Cover DIE-Reihe, Kriminalromane Delikte, Indizien, Ermittlungen Martin Wendland Mit falscher Münze
Kriminalroman
Ausg...
91 downloads
718 Views
3MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Cover DIE-Reihe, Kriminalromane Delikte, Indizien, Ermittlungen Martin Wendland Mit falscher Münze
Kriminalroman
Ausgerechnet Dr. Stillmann, der in den Augen Professor Hanssings bisher lediglich eine Schachfigur war, ausgerechnet der kann nachweisen, daß das letzte Buch des Professors ein Plagiat ist. Wenn Stillmann spricht, ist für Hanssing der in greifbare Nähe gerückte Posten des Institutsdirektors verloren, ebenso seine wissenschaftliche Reputation. Der Professor beschließt, den ihm plötzlich so gefährlich gewordenen Mitarbeiter zu ermorden, und er führt die Tat mit Raffinesse aus. Die Genossen der Kriminalpolizei glauben zunächst an einen Unfall, später gerät der Liebhaber Frau Stillmanns in Verdacht. Professor Hanssing kann sich sicher fühlen. Er scheint das perfekte Verbrechen begangen zu haben.
Martin Wendland
Mit falscher Münze
Verlag Das Neue Berlin
1. „Sag nichts, auf keinen Fall!“ Dr. Kupfer blickte Dr. Stillmann beschwörend in die Augen. Er hatte Angst um seinen Freund, dessen Vater er hätte sein können. „Aber wieso denn?“ Stillmann war sich seiner Sache sicher gewesen. Die Sonne trat hinter einer dunklen Wolkenwand hervor und schickte gelbrote Strahlen in das weite Zimmer, dessen Wände aus Büchern zu bestehen schienen. Karl Kupfer schüttelte unwillig den Kopf. Seine nach hinten gekämmten Haare fielen ihm wie Lametta über die Ohren. „Du bist mir zu leichtsinnig Werner, ich muß dir das sagen!“ Er rückte den Sessel aus der Sonne und zog ein Zigarettenetui aus der Jackentasche. Stillmann war enttäuscht. „Soll denn dieses schäbige Machwerk einfach so durchgehen? – Das muß man kritisieren.“ „Man vielleicht, aber nicht du.“ Kupfer stauchte eine Zigarette mehrmals auf den Deckel der silbernen, mit einem Monogramm verzierten Dose. „Ich habe einmal einen ähnlichen Fall erlebt, lange vor dem Krieg, noch vor den Nazis. Ich hatte auch ein Buch kritisiert, in dem 6
ganze Abschnitte aus einem anderen abgeschrieben waren, ohne Quellenangabe. Ein Plagiat im reinsten Sinn des Wortes. Zwanzig Jahre später hintertrieb der Verfasser des Plagiats meine Berufung zum Professor. Ich möchte nicht, daß du dir einen Todfeind schaffst.“ Kupfer kniff die Augen zusammen und zündete die Zigarette an. „Deine Situation ist noch komplizierter“, fuhr er hüstelnd fort. „Dein Plagiator ist dein Chef, stellvertretender Institutsdirektor, Nachfolger Nickelbergs. Praktisch ist Hanssing seit Nickelbergs Erkrankung euer Direktor. Deine Kritik könnte höchst unerwünscht sein. Man könnte dir unlautere Absichten unterstellen, Neid auf den Erfolgreicheren. Ihr wart doch mal Studienkollegen. Hanssing würde dich … Jetzt, wo er Chef werden kann. Er würde alles gegen dich in Bewegung setzen. Von heißen Eisen läßt man die Finger.“ Es wurde dunkel. Schwere Wolken schoben sich über die Dächer. Die Spitze und die Kugel des Fernsehturms wurden unsichtbar. Regen klatschte gegen die Fensterscheiben. Eine dicke Fliege brummte aufreizend über die Zuckerdose. Immer diese Bedenken! Stillmann hatte Ermunterung erhofft, Empörung über dieses abgeschriebene Buch, Empörung, die zum Handeln treibt. „Soll ich bei dieser Schweinerei einfach den Mund halten? Du solltest mal sehen, wie Hanssing uns antreibt und ausnutzt. Vorbild sein, höchste Leistungen vollbringen – nur damit er oben glänzen kann. Ruhm und Ehre – alles auf seine Heldenbrust. Wenn der Institutsdirektor wird! Das Klima ist schon jetzt beschissen genug.“ „Dann geh dort weg!“ entgegnete Kupfer bestimmt. „Wir kennen uns nun seit fünfundzwanzig Jahren und machen uns nichts vor. Du bist ein guter Arbeiter, aber kein Draufgänger. Fachlich bist du Hanssing überlegen, aber dir fehlt das Durchsetzungsvermögen, die Portion Dickfelligkeit, mit der er sich in Szene setzt. Wenn du 7
ihm jetzt in die Quere kommst, wird er glauben, daß du ihn haßt. Früher schlug man dem Boten, der eine schlechte Nachricht brachte, den Kopf ab. Du aber willst nicht nur eine schlechte Nachricht, sondern einen Mann um seine Karriere bringen, an die er wahrscheinlich sein Leben gehängt hat.“ „Du hast in deinen Vorlesungen einmal anders gesprochen“, entgegnete Stillmann leise. „Ethik des Wissenschaftlers und so weiter. Das ist eine faule Sache, und ich soll …“ Er blickte auf seine Hände. So weit hätte er nicht gehen dürfen. „Ideal und Wirklichkeit.“ Kupfer sog den Rauch tief ein. „Du hast ja recht, Werner! – Wenn du mit Nickelberg sprechen könntest. Ich weiß nicht, wie du mit ihm stehst und ob das jetzt in seinem Zustand angebracht ist. Hanssing ist natürlich sein Mann. Die Sache ist zu verfahren.“ Der Wind peitschte den Regen in das mattgrüne Laub der haushohen Platanen. „Für September ist es zu kühl“, wechselte Kupfer das Thema. „Fährst du noch oft an den Muschelsee?“ „Bis Ende Oktober!“ Stillmann richtete sich auf. „Solltest ruhig mal mitkommen, Karl. Hecht mit Pilzen – und draußen in der frischen Luft!“ Er schnalzte genießerisch. „Abends ein Feuer, einen Kognak zum Wärmen, und im Bett frierst du auch nicht. Es sind genug Decken da.“ „Nein, nein“, entgegnete Kupfer. „Das ist was für jüngere Leute. Und meine Welt war so etwas selbst früher nicht. Bücher – ja, und vor allem Musik, unsere Hauskonzerte, solange Margot noch lebte.“ Er seufzte. „Vierzig Jahre lang alles gemeinsam. Natürlich hatten wir auch mal tüchtigen Streit, aber an uns gezweifelt haben wir nie.“ Er schwieg einen Zigarettenzug lang, bevor er wie nebenbei fragte: „Und Ingeborg, fährt sie auch manchmal mit?“ Stillmann fiel es schwer, seine Verlegenheit zu verber8
gen. „Nicht mehr so oft. Früher, ja, aber das ist schon ziemlich lange her.“ Er sah auf die von Windböen geschüttelten Zweige. „Ihr versteht euch doch noch?“ Kupfer wischte grauweiße Asche von seinem Anzug. „Das schon“, antwortete Stillmann nach einigen Atemzügen. „Aber wir sind eben sehr verschieden.“ „Hat mich lange nicht besucht“, sagte Dr. Kupfer wie zu sich selbst. „Sie hat doch nichts gegen mich?“ Stillmann lachte beschwichtigend. „Aber nein. Sie ist nur sehr beschäftigt. Du hörst ja, nicht mal für mich … mein Hobby. Ihre unregelmäßige Arbeitszeit. Inge ist manchmal sehr kompliziert.“ Er blickte durch das Fenster, an dem unter einem weißen Sonnenstrahl die Regentropfen zu glitzern begannen. „Wie im April“, fuhr er müde fort. Langsam erhob er sich. „Dank dir für deinen Rat.“ Kupfer geleitete seinen Freund zur Tür. „Zu meinem siebzigsten Geburtstag möchte ich für eine Woche verreisen. Du kannst dir denken, warum. Hinterher möchte ich dich mit Ingeborg zu einer Tasse Tee einladen.“ Er gab Stillmann die Hand und blickte den um einen Kopf größeren von unten an. „Die andere Geschichte vergißt du am besten, Werner.“ Seine Stimme klang besorgt, als wäre er sich nicht sicher, ob seine Warnung gefruchtet hatte.
2. Die Straße schimmerte in dem matten Licht der untergehenden Sonne. Ölstreifen in roten, blauen, violetten Farben zogen sich über die Fahrbahn. Der Wind hatte die Wolkendecke aufgerissen. In bizarren Formen trieben die grauweißen Fetzen über den blassen Himmel. 9
Unter den Platanen lagen haarige Samenkugeln. Von den Blättern klatschten Tropfen auf das Pflaster. Stillmann zog den Kopf zwischen die Schultern und lief zu seinem Wagen, dessen graues Dach mit buntfarbigen Blättern gesprenkelt war. Der Motor sprang wider Erwarten sofort an. Die Vorderräder rutschten, bevor sie griffen und den Trabant ruckweise aus der Parklücke zogen. Bis zum Alexanderplatz mußte er sich auf den Verkehr konzentrieren; in der Karl-Marx-Allee konnte er sich im Autostrom treiben und den Gedanken ihren Lauf lassen. Er hatte es nicht eilig. Die Zeit, als er sich auf sein Zuhause, auf Ingeborg gefreut hatte, lag mehr als ein Jahr zurück. Seine Verzweiflung über Ingeborg hatte er mit Gleichgültigkeit abzutöten versucht. Vergeblich. Aber er wußte keine Antwort mehr auf die Fragen: Liebte er seine Frau wirklich? Liebte Ingeborg ihn? – Vielleicht löste sich jedes Eheleben in Gleichgültigkeit und Gewohnheit auf? Gewohnheit? Worin bestand sie? Was war ihm geblieben? Ihr Essen war ausgezeichnet. Behaglichkeit umgab ihn. Sie ließ ihn gewähren, umsorgte ihn wie eine Mutter, aber das, was ein Mann auch noch brauchte, verwehrte sie ihm seit Monaten. Ihm wurde heiß, wenn er daran dachte. Was war geschehen? Früher war das ganz anders gewesen. Ingeborg war temperamentvoll, leidenschaftlicher als er. Eigentlich hatte sie ihn damals … Na ja, und vital war sie auch. – Aus der Traum. Aber warum? Wie konnte das Feuer verlöschen? Warum entzog sie sich allen Annäherungen und stieß ihn zurück? Anfänglich hatte er ihren Worten geglaubt: übermüdet, überarbeitet, nicht in Stimmung. Aber im Urlaub war es nicht anders geworden. Er kam bis zu einem Punkt, dann wurde sie kalt wie Eiswasser. Verflucht und zugenäht. So ging das nicht weiter. Stillmann stoppte ruckartig. Ein Lkw mit Hänger hat10
te ihm die Sicht genommen. Die Ampel zeigte rot. Beinahe wäre er in den Kreuzungsverkehr reingefahren. Der Regen hatte aufgehört. Der Scheibenwischer kratzte über das trockengeriebene Glas. Gelb, grün. Der Wagen stuckerte über die kurzen Bodenwellen. Was war nur in Ingeborg gefahren? Sander? Er verdrängte den Ärger über die unfreiwillige Assoziation. Unsinn. Der hatte Gelegenheit mehr als genug; an dem Modeinstitut waren doch fast nur Frauen. Aber den Hof machte er Ingeborg, daran gab es keinen Zweifel. Stillmann fühlte Argwohn in sich wachsen. Er hatte schon mehrfach Lust verspürt, unverhofft nach Hause zu kommen, wenn Ingeborg ihn im Institut oder in der Hütte am Muschelsee wähnte. Aber er hatte eine Enttäuschung mehr als die Ungewißheit gefürchtet. Dennoch, einmal mußte er Klarheit schaffen. Er war doch kein Hampelmann. Wie ehrlich war man zu sich selbst, konnte man zu sich selbst sein? Stillmann überholte den Lkw und atmete auf. Er haßte die großen Fahrzeuge. Im Trabant fühlte er sich klein und hilflos gegenüber den Kolossen. Einen Mercedes müßte er fahren oder wenigstens einen Wartburg wie Professor Hanssing. Der hatte sich eingerichtet, der wußte, worauf es im Leben ankam. Immer katzbuckeln: „Aber selbstverständlich, Herr Professor, ganz Ihrer Meinung, Herr Professor.“ Dieses Arschloch! Nannte sich Freund und Mitkämpfer. Hatte für alles eine Erklärung, wußte jeden Unsinn zu rechtfertigen. Glatte Laufbahn, reine Kaderakte, ohne Makel bis auf das eine, daß er nicht aus der Arbeiterklasse kam. Posamentenhändler war sein Vater, mit dem er sich seit dem Abitur nicht mehr hatte verstehen können. Mit großem Krach von zu Hause fort. Das klang einigen gut in den Ohren, besonders dem alten Direktor Nickelberg. Die Distanzierung von einer kleinbürgerlichen Familie galt dem mehr als die Herkunft aus der Arbeiterklasse. Kam selbst aus klassenfremdem Milieu; Großgrundbesitz wurde gemunkelt, aber das lag weit 11
zurück, vor dem zweiten Weltkrieg; die Nazis hatten ihn vertrieben und sein Vermögen kassiert. Jedenfalls hatte Hanssing bei ihm einen Stein im Brett. Komisch, diese Vertrauensseligkeit. Hanssings Krach mit seinem Vater war nichts als ein Trick gewesen. Die Distanzierung vom Elternhaus, das ihm keine Unterstützung gewähre, brachte ihm ein Stipendium ein. Er galt als Mann, der zur Arbeiterklasse gestoßen war, als Vorbild, das man fördern mußte. Hanssing hatte die Dinge geschaukelt, eine steile Karriere geschafft und keine Probleme. Er hatte seine Leute in der Gewerkschaftsleitung und in der Parteileitung. Wer wollte sich mit ihm anlegen? Schließlich entschied er über Gehälter, Prämien, Aufstiegsfragen. Auf der neuen Brücke am Bahnhof Lichtenberg spürte Stillmann den Druck des Windes, der über die weiträumigen Gleisanlagen stürmte. Er mußte gegensteuern und war froh, in den Windschutz der Häuser zu gelangen. So eine Pappkiste von Auto auch. Er bog von der Frankfurter Allee ab. Die Nebenstraßen lagen im Dunkel. Hier vergaß man nicht, die Scheinwerfer einzuschalten, hier nicht. Er bog in seine Straße ein. Wenn er das Licht im Erkerfenster sah, überkam ihn ein Gefühl der Geborgenheit. Das Abendlicht verlor sich hinter den Dächern in violettem Glanz. Warum konnte nicht alles sein wie früher. Was hatte er falsch gemacht? Die schönen Abende in der Hütte am Muschelsee, vor der Hochzeit schon. Eigentlich war sie es gewesen, die ihn ermuntert hatte; denn er war nun einmal schüchtern, zaghaft und unerfahren gewesen. Ihm war alles überwältigend vorgekommen, und es war ihm viel zu schnell gegangen, aber Ingeborg hatte Geduld mit ihm gehabt. Irgendwie hatte er geglaubt, es geschafft zu haben. Doch sicher war er sich nie so ganz gewesen, und Ingeborg hatte seine Fragen nur mit Küssen beantwortet. 12
Liebte sie ihn eigentlich? Hatte sie ihn jemals wirklich geliebt? Oder hatte ihr nur sein Doktortitel und seine gute Existenz imponiert? Früher hatte er keine Fragen zu stellen brauchen, bis zu dem Tag oder Abend, an dem sie ihn abgewiesen hatte … Aber er liebte sie doch. Und sie waren verheiratet. Einig waren sie sich gewesen, auch was die Kinder betraf. Ein Kind sollte erst angeschafft werden, wenn er die Habilitation oder Promotion B, wie man das jetzt nannte, hinter sich hatte. Und etwas mehr Gehalt natürlich dann, damit Ingeborg mit ihrer Arbeit einige Jahre etwas kürzer treten konnte. Manchmal schon hatte er gedacht, wenn Ingeborg ein Kind bekommen hätte, wäre sie anders geworden. Das war ein Rätsel, gewiß; sie gab ihm auch keine Gelegenheit mehr, es auszuprobieren. Dabei blickte sie in jeden Kinderwagen. Doch einem Gespräch darüber wich sie aus. War er ihr nicht erfolgreich genug? Hatte sie mehr von seiner beruflichen Karriere erhofft? In fünf Jahren auf hundert Mark mehr zu kommen, war nicht überwältigend. Doch schließlich konnte er sich ja nicht selbst einstufen, das mußte er Hanssing überlassen, und der tat immer so, als gingen die Gehälter von seinem Einkommen ab. Seit er den literarischen Betrug entdeckt hatte, regte ihn jeder Gedanke an Hanssing auf. Früher hatten sie sich ganz gut verstanden; er hatte Hanssings Überlegenheit im Auftreten und seine Geschicklichkeit, eine Arbeit schnell zu Ende zu führen, anerkannt. Hanssing hatte seine Promotion und Habilitation einige Jahre vor ihm geschafft. Es war ganz natürlich, daß Hanssing schneller aufstieg als er. Aber daß Hanssing sich aufspielte, obgleich er die Forschung mehr und mehr den anderen überließ und sich in Leitungstätigkeit erschöpfte, hatte ihn gereizt. Genau wie die Kaltschnäuzigkeit, die Arbeiten anderer vor allem als sein Verdienst erscheinen zu lassen. Und nun dieses Buch, das angeblich auf seinem Mist 13
gewachsen war, ein Mistbuch ohnegleichen! Stillmann schlug die Tür zu, daß der Wagen schwankte. Siebzig Seiten lang ganze Sätze und Satzteile aus einem anderen Buch hatte er übernommen, dummdreist und plump darauf spekulierend, daß die Quelle nur wenigen zugänglich war. Geist und Stil des Originals sprachen aus jeder Zeile. Mit seiner Karriere schien Hanssing alle Maßstäbe verloren zu haben. Wie sollte er ihm mit diesem Wissen gegenübertreten, seinen Zorn und seine Verachtung verbergen? Karl meinte es bestimmt gut mit seinem Rat. Aber er war alt und schon etwas jenseits von Gut und Böse. Sein Wahlspruch, lieber zehn Minuten feige als das ganze Leben tot, mochte in Kriegszeiten gelten und unter den Nazis, die ihn in Sachsenhausen eingesperrt hatten, weil er Jude war. Vielleicht hatte er sich nie ganz von den Ängsten befreien können. Stillmann mochte Kupfers bedächtige Art, aber wohin sollte es führen, wenn man den Diebstahl geistigen Eigentums hinnahm? Stillmann öffnete die Flurtür. Irgend etwas mußte er unternehmen, aber was?
3. Das Essen war ein Gedicht. Ihm blieb nichts anderes übrig, er mußte das rosarote Lendensteak loben, das mit weißem Pfeffer paniert war und wie Feuer brannte. Die Strohkartoffeln prasselten ihm unter den Zähnen, die Zuckererbsen platzten wie Ketakaviar und schmeckten nach Butter, Thymian und Johannisluft. In seiner Ehe ging es nicht wie in dem Sprichwort. Das Tischtuch konnte Mann und Frau zusammenhalten, auch wenn das Bettuch zerrissen war. 14
Werner Stillmann genoß den „Edel“, dazu einen Mokka, dessen Duft sich mit dem der Früchte und des Fleisches mischte. „Du verwöhnst mich“, er stöhnte und strich sich besorgt über den Bauch. „Du mästest mich wie einen Kapaun, dabei bin ich wild wie ein …“ Er verschluckte das letzte Wort und duckte sich unter dem kühlen Blick seiner Frau. „Vielleicht wäschst du mal ab“, sagte sie. „Ich bin ziemlich müde.“ Sie gähnte herzhaft. „Kohlen müssen auch noch raufgeholt werden. Morgen gibt es Fisch.“ Er hatte Angst, sie zu verlieren. Schließlich hatte er es gut bei ihr. Sollte er alles aufs Spiel setzen? Ein Weiberheld war er nicht gerade. Ingeborg war seine erste und letzte Erfahrung. „Ich werde in eine höhere Gehaltsgruppe aufsteigen“, sagte er; es kam einfach so aus ihm heraus. Er horchte den Worten nach und erschrak; denn nichts berechtigte ihn zu dieser Aussage. „Ach.“ Ingeborg musterte ihn überrascht. „Man merkt langsam, was man an mir hat.“ Ein zaghafter Unterton schwang mit, doch er gefiel sich plötzlich in dieser Rolle. „Verdient hast du es“, antwortete Ingeborg nach einer Pause. „Hoffentlich hat man dir nichts vorgemacht. Auf Hanssing würde ich mich nicht verlassen.“ „Hanssing?“ Stillmann verzog den Mund. „Ich verlass’ mich schon lange nicht mehr auf diesen Schaumschläger. Da muß sich einiges ändern“, fuhr er überlegen fort. „Ich lass’ mich nicht mehr ausnutzen, ich nicht.“ „Wieso das?“ fragte Ingeborg, immer noch zweifelnd. Werner nahm den Mund eigentlich selten zu voll, aber diese ungewohnte Sprache weckte ihr Mißtrauen. „Hast du ein Angebot? Willst du das Institut wechseln?“ Dieser Gedankengang überraschte ihn. „Wechseln?“ Daran hatte er wohl gelegentlich gedacht, aber er hatte 15
sich nicht einmal aufraffen können, bei einer anderen Dienststelle auch nur anzuklopfen. „O nein“, stammelte er schließlich, „das nicht. Ich werde mit Hanssing ein Wörtchen reden, das will ich.“ Er sah, daß seine Frau die Wimpern über die Augen deckte, als habe sie aufgehört, seinen Worten zu glauben. „Er ist auf mich angewiesen“, unterstrich er seine Worte. „Ohne mich bliebe er auf der Strecke. Wenn er das nicht begreift, dann …“ Er unterbrach sich. War schon zu weit gegangen. Darüber wollte er mit Ingeborg nicht reden; es genügte, daß er Kupfer eingeweiht hatte. „Was dann?“ hörte er Ingeborgs kühle Stimme. „Dann?“ Werner erhob sich und begann den Tisch abzuräumen. „Dann wird eben mal ’ne Arbeit nicht fertig, der Plan nicht erfüllt.“ Ingeborg half beim Abräumen, ließ Wasser ins Becken und begann mit dem Abwasch. „Vergiß die Kohlen nicht“, erinnerte sie ihn, der wortlos die Eimer nahm und in den Keller stieg. Scheint bei Ingeborg gut anzukommen, dachte er befriedigt. Dem Hanssing mußte er es wirklich mal geben. Morgen würde er es ihm auf den Kopf zusagen, was er von ihm hielt, und würde ihm das Buch unter die Nase halten. Dr. Stillmann fröstelte bei dem Gedanken, daß Hanssing einen Wutanfall bekommen könnte. Er fühlte sich zwar im Recht, aber die Sache war ihm doch höchst unangenehm. Er bückte sich nach der Kohlenzange und merkte, wie seine Knie zitterten.
4. Da saß er nun mit der Angst vor seiner eigenen Courage. Obgleich er nichts zu verlieren hatte, bereute er seinen 16
Vorsatz. Wahrscheinlich hatte ihn der unruhige Schlaf geschwächt. Ein quälender Traum wirkte noch nach. Während er ins Institut fuhr, suchte er sich an Einzelheiten zu erinnern, vergeblich. Ihm war, als habe er nach Luft geschnappt, geglaubt, ersticken zu müssen. Mit schwerem Kopf war er aufgestanden, hatte einen Kaffee getrunken und ein paar heitere Gedichte gelesen, Nachrichten gehört, sich über den Aufwand für Rüstungen und Diplomatenempfänge geärgert. Die Gerechtigkeit war nicht von dieser Welt. Da fuhr man nicht nur einen großen Wagen, da hatte man auch noch seinen Chauffeur und Begleiter. Lustlos hatte er Brot und Äpfel in einen Plastbeutel gesteckt und auf leisen Sohlen die Wohnung verlassen – Ingeborg schlief bis um acht. Die Straßen waren noch feucht, in den Schlaglöchern stand Wasser. Fußgänger rannten über die Fahrbahn. Stillmann kurvte zwischen ihnen hindurch, wich entgegenkommenden Fahrzeugen aus, grinste über die lange Auspuffwolke, die sich hinter seinem knatternden Zweitakter bildete. An der Kreuzung sauste ein Lastkraftwagen an ihm vorbei. Stillmann trat auf das Bremspedal. Splitt hüpfte über die Steine und sprang gegen die Trabantkarosse. „Idiot!“ Er war bleich geworden. Endlich konnte er in die Otto-Namengeber-Straße abbiegen. Links und rechts lag ein verwilderter Park und an dessen Ende das Institut. Hanssings sandfarbener Wartburg stand schon an seinem Platz, der mit seiner Autonummer markiert und dem Schild „Nur für Dienstfahrzeuge“ blockiert war. Professor Nickelberg, der Direktor des Instituts, kam gewöhnlich erst gegen elf mit einem personengebundenen Tatra und Fahrer. Hin und wieder jedoch tauchte er auch vor Dienstbeginn auf. Es war nicht ersichtlich, ob er damit die Pünktlichkeit seines Stellvertreters kontrol17
lieren oder nur ein Beispiel eigener Aktivität geben wollte. Beides erschien überflüssig. Professor Hanssing war immer eine Viertelstunde vor Dienstbeginn im Institut und ließ jeden aufschreiben, der sich verspätete. Spitznamen wie Steckuhr, Schulmeister, Listenesel oder Sekundenfurz waren ihm zugetragen worden, doch von seinen Prinzipien ließ er sich nicht abbringen. Stillmann war davon besonders betroffen. Vom Muschelsee nach Berlin brauchte er über eine Stunde. Zwei Eisenbahnschranken bildeten heimtückische Hindernisse. Obgleich er gewöhnlich sehr zeitig abfuhr, stand er unter den Zuspätkommenden an erster Stelle. Bei jeder Gelegenheit hielt ihm Hanssing das unter die Nase, ohne Rücksicht darauf, daß er auch mit seinen Leistungen an erster Stelle stand. „Dann könntest du eben noch mehr schaffen“, sulzte dieser Mann, der vorwiegend nur noch seinen Posten verwaltete. Es wurde wirklich Zeit, ihm Paroli zu bieten. Mit einem Blick umfaßte Stillmann die Fassade des Instituts, eine ehemalige Villa eines ehemaligen Generalstäblers, der zwischen München und Stuttgart eine hohe Pension verzehren sollte, falls er nicht schon längst in die ewigen Jagdgründe abgedankt hatte. Die Dachrinnen waren durchlöchert, hellrote Ziegel leuchteten zwischen dem grauverblichenen Putz, der an vielen Stellen abgewaschen war. Hinter der Gardine des Erkerfensters zeichnete sich ein Kopf ab. Hanssing lag auf der Lauer. Je weniger der schaffte, desto schärfer sah er anderen auf die Finger. Dem konnte eine Lektion nicht schaden. Morgen würde er nicht mehr so selbstgefällig auf seine Leute herabsehen. Während Stillmann durch den glänzenden Flur ging, an den frischgestrichenen rosaroten Latexwänden entlang, wurde er in seinem Vorsatz wankend. Die geschäftigen Gesichter der Kollegen, Kolleginnen, Laborantinnen, Sekretärinnen erschienen ihm, das verkniffene Ge18
sicht des Direktors, das bullige Hanssings. Weiß Gott, Stillmann, du bist kein Held. In seinem Zimmer fühlte er sich besser, stellte die Tasche auf einen Sessel und öffnete die Tür zum angrenzenden Laboratorium. Fräulein Zapf und Fräulein Winter rutschten, den Morgengruß erwidernd, langsam vom Tisch. „Alles okay“, sagte Nelly Zapf betont nachlässig und pustete über die frischlackierten Nägel. Ausgerechnet dunkelbraun, dachte Stillmann. Er sah auf die Apparate, in denen es leise summte. „Keine Probleme“, ergänzte Susanne Winter mit tiefer Stimme, schüttelte ihre langen blonden Haare, steckte die Hände in die Taschen ihres offenen weißen Kittels und schob ihre beachtlichen Brüste vor. „Laufen normal. Falls sie nicht wieder stehenbleiben, müßten die Kulturen …“ Gekränkt brach sie ab, als Stillmann nicht ihr, sondern den Geräten seine Aufmerksamkeit widmete. Ein richtiger Stockfisch, dachte sie, ob der bei seiner Frau auch so war? Demonstrativ biß sie in eine Gurke, daß der Saft ins Zimmer spritzte. Nelly kicherte. Sie wußte, daß Susanne mehr für Stillmann empfand, als ihr zukam. Sie dagegen fand Stillmann fad. Zwar sah er gut aus, doch als Mann entsprach er nicht ihren Vorstellungen. Sie mochte forsche Typen, die mehr im Kopf hatten als Formeln und Bakterienkulturen, Versuchsreihen, Berechnungen und – Angeln. Tanzen wäre nach ihrem Geschmack, Angeln fand sie lächerlich und grausam zugleich. „Beißen denn die Fische noch?“ Susannes Frage klang wie ein Signal. Nelly hob verwundert die Brauen, erstaunt, daß Susanne ihre Zurückhaltung aufgab. „Wie bitte?“ Stillmann drehte den Kopf. Nelly lachte, entschuldigte sich prustend und blickte aus dem Fenster. „Ach so“, stotterte Stillmann. „Ich weiß nicht. Beißen, natürlich, man muß nur Geduld haben, wissen Sie, und 19
ein bißchen Glück. Natürlich, die Stellen, die muß man kennen.“ Er erzählte von richtiger Tiefstellung, Anfüttern, der Wahl des Köders, dem Einfluß des Wetters, als erteilte er seiner Assistentin Unterricht. Susanne nickte ernsthaft, wütend auf Nelly, deren Grinsen sie irritierte. „Ich möchte das mal miterleben“, antwortete sie, als Stillmann bedenklich auf die Uhr blickte. „Leider kenne ich niemanden“, fuhr sie bedauernd und ermunternd zugleich fort. Stillmann schien nichts zu verstehen. „Da könnte dich doch mal unser Doktor mitnehmen“, assistierte Nelly, doch Stillmann sah nur noch einmal auf seine Armbanduhr und ging dann in sein Arbeitszimmer. „Stiesel“, knurrte Nelly. Ihre Hand griff nach einem Kolben, warf ihn gegen die Tür, die Stillmann hinter sich zugezogen hatte. Ihre Augen funkelten. „Möchte wirklich wissen, wie bei dem die Hormone stehn“, sagte sie zu ihrer Kollegin, die blaß und erschrocken auf die Scherben blickte. Stillmann zuckte unter dem Geklirr zusammen, ließ aber die Tür geschlossen. Die Sprechanlage summte, Hanssings Stimme forderte ihn auf, nach „oben“ zu kommen. Na also, dachte er und steckte das verräterische Buch in die Tasche. Hanssings Gesicht mit den starken Backenknochen, mit Sommersprossen, gerader Nase und großem schmalem Mund tauchte hinter einer Vase mit Teerosen hervor. Gertraude, Hanssings Frau, gab sie ihm mit oder brachte sie ins Institut. Nie vergaß sie, auch dem Direktor Nickelberg einen Strauß mitzuschicken oder eigenhändig auf dem Schreibtisch zu placieren. „Grüß’ dich“, ertönte Hanssings Stimme, die Stillmann an einen eifrigen Bahnhofsvorsteher mit roter Mütze erinnerte. „Setz dich.“ Eine großzügige Geste. Nichts konnte 20
er ohne theatralischen Aufwand tun. Stillmann fühlte sich in den Sessel versinken. „Kaffee gewünscht?“ „Nein, danke.“ Stillmann spürte die Überlegenheit eines Mannes, der sich seiner Sache sicher ist. Oder verbarg er nur seine Schwäche? Hanssing holte eine Flasche aus einem, der mit Nußbaumfolie überzogenen Wandschränke. „Rémy Martin, Fine Champagne Cognac.“ „Donnerwetter“, entfuhr es Stillmann. „Nur für meine besten Freunde“, antwortete Hanssing. Es sah aus, als versuchte er zu lächeln, doch der lauernde Blick strafte den verzogenen Mund Lügen. „Von meiner Frau“, erklärte er, als müsse er sich ob des teuren Getränks entschuldigen. „Hat einer ihrer Verwandten mitgebracht. Wir mögen das gar nicht, aber zum Ausschütten ist er zu schade.“ Hanssing schenkte ein. „Schließlich saufen andere auch“, suchte er die ernste Miene seines Gegenübers aufzuheitern; aber der Erfolg blieb aus. Die Augen Stillmanns verrieten nichts Erfreuliches. Wahrscheinlich hatte ihn seine Alte wieder betrogen. Die Spatzen pfiffen es schon von den Dächern. Stillmann tat mächtig stolz auf seine Ingeborg. Was hatte er von ihrer Jugend und Schönheit? Hörner, einen ganzen Wald von Hörnern. Kein Wunder, wenn er sauer wurde. „Wir sollen das Forschungsprogramm um einen Monat vorfristig abschließen“, sagte Hanssing. „Ich habe mich natürlich mächtig dagegen gewehrt. Doch du weißt ja, Werner, wie man oben auf Erfolge wartet.“ Er trank und schüttelte bedeutungsvoll seinen großen Kopf mit den kurzgeschnittenen rotblonden Haaren. Die Lider über die graublauen kalten Augen halb gesenkt, hörte er scheinbar geduldig die Entgegnung Stillmanns. „Unmöglich. Wir schaffen das Programm nicht einmal zum vorgegebenen Termin. Du kennst die Ausfälle. 21
Einige Kulturen kamen verspätet. Hilfskräfte fehlen. Die müssen verrückt sein.“ Er lehnte sich zurück, verschränkte die Arme vor der Brust. Sein schmales Gesicht zeigte rote Flecken. Seine bernsteinfarbenen Augen funkelten empört. Da wollte der Hanssing wieder mal glänzen. Ohne mit ihm und den Kollegen seiner Abteilung zu sprechen, ging er Verpflichtungen ein, unreale dazu. Noch nie hatte er die Selbstherrlichkeit Hanssings so bewußt empfunden. Waren sie Leibeigene oder Menschen mit Verantwortung und Erfahrung? Stillmann fühlte, daß ihm der Mut aus einer anderen Quelle zuströmte. Jetzt wollte er mal sehen, wie Hanssing reagierte. „Hör mal zu.“ Professor Hanssing goß ihm nach. „Ist doch nicht das erstemal. Die überfahren uns glatt. Hängt doch was dran, eine Prämie, vielleicht ein Aktivist der Sozialistischen Arbeit. Mensch, Werner, das läßt sich doch schaukeln. Einiges ist real zu schaffen, du kannst das, und das andere drehen wir ein bißchen hin. Inzwischen läuft die Sache weiter. Bis es mit den Berichten und den Anwendungsverfahren soweit ist, haben wir alles in der Hand.“ „Ich mag diesen Betrug nicht.“ Stillmann befeuchtete seine Lippen. „Betrug?“ Professor Hanssing erhob sich wütend. „Was ist mit dir los?“ fuhr er gestikulierend fort. „Willst du verrückt spielen? Ich habe dir auf die freundlichste Weise gesagt, was man höheren Ortes von uns erwartet. Über die Bedeutung brauche ich dir gegenüber kein Wort zu verlieren. Außerdem sind die da oben auch nicht doof. Es geht um unsere Verpflichtung, um das gute Beispiel, den Ansporn für andere.“ Er setzte sich und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Mit einem beschwörenden Blick suchte er Stillmanns eisige Zurückhaltung aufzutauen. Aber das Gegenteil schien erreicht, wie die zusam22
mengezogenen Brauen Stillmanns und das zornige Funkeln der Augen verrieten. „Ansporn für andere.“ Der verächtliche Ton erschreckte Hanssing. Unmutsfalten entstellten sein Gesicht. Er griff zum Glas und trank es leer, während Stillmann fortfuhr: „Beispiel geben. Such dir einen anderen. Mir reicht das Beispiel, das du gegeben hast.“ Die Ironie als Angriff. Was wollte Stillmann? Hanssing hielt sich mühsam zurück. Dieser Leisetreter sollte nur nicht glauben, daß er ihn reizen könnte. „Was willst du eigentlich?“ rief er wider Willen laut. „Damit du klarsiehst, wir haben den Auftrag. Mit Aussuchen ist da nichts. Wenn dir das besser paßt, du hast die Aufgabe gehört – und damit basta.“ Stillmann zuckte zusammen. Verdammte Sklavenseele, die man in sich hat, dachte er und spürte sein Herz pochen. Seine Hand umklammerte das Kognakglas, führte es zum Mund. Während er es absetzte, erhob er sich, zog ein Buch aus der Tasche und warf es auf den Tisch. „Dieses Beispiel meine ich“, preßte er hervor. „Ich wollte es für mich behalten, aber ich muß es nicht. So jedenfalls lasse ich nicht mehr mit mir reden.“ Er wandte sich um und verließ das Zimmer, die Hand am Hals, der wie zugeschnürt war.
5. Ingeborg Stillmann war wach, als ihr Mann die Wohnung verließ. Sie lauschte seinen Schritten nach, hörte die Autotür zuschlagen und das Geknatter der sich entfernenden „Asphaltblase“. Es wurde still, nur die undefinierbaren Geräusche der auflebenden Stadt summten in ihren Ohren. Ingeborg hatte die Wohnung für sich. Am Abend war 23
sie ganz gern mit Werner zusammen, aber am Morgen wollte sie allein sein – auch wenn Wolf Sander nicht anrief. Sie war sich des Zwiespältigen bewußt, das seit einem Jahr ihre Ehe belastete, und es gab Tage, an denen sie wünschte, alles wäre wie früher. Doch sie wußte, daß es kein Zurück gab. Mit allem hätte sie leben können, doch die physische Abneigung konnte sie nicht überwinden. Sie mochte Werner, vielleicht hatte sie ihn auch einmal geliebt, doch schon die Vorstellung, daß er sie berührte, erregte ihren Widerstand. Sie konnte seine warme, schlaffe Haut nicht ertragen, seine schmalen Finger, die immer etwas feucht waren. Und wenn sie an den Schweiß dachte, den Geruch, empfand sie Widerwillen. Anfangs hatte ihr Temperament das überspielt. Sie war nicht prüde, liebte gern und leidenschaftlich. Stillmann war nicht ihr erstes Erlebnis gewesen. Seine Ungeschicklichkeit hatte sie amüsiert, zugleich aber auch gereizt. Womit er ihr damals imponiert und was ihr an ihm so gut gefallen hatte, konnte sie heute kaum noch sagen. Sein Titel, seine berufliche Zielstrebigkeit, seine schnelle Entschlossenheit, sie zu heiraten. Für damalige Verhältnisse und verglichen mit ihr verdiente er sehr gut. Knausrig war er nicht, an Aufmerksamkeiten ließ er es nie fehlen; manche Geschenke fand sie zu großzügig. Damals waren sie noch nicht verlobt. Aber Werner war sich seiner Sache immer sicher gewesen. Er wollte sie schon heiraten, als sie noch nicht einmal an eine Ehe gedacht hatte. Welches moderne Mädchen wollte gleich unter die Haube. Fast widerstrebend war sie seinem Drängen gefolgt. Der Gedanke an eine eigene Wohnung, an Unabhängigkeit – immer dieses Suchen nach einer Bettstatt – und auch an Kinder hatte sie dann wankend gemacht. Zureden der Eltern, der Freundin – schließlich war Dr. 24
Stillmann eine gute Partie. Wer konnte wissen, ob sie je einen Besseren finden würde. Komische Überlegungen – fand sie heute. Ihr Großvater hatte es besser gewußt. Wo das Herz zum Herzen findet. Das Herz. Dieser unruhige Muskel. Liebe. Was war Liebe? Liebte sie Wolf? Alles war anders mit ihm. Wenn sie ihn sah, begann ihr Herz zu klopfen. Schon der Gedanke an ihn erregte sie. Seine Haut, sein Geruch, der Klang seiner Stimme. Er war kleiner als Werner, nicht so großzügig mit Geschenken, nicht so sanft und zurückhaltend. Aber er war der Mann, mit dem sie bis ans Ende der Welt gegangen wäre; sie hätte schon längst keine Pille mehr geschluckt, aber sie war verheiratet. Sie wunderte sich selbst, warum sie so an der Konvention festhielt. Oder war es etwas anderes? Die Unrast Wolfs, sein ständiges Drängen auf Scheidung? Ihr Gewöhntsein an den Haushalt, an die Sicherheit ihres Lebens? Ihr Bedürfnis nach Ruhe und Geborgenheit? Oder fürchtete sie die Blicke der anderen, die Angst vor dem Gerichtstermin, die Sorgen, die sie den Eltern bereiten würde? Ach, sie wußte es nicht. Manchmal tat ihr Werner auch leid. Sie wollte ihn nicht enttäuschen. Er gab sich Mühe und umsorgte sie. Sie kam sich dann ganz schlecht vor ihm gegenüber und suchte ihn aufzuheitern, war aufmerksam und freundlich, nur daß Werner sich dann ermuntert fühlte und glaubte, sie würde mit ihm schlafen. Aber sie konnte nicht. Ihr Körper, ihre Seele, ihr Gefühl, ihre Gedanken waren nur auf einen Mann gerichtet: Wolf. Ingeborg wartete auf das Klingeln des Telefons. Wolf kam zweimal in der Woche. Er wäre gern öfter bei ihr gewesen, aber sie duldete es nicht. Auch wegen der Leute, des Geredes und wegen Werner. Noch wußte er nichts. So war es leichter für ihn und – für sie. Noch bevor das Klingelzeichen zu Ende war, hatte Ingeborg den Hörer am Ohr. „Ich bin’s.“ Seine Stimme klang 25
immer belegt, als fürchte er eine Enttäuschung. Sie lächelte in sich hinein. Dummer, dachte sie und sagte: „Komm.“ Ihr Herz schlug bis zum Hals. Alle Bedenken und Hemmungen waren verflogen. Jetzt war sie Frau und Weib; und alles, was Wolf wollte, wollte sie auch. Bald würde sie seine kräftigen Hände spüren, seine wilden Worte hören. Sie eilte ins Bad, stellte sich unter die Brause und empfand das Wasser wie eine Liebkosung. Schritte verrieten ihr Wolfs Kommen. Sie hielt den Bademantel über der Brust zusammen und öffnete schnell die Tür. Endlich. Wolf umfaßte ihren warmen Körper, küßte ihren Hals, ihre Schulter. Er hob sie hoch und trug sie in ihr Zimmer. „Triebe und Leidenschaften – die Flügel der Seele.“ Ausgerechnet von Platon! Manchmal fielen ihm solche Sentenzen ein, erhellten die Freude und den Genuß. Mein Gott, warum nicht jeden Tag? Ingeborg seufzte und dachte an Werner, der in seinem Laboratorium über Zahlenreihen, Formeln oder Artikeln brütete. In solchen Augenblicken haßte sie ihn, der zwischen ihr und dem Glück stand. Liebe wurde einem geschenkt; sie war da oder nicht da. Es gab kein Mittel, das Herz zu betrügen. Wolf hatte ein Zimmer und eine Wirtin, die jeden weiblichen Besucher für eine Nutte hielt. Nie wieder würde sie diese muffige Wohnung betreten. Sie richtete sich auf, legte ihre Arme um Wolfs Hals und küßte ihn, spürte den Wunsch nach Wärme, Nähe. Am liebsten sah sie sein Gesicht, seine dunklen Augen, die vollen Lippen, die in feinen Linien ausliefen. Sie mochte seine kräftigen Hände, die schwer auf ihren Brüsten lagen. „Ich liebe dich, du.“ Sie lächelte und stupste ihn mit ihren Lippen gegen die Nase. „Manchmal wünsche ich, es dürfte nie aufhören.“ 26
Wolf drückte sie zustimmend. Er legte ein Bein über ihre Hüfte und brummte zufrieden. „Es ist wie ein Traum, in Wirklichkeit bin ich gar nicht hier.“ „Wo solltest du denn sein?“ Ingeborg strich ihm über die Augen. Er richtete sich auf. „Zehn Stunden Paradies die Woche und der Rest Höllenqualen.“ Ingeborg legte ihre Hand auf seinen Mund. „Du hast Hunger, ja? Ich mache Frühstück.“ Sie erhob sich flink, warf den Bademantel über die Schulter, küßte Wolf auf die Wange und eilte in die Küche. Der Kaffee dampfte. Butter, frisch aufgebackene Brötchen, Aprikosenkonfitüre, Emmentaler und Camembert. Ein paar Rosen hätte er mitbringen sollen. Aber wenn ihr Tag herankam, dachte er nur noch an sie. „Mann, die Eier habe ich vergessen!“ Ingeborg sprang vom Stuhl. „Du bringst mich ganz durcheinander.“ Sie lachte und goß heißes Wasser in den Topf. Wolf schwieg. Am liebsten hätte er sie wieder in die Arme genommen, doch die häusliche Umgebung verstimmte ihn. Er saß in einem fremden Nest, auf einem Platz, der ihn nichts anging. In Inges Zimmer umgab ihn nur ihre Atmosphäre, aber schon der Flur und das Bad mit den anderen Männersachen störten ihn. Er sah mißmutig drein, als sie sich ihm wieder gegenübersetzte. „Dauert nur vier Minuten.“ Sie deutete sein Gesicht richtig, wollte ihn aber ablenken, sonst fing er wieder mit seinen Vorhaltungen an: sich scheiden lassen, zu ihm ziehen, ein neues Leben anfangen, Kinder … „Ich fühle mich wie ein Einbrecher.“ „Schmeckt der Kaffee? Nächstes Mal frühstücken wir in meinem Zimmer, ja?“ „Für dich ist das wohl nur Spiel?“ Wolf Sander fühlte Verzweiflung und Zorn in sich wachsen. „Dein Stillmann tut mir leid“, fuhr er wütend fort, „aber wenn du nicht 27
bald Schluß machst, passiert ein Unglück.“ Er hörte seine drohenden Worte und wunderte sich, wie schnell die Stimmung wechseln konnte. Auch Ingeborg war verstimmt. Das Wasser kochte, doch sie vergaß die Eier und starrte auf die Brötchen. Sie litt unter ihrer Entschlußlosigkeit und wußte selbst nicht, wie sie es ändern sollte. „Wenn du nicht mit Stillmann reden kannst, dann werde ich das mal in die Hand nehmen“, grollte er weiter. Schließlich mußte sie endlich begreifen, daß es ihm ernst war. Ingeborg sah erschrocken auf. „Bist du verrückt“, fuhr es aus ihr heraus. „Genügt dir meine Liebe nicht mehr? Ich schlafe nur mit dir; ich könnte gar nicht …“ „Schlafen!“ unterbrach er sie heftig. „Ich will nicht nur mit dir schlafen, ich will mit dir leben, Kinder haben. Himmelherrgottsapperment.“ Er schlug mit der Faust auf den Tisch, daß Löffel und Messer schepperten. „Du bist gemein“, jammerte sie schuldbewußt. „Die wenigen schönen Stunden so zu zerstören.“ „Laß dich endlich scheiden“, fuhr er unbeirrt fort. „Oder soll ich dich zur Witwe machen?“ Er fuhr sich mit dem Messer unter dem Kinn entlang. „Das bringst du fertig“, sagte sie spöttisch. „Laß diese dummen Späße. Hol mal die Eierbecher.“ Sie schreckte die Eier ab und stellte sie in die Plastbecher. „Hoffentlich sind sie nicht zu hart geworden.“ „Ich will endlich klare Verhältnisse, Inge, Liebste. Pennen kann ich mit andern auch. Wir lieben uns, wir gehören zusammen. Sind denn deine Gefühle und Worte Lügen?“ Sein Herz wurde weich gestimmt, als sie ihn glücklich anlächelte und ihre Hand auf seine legte. „Bitte, iß jetzt. Dann gehn wir wieder in mein Zimmer.“ Sie umschloß seine Beine mit ihren Knien und biß in das knusprige Brötchen. „Ich brauche dich“, stöhnte er. „Ich will dich für mich 28
haben, ganz allein, für immer. Er oder ich.“ Wolfs Gesicht zeigte Entschlossenheit. Irgend etwas in dem Ausdruck erschreckte Ingeborg. Sie fürchtete plötzlich, ein Unglück heraufzubeschwören. Vielleicht sollte sie doch mit Werner reden. „Ich will es versuchen“, sagte sie, doch sie fühlte, daß Wolf ihr nicht glaubte. Wenn sie sich nur mit jemandem aussprechen könnte! Doch wer würde sie verstehen? Karl Kupfer? – Sie sah das abgeklärte Gesicht des alten Freundes. Würde er nicht zu Werner halten und sie verurteilen?
6. Professor Herbert Hanssing wußte nicht, wie lange er auf das Buch des Österreichers Xaver Steidle gestarrt hatte. Erst als seine Sekretärin, Fräulein Gabriele Lüsewitz, ihren Kopf durch die leicht geöffnete Tür steckte, hob er, wie aus einem Tiefschlaf erwachend, den Kopf. „Tschuldigung, Herr Professor“, flüsterte sie erschrocken. „Sie hatten auf mein Klopfen nicht geantwortet, da dachte ich … die Unterschriftenmappe.“ Sie huschte wie eine Maus zum Schreibtisch, duckte sich unter dem stieren Blick aus dem grauweißen Gesicht, erschrak, als sie ein krächzendes „Danke“ vernahm. Dieser verdammte Schnüffler, dieser arrogante Besserwisser! Professor Hanssing spürte, wie ihm das Blut zu Kopf stieg. Seine Hände krampften sich zusammen. Er umfaßte die Flasche wie einen Hals und drückte sie, daß die Knöchel weiß hervortraten. Schließlich setzte er sie an den Mund und trank, von der Vorstellung belustigt, Direktor Nickelberg könnte ihn so stehen sehen. Der Rémy Martin brannte in der Speiseröhre, brachte das Blut in Wallung, die Gedanken in Fluß. 29
Angst und Wut wechselten in Hanssings Brust. Er schloß Steidles Buch in die Schreibtischschublade, zog es wieder hervor und steckte es in seine Mappe. Woher hatte Stillmann das Buch? Ein Signum war nicht zu sehen. Hatte ihm wohl einer seiner Westverwandten mitgebracht. Solche Mitarbeiter sollte man gar nicht beschäftigen. Unverschämtheit! Wie der sich aufgespielt hatte. Ihm das Buch hinzuknallen und dann ohne Aufforderung das Zimmer zu verlassen. „Ich hätte ihn erwürgt, ich hätte ihn erwürgt!“ Hanssing erschauerte. Er betrachtete seine Hände. Zu schade, für diesen Hals zu schade. An dem wollte er sich keine schmutzigen Finger machen. Aber was tun? Die Drohung war hör- und sichtbar. Langsam gewann Hanssings Denken die Oberhand. Stillmann hatte es entdeckt. Dieses „es“ wagte Hanssing nicht in Worte zu fassen, denn es bedrückte und beschämte ihn mehr, als er wahrhaben wollte. Er war kein großer Stilist und Schreibkünstler. Mühsam mußte er sich jeden Satz hin und her überlegen, durchstreichen, neu schreiben, wieder streichen und so fort. Dabei fiel ihm selten etwas ein. Früher, ja, da hatte er noch Ideen gehabt und Gedanken entwickelt, aber das war mit den Jahren immer weniger geworden. Er hatte diesen Verfall wie die allmähliche Lähmung eines Gliedes empfunden, anfangs als dumpfe Trägheit, später als Unvermögen, eigene Überlegungen zu finden, zu formulieren und auszusprechen. Gleichzeitig war sein Drang nach Originalität immer quälender geworden. Er hatte Mokka double getrunken, Koffeintabletten geschluckt, Weinbrand oder Wodka hinterhergegossen und tatsächlich Wirkungen verspürt, doch für jeden Erfolg hatte sich das Gehirn mit einer noch größeren Leere gerächt. Kopfschmerzen begannen ihn zu quälen; Unruhe, Depressionen, Schlafstörungen suchten ihn heim. Der Arzt hatte ihm zu einer längeren Arbeitspause ge30
raten, aber derlei war für einen leitenden Wissenschaftler nicht akzeptabel. Wofür hatten Chemie und Pharmazie schließlich Pharmazeutika entwickelt? Mit einem Achselzucken hatte ihm der Arzt gegen seine Leiden Tabletten verordnet, und siehe da, er kam wieder hoch, fühlte sich sogar besser als zuvor. Die schöpferischen Kräfte ließen sich zwar nicht beleben. Aber die Fähigkeit, Anregungen und Gedanken anderer aufzugreifen und logisch überzeugend zusammenzufassen, war ihm geblieben. Das war in seiner Position die Hauptsache. Und noch einen anderen Erfolg zeitigten die Pillen: Er verlor das Lampenfieber, die Aufregung vor und auch während der Versammlungen und Beratungen. Selbstsicherheit stellte sich ein, ein zwingender Optimismus, den er auf seine Mitarbeiter übertrug, dadurch manche Bedenken zerstreute und Zweifelnde überzeugte. Seine Autorität war gewachsen, die Arbeit an seinem Institut florierte, der Chef erwählte ihn zu seinem Stellvertreter und überließ ihm mehr und mehr die Leitung. Sein Ehrgeiz aber war gewachsen. Es drängte ihn nach „eigenschöpferischen“ Taten, wie er sie in dieser Formulierung auch von seinen Mitarbeitern verlangte. Die Versuchung kam durch einen Verlag. „Anläßlich des zweihundertsten Jubiläums des großen Mikrobiologen Löwenhauk wollen wir eine Biographie herausbringen, für die wir Sie, sehr geehrter Herr Professor Dr. Hanssing, um Autorenschaft oder Nennung eines befähigten Mitarbeiters bitten. Dieser Beitrag wird von einer breiten Öffentlichkeit anläßlich des bevorstehenden internationalen Jahrestages dankbar aufgenommen werden …“ Bla, bla, bla, der übliche Schmus. Aber die Fallstricke waren gelegt, und er, der vielumworbene Professor Hanssing, tappte hinein. Der Vertrag versprach einen guten Nebenverdienst. Die geplante Aufmachung war schmeichelhaft, und eine 31
populärwissenschaftliche Darstellung war schließlich keine wissenschaftlich schöpferische Arbeit. Ein bißchen Zeitgeschichte, ein paar Lebensdaten, die Besprechung der Löwenhaukschen Arbeiten, die Würdigung ihrer Bedeutung für die Mikrobiologie speziell und den Aufbau des Sozialismus allgemein; einige Seitenschüsse gegen erznationalistische Bestrebungen; den im Elsaß geborenen Franzosen deutscher Abstammung bezichtigen; das alles konnte er nicht nur ebensogut wie jeder andere, sondern ganz ohne Zweifel besser, hatte er gemeint. Nicht einmal der kurzfristige Termin hatte ihn aus seiner Euphorie gerissen. Und das Glück war ihm hold. Unter den Büchern, die in den letzten fünfzig Jahren über den guten und verdienstvollen Löwenhauk geschrieben worden waren, fand er jenes aus der Feder des Österreichers Xaver Steidle, das ihm gewissermaßen den Weg zum Olymp ebnen sollte. Steidle hatte brav und bieder – was Hanssing von gewissen Autoren der Bundesrepublik nicht immer sagen konnte – die fleißig gesammelten Kenntnisse über Löwenhauk zusammengestellt und sie in einer etwas altertümlich anmutenden Sprache, doch leicht verständlich und anschaulich genug, aufgeschrieben. Eigentlich hätte man Steidles Buch mit einigen Änderungen – Weglassen objektivistischer Formulierungen, Einbringen von parteilich eindeutigen Aussagen, Einbeziehen der gesellschaftlich-politischen Zusammenhänge und marxistisch-leninistische Würdigung – auch so drucken können. Doch der Verlag wollte ja ein eigenständiges Werk. Er hatte viel Vergnügen an der Arbeit gehabt. Die Gedanken für die Einleitung und den Schluß fand er bei Friedrich Engels gut formuliert; mit geringen Umstellungen, Kürzungen und einigen Ergänzungen bildeten sie einen vortrefflichen Rahmen. Aus der mehrbändigen 32
Geschichte des deutschen Volkes konnte er ohne große Mühe ein überzeugendes Zeitbild zusammenstellen, das zweifellos hervorragend geeignet war, die Geschichtskenntnisse des Lesers aufzufrischen und das Verständnis für den wahren Löwenhauk erst richtig zu wecken. Der Text indes wollte ihm nicht so leicht von der Hand gehen. Hinzu kam, daß noch nie ein Termin so schnell wie dieser auf ihn zugekommen war. Die Tage vergingen, die Eile wuchs. Unmöglich konnte er Satz für Satz wortwörtlich übernehmen; er war doch kein Plagiator. Doch schon Aristoteles hatte erkannt, so besann er sich, daß die Kombinationsmöglichkeiten der Buchstaben zu Silben und der Silben zu Wörtern und der Wörter zu Sätzen ungeheuerlich groß sind. Eine Silbe war mehr als die Buchstaben, ein Wort mehr als die Silben, ein Satz mehr als die Wörter. Davon jedenfalls war er ausgegangen, und er dankte im stillen seinem alten Lehrer für Philosophie. Die Wortfolge eines Satzes ließ sich im Deutschen sehr leicht verändern. Ob es nun hieß: „Francois Löwenhauk wurde als Ältester von vier Kindern des Steuereinnehmers Löwenhauk geboren“ oder „Als Ältester von vier Kindern des Steuereinnehmers Löwenhauk wurde Francois Löwenhauk geboren“, war inhaltlich gleich. Diese Methode hatte ihm geholfen, täglich bis zu vier Seiten zu schreiben. Doch er fand auch andere Methoden. So gab es Wörter mit sinngleicher Bedeutung. Statt Schreibung konnte man Schreibweise setzen, Auslassungen waren möglich, ohne den Sinn zu entstellen. Den Satzteil „Einige Zeit nach der Promotion in Strasbourg“ konnte er guten Gewissens um die beiden letzten Worte kürzen, denn der Leser wußte eigentlich schon, daß Löwenhauk in Strasbourg studiert hatte. Ebenso verstand er es, durch Einfügen einem Satz ein eigenes Gepräge zu geben, und schließlich gab es noch die Mög33
lichkeit, die Gedanken aus mehreren Sätzen in einem einzigen Satz gewissermaßen in Verdichtung zu formulieren. Er hatte das Manuskript termingemäß fertigbekommen. Und er war ziemlich stolz auf diese Leistung gewesen. Als er einmal eine der Euphorietabletten zuviel geschluckt hatte, war er drauf und dran gewesen, eine Abhandlung über seine Entdeckungen und Methoden zu schreiben, für die er schon den Titel wußte: „Anleitung zur effektiven Schreibung populärwissenschaftlicher Bücher mit großer Massenwirksamkeit“. Eine halbe Nacht hatte er sich mit der Gliederung und Skizzierung dieser Schrift befaßt und sogar die mögliche Einnahmequote gemäß Bogenhonorar ausgerechnet. Am Morgen unter der kalten Dusche hatte er den Plan verworfen. Erstens gab man nicht alle Geheimnisse preis, zweitens beschlich ihn das Gefühl, mit seinen Vorschlägen auf Kritik oder sogar Ablehnung stoßen und unter Umständen seinem Buch schaden zu können. Doch je länger er über sein Manuskript nachgedacht hatte und je weiter der Druck fortschritt, desto bedenklicher war ihm seine Arbeitsweise vorgekommen. Den Umbruch las er mit einer Mischung von Stolz und Unmut. Manche Umstellungen erschienen ihm in Druckbuchstaben doch zu einfach. Aus „Man darf wohl vermuten“ hatte er „Man darf annehmen“ gemacht, gewiß, eine durchaus vertretbare Kürzung, aber in der Häufung solcher Umformulierungen lag doch Peinlichkeit, die dadurch besonders ins Auge sprang, daß sie mit dem Steidleschen Text parallel lief. Ein Glück, daß er die Gliederung nicht durch ein Inhaltsverzeichnis kenntlich gemacht und einige Abschnitte in anderer Reihenfolge aufgeführt hatte. Der Schweiß war ihm beim Korrekturlesen immer häufiger ausgebrochen, und beim Nachlassen der Wir34
kung einer Beruhigungs- und Aufmunterungstablette hatte er sich mehrmals versucht gefühlt, das Buch zurückzuziehen. Aber Gertraude, seine eifrige Frau, die er ein bißchen eingeweiht hatte, erklärte ihn für übersensibel. Manchmal wußte er nicht mehr, ob seine Stimmungen eine Folge seines Gesundheitszustandes oder seiner übertriebenen Akribie waren. „Akribie“, sein Lieblingswort, hatte er in vielen Versammlungen wie einen Feuerpfeil in die Köpfe seiner Kollegen und Kolleginnen geschossen. Nie ohne Eindruck, denn wer solch ein Wort, das äußerste Sorgfalt und Präzision meint, mit strahlender Überzeugung auszusprechen wagte, der mußte schon was drauf haben. Donnerwetter ja. Und nun fand er an sich selbst oder in seinem so stolz geschriebenen Buch ebendiese Akribie verraten. Ihm wurde heiß, wenn er solche Satzteile miteinander verglich: „Im Laufe des Winters dürfte Löwenhauk erkannt haben“ mit „Im Winter scheint Löwenhauk erkannt zu haben …“ Konnte das gut gehen? Das Buch, der Termin, Gertraude, der Verlag, das Jubiläum, das Eingeständnis von Unfähigkeit in einer Sache, die er völlig unterschätzt hatte. Blamage, Ehrgeiz, die Blicke, die sich auf ihn richten würden. Am Institut wußte man, daß der Stellvertreter des Direktors ein Beispiel populärwissenschaftlicher Aktivität gab. Wer kannte schon das Buch Xaver Steidles? Wem würden die Umstellungen in die Augen fallen? Wer schon würde beide Bücher so sorgfältig lesen oder gar miteinander vergleichen? Hanssings Stimmungsbarometer stieg und fiel mit den Argumenten und Tabletten. Das Unbehagen blieb, auch nachdem das Buch erschienen und in den üblichen Pressekommentaren als durchaus gelungene „Darstellung“ rezensiert worden war. Immerhin, er hatte ein kleines Sümmchen daran 35
verdient und es in einem tragbaren Fernseher angelegt, den er Besuchern gern als „kleinen Löwenhauk“ vorstellte. Die Auflage ging schnell weg, eine zweite bahnte sich an. Und nun knallte ihm ausgerechnet Stillmann das Buch Steidles auf den Tisch. Hanssing sah auf seine Tasche. Wie glühendes Eisen erschien ihm der Griff. Er brauchte seine Tabletten. Er mußte der großen Gefahr begegnen.
7. War er wirklich so weit zu Fuß gelaufen? Überrascht sah sich Stillmann in die Lindenstraße einbiegen. Erst jetzt kam ihm zum Bewußtsein, daß er das Institut verlassen, den Park durchquert und sein Stadtviertel erreicht hatte. Verwundert blieb er stehen. Hoffentlich hatte ihn niemand gesehen, als er aus Hanssings Zimmer gekommen und die Treppe hinuntergewankt war. Seine Knie waren weich gewesen, und sein Gesicht dürfte seine Verfassung deutlich widergespiegelt haben. Wenn es dem Esel zu wohl ist, geht er aufs Eis tanzen. Doch er hatte die Wirkung seiner Worte auf Hanssing bemerkt. Nur wußte er nicht, ob er darüber erfreut oder erschrocken sein sollte. Auf einen Tiefschlag konnten unberechenbare Reaktionen folgen. Wie würde sich Hanssing verhalten? Zwei diametral entgegengesetzte Möglichkeiten gab es: das völlige Eingeständnis und seine Bereitschaft, alle Konsequenzen zu tragen, oder aber ein Arrangement mit ihm. Die erste Variante widersprach dem Ehrgeiz Hanssings, der Sucht nach Bedeutung, Anerkennung – er träumte von der Mitgliedschaft in der Akademie. Aber sie würde ihm, trotz aller Blamage und dem vorläufigen Ende seiner Karriere – vorbei mit dem Direktorposten 36
und wahrscheinlich einige Jahre in unterer Funktion – einen sicheren Rückzug und die Bewahrung persönlicher Integrität ermöglichen. In diesem Falle würde er, Stillmann, den Hut vor Hanssing ziehen müssen. Was aber, wenn die Angst vor der Aufdeckung des Plagiats siegte, die Angst vor der Blamage, vor dem Fingerzeigen, vor dem Verlust des Ansehens, der Position, vor einer Rüge, der Isolation? – Dann würde Hanssing sich mit ihm arrangieren und sein Schweigen erkaufen wollen. Daraus ergaben sich für ihn akzeptable Möglichkeiten. Schließlich hatte Hanssing eine Position; er hatte Beziehungen und konnte sein Vorankommen fördern. Eigentlich keine üble Aussicht, auf diese Weise der Gerechtigkeit nachzuhelfen. Eine Hand wäscht die andere, lautete ein altes Sprichwort. Dennoch beschlich Stillmann ein unbehagliches Gefühl, während er ganz in Gedanken seiner Wohnung zusteuerte. Schließlich würde er damit eine schlechte Sache decken und – daraus persönlichen Vorteil ziehen. Von Rechts wegen müßte er Nickelberg informieren. Aber was, wenn der seinen Prinzregenten deckte, die Angelegenheit bagatellisierte und den Spieß gegen ihn, Stillmann, richtete? Immerhin würde es dem Alten nicht leichtfallen, sein bestes Pferd auszuspannen. Hanssing hatte es sehr geschickt verstanden, alle Fäden durch seine Hand laufen zu lassen und als der einzig mögliche Nachfolger zu erscheinen. Stillmann kannte Nickelberg nicht gut genug, um dessen Maßnahmen voraussehen zu können. Hätte er mit ihm zuerst gesprochen, gewissermaßen, um sich Rat zu holen, dann wäre ihm ein Rückzug möglich gewesen; jetzt aber lag der Schlüssel bei Hanssing, dessen Reaktionen er unbedingt abwarten mußte. Möglicherweise erklärte er sich Nickelberg, darauf bauend, daß dieser ihn schützte. 37
Stillmann fühlte eine heiße Welle in sich aufsteigen. Das konnte verdammt unangenehm werden. Karl Kupfer hatte die Gefahren doch besser vorausgesehen. Warum hatte er nur so wenig Vertrauen, daß die Wahrheit sich durchsetzte? Als Stillmann in den Hausflur trat, sah er einen Mann auf sich zukommen. Gegen das Licht, das aus dem Treppenhausfenster fiel, konnte er ihn erst im letzten Augenblick erkennen. Dieser Augenblick aber genügte, Erschrecken, Verlegenheit und Haß in den Augen des anderen aufblitzen zu sehen. Gleichzeitig fühlte er, wie Eifersucht ihm in die Kehle stieg. Er wandte sich schnell um und sah noch mal Sanders zerzausten Kopf, bevor er die Haustür aufriß. Mit großen Sätzen erreichte Stillmann seine Wohnung. Während er hastig den Schlüssel suchte und ins Schloß steckte, hörte er seine Frau über den Flur ins Badezimmer huschen. Die Tür zum Zimmer seiner Frau war leicht angelehnt. Er zog sie auf. Das Bett war zerwühlt. Auf dem Schrank standen zwei Kognakschwenker, auf dem Tisch zwei Teller mit den Schalen von Äpfeln und Orangen. Er stürzte in sein Zimmer und warf sich aufs Bett, vergrub den Kopf ins Kissen. Verzweiflung erfaßte ihn. Er begriff alles und nichts. Diese Geschichte hätte er sicher schon vor einem Jahr erleben können. Er war ein Narr, ihren Ausreden geglaubt zu haben. Die Angst vor der Wahrheit hatte ihm den Selbstbetrug erleichtert. Er fühlte sich hintergangen und gedemütigt. Sollte die Welt zusammenbrechen. Stillmann sah keinen Weg, der ihn wieder zu seiner Frau zurückführen könnte. Jetzt, wo ihr klar sein würde, daß er alles wußte, war die Trennung nur eine Frage von Tagen oder Wochen. Wie dumm war er gewesen, zu glauben, ihr mit beruflichen Erfolgen imponieren zu können. Stillmann drückte die Fäuste gegen die Stirn. Gestern noch hatte er 38
Rosinen im Kopf gehabt, ohne die er heute nicht den Helden gespielt hätte. Alles umsonst. Die Ehe im Eimer, und was aus dem Institut auf ihn zukommen würde – er dachte schon in Formulierungen Hanssings –, das würde ihm den Rest geben. Er war erledigt. Er hörte, wie seine Frau das Bad verließ und im Nebenzimmer das Bett aufschüttelte. Einige Atemzüge erlag er der Versuchung, sie in die Arme zu nehmen, um alles wieder gut sein zu lassen. Doch er fühlte, daß es dazu zu spät war. Ingeborg, nicht er, hatte sich abgewandt und einem andern Partner geöffnet. Er war in ihren Augen nur ein Bettler, der um ein Almosen buhlte. Nur Peinlichkeiten konnten ihn erwarten, und diesen wollte er weder sich noch Ingeborg aussetzen. Er richtete sich auf, betrachtete sein zerdrücktes Gesicht im Spiegel, zog eine Grimasse und lauschte auf die Schritte seiner Frau, die sich seiner Tür näherten, doch nur um in die Küche zu gehen. Geschirr klang gegeneinander, Messer oder Löffel berührten sich. Die Tür des Kühlschranks schlug zu. Die Küche war ein neutraler Raum. Vielleicht sollte er … aber da kamen die hastigen Schritte über den Flur, führten zur Garderobe. Ein Mantel wurde übergestreift, ein Schlüsselbund klirrte, die Flurtür quietschte und fiel ins Schloß. Stillmann fürchtete sich. Noch nie hatte er sich so allein in der Wohnung gefühlt. Lange zögerte er, bevor er zur Tür ging. Der Korridor lag in einem schwachen Licht. Scheu wie ein Eindringling betrat er die Küche. Auf dem Tisch standen Teller mit Brot, Wurst, Käse, Gurken und Paprika. Der Kühlschrank summte leise. Vor dem Fenster pickte ein Rotkehlchen. Die Turmuhr schlug metallen hart zwölfmal. Stillmann hätte schreien und das Geschirr zerschlagen können. Aber er stand unbeweglich, bis ein leeres Gefühl der Gleichgültigkeit von ihm Besitz ergriff. 39
Mechanisch öffnete er die Schranktür, griff zur Kognakflasche, die, wie er beruhigt feststellte, noch halbvoll war. Den ersten Schluck sprühte er verächtlich über den Tisch, wobei er die Backen dick aufblies. Das Brennen im Mund setzte sich über die Speiseröhre bis in den Magen fort. Er schüttelte sich und trank, mäßigte sich aber sofort, als er eine Wirkung verspürte. Soweit wollte er sich nicht gehenlassen. Besoffen sollte sie ihn nicht erleben, das würde ihr nur alles erleichtern. So ein Schlappschwanz war er nun doch nicht. Sollte sie ruhig sehen, daß er seinen Mann stehen konnte. Es gab ja schließlich noch andere Frauen. Hatte sich lange genug an der Nase herumführen lassen. Treudoof, würde Nelly sagen; komisch, daß er ausgerechnet an sie dachte, die ihn nicht sonderlich zu schätzen schien. Erfahrung mußte sie haben, denn sie hatte schon mehrfach ihre Freunde gewechselt. Ausflüchte, nichts als Ausflüchte! Der Jammer zerriß ihm die Brust. Er liebte Ingeborg doch! Es war nicht so, daß die Wahrheit wie ein Messer ihre Gemeinsamkeit durchschnitt. Warum hatte er nicht aufgepaßt? Warum hatte er den Sander nicht beobachtet? Dieser gemeine Kerl! Sielte sich in seiner Wohnung mit seiner Frau herum! Er konnte nicht umhin, sich die Umarmungen zwischen Ingeborg und Sander vorzustellen. Mit unglaublicher Gewalt und Eindringlichkeit traten sie ihm vor Augen. Wie der ihn heute angestarrt hatte. Der konnte von Glück reden. Einige Minuten früher. Wenn er sie so angetroffen hätte, wie es ihm seine Phantasie jetzt vorgaukelte, dann hätte er zugeschlagen, so lange, bis ein Ende war, ein Ende, vor dem ihm graute. Das Telefon schrillte und riß Stillmann aus seinen finsteren Gedanken. Er meldete sich und hörte entsetzt, daß seine Stimme grob und rauh in die Muschel schallte. Hanssing war am Apparat. „Grüß’ dich, Werner! Wie40
so bist du nicht im Institut?“ Die Kopfstimme schwieg, als lauerte sie auf den Ton der Antwort. „Mir war nicht so“, grollte Stillmann. Er war plötzlich hellwach und von eisiger Entschlossenheit. „Aber nun mach doch kein Theater, Werner.“ Leichter Vorwurf mischte sich mit bitterem Unterton. „Was heißt hier Theater?“ Stillmann setzte die Flasche frohlockend an den Mund. Der Tiefschlag war doch gut plaziert gewesen. „Du siehst die Sache nicht ganz so, wie sie ist“, tönte Hanssings Stimme. „Paß auf, wir werden sehr vernünftig miteinander reden, und“ – eine lauernde Pause – „es wird nicht zu deinem Schaden sein.“ „Zu meinem Schaden?“ Stillmann wunderte sich über seine neue Rolle. „Du verstehst mich schon“, mahnte Hanssing. „Spiel nicht verrückt.“ „Wer spielt hier? Mir war es noch nie so ernst wie heute.“ Alle Empörung, die Stillmann in diesem Augenblick empfand, lag in seinen Worten. Hanssing schien erschrocken oder beeindruckt. Er schwieg, Stillmann hörte ihn schnaufen und mit den Zähnen knirschen. Doch die Antwort fiel sanft aus. „Ich meine es wirklich ehrlich im beiderseitigen Interesse.“ „Ehrlich!“ Stillmann lachte höhnisch. „Was willst du eigentlich?“, schrie Professor Hanssing mit Kopfstimme. „Verläßt unabgemeldet das Institut, gefährdest die Planaufgabe, benimmst dich wie ein Idiot. Jetzt rede ich!“ übertönte Hanssing die Stimme Stillmanns. „Ich will dir eine Brücke bauen, mit dir vernünftig reden, dich weiterbringen, und du …“ Er unterbrach sich wie einer, dem die Gedanken ausgegangen sind. Stille. Nur ab und zu ein Knacken im Hörer. Stillmann schwieg, legte aber nicht auf. Ein Räuspern. „Also paß auf, vergessen wir den Wortwechsel. 41
Ich hol’ dich ab, wir gehen einen Kaffee trinken, wir werden uns bestimmt einig.“ Hanssing legte auf. Wieder diese Sicherheit, wartete nicht einmal Zustimmung ab. Verstand es, immer am Zuge zu bleiben. Angriff war die beste Verteidigung. Stillmann legte den Hörer auf. Er konnte noch viel von Hanssing lernen. Er mußte auf der Hut sein. Hanssing hatte angebissen. Diese Runde hatte er gewonnen, aber er durfte Hanssing nicht die Initiative überlassen. Jetzt war er es, der die Bedingungen zu stellen hatte.
8. Seine Tabletten hatten Hanssing beruhigt und zuversichtlich gestimmt. Er mußte sofort handeln. Als erstes galt es, herauszubekommen, ob Stillmann noch jemanden eingeweiht hatte. Davon würde sein weiteres Handeln abhängen. Der Rückzug zu einem offiziellen Eingeständnis seines Plagiats blieb ihm ohnehin offen. Einige Minuten schien es ihm sogar das beste, sich Nickelberg zu erklären. Doch er fürchtete sich; Nickelberg würde ihn durch seine dicken Brillengläser fassungslos anstarren. Alles verdankte er ihm. Ein solches Vertrauen durfte er nicht zerstören, solange er noch Auswege sah. Wenn es noch keinen Mitwisser gab, mußte er in Erfahrung bringen, was Stillmann für sein Schweigen forderte. Es war nicht wenig, was er ihm bieten konnte, Beförderung und mehr Gehalt. Ein sicherer Schachzug. Hanssing konnte ihn mit bestem Gewissen verantworten, denn Stillmann hatte im Grunde genommen beides längst verdient. Es kostete Hanssing nichts als einen Antrag und ein Gutachten, in dem nur die Wahrheit stehen würde. Hanssing war nach dem Telefonat in seinen Wagen 42
gestiegen, stolz darauf, seine Vermutung, daß Stillmann nach Hause gegangen war, bestätigt zu sehen. Am Steuer fühlte er sich gleich besser. Ihm war, als übertrüge sich die Kraft des Motors auf ihn. Mehrmals gab er im Leerlauf Gas, dann kuppelte er forsch ein und brauste davon. Mit einem Stillmann würde er noch allemal fertig werden. Der sollte sich bloß nicht zuviel auf seine Entdeckung einbilden. Hatte sich ziemlich dämlich am Telefon benommen. Sollte nur nicht glauben, ihn erpressen zu können. Eine solche Type müßte man eigentlich zertreten. Schnüffelte anderen hinterher, um ihnen Fallstricke zu legen. Hanssing fühlte die Überlegenheit in sich wachsen. Wenn Stillmann ihm lästig werden sollte, dann mußten sich noch andere Mittel finden lassen, um so einem Kläffer das Maul zu stopfen. Der hatte ja keine Ahnung, was für Anstrengungen und Opfer hinter ihm lagen, um als klassenfremdes Element in eine wichtige Funktion zu gelangen. Schließlich war er wer und würde noch mehr sein. Das ließ er sich von keinem Stillmann verderben. Hielt sich was auf seine Leistungen zugute. Als wenn es nur darauf ankäme. Hanssing lachte trocken, stoppte kurz am Ende der Parkstraße und bog scharf in die Hauptstraße ein. Natürlich war Stillmann kein schlechtes Pferd in seinem Stall, aber durchaus ersetzbar. Es gab noch andere befähigte Wissenschaftler; die Kaderlage hatte sich seit der Mauer zusehends gebessert. Heute konnte man schon auswählen, zumindest innerhalb bestimmter Kriterien, wobei sein Wort Gewicht hatte. Nur waren diese Betrachtungen jetzt nicht angebracht. Erst einmal mußte er Stillmann für sich gewinnen. Dann saß der mit im Boot, hatte sich mitschuldig gemacht durch das erkaufte Schweigen. Warum hatte er sich bloß auf dieses Buch eingelassen. Verfluchte Scheiße. Hanssing biß 43
sich auf die Unterlippe. Geld verdiente er genug. Daß er sich selbst reingelegt hatte, wurmte ihn am meisten. Stillmann öffnete die Tür, bevor Hanssing die Treppe ganz hinaufgestiegen war. „Grüß’ dich!“ rief der Professor schnaufend und streckte die Hand weit vor. „Bist wohl allein?“ „Im Augenblick ja“, antwortete Stillmann ziemlich verlegen. „Hier bitte.“ „Tust ja gerade so, als wäre ich zum erstenmal hier.“ Hanssing nahm den angebotenen Platz nicht gleich ein, sondern betrachtete interessiert die Bilder an der Wand. „Immer noch die alte Leidenschaft?“ Er deutete auf eine Fotografie, auf der Stillmann vor einer Hütte stand, den Blick auf einen meterlangen Hecht gerichtet, den er stolz auf beiden Händen trug. Im Hintergrund lag der mit Schilf umstandene Muschelsee, auf dem kaum sichtbar ein Boot lag. „Schöne Aufnahme“, sagte Hanssing anerkennend. „Fängst du heute auch noch solche Prachtexemplare?“ „Komm zu selten ’raus“, entgegnete Stillmann einsilbig und setzte sich. „Na ja.“ Hanssing zog das Buch Xaver Steidles aus der Tasche und warf es vor sich auf den Tisch. „Kommen wir zur Sache.“ Er räusperte sich, legte die Fäuste auf die Schenkel und blickte Stillmann durchdringend an. „Wenn du meinst, daß du mir damit imponieren kannst, bist du auf dem Holzweg.“ Er schätzte den Eindruck seiner Worte ab und fuhr fort: „Natürlich habe ich dieses Buch mit benutzt, wie andere auch, vielleicht ein wenig mehr als nötig, aber nicht so, daß man mir daraus einen Strick drehen könnte.“ Er wollte fortfahren, doch Stillmann unterbrach ihn mit einem verächtlichen Lachen. „Siebzig Seiten lang nach einem andern Buch geschrieben, Mensch, Herbert, wer ist denn so blöd. Das kapiert doch ein Zehnklassenschüler.“ 44
Es wurde still. Hanssings Kiefer drückten sich rhythmisch nach außen. Zwischen seinen Sommersprossen verwandelte sich die weiße Farbe in ein zartes Rot. „Lassen wir das“, sagte er lässig. „Dein Urteil muß nicht für andere verbindlich sein. Ich könnte dir auch Schwierigkeiten bereiten. Aber warum? Wir kennen uns seit vielen Jahren. Wir haben gut zusammengearbeitet. Schön, du hast nicht ganz das Glück wie ich gehabt, aber ein Freund kann dem andern helfen. Ich werde dafür sorgen, daß in Zukunft dein Name immer mit genannt wird, wenn es um die Besetzung guter Posten geht. Wenn ich etwas sage, du weißt, auch im Ministerium hat meine Stimme Gewicht.“ „Was denkst denn du, was passiert, wenn ich eine ausführliche Rezension über dein Buch schreibe und gleichzeitig eine über Xaver Steidles Buch?“ Stillmann verbarg seine Erregung hinter einer gelangweilten Miene. „Gar nichts!“ Hanssing schielte nach der Kognakflasche. „Die Redaktion würde sich an mich wenden. Alles Weitere kannst du dir denken.“ Er verzog sein Gesicht zu einem überlegenen Lächeln. So gut in Form hatte er sich lange nicht gefühlt. Stillmann ergriff die Flasche und schenkte seinem Besucher und sich ein, während dieser wie nebenbei fragte: „Hast du schon mit deiner Frau darüber gesprochen?“ „Ach!“ Stillmann winkte unbeherrscht ab, bereute es sofort und ergänzte herausfordernd: „Ich könnte mich ja erst einmal mit einem Experten beraten, einem Stilistiker zum Beispiel oder einem Sprachwissenschaftler oder einem vom Urheberrechtsbüro, ob das eine erlaubte Schreibweise ist. – Prosit.“ „Du hast also noch mit niemandem gesprochen?“ Hanssing gab seiner Stimme einen gleichgültigen Klang, obgleich ihn die Worte Stillmanns wie Brandpfeile trafen. „Bis jetzt noch nicht“, antwortete Stillmann und er45
schrak. Lieferte er sich Hanssing nicht aus? Wenn der ihm nun eins über den Schädel schlug, mit der Flasche zum Beispiel. Niemand würde auf das Motiv verfallen. Vielleicht kam seine Frau in Verdacht, ein Ehekrach. Oder der Sander? Dem konnte es nur guttun. Das Gefühl der Genugtuung ließ Stillmann die Gefahr vergessen. Plötzlich sah er, daß Hanssing nach der Flasche griff und mit den Worten „Darf ich?“ ihm und sich einschenkte. „Ich finde es fair von dir, daß du nur mit mir über die Sache gesprochen hast.“ Immer noch schwangen Zweifel mit. Aber Stillmann konnte sich nicht verstellen, und der freundliche Ton besänftigte ihn. Der Professor bemerkte es und fuhr fort: „Wär ja auch gelacht, was? Seit achtundvierzig kennen wir uns, gemeinsam studiert, gemeinsam gekämpft.“ Er bemerkte hochgezogene Brauen und stoppte den Redefluß. „Laß bloß Dampf ab!“ Stillmann verstimmte die Anbiederung. „Beim Bau der Wasserleitung für die Maxhütte warst du nicht dabei. Dein Alter hätte dich nicht gelassen. Hast dich immer gedrückt, mein Lieber, wenn es ums Zupacken ging. Nur wenn du Vorteile wittertest, dann warst du am Ball.“ Ein unverschämter Kerl. Hanssing überhörte den Hohn. Dafür sollte er ihm später büßen. Aber er war nicht so blöd, dem Stillmann Öl ins Feuer zu gießen. Provozieren ließ er sich nicht. „Magst ja recht haben“, warf er versöhnlich ein. „Vergiß aber bitte nicht, was ich für Funktionen hatte. Manche Stunde Freizeit ging da drauf, während du im Kahn saßest und Fische fingst.“ „Funktionen!“ Stillmann kippte den Kognak. Ich darf nicht mehr trinken, fuhr es ihm durch den Kopf. Es fiel ihm schon schwer, die Gedanken zu ordnen. „Funktionen hatte ich auch“, sagte er, sich aufraffend. „Aber beim Enttrümmern oder Kartoffelbuddeln hatte ich eben keine Spondylose wie du. Das macht den Un46
terschied, mein Lieber, Theorie und Praxis.“ Er rülpste und dachte, ich muß unbedingt etwas essen, sonst haut mich der Kognak um. „Streiten wir uns nicht.“ Hanssing lächelte. „Ich schätze dich und deine Offenheit. Kommen wir zum Geschäft. Ich verlasse mich auf dich. Du weißt von nichts, und ich sorge dafür, daß du weiterkommst. Einen Antrag auf Gehaltserhöhung stelle ich sofort. Und wenn du meinen Vorschlag von heut früh aufgreifst, garantiere ich dir eine saftige Prämie.“ „Und wenn nicht?“ Stillmann spürte sein Blut durch den Kopf rauschen. Hanssing erhob sich. „Mensch, Werner!“ Er beugte sich über den Tisch. „Ich nehme dich jetzt mit ins Institut. So lange können wir den Laden nicht allein lassen.“ „Quatsch.“ Stillmann stand auf. „Fahren ist nicht, du hast getrunken.“ Er gestikulierte schwankend. „An der Ecke ist ’ne Kneipe, da wollen wir erst mal essen. Bitte.“ Er öffnete die Tür. Hanssing zögerte und deute auf Xaver Steidles Buch. „Brauch’ ich nicht wegzuschließen. Kommt keiner ’rein ins Zimmer.“ Stillmann schloß die Tür und folgte der breiten Gestalt Hanssings. Er war unzufrieden. Das Gefühl, übertölpelt worden zu sein, mischte sich mit der Genugtuung, Hanssing an der Angel zu haben. Dahinein schossen Tropfen der Bitterkeit; sinnlos das alles, für wen denn? Ingeborg hatte er verloren. Vielleicht würde er sie nicht einmal wiedersehen.
9. In dem kleinen Eßraum des Instituts, der ehemaligen herrschaftlichen Küche im Souterrain, verteilte Erna Rührig, die Raumpflegerin, aus den Essenkübeln der Groß47
küche Kartoffeln, Fleisch, Soße und Erbsen, denen man ihre Härte ansah. Nelly Zapf und Susanne Winter trugen ihre Teller vor sich her und schickten einen Blick zu Doktor Manthei und Doktor Brinkam, die am sogenannten Leitungstisch saßen. „Warum nur Doktor Stillmann nicht kommt“, sagte Susanne Winter, während sie mit sichtlicher Anstrengung den faserigen Rinderbraten zerteilte. „Haut einfach ab, ohne ein Wort zu sagen.“ „Wirst ihn schon wiedersehen.“ Nelly tunkte eine Kartoffel in die Bino-Einheitssauce. „Hanssing ist auch nicht da. Irgendwie ist dicke Luft.“ „Dicke Luft, wieso?“ „Hab ich in den Fingerspitzen, aber Genaues weiß ich nicht. Da kommt die Lüsewitz. Holen wir uns die mal ran.“ Ohne Susannes Zustimmung abzuwarten, deutete sie auf den freien Stuhl, den Fräulein Gabriele Lüsewitz mit dankbarem Kopfnicken annahm. „Wieder diese Erbsen“, sagte Fräulein Lüsewitz pikiert. Sie entnahm ihrer Handtasche eine Serviette. Immer vornehm, die Alte, dachte Nelly und sagte: „Seit einem Jahr reden wir in der Gewerkschaft über das Essen.“ Fräulein Lüsewitz tupfte sich den Mund ab. Als Mitglied der Betriebsgewerkschaftsleitung und Chefsekretärin fühlte sie sich angesprochen. „Das hat so seine Schwierigkeiten“, entgegnete sie vieldeutig. „Die Küche sagt, es zwinge uns niemand, das Essen zu beziehen.“ „Jetzt weiß ich, wie ich in Zukunft auf Kritik zu reagieren habe.“ Nelly Zapf schob den halb gefüllten Teller von sich. „Wenn ich an die ersten Nachkriegsjahre denke“, beschwichtigte Fräulein Lüsewitz, „für so ein Essen wären wir durch halb Berlin gelaufen.“ „Unsere Leitungskader wissen, wo es schmeckt“, ent48
gegnete Nelly spitz. „Möwe, Newa, Ganymed, Ermeler und so weiter.“ Fräulein Lüsewitz verzog die Mundwinkel und drückte die letzte Kartoffel breit. Ansprüche stellten diese jungen Dinger heute. Sie fühlte sich unsicher. Nelly Zapf unterbrach ihre Gedanken. „Wo der Chef nur bleibt?“ Ihre Blicke wanderten durch das weißgeflieste Zimmer. „Doktor Stillmann ist auch seit Stunden verschwunden“, warf Susanne Winter ein, „ohne ein Wort zu sagen.“ „Sie hatten heute früh eine Unterredung“, entgegnete Fräulein Lüsewitz bereitwillig. „Sie haben sicher einen wichtigen Weg. Ich hörte“, sie beugte den Kopf vor und flüsterte, „der Termin soll vorverlegt werden.“ „Da wird sich Doktor Stillmann aber freuen.“ Nelly Zapf grinste boshaft. „Er muß es nämlich ausbaden, und wir auch. Wir können uns dann die Freizeit um die Ohren schlagen. Immer von oben nach unten. Wir, die die Arbeit machen, werden nicht einmal gefragt.“ Sie hatte sich ereifert; wenn sie auf der Gewerkschaftsversammlung doch auch mal so in Fahrt käme. Aber die vielen Gesichter hemmten sie und die Doktoren, besonders der Bennrad, der jedes Wort auf die Goldwaage legte. Fräulein Lüsewitz blickte entgeistert. Vorgesetzte waren Vorgesetzte. Seit sie Kontoristin gelernt und die Handelsschule verlassen hatte, war sie diesem Grundsatz treu geblieben und gut dabei gefahren. Sie machte sich auch hin und wieder Gedanken, aber sie hätte es sich verboten, Höhergestellte belehren zu wollen. „Die Bakterien werden da wohl nicht mitmachen“, sagte Susanne Winter in das Schweigen. „Bis jetzt wurde ihr Wachstumstempo nämlich von Naturgesetzen bestimmt.“ „Ja, so ist das“, bestätigte Nelly, zufrieden, daß sie der Bürodame Grundwissen vorsetzen konnten. 49
Aber Fräulein Lüsewitz schien das nicht zu verstehen und entgegnete nachdrücklich: „Es ist ganz ausgeschlossen, daß Professor Hanssing etwas Unmögliches verlangt.“ „Meinen Sie“, trumpfte Nelly auf und stützte das Kinn auf ihre Fäuste. „Wenn Sie, Fräulein Lüsewitz, jetzt ein Kind kriegten, müßten Sie auch neun Monate warten. Mit vorverlegen wäre da nichts.“ Fräulein Lüsewitz ließ ihre weit erhobenen Brauen sinken und drehte sich mit hochgerecktem Kinn zur Seite. „Ich werde mir eine Tasse Kaffee holen“, sagte sie. Neun Monate. Diese jungen Dinger mußten immer alles ins Private ziehen. Was wußten die schon vom Krieg und Männersterben. Liefen mit ihren Jeans herum, schwenkten ihren Hintern und angelten sich noch Männer aus den dezimierten Jahrgängen, Männer, die in ihrer Jugend nicht jung sein konnten und eine ewige Schwäche für unreife Gänse mit sich herumschleppten. „Da war wieder was los“, sagte Dr. Jürgen Brinkam zu Dr. Walter Manthei, der sich eine Zigarette anzündete. „Soll eure Abteilung auch vorfristig?“ Er pustete den Rauch zur Seite. „Hanssing peilt mal wieder einen Orden an. Könntest du die Zigarette zur Seite nehmen? Seit ich nicht mehr rauche, stört mich der Qualm.“ „Aber selbstverständlich“, antwortete Manthei nach einer kleinen Pause. „Tja, Stillmann hat mir bislang nichts gesagt.“ Manthei schien sich immer erst nach einigen Sekunden auf die Worte seines Gegenübers zu besinnen. „Vielleicht ist nur eure Abteilung betroffen. Stillmann hatte ja letztes Mal tüchtig gemeutert.“ Er brach ab. Dr. Siegfried Bennrad, von dem niemand wußte, ob er seinen Spitznamen „fünfter Klassiker“ kannte, hatte mit seinem Teller an ihrem Tisch Platz genommen. „Tja, dann wollen wir mal.“, sagte Manthei, und auch Brinkam erhob sich. Mit Bennrad konnte man sich nicht unterhalten. Kaum wurde er angesprochen, schon begann 50
er zu referieren, und man hatte das Gefühl, eine Lektion erteilt zu bekommen. Seine quäkende, schleppende Stimme erweckte den Eindruck nicht des Sprechens, sondern des Diktierens. Demonstrativ blies Manthei noch eine dicke Rauchwolke in Richtung Bennrad, der als Todfeind des Tabakgenusses bekannt war. „Mußt ihn nicht reizen“, sagte Brinkam, nachdem sie den Speiseraum verlassen hatten. „Der merkt nicht einmal, wie isoliert er ist.“ Manthei winkte ab. „Ich kapiere auch nicht immer, was um mich geschieht, aber der Bennrad!“ „Er ist ebenso lächerlich wie gefährlich“, stimmte Brinkam zu, „aber man darf es ihn nicht merken lassen. Wie seine Frau das aushält. Wenn Bennrad verreisen will, muß sie für ihn eine Stunde vorher einen Platz in der Mitte des Zuges besetzen, damit er bei einem eventuellen Unglück die größte Überlebenschance hat. Bennrad kommt erst eine viertel Stunde vor der Abfahrt. Aber über die Gleichberechtigung hält er dir ein einwandfreies Referat.“ „Danke, ich verzichte. Aber wir müssen ihn ernst nehmen; bei Hanssing ist er gut angeschrieben. Der hängt den Stillmann noch ab.“ „Stillmann, der ist schon längst abgehalftert.“ Brinkam blieb stehen. „Du denkst doch nicht, daß der Stellvertreter wird, wenn Nickelberg abtritt und Hanssing das Institut bekommt!“ „Aber Stillmann ist der einzige, der die Promotion B hat. Außerdem ist er nach Hanssing Dienstältester; und auf seinem Gebiet macht ihm keiner etwas vor.“ „Du bist ganz schön naiv, Walter, Mensch.“ Brinkam schüttelte überlegen den Kopf. „Als ob es darauf ankommt. Stillmann ist für Hanssing eine Provokation. Er kann zwar mit Stillmanns Leistungen renommieren. Aber er selbst hat doch schon jahrelang nichts Eigenständiges mehr aufzuweisen. Und das bei seinem Ehrgeiz. Damit wird der nicht fertig.“ 51
„Tja, tja.“ Manthei nickte zustimmend. Er fand sich in komplizierten biochemischen Vorgängen zurecht, kaderpolitische Betrachtungen waren ihm ein Buch mit sieben Siegeln. „Würde mir leid tun um Stillmann, mehr Verantwortung würde sein Selbstvertrauen stärken. Er kann was, von ihm kommen Anregungen und Ideen. Wär’ doch kein schlechtes Gespann: Hanssing als Manager und Stillmann als wissenschaftlicher Kopf.“ „Theoretisch vielleicht.“ Brinkam lachte. „Aber die Menschen sind nun mal nicht so – um ein Wort von Brecht über die Verhältnisse zu modifizieren. Mich soll der Affe lausen, wenn wir nicht gespannten Zeiten entgegengehen.“ Er schlug seinem Kollegen auf die Schulter. „Seit Nickelberg krank ist und nur noch besuchsweise erscheint, sacken wir ab. Als Stellvertreter mochte Hanssing noch angehen, aber als Chef … Nickelberg – ein Mann mit Ideen und Forschersinn; Hanssing – ein Bürokrat und Projektemacher. Wenn der und Bennrad das Institut in die Hand bekommen, dann wird bald Ebbe sein, und dann wird man oben die Konsequenzen ziehen. In diesen Strudel möchte ich nicht hineingeraten. Es wird gut sein, sich gelegentlich nach einem andern Laden umzusehen.“ Manthei blickte ihn erstaunt an. Brinkam arbeitete zwar in Hanssings Abteilung, und er war immer gut informiert. Aber daß es so weit kommen sollte – da sah er wohl doch zu schwarz.
10. Ingeborg Stillmann hatte nur einen Gedanken gehabt – so schnell wie möglich die Wohnung zu verlassen, ohne mit ihrem Mann zusammenzustoßen. Was ihn nur nach 52
Hause getrieben hatte? Sonst rief er immer vorher an. Ob er etwas ahnte? Ob ihn jemand aufgehetzt hatte? Aus allen Fenstern und Türen fühlte sie gehässige Blicke auf sich gerichtet. Ihre Haut brannte, ihre Augen sahen nur schemenhaft Menschen und Fahrzeuge vorüberziehen. Endlich erreichte sie den Taxistand. „Zur Bringerstraße bitte.“ Der Taxifahrer betrachtete das Gesicht der jungen Frau im Rückspiegel und fuhr zufrieden los. Hübsche Frauen fuhr er am liebsten. Er drehte am Radio, bis er scharfe Schlagerrhythmen fand. Schon einige Male hatten ihn Frauen angesprochen, hatten ihn zu einer Tasse Kaffee in ihre Wohnung eingeladen. „Wollen Sie nicht noch einen Augenblick …?“ Warum nicht? Gab es eine angenehmere Abwechslung im Dienst? Seine Kilometer schaffte er spielend. Abends rollte der Rubel; wenig Ampeln und siebzig, achtzig Sachen; Trinkgeld war mehr oder weniger Glückssache. Manche knauserten bis auf den Pfennig. Doch seine Kundin zeigte kein Interesse. Ihr Gesicht war blaß und streng, ihre Augen blickten abweisend kühl. Sie wirkte attraktiv mit ihren schwarzen Haaren und der taubenblauen Jeansjacke. Der Fahrer summte mit, bis er Unmutsfalten auf ihrer Stirn erblickte. Der war aber eine Laus über die Leber gelaufen. „Wohl Ärger gehabt?“ Ingeborg Stillmann blickte starr durch das Fenster. Die Intimität einer fahrenden Kabine. Zufällige Zweisamkeit. Wer wurde da nicht zum Erzählen ermuntert? Beweglicher Beichtstuhl für Beladene. Priester mit Zigarette zwischen den Lippen und wachem Blick für die Straße. Da kamen welche von einer Feier, einem Disziplinarverfahren, einer Beerdigung, dem Geliebten, einer Hochzeit, dem Scheidungsrichter – das Herz übervoll und im Kopf schwirrende Gedanken. Mit einem Unbekannten 53
allein, der zuhörte, der vielleicht teilnehmende, tröstende oder beruhigende Worte sprach. Man sah sich nicht wieder, wollte es auch nicht, verlor sich in der Leere des Unbekanntseins. „Fünf Mark siebzig.“ Enttäuschung und Erwartung in der Stimme. „Stimmt so.“ Gebende und nehmende Hand. Ein kühl-freundliches „Bitte“ – „Danke“. Der dunkle, muffige Hausflur, die knarrenden Treppenstufen, die schmutzigen, verschmierten Wände wirkten beklemmend. Ingeborg Stillmann wäre am liebsten umgekehrt, aber sie mußte Wolf sehen, nichts weiter. Er war ihre Zuflucht jetzt, obgleich sie fürchtete, daß sie keinen Schutz bei ihm finden würde, keinen von Dauer. Noch nie war ihr der Zwiespalt, in dem sie lebte, so brutal vor Augen getreten. Sie zögerte, bis ihr Atem ruhiger wurde, bevor sie auf den messingfarbenen Klingelknopf drückte. Schlurfende Schritte. Das Öffnen des kleinen vergitterten Fensters. Ein neugieriges Gesicht, dessen Ausdruck in Erstaunen und Verachtung überging, wobei die Augen auf den Ehering blickten. „Sie wünschen? – Nein, um diese Zeit pflegt Herr Sander zu arbeiten. Wie lange er schon weg ist?“ Hämisches Grinsen. „Sie erwarten doch nicht etwa von mir, daß ich darüber Auskunft gebe.“ Wie lang so eine dunkle Treppe sein konnte. Ingeborg Stillmann schrie, ohne einen Laut von sich zu geben. Sie fühlte sich verletzt, beleidigt, wo sie Geborgenheit und Trost erhofft hatte. Es war nicht allein diese Wirtin, die nur an Herren vermietete und die Tugendsame spielte. Wolf Sander. Wie wollte er sie beschützen, wenn er ihr nicht einmal die Zuflucht einer Wohnung bieten konnte? Wäre er dagewesen, dann hätte ihr das über alles andere hinweggeholfen. Warum hatte er noch keine andere Wohnung? Warum wartete er auf die Eheschlie54
ßung? Wollte er nur, daß sie sich dann darum kümmerte? Schwierigkeiten, Schwierigkeiten. Oder glaubte er vielleicht, daß er dann einfach mit in ihre Wohnung ziehen konnte, mit Werner im Nebenzimmer und in der Küche? Wohnungsnot. Junge Ehepaare wurden bevorzugt. Ökonomie. Hatten Mann und Frau nur mit Trauschein das Recht auf Wohnung? In der Haustür stieß sie mit Wolf Sander zusammen. Sie taumelte wie vor einem Gespenst zurück, dann fiel sie in seine Arme, schluchzte, putzte sich die Nase und sagte: „Komm.“ Unglück konnte Bosheit zeugen. Wie leicht wurde man ungerecht. Jetzt, in Wolfs Arm, wurde ihr Herz warm und gut. „Ich dachte, du wärst ins Institut gefahren.“ „Morgen erst. Die Zeichnungen sind noch nicht ganz fertig. Die Straßenbahn …“ Sie stellte keine Fragen. Ihre Hände lagen gut ineinander. Sie wußte nicht, daß er Stillmann begegnet war. Die Sonne schien schräg durch die gerupften Bäume des Treptower Parks. Laub sammelte sich auf den Wegen. Touristen gruppierten sich vor dem weithin sichtbaren Ehrenmal. Sie gingen Richtung Sternwarte. Das Riesenteleskop stand wie ein mächtiges Kanonenrohr im dunstgrauen Septemberhimmel. „So geht es nicht mehr weiter.“ Wolf Sander sprach aus, was auch Ingeborg dachte. „Schaff klare Verhältnisse. Sprich mit deinem Mann. Wenn ihr einig seid, ist die Scheidung kein Problem.“ Sie sah Wolfs Gesicht, die gebogene Nase, den dunkelbraunen Vollbart, die dichten Haare. Er lächelte ihr zu, ermunternd, gut gewachsene Zähne zwischen vollen Lippen. Unruhe in den dunklen Augen. „Für dich ist alles einfach.“ Sie zog ihre Hand aus seiner. „Ich soll alles aufgeben. Du siehst nur zu wie in einem Schauspiel. Ich muß mit Werner reden, ich muß die 55
Scheidung, ich die Wohnung … Immer ich. Und was dann?“ Ihr Mund zuckte hilflos. Sie hörte ihre Schritte auf dem verdreckten Kies, wehrte seinen Arm ab, der ihre Schultern umfassen wollte. „Ich kann doch nicht deine Kleider anziehen“, antwortete er unwirsch. „Ich kann die Scheidung nicht für dich oder deinen Mann einreichen. Meinst du, für mich ist es ein Vergnügen, dich Tür an Tür mit ihm zu wissen? Durch die Scheidung mußt du hindurch. Dein Zögern macht alles nur schlimmer. Am Ende wird es eine Katastrophe. Auch für ihn ist es besser, zu wissen, woran er ist.“ „Ich beantrage die Scheidung, mein Mann sagt nein, was dann?“ „Ihr lebt seit einem Jahr getrennt.“ Sanders Stimme klang beschwichtigend. „Ich will ja, aber ich fürchte mich.“ Sie lehnte sich gegen Sanders Schulter. Ihre Schritte wurden langsamer. „Wenn du wüßtest, wie mich das belastet; allein der Geruch in diesem Gericht, die Ölgötzen auf ihren Sesseln, deren Gesichter Moral und Anstand verkörpern; die lächerlichen Fragen nach Intimitäten, das Hin und Her mit Belehrung und Ermahnung. Ich hasse diese Szenen. Schon die sogenannte Trauung war für mich eine Qual. Ich weiß überhaupt nicht, was diese albernen Formalitäten sollen. Ich weiß es nicht.“ Sie stöhnte und blieb stehen, legte den Kopf an Sanders Brust und weinte schluchzend. „Schon gut.“ Er streichelte ihre Haare. „Siehst das zu kraß. Nimmst die Äußerlichkeiten zu wichtig. Und wer sagt dir denn, daß dein Mann nicht einverstanden sein wird?“ „Niemand.“ Sie suchte nach einem Taschentuch. „Und nach der Scheidung, was dann?“ Sie putzte sich laut schnaufend die Nase. Es klang wie eine Empörung. „Was dann?“ fuhr sie gereizt fort. „Soll ich vielleicht in 56
deine Bude ziehen? Mit deiner Wirtin in eine Küche? Willst du mit in meine Wohnung ziehen, mit Werner Wand an Wand? Morgens gemeinsames Badezimmer und Frühstück? Ich sehe einfach keinen Ausweg.“ Wolf Sander fühlte Ratlosigkeit und Schuld in sich wachsen, zugleich aber auch Zorn auf die Unentschlossenheit und die vielen Bedenken. „Eins nach dem andern“, sagte er beherrscht. „Wir können nun mal keine Wohnung beantragen, solange du noch verheiratet bist. Ich bekomme keine, solange ich alleinstehend bin. Wir müssen die Schwierigkeiten in Kauf nehmen. Ich wollte, ich könnte sie dir abnehmen.“ Er küßte sie auf den Kopf, doch sie entzog sich ihm und sagte kühl: „Rede nicht immer von ‚wir‘. Ich muß alles ausbaden, die Scheidung, das Zusammenleben mit dem geschiedenen Mann oder mit dir bei dem Drachen. Wer weiß, für wie lange. Monate, Jahre. Weißt du, wann man uns eine Wohnung gibt? Modeschöpfer, Kategorie vier. Ich weiß nicht, ob ich das durchhalte.“ Sander preßte die Lippen zusammen und ging weiter. Er gab ihr recht, obgleich er sich enttäuscht fühlte. Er wehrte sich dagegen, und Haß auf Stillmann stieg in ihm auf, der auf einem Platz saß, der ihm nicht zustand. Was wollte er noch an Ingeborgs Seite? Heute müßte ihm doch wohl ein Licht aufgegangen sein. „Ich werde mit ihm reden“, sagte Sander entschlossen. „Nein!“ Ingeborg Stillmann blieb erschrocken stehen. Sie sah beide Männer aufeinander losgehen. „Was soll das?“ sagte sie gequält, als Sander unwirsch den Kopf schüttelte. „Meinst du vielleicht, er hat keine Wut auf dich?“ „Ich halte das nicht mehr aus.“ Sander preßte die Fäuste an die Stirn. „Ist doch am Ende gleich, wenn einer auf der Strecke bleibt“, fuhr er sarkastisch fort. „Einer ist eben zuviel von uns beiden.“ Er trat mit dem Fuß gegen einen Stein. 57
Ingeborg sah ihn entsetzt an. „Ich will es aber nicht.“ Sie stellte sich ihm in den Wag. „Bitte“, sagte sie leise, „überlaß es mir. Mit Gewalt geht es überhaupt nicht.“
11. Die Eckkneipe war nicht nach dem Geschmack Professor Hanssings, die rohen Holztische, der Geruch nach abgestandenem Bier, Rauch, Fußbodenöl, Sauerkraut, Bockwurstbrühe; die Frauen und Männer in abgewetzter Arbeitskleidung, ihre lauten Reden und weitläufigen Gesten, der Kellner mit bekleckerter Serviette, der gelangweilt ihre Bestellung erwartete. – So würde ein Interhotelober einen mit Lehm beschmierten Tiefbauarbeiter behandeln. Wie ein Fremdkörper fühlte sich der Professor, und es gelang ihm nicht, sein Unbehagen hinter einem angepaßten Gesicht zu verbergen. Die abschätzigen Blicke irritierten ihn, nervös betrachtete er seine wohlgepflegten Hände und Fingernägel. Schlips, weißer Kragen und goldblitzende Manschettenknöpfe erschienen ihm hier als höchst unpassende Attribute. Stillmann dagegen schien in diese Räuberhöhle zu passen. Er stützte den Kopf wie ein Roßlenker in die Hand, goß die Cola mit einem Zug hinunter und schwenkte das Glas so lange durch die Luft, bis der Kellner ihm ein zweites hinstellte. „Scheinst dich hier wohl zu fühlen?“ fragte Hanssing. „Ich weiß nicht, bei aller Verbundenheit mit der Arbeiterklasse, irgendwie passe ich nicht zu diesen Leuten.“ „Siehst du, jetzt sagst du mal, wie es wirklich ist.“ Stillmann grinste boshaft. Er saß auch lieber an einem gepflegten Tisch. Aber es fiel ihm nicht schwer, sich 58
der Atmosphäre anzupassen. Außerdem schmeckte das Essen hier nicht schlechter als in manch anderen Gaststätten mit höherer Preisstufe. „Wirst es überleben.“ Stillmann fühlte sich als Herr der Lage wachsen. Die Situation erinnerte ihn an die wenigen Augenblicke, in denen Hanssing ihn wegen seiner wissenschaftlichen Arbeit vor der Belegschaft gelobt hatte. Merkwürdig aber war, daß es immer so aussah, als habe Hanssing die eigentliche Leistung vollbracht. Er hatte ihn mit Lob vereinnahmt und zu seinem Anhängsel gemacht. Stillmann klopfte auf die Tischplatte. Er mußte auf der Hut sein, daß sich dieses Spiel nicht wiederholte. Die Cola wirkte, seine Gedanken wurden klarer. Er forschte in Hanssings Augen, die unsicher und kalt ins Leere stierten. Was ging hinter dieser breiten, blassen, mit Sommersprossen verzierten Stirn vor? Die Würfel waren gefallen. Hanssing hatte nachgegeben. Warum? Eigentlich klar, er fürchtete die Blamage und die Konsequenzen. Diese Runde war entschieden. Hanssing behielt sein Ansehen und seine Position dank dem Schweigen, wofür er etwas bieten wollte. Sie bildeten nun ein Komplott. Wurde Hanssing nicht geradezu durch ihn ermuntert, diese schäbige Art des Buchschreibens fortzusetzen? Stillmann fühlte sich nicht wohl in seiner Haut. Im Grunde genommen hatte er sich schon wieder vereinnahmen lassen. Antrag auf Gehaltserhöhung, mögliche Beförderung; aber der Chef blieb Hanssing. Er hatte nach wie vor die Fäden in der Hand. „Kaßler?“ Der Kellner hielt den Teller in der Luft. „Hier bitte.“ Stillmann nahm Messer und Gabel. „Du gestattest?“ Ohne eine Antwort abzuwarten, spießte er Fleisch und Sauerkraut auf die Gabel. Endlich etwas in den Magen! Er stöhnte zufrieden. „Schmeckt“, sagte er laut schmatzend. „Dich lassen sie extra warten“, fuhr er 59
fort, während er Bissen um Bissen in den Mund steckte. „Bist ihnen zu vornehm. Oder die Bratwurst hat Beine gekriegt.“ Professor Hanssing grinste verärgert. Er hatte jetzt wirklich Hunger. Dieser Stillmann nahm sich allerhand heraus. Hatte er ihn unterschätzt? Eigentlich hatte er ihn manchmal beneidet. Der brauchte sich keine Gedanken um seine Position zu machen. Der konnte arbeiten, während er auf Sitzungen, Besprechungen, Versammlungen saß. Dem blieben die schöpferischen Stunden und die Übung. Niemand konnte ohne Schaden darauf verzichten. Stillmann konnte überall neu anfangen, er hing nicht an der Leimrute einer Funktion. Endlich kam die Bratwurst, geplatzt, wie denn anders. Aber sie roch appetitlich. „Guten Hunger.“ Stillmann reichte dem Kellner das Glas. „Noch einmal schwarzes Wasser.“ Der Kellner lächelte süßlich-sauer. Am Bier verdiente man mehr. Intellektuelle verdarben ihm das Geschäft. Trinkgeld saß bei ihnen nicht locker. Zum Glück verirrten sich nur selten welche in sein Revier. Das Messer war stumpf, die Gabel aus Aluminium bog sich. Stillmann lachte schallend. „Nimm die Wurst doch mit den Fingern, hier kannst du das.“ „Reinstes Packpapier, die Pelle.“ Hanssing hob die Wurst mit der Gabel und biß ab. „Aber sie schmeckt, die Wurst.“ „Ist eben frisch, hat keine halbe Stunde auf dem Rost gelegen.“ Stillmann beobachtete sein Gegenüber, die eckigen Bewegungen der Kinnladen, die weichen, vom Bratenfett glänzenden Lippen, die rotblonden Haare auf dem Handrücken. Warum machte er gemeinsame Sache mit ihm? Aus Mitleid? Aus Kollegialität? Nein, er hatte Angst. Letztlich hatte er Angst. Er besaß nicht diesen Stiernacken, diese Ellenbogen, diese 60
Gier nach Geltung, Macht. Hanssing war einer von denen, deren Gott Karriere hieß. Wer mit dem essen wollte, mußte wie beim Teufel einen langen Löffel haben. Die Frau hinter dem Büfett schaltete den Ventilator ein, der keuchend Luft durch ein Metallfilter sog. In dicken Schwaden zog der Rauch über die Theke. Das Gesicht der Frau wirkte grau und schlaff im Neonlicht. Unaufhörlich bewegten sich ihre Lippen, als zählten sie die Gläser, die sie eins nach dem andern unter den Zapfhahn hielt. Flink griffen ihre Hände in die Henkel. Gläser spülen, Gläser füllen, zwischendurch einen Korn oder Kognak scharf an den Eichstrich einkippen, Bons auf einen Zettel spießen, einen Blick zur Tür, über die Tische, zum Kellner, der ihr Sohn sein konnte. „Zahlen!“ Die überlaute Stimme des Professors drang durch den Lärm. „Alles zusammen.“ „Acht siebzig.“ „Neun.“ Langes Suchen nach zwei Fünfzigern. Ein kurzes „Bitte“. Teller, Bestecke, Gläser, alles auf einem Arm. „Wir müssen.“ Hanssing erhob sich steif. Endlich in frischer Luft. Er schüttelte sich. Schon als Kind hatte er Kneipen gehaßt; diese Kremserfahrten mit dem Bäckermeister und dem Fleischer und dem Sattler. Er hegte eine stille Bewunderung für die vornehmen Restaurants, Hotels und Cafes. Aber das behielt er besser für sich. Woher nur diese Verstimmung kam? Stillmann starrte aus dem Wagen auf die vorüberschnellenden Bäume und Fassaden mit den vorgewölbten Balkons und leeren Blumenkästen. Der Kopf begann ihm zu schmerzen. Er hatte zuviel getrunken. Er dachte an die trostlose Öde seines Feierabends. Ingeborg. Gestern noch hatte er ihr zu imponieren geglaubt, und heute früh … Er konnte sich nur noch auf sich selbst besinnen. Jetzt wollte er nicht an sie, sondern 61
an seine Karriere denken. Warum sollte er nicht ebensogut oder besser dastehn als dieser Hanssing, der sich selbst unmöglich gemacht hatte? Mußten in dieser Gesellschaft nicht die Produktiven an führende Stellen? Solche wie Hanssing hemmten den Fortschritt. Sie klebten an ihren Posten, die sie nur noch formell, aber nicht mehr inhaltlich ausfüllen konnten. Man brauchte sie ja nicht zum alten Eisen zu werfen. Irgendeine nützliche und anständig bezahlte Arbeit wäre das beste für sie. Schließlich sollten Sozialisten frei sein von den Eitelkeiten, die der Gesellschaft schadeten. Galt nicht das Leistungsprinzip als Grundsatz: jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seiner Leistung? Also war Hanssing am falschen Platz. Wieso hatte Nickelberg, der alte Kommunist, nicht danach gehandelt? Sollte der nicht mehr zwischen Wortgeklingel und Tatsachen zu unterscheiden wissen? Stillmanns Groll wuchs mit der Erregung. Eigentlich hatte er doch dieses schäbige Theater gar nicht nötig. Hanssing war wissenschaftlich am Ende; sein lächerliches Buch über Löwenhauk bewies seinen impotenten Zustand. Eigentlich müßte er Hanssing die Aufgaben stellen, einfache, leicht überschaubare, damit er vielleicht noch einmal selbständig arbeiten lernte. „Mit Almosen gebe ich mich aber nicht zufrieden“, sagte er mahnend, als Hanssing in die Parkstraße einbog. Dieser spürte das Mißtrauen und die Drohung in Stillmanns Worten. Oder war er überempfindlich, wie immer, wenn die Wirkung seiner Tabletten nachließ? Finstere Gedanken verdunkelten ihm den Kopf. Er hatte sich in die Hände Stillmanns gegeben. Je näher sie dem Institutsgebäude kamen, desto lästiger wurde ihm die Gegenwart Stillmanns. Bedrückt sah er in die Zukunft. Stillmann konnte ihn dauernd beknien, erpressen. Und er konnte ihn jederzeit hochgehen lassen. So war Wissen Macht. 62
„Wer spricht denn von Almosen!“ entgegnete Hanssing unwirsch. „Was ich versprach, werde ich tun. Du wirst schon zufrieden sein.“ Mit sicherem Schwung fuhr er auf seinen reservierten Platz. Die Köpfe ruckten nach vorn. „Ich kann mich doch auf dich verlassen?“ Stillmann schlug seine Hand in die ihm entgegengestreckte Hanssings ein. Er blickt in kühle Augen, in denen eine versteckte Drohung flackerte.
12. Nur einen Waffenstillstand, keinen Friedensvertrag hatte er erzielt. Die Frage „Wer – wen?“, die Professor Hanssing in vielen Versammlungen heftig diskutiert hatte, stellte sich ihm nun ganz persönlich. Es gab Dinge, die sich nicht aus der Welt schaffen ließen. Dazu gehörte sein Buch über Löwenhauk. Sechstausend Exemplare gegen ihn, sechstausendmal ein Zeugnis wider die Lauterkeit und Redlichkeit des Buchschreibens. Aber nur ein Zeuge: Stillmann! Professor Hanssing schwankte zwischen Selbstzerfleischung und zerstörendem Haß. In den Phasen tiefer Depression wurde ihm klar, daß nichts so schwer zu tilgen war wie ein Plagiat. Wer schon erfuhr etwas über einen Diebstahl in einer Kaufhalle? Der Kriminalist, die Betriebsgewerkschaftsleitung, ein paar Kollegen … In einigen Monaten war Gras darüber gewachsen. Unter diesen Dieben sollten sogar Leute mit hohem Gehalt sein. Jaja, die Versuchung, vielleicht auch der Reiz des Verbotenen, ein Nervenkitzel, das konnte schon mal passieren. Aber das Abschreiben eines Buches! Mit falscher Münze zahlen. Sich selbst vor aller Welt als Betrüger entlarven. 63
Die Versuchung war zu groß gewesen. Und um das Maß der Entblödung voll zu machen, hatte er noch überall „sein“ Buch, „sein“ erstes Buch, angepriesen, verschickt, verschenkt. Wenn es noch möglich wäre, würde er jedes Exemplar kaufen und eigenhändig verbrennen. Ein solch geistiger Diebstahl war eine für alle Zeiten fixierte Schweinerei. Sie würde ihn überleben, nachkommenden Wissenschaftlern ein mahnendes Beispiel. Was gab es Schändlicheres, als die Arbeit eines anderen zu okkupieren und als seine eigene feilzubieten! Das übertraf die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen. Und dagegen hatte er in Hunderten von Versammlungen die Stimme erhoben. Die Strafe lag in der Tatsache selbst. Er blieb Angeklagter für jede Generation, ein Judas der Literatur, bloßgestellt und der Verachtung ausgeliefert. In solchen Augenblicken der Selbstkasteiung wäre Hanssing gern einem Herzschlag erlegen. Wie einen lieben Freund hätte er ihn begrüßt. Hatte er nicht selbst einst einen Diplomanden exmatrikulieren lassen, weil dieser Stellen einer anderen Diplomarbeit ohne Angabe der Quellen verwendet hatte? Stillmann erschien Professor Hanssing wie der Erzengel Gabriel. Täglich sah er sich durch ihn an seinen Fehltritt erinnert. Und noch mehr. Stillmann zwang ihn zu Worten und Handlungen, die seine Eitelkeit und seinen Ehrgeiz zutiefst verletzten. Immer war er darauf bedacht gewesen, den Abstand zwischen sich und anderen möglichst groß zu halten, um die Perspektive der Entfernung für sich wirken zu lassen, nun mußte er Stillmann Schritt für Schritt auf seine Ebene ziehen. Er hatte Stillmann unterschätzt. Dem hatte es nur an Selbstvertrauen gefehlt, an Sicherheit im Auftreten, Gewandtheit im Gespräch, Mut zur Meinungsäußerung auf Versammlungen. So war er unbeachtet geblieben. Leis64
tung allein genügte nicht. Jetzt aber, wo ihm unter die Arme gegriffen wurde, entpuppte die Larve sich. Er zeigte Witz in Rede und Gegenrede. Selbst Bennrad wurde durch ihn aus dem Konzept gebracht. Eigentlich waren die Weichen schon gestellt gewesen. Bennrad war für ihn ein akzeptabler Partner, ein solider Beamter gewissermaßen, für den ständig wachsenden Verwaltungskram genau der richtige Typ. Er beherrschte das Wortgeklingel, die Kunst, mit vielen Sätzen wie die Katze um den heißen Brei zu schleichen, große Worte für Selbstverständlichkeiten anzubieten, die Berichte durch obligate Präambeln mundgerecht herzurichten. Jetzt drängte Stillmann auf den Posten, machte Stimmung für sich gegen Bennrad und Hanssing gute Miene zum bösen Spiel. Stillmann, ausgerechnet Stillmann! Hanssing hatte für ihn die Gehaltserhöhung durchgesetzt. Stillmann bekam die höchste Prämie für vorfristige Planerfüllung, deren Ergebnisse zu einem Teil vorgetäuscht, aber dank dem Bürokratismus als solche nicht erkennbar waren. Bennrad war schockiert. Andere tuschelten verwundert ob des plötzlichen Wechsels. Am Vorabend des Jahrestages der Republik wurde gefeiert. Stillmann führte das große Wort, bezeichnete Hanssings Autorität als Abglanz Seiner Majestät des Großherzogs von Nickelberg. Nur ein Fauxpas? Hanssing litt unter einer übersteigerten Empfindlichkeit. Aber er mußte Stillmann hochleben lassen, der dank seiner neuartigen Methode der Schädlingsbekämpfung ein wirksames Mittel in die Hand gegeben habe. Die Landwirtschaft würde in Zukunft x Tonnen mehr Zuckerrüben ernten, dadurch würde man y Tonnen mehr Zucker gewinnen und exportieren können. Irgend etwas war anders als früher. Selbst in euphorischer Stimmung spürte Hanssing einen Druck in der 65
Brust, den keine Tablette und kein Alkohol vertreiben konnte. Der Mantel der Selbstbeherrschung, mit dem er sein cholerisches Temperament bisher umhüllt hatte, war durchlöchert. Alles regte ihn auf, die Brötchen aus der Kaufhalle, der Fettrand eines Koteletts, die Langsamkeit der Post, fußballspielende Kinder, die Stimme seiner Frau, das Schweigen seiner Tochter. Sein Leben war aus den Bahnen eingefahrener Selbstverständlichkeit geraten. Tagtäglich erinnerte ihn Stillmann daran. Wann würde dieser Alptraum ein Ende haben? Wenn Stillmann wegginge, wäre alles wie früher. Das war der Ausweg! Durch seine Funktion im wissenschaftlichen Beirat wußte er, daß an einem Nachbarinstitut der Posten des stellvertretenden Direktors vakant war. „Ist eine große Chance für dich, Werner“, eröffnete Hanssing seine frohe Botschaft. Seine Stimme schwankte zwischen Hoffnung und Angst. „Das kann dir hier niemand bieten: höheres Gehalt, große Zukunft. Würde ich sogar selbst übernehmen, wenn Nickelberg mich nicht …“ Er unterbrach sich und sah Stillmann erwartungsvoll an. Aber Stillmann wollte nichts davon hören. „Könnte dir so passen“, antwortete er lakonisch. „Früher wolltest du mich hier festnageln, jetzt lobst du mich weg. Nee, dann geh doch du, wie du sagst.“ Nein, er wurde Stillmann nicht los. Der gefiel sich in seiner neuen Rolle. Spielte den Herrn und Provokateur, merkbar auch für andere. Hielt sich zwar an die Abmachung, unterlief sie aber durch sein Auftreten. Natürlich konnte niemand einen Zusammenhang entdecken, solange die Ursache unbekannt blieb, aber so ging das trotzdem nicht weiter. Hanssings verletztes Selbstgefühl blutete wie eine offene Wunde. Im Institut bewahrte er mühsam seine ge66
wohnte Haltung, zu Hause jedoch verlor er bei der geringsten Kleinigkeit die Beherrschung. Gertraude, seine kleine, stämmige Frau, die immer vor allem an seine Karriere gedacht hatte, nahm seine Ausbrüche geduldig hin, nicht aber Marion, ihre Tochter. Marions Temperament ähnelte dem des Vaters, doch war es viele Jahre lang unterdrückt gewesen. Immer und überall mußte Marion die Beste sein: in der Schule, bei den Pionieren, in der Freien Deutschen Jugend, beim Abitur. Lernen, lernen und nochmals lernen! Diese Worte Lenins waren ihr als einziger Lebenssinn mitgegeben worden. Spielen, Bummeln, Herumtollen, dazu war keine Zeit. Der Stundenplan der Schule war durch den Arbeitsplan der Eltern bis in die Nacht verlängert worden. Der Urlaub im Juli des vergangenen Jahres hatte die Szene verändert. Marion war nicht in dem eigens für sie gemieteten Strandkorb sitzen geblieben, ein Buch vor den Augen, sondern mit „wackelndem Hintern“ – wie es ihr Vater nannte – auf der Promenade entlangstolziert. Anstatt ihr Mathematikbuch durchzuarbeiten, hatte sie ihre kostbare Zeit mit einem schwarzhaarigen Studenten „vertrödelt“. Die lauten Vorwürfe ihres Vaters in dem Hotelzimmer hatten sie zuerst tief beschämt, dann aber in Wut versetzt, die sich zu einem Schreikrampf steigerte. Der Forderung ihres Vaters, ihren „Galan“ sitzenzulassen, hatte sich Marion widersetzt. Auch die Drohung, ihr das Geld für das Studium zu entziehen, war wirkungslos geblieben. Gertraude hatte zu vermitteln versucht. Die Kluft zwischen Vater und Tochter war mühsam überbrückt worden, doch die Entfremdung hatte sich nicht beseitigen lassen. Widerwillig hatte Marion eingewilligt, ihren Freund zu einer offiziellen Verlobung zu überreden. Sie empfand die Peinlichkeit, doch Gerd Bögelsack hatte nur 67
gelacht und gesagt: „Auch gut, dann erlaubt dein Alter wohl, daß ich bei dir schlafe.“ Diese erste Verstimmung war nicht die einzige geblieben. Dafür sorgte der Vater, dem der zukünftige Schwiegersohn nicht paßte. Schon der Name regte ihn auf. „Gerd Bögelsack!“ schrie er durch die Wohnung. „So eine halbgewalkte Person. Sieht nicht aus wie ein Gauß.“ Marion war mit Fäusten auf ihren Vater losgegangen, das Gesicht vor Verzweiflung und Zorn entstellt. Die Ohrfeige hatte sie nur noch wütender gemacht, und Gertraude hatte ihre liebe Not gehabt, die Kampfhähne auseinanderzubringen. „Ich bringe dich in die Klinik!“ hatte der Vater geschrien, während er den Kopf in den Nacken legte, um das Nasenbluten zu stillen. „Du gehörst in die Nervenklinik“, hatte die Tochter geantwortet und war in hysterisches Weinen gefallen. Seltsam ruhig hatte sich Marion eine Woche später in psychotherapeutische Behandlung begeben. Den Grund hatte sie erst nach einigen Wochen genannt. Gerd Bögelsack hatte ihr den Verlobungsring zurückgeschickt. Seit dieser Zeit haßte Marion ihren Vater. Nur ihrer Mutter zuliebe beherrschte sie sich. Alle Versuche, Vater und Tochter zu versöhnen, schlugen fehl. Sie gab sie schließlich auf, um sich nicht auch noch ihrer Tochter zu entfremden. Was hatte sie nur falsch gemacht? Als Pädagogin hatte sie Marion immer nach wohlbegründeten Prinzipien erzogen. Schließlich hatte auch Herbert stets das Beste für Marion gewollt und keine Mittel für ihr Fortkommen gescheut. Gertraude war stolz auf ihren Mann. Er war schließlich ein bedeutender Wissenschaftler. Sie hatte ihre eigene Entwicklung zurückgestellt. Gleichberechtigung – natürlich. Sie war nicht ohne Ehrgeiz, gewiß nicht, aber erst kam Herbert. Sein Erfolg bestätigte ihren Verzicht. Ein bißchen 68
kam auch ihr zugute, sie stand mit in seinem Licht. Frau eines Professors. Das war sehr viel mehr als der Durchschnitt. Bitte sehr, ja, bitte für Professor Hanssing, ja? – Das zog noch, besonders wenn damit ein roter Schein gekoppelt wurde. Keine langen Wartezeiten. Schnelle Reparatur und Ersatzteillieferung. Ein Pelzmantel für sechstausend Mark. Kleider und Schuhe aus dem Exquisit. Man wurde gesehen; ein freundliches Lächeln. Man war wer. Man galt etwas im Sozialismus. Jedem nach seiner Leistung. Die Familienszenen bildeten einen unerwünschten Kontrast. Die Familie über ihnen hörte zuviel mit. Kleinunternehmer, Überrest der Ausbeuterklasse, Eigentümer des Zweifamilienhauses. Davon lebte man abgegrenzt. Marion trieb es manchmal wahrhaftig zu weit, ging bis ins Politische. Spießer waren sie weiß Gott nicht. Schließlich stellten sie etwas dar, fühlten sich der Gesellschaft verpflichtet, lebten sie für den Sozialismus. Herbert hatte etwas aus sich gemacht. Wenigstens als persönliches Vorbild sollte Marion ihren Vater sehen. Hanssing spürte die wachsende Gereiztheit, ohne sie bezwingen zu können. Manchmal sehnte er den Krach förmlich herbei. Hinterher fühlte er sich schlapp, apathisch, doch irgendwie besser. Er schluckte absichtlich mittags keine Tablette mehr, fuhr wie ein Rennfahrer nach Hause, schlug die Türen zu, lauerte auf einen Anlaß, um sich abzureagieren. Eine Stunde nach dem Abendessen nahm er zwei Tabletten, eine zur Beruhigung, eine zum Einschlafen. Auf diese Weise kam er einigermaßen über die Nächte. Morgens brachte ihn ein starker Kaffee wieder auf die Beine, die Beruhigungstablette in die nonchalante Stimmung, die er jetzt nötiger denn je brauchte. Gertraude wollte an seinen Problemen teilhaben. Er wies sie schroff zurück. „Aber du ruinierst dich doch völlig“, sagte sie mit lei69
sem Vorwurf. „Schau mal in den Spiegel. Könnt ihr denn den nächsten Generationen nicht auch noch etwas Arbeit überlassen?“ Manchmal hörte er gar nicht auf ihre Worte, war mit seinen Gedanken weit weg. Wenn sie in ihn drang, fuhr er sie zornig an. Sie fühlte sich verletzt. Schließlich hatte er immer Wert auf ihre Teilnahme gelegt. Warum verbarg er sich? War er überfordert? Sollte sie mit Nickelberg reden? Hanssing spürte, daß er so nicht weiterleben konnte. Ihm war, als griffen tausend Hände nach seiner Kehle. Die Schlaftabletten wirkten nur noch bis drei Uhr früh. Schweißgebadet wachte er auf. Immer sah er das Gesicht Stillmanns. Es verfolgte ihn Tag und Nacht. Der machte ihn noch an Gespenster glauben. Er mußte ihm zuvorkommen, oder der würde sein Totengräber. Entweder – oder, einer war zuviel. Seltsam ruhig wurde es in seiner Brust. Angriff war die beste Verteidigung. Es ging um Leben oder Tod. Noch war er der Verfolgte, noch. Er mußte das Blatt wenden. Wer nützte der Gesellschaft mehr? Sollte er sich von diesem Erpresser an die Wand drücken lassen? Sich und seine Familie ruinieren? Jetzt war er am Zuge.
13. Seltsame Macht des einmal gefaßten Entschlusses. Das Entweder-Oder beherrschte Hanssings Denken und Handeln. Der Entschluß gab ihm die Sicherheit, das klare Kalkül. Er mußte jetzt nur nach dem besten Weg suchen. Der ständigen Bedrohung durch Stillmann war er physisch und psychisch nicht gewachsen. 70
Professor Hanssing hatte während der depressiven Phasen auch an einen Suizid gedacht, an eine Überdosis Tabletten, einen Unfall mit dem Wagen – er kannte eine Kurve kurz vor einer Brücke. Der Unfall hatte eine verlockende Kraft. Er hatte etwas Heroisches an sich; dazu gehörte Mut. Der Tod durch Unfall erschien auch nicht als Suizid. Gertraude würde sogar eine hübsche Summe von der Staatlichen Versicherung ausbezahlt bekommen. Der Gedanke daran erfüllte ihn mit Stolz. Eine Überdosis Tabletten würde ihn als Selbstmörder entlarven, wenn auch nicht im negativen Sinn. Überarbeitung, schonungsloser Einsatz für die Planaufgaben, gewissermaßen ein Opfer für die große Sache. Ein Versagen der Nerven. Nicht ganz so heroisch, dafür aber leichter zu bewerkstelligen und sicher nicht so schmerzhaft und ohne das unheimliche Gefühl, in die Nacht eines Abgrunds zu sausen, den Aufprall am Brückenpfeiler erwartend, die Explosion des gefüllten Tanks, und vielleicht trotz gebrochener Knochen bei klarem Bewußtsein in den Fluß zu stürzen und zu ersaufen. Tabletten waren allerdings nicht sicher. Frühzeitig entdeckt, würde man ihm den Magen auspumpen und ihn mit Spritzen traktieren. Die Fragerei danach. Ursache, Motiv. Man würde ihn unter die Lupe nehmen, medizinisch, politisch. Hier und da würde man eine kleine Unkorrektheit finden, an die er sich nicht einmal mehr erinnern, die normalerweise von jedem übersehen würde. Blaulicht, Signalhorn und die neugierigen Blicke der Nachbarn, der Familie im ersten Stock. Das konnte er Gertraude nicht antun. Die Angst um sein Leben, das er wegwerfen wollte. Womöglich redete Marion sich die Schuld ein. Lebenslanger Defekt. Die war ohnehin genug verkorkst. Er hatte noch kein Recht auf den Tod. Aber er hatte diesen Gedanken erwogen. 71
Blieb nur noch der andere. Eine Laus, die einen quälte, mußte geknackt werden. Warum war Stillmann nicht seiner Vermittlung gefolgt und an das andere Institut gegangen, obgleich er nur Vorteile davon gehabt hätte? Dreimal hatte er das Angebot wiederholt; er hatte mit Engelszungen geredet, aber kein Argument schlug ein. Das wäre eine faire Trennung gewesen. Aber nein, Stillmann blieb, ein anderer Stillmann, einer, der sich aufspielte, wichtig machte, ihn in den Schatten drängte, ausgerüstet mit dem verfluchten Geheimnis wie Aladin mit der Wunderlampe. Dafür gab es nur eine Erklärung: Stillmann wollte ihn fertigmachen. Er weidete sich daran, wie er von Tag zu Tag unsicherer, nervöser, gehetzter wurde. Haßte er ihn? Er mußte ihn hassen, ihn, den Erfolgreicheren. Vielleicht lag er schon seit Jahren auf der Lauer nach einer Gelegenheit. Und ausgerechnet jetzt, wo sein Streben vor der Erfüllung stand, sollte er ihn vernichten? Aber das Institut ließ er sich nicht aus der Hand schlagen, niemals. Dafür hatte er geschuftet, gebuckelt, verzichtet, seine fachlichen Potenzen geopfert. Lange genug hatte er sich mit dem zweiten Platz begnügt. Noch stand ihm die Flucht in die Krankheit offen. Der Arzt würde ihn bestimmt für ein Vierteljahr befreien, eine Kur beantragen, sich über seinen reumütigen Patienten freuen. Aber einem Mann, der womöglich in einer Nervenklinik behandelt wurde, konnte man kein Institut anvertrauen. Nickelberg würde seine Aufmerksamkeit mehr und mehr auf Stillmann richten, der sich deutlich genug in den Vordergrund drängte. Das Ende konnte sich Professor Hanssing ausmalen. Abgehalftert würde er dastehen, das Mal der Unfähigkeit auf der Stirn, abgeschoben auf ein Nebengleis – im Sozialismus ging keiner verloren. Die Zeit war schnellebig, die Kaderpolitik paßte sich ihr an. Nein, Kurzatmig72
keit konnte er sich nicht leisten, soweit war er noch nicht. Noch war er der nicht, der er sein wollte. Er brauchte die Anerkennung wie die Luft zum Atmen, ohne sich einzugestehen, daß diese Gier nach Lob, Orden, Mitgliedschaften im krassen Gegensatz zu seiner Leistungskurve stand. Das Leben großen Stils, das war seine Welt, daraus zog er seine Kraft, die Berechtigung für sein Handeln. Der große Wissenschaftler, der er einst hatte werden wollen, war er nicht geworden. Dafür reichte sein Talent nicht aus. Diese Erkenntnis war schmerzlich für ihn gewesen. Doch sie hatte ihn nur kurze Zeit entmutigt; denn er entdeckte die Chance und lernte sie zu nutzen. Er machte sich zum Werkzeug des Direktors. Und siehe da, Nickelberg hatte seinen Eifer honoriert. Selbstverleugnung war mit im Spiel gewesen. Aber für ein lohnendes Ziel mußten auch Persönlichkeitswerte geopfert werden. Die Karriere hatte Professor Hanssing mit Stolz erfüllt. Er war wer geworden. Seine Stimme hatte dank der Autorität seiner Position an Gewicht gewonnen. Auch belanglose Äußerungen wurden ernsthaft zur Kenntnis genommen und rege diskutiert. Seine Art, durch Ton und Gebärde die Wichtigkeit seiner Worte zu unterstreichen, beeindruckte selbst den Direktor, der seine eigenen Gedanken in ihnen wiederfand. Er wurde immer unentbehrlicher für den Chef, der die sich häufenden dienstlichen Angelegenheiten gern seinem geschäftstüchtigen Stellvertreter überließ. So ordneten sich die Dinge an seinem Institut wie von selbst. Nickelberg brauchte sich nicht einmal Gedanken über den Nachfolger zu machen. Die Welt schien wohlgeordnet. So sollte es bleiben, so mußte es bleiben. Professor Hanssing fühlte Genugtuung über seinen Entschluß, die Sache zu einem Ende zu führen. Er gewann seine Sicherheit zurück, seine Fähigkeit, klar und nüchtern zu 73
denken, einen Plan nach seinen Möglichkeiten abzuwägen, das Ziel unbeirrbar zu verfolgen, jeden Schritt sorgfältig vorzubereiten. Stillmann mußte weg. Das Wie war die Frage. Der Zufall gab Professor Hanssing einen ersten Fingerzeig: sein Anruf nach Feierabend. Stillmann war nicht zu Hause gewesen. Frau Stillmann antwortete kurz angebunden, wie gewöhnlich, denn sie hatte etwas gegen ihn. Beruhte auf Gegenseitigkeit. Seiner Meinung nach gehörte Ingeborg Stillmann zu den Frauen, die demoralisierend auf Männer wirkten. Schöne Frauen waren leichtsinnig, umgarnten und betrogen die Männer. Gewöhnlich waren sie dumm, glaubten, alles mit ihrem Hintern zu erreichen. Waren sie außerdem noch temperamentvoll, dann war das gleichbedeutend mit dem Ruin des Mannes, der in ihre Fänge geriet. Er hatte Stillmann abgeraten, Ingeborg Weiferding zu heiraten. Trotzdem hatte er sich nicht lumpen lassen und ein großzügiges Geschenk überreicht. Das war einer seiner Wahlsprüche: Einen andern nie merken lassen, was man von ihm dachte. Er selbst hielt nichts von den Leichtlebigkeiten der Welt. Seine Grundsätze waren streng, wenn auch nicht immer beständig. Niemand konnte ihm einen Fehltritt nachweisen – er war seiner Frau treu geblieben, hatte kein anderes Mädchen in Versuchung gebracht, hatte hart und zäh gearbeitet, ab und zu ein bißchen übertrieben (Klingeln gehörte zum Geschäft – eine Erinnerung aus seiner Kindheit im Posamentenladen, die ihn ebenso beeindruckt hatte wie der Zwickel), und nun sollte er sich von Stillmann zur Strecke bringen lassen? Warum war Stillmann nicht zu Hause? Auch am nächsten Abend meldete sich seine Frau. „Können Sie denn Ihre Angelegenheiten nicht während der Dienstzeit besprechen?“ 74
Offensichtlich herrschte bei Stillmanns dicke Luft. Das kam Professor Hanssing gelegen. Vielleicht konnte er die Spannungen zwischen den beiden ausnutzen? Wen man vernichten wollte, dessen Vertrauen mußte man erringen. Die Oktobersonne wanderte unmerklich über den Schreibtisch. Ein lautes Klopfen. Stuhlrücken, drei große Schritte. „Grüß’ dich!“ Stillmann hatte das Gefühl, als zöge ihn Hanssings zur Begrüßung ausgestreckter Arm ins Zimmer. „Setz dich!“ Immer diese Kopfstimme, diese aufdringliche Gastfreundschaft. „Hat dir deine Frau gesagt, daß ich dich gestern abend angerufen habe?“ Stillmann blieb reserviert. Was wollte Hanssing? Er wünschte, hinter die lächelnde Fassade blicken zu können. Der vertraute Ton gefiel ihm nicht. Warum rief ihn Hanssing zu Hause an? „Ich nutze die letzten Tage“, sagte er reserviert. „Das Wetter ist schön. Wer weiß, wie lange noch.“ „Ach so!“ Verstehendes, fröhliches Lachen. „Du fährst an den See, fängst dir den Wintervorrat. Könntest mir mal ’nen Hecht spendieren.“ „Na klar, die spazieren mir in die Hütte.“ Stillmann ließ seine Hand über den Tisch hopsen. „Ich pfeif ein Lied, schon kommen sie aus dem Wasser und tanzen um mich herum. Ich such’ mir den besten aus, ein Griff genügt. Neuerermethode.“ Sein Gesicht war todernst. Professor Hanssing schien nicht recht zu wissen, wie er auf dieses Anglerlatein reagieren sollte. „Muß sehr interessant sein“, ging er vorsichtig darauf ein. „Wie bei einem indischen Schlangenbeschwörer.“ „Genau so“, fuhr Stillmann mit wichtiger Miene fort. „Besonders beim Aalfang hat sich das bewährt. Nur die richtige Tonhöhe muß man kennen. Jede Fischart hat 75
ihre Spezifika. Hechte mögen zum Beispiel keinen Mollton.“ „Aha.“ Hanssing schluckte den Spott und tat interessiert. „Möchte ich direkt einmal miterleben. Doch Spaß beiseite, ich wollte dir nur sagen, daß deine Frau beruhigt sein kann. Ich rufe nach Möglichkeit nicht mehr abends an.“ „Würdest mich sowieso kaum erreichen.“ Stillmann biß sich auf die Lippen. Er ärgerte sich über sich selbst. So dick hätte er es dem Hanssing nicht aufs Butterbrot zu schmieren brauchen. „Ich nutze, wie gesagt, die letzten schönen Tage.“ „Verstehe.“ Hanssing verzog befriedigt seinen breiten Mund. „Ich habe auch noch allerhand im Garten zu tun.“ „Aber was wolltest du eigentlich?“ fragte Stillmann. In früheren Jahren hatte Hanssing öfter mal angerufen; sie hatten sich auch hin und wieder familiär getroffen. Aber seit Hanssing den Professorentitel besaß, verkehrte er vorwiegend unter „seinesgleichen“. „Nun, ich wollte mit dir mal wieder ganz privat. Eine Verabredung. Du verstehst mich? Nur, wenn du jetzt so beschäftigt bist, es eilt nicht.“ Ein gewinnendes Lächeln, fast unwiderstehlich. Stillmann wehrte sich gegen die Freundlichkeit, obgleich sie ihm schmeichelte. Hanssings Anbiederungsversuch war ihm nicht geheuer. Wollte er ihn paralysieren, daß er nicht an ihm vorbeiziehen konnte? „Die Arbeit wartet.“ Stillmann erhob sich. „In vierzehn Tagen haben wir es geschafft. Aber noch einmal mach’ ich dieses Theater nicht mit.“ Er wunderte sich über die Schärfe seiner Stimme. Hanssing schien betroffen; er hatte den Kopf gesenkt. Die Stirn mit dem fast runden Haaransatz lief rot an. Stillmann fürchtete einen Wutausbruch. Er schloß eilig die Tür. Vielleicht sollte er doch besser das Institut verlassen. Es würde nie mehr Frieden zwischen Hans76
sing und ihm geben. Aber warum sollte er gehen? Er hatte nein gesagt. Abschieben ließ er sich nicht. Lange stierte Hanssing auf die mit braunem Leder gepolsterte Tür, die Stillmann leise hinter sich zugezogen hatte. Die Sonnenstrahlen fielen auf die Büste Pasteurs, ein Gipsabdruck des berühmten Standbildes. Professor Hanssing schlug mit der Faust auf den Tisch, riß seinen Kragen auf, stürzte zum Waschbecken und ließ sich den kalten Wasserstrahl über den Kopf laufen. Ruhiger geworden, trat er ans Fenster. Die Blätter leuchteten rot, gelb, braun und orange. Ein Buntspecht hüpfte um die alte Weide, krallte sich in der Rinde fest und hämmerte in kurzen Stößen. Morgen war Versammlung. Diese Gelegenheit galt es zu nutzen. Hanssing trommelte mit den Fingern auf das Fensterbrett. Er würde sich beim BGL-Vorsitzenden entschuldigen. Er mußte das Gelände am Muschelsee inspizieren. Dort mußte sich die Gelegenheit finden.
14. Frau Stillmann kniete vor dem Kachelofen und stapelte Briketts auf das brennende Holz. Der kühle Wind trieb die Gardinen weit ins Zimmer. Besorgt und ärgerlich dachte sie an ihren Mann, der immer noch in der Anglerhütte am Muschelsee hauste. Auf ihre Anrufe im Institut hatte er mit kargen Worten reagiert. Sie fühlte sich verantwortlich für ihn, der sich wie ein störrisches Kind benahm. Irgendwie fehlte ihr auch seine Gegenwart. Die Ordnung war gestört, und sie wollte mit ihm über die Scheidung sprechen. Wolf drängte sie. Nur mit Mühe hatte sie ihn davon abhalten können, an den See zu fahren. Was konnte sie dafür, daß Werner sich nicht sprechen ließ. Sie hoffte 77
auf die kalten Tage, doch anscheinend konnten ihn nur Frostgrade aus der Hütte vertreiben. Dieser Schwebezustand zehrte an ihren Kräften. Wo war die freudige Erwartung auf Wolfs Anruf und sein Kommen geblieben? Fast fürchtete sie ihn, obgleich sie sich nach seinen Umarmungen sehnte. Aber die Spannung zwischen ihnen verschwand nicht; sie erhielt durch Wolfs Ungeduld und ihre Unsicherheit nur neue Nahrung. „Ich will mit dir sprechen!“ hatte sie zu Werner gesagt. „Sprechen?“ hatte er höhnisch zurückgefragt. „Ich bin vollauf beschäftigt.“ Abweisend und kalt klangen ihr seine Worte tagelang im Ohr. „Sprich doch mit deinem Galan.“ Schluß, den Hörer aufgelegt. So schroff hatte sich Werner noch nie verhalten. Vielleicht hatte er schon Ersatz, hatte sich vielleicht eine von seinen Assistentinnen geangelt. Der Gedanke beunruhigte sie. War sie am Ende eifersüchtig? Sie blickte in die Flammen. Aus dem Luftschacht strömte schon Wärme. Wenn Wolf kam, würde es warm sein. Eifersüchtig? Ein bißchen, aber nicht aus Liebe, mehr aus Besitzerstolz. Werner war ihr nicht unsympathisch, sie hatten sich auch gut verstanden, bis auf das eine. Na ja, schadlos halten würde Werner sich wohl einmal. Damit mußte sie rechnen. Trotzdem behagte ihr die Vorstellung nicht. Ihr fehlte auch sein Lob auf ihr Essen, die tägliche Sorge um ihn, die sie beschäftigt hatte. Wolf hatte immer für sich selbst gesorgt. Er kam gar nicht auf den Gedanken, da etwas ändern zu wollen. Ließ sich auch schlecht machen. Überhaupt diese Ungewißheit. Noch einmal wollte sie sich nicht überraschen lassen. Das konnte Mord und Totschlag geben, falls sich die beiden Männer in der Wohnung begegneten. Wenn sie nun zum Muschelsee fuhr? – Und dort 78
Werner mit einer anderen antraf? Nee, nee. Da wartete sie lieber auf die Kälte. Vor dem Institut wollte sie ihn auch nicht abfangen. Wer weiß, wie er sich ihr gegenüber aufführen würde. Sein Verhalten am Telefon hatte ihr gereicht. Schließlich lachten irgendwelche dummen Gänse, weil sie hinter ihrem Mann herlaufen mußte. Mehrmals dachte sie daran, Kupfer anzurufen. Auf ihn würde Werner hören. Sie hatten sich immer gut verstanden. Auch ihr gefiel Kupfer, aber sie scheute sich, den Freund ihres Mannes mit ihren Problemen zu behelligen. Dreimaliges Klingeln. Sie schob mit dem Unterarm eine Haarsträhne aus der Stirn, lief ins Badezimmer und rief: „Augenblick.“ Der Kohlendreck bildete im Waschbecken schmutzige Streifen. Immer diese Heizerei. In die Flurtür wurde ein Schlüssel gesteckt. Sie hörte das Schloß schnappen. Sie preßte das Handtuch zwischen den Händen. Außer ihr selbst hatte nur Werner einen Schlüssel. Die Angeln knarrten; sie hörte leise, suchende Schritte, sah ihr Gesicht im Spiegel und erschrak über die Blässe ihrer Haut. Sie zitterte vor Angst und schalt sich töricht. Es war ihr Mann. Auf diesen Augenblick hatte sie gewartet. Aber gerade jetzt erwartete sie Wolf. Hoffentlich sah er Werners Auto und wartete oder rief später an. Die Schritte führten auf die Toilette. Ingeborg Stillmann stieß die Tür ein wenig weiter auf. Das bekannte Geräusch herabstürzenden Wassers ertönte. Werners schmaler Kopf, vorgestreckt wie immer, erschien in ihrem Blickfeld. Im Halbdunkel des Flurs entdeckte sie einen Koffer. Werner trug ihn in sein Zimmer. Er brauchte also Wäsche. Sie ging ihm nach und klopfte. Ein knurrender Laut ließ sie zögern. Werner mußte sie gehört haben. Jetzt konnte sie ihn stellen, sich mit ihm aussprechen. Aber er schien nicht darauf versessen zu 79
sein. War sie es, jetzt, wo jeden Augenblick Wolf Sander klingeln konnte? Mit einem Griff riß sie ihren Mantel vom Kleiderhaken und stürzte aus der Tür. Vor dem Haus auf der gegenüberliegenden Seite stand Wolf. Er betrachtete den Trabant und die dunkelgraue Fassade ihres Hauses. Fast wäre sie in ein Auto gerannt. Wolf Sander zog Ingeborg in seine Arme. Heftige Worte drängten sich ihm auf die Zunge, doch er spürte ihren bebenden Körper und schwieg. „Laß uns gehen“, flüsterte Ingeborg. „Ich will mit ihm sprechen“, widersetzte er sich. „Nein!“ Sie zog ihn an der Hand mit fort. „Überlaß das mir, bitte.“ Sie sah ihn flehend an, während sie mit kleinen, schnellen Schritten in die Nebenstraße einbog. Die Bäume standen kahl in der trüben Nachmittagsluft. Nur vereinzelt hingen noch welke Blätter an den Zweigen. Auf einigen Balkons blühten blaue und rote Astern. Es roch nach Rauch und Benzin. Aus einem Restaurant drang warme Luft, die nach Kaffee und Tabak duftete. Sie gab der Versuchung nicht nach und lief weiter, als müßte sie eine möglichst große Entfernung zwischen ihren Mann und ihren Geliebten bringen. Bald aber fühlte sie wieder die Ruhelosigkeit, die das Fehlen eines Zuhause erzeugt. Sie gingen durch die Straßen, irgendwie verloren, ohne Ziel. Erst als sie den Park erreichten und schützendes Gebüsch um sich wußten, blieben sie stehen, aneinandergelehnt und ruhiger werdend. „Ich hatte solche Angst.“ Sie küßte ihn leicht auf den Mund. „Wie ein kleines Mädchen.“ Unzufrieden und vorwurfsvoll klangen seine Worte. „Ich weiß“, sagte sie und rieb ihre Nase an seiner Wange. „Ausgerechnet heute, wo ich mit ihm hätte sprechen können.“ 80
„Hättest du.“ Er küßte ihren Hals. „Ich wäre nicht raufgekommen.“ „Wie sollte ich das wissen?“ „Ich bin doch nicht blind. Kenn doch seine Klapperkiste.“ „Mich friert.“ Ingeborg drückte sich an ihn, und er legte seinen Mantel mit um ihre Schulter. „Laß uns weitergehen.“ Ihre Schritte knirschten auf dem Kies, raschelten durch zusammengewehtes Laub. Als sie die Fassade des Instituts durch die Bäume schimmern sah, blieb Ingeborg stehen. „Er ist heute früher weg. Dienstschluß ist erst jetzt.“ „Wenn alle genau zur gleichen Zeit gingen, kämen sie nicht durch die Tür.“ Aber sie ging nicht auf den scherzenden Ton ein. „Ich komme mir vor wie die jungen Pärchen, die sich an den Hausecken oder auf der Parkbank herumdrücken. Die da“ – sie deutete auf die Frauen und Männer, die das Institut verließen – „wissen, wohin sie gehen. Aber wir?“ „Du bist ganz schön verwöhnt.“ Er ließ ihre Hand los. Seine Stimmung schlug um. „Komm“, sagte er unwirsch. Er ging mit großen Schritten voran. „Du redest jetzt mit deinem Mann. Ich warte in der Eckkneipe auf dich.“ Blödsinn, dachte er, warum habe ich sie nicht gleich wieder raufgeschickt. Der Trabant stand nicht mehr vor der Tür. Ingeborg wußte nicht, ob sie sich darüber freuen oder ärgern sollte. Sie fühlte sich erleichtert und bedrückt zugleich. Den ganzen Rückweg über hatte sie sich den Wortwechsel und die Szene mit Werner vorgestellt und sich immer wieder damit zu beruhigen versucht, daß sie das einmal hinter sich bringen müßte. „Ich gehe erst einmal allein.“ Sie drückte Wolf Sanders Hand. „Wenn die Wohnung leer ist, sehe ich aus 81
dem Fenster. Wenn nicht, dann ruf mich bitte in zwei Stunden an. Bis bald.“ Wolf Sander brauchte keine zwei Minuten zu warten, doch er kam sich gedemütigt vor. Er liebte Ingeborg, er wollte nicht nur mit ihr schlafen, er wollte mit ihr leben. Er hatte sich nicht in ihre Ehe zwängen wollen. Fast ein Jahr lang hatten sie zusammen gearbeitet, Modelle entworfen, miteinander gefrotzelt und gelacht, ohne Intimität. Er hatte sie bewundert, geachtet, seine Gefühle verborgen. Sie war eine begehrenswerte Frau, aber er hatte sie glücklich verheiratet gesehen. Unerwartet hatte sie sich ihm anvertraut. Und von da an wollte er sie – ganz. Er hatte viel Geduld gehabt; ihre Lage war schwieriger als seine, aber lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende. Wenn Inge keine Entschlußkraft aufbrachte, dann mußte er handeln. So gingen sie vor die Hunde. Ingeborg erwartete Wolf Sander hinter der angelehnten Tür. „Schau dir das an.“ Sie hatte die Tür zu ihres Mannes Zimmer geöffnet. Auf dem Bett türmten sich schmutzige Hemden, Unterwäsche, Strümpfe. Das Wäschefach des Kleiderschranks sah wie ausgeraubt aus. „Alle warmen Sachen hat er mitgenommen.“ Sie zog die Nase hoch. „Als wenn er den ganzen Winter draußen bleiben will. Das Bücherregal ist auch halb leer.“ Wolf Sander nahm ein Buch vom Couchtisch. „Francois Löwenhauk von Xaver Steidle“, las er gedankenlos. Er blätterte es durch, warf es wieder auf den Tisch und verließ das Zimmer. Er kam sich vor wie ein Einbrecher in die Intimsphäre eines anderen. Enttäuschung überkam ihn. Immer dieses Hin und Her! Warum zögerte sie die Trennung hinaus, die sie selbst für unvermeidlich hielt? Ihre Entschlußlosigkeit stand im Gegensatz zu der Leidenschaft, mit der sie sich zu ihm bekannt hatte. Sollte Stillmann ihr doch mehr bedeuten? 82
„Bitte laß mich nicht allein.“ Kurz vor der Flurtür hielt Ingeborg ihn zurück. „Ich liebe dich, aber versteh mich doch ein bißchen. Es ist alles ganz schrecklich für mich.“ Er spürte ihren warmen Körper, die sanfte Gewalt ihrer zarten Formen. „Laß uns an den See fahren. Sprich dort mit ihm. Ich werde in der Nähe auf dich warten.“ „Heute nicht“, antwortete sie und schmiegte sich an ihn. „Ich kann nicht, versteh mich doch.“ Sie begann lautlos zu weinen, als Wolf sie zurückstieß. „Entschuldige.“ Er wurde mild gestimmt. „Dann schreib ihm. Du kannst die Scheidung ohne ihn einreichen. Brauchst nur zu sagen, wie es ist.“ „Ohne vorher mit Werner zu sprechen?“ Sie schluchzte plötzlich und eilte ins Bad. „Dann werde ich mit ihm reden“, sagte er bestimmt. „Ich will jetzt Klarheit, entweder – oder.“ Er schlug die Tür hinter sich zu, bevor sie ihn zurückhalten konnte.
15. Drei Stunden hatte er Zeit. Hanssing stellte seinen Wagen auf dem Parkplatz ab. Vor drei Jahren war er einmal mit Stillmann hier gewesen. Sie waren von der anderen Seite und dichter an die Hütte herangefahren und ungefähr fünf Minuten gelaufen. Diesen Weg mußte er meiden. Wenn ihn schon jemand sehen sollte – ein später Pilzsammler, ein Forstarbeiter, ein Spaziergänger –, dann nicht dort. Er verließ den breiten Waldweg, der kurz vor dem Muschelsee nach rechts abbog. Wenn er hier nach links am Seeufer entlangging, mußte er auf die Anglerhütte stoßen. Der Waldboden federte unter seinen Schritten. Spinn83
gewebe schimmerten feucht zwischen den Bäumen. Die Luft roch modrig. Ab und zu versuchte er, sich einen markanten Baum zu merken. Er mußte den Weg auch bei Dunkelheit finden. Einige Rinnsale durchzogen den Boden. Einmal blieb sein Schuh im Morast stecken. Er mußte beim nächsten Mal unbedingt Gummistiefel anziehen. Hanssing hörte seinen Atem. Hier und da raschelte es im Geäst. Ein Eichelhäher schrie, aus dem Schilf klangen schnatternde Laute. Sonst war es still, kein Mensch weit und breit. Er spürte sein Herz. Das Hemd klebte ihm auf der Haut. Unter den Kiefern war es schon dämmerig. Bemooste Erlenstämme hingen über einem Tümpel mit tiefdunklem Wasser. Auf den mußte er besonders achten, der konnte ihm zum Verhängnis werden. Die Taschenlampe in seinem Anorak beruhigte ihn etwas. So mühsam hatte er sich den Weg quer durch den Wald nicht vorgestellt. Was waren schon die paar Ausflüge ins Grüne, die er sich und seiner Familie ab und zu gegönnt hatte. Da waren sie auf breiten Waldwegen entlangpromeniert, die wie die Rathauspassage bevölkert waren. Endlich erreichte er den Rand der Lichtung, auf der die Anglerhütte stand, dreißig Schritt vom Wasser entfernt. Durch den Schilfgürtel führte eine Laufplanke. Zwei Ruderboote hingen an verrosteten Ketten. Sie rieben sich leise unter der sanften Bewegung des Wassers. Wildenten erhoben sich aus dem Rohr und flogen über den weiten, stillen See. Ein Fisch sprang und klatschte ins Wasser. Hanssing nahm die Hornbrille ab und putzte sie. Er hielt den Kopf schräg und lauschte auf die ungewohnten Geräusche. Seine Ohren waren den Lärm der Stadt und das monotone Summen von Laborgeräten gewohnt. Immer dieses Gefühl, beobachtet zu werden, obgleich er mit Sicherheit annahm, daß zu dieser Jahreszeit niemand außer Stillmann hierher kam. Und der saß in der 84
Versammlung. Allmählich wich die Angst vor einer unverhofften Begegnung. Er wischte die schweißnassen Hände an den Hosen ab und sah sich aufmerksam um. Die Sonne versank hinter den Wipfeln jenseits des Muschelsees. Auf dem Wasser lag ein heller Streifen, der wie Silber funkelte. Die zarten Nebelschwaden über dem Schilf hingen wie Rauch in der Luft. Bald mußte der Mond aufsteigen, blieb nur zu hoffen, daß die Wetterprognose stimmte und der Himmel unbewölkt blieb. Die Hütte war aus armdicken Kiefernstämmen gebaut. Die Fensterläden waren geschlossen. Mit leichten Schritten ging Hanssing auf die Hütte zu. Der Riegel war vorgeschoben und mit einem Vorhängeschloß versperrt. Seitlich neben der Hütte war aus groben Feldsteinen eine Feuerstelle errichtet. Die Asche und die verkohlten Holzstücken ließen darauf schließen, daß hier vor kurzem ein Feuer gebrannt hatte. An der Hüttenwand war ein dicker Stapel Feuerholz aufgeschichtet. Daneben lag ein rostiger Köderfischkessel. An einem Haken hing ein ausgeblichener Fischkorb. Die Bank und der Tisch vor der Hütte waren aus geschälten Stämmen gefügt. Ein Schlängelpfad führte von der Hütte zu dem Platz, an dem Stillmann seinen Wagen abstellte. Nur von dort konnte jemand kommen; unwahrscheinlich, daß ein Mensch in diesem mit dichtem Unterholz bestandenen Gelände herumlief. Hanssing folgte dem Pfad. Der Boden war festgetreten, als würde er häufiger benutzt. Niemand begegnete ihm. Beruhigt kehrte er zur Hütte zurück. Wenn er Stillmann hier auflauerte, könnte er ihn überraschen. In dem dichten Gestrüpp konnte er sich verbergen und Stillmann beobachten. Wenn er am Feuer saß, war er mit zwei, drei Schritten hinter ihm. Ein Schlag auf den Kopf, hinein in einen Sack, aufs Boot und mit zwei Steinen ins Wasser. Nur die Spuren würden 85
sich kaum völlig beseitigen lassen, obgleich er sich dafür viel Zeit nehmen konnte. Besser war vielleicht, wenn er eine Flasche Wein mit einem Gift in die Hütte reinschmuggeln würde. Das sah dann wie Selbstmord aus und erhielt durch die gespannte Ehe eine plausible Erklärung. Hanssing ging auf die Tür zu und hörte Sand unter den Schuhsohlen knirschen. Er verhielt den Schritt. Vorhin hatte er darauf nicht geachtet. Er mußte besser aufpassen und sorgfältiger vorgehen. Hier hielten sich die Fußabdrücke länger als auf dem Waldboden. Und die Gummischuhe, die er beim nächsten Mal anziehen wollte, würde er dann sofort verbrennen. Hanssing wunderte sich, wie kühl und klar er über den geplanten Mord zu denken vermochte. War ja auch kein Mord, sondern Notwehr. Einige schwere Stunden standen ihm noch bevor. Aber es war ein Ende abzusehen. Und dann war er die Bedrohung und Bedrückung los, die sein Leben zur Qual machten und ihn der Lächerlichkeit preisgaben. Wer einem andern die Zukunft zerstörte, der verdiente sie selbst nicht. Stillmann hatte sein Urteil selbst gefällt. Es mußte nur noch vollstreckt werden. Mit Erpressern verhandelte man nicht. Hanssing empfand Stolz, daß er den Entschluß gefaßt hatte und die Kraft besaß, ihn mit aller Überlegenheit und Vorsicht auszuführen. Mitleid war hier fehl am Platz. Der einzige, der es für sich beanspruchen konnte, war er selbst. Denn er war kein Killer und kein Henker, und es blieb ein unangenehmes Geschäft. Ihm war plötzlich, als hörte er Schritte. Er verharrte gebannt, drehte den Kopf nach allen Seiten. Stille. Nur ein leichtes Rauschen in den Zweigen, als wenn der Wind stärker würde. Wahrscheinlich war irgendein morscher Ast in das Gestrüpp gefallen. Hanssing beobachtete den Waldrand, ging leise auf den Schlängelpfad zu, doch er bemerkte nichts. 86
Dumme Grübelei. Er mußte sich auf sein Ziel konzentrieren. Langsam ging er zur Hütte zurück. Von dem dunklen Holz der Tür hob sich das graue Vorhängeschloß ab. Er holte sein Schlüsselbund aus der Tasche und probierte einige Schlüssel, vergeblich. Es war ein Sicherheitsschloß, eines von den neumodischen, die mit einem Ruck aufsprangen und ohne Schlüssel schlossen, wenn man den Bügel hineindrückte. Manchmal sprangen sie auf, wenn man einen spitzen Gegenstand hineinführte. Hanssing hatte Werkzeuge eingesteckt. Mit einem kleinen Schraubenzieher tastete er das unsichtbare Innere ab. Er spürte den Widerstand einer Feder, drückte, verschob den Schraubenzieher seitwärts – das Schloß sprang mit einem schnappenden Geräusch auf. Wie bei Ali Baba, dachte er erfreut. Jetzt müßte ihn Stillmann sehen. Der würde die Augen verdrehen. Aber Gefühle waren hier unangebracht. Triumphieren konnte er später. Jetzt war nur eiskaltes Kalkül am Platz. Schließlich lebte er in einer geordneten Gesellschaft. Niemand würde verstehen, was er tat, und niemand würde begreifen, warum er es tun mußte. „Wer – wen?“ war hier keine Klassenfrage. Das war ein individueller Fall, der nur ihn etwas anging. Die Tür knarrte wie in einem Kriminalfilm. Auch die Holzdielen federten und knirschten. Fehlte nur noch der Ruf eines Käuzchens und etwas drohend-unheimliche Musik, um den Zuschauer das Gruseln zu lehren. Hanssing machte die Taschenlampe an. Sie flackerte bei jeder Bewegung, und er fluchte unhörbar auf die verdammte Schundproduktion. Ihm wurde heiß. Er war noch viel zu nervös. In dem engen Vorraum standen unter einer Bank Gummistiefel mit langen, umgeklappten Schäften. An der Wand lehnten Angeln, Käscher. Ein präparierter Hecht hing über der Innentür, seine Glasaugen glänzten. Auf einer Bank lag eine ausgediente Armeekluft. 87
Die Innentür war unverschlossen. Sie kratzte über die Dielen und klemmte fest. Der Lichtkegel der Taschenlampe drang in den Raum, strich über zwei Liegen, einen länglichen Tisch, einen Vorhang, hinter dem eine Kochnische lag. Der Vorhang ließ sich schwer ziehen. Die Rollen waren rostig. Auf einem tischhohen Schrank stand ein Propangaskocher. Daneben auf einem Hocker ein Eimer mit Schöpfkelle, darüber ein kleines Fenster. Es klemmte, ließ sich aber trotzdem gut öffnen. Hanssing drückte das Fenster wieder zu. Wenn man nicht genau hinsah, konnte man es für geschlossen halten. Wenn man den Riegel geschickt aufstellte, schnappte er beim Andrücken des Fensters von allein zu. Das war eine todsichere Sache, wenn man durch das Fenster in den Raum eingedrungen war und ihn wieder verließ. Niemand konnte dann den Vorgang rekonstruieren. Der Fensterladen war mit einem Haken gesichert, der nur von innen zu öffnen war. Er war ohne Falz gearbeitet; mit einem langen, schmalen Stück Metall müßte man den Haken von außen aus der Öse stoßen können. Dann wäre der Weg ins Innere der Hütte frei. Die Inspektion befriedigte den Professor. Er leuchtete den Fußboden ab und entdeckte die rotgestrichene Propangasflasche unter dem Gaskocher, daneben einen Eimer mit durchlöchertem Scheuerlappen. Der Lichtstrahl wanderte von der Gasflasche aufwärts zum Fenster. Erkenntnis war wirklich ein Blitz aus Gegebenheiten. Hanssing mußte sich setzen. Er war überwältigt von seiner Vorstellung. So und nur so wollte er Stillmann aus dem Leben gehen lassen, jawohl, gehen lassen. Das war eine absolut sichere Art, sicher im doppelten Sinn der Wortbedeutung. Sicher für die Fahrkarte ins Jenseits und sicher für ihn, der sie ausstellte. Er lachte in sich hinein. Entdeckerfreude überflutete sein Herz. Eine Schande geradezu, daß er diesen Einfall für sich behal88
ten mußte. Niemand würde an eine Tötung denken; jeder würde auf einen Unglücksfall oder Selbstmord schwören. Das war genial, das mußte er laut sagen. Besinnung überdeckte seine Euphorie. Eine Idee mußte verwirklicht werden. Jetzt kam es auf die beste Möglichkeit an. Die Entfernung vom Fenster zur Gasflasche war größer, als ein Arm überbrücken konnte. Er würde sich ins Fenster hineinziehen müssen, um das Ventil öffnen zu können. Das war nicht gerade günstig, wenn man jedes Geräusch vermeiden mußte. Er würde die Bank oder einen Holzklotz unter das Fenster stellen müssen. Wer konnte sagen, wie fest Stillmann schlafen würde. Es gab so etwas wie Ahnungen; ein sensibler Bursche war er. Es reizte Hanssing, das Ventil zu öffnen. Gas strömte jedoch nicht aus. War die Flasche etwa leer? Er schaukelte sie und hörte es gluckern. Im gleichen Augenblick fiel ihm ein, daß der Hahn am Gaskocher noch geschlossen war. Er öffnete ihn, und ein leises Zischen ertönte. Ein Hauch tödlicher Moleküle schwebte heran, fast geruchlos. Genießerisch schnupperte Hanssing. Das würde Stillmann weder hören noch riechen. Geist mußte man haben. Ein Unglücksfall. Die Tür würde von innen verriegelt sein, die Fenster geschlossen. Eine Einwirkung von außen – unmöglich. Wieder mußte er seinen Enthusiasmus dämpfen. Alles in Ruhe bedenken. Er lehnte die heiße Stirn gegen den Türpfosten. Was nun, wenn die Flasche nicht genügend Propan enthielt? Er begann zu schwitzen. Dummheit, daran konnte alles scheitern. Akribie war in jeder Hinsicht vonnöten! Die Dosis mußte tödlich sein, unbedingt tödlich. Sonst würde der Anschlag auf ihn zurückfallen. Er durfte kein Risiko eingehen. Sonst war es um ihn geschehen und nicht um Stillmann. 89
Gut, daß er wenigstens rechtzeitig daraufgekommen war. Die unwägbaren Dinge brachten die besten Pläne zum Scheitern. Für seinen Plan durfte es keine unwägbaren Dinge geben. Die Flasche mußte voll sein! Es war eine gewöhnliche Gasflasche – mit dem Dreiecksschild der Gasvertriebsstelle, einigen Kratzern auf dem Rot und einer abgeschabten Stelle. Auffällig individuell war nur ein ungeschickt aufgemaltes großes A. Gab es eine zweite Flasche? Der Schrank war leer. Unter den Liegen lagen nur Holzlatschen. Nirgends eine zweite Flasche, kaum zu glauben. Blieb nur noch der Spitzboden. Im Flur entdeckte er, halb verdeckt, eine Leiter. Jedenfalls konnte man sie Leiter nennen, wenn sie auch aus Knüppeln roh zusammengezimmert und an die Wand genagelt war. Sie reichte bis zur Decke, doch eine Luke war nicht zu sehen. Er hangelte sich ächzend die Leiter empor, tastete die mit Leisten unterteilten Preßplatten ab. Ein Quadrat linker Hand ließ sich hochdrücken. Na also. Er schob sich zwei Sprossen höher, hielt die Luke mit dem Kopf und leuchtete den Boden ab. Da stand sie, die zweite Flasche, greifbar nah. Er zog sie heran, schüttelte sie. Sie war schwer und voll. Bestens. Er schob sie zurück, zog den Kopf ein, schloß die Luke und stieg von der Leiter. Geschafft! Er unterdrückte ein Niesen, putzte die Nase und lauschte. Der Wind fauchte durch die Kiefern. Eine Wildente schrie. Stille. Leises Klopfen plötzlich. Stillmann? – Unmöglich. Aber wer dann? Heftiges Erschrecken ging in dumpfe Verzweiflung über. Was tun? Ausreden schwirrten ihm durchs Gehirn. Es gab keine Erklärung für sein Hiersein, keine plausible; höchstens, daß er sich verirrt habe und die Nacht … Seine Hand schnellte zum Riegel. Ein sanfter Druck – zu. Zeit war gewonnen. Er stieß die Luft aus. Schließlich 90
mußte er nicht öffnen. Aber sein Plan, sein wunderbarer Plan! Wieder das Klopfen. Hanssing biß sich auf die Lippen. Er würde hinausgehen, sehen, wer da war. Ein Knüppel lehnte an der Wand. Er nahm ihn an sich, hielt ihn hinter dem Rücken. Er konnte zuschlagen, hart auf den Schädel. Das Wasser war nahe, das Boot. Steine lagen herum. Es würde Jahre dauern, bevor etwas nach oben kam. Oder noch besser, alles versackte für immer im Schlamm. Er schob den Riegel zurück und öffnete einen Spalt breit die Tür. Der Mond stand voll und scharfrandig über dem See, eine Handbreit daneben ein Planet, der Jupiter oder der Saturn. Blödsinn, in einer solchen Situation auf so etwas zu achten. Wieder das Klopfen. Es kam von der Seite. Vor der Hütte war kein Mensch zu sehen. Eine Seite lag im Mondschatten. Der Wind rauschte stärker und strich raschelnd über das Schilf. Wollte ihn jemand hinauslocken? War ihm selbst zugedacht, was er zu tun gedacht hatte? Angst ließ ihm die Beine beben. Ein brennendes Gefühl wuchs in seinem Magen. Er lehnte sich an die Wand. Er mußte den Kopf klar behalten. Der Knüppel in seiner Hand brachte ihn wieder zur Besinnung. Er konnte zuschlagen. Wennschon – dennschon. Sein Leben wollte er so teuer wie möglich … Niemand würde hier nach ihm suchen. Man würde seinen Wagen finden, dreitausend Meter von hier entfernt, aber wer würde ihn auf dem Grund des Sees vermuten? Ihn schauderte. Das nicht, nicht ihm. Er konnte sich um die Hütte schleichen und davonstehlen. Die Dunkelheit des Waldes würde ihn verbergen. Wer sollte ihm da folgen können. Aber er zögerte. Er mußte sehen, mit wem er es zu tun hatte. Vielleicht hatte ihn doch jemand verfolgt. 91
Langsam löste er sich von der Wand und spähte um die Hütte. Die Stämme glänzten hell im Mondlicht. Die Bäume warfen schwankende Schatten auf die Hüttenwand. Furcht und Neugier trieben ihn weiter. Die Rückseite lag im Schatten. Er preßte den Kopf gegen die Wand und blickte mit einem Auge in das Dunkel. Nichts zu sehen. Erleichtert schob er sich um die Ecke. Er stand im Schatten und fühlte sich sicherer. Langsam gewöhnten sich die Augen. Jetzt war er im Vorteil. Der andere erwartete ihn nicht von dieser Seite. In den Zweigen fauchte der Wind. Das Klopfen wurde lauter. Er schob sich um die Ecke. Da! Etwas bewegte sich. Ein Schatten, ein Mensch oder ein Tier? Er hob den Knüppel. Seine Nerven brannten. Vergeblich spähte er nach einer Gestalt. Hatte ihn der andere gehört und sich davongeschlichen? Das Schattenspiel, das Klopfen, es dauerte an. Er spürte Stiche in den Ohren. Sein Blut schoß ihm glühend in den Kopf. „Bum, bum, bum …“ Ein Zweig! Hanssing fiel gegen die Hüttenwand und sackte in die Knie. Seine Beine zitterten. Wut stieg in ihm auf, Wut auf sich und auf den Zweig. „Bum, bum, bum“, stieß er gegen die Wand, immer dann, wenn der Wind den Wipfel der Kiefer bewegte. Waren die Benutzer der Hütte taub? Hanssing sprang empor, ergriff den Ast und riß und zerrte; vergeblich. Er zog mit seinem ganzen Gewicht, doch der Ast brach nicht ab, sondern stieß dumpf pochend gegen die Hüttenwand. Ein Beil! Er lief in den Vorraum. Das Beil lehnte an der Wand. Schwer und stark lag es in seiner Hand. Es blitzte im Mondlicht. Prüfend fuhr seine Hand über die schartige Schneide. Sie würde einen Hals glatt durchschlagen. 92
Er stellte sich den von Stillmann vor, und es zuckte in seinen Armen. Aber das war ein gewaltsamer Tod; auffällig gewaltsam. Da gab es einen Täter, Ermittlungen; das nicht. Er sah den Ast und blickte auf das Beil. War er verrückt geworden? Sollte der Ast klopfen, soviel er wollte. Ihn ging das nichts an. Eine solche Veränderung mußte Verdacht erregen. Nun gut. Er hatte das Zeichen verstanden, er war gewarnt. Es wurde Zeit zu verschwinden. Schließlich hatte er genug gesehen. Alles war klar – bis auf die Flasche. Die Dosis mußte tödlich sein. Eine volle Flasche mußte an dem Platz stehen. Als er die Straße erreichte, fühlte er Erleichterung. Er hatte stark geschwitzt und spürte den kalten Wind auf der Haut. Endlich erblickte er seinen Wagen. Er öffnete die Tür und zog sie leise hinter sich zu. Der Wunsch, eine Zigarette zu rauchen, bedrängte ihn. Aber er war Nichtraucher, Nichtraucher seit zwei Jahren. Er hatte Aufnahmen vom Lungenkrebs gesehen; sie hatten ihn so lange gequält, bis er seine Lieblingsleidenschaft aufgegeben hatte. Sie fehlte ihm; allein schon das Öffnen der Schachtel, das Zurechtstoßen der Zigarette, das Anzünden und der erste Zug. Hanssing spürte den Rauchgeschmack auf der Zunge und startete. Autofahren war ein Ersatz. Hinter dem Steuer fühlte er seine Kraft wachsen. Er fuhr einen Umweg und fuhr ihn gern. Als er Lichtenberg erreichte, war es fast ein Uhr. Eine S-Bahn geisterte über die Brücke, hinter der im spitzen Winkel die Zufahrtsstraße zu der kleinen Siedlung verlief. Schmale Straßen führten zu den Zwei- und Einfamilienhäusern, die in kleinen Gärten lagen. Kaum ein Fenster war noch erleuchtet. Er überlegte, ob er vor dem Haus unter einer kleinen Laterne parken oder den Wagen in seine Garage in der Nebenstraße stellen sollte. Zu dumm auch, daß er hier 93
kein Haus hatte kaufen können. Dafür brauchte er sich andererseits um nichts zu kümmern. Er bewohnte das Erdgeschoß eines Zweifamilienhauses, der Hauswirt hielt das Grundstück in Schuß. Bildete sich mächtig was drauf ein. Neureich mit Dünkel. Bildung zählte bei dem nicht. Die Türen schlossen leise. Ein Blick ins Schlafzimmer. Gertraude schlief fest. Sie pustete die Luft mit einem leisen Pfeifton aus. Sie war daran gewöhnt, daß er spät nach Hause kam, nicht nur wegen der Versammlungen, sondern auch wegen der Nachsitzungen, kleiner Umtrünke, die sie schließlich akzeptiert hatte, auch wenn er hin und wieder etwas angeheitert nach Hause gekommen war. Ihr Ehrgeiz war sein Bundesgenosse. Mit gewissen Leuten mußte man schon mal einen trinken. In den ersten Ehejahren war es anders gewesen. Gertraude hatte stets auf ihn gewartet. Mit dem Kinderkriegen hatte sie es nicht eilig gehabt, auch dann nicht, als sie endlich die Wohnung bekamen. Marion war ein Zufallstreffer und eine schwere Geburt. Ein zweites Kind wollte sie nicht, wegen der Umstände vor allem; beruflicher Ehrgeiz und Nachwuchs bildeten einen fast antagonistischen Gegensatz. Sonst war Gertraude durchaus lebendig und oft munterer gewesen, als ihm lieb war. Das war nun gottlob überstanden. Gertraude mußte um sechs Uhr aufstehen. Ihr Unterricht begann um sieben Uhr in der sogenannten Nullstunde. Schöner Blödsinn, diese Bezeichnung, genauso blödsinnig wie der Name Polytechnische Oberschule oder Erweiterte Oberschule, EOS und POS. Als wenn einfache Begriffe wie Grundschule und Oberschule nicht ausreichten. Was wurde denn an Polytechnik gelehrt? Was Begriffe betraf, da war er für absolute Korrektheit. Er zog die Schuhe aus und reinigte sie sorgfältig. Gummischuhe mußte er sich morgen kaufen. Dann würde es keine verfolgbaren Spuren geben. Hinterher 94
würde er die Schuhe verbrennen oder auf die immer rauchende Müllkippe werfen. Sollte er noch einen Kognak? Von der Flasche ging eine Verführung aus. Den Abend hatte er nicht vergessen, an dem er Gertraude zum erstenmal schlafend vorgefunden hatte. War wie eine Zurücksetzung gewesen. Erst hatte er sie wecken wollen, sich dann auf seine Mattigkeit besonnen und einen Seelentröster eingeschenkt. Alles hatte seine guten Seiten. Er nahm eine Schlaftablette und legte sich ins Bett. Der neue Tag trat vor seine Augen, das Institut, die Berichte, die Unterschriften, die Anrufe; Stillmann, dieser Schuft. – Er stöhnte vor Haß. Bald würde er ihn los sein, bald und für immer. Die Tablette befreite ihn von allen Gedanken. Er sah sich einer schwebenden Weite gegenüber und fühlte sich langsam darin versinken.
16. Nelly Zapf verließ die Impfkabine und blinzelte ihrer Kollegin Susanne Winter zu, während sie den Mundschutz abnahm und die Gummihandschuhe auszog. „Na, wächst der Escherichia?“ fragte Susanne und dachte, vermummt sieht sie bald hübscher aus als unvermummt. „Sehr gut!“ Nelly betonte jedes Wort und steckte ihre Haare fest. „Ich finde es einfach immer wieder wunderbar: what’s true for Escherichia coli is also true for Elephants.“ „Ein Glück, daß es außer dem Stoffwechselprozeß noch andere Unterscheidungsmerkmale für Organismen gibt.“ Susanne betrachtete ihre weichen, runden Hände. „Ach, ich muß noch autoklavieren.“ Sie erhob sich vom Drehschemel und trat an den Labortisch, auf dem neben 95
Kolben, einem Mikroskop, Petrischalen und Dampftöpfen der Autoklav stand. „Gefällt dir Stillmann jetzt besser?“ Nellys Blicke glitten neidisch über die voll ausgeprägten Formen ihrer Kollegin. „Nicht unbedingt.“ Susanne schob den Bunsenbrenner zur Seite. „Irgendwie übertrieben.“ „Bist du nur nicht gewohnt.“ Nelly lachte. „Jetzt könnte er sogar mir gefallen, aber an mir bleibt sowieso keiner hängen.“ Ihre zarten Hände strichen verlegen an ihrem schmalen knabenhaften Körper entlang. „Dein Typ wird auch verlangt“, antwortete Susanne tröstend. „Schlank ist modern.“ „’n bißchen wollen die Männer zum Anfassen haben. Nee, die Hübschen kriegen Kinder, die andern bleiben der Wissenschaft erhalten, hat Professor Hanssing gesagt.“ Nelly schnitt eine Grimasse. „Paß nur auf, der Stillmann hat Feuer gefangen. Mit seiner Frau soll er sowieso nicht mehr richtig. Die hat ’nen Freund. Wer weiß, warum. Aber ausprobieren würde ich’s mal.“ Susanne lächelte verlegen. „Ich weiß nicht, – er will mir das Angeln zeigen.“ „Und vielleicht noch ’n bißchen mehr.“ Nelly blinzelte pfiffig. Ihre hohe, kratzende Stimme bildete einen auffallenden Kontrast zu der tiefen Tonlage ihrer Kollegin. „Würdest du mit ihm an den See fahren?“ fragte Susanne unsicher. „Mir ist ein wenig komisch dabei.“ „Warum denn nicht? Komisch? Vielleicht wird dir erst komisch, wenn du stundenlang neben ihm sitzt, schweigend, damit die Fische nicht türmen, mit frierenden Füßen. Nee, das wär’ das einzige, was mich stören würde. Mücken sind ja jetzt nicht. Und vergewaltigen brauchst du dir ja nicht gleich zu lassen“, fiel sie in ihren Berliner Dialekt, „wenn es dir keinen Spaß macht.“ „Nelly, Mensch, sei still!“ Susanne tat beleidigt, obgleich Nellys Worte ihr nicht unangenehm waren. „Am 96
Samstag will er sich mit mir treffen. Ich bin mir noch nicht schlüssig.“ „So ein Unsinn!“ Nellys grüne Augen funkelten zornig. „Erst gehste ran, und dann kneifst du?“ Blödes Theater, setzte sie in Gedanken ihre Rede fort. Immer so bei denen mit hübscher Larve. „Bist ganz schön eingebildet“, fuhr sie laut fort. „Hast doch nicht im Dampftopf gesessen und bist steril?“ Sie lachte über die Anspielung, unterbrach sich aber jäh, als die Tür aufging und Stillmann eintrat. „Hallo, Mädchen!“ rief er forsch und sah Susanne an, die den Kopf senkte, daß die dichten langen Haare ihr Gesicht halb verdeckten. „Wat heißt hier Mädchen?“ fragte Nelly. „Kollejin meinen Se wohl.“ Stillmanns blaue Augen fixierten Nellys Nase. „Wollte mit Ihnen schon immer mal ausgehen.“ „Gehn Se man lieber erst mal angeln“, antwortete Nelly versöhnlich. „Sie sind mir zu stürmisch.“ „Ich dachte, gerade Sie legen darauf Wert?“ Stillmann trat einen Schritt auf Nelly zu, die einen Fernbach-Kolben in die Hand nahm und sagte: „Kommen Sie mir nicht zu nahe. Ich bin ganz schön geladen.“ „Nichts für ungut, Mädchen“, fuhr er unbekümmert fort. „Wachsen denn unsere kleinen Elefanten?“ Er wandte sich Susanne zu. „Auf Aga-aga immer. Wir müssen bald überimpfen.“ Sie kämpfte mit Stirnrunzeln gegen das Rotwerden. Plötzlich war außer dem Summen der Apparate nichts zu hören. Für Sekunden fiel ein Sonnenstrahl durch ein Wolkenloch ins Zimmer. Nelly räusperte sich und rief: „Ich geh’ mal in die Werkstatt.“ Ohne auf Antwort zu warten, schlug sie die Tür hinter sich zu. Susannes Gesicht wurde dunkelrot. Sie fühlte sich im Stich gelassen und starrte angestrengt auf den Autoklav. 97
Seit sie ihre Zurückhaltung aufgegeben hatte, lebte sie im Zwiespalt von Freude und Vorwurf. Es war schön, den Gefühlen für Werner Stillmann nachzugeben, zugleich empfand sie Angst, sich zu verlieren. Denn er war verheiratet. Mochte die Ehe sein, wie sie wollte, vor dem Bündnis zweier Menschen empfand sie Respekt. Da wollte sie sich nicht hineindrängen. Und doch warb sie um Stillmann wie von einer fremden Macht getrieben. Stillmann schien auch beklommen. Fräulein Zapfs Abgang wirkte wie eine Aufforderung, mit der er nichts anzufangen wußte. Seine Schüchternheit, von seinen Erfolgen in den Hintergrund gedrängt, trat hervor und stellte sich wie ein Hindernis zwischen seine Wünsche und die Gelegenheit, sie auszusprechen. Er kam sich wie ein Tölpel vor, der das Glück, das ihm vor die Füße gerollt war, vor lauter Freude nicht aufheben konnte. Er war im Begriff, sich umzudrehen, als ihm Susanne ihr Gesicht zuwandte, in dem schüchterne Erwartung lag. Susanne Winter war ihm eine Antwort schuldig. Er hatte sie eingeladen. Heute, Freitag, war die letzte Gelegenheit. Er mußte wohl noch einmal fragen. „Darf ich Sie morgen nachmittag abholen?“ Seine Stimme klang belegt, und er ärgerte sich darüber. „Sie wollten mir heute sagen, ob Sie Zeit …“ Der forschende Blick ihrer blaugrünen Augen ließ ihn verstummen. „Und Ihre Frau?“ Susanne bemerkte die Inkonsequenz und suchte sie durch ein Lächeln zu korrigieren. „Wir leben seit einiger Zeit getrennt“, entgegnete Stillmann verlegen. Er sprach nicht gern über intime Angelegenheiten. Auch empfand er die Antwort als halbe Wahrheit. Erklärend fuhr er fort: „Ich wohne zur Zeit in der Hütte. Sie brauchen keine Angst zu haben.“ Er fühlte sich wieder sicherer werden. Warum sollte er nicht wie seine Frau. Schließlich hatte er lange genug 98
gewartet. Und vielleicht würde Ingeborg ihn dann mit anderen Augen ansehen. Er sah zu Boden. Eine Kollegin als Ventil, das war nicht fair. Fast wünschte er, daß Susanne nein sagte, doch zugleich fürchtete er einen Korb und war drauf und dran, seine Bitte zu wiederholen. „Um fünfzehn Uhr am Bahnhof Biesdorf, einverstanden?“ hörte er Susannes Stimme, die noch einen Ton tiefer als gewöhnlich klang. „Gut“, antwortete er betont sachlich. „Und warme Sachen nicht vergessen“, fügte er fröhlich werdend an, „die Abende sind schon ziemlich kühl.“ Die Tür wurde geöffnet. Professor Hanssings Kopf erschien. Er fragte: „Stör’ ich?“ Ohne eine Antwort abzuwarten, trat er ein, hoch erfreut über die verlegenen Gesichter, die ihn überrascht anblickten. „Sie stören nie.“ Susanne beugte sich über ihre Arbeit. „Habe dich in deinem Zimmer gesucht. Wollte dich fragen, ob du zwei Karten für die Volksbühne gebrauchen kannst“, wandte er sich an Stillmann. „Gute Plätze und ein Stück von Dürrenmatt, ‚Besuch der alten Dame‘, soll große Klasse sein.“ Stillmann blickte auf die bereitgehaltenen Karten. „Wann ist es denn?“ fragte er gedehnt. „Sonntag, neunzehn Uhr. Dritte Reihe, beinahe auf der Bühne.“ „Würde mich schon interessieren, aber bis zum Muschelsee …“ Er überlegte. Am Samstag Susanne. Vielleicht blieb sie bis zum Sonntag, wenn er sie ins Theater einlud. Oder er sah sie am Sonntag noch einmal. Wenn er sie wenigstens fragen könnte, aber vor Hanssing nicht. Der schnüffelte ohnehin zuviel herum. „Geht bis kurz vor zehn“, tönte Hanssings Stimme in sein Nachdenken. „Wir erwarten zufällig Besuch.“ In der Nacht fuhr man zügiger; weniger Ampeln und 99
Stockungen. Und wenn Susanne nicht mitkam? Eine Karte würde er schon loskriegen. Mal wieder ins Theater. „Na gut, ich nehme sie. Kosten?“ „Achtzehn zehn, aber den Groschen kannst du dir schenken.“ Hanssing lachte gönnerhaft und steckte Stillmann, der einen Schein aus seinem Portemonnaie zog, die Karten lächelnd und wie ein Geschenk in die Brusttasche des weißen Kittels. „Viel Spaß dann auch, und erzähl mal, wie es dir gefallen hat.“ Er zog ein Zweimarkstück aus der Jackentasche und rief „Grüß’ euch!“, wandte sich zur Tür, die soeben von Nelly Zapf aufgestoßen wurde. „Der roch ja wieder nach Eau de Cologne und Pomade.“ Nelly schnupperte. „Ob der schon lange Unterhosen trägt?“ Mit gekrauster Nase band sie ihren Mundschutz vor. „Die Elefanten warten auf mich“, stieß sie dumpf hervor. „Gib mir mal die Handschuhe.“ „Probleme hast du!“ Susanne schüttelte den Kopf. Sie versuchte sich den wohlbeleibten Professor in langen und kurzen Unterhosen vorzustellen und mußte plötzlich schallend lachen. „Würde nie ’nen Mann mit langen Unterhosen heiraten“, versicherte Nelly. „Es sei denn, er wäre ein Angelfan.“ Sie nickte Stillmann zu, der graziös das Hosenbein hob und nicht ohne Stolz sagte: „Nur Socken.“ Beim Mittagessen herrschte, wie gewöhnlich am Freitag, Wochenendstimmung. Stillmann war als Wetterprophet geschätzt und gab bereitwillig und zum wiederholten Male Auskunft über die Wetterlage. Wie immer meldete Doktor Bennrad Zweifel an. Er hielt nichts von irgendwelchen Pseudoprognosen, wie er die Voraussagen von Schäfern, Bauern, Rheumatikern oder sonstigen angeblich Wetterkundigen bezeichnete. „Ich verlass’ mich da lieber auf den Wetterbericht, wenngleich ich zugestehe, daß derselbe in seiner Aussa100
ge noch nicht die Wissenschaftlichkeit unserer Disziplin zum Beispiel hat.“ Er blickte souverän über die auf und ab wippenden Köpfe der Essenden, bevor er sich ein Stück von dem trockenen Kabeljaufilet in den Mund stopfte. „Immerhin!“ rief Manthei nach einer Pause, in der nur Eßgeräusche hörbar waren, „immerhin hat Doktor Stillmann mindestens zu fünfzig Prozent immer richtig getippt.“ „Das will nichts besagen“, mummelte Bennrad, sichtlich bemüht, den Bissen schnell durch die Kehle zu würgen. „Schließlich kann jede Prognose mit fünfzigprozentiger Sicherheit rechnen.“ Er bemerkte das Grinsen und verhaltene Lachen nicht. „Wie denn nun“, sagte Stillmann aufgeräumt, „wenn den alten Wetterregeln langjährige Beobachtungen zugrunde lägen?“ Bennrad kaute mit eckigen Bewegungen. Ihm fiel kein passendes Zitat ein. Gereizt und ungewöhnlich scharf entgegnete er: „Unser Kollege Doktor Stillmann will doch nicht etwa dem Okkultismus das Wort reden?“ „Ganz gewiß nicht“, mischte sich eine allen bekannte Stimme ein. In der Tür stand Professor Hanssing, ein versöhnliches Lächeln um den breiten Mund. Man war überrascht. Der Professor trat für Stillmann ein. „Ich hörte die letzten Sätze“, sagte er entschuldigend. „Liebe Kollegen, wer wird denn hier von Bagatellen gleich auf Prinzipien schließen wollen? – Wünsche allerseits guten Appetit.“ Beifälliges Gemurmel begleitete seine Schritte zu den Eßkübeln, wo ihm Frau Rührig ein großes Stück Fischfilet und einen Batzen Kartoffelbrei auf den Teller haute.
101
17. Aus dem U-Bahn-Schacht Rosa-Luxemburg-Platz, von der Straßenbahnhaltestelle Wilhelm-Pieck-Straße und aus der Richtung Alexanderplatz strömten festlich gekleidete Menschen zur Volksbühne. Hanssing sah lange Kleider unter Mänteln, wohlfrisierte, gutgetönte Haare, seltener Hüte und ab und zu eine weiße Stola, aber auch einfacher gekleidete Männer und Frauen, Teenager in Jeans sogar, Studentinnen und Studenten, die ihre Individualität durch Nickelbrillen aus Großvaters Zeit zu unterstreichen suchten. Die Gestalten und Gesichter zogen wie eine an- und abschwellende Flut an seinen wachen Augen vorüber. Ungeduldiger verfolgte er den Zeiger seiner Armbanduhr und die immer spärlicher und eiliger gehenden Theaterbesucher. Noch immer hatte er den Mann nicht entdeckt, dessentwegen er hier wie ein Eckensteher herumlungerte. Seltsame Gefühle und Gedanken bestürmten seine Seele. Wie seine eigene Karikatur kam er sich mit dem neuen Hut vor, den er sich zur Tarnung gekauft hatte. „Du mit Hut“, hatte seine Frau halb scherzhaft und halb vorwurfsvoll gesagt. „Ein neuer Look“, hatte er möglichst gleichgültig geantwortet. Als wenn er nicht selbst gern ins Theater gegangen wäre! Dürrenmatts Stück sollte sehr gut ankommen. Er hatte es schon selbst mehrfach besuchen wollen, um hier und da mitreden zu können. Aber er mußte mit seiner Zeit geizen. Auch den Kauf belletristischer Bücher hatte er rigoros eingestellt. Er kaufte und las nur noch Fachliteratur. Selbst utopische Romane, die auf ihn immer einen besonderen Reiz ausgeübt hatten, bildeten da keine Ausnahme. Für Unterhaltung fehlte ihm die Zeit. Wer etwas erreichen wollte, mußte Opfer bringen. 102
Dennoch konnte er sich der Vorstellung nicht verschließen, sich an der Seite von Frau und Tochter in das Theater eintreten zu sehe, von diesem und jenem gegrüßt, achtungsvoll oder sogar ehrerbietig, im Bewußtsein seiner Bedeutung an dem festlichen Mahl der kulturell Interessierten teilnehmend, gesehen zu werden, in der Pause besonders; ein Glas Sekt zu trinken – er konnte es sich leisten, er war wer. Die ständige Angst, von dem immer aggressiver auftretenden Stillmann bloßgestellt zu werden, war trotz ihres Gentleman’s Agreement nicht verschwunden, sondern größer geworden. Das drohende Fiasko hing wie ein Damoklesschwert über ihm; riß der dünne Faden des erkauften Schweigens, den Stillmann in der Hand hielt, dann würde es herabstürzen und seine gesellschaftliche Existenz mit einem Schlag vernichten. Und Stillmann würde reden, denn er haßte ihn. Warum sonst hatte er die bessere Position verschmäht? Das erste Klingelzeichen mahnte die Verspäteten, die immer seltener und halb laufend zu den Treppen eilten. Weite Röcke flatterten im Wind, hastig trippelten zierliche Füße in hochstöckigen Absatzschuhen über das Pflaster. Wo nur Stillmann blieb? Sollte er die achtzehn Mark einfach in den Rauch geschrieben haben? Hatte er eine Autopanne gehabt? War er verunglückt und lag in einer Klinik? Dumme Zufälle gab es mehr als genug. Ein tödlicher Unfall vielleicht, ein Strafgericht Gottes! Gott. Wie er als Atheist an Gott denken konnte. Und dann in so einer prekären Sache. Seine Großmutter hätte ihn als Werkzeug des Satans angesehen. Da! Hanssing zog die Krempe tiefer ins Gesicht. Stillmann! Und neben ihm, Donnerwetter, die Winter. Der ging ja ’ran. So ein Leisetreter; hatte es faustdick hinter den Ohren. 103
Mit seiner Frau war es wohl ganz aus. Irgendwie fühlte sich Hanssing erleichtert. Von der Ehe schienen die ja nichts zu halten. Kinder waren auch keine da. Und er machte sich noch Gedanken! Waren ja ganz schön intim, so Hand in Hand. Endlich, endlich! Hanssing frohlockte. Seine List war geglückt. Er hatte Stillmann für mindestens drei Stunden ausgeschaltet. Mit federnden Schritten eilte er zu seinem Wagen, warf den Hut auf die Rückbank, startete und brauste davon. Er hatte freie Hand. In aller Ruhe konnte er zur Hütte fahren. Nur Mut, nur Mut! Er ließ den Wagen laufen, überholte ein Fahrzeug nach dem anderen, ließ selbst Taxen hinter sich. Ein dünner Nieselregen hing in der Luft. Die Quecksilberlampen umgaben sich mit einem Strahlenkranz. Die breiten Straßen mit dem gleißenden Licht blieben hinter ihm. Das Licht der Scheinwerfer erhellte das mattglänzende Pflaster. Allmählich gewöhnten sich seine Augen an die Dunkelheit. Nur wenige Autos begegneten ihm auf der Fernverkehrsstraße. Nachdem er auf die schmale Straße zum Muschelsee abgebogen war, brauchte er nicht mehr abzublenden. Nichts als Sträucher und Bäume beiderseits der Fahrbahn. Der Parkplatz war leer. Hanssing hatte sich den Weg so genau eingeprägt, daß er ihn trotz des diesigen Wetters und des fehlenden Mondlichts ohne Taschenlampe fand. Ab und zu blieb er stehen. Nichts war zu hören außer einem ungleichmäßigen Tropfen von den Zweigen. Der feuchte Boden machte den Gummischuhen nichts aus. Unangenehm war das nasse Spinngewebe, in das er hin und wieder mit dem Gesicht stieß, und auch, daß die Hosen klamm wurden und an den Beinen scheuerten. Seine Augen waren jetzt so gut an die Dunkelheit gewöhnt, daß sie den schwarzen Tümpel von dem dunklen 104
Waldboden unterschieden. Seine Füße ertasteten die kleinen Unebenheiten. Vom See her ertönten schmatzende Geräusche. Die Hütte stand wie ein verschwommener Klotz vor dem Wasser, das trotz der Windstille kleine Wellen an den Strand schickte. Die Boote lagen dicht zusammen und stießen in Abständen dumpf gegeneinander. Ununterbrochen war das Knirschen der rostigen Kettenglieder zu hören. Die Umgebung der Hütte war unverändert. Von den Steinen der Feuerstelle strahlte noch Wärme ab. Hanssing trug einen Klotz unter das Küchenfenster. Mit einem Sägeblatt tastete er zwischen Fensterladen und Hüttenwand nach dem Haken. Als er Widerstand spürte, drückte er zu. Der Haken hob sich, der Fensterladen ließ sich öffnen. Aber das Fenster war geschlossen. So ging er zur Tür und öffnete das Schloß mit dem Schraubenzieher. Er zog die Tür hinter sich zu und knipste die Taschenlampe an. Ganz auf sein Ziel konzentriert, handelte er mechanisch nach dem mehrmals durchdachten Programm. Er prüfte die Propangasflasche in der Kochnische. Sie fühlte sich leichter an als vor einigen Tagen. Also mußte die gefüllte noch auf dem Boden stehen. Der Druckregler ließ sich mit der Hand nicht abschrauben. Hanssing nahm die Rohrzange, doch er konnte sie nicht zu straff ansetzen, denn die Überwurfmutter war aus Bakelit. Ihm wurde heiß. Schweißperlen liefen ihm über die Stirn. Sein ganzer Plan schien sich hier festzulaufen. Warum saß die Mutter so fest? Instinktiv drehte er die Zange nach der anderen Seite. Es war wie ein Wunder, die Mutter ging so leicht mit, daß Hanssing entsetzt glaubte, er habe das Gewinde überdreht. Doch dann merkte er, daß es sich um ein Linksgewinde handelte, so daß seine Verzweiflung in ein erleichtertes Frohlocken überging. Das war geschafft! 105
Nun brauchte er nur noch die halbleere Flasche gegen die volle auszutauschen und den Fensterriegel zu öffnen. Sein Bauch störte ihn merklich. Die Leiter verlief senkrecht, und er fluchte über den pedantischen Idioten, der die Flasche auf den Boden bugsiert hatte. Als wenn nicht genügend Platz in den Ecken vorhanden wäre. Mit dem Kopf mußte Hanssing die Bodenplatte halten, während er die Flasche mit der einen Hand heranzerrte, an die Brust drückte und mit einer Drehung über den Bauch hinabgleiten ließ. Er spürte den Druck der Platte noch auf dem Schädel, als er die leichtere Flasche hinaufgewuchtet und die volle an den Druckregler angeschlossen hatte. Die Prüfung des Gasstroms befriedigte ihn; er war leise und fast geruchlos. Wie eine Zeitbombe erschien ihm die Propangasflasche, deren Anschluß er noch einmal sorgfältig prüfte, bevor er die Hütte aufatmend verließ und das Schloß einschnappen ließ. Spuren entdeckte er nicht; er hatte das Profil unter den Gummistiefeln abgefeilt und Gummihandschuhe angezogen. Jetzt in der Nacht müßte schon einer mit einem Scheinwerfer den Boden ableuchten und dabei seine Nase dreißig Zentimeter darüber halten, wenn er einen Abdruck entdecken wollte, der nicht hierher gehörte. Und morgen in der Frühe … Hanssing schmunzelte vor Eifer. Kombinieren konnte er wie in alten Tagen. Er hatte seinen Plan um eine Länge ausgedehnt, die ihn als Verdachtsperson völlig ausschließen mußte. Ein Blick auf die Uhr. Verdammt und zugenäht. Er hatte sich viel zu sehr beeilt. Die zwei Stunden, bis Stillmann hier sein konnte, würden verflucht langweilig werden. Er ging zum Ufer und hörte auf den sanften Wellenschlag. Fast wie an der Ostsee, dachte er und griff ins Wasser. Gar nicht kalt. Die Versuchung, ins Wasser zu ge106
hen und eine Runde zu schwimmen, wies er von sich. Es würde ihm ohnehin noch kalt genug werden, wenn er in Lauscherstellung gehen und womöglich eine Stunde lang still hinter den Kieferkuscheln kauern mußte. Eine Kahnfahrt drängte sich in seine Vorstellungen. Der Gedanke, jetzt leicht und still über den einsamen See zu rudern, war verlockend. Er dachte an den Wildtöter und die Romantik nächtlicher Abenteuer eines Old Shatterhand, die er als Zwölfjähriger seitenlang und bücherweise durchlebt hatte. Immer hatte er auf der Seite der Guten gestanden und um ihren Erfolg gebangt. Was aber tat er selbst? Hatte er ein Recht, Stillmann zu richten? War nicht er derjenige, der mit seinem Buch einen Fleck auf seine Reputanz gekleckert hatte? Mußte er nicht froh und dankbar sein, daß Stillmann ihn geschont hatte? Hanssing griff in die Tasche und fummelte eine Tablette aus dem Papier. Fehlte nur noch, daß er sentimental wurde und sich selbst an die Kehle ging. Stillmann war der Erpresser, ein Unruhestifter dazu, der nicht nur mehr Geld, sondern seinen Posten haben wollte. Niemand aber außer ihm selbst konnte das Institut leiten und das Werk Nickelbergs fortsetzen. Niemand. Stillmann würde es zugrunde richten, wie er ihn zugrunde zu richten strebte. Noch einmal wehten ihm Gedanken durch den Kopf, daß er selbstgerecht sei und ein Anarchist, daß er den Fall Nickelberg vortragen und das Urteil Unbeteiligter hinnehmen müßte. Stillmann hatte ihm den Spiegel vorgehalten. Ja, aber das war ein Zerrspiegel, der nur den Fehler zeigte, an dem ihn Stillmann festnageln wollte. An den Pranger wollte ihn Stillmann bringen, schockieren und unmöglich machen. Er wollte ihn vernichten. Da galt nur noch das uralte Gesetz: Auge um Auge, Zahn um 107
Zahn. Da kam es nur darauf an, wer schneller und geschickter war. Die Knie begannen Hanssing zu schmerzen. Er erhob sich und vertauschte den Platz am Wasser mit dem hinter den Kuscheln. Er fühlte sich besser, wenn der Haß auf Stillmann in seiner Brust brannte. Dann waren seine Gedanken klar und seine Entschlüsse zielgerichtet. Mit diesem Wichtigtuer würde er schon fertig werden. So ein Emporkömmling und Leisetreter, schoß aus der Hüfte wie ein Meuchelmörder. Ein Hochstapler war er, konnte nicht einmal eine vernünftige Ehe führen und Kinder in die Welt setzen. Wer sollte ihm später die Rente zahlen? Bändelte mit seiner Assistentin an, nutzte seine Position rücksichtslos für persönliche Interessen aus. Schöpfte den Rahm ab und überließ andern die Arbeit. Ein richtiger Schädling war das, ein Feind. Hanssing ertappte sich dabei, daß er Kiefernnadeln in der Hand zerrieb. Der Gedanke an Susanne Winter ernüchterte ihn. Wenn dieser Schuft nun das Mädchen mit in die Hütte schleppte! Zwei Betten waren vorhanden, aber die würden mit einem auskommen. Blöder Gedanke. Er schluckte eine Tablette und zwang sich zur Ruhe. Die Winter konnte er nicht mitgehen lassen. Sie war unschuldig, wenn sie sich auch mit diesem Lumpen eingelassen hatte. Irrsinnige Gedanken schossen ihm durch den Kopf, wie er die beiden trennen könnte. Aber einen wirklichen Ausweg sah er nicht. Wenn die Winter mitkommen sollte, mußte er für heute passen. Einen Augenblick drängte sich der Wunsch in seinen Kopf, sie möchte mitkommen, als könnte er dadurch etwas Unwiderrufliches aufschieben. Doch er schalt sich einen Idioten. Jeder Tag länger vergrößerte die Gefahr. Er mußte zum Zuge kommen. 108
18. In der Pause führte Stillmann Fräulein Winter zum Büfett. „Zweimal Sekt“, sagte er und bezahlte abgerundet. „Wie gefällt Ihnen das Stück?“ Susanne Winter hob das Glas. „War lange nicht im Theater, aber es lohnt sich.“ „Und was gefällt Ihnen besonders?“ Stillmann trank einen Schluck und sagte: „Die Verfremdung.“ „Mmmm.“ Susanne Winter warf ihre Haare in den Nacken. „Und Ihnen?“ Werner Stillmann fühlte sich unsicher. „Die Konsequenz der alten Dame.“ Sie blickte Stillmann aus blaugrünen Augen herausfordernd an. „Nun, ja, beachtlich“, antwortete er gedehnt. „Aber ihr Jugendgeliebter war doch auch konsequent.“ „Gewiß, er ließ sie sitzen – obgleich er sie liebte.“ Susanne Winter trank ihr Glas leer. „Konsequenz hin, Konsequenz her. Ich weiß nicht, wie ich mich in dieser Lage entschieden hätte. Jetzt als Millionärin ist es leicht für sie, so aufzutrumpfen. Sie will sich rächen. Rache ist süß. Aber nach einer so langen Zeit? Dazu sind wohl nur Frauen fähig.“ Susannes Augen blitzten, während sie antwortete. „Die moralische Überlegenheit liegt doch wohl bei der alten Dame. Was sie durchgemacht hat, begreift ein Mann sowieso nicht.“ Die Klingel mahnte zum Platzeinnehmen. Gespannt auf die Domröse und den Fortgang des Schauspiels oder des Dramas oder der Komödie – der Ausgang war noch offen, und Stückeschreiber liebten die Überraschung –, eilten sie auf ihre Plätze. Vor Stillmann thronte ein Sitzriese, der mit Rücken und Kopf die halbe Bühne verdeckte. Solche Leute soll109
ten nur in der letzten Reihe sitzen. Doch heute ärgerte sich Stillmann nicht darüber. Er lehnte sich weit nach rechts hinüber zu Susanne, die dem Druck seines Armes nicht auswich. Ein lang entbehrtes Gefühl ergriff ihn. Er suchte Susannes Hand und hielt sie fest. Erst der Beifall riß sie auseinander. Auf dem Weg zur Garderobe lehnte sich Susanne gegen seinen Arm, der ihre Taille umfaßte. Im Auto genossen sie das Alleinsein. Ihre Lippen suchten und fanden sich und weckten das Verlangen nach immer innigerer Berührung. Der Parkplatz war schon fast leer geworden, als Susanne sich von den dreist gewordenen Händen Werners frei machte. „Fahr los“, sagte sie lachend. „Hast mich ganz schön zerzaust.“ Sie küßte ihn auf die Wange und strich ihre Haare zurecht. „Kommst du mit in die Hütte?“ Seine Stimme klang belegt. Hoffnung und Befangenheit mischten sich in seiner Brust, während er den Trabant von dem Parkplatz in die Karl-Marx-Allee manövrierte. „Nein“, sagte sie leise, aber entschieden. „Aber warum denn nicht?“ fragte er enttäuscht. „Du bist verheiratet, Werner. Ich bin für Konsequenz.“ Stillmann schwieg lange. „Liebst du mich?“ fragte er unsicher und schaltete den Wischer ein, der den feinen Regenstaub von der Scheibe schob. „Ja“, antwortete sie bestimmt. „Aber du sollst dich nicht verpflichtet fühlen.“ So schnell, wie erbaut, brach das bunte Kartenhaus zusammen. Ein paar Worte bliesen den kalten Hauch in die Glut der Empfindungen. Aber warum nur? Gestern war alles ganz anders gewesen. Sie hatten am Lagerfeuer gesessen, drei Rotfedern gebraten, von denen Susanne – Glück des Anfängers – zwei gefangen hatte. Tomaten und Gurkenstücke lagen in einer Schüssel. Kartoffeln rösteten in der Glut. 110
Er hatte vom Angeln und der Romantik eines naturverbundenen Lebens geschwärmt, Susanne ihm mit nachsichtigem Lächeln zugehört. Das sanfte Gleiten im Boot, die friedliche Stille des Abends, das anheimelnde Feuer und die Einsamkeit inmitten des Waldes, das alles hatte ihr gefallen. Susanne hatte sich nach seiner Ehe erkundigt. Werner hatte ihr die Wahrheit ungeschminkt gesagt. Auf ihre Frage, warum er sich nicht scheiden ließ, hatte er ausweichend geantwortet. Susanne ahnte, was ihm fehlte, Festigkeit und Selbstvertrauen. In seinen Bakterienkulturen kannte er sich besser aus als in dem Herzen einer Frau. Und über sich selbst war er sich auch nicht im klaren. Er war inkonsequent. Darauf wollte sie sich nicht einlassen. Sie liebte ihn, aber eine Lückenbüßerin wollte sie nicht sein. Ihm mußte klarwerden, daß er sie nur haben konnte, wenn er sich ganz für sie entschied. So hatte sie ihre Wünsche verdrängt und ihn trotz seiner verlangenden Augen gegen zwölf Uhr gebeten, sie nach Hause zu fahren. Stillmann hatte seine Enttäuschung hinuntergeschluckt und erfüllte ihren Wunsch wie ein artiger Junge. – Schließlich mußte er nichts überstürzen. Er hatte seine Hoffnungen auf den heutigen Abend gesetzt, aber Dürrenmatts Stück war ihm nicht günstig gewesen. Verkrampft saß er hinter dem Steuer, die Augen auf den nassen Asphalt gerichtet, der im Licht der Scheinwerfer ölig glänzte. Plötzlich erinnerte er sich an den Abend, an dem er mit Karl Kupfer gesprochen hatte. Was würde der über seine Ehe und sein neues Verhältnis denken? Wozu würde er ihm raten? Stillmann fielen die lukullischen Gerichte ein, mit denen ihn Ingeborg verwöhnt hatte. Solch ein Essen könnte er wieder einmal vertragen. Aber der Mensch lebte nicht von Brot allein, sondern …, 111
wußte schon die Bibel zu vermelden. Dort bezog sich das „sondern“ auf das Wort Gottes, aber man konnte es auch auf andere Dinge ausweiten. Susanne hatte gesagt, daß sie ihn liebe und daß er sich nicht verpflichtet fühlen solle. Bei Ingeborg war er sich seiner Liebe bewußt gewesen. Liebte er Susanne? Eigentlich hing er noch immer an Ingeborg. Aber Susanne hatte starke Empfindungen in ihm geweckt. Wenn sie ihn liebte, warum wollte sie nicht mitkommen? „Wir müssen uns doch kennenlernen.“ Seine Stimme klang rauh. Susanne hatte ihre Hand auf seine Schulter gelegt, und die Sehnsucht war wieder da, die ihn in ihre Arme getrieben hatte. „Ich möchte dich kennenlernen“, antwortete sie, „aber nicht gleich so. Denk mal an morgen, ans Institut, und so ein Verhältnis. Du bist noch ganz unsicher. Sprich erst mit deiner Frau. Du mußt erst mit ihr klarkommen, versteh mich bitte richtig.“ Sie strich ihm übers Haar bis in den Nacken, und er rutschte tiefer in den Sitz, als könnte er das Kribbeln, das ihm über den Rücken lief, festhalten. Auch sie war erregt, und sie wäre dem Verlangen, bei ihm zu sein, wahrscheinlich erlegen, wenn er hartnäckiger um sie geworben hätte. Gewiß, sie wußte, daß er von Natur aus schüchtern und zurückhaltend war. Doch sie erwartete mehr. So riß sie sich aus der Umarmung los, küßte ihn noch einmal voll auf den Mund, bevor sie sich aus dem Trabant hinauswand und die Tür energisch zuschlug. Ohne sich noch einmal umzublicken, öffnete und schloß sie die Haustür. Stillmann wartete auf ihre Rückkehr wie auf ein Wunder und trieb verloren in lang entbehrten Gefühlen. Doch die Tür öffnete sich nicht noch einmal. Das Treppenhauslicht verlöschte; es wurde kalt im Wagen. 112
Schließlich startete er und fuhr los, traurig über seine Entschlußlosigkeit und sein Alleinsein, zugleich auch froh über die Zuwendung seiner Kollegin. Kollegin! Daß Susanne ihm noch nie aufgefallen war. Eigentlich war sie eine hübsche Frau, gut gewachsen, volle Formen, ein bißchen kräftig vielleicht, man konnte sich mit ihr sehen lassen. Geschickt war sie, kochen konnte sie auch, etwas wenigstens. In der Hütte ließ sich ja nicht viel machen. Das Angeln hatte ihr Spaß gemacht. Sie war bestimmt ein guter Kamerad. Er mußte mit Inge reden. Vielleicht ließ sich ihre Ehe wieder einrenken. Zunächst hatte er nur daran gedacht, Inge durch Susanne zurückgewinnen zu können. Er war sich nicht sicher, ob er das jetzt noch wünschen sollte. Die Dinge gingen auch ihre eigenen Wege. Der Mensch denkt, Gott lenkt. Oder manchmal kommt es anders, als man denkt. Die vielen Spruchweisheiten. Einen Augenblick schien es ihm verlockend, nach Hause zu fahren. Den Stier bei den Hörnern packen und klare Verhältnisse schaffen. Die Vorstellung, daß er Sander antreffen könnte, ernüchterte ihn. Natürlich könnte er erst einmal anrufen, nur war es ihm nach diesem Abend und zu so später Stunde nicht nach einer Auseinandersetzung zumute. Eine sonderbare Stimmung beschlich Werner Stillmann, während er den gewundenen Pfad zur Hütte entlangeilte. Er war jetzt rechtschaffen müde und sehnte sich nach Schlaf, zugleich fürchtete er plötzlich das Alleinsein wie eine Gefahr. Er begann zu pfeifen wie ein Kind, das in einen dunklen Keller geht. Blödsinn, dachte er. Das lag nur daran, daß er gestern Gesellschaft gehabt und sie heute für die ganze Nacht gewünscht hatte. Er fluchte auf seine Schwäche und kam sich doch verlassen vor. Der See lag glatt und grau wie Blei in dem schwachen Licht, das aus einem fernen Himmel durch die Wolken 113
drang. Die Boote standen starr wie eingeschmolzen. Stillmann fühlte das Verlangen, sich in ein Boot zu setzen und langsam in die graue Ferne des Wassers hinauszutreiben. Der Fluß Lethe, das Hinübergleiten in die Unendlichkeit, befreit von allem Leid und – aller Freude, die miteinander in ein Nichts zerflossen. Träume sind Schäume. Morgen begann ein neuer Tag. Er brauchte den Schlaf, um geistig frisch und produktiv zu sein. Das Institut ernährte ihn und verbrauchte seine Kräfte. Nehmen und Geben; der eine gab wenig und nahm viel. Manche lebten in dem Schein, viel zu geben, die Widerkäuer besonders, deren unentwegtes Malmen den Eindruck besonderer Geschäftigkeit erweckte, Hanssing zum Beispiel oder dieser BennradPapagei. Die Anbetung der Funktion und das scheintreue Nachplappern von Zitaten, vor dem so originelle Köpfe wie Löwenhauk oder Pasteur die Flucht ergriffen hätten, das machte manchen Schwachköpfen Eindruck. Ein leichter Lufthauch trieb Kühle über das Wasser. Stillmann fröstelte und betrat widerstrebend die Hütte. Er schob den Riegel sorgfältig vor, zündete eine Kerze an, kippte einen Korn und zog sich aus. Sorgfältig wie immer hängte er seinen Anzug auf einen Bügel, zog den Wecker auf, füllte den Wasserkessel, stellte ihn auf den Kocher, pustete die Kerze aus und legte sich ins Bett. Es war wundervoll still, und er genoß diese Ruhe nach den turbulenten Eindrücken des Abends. Wenn Hanssing wüßte, daß er mit Susanne Winter … Der würde Augen machen, wenn er geschieden war und Susanne heiratete. Spielte sich auf als Moralapostel. Danach hätte er schon längst zurücktreten müssen. Denn er war ein Falschmünzer. Bisher hatte Stillmann die verachtet, die durch Geschäftigkeit oder Unterwürfigkeit sich unentbehrlich zu machen verstanden und hurtig die Leiter des Erfolgs bestiegen. War seine Methode jetzt besser? 114
Unzufrieden wälzte er sich unter der klammen Bettdecke. Skrupel kamen in ihm hoch. Susanne, dieses liebe, feste Mädchen. Ein schönes Gefühl, war wie der Wunderspiegel in dem Märchen „Schneewittchen“. Man sah sich plötzlich ganz deutlich und entdeckte sein wahres Gesicht. So wollte er nicht in ein neues Leben eintreten. So nicht. Seine Ehe war gescheitert. Inge mochte ihn, aber sie liebte ihn nicht. Und ohne Liebe ging keine Ehe. Es war töricht, ihr zuliebe einen zweifelhaften Weg einzuschlagen. Sie würde ihn nicht einmal verstehen. Er mußte das Institut so schnell wie möglich verlassen. Schluß mit Hanssing und der erbärmlich erkauften Protektion! Viel zu lange hatte er sich an das Institut geklammert. Wozu? Er konnte etwas, er war nicht auf die Gunst dieses Ehrgeizlings angewiesen. Der Vorsatz gab ihm Halt. So hatte die Affäre ein Gutes; er hatte sein Selbstvertrauen entdeckt und sich nun wiedergefunden. Wie Hanssing und einige andere ihre Augen aufgerissen hatten! Was so ein bißchen Rückhalt für den Schwachen bedeuten konnte. Denn schwach war er. Es fehlte ihm an Mut. Wodurch gewann man Selbstvertrauen und Mut? Nicht durch Leistung allein. Die Erfolge seiner Arbeit konnten sich überall sehen lassen. Auch im westlichen Ausland wurden seine Publikationen beachtet und zitiert. Sehr zum Neid Hanssings und Bennrads. Wenn es sich dabei nicht um naturwissenschaftlich exakte Themen gehandelt hätte, würden die daraus eine Klassenfrage konstruiert haben. Trotzdem fehlte ihm etwas. Er besaß kein Geschick, aus seinem Können Vorteile für sich zu ziehen, kadermäßig in die Augen zu springen. Bescheidenheit zahlte sich nicht aus. Aber warum wollte er mehr, warum sollte er sich nicht mit seinem Talent zufriedengeben? 115
Der Stachel kam aus seiner unglücklichen Ehe. Er wollte das Schicksal zwingen. Mit Susanne war es anders. Sie liebte ihn, wie er war. Sie hatte ihm sogar zu verstehen gegeben, daß er ihr in den letzten Wochen nicht so gut wie früher gefallen hätte. Morgen würde er Nickelberg um den Aufhebungsvertrag bitten. Er würde ihm die Gründe offen sagen. Und er würde auf jeden Fall das Institut verlassen, selbst wenn man es ihm übertragen sollte. Vielleicht würde Susanne mit ihm an ein anderes Institut gehen, wenn er geschieden war. Sie würde ihm helfen, ein neues Leben aufzubauen. Sie würde bestimmt glücklich sein, wenn sie jetzt seine Gedanken lesen könnte. Schade, daß sie nicht bei ihm war. Sie fehlte ihm wie noch nie, und doch sagte er sich, daß es besser war, daß sie heute noch nicht geblieben war. Stillmann fühlte die Schwere, die dem Schlaf vorangeht. Er hörte einen Stoß oder Ruck und dachte, nun wird Wind aufkommen und den Ast wieder gegen die Hüttenwand stoßen. Er mußte ihn endlich mal absägen. Er hörte noch wie in einem Traum das Ächzen des langsam nach außen gedrehten Fensterladens, den kurzen Ruck des verklemmten Küchenfensters, doch nicht mehr das einige Minuten später einsetzende leise Schaben einer Jacke über den Fensterrahmen, das verhaltene Atmen, den sanften Hauch der tödlich wirkenden Gasmoleküle.
19. Professor Hanssing kämpfte gegen eine noch nie gekannte Unruhe, gegen die auch die Tabletten machtlos waren. Er hatte zuwenig geschlafen, sich am Morgen mit einer Munterkeitstablette und starkem Kaffee auf die 116
Beine bringen müssen. Kein Wunder, daß er nervös war. Dazu die Erwartung, die um so heftiger wurde, je weiter die Stunden vorrückten. Um neun Uhr ließ er sich mit Stillmann verbinden. Das andauernde Rufzeichen schrillte wie eine Alarmklingel in seinen Ohren. Endlich meldete sich – seine Assistentin Zapf. Dr. Stillmann habe nichts von sich hören lassen. Wäre selbst erstaunt. Nein, kein Anruf, weder von ihm noch von seiner Frau. Um zehn Uhr versammelten sich die Wissenschaftler im Konferenzzimmer. Fünf Minuten später eröffnete Professor Hanssing die Sitzung. Niemand konnte sagen, warum Dr. Stillmann nicht erschienen war. „Hat vielleicht die Zeit verschlafen“, sagte Dr. Brinkam und gähnte, während er die Hand müde an den Mund hob. „Ich finde es einfach empörend!“ rief Dr. Bennrad mit entrüsteter Miene. „Diese Disziplinlosigkeit verdient, gerügt zu werden.“ Er zeigte sichtliche Genugtuung, bei dieser Gelegenheit sein Bewußtsein zeigen und den zum Rivalen gewordenen Stillmann abkanzeln zu können. „Solange wir nichts wissen, so lange sind wir nicht zum Urteilen berechtigt.“ Dr. Manthei sprach diesen Satz ebenso leise wie bestimmt. „Ist Stillmann hier, oder ist er nicht hier?“ begehrte Bennrad auf, besorgt um die Wirkung seiner Worte. „Welch eine Frage“, parierte Manthei ironisch. „Wenn Stillmann nun eine Panne hätte oder in einen Unfall verwickelt wäre?“ „Sie konstruieren in den blauen Dunst hinein.“ Dr. Bennrad saß steif wie ein Brett und zeigte Unmutsfalten auf der Stirn; denn er legte Wert darauf, für sachlich und korrekt gehalten zu werden. 117
„Wir sollten hier kein Rätselraten veranstalten“, ergriff Professor Hanssing das Wort. „Es ist natürlich klar, daß wir die Beratung ohne Kollegen Stillmann nicht durchführen können.“ „Warum hat denn noch keiner bei ihm zu Hause angerufen?“ rief Dr. Brinkam dazwischen. „Vielleicht weiß seine Frau, was los ist.“ Professor Hanssing klopfte im unregelmäßigen Rhythmus auf den blankpolierten Tisch. „Ich nahm an, es wäre allgemein bekannt, daß Kollege Stillmann seit einigen Wochen von seiner Frau getrennt lebt.“ Natürlich hatte sich das auch bis zu Dr. Brinkam herumgesprochen. Unwirsch sagte er: „So etwas kann sich über Nacht ändern. Jedenfalls sollte man mal anrufen.“ „Gut.“ Hanssing beauftragte die Sekretärin. Dreißig Sekunden Schweigen, Kritzeln auf Merkblöcken oder Zetteln. Die Stimme der Sekretärin ertönte: „Das Gespräch ist da. Soll ich umlegen?“ „Ja, bitte.“ Professor Hanssing legte den Hörer ans Ohr. „Gestatten Sie eine Frage, bitte. Wir haben eine Besprechung und warten auf Ihren Gatten.“ Stille, leises unverständliches Quäken. Professor Hanssing: „Nicht zu Hause, äh? Keine Nachricht? Ja, wo könnte er denn …“ Gespanntes Warten. „Gut, in der Hütte am Muschelsee, ja, Danke.“ Ein helles Klicklick. „Unverantwortlich!“ Dr. Bennrad hob empört das Kinn. Seine Kiefer zuckten. „Dann können wir wohl unserer Arbeit nachgehen. Ich möchte keine weitere Zeit vertrödeln, erwarte aber, daß Doktor Stillmann zur Rechenschaft gezogen wird.“ Er ruckte mehrmals, als wollte er aufstehen, blieb jedoch sitzen, da Professor Hanssing noch keine Entscheidung traf. „Vielleicht ist Stillmann krank geworden“, sagte Dr. Manthei. „Möchte ich beinahe annehmen. Ich wüßte nicht, warum wir unsern Kollegen plötzlich nicht mehr 118
als den sehen sollen, als den wir ihn kennen. Er war immer zuverlässig. Wenn ich einen Wagen hätte, würde ich darum bitten, ihn aufsuchen zu dürfen.“ Einige schüttelten bedenklich den Kopf, doch Professor Hanssing griff den Vorschlag auf. „Sie haben recht, vielleicht ist er wirklich krank geworden. Wir sollten das nicht ausschließen und uns Gewißheit verschaffen. Kollegen Mantheis Worte verstehe ich als Aufforderung an mich. Sie haben die Anregung gegeben; dann sollten Sie mich auch begleiten.“ So ein Theater und zwei Mann dafür, dachte Dr. Bennrad und stand wortlos auf. Er verließ vor den anderen das Sitzungszimmer. Brinkam schüttelte den Kopf. Ein richtiges Arschloch, dachte er ungeniert. Wir haben uns zu lange auf Nickelbergs Erfolgen ausgeruht. Der Laden lief. Verdammt noch mal, warum hatten sie alle zugesehen, wie Hanssing und Bennrad den Ton bestimmten. Warum hatte Stillmann erst so spät ein Wort riskiert? Warum hatten sie ihn nicht bestärkt? Was war überhaupt los? Nee, Brinkam, sagte er zu sich, du hast auch gekniffen. Wolltest dich klammheimlich absetzen. Als wenn dich das alles nichts anginge. Aber du bleibst nicht ungeschoren, wenn du dich wegschleichst. Du mußt dich einmischen, du kannst nicht zusehen, daß Nickelbergs Abgang zum Untergang führt. Susanne Winter hatte von einer Assistentin Bennrads erfahren, daß Stillmann auch zur Sitzung noch nicht erschienen war. Sie war nahe daran, Professor Hanssing zu bitten, sie mitzunehmen. Eine unruhige Nacht lag hinter ihr. Sie hatte sich mit Vorwürfen gequält, gegen ihr Gefühl und zu abweisend gehandelt zu haben. Früher als gewöhnlich war sie ins Institut gefahren. Von Stunde zu Stunde hatte sie auf Stillmann oder seinen Anruf gewartet, von wachsender Sorge und Angst bedrängt. 119
Männer sollten manchmal so sein, daß sie nach einer Enttäuschung gleichgültig oder leichtsinnig wurden. Vielleicht war Stillmann unvorsichtig gefahren, hatte einen Unfall gehabt und lag irgendwo in einer Klinik. Oder er hatte sich betrunken, was eigentlich nicht zu ihm paßte. Susanne Winter hörte Hanssings Wagen abfahren. Sie war zur Untätigkeit verurteilt. Aber sie war doch froh, daß sie ihre Beziehung zu Doktor Stillmann nicht offenbart hatte. Es hätte Knatsch gegeben. Bennrad hätte sich zum Gralshüter der Moral aufgeschwungen und eines der „Gebote“ zitiert oder kommentiert. Stillmann wäre der Unterlegene gewesen. Wie billig, kommt mit seiner Frau nicht zurecht und verführt seine Assistentin. Da wären nur Prinzipien strapaziert worden. Bennrad hätte sicher Stillmanns Entlassung gefordert. Diese Typen suchten immer nach einem moralischen Feigenblatt, um ihre Komplexe hinter der Norm der Gerechten zu verstecken. Susanne verbarg ihre Gedanken hinter einem geschäftigen Gesicht. Nelly Zapf warf ab und zu einen prüfenden Blick auf sie. War etwas schiefgegangen am Samstag? Hatten sie nicht zueinander gefunden? War Stillmanns Frau dazwischengekommen? Nelly kochte Tee und packte eine hauchdünn geschnittene Scheibe Brot aus. „Ißt du nichts?“ fragte sie wie nebenbei und schenkte Tee ins Glas. „Mag nicht.“ Susanne schlürfte einen Schluck und sah aus dem großen Fenster in den trüben Tag. „War’s nichts?“ fragte Nelly direkt. „Bist so komisch heute.“ „Das nicht“, antwortete Susanne zögernd, „aber ich verstehe nicht, wo er bleibt?“ Sie tat Zucker in den Tee und fuhr fort: „Ich habe richtig Angst, daß irgend etwas passiert sein könnte.“ „Angst?“ Nelly lachte. „Wat soll denn passiert sein“, 120
beruhigte sie Susanne. „Kaum biste ’n bißchen verliebt, schon ängstigste dir. Oder war wat Besonderes?“ „Nichts Aufregendes. Wir haben was gefangen, gebraten. Später hat er mich nach Hause gefahren. Sonntag waren wir im Theater.“ „Siehste, hat er dir mitjenommen.“ Nelly schwang sich auf den Tisch. „Und so’n bißchen geschmust habt ihr auch?“ Sie zeigte ein erwartungsvolles Gesicht. „Ick dacht’ mir nämlich, bei denen kannste bald Blumen streuen.“ Sie kicherte fröhlich und betrachtete ihre neuerdings violett gefärbten Fingernägel. Susanne antwortete nicht. Der gestrige Abend trat vor ihre Augen. Sie fühlte Freude und Bedrückung zugleich. Davon brauchte Nelly nichts zu wissen. Sie war zwar keine Plaudertasche, aber sie machte sich gern wichtig und zeigte sich durch Andeutungen gern als gut informiert. „Ich hätt’ mich nicht nach Hause fahren lassen“, seufzte Nelly nachdenklich. „Wennschon – dennschon. Aber das muß wohl jeder selber wissen.“ Doktor Manthei stöhnte. Professor Hanssing schien ziemlich nervös zu sein. Er fuhr ruckartig an und bremste ebenso kurz und so spät, daß er jedesmal fürchtete, sie würden den Vorwagen rammen. Er sagte nichts, brannte sich aber nach der ersten gleich eine zweite Zigarette an, stemmte sich gegen den Sitz und hielt den Türgriff umklammert. „Müssen uns beeilen“, erklärte Hanssing. „Um zwei muß ich zu Nickelberg, da muß ich Rede und Antwort stehen.“ Auf dem Waldweg zeichnete sich eine frische Autospur ab. Hanssing wich das Blut aus dem Gesicht. Unvermindert schnell fuhr er durch die großen Pfützen. Mehrmals rutschten die Räder gefährlich aus der Spur. 121
Der Geruch frischer Auspuffgase drang durch den Lüfter ins Coupe. Neben dem Trabant Stillmanns parkte ein taubenblauer Skoda, Berliner Nummer. Hanssing stoppte. Sein Hals war wie zugeschnürt. Mechanisch griff er in die Jackentasche, drückte eine Tablette aus der Hülle und steckte sie schnell in den Mund. Seine Hand zitterte, als er die Tür abschloß. Er wollte irgend etwas Belangloses sagen, während er mit großen Schritten den gewundenen Waldweg entlangging, doch er brachte kein Wort heraus. Er roch den Modergeruch des faulenden Laubes und des abgestorbenen Schilfs. Die Luft war feucht wie in der Nacht. Aber jeden Gedanken daran mußte er begraben. Nie hatte es diese Nacht in seinem Leben gegeben, nie! Er hätte dieses „Nie“ hinausschreien mögen. Fragen bedrängten ihn: War Stillmann tot? Und wer war mit dem Skoda gekommen? Hinter sich hörte er die Schritte Doktor Mantheis. Eigentlich war alles gut gelaufen. Er hatte einen Zeugen bei sich, der den Vorschlag gemacht hatte hierherzufahren. Gleich, was sie vorfinden würden, niemand konnte einen Verdacht gegen ihn schöpfen. Die Lichtung schimmerte durch die Bäume, dahinter der See, metallisch glatt. Vor der Hütte stand – Frau Stillmann, neben ihr ein Mann, ein Unbekannter. Sie schienen die Schritte zu hören und drehten sich um, Überraschung in den Augen. „Grüße Sie, grüße Sie!“ Hanssing eilte auf Frau Stillmann zu. „Lange nicht gesehen. Mein Mitarbeiter, Doktor Manthei.“ Frau Stillmann schien verlegen. Sie stellte ihren Begleiter ohne Namensnennung mit einer Geste vor. Dieser aber sagte: „Sander“, verbeugte sich leicht, nahm die dargebotene Hand. „Ungewöhnliches Zusammentreffen“, sagte Hanssing. 122
„Doktor Manthei meinte, wir sollten kurz nach dem Rechten sehen. Wir hatten um zehn eine wichtige Sitzung, wie Sie wissen. Wir waren in Sorge, nicht wahr?“ Er wandte sich um Bestätigung an Manthei und fuhr fort: „Uns eint gewissermaßen die gleiche Absicht. Haben Sie ihn, Ihren Gatten, schon gesprochen?“ „Wir sind auch gerade erst gekommen“, beantwortete Sander die an Frau Stillmann gerichtete Frage. „Vielleicht hat er unsere Schritte oder Stimmen gehört. Wir möchten ihn nicht gerade im Bett überfallen.“ „Nein, gewiß nicht.“ Hanssing lachte wie über einen guten Witz. „Das war auch nicht meine, unsere Absicht. Aber man könnte ja nun doch einmal klopfen.“ Er schwieg und blickte auf den Fensterladen, der nicht mehr fest an der Hauswand anlag. „Dann wüßten wir, woran wir sind, und könnten uns diskret zurückziehen, nicht wahr?“ Zustimmung durch ein „Na gut“ und Kopfnicken. Hanssing ging zur Tür und schlug mit dem Knöchel dagegen, während er auf Frau Stillmann, Sander und Manthei blickte. Einen Augenblick hegte er den Wunsch, Stillmann möge antworten, und alles wäre nur ein Traum gewesen. Er klopfte noch einmal und stärker. Keine falschen Wünsche. Nur ein Schwächling bereut eine Tat, die unumgänglich war. Jetzt brauchte er keine Sentimentalitäten, sondern seinen Verstand, eiskaltes Kalkül. Wenn er einen Wunsch in sich nähren durfte, dann den, daß Stillmann nicht nur betäubt war und zu neuem Leben erweckt werden konnte, sondern tot für immer. Er roch das Gas und sah, wie Manthei sich eine Zigarette zwischen die Lippen steckte und ein Feuerzeug aus der Tasche zog. „Um Gottes willen!“ rief Hanssing entsetzt und sprang auf ihn zu. „Laß das Feuer aus.“ „Aber warum denn?“ fragte Manthei verwundert. 123
„Na, hier im Wald.“ „Da hat doch sogar ein Feuer gebrannt.“ Er deutete auf die Asche zwischen den schwarzgerußten Steinen. „Es riecht nach Gas“, entfuhr es Hanssing. „Nach Gas?“ „Aber wieso denn?“ flüsterte Frau Stillmann. Sie starrte entsetzt auf die Tür, rührte sich nicht vom Fleck. Manthei ging zu dem Fensterladen, riß ihn auf, streckte die Nase ans Fenster, nickte und rief: „Wir müssen die Tür öffnen.“ „Schnell!“ rief Frau Stillmann, die am ganzen Leibe zitterte. „Helft ihm doch!“ Ihre Stimme bekam einen flehenden Klang … Ihre Blicke flatterten von einem zum andern, hefteten sich an Sanders Gesicht, der abwesend auf die Hütte stierte, sich mechanisch in Bewegung setzte. „Wir brauchen ein Brecheisen!“ rief Hanssing. Um seine Worte zu unterstreichen, griff er an den Riegel. Doch wie von Geisterhand geschoben, öffnete sich die Tür. Hanssing ging in die Knie. Die Überraschung hinderte ihn daran, den Schwung abzufangen. Wieso war die Tür nicht verriegelt? In dem Vorraum roch es nur mäßig nach Gas. Mit einem Blick umfaßte Hanssing die Gummistiefel, das ausgediente Uniformstück, den Hechtkopf. Die Türklinke lag wie ein glühendes Eisen in seiner Hand. Hinter ihm stand Sander, und die Schritte auf dem Kies sagten ihm, daß Manthei herankam. Mit einem Ruck riß Hanssing die Tür auf. Der Gasdunst ließ ihn und die anderen zurückprallen. Frau Stillmann sah die Männer aus der Hütte hasten, Luft holen und nacheinander in den Innenraum dringen. Was war mit Werner? Wie oft war sie mit ihm hier gewesen, früher, in einer fernen Zeit. An dem Feuer hat124
ten sie gesessen, in der Hütte geschlafen und sich nie gefürchtet. Hanssing taumelte aus der Tür, ein Taschentuch vor Nase und Mund gepreßt, grau das Gesicht. Er stürzte ins Gras, vergrub den Kopf in die Hände. Gleich darauf erschienen die beiden anderen in der Tür. Frau Stillmann wollte hinein. „Bleiben Sie draußen!“ keuchte Manthei. „Ist niemand drin.“ Frau Stillmann sah den Körper zuerst. Er lag an der Uferböschung, mit dem Kopf und den Schultern im Wasser, die sich unter dem leichten Wellenspiel zu bewegen schienen. Die Arme pendelten seitlich davon. Wie blitzende Pfeile schossen winzige Fische an den schwimmenden Haaren vorbei. „Werner!“ Ihr Schrei hallte über den See, brandete als mehrfaches Echo zurück. Frau Stillmann stand nach vorn gebeugt und schien nicht wahrzunehmen, daß Manthei und Sander den Kopf aus dem Wasser hoben, den Körper an Land zogen, das Ohr auf die Brust legten. Ihr Mann trug den Schlafanzug, den sie ihm zu seinem letzten Geburtstag geschenkt hatte. Sie sah seine bloßen Füße, seine langen Finger, sein blauweißes Gesicht, die Zähne in dem leicht geöffneten Mund. „Was ist?“ fragte Hanssing, der sich seitlich hinter Frau Stillmann gestellt hatte. „Tot?“ – Diese Frage klang, als hinge sein Schicksal von der Antwort ab. Entsetzen, Furcht, Zweifel, Hoffnung mischten sich in dem einen Wort. Manthei und Sander nickten wie verabredet. Und Hanssing nickte mit, als müßte er den Befund bestätigen. „Nichts mehr zu machen mit Beatmung?“ fragte er mit bangem Unterton. „Versuch’s!“ entgegnete Manthei. Eine unerklärliche Wut gegen seinen Chef stieg in ihm auf. „Um Gottes willen!“ Hanssing schlug die Hand vors 125
Gesicht. Die Vorstellung, Stillmann körperlich nahe zu kommen, bereitete ihm Widerwillen. Ekel würgte ihn, und einige Atemzüge lang glaubte er, sich übergeben zu müssen. „Ich rufe die Polizei“, sagte er gefaßter. „Vielleicht sollten Sie mitkommen“, wandte er sich an Frau Stillmann, die sich plötzlich auf die Knie fallen ließ und Luft in den Mund ihres Mannes preßte. Bevor sie jemand wegziehen konnte, richtete sie sich auf, die Augen geweitet, die Hände weit von sich gestreckt. Schwerfällig wandte sie sich um, schüttelte den Kopf, wehrte sich, als Sander den Arm um sie legte. „Kommen Sie mit“, herrschte Hanssing sie an, griff nach ihrem Arm und zog sie mit sich fort. „Wir rufen einen Arzt und die Polizei.“ Ich hätte sie nicht mit dem gehen lassen sollen, dachte Sander und sagte mit bebender Stimme: „Ein Glück, daß Sie dabei waren. Allein wäre ich mit der Sache nicht fertig geworden.“ Manthei zündete sich eine Zigarette an. „Sie hat gemerkt, daß er schon steif ist. Dann die blauen Flecke im Gesicht.“ Er sog den Rauch tief ein und warf nachdenkliche Blicke auf Sander, der unentwegt mit der Schuhspitze im Sand scharrte. „Ihren Professor hat’s ja tüchtig getroffen.“ Sander schüttelte sich unter einem kalten Schauer. Manthei warf einen verstohlenen Blick auf die Leiche. „Selbstmord?“ fragte er, als spräche er mit sich selbst. Er ließ den Rauch aus dem Mund aufsteigen. Sander hob die Schultern, bis sein Kopf fast darin verschwand. Er faßte Zutrauen zu Doktor Manthei. Der quatscht bestimmt nichts weiter, dachte er, und er erzählte ihm mit knappen Worten, wie es um die Ehe Stillmanns bestellt war, ohne seine Rolle zu verschweigen. „Nach dem Anruf aus dem Institut hatte mich Ingeborg, Frau Stillmann, gebeten, sie hierherzufahren. Sie 126
war sehr unruhig geworden, Frauen haben ja mehr im Gefühl“, schloß er seine Beichte, „mit so was aber hat sie wohl doch nicht gerechnet.“ Er sah auf den Toten, der starr und teilnahmslos auf der Uferböschung lag. Der Dunst über dem Wasser zerteilte sich, die Mittagssonne schimmerte weißglänzend. Manthei dachte an seine Frau und sagte: „Muß nicht angenehm für sie sein, ihn auf diese Weise loszuwerden.“ „Es ist zum Kotzen.“ Sander atmete schwer. „Möchte bloß wissen, wie sie das verkraftet, gefühlsmäßig und so. Sie ist sehr sensibel und auf Etikette bedacht. Durfte sie nur zweimal in der Woche besuchen, wegen der Nachbarn.“ So genau wollte ich es eigentlich nicht wissen, dachte Doktor Manthei. Er warf die Zigarette ins Wasser und sah sich nach einer Sitzgelegenheit um. Muß das Thema wechseln, überlegte er. Dem sitzt das Herz auf der Zunge, und die Courage sitzt ihm im Hintern. „Bin ja gespannt“, nahm er das Gespräch wieder auf, „was die VP so denkt. Der Knatsch wird unsere Arbeit nicht gerade beflügeln. Professor Hanssing kommt in Schwulitäten, denn er hat Stillmanns Untersuchung schon als abgeschlossen gemeldet.“ Ach, halt’s Maul, schalt er sich im stillen, quasselst selbst drauflos. Sie saßen auf der Bank, warteten und sahen in das glitzernde Licht, das zwischen Himmel und See lag, vermieden den Anblick des Toten, dessen gespreizte Beine bis zu den Waden mit dem lindgrünen Schlafanzug bedeckt waren. Sie nahmen die leicht auf dem Wasser schwankenden Boote und das leise Plätschern des Wassers wahr. „Selbstmord?“ fragte Sander. „Käme ja wohl nur Liebeskummer in Frage.“ Er seufzte schwer. „Warum ist er dann aus der Hütte gerannt?“ erwiderte Manthei. „In letzter Zeit war er eigentlich ganz aufgeräumt; mehr Geld, Beförderung.“ 127
„Vielleicht ein Unglück?“ Der Gedanke verschaffte Sander Erleichterung. „Irgendwie muß das Gas ja ausgeströmt sein.“ „Ich kenne Stillmann nur als sehr korrekt, um nicht zu sagen pedantisch.“ „Ein Versehen vielleicht?“ Sander blickte Manthei hilfesuchend an. „Wer weiß. Liebeskummer? Nachlässigkeit?“ Manthei zog eine Zigarette aus der Tasche. „Bin wirklich gespannt, was die Kripo sagt.“
20. „Tod durch Ersticken.“ Oberarzt Doktor Müller richtete sich ächzend auf. „Wie das?“ fragte Leutnant Zacharias, Kriminalist der Arbeitsgruppe unnatürliche Todesfälle. „Das Gesicht lag doch im Wasser.“ „Der Mann ist zwischen zwölf und ein Uhr wach geworden, halbwach, möchte ich sagen. Ihm war übel, wahrscheinlich von dem Gas, wir werden nach der Obduktion mehr wissen. Dann ist er“, setzte der Gerichtsmediziner seine Erklärung fort, „vom Lufthunger getrieben, rausgerannt, gestolpert, hingeschlagen, mit dem Kopf ins Wasser. Unglücklicherweise. Er verlor das Bewußtsein und erstickte. Eine Wasserleiche sieht anders aus.“ Der Arzt umfaßte den Toten noch einmal mit einem Blick, als wollte er damit seine Worte bestätigen. „Merkwürdig.“ Leutnant Zacharias verfolgte ungeduldig die Hantierung der Kriminaltechniker. „Keinerlei Anzeichen von Gewaltanwendung?“ „Die Wunde am Kopf rührt vom Aufprall her“, antwortete Doktor Müller. „Wäre er auch am Gas erstickt?“ 128
„Höchstwahrscheinlich. Propan ist zwar nicht eigentlich giftig, aber man stirbt an Sauerstoffmangel.“ Sie gingen über die Lichtung zur Hütte, betraten den Vorraum, blieben vor der Kochnische stehen. Auf dem Kocher stand ein Kessel. Zacharias hob ihn an „Voll“, sagte er, „wie zum Kaffeekochen angesetzt.“ Abgebrannte Streichhölzer lagen auf dem Ständer in einem Aschenbecher. Leise tickte der Wecker, der auf sechs Uhr eingestellt war. Der Anzug Dr. Stillmanns hing ordentlich auf einem Bügel. Das sah nicht nach Selbstmord aus. Vielleicht hatte Dr. Stillmann das Gas angezündet, um sich Wasser zu kochen, und war darüber eingeschlafen. Das Wasser war aus der Tülle geschwappt, hatte die Flamme ausgelöscht. Das Gas war weiterhin ausgeströmt. Ein Unglücksfall. „War Doktor Stillmann betrunken?“ Leutnant Zacharias setzte die Mütze ab und kratzte sich den Kopf. Seine kurzgeschnittenen dunkelbraunen Haare standen borstig vom Kopf ab. „Betrunken sicher nicht. Nach der Obduktion werden wir wissen, wieviel Promille im Blut waren.“ Oberarzt Dr. Müller steckte die Hände in die Taschen seines Kittels, betrachtete die vor der Hütte sitzenden Personen und sagte: „Könnte auch ein Selbstmordversuch gewesen sein.“ „Selbstmord?“ Leutnant Zacharias zog die Nase kraus. Ohne Abschiedsbrief? Sehr zweifelhaft. Als Zacharias die Hütte verließ, erhob sich Professor Hanssing und trat auf ihn zu. „Wissen Sie, Herr, äh, Genosse Hauptmann, eigentlich müßten wir jetzt gehen, Herr Doktor Manthei und ich. Das Institut, die Pläne; um vierzehn Uhr habe ich eine höchst wichtige Beratung mit unserm Direktor. Sollten wir nicht mehr gebraucht werden …“ Er unterbrach sich mit einer weit ausladenden Handbewegung zum Schlängelpfad. 129
„Bin Leutnant, Herr Professor, sagte ich Ihnen schon. Aber sagen Sie ruhig Zacharias. Ich mag meinen Namen nämlich.“ Das verbindlich-ernste Gesicht Hanssings blieb unverändert. Es belebte sich jedoch, als Zacharias ihn fragte: „Was denken Sie über den Tod Ihres Kollegen?“ „Tja, was soll ich denken?“ Hanssing legte eine Hand unters Kinn und schaute nachdenklich auf die spärlichen Grasbüschel der Lichtung. „Eigentlich haben wir Ihnen bereits alles gesagt. Sie wissen von unserem Anruf bei Frau Stillmann gleich nach zehn, von unserer Sorge … Ein bißchen wußten wir über die Ehesituation. Eine bedauerliche Sache natürlich, sehr bedauerlich. Schließlich war Doktor Stillmann ein guter Wissenschaftler, einer unserer besten, muß ich sagen. Es wird schwer sein, einen Ersatzmann zu finden, sehr schwer.“ Er schob den Ärmel seines Mantels zurück und blickte auffällig auf seine goldene Armbanduhr. Leutnant Zacharias folgte dem Blick, ohne sich beeinflussen zu lassen. „Ich meinte mehr eine Erklärung für – ja, das Unglück selbst. Oder glauben Sie an Selbstmord?“ „Selbstmord?“ Die Frage klang wie ein Ruf. Professor Hanssing schien dem Wort nachzulauschen. „Warum ist das so wichtig?“ „Sind Sie nicht auch interessiert, zu wissen, wodurch und warum Ihr Kollege ums Leben kam?“ Vorwurfsvoll hoben sich Zacharias’ Brauen. „Ach, so meinen Sie das. Aber selbstverständlich.“ Hanssing schwieg. Er überlegte seine Antwort lange. Schließlich schüttelte er den Kopf. „Am Institut lag er gut im Rennen, sagte ich Ihnen. Nein, ich denke nicht.“ „Und wie erklären Sie sich das mit dem Gas?“ Leutnant Zacharias formte nach jeder Frage den Mund zu einem O, eine Bewegung, die Hanssing reizte. „Wissen Sie“, entgegnete dieser und sah auf die Kie130
fernkuscheln, „woher soll ich das wissen. Vielleicht hat er etwas getrunken, bei seiner Ehe … Der Kessel stand auf dem Gaskocher, eine Pfeife hatte er nicht. Man legt sich aufs Bett, wartet, daß das Wasser kocht, ist müde, schläft ein. Ein Schwapp genügt, um die Flamme zu löschen. Ein Unglück ist sehr schnell geschehen. Aber wie soll man wissen, wie das nun tatsächlich passiert ist?“ Professor Hanssing streckte die Arme nach unten und weit vom Körper weg, als wollte er sagen, und wenn Sie mich ausziehen, mehr weiß ich nicht. „Und Ihr Kollege …“ „Doktor Manthei, bitte.“ „Ganz recht, Manthei, was denkt er?“ „Wir haben noch nicht miteinander gesprochen. Da müssen Sie ihn schon selbst fragen, wenn Sie etwas …“ Er schwieg, als der Leutnant sich von ihm abwandte und Dr. Manthei zu sich bat. „An Selbstmord glaube ich nicht. Stillmann hatte in letzter Zeit viel Erfolg. Ein Unglück halte ich fast für ausgeschlossen; Stillmann müßte tüchtig einen in der Krone gehabt haben, mit Verlaub zu sagen.“ Manthei blickte den Leutnant an, doch der stellte keine weiteren Fragen. Zacharias ging zu den Spezialisten, erkundigte sich, ob sie alle Fußabdrücke hatten und ob sie noch etwas von den beiden Wissenschaftlern brauchten. Das war nicht der Fall, und Leutnant Zacharias entließ den Professor und Dr. Manthei mit den Worten: „Möglicherweise werden wir Sie noch einmal anrufen.“ Die Kriminaltechniker packten ihre Apparate ein und gaben den Platz frei. Leutnant Zacharias winkte den Männern vom Bestattungsinstitut und sagte: „Zur Obduktion.“ Der Tote wurde auf eine Bahre gelegt, mit einem Tuch zugedeckt und an der Hütte vorbei zum Wagen getragen. 131
Frau Stillmann saß regungslos auf der Bank und starrte den Trägern und der schwankenden Bahre nach. „Mein Beileid“, sagte Oberarzt Müller. „Eine tragische Geschichte. Man erlebt in diesem Beruf ja so einiges, aber es kommen doch immer wieder Sachen vor, die einen nicht kaltlassen.“ Frau Stillmann stand noch unter dem Schock, der durch das Schuldgefühl besonders tief saß. Der Abtransport ihres Mannes und die Worte des Arztes machten ihr das Unglaubliche und das Unwiderrufliche bewußt. Werner war tot, erstickt in der Hütte am See, wo sie die ersten gemeinsamen Tage und Nächte verbracht hatten. Die Erinnerungen kamen über sie, verklärt durch den Schmerz und die Zeit, verstärkt durch die Gewalt des Augenblicks und das Gefühl der Schuld. Ausgelöscht schienen die Jahre, die zwischen dem Anfang und dem Ende lagen. Wie froh und unbeschwert sie damals gewesen war, wie zufrieden, Werner glücklich zu sehen. Sie rückte von Wolf Sander ab und dankte dem Arzt, an dessen Seite Leutnant Zacharias getreten war. „Tut mir leid“, sagte der Leutnant. „In dem Alter ist es besonders hart.“ Er drückte das Kinn an die Brust und fuhr fort: „Bei einem unnatürlichen Todesfall müssen wir nach der Ursache fragen. Gewaltanwendung konnte Doktor Müller nicht feststellen. Glauben Sie an einen Mord?“ „Mord?“ Mit weit aufgerissenen Augen sah sie Leutnant Zacharias an. „Aber wer sollte Werner …“ Sie stockte und warf einen kurzen Blick auf Wolf Sander, der den Kopf in die Hand gestützt hatte und auf seine Schuhe blickte. „Nein, unmöglich“, sagte sie hastig und schüttelte heftig den Kopf, als wollte sie einen solchen Verdacht aus ihrem Gehirn hinausschleudern. „Wer sollte daran interessiert, wer dazu fähig sein?“ Sie trat einen Schritt von der Bank weg und nestelte aufgeregt am Verschluß ihrer Tasche. 132
„Was dann?“ fragte Leutnant Zacharias eindringlich. „Selbstmord? – Oder Nachlässigkeit?“ Frau Stillmanns Mund bewegte sich lautlos. Selbstmord, das Wort traf sie hart. Sie hatte sich immer für Werner verantwortlich gefühlt. Da müßte sie ihn ja in den Tod getrieben haben. „Nein, warum sollte er sich töten?“ setzte sie ihre Gedanken wie in einem Selbstgespräch und fast flüsternd fort. „Wir hatten Differenzen, das läßt sich nicht verschweigen, es stimmte nicht mehr alles in unserer Ehe. Darum war er hier draußen gewesen und allein. Aber ich habe mit ihm reden wollen, das muß die Sekretärin im Institut bezeugen. Er wies mich jedesmal kurz ab. Weswegen sollte er sich umbringen? Nein, das hätte Werner nicht getan, nie.“ Die letzten Worte waren aus ihr hervorgesprudelt, als könnte sie damit böse Gedanken fortspülen. „Bliebe nur noch Nachlässigkeit im Umgang mit Gas“, antwortete Leutnant Zacharias unbeeindruckt. „Tja, da hätte Ihr Mann wirklich etwas besser aufpassen müssen. Eigentlich unverantwortlich. Hätte eine fürchterliche Explosion geben können, einen schrecklichen Waldbrand dazu. Bei allem Respekt, aber für einen Wissenschaftler …“ Zacharias formte ein vorwurfsvolles O. Ingeborg Stillmann sah ihren Mann ungerecht beurteilt. Wie schnell dieser junge Kriminalist mit einem Menschen fertig zu werden versuchte. Sie sah ihn zornig an. „Nachlässig war mein Mann nicht, überhaupt nicht.“ Sie fühlte sich verpflichtet, für Werner einzutreten, und sie nahm mit Genugtuung den erstaunten Blick des Leutnants wahr. „Werner war im Gegenteil die Zuverlässigkeit selbst“, trumpfte sie auf. „Er nahm eher alles viel zu genau. Jeden Abend hat er in unserer Wohnung den Hauptgashahn abgedreht, obgleich ihm der Klempner gesagt hatte, das wäre nicht nötig. Und nicht einmal Silvester hat er das vergessen. Nein, nachlässig war mein 133
Mann nicht, das können Ihnen auch die Kollegen seines Instituts bestätigen.“ Sie war in Eifer geraten, als müßte sie jetzt und sofort jeden Zweifel beseitigen. Ihr Gesicht hatte sich gerötet, und ihre Hände waren immer stärker ins Gestikulieren geraten. Der Oberarzt nickte verständnisvoll; der skeptische Ausdruck in seinem Gesicht hatte sich verloren. Auch Leutnant Zacharias zeigte sich beeindruckt, obgleich seine braungesprenkelten Augen ihren mißtrauischen Glanz behielten. „Tja“, sagte er gedehnt, „wie aber soll es denn passiert sein?“ Er lief zwei Schritt hin und her, während er fortfuhr: „Kein Mord, kein Selbstmord, keine Nachlässigkeit. Auch kein technisches Versagen. Das Ventil an der Gasflasche war aufgedreht und der Gashahn am Kocher ebenfalls. An Heinzelmännchen glauben wir alle nicht. Wie denken Sie darüber, Herr …“ „Sander.“ Der Angesprochene erhob sich schwerfällig. „Sie sind ein guter Freund der Familie?“ „Ja.“ Sander bemerkte den dankbaren Blick Ingeborg Stillmanns. „Und Sie waren gleich in der Lage, Frau Stillmann hierherzufahren?“ Der provozierende Unterton reizte Wolf Sander, doch er bezwang eine aufsteigende dumpfe Wut und sagte kurz: „Ja.“ „Können Sie uns das etwas erklären?“ Frau Stillmann wollte antworten, doch Leutnant Zacharias wies sie mit der Hand zurück. „Ich war bei Ingeb … Frau Stillmann zu Besuch.“ „Ingeborg?“ „Wir sind Kollegen und duzen uns nicht erst seit gestern“, warf Frau Stillmann schnell ein. „Ach so.“ Der Leutnant schwieg, blieb vor Sander stehen, sah ihm forschend in die Augen. 134
„Reiner Zufall also?“ Sander blickte auf Ingeborg, die ihre Unterlippe zwischen die Zähne gezogen hatte und verzweifelt dem Zwiegespräch folgte. „Kein Zufall“, antwortete Sander fest. „Wir treffen uns seit Monaten regelmäßig montags und donnerstags. Wir haben Entwürfe zu beraten. Wir arbeiten für ein Modeinstitut.“ „Klingt überzeugend“, entgegnete Zacharias nicht ohne ironischen Beiklang. Der Leutnant wölbte den Mund vor. Seine kleinen Augen beobachteten intensiv das Gesicht des Mannes und der Frau. Er bemerkte die Verlegenheit unter den schnell wechselnden Mienen und sagte: „Wir haben also keine plausible Erklärung für den Fall. Wir kennen nur den Tatbestand, sein Geheimnis noch nicht. Sie werden Frau Stillmann wohl nach Hause bringen?“ Er nickte Sander aufmunternd zu, der sich grußlos umwandte und mit Frau Stillmann die Lichtung verließ. „Was sagen Sie, Doktor?“ wandte sich Zacharias an den Arzt. „Warten wir die Obduktion ab. Irgend etwas gefällt mir nicht. Weiß bloß noch nicht, was.“ „Eifersucht? Nebenbuhler beseitigt?“ „Warum haben Sie nicht nach einem Alibi gefragt?“ „Bescheinigen die sich gegenseitig.“ Er formte das O und fuhr fort: „Außerdem sollen sie sich in Sicherheit wiegen.“ „Aber die Beweise? Die Ermittlungen lassen keinen zwingenden Verdacht zu, wie ich das sehe.“ Der Arzt zog seinen Kittel aus. „Bin auch gespannt, ob mein Chef ein Ermittlungsverfahren eröffnet“, sagte Zacharias ein wenig mutlos. „Das hängt von Ihrem Bericht ab.“ Der Arzt schickte einen forschenden Blick auf den neben ihm mit langsamen Schritten dahinschlendernden Leutnant. 135
„Und von der Obduktion“, entgegnete Zacharias. Er blieb vor dem Wachposten stehen und sagte: „Sie müssen leider noch ein bißchen bleiben, Oberwachtmeister. Tatortsicherung. Aber daß mir Ihr Temperament nicht mit Ihnen durchgeht, Genosse Gotthelf; fangen Sie nicht an zu angeln.“ „Nää“, antwortete der Wachtmeister gedehnt „’n schönes Plätzchen isses, aber nach so was …“
21. Major Hedrich, Leiter der Abteilung Kriminalpolizei des Volkspolizei-Kreisamtes, hörte Leutnant Zacharias mißmutig an. Der heutige Tag hatte es in sich. Zwei Einbrüche in einer Bungalowsiedlung – immer im Herbst ging dieses Theater los –, eine Sexualgeschichte – versuchte Vergewaltigung, der Täter war entkommen. „Also gut“, sagte Major Hedrich und strich seine weißen Haare glatt, „keine Gewaltanwendung, keine ersichtliche äußere Einwirkung, keine Spurenindizien. Die Obduktion und toxikologische Untersuchung auch negativ – kein Gift, keine Schlaftabletten, nur eine winzige Menge Alkohol –, was wollen Sie da noch?“ Das Telefon klingelte. Meldung. Antwort. „Ja, verstanden, wir schicken zwei Genossen. Ende.“ Druck auf den weißen Knopf. „Bitte in den nächsten fünf Minuten nur noch in ganz dringenden Fällen.“ Ein kurzes Aufatmen. „Im Baukombinat wird ein ganzer Waggon Zement vermißt. – Wo waren wir stehengeblieben?“ Leutnant Zacharias wartete einige Sekunden, bevor er sagte: „Ich weiß, es sieht alles nach einem Unfall aus. Aber mir erscheint er trotzdem höchst unwahrschein136
lich. Die Sache ist mir einfach zu glatt. Ich halte ein Ermittlungsverfahren für unbedingt erforderlich.“ Seine Stimme klang bestimmt. „Ein Ermittlungsverfahren?“ Der Major hob die Brauen. „Gegen wen denn?“ Blöde Frage, dachte Zacharias und sagte: „Gegen Unbekannt natürlich, Genosse Major.“ „Natürlich!“ Der Major schien Zacharias’ Gedanken erraten zu haben. „Warum nicht gegen Sander? Darauf wollen Sie doch hinaus!“ Er schwieg ärgerlich, trommelte mit kurzen, dicken Fingern auf der Schreibtischplatte herum. „Worauf gründen Sie eigentlich Ihren Verdacht?“ Hedrich runzelte die Stirn. Übereifrig, dieser junge Leutnant, Gerade von der Schule gekommen. „Bloß weil ein paar Zufälle mit im Spiel waren?“ Hedrich schoß einen skeptischen Blick auf Zacharias und fuhr fort: „Ist doch völlig logisch, daß der Professor sich nach seinem Kollegen erkundigt, wenn er nicht zur Arbeit erscheint. Ebenso verständlich ist, daß diese Frau – ääh – Stillmann beunruhigt war und ihren Kollegen Sander bat, sie zu der Hütte zu fahren. Noch nie einen Ehekrach gehabt?“ Er unterbrach sich, verzog den Mund. „Ach so, sind ja nicht verheiratet. Na also.“ Major Hedrich hob die Stimme. „Er, der Stillmann, der hat seiner Frau mal zeigen wollen, was ’ne Harke ist. Sie war schon lange gewillt, sich mit ihm zu versöhnen. Davon zeugen die Anrufe. Bitte. Jetzt fürchtete sie, daß er vielleicht krank geworden war; eine gute Gelegenheit, wieder miteinander ins Gespräch zu kommen und so weiter. Meine Frau, kann ich Ihnen sagen, hätte nicht anders gehandelt. Na, und da der Professor und die Frau beide fast zur gleichen Zeit losfuhren, mußten sie ja zusammentreffen. Und das war doch gut so, Genosse Leutnant, auf diese Weise haben vier Personen das gleiche zu bezeugen. Nää, ich sehe da keine Komplikationen. Die Aussagen sind eindeutig, und daß jeder den Fall etwas anders 137
sieht und beurteilt, ist doch wohl keine Überraschung für uns Praktiker, nicht wahr?“ Das Telefon klingelte. Major Hedrich betrachtete es wie einen bösartigen Feind. Stöhnend hob er den Hörer ans Ohr. „Ja, gut. Ende.“ Der Apparat knackte, schien eine gute Botschaft gemeldet zu haben. „Sie haben den Zement gefunden, in einer Bungalowsiedlung.“ Das Gesicht des Majors hellte sich auf und verdunkelte sich wieder. Er hatte auch einen Bungalow, alles selbst gebaut und Jahr für Jahr von der Baustoff Versorgung und Bäuerlichen Handelsgenossenschaft mal die Steine, mal ein paar Sack Zement oder Kalk oder Holz bekommen. Zehn Jahre Geduld und zehnmal den Urlaub verwendet. Aber manchem ging es nicht schnell genug und nicht groß genug. Er wachte aus seinen Gedanken auf, sah den Leutnant forschend an, sagte: „Sie sind ja immer noch hier.“ Und dachte, wie intelligent. Sagte: „Sie wollen den Fall also partout nicht abschließen?“ Seine Augen überflogen zum wiederholten Male die Lageskizze, die Fotografien. Den Kopf auf die Faust gestützt, las er noch einmal die Zusammenfassung des Berichts: „Obgleich bisher keine Anzeichen der Einwirkung einer anderen Person bemerkt werden konnten, halte ich den Verdacht auf Mord nicht für abwegig. Der Fensterladen und das Fenster waren von außen zu öffnen, da von innen nicht verriegelt. Das Ventil der Gasflasche und des Gaskochers könnten von außen durch Hineinlehnen geöffnet worden sein. Gegen Selbstmord sprechen das Fehlen eines Abschiedsbriefs, die auf 6 Uhr eingestellte und abgelaufene Weckuhr sowie die anderen Vorbereitungen für den neuen Tag. Ein Unfall ist nicht ausgeschlossen, aber gegen ihn sprechen alle Urteile über Stillmanns Persönlichkeit so138
wie der Umstand, daß man sich zu später Stunde nicht ins Bett legt und Kaffeewasser kocht.“ Der Major schob den Bericht von sich weg. „Wenn eine andere Person am Tatort gewesen wäre, hätte der Hundeführer doch auf eine Spur stoßen müssen, Leutnant Zacharias.“ „Bei dem Wetter und nach zwölf Stunden waren Spuren nicht zu erwarten, Genosse K-Leiter. Außerdem, die vier Personen sind überall herumgelaufen. Der Täter muß das vorausgesehen haben; er muß sehr gut über die Lebensumstände der Stillmanns informiert gewesen sein.“ „Jetzt reden Sie schon von einem Täter!“ Der Major stand gereizt auf und lief hinter dem Schreibtisch hin und her. „Ihre Theorie ist reine Spekulation“, fuhr er unzufrieden fort. „Ich mach’ mich doch nicht lächerlich beim Bezirk. Der Leiter der Morduntersuchungskommission wird mich für verrückt erklären, nicht Sie. Wer knackt schon gern ’ne taube Nuß? Wer jagt am hellichten Tage Gespenstern nach?“ Seine Augen waren groß und rund auf den Leutnant gerichtet. „Auf der Schule haben wir einen Fall durchgesprochen, der hundertprozentig als Unglücksfall angesehen worden war. Hundertprozentig“, betonte der Leutnant halsstarrig. „Zwei Jahre später stellte sich der Mörder. Da soll es lange Gesichter gegeben haben. Der die Untersuchung geleitet hatte, wollte das Geständnis erst nicht glauben.“ „Auf der Schule, auf der Schule!“ Spott klang in den Worten. Grünschnäbel, ohne Praxis. Er stützte sich auf den Schreibtisch dicht vor dem Leutnant, der das Alter seines jüngsten Sohnes hatte. Hartnäckige Burschen mochte er, wenn er sich das auch nicht anmerken ließ. Ein Dummkopf war er nicht, der Zacharias, auch kein Wichtigtuer. Sollte etwas an seiner These dran sein, hieß es, „ein guter Kriminalist“. Erwies sie sich als Seifenblase, blieb alles an dem K-Leiter hängen; Sturm im Was139
serglas! Ein Ermittlungsverfahren auf Grund einer vagen Möglichkeit gegen den Täter Unbekannt. Die Verantwortung für ein Ermittlungsverfahren trug er; dafür mußten überzeugende Gründe vorliegen. „Stellen Sie sich vor“, sagte der Leutnant, während er aufstand, „Stillmann wäre Ihr Sohn gewesen. Der lebt ein paar Wochen von seiner Frau, Ihrer Schwiegertochter, getrennt, die ein nicht ganz durchsichtiges Verhältnis mit einem Kollegen unterhält. Jedenfalls war dieser Sander ziemlich verlegen, und Frau Stillmann auch. Man merkte förmlich, daß in ihnen etwas vorging, daß eine Spannung zwischen ihnen bestand. Keiner der Befragten glaubte an einen Selbstmord, und nur einer, der Professor, hielt einen Unglücksfall für möglich. Oberarzt Müller mit seiner Menschenkenntnis meint trotz aller Befunde, daß die Sache faul sei. Und je länger ich darüber nachdenke, desto mehr finde ich einen Mord wahrscheinlich.“ „Aus dem Motiv der Eifersucht also.“ Der Major verzog skeptisch den Mund. „Danach hätte ja der Stillmann den Sander umbringen müssen. Offenbar hat er doch nichts gegen Sanders Besuche gehabt. – Haben Sie noch ein Motiv?“ „Bis jetzt nicht“, antwortete der Leutnant enttäuscht, daß der Major unbeeindruckt blieb. „Aber ich bin überzeugt, daß mehr dahintersteckt.“ Der Major öffnete und schloß die Fäuste. Er mußte jetzt entscheiden. Zacharias ließ nicht locker. Ganz konnte man sich seinen Argumenten nicht verschließen. Hätte sich der Fall unter kriminell Verdächtigen abgespielt, gewännen Zacharias’ Vorstellungen an Wahrscheinlichkeit. Aber unbescholtene Bürger zu verdächtigen, mit Fragen und Argwohn zu belasten, bloß wegen einer gefühlsmäßigen Überzeugung? Natürlich gab es undurchsichtige Fälle. Keine Arbeit ohne Risiko, auch keine Entscheidung. Verflucht und zugenäht! 140
„Bestehen Sie noch auf Ihrem Antrag?“ Der Major richtete sich zu seiner stattlichen Größe auf. „Ja, unbedingt.“ Der Leutnant gab seinem Gesicht einen entschlossenen Ausdruck. „Gut!“ Das Wort knallte wie ein Pistolenschuß. Einen Augenblick herrschte große Stille, dann sagte der Major in der gewohnt kurzen, sachlichen Weise: „Ich rufe das Dezernat an.“ Der Major rief die Sekretärin, und Leutnant Zacharias hörte beim Verlassen des Zimmers erleichtert die Worte: „Verbinden Sie mich mit der MUK.“
22. Noch auf der Fahrt zum Tatort las Hauptmann Herold von der Morduntersuchungskommission Zacharias’ Bericht und den des Gerichtsmediziners Müller. Auf dem Waldweg kam ihm der Leutnant entgegen; ein Lächeln verbarg seine Unsicherheit. „Du also steckst dahinter“, sagte Hauptmann Herold und reichte ihm die Hand. „Schön, dich mal wiederzusehen. Immer noch nicht verheiratet?“ Zacharias’ blasse Haut färbte sich dunkler. „Ach“, sagte er mit gespielter Leichtigkeit, „die Frauen, die mich interessieren, suchen einen Mann mit regelmäßigem Feierabend.“ „Wieso denn das?“ Der kleine, rundliche Hauptmann gab Zacharias einen Stoß mit dem Ellbogen. „Hab’ doch auch eine gefunden, und oho, wir sind sehr zufrieden miteinander.“ Er lachte fröhlich. „Mußt nicht gleich deinen Beruf verraten. Kannst du ihr später auf die Nase binden. Wenn sie dich erst liebt, nimmt sie dich, wie du bist.“ Er stellte Zacharias seinen Mitarbeitern vor, Oberleutnant Pilz und dem Kriminaltechniker Schütz, sagte: „Ich 141
kenne Leutnant Zacharias noch aus der Zeit, an die erwachsene Männer nicht gern erinnert werden. Ging mit seinem Bruder sechs Jahre in die gleiche Klasse. Steckt jetzt in Dresden, aber ab und zu sehen wir uns noch. So vergeht die Zeit. Aber nun laß mal hören, was hier los ist.“ Er ging neben Leutnant Zacharias den Schlängelpfad entlang und hörte wortlos zu. Zacharias bemühte sich, Vorgänge und Eindrücke so sachlich wie möglich wiederzugeben; doch er merkte bald, daß seine Worte wenig Überzeugungskraft ausübten. „Schön“, erwiderte Hauptmann Herold sanft, „du tippst auf Eifersucht und so.“ Seine braunen, leuchtenden Augen suchten die Umgebung ab. „Hört sich plausibel an, mein lieber Hans, aber die Beweise! – Selbst wenn die Stillmann mit Sander ein intimes Verhältnis hätte, wer außer ihnen will den Beischlaf bezeugen? Und selbst wenn sie das würden, Hans, Stillmann hat ihm doch sogar die Wohnung frei gemacht. Sander konnte, wie er wollte. Warum sollte ausgerechnet er? Umgekehrt wär’s mir verständlicher.“ Sie erreichten die Lichtung, nahmen die Meldung Oberwachtmeister Gotthelfs entgegen, dessen Gesicht sich merklich aufhellte, während er stolz verkündete: „Keine besonderen Vorkommnisse.“ Das Herumstehen an einem solchen Ort war alles andere als ein Vergnügen. Hinter einer violettschwarzen Wolkenwand schimmerte noch ein blasser Lichtstreifen. Zwischen Bäumen und Büschen war es schon dunkel. In dem gelben Schilf standen wie dicke Ausrufezeichen die Rohrkolben. Hastig trieben die leicht gekräuselten Wellen an den Strand. „Idyllisches Plätzchen“, sagte der Hauptmann, bevor er Kurs auf die Hütte nahm. „Aber ziemlich einsam. Bei Brambach kenne ich auch so eine Hütte. Wohnt ein Geigenbauer drin, mit ’ner Katze. Man rechnet nicht mit 142
einer Behausung, plötzlich stehst du davor, bist mehr erschrocken als der Alte, der es gewohnt ist, daß man unerwartet bei ihm anklopft.“ In der Hütte hing noch immer ein Geruch, der an alte Molke erinnerte. Der Hauptmann schnupperte mit verzogenem Mund. Der Kriminaltechniker Schütz meinte: „Die Gasflasche muß ziemlich voll gewesen sein. Wenn das Fenster leicht angelehnt war, muß schon eine große Menge Propan ausgeströmt sein, um tödlich zu wirken. Denn eigentlich giftig ist das Gas nicht, wie Leuchtgas zum Beispiel.“ Hauptmann Herold fand die Angaben des Leutnants bestätigt. „Sehr ordentlich, der Mann“, sagte er anerkennend. „Gibt wohl nur diese eine Gasflasche?“ „Wieso?“ fragte Zacharias. „Dann könnten wir zum Beispiel mal prüfen, wo und wann sie gefüllt wurde.“ Auf die Idee hätte ich auch kommen können, dachte der Leutnant und sagte: „Auf dem Boden steht eine zweite Flasche. Soll ich sie holen?“ „Ja, bitte“, antwortete der Hauptmann, dessen Aufmerksamkeit auf den Wasserkessel und den Gaskocher gerichtet war. Er hörte nicht das Ächzen des Leutnants auf der Leiter, der die Flasche heranzog und dem Kriminaltechniker in die hochgereckten Arme gleiten ließ. „Weder voll noch leer“, brummte Schütz erstaunt. „Komisch.“ „Wieso?“ fragte Leutnant Zacharias, doch weder der Hauptmann noch der Kriminaltechniker gaben eine Antwort. Statt dessen sagte Hauptmann Herold: „Für mich ist die wichtigste Frage, wie es zum Ausströmen des Gases gekommen sein kann. Eine natürliche Erklärung wäre die des Professors, daß das Wasser in dem Pfeifkessel zum Kochen kam, überschwappte und die Flamme aus143
löschte. Das wäre eine Erklärung für einen Unfall, hiebund stichfest.“ „Wurde eigentlich die Pfeife gefunden?“ fragte der Kriminaltechniker. „Zu dem Kessel gehört doch eine.“ „Nein“, entgegnete Zacharias, immer noch ärgerlich, keine Antwort erhalten zu haben. Und daß Herold auf eine Erklärung für einen Unglücksfall zuzusteuern schien. „Wir haben uns gründlich umgesehen“, fuhr der Leutnant fort, „wenigstens hier unten“; ging aber trotzdem in die Hocke, schaltete die Taschenlampe ein und suchte den Boden ab. Der Kriminaltechniker folgte seinem Beispiel; vergeblich. Die Pfeife blieb unauffindbar. „Der Kessel muß aber bis zuletzt eine Pfeife gehabt haben“, schnaufte der beleibte Schütz. „Man erkennt es mit bloßem Auge, daß die Tülle vorn blankgerieben ist.“ Auch ein erneutes Absuchen aller Winkel und Ecken brachte die Pfeife nicht zum Vorschein. „Komisch“, sagte Hauptmann Herold. „Wer war alles in der Hütte?“ „Außer unsern Leuten nur der Professor, Sander und Doktor Manthei. Aber warum sollte einer von denen …?“ Leutnant Zacharias brach ab, als er die hochgezogenen Brauen des Hauptmanns bemerkte. „Natürlich läßt sich nicht feststellen, ob die Pfeife noch bis gestern oder vorgestern hier war“, erklärte der Kriminaltechniker. „Vielleicht war ein Pfeifensammler darunter.“ Er lachte trocken und freute sich, als die andern ihren Mund verzogen. „Wer hat denn den Fensterladen und das Fenster geöffnet?“ fragte Hauptmann Herold. „Doktor Manthei, von außen. Der Fensterladen war angelehnt, das Fenster ließ sich reindrücken“, antwortete Leutnant Zacharias lebhaft, froh, endlich eine klare Auskunft geben zu können. „Wahrscheinlich hatte es Doktor Stillmann zur Lüftung leicht angelehnt gehabt.“ „Die Möglichkeit, von draußen an das Gas heranzu144
kommen, bestand also.“ Hauptmann Herold hob den Wasserkessel an. „Ziemlich voll“, fuhr er sinnend fort. Er suchte den Vorgang zu rekonstruieren, sprach vor sich hin: „Stillmann zündet das Gas an, verläßt die Kochnische, legt sich aufs Bett, schläft ein. Er muß schon ausgezogen gewesen sein, denn er wurde im Schlafanzug gefunden.“ Herold stellte den Wasserkessel auf den Kocher zurück. „Was geschah noch? – Das Wasser wurde heiß, begann zu kochen, schwappte aus der Tülle, löschte die Flamme. Hätte es eine Pfeife gegeben, wäre Stillmann vom Pfeifton geweckt worden. Warum ist keine Pfeife gefunden worden?“ Herold stemmte die Hände in die Hüften. Drei Personen hätten sie an sich nehmen können, vorausgesetzt, sie wäre vorhanden gewesen. Aber dann blieb die Frage, warum sie Stillmann nicht aufgeweckt hatte? Wahrscheinlich war also doch keine vorhanden gewesen. Warum sollte auch einer von den dreien die Pfeife an sich genommen haben, warum? Er blickte auf Zacharias und Schütz, als könnte er von ihnen die Antwort bekommen. „Wenn diese Version aber überhaupt nicht stimmt?“ Leutnant Zacharias hatte einen Gedanken. „Ich meine, wir haben noch nicht überlegt, wie die Sache ausgesehen haben könnte, wenn jemand den Gashahn von draußen aufgedreht haben sollte.“ „Gut!“ In Herolds Stimme lag Anerkennung. „Was dann?“ „Der hätte das Gas bestimmt nicht erst angebrannt.“ Herold ließ einen an- und abschwellenden Pfeifton hören. Er wandte sich an Schütz. „Das Wasser hätte dann überhaupt nicht … Otto, wir müssen wissen, ob das Wasser gekocht hat, klar?“ „War auch gerade so weit gekommen“, brummte Schütz, holte zwei Glasröhrchen aus seinem Gerätekoffer und füllte Wasser aus dem Eimer in das eine, Wasser aus dem Kessel in das andere. 145
Auf der Lichtung trafen sie Oberleutnant Pilz, der die Umgebung der Hütte nach Spuren abgesucht hatte. „Nichts Auffälliges“, knurrte er und hob bedauernd die Schultern. „Ein Täter hätte wahrscheinlich den Pfad benutzt, oder er wäre am Ufer entlang in einem Boot gekommen. Zwischen den Kiefernkuscheln dort“, er hob die Hand, „ist ein winziger Fleck, von dem man ungesehen die Lichtung und die Hütte beobachten kann. Doch ganz unmöglich, zu sagen, ob da jemand in den letzten vierundzwanzig Stunden gehockt hat.“ Er war immer verdrossen, wenn er nichts gefunden hatte, und ebenso neugierig, ob andere mehr Glück gehabt hatten. „Wie sieht es denn bei euch aus?“ „Etwas besser“, sagte Hauptmann Herold und schob sich zwischen Zacharias und Schütz an Pilz’ Seite. „Es gibt einige Dinge, die wirklich komisch sind. Eine halbgefüllte Gasflasche steht auf dem Boden, während die andere so gut wie voll gewesen sein muß. Weiter: ein Pfeifkessel ohne Pfeife, obgleich die Tülle blank ist. Und schließlich ein offengelassener Fensterladen mit einem angelehnten Fenster in dieser einsamen Gegend. Doch was reden wir noch. Zuerst müssen wir wissen, ob das Wasser in dem Kessel überhaupt gekocht hat.“
23. Frau Stillmann beugte sich aus dem Fenster in den trüben Novembertag. Die Luft war feucht und roch nach Rauch. Die Bäume standen naß und nackt wie abgestorben. Die Standuhr schlug zehnmal. Seit einer halben Stunde wartete sie auf Wolf Sander. Seit Werners Tod war zwischen ihnen etwas zerbrochen. Sie konnte nicht mehr so zu ihm sein wie zuvor. Wie eine Mauer lag der unausgesprochene Verdacht zwischen ihnen. 146
Wolf Sander war enttäuscht. Daß sie ihn für den Tod Werners mitverantwortlich machte, konnte er noch verstehen, daß sie ihm jedoch einen Mord zutraute, erbitterte ihn. Sie hatte es ihm nicht direkt gesagt, aber aus ihren Fragen hatte er es ableiten können. Ihre Gefühle für ihn schienen erkaltet zu sein. Nicht einmal einen Kuß erlaubte sie ihm. Schon seine Hand auf der Schulter empfand sie als zudringlich. Nicht, daß sie plötzlich ihre Liebe zu Werner wiederentdeckt hätte. Doch sie empfand Trauer; zum Sterben war er viel zu jung gewesen; und solch ein Tod! Nein, schließlich war er ihr Mann. Und ohne Verantwortung war sie weiß Gott nicht. Ihr Gefühl, für ihn dasein zu müssen, war stärker als zuvor. Ingeborg Stillmann fröstelte und schloß das Fenster. Wenn bloß erst die Beerdigung vorüber war. Ihr graute vor dem Augenblick, vor den Gesichtern, den Reden, dem Handgeben, dem Bedauertwerden, den Blumen, den Kränzen, dem ganzen Geruch von Feierlichkeit und Verwesung. Die Kolleginnen und Kollegen ihres Instituts meinten es gut, aber gut gemeint war oft das Gegenteil von gut. Der letzte Gedanke erinnerte sie an Karl Kupfer, von dem sie viele solcher Sentenzen gehört hatte. Lange waren sie nicht bei ihm gewesen. Seit sie das Verhältnis mit Wolf hatte, war sie einer Begegnung aus dem Wege gegangen. Karl gegenüber hatte sie sich immer zur Offenheit verpflichtet gefühlt. Nicht einmal eine Notlüge würde sie ihm gegenüber rechtfertigen. Und sie wollte ihn nicht mit ihren Problemen belasten. Er würde noch nichts vom Tod Werners erfahren haben, denn dann hätte er sie angerufen. Sie mußte ihn unbedingt benachrichtigen; hatte er doch immer an allem wie ein Freund Anteil genommen. Sie war unzufrieden mit sich. Seit Werners Tod schob sie alles hinaus und von sich fort. Werners Eltern hatte 147
sie viel zu spät informiert. Die Mutter schien etwas von der Ehekrise gewußt zu haben; sie gab ihr die Schuld. „Wo dein Mann ist, sollst auch du sein.“ Ihre Stimme hatte keinen Zweifel an ihren Gedanken gelassen. Der Vater hatte andere Worte gefunden: „Wenn du Hilfe brauchst …“ Mehr nicht, dann war seine traurige Stimme verstummt. Er hatte die gleichen schüchternen Augen wie Werner. Er war immer stolz auf seinen Sohn gewesen, der das Studium so großartig geschafft hatte, besonders auch, weil er seine eigenen Anlagen durch Krieg, Gefangenschaft und Hungerjahre nicht hatte entfalten können. Wie einfach man ein Leben betrachten konnte. Schuld! Ja, sie hatte schuld. Ingeborg Stillmann wehrte sich nicht gegen dieses Gefühl und die Gedanken. Daß sie Werner nicht eigentlich liebte, dafür konnte sie nichts. Trotz allem war sie ihm ein guter Kamerad geblieben. Aber daß sie sich nicht zu einer Entscheidung aufgerafft hatte, das bedrückte sie schmerzlich. Möglicherweise wäre dann alles ganz anders gekommen. Sie durfte gar nicht darüber nachdenken. Alle Reue kam zu spät. Nichts ließ sich hier mehr gutmachen, gar nichts. Sie konnte das Bild nicht vergessen, wie Werner dagelegen hatte, in dem Schlafanzug, halb nackt, wehrlos allen Blicken preisgegeben, starr, blaß, blaufleckig. Dieser schreckliche Augenblick, als sie die kalten Lippen berührt und Luft in den leblosen, starren Mund gepreßt hatte. Bis sie begriff, daß Werner tot war, daß sie eine Leiche unter sich hatte. Das Entsetzen saß noch tief in ihrem Herzen. Kalte Schauer liefen über ihre Haut. Nur nicht daran denken, lieber überlegen, warum und wie es geschehen konnte. Selbstmord? – Nein, das hätte Werner nicht über sich und – über sie gebracht. Auch kein Unglück, dafür war er viel zu sorgfältig und bedächtig. Aber was nur? Sie würde noch verrückt werden. 148
Die Klingel ließ sie zusammenzucken. Wolf! Er mußte ihr helfen, Klarheit zu gewinnen. Er durfte sie nicht im Stich lassen. Und wenn er es getan haben sollte, dann mußte er es ihr sagen. Die Ungewißheit war am schlimmsten. Vor der Tür stand nicht, wie erwartet, Wolf Sander. Ingeborg Stillmann erkannte in dem Halbdunkel des Treppenhauses das schmale Gesicht Leutnant Zacharias’ und erschrak. „Dürfen wir eintreten?“ fragte dieser ausgesucht höflich. „Das ist Hauptmann Herold von der Bezirksbehörde.“ Während sich Hauptmann Herold verbeugte, sagte Frau Stillmann: „Ja, bitte.“ Sie strich ihre Haare zurück und führte die Herren in ihr Zimmer. „Wollen Sie Platz nehmen.“ Sie deutete auf die beiden Sessel und setzte sich gegenüber auf die Couch. „Herr Herold führt die Untersuchung“, begann Leutnant Zacharias und spitzte den Mund. „Es liegt der Verdacht nahe, daß Ihr Mann ermordet wurde.“ Frau Stillmann erblaßte. Gleichzeitig bildeten sich rote Flecken auf ihrem Hals. Ihr Herz begann zu klopfen. Sie empfand Angst. Jedoch auch so etwas wie Erleichterung. Klarheit wollte sie, Klarheit. „Wir brauchen Ihre Hilfe“, begann Hauptmann Herold. Seine Blicke wanderten durch das Zimmer, hefteten sich auf den Rauchtisch, auf dem zwei Teller und zwei Tassen standen. „Sie erwarten Besuch?“ fragte er wie beiläufig. Ingeborg Stillmann hauchte ein Ja und senkte den Kopf. „Wir wollen Sie auch nicht lange belästigen. Wir sind ganz sicher, daß es kein Unglücksfall war. Aus dem Kessel kann kein Wasser übergekocht sein, denn das Wasser hatte überhaupt nicht gekocht. Das Gas hat gar nicht gebrannt. Entweder hat Ihr Mann den Hahn selbst auf149
gedreht, um sich zu töten, oder aber es hat ein anderer getan. Den ersteren Fall können wir nicht völlig ausschließen, aber es spricht einiges dagegen. Sie selbst glauben doch auch nicht daran, oder?“ „Nein!“ Frau Stillmann hob den Kopf, um dies Wort zu unterstreichen. „Nein“, sagte sie zur Bekräftigung noch einmal, „wenn er auch nicht gerade glücklich mit mir war.“ Den letzten Teil des Satzes schien Hauptmann Herold zu überhören. Er sagte: „Wir glauben auch nicht recht daran. Erstens kein Abschiedsbrief, zweitens keine Schlaftabletten, drittens kein Alkohol. Ein Mann seiner Bildung und seines Berufes wäre nicht dilettantisch vorgegangen, oder?“ Als kein Widerspruch kam, fuhr er fort: „Wer aber könnte Ihren Mann getötet haben – und warum?“ Die Uhr tickte mit aufregender Gleichförmigkeit und schlug die halbe Stunde. Jeden Augenblick konnte Wolf Sander klingeln. Ingeborg Stillmann wurde unruhig und fingerte an ihren Haaren herum. „Wenn ich es wüßte“, sagte sie hastig, „hätte ich es Ihnen bestimmt gesagt.“ Hauptmann Herold räusperte sich. „Wir haben es wahrscheinlich mit einem Mord zu tun, Frau Stillmann. Wir müssen den Fall aufklären. Wir glauben, daß Sie einen Verdacht haben.“ Frau Stillmann sank in sich zusammen. Ihre Hände lagen im Schoß, ihre Gedanken waren bei Wolf Sander. Wenn er nur nicht kommen würde, jetzt, ausgerechnet jetzt. Er war so unbeherrscht. So spontan. „Wir wissen“, bluffte Hauptmann Herold, „daß Ihr Verhältnis zu Herrn Sander nicht nur ein freundschaftliches war und daß es mit zur Zerrüttung Ihrer Ehe beigetragen hat. Warum hat Ihr Mann mit dieser primitiven Behausung vorliebgenommen?“ Die Tränen kamen, obgleich Frau Stillmann dagegen 150
ankämpfte. Nur mühsam unterdrückte sie ein Schluchzen. Sie fand keine Worte zur Entgegnung und biß sich auf die Lippen. Wenn die schon alles ausspioniert hatten, was sollte sie noch dazu sagen. „Eifersucht auf den Ehemann“, hörte sie die Stimme des Herrn Herold, die ihr erst unangenehm und jetzt verhaßt war. „Eifersucht ist ein Motiv. Herr Sander wußte, wo Ihr Mann lebte, er konnte gut und gern am Sonntag hinausgefahren sein und den Gashahn aufgedreht haben. Damit wurden Sie für ihn frei, und er konnte sich ins gemachte Nest setzen.“ „Nein!“ Irgend etwas bäumte sich in Ingeborg Stillmann auf. „So gemein ist Wolf – Herr Sander nicht. Im Streit hätte er vielleicht …“ Sie biß sich auf die Lippen. „Nein! Herr Sander ist an dem Abend um elf Uhr von mir weggegangen. Seine Wirtin wird ihn gehört haben; die paßt ja auf ihre Untermieter auf wie die Henne auf ihre Kücken. Fragen Sie die, sie wird es bestätigen, daß Wolf eine halbe Stunde später nach Hause kam.“ Ihre Augen blickten flehend vom Leutnant zum Hauptmann und wieder zum Leutnant zurück, von dem sie einen Halt erhoffte. Aber er sagte: „Leider, nein. Die Wirtin hat Herrn Sander nicht gehört. Sie hat ihn erst um sieben Uhr morgens gesehen, als er sich in der Küche Kaffee kochen wollte. Wörtlich sagte sie: ‚Er sah sehr müde aus und wird wahrscheinlich die halbe Nacht bei dieser – Frau gewesen sein!“ „Dieses Biest!“ Frau Stillmann sprang auf. „Die will sich nur rächen, diese eifersüchtige alte Schachtel. Ihr glaube ich kein Wort.“ Sie ließ sich auf die Couch zurückfallen, legte das Gesicht auf den Arm und schluchzte hemmungslos. Hauptmann Herold und Leutnant Zacharias wechselten einen Blick. Sie hatten ins Schwarze getroffen. Sie warteten geduldig, bis sich Frau Stillmann die Nase 151
putzte, die rotgeweinten Augen auswischte und sagte: „Nun werden Sie Herrn Sander wohl verhaften. Aber das sage ich Ihnen klipp und klar, jetzt glaube ich nicht mehr, daß Wolf es getan haben könnte.“ Sie richtete sich stolz auf, warf den Kopf in den Nacken und sah über die Kriminalisten hinweg. Die Klingel schrillte hart in die Stille. Einen Augenblick saß Frau Stillmann wie versteinert, dann sprang sie auf, sagte: „Da ist Wolf Sander. Sie können ihn gleich mitnehmen und mich dazu.“ Sie stieß gegen den Tisch, rückte ihn zurecht und ging in den Flur. Hauptmann Herold schüttelte den Kopf, als Leutnant Zacharias ihr folgen wollte. „Keine Festnahme“, flüsterte er. „Nur ein paar Fragen.“ Sie hörten Flüstern auf dem Korridor. Ob er weglaufen würde? Vielleicht sollte man doch? Leutnant Zacharias drückte sich aus dem Sessel, Hauptmann Herold ebenfalls. Aber da kam Herr Sander ins Zimmer, das Gesicht gerötet, die Fäuste geballt. Seine Augen glänzten in einer Mischung von Angst und Empörung. „Sie können sich Ihre Mühe sparen, meine Herren.“ Herr Sander schnappte nach Luft. „Das alte Lied, den Nebenbuhler beseitigt. Erst aus der Wohnung verdrängt, dann den Gashahn auf. So einfach geht das. Kein Alibi, weil die Wirtin nichts gehört hat. Ausgerechnet an diesem Abend gab’s keinen Krimi im Fernsehen. Sonst fängt sie ihre Untermieter mit penetranter Regelmäßigkeit ab. Aber sie haben ja wohl ’ne Wohnung, meine Herren!“ Frau Stillmann stand seitlich hinter ihm und blickte zu Boden. Der Auftritt war ihr peinlich. Sie konnte Wolf Sanders Erregung zwar verstehen, aber daß er sich nicht beherrschen konnte, kränkte sie. Und sie hatte Angst, daß dadurch alles nur schlimmer würde. „Na, dann können wir Sie gleich mitnehmen“, sagte 152
Hauptmann Herold. „Ein Geständnis vereinfacht die Sache sehr.“ „Was heißt hier Geständnis!“ rief Sander wütend. „Ich habe Doktor Stillmann vor drei Wochen zum letztenmal zu Gesicht bekommen, und danach lebte er ja wohl noch ’ne ganze Weile.“ „Na, dann wollen wir uns mal setzen“, entgegnete Hauptmann Herold freundlich, „und ein bißchen vernünftiger werden, nicht wahr, Herr Sander?“ Dieser folgte der einladenden Handbewegung des Kriminalisten mit verstörtem Blick. Jetzt kamen sie wohl auf ’ne andere Tour? Er mußte auf der Hut sein. Wer weiß, wen er da vor sich hatte. Möglicherweise wollte der sich ’nen Orden verdienen. Das Verbrechen hatten sie, den Täter würden sie schon finden, egal wen. Aber nicht ihn, bloß weil die Wirtin an dem verkehrtesten Tag ’ne Ausnahme von der Regel gemacht hatte. „Wir wollen Ihnen nicht verhehlen, daß Sie unter Verdacht stehen, Herr Sander.“ Der Hauptmann hob beschwichtigend den Arm, als Wolf Sander den Mund zu einer Entgegnung aufriß. „Hören Sie erst einmal zu!“ fuhr er ihn an, schwieg einige Atemzüge und sagte: „Sie sind nämlich der einzige, der unserer Kenntnis nach ein Motiv für den Mord hat. Und Sie sind auch einige Tage vor dem Mord in dem Waldstück am Muschelsee gesehen worden.“ Wolf Sander erbleichte. Hilflos sanken seine Arme herab. Er fühlte den entsetzten Blick Ingeborgs auf sich gerichtet. Er hatte ihr verschwiegen, daß er ohne ihr Wissen zum Muschelsee gefahren war. „Sie hatten einen Abend gewählt, an dem Sie wußten, daß in Stillmanns Institut eine Versammlung stattfand. So konnten Sie in Ruhe und ungestört den Tatort inspizieren und den Anschlag vorbereiten. Wollen Sie behaupten, daß unser Verdacht nur eine Bösartigkeit gegen Sie ist?“ 153
Die Standuhr schlug die elfte Stunde. Der Raum war von den Schlägen des Westminstergongs erfüllt. Mit dem Abklingen der vollen Töne wurde das regelmäßige Ticken des Pendels wieder hörbar. „Ich habe dich belogen.“ Zerknirscht suchte Wolf Sander den Blick Ingeborg Stillmanns. „Ich war am Freitagabend draußen. Ich wollte ihn sprechen, fragen, warum er nicht die Scheidung einreicht. Wollte ihm sagen, daß wir zusammen leben wollen, weil wir uns lieben. Daß wir uns deshalb nicht befeinden müssen. Du hast es ja nicht gewagt; aber daß Werner Freitag abend auf einer Versammlung war, wie sollte ich das wissen?“ Er schwieg bedrückt, schien die Kriminalisten und den Zweck ihres Hierseins vergessen zu haben. Plötzlich richtete er sich auf. „Ich habe das verschwiegen, weil ich Ingeborg nicht beunruhigen wollte. Sie war so verstört, daß ich befürchten mußte, sie würde mich beschuldigen, nur weil ich Klarheit haben wollte. Ja, Klarheit wollte ich haben, aber nicht auf diese Weise Ich war draußen“, wandte er sich ruhiger an Hauptmann Herold, „aber ich war nicht der einzige dort. Es war noch ein Mann da. Er kam mir auf dem Pfad entgegen, von der Lichtung her, wo die Hütte steht. Ich kam von dem Parkplatz, erschrak und stellte mich hinter eine Kiefer. Ich konnte das Gesicht nicht erkennen; es war schon dämmrig und zuviel Gesträuch dazwischen. Es war aber nicht Doktor Stillmann, dafür war er zu groß und zu kräftig gebaut. Er ging dann wieder zurück, und ich war eigentlich ganz froh, daß ich die unangenehme Begegnung noch einmal hinausschieben konnte.“ Der Hauptmann hatte die Unterlippe vorgeschoben, die Hände über dem Bauch gefaltet. Der Nebel lichtete sich, ein Schimmer der tiefstehenden Sonne drang ins Zimmer. Die verrücktesten Gedanken gingen ihm durch den Kopf. Wie unterschiedlich sich die Menschen verhielten. Ob Sander nun überzeugt war, glaubwürdiger 154
geworden zu sein? Ob er jetzt alles gesagt hatte, was er wußte? Und was nun wohl Frau Stillmann dachte? Eine vorläufige Festnahme würde zu einer baldigen Entlassung führen, denn Staatsanwalt und Richter würden für einen Haftbefehl handfestere Beweise fordern. Wer aber war der Unbekannte, den Sander gesehen haben wollte? Gab es ihn wirklich, blieb noch immer die Frage, ob der der Mörder war. „Näher beschreiben können Sie den Unbekannten wohl nicht?“ Zacharias ließ erkennen, daß er Sanders Worte nicht gerade überzeugend fand. „Das ist wie mit dem Wort auf der Zunge“, entgegnete Sander zerknirscht. „Ich sehe das Gesicht, aber jedesmal, wenn ich glaube, jetzt könnte ich es fassen, verschwindet es wie in einem Nebel.“ Er sah hilflos vor sich hin. „Soll ich Tee kochen?“ Ingeborg Stillmanns Stimme klang belegt und zugleich erleichtert. „Sie werden Herrn Sander doch nun nicht mehr der Tat verdächtigen?“ Sie erhob sich, wartete auf Zustimmung. Hauptmann Herold stand auf. „Wir haben Ihre Geschichte zur Kenntnis genommen, Herr Sander. Sie kommen damit reichlich spät, mein Herr, egal, ob wir Ihnen glauben oder nicht. Auch für unsere Ermittlungen ist das sehr spät, fast eine Begünstigung. Andererseits, einen Verdacht auf einen Unbekannten abzuwälzen ist weder originell noch geeignet, sich selbst dadurch vom Verdacht zu befreien. Es fehlt ein Motiv, Herr Sander. Ich muß Sie beide auffordern, die Stadt vorläufig nicht zu verlassen.“ Im Auto sagte Hauptmann Herold: „Manchmal kommt man einen Schritt weiter, aber nur, um auf neue Fragezeichen zu stoßen. – Was hältst du von der Geschichte?“ „Tja“ – Leutnant Zacharias straffte den Körper – „nach Komplizenschaft sieht mir das nicht aus. Ein so 155
gut eingespieltes Pärchen ist das nicht. Für eine Mittäterschaft hat Frau Stillmann sich zu schnell ins Bockshorn jagen lassen. Auch hat sie über Sander zu offen gesprochen. Irgendwie schien sie ihn selbst verdächtigt zu haben.“ „Schien?“ „Ja, denn jetzt scheint sie ihm zu glauben.“ „Und Sander?“ Der Wagen durchfuhr die Kurve zum Parkweg. Herold und Zacharias drückten sich in die Polster. „Sander? – Tja, Sander. Wer tötet heute schon noch aus Eifersucht?“ „Nun hör mal, Hans!“ Herold war entrüstet. „Meinst du, die Leidenschaften – Liebe, Haß, Eifersucht, Neid – sind ausgestorben?“ Hauptmann Herold wandte ihm ein vorwurfsvolles Gesicht zu. „Nein, natürlich nicht. Ich meine es anders.“ Zacharias überlegte angestrengt. „Es muß um mehr gehen, meine ich. Sander ist mir zu impulsiv für einen kaltblütigen Mord. Er ist auch zu schnell auf den Trick hereingefallen, daß er im Wald gesehen worden ist. Wir haben uns bisher nur an diese Variante wie ein Ertrinkender an ein Brett geklammert. Vielleicht blockieren wir unsere Gehirnzellen, wenn wir sie nicht für andere Möglichkeiten offenhalten.“ „Das war deine Variante“, entgegnete Hauptmann Herold verstimmt. „Zum Teufel auch, deswegen sind wir ja wohl unterwegs.“ Der Wagen fuhr in die Parklücke und hielt neben dem Wartburg Professor Hanssings. „Wir müssen herausbekommen, wer nicht am Freitagabend auf der Versammlung war“, sagte Leutnant Zacharias. „Der Unbekannte läßt mir keine Ruhe. Gibt es ihn wirklich, dann müßten wir weiterkommen. Und wenn wir das Alibi aller mit Stillmann Bekannten überprüfen.“ 156
„Es gibt keine Spuren, keine Fingerabdrücke!“ stöhnte Hauptmann Herold. „Verdammte Scheiße.“ Er öffnete die Wagentür und sagte: „Ich möchte jetzt mal zuhören. Scheint mir, als komme man dabei auf kluge Gedanken.“
24. Es war geglückt! Überwunden der furchtbare Schock, daß die Tür offen und Stillmann nicht in der Hütte war; das abscheuliche Bild am See – noch nie hatte er Stillmann so gehaßt wie als Toten; vorbei die qualvoll peinlichen Minuten im Auto neben der verzweifelten Frau, die steif wie eine Puppe mitgegangen und mitgefahren war; überstanden die dummen Fragen der Kriminalisten, die seine Version des Geschehens offenen Ohres aufgenommen hatten. Die Euphorie war so stark über ihn gekommen, daß er sich zur Gelassenheit zwingen mußte, als er mit Dr. Manthei zurück ins Institut gefahren war. Ja, es war ihm schwer geworden, seine Begeisterung über die perfekte Tat hinter der pflichtschuldigen Miene der Trauer zu verbergen. Er bezwang sich, informierte seine Mitarbeiter mit ernstem Gesicht. Stillmann hatte sich übernommen. Wahrscheinlich total durchgedreht. Na ja, bei der Ehe. Natürlich, natürlich, hart für die Frau, obgleich sie sich schon getröstet hatte. Sie war trotzdem völlig geschockt. Fühlte sich wahrscheinlich ein bißchen mitschuldig. Einige Wochen schon hatte Stillmann da draußen … Das genügte. Andeutungen waren besser als detaillierte Darstellungen. Schließlich war noch Dr. Manthei da. Besser, der berichtete über Einzelheiten. Der Leiter befaßte sich nur mit dem Allgemeinen, dem großen 157
Ganzen. Soweit wie möglich entfernt von dem Geschehen halten. Gertraude war verwundert gewesen. Wochenlang hatte ihr Mann ein verdrießliches Gesicht gezeigt. Seine depressive Stimmung war ihr auf die Nerven gegangen. Die Spannungen zwischen dem nörgelnden Vater und der aufsässigen Marion waren unerträglich geworden. Endlich ein Lichtblick, ein gelöstes Gesicht, ein Mann in Feiertagsstimmung mit zwei Flaschen sowjetischem Sekt. Und plötzlich die Nachricht: Stillmann ist tot. Drei Worte ohne Bedauern, hingeworfen wie eine Mitteilung über das Wetter. „Aber wieso denn das?“ Seltsame Geschichte. „Er war doch in letzter Zeit ganz munter, sagtest du?“ „Zu munter, würde ich heute einschätzen. Total überdreht. Sonst war er doch geradezu ein Pedant.“ „Scheint dich nicht zu bedrücken?“ Seltsamer Blick. „Ihr wart doch seit der Studienzeit zusammen.“ Vorsicht. Nur keine Dummheiten. Selbstverständlich war so etwas bedauerlich, zutiefst bedauerlich. Jeder Kader war sowohl unersetzbar wie ersetzbar. Rein menschlich gesehen, eine Tragödie, menschlich gewissermaßen. „Was wird nun mit seiner Arbeit?“ Gertraude interessierte sich entschieden zuviel für die Sache. Ein so guter Mitarbeiter war Stillmann nun auch nicht. Hatte ihn aus Gutmütigkeit in letzter Zeit über sein Verdienst herausgestellt. War viel zu eigenbrötlerisch. Ließ sich nichts sagen, wußte alles besser. Kein Kollektivbewußtsein … Das verstand seine Frau. „Und ein Erpresser war er auch.“ Verdammt, das war ihm so herausgerutscht. Elende Scheiße. „Wie meinst du das?“ Da hatte er den Salat. „Na ja, wie soll ich das erklären?“ Er hatte das Glas Sekt geleert, nachgeschenkt. „Ganz ein158
fach, mit den Terminen, verstehst du? Also, der Stillmann hat immer gemauert, die Termine soweit wie möglich hinausgeschoben. ‚Nicht zu schaffen, objektive Schwierigkeiten und so.‘ War ihm schwer etwas nachzuweisen, aber ich hatte die Sorgen mit dem Ministerium. Stillmann aber, die freie Zeit, die er damit herausgeschunden hat, die hat er für sein wissenschaftliches Image benutzt, Artikel geschrieben und so. Sogar die im Westen haben ihm geschrieben, was er für ein tüchtiger Mann sei.“ „Er ist immer ein bißchen zu weich gewesen.“ Damit war die Sache für Gertraude erledigt. Nun lag der Alpdruck nicht mehr auf seiner Brust. Er atmete freier, schlief mit einer Tablette die ganze Nacht durch. Endlich konnte er sich wieder als der verstehen, der er war: ein Riese wie die Männer der Renaissance. Ihnen fühlte er sich verwandt; schließlich waren sie auch nicht zimperlich in der Wahl ihrer Mittel gewesen. Und was war die Renaissance gegenüber der Weltenwende, in der er lebte und leitete. Solche miesen Kreaturen wie Stillmann waren in der Lage, die historische Mission der Arbeiterklasse zu gefährden. Dieser Stümper hätte das ganze Institut ruiniert, vielleicht noch die anderen gegen ihn aufgebracht. Gerade genug, was er in den wenigen Wochen seiner erpresserischen Aktivitäten angerichtet hatte. Jetzt aber hatte das Schicksal zugeschlagen. Es mußte sein; es war ein Sieg über ein feindliches Element. Schicksal, das war ein gutes Wort. Damit geriet die Sache außerhalb des Persönlichen. Das ging ihn nun nichts mehr an. Die Gerechtigkeit hatte ihren Lauf genommen. Höheres Interesse als das persönliche war zu wahren. Es sollte so kommen, es mußte so sein. Er war das Werkzeug. Im Institut fühlte Hanssing sich wieder ganz souverän. Man rückte auch wieder enger an ihn heran, ausgenom159
men Dr. Manthei, der sich in betonter Zurückhaltung gefiel. Nun, das würde sich schnell ändern. Manthei hatte er als Nachfolger Stillmanns vorgesehen; Nickelberg war einverstanden, Partei- und Gewerkschaftsleitung auch. Nach der Beerdigung sollte die Sache offiziell werden, aber der Buschfunk würde schon in ein, zwei Tagen die Ohren Mantheis erreichen. Das bedrückte, traurige Gesicht der Susanne Winter war ihm nicht entgangen. Es betrübte ihn sogar selbst, und er wußte nicht, ob er Ärger oder Mitleid empfand. Fast hätte er ihr sein Beileid ausgesprochen. Zu dumm auch, daß sich die Spuren eines Verstorbenen nicht sofort aus der Welt schaffen ließen. So empfand er fast so etwas wie Freude, als Susanne Winter ihn um einen Aufhebungsvertrag bat. Dieses Gefühl verflog jedoch, als zwei Stunden später die andere Assistentin Stillmanns, Nelly Zapf, das gleiche Anliegen vortrug. „Erst muß die Forschungsserie abgeschlossen sein“, verlangte Professor Hanssing kategorisch. Doch Fräulein Zapf schüttelte bestimmt den Kopf. „Ich gehe mit Fräulein Winter und am gleichen Tage.“ Der Ton gefiel ihm gar nicht. Er schluckte eine scharfe Entgegnung hinunter. Sollten die engsten Mitarbeiter Stillmanns ruhig verschwinden. Um so eher verlor er sich aus dem Gedächtnis der anderen. Die Zeit war schnellebig. Jeder hatte mit sich selbst genug zu tun. Also bitte. Mit Gewalt konnte und wollte er niemanden halten. „Wenn die Parteileitung einverstanden ist“, sagte er schließlich, denn Fräulein Zapf war in der SED. Sie drehte sich wortlos um. Bildete sich ganz schön etwas ein. Was nun ausgerechnet die an Stillmann gefressen hatte! Benahm sich wie eine, der das Institut und er selbst gestohlen bleiben konnten. Dabei hatte er immer viel auf die Zapf gehalten; sie gehörte zu denen, die aller Wahrscheinlichkeit nach keinen Partner krieg160
ten und in ihrer Arbeit einen Ersatz für die Ehe fanden. Doch heutzutage war der Nachwuchs Gott sei Dank nicht mehr so knapp wie vor einigen Jahren. Immerhin hatte ihn das Gespräch mit Fräulein Zapf so aufgeregt, daß er die Flasche zu einem energischen Zug an den Mund setzte. Adlershofer Wodka diesmal, damit nicht wieder einer auf Bemerkungen verfiel wie dieser Stillmann. Verflucht! Jetzt begann er selbst schon, ihm einen festen Platz in seinem Gedächtnis einzurichten. Er mußte besser auf der Hut sein. Konnte ja nicht ausbleiben, daß mit dem Tod eines Mitarbeiters Probleme auftauchten. Es würde auffallen, wenn er sich darüber verwundert zeigte. Schließlich war er jetzt die Hauptsorge los. Da sollten ihn die kleinen Querelen nicht anfechten. Er betrachtete den Aktendeckel auf seinem Schreibtisch. In den letzten Wochen war viel liegengeblieben. Jetzt konnte er wieder besser arbeiten, wenn auch nicht so, wie er es wünschte. Zuerst mußte er sich aber mit Stillmanns Forschungsprogramm befassen. In ein, zwei Wochen konnten die Ergebnisse abgefordert werden. Den ersten Nachfragen hatte er entgegengehalten, daß die Sache zwar fertig wäre, aber noch abgerundet werden müßte. Das Ministerium hatte schon die Fäden zu einem chemischen Betrieb geknüpft. Die Sache sollte so schnell wie möglich in die Produktion übergeführt werden. Durch Stillmanns Tod ließen sich zwar noch einige Tage rausschinden, doch die Zeit drängte. Die Unterlagen Stillmanns waren zum Verzweifeln. Wenn er ihn vor sich hätte, würde er ihn zusammenstauchen. Die reinsten Hieroglyphen, Abkürzungen, aus denen nicht schlau zu werden war, Zeichen, die in keinem Nachschlagewerk standen. Nicht einmal die allgemeinen Regeln hatte er beachtet. Eine Unverschämtheit, so etwas zu hinterlassen. Gerade, als wenn er gewußt 161
hätte, daß er ihm damit ein Schnippchen schlagen konnte. Der schlimmste Individualist, Anarchist. Professor Hanssing stöhnte vor Wut und Hilflosigkeit. Diese Blamage, wenn er nicht damit fertig wurde. Soviel war ihm klar, daß Stillmann die letzte, entscheidende Stufe vorbereitet hatte, aber wie er es vorbereitet hatte, was zu tun war, um das vorweggenommene Ergebnis zu realisieren, blieb völlig im dunkeln. Er hätte diesen Stillmann ein zweites Mal umbringen können. Die Räsoniererei half ihm ebensowenig weiter wie Mokka double, Alkohol, Euphorietabletten. Er mußte sich die Blöße geben und einen anderen beauftragen. Brinkam war dazu nicht in der Lage, Bennrad viel zu langsam Und umständlich. Am besten Manthei. Ihm kommissarisch die Leitung der Abteilung übertragen. Ein paar Andeutungen, wohin die Forschung zielen sollte, konnte er ihm machen. Ob er mit den Aufzeichnungen Stillmanns klarkam, mußte sich erweisen. Jedenfalls konnte und sollte er sich allein darauf konzentrieren. Ein Chef hatte ja noch andere Dinge um die Ohren, er mußte vor allen Dingen leiten. Ein Leiter durfte sich nicht verzetteln. Wer das nicht verstand, konnte ihm den Buckel runterrutschen. Er schlug die Aktendeckel zu und legte sie auf den Klubtisch, stellte den Wodka daneben, zwei Gläser und drückte die weiße Taste, die Fräulein Lüsewitz alarmierte. „Sie wünschen, Herr Professor?“ Ihre Stimme krächzte im Lautsprecher. „Herr Doktor Manthei soll raufkommen.“ „Noch einen Wunsch, bitte?“ „Nein, danke.“ „Kaffee?“ „Nein – ja, doch, bitte zwei Tassen, schön stark.“ Manchmal ging ihm die zärtliche Fürsorglichkeit der 162
Sekretärin auf den Wecker. Sie meinte, ihm alle Wünsche von den Augen ablesen zu müssen. Als wenn er sich übertriebener Launen schuldig machen würde. Schließlich hatte er jedem heftigen Wort eine Tafel Schokolade oder eine Schachtel Konfekt folgen lassen. Ganz abgesehen von den gelegentlichen Aufmerksamkeiten, die Fräulein Lüsewitz bei Laune halten sollten. Woher bekam man schon eine solch aufopferungsfreudige Sekretärin, die fast alle Korrespondenz selbst entwarf, deren Briefe er ungelesen unterschreiben konnte. Er wußte schon, was er guten Mitarbeitern schuldig war. Selbst die Raumpflegerin wurde nicht vergessen. Er war nicht ohne Grund gut angesehen. Frauen liebten überhaupt mehr den forschen Typ, nicht diese Duckmäuser wie … Nicht mehr daran denken. Es hatte diesen Menschen nie gegeben. Auch in früheren Zeiten waren aus Freunden Feinde geworden, die sich bis zur Auslöschung des Namens in ihren Memoiren bekämpften. Berzelius zum Beispiel, der jahrelang mit Liebig befreundet war, …zig Briefe mit ihm gewechselt hatte und ihn dann mit keinem Wort mehr erwähnte. Ausgelöscht aus dem Gedächtnis. „Doktor Manthei.“ Das Gesicht seiner Sekretärin erschien in der Tür. Professor Hanssing ging Dr. Manthei entgegen. „Grüße Sie, treten Sie näher, setzen Sie sich bitte, hier.“ Er rückte den Sessel zur Seite und hob die Flasche. „Trinken wir einen? Wußt ich’s doch. Wodka, unser Nationalgetränk. Deutschsowjetische Freundschaft in Prozenten.“ Er lachte leutselig und hob das Glas. „Auf unser Institut, Kollege Manthei, trotz allem. – Wissen Sie“, fuhr Hanssing aufgeräumt fort, „das war ein schwerer Schlag, für Sie und für mich besonders. Ich werde das mein Leben lang nicht wieder vergessen. Ihnen wird es genauso gehen.“ Er suchte die Wirkung seiner Worte abzuschätzen und sagte: „Aber das Leben 163
geht weiter. Auch Nickelberg war sehr bestürzt. Nimmt es ziemlich schwer. Wird ein bißchen alt, der Alte. Findet sich nicht mehr so zurecht. Da kommen wir alle einmal hin. Er ist ganz froh, daß er in drei Monaten emeritiert wird. Wir Jüngeren sollen sein Werk fortführen. Er setzt große Hoffnungen gerade auch auf Sie, Kollege Manthei. Ich, nebenbei bemerkt, auch.“ Fräulein Lüsewitz brachte den Kaffee. „Nehmen Sie Milch und Zucker, Herr Doktor Manthei?“ Sie sah ihn mit schräggehaltenem Kopf von der Seite an, freute sich über das „Ja, bitte, gern“, trug die Zuckerdose und eine Tüte Kondensmilch herbei, stellte sie etwas umständlich auf den Tisch und wünschte, daß der Kaffee hoffentlich gut schmecke. „Eine treue Seele“, sagte Hanssing, nachdem die Tür fast geräuschlos hinter Fräulein Lüsewitz ins Schloß gefallen war. „Herrliches Menschenmaterial, sage ich immer, auch wenn es aus alten bürgerlichen Kreisen stammt. Entscheidend ist die Stellung zu uns, unserer fortschrittlichen Gesellschaft. Wissen Sie, Kollege Doktor Manthei, ich habe auch einen langen Weg hinter mir. War nicht immer so einfach, wie es heute manchmal aussieht. Mußte mich auch anpassen lernen, manchen Fußtritt einstecken, bittere Worte schlucken. Aber das ist vorbei, kommen wir zur Sache.“ Ich quassele zuviel, fuhr es. Hanssing durch den Kopf. Warum schweigt der Manthei, sitzt da wie ein Ölgötze, zeigt keinerlei Regung, schlürft den Kaffee, sieht mich an, als wenn ich was zu verbergen hätte. Unsinn. Er war überempfindlich. Einen Augenblick die Lider senken, auf einen Punkt konzentrieren. Es könnte sich so angehört haben, als wollte ich mich anbiedern. Dem muß ich einen Riegel vorschieben. Dienstlich werden, doch nicht abrupt, von der Sache aus. Also Frage nach dem Stand der Arbeit, Frage nach dem Abschluß, der Übergabe an einen seiner Mitarbeiter. 164
Dann erst die Leitung der Abteilung antragen, Notwendigkeit betonen, Bedeutung für die Gesellschaft; Beförderung in Aussicht stellen, aber nur ganz nebenbei wie eine Selbstverständlichkeit. „Unsere Arbeit läuft gut; Bremer ist meine rechte Hand, er könnte die Arbeitsgruppe auch ohne mich führen.“ Dr. Manthei zog eine Schachtel Zigaretten aus der Tasche, doch als er sie wieder zurückstecken wollte, sagte Hanssing: „Rauchen Sie nur, Kollege Manthei.“ Er sprang auf, holte einen Aschenbecher aus dem Schrank, sagte: „Großartig, Kollege. Ihre Arbeitsweise entspricht meinem Ideal kollegialer Arbeit. Darin liegt Zukunft; auch Ihre, Doktor Manthei. Leider war das bei unserem verstorbenen Kollegen nicht so, muß ich leider sagen, obgleich er durchaus gute Leistungen brachte. Aber sehen Sie hier, seine Aufzeichnungen.“ Er legte Dr. Manthei die Akten vor die Nase, klappte eine auf. „Kaum zu lesen. Unverantwortlich. Kann doch jedem von uns mal plötzlich was zustoßen. Unfall oder so. Ehrlich, ich beneide Sie nicht um diese Aufgabe, aber ich bewundere Sie schon jetzt, denn Sie werden es schaffen. Alles andere, Sie verstehen, folgt dann selbstverständlich automatisch nach.“ Dr. Manthei blätterte die Akte durch, saß da, als wäre er allein. Schließlich schob er sie von sich. „Das ist wirklich ein harter Brocken, Herr Professor. Aber denken Sie nicht, daß ich deshalb vom Institut weggehen will. Das Schreiben liegt schon beim Kaderleiter. Wie gesagt, Kollege Doktor Bremer wird meine Arbeitsgruppe ebensogut wie ich weiterführen.“ Er drückte die Zigarette aus. „Wie? Was?“ Professor Hanssing überkam das Gefühl, mit dem Sessel durch die Dielenbretter zu sinken. Kein Halt. Überall Finsternis und Verlorensein. Alles schien sich gegen ihn verschworen zu haben. Langsam tauchte das ernste Gesicht Mantheis wie aus einem Nebel wieder vor ihm auf. 165
„Wie soll ich das verstehen?“ fragte er leise. „Im beiderseitigen Einvernehmen würde ich gern zum Monatsende aufhören. Andernfalls werde ich selbstverständlich die vierteljährliche Kündigungsfrist einhalten.“ Manthei trank die Tasse aus. Sein Gesicht zeigte Entschlossenheit. „Aber wieso denn das?“ wollte der Professor wissen. „Doch nicht etwa wegen …“ Er sprach den Namen nicht aus, stützte den Kopf in die Hände und blickte Manthei durchdringend an. „Verschiedene Gründe“, wich Manthei aus. Die wahren verstand Hanssing ohnehin nicht. Und wenn er ihm etwas über die miese Institutsatmosphäre sagte, berief er eine Versammlung ein, auf der das Gegenteil messerscharf bewiesen würde, zum Beispiel von Bennrad. Es war besser, alles im persönlichen Bereich zu lassen. Er brauchte ein Kollektiv, in dem der einzelne nicht weniger als der Chef geachtet wurde. Wo es keinen Eiertanz um Prämien, Auszeichnungen und Beförderungen gab, sondern ein anständiges Gehalt. Wo die Beziehungen zum Chef nicht Neid und Mißgunst weckten, wo die Grundlage gemeinsamer Arbeit die gegenseitige Achtung bildete. Er konnte etwas, er brauchte sich nicht am Sessel einer Funktion festzuhalten und nicht an dem Strick des „Gutangeschriebenseins“ zu drehen. „Haben Sie denn schon etwas anderes?“ Lauernder Ton mit unterschwelliger Hoffnung. „Nein, ich hatte bisher keine Zeit.“ „Wissen Sie“, Professor Hanssings Gesicht imitierte einen Juwelenverkäufer, „was ich Ihnen jetzt sage, darf ich Ihnen nur hinter vorgehaltener Hand … Wissen Sie, Sie sind hier wer, woanders fangen Sie ganz von vorn an. Sie können sicher sein, Sie sind hier voll anerkannt. Sie übernehmen nicht nur die Arbeit Stillmanns, sondern auch seine Abteilung. Nickelberg, Parteileitung und BGL haben bereits zugestimmt.“ Na, unterstrich sein Gesicht 166
seine Worte, das ist doch was, da biete ich Ihnen doch eine Menge. Da sollten Sie zugreifen, sich meiner weiteren Gunst versichern. Doch dieser sture Idiot von Manthei zeigte sich unbeeindruckt und sagte: „Alles gut und schön, aber mein Entschluß ist gefaßt.“ „Wissen Sie, Menschenskind!“ Professor Hanssing stand auf. „Ich in Ihrem Alter wäre vor Freude an die Decke gesprungen. In so jungen Jahren eine so große Verantwortung und gesicherte Position. Mit dem Leiterposten ist die Intelligenzrente verbunden, achthundert bis eintausendvierhundert Mark zur normalen Rente dazu. Ist das etwa nichts? Und im Fall der Invalidität oder eines vorzeitigen Ablebens dreihundert bis sechshundert für die Frau und die Hälfte davon für jedes Kind. Man muß auch an Eventualitäten und seine Familie denken. Sie haben doch, glaube ich, zwei Kinder. Das wird Ihnen nicht gleich wieder geboten, das nicht.“ Er blickte auf die bronzene Büste Lenins, die auf dem Bücherschrank thronte, als wollte er sagen, in Gottes Namen, hören Sie auf mich! Dr. Manthei erhob sich. „Sie werden mich für undankbar halten, aber ich muß mal die Tapeten wechseln.“ Die theatralische Rede Hanssings ekelte ihn an. Am liebsten hätte er das Zimmer sofort verlassen. Unschlüssig betrachtete er das Muster des Teppichs, hörte erleichtert die abschließenden, müde klingenden Worte des Professors. „Entscheiden Sie noch nichts. Überlegen Sie sich’s in Ruhe. Sprechen Sie mit Ihrer Frau. In zwei Tagen reden wir noch einmal darüber. Ziehen Sie ihre Kündigung zurück.“ Die Polstertür schloß sich mit einem dumpfen Ton. Ein Druck auf die Taste und drei Worte an Fräulein Lüsewitz: „Bitte keine Störung.“ Krampfhafte Haltung am Schreibtisch. Irgendwie hatte sich eine Verschwörung 167
gegen ihn gebildet. Wer oder was steckte dahinter? Sollte der … oder ein anderer? Undurchsichtige Sache. Die Forschungsarbeit Stillmanns! Wie sollte er davonkommen? Er hing ja nicht nur als Chef, sondern personell mit im Projekt; seine Legitimation als Wissenschaftler, stillschweigend eingebürgert. Jeder wußte ja, daß ihm die Leitungstätigkeit kaum noch Zeit zur eigenen Forschung ließ: Berichte, Berichte; Sitzungen, Sitzungen; Tagungen; Beratungen, Versammlungen; Dienstreisen – etwas wollte man von seiner Funktion auch haben, Auslandsreisen vor allem, um mal die Welt zu sehen und dagewesen zu sein, wo man sonst nicht hinkam. Nein und abermals nein. Er mußte, er wollte damit fertig werden. Himmelherrgottsakrament! Er schlug mit der Faust auf den Tisch, daß die Akten hochsprangen. Den Manthei konnte die BGL in die Zange nehmen. Nickelberg und der Parteisekretär konnten ihm ins Gewissen reden. Schließlich hatten alle eine Verantwortung für das Institut und das Hauptprojekt. Er mußte jetzt eine Tablette nehmen, nur war er sich nicht schlüssig, ob er eine zum Aufputschen oder zur Beruhigung brauchte. Die eine Sorte trug er in der linken, die andere in der rechten Jackentasche. Schließlich schluckte er aus beiden eine, spülte mit einem Wodka nach, obgleich er wußte, daß sich die Tabletten schlecht mit Alkohol vertrugen.
25. Als Hanssing den Moskwitsch vorfahren hörte, fühlte er sich schon etwas besser. Hinter der Gardine stehend, sah er zwei Männer aussteigen, deren Gesichter unter den Hutkrempen verborgen blieben. Im ersten Schreck dachte er, die kommen vom Ministerium. 168
Ängstlich wartete er auf das Klingelzeichen seiner Sekretärin. Unerträglich lang währten die Sekunden und Minuten. Welche Antwort war am zweckmäßigsten? Keine verbindliche jedenfalls. Zeit mußte er jetzt gewinnen. Am besten, von Schwierigkeiten anfangen, Nickelberg mit nennen, mit dem es noch etwas auszuwerten galt. Das Klingelzeichen ließ auf sich warten. Die Ungeduld trieb Hanssing ins Vorzimmer. Fräulein Lüsewitz schob die „Wochenpost“ verlegen ins Schreibtischfach. „Sind noch Unterlagen aus der Abteilung des Verstorbenen nachgereicht worden?“ „Sie haben alles bekommen, Herr Professor, aber ich kann ja noch einmal rückfragen.“ Sie griff zum Telefon. „Nicht nötig, später.“ Mit verkrampftem Lächeln schloß er die Tür. Es war also niemand für ihn gekommen. Vielleicht für die Partei oder die Gewerkschaft. Was so ein Todesfall für Staub aufwirbelte. Scheußliche Angelegenheit. Wenn bloß erst die Beisetzung vorüber und alles wieder normal war. Krank müßte er werden, plötzlich heftiges Fieber bekommen. Wenn er sich jetzt vom Psychiater arbeitsunfähig schreiben ließ, war es mit seiner Autorität vorbei. Unmöglich, er mußte auf dem Posten bleiben. Durchhalten war die Parole. Er mußte sich am Riemen reißen. Es ging alles vorüber, auf jeden Dezember folgte ein Mai. Er schüttelte sich plötzlich. So ging das nicht weiter mit ihm. Wieso ihm dieser Quatsch in den Kopf kam, diese alten, abgeleierten Propagandatiraden. Das war wie ein Rückfall in die Pubertät, wo er als Flakhelfer Granaten geschleppt hatte, zwei Jahre vor dem Abitur und ein halbes Jahr vor dem Jahre Null. Das Klingelzeichen ertönte. „Zwei Herren möchten Sie sprechen. Wegen Herrn Doktor Stillmann.“ Betäubt wie beim ersten Schuß der Flakbatterie. Pro169
fessor Hanssing wischte sich die Stirn. „Ich habe sehr dringende Arbeiten zu erledigen“, entgegnete er unwillig. „Woher kommen die denn, und was wollen sie?“ „Das könnten sie nur Ihnen sagen, Herr Professor.“ „Gut, in fünf Minuten.“ Die Flasche und die Gläser mußten in den Schrank, die Tassen konnten stehenbleiben. Die Akten lagen besser auf dem Schreibtisch. So war das Zimmer empfangsbereit. Zwei Männer in Zivil mit neuestem Moskwitsch? Wahrscheinlich die Kripo. Also irgendwelche Fragen. Hatten sicher schon im Hause herumgeschnüffelt, wahrscheinlich Manthei gehört. Nun, der wußte auch nur soviel wie er. Und ein bißchen weniger. Also klaren Kopf behalten. Nicht mehr sagen als unbedingt nötig. Zuvorkommend empfangen, dabei sehr korrekten Eindruck machen. Klare Antworten auf Fragen, ansonsten abwarten. Keine Verlegenheit anmerken lassen, selbstbewußt erscheinen, Verantwortlichkeit ausstrahlen. Ein Blick in den Spiegel: Das Gesicht war ernst genug. Die Vorstellung konnte beginnen. „Ich lasse bitten.“ Freundliches Händeschütteln. Eine Geste und ein Wort des Wiedererkennens. „Leutnant – ääh – Zacha… rias, nicht wahr?“ Kleines Lächeln. Das gegenseitige Vorstellen, die üblichen Einleitungen. „Von außen sieht man gar nicht, was in so einem Gebäude steckt. Tja.“ Zacharias spitzte den Mund. „Wir haben uns schon ein bißchen umgesehen und umgehört. Eigentlich nicht schön, daß Manthei das Institut gerade in dieser Situation zu verlassen gedenkt. Ist doch nicht wegen …“ „Nein, nein“, fiel ihm Hanssing ins Wort, „davon ist nicht die Rede.“ Er schwieg. Daher also wehte der Wind. Ob Sie Manthei verdächtigten? „Wäre ein weiterer schwerer Verlust für uns, aber noch ist nicht aller Tage 170
Abend. Ich bin sicher“, sagte Hanssing überlegen, „daß Doktor Manthei seinen Entschluß noch einmal überschläft.“ Das war der richtige Ton. Befriedigt fuhr er sich durch die Haare. „Tja“, sagte Zacharias gedehnt, „wir haben noch einmal Ihre Version des Unglücksfalls überprüft, Herr Professor Hanssing. Sie geht nicht auf.“ Wie billig. „Ich habe doch nicht behauptet, daß es so gewesen sein muß, sondern gemeint, daß es so gewesen sein könnte. Schließlich war ich nicht dabei.“ „Ja, gewiß, natürlich.“ Leutnant Zacharias beeilte sich mit der Bestätigung. „Aber Sie finden auch keine andere Erklärung?“ Warum sollte er darauf antworten? Schweigen war Gold. Etwas unerträglich, die Stille. Herold hieß der andere. Hatten noch einen zu Hilfe geholt. Wollten die Sache mit vier Händen abklopfen. Bitte sehr, aber ohne ihn. „Ein Unglücksfall ist völlig ausgeschlossen“, behauptete jetzt der andere, der Kleine, der die Hände über dem Bauch gefaltet hielt. „Gab es hier Anzeichen, daß Doktor Stillmann deprimiert war?“ Bluff oder Wahrheit? „Wieso sind Sie sich so sicher?“ Hanssing fühlte einen stechenden Schmerz im Genick. „Das Wasser hatte nicht gekocht.“ Leutnant Zacharias’ Mund formte dieses widerliche O. „Sie verstehen?“ War er ein dummer Junge? Trotzdem gab er seinem Gesicht einen fragend erstaunten Ausdruck. Dann nickte er langsam. Dummheit konnte er sich als Tarnung nicht leisten. „Das wäre allerdings einleuchtend.“ Verfluchte Scheiße. Die waren ja gar nicht so blöd. Nun tippten sie wohl auf Selbstmord. „Wissen Sie“, Hanssing verzog den Mund, „im Institut hier war er nicht deprimiert. Aber das Eheleben war wohl nicht so, wie es sein sollte. Ins Private mischen wir uns allerdings nicht ein.“ 171
„Frau Stillmann hatte einen Geliebten“, sagte Zacharias, „vielleicht ist bekannt, ob Herr Stillmann eine Freundin hatte – möglicherweise hier im Institut?“ Hanssing mußte immer in Herolds Augen blicken, die ihm hintergründig vorkamen. Er rückte mit dem Sessel zur Seite, sagte: „Soweit mir etwas zu Ohren gekommen ist, nein.“ „Und zu Gesicht?“ Was sollte diese Frage? Was hatten sie ausspioniert? Unwillkürlich dachte Hanssing an den Theaterabend. Sollte ihn jemand gesehen haben? Nichts abstreiten, was zu beweisen war. Aber erst kommen lassen. Nur nichts vorwegnehmen. „Halten Sie einen Selbstmord für wahrscheinlich?“ Dieser Herold wippte im Sessel hin und her. War ganz schön stramm für seine Größe. „Also wissen Sie“, Hanssing betonte jedes Wort, „wer schon kann in den Gedanken eines anderen lesen? Die Seele des Menschen ist unergründlich.“ Er mußte sich jetzt hüten, der Kripo mit einer neuen Version verdächtig zu werden. Amen, dachte Herold und sagte: „Es ist allerdings nicht ausgeschlossen, Herr Professor, daß ein Mord vorliegt.“ Hanssing spürte heiße Wellen durch die Brust fluten. Die saugten sich fest wie die Wanzen. „Wer sollte denn …“ Er verstummte hinter einer erstaunten Miene. „Ein Unfall ist ausgeschlossen, ein Selbstmord unwahrscheinlich. Eine Ihrer Mitarbeiterinnen hat den Samstag mit Stillmann draußen am See verbracht. Und am Sonntag war sie noch mit ihm im Theater. Keine Anzeichen für einen Suizid. Tja, da bleibt nur noch – Mord.“ Leutnant Zacharias schwieg. Hanssings Blicke flogen von einem zum andern. Wer war der Gefährlichere? Er hatte sie unterschätzt. „Würden Sie Doktor Manthei einen Mord zutrauen?“ Der dunkle Glanz in den Augen Herolds irritierte Hanssing. 172
Hanssing kaute auf der Unterlippe. „Warum sollte er? Bloß weil er den Vorschlag machte, an den See zu fahren?“ Das war gut. Nur keine direkten Aussagen. In der Schwebe halten. „Vielleicht liebte er dieses Fräulein Winter.“ „Also man steckt ja nicht in anderen Menschen drin, aber für meine Mitarbeiter möchte ich doch die Hände ins Feuer halten.“ „Und diesem Herrn Sander?“ „Sander, Sander. Wissen Sie, den kenne ich doch gar nicht. Möglich, daß sie sich gehaßt haben, Stillmann und Sander. Aber was weiß ich?“ „Dann blieben nur noch Sie übrig“, sagte Zacharias bestimmt. „Ich?“ Hanssing begann zu schwitzen. Was sollte diese Anspielung. Ruhe bewahren. Schließlich waren noch mehr Personen verdächtigt worden. „Bloß weil ich mit am Tatort war?“ Hanssing gelang ein schwaches Lächeln. „Man hat Ihren Wagen in dem Waldstück gesehen“, bluffte Hauptmann Herold. Hanssing erbleichte, aber er hatte sich gleich wieder in der Gewalt. So blöd war er nicht. Die wollten nur auf den Busch klopfen. Er war kein Hase, er sprang nicht in die Flinten. Sein Wagen hatte nie an dem Waldstück gestanden. „Ganz unmöglich“, sagte er selbstsicher. „Sonntag abend war ich ununterbrochen zu Hause. Meine Frau und Tochter können das bestätigen.“ „Und am Samstag?“ „Da ist ja wohl keiner umgebracht worden. Wissen Sie, da war ich in der Stadt.“ Hanssing spürte kalten Schweiß auf der Stirn. Das hörte sich wie ein Verhör an. Die waren wohl nicht bei Trost. Seine Hände griffen in die Jackentaschen, doch er ließ die Tabletten stecken. 173
„Und am Freitagabend?“ Hanssing starrte auf Zacharias’ Mund. Seine Hand ballte sich zur Faust. Mühsam unterdrückte er die in ihm aufsteigende Wut. „Soll das ein Verhör sein?“ fragte er aufgebracht. „Soll ich mich an jeden Abend erinnern?“ „Sie waren nicht auf der Gewerkschaftsversammlung?“ „Na und?“ Hanssing tat beleidigt. „Dann wird man Ihnen wohl gesagt haben, daß ich fürchterliche Kopfschmerzen hatte. Total überarbeitet. Meine Frau kann Ihnen das bestätigen.“ Zacharias wechselte das Thema. „Die Pfeife vom Wasserkessel wird vermißt. Drei Personen waren in der Hütte. Sie, Herr Professor, sind als erster ’rein und als erster ’raus. Sollten Sie aus Versehen?“ Die Backenknochen Hanssings traten breit hervor. Scheiße mit der Pfeife. Diese Rechnung war nicht aufgegangen. Dennoch, sie hatten die Pfeife nicht gefunden. Und selbst wenn, in dem Sand waren alle Abdrücke verlorengegangen. Mit ihm konnten die das nicht machen. Er ließ sich nicht ins Bockshorn jagen. Schließlich zog er sich die Hosen nicht mit einem Flaschenzug an. „Meine Herren, ich muß doch sehr bitten. Mir war plötzlich übel geworden. Hatte wohl Gas abbekommen. Und die Sache hatte mich aufgeregt. Erst der Ärger, dann der Schreck. Alles, was ich zu sagen hatte, habe ich bereits gesagt.“ Der Hauptmann zeigte sich unbeeindruckt, sagte leise und bestimmt: „Der Mörder hat einen großen Fehler gemacht.“ Pause. Gespanntes Warten auf die Erklärung. „Er hat uns eine halbleere Gasflasche hinterlassen.“ Professor Hanssings Gesicht wurde bleich. Er merkte, wie sein Mund zuckte und sein Hemd unter den Achseln naß wurde. Er zog ein Taschentuch aus der Hose und schneuzte sich umständlich. Verdammter Mist. Er hätte 174
die Flasche in den Tümpel werfen müssen. So eine Dummheit. Darauf baute sich also deren Verdacht. Sie würden nun nicht mehr lockerlassen. Sie hatten sich in den Fall verbissen. Wo ein Mord – ist ein Mörder. Das war logisch. Aber sollten sie. Sollten sie suchen, sich verbeißen, ihn würden sie nicht bekommen, nie! „Das ist allerdings bemerkenswert“, sagte er nachdenklich. „Wohl die alte Geschichte, daß bei jeder krummen Sache immer ein Haken dabei ist. Aber daß unser lieber Kollege …“ Er schwieg bedauernd, mit treuherzigem Augenaufschlag. „Wer sollte ihn denn mir nichts, dir nichts. – Fingerabdrücke haben Sie wohl sichergestellt?“ „Wir haben einen Verdacht“, sagte Leutnant Zacharias. „Die Ehefrau – Sander. Im Vertrauen: Eifersucht, das wäre ein Motiv.“ „Eifersucht!“ Aufatmendes Luftholen. „Keine Indiskretion, selbstverständlich. Das wäre allerdings …“ Vorsicht. Das könnte eine Falle sein, war ja schon einmal da. „Es geht eben nichts über ein ordentliches Eheleben.“ Selbstbewußtes Kinn-an-die-Brust-Ziehen. Das gab Wirkung. „Wissen Sie“, Professor Hanssing setzte sich in Positur, „ich beneide Sie nicht um Ihre Tätigkeit. Wenn ich Ihnen helfen kann, selbstverständlich sind wir als Institut vordringlich an der Aufklärung eines solchen Falles interessiert. Sehen Sie die Akten.“ Er deutete auf den Schreibtisch. „Kurz vor dem Abschluß einer wichtigen Forschungsaufgabe. Was das für uns bedeutet! Wir stehen vor den größten Problemen. Schwierigkeiten über Schwierigkeiten. Unser Hauptprojekt. Letztlich fällt alles auf meine Person.“ Das Bedauern klang echt. Die Kriminalisten zeigten sich beeindruckt, erhoben sich gleichzeitig, verabschiedeten sich mit einer kurzen Verbeugung. „Eifersucht ist ein Motiv“, sagte Hauptmann Herold im Weggehen. „Beseitigung des Nebenbuhlers. Aber viel175
leicht gibt es noch ein anderes? – Sander behauptet, am Freitagabend am See einen kräftig gebauten Mann gesehen zu haben.“ Hanssing riß die Tür auf und versteckte sein Gesicht unter einer tiefen Verbeugung. Er spürte den prüfenden Blick Herolds über sich hinweggleiten, doch als er sich aufrichtete, war die Blässe der Furcht aus seinem Gesicht verschwunden. „Gar nicht so dumm, der Herr Sander“, sagte Hanssing wie zu sich selbst. „Was wollte der eigentlich dort?“ Herold wandte sich um. Ein prüfender Blick traf Hanssing, dessen Mundwinkel ungeduldig zuckten.
26. Erst vier Uhr nachmittags, aber die Straßen der Innenstadt wurden bereits vom Licht der Quarzlampen und Schaufenster erhellt. Lametta, Tannengrün und goldene Sterne in einigen Auslagen kündigten den nahen Weihnachtstrubel an. Ingeborg Stillmann strebte dem Parkviertel zu. Platanen ragten steif in einen violetten Himmel. In der Euckenallee wohnte in einem großen Eckhaus Dr. Karl Kupfer. Beklommen betrat sie den hohen, von verstaubten Lampen trübe erhellten Flur. Dunkle Tapeten und ein Balustradengeländer aus Eichenholz säumten die breite Treppe. Die dicken Wände dämpften den Lärm der Straße. Angstvoll blickte sie in jede Ecke und jeden Winkel. Seit sie überzeugt war, daß Werner ermordet worden war, fürchtete sie, auch ihr könnte jemand auflauern. Seltsame Gedanken gingen ihr durch den Kopf. Die Ungewißheit über den Täter reizte sie zu den gewagtes176
ten Spekulationen. Manchmal glaubte sie wahnsinnig zu werden. Ihre Seele befand sich in einem wilden Streit. Wolf Sanders Beteuerungen glaubte sie, aber gleichzeitig ließ ihr das Mißtrauen keine Ruhe. Wenn es Wolf nicht war, wer war es dann? Werner hatte keine Feinde. Er war überall wegen seiner Friedfertigkeit beliebt gewesen. Die Begegnung mit Karl Kupfer wünschte sie ebenso heftig herbei, wie sie davor bangte. Er würde von ihr mächtig enttäuscht sein. Am Telefon hatte sie ihm nur von dem Tod berichtet. Jetzt mußte sie ihm auch ihr Verhältnis zu Wolf Sander gestehen. Sie sehnte sich nach Verständnis und Rat. Denn wenn sie sich weiterhin so abweisend gegenüber Wolf verhielt, würde sie ihn verlieren. Doch sie konnte nicht dagegen an. Ihr Herz verlangte nach ihm, seinen Zärtlichkeiten, aber wenn er kam, drängte sie ihn schroff zum Gehen. Sie wollte ihn bei sich haben und stieß ihn ab. Sie lauschte dem Klingelzeichen nach und hörte die leichten Schritte Dr. Kupfers. Freundlicher Ernst lag auf seinem Gesicht. Die weißen Haare und dunklen, klaren Augen wirkten beruhigend auf ihr bedrängtes Gemüt. Die sachliche, leise Stimme weckte ihr Vertrauen. „Komm ’rein, leg ab, ich hole inzwischen Tee.“ Die Bücherwände beeindruckten sie wie immer. Geschichte, Philosophie, Soziologie, Medizin, Psychologie, Ethnographie. Karl interessierte sich für viele Gebiete. Schmalspurdenken war ihm verhaßt. Fachidioten waren für ihn keine Wissenschaftler, sondern dressierte Affen. In seinen Urteilen war er bissig und extrem. Er maß alles an einem umfassenden Bildungsideal, das den Menschen in seinen vielfältigen Verflechtungen in der Gesellschaft und Natur begriff. „Wenn der materielle Fortschritt nicht mit einem geistigethischen einhergeht, dann ist es schlecht um die 177
Welt bestellt“ Ein zweiter Satz fiel Frau Stillmann ein: „Geist ohne Macht ist hilflos, Macht ohne Geist gefährlich.“ Sie hörte Schritte. Dr. Kupfer schob einen Teewagen vor sich her. Sie legte die Servietten auf den Tisch, stellte Teller und Gläser dazu. „Einen Augenblick muß der Tee noch ziehen“, sagte er, „setzen wir uns.“ Er zog ein silbernes Zigarettenetui aus der Jackentasche, fingerte eine „Orient“ heraus, stauchte sie und brannte sie an. „Ich hatte euch für die nächste Woche einladen wollen“, sagte er. „Ihr wart lange nicht zusammen hier. Und dich habe ich wohl bald ein Jahr nicht mehr gesehen. Aber das soll kein Vorwurf sein. Ihr verstandet euch nicht mehr so wie früher.“ Frau Stillmann blickte dem Rauch nach. Es war gut, daß Karl diesen Ton anschlug. So fiel es ihr leichter, von ihrer Ehe, ihrer Liebe und ihrem Unglück zu erzählen. „Glaub nicht, daß mir Werners Tod gleichgültig ist oder sogar gelegen kommt. Er hat mir viel bedeutet, nur, Liebe läßt sich nicht erzwingen. Jetzt fühle ich mich wie ausgebrannt. Erst der Verdacht gegen Wolf Sander und nun die schreckliche Ungewißheit.“ Dr. Kupfer drückte die Zigarette aus. „Ich glaube, der Tee ist jetzt gut. Wenn du so nett sein würdest …“ Sie schenkte ein, trank, blickte auf das Bild Margot Kupfers, das über der Heizung hing. Seit fünf Jahren lag sie auf dem Friedhof. Karl hatte ihren Tod nicht zu überleben geglaubt. Kinder waren nicht da. Sie hatten es damit nicht eilig gehabt – erst nach dem Studium und bei guter Anstellung. Dann kamen die Nazis und der Krieg. „Vor etwa sechs Wochen war Werner bei mir“, sagte Dr. Kupfer nachdenklich. „Er hat dir davon erzählt?“ „Daß er dich kurz besucht hat und daß du uns nach deinem Geburtstag …“ Sie stockte und fuhr fort: „Sonst nichts.“ 178
„Dann hat er dir etwas sehr Wichtiges verschwiegen.“ Kupfer tastete nach seinem Etui und entnahm ihm abermals eine Zigarette. „Zunächst möchte ich dir sagen, daß ich nicht glaube, daß Sander den Mord begangen hat. Diese Tat wurde von einem Menschen ausgeführt, dessen Gefühle verkümmert sind; von einem Menschen, der keine tiefen Bindungen mehr zu anderen hat, der nur noch sich und seine Karriere sieht.“ „Ja, aber“, stotterte Frau Stillmann und suchte in den Augen Dr. Kupfers zu lesen. Sie war so erleichtert und froh, daß er Wolf in Schutz nahm. „Aber wer kann es denn bloß gewesen sein?“ Dr. Kupfer wischte Zigarettenasche von seinem Ärmel. „Das weiß ich auch nicht im Sinn von Beweisen“, entgegnete er betont, „aber ich weiß etwas, was außer mir wohl niemand weiß. Oder hat Werner mit dir über ein Plagiat gesprochen?“ „Worüber?“ Frau Stillmann riß die Augen auf. „Über ein Buch, das einer über einen gewissen Löwenhauk geschrieben, besser, abgeschrieben hat.“ „Nein“, antwortete sie gedehnt. Aus der Wohnung nebenan ertönten Schlagerrhythmen. „Wird gleich leiser werden“, beruhigte Dr. Kupfer die nervös aufblickende Ingeborg Stillmann. „So ein Beatfan, alles in den Beinen, wenig im Kopf. Das Hätschelsöhnchen, sollte Medizin studieren, stand schon fest, als er in die Schule kam. Jetzt schafft er gerade die zehnte Klasse. Die Mutter ist beim FDGB, der Vater Philosophieprofessor, was sich heute manchmal so nennt.“ Er lauschte, nickte befriedigt, als die Töne leiser wurden und ganz aufhörten. „Der stellt dann auf sein Zimmer um, das am anderen Ende der Wohnung liegt“, erklärte Dr. Kupfer. „Ich hatte mich ein paarmal bei dem Vater beschwert, aber das half nicht. Dann habe ich mir den Jungen selbst vorgenommen. Seitdem geht es. Ist sich viel zuviel allein überlassen gewesen.“ Er sog an der Zi179
garette, sah den fragenden, ungeduldigen Blick Ingeborg Stillmanns und besann sich auf das Thema. Er hatte lange mit sich gerungen, ob er etwas verlautbaren sollte. Die Sache war für ihn gestorben gewesen; schließlich hatte er Stillmann eindringlich gewarnt. Doch nach dessen Tod war ihm manches durch den Kopf gegangen. Je länger er darüber nachgedacht hatte, desto stärker war der Verdacht in ihm geworden. Ingeborgs Geständnis bestärkte ihn zu dem Entschluß, sein Wissen nicht länger zu verheimlichen. So berichtete er ihr zögernd von dem Gespräch mit Werner Stillmann. Ein wenig ungläubig folgte Ingeborg den Gedanken. „Und du meinst“, sagte sie zweifelnd, „Hanssing, Werners Chef, könnte ihn umgebracht haben?“ Sie war ebenso bestürzt wie überrascht, wollte es aber noch nicht fassen. „Ich weiß es natürlich nicht. Ich weiß nicht einmal, ob Werner gegen meinen Rat gehandelt hat. Aber er war sehr aufgebracht über dieses Buch, und es ist denkbar, vielleicht sogar wahrscheinlich, daß er etwas unternommen hat, was Hanssing als Bedrohung empfinden konnte.“ Dr. Kupfer nickte wie zu seiner Bestätigung. „Ein bißchen komisch oder verdreht kam mir der Hanssing immer vor“, sagte Ingeborg Stillmann. „Aber so etwas?“ Sie kaute auf ihrem Finger und suchte sich das Bild am See zu vergegenwärtigen. Er war der erste, der zur Hütte ging. Die Tür war noch nicht geöffnet, da hatte er Dr. Manthei angeschrien, er solle nicht rauchen, weil es nach Gas röche. Dann war er mit den andern in die Hütte eingedrungen, kam als erster herausgestürzt, fiel hin und war wütend, als sie ihm helfen wollte. Später hatte er sich um sie gekümmert, hatte mehrmals versucht, ihr den Hergang zu erklären, obgleich sie nicht an einen Unfall glauben wollte. „Das könnte alles etwas zu bedeuten haben“, antwortete Dr. Kupfer auf ihre Erklärungen, „doch für sich ge180
sehen, beweist das nichts. Wenn man keine Spuren gefunden hat, wird es sehr schwer sein, Hanssing zu überführen.“ Er pfiff leise vor sich hin, während Ingeborg Stillmann noch einmal auf das Buch zu sprechen kam und fragte: „Warum sollte Werner das Plagiat eigentlich nicht anprangern? Wenn nun jeder vom andern abschreiben würde. Da könnte doch jeder halbwegs Schreib- und Lesekundige mit etwas Übung Bücher schreiben. Wozu abgeschriebene Sachen neu drucken?“ Frau Stillmann deutete auf die Wände. „Die Auswahl ist doch wohl groß genug. Oder muß man erst Professor werden, bevor man das darf?“ Sie lehnte sich empört zurück, schlug die Beine übereinander und stieß hervor: „Und deswegen sollte Werner …!“ „Lassen wir das jetzt, es hilft uns nicht weiter“, dämpfte Kupfer die Erregung Ingeborgs. Stirnrunzelnd fuhr er fort: „Fragen wir uns lieber, was Werner in der Angelegenheit unternommen haben könnte.“ „So einen richtigen Freund außer dir hatte Werner nicht. Mal ein paar Angler, die mit in seine Hütte kamen. Er war viel zu gern allein. Seine Ruhe war ihm heilig. Du kennst ihn doch.“ Dr. Kupfer überhörte den leisen Vorwurf und sagte: „Werner könnte doch hier und da eine Andeutung gemacht haben, im Institut vielleicht oder im Verlag. Das müßte die Polizei herauskriegen können. Oder er hat sogar eine Rezension verfaßt und an eine Redaktion geschickt. Möglicherweise hatte Professor Hanssing dort einen Freund. Auf jeden Fall mußt du Werners Papiere gründlich daraufhin durchsehen.“ Dr. Kupfer erhob sich und lief mit hängenden Schultern auf und ab. Die ganze Geschichte war total verfahren. Wenn überhaupt, hätte Werner das Plagiat öffentlich anprangern müssen. Hätte er ihn nur noch eindringlicher gewarnt … oder unterstützt. Berufsehre soll181
te man nicht unterschätzen. Aber das nützte nun Werner auch nichts mehr. Weiß der Teufel, wie das gelaufen war. Hanssing würde sich hüten, einen eventuellen Zuträger und damit sich zu verraten. Er wandte sich an Ingeborg: „Man müßte Hanssing herausfordern. Wenn er den Mord auf dem Kerbholz hat, dann lebt er in ständiger Angst. Unter einer solchen Belastung gerät er dann ins Schwimmen. Man muß den Stier reizen, nur weiß ich nicht, wie. Rede mit den Kripoleuten, du kannst dich auf mich berufen. Aber rede nicht erst mit Sander, der hält noch ein paar Tage aus.“ „Gut.“ Ingeborg Stillmann stand auf, reichte dem alten Freund erleichtert die Hand. „Wer es auch immer war, ich bin dir so dankbar, daß du Wolf nicht verdächtigst. Er ist manchmal zu unberechenbar, aber ich liebe ihn.“ „Schon gut“, antwortete Kupfer sanft und geleitete sie zur Tür. Als Frau Stillmann ihr Wohnhaus erreichte, sah sie Sanders Wagen vor der Tür stehen. Im Treppenhaus kam er ihr entgegen, erwartungsvoll und überrascht, den Hauch eines Kusses auf der Wange zu spüren. „Bin gerade gekommen“, sagte er froh. „Wollte schon bei dir einbrechen. Unsere Entwürfe sind bis auf einen angenommen.“ Er sah sie stolz an, fuhr fort, als sie nur mit einem wie beiläufig klingenden „Schön“ antwortete: „Das wollte ich dir sagen und …“, er zögerte, „dich zum Abendessen einladen, ins Ermeler-Haus.“ Frau Stillmann schloß die Tür auf. „Ich danke dir, aber ich habe etwas zu essen im Kühlschrank. Und auch ’ne Flasche Wein. Ich muß nämlich ganz dringend Werners Papiere durchsehen.“ Werner, Werner, Werner. Immer wieder Werner. Nicht mal als Toter ließ er ihn zufrieden. „Muß es denn unbedingt heute sein“, begehrte er auf. „Ich habe doch schon einen Tisch bestellt.“ 182
„Ruf an und bestell ihn für morgen abend um“, rief sie aus der Küche. „Du könntest den Tisch decken. Wir finden bestimmt noch etwas Zeit für uns.“ Ihre Worte klangen tröstend. Schließlich kam es auf den einen Tag nicht an. Dennoch fühlte er sich zurückgesetzt und fragte: „Warum muß es denn unbedingt jetzt gleich sein? Verfällt die Lebensversicherung, oder was ist?“ „Darf ich dir noch nicht sagen“, rief sie und dachte, das hätte ich nicht sagen dürfen. Plötzlich stand Wolf Sander vor ihr, zornig und beleidigt zugleich. „Spielst du mit mir Katze und Maus?“ Seine Stimme klang wütend. „Vertraust du mir oder nicht?“ „Doch“, antwortete sie beruhigend, aber ich habe es versprochen. „Wollen wir zusammen leben oder uns was vormachen?“ Sander gab nicht nach. „Denkst wohl immer noch, ich hätt’s getan?“ „Nein!“ Frau Stillmann schlug die Tür des Kühlschranks zu. „Hat der Doktor Kupfer was gesagt?“ „Ja.“ „Was?“ Das Kühlaggregat begann zu brummen. Frau Stillmann drehte den Wasserhahn auf und wusch sich die Hände. „Er hat mir geraten, dich nicht zu nehmen, weil du unbeherrscht und neugierig bist. Nun zufrieden?“ Sie spritzte ihm Wasser ins Gesicht und lachte versöhnlich. „Ich würde dich gern aufs Bett werfen und dir den Hintern versohlen“, grollte er, „aber ich lass’ dich erst aus der Küche, wenn du mir den Grund verraten hast.“ Halb im Scherz, halb im Ernst sagte sie: „Ich hätte dich gar nicht erst mit in die Wohnung nehmen dürfen, so rücksichtsvoll, wie du bist.“ „Bitte“, beharrte er, „hab Vertrauen zu mir. Es ist doch bestimmt etwas, was uns beide angeht. Bring mich nicht zur Verzweiflung.“ 183
Ich hätte damit nicht anfangen dürfen. Einfach sagen, daß ich müde bin, Kopfschmerzen habe und schlafen muß. Punktum. Sie sah Wolf Sander an. „Es ist wegen des Mordes. Dr. Kupfer hat einen Verdacht und ein anderes Motiv als … Deshalb. Bist du nun zufrieden?“ Wolf Sander wollte alles und genau wissen. Und nun war es auch gleich. Hanssings Buch wollte er sehen und das von Xaver Steidle. Beide lagen auf dem Tisch in Werners Zimmer, das Ingeborg unverändert gelassen hatte. Sie sah Wolf über die Schulter und erblickte auf den Seitenrändern lange Striche und die Seitenzahlen von dem jeweils anderen Buch. „Das ist ja wirklich ein dolles Ding!“ Wolf Sander blätterte aufgeregt eine Seite nach der anderen um, las, verglich, verglich, las. „Das übergebe ich einem Journalisten!“ rief er. „Die reinste Eulenspiegelei. Damit verdient nun einer Geld, macht sich womöglich noch ’nen Namen auf Kosten des andern. Mensch, gerade als wenn ich einen nachgemachten Dürer für einen echten verkaufe oder so ähnlich. Und so was nennt sich Professor.“ Die letzten Worte klangen abfällig. „Sollen sie sich doch nicht so viel einbilden auf Titel und Orden. In Frankreich oder England würde man sich beleidigt fühlen, wenn man nicht mit seinem Namen angesprochen würde. Herr Professor, Doktor, Sanitätsrat, Oberarzt, Wurstrat, Brötchenrat – besonders hoch im Kurs –, Ordensrat, Studienrat, lauter Räte und Oberräte.“ Sander streckte die Zunge heraus. „Ernenne mich zum Moderat.“ Er verbeugte sich. Plötzlich erstarrte er. „Mensch!“ Er schlug sich vor die Stirn. „Jetzt hab’ ich’s! Mann! Da draußen hatte ich doch einen gesehen. Weißt du, wer das war?“ Sanders Gesicht glühte. „Hab’ ich dir nicht auch gesagt, daß mir ein Gesicht am See bekannt vorkam?“ 184
„Hanssing?“ fragte sie atemlos. „Genau!“ Seine Stimme klang triumphierend. „Dem werde ich auf die Bude rücken!“ Er schmiß die Bücher auf den Tisch, sprang in den Flur, riß den Mantel vom Haken. Ingeborg Stillmann war ihm nachgerannt und stellte sich vor die Tür. „Bist du wahnsinnig?“ rief sie außer sich. „Jetzt habe ich geplaudert, und du rennst gleich los wie ein Verrückter.“ „Genau“, antwortete er wild. „Dem Lumpen werd’ ich’s geben. Der hätte mich glatt hinter Gittern sitzenlassen und dich dazu. Weißt du nicht, was die Zeit für mich bedeutet hat, wo du mich verdächtigt hast? Wahnsinnig wäre ich bald geworden. Nirgendwo ein Lichtblick. Die Kripo hinter mir her. Die Stadt nicht verlassen, eine Gnadenfrist. Des Mordes verdächtig aus Eifersucht. Laß mich los! Dem werde ich den Marsch blasen.“ Er stieß Ingeborg Stillmann zur Seite, riß die Tür auf und stürzte die Treppe in großen Sätzen hinunter. „Um Gottes willen!“ Frau Stillmann rannte zum Fenster, sah, wie Sander aus der Parklücke fuhr und mit Vollgas davonbrauste. „Mein Gott!“ Sie stürzte zum Telefon, wählte 110, verlangte Leutnant Zacharias, der sich wie nach einer Ewigkeit meldete. „Nun mal langsam“, mußte er sagen, und sie hatte die Vorstellung, daß er seinen Mund spitzte. Sie versuchte langsamer zu sprechen und wiederholte: „Sie müssen gleich etwas unternehmen, schnell, sonst passiert ein Unglück.“ Leutnant Zacharias war ganz Ohr. Also doch! Noch während er zuhörte, ließ er sich mit Hauptmann Herold verbinden. „Danke“, sagte er, „und beruhigen Sie sich, wir fahren gleich ab. Aber dem Herrn Sander sollten sie mal ein paar Pantoffeln stricken.“ So ein Leichtfuß, brummte er vor sich hin. 185
„Hörst du?“ Hauptmann Herold hörte und ließ Zacharias nicht ausreden. „Alles klar“, sagte er, „wir holen dich ab. Der Stein kommt ins Rollen.“
27. Professor Hanssing erinnerte sich an das Gesicht, als er Sander vor sich stehen sah. „Aha“, sagte er überlegen, „Sie wollen mich in der Angelegenheit Stillmann sprechen.“ Er wies auf einen Stuhl, der an der Rückseite seines schräg ins Zimmer gestellten Schreibtisches stand. „Sind wohl der Hausfreund, wenn ich das so sagen darf, Herr Sander?“ Sander überhörte die Ironie. Er blieb hinter dem Stuhl stehen und sah Hanssing wütend an. „Ich habe Sie schon einmal gesehen“, sagte er aufgebracht, „vor der Tat, in einem Wald in der Nähe einer Hütte.“ Der Hieb saß. Die Gesichtsfarbe des Professors änderte sich für einen Augenblick. Dann öffnete sich der breite Mund zu einem höhnischen Gelächter. „Deshalb sind Sie gekommen. Erpressung, nicht wahr? Ein Edelmann vom Scheitel bis zur Sohle. Wieviel verlangen Sie?“ Der Professor setzte das Lachen fort und zeigte große, starke Zähne. Als Sander nichts erwiderte, sagte er barsch: „Wieviel Sie verlangen, habe ich gefragt?“ Er schlug mit der flachen Hand krachend auf die helleichene Schreibtischplatte. „Sie alarmieren das ganze Haus, wenn Sie so schreien“, entgegnete Sander kühl. „Möchten Sie!“ Wieder das wiehernde Lachen. „Das Zimmer ist schalldicht isoliert, mein Herr. Ich vertrage keinen Lärm außer dem, den ich selbst mache. Nun will ich Ihnen sagen, was Sie sind.“ Hanssing verzog den 186
Mund zu einem herausfordernden Grinsen: „Sie sind ein lächerliches Würstchen, ein Hurenbock, der Frauen anständiger Männer umlegt. Ein Schwein sind Sie, ein elender Dreckskerl!“ Hanssings Backenknochen traten stark hervor. Sein Mund zuckte vor Wut. Sander wunderte sich, daß er dem nicht ins Gesicht schlug. Er hätte aus der Haut fahren, vor Zorn platzen, mit den Fäusten auf ihn eindringen, dem unverschämten Kerl etwas an den Kopf schmeißen müssen. Statt dessen fühlte er sich ernüchtert, leer. „Ich kann von meiner Arbeit leben“, entgegnete Sander lakonisch. „Ich brauche niemanden auszubeuten wie Sie den Stillmann. Ich habe Sie zwei Tage vor dem Mord in dem Wald gesehen, auf dem Schlängelpfad und bei der Hütte. Die Polizei wird das interessieren. Ihr Spiel ist aus. In meinen Augen sind Sie ein erbärmlicher Schuft.“ „Ja!“ Hanssing lachte wie irr. „Jaja!“ Er tippte sich mit dem Zeigefinger vor den Kopf. „Damit glauben Sie etwas beweisen zu müssen, zu können, Sie lächerlicher Dummkopf Sie. Möchten wohl die Kripo von Ihrer Spur ablenken, wie?“ Hanssings Stirnadern schwollen gefährlich an. „Daraus wird nichts, mein Herr!“ „Daraus noch nicht.“ Sander sah Hanssing scharf an. „Aber vielleicht aus dem Buch Xaver Steidles, wie?“ Der Professor wich einen Schritt zurück. „So also sieht das aus“, sagte er eisig. „Auch das beweist nichts, gar nichts. Sie haben kein Glück, mein Herr.“ Er lachte wieder, doch es klang verkrampft. „Wie Sie wollen“, entgegnete Sander sarkastisch. „Sie haben ein lächerliches Plagiat verfaßt, sich mit fremden Federn ausstaffiert wie ein putzsüchtiges Frauenzimmer. Stillmann hat es Ihnen unter die Nase gerieben, und Sie haben ihm nachspioniert und ihn umgebracht.“ „Und sie glauben, daß Sie sich damit reingewaschen haben? – Sie haben kein Glück, mein Herr, sagte ich 187
schon einmal.“ Hanssing beugte sich vor. Seine Hand tastete nach einem handgroßen Granatsplitter auf seinem Schreibtisch. „Ich verlange, daß Sie sich der Polizei stellen“, sagte Sander drohend. „Oder ich werde Ihr Plagiat in aller Öffentlichkeit anprangern.“ Sander nahm noch eine blitzschnelle Bewegung wahr und wich instinktiv mit dem Kopf und der Schulter zur Seite. Ein fauchendes Geräusch ertönte neben seinem Ohr, ein dumpfer Ton hinter ihm. Vor ihm erschien der ausgestreckte Arm Hanssings und ein wutentstelltes Gesicht. „Sie kommen hier nicht heraus“, hörte Sander eine ihm fern und verzerrt klingende Stimme. Er sah Hanssing langsam hinter dem Schreibtisch vorkommen, den marmornen Briefbeschwerer in der Hand. Sander bewegte sich rückwärts zur Tür, ertastete die Klinke, aber die Tür bewegte sich nicht. „Möchten Sie“, hörte er die Stimme des Professors und ein höhnisches Lachen. „Ich sagte Ihnen doch, Sie kommen hier nicht heraus, lebend!“ Hanssing kam näher und fuhr fort: „Schreien Sie nur. Niemand kann Sie hören. Die Fenster sind vierfach verglast, zwei Verbundfenster genau. Meine Erfindung. Und in einer Minute wissen Sie nichts mehr, Sie elender Schnüffler.“ Es war wie in einem Film. Hanssing erschien Sander wie Frankenstein. Er kam auf ihn zu, Fuß vor Fuß, den Arm erhoben, den schweren Gegenstand in der Faust. Sander fühlte sich gelähmt. Er glaubte ohnmächtig zu werden. Wie ein Kaninchen vor der Schlange, dachte er, aber plötzlich sah er Ingeborgs Gesicht, und er sah den Professor und war hellwach. Der oder ich, schoß es ihm durch den Kopf. Wie in uralten Zeiten, Mann gegen Mann. Seine Chance war gering. Er stand an der Tür, konnte nach beiden Seiten ausweichen, kam aber nicht an ir188
gendeinen Gegenstand heran, den er als Waffe benutzen konnte. Zeit blieb ihm nicht. Noch zwei, drei Schritte – oder ein unerwarteter Sprung. Jeden Augenblick konnte Hanssing zuschlagen. Er starrte in dessen Augen, die vor Entschlossenheit funkelten. Er würde den Schlag mit dem Arm parieren. Aber plötzlich entdeckte er in Hanssings anderer Hand einen wie ein Stilett gearbeiteten Brieföffner. Schlag und Stich, dem war er nicht gewachsen. Er mußte ihm zuvorkommen. Er duckte sich blitzschnell, täuschte, als wollte er zur Seite ausweichen, sprang vor, rammte beide Fäuste in Hanssings Magen, spürte einen Stich im Genick, taumelte zurück, sah, wie Hanssing in die Knie ging, röchelte; stieß noch einmal mit der Faust zu, traf die Schläfe, wich zurück, rüttelte an der Tür, vergeblich, stürzte ans Fenster, öffnete es und sprang hinaus. Im Auto spürte er Blut den Rücken hinuntersickern. Die Hand, mit der er sich in den Nacken griff, fühlte die Wunde. Er drückte ein Taschentuch darauf, startete und fuhr zur nächsten Telefonzelle. Kaputt. Das Zwanzigpfennigstück klemmte. Verdammte Scheiße. Er fuhr weiter, sah den nächsten Fernsprecher, in dem ein Mann telefonierte. Er riß die Tür auf, schrie: „Mordanschlag! Sie müssen sofort auflegen, schnell!“ Der Mann starrte ihn fassungslos an. „Wohl betrunken, wie?“ rief er ärgerlich zurück. Er wollte die Tür zuziehen, doch als er das Blut entdeckte, erbleichte er und hängte den Hörer wortlos auf.
28. Verspielt, verspielt. Diese Worte überfielen Professor Hanssing mit elementarer Gewalt. Sie lähmten ihn, ließen ihn die Augen schließen und das Ende aller Qualen 189
herbeiwünschen. Übelkeit stieg in ihm auf; er glaubte sich erbrechen zu müssen und würgte Luft in den Magen, von dem ein brennender Schmerz ausstrahlte. Sein Kopf dröhnte von dem Aufprall gegen den Lampenfuß. Langsam richtete er sich auf, sah die Gegenstände um sich herum in seinem vertrauten Arbeitszimmer, das er sich nach seiner Ernennung zum Professor nach eigenen Entwürfen hatte einrichten lassen. Durch das geöffnete Fenster strömte herbkühle Luft herein. Er beugte sich hinaus und atmete hastig und tief ein. Die Lebensgeister erwachten wieder, mit ihnen Angst und Verzweiflung. Er hatte sich verraten. Sander gegenüber, auch wenn der keine Beweise hatte. Aber irgendwie schloß sich der Ring. Die Gasflasche; die Pfeife, die er abgezogen und beim Hinausstürzen unter sich eingebuddelt hatte. Vielleicht fanden sie die noch. Gertraude hatte ihn vermißt, als sie gegen ein Uhr wach geworden war. Er wäre im Institut gewesen, hatte er gesagt und gemerkt, daß sie ihm nicht glaubte. Trotzdem hatte sie der Polizei gegenüber seine Aussage bestätigt, daß er zu Hause gewesen wäre. Er war am Ende, er fühlte und begriff es. Alles so gut eingefädelt, und jetzt riß der Faden. Stillmann mußte seiner Frau von dem Buch erzählt haben. Sie hatte Sander aufgehetzt, um ihn zu erpressen. Nun würden sie die Kripo alarmieren. Ein Wagen mit Blaulicht vor der Tür. Die Augen der Nachbarn, Gertraude, Marion. Verhör und Verhaftung. Der Herr Professor ein … Gerichtsverhandlung. Knast, abgeschoben für immer, lebendig begraben, geächtet, tägliches Grauen um und in sich. Keine Hoffnung. Motorengebrumm. Lauschen. Es kam näher. Er hatte keine Zeit mehr zu verlieren. Kriegen sollten sie ihn nicht. Er öffnete eine der Schranktüren, zog mehrere Päckchen Tabletten heraus, Gleichgültigkeits- und Euphorie190
tabletten, schluckte einige, spülte sie mit Selters hinunter, steckte die anderen in die Jackentasche. Eine Flasche Rémy Martin aus der Vitrine steckte er in die Seitentasche. Gertraude! Das Herz krampfte sich ihm zusammen. Er drückte den Auslöser, der das Türschloß gesperrt hatte. Keinen Abschied. Nur eine kurze Information, daß er dringend die Außenstelle aufsuchen müsse. Er betrachtete sein Gesicht in der Scheibe der Vitrine. Eine Schwellung unterhalb der Schläfe. Am Kopf eine Beule. Gertraude würde nach dem Besucher fragen. Lieber ein paar Zeilen! Zwei Wagen bogen in die Straße ein, hielten vor dem Zweifamilienhaus. Im Licht der Laterne erkannte Hanssing zwei Männer. Einer streckte den Arm vor, klingelte. „Ja, bitte?“ Gertraudes Stimme. Es wurde höchste Zeit. Hanssing ließ sich aus dem Fenster. Seine Fußspitzen ertasteten den weichen Gartenboden. Von Büschen und Hecken gedeckt, schlich er durch den Garten, überstieg einen hüfthohen Bretterzaun, gelangte durch einen weiteren Garten in die Nebenstraße, in der seine Garage lag. Der Gedanke, daß die Kripoleute in sein Zimmer treten und weder ihn noch den Besucher entdecken würden, begann ihn zu belustigen. Rätselraten hin, Rätselraten her, bevor sie auf die Idee kommen würden, in der Garage nachzusehen. Dann war er schon auf dem Weg zur Brücke. Andere würden ihn finden, die nicht. Aber dann war alles vorbei. Und alles gerettet, vor allem die Ehre. Ein Unfall, ein tragischer Unfall mit tödlichem Ausgang. Bei dienstlicher Pflichterfüllung. Ein schmerzliches Ereignis. Gertraude konnte den Kopf hochtragen und stolz auf ihn sein. Marion würde ihm verzeihen. Einige Kollegen des Instituts würden sich freuen; dieser Manthei zum Beispiel, der ihn so enttäuscht und in eine unmögliche 191
Situation gebracht hatte. Als wollte er demonstrieren, daß er ihm Schuld an der Stillmannaffäre gab. Erleichtert hörte Hanssing den Motor anspringen, jenes helle, baffende Geräusch, das ihm Kraft über die fünfzig PS verlieh. Beinahe wäre er gegen einen Skoda gestoßen, der die Straße fast unhörbar entlangrollte. Der Farbe nach hätte es der Wagen Sanders sein können. Er mußte aufpassen. Ein dummer Verkehrsunfall mit leichten Verletzungen konnte ihm alles verderben. Erleichtert ließ er die Siedlung hinter sich. Die Hauptverkehrsstraße war, wie immer in den Abendstunden, belebt. Welcher Tag war eigentlich heute? Es beunruhigte ihn, daß er sich beim besten Willen nicht daran erinnern konnte. Vor einigen Tagen war Sonntag gewesen. Da hatte er den ganzen Tag über den Stillmannschen Aufzeichnungen gebrütet. Aber Mittwoch war nicht, denn dann hätten sie Sitzung gehabt, und dieser Sander hätte ihn nicht überraschen können. War schließlich auch gleichgültig jetzt, obgleich er gern gewußt hätte, an welchem Tag alles zu Ende ging. Solange er in der Stadt fuhr, hielt er sich streng an die vorgeschriebene Geschwindigkeit. Aber draußen drehte er auf. Hunger begann ihn zu quälen. Er trank einen Schluck Kognak, schluckte einige Tabletten, setzte die Flasche erneut an den Mund. Wenn die volle Wirkung der Tabletten und des Alkohols eintrat, mußte er die Autobahn erreicht haben. Dann schaffte er noch die Kilometer bis zur Brücke. Er würde den Scheinwerfer auch bei Gegenverkehr aufgeblendet lassen und starr auf den Pfeiler achten, den er mit dem linken Vorderrad rammen mußte. Die Wucht des Aufpralls mußte den Wagen herumschleudern und über die Böschung in das Wasser stürzen lassen. Nur vor dem Aufprall hatte er Angst. Er würde seinen ganzen Willen brauchen, um diese Sekunden zu überste192
hen. Er wollte nicht an den Tod denken, nur an die Befreiung, die mit dem Pfosten auf ihn zukam. Sein Auto, das er wie seine Frau liebte, mußte ihn retten. Mit ihm würde er alles hinter sich lassen, um sein Gesicht zu wahren. Ein Toter wurde nicht verhört, nicht lebenslänglich eingesperrt, nicht eines Plagiats oder eines Mordes angeklagt. Ein Toter befand sich jenseits von Gut und Böse. Und ein Jüngstes Gericht fürchtete er nicht.
29. Erstaunen und Bestürzung Frau Hanssings wirkten echt auf Hauptmann Herold. „Vor kurzem ist ein Herr gekommen. Mein Mann hat ihn in sein Zimmer geführt. Ich habe niemanden rausgehen hören. Ich weiß selbst nicht, was ich davon halten soll. Aber Sie sehen selbst, das Zimmer ist leer.“ Es sah nicht gerade unordentlich aus. Keine umgestürzten Möbel. Unter einem Sessel erblickte Leutnant Zacharias den Briefbeschwerer. An der Scheuerleiste lag ein handgroßes gezacktes und leicht gekrümmtes Metallstück. Schien von einer alten Granate zu stammen. Auf dem Teppich und der Fensterbank entdeckte Hauptmann Herold Blutstropfen. „Ich sehe mal im Garten nach“, sagte Leutnant Zacharias und verließ das Zimmer. Hauptmann Herold rief die Kriminaltechnik an. Obermeister Ranzun vom Streifendienst übertrug er die Tatortsicherung. Er selbst folgte dem Leutnant. „Hier sind Spuren“, hörte er die Stimme des Leutnants, der gebückt über den Boden schritt und die Taschenlampe dicht darüber hielt. Sander erschien an der Gartentür. „Ich bin durch das Fenster ’raus!“ rief er. 193
Hauptmann Herold leuchtete ihm ins Gesicht. „Lassen Sie sich verbinden. Und rufen Sie Frau Stillmann an.“ „Hab’ ich schon“, entgegnete Sander, doch Herold hatte sich bereits abgewandt und folgte Zacharias durch den Garten. „Zwei Spuren sind es“, brummte Zacharias. „Die größeren Tapfen dürften Hanssings sein. Sie führen zum Nachbargarten. Auf der frisch umgegrabenen Erde siehst du die Abdrücke ganz deutlich.“ Sie stiegen über den Zaun und erreichten die Seitenstraße. Nichts zu sehen. Jetzt fehlte ihnen ein Hundeführer. „Da steht ’ne Garage offen.“ Leutnant Zacharias lief über die Straße, während Hauptmann Herold ins Haus zurückkehrte. „Ja“, sagte Frau Hanssing verstört, „das ist unsere Garage. Aber warum ist er denn einfach weggefahren, ohne was zu sagen? Ich verstehe das alles nicht. Was ist denn nur geschehen?“ Sie blickte hilflos verwirrt von einem zum andern. So etwas hatte es noch nie gegeben. Ihr ganzes Leben bestand aus Ordnung und Disziplin. Was wollte man von ihrem Mann? Er war ja schon ganz durchgedreht die letzten Tage. Diese viele Arbeit am Feierabend noch und den Ärger wegen Stillmann, der ja nicht einmal die fertiggemeldete Arbeit beendet und unleserliche Unterlagen zurückgelassen hatte. Plötzlich wie ein erschreckendes Erwachen der Verdacht. Nein, sie wehrte sich mit aller Kraft. Wenn Herbert auch an dem Abend ein paar Stunden nicht zu Hause gewesen war, so etwas würde er nie fertigbringen. Sie wollte ihm glauben, daß er ins Institut gefahren war, um nachzusehen, ob die Apparaturen richtig liefen. Mit dem Tod Stillmanns hatte er nichts zu tun. Ihr Mann war doch kein … Sie hob den Kopf, trocknete sich die Augen und ging stolz in ihr Zimmer. 194
Wer weiß, was ihm dieser Sander erzählt hatte. Umsonst blutete der nicht. Hatte sich wohl auf Herbert gestürzt und ihn zur Verteidigung gezwungen. War dann aus dem Fenster entkommen und Herbert hinterher – nachdem er die VP alarmiert hatte –, um ihn zu stellen, zuerst zu Fuß und dann mit dem Wagen. Hauptmann Herold und Leutnant Zacharias trafen sich auf der Straße. „Wohin mag er gefahren sein?“ „Keine Ahnung; in der Garage ist nichts zu entdecken.“ „Er wird auf dem schnellsten Weg die Autobahn zu erreichen versuchen“, suchte Hauptmann Herold seine Frage zu beantworten. „Drei Richtungen stünden ihm offen, wenn er Berlin verlassen wollte.“ „Für welche entscheiden wir uns?“ fragte Herold. „Für die kürzeste.“ Sie fuhren mit großer Geschwindigkeit; Blaulicht und Horn bahnten den Weg. Kurz vor der Autobahn sahen sie einen Wartburg vor sich, der die Farbe des Hanssingschen hatte. Aber er war es nicht. Eine Frau saß am Steuer. „Ja“, rief sie aufgeregt, „mich hat vor einigen Minuten ein Wagen überholt, von dem ich dachte, das könnte meiner sein.“ Sie atmete erleichtert auf. „Dachte schon, ich hätte was falsch gemacht. – Er fuhr ziemlich schnell.“ „Vielleicht haben wir Glück.“ Leutnant Zacharias stieg wieder ins Auto. „Fahren Sie weiter!“ spornte Hauptmann Herold den Fahrer an. „Stellen Sie die Signale ab. Volle Fahrt.“ Der Wagen ruckte an, daß Herold und Zacharias in die Polster flogen, raste durch die Kurve mit heulenden Reifen, sauste vor einem Skoda-Sport auf die Autobahn, gleich auf die Überholspur. Einhundertvierzig, das würde reichen. 195
Ein Wagen nach dem andern tauchte vor ihnen auf, Lastwagen, Personenwagen, Westwagen, ab und zu ein Motorrad. Wenn sie daran vorbeirasten, sah es aus, als stünden die Überholten still. Der Grünstreifen erschien im Scheinwerferlicht wie ein heranfliegender Pfeil. Die Räder klopften über die Risse und Unebenheiten. Wie immer bei solchen Fahrten mußte Leutnant Zacharias daran denken, was wohl passieren würde, wenn ein Reifen … „Rechts ein sandgelber Wartburg!“ Er war es, Hanssing. Kurz vorfahren, Stoppsignal geben. Verdammt, er fuhr weiter, bog links aus, gab Gas, raste davon. Idiot. Hinterher! Den Verkehr konnten sie nicht gefährden. „Wir wiederholen das Manöver“, befahl Hauptmann Herold, „fahren Sie ein bißchen schärfer ’ran, daß er merkt, daß es uns ernst ist.“ Der Fahrer gab sein Bestes. Bei dieser Geschwindigkeit riskierte man Kopf und Kragen. Hanssing entwischte ein zweites Mal. „Der weiß, was die Glocke geschlagen hat.“ Hauptmann Herold wischte sich den Schweiß von der Stirn. „Mensch, schalten Sie die Heizung ab“, wandte er sich an den Fahrer und öffnete den Kragen. „Wir bleiben dicht hinter ihm“, fuhr Herold fort. „Haben wir genug Benzin?“ „Kommt darauf an, wie lange das des Wartburgs reicht“, knurrte der Fahrer, verärgert über seinen Mißerfolg. Er behielt den Wagen, der seine Geschwindigkeit steigerte, fest im Blick. „Ich muß den Abstand vergrößern“, sagte er. „Bei hundertdreißig ist zu schnell was passiert. Der fährt wie ein Verrückter, überholt im letzten Augenblick, biegt scharf ein. Das schafft nur einer mit Vorderradantrieb.“ Die Sicht wurde schlechter. Nebelschwaden hingen 196
über der Straße. Ab und zu verloren sie den Wartburg aus den Augen. „Hoffentlich biegt er nicht irgendwo ab“, sagte Leutnant Zacharias. „Anfangs hatte ich auf Sander getippt.“ „Nichts ist schwerer zu durchschauen als leicht entstellte Tatsachen“, antwortete Herold. „Ich wurde stutzig, als Fräulein Winter uns das mit den Theaterkarten erzählte. Während die im Theater waren, konnte Hanssing in aller Ruhe die Flaschen auswechseln, damit die Dosis reichte.“ „Merkwürdig war auch, daß es außer den Fingerabdrücken Stillmanns und der Winter keine weiteren in der Hütte gab. Hanssing muß mit Handschuhen gearbeitet haben.“ „Aber sein Alibi war in Ordnung.“ „Hörst du, wenn jemand neben dir aufsteht? – Ich nicht, ich schlafe wie ein Ratz. Und außerdem, welche Frau wird ihren Mann belasten?“ „Aber wenn er nicht gesteht, wird es schwer sein, ihn zu überführen.“ „Jetzt müßte er langsamer werden“, mischte sich der Fahrer ins Gespräch. „Wir kommen gleich zu der Brücke, wo man bis auf dreißig ’runter muß.“ „Denkt nicht daran“, fluchte Hauptmann Herold. Der Abstand zwischen den Wagen wurde größer. „Der entwischt uns schon nicht“, beruhigte sie der Fahrer. Professor Hanssing frohlockte. Er hatte sie ausmanövriert. Sollten sie hinterherfahren. Es war ihm gleich. Die Brücke mußte gleich kommen. Das Benzin würde reichen. Der Wagen ließ ihn nicht im Stich. Er fühlte keinen Schmerz und keine Angst. Die Tabletten und der Alkohol hoben ihn in eine entrückte Stimmung. Es gab nichts mehr außer dem Betonstreifen und dem Pfeiler. Kein Bedauern, keine Furcht. Alles ließ er hinter sich. Ein Traum umgab ihn. Schwerelosigkeit und ein Ziel. 197
Seine Kräfte waren auf dieses eine Ziel konzentriert. Im Rückspiegel sah er, wie der Polizeiwagen zurückfiel. Sie hatten Angst vor der Brücke, wo der Asphalt gerissen und Löcher entstanden waren. Die letzten dreihundert Meter lagen vor ihm. Der Scheinwerfer traf den Pfeiler. Zum letztenmal: Vollgas! Der Pfeiler kam plötzlich mit unheimlicher Geschwindigkeit auf ihn zu. Instinktiv wollten seine Hände das Steuer herumreißen, doch er biß die Zähne zusammen und … Ein Feuerregen stob grell in die Luft. Eine Minute später hielt der Polizeiwagen an der Brücke, gab Warnzeichen. Die Kriminalisten sahen nichts und dirigierten den Wagen an die Böschung. Der Scheinwerfer wanderte langsam über das schmale Ufer aufs Wasser. Ein Rad ragte in die Luft, Dampf stieg auf, Blechteile und ein Sitz lagen im Gras.
198
1. Auflage © Verlag Das Neue Berlin, Berlin • 1978 Lizenz-Nr.: 409-160/113/78 • LSV 7004 Umschlagentwurf: Erhard Grüttner Printed in the German Democratic Republic Gesamtherstellung: Grafischer Großbetrieb Völkerfreundschaft Dresden Scan & Ebook by *MM* 622 359 2 DDR 2,– M