern veranlaßte ihn sitzenzubleiben. Kein Zweifel, das war Loalo, der Jugendfreund, mit dem er sich zuletzt in Lagos herumgetrieben hat te, bevor er zur See gegangen war. Jetzt spielte er al so hier den Diener. Eine Tasse klirrte. Was war das für eine merkwür 97
dige Bewegung, die Loalo dort machte? Unwillkür lich legte Nimba ebenfalls die Nägel von Daumen und Zeigefinger gegeneinander. Loalo nickte kaum merklich und ging wieder hin aus. Nimba spürte ein Frösteln im Nacken. Stand es so um die Gastfreundschaft dieses Oduscha, daß Loala das warnende Fingernagelzeichen geben mußte? Es gab ein Gift in diesen Landstrichen, das in ganz winzigen Mengen tödlich wirkte. Die Fetischzaube rer stellten es her. Man trug es unter dem Daumen nagel und ließ es in den Trunk des Mannes fallen, dem es zugedacht war. Niemand konnte das bemer ken, der nicht jede Bewegung scharf beobachtete. Wollte Oduscha mit diesem Gift arbeiten, oder sollte Loalos Zeichen eine allgemeine Warnung bedeuten? Oduscha bediente seine Gäste höchst eigenhändig. Er setzte ihnen die blitzsauberen und bestimmt gift freien Schalen vor und wollte einschenken. Aber da sprang Nimba auf. »Verzeihung«, murmelte er und griff nach der niedrigen dickbauchigen Kanne. »Ich bin ein Diener, und mein Herr ist es gewöhnt, sich von mir bedienen zu lassen.« »Aber …«, setzte Oduscha an, doch Nimba hielt schon die Kanne in der Hand und kümmerte sich gar nicht um die ausgestreckte Hand. 98
Sun Koh, der aufmerksam geworden war, sah für eine halbe Sekunde ein ärgerlich verzerrtes Gesicht, dann blickte Oduscha wieder sanft und beherrscht wie zuvor. Ja, er lächelte sogar. »Ein treuer Diener ist Goldes wert. Ich hoffe, daß Ihnen der Trunk mundet. Ich habe mir erlaubt, Ihnen mit dem Geschirr gleichzeitig einige bedeutsame Stücke unserer neuesten einheimischen Kunst vorzu führen. Darf ich Sie auf diese eigenartigen Handma lereien aufmerksam machen?« Er kam tatsächlich herüber und fingerte an Sun Kohs Tasse herum, wobei er die Gelegenheit benutz te, seinen Nagelstaub fallen zu lassen. Und dann wies er auf Hals und Nimbas Tassen und strich dabei un auffällig darüber hin. Er redete ununterbrochen und pries gewandt die Vorzüge dieser neuen Erzeugnisse, und schließlich animierte er sogar noch mit der Auf forderung, daß der Kaffee den gleichen Beifall fin den möge wie die Gefäße. Und wieder griff Nimba ein. Er hätte am liebsten Krach geschlagen, aber er wußte nicht, ob das Sun Koh passen würde. »Verzeihung«, murmelte er wieder und nahm Sun Koh die Tasse einfach weg. »Mein Herr ist es nicht gewöhnt, aus einer Tasse zu trinken, die bereits von fremden Händen berührt wurde. Wenn ich Sie bitten dürfte, einige andere Tassen …« 99
Sun Koh und Hal blickten erstaunt auf. Oduscha fuhr steif hoch. »Das ist…« »Eine Sitte, die ich zu entschuldigen bitte«, fiel Nimba gewandt ein. »Man hat einmal den Versuch gemacht, meinen Herrn auf solche Weise zu vergif ten. Seitdem bin ich verpflichtet, über diese Äußer lichkeiten zu wachen.« Oduschas Gesicht wurde unruhig und wollte sich nicht wieder glätten. »Das ist…«, würgte er wieder. »Kein Verdacht, der sich gegen Sie richtet«, unter brach Nimba erneut. »Wir leben zwar in einem Land, in dem man unliebsame Leute durch ein Gift besei tigt, das unter dem Daumennagel herausfällt, aber es ist nur eine Gewohnheit von mir, daß ich …« »Eine unerhörte Beleidigung«, vollendete Odu scha seinen begonnen Ausruf. »Ich bitte um Verzeihung«, murmelte Nimba, während er Oduscha die Tasse unter die Nase hielt. »Mein Herr wird selbstverständlich trinken, wenn Sie zuvor durch einen Schluck den Nachweis führen würden, daß der Kaffee nicht vergiftet wurde.« Oduscha trat zurück. »Unverschämtheit! Ich …« Jetzt sprang Sun Koh auf. »Ist der Kaffee vergiftet, Nimba?« 100
»Ich nehme es an, Sir.« »Gut, wir werden das feststellen. Trinken Sie, Mr. Oduscha!« Der scharfe Befehl hatte eine überraschende Wir kung. Oduscha lachte auf und schlug Nimba die Tas se aus der Hand. Dann setzte er sich wieder in seinen Sessel. »Bitte, nehmen Sie Platz«, bat er mit einer Höf lichkeit, durch die man den Spott hindurchhörte. »Der Kaffee war selbstverständlich vergiftet. Ich glaubte aber nicht, daß Sie Verdacht schöpfen wür den.« Sun Koh trat dicht an Oduscha heran. »Ihre Frechheit ist erstaunlich«, sagte er eisig. »Sie gestehen also den Mordversuch ein?« »Aber nein.« Oduscha lächelte dünn. »Es war selbstverständlich nur ein Scherz. Im übrigen bitte ich Sie, eine unauffällige Haltung einzunehmen. Es wäre peinlich, wenn es so aussehen würde, als woll ten Sie mich bedrohen. Außerhalb dieses Raumes stehen nämlich acht Scharfschützen mit geladenen Gewehren, die diesen Raum überwachen. Wenn Sie sich zum Beispiel jenes Bild dort aufmerksam be trachten, werden Sie den Gewehrlauf leicht entdek ken können. Wenn ich nicht irre, ist er genau auf Ihr Herz gerichtet. Welche Katastrophe, wenn einer die ser Schützen Ihre Bewegungen mißverstehen sollte.« 101
Sun Kohs Haltung lockerte sich sofort. »So also spielen Sie«, sagte er langsam. »Dann brauche ich wohl kaum noch darauf zu hoffen, die Filme zu erhalten, die Sie von meinen Papieren her stellen ließen.« »Filme?« Oduscha zuckte hoch. »Ah, davon weiß ich nichts!« Das klang echt, aber Sun Koh mißtraute ihm trotz dem. »Sie lügen. Die Papiere tragen noch die Löcher der Zwecken, mit denen sie angeheftet wurden.« »Das ist mir unbekannt«, meinte Oduscha nach denklich. »Beja muß mich betrogen haben.« »Sie spielen schlecht, Oduscha. Wenn Sie die Fil me nicht besäßen, welchen Sinn hätte es dann, mir die Papiere zurückzugeben?« Der Neger legte bedächtig ein Bein über das ande re. »Sie irren. Es war nicht meine Absicht, Ihnen die Papiere zurückzugeben. Ich stellte sie Ihnen nur für eine kleine Weile zur Verfügung, um Ihr Mißtrauen zu beseitigen. Wie gesagt, der Kaffee war vergiftet.« »Einen Mord hätten Sie einfacher haben können.« »Gewiß«, stimmte Oduscha zu, »aber Kultur ver pflichtet. Ich liebe es nicht, wenn in meinem Haus geschossen wird. Man ist auch niemals sicher, daß die Polizei nicht aufmerksam wird. Sie hätten mir 102
den Gefallen tun sollen, den Kaffee zu trinken.« »Sie verlangen ziemlich viel«, sagte Sun Koh kühl. »Wie dachten Sie sich die Weiterentwick lung?« Oduscha grinste. Mit diesem niederträchtigen und unverschämten Grinsen enthüllte er blitzschnell sein Wesen. Unter der beeindruckenden, von Europa ge borgten Schale lag ein primitiver Charakter, dem die Errungenschaften der Zivilisation nur zu feineren Methoden der Grausamkeit verholfen hatten. »Ich hoffe, daß Sie mir einiges über die Organisa tion Ihrer Gesellschaft berichten werden. Die Saki wissen noch nicht genau, ob sie Ihre Freunde oder Feinde sein werden. Ich hoffe jedoch, daß wir uns verständigen können, wenn Sie in voller Offenheit zu mir sprechen.« »Sehr erfreulich«, erwiderte Sun Koh spöttisch. »Sie sehen vermutlich, daß Sie sich in unserer Ge walt befinden? Ihre Scharfschützen in Ehren, aber ich mache Sie darauf aufmerksam, daß mein Finger am Abzug meiner entsicherten Pistole liegt und daß ich aus der Tasche heraus vollkommen sicher treffe. Sie würden der erste in diesem Raum sein, der stirbt.« »Leicht möglich«, meinte Oduscha. »Andererseits werden Sie dann auf keinen Fall das Zimmer lebend verlassen. Ihr Leben ist aber den Sakis mehr wert als 103
das meine. Ich bin Führer der Sakis, und ich bin durchaus bereit zu zeigen, daß ich meinen Schwur zu halten weiß.« Sun Koh hielt diese Redensart für einen Bluff. Die Mitglieder solcher Geheimbünde galten zwar als Fa natiker, aber Oduscha machte nicht den Eindruck, als ob er um einer Idee willen zu sterben bereit war. Immerhin schob seine Erklärung einen Riegel vor. »Das klingt sehr heldenhaft«, gab er gelassen zu rück und ließ dabei seine Leute nicht aus den Augen, die an den Wänden entlangschlenderten. »Sie werden wohl kaum ernstlich erwarten, daß ich Ihnen Aufklä rungen gebe, bevor ich die Gewißheit habe, das Haus wieder verlassen zu können.« »Oh, ich kann Ihnen eine befriedigende Lösung zusichern. Bitte, sagen Sie Ihren Leuten, daß es zwecklos ist, zur Tür zu gehen. Dort stehen auch ei nige Bewaffnete.« Hal und Nimba wendeten. »Acht«, sagte Nimba. »Drei«, berichtete Hal. »Gut«, sagte Sun Koh. »Dann …« Er hatte noch nicht vollendet, als im Nebenzimmer etwas stürzte, polterte und aufschrie. »Jetzt, Sir!« brüllte Nimba, sprang an die eine Wand und schoß nach der Lampe. Hal leistete ihm dabei Gesellschaft. Sun Koh packte Oduscha, riß ihn 104
hoch und sprang mit ihm zusammen ebenfalls zu der Wandseite, aus der die Gewehrläufe herausragten. Der Körper des Negers bot ihm dabei Kugeldeckung. Es fielen aber in den ersten Sekunden keine Schüsse. Drüben mußte das polternde Ereignis die Aufmerksamkeit der Wachen erheblich abgelenkt haben. Erst als es bereits dunkel geworden war, zuckten Feuerstrahlen auf. Die drei standen mit Oduscha im toten Winkel. Der Neger hatte seine Garde schlecht aufgestellt. Wenn an der Gegenwand auch noch Bewaffnete ge standen hätten, hätte man von beiden Seiten den gan zen Raum überblicken können. So aber standen sie unmittelbar unter und neben den Gewehren völlig si cher. »Nun«, sagte Sun Koh seinem Gefangenen ins Ohr, »halten Sie es jetzt nicht für ratsamer, Ihre Hoffnungen aufzugeben?« »Sie können nicht hinaus«, erwiderte Oduscha trotzig und wütend. »Man wird bald von der Tür her schießen.« »Dann werden Sie einen ausgezeichneten Kugel fang abgeben.« »Au, verflixt!« schrie Hal auf. »Was ist denn?« »Ach, nichts, Sir. Ich habe mir die Hand ein biß chen verstaucht. Es gibt doch einen Rückschlag, 105
wenn man in eine Gewehrmündung hineinschießt. Aber der andere hat bestimmt keine Zähne mehr.« »Laß den Unfug!« befahl Sun Koh streng. »Mögen sie schießen, behaltet nur die Tür im Auge.« Weißes Scheinwerferlicht fiel auf die Tür, aber sie öffnete sich nicht. Nur aus der Wand knatterte dann und wann ein Gewehrschuß. »Aufhören!« rief Oduscha jetzt und wandte sich dann leiser an Sun Koh. »Ich bin bereit, Sie unbehel ligt ziehen zu lassen. Sie können gehen. Es wird Ih nen nichts geschehen.« »Sehr großzügig. Sie wollen aber zunächst Ihren Leuten befehlen, unbewaffnet durch diese Tür einzu treten. Wenn ich nicht irre, handelt es sich minde stens um zehn Mann. Dann werden wir Sie zur Dek kung bis an die Haustür mit hinunternehmen. Geben Sie entsprechende Anweisungen.« »Ich denke nicht daran«, höhnte Oduscha wütend. »Sie wollen mich mitschleppen und dann der Polizei übergeben. Dann lasse ich es schon lieber darauf an kommen.« »Wie Sie wollen«, erwiderte Sun Koh gleichmü tig. »Wir werden dann eben durchbrechen und sehen, ob Ihre Leute auf Sie schießen werden. Wenn es Sie aber beruhigt, kann ich Ihnen versichern, daß ich mir nicht die Mühe machen werde, Sie zur Polizei zu bringen.« 106
»Geben Sie Ihr Wort darauf?« fragte Oduscha schnell. »Das können Sie haben.« Sun Koh wollte ihm einen Ausweg lassen, um sich selbst nicht den Ausweg zu versperren. Oduscha schrie seine Befehle. Minuten später öff nete sich die Tür. Zögernd traten nacheinander elf Leute ein und tasteten sich gegen das helle Schein werferlicht in die Ecke, die Sun Koh ihnen zuwies. »Es ist niemand mehr im Haus«, murmelte Odu scha endlich. »Hoffen Sie es für sich. Vorwärts! Ihr Leute dort bleibt unbeweglich stehen, bis euer Herr zurück kommt, sonst stirbt er.« Sun Koh schob Oduscha vor sich her, Hal und Nimba schlossen sich an. Als Nimba an Loalo vorü berging, faßte er ihn bei der Brust und knurrte ihn an: »Du kannst uns den Weg zeigen, komm!« »Nicht nötig«, meinte Sun Koh, aber Nimba be harrte. »Es ist besser, Sir. Ich werde ihn als Rücken deckung benutzen.« Nichts rührte sich auf Flur und Treppe. Oduscha hielt keinen neuen Hinterhalt bereit. Nimba blieb ein paar Schritte zurück und flüsterte seinem Jugendfreund ins Ohr: »Danke, Loalo. Das werde ich dir nie vergessen. Bist du in Verdacht ge kommen?« 107
»Niemand hat etwas gemerkt«, murmelte der an dere, »auch nicht, als ich drüben den Tisch umge worfen habe.« »Sollte man dir zusetzen, dann komm zu mir. Hast du von einem Mann namens Beja gehört?« »Er ist gestern nach Ibadan gefahren. Die Saki sind eure Feinde. Achtet auf die Löwentatze.« »Danke, Loalo!« Vorn klappte die Tür auf. Nimba wechselte den Tonfall. »Verdammter Halunke, hast du vielleicht gedacht, du könntest mich erstechen?« schimpfte er. »Ver schwinde, oder…« Loalo lief davon. »Es war mir ein Vergnügen«, verabschiedete sich Sun Koh beißend von Oduscha, der mit seiner ver schobenen Kleidung und seinem verzerrten Gesicht kaum mehr an den vornehmen Herrn von vorhin er innerte. »Bestellen Sie den Saki, daß es klüger ist, wenn sie sich nicht zu Handlangern gewisser Leute machen. Ich habe nämlich mit ihren Plänen nichts zu tun. Übrigens, wo finde ich Beja?« Oduscha schwieg. Nimba machte Sun Koh ein Zeichen, daß er nicht auf einer Antwort bestehen sollte. Sun Koh begriff und ließ Oduscha los. »Sie wollen nicht? Auch gut, dann werde ich mor gen die Polizei nach ihm fahnden lassen und dabei 108
berichten, was mir hier widerfahren ist.« »Er befindet sich in Ibadan.« »Die Polizei…« »Ich schwöre es. Wenn es wahr ist, daß er mich belogen hat, werden Sie sich nicht mehr um ihn zu kümmern brauchen.« »Das verspricht Einsichten, die den Sakis nur zum Vorteil gereichen können. Kommt!« »Ich komme gleich nach«, sagte Nimba hastig. »Ich habe nur noch ein paar Worte…« »Beeile dich«, mahnte Sun Koh und ging mit Hal davon. Nimba packte Oduscha bei der Brust und knurrte: »Ein Wort noch, Oduscha. Sie sind dümmer als ir gendein anderer, den ich bis jetzt kennengelernt ha be. Sie haben sich von diesem Beja gründlich über das Ohr hauen lassen. Und weil Sie so dumm waren, wollten Sie uns vergiften und erschießen? Sie sind ein Dummkopf und ein Halunke, aber kein Saki. Sie nennen sich den Führer der Saki? Sie sind ein ganz kleiner Mann. Der wirkliche Führer der Saki kennt meinen Herrn und wird sich sehr wundern, wenn er hört, was Sie hier treiben. Wehe Ihnen, wenn Sie es noch einmal wagen, einen Finger gegen meinen Herrn zu rühren. Dann kommen Sie nicht so gut weg wie heute. Verstanden? Damit Sie es nicht vergessen, nehmen Sie das für das Gift und die Gewehre.« 109
Zwei Hiebe knallten. Oduscha rutschte an der Wand zusammen. Nimba aber schritt im Glauben, ein gutes Werk getan zu haben, hinter Sun Koh her. »Ich habe ihm ein paar versetzt«, gestand er drau ßen auf der Straße. »Ich habe ihm vor allem einen Vortrag gehalten. So richtig weiß er jetzt bestimmt nicht mehr, was gehauen und gestochen ist. Ich habe früher selbst zu einem Geheimbund gehört und weiß, daß es an jedem Ort einen anderen Mann gibt, der sich einbildet, den ganzen Geheimbund unter sich zu haben. Vielleicht vermutet er jetzt, daß wir bei einer anderen Gruppe der Saki gut bekannt sind.« »Über Bejas Rolle scheinen ihm ja einige Zweifel gekommen zu sein«, meinte Sun Koh. »Ich nehme an, daß Beja ihm weisgemacht hat, wir seien Gegner der Sakis.« »Ich denke, Beja ist sein Angestellter und arbeitet für ihn.« »Doch wohl nicht«, meinte Sun Koh. »Oduscha hat für den Inhalt unserer Papiere kaum Verwen dung. Beja dient einer ganz anderen Gruppe, die wahrscheinlich aus Weißen besteht. Er hat nur Odu schas Unterstützung unter Vortäuschung falscher Tatsachen in Anspruch genommen. Der beste Beweis dafür ist, daß er von den Papieren Kopien anfertigte, ohne Oduscha davon zu verständigen.« »Er gebrauchte ihn nur als Büttel, um uns aufzu 110
halten. Aber glauben Sie, daß er wirklich in Ibadan ist?« »Er ist in Ibadan«, übernahm Nimba die Antwort. »Loalo sagte es mir schon.« »Wer ist Loalo?« fragte Sun Koh. »Ich nahm ihn mit herunter. Durch ihn wußte ich, daß der Kaffee vergiftet werden sollte. Er gab mir heimlich ein Zeichen. Er hat auch die Schützen abge lenkt, so daß sie nicht gleich schossen.« »Du kanntest ihn schon?« »Wir sind zusammen aufgewachsen und gingen zusammen nach Lagos. Er blieb hier, während ich aufs Schiff ging. Er ist ein anständiger Mensch und hat nicht vergessen, daß wir Brüder geworden wa ren.« »Sieh zu, daß du ihm dafür danken kannst. Ich wunderte mich vorhin über dein Verhalten und glaubte, du hättest bemerkt, daß Oduscha Gift ein warf.« »Er tat es auch, als er seine Tasse pries. Aber Loa lo hat mich erst aufmerksam gemacht.« »Er sagte dir, Beja befinde sich in Ibadan?« »Ja, er soll noch bei Tag dorthin gefahren sein.« »Das verstehe ich eben nicht«, mischte sich Hal ein. »Was will der Mann in Ibadan? Die Leute, die den Raub in Auftrag gegeben haben, befinden sich doch sicher nicht in Afrika. Er müßte doch sehen, 111
daß er so schnell wie möglich von hier wegkommt. Anstatt aber von Monrovia nach Europa oder Ameri ka zu fahren, kommt er erst nach Lagos und geht jetzt sogar in das Innere.« »Das ist in der Tat merkwürdig«, meinte Sun Koh. »Bis jetzt nahm ich an, seine Auftraggeber warteten hier in Lagos.« »Vielleicht will er uns von seiner Spur abbringen«, vermutete Nimba. »Das wäre die einzige Erklärung. Auf alle Fälle werden wir ihm folgen, um festzustellen, wo die pho tographischen Aufnahmen von den Papieren hinge kommen sind, vorausgesetzt, daß er wirklich welche hergestellt hat.« »Hoffentlich geht er noch ein Stück weiter nach Norden«, murmelte Nimba. »Warum?« fragte Hal. »Dann würde ich wieder einmal nach Ife kom men«, antwortete Nimba leise. »Es ist meine Heimat.« »Natürlich kommen wir nach Ife, nicht wahr, Sir? Den Spaß werden wir Nimba machen, wenn wir schon in der Nähe sind. Das wird ein Fest bei deinen Leuten geben, wenn du als großer Mann wieder auf tauchst. Ich sehe dich schon im Kreise deiner Lieben, wie du aufschneidest, daß sich die Balken biegen.« »Die sind schon verbogen«, entgegnete Nimba grinsend. 112
5.
Durch das Urwaldgebiet der Sklavenküste, unter ei nem üppig verfilzten, von weißgrauen Stämmen ge tragenen Blätterdach, rollte der Zug von Lagos nach Ibadan. Dann und wann wurde die Sicht auf Felder und Negerdörfer frei. Aber gewöhnlich bildete der Wald eine Wand, die von den Blicken nicht durch drungen werden konnte. Es wurde schnell eintönig, hinzustarren. Und die Fahrt nach Ibadan dauerte ei nen vollen Tag. Kein Wunder, daß die Insassen des Abteils bald in eine Unterhaltung gerieten. Auf der einen Seite saßen Sun Koh und Hal Mer vin, auf der anderen Sir Falcome und sein Assistent Herbert Wellington. Sir Falcome bezeichnete sich selbst als Privatgelehrter und erklärte, daß er eines teils zu seinem Vergnügen, andernteils zu For schungszwecken nach Kuka, also zum Tschad-See, reisen wolle. Er war kein junger Mann mehr. Seine Haare hatten sich schon vor Jahren grau gefärbt. Das Gelblichbraun seiner ledernen Haut bezeugte, daß er sich nicht zum erstenmal in den Tropen aufhielt. Die obere Hälfte der Stirn stach mit ihrem hellen Weiß scharf ab. Ihm gegenüber wirkte sein Begleiter, als sei er eben aus London gekommen, obgleich gele gentliche Gesprächswendungen darauf hindeuteten, 113
daß er sich auch nicht zum erstenmal in diesem Ge biet befand. »Es ist natürlich Unsinn, ein allgemeines Urteil über Afrika zu fällen«, meinte Sir Falcome in seiner stets etwas schroffen Sprechweise. »Afrika hat wie jeder Erdteil hundert verschiedene Gesichter, von denen keines charakteristisch für den ganzen Erdteil ist. Der Unterschied zwischen einem Betschuanen und einem Ägypter ist mindestens ebenso groß wie zwischen einem Kirgisen aus der Uralsenke und ei nem Franzosen. Innerhalb des Erdteils hat jede Land schaft ihr besonderes Gesicht, noch mehr jede Rasse und jede Volksgruppe.« »Gewiß«, stimmte Sun Koh höflich zu. »Aber es ist nun einmal so, daß die Unbekümmertheit des Ur teils mit der Entfernung wächst. Sie kennen Nigeria schon länger?« »Recht gut sogar, besonders das Gebiet westlich des Niger, das Land der Joruben, in das wir eben hineinfahren. Da haben Sie gleich ein Musterbei spiel. Für den Fremden ist das ein von Negern be wohnter Landstrich wie jeder andere, tatsächlich aber unterscheidet er sich so wesentlich von anderen Ge bieten, daß man auf die Hautfarbe der Menschen blicken muß, um zu wissen, wo man sich befindet. Denken Sie an meine Worte, wenn Sie durch Ibadan gehen.« 114
»Bietet Ibadan solche Überraschungen?« Sir Falcome lächelte. »Für den, der Augen hat, schon. Wissen Sie, wie viele Neger in Ibadan wohnen?« »Nein.« »Rund eine Viertelmillion«, betonte der Englän der. »Donnerwetter!« platzte Hal heraus. »Das ist doch eine Großstadt.« »Bestimmt. Eine Großstadt der Neger. Das Mär chen von den kleinen Negerdörfern stimmt eben nicht immer.« »Na ja«, meinte Hal, »schließlich ist es ja kein Kunststück. Die Stadt hat Eisenbahnverbindung, und da haben eben die Europäer Betrieb in die Land schaft gebracht.« »Ein kleiner Irrtum, junger Freund«, brummte Fal come. »Diese Negergroßstadt ist schon einige Jahr tausende alt. Hier gab es bereits eine große Stadt, als von London noch nicht das erste Holzhäuschen stand.« »Das ist allerdings eine eigenartige Erscheinung«, warf Sun Koh ein. »Eine Großstadt der Neger? Gibt es noch mehr solche Großstädte?« »Ein paar schon. Da ist Ilorin mit siebzigtausend Einwohnern, dann Abeokuta mit über hunderttau send.« 115
»Und sonst?« Der andere hob die Schultern. »Sonst? Vielleicht noch Kuka mit siebzigtausend und Kano mit ungefähr der Hälfte davon.« »Eine auffallende Häufung«, sagte Sun Koh nach denklich. »Illorin, Abeokuta und Ibadan liegen in Jo ruba.« »Bravo!« lobte Sir Falcome. »Sie erfassen das Wesentliche. Kano und Kuka liegen zwar weiter nördlich, aber auch noch in Nigeria. Man kann sie leicht als Ausläufer ansehen. In der Tat ist es merk würdig, daß man auf so beschränktem Gebiet drei schwarze Großstädte findet, obwohl die Neger sonst durchgängig die dörfliche Siedlung bevorzugen. Und keine dieser Städte verdankt ihre Größe den Europä ern. Soweit europäische Viertel bestehen, sind sie anorganische Angliederungen.« Sir Falcome war ein kluger Mann und redete gern. Er füllte bereitwillig die toten Stunden mit nachdenk lichen Gesprächen über Land und Leute und gab da mit manchen nützlichen Wink. Über die Sakis wußte er allerdings nur sehr wenig, und einen Mann na mens Beja kannte er überhaupt nicht. »Wenn dieser Mann Ihre Papiere gestohlen hat, dann finden Sie ihn noch immer am leichtesten im Hinterland«, sagte er, nachdem ihm Sun Koh in gro ßen Zügen über seine Angelegenheit berichtet hatte. 116
»Ein weißer Mann ist noch heute etwas Außerge wöhnliches, und die Neger schwatzen gern. Es wird Ihnen nicht schwerfallen, seine Spur zu finden. In ei nem Land ohne Zeitungen hat das Gerücht eine un gemein tragende Kraft. Ein wichtiges Palaver in Iba dan verbreitet sich schnell über Hunderte von Kilo metern. Und sollte der Mann noch weiter nach Nor den gehen, dann werden Sie, falls Sie sich mit den Einheimischen verständigen können, jederzeit genau wissen, welchen Weg er nimmt.« »Falls er nicht von den Sakis gedeckt wird.« Sir Falcome machte eine Geste der Geringschät zung. »Ich würde an Ihrer Stelle diesen Geheimbund nicht tragisch nehmen. Die alten, wirklich starken Bünde gibt es nicht mehr. Diese Sakis sind eine Or ganisation, die aus dem politischen Geltungswillen der bereits zivilisierten Küstenmillionäre heraus ent standen ist. Der wirkliche Eingeborene betrachtet diese Leute als Außenseiter und läßt sich nicht von ihnen einspannen.« »Es wäre erfreulich, wenn ich Beja bald finden würde.« »Wenn er sich in Ibadan aufhält, wird es nicht lan ge dauern. Wenn er im europäischen Viertel wohnt, sagt Ihnen jeder Weiße Bescheid. Wohnt er in der Stadt selbst, dann müssen Sie eben bei den Negern 117
herumhorchen. Sie werden ihn schneller finden, als Sie anzunehmen wagen.« »Hoffentlich!« * Ibadan. Die vier Männer, die die lange Fahrt gemeinsam überstanden hatten, schüttelten sich auf dem übervöl kerten Bahnsteig die Hände. Sir Falcome wollte sich nicht erst in Ibadan aufhalten, sondern gleich seine Reise nach Norden fortsetzen. Während sie noch einige gute Wünsche austausch ten, drängte sich ein Neger an Sun Koh heran. Er trug auf jeder Wange drei Schnittnarben. Die oberen Schneidezähne fehlten, die anschließenden Zähne waren spitz gefeilt. Damit verriet er, daß er ein frei geborener Neger war und nicht die Segnungen einer Missionsstation genossen hatte, denn diese Stationen verhindern die Stammesmarkierungen bei ihren Schutzbefohlenen. Trotzdem war der Mann mit Hemd und Hose manierlich bekleidet. Er verbeugte sich und kaute in einem kaum ver ständlichen Englisch: »Mister sein Sun Koh?« »Ja«, sagte Sun Koh. Der Neger reckte ein Kästchen aus Pappe hin, das er bisher sorgfältig in seiner Hand verborgen hatte. 118
»Nehmen.« Sun Koh nahm den Karton und fragte dabei: »Von wem kommst du?« »Weiß nicht«, entgegnete der Neger. »Alfa – dort drüben.« »Er meint einen Mohammedaner«, mischte sich Sir Falcome vom Wagenfenster aus ein. »Man be zeichnet die Anhänger des Islams hier als Alfa. Ver mutlich ist der Mann nur ein zufälliger Bote. Es wäre zwecklos, ihn aufzuhalten.« Sun Koh verzichtete darauf. Während sich der Ne ger verdrückte, öffnete er das Pappkästchen. Ein gedecktfarbiges, leicht gesprenkeltes Ei, an das man kleine rote Federn geklebt hatte, lag darin. Als Sun Koh zu Sir Falcome aufblickte, wunderte er sich über den sorgenvollen Ernst in dessen Ge sicht. »Was sagen Sie dazu, Sir Falcome?« Falcome hob das Kästchen hoch, nahm das Ei her aus und legte es sorgfältig wieder hinein. »Hm«, meinte er zögernd. »Das bedeutet entweder einen schlechten Scherz oder eine ernste Gefahr für Ihr Leben. Das ist ein Papageienei.« »Kann ein Papageienei gefährlich werden?« fragte Sun Koh. »Es ist ein Symbol«, erklärte Sir Falcome ernst. »Für den Empfänger bedeutet es, daß er durch eine 119
bestimmte Gruppe von Leuten zum Tode verurteilt wurde.« »Also scheinen die Sakis doch recht regsam zu sein.« Falcome schüttelte den Kopf. »Mit den Sakis hat das zunächst nichts zu tun. Solche Botschaften schickte man den Balis von Iba dan, wenn sie gar zu fest auf ihrem Königsstuhl sa ßen. Sie müssen wissen, daß Ibadan von einem König regiert wird, eben dem Bali. Seine Amtsdauer ist auf sieben Jahre beschränkt. Tritt er dann nicht zurück oder wird er sonst gefährlich, so hilft man sich mit letzten Mitteln. Viele dieser Balis sind keines natürlichen Todes gestorben. Sie haben das Papageienei erhalten, dem früher oder später ein Dolchstich folgte.« »Sie meinen also, daß mir dieses Ei den Tod an kündigen soll?« »Wahrscheinlich – falls es sich nicht um groben Unfug handelt. Ich würde Ihnen für alle Fälle raten, vorsichtig zu sein und stets für genügend Rücken deckung zu sorgen.« »Ich werde Ihre Mahnung nicht vergessen«, ver sprach Sun Koh. Das ließ sich leicht sagen. Sun Koh sollte bald merken, wie schwer es in diesem Menschengewim mel der schwarzen Großstadt war, sich einen unbe kannten Gegner vom Leib zu halten. 120
Ibadan. Das sind Tausende und Abertausende von Gehöf ten aus steinhartem rotem Lehm mit wettergrauen Palmblättern auf spitzen Satteldächern, Tausende und Abertausende von vier aneinanderstoßenden Häusern, die einen Block bilden und von Gassen umgeben werden. Wirr und regellos drängen sich die Gehöfte, zahllos und unübersehbar schlängeln sich zwischen ihnen die Gassen und Gäßchen, die Pfade und Straßen, ein unglaubliches Gewirr krummer, dauernd gebrochener Wege, die sinnverwirrende La byrinthe bilden. Häufig genug stehen zwischen den Gehöften winzige Gärten, von Papaya-Palmen. Öl palmen oder weisgrauen gigantischen Urwaldriesen überragt, in denen sich die unerhörte Fruchtbarkeit der roten Erde auf winzigem Raum austobt, als woll te sie sich für die sonnenverbrannte Lehmdecke der Stadt entschädigen. Da leuchten aus saftigem Grün handgroß die blutroten Hibiskusblüten, Flaschenkür bisse ringeln sich weithin, Falter schillern in der Sonne, und Schlangen huschen über den Boden. Und wo sonst das Häusergewirr der Stadt Raum läßt, da befindet sich einer der zahlreichen Märkte dieser Stadt, die sich unter den vorgezogenen Dächern und Basaren und Kaufständen fortsetzen. Und dieses Gewirr von Gassen und Plätzen ist unentwegt ange 121
füllt mit einer lärmenden, schiebenden und vielge staltigen Menschenmenge, die unaufhörlich durch die engen krummen Windungen hindurchfließt, als wäre das ihre einzige Beschäftigung. Sun Koh und Hal Mervin gingen unverzüglich zum Haus des englischen Kaufmanns, der ihnen in Lagos empfohlen worden war. Der Engländer ver band geschickt die Gastfreundschaft mit dem Ge schäft, zu seinem Vorteil und dem der gelegentlichen Fremden. Er bot einige gute Zimmer seines großen Hauses und überließ es den Gästen, sich erkenntlich zu zeigen. Die Nacht brach an, so daß sie sich nicht mehr in die Stadt begeben konnten. Als der Morgen graute, als in der Eingeborenenstadt Tausende von Hähnen krähten und Tausende von Handmühlen knarrten, er schien Nimba. Er war überwiegend unbekleidet und machte den Eindruck, als hätte er zeit seines Lebens in Ibadan gehaust. Nimba war im gleichen Zug gefahren wie Sun Koh, aber in einem Wagen der Eingeborenen. Er hat te sich bereits in Lagos umgezogen und sich auf heimische Tracht umgestellt. Das hatte seine guten Gründe. Nimba, der Sprache und Sitte beherrschte, war der geeignete Mann, Beja aufzuspüren, falls er sich in der Stadt verborgen hielt. In europäischer Kleidung hätte er sich kaum frei bewegen können. 122
»Ich habe Beja gefunden«, meldete er Sun Koh. »Ah – ausgezeichnet!« »Es war nicht schwer. Ich mußte nur an verschiede nen Plätzen herumhorchen. Ich traf verschiedene Be kannte von früher und konnte von ihnen einiges erfah ren. Beja befindet sich bei einem Mann namens Oju mu. Ich kenne ihn. Er ist ein Sohn des jetzigen Bali.« »Handelt es sich bestimmt um Beja?« »Es wird wohl keinen zweiten Weißen geben, der sich augenblicklich in Ibadan verborgen hält. Den Namen konnte man mir nicht sagen, aber man versi cherte mir, daß bei Ojumu ein Weißer als Gast lebt, der von Lagos gekommen ist. Ich denke, es wird Beja sein.« »Hast du etwas über die Sakis erfahren können? Gehört Ojumu zu ihnen?« Nimba schüttelte den Kopf. »Niemand wußte etwas über die Sakis. Man lachte mich aus, als ich davon sprach. Es soll keine Ge heimbünde mehr geben.« »Und doch hat man mir dieses Ei zum Bahnhof geschickt«, erwiderte Sun Koh und hielt Nimba das Kästchen mit dem rotgefederten Ei hin. »Oh – das Ei des Todes. Man hat es Ihnen ge schickt?« »Ich erhielt es am Bahnhof von einem Eingebore nen.« 123
»Es soll den Tod bedeuten, Sir«, murmelte Nimba. Dann wurde seine Stimme lauter und sicherer. »Aber es hat nicht viel zu bedeuten. Das ist keine Botschaft für einen Weißen. Wahrscheinlich hat Beja von dem Zeichen gehört und schickt es Ihnen, um Sie zu er schrecken.« »Das habe ich auch angenommen. Die Frage ist nur, ob er einen Geheimbund hinter sich hat oder nicht. Es spricht dafür, weil er bei einem Sohn des Bali wohnt.« Nimba schüttelte wieder den Kopf. »Nein, Sir. Ojumu ist wohl nur ein Bekannter von Oduscha in Lagos. Er gehört vielleicht sogar zu des sen Organisation, aber mit einem Geheimbund hat das nichts zu tun. Ein solcher würde das rotgefederte Ei niemals einem Weißen schicken.« »Nun«, überlegte Sun Koh laut, »für uns bleibt es sich ja schließlich gleich, welche Organisation gegen uns steht. Beja hat jedenfalls Verbündete.« »Die hat er«, bestätigte Nimba, »aber es sind ein zelne Leute. Wenn ein richtiger Geheimbund wie die früheren hinter ihm stehen würde, hätten wir Dut zende von Verschworenen gegen uns und würden Ibadan wohl kaum wieder verlassen können. Wir ha ben aber nicht verschworene Anhänger eines Bundes gegen uns, sondern höchstens einige Verbrecher, die Beja gemietet hat.« 124
»Woher weiß er denn überhaupt, daß wir hier sind?« warf Hal ein. »Oduscha wird ihn verständigt haben. Die telegra phische Verbindung ist auch hier schneller als die Zugverbindung.« »Von Nimbas Tätigkeit weiß er hoffentlich trotz dem nichts«, sagte Sun Koh. »Vielleicht können wir ihn überraschen. Du wirst uns hinführen, Nimba.« »Ja, Sir. Ich weiß nur nicht, ob wir bei Ojumu ein dringen können.« »Wird sein Haus bewacht?« »Nicht mehr als jedes andere. Ojumu ist auch nicht mächtiger als tausend andere in der Stadt. Der Bali hat viele Söhne. Sein Haus ist aber gewöhnlich durch eine schwere Holztür abgeschlossen.« »Und wenn wir uns anmelden, wird Beja fliehen, nicht wahr?« »So ist es. Wir müßten rechtzeitig die Tür im Au ge behalten. Diese Häuser haben nur einen Eingang. Aber vielleicht können Sie auch sagen, daß Sie die alten Götterfiguren sehen möchten. Ojumu empfängt manchmal Fremde, um seine Schätze zu zeigen.« »Beja wird sich einstweilen verstecken. Wir kön nen nicht das ganze Haus durchsuchen.« »Wenn Sie mir noch einige Stunden Zeit geben, will ich versuchen, mich mit jemandem aus dem Haus anzufreunden. Dann erfahren wir, wo er sich 125
versteckt hält.« »Gut. Versuche es. Wir warten hier.« Nimba verbeugte sich und ging. Er kam gegen Mittag zurück. »Wir können gehen, Sir. Ich werde erfahren, wo sich Beja versteckt.« »Gut, aber du ziehst dich doch erst um.« »Ja, Sir, ich muß Sie ja anmelden. Ojumu würde Sie nicht empfangen, wenn ich in diesem Aufzug käme.« »Vergiß nicht, dich zu waschen«, stichelte Hal. Eine halbe Stunde später brachen sie auf. Nimba übernahm die Führung. Sun Koh folgte ihm, dann schloß sich Hal an. Es war nicht möglich, innerhalb der Stadt nebeneinander zu gehen. Und Hal machte gern das Schlußlicht, denn so konnte er Sun Koh am besten den Rücken decken. * Wie Schwimmer, die aus ruhigem Wasser in die wir belnde Brandung vordringen, gerieten die drei aus dem ruhigen Viertel der Weißen in den Strudel der Stadt. Das toste, schrie, lachte, schwatzte, feilschte und gestikulierte, als wären Zeiten höchster Aufre gung. Unter der grellen Sonne wogte und schob sich die Menge an Bretterständen und überschatteten 126
Verkaufsläden vorbei. Da saßen Hökerinnen, manche scheußlich verrunzelt wie alte Hexen, manche jung und geschmeidig mit kleinen strampelnden Kindern auf dem Rücken. Die roten Lehmwände, die weißen Zähne und weißen Augäpfel, die vorzugsweise blau abgestimmten Töne der Kleidung gaben ein farben prächtiges Bild, das durch die Unterschiedlichkeit der Trachten, vom buntgeblümten Kattunkleid bis zum schmalen Lendenschutz wie durch die eigen tümlichen Helmfrisuren, belebt wurde. Jenseits des ersten Marktplatzes wurde es stiller. Dafür erhielten Sun Koh und Hal Gelegenheit, im Vorübergehen einen Blick in die Häuser und Höfe zu tun. Die Räume selbst wurden in den meisten Fällen nur zum Schlafen oder zum Speichern benutzt. Es waren auch nur fensterlose Kammern. Sie sahen Frauen, die in großen Holzmörsern Ge treide mit schweren Stampfkeulen zu Mehl verrie ben, und andere, die mit bloßen Händen weichen Ton zu Gefäßen formten, und wieder andere, die die Spindel drehten. Sie fanden Weber bei der Arbeit an den Webstühlen, auf denen unendlich lange, aber sehr schmale Stoffbahnen hergestellt wurden, die man kreuz und quer über die Höfe spannte. Nicht weit davon konnten sie einen Blick in eine Färberei werfen, in der schwarze Gestalten in Indigoblau rühr ten oder mit Holzschlegeln klopften. Kalebassenma 127
cher mit ihren krummen Schneidewerkzeugen, Mat tenflechter, Schmiede, Schneider – das war wirklich eine rührige Stadt, in der kein Mensch unbeschäftigt zu sein schien. Dann kam wieder einer dieser sinnverwirrenden lärmenden Marktplätze. Ein Reitertrupp überquerte ihn, Haussa in prachtvollen Kostümen, die Köpfe mit dem Turban umwunden, vor dem Mund das Litham, das weiße oder blaue Tuch. In der Wüste schützte es vor dem scharfen Sandstaub. Hier wurde es zur Zier de getragen. Ein Egun, ein Maskentänzer, tanzte mit unruhig zuckenden Bewegungen zur Belustigung der Umste henden in eine Gasse hinein. »Ich glaube, wir werden verfolgt«, meldete Hal von hinten. »Zwei Leute sind dauernd hinter uns her.« »Wir wollen hinter der nächsten Biegung warten«, sagte Sun Koh. Dicht an die Lehmwand gepreßt, blieben sie ste hen. Nach einer Weile tappten schnelle Schritte her an, dann lugten die Köpfe zweier Neger herum. Sun Koh und seine Begleiter traten vor. Die verblüfften Gesichter der Neger bewiesen zur Genüge, daß sich die beiden nicht zufällig auf dem gleichen Weg be fanden. »Sucht ihr uns?« erkundigte sich Nimba drohend. 128
»Nein, nein«, beteuerte der eine. »Wir waren nur erschrocken, weil ihr so plötzlich vor uns standet.« »Nur wer heimlich geht, erschrickt«, knurrte Nim ba. »Macht, daß ihr weiterkommt!« Die beiden beeilten sich. Wieder ein Marktplatz. Für einen Mörder war es wirklich nicht schwer, hier sein Werk zu vollbringen. Es ließ sich einfach nicht vermeiden, daß sich die Menschen an Sun Koh vorbeischoben. Doch Hal paßte scharf auf. Seine Pistole hielt er entsichert in der Tasche, um im Notfall sofort ein greifen Trotzdem kam der Überfall noch überra schend genug, zu können. Hal wurde von hinten scharf angerempelt, so daß er zur Seite und gegen einige schwarze Frauen flog, die neugierig auf die Fremden starrten. Er konnte sich gerade noch so weit herumkippen, daß er das Gesicht nach oben bekam. Er handelte mechanisch, weil er sich schon lange auf Abwehrbewegungen eingestellt hatte. Er ließ sich fallen, ohne sich groß darum zu kümmern, wo er landete. Aber der Warnruf kam ohne Verzögerung. »Achtung, Sir!« Ein dunkler Arm und ein gleißender Stahl gerieten in sein Blickfeld, während er taumelte. Seine Hand zuckte hoch. Er schoß. Sun Koh glitt zur Seite. Dann krachte Hal gegen die aufkreischenden Frauen. 129
Als er sich aufrappelte, war der heimtückische An greifer bereits in der Menge untergetaucht, aus der der Lärm doppelt und dreifach aufbrandete. »Danke«, sagte Sun Koh zu ihm. »Der Dolch hätte mich treffen können.« »Wo ist der Kerl?« »Fort, und es ist zwecklos, ihn zu verfolgen. Hier kommen wir schlecht durch. Es war einer von den beiden, die uns folgten.« »Habe ich ihn erwischt?« »Dort liegt sein Messer. Du wirst ihn wohl in die Hand getroffen haben.« »Wir wollen weiter, Sir«, drängte Nimba. »Das Aufsehen ist nicht gut.« Sie schoben sich durch die unruhig gewordene Menge weiter. Ein neuer Angriff wurde nicht versucht. Sie er reichten unbehelligt das Gehöft, das Ojumu gehörte. Nimba schlug kräftig gegen die schwere Holztür, die mit merkwürdigen Schnitzereien verziert war. Gleich darauf wurde sie geöffnet. Der Mann, der sie aufdrückte, war einer von den beiden, die sie in der Gasse gestellt hatten. Seine Überraschung war echt. Er wollte sofort die Tür wie der schließen, aber Nimba stellte den Fuß dazwi schen. »Was fällt dir ein?« fuhr er den Neger an. »Willst 130
du mir die Türe vor der Nase zuschlagen? Du hast wohl Angst, daß wir dir den Überfall heimzahlen?« »Ich weiß von nichts«, herrschte der andere. »Das nächstemal wirst du genau Bescheid wis sen«, knurrte Nimba drohend. »Dann werden wir nicht bloß auf die Hand schießen. Jetzt mach Platz. Mein Herr möchte deinen Herrn Ojumu sprechen, um seine Andenken zu bewundern.« Der Neger blieb störrisch. »Mein Herr Ojumu ist nicht zu sprechen. Er schläft.« »Dann lauf und wecke ihn. Dieser Tag wird große Ehre für ihn bedeuten.« »Du darfst…« Nimba drückte ihn vollends zurück. »Kommen Sie, Sir. Wenn Ojumu die Mörder aus geschickt hat, ist es besser, ihn zu überraschen.« »Gut«, sagte Sun Koh und trat an ihm vorbei in das Innere des Hauses. »Vergiß nicht, die Tür zu be wachen. Wo finden wir Ojumu?« »Er wird links im Schatten liegen.« Sun Koh und Hal gingen mit schnellen Schritten in den Innenhof hinein. Der Auftritt an der Tür hatte schon neugierige Frauen angelockt. Ein Weißer war nicht zu sehen, aber dort, unter dem herabgezogenen Dach vor der schwarzen Öff nung der Banga, lag Ojumu. Rings um ihn herum 131
hockten auf Matten und Ochsenfellen Frauen und Kinder. Ojumu schlief tatsächlich, aber der Lärm, den die Frauen und Kinder beim Eintritt der Weißen mach ten, weckte ihn auf. Er blinzelte und erhob sich dann zu achtungsgebietender Größe. Seine Erscheinung war nicht übel, aber die Blicke, mit denen er die Fremden musterte, enthielten wenig Freundlichkeit. »Wer seid Ihr?« quetschte er in leidlichem Eng lisch heraus. Sun Koh antwortete ihm in seiner eigenen Spra che. »Wir sind Fremde, die von deinen Sammlungen hörten und sie gern sehen möchten. Wir baten den Mann, der uns die Tür öffnete, uns anzumelden, aber er hatte keine Lust dazu. So kamen wir gleich selbst.« Ojumu starrte lange in das Gesicht Sun Kohs. Da bei veränderte sich der Ausdruck seines Gesichts auffallend. Die hochfahrende Unfreundlichkeit wich einem ungläubigen Staunen und dann einer Art Un terwürfigkeit. Plötzlich fuhr er herum und scheuchte mit einer wilden Handbewegung die gaffenden Frauen und Kinder weg, die fluchtartig zur anderen Seite des Hofes liefen und die Felle und Matten freigaben. Dann lud er mit einer Geste zum Sitzen ein. 132
»Verzeihung, Herr«, murmelte er dabei. »Ich wer de den Türhüter bestrafen. Es ist mir eine große Eh re, dich in meinem Haus zu sehen. Meine Frauen werden sich beeilen, ein Festessen zu richten.« »Ich danke dir für die Ehre, die du mir erweisen willst«, erwiderte Sun Koh höflich, »aber ich kann nicht lange bei dir bleiben. Weißt du, wer ich bin?« »Ein großer, mächtiger Herr.« Sun Koh blickte aufmerksam in das hagere Ge sicht des jorubischen Königssohnes und betonte: »Ich heiße Sun Koh.« Ojumu ruckte hoch. »Du bist…« »Der Mann, dem du Mörder entgegengeschickt hast«, vollendete Sun Koh streng. »Mörder?« fuhr Ojumu auf. »Ich habe niemand geschickt.« »Zwei deiner Leute. Der eine wollte mich erste chen. Der andere, den ich mit ihm zusammensah, ist dein Torhüter.« Ojumu war völlig verwirrt. »Ich – ich…« würgte er und rannte dann zur Tür. Kurz danach kam er zurück und schleifte den Türhü ter mit sich. Mit einer Kraft, die man ihm trotz seiner Größe nicht zugetraut hätte, warf er den Mann zu Boden und schrie ihn an: »Ihr habt einen Mord bege hen wollen? Gestehe, oder …« 133
»Es ist befohlen worden«, plärrte der Schwarze angstvoll los. »Du sagtest, wir sollen dem weißen Mann dienen, solange er als Gast bei dir wohnt. Er sagte, wir sollen auf diesen Herrn warten und ihn tö ten, weil er ein großer Feind von dir wäre. Bei der Pfeife des großen Etschu, wir wußten doch nicht, daß …« »Scher dich fort!« brüllte Ojumu wütend, worauf der Mann weghuschte. »Diese niederträchtigen Kerle!« stöhnte Ojumu hinter ihm her. »Ich wußte doch nicht – sie hatten keinen Auftrag von mir …« »Du hast einen Weißen als Gast in deinem Haus?« »Ja, Herr«, gab Ojumu bereitwillig zu. »Er kam aus Lagos und brachte mir eine Empfehlung von Oduscha, den ich gut kenne. Wir gehören einer – wir sind Freunde. Er bat mich, den Weißen für einige Tage in meinem Haus aufzunehmen. Ich tat es und bestimmte zwei Diener für ihn. Ich wußte nicht, daß er solche Aufträge für sie hatte.« »Du kanntest aber meinen Namen.« »Der Weiße erzählte gestern von dir. Es kam eine Botschaft von Oduscha, in der von dir die Rede war. Es hieß, du wärst ein Feind unserer Freunde.« »Eures Geheimbundes, dessen Führer Oduscha ist, nicht wahr? Er versuchte, mich im Namen seines Bundes zu ermorden.« 134
»Dich zu ermorden?« murmelte Ojumu verdutzt. »Aber du bist doch gar nicht der, den Beja schilderte. Du bist doch ein Edler.« »Oduscha und Beja scheinen anderer Meinung zu sein.« »Oduscha ist überhaupt nicht der Führer der Sa kis«, entrüstete Ojumu sich. »Ich werde ihn fragen, warum er so handelt. Und dieser Beja – ah, schade, daß er nicht hier ist.« »Er ist nicht hier? Ich möchte ihn sprechen.« »Du verfolgst ihn?« »Er hat mir wichtige Papiere gestohlen, die er zu rückgeben soll.« »Er ist nicht in meinem Haus. Er wollte zum Haus des Schangopriesters.« »Wird er zurückkehren?« »Vielleicht. Er sprach davon, daß er nach Ife woll te.« Nimba war inzwischen dazugekommen. »Beja ist nicht im Haus, Sir.« »Er soll im Haus des Schangopriesters sein. Kannst du das finden?« »Ja, Sir, aber wir müssen uns beeilen. Der Türste her ist fort. Er wird ihn warnen.« »Wir müssen aufbrechen«, sagte Sun Koh zu Oju mu. »Willst du nicht lieber hier auf ihn warten?« 135
»Es ist besser, wir überraschen ihn.« Sie verabschiedeten sich und beeilten sich, durch die zahlreichen krummen Gäßchen hindurch in ein anderes Stadtviertel zu kommen. Das Haus des Schangopriesters war ein beliebter Sammelpunkt. Vor dem Gehöft hockten viele Frauen und handelten mit Kleinigkeiten. Durch die dreige teilte geschnitzte Tür gingen Menschen aus und ein. Hal hatte die Aufgabe, auf der Gasse zu bleiben und die Tür zu überwachen. Sun Koh und Nimba betraten das Innere. Sie wurden nicht aufgehalten, als sie über den rie sigen roten Hof hinweg zur Pfeilergalerie gingen, die das tief herabgezogene Dach bildete. Dort an der Sei te hatte sich eine Gruppe Menschen versammelt. Sie standen, hockten und lagen vor einem kaum erhellten Raum, dessen Eingang von Götzenfiguren flankiert wurde. Der Tempel Schangos, des Kriegsgottes. Eine rote Lehmwand mit den sonderbaren, un künstlerisch derben Figuren, darüber das krumme unregelmäßige Dachgebälk und die Palmblätter des Daches machten die Kultstätte aus. In der Lehmwand befand sich eine viereckige Türöffnung. Ein offener Raum lag dahinter, dessen Wände mit rotem Tuch und merkwürdig genähten Ledertaschen behängt wa ren. In der Mitte stand die holzgeschnitzte Figur des 136
Gottes, vor ihr der vom Blut unzähliger Tiere schwarz überkrustete Stein, um sie herum gab es al lerlei Nichtigkeiten afrikanischer und europäischer Herkunft. Sun Koh und Nimba warfen nur einen flüchtigen Blick darauf, dann gingen sie ein Stück weiter in den Hintergrund zu einer Banga, in der der Schangoprie ster, umgeben von einem Halbkreis schwarzer Besu cher, bereits den Hals nach ihnen reckte. In seiner dunkelroten, mit goldenen Tressen besetz ten Robe war der Priester ein würdiger Herr. Er trug eine weiße Mütze, die mit Perlplättchen bestickt war. Der Umgang mit Weißen mußte ihm geläufig sein. Als Sun Koh herantrat, streckte er mit freundlichem Grinsen seine rechte Hand aus und hob gleichzeitig mit der linken sein Käppchen hoch. »Ich grüße dich, weißer Mann, der du gekommen bist, meine Tage zu verschönern und meine Hütte zu ehren. Haka!« So rollte er volltönend und feierlich, um dann sei ne Mütze wiederaufzusetzen. »Ich grüße dich«, erwiderte Sun Koh. »Entschul dige, daß wir ohne Anmeldung in dein Haus ge kommen sind.« Der Priester legte den Kopf zur Seite. »Du sprichst unsere Sprache, weißer Mann?« frag te er überrascht. »Deine Gnade ist gewaltig, daß du 137
dich herabläßt, in der Zunge unseres Landes zu re den, obwohl du ein mächtiger Herr bist, der aus den großen Ländern kommt. Womit kann ich dir dienen, von den Göttern gesegneter Weißer, der ich zu be scheiden bin, um den Staub von deinen Füßen zu ko sten. Haka!« Er machte eine schwungvolle Armbewegung, und die weiße Mütze gab eine vollendete Glatze frei. Sun Koh lächelte flüchtig. Dieser merkwürdige Priester mit seiner geschraubten Redeweise schien ein merkwürdiger Kauz zu sein. Wahrscheinlich war es eine Angewohnheit von ihm, sein Mützchen zu lüften. Das »Haka«, war soviel wie »Das sage ich« bedeutete, unterstrich trotzdem eigenartig selbstbe wußt seine Worte. »Ich komme vom Hause Ojumus«, antwortete Sun Koh. »Ich suche einen weißen Mann, der sich bei dir befinden soll.« Der Nachbar des Priesters, ein schlaugesichtiger Schwarzer, flüsterte dem Diener Schangos etwas zu. Dieser nickte und rollte dann: »Ich werde Ojumu ei nen Truthahn schicken, weil er mir die Freude deines Besuches schenkte, die mir wohl sonst versagt ge blieben wäre. Denn wie käme sonst ein so mächtiger Herr dazu, meine Hütte zu betreten? Ojumu hat recht getan, dich hierher zu schicken. Der weiße Mann, den du suchst, war hier, Haka!« 138
»Er hat dich bereits wieder verlassen?« »Keine Freude währt so lange wie das Leben eines Krokodils. Haka! Das Leben geht weiter wie der Schwengel einer knarrenden Handmühle unter den Händen einer jungen Frau. Der weiße Mann verließ mich in Eile, als sein Diener hier eintraf und ihm ei ne Botschaft brachte.« Beja war also gewarnt worden. »Wo hat er sich hinbegeben?« »Meine Augen sahen ihn nicht mehr, seit er die Banga verließ. Und die weißen Herren haben nicht die Gewohnheit, mir zu sagen, in welche Gasse sie ihre Füße setzen wollen. Willst du nicht Platz auf der Matte nehmen und bleiben, auf daß ich die Klugheit deiner Worte genieße.« Sun Koh ließ sich selbst vom höflichen Schwen ken der Mütze nicht rühren. »Ich danke dir für deine Einladung, aber ich muß weiter. Es ist wichtig, daß ich den weißen Mann tref fe.« Der fuchsköpfige Nachbar des Priesters machte durch eine Geste auf sich aufmerksam. »Ich kann dir sagen, wo er zu finden ist. Aber es wird lange dauern, denn er will erst in der Mitte der Nacht an dem Ort sein.« »Wo wird er sein?« »Im Haus der Krokodile.« 139
Sun Koh blickte fragend auf Nimba. Dieser nickte. »Ich kenne es.« Sun Koh wandte sich wieder an den anderen. »Woher willst du wissen, daß er sich um Mitter nacht dort befinden wird?« Der Mann lächelte listig. »Ich habe gute Ohren. Der weiße Mann flüsterte mit seinem Diener. Er sagte, daß er heute nacht im Haus der Krokodile große Papiere einem Mann aus Lagos übergeben müßte.« Das war eine wichtige Nachricht. »Ich danke dir«, sagte Sun Koh und versprach dem Priester bei einer besseren Gelegenheit noch einmal vorbeizukommen. Dieser ertrug den Abschied mit Würde, zumal Nimba inzwischen das übliche Geschenk in barer Münze niederlegte. Es war groß genug, um jeden Abschiedsschmerz zu mildern. Inzwischen hielt Hal unter allgemeiner Aufmerk samkeit sämtlicher Hökerinnen und der zahlreichen Kinder Wache vor der Tür des Hauses. Eine ange nehme Aufgabe war das nicht. Hal war heilfroh, als Sun Koh und Nimba wieder aus dem Haus traten. * Eine Wasserfläche von einigen hundert Quadrat metern, die von einer hohen Lehmmauer umgeben 140
wurde, war der Krokodilteich von Ibadan. Zwischen Wasser und Mauer befand sich auf zwei Seiten nur ein schmaler Streifen feste Erde, auf den beiden an deren Seiten lief jedoch ein breiter Weg, der gegen das Wasser durch ein hölzernes Gitter abgeschlossen war. Der Zugang zum Teich erfolgte durch ein Haus, an das sich rechts und links die Umfassungswände des Teichs anschlossen. Der Wächter, der die Tiere bewachte, ihnen zu fressen gab und die Besucher einließ, wohnte in diesem Haus. Eine angenehme Stätte war dieser Krokodilteich nicht. Das schmutzigdunkle Wasser stank scheuß lich. Die kahle Umgebung wirkte trostlos. Von den riesigen Echsen, die träge herumschwammen oder reglos dalagen, sah man bei manchen nur die Nüstern und die starren Augen, andere hielten das klaffende Maul weit aufgerissen und schienen trotzdem zu schlafen, während kleine Vögel zwischen den mäch tigen Kiefern herumpickten. Sun Koh stattete mit seinen Begleitern diesem Teich einen kurzen Besuch ab, um sich über die Ört lichkeit zu unterrichten. »Es sind heilige Tiere«, erklärte Nimba. »Sie ge nießen bei der Bevölkerung besondere Verehrung.« »Ich denke, so etwas gibt es bei den Joruben über haupt nicht«, entgegnete Hal. »Sie sind selten. Sie haben auch nichts mit der Re 141
ligion zu tun. Der Jorube haßt die Krokodile und tö tet sie, wo er kann.« »Wenn sie nichts mit eurer Religion zu tun haben, können sie auch nicht heilig sein, nicht?« »Es ist ein Aberglaube, den man an einzelnen Or ten findet.« »Rest einer Urreligion«, mischte sich Sun Koh ein. »Man findet die Krokodilverehrung noch heute über Afrika und Indien verstreut, aber immer nur örtlich.« »Und warum hat sich Beja gerade diesen Platz ausgesucht?« »Wahrscheinlich wird es um Mitternacht herum dort besonders still und einsam sein.« Mitternacht. Sun Koh und seine Begleiter schlichen sich vor sichtig an das Haus heran. Die Tür war nicht von innen verriegelt. Aber als Sun Koh sie aufziehen wollte, knarrte sie in den höl zernen Angeln. Er riß sie lieber gleich ganz zurück und sprang in das Haus hinein. Seine beiden Begleiter folgten. Unter dem schmalen Hallengang des Innenhofs sa ßen zwei Männer beim Licht einer Sturmlampe euro päischer Herkunft. Sie reckten sich und sprangen gleich darauf auf. Der eine der beiden war ein Weißer. Sein Gesicht 142
wurde von einer vorspringenden Nase beherrscht. Dünne, verkniffene Lippen und unruhige schwarze Augen, die dicht beieinander standen, ließen auf ei nen wenig angenehmen Charakter schließen. Beja! »Also doch«, sagte Sun Koh befriedigt. »Mr. Beja, nicht wahr?« Bejas Lider zuckten, doch sonst war wenig Unsi cherheit an ihm zu entdecken. »Der bin ich«, antwortete er mit dünner scharfer Stimme. »Was wollen Sie? Wer sind Sie?« »Sun Koh.« »Sun Koh?« wiederholte Beja. »Also so sehen Sie aus. Nun, freut mich sehr, Ihre Bekanntschaft zu ma chen. Wollen Sie um diese Stunde den Krokodilen einen Besuch abstatten?« Das war Hohn unter der Maske der Harmlosigkeit. »Mein Besuch gilt Ihnen«, gab Sun Koh scharf zu rück. »Sie wissen, daß wir Ihnen von Monrovia aus folgten.« »Mir? Welche Ehre! Warum eigentlich?« »Sie haben Papiere gestohlen.« »Die Sie bereits zurückerhielten.« »Ja, aber ohne die Fotos, die Sie von ihnen anfer tigten.« »Ah, ich verstehe! Sie wollen nun die Filme von mir?« 143
»Das brauchen Sie nicht erst zu fragen. Außerdem legen wir auch Wert auf Ihre Person. In Monrovia wurde ein Mord begangen, für den Sie verantwort lich sind. Kommen Sie mit!« Beja lachte höhnisch auf. »Sie halten mich wohl für sehr dumm? Gehen Sie nur allein – zu den Krokodilen.« »Achtung!« riefen Hal und Nimba gleichzeitig. In der nächsten Sekunde war das Durcheinander perfekt. Aus den dunklen Kammern quollen schwar ze Gestalten und stürzten sich auf Sun Koh und seine Begleiter. Die Laterne verlosch. Körper prallten auf einander, Fäuste krachten. Die Lehmwand deckte die Rücken der drei. Ir gendwer stöhnte, irgendwer kreischte schrill vor Schmerz, dunkle Schatten bewegten sich, Männer flogen durch die Luft. »Sie haben Messer, Sir!« »Licht, Hal!« Die Scheinwerferlampe blendete in den schwarzen Knäuel hinein. Erschreckt wich er zurück und löste sich auf. Schon rannten die Angreifer nach allen Sei ten davon. »Wo ist Beja?« »Er sprang in die Banga hinein!« »Hinterher!« Die anderen Lampen warfen ihre weißen Kugel 144
voraus. »Dort ist er!« schrie Hal. »Ein Neger!« knurrte Nimba. »Bleib!« Aber Hal war vom Jagdfieber befallen und glaub te, richtig gesehen zu haben. Er rannte auf den Aus gang zu. Der Mond beschien die Gasse. Dort vorn rannte ein Mann in ein anderes Gehöft hinein. Hinterher! Die Tür flog zurück. Hal stürzte in den Hof. Alles ruhig! Aber dort, in der Ecke … Platsch! Hal rutschte aus und lag plötzlich in einer kühlen Flüssigkeit, Die Lampe war verloschen. »Verflixte Schweinerei!« murmelte Hal wütend und stemmte sich wieder hoch. Ertrinken konnte er kaum, denn er war nur in einen der Bottiche geraten, die man in die Erde eingelassen hatte. Inzwischen war es ringsum lebendig geworden. Dunkle Gestalten tauchten in den Hallengängen auf. Als Hal seine Lampe wieder anschaltete, glitt sie über ein Wandelpanorama dunkelhäutiger Nachtge stalten. Und jetzt fiel das Licht auf seine Hand. Eine fürchterliche Ahnung überkam ihn. Die Hand war blau geworden und triefte von blauschwarzer Brühe. »Hal?« riefen Sun Koh und Nimba. 145
»Hier, Sir!« Hal rannte hinaus. Und als er Nimbas Gesicht lang werden sah, wurde seine Ahnung zur vollen Gewiß heit. »Ich dachte, er wäre hier drin«, verteidigte er sich schnell. »Er ist rechtzeitig geflohen«, sagte Sun Koh. »Drüben am Teich ist er nicht mehr.« »Mensch, wie siehst du denn aus«, stöhnte Nimba begeistert. »Ich bin in den Blaukessel einer Färberei geraten«, murrte Hal. »Genauso siehst du auch aus.« »Verheerend!« urteilte Sun Koh lächelnd. »Blau bis oben hin. Wir wollen verschwinden, sonst gibt es hier noch einen Farbenkrieg.« Die Männer aus der Färberei schrien und schimpf ten hinter ihnen her. Hal patschte im Laufschritt mit nassen Stiefeln durch die Gassen und hinterließ die schönsten Spuren in Blau. Als er sich später bei Licht im Spiegel betrachtete, erkannte er sich selbst kaum mehr. »Endlich ein sicheres Mittel gegen Sommerspros sen«, witzelte Nimba roh. »Halt die Luft an!« fauchte Hal wütend. »Müßt ihr denn auch so blöde Einrichtungen in eurem Land ha ben? Farbtöpfe in die Erde einzulassen, und das auch 146
noch ohne Schutzgitter! So ein Einfall! Die Gewer bepolizei müßte man auf euch hetzen!« Nimba hob grinsend die Schultern. Hal hatte eine Wut im Leibe! Er schrubbte sich in dieser Nacht aus Leibeskräften, bis ihm die Arme schmerzten und die Haut brannte, aber das Indigo blau erwies sich als vorzügliches Erzeugnis von er staunlicher Dauerhaftigkeit. Hal mußte sich damit abfinden, einige Tage blaugescheckt herumzulaufen. Das erregte Aufsehen und brachte ihn in den Ruf, ein berühmter Mann zu sein. Im übrigen hatte die Nacht nur ein dürftiges Er gebnis gebracht. Beja war verschwunden. Man hatte ihn kennengelernt, mehr nicht. Wahrscheinlich war es seine Absicht gewesen, Sun Koh gefangenzuhal ten oder zu töten. Der fuchsgesichtige Ratgeber aus dem Priester haus war erwartungsgemäß am nächsten Morgen auch nicht aufzutreiben. Der Priester selbst hob zwar oft genug ein Käppchen und stieß ein »Haka« nach dem anderen aus, aber der Sinn seiner wortreichen Rede blieb doch nur, daß er nichts und rein gar nichts wußte. Und Ojumu hatte auch keine Ahnung. Also zog Nimba abermals durch die Stadt, bis er erfahren hatte, was zu erfahren war. Im Morgengrau en hatte eine kleine Karawane Ibadan verlassen. Sie 147
stand unter der Führung eines Mannes aus Modeke und bildete die Begleitung eines Weißen, eben Bejas. Als ihr Ziel wurde Ife genannt. Sun Koh entschloß sich am nächsten Tag, Beja zu folgen. * Auf guten Pferden, die Nimba noch in den Abend stunden aufgetrieben hatte, begann in den Morgen stunden der Ritt nach Ife. Sie kamen zunächst schnell vorwärts, da der Weg durch eine offene fruchtbare Landschaft führte. Beja besaß zwar einen vollen Tag Vorsprung, aber die drei hofften, ihn noch vor Ife einholen zu können, da er sicher durch seine Karawane behindert wurde. Zwischen Waldstücken, zahlreichen Ölpalmen und Negerpflanzungen ging es dann voran. Auf den Fel dern standen Mais, Bataten, Maniok, Yams und Baumwolle in der üppigen Pracht des fruchtbaren Bodens. Die Neger schienen ihre Felder, die aller dings mehr Gärten glichen, sehr sorgfältig zu bestel len. Gelegentlich zogen Neger und Negerinnen vor bei auf Ibadan zu. Offensichtlich wollten sie zum Markt. Sie trugen Körbe und Schalen mit Erzeugnis sen ihrer Felder auf den Köpfen, Körbe mit Apfelsi nen, Kokosnüsse, Melonen, Ananas, Erdnüsse, Pi 148
sangtrauben und Bananen. Andere schleppten Gefäße mit Öl, Palmwein oder Honig. Neben ihnen liefen oft Ziegen und Schafe. Die Ziegen hatten merkwürdig kurze Beine und dicke Bäuche, die hochbeinigen Schafe schlappe Ohren und kurzes, gar nicht wolli ges Haarkleid. Gruppen von heiligen Drachenblutbäumen mit ih ren gekrümmten, schwertähnlichen Blättern machten die Landschaft allmählich strenger und leiteten zum Wald über. Jetzt mußten sie langsam reiten. Der Weg war zwar breit und auf mehrere Meter frei von Baum stämmen, aber bis auf einen schmalen Pfad von me terhohen Gesträuch und Gestrüpp überwuchert, so daß sich die Reiter hintereinander halten mußten. Afrikanischer Urwald! Riesige graue Stämme, lebendige Säulen von ge waltiger Höhe, stützten das grüne Dach des Waldes. Die Wurzeln dieser Stämme waren zum Teil nicht unter der Erde, sondern ringelten sich als knorrige Wülste wie riesige Schlangen über die Erde hin, stie gen als breite Bretter in die Höhe und hefteten sich als Strebepfeiler an den Stamm. Zwischen Wurzeln und Kronen spannten sich senkrecht, schräg und quer in allen Stärken, vom dicken Tau bis zur dünnen Schnur, zahllose Lianen. Schlinggewächse durchzo gen auch das unentwirrbar verfilzte Unterholz, das 149
für die Augen wie für den Körper eine dickte Wand bildete, die wohl nur in mühsamer Arbeit durch schlagen werden konnte. Auffallend war die Stille im Wald. Nur selten lärmten einmal einige Affen oder kreischten einige Papageien auf. Stundenlang ritten die drei schweigend durch den stillen Urwald. Gegen Mittag erreichten sie den Oschun, der unter grünem Laubdach über Felsblöcke hinstrudelte. Un terhalb einer Stromschnelle durchquerten sie ihn. Weiter ging es durch den Urwald. Am Spätnachmittag lichtete sich der Wald. An den letzten Bäumen lehnten sonderbar herausgeputzte Puppen. »Was ist das denn?« fragte Hal. »Wir erreichen gleich ein Dorf«, gab Nimba Aus kunft. »Das sind die Puppen der Geister und des To des.« »Wieso?« »Der Wald ist immer unheimlich. Die Geister und der Tod sitzen in ihm. Die Eingeborenen glauben, daß der Tod nachts in die Dörfer kommt, um sich Opfer zu holen. Er hält die Puppen für Menschen, bemäch tigt sich ihrer und verschont die Dorfbewohner.« Sie verbrachten die Nacht in dem Eingeborenen dorf, das aus einem Dutzend der großen Jorubenhäu 150
ser bestand, die sie schon von Ibadan her kannten. Auch hier schien die Bevölkerung sehr fleißig zu sein. Hohe Haufen von schwarzem Pfeffer, zahlrei che ornamentierte Töpfe, lange Bahnen schmalen Baumwollstoffes und Hirsebier schienen die Haupt erzeugnisse des Dorfes zu sein. Der Dorfhäuptling selbst nahm die Fremden in seine Behausung. Er berichtete auch, daß eine Nacht zuvor ein anderer Weißer mit seiner Karawane hier gerastet hatte. Beja war also doch schnell vorange kommen und besaß immer noch einen eintägigen Vorsprung. Der nächste Tag verging gleichförmig und eintö nig. Der Weg führte immer durch Urwald. Sie erreichten das Dorf, in dem Beja die Nacht verbracht hatte, bereits in den Nachmittagsstunden. Als sie kurz vor Modeke den Tag beschlossen, wuß ten sie Beja nur einen halben Tag vor sich. Sie konn ten ihn zwar vor Ife nicht mehr erreichen, mußten ihn aber mit großer Wahrscheinlichkeit dort treffen. Am nächsten Tag tauchte Modeke vor ihnen auf. Zwischen Mangobäumen, Palmen, Unkraut und Schlinggewächsen standen die schwärzlichen Über reste einer zerstörten und ausgebrannten Stadt. Kein Mensch war in den fast überwucherten Straßen zu sehen, nur die Eidechsen huschten scheu vor den Pferden weg. 151
»Achtung, Sir!« rief Nimba gedämpft. Ein Neger stand auf dem Weg. Er hielt den rechten Arm emporgestreckt zum Zeichen, daß die Reiter an halten sollten. Nimba beugte sich hinunter. »Was willst du?« Der Neger deutete auf Sun Koh. »Ist das der Massa, der Sun Koh genannt wird?« »Ich bin es«, bestätigte Sun Koh und hielt sein Pferd neben dem Schwarzen an, der jetzt schüchtern zu ihm hinaufblickte. »Du sollst mit mir kommen. Der weiße Massa schickt mich.« »Beja?« »Er nennt sich so.« »Was ist mit ihm?« »Er liegt dort drüben in seiner Hütte. Eine Schlange hat ihn gebissen. Er glaubt, daß er sterben muß. Er will dir etwas sagen.« Sun Koh blickte forschend auf den Neger. Der Mann war unruhig. Das konnte allerdings verschie dene Ursachen haben. »Wartest du schon lange?« »Zwei bis drei Stunden.« Sun Koh schüttelte den Kopf. »Zwei bis drei Stunden? Wenn dein Massa von ei ner Schlange gebissen wurde, ist er schon längst tot.« 152
Der Schwarze schwieg. »Eine Falle, Sir«, warnte Nimba. »Möglich«, überlegte Sun Koh. »Andererseits hät te uns Beja schon beim Ritt durch den Wald überfal len können.« »Im Dickicht hätte er keine Fluchtmöglichkeit ge habt.« »Wir müssen trotzdem nach ihm sehen.« Der Schwarze trottete sofort los. Er führte durch Gassen, die nur noch andeutungsweise vorhanden waren, zwischen eingestürzten Lehmmauern hin durch, an Gärten vorbei, die sich der Urwald neu er obert hatte, bis zu einer am Rand des dichten Waldes gelegenen Hütte, auf der sich noch ein leidliches Palmblattdach befand. Vor dem Haus stand eine Reihe von Pferden neben Lasten aller Art, die von ihren Rücken abgeschnallt worden waren. Zwei Neger lehnten faul neben der gespaltenen Holztür, die den Eingang verschloß. Sun Koh und seine Begleiter stiegen ab und folg ten ihrem Führer in das Haus hinein. Sie waren alle drei mißtrauisch gewesen, aber ihr Mißtrauen legte sich in dem Augenblick, als sie das Haus betraten. Dort im Innenhof lag Beja ausge streckt auf einigen Matten, hell beleuchtet von einem Sonnenstreifen, der von dem offenen Viereck des Hofs keilartig in den überschatteten Hallengang ein 153
schnitt. Um ihn herum hockten ein Dutzend Schwar ze, die sich beim Eintritt der drei erhoben und auf den Ausgang zugingen. Sun Koh eilte mit schnellen Schritten vor und beugte sich über Beja. Er hatte die Augen fest ge schlossen, wirkte aber sonst durchaus nicht wie ein Mann, der von einer giftigen Schlange gebissen wur de. »Sie ließen uns rufen?« fragte Sun Koh. »Was fehlt Ihnen?« Plötzlich huschte Triumph über Bejas Gesicht. »Nichts!« zischte er und riß zugleich die bisher verborgene Pistole hoch. Sun Koh warf sich zur Seite, aber schon zuckte ein Feuerstrahl auf. Beja hatte aus nächster Nähe ge schossen. Sun Koh spürte einen harten Schlag gegen die Schulter, der seine ausweichende Bewegung be schleunigte. Fast im gleichen Augenblick warfen sich zwei schwere Körper auf ihn und erdrückten seine Bewegungen. Nimba und Hal erging es ähnlich. Die Neger, die eben noch harmlos auf den Ausgang zugingen, war fen sich plötzlich zu dritt und zu viert auf die Männer und machten eine ernsthafte Gegenwehr unmöglich. Minuten später lagen Sun Koh und seine Begleiter nebeneinander auf dem roten Lehm. Sie waren an Händen und Füßen zusammengeschnürt, so daß sie 154
sich nicht rühren konnten. Sun Kohs Schulter hatte sich bereits blutrot gefärbt. Beja stand vor den dreien und betrachtete sie mit unverhohlener Genugtuung. Er hielt die Hände in den Hüften gestemmt und wippte vor und zurück. Dabei grinste er. Man sah ihm an, daß er befriedigt war. »Nun?« stieß er endlich heraus. »Wie gefällt Ihnen das? Nicht übel, was? Das hätten Sie schon in Ibadan haben können. Ich an Ihrer Stelle hätte mir den wei ten Ritt erspart. Oder glauben Sie, ich hätte Ihnen das Ei des Todes zum Spaß geschickt?« Niemand antwortete. »Ja, ja«, sprach Beja weiter. »Sie dachten wohl, Sie hätten mich in Ibadan beim Wickel? Ging ein bißchen schief dort, aber dafür habe ich Sie jetzt um so sicherer.« Jetzt hielt es Hal nicht länger aus. »Verdammter Mistkerl!« schimpfte er los. »Wol len Sie nicht erst einmal Mr. Sun Koh verbinden? Sehen Sie denn nicht, daß er verblutet?« »So?« fragte Beja grinsend. »Tut er das? Schadet auch nichts. Hm, aber vielleicht ist er doch noch die Mühe wert!« »Bemühen Sie sich nicht«, wehrte Sun Koh ver ächtlich ab. »Sie haben schlecht genug getroffen.« Beja kniete trotzdem nieder, schob Jacke und Hemd beiseite und betastete die Schulter. 155
»Tatsächlich«, sagte er mürrisch, während er sich wieder erhob. »Nur ein Schuß durch das Fleisch. Das heilt schnell wieder. Aber Sie sollen sich nicht be schweren,« Er wandte sich an die noch herumstehenden Ne ger, schickte sie hinaus und befahl einem von ihnen, den Verbandskasten zu bringen. Als der Neger zu rückkam, legte er schnell und recht geschickt einen Verband um die Schulter. Sun Koh ließ es gesche hen. Er schwieg wie seine beiden Begleiter. Beja betrachtete noch im Knien wohlgefällig sein Werk. »So, jetzt habe ich Ihnen gewissermaßen das Le ben gerettet. Ich hoffe, daß Sie sich dafür erkenntlich zeigen. Aber zunächst…« Zunächst durchsuchte er Sun Kohs Taschen. Er räumte alles aus, was ihm einigermaßen wertvoll zu sein schien, aber vor allem sämtliche Papiere. Voll kommen zufriedengestellt wurde er von seiner Beute nicht. »Ist das alles?« fragte er. »Ich denke, Sie haben noch wichtige Papiere bei sich?« »Denken Sie lieber nicht«, riet Sun Koh kühl. »Dann könnten wir uns vielleicht ein bißchen un terhalten«, schlug Beja spöttisch vor. »Wenn Sie mir erzählen, was ich wissen will, lasse ich Sie laufen.« »Ich habe Ihnen nichts zu erzählen.« 156
Beja zuckte mit den Schultern. »Vielleicht doch? Sie sind natürlich im Augen blick nicht gut auf mich zu sprechen, aber es wäre besser, wenn wir uns ruhig und sachlich auseinander setzen würden. Schließlich habe ich ja nichts persön lich gegen Sie, und Sie werden auch gegen mich per sönlich nichts haben.« »Nichts als einen Mord, einen Raub und diesen Überfall«, parierte Sun Koh knapp. »Das genügt wohl.« Beja winkte lässig ab. »Unsinn! Sie verstehen mich nicht. Es handelt sich doch einfach um ein Geschäft. Ich biete Ihnen allen dreien Leben und Freiheit, wenn Sie mir genügend Informationen über Ihre Unternehmungen geben. Ich habe nichts gegen Sie, aber ich werde dafür bezahlt, daß ich Sie aus dem Wege räume. Für gute Informa tionen werde ich auch bezahlt. Es liegt also bei Ih nen, eins gegen das andere auszutauschen. Ich hoffe, Sie werden vernünftig sein.« Sun Koh schwieg eine Weile, dann sagte er ruhig: »Nun, vielleicht haben Sie nicht Unrecht. Aber – ge nügen Ihnen nicht die Papiere, die Sie in Monrovia raubten?« »Mir genügen sie schon, aber gewissen anderen Leuten nicht.« »Woher wollen Sie das wissen? Sie hatten doch 157
noch keine Gelegenheit, die Papiere anderen zu zei gen.« Beja lachte kurz auf, aber es klang gekünstelt. Sun Koh war überzeugt, daß er von jetzt an nach besten Kräften log. »Ha, da irren Sie sich aber. Sie dachten wohl, ich hätte die Filme noch bei mir? Nee, die sind schon in Lagos in andere Hände gewandert. Und der Mann, dem ich sie gab, wußte Bescheid.« »Oduscha?« Beja schnippte mit den Fingern. »Pah, Oduscha! Er ist eine Puppe. Seine Sakis sind zu gebrauchen, aber das ist auch alles. Mein Verbin dungsmann ist ein Weißer. Tausend Pfund zahlt er für Sie, wenn Sie es genau wissen wollen.« Sun Koh dachte daran, daß man diesem geschäfts tüchtigen Halunken im Notfall das Doppel bieten konnte, aber im Augenblick war er außerstande, ein Angebot zu machen. Außerdem hoffte er, von dem Verbrecher noch mehr zu erfahren. »Viel Geld«, bestätigte er. »Ich wußte bis jetzt nicht, daß ich Ihrem Auftraggeber soviel wert bin. Warum haßt er mich eigentlich?« Beja blickte verdutzt drein. »Hassen? Der Mann kennt Sie doch gar nicht. Er zahlt ja das Geld auch nicht aus seiner eigenen Ta sche. Da stecken wieder andere dahinter. Sie wissen 158
ganz genau, daß es eigentlich gar nicht um Sie, son dern um Ihre Organisation geht.« »Meine Organisation?« »Jawohl, Ihre Organisation!« sagte Beja hitziger. »Sie haben doch überall Ihre Leute sitzen. Sie haben eine große Organisation aufgebaut, von der die Westafrikanische Handelsgesellschaft nur ein kleiner Teil ist. Ihre Leute sitzen in allen Erdteilen und allen großen Städten. Scheinbar sind es Handelsgesell schaften, aber in Wirklichkeit handelt es sich um et was anderes.« »Ach, um was denn?« »Das wollen wir ja gerade erfahren«, entschlüpfte es Beja. »Es gibt Leute, denen das wichtig ist. Und diese Leute geben eine ganze Menge Geld aus, um zu wissen, was los ist. Ist es richtig, daß Sie Kaiser von Amerika werden wollen?« »Papst von Neuseeland!« höhnte Hal. Sun Koh tat Beja nicht den Gefallen, die lauernde Frage zu bejahen oder zu verneinen. »Diese Leute müssen viel überflüssiges Geld be sitzen. Lassen Sie Ihre Phantasie nur recht ins Kraut schießen, wenn Sie ihnen Bericht erstatten.« »Da kennen Sie die Leute aber schlecht«, brummte Beja mürrischer. »Denen kann man nichts weisma chen. Also, wie steht es mit unserem Geschäft? Wenn Sie mir genug verraten, lasse ich Sie laufen. 159
Wenn nicht, bleibt es bei meinem Auftrag.« »Das wäre zu überlegen. Übrigens – warum haben Sie eigentlich von Monrovia den Umweg über Lagos gemacht? Sie konnten doch gleich zu Ihren Auftrag gebern fahren?« »So dumm sind wir eben nicht. Erstens befand sich der Verbindungsmann in Lagos, und zweitens rechnete ich von Anfang an mit einer Verfolgung. Wenn in Monrovia ein Weißer ermordet wird, läßt die Polizei so leicht nicht locker. Deshalb richtete ich mich gleich darauf ein.« »Aber Sie brauchten von Lagos aus nicht ins Hin terland zu reisen.« »Alles ihretwegen! Meine Auftraggeber haben wahrscheinlich Angst vor Ihnen. Sie sollten Zeit ver lieren und von der richtigen Spur abkommen. Und nicht zuletzt sollten Sie an einen Platz gelockt wer den, an dem Sie unauffälliger verschwinden konnten als in Lagos. Sie sehen, daß Ihre Gegenspieler Grütze im Kopf haben. Sonst noch Fragen?« »Nein.« »Dann kommen wir also zu meinem Vorschlag. Sind Sie einverstanden?« »Ich muß mir das erst überlegen.« Beja hob die Schultern. »Überlegen? Na schön, überlegen Sie sich’s. Eine halbe Stunde haben Sie Zeit. Länger nicht!« 160
Er ging hinaus. »Er wird uns doch nicht freilassen«, murmelte Nimba hinter ihm her. »Natürlich nicht«, bestätigte Sun Koh. »Wir müß ten ihn kaufen. Ich überlege nur, ob es keine andere Möglichkeit gibt. Der Kerl ist mir zu widerlich, um ihm auch noch Geld zu schenken.« »Wir werden ihm die moralischen Grundsätze ein bläuen«, sagte Hal. »Los, Nimba, hier liegt mein Ta schenmesser. Es ist mir vorhin aus der Tasche gefal len, und seitdem liege ich drauf, damit er’s nicht merkt.« »Was nützt ein Messer ohne Hände?« brummte Nimba. »Was nützt ein Kopf ohne Gehirn?« höhnte Hal. »Komm her. Ich nehme das Heft zwischen die Zäh ne, und du mußt mit deinen Zähnen die Klinge he rausziehen. Den Rest würde dann meine Großmutter auch schaffen.« »Laß mich mit deiner Großmutter zufrieden«, murrte Nimba und wälzte sich aber zu ihm. Das Heft des Messers war nicht breit, und die Klinge stand wie üblich nur wenig heraus. Es war nicht leicht. Doch schließlich gelang es Nimba, die Klinge mit den Zähnen zu fassen. Sie zogen vorsichtig die Köpfe auseinander. Die Klinge kam, und das Messer sprang auf. 161
»Geschafft«, stöhnte Hal. »Jetzt nimm es in die Hand. Die Klinge nach unten, die Schneide nach in nen. Ich komme zu dir.« Nimba schob sich rückwärts an das Messer, legte sich darauf und faßte das Heft mit den Fingern. Dann schob sich Hal mit dem Rücken gegen ihn und taste te mit den gefesselten Händen nach der Klinge. Nach einer Weile bekam das erste Lianenseil den richtigen Widerstand. Dann ging es schnell. Nimba schnitt mit kurzen Bewegungen seines ganzen Körpers das Seil herunter. »Frei!« meldete Hal. »Gib her!« Eine halbe Minute später waren sie alle drei frei. »Nehmt die Waffen«, befahl Sun Koh. »In Dek kung und die Gelenke massieren!« Sie befanden sich noch in Bewegung, als Beja die Tür öffnete. »Was ist…« Hal warf sich herum und schoß, aber die Hand, in der das Blut noch nicht wieder normal kreiste, zielte ungenau. Und Beja besaß die Geistesgegenwart, so fort zu verschwinden. »Sie sind frei!« brüllte er draußen wütend. »Fort!« Die drei stürzten an die Tür, rissen sie auf und sa hen vor sich ein Gewirr ratlos durcheinanderlaufen der Neger, die die Lage noch nicht begriffen hatten. Das nahm ihnen Sicht und Bewegungsfreiheit. Jen 162
seits des Gewirrs raste Beja in panischer Eile davon, gefolgt von einigen Streitgenossen. Hal und Nimba schossen hinter ihm her, aber Sun Koh befahl ihnen aufzuhören. Es war sinnlos. Beja wurde durch seine schwarzen Begleiter gedeckt. Sie konnten ihn nicht einmal verfolgen. Ihre Pfer de jagten hinter den Flüchtigen her. »Gehen wir zu Fuß«, entschied Sun Koh gelassen. »Ife ist nicht mehr weit. Und zu beeilen brauchen wir uns auch nicht mehr, wenn Beja die Filme bereits weitergegeben hat.« »Aber er verdient Strafe«, murmelte Hal. »Ein Verbrecher läuft seiner Strafe immer entge gen, auch wenn er meint, ihr zu entfliehen.« 7. Ife ist die heilige Stadt Jorubas. Sun Koh, Hal und Nimba zogen zu Fuß in sie ein. Nimba verriet immer stärker die Erregung, die in ihm arbeitete. Jeder Baum und jedes Haus ließen Er innerungen in ihm aufsteigen, die er mitteilen wollte. Dann, als er über den Häusern bereits die mächti gen Gebäude des Palastes auftauchten, wies er auf eins der breiten, mit hohen Satteldächern aus wetter grauen Palmblättern überdeckten Gehöfte. »Dort, Sir! Das ist das Haus meines Vaters. Dort 163
wurde ich geboren. Wir gehen doch hinein, nicht wahr, Sir?« »Ja«, sagte Sun Koh freundlich. »Aber geh du zu nächst allein. Deine Familie erwartet dich ja nicht.« »Allein? Aber – sie können doch nicht hier auf der Straße warten.« »Wir können. Geh!« Die Gasse war voller Neugieriger. Die beiden Weißen erregten genug Aufmerksamkeit bei den Einheimischen. Auch aus dem Gehöft, das Nimba bezeichnet hatte, stürzten Frauen und Kinder. Und dann trat ein mächtiger grauköpfiger Neger heraus. Da war es um Nimbas Fassung geschehen. »Mein Vater!« rief er und lief auf den Mann zu. Sun Koh und Hal sahen heftige Gesten, dann ver schwand Nimba in der drängenden Menge seiner Angehörigen und Nachbarn. »Hoffentlich erzählt Nimba nicht erst seine ganze Lebensgeschichte«, murmelte Hal nach einer Weile. »Er kommt schon.« Nimba kam zurück. Seine Augen glänzten, und in seiner Stimme schwang die Freude des Wiederse hens. »Kommen Sie bitte, Sir«, sagte er eifrig. »Mein Vater wird glücklich sein, wenn Sie bei uns wohnen. Er hat mich gleich erkannt und die anderen auch, ob gleich ich doch viele Jahre fort war. Sie leben noch 164
alle – meine Mutter, meine Geschwister und die Nachbarn. Sie freuen sich alle sehr.« Sie folgten ihm. Der Hausherr hatte sich inzwischen zurückgezo gen, um seine Gäste der Sitte gemäß zu empfangen. Vor seiner Banga, unter dem Schatten der Pfeilerga lerie, empfing er sie respektvoll und voller Stolz. Die Ähnlichkeit des ergrauten Mannes mit Nimba war überraschend groß. Vater und Sohn besaßen nicht nur die gleichen Züge, sondern auch die glei chen muskulösen Körper. Die Begrüßung vollzog sich mit einem langen und feierlichen Palaver, dann führte Nimba Sun Koh und Hal zu den Bangas, die ihnen als Schlafstätten zuge dacht waren. Sie blieben an diesem Tag im Haus. Es lebte sich nicht schlecht darin. Die Lehmwände schirmten die Sonne recht gut ab, und das Ungeziefer hielt sich in erträglichen Grenzen. Die ganze Familie wetteiferte, es den Gästen angenehm zu machen. Das bedeutete vor allem ein umfangreiches Festessen, bei dem es sogar wunderbar zubereitete Palmschößlinge, den Höhepunkt aller Genüsse, gab. Nimba aß seine lang entbehrten heimatlichen Gerichte in aufregenden Mengen. Allmählich lernte Sun Koh die ganze Familie ken nen, genauer gesagt, sämtliche Familien, die in dem 165
Gehöft wohnten. Nimbas Brüder bewohnten mit ih ren Familien die langgestreckten Flügel und die Rückfront. Kein Wunder, daß es ständig von Men schen wimmelte, die die Fremden und ihren weitge reisten Familienangehörigen bewunderten. Der Hausherr bereitete seine Schätze vor den Gä sten aus. Darunter befanden sich einige wundervolle Terrakotten, die er selbst in Ebolokun ausgegraben hatte, einem Urwaldgebiet nördlich von Ife, in dem einst die sagenhafte Stadt Ille Olokun gestanden hat te. Die Terrakotten stellten wirklich etwas Besonde res dar. Es waren künstlerisch durchgeformte Ge sichter von edlem Schnitt. Die ganze Arbeit war kein Erzeugnis eines primitiven Künstlers, sondern Aus druck einer höheren Kultur, die einst hier geherrscht haben mußte. Eine in Bronze gegossene Statuette und Bruch stücke von innen glasierter Gefäße verrieten die glei che Kultur wie die Terrakotten. Als der alte Jorube die Aufmerksamkeit seiner Gäste spürte und von Nimba noch einen Wink erhielt, berichtete er aus führlicher über die Funde im Ebolokun. Er bezeich nete dabei seine Schätze als geringe Dinge. Im Wald gäbe es noch seltsamere Funde. Sein Nachbar hatte einen ganz weißen, fast durchsichtigen Steinsitz aus gegraben, auf dem vor unendlich langen Zeiten die 166
Götter gesessen hatten. Ein anderer Nachbar besaß Ziegel mit wunderbaren Verzierungen. Im Wald standen noch alte Steinfiguren mit unbekannten Zei chen. Dort gab es auch durchlöcherte Steinplatten und die großen Zahnsteine der Götter, von denen manche über drei Meter hoch waren und die Form eines Elefantenzahnes besaßen. Es war eine bemerkenswerte Schilderung, die Nimbas Vater von dem geheimnisvollen Wald gab. Der Übergang zu den alten Sagen der Joruben lag nahe. Von Nimba und Sun Koh ermuntert, erzählte der alte Mann die halbdunklen Geschichten um Ille Olokun, um jene Stadt, in der schwarze und weiße Menschen bis zu deren Auszug in alle Welt neben einander gewohnt hatten. Er besaß leider keine Vorstellung von den Zeit räumen, von denen er sprach. Oft brachte er auch die Erinnerungen durcheinander. Trotzdem blieb es eine bemerkenswerte Unterhaltung. Auf die Dauer erweckte sie allerdings das Mißver gnügen der Erzähler. Sie wollten Nimba hören und von seinen Erlebnissen erfahren. Und Nimba hielt nicht hinter dem Berg. Es war ein Glück für ihn, daß Hal nicht verstehen konnte, was er erzählte, da er die Sprache der Joruben nicht verstand. Hal hätte die Wißbegierigen noch ganz an ders bedient. Sun Koh vergaß nicht, daß sie sich 167
nicht wegen dieses Besuchs in Ife befanden, sondern Beja stellen wollten. Die Schulterwunde sorgte schon dafür, daß er daran dachte. Sie war nicht gefährlich, behinderte ihn aber. Nimba hatte seine Brüder losgeschickt, um nach Beja zu forschen. Daß sich dieser in Ife befand, stand fest, denn die Spuren der Pferde hatten in die Stadt hineingeführt. Noch vor Sonnenuntergang erfuhr Sun Koh, daß sich Beja als Gast bei einem Kammerherrn des Oni, einem gewissen Gbaga, befand. Ebenfalls noch vor Sonnenuntergang erschien ein anderer Kammerherr des Oni, des obersten Priesters und zugleich weltlichen Herrschers, mit einem lär menden Gefolge und verkündete, der Oni habe ge hört, daß weiße Männer in die Stadt eingezogen sei en und daß er sich freuen würde, sie morgen in sei nem Palast begrüßen zu können. Das war eine Aufforderung zur Audienz, die Sun Koh nicht gut abschlagen könnte. Er sagte zu. * Ife war eine Priesterstadt. Sun Koh und Hal merkten das deutlich genug, als sie am nächsten Vormittag unter Nimbas Führung durch die Stadt wanderten, um dem Oni ihre Aufwartung zu machen. Immer wieder begegneten sie Priestern in ihren langen Ge 168
wändern und mitraähnlichen Kopfbedeckungen, vor denen stets ein junger Ministrant mit bimmelndem Messingglöckchen herlief. Er machte das Volk dar auf aufmerksam, das sich dann auch stets ehrfurchts voll vor dem jeweiligen »Vater des Geheimnisses« auf den Boden warf. Der Palast des Oni war eine außerordentlich weit läufig angelegte Ansammlung von Gebäuden, die durch eine gemeinsame Lehmmauer eingefaßt und von den anderen Häusern der Stadt abgetrennt wur den. Das Eingangsgebäude war ein mächtiger Bau, der die Maßstäbe der gewöhnlichen Jorubahäuser ins Große übersetzte. Er wirkte allerdings vernachläs sigt. Sun Koh und seine Begleiter betraten die Residenz durch das hohe halbzerfallene Tor, wanderten durch verschiedene Höfe, Gänge und Hallen und gerieten endlich in den Raum, in dem der Oni seine Besucher empfing. Der Oni saß auf einem erhöhten Platz inmitten ei ner zahlreichen Schar von Kammerherren, Hofleuten und Priestern mit halbseitig geschorenen Köpfen, langen feierlichen Gewändern und rotgemusterten Fächern. Der Oni selbst trug ein grünes Damastge wand und hatte den Kopf mit einer troddelbehängten Tiara bedeckt. Über ihm wurde ein rotseidener Prunkschirm in Bewegung gehalten. Höflinge lüfte 169
ten ihm dann und wann das Gewand und fächelten ihm kühle Luft unter die Achselhöhlen, eine Tätig keit, bei der Hal sich das Lachen verbeißen mußte. Nimba hatte schon vorher darauf aufmerksam ge macht, daß es ungehörig sei, während einer Audienz beim Oni zu lachen. Er hatte auch erzählt, daß der Oni nur neue und noch ungewaschene Gewänder tra gen durfte und daß deshalb auf allen Gewändern der Firmenstempel außen sichtbar war. Hal rechnete da mit, daß ihm Nimba einen Bären aufbinden wollte. Er bemühte sich deshalb, Nimbas Behauptung nach zuprüfen. Als es ihm gelang, den Firmenstempel zu entdecken, war er von der Audienz befriedigt. Übrigens machte der Oni einen würdigen Ein druck. Er war ein älterer Mann mit einem etwas ein fältig wirkenden, aber freundlichen Gesicht. Es waren auch sehr freundliche Worte, die er an Sun Koh und Hal richtete, nachdem er ihnen die Hände geschüttelt hatte. Nimba hielt sich im Hinter grund. Während sich der Oni noch mit Sun Koh unterhielt und höfliche Redensarten mit ihm austauschte, er schien ein neuer Besucher, der, nach der Halbschnur des Kopfes zu urteilen, zum Hofstaat gehörte. Er warf sich vor dem Thronsitz mit seitlich ausgestreck ten Armen auf den rötlichen Lehm und murmelte demütig: »Kodjare – ich bitte.« 170
Dann hockte er sich auf die Knie, legte die Unter arme flach auf den Boden und berührte diesen der Reihe nach mit Stirn, Kinn und Schläfen. Dann war tete er. Der Oni bat Sun Koh höflich, an seiner Seite Platz zu nehmen und zu warten, da er sich noch mit ihm unterhalten wollte. Dann wandte er sich an den Knienden. »Kodabo – steh auf, Gbaga. Warum kommst du zu mir als Bittender?« Der Kammerherr Gbaga, ein Mann mit einem fal tenreichen listigen Gesicht, erhob sich und jammerte los: »O großer Oni, in meinem Haus ist ein schreck liches Unglück geschehen. Ich bin gekommen, um deine hohe Gerechtigkeit anzurufen.« »Warum wartest du nicht, bis ich Gericht in der Stadt halte?« fragte der Oni mit leichter Mißbilli gung. »Und worüber habe ich zu richten, wenn ein Unglück geschehen ist? Ein Unglück ist ein Zeichen der Götter.« Gbaga verneigte sich demütig. »Deine Weisheit ist groß, erhabener Oni, aber es ist kein Unglück, sondern ein Mord. Einer meiner Diener ist heute nacht ermordet worden. Und dieser Weiße, der an deiner Seite sitzt, hat es getan. Des halb wagte ich, zu dir zu kommen.« Der Oni fuhr zusammen. 171
»Was redest du da? Sprich deutlicher!« »Oh, allmächtiger Oni«, seufzte Gbaga. »Die Göt ter strafen mich mit deinem Zorn. Gestern kam ein weißer Mann in die Stadt. Ich nahm ihn in meinem Haus auf, da er mir empfohlen worden war.« »Ich hörte davon und dachte auch, er würde heute zu mir kommen.« »Er schickt mich, da er es nicht wagt, hier zu er scheinen, während diese beiden Weißen hier sind. Er fürchtet um sein Leben. Beim Zopf des heiligen Et schu, er erzählte mir schon gestern, daß er verfolgt wird und daß man ihn töten will. Ich sagte ihm, er hätte in meinem Haus nichts zu befürchten. Aber heute nacht gab es einen großen Lärm. Diese beiden Fremden versuchten, in mein Haus einzudringen. Sie schossen, und dabei erschossen sie meinen Diener. Als sie sahen, daß wir alle auf sie eindrangen, flohen sie. Es sind Mörder, o allweiser Oni. Sie haben dich hintergangen, damit du sie freundlich aufnimmst, aber deine Gerechtigkeit wird sie nunmehr in Fesseln schlagen.« Das war allerhand! Beja fürchtete sich vor der Ra che, aber daß er zu solchen Tricks griff, um seine Verfolger unschädlich zu machen, überstieg doch al les, was Sun Koh ihm zugetraut hatte. Der Oni wandte sich ratlos an Sun Koh. »Du hast gehört, was er sagte?« 172
Sun Koh reckte sich auf. Der Oni war nicht übel, aber es konnte gefährlich werden, ihn eine Verhand lung führen zu lassen. Es war besser, gleich scharf zu kontern. »Ich hörte es«, bestätigte er mit Nachdruck. »Die ser Mann hat schlecht geträumt. Man wird dir im Haus meines Gastgebers bestätigen, daß wir unsere Bangas nicht verlassen haben. Bestrafe ihn dafür, daß er es wagt, dich anzulügen.« In den Augen des Oni lagen allerlei Bedenken. »Man müßte ein Palaver dafür abhalten«, erwog er vorsichtig. »Ohne uns«, lehnte Sun Koh kurz ab. »Wir wissen deine Weisheit zu schätzen, aber wir wissen auch, daß dieser Mann lügt. Wir würdigen deine Allmacht, aber in diesem Land gelten noch Vorschriften, nach denen solche schweren Anklagen gegen Fremde in der Hauptstadt vorgebracht werden müssen, und zwar vor einem Gericht mit weißen Beisitzern.« »Das ist richtig.« Der Oni atmete auf und wandte sich streng an seinen Kammerherrn. »Ich wundere mich über dich, Gbaga. Kennst du nicht die Vorschriften und Gesetze? Warum kommst du zu mir und beleidigst meine Gäste, anstatt deine Klage an der richtigen Stelle vorzutragen? Willst du, daß die Soldaten kommen und deinetwegen die gan ze Stadt bestrafen? Bist du eine Schlange, die sich 173
um meinen Thron windet, um mich von hinten zu beißen?« »O großer Oni!« murmelte Gbaga bestürzt und warf sich zu Boden. »Geh!« befahl der Oni milder. »Ich will vergessen, was du mir erzählt hast. Begrabe deinen Diener und befiehl den anderen, sich nicht in die Angelegenhei ten der Fremden zu mischen.« Der Kammerherr zog sich kleinlaut zurück. Der Oni lächelte befriedigt hinter ihm her. Sun Koh bekam die heitere Stimmung des hohen Herrn in vielen Worten zu spüren. Er verabschiedete sich trotzdem, so schnell es ging. Er mußte sich um Beja kümmern. Diese Attacke war Beja mißlungen, aber es würde nicht lange dauern, dann würde er eine neue versuchen. * Am frühen Nachmittag brachte Nimba aufsehenerre gende Nachrichten. »Beja hat die Stadt verlassen«, berichtete er. »Er ist zusammen mit Gbaga und einigen Diener in den Wald gezogen.« »Nach Ibadan zurück?« »Nein, in den Ebolokun hinein, in den Wald. Ich habe einen Beobachter hinterhergeschickt.« 174
Sun Koh schüttelte den Kopf. »Was will Beja im Wald?« »Er will Aggristeine ausgraben«, platzte Nimba heraus und kam damit zur eigentlichen Sensation. »Die ganze Anklage von heute vormittag war ein einziger Schwindel. Beja hat den Diener selbst er schossen.« »Um Anklage gegen uns erheben zu können?« »Nein, wegen der Aggriperlen. Ich habe alles er fahren können. Die beiden haben sich verrechnet, wenn sie gedacht haben, daß die Sache geheim bleibt. Die Wände eines Hauses haben manchmal mehr Ohren, als manchem lieb ist.« »Du sprichst über eine Angelegenheit, von der du noch nichts berichtet hast«, mahnte Sun Koh. »Es handelt sich um die Perlen, Sir. Einer von Gbagas Dienern hat in der letzten Zeit in Ebolokun gesucht und gegraben. Gestern ist er auf einen Topf gestoßen. Er hat ihn aber nicht mehr ausgraben kön nen, weil es schon dunkel wurde. Er hat aber Gbaga von seinem Fund erzählt und sich gerühmt, daß er nun ein reicher Mann sein werde. Sonst hat er zu niemandem gesprochen, damit ihm keiner seine Beu te wegschnappt. Wahrscheinlich hat aber Beja eini ges gehört. Jedenfalls hat es noch spät in der Nacht ein langes und heimliches Palaver zwischen Gbaga und Beja gegeben. Dieses Palaver ist von einem 175
Verwandten des Ermordeten, der ebenfalls bei Gbaga dient, belauscht worden.« »Aha!« »Er hat es vorhin öffentlich in den Gassen erzählt, und das würde er kaum tun, wenn es nicht die Wahr heit wäre.« »Und was hat er erzählt?« »Gbaga und Beja haben sich über die Aggriperlen unterhalten. Sie wurden sich einig, daß jeder die Hälfte haben sollte. Dafür versprach Beja, den Finder auszuschalten, während Gbaga versprach, gegen Sie Anklage beim Oni zu erheben und dafür zu sorgen, daß Sie eingesperrt und festgehalten werden.« »Feine Partner!« »Später, in der Nacht, vollführte dann Gbaga plötz lich einen großen Lärm«, berichtete Nimba weiter. »Er schrie, es wären Weiße draußen, die in das Haus eindringen wollten. Daraufhin kam alles aus dem Bangas herausgelaufen. Es gab ein großes Durchein ander, und niemand wußte, was los war. Die Tür wurde von irgend jemand geöffnet, und Gbaga schrie, daß jetzt die Weißen eindringen würden. Beja schoß wiederholt. Dann drückte Gbaga dem Finder der Perlen eine Fackel in die Hand. Kurz darauf fiel ein Schuß, den nur Beja abgefeuert haben kann, und der Diener fiel tot um. Jetzt zieht Beja mit seinen Dienern in den Wald, um die Perlen zu holen.« 176
»Mit Gbagas Diener?« »Nein, mit den Männern, die er mitgebracht hat.« »Sie sind zu Fuß?« »Ja, Sir.« »Wir werden ihnen folgen.« »Ich dachte es mir«, sagte Nimba. »Deshalb be auftragte ich jemand, den Weg der Männer zu beo bachten. Dort im Wald können wir Beja stellen.« »Hoffentlich! Seht eure Waffen nach. Wenn Beja merkt, daß wir ihm folgen, wird er sich in einen Hin terhalt legen.« »Da kann er aber etwas erleben.« Nimbas Vater trat in diesem Augenblick dazu. »Du willst fort?« »Wir kommen wieder. Es ist nur ein Mann in Ebo lokun, den wir sprechen wollen.« »Ich weiß«, sagte der Graukopf. »Nimm dies hier.« Nimba blickte überrascht auf, als ihm sein Vater ein abgegriffenes, dreieckiges Elfenbeinplättchen hinhielt. »Ein Juju? Was soll ich damit?« »Nimm es an dich. Ich habe es in meiner Jugend auch getragen, und es ist mir nie etwas geschehen.« Nimba nahm das Plättchen und steckte es in seine Brusttasche. »Wie du es wünscht. Aber mir geschieht so leicht nichts.« 177
»Es ist besser.« Nimba nickte nur. Er wollte sich mit seinem Vater nicht über den Wert eines Juju, eines Talismans, streiten. * Der hochstämmige dunkle Urwald atmete eine ge wisse Feierlichkeit. Das lag wohl an den kleinen Lichtungen, auf denen winzige, ruinenhafte, von Op ferschalen umgebene Tempelhütten standen, ferner an den Steinfiguren, die altersgrau und fremdartig aus dem Grün der Schlingpflanzen blickten, und an den Pfaden, die nach allen Seiten durch den Wald führten und früher oder später an einer verborgenen Opferstätte endeten. Die Ehrfurcht und Andacht von Generationen atmete zwischen den Stämmen. An einer schon tief im Innern gelegenen Wegkreu zung, die durch einen zwei Meter hohen dreikantigen Stein markiert wurde, trafen sie auf den Joruben, den Nimba hinter Beja hergeschickt hatte. »Ich habe hier gewartet«, berichtete er. »Sie sind weitergezogen, immer gerade aus.« »Wirklich?« vergewisserte sich Nimba. »Die letz ten Pfade, die zu Lichtungen führen, zweigen doch schon dort vorn ab. Oder sind neue Pfade geschlagen worden?« 178
»Nein. Nur dieser Pfad führt weiter.« »Und endet im Dickicht?« »So ist es. Ihr müßt sie am Ende des Pfades fin den, wenn sie ihn nicht weiter schlagen. Sie haben Cutlaß, die großen Haumesser, bei sich.« »Es ist gut«, sagte Nimba. »Du kannst zurückkeh ren.« Der Jorube verschwand zögernd. Er hätte lieber seine Neugier befriedigt. Hal hatte inzwischen den Dreikantmonolithen nä her in Augenschein genommen. »Ein merkwürdiger Stein, nicht wahr, Sir?« sagte er jetzt. »Zu welchem Zweck wurde er hier mitten im Urwald aufgerichtet?« »Vermutlich hat er früher mitten im Stadtgebiet von Ille Olokun gestanden«, antwortete Sun Koh. »Dieser Urwald war ja einst besiedeltes Stadtgebiet. Der Zweck läßt sich heute wohl kaum mehr bestimmen.« »Es war eine Art Sonnenuhr«, half Nimba aus. »Der Stein soll früher inmitten einer großen kreis runden Platte gestanden haben. Auf der Platte waren sechzehn Striche eingehauen.« »Eine Sonnenuhr? Das wäre eine Erklärung. Aber kommt, wir müssen weiter.« Nimba wandte sich von der Spitze herum. »Wir müssen jetzt vorsichtig sein, Sir. Der Pfad ist schon nach einigen hundert Metern zu Ende. Lange 179
kann es nicht mehr dauern, bis wir sie zu Gesicht be kommen. Mir schien schon vorhin, als hätte ich einen Mann zurückhuschen sehen.« Sie schritten stumm weiter. Der Pfad schlängelte sich in sanften Windungen immer tiefer hinein. Zwei Fuß breit bot er eine feste lehmgelbe Narbe, auf der man sicher gehen konnte. Das war nicht viel. Rechts und links streiften die Männer das verfilzte Gewirr des Unterholzes ab, das über einen Meter hoch den Boden bedeckte. Manch mal bot der Pfad auch in kurzer Kurve um einen der dicken grauen Baumstämme mit den brettartigen, hoch angesetzten Wurzeln herum. Sun Koh befiel plötzlich ein unbehagliches Ge fühl. Dieser Pfad war eine ideale Todesgasse. Wenn dort vorn, gedeckt durch das Dickicht oder eine Brettwurzel, ein Mann mit einem Gewehr stand, konnte er sein Ziel kaum verfehlen. »Noch vorsichtiger, Nimba!« mahnte er deswegen. »Wir müssen die Leute eigentlich hören. Das sieht nach einer Falle aus. Nimm du die linke Seite. Ich werde die rechte übernehmen.« »Ich passe schon auf, Sir«, beruhigte Nimba sorg los. »Hier kenne ich jeden Baum und jeden – Ach tung!« Fünfzig Meter entfernt zuckte es im grünen Ge wirr gelbrot auf. 180
Ein Schuß! Peitschend hallte der Knall nach. Dreifach hallte das Echo der Pistolen. Sie schossen alle drei einen Sekundenbruchteil später, aber nur Sun Koh und Hal warfen sich in den Schutz des Dik kichts. Nimba blieb stehen. »Herunter, Nimba!« befahl Sun Koh. Nimba achtete nicht darauf. Er ratterte sein ganzes Magazin heraus. Fünfzig Meter voraus taumelte ein dunkler Körper über den Pfad. Ein zweiter Schuß fiel nicht, aber Ge räusche ließen darauf schließen, daß sich dort vorn Menschen tiefer in den Wald zurückzogen. Sun Koh erhob sich. Nimba stand noch immer da. Mit dem Aufblitzen des Schusses hatte er sich etwas zur Seite geworfen, um Sun Koh gegen die gefährliche Richtung abzu decken. In dieser Haltung, den Körper leicht vorge schoben, war er verblieben. »Du wirst leichtsinnig, Nimba«, tadelte Sun Koh kopfschüttelnd. »Ein besseres Ziel konnten sich die Kerle nicht wünschen. Ein Glück, daß sie nicht ge troffen haben.« »Sie haben getroffen, Sir. Deshalb kam es nicht mehr so darauf an.« »Nimba?« gab Sun Koh bestürzt zur Antwort. 181
Dann sah er den roten Fleck, der sich auf Nimbas Hemd bildete, und griff schnell zu, um seinen Freund aufzufangen. »Nimba!« rief Hal. »Du wirst doch nicht…« »Nicht so schlimm«, wehrte Nimba ab. »Gut, daß ich das Juju …« Er verlor das Bewußtsein. Sun Koh ließ ihn auf den Boden gleiten und zog das Hemd zur Seite. Der Talisman hatte tatsächlich geholfen. Er hatte das Geschoß nicht abgefangen, aber etwas abgelenkt. Trotzdem sah die Wunde bedenklich aus. »Er ist schwer verletzt«, sagte Sun Koh ernst zu Hal, der mit weichen Knien neben ihm stand. »Wir müssen ihn zurückbringen.« »Das sieht ihm wieder mal ähnlich«, schimpfte Hal mit zittriger Stimme. »Sich ausgerechnet dorthin zu stellen, wo einer hinschielt.« »Lauf zurück und verständige seine Angehörigen. Sie sollen mit einer Bahre kommen. Ich werde Wa che bei ihm halten.« »Ja, Sir, aber – aber wir können doch die Schufte nicht laufen lassen?« »Wir werden sie schon noch fassen«, erwiderte Sun Koh kurz. »Beja kann nur auf diesem Weg zu rück, wenn er sich nicht erst einen neuen Weg bah nen will. Sobald du zurückkommst, brechen wir auf.« 182
Hal rannte los. Als er an der Kreuzung angelangt war, die durch den dreikantigen Monopolithen ge kennzeichnet wurde, fiel ihm ein, daß er kaum ein Wort der Jorubasprache kannte und sich überhaupt nicht verständlich machen konnte. Er lief trotzdem weiter. Noch lange vor der Stadt holte er den Joruben ein, der sie an der Kreuzung er wartet hatte. Hal redete mit Händen und Füßen auf ihn ein. Der Jorube begriff allmählich. Dann begann er zu reden. Es klang genauso, als würde er nicht so bald wieder aufhören. Daraufhin packte ihn Hal lieber beim Arm und zwang ihn, sein Tempo mitzuhalten. Sie erreichten Ife und das Gehöft, in dem Nimbas Angehörige wohnten. Nach einer halben Stunde hatte es Hal geschafft. Im Eilmarsch ging es zurück. Hal trieb an. Er war unruhig geworden und fürchtete, während seiner Abwesenheit könnte ein Angriff auf Sun Koh erfolgt sein. Er atmete auf, als er endlich Sun Koh auf dem schmalen Pfad stehen sah. Sun Koh hob Nimba selbst auf die Bahre und gab den Trägern die notwendigen Anweisungen. Die Träger, alles Brüder und Verwandte Nimbas, setzten sich vorsichtig in Bewegung. Sun Koh und Hal blickten ihnen nach. Als die Tragbahre verschwun den war, straffte sich Sun Koh. »Und nun los, Hal!« 183
Nach fünfzig Metern machten sie schon wieder Halt. Quer über dem Weg lag der Schwarze, den sie hatten fallen gesehen. Es war Gbaga. Nimbas Kugel hatte ihn getötet. Zwei Schritte seitlich lag hinter der Brettwurzel ei nes Riesenbaumes einer der Neger, die Beja mitge bracht hatte. Auch er war tot. »Beja hat jetzt noch vier Leute bei sich«, stellte Sun Koh fest. Hal wies auf das schwere säbelartige Messer, das der Eingeborene an seinem Gürtel hängen hatte. »Wollen wir den Cutlaß mitnehmen? Vielleicht müssen wir uns einen Weg schlagen.« »Wir werden die Wege benutzen, die Beja für uns schlagen läßt. Er hat einige Stunden Vorsprung.« »Falls er nicht abermals in einem Hinterhalt auf uns wartet.« »Vielleicht. Aber dann hätte er auch angreifen können, während ich bei Nimba wartete. Flucht ist wahrscheinlicher. Er haßt mich, fürchtet aber mehr für sein Leben. Solchen Naturen entspricht es nicht, auf einem einmal mißglückten Vorhaben zu bestehen und sich einem gewarnten Gegner zu stellen. Sie ver schwinden lieber und greifen aus ganz anderer Rich tung an.« »Hm, vielleicht finden wir ihn überhaupt nicht mehr.« 184
Sun Koh nickte. »Auch das wäre möglich. Er hat viel Vorsprung. Andererseits muß er sich jedoch erst einen Pfad schlagen. Dabei kommt er nicht schnell vorwärts.« »Er braucht nur eine Verbindung zu einem der vorhandenen Pfade zu schlagen.« »Gewiß, aber erstens wird er die vorhandenen Pfa de nicht kennen, weil er keine Einheimischen mehr bei sich hat, und zweitens müßte er doch auf diesen Pfad zurück, weil das der einzige ist, der so tief in den Wald hineinstößt. Wenn er umgekehrt wäre, hät te ich ihn hören müssen.« »Wir werden die Stelle auf jeden Fall finden, an der er in das Dickicht eingedrungen ist.« Sie gingen schnell vorwärts, wobei sie den Busch voraus scharf im Auge behielten. Die Gefahr war jetzt nicht geringer als vor einigen Stunden. Jeden Augenblick konnte aus dem grünen Gewirr die tödli che Kugel pfeifen. Deshalb hielten sie sich ständig leicht geduckt, so daß ihre Körper durch das fast mannshohe Unterholz möglichst gedeckt wurden. Der Pfad endete an einer verhältnismäßig großen Lichtung, in deren Mitte eine altersgraue Tempelhüt te stand, die über einer halbverwitterten uralten Steinfigur errichtet worden war. Die halbverfaulten grünlichen Holzschüsselchen, die zahlreich herum standen, bewiesen, daß dieses Steinbild noch häufig 185
von Gläubigen verehrt wurde. Das erklärte auch, daß der Pfad so tief in den Wald hineinführte. Sie überquerten die Lichtung nicht, sondern gin gen am Rand entlang. Es wäre unklug gewesen, sich als Zielscheibe auf die Lichtung zu begeben. Ihre Vorsicht erwies sich als überflüssig. Nichts regte sich ringsum. »Dort, Sir!« flüsterte Hal. Ein aufgeworfener Erdhaufen lag am Rand des Unterholzes. Wenige Meter davon entfernt zeigten frische Schlagspuren und herausgerissenes Lianen gewirr die Stelle an, an der Beja in den unberührten Urwald eingedrungen war. Der neue Pfad stand in stumpfem Winkel zu dem vorhandenen, führte also nicht nach Ife zurück, sondern immer tiefer in den Wald hinein. Sun Koh bückte sich. Neben dem Erdhaufen lagen die Trümmerstücke eins großen Tongefäßes, dessen Innenwände glasiert waren, während die Außenseite kunstvolle Verzierungen zeigte. »Er hat die Aggriperlen ausgegraben«, stellte er fest. »Das ist der Behälter.« »Da muß aber eine Menge drin gewesen sein.« »Er brauchte ja nicht bis obenhin gefüllt zu sein. Wenn doch, dann um so besser für uns. Beja schleppt dann eine Last mit, die ihn nur behindert.« »Der wird an seinen Perlen nicht mehr fett werden«, 186
murmelte Hal grimmig. »Es wird bald Nacht, Sir.« »Wir folgen, solange es geht. Auch für Beja wird es bald Nacht.« »Wir haben nichts bei uns.« »Beja wird auch kein Zelt mit herumschleppen. Eine Nacht im Urwald schadet uns nicht.« Der neue Pfad war nicht mehr als eine Lücke im Unterholz, ein Schnitt, den die Cutlaß der Fliehenden hineingeschlagen hatten. Man konnte ihn nur wenige Meter im voraus verfolgen, so dicht legte sich das Gewirr vor. »Wann werden wir Beja endlich einholen?« fragte Hal ungeduldig. »Er kann nur wenige Kilometer Vorsprung haben. Wir können es in einer Stunde schaffen.« »In zehn Minuten ist es dunkel, Sir.« Sun Koh machte Halt. »Also gut, wir wollen lieber umkehren. Wegen der geringen Zeitspanne lohnt es sich nicht, in den Bäu men zu übernachten.« Hal atmete auf. Er brannte vor Verfolgungswut, aber er wußte auch, was es heißt, im Halbschlaf auf einem Ast zu hocken. Sie erreichten gerade noch die Lichtung, dann fiel die schwarze Nacht über den Wald, und die von Sternen überflimmerte Samtkuppel des Nachthim mels wölbte sich auf. 187
Sie säuberten den Boden neben der ausgeworfenen Grube, verzichteten auf Feuer und Essen und legten sich hin. »Und wenn nun Beja in der Nacht zurückkommt?« fragte Hal. Sun Koh schüttelte den Kopf. »In der Dunkelheit kann er den Pfad überhaupt nicht verfolgen. Außerdem hat er Neger bei sich. Sie hocken wahrscheinlich voller Angst dicht beieinan der und wagen nicht, sich zu rühren. Trotzdem wer den wir abwechselnd Wache halten.« Es wurde eine unangenehme und unruhige Nacht. Nachdem sie die Plage zahlreicher Moskitos stoisch ertragen hatten, wurde der Wald mehr und mehr le bendig. Ein unbestimmtes drohendes Konzert der Geräusche setzte ein. Bald brach irgendwo ein Kör per durch das Unterholz, bald krächzte es in der Fer ne wie Geisterstimmen, bald fauchte der heisere Kehllaut eines Panthers oder schepperte schrill ein unbekanntes Kleintier, Schatten huschten über die Lichtung, glühende Augen starrten Ewigkeiten lang unbeweglich aus der Finsternis heraus. Endlich wurde der Himmel grau. Der Morgenlärm des Urwaldes schwoll mit Affengekreisch, heiseren Trompetentönen, Kollern und Krächzen kurz an, dann war der Morgen da. Durchnäßt, steif und frö stelnd erhoben sich Sun Koh und Hal und drangen 188
von neuem auf dem Pfad vor. Es war, als hätte sich das Dickicht über Nacht frisch verfilzt. Das Vorwärtskommen war schwerer als am Vortag. Die Luft roch faulig wie verwesendes Aas, manchmal aber auch betäubend süß, wenn sich in nahen Astwinkeln leuchtende Schmarotzerblüten zusammendrängten. Der Wald war still geworden, aber sie sahen we nigstens dann und wann einen Vertreter der zahlrei chen Tierwelt. Grünliche und graue Affen pendelten durch die Lianengehänge, ein gespenstisch ausse hendes Baumschuppentier watschelte dicht vor ihren Füßen erschrocken weg, ein langschnabeliger schmalhalsiger Vogel klopfte ungeduldig. Eine grüne Schlange glitt über einen Ast. Einmal ringelte sich ein brauner Faden hastig in das Dickicht hinein. Tau sendfüßler, Würmer und kleines Getier gab es in Massen. Einmal kreuzte die schwärzliche wimmelnde Heerschlange von Wanderameisen. Eine halbe Stunde lang drangen sie vor, dann blieb Sun Koh stehen und lauschte. »Still! Jemand kommt uns entgegen.« Aus der Ferne kamen Geräusche, als ob sich schwere Körper durch den Busch zwängten. »Kopf herunter und Deckung hinter mir.« »Schon dabei, Sir.« Das Unterholz stand hier brusthoch. Sun Koh 189
duckte sich, so daß er gerade noch in die Bäume hi neinsehen konnte, ohne sofort selbst aufzufallen. Minuten vergingen. Endlich tauchten hinter dem Schnürengewirr der Schlinggewächse zwei dunkle Köpfe auf. »Zwei Neger«, hauchte Sun Koh nach hinten. »Und die anderen?« »Nicht zu sehen.« Die beiden Neger schienen sich sicher zu fühlen. Sie redeten sogar laut. »Sie haben sich grüne Büschel an die Stirn gebun den.« »Die Zeichen des Friedens?« »Ja.« Sie warteten ab, bis die Neger näher kamen. Jetzt teilte der erste den letzten grünen Vorhang, der ihn von Sun Koh trennte. »Hände hoch!« befahl Sun Koh. Die beiden stießen gleichzeitig einen schrillen Schrei aus. Sie waren fürchterlich erschrocken und kaum imstande, dem Befehl nachzukommen. Sie zit terten am ganzen Leib. »Komm her!« rief Sun Koh dem zweiten zu, der zu gute Deckung hinter dem ersten hatte und bei ei niger Geschicklichkeit leicht wieder verschwinden konnte. Der Neger drückte sich willig gegen den Busch 190
und preßte den Schnitt der Messer zu einer Lücke aus, die ihm neben seinem Kameraden Platz gab. Die beiden Männer trugen Cutlaß und kurze Mes ser bei sich, aber keine Schußwaffen. Hal untersuch te jedoch für alle Fälle die Taschen in den langen Leinenhosen. Er holte eine ganze Menge ovaler und achteckiger, durchsichtig irisierender Perlen ver schiedener Größe heraus, auf die die beiden Neger teils bestürzt und teils angstvoll starrten. »Aggriperlen«, sagte Sun Koh, als Hal sie ihm zeigte. »Steck sie zurück.« Die Neger atmeten auf, als die Perlen wieder in ih re Taschen fielen. »Was wollt ihr hier?« fragte Sun Koh im Dialekt der Küstenneger, denn die beiden stammten von der Küste. »Gehört ihr nicht zum weißen Mann Beja?« Der eine schielte ängstlich auf die Pistole, die Sun Koh in der Hand hielt und nickte. »Ja, Herr, aber nicht schießen, nicht schießen! Wir gehören nicht mehr zu ihm. Wir sind geflohen!« »Geflohen? Was heißt das?« »Es war eine schreckliche Nacht, Herr«, erzählte der Neger. »Wir haben versprochen, den Massa nach Ife zu bringen, aber wir haben nicht gesagt, daß wir noch weiter mitkommen wollen. Der Massa will nicht nach Ife zurückkehren, sondern einen neuen Weg durch den Wald nehmen, obwohl wir doch kei 191
ne richtige Karawane sind. Da haben wir beide be schlossen, allein zurückzugehen.« »Feine Diener!« zensierte Sun Koh verächtlich. »Hat euch der Massa Beja fortgelassen?« Der Neger grinste. »Er hat uns fortgeschickt. Er will wissen, ob ihm jemand auf diesem Pfad folgt. Wir sollen bis zur Lichtung zurückgehen und ihm dann Bescheid brin gen. Aber wir werden nicht umkehren, sondern nach Ife gehen.« »Und die Perlen in Sicherheit bringen, nicht wahr?« »Auch wir haben sie gefunden, und der Massa konnte nicht alle tragen. Er hat uns auch noch nicht dafür bezahlt, daß wir von Ife aus mit ihm gegangen sind.« »Der Schuft wird von seinen eigenen Leuten ver raten«, murmelte Hal. »Diese Diener sind ihres Herrn würdig.« »Wer hat gestern auf uns geschossen?« fragte Sun Koh. »Der Massa!« »Wir fanden Gbaga und einen von euch.« »Sie haben nur zugesehen. Der Massa hat sich ge rühmt, er würde alle erschießen, die ihm folgen. Er allein hat ein Gewehr. Aber als die vielen Kugeln kamen, floh er, und wir rannten hinterher.« 192
»Jetzt sind noch zwei von euch bei ihm?« »Ja, Herr.« »Werden sie auch noch fliehen?« »Ich weiß nicht, Herr. Der Massa hat ihnen viel Geld versprochen, wenn sie ihn nach Lagos zurück bringen.« »Dieser Pfad führt niemals nach Lagos.« »Der Gewehrträger des Massa kennt einen Weg. Er beginnt auf der anderen Seite des großen Sump fes, und sie wollen ihn morgen erreichen.« »Von welchem Sumpf sprichst du?« Der Neger wies hinter sich. »Dort hinten, nicht weit von hier. Wir kommen von dort.« »Der Wald geht zu Ende?« »Ja, Herr. Keine Bäume und kein Dickicht mehr. Großer, weiter Sumpf mit Hügeln und Baobabs. Dort wartet der Massa.« Sun Koh musterte die beiden, so daß sie unbehag lich von einem Bein auf das andere traten. »Fort mit euch!« Kurze Zeit später hatte sich das Dickicht hinter den beiden geschlossen. * Es war gut, daß sie gewarnt worden waren. Sie wuß 193
ten nun, daß Beja auf die Rückkehr der beiden Neger wartete und daß er sich bereits außerhalb des Dik kichts befand. Als es zwischen den Stämmen vor ih nen licht wurde, gingen sie geduckt und mit größter Vorsicht vorwärts, da es nicht ausgeschlossen war, daß sich Beja unmittelbar am Ende des Pfades be fand. Der Wald war tatsächlich zu Ende. Vor ihnen brei tete sich ein offenes Gelände von rund fünfhundert Meter Durchmesser aus, um das sich der Wald annä hernd kreisförmig herumzog. Auf der anderen Seite trafen die Bäume aber nicht wieder zusammen, son dern ließen eine breite Lücke, durch die man weithin in offenes Gelände sah. Die ganze Lichtung war mit einem baumlosen Ge filz von Schilf und Kraut überdeckt. Der Boden war schon hier am Waldrand weich und pappig und senk te sich noch tiefer. Dann stieg er wieder zu einem flachen dschungelfreien Hügel an, den ein riesiger Affenbrotbaum mit zwei knorrigen Stämmen und ei nem ganzen Geflecht grotesker Sturmwurzeln krönte. In den kahlen Zweigen pendelten die kopfgroßen Früchte gespenstisch an den langen Strippen. In den Wipfelzweigen hingen die Nester von gelben We bervögeln, die schimpfend um den Hügel kreisten. Auf einem weit vorgestreckten Ast hockte ein ein samer Geier. 194
Dort unter dem Baum bewegten sich Menschen. Ein Feuer brannte daneben, ein Neger bückte sich davor. Seitlich saß Beja auf einer der geknickten Wurzeln. »Jetzt haben wir ihn!« frohlockte Hal. »Eben nicht«, gab Sun Koh nachdenklich zurück. »Dieser Hügel ist eine natürliche Festung. Über zweihundert Meter sind es bis dorthin. Wir können mit unseren Pistolen so gut wie nichts ausrichten. Beja aber kann uns mit seinem Gewehr wirkungsvoll unter Feuer nehmen.« »Wir stürmen!« »Das werden wir sein lassen. Der Dschungel ist unpassierbar. Dort führt eine Pfadspur zum Baum hinauf. Damit werden die Möglichkeiten so gut wie erschöpft sein. Allenfalls befindet sich auf der ande ren Seite noch ein Pfad. Beja könnte sich nichts Bes seres wünschen, als daß wir vordringen.« »Dann müssen wir die Nacht abwarten.« »Es genügt zu warten, bis Beja weitermarschiert. Lange wird er dort oben nicht mehr bleiben. Sobald er eingesehen hat, daß seine Leute nicht zurück kommen, marschiert er weiter.« »Wenn er uns nicht vorher entdeckt. Müssen wir ihm nicht den Pfad auf der anderen Seite versper ren?« »Ich werde versuchen, den Pfad zu finden.« 195
»Und wenn einer herunterkommt?« »Dann stelle ihn. Ist deine Sprechdose in Ord nung?« »Ja.« »Gut, wir können also in Verbindung bleiben.« Sun Koh schob sich weiter vor, dann verschwand er tiefgebückt an der Grenze zwischen Dickicht und Dschungel. Hier bestand die einzige Möglichkeit, ohne Haumesser durchzukommen, denn Dickicht und Dschungel griffen nur dünn ineinander über. Und der Boden war immer noch fest genug, um dar auf laufen zu können. Hal wartete. Nach zwanzig Minuten rief ihn Sun Koh an. »Ich habe die Stelle gefunden. Es ist eine Boden schwelle, die hier den Sumpf überbrückt. Beja müßte sich allerdings erst noch einen Pfad durch den Dschungel schlagen. Ist bei dir alles in Ordnung?« »Ja.« »Gut. Ich komme zurück.« Beja und seine beiden Begleiter waren bereits un ruhig geworden, als Sun Koh wieder bei Hal eintraf. »Die Zeit wird ihnen lang«, meinte Hal. »Viel leicht brechen sie bald auf. Müßten wir nicht die an dere Seite sperren?« »Das hat Zeit. Die Neger müssen erst einen Pfad schlagen. Das wird so lange dauern, daß wir rechtzei 196
tig hinüberkommen. Beja hätte gleich meinen Weg nehmen sollen.« »Ich hätte mich an seiner Stelle überhaupt nicht erst dort hinaufgesetzt.« »Vermutlich war er so naß wie wir und wollte sich trocknen, wenn er nicht schon die Nacht dort ver bracht hat. Es ist aber nicht ausgeschlossen, daß er herunterkommt und doch noch den Weg am Dschun gel entlang nehmen will. Deshalb kam ich lieber zu rück.« Sie schwiegen eine Weile und beobachteten, wie Beja auf und ab ging und immer wieder zum Wald rand starrte. »Achtung!« Einer der Neger kam den Hügel herunter. Auf hal bem Weg blieb er stehen und stieß einen Ruf aus. Er lauschte und setzte dann seinen Weg fort. Sun Koh und Hal warteten reglos. Endlich hatte er die Schilfzone durchschritten und die Pfadmündung erreicht. Wieder legte er die Hände an den Mund und rief langgezogen in den Wald hin ein. Sun Koh erhob sich einen Meter von ihm entfernt. »Du rufst vergebens.« Der Schwarze fuhr zusammen und schrie gellend auf. Hal preßte ihm zu spät die Hand auf den Mund. »Sei still!« befahl Sun Koh. 197
Der Neger wagte nicht, sich zu rühren. Am Affenbrotbaum hatte man den Schrei gehört. Beja und der andere Neger reckten die Köpfe. Dann riefen sie etwas herüber, das unverständlich blieb. Sie sahen keinen der drei am Waldrand, obgleich sie sich schon fast außerhalb des Dickichts befanden. Es war eben schwer, in diesem Gewirr über zweihundert Meter Entfernung hinweg ein Lebewesen zu be stimmen, das sich nicht bewegte. »Ruhig stehenbleiben«, mahnte Sun Koh noch ein mal. »Du riefst nach den beiden, die ihr zurückge schickt habt?« »Ja, Herr«, murmelte der Neger. »Wir haben sie getroffen. Sie hielten es für besser, mit den Taschen voll Perlen nach Ife zurückzukehren, als sich hier durch den Wald zu schlagen. Sie sind nach Ife gegangen und werden nicht wiederkommen.« Der Schwarze rollte mit den Augen. »Nach Ife ge gangen?« flüsterte er. »Diese Schufte! Und wir…« Er machte eine lange Pause, in der er sichtlich nachdachte. Dann begann er zu betteln: »O Herr, großer Massa, laß mich auch laufen. Ich will auch nach Ife gehen. Massa Beja wird sehr zornig sein, wenn die beiden nicht zurückkommen. Zu dritt kommen wir nicht weiter. Wir sind zu wenig.« Sun Koh erwiderte nichts. Er sah ein, daß eigent lich nichts anderes übrigblieb, als den Neger nach Ife 198
zu schicken. Der fürchtete jedoch offenbar etwas an deres, denn er wechselte seine Taktik. »Oder ich kann auch zu Massa Beja zurückge hen«, flüsterte er geheimnisvoll. »Der Massa hat ge schossen. Er soll dafür bestraft werden. Darum hat er so große Angst. Ja, ich werde zurückgehen und mit meinem Kameraden Ikerre sprechen. Wir werden Massa Beja überfallen und fesseln und …« »Schweig!« unterbrach ihn Sun Koh. »Solches Gesindel wie euch beide brauche ich nicht, um ihn zu fangen. Verschwinde nach Ife und laß dich nicht wieder sehen.« Der Neger zog den Kopf ein und verschwand. Beja schoß. Als sich nichts rührte, benahm er sich so dumm, wie sich nur ein Mensch benehmen konnte, der we der Wald noch die Seele des Negers kennt. Und er benahm sich zugleich so gemein, wie es seinem Charakter entsprach. Er war sich offenbar nicht sicher, ob sein Bote ei nem wilden Tier oder einem Verfolger zum Opfer gefallen war, obgleich ihm sein letzter Begleiter ge sagt haben mußte, daß es kein Tier gewesen sein konnte. Seine Lage zwang ihn, nach dem Rechten zu sehen. Das tat er auch, aber er schickte den letzten Neger vor sich her. Vermutlich hatte der keine Lust, denn Beja legte das Gewehr auf ihn an und zwang 199
ihn damit, ein Stück vor ihm her durch den Dschun gel zu gehen. Beja deckte sich hinter dem Körper des Schwarzen oder glaubte wenigstens, sich zu decken. Damit aber verlor er den letzten Gefolgsmann. Ein Mann, den man mit der Waffe in der Hand zwingt, Kugelfang zu spielen, ist nicht mehr geneigt, Wegbereiter, Schutz und Gefährte auf Urwaldwanderung zu sein. Doch so weit reichten Bejas Überlegungen nicht. Er trieb den Neger vor sich her. Fünfzig Meter vom Waldrand entfernt hockte er sich hinter die Schutz wand des Schilfes und ließ den Schwarzen allein vorgehen. Die Folgen waren vorauszusehen. Der Neger ging noch zehn Meter weiter, dann winkelte er die Arme nach vorn und zeigte der unbekannten Gefahr die of fenen Handflächen. Er stammte ja von der Küste und wußte, daß dieses »Hände hoch« genügen würde, wenn sich Weiße im Dickicht verbargen. Beja konnte es nicht sehen, da der Dschungel hoch genug war. Die Geste der Unterwerfung genügte. Sun Koh und Hal ließen den Neger näherkommen. Der Schwarze hatte entsetzliche Angst. Hinter ihm konnte in jedem Augenblick das Gewehr knallen, und vor ihm war es sicher nicht weniger gefährlich. Seine Augen rollten wildspähend hin und her, wäh rend sein Gesicht von der Angst verzerrt war. 200
Jetzt verließ er den Schilfgürtel und betrat den Pfad in das Dickicht. »Hallo?« rief Beja hinter ihm her. »Was ist denn?« Da war es mit der mühsam bewahrten Haltung vorbei, zumal die Neger im gleichen Augenblick vor sich Sun Koh und Hal bemerkte. »Nicht schießen!« schrie er auf, duckte sich an Sun Koh vorbei und rannte weiter in den Pfad hinein, so schnell es das Gewirr erlaubte. Beja begriff. Er brüllte einen Fluch hinter dem Flüchtigen her und schoß. Die Kugel schlug klat schend in einen Stamm. Sun Koh schoß eine Winzigkeit später zurück. Beja heulte auf und verschwand im Dschungel. »Getroffen, Sir?« »Vermutlich, die rechte Schulter muß es sein. Er kann sicher das Gewehr nicht mehr benutzen.« »Er zieht sich zurück.« Sun Koh trat ein Stück vor. »Beja!« Die Bewegung im Dschungel hörte auf. »Sie können mich verstehen, Beja. Wollen Sie sich zum Kampf stellen?« Die Antwort kam gleich darauf. Eine Kugel pfiff dicht an Sun Kohs Kopf vorbei. Sun Koh nahm Deckung. »Er schießt noch mit dem Gewehr«, stellte Hal fest. 201
»Das Schilf wird meine Kugel abgelenkt haben. Wir müssen also doch schießen. Wenn er bis zum Baum zurückkommt, ist er uns überlegen, solange er das Gewehr benutzen kann.« Beja schoß auch. Er belegte das Waldstück mit ei ner ganzen Salve, doch die Kugeln richteten keinen Schaden an. Dann blieben Bejas Schüsse ebenso aus wie das zitternde Schwanken der Schilfhalme. Sun Koh und Hal warteten. »Er ist tot«, flüsterte Hal. »Oder er will uns überlisten.« Da horchten sie auf. Von hinten näherten sich Ge räusche. »Sollten die Neger zurückkehren?« »So haben die nicht ausgesehen.« »Bleib liegen. Ich gehe zurück.« Vier Neger kamen durch den Wald. Es waren aber nicht Bejas Begleiter, sondern ein Bruder von Nimba mit drei anderen, die Sun Koh nicht kannte. »Wir dachten, wir könnten dir helfen, Herr«, sagte Nimbas Bruder. »Deshalb brachen wir auf.« »Danke«, sagte Sun Koh bewegt. »Ich brauche euch aber nicht. Wartet hier und bewegt euch nicht, damit ihr nicht in Gefahr kommt.« Er kehrte zu Hal zurück und verständigte ihn. »Beja hat sich noch nicht wieder gerührt«, berich 202
tete dieser. »Dann wollen wir sehen, was los ist.« Sun Koh trat ein Stück vor und erhob sich, so daß er für Beja sichtbar werden mußte. Im Dschungel blieb es still. »Er ist kampfunfähig. Komm!« Sie gingen in den Dschungel hinein. Da lag Beja zusammengekrümmt in einer morastigen Lache. Er war tot. Sun Koh untersuchte den Toten. Der rechte Hand ballen war stark geschwollen, ebenso das Handge lenk. Dunkle Linien zogen sich unter der geröteten Haut aufwärts. »Hier ist es. Beja wurde von einer Schlange gebis sen.« »Schlangenbiß? Und gleich tot?« »Vielleicht ist er schon beim Vorgehen gebissen worden und hat es in der Aufregung nicht genügend beachtet. Ruf die Joruben!« Sie kamen hinter Hal aus dem Dickicht heraus, starrten auf den Toten und besprachen wortreich die Angelegenheit. Sun Koh machte dem Palaver ein Ende. »Wir wollen ihn begraben. Ihr zwei werdet mit eu ren großen Messern am Waldrand eine Grube aushe ben. Ihr beiden anderen lauft nach Ife zurück und mel det, daß wir in einigen Stunden ebenfalls kommen.« 203
Die beiden verschwanden. Eine Stunde später traten die beiden Totengräber die Erde auf Bejas Grabstätte fest. * Sun Koh und Hal fielen ganze Berge vom Herzen, als sie bei ihrer Rückkehr nach Ife hörten, daß Nimba zwar schwer verletzt war, aber nicht mehr in Lebens gefahr schwebte. Sie hatten allerdings Mühe, an Nimba heranzukommen. Erst mußten sie die halbe Verwandtschaft, zwei einheimische Medizinmänner und einen Zauberer hinaustreiben, bevor sie an sein Lager treten konnten. Nimba war bei Bewußtsein. Er grinste sogar küm merlich. »Ist nicht so schlimm, Sir. Haben Sie Beja er wischt?« »Er ist tot«, sagte Sun Koh, während er die dicken Verbände aus Blättern musterte, die Nimbas Wunde bedeckten. »Wie fühlst du dich?« »Gut«, behauptete Nimba. »Das Geschoß ist her aus. Ich habe nur ein bißchen Blut verloren.« »Es wäre besser, du würdest von richtigen Ärzten behandelt werden«, meinte Sun Koh. »Nein, Sir«, widersprach Nimba. »Unsere Leute machen gern Theater, aber sie verstehen sich auf 204
Wunden. Und es ist besser, wenn ich einige Tage ru hig liegen bleibe.« Sun Koh überlegte. Nimba konnte durch einen Transport gefährdet werden, und bei seiner kräftigen Natur war Ruhe sicher das Beste. »Also gut«, entschied er. »Du bleibst hier, aber nicht nur einige Tage, sondern bis zu deiner Aushei lung. Auf diese Weise kannst du gleich einen Urlaub bei deinen Angehörigen verleben.« »Danke, Sir«, murmelte Nimba. »Aber vergessen Sie nicht, Hal an die Leine zu nehmen, sonst macht er lauter Dummheiten.« »Gemeinheit!« protestierte Hal. »Schließlich bin ich es, der immer auf dich aufgepaßt hat wie eine Henne auf ihr Küken. Überhaupt – das ist die Tour, die ich so liebe. Sich anschießen zu lassen, damit ein Urlaub bei der lieben Familie herausspringt! Du wirst deinen Leuten Lügengeschichten erzählen, daß ihnen die Augen übergehen.« »Von dir«, konterte Nimba grinsend. »Ich werde ihnen erzählen, daß du ein feiner Mann bist.« Dann schlief er unversehens ein. Sun Koh ging mit Hal hinaus. Draußen sprach Sun Koh eindringlich mit Nimbas Vater und machte ihm klar, daß Nimba vorläufig keine Verwandten um sich herum brauchte, die mit ihrem Lärm die bösen Geister vertrieben. Nimbas Vater begriff allmählich und versprach Sun 205
Kohs Anordnungen zu befolgen. Am nächsten Tag verließ Sun Koh zusammen mit Hal die Stadt. Er konnte nichts weiter für Nimba tun. Die gefährliche Lücke in seiner Organisation, die durch den Verlust der Papiere entstanden war, klaffte noch immer. Wieder in Lagos. Beja hatte die Filme nicht bei sich getragen, also war es möglich, daß er sie bereits in Lagos weiterge geben hatte. Also mußte der Mann gefunden werden, der sie erhalten hatte. Sie vermuteten, daß Oduscha der Verbindungs mann war, deshalb versuchten sie, ihn zu stellen. Oduscha war jedoch nicht zu finden. Er hatte Lagos einige Tage zuvor verlassen. Seine Diener behaupte ten, seinen Aufenthalt nicht zu kennen. Dann versuchten sie es mit Almeida. Sie telegra fierten nach Monrovia. Wie sie befürchtet hatten, er fuhren sie, daß sich Almeida eingeschifft habe. Er befand sich auf der Fahrt nach England. Immerhin ließ die Auskunft eine gewisse Hoff nung. Sie konnten Almeida auf dem Schiff oder am Ziel stellen. Mit dem Flugzeug kamen sie noch vor Almeida nach England. Der Zeitpunkt des Abflugs war schon festgesetzt, als sie einen außerordentlich wichtigen Hinweis er hielten. 206
Loalo, der Jugendgefährte Nimbas, der im Haus von Oduscha diente, kam zu Sun Koh. »Ich hörte, daß Sie zurückgekommen sind, Herr«, sagte er. »Kann ich meinen Freund sprechen?« »Nimba?« »Ja.« »Er ist verwundet worden und in Ife geblieben.« Loalo blickte bekümmert. »Dann war es doch richtig, als man mir erzählte, er sei nicht zurückgekommen. Ja, dann – verzeihen Sie, Herr.« »Warte«, bat Sun Koh. »Du hast doch gehört, daß ich bei deinem Herrn Oduscha war. Ist es richtig, daß er sich nicht in Lagos aufhält?« Der Neger nickte. »Ja, es ist richtig. Er fuhr von einigen Tagen nach Lome, um dort Geschäfte zu erledigen.« »Nicht, weil er vom Tod des weißen Massa Beja hörte?« »Davon wird er noch nichts wissen, Herr. Es wird ihn auch nicht sehr kümmern.« »Oduscha wollte aber viel für ihn tun.« »Er erhielt eines Tages Nachricht aus Ibadan vom Sohn des Bali. Sie machte ihn sehr ärgerlich. Er schimpfte über die Weißen und besonders über Beja, weil ihn der betrogen und mißbraucht hätte. Oduscha ist kein Freund von Beja mehr.« Sun Koh überlegte. 207
»Hm, er ist also nach Lome gereist. Hast du zufäl lig bemerkt, daß Beja deinem Herrn Papiere oder Filme gegeben hat?« Sun Koh stellte die Frage, ohne sich viel zu erhof fen. Er war überrascht, als Loalo plötzlich geheim nisvoll tat. »Papiere oder Filme? Oh, ich weiß, was Sie meinen, Herr. Oduscha hat sie nicht, aber Beja hat über sie ge sprochen, als er bei Oduscha war. Er hat wichtige Pa piere einem anderen Mann gegeben. Es ist Mr. Mon trell, der im vorletzten Haus an der Marine wohnt.« »Ein Engländer?« »Ja, Herr. Er besitzt Faktoreien.« »Du hast dich bestimmt nicht verhört?« »Nein, Herr.« Loalo zog hochbefriedigt ab. Sun Koh hatte ihm für die wichtige Nachricht mit einem Geldgeschenk gedankt. Die Abreise wurde verschoben. Sun Koh besuchte den Klub, in dem sich die Weißen zu treffen pfleg ten. Einer der Männer, die er früher in Lagos ken nengelernt hatte, führte ihn ein. Montrell war anwesend. Er entsprach in keiner Weise der Vorstellung, die sich Sun Koh von ihm gemacht hatte. Er sah nicht so aus wie ein Mann, dem man eine Verbindung mit Beja zutrauen konnte. Er war ein beweglicher älterer 208
Herr mit angenehmen und klugem Gesicht, dem man schwerlich dunkle Handlungen unterstellen konnte. Außerdem besaß er den besten Ruf. Montrell verhielt sich auch nicht wie ein Mann, den ein schlechtes Gewissen plagt oder der etwas zu verbergen hat. Er unterhielt sich liebenswürdig mit Sun Koh, und als dieser das Gespräch auf Beja brachte, ging er willig darauf ein. »Ich hörte bereits, daß er in Ife gestorben ist«, sag te er mit einer Unbefangenheit, die kaum gespielt sein konnte. »Nun, ich kannte ihn so einigermaßen. Viel hat die Welt nicht an ihm verloren.« »Sie scheinen nicht gerade sein Freund gewesen zu sein. Das ermutigt mich, Ihnen eine Frage zu stel len, an deren Beantwortung mir sehr viel liegt. Ich brachte das Gespräch nicht zufällig auf Beja. Hat er Ihnen irgendwann einmal Dokumente oder Filme oder Kopien von Dokumenten übergeben?« Montrell hob die Brauen. »Hm, ich dachte mir schon, daß Sie eine Absicht verfolgten. Was ist mit den Dokumenten?« »Hörten Sie zufällig von dem Mord, der in Mon rovia begangen wurde?« Der Engländer nickte. »Natürlich. An der Küste reisen solche Nachrich ten schnell.« »Der Mörder war Beja. Er hat gleichzeitig wichti 209
ge Papiere geraubt. Die Papiere bekam ich wieder, aber sie waren fotografiert worden. Die Filme habe ich noch nicht erhalten können. Nun hörte ich zufäl lig, Beja selbst hätte Ihren Namen als den des Man nes genannt, der sie erhalten hat.« »Von Beja selbst?« »Nein, von einem anderen, der eine Unterhaltung Bejas belauschte. Beja verriet mir nur, daß sich in Lagos ein Verbindungsmann seiner Auftraggeber be findet, dem er die Filme übergeben hat. Ich stellte mir allerdings diesen Verbindungsmann anders vor.« Montrell blickte eine ganze Weile auf seine Schuhspitzen. Dann hob er den Kopf und sagte ent schlossen: »Also gut, reden wir offen darüber. Ich bin natürlich kein Verbindungsmann in dem Sinne, wie Beja das vielleicht andeutete. Richtig ist nur, daß ich von gewisser Seite gebeten wurde, Beja zu unter stützen, falls er mich darum angehen sollte.« »Sie besitzen die Filme?« Montrell nickte. »Und wie wollen Sie beweisen, daß es sich um Ihr Eigentum handelt?« »Wenn die Filme entwickelt sind, kann ich Ihnen für jeden beliebigen Ausschnitt die dort stehenden Chiffren angeben.« »Ein brauchbarer Vorschlag. Fahren wir also zu mir.« 210
Zwei Stunden später ging ein Filmstreifen in Flammen auf. Damit war die Lücke geschlossen. Kein Unberu fener konnte mehr erfahren, welche Anweisungen Sun Koh für den Tag X gegeben hatte. ENDE Bitte beachten Sie die Vorschau auf der nächsten Seite.
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Als SUN KOH-Taschenbuch Band 34 erscheint:
Telenergie
von Freder van Holk Auf einer kleinen Insel im Atlantik überschneiden sich die Jahrtausende. Während in einer geheim nisvollen Höhle die Gräber atlantischer Herr schergeschlechter entdeckt werden, vollendet Robert Dünn die Erfindung seines Lebens: die drahtlose Übertragung von Kraftstrom. Hier wie dort greift Sun Koh ein, um die Vergangenheit wie die Zukunft von Atlantis, seinem Erbe, zu si chern. Die Solfatoren rauchen nicht mehr, ein si cheres Zeichen, daß sich der Boden des Atlantik in Bewegung befindet. Sun Koh muß verhindern, daß seine mächtigen Gegner neue Machtmittel in die Hand bekommen. Regierungen umwerben den jungen Dünn, ein Samuel Wynner jagt hinter der Erfindung her, und viele schrecken auch vor Entführung und Mord nicht zurück. Robert Dünn entfacht mit seiner Erfindung einen Wirbel, der alles zu verschlingen droht. SUN KOH-Taschenbücher erhalten Sie monat lich neu im Zeitschriften- und Bahnhofsbuch handel.