MADDRAX DIE DUNKLE ZUKUNFT DER ERDE Band 119
Mörderhirn von Jo Zybell
PROLOG »Ich mach mir so meine Gedanken, Dr. Ros...
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MADDRAX DIE DUNKLE ZUKUNFT DER ERDE Band 119
Mörderhirn von Jo Zybell
PROLOG »Ich mach mir so meine Gedanken, Dr. Rostow«, sagte Smythe. Der Encephalorobotowitsch stapfte neben ihm durch den Sand. »Wieso sind die so scharf auf alte Nuklearwaffen?« Jacob Smythe blieb stehen, blickte in die künstlichen Augen des Anderen, als wäre der ein Mensch. Was er aber sah, war ein Plastikgesicht, ein Metallgestell, war Kabelsalat zwischen Klarsichtschädel und Metallschultern. »Ich meine – die Daa'muren waren mächtig genug, von einer anderen Galaxis bis zu uns zu fliegen. Sie waren in der Lage, ihr Bewusstsein in Kristallen zu speichern. Sie haben sich neue Körper geschaffen. Warum brauchen sie Nuklearwaffen, um mit einer degenerierten Menschheit fertig zu werden?« Der Maschinenmensch schwieg.
WAS BISHER GESCHAH Am 8. Februar 2012 trifft der Komet »Christopher-Floyd« die Erde. Die Folgen sind verheerend. Die Erdachse verschiebt sich und ein Leichentuch aus Staub legt sich um den Planeten... für Jahrhunderte. Nach der Eiszeit bevölkern Mutationen die Länder und die Menschheit ist unter dem Einfluss grüner Kristalle aus dem Kometen auf rätselhafte Weise degeneriert. In dieses Szenario verschlägt es den Piloten Matthew Drax, dessen Staffel beim Einschlag durch einen Zeitriss ins Jahr 2516 gerät. Nach dem Absturz wird er von Barbaren gerettet, die ihn als Gott »Maddrax« verehren. Zusammen mit der telepathisch begabten Kriegerin Aruula findet er heraus, dass körperlose Wesen, die Daa'muren, mit dem Kometen zur Erde kamen. Sie veränderten die irdische Flora und Fauna, um einen Organismus zu erschaffen, der zu ihren Geistern kompatibel ist: eine Echse mit gestaltwandlerischen Fähigkeiten. Nun drohen sie zur dominierenden Rasse des Planeten zu werden... Auf der Suche nach Verbündeten versorgen Matt & Co. die Technos in Europa und Russland mit einem Serum, das deren Immunschwäche aufhebt. Selbst der Weltrat, skrupelloser Nachfolger der US-Regierung, tritt der Allianz bei. Bisher weiß man nur wenig über die Pläne der Daa'muren. Besser informiert ist ein Mann, den die Aliens in ihrer Gewalt haben: der irre Professor Dr. Smythe. Er kennt ihre Herkunft, einen glutflüssigen Lava-Planeten, und weiß um ihre Fähigkeiten. Eines ihrer Hauptziele ist Matthew Drax, den sie als den »Primärfeind« betrachten. Sie impfen Menschen mit einem Virus und machen sie zu Sklaven, so auch den NeoBarbaren Rulfan. Als Matt Gerüchten um einen »König im Westen« nachgeht, richtet es Rulfan so ein, dass die Daa'murin Aunaara in Gestalt einer Barbarin an der Expedition teilnimmt. Doch bevor sie zuschlagen kann, wird sie enttarnt und flieht.
Der König, der sich für den wiedergeborenen Artus hält, wird von Rulfan erschossen. Im nachfolgenden Machtkampf der Heerführer zerbrechen seine Armeen. In Meeraka stirbt Präsident Victor Hymes beim Angriff eines Stoßtrupps, den Miki Takeo geschickt hat. Doch er fällt nicht den Androiden zum Opfer, sondern General Crow, der seinen Posten übernimmt und einen Rückschlag gegen Takeo führt. Dabei fällt mächtige Technik in die Hände des Weltrats... Die Explosion einer japanischen Rakete offenbart den Daa'muren einen überraschenden Effekt: Der Antrieb ihrer Kometen-Raumarche wird für den Bruchteil einer Sekunde reaktiviert! Um das »Projekt Daa'mur« zu verwirklichen, beginnen sie, nukleare Sprengsätze aus alten Waffenlagern, AKWs und Bunkern zu sammeln, die sie nach Moskau schaffen. Die Allianz befürchtet die Zerstörung der Stadt – doch die Daa'muren lassen bis auf die modernsten Sprengköpfe, die mit Nuklearen Isomeren arbeiten, alles zurück. Nach Auraaras Versagen soll nun der Daa'mure Grao'lun'kaan Matt töten. Er übernimmt Gehirn und Wissen eines russischen Robot-Menschen, des Encephalorobotowitschs Dr. Nikati Rostow, und bereitet sich auf eine Mission vor...
Jacob Smythe blickte nach links und rechts. Wo steckte sein privater Wachhund heute? Der Strand schien leer, keine Spur von diesem Gedankenschnüffler Grao'sil'uuna. Unglaublich – sie ließen ihn unbewacht seinen täglichen Spaziergang absolvieren! Er sah hinauf zu den Klippen – dort oben allerdings patrouillierten einige Wachen. Sklaven aus dem Volk der Rriba'low. Oder Daa'muren in der Gestalt von Sklaven aus dem Volk der Rriba'low? Schwer zu sagen. Verdammte Gestaltwandler! Wenigstens Rostow konnten sie nicht nachmachen; dessen Metallgestänge und Drähte lagen außerhalb ihrer Wandlungsfähigkeit. Darum war er auch der Einzige, mit dem sich Smythe frei unterhalten konnte. Adäquat unterhalten! Natürlich war da auch noch Lynne, aber die verlor in der Gefangenschaft allmählich den Verstand und zog sich immer mehr in sich selbst zurück. Smythe blickte in den Himmel. Fahl wie schmutzige Aprikosehaut sah der seit der Atombombenexplosion aus. Und da – also doch! – dieser widerliche Flugrochen, den sie zu seiner Bewachung abgestellt hatten, zog viele hundert Meter entfernt über Strand und Klippen seine Kreise! Erneut fixierte Smythe die starre Maske des Anderen. »Unter uns, Doktor – die haben doch keine Nuklearwaffen nötig, um sich diese marode, gottverlassene Welt unter den Nagel zu reißen, oder?« Smythes Glubschaugen nahmen einen starren Ausdruck an. Er legte dem Maschinenmenschen die Hand auf die Metallschulter und beugte sich an dessen künstliches Ohr. »Die planen irgendeine Sauerei mit den Atombomben. Verstehen Sie, was ich sagen will, Dr. Rostow? Irgendwas, das keinem von uns Übriggebliebenen je im Traum einfiele...« Von weitem betrachtet sah auch der Professor aus der Vergangenheit ein bisschen wie ein Maschinenmensch aus in seinem grauen und viel zu großen Schutzanzug. Die Daa'muren
hatten das Vitalsystem freundlicherweise aus einem der von den Russen erbeuteten AMOTs ausgegraben. Der nukleare Sprengkopf war zwar über dem Zentrum des Sees explodiert, dennoch war das Ufer in Mitleidenschaft gezogen und leicht verstrahlt worden. Das hing mit der Größe der Bombe zusammen; schließlich hatte sie damals, im Jahr 2012, einen acht Kilometer durchmessenden Kometen in Myriaden von Einzelteile zerlegen sollen. Die gute Nachricht war, dass sich die Strahlung der auf Nuklearen Isomeren basierenden Vernichtungswaffe bereits wieder rapide abbaute. Die Höhle, in der Professor Dr. Jacob Smythe und Lynne Crow nun hausten, hatten die Daa'muren bereits vor Monaten dekontaminiert. Denn nach der Zerstörung des mit Atemluft gefüllten Labors im Inneren des Kometen brauchten die beiden Menschen eine neue Bleibe. Ausgang gewährte man ihnen nur abwechselnd – es gab nun mal nur einen Schutzanzug – und normalerweise niemals ohne mehrere Bewacher. Der Oberwachhund Grao'sil'uuna hielt sich eigentlich ständig in Smythes Nähe auf. Der Professor aus der Vergangenheit ließ den Encephalorobotowitsch los, seufzte und setzte seinen Spaziergang fort. Dr. Rostow stapfte neben ihm her und schwieg. »Ich soll den Echsenviechern alle Orte der alten Welt ausfindig machen, an denen vor ›Christopher-Floyd‹ Atomwaffen produziert, gelagert oder stationiert wurden.« Smythe lachte meckernd. »Hätten Sie Lust auf so einen Job? Ich nicht! Aber was soll ich machen...?« Der Encephalorobotowitsch schwieg. »Was ist los mit Ihnen, Doc?« Smythe neigte den Kopf zur Seite und verengte seine Lider. »Ist Ihnen auch aufgefallen, dass wir uns heute ohne den üblichen Tross von Wachen die Beine vertreten dürfen?« Wieder blickte er um sich, seine Augen blitzten. »Falls Sie gerade eine Idee ausbrüten, wie wir von hier wegkommen, raus mit der Sprache. Ich bin dabei...!«
Aus dem Wald vor den Klippen hörte man Motorengeräusch. Ein AMOT rollte entlang der Felskrone, einer dieser multifunktionalen Panzer der Russischen Bunkerliga. Hammer und Sichel prangten seitlich am Bug auf gelbem Untergrund. Die rollende Festung zog eine Staubwolke hinter sich her und verschwand aus ihrem Blickfeld, als sie in einen steilen Serpentinenweg einbog, der hinunter zum Strand führte. Smythe blieb stehen und betrachtete den Encephalorobotowitsch mit einer Mischung aus Neugier und Sorge. »Was ist nur los mit Ihnen, Doc? Machen Sie mir bloß nicht schlapp!« Meist, wenn man Smythe aus seinem »Labor-Kerker« führte, damit er sich ein bisschen bewegte, ging er mit Dr. Nikati Rostow spazieren. Es brauchte anscheinend keinen Schutzanzug, das Hirn unter der Klarsichtschale. So wortkarg wie heute gab der Kunstmensch sich allerdings sonst nie. Das beunruhigte Jacob Smythe, denn in seinen persönlichen Fluchtplänen spielte Nikati Rostow eine erhebliche Rolle. »Wir kommen hier raus, Mann!« Er klopfte den anderen auf die Metallschulter. »Ich arbeite jeden Tag daran, glauben Sie mir...« Der AMOT erschien wieder in ihrem Blickfeld. Beängstigend schnell pflügte er jetzt durch den Sand auf sie zu. Ein schwarzes Ungetüm von fünfundzwanzig Metern Länge auf sechs Doppelachsen. Vier Meter hoch war das Gerät und nur unwesentlich breiter. Es sah ein bisschen aus wie eine von feinem Pelz überzogene Gigaraupe. Nicht der geringste Lichtschein spiegelte sich in der Oberfläche seines Rumpfes, dabei stand die Sonne im Zenit. Von Dr. Rostow wusste der Professor, wofür die Abkürzung AMOT im militärischen Fachjargon der Russischen Bunkerliga stand: Autarker multipel einsetzbarer Operations-Tank.
»Die fahren nicht zufällig hier herum, wenn Sie mich fragen.« Smythe und der Encephalorobotowitsch blieben stehen. Der AMOT drosselte seine Geschwindigkeit. »Irgendwas wollen die von uns...« Zwei dieser AMOTs hatten die Daa'muren der Russischen Bunkerliga schon vor ungefähr neun Monaten abgenommen; unzählige Male hatte sich Smythe die Geschichte von Rostow erzählen lassen. Eine Geschichte, in der die Daa'muren in Gestalt von Barbaren aus einem Gebirgswald stürmten, über die Russen herfielen und kurzen Prozess mit ihnen machten; mit Leuten wohlgemerkt, von denen man annehmen sollte, dass sie weder strategisch noch waffentechnisch irgendjemanden zu fürchten hatten. Eine Smythe unbekannte Anzahl von AMOTs war in den vergangenen Wochen am Kratersee aufgetaucht. Beutestücke aus dem hohen Norden, Helsinki und so weiter. Entsprechende Gerüchte machten die Runde; Genaues wusste er nicht. Üble Geschichten jedenfalls. Aber wie auch immer: Jacob Smythe war verrückt nach einer dieser Maschinen. In jedem seiner täglich neuen Fluchtpläne spielte ein AMOT eine wesentliche Rolle. Ein paar dieser polymorphen Aliens austricksen, sich einen der Panzer unter den Nagel reißen, den verfluchten Rochen abschießen – und dann ab nach Westen und Drax aus der Welt schaffen. Nun ja, Jacob Smythe neigte eben zum Größenwahn. Daran wenigstens hatte sich nichts geändert. Der AMOT stoppte etwa dreißig Meter vor ihnen. Endlich brach der Maschinenmensch sein Schweigen: »Wie viel Prozent Realität nehmen Sie wahr, Professor Dr. Smythe?« Seine elektronische Stimme modulierte zwar jede Silbe ziemlich perfekt, kannte aber kaum Höhen und Tiefen. »Und wie viel Prozent Ihrer Wahrnehmung ist Illusion? Oder Gewohnheit? Oder Wunschdenken? Schätzen Sie.«
»Hä?« Die Frage verblüffte Smythe außerordentlich. »Was ist mit Ihnen los, Rostow? Philosophischer Anfall, oder was?« Aus dem Seitenschott des AMOT stieg einer dieser mutierten Seeuferbewohner. Ein Schwertkrieger – oder ein Daa'mure in Gestalt eines Schwertkriegers, eines Woiin'metcha. »In den Datenbanken der Hinterlassenschaften Ihrer Kultur sind wir auf Denker gestoßen, die sich intensiv mit dem Problem der Wahrnehmung befassten«, fuhr der Encephalorobotowitsch fort. »Interessante Geschichte. Was geschieht eigentlich in dem Sekundenbruchteil, in dem ein Hirn ein Objekt mit seinen Sinnen erfasst und es als Bestandteil in seine Erfahrungswelt integriert? Und inwiefern verzerrt dieser Prozess das wahrgenommene Objekt und inwiefern verändert er das Hirn, das doch sogenannte Realität wahrzunehmen glaubt?« »Bitte?« Smythe stemmte die Fäuste in die Hüften. Etwas in Rostows Worten erschreckte ihn. »Ich bin Astrophysiker und Mediziner, kein Philosoph! Würden Sie sich bitte so ausdrücken, dass ein Naturwissenschaftler wie ich versteht, wovon die Rede ist?« »Die Rede ist von Illusion und Gewohnheit, Professor. Sie sind gewohnt, das Phänomen eines Maschinenkörpers wie den meinen mit dem Namen ›Rostow‹ anzusprechen und mit einem Individuum namens Rostow zu identifizieren. Kurz: Aufgrund zeitlich und subjektiv fixierter Erfahrungen neigen sie ohne kritische Prüfung des Sachverhaltes zu der Annahme, dass ein wahrgenommenes Phänomen, wie etwa mein Maschinenkörper, notwendig Rostow sein muss...« »Sie sind ja übergeschnappt, mein Bester...« Und zum ersten Mal erschien Smythe die Starre des plastinierten Gesichts und das Fehlen jeder menschlichen Gestik irgendwie unheimlich. Um das Thema zu wechseln, deutete er mit einer Kopfbewegung auf den hochgewachsenen, knochigen Mann in
dem roten Kapuzenmantel, der auf sie zu stapfte. »Hören wir uns lieber die neuesten Verlautbarungen unserer Gastgeber an.« Ein paar Schritte vor ihnen blieb der Mann in Rot stehen und deutete eine Verbeugung an. Der Körper des Schwertkriegers war dabei nur Fassade. Eine kaum zu beziffernde Anzahl von Jahrtausenden zuvor hatte er die Gestalt eines quastenschuppigen Delphins in einem LavaOzean besessen. »Ich bin Ordu'lun'corteez. Sol'daa'muran leuchte Ihnen und wärme Sie, Jeecob'smeis.« Dreierlei fiel Smythe auf. Erstens wusste der Daa'mure, dass er ihn aufgrund seiner Gestalt nicht erkennen konnte – die Woiin'metcha sahen für Menschen fast allesamt gleich aus –, und stellte sich ihm vor. Zweitens benutzte er die daa'murische Aussprache seines Namens: Jeecob'smeis; so wie sie Commander Drax auch »Mefju'drex« nannten. Und drittens verwendete er eine überaus freundliche Begrüßungsformel und -gestik. All das machte ihm klar: Die verdammten Aliens schleimten sich noch immer bei ihm ein, behandelten ihn, als gehöre er zu ihrer Gemeinschaft. Gut. Umso leichter würde es sein, sie zu täuschen... »Leider habe ich schlechte Nachrichten für Sie«, fuhr Ordu'lun'corteez fort. Der Kerl mit der grauen Haut und den überproportional großen Füßen verschränkte die Arme vor der Brust. Er neigte seinen Schädel – einen eckigen Schädel, den vom Nasenrücken aus eine schwarze Hornplatte überzog – leicht nach vorn. »Nikaati'rostow ist tot.« Im ersten Moment war Smythe perplex. Hielten ihn die Daa'muren mal wieder zum Narren? »Bitte?«, sagte er nur und wandte sich ungläubig an seinen Begleiter aus Kunststoff, Kabelsträngen und Metallgliedern. »Was ist mit Rostow?« »Darf ich vorstellen?« Ordu'lun'corteez streckte seinen grauen Schwertarm Richtung Rostow aus. »Dies ist
Grao'lun'kaan. Ursprünglich einer der neunundvierzig Berufenen, dann verstoßen und jetzt doch noch auserwählt, um zu tun, was er einst versäumte: den ersten Feind der neuen Schöpfung zu neutralisieren.« »Bitte?« Smythe versuchte Zeit zu gewinnen, um die Konsequenzen dieser Eröffnung zu überschlagen. »Grauluwer?« Rostow war nicht Rostow! Was hatte er in seinem Beisein gesagt, was verraten? »Grao'lun'kaan hat vor drei Tagen die biotische Einheit eines Trägerorganismus übernommen«, fuhr Ordu'lun'corteez ungerührt fort. »Wir haben sein neu gewonnenes Gehirn in diesen fast perfekten Kunstkörper integrieren können.« »Aha.« Smythe begriff. Aber es gefiel ihm nicht. »Und was habt ihr mit Dr. Nikati Rostow gemacht?« »Amputiert. Nachdem wir seine ontologisch-mentale Substanz gründlich erforscht und uns sein Wissen angeeignet hatten.« »Amputiert?!« Smythes Gedanken fuhren Karussell. Sie hatten das Hirn dieses genialen Russen herausgeschnitten und... weggeworfen? Unfassbar! Unmenschlich, selbst für seine Begriffe. Ihm wurde schwindlig. Er trat zwei Schritte zur Seite. Der Kunstmensch war ihm jetzt wirklich unheimlich. »Und das neue Hirn im alten Körper soll wen neutralisieren?« »Mefju'drex«, sagte Ordu'lun'corteez. »Das sollte Sie eigentlich freuen.« »Drax ist mein Job!« Smythe ballte die Fäuste. »Niemand tötet ihn... nein, niemand kann ihn töten außer mir! Er ist mein ganz persönlicher Feind! Man hat nicht allzu viele persönliche Feinde in dieser postapokalyptischen Scheißwelt!« »Sie hatten Ihre Chance, Jeecob'smeis.« Ordu'lun'corteez zuckte mit den humanoiden Schultern. »Jetzt sind wir am Zuge.«
Smythe trat einen Schritt zurück, beäugte das Ding, das er für Rostow gehalten hatte. Das Maschinenwesen stand unbeweglich. Kein Wort, keine Geste, kein Mienenspiel. Ging ja auch nicht – Grao'lun'kaan, ehemals Dr. Nikati Rostow, war Kunststoff, Metall und Kabelsalat; er war Gestalt gewordene Gleichgültigkeit. »Ich protestiere in schärfster Form!« Smythe begann lautstark zu zetern. »Ich habe Drax schon verabscheut, als euer gottverdammter Kometen noch gar nicht gelandet war! Er gehört mir, mir allein!« Die Innenseite seines Helm beschlug, so sehr erhitzte er sich. »Nun gut.« Ordu'lun'corteez breitete die Arme zu den Klippen hin aus. »Gehen Sie, wenn Sie können. Jagen Sie ihn, wenn Sie können.« »Das ist...!« Smythe fehlten die Worte. Wutschnaubend wandte er sich ab und stapfte Richtung Klippen davon. Der Encephalorobotowitsch tat zwei große Schritte, packte ihn, klemmte seinen schlanken, sehnigen Körper unter den rechten Metallarm und schleppte ihn zurück zur Höhle. Der Hass schnürte Smythes die Kehle zu. Doch was konnte er tun? Nichts. Nichts, was die Daa'muren ihm nicht zu tun gestatteten. Kaum schloss sich die Innenschleuse seines neuen »Arbeitskerkers« hinter ihm, überschüttete er Lynne Crow mit Flüchen und Beschimpfungen. Die Offizierin aus Washington – nach langer Gefangenschaft und der Nuklearexplosion ohnehin am Rande ihrer Nervenkraft – suchte Zuflucht unter ihren Decken. Jacob Smythe aber tat kein Auge zu. Die halbe Nacht tigerte er in seinem Labor auf und ab und grübelte. Dabei achtete er sorgsam darauf, gleichzeitig das große Einmaleins, die ersten neunundneunzig Primzahlen und sämtliche Knochen und Muskeln des menschlichen Körpers herunter zu leiern. Irgendwo vor der Kerkertür vermutete er nämlich Grao'sil'uuna bei dem Versuch, in seinen Gedanken zu
schnüffeln. Wahrscheinlich war sein daa'murischer Wachhund inzwischen ein Spezialist für menschliche Anatomie und Mathematik. Irgendwann begann Smythe in dem Material zu wühlen, das die Daa'muren ihm zur Verfügung gestellt hatten. Auf einem der Werktische sammelten sich Schaltkreise, Metallverblendungen, Kabelstücke, Trilithiumchips. Die zweite Nachthälfte über murmelte er die lateinischen Namen der menschlichen Nerven hinauf und herunter – und bastelte. Am nächsten Morgen verlangte Smythe Ordu'lun'corteez zu sprechen. Den bat er um eine Gelegenheit, sich von Rostow alias Grao'lun'kaan zu verabschieden – er habe einen Gruß für Drax. Der Lun zeigte sich großmütig, und so konnte der Professor aus der Vergangenheit das Maschinenhirn noch einmal treffen. Die Begegnung fand vor dem AMOT der russischen Liga statt. Der Generator war bereits hochgefahren und das Triebwerk des gewaltigen Gerätes brummte im Leerlauf. Smythe musste seine Stimme erheben, um sich verständlich zu machen. »Der Vorfall gestern tut mir Leid!«, rief er. »Bedaure sehr, aber anders als Ihresgleichen bin ich auf Nerven angewiesen, und die werden dünner in letzter Zeit.« »Ich habe Ihnen nichts vorzuwerfen, Professor Smythe«, schnarrte die elektronische Stimme. »Und Ordu'lun'corteez ebenso wenig.« Der Metallarm des Maschinenhirns deutete zur offenen Hauptluke des AMOTs, wo der Daa'murenKommandant wartete. »Selbstverständlich haben Sie Recht – was Drax betrifft hatte ich meine Chancen, und nun sind eben Sie am Zug.« Smythe seufzte, griff in die Tasche seines Schutzanzuges und förderte ein dunkelgraues Kästchen von der Länge eines Männerdaumens und doppelten Durchmessers zutage. »Aber es
würde mir Genugtuung verschaffen, an seinem Ableben Teil zu haben.« Zwischen Daumen und Zeigefinger hob er das Kästchen auf Augenhöhe. »Dass er Schmerzen leidet, während sein überflüssiges Bewusstsein erlischt.« Der Encephalorobotowitsch nahm das Kästchen entgegen und betrachtete es aufmerksam. An der Unterseite wölbte sich eine flache Kuppel wie ein großer Schraubenkopf. »Vorsicht, das ist ein Hochspannungsaggregat« , sagte Smythe. »Wenn Sie Drax gestellt haben, drücken sie ihm das mit den besten Grüßen von seinem ehemaligen Chef Professor Dr. Jacob Smythe auf die Stirn. Es wird erst seine Schädelnerven zerreißen, dann seinen Liquor zum Kochen bringen und schließlich sein Gehirn rösten. Drax' Ableben wäre dann gewissermaßen unser Gemeinschaftswerk, wenn Sie verstehen.« »Die Neutralisierung Mefju'drex' ist für uns eine sachliche Notwendigkeit«, scharrte Grao'lun'kaan mit Rostows Elektronikstimme. »Wer diesen Auftrag ausführt, und ob Mefju'drex dabei Schmerzen empfindet oder nicht, hat für uns weder spielerischen noch experimentellen noch sonst einen Nutzen.« Smythe zuckte die Schultern. »Sehen Sie es mal so: Sie würden mir eine Freude machen, und wenn ich zufrieden bin, arbeite ich besser und effektiver.« Die Metallfinger des Maschinenhirns schlossen sich um das Metallkästchen. »Das ist eine akzeptable Begründung. Ich bin einverstanden. Allerdings erbitte ich als Gegenleistung die Antwort auf eine Frage, die mich beschäftigt.« Seine Kunstaugen fixierten den Professor aus der Vergangenheit. »Bitte, fragen Sie, Verehrtester!« Smythe wirkte bestens gelaunt mit einem Mal. »Sie kennen Mefju'drex besser als jeder andere. Hat er irgendwelche Schwächen? Ich meine – an welcher Stelle ist er besonders verwundbar?«
»Gott im Himmel! Drax strotzt nur so vor Schwachstellen! Allerdings weiß er sie auch verdammt gut zu verbergen.« Die Gesichtszüge des Professors entspannten sich, er lächelte vielsagend. »Bis auf eine, die kann er nicht verbergen: Aruula.« Der Maschinenmensch glotzte ihn aus seinen toten Augen an, bewegte sich nicht und antwortete nicht. »Seine Gefährtin«, ergänzte Smythe. »Danke.« Ohne ein weiteres Wort drehte Nikati Rostow alias Grao'lun'kaan sich um, stapfte zum Panzer und bückte sich in die Luke. »Einfach fest auf die Stirn drücken!«, rief Smythe ihm nach. »So fest Sie können...!« Vier Wächter flankierten den Professor und führten ihn zurück zu seinem »Laborkerker«. Alle zehn Schritte blieb er stehen und sah zurück. Der AMOT pflügte über den Strand. Er zog einen Sandschleier hinter sich her. *** Sie hieß Dragurowka Bassutschok, ehemals Gouverneurin von Perm II. Gute Zeiten waren das gewesen. Zeiten, in denen sie praktisch alles uneingeschränkt und unentgeltlich genießen konnte, was ein durchschnittlicher Angehöriger der Russischen Bunkerliga für lebensnotwendig hielt: Nahrung, Kleidung, Privaträume, Geschlechtspartner und Voodka. Vorbei, leider. Seit mehr als sechzehn Monaten saß sie im Kerkertrakt von Perm II. Sie wartete auf ihren Abtransport nach St. Petersburg. Dort gab es ein paar Leute, die ihr den Prozess machen wollten. Männer überwiegend, Betonköpfe und Weicheier. Keine schönen Aussichten jedenfalls. Doch Dragurowka Bassutschok konnte froh sein, dass sie überhaupt noch am Leben war.
Außerhalb ihrer doppelt gesicherten Zelle, am Ende des Gangs, teilte sich das Schott zum Zellentrakt. Die beiden Flügel schoben sich in die Wand. Ein Mann von hohem Wuchs, mit breitem Brustkorb und tief schwarzen kurzen Locken trat auf den Gang. Er war höchstens fünfundzwanzig Jahre alt. Dragurowka Bassutschok hatte ihn nie zuvor gesehen. In der Linken balancierte er das Tablett mit dem Frühstück der Gefangenen, mit der Rechten zog er eine Chipkarte aus der Brusttasche. Erstaunlicherweise war er unbewaffnet. Eine steile Falte stand plötzlich zwischen Dragurowka Bassutschoks Brauen. »Bei allen Flussgeistern jenseits des Urals – wer bist du denn?« Ihre schwarzen Augen glitten über seinen muskulösen Körper, über sein schmales, kantiges Gesicht – unglaublich blaue Augen hatte der Mann! – und über die wilde Lockenpracht über seiner hohen Stirn. Ein Adonis, wie man ihn nicht einmal in den ältesten Datenbanken fand! Die Zornesfalte zwischen ihren Brauen glättete sich augenblicklich. Mit anmutiger Geste strich sie eine rote Lockensträhne hinter ihr Ohr, und ein Lächeln verzauberte ihre eben noch mürrischen und durchaus harten Züge in das Pfirsichgesicht einer zarten Jungfrau. Die Hüften und die Gesäßbacken unter ihrem Morgenmantel tanzten, während sie zu dem ersten von zwei Kunststoffgittern schritt, die sie jetzt noch von dem prachtvollen Mannsbild trennten. »Ich bin ein wenig überrascht«, lächelte sie. »Angenehm überrascht – normalerweise bedienen mich nur weibliche Aufseher.« Vor dem Gitter blieb sie stehen. Ihre Augen ruhten im hellblauen Licht der seinen, und Adonis hielt ihrem Blick ohne Scheu stand. Allerdings auch ohne ihr Lächeln zu erwidern. »Wie heißt du?« Er steckte die Chipkarte ins Schlossterminal, drückte die Kuppe seines rechten Daumens auf den Sensor, und sagte gleichgültig: »Modestu.« Die Gitterwand zwischen Gang und
Vorraum rollte summend zur Seite. »Major Modestu Hartmann. Ich bediene dich nicht, niemand bedient dich.« Er hob die linke Braue, ganz kurz nur, entzog ihr dann den Blickkontakt und stellte das Tablett auf den Tisch des Vorraums. »Wir sorgen nur dafür, dass du deine elementarsten Rechte erhältst. Dazu gehört ein Frühstück.« Er begann Teller, Tasse, Besteck und Speisen auf dem Tisch zu arrangieren. »Was fällt dir ein, mich zu duzen!«, brauste die Bassutschok auf. Ihre Fäuste schlossen sich um das Gitter zum Vorraum, wütend rüttelte sie daran. »Mir war so, als hättest du es mir angeboten.« Er griff nach einem Kännchen und goss dampfenden Tee in eine Tasse. Sie schluckte, musterte seinen Hintern – Muskelstränge spielten unter dem eng anliegenden Stoff seiner Uniformhose – und verkniff sich jeden weiteren Tadel. »Major bist du also, so, so, in deinem Alter schon Major.« Sie schnalzte mit der Zunge. »Sonst bedienen mich ausschließlich weibliche Unteroffiziere.« »Der Erste Subkommissar und der Vizegouverneur von Perm II werden gute Gründe dafür haben. Und noch einmal: Ich bediene dich nicht.« »Subkommissar! Vizegouverneur!« Sie schürzte verächtlich die Lippen. »Schlappschwänze!«, fauchte sie. »Vor nicht einmal siebzehn Monaten war ich hier Gouverneur! Ich regierte ohne Vize, und von diesem Krüppelkommissar aus Perm I ließ ich mir schon gar nichts reinreden! Von Rechts wegen gehört der Stuhl noch immer mir!« »Von Rechts wegen hätten sie nicht einmal deine schweren Verbrennungen behandeln müssen.« Ungerührt nahm er eine Schüssel und einen Brotkorb vom Tablett und stellte beides auf den Frühstückstisch. Sie schob ihren großen Unterkiefer nach vorn und biss die Zähne zusammen. Es stimmte – ihr mörderischer Angriff auf Perm I hätte sie um ein Haar das Leben gekostet; ihr vernarbter
Rücken sah aus wie die Rückseite des Mondes. Aber wozu hatte man ihr das Leben gerettet? Für die Giftspritze? Für eine Strafversetzung in den äußersten Norden? Hätte sie nicht ein paar Gönner im mächtigen Moskau, hätten die Petersburger sie längst verurteilt. Davon war die Bassutschok überzeugt. Doch weg mit den unangenehmen Gedanken! Solange sie nicht in Sankt Petersburg vor Gericht stand, gab es noch eine Chance. Sie betrachtete seine Hüften. Schon merkwürdig, dass er keine Waffe trug. »Die Weiber kommen immer zu zweit, und eine von ihnen ist grundsätzlich bewaffnet«, sagte sie. »Die wartet dann immer mit entsichertem Strahler auf dem Gang, während die andere mich bedient.« »Nun, jeder muss seine Grenzen selbst einschätzen.« Er richtete sich auf, sah ihr wieder in die Augen und drückte dabei auf einen Knopf an der Schnalle seines breiten Kunstledergürtels. »Rühreier mit roten Bohnen und Xaala*.« Das Innengitter rollte zur Seite. »Oh!« Dragurowka Bassutschok mimte die Erschrockene und wich einen Schritt zurück. »Die Weiber öffnen das Innengitter immer erst, wenn die, die mich bedient, wieder draußen bei der Bewaffneten und das Außengitter geschlossen ist.« »Kluge Mädels. Allerdings bedienen sie dich nicht.« Er zog den Stuhl unter dem Tisch hervor, deutete eine kaum wahrnehmbare Verbeugung an – und lächelte. Bei allen Kometen der Oortschen Wolke – er lächelte! Zwei oder drei Herzschläge lang setzte ihr Verstand aus, ihr wurde heiß in Kopf und Schoß, und mit weichen Knien schritt sie zu dem Stuhl, den er noch immer festhielt. Das blaue Aderngeflecht auf dem Rücken seiner sehnigen Hand raubte ihr fast den Atem. »Hartmann... ein ungewöhnlicher Name für einen Russen«, sagte sie mit belegter Stimme. Sie machte Anstalten *
aalartiger Fisch von ca. 1 bis 1,50 m Länge
Platz zu nehmen. Auf dem Teller dampften Rühreier mit Xaala und roten Bohnen. »Meine Vorfahren waren Deutsche. Sie überlebten den Kometeneinschlag in Sankt Petersburg. Dorthin übrigens werden wir beide in zwei Tagen aufbrechen. Ich bin Staatsanwalt am Militärgericht des Ligabunkers Sankt Petersburg...« Schon halb auf den Stuhl gesunken, hielt sie plötzlich inne, griff blitzschnell nach dem Teller und schleuderte ihn über ihre Schultern dahin, wo sie sein Gesicht wähnte. Gleichzeitig packte sie die Gabel, wirbelte herum und zielte nach seinem Hals. Sie erwischte nur sein Ohr. Dafür traf seine Faust ihren Solarplexus. Sie klappte zusammen, hatte aber genug Geistesgegenwart, ihm zuvor noch ihren Mittelfinger in die weiche Kuhle am Halsansatz zwischen den Schlüsselbeinen zu stechen. Modestu röchelte, griff sich an den Hals. Ohne die Fähigkeit, selbst die geringste Schwäche ihrer Gegner zu erkennen und zu nutzen, hätte Dragurowka Bassutschok es niemals zur Gouverneurin von Perm II gebracht. Sie besaß eine Art Instinkt dafür, und instinktiv riss sie jetzt ihr rechtes Knie zwischen seine Beine. Mochte er auch Hartmann heißen – der Treffer war allzu hart für einen Mann. Major Modestu Hartmann stöhnte auf und kippte zur Seite. Sie sprang über ihn hinweg, rannte auf den Gang, hielt sich den Morgenmantel zusammen, weil aus irgendeinem Grund der Gürtel aus den Schlaufen gerutscht war. Sie hörte keine Schritte, kein Rascheln, keine Atemgeräusche hinter sich – noch Wochen später schwor sie das –, und dennoch flog ihr plötzlich etwas von hinten über das Gesicht und zog sich um ihren Hals zusammen – der Gürtel ihres Morgenmantels. An ihm riss der Major sie nach hinten, sodass sie rücklings auf dem Gang aufschlug.
Er wickelte sich den Gurt um das Handgelenk, griff in ihre roten Locken und zerrte sie durch den Vorraum zurück in ihre Zelle. Dort warf er sie auf die Pritsche. Seine unglaublich blauen Augen bohrten sich in ihre schwarzen, er atmete schwer. »Wir hatten seit langem den Eindruck, dass du uns Sankt Petersburger unterschätzt«, keuchte er. Hin und her gerissen zwischen mörderischer Wut und tiefer Bewunderung griff sie in seine Locken. »Warum bist du nicht früher gekommen?« Er schlug ihre Hände weg. »Bei euch herrscht Alarmstufe Rot, niemand wollte freiwillig in euer Gebiet fahren.« Typisch Mann, er begriff nicht, wovon sie sprach. »Ich hab auf dich gewartet...« »Du weißt, was am Tura-Pass vorgefallen ist. Die Verluste sind bis heute nicht aufgeklärt. Wir konnten uns nicht erlauben, dich früher zu holen. Wir mussten den Prozess vertagen...« »Idiot! Mein ganzes Leben lang habe ich auf dich gewartet! Mein ganzes Leben lang von einem Mann wie dir geträumt!« Sie zog den Mantel auseinander, entblößte ihre prächtigen Brüste und die Tätowierung. »Weißt du, wie lange ich keinen Mann mehr gehabt habe?« Er ließ sie los, richtete sich schweratmend auf und blickte auf sie herab. Ihre berühmte Tätowierung kannte er vom Hörensagen: Als Flammenmeer zog sie sich weit gefächert von ihren Schultern und Schlüsselbeinen aus über ihre Brüste, verengte sich auf dem Bauch zu einem Feuerstrahl und verschwand schließlich unter ihrem roten Lederslip. Er nickte anerkennend. »Man erzählt sich von dir, du hättest dir die Kometenspitze auf die nackte Vulva tätowieren lassen.« »Er schlägt in meinem Schoß ein«, flüsterte sie. »Schau es dir an.« Und noch leiser: »Folge seinen Spuren...« Seine linke Braue wanderte nach oben. »Wie gesagt, du unterschätzt uns, Dragurowka Bassutschok.« Er wandte sich ab
und schritt in den Vorraum. Zorn und Scham trieben ihr das Blut ins Gesicht. »Ich steh nicht auf Frauen, weißt du?« Auf dem Gang angelangt, zog er die Chipkarte aus dem Terminal. Dragurowka Bassutschok schlang den Morgenmantel um ihren Körper. Sie spürte nur noch das Glühen in ihrem Gesicht. »Ich bin so schwul wie man nur sein kann.« Die vordere Gitterwand schob sich zu und schottete den Vorraum vom Gang ab. »Also – übermorgen fahren wir beide nach Sankt Petersburg. Guten Appetit übrigens...« *** Ihre Schwertscheide steckte die Barbarin zwischen Kunststoffrost und Matratze der oberen Schlafkoje. So blieb es in Griffweite und konnte ihr dennoch nicht gefährlich werden, sollte der EWAT ein abruptes Manöver durchführen oder gar eine Bruchlandung hinlegen. Sie streckte sich in der Koje aus und schloss die Gurte um ihren Körper. Das hatte Maddrax ihr eingeschärft. »Wenn wir fliegen, musst du dich in der Koje grundsätzlich anschnallen«, hatte er gesagt. »Sonst kannst du dir das Genick brechen.« Maddrax hielt sich ein Schott weiter im Bugsegment des Tanks auf. Es wäre ihr lieber gewesen, er hätte jetzt bei ihr gelegen. Ob er dann auch auf die Sicherheitsgurte bestehen würde? Aruula lächelte und schloss die Augen. Bilder der vergangenen Tage und Nächte zogen vorbei: die Ruinen von Moskau, kämpfende Nosfera, tote Barbaren, die unheimlichen eisernen Rohre, die Maddrax »Nuklearsprengköpfe« nannte und die plötzlich so eine gewichtige Rolle spielten im Krieg gegen die Daa'muren. Aruula hatte nur eine sehr vage Vorstellung von der Bedeutung dieses Wortes: Nuklearsprengköpfe. Jemand hatte ihr erzählt, dass in ihnen die gleiche Kraft steckte wie in dem Reaktor, der den EWAT antrieb. Die gleiche Kraft? Sie
lauschte dem Summen des Motors. Es klang ungefährlich, es klang beruhigend, es schläferte sie ein. Zuletzt sah sie die weite und so wunderschöne Sumpflandschaft unter sich hinweg gleiten, die der EWAT seit zwei Stunden überflog. Der Schlaf betäubte ihr Bewusstsein. Und ein Traum trug sie in die Vergangenheit und zu jener Stelle im Eisgebirge vor dem Südland, wo sie Maddrax zum ersten Mal begegnete. Wie damals lag sie am Rande eines Schneebrettes und blickte auf eine steile Eiswand hinunter, und wie damals hing viele Speerlängen unter ihr ein Feuervogel in einer Eisspalte, und im Feuervogel eine Gestalt mit einem kugelrunden Helm. Anders als damals aber wusste sie im Traum, dass kein Gott, sondern ihr Geliebter unter dem Helm steckte. Sie hatte fürchterliche Angst um ihn. Obwohl die beiden Taratzen im Schneefeld vor der Eisspalte Maddrax nichts mehr anhaben konnten: Sie lagen reglos in blutigem Schneematsch. Doch ein grünes Licht flimmerte über dem Schneefeld, ein Kristall. Er verformte sich, Beine und Arme wuchsen aus ihm und ein Kopf. Strahlen grünen Lichts schossen aus seinen Armen und trafen den Feuervogel, trafen Maddrax. Aruula wollte schreien – kein Ton löste sich aus ihrer Kehle. Sie wollte aufspringen und ihrem Geliebten zur Hilfe eilen – ihre Glieder gehorchten ihr nicht. Endlich löste sich das Traumbild in tausend grünliche Lichtstrahlen auf. Das Schott zum Kommandosegment sah auf einmal aus wie die schwere Holztür an der mütterlichen Hütte auf den Dreizehn Inseln. Jemand öffnete sie, und der Navigator Steve Bolton betrat das zweite Segment. Aruula erkannte ihn, obwohl sein Gesicht verkohlt war und sein ganzer Körper lichterloh brannte. Quälend langsam ging er an ihr vorbei zum Schott ins dritte Segment. Er hatte keine Arme mehr, und der Stoff seiner Kleidung hing in brennenden Fetzen an ihm herunter. Endlich, endlich löste sich der Schrei aus ihrer Kehle, und Aruula fuhr aus dem Schlaf hoch.
Bolton stand vor dem offenen Schott zum Bordlabor. Weder brannte er, noch war sein Kombi zerrissen. Er zog die spärlichen Brauen hoch und hob beschwichtigend die Rechte. »Habe ich Sie geweckt, Ma'am? Sorry. Einfach weiterschlafen. Mach ich jetzt auch.« Er winkte und bückte sich durch das Schott, das sich zischend schloss. Aruula lag mit offenen Augen in ihrer Schlafkoje. Sie starrte den Griff ihres Schwertes an und wartete auf den Schlaf. Er kam nicht mehr. *** Er hieß Pjotr Smolny und war Erster Subkommandant im Großen Peter. Nach Empfang der Nachricht, die er für eine gute hielt, hatte er noch ungefähr sechsunddreißig Stunden zu leben. »Wiederholen Sie, Kosak drei, ich habe Sie nicht verstanden.« Smolny hatte sehr wohl verstanden, er konnte nur noch nicht recht glauben, was der Späher vom Tura-Pass meldete: Ein AMOT hatte den Pass verlassen und pflügte nun Richtung Perm den Westhang des Gebirges herunter. Seit neun Monaten hatten sie kein Fahrzeug mehr durch den Pass Richtung Osten geschickt, Perm II nicht und der Große Peter auch nicht. »AMOT mit Sankt Petersburger Wappen auf Kurs Richtung Großer Peter. Habe Funkkontakt, das Fahrzeug identifiziert sich als Kama eins.« Stimmengewirr erhob sich in der Kommandozentrale. Kama 1 war der Flaggpanzer von Natalja Sem, und die Sem war die Zweite Subkommissarin des Großen Peter. Seit etwa neun Monaten galt sie samt ihres Panzers und dessen Besatzung als vermisst. Männer und Frauen standen von ihren Plätzen auf und versammelten sich hinter dem Rollstuhl des Ersten
Subkommandanten. Ungläubig blickten sie auf den Monitor über seinen Kontrollinstrumenten. Auf ihm visualisierte der Zentralrechner die Daten aus Radar und Sichtgerät von Kosak drei: Das Objekt war ein AMOT, gar keine Frage. Einige applaudierten, andere umarmten einander oder schlugen sich gegenseitig auf die Schultern. Die Freude war groß, denn was man vor knapp neun Monaten oben am TuraPass gefunden hatte, ließ damals kaum einen Funken Hoffnung für die Vermissten aufflackern: drei verlassene AMOTs, Kadaverteile von Flugrochen und fast vierzig zum Teil grausam zugerichtete Leichen; Überreste eines Schlachtfestes. Nur die Leichen von Natalja Sem und drei ihrer Offiziere waren nie gefunden worden. Der Erste Subkommandant gehörte zu der Sorte Männer, die nur glauben, was sie sehen, hören oder messen können. Er richtete seine fettleibige Gestalt auf und rückte das klobige Gestell seiner schwarzen Brille zurecht. »Und Sie sind sicher, dass der AMOT das Sankt Petersburger Emblem trägt, Kosak drei?« »Weißblaurot, und als er auf meinen Funkspruch reagierte, meldete sich eine Stimme, die klang, als würde ein Fisch auf dem Grund eines Blecheimers rülpsen; das kann eigentlich nur Dr. Rostow gewesen sein.« Einige der Umstehenden verdrehten die Augen, Smolny spitzte nur kurz die Lippen: Kosak drei – außerhalb der Dienstzeit nannte er sich Kyrillo – war für seine verbalen Fehltritte berüchtigt. »Demnach müsste es sich um einen der beiden vermissten Panzer handeln, oder?«, fuhr er fort. »Und da einer von ihnen der Flaggpanzer von Perm II und mit Hammer und Sichel geschmückt war, kann es sich bei diesem hier doch nur um den Panzer der Zweiten Subkommandantin Natalja Sem handeln, oder beherrsche ich die Grundlagen der Logik nicht mehr!?«
Smolny überlegte. Kosak drei war nur eine barbarische Hilfskraft, aber eine von der helleren Sorte; konnte perfekt mit technischem Gerät umgehen. Und davon abgesehen: Sah Smolny auf dem Monitor nicht mit eigenen Augen einen AMOT zwischen Bäumen und Felsbrocken Hang abwärts rollen? »Das wäre ja eine wirklich gute Nachricht«, murmelte er. »Folgen Sie dem Objekt unauffällig, Kosak drei. Dr. Rostow wird sich vermutlich bald bei uns anmelden, schätze ich mal.« »Oder in Perm II«, gab der Späher Kosak drei alias Kyrillo zurück. »Ende der Durchsage.« »Saufkopf«, knurrte Smolny. »Wer hat diesem Barbaren etwas von Logik erzählt?« Niemand antwortete. »Sollten wir Dr. Rostow nicht zwei Fahrzeuge entgegen schicken, General?«, fragte der militärische Chef vom Dienst stattdessen, ein Oberst namens Yagil Jakubasch. Er sprach Smolny grundsätzlich mit dessen militärischem Rang an. »Vielleicht braucht die Zweite Subkommissarin Hilfe.« »Das ist das Mindeste«, knurrte Smolny. »Leiten Sie das in die Wege, Oberst.« Seine Finger trommelten auf die Armlehne seines Rollstuhls. Er wusste selbst nicht, was ihn so nervös, ja misstrauisch machte. »Am besten, wir versuchen mit dem AMOT Kontakt aufzunehmen. Und zwar sofort.« Eine mysteriöse Geschichte war das gewesen, damals, am Pass. Sie hatten einen Notruf bekommen – keine Informationen, keine Angaben über den Grund, nur einen Notruf – und als ein AMOT-Verband zwei Stunden danach aus dem Pass in den Osthang rollte... nun ja, Überreste einer blutigen Schlacht, wie gesagt. »Der AMOT reagiert nicht auf unseren Funkspruch«, meldete eine Offizierin aus der Kommunikationszentrale. »Wahrscheinlich wegen der CF-Strahlung.«
»Dann fragen Sie gefälligst Kosak drei nach der Position des Panzers.« Pjotr Smolny vermochte seine Ungeduld nicht zu verbergen. »Kyrillo hat Funkbojen ausgelegt.« Ein paar Wochen nach der Katastrophe dann geisterte die Meldung durch die Kolonien der Bunkerliga, dass der Außenposten Helsinki einen Notruf abgesetzt hatte und seitdem nichts mehr von sich hören ließ. Als dann noch die fürchterlichen Kämpfe um Moskau bekannt wurden, beschloss Pjotr Smolny Alarmstufe Rot. Das hieß unter anderem: permanente Einsatzbereitschaft, maximale Späherdichte, Expeditionen zu den Fischgründen und Schnapslagern nur noch in Verbänden zu drei AMOTs, und auch das nur, wenn es gar nicht anders ging. Die Bewohner von Perm II und dem Großen Peter igelten sich in ihren unterirdischen Städten ein. »Kosak drei meldet sich nicht mehr«, kam es aus der Kommunikationszentrale. »Blödsinn. Ein Funkloch, versuchen Sie es noch einmal.« Smolny verschränkte seine kurzen Arme über der Brust. Merkwürdig, auch auf dem Display gab es keine Bilder von Kyrillos Ortungsgeräten mehr. »Zwei AMOT-Besatzungen sollen ihre Fahrzeuge besetzen und zum Außenschott steuern«, sagte der Erste Subkommissar in Richtung seines Adjutanten. Der Mann schnitt eine ungläubige Miene, beugte sich dann aber über ein Mikro, um den Befehl weiterzugeben. Smolny wartete ohne sichtbare Gefühlsregung. Er gab sich weder übertriebener Hoffnung noch übertriebenem Misstrauen hin. Ein paar Minuten noch, dann würden sie Bescheid wissen. Der Chef der beiden Bunkerstädte unter den Ruinen Perms war klein und wegen Bewegungsmangel und Fresssucht relativ fett. Bei einem militärischen Einsatz gegen aufständische Barbaren hatte ihn einst die stumpfe Seite einer Streitaxt an der Lendenwirbelsäule erwischt. Seitdem war Pjotr Smolny an den Rollstuhl gefesselt. Den schwarzen Overall trug der sture
Kahlkopf, wenn man gewissen Lästermäulern glauben wollte, schon seit seiner Geburt. Eine Melodie, wie von einer elektronischen Orgel gespielt, veranlasste ihn die Arme von der Brust zu nehmen und die Kontrollinstrumente zu fixieren. Auf einem Display blinkte das Bild eines stilisierten Bären: das ID-Icon des Encephalorobotowitsch! »Dr. Rostow meldet sich!«, ließ sich eine euphorische Stimme aus der Kommunikationszentrale vernehmen. »Nika benutzt seinen alten Späher-Code!« »Antworten Sie ihm und stellen Sie ihn mir in die Kommandozentrale durch«, verlangte Smolny. Vornüber gebeugt stützte er sich jetzt auf die Instrumentenkonsole auf. Dass der Mediziner und ehemalige Kosak eins sich mit seinem Geheimcode gemeldet hatte, zerstreute sein Misstrauen. Nun gestattete selbst er sich so etwas wie Freude. Und dann erschien Rostows Konterfei auf einem der Monitore. »Bei allen Heiligen Russlands!«, entfuhr es dem Ersten Subkommissar. »Wo hast du gesteckt, Nika! Was ist passiert, wo kommst du her?!« »Lange Geschichte, Pjotr«, schnarrte die vertraute Kunststimme aus irgendeiner verblendeten Box. »Traurige Geschichte außerdem. Nichts für den Funkverkehr. Ich berichte dir in Ruhe, aber eins nach dem anderen. Erst einmal meldet sich Dr. Nikati Rostow in Perm I zurück.« »Wir freuen uns, Nika, das kannst du mir glauben!« Überraschte Blicke trafen Smolny von allen Seiten. Derartige Gefühlsausbrüche waren seine Leute von ihm nicht gewohnt. Sogar eine Träne glänzte hinter dickem Brillenglas in seinem rechten Auge. »Ist Natalja bei dir?« »Sie hat's nicht überlebt, leider«, sagte die Kunststimme des Encephalorobotowitsch. »Nur ich und sieben ihrer Leute. Die sehen ziemlich mitgenommen aus, nicht erschrecken. Erbitte Zutrittserlaubnis nach Perm I.«
»Genehmigt.« Belegt klang die Stimme des Ersten Subkommissars. Er schob seinen Zeigefinger unter das rechte Glas der klobigen Brille und zerdrückte die Träne in seinem Augenwinkel. Natalja Sem war also auch tot, nur acht kehrten zurück. Aber gut – wenigstens diese acht. »Wieso nennt er den Großen Peter mit seinem alten Namen?« Irgendjemand rechts von Smolny stellte die lästige Frage. Stimmte, jetzt fiel es ihm auch auf: Rostow hatte den Großen Peter mit der Bezeichnung belegt, die sonst nur missgünstige politische Gegner aus Perm II benutzten. Ungewöhnlich, sehr ungewöhnlich. Musste wohl eine Menge mitgemacht haben, das bedauernswerte Maschinenhirn... *** Wälder, Sümpfe, Wiesen, Flussläufe, so weit das Auge blickte. Genau genommen blickten Matts Augen natürlich nur vom Navigatorensessel bis zur Frontkuppel, doch auf ihr visualisierte der Bordrechner die Landschaft, über die der EWAT flog, In fünfundzwanzig Metern Höhe glitt der EarthWater-Air-Tank über einen Sumpf, und genau diesen Eindruck vermittelte das 360-Grad-Display der Frontkuppel. Am Horizont tauchte jetzt erneut ein Flusslauf auf, ein ziemlich breiter diesmal. Zweihundertsechzig Meilen trennten sie bereits von Moskau, behauptete eines der Kontrolldisplays auf Corporal Steve Boltons Arbeitsplatz. Der Navigator hatte sich in seine Koje im Hecksegment des EWATs zurückgezogen, und Matthew Drax saß in seinem Sessel. Kein Problem mehr für ihn, den Navigator der Explorer zu vertreten. Oft genug hatte er ihm auf die Finger geschaut, und außerdem war er ja selbst mal Pilot der US Air Force gewesen. Okay – das war mehr als fünfhundert Jahre her.
Nicht einmal fünf Jahre, korrigierte Matt sich in Gedanken. Er las die aktuellen Koordinaten von einem Kontrolldisplay ab, tippte sie spaßeshalber in den Navigationsrechner und gab anschließend die Zielkoordinaten ein, die kannte er inzwischen auswendig. Eine Zahl erschien auf dem Display. »Noch tausendsechshundertdreiundfünfzig Meilen bis London«, sagte er. Der Fluss am Horizont rückte näher. »Ich weiß.« Vollkommen entspannt saß Selina McDuncan in ihrem Pilotensessel. Die Kommandantin hatte sich ihr noch dünnes, dunkelblondes Eigenhaar zu einer Art Wollmähne toupiert. Stand ihr nicht schlecht. »Ohne Pause, ohne Zwischenfälle und mit gleichbleibender Geschwindigkeit sind wir in zweieinhalb Tagen zu Hause«, sagte sie. »Wir sollten unbedingt eine Pause einlegen«, ergriff der Mann im Sitz des Copiloten das Wort. Er hieß Andrew Farmer, seines Zeichens Aufklärer. »Ich schlage zwei Pausen von je vier Stunden vor. Das braucht jeder von uns, und das braucht die Explorer.« Farmer war für den Radar im Speziellen und die Ortung im Allgemeinen zuständig. »Die Zeit in Moskau war hart genug.« »Sehe ich ähnlich«, stimmte Matt zu, obwohl er andererseits gar nicht schnell genug nach Westen kommen konnte. »Noch sieben Kilometer, dann überqueren wir die Wolga.« Der ausgedehnte Sumpf unter dem EWAT ging allmählich in Buschland und danach in Uferwald über. »Das ist nicht die Wolga«, widersprach Captain Selina McDuncan. »Die verläuft weiter nördlich, das müsste der Dnjepr sein.« Ein paar vogelartige Köpfe tauchten dreißig Meter unter ihnen im mannshohen Gras auf. Durch den Flugpanzer aufgeschreckt, sprangen die Tiere in Richtung Flusswald davon. Nichts Besonderes eigentlich – ständig sah man dort unten irgendwelches mutierte Viehzeug seiner Wege ziehen.
Und doch bedeutete die kleinen Herde dort unten nicht weniger als der Anfang vom Ende des Londoner EWATs. Matts Finger flogen über die Tastatur; eine aktualisierte Karte erschien in einem ovalen Display im Frontteil des Panoramaschirms über der Instrumentenkonsole. »Stimmt, der Dnjepr.« Hinter dem Mann aus der Vergangenheit schob sich das Zwischenschott auseinander. Aruula schlüpfte in den Kommandostand. Sie gähnte. »Sobald wir den Fluss erreichen, gehen wir auf Kurs Südsüdwest«, sagte die McDuncan. »Bis zur Höhe Ruinen von Minsk folgen wir dem Flusslauf und nehmen dort Kurs nach Westen.« »Ich habe Hunger.« Aruula rieb sich den Bauch. Ihr Haar stand störrisch nach allen Seiten ab. Ein wenig blass wirkte sie und alles andere als ausgeschlafen. Matt griff in die Beintasche seiner Uniform, zog einen Schokoriegel heraus – Bordverpflegung aus dem Londoner Lebensmittellabor, die leider nicht an das Jahr 2012 herankam – und reichte ihn der Barbarin. Seine Hand streifte die nackte Haut ihres Oberarm, wie warmer Samt fühlte sie sich an. Bevor sie ihm den Riegel abnahm, hielt sie für einen Augenblick seine Finger fest. »Danke.« Sie lächelten einander an, und ein Schleier schien durch ihren Blick zu ziehen. Dann erst riss sie die Verpackung auf. Während sie schmatzend kaute, beobachtete sie die Flusslandschaft an der Frontkuppel. »Was ist das?!« Sie deutete auf die Tiere. Ziemlich genau vierhundert Meter vom Waldrand und hundertfünfzig vom EWAT entfernt sprangen sie durchs hohe Sumpfgras. »Sehen aus wie Echsen«, murmelte Farmer. Er hantierte an ein paar Schaltern seiner Instrumentenkonsole herum – statt der Karte erschien eine Nahaufnahme der Tiere im ovalen Ausschnitt des Panoramadisplays. »Vögel!«, entfuhr es ihm und Matt zugleich.
Farmer holte sie noch näher heran. Und tatsächlich: Vögel von gut drei Metern Kopfhöhe galoppierten dort unten durch den Sumpf. Lange braungrüne Kammfedern hingen von ihren schmalen Köpfen herab. Die breiten und kurzen Schnäbel waren löffelförmig und schwarz, die mit dunklem Flaum gefiederten Hälse lang und gebogen. Manchmal, wenn die Tiere mit gespreiztem Gefieder durch Tümpel rannten oder schmale Bachläufe übersprangen, konnte man für kurze Zeit das grünbraune Federkleid ihrer massigen Körper und ihre langen schwarzen Beine sehen. »Offenbar nicht flugfähig«, ergänzte Farmer. »Aber sicher essbar.« Aruula fuhr sich mit der Zungenspitze über die feuchten Lippen. Sie erreichten das Flussufer, die Pilotin ging auf Südsüdwestkurs, die Vögel verschwanden im Wald. Über Laser- und Infrarotortung brachte Farmer sie auf das HeadupDisplay. »Landen wir und schnappen uns eine der Riesenenten«, schlug Matt vor. »Sehen mir eher nach verunglückten Riesenschwänen oder Straußen aus.« »Ich will so eine Straußenente jagen.« Aruula knüllte die Verpackung des Schokoriegels zusammen. »Mit meinem Schwert!« »Ich bitte Sie, Miss Aruula!« Farmer lachte. »Das erledigen wir doch lieber mit einem Fauststrahler!« »Mit meinem Schwert erlege ich so ein Tier schneller als ihr mit eurem Tekknik-Zauberzeug!« Aruula rümpfte die Nase. »Das wollen wir doch mal sehen!«, rief Farmer. Matt grinste; die Diskussion verlief zu seiner Zufriedenheit. »Sie und der Commander mit Schwertern gegen mich und den Captain mit Strahler.« Von der Seite blickte er die Pilotin an. »Wie wär's, Captain?« »Ohne mich. Aber mit der Pause bin ich einverstanden –
vorausgesetzt, ich bekomme das beste Stück vom Brustfilet.« Selina McDuncan steuerte eine relativ baumfreie Lichtung am Flussufer an. Die Explorer verlor allmählich an Höhe. »Weckt Bolton, der ist immer für einen Spaß zu haben. Hat sowieso lange genug geschlafen.« »Und wie heißt der Preis?« Farmer drehte sich nach der Barbarin um. »Ruhm heißt der Preis, und das fetteste Schenkelstück.« Aruula stieß ihre Faust in die linke Handfläche, drehte sich um und bückte sich ins offene Zwischenschott. »Mir nach, Maddrax, mein Held! Der Sieg wird uns gehören!« Drei Minuten später setzte der EWAT im feuchten Flussgras auf. *** In kleinen Gruppen standen sie vor den Monitoren der Kommandozentrale: Natalja Sems Flaggpanzer rollte aus dem Transportlift in den Haupthangar. Pjotr Smolny vermutete, dass diese Szene jetzt über sämtliche Bildschirme der Bunkerstadt flimmerte. Als die Seitenluke am Bug sich öffnete und der Encephalorobotowitsch ausstieg, brach Jubel in der Zentrale aus. Einige klatschten, andere fingen an zu tanzen. Auch auf den Monitoren sah man Männer und Frauen im Hangar applaudieren oder die Arme in die Luft reißen. Smolny war wie erstarrt vor Rührung. Ein paar Besatzungsmitglieder bückten sich aus der Luke und traten in den Hangar – bleiche, abgerissene Gestalten. Halb verhungert mussten sie sein, so dürr kamen sie dem Ersten Subkommissar vor. Smolny seufzte. Er zog seine Brille von der Nase und begann sie hingebungsvoll zu putzen. »Zurück an Ihre Arbeitsplätze, wenn ich bitten darf, meine Damen und Herren. Und informieren Sie Perm II.«
Er setzte die Brille auf, stieß seinen Rollstuhl von der Kontrollkonsole ab und steuerte ihn aus der Zentrale Richtung sanitäre Anlagen. Kaum hatte sich das Toilettenschott hinter ihm geschlossen, zog er eine flache Halbliterflasche zwischen Rücken und Rollstuhllehne hervor. Das Herz in seiner Brust schien ihm viel zu schnell und dazu noch unregelmäßig zu schlagen. Die Aufregung tat ihm nicht gut. Gut aber tat ihm ein kräftiger Schluck Schnaps, und nach dem dritten hatte sein Herz wieder zu seinem normalen Rhythmus gefunden. Sorgfältig verschloss Smolny die Flasche und verstaute sie hinter dem Rücken neben seinem antiken Revolver. Danach steuerte sein Vehikel zurück in die Zentrale. Das erste, was ihm dort auffiel, waren die blinden Monitore. »Ausgefallen. Die gesamte interne Bunkerkommunikation streikt, General.« So beantwortete Oberst Yagil Jakubasch das mürrische Stirnrunzeln seines Vorgesetzten. »Hoffentlich nur eine vorübergehende Störung. Das Ersatzteillager ist so gut wie leer, wenn mich nicht alles täuscht...« »Was für ein Saftladen!« Der Erste Subkommissar ballte die Fäuste. »Wenn nicht sofort wieder die Kommunikation...!« Das Hauptschott der Kommandozentrale teilte sich, Dr. Nikati Rostow trat ein. Und an seiner Seite – Kosak drei. Von allen Seiten wurde der Encephalorobotowitsch begrüßt. »Himmel, Nikati! Willkommen zu Hause!«, rief Smolny. Und dann mit strengem Blick an die Adresse des Spähers: »Was hast du hier verloren, Kyrillo? Warum verlässt du deinen Posten?« Der Späher wirkte seltsam abwesend. Er machte eine hilflose Geste. »Ich musste...« Kyrillo war ein untersetzter, bulliger Kerl von etwa fünfundvierzig Jahren. Sein fast weißes Haar trug er geflochten und zu einem Dutt hochgesteckt. Eigentlich hart im Nehmen, machte er heute eine weinerliche Miene, rieb sich mal den
Schädel, mal den nackten Oberarm und zog die Schultern hoch, als würde er seine Entlassung fürchten. »Ich muss dich unter vier Augen sprechen, Pjotr«, schnarrte die synthetische Stimme des Maschinenhirns. »Kurz bevor sie starb, hat die Sem hat mir auftragen, dir eine persönliche Botschaft auszurichten.« Smolny vergaß den Späher. »Du warst dabei, als sie starb?« Seine Stimme klang plötzlich heiser. Der Encephalorobotowitsch nickte. »Um was geht es?« An den schweigenden Männern und Frauen vor den Konsolen und Monitoren vorbei schritt das Maschinenhirn zum Ersten Subkommandanten. Neben seinem Rollstuhl angekommen, beugte es sich zum ihm hinunter. »Um Verrat«, schnarrte es so leise wie möglich. Doch alle Anwesenden verstanden genau, und die letzten Stimmen in der Zentrale verstummten. Mit einem Blick und einer Kopfbewegung gab der Erste Subkommissar seinen Leuten zu verstehen, dass er mit Rostow allein sein wollte. Einer nach dem anderen stand auf und verließ die Kommandozentrale. Als das Hauptschott sich schloss, stand Kyrillo noch immer mitten in der Zentrale. »Hast du nicht verstanden?«, herrschte Smolny ihn an. »Ich... ich muss hier bleiben...« »Bist du übergeschnappt?!« Smolny wurde laut. »Hast du nicht gehört, dass Dr. Rostow allein mit mir sprechen will?!« Der barbarische Späher hob abwehrend die Hände. Seine rechte Innenhand war blutverschmiert, ein blutiges Rinnsal tropfte auch aus einer kleinen Wunde an seinem Oberarm. »Wir... ich... wir sollten... wir müssen ihm gehorchen...«, stammelte Kyrillo. »Er hat mir eine Spritze gegeben...« Der Erste Subkommissar verstand kein Wort. »Bitte?« »Gegen Impotenz... gegen Viren aus dem Osten... er ist jetzt in meinem Kopf...«
Fragend sah Smolny nach dem Maschinenhirn. Das wandte ihm den Metallrücken zu und hantierte an der Instrumentenkonsole herum. Rotes Licht flackerte über sämtlichen Schotts und Luken der Zentrale auf. »Warum verriegelst du Eingänge, Nikati?« »Gib's ihm«, schnarrte der Encephalorobotowitsch. Der Späher zog ein grün glitzerndes Etwas aus seinem Fellmantel, einen Kristallsplitter mit langer dünner Spitze. »Wir müssen ihm gehorchen...« Er ging zögernd auf Smolny zu. »Ich muss... er ist in meinem Kopf...« Auf einmal flackerten Monitore auf. Laserstrahlen zischten über die Bildschirme, kämpfende Menschen im Hangar und vor der Zentrale. Die bleichen, abgerissenen Gestalten aus dem AMOT erschossen Einwohner und Soldaten des Großen Peter, anderen rammten sie grüne Kristallsplitter in die Arme, Oberschenkel oder Gesäßmuskeln. Smolnys Augen wurden schmal, sein Gesicht grau. Kalter Schweiß trat auf seine Stirn. Blitzschnell griff er hinter sich. Die Voodkaflasche knallte auf den Boden, in seiner zitternden Hand aber hielt er auf einmal einen Revolver. »Was wird hier gespielt...?«, krächzte er. Er spannte den Hahn des alten Remington, richtete ihn auf Kosak drei. Irgendwer trommelte von außen mit den Fäusten gegen das Hauptschott, gedämpfte Schreie waren zu hören. Das Maschinenhirn wirbelte herum. Seine Metallfaust traf Smolnys Schläfe, mit solcher Wucht, dass dessen Kopf auf seine Schulter prallte und der Rollstuhl seitlich umkippte. Ein Schuss explodierte, die gelähmten Beine des Ersten Subkommissars zuckten einmal, dann ein zweites Mal, danach lag er reglos und stumm. Kyrillo beugte sich mit dem Splitter über ihn. Eine Platzwunde klaffte an Smolnys Schläfe, eine Schusswunde in seiner Kehle. Die großen Augen hinter seinen dicken Brillengläsern glotzen blicklos und starr.
»Er ist tot«, flüsterte der Späher. »Er hat sich durch den Hals in den Kopf geschossen... Soll ich trotzdem...?« Kyrillo richtete sich auf, hob den Splitter. Ein Tropfen an der nadelfeinen Spitze brach das Licht. »Schaff ihn aus dem Blickfeld der Hauptkamera«, schnarrte Grao'lun'kaan. Er tippte einen Code in die Kommunikationstastatur. Kurz darauf erschien das Konterfei eines hageren, kahlköpfigen Mannes von ungefähr fünfzig Jahren auf dem Monitor. »Dr. Nikati Rostow meldet sich zurück«, schnarrte das Maschinenhirn. »Nikati...! Dr. Rostow...!« Der andere riss Mund und Augen auf. Es war der Vizegouverneur von Perm II. Seit der Verhaftung Dragurowka Bassutschoks setzte er dort die Politik Smolnys durch. »Du lebst tatsächlich!? Wir haben den Flaggpanzer der Zweiten Subkommissarin geortet. Wo steckt Natalja? Was ist passiert? Wir hatten euch längst verloren geglaubt...« »Es gibt viel zu berichten«-, schnarrte das Roboterhirn. »Dinge, die ich euch besser persönlich schildere. Sie sind einfach zu wichtig.« »Ich verstehe. Wann kommst du?« »Noch heute.« *** Links schwankten junge Birken und dicht belaubte Äste mächtiger Eichen im Wind, rechts Schilfrohre am Flussufer. Den Dnjepr sah man nicht auf dem Panoramadisplay, doch die Außenmikrofone übertrugen das Rauschen des Wassers. Keine vierzig Meter trennten den EWAT vom Ufer. Die Beine auf den Kommandantensessel gelegt, hing Captain Selina McDuncan im Pilotensitz. Sie hatte die Lehne ein wenig abgesenkt. In der Linken das aufgeklappte Lidschattenetui und in der Rechten den Lippenstift, zog sie sich
die Lippen nach. Schön, einfach mal allein sein, einfach mal Frau sein zu können und keine Entscheidungen treffen zu müssen. Die Bordhelix hatte das Kommando übernommen, kontrollierte die Außenkameras und die Ortungsgeräte. Seit anderthalb Stunden waren die anderen im Wald verschwunden. Ein Jagdwettkampf! Wer ist stärker, wer ist schneller, wer ist besser... Wie die Kinder! Andererseits – was konnten sie sich nach all dem Stress in Moskau Besseres gönnen als ein bisschen Entspannung? Corporal Steve Bolton gab alle fünfzehn Minuten seine Position durch. Drax und die verrückte Barbarin schienen an so etwas nicht im Traum zu denken. Aber sollte Selina sich deswegen graue Haare wachsen lassen? Streng genommen unterstand das Paar nicht einmal ihrem Kommando. Apropos »Haare wachsen« – nicht nur ihr Haupthaar, auch ihre Brauen sprossen in letzter Zeit ganz ordentlich. Sie steckte den Lippenstift weg und betrachtete die dunkelblonden Haarbögen über ihren Augen. Doch, wirklich – das sah schon nach etwas aus. Dankbar strich Selina über ihre Brust: Unter dem Stoff ihrer Kombis, über dem Brustbein, ertastete sie den kleinen Beutel mit dem schützenden Serum. Diesem Saft aus Washington hatte sie ihren Haarwuchs zu verdanken. Den Haarwuchs, und ein funktionierendes Immunsystem. Vorbei die Zeiten, in denen sie und ihresgleichen die Erdoberfläche nur in einem hermetisch abgeschlossenen Überlebenssystem betreten konnten. Sie entnahm dem Lidschattenetui eine kleine Pinzette und begann einzelne Härchen aus ihren Brauen zu zupfen, um die Bögen in Form zu bringen. Ein Piepston riss Captain Selina McDuncan aus ihrer fast andächtig zelebrierten Körperpflege. Sie klappte das Etui zu.
Die Kontrollleuchte der Laserortung blinkte. Selinas schmale Finger flogen über eine Tastatur, drückten ein paar Knöpfe. Unbekanntes Objekt erfasst, behauptete eines der Kontrolldisplays. Selina überflog die Koordinaten. Irgendwas war in 10,37 km Höhe über den Fluss und durch den Taststrahl der Laserortung geflogen. »Gibt es ein Bild?«, fragte sie. Die Bordhelix verneinte. Zu kurz war der Kontakt mit dem unbekannten Objekt gewesen. Ein abstürzender Satellit? Ein kleiner Meteor? Die Jahreszeit passte. Oder das Exemplar einer mutierten Greifenart? Selina erinnerte sich an die Aufzeichnung eines Kolks – der Späher hatte einen Greifen in ähnlicher Höhe über Südengland fliegen sehen. Jedenfalls nichts Besorgniserregendes. Sonst hätte der Rechner sie längst gewarnt. Sie klappte das Etui wieder auf, holte das Schwammstäbchen heraus und begann ihren Lidschatten zu renovieren. Man gönnte sich ja sonst nichts in diesen harten Zeiten. *** Er hieß Thgáan. Seine Herren nannten ihn Hauptmodell erster Ordnung und seine Art Lesh'iye, gewisse aufrecht gehende Säuger bezeichneten Geschöpfe wie ihn als Todesrochen. Er verfügte über ein eher dumpfes Bewusstsein seiner selbst, dafür aber über ein äußerst klares Bewusstsein seiner Bestimmung und seines jeweiligen Auftrags. In weiten Kreisen glitt er aus den oberen Kälteschichten der Atmosphäre. In einem Spiralkurs sank er einem weiten, von Flussarmen und Gebirgsketten durchzogenen Festland entgegen. Seine Bestimmung: den Schöpfern und Herren dienen. Sein aktueller Auftrag: eine hochproblematische biotische Organisation aufspüren, damit die Herren und Schöpfer sie von der Oberfläche des Planeten tilgen konnten.
Er hätte nicht exakt begründen können, warum er seinen Kurs in den äußersten Luftschichten verlassen hatte und in den Sinkflug gegangen war. Ein Impuls aus seinem zentralen Nervensystem hatte den Ausschlag gegeben. Irgendwo dort unten geschah etwas, und irgendwo in seinem wichtigsten Speichergeflecht reagierte etwas darauf. Viel mehr war ihm noch nicht bewusst. Etwas berührte ihn. Den Bruchteil einer Zeiteinheit dauerte die Berührung nur, aber sein zentrales Nervensystem antwortete sofort. Er korrigierte seinen Kurs, stieg wieder der Kälte entgegen und analysierte das Ereignis: Strahlungsemission; Lichtwellen im Ultraviolettbereich; Wellen auf hohem atomarem Niveau. Sein komplexes Neuronengeflecht kombinierte das Ereignis mit Tausenden, Zehntausenden gespeicherten Erfahrungen. Und bald konnte er die Quelle der Strahlung mit einer Wahrscheinlichkeit von 88,75 Prozent bezeichnen: eine synthetische Quelle. Also ein Standort oder ein Fahrzeug von Primärrassenvertretern. Das wiederum bewies deren Nähe, denn nur hochentwickelte Lebensformen, die der Synapsenblockade* weitgehend widerstanden hatten, konnten synthetische Quellen für Strahlungsemission auf hohem atomaren Energieniveau bauen. Somit stieg gleichzeitig die Wahrscheinlichkeit der Nähe jener hochproblematischen biotischen Organisation, die es aus der Welt zu schaffen galt. Und jetzt verfügte Thgáan auch über eine relativ schlüssige These, mit der er den Impuls erklären konnte, der ihn zu seiner Kursänderung veranlasst hatte. Er stieg hinauf in Regionen, die selbst für ihn gefährlich werden konnten. Dort entfernte er sich von der synthetischen Energiequelle und flog sie auf einem anderen Kurs noch einmal an. Erneut ging er in den Sinkflug, nahm das Festland *
mit der die Daa'muren über Jahrhunderte menschliche Gehirne degeneriert hatten
tief unter ihm Profil an: Flussläufe, Grünflächen, Gebirgszüge. Und da regte er sich wieder, der Impuls aus dem zentralen Nervensystem, deutlicher diesmal. Thgáan stellte die wellenförmige Flugbewegung seines großen Körpers ein, schwebte über aufsteigenden warmen Luftschichten und lauschte in sich hinein. Seine Neuronen setzten die Struktur eines fremden Bewusstseins zusammen. Die Bewusstseinsstruktur eines Primärrassenvertreters, eine vertraute Kennung, die seine Herren und Schöpfer ihm in sein Hauptspeichergeflecht geprägt hatten. Und tatsächlich: Sie war es; die biotische Organisation, die ihr Daseinsrecht auf dem Planeten verwirkt hatte. Mefju'drex hielt sich irgendwo dort unten in der Nähe der synthetischen Energiequelle auf... *** Sie konnte schreien so laut und so viel sie wollte – niemand reagierte. Nicht einmal als sie ihre Pritsche am Gitter zertrümmerte. Das Schott in den Zellentrakt blieb verschlossen, das Abendessen fiel aus. Irgendwann gab sie auf, legte sich auf die Matratze und starrte an die Zellendecke. So also rächte er sich an ihr? Indem er ihr das Abendessen, den Anblick eines menschlichen Gesichts und ein paar Minuten Small Talk verweigerte? Alle drei Stunden hatten die Aufseher die Kameras einzuschalten und die Gefangenen zu kontrollieren. Selbst die Versoffensten und Unzuverlässigsten taten das wenigstens zweimal am Tag. Wer sollte das besser wissen als Dragurowka Bassutschok? Schließlich hatte sie Perm II ein verdammtes Jahr lang regiert. Er musste sie gesehen, er musste sie gehört haben, der verfluchte Adonis! Seine Rache war das, wie gemein, wie primitiv! Der Zorn ließ sie stundenlang nicht einschlafen. Dazu kamen Hunger und Durst; und neuer Zorn, weil das Licht im
Zellentrakt nicht ausgeschaltet wurde. Irgendwann kühlte sie ein wenig ab, weil bleierne Müdigkeit sie überfiel. Vielleicht hatte man sie deswegen vergessen, weil sie zur Zeit die einzige Gefangene in diesem Abschnitt des Zellentraktes war, überlegte sie, während der Schlaf sie übermannte. Im Traum stand sie im Sankt Petersburger Bunker vor dem Militärgericht der Russischen Liga. Sie war nackt, und es störte sie nicht. Modestu trug die blutrote Robe eines Staatsanwaltes und verlas die Anklageschrift. Dragurowka verstand kein Wort. Die Beisitzer, der Richter und die Protokollanten beobachteten sie mit geilen Blicken, alle feixten. Als Modestu Hartmann die Anklageschrift verlesen hatte, zog er eine Laserpistole unter seiner Robe hervor und erschoss sämtliche Mitglieder des Militärgerichts. Danach schwang er sich über den Tisch, kam zu Dragurowka, hob sie hoch und trug sie zu einem mit wohlriechenden weißen Fellen ausgeschlagenen Bett, das plötzlich hinter ihr im Gerichtssaal stand. Dort legte er sie ab und zog sich seine Robe aus. Es erwies sich, dass er darunter nackt war. Sie schliefen miteinander. Kurz vor dem Orgasmus fuhr Dragurowka Bassutschok aus dem Schlaf hoch. Sie blinzelte ins Deckenlicht und fühlte sich frustriert. Der abgebrochene Traum wollte ihren Zorn aufs Neue anfachen, doch da stand jemand im Vorraum ihrer Zelle und sah sie aus himmelblauen Augen an: Modestu Hartmann. »Es tut mir Leid, dass wir dir gestern Abend die Getränke und das Essen vorenthalten mussten.« Er drückte den Knopf in seiner Gürtelschnalle und die Gitterwand zum Vorraum rollte zur Seite. »Es hat einen Aufstand gegeben, wir mussten die ganze Nacht kämpfen.« »Was sagst du da?« Dragurowka erhob sich. »Einen Aufstand?« Sie trug nur ihren roten Lederslip, das war ihr bewusst. Breitbeinig, mit heraus gedrückter Brust und in die Hüften gestemmten Fäusten baute sie sich vor ihm auf. »Soll das heißen, dass ich jetzt wieder Gouverneurin bin?«
»Noch nicht ganz.« Modestu lächelte wehmütig. »Entschuldige vielmals, Dragurowka, meine Süße.« Er nahm sie in die Arme und drückte sie an sich. Die zärtliche Umarmung und die Sanftheit seiner Stimme entwaffneten sie derart, dass sie es einfach zuließ. »Es tut mir unendlich Leid, dich so grob behandelt zu haben«, sagte er heiser. »Ich wollte dich nicht schlagen, glaub mir das...« »Nun, weil du es bist...« Sie traute ihren Ohren nicht. Und wie fordernd er sie umarmte! Wie stark und warm seine Hände sich auf der Haut ihres Rückens anfühlten! »Woher kommt der plötzliche Sinneswandel? Und wer hat gegen wen geputscht?« »Wir haben eine neue Regierung, mein Täubchen.« Doch warum zitterte seine Stimme? Und warum fühlte er sich so verkrampft an? »Noch heute fahren wir zusammen nach Moskau.« »Hey, Modestuschatz! Ist das wahr?« Sie schmiegte sich an ihn. »Wer ist unser neuer Gouverneur?« »Ich«, schnarrte eine elektronisch verzerrte Stimme. Am Eingang zum Zellentrakt waren plötzlich Schritte zu hören. Ein Encephalorobotowitsch trat auf den Gang und stelzte zu ihrer Zelle. Sein Gesichtsplastinat kam ihr bekannt vor. Dragurowka wusste von drei Maschinenhirnen in Perm II und Perm I. Keines war zur Zeit funktionstüchtig. Ein vierter, funktionstüchtiger Encephalorobotowitsch galt seit ein paar Monaten als verschollen. »Nikati, bist du das?«, rief sie verblüfft. Im Vorraum blieb er stehen. Seine toten Augen fixierten sie. »Ja – und nein.« Ein bleicher Bursche in seltsamer Aufmachung lief jetzt durch das Schott. Ein schmieriger, zerschlissener roter Umhang hüllte seinen Körper ein. Dragurowka hatte den Mann nie zuvor gesehen. Was hatte er da in der Hand? Einen Splitter aus grünem Kristall? Warum hielt Modestu sie auf einmal so fest,
dass es wehtat? Und was war das für eine Stimme, die sich plötzlich in ihrem Kopf meldete? »Gleich hast du es hinter dir«, sagte der Adonis sanft. »Lass mich los!« Sie trommelte mit ihren Fäusten gegen seine Schultern und auf seinen Rücken. »Lass mich los, verdammt noch mal!« Sie trat nach seinen Füßen, schrie, wand sich in seinen Armen. Modestu hielt sie so fest, dass sie kaum noch Luft bekam. Der bleiche Kerl mit dem Kristallsplitter kam in die Zelle, ging an ihr vorbei, und plötzlich spürte sie eine heiße Hand auf ihrem Rücken – und einen Herzschlag später einen Stich in ihrem Gesäß. Sie stieß einen spitzen Schrei aus und hielt den Atem an. Der Encephalorobotowitsch stand reglos und beobachtete sie. Es brannte in ihrem Muskel, während der Fremde ihr irgendein Teufelszeug injizierte. Die Stimme in ihrem Schädel fühlte sich an wie eine schwere heiße Glocke; und so dumpf und alles ausfüllend klang sie auch. (Siehst du das Maschinenhirn, Dragurowka Bassutschok?), fragte sie. Unwillkürlich nickte sie. (Es heißt Grao'lun'kaan. Grao'lun'kaan ist ab jetzt dein Herr. Du wirst tun, was immer er von dir verlangt...) *** Es roch nach wildem Knoblauch und Pilzen. Die Feuchtigkeit des Waldbodens drang durch den Stoff von Matthews Uniform und kühlte seine Knie. Die Blätter einer fast drei Meter hohen Pflanze, die ihn an eine Bärlappstaude erinnerte, berührten ihn an der Wange und im Nacken. Auf einmal war alles so weit weg: Moskau, Kampf, Atomsprengköpfe und Daa'muren. Mochte doch der Teufel die ganze Scheiße holen! Der Wind wehte in die Staude hinein, Matt nahm den herben Duft seiner Gefährtin wahr. Ihr Langschwert neben sich
in die weiche Erde gerammt, kniete sie vor ihm und beobachtete den Wald durch seinen Feldstecher. Vorsichtig streckte er die Hand aus und berührte ihr schwarzblaues Haar. Feucht und kühl fühlte es sich an, wie die Staude, wie der Waldboden. »Fünf sind es, fünf Straußenenten«, flüsterte Aruula. »Ein erwachsenes Paar und drei Junge. Schöne Tiere.« Keine ästhetische, sondern eine vom Appetit bestimmte Bemerkung, vermutete Matthew Drax. »Wie weit entfernt?« Um das Spiel nicht zu verderben, stellte er die Frage. Weder die Jagd noch die Mammutvögel interessierten ihn. Er berührte die Haut ihrer Schulter. »Ein Speerwurf und einen halben. Sie folgen der Windrichtung, bewegen sich ziemlich genau auf uns zu. Na, wie habe ich das gemacht?« »Sehr gut.« Seit fast zwei Stunden pirschten sie durch den Flusswald. Seit sie die Deckung des Laubdaches erreicht hatten, ließen die Vögel sich Zeit. Sie pickten in den Baumkronen herum, weideten im Gras, putzten ihr Gefieder. Aruula hatte sich ihnen gegen die Windrichtung angeschlichen. Ein feiner Flaum bedeckte ihre Rückenhaut; man sah ihn nur, wenn das Sonnenlicht auf ihre Haut fiel, so wie jetzt. Mit dem Finger fuhr Matt der Linie ihres rechten Schulterblattes nach. »Farmer und Bolton haben inzwischen auch begriffen, dass der Wind ihre Witterung zu den Tieren trägt«, flüsterte Aruula. »Sie pirschen sich von der rechten Flanke her an.« »Entfernung?« Kerzengerade war ihr Rücken, gerade und unbeugsam wie ihr Wesen. Himmel, wie er sie begehrte! »Zwei Speerwürfe? Oder drei? Jedenfalls weiter als wir.« Sie reichte ihm den Feldstecher, sank auf ihre Fersen und lehnte mit dem Rücken gegen Matts Körper. »Den Vorteil ihrer Waffen zerstören sie bald durch den Lärm, den sie verursachen. Ich hab von Bolton geträumt.«
»Erzähl's mir lieber nicht.« Matt nahm ihr das Glas ab und setzte es an die Augen. »Allein die Vorstellung macht mich rasend vor Eifersucht.« Aruula war nicht sicher, wie ernst Maddrax das meinte. »Er brannte, sein Gesicht war verkohlt, sein Kleidung zerrissen...« »Sie trennen sich.« Matt beobachtete die Konkurrenz. »Farmer schleicht sich in den Rücken der Vögel. Seltsam – so bekommen sie doch seine Witterung.« Aruula schüttelte die Erinnerung an die Albtraumbilder ab. »Wahrscheinlich soll Farmer die Straußenenten aufscheuchen und in Boltons Schusslinie jagen.« »Die Rechnung geht nicht auf.« Matt grinste. »Er jagt sie allenfalls in unsere Deckung hinein.« Er setzte das Glas ab und tastete nach Steinen und Ästen. Sie warteten ab, tauschten Küsse aus, blickten von Zeit zu Zeit durch den Feldstecher. Etwa zehn Minuten später entdeckte Aruula den Corporal knapp hundertfünfzig Schritte hinter den Mammutvögeln. Die Tiere wurden unruhig, reckten die langen Hälse, schlugen mit den quastenartige Flügeln und äugten nach allen Seiten. Sanft schob Matt seine Gefährtin von sich, griff nach ein paar Steinen, die er im Unterholz aufgehäuft hatte, und stand auf. Er holte aus – der erste Stein prallte dreißig Meter entfernt gegen einen Baumstamm. Die Mammutvögel erstarrten. Der zweite Stein schlug irgendwo rechts von ihnen ein. Einer der Vögel stieß einen Krählaut aus. Synchron rannte die Herde los – nach rechts, in die Richtung, in der Bolton mit seinem Fauststrahler lauerte. Matt hatte sich längst wieder in die Staude zurückgezogen. Er kniete neben Aruula, die durch den Feldstecher beobachtete, was sich zweihundertfünfzig Meter entfernt abspielte. Doch statt zu fluchen, lächelte sie – weil sie ihn durchschaut hatte. Matt hob die Schultern und grinste. »Ich hatte eigentlich damit gerechnet, dich erst mal besänftigen zu müssen, bevor
ich dich verführen kann«, flüsterte er. Ein Laserstrahl blitzte im Wald auf, ein Mammutvogel krähte in höchsten Tönen, ein zweiter Lichtblitz, dann war Stille. »Erstens brauchst du mich nicht zu verführen.« Aruula legte das Fernglas auf den Waldboden. »Und zweitens habe ich die Jagd nur vorgeschlagen, um endlich mal wieder mit dir allein zu sein.« Sie rutschte auf seinen Schoß. »Sollen Farmer und Bolton die Arbeit nach dem Ruhm und vor dem Braten ruhig allein erledigen.« Matt zog die Barbarin an sich. »Du bist einfach...« Ihre Lippen verschlossen ihm den Mund. Sie sanken in das feuchte Laub und gaben sich der Liebe hin, dem schönsten Rausch auch in einer postapokalyptischen Welt. Denn sie fühlten sich unbeobachtet. Aber das waren sie nicht. *** In weiten Kreisen stieg Thgáan der tödlichen Kälte des Weltalls entgegen. Fern im Südwesten loderte der Himmel rot, und im Osten floss die Nacht schon in ihn hinein. Jetzt war er sicher, den Primärfeind seiner Herren und Schöpfer wieder aufgespürt zu haben. Klar und deutlich stand die feindliche Bewusstseinsstruktur in seinem zentralen Nervensystem, und genau so klar und deutlich vermochte er sie tief unter sich auf der Planetenoberfläche anzupeilen. Mochte er auch Bereichen entgegen streben, in denen die Atmosphäre schwindet, mochte die Nacht von Nordosten her den Himmel auslöschen – die Fährte würde er diesmal nicht mehr verlieren. Wohin sich die feindliche Bioorganisation dort unten auch bewegen mochte, er würde ihr folgen. Der Lesh'iye sandte einen stummen Ruf aus, und bald antwortete man ihm: Ein Strom psionischer Impulse wisperte durch das Wunderwerk seines hochgezüchteten Gehirns.
Mächtig und fordernd berührte ihn der Geist des Herrn und Schöpfers, dem sein aktueller Auftrag galt: (Was willst du, Thgáan?) (Ich habe ihn wieder entdeckt, Herr.) Auf einer speziellen telepathischen Frequenz sandte er dem Herrn die feindliche Bewusstseinsstruktur. Danach wartete er geduldig bis die Aura des Mächtigen ihn erneut berührte. (Es ist Mefju'drex.) Etwas wie Befriedigung schwang in den psionischen Strömen, die Thgáan berührten. (Ich breche bald auf, und du wirst mich zu ihm führen...) *** Sie standen auf der obersten Ebene von Perm II, unter dem Zenit der riesigen Kuppel, in deren Schutz man einst die Bunkerstadt eingerichtet hatte. Ordu'lun'corteez' Pioniere waren noch damit beschäftigt, die unzähligen Säle, Hallen, Funktionsräume, Kammern und Kabinen der unterirdischen Stadt zu durchforsten. Dass die wenigen zivilisierten Primarrassenvertreter auf diesem Teil des Planeten ihre Bunker in Kuppelformen eingebaut hatten, wusste man aus den eroberten Datenbanken und von den Pionieren, die erst vor kurzer Zeit einen viel kleineren und im äußersten Norden gelegenen Bunker erobert hatten. »Hier werden wir eine vorgeschobene Basis einrichten«, sagte Ordu'lun'corteez. »Nicht mehr lange, dann wird der Sol vierzehn der Unseren schicken, die ihre ontologisch-mentale Substanz gerade erst in frisch geschlüpfte biotische Organisationen übertragen haben.« Grao'lun'kaan nickte stumm. Er blickte durch ein geöffnetes Schott in einen Raum von etwa fünfzig Meter Länge und zehn Meter Höhe. Sein AMOT stand dort über einer Mulde. Unter der Aufsicht eines Daa'muren bereiteten vier kontrollierte Primärrassenvertreter – sie nannten sich übrigens »Menschen«
– das Fahrzeug für die Abreise vor. Der Deckenkran transportierte ein kleines vierrädriges Fahrzeug über den Panzer und ließ ihn auf sein Hecksegment herunter. Auf der obersten Ebene, unter dem Zenit der Kuppel hatten die Menschen den Hangar untergebracht. Auf einer kreisrunden Fläche von etwa vierhundert Metern standen hier Fahrzeuge unterschiedlichster Bauart: große und kleine Kettenfahrzeuge, Fahrzeuge mit Kufen, Fahrzeuge für Transportzwecke, und so weiter. Eine unschätzbare Beute; der Sol würde zufrieden sein. An einem Kran arbeiteten drei Primärrassenvertreter, deren zentrales Nervensystem besonders günstig auf die Viren reagiert hatte. Durch aufgeklappte Dachluken versenkten sie rohrförmige Körper im Inneren eines Transportfahrzeuges. Es handelte sich um die Art von Waffen, die von den Primärrassenvertretern als Nuklearsprengköpfe bezeichnet wurden. »Du siehst, Grao'lun'kaan«, sagte Ordu'lun'corteez, der seine Blickrichtung bemerkt hatte, »Projekt Daa'mur geht voran. Noch heute schicke ich diesen Transport an den Kratersee.« »Kannst du denn hier auf einen einzigen Gefährten verzichten? Das Virus wirkt nur unvollständig bei Primärrassenvertretern, die aus unterirdischen Kolonien stammen. Vermutlich weil ihre Synapsenblockade durch die Abschirmung gedämpft wurde.« »Man muss ständig präsent sein in ihren Gedanken, du hast Recht«, bestätigte der Lun. Er hatte inzwischen wieder die Gestalt eines Mutanten angenommen, die sich selbst als »Schwertkrieger« bezeichneten. » Nach meinen Erkenntnissen wirkt das Virus auch bei diesen Unterirdischen durchaus vollständig, nur nicht so rasch. Während der Keim das Persönlichkeitszentrum von Synapsenblockierten innerhalb von zwei Tagen ausschaltet, benötigt er bei nicht oder nur unvollständig blockierten mehr als zehn Mal so lange...«
»Wenn nicht noch länger«, unterbrach die Kunststimme des Maschinenhirns. »Es spricht sogar manches dafür, dass der Zersetzungsprozess bei Nichtblockierten nur in Einzelfällen zur endgültigen Neutralisierung führt.« »Ich weiß«, sagte Grao'lun'kaan. Sein AMOT rollte aus der Wartungshalle. »Möglicherweise ist er bei Nichtblockierten sogar reversibel.« »Das bleibt abzuwarten.« Der AMOT stoppte neben ihnen. Der kleine Zweiachser war auf dem Heck befestigt worden. Das Beifahrzeug bot unter zwei Kuppeln zwei Individuen Platz. Die sogenannten »Menschen« bezeichneten es als Dingi. Die Bugluke wurde geöffnet. Drei Männer und eine Frau in schmutzigen Kleidern und mit ölverschmierten Gesichtern und Händen stiegen aus. Stumm, reglos und mit hochgezogenen Schultern nahmen sie vor den beiden Daa'muren Aufstellung. »Hol den Lift.« Ordu'lun'corteez deutete auf die Frau. »Ihr begebt euch in die mittlere Ebene zu den anderen und wartet dort, bis man euch wieder braucht.« Die Männer zogen ab. In einer Materialhalle der mittleren Ebene hatten die Daa'muren eine Art Internierungslager einrichten lassen. »Ich habe die Widerspenstigsten unter ihnen neutralisieren lassen«, sagte Ordu'lun'corteez. »Viele sind bereits im Kampf gefallen, etwa neunzig stehen uns noch zur Verfügung. Ihre Kontrolle dürfte uns so schnell nicht überfordern, immerhin werden wir noch zu fünft sein, wenn der Transport zum See aufgebrochen ist.« Aus kalten Augen musterte er das Maschinenhirn. »Mir scheint, du hast nicht mehr viel Zeit zu verlieren, Grao'lun'kaan.« »So ist es. Das Hauptmodell erster Ordnung hat Mefju'drex aufgespürt.« »Du stehst mit Thgáan in Verbindung?« »Ja. Der Feind der neuen Schöpfung hat seine Reise unterbrochen. In weniger als einem Planetentag werde ich bei ihm sein. Ich habe mir vier kontrollierte Primärrassenvertreter
ausgewählt, die ich für die Jagd benutzen werde. Sie sind Menschen, die entweder leicht zu steuern sind oder die ein überdurchschnittliches Maß an Klugheit und Gewaltbereitschaft besitzen.« »Du willst den Kontrollierten die Neutralisierung von Mefju'drex überlassen?« Der Gedanke schien Ordu'lun'corteez zu missfallen. »Nur ein paar strategische Maßnahmen der Jagd. Die Neutralisierung werde ich persönlich vornehmen. Grao'lun'kaan zog ein graues Kästchen aus einer Materialmulde an der Hüfte seines Metallkörpers. »Mit diesem Hochspannungsaggregat.« Er wandte sich dem AMOT zu. (Kommt heraus), dachte er. Nacheinander kletterten seine vier Werkzeuge aus dem Fahrzeug. Dragurowka Bassutschok in einem roten Kampfanzug, der Späher Kyrillo in einen Fellmantel gehüllt, Modestu Hartmann in der schwarzen Sankt Petersburger Uniform, und Oberst Yagil Jakubasch im schwarzen Kampfanzug. Das Maschinenhirn stelzte zu ihnen. Vor Jakubasch blieb es stehen und schnarrte: »Was ist euer Leben?« »Dir zu dienen, Grao'lun'kaan«, kam es wie aus einem Munde. »Was ist euer Auftrag?« »Mefju'drex zu jagen und dir auszuliefern; und jeden zu töten, der uns daran hindern will.« »Steigt ein, geht auf eure Plätze. Wir brechen auf.« Die Kontrollierten machten kehrt und kletterten wieder in den AMOT. Grao'lun'kaan und Ordu'lun'corteez wandten einander zu. Eine Zeitlang schwiegen sie, und einer sah den anderen an. Ordu'lun'corteez verbeugte sich schließlich als Erster. »Sol'daa'muran leuchte dir und wärme dich, Grao'lun'kaan«, sagte er.
»Sol'daa'muran leuchte dir und wärme auch dich, Ordu'lun'corteez.« Das Maschinenhirn neigte seinen Plastinatund Klarsichtschädel ein wenig. Dann stieg er in den AMOT. Kurz darauf setzte sich der schwarze Koloss in Bewegung, fuhr quer durch den Hangar und rollte in den Transportlift. Der trug das Gerät fünfundvierzig Meter hinauf zum Hauptschott von Perm II an die Erdoberfläche. *** Dämmerung kroch über Fluss und Uferwald. Der Schein des kleinen Grills fiel auf die dunkelgrüne Bordwand des EWATs. Wie nasses Moos sah sie jetzt aus. Eine warme Abendbrise wehte von Süden her. Sie hatten Klappmöbel aus dem EWAT geholt und saßen um einen Rundtisch. Andrew Farmer hatte sich ein Plastiktuch um den Bauch gebunden. Er stand am Grill und versah das Amt des Grillmeisters. Über den Glutstäben schmorten ein paar Filetstücke und schmale Fleischstreifen aus dem Schenkel des Mammutvogels. Fett tropfte auf die Glutstäbe und verdampfte zischend. Bratenduft lag über dem Panzer und seiner Besatzung. Als Matt und Aruula am frühen Abend aus dem Wald zurück kamen, waren Farmer und Bolton noch immer mit dem Ausweiden und Zerlegen der Jagdbeute beschäftigt. Das Jungtier zu rupfen hatte ihnen unendlich viel Mühe bereitet und ihre Stimmung war weit entfernt von jeder Siegerlaune. Das Paar gratulierte ihnen zu ihrem Jagdglück und genoss den Anblick ihrer verschwitzten Gesichter und das säuerliche Grinsen in ihren Mienen. Der geringste Teil des Fleisches lag jetzt auf dem Grill. Mehr als fünfundzwanzig Pfund hatten die Kommandantin und Aruula in kleine Portionen geteilt und im Proviantschrank des Hecksegments eingefroren. Eine vollkommen vergebliche
Maßnahme, wie sich schon am nächsten Tag herausstellen sollte. Den Rest des Kadavers schaffte Matt später in den Wald; zu den Ameisen, Käfern und Würmern. Das Fleisch war zart und schmeckte ein wenig nach Nuss. Den Mann aus der Vergangenheit erinnerte es an einen Entenbraten, den er vor etwa sieben Jahren in einem Ausflugslokal am Wannsee gegessen hatte. Vor fünfhundertelf Jahren, korrigierte Matt sich selbst in Gedanken. Sie aßen Zwieback zum Fleisch, und als Dessert ließ Selina drei Dosen mit Waldfrüchten öffnen. Die Lords pflegten solche Früchte im Londoner Ruinenwald zu sammeln und bei der Community gegen Werkzeuge und synthetische Textilien zu tauschen. Nach dem Essen verschwand Steve Bolton im EWAT, und als er kurz darauf zurückkehrte, brachte er eine recht große und flache Flasche mit hinaus – Schnaps. Irgendwo in Moskau hatte er ihn mitgehen lassen. Selina tadelte ihn energisch für diese illegale Aktion, und immerhin halbherzig tadelte sie ihn dafür, dass er nun davon trinken wollte. »Andererseits liegt mir das Geflügel ziemlich schwer im Magen«, schloss sie ihre Zurechtweisung. Angeblich ging das allen so, bis auf Aruula. Die Kommandantin nahm den ersten Schluck, Bolton den zweiten und so weiter. Die Flasche kreiste. Alle, außer Aruula, ließen sich das scharfe Wässerchen schmecken. Als die Flasche leer war, graute der Morgen. Steve hatte sein halbes Leben erzählt und eine Skizze des Hauses angefertigt, das er sich und seiner Familie am Themseufer bauen wollte, wenn der Krieg gegen die Daa'muren erst vorbei war. »Ich denke nicht daran, den Rest meines Lebens unter der Erde zu verbringen«, hatte er gesagt und sich dabei an die Stelle seiner Brust geklopft, wo er den Beutel mit dem Serum trug. »Bin ich denn ein Maulwurf?«
Später erinnerte Matt sich oft daran, und es erschien ihm wie ein zynisches Narrenspiel des Schicksals. Aruula – die Einzige, die sich ausschließlich an das Wasser des Dnjepr gehalten hatte – lag zusammengekauert auf Matts Schenkeln und schnarchte. Selina schlug ein dreistündiges Nickerchen vor. Natürlich widersprach ihr niemand. Zum Schluss losten die Männer und sie, wer nach diesen drei Stunden Schlaf den Platz des Navigators und des Piloten für die nächsten dreihundert Meilen einnehmen sollte. Das Los traf Matt und Steve. Selina und Steve schliefen im Laborsegment, Andrew Farmer im Heck bei den Geräten und bei dem inzwischen gefrorenen Mammutvogel. Matt trug die schlafende Barbarin in das Waffenturmsegment und tat das so behutsam, dass sie tatsächlich erst aufwachte, als er sich neben sie in ihre Koje drängte. Sie schlug die Augen auf, grinste und sagte: »Anschnallen.« Sie lachten erst, dann küssten sie sich... *** Außer Kyrillo konnten sie alle einen AMOT steuern, navigieren und die Ortungsgeräte bedienen. Der Major mit den schwarzen Locken verbrachte also die meiste Zeit im Pilotensessel, Oberst Yagil Jakubasch vor der Navigationskonsole und die Frau an den Ortungsgeräten. Grao'lun'kaan beschränkte sich darauf, die vier Primärrassenvertreter zu beobachten und ihre Gedanken stichprobenartig zu überwachen. Mittlerweile verfügte der Barbar über so gut wie keine Persönlichkeit mehr. Bei den anderen dreien schritt der Zersetzungsprozess bedeutend langsamer voran. Zwar hatten die thermophilen Viren sich in ihren Stirnhirnen festgesetzt, lähmten ihren Willen bereits beträchtlich und hemmten sogar das Denken, das Langzeitgedächtnis und die
Fähigkeit zu fühlen, doch Grao'lun'kaan musste auf der Hut bleiben. Zumal der Persönlichkeitszerfall und die Willenslähmung bei jedem der drei sogenannten »Menschen« unterschiedlich schnell verlief und unterschiedlich wirkte. Das männliche Objekt zum Beispiel, das sich selbst »Modestu Hartmann« nannte, war am leichtesten zu kontrollieren. Und das, obwohl es über einen ausgeprägten Willen verfügte. War es womöglich von klein auf gewohnt zu gehorchen? Seine Fähigkeit selbstständig zu denken hatte der Virus schon in erstaunlichem Maße zerstört. Der Wille des weiblichen Objekts erwies sich als schnelles Opfer der Viren. Allerdings fiel es Grao'lun'kaan nicht leicht, sein Denken zu beeinflussen. Die Frau erwies sich als hochintelligent. Auch ihr Gefühlsleben war äußerst lebhaft, allerdings auch sehr labil. Die Kontrollstrategie für sie war daher relativ einfach: Grao'lun'kaan flößte ihr gute Gefühle ein. Vor allem das Gefühl, von ihm anerkannt und »geliebt« zu werden. Was Primärrassenvertreter unter Letzterem genau verstanden, war dem Daa'muren allerdings selbst nicht ganz klar. Erfolgreich war er bei der Frau auch mit Machtgefühlen. Er suggerierte ihr das Gefühl, an seiner Seite an absoluter Macht teilzuhaben. Das fiel nicht schwer, entsprach es doch den Fakten. Am meisten Probleme bereitete ihm das männliche Objekt aus dem ersten Bunker, ein Mensch, der zugleich ein sogenannter »Oberst« war. Grao'lun'kaan vermutete, dass es sich bei diesem Titel um einen hohen hierarchischen Rang handelte, vergleichbar dem des Lans oder gar des Sils möglicherweise. Das Objekt war gewohnt zu befehlen und nicht zu gehorchen. Es besaß einen starken Willen und einen scharfen Verstand. Sein Gefühlsleben bot kaum Ansatzpunkte zur Manipulation – der männliche Mensch verfügte praktisch über keines. Grao'lun'kaan musste ständig präsent sein in seinem zentralen Nervensystem. Wenn der Zersetzungsprozess
in den Stirnzentren des Oberst-Objekts sich nicht bald zufriedenstellender entwickelte, würde Grao'lun'kaan das Problem anders lösen müssen. Hin und wieder nahm der Daa'mure in Roboter-Gestalt Kontakt zum Hauptmodell erster Ordnung auf, ließ sich seinen Kurs bestätigen und die aktuelle Position des Feindes durchgeben. Die änderte sich auffällig lange nicht. Ihm sollte das Recht sein. Das erste Drittel des Weges kam der AMOT unerwartet rasch voran, weil sie ihn im Schwimmmodus über breite Wasserläufe steuern konnten, die der Oberst als »Kama« beziehungsweise »Wolga« bezeichnete. Als aber der Südkurs korrigiert werden musste und es nach Westen ging, fanden sich außer ein paar Seen und Kanälen keine Wasserwege mehr. Der Bordrechner lotste das schwere Kettenfahrzeug auf alte Straßentrassen. Hier ging es nicht ganz so rasch voran. Nach fast zwei Tagen erreichten sie frühmorgens einen breiten Wasserlauf, den das Oberst-Objekt »Dnjepr« nannte. Der männliche Mensch war der einzige, dem Grao'lun'kaan den Schlaf verweigert hatte. Es erwies sich nämlich, dass Schlafentzug seinen Widerstand gegen die Kontrolle herabsetzte. Der AMOT rauschte flussaufwärts. »Autopilot«, befahl Grao'lun'kaan dem Primärrassenvertreter namens Yagil Jakubasch. Nach Angaben des Hauptmodells erster Ordnung trennten ihn nur noch drei bis vier Wegstunden von seinem Ziel Mefju'drex. »Die Namen«, befahl Grao'lun'kaan. Jakubasch begann Namen herunter zu leiern: der Besatzungsmitglieder, der einheimischen Wasserläufe, Gebirge, Ruinenstädte und Bunker – und zwar rückwärts. Auch das eine verheißungsvolle Strategie, um seinen Willen nachhaltiger zu lähmen. Auf dem Hauptmonitor ging die Sonne auf.
Grao'lun'kaan weckte die anderen drei. Nacheinander betraten sie den Kommandostand. Den Barbaren schickte er in die Bordküche, um seinen Gefährten eine Mahlzeit zuzubereiten, das Objekt namens Modestu ließ er Kopfstand üben und die Frau musste dem Oberst zuhören und die rückwärts gesprochenen Namen nachplappern: »Naak'nul'oarg. Utsedom Namtrah, Akworugard Kocstussab, Olliryk...« Dafür lobte er sie mit allem Nachdruck. Kyrillo brachte das Essen: tierisches Gewebe, denaturiert, und Dosen, aus denen brauner Brei von hoher Konsistenz dampfte, der vermutlich pflanzliche Bestandteile enthielt. Die Primärrassenvertreter aßen. Nur der Oberst protestierte. Grao'lun'kaan befahl ihm die Knorpel im tierischen Gewebe zu essen und seine Dose mit den Fingern auszukratzen. Der Fluss war nicht besonders tief, auch schien er schmaler zu werden. Steilufer lösten Moorwiesen und Schilfflächen ab. Grao'lun'kaan deaktivierte den Autopiloten und ließ die Kontrollierten ihre Plätze einnehmen. Die Ortung erfasste ein Bauwerk, dessen Bedeutung der Daa'mure nicht sofort begriff. »Eine Staumauer«, erklärte das weibliche Objekt. »Entfernung: fünf Kilometer.« »Ich habe Informationen, nach denen unser Feind seine Position verändert hat«, gab Grao'lun'kaan nach erneutem Kontakt mit dem Hauptmodell erster Ordnung bekannt. »Er bewegt sich mit ähnlicher Geschwindigkeit am Flusslauf entlang, allerdings flussabwärts. Bei gleichbleibender Geschwindigkeit wird er unsere Position in...«, er rechnete die Zeitangabe in den 24-Stunden-Zyklus des Planeten um, »... in zwei Stunden, achtzehn Minuten und sechsundzwanzig Sekunden erreichen.« »Die Staumauer ist über hundertzwanzig Meter hoch«, sagte das kontrollierte Objekt Dragurowka Bassutschok. »Auch die Höhe der Uferböschung nimmt kontinuierlich zu. Ich schlage vor, die Böschung hinauf und dann am Waldrand entlang zu
fahren. Sonst stehen wir bald vor einem unüberwindlichen Hindernis.« Grao'lun'kaan richtete seine synthetischen Augen auf die Displays der Ortungsgeräte. Das Objekt hatte Recht. »Was bist du für ein kluger Frauenmensch«, schnarrte er, ohne ganz sicher zu sein, dass es diesen Begriff in der Sprache der Frau auch tatsächlich gab. »Eine gute Wahl, dich als rechten Arm an meine Seite zu stellen.« Auch hier war er sprachlich nicht ganz sicher, aber Dragurowkas Miene verzog sich zu einem stolzen Lächeln, demnach hatte sie also verstanden. Er befahl dem Oberst-Objekt, ans Ufer und die Böschung hinauf zu fahren. Bald erreichten sie die Mauer – ein über und über mit Moos, Gestrüpp und Rankengewächsen bedeckter Wall mit zerklüfteter und bewaldeter Krone, konkav nach innen gebogen und an vielen Stellen so marode, dass dort Wasser über den Pflanzenteppich plätscherte, an manchen Stellen sogar fontänenartig aus ihm heraussprudelte. Sie ließen das schwindelerregend hohe Bauwerk hinter sich, gingen in den Schwimmmodus und steuerten auf den vor dem Damm relativ schmalen, sich dann aber rasch verbreiternden Stausee hinaus. Hier überragte der Staudamm die Wasseroberfläche um nicht mehr als fünfundzwanzig Meter. »Bei gleichbleibender Geschwindigkeit wird der Feind unsere Position in einer Stunde, neununddreißig Minuten und sechzehn Sekunden erreichen«, sagte Grao'lun'kaan. »Folgendes Problem ist zu lösen: Mefju'drex benutzt ein Fahrzeug ähnlicher Bauart wie wir. Er fliegt über dem Wasserspiegel, und das höher als unsere Maschine. Wir müssen ihn dazu bringen, zu landen und auszusteigen. Vorschläge!« Er hatte eher einen Test im Sinn als eine Bitte um strategische Hilfe. Am Ostufer, umgeben von Uferwald, entdeckte der Daa'mure plötzlich ein paar Gebäude. Ihre Bewohner liefen zur steilen Uferböschung, um den AMOT zu beobachten. Die
Außenkamera brachte in Fell gehüllte Gestalten mit Bärten und verfilzten Haaren auf den Hauptmonitor. Sie trugen Speere, und einige stützten sich auf langstielige Äxte. An ein paar ihrer Behausungen erkannte der Daa'muren Räder. »Angreifen und kaputtschießen«, schlug Kyrillo vor. Er sprach mit schwerer Zunge und in monotonem Tonfall. »Wir wissen zu wenig über technische Ausstattung und Feuerkraft des feindlichen Fahrzeugs«, schnarrte das Maschinenhirn. »Außerdem muss ich Mefju'drex eindeutig identifizieren, bevor ich ihn neutralisiere.« Er dachte an den fehlgeschlagenen Versuch, den Mann ohne Synapsenblockade mit einem atomaren Sprengkopf zu vernichten. »Wir fliegen zurück und lauern ihm hinter der Staumauer auf«, sagte Modestu. »Kurz bevor er die Mauer erreicht, tauchen wir aus der Deckung auf, feuern aus dem Hinterhalt und rammen seinen Panzer von unten. Er stürzt in den Stausee, säuft ab, und wir tauchen hinunter und holen ihn aus der Maschine.« Grao'lun'kaan registrierte befriedigt, dass die Viren den Verstand des schwarzlockigen Objekts erfolgreich zersetzten oder zumindest blockierten. »Abgelehnt.« Wortwörtlich wiederholte er die Argumentation, mit der er bereits den Vorschlag des Barbaren verworfen hatte. Hinzuzufügen, dass der AMOT die Mauer gar nicht überwinden konnte, ersparte er sich. »Wir funken ihn an«, schlug das Oberst-Objekt vor. Auch er redete wie im Halbschlaf. »Wir schlagen ihm ein Treffen am Ufer vor. Einen AMOT aus Perm hier zu treffen muss ihn doch neugierig machen. Er wird aussteigen, und wir... wir werden...« Jakubasch geriet ins Stammeln. Grao'lun'kaan tastete nach seinem Geist. »Und wir... ja, wir reden mit ihm... ich wüsste keinen Grund... warum... warum sollte er nicht Frieden mit uns schließen...?«
Grao'lun'kaan schlug ihm den metallenen Rücken seiner Hand in den Nacken. »Was ist dein Leben, Oberst!?« »Dir... dir zu dienen, Grao'lun'kaan...«, stöhnte Jakubasch. »Was ist dein Auftrag, Oberst!?« »Mefju'drex zu jagen und dir auszuliefern...!« »... und jeden zu töten, der uns daran hindern will!« Im Chor beendeten die anderen drei den Satz. »Wiederholen!«, verlangte Grao'lun'kaan. »... und jeden zu töten, der mich daran hindern will!« Das Maschinenhirn wandte sich an Dragurowka Bassutschok. »Du bist die Klügste. Du und ich, wir werden Mefju'drex vom Himmel holen und ihn auslöschen.« Sein optisches System fixierte ihre schwarzen Augen. Ein Leuchten huschte über ihr kantiges Gesicht. »Ich weiß, wie es klappen könnte«, sagte sie. »Wir locken ihn in das Wagendorf.« Sie deutete auf den Monitor, wo die letzten Wagenhütten vorbeizogen. »Und wie willst du ihn dort hin locken?« »Ganz einfach.« Dragurowka erläuterte ihren Plan. In der Tat – er war sehr einfach. Grao'lun'kaan selbst hätte niemals darauf kommen können, weil er mit gewissen Begriffen der Primärrassenvertreter nichts anzufangen wusste. Mit »Erbarmen« zum Beispiel, oder »Mitleid«... *** Am Ostufer erhob sich ein Hügel und auf ihm ein ausgedehnter Ruinenkomplex aus dem Flusswald. Deutlich konnte Matt zwei Zwiebeltürme erkennen. »Ein Kloster«, sagte Steve. »Ein ehemaliges Kloster«, korrigierte Matt. . Der Fluss wurde breiter und breiter. Die Explorer flog etwa fünfzehn Meter über der Wasseroberfläche. Bald schwebten sie nicht mehr über einem Fluss, sondern über einem See, dessen Westufer sie kaum noch erkennen konnten. Die Bordhelix hatte
die Steuerung übernommen. Sie meldete ein ungewöhnlich großes Hindernis in sechs Kilometern Entfernung, und in der Panoramakuppel sah Matthew Drax eine dunkle Linie am Horizont. Auffällig gerade verlief sie von einem Seeufer zum anderen. »Eine Brücke«, sagte Steve Bolton. Er saß im Pilotensessel. Vom Navigationssitz wechselte Matt auf den Platz vor den Aufklärungsgeräten. Er gab ein paar Befehle in den Rechner ein, und kurz darauf baute sich im Frontteil des Panoramadisplays ein seltsames Bild auf: Matt und Steve sahen einen gewaltigen, von Moos und Kletterpflanzen verhüllten Wall. In einer konvex gebogenen Linie ragte er aus dem Fluss, zu dem der See sich sechs Kilometer weiter wieder verengte. »Eine Staumauer«, erkannte Matt. »Die überfliegen wir einfach.« Steve Bolton machte Anstalten, den EWAT höher steigen zu lassen, »Sind Sie verrückt!?« Schlagartig begriff Matt, dass der Navigator nie zuvor einen Staudamm zu Gesicht bekommen hatte; noch nicht einmal auf irgendeinem Bild aus irgendeiner Community-Datenbank wahrscheinlich. »Auf der anderen Seite geht es hundertfünfzig bis zweihundert Meter tief in den Abgrund! Wissen Sie nicht, wie ein Wasserkraftwerk funktioniert?« In Steves Miene stand die Verblüffung über die heftige Reaktion des Commanders. »Nur in groben Zügen«, gab er zu. Matt erklärte ihm die Funktionsweise eines Staudamms. Der Londoner wurde blass, denn die maximale Flughöhe eines EWATs betrug gerade mal dreißig Meter. Kilometer um Kilometer näherte ihr Panzer sich dem Wall. Bald trennten sie nur noch ein paar hundert Meter vom Staudamm. Kaum zweihundert Meter breit war der Fluss hier noch. Seine Strömung hatte deutlich zugenommen, wie ein paar rasch dahin treibende Zweige verrieten.
Klar und deutlich visualisierte die Bordhelix den Staudamm auf dem Panoramadisplay. Über der Wasserlinie und zwischen Moosflächen und Pflanzenteppichen erkannte Matt Risse und Löcher in der Mauer. Buschwerk und Birkengruppen wuchsen auf der zerklüfteten Dammkrone. »Dass so eine Mauer den Kometeneinschlag überstanden hat...« Bolton schüttelte staunend den Kopf. »Und dazu noch über fünfhundert Jahre hält«, ergänzte Matt. »Das nenne ich Wertarbeit.« Etwa zwanzig Meter überragte der Wall die Wasseroberfläche. Aus unterschiedlich hoch gelegenen Ablagerungs- und Farblinien schloss Matt auf einen schwankenden Wasserstand. Jedoch schien der marode Staudamm auf der anderen Seite genauso viel Wasser durchzulassen, wie der Dnjepr dem Stausee im Jahresschnitt zuführte. Der Wasserdruck musste enorm sein. Steve ging auf Ostkurs, um die Staumauer zu umfahren. Nicht weit vom Ufer entfernt stiegen Rauchwolken aus dem Flusswald. Jetzt erst entdeckte Matt den Qualm über dem Laubdach und ein paar halb im Unterholz verborgene Hütten am Waldrand und am Steilufer. »Ein Dorf!«, rief Bolton. »Es brennt!« An einigen Stellen züngelten Flammen aus dem Rauch. Eine menschliche Gestalt stand an der Böschung zwischen den Bäumen und ruderte wild mit den Armen. »Da braucht jemand Hilfe!«, sagte Matt gepresst. »Wir landen!« »Nicht ohne das Okay der Kommandantin!« Steve Bolton aktivierte den Bordfunk und weckte Selina McDuncan. Danach aber gab er Matts Drängen nach und ging, statt auf Südkurs, auf Nordkurs, bis der EWAT in einem Radius von knapp einundzwanzig Metern drei Meter über den Baumwipfeln und achtundzwanzig Meter über der gedrungenen Gestalt eines Mannes kreiste. Der ruderte mit den Armen und blickte zum
EWAT herauf. Offenbar fürchtete er das Feuer und seine Ursachen mehr als das für ihn fremdartige Fahrzeug. Sein Haupt- und Barthaar war versengt, sein Mantel ebenso, sein Gesicht schwärzlich von Ruß. Er blutete aus der Nase. Von Zeit zu Zeit stützte er sich gegen einen Baumstamm, als hätte er Mühe, sich auf den Beinen zu halten. Das Zwischenschott schob sich auf, die Kommandantin trat in das Steuersegment. Matt berichtete, und nach wenigen Blicken auf die Frontkuppel und die Ortungsgeräte hatte Selina ein klares Bild der Lage. »Einverstanden, helfen wir dem armen Kerl. Aber hier können wir nicht landen, die Bäume stehen zu eng.« Das Zentrum des Dorfes lag etwa vierhundert Meter vom Ufer des Dnjeprs entfernt im Flusswald. Es brannte lichterloh – unmöglich, dort einen Landeplatz zu finden. Auch einzelne Hütten in der Umgebung und am Steilufer brannten. Andere schienen unversehrt. Matt sah, dass sie auf Rädern standen. »Das... das sind uralte Wohnwagen und Wohnmobile!« Steve blickte ihn verständnislos an, Selina reagierte überhaupt nicht. Bolton hatte ihr den Pilotensitz geräumt, und nun flog sie ein gewagtes Manöver, um den EWAT auf einer kleinen Lichtung nahe des Ufers zu landen, wo nur ein paar Büsche und junge Birken wuchsen. Andrew Farmer und Aruula bückten sich nacheinander in den Kommandostand. »Was ist passiert?«, wollte die Barbarin wissen. Matt schilderte die Lage. »Schnappen Sie sich Ihr LP-Gewehr«, sagte Selina in Farmers Richtung. »Und vorsichtshalber auch ihren Schutzanzug, vielleicht müssen wir jemanden aus dem Rauch retten.« Und an Boltons Adresse: »Sie bleiben in der Explorer und halten das Fahrzeug einsatzbereit. Sollten wir Feuerschutz brauchen, starten Sie und kommen zu uns. Wir geben alle fünf Minuten Bericht!« Sie wandte sich an Matthew Drax: »Nehmen Sie bitte das Funkgerät für das ISS-Relais mit,
Commander. Und einen Translator!« Matt nickte. Nacheinander verließen sie die Kommandozentrale. Aruula und Captain McDuncan stiegen über das Bugschott aus. Andrew Farmer und der Mann aus der Vergangenheit schritten von Zwischenschott zu Zwischenschott bis zum Hecksegment, wo neben Proviant, Gefriergut und drei Schlafkojen auch Waffen und Geräte untergebracht waren. Farmer stieg in seinen Schutzanzug, stülpte den Helm über den Kopf und hängte sich sein LP-Gewehr über die Schulter. Matt schnappte sich das ISS-Funkgerät, das universelle Übersetzungsgerät, das er an seinem Gürtel einklinkte, und einen Driller. Mit dem handlichen Funkmodul konnte man auch bei stärkster CFStrahlung mit jedem beliebigem Empfänger auf der Erde Kontakt aufnehmen, vorausgesetzt er funkte auf gleicher Frequenz. Und die Internationale Raumstation, die noch immer verlassen im Orbit kreiste, befand sich über dem Funkhorizont. Durch das kleine Heckschott stiegen sie ins Freie. Aus dem Wald hörte man das Prasseln der Flammen, die Luft roch nach Feuer und Rauch. Irgendwo zwischen den Bäumen schrie jemand. Im Kommandostand ließ sich Steve Bolton auf dem Sessel vor den Ortungsgeräten nieder. Die Infrarotortung war wegen des Feuers kaum zu gebrauchen, aber die Laserortung zeigte ihm ein Objekt, das sich vom Hauptbrandherd aus auf den EWAT zu bewegte, ein Mensch wahrscheinlich. Steve blickte auf das Panoramadisplay. Ein in versengtes Fell gehüllter Mann wankte aus dem Wald – der Typ, der ihnen gewunken hatte. Die Kommandantin und die Barbarin liefen zu ihm. Von rechts kamen jetzt auch Commander Drax und Farmer ins Blickfeld. Captain McDuncan reichte dem Verletzten eine Wasserflasche. Er trank – gierig, wie es aussah. Endlich setzte er die Flasche ab, redete mit hilflosen und erregten Gesten auf die anderen ein und deutete immer wieder in Richtung des
brennenden Wagendorfes. Schließlich liefen alle hinter ihm her in den Wald. *** Manchmal zog er sich an einem Birkenstamm hoch, stieß sich dann ab und schaffte es, ein paar Schritte aufrecht zu gehen. Meistens aber kroch er auf Händen und Knien durch das Unterholz. Hatte er seine schmerzenden Glieder noch halbwegs unter Kontrolle, so taten seine Lippen und seine Zunge, was sie wollten. »Naak'nul'oarg, Utsedom, Akworugard, Olliryk, Aglow, Grubsretep, Uaksom...« Er modulierte Worte, die ihm so fremd waren wie diese Gegend ihm fremd war – und er sich selbst. Wenige Meter links von ihm fiel die Steilböschung achtzehn Meter tief in den Fluss hinab. »Rpejnd...« Vierzig Meter hinter ihm lag die Staumauer. »Reuamuats...« Rechts wuchsen die Birken wie ein weißer Zaun vor dem Wald. Seine Hand tastete einen Stamm, er zog sich hoch, wankte ein paar Schritte bis zum nächsten Stamm. »Dir zu dienen, Naak'nul'oarg...«, stöhnte er. Es stank nach Rauch und Feuer. Geschlagen hatte das Maschinenhirn ihn, mit seinen Eisenfäusten, mit seinen stahlharten Fingerspitzen. Sein rechter Arm hing leblos herab, Blut strömte ihm über die linke Gesichtshälfte. Der Stoff seines Kampfanzugs war über der Brust aufgerissen, tiefe Wunden klafften in der Haut seines Oberkörpers. »Mefju'drex zu jagen und dir auszuliefern...!« Er sank auf die Knie, beugte sich tief ins Unterholz, bohrte die Stirn in den feuchten Waldboden. »Nikati, du Scheißkerl...« Sofort war sie wieder gegenwärtig, die mächtige Stimme in seinem schmerzenden Schädel. (Wie lautet dein Auftrag...?) »Mefju'drex... zu jagen...« Er stemmte sich hoch, stand auf. »Jeden zu töten, der mich daran hindern will!«
Er wankte von Birkenstamm zu Birkenstamm, weiter und weiter. Fern stand Rauch über dem Wald. Auch das hatte er getan. Warum war die Uniformjacke so schwer? Was hatte er ihm in die Taschen gestopft? »Du Scheißkerl... jag ihn doch selbst, verdammter Scheißkerl...« Er stürzte zu Boden, hielt sich den Kopf, schrie. (Weiter!) Es klang, als würde jemand einen großen Gong in seinem Schädel anschlagen. (Was ist dein Auftrag...!?) »Mefju'drex...!« Auf allen Vieren kroch er durch Gestrüpp und Dornen. Jeden... töten... der... mich... hindern...« Eine kleine Lichtung öffnete sich. Ein Kettenfahrzeug stand auf ihr – dunkelgrün, vier Segmente, nicht ganz so groß wie ein AMOT, irgendwie gefährlicher sah es dennoch aus. Er kroch auf den Panzer zu. (Weiter!), dröhnte die Stimme in seinem Schädel. (Weiter, töten, töten...) *** Die Ortung erfasste ein Objekt im Wald südlich der Explorer. Vom Staudamm her bewegte es sich auffällig langsam auf den EWAT zu. Steve aktivierte nun doch den Infrarottaster, denn hinter dem Tank brannte es nicht. Das Display zeigte eine Wärmequelle. Eine Liste von Zahlen erschien neben ihr auf dem kleinen Kontrollmonitor. Der Navigator der Explorer checkte die Daten: Das Lebewesen bewegte sich nahe am Boden, es war zwischen hundertsechzig und zweihundert Zentimeter groß und mochte an die hundertsechzig Pfund wiegen. Ein großes Tier? Oder ein Mensch? Warum aber schlich er sich dann in der Deckung des Unterholzes an? Die Antwort schien Steve auf der Hand zu liegen: Wer auch immer da durch den Wald pirschte – Tier oder Mensch –, einen Höflichkeitsbesuch plante er gewiss nicht. »Ich will ein Bild haben«, wies er die Bordhelix an. Sekunden später baute der
Rechner eine Aufnahme des Waldrandes hinter dem EWAT auf. Die Birkenstämme schienen auf einmal zum Greifen nahe. An einem Grashalm kroch ein rotes Insekt zur Ähre hinauf, ein Käfer oder eine Grille. Das Gestrüpp vor den Birkenstämmen schwankte, teilte sich, ein kahler Kopf wurde sichtbar, ein Mann hob sein schmerzverzerrtes Gesicht. Der rote Käfer breitete die Flügel aus und schwirrte davon. »O verdammt!«, stöhnte Steve. Blut bedeckte die linke Gesichtshälfte des armen Burschen da draußen. Seine Oberlippe war aufgeplatzt, sein rechtes Auge geschwollen. Auf die Knie und den linken Arm gestützt kroch er aus dem Gestrüpp auf die Lichtung hinaus. Dort richtete er sich auf seinen Knien auf. Der rechte Arm baumelte schlaff an ihm herunter. Zwischen den Aufschlägen seiner Jacke hingen ihm blutige Fetzen Stoff von der aufgerissenen Brust. »O Shit...!« »Außenteam an Explorer!« Zum zweiten Mal meldete sich Farmer. »Das Zentrum der Siedlung ist vollständig niedergebrannt. Haben zwei weitere Verletzte aufgegriffen. Sonst keine Überlebende, wie es aussieht. Kommen.« »Explorer an Außenteam. Verstanden. Ein vierter Überlebender kriecht gerade ein paar Meter vom EWAT entfernt aus dem Wald. Scheint schwer verletzt zu sein. Erbitte Anweisungen. Kommen.« Ein paar Sekunden lang schwieg die Stimme aus dem Bordlautsprecher. Vermutlich sprach sich Farmer mit Drax und der Kommandantin ab. »Außenteam an Explorer«, meldete er sich endlich wieder. »Anweisung vom Captain: Bewaffnen Sie sich, gehen Sie hinaus und untersuchen Sie den Verletzten. Wenn er dringend medizinisch versorgt werden muss, kümmern Sie sich darum. Wir sind in spätestens dreißig Minuten zurück am EWAT. Kommen.« »Verstanden. Ende.« Steve schaltete auf Autopilot und legte die Verbindung mit der Bordhelix auf das in seinen Kombi
integrierte Funkmodul. Dann legte er seine Hand auf die Rückwand der Kommandozentrale. Eine Klappe öffnete sich, und Steve konnte sein in die Wand versenktes LP-Gewehr entnehmen. Er trat in die kleine Bugschleuse. »Identifizieren Sie sich«, schnarrte die elektronische Stimme des Schleusenbutlers. »Corporal Steve Bolton, Navigator der Explorer.« Steve tippte seinen persönlichen Code in die Minitastatur an der Reaktorkugel der Waffe. Das Außenschott schob sich auf, er trat ins Freie. »Das Schott nicht schließen«, befahl er dem Schleusenbutler. Keine sechs Schritte vom Bugsegment entfernt lag der Verletzte zusammengekrümmt zwischen Büschen im hohen Gras. Bolton lief zu ihm, ging vor ihm in die Hocke. Eine tiefe, mindestens zwölf Zentimeter lange Platzwunde klaffte an der linken Schädelseite, zwei der oberen Schneidezähne fehlten, der rechte Unterarm samt Handgelenk waren geschwollen, die Brustmuskulatur teilweise bis auf den Knochen zerschlitzt. »Himmel! Wer hat dich so zugerichtet?« Der Verletzte hob den leeren Blick. Er knirschte mit den Zähnen, Schaum trat auf seine Lippen. Seine Haut, so weit nicht blutverschmiert, war nass von kaltem Schweiß. Über der Brusttasche seiner dunkelgrünen Jacke war ein Namensschild angenäht: Y. Jakubasch. Er röchelte, unverständliche Worte brodelten über seine geschwollenen Lippen. Wenn er noch mehr Blut verlor, würde sein Kreislauf zusammenbrechen. »Warte!« Steve stand auf. »Ich hole einen Notfallkoffer!« Er machte kehrt, rannte zurück zur Explorer und innerhalb des EWATs durch das Zwischenschott vom Kommandosegment in die Waffenzentrale und durch Schott zwei ins Laborsegment. Dort löste er den medizinischen Notfallkoffer aus den Bügeln der Deckenverankerung. Schon als er sich im Waffenturmsegment durch das Zwischenschott in die Kommandozentrale beugte, erhob sich
das nervtötende Geheule des Schleusenalarms. Steve ließ den Notfallkoffer fallen und riss sich das LP-Gewehr von der Schulter. »Unbefugten ist das Betreten des Earth-Water-AirTanks verboten«, schnarrte der Schleusenbutler. Ein kleiner Schritt, und Steve stand in der Kommandozentrale. Zwei Schritte, und er beugte sich in die Hauptschleuse: Mit dem Oberkörper voran lag der Verletzte rücklings in der Schleuse. Seine Beine hingen noch über die ausgeschobene Stiege ins hohe Gras hinab. Er hatte Schaum vor dem Mund, starrte die Schleusendecke an und hob, um Atem ringend, seine zerrissene Brust. Seine Kaumuskulatur arbeitete, und die Arme hatte er weit von sich gestreckt, als würde er im nächsten Moment jemanden umarmen wollen. Den Tod, schoss es Steve durch den Kopf. »Unbefugten ist das Betreten des Earth-Water-Air-Tanks verboten«, plärrte das Sprachmodul des Schleusenbutlers aus den Schlitzen neben dem offenem Schott. »Shit!«, fluchte Steve. Er wollte sich zurück in die Kommandozentrale wenden, um den Notfallkoffer zu holen, da fiel sein Blick auf die linke Hand des Fremden. Ein blauschwarzes Ding lag in seinen erschlafften Fingern, wie ein faustgroßes Ei sah es aus. An seinem oberen Pol blinkte im Sekundentakt ein rotes Licht. Steve stürzte hin. Mit dem Fuß berührte er etwas Schweres;, etwas, das in der Jackentasche des Verletzten lag. Er griff hinein und ertastete ein faustgroßes Ei aus kaltem Kunststoff... *** Ihre Namen, und dass ihr Dorf von irgendwelchen mutierten Insekten angegriffen worden war – viel mehr bekamen sie zunächst nicht aus den Opfern heraus. Furchtbar zugerichtet sahen sie aus: Das ehemals rote Haupthaar der Frau – sie hieß Gruka – war bis auf ein paar
Reste abgesengt, ihr Gesicht rußgeschwärzt, und die Brandwunden auf ihren Handrücken warfen Blasen. Der Pelz des Fellmantels, in den sie ihren Körper geschnürt hatte, stand nur noch in einzelnen Büscheln auf glattem, angeschmorten Leder. In ihren Gesten lag eine Heftigkeit, die Matt beunruhigte, und in ihren dunklen Augen nahm er ein Glitzern wahr, das ihn abstieß. Während Selina die Brandwunden mit einem Gewebe bildenden und antiseptischen Sprühverband behandelte, versuchte Matt die Übersetzung von Grukas hysterischem Wortschwall aus dem Universal-Translator zu verstehen. »Es müssen Rieseninsekten gewesen sein«, sagte er noch zweifelnd. »Feuerfliegen, wenn ich sie richtig verstehe, Riesenfliegen, die Feuer gespuckt haben.« Der zweite Mann nannte sich Esu, ein junger Bursche von beachtlicher Statur. Offenbar hatte er sich seiner brennenden Kleider gerade noch rechtzeitig entledigen können. Er trug nur einen ledernen Lendenschurz. Die Brandwunden auf seinen Oberschenkeln und seinem Rücken waren nicht allzu tief. Die Reste seines Lockenkopfes stanken nach verbranntem Haar. Der Mann, den sie als ersten im Wald entdeckt hatten, war ebenfalls mit oberflächlichen Brandwunden davon gekommen. Allerdings hatte ihm das Feuer sein Haupt- und Barthaar fast vollständig geraubt. Er hieß Yllritz. Apathisch hockte er im Gras und stierte mit leerem Blick in den Birkenwald, wo einige Hundert Meter weiter das Feuer sein Zuhause fraß. Während Aruula und Matt den Verletzten Wasser gaben und Selina McDuncan auch noch die Wunden der Männer versorgte, beendete Farmer die Funkverbindung mit Steve Bolton in der Explorer. »Welche Art von Verletzungen hat der Mann?«, wollte Selina wissen.
»Konnte Steve auf die Entfernung nicht genau erkennen.« Andrew Farmer zuckte mit den Schultern. »Wie es aussah, blutete er stark. Sein Arm schien gebrochen zu sein. Warten wir's ab. Er wird sich gleich melden, sobald er den Mann verarztet hat.« Mit Hilfe des Translators gab Matt den Flusssiedlern zu verstehen, dass es keinen Sinn mehr hatte, nach weiteren Überlebenden zu suchen. Er deutete in die Richtung, wo knapp vierhundert Meter entfernt der EWAT wartete. »Kommt mit uns! Wir haben ein Fahrzeug, einen Wagen! Dort seid ihr in Sicherheit!« Die drei Überlebenden gaben seinem Drängen schnell nach. Die Angst vor einem erneuten Angriff schien ihnen tiefer in den Knochen zu stecken als die verzweifelte Hoffnung in ihren Herzen, noch überlebende Angehörige retten zu können. Den Mann namens Yllritz musste Matt mit Gewalt aus dem Gras ziehen, so sehr stand der unter Schock. Er schob ihn vor sich her, während sie durch den Wald stapften. Andrew Farmer bildete die Nachhut – das LP-Gewehr schussbereit in den Händen, blickte er ständig in den Himmel. Weit konnten die mörderischen Feuerfliegen noch nicht sein. Plötzlich, wie aus dem Nichts, erschütterte eine Detonation den Waldboden. Eine zweite folgte einen Herzschlag später. Dreihundertfünfzig Meter südlich stieg erst eine Feuersäule in den Himmel, dann blähte sich eine Glutkuppel auf. »Zu Boden!«, brüllte Selina. Die Druckwelle fegte durch Unterholz und Baumkronen wie eine Hurrikan. Keiner kam mehr dazu, aus freien Stücken Schutz auf dem Waldboden zu suchen: Als würde eine gigantische Hand durch den Wald wischen, wurden sie von den Füßen gefegt. Wer Glück hatte wie Matt, wurde in dichtes Gebüsch geschleudert. ***
Plötzlich griff sein Geist ins Leere. Von einer Sekunde zur anderen erlosch der Widerstand des Oberst-Objektes. Dumpf hörte Grao'lun'kaan die Detonation, der AMOT vibrierte. Das Maschinenhirn richtete sein optisches Sensorium auf die Kontrollmonitore. Sie bestätigten den akustischen und mentalen Befund: abrupte Energiekonzentration, radioaktive Strahlung, vertikal in die Atmosphäre schießende Hitze. Der Panzer des Feindes existierte nicht mehr. Grao'lun'kaans Geist tastete nach den drei verbliebenen Objekten. Triumphgefühle im zentralen Nervensystem der Frau, der Barbar wartete ungeduldig auf ihr Zeichen zum Angriff, und das männliche Objekt namens Modestu erklärte gerade jemandem, wo sie Zuflucht vor möglichen weiteren Angriffen der Feuerfliegen finden würden. Alles war unter Kontrolle. Grao'lun'kaan hatte nichts anderes erwartet. Er öffnete die Körpermulde an seiner Hüfte, tastete nach dem Hochspannungsaggregat, verschloss die Mulde wieder. Dann schnallte er sich einen Laserstrahler auf den Rücken und stieg aus dem AMOT. Das Rauschen des Flusses und das Gurgeln der Wasserfontänen, die aus Löchern in der Staumauer strömten, drangen an seine akustischen Sensoren. Über dem Maschinenhirn erhob sich hundertsechzig Meter hoch die rissige und von Pflanzen vermummte Staumauer. Dicht am Staudamm und neben dem Fluss hatte Grao'lun'kaan den AMOT zwischen einer Birkengruppe in dichtem Gestrüpp abgestellt. Mit den Metallarmen hieb er sich den Weg durch die Pflanzenmauer frei. Im Winkel zwischen Steilufer und Damm fand er die verrostete Stiege, die nach oben zur Dammkrone und in den Flusswald führte. Weniger als sechs Stunden noch, bis der Planetentag sich neigen würde. Vielleicht sieben Stunden, die Mefju'drex zu leben hatte.
*** Captain Selina McDuncan kniete im Unterholz und weinte. Hinter ihr stand Andrew Farmer. Mit bebenden Lippen starrte er in das Flammenmeer. Aruula stieß Wutschreie aus, hielt ihr Schwert mit beiden Händen fest und spähte in alle Richtungen, als erwarte sie jeden Moment den Angriff des unsichtbaren Feindes. Matt versuchte das Unfassbare zu fassen. Steve Bolton tot, der EWAT verloren... Die Männer aus der Wagensiedlung kauerten dicht beieinander im Unterholz. Die Frau aber zerrte an Matts Kampfanzug, schrie und deutete nach Norden. Sie wollte weg von diesem Ort tödlichen Feuers. Und sie hatte Recht. Der Mann aus der Vergangenheit machte sich von ihr los und ging neben Selina in die Hocke. Er legte den Arm um sie. Ihr Körper zitterte. »Wir müssen fort von hier«, sagte er mit belegter Stimme. »Die Strahlung des Reaktors...« Sie bohrte ihren Kopf an seine Schulter. »Wie kann das sein?«, schluchzte sie. »Wie kann so etwas geschehen?« »Feuerfliegen, Feuerfliegen!«, drängte Gruka. »Weg, weg...!« Wie ihre Gefährten starrte sie ständig in den Himmel über dem Wald. »Möglicherweise sind sie in die Explorer eingedrungen, als Steve sich um den Verletzten kümmerte«, flüsterte Andrew Farmer mit erstickter Stimme. »Weg, weg!« Die verletzte Frau begann wieder an Matts Kleidung zu zerren. Die Berührung weckte Widerwillen in ihm. »Sie hat Recht.« Mit sanfter Gewalt stellte er Selina auf die Beine. »In den Wald!« Er schob die taumelnde Kommandantin an Aruulas Seite, damit die sie stützte. Mit gezogenem Driller setzte er sich neben Gruka an die Spitze der kleinen Marschkolonne. Hinter Aruula und Selina wankten die beiden
verletzten Eingeborenen, und Andrew Farmer sicherte mit einsatzbereitem LP-Gewehr die Nachhut. In Matts Schädel fuhren seine Gedanken und aufgewühlten Gefühle Karussell. Kaum fähig, nüchtern zu denken, wusste er doch, dass er das Kommando übernehmen musste, bis Selina sich wieder gefangen hatte. Wenn der Translator Grukas Gezeter richtig interpretierte, kannte sie einen Unterschlupf, in dem sie vor den Feuer speienden Insekten sicher waren. Sie mussten die brennende Siedlung in einem großen Bogen umschreiten, denn der Wald dort brannte inzwischen bis zur Steilböschung. Nach etwa vierzig Minuten machten sie Halt. Zwei Kilometer trennten sie vom zerstörten Dorf, drei vom Krater, den die Explosion der Explorer in den Waldboden gerissen hatte. Mit dem in seinem Gewehr integrierten Geigerzähler versuchte Andrew Farmer die Intensität der radioaktiven Strahlung zu ermitteln. Matt funkte das Relais der Internationalen Raumstation an. Das sandte den Funkimpuls zur Community London. Die Verbindung stand innerhalb einer Minute. »Explorer-Besatzung an Community London, hier spricht Commander Matthew Drax...« Er meldete den Tod Steve Boltons und den Verlust des EWATs. London würde unverzüglich ein Rettungsteams aussenden. »In spätestens drei Tagen sind sie hier.« Matt schob das Funkgerät in die Beintasche seines Kombis. »Was ist mit der Strahlung, Andrew?« »Geringfügig.« Farmers Gesichtshaut hatte die Farbe schimmelnder Milch. »Lässt schon wieder nach.« Matt blickte in den Himmel. Nichts zu sehen. »Weiter.« Gruka führte sie nun Richtung Stausee, also nach Westen. Eine halbe Stunde später erreichten sie das Steilufer des Dnjepr. Von hier aus konnte man in knapp drei Kilometer Entfernung den Staudamm erkennen. Wenige Schritte von der
Böschung entfernt standen Wohnwagen und Wohnmobile zwischen den Bäumen. Buschwerk, Efeu und Moos spannen sie teilweise ein. Zielstrebig ging Gruka auf das mittlere Fahrzeug zu, ein langes Wohnmobil. Mit dem Schwert hieb Aruula den Weg zur Tür des Passagierraums und anschließend den zur Fahrerkabine frei. Dem uralten Fahrzeug hingen die Reifen in Fetzen von den Felgen. Matt erkannte vermooste Schnittstellen von Holz an der Unterkante des Kabinenaufbaus. Jemand hatte in den letzten Jahrzehnten den Unterboden mal mit Rundhölzern verstärkt; vermutlich um bei Hochwasser nicht abzusaufen. An den Seiten des Aufbaus hatte man eine Armierung aus Plastiflex-Reifen befestigt. Wahrscheinlich auch eine Vorbeugung für den Fall eines Hochwassers. Der Aufbau selbst und die Karosserie waren aus Kunststoff; ziemlich angegraut zwar, aber unbeschädigt. Selbst die Windschutzscheibe und die Seitenfenster waren gut erhalten. Mit dem Corporal und Yllritz kletterte Matt auf Fahrersitz und Beifahrerbank. Die Frauen und Esu, der junge Mann im Lendenschurz, verkrochen sich im Wohn- und Schlafbereich. Sie warteten eine Stunde, sie warteten zwei und drei Stunden – die Feuerfliegen zeigten sich nicht mehr. Dafür brach die Nacht an. *** Der Mond ging auf. Matt lehnte gegen die Beifahrertür. Durch die Windschutzscheibe sah er den verschwommenen Reflex der Mondsichel auf der Wasseroberfläche des Flusses. Er fand keinen Schlaf. Wie auch? Ständig sah er Steves Gesicht vor sich, hörte ihn von seinem Haus an der Themse erzählen, sah den Lichtblitz zwischen den Bäumen. Wund von Grübelei und Trauer rutschte er auf dem mit Fell bespanntem Federkern des
Sitzes hin und her. Sein Hintern tat ihm weh, sein Kopf schmerzte. Neben ihm, über das Steuer gebeugt, schnarchte der Eingeborene. Yllritz stank nach verbranntem Haar, Urin und altem Schweiß. Andrew Farmer hatte sich in den Schlafbereich des alten Wohnmobils zurück gezogen. Manchmal lauschte Matt an der nur angelehnten Luke, die Fahrerkabine und Heckaufbau trennte. Irgendjemand atmete gleichmäßig da hinten, irgendjemand warf sich auf einer knarrenden Pritsche hin und her. Aruula? Er hätte gern ihren Namen geflüstert, wollte aber vermeiden, einen Schläfer zu wecken. Also weiter gegrübelt. Wann würden die Londoner eintreffen? Wovon sollten sie sich bis dahin ernähren? Welches Schicksal hatte bestimmt, dass ausgerechnet Steve im EWAT zurückblieb? Und was war an dieser Barbarin aus der Eingeborenensiedlung, das ihn so beunruhigte? Nervös fummelte er an der Verriegelung des Handschuhfachs herum. Das Schloss sprang auf, die Verblendung polterte in den Fußraum. Yllritz hörte auf zu schnarchen, seufzte, schmatzte, schnarchte weiter. Matt zog eine kleine Taschenlampe aus einer seiner Beintaschen und leuchtete in das Fach. Eine große Spinne huschte daraus hervor. Blitzschnell seilte sie sich an einem Faden in den Fußraum ab. Zwei Käfer schlüpften durch die Löcher in der Wand zischen Motorraum und Handschuhfach. Eine Menge Dreck häufte sich auf etwas, das wie ein Buch aussah. Der Mann aus der Vergangenheit schob ihn nach hinten, zog heraus, was er für ein Buch hielt. Es zerbröselte ihm in den Fingern. Nur noch einen Fetzen Karton hielt er schließlich fest – die Reste der Schutzhülle einer Russlandkarte. Matts Neugier war geweckt. Er fischte einen Gegenstand aus dem Handschuhfach, der sich im Licht der Stablampe als Überrest einer Mundharmonika erwies. Zwischen rostigen Blechblenden verrottetes Holz. Auch eine Meerschaumpfeife
fand er, Plastikhülsen voller Staub – ehemalige Tampons – und einen flachen, ellipsenförmigen Gegenstand, den er solange auf an seinem Hosenstoff abrieb, bis rote Farbe und ein Balkenkreuz sichtbar wurden: ein Schweizer Taschenmesser! Er versenkte es in einer seiner Brusttaschen, kramte weiter... Hinten im Schlafbereich stieß jemand einen halb erstickten Schrei aus. Etwas polterte zu Boden. Jemand fluchte in der Sprache der Wandernden Völker, und etwas klatschte, als hätte ein Handrücken eine Wange getroffen. Matt fuhr herum, stieß die Luke auf und leuchtete in die Dunkelheit: Selina kniete neben der Seitentür und rüttelte an der Klinke; Esu schlug mit einer Flasche auf Andrew Farmer ein, der schützend beide Arme hob, und Gruka hockte auf Aruula und würgte sie. »Was...?« Matt brauchte einen Moment, um die Szene zu begreifen. Dann rappelte er sich hoch und zwängte sich durch die Öffnung. »Auseinander!« Jemand umklammerte seine Hüften und hielt ihn in der Fahrerkabine fest – Yllritz, natürlich! Matt strampelte nach Leibeskräften, versuchte den Driller aus dem Hüftholster zu ziehen. Die Seitentür sprang auf, Selina fiel in die Dunkelheit nach draußen. Der schwarze Lockenkopf mit der hünenhaften Gestalt ließ vom inzwischen bewusstlosen – oder toten? – Andrew ab und huschte ihr hinterher. Aruula zerkratzte der Angreiferin das Gesicht, bohrte ihren Daumen in deren linke Augenhöhle, bis Gruka ihren Würgegriff endlich aufgab. Hinter Matt, im Führerhaus, warf sich Yllritz mit seinem ganzen Gewicht auf seine Beine und seinen Unterleib. Matt stieß seinen Ellenbogen aufs Geratewohl zurück, erwischte irgendetwas Weiches. Für einen Augenblick wich die Last des fremden Körpers von ihm, nur an den Beinen hielt der Kerl ihn jetzt noch fest. Endlich erwischte der Mann aus der Vergangenheit den Driller und zog ihn. Er stieß ihn seitlich
hinter sich, wo er den Körper des Barbaren spürte, und drückte ab. Die Sorge um seine Gefährten ließ ihm keine Wahl. Der Klammergriff um seine Hüfte löste sich augenblicklich. Die Explosion ließ das Gefährt erbeben. Von dem Knall aus der Ohnmacht gerissen, fuhr Farmer hoch. »Selina!«, brüllte Matt. »Sie ist draußen, Andrew! Der Mistkerl ist hinter ihr her!« Farmer kämpfte sich hoch, torkelte zur Tür, sprang hinaus in die Nacht. Durch die Luke wollte Matt sich in den Schlafbereich zwängen, doch er blieb mit der Gürtelschnalle irgendwo hängen, vielleicht auch mit dem Halfter oder dem Funkmodul in der Beintasche. Er rutschte zurück in die Fahrerkabine, um sich zu befreien. Seine Hand tastete hinter sich in die Dunkelheit. Er berührte den verbrannten Fellmantel des Toten – und schließlich einen straff gespannten Sicherheitsgurt. »Shit!« Yllritz schien den Gurt um seine Beine gewickelt zu haben. Matt hing fest. Aruula und Gruka wälzten sich schreiend und fluchend der offenen Tür entgegen. Eine hielt die andere umklammert. Auf einmal ging ein Ruck durch das Fahrzeug. Es setzte sich in Bewegung, holperte über Wurzelstrünke und Geröll. Dem Steilufer entgegen...! *** Aruula packte Gruka an den Ohren, schlug ihren Kopf gegen die Seitenwand, rammte ihr die eigene Stirn gegen das Nasenbein. Für einen Moment ließ die wütende Gegenwehr der wilden Frau nach. Aruula packte sie an ihrem Fellmantel und riss sie hoch, um sie aus dem Wagen zu stoßen. In diesem Augenblick merkte sie, dass der Wagen sich bewegte. Sie hielt inne, blickte zu Maddrax. Er fluchte, rüttelte an irgendetwas, das hinter ihm in der Fahrerkabine war und ihn festhielt. Das Licht seiner Lampe blendete Aruula.
Diesen kleinen Moment der Unaufmerksamkeit nutzte ihre Gegnerin aus – die Faust der Fremden krachte gegen Aruulas Schläfe. Ihr schwanden die Sinne; das Licht von Maddrax' Lampe erlosch. Starke Arme umklammerten sie, rissen sie um, und sie fiel – fiel beängstigend lange, und statt auf den harten Boden des Wagens prallte sie im weichen, feuchten Waldboden auf. Über ihr, schemenhaft im Mondlicht, war das verrußte Gesicht ihrer Feindin. Sie hörte die Äste unter den Rädern des Wagens krachen, hörte schwere Schritte stampfen, dachte an Maddrax, an das Steilufer, an den Fluss. Irgendwie bekam sie den rechten Arm frei. Mit aller Kraft drosch sie ihre Faust gegen Grukas Kehlkopf. Die röchelte, hielt sich den Hals fest, kippte zur Seite. Aruula sprang auf. Eine maschinenartige Gestalt aus Metall stemmte sich gegen das Heck des Wagens, schob ihn Meter um Meter dem Abgrund entgegen. Schneller und schneller rollte das Gefährt. »Maddrax!«, brüllte die Barbarin. Warum sprang er nicht aus dem Wagen? »Maddrax...!« Aruula rannte los. Zwei Hände schlossen sich um ihren Knöchel – lang schlug sie hin. Es krachte und knallte, Geröll und etwas Schweres donnerte die Böschung hinunter. Gruka warf sich auf sie, packte sie im Haar, riss ihren Kopf hoch. Sie starrte zum Steilufer: keine Gestalt aus Metall mehr, und keine Wagenhütte... *** Die Lampe war ihm entglitten. Irgendwo unter ihm, zwischen Spinnweben, Fellbündel und einem rostigen Topf schimmerte ihr Lichtschein. Der Raum darüber war jetzt fast dunkel, vor der mondhellen Seitentür sah Matt die Konturen der beiden ineinander verkrallten Frauen. »Aruula!«, keuchte er, und schon wischte die Dunkelheit sie
weg. Die Tür schlug zu, pendelte wieder auf. Niemand mehr zu sehen. »Aruula!«, schrie er. Keine Antwort. Sein Hinterkopf schlug gegen den Lukenrahmen, weil das Uralt-Wohnmobil über einen Wurzelstrang holperte. Schneller und schneller bewegte sich das Fahrzeug, und es rollte auf das Steilufer zu; eindeutig und unzweifelhaft! Matt schob sich zurück Richtung Fahrerkabine. Er würde sich aus diesem verdammten Sicherheitsgurt befreien oder sterben. Im gleichen Augenblick, als er das dachte, neigte der Bug des Fahrzeugs sich und sein Heck stieg hoch. Bettgestelle, Geschirr, Matratzen und Decken stürzten ihm entgegen. Topf und Stablampe befanden sich nicht mehr unter, sondern über ihm. Sie prallten ihm auf die Brust, zusammen mit etwas Langem, Metallenen. Ihn selbst riss es aus der Luke nach hinten, nach unten. Über ihm schlug die Luke zu. Er hielt sich an dem Metallstück fest – es war Aruulas Schwert – und prallte rücklings gegen die Windschutzscheibe. Neben ihm schwebten die Beine des toten Eingeborenen, und er fühlte sich für Augenblicke schwerelos. Geröll scheuerte gegen den Unterboden, Gestein knallte gegen die Felgen, und ohnmächtig den Kräften der Beschleunigung ausgeliefert, wartete Matt darauf, dass der Wagen sich überschlug. Aus irgendeinem Grund tat er das nicht. Der Aufprall auf der Wasseroberfläche riss Matt zurück auf die Windschutzscheibe. Sein Kopf schlug hart auf. Neben ihm prallte der Griff von Aruulas Schwert gegen die Scheibe. Plötzlich klangen alle Geräusch gedämpft – Scharren, Scheuern, Krachen –, als würden sie aus einer anderen Welt stammen. Sein Hinterkopf lag im Wasser, seine Rechte erwischte den Toten, seine Linke das Schwert. Mit beiden kippte er gegen die Trennwand zwischen Fahrerkabine und Schlafbereich, weil die Schnauze des Wagens sich jäh aus dem Wasser bäumte.
Die Stablampe leuchtete auf einmal zwischen seinen Knien unter der Beifahrerbank im Fußraum. Der Fahrzeugbug senkte sich nach unten. Matt prallte mit dem Nacken gegen die Armaturen. Der Bug tauchte langsam wieder aus dem Wasser, schaukelte auf und ab, und allen schlimmen Erwartungen Matts zum Trotz pendelte die Längsachse des Wohnmobils sich in der Horizontalen ein. Aruulas Schwert schlidderte an der Trennwand entlang und schlug an der Beifahrertür auf. Der Tote rutschte kopfüber in den Fußraum unter dem Lenkrad. Matt schob den rostigen Topf von seinen Schenkeln und griff nach der Stablampe auf der Beifahrerbank. Sein Kopf schmerzte, der Rücken seiner Uniform war nass, kaum spürte er seine Hände. Er warf sich auf die Sitzbank, beleuchtete die Windschutzscheibe – ein Loch klaffte in ihr. Milchig zog sich eine Spinnennetzstruktur durch das Glas rund um das Loch. Das Mondlicht brach sich gespenstisch darin. Er richtete die Lampe auf das Steuerrad. Fuß und Unterschenkel des toten Barbaren lagen darauf. Der ausgefranste Sicherheitsgurt straffte sich zwischen dem Sitz und seinem linken Bein. Matt langte nach dem Schwert seiner Gefährtin, doch es fehlte eine Handspanne, um es zu greifen. Nur keine Panik!, hämmerte er sich ein. Cool bleiben, Commander! Das Wohnmobil schwankte; im linken Seitenfenster sah er das Steilufer sich entfernen. Die Strömung trug das Gefährt davon. Matt erinnerte sich an die Reifenarmierung und an die Rundhölzer am Unterboden. Sie stabilisierten den Wagen auf den Fluten. Das Taschenmesser! In meiner Brusttasche! Er zog es heraus. Es kostete ihn unendliche Mühe, die eingerostete Klinge auszuklappen. Natürlich war sie stumpf, dennoch widerstand ihr das poröse Material des halb verrotteten Sicherheitsgurts nicht lange. Endlich frei, sank Matt in die
Felle der Beifahrerbank. Er leuchtete nach rechts und nach links – durch die unteren Türfugen drang Wasser in die Fahrerkabine. Auch aus dem Handschuhfach tropfte Wasser herein. Er packte Aruulas Schwert. Dann drehte er sich um, stieß die Luke auf und leuchtete ins Innere des Heckaufbaus. Der Wasserdruck hatte die Außentür zugeschlagen, doch auf dem Boden plätscherte und gurgelte es. Er dachte an den Stausee, der sich wieder zum Fluss verengte, er dachte an die zunehmende Strömungsgeschwindigkeit, und er dachte an die marode Staumauer. Plötzlich wusste er, dass er so schnell wie möglich aussteigen musste. Solange das Ufer nicht allzu weit entfernt war, rechnete er sich noch eine Chance aus. Doch da erschütterte ein Schlag das schwimmende Gefährt, und gleich darauf noch einer. Es kam vom Dach. Irgendjemand bearbeitete es mit einer Axt...! *** Den Feind samt dem Schrottwagen den Naturgewalten des Flusses ausliefern? Keinen Augenblick hatte er daran gedacht. Zu gering die Wahrscheinlichkeit seiner endgültigen Neutralisation. Und diesmal sollte Mefju'drex nicht entkommen können, diesmal wollte Grao'lun'kaan sicher gehen. Er klammerte seine Metallfinger um das Rostgestänge am Heck des alten Wagens – eine Vorrichtung zur Befestigung von Transportlasten, vermutete er richtig – als dieser in die Tiefe stürzte. Er zog seine Metallbeine eng an seinen Metallrumpf, als der Wagen über den Steilhang holperte. Das hohe Gewicht seines Kunstkörpers verhinderte, dass der Wagen sich überschlug, und bewirkte, dass sein Bug rasch
wieder aus dem Wasser auftauchte. Am Rostgestänge kletterte er auf das Dach, während das Gefährt bedrohlich hin und her schwankte. Bis knapp unterhalb der Reifen-Armierung war der Wagen im Stausee versunken. Die Strömung erfasste ihn und trug ihn Richtung Süden. Grao'lun'kaan kniete auf dem Dach. Sein Geist tastete nach der Bewusstseinsstruktur des Feindes. Er berührte sein zentrales Nervensystem, vermochte aber nicht in es einzudringen. Gleichgültig: Er hatte Mefju'drex aus der schützenden Hülle des fremden Panzers gelockt, er hatte ihn von seinen Gefährten und potentiellen Helfern isoliert, sogar seinem vertrauten Lebenselement hatte er ihn entrissen – von der festen Planetenoberfläche in das tückische Wasser. Nun saß der Feind in der Falle, ausgeliefert dem Todesurteil des Sols, ausgeliefert seinem Vollstrecker: ihm, Grao'lun'kaan. Eine Empfindung, die der wilden Freude eines spielenden Kindes vergleichbar war, oder der Befriedigung eines Mathematikers nach erfolgreicher Beweisführung, erfüllte das Gehirn des Maschinenwesens. Scharrende Geräusche drangen aus der Steuerkabine des alten Fahrzeugs. Nur Geduld, Mefju'drex, gleich komme ich zu dir, dachte der Daa'mure. Er schaltete seine optischen Sensoren in den Nachtsichtmodus und richtete sie abwechselnd auf das noch träge vorbei gleitende Ufer, auf das Wasser und auf die Staumauer. Nicht lange, und er konnte die Beschleunigung der Strömung und die Entfernung der Staumauer in Relation zueinander setzen und so den Zeitpunkt ermitteln, an dem der Wagen gegen den Wall stoßen würde. Zeit genug, um den Feind zu neutralisieren. Grao'lun'kaan tastete das Wagendach ab. Irgendeine Kohlenstoffverbindung, synthetisch hergestellt und trotz ihres hohen Alters an keiner Stelle brüchig. Er ballte seine
Metallhände, schlug mal hier hin, mal dort hin, suchte nach dünnen Stellen. Sollte der Feind ruhig merken, dass sein Jäger ihm im Nacken saß. Und wenn er wollte, sollte er ruhig den Wagen verlassen und versuchen ans Ufer zu schwimmen. Das war inzwischen hundertfünfzig Meter entfernt, und Grao'lun'kaan hatte ein Lasergewehr. Dann würde er eben auf Jeecob'smeis' Hochspannungsaggregat verzichten müssen. Im Grunde war es egal, auf welche Weise er Mefju'drex letztlich neutralisierte. Seine Faustschläge donnerten auf das Dach nieder. Das Material gab nicht nach. Schließlich fand er in der Mitte der Dachfläche eine rechteckige, in das Dach versenkte Luke aus einem anderen, halb durchsichtigen Kunststoff; aus einem nachgiebigeren Kunststoff vor allem. Nun gut, die Luke war zu klein für seinen Metallkörper. Aber wäre sie erst einmal zerstört, hätte er wenigstens einen Ansatzpunkt. Schon der dritte Schlag seiner Metallfaust verursachte einen Sprung in der Luke. Der fünfte zertrümmerte sie. *** Matt richtete den Lampenstrahl und den Drillerlauf auf die Decke des Schlafbereichs. Wohl eine Viertelstunde schon erzitterte das Wohnmobil von Axt- oder Keulenhieben. Oder kam es ihm nur so lange vor? Möglicherweise war der Mister Universum im Lendenschurz dem Wagen hinterher gesprungen und versuchte ihn jetzt zu öffnen, wie man zu besseren Zeiten eine Sardinenbüchse geöffnet hatte. Trotz des Lichtes konnte Matt nicht erkennen, an welcher Stelle das Dach malträtiert wurde. Und selbst wenn er den Kerl da oben hätte lokalisieren können, hätte er nicht gefeuert. Wusste er denn, ob die Explosivgeschosse des Drillers die Wagendecke durchschlagen konnten? Am Ende explodierten sie noch im Inneren des Schlafbereichs.
Dann ein Schlag von neuer Geräuschqualität – trocken, splitternd, ohne großen Nachhall. Der Lichtbalken traf das Dachfenster: Ein Riss zog sich quer über das Rechteck aus Plexiglas. Wieder ein Schlag – Plexiglassplitter regneten in den Innenraum. Matt hielt den Atem an. Aus schmalen Lidern folgte sein Blick dem Lampenstrahl. Dessen Licht wurde plötzlich von einem zangenartigen Gebilde reflektiert, das sich von außen um die Fassung des zerstörten Dachfensters schloss. Was war das? Matt zielte auf die Öffnung, wagte aber nicht zu schießen. Es knirschte, Metall scheuerte über Metall, dann wieder Splittern und Krachen – jemand riss die Fensterfassung nach außen. Kurz darauf schlug etwas im Wasser auf. Matt blickte zum Ufer – hundertfünfzig Meter entfernt etwa und nur in undeutlichen Umrissen zu erkennen, glitten die Steilböschung und auf ihr die Konturen des Flusswaldes vorbei. Ziemlich schnell; die Strömung schien stark zu sein. Vermutlich verengte sich der See längst wieder zum Fluss. Vorbei an netzartigen Bruchstellen in der Frontscheibe versuchte er die Staumauer zu erkennen. Trotz der Mondsichel konnte er sie nicht vom Nachthimmel und dem dunklen See unterscheiden. Wie weit mochte sie noch entfernt sein? Zwei Kilometer? Anderthalb? Matt verwarf den Plan, ans Ufer zu schwimmen. Möglicherweise hatte der muskulöse Barbar sich ja mit einem Speer oder – noch schlimmer – mit Pfeil und Bogen bewaffnet. Er würde ihm ein leicht zu treffendes Ziel bieten. Nein. Matt steckte den Driller ein, packte Aruulas Schwert und machte Anstalten, in den Heckraum zu steigen. Er musste den Kampf Mann gegen Mann suchen. Was blieb ihm sonst übrig? Wäre doch gelacht, wenn er mit einem barbarischen Schönling wie Esu nicht fertig werden würde. Auf einmal schwankte der Wagen bedrohlich, und schrilles Splittern ließ seine Karosserie vibrieren. Matt, schon halb
durch die Zwischenluke gezwängt, erstarrte. Er richtete den Lichtstrahl an die Decke: Statt rechteckig und klein, zeichnete sich die Öffnung dort oben jetzt unförmig und doppelt so groß wie zuvor gegen den Mondhimmel ab. Welche noch so große Wut konnte einen Menschen dazu bringen, seinen Gegner derart kompromisslos zu verfolgen? Und plötzlich spürte Matt die Gegenwart des Fremden, Unsagbaren. Seine Nackenhaare richteten sich auf. Der Lichtstrahl seiner Stablampe zitterte auf einmal. Scharren und Stampfen außerhalb des Wagens auf dem Dach. Der Lichtbalken der Lampe spiegelte sich in Metall... nein: In einem Unterschenkel... nein: in einem Unterschenkel aus Metall! Und Matt hatte eine völlig unsinnige Assoziation: Der Terminator...?! Sicher nicht. Doch in der Tat streckte jemand sein Bein durch das aufgerissene Dach, und das Bein war aus Metall. Etwas wie Grausen wogte zwischen Matts Bauch und Kehle hin und her, trieb ihm kalten Schweiß auf die Stirn und Wasser in die Augen. Er hob den Driller, drückte ab und schlüpfte blitzschnell zurück in den Fahrerraum. Er hörte das Heulen des Geschosses, hörte, wie es sich in der Nacht verlor – Explosionslärm hörte er nicht. Daneben. Er atmete einmal tief durch, riss Driller und Lampe erneut hoch, stieß die Luke zum Schlafbereich auf – der Lichtstrahl bohrte sich durch die leere Dachöffnung in die Nacht hinaus. Nichts mehr zu sehen von einem Metallbein. War er übergeschnappt? Sollten seine Sinne ihn getäuscht haben? Metall schabte über Kunststoff. Etwas Rohrförmiges wurde durch die klaffende Dachlücke ins Innere des Wagens geschoben. Matts Lampe riss eine Mündung und einen Waffenlauf aus dem Halbdunkeln – ein Lasergewehr! Er ließ sich zurück in den Fahrerraum fallen. Die Luke schlug zu – doch der Laserstrahl ließ sich nicht aufhalten. Knapp über
Matthew hinweg zischte er in die Windschutzscheibe. Ihr Zentrum schmolz, ihre Peripherie brach klirrend zusammen. Schützend hob Matt die Arme über den Kopf. Schmelzende Scherben trafen seine Handrücken. Er schrie auf, warf sich gegen die Beifahrertür und tauchte die Hände in das Wasser im Fußraum. Glühende Scherben fielen auf den Sitz, auf die Leiche unter dem Steuerrad, in das Wasser vor den Pedalen. Es zischte. Dampf stieg auf, abscheulicher Geruch schmelzenden Kunststoffs erfüllte die Kabine. Der schmale Durchgang zum Schlafbereich brannte. Matt packte das Schwert und stieß es in die Flammen. Die brennende Luke fiel in den Heckraum. Das Feuer erlosch zischend im mittlerweile knöchelhoch stehenden Wasser. Matt schrie, um trotz Panik atmen zu können. Mit Stablampe und Driller zielte er durch die Öffnung zur Dachluke: Zwei Metallbeine ragten ins Innere des Wagens. Matt drückte ab. Gleich der erste Schuss traf – den ausgefransten Rand der Dachöffnung. Der Explosionsblitz blendete ihn, hochbeschleunigte Kunststofftrümmer prasselten gegen alle Wände des Schlafbereiches, etwas Schweres scheuerte über das Dach, und kurz darauf schlug etwas im Wasser auf. Außerhalb des Wagens gurgelte und plätscherte es. Dann: Ruhe. Sekunden verstrichen. Kein Geräusch mehr außer dem Knarren des dümpelnden Gefährts. Nichts rührte sich. Schweratmend hing Matt auf der Beifahrerbank. Qualm zog durch den leeren Rahmen der zerstörten Windschutzscheibe ab. Was war das gewesen? Ein Roboter? Wer benutzte solche Laserwaffen? Die Russische Bunkerliga? Das Herz trommelte gegen seinen Brustkorb. Kaum brachte er seine zitternden Glieder unter Kontrolle. Der Qualm verzog sich aus dem Fahrerhaus. Matt blickte in die Nacht. Mondschein erhellte die Staumauer. Sie war noch höchstens zwölfhundert Meter entfernt...
*** ... Schlag auf Schlag sauste der Ast auf Gruka nieder. Ungezielt drosch Aruula auf ihre Gegnerin ein. Die Fremde mochte größer und schwerer sein als sie selbst – letztlich aber entschied das in tausend Kämpfen gestählte Nervenkostüm der Kriegerin von den Dreizehn Inseln den Kampf; ihr geschärfter Instinkt, ihr unbeugsamer Wille und ihre größere Ausdauer. Grukas Gegenwehr ließ nach, und plötzlich hielt Aruula nur noch deren Fellmantel und den Astprügel in der Hand: Nackt hastete Gruka ins Unterholz. Mondlicht lag auf ihrem bleichen Rücken, ein leichtes Ziel. Aruula holte aus, der Prügel wirbelte durch Luft und traf die Flüchtende am Hinterkopf. Gruka seufzte und brach zusammen. Zwei Schritte, und Aruula kniete auf ihr. Ihre Rechte wirbelte um das zerschundene Gesicht der Anderen, traf abwechselnd die linke und rechte Wange. »Wer bist du?! Was wollt ihr von uns?! Was hat dieser Maschinenmensch mit Maddrax gemacht!?« Aruula brüllte ihre entfesselte Wut heraus. Bis grelles Licht sie, ihre Gegnerin und die umgebenden Büsche aus der Nacht riss. Eine Männerstimme rief einen Befehl. Aruula verstand ihn nicht. Sie fuhr herum, schloss geblendet die Augen. »Hör auf, Aruula!«, bat Selinas Stimme. »Hör auf, sonst erschießt er uns!« Der Scheinwerferkegel wich von ihrem Gesicht; die Barbarin öffnete die Augen. Im grellen Licht des Scheinwerfers knieten Selina und Andrew im Gestrüpp. Beiden waren die Hände auf den Rücken gefesselt. Selina blutete aus der Nase. Ihre Pilotenkombi war an den Beinen und der rechten Schulter zerrissen. Andrews Augen waren zugeschwollen, sein
Gesicht zerschlagen. Ein paar durchsichtige Splitter hingen in seinem Nacken; die Überreste seines Helms. Neben ihnen stand breitbeinig der halbnackte Esu. Auf seinem Rücken hing Andrews LP-Gewehr. Ein zweites Lasergewehr fremder Bauart richtete er auf die Londoner Technos. Mit herrischen Gesten und Kopfbewegungen bedeutete er Aruula, von Gruka abzulassen und aufzustehen. »Tu, was er sagt, Aruula«, keuchte Captain McDuncan. »Sonst ist es aus mit uns...« Aruulas Miene wurde hart. Aber sie gehorchte. Der Mann winkte sie zu sich. Widerwillig setzte Aruula sich in Bewegung. Hinter ihr hörte sie die Besiegte aufspringen. Bevor sie sich nach ihr umdrehen konnte, warf ein harter Schlag sie zu Boden. Blitzschnell drehte sie sich auf den Rücken und zog drohend die Beine an. Im Licht des Scheinwerfers erkannte sie die Tätowierung, die sich von der Schulter bis zum haarlosen Schoß der Fremden zog: Ein Komet samt Schweif und Koma. Während die Fremde sie fesselte und dabei immer wieder schlug, dämmerte es Aruula nach und nach, wo sie diese Frau schon einmal gesehen hatte... *** Näher und näher rückte die Staumauer. Bald konnte Matt Einbrüche und Bäume auf der Dammkrone erkennen. Vielleicht achthundert Meter trennten ihn noch von dem dunklen Wall. Vielleicht auch neunhundert, aber keinesfalls mehr. Den Driller in der Rechten, Aruulas Schwert in der Linken hing er noch immer auf der Beifahrerbank. Sein Atem und sein Herzschlag beruhigten sich nur langsam. Seine Füße waren nass; bis zu den Knöcheln standen seine Stiefel bereits im Wasser. Das Karussell in seinem Schädel beruhigte sich. Erste
klare Gedanken stellten sich wieder ein. Nur ein dumpfer Druck blieb in seinem Hirn, der nicht weichen wollte. Der Mann aus der Vergangenheit setzte sich auf und fasste den dunklen Wall ins Auge. Schneller und schneller trug die Strömung das Wohnmobil darauf zu. Gab es an solchen Staumauern nicht Metallleitern, an denen man von der Dammkrone zur Wasserlinie klettern konnte? Er versuchte sich zu erinnern, glaubte dergleichen in seiner Kindheit mal gesehen zu haben. Doch wo verliefen solche Leitern – in der Mitte der Staumauer oder an ihren Seiten? Schließlich verwarf er den Gedanken. Er steckte den Driller ein, ließ das Schwert liegen und kroch in den Schlafbereich. Der Schein seiner Stablampe wanderte über Gerümpel und Trümmerstücke, die im mittlerweile kniehohen Wasser schwammen. Er fischte ein Brett aus dem Wasser. Wenn er das Fahrerfenster absenken oder herausschlagen konnte, musste es möglich sein, das Brett als Paddel zu benutzen. Vielleicht gelang es ihm auf diese Weise das Ufer zu erreichen; oder wenigstens in Ufernähe zu gelangen, bevor der Wagen gegen den Damm prallte. Er schob sich zurück in die Fahrerkabine. Plötzlich stieg das Heck an. Er hörte scharrende Geräusche hinter sich, und der Bug neigte sich der Wasserlinie zu. Matt stieß sich mit den Beinen vom Sitz ab, robbte in den Schlafbereich zurück, warf sich herum und richtete die Lampe auf den leeren Fensterrahmen der Windschutzscheibe: Metallfinger umklammerten den unteren Rahmen, ein Schädel erschien und Metallschultern. Wie eine Hand aus Eis griff Entsetzen nach seinem Herzen. Er langte nach dem Schwert auf der Beifahrerbank – im letzten Moment, bevor es in den Fußraum rutschte – und stieß es gegen die Metallbrust des Ungeheuers. Gleichzeitig versuchte er den Driller zu ziehen. Als er ihn endlich schussbereit in der Rechten hielt, stieß seine Linke mit dem Schwert ins Leere.
Wasser gurgelte und spritzte durch den leeren Fensterrahmen. Der Bug richtete sich auf, schaukelte einige Male auf und ab, und endlich schwamm das Wohnmobil wieder ruhig auf die Mauer zu. Das Kunstgesicht! Die durchsichtige Schädelschale! Das Gekröse des Hirns darunter...! Jetzt, da er zu wissen glaubte, mit wem er es zu tun hatte, arbeitete Matts Verstand messerscharf und kühl. Ein Encephalorobotowitsch, ein Mitglied der Russischen Bunkerliga! Warum aber griff das Maschinenhirn ihn an? Siedend heiß durchfuhr es Matt von den Zehenspitzen bis in die Haarwurzeln: Sollte der Encephalorobotowitsch etwa Steve und den EWAT auf dem Gewissen haben? Wut mischte sich in seine Fassungslosigkeit. Das Maschinenhirn würde wieder auftauchen, keine Frage. Matt sah sich um, fixierte schließlich den mondhellen Nachthimmel über der zerklüfteten Dachöffnung. Von dort oben aus würde er sämtliche Seiten des Wohnmobils sichern können. Und sobald der Angreifer erneut aus dem Wasser auftauchte... Matt steckte den Driller ins Holster, schnallte sich Aruulas Schwert mit einem Stoffstreifen, den er aus einem Laken riss, auf den Rücken, und beugte sich in die Fahrerkabine. Er packte den Fuß des toten Yllritz und zerrte den Leichnam aus dem Fußraum in den Durchschlupf zwischen Fahrerhaus und Schlafbereich. Der kleine aber massige Körper verstopfte die Luke hinreichend. Das würde ihm wertvolle Sekunden bringen, sollte der Encephalorobotowitsch ein zweites Mal im Rahmen der Windschutzscheibe auftauchen, bevor Matt sich auf das Dach hinauf gezogen hatte. Dann begann er Hocker, Matratzen und Bretter im Wasser unter der Dachöffnung aufzuschichten. Plötzlich neigte der Wagen sich zur Fahrerseite. Matt taumelte gegen die Wand. Neben ihm wurde die Tür heraus gerissen. Sie klatschte auf das Wasser, und ein schwerer Körper stemmte sich ins Innere des Wagens hinein.
Matt wagte nicht zu schießen; zu gering war die Distanz, und im Gegensatz zu Yllritz würde das Projektil nicht im Körper explodieren, sondern auf der Oberfläche. Stattdessen trat er zu, erwischte den Kunstschädel und warf ihn in den Nacken. Das verschaffte ihm eine Sekunde Luft. Matt riss das Schwert hervor und schlug auf die Metallfinger, die im Mondlicht rechts und links des leeren Türrahmens schimmerten. Etwas fiel ins Wasser – zwei oder drei metallene Fingerglieder. Funken sprühten, als Matt die Metallschulter traf. Mit aller Kraft, zu der ein Verzweifelter fähig ist, trat er gegen die Brust des Maschinenhirns – endlich ließ der Kunstmensch den Türrahmen los. Im Rückwärtsfallen aber schnappte sein rechter Arm nach Matts Knöchel und riss ihn um. Das Mörderhirn hielt ihn fest, während es im Wasser versank. Stück für Stück zog es den Mann aus der Vergangenheit durch die Türöffnung. Schon verschwand Matts Knie unter der Wasseroberfläche, sein Gesäß scheuerte Zentimeter um Zentimeter über die Türschwelle. Mit der Linken packte er die Schwertklinge in der Mitte und drückte sie von innen gegen die Türöffnung, sodass er sich an ihr abstützen konnte. Mit der Rechten griff er nach dem Driller, zielte zwischen seinen Beinen hindurch ins Wasser, drückte ab. Detonationslärm hallte von der nahen Staumauer wider. Eine Wasserfontäne schoss knapp zwei Meter entfernt aus dem See. Die Stahlklammer um seinen Knöcheln ließ los. Die Druckwelle schleuderte ihm die Beine in die Höhe; samt Schwert schlug er zwischen den Trümmern unter der Dachöffnung auf. Etwas prallte gegen den Unterboden des Fahrzeugs. Sekundenlang lauschte Matt. Unter ihm scheuerte Metall gegen Holz und dann, unter dem Bug, gegen Metall. Über den Toten hinweg spähte er durch die leere Frontscheibenöffnung: Die Staumauer war jetzt so nah, dass sie sein Blickfeld
vollständig ausfüllte und er die Krone nicht mehr erkennen konnte. Das unheimliche Scheuern und Schaben hörte nicht auf, und dann senkte sich der Fahrzeugbug erneut nach unten. Matt wartete nicht ab, bis das Maschinenhirn im Fensterrahmen auftauchte. Er steckte den Driller ins Holster, das Schwert in die Stoffschlinge, streckte die Arme nach den Rändern der Dachöffnung aus und zog sich nach oben. Schwer atmend ließ er sich neben dem Loch fallen. Ein Blick auf die Staumauer – noch dreißig oder vierzig Meter entfernt! Er zog den Driller, streckte den Arm in die Dachöffnung, hielt einfach in Richtung Fahrerraum und drückte ab. Schuss um Schuss explodierte. Das Fahrzeug schüttelte sich, die Karosserie dröhnte. Matt feuerte weiter. Er wollte das Maschinenhirn am Einstieg hindern, wollte es am Kühlergrill festhalten, bis der Wagen die Mauer rammte. Ein Strudel packte das Fahrzeug, drehte es einmal um sich selbst, wirbelte es ein zweites Mal um seine Vertikalachse, und dann kam der Aufprall. Ein Knirschen ging durch das Mauerwerk. Obwohl Matt sich an der Kante der Dachöffnung festhielt, riss ihn die Wucht des Zusammenstoßes weg und schleuderte ihn ins dichte Gestrüpp an der Staumauer. Einen halben Meter etwa hatte sich die Fahrzeugschnauze in den Pflanzenteppich gebohrt. Matt konnte nicht erkennen, ob seine Strategie aufgegangen und das Mörderhirn zwischen Mauer und Kühlergrill eingeklemmt war. Er griff ins Geäst und kletterte nach oben, der Dammkrone entgegen. Seine Finger und Handflächen, aufgeschürft von der Schwertklinge und der scharfkantigen Dachöffnung, brannten. Der Mann aus der Vergangenheit achtete nicht darauf. Meter um Meter arbeitete er sich an Mauerrissen und im Gestrüpp hängendem Treibgut vorbei durch den Pflanzenteppich. Im Inneren des Gesteins knirschte es, steigerte sich zu dunklem Grollen, und dort hinein mischte sich das Geräusch rauschenden Wassers.
Keuchend hielt Matt inne und blickte zurück. Etwa zwölf Meter unter ihm schob sich das Wohnmobil in die Mauer hinein. Zu einem Drittel steckte das Fahrzeug bereits im Leck, das es in das Bauwerk gerammt hatte. Am Heck stand der Encephalorobotowitsch und starrte zu ihm hinauf. Er hatte seinen Strahler verloren. Als hätte ihm jemand einen Eiszapfen ins Hirn gerammt, so schmerzhaft klar füllte die Wahrheit Matts Verstand aus: Der Wasserdruck würde die Lücke in der sowieso schon rissigen Staumauer rasch vergrößern. Matt griff ins Gestrüpp. Schneller. Schneller! Schräg vom Wohnmobil und dem Dammriss weg kletterte er nach oben. Jedes Einatmen war ein Keuchen, jedes Ausatmen ein Stöhnen. Endlich die Dammkrone! Er griff nach einer verkrüppelten Birke, die sich ihm wie ein Schutzengel entgegen neigte. Er zog sich hoch, sog keuchend die Luft in die stechenden Bronchien, stieß sie laut stöhnend aus. Er ging auf die Knie, spähte hinunter. Zu zwei Dritteln steckte das Wohnmobil jetzt in der Dammlücke – und keine fünfzehn Meter unter Matt kletterte sein Jäger durch das Mauergestrüpp nach oben! Der Mann aus der Vergangenheit zog den Driller, zielte genau, drückte ab. Nichts. Keine Munition mehr. Weg hier! Er kam hoch, hielt sich an Birken und Büschen fest, stolperte zum Ostufer, stürzte, stand wieder auf, hetzte weiter, weiter, weiter... Die Mauer erbebte. Matt blieb stehen und blickte zurück. Die Karosserie des Wohnmobils scheuerte gegen auseinander brechendes Gestein. Die Strömung drückte das Fahrzeug endgültig durch die Lücke. Der Wasserdruck riss Beton aus der Öffnung, donnernd strömten die Wassermassen dem Fahrzeug hinterher. Auf der anderen Seite des Staudamms, im Tal, erhob
sich ein Lärm, als würde eine Eislawine aufschlagen. Etwa sechzig Meter entfernt, knapp über dem Dammbruch, entdeckte Matt die Konturen des Maschinenhirns. Der schwere Kunstkörper schwankte. Matt wandte sich um und rannte weiter, dem Ufer entgegen. Hinter ihm schien die Welt unterzugehen: Rauschen, Donnern, Prasseln und Dröhnen erfüllten die Nacht. Seine Lungen brannten, als er die ersten Bäume des Waldes erreichte. Er sank in die Knie, sah zurück: Das Maschinenhirn stapfte dreißig Meter entfernt über die Dammkrone. Hinter ihm aber fiel Meter um Meter die Staumauer zusammen. Der Fluss hatte sich in eine einzige gigantische Stromschnelle verwandelt. In einem gewaltigen Bogen schoss er jenseits des Staudamms in die Tiefe und riss die Mauer mit sich. Matt flüchtete nicht. Er starrte auf den Encephalorobotowitsch und sah, wie die entfesselten Naturkräfte ihn samt der Dammkrone in die Tiefe rissen. Erst als er es mit eigenen Augen gesehen hatte, erhob sich der Mann aus der Vergangenheit und eilte in den Wald hinein... *** Der Mond ging unter. Wolken verhüllten die Sterne. Er musste sich in Ufernähe halten, um den Weg nicht zu verfehlen. Das Tosen und Brausen des Flusses blieb hinter ihm zurück. Im Morgengrauen erreichte Matthew Drax die Stelle, an der das Maschinenhirn ihn samt Wohnmobil in den Stausee gestoßen hatte. Er fand Spuren eines heftigen Kampfes. Im feuchten Waldboden entdeckte er Reifenspuren – zwei seltsam ineinander verschachtelte Linien, als stammten sie von einem Fahrzeug mit unterschiedlicher Achsenbreite. Ihnen folgte er, bis sie drei Kilometer weiter zum Seeufer hinunter führten.
Der See hatte sich mittlerweile in einen Strom verwandelt. Keine zweihundert Meter breit wälzte sich der Dnjepr wie ein reißender Gebirgsfluss in einem breiten Schlammfeld dahin. Es sah gespenstisch aus, und Matt war erleichtert, als die Spuren wieder in den Wald hinauf und in Richtung des Hügels führten, den er und Steve knapp sechzehn Stunden zuvor vom EWAT aus entdeckt hatten. Als er daran zurück dachte, fröstelte ihn. Er verdrängte Trauer, Entsetzen und die zahllosen Fragen, die ihm durch den Kopf gingen. Ein Maschinenhirn und seine Handlanger wollten ihn also töten. Aber warum? Egal. Es ging darum, zu überleben, Punkt. Und jetzt, da er überlebt hatte und der Encephalorobotowitsch tot und zerstört war, ging es darum, sich um das Überleben der Anderen zu kümmern. Falls sie noch am Leben waren. Bald sah er die Klosterruinen aus dem Flusswald ragen. Die Reifenspuren führten darauf zu. Zwei Stunden später lichtete sich der Wald, und Matt sah den Zugang zum Ruinenkomplex von fern – die Spuren führten auf direktem Wege hinein. Der Mann aus der Vergangenheit blieb stehen und betrachtete sie. Wie konnte es eigentlich sein, dass er Reifenspuren aber keine Spuren von Tieren oder Menschen sah, die den Wagen zogen? Hatte hier jemand am Ende einen fünfhundert Jahre alten Motor zum Laufen gebracht? Der Gedanke, dieser Jemand könnte ihn in eine Falle locken, kroch ihm durch den müden Schädel. Na und? Wenn er die Gefährten finden wollte, musste er diesen Spuren folgen, gleichgültig ob er ihr Zustandekommen begriff oder nicht. Was blieb ihm denn anderes übrig? Er ging weiter. Im ausgedehnten Innenhof des Ruinenkomplexes blickte er auf das Heck eines wuchtigen Wohnmobils aus den goldenen Zeiten vor »ChristopherFloyd«.
Zwischen einem zusammengebrochenen Turm und einer von Efeu und wildem Wein überwucherten Mauer erstreckte sich eine Terrasse. Auf ihr standen die Gerippe längst verrotteter Sonnenschirme und Reste von Tischgestellen, alle mit grüner Patina überzogen und durch Spinnennetze, Efeu und wilden Wein miteinander verbunden. Ein ehemaliges Ausflugsrestaurant, vermutete Matt. Ein grüner Vorhang aus Pflanzen verdeckte leere Fensterhöhlen und einen zerstörten und in eine Mauerlücke übergehenden Fensterrahmen nur teilweise. Hinter ihm sah Matt eine Bewegung. Im Schutz von Trümmern, Büschen und Hecken und dicht an die Mauer gepresst, pirschte er sich an das Gebäude heran. Als nach kurzer Zeit die rechte Seite und die Beifahrertür des Wohnmobils in sein Blickfeld gerieten, entdeckte er direkt davor ein zweites Fahrzeug: ein niedriges Gerät mit vier hohen Reifen – Plastiflex, was sonst? – und einem Überrollbügel an jeder Seite. Zwischen ihnen zwei aerodynamisch gewölbte Fahrgastzellen unter zwei Plexiglaskuppeln. Ein Dingi! Eine Kette verband sein Heck mit dem Wohnmobil. Also doch die Russische Bunkerliga...? *** Anderthalb oder zwei Stunden lang hockten sie aneinander gefesselt im Schlafbereich eines Wohnmobils und wurden durchgeschüttelt. Es war dunkel. Manchmal verirrte sich ein Strahl Mondlicht in ihr Gefängnis. Aruula erzählte den Gefährten, was sie gesehen und gehört hatte: einen Roboter, der das Wohnmobil mit Maddrax zur Uferböschung schob, bis es über das Steilufer kippte und im Fluss aufschlug.
Danach sprachen Selina und Andrew kein Wort mehr. Auch Aruula nicht. Jeder schämte sich auf seine Weise für die Niederlage, jeder trauerte auf seine Weise um Matthew und Steve und den EWAT, und jeder ging auf seine Weise damit um, dass die Zukunft vor ihnen gähnte wie der dunkle Eingang zu einer unbekannten Höhle. Aruula dachte an Maddrax und weinte. Vorn, im Fahrerhaus, hockte Dragurowka hinter dem Steuer. Aruula erkannte die Frauenstimme – sie fluchte hin und wieder. Die Barbarin fragte sich, wo Esu steckte und warum sie kein Motorengeräusch hörte, obwohl doch der Wagen rollte. Der Name Dragurowka war ihr wieder eingefallen, und die Umstände, unter denen sie die Frau und vor allem ihre Tätowierung zum ersten Mal gesehen hatte: in einem medizinischen Tank voller Heilplasma im klinischen Bereich von Perm II. Mindestens vierzehn Monde war das her. Nackt und bewusstlos war Dragurowka damals in der Heilflüssigkeit geschwebt. Bei einem Raketenangriff auf den Großen Peter hatte sie sich schwerste Verbrennungen und eine Lungenentzündung zugezogen. Warum sie nun hinter Maddrax und den Londonern her war, wusste Aruula sich zu diesem Zeitpunkt noch nicht zu erklären. Später erst, nachdem sie im Morgengrauen eine große Ruine erreichten und von der Russin und ihrem Begleiter in einem Kellerraum an Wandringe gefesselt wurden, begann Aruula sie zu belauschen. Die Fesseln ließen ihren Armen und ihrem Oberkörper keinen Spielraum, sich über ihre Schenkel zu beugen. Also schloss sie einfach die Augen, senkte den Kopf auf ihre Brust und konzentrierte sich in dieser Haltung auf die Gedanken des Paares, das schweigend und erschöpft auf Kisten neben der Tür saß und Trockenfleisch kaute. Aruula spürte die Stimme eines fremden Geistes in ihren Gedanken; die Stimme eines überaus starken und erbarmungslosen Geistes. Sie zuckte zurück und erschrak.
Dieser Geist hatte nur eines im Sinn: Maddrax zu töten! Und der Mann – er hieß in Wirklichkeit Modestu – und die Frau waren ihm ganz und gar verfallen. Weiter nichts als seine Sklaven waren sie! Dazu kam noch, dass sie krank waren. Was genau sie schwächte, vermochte Aruula nicht zu sagen. Irgendeine Krankheit des Kopfes – ihr Wille funktionierte nicht mehr richtig und ihr Denken war gestört. Oder lag das an der Macht, die der fremde Geist auf sie ausübte? Obwohl Abscheu und Furcht sie befielen, lauschte sie weiter. Ein Name pulsierte wie ein Gebet durch die Gedanken der beiden Russen: Grao'lun'kaan; wieder und wieder: Grao'lun'kaan. Wer war Grao'lun'kaan? Der Roboter, den sie für wenige Augenblicke am Heck des abstürzenden Wohnmobils gesehen hatte? Der Feuerfliegenkönig, der den EWAT gesprengt und Steve getötet hatte? Erschöpft und verstört zog Aruula sich aus den Gedanken der Russen zurück. Stundenlang hockten die beiden neben der Tür. Mitten im Raum hatten sie eine Lampe mit einer Trilithiumbatterie aufgestellt. Sie verbreitete ein schummriges, unwirkliches Licht. Die Kolben ihrer Lasergewehre stemmten sie zwischen ihre Beine auf den dreckigen Kellerboden. Die Bassutschok schlief irgendwann ein. Später, als ein Lichtstrahl der Morgensonne durch einen schmalen Fensterspalt in den Keller fiel, stand der Kerl namens Modestu auf, öffnete die Tür und stieg nach oben. Wieder vergingen ein oder zwei Stunden. Aruulas Zunge klebte ihr am trockenen Gaumen, ihr Magen knurrte. Irgendwo über ihnen erhob sich plötzlich donnernder Lärm, als würde eine Mauer zusammenfallen. Die Bassutschok sprang auf, lauschte mit geneigtem Kopf und huschte dann aus dem Keller...
*** Trümmer und Mauerreste türmten sich vom Innenhof aus zu einer Art Rampe auf. Birken, Haselnussbüsche und Ginster wuchsen auf dieser Rampe, und so war es keine Schwierigkeit für Matthew Drax, ausreichend gedeckt und lautlos zur Balustrade der Terrasse hinauf zu klettern. Da er nichts hörte und keine weitere Bewegung hinter dem Pflanzenteppich mehr sah, stieg er von der Balustrade. Staub und Geröll bedeckten die Terrasse, Stiefelspuren führten aus einer Mauerlücke quer über die Fläche bis zur Balustrade und wieder zurück. Alt sahen sie nicht aus. Hatte hier oben jemand nach ihm Ausschau gehalten? Ihn vielleicht sogar schon bemerkt? Matt schlich bis zu einer der zugewucherten Maueröffnungen. Dort schob er das Gestrüpp ein wenig zur Seite und spähte ins Innere des Raumes. Er sah zerbrochene Polsterstühle mit freigelegten, verrosteten Federkernen vor umgestürzten oder von herabgefallenen Deckenteilen zerstörten Tischen. An der Stirnseite, im Halbdunkeln, stand eine zerfallene Schrankwand, hüfthoch; vermutlich die Überreste einer Theke. Kein Mensch war zu sehen, kein Geräusch zu hören. Matt schob den Pflanzenvorhang ganz zur Seite und schlich auf leisen Sohlen in den ehemaligen Schankraum. Nein, hier hielt sich niemand auf. Die Spuren verschwanden zwischen den Trümmern von Tischen und Stühlen. Als seine Augen sich an das Halbdunkel gewöhnt hatten, entdeckte er zwanzig Schritte entfernt die Tür. Es sah aus, als wäre sie nur angelehnt. Er schlich hinüber – es war eine große schwere Tür mit gusseiserner Kunstschmiedeklinke. Matt griff nach ihr, zog behutsam daran. Tatsächlich: Die Tür war nur angelehnt.
Sie knarrte, während er sie aufzog. Dahinter stand etwas, das er zunächst für eine mittelalterliche Ritterrüstung hielt. Bis er in das Plastinatgesicht blickte. Matt erstarrte. Sein Verstand wähnte das Maschinenhirn zertrümmert am Grunde des Dnjepr; er war einfach nicht darauf eingestellt, es hier zu sehen. »Es war mir klar, dass Sie hierher kommen würden«, schnarrte eine elektronisch verzerrte Stimme in gebrochenem Englisch. »Rostow?«, entfuhr es Matt. Der Encephalorobotowitsch machte einen Schritt auf ihn zu, und diese Bewegung riss Matt aus seiner Lähmung. Mit aller Kraft warf er dem Maschinenhirn die Tür entgegen. Ein Schlüssel steckte im Schloss – nur vermochte Matt ihn nicht herumzudrehen. Verdammt! Er stieß sich von der Tür ab, warf sämtliche Tische und Stühle hinter sich, an denen er vorbei rannte, und die er greifen konnte, und schwang sich schließlich über die Theke. Donnernd krachte die Tür aus dem Rahmen und schlug im Schankraum auf. Eine Staubwolke erhob sich. Matt aber fand die Klappe zu einem kleinen Speiseliftschacht auf der Anrichte hinter der Theke. Er riss sie hoch, kletterte auf die Anrichte. Bevor er mit Kopf und Oberkörper in den engen Schacht schlüpfte, sah er Rostow aus der Staubwolke stelzen. Der Encephalorobotowitsch stapfte über Tische und Stühle hinweg auf die Theke zu. Matt stieß sich ab, kletterte in den Schacht hinein. Seine Hände erwischten ein rostiges Drahtseil, daran zog er sich hinauf. Eine Etage höher kroch er aus dem Schacht auf eine verdreckte Anrichte und fand sich in einer verstaubten und weitgehend von Efeu und Disteln eroberten Großküche wieder. Irgendwelche Nager schossen unter irgendwelche Schränke und Herde, als Matt von der Anrichte sprang. Er lauschte in den Schacht hinein. Scharren und Schaben verrieten ihm, dass der Encephalorobotowitsch den selben Weg
nach oben nahm. Matt raffte Töpfe, Pfannen und Geschirr zusammen. Alles was er in die Finger bekommen konnte, warf er in den Schacht. Zuletzt Steine, die von der Decke auf die Herdstellen gefallen waren. Wieder lauschte er – nichts mehr zu hören. Die Erfahrungen der vergangenen Nacht verboten ihm Hoffnung zu schöpfen. Er lief zur Tür, lauschte – nichts. Er drückte die Klinke herunter – abgeschlossen. »Shit!« Er rannte zum Fenster, riss es auf – zehn Meter unter ihm der Klosterhof, sechs Meter links die Terrasse, und nirgends eine brüchige Mauer oder ein Weinstock, über die er zu ihr hätte klettern können. Zurück zur Tür. Dahinter näherten sich bereits schwere Schritte. Gehetzt blickte Matt nach allen Seiten. Wohin jetzt? Zum Fenster hinaus? Das würde ihn mehrere Knochen kosten. Der Speiseschacht? Verstopft. Jemand drückte von außen die Klinke hinunter. Auf Zehenspitzen schlich Matt zu einem Besenschrank, den er fünf Meter entfernt in einer Nische entdeckte. Er stieg hinein, drückte sich an die Rückwand, hielt einen Besenstil aus Kunststoff fest, damit er nicht umfiel. Die Tür ließ sich nur anlehnen. Durch den schmalen Spalt konnte er die Küche bis zum zentralen Herd überblicken. Etwas fiel von einem Haken, Matt fing es auf, um Lärm zu vermeiden. Er versenkte den länglichen, zangenartigen Gegenstand in einer seiner Taschen. Wieder krachte und polterte es gegen die Küchentür. Das Türblatt brach aus dem Rahmen und schlug auf dem Boden auf. Wieder eine Staubwolke, wieder die verfluchte Gestalt des Maschinenhirns. Es stapfte durch die Disteln um den Herd im Zentrum herum und verschwand aus Matts Blickfeld. Wahrscheinlich lockte das offene Fenster ihn an. Warten, bis Rostow die Schranktür öffnete, oder den freien Fluchtweg nutzen? Matt entschied sich für Letzteres. Er stieß
die Tür auf, durchmaß die Küche, huschte aus dem Türrahmen ohne sich nach seinem Jäger umzusehen, und hetzte einen langen Gang entlang. Als er eine Treppe erreichte, sah Matt das Maschinenhirn aus der Küche springen. Die Treppe hinunter, die nächste ebenfalls, dann fiel ein Schatten über ihn – Matt warf sich zur Seite. Ein Türblatt krachte in den Staub, wo er gerade noch gestanden hatte. Er musste husten, sprang auf, rannte weiter. Seine Augen tränten. Für Sekunden übernahm die Panik das Kommando über sein Hirn. Und sie musste es gewesen sein, die ihn in den Keller führte. Eine Sackgasse. Er stolperte, schlidderte über eine kurze Treppe, lief an zwei oder drei Schränken vorbei, stieß eine schwere Metalltür auf, rannte über einen langen dunklen Gang und stand nach zwei weiteren Metalltüren vor einem riesigen verrosteten Öltank. Das schmale Fenster über ihm war, wenn überhaupt, nur über einen Kabelstrang zu erreichen. Matt keuchte und hustete. Er wusste, dass er verloren war, und gleichzeitig wusste er, dass er nicht aufgeben durfte. Er griff in eine seiner Taschen und zog das Ding heraus, das ihm im Besenschrank buchstäblich in die Hände gefallen war: Es war eines dieser Geräte, mit denen man in besseren Zeiten ausströmendes Gas im Kochkranz eines Gasherdes entzündete. Matt drückte es ein paar Mal zusammen, und irgendwann produzierte das Ding tatsächlich eine kleine Stichflamme. Die schweren Schritte des Encephalorobotowitsch näherten sich. Matt drückte die Metalltür des Heizungskellers zu. Der Schlüssel in ihrem Schloss ließ sich bewegen. Er sah sich um und entdeckte eine Kiste mit Werkzeugen. Inmitten von Schraubenziehern, Zangen und Hammerstielen fand er einen Wagenheber. Den schlug er solange gegen den unteren Rand des Öltanks, bis die dünne Rosthülle zersprang und schwarzes, stinkendes Heizöl ausströmte.
Auf der anderen Seite des Heizungskellers stapelten sich Aktenordner. Papierstaub rieselte aus ihnen, als Matt sie auf den Tank warf. Zuletzt kletterte er selbst hinauf. Schon begann das Mörderhirn von außen die Metalltür zu bearbeiten. Nach drei vergeblichen Versuchen gelang es Matthew, die Aktenordner zu entzünden. Er warf sie vom Tank in die Ölpfützen. Bald brannte es lichterloh, und schwarzer Qualm stieg zur Gewölbedecke. Höchste Zeit zu verschwinden. An den Kabelsträngen kletterte er zu dem schmalen Fenster hinauf. Die Halterungen in den Wänden knirschten bedenklich. Ein Gewicht wie das des Robotmenschen würden sie keinesfalls tragen. Irgendwo unter ihm im Qualm prallte die Metalltür gegen den Öltank. Aus einem Lichtschacht stemmte sich Matt in den Innenhof hinaus. Er rannte zurück in die Ruine und die Treppe hinunter bis in den Keller. Nach der letzten kurzen Treppe stand er bis zu den Knöcheln im Öl. Vor ihm war die erste Metalltür. Rauch quoll daraus hervor. Er drückte die schwere Tür zu, riss den Schlüssel aus dem Schloss, tauchte ihn in das Öl und steckte ihn zurück. Nach drei, vier Versuchen ließ die Tür sich abschließen. Ein schwerer Schrank stand direkt neben dem Treppenaufgang. Matt schob ihn vor die Metalltür. Einen zweiten kippte er schräg gegen den ersten. Rostow war gefangen. Sollte es verbrennen, das verdammte Mörderhirn! Grimmige Befriedigung erfüllte den Mann aus der Vergangenheit. Er wollte die Treppe hinauf stürmen, verharrte aber schon nach drei Stufen. Stimmen riefen im Innenhof, Schritte näherten sich. Matt zog sich wieder in den Kellergang zurück. Lange konnte er hier nicht bleiben; der Qualm würde ihn früher oder später hinauf und ins Freie treiben. Ob er versuchen sollte, das Dingi zu
erobern? Aber was nützte ihm das bei der Suche nach Aruula und den anderen...? Plötzlich zerplatzte die Wand neben der Schrankbarrikade. Ein Regen aus Backsteinen prasselte auf die Schränke, auf die Treppe und auf den Kellerboden davor. Entsetzen lähmte Matt für den entscheidenden Bruchteil einer Sekunde. Er wich zurück, stieß mit dem Rücken gegen eine Mauer. Aus dem Loch in der Wand gegenüber quoll Rauch, und aus dem Rauch stieg das Maschinenhirn. Es entdeckte Matt sofort, zögerte nicht lange und stelzte mit ausgestreckten Armen auf ihn zu. Matthew Drax reagierte instinktiv: Er hechtete zwischen die Metallbeine des Angreifers, schlidderte über das Öl, prallte gegen den schrägstehenden Metallschrank. Aus den Augenwinkeln sah er Rostow stürzen. Als er auf dem Boden aufschlug, vibrierten Schränke und Mauern. Matt kam mühsam auf die Beine. Der Maschinenkerl lag bäuchlings vor der Wand, drehte sich zwar, hatte aber Mühe seinen schweren Körper aufzurichten. Das Öl ließ ihn immer wieder wegrutschen. Matt stemmte sich gegen den Metallschrank. Er schrie, während er drückte und schob. Wut und Panik mobilisierten letzte Kraftreserven ihn ihm: Der Schrank bewegte sich, kippte – und prallte auf den Metallkörper des Encephalorobotowitsch. Schweratmend ging Matt in die Hocke. Rauch quoll aus dem brennenden Raum. Ein Hustenanfall schüttelte den Mann aus der Vergangenheit Er widerstand dem Impuls, die Treppe hinauf zu steigen und sich ins Freie zu retten. Seine Hände tasteten nach zwei Backsteinen. Dann kletterte er auf den Schrank, und als er nach unten blickte, glotzten ihn die Kunstaugen des Encephalorobotowitsch an. Bis zum Teleskophals steckte das Mörderhirn unter dem Schrank. Unter der Klarsichtkuppel seiner Hirnschale sah Matt die Hirnwindungen. Ein merkwürdiges Gehirn... irgendwas war
falsch daran... Er hob den ersten Backstein, um die Kuppel zu zertrümmern. Jemand packte sein Handgelenk und riss ihn zurück. Plötzlich sah Matt in ein verrußtes und zerschlagenes Frauengesicht. Dunkle Augen loderten. Ein Gewehrkolben traf seine Schläfe. Sein Bewusstsein torkelte in tiefste Nacht... *** Als er wieder zu sich kam, war Bedauern seine erste Empfindung. Bedauern, wieder zu sich gekommen zu sein: Über ihm stand der Encephalorobotowitsch, und er selbst lag gefesselt auf kaltem Steinboden. »Jetzt ist es vorbei, Mefju'drex«, schnarrte die Kunststimme des Maschinenhirns in gebrochenem Englisch. In stummer Verzweiflung wandte Matthew Drax den Kopf zur Seite – und entdeckte Aruula und die beiden Technos. Sie sahen mitgenommen aus – geschwollene Augen, zerplatzte Lippen, Blutkrusten an Kinn und Wangen –, und sie waren an rostigen Metallringen an der Wand gefesselt. Schummriges Licht erfüllte das Zimmer; ein Kellerraum vermutlich, denn es roch modrig und feucht. Sein Blick traf sich mit dem Aruulas, und plötzlich war er froh noch zu leben. Er drehte den schmerzenden Schädel und sah hinauf zur Plastinatfratze des Maschinenhirns. Ja, es war eindeutig das Gesicht von Dr. Nikati Rostow. »Was soll das, Dr. Rostow?«, versuchte er Zeit zu schinden. »Seit wann bekämpfen Sie Ihre Verbündeten? Haben Sie die Seiten gewechselt?« »So könnte man das nennen.« Seine Kunstgelenke quietschten, als der Encephalorobotowitsch neben Matt in die Hocke ging. Jetzt sah der Commander auch die beiden Eingeborenen neben der Tür gegen die Wand lehnen, Esu und Gruka. Oder nein, wahrscheinlich waren es auch Russen, und
wahrscheinlich hießen sie weder Esu noch Gruka. »Aber eigentlich würde es nicht den Kern der Sache treffen«, schnarrte das Maschinenhirn. »Wie heißt der Kern welcher Sache?« »Dieser Kunstkörper und vor allem seine Maske erinnern dich an Rostow. Einst gehörte er auch Rostow, mittlerweile aber trägt er das Hirn eines speziell gezüchteten Wirtskörpers. Der Herr über dieses Hirn – und damit auch neuer Besitzer von Rostows Körper – bin jedoch ich. Mein Name ist Grao'lun'kaan.« Matthew Drax wurde übel. Eine schreckliche Ahnung verdunkelte seine Gedanken. Das Maschinenhirn griff an seine Hüfte und zog ein dunkelgraues Kästchen aus einem Fach. »Aber all das dürfte kaum noch von Interesse für dich sein, denn du wirst niemals in den Genuss geraten, uns zu dienen. Ich bin gekommen, um dich zu neutralisieren.« Der Encephalorobotowitsch hielt das Kästchen zwischen zwei Metallfingern vor Matts Augen. »Ein Starkstromaggregat, eine Entwicklung unseres Verbündeten Jeecob'smeis. Er sagte, du kennst ihn gut...« Jacob Smythe! Der Name brannte sich wie Feuer in Matts Gehirn, und gleichzeitig wurde die Ahnung zur Gewissheit: Kein Mitglied der Russischen Bunkerliga hockte neben ihm, ein daa'murisches Gehirn in Rostows Maschinenkörper war es, das ihn gejagt und zur Strecke gebracht hatte. Und Professor Dr. Smythe arbeitete mit dem Feind zusammen! Die zweite Metallhand des Mörderhirns legte sich schwer auf Matts Stirn. Selbst das Bedürfnis zu schreien erlosch in ihm. Es war vorbei, er wusste es. »Jeecob'smeis lässt dir Grüße ausrichten. Unter allen Umständen wollte er an deiner Neutralisierung beteiligt sein und sie möglichst schmerzhaft gestalten. Dieses Gerät hier wird dein Gehirn rösten, wie der Professor sich ausdrückte. Nun, aus gewissen Gründen gewährten wir ihm diesen
befremdlichen Wunsch.« Das Wesen, das sich Grao'lun'kaan nannte, packte Matts Haar und hielt seinen Kopf am Boden fest. Mit der anderen Metallhand drückte es ihm das Metallkästchen auf die Stirn. Matt schloss die Augen. Er spürte, wie ein halbkugelförmiger Druckknopf seine Haut berührte und durch den Druck in das Kästchen versenkt wurde. Er spürte die Kälte des Metalls und ein Summen in seinem Inneren. Er dachte an Riverside, an seine Mutter und an seinen Vater. Und er dachte an Aruula. »Maddrax! Nein! Maddrax!« Sie schrie seinen Namen, wieder und wieder. Der Abschiedsschmerz schnürte ihm das Herz zusammen. Der Druck auf seine Stirn ließ schlagartig nach. Das Kästchen fühlte sich warm an und rutschte von seiner Stirn. Die Metallhand glitt aus seinem Haar. Neben ihm schlug etwas schwer zu Boden. Matt öffnete die Augen. Schweißnass war er, und er zitterte am ganzen Körper. Aber er lebte! *** »Weg mit den Fesseln! Habt ihr nicht gehört?!« Wie durch einen Vorhang drang Aruulas herrische Stimme in sein Bewusstsein. »Na los, macht schon!« Er begriff überhaupt nichts mehr. Die beiden Russen liefen aufgeregt hin und her. Sie redeten durcheinander, sie torkelten und fluchten, schienen vollkommen verwirrt zu sein. Endlich gehorchten sie Aruula und befreiten sie und die Londoner von ihren Fesseln. »Her mit den Waffen!«, hörte er Aruula blaffen. Wie konnte sie so mit den Russen umgehen? Und warum ließen die sich das gefallen? Aruula beugte sich über ihn, hielt seinen Kopf fest, küsste
sein Gesicht. »Mein Geliebter...« Sie löste seine Fesseln, zog ihn hoch und drückte seinen Oberkörper an sich. »Das ist die ehemalige Gouverneurin von Perm II, erinnerst du dich?«, flüsterte sie. »Der starke Geist des Daa'muren kontrollierte sie und den Mann. Jetzt wo er tot ist, scheinen sie wieder zur Besinnung zu kommen...« Hypnose? »Wo sind wir?«, hörte Matt die Bassutschok jammern. »Was ist passiert?« Er machte sich von Aruula los. Auf allen Vieren kroch er zum Encephalorobotowitsch. Reglos und die Metallglieder von sich gestreckt lag der Robotkörper auf dem Boden. Misstrauisch beäugte Matthew Drax das Kästchen in seiner Metallhand. Irgendwie musste es seine Elektronik lahmgelegt haben. Der Mann aus der Vergangenheit beugte sich über den künstlichen Schädel. Unter der Klarsichtschale pulsierte noch das Hirn, doch man sah deutlich, wie es starb. Die Ränder verfärbten sich bereits gräulich. Matt verharrte davor auf den Knien. Aruula umarmte ihn von hinten. Fast andächtig starrte er das absterbende Gewebe an. »Was treibst du hier, Modestu?«, hörte er die Russin jammern. »Nimm mich in die Arme, halte mich fest...« Die beiden erwiesen sich als vollkommen desorientiert. Selina erklärte ihnen, was geschehen war, und sie wollten es zunächst nicht glauben. Sie redeten mit seltsam schweren Zungen, hatten Wortfindungsstörungen und klagten über starke Kopfschmerzen. Die daa'murische Hypnose – so es eine gewesen war – musste mörderisch sein. »Unser EWAT ist explodiert«, erklärte Captain Selina McDuncan. »Wir brauchen Ihre Hilfe, Major Modestu. Fahren Sie uns in Ihrem Panzer nach Westen unseren Leuten entgegen.«
»Selbstverständlich«, sagten die Russen wie aus einem Munde. Auffällig hilfsbereit und beflissen zeigten sie sich. Das schlechte Gewissen und die Scham mussten in ihnen nagen. »Das geht nicht.« Aruula löste ihre Arme von Matt und erhob sich. »Warum nicht?«, wollte Selina wissen. »Der AMOT steht jenseits der Staumauer unten am Fluss, und die Staumauer ist zerbrochen. Wir müssten zwanzig Meter tief tauchen, um an den Panzer zu kommen, und dann hätten wir ihn noch nicht von den Trümmern befreit.« »Bitte...?« Selina und Andrew Farmer waren fassungslos. »Woher wissen Sie das alles?« »Aus seinen Gedanken.« Aruula deutete auf die verfallene Hirnmasse. Noch am selben Tag stiegen Modestu Hartmann und Dragurowka Bassutschok in das Dingi und fuhren Richtung Norden davon. Am Abend des nächsten Tages stellte Matt über ISS-Funk Kontakt mit dem Rettungsteam aus London her. Der EWAT hatte den Lauf des Dnjepr erreicht und war nur noch siebzig Meilen entfernt...
EPILOG Das Schott hinter Jacob Smythe schob sich langsam zu und verdeckte Grao'sil'uunas Gestalt. Smythe lauschte – die Schritte des verdammten Wachhundes verhallten. Er grinste, während er den Schutzanzug ablegte. Er grinste noch, als er die Schleuse verließ und seinen Labor-Büro-Kerker betrat. In zahlreiche Decken gehüllt kauerte Lynne Crow auf ihrer Pritsche. Sie sah abscheulich aus. »Warum grinst du?« Smythe zuckte mit den Schultern. »Schönes Wetter, frische Luft, nette Gesellschaft...« Er lachte meckernd. »Wie soll man da nicht grinsen?« Er setzte sich an den Kartentisch. Murmelnd
begann er die Namen sämtlicher Sterne aufzusagen, die er kannte. Und das waren viele. »Irgendwas ist passiert, das dich freut«, sagte Lynne. »Ich kenn dich doch.« »Schon möglich...« Während er die Namen der Sterne rezitierte und gleichzeitig die Karte nach Orten durchforstete, an denen die verdammten Daa'muren eventuell Kernwaffen finden konnten, kreisten seine Gedanken im Hintergrund seines Bewusstseins um Matthew Drax und Grao'lun'kaan. Beim heutigen Ausgang hatte er sich bei seinem daa'murischen Kontaktmann nach der Mission des Maschinenhirns erkundigt. Ob Grao'lun'kaan inzwischen mit einer Erfolgsmeldung zurück sei, hatte er gefragt. Er brenne nämlich darauf, endlich die Nachricht von Drax' Tod zu vernehmen. Der Daa'mure war ausgewichen und die Antwort schuldig geblieben. Was sollte der Professor aus der Vergangenheit daraus anderes schließen, als dass sein Plan aufgegangen war? Selbstverständlich war es kein Starkstromaggregat gewesen, was er Grao'lun'kaan mit auf die Reise gegeben hatte. Wäre ja noch schöner, wenn ein dahergelaufenes Maschinenhirn vollbrachte, was zu vollbringen einzig und allein ihm, Jakob Smythe, zustand. Nein, das kleine Gerät hatte er konstruiert, damit es einen starken elektromagnetischen Impuls aussandte, einen so genannten EMP. Grao'lun'kaans Elektronik und nicht Matthew Drax' Gehirn sollte es lahm legen. Und wie es aussah, hatte es das auch getan. Smythe lachte meckernd. Man hatte nicht allzu viele brauchbare Feinde in dieser verfluchten Zukunft, wirklich nicht. Drax gehörte ihm. Er allein würde ihn töten, er und sonst niemand. ENDE
Das Abenteuer geht weiter! Im nächsten Band lesen Sie:
Sterben in Berlin von Jo Zybell Mit jedem neuen Detail, das er über die Daa'muren erfährt, wächst in Matthew Drax die Sorge – nicht nur um die Menschen im Allgemeinen, sondern auch ganz speziell um seine Tochter Ann und deren Mutter Jenny Jensen. Weil Berlin, wo die beiden leben, genau auf der Achse London-Moskau-Kratersee liegt. So überredet er die Kommandantin von Ark IX, die ihn und seine Gefährten abholt, zu einem Abstecher in die ehemalige Haupt- und jetzige Ruinenstadt. Und kommt gerade recht, um ein weiteres Detail über die außerirdischen Invasoren zu erfahren. Denn auch die Daa'muren wissen inzwischen von dieser Schwachstelle ihres Primärfeindes...