TERRA ASTRA Nr. 501
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TERRA ASTRA Nr. 501
Peter Griese – Mondgeschichten (Science Fiction Roman) Luna und die Menschen – fünf neue SF-Stories um den Erdtraban ten
INHALT Die Große Katastrophe Die ultimative Waffe Der Mann im Mond Die ewigen Nomaden Das Signal
Seite 3 Seite 18 Seite 22 Seite 41 Seite 77
Dieses eBook wurde im Februar 2003 erstellt und ist nicht für den Verkauf bestimmt!
Mondgeschichten von PETER GRIESE
Die Große Katastrophe
Die Gleitschienenbahn raste durch eine letzte Kurve. Dann setzte das quiet schende Geräusch der Bremsen ein, und mit einem sanften Ruck kam der Zug zum Stehen. Garth O’Niell blickte erwartungsvoll durch das kleine Fenster. An dieser Station war er noch nie in seinem Leben ausgestiegen. Die meisten Schienen bahnen fuhren hier regelmäßig durch, weil es keine Passagiere gab, die an diesem einsamen Flecken aussteigen wollten. Heute aber hatte er, Garth O’Niell, inoffizieller Sonderbeauftragter der Erd regierung, auf den Halteknopf gedrückt. Unwillkürlich glitt seine Hand über die linke Brustseite, wo das kleine und flache Funkgerät, als Brieftasche getarnt, verborgen war. Er konnte es jederzeit aktivieren und damit Hilfe rufen. Aber im Innersten seiner Seele hoffte Garth, daß dies bei dieser Erkundung nicht notwendig sein würde. Erkundung, dachte er sarkastisch. Es handelte sich um ein Wagnis, um ei nen Auftrag, um ein gefährliches Unternehmen. Malcolm-17, sein eiskalter Chef, hatte es Erkundung genannt. Der junge Mann mußte sich beeilen, um den Zug rechtzeitig zu verlassen. Erwartungsgemäß war er der einzige Fahrgast, der an dieser Station die Gleit schienenbahn verließ. Der Bahnsteig war menschenleer. Einer der drei Seitenstollen mußte zu einer kleinen Forschungsstation führen. Das wußte Garth O’Niell aus einer Landkar te dieses Gebiets. Allerdings war dies nicht sein Weg. Der Hinweis, der ihm über den Mittelsmann zugespielt worden war, besagte dies eindeutig. Unklar war dem Mann allerdings, wohin er sich wenden sollte. Er wartete, bis der Zug die Station verlassen hatte. Dann blickte er sich um. Nirgends gab es ein Hinweisschild. An der Decke leuchteten drei trübe Lam pen, die die Halle nur dürftig erleuchteten. Es war kühl, denn in dieser Region unter der Erdoberfläche gab es keine Heizanlagen. Das Sonnenlicht konnte nicht bis in diese Tiefen dringen. O’Niell schlenderte langsam den Bahnsteig entlang und überlegte. Es gab kaum einen verwertbaren Anhaltspunkt. Die Forschungsstation war zwar in privaten Händen, wurde aber regelmäßig von staatlichen Organen inspiziert. Die Berichte darüber wiesen keine Unregelmäßigkeiten auf, hatte ihm Malcolm-17 erläutert. Also konnte es keine Verbindung zwischen ihr und den Ille galen oder gar den Gesetzlosen geben. An den Worten eines Malcolm-17 zwei felte man nicht. »Ist hier jemand?« rief er laut. 3
Mand, mand, mand, antwortete das Echo aus der Röhre der Gleitschienen bahn. Garth O’Niell wählte willkürlich den ersten Gang, der von dem Bahnsteig abzweigte. Er wußte nicht, ob es sogar der Weg war, der ihm als der falsche bezeichnet worden war. Der Hinweis war zu dürftig gewesen. Sein kriminalistisch geschulter Verstand sagte ihm jedoch, daß dies Absicht gewesen sein mußte. Die Leute im Hintergrund schienen ihn recht genau zu kennen. Man erwartete einfach von ihm, daß er das angegebene Ziel finden würde. Warum hatte man sich aber dann gerade mit ihm in Verbindung gesetzt? Es gab zu viele Rätsel. Wenn man ihn kannte, so mußte man auch wissen, daß er mit großem Erfolg für Malcolm-17 arbeitete. Er hatte in den letzten fünf Jahren mehr als zwei Dutzend Illegaler und sogar acht Gesetzlose an die Re gierung ausgeliefert. In der unterirdischen Röhre waren nur etwa alle einhundert Meter Lampen angebracht. Dazwischen gab es eine Zone, in der es fast völlig dunkel war. Er fürchtete sich nicht. Auch rechnete er nicht damit, daß man ihm hier auf lauern würde, denn es war kein Zeitpunkt für sein Kommen verabredet worden. Er hätte schon vor zwei Tagen hier sein können oder erst in vier Wochen. Mit gleichmäßigen Schritten setzte er seinen Weg fort. Als er unter der vierten oder fünften Lampe stand, zog er wieder einmal den kleinen Zettel aus der Tasche, den ihm die Frau nach dem Schwebetanz in der Hotterthek zugesteckt hatte. Er kannte den Text auswendig. Aber er vermutete noch immer, daß in ihm etwas enthalten war, was er übersehen haben könnte. Vierte Station hinter New-York-Central Richtung Chicago. Nimm den Weg, der nicht zur Forschungsstation führt. Dort findest du DEN Tip. I. Es war klar, daß das I für Illegaler oder Illegale stand. Die Bezeichnung der Station war eindeutig, die des Weges jedoch nicht. Unklar blieb, warum man DEN in großen Buchstaben geschrieben hatte. Es konnte einfach eine Hervorhebung bedeuten. Es konnte aber auch etwas ganz anders besagen. Grübelnd setzte er seinen Weg fort. Der Stollen fiel sanft ab, als ging es mehr und mehr in das Erdinnere. Die Wände waren aus rohem Gestein. Es gab keinen Schmuck, keine Verkleidung und schon gar keine Polsterung oder ein Geländer. Garth O’Niell blieb einfach stehen, als er in der nächsten Dunkelzone plötz lich eine Hand auf seiner Schulter fühlte. Seine Überraschung zeigte er mit keiner Geste. Auch drehte er sich nicht um. »Ja?« fragte er einfach. »Ich freue mich aufrichtig, daß du so früh gekommen bist.« Die Stimme ge 4
hörte einer Frau. Und Garth kannte die Stimme. Der Schwebetanz in der Hot terthek fiel ihm ein. Die kleine Frau mit dem ernsten und durchdringenden Blick. Viel hatte sie nicht gesagt. Sie hatte nicht einmal gelächelt. Aber sie hatte ihm einen kleinen Fetzen Papier zugesteckt, bevor sie ohne ein Wort des Abschieds im Dunkeln verschwunden war. Langsam drehte er sich um. »Ich kenne nicht einmal deinen Namen«, sagte er tonlos. »I«, antwortete sie. War es Freude oder Ironie, die in diesem einen Buchsta ben mitschwang? »Das ist kein Name.« Seine Antwort war schroff. Sie faßte ihn unter den Arm und deutete ihm damit an, den Weg fortzuset zen. »Es ist die Abkürzung für Ilona.« Allmählich fiel Licht in ihr Gesicht. »Du meinst«, antwortete er förmlich, »es ist die Abkürzung für Illegale.« Aus den Augenwinkeln heraus bemerkte er, daß sie mit den Schultern zuck te. »Wie du willst.« Ihre Stimme klang unverschämt selbstsicher. Er blieb ste hen und schaute sie an. Ilona war eine schöne Frau. Sie mochte etwa 25 Jahre alt sein. Sie trug ihre Haare nach der augenblicklichen Mode in Amerika ganz kurz. Das machte ihr Gesicht besonders ausdrucksvoll. Die pechschwarzen Haare ragten kaum einen Millimeter in die Höhe. »Du bist eine Närrin. Ich nehme an, daß du in mancher Hinsicht über mich Bescheid weißt. Also solltest du auch wissen, daß ich dich nach diesen Worten sofort festnehmen kann. Von der Beweisführung wäre es abhängig, ob du den Weg in die Verbannung gehen wirst oder im Atomkonverter landest.« »Das stimmt«, antwortete sie einfach. »Gehen wir weiter. Man wartet auf uns. Du wirst vielleicht noch mehr Menschen treffen, von denen du glaubst, sie Malcolm-17 ausliefern zu müssen.« Garth O’Niell war seit seinem siebzehnten Lebensjahr für seine Aufgabe ausgebildet worden. Gelassenheit und Selbstsicherheit hatte er ebenso gelernt, wie seinen Verstand zu benutzen oder seinen Körper bei einer Auseinanderset zung reaktionsschnell einzusetzen. Jetzt war er zum erstenmal in seinem Leben unsicher. Zwar zeigte er dies mit keinem Wort und mit keiner Geste, aber er wußte bei sich selbst, daß es so war. Schließlich war er fast dreißig Jahre alt. Allein acht Jahre seines Lebens, na türlich die letzten acht Jahre, hatte er seine Fähigkeiten in praktischen Einsät zen als Inoffizieller vervollkommnen können. Und jetzt kam diese Illegale in seinen Weg und erzeugte Verwirrung. Lag es 5
vielleicht nur an ihrer auffälligen Erscheinung? Der Weg führte weiter abwärts. Das Gefälle nahm deutlich zu. Die wenigen Beleuchtungskörper hingen in immer größeren Abständen von der Decke. Er schwieg. Die Möglichkeit, mehrere Illegale mit einem Schlag zu fassen, war verlockend. Andererseits sagte er sich, daß es sich um nichts weiter als eine Falle handeln konnte. Wenn es hart auf hart gehen würde, hätte er viel leicht keine Möglichkeit mehr, sein Funkgerät zu aktivieren. »Weißt du, worüber die Illegalen sprechen?« fragte sie unvermutet. »Natürlich.« Er gewann seine Sicherheit bei dieser einfachen Frage schnell zurück. »Sie verbreiten Lügen über die Geschichte der Erde. Sie entstellen die Wahrheit über die Große Katastrophe durch allerlei unsinnige Varianten.« »Allgemeines Geschwätz.« Die Worte klangen abfällig. »Weißt du nichts Genaueres?« »Warum sollte ich mich mit Gedanken befassen, die absurd sind?« fragte er zurück. »Gedanken, die der Wahrheitsfindung dienen, sind nie und nimmer absurd.« Er lächelte sie mitleidig an. »Die Wahrheit ist bekannt. Die Große Katast rophe war die Ursache dafür, daß sich die Menschen unter die Erdoberfläche zurückziehen mußten. Draußen auf der Oberfläche der Erde ist ein Leben ohne besondere und sehr aufwendige technische Schutzmaßnahmen unmöglich. Die Urheber der Großen Katastrophe leben seit Ewigkeiten nicht mehr. Gegen sie brauchen wir nicht zu kämpfen, aber wir müssen gegen die kämpfen, die unse re Ordnung stören. Gegen die Illegalen und Gesetzlosen.« »Es gibt andere Theorien über die Große Katastrophe. Es gibt Widersprü che, die zum Nachdenken zwingen. Da liegt der Grund dafür, daß es Menschen gibt, die du Illegale nennst. Wir selbst bezeichnen uns als die Wahrheitsfin der.« Erneut blieb er stehen und blickte in ihre großen, ausdrucksvollen Augen. »Du gibst also zu, eine Illegale zu sein?« Ein leiser Ton des Bedauerns schwang in seiner Stimme mit. »Natürlich.« Ihre Stimme besaß eine Selbstverständlichkeit, als spräche sie von einem ganz alltäglichen Ereignis. »Es kann nichts Böses sein, über die Wahrheit nachzudenken. Und die Wahrheit ist, daß es niemals so gewesen sein kann, wie man uns weismachen will. Die Große Katastrophe hat es gegeben. Daran besteht kein Zweifel. Aber sie hat sich ganz anders abgespielt. Laß uns weitergehen.« »Wenn ich nur wüßte«, sagte er ernsthaft, während er seinen Weg fortsetzte, »wie ich dir helfen könnte, von diesem Unsinn abzukommen.« »Da bin ich im Vorteil.« Ihre Stimme klang plötzlich freudig und erregt. »Ich weiß, wie ich dir helfen kann. Meine Freunde und ich werden dir einfach 6
zeigen und sagen, was wir wissen. Und dann wirst du einer von uns.« »Du bist verrückt.« »Wir sind da.« Sie deutete auf einen schmalen Seitengang, der in der Dun kelheit kaum zu erkennen war. »Der Eingang ist offen, weil man uns erwartet.« Sie ging voran. Schon nach wenigen Metern gelangten sie in einen hell er leuchteten Raum, der aus dem Fels herausgebrannt worden war. Garth O’Niell erblickte verschiedene Gerätschaften, von denen ihm ein Teil unbekannt war. Ilona blieb am Eingang stehen und schob ihn nach vorn. »Hier ist er«, sagte sie laut. Hinter den Maschinen und Geräten kamen drei Menschen zum Vorschein. Es waren ein Mann und zwei Frauen. Ilona stellte sie vor. »Das sind Hank, Dith und Valerie. Alles Illegale, die nur einen Wunsch haben, nämlich den, mit dir zu sprechen. Wenn das geschehen ist, kannst du mit uns machen, was du willst.« Valerie, die zweifellos die jüngste der kleinen Gruppe war, ging mit einem strahlenden Lächeln auf Garth zu. Ihre Hand streckte sich ihm entgegen. »Ich begrüße dich, Garth«, sagte sie mit glockenheller Stimme. Er übersah die Hand. »Wenn ihr etwas zu sagen habt, dann tut es sofort. Ich gebe euch zehn Minu ten. Dann wird dieses illegale Nest ausgehoben.« »Richtig«, sagte Hank. Irgendwie hatte Garth plötzlich das Gefühl, diesen Mann schon einmal gesehen zu haben. »Dein Funkgerät. Willst du es nicht für die Dauer unseres Gesprächs hier auf den Tisch legen?« »Die erste Minute ist gleich um. Also beeilt euch.« Valerie zog sich mit betretenem Gesicht wieder zurück. Hank trat an eines der zahlreichen Geräte und betätigte mehrere Schalter. Ein summendes Geräusch wurde hörbar. Es ging von der Decke der Felskammer aus. Zwei dunkle Schatten schoben sich dort auseinander. Dahinter wurde der klare Nachthimmel sichtbar. »Es besteht keine Gefahr«, erklärte Hank. »Es handelt sich um eine Glaslin se, die völlig undurchlässig ist. Nur das Licht scheint hindurch.« Zuerst wurden die Sterne sichtbar, und dann … Ein heller, strahlender Ball leuchtete am dunklen Himmel. »Was ist das?« fragte Hank. »Der Mond«, antwortete Garth abfällig. »Wolltet ihr mir das zeigen? Lächer lich. Natürlich kennen nur wenige Menschen den Mond, seit die Große Ka tastrophe uns zwang, unter der Erdoberfläche zu leben. Aber in den Schulen gibt es Filme und Bilder, die jedem zeigen, daß die Erde einen Trabanten hat.« Die Frau, die Ilona als Dith vorgestellt hatte, sprach nun zum erstenmal. »Es 7
gibt viele Geschichten über unsere Vergangenheit und über die Große Katast rophe. Sie alle haben etwas gemeinsam. Stets kommt in den geheimnisvollen Erzählungen der Mond vor. Jetzt siehst du ihn, und wahrscheinlich ist es das erstemal, daß du ihn in seinem wahren Licht siehst. Heute ist Vollmond. Die Sonne steht sozusagen in unserem Rücken, und der Mond genau vor uns. Da her erstrahlt er in seinem hellsten Licht und in einem vollen Kreis. Spürst du nichts?« »Das einzige, was ich spüre«, antwortete Garth hart, »ist die Gegenwart von irren und verblendeten Illegalen. Vielleicht seid ihr mehr verrückt als ungesetz lich. Aber das ist auch alles, was ich euch zugestehe.« »Hast du nie von den Geschichten über den Mond und die Große Katastro phe gehört, Garth?« »Ich habe viel unsinniges Zeug in meinem Leben gehört«, antwortete Garth. »Es war alles unwichtig. Wir leben seit der Großen Katastrophe unter der Oberfläche, denn draußen ist die Erde zu einer lebensfeindlichen Zone gewor den. Jeder kann wissen, daß es vor Zeiten einmal anders war. Wie es war und warum es war und wie das Unglück geschah, geht nur die Malcolms etwas an.« »Wir möchten dir einen Film zeigen«, sagte Hank. »Es ist ein verbotener Film. Vielleicht der einzige, der auf der Erde noch existiert und der einen Teil der Wahrheit zeigt. Leider ist es nur ein Teil der Wahrheit. Aber wir hoffen, den Rest mit deiner Hilfe finden zu können.« »Es gibt nur eines, was ihr von mir zu erwarten habt«, konterte er sachlich, »und das ist die Auslieferung an Malcolm-17.« »Hast du jemals daran gedacht«, fragte Valerie, »daß es außer Malcolm-17 noch sechzehn andere Malcolms gibt, die vor ihm rangieren?« Garth gab keine Antwort. Er beobachtete Hank, der sich an einem Projekti onsgerät zu schaffen machte. Dabei tastete seine Hand unauffällig an die Brust, wo der Schalter des Funkgeräts zu spüren war. »Der Film«, sagte Hank. Auf der glattgeschweißten Felswand rechts von Garth zeigten sich seltsame Muster. Sie wichen einem klaren Bild. Ein monströses Gebilde, in dem er unschwer eine der sagenhaften Raketen erkannte, stand dort an ein Gerüst gelehnt. Ein Feuerschweif schoß aus der Unterseite der Rakete hervor. Langsam hob der Flugkörper vom Boden ab und strebte einem blauen, von dünnen Wolken durchsetzten Himmel zu. Bilder aus der fernen Vergangenheit der Erde. Er hatte ähnliche Filme in seiner Ausbildungszeit gesehen, aber nur in kurzen Ausschnitten. Er wußte, daß die Illegalen nach solchen Filmen suchten. Die Wahrheit war aber, daß es sich um raffinierte künstliche Produkte handelte, die nur zum Ziel hatten, die Gesellschaft der Erde zu verunsichern. 8
»Sieh nicht nur auf die Rakete«, forderte ihn Valerie auf. »Betrachte die Landschaft und die Menschen. Sie laufen ohne Schutzanzüge im Freien herum. Der Himmel ist blau, der Boden braun und grün. Du siehst Büsche und Bäu me.« Garth verzog abfällig seine Lippen. »Ein Teil davon mag stimmen. Ich mei ne, daß es früher so ähnlich auf der Erde ausgesehen haben kann. Aber insge samt gesehen ist der Film zu schlecht nachgemacht. Ein künstliches Produkt der Illegalen.« Hank trat zu ihm hin, als der kurze Streifen zu Ende war. Wieder befiel Garth ein eigenartiges Gefühl. Etwas ging von diesem Mann aus, das in ihm eine bestimmte Erinnerung wecken wollte. Aber er kam nicht darauf, was es sein könnte. »Wir wissen«, sagte Hank, »daß dieser Film echt ist. Daß du es nicht glaubst, ist unerheblich. Ich habe noch zwei andere Filme gesehen, die die Erde zeigen, bevor die Große Katastrophe eintrat. Unsere Welt war einmal ein herrlicher Planet. Es gab Wälder, Wiesen, Savannen, Seen und Meere. Und heute? Nichts ist davon zu sehen. Wir hausen wie die sagenhaften Ratten unter der Oberfläche und fristen ein Dasein, das menschenunwürdig ist.« »Phantasterei«, sagte Garth. »Ratten sind eine Märchenerfindung. Jeder weiß das.« »Du kannst nichts anderes denken.« Hanks Worte klangen aufrichtig und ohne Mitleid. »Du hast nichts anderes in deinem Leben gelernt oder gehört. Öffne deinen Verstand. Du gehörst zu den fähigsten Menschen der ganzen Erde überhaupt. Du mußt nachdenken. Du hast während deiner Jahre, in denen du für Malcolm-17 gearbeitet hast, bestimmt die eine oder andere Geschichte gehört, die sich mit unserer Vergangenheit befaßt. Oder mit der Großen Ka tastrophe. Sieh nach oben. Betrachte den Mond! Spürst du immer noch nichts?« »Mond, Mond«, äffte Garth. »Wen glaubt ihr vor euch zu haben?« Die vier Illegalen schwiegen und schauten sich gegenseitig an. Schließlich trat Valerie nach vorn. »Ich werde dir den Teil der Wahrheit sagen, den wir sicher wissen. Wie Hank schon bemerkte, gehörst du zu den hervorstechendsten Personen der Erde. Du bist nicht nur intelligent, sondern auch ungewöhnlich gut trainiert und ausgebildet. Deshalb brauchen wir dich für unser Vorhaben. Ohne dich schaf fen wir es nicht, denn deine Kenntnisse und Erfahrungen sind nicht zu erset zen.« Die junge Frau, die fast noch ein Kind war, wartete auf eine Reaktion. »Weiter!« sagte Garth hart. »Eure Zeit ist knapp.« »Wir wollen das Geheimnis unserer Vergangenheit lösen. Wir wollen den 9
Erzählungen nachspüren, die berichten, daß die Große Katastrophe in engem Zusammenhang mit dem Mond gestanden hat. Wir wollen zum Mond.« »Ihr seid verrückt.« »Durchaus nicht.« Dith ergriff das Wort. »Wir haben drüben in Asien ein Raumschiff entdeckt, das noch völlig intakt ist. Wir können es aber nicht steu ern. Wir besitzen nicht deine Kenntnisse und Fähigkeiten. Deshalb brauchen wir dich.« »Unsinn. Es gibt auf der ganzen Erde kein Raumschiff und keine Rakete. Schon seit vielen hundert Jahren nicht. Das weiß jedes Kind.« »Du hast jede erdenkliche Spezialausbildung erhalten, Garth«, fuhr Dith un beirrt fort. »Wir wissen es, denn wir haben selbst dafür gesorgt. Es war unsere Chance, einen fähigen Mann zu bekommen, der uns zum Mond fliegt, um dort das Geheimnis der Großen Katastrophe zu lösen. Wir hoffen sogar, dadurch eine bessere Zukunft für alle Menschen schaffen zu können.« Garth O’Niell lachte laut auf. »Ihr wollt für meine Ausbildung gesorgt ha ben? Das ist das Lächerlichste, was ich in meinem ganzen Leben gehört habe. Außerdem ist es eine Lüge.« »Und doch ist es so. Es gibt auf der ganzen Erde nur eine Handvoll Men schen, die umfassend und gründlich geschult werden. Und das sind die inoffi ziellen Mitarbeiter von Malcolm-17. Wir mußten diesen Weg gehen. Daß du gleichzeitig so geschult wurdest, daß sich dein Blick vor allen Realitäten ver schließen mußte, war unser Risiko. Es gab aber keine andere Möglichkeit. Dein Starrsinn ist der beste Beweis.« »Genug Unsinn, Illegale.« Garth faßte in seine Brusttasche und zog das Funkgerät heraus. Keiner hinderte ihn daran. »Ihr seid festgenommen. Ihr wer det Malcolm-17 vorgeführt und abgeurteilt.« Zunächst war Garth irritiert, weil ihn niemand davon abbringen wollte, die Häscher von Malcolm-17 zu rufen. Nach einer kurzen Überlegung schrieb er dies aber der totalen Verwirrtheit dieser Illegalen zu. Ein erstes Gesichtszucken ergab sich, als er feststellte, daß sich das Gerät nicht aktivieren ließ. Er versuchte es mehrmals, aber ohne Erfolg. »Wir wußten, daß dein Funkgerät defekt ist«, sagte Hank. »Also mußt du uns mit körperlicher Gewalt überwinden«, fuhr Ilona fort. Und Valerie ergänzte: »Denn Malcolm-17 hat dir bestimmt keine Waffe mitgegeben.« Nun war Garth O’Niell endgültig verwirrt. Er schwieg, während er sich mit gespielter Gelassenheit umblickte. Dabei fiel sein Blick auf die strahlend helle Scheibe des Mondes. »Zeigt mir das angebliche Raumschiff«, verlangte er. »Glaubst du uns dann?« fragte Dith. 10
»Vielleicht.« Bei sich dachte Garth, daß es bestimmt eine Möglichkeit geben würde, Malcolm-17 zu benachrichtigen, wenn er mit den vier erst wieder unter Menschen wäre. »Es ist eine Strecke Fahrt«, sagte Valerie. »Ich werde dich hinführen. Die anderen bleiben hier.« Das gefiel Garth weniger. Er hätte es lieber gesehen, wenn die Gruppe der Illegalen zusammengeblieben wäre. Er tröstete sich mit dem Gedanken, daß er die Illegalen sowieso fassen würde. »Gehen wir?« fragte Valerie. Er nickte und folgte ihr hinaus in den Stollen. Die Gesichter der anderen drei Illegalen hatten sich unauslöschlich in sein Gedächtnis eingeprägt. »Wir nehmen einen Quergang«, sagte Valerie, »der weiter unten zur Bahn nach Asien führt.« »Wie alt bist du eigentlich?« »Sechzehn. Fast siebzehn.« Sie sprang in langen Sätzen behend durch den Stollen und wich nach einer Weile in einen schmalen Quergang ab. »Eine Abkürzung«, erklärte sie. »Es soll Gesetzlose in der Nähe geben, also sei bitte wachsam.« Rechts von den beiden Menschen öffnete sich nach einer Weile der Felsen zu einer großen, natürlichen Höhle. Der Weg war schmal und schlecht beleuch tet Die Höhle war etwa vier Kilometer lang. Die Strecke überwanden die bei den in wenigen Minuten. Kurz vor dem Ende der Höhle geschah es. Hinter ein paar Felsbrocken sprangen fünf oder sechs Gestalten hervor. »Halt!« rief eine messerscharfe Stimme hinter ihnen. Dort standen weitere Männer. Garth O’Niell blieb stehen. An der Kleidung der plötzlich aufgetauchten Gestalten erkannte er sofort, daß es sich um Gesetzlose handelte. Er zählte insgesamt acht Männer in zerlumpten Fetzen. Blitzschnell schätzte er seine Chancen ab. Die Gesetzlosen waren ältere Männer. An Schnelligkeit und Reaktionsvermögen waren sie ihm weit unterle gen. Aber acht Gegner auf einmal? »Ausziehen bis auf die Knochen!« befahl einer. »Danach werden sie uns töten«, flüsterte Valerie. Ihre Hand deutete in den Abgrund neben dem Pfad. »Macht den Weg frei«, sagte Garth ganz ruhig. »Vor euch steht ein Inoffi zieller. Ihr wißt, was das bedeutet.« Einer der Männer begann meckernd zu lachen. »Das haben schon viele be 11
hauptet. Und es ist ihnen gar nicht gut bekommen.« Langsam kamen die Männer näher. Der Kreis schloß sich mehr und mehr. »Bring dich in Sicherheit«, rief Garth dem Mädchen zu. Im selben Moment schnellte er nach vorn. Er packte gleichzeitig zwei der Gesetzlosen und schleuderte sie gegen die Felswand zur linken Seite. Den Rückprall nutzte er gewandt aus, um zwei weitere in den nahen Abgrund zu stoßen. Dann waren die anderen über ihn hergefallen. Er wehrte sich mit allen Tricks, die er gelernt hatte, aber er konnte es nicht verhindern, daß er immer näher an den Abgrund gedrückt wurde. Dort ging es über fünfzig Meter in die Tiefe, und es war zweifelhaft, ob er einen solchen Sturz ohne Schaden überstehen würde. »Das ist dein Ende«, schrie der Mann mit der meckernden Stimme. Garth sah eine schwere Keule aus Eisen in seiner Hand. Die anderen drei hielten ihn fest, so daß er sich nicht mehr rühren konnte. Wie ein Pfeil schoß Valerie heran. Der kleine Körper des Mädchens prallte gegen den Gesetzlosen, als der mit der Keule zuschlug. Der Hieb streifte noch Garth’s Schulter, aber er traf ihn nicht tödlich. Trotz der heftigen Schmerzen war der Mann sofort wieder auf den Beinen. Er riß die Eisenstange mit dem verdickten Ende an sich und schlug damit um sich. Die Gesetzlosen ergriffen die Flucht. Garth ließ sie laufen. »Danke, Valerie«, sagte er einfach. »Du bist ein tapferes Mädchen. Ich scheine euch tatsächlich sehr viel wert zu sein, daß du ein solches Risiko ein gegangen bist.« Valerie strich verlegen ihren Overall glatt. »Ich habe dir nicht geholfen«, sagte sie leise, »weil du wertvoll bist.« »Warum dann?« Sie schaute ihn durchdringend an. Dann trat sie einen kleinen Schritt auf ihn zu. »Es hat keinen Sinn, es dir zu sagen. Du glaubst mir bestimmt nicht.« »Vielleicht doch.« »Gehen wir weiter. Bis zur Gleitbahn sind es noch zwei oder drei Kilometer. Ich sage es dir unterwegs.« Garth nahm die Eisenkeule mit, um gegen eventuelle weitere Überfälle der Gesetzlosen gewappnet zu sein. »Ich habe dir geholfen«, fuhr Valerie fort, »weil du mein Bruder bist.« Garth blieb erneut stehen. Direkt über ihnen brannte eine der wenigen Lam pen, die diesen einsamen Stollen erhellten. »Das soll ich dir glauben?« Er sah den klaren Blick in ihren Augen. Sein Ge 12
fühl sagte ihm, daß sie nicht log. »Ich habe keine Geschwister. Ich war ein Findelkind, das früh in staatliche Hände kam. Dadurch wurde ich mit Hilfe von Malcolm-17 zu einem seiner besten Männer.« »Zum besten«, sagte Valerie. »Und du hast vier Geschwister. Sie heißen Hank, Ilona, Dith und Valerie. Hank und Dith sind älter als du. Ilona und ich wurden erst später eingeweiht.« »Das ist unmöglich und verrückt.« Garth schüttelte den Kopf. »Ich bin Garth O’Niell, und ich habe keine Geschwister.« »Komm«, forderte ihn Valerie auf. »Ich bringe dich zu dem Raumschiff. Es existiert wirklich. So wirklich, wie du nicht Garth O’Niell heißt.« »Nicht?« »Nein, Bruder. Dein richtiger Name ist Garth Malcolm. Oder genauer: Garth Malcolm-2.« Sie sah sein zweifelndes Gesicht. »Malcolm-2«, murmelte Garth. »Der Senator für die Erhaltung der Atmo sphäre. Unglaublich.« Sie deutete ihm mit einer Geste an, den Weg fortzusetzen. »Er ist der fähigste Wissenschaftler unter den siebzehn Malcolms. Er ist un ser Vater, und er hat sich sein ganzes Leben lang mit der Frage nach der Wahr heit der Großen Katastrophe beschäftigt. Schon sein Vater und sein Großvater taten dies. Erst uns gelang der entscheidende Durchbruch, denn Hank fand in Asien das kleine Raumschiff, mit dem wir zum Mond fliegen können, um das Rätsel wirklich zu lösen.« »Warum funktionierte mein Funkgerät nicht?« fragte er unvermutet. »Eine Vorsichtsmaßnahme«, erklärte Valerie. »Wir wußten nicht, wie schnell wir dich überzeugen konnten.« »Ihr habt mich nicht überzeugt.« »Du bist ein sturer Kopf.« Sie lächelte zuversichtlich. »Aber das liegt an der Schulung, die du mitgemacht hast. Mit der Zeit wirst du jedoch einsehen, daß wir nicht lügen.« Vor ihnen wurde es heller. »Grönland«, sagte Valerie. »Von dieser Station aus können wir schnell nach Asien gelangen. Das Versteck des Raumschiffs liegt in der Nähe von Vladi wostok. Warst du dort schon einmal?« »Natürlich. Es gibt keinen Fleck auf der Erde, an dem ich nicht mindestens einmal gewesen bin.« Sie brauchten nicht lange auf die Gleitschienenbahn zu warten. Während der Fahrt schwieg Valerie, und auch Garth sagte nichts. Von Zeit zu Zeit beobachtete er das Mädchen, während er seinen Gedanken nachhing. Es gab da einen Punkt, der ihn besonders verwirrte. Er konnte und wollte 13
nicht glauben, was er in den letzten Stunden erlebt hatte. Sein ganzes Weltbild war in dieser Zeit ins Wanken geraten. Da war dieser merkwürdige Hank. Etwas an dem Mann hatte Garth von An fang an irritiert. Jetzt wußte er, was es war. Es war Hanks Ähnlichkeit mit ihm selbst. Irgendwie hatte Garth dies sofort bemerkt, aber sein einseitig ausgebildeter Verstand hatte sich geweigert, eine solche Unmöglichkeit zu akzeptieren. Er war Malcolm-2 dreimal in seinem Leben begegnet. Dennoch war das Ge sicht dieses Mannes, der immerhin der zweithöchste Politiker der Erdregierung war, nicht deutlich in seinem Gedächtnis. Sein Verstand war darauf getrimmt worden, sich die Merkmale und Gesichter von Illegalen und Gesetzlosen ein zuprägen. »Wenn Malcolm-2 wirklich für die Erforschung der Großen Katastrophe arbeitet«, fragte er Valerie, »warum tut er es nicht offiziell im Namen der Re gierung?« »Ein Malcolm gegen sechzehn?« Sie schüttelte den Kopf. »Er wäre von vornherein zum Scheitern verurteilt.« Sie verließen den Zug. Valerie führte ihn erneut durch die unterirdischen Stollen und Gänge in eine einsame Gegend. Sie begegneten kaum noch Men schen. Über eine in den Fels gehauene Wendeltreppe mit Stufen von fast einem halben Meter Höhe gelangten sie in einen unterirdischen Felsdom. Von hier führte ein kaum mannshoher Querstollen in einer sanften Steigung nach oben. Schließlich kamen sie an ein eisernes Tor. Valerie zog ein kleines Gerät aus der Tasche und hielt es vor das Schloß. Der Eingang öffnete sich. Garth erblickte einen Hohlraum, der nur dreißig oder vierzig Meter durch maß, aber wie eine riesige Röhre nach oben offen war. Den Abschluß der De cke konnte er in dem diffusen Licht nicht ausmachen. Nur zwei kleine Lampen in Bodenhöhe erhellten die Felskammer. Mitten auf dem kreisrunden Bodenabschnitt stand das Raumschiff. Es handelte sich um eine Kugel mit etwa zwanzig Metern Durchmesser. Ein Dutzend Landebeine stützten das Schiff ab. Daß es sich um ein Raumschiff aus der Vergangenheit der Erde handelte, war Garth sofort klar. Er hatte die Bilder von solchen und ähnlichen Schiffen während seiner Ausbildungszeit zu sehen bekommen. Damals hatte man ihm aber auch gesagt, daß es solche Schiffe nicht mehr geben konnte. Die Große Katastrophe hatte sie ausnahmslos hinweggerafft. Wie das geschehen war und warum, das wußte heute niemand mehr. Er zeigte auf den metallenen Körper. 14
»Dieses Ding ist eine Unmöglichkeit«, stieß er heftig atmend hervor. »Hank hat es vor etwa zwei Jahren entdeckt«, erklärte Valerie. »Wir haben seit dieser Zeit daran gearbeitet, das Schiff von einem konservierenden Mantel zu befreien. Dort auf dem Boden siehst du die Reste aus Kunststoff. Das Innere ist fremdartig und unverständlich. Es gibt zahlreiche Hinweise und auch so etwas wie eine Bedienungsanleitung. Aber wir kommen damit nicht zurecht, weil zu viele unverständliche Worte in dem Text vorkommen. Unser Vater muß mit diesem Fund gerechnet haben, denn er ließ dich so ausbilden, daß du einen besonderen Verstand für dieses Schiff entwickeln mußtest. Auch drängte er Hank immer wieder, nach diesem Schiff zu suchen.« »Ich kann mit diesem Schiff so wenig umgehen wie jeder andere«, wider sprach Garth. »Aber du kannst lernen, es zu steuern. Das wissen wir. Dein Verstand bietet alle Voraussetzungen dafür. Unserer nicht.« Garth zögerte. »Reizt es dich nicht«, bohrte Valerie weiter, »das Geheimnis der Großen Katastrophe zu lösen?« Der Mann schwieg. »Vielleicht sollen wir dir einen weiteren Beweis liefern?« »Welchen?« »Komm mit in das Schiff.« Sie wartete seine Reaktion nicht ab und schritt auf die Leiter zu, die aus ei ner Öffnung im Boden der Kugel hing. Garth folgte dem Mädchen benommen. Das Innere des Schiffes war für ihn eine völlig fremde Welt. Fasziniert starr te er auf die blinkenden Teile aus Metall und Kunststoff. Er fühlte einen unbe schreiblichen Drang in sich, die Geheimnisse dieser kleinen technischen Welt zu enträtseln. Wenn da nicht das bohrende andere Gefühl in ihm wäre, das ihm immer wieder sagte, daß er Unrecht tun würde. Wenn er sich mit seinen angeblichen Geschwistern verbünden würde, würde er zu einem derer werden, die er ein Leben lang gejagt und bekämpft hatte. Er wäre ein Illegaler. »Du zögerst noch?« fragte Valerie. Er wollte mit gewohnheitsmäßiger Kühle antworten, aber ihm versagte, die Stimme. »Na, Junge, wie gefällt dir das?« Garth fuhr herum. Eine große und wuchtige Männergestalt stand plötzlich neben ihm. Das Emblem auf der Brust des Fremden identifizierte Garth in einem Sekun denbruchteil. 15
»Malcolm-2«, hauchte er. Der Mann nickte. »Du kannst auch Vater zu mir sagen.« Garth schwieg und starrte den Mann an. »Die Kinder werden dir viel gesagt haben.« Malcolm-2 lächelte gütig. »Wir wußten, daß alles ein Schock für dich sein würde. Deshalb sind wir behutsam und in kleinen Schritten vorgegangen, um dich nicht völlig zu verwirren. Aber alles, was du gehört und gesehen hast, entspricht der Wahrheit.« Garth schüttelte den Kopf. »Es ist unbegreiflich, daß ich ein Leben lang die Leute gejagt haben soll, zu denen ihr mich jetzt hinzuzählen wollt.« »Ganz so ist es nicht.« Die Stimme von Malcolm-2 wirkte absolut sachlich. »Es gab und gibt in der Tat viele kleine Gruppen von Illegalen, die der menschlichen Gesellschaft schaden. Wir haben uns praktisch nur als Illegale getarnt, um unser Ziel zu verfolgen. Ich habe mit meiner heimlichen Arbeit lediglich das fortgesetzt, was mein Vater und dessen Vater und viele Männer vor ihm verfolgt haben, nämlich das Geheimnis der Großen Katastrophe zu enträtseln. Die Regierung verbietet dies. Es herrscht eine unerklärliche Angst vor der Lösung dieses Problems. Garth, ich habe viele einzelne Informationen über die frühere Geschichte der Menschheit. Zusammengesetzt ergibt sich jedoch kein vernünftiges Bild. Aber einiges ist doch klar. Die Erde war früher ein strahlender Planet voller Leben und mit einer natürlichen Atmosphäre. Es gab Tiere und Pflanzen, die völlig selbständig wuchsen und sich vermehrten. Die Hinweise darauf sind eindeutig. Genauso eindeutig ist, daß die Große Katastrophe etwas mit dem Begleiter der Erde, mit dem Mond, zu tun haben muß. Was das ist, wissen wir nicht. Von meinem Großvater kannte ich die sagenhafte Geschichte von einem konservierten Raumschiff. Hank hat es ge funden. Unsere Arbeit hat sich gelohnt. In der Hoffnung, daß uns dies gelingen würde, habe ich dich frühzeitig in die Hände von Malcolm-17 gegeben, damit du die umfassendste Ausbildung erhalten würdest, die ein Mensch auf der Erde noch bekommen konnte. Denn du sollst das Raumschiff zum Mond bringen, damit wir dort das Rätsel der Großen Katastrophe lüften können.« Malcolm-2 legte seinen Arm um Garth. »Es ist für alles gesorgt. Du hast ge nügend Lebensmittel, um in der nächsten Zeit hier zu bleiben und die Einrich tungen des Raumschiffs zu studieren. Eines deiner Geschwister wird immer an deiner Seite sein. Du hast soviel Zeit, wie du willst.« »Und Malcolm-17?« fragte Garth. »Wenn ich bis morgen nicht bei ihm bin, wird er mich suchen lassen.« »Ich spiele ihm eine Nachricht zu, die ihn vertröstet«, sagte Malcolm-2. »In meiner Position ist das kein Problem.« Er streckte Garth seine Hand entgegen. Der griff zögernd danach. »Ich weiß nicht …«, begann er, aber dann trafen 16
sich seine Augen mit denen seines Vaters, und ein Funke sprang über. »Ich bin euer Mann, Vater«, sagte Garth. Einen Monat später gelang es Garth, den Bordcomputer zu aktivieren. Plötz lich besaß er einen Gesprächspartner, der ihm beim Lernen helfen konnte. Über die Vergangenheit der Erde wußte die Maschine allerdings nichts. Sie behaup tete, erst nach der Großen Katastrophe erbaut worden zu sein. Als Erbauer bezeichnete sie ein Team von Menschen unter der Führung eines Mannes na mens Malcolm-18. Garth verwirrte dies zunächst, aber dann stürzte er sich wieder auf das Innere des Raumschiffs, um dessen Geheimnisse zu enträtseln. Weitere vier Wochen später war es soweit. Garth trommelte die ganze Fami lie zusammen. »Es ist alles vorbereitet«, erklärte er stolz. »Einem Start steht nichts mehr im Weg.« Es war tiefe Nacht, als das Schiff abhob und durch die Röhre nach oben schwebte. Der Verschluß der Felshalle öffnete sich selbständig. Garth dirigierte das Schiff nach draußen. Zum erstenmal in seinem Leben sahen die Menschen die zernarbte und von Kratern durchsetzte Oberfläche der Erde. Ein wahrhaft trauriges Bild voller Einsamkeit und Trostlosigkeit. »Wird die Erde je wieder so aussehen, wie wir sie in den alten Filmen erlebt haben?« fragte er seinen Vater. »Ich weiß es nicht, Junge. Wir können nur hoffen, auf dem Mond die Ant wort zu finden.« Sie waren zwei Tage unterwegs, in denen das häßliche Gesicht der Erde im mer kleiner wurde. Die strahlende Kugel des Mondes jedoch wurde immer größer. Voller Begeisterung starrten die Menschen auf die leuchtende Scheibe vor der Schwärze des Weltraums. Der Mond packte mit seiner Schwerkraft nach dem Schiff und zog es zu sich herab. Garth schaltete die Bremssysteme ein und steuerte das Schiff in einen Kurs, der sie in eine Kreisbahn bringen würde. Dann sprachen die Funkempfänger an. Es waren Signale vom Mond! Die Sprache klang fremd, aber sie war verständlich. Es war ihre eigene Spra che. In ihrer Aufregung achteten sie nicht auf den Inhalt der Worte. Ein wahrer Taumel erfaßte die Menschen. Erst als ein riesiger Schatten auftauchte und das ganze Schiff verschlang, bemerkten sie, daß etwas Unheimliches geschah. Der Antrieb des Schiffes versagte. Ringsum herrschte eine künstliche Helle. Man holte sie aus dem Schiff in das Innere des Schiffes, das sie aufgenom 17
men hatte. Die Fremden waren Menschen wie Garth und seine Geschwister. Sie waren freundlich, aber schweigsam. Ein Mann, der unschwer als der Kommandant des Riesenschiffs zu erkennen war, begrüßte sie mit verhaltenem Lächeln. »Ihr habt lange gebraucht, um den Weg zurück zu finden, aber damit ist eure Strafe verbüßt.« Garth verstand kein Wort. Staunend hing sein Blick an den Instrumenten des riesigen Schiffes, das langsam Fahrt aufnahm. »Wohin bringt ihr uns?« fragte Dith. Der Kommandant lächelte. »Die Malcolmbande hat ihre Strafe verbüßt. Zu Hause hatte man geschätzt, daß es 500 Jahre dauern würde. Tatsächlich waren es jedoch 1283 Jahre. Nun geht es nach Hause.« »Nach Hause?« fragte Valerie. Draußen kam die riesige Kugel des Mondes immer näher. Der Kommandant nickte. »Nach Hause.« Garth’s Augen hingen gebannt an den Wolkenfeldern. Dazwischen blinkten die weiten Flächen der blauen Meere. »Nach Hause, zur Erde«, sagte der Kommandant.
Die ultimative Waffe Wir trafen uns unweit des Wega-Systems, also weitab von den eigentlichen Schlachtfeldern. Die Abordnung der Harlekins war pünktlich zur Stelle. Sie schickten ein kleines Boot von nur 11.000 Kilometern Länge. Immerhin war das noch ein Riese gegen die größten terranischen Schiffe. Oben auf der höchsten Kuppe des Schiffes blinkten drei hellblaue Signal lampen, das Zeichen der Unterhändler. Siebzehn Jahre schon dauerte der Krieg gegen die Harlekins. Was anfangs wie ein Kinderspiel ausgesehen und den Fremden den Namen Harlekins einge tragen hatte, war im Laufe der Auseinandersetzung zu einem erbitterten Kampf ausgeartet, der zum Untergang der Menschheit führen konnte. Konnte! Das mußte ich mir immer wieder sagen. Ich besaß alle Vollmachten für die Unterredung mit den Fremden. Das Ziel war klar. Der sinnlose Kampf mußte beendet werden. Um so erstaunlicher war es nach der Lage an den Fronten gewesen, daß die Harlekins um dieses Treffen gebeten hatten, denn in den letzten Monaten hatte sich ein deutliches Übergewicht auf ihrer Seite abgezeichnet. Sie hatten nach der augenblicklichen Situation eine Unterredung gar nicht nötig. 18
Ich setzte das verabredete Signal ab und wartete auf eine Antwort. Sie kam schon nach wenigen Sekunden. Man schlug vor, sich auf ihrem Schiff zu tref fen. Dagegen bestanden keine Einwände von meiner Seite. Ich programmierte mein Schiff auf 90 Minuten. Dann würde es automatisch das Schiff der Harle kins angreifen und sicher vernichten, auch wenn ich dort noch an Bord war. Die Harlekins rechneten bestimmt mit dieser Maßnahme, denn zu oft hatten sie schon die unheimliche AM-Waffe der Terraner zu spüren bekommen. Die AM-Waffe, gegen die es kein Mittel gab, und der selbstlose Mut der Terraner. Das waren unsere entscheidenden Vorteile. Die Harlekins versuchten, ihn durch ein Riesenaufgebot an überdimensiona len Schiffen auszugleichen, was ihnen auch teilweise gelang. Ich stieg in die Linse um und verließ mein Schiff. Mein Blick ging zurück auf die Kugel von zwanzig Metern Durchmesser, die eine Waffe barg, der das Riesenschiff der Harlekins nichts entgegenzusetzen hatte. Ein Gravitationsfeld der Harlekins wies mir den Weg. Durch eine Schleuse von der Höhe eines Wolkenkratzers glitt ich in das Innere des Schiffes. Es war nicht das erstemal, daß ich den Harlekins persönlich gegenüberstand. Einmal war ich in ihre Gefangenschaft geraten, aber durch einen Austausch wieder freigekommen. Zwei der Fremden geleiteten mich schweigend in einen Konferenzraum. Die dort versammelten Harlekins waren reine Politiker, wie ich an ihren Kämmen erkennen konnte. Sie redeten nicht lange um den heißen Brei herum, sondern legten ihre Kar ten offen auf den Tisch. Begrüßungsformeln kannten sie nicht. Eine Bewirtung war wegen der unterschiedlichen Nahrungsmittel ohnehin undenkbar. »Die Chancen sind gestiegen, den Kampf zu gewinnen.« Der Sprecher der Harlekins wirkte völlig gefühlslos. »Es wäre in unserem Interesse, die Angele genheit abzukürzen.« »Wenn Sie auf die jüngsten Erfolge abzielen«, antwortete ich, »so handelt es sich dabei nur um vorübergehende Siege. Unser Nachschub funktioniert bes tens. Die Verluste haben wir in Kürze aufgeholt.« Der Sprecher der Harlekins legte alle seine acht Arme auf den Tisch. Ich wußte, daß diese Geste soviel bedeutete, wie ein menschliches Kopfschütteln. »Sie sehen die Sache völlig falsch. Ich meine nicht unsere Erfolge in den Schlachten. Wir waren nicht untätig. Unsere Wissenschaftler haben die ultima tive Waffe entwickelt. Wir werden sie einsetzen, wenn die Erde nicht freiwillig kapituliert.« Ein Bluff! folgerte ich sofort, und ich beschloß, zu kontern. »Etwas Ähnliches wollte ich auch Ihnen mitteilen. Wir nennen es nur anders. 19
Sie können es aber ebenfalls eine ultimative Waffe nennen. Es handelt sich um eine Strahlung, die auf die Körperzellen der Harlekins abgestimmt ist, und die Sie alle mit einem Schlag aus der Milchstraße fegen wird.« Natürlich war davon kein Wort wahr. Aber bei einer derart massiven Dro hung mußte ich als Diplomat ein entsprechendes Geschütz als Antwort auffah ren. »Das hört sich gut an«, sagte der Sprecher der Harlekins zu mir. Er war in seiner Ruhe und Gelassenheit unerschütterlich. »Und wo wollen Sie diese Strahlenstation erbaut haben? Doch nicht etwa auf dem Erdmond?« Er rollte die beiden Ohrenkämme ein. Auf uns Terraner übertragen, bedeute te dies ein ironisches Lächeln. »Sie werden nicht erwarten«, antwortete ich steif, »daß ich diese Frage be antworte. Abgesehen davon, der Ort, an dem diese Maschine steht, ist mir nicht persönlich bekannt.« »Schade«, hörte ich, und am Vibrieren der Stimme des Harlekin konnte ich erkennen, daß echtes Bedauern gemeint war. »Dann wird die Maschine wohl kaum auf dem Mond stehen. Wirklich schade, denn dann hätten wir zwei Flie gen mit einer Klappe erschlagen können.« »Wie sieht es nun mit Ihrer Kapitulation aus?« fragte ich frech. Angriff war hier immer noch die beste Verteidigung. »Wir haben keinen Grund dafür.« Der Harlekinsprecher kreuzte drei Arme vor seiner Tonnenbrust. Damit unterstrich er den Ernst seiner Worte. »Die Erde muß aufgeben. Wir erwarten Ihre endgültige Antwort in zwölf Stunden Ihrer Zeitrechnung. Wenn sie nicht nach unseren Wünschen ausfällt, setzen wir die ultimative Waffe ein. Danach werden noch 28 Tage vergehen. Dann ist das Ende da.« Er machte eine Pause und holte tief Luft. »Eines muß ich Ihnen noch sagen. Wenn die ultimative Waffe gestartet ist, gibt es kein Zurück. Wir haben keine Möglichkeit, sie wieder zu stoppen. Also überlegen Sie unseren Vorschlag gut. In spätestens zwölf Stunden auf dem üblichen Nachrichtenweg. Andernfalls …« Er ballte sieben Fäuste, das Symbol für den Tod. »Meine Drohung nehmen Sie wohl gar nicht ernst«, sagte ich trotzig. »Doch, doch.« Mich machte es fast wahnsinnig, daß der Harlekin so gelas sen blieb. »Wir werden sofort die Konsequenzen daraus ziehen. Damit ist von meiner Seite alles gesagt.« Ich bestieg wieder meine Linse und flog zu dem Schiff zurück. Von da aus unterrichtete ich die Erde über Funk. Besondere Freude würde ich dort be stimmt nicht auslösen, aber es hatte schon eine Vielzahl von ähnlichen Ergeb nissen bei den Treffen mit den Harlekins gegeben. 20
Allerdings, so mußte ich eingestehen, eine derart massive Drohung hatten sie bislang noch nicht formuliert. Als ich meinen Bericht abgeschlossen hatte, beorderte man mich zur Erde zurück. Drei Stunden später stand ich vor den Repräsentanten der Menschheit. Ich mußte noch einmal vortragen, was sich auf dem Riesenschiff der Harlekins ereignet hatte. Die Gesichter der Diplomaten und Regierungsleute strahlten Zufriedenheit aus. Man bewertete die Drohung als Bluff und als Hinweis auf interne Schwie rigkeiten beim Gegner. Ich wurde besonders gelobt, weil ich geschickt mit einer Gegendrohung rea giert hatte. Vor Ablauf der Frist von zwölf Stunden wurde eine nichtssagende Informa tion an die Harlekins abgestrahlt. Damit ging der Krieg in der Milchstraße weiter. Für mich trat eine Ruhepause von unbestimmter Dauer ein. Irgendwann würde man mich wieder auffordern, ein Gespräch mit den Harlekins zu führen, bei dem dann vielleicht etwas mehr herauskam. Die erste Überraschung erlebte ich am folgenden Mittag. Die Nachrichten medien verbreiteten eine Meldung, die auf den ersten Blick unglaublich er schien. Die Harlekins hatten sich von allen Fronten zurückgezogen. Ihre Schiffe wa ren in den Tiefen der Milchstraße verschwunden. Ein unbeschreiblicher Jubel raste um die Erde. Die Menschen glaubten, daß der unsinnige Kampf beendet sei. Kein einziges Schiff des Feindes war mehr aufzuspüren. So erfreulich diese Meldung auch war, mir trieb sie den Schweiß auf die Stirn. Es war doch undenkbar, daß die Harlekins auf meinen billigen Bluff hereingefallen waren. So dumm waren die Fremden nie und nimmer. Ich setzte mich mit den verantwortlichen Stellen der Regierung in Verbin dung, um dort mehr zu erfahren. Aber eine vernünftige Erklärung für den tota len Abzug der Harlekins konnte man mir dort auch nicht geben. Dann stieg zum erstenmal ein dunkler Verdacht in mir auf. Wenn die Harle kins meinen Worten geglaubt haben sollten, dann sprach dies auch dafür, daß die erwähnte ultimative Waffe Wahrheit sein konnte. Die Antwort auf diese unsichere Frage kam schon wenige Stunden später. Aus unerfindlichen Gründen begann der Mond aus seiner Bahn abzuweichen und auf die Erde zuzustürzen. In genau 28 Tagen, so berechneten unsere Wis senschaftler, würde der vernichtende Zusammenprall erfolgen. Und niemand konnte etwas dagegen tun. 21
Der Mann im Mond Kennst du die Märchen vom Mann im Mond? Es gibt viele Sagen und Legenden, die vom Mann im Mond erzählen. Sie sind uralt, vielleicht so alt wie die Menschheit. Die besonders klugen und nüchternen Menschen meinen, die Geschich ten vom Mann im Mond gehen auf das Gesicht zurück, das man beim Voll mond auf der leuchtenden Mondoberfläche zu sehen glaubt. Sie können erklären, daß dieses Gesicht nichts weiter ist, als die zufällige Zusammen fügung von Kratern, Bergen und Tälern der Mondoberfläche. Ganz früher glaubten diese besonders klugen und nüchternen Menschen auch, daß manche Flächen Meere seien. In einem Märchen vom Mann im Mond ist die Rede davon, daß dieser uralt sei. Das ist sicher richtig … * »Die Periode ist abgelaufen«, sagte die Maschine. Sie besaß eine weiche und unaufdringliche Stimme, die ganz im Gegensatz zu ihrem wahren Aussehen stand. »Du brauchst keinen Namen«, fuhr die Maschine fort. »Noch brauchst du keinen«, fügte sie hinzu. Der Mensch stand ruhig vor dem Koloß aus Stahl, Plastik und Zellgewebe. Sie lebte, die Maschine. Sie lebte so, wie er selbst lebte. Aber sie war an diese Stelle gebunden. Sie konnte sich nicht bewegen. Die Energieblöcke in ihrem Innern arbeiteten völlig lautlos. Der Mensch, der noch keinen Namen besaß, konnte die Werte an den Leuchtfeldern ablesen. Die Maschine war so alt wie er selbst. Eigentlich spielte das keine Rolle, a ber der Mensch spielte mit dem Gedanken. Es gab verschiedene Maßstäbe für dieses Alter. Nach denen seiner Heimatwelt waren es etwa 40 Millionen A durks. Nach denen der Welt, die er von diesem Trabanten mit Hilfe der Maschine beobachtete, waren es 100.000 Umläufe um das Zentralgestirn. Der Mensch, der noch keinen Namen besaß, wußte nicht, daß diese Zeit viel später einmal ein Jahr genannt werden würde. In seinen Gedanken sprach er von Adurks. Das war insofern sinnlos, als das Maß des Adurks gar nicht für dieses System geeignet war. 22
Auf dem Hauptbildschirm der Maschine war der Planet in seiner vollen Grö ße abgebildet. Dem Menschen, der noch keinen Namen besaß, gefiel diese Welt. Er freute sich schon jetzt auf die Besuche, die er ihr abstatten würde. Aber der Planet hatte noch keinen Namen. Es erging ihm wie dem Menschen oder der Maschine. Die hatten auch noch keinen Namen. Er nannte diese Welt in seinen Gedanken Buniok. Auch das war nicht son derlich sinnvoll, denn es handelte sich hierbei um den Namen des Planeten, von dem er und sein Volk stammten. Nein, verbesserte der Mensch, der noch keinen Namen besaß, nicht von dem ich stamme. Denn er war hier auf diesem Trabanten gemeinsam mit der Maschine gebo ren worden. Oder sollte er besser sagen: entstanden? Er verfügte über das ganze Wissen seines Volkes. Es war ihm bei seiner Ent stehung naturgemäß mitgegeben worden. Also konnte er sich unter dem Na men Buniok sehr gut etwas vorstellen. Er kannte kein Heimweh, keine Sehnsucht, denn er wußte, daß er Buniok se hen würde, wenn er seine Bewährung bestanden haben würde. »Die Periode ist abgelaufen«, sagte die Maschine erneut. Ohne sie wäre er völlig hilflos. Eigentlich erledigte sie die ganze Aufgabe. Sie beobachtete den Planeten und sein Werden und Wachsen. Er, der Mensch, der noch keinen Namen besaß, war eigentlich nichts weiter, als der verlängerte Arm der Maschine. Ihre Antennen und Taster, ihre Meßstrahlen und Fühler, ihre Sensoren und Prüfer waren ununterbrochen auf den Planeten gerichtet. Das war keine schwierige Aufgabe für die Maschine, denn der Trabant zeigte ständig mit der gleichen Seite zu dem Planeten, und dieser drehte sich mit gleichbleibender Geschwindigkeit um seine Achse. »Ich möchte einen Namen«, sagte der Mensch. »Und du sollst auch einen besitzen.« »Es besteht noch kein Grund für eine Namensgebung«, erklärte die Maschi ne. »Ich möchte es aber so. Auch der Planet braucht einen Namen und auch die ser Trabant.« Die Maschine willigte ein, denn sie war so aufgebaut, daß sie dem Drängen des Menschen nachgab, wenn dadurch die eigentliche Aufgabe nicht gefährdet wurde. »Nenne mich Wächter«, sagte sie. »Du sollst Morgen heißen.« »Und der Planet und der Trabant?« »Sie heißen so, wie du sie bezeichnet hast.« Morgen war damit zufrieden. 23
»Laß uns über meine erste Aufgabe sprechen«, sagte Morgen nach einer Weile. »In Ordnung. Der Urzustand des Planeten hat sich so eingepegelt, wie ich es berechnet habe. Die anderen Planeten, die die Menschen von Buniok aus dem Zentralgestirn erschaffen haben, bewegen sich fast ausnahmslos auf den be rechneten Bahnen. Nur der äußerste Planet, der für meinen späteren Aufent haltsort vorgesehen ist, hat eine andersartige Bahn eingeschlagen. Er muß mit irgendeinem kosmischen Trümmerstück kollidiert sein, das seine Bahn erheb lich veränderte. Die Abweichung ist zwar beträchtlich, und die Bahn ragt bis in die des zweitäußersten Planeten, die Aufgabe wird dadurch aber nicht gefähr det. Wichtig ist allein, daß sich unser Planet so stabilisiert hat, daß er seine Aufgabe erfüllen kann. Ohne unsere Unterstützung wird er jedoch nie das Le ben hervorbringen, das den Fortbestand der Menschheit garantiert. Auch Buni ok existiert nicht für alle Ewigkeiten. Deshalb ist jetzt ein erstes Eingreifen unumgänglich.« »Das alles wußte ich eigentlich schon.« Morgen ging langsam vor dem Wächter auf und ab. »Worin besteht meine Aufgabe?« Auf dem halbrunden, goldfarbenen Tisch vor der Schirmgalerie öffnete sich eine Klappe. Ein Dutzend kleiner Behälter kam zum Vorschein. In ihnen er kannte Morgen eine grüne Flüssigkeit. »Die Zusammensetzung der Atmosphäre ist unbefriedigend. Es steht nicht fest, ob sie sich auf natürliche Art und Weise so ändern wird, daß sie menschli ches Leben tragen und erhalten kann. Es besteht ein erheblicher Mangel an Sauerstoff. Das ist der eine Punkt. In den Ozeanen des Planeten haben sich zwar auf natürliche Weise einzellige Lebewesen gebildet, die sich mit Sicher heit in Kürze zu komplexeren Verbindungen und damit zu höherem Leben zusammenschließen werden. Diese Lebewesen benötigen Sauerstoff, der aber nur in geringem Maß vorhanden ist. Das ist der zweite Punkt. Der dritte und alles entscheidende Punkt ist jedoch der, daß es bislang keine Anzeichen für die Zellbildung von pflanzlichem Leben gibt. Ohne dies wird aber der Mensch nicht existieren können. Hast du das verstanden?« »Natürlich«, antwortete Morgen. »Die Lösung liegt auf der Hand.« Er betrachtete die kleinen Behälter mit der grünen Flüssigkeit. »Wir werden mit einer Maßnahme alle drei Probleme beseitigen«, fuhr die Maschine fort. »In diesen Glasbehältern befinden sich Kulturen, die das pflanz liche Chlorophyll in seiner Grundform enthalten. Diese Kulturen müssen auf dem Planeten ausgestreut werden. Neben der animalischen Grundform des Lebens wird dann die pflanzliche bestehen, wachsen und sich entwickeln. Durch die Produktion von Sauerstoff aus den Pflanzen wird sich der Gehalt dieses wichtigen Elements in der Atmosphäre erhöhen und damit die Entwick 24
lung allen Lebens fördern.« »Meine Aufgabe besteht also nur darin«, sagte Morgen etwas enttäuscht, »diese Behälter zu dem Planeten zu bringen und sie dort zu öffnen.« »Richtig«, bestätigte der Wächter. »Es ist alles vorbereitet.« Es gab nichts mehr zu sagen oder zu erklären. Morgen verstaute die Behälter in seiner Kombination. Die Maschine versetzte ihn zuerst an die Oberfläche des Trabanten. Morgen sah nun den Planeten zum erstenmal in seinem ganz natürlichen und unmittel baren Aussehen. Gleichzeitig verdichtete er seine Körperoberfläche, denn jetzt befand er sich praktisch im freien Weltall. Der Trabant besaß keine Atmosphäre. In einem zweiten Schritt versetzte ihn der Wächter auf die Oberfläche des Planeten. Morgen suchte der Reihe nach verschiedene Gestade der Urmeere auf. Je desmal entleerte er einen Behälter in das Wasser. Als alle Behälter leer waren, kehrte er in das Innere des Trabanten zu dem Wächter zurück. Eine neue Periode des Wartens begann, in der die Maschine mit ihren Fühlern jede Veränderung auf dem Planeten registrierte. Morgen legte sich schlafen. * Du siehst also, daß der Mann im Mond wirklich uralt ist. Er war schon da, bevor sich die ersten Zellen in den Urmeeren zusammenschlossen, um höheres Leben zu gebären. * In einem Märchen vom Mann im Mond ist davon die Rede, daß viele Tie re in panischer Angst die Flucht ergreifen, wenn er zur Erde kommt. Es muß sich dabei um einen Urinstinkt handeln, dessen Ursache irgendwo in ferner Vergangenheit liegt. Dieser Urinstinkt besteht sicher nicht ohne Grund … * »Die Periode ist abgelaufen«, sagte der Wächter. Morgen erwachte sofort und erkannte, daß eine lange Zeitspanne verstrichen war, seit er sich schlafen gelegt hatte. Er warf einen Blick auf das große Bild in der Mitte des Wächters. 25
»Der Planet hat sich nicht verändert«, stellte er fest. »Der Eindruck täuscht gewaltig, Jäger«, antwortete die Maschine. »Aus die ser Entfernung und mit deinen Sinnen kannst du die Veränderungen nicht re gistrieren.« »Warum nennst du mich Jäger? Mein Name ist Morgen.« »Dein Name war Morgen. Jetzt lautet er Jäger.« »Es gibt also einen neuen Auftrag für mich«, folgerte Jäger sogleich. Seine Sinne erwachten zu voller Aktivität. »Es sind viele Adurks verflossen«, fuhr die Maschine fort. »Das Leben auf dem Planeten hat eine Vielfalt angenommen, die die Erwartung übertrifft.« Auf den Sichtschirmen erschienen Bilder von riesigen Wäldern aus Farnen, von monsterhaften Tieren, die sich durch Schlammsümpfe wälzten und durch die Lüfte schwebten. Jäger war fasziniert und nahm jede Einzelheit in sich auf. »Ich bin enttäuscht«, stellte er dann fest. »Es besteht keine Ähnlichkeit mit Buniok. Wie sollen hier Menschen entstehen?« »Es wird noch viel Zeit vergehen, bis es soweit ist. Bis dahin müssen wir das Werk lenken und fördern.« »Mir gefällt diese Welt nicht. Es ist eine Fehlentwicklung.« Jägers Hand deutete auf die Sichtschirme der Maschine. »Kampf, Bestien, Vulkane, aber keine Ansätze von intelligentem Leben.« »Du bist unduldsam, aber das macht nichts. Es wird dich nur beflügeln, dei ne Aufgabe sicher zu erfüllen.« »Die Aufgabe, worin besteht sie?« »Meine Berechnungen haben ergeben, daß das natürliche Gleichgewicht auf dem Planeten gestört worden ist. Es gibt ein paar Gruppen Tiere, die nicht genügend natürliche Feinde besitzen. Diese Tiere werden mächtiger und mäch tiger. Sie werden in absehbarer Zeit den ganzen Planeten beherrschen und alle anderen Tiere nach und nach ausrotten. Auch die Wesen, aus denen in ferner Zukunft die Menschen hervorgehen werden, sind bedroht.« »Das ist schlimm.« Jäger war betroffen. »Wir müssen etwas tun.« »Natürlich. Deswegen habe ich dich geweckt, Jäger.« Der bekam einen nachdenklichen Gesichtsausdruck. Seine langen, schloh weißen Haare reichten bis zu den Schultern, und in seinen grüngrauen Augen brannte das Feuer der Begeisterung. »Daß du mir den Namen Jäger gegeben hast, Wächter, verrät schon deine Absicht. Sie gefällt mir nicht. Wäre es nicht sinnvoller, die natürlichen Feinde der gefährlichen Tiere zu stärken?« »Man kann keinen Brand mit einem anderen Feuer löschen! Ich habe acht Adurks lang alle Chancen durchgerechnet. Es gibt nur eine Möglichkeit. Die 26
Riesenbestien müssen verschwinden. Du wirst dich dabei verschiedener Me thoden bedienen. Die Lebenden müssen sterben, und die Ungeborenen dürfen nicht entstehen. Hier sind deine Waffen.« Auf dem halbrunden, goldfarbenen Tisch vor der Maschine erschien ein Kä fig. Darin wälzten sich zahllose dunkelblaue Würmer von Armlänge. »Kalziumbitter«, stellte Jäger fest. Er kannte diese Tiere aus der ererbten Er innerung seiner Heimatwelt. Dort wurden einige wenige dieser gefährlichen Tiere in besonderen Zoos gehalten. »Die Riesenechsen sind eierlegende Tiere«, fuhr die Maschine fort. »Du wirst sie mit allen Waffen jagen und vernichten. Für sie ist kein Platz auf unse rem Planeten. Eine genaue Auflistung der betroffenen Tiere findest du auf dem Sichtschirm vor dir. Präge dir das Aussehen genau ein.« Jäger betrachtete die Bilder und speicherte sie in seinem Gedächtnis. Er wußte, daß der Wächter die einzig richtige Entscheidung getroffen hatte, um das Entstehen einer neuen Menschheit auf dem Planeten zu ermöglichen. Aber diese Entscheidung gefiel ihm nicht. Es würde ein Massenschlachten werden, das seinen Gefühlen widersprach. »Ich sehe, daß dir diese Sache nicht gefällt, Jäger«, sagte der Wächter. »Du weißt, daß du den Auftrag verweigern darfst. Dann werden wir dieses Sonnen system verlassen und in Schmach und Schande nach Buniok zurückkehren.« Jäger war sich darüber im klaren, daß nur ihn die Schande treffen würde, denn die Maschine besaß keine echten Gefühle. Ihm allein würde man die Schuld zuschreiben, wenn sich auf diesem Planeten keine neue Menschheit entwickeln würde. »Ich führe den Auftrag durch«, sagte er mürrisch. »Ich habe gar keine andere Wahl. Was aber ist mit den Kalziumbittern?« »Sie werden deine Jagd ergänzen. Du mußt sie überall dort aussetzen, wo du Nistplätze der Echsen findest. Die Kalziumbitter pflegen keine großen Wande rungen zu unternehmen. Also werden sie sich an die Kalkabsonderungen der Echsen halten und sich davon ernähren. Dadurch wird verhindert, daß die Brut wächst und ausschlüpft. Nach meinen Berechnungen benötigst du etwa 1000 Adurks, bis diese Feinde unseres Planes so dezimiert sind, daß sie endgültig aussterben.« »Dein Plan hat einen Haken, Wächter«, sagte Jäger streng. »Die Kalziumbit ter werden unseren Planeten mehr und mehr bevölkern und alles Kalzium – und damit alles Leben – vernichten. Du hast selbst gesagt, daß man einen Brand nicht mit einem Feuer löschen kann.« Die Maschine produzierte so etwas wie ein gekünsteltes Lachen. »Ich habe an alles gedacht«, sagte der Wächter freundlich. »In diesem Käfig befinden sich nur männliche Kalziumbitter. Sie werden sterben, wenn ihre 27
natürliche Lebensdauer abgeschlossen ist. Das sind nur dreieinhalb Umläufe des Planeten um das Zentralgestirn.« »Wann bekommt der Planet einen Namen?« fragte Jäger, der mit der Erklä rung der Maschine zufrieden war. »Das hat noch Zeit. Bereite dich jetzt auf deinen Einsatz vor.« Zum zweitenmal in seinem Leben trat Jäger die Reise von dem Trabanten zu dem Planeten an. In seiner Begleitung befand sich der Käfig mit den Kalzium bittern. Seine Bewaffnung bestand aus einem Demoplaster, der eine theoretisch unendliche Lebensdauer besaß. Nach dem ersten Rundflug um den Planeten stellte Jäger fest, daß sich die Kontinente gewaltig verändert hatten. Aus dem einen Urkontinent waren wäh rend der letzten Periode mehrere Einzelkontinente geworden, die zum Teil noch durch Landbrücken verbunden waren. Er folgerte daraus, daß sich das weitere Leben auf dem Planeten in sehr un terschiedlicher Form entwickeln würde. Dann stellte er alle Plätze fest, an denen die unerwünschten Tiere lebten. Es waren 45 große Regionen. Die Kalziumbitter verstaute er sorgfältig auf einer einsamen Inselgruppe. Er würde sie erst später verwenden, wenn das Gros der Tiere erlegt war. Die Jagd dauerte viele Adurks. Mehr als zehntausendmal sah Jäger die Son ne auf- und untergehen. Während der ganzen Zeit tat er nichts anderes, als jagen. Mehrmals geriet er in gefährliche Situationen, und einmal wurde er sogar von einer der Riesenechsen verschluckt. Nur seine Fähigkeit, sich gegen seine Umgebung völlig abzuschirmen, rettete ihn vor der Vernichtung. Nur mühsam konnte er sich aus dem Leib der Bestie befreien. Die Echsen entwickelten schon sehr bald einen Abwehrinstinkt gegen ihn. Wo immer er auftauchte, rannten sie in wilder Hatz davon. Andere Tiere, die Jäger gar nicht verfolgte, wurden davon förmlich ange steckt. Sie schlossen sich der rasenden Flucht an. Dadurch wiederum wurde deren Instinktverhalten gefördert, und schon nach wenigen Adurks war er von allen Tieren gefürchtet. Das erschwerte seine Arbeit erheblich, aber es verhinderte nicht den Erfolg. Es kam die Zeit, zu der er die Kalziumbitter einsetzen konnte. Die Echsen traten nur noch vereinzelt auf, und ihre Nistplätze hatte Jäger sämtlich entdeckt und in seinem Gedächtnis gespeichert. Das Aussetzen der Würmer war der leichteste Teil der Arbeit. Sie ließ sich auch am schnellsten erledigen. Dann war der Käfig leer. Jäger drehte noch ein paar Runden durch die At mosphäre des Planeten und hielt nach Ansammlungen der Echsen Ausschau. 28
Aber er sah nur noch wenige Tiere, die dem sicheren Untergang geweiht wa ren. Es bedrückte Jäger, daß sein Auftauchen überall Angst und Schrecken her vorrief, und er fragte sich, wie lange es dauern würde, bis dieses Instinktverhal ten verschwunden sein würde. Nach der Rückkehr zum Trabanten und zur Maschine würde er mit dem Wächter über dieses Problem sprechen müssen. Schließlich konnte es sein, daß seine Jagd der Fauna dieser Welt einen so nachhaltigen Schock versetzt hatte, daß die Spuren für immer bleiben würden. Jäger kehrte noch einmal zu der einsamen Inselgruppe zurück, auf der er die Kalziumbitter versteckt gehalten hatte. Er durfte keine Spuren hinterlassen. Als er sicher war, daß alles in Ordnung war, betrachtete er seine Mission als beendet. Er faßte in seine Kombination, um den Rufer herauszuholen. Er war nicht da! Ein eisiger Schreck durchfuhr ihn. Ohne den Rufer konnte er sich nicht mit dem Wächter in Verbindung setzen. Er mußte das kleine Gerät irgendwo verlo ren haben. Jäger hockte sich auf einen der zahlreichen Felsbrocken und begann zu über legen. Sicher, der Wächter würde ihn irgendwann auch ohne seinen Ruf auf den Trabanten holen. Aber wann das war, war absolut unklar. Mit den Berech nungen des Wächters kannte sich Jäger nicht aus. Dann glitten seine Gedanken zurück. Er prüfte jede Situation durch, die er während dieses Aufenthalts auf dem Planeten durchgemacht hatte. Wo konnte er den Rufer verloren haben? Sein Verstand sagte ihm immer wieder, daß dies unmöglich war. Aber dann erinnerte er sich an das ererbte Wissen seiner Vorfahren von Buniok. Nach deren Philosophie gab es das Wort unmöglich nicht. Es mußte eine Lösung geben. Innerhalb des Schwerefelds des Planeten konnte er sich zwar nach Belieben bewegen. Und auch außerhalb der Atmosphäre war er keiner Gefahr ausge setzt. Aber er konnte diese Welt nicht verlassen. Er war an den Planeten gebunden. Nur mit Hilfe der Technik des Wächters war eine Rückkehr in den Trabanten möglich. Jäger begann sich zu langweilen. Daß er dabei ohne Unterlaß nach einer Lö sung suchte, hinderte ihn nicht daran, etwas zu seiner Beruhigung zu tun. Er suchte auf einer der Inseln nach großen Felsbrocken und begann daraus Figuren zu formen. Er bearbeitete den Fels so, daß riesige Monumente der Wesen entstanden, von denen er abstammte und die auf dieser Welt einst den beherrschenden Faktor darstellen sollten. 29
Die Sonne ging auf und unter, und Jäger formte eine Figur nach der anderen. Er stellte sie wahllos auf den Inseln auf. Einige warf er wieder um, weil sie ihm nicht gefielen. Als er in der unmittelbaren Umgebung kein Gestein mehr fand, holte er es sich von weiter her. Er trennte Brocken für Brocken aus dem Felsmassiv und formte sie zu Figuren nach seinem Vorbild. Die meisten Figuren gelangen ihm gut. So verging die Zeit, in der Jäger un ablässig nach einer Lösung suchte. Gerade als er wieder einen Felsbrocken bearbeitete, der noch fest mit dem Erdreich verankert war, hatte er den entscheidenden Punkt entdeckt. Es gab nur eine Möglichkeit, bei der er den Rufer verloren haben konnte. Und das war, als ihn eine der Riesenechsen verschlungen hatte. Im Innern des Tieres hatte er für ein paar Augenblicke nicht die volle Kontrolle über sich besessen. Er kramte weiter in seiner Erinnerung. Wo war dieser Vorfall gewesen? Konnte er vielleicht den toten Leib der Riesenechse finden? Und darin den Rufer? Er ließ die Steinfigur unvollendet. Gegen die untergehende Sonne flog er zu dem Nordkontinent, auf dem nach seiner Erinnerung die Sache passiert war. Es war Nacht, als er schließlich das Sumpfgelände wiederfand. So blieb ihm nichts anderes übrig, als bis zum Morgen zu warten. Jetzt, wo er eine Chance sah, den Rufer zurückzubekommen, packte Jäger eine große Ungeduld. Er durchstreifte noch während der Nacht das Sumpfgelände. Aber alles, was er damit erreichte, war, daß die Tiere in panischer Angst vor ihm davonrann ten. Als die Morgendämmerung einsetzte, begann Jäger planmäßig zu suchen. Er drang tief in den Sumpf ein. Sein ausgezeichnetes Gedächtnis mit dem Rekon struktionsvermögen half ihm dabei. Als er den vermeintlichen Kadaver schließlich entdeckte, dauerte es nicht mehr lange, bis er auch den Rufer in seinen Händen hielt. Er vergaß über der Freude die Steinfiguren auf der Insel. Er kümmerte sich auch nicht mehr um die fliehenden Tiere in seiner Umgebung. Er strahlte den Ruf ab, und schon wenig später fand er sich geborgen im Innern des Trabanten vor dem Wächter wieder. »Du warst länger fort, als ich berechnet hatte«, sagte die Maschine. »Aber meine Meßergebnisse zeigen, daß deine Aktion ein ganzer Erfolg war. Berichte bitte.« Jäger erzählte, und er vergaß auch nicht zu erwähnen, daß die Tierwelt des Planeten jetzt eine panische Angst vor ihm hatte. Dann legte er sich zur Ruhe. 30
* Du siehst, daß es seinen guten Grund hat, wenn die Tiere die Flucht er greifen, wenn der Mann im Mond zur Erde kommt. Nur auf den OsterInseln ist das nicht der Fall, denn dort hat es nie Saurier gegeben. Obwohl sich der Mann im Mond dort besonders lange aufhielt, hat er dort keine Spuren der Angst hinterlassen. Dafür aber ein paar andere Spuren, über die die Menschen heute nachdenken. * In vielen Märchen und Geschichten vom Mann im Mond ist dieser als ein gütiger und weiser Mensch beschrieben. Besonders die Weisheit des Alten wird immer und immer wieder gepriesen. Dafür gibt es eine einfache Erklärung … * »Die Periode ist abgelaufen«, sagte die Maschine. Jäger blickte sich erstaunt um. Die Maschine hatte sich in dieser Periode verändert. Einige Aggregate waren verschwunden, und andere waren an ihre Stelle getreten. Die Schirm bildgalerie war noch so vorhanden, wie es ursprünglich gewesen war, als Jäger noch keinen Namen besaß und gerade geboren worden war. »Sicher bekomme ich einen neuen Namen«, stellte er fest. Der Wächter schwieg. »Du hast dich hier im Mittelpunkt des Trabanten ganz schön breitgemacht«, stellte Jäger fest. Er studierte aufmerksam die Anzeigen der Meßergebnisse und die Bilder, die ihm die Maschine von dem Planeten übertrug. »Die Wol kendecke ist nicht mehr so dicht wie früher«, bemerkte er zufrieden. »Eine gute Voraussetzung. Gibt es neue Störungen?« »Es handelt sich eigentlich nicht um eine Störung. Es geht nur einige Schrit te viel zu langsam. Vor dem Ablauf von einer Milliarde Adurks muß die Er folgsmeldung nach Buniok abgestrahlt werden. Vorher dürfen wir uns nicht melden und auch unseren Aufenthalt nicht auf den äußersten Planeten des Sys tems verlegen.« »Hat sich an dessen Bahn etwas verändert, Wächter?« »Nein, sie ist krumm, aber durchaus stabil und damit für die Zukunft geeig net. Noch ist es viel zu früh, um sich darüber Gedanken zu machen. Du mußt dich um die aktuelle Situation kümmern.« 31
»Welchen Namen bekomme ich?« fragte Jäger. Inzwischen hatte er die komplizierten Meßwerte des Wächters so weit verarbeitet, daß er sich ein Bild von der Lage auf dem Planeten machen konnte. »Erleuchtung«, sagte der Wächter. »Du bekommst den Namen Erleuch tung.« »Die Entwicklung ist in der Tat erheblich im Rückstand.« Erleuchtung war wirklich beunruhigt. »Wir müssen eingreifen. Was hast du berechnet, Wäch ter?« »Die Situation ist verfahren. Es gibt zwar zahlreiche Stämme und Völker auf dem Planeten, die sich biologisch genau nach unseren Vorausberechnungen entwickelt haben. Der Schritt bis zum echten Menschen ist nicht mehr groß. Aber da besteht ein großer Mangel. Zwischen den Instinkten und der Intelli genz besteht ein grobes Mißverhältnis. Die animalischen Komponenten ver hindern den Durchbruch des selbständigen Denkens und des Selbsterkennens. Außerdem entwickeln sich die einzelnen Gruppen zu unterschiedlich. Es wächst keine homogene Menschheit, sondern ein Gemisch aus vielen Volks stämmen.« »Verschiedene Stämme beflügeln die Entwicklung«, meinte Erleuchtung. »Das sollten wir nicht antasten.« »Einverstanden.« Erleuchtung war erstaunt, daß die Maschine so schnell einwilligte. »Aber es muß etwas getan werden, was die Intelligenz fördert. Es müssen freie Geister entstehen, die die zukünftige Menschheit tragen sollen. Die einfachsten Erfindungen sind noch nicht gemacht worden. Die Zahl der Individuen ist noch zu gering. Ganze Stämme rotten sich aus, nur weil sie blind den animalischen Instinkten folgen.« »Also eine Intelligenzspritze«, stellte Erleuchtung fest. »Mein Auftrag wird sein, diesen Halbtieren die …« »… Erleuchtung zu bringen.« Der Wächter beendete den Satz, den der Mensch plötzlich abgebrochen hatte. Erleuchtung nickte. Die Maschine stellte die Präparate bereit, die Erleuchtung anwenden sollte. Dann erläuterte sie den Plan. »Das wird nicht ganz einfach«, meinte Erleuchtung. Dann war er auf dem Planeten. Diesmal achtete er besonders sorgfältig auf den Rufer. Außerdem hatte er zusätzlich mit dem Wächter vereinbart, daß dieser ihn nach einer bestimmten Zeit zurückholen würde. Sein erster Weg führte ihn zu den Gelben. Erleuchtung hatte die im Entste hen begriffenen Völker einfach nach den dominierenden Hautfarben unter schieden und benannt. Nach den Gelben würde er die Braunen, dann die Weißen, dann die Roten, 32
dann die Schwarzen und zum Schluß die Grünen aufsuchen. Für jeden Stamm hatte er eine Phiole mit lebenden Genmanipulatoren, die direkt auf die Nachkommen der Halbmenschen einwirken würden. Dadurch würde die Komplexität der Gehirne erheblich gesteigert werden, was direkt einer Zunahme der Intelligenz entsprechen würde. Er paßte sich den jeweiligen Völkern in seinem Aussehen vollkommen an. So galt er als einer von ihnen. Äußerlich wählte er die Maske eines alten Man nes. Sein Leben bei den zukünftigen Menschen war voller Abenteuer und Erleb nisse. Als er nach einhundert Sonnenaufgängen bei den Schwarzen weilte und die sen das Gut aus der Phiole brachte, gefiel es ihm so sehr, daß er gar nicht mehr an den Rufer und die verstrichene Zeit dachte. Eines Abends saß er träumend vor einer einfachen Strohhütte und plauderte mit den kleinen Schwarzen, so wie er es bei vielen anderen Stämmen, Gruppen und Völkern auch getan hatte. Da spürte er plötzlich ein leichtes Ziehen in seinem Kopf und erkannte schlagartig, daß seine Zeit abgelaufen war. Der Wächter kündigte die Rück kehr an. »Ich muß euch verlassen, meine Freunde«, sagte er. »Es wird viele Sonnen aufgänge dauern, bis ich wieder hier bin.« Die Halbwilden verstanden ihn kaum, aber sie lächelten ihm zu. Er würde in ihrer Erinnerung bleiben, so wie in der der vielen anderen Stämme und Völker, die er besucht hatte. Nur die Grünen würden leer ausgehen. Er hatte keine Zeit mehr gefunden, ihnen auch noch einen Besuch abzustatten und ihnen durch den Inhalt der Phiole den Ruck in der geistigen Entwicklung zu bringen. Der Wächter würde trotzdem zufrieden sein. Von einem Augenblick zum anderen verschwand der alte, weißhaarige Mann vor den Augen der Planetenbewohner. Von da an lebte er nur noch in ihren Sagen und Legenden weiter. Und der Mond spielte darin eine nicht unbedeutende Rolle. * Du siehst, daß es durchaus verständlich ist, wenn der Mann im Mond als gütiger, weiser Alter beschrieben wird. Alles hat seinen Grund und seinen Ursprung. Auch wenn vieles verschüttet worden ist. * 33
Die Erwachsenen lächeln heute, wenn man vom Mann im Mond spricht. Die Kinder bekommen glänzende Augen. Die Kinder können noch glauben. Sie können Sachen glauben, für die die Sinne der Erwachsenen zu abge stumpft sind. Liegt es nur daran, daß die Märchen vom Mann im Mond so oft im Zusammenhang mit Kindern erzählt werden? Oder liegt es daran, daß die Erwachsenen einfach kein Gespür mehr für solche Geschichten haben? Oder hat es einen ganz anderen Grund? * »Die Periode ist abgelaufen.« Helfer hatte diesen Satz schon viele Male ge hört. Die Perioden waren immer kürzer geworden. Helfer, das war sein letzter Name, hatte inzwischen viele Namen durchge macht. Die Maschine hatte sich während der letzten zwölf Perioden kaum noch ver ändert. Sie hatte die endgültige Konfiguration gefunden, die sie beibehalten würde, bis sie den Trabanten verlassen würde. Auch der Trabant hatte inzwischen einen Namen. Eigentlich waren es meh rere, aber sie bedeuteten alle das gleiche. Mond, Luna, Selene, Tsu-Mun. Der Planet hieß jetzt Erde oder Terra. Die Menschheit hatte ihn sich Unter tan gemacht, dabei sich selbst aber in sinnlosen Bruderkriegen so oft unsinnig dezimiert, daß der Zeitplan immer mehr ins Wanken geriet. Das war auch der Grund für das häufige Eingreifen des Wächters. Mit immer neuen Namen und Aufträgen war Helfer zur Erde geschickt worden. Die Evo lution, die sich inzwischen mehr und mehr in den technischen Bereich verla gert hatte, mußte vorangetrieben werden. »Forscher«, sagte die Maschine. »Diesen Namen wirst du diesmal mitneh men. Es wird nicht leicht sein, während der nächsten einhundert Erdenjahre die richtigen Menschen zu finden, denen du die Gedanken für die technische Evo lution geben kannst.« Der Mensch hatte es sich angewöhnt, mit der Maschine in Erdenjahren zu denken und zu diskutieren. »Wir sind über fünfzig Jahre im Rückstand«, erklärte der Wächter. »Auf der Erde schreibt man das Jahr 1865. Deine Versuche mit Menschen wie Tycho Brahe oder Galileo Galilei waren nur von geringem Erfolg. Es gab viele Miß verständnisse und vor allem kaum die Möglichkeit, neue und fortschrittliche Lehren zu verbreiten. Dein Adam Riese war ein Volltreffer, Forscher, aber bei den meisten der Ausgewählten war das Ergebnis gleich Null. Die fünfzig Jahre Rückstand sind im Vergleich zu einer Milliarde Adurks ein Nichts. In der 34
schnellebigen Zeit, die jetzt über die Erde hereinbricht, sind sie jedoch zuviel. Ich gebe dir den Namen Forscher, damit du bei der Auswahl der Frauen und Männer besser und gezielter vorgehen kannst. Die Menschen der Erde brau chen Vorreiter auf den Gebieten der Wissenschaften. Was wir in der Vergan genheit gemacht haben, war zu wenig. Du wirst von nun an auf der Erde blei ben, bis der Grund für unseren Wechsel zum Planeten Pluto gegeben ist. Nach meinen Berechnungen wird dies nicht vor dem Jahr 1950 geschehen. Hier ist die Liste der wissenschaftlichen Gebiete, auf denen du neue Genialität kreieren mußt.« Die Liste war lang, aber Forscher prägte sie sich in gewohnter Manier genau ein. »Es wird eine lange Suche für dich, Forscher«, fuhr die Maschine fort, »denn nur wenige Wesen werden die Voraussetzungen erfüllen, um mit deiner Hilfe zur Genialität zu erwachen. Die Gefahr, daß diese Genialität mißbraucht wird und daß es dadurch zu neuen sinnlosen Kriegen und Vernichtungsaktionen kommen wird, ist riesig. Der Mensch der Erde wird naturgemäß erst von die sen unsinnigen Gelüsten ablassen, wenn er die Grenze unseres zweiten Ortes überschritten hat. Bis dahin wird noch viel Zeit vergehen. Geh jetzt! Suche die Träger des Fortschritts und gib ihnen die Impulse für das Wissen, das diese Menschen brauchen.« »Ja«, sagte Forscher. »Ich werde gehen und forschen und verändern. Und ich werde so vorgehen, daß man mich nicht entdeckt.« »Denke an die Kinder«, mahnte der Wächter. »Sie haben ein offenes Ohr für das Neue. Gib ihnen die wahren Impulse. »Ja«, sagte Forscher noch einmal. »Noch etwas.« Die Stimme des Wächters klang voller Besorgnis. »Es liegt in der Natur der Sache, daß die Menschen die Kräfte kennenlernen werden, die im Innern der Atome schlummern. Du weißt, daß sie diese brauchen werden, um den ersten Schritt, den zweiten Schritt und alle folgenden zu vollziehen, bis sie die Größe Bunioks erreichen. Aber du mußt damit rechnen, daß die Men schen der Erde auch den falschen Weg gehen werden, mit dem man durch die Kräfte des Atoms Tod und Verderben erzeugt. Sei also vorsichtig in der Wahl deiner Ziele.« Forscher schwieg betroffen. »Du meinst«, fragte er nach einer Weile ent setzt, »sie würden …« Statt den Satz zu vollenden, erzeugte er das Bild einer Atomexplosion über einer dicht besiedelten Stadt. »Genau das«, sagte der Wächter. »Du wirst es nicht wissen, weil es aus der Erinnerung deines Volkes entfernt wurde. Aber auch auf Buniok gab es eine solche Phase.« 35
Forscher erschauerte. »Das kann nicht wahr sein.« »Es ist so«, antwortete der Wächter. »Ich verfüge über alle Informationen.« »Wie entstand Buniok?« fragte Forscher, einer plötzlichen Eingebung fol gend. »So wie dieses Sonnensystem entstanden ist. So wie diese Erde Menschen hervorgebracht hat.« »Aber …« Forscher brachte den Satz nicht zu Ende. »Du willst wissen, wer hinter all diesem steht«, sagte die Maschine. »Eine natürliche Frage. Ich weiß es noch weniger als du, denn ich bin ein Ding, ein funktionierender Apparat, sonst nichts. Aber die Väter haben mir eine Antwort mitgegeben. Sie lautet: Du fühlst dich groß und erhaben über diese neuen Men schen, die auf diesem Planeten entstehen. Die, die dich und mich geschaffen haben, waren deine Väter. Sie sind und waren größer und mächtiger als du. Aber sie wollen nicht wissen, was oder wer hinter allem steht. Es genügt ihnen, daß sie wissen, daß dort jemand steht. Wenn du dafür einen Namen brauchst – und Namen sind bedeutsam –, so gib einen Namen nach deinem Willen. Jeder Name ist gleich gut.« Forscher schüttelte den Kopf. So hatte die Maschine noch nie zu ihm ge sprochen. »Ich gehe jetzt«, murmelte er leise. »Die Nacht wird mein Pate sein und die Kinder meine Freunde. Ich werde die finden, die die Menschheit braucht.« »Geh!« antwortete der Wächter. Mit einem Impuls aktivierte er die Trans portsektion. Wenn jemand Forscher hundert Jahre später gefragt hätte, wieviele Kinder er besucht und mit wievielen er gesprochen hatte, er hätte die Frage nicht beant worten können. Die Zahl spielte auch keine Rolle, denn Forscher behielt nur die Namen im Gedächtnis, die Erfolg versprachen. Das waren weniger als zwei Dutzend. Aber von ihnen erhoffte Forscher die entscheidenden Fortschritte in der technischen Entwicklung der Menschheit. Er sprach nachts und heimlich mit den Kindern. Manchmal unterhielt er sich mit ihnen, während sie schliefen. Für Forscher war es kein Problem, im Schlaf die Gedanken der Kinder zu erfassen und zu lenken. Seine Gerätschaften un terstützten die Versuche, geeignete Menschen zu finden, bei denen echte Geni alität geweckt werden konnte. Viel Erfolg hatte er nicht, denn das menschliche Bewußtsein dieser Zeit war noch weit von dem entfernt, was es ereichen konnte. Es würden noch Jahrhun derte vergehen, bis diese Menschheit die Reife der Menschen von Buniok er langen würde. Aber das war eingeplant. 36
Die Kinder ließen die Gespräche, die in Wirklichkeit Tests waren, geduldig über sich ergehen. Etwas davon blieb in jedem jungen Menschen als mehr oder weniger dunkle Erinnerung an einen gütigen und freundlichen alten Mann zurück. Und daß dieser Mann vom Mond gekommen war, erfuhr auch das eine oder andere Kind, wenn es eine neugierige Frage stellte. Forscher ließ aber auch Sehnsucht zurück, denn niemals erschien er einem Kind mehr als einmal. Während dieses langen Aufenthalts auf der Erde kehrte Forscher nur dreimal zum Mond zurück, um sich mit dem Wächter zu beraten. »Der Rückstand wird langsam aufgeholt«, sagte dieser einmal. »Schon in wenigen Jahrzehnten wird der erste Schritt vollzogen werden. Kurz bevor dies geschieht, werde ich dich zu mir holen, und wir werden den Mond verlassen, um unser neues Domizil auf dem äußersten Planeten Pluto zu beziehen. Dort werden wir auf den zweiten Schritt warten.« »Wie lange wird das dauern?« wollte Forscher wissen. »Vielleicht einhundert Jahre«, antwortete der Wächter. »Vielleicht weniger. Es ist nicht entscheidend. Nur der erste und der dritte Schritt sind wichtig.« Wächter wußte, daß der dritte Schritt zur Entdeckung von Buniok durch die Menschheit der Erde führen konnte. Es konnte aber auch sein, und das war eigentlich wahrscheinlicher, daß zuerst eine andere Welt der Menschen ent deckt werden würde. Vielleicht kannte man dort aber Buniok schon, so daß der dritte Schritt zwangsläufig nach Buniok führen würde. Auch Forscher würde dann auf Buniok sein. Er hätte dann bestimmt einen Namen, den er nicht mehr ändern würde. Noch war er an seine Aufgabe, an die Maschine und an den Mond gebunden. Noch konnte es sein, daß er eingreifen und helfen mußte. »Kehre zurück zur Erde«, verlangte der Wächter. »Es wird das letztemal sein, daß du von hier aus dorthin gehst.« Der Wächter sollte recht behalten. Auf der Erde schrieb man das Jahr 1969, als Forscher endgültig abgerufen wurde. Er bedauerte dies ein wenig, denn er hatte die vielen jungen Menschen, die er getroffen hatte, sehr lieb gewonnen. »Es gibt keine Schlafperiode«, begrüßte ihn der Wächter. »In wenigen Tagen beginnt der erste Versuch der Menschheit, den entscheidenden Schritt zu voll ziehen. Dann müssen wir wachsam sein. Ich habe alles für den Sprung nach Pluto vorbereitet.« Forscher hatte keine Einwände. Er betrachtete sinnend die riesige Maschine des Wächters. Seine Gedanken aber waren bei den vielen Kindern der Erde, mit denen er in den letzten hundert Jahren nachts gesprochen hatte. 37
* Du siehst also, daß alles seinen guten Grund hat. Nicht ohne Grund lebt der Mann im Mond in vielen Kindermärchen und in der Erinnerung man ches Jungen oder Mädchens. Leider vergessen die Menschen die Gedanken an die Kindheit, wenn sie älter werden, wenn die tägliche Jagd nach Macht und Geld alle anderen Gedanken überwiegt. Leider. * Seit dem Frühjahr 1969 sterben die Geschichten vom Mann im Mond langsam aus. Sicher, es wird noch Jahrhunderte dauern, bis sie ganz ver schwunden sind, aber sie nehmen deutlich ab. Die angeblich so klugen Menschen der Erde kennen einen vernünftigen Grund dafür. Sie sagen, der Mond wurde entzaubert. Genauer gesagt bedeutet das, der Mensch betrat zum erstenmal in seiner Geschichte die Oberfläche seines engsten Begleiters. Der Beweis wurde geliefert, daß der Mond nichts weiter ist als ein toter Himmelskörper. Es gibt weder eine Atmosphäre auf ihm, noch Wasser oder gar irgendeine Form von Leben. Worauf sich erst die Astronauten und dann die Wissen schaftler stürzten, das waren tote Steine und Staub. Seit Menschen zum Mond fliegen, kennen wir ihn besser. Viele Geheim nisse hat er dennoch behalten, und er wird sie noch lanqe behalten. Ein paar von ihnen wird er nie preisgeben. Vielleicht wird eines fernen Tages die ganze Geschichte des Mondes of fenbar, wenn der erste Mensch seinen Fuß auf eine ganz andere Welt set zen wird. Auf Buniok. * Forscher hatte sich selbst einen neuen Namen zugelegt. Dieser lautete Beob achter. Er behielt diesen Namen für sich, denn die Maschine verhielt sich still und suchte keine Unterhaltung. Alle ihre Fühler waren wie immer auf die Erde gerichtet. Aber erst seit we nigen Tagen hatte sie begonnen, neue Einheiten zu erzeugen. Beobachter bemerkte, daß es zum erstenmal Einheiten gab, die nicht im Mondinnern standen. Der Wächter hatte es für richtig befunden, einige der neuen Einheiten auf der Oberfläche zu stationieren. Allerdings waren diese 38
Einheiten so klein, daß sie kaum auffallen würden. Wem sollten sie auch auffallen? Vielleicht den Insassen des winzigen Gebildes, in dem sich drei Menschen von der Erde aus dem Trabanten näherten? Das war unwahrscheinlich. Beobachter genoß es, das komplizierte Manöver mit den fein durchdachten, aber doch so primitiven Maschinen zu verfolgen. Als der Flugkörper in eine stabile Bahn um den Mond einschwenkte, jubelte Beobachter auf. Es gab kaum noch einen Grund, der eine erfolgreiche Landung der Menschen verhindern würde. Dann trennte sich die Landefähre vom Mutterschiff. Die Maschine übertrug alle Einzelheiten auf die Sichtschirme, und Beobachter verfolgte jede Phase des Landeversuchs. Die Sichtschirme der Maschine waren bis auf den letzten Winkel mit Bildern und Daten gefüllt. In der kritischen Phase des Abstiegs der Landefähre geschah es. Beobachter freute sich noch über die angespannten und doch so sicheren Gesichtszüge des Piloten, und er erinnerte sich an einen Besuch bei einem dreijährigen Jungen namens Neil Armstrong auf dem nordamerikanischen Kontinent. Beobachter sah den Fehler im gleichen Moment, als der Wächter zu ihm sag te: »Ausfall des Bordcomputers. Keine Verbindung zum Mutterschiff. Sie sind auf manuelle Steuerung angewiesen. Wir sollten eingreifen.« »Nein«, sagte Beobachter, und sein Herz schlug ihm bis zum Hals. »Ich glaube, sie schaffen es noch. Und wenn nicht, so klappt es beim nächsten Mal.« »Die Entscheidung darüber liegt bei dir«, sagte der Wächter. »Du hast nur noch Sekunden Zeit.« »Sie werden es schaffen«, antwortete Beobachter. »Ich weiß es. Ich fühle es. Es sind meine Menschen, und sie werden den ersten Schritt erfolgreich durch führen. Und eines fernen Tages auch den letzten.« Er berechnete blitzartig die weitere Flugbahn. Da der Pilot geschickt hantier te (und das mußte er, denn Beobachter hatte ihm vor Jahren die Grundvoraus setzungen dafür gegeben!), war eine erfolgreiche Landung noch sehr wahr scheinlich. Die Landefähre schwankte einigemal, dann setzte sie auf. Während auf der Erde die Menschheit jubelte, sagte der Mann im Mond zu frieden: »Wächter, ziehe alle Fühler ein. Wir gehen an unseren neuen Ort. Ich werde lange schlafen können, bis der zweite Schritt getan sein wird und ein Mensch dieses Sonnensystem verläßt.« »Ja«, antwortete die Maschine. »Wir gehen.« 39
Es gab keine Erschütterung und keinen meßbaren Energieimpuls, als die Sta tion mit seinem einsamen Menschen ihren Standort wechselte. * Der Mond. Monde nennt man Himmelskörper, die einen Planeten auf einer ellipsenför migen Bahn umkreisen. Speziell gilt das Wort Mond für den Begleiter der Erde. Andere Bezeichnungen allgemeiner Art sind Satellit oder Trabant. Der Mond der Erde ist durchschnittlich 384.000 Kilometer von ihr entfernt. Sein Durchmesser beträgt 3476 Kilometer, das ist etwa ein Viertel des Erddurch messers. Der Mond umkreist die Erde einmal in 27,32 Tagen. Man nennt diese Zeit den siderischen Monat. In genau der gleichen Zeit dreht er sich einmal um seine eigene Achse, so daß er der Erde immer den gleichen Teil der Oberfläche zuwendet. Im Oktober 1959 gelang es der russischen Mondsonde Lunik II, photographische Aufnahmen von der Rückseite des Mondes zur Erde zu sen den. Im Jahr 1964 übermittelte der amerikanische künstliche Satellit Ranger VII 4316 Aufnahmen von der Rückseite zur Erde. Seit dieser Zeit weiß man, daß die andere Seite des Mondes sich nicht grundsätzlich von der sichtbaren unterscheidet. Im Frühjahr 1969 landeten die ersten Menschen auf dem Mond. Sie kehrten erfolgreich mit Gesteinsproben zur Erde zurück. Ein Teil der Rät sel des Mondes wurde dadurch gelüftet. Wir wissen heute, daß der Mond ein erkalteter Himmelskörper ist, dessen Oberflächentemperaturen zwischen über 100 Grad plus und minus liegen. Die Oberfläche ist gekennzeichnet von unzäh ligen großen und kleinen Kratern mit Ringgebirgen, die bis zu 200 Kilometern dick sind und fast die Höhe des Himalaja erreichen. Die Bahn des Mondes ist genau bekannt. Sein Einfluß auf die Erde, auf der er die Gezeiten hervorruft, ebenfalls. Mondfinsternisse sind eine enträtselte und willkommene Abwechs lung. Die Sonnenfinsternisse, die der Mond bewirkt, versetzen noch heute die Menschen in Panik und Schrecken. Das und vieles mehr wissen wir über den Mond. Es gibt keinen vernünftigen Menschen auf der Erde, der glaubt oder vermu tet, daß der Mond je Leben hervorgebracht oder getragen hat. Es gibt auch keinen vernünftigen Menschen, der an die Märchen vom Mann im Mond glaubt. Es ist mehr als zweifelhaft, ob die Menschen je bis in das Innere des Mondes vordringen werden. Das Erstaunen wäre groß, wenn man dort einen fein säu berlich herausgetrennten kugelförmigen Raum von 182,4 Metern Durchmesser finden würde. Es ist wahrscheinlicher, daß die Menschheit vorher den zweiten Schritt voll 40
ziehen wird und ein Raumschiff aus dem Sonnensystem hinausschickt, das die Menschen zu den Sternen bringt. Vielleicht nach Buniok …
Die ewigen Nomaden Nuhuru erwachte von dem sanften Ruck. Die Wohnmaschine setzte sich er neut in Bewegung. Gedankenlos faßte der Junge in die Schüssel und nahm eine Handvoll von dem feingemahlenen Quarzsand. Fast geräuschlos rieselte das Sandmehl in seinen Mund, wo er es mit dem Speichel vermengte. Es schmeckte ihm ausgezeichnet. Seine Mutter mußte eine Stelle gefunden haben, an der der Sand mit den Spuren von Schwefelkörnern durchsetzt war, die er so sehr liebte. Mit einem Sprung, der für einen Jungen in seinem Alter schon recht beacht lich war, hechtete Nuhuru durch das Zimmer auf die gegenüberliegende Seite. Mit einer nicht minder geschickten Handbewegung faßte er im Flug nach dem Stuhl vor seinem Arbeitstisch und schwang sich hinein. Er warf einen kurzen Blick nach oben, wo die Sonne durch das halbgeöffne te Fenster seines Zimmers schien. Sie schien immer gleichmäßig gut und warm, die liebe alte Sonne. Einmal in seiner Jugend, Nuhuru war damals vier oder fünf Jahre gewesen, hatte es eine Panne gegeben. Da war es anders mit der Sonne gewesen. Die Wohnmaschine war tagelang nicht von der Stelle gerückt, weil Vater den De fekt nicht finden konnte. Die Sonne war immer weiter zur Seite gezogen, und als sie dicht über dem fernen Horizont stand, wurde es schnell merklich kühler. Alle Männer und Frauen hatten wie die Wilden gearbeitet, um die Wohnma schine wieder flott zu bekommen und um die notwendigen Maßnahmen zur Wärmeerzeugung vorzubereiten. Nuhuru konnte sich noch gut daran erinnern, obwohl er noch sehr jung ge wesen war. Heute zählte er zwölf Jahre. Seine Ausbildung war schon fast be endet, und im nächsten Jahr würde er wahrscheinlich schon in die Technik der Wohnmaschine eingewiesen werden. Dann erst würde sein Leben einen Sinn haben, denn dann konnte er zur Erhaltung des Lebens etwas beitragen. Er beugte sich über den Tisch und begann in den Folien zu wühlen. Eine ganze Reihe von Aufgaben hatte er noch zu lösen. In drei Stunden würde Großvater ihn zu den anderen Kindern der Gruppe rufen und mit der Unterrich tung fortfahren. Während sich Nuhuru in seine Aufgaben vertiefte, registrierte er am Rand, daß die Wohnmaschine einen steilen Abhang hinaufglitt. Die Atomgeneratoren 41
summten kaum hörbar, aber wenn die Belastung wuchs, spürte der Junge das leichte Vibrieren. Es kam eigentlich nicht von den Generatoren, sondern von dem Getriebe und den meterbreiten Kettengliedern der Laufwerke. Trotz der ausgezeichneten Federung kam der eine oder andere Stoß spürbar bis zu ihm durch. Der Junge blickte von seinen Aufgaben auf. Er besaß keine besondere Nei gung, die Historie zu erlernen. Sie war ihm zu alt und damit zu nichtssagend. Ihn interessierte mehr die Gegenwart und die Technik der Wohnmaschinen. Seine Augen fielen auf die Datumsanzeige. Dort stand die Zahl 15-09343177. Das bedeutete, daß heute der 15. September des Jahres 343177 war. Was hatte Großvater noch in der letzten Unterrichtsstunde gesagt? »Es gibt keinen vernünftigen Grund, sich an die Zeitrechnung der Erde zu halten. Daß sie trotzdem bis heute beibehalten worden ist, ist ein Beweis dafür, daß der Mensch trotz der Wandlungen am Überkommenen festhält.« Nuhuru hatte diesen Satz nicht ganz verstanden, denn er hatte bei vielen Un terrichtsstunden in Historie nicht richtig aufgepaßt. Er würde vor der nächsten Prüfung eine Menge aufzuholen haben. Eines war ihm jedoch schon seit langer Zeit klar. Die ganze Zeitrechnung er folgte nach dem Verhalten der Erde. Wenn sie sich einmal um sich selbst ge dreht hatte, war ein Tag vergangen. Und ein Tag besaß 24 Stunden. Wie so vielen anderen jungen Menschen leuchtete es ihm nicht ein, daß man keine Zeitrechnung nach den astronomischen Daten des Mondes besaß. »Ein Mondtag ist so lang wie ein Mondjahr«, pflegten die erfahrenen Er wachsenen solchen Gedanken zu widersprechen. »Daher ist eine Zeitrechnung nach dem Mond für uns ungeeignet.« Nuhuru war noch zu jung, um das alles in seiner Tragweite zu verstehen. Aber wenn er an das Erlebnis mit dem Defekt der Wohnmaschine zurückdach te, so glaubte er etwas von dem Sinn dieser Aussage zu erfassen. Damals war das unheimliche Geschehen passiert. Die Sonne hatte ihre ge wohnte Position verlassen. Normalerweise stand sie, in Fahrtrichtung gesehen, leicht rechts, aber nie deutlich vor oder hinter der Wohnmaschine. Die langsam aber stetig verschwindende Sonne hatte dem Jungen damals ei nen schweren Schock versetzt. Er würde irgendwann in seinem Leben viel leicht die wahren Zusammenhänge ganz begreifen. Das würde ihm helfen und die Belastung von ihm nehmen. Wenn damals die Worstoi-Gruppe mit ihrer Wohnmaschine nicht in letzter Minute zu Hilfe gekommen wäre, hätte es böse für sie alle ausgesehen. Nuhuru glaubte sich genau zu erinnern, daß es die Worstoi-Gruppe gewesen war. Sie befand sich meist nur wenige hundert Kilometer von ihnen entfernt, und fast täglich wurden im Funkkontakt die Erfahrungen zwischen den 42
Worstois und seiner Gruppe ausgetauscht. Der Junge erinnerte sich auch noch an die hereinbrechende Kälte. Während die Männer und Frauen arbeiteten, um wenigstens einen der vier Generatoren der Wohnmaschine durch ein Ersatzaggregat der Worstoi-Gruppe zu ersetzen, hatte die Kälte von ihm Besitz ergriffen. Alle Wärmeerzeuger liefen auf vollen Touren, aber gegen die eisige Kälte, die durch das Verschwinden der Sonne einsetzte, gab es auf Dauer kein wirksames Mittel. Er gehörte zur Mevodan-Gruppe, und diese zählte etwa 120 Mitglieder. Nu huru war stolz auf die Mevodan-Gruppe. Er hielt sie in seinem jugendlichen Selbstbewußtsein für die beste aller Gruppen überhaupt. Die Erwachsenen hatten gegen diese Selbstüberschätzung nichts einzuwenden. Andererseits konnten sie dies auch nicht, denn kaum jemand wußte mit großer Genauigkeit, wieviele Gruppen auf dem ewigen Treck hinter der Sonne herzogen. Es moch ten 50 sein oder 500. Mehr waren es aber bestimmt nicht, denn dann hätte man häufiger auf neue Spuren treffen müssen. Es lief Nuhuru eiskalt über den Rücken, als er an den Unfall zurückdachte. Damals war das Thermometer auf 80 Grad gesunken. Später hatte Großvater einmal im Unterricht von dem Unglücksfall gesprochen. Alle Kinder hatten ihm andächtig zugehört, denn sie schätzten den alten und erfahrenen Lehrer sehr. Als er ihnen aber erzählt hatte, daß die Menschen in der Urzeit bei Tem peraturen um 15 Grad gelebt hatten und auch ohne größere Schwierigkeiten sogar bei Temperaturen unter null Grad existieren konnten, hatten sie ihren Lehrer ausgelacht. Großvater Mevodan hatte immer und immer wieder versichert, daß es doch stimme, aber alles war umsonst gewesen. Schließlich hatte der Alte sich und die Kinder damit vertröstet, daß diese das alles erst verstehen würden, wenn die Unterrichte in Historie an der Reihe wären. Trotz der vor wenigen Tagen begonnenen Unterrichte, die zudem sehr lang weilig waren, verstand Nuhuru noch nichts von der Vergangenheit der Men schen. Was Großvater Mevodan von den Raketen und Raumschiffen der Urmen schen erzählte, war viel interessanter. Damals – Nuhuru meinte im Unterricht gehört zu haben, daß dies vor etwa 300.000 Jahren gewesen war –, damals durcheilten die Menschen, so unvollkommen sie auch waren, mit diesen Flug körpern das All. Und wenn Großvater Mevodan nicht log, waren die Menschen auch auf diese Weise auf den Mond gelangt. Nuhuru konnte sich das nur schwerlich vorstellen, denn er war hier geboren, und hier war sein Zuhause. Es würde auch nie ein anderes Zuhause geben. Es sei denn … Er hatte einmal ein Funkgespräch seines Vaters aufgeschnappt, als er mit 43
ihm in der Führerkabine der Wohnmaschine gewesen war. Vater hatte mit den augenblicklichen Kommandanten von einigen anderen Gruppen gesprochen. Dabei war davon die Rede gewesen, daß man nach einem anderen Wohnort im Sonnensystem Ausschau halten sollte. Dieser Ort sollte der Planet Merkur sein. Inzwischen hatte Nuhuru im Unterricht gelernt, was dieser Planet Merkur wirklich war. Er umkreiste die Sonne so wie die Erde, das hieß, er lief direkt um sie herum. Merkur war also anders als der Mond, der ja um die Erde lief und mit dieser erst die Sonne umrundete. Es mußte kluge Forscher bei den anderen Gruppen geben, die den Himmel genau beobachteten. Daß sie sich dafür dem Risiko der Nacht aussetzen muß ten, war Nuhuru unerklärlich. Aber am Tag konnte man die anderen Himmels körper ja nicht sehen. Die anderen Himmelskörper, das waren alle außer der Sonne und der Erde. Der Junge kannte sie nur aus den Unterrichten und konnte daher an ihre Existenz nicht so recht glauben. Er stützte sein Kinn in die Hand und begann zu grübeln. Man sollte tatsäch lich einmal eine Nacht überdauern, überlegte er. Mit geeigneten Maschinen, die für die notwendige Wärme sorgten, war das möglich. Aber wer würde sol che Maschinen bauen und zur Verfügung stellen? Wohl keine Gruppe. Die Astronomen der anderen Gruppen wagten es auch nur, einige wenige Stunden in der Nachtzone zu verbleiben, um die anderen Himmelskörper zu sehen. Dann eilten sie schnell mit ihren Wohnmaschinen hinter den anderen her. Die Nacht war tabu. Sie war der Feind aller Menschen und ihr sicherer Tod. Das hatten Nuhurus Vater und Mutter ihm und seinen Geschwistern immer wieder eingeschärft. Vielleicht lag gerade darin der besondere Reiz? Einmal etwas Verbotenes tun! Das wäre herrlich. Aber die Gefahr war zu groß. Die Wohnmaschine könnte in der Nacht stranden, und dann wäre die ganze Gruppe verloren gewe sen. Es gab genügend Gerüchte und Legenden um umgekommene Gruppen. Sie mußten Wahrheit sein, denn erst vor einem Jahr war die Mevodan-Gruppe auf ein gestrandetes Wrack gestoßen. Die Menschen waren an der Kälte elendiglich gestorben. Sein Vater hatte gemeint, daß dies schon vor hundert oder noch mehr Jahren geschehen sein mußte, aber das änderte nichts an der unumstößlichen Tatsache. Mit einem Ruck blieb die Wohnmaschine stehen. Nuhuru blickte auf die Uhr. Es war eigentlich noch zu früh für die Pause. Er war leicht beunruhigt, denn er wußte, daß sein Vater die Wohnmaschine lenkte. Noch zwei Tage, dann würde Wahlter, der älteste Sohn von Cruman, ihn ablösen. Nuhuru freute sich schon darauf, denn dann wäre Vater wieder für 28 Tage bei der Familie, und er würde auch Zeit für ihn haben. »Wir machen schon jetzt die Pause«, hörte er die Stimme seines Vaters. 44
»Zwei Generatoren zeigen Überlastungserscheinungen. Wir wollen kein Risiko eingehen. Unser Vorsprung vor der Sollzeit beträgt 18 Stunden, so daß eine zusätzliche Pause ohne Gefahr riskiert werden kann. Der Start ist in vier Stun den vorgesehen.« Das war die typische Sprache der Nomaden. Generatoren, Pause, Gefahr, Ri siko, Sollzeit. Immer wieder fielen die gleichen Worte. Für den jungen Nuhuru waren sie schon Routine. Er maß ihnen keine Bedeutung mehr bei. Wichtig war jetzt nur, daß er Zeit hatte, um draußen zu spielen. Vielleicht würde er wieder einmal eine schmack hafte Sandquelle finden, an der er sich laben konnte. Die restlichen Aufgaben, die noch auf ihre Erledigung warteten, ließ er lie gen. Er hangelte sich an der Leitstange nach oben, wo seine Mutter und wahr scheinlich auch einige seiner Geschwister weilten. Zu seiner Enttäuschung war nur Milia, seine jüngste Schwester, anwesend. Und natürlich Mutter. Wahrscheinlich würde er wieder Milia beaufsichtigen müssen. »Ich gehe ’raus«, sagte er schnell und sprang zum Ausgang. »Willst du Milia nicht mitnehmen?« fragte seine Mutter. Aber Nuhuru tat so, als ob er sie nicht mehr gehört hätte. Er glitt aus der Schleuse und sprang in den steinigen Untergrund. Mit großen Sätzen rannte er hinaus in die Landschaft. Er sprang über meter hohe Felsbrocken und landete geschickt immer wieder auf den Beinen. Erst nach mehreren hundert Metern hielt er an. Der Junge suchte sich einen Felsbrocken und ließ sich darauf nieder. Seine Hand glitt durch den Sand und Staub des Bodens. Er probierte ein paar Stein chen, aber sie schmeckten ihm nicht. Es war zuwenig Sauerstoff darin, und er war immer noch das Hauptnahrungsmittel. Unweit von ihm tummelten sich die anderen Kinder der Familiengruppe. Sie beachteten Nuhuru nicht, oder sie hatten ihn nicht bemerkt. Die Pausen waren nicht sehr häufig. So war es nicht verwunderlich, daß ge rade die Kinder diese willkommene Abwechslung liebten und ins Freie dräng ten. Nuhuru suchte seinen Vater. Er fand ihn schnell, denn seine scharfe Kontur zeichnete sich deutlich auf dem Dach der Wohnmaschine ab, wo die Generato ren untergebracht waren. Für die Erwachsenen war die Pause mit Routinearbeit verbunden. Die Wohnmaschine mußte überprüft werden. Ohne sie wären alle verloren. Langsam ließ der Junge seinen Blick über das riesige Gefährt gleiten. Die Wohnmaschine war gut 400 Meter lang. Der massige Kasten besaß eine Höhe von 40 Metern und eine Breite von fast 100 Metern. Seine äußere Hülle be 45
stand aus silbern glänzendem Metall. Alle paar Meter fanden sich große Fens ter, die meist offenstanden und die wärmenden Sonnenstrahlen in das Innere ließen. Nuhuru hatte sein ganzes junges Leben in dieser Wohnmaschine verbracht. Das war normal. Allerdings hatte er auch ein paar andere Wohnmaschinen gesehen. Sie ähnelten der eigenen, aber keine glich ihr vollständig. Er liebte die Wohnmaschine. Er liebte auch seine Eltern und Geschwister und die anderen Menschen der Gruppe. Er liebte es auch, zwischen den Steinen und Felsen herumzutoben oder im Sand zu wühlen und sich die kostbarsten Leckerbissen davon in den Mund zu stecken. Aber am meisten liebte er die Wohnmaschine. Sie war sein Zuhause. Er bemerkte gar nicht, daß Lantha sich ihm näherte. Das Mädchen lebte im vorderen Teil der Wohnmaschine. Sie war ein Jahr älter als Nuhuru und mit diesem befreundet. Der Junge mochte Lantha, weil sie viel wußte. Andererseits galt ihr sein Mitleid, denn ihre Familie besaß keinen Piloten für die Wohnma schine. Lanthas Vater war schon viele Jahre tot, und ihre Mutter hatte die Pilo tenprüfung nicht bestanden. Geschwister besaß Lantha nicht. »Hallo, Nuhuru«, begrüßte sie ihn lächelnd. Der Junge hob seine Hand zum Gruß. Er hatte Lantha mehrere Wochen nicht gesehen, da innerhalb der Wohnma schine gegenseitige Besuche nur selten waren. Erstaunt stellte Nuhuru fest, daß sie schon wieder gewachsen war. Sie war jetzt fast so groß wie er, was für ihr Alter ungewöhnlich war. Normalerweise waren die Mädchen ein bis zwei Köp fe kleiner als die Jungen. Lantha gefiel ihm gut. Sie besaß die hellste Haut an Bord der Wohnmaschi ne. Nuhuru hatte noch nie eine hellere Haut gesehen. Das war eine besondere Auszeichnung, denn sie wies auf eine hohe Überlebensfähigkeit hin. Auch Nuhurus Haut war sehr hell, aber nicht so strahlend weiß wie die von Lantha. »Ihre Haut ist schneeweiß«, hatte Großvater Mevodan einmal gesagt. Nuhu ru hatte ihn gefragt, was das Wort schneeweiß denn bedeute, aber der Alte wußte es nicht. »Die Urmenschen beschrieben damit ein besonders helles Weiß«, hatte er geantwortet. »Aber was Schnee ist, können wir uns nicht vorstellen. Vielleicht hat es etwas mit den Tieren zu tun.« Nuhuru hatte geschwiegen, denn er wollte sich nicht bloßstellen. Das Wort Tiere kannte er auch nicht. Ein weiterer Vorteil von Lantha war, daß sie völlig haarlos war. Nur ganz wenige Menschen waren haarlos, und Haare galten als Minderwertigkeit, da sie die Totalreflexion der Sonnenstrahlen verhinderten. Gleiches traf auch für eine 46
nicht ganz weiße Haut zu. Der Junge strich sich über den Hinterkopf. Dort, dicht hinter den Ohren, spürte er einen leichten Flaum. Einige der Erwachsenen glaubten, daß früher, also in der Urzeit, alle Men schen Haare besessen hatten. Nuhuru konnte sich vorstellen, daß dies bei den niedrigen Temperaturen, die damals noch vorherrschten, durchaus von Nutzen gewesen war. Er dachte mit Schaudern an seine häßlichen Vorfahren. »Ich besuche ab dem nächsten Jahr den Pilotenkurs«, sagte Lantha. »So, so«, antwortete Nuhuru. »Ich interessiere mich mehr für den Merkur.« Eigentlich hatte er etwas ganz anderes sagen wollen, aber irgendwie wollte er Lantha imponieren. »Die Auswanderungspläne.« Das Mädchen tat so, als habe es nichts Außer gewöhnliches gehört. »Alles Unsinn. Hier leben wir gut und in geregelten Ver hältnissen. Alles, was wir tun müssen, ist, unsere Wohnmaschine in Ordnung zu halten. Durch sie können wir den Spuren der ewigen Trecks folgen. Die Sache mit der Auswanderung ist Unsinn.« Nuhuru stand auf und baute sich vor dem Mädchen in voller Größe auf. »Auf dem Planeten Merkur könnten wir sehr lange leben, ohne als Nomaden dahin zuziehen. Das ist der Unterschied. Was soll denn geschehen, wenn unsere Wohnmaschine eines Tages versagt?« Sie lächelte überlegen. »Glaubst du denn, unsere Vorfahren hätten schon immer in dieser Wohnmaschine gelebt? Nichts hält ewig, und eine Wohnma schine hält vielleicht zweihundert oder dreihundert Jahre, aber nicht länger.« »Aber, aber …«, stotterte er verlegen, denn über dieses Thema wußte er noch nicht genug. »Es gibt eine Stelle auf der Mondoberfläche«, sagte Lantha, »an der werden die Wohnmaschinen gebaut. Mutter nennt die Stelle den Nordpol. Sie hat mir erzählt, wie es dort aussieht.« »Unsinn!« Wütend ruderte Nuhuru mit beiden Armen in der Luft herum. »Woher will deine Mutter das wissen?« »Es gibt viele, die das wissen, aber sie sprechen nicht gern darüber.« »Und wie sieht es dort aus?« Lantha zeichnete mit dem Finger einen Kreis in den Sandboden. Dann zog sie im Mittelpunkt des Kreises noch einen winzigen Kreis und einen Durch messer durch den großen Kreis. »Im Mittelpunkt ist der Nordpol«, erklärte sie. »Der große Kreis durchmißt 50 Kilometer. Er ist in zwei Hälften geteilt, von denen eine immer in der Nacht liegt und eine im Tag. Die ganze Scheibe dreht sich entgegen der Mondrotati on, so daß immer die gleiche Hälfte im Tagbereich bleibt. Nur diese dürfen unsere Wohnmaschinen anfahren, wenn sie nicht mehr voll funktionieren. Der 47
Herr der Scheibe ist eine mächtige Maschine, die für uns die Wohnmaschinen baut.« Nuhuru schüttelte ungläubig den Kopf. »Das verstehe ich nicht. Ich habe wohl Vater schon einmal vom Herrn der Scheibe reden hören, aber mir nichts dabei gedacht. Außerdem ist es unsinnig, daß die Scheibe auch noch im Nacht bereich liegen soll. Bekanntlich kann dort kein Leben existieren.« »Der Nachtbereich ist für uns verboten. Warum er vorhanden ist, wußte auch Mutter nicht. Der Herr der Scheibe achtet genau darauf, daß kein Mensch die Tagzone verläßt, wenn er in seiner Nähe ist.« Der Junge schwieg eine Weile. Lantha sah ihm an, daß er angestrengt über legte. »Wie alt ist denn unsere Wohnmaschine?« fragte er schließlich. Das Mädchen zuckte mit den Schultern. »Frage doch einmal deinen Vater. Er ist über fünfzig Jahre alt. Damit gehört er zu den ältesten Menschen unserer Gruppe. Vielleicht weiß er es.« Nuhuru blickte hinüber zu der Wohnmaschine, wo sein Vater mit einigen anderen Männern noch immer auf dem Dach die Generatoren untersuchte. »Es gibt so viele Dinge, die ich nicht verstehe«, sagte er bedauernd. »Mir geht es nicht anders.« Lanthas Worte klangen aufrichtig. »Auch die Erwachsenen wissen nicht alles. Mutter sagt, es ist viel Wissen verlorengegan gen, weil wir nur immer im gleichen Trott um den Mond herumziehen und uns nicht um die anderen Dinge der Welt kümmern. In der Worstoi-Gruppe soll es Menschen geben, die das Weltall erforschen wollen. Einige sind sogar so ver messen, daß sie vorgeschlagen haben, den Herrn der Scheibe zu bitten, ihnen ein Raumschiff zu geben, mit dem sie zur Erde fliegen können. Bekanntlich haben die Menschen in der Urzeit auf der Erde gelebt.« »Und sie zerstört«, sagte Nuhuru dumpf. Sein Blick glitt zum schwarzen Himmel, wo die schmale Sichel der Erde in gelben und roten Farben leuchtete. Die Nachtseite der Erde erstrahlte in dunklem Rot. »Ja«, pflichtete ihm Lantha ohne Bedauern bei. »Es muß vor über 300.000 Jahren gewesen sein, als die Erde in einen radioaktiven Ball verwandelt wurde. Für uns auf dem Mond war das ein Glücksfall, denn dadurch wurden wir ge zwungen, uns hier eine neue Heimat zu schaffen.« Nuhuru fielen ein paar Dinge aus dem Unterricht des alten Mevodan ein. Danach war die Erde für alle Zeit verloren. Die neuen Menschen konnten bestensfalls noch auf den Planeten Merkur auswandern, weil sie sonst nir gendwo Lebensbedingungen antrafen, die auf sie zugeschnitten waren. Schweigend folgte ihm Lantha, als er sich auf den Weg machte. Er hatte kein bestimmtes Ziel. Die beiden jungen Menschen kletterten in einen Krater, der etwa 40 Meter tief war. Mehrere Spuren von Fahrzeugen führten hinab. Das 48
war nichts Ungewöhnliches, denn es gab auf der Mondoberfläche kaum noch eine Stelle, die nicht von den Wohnmaschinen befahren worden war. Außer dem wurden diese Spuren von denen aus der Frühzeit der Mondbewohnung noch ergänzt. Ob die einzelnen Abdrücke zwei oder zweihundert oder zwei hunderttausend Jahre alt waren, vermochte niemand zu sagen, denn wenn sie einmal in den Boden gedrückt waren, so blieben sie dort unveränderlich erhal ten, es sei denn, daß eine neue Spur darübergewalzt wurde. Der Kraterrand versperrte den Kindern den Blick auf die Wohnmaschine. Vor der Abfahrt würde das Signal sie rechtzeitig rufen. Sie trotteten zwischen den Felsen und Steinen hin und her und redeten dabei nur wenig. Plötzlich jedoch blieb Nuhuru abrupt stehen. Seine Hand zeigte auf eine Mulde zu seiner rechten Seite. »Da!« sagte er heiser. Lantha kam schnell näher. Ungewöhnliche Funde gab es auf der Mondober fläche nur selten. Es kam schon einmal vor, daß man auf ein Trümmerstück einer alten Maschine traf oder auf ein ähnliches Teil, das bewies, daß hier schon Menschen gewesen waren. Aber einen wirklich sensationellen Fund gab es praktisch nie. Die Augen des Mädchens weiteten sich jäh. Sie schluckte schwer, und ein paar noch nicht verdaute Sandkörner traten auf ihre Lippen. »Ein Mensch!« stöhnte sie. »Aber wie der aussieht!« Das war es auch, was Nuhuru so erschreckt hatte. Zur Hälfte von Sand und Gestein bedeckt, lag dort eine gekrümmte Gestalt. Die Hitze und die Kälte hatten das Äußere weitgehend entstellt und alle Flüssigkeit aus dem Körper gezogen. Aber zwei Dinge waren so augenfällig und ungewöhnlich, daß den Kindern ein Schreck in die Glieder fuhr. Der Tote war auf dem Kopf, an einem Arm und an der freiliegenden Brust hälfte dicht behaart. Es war zweifellos ein Mensch. Die anderen Teile seines Körpers waren entweder von Sand bedeckt oder, und das war der zweite er staunliche Punkt, mit den Resten einer künstlichen Hülle überzogen. »Kleidung«, sagte Lantha. Nuhuru konnte mit dem Wort nicht viel anfangen. Er wußte nur, daß es irgendwann in Großvater Mevodans Unterricht gefallen war. »Wir müssen jemand holen«, verlangte Nuhuru. Lantha nickte bestätigend. »Wenn wir unsere Stimmen koordinieren, wird man uns in der Wohnmaschine hören.« Normalerweise reichte die Hyperschallstimme der Menschen nur wenige Meter. Wenn sich aber zwei Menschen in der richtigen Position aufbauten, so konnten sie in einer Vorzugsrichtung mehrere hundert Meter weit rufen. 49
Nuhuru und Lantha nahmen sich bei der Hand. Sie wählten die Richtung zur Wohnmaschine und riefen. Die Antwort kam rasch. Nuhuru erkannte in einer Stimme die seines Vaters. Minuten später waren mehrere Männer und Frauen zur Stelle. Auch Großva ter Mevodan war darunter. Sie legten den Körper vom Sand frei und untersuchten ihn. Einer der Männer hatte mehrere Instrumente mitgebracht, die er über den toten Körper gleiten ließ. »Das ist der fehlende Beweis«, stellte Großvater Mevodan fest. Aufmerksam studierte er die Meßergebnisse. »Der Körper dieses Menschen ist mit Sicher heit noch keine drei Monate alt. Er hat vielleicht acht Tage und Nächte hinter sich, aber mehr nicht. Ihr wißt, was das bedeutet.« Nuhuru wußte nicht, was damit gemeint war, aber Lantha nickte verständ nisvoll. Er beschloß, seine Freundin später danach zu fragen. Sein Vater drängte sich nach vorn. Er tippte Nuhuru auf die Schulter. »Geht zurück in die Wohnmaschine«, sagte er streng. »Das ist nichts für Kinder.« »Da bin ich ganz anderer Ansicht«, widersprach Lantha. »Nuhuru und ich haben den Leichnam entdeckt. Also haben wir auch ein Recht, sein Geheimnis zu erfahren.« Nuhurus Vater schwieg hierzu, denn die Diskussion ging im Augenblick in eine andere Richtung. Der Junge hörte aufmerksam zu. Zum erstenmal hörte er das Wort Nacht menschen. Zunächst sagte es ihm wenig. Aber je hitziger die Erwachsenen diskutierten, um so deutlicher wurden ihm die Zusammenhänge. Offensichtlich hielt sich schon seit Jahren das Gerücht, daß es außer den Menschen in den Wohnmaschinen, die auf der Tagseite des Mondes ihrem ewigen Weg folgten, auch noch eine andere Gruppe von Menschen gab, die das gleiche auf der Nachtseite tun sollten. Die meisten Mitglieder der Gruppe lehnten diese These strikt ab, denn es schien ihnen unmöglich, daß jemand bei Temperaturen um minus 150 Grad existieren konnte. Nuhuru selbst glaubte nicht einmal daran, daß die Menschen früher auf der Erde bei Temperaturen um zehn oder fünfzehn Grad gelebt ha ben sollten. Daß die Erde seit Ewigkeiten ein glühender Ball war, deutete er ganz anders als die Lehrer. Es war dort einfach zu heiß geworden. Auch Nuhu ru und seine Mitmenschen konnten bei Temperaturen über 200 Grad nicht mehr leben. Auf der Erde aber, das wußte man aus Fernmessungen, herrschten Temperaturen von über 3000 Grad. Großvater Mevodan stellte hier die kühne Behauptung auf, daß der gefunde ne Leichnam zu den sagenhaften Nachtmenschen gehören müsse. 50
»Unmöglich!« widersprach ihm eine Frau, die nur wenig älter war. Nuhuru kannte ihren Namen nicht, denn sie lebte wie Lantha im vorderen Teil der Wohnmaschine. »Wenn es wirklich die Nachtmenschen gäbe, so hätten wir schon früher auf ihre Spuren stoßen müssen.« »Die ganze Oberfläche des Mondes ist voller Spuren.« Großvater Mevodan ließ das Argument nicht gelten. »Wir können nicht einmal unsere eigenen von denen der anderen Wohnmaschinen unterscheiden. Unser Weg führt uns je desmal in eine andere Zone. Überall sind Spuren. Es gibt keine Merkmale, um Spuren auseinanderzuhalten.« »Wie dem auch sei.« Nuhurus Vater ergriff das Wort. Er war im Augenblick noch der Pilot und besaß damit die letzte Entscheidungsbefugnis. »Wir müssen diesen Körper entweder bestatten oder ihn mitnehmen. Darüber sollten wir abstimmen.« Die Frauen und Männer nickten, aber keiner sagte etwas. Die Situation war zu neu. »Es gibt niemand, der das entscheiden kann.« Lanthas Stimme klang frech und selbstbewußt. »In einem solchen Fall müßt ihr den Herrn der Scheibe fra gen.« Sie erntete erstaunte und entsetzte Blicke. »Was verstehst du davon!« fauchte einer der älteren Männer. »Mehr, als ihr vielleicht meint. Ich habe das Gefühl, daß sich die meisten von euch einfach weigern, den Tatsachen ins Gesicht zu blicken. Meine Mutter ist eine kluge Frau. Sie hat seit ihrer Kindheit alle Daten gesammelt, die über die Geschichte der Menschheit bekannt sind. Sie hat sie mir mitgeteilt, und ich habe darüber nachgedacht. Ohne Scheu. Wir fristen ein Dasein, daß unser un würdig ist. Wie Narren ziehen wir seit einer Ewigkeit hinter der Sonne her, immer um den Mond herum. Keiner wagt es, daran zu denken, was geschieht, wenn die Wohnmaschine einmal richtig versagt. Heute waren es nur ein paar heißgelaufene Generatoren, nächste Woche sind es die Kettenbänder, und nächsten Monat fallen die Prallfelder aus. Ihr seid zu feige, um eure Gedanken auch nur einen Schritt weitergehen zu lassen, als ein paar Meter um die Wohnmaschine herum. Hat sich jemals einer von euch gefragt, was jetzt auf der anderen Seite des Mondes geschieht? Natürlich nicht. Es könnte ja ein Unglück bedeuten. Da liegt der Beweis, der besagt, daß wir nicht allein auf dieser Welt sind. Und da draußen«, sie zeigte auf die Sichel der Erde, »liegt unsere Urheimat. Mehr als ein paar Worte und bruchstückhaftes Wissen sind davon nicht geblieben. Die Alten reden klug daher, und wahrscheinlich taten es die anderen Alten früher auch. Die Wahrheit ist, daß wir mehr und mehr ver dummen. Als ewige Nomaden fristen wir ein sinnloses Dasein.« Die Erwachsenen schwiegen betroffen. Irgendwie war es Lantha gelungen, 51
ein paar verborgene Wünsche zu wecken, über die zu sprechen man nie gewagt hatte. Einige blickten betreten zu Boden, andere suchten eine Antwort in den Augen ihres Gegenübers. »Selbst wenn deine Gedanken richtig sind«, sagte Nuhurus Vater leise zu dem Mädchen. »Was sollen wir denn anders machen? Unser Weg ist uns vor gezeichnet.« »Nein!« Das Mädchen schüttelte den Kopf. »Die Antworten liegen auf dem Mond. Ihr wißt, daß es auf dem Nordpol die große Scheibe gibt. In ihr wohnt ein mächtiger Herr. Wahrscheinlich handelt es sich dabei nur um eine Maschi ne, aber das spielt keine Rolle. Die Scheibe muß schon dagewesen sein, bevor die erste Wohnmaschine gebaut wurde, denn sie baut unsere Unterkünfte. Dort müssen wir alle Antworten erfahren, und dort können wir auch die Sinnlosig keit unseres Daseins beenden. Der Herr der Scheibe soll uns die Antworten geben.« Eine Frau stöhnte auf. »Mit welcher Respektlosigkeit sprichst du von dem, der unser Leben erhält! Du solltest schweigen und dich schämen.« Plötzlich brandete wieder eine heftige Diskussion auf. Alle redeten durch einander. Nuhurus Vater beendete den Disput. »Wir nehmen den Leichnam mit«, entschied er. »Start in fünfzehn Minuten.« Nuhuru und Lantha trotteten gemächlich zur Wohnmaschine zurück. Der Junge blickte das Mädchen bewundernd von der Seite an. Sie hatte recht. Das Leben war eintönig und sinnlos. Jetzt war endlich etwas geschehen. Nuhuru hoffte inständig, daß der Vorfall nicht zu schnell in Vergessenheit geriet. Dann nämlich würde der alte Trott wieder einsetzen. Er verabschiedete sich von Lantha und versprach ihr, sie von nun an jeden zweiten oder dritten Tag zu besuchen. Er spürte, daß dieses Mädchen eine Veränderung herbeiführen konnte. Und daran wollte er teilnehmen. * Die entscheidende Wende im Geschehen der Mevodan-Gruppe nahm am nächsten Tag ihren Anfang. Nuhuru war gerade von einem Besuch bei Lantha gekommen. Die beiden jungen Menschen hatten in aller Ausführlichkeit über Lanthas kühne Gedanken gesprochen. Nuhuru war ein begeisterter Zuhörer und Gesprächspartner gewe sen. Da sich der Junge schon einmal im vorderen Teil der Wohnmaschine befand, benutzte er die Gelegenheit, seinen Vater im Pilotenstand zu besuchen. Er hockte sich neben den Mann, der das riesige Gefährt sicher lenkte. Wenn breite Gräben zu überwinden waren, wurden die Prallfelder zugeschaltet, die 52
die Wohnmaschine in waagrechter Lage hielten. Pilot der Wohnmaschine, das war Nuhurus Traum gewesen. Seit der jüngs ten Begegnung mit Lantha und dem seltsamen Fund glitten seine Gedanken jedoch in eine andere Richtung. Dennoch genoß er es, hier hoch oben zu sitzen, von wo aus die größten Fels brocken wie kleine Steine aussahen. Sein Vater war ein schweigsamer Mensch. Er diskutierte nicht gern. So lä chelte er dem Jungen nur zur Begrüßung zu und konzentrierte sich weiter auf das vor ihnen liegende Gelände. Nuhurus Augen folgten denen seines Vaters. Er hätte liebend gern über sein Gespräch mit Lantha geredet, aber er wußte, daß er Vater nicht stören durfte. »Was ist das?« fragte er nach einer Weile. Seine Hand zeigte durch die offe ne Kuppel nach vorn. »So etwas habe ich noch nie gesehen.« »Ich auch nicht«, antwortete sein Vater. In einigen hundert Metern Entfernung erstreckte sich quer zu ihrer Fahrtrich tung eine schmale Hügelkette. Die Höhe dieser gleichförmigen Linie mochte etwa zehn Meter betragen. Außergewöhnlich war das Aussehen dieser Hügel linie. Sie wirkte so, als sei sie künstlich aus Steinen und Felsbrocken errichtet worden. Sie lag genau im Weg der Wohnmaschine und erstreckte sich zu beiden Sei ten weiter, als das Blickfeld reichte. »Es sieht so künstlich aus«, meinte Nuhuru. Sein Vater zuckte mit den Schultern. »Es ist kein Hindernis für die Wohnmaschine. Nur große und steile Krater wände können uns gefährlich werden. Die sind alle in der Karte vermerkt. Hier gibt es keine.« Unvermindert rollte die Wohnmaschine auf die kleine Erhebung zu. Nuhuru erhob sich von seinem Sitz, um zu beobachten, wie sie unter den Ketten der Wohnmaschine verschwand. »Komisch«, murmelte der Junge. Im gleichen Moment ging ein heftiger Ruck durch die Wohnmaschine. Nu huru und sein Vater wurden in die Höhe geschleudert. Vor der Wohnmaschine und zu beiden Seiten schossen helle Flammen in die Höhe. Sie waren heller als die Sonne und blendeten den Jungen, der wild um herrudernd nach einem Haltegriff suchte. Ein zweiter Ruck folgte. Er riß die Wohnmaschine zur Seite. Langsam kipp te das riesige Gefährt nach rechts. Wieder schossen grelle Flammen hoch. Nuhuru begann laut zu schreien, aber das half gar nichts. Er sah, wie sein Vater auf die Notstoptaste hieb. Die Wohnmaschine hing jetzt ganz schräg, und sie neigte sich immer weiter. 53
Sie kippte nach rechts. »Die Prallfelder«, schrie der Junge. Aber sein Vater war aus dem Pilotensitz gerutscht und kam mit seinen Händen nicht mehr an die Steuerelemente. Eine heftige Erschütterung drang durch die Wohnmaschine, als sie sich end gültig auf die Seite legte. Nuhurus Vater fluchte. Er kletterte in seinen Sitz und versuchte, die Maschi ne zu aktivieren. »Sinnlos!« sagte Nuhuru. Er hing mit einer Hand an der Sessellehne. Die an dere zeigte auf den Plasma-Leuchtbalken, wo in roter Schrift NOTAB SCHALTUNG stand. Sie kletterten nach draußen. Dort versammelten sich die anderen Mitglieder der Gruppe. Es hatte viele Verletzte gegeben, um die sich die Frauen kümmerten. Die Wohnmaschine lag in ihrer ganzen Länge auf der Seite. An ihrer Vorderseite war der Boden zu beiden Seiten aufgewühlt. Nuhuru verstand zunächst nichts. Erst aus den Gesprächen erkannte er die Zusammenhänge. Es hatten zwei Explosionen stattgefunden. Unter der kleinen Hügelkette mußte jemand Sprengsätze versteckt haben. Nuhurus Vater schickte zwei Suchtrupps aus. Sie kamen schon nach kurzer Zeit zurück. Einer der Männer hielt eine Metalltafel in der Hand, auf der Schriftzüge eingebrannt worden waren. Man brachte die Tafel zu Nuhurus Vater. Auch Großvater Mevodan stand dabei, als dieser laut vorlas: »DER MOND GEHÖRT UNS. DIE WAHREN MENSCHEN DER NACHT.« In der Runde herrschte betretenes Schweigen. Diese Worte besagten alles. »Sie laufen ebenso in die Irre wie wir.« Lantha war hinzugetreten. »Irgend wie sind sie auf uns aufmerksam geworden. Bei ihnen war die Folge Wut. Sie versuchen, uns zu vernichten. Vielleicht hat es schon andere Zusammenstöße zwischen den Tagmenschen und den Nachtmenschen gegeben.« »Was sollen wir jetzt tun?« jammerte eine alte Frau. »Die Wohnmaschine muß wieder flottgemacht werden. In sieben Tagen ist der Mondtag zu Ende. Bis dahin müssen wir hier verschwunden sein.« Nuhu rus Vater sah das Hauptproblem. Er stellte Teams aus Technikern zusammen, die den Zustand der Wohnmaschine untersuchen sollten. Schon zwei Stunden später stand das Ergebnis fest. Von den vier Generatoren hatten drei den Sturz nicht überstanden. Eine Re paratur schied aus. Der vierte Generator arbeitete noch einwandfrei, aber die Energie eines Aggregats reichte bei weitem nicht aus, um die Prallfelder in 54
Betrieb zu nehmen. Und ohne die Prallfelder war ein Aufrichten der Wohnma schine unmöglich. Die Menschen versammelten sich im Freien. Nuhurus Vater und Großvater Mevodan sprachen koordiniert, so daß alle mithören konnten. »Wir sitzen fest«, begann Großvater Mevodan. »Beide Funkanlagen sind ausgefallen. Nur noch ein Aggregat ist betriebsfähig. In sieben Tagen kommt die eisige Nacht. Wenn wir uns alle in einem Raum versammeln und das intak te Aggregat zur Beheizung verwenden, können wir noch drei weitere Tage überleben. Länger auf keinen Fall. Wenn bis dahin nicht Hilfe kommt, sind wir verloren. Wenn jemand eine Lösung weiß, so möge er hervortreten und seinen Vorschlag vortragen.« Nichts rührte sich. Alle schwiegen. »Weißt du nichts?« flüsterte Nuhuru Lantha zu, die neben ihm stand. Das Mädchen schüttelte den Kopf. »In Ordnung«, fuhr Nuhurus Vater bitter fort. »In diesem Fall muß ich euch ein Geheimnis anvertrauen, das nur die Piloten kennen. Wir sind sechs Piloten in unserer Wohnmaschine. Wenn einer der anderen fünf Bedenken hat, so soll er sich melden.« Es gab keine Einwände. »Seit Generationen wird von Pilot zu Pilot der folgende Satz vererbt: Wenn die Not am größten ist, und wenn du keinen Ausweg mehr weißt, dann demon tiere den hinteren linken Kettenantrieb.« »Was soll das bedeuten?« rief einer der Männer in der vorderen Reihe. »Was es bedeutet«, antwortete Nuhurus Vater, »weiß auch ich nicht. Ich ha be einmal mit einem Piloten der Worstoi-Gruppe darüber gesprochen. Er kann te dieses Vermächtnis nicht.« »Also nur eine Legende, die uns Mut machen soll«, rief der Mann wütend. Dann drehte er sich um. Er strapazierte seine Hyperschallbänder zum äußers ten, als er schrie: »Leute, wir sind verloren. Die Piloten haben uns ins Unglück geführt.« »Koordination«, flüsterte Lantha Nuhuru zu. Der Junge nickte. Gedanken und Stimmen der beiden jungen Menschen wurden eins. »Ihr Narren«, sagte Lantha ruhig. »Die Lage ist schon schlimm genug. Be nutzt den Verstand und hört nicht auf die, die die Nerven verlieren. Ihr solltet wissen, daß in jeder Überlieferung die Wahrheit steckt. Vielleicht nicht immer die ganze Wahrheit, aber bestimmt ein Teil. Da die Wohnmaschine ohnehin nicht mehr auf die Beine zu stellen ist, bleibt nur eines. Der linke hintere Ket tenantrieb muß abgebaut werden. Dahinter liegt unsere Rettung.« Sie lösten die Koordination wieder auf, weil sich rasch Ruhe einstellte. »Woher weißt du das?« flüsterte Nuhuru. 55
»Ich weiß es nicht.« Nuhuru spürte, daß seine Freundin die Wahrheit sagte. »Ich vermute es nur.« Inzwischen stellte Nuhurus Vater einen Trupp zusammen, dem alle Piloten angehörten. Werkzeuge wurden aus der Wohnmaschine geholt. Durch den Sturz der Wohnmaschine war der genannte Kettenantrieb jetzt »oben«. Der Zufall wollte es, daß dies nun auch die höchste Stelle der Wohnmaschine war. Nuhuru und Lantha kletterten mit auf den Metallberg. Sie hielten sich in ei niger Entfernung von den Männern, die mit der Demontage begannen. Zuerst wurden die 18 Meter breiten Kettenbänder entfernt. Darunter befan den sich vier große Kästen mit den Antriebsmechaniken. Ein Kasten nach dem anderen wurde geöffnet und zerlegt. Etwas Besonderes kam zunächst nicht zum Vorschein. Einige der Männer arbeiteten ausgesprochen unlustig. Nuhuru konnte das gut verstehen, denn auch er fühlte den Schmerz in seinem Innern, als die geliebte Wohnmaschine zerlegt wurde. Der Innere der vier Antriebskästen ließ sich zunächst nicht öffnen. Dafür stellten die Männer aber sehr schnell fest, daß von diesem Kasten aus gar kein Antrieb erfolgte. »Da liegt das Geheimnis«, sagte Nuhurus Vater. Lange hielt er den Werkzeugen nicht stand. Als die Abdeckung entfernt war, staunte man nicht schlecht. Im Innern des getarnten Antriebskastens lag ein völlig unbekannter Körper. Er war etwa drei Meter lang und einen Meter breit. Auf der einen Seite war er durchsichtig, die andere Seite bestand aus Metall. Der durchsichtige Teil gab den Blick auf zwei kleine Sitze und allerlei Gerä te frei. Nuhuru und Lantha traten hinzu. Großvater Mevodan drängte sich nach vorn. Er starrte lange auf das seltsame Ding. Dann begann er zu kichern. »Mein Urgroßvater hat mir einmal erzählt«, sagte er, »daß wir Menschen früher viel kleiner waren. Ich habe es ihm damals nicht geglaubt, und jetzt muß ich einsehen, daß es doch so ist. Dieses Gefährt da drinnen ist zweifellos so etwas wie ein Notfahrzeug. Wer weiß, wie lange es schon in dieser oder den vorigen Wohnmaschinen mitgeschleppt worden ist. Es wurde gebaut, um in einem Notfall Hilfe holen zu können. Allerdings wurde ein wesentlicher Punkt dabei übersehen. Dieses Fahrzeug ist für Menschen gebaut worden, die etwa 1,80 Meter groß werden. Wir sind im Durchschnitt 2,50 Meter groß. Also paßt von uns niemand hinein.« »Das stimmt nicht!« Nuhuru brüllte die Worte heraus. »Lantha und ich hät ten bequem Platz in dieser Maschine.« 56
»So ist es«, pflichtete ihm das Mädchen bei. Die Männer blickten auf die beiden Kinder. Großvater Mevodan runzelte die Stirn. »Es sieht in der Tat so aus«, sagte er dann, »als ob nur noch Kinder dieses Ding steuern könnten. Von den Erwachsenen paßt keiner hinein.« »Dann laßt uns nicht dumm herumstehen.« Lantha drängte sich an die Seite von Großvater Mevodan. »Nuhuru und ich müssen lernen, mit dieser Maschine umzugehen. Die Zeit drängt.« »Richtig«, meinte Nuhurus Vater. »Die Zeit drängt, und wir müssen alles wagen. Ich bin gern bereit, meinen Jungen mit Lantha loszuschicken. Es ist unsere einzige Chance.« Er teilte ein paar Männer ein, und gemeinsam hoben sie das Fahrzeug aus dem getarnten Antriebskasten. Die durchsichtige Haube ließ sich ohne Schwie rigkeiten öffnen. Auf dem linken Sitz fand man eine auf dauerhafte Folien gedruckte Anlei tung zur Steuerung des kleinen Fahrzeugs. Nuhurus Vater studierte sie durch und übernahm dann die Einweisung der beiden Kinder. Die anderen Erwachsenen begannen unterdessen eine heftige Diskussion. Es ging dabei um die Frage, wo die Kinder Hilfe holen sollten. Da man die Trecks der anderen Wohnmaschinen nicht kannte und auch die Funkgeräte nicht mehr arbeiteten, war es fraglich, ob man von einer anderen Wohnmaschine rechtzei tig Hilfe erwarten konnte. Ein Teil der Männer, darunter auch Großvater Mevodan, dessen Wort viel zählte, plädierte dafür, daß die Kinder direkt zum Nordpol fliegen sollten, um sich mit dem Herrn der Scheibe in Verbindung zu setzen. Die Gegner dieser Ansicht wehrten sich mit allen verfügbaren Argumenten. Eine natürliche oder anerzogene Scheu hielt sie davon ab, dieses geheimnisvol le Objekt aufsuchen zu wollen. Nuhuru und Lantha kümmerten sich zunächst nicht um die hitzigen Gesprä che. Sie machten sich mit dem Vater des Jungen über die kleine Maschine her und erlernten den Umgang mit den technischen Einrichtungen. Diese unter schieden sich im Grundprinzip nicht von denen der Wohnmaschine. Allerdings bewegte sich dieses Gefährt nur auf der Basis von Prallfeldern. »Es ist eine echte Flugmaschine«, meinte Lantha. »Ich werde sie Vogel tau fen. Mutter sagte mir, daß es in der Urzeit Tiere gab, die so hießen und die sich aus eigener Kraft in die Höhe heben konnten.« Nach zwei Stunden war die Einweisung beendet. Nuhuru und Lantha starte ten zu einem Probeflug, bei dem auch die Funktionen des Vogels getestet wur den. Alles verlief zur Zufriedenheit. Sie drehten zwei Kurven um die umgestürzte Wohnmaschine und kehrten 57
dann an den alten Platz zurück. »Das wäre geschafft«, sagte Nuhurus Vater zufrieden. »Nun zu eurem Auf trag. Es wird nicht einfach sein, Hilfe zu finden. Ihr müßt euch anstrengen und sehr aufmerksam sein.« Großvater Mevodan trat hinzu. »Es besteht keine Einigkeit, wo die Kinder Hilfe suchen sollen.« »Ein weiteres Gespräch darüber erübrigt sich«, erklärte Lantha kategorisch. »Nuhuru und ich haben bereits beschlossen, welches unser Flugziel ist.« Der Junge blickte das Mädchen erstaunt an, aber er schwieg. Es war nämlich so, daß die beiden gar nicht darüber gesprochen hatten. »Wenn uns überhaupt noch jemand helfen kann«, fuhr Lantha fort, »so ist es der Herr der Scheibe. Eine andere Wohnmaschine könnte unsere vielleicht noch einmal aufrichten. Aber kann mir jemand sagen, wie wir mit einem Gene rator unseren Weg fortsetzen sollen? Sicher, zur Bewegung der Wohnmaschine genügt ein Generator. Aber was ist, wenn er auch ausfällt? Oder wenn wir auf eine Kraterlandschaft stoßen, die nur mit Hilfe des Prallfelds zu überwinden wäre? Nein, wir müssen uns endlich entschließen, alle Probleme unseres No madendaseins mit einem Schlag zu lösen. Die Lösung liegt in der Scheibe.« Sie ließ keine Antwort der Erwachsenen zu. Statt dessen winkte sie Nuhuru. »Komm! Wir fliegen los.« Der Junge stieg wieder in die kleine Flugmaschine. Das Mädchen nahm an seiner Seite Platz. »Bis bald«, rief Nuhuru seinem Vater zu und schloß die Abdeckhaube. Der Vogel erhob sich und ließ die staunenden Menschen zurück. Lantha orientierte sich nach dem Stand der Sonne. Eigentliche Navigations einrichtungen gab es an Bord des Vogels nicht. Nuhuru beschleunigte voll. Die Mondlandschaft flog nur so unter ihnen hin weg. »Da drüben«, sagte Lantha schon nach kurzer Zeit. »Der Rand der Nachtzo ne. Es würde mich reizen, dort einmal nachzusehen.« »Es wäre möglich. Wenn ich die Anleitung zur Bedienung des Vogels richtig verstanden habe, so besitzt er eine automatische Temperaturregelung.« »Fliege ein Stück hinein«, verlangte Lantha. Der Junge nickte und änderte den Kurs. Ein dumpfes Gefühl befiel die beiden jungen Menschen, als es um sie herum dunkel wurde. Zum erstenmal in ihrem Leben sahen sie die Sterne und den Nachthimmel in voller Pracht. In dem Vogel blieb es angenehm warm. Jetzt fand auch die durchsichtige Abdeckhaube eine vernünftige Erklärung. Sie hielt die Wärme im Innern fest. Sie flogen eine halbe Stunde mit höchster Geschwindigkeit. Dann machte 58
Lantha die Entdeckung. Unter ihnen krochen hintereinander drei riesige Kästen. Es waren zweifellos Wohnmaschinen, wenngleich sie sich in ihrem Äußeren sehr von der eigenen unterschieden. Der größte Unterschied waren mehrere überdimensionale Scheinwerfer, die vorn auf den Wohnmaschinen saßen und die Landschaft voraus erhellten. »Näher ’ran«, sagte Lantha. »Ich möchte diese Menschen sehen. Es müssen die geheimnisvollen Nachtmenschen sein.« Nuhuru lenkte den Vogel nach unten und verlangsamte gleichzeitig den Flug. »Sie fahren in einer Dreiergruppe«, murmelte Lantha mehr zu sich selbst. »Eigentlich sehr vernünftig. Wenn einer Wohnmaschine etwas zustößt, so sind zwei andere direkt zur Stelle.« Der Junge paßte den Flug der vordersten Wohnmaschine an. Im Licht der vielen Scheinwerfer konnten sie die Gestalten in der Pilotenkanzel erkennen. »Es sind die Nachtmenschen«, sagte Nuhuru fast ehrfurchtsvoll. »Es gibt sie tatsächlich. Sie ziehen wie wir als Nomaden um den Mond herum, jedoch stets auf der Nachtseite. Wenn ich bloß wüßte, was das alles zu bedeuten hat.« Die beiden Gestalten in der Wohnmaschine starrten gebannt auf den Vogel. Es war deutlich zu erkennen, daß sie sich aufgeregt unterhielten. Zu hören war jedoch nichts, da die Entfernung zu groß war, um den Hyperschall in den Vo gel zu übertragen. Außerdem konnte es sein, daß die Abdeckhaube die Mit hörmöglichkeiten beeinträchtigte. Die Nachtmenschen sahen so aus wie der Tote, den man gefunden hatte. Ihre Körper waren dicht behaart. Nur im Gesicht gab es in der Nähe der natürlichen Hautöffnungen ein paar Stellen, wo das Fell nicht so dicht war. Außerdem trugen sie eine Schutzkleidung, deren Material die Kinder nicht kannten. Bei ihnen gab es nichts Vergleichbares. Sie, die Tagmenschen, trugen kaum eine Bekleidung. Ihre glasartige Haut stellte den besten Schutz gegen die harte Son neneinstrahlung dar. »Sie können uns nicht helfen«, sagte Lantha. »Ich wollte sie nur einmal se hen. Laß uns wieder in Richtung Nordpol fliegen.« Gemeinsam bestimmten sie die Flugrichtung. Um die sicher verblüfften Nachtmenschen kümmerten sie sich nicht weiter. Nuhuru steuerte zunächst wieder in die Tagzone. Hier fühlte er sich sichtlich wohler. Dann drehte er den Vogel in Richtung Norden. Nach zwei Stunden Flugzeit tauchte vor ihnen das fremdartige Gebilde auf. Die Scheibe durchmaß in der Tat etwa 50 Kilometer. Sie bestand aus grau blauem Metall und war etwa 25 Meter hoch. Es gab eine Vielzahl unterschied licher Farbschattierungen auf der Oberfläche. Es konnte sich um Öffnungen 59
oder Fenster oder etwas Ähnliches handeln. In der Mitte der Scheibe erhob sich ein hoher Mast, auf dem verschiedene antennenartige Gebilde befestigt waren. Nuhuru hielt sich genau in der Mitte der Tagseite. Eine Hälfte der Scheibe lag in der Nachtzone. Er steuerte den Vogel auf eine breite Öffnung zu, die in der senkrechten Sei tenwand zu erkennen war. Lantha nickte ihm schweigend zu, als sie das aus gemachte Ziel erkannte. Der Vogel wurde immer langsamer. »Heh!« rief Nuhuru plötzlich. »Er reagiert nicht mehr auf meine Steuerung.« Dennoch setzte das Gefährt seinen Flug fort. »Irgendeine Fernsteuerung scheint uns übernommen zu haben«, vermutete Lantha. »Soll sie uns führen.« Der Vogel glitt in eine dunkle Öffnung. Ein künstlich beleuchteter Gang schloß sich dahinter an. Seltsame Muster und Bilder waren an den Seitenwän den zu erkennen. Sie weckten in den Kindern dumpfe Erinnerungen, aber sie konnten den Sinn nicht erkennen oder eine vernünftige Zuordnung treffen. In einem kreisrunden Saal kam der Vogel zum Stillstand. Der Untergrund war von einem flauschigen Grün, das handbreit in die Höhe stand. Dazwischen erhoben sich fremdartige Gebilde. Knochige Pfähle ragten in die Höhe. Weiter oben teilten sie sich vielfach. An den Ausläufern hingen unzählige grüne Scheibchen, die sich leicht bewegten. Nuhuru öffnete die Abdeckhaube. Er hatte das Gefühl, als ob ihm etwas Un sichtbares ins Gesicht schlug. Seine Hände versuchten es zu fassen, aber da war nichts außer einem geringen Widerstand. Lantha erging es nicht anders. »Atmosphäre«, sagte das Mädchen. »Was ist das?« fragte Nuhuru, der dieses Wort noch nie gehört hatte. »Ich weiß es nicht. Das Wort kam mir einfach in den Sinn.« Nuhuru schüttelte den Kopf. »Sehr seltsam. Mir fallen ähnliche Dinge ein, die ich aber noch nie gehört habe. Gras, Bäume, Luft.« Sie stiegen aus. Eine merkwürdige Gestalt kam auf sie zu. Sie war nur wenig größer als Nu huru und Lantha. »Ein Urmensch!« flüsterte Lantha andächtig. Die Figur, die mit langsamen Schritten auf die beiden jungen Menschen zu kam, war eine Mischung aus Tagmensch und Nachtmensch. Sie besaß Haare auf der Kopfoberseite, aber ansonsten eine glatte, doch nicht sehr helle Haut. Fast der ganze Körper war von einem dünnen Anzug bedeckt, der die Umrisse kaum verfälschte. Die Kleidung war bunt und trug einige Schriftzeichen auf 60
der Brust. »Ich bin Raster-Zwo«, sagte der Fremde. »Ich begrüße euch.« Lantha nannte ihre Namen und trug das eigentliche Anliegen vor. »Unsere Familiengruppe ist in höchster Gefahr«, schloß sie. »Die Wohnma schine kommt nicht mehr von der Stelle. Wir brauchen Hilfe. Deswegen sind wir hier, Urmensch Raster-Zwo. Wir wollen aber auch wissen, welche Be stimmung wir haben. Unser Nomadendasein erscheint uns sinnlos. Bist du der Herr der Scheibe?« Raster-Zwo schüttelte den Kopf. »Ich bin nicht der Herr der Scheibe, aber ich bin sein Gehilfe. Auch bin ich kein Urmensch. Ich bin eine Maschine, ein Roboter, der nach dem Bild der früheren Menschen gebaut worden ist.« Er öffnete seine Kleidung, und darunter kam ein metallener Körper zum Vorschein. »Es ist gut«, fuhr Raster-Zwo fort, »daß ihr den Weg zur Scheibe gefunden habt. Eine neue Wohnmaschine für die Mevodan-Gruppe steht bereit. Ihr könnt sie mitnehmen.« Lantha staunte. Sie betrachtete den Roboter nachdenklich. »Das ist wunderbar, Raster-Zwo«, sagte sie schließlich. »Aber wer ist der Herr der Scheibe, und was soll der Sinn unseres Lebens sein?« »Es ist gut«, antwortete der Roboter, »daß ihr über solche Fragen nachdenkt. Aber es ist zu früh, um alle Fragen zu beantworten.« »Ich gehe nicht eher hier weg«, beharrte das Mädchen, »bis ich die wahren Zusammenhänge kenne. Warum gibt es Tagmenschen und Nachtmenschen? Warum ziehen sie sinnlos um den Mond herum? In jüngster Zeit hat es einen bösen Angriff der Nachtmenschen gegeben. Dadurch kam unsere Wohnma schine zu Schaden. Wenn das alles keinen Sinn hat, so will ich nicht mehr leben, und meine Gruppe braucht auch nicht mehr zu leben.« »So ist es«, pflichtete Nuhuru bei. »Was ist das hier? Gras, Bäume, Atmo sphäre?« »Die unsinnigen Angriffe der Nachtmenschen werden sich nicht wiederho len. Dafür hat der Herr der Scheibe gesorgt.« »Wer ist der Herr der Scheibe?« fragte Lantha hartnäckig. »Nun gut.« Der Roboter seufzte menschlich. »Der Herr der Scheibe ist eine Maschine, die von den Urmenschen, wie ihr sie nennt, gebaut worden ist. Er wacht über euch und sorgt für euch, damit die Menschen nicht aussterben. Die Erde war die Heimat der Menschen, und sie soll es wieder werden. In 100.000 Jahren wird die Radioaktivität so weit abgeklungen sein, daß wieder Menschen auf der Erde leben können. Bis es soweit ist, muß das menschliche Volk in anderer Form erhalten bleiben. Der Herr der Scheibe hat eure Vorfahren nach dem Willen der letzten echten Menschen so verändert, daß ihr ohne Atmosphä 61
re, ohne Tiere und Pflanzen, auf der Mondoberfläche leben könnt. Es sind zwei Wege eingeschlagen worden. Die Tagmenschen und die Nachtmenschen. Bei de Arten haben sich bis jetzt erhalten, und der Herr der Scheibe hofft, daß dies auch so bleibt. Der Mond bietet keine Nahrungsquellen für Menschen, wie sie ursprünglich waren. Daher mußtet ihr verändert werden. Eines fernen Tages wird alles rückgängig gemacht. Dann werden aus Tagmenschen und Nacht menschen wieder Urmenschen. Ihr werdet vereinigt und so aussehen wie ich. Ihr werdet Bäume und Tiere und Pflanzen kennen, und ihr werdet reine Luft atmen und braucht in euren Körpern nicht mehr den Sauerstoff aus dem Sand und Gestein des Mondbodens zu gewinnen. Bis dahin müßt ihr weiter als ewi ge Nomaden euren Weg gehen. Das ist der Sinn eures Daseins. Ihr beide wer det den neuen Anfang nicht mehr erleben. Die Zeit ist noch nicht reif. Die Erde strahlt noch.« Lantha und Nuhuru nickten stumm. »Nehmt diese Hoffnung mit«, sagte Raster-Zwo. »Sie soll eurem Dasein ei nen besseren Sinn geben. Und nun kommt. Eure Wohnmaschine steht bereit. Ihr müßt sie schnell zu euren Familien bringen, bevor die Nacht hereinbricht.« Lantha nahm Nuhurus Hand. »Komm«, sagte sie.
Das Signal Die Schöpfer hatten es so eingerichtet, daß es im Innern der Großen Wolke zwei Gegenpole gab. Der eine nannte sich WER, und er war das geistige Zent rum des riesigen Gebildes. Der andere trug den Namen WAS. Er war so etwas wie die technische Schaltstation. WER und WAS arbeiteten normalerweise Hand in Hand. Sie hatten auch beide den gleichen Auftrag. Aber sie waren gegensätzlich in ihren Ansichten und verschieden in der Wahl ihrer Handlungsmöglichkeiten. Ohne dieses Spannungsfeld zwischen WER und WAS wäre der Auftrag der Großen Wolke wahrscheinlich undurchführbar gewesen, denn es beflügelte alle Forschungen und Handlungen. Die Große Wolke war ein künstliches Gebilde. Sie hatte die Form eines El lipsoids. Der größte Durchmesser, der immer in der Bewegungsrichtung der Wolke lag, betrug zehn Lichtminuten. (Das ist etwa der Abstand des Planeten Mars zur Sonne). Die beiden kleineren Durchmesser schwankten unregelmäßig zwischen drei und vier Lichtminuten. Zu der Zeit, als die Große Wolke die Milchstraße erreichte, gab es noch kei ne Welten, die mit intelligentem Leben versehen waren. Also gab es auch kei 62
ne Beobachter, die das riesige Gebilde aus halbtransparentem Grau hätten se hen können. Und niemand konnte sich Gedanken machen über die planeten großen dunklen Flecken im Innern der Wolke. Einer dieser Flecken war von tiefem, dunklem Blau. Das war WER. Ein anderer Fleck war leuchtend rot. Das war WAS. Die Wolke raste mit zigfacher Lichtgeschwindigkeit durch die entdeckte Ga laxis. WAS streckte seine Fühler aus und suchte. WER war ungehalten. »Das geht mir alles viel zu langsam!« Sein Ärger war gekünstelt. Das wußte WAS, aber er schaltete weitere Fühler ein und ließ die Suchstrah len durch die endlose Weite tasten. »Du mußt da suchen, wo die Sterne am dichtesten stehen«, schimpfte WER. »Da sind die Chancen am größten.« »Unsinn«, antwortete WAS. »In den letzten vier Galaxien haben wir nur dort lohnende Ziele gefunden, wo die Sterne nicht so dicht standen. Also wird es hier nicht anders sein.« »Es wäre alles viel einfacher«, nörgelte WER weiter, »wenn wir ein paar Planeten in die richtige Zone bringen würden. Mit deinen Möglichkeiten ist das doch ohne Schwierigkeiten machbar.« »Machbar schon«, antwortete WAS. Dabei ließ seine Konzentration um kei nen Bruchteil nach. Die Fühler arbeiteten schnell, und die Ergebnisse mußten sofort ausgewertet werden. »Aber es ist verboten, und deshalb wird kein Planet angetastet.« »Verboten, verboten«, äffte WER. »Die Schöpfer existieren hier nicht. Wer sollte uns also bestrafen?« »Wir würden uns selbst bestrafen, du Narr. Das Ergebnis einer solchen Ma nipulation wäre das falsche Leben. Es könnte nicht auf Dauer existieren, und wir hätten unsere Kräfte sinnlos vergeudet.« »Der Narr bist du, WAS!« WER wurde immer ärgerlicher. »Wo liegt der Unterschied zwischen einem Planeten, der in der richtigen Zone liegt und ei nem, den wir in sie gebracht haben?« »In der Manipulation, in der verbotenen Manipulation. So wie auf einem Planeten mit Lebensformen ein biologisches Gleichgewicht herrschen muß, muß dieses auch in einer Galaxis bestehen bleiben. Du weißt das besser als ich. Ich erinnere mich an die zahlreichen Belehrungen, die ich von dir zu hören bekam.« WER blähte seine blaue Kugel auf, so daß auf der Oberfläche breite Risse entstanden. Für WAS war dies ein deutliches Zeichen, daß er seinen Partner schwer getroffen hatte. »Ich habe es satt«, brüllte WER, »immer und immer nach dem gleichen 63
Muster zu arbeiten.« »Ich nicht. Aber schweige einen Moment. Da ist ein Signal.« WER schwieg tatsächlich. Auch die Risse auf seiner Oberfläche verschwan den wieder. »Wo ist das Ziel?« fragte er ganz ruhig. Der bevorstehende Erfolg verdräng te seinen Unmut. WAS hielt die Große Wolke an. Dadurch ließen sich die Ergebnisse der Füh ler deutlich verbessern. Alle Taster richteten sich jetzt auf einen einzigen Punkt. »Da!« rief WAS. Sein gedanklicher Finger wies auf einen Punkt unweit der Großen Wolke. Mehrere Sterne standen dort dicht beieinander. »Ich sehe nichts«, brummte WER, und erneut wurde er ärgerlich. »Du besitzt nicht die feinen Fühler.« In der Stimme von WAS schwang Selbstvertrauen mit. Er kontrollierte und lenkte alle die Einrichtungen der Wolke, die man im weitesten Sinn als technische Anlagen bezeichnen konnte. »Ich meine den Stern genau in der Mitte der kleinen Anhäufung«, erklärte er seinem Partner. »Die kleine weißgelbe Sonne besitzt fünf Planeten. Die drei äußeren Welten sind Gasriesen mit einem Gesteinskern. Sie sind uninteressant. Aber betrachte die beiden inneren Planeten. Da haben wir ein echtes Doppel planetensystem, und beide sich umkreisenden Welten befinden sich in der ökologischen Zone, die intelligentes Leben hervorbringen kann.« »Ich sehe keine Planeten.« WERs Stimme war etwas leiser geworden, weil er sich seines Mangels durchaus bewußt war. Dafür besaß er aber eine höhere geistige Kapazität. »Warte!« WAS gab der Wolke eine neue Richtung. Die Eigengeschwindigkeit hatte er beim Auftreffen der ersten positiven Impulse ohnehin auf nahezu Null redu ziert. Die große Halbachse der Wolke zeigte jetzt genau auf den Zielstern. Mit Hilfe des Semlo-Manipulators schuf er eine Lücke in der äußeren Schirmwand. Durch diese konnte nun WER mit seinen unempfindlichen Fühlern das Son nensystem besser erkennen. »Tatsächlich«, staunte das geistige Zentrum der Großen Wolke. »Ein Dop pelplanetensystem.« Sofort begann WER mit seinen Berechnungen. Sie gingen von der augen blicklichen Situation aus und reichten über eine weite Zeitspanne in die Zu kunft. Diese Spanne betrug nach WERs Berechnungen 48 Große Perioden. (Nach menschlichen Maßstäben waren das etwa zwei Millionen Jahre. Aber zu der Zeit gab es ja noch keine Menschen). »Interessant, interessant«, murmelte WER kaum hörbar. Jetzt war WAS ver ärgert, denn er konnte diesen Überlegungen und Rechnungen nicht folgen. 64
»Wir haben die Auswahl für die Saat der Intelligenz«, erläuterte WER. »Mein Vorschlag ist, wir legen den Keim für eine Insektenrasse. Sie soll das beherrschende Volk werden.« »Eine?« fragte WAS ungläubig. »Beide Planeten sind fruchtbar.« »Natürlich legen wir auf beiden Welten den Keim aus. Es werden zwei Völ ker entstehen, die sich fast völlig gleichen. Eines fernen Tages in der Zukunft werden sie den Raum erobern und sich gegenseitig besuchen. Damit haben wir auch gleichzeitig das Signal.« »Du sprichst in Rätseln.« »Durchaus nicht.« WER führte jetzt dominierend das Gespräch an. »Die Entwicklungsmöglichkeiten sind auf beiden Planeten bis auf belanglose Ne bensächlichkeiten identisch. Es werden also zwei gleiche Völker entstehen. Sie werden eine parallele Evolution beschreiten und eine von beiden wird mit ei nem vom Zufall bestimmten Vorsprung auf der anderen Welt landen. Viel leicht schicken sie erst eine unbemannte Sonde oder etwas Ähnliches.« »Und dann?« fragte WAS dümmlich. »Irgendwann kommt der Zeitpunkt, wo sich Angehörige beider Volker ge genüberstehen. Dann haben wir das Signal.« »Ich verstehe immer Signal.« »Du verstehst nichts.« Nun wurde WER überheblich. »Das ist typisch für dich. Du spielst mit deinen Fühlern und lenkst die Wolke, aber von der wahren Arbeit hast du keine Ahnung. Die Schöpfer haben uns die Erlaubnis gegeben, ein Signal zu setzen, damit die intelligenten Völker, die durch uns gezeugt wurden, eines fernen Tages erkennen, daß ihre Entstehung künstlichen Ur sprungs war. Bis jetzt haben wir immer ein Signal hinterlassen. Warum sollte es diesmal anders sein?« »Ich habe ja nichts gegen das Signal einzuwenden«, antwortete WAS. »Aber bis jetzt hast du mir noch nicht gesagt, worin es bestehen soll.« WER lachte. »Wir erzeugen zwei identische Völker aus intelligenten Insek ten. Wenn sie sich treffen, werden sie voller Erstaunen bemerken, daß sie gleich sind. Ist das kein Signal? Es wird doch kein intelligentes Volk glauben können, daß es an einem anderen Ort des Universums noch einmal entstanden sein könnte.« WAS schwieg eine Weile. »Ich weiß nicht«, sagte er dann leise und vorsichtig, denn er war sich seiner geringeren geistigen Kapazität durchaus bewußt. »Du setzt immer recht eigen artige Signale. Ich habe Zweifel, daß unsere Insekten dieses Signal richtig deuten.« »Du kannst die Entscheidung darüber ruhig mir überlassen, WAS. Spiele du mit deinen Maschinen und überlasse mir das Denken.« 65
»Wie du willst.« WAS gab überraschend schnell nach. »Es ist ja auch nicht so wichtig, wie das Signal aussieht. Selbst wenn sie es nicht enträtseln, ändert das nichts am Lauf der Dinge. Unsere Hauptaufgabe ist die Erzeugung von Intelligenz. Und darauf sollten wir uns konzentrieren.« »Du redest abfällig über das von mir erdachte Signal. Das gefällt mir nicht.« Der alte Streit zwischen den beiden Partnern der Großen Wolke fand wieder neue Nahrung. WAS erwiderte nichts. Er war bereits damit beschäftigt, die entsprechenden Molekülketten zusammenzusetzen, aus denen die Eigenintelligenz der Insekten hervorgehen würde. »Möchtest du Ameisen oder Käfer oder Fliegen oder was?« fragte er seinen Partner. »Ameisen«, sagte WER. »Das haben wir noch nicht gehabt. Erinnere dich an die Welt, die wir Boll-Boll genannt haben. Da wolltest du die Ameisen nicht, und wir mußten auf das Mückenvolk ausweichen. Jetzt können wir endlich intelligente Ameisen erzeugen, und das noch in doppelter Form.« »Wie du willst.« »Hm«, brummte WER. »Du bist so merkwürdig nachgiebig. Du führst doch etwas im Schilde.« »Vielleicht gestattest du mir«, sagte WAS, »daß ich bei dem nächsten Plane ten das Signal bestimme?« »Von mir aus«, antwortete WER gönnerhaft. »In dieser Galaxis werden wir wohl kaum noch eine geeignete Zielwelt finden.« »Das ist nicht gesagt.« WAS hatte WER verschwiegen, daß er bereits ein weiteres, aber schwaches Echo aufgenommen hatte. Irgendwo in der Randzone dieser Galaxis schien noch ein weiterer Planet zu stehen, der seine Sonne in der kleinen, ökologisch günstigen Entfernung umkreiste. WAS behielt dieses Wissen vorerst für sich. Noch war hier die eigentliche Arbeit nicht getan. Und die mußte in erster Linie er erledigen. WER würde nur eine Überwachungsfunktion erfüllen. In einer der dunklen Flecken der Großen Wolke reiften sehr schnell die Mo lekülketten heran, die WAS programmiert hatte. Sie würden sich im Grund prinzip nicht viel von denen unterscheiden, die sich auf natürliche Weise bil den konnten. Der einzige Unterschied war in der I-Gruppe, einem hochkom plexen Gebilde aus organischen Aufbaustoffen, die äußerlich normalen tieri schen Ketten fast völlig ähnelten. Aber nur diese I-Gruppen würden in der Lage sein, im Lauf von vielen Generationen die freie Intelligenz hervorzubrin gen. »Wir wollen den Doppelplaneten Trei-Trei nennen«, sagte WER, während er WAS bei dessen Arbeit beobachtete. WAS ging nicht darauf ein. Ihm waren 66
die Namen, die WER zu erfinden pflegte, relativ gleichgültig. »Vierhundert Molekülketten sind fertig«, sagte WAS und betrachtete zufrie den die winzigen Schlangen aus aneinandergereihten Atomen. »Werden sie nach deinen Berechnungen ausreichen?« »Bestimmt.« WER war zufrieden. »Für jeden Planeten zweihundert. Das be deutet doppelte Sicherheit.« »Eigentlich schade«, meinte WAS, »daß wir nie eine Gelegenheit haben werden, den Erfolg oder Mißerfolg unserer Arbeit zu sehen.« »Es gibt keine Mißerfolge«, widersprach WER scharf. »Die Schöpfer haben ein fehlerfreies Programm geschaffen, in dem wir nur ein Rädchen sind. Unser Trost ist das Signal, das wir setzen dürfen. Wenn in Äonen die Intelligenz er wacht ist und wir längst nicht mehr existieren, wird man uns dennoch erken nen. Und unsere Ameisenvölker werden erfahren, daß sie einer unbekannten Macht ihr wahres Dasein verdanken. Das ist unser Lohn, und das ist fürwahr ein guter Lohn.« WAS packte die Molekülketten in Bündeln zu je zehn in die Gallertphiolen. In einem anderen der dunklen Flecken der Großen Wolke waren in der Zwi schenzeit vierzig Transportkörper gereift. In sie wurden die fertigen Phiolen verstaut. Eine Plattform brachte die Transportkörper an den Innenrand der Wolke. WAS erzeugte eine Schleuse und gab den Startimpuls. Die Transportkörper hoben von der Plattform ab und gruppierten sich in zwei Haufen, die fast parallel davonflogen. Ihre Ziele waren die beiden fast völlig gleichen Planeten eines Sonnensystems. Noch bevor sie, über alle Meere verteilt, auf der Oberfläche aufschlugen, setzte WAS die Große Wolke wieder in Bewegung. WER zog sich nach getaner Arbeit in sich selbst zurück und schwieg. WAS jedoch blieb voller Aktivität. Ohne es seinen Partner wissen zu lassen, streckte er erneut seine Fühler aus. Diesmal suchte er jedoch nicht den ganzen Raum ringsherum ab. Vielmehr konzentrierte er die Fühler in eine bestimmte Rich tung. Aus einem Seitenarm dieser Galaxis glaubte er ein schwaches, aber positives Echo gehört zu haben. Er aktivierte die Große Wolke. Das Mammutgebilde ging praktisch aus dem Stand in die zigfache Überlichtphase. Die Zielrichtung war ein Seitenarm die ser Galaxis. »Deine Richtung ist falsch.« Trotz seiner offensichtlichen Abwendung vom eigentlichen Geschehen hatte WER bemerkt, daß die Wolke nicht mehr auf dem ursprünglich vorgesehenen Kurs flog. »WAS, was soll das?« WAS blieb gelassen. WER konnte aus seiner Position die Steuerung der 67
Wolke nicht beeinflussen. In diesem Punkt war er auf WAS angewiesen. Eine gewaltsame Auseinandersetzung zwischen den beiden Trägern in der Großen Wolke war unmöglich. Die Gegensätzlichkeit diente nur als Ansporn, als Be flügeln der Aktionen des anderen. »Ich schwenke zurück«, erklärte WAS, »sobald ich eine Ortung beendet ha be.« »Es gibt hier nichts mehr zu orten. Ziehe deine Fühler zurück. Unser Ziel ist die nächste Galaxis. In dieser Galaxis ist der Keim gelegt worden. Und das sogar zweifach. Was wollen wir also hier noch?« WERs Worte klangen müde. Die Berechnungen der jüngsten Arbeit hatten ihn erschöpft. Bei WAS war dies ganz anders. Er konnte sich aus den dunklen Flecken leicht regenerieren. Auch war sein Anteil an der Keimlegung viel we niger anstrengend gewesen. »Ruhe dich aus, WER«, antwortete er. »Ich habe noch einen weiteren Plane ten gefunden, auf dem wir den Samen der wahren Intelligenz ausstreuen kön nen.« »Was?« schrie WER und erwachte vollends aus seiner Lethargie. »Meinst du mich?« »Wen sonst! Hast du wirklich noch einen Planeten entdeckt?« Statt einer formulierten Antwort spielte WAS die inzwischen gewonnenen Informationen zu seinem Partner hinüber. »Tatsächlich!« Sofort sprang der Funke der Begeisterung auf WER über. (Natürlich lag das nur an der vorgesehenen Aufgabe und der Art ihrer Durch führung, die die Schöpfer den beiden Wesen in der Großen Wolke mit auf den Weg gegeben hatten). WER war nun hellwach. Er rief seine eigenen Reserven ab und forderte gleichzeitig Unterstützung von WAS an, um sich ganz stabilisieren zu können. »Wunderbar.« WER schrumpfte auf zwei Drittel seiner normalen Größe zu sammen, was ein Ausdruck seiner Freude war. »Und wieder ein Doppelplane tensystem. Welch ein Zufall.« »Du irrst dich.« WAS blieb gelassen und kostete seinen kleinen Triumph aus. »Betrachte die Ergebnisse genauer. In diesem Fall handelt es sich nur um eine Welt, die geeignet ist, intelligentes Leben zu tragen. Die andere ist ein Trabant und viel kleiner. Dieser Mond wird ewig totes Gestein bleiben und niemals auch nur die geringste Form an organischem Leben hervorbringen. Seine Masse ist zu gering, um eine Atmosphäre zu tragen. Damit scheidet er völlig aus unseren Überlegungen aus, auch wenn er sich gemeinsam mit dem Planeten in der ökologisch günstigen Zone befindet.« »Das stimmt«, sagte WER nach einer Weile. Deutliche Enttäuschung schwang in seiner Stimme mit. »Aber der Planet …« 68
»Der Planet«, unterbrach ihn WAS, »der Planet liegt so günstig, wie wir es schon lange nicht mehr erlebt haben. Nach ein paar hunderttausend Sonnen umkreisungen wird er in seiner Eigenrotation so abgenommen haben, daß er den idealen Tag-Nacht-Rhythmus besitzt, den wir für warmblütige Intelligen zen benötigen. Es wird sich eine sauerstoffreiche Atmosphäre bilden, die herr liches Leben tragen kann.« »Mische dich nicht in meine Berechnungen.« WAS war WER etwas zu vor witzig. »Bitte«, sagte WAS. »Dann stelle du die Überlegungen an.« WER schwieg und rechnete. Seine Extrapolationen reichten bis weit in die Zukunft dieses Planeten. Er berücksichtigte alle Faktoren, insbesondere die Lebensdauer der Sonne dieses Systems und die Entwicklung der atmosphäri schen Verhältnisse, sowie die Zusammensetzung der Elemente. »Der eine Kontinent, der vorhanden ist«, stellte er zum Abschluß seiner Ü berlegungen fest, »wird sich teilen und auseinanderdriften. Es wird mehrere Meere und Landteile geben. Es sind wirklich alle Voraussetzungen gegeben.« Die Große Wolke war unterdessen bis zum Rand dieses Sonnensystems vor gestoßen. WAS hielt ihren Flug an. Vorsichtshalber sondierte er noch einmal aus der Nähe das ganze System. Es durfte nichts übersehen werden. Es gab neun Planeten, die in ihren Ansätzen gut ausgebildet waren. Viel leicht würde sich zwischen dem vierten und fünften Planeten des Systems noch ein weiterer Planet bilden, denn hier hatten sich nach der Entstehung des Sys tems unwahrscheinlich viele größere und kleinere Gesteinsbrocken angesam melt. Die Berechnungen, zu denen WAS fähig war, reichten jedoch nicht aus, um diese Planetenbildung mit Bestimmtheit vorherzusagen. Er stellte die Frage an WER. Dessen geistige Kapazität konnte die Frage sofort beantworten. »Es ist ein Gürtel aus Planetoiden oder aus Kleinplaneten, und es wird ewig einer bleiben. Dieses System hat neun Welten. Unsere Welt besitzt einen Be gleiter, die Gasriesen weiter draußen haben deren mehr. Aber die interessieren uns nicht. Sie können kein Leben hervorbringen.« Wieder schrumpfte WER ein Stück zusammen. »Wir nehmen eine Zweigli nie der üblichen Säuger, warmblütige Wirbeltiere. Sie können eine hochste hende Zivilisation hervorbringen. Sie sollen die wahre Intelligenz tragen.« »Das gefällt mir nicht«, maulte WAS. In Wirklichkeit war es ihm völlig gleichgültig, welche Lebensform WER auswählte. Er wollte nur sicherstellen, daß er diesmal die Art des Signals bestimmen durfte. Dafür war er gern bereit, in der Diskussion um die Wahl der Lebensform schnell nachzugeben. »Diese Säuger können mit Sicherheit nicht fliegen. Das wäre schade bei dieser herrli chen Atmosphäre, die zu erwarten ist.« 69
An dem Argument war etwas dran. Das mußte auch WER zugeben. Aber er dachte nicht daran, seinen einmal gefaßten Plan aufzugeben. Heftig wider sprach er. »Warum keine fliegenden Säuger?« nörgelte WAS. »Wir haben in der Gala xis 34-515 auch ein Fledermausvolk mit Intelligenz ausgestattet.« Sein Argument war schlecht. »Eben darum«, konterte WER. »Wir wollen und sollen nicht zweimal das gleiche Volk auswählen, wenn es nicht unumgänglich ist. Also bleibt es bei meiner Entscheidung.« »Ich habe etwas gegen behaarte Intelligenzen.« WAS gab sich scheinbar noch nicht geschlagen. »Auch in diesem Punkt irrst du dich.« WER spielte in einer Reihe von Fik tivbildern die Entwicklung der Menschen seinem Partner vor. »So werden sie aussehen. Die wenigen Haare machen sie sogar schön.« »Ich erkläre mich einverstanden«, sagte WAS, »wenn ich bestimmen darf, welches Signal gesetzt wird.« WER schwieg einen Moment. Er erinnerte sich an seine Zusage, sagte sich aber, daß WAS sie eigentlich nicht ernst genommen haben konnte. Es war immer WER gewesen, der die Art des Signals festgelegt hatte. Da WER aber noch müde war von den letzten Berechnungen bei dem Dop pelplanetensystem und ihn die neuerlichen Berechnungen mit den Rückfragen von WAS noch zusätzlich ausgelaugt hatten, willigte er nach längerem Zögern ein. »Da bin ich aber neugierig«, meinte er abfällig, »was WAS da für einen Un sinn verzapft.« Der war zufrieden. Schweigend begann er die dunklen Flecken zu aktivieren, um neue Molekülketten zu bauen. Diese Ketten würden die wahre Intelligenz nur in einer Lebensform auf diesem Planeten erlauben, und diese würde sich in einer Million Jahren Mensch nennen. »Ich werde dieses System Sol-Sol nennen«, sagte WER feierlich. »Keine Einwände«, antwortete WAS. Aber im Überschwang seiner Begeis terung hinterging er seinen Partner ein bißchen. In der Molekülkette, die diesen Namen speichern sollte, verzichtete er auf die Verdoppelung. Es tat WAS gut, seinem Partner einmal eins auszuwischen. Später, wenn sie diese Galaxis verlassen haben würden (und dann würden sie nie mehr an diese Stelle zurückkehren können!), würde er WER damit ärgern können. Der blickte nicht in die Feinheiten des molekularen Aufbaus der Ket ten. Die weitere Arbeit war reine Routine. WER kümmerte sich nicht darum, was WAS im einzelnen tat. Er konnte sich auf seinen Partner verlassen. 70
Noch bevor die Molekülketten auf dem Planeten gelandet waren und in den Tiefen des Urmeers versanken, lenkte WAS die Große Wolke aus dem Son nensystem hinaus. Seine Fühler arbeiteten erneut, aber es gab keinen Anhaltspunkt für eine wei tere Zielwelt. WAS wunderte sich etwas über seinen schweigsamen Partner, der sich über haupt nicht zu Wort meldete. Die Große Wolke streckte sich und beschleunigte auf Höchstwerte. Die nächste Galaxis war nach den Maßstäben von WER und WAS zwar nicht weit entfernt, aber dennoch stellte die Entfernung zu ihr auch für die Wolke ein zeitliches Problem dar. Es gab eine Spanne der Ruhe, in der sie auf die Nachbargalaxis zuraste. Dort hoffte man mindestens eine geeignete Zielwelt zu finden. Mitten im Leerraum zwischen der verlassenen und der vor ihnen liegenden Galaxis beendete WER seine Phase der Zurückgezogenheit. WER rief WAS. »Wir haben gute Arbeit geleistet«, sagte WER. »Das gilt zumindest für mei ne Berechnung. Du aber scheinst vergessen zu haben, das Signal zu setzen, das den Menschen der fernen Zukunft zeigen soll, daß jemand ihnen die wahre Intelligenz brachte.« WAS lachte laut. »Wie könnte ich das vergessen haben. Es war doch mein sehnlichster Wunsch gewesen, einmal das Signal zu setzen.« »Du hast es gesetzt?« WERs Worte klangen ungläubig. »Ich habe nichts be merkt.« »Ich habe den Mond«, sagte WAG stolz, »der unsere Zielwelt begleitet, so hingedreht, daß er ständig und ganz genau die gleiche Seite zu diesem Planeten zeigt. Seine Umlaufdauer ist identisch mit der Rotationsperiode.« »Aha«, sagte WER. »Und weiter?« »Die Menschen werden schon sehr früh, lange bevor sie die Raumfahrt be herrschen werden, erkennen, daß sie uns ihre Intelligenz verdanken. Es ist doch logisch. Sie brauchen nur ihren Mond zu betrachten, der ihnen stets das gleiche Gesicht zuwendet. Niemand, der auch nur über einen Funken wahrer Intelli genz verfügt, wird je glauben können, daß es einen solchen Zufall gibt. Die notwendige Manipulation wird überdeutlich sichtbar. Das war mein Signal.« WER schwieg, weil er WAS gegenüber nicht zugeben wollte, daß dieser wirklich eine vortreffliche Wahl getroffen hatte. ENDE