KLEINE
B I B L I O T H E K
DES
WISSENS
LUX-LESEBOGEN NATUR-
UND
KULT U R K U N D L I C H E
ALBERT
HEFTE
HOCHHE...
44 downloads
1459 Views
573KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
KLEINE
B I B L I O T H E K
DES
WISSENS
LUX-LESEBOGEN NATUR-
UND
KULT U R K U N D L I C H E
ALBERT
HEFTE
HOCHHEIMER
Vater der Ströme DER
MISSISSIPPI
UND
SEINE GESCHICHTE
2006 digitalisiert von Manni Hesse VERLAG SEBASTIAN
LUX
MURNAU . MÜNCHEN . I N N S B R U C K . BASEL
Das Dampfboot kommt! Die kleinen, verschlafenen Mississippistädte stromauf und stromab glichen einander um die Mitte des vorigen Jahrhunderts in ihrer langweiligen, phantasielosen Anlage wie ein Ei dem andern. Eine Hauptstraße kroch vom Ufer hinauf. Rechts und links standen ein paar Läden aus roten Backsteinen, deren hölzerne Auslagen auf die hölzernen Gehsteige hinabreichten. Am unteren Ende der Straße stand das Hotel, ein Holzhaus mit einer Veranda, die über den Fluß blickte. Etwas weiter entfernt erhob sich das Stapelhaus, weiter unten längs des Dammes gab es ein Gewirr von wackeligen Negerhütten, und am oberen Ende der Straße weitete sich die Stadt in eine ansehnliche Siedlung von bescheidenen Häusern mit Gärten, Bäumen und Gras. Der Hintergrund war eine freundlich gewellte Landschaft. Die Ufer boten im frühen Sommerkleid ein reizendes Bild, das Sonnenlicht blitzte schräg über die bewaldeten Hügel und schimmerte durch die Pappeln, die das Ufer säumten. Im oberen Stadtviertel lag der „ P l a t z " ; in Wirklichkeit aber war es nur eine Weide, wo tagsüber die Kühe grasten. Dort stand auch das aus Holz gefügte Denkmal zur Erinnerung an den Bürgerkrieg und daneben eine alte Kanone. Um diesen Mittelpunkt wohnten die wohlhabenden Bürger, Farmer, die sich zurückgezogen hatten, Kaufleute und dergleichen in bequemen, anspruchslosen Häusern, die einander ähnlich waren. Sie hatten eine Veranda, Sommerküchen, Schuppen oder Ställe, Zisternen und Handpumpen und reichlichen Grund, der mit Bäumen, Sträuchern und Gras bewachsen war. Der ärmlichere Stadtteil — bei feuchtem Wetter verschlammt und im Somemr sehr heiß — wurde von der Elite gemieden. Die Häuser waren kleiner und zumeist nicht gestrichen. Einfache Arbeiter hausten hier, Kutscher, Knechte von 2
Mietsställen, Erdarbeiter, deren Frauen Wäscherinnen waren, und andere kleine Leute. Die Tage zogen öde und leer vorüber. Die Gassen lagen unbelebt zwischen den träumenden Häusern, vor den Läden erwarteten die Commis schlafend, auf zurückgekippten Holzstühlen, den Schlapphut tief über das Gesicht gezogen, ihre Kundschaft. Am Ende der Landungsstelle schaukelten ein paar Flachboote auf dem Wasser des großen und majestätischen Mississippi mit seiner meilenweit in der Sonne leuchtenden Flut. Wenn aber hinter einer fernen Landzunge ein schwarzes Rauchwölkchen auftauchte und von irgendwo weithallend der Ruf erscholl: „Das Dampfboot kommt", verwandelte sich die Szene wie mit einem Zauberschlag. Wagengerassel ertönte, jeder Laden und jedes Haus entsandte einen Beitrag in Menschengestalt zu dem plötzlich das Ufer erfüllenden Leben, und im Handumdrehen war das Städtchen ganz und gar in Aufregung und Eile. Lastwagen, Schubkarren, Packträger, Arbeiter, Männer und Knaben hasteten von allen Seiten nach dem Landungsplatz und blickten wie verzaubert auf das herandampfende Boot, das scharf, sicher und selbstbewußt — Mittler zwischen geruhsamem Dasein und verheißungsvoller Ferne — näherkam. Das Schiff hatte zwei hohe, oben verzierte Rauchfänge, ein vergoldetes Schild glitzerte zwischen ihnen in der Sonne; das Pilotenhäusehen, ganz aus Glas und zierlichem Holzwerk, ragte vom oberen Deck empor, und die Radkasten trugen den Namen des Bootes inmitten eines goldenen Strahlenkranzes. Im untersten Deck standen die Maschine und der Dampfkessel auf eisernen Stützen ohne irgendwelches Gehäuse, der Platz ringsum diente als Laderaum für Stückgüter und Baumwollballen und als Unterkunft für die Besatzung. Die zweite Etage — etwas zurückgebaut — enthielt den prächtigen Empfangssaal und die Kabine der Passagiere mit je zwei oder drei Betten übereinander; eine breite, offene Veranda führte vom Heck zum Bug. In der dritten Etage wohnten der Kapitän, die Stewards und die Piloten, und darüber stand das Glashaus des Steuermanns mit dem riesigen Steuerrad und dem Hebelwerk für Signale und die Maschine. Diese blendend weißen, wahrhaft imposanten Flußpaläste wä3
ren in jeder Hütsicht vollkommene Verkehrsmittel gewesen, hatten sie nicht eine ungemütliche Neigung zu Schadenfeuern oder Pannen gehabt. Sobald der Dampfer angelegt hatte, entstand ein toller W i r r warr. Die einen drängten an Land, die anderen an Bord, gleichzeitig wurde Fracht gelöscht und geladen, und dazwischen schrien und schimpften die schwarzen Matrosen, um sich die Arbeit zu erleichtern. Aber zehn Minuten später war alles vorüber und das Schiff wieder in Fahrt, und nach abermals zehn Minuten verschwand es hinter der nächsten Landzunge, dann sank das Städtchen in seine alte Totenstille zurück, und die kleinen Wellen plätscherten friedlich an die Pfosten der Landungsbrücke.
Wanderndes Strombett Heutzutage hat sich manches geändert, der lebhafte Verkehr auf dem Fluß hat nachgelassen, rege wurde der Verkehr auf den Schienensträngen und Autobahnen, die dahin und dorthin in allen Richtungen vorstießen und sich sogar vermaßen, parallel zum Fluß zu laufen. Aber in die Städtchen hat die Zeit nur wenig Neues gebracht: eine bescheidene Erweiterung, gipsverzierte Landhäuser, gepflasterte oder asphaltierte Straßen, elektrisches Licht und Kanalisation. Die Scheuern und Ställe sind verschwunden, und an ihrer Statt stehen kleine Garagen. Der „ P l a t z " spielt sich jetzt mit Rasen und Bänken und ein paar Beeten welker Blumen als Park auf. Die Kanone ist noch immer da, und ein neues Denkmal ehrt die Mitkämpfer der beiden großen Kriege. Das gewaltige Flußbecken des Mississippi aber ist der Leib der Nation geblieben, und alle anderen Teile des Landes sind die Glieder, zwar jedes für sich wichtig, aber noch wichtiger in ihrer Beziehung zum Fluß. Das Stromgebiet ist das zweitgrößte der Erde und wird an Umfang nur von dem des Amazonas übertroffen. Alles wächst hier ins Außerordentliche, ins Riesenhafte, selbst die Eintönigkeit wird großartig. Wie eine Schlange krümmt und windet sich der junge Strom durch dichten Urwald. Sein Lauf ist nach Süden, zum Golf von 4
1
Städte
am
Strom
Minneapolis, im Staate Minnesota. 521 000 Einwohner; Ackerbaulandschaft, Ende der Stromschiffahrt (oberhalb Wasserfälle); 20 Eisenbahnlinien; größtes Müllereizentrum der Welt; Pforte zum großen Seengebiet. — M. ist mit Saint Paul zusammengewachsen (311000 E.), Hauptstadt von Minnesota; Großschlächtereien, Erdölraffinerien, Automontage. Saint Louis, im Staate Missouri, 15 km unterhalb der Missouri-Mündung, 857 000 E.; Handelsmetropole des Flußnetzes Mississippi, Missouri, Ohio, Illinois ; großer Flußhafen, 25 Eisenbahnlinien; Pelze, Vieh, Getreide, Nahrungsmittel, Maschinen, Flugzeuge, Kraftwagen. Cairo, im Staate Illinois, an der Ohiomündung, 40 000 E.; Eisengießereien. Memphis, im Staate Tennessee, 396 000 E.: Baumwollmarkt, Baumwollpflückmaschinenwerke, Kraftwagen, Nahrungsmittel; in der Nähe Nationalfriedhof für die Opfer des Bürgerkrieges. Vicksburg, im Staate Mississippi, 28 000 E.; großer Baumwollmarkt; im Bürgerkrieg Hauptstützpunkt der Südstaaten. Balon Rouge, Hauptstadt v. Louisiana, 134 000 E.; hochwasserfrei, Ende der Seeschiffahrt; größte Erdölraffinerie; Kautschuk, Aluminium, Erdgasenergie. New Orleans, im Staate Louisiana, 570 530 E; 4 Universitäten; 20 km Binnen- und Seehafenanlagen, großer Außenhandelsplatz (Baumwolle, Zukker, Holz, Erdöl, Schwefel, Nahrungsmittel, Bekleidung); größte Aluminiumhütte der USA; Erdgas als Energiequelle. Altstadt (Vieux Carre) aus franz. und span. Kolonialzeit; klassizistische Stadtteile aus Plantagenzeit.
5
Mexiko, gerichtet, aber es ist, als scheue er sich, direkt darauf loszugehen. Er fließt nach Osten und Westen, nach allen anderen Richtungen der Windrose, nur nicht nach Süden. Er braucht manchmal zwanzig bis dreißig Kilometer, um eine Strecke von kaum zwei Kilometern zurückzulegen. Auf der Flußfahrt in der Mitte des Stromes brennt einem die Sonne innerhalb einer Stunde bald ins Gesicht, bald auf den Rücken, bald auf die rechte, bald auf die linke Seite. Mit der Zudringlichkeit einer Fliege quält einen die Sonne, verschwindet und erscheint wieder. Niemals sieht man mehr vom Strom als eine Wasserfläche von fünf Kilometer Länge und zwei Kilometer Breite, ringsum auf weite Strecken von dichtem Wald begleitet. . . man sieht das Wasser fließen und wundert sich, wohin er fließen mag. Immer bleibt der Horizont nach allen Richtungen versperrt. Erst in der Niederung wird der Blick freier. Die Geographen hatten die größte Mühe, den Stromlauf festzustellen. Es ging ihnen damit wie dem Kind mit dem Kuckuck, der immer davonfliegt, wenn es schon glaubt, ihn zu sehen. Kaum waren die Ufer markiert, da hatten sie tückiseh eine andere Form. Heute war hier eine Landzunge, dort eine Bucht, bald darauf war alles anders: an der Stelle der Bucht eine Halbinsel, und die Landzunge war verschwunden, als hätte es sie nie gegeben. Seitdem sich der Mississippi seine Bahn nach dem Meer gebrochen hat, wechselt er auch seinen Lauf. Er nimmt ganze Äkker, ja Quadratmeilen Land von einem Ufer weg und schwemmt sie am anderen Gestade an. Wenn das Wetter am oberen Lauf 6ich ändert oder im Frühjahr der Schnee im Gebirge schmilzt,: sind regelmäßig Hunderte von Quadratmeilen unter Wasser, und kein Damm vermochte bisher den Riesen an seiner Ausdehnung zu hindern. Noch in anderer Hinsieht ist der Mississippi ein ungewöhnlicher Strom. Er besitzt die Neigung zu sonderbaren Sprüngen; er durchschneidet Landzungen, um seinen Lauf zu begradigen und zu verkürzen. Mehr als einmal hat er sich mit einem einzigen solchen Sprung um vierzig Kilometer verkürzt, und diese Durchbrüche haben seltsame Folgen gehabt: Manche am Strom gelegene Stadt ist durch sie mitten in ländliche Bezirke versetzt, und Sandbar6
ren und Wälder sind vor ihr aufgebaut worden. Selbst Staatsgrenzen werden zuweüen verschoben, und jemand, der heute im Staate Mississippi lebt, kann sich und seinen Boden infolge eines über Nacht erfolgten Durchbruchs morgen auf der anderen Seite des Stromes wiederfinden, wo er im Gebiet des Staates Louisiana ist und unter dessen Gesetzen steht. Ein solches N a t u r ereinis am mittleren Lauf machte in früherer Zeit aus einem Sklaven im Staate Missouri einen freien Mann im Staate Illinois. Aber nicht allein durch solche Durchbrüche verändert der Strom sein Bett, er bewegt sich auch seitwärts. Fast die ganze 2000 Kilometer lange Strecke des alten Mississippi, die der große Forschungsreisende La Salle vor über 270 Jahren mit seinen Kanus befuhr, ist jetzt guter, fester, trockener Boden.
La Salle entdeckt das Stromdelta Der Ruhm, den Mississippi für unser geographisches Wissen entdeckt zu haben und als die ersten Weißen in sein Tal eingedrungen zu sein, gebührt den Spaniern. Den Franzosen aber fällt das Verdienst der wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Erschließung des Mississippitales zu, an der sich dann auch die Engländer, wenn auch in geringerem Maße, beteiligt haben. Der erste Europäer, der den Mississippi erblickte, war Hernando de Soto, einer der berühmten Gefährten bei der Eroberung des Inkareiches. Er landete mit einer ansehnlichen Streitmacht im Mai 1539 an der Westküste Floridas, marschierte über das Gebirge und erreichte unter heftigen Kämpfen mit den Indianern den lange gesuchten Strom. Hier setzte er auf selbstgebauten Schiffen über und drang dann nordwestlich bis zum 44. Breitengrad vor. Am White River, einem Nebenfluß des Missouri, machte er kehrt und durchwanderte das Land bis zum oberen Arkansas, wo er zum dritten Mal Winterquartier bezog. Im März 1542 kehrte er, zermürbt von den unmenschlichen Strapazen und der vergeblichen Suche nach einem sagenhaften Goldland, zum Meer zurück. Er erreichte es nicht mehr. In der Nähe des Red River, des letzten großen Nebenflusses vor der Mündung, ereilte ihn der Tod, und seine Begleiter versenkten seinen Leichnam in dem Mississippi.
7
Der Nachruhm des Hernando de Soto, des edelsten Charakters unter den Konquistadoren, ist indes vor der Tat des Franzosen Sieur de La Salle, der als der eigentliche Entdecker des Mississippi gilt, im Laufe der Zeit verblaßt. In den Adern La Salles, der am 22. November 1643 in Eouen geboren wurde, pulsierte das unruhige Blut der Normannen. Er war als Dreiundzwanzigjähriger nach Kanada gekommen und hatte auf der Suche nach der Nordwestlichen Durchfahrt die Großen Seen entdeckt. Er war ein Mann von klarem, durchdringendem Verstand, beseelt von kühnem Unternehmungsgeist und bis in jede Faser mit Energie geladen; doch Ruhmsucht und Habgier, Hochmut und Herrrschsucht verdunkeln das Bild des zu ungewöhnlichen Taten Berufenen. Die Gabe, über Menschen zu herrschen, besaß er in hohem Maße, ihre Herzen zu gewinnen aber vermochte er nicht, und diese Unfähigkeit wurde ihm verhängnisvoll. Er strebte nach Macht und Reichtum, und da ihm in Kanada die Konkurrenz der Pelzhändler und Pelzjäger lästig war, suchte er in anderen Teilen des Kontinents seinem Ziel näherzukommen. Unter großen Schwierigkeiten entdeckte er 1670 den Ohio, ,,La belle Riviere", den Schönen Fluß, wie ihn die Franzosen nannten. Die Richtung des Stromes erweckte in ihm den Glauben, daß man, dem Flußlauf folgend, den Stillen Ozean erreichen müsse. Aber seine Mittel waren erschöpft, und während der nächsten Jahre führte er das unstete Leben eines Waldläufers. Dann begegnen wir ihm als Befehlshaber des kanadischen Forts Frontenac wieder, das an der Stelle des heutigen Kingstone errichtet wurde. Hier traf ihn sein Landsmann Joliet. Dieser Joliet war mit dem französischen Ordensmann Marquette vom Michigansee aus zum Mississippi gelangt, dessen Lauf sie 1700 Kilometer, bis zur Mündung des Arkansas, verfolgten. Pater Marquette taufte den Strom „Riviere de la Conception",' „Fluß der Unbefleckten"; er hatte täglich die heilige Jungfrau angerufen und gelobt, dem Fluß den Namen der Unbefleckten Empfängnis zu geben, wenn sie die Reise segnen würde. Beidö waren überzeugt, daß die Mündung des Mississippi im Golf von Mexiko zu suchen sei. Allein der Glaube war noch kein Beweis, 8
Neben modernen Schleppern und Lastkähnen befahren auch noch die ..alten Kästen" von einst den Strom. Das Foto zeigt einen Schlepper mit Fahrgastdecks. Von den 22 000 Kilometern Wasserbahnen des Mississippi und seiner .Nebenströme sind etwa 8600 Kilometer schilfbar. Der Mississippi als Schifffahrtsweg steht an Bedeutung weit hinter dem Rhein zurück. Niedrig- und Hochwasser hemmen den Schiffsverkehr
solange die Tatsachen nicht bestätigt waren: es blieb La Salle vorbehalten, die Beweise zu erbringen. Trotz mancherlei Hindernisse begann er im Jahre 1679 mit der Ausführung seines weiträumigen Unternehmens. Er baute das erste Segelschiff auf den Großen Seen, die „Griffin", brach dann von Fort Frontenac mit dem Leutnant Henry de Tonty und vierzig Soldaten auf und erreichte den Michigansee, wo er die Station St. Joseph anlegte. Ein zweites Fort — den ersten weltlichen Posten im Mississippital — errichtete er am Illinois und nannte es „Creve-Coeur", Herzeleid, zur Erinnerung an die überstandene Mühsal. Dann aber ging die „Griffin" verloren, seine Begleiter meuterten und plünderten die Vorratslager, und diese Zwischenfälle zwangen La Salle, nach Frontenac zurückzukehren. Doch mit bewundernswerter Tatkraft wurde er der Widerstände Herr. Am Illinois traf er bei seiner zweiten Beise Verwüstung und Schrecken; denn die Irokesen, die gewaltigsten Krieger u n ter den Indianerstämmen, hatten de Tonty zum Abzug gezwungen, und es bedurfte endloser Geduld und einer neuen A u s rüstung, um die Expedition wieder in Gang zu bringen. Im Winter 1681 trat La Salle endlich mit seinem Leutnant, 9
mit achtzehn Indianern und dreiundzwanzig Franzosen die Reise den Illinois hinab an. Sie marschierten auf der Eisdecke des Flusses und zogen die Kanus auf Schlitten hinter sich her. Beim Peooriasee trafen sie auf offenes Wasser und gelangten zum Mississippi, dem sie nach Süden folgten. Inmitten treibender Eisschollen glitten sie an der Mündung des Missouri und des Ohio und an den Einöden der ungeheuren Sümpfe vorüber und landetenj am 24. Februar bei den „Dritten Chikasawa-Klippen", wo sie haltmachten und das Fort Prudhomme anlegten. Dann schifften sie sich wieder ein, und mit jeder Meile ihrer abenteuerlichen Fahrt enthüllte sich ihnen mehr und mehr das Geheimnis dieser ungeheuren, neuen Welt. Immer weiter kamen sie in das Reich des Frühlings. Das verschleierte Licht der Sonne, die warme Luft, das zarte Laubwerk, waren ihnen Zeichen des wiedererwachten Lebens der Natur. Wo später die Stadt Napoleon im Staate Arkansas entstand, wurde das erste Zeichen der Koloniegründung an den Ufern des Großen Stromes errichtet. — Sonderbare Laune des Zufalls: An der gleichen Stelle war de Soto auf den Fluß gestoßen, an der gleichen Stelle hatten Marquette und Joliet ihre Fahrt beendet. La Salle aber setzte seine Reise fort, landete hier und da und erreichte die Mündung des Mississippi, den er nach dem Namen seines Königs St. Louis-Strom nannte, und gelangte in den Golf von Mexiko. Angesichts des Meeres ergriff er Besitz von dem Gebiet, das der Mississippi und seine Nebenflüsse bewässerten, und nach «einem König gab er auch dem Land den Namen: Louisiana. In diesem Zeichen errichtete er eine Säule mit dem Wappen Frankreichs und der Inschrift: „Louis le Grand, Roy de France, Regne. Le9eme avril 1682", Ludwig 'der Große, König von Frankreich. Dies ist sein Herrschaftsgebiet. Den 9. April 1682. An jenem Tag erhielt das französische Volk einen ungeheurem Zuwachs. Ein kolossales Gebiet von Savannen und Wäldern, von der Hitze ausgelaugte Wüsten, mit Gras bewachsene Prärien, von ungezählten Flüssen bewässert und von ungezählten Volksstämmen bewohnt, das alles kam unter das Zepter der Bourboncn — durch den Klang einer menschlichen Stimme, die kaum einige 10
hundert Meter weit vernehmbar war, durch die Energie eines Mannes, der die entscheidenden Worte sprach: „Ich ergreife Besitz. . ." Wenige Jahre später unternahm La Saile, ausgerüstet mit einer kleinen Flotte, den Versuch, im Mündungsgebiet des Mississippi eine Kolonie zu gründen. Durch einen Irrtum verfehlte er die Einfahrt in die Mündung des Stromes und landete 800 Kilometer westlich des Stromgebietes. Von dort aus versuchte er in entbehrungsreichen Expeditionen auf dem Landweg den Strom wieder zu erreichen. Er wurde aber von seinen meuternden Leuten rücklings erschossen. So endete — mit 43 Jahren — der eigentliche Entdecker des Mississippi.
Der Rote Mann verliert seine Heimat Die Besiedlung der Stromufer vollzog sich in der folgenden Zeit allmählich und unauffällig. Mit den Indianern entwickelte sich rasch ein Tauschverhältnis, das den Europäern die wertvollen Pelze und Jagdtiere zur Verfügung stellte, die Eingeborenen aber mit dem Branntwein bekannt machte, dem Feuerwasser, das wahre Epidemien unter ihnen hervorrief. Waldläufer und Indianer führten ein Leben an der Grenze, die beständig im Schwanken war — ein gemeinsames Leben des Abenteuers, der wechselseitigen Anziehung und Ablehnung, das beide Gruppen im Guten und Schlechten oft merkwürdig einander anglich. Es waren Interessen und Feindschaften, Bewunderung und Verachtung, Neugier und Ekel dabei im Spiel — die Indianer waren gefesselt durch alles Technische und Organisatorische, die Weißen durch die wilde Größe eines Naturlebens in der Weite und Freiheit des unermeßlichen Neulandes. An der Ostküste zuerst und dann immer weiter ins Innere hineingedrängt, verlor der Indianer im Laufe der Zeit seinen L e bensraum, seine überkommenen Lebensbedingungen; er zerging an der Wucht der weißen Zivilisation, er wurde krank und verdarb an ihr. Die meisten gingen lieber stolz zugrunde, als daß sie sich untergeordnet und angepaßt hätten. Obwohl sich die Sympathie der Weißen schon frühzeitig dem hinsterbenden Indianertum zuwandte, besonders im menschlich fühlenden, n a t u r 11
beflissenen achtzehnten Jahrhundert,' nahm der. harte Gang des Schicksals seinen gewöhnlichen W e g ; trotz zahlloser Verträge wurden die meisten Stämme unbarmherzig ausgerottet, so daß nur kümmerliche Reste geblieben sind. Ein halbes Jahrhundert nach der Entdeckung des Mississippibeckens und am Beginn seiner planmäßigen Kolonisation u n t e r sagte die französische Regierung das sonst übliche Herüberschaffen von Vagabunden und Galeerensträflingen und bemühte sich selbst um die Versorgung der Kolonie mit Ansiedlern. Sie wandte sich an die Klöster; hier gab es manche arme Waise, die zur Auswanderung bereit war. Die Frauen erhielten eine kleine Mitgift aus der Königlichen Kasse, und ihrer einundachtzig trafen als erste Expedition am 5. Januar 1721 unter Führung von drei Schwestern am Mississippi ein. Die Frauen fanden leicht einen Mann, und einzelne von ihnen sind Stammütter blühender Kreolenfamilien geworden. Bei der Vermittlung männlicher Kolonisten aber sah man sich, um bessere Elemente zu gewinnen, auf die Anwerbung angewiesen. In Europa herrschte zu jener Zeit lebhaftes Interesse für die Auswanderung nach Übersee. Die Enge der Heimat, wirtschaftliche Not, strenge Winter und religiöse und politische Verfolgungen trieben viele in die Fremde, und die Vertreter Frankreichs zahlten bedeutende Summen für das Recht der Werbung. Aus der Pfalz wanderten an die 4000 Menschen aus, auch mit der Schweiz kam ein ähnliches Abkommen zustande. In Frankreich, wo besonders die Bewohner des Elsaß und der Provence sich als Siedler eigneten, bildete die Anwerbung ein eigenes Gewerbe, das in den Hafenstädten Dieppe, St. Malo und Le Havre blühte. Die für die Auswanderung Gewonnenen mußten die Verpflichtung eingehen, die Kosten ihrer überfahrt und ihrer Ausrüstung durch ihrer Hände Arbeit zurückzuverdienen. Aber das riesige Kolonialgebiet längs des Mississippi war noch zu dünn besiedelt, als daß Frankreich dem Expansionsdrang der benachbarten englischen Kolonien an der atlantischen Küste auf die Dauer hätte standhalten können. Es kam erneut zu erbitterten, langwierigen und blutigen Auseinandersetzungen. Die englischen Kolonien, die sich im amerikanischen Unabhängigkeits12
Der Reichtum der Wälder an Pelztieren und nutzbarem Holz hat vor allem zur Besiedlung des Mississippitales beigetragen
krieg die Freiheit erkämpften und sich in den „Vereinigten Staat e n " zusammenschlössen, zwangen schließlich auch das Mississippigebiet jn ihre Botmäßigkeit. Im Jahre 1812 wurde das einst französische Louisiana in die USA einbezogen.
Auf dem Rücken des „Valers der Ströme" Kein anderer Strom entwässert ein so ungeheures Gebiet wie der Mississippi. Aus achtundzwanzig Staaten und Territorien nimmt er vierundfünfzig Flüsse auf, manche davon größer als der Rhein und die Donau und Hunderte von geringerer Bedeutung. Die Ausdehnung des von diesem Flußsystem befruchteten Landes ist für europäische Vorstellungskraft kaum zu fassen. Es beginnt mit einigen kleinen Bächen, die ihre Wässerchen; in den 450 m hoch gelegenen Itaska-See oben im Norden ergießen 13
(vgl. die Karte Seite 5). Dreieinhalb Meter breit entströmt der Mississippi diesem See. Dann wird er schon bald ansehnlicher. Aber seine Breite wächst nicht auf der ganzen Stromstrecke entsprechend der zunehmenden Länge. Das Bett des Mississippi wird nach dem Meer zu nicht brei-* ter, (sondern schmäler und tiefer. Von der Mündung des Ohio bis zu einem Punkte etwa halbwegs abwärts zum Golf von Mexiko, beträgt die Entfernung von Ufer zu Ufer bei hohem Wasserstand 1500 Meter im Durchschnitt, dann nimmt sie stetig ab, bis zu 1000 Meter bei den Pässen oberhalb der Mündung. Die regelmäßige Schiffahrt auf dem Strom begann mit großen Leichtern und Flachbooten, die von den oberen Flüssen nach New Orleans am Golf hinabtrieben oder segelten, dort ihre Ladung austauschten und in mühevoller Reise zurückgebracht wurden. Eine solche Tal- und Bergfahrt dauerte zuweilen neun Monate. Allmählich nahm dieser Verkehr zu, bis er ganzen Scharen abgehärteter Männer Beschäftigung gab. Es war eine Gilde von rauhen Gesellen, die mit stoischem Gleichmut die fürchterlichen Strapazen der Reise auf sich nahmen, gtark tranken, an rohen Vergnügungen Gefallen fanden, ihr Geld vergeudeten, am Ende der Reise meist bankrott waren, barbarischen Schmuck liebten und ein kräftiges Lügengarn zu spinnen verstanden; im großen und ganzen aber galten sie als ehrliche, zuverlässige und häufig romantisch großmütige Naturkinder. Mit dem Aufkommen der Dampfboote verlor diese Art Güterverkehr an Bedeutung. Nur mächtige Flöße schwammen noch in förmlichen Prozessionen zu Tal, auf ihren geräumigen Decks drei oder vier Hütten zum Schutz gegen Sturm und Wetter für die vielköpfige Besatzung.
* Damals — bis ans Ende des vorigen Jahrhunderts — war St. Louis am Mittellauf die Metropole des Mississippi. Im Winter dehnte sich hier der Strom — einer riesigen, gefrorenen Schmutzlache gleich, schwarz, schmutziggelb und undurchsichtig — von den Ufern und Ladekais weithin in die trübe, nebelverhangene Weite. Die großen Dampfer lagen verlassen in ihren Docks, und 14
die Besatzungen hielten ihren Winterschlaf. Solange der Mississippi zugefroren war, stockte auch der Handelsverkehr der Halbmillionenstadt, als wäre ihr Lebensnerv abgeschnitten und aus der Hafenstadt eine gewöhnliche Binnensiedlung geworden. Das währte gewöhnlich bis Anfang Februar. Dann kamen die langersehnten Depeschen vom Oberlauf, die den Bruch der Eisdecke ankündigten: „The ice-gorge begins to wove". Das Eis ist los! Alarmierend lief es den Strom entlang, tickte aufrüttelnd in jeder Station und klapperte die Beamten und Flußbewohner aus ihrem beschaulichen Dasein. Dann wurden die .Dampfer in den Häfen mit eisernen, mannsdicken Ketten aneinander und an die Ufer gefesselt; die Fährboote, Leichter und Nachen, die irgendwo im Fluß festgefroren lagen, wurden näher ans Ufer gebracht, und jedermann erwartete gespannt die Eisschollen aus dem Norden. ! Und endlich sprang in einer Nacht der Eispanzer, der Wasserspiegel wurde frei, und die gelben Fluten wälzten sich langsam stromab. Noch war der Strom durch eine niedere Eismauer weit oberhalb der Brücke von St. Louis versperrt, aber das Eis rückte näher, und dumpfer Donner, wie von Kanonenschüssen, dröhnte aus der in Bewegung geratenen Masse. Krachend und scharrend schoben sich die Eisfelder voran — ein Auf- und Niedertauchen mächtgier Schollen, die sich wie Mühlsteine aneinander rieben, sich übereinander stauten, untertauchten und sich zwischen den hohen, steilen Ufern gewaltsam p r e ß ten. So erreichten die wirbelnden Schollen die Brücke und drängten sich an den mächtigen Pfeilern, wurden zusammengedrückt durch die reißende Bewegung des Stromes, türmten sich empor und bahnten sich langsam ihren Weg unter den Bögen hindurch. Aber so groß die Eiskolosse auch sein mochten, sie taten nie-i mandem Schaden, denn das lange Dahintreiben hatte sie schon zermürbt, und ihre Ränder zerbröckelten an den harten, glatten Planken der Dampfer. Sie zogen am Hafen vorüber nach Süden, dem offenen, wärmeren Stromgebiet entgegen. Die Strömung nagte an ihnen, beleckte sie, rollte sie an den harten Felsenufern entlang, und so schwanden die großartigen Blöcke dahin, wurden kleiner und kleiner. Wenn sich die ersten 15
Magnolien und Orangenbäume zeigten, waren die schmutzig-gelben Boten des Nordens verschwunden, zerschellt, zerflossen. Sobald der Mississippi frei war, tauchten in den Annoncenspalten der Zeitungen die kleinen Dampfboot-Anzeigen auf, die den „Verehrlichen Interessenten" bekanntgaben, daß der Dampfer „Grcat Republic" oder „Richardson", oder „Robert E. Lee", und wie sie alle hießen, an diesem und jenem Tage nach Cairo und Cincinnati, nach Memphis, Vicksburg und New Orleans, nach Osten und Westen, nach Nord und Süd auf viele Meilen ihre Fahrt begännen. Schon bald durchpflügten täglich zahllose blendend weiße Dampfer und schwerfällige Fährboote den Fluß; riesige Getreidespeicher warteten an den Kais, eine meilenlange Reihe von Magazinbauten und Stapelhäusern. Ober das holprige Steinpflaster rumpelten die Lastwagen, die den Güterverkehr innerhalb der rasch emporgeschossenen Stadt besorgten. Alle möglichen Schiffsgattungen gaben sich dann vor St. Louis ein Stelldichein: die großen majestätischen Mississippidampfer, die zwischen St. Louis und dem über 2000 Kilometer entfernten New Orleans verkehrten; die starken, flachkieligen und fast ebenso großen Paketboote des Red River, die über Louisiana ihren Weg nach Arkansas und Texas nahmen; die kleinen, schnellen Personendampfer des oberen Mississippi und Missouri, die' nach dem Nordwesten des Kontinents vordrangen; die großen „Sternwheelers", die Hinterraddampfer, aus dem viele Meilen entfernten Pennsylvanien, aus Pittsburg und Cincinnati; die Baumwolldampfer aus den Flüssen von Arkansas und Tennessee; endlich die dunklen, schwerfälligen Barken, die in langen Reihen Erz und Kohle aus Illinois herbeiführten, und die ungeschlachten, aus Tausenden von Baumstämmen zusammengefügten Flöße — aber diese ganze Unmenge von Fahrzeugen wirkte dennoch geradezu unscheinbar im Vergleich zu dem ungeheuren Strom, der breit und offen an ihnen vorüberfloß. ü b e r zwölfhundert Dampfer und eine gleich große Zahl von Barken trug der Mississippi — der „Vater der Ströme", wie ihn die Indianer ehrfurchtsvoll nannten. Die größten unter ihnen boten Platz für tausend Personen und eine enorme Ladung; selbst 16
Aus den Staaten Tennessee und Louisiana wird Schwefel in die chemischen Werke von St. Louis verfrachtet. Aus Arkansas kommen u. a. Kohlen, Bauxit, Holz, Baumwolle; aus Illinois Mais, Wolle, Kohlen, Zement, Erze; aus Kentucky vor allem Tabak, Kohle und Erdspat; aus Louisiana neben Schwefel Reis, Mais, Zucker; aus dem Staat Mississippi Baumwolle, Nutzholz und Nüsse; aus Missouri Mais. Tabak und Weizen; aus Tennessee außer Schwefelkies Kohle, Sintereisen, Kupfer, Zink. Phosphate; Wisconsin liefert Milch, Ackerfrüchte, Vieh, Eisenerz, Zink und Blei; Minnesota Leinsamen, Molkereierzeugnisse und große Mengen Eisenerz; Jowa, der wohlhabendste der landwirtschaftlichen Staaten, Mais, Hafer, Kohlen und viel Schlachtvieh. Der Transport des Erdöls erfolgt meist durch Pipelines
Zeitungen wurden an Bord gedruckt und ausgegeben, und an Stattlichkeit konnte es die Mississippi-Flotte durchaus mit den Ozeanfahrern aufnehmen. Doch um die Sicherheit dieser Riesenschiffe war es, trotz aller äußeren Pracht, schlecht bestellt. Kesselexplosionen, totaler Verlust durch Brand, Schiffbruch und Strandung waren geradezu alltäglich. Die Boote bestanden, um ihre Tragfähigkeit zu erhöhen und ihren Tiefgang zu vermindern, gänzlich aus Holz. Die „Great Republic" zum Beispiel, das größte Flußschiff der Welt, brannte innerhalb einiger Jahre nicht weniger als dreimal zusammen; aber das hinderte die Eigentümer nicht, sie immer wieder neu zu bauen, und die Passagiere ließen sich nicht abschrecken, ihr den Vorzug vor den kleineren Dampfern zu geben. Wenn die Schiffahrt im Frühling begann, wurden die Dampfer 17
bis zur äußersten Grenze ihrer Ladefähigkeit mit Saisonwaren beladen. Dutzende von zerlumpten Negern rollten mit erstaunlicher Geschicklichkeit die Mehlfässer herbei, die an den kleinen Flußstationen, in den Baumwoll- und Zuckerplantagen des Südens ausgeladen wurden. Andere schleppten landwirtschaftliche Geräte, Pflüge, Schubkarren und Schaufeln herbei, Produkte der Industriestadt für die neubesiedelten Länder von Tennessee, Kansas und Arkansas. Das alles und Möbel und Küchengeräte, W e r k zeuge, kurz, was immer zum häuslichen Leben notwendig war, bildete die Hauptfracht nach dem Süden, während im Herbst und Winter Zucker und Baumwollballen aus den Plantagen stromauf geliefert wurden. Die beim Bau der Mississippidampfer zu lösenden Konstruktionsprobleme waren wahrhaftig nicht einfach. Es hieß, den r o hen und massenhaften Warenverkehr mit der Bequemlichkeit der Passagiere in Einklang zu bringen: Besatzung, Arbeiter und Vieh wurden in die unteren Räume verbannt, dort waren auch die Ladegüter gestapelt, die fetten Petroleum- und triefenden Zukkerfässer, die öligen Maschinen, die Kohlen und Häute. So herrsehte ein streng von den oberen Etagen und Decks getrenntes Leben im Bauche der Arche. Der zahlende Fahrgast büßte nichts von seiner Bequemlichkeit ein, und inmitten der großartigen Stromlandschaft erinnerten ihn keine unappetitlichen Gerüche daran, daß sein Schiff, außer seiner komfortablen Einrichtung, auch recht prosaische und übelduftende Güter mit sich zu Tal oder zu Berg führte.
* An der Mündung des Ohio, der von den Alleghani-Bergen kommt und durch die Gewalt seiner Flut den Mississippi aufstaut und zur Rückströmung zwingt, liegt die Stadt Cairo. Von dieser Stadt berichtet ein Reisender in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts: „Die Stadt ist trotz ihres geschäftlichen Lebens eine der traurigsten Ortschaften auf dem Erdboden. Es ragen nämlich nur die Straßendämme bei Hochwasser wie schachbrettförmig angelegte Rippen aus dem Sumpf hervor, welcher die Stadt von allen Seiten umgibt und in welchem auch die von den Straßen einge18
schlossenen tiefen Baustellen stecken. Alle diese Vierecke liegen mit ihrer schlammigen und mit allerlei Abfällen und Ästen bedeckten Sohle unterhalb des Wasserniveaus des Ohio. Wohin man blickte, bot sich dem Auge ein Bild der Armut. Die Straßen w a ren mit fußtiefem Kot bedeckt, und Wagen und Pferde blieben bei jedem Schritt stecken." In der Gegend von Gairo waren zwei Schiffe von besonderer Bauart stationiert, die der Beseitigung von angeschwemmten Hindernissen in der Fahrtrinne dienten. Häufig grub sich das starke Wurzelwerk treibender Baumstämme in den losen Sand der Untiefen ein, und ihre stromabwärts gerichteten Wipfel bildeten gefährliche Unterwasserklippen, die als „ S n a g s " bekannt waren. Im Hochsommer, bei niedrigem Wasserstand, wenn die Kronen dieser Snags aus dem Wasser ragten, lockerten die beiden aneinander gekoppelten Schiffe durch fortgesetztes Anrennen die Baumwurzeln, fingen die Stämme mit Ketten ein und rissen sie heraus. Der Ohio wälzte nach der Schneeschmelze in seinen hochgehenden Fluten ganze Wälder mit sich zu Tal. Sein Wasserspiegel w a r völlig bedeckt mit kolossalen Baumstämmen, Gezweig und behaucnen Balken aus den Forsten des Alleghany; wochenlang dauerte dieses Herabschwemmen, als wären alle Wälder am oberen Lauf entwurzelt, aus dem Erdreich gehoben und weggeführt worden, und nur allmählich wurde all dieses Holzwerk aus der Hauptströmung herausgetrieben, verfing sich bei den Krümmungen und in den Einbuchtungen, wurde durch Wirbel in die Tiefe gezogen, strandete an Sandbänken und an niedrigen Inseln — ein Bild schrecklicher Verwüstung, aber auch eine Illustration der Gewalt des Stromes.
Pilot und Leadsman Der wichtigste Mann an Bord der Dampfboote war der Pilot. In seinen Händen ruhte die ganze Führung des Schiffes auf der langen Fahrt von St. Louis bis New Orleans, vom Loswerfen bis zum Anlegen. Er allein war für die Sicherheit des Fahrzeuges verantwortlich und steuerte es ganz nach seinem Gutdünken, 19
ohne daß der Kapitän dabei ein Mitspracherecht gehabt hätte. Die genaue Kenntnis des Flusses war für ihn unerläßlich. Er mußte auf seinem Weg sich jedes gestrandeten Baumstammes, jeder Sandbank, jeder Krümmung und Untiefe des Flusses erinnern, dazu jeder der tausend und mehr Landungsstellen. Damit nicht genug. Die Verhältnisse in der Fahrrinne änderten sich mit jedem Jahr, mit jedem Monat und in jeder Woche. Das Gedächtnis dieser Piloten war erstaunlich und ihre Leistung bewundernswert. Vergleichsweise hätte ein Pilot sämtliche Häuser einer Großstadt in ihrer Aufeinanderfolge, nach ihrem Äußeren, nach ihrer Höhe und Beschaffenheit kennen müssen; auch die Namen und die Reihenfolge aller Kaufleute in dieser endlosen Häuserkette hätte ihm bekannt sein müssen, selbst dann, wenn die Besitzer innerhalb Jahresfrist mehrmals wechselten. An den Ufern des Mississippi gab es zwar nur ein halbes Dutzend Siedlungen, die die Bezeichnung Stadt verdienten, aber unzählige kleine, mitten im Urwald gelegene Pflanzungen, Dörfchen und Gehöfte, an denen die Dampfer bei Tag und Nacht anlegen mußten, und es w a r die Pflicht des Piloten, über die genaue Lage und den Namen jeder dieser Pflanzungen Bescheid zu wissen, ohne daß ihm irgendein Hilfsmittel — Karten oder Bücher — zu Gebote gestanden hätte. Längs des Strandes waren zur Markierung der Untiefen und Sandbänke winzige Leuchtfeuer aufgestellt, bei Tag durch ihren weißen Anstrich, bei Nacht durch weißes oder rotes Licht erkennbar. Ihr Standort mußte mit dem Wandern des Sandes unablässig geändert werden, und kaum einen Monat blieben sie an derselben Stelle. Ganz vorne am Bug des Schiffes, hart an seinem ungeschützten Bord und kaum einen halben Meter über dem Wasserspiegel, stand die Wache, der „Leadsman", mit dem Lotblei und rief eintönig die Flußtiefe aus, die vom oberen Deck ebenso monoton wiederholt wurde: „Ma-a-a-rk t h r e e " — „Half twain" — „Quarter less twain" — „ M a r k twain" (Zwei Faden = 3,60 Meter). So klang es von Minute zu Minute in dem sonderbaren Mississippi-Englisch ans Ohr des Piloten, der sorgfältig den Fluß und die Fahrt des 20
Baumwollflotte im Hafen von New Orleans (um 1380)
schwerbeladenen Dampfers beobachtete, denn der Gefahren gab es viele; jedes Hindernis trug einen phantasievollen Namen. Den Ruf „Mark twain" machte sich der berühmte amerikanische Humorist Samuel Clemens Langhorne zum Pseudonym. Er war selbst jahrelang als Pilot auf dem Mississippi gefahren und blieb tief und lebendig mit dem Strom verbunden. Seine Bücher spiegeln das innere Erlebnis so wahrhaft und stark wieder, daß sie sich jung erhalten haben und für immer neue Generationen jung erhalten werden.* * über Mark Twains Pilotenzeit vgl. Lux-Lcsebogen 33, „Auf dem Mississippi".
21
Für den Lotsen hatte nichts auf der Welt Interesse als der Strom, ü b e r ihn redete er ohne Unterlaß mit jedermann und am liebsten mit den Kollegen, die, aus irgendwelchen Gründen ohne Stellung, die Fahrt mitmachten, um sich über die Veränderung des Flusses auf dem laufenden zu halten. Sie standen, angetan wie wahre Gentlemen mit glänzenden Seidenhüten, kunstvollen Hemdeinsätzen, Diamantenschmucknadel, Glacehandschuhen und Lackstiefeln, würdevoll hinter dem Piloten vom Dienst, und ihre Unterhaltung in gewähltem Englisch drehte sich unablässig um hervorragende Leistungen an schwierigen Stellen, um ungewöhnliche Situationen, aber auch um Mißgeschick, kurz, um alles, was ihren Beruf aus der Betriebsamkeit alltäglicher Beschäftigung heraushob: „Jim, wie hast du Plum Point bei der letzten Bergfahrt passiert?" „Es war Nacht und ich steuerte, wie mir's George von der ,Diana' empfohlen hatte: Lief etwa fünfzig Schritte oberhalb des Holzhaufens von der ,Falschen Landspitze' ab und hielt dann auf die Hütte unterhalb Plum Point zu, bis ich das Riff erreichte — ein und dreiviertel Faden —, steuerte darauf direkt nach der mittleren Barre, bis ich reichlich querab von dem einastigen Baumwollbaum in der Biegung war, richtete dann das Heck auf diesen Baum, den Bug auf die flache Stelle oberhalb der Landspitze und lief mit voller Kraft hindurch — neun und einen halben F u ß . " „Ganz nette Kreuzung, h e ? " „ J a , aber die obere Barre arbeitet sich rasch abwärts." Zuweilen mußten ein Nachen mit dem zweiten Piloten und ein paar Matrosen vorausfahren, um die Fahrrinne mit dem Lotblei zu vermessen. W a r dann die von einem anderen Dampfer gemeldete Untiefe gefunden und durch eine Boje markiert, trieb das Schiff langsam der gefahrvollen Stelle entgegen, fuhr plötzlich mit äußerster Kraft darauf los und setzte in einem förmlichen Sprung darüber hinweg; aber das Knirschen des Sandes am Kiel, der Stoß, der das ganze Boot erschütterte, waren für jedermann stets von neuem ein ungemütlicher Nervenkitzel — es geschah so häufig, daß das Manöver oft mißlang. Die Bergfahrt war von der Talfahrt gänzlich verschieden.
22
Nach New Orleans benutzten die Dampfer die fördernde Kraft des breiten Hauptstromes; stromauf aber suchten sie in Nebenarmen und dicht am Ufer den kürzeren Weg und den geringeren Widerstand des Wassers. Im Staate Louisiana war der Urwald bis weit ins Innere ausgehauen, an seiner Statt hatte man tiefliegende Zuckerplantagen angelegt, die im Frühling bis auf 50 und 60 Kilometer in der Runde unter Wasser standen. Hinzu kamen der Nebel und der von den brennenden Rückständen des Zukkerrohrs erzeugte dicke weiße Rauch, der die weite Ebene mit einem undurchdringlichen Schleier überzog. — Da geschah es denn nicht selten, daß ein Lotse, verwirrt durch die einförmige und grenzenlose Überschwemmung, irgendwohin landeinwärts fuhr. Zuweilen gelang ihm die Rückkehr in den Fluß, aber ebenso häufig lief das Boot auf und blieb stecken, und Wracks auf dem Trockenen, eine Meile vom Strom entfernt, waren kein ungewöhnlicher Anblick.
Schwimmende Läden Die unwirtlichen Ufer des Stromes bewohnten Pflanzer und eine Art von weißen und schwarzen Zigeunern oder Waldmenschen. Sie lebten von Fischfang, Diebstahl und Jagd, hausten in rohen, aus Baumstämmen dürftig zusammengezimmerten Blockhäusern und arbeiteten nur, wenn der Hunger sie zwang. Aber die Mehrzahl dieser Uferleute war ein fröhliches, anspruchsloses Völkchen, traurig und elend im Winter und selig bei ihren Gelagen aus Kartoffeln, Mais und Fischen, sobald die Sonne sie wärmte. In Missouri, Tennessee und Arkansas fällten und bebauten schweifende Holzfäller sommers die schönsten Stämme der Urwälder und kümmerten sich dann nicht mehr um sie, bis im Frühjahr der Strom aus seinem Bett trat und die Ufergebiete auf Hunderten von Kilometern überschwemmte; dann banden sie die nun frei schwimmenden Stämme zu Flößen zusammen und bugsierten sie mit der starken Strömung in die Städte am unteren Lauf. Mit diesen Waldbewohnern und mit den Plantagenbesitzern 23
in den Lichtungen an den Buchten und Nebenarmen des Stromes trieben „schwimmende" Händler auf Flachbooten ihre Geschäfte. Ihre Läden waren unentbehrlich, zuweilen die einzige Verbindung mit der Außenwelt; sie bestanden aus, hölzernen, auf breiten, flachen Fährbooten stehenden Hütten,' die in den großen Städten gebaut wurden und ein reiches Warenangebot enthielten — allerlei Hausgeräte und Werkzeuge, Kleider, Kaffee, Zukker, Munition, alles, was dem kleinen Leben am Strom notwendig war. Eine Fahne auf dem Dach, eine Glocke im Bug, so schwammen diese fahrenden Kaufleute den Fluß hinab, gingen bei den Ansiedlungen oder auf Zuruf vom Ufer ihren Geschäften nach, und am Ende des arbeitsreichen Jahres verkauften sie die leeren Boote in New Orleans, kehrten nach St. Louis zurück, um im nächsten Sommer die Reise von neuem anzutreten. Die originellsten dieser Fahrzeuge aber waren die schwimmenden Museen und Theater. Da konnte man in der „Memphis Avalanche" unter der Rubrik „ K u n s t " "lesen: „Dan Rices Opernboot schwimmt langsam südwärts." Ein Floß aus mächtigen Baumstämmen bildete das Fundament des schwimmenden Opernhauses, vom Giebel flatterte das Sternenbanner. Eine weiße Flagge verkündete in grellen Farben: Grand Opera House. Das Museum enthielt die gewöhnlichen Kuriositäten, es war nichts anderes als eine Schaubude nach europäischem Muster. Nachts schliefen die Schauspieler im Zuschauerraum, die Damen auf der Bühne hinter dem herabgelassenen Vorhang, und was gespielt wurde, war gewöhnliches Tingeitangel, aber für die Bewohner war es willkommene Abwechslung. Kolossale Kohlentransporte für die Transozeandampfer im Golf von Mexiko zogen von St. Louis und Pittsburg den Fluß hinab. Sie bestanden aus etwa dreißig in Dreieckform aneinander gekoppelten Booten und schleppten mehr Ladung mit sich, als ein Überseedampfer fassen konnte. Ein Dampf Schlepper diente als Steuer. Solche schwimmenden Inseln scheiterten zwar häufig oder gingen sonstwie verloren, aber trotz der Verluste blieben sie als Transportmittel rentabel. Für die Zerstreuung der Passagiere auf den Mississippidampfern war in mancher Hinsicht aufs Beste gesorgt: 24
In der „Vieux carre", der Altstadt von New Orleans, erinnert der Stil vieler Wohnhäuser noch an die spanische und französische Zeit des Landes
Da gab es die berüchtigten Wettfahrten, haarsträubende Rennen, bei denen gelegentlich der überhitzte Kessel platzte oder das Boot an einer Klippe zerschellte und mit Mann und Maus unterging; und vor dem Bürgerkrieg hielten gut organisierte Banden von Strompiraten, die es auf die wohlgespickten Börsen der nach St, Louis und Memphis reisenden Farmer abgesehen hatten, ängstliche Gemüter in ständiger Spannung. Als man diesen Korsaren das Handwerk legte, stiegen sie von ihren Booten und aus ihren Verstecken in anderer Maskierung an Bord. Sie traten nun als durchaus ehrenwerte Gentlemen auf, bezahlten sogar ihre Passage und rupften die braven, treuherzigen Hinterwäldler beim Poker, denn der Spieltisch war geradezu ein Kennzeichen der Mississippidampfer. 25
Am Unterlaut des Stromes Von den Lagunen des Flußdeltas umgeben, liegt New Orleans auf einem niedrigen Sandrücken zwischen dem PontechartrainSee und dem Strom, 150 Kilometer von der Mündung entfernt. Das Klima ist subtropisch, mit milden Wintern und heißfeuchten Sommern. Von allen Großstädten' Nordamerikas ist New Orleans die einzige, die eine Altstadt im europäischen Sinne besitzt. Vereinzelte alte Gebäude und Plätze mag es auch anderswo geben, doch nur das „Vieux Carre", das Alte Viertel, in New Orleans trägt noch den Charakter eines in sich geschlossenen Stadtteils. Es entstand aus einer Verschmelzung französischer und spanischer Tradition: Das Haus öffnet sich in einen kühlen, schattigen Innenhof mit offenen Loggien, auf denen sich das häusliche Leben abspielt. Nach dem grellen Licht der Straße und dem Dämmer der gewölbten, gepflasterten Einfahrt geht ein eigentümlicher Zauber von der Stille der „Patios" aus, von dem plätschernden Brunnen, dem verwitterten Gemäuer und den geschmiedeten Eisengittern mit reichen Blattmotiven, welche die Balkonreihen der Fassaden überspinnen. Der Ruf New Orleans' als Musikstadt war um die Mitte des 19. Jahrhunderts hervorragend. Die kultivierte kreolische Oberschicht von New Orleans verband ihr Interessse für Musik mit gesellschaftlichem Prunk, und bedeutende Sängerinnen begannen hier ihre glänzende Karriere. In die neueste Musikgeschichte ging die Stadt als Geburtsort der Negermusik ein, die sich als Jazz über die ganze Welt verbreitet hat. Aber die ursprünglich ausdruckstarken, gesunden Melodien der Neger nahmen in den Elendsquartieren eine W e n dung zum Grotesken, sie verbanden sich in den Vergnügungsvierteln mit Militär- und Operettengeklimper, und so entstand eine Musik, deren Hauptmerkmal der vorwärtstreibende Rhythmus mit seinen Synkopen ist. In einer der malerischen Straßen des „Vieux C a r r e " steht ein zweistöckiges, mit einem Dachreiter verziertes Gebäude, das „Old Napoleon House". Dieses Haus ließ der Bürgermeister Nicholas 26
Girod als Heim für den großen Kaiser bauen; denn er plante nichts Geringeres, als den Gefangenen von St. Helena zu entführen. Auf der Reede lag schon der wohlgerüstete Klipper „Seraphine" bereit, da traf die Nachricht von dem Tod des Kaisers ein und beendete dieses mit großem Aufwand, mit Mut und B e geisterung begonnene Unternehmen — das durchaus keine Spielerei war und dem Buch der Geschichte eine Seite hinzugefügt hätte, wäre das Tor nieht zu früh zugefallen. .. Bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts hinein war New Orleans der industrielle Mittelpunkt und das Zentrum für die Zuckerproduktion von Louisiana, den Tabak von Kentucky und das Getreide des Ohio-, Mississippi- und Missouritales gewesen, dann, mit dem raschen Anwachsen der Baumwollkultur, traten alle anderen Produkte in den Hintergrund, der Baumwolle verdankte die Stadt ihren Aufschwung. Denn nördlich von New Orleans wuchs der Cotton Belt auf, die Baumwollzone der Vereinigten Staaten, die sich über vier Breitengrade erstreckt und bis südlich von Memphis reicht. O b wohl die Baumwollkultur sich nicht durch scharfgezogene Grenzen bezeichnen läßt, gibt es doch natürliche Bedingungen, welche die Baumwollstaude auf eine gewisse Zone beschränken — eine Zone, die sich über die ganze Breite des Kontinents ausdehnt und an den Hochplateaus am Fuße des Felsengebirges endet. Texas, Mississippi, Nord- und Südkarolina, Alabama, Arkansas, Oklahoma, Louisiana und Tennessee sind die vorzüglichen Baumwollstaaten. Ihre Ernte erzielt jährlich rund drei Milliarden Dollar. Trotz der Technisierung des Arbeitsprozesses, der in keinem anderen Land so vollkommen durchgeführt worden ist wie in den Staaten, läßt sieh das mühsame Pflücken der Baumwolle nicht völlig durch Maschinen ersetzen. Noch heute sind es hauptsächlich Neger, die mit den gleichen Bewegungen und den gleichen Liedern „das weiße Gold" sammeln wie ihre Vorfahren in der Sklaverei-, und immer noch trägt der Mississippi auf seinem Rücken die schwerbeladenen, breiten Baumwolldampfer, die unter ihrer Last fast zu sinken scheinen. Wie eh und je klebt an jedem Baumwollballen der Schweiß der schwarzen und weißen Pflücker. 27
In der Frühzeit der Baumwollkultur übergab der Plantagenbesitzer das Rohprodukt einem Vermittler, dem Faktor, der die W a r e nach der Länge der Faser klassifizierte, sie einlagerte und verkaufte. Da es auf dem Lande noch keine Banken gab, mußte er die gesamte Baumwollerzeugung finanzieren. Heute ist dieses System durch eine komplizierte, aber leistungsfähigere Organisation ersetzt: Der Zwischenhändler kauft die Baumwolle, transportiert sie auf die Märkte und bietet sie einheimischen und ausländischen Spinnereien an. Die Schwankungen der Baumwollpreise auf dem Weltmarkt bildeten bis in die neueste Zeit hinein einen starken Anreiz zu Spekulationen, weckten aber auch das Bedürfnis nach Sicherheit und führten schließlich zur Gründung der Baumwollbörse von New Orleans. Ihr erster Sekretär, Henry G. Hester, ein tatkräftiger, umsichtiger und verdienstvolelr Mann, stellte das Geschäft auf eine ganz aridere, solidere Basis. Er unterband die Spekulation, steigerte den Umfang der Abschlüsse bedeutend und leitete eine erfolgreiche Kampagne für die Qualitätsverbesserung der Baumwolle ein, die den Farmern Anstoß zur Einführung moderner Produktionsmethoden gab. Seit 1916 untersteht der Baumwollhandel der Kontrolle des Staates. Die Zeit der großen Abenteuer, die in Hasardgeschäften Vermögen gewannen und verloren, war damit endgültig abgeschlossen; auch die Risiken des Handels wurden durch technische Verbesserungen in Lagerung und Transport vermindert. Je weiter der Strom sich dem Golf von Mexiko nähert, um eo mehr ändert sich das Landschaftsbild an seinen Ufern. Die Sonne des Südens brennt heißer auf die breite, tiefgelbe Wasserfläche herab, und die niedrigen Gestade sind hier und da mit hohen Magnolien und Eichen bestanden, die, ganz von langfaserigem Mississippimoos eingehüllt, wie Trauerweiden aussehen. Ober die Ebene verstreut liegen Zuckerfabriken, reizende, traumhafte Pflanzerhäuschen inmitten prächtiger, schattiger Gärten und hinter ihnen, von Baumwuchs halb verdeckt, ein „ Q u a r t e r " , eine Negerwohnung und die weißen Bauten der Lagerhäuser. Reis- und Zuckerrohrfelder dehnen sich weit in die Ebenen. Der dichte, himmelhohe Qualm, der im Frühjahr aus ihnen empor28
steigt, bald von schwarzer, bald von gelber Farbe, quillt aus den Zuckerplantagen und den Sümpfen des Mississippi auf, wenn die Abfälle des Zuckerrohrs verbrannt werden und ein Stück des Waldes in Flammen steht, der die Hälfte des Gebietes von Louisiana bedeckt. Millionen tote, von Alter und Stürmen geknickte Stämme ruhen im seichten Sumpfwasser, wo Alligatoren, Schlangen, Schildkröten und eine vielgestaltige, subtropische Tierwelt hausen. Aus dem Moder des Gestürzten ist längst eine neue Vegetation entstanden, die, wiederum zerfallend, einer dritten Pflanzengeneration das Leben gegeben hat im ewigen Kommen und Gehen. Und alles ist wie Zunder, leicht entzündbar, schnell von Feuer verzehrt. Das alte, graue, dürre Moos, das alle Bäume bedeckt, brennt zuerst, dann leckt die Flamme wie ein Drache an den Stämmen entlang, ohne sie anfangs zu berühren. Aber das ist nur die Avantgarde des brennenden Sumpfes. Von dichtem Bauch fast erstickt, schwelt der Brand weiter, langsam, in langer Linie frißt er sich voran, schlägt seine Klauen in jedes Stück Holz, und allmählich verkohlen Zweige und Wurzeln, und die jungen, grünen Sprößlinge; zurück bleibt ein grauschwarzes Aschenfeld, das fußhoch auf dem Wasser des Sumpfes schwimmt. Zur Nachtzeit ist solch ein Schauspiel ein höllischer Anblick. Der ganze Horizont ringsum steht in Flamemn, und das Feuer beleuchtet mit klafterlangen Zungen blutrot die gewaltigen Bauchmassen. Louisiana, hier am rechten Stromufer, ist dreimal so groß wie die Schweiz. Fruchtbares Schwemmland bringt Zuckerrohr, Baumwolle, Mais, Beis, Tabak und Obst in üppiger Fülle hervor. Der Fluß wird hier bei den häufigen Stürmen und Überschwemmungen zum fließenden Meer. Außer dem „Vater der Ströme" bewirbt sich noch der Bed Biver um die Ehre, der Hauptfluß Louisianas zu sein. Er kommt von den Einöden des nördlichen Texas, tritt in der nordwestlichen Ecke des Staates, in Louisiana ein, durchschneidet ihn diagonal und mündet nördlich der Landeshauptstadt Baton Rouge. Auch der Bed Biver ist einer der Trabanten des Missisippi, die 29
den Strom mächtig bedrängen, daß er sein Bett verläßt, sich rechts und links ins Land hinein ergießt und weite Gebiete mit seinen Fluten bedeckt. Diese Überschwemmungen in der ganzen Länge des unteren Laufes begraben ein Gebiet von siebzig Kilometer Breite in einer Höhe von drei Metern unter sich. Die Masse dieser ungeheuren Wassermengen genügte, um vierundachtzig Tage das gesamte Strombett des Mississippi zu füllen, vorausgesetzt, es würde vom oberen Mississippi und aus den Nebenflüssen unterhalb Cairos kein Tropfen mehr hinzukommen. Man begann sehr früh, Dämme zum Schutz des Hinterlandes zu errichten; die Geschichte dieser Dämme geht bis auf das J a h r 1818 zurück, aber immer wieder rissen das Schwemmholz und die entwurzelten, treibenden Stämme unzählige Durchbräche. Offenbar kann Menschenwerk solche Ströme nicht in Fesseln schlagen, denn trotz aller Anstrengungen und Verbesserungen ereignen sich auch in unseren Tagen noch Katastrophen von riesigen Ausmaßen. In der Zeit der orkanartigen Stürme und Gewitter, die den Staat Louisiana heimsuchen, liegt die Ahnung von etwas Quälendem in der Natur, ü b e r den Horizont türmen sich riesige W o l ken wie Schneegebirge mit dunklen Rändern, und in der Ferne zucken schon die ersten Blitze. Sie springen von Wolke zu Wolke,' aufleuchtend in blassem Licht und schnell erlöschend, und der Donner grollt dumpf und nachhaltend. Und plötzlich reißt sich der Sturm los und wirft sieh auf den Fluß. Er treibt hohe Wellen vor sich her, von rechts und links rollen die Donner über den Himmel, prallen gerade über dem Fluß aufeinander zu. Es knattert und kracht, als brächen riesige Bäume nieder. Endlich beginnt es zu regnen. Erst fällt ein großer Tropfen,' ein zweiter, dann klatscht und trommelt es aufs Wasser, h ü p fende Blasen bilden sich eine neben der anderen, und die herabströmenden Wassermassen übertönen das Toben des Unwetters. Und mit einemmal, als du die Hoffnung schon aufgegeben hast,' entsteht in der schwer herabhängenden Wolkendecke ein Riß, der sich allmählich verbreitert und ein Stückchen des Himmels 30
sehen läßt. Noch donnert und kracht es von allen Seiten, doch weiter fort und weniger drohend. Die Blitze werden blasser, und die strömenden Wasserfluten gehen in einen ruhigen, senkrecht herabrinnenden Landregen über. Aus der Luft ist die Spannung gewichen, sie atmet sich leichter; Gräser und Sträucher am Ufer richten sich auf, und an ihren Halmen und Zweigen rinnt Tropfen um Tropfen herab. Und dann bricht mit einem Schlag die Sonne durch. Die fernen Blitze werden fast unsichtbar, man achtet ihrer nicht mehr, und der grollende Donner hört sich an wie das Murren eines besiegten Riesen. Schließlich fällt auch der Kegen weniger dicht, dann ist es nur noch ein Tröpfeln, das bald gänzlich versiegt, und befreit atmest du auf, wie man aufatmet, wenn dumpfe Angst von einem genommen ist. Unterhalb von New Orleans teilt sich der Mississippi in drei Hauptarme, die dem Golf von Mexiko zustreben. Ohne Unterbrechung fast sind hier die Ufer des großen Stromes mit üppigen Gärten, Orangenhainen, Zuckerrohr- und Reisplantagen bedeckt bis zum weiten Deltagebiet, das selbst für die Reiskultur zu niedrig liegt. Ein wirksames System von Dämmen beseitigte die Hindernisse der wandernden Untiefen im Mündungsgebiet und gestattete nun den größten Ozeandampfern die Durchfahrt bis New Orleans. Ringsherum aber leben die Menschen der verschiedensten Rassen und Abstammungen in kleinen Siedlungen, Plantagen und in Hausbooten auf dem Fluß. Doch im scharfen Gegensatz zum größten Teil der übrigen Vereinigten Staaten leben sie, wie sehr viele Bewohner des Südens, in verzweifelt ärmlichen Verhältnissen. Diese Armut erschwert die Herausbildung des leichtherzigen Optimismus, der dem Wesen des Nordamerikaners entspricht, und ruft geradezu eine geistige Isolierung hervor. Es kommen weniger Radios und Radiosender, weniger Kinos und weniger Filmvorführungen, weniger Zeitungen und Zeitschriftenabonnements auf den Kopf der Bevölkerung als im Norden, und die Mehrzahl sowohl der Weißen wie der Neger hat eine geringere Schulbildung als irgendeine Volksgruppe in der Union; da* Er31
ziehungswesen entspricht den amerikanischen Maßstäben meist weder an Umfang noch an Güte. Auch die Sozialdienste in den südlichen Staaten, die fast die Hälfte des Stromgebietes des Mississippi ausmachen, stehen auf einem tieferen Niveau. Viele Bewohner des unteren Mississippigebietes finden neuerdings Arbeit in den kürzlich erschlossenen ölrevieren entlang der Küste des Golfes von Mexiko. Die ölfelder erstrecken sich zum Teil weit ins Meer. Bis ins Jahr 1930 gehen die Versuche zurück, die unterseeischen Lagerstätten vor der Strommündung des Mississippi auszubeuten. Aber erst nach dem zweiten Weltkrieg wurde von einer kalifornischen ölgesellschaft mit den Bohrungen begonnen. Um im Trockenen arbeiten zu können, führte man Dämme durchs Meer. Aber immer weiter griff man hinaus. Dann begann man von Drilling-Barges, schwimmenden Ölbohrinseln, aus die Bohrer in die Tiefe zu bringen und das gewonnene Erdöl in Tankern oder durch untermeerische Rohrleitungen an Land zu befördern. Heute ist das Meer bis dreißig Kilometer von der Küste entfernt mit den künstlichen Inseln überzogen. Und wenn auch die Gewinne zum größten Teil nicht den Gebieten zufallen, in denen sie gemacht werden, so knüpfen sich an die ölfelder des Golfes doch viele Hoffnungen für das Wirtschaftsleben der Einheimischen.
Unischlaggestaltung: Karlheinz Dobsky Bilder und Stromkarte: USAD Wer sich eingehender mit den großen Strömen der Erde beschäftigen will, dem sei das Buch von Albert Hochheimer „Die Geschichte der großen Ströme" empfohlen (Benziger-Verlag, Einsiedeln). Ober den Ohio und seinen Nebenfluß Tennessee berichtet Lux-Lesebogen 16, „Wasser, Wüste, Weizen". L u x - L e s e b o g e n 2 9 3 (Erdkunde) - H e f t p r e i s 2 5 P f g . Natut- und kulturkundliche Hefte - Bestellungen (vierteljährl. 6 Hefte DM 1,50) durch )ede Buchhandlung und jede Postanstalt — Alle früher erschienenen Lux-Lesebogen sind in jeder guten Buchhandlung vorrätig oder können dort nachbestellt werden — Druck: Buchdruckerei Auer, Donauwörth Verlag: Sebastian Lux, Murnau vor München