Das neue Abenteuer 498
Heinz Beck: Montags Schließtag
Verlag Neues Leben, Berlin
V 1.0 by Dumme Pute
Mit Illustrat...
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Das neue Abenteuer 498
Heinz Beck: Montags Schließtag
Verlag Neues Leben, Berlin
V 1.0 by Dumme Pute
Mit Illustrationen von Karl Fischer ISBN 3-355-00759-5 © Verlag Neues Leben, Berlin 1988 Lizenz Nr. 303 (305/115/88) LSV 7503 Umschlag: Karl Fischer Typografie: Walter Leipold Schrift: 9 p Timeless Gesamtherstellung: (140) Druckerei Neues Deutschland, Berlin Bestell-Nr. 644 515 2 00025
I.
War etwas zu erledigen, traf es Leutnant Groß meist zuerst. Martha, Raumpflegerin in den Räumen der Einsatzgruppe, lauerte wenigstens einmal in der Woche Groß auf, um Anzeige bei ihm zu erstatten. Nur Groß besaß ihr wohlwollendes Vertrauen. Was zeigte sie an? Unbekannte Täter hätten in ihrer Wohnung im Radiogerät die Röhren ausgetauscht. Oder da lagen von unbekannten Tätern benutzte, mit Marmelade beschmierte Messer auf dem Küchentisch. Und, und . Jede Woche etwas Neues. Groß verstand es immer wieder, die noch rüstige siebzigjährige Frau zu trösten, auch wenn es ihm schwerfiel. Nun kamen Meldungen ähnlicher Art von VP-Revieren der Berliner Stadtbezirke Friedrichshain und Prenzlauer Berg. Und Groß meinte dazu: "Die, die so was anzeigen, sollten besser zum Psychiater gehen als zur Polizei, allesamt!" II.
Auch Oberleutnant Grüner las den täglichen Lagebericht. Er suchte in dem mehrseitigen Bericht nach einem Ansatz, um notwendige Maßnahmen koordinieren, einen Schwerpunkt erkennen oder die eigene Arbeit organisieren zu können. Dabei fand er, wie vor ihm Leutnant Groß, folgende Meldung: "Nachschlüsseldiebstahl zum Nachteil der Rentnerin Margarete F. in Prenzlauer Berg." Gestohlen wurden, so der Bericht, aus ihrem Küchenschrank ein Trauring, eine Brosche und 250 Gramm Bohnenkaffee. Die Rentnerin hatte, als sie von einem Einkauf zurück-
kehrte, die Wohnungstür nicht mehr wie von ihr verschlossen, sondern nur im Drücker eingeklinkt vorgefunden. "Das greift scheinbar um sich", meinte Grüner zu Groß. "Soll sich mal die Revierkripo damit amüsieren. Mir reicht Martha. Tatsache!" Groß konnte Grüner beruhigen. Dann, in der nächsten Woche, runzelte Grüner beim Lesen des Tagesberichtes bereits die Stirn. Neben anderem gleich zwei solche Fälle von Anzeigen. Eine wieder in Prenzlauer Berg: 30 Mark, entwendet aus einem Küchenschrank, und eine Armbanduhr. Die zweite kam aus Friedrichshain: Aus einem Wäscheschrank wurden ein Badeanzug und ein Fünfzigmarkschein gestohlen. Entdeckt wurden beide Diebstähle übereinstimmend, weil die Wohnungsinhaber nach Rückkehr in ihre Wohnungen die Wohnungstüren nicht mehr abgeschlossen, sondern nur im Drücker eingeklinkt vorgefunden hatten. Und das war aufgefallen. War das nun noch eine Angelegenheit der örtlichen Kripo? Egal. Mochten die damit zu Rande kommen. Doch eine unbestimmte Vorahnung bedrängte ihn. Übrigens, gänzlich abschalten konnte Grüner nicht. Das Telefon rief. "Hier Torsten! - Genosse Grüner, komm mal rüber!" Grüner hörte schon am Ton, daß Hauptmann Torsten einen Auftrag für ihn hatte. Er ging zu ihm. "So ist die Lage", knurrte Torsten. "Nachschlüsseldiebstähle. Drei bis jetzt. Gehören zusammen." Und er nannte die Bezirke. Mit einem Seitenblick sagte er darauf: "Hast du das nicht gelesen, oder was?" Torsten war ungehalten. Er kam eben aus der "Morgenandacht", wie die morgendliche Lagebesprechung beim Leiter der K, Oberst Leverenz, allgemein genannt
wurde. "Groß und ich, wir beide waren der Meinung .", begann Grüner zögernd. "Komm mir jetzt nur nicht damit, das wären Lappalien", unterbrach ihn Torsten grob. "Ich weiß, was es mit unserer Arbeit auf sich hat." Torsten rückte an seiner Brille. Ein Zeichen der Unzufriedenheit. "Die Genossen von den Revieren sind schon dran. Geh, leite sie an. Und stelle fest, was für Diebstähle das sind." Torsten lehnte sich in seinen Stuhl zurück. Mit gerunzelter Stirn blickte er eine Weile ins Leere, ehe er fortfuhr: "Noch eins: Es darf keine Unruhe in der Bevölkerung geben. Gerade jetzt nicht! Seit die Grenze nicht mehr offen ist, geht die Kriminalität sprunghaft zurück. Du weißt das. Die Sache muß untersucht werden, und zwar von uns. Wir müssen jetzt auch an kleinen Sachen dranbleiben. Klar? Also los!" Grüner schwieg. Widerspruch war sinnlos. Das hatte er nun davon, daß er auf Groß gehört hatte. Blöde Geschichte. Schon an der Tür angekommen, drehte er sich nochmals um. "Sollte man nicht eine Zeitungsnotiz .?" "Einverstanden. Aber ohne Panikmache. Aufforderung an die Bürger, sich zu melden und so. Das erledige ich. Und was Groß angeht, mit dem rede ich. Er wird dir vorerst die Sache mit diesem Angersbach vom Milchhof abnehmen. Was hast du sonst noch am Hals?" Grüner winkte ab und ging in sein Zimmer zurück, hängte das Jackett über die Stuhllehne, machte sich an die Arbeit. Er war ein großer Pedant. Das hatte mitunter seine Vorteile, obwohl einige darüber spotteten, zum Beispiel Groß. Und Hauptmann Torsten wußte das. Auch was die Unterlagen zu seinen Vorgängen betraf, war er sehr peni-
bel. Niemals vergaß er, alle in einer Sache ermittelten Details gewissenhaft zu protokollieren. Die ungehinderte Weiterarbeit durch einen anderen war zu jedem Zeitpunkt gewährleistet. Groß konnte kommen. Grüner war bereit. III.
Drei Tage war von dem Oberleutnant im Präsidium nichts zu hören, nichts zu sehen. Das war normal. Er hatte ja einen Auftrag. Grüner fühlte sich wohl in seinem Beruf. Nichts beeinträchtigte dieses Gefühl. Nicht das Umherlaufen. Nicht die ständig neuen Fälle, besonders wenn einer den anderen jagte. Die Zeitungsnotiz war schon am selben Tag in der Mittagsausgabe der "Berliner Zeitung" erschienen. Torsten hatte sie veranlaßt. Bis zum dritten Tag nach dieser Meldung waren bereits dreizehn Bürger in den VP-Revieren erschienen, um Mitteilung zu machen. Die meisten von ihnen sprachen über das unverständliche Verschwinden von Schmuck oder Geld. Bei drei oder vier Anzeigen blieb es fraglich, ob sie mit den zu untersuchenden Fällen in Verbindung gebracht werden konnten. Grüner mußte alle Hinweise systematisch überprüfen. Das erforderte, daß er tagsüber ohne Pause unterwegs war. Er trabte von einem Revier in Prenzlauer Berg zum anderen nach Friedrichshain. Und das mehrmals. Am Morgen des dritten Tages traf er dabei auf seinen ersten Zeugen. Der Wachhabende des VP-Reviers 91 in der Müggelstraße meldete ihm einen Bürger, der zur Kripo wollte. Zu ihm herein kam ein großer, dürrer, aber sorgfäl-
tig gekleideter Mann. Sein Schritt, die Runzeln in seinem Gesicht verrieten das Alter. Mit hellen, lebhaften Augen ergriff er Gruners Hand und stellte sich vor: "Paul Brentin! - Ich komme wegen der Zeitung", sagte er, beugte sich vor und hielt Grüner eine "BZA" entgegen. "Ich wohne in der Gürtelstraße, Hinterhaus, zwei Treppen, das Klo eine halbe Treppe tiefer", begann er unaufgefordert.
Der Oberleutnant hörte geduldig zu. In Brentins Gesicht huschten die von tausend Fältchen umgebenen Augen unruhig hin und her. "Im Hinterhaus habe ich sie gesehen. Mit eigenen Augen. Jetzt, da es hier in der Zeitung steht, weiß ich's genau!" Er schwenkte seine "BZA" vielsagend in der Luft. "Sie war das, das Luder,, bestimmt!" "Sie, Mehrzahl, oder sie, Einzahl? Wen haben Sie gesehen?" forschte Grüner deshalb, den Alten bremsend. Brentin blinzelte schlau und triumphierte: "Na wen schon? Die Diebin! Wen sonst? Direkt vor mir ."
"Nun mal der Reihe nach, Herr Brentin!" versuchte Grüner das Gespräch in die richtigen Bahnen zu lenken. Doch Rentner Brentin nickte schon eifrig und kam sofort wieder auf Touren: "Hinterhaus. Zweite Etage. Küche und Durchgangszimmer und Klo ." "Das sagten Sie schon." Mein Gott, das kostet Mühe, den Alten zum Kern der Sache zu führen, dachte Grüner und mahnte: "Die Frau. Was war mit der?" "Die Frau", nahm Brentin den Faden auf. "Das war so: Ich saß gerade auf dem ." Er machte eine andeutungsvolle Pause. "Ich verstehe", Grüner stöhnte, "eine halbe Treppe tiefer." Er zwang sich zum Zuhören. Der Alte ließ sich nicht bremsen. "Sprechen Sie sich ruhig aus. Bei mir können Sie das", sagte er hintergründig. "Also auf dem Örtchen", hastete Brentin wieder los, "da hörte ich Schritte die Treppe hochkommen. In der zweiten Etage blieben sie stehen. Nanu, denke ich. Will da einer zu dir? Also die Hosen hoch und raus. Und was sehe ich? Da steht doch beim Nachbar Siebert eine Frau an der Tür und fummelt am Schloß rum. Nanu, denke ich, was macht denn die? Die aber, als sie mich kommen hört, Hand vors Gesicht und husch an mir vorbei. Weg war sie, ehe ich mich besinnen konnte. Ich in Hemd und Hose und Pantoffeln ." Während Brentin weiter nach Worten suchte, unterbrach ihn Grüner. Es war Zeit, die Gesprächsführung in die Hand zu nehmen. "Wann war denn das?" "Vormittags. Um halb zehn. Ich wollte gerade ." "Den Tag meine ich, das Datum. Wissen Sie das noch?" "Tag? Datum?" Brentin legte die Stirn in Falten, begann an vorgestreckter Hand die Finger herumzubiegen. Beim
Mittelfinger sagte er plötzlich: "Montag war das, Montag. Die Julirente gab's nachmittags." Was konnte er dem Alten noch entlocken? Auf jeden Fall eine umfassende Personenbeschreibung. Grüner blickte aufmerksam in die huschenden Augen des Alten und sagte unvermittelt, dessen Monolog beendend: "Wie sah die Frau aus? Größe - Kleidung - Haare? Alles, was Sie wissen, und so genau wie möglich." Brentin schwieg überrascht und starrte, seine Hände um die Knie geschlungen, eine Weile ins Leere. Dann schüttelte er den Kopf. "Größe? Tut mir leid. Auf der Treppe, nee, schwer zu sagen. Jedenfalls nicht größer als ich ." "Und die Kleidung?" "Ja! Einen Nylonmantel hatte sie an, einen braunen. Der raschelte wie Papier. Aber sonst . Das ging alles so schnell, ich konnte ja nicht ." "Gar keine Merkmale? Nichts Besonderes?" bohrte Grüner interessiert. Der Alte konnte nicht antworten. Wie oft mochte das in seinem Leben schon vorgekommen sein. "Ich habe sie doch bloß von hinten .", murmelte er und sprang im selben Augenblick auf. "Ich weiß noch was! Ja, ich weiß noch was!" "Langsam, Herr Brentin! Immer mit der Ruhe", lenkte Grüner ein. "Die Haare hinten", sprudelte der Mann wieder los, "die waren hinten so dünn. Die Kopfhaut schimmerte durch wie bei einer Glatze. Fade blond, mehr dunkelblond." Munter nahm Brentin wieder Platz. Seine Aussage war noch zu protokollieren. Schließlich verabschiedete sich Grüner von dem unermüdlich redenden Alten: "Gut, gut, Herr Brentin. Wir sehen uns bestimmt wieder. Sie haben uns sehr geholfen. Wie? - Ja, ja! Auf Wiedersehen!"
IV.
Es ging dem Wochenende zu. Dringend fällig war nun die Abfassung eines Untersuchungsplanes. Schritt für Schritt die Stille beendend, ging Torsten zum Schreibtisch, stülpte die Brille tiefer auf die Nase und sagte knapp: "Also beginnen wir. Genosse Grüner, bitte!" Grüner stand ein wenig unter Zeitdruck. Erst unterwegs zum Amt hatte er alles durchdacht, wie er beginnen, was er vorschlagen wollte und so. Langatmiges Geschwafel, das wußte er, konnte der Hauptmann nicht ertragen. Grüner ließ sich jedoch - in der ihm eigenen pedantischen Art - nicht von seiner festgelegten Absicht abbringen. Er hatte eine Vergleichsreihe angelegt, die er seiner Mappe entnahm und vor Torsten ausbreitete. Dabei sagte er: "Insgesamt sind bisher siebzehn Fälle, genauer sechzehn und ein Versuch, zur Anzeige gekommen. Zu dem Versuch sage ich später noch etwas." Torsten schwieg. "Die Tatorte", erklärte Grüner weiter, "liegen ausschließlich in alten Wohngebäuden mit einfachen Türschlössern, die man mit einem Haken leicht aufschließen kann. Das Stehlgut besteht zusammengefaßt bisher aus fünf Trauringen und einer Brosche. Man sollte nicht glauben, wie viele Menschen ihre Ringe in Gläsern oder Eierbechern im Küchenschrank aufbewahren", flocht er ein. "Weiter aus einer Reiseschreibmaschine, Wäsche, Pullovern, Damenstrümpfen, alles Frauensachen. Verschiedentlich wurden auch Lebensmittel wie Kaffee, Schokolade und andere Süßigkeiten entwendet. Vor allem aber Geld, eine erhebliche Summe." "Und Spuren?" fragte Torsten brummig.
"Keine, bis auf eine vage Personenbeschreibung bei dem Versuch", berichtete Grüner und ließ Brentins Geschichte von der Frau mit dem schütteren Haar folgen. "Hm!" Torsten wiegte den Kopf. "Eine verdächtige Person. Immerhin etwas. Und die Tatzeiten?" Grüner wies mit einer knappen Kopfbewegung auf die Vergleichsreihe vor Torsten auf dessen Schreibtisch hin. "Im Juni war der erste, bisher nicht erfaßte Diebstahl, vorigen Monat der letzte", sagte er. "Genauere Daten sind in den meisten Fällen nicht zu bestimmen. Trotzdem. Soweit Anhaltspunkte vorhanden sind, fällt eins auf: der Montag." Zögernd führte Groß dabei seinen Zeigefinger an die Nase. "Wenn ich . Ich möchte sagen", äußerte er sich, immer noch zurückhaltend, "Montag ist Schließtag für viele. Ich meine Gaststätten und so." Ehe Grüner entgegnen konnte, er wisse noch andere Gründe, knurrte Torsten, der bis dahin geschwiegen hatte, schon vor ihm: "Nicht bloß Gaststätten. Sonst richtig. Schreib das als zweiten Punkt auf. Weiter! Was noch?" Grüner erinnerte an das Stehlgut. "Zum Beispiel fünf Trauringe. Wer hat dafür Verwendung? Fünf Ringe? Die bleiben ja irgendwo: Münze, Pfandleihe, Hehler, was weiß ich." "Drittens", konstatierte Torsten mit Kopfnicken. "Ja, schreib auf! Haben wir jetzt alles?" fragte er nochmals, während sich seine Miene merklich verdüsterte. Er nahm den Bericht soweit an. Aber zufrieden war er nicht. Das sah man. Torsten rückte an seiner Brille. "Nun haben wir den Kopf gebraucht, jetzt sind die Beine an der Reihe. Quartalsende!" seufzte er leise, was seine Sorge um die Aufklä-
rungsquote ausdrückte. Dann griff er in sein Schreibtischfach und holte eine angebrochene Packung Zigaretten heraus. Die legte er immer weit weg, um nicht ständig in Versuchung zu geraten. "Also, unser Fahndungsplan!" Jeder neue Diebstahl wird gründlich untersucht an Ort und Stelle, mit allem Drum und Dran. "Die Fahndung nach jener Frau mit dem schütteren Haar. Weiß Gott, keine konkrete Personenbeschreibung, aber als Hinweis .", zählte Grüner weiter auf. "Noch nicht", korrigierte Torsten. "Erst muß bei diesen Nachbarn vom Rentner Brentin, den Sieberts in der Gürtelstraße, nachgefragt werden, ob sie eine Frau mit der Beschreibung kennen, die vielleicht dahin gehört, zu ihnen wollte. Trifft das zu, entfällt womöglich die Fahndung. Sonst bin ich einverstanden. Was noch?" "Drittens", ergänzte Grüner, "die Fahndung nach dem Stehlgut." "Übernimmt unser Genosse Groß. Wenn nötig, zwei Genossen dazu", bestimmte Torsten, indem er seine Brille wieder auf die Nase schob. Groß senkte demonstrativ den Kopf. Sollte er sagen, daß er bis oben hin eingedeckt war mit Arbeit? Die Sache von Grüner, mit diesem verflixten Angersbach vom Milchhof, die war auch noch nicht vom Tisch. Zeit, etwas einzuwenden. "Wenn ich etwas sagen darf", meldete er sich, "ich habe dicke zu tun ." Doch Torsten unterbrach ihn sofort. "Wie dicke du es hast, weiß ich. Wir werden dir die Arbeit erleichtern. Mit diesem Brennpunkt muß Schluß gemacht werden. Sollen wir warten, bis die Öffentlichkeit uns treibt?" Er kam um seinen Schreibtisch herum und klopfte Groß auf die
Schulter. "Zieh erst mal los! Ich werde inzwischen die Straftatenvergleichskartei durchstöbern. Mal sehen, wer da bei uns schon seine Handschrift hinterlassen hat." Groß grinste. "Aktenwolf!" war sein letztes Wort. Und das zum Wochenende! Grüner dachte an seine Ruth. Die Ehefrau des Kriminalisten ist eben doch eine wertvolle Mitarbeiterin der Kriminalpolizei. V.
Groß sollte dem Stehlgut nachgehen. Die Reiseschreibmaschine, na schön, Ausschreibung - und fertig. Die Frauenwäsche, die Lebensmittel, Kaffee, das Geld, das alles bot keine Fahndungsgrundlage. Was blieb, waren die Trauringe und die Brosche. Wo da eine Spur finden? Wozu können Ringe und Brosche genutzt werden? Beim Zahnarzt zur Abgabepflicht für Goldplomben. Zum Einkauf von Schmuck. Und, und. Da zu suchen käme der legendären Stecknadel im Heuhaufen gleich. Nein! Weshalb stiehlt der Dieb? Doch nur, um die Ringe zu Geld zu machen. Das ist am einfachsten, am wahrscheinlichsten. Wo aber dann suchen, zumal wenn der Täter eine Frau ist? Irgendwo mußte Groß beginnen. Wenn nicht bei einem Einzelkäufer, dann ganz sicher in der Pfandleihe oder beim VEB für den Ankauf von Edelmetall. Kurz entschlossen hatte er sich daraufhin auf den Weg gemacht. Nicht weit vom Rosa-Luxemburg-Platz entfernt, in einem der alten Häuser, war der Laden, den Groß suchte, untergebracht. Neben einem breiten Torweg und zwei normalen Schaufenstern fand er den Eingang zu dem Raum mit hoher Decke, mit Verkaufstischen im Rund und
der sprichwörtlichen Goldwaage darauf. Eine sympathische junge Frau in modischem Kittel empfing ihn. Groß setzte sein Sonntagslächeln auf. Artig nahm er den Hut vom Kopf und sagte in biederem Ton: "Groß, Herbert Groß ist mein Name. Könnten Sie mir ein paar dumme Fragen beantworten?" "Wenn ich klug genug dazu bin", parierte die Frau hinter dem Ladentisch spöttisch. "Aber ja, hübsche Frau", konterte Groß überzeugt, "ich möchte nur wissen, wer bei Ihnen in den letzten Monaten mehr als zwei Trauringe verkauft hat." Die junge Frau stutzte. Was er sagte, schien sie zu belustigen. Sie wußte nicht, ob sie über ihn lachen sollte. Wie er dastand, als wollte er die Welt umarmen. "Ich fürchte, da kann ich nicht helfen", sagte sie herausfordernd. "Nein, o nein!" wehrte Groß ab. "'tschuldigung! Leutnant Groß, Kripo." "Nur ein paar Ringe?" wiederholte die Frau beinahe nachsichtig. Sie lachte nun doch. "Am besten, Sie gehen zu unserem Leiter. Ich glaube, das wird nicht ganz einfach werden." Sie wies mit einladender Handbewegung auf den vom Vorhang verdeckten Korridor hinter sich. Groß hob bedauernd die Schultern. "Schade! Ihr Leiter wird von der Sache weniger wissen als Sie. Aber ich komme auf Sie zurück. Sie werden sehen. Tatsache!" versprach er ihr. Der Leiter war ein rotblonder, hagerer und durchaus freundlicher Mann. "Trauringe?" wiederholte er und lachte schallend. "Wissen Sie, was Sie da verlangen? Das sind .zig. Dazu brauchen Sie Tage, um das herauszufinden." Groß hatte Auskunft erwartet und nicht Skepsis. "Wir
werden die Zeit haben müssen. Wenn Sie die Freundlichkeit besitzen, mir zu erklären ." Schulz ließ sich das Registrierbuch von Lisa, der jungen Frau, bringen, blätterte darin und sagte schließlich: "Hier, alles notiert." Er wies das an Hand einer Spalte des Buches nach. "Datum, Registriernummer, Name, Anschrift, Karat, Preis, alles aufgeführt. Und nicht nur Ringe." Er war bemüht, die Sorgfalt seines Betriebes zu beweisen. "Niemand kann uns nachsagen ." "Was geschieht mit den abgegebenen Ringen?" unterbrach Groß. "Zur Schmelze gehen die. Hüttenkombinat ,Albert Funk', Freiberg. Jeden Monat einmal." Groß legte seinen Zeigefinger an die Nase. "Wenn ich richtig verstanden habe . Ich meine, Sie können mir sagen, wer zum Beispiel welchen Ring hier verkauft hat. Richtig?" Selbstsicher gab Schulz belehrend Antwort: "Nicht ganz. An Hand des Buches kann ich Ihnen sagen, ob Ring oder Kette oder Brosche oder so. Aber ." Er machte eine vielsagende Handbewegung. "Aber?" "Von einem Ring ausgehend, können wir den Verkäufer nicht mehr zurückverfolgen." "Die meisten Ringe sind graviert", gab Groß zu bedenken. Schulz winkte ab. "Was nutzt das? Wenn ein Ring bei uns hier ins Säckchen fällt, ist es einer von vielen. Wenn Sie verstehen, was ich meine. Gold ist Gold." "Hm!" Groß strich sich über die Grübelfalte. "Und wenn ich nun nach Freiberg fahre? Wenn ich dort noch einen Ring finde, nach dem wir suchen. Dann .?"
"Dann können Sie bestenfalls sagen, der ist von hier, von uns, gekommen, und ungefähr die Zeit bestimmen, zu der er hier angekauft wurde. Mehr nicht." Groß' Hand blieb in der Luft hängen. "Wer aber mehrere Ringe, Trauringe, hier abgegeben hat, das läßt sich feststellen. Oder?" "Ja. Das sagte ich schon. An Hand des Buches. Eine aufwendige Arbeit." Unverkennbar, er hielt das Ganze für eine Schnapsidee. So oder so. Groß mimte Vertraulichkeit. Auch das gehörte zu seinem Repertoire. "Fünf Trauringe und ein Verkäufer sind Ihnen nicht zufällig in letzter Zeit aufgefallen?" Schulz breitete bedauernd die Arme aus. "Ich wüßte nicht. Wenn einer was weiß, dann höchstens Lisa." "Sagte ich's doch", brubbelte Groß. "Wie meinen?" "Nichts, nichts! Sie haben recht, fragen wir Ihre Lisa." Lisa kam. Sie lächelte über den Leutnant, der seine Frage wiederholte. Die kannte sie bereits. "Darf ich mal", sagte sie und beugte sich über das Registrierbuch. Nach einer Weile Blättern richtete sie sich wieder auf. "Am dritten August einen Ring und eine Brosche. Aber vorher? Da müßte ich jetzt suchen. Vorher ein Ring und einmal zwei." August! Da war doch was? Ring und Brosche, schoß es Groß in den Sinn. "Vier Ringe also", sagte er indessen, seine Neugier meisterhaft verbergend. "Und der Name?" Wieder nahm Lisa das Buch zu Hilfe. "Konitzke, Frieda, ja", sagte sie. "Ich kann mich an sie entsinnen, weil sie mir erzählte, sie hätte eine Boutique in der Markthalle am Alex, Berlin Souvenirs und Modeschmuck und so. Ich sollte sie mal besuchen, sie hätte auch was für mich."
Groß vereinbarte mit Schulz und mit Lisa, man sollte ihn anrufen, wenn wieder ein Trauring zur Abgabe käme. "Und das Registrierbuch. Na was? Muß sein. Tatsache! Ich schicke einen Genossen", schloß er und sagte: "Danke!" Er setzte seinen Hut auf, gezirkelt gerade, die Krempe weit in die Stirn gedrückt. Das erste Netz war ausgelegt. Später Mittag. Groß ging zu Fuß. Sein nächstes Ziel, die Pfandleihe, war nur einen Katzensprung vom RosaLuxemburg-Platz entfernt. Der Diensthabende war mit der Kriminalpolizei und ihren Fragen bestens vertraut. Fast täglich kam die Kripo her, um Diebesgut aus den Pfandgaben aufzuspüren. "Wollen mal sehen", sagte er, putzte seine Brille und kramte in den Belegen. Schließlich fand er heraus, zwei Trauringe von zwei Personen standen zur Zeit noch in Pfand.
Groß notierte. "Die Ringe, sind sie graviert?" fragte er noch. Der Diensthabende holte die Ringe. Als er sie auf den Tisch hinter der Barriere legte, schob er die Brille auf die Stirn, nahm eine Lupe zur Hand und rätselte. "Such selbst!" sagte er schließlich. Groß fand Initialbuchstaben und notierte auch die. Er bedankte sich und ging, nicht ohne vorher erklärt zu haben, daß er Trauringen, Ketten und Broschen nachjage. "Ich komme jetzt öfter vorbei." Er tippte an seinen Hut. "Ein Zettel für mich, Name und Anschrift genügen!" Er konnte nicht verlangen, daß sie ihn bei jeder Pfandnahme von Schmuck verständigten. Ansonsten war das das zweite Netz. Wieder auf der Straße angekommen, entschloß er sich, ins Präsidium zurückzukehren. Die Boutique der Frau Konitzke in der Markthalle am Alex ging ihm nicht aus dem Sinn. Er mußte sich diese Frau genauer ansehen, ohne sie aufzuscheuchen. Wer weiß? Außerdem wartete die Sache mit dem Milchhof noch auf ihn. VI.
Montag. Fünf Uhr nachmittags. Zeit der operativen Beratung bei Torsten. Groß, Grüner und die Genossen von der Revierkripo waren gekommen. Trotz der feierabendlichen Stunde waren sie noch im Dienst. Grüner begann. Die Rückfragen nach der Frau mit dem schütteren Haar hatten nichts ergeben. Alle siebzehn Tatorte wurden nochmals untersucht. Erkennungsdienstlich waren außer Kratzern in den Schlössern keine weiteren Spuren mehr gefunden worden. Beweis dafür, daß mit fremden Schließwerkzeugen die Türen geöffnet worden
waren. Weiterhin konnte die Taktik in Erfahrung gebracht werden. Eine Frau hatte, so die verschiedenen Aussagen von Mietern, an Wohnungstüren geklingelt. Da, wo geöffnet wurde, hatte sie nach Namen gefragt, die im Haus unbekannt waren. Da aber, wo niemand öffnete, wo anzunehmen blieb, daß keiner in der Wohnung war, erfolgten prompt auch Diebstähle. "Zeugen also?" warf Torsten ein. "Jein! Nichts Konkretes." Die Frau habe bei der Fragerei in den halbdunklen Treppenaufgängen einen Aktendeckel vor das Gesicht gehalten, so daß ihre Augen knapp zu sehen gewesen seien, erklärte Grüner. Ein Phantombild lasse sich danach nicht anfertigen. "Wir haben es versucht. Vergeblich." "Hoffentlich stiehlt sie Ringe, Trauringe", meldete sich Groß gelassen und gab sich selbst das Stichwort zu seinem Bericht. Torsten holte ihn auf den Boden der Tatsachen zurück. "Dein Datum stimmt nicht", sagte er. "Die Brosche in Prenzlauer Berg wurde am sechsten August entwendet, die Brosche der Konitzke aber schon am dritten August in der Ankaufstelle abgegeben." "Na und?" widersprach Groß nur zu gern. "Die Tatzeit in Prenzlauer Berg braucht ja nicht zu stimmen." "Richtig!" Torsten stand auf und wanderte von einer Ekke in die andere. Dann legte er die Hände auf den Rücken. Am Fenster, abgewandt von seinen Genossen, blieb er stehen. "Wo das Wissen aufhört, beginnt der Glaube", ließ er sich hören. An seinen Platz zurückgekehrt, war er an der Reihe, er, der "Aktenwolf". Er griff in sein Schreibtischfach und legte die Hand auf einen Packen Blätter. "Die Straftaten-
vergleichskartei", sagte er dazu. Dreiundvierzig dieser Bogen hatte er durchgesehen. "Alles Nachschlüsseldiebe. Die Täter sind durchweg Männer. Nur eine Frau ist darunter, eine Mittäterin." Die Genossen folgten aufmerksam den Ausführungen. "Zweifel können wir uns nicht leisten", brummte er. "Nehmen wir es, wie es ist", sagte er und richtete sich auf. "Suchen wir eine Frau! Aber behalten wir auch einen Mann im Auge!" Nun das Resümee: Bislang konnte noch keiner sagen, seine Arbeit hätte sie weitergebracht. Am hoffnungsfreudigsten gab sich Groß. Wie immer obenauf. Frieda Konitzke! Zumindest erwartete er dort, einen Anhaltspunkt zu finden, ein wenn auch kleines Indiz. Alles war gesagt. Torsten konzentrierte sich ein Weilchen auf das Gehörte. Dann sagte er: "Nach Freiberg fährt ein Mitarbeiter der Reviere. Die Überprüfung der Konitzke übernimmt Genosse Groß. Auf geht's!" VII.
Frieda Konitzke, geborene Meilmann, zweiundvierzig Jahre alt, Geschäftsfrau, selbständig, verwitwet, ein Kind - eine zwanzigjährige Tochter. Ausgedehnte Beziehungen. Zahlreiche Verehrer. Nicht vorbestraft, führte seit 1957, seit dem Tod ihres Mannes, einen ambulanten Stand in der Markthalle und verdiente damit ihren Lebensunterhalt. Und - der Schließtag ihres Standes in der Markthalle fiel auf Montag. Soviel hatte Groß herausbekommen. Sollte das schon die Lösung sein? Vorahnungen sind eine große Sache. Aber das Vorgefühl eines Kriminalisten durfte niemals zur
Voreingenommenheit führen. Das ging oft in die Irre. Jedenfalls wollte er, Groß, Frieda Konitzke an ihrem Stand aufsuchen. Sie beobachten, sich einen ersten Eindruck von ihr verschaffen, sie ins Präsidium vorladen. Als Grundlage hatte er sich das "Gesetz über den Verkehr mit Edelmetallen, Edelsteinen und Perlen" herausgesucht. Die Trauringe und die Brosche waren weiß Gott auch Edelmetall. Dazu brauchte sie eine Lizenz. So machte er sich auf den Weg. Nach den hellen, sonnenbeschienenen Straßen kam es ihm hier, in der Markthalle, richtig dunkel vor. Allmählich gewöhnten sich die Augen daran. Er konnte sich orientieren. Einige Zeit drängte er sich inmitten von Kunden von Stand zu Stand, bis er den richtigen fand. Rechts der Ladentisch mit allen möglichen Nippes. Berliner Reiseandenken und ein Karussell, in dem bunte Ansichtskarten steckten. Links, weiter hinten, die "Schmuckabteilung". Accessoires, Anstecker, Halsketten, Ringe, Armbänder; Silber, Bernstein, Goldähnliches. Und da stand sie. Freundlich, herausfordernd blickende schwarze Augen, im krassen Kontrast zum gefärbten blonden Haar. Eine üppige, in einen eng anliegenden Seidenkittel gehüllte Gestalt. Groß konnte sich angesichts des ersten Eindrucks diese Frau nicht als Diebin vorstellen. Aber eine geschickte Hehlerin war sie vielleicht. Die von Hanne Grüner ermittelte Beschreibung stimmte nicht überein. Nicht dunkelblond. Und schütteres Haar hinten? Auch nicht. Nichts traf zu. Groß bemerkte, daß sie ihn ins Auge gefaßt hatte. Zeit, dieses Spiel aufzugeben. Er trat heran. An langer Kette reichte er seinen Ausweis über den Ladentisch. "Gestatten, Kriminalpolizei! - Frau Konitzke?"
Diese Worte mißfielen ihr offensichtlich. Sie argwöhnte das Kommende. Die gefalteten Finger spannten sich. "Ja, und? Sie wünschen?" "Wünschen, ja", erwiderte Groß. "Ich wünsche ein Gespräch mit Ihnen. Wenn es geht, im Präsidium der Volkspolizei, heute abend. Sagen wir siebzehn Uhr? Wenn Sie notieren wollen: Leutnant Groß, Zimmer 6221." Er sah sehr wohl, was sich in ihr abspielte. "Warum, wieso?" fragte sie unsicher. "Später, Frau Konitzke, später!" Er lüftete den Hut und ging. Den Nachmittag füllten Ermittlungen, Vorbereitungen zur Vernehmung, bis Frieda Konitzke kam. Selbstsicher, abweisend, aber pünktlich. Natürlich war sie aufgeregt. Aber das zeigte sich bei ihr zunächst in überheblicher Unnahbarkeit. Nur zu. Sicherlich hat sie einen Grund, aufgeregt zu sein, sagte sich Groß und behandelte sie mit ausgesuchter Höflichkeit. Sie setzten sich abseits an einen kleinen Tisch. Groß versuchte seine erprobte Befragungstaktik. Erst Kontakt, dann die Fragen. "Ich habe Sie eingeladen, weil ." "Vorgeladen!" verbesserte sie ungeniert. "Richtig", sagte er, ein wenig aus dem Konzept gebracht, und stellte ihr aus dem Stegreif Standardfragen nach Formular. Sie antwortete kühl, gelassen. Nur die pulsierende Schlagader an ihrem schlanken Hals verriet sie. Von Kontakt konnte jedenfalls keine Rede sein. So waren nur schwerlich Rückschlüsse auf ihren Charakter zu ziehen. Deshalb entschloß er sich zum Angriff. Er fragte mit Absicht geradezu, denn er wollte sehen, was für eine
Haltung sie einnahm. "Vier Trauringe und eine Brosche! Sagt Ihnen das was?" Frieda Konitzke schwieg eine Zeitlang mit zusammengekniffenen Lippen. Dann stieß sie hervor: "So ist das also. Kontrolle! Und das mir! Sagen Sie, was wollen Sie?" "Ich hätte gern gewußt, woher die Ringe und die Brosche kommen. Soviel ich weiß, unterliegt der Handel mit Gold ." "Hören Sie auf! Abgeliefert habe ich alles. Ordnungsgemäß", antwortete sie fest und sah ihn zum erstenmal voll an. "Oder?" "Ich weiß", sagte er in schlichtendem Ton. "Nur woher? Woher hatten Sie die Sachen?" Sie zögerte ein wenig mit der Antwort: "Woher schon? Von Kunden. Leute fragen, ob ich nicht . Blöd, wie ich bin, ich kaufe. Herrgott noch mal, ich wollte ein paar Pfennige verdienen. Plunder! Wer kauft das schon?" "Immerhin Gold." "Gravierte Ringe. Eine Brosche aus Großmutters Zeiten. Mit Emaillebildchen. Kaiser Wilhelm drauf, was weiß ich. Weiterverkaufen war nicht. Ich habe alles abgegeben. Aber das wissen Sie ja, wie ich höre." Emaillebildchen? Davon hatte Grüner nichts gesagt. Er erinnerte sich des Disputs mit Torsten. Die Brosche. Das ließ sich doch leicht klären. Ganz einfach. Abgesehen vom Gesetz. Von dieser Seite war der Konitzke also nichts anzukreiden. Nur die Kunden? "Kunden, sagten Sie? Kennen Sie die?" "Kennen? Vom Sehen vielleicht. Aber sonst, nein. Daß ich gekauft hatte, das hat sich rumgesprochen. Da kam dieser und jener vorbei." "Frau Konitzke, das können geklaute Sachen sein. Ha-
ben Sie sich das mal überlegt? Warum gehen diese Kunden nicht gleich zur Ankaufsstelle? Warum wohl? Ich will es Ihnen sagen: Weil man sie dort kontrollieren kann. Deshalb!" Sie hob die Schultern und sagte zurückhaltend: "Verstehe, wie - mich. Aber in dieser Zeit? Wer kauft da nicht, wenn . Ich meine, wer nutzt nicht seinen Vorteil?" Seine Geduld ging zu Ende. "Können Sie Namen nennen?" Ihr Gesicht blieb streng. "Namen? Nein. Das heißt, zwei Trauringe hat meine Tochter von ihrer Bekannten angebracht. Aber den Namen weiß ich nicht. Da müssen Sie schon meine Tochter fragen." War das ein Beweis ihrer Ehrlichkeit? Wie schwer, ihr etwas anderes nachzuweisen. Sie strengte ihre Erinnerung nicht an und sagte einfach nein. Wie sollte er da verbotenes Handeln begründen? Hehlerei konnte man nur vorsätzlich, im Einvernehmen mit dem Vortäter, begehen. Traf das zu? Er mühte sich redlich und kam schließlich doch noch mit ihr ins Gespräch, erklärte ihr, daß er fünf Trauringen deshalb nachjage, weil sie an fünf verschiedenen Orten gestohlen wurden. "Wenn wieder mal einer Trauringe oder so anbietet, dann notieren Sie dessen Anschrift und rufen mich an. Einverstanden?" "Was denn nu? Soll ich, oder soll ich nicht .?" Er hatte sie verwirrt. "Wenn Sie uns helfen wollen, dann heiligt der Zweck die Mittel. Sonst? Sie kennen die Regeln." Wider Erwarten versprach Frieda Konitzke zu helfen. Groß glaubte ihr nur bedingt. Aber immerhin hatte er ein drittes Netz ausgeworfen.
VIII.
Dienstag mittag. Zwei neue Diebstähle waren angezeigt worden. Gemeinsam mit den Abschnittsbevollmächtigten und seiner Kriminaltechnik suchte Grüner die Tatorte nach Spuren und Zeugen ab. Zuerst in der Mühsamstraße im Hinterhaus. Diebesgut: 480 Mark, 4 Paar Damenstrümpfe, 140 Zigaretten, Schokolade und Obst. Reiche Beute. Danach Tilsiter Straße, ebenfalls im Hinterhaus: 35 Mark, 2 Schachteln Zigaretten.
Grüner fand Kratzspuren in den Schlössern. Suchte nach Fingerabdrücken, fand aber keine. Handschuhe waren im Spiel, das war sicher. Genauso wie an allen anderen Tatorten. Beide Tatorte lagen gute tausend Meter voneinander entfernt. Ein Reisetäter, konstatierte Grüner. Keiner weiß, aus welchem Bezirk er - oder sie - auftaucht. Kommt von
irgendwoher und verschwindet wieder bis zum nächsten Mal, genauso anonym. Dann vielleicht in Prenzlauer Berg oder Mitte. Solche Täter zu fangen ist schwer. Man weiß nicht, wo man sie erwarten soll. Hinterhöfe, Quergebäude, Seitenflügel. Überall, rings um die Tatorte, in allen Treppenhäusern, Suche nach Zeugen. Grüner trabte treppauf, treppab von Wohnung zu Wohnung, sprach mit Dutzenden von Menschen und bemühte sich, ihnen auch nichtssagende Beobachtungen ins Gedächtnis zurückzurufen. Mit Suggestivfragen - anders ging es nicht - erfuhr er, jemand habe da nach Mietern gefragt, die dort nicht wohnten. Aber eine Personenbeschreibung? Nein! So genau habe man nicht hinsehen können. Es sei dunkel im Flur. Nein, leider! Durchaus nicht alle reagierten auf seine Fragen wie erwartet. Wie achtlos waren doch die Menschen. Trotz Warnung in den Zeitungen kein Erfolg. Was konnte, was mußte man noch tun? Eine ermüdende, nervenraubende und vor allem wenig nutzbringende Arbeit. Nur eine Aussage hatten sie, vom Rentner Seidel in der Tilsiter Straße. "Gestern schloß es plötzlich an meiner Wohnungstür. Ich stand in Hut und Mantel und wollte gerade gehen. Nanu, denke ich, was ist denn das? Aber da stand sie schon, die Frau, in der offenen Tür im Flur. Was soll ich sagen? Die roch mächtig nach Schnaps, als ich herantrat. Jedenfalls hatte ich den Eindruck, die hatte ganz schön geladen. ,Hab mich in der Tür geirrt', stotterte sie eine Entschuldigung. Und weg war sie. Muß mir eine Kette an der Tür anbringen lassen, bei unseren einfachen Schlössern, Sie sehen ja." Auf Gruners Frage erklärte er ungerührt: "Wiedererkennen? Ja, vielleicht. Ich schätze sie auf dreißig. Aber man
kann nie wissen, bei Frauen allemal." Und nichts weiter, trotz aller Mühe. Am Abend spürte Grüner seine Beine. Seine Mitarbeiter fuhren nach Hause. Er aber wollte noch zu Torsten, um zu berichten. Und sein Vortrag beim Hauptmann klang recht traurig. "Nichts gefunden, keinen Anhaltspunkt." Groß kam herein und setzte sich dazu. Er hatte Frieda Konitzke verabschiedet. Torsten freilich nahm den Bericht von Groß reserviert entgegen. Kannte er doch seinen Leutnant. Jeder neue Tatbestand entzündete dessen Phantasie. Ein Optimist bis in die Fingerspitzen. Ganz das Gegenteil zu dem pedantischen Grüner. "Geld? Zigaretten? 'n Appel und 'n Ei! Was weiß ich!" legte Groß gerade los. "Geradezu absurd! Die Ringe, die sind der einzige Weg. Tatsache!" "Apropos Ringe!" Torsten schob die Brille höher auf die Nase und ergriff mehrere handgeschriebene Bogen. "Hier", sagte er gedehnt, "die Liste von der Ankaufsstelle. Stichtag: erster Juni. Neununddreißig Personen; abgegebene Ringe, siebenundsechzig. Achtundzwanzigmal zugleich zwei. Ich hoffe, das genügt dir als Grundlage zur Fahndung." Die Ironie in seinen Worten war nicht zu überhören. Torsten schüttete bedächtig aus einer Tüte mehr als zehn Trauringe auf den Tisch. "Sichergestellt in Freiberg, im Hüttenkombinat. Der Rest der Julisendung aus der Berliner Ankaufsstelle", sagte er dazu. "Keine Brosche dabei?" fragte Grüner. "Mit einem Emaillebildchen", ergänzte Groß. "Aber nicht doch! Die ich suche, hat 'ne Perle in der
Mitte", erwiderte Grüner, beinahe entschuldigend. "Na bitte. Schon geklärt. Frieda Konitzke hat also mit der gesuchten Brosche nichts zu tun." Groß sagte das und wußte zugleich, was jetzt kam. "Geklärt?" knurrte Torsten. "Und mit welcher kriminalistischen Raffinesse! Macht mal weiter so, dann können wir gleich alles dem Zufall überlassen." Er lehnte sich zurück. "Die sichergestellten Ringe aus Freiberg sind den Geschädigten zur Wiedererkennung vorzulegen. Der Vollständigkeit halber holen wir die im August in der Ankaufsstelle und der Pfandleihe abgegebenen Ringe noch dazu. Das übernimmst du." Er wies auf Grüner. "Und du", er meinte Groß, "kümmerst dich um die neununddreißig auf der Liste vermerkten Personen!" schloß er. "Na dann, schönes Wochenende!" Groß stöhnte. Womit er wieder mal das letzte Wort hatte. IX.
Leonore Konitzke, zwanzig Jahre alt, gelernte Frisöse, tätig im Frisör- und Kosmetiksalon der PGH "Exquisit", ledig. Polizeilich bisher nicht in Erscheinung getreten. Mit dieser mageren Biographie im Sinn stand Leutnant Groß im Damensalon "Exquisit". "Ich hätte gern Fräulein Konitzke gesprochen", wandte er sich an die Frau an der Kasse. Die junge Frau klatschte ungläubig in die Hände. "Das gibt's doch nicht. Leo und ein Mann!" "Wie bitte?" fragte Groß verblüfft. Doch die Frau winkte gleich ab. "Wen darf ich melden?" "Leutnant Groß, Kriminalpolizei". Stotternd verschwand sie nun schnell im Nebenraum und
kam mit der Gesuchten wieder. "Ihre Mutter hat Ihnen sicher schon gesagt, worum es geht", begann Groß das Gespräch, das sie im Frühstücksraum des Salons führten. Doch das Mädchen senkte nur den Kopf und schwieg beharrlich. Ihre modisch toupierte Frisur wippte dabei nach vorn. Mit gerunzelter Stirn saß sie da. Unnahbar. "Fräulein Leonore! Sie sagen mir sicherlich, wem die Trauringe gehörten. Hören Sie genau zu: Die Ringe könnten gestohlen worden sein! Haben Sie schon darüber nachgedacht? Schweigen kann Hehlerei bedeuten. Möchten Sie das?" Sie rührte sich nicht. Warum wollte sie partout nicht antworten? Warum nicht? Sie wußte am Ende, daß es um heiße Ware ging. Er hatte gesagt, was zu sagen war. Eine drängende Pause folgte. Nur allmählich schaute sie auf. Mehrmals nahm sie Anlauf und murmelte schließlich, immer noch trotzig: "Muß ich wirklich ., woher ich die . Wenn ich nun versprochen habe, es niemandem zu sagen?" Sie versuchte hintergründig auszuweichen. "Liebes Fräulein! Wie oft im Leben muß man ein gegebenes Versprechen, der Vernunft gehorchend, brechen. Tatsache! Vertrauen gegen Vertrauen. Einverstanden?" Sie sah ihn an, suchte in seinem gewinnenden Lächeln nach Ehrlichkeit. Abgrundtiefe Stille folgte. Er wartete geduldig, taktvoll, gleichbleibend freundlich. Da, unvermittelt, kaum hörbar flüsterte, sie: "Rosi Roswitha Bykowski." "Noch mal", sagte er leise, aber mit Nachdruck. Sie wiederholte: "Roswitha Bykowski." Na also! Der Anfang war gemacht. Er notierte den Na-
men. Wieder eine Frau. Dann fragte er behutsam: "Und wer ist das, diese Rosi? Erzählen Sie!" Sie ließ den Kopf erneut sinken. "Eine Kundin", antwortete sie, ohne das näher zu erklären. "Ja, und weiter? Was macht sie? Wie alt ist sie? Alles, was Sie von ihr wissen", versuchte er ihre Gedanken in bestimmte Richtungen zu lenken. "Wozu?" Um ihre Mundwinkel zuckte es verdächtig. Sie merkte das und spitzte die Lippen. "Routine! Wir sind nun mal neugierig, hängt uns selbst schon zum Hals raus." Es dauerte wieder ein Weilchen, ehe sich Leonore Konitzke erneut zu einer Antwort aufraffte. "Rosi . Rosi ist Serviererin im ,Glatzer Eck'. Nicht weit von hier, gleich nebenan. Wie alt? Siebenundzwanzig oder achtundzwanzig. Ich weiß nicht genau. Aber die hat bestimmt nichts ." "Verheiratet?" Sie schüttelte entschieden den Kopf. "I wo! Ledig." Dann wandte er sich wieder der Sache zu. Ledig, keinen Mann und Trauringe, gleich zwei? Was gab es da für Möglichkeiten? Er unterstrich die Eintragung "Roswitha Bykowski, Serviererin, ,Glatzer Eck'", setzte ein Ausrufezeichen dahinter und schlug sein abgegriffenes Notizbuch entschlossen zu. "Sie sind Frisöse", holte er nun aus. "Und diese Rosi ist Ihre Kundin. Schön! Dann können Sie mir auch sagen: Hat die Rosi dunkles und vielleicht schütteres Haar?" Mit dem Zeigefinger tippte er sich dabei auf den Scheitel. "Hier hinten zum Beispiel?" "Hat sie. Woher wissen Sie?" "Nur so." Groß strich sich wie zur Probe über sein Haar. Nun
fehlte nur noch, daß der Schließtag des "Glatzer Ecks" auf den Montag fiel. "Wenn die Rosi erfährt, daß ich ., dann .", unterbrach das Mädchen Groß' Gedanken und kniff wieder die Lippen ein. "Wird sie nicht. Von mir nicht", versicherte Groß, "wenn Sie mir versprechen, unser Gespräch hier und heute zu vergessen. Das ist jetzt etwas anderes als vorhin mit Ihrem Versprechen." X.
Groß ging pflichtgemäß zu Torsten. Der Hauptmann hörte sich den Bericht an. "Jetzt servierst du mir bereits den dritten Täter", sagte Torsten. "Erst Frieda, dann Leonore Konitzke. Und nun Nummer drei, Roswitha Bykowski." Groß reagierte empfindlich auf solche Attacken. Er zog sein Notizbuch aus der Brusttasche und antwortete mit beinahe emphatischer Stimme: "Ich fürchte, nach Beweisbarem, Beweiskräftigem sieht die ganze Sache nicht aus. Tatsache! Wenn uns nicht ein Geständnis oder eine Festnahme auf frischer Tat da weiterhilft ." Torsten liebte handfesten Widerspruch. Aber das war keine stichhaltige Erklärung. Er sah den Leutnant an, ließ seinen Blick auf Groß' Gesicht haften, auf dessen Kinn, das hart und kantig vorsprang und jetzt zu erwartenden Widerspruch anzeigte. "Ein Aspekt unter möglichen", sagte er indessen und rückte an seiner Brille. Die Brille war sein Requisit, um Spannungspausen zu überbrücken. "Wir haben noch neununddreißig andere Personen, die gleichfalls Trauringe verkauften. Warum also ausgerechnet
Konitzke oder Bykowski? Sag mir das! Bitte!" Warum - warum? Er, Groß, sollte sein Gespür erklären. Wer konnte das? Er nicht. Mit einer forschen Handbewegung holte er zu einer Antwort aus. Aber Torsten ließ ihm dazu keine Zeit. "Angenommen", hielt er ihm entgegen und runzelte die Brauen, "du befragst die Bykowski. Was wird sie dir antworten? - Die Ringe habe ich von einem Unbekannten, meinethalben von einem Gast im ,Glatzer Eck'. Dann stehst du da wie am Anfang deiner Ermittlung." Groß schwieg. "Noch eine Neuigkeit", sagte Torsten betont langsam. "Immerhin recht interessant. Genosse Grüner hat aus dem Dutzend sichergestellter Trauringe zwei herausgefunden. Sie wurden in unserer Sache entwendet und in der Ankaufsstelle im August abgegeben. Das heißt: Eine von den neununddreißig aufgeführten Personen auf unserer Liste ist der Täter." "Verstehe!" sagte Groß entgegenkommend, mehr anerkennend, um sein Einverständnis zu bezeugen. Aber Torsten winkte ab. Groß zog es zu seinem Zimmer hinüber. Nestinstinkt. Auf dem Weg dahin, im langen, dunklen Korridor, versuchte er zu verdauen, was er sich beim Hauptmann anhören mußte: kühl, streng logisch, ohne alle Emotionen. Torstens Rede wirkte auf die Nerven aufreibend wie Sandpapier. Jedenfalls jetzt mußte er sich entscheiden, wie er die weitere Suche gestalten wollte. Grüner sah auf. "Ist was?" Groß winkte ab. Er verspürte keine Lust, nun auch noch mit Grüner darüber zu sprechen. "Nichts weiter", brub-
belte er nur. Er war ehrlich. Hätte er jetzt erklären sollen, worüber er verstimmt war, über sich oder über Torsten, er hätte es nicht können. Grüner indessen fixierte ihn, den Kopf zwischen seinen hochgezogenen Schultern, mit lauerndem Blick. Kannte er doch seinen Partner. Seit dem Morgen hatten sie sich nicht gesehen. Grüner und drei weitere Mitarbeiter waren mit der Liste der Ringverkäufer in den Meldestellen der Bezirke unterwegs gewesen und hatten den halben Tag dort gewühlt. Im Ergebnis lagen neununddreißig Karteikarten Meldeblätter mit Lichtbild und Personalangaben - auf seinem Schreibtisch. Der Anfang der geplanten Überprüfungen. "Dann wollen wir uns gleich mal einigen", sagte der Oberleutnant ohne jeglichen Zusammenhang. "Worüber einigen?" knurrte Groß unlustig. Er griff zur Zigarette. Bei dem Hin und Her hatte er ganz vergessen, daß in diesem Zimmer eine Übereinkunft herrschte, nicht zu rauchen. Erklärend hob Grüner den Stoß Karteikarten auf. "Achtundzwanzig Frauen, elf Männer!" Mit Schwung legte er ihn auf den Tisch zurück. "Na und?" "Du glaubst doch nicht im Ernst, daß ich mich allein damit herumschlage. Du trabst, was weiß ich, wo, in der Weltgeschichte ein paar Frauen hinterher, und ich kann zusehen, wie ich klarkomme. Nee, mein Lieber. So nicht!" Der also auch! "Hanne, verkneif dir's. Hab mein Fett schon weg", antwortete Groß nun und setzte sich Grüner gegenüber. "Ich hab doch 'nen heißen Tip. Begreift ihr das nicht? Schütteres Haar und so. Serviererin im ,Glatzer Eck'. Rosi, Roswitha Bykowski heißt sie."
Oberleutnant Grüner, der Kriminaltechniker, war nicht
derselben Meinung. "Nee", sagte er in seiner pedantischen, belehrenden Art und richtete sich auf. "Nee, das ist bloß die halbe Wahrheit. Die Zeit von Conan Doyle oder Agatha Christie und deren Meisterdetektiven ist unwiederbringlich vorbei." Als er Groß' Gesicht sah, ergänzte er noch: "Es mag vielleicht da und dort noch eine ungewöhnliche Spürnase geben. Ausnahme, nichts weiter. Zu der gehörst du aber nicht." "Vielen Dank!" Groß wandte sich wieder ab. Sein Gesicht blieb ausdruckslos. "Ich helfe, keine Sorge. Aber die Bykowski, die ." Grüner ruckte hoch. "Bykowski hin, Bykowski her. Moment mal! B-y-k-o-w-s-k-i sagst du? Irgendwo habe ich doch den Namen schon ." Seine Augen suchten auf dem Schreibtisch vor Sich nach einem Anhaltspunkt. Da kam Groß die Idee. "Auf der Liste etwa .?" "Nee!" Grüner hob den Kopf. "Warte!" Er begann die Eintragungen der Meldeblätter systematisch durchzusehen. Wenn man ihn beobachtete und hinhorchte, hörte man seinen Geist förmlich schnurren. "Soll ich mal?" schlug Groß ungeduldig vor. Grüner hob die Hand. "Warte!" wiederholte er. "Gleich." Dann fand er, was er suchte. "Ich hab's! Wußte doch: Ingeborg Brockmann, geborene Bykowski. Hier, lies selbst!" Seltsam! Groß spürte, wie er ruhiger wurde. Seine Reizbarkeit versickerte irgendwo wie Wasser im Sand. Eine Bykowski war unter den neununddreißig. Er wurde wieder er selbst: begeisterungsfähig, streitbar. Grüner indessen nahm die Liste der Ankaufsstelle zur Hand und verglich. "Zwei Trauringe, bitte!" Die Arbeit hatte gelehrt, nicht an Zufälle zu glauben.
"Das sind schon vier, wenn meine Bykowski und diese Brockmann Schwestern sind", rechnete Groß laut. Aber Grüner hörte gar nicht hin. Sein geschultes Gehirn vergaß keine Einzelheit: Namen, Adressen, Leute, wo sie arbeiteten, Vorgeschichten. Noch etwas anderes geisterte in seinem Kopf. Und richtig: Da war noch ein Manfred Brockmann. Auch der stand auf der Liste: mit einem Trauring. Groß nahm sich keine Zeit zum Staunen. Für ihn folgte nun eine Runde kriminalistischer Arithmetik. Rosi Bykowski: zwei Ringe; Ingeborg Brockmann, geborene Bykowski: zwei Ringe; Manfred Brockmann: ein Trauring. Die gesuchten fünf? Waren sie das? Wenn .? Ja, das Wenn: Daß die Brockmanns ein Ehepaar waren, wiesen ihre Meldeblätter aus. Aber Rosi? Roswitha Bykowski? "Es wäre jetzt wichtig, zu wissen, ob sie die ." "Kleinigkeit", unterbrach Grüner hinhaltend den aufgeregten Groß und griff zum Telefon. Sachkundig ging er zu Werke. "Operativstab! Ein Rundgespräch in die Volkspolizei-Inspektionen." Welch ein Segen, daß es die Meldestellen gab. Auch wenn außer dem Namen das Geburtsdatum und die Adresse mal nicht zur Verfügung standen. Nur zwanzig Minuten dauerte die Suche. Dann war sie gefunden. "Roswitha Bykowski, Serviererin. Ja, das ist sie. Die Namen der Eltern bitte!" forderte Grüner zielstrebig. Er leckte an der Bleistiftspitze und notierte eifrig. "Danke", sagte er noch und legte den Hörer auf. Die Meldekarte der Brockmann lag noch vor ihm. Ein Vergleich: Vater, Mutter? Die Namen stimmten überein. Die Brockmann und die Bykowski waren Schwestern. Das stand fest.
"Hätte ich das doch vor einer Stunde gewußt. Das Gespräch mit dem Hauptmann ." Groß stöhnte. "Selbst wenn er schielte, an den Tatsachen hätte Torsten nicht vorbeisehen können", spottete er schon wieder frisch-freiweg. Jedenfalls, es war unnötig jetzt, die neununddreißig Namen, einen nach dem anderen, durch die Mangel zu drehen. Es waren nur noch drei. Alles war parat. Dennoch, trotz dieser erfreulichen Aussicht wollte ein besonderer Triumph in Groß nicht aufkommen. Groß griff nach seiner Jacke und meinte: "Ich lade dich ein zu 'nem Bier." "Dein Bier kenne ich. Ich ahne was." Groß stieß seinen Stuhl vom Tisch zurück, steckte seine Hände tief in die Hosentaschen und legte seinen Kopf auf die Seite. Eine Haltung, die er stets einnahm, wenn er laut nachdachte. "Mich zieht's unwiderstehlich ins ,Glatzer Eck'. Komm mit, nur mal gucken!" XI.
Der Tag dämmerte bereits seinem Ende entgegen, als sie sich dem "Glatzer Eck" näherten. Ein niederes Gitter um den Vorgarten mit Sträuchern und zwei dicken, ausladenden Kastanien darin, die Pforte an der Spitze zweier Straßen, eine davon gab dem Lokal den Namen. Eine Berliner Bierkneipe: Da war ein langer, schmaler Raum. Auf seiner linken Seite der Tresen und das Büfett dahinter, auf der rechten Vierertische mit Stühlen drum herum. Die Front zur Straße bildeten breite, mit Stores verhängte, von innen erleuchtete Fenster. Alles war recht sauber. Nur ein penetranter Geruch von abgestandenem Bier und kaltem Tabaksqualm hing in der Luft.
Einige Leute waren da. Hinter der Theke zapfte ein Mann im besten Alter. Er trug eine karierte Weste über einem schwarzen Oberhemd, die Hemdsärmel bis zur Ellenbeuge aufgekrempelt. Grüner und Groß wählten einen Tisch mit dem Rücken zur Wand, Tür und Theke dabei ungehindert im Blickfeld haltend. Gleich darauf kam die Kellnerin. Ein mittelgroßes Mädchen mit Schultern wie die eines Mannes. Keine Schönheit. Mit zerdrückter weißer Schürze und weißem Häubchen auf dem - weiß Gott! - schütteren Haar. Das war sie also, Fräulein Konitzkes Kundin, die Rosi. Die Worte der Frau im Frisörsalon fielen Groß wieder ein. Groß mimte einen Geschäftsmann. Mit ihm schien die Bykowski schnell ins reine zu kommen. Grüner aber dagegen, den musterte sie besonders aufmerksam. Jawohl, neue Gäste wurden hier unter die Lupe genommen. Und Grüner, von seinen quadratischen Schuhen bis zum sorgfältig gekämmten Scheitel Kriminalist, mußte ihr wohl zu argwöhnisch in die Augen gesehen haben. Niemand kann sagen, woran man einen Kriminalisten erkennt. Sie unterscheiden sich in nichts von der Menge. Und mit bestimmten Menschen brauchen sie nur ihre Blicke zu kreuzen, und schon erkennt man sie auf Anhieb. War die Serviererin ein solcher Mensch? Oder zwangen sie andere, wichtige Gründe, besonders mißtrauisch zu sein? Groß bestellte bedächtig zwei Glas Bier und ein paar Buletten. Seine ganze Pose drückte im Gegensatz zu Grüner Sorglosigkeit aus. Aber innerlich war er genauso gespannt wie der. Nur Grüner benahm sich auffällig, so empfand es Groß jedenfalls. Zu aufmerksam blickte er in die Runde und musterte.
Groß indessen war in Gedanken mit Roswitha Bykowski voll beschäftigt. So hatte er sich das Bild der Täterin ausgemalt. Genau so. Grüner hatte inzwischen ein Schild am Büfett entdeckt. Leise wies er Groß darauf hin. Da stand: "Öffnungszeiten Dienstag bis Freitag: 10-22 Uhr; Samstag und Sonntag: 10-24 Uhr; Montag: Ruhetag."
Groß stippte die angebissene Bulette in den Mostrich auf seinem Teller. "Nu?" fragte er, ganz obenauf, biß ab und kaute genußvoll. Doch Grüner winkte ungeduldig ab. "Mich juckt was ganz anderes", antwortete er nachdenklich und starrte stur zur Theke. "Wo habe ich das Gesicht bloß schon gesehen?" "Wessen?" "Mein Gott, das da! Der Mann hinter dem Tresen." Der hinter dem Tresen? Groß kannte ihn nicht, hatte ihn nie gesehen, den hageren, mittelgroßen Mann. Dieses
rötlich schimmernde Haar, nach hinten gekämmt, die Augenbrauen über der Nase zusammengewachsen, schmale, gerade Nase und ausdrucksvolle Augen. Und Grüner war sichtlich mit der Leistung seines Gedächtnisses unzufrieden; er war unzufrieden darüber, daß es ihn in entscheidender Situation im Stich ließ. Man sah es ihm förmlich an, wie er im Geist alle Unterlagen durchstöberte, mit denen er in letzter Zeit in Berührung gekommen war. Plötzlich schlug er sich mit der Hand gegen seine Stirn. Das Bild auf dem Meldeblatt! "Brockmann!" sagte er fast zu laut. "Na klar, Manfred Brockmann. Daß ich nicht gleich ." Groß verschluckte sich beinahe. "Der .? Du meinst, ihr .? Der Schwager! Das ist ein Ding. Die beiden in einem Laden. Du, das muß ich genau wissen. Moment!" schnitt er ihm das Wort ab. Er rief die Bykowski wieder an den Tisch und bestellte zwei weitere Glas Bier. "Ist das Ihr Objektleiter?" fragte er gelassen und wies zur Theke hin. "Der Brockmann?" fragte sie zurück. "Nee, bloß der Zapfer." "Die Buletten", nörgelte Groß gekonnt. "Ein bißchen altbacken. Wenn Sie Ihrem Leiter das mal ." "Ich richte es aus", versprach sie ungeniert und ging, um das Bier zu holen. "Er ist es. Hanne, er ist es! Dein Gedächtnis, alle Achtung. Aber mein Riecher", redete er siegesgewiß vor sich hin. "Nun brauchen wir bloß noch ." Unvermittelt brach er ab. Ja, und das hieß, auch Ingeborg Brockmann ins Auge zu fassen. Groß stützte das Kinn in die Hand und dachte nach. "Und kommenden Montag, am Ruhetag?" "Da tippeln wir ihnen hinterher."
XII.
Die Informationen über das Ehepaar Brockmann waren schnell beschafft. Manfred Brockmann galt als ein vergnügter Zecher und war hier und da bei kleinen undurchsichtigen Geschäften, sobald sich die Gelegenheit bot, mit von der Partie. Dieser Mann hatte eine bunte Biographie. Auch in einer Akte des Archivs gab es Berichte über ihn. Brockmann wurde 1929 in Berlin-Reinickendorf geboren. Seine Mutter Gertrud war Buchhalterin und sein Vater Gustav Autoschlosser in einer kleinen Werkstatt. Während eines amerikanischen Bombardements auf Berlin wurde er 1943 in einer Kellerruine verschüttet. Seitdem stotterte er. Besonders wenn er erregt war. Deshalb kam Manfred nach dem Krieg in eine Sprachheilschule; hier beendete er seine Schulzeit mit Abschluß der neunten Klasse. Eine danach begonnene Klempnerlehre brach er nach drei Monaten infolge von Bummelei wieder ab. So verließ er seine Familie und vagabundierte durch die Weltgeschichte, bis er sich schließlich 1956 als Umsiedler in einem Aufnahmelager der DDR meldete. Bei seinen häufigen Aufenthalten im demokratischen Teil Berlins lernte er eine Frau kennen, die er heiratete, um Zuzug in die Hauptstadt zu erhalten. Aber diese Ehe wurde nach wenigen Monaten wieder geschieden. Die Spur Brockmanns verlor sich nun nach Hamburg, Brüssel und irgendwo nach Frankreich, wie zu erfahren war, als er 1958 nach Berlin zurückkehrte. Hier heiratete er Ingeborg Bykowski. Sein Strafregister verzeichnete drei Vorstrafen: zwei
Monate Jugendgefängnis wegen Körperverletzung, drei Monate Gefängnis wegen Erpressung, zwölf Monate Gefängnis wegen Nachschlüsseldiebstahls. Andere Verfahren gegen ihn waren mangels an Beweisen eingestellt worden. Nachschlüssel, das paßte durchaus in die Version. So wurde Manfred Brockmann, ein Mensch mit Vergangenheit, nirgends verwurzelt, verdächtig. Und Ingeborg Brockmann? Sie wuchs, 1937 in Berlin geboren, als jüngstes von drei Kindern im Haus ihrer Mutter ohne Vater auf. Sie absolvierte acht Klassen der Grundschule, lernte zweieinhalb Jahre Krankenschwester und gab die Lehre infolge Schwangerschaft auf. Danach war sie kurze Zeit Stenotypistin, später als Bohrerin in einem VEB beschäftigt. 1958 erwartete sie ihr zweites uneheliches Kind. Nach der Geburt lernte sie Manfred Brockmann kennen, den sie 1959 nach kurzer Bekanntschaft heiratete. Seit diesem Zeitpunkt war sie ohne ein ständiges Arbeitsverhältnis. Polizeilich gesehen trat sie lediglich einmal wegen Diebstahls in einem Selbstbedienungsladen in Erscheinung. So betrachtet war sie ein unbeschriebenes Blatt. Als Hauptmann Torsten das Ganze gelesen hatte, sagte er trocken: "Es geht nicht darum, ob dieser Brockmann ein guter oder gemeiner Mensch ist. Es geht darum, daß bisher nur eine Frau auftauchte . Welche Rolle also, welche Beteiligung schreibt ihr ihm zu?" Erstaunt über diese Frage, antwortete Groß zuerst: "Na, vorbestraft! Nachschlüsseldiebstahl! Paßt doch, oder? Genosse Hauptmann, wir sollten eine Frau suchen, aber einen Mann im Hintergrund nicht außer acht lassen. Das haben wir getan. Da ist er, mit Namen und Adresse!"
"Alles richtig", brummte Torsten und erinnerte sich seiner eigenen Worte. "Also gut! Ein Mann! Seine Rolle?" Torsten rückte an seiner Brille. "Wie weiter?" "Außerdem haben wir noch zwei Zeugen", nahm Grüner wieder das Wort. "Den Rentner Brentin - die Sache mit dem Klo. Und den schwerhörigen Rentner Seidel. Die sollen uns mal sagen, ob sie Roswitha Bykowski oder Ingeborg Brockmann gesehen haben." "Schafft die entsprechenden Legenden dazu", flocht Torsten ein. Er hatte seinen Entschluß gefaßt. "Observiert werden alle drei", ordnete er an. "Festnahme auf frischer Tat. Einen besseren Beweis in dieser Lage haben wir nicht. Ich schlage vor, am Montag übernehmen die Genossen der Fahndung mit ABV in Zivil die Bewachung. Jeder in seinem Bereich. Ich organisiere das und weise die Genossen ein." Schweigend gingen sie auseinander. XIII.
Wochenmitte. Es war schon September. Nur vier Tage blieben noch bis zum nächsten Montag. Bis dahin richteten sich alle Vorbereitungen auf den Fahndungseinsatz. Grüner indessen schuf die Legende zur Gegenüberstellung der Zeugen mit Ingeborg Brockmann. Die sollte am nächsten Freitagvormittag im Rat des Stadtbezirks, Abteilung Jugendhilfe/Heimerziehung, erscheinen. Fragen wegen ihrer Kinder waren vorzubereiten und Möglichkeiten für die Zeugen, sie unbeeinflußt zu sehen. Im Fall der Bykowski gab es keine Probleme. Groß rief die Rentner Brentin und Seidel zu sich und führte sie auf ein Bier ins "Glatzer Eck". Die Bykowski bediente und
begrüßte Groß wie einen alten Kunden. "Heute sind die Buletten frisch", gurrte sie und schob die Stühle zurecht. Seidel fragte so laut: "Wie meinen?", als hielte er im vollbesetzten Restaurant eine Rede. Groß hatte dessen Schwerhörigkeit vorausgesehen und mit ihm vereinbart, er solle sich nur die Kellnerin ansehen. Geredet würde nachher. Deshalb flogen Seidels Blicke wie Pfeile. Auch Brentin war sehr lebhaft. Nur mit Mühe unterdrückte er seine Redseligkeit. Doch die Bykowski versetzte ihn so in Rage, daß er sich nicht beherrschen konnte. "Die Haare hinten. Die Haare", flüsterte er. "Die Figur, das Alter? Als ich vom Klo kam ." "Was nun?" wollte Groß wissen, eine Suggestivfrage vermeidend. "Mehr ja als nein. Aber beschwören ." Er hob bedauernd die Schultern. Später, nachdem sie gegangen waren, sagte auch Seidel: "So ähnlich sah sie aus. Die roch mächtig nach Schnaps. Vielleicht Kellnerin ihr Beruf ." Seine Aussage war offensichtlich von der Tatsache geprägt, daß die Bykowski Kellnerin war. Was lag da näher, als daß sie . Na ja. Kurz und gut. Diese Begegnung brachte auch kein Licht in diese Angelegenheit. Und dann folgte der Freitag, der Vormittag im Rat des Stadtbezirks. Hinter einer großen Glastür gelangte man in einen langen Korridor zu den Abteilungen. Neonröhren an der Decke. Hell wie ein Sommertag. Vor den Türen ordentlich aufgestellte Stühle, zum Warten bestimmt. Groß, Brentin und Seidel setzten sich so, daß zwischen ihnen jeweils ein Stuhl frei blieb. Es war vereinbart, sich
so zu verhalten, als kennten sie sich nicht. Und schließlich kam sie, pünktlich. Sie erkannten sie sofort. Ingeborg Brockmann war wie ihre Schwester mittelgroß. Eine rundliche Frau mit pfiffigen Äuglein im verschlossenen Gesicht. Und die Haare, die auf dem Hinterkopf bereits dünn wurden, teilte ein sorgsam gezogener Scheitel. Die Ähnlichkeit mit Roswitha Bykowski war unverkennbar. Sie setzte sich den Männern gegenüber an die Fensterfront. Schwer zu sagen, was Brentin und Seidel jetzt empfanden. Ihre Gesichter jedenfalls drückten Unentschlossenheit aus. Selbst Groß, dessen Beruf ihn viel gelehrt hatte, konnte sich nicht entschließen, der Bykowski oder der Brockmann den Vorrang zu geben. Die Personenbeschreibung paßte im wahrsten Sinn des Wortes haargenau auf beide; darüber hinaus war die Brockmann in einem braunen Nylonmantel erschienen. Soviel stand jetzt schon fest: Mit ihr tauchte eine zweite Figur auf, die die bisherigen Aussagen der Rentner absolut ins Wanken brachte. Groß unterdrückte seinen Hang, sie anzusprechen. Drumherumgerede, was soll's! Er begnügte sich indessen damit, sie eingehend zu betrachten. Ingeborg Brockmann bemerkte seinen fragenden Blick und preßte die Lippen zusammen und vermied krampfhaft, den Männern in die Augen zu sehen. Zusehends traten rote Flecken an ihrem Hals hervor. Die gefalteten Finger spannten sich. Und das blasse Gesicht mit den kleinen Fältchen um die Augen veränderte sich merklich. Es war wie versteinert. Was hatte sie? Unsicherheit? Weswegen? Sie war wegen ihrer Kinder herbestellt. Sie konnte nicht wissen, daß sie hier zwei Zeugen gegenübersaß.
Da wurde Groß wie vereinbart zuerst in die Abteilung gerufen. Später folgte Brentin, danach Seidel, während die Brockmann draußen noch warten mußte. Und drinnen setzte sich Seidel auf seinem Stuhl zurecht, räusperte sich, als wollte er etwas sagen. Aber offenbar verzichtete er sogleich darauf, denn Brentin sollte sprechen. Der war der gründlichere Beobachter. Doch Brentin, offenbar genauso beeindruckt, war mucksmäuschenstill. Das allein schien ungewöhnlich bei seiner Beredsamkeit. Als Groß ihm zunickte, sagte er nur: "Stellen Sie mir die Frau auf unsere Treppe, dann sage ich Ihnen genau, ob sie es ist oder nicht." Groß verstand. Brentins Verdacht war nicht präzise genug. Und Seidel? Der hob nur zweifelnd die Schultern und hielt die Hand hinter das Ohr. XIV.
So lief die Aktion - für alle Beteiligten unter dem Decknamen "Elster" - Montag früh sieben Uhr an. Glücklicherweise regnete es nicht. Nur fallender Frühnebel nieselte etwas Feuchtigkeit herab. Da war eine breite Straße mit Promenade, Straßenbahn und Omnibusverkehr. Hier gab es verschiedene Geschäfte, ein Restaurant, einen großen Frisörsalon, etwas weiter eine Drogerie. Dazwischen das Haus, in dem Roswitha Bykowski wohnte. In einiger Entfernung parkte ein EMW. Oberleutnant Grüner, ein Genosse der Fahndung und der zuständige ABV in Zivil auf ihren Plätzen. Sie mußten jetzt warten, bis sich Fräulein Bykowski zeigte. Jedenfalls fiel der
Aufenthalt im Wagen weniger auf, als direkt vor der Haustür herumzulungern. Grüner und Groß standen über den Operativstab im Präsidium mit Hauptmann Torsten in Sprechverbindung. Torsten hatte auch die Leitung des Aufgebots der ABV in ihren Abschnitten übernommen. In Zivil, mit Handzettel und Lichtbildern von der Bykowski und der Brockmann ausgerüstet, standen sie mit Funkwagen an festgelegten Standorten in Verbindung. Alles lag auf der Lauer. Bis zehn Uhr herrschte Funkstille. Drei Stunden lang ereignete sich nichts. Das zerrte an den Nerven, ließ die Spannung steigen. Da meldete sich Groß als erster: "Elster zwo! - Zehn Uhr sechsundzwanzig. Ingeborg B. verläßt das Haus." Torstens Anweisung: "Der ABV bleibt am Ort. Er hält Manfred B. unter Kontrolle. Der Fahnder folgt der Frau. Der Wagen", er meinte Groß, "fährt ihm nach, um zu sichern! Alles klar?" "Alles klar!" Nachdenklich starrte Groß noch eine Weile auf den Hörer der Sprechanlage. Er war gar nicht Feuer und Flamme darüber, daß er . Na ja, die Verfolgung der Bykowski wäre ihm lieber gewesen. Die Brockmann, was soll's? Ein totes Rennen. Otto Zeuske, Groß' Fahrer - mehr Kriminalist als Chauffeur -, hatte den Fahnder im Auge behalten. Ohne Aufforderung stoppte er den Wagen, wies mit dem Daumen links über die Schulter und sagte lakonisch: "Haltestelle, Straßenbahn, Linie Drei." Groß sah die Brockmann an der Haltestelle stehen, den Fahnder an ihren Fersen. Die Straßenbahn kam. "Hinterher!" sagte er ohne Begeisterung. Aus seinem Ton hätte man entnehmen können, daß er bloß als mäßig interes-
sierter Zuschauer reagierte. An jeder Haltestelle der Straßenbahn hielt Zeuske an. "Verdammte Zuckelei", knurrte er, weil er den fließenden Verkehr mit seiner Fahrweise behinderte. Langhansstraße - Storkower Straße - Frankfurter Allee - Gürtelstraße. Ingeborg Brockmann stieg aus. Es hatte den Anschein, als suchte die Brockmann ein ganz bestimmtes Haus. Häuser mit zwei Hinterhöfen aus der Zeit der Gründerjahre standen hier auf engem Raum zwischen Ruinen. Altbauten mit Toiletten noch auf Höfen oder Treppen.
Zeuske bot alle Geschicklichkeit auf, der Frau und dem Fahnder zu folgen, ohne daß der Leutnant weder die eine noch den anderen aus den Augen verlieren konnte. Da, sich auffällig umsehend, verschwand die Brockmann in einem Flur hinter einer sehr erneuerungsbedürftigen Haustür. Wollte sie den Fahnder abhängen? Groß war hellwach.
Er schürzte die Lippen, und sein Kinn sank nachdenklich auf die Brust herab. "Ruf den Hauptmann - die Lage - den Standort!" wies er Zeuske an. Und raus aus dem Wagen war er. Auch die Bykowski hatte ihre Wohnung verlassen. Dabei hatte es einen bedeutungsvollen Zwischenfall gegeben. Wie es aussah, wollte sie um keinen Preis auffallen. Aber der Nylonmantel, die Sonnenbrille und ein modisches Kopftuch verbargen nicht viel. Grüner hatte sie sofort erkannt und fuhr hinterher. Sie war bis zum Ende ihrer Straße gegangen und hatte sich dann nach links gewandt. Sie war einer mit Plakaten bedeckten Mauer bis zu einem Gang zwischen teerbestrichenen Holzzäunen einer Kleingartenanlage gefolgt. Ein Gang, kaum drei Meiler breit. Hier hatte sie unversehens kehrtgemacht und den sie verfolgenden Fahnder mit der Frage aufgehalten: "Wünschen Sie was von mir?" Der Fahnder mußte aufgeben und verständigte Grüner, der sofort den ABV zur weiteren Verfolgung losjagte. Roswitha Bykowski fühlte sich also verfolgt, beobachtet. Hatte sie ein schlechtes Gewissen? Unter diesen Umständen war kaum ein neuer Tatort, eine neue Straftat, zu erwarten. Torsten entschied kurzerhand: "Wir handeln! Haltet sie auf. Durchsucht sie nach Diebeswerkzeug, Tandel, Haken und so. Auch ihre Wohnung!" "Die Begründung?" fragte Grüner noch. "Entscheide selbst", lautete die Antwort. "Sage ihr meinetwegen, sie sei von Zeugen wiedererkannt worden. Auf jeden Fall bringt sie anschließend ins Präsidium!" "In Ordnung", sagte Grüner und dachte: Was für ein Beruf. Die Rechtsgrundlage war das Wichtigste. Nun sollte er
sich die allein zurechtlegen. Er zog in Gedanken Bilanz: Das Gesetz beschränkt sich nicht nur auf Verhaftungen und Durchsuchungsbefehle, nein, es hat tausend Waffen, mit denen es Betrüger und Bösewichte treffen kann. Und eine dieser Waffen sollte gegen Roswitha Bykowski angewandt werden. Nicht Willkür, auf die Begründung kam es an. Und die mußte hieb- und stichfest sein. Grüner rannte dem ABV hinterher und holte die Bykowski ein. Er wies auf den wartenden Wagen hin. "Wenn Sie so freundlich sein wollen .? Kriminalpolizei!" Die Bykowski nahm die Brille ab. "Sie? Ich kenne Sie doch? Also doch ein schräger Typ! Wußte doch gleich, daß mit Ihnen etwas nicht stimmt .", antwortete sie mit kehliger Stimme. Über ihr männliches Gesicht flutete eine zornige Welle. "Um aufrichtig zu sein, ich bewundere Ihre Beobachtungsgabe. Faszinierend!" entgegnete er und sah sie mit einem kalten Blick an, mit dem er - in geübter Weise seine Gegner unsicher zu machen liebte. Pikiert hob sie indessen nur ihre breiten Schultern. "Sie sagen mir sicherlich noch, weswegen sie mich verschleppen wollen. Oder?" "Sicher. Wir reden noch darüber. Wenn ich bitten darf, mir zu folgen ." Während der Fahrt zurück, zu ihrer Wohnung, verhielt sie sich still. So still, daß sich Grüner sagte: Ein Mensch, der ungerechtfertigt in die Hände der Kripo gerät, der protestiert entschieden, der macht sich Luft wegen seiner Festnahme. Sie aber, sie schweigt einfach. Aus Protest? Oder bedeutet das schon ein Eingeständnis?
Sie schwieg auch noch, als sie ihre Wohnung erreichten. Es war üblich, vor der Durchsuchung der Räume den Grund und die zu suchende Sache zu benennen. Schon deshalb, um den Betroffenen die Möglichkeit einzuräumen, den gesuchten Gegenstand freiwillig herauszugeben. Roswitha Bykowski, tief beeindruckt von der Gegenwart der zwei Zeugen aus ihrer Nachbarschaft - wie peinlich -, sagte nach Gruners Erklärung: "Suchen Sie doch! Ich weiß nur nicht, was." Ihre Stimme kletterte in die Höhe. "Aber beschweren werde ich mich, damit Sie's wissen." Aber kein Dietrich, kein Haken war zu finden. Nur .! Grüner stutzte: Die Brosche mit der Perle, die der Margarete F. aus Prenzlauer Berg gehörte. Ein belastendes Indiz in der Wohnung der Bykowski. Und die schwieg beharrlich, trotzig. Sie wird reden, sagte sich Grüner, reden müssen oder wollen, wenn sie die Umstände erst kennt. So lange blieb die Frage nach der Herkunft der Trauringe und der Brosche Gegenstand einer Vernehmung. Und die sollte - soweit Torstens Anordnung - im Präsidium erfolgen. Die Rechtmäßigkeit der vorläufigen Festnahme war nun nicht mehr Gruners Sorge.
Leutnant Groß war eben behende aus dem Wagen gesprungen, als sein Fahnder auch schon hinter der Brockmann in den Hausflur schlüpfte. Also vorneweg die Brockmann, ihr nach der Fahnder und dann er, Groß. Dreimal rasselte die altersschwache Haustür hinter ihnen mit dumpfem Grollen in den rostigen Angeln. Im zweiten Hinterhof holte er den Fahnder ein. Stumm deutete der mit dem Kopf zum Quergebäude. Entschlossenes Handeln war erforderlich. Rasch blickte
Groß über den Hof hin. Dann erklärte er hastig seinen Plan: "Los, die Treppe besetzen, du zwischen der vierten und dritten Etage, ich in der ersten. Feststellen, aus welcher Wohnung sie kommt. Bei der Festnahme auf ihre Taschen oder Beutel achten. Auf geht's!" Ruhe herrschte im Treppenhaus. Nur ganz oben dudelte irgendwo ein Radio. Auf jedem Podest wohnten zwei Parteien. Und in einer der zehn Wohnungen war die Brockmann verschwunden. Wenn man jetzt wüßte, in welcher. Minuten vergingen. Und dann .! Im zweiten Stock, rechte Seite, schnappte sachte die Tür ins Schloß. Groß hatte seinen Standort übersichtlich gewählt. Eine halbe Treppe tiefer lief sie ihm unausweichlich in den Weg. Sie, die Frau im braunen Nylonmantel, die Frau mit dem schütteren Haar, ihr Gesicht blitzschnell hinter der vorgestreckten Hand verbergend. Alles genau wie im Fahndungshinweis beschrieben. "Wir kennen uns schon, Frau Brockmann, oder?" triumphierte Groß und tippte an den Rand seines Hutes. "Kriminalpolizei!" Gewissenhaft wies er den Genossen der Fahndung an, im zweiten Stockwerk, rechte Seite, festzustellen, ob jemand in der Wohnung sei. Klopfen - Klingeln - nochmals Klopfen. Keiner rührte sich. Unwahrscheinlich, mit welch sicherem Instinkt diese Frau das so schnell herausgefunden hatte. Indessen, für Groß galt ihr Eindringen in die Wohnung als unantastbarer Beweis. "Sie sind vorläufig festgenommen", erklärte er, "Ihre Tasche bitte!" Was hatte sie gestohlen? fragte er sich. Zigaretten, Geld, Schokolade oder was? Beweisunfähiges Zeug. Aber der benutzte Dietrich, der Haken, die sind mehr wert als alles
andere. Jedenfalls, es gab nichts mehr daran zu deuteln, er, Groß, hatte die Gesuchte auf frischer Tat ertappt. Wie sonst war sie in die Wohnung gelangt, wenn niemand darin anwesend war, um ihr die Tür zu öffnen? Ihr Atem roch nach Schnaps, als sie mit gerötetem Gesicht und erschreckter Stimme lossprudelte: "Festgenommen? Ich? Von wegen! Ich habe die Familie Hempel gesucht. Ist das vielleicht verboten?" Sie versuchte Groß zu provozieren. "Uff!" parierte der. "Was wollten Sie in der fremden Wohnung?" "Fragen. Bloß fragen. Da stand die Tür offen. Da dachte ich ., ich dachte . War aber keiner da ." "Dachte ist schon gut", meinte Groß in seiner Art. "Auch ich dachte mir, hilf ihr suchen." Mit einer laxen Handbewegung wies er die Treppe hinab. "Kommen Sie bitte! Nach Ihnen ."
Trotz der Eindeutigkeit blieb noch eine Lücke in der Beweisführung. Weder die Bykowski noch die Brockmann wurden im Besitz eines Dietrichs oder Hakens angetroffen. Der Kriminaltechniker Oberleutnant Grüner war für die Suche und Sicherstellung sachlicher Beweise verantwortlich. Mittagszeit. Manfred Brockmann, noch immer vom zuständigen ABV bewacht, öffnete im Schlafanzug die Wohnungstür. Immerhin, Montag - Schließtag - sein Feiertag. Im Zimmer flimmerte ein Western auf dem Bildschirm. Nach Gruners Erklärung mimte er den Besorgten.
"Inga? Was hat sie wieder angestellt? Mein Gott, sie trinkt! Was rede ich und rede? Sie trinkt", schwatzte er ohne Punkt und Komma gekonnt drauflos. "Sonst kann sie kein Wässerchen trüben. Bloß ihr verdammter Tick. Sie sucht in ihrem Wahn ständig nach Leuten, die nur in ihrer Phantasie existieren. Deshalb ., ihre Kinder . Die sind auch lieber bei der Oma als hier im Haus ." Grüner hörte ungeduldig zu. "Ich sage die Wahrheit", antwortete Brockmann unnötig laut. "Gut, gut! Ziehen Sie sich bitte an. Wir fahren zum Präsidium der Volkspolizei." "Festgenommen?" "Nein. Zur Klärung eines Sachverhalts." XV.
Man sah es ihm an. Hauptmann Albert Torsten war unzufrieden. Was blieb, war die Frage nach dem Diebeswerkzeug, das die Brockmann am Morgen in der Gürtelstraße benutzt haben mußte. Kurz: Ein so wichtiges, objektives Beweismittel nicht auffindbar? Das gab's nicht. Hauptmann Torsten wiegte sinnend den Kopf und rückte mehrmals an seiner Brille. Er vermied überflüssige Worte. Seine karge Rede war auf eine klärende Antwort gerichtet. "Denkt nach! Dreht das Unterste zu oberst. Der Fehler liegt bei euch. Die Dietriche können sich nicht in Luft aufgelöst haben." Und Grüner kehrte inzwischen zu seinem Gedanken zurück, der ihm in der Wohnung der Brockmanns schon gekommen war. Erinnerungen lösten einander ab und
stießen mit den Tatsachen zusammen. Schließlich leuchtete die Erkenntnis auf seinem runden Gesicht. "Da war mal ein Fall ." Er zog das Telefon zu sich heran und wählte die Fahrbereitschaft. "Grüner! - Die Wagen für Elster eins und zwo bitte nochmals zum Hof vier! Ja, für Oberleutnant Grüner." Dann grinste er hintergründig zum skeptischen Groß hinüber, als hätte er den Schwarzen Peter in der Tasche, sagte vergnügt "Tatsache!" und ging. Die Wagen kamen. Als Grüner forderte: "Nehmt die Rücksitze raus!", stieß er auf verständnisloses Lächeln bei Zeuske. "Det sind Personenwagen, Oberleutnant. Wat soll'n transportiert werden?" "Nichts", antwortete Grüner. "Wat man da nich allet findet", schnüffelte Zeuske und ging zu Grüner, der am zweiten Wagen stand. "Können Sie die gebrauchen, Oberleutnant? Lagen in de Polster hinten ." Grüner sah auf. Beinahe wäre er Zeuske um den Hals gefallen. Was der in den Händen hielt, waren zwei wunderschöne Haken. Der eine etwa zehn Zentimeter lang, an einem Ende zum Ring gebogen, um ihn fassen zu können, am anderen ein einfacher breitgeschlagener Bart. Der zweite Dietrich war schon komplizierter. Auch ein Kriminalist kann sich überschwenglich freuen. "Zeuske! Sie wissen nicht, was Sie da haben. Danke schön! Das war's, was ich suchte."
XVI.
Sie, Ingeborg Brockmann, war die Diebin, ein kleiner, gemeiner Dieb. Unbestreitbar. Eine willensschwache, leicht beeinflußbare Frau. Sie wirkte so zurückhaltend, so bescheiden - zumindest auf den ersten Blick -, daß bezüglich ihres Wesens das weise Wort "Schuld" kaum anwendbar schien. Zwei uneheliche Kinder von verschiedenen Männern, dann einen Ehemann, der sie nicht aus Liebe geheiratet hatte. Jedenfalls, für Manfred Brockmann als wiederholtem Rückkehrer in die DDR galt die Genehmigung des Zuzugs nach Berlin mehr als sein Eheversprechen an Ingeborg. Selbst deren Kinder schloß er bei seinem Vorhaben mit ein. Auf Hauptmann Torstens Frage, warum Manfred unbedingt in die DDR wollte, blieb die Antwort aus. "Warum - warum? Vorstrafen im Westen?" Und so wurden die Schatten ihres Lebens immer länger. Der Haushalt, die Kinder, Manfreds Ansprüche, eine Misere; es reichte nicht. Aber Manfred war nicht gewillt, mehr von seinem Verdienst, mehr als das Notdürftigste beizusteuern. "Was gehen mich deine Kinder an?" So seine launischen Redensarten. "Willst du mehr, mußt du es dir holen!" Und was hieß das, "holen"? Mit seinen Erfahrungen lehrte er sie an der eigenen Wohnungstür schließen mit Haken und Dietrich. Und dann folgte Lektion auf Lektion. "Nimm nur, was man nicht suchen kann, nicht finden kann! Nie auffallen! Und geht mal was schief, die Haken weg, keine Beweise liefern, verstehst du?" suggerierte er ihr. Sie befolgte alles. Doch nie hätte sie aus eigenem An-
trieb so Erlerntes an fremden Wohnungstüren erprobt. Schließlich trank sie sich Mut an und ging, um zu stehlen. Fast eine eheliche Dienstleistung. "Und montags? Warum immer montags?" "Montags war er zu Hause. Ruhetag im Lokal. Da drängelte er schon: ,Trink noch einen! Denk an deine Kinder. Geh!'" Und sie ging. In ihrem Sinn war sie auch Mutter. Sicherlich. Das Stehlgut bewies das unbestreitbar. Und er, Manfred Brockmann? Es gab kein Zeugnis seiner Schuld. Er gab Antworten mit halben Worten, mit Lippen, die zusammengezogen waren wie ein Tabaksbeutel. Brockmann hatte - in zahlreichen Verhören geübt - im Umgang mit Justitia selten etwas zugegeben. Doch Torsten durchschaute ihn mit Konsequenz, Gründlichkeit und Strenge, auch mit Pfiffigkeit seiner Polizistentugend. Brockmanns Aussage lief wie auf Schienen. "Sie trinkt. Sie sucht nach Leuten in den Häusern. Sie hat den Tick und stiehlt. Kleptomanie, was weiß ich?" Sie, nur sie und nochmals sie! Die Wahrheit spielte gar zu gern Versteck. "Die Haken? Woher sind die Haken?" "Was w-weiß ich?" In die Enge getrieben, bewies sein erregtes Stottern am Ende mehr, als er zu sagen gewillt war. Seine Vergangenheit holte ihn wieder ein. Sein Haftbefehl lautete auf Anstiftung und Beihilfe zum schweren Diebstahl. Ingeborg Brockmann war die Anklägerin und der Belastungszeuge zugleich, Anwalt ihrer selbst. "Bergan haben zwei schwer zu schaffen. Aber bergab braucht nur einer einen Stoß zu geben", kommentierte Torsten zum Schluß.
Roswitha Bykowski dagegen, männlich in Gestik und Rede, wußte sich zu wehren. Ihr Schwager Manfred hatte sie über die Herkunft jener zwei Trauringe und der Brosche im unklaren gelassen. " . sind Pfänder von Kunden - ein Erbstück von der Mutter", hatte er ihr vorgelogen. Und sie hatte in gutem Glauben gehandelt. Nun war die vorsorglich getroffene Festnahme ihrer Person zu erklären, ihre Entlassung zu verfügen. Groß sollte das übernehmen. Und Groß, gutmütig wie immer, ließ sich breitschlagen. Schon im Weggehen, mit Hut und Mantel angetan, ging er zur Bykowski ins Gewahrsam. "Ach nee! Der Bulettennörgler . Hätte ich mir auch denken können", sprudelte sie los, holte tief Luft und keifte: "Aber nicht bei mir! Nicht mit mir!" Groß gab sich von seiner besten Seite. Obwohl er seine Seele baumeln ließ, eine Roswitha Bykowski zu beeindrucken, das gelang auch ihm nicht. "Langsam, langsam! Um ein Omelett zu genießen, muß man Eier zerschlagen. Eigentlich bin ich gekommen, um Sie zu entlassen", erklärte er. Er hatte seinen Hut so gedreht, daß er in das Innere sehen konnte. Ohne die Augen zu erheben, sagte er: "Aber ganz schuldlos, so ohne alles, sind Sie ja auch nicht ." "Noch so ein paar hübsche Sätze, und ich werde unruhig", fiel sie ihm ins Wort. "Mein Schwager, das Luder, hat mich hineingerissen. Das ist alles. Was noch?" Groß richtete seine Aufmerksamkeit scheinbar wieder auf den Hut. "Warum hat Brockmann Ringe und Brosche nicht selbst verkauft?" gab er zu bedenken. "Spätestens da hätten Sie fragen sollen: ,Wieso?' Sie hätten sich viel Ärger erspart."
"Ich kenne jemanden, der handelt mit solchem Krimskrams in der Markthalle. Deshalb ." "Ich weiß. Die Boutique", verbesserte Groß gelassen. "Frau Konitzke - richtig?" "Sie wissen?" "Unsere Buschtrommel funktioniert." "Wie sind Sie überhaupt auf mich gekommen? Ich hatte doch auf Manfreds Rat hin ausdrücklich darum gebeten ." "Wen?" "Meine Sache!" Groß entsann sich seines Versprechens gegenüber Leonore Konitzke. "Ihre Sache - unsere Sache! Belassen wir's dabei. Einverstanden?" Einigermaßen versöhnt, verließ Roswitha Bykowski, von Groß begleitet, die Dienststelle. Die Art des mittelgroßen Mannes an ihrer Seite beruhigte sie, wo sie doch keine Männer mochte. Es war irgendwas Besonderes in der Erscheinung des Leutnants mit dem wuchtigen Kinn.
Noch ein Nachsatz: Grüner und Groß saßen am anderen Morgen bei der Vorbereitung des Schlußberichtes, als Martha, die Raumpflegerin, zu ihnen ins Zimmer trat. "Genosse Leutnant, kann ich Sie mal sprechen? Ein Unbekannter hat in meiner Wohnung die Tür zum Vogelbauer aufgemacht." "Ach nee!" meinte Groß. "Na und?" "Mein Hansi, mein Wellensittich, ist zum Fenster raus. Ich möchte Anzeige erstatten ." Kaum daß Martha gegangen war, seufzte Groß und fragte: "Was soll ich bloß mit ihr machen?"
"Was schon? Hingehen, überzeugen", antwortete Grüner in ehrlicher Absicht. "Überzeuge mal einen Eskimo, einen Kühlschrank zu kaufen. Der Teufel weiß, ich habe keine Zeit dazu. Die Sache vom Milchhof muß endlich vom Tisch. Tatsache!"