C.H.GUENTER
Mieser alter Spion
ERICH PABEL VERLAG GMBH, 7550 RASTATT
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C.H.GUENTER
Mieser alter Spion
ERICH PABEL VERLAG GMBH, 7550 RASTATT
8
1. Ende August dieses Jahres fanden in London die Europameisterschaften der Leichtathleten statt. Im olympischen Zehnkampf galt der Russe Oligow als Favorit. Schließlich erreichte er aber nur knapp achttausend Punkte und wurde von dem Amerikaner Sugar Ronson glatt geschlagen. Den zweiten Platz sicherte sich der deutsche Meister. Kurz vor der Siegerehrung wurde dem Russen auch noch der dritte Platz abgesprochen. Die Dopingkontrolle war bei ihm positiv verlaufen. Oligow wurde disqualifiziert und gesperrt. Lebenslänglich, Als geschlagener Mann verließ er das Wembley Stadion. Am Tag seiner größten Niederlage - er hatte sie kommen gesehen - beschloß Oligow, sein Leben zu ändern. Am Abend tat er den alles entscheidenden Schritt, der niemals mehr rückgängig zu machen war. Er lief in den Westen über. Während des gemeinsamen Abendessens im Hotel Aquitania verließ er die Mannschaft der Sowjetunion. Dies unter dem Vorwand, er habe Kopfschmerzen und gehe zu Bett. Jeder hatte Verständnis dafür, daß Oligow nicht zum Feiern zumute war. Von seinem Zimmer im ersten Stock kletterte der Athlet, unbemerkt von den Aufpassern des staatlichen 9
Sicherheitsdienstes, in den Hotelinnenhof. Als hochtrainiertem Sportler bereitete es ihm keine Mühe, noch ein paar Mauern zu überwinden. In der Winston Road winkte er einem Taxi. Das war um 20.33 Uhr britischer Sommerzeit. Wenige Minuten später, um 20.50 Uhr, hatte Oligow die Fronten gewechselt und war drüben. Auf der Polizeistation, wo er um Asyl bat, nahm man zunächst seine Personalien auf. Dann verständigte man eine Dienststelle des MI-5. „Sie werden abgeholt und verhört", sagte der Constable. „Ich bitte darum." Der Russe war sehr blaß, aber auch sehr gefaßt.
„Man versicherte mir", erklärte Oligow dem Beamten des MI-5, „daß man mir ein Handgeld von zehntausend Pfund Sterling zahlen wurde." Der Mann von der Spionageabwehr zeigte ein mitleidiges Lächeln. ,,Vielleicht gilt das vom General ab aufwärts." „Ich bin wichtiger als ein General." „Nur weil Sie schneller laufen, höher springen und weiter werfen können als andere Menschen?" fragte der Engländer spöttisch. „Weil ich euch etwas mitbringe", erwiderte Oligow. Der Verhöragent lehnte sich zurück, nahm einen Schluck Tee und einen tiefen Zug aus seiner Zigarette. „Da bin ich aber neugierig." Er hatte schon zu viele solcher Fälle abgewickelt und dabei zu abenteuerliche Versprechungen gehört, als daß er diesen Mann ernst genommen hätte. 10
Der Sportler wirkte jetzt nervös. Immerzu spielte er mit der Silbermünze, die er an einer Schnur, die durch ein Loch gerührt war, um den Hals trug. „Ich muß Qu sprechen", stieß er. endlich hervor. Der Beamte zog die Brauen hoch. „Wen bitte?" „Q-U", buchstabierte der Russe in einem dürftigen Schulenglisch. „Wer ist das?" „Einer von euch." „Nie von ihm gehört." „Dann sollten Sie sich informieren, Sir." Der Engländer, ein Captain der Inland-Abwehr, war durchaus bereit, dies zu tun. Doch ehe er den Apparat anlaufen ließ, brauchte er, um den Aufwand rechtfertigen zu können, gewisse Informationen. Er fragte: „Wie kommen Sie, Mister Oligow, ein Sportler, wenn auch zweifellos ein prominenter, an den Code unserer...", der Engländer verbesserte sich, „... einer Person in diesem Lande, die angeblich Kontakte zu Bürgern der Sowjetunion unterhalten könnte?" Der Russe antwortete, wenn auch nicht unbedingt befriedigend: „Man gab mir diesen Code mit, für den Fall, daß ich den Plan hätte zu desertieren." „Sie hatten diese Absicht also schon vor Ihrem Abflug in Moskau?" Der Leichtathlet nickte. „Das ist zutreffend, Sir." „Warum?" „Ich sah mich", es klang wie der Anfang eines Geständnisses, „nicht mehr in der Lage, die geforderte Leistung ohne Drogen zu erbringen." „Wie sich heute nachmittag zeigte, brachten Sie die 11
Leistung auch mit Dopingmitteln nicht mehr, Mister Oligow." „Meine Karriere ist zu Ende." Der Engländer verstand „Der dritte Platz würde für den Weltmeister ein normales Formtief bedeuten. Aber die Urinkontrolle förderte die Wahrheit ans Licht, bekräftigt durch den Umstand, daß Sie noch versuchten, die Urinprobe zu vertauschen." Der Russe bedeckte die Augen. „Ich fürchtete schon seit langem, daß es so kommen würde. - Andere wohl auch." „Und deshalb machte sich drüben jemand an Sie heran." „So ist es, Sir." „Wer ist dieser Jemand?" Oligow ließ sich mit der Antwort lange Zeit. Er war bereit, als Vorleistung einiges aus der Hand zu geben. Aber er war nicht bereit, sich für nichts zu verkaufen. „Ein alter Mann", sagte er. „Wo trafen Sie ihn? Auf einer Veranstaltung, auf einer Prominentenfete..." „In einem Park." Der Engländer bat um Einzelheiten und erfuhr, daß es abends in einem Moskauer Park auf einer Bank gewesen sei. Er ließ sich den Park beschreiben, die Bank sowie das Aussehen des alten Mannes. Seine Fragen wurden schmerzhaft für Oligow. „Wer sagte Ihnen, daß der alte Mann Sie sprechen wollte?" Immer wieder stockend und nach Worten suchend, berichtete Oligow.
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„Nachdem in Moskau Gerüchte umgingen, daß ich Probleme hätte, Probleme mit allem, mit Frauen, mit Alkohol, mit der Ideologie, im Training, mit meinen Finanzen, also praktisch rundum, bekam ich einen Anruf." Oligow lieferte, soweit ihm das mit seinem Schulenglisch möglich war, eine Detailschilderung. Der Anrufer hatte erklärt, wenn er aussteigen wollte, würde er das wohl bei den Europameisterschaften tun. Im Westen brauchte jeder Startkapital, und er könnte es bekommen. Weitere Informationen von dem alten Mann, der im Park Schach spielte. Der Engländer äußerte immer wieder Zweifel. „Der alte Mann verlangte kein Erkennungswort von Ihnen?" „In Moskau kennt mich jedes Kind, Sir", entgegnete Oligow. „Was sagte der alte Mann?" Der Russe schien nachzudenken, wohl um es so genau wie möglich wiederzugeben. Dann atmete er tief. „Er sagte, wenn du es in London tust, Junge, dann fordere zehntausend Pfund Sterling. - Wofür? fragte ich. - Für das, was ich dir mitgebe, sagte der alte Mann und schenkte mir etwas. Ich wollte wissen, ob das, was er mir gab, drüben als so wertvoll anerkannt werden würde, daß ich eine große Summe Geldes dafür bekäme. Daraufhin nannte mir der alte Mann den Code. - Es gibt drüben einen Agenten, sagte er, der kann es bestätigen. Sie sollen Qu fragen." Damit war das Gespräch wieder an jenem Punkt angelangt, wo es das erste Mal steckengeblieben war. „Was gab Ihnen der alte Mann?" fragte der MI-5Beamte nun. 13
„Das erfahren Sie, wenn ich mit Qu gesprochen habe, Sir." Der Engländer war nicht nur mißtrauisch, sondern besorgt. „Wo haben Sie es, Oligow?" „Versteckt, Sir." „Was enthält es wohl?" „Vielleicht eine Information, Sir." „Und Sie sind sicher, daß diese NKWD-Burschen, die Ihre Mannschaft bewachen, es nicht finden werden oder längst fanden?" „Absolut sicher, Sir", entgegnete der Russe. Daraufhin hob der Engländer das Telefon ab, um die Suche nach dem geheimnisvollen Agenten -Q- einzuleiten.
Achtundvierzig Stunden später hatten sie -Q- immer noch nicht. Als sich schon die Gewißheit abzuzeichnen begann, daß es -Q- wohl gar nicht gab, kam einer auf die Idee, sich mit dem Auslandsgeheimdienst, dem MI-6, in Verbindung zu setzen. Aber auch dort wurde kein Agent mit dem Code -Qgeführt. „Nicht unter den Aktiven und nicht bei den Inaktiven", versicherte man den Leuten der Spionageabwehr. Höflich wie sie waren, bezichtigten die Engländer den Überläufer nicht gleich des versuchten Betrugs, sondern sagten: „Sie müssen da einer Provokation aufgesessen sein, Mister Oligow." 14
„Inwiefern Provokation, Gentlemen, das verstehe ich nicht" „Ihre vorgesetzte Behörde ahnte wohl, daß Sie in London abspringen würden. Man hoffte, daß Sie es dort versuchen würden, weil man wenig Lust verspürte, ständig und überall ein Dutzend Leute für Ihre Überwachung abzustellen. Han ging davon aus, daß Sie es tun würden, und wollte es erledigt haben. Man glaubte, Sie auf frischer Tat ertappen zu können, denn auf eine bloße Vermutung hin konnte man einen Olympiasieger nicht in Sibirien verschwinden lassen." „Warum hat man mich dann nicht geschnappt, als ich aus dem Fenster sprang", wandte der Russe ein. Der. Engländer lächelte. ,,Weil Sie eben doch ein fixer Junge sind." Oligow schüttelte verzweifelt den Kopf. „Und Sie glauben, was Sie sich da zurechtphantasieren?" Der Engländer hob sein kantiges Kinn. „Es gibt keine andere Erklärung, Mister Oligow." Der Busse sackte zusammen, als würde man allen Druck aus ihm herauslassen. „Was nun?" murmelte er. „Ich habe so fest daran geglaubt." „An Ihr eigenes Märchen über den Mann im Park?" Seufzend steckte sich der Engländer eine Zigarette an. „Hören Sie mal zu, Oligow. Wir haben in den vergangenen zwei Tagen nicht nur nach Ihrem geheimnisvollen Mister Qu gesucht, sondern uns auch mit Ihrem Leben befaßt. Wenn Sie kein von der Natur begnadeter Leichtathlet wären, dann wären Sie vermutlich ein Ganove, um nicht zu sagen ein Gangster. Wir entdeckten allein ein Dutzend Fälle von Betrug, Schieberei, Devisenvergehen, Zuhälterei, Handel mit verbotenen Anregungsmitteln und so fort, wofür Sie 15
hierzulande der Staatsanwalt verfolgt hatte. Drüben in der UdSSR wurde das vertuscht, solange Sie Goldmedaillen einheimsten." „Alles, was Sie sagen, stimmt", stieß der Russe hervor. „Alles." „Dann geben Sie doch bitte zu, daß Sie uns zu leimen versuchten." „Aber der Anrufer, der Mann im Park, der Qu-Code, das ist die Wahrheit, Sir. So wahr wie ich hier sitze." „Und natürlich auch das Ding, das Sie uns für zehntausend Pfund Sterling übergeben wollten." Der Sportler schien völlig niedergeschlagen zu sein. „Was werden Sie mit mir tun?" Der Engländer grinste jetzt. „Sie ausliefern. Unverschämtheiten lassen wir uns nicht bieten." „Das wäre mein Ende." „Darauf können wir keine Rücksichten nehmen. Wenn die drüben Sie einsperren, geht das auf Moskaus Kosten. Wenn wir Sie einsperren, und dazu würde es irgendwann bestimmt kommen, ginge das auf Kosten Ihrer Majestät Kasse. So läuft nun einmal das Geschäft, Mister Oligow. Für nichts kriegt man nicht nur nichts, sondern auch noch Ärger. Wenn Ihre Story wenigstens gut wäre, aber leider ist sie ziemlich miserabel." Der Engländer gab dem Leibwächter, der sich um den Russen kümmerte, einen Wink. „Abführen." In diesem Moment läutete das Telefon. Der MI-5-Beamte hob ab, meldete sich, lauschte und reagierte mit einem ungläubigen Grinsen. „Das ist unmöglich." Offenbar wurde ihm übermittelt, daß es wohl doch möglich sei. Er legte auf und rief den Leibwächter und 16
den Russen zurück. „Wir haben Qu", sagte er. „Es gibt ihn. Vielmehr, es gab ihn, vor zwanzig Jahren."
-Q-, einer der besten britischen Geheimagenten der sechziger Jahre, lebte längst in Pension. Er kam von seinem Landsitz in der Grafschaft Exter nur deshalb nach London, weil der Innenminister ihn rief. Am Freitagabend wurde ihm der Sowjetsportler gegenübergestellt. Dies fand in dem stillen, vierstöckigen Gebäude in der Queen Anne's Gate Nr. 31 statt. Als sich die beiden Männer zum ersten- und letztenmal im Leben begegneten, hörte man die Bäume des St. James Parks durch die offenen Fenster rauschen. Sie waren beide von extremem Typus. Der Russe trainiert, hochaufgeschossen, nervös und blond. Der englische Ex-Agent bestenfalls mittelgroß, zum Bauchansatz neigend, mit Halbglatze und behäbigen Bewegungen. Bevor -Q- den Raum, in dem Oligow saß, betrat, hatte man ihm Gelegenheit gegeben, den Russen durch den Einwegspiegel zu betrachten. „Nein, den habe ich nie gesehen", hatte -Q- erklärt. „Nicht einmal im Fernsehen?" Beinah entrüstet hatte der Pensionär reagiert. „Ich hasse Sport. Ich mußte in meiner aktiven Zeit zuviel rennen, springen, klettern und boxen, als daß ich irgendeine Art körperlicher Betätigung, mit Ausnahme derer mit einer Dame im Bett, noch schätzen würde. Und was Fernsehen betrifft, da schaue ich mir nur Liebesschnulzen an, bei denen ich sicher sein kann, daß sie sich nicht kriegen. Denn im Leben gibt es auch kein Happy-End." 17
„Machen Sie das Beste aus der Geschichte", hatte ihn der zuständige Abteilungsleiter gebeten. -Q- hatte sich eine Zigarre in den Mund gesteckt. Erst drinnen bei Oligow, nachdem er das Fenster geschlossen und dem Russen gegenüber Platz genommen hatte, steckte er sie an. . „Ich bin Qu", stellte er sich vor. „Was kann ich für Sie tun?" Der Russe schloß die blondbehaarten Lider bis auf Augenschlitze. „Hat lange gedauert." „Dafür gibt es Gründe." „Ist der Grund etwa der", fragte Oligow, „daß man Sie erst schnell zu Qu machte?" Der Exagent lächelte fein. „Sie können das glauben oder auch nicht. Es wäre aber besser für Sie, wenn Sie davon ausgingen, daß ich der echte Qu bin." „Und falls ich das nicht tue?" „Dann, wie gesagt, wäre das schlechter für Sie." „Inwiefern?" Der Russe wurde aufsässig. Der Engländer überlegte und brauchte nicht lange, um die richtige Taktik herauszufinden. Er hatte oft genug Verhöre geführt, um es nie mehr zu verlernen. Er mußte Druck geben. „Sie sagen mir jetzt, Oligow, warum Sie mich sprechen wollen. Tun Sie es nicht, dann gehe ich binnen einer Minute durch diese Tür dort. Und Sie können sehen, wie Sie klarkommen. Vermutlich wird man Sie von Berlin aus in die Ostzone befördern."
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Der Russe bewegte in stummer Erregung die Hände mitsamt den Armen. „Zum Teufel, geben Sie mir einen winzigen Beweis, Mister Qu." Der Exagent -Q- fixierte ihn erst und nickte dann. Langsam begann er, russisch zu sprechen. „Ich habe viele Jahre lang Geheimoperationen jenseits des Eisernen Vorhangs durchgeführt. Ich kenne Warschau, Kiew und Moskau. Sie können mich, was Moskau betrifft, ruhig auf die Probe stellen. Fragen Sie aber nicht nach Einrichtungen, die erst nach dem Jahr 1962 dort gebaut wurden. Seitdem war ich nicht mehr drüben." Das recht gute Russisch war für Oligow offenbar Beweis genug. „Danke", sagte er, „für den Anschein, mir entgegenkommen zu wollen. Wahrscheinlich bin ich viel zu vorsichtig. Wenn Sie wirklich Qu sind, wird meine Botschaft für Sie von Bedeutung sein, andernfalls ist sie ohne Belang. Warum also rege ich mich auf?" „Wegen der zehntausend Pfund", brachte es -Q- auf den Punkt. Was ihn betraf, so hatte dieser Bursche Substanz, und zwar insofern, als daß er seinen Code kannte. Woher sollte er ihn kennen, wenn nicht aus sowjetischen Geheimdienstkreisen. Der Sportler schien bereit zu sein. „Können wir beginnen, Mister Oligow?" „Fragen Sie!" „Also noch mal, was kann ich für Sie tun?" Daraufhin äußerte der Russe nur ein einziges Wort, und doch gab er es auf eine Weise preis, als legte er damit sein Leben in die Waagschale. „Polyphem", sagte er. 19
„P-o-l-y-ph-e-m", wiederholte der Ex-Agent. Dabei schloß er die Augen und schien sich fallen zu lassen. Vermutlich in ein Meer von Erinnerungen. Seine Lider zuckten. Doch dann gab er sich einen Ruck und öffnete sie wieder. „Polyphon, eine Riesengestalt aus der OdysseusSage, ein menschenfressender, einäugiger Zyklop." Der Russe deutete auf seine Stirnmitte, „Hier soll er das Auge gehabt haben." „Odysseus brannte es ihm mit einem glühenden Pfahl aus", ergänzte -Q-. „Ja, es gab einen Mann im Osten, den wir so nannten. Aber das ist ein Vierteljahrhundert her. Mitten im kalten Krieg war das." Der Russe unterbrach den Monolog. „Er lebt wohl noch." Das schien dem Ex-Agenten längst klar zu seih. Wie käme dieser junge Bursche sonst dazu, ein Geheimwort zu nennen, das ihm eine Menge Türen öffnete. „Okay, Polyphem ist okay. Was will er? Läßt er mich nur schön grüßen, oder was?" Wieder zögerte der Russe. Jetzt kam der Moment, wo er alles auf den Tisch zu legen hatte. Wenn sie unfair waren, nahmen sie es und setzten ihn auf die Straße. Im Geheimdienstgeschäft waren solche Brutalitäten üblich. Hier arbeiteten sie nur mit harten Bandagen. Oligow nahm an, daß -Q- vorbereitet war, daß er wußte, daß der Überläufer eine Nachricht hatte, daß man ihre Gespräche mithörte, vielleicht auch mit versteckten Kameras aufzeichnete. Also mußte er jetzt zur Sache kommen. Er faßte an die gelochte Silbermünze, die er um den Hals trug, löste sie von der Schnur und reichte sie -Q-. Der Ex-Agent hielt die Münze ans Licht, nahm die 20
Brille aus der Reverstasche, setzte sie aber nicht auf, sondern verwendete sie wie ein Lorgnon. „Ein kubanischer Silberpeso", stellte er fest. „Geprägt um die Jahrhundertwende, schätze ich. Nein, falsch. Der Männerkopf, das muß Präsident Machado sein. Er regierte erst 1925. Eine spätere Prägung also. Und auf der Bückseite, das ist wohl die Kontur der Insel." Er sah auch die Gravierung der amerikanischen Flagge. Die USA hatten bis etwa 1934 die Schutzherrschaft über die Insel ausgeübt, nachdem sie ihnen im spanisch-amerikanischen Krieg zugefallen war. Der Ex-Agent ließ die Münze spielerisch durch die Finger wirbeln, woraus man schließen konnte, daß er sehr fingerfertig war und auf dieselbe Weise auch mit Spielkarten umzugehen verstand. „Ist das alles? Wo steckt der Witz, Mister Oligow?" „In der Botschaft, Sir." „Und die lautet?" „Achtet auf Kuba." Der Ex-Agent lächelte. „England hat mit Kuba wenig am Hut. Warum erzählt man das nicht den Amerikanern, den Kollegen von der CIA?" „Kennen die Polyphem?" fragte der Russe völlig zu recht. -Q- dachte nach. Wenn die Nachricht und die Münze wirklich von Polyphem kamen, dann steckte mehr dahinter. Er ging hinaus und ließ sich eine starke Lupe geben. Unter ihr betrachtete er den Silberpeso noch einmal. Die alte Münze wies natürliche Verletzungen der Oberfläche auf, Kratzer, Abschliffe des Edelmetalls. Aber dann entdeckte er etwas, eine kreisrunde Vertie21
fung die nur mit einem Bohrer oder einer Stahlnadelspitze hervorgerufen worden sein konnte. Sie befand sich am nördlichen Rücken der Insel bei einem dornenartigen Vorsprung, jener Stelle also, du am näherten zu Florida lag. „Überprüft sofort", bat -Q-, „ob dieser Punkt eine zufällige Beschädigung sein kann oder ob es sich um eine absichtliche Markierung handelt. - Dann bekäme das Ganze nämlich tiefere Bedeutung." Er ging noch einmal zu Oligow hinein. „Ist das alles?" fragte er scharf. „Achtet auf Kuba." „Und die Münze, Sir." „An der ist nichts feststellbar. Ist das wirklich alles, Mister Oligow?" „Zunächst ja." „Und dafür wollen Sie sich Asyl plus zehntausend Pfund einhandeln?" „Weitere Informationen folgen", reagierte der Russe geschickt. „Wer sagt das?" „Der alte Mann im Park." „Wann?" „Beizeiten, schätze ich." „Über welchen Kanal?" „Vielleicht über mich." Kopfschüttelnd lief -Q- auf und ab. „Unmöglich. Polyphem kann nicht wissen, wie wir Sie behandeln, wohin wir Sie bringen, um Sie vor eventuellen Verfolgern zu schützen. Er kann nicht ernsthaft damit rechnen, daß Sie als Relaisstation tauglich sind. Also belügen Sie mich." „Weitere Informationen folgen", wiederholte der Überläufer erschöpft. „Mehr weiß ich nicht, Sir." Er 22
hoffte, damit alles in allem einen guten Einstand gegeben zu haben. Wieder ließ ihn -Q- allein. „Was machen wir mit ihm?" fragte draußen der verantwortliche Abteilungsleiter. „Rauswerfen", schlug -Q- vor. „Zahlt ihn aus und beobachtet ihn. Polyphem wird sich noch einmal melden. Aber wir sollten rasch darüber die Verbündeten unterrichten. Washington und München." „Warum München?" „Washington deshalb, damit sie sich auf Kuba umsehen, und München deshalb, weil die Quelle Polyphem in den fünfziger Jahren von uns gemeinsam mit dem deutschen Bundesnachrichtendienst installiert wurde. Der BND weiß mehr über Polyphem als wir. Er war ihr Mann. Irgendein Typ aus der DDR" „Vielleicht halten sie noch Kontakt." „Wohl kaum, sonst wäre der Junge nach München übergelaufen." „Und wenn das nicht möglich war, sagen wir aus Zeitmangel." -Q- wurde nachdenklich. „Dann passiert da irgend etwas. Es kommt auf uns zu und ist wohl nicht aufzuhalten. Es muß etwas außerordentlich Wichtiges sein. Kümmert euch darum. Ich fahre wieder nach Hause. Grüßt mir den Chef, den Lord. Ihr wißt, wo ihr mich findet. Bei meinen Bienen und hei meinen Tomaten." Als der zuverlässige Ex-Agent, der immer noch Spitzenklasse war, die Tür hinter sich geschlossen hatte und sie wenig später seinen schwarzen Jaguar wegfahren sahen, sagte einer: 23
„Weiß nicht, ohne ihn hat man immer das Gefühl, als stehe man in kurzen Hosen da." „Nur im ersten Moment", tröstete ihn ein Kollege. „Das gibt sich."
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2. In den Ausläufern der Sierra Gardena, etwa 140 Kilometer östlich von Havanna, baute der kubanische Campesino Domingo Juarez Tabak an. Er galt als Züchter edler, widerstandsfähiger Sorten, weshalb man seine Finca bis heute nicht verstaatlicht hatte. Für kubanische Verhältnisse lebte Juarez im Wohlstand. Daß er nicht nur über einen Traktor, sondern sogar über einen eigenen Jeep verfügte, führten die Nachbarn auf seine Tüchtigkeit und seinen Fleiß zurück. Früh am Morgen des Dienstags erklärte Juarez seinem Vorabeiter, daß er in Matansas zu tun habe. „Nehmt euch die Campos auf der Westseite vor", ordnete der Patron an. „Achtet auf Käferbefall bei den Jungpflanzen. Ich habe sie resistent gezüchtet, aber eine ist immer dabei, die umfällt. Und fahrt den Traktor nicht zu Bruch." „Bringen Sie Coros mit?" fragte der Vorarbeiter. Er meinte ein häufig benutztes Pflanzenschutzmittel. „Davon liegt noch etwas im Schuppen." „Dann bringen Sie wenigstens Rum mit, Senor, und Senoritas." Der Patron schlug ihm freundschaftlich auf den Hutrand, warf seine Segeltuchtasche auf den Beifahrersitz und ließ an. Teufel, dachte er, die Tasche ist schwer. Hoffentlich merkt er nicht, daß ich das Fernglas mitgenommen habe, sonst weiß es morgen sein Genösse bei der Guardia. Der Vorarbeiter war ein Spitzel, und sein Saufkumpan bei der Guardia arbeitete für den Sicherheitsdienst. 25
„Du kannst mich bei der Genossenschaft erreichen", rief Juarez noch. „Warum sollte ich das, Senor?" „Falls sich einer von euch den Finger in der Nase abbricht, ihr Idioten." Der Vorarbeiter lachte lauter, als es bei einem so abgedroschenen Witz üblich war. Mit einem unguten Gefühl fuhr Domingo Juarez weg. Am liebsten hätte er die Sache verschoben, aber sie mußte erledigt werden.
Zwei Stunden vor der Abfahrt des Tabakpflanzers war von der Marinebasis Guantanamo ein Aufklärer gestartet. Täglich fanden Flüge zwischen dem US-Stützpunkt auf Kuba und Florida statt. Und täglich wurde bei diesen Flügen auch fotografiert. - Aber man konnte nicht immerzu die ganze Insel auf Film festhalten. Diesmal lag eine Anforderung aus dem CIA-Hauptquartier Langley vor, und der Pilot nahm einen unüblichen Kurs. Er steuerte die Aufklärerversion seiner F-15 nicht über den alten Bahamakanal und die Cayo-Sal Bank nach Key West, sondern flog ziemlich dicht an der Küste entlang. Hier hatte die US-Air Force keinen Luftkorridor. Er befand sich also im verbotenen Luftraum. Aber eine F-15 war schneller als alles, was die kubanischen Streitkräfte zur Verfügung hatten. Ob Jäger oder Raketen. Außerdem arbeitete ihre Radarüberwachung mehr zufällig als präzise. Bald hatte der Pilot jene Hunderte von Cayos, der 26
Küste vorgelagerten, unbewohnten Inseln, unter sich, die bei der Landspitze von Matansas endeten. Auf diese Landspitze kam es an. Jetzt herrschten gute Fotobedingungen. Die Sonne kam hinter dem Romano-Key hervor und warf harte Schatten, mit deren Hilfe die Luftbildauswertung in der Lage war, die Größe von Bauwerken zu errechnen. Die F-15 Eagle heulte mit Überschallgeschwindigkeit in Meereshöhe dahin, immer der Küste folgend, ohne jedoch deren Buchten auszufliegen. Als Aguala Grande in Sicht kam, eine kleine Stadt an der Bahnlinie nach Havanna, ging der Pilot auf Luftbildhöhe und schaltete die zwei Nachbrenner ein. Die Pratt & Whitney Triebwerke lieferten jetzt 25 000 KP Schub. Den Blick auf das Radar geheftet, versuchte der Pilot, im Gewirr der Inseln die Landspitze auszumachen. Noch vierzig Meilen bis zum Zielpunkt Er legte pro Sekunde eine Viertelmeile zurück. In vier Sekunden eine Meile. - Noch knapp eine Minute also. Sein Radarwarngerät zeigte an, daß jetzt elektronische Strahlen den Rumpf der F-15 abtasteten. Die Kubaner schliefen also nicht. Aber bis sie irgend etwas unternehmen konnten, bis sie ihre Raketenstellungen alarmierten, bis ihre alten MiG-25 in der Luft waren, würde er schon blaues Golfstromwasser unter sich haben. Weit voraus störte etwas die Horizontlinie. Das mußte die Landspitze sein. Wie ein Finger krümmte sie sich ins Meer. Vorn war felsige Küste, dahinter kam 27
Tropenwald, weiter landwärts in der Bucht Mangrovensümpfe. Der Pilot betätigte den Kamerastromkreis. Dann ließ er die Kameraklappen ausfahren. Die Objektive äugten jetzt aus dem Rumpf, klar zum Reihenbildschuß, immer scharf eingestellt Die Klappen waren auf. Die Landspitze näherte sich rasend schnell. Entsichern. - Der Kameraschalter lag am Knüppel neben dem Knopf für die Bordkanonen. Die Kameras arbeiteten, knipsten, zogen die Filme weiter. Rrrrrr-zack! Rrrrr-zack!... Obwohl ein Düsenjägerpilot praktisch alle zwei Sekunden einen Handgriff zu vollführen hatte, blieb ihm Zeit, nach unten zu blicken. Er sah wenig. Nur eine Rodung im Wald, zu der eine Straße führte. Wo sie den Dschungel bereits beseitigt hatten, war die Erde gelb-rot aufgebrochen, als blute sie. Sie buddelten ein Loch, fußballfeldgroß. Wie tief es war, das konnte er nicht schätzen. - Daneben standen Baracken, Baumaschinen, Förderbänder, die den Abraum ins Meer transportierten. Und schon war die F-15 darüberweg. Hochziehen, Kursänderung auf 345 Grad. Kameraklappen zu. Außerhalb des kubanischen Abwehrbereichs nahm er die Triebwerke auf normale Kampfleistung zurück. Dann gab er den Code über Sprechfunk. Schon bald hatte ihn die US-Luftbasis Key West im Anflugradar.
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Der Tabakbauer Domingo Juarez erledigte seine Angelegenheiten bei der Genossenschaft in Matansas. Er rechnete die letzte Lieferung ab, lud vier Sack Blau-Korn hinten in den Jeep und ließ sich dann noch in den Kneipen sehen. Anschließend fuhr er zu Josalita. Früher war sie sehr schön gewesen, heute war sie mehr geschäftstüchtig. Bevor Castro mit der Prostitution aufgeräumt hatte, hätte sie als Tänzerin gearbeitet, mit der man auch mal nach oben verschwinden konnte. Jetzt besaß sie ein kleines Hotel. Sie vermietete Zimmer für schnelle Liebespaare. Wenn ein einsamer Caballero vorbeikam, dann hatte sie auch flugs ein Mädchen für ihn zur Hand. Den besten Service gab es immer für US-Dollars. Und über die verfügte Juarez. „Du hast keinen hungrigen Blick", stellte Josalita, die Juarez schon eine Ewigkeit kannte, fest. „Ich brauche deinen Wagen", sagte der Tabakpflanzer. „Sonst nichts?" „Und dich." Sie drückte den Busen heraus und legte die Hände, mit den Fingern spielend, auf die Hüften. „Ich bin fünfzig, Amigo." „Nicht deinen Hintern", gestand er, „dein Gesicht brauche ich." „Was'n das für eine neue Methode? Du weißt, Schweinereien lehne ich ab." „Nur eine Spazierfahrt." „Wohin?" „Zwanzig Dollar", bot er. „Wohin?" „Die Halbinsel raus." Sie überlegte nur kurz. 29
„Hundert!" forderte sie. Bei siebzig wurden sie einig. „Zwei Stunden", sagte sie. „Ich ziehe rasch was anderes an." „Was Freches", bat er. „Wir sind ein Liebespaar." „Übernimm dich nicht, Aufschneider", rief sie zurück. Dann fuhren sie in dem uralten, nach Zuckerrohrschnaps stinkenden Chevrolet los. Er zog schlecht, hatte kaum noch Bremsen, die Radlager hatten soviel Spiel wie die Kolben. In den Polstern fraß der Wurm. „Wie alt ist der?" fragte Juarez. „Ich war noch Jungfrau, da muß er in Detroit vom Band gelaufen sein." „Dann ist das verdammt lange her." Sie fuhren nach Norden hinaus am Meer entlang. Es wurde heiß. Josalita öffnete die Bluse tief und streifte den Rock bis zu den Oberschenkeln hoch. Ihr Busen war groß, ihr Schenkel braun und prall und der Flaum im Schritt so schwarz wie ihr Haar. Unversehens gerieten sie in eine Straßenkontrolle. „Wohin?" fragte der Soldat, die Zigarre kauend. Da sah er den Picknickkorb, die entblätterte Senorita und winkte sie weiter. „Aber achtet auf das Sperrgebiet." Worauf Sie sich verlassen können, Tenente, dachte der Tabakbauer Domingo Juarez. Sie fuhren weit hinaus, nahmen die kurvige Straße über einen Hügel und hielten dort an. „Was jetzt?" fragte Josalita. „Worüber reden wir? Oder willst du mich gleich vernaschen?" „Wir gehen runter zum Strand", schlug Juarez vor, „dann sehen wir, was läuft. Vamos!" 30
Sie badeten, nackt, weil keiner an das Badezeug gedacht hatte. Später legten sie sich in den Sand. Sie tranken Wein und aßen von dem kalten Huhn, das Josalita eingepackt hatte. Einmal flog ein Abfangjäger vorbei, und einmal sahen sie draußen ein Küstenwachboot. Josalita kam in Stimmung. Es waren die Sonne und der Wein. „Für siebzig Dollar ist mehr drin", deutete sie an und küßte seine Brust. „Ich bin in einer halben Stunde zurück", erwiderte er und verschwand. Später passierte dann auch nichts Aufregendes mehr. Sie zogen sich an und kehrten in die Stadt zurück. Juarez nahm seinen Segeltuchbeutel, küßte Josalita und sagte: „Wenn einer fragt, wir unternahmen eine kleine Vögeltour hinaus zum Meer." „Wer sollte fragen?" bemerkte sie daraufhin. Bevor er nach Hause fuhr, telefonierte Juarez noch von einer Kneipe aus, nahm einen Kaffee, und als er am Nachmittag seine Finca erreichte, warteten dort zwei Männer. Einer in Zivil und einer in Uniform. Wortlos durchsuchten sie den Jeep. Im Segeltuchbeutel fanden sie sein altes Armeefernglas. Sie fragten in rüdem Ton: „Warum bist du zum Cap Matansas raus, und wozu das Glas?" „Ich war schwimmen." „Es gibt bessere Strände." „Ich war früher oft mit Josalita dort. Ich wollte wieder mal hin." „Mit Fernglas?" „Das sollte zum Optiker. Ein Prisma hat sich gelockert. Aber der Laden war zu." 31
Der Zivilist nahm das Glas und betrachtete die Gegend. „Einwandfrei", stellte er fest. „Ohne Fehler." „Für mich ist es nicht gut genug", bedauerte der Tabakpflanzer. „Na schön", sagten sie und taten, als würden sie gehen. Doch dann blieb der in Uniform stehen und entnahm seiner Tasche ein Dollarbündel. Damit wedelte er vor Juarez Augen herum. „Elfhundert Grüne. Wie kommst du an die?" „Wie kommt ihr an die?" fragte Juarez dagegen. „Wir sammelten sie in deinem Haus zusammen, aus verschiedenen Verstecken. Gewiß liegt noch mehr davon herum." „Ich habe Verwandte in New Orleans." Sie erwähnten nicht, daß es verboten sei, so viele Dollars zu besitzen, sondern sie rasselten ihren Spruch herunter. „Wir verhaften Sie, Genosse Domingo Juarez, wegen des Verdachts der Spionage zugunsten der Vereinigten Staaten von Nordamerika." Die Handschellen klickten. Der Tabakbauer fürchtete, daß er nun einer recht Ungewissen Zukunft entgegenging.
Aus den F-15 Fotos und den Beobachtungen des Agenten Domingo Juarez puzzelten sie im CIAHauptquartier ein Mosaik. Es fiel spärlich genug aus. „Eine Straße im Dschungel", bemerkte der Mann am Stereobetrachter, „führt zu einer Rodung." Sein Mitarbeiter verstellte durch Schraubendrehung die einspiegelbare Feetprojection. 32
„Kantenlänge viertausendneunhundert Fuß." „Also etwas weniger als eine Meile." „Nun die Tiefe", murmelte der Mann am anderen Sichtgerät. „Was schätzen Sie?" „Sonnenstand zwanzig Grad. Schattenwurf vier zu eins. Also viermal die Höhe des Objekts." „Am Boden der Grube ist keine Sonne zu sehen, nur am Westrand." „Geschätzte Länge der Aushebung?" „Neunhundert Fuß." „Dann ist das Loch gut und gern zweihundertdreißig Fuß tief. Eher etwas mehr," Für den NATO-Bereich rechneten sie die Ergebnisse metrisch um. „Rodung einskommafünf Kilometer im Viereck. Kantenlänge des Loches dreihundert Meter. Tiefe achtzig." „Da paßt locker ein Kirchturm rein." „Einschließlich Wetterfahne." „Zum Teufel, was buddeln die da?" „Das ist nicht unsere Sache", bemerkte der Captain, „das sollen die Analytiker herausfinden. Was befördern die Lastwagen?" „Die Ladung versteckt sich unter Planen." „Und was ist in den Säcken?" „Zement." „Wie viele Arbeiter?" „Nicht mehr als fünfzig. Für kubanische Verhältnisse ist die Baustelle hochtechnisiert. Die Arbeiter sind ausschließlich Maschinisten für Bagger, Planierraupen, Kräne, Betonmischer und Kipper." „Das dünne Zeug sind Moniereisen, schätze ich." „So lange Stricknadeln gibt es nicht, oder?" 33
Die Vorlage der Luftbildauswertung erzeugte bei den Verantwortlichen Unruhe. „Es darf frei phantasiert werden", gestattete der Gruppenchef, ein Oberst. „Sie bauen eine Raketenstellung." „Die werden gürtelartig angelegt und nicht so tief" „Fernraketenbunker." „Deren Bau würde man tarnen. Außerdem setzt man sie nicht auf ein Vorgebirge, sondern irgendwohin in ein verträumtes Tal in der Sierra." „Außerdem wird sich Fidel, der Maximo-Leader, nach der Pleite damals, als wir die Russentransporter zurückboxten, hüten, Raketen zu silieren." „Ein Depot", tippte jemand. „So weit unter der Erde? Viel zu teuer." „Castros neuer Befehlsbunker." „Dazu wäre die strategische Lage auf dem Cap reiner Irrsinn." Sie ließen ihrer Phantasie weiter ungezügelten Lauf, aber nichts Konkretes kam dabei heraus. Schließlich sagte einer: „Es wird ein Langstrecken-Schwimmbad." Daraufhin allgemeines Gelächter, bis der Oberst die Hand hob. „Gentlemen, der Einwurf Langstrecken-Schwimmbad ist genau so witzig, realistisch oder unrealistisch wie Ihre anderen Definitionen. Folgendes steht fest; Erstens, wir wissen zu diesem Zeitpunkt nicht, was die Kubaner bauen. Zweitens, wir wissen nur, daß es wichtig ist. Nicht allein für sie, sondern auch für uns. Wir erhielten einen Hinweis aus Moskau, und zwar auf gefährlichem Wege. Von einem Mann oben an der Spitze. Damit geht er ein Risiko ein. Und das hätte er sich erspart, wenn es sich um ein - nun, eben um ein 34
Schwimmbad handeln würde." „Oder ein Freigehege für Alligatoren." Der Oberst nickte überraschend ernst. „Ja, für Alligatoren. Aber wen beißen sie und auf welche Weise? - Denken Sie nach, Gentlemen. Ich fahre jetzt ins Pentagon und werde den Verteidigungsminister unterrichten. Ich hoffe, wir kriegen nicht gleich was auf den Deckel." Die rasch zusammengestellte Sondergruppe Silberpeso löste sich auf. Die Mitglieder begaben sich in ihre Büros. Am Nachmittag wurden sie erneut zusammengerufen. Der Präsident verlangte Informationen. Er war bekannt dafür, daß er sich nicht mit Mutmaßungen abspeisen ließ. Er studierte selten genug Akten, aber was er sich vornahm, hatte aus gesicherten Daten und Fakten zu bestehen. Deshalb eröffnete der Oberst die Sitzung mit folgenden Worten: „Wir sind hier ja kein Balkan-Generalstab, Gentlemen."
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3. Das Abenteuer begann für Robert Urban zu Hause im Bett. Aber noch war es nicht soweit, noch fehlten etwa vier Minuten. Die kleine Blondine, die er für lustig gehalten hatte, war ein Reinfall gewesen. Sie tickte privat einfach anders als gestern auf der Party. Und für die Pleite mußte er auch noch zahlen. Das tat weh. Egal, dachte er, sie ist ein armes Luder. Sagt, sie mache in Mode, und was macht sie - gar nichts. Da er als Topagent des BND nach B-8 bezahlt wurde, fiel es ihm nicht schwer, sie mit fünfhundert abzufinden. Das reichte für mehrere Frühstücke. „Adieu, Zuckerratte", sagte er. Sie schlug die Augen auf. „Wie war ich?" „Du stehst in meiner Bestsellerliste", log er, denn sie war ungefähr das Unschärfste, das er je vor der Optik gehabt hatte. Rein in die Wohnung, einen Drink kippen, ausziehen, hinlegen, Beine breit. Nicht einmal mit dem Geländegang war sie von der Stelle zu kriegen gewesen. Also hatte er gleich den fünften genommen. Er stand auf und stopfte ihr ein paar Scheine in die Bocktasche. Wenig später hielt er ihr den Mantel. „Du warst super", sagte sie. „Rufst du mal an?" „Selbstmurmelnd." Erleichtert hörte er sie auf den Marmorplatten zum Lift gehen. Das war dreißig Sekunden vor dem Beginn der Katastrophe. Er nahm einen Bourbon, steckte sich eine MC an, 36
legte sich wieder auf das Himmelbett des Schmieds von Kochel, und schon ging eine Glocke. Madonna, dachte er, sie kommt zurück. Aber es war das Telefon. Erst viel später wurde ihm klar, daß ein Dutzend . Zuckerratten von ähnlicher Qualität ein Genua gewe sen wären gegen das, was ihn mit dem Anruf erwartete. Er hob ab. „Urban Bobanovsky." „Gospodin Bobanovsky", sagte jemand mit der unverkennbaren Stimme seines Operationschefs. „Kommen Sie mal rüber in den Kreml, aber mit der Geschwindigkeit einer kugelgelagerten KolchosenPanjuschka." Wenn der Alte solche Scherze trieb, dann sah es schlimm aus. Also panzerte Urban hinaus nach Pullach ins Hauptquartier, vorsichtshalber mit dem Messer zwi schen den Zähnen.
Oberst a. D. Sebastian fing Urban schön im Lift ab. „Wer war der größte General des zweiten Weltkriegs?" Urban überlegte. „Da gab's mehrere. Patton, Montgomery, Rommel." „Nein, der größte überhaupt von allen." „Ein Russe. Ja, Schukow, ich würde sagen, Schukow." Der Oberst nickte. Das Monokel sprang dabei aus dem Auge. „Richtig, Schukow. Er fing als Pfeife an und endete 37
als Orgel. Und wer ist der größte Spion, den wir je hatten?" Hier überlegte Urban lange, ohne daß er zu einem Ergebnis kam. „Polyphem", unterrichtete ihn der Oberst, und sein Dackelgesicht wurde traurig. „Leider unterschied er sich von Schukow dadurch, daß er als Orgel anfing und als Pfeife endete." Der Lift hielt. Sie gingen durch das obere Foyer, durch die Glasschwingtür, über den Sisalläufer in die Operationsabteilung. Sie war abhörsicher. Was Urban auf dem Weg hierher nicht erfahren hatte, erfuhr er jetzt. Polyphem war in den fünfziger Jahren noch von General Gehlen in der Ostzone angeheuert worden. Er galt als Naturtalent, als Supergenie, ein kommender Funktionär in der UdSSR mit dem unsichtbaren Heiligenschein des zukünftigen Polit-Büro-Mitglieds. Anläßlich eines chirurgischen Eingriffs in München war er gekauft und präpariert worden. „Im Krankenhaus wurde ihm pro forma irgend etwas entnommen, ein Nierenstein vielleicht. Wir waren damals führend auf gewissen Gebieten der Medizin. Das soll es gegeben haben. Schon lange her. Heute ist unsere Medizin nur noch im Abkassieren führend." „Polyphem ging wieder zurück?" fragte Urban. „Und machte Karriere. Er arbeitete für uns, schaltete dann jedoch ab. Das war Anfang der Sechziger." „Enttarnt oder tot?" „Das befürchteten wir zunächst. Doch nun, nach so langer Zeit plötzlich ein Lebenszeichen von ihm. 38
Achtet auf Kuba!" „Dann stellte er sich nur tot. Er zog den Kopf ein, bis das Unwetter vorüber, oder alle Leute, die ihm mißtrauten, unter der Erde waren." Oberst Sebastian gestand, daß man ratlos sei. „Warum macht Polyphem das? Jetzt nach fünfundzwanzig Jahren des Schweigens." „Gewissensbisse vielleicht." „Der Bursche ist doch hart wie Titanstahl." „Will er herüber?" „Wohin? In den Flitterwesten?" „Oder Geld", warf Urban ein. „Einer, der drüben ganz oben ist, der hat doch alles. Datscha, Sekt, Kaviar, Frauen, Dienstwagen, Macht." „Vielleicht ist er krank." „Sie haben mittlerweile auch erstklassige Ärzte." „Eine Frau?" „Er ist jetzt um die Fünfzig. Da fährt man vielleicht noch hundert Kilometer wegen einer Frau, aber man wechselt nicht die Fronten." Urban war erstaunt, wie gut sich der Alte auf diesem Gebiet auskannte. Er ging hinüber in sein Büro, steckte sich eine MC an, goß Kaffee aus der Thermoskanne und schaute zum Fenster hinaus. Der Blick über das BND-Gelände war etwa so abwechslungsreich wie das Panorama von Ostfriesland. Der Alte war ihm gefolgt. Urban vernahm sein asthmatisches Schnaufen. „Nun?" „Was fanden die Amerikaner in Kuba?" „Nur ein Loch, ungefähr dort, wo die Markierung auf Oligows Silberpeso liegt." „Nur ein Loch", bemerkte Urban. „Löcher sind der 39
Anfang vom Ende. In den Schuhen, in Autoreifen, in der Kasse, in der Geheimhaltung und in der Gesinnung." „Sparen Sie sich Ihren Wortschatz lieber für eine konkrete Äußerung." Urban hatte nur noch Fragen: „Wer kannte ihn noch?" „Ich", sagte Sebastian. „Aber wir sahen uns nur einmal kurz. Ich leitete seinerzeit eine andere Abteilung." „Wer kannte ihn besser?" „Die sind alle tot" „Gibt es Akten über Polyphem?" „Top-secret-Akten. Chefsache. Da darf keiner ran. Sie kennen die Vorschriften. Nichts ist geheimer als das eigene Agentennetz drüben. Und das Geheimste vom Geheimen sind die Maulwürfe, die PerspektivAgenten in Regierungskreisen." „Ich werde das Material studieren müssen." Der Alte nickte. „Und Ihre Meinung zu der Sache?" „Jetzt schon?" erkundigte sich Urban. „Ja, spontan." „Ein Motiv haben wir vergessen", äußerte der Agent Nr. 18, „Trick siebzehn." „Sie meinen, da würde einer versuchen, uns zu linken." „Linken, leimen, bluffen, aufs Kreuz legen", zählte Urban auf. „Nicht Polyphem." „Durch eine gezielte Falschinformation." „Nicht Polyphem. Er unternimmt, schon vom Charakterbild her, nie etwas, das nichts für ihn einbringt." Urban hob das Telefon ab. „Sprechen Sie mit dem Präsidenten. Ich muß die 40
Polyphem-Akte freikriegen. Schon wegen des Charakterbildes." Urban bekam die Akten. Darin fand er alles, was beim BND über den Agenten im Moskauer Regierungslager je aufgezeichnet worden war. Mit einer Einschränkung. Der Klarname des Mannes war entfernt worden. Aber nicht mit Tusche oder mit Tintentod, das wäre wohl nicht sicher genug gewesen. Nein, man hatte den Namen in seiner Personalakte mit dem Federmesser herausgeschnitten. Urban betrachtete dies nicht als Mißtrauensakt gegen sich. Vermutlich war der Name schon zu einer Zeit entfernt worden, als er noch in einem kleinen mittelfränkischen Städtchen die Schulbank gedrückt hatte.
Aus Männern wie Polyphem wurden Marschalle gemacht. Zu diesem Ergebnis kam Robert Urban nach dem Aktenstudium. Nur, wie dieser Bursche aussah, warum er sich hatte rekrutieren lassen, und warum er den Decknamen Polyphem bekommen hatte, das konnte ihm im Hauptquartier keiner mehr sagen. Auch Sebastian nicht. „Diese Akte", erklärte Urban seinem Dienstvorgesetzten Sebastian, „ist nichts als Papier." „Wie alle Akten." „Es gibt Akten, in denen steckt Leben, aber die da hat keines. Sie könnte ebensogut von einem Experten für Akten als Fingerübung angelegt worden sein. 41
Wenn man sie durcharbeitet, dann fragt man sich, ob dahinter überhaupt ein Lebewesen steht." Der Oberst nahm ein Fernschreiben vom Stapel und gab es Urban. „In Washington sind sie höchst beunruhigt," „Wegen des unerklärbaren Loches in Kuba." „Und weil von Polyphem nichts mehr herüberkommt. Es ist, als würde eine Frau die Beine zeigen, sagen wir mal bis zum Knie, und die Bluse einen Knopf weiter öffnen." „Und dann verduften", ergänzte Urban. „Was halten Sie davon?" Urban bekam ein zweites Fernschreiben. Es war top-secret. Selten hatte er ein Geheim-Telex eines Verbündeten in der Hand gehalten, in dem so inständig um Mitarbeit zwecks Aufklarung gebeten wurde. „Aufklärung eines Problems, das uns alle betrifft", las Urban halblaut. Der Alte fixierte ihn durch das Einglas. „Was haben wir vor?" Er sprach schon in der Mehrzahl, wie im Krankenhaus. Aber es war nicht der beruhigende Krankenschwesterton - Wie geht es uns heute? -, es klang provozierend. „Ich lasse die alten Mitarbeiterlisten heraussuchen", antwortete Urban. Der Alte, weiß Gott kein Computerfreak, fragte: „Sind die nicht elektronisch erfaßt?" „Nicht die aus den Fünfzigern." Nun brachte ein Zucken der Dackelfalten Sebastians Gesicht zum Lächeln. „Sie wollen alle diejenigen erfassen, die damals dabeiwaren." „Und noch am Leben sind." 42
„Und Polyphem gekannt haben könnten." „Oder etwas über ihn hörten. Das Dossier verzeichnet nicht einmal Name und Geburtsdatum." „Man kann davon ausgehen, daß er damals Anfang Zwanzig war." „Aber wer nahm das aus den Akten?" „Vielleicht der General persönlich, als er in Pension ging." „Warum?" „Um Polyphem zu decken, was immer auch im Dienst geschehen würde." Urban blickte auf seine Schuhspitzen. „Dann muß er ihn sehr geschätzt haben." Sebastian kam von seinem Drehsessel hoch und um den Schreibtisch herum. „Vergessen Sie nicht, wie klein der Dienst damals war. Aus der Führung kannte da noch jeder jeden. Man kümmerte sich um den anderen Mann, dachte erst an die Effizienz des Ladens, dann an sich selbst."
Das Telefon summte. Man gab Urban drei Namen von noch lebenden BND-Pensionären durch. Man hatte sogar ihre Adressen. Sie saßen alle zwischen Tegernund Ammersee. Eine halbe Stunde später war er unterwegs in Richtung Bad Tölz. Der erste BND-Veteran, ein ehemaliger Oberregierungsrat, wohnte nahe Bad Wiessee in einem massiven Berghaus, das er bescheiden seine Hütte nannte. Sie kannten sich personlich. So war es nicht nötig, daß Urban sich legitimierte. „Sie wissen ja, Urban", begann der Pensionär, „daß es. Dienstgeheimnisse gibt, von denen wir niemals 43
entbunden sind. Gewisse Dinge muß ich wohl mit ins Grab nehmen. Wußten Sie zum Beispiel, daß die Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse praktisch in der Mitte abgebrochen wurden? Es gab prominente Juristen, die waren der Meinung, man hätte ebensogut Stalin aufhängen müssen, wegen der Polenmorde in Katyn, Churchill wegen Dresden und Truman wegen Hiroshima und Nagasaki." „Entweder oder", sagte Urban nur. Am besten, man hielt sich da heraus. „Was wissen Sie über Polyphem?" Der weißhaarige Herr dachte lange nach. „Ein knochiger Bursche mit verlogenen Augen. Eigentlich war er zu bedauern. Keiner hat ihn gemocht. Nur der General hielt große Stücke von ihm." Da der Pensionär diesen Mann gekannt hatte, er war sein Begleiter auf der Fahrt von München zu einem Ausbildungszentrum des BND gewesen, konnte er ihn einigermaßen beschreiben. „Das Training war als Krankenhausaufenthalt getarnt. Anders hätte man einen russischen Funktionär wohl nicht herübergebracht. Offiziell war Polyphem Mitglied einer sowjetischen Militärmission, im Range eines technischen Hauptmanns, glaube ich." Beim zweiten Besuch, der in Garmisch-Partenkirchen stattfand, stieß Urban ebenfalls auf gewisse Erinnerungen an Polyphem. Mit dem, was er am Tegernsee erfahren hatte, gelang es ihm, das Gedächtnis des Ex-Majors aufzufrischen. Er bestätigte Urbans Bild von Polyphem im großen und ganzen und ergänzte es insofern, als er behauptete, der Russe habe perfekt Deutsch und Englisch gesprochen, sei kein angenehmer Typ gewe 44
sen, habe es aber verstanden, aufgrund seiner angenehm sonoren Stimme Sympathien zu wecken. „Warum ließ er sich umdrehen? Er war doch zweifellos tüchtig und hatte eine steile Karriere in der Roten Nomenklatura vor sich." Hier konnte der Ex-Major nur vermuten. „Bei ihm war weder eine Frau noch Geld im Spiel. Aber Stalin schätzte ihn nicht sonderlich. Und wen Stalin nicht mochte, der endete irgendwann in der Lubjanka, in Sibirien oder vor dem Genickschußapparat." „Ob Stalin seinen Charakter durchschaute?" „Der Diktator muß ihm wohl den einen oder anderen Knüppel zwischen die Stiefel geworfen haben. Aber Stalin starb dann ja bald, und Polyphem dürfte freie Bahn gehabt haben." „Nach oben." „Nach unten bestimmt nicht." „Falls man ihn nicht enttarnte oder einen Hinweis in Stalins hinterlassenen Aufzeichnungen fand." Auch der dritte Mann, den Urban aufsuchte, ein neunzigjähriger, noch rüstiger Abteilungsdirektor außer Diensten, steuerte zu dem Mosaik einiges bei. „Gehlen baute Polyphem auf wie einen russischen Kronprinzen, wie den Zarewitsch, der einmal das Regierungszepter übernehmen sollte. Leider wurde nichts daraus." „Aus welchen Gründen?" forschte Urban. „Das weiß keiner. Von einem bestimmten Jahr ab, einem Monat, einer Woche, einem Tag, schwieg die Quelle Polyphem beharrlich." An diesem Punkt hakte Urban ein. „Polyphem bedeutet der Einäugige. Wie kam er zu diesem Decknamen?" 45
„Das ist eine merkwürdige Story", begann der Greis ein wenig zittrig. „Sicher ist Ihnen bekannt, Urban, daß die Vergabe von Decknamen gar nicht so einfach ist. Meines Wissens wurde lange nach einem Code für Polyphem gesucht. Bis eines Tages aufkam, daß man ihm diesen Spitznamen verpaßt hatte. Er wurde dann sein offizieller Code." „Wer gab ihm diesen Spitznamen?" „Er erhielt ihn wohl während des Speziallehrgangs, dem er sich unterziehen mußte. Sie kennen das ja. Sie waren selbst schon Ausbilder für Agentenfunk, für Geheimfrequenzen, für unser spezielles Chiffriersystem, für Mikropunktfotografie, für die Anlage von toten Briefkästen, Herstellung von unsichtbarer Tinte aus Urin oder Orangensaft, fälschen von Stempeln und und und..." „Wo war damals die BND-Ausbildungsakademie?" „Wo sie heute noch ist." „Nummer römisch eins", vermutete Urban. „Wir hatten damals nur die eine. Die Mittel waren noch beschränkt. Heute sind wir ja der reinste Geheimdienstkonzern mit Filialen und Tarnfirmen weltweit." Urban wollte mehr wissen, mehr Einzelheiten. „Wer gab Polyphem den Spitznamen?" „Einer seiner damaligen Mitschüler." „Und warum wohl?" „Wegen einer besonderen Eigenheit des Russen, wie ich hörte. Um welche es sich dabei handelte, vermag ich nicht zu sagen. Ein Auge mitten in der Stirn besaß er jedenfalls nicht. Es muß etwas anderes gewesen sein." „Und wer war der Spitznamengeber?" Damit zeigte sich der Ex-BND-Direktor überfor46
dert. Urban versuchte, ihm zu helfen. „Wie groß waren damals die Arbeits- oder Studiengruppen?" „Höchstens drei, manchmal nur zwei Schüler." „Ein Intensivtraining also." „So würde man es heute nennen." „Und Sie können sich nicht erinnern, wer, vor dreißig Jahren zur Polyphem-Gruppe gehörte." Der alte Herr brauchte erst einmal eine Tasse starken Kaffee.
Im Hauptquartier machte Urban Druck. „Auch wenn jedes einzelne von einer Million Archivblättern umgedreht und gelesen werden muß", erklärte er bei der Besprechung dem Vizepräsidenten, „wir kommen nur weiter, wenn wir herausfinden, wer damals in Ettal mit Polyphem das Training absolvierte." Der Vizepräsident führte die Zigarette langsam an die Lippen. „Dann ist der Bursche heute hoch in den Fünfzigern." „Hauptsache er lebt." „Lebt er überhaupt noch?" „Das muß in den Akten stehen. Wir haben Tonnen von Altpapier im Keller", erinnerte Urban. „Warum hebt man es auf, wenn es zu nichts nütze ist?" „Man hielt es für zu historisch, um es zu computerisieren."
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„Doch wohl nur deshalb, um die Speicherkapazität nicht zu blockieren." Der Vize sprach mit einem anderen Experten. Dieser rechnete und kritzelte Zahlen auf einen Block. „Dazu brauchen wir ein Team von mindestens zehn Leuten. Und die werden wohl bis Weihnachten..." Urban unterbrach ihn. „Mich interessieren nur die fünziger Jahre." „Kann man es nicht auf zwei, drei Jahre einkreisen?" „Zweiundfünfzig bis vierundfünfzig", ließ Urban sich breitschlagen. Die Besprechung war zu Ende. Der Vizepräsident nahm Urban beiseite, und das mit einem Griff, den Urban kannte. Es war der Spezialgriff, mit dem man Todeskandidaten aussortierte. „Bis die da durch sind", flüsterte der Vize, „das kann dauern." „Auch Ewigkeiten vergehen." „Aber Sie haben eine Atempause." „Die kann ich vertragen. Seitdem ich aus Spanien zurück bin, hatte ich noch keinen Hausfrauentag." „Wie wär's mit einem Trip nach Moskau?" fragte der zweite Chef des BND. Urban hatte auch schon daran gedacht. Es gab da gewisse Spuren. Zum Beispiel das Grab eines hohen sowjetischen Funktionärs, der im vergangenen Dezember plötzlich und unerwartet verstorben war. Gegen alle Gepflogenheiten hatte man ihn würdelos bestattet, irgendwo auf dem Moskauer Wagankosoje Friedhof. Wochen später erst war es amtlich verlautbart worden. Urbans Zuarbeiter hatte dies entdeckt und ein Foto des Funktionärs herausgesucht. Der Russe hatte ein verschlagenes Gesicht mit engstehenden Augen, die 48
man als verlogen bezeichnen konnte, wenn man es hineininterpretieren wollte. Dann war da noch eine weitere Spur: der alte Mann im Park. Der Vizepräsident senkte die Stimme. „Ich habe mit dem CIA-Chef telefoniert", Überraschte er Urban. „Den alten Mann gibt es wirklich." ,,Ja, als einen von hundert, die täglich in Moskauer Parks Schach spielen." „Ein Mann der US-Botschaft hat ihn gesehen." „Und warum setzt die CIA nicht eigene Agenten an?" „Weil Polyphem nicht ihr, sondern unser Mann ist" „Er war ein gemeinsames Produkt von uns und MIsix London. Über MI-six kam damals der Tip. Wir bauten Polyphem auf." „Sie kennen doch die Amerikaner, Wahrscheinlich haben sie keinen geeigneten Mann vor Ort." „Aber ein um so tieferes Loch in Kuba vor Florida." „Nun, die Verträge sehen ein gewisses Maß an Kooperation vor." „Schön", sagte Urban, „kooperieren wir." Aber koitieren ist schöner, dachte er insgeheim.
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4. Spät nachts zwischen Dienstag und Freitag erreichte die sowjetische Botschaft in Madrid ein Anruf aus Moskau. Der Sekretär vom Nachtdienst nahm ihn entgegen und weckte den Botschafter, was nur in dringenden Fällen statthaft war. „Der Kreml?" fragte Seine Exzellenz. „Die Dzerzhinsky-Straße", antwortete der Sekretär. Noch schlimmer, dachte der Botschafter. - In der Dzerzhinsky-Straße residierte der KGB-Chef, derzeit auch Innenminister des Landes, Politbüromitglied und stellvertretender Generalsekretär des KPdSU. „Stellen Sie durch." „Bedaure", sagte der Sekretär, „ein Gespräch über Zerhacker." Das bedeutete, daß je eine Maschine in Moskau und in Madrid, die elektronisch absolut kongruent liefen, jeden übertragenen Ton in hundert Stücke trennte, durcheinanderwirbelte und am Ende der Leitung wieder zusammensetzte. Nur das rote Telefon im Büro des Botschafters war an das System angeschlossen. Der hohe Diplomat stand auf, schlüpfte in seinen Hausmantel und ging hinüber. Als er hinter dem Schreibtisch saß, war er bereit, auch Hiobsbotschaften entgegenzunehmen. „Hier Rakitin", hörte er eine vertraute Stimme. „Hier Onissimow", meldete sich der Botschafter. „Was kann ich für Sie tun, Genosse Minister?" „Ich schätze Ihre Verstandesschärfe außerordentlich, Onissimow", sagte der Minister-General. „Sie können in der Tat etwas für mich tun. Wir haben da ein Problem." 50
„Ein unlösbares", scherzte der Mann in Madrid. „Die unlösbaren wurden gemäß den Regeln des Marxismus-Leninismus entweder schon gestern erledigt, oder sie werden vor uns hergeschoben bis zur nächsten Generation, die ja immer viel klüger ist." Der Minister, einer der höchsten Männer der derzeitigen Regierung, war durchaus jemand, der auf Scherze, sofern sie ein wenig mit rotem Humor behaftet waren, einging. „Nur ist es diesmal ein lösbares Problem und deshalb sofort zu erledigen." „Für Sie, Genosse", sagte Onissimow schleimig, „bin ich immer verfügbar." „Dann werfen Sie mal Ihre besten Spürhunde aus den Betten." „Kostet mich einen Knopfdruck." „Wen haben Sie in Madrid disponibel?" „Drigo." „Ja, Drigo ist ein Klassebursche. Ein Werkzeug wie ein Roboter, eine Zange aus Edelstahl. Er soll einen bestimmten Mann suchen." „Ich notiere." Der General in Moskau gab die Beschreibung durch. „Name?" „Was tut ein Name, den man jedes Jahr ändert, zur Sache." „Wohnhaft?" „Irgendwo auf der Iberischen Halbinsel oder auf den anderen spanischen Inseln." Das war zweifellos ein harter Brocken. „Es ist ein harter Brocken", erklärte Rakitin, „aber wenn Drigo ihn kriegt, kann er sich den roten Adler des Verdienstordens an die Brust heften. Dann befördere ich ihn vom Major zum Oberst unter Umgehung 51
der Rangstufe des Oberstleutnants. Sagen Sie ihm das." „Sofort", versicherte der Botschafter, der jedem, aber auch jedem Politbüromitglied gefällig gewesen wäre, um bloß nicht versetzt zu werden. Er liebte Spanien, er schätzte das Leben dort, die Menschen und vor allem die Männer, besonders solche mit schmalen, muskulösen Stierkämpferkörpern. In Moskau war das leider bekannt, und das machte ihn verletzbar. „Gibt es noch irgendeinen Hinweis?" fragte er. „Was ich habe, ist ein wenig dürftig." „Von Geburt ist der Mann Deutscher, aber trickreich wie ein Italiener. Er sieht aus wie ein Franzose und liebt wie ein Brite Tee, Bridge und Golf." „Sie hören von mir, Genösse Minister", versprach Onissimow. „Laßt euch nicht allzulange Zeit", riet der Mann in Moskau.
Major Drigo, ein KGB-Experte für Eliminierungen, wurde um 01.20 Uhr geweckt. Um 01.27 Uhr stand er angezogen und frisch rasiert vor seinem Botschafter. „Im Grunde", begann Onissimow, „ist das nicht der Dienstweg. Sie unterstehen befehlsmäßig dem KGBResidenten. Aber ich hatte da einen Anruf Ihres Vorgesetzten aus Moskau über SG." Der Killer verstand. „Offenbar ein Sonderfall, Genösse Botschafter." „Setzen Sie sich, Major", sagte Onissimow, noch immer im Hausmantel, aber mit Zigarette zwischen den Lippen. Er setzte sich ebenfalls hin. 52
Nun erfuhr der Major, was Moskau forderte. „Recht dürftig", stellte er fest. „Aber alles, was ich habe." „Was man Ihnen aus Moskau übermittelte." „Was Moskau an Fakten zur Verfügung steht", versicherte der Botschafter. Der Major wiederholte, was er gehört hatte, und schloß seine Aufzählung: „Suchen und finden also." „Und eliminieren." „Auf welche Weise?" „Das ist Ihre Sache. Entweder er verschwindet total, oder es sieht wie ein Unfall aus." „Unfall", wiederholte der Major, „oder vergraben, verbrennen, auflösen in seine chemischen Bestandteile." „Bitte keine Einzelheiten, Drigo." „Es handelt sich doch um einen Befehl", vergewisserte sich der KGB-Offizier. „Um einen Wunsch der Regierung." Der KGB-Killer blieb mißtrauisch. „Bin ich gedeckt?" Der Botschafter äußerte sich diplomatisch. „Sie sind insofern gedeckt, als daß man Sie außerplanmäßig zum Obersten befördern wird, wenn Sie es..." Da der Botschafter nicht weitersprach, tat es Drigo an dessen Stelle. „Wenn ich es überlebe." Onissimow lächelte daraufhin. „Ein findiger Kopf wie Sie." Drigo kniff die schmalen Augen noch schmäler. „Glauben Sie denn, Genösse Botschafter", bemerkte er, „bei diesem Mann handle es sich um einen 53
Kümmerling, der sich ohne weiteres wegballern läßt? Mitnichten!" Der Botschafter nickte. „Mag sein." „Hätte sich sonst der Chef der Chefs persönlich bemüht.« „Woher wissen Sie, wer sich bemühte, Drigo?" „Das ist ein typischer Bakitin-Auftrag. Ich kenne den Ton und die Regeln." „Um so besser", sagte Onissimow. „Erledigen Sie also, was zu unser aller Bestem sein wird." „Dazu brauche ich ein, zwei Leute." „Nehmen Sie, wen Sie wollen." Der Major sah, wie der Botschafter unter Druck war, und nützte es aus. „Ferner eine perfekte Ausrüstung. Fahrzeuge, Funkgeräte, Sprengmittel, Waffen, vor allem Geld, Dollars. Die Behörden hier wollen geschmiert werden." „Was Sie verlangen, steht bereit." Der Major stand aus dem Sessel auf und bewegte sich wie ein Mann, bei dem Gehirn und Muskulatur ein ausgeglichenes Verhältnis hatten. „Ich kriege ihn", versicherte er, mehr sich selbst als dem Botschafter, „wo er jetzt auch sein mag, dieser Ahnungslose. Irgendwann wird er den Tejo abwärts in Richtung Ozean schwimmen." Der Botschafter, ein Mann von Stilgefühl, ging zum Schrank, entnahm ihm eine Flasche Wodka und zwei Gläser. Er füllte sie bis zum Rand und hob eines davon. „Nasdorowje!" sagte er. „Auf gutes Gelingen", rief der Major, militärisch stramm, „in Teufels Namen!"
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5. In Moskau schneite es schon Anfang Oktober. Aber nur kurz. Dann kam die Sonne durch, und der Tag wurde warm wie im späten Frühling. Wenige Minuten nach 16.00 Uhr landete auf dem Flughafen Domodedovo ein Airbus-Jet der British Airlines. Er brachte hundertzweiundzwanzig Touristen in die sowjetische Hauptstadt. Einer von ihnen, Dr. Delmer, Tierarzt aus Mansfield in der Grafschaft Nottingham, hatte das Flugzeug buchstäblich in letzter Minute erreicht. Die Gangway war schon weggezogen, als eine Bodenhosteß der Fluggesellschaft den verspäteten Passagier zur Maschine gefahren hatte. Die Treppe war noch einmal angelegt, das Schott geöffnet und Dr. Delmer in die Kabine geschleust worden. Dort hatte er, grauhaarig mit Hornbrille, hinter einer Zeitung gesessen und sich unbehaglich gefühlt. Erst mehrere Whiskys machten ihn lockerer. In Moskau fühlte er sich dann, wie jeder andere auch, zu der Gruppe gehörig. Zwei Busse fuhren sie über die Autobahn hinein zum Inter-Hotel. Die Touristen bekamen die Besichtigungsprogramme überreicht und im Hotel ihre Zimmerschlüssel. Je nachdem, wie sie gebucht hatten, für Einzelöder Doppelapartments. Dr. Delmer, Tierarzt aus Mansfield, hatte ein Einzelzimmer. Da er in bezug auf die Überwachung westlicher Touristen in Moskau Bescheid wußte, spielte er, auch wenn er allein war, den englischen Studienreisenden. Er verzichtete sogar auf den Schluck Bourbon aus der silbernen Reiseflasche und auf gewisse Zigaretten 55
mit Goldmundstück. Nur einen Blick in den Spiegel warf er. Alles war noch in bester Ordnung. Der Haarton, das Oberlippenbärtchen und die Haftschalen, die das Grau seiner Augen ins Braun veränderten. Denn er war nicht Dr. Delmer, sondern der BNDAgent Robert Urban, der, um seine Aufgabe erfolgreich durchführen zu können, in Dr. Delmers Rolle geschlüpft war. Diesen Tierarzt gab es in der Grafschaft Nottingham wirklich. Er war Mitarbeiter des MI-6, und man hatte ihn nach Schottland zur Jagd geschickt. Dies für den Fall, daß es von sowjetischer Seite zu Nachforschungen kommen sollte. Dr. Delmer war Junggeselle und sah ungefähr so aus wie der BND-Agent Nr. 18Soweit fühlte Urban sich einigermaßen sicher.
Da es sich um eine Reise der gehobenen Luxusklasse handelte, fand schon am ersten Abend ein Essen in einem Moskauer Spezialitätenrestaurant statt. Dr. Delmer blieb ziemlich wortkarg, obwohl eine attraktive Juwelierswitwe aus London Gefallen an ihm fand. Sie war eine muntere, etwa fünfundvierzigjährige Lady. Daß er nur knurrige Laute von sich gab, bestenfalls ein Yes oder No sagte, schien ihr überaus zu imponieren. Sie erzählte von den verschiedenen Haustieren, die sie gehabt hatte und die dann stets an einer rätselhaften Krankheit verstorben waren. „Was kann das bloß gewesen sein, Doktor?" fragte sie. 56
Urban blickte sie versonnen an und schielte dabei zur Eingangstür. „Zuviel Liebe, Madam", sagte er, „und zuviel Schappi." Sie lachte hell und erzählte, was der Doktor gesagt hatte, weiter. - Plötzlich stand dieser Mann im schwarzen Mantel mit Karakulkragen im Restaurant. Links hatte er eine Zeitung in der Hand. Er legte ab und ging zu den Toiletten. Urban entschuldigte sich und folgte ihm. Der Zwischengang war leer. „Silberpeso", gab Urban sich zu erkennen. „Polyphem", antwortete man ihm „Zum Teufel, wir erwarteten einen amerikanischen Journalisten." „Das war uns zu gefährlich." „Warum rief man mich so spät an?" „Wir überlegten bis zur letzten Minute. Aber eine Reise als Amerikaner oder Deutscher schied aus. Sie wissen, was hierzulande auf meinen Kopf steht." Urban hatte eine Zigarette im Mund. Der andere spielte mit seinen Streichhölzern. Eine junge Frau kam vorbei. Der Kontaktmann reichte Urban Feuer. „Ihr Programm morgen?" „Erst Museen, dann noch mal Museen und am Ende ebenfalls Museum." „Wann haben Sie frei?" „Ich bin Erste-Klasse-Gast, kann an den Führungen teilnehmen oder nicht. Sie legen uns nicht an die Kette." „Früher Nachmittag Novaya-Park." „Wo ist der?" „Zwischen der Märtyrerkirche, dem Kasaner Bahnhof und dem Verkehrsministerium." Urban kehrte zu seiner Tischgesellschaft zurück. 57
„Doktor!" rief die schwarzhaarige brillantenverzierte Witwe. „Haben Sie Angst vor Tieren?" Er lächelte. Nicht überheblich, eher gelangweilt, „Man darf nie Leichtsinnig sein", antwortete er. Es wurde gut gegessen und viel getrunken. Auf dem Nachhauseweg - sie gingen zu Fuß, denn es war eine helle Nacht, und zum Hotel hatten sie nur einen knappen Kilometer - hängte sich die nerzverbrämte Witwe bei ihm ein. „Doktor", flüsterte sie. „Haben Sie Angst vor Frauen?" „Man darf nie Leichtsinnig sein." „Nun mal im Ernst, Doktor." „Weil ich Junggeselle bin?" Sie nickte. „Ich blieb unverheiratet, weil ich Frauen zu sehr Liebe, Madam." „Doc", sie lispelte ein wenig. „Haben Sie einen bestimmten Typ bei Mädchen?" „Ja", gestand er. „Schwarzblond." „Doktor", sie nahm seinen Arm fester. „London jst wie viele Meilen entfernt?" „Zweitausend, schätze ich, Mylady." „Doktor", sie wurde leiser. „In London würde ich es niemals wagen. In London käme es mir gar nicht in den Sinn. Aber, Doktor, eine Frage noch." „Sogar zwei, MyLady." „Würden Sie heute nacht mit mir schlafen, Doc?" Er blieb stehen. „Aber Madam", flüsterte er: „Sind Sie nicht viel zu schade zum Vernaschen?" Sie verbrachten die Nacht zusammen. Und es war der Lady egal, daß man sie nicht nur abhörte, sondern wohl auch mit einer versteckt eingebauten Infrarotka58
mera beobachten würde. London war weit. - Sie hatte, was Urban fast überwältigte, sogar einen Brillanten für den Nabel. Es war nicht so, daß er scharf auf sie gewesen wäre. Sie war leicht zehn Jahre älter. Aber ein Mann hatte immer einen Grund für das, was er tat. Und Urban hatte gewöhnlich zwei Gründe für seine Handlungen.
Der Alte auf der Bank war von geradezu alberner Würde. Die Hakennase, das schüttere, in Korkenzieherlocken abstehende Haar und der lange Mantel gaben ihm etwas Clownhaftes. Er spielte Schach mit den Bewegungen eines Roboters. Urban schaute ihm eine Weile zu, bis es der Millionärin aus London zu langweilig wurde. „Moment noch", bat Urban und sprach den alten Mann an. Schon nach dem ersten Satz bemerkte die Juwelierswitwe verblüfft: „Du kannst ja Russisch, Doktor." „Ich hatte mal einen Kosakengaul zu kurieren. Im Staatszirkus." Der alte Mann blickte auf. So, daß er es bemerken mußte, spielte Urban mit einer schweren Silbermünze. Er warf sie hoch, fing sie, rollte sie zwischen Daumen und Zeigefinger und steckte sie wieder ein. „Ist das ein kubanischer Peso?" fragte der Alte. „Eine griechische Münze", antwortete Urban, „mit 59
dem Kopf des Polyphem. Möchten Sie sie sehen?" Der Alte schüttelte den Kopf. „Spielen Sie Schach, Gospodin?" „Ein wenig." „Kennen Sie die Bobby Fisher-Eröffnung?" „Mit der er 1972 im letzten Spiel Weltmeister wurde?" „Nein, die von der ersten Partie, als es Remis ausging." „Ja, die kenne ich", log Urban. „Spielen wir?" „Wann?" Der Alte hatte einen merkwürdig wäßrigen Blick. „Morgen um dieselbe Zeit." „Morgen um sechzehn Uhr.". Urban ging weiter, und die Dame aus London fragte, ob er vielleicht spinnen würde. „Aber ja", sagte Urban. „Ich bin einer von der allerspinösesten Sorte. Wäre ich sonst in Moskau? Es gibt auch in Mansfield nette Damen, mit denen man zu Bett gehen kann." „Du kamst nicht aus diesem Grund", erwiderte sie mit ihrem gesunden wachen Verstand. „Du etwa?" „Ich schon", beharrte sie. „Dann bist du ebenfalls eine Verrückte." „Allright", sagte sie. „Du spielst morgen im Park deine Partie Schach, und später im Hotel spielen wir meine Partie!" „Mit der Bobby-Fisher-Eröffnung," „Mit der Doktor-Delmer-Eröffnung", wünschte sie.
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Bei seinem zweiten Besuch im Novoya Erholungspark glaubte Urban, daß sie beschattet würden. Wahrscheinlich fiel sein Fernbleiben vom Kremlbesuch ziemlich auf. Aber das Motiv seiner Reise war nicht das, Kirchen zu sehen, Museen und Paläste, die kannte er alle schon. Der alte Mann im kaftanlangen Mantel saß wieder allein vor seinem Schachbrett. Urban setzte sich unaufgefordert gegenüber. Seine Begleiterin schaute ihnen zu. Sie spielten eine sehr schnelle Partie, die Urban verlor. Dies aus zwei Gründen: Er interessierte sich mehr für die zivilen NKWD-Beschatter, und außerdem wollte er den Alten gewinnen lassen. Dann stellten sie wieder auf. Nach wenigen Zügen erlitt der Alte einen Hustenanfall. Dabei passierte es, daß er durch eine ungestüme Armbewegung das Schachbrett samt den Figuren zu Boden warf. Urban half ihm beim Einsammeln. Plötzlich fühlte er unter der Bank für eine Sekunde die Hand des Alten an seinem Gelenk. Der Alte steckte ihm etwas zu. Es war die Figur des schwarzen Springers. Urban brachte es fertig, daß er sie unbemerkt in die Trenchcoattasche zauberte. Der Alte stellte die Figuren nicht wieder auf, sondern hustete und sagte: „Ich muß nach Hause. Es wird kalt. Immer wenn die Sonne hinter dem Lermontov-Denkmal untergeht, wird es kühl." Der alte Mann nahm sein Schachbrett, das Säckchen mit den Figuren und ging davon, „Komischer Geselle", meinte die Lady aus London. Sie gingen ein Stück den Ckalova-Ring hinunter bis zum Fluß. An der Nikoloja Brücke blieben sie stehen und spuckten in die Moskwa. 61
„Bald friert sie zu", sagte Urban. „Dann wirf", sagte sie, „die Schachfigur, die du dem Alten geklaut hast, hinein, solange das Wasser noch offen ist, Doktor." „Hast du aber Augen", staunte er. „Warum machst du das, Doc?" „Nur eine Erinnerung an Moskau." „Bin ich denn keine?" wollte sie wissen. Da er wußte, was kommen würde, faßte er in die Tasche und versuchte, den schwarzen Springer zu öffnen. Es war mühsam, aber es gelang ihm. Er drückte den Springer vom Sockel, in dem ein Stück zusammengerolltes Papier steckte. Urban zog es heraus, klemmte die Figur wieder auf den Sockel und nahm die Hand geballt aus der Tasche. „Du bist mehr wert als das", sagte er. „Außerdem kannst du in Teufels Küche kommen, Doktor." „Inwiefern?" Sie blickte ihn an und bewies erneut ihren scharfen Verstand. „Angenommen sie durchsuchen dein Gepäck Und finden die Figur." „Na und?" „Tierärzte sind offenbar weltfremd. Hast du noch nie einen Agentenroman gelesen?" „Wann käme ich dazu? Ich. bin schon mit meiner medizinischen Literatur zwei Jahre hintendran." „Aber nach Moskau reisen, das kannst du," Er hatte die Absicht, das, was er in der Faust hatte, in den Fluß zu werfen. Sie wollte es aber sehen. Sie bestand darauf, daß er die Faust öffnete. Er machte sie auf. Die Figur war wieder in zwei Teilen. „Zerbrochen hast du sie auch noch, du Tolpatsch.? Er warf die Trümmer in die grünen Fluten. „Ich bin eben ein Kaputtmacher." 62
„Aber stark", schwärmte sie und zog ihn weiter. Dann winkte sie einem Taxi. Als sie saßen, atmete sie erleichtert auf. „Jetzt sind wir endlich die Ledermanteltypen los." „Was für Typen?" „Du ahnungsloser Engel", stöhnte sie. „Aber macht ja nichts. Da, wo es wichtig ist hast du eine ganze Masse Ahnung."
Der Dreitagetrip London-Moskau-London tollte planmäßig am Samstag um 14.00 Uhr am Heathrow Airport enden. Um 10.00 Uhr hatte die britische Maschine noch keine Starterlaubnis. Sie war abgefertigt, stand aber noch vor dem Hauptgebäude. Wenig später betraten zwei Beamte in Zivil den Airbus und prüften erneut Pässe und Visen. Als sie Urbans Paß zurückgaben, bemerkte der eine: „Perfekt." Die Juwelierswitwe saß neben Urban. Irgend etwas mißfiel ihnen an ihr. „Würden Sie beide mitkommen." Urban protestierte, der Reiseleiter protestierte ebenfalls, war aber der Meinung, daß es besser sei, keinen Widerstand zu leisten. Die Russen würden den Jet glatt vierundzwanzig Stunden an die Kette legen. In einer schwarzen Limousine brachte man sie zum Hauptgebäude und durch einen Nebengang in die Polizeistation. Dort trennte man sie. Urban wurde verhört. Wer er sei und warum er diese Reise unternommen habe, fragten sie. Man warf ihm 63
unerlaubten Kontakt mit sowjetischen Staatsbürgern vor. Er sagte, ein Schachspiel im Park sei im Westen nichts Verwerfliches, und man habe ihm nicht gesagt, daß es gegen Gesetze verstoße. Und wenn, dann möge man gefälligst Merkblätter verteilen oder von jeder Form des Tourismus Abstand nehmen. Der Beamte telefonierte. Urban mußte warten. Dann kam die Diamantenlady ziemlich wütend herein. „Die haben mich durchsucht", rief sie. „Ich mußte mich nackt ausziehen, Doktor." Er wußte, wie ungeheuer schwer ihr das fiel, und nahm sie in den Arm, um sie zu trösten. „Was wollen die bloß von uns, Doktor?" „Russen eben", wich er aus. „Was Russen sich eben unter Kaviarschmugglern so vorstellen." Das Telefon summte. Wieder ein Anruf. Der Offizier nickte und gab dem Zivilisten einen Wink. „Sie können gehen", entschied der Hauptmann, „aber lassen Sie sich nie wieder in der Sowjetunion blicken." „Bestimmt", versicherte Urban. Im Flugzeug war bei Lachs, Kaviar und Champagner rasch alles vergessen. Urban rauchte eine Havanna und tat dann, als sei er ein wenig müde. Er schloß aber nur die Augen. Und während der Jet in zehntausend Meter Höhe über Südschweden und die Ostsee seinen Kurs nach London nahm, repetierte er, was er auf dem Fetzen Papier vorgefunden hatte. Es war in einem uralten Code abgefaßt, einem BNDCode aus den fünfziger Jahren. Im Klartext lauteten 64
die wenigen Worte: Kuba in Angst - Placiert Massenvernichtungsmittel - Zündung bei Invasion durch USA - Vorsicht - Nur noch wenige Wochen - Die Zeit läuft Jeden Buchstaben hatte er sich eingeprägt. Heute abend würden sie in München die Warnung analysieren. Sie stammte zweifellos von Polyphem. „Warum haben sie gerade uns zwei noch einmal überprüft?" fragte die hübsche Witwe. „Die Pornofilme haben ihnen so gut gefallen, daß sie die Akteure in natura sehen wollten." „Oder", versetzte sie ihn abermals in Staunen, „es war wegen der Schachfigur." „Wohl kaum." „Oder wegen des Zettels in der Schachfigur." „Was für ein Zettel?". „Das Ding war hohl und zweiteilig." „Ich wußte", sagte er, „ich hab's mit einer Verrückten zu tun. Aber du bist eine angenehme Verrückte. ~ Noch eine Flasche Champagner, Stewardeß bitte!" Da sie angetrunken waren, fiel ihnen der Abschied leicht. Zum Schluß verblüffte ihn die Diamantenlady aus Westend noch einmal. „Klar, daß du ein Spion bist, Doktor", erklärte sie. „Wie kommst du bloß darauf", tat er weiter weg als Südafrika. „Nur ein Spion kann einen so vertrottelten Doktor spielen." „Aber der Patient ist geheilt", antwortete er zweideutig. Ehe sie sich trennten, gab sie ihm mehrere Küsse und ihre Telefonnummer.
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6. Im Pentagon tagte schon seit Stunden der Sicherheits.rat der Vereinigten Staaten. Zwar sorgte die Klimaanlage für Frischluftzufuhr, trotzdem war die Atmosphäre vom Kaffee- und Whiskydunst aufgeladen. Weil Ergebnisse ausblieben, wurde immer leidenschaftlicher diskutiert. „Schuld an allem trägt Präsident Kennedy", rief einer der Luftwaffengeneräle. „Unsere gottähnliche Lichtgestalt Kennedy hat sich hei der SchweinebuchtOperation als der größte Feigling und Verräter erwiesen. Erst genehmigte er die Landung des CIA-Kommandos in Kuba, dann versagte er ihnen die dringend benötigte Luftwaffenunterstützung sowie die Absicherung und den Nachschub von See her. Castro drosch sie mühelos zusammen. Und sein Intimus Che Guevara infizierte ganz Mittelamerika mit den Bazillen des Kommunismus." „Er starb daran", äußerte einer beruhigend. „Aber die Saat hinterließ Männer wie Allende, Revolution, Konterrevolution, Aufstände, Juntas, Tausende von Toten - und wo endete das Ganze?" „In Nicaragua." „Nein, in einem tiefen Loch in Kuba." Der Verantwortliche für Aufklärung, ein Vizedirektor der Agency, kam zur Sache. „Die Fotos sehen wirklich nicht gut aus." „Die Nachricht des BND noch weniger." „Kuba hat Angst", zitierte ein General. „Kuba placiert Massenvernichtungsmittel - Was verstehen die darunter?" „Bakterielle Waffen, chemische Waffen, Giftgas, Nervengase." 66
„Atombomben", fügte ein anderer hinzu. „Zum Teufel, welche Strategie steckt dahinter?" „Bei einem Angriff zünden sie den Mist in dem Loch." „Wer soll sie angreifen?" Die Gentlemen blickten sich an. „Und was haben sie davon, wenn sie sich umbringen?" Einer der Experten verwies auf seine Analyse. „Gentlemen, wir wissen nicht, was die Kubaner dort verbuddeln werden. Aber eines ist sicher, die Winde wehen zu neunzig Prozent stetig von Süd nach Kord. Der ganze Dreck würde nach Florida getragen, in den Golf, in unsere Südstaaten." „Noch ist das Loch nur eine Baugrube." Wieder zitierte jemand die Information aus München. „Nur noch wenige Wochen. Die Zeit läuft." „Wahnsinn, das alles!" „Was kann man tun gegen Wahnsinn?" Der Admiral machte konkrete Vorschläge. „Kuba besitzt keine Kampfstoffe. Jedes Faß muß erst auf die Insel gebracht werden. Mit Frachtern. Wir können das unter Kontrolle kriegen." „Auch Was sich im Bauch von Getreideschiffen versteckt oder in den Tanks von Öltransportern?" wurde eingewandt. „Oder auf U-Booten." „Das ist eine Frage der Dringlichkeitsstufe", redete sich der Admiral hinaus, „Was verstehen Sie, bitte, darunter?" Ein General, der als Vertreter der harten Linie galt, äußerte es klar. „Verhindern kann man das Ganze nur durch eine 67
Invasion." Selbst in diesem Kreis löste das Wort zunächst Entsetzen aus. „Invasion wessen, wohin?" „Der Streitkräfte der USA nach Kuba. Das ist ohnehin längst fällig. Einem Bastard stopft man das Maul, bindet man die Hand, die das Messer führt." „Mein Gott!" stöhnte einer jener Anwesenden, die immer für Verhandlungen und diplomatische Maßnahmen eintraten. „Und ich sage Ihnen", fuhr der General fort, „es ist die einzige Möglichkeit, den Frieden zu bewahren und zu sichern." Er sprach gut zwanzig Minuten lang und beleuchtete dabei jeden Aspekt. Als er fertig war und seinen Mund mit Mineralwasser gespült hatte, herrschte erst einmal Stille.
In einem Dreiviertelkreis, der sich von der Yucatanstraße um Kuba herum bis zu den Bahamas und weiter bis zur Floridastraße zog, hatte die US-Luftwaffe Sonarbojen placiert. Es handelte sich um hochempfindliche Instrumente, die auf fünfzig Meter Wassertiefe im Meer hingen. Sie waren in der Lage, das Geräusch eines Delphinschwarmes von dem eines U-Bootes zu unterscheiden, selbst wenn dieses mit modernen atomgetriebenen Schleichmotoren ausgestattet war. Eine dieser Bojen, ihr Standort lag dicht am Wendekreis bei siebzig Grad West, hatte die Schraubengeräusche eines Unterwasserfahrzeuges geortet.
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Es lief mit Kurs West, vom Atlantik kommend, nach Kuba. Experten der Navy erkannten aus dem Geräuschpegel und aus anderen Frequenzen, daß es sich um. ein Transport-U-Boot der roten Flotte handelte. Die brandneue Meldung wurde in die Konferenz des Sicherheitsrates hereingereicht. Der General las sie vor. „Nichts Neues", bemerkte der Admiral „Immerzu laufen U-Boote Kuba an. Fast jede Woche eines." „Auch Transport-U-Boote?" ,,Boote aller Klassen. Die Sowjets unterhalten auf Kuba einen Marinestützpunkt." „Damit läßt sich alles tarnen." „Noch haben wir ja unsere fabelhafte Quelle in Moskau." Nun äußerte der CIA-Direktor etwas, das in dieser Deutlichkeit noch nicht gesagt worden war. „Falls die Quelle in Moskau echt ist." Das Schweigen hielt mindestens so lange an wie vorhin, als der General von der Notwendigkeit militärischer Maßnahmen auf Kuba gesprochen hatte. Endlich fragte jemand: „Warum sollte die Quelle nicht echt sein? - Das Loch ist vorhanden.'' „Und ein U-Boot ist unterwegs." „Frachter auch." „Der alte Mann in Moskau, der die erste Information lieferte, leitete auch die zweite weiter, wie man hört" „Und es gibt Polyphem", ergänzte der CIA-Direktor, „wie mir der BND bestätigt. Alles schön und gut Trotzdem muß die Echtheit dreifach überprüft werden." „Wodurch denn noch?" 69
„Zählen hier etwa keine Fakten mehr?" Der CIA-Direktor erhob sich. „Gentlemen", sagte er. „Die CIA hat in der Schweinebucht eine fürchterliche Niederlage erlitten, von der wir uns moralisch noch nicht erholt haben. Nie mehr dürfen aufgrund nicht hundertprozentig gesicherter Fakten Maßnahmen ergriffen werden, die zu einem Krieg führen könnten." „Führen würden", bekräftigte der Pentagon-Chef. „Richtig. Eine Landung militärischer Kräfte ist immer eine Kriegshandlung." Nun ging es darum, wie lange noch Zeit blieb. Die Mobilisierung, Bereitstellung von Truppen, die Ausarbeitung von Plänen, kostete ungeheure Anstrengungen. Im Falle einer Invasion war eine minutiöse Zusammenarbeit von Einheiten aller Teilstreitkräfte notwendig. Verhandlungen auf diplomatischen Kanälen, ebenso die entsprechenden propagandistischen Maßnahmen und so weiter, mußten eingeleitet werden. „Wie lange haben wir Zeit?" fragte jemand. „Eine Woche, höchstens zehn Tage." „Ist das organisatorisch zu schaffen?" „Mit den Blitz-Eingreifverbänden schon." Alle Augen richteten sich auf den CIA-Chef. „Wann wissen wir, ob die Quelle Polyphem okay ist?" Der hagere Mann mit der Bürstenfrisur hob die Schultern. „Wir tun das Äußerste." „Welche Möglichkeiten haben wir überhaupt, um die Echtheit einer Quelle zu überprüfen?" ,,Durch die Suche nach der Antwort auf die Frage, warum die Russen so etwas in Kuba unternehmen sollten, wenn die Quelle falsch wäre." 70
„Keiner gibt geheime Maßnahmen deshalb preis, damit die Gegenseite sie verhindern kann." „So ist es." „Wer ist der Mann im Kreml?" Der CIA-Direktor packte seine Unterlagen zusammen. „Gentlemen", sagte er. »Ich hoffe, Ihnen bald Näheres berichten zu können. Und glauben Sie mir, wir werden es uns so schwer wie möglich machen. Noch eine Panne wie damals in der Schweinebucht können wir uns nicht leisten." Oder wir verlieren den letzten Rest an Glaubwürdigkeit, dachte er insgeheim, und dann gibt es eines Tages keine CIA mehr.
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7. Auf dem Flug von München zu jener Baleareninsel, wo bundesdeutsche Rentner mit Vorliebe dem Winter entgingen, wurde dem BND-Agenten Nr. 18 klar, daß er weniger hatte, als die zwanzig Jahre alte Duftmarke eines Hundes an einem Eckstein. Mit Ausnahme des dringenden Befehls, die Echtheit der Moskauer Quelle abzuklären. Und dies war nur noch auf einem einzigen Weg möglich. Urban überließ den Steuerknüppel des BND-eigenen Lear-Jets seinem Copiloten, dem Stabsoberfeldwebel a.D. Bubi Spiegel, einem der wenigen im Dienst, mit denen er auf wirklich freundschaftlichem Fuße stand. Dies wohl deshalb, weil Spiegel auf seinem Gebiet ein echtes As war. Er flog und fuhr einfach alles. Es gab überhaupt nur einen Mann, dem Urban sich, sei es auf Rädern oder Flügeln, rückhaltlos anvertraute. Wenn Spiegel vorn saß, dann konnte man sich hinten zusammenrollen und in Morpheus' Arme versinken, egal ob es hoch über dem Nordatlantik war oder auf vereisten Winterstraßen irgendwo in den Bergen. Urban glaubte, daß er genug Talent hatte, um mit Autos, Schiffen und Flugzeugen eine Menge ungewöhnlicher Dinge anzustellen. Aber Bubi Spiegel machte mehr damit, nämlich einfach alles. „Der Präsident fliegt mit der alten Cessna nach Oslo zur Konferenz der Geheimdienstbosse", bemerkte der Stabsoberfeldwebel a. D. verwundert. „Und wir im Jet nach Mallorca", sagte Urban. „Als Spezialagent hast du mitunter die Sonderrechte eines Präsidenten, aber nicht dessen Pflichten." „Was ist das für ein Privileg", fragte Spiegel, „mit 72
achthundert statt mit vierhundert Sachen auf den Friedhof zu schwirren?" „Der kultivierte Mann", erwiderte Urban, „sucht sich einen besonders schönen Ort aus, um zu sterben. Aber vorher habe ich noch was zu erledigen.'' „Dann muß es wichtig sein." „Deshalb sitze ich im besten Flugzeug mit dem besten Piloten." „Und es ist hochdringend", tippte Spiegel. Ihre Unterhaltung wurde unterbrochen, weil Spiegel sich bei Barcelona Control meldete. Dann ging er auf östlichen Inselkurs. „Unsere Archivratten ließen sich zu lange Zeit", versuchte Urban zu erklären. „Aber sie fanden es am Ende." „Das sogenannte Ettal-Protokoll", fuhr Urban fort. „In diesem verrückten Fall haben wir es nur mit sehr eindrucksvollen Deckbezeichnungen zu tun: Silberpeso, Polyphem und Ettal-Protokoll." „Und was steht drin?" „Der Hinweis auf den Mann, der vor einen ViertelJahrhundert gemeinsam mit der Quelle Polyphem in unserem Sanatorium Ettal den letzten Agentenschliff bekam." Spiegel machte ein paar automatische Handgriffe. „Und dieser Bursche kann, wenn ich dich recht verstehe, Polyphem identifizieren." Urban, der den Sessel des ersten Piloten abgekippt hatte, deutete erst auf sich, dann auf Spiegel „So wie du mich identifizieren kanntest," „Unter Hunderten." 73
„Es genügt schon unter einem Dutzend falscher Urbanskis." Sie flogen der Morgendämmerung entgegen. Um 06.30 Uhr tauchte am Horizont etwas auf, das die saubere Linie der Kimmung immer mehr in Unordnung brachte. Spiegel sprach mit Mallorca Airport. Sie würden nicht lange zu kreisen brauchen. Sie waren die dritten in der Reihe, nach der Iberia-Postmaschine und einem Touristenbomber aus Amsterdam. Spiegel drosselte, ging tiefer, fuhr erst die Klappen, dann das Fahrwerk aus. „Und das Ettal-Protokoll hilft dir weiter?" „Nebst anderen Papieren, die den Weg des Burschen verfolgen, der mit Polyphem damals zusammen war." „Was ist das für ein Mann?" „Ein guter." „Und er überlebte es, wenn er so gut war?" zweifelte Spiegel. „Agenten der Handelsklasse A überleben es meist." „Die aus Handelsklasse B und C dagegen gehen drauf, willst du sagen." „Rein statistisch. - Unser Mann ist jetzt etwa fünfundfünfzig." „Und ausgestiegen." „Längst. Er arbeitete bis Anfang der sechziger Jahre für uns, dann machte er sich selbständig." „Als Agent?" fragte Spiegel verwundert. Urban lachte. „Wie es Finanzbeamte gibt, die sich als Steuerberater selbständig machen." „Und wen, bitte, beraten Spione?" Urban steckte sich eine MC an, rauchte langsam ein und noch langsamer aus. „Agenten verkaufen ihren Durchblick", erklärte er. 74
„Wenn ich herginge und an gewisse Regierungen, sowohl in diesem wie im anderen Lager, verkaufen würde, was ich weiß, hätte ich morgen hundert Millionen Dollar auf einem Schweizer Konto." Jetzt grinste Spiegel unverschämt. „Und wie viele hast du schon? Eine? Zwei?" „Und ein paar Zerquetschte", erwiderte Urban. „Aber du solltest auf die Landebahn achten." Vor ihnen hatte die holländische 707 aufgesetzt Jetzt waren sie an der Reihe. -; Spiegel legte den Jet butterweich hin, rollte aus und bog zu den Privathangars ab. Als alle Systeme abgeschaltet waren und sie sich losgurteten, sagte er: „Und warum ist dieser Bursche so schwer zu finden?" „Da muß irgendwann etwas passiert sein, das ihm geraten sein ließ, wegzutauchen. Und wie alle guten Agenten, machte er das perfekt." „Nahezu." „Hundertprozentige Perfektion gibt es nicht einmal bei Gott", befürchtete Urban. „Wie heißt er denn, der Wunderknabe? „Er hat viele Namen." „Aber Namen sind schon die halbe Fotografie." „Beim BND nannte ihn General Gehlen immer nur Bibifax." „Das ist eine Verballhornung von Babyface, Kindergesicht." „Geburtsname Peter Zacharias." „Peter Zacharias, genannt Bibifax", murmelte: Spiegel. „Und er wohnt auf Mallorca." „Wohl kaum", fürchtete Urban. „Aber irgendwo muß man den Nagel ja einschlagen." 75
Zu dem Immobilienhändler in der Plaza Santa Eulalia blieb Urban auf Distanz. Wegen des penetranten Knoblauchduftes. Der Mann sah aus wie ein Bauer, der erst in späten Jahren zu Wohlstand gekommen war, sich jetzt Maßkleidung leisten konnte, aber keinen ganz sicheren Farbsinn besaß. Zum grünen Pullover trug er ein lila Karohemd. Das wäre noch gegangen, wenn die Hosen nicht ebenfalls von einem hellen Azur gewesen wären und die Schuhe nicht eigelb. Aber der schwere Zigeunersiegelring aus Gold mit bunten Steinen machte alles wieder wett. Hinter einer dicken Hornbrille hervor musterte er Urban, nachdem dieser seine Bitte vorgetragen hatte. „Das ist der kürzeste Weg", sagte Urban. „Und ich bin der einflußreichste Mann auf der Insel, was Grundstücksbewegungen betrifft, Häuser, Wohnungen et cetera." „Es muß Ende der fünfziger Jahre gewesen sein", schob Urban nach. „Damals war es noch nicht alltäglich, daß Deutsche sich hier ankauften", bemerkte der Spanier. „In den Katastern müßte etwas zu finden sein." „Wie war doch der Name?" „Möglicherweise Zacharias", sagte Urban. Der Spanier notierte. „Ich übertrage das meinem Mittelsmann beim Grundbuchamt. Kann ein paar Tage dauern." Urban bedauerte. So lange Zeit hätte er nicht. „Alles eine Kostenfrage", meinte der Spanier daraufhin. „Auf welcher Basis werden wir uns einig?" Aus fiskalischen Gründen, wie der Makler behauptete, bekam Urban eine Rechnung, frisiert als 76
Miete, für einen Strandbungalow. „Das sind D-Mark vierzig pro Tag. Nachsaisonpreis. Wie lange bleiben Sie, sagen wir mindestens zwei Wochen. Macht D-Mark fünfhundert. Einverstanden?" Mit einem Taschencomputer rechnete, der Makler in Peseten um. „Rufen Sie mich an", fragte der Makler, „oder rufe ich Sie an? Welches Hotel? Nein, besser wir treffen uns in einer Bodega. Paseo Sagrera, schlage ich vor, Bar Forestal." Urban drängte. „Siebzehn Uhr?" „Auch wenn ich nicht selbst komme, wird man Sie erkennen." Ab 17.00 Uhr saß Urban vor einem Kaffee, um 17.15 Uhr vor einem Glas Tinto, und keiner kam. Aber dann klingelte das Telefon. Der Patron schaute sich in seiner Bar um und winkte Urban an den Apparat. „Spreche ich mit dem Senor aus Germany?" dröhnte es aus der Muschel. Urban bestätigte, daß dies so sei. „Warum, in Teufelsnamen, brauchen Sie diese Information?" fragte der Spanier. „Es ist von großer Wichtigkeit" „Für wen? Für Sie, für das Objekt?" „Für den Besitzer." Urban wurde eine Adresse genannt. Der Mann beschrieb ihm sogar den Weg. „Das ist wenige Kilometer in Richtung Cap Bellvaro. Calle Caval. Gekauft wurde die Villa von einem Pedro Zaccarios. Vor ziemlich genau fünfundzwanzig Jahren." „Gracias!" Solche Informationen waren Urban am liebsten. 77
Kurz, sachlich und ohne Knoblauchduft. Draußen saß sein Pilot vor einem Gintonic. „Trink aus und vamos!" Sie bestiegen den Mietwagen. „Der Diesel läuft aber leise", sagte Urban. „Ist ja noch gar nicht an, Mylord", erklärte Spiegel. Dann nagelte er endlich los, und als sie die Hügel über der Bucht erreichten, fing es zu dämmern an. Urban ließ Spiegel an der Ecke halten und näherte sich einem Haus unter Pinien, umgeben von einer Mauer. Haus und Mauern waren weiß gekalkt Aber das mußte schon vor einiger Zeit stattgefunden haben, denn inzwischen kam der Zementputz wieder durch. Das Tor war zu. Als höflicher Mensch läutete er. Nach einer Minute Dauerklingeln ging endlich die Haustür auf. Der Abstand betrug vielleicht acht Meter. Urban sah deutlich eine ziemlich alte, heruntergekommene Vettel. „Keiner da!" schrie sie zahnlos. Vielleicht durfte sie hier gratis wohnen, wenn sie auf das Haus achtete. „Senor Zaccarios?" fragte Urban. „Schon lange fort", rief sie mit Fistelstimme. „Wohin?" „Weit. Wohin der Wind weht." „Wohin weht der Wind, Senora?" „Oberallhin, Senor." „Wann war er zuletzt hier, Senora?" „Weiß ich nicht mehr, Senor." „Barcelona?" tippte er. Sie machte eine ausholende Armbewegung.
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„Mal hier, mal dort." „Wann kommt er wieder, Senora?" „Wann kommt", sie kicherte, „das Jüngste Gericht?" Dann ging sie einfach hinein und schlug die Tür zu. Urban steckte sich eine MC an, schlenderte zu dem Mietwagen, öffnete die Tür, setzte sich und brütete finstere Gedanken aus. „Da stimmt was nicht", murmelte er. „Alle sind freundlich", präzisierte Spiegel, „solange es nichts zu verlieren gibt." „Und wenn es darauf ankommt, fängt jeder an zu spinnen." Urban packte Spiegel am Handgelenk. „Der Bursche legt mich aufs Kreuz." „Logo. Was hast du erwartet? Streicheleinheiten?" „Aber trickreich. Es ist ein Spiel für ihn. Alte Agenten können es nicht lassen. Da sind sie wie schlechte Schauspieler, die einen Bart brauchen, um sich zu verkleiden. - Oder schwarzes Isolierband, um ein lückenhaftes Gebiß vorzutäuschen." „Die Alte?" „Sie war gar keine Frau. Und der Anrufer hatte dieselbe Stimme wie der Makler. Also war der Makler auch nicht echt." „Bibifax", kommentierte Spiegel „Wenn du ein Babygesicht hast, kannst du alle Gesichter imitieren." Mit einem Satz war Urban aus dem Chrysler, eilte zu dem Haus zurück, schwang sich über den Zaun und versuchte, hineinzukommen. Aber die Tür war massiv, und die Fenster hatten schmiedeeiserne Gitter von mittelalterlicher Qualität. Dafür entdeckte Urban hinten im Garten etwas. Es gab noch eine zweite Tür, Davor hatte ein Wagen 79
geparkt, ein Fahrzeug mit beinah quadratischem Radstand und Reifen mit Stollenprofil. Ein Geländefahrzeug also. Bis zur Dunkelheit fuhren sie die Tankstellen der Umgebung ab. Urbans Frage lautete immer gleich: „Wer fährt hier einen Jeep?" „Warum ist er abgetaucht?" fragte Spiegel. „Wovor hat er Angst?" „Natürlich hat er auch zweifelhafte Informationen verkauft." „An Regierungen, an Konzerne." „Wohin auch immer." „Das ist lange her. Aber warum hat er heute noch Angst?" „Richtig. Wenn es nur ein Spiel wäre, hielte ich es für Übertrieben. Vielleicht hat er Angst, man könnte ihn ellminieren." „Dann gibt es einen handfesten Grund dafür." „Man will", vermutete Urban, „ihn daran hindern, daß er uns Fragen beantwortet." „Wer? Die Russen?" Urban preßte die Schultern gegen die Sitzlehne des Chryslers. „Weißt du übrigens schon...", setzte Spiegel an. Urban nickte. „... daß wir verfolgt werden. Bin ja nicht blind." „Die Spanier?" „Kaum. Oberst Segovia von BIS Madrid ist verständigt. Er läßt uns ungehindert arbeiten." „Wer dann? Wollen sich deine CIA-Freunde davon überzeugen, daß der deutsche Ackergaul fleißig trabt?" „Los, häng sie ab!" sagte Urban. „Und die Jeepspur?" 80
„Der Jeep entgeht uns nicht." Spiegel fuhr nach Palma hinein. Was er in der City nicht schaffte, gelang ihm auf den schmalen Bergstraßen, die Kurven hatten wie die Venus von Milo. Zwischen Alaro und Alfabio hatten sie den Seat endgültig abgehängt. Jetzt ließ Spiegel den Chrysler nur noch flott dahinrollen. „Du glaubst, daß der Bursche dein Spion Zacharias war?" „Bald werde ich es wissen." „Wohin wünschen Herr Oberst nun gebracht zu werden?" Urban nannte ihm eine Finca, die der Tankwart ihm beschrieben hatte. „Jetzt reißt du ihm die Tarnkappe ab, he." Urban massierte seine Finger. „Mitsamt der Perücke und allen Haarwurzeln." Es war schon dunkel, als sie nach Santo Ponsa kamen, einem kleinen Fischerhafen der Südküste. Urban ließ Spiegel am Fuße des Hügels, auf dem die Finca lag, zurück. Das Gehöft bestand aus Wohnhaus, Nebengebäuden und einer kleinen Kapelle. Aus dem Kamin kräuselte Bauch, aber als Urban sich an der Kapelle vorbeischlich, sah er drinnen Kerzenschimmer. Vor dem Altar kniete eine Gestalt in Mönchskutte. Nur eines verstand Urban nicht: Wo war der Jeep? Die Geländereifenspur war leicht zu verfolgen gewe sen. Sie hatte sich im regenfeuchten Lehm deutlich abgedrückt. Aber wo war der Jeep?
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Vielleicht wußte der Priester, oder wen immer der Mann darstellte, ein wenig mehr. Urban betrat die Kapelle. So leise wie möglich schlich er zwischen den Bankreihen nach vorn. Der kniende Mann schien sein Kommen nicht bemerkt zu haben. Urban stand seitlich von ihm, ergriff ein silbernes Glöckchen und lautete damit. Die Glocke erzeugte ein helles Bimmeln. Der Mann am Altar bewegte sich, als würde er aus tiefer Andacht erwachen. Dann blickte er auf. Er trug eine schwarze Hornbrille und verbreitete Knoblauchduft. Als er den Mund öffnete, stellte Urban fest, daß seine Zähne starke Lücken aufwiesen. Im trüben Kerzenlicht sah das alles wie echt aus. Aber als der Mann mit Fistelstimme nach dem Begehr des Fremdlings fragte, wußte Urban Bescheid. Ein viertes Mal trickste man ihn nicht aus. Nach drei Niederlagen war man entweder schlau oder ein Idiot. Urban griff nach der Kapuze, die den Kopf des Mönchs bedeckte, und zog sie nach hinten. Dann faßte er in das Haar des frommen Mannes und riß daran. Es ließ sich abheben wie ein lockerer Skalp. Eine Perücke also. Darunter glänzte, von einem elastischen Band zusammengehalten, eine Fülle hellroten Haares. Urban nahm noch die Brille weg und wischte mit der Hand die graue Schminke aus dem fremden Gesicht. Ein Mädchen. - Es mochte Mitte Zwanzig sein. „Wozu das Theater?" fragte er. „Los, stehen Sie auf!" „Hallo, Mister Dynamit", rief sie. „Jetzt sind Sie mächtig enttäuscht. Sie haben einen anderen erwartet." Nachdem sie die Kutte abgelegt hatte, stank sie auch 82
nicht mehr nach Knoblauch. Sie haben dick dreimal geleimt, dachte Urban. Der Makler war Zacharias, der Anrufer in der Bar auch, vielleicht sogar die Vettel in der Villa. Aber die Rotblonde da ist nur in die Maske geschlüpft, um dich erneut zu irritieren. „Bibifax muß einen verdammt schwerwiegenden Grund haben, sich zu verstecken", sagte er. Das hübsche Mädchen lächelte jetzt. „Bibifax", tat sie verwundert. „Wer ist das?" „Das weißt du so gut wie ich." In diesem Moment wurde Urban von hinten gepackt. Mit eisernem Griff, als beiße eine hydraulische Zange zu. Er glaubte, daß er den Gegner abschütteln konnte,, ziemlich leicht sogar. Aber das Mädchen war schneller. Es griff hinter den Altar, öffnete einen Plastikbeutel und stülpte eine sackartige Kapuze über Urbans Kopf. Die Haube war durchnäßt. Leider nicht mit Wasser, sondern mit süßlich stinkendem Chloroform. Urban versuchte, den Atem anzuhalten und den Gegner abzuschütteln. Es gelang ihm auch. Aber als er frei war, wirkte das Narkosemittel. Kein Mensch dieser Welt war in der Lage, tiefen Atemzügen, die Äther in seine Lungen beförderten, irgend etwas entgegenzusetzen.
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8. Das Material lag in einem Depot der roten Armee am Onegasee. Dort übernahm es ein Binnenschiff. Es war klein genüg, um die Ware auf dem alten WeißmeerKanal an die Küste zu bringen. Dort wartete ein Frachter. Alle Frachter so weit oben in Sibirien verfügten über die Eigenschaften von Eisbrechern. Ihr Kiel war gepanzert, der Bug abgeschrägt, und die Schraube lief in einem eisabweisenden Tunnel Das kleine 900-Tonnen-Kümo brachte die Fässer um die Halbinsel Kola herum nach Murmansk, der eisfreien russischen Marinebasis. Warum die Fracht jetzt noch auf einen Güterzug umgeladen wurde, konnte sich der im Dienst der CIA stehende Späher nicht erklären. . Wichtig für ihn war nur die Besonderheit der Fässer. Sie bestanden nicht aus Blech, sondern aus säurefestem Stahl. Sie trugen obendrein verschiedenfarbige Markierungen. Totenköpfe und spezielle Ve rschlußplomben warnten davor, daß Unbefugte sie öffneten. Für den Spion stand fest, daß die Fässer Gift enthielten. Vermutlich Kampfgifte. Er funkte dies zu der amerikanischen Relaisstation auf Island. Von dort bekam er Anweisung, den weiteren Verbleib der Fässer unbedingt zu ermitteln. Dies gestaltete sich insofern schwierig, als der Güterzug in die militärische Sperrzone von Murmansk rangiert wurde. Einem Zufall verdankte es der Agent jedoch, daß er zusätzliche Informationen in die Hand bekam. Matrosen erzählten, daß eines der großen Transport84
U-Boote der „Golf"-Klasse am Lenin-Pier lag und auf Ladung wartete. Zwei Tage später liefen die Güterwagen leer nach Süden, und das U-Boot hatte die Murmansk-Basis verlassen. Es fing sich in einer der Sonarbojen, mit denen die NATO die Seewege vom Eismeer in den Nordatlantik überwachte. Sofort starteten von den Flugplätzen in Island und Norwegen Langstrecken-Marinepatrouillenflugzeuge. Die Turboprops vom Typ Atlantik konnten dreißig Stunden in der Luft bleiben und dabei Tausende von Quadratmeilen des Meeres kontrollieren. - Dazu ließen sie Spezialhorchgeräte an Schleppleinen hinab. Eines der Flugzeuge hatte Erfolg. Es glaubte, den sowjetischen U-Transporter in der Dänemarkstraße ausfindig gemacht zu haben. Das Fahrzeug lieferte das für diesen Bootstyp typische Echo. Das Flugzeug blieb dran, bis Treibstoffmangel es zur Umkehr zwang. Aber vorher war es von einer anderen Atlantik abgelöst worden. Die Beschattung des U-Transporters verlief lückenlos bis Kap Farewell. Dort ging es aufgrund des an Kanadas Küsten herrschenden starken Schiffsverkehrs kurzfristig verloren. Fest stand jedoch, daß das Boot Kurs Kuba einschlug.
Wenn bis jetzt nahezu alle Bewegungen in, Verständnis der amerikanischen Strategen paßten, so gab es Dinge, die sich absolut nicht einordnen ließen. So die Sache mit den Iljuschin-IL-76. Ein Geschwader dieser schweren militärischen 85
Lufttransporter landete in jenem Bezirk Sibiriens, von wo, laut Agentenmeldungen, die Fässer mit hochgiftigem Inhalt herstammten. Es mußte sich um das Zentraldepot-Nord/III handeln. Die vierdüsigen IL-76-Monsterflugzeuge nahmen dort ebenfalls Ladung. Aber nur bei Nacht. Am Morgen waren sie schon in der Luft. - Aber nicht mit Kurs Kuba. Die Flugzeuge verschwanden in den Weiten der sowjetischen Landmasse. AWACS-Boeings versuchten, an den Grenzen des Riesenreiches Spuren der Flugzeuge auf die Radarschirme zu bekommen. Dies sowohl vom Eisernen Vorhang, wie auch von der Türkei, von Pakistan und Japan aus. Aber die roten Transportgeschwader blieben verschwunden, als hätten sie sich aufgelöst. Es gab Informationen, wonach einer der 160-Tonnen schweren Großtransporter an Chinas Grenze notgelandet sei. Aber selbst über Pekinger Geheimdienstkanäle konnte dies nicht bestätigt werden. Trotz gemeinsamer Anstrengungen aller Verbündeten war es nicht möglich, klare Informationen zu beschaffen, welche Art Material in den Spezialfässern von Sibirien weggeschafft worden, war, wohin es geschafft wurde und zu welchem Zweck. Und die Quelle Polyphem schwieg. Ein in der amerikanischen Botschaft Moskaus tätiger CIA-Agent spazierte täglich einmal durch den Novoya-Park. Aber der alte Mann im langen Mantel mit dem Schachbrett war seit einer Woche dort nicht mehr aufgetaucht. 86
„Gentlemen", endete der Vorsitzende des amerikanischen Sicherheitsausschusses. „Das ist der Stand der Dinge." Auf einer Großprojektion an der Längswand des Konferenzraumes wurde die Lage dargestellt Trotz seiner Ausführungen gingen noch Fragen an den Verteidigungsminister. „Wie sieht es in Kuba aus? Jetzt?" Ein neues F-15-Foto wurde projektiert „Das Loch wurde weiter vertieft. Jetzt bekommt es einen stahlarmierten Betonboden sowie Seitenwände." „Damit der Explosionsdruck notfalls nicht zu weit ins weiche Erdreich verpufft", bemerkte jemand. Der Minister äußerte sich nicht zu dieser Vermutung, denn schon fragte der Berater des Präsidenten: „Wie war es möglich, daß unser Frühüberwachungssystem das sowjetische U-Boot verlor?" „Das Seegebiet, das es jetzt erreicht hat, ist eines der dichtestbefahrenen der Erde." „Es ist aber auch unsere eigene Ostküste." „Die unterschiedlichen Schichtungen von Warmund Kaltwasser im Golfstrom erschweren die Beobachtung kolossal." „Und wann wird das Boot in Kuba eintreffen?" Die Berechnungen wurden noch mal überprüft. „In spätestens einer Woche." Keine Antwort war auf irgendeine Weise befriedigend. Vom oberen Tischende her meldete sich jemand zu Wort. „Und die Candid-Geschwader, was ist damit?" Der Offizier gebrauchte den NATO-Code Candid für die Iljuschin-78-Transporter. „Sie erledigten unseres Wissens Transportflüge ins 87
Landesinnere." „Wohin? Von West- nach Ostsibirien?" „Oder umgekehrt." „Was flogen sie hin und her?" „Was ist der Inhalt der Fässer?" Es hagelte immer neue Fragen. „Vermutlich V- und C-Kampfmittel", mußte der Waffenexperte des Pentagons einräumen. „Nur Ware älteren Datums, denn die Werke für die neuen Nervengifte und Gase sind seit Jahren in den Militärbezirken Ural konzentriert." „Warum bringt man das Dreckszeug weg, und warum beläßt man es nicht in den PermafrostLagern?" Keine Erklärung. „Warum stopft man damit ein U-Boot voll? Etwa um den Mist im Atlantik zu versenken? Das widerspricht der neuen Seerechtskonvention." „Noch kennen wir nicht den Inhalt der Fässer, die Ladung des Golfbootes oder sein Ziel. Noch kennen wir nicht den Kurs der Flugzeuge und ihre Landepunkte." „Was kennen wir denn?" wurde Kritik laut. Der CIA-Direktor fühlte sich angesprochen. „Nach Auswertung der Informationen aus unserer Quelle Polyphem in Moskau kann das alles mit Kuba zu tun haben, muß aber nicht. Nur soviel steht fest: Kuba unternimmt etwas gegen eine mögliche Invasion durch unsere Streitkräfte." „Aber was?" „Tintenfische nebeln sich gegen Angreifer mit Sepia ein."
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„Das Chamäleon nimmt die Farbe seiner Unterlage an." „Affen machen Drohgebärden." „Manche Tiere spritzen Gift." „Es gibt da eine makabre Abschreckungstheorie", erwähnte einer der Generäle. „Ein neutrales, friedfertiges Land schafft seine Armeen ab und placiert dafür in seinem Zentrum atomare Ladungen von ungeheurer Stärke. Im Fall eines Angriffs würde man diese Ladungen zünden und alles vernichten. Sich selbst und jeden Angreifer. Man kann davon ausgehen, daß Kuba Ähnliches plant." „Falls die Information aus Moskau zutrifft." „Daran wird gearbeitet. Die NATO-Dienste sind derzeit mit kaum etwas anderem ernsthaft befaßt, als die Echtheit der Polyphem-Warnung zu überprüfen." Eine Pause trat ein. Dann fragte einer der Sena-, toren: „Und was tun wir inzwischen? Kuba liegt vor unserer Haustür, Gentlemen." Einer der Viersternegeneräle des Pentagons trat an die Lageprojektion. Dann wartete er, bis alle Personen, deren Sicherheitsgrad unter Stufe III lagen, den Raum verlassen hatten. Ein Telefon schrillte. Von der technischen Zentrale wurde bestätigt, daß die Abschirmung in Betrieb sei, und die Störgeneratoren liefen. Es wurde rasch sehr warm im Raum, denn auch die Klimaanlage war abgestellt worden. Deshalb faßte sich der General kurz. „Gentlemen", sagte er. „Die Vorbereitungen unserer Streitkräfte zu Wasser, zu Land und in der Luft laufen, was das militärische Eingreifen der USA in Kuba betrifft, planmäßig. Es ist vorgesehen, daß der
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Aufmarsch der Fallschirmtruppen, der Marines, der schweren Luftlandeeinheiten, der Amphibienverbände, der Artillerie- und Raketendivisionen, der Luftwaffe und der Flotte in die Bereitstellungsräume sowie Aufbau der Versorgungslinien bis Mittwoch den Siebzehnten, morgens null acht Uhr, abgeschlossen sind"
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9. Urban war so benommen, daß er nicht in der Lage gewesen wäre, sich aus Spinnweben freizuboxen. Erst als ihm Spiegel die Fesseln löste und den stinkenden Mehlsack vom Kopf riß, begann Urban, allmählich klar zu werden. „Mit Chloroform auf Stulle, kannst du nicht wie ein Bulle", stöhnte er, fiel auf die Altarstufen zurück, schaffte es dann aber. Draußen tauchte er den Schädel in kaltes Brunnenwasser. Dann schaute er auf die Uhr und erschrak. Er mußte länger als eine Stunde herumgelegen haben. „Wo bist du so lange geblieben?" fuhr er den Oberfeldwebel an. „Es war zapfenkalt im Auto. Ich stieg aus und machte mir Bewegung." „Und hast dich in der Dunkelheit verirrt." „Dann wäre ich ein schlechter Blindflieger", entgegnete Spiegel. „Ich hörte einen Motor, duckte mich hinter Buschwerk und sah einen. Wagen mit Karacho den Hohlweg auf der anderen Seite runterpesen." Urban stützte sich auf Spiegel. So stolperte er talwärts. „Du bist sofort hinterher?" „Es war der Jeep." „Mit einer Frau am Lenkrad." Spiegel berichtete, daß er ihr bis Palma gefolgt sei, bis zu der Straße, bis zu dem Haus, in dessen Tiefgarage sie mit dem Jeep gekurvt war. Dann war er wieder zum Kap gerast, um nach Urban zu sehen. „Es waren zwei", sagte Urban. „Einer saß mit im Jeep. - Verdammt, mir ist kotzübel." Er stützte sich gegen den Stamm eines Olivenbau91
mes. Er mußte tief durchatmen. Trotzdem starb er einige Male, bis wieder Leben in ihn zurückkehrte. Dann steckte er sich eine MC an. „Los, bring mich hin!" Spiegel fuhr los, und Urban saß ziemlich groggy neben ihm. „Das war clever", sagte Urban, „daß du nicht erst auf mich gewartet hast." „Der kommt schon allein klar, dachte ich." „Bin ich ja auch, oder?" „Und jetzt?" „Bring mich erst mal hin." Trotz scharfer Fahrweise benötigte Spiegel knapp eine halbe Stunde für die dreißig Kilometer. Es lag an der kurvigen, schmalen Straße. In Palma fand er dann nicht gleich auf Anhieb die Straße. „Sie hieß Calle Rosa oder so ähnlich." Urban wurde ungeduldig. „Du fürchtest, sie könnte schon wieder ausgeflogen sein, Oberst?" „Sie muß mit Bibifax zusammenarbeiten. Ich wurde sie Die trickreichen Zwei nennen." Sie fragten einen Passanten und erfuhren, daß sie sich in einem falschen Stadtviertel befanden. Wenige Minuten vor dreiundzwanzig Uhr kamen sie in die einsame Straße mit den vornehmen Bürgerhäusern. „Hochherrschaftliche Gegend", stellte Urban fest „Das Haus dort." Spiegel deutete auf die andere Seite. Nur im ersten Stock brannte Licht. „Du wartest." 92
„Nimm die Kanone mit", riet Spiegel. „Wozu?" Was Urban vorhatte, war normalerweise das letzte, was man einem angeschlagenen Agenten empfohlen hatte. Aber er hatte etwas gesehen und wußte, daß ihm nicht allzuviel Zeit blieb. „Wann", fragte Spiegel, „ziehe ich dir den nächsten Äthersack von den Ohren?" Urban schaute auf die Rolex. „Wenn ich in zwanzig Minuten nicht zurück bin oder du kein Zeichen bekommst, dann fährst du zum Flugplatz und funkst Pullach an. Meldung: Bibifax lebt" Dann verschwand Urban links zwischen den lackglänzenden Limousinen.
Der Eingang war marmorkühl, die Treppe aus dunklem Edelholz und teppichbelegt. Zwar knarrten die Stufen ein wenig, aber der Belag dämpfte. Im ersten Stock war die Tür geschlossen, jedoch nicht versperrt. Mit dem flexiblen Dietrich zog Urban den Riegel zurück. Gedämpft vernahm er Stimmen. Die eines Mannes und die einer Frau. Beide sprachen Englisch. Die Frau mit spanischem, der Mann mit verdächtig hartem Akzent, wie er von Polen ostwärts gängig war. Urban sprang hinein wie ein Clown in die Manege. „Hands up and away!" Im gleichen Augenblick fiel der Schuß aus der Pistole des Mannes im Trenchcoat. Nicht eine Sekunde zweifelte Urban, daß es sich um eine russische Makarow handelte, Kaliber 7,65, und daß der Bursche KGB-Agent war. 93
Er hatte den Seat, der sie am Nachmittag verfolgt hatte, auf der anderen Straßenseite erkannt, und zwar an den rotgepinselten Rostkanten des linken hinteren Radauschnittes. Die Kugel traf das Mädchen irgendwo an der Hüfte. Offenbar periphär, denn sie zeigte keine Wirkung. Im selben Moment noch fuhr der Bursche herum und legte auf Urban an. In den Flug der Kugel hinein warf Urban den Paravent, ein Gestell mit stabilem Holzrahmen und Gobelinbespannung. Die Kugel zersplitterte das Holz. Die nächste kam ungezielt, weil der Schütze nichts mehr sah. Mitsamt dem Wandschirm warf Urban sich auf ihn. Er kam sich vor wie eine Dampfwalze, und der KGB-Agent lag ziemlich geplättet da. - Urban packte beide Fußgelenke der Rotblonden und rief: „Setz dich auf den Boden, oder ich zahle dir das Chloroform mit der Handkante zurück." Sie ließ sich in den Sessel fallen, der hinter ihr stand. „Was für ein verdammter Haufen von Schnüfflern ihr doch seid!" Verachtung sprach aus ihren Worten, Mit Gewalt war der Dame wohl nicht beizukommen. Die Schießerei hatte sie kaum beeindruckt. Urban stieg über den Russen unter dem Paravent hinweg, ging zum Fenster, riß den Vorhang auf und zog ihn wieder zu. Als Zeichen für Spiegel, daß er am Leben war. Dann begann sich der Paravent wie der Panzer einer Schildkröte zu bewegen. Urban ließ den KGBMann gewähren. Er steckte sich eine Zigarette an. Die Rotblonde aus der Kapelle, die ihn dreimal genarrt hatte, wollte 94
auch eine. Er reichte ihr die blaugoldene Packung und Feuer. Sie rauchte tief ein. Es war, als schnappte ein Ertrinkender nach Luft. „Fabelhaftes Kraut", sagte sie und deutete dann auf den sich bewegenden Wandschirm. „Willst du dem Killer nicht Einhalt gebieten?" „Bin ich die Polizei?" „Dachte, du suchst Babyface." „Ja, noch immer." „Der dort auch." „Was anzunehmen ist", sagte Urban. „Aber ich werde ihm den Spaß verderben." Er stand ruhig da und wartete. Der kriechende Russe hatte inzwischen die Tür erreicht. Dort kam er aber nicht durch. Der Paravent war zu sperrig. Unter dem Wandschirm kam erst ein Bein zum Vorschein, dann Schultern, ein Oberkörper, die Arme. - Langsam ging der KGB-Mann auf die Knie. „Schönen Gruß an deinen Boß", sagte Urban. „Entweder ihr verduftet von der Insel, oder die BIS schnappt euch, und binnen vierundzwanzig Stunden seid ihr aus Spanien ausgewiesen." Der Russe zog den Kopf ein und verließ die Wohnung. An der Treppe trat Urban ihm ins Gesäß. Der KGBMann verlor die Balance und stürzte, erst stolpernd, dann sich überschlagend, die Stufen hinab. Am Treppenabsatz blieb er kurz liegen, sammelte seine Knochen auf und machte, daß er wegkam. Als Urban in die Wohnhalle kam, saß das Mädchen da und hielt die russische Pistole in der Hand. Er nahm sie ihr widerstandslos ab. „War das nicht unklug?" fragte sie. 95
„Was sollte ich mit ihm machen?" „Ein Killer. - Man übergibt so was der Guardia," „Und die stellt Fragen. Kennst du die Fragen, die spanische Polizisten stellen können?" Mühelos hielt sie dem Blick seiner grauen Augen stand. „Du hast nur Angst, du könntest dir den Weg zu Zaccarios verbauen." „Meinen Weg nicht", antwortete er. „Seinen Weg und deinen, Feuerkopf." „Wohin?" „In ruhigere Gewässer, Feuerkopf." „Ich heiße Zoe." Er traute seinen Ohren nicht. „Wie bitte?" „Zoe wie Zoe." „Wo", fragte er, sich umschauend, „steht hier der Cognac, Zoe?" „Cognac führen wir nicht", antwortete sie. „Wo Bibifax ist, gibt es immer Cognac." „Und weil es keinen Cognac gibt, ist auch Babyface nicht hier", entgegnete sie unwirsch. „Aber in der Nähe." Sie öffnete den schweren Schrank aus dunklem Mahagoniholz und entnahm ihm eine Flasche Brandy. „Also doch." „Das beweist nichts, Senor Dynamit." Er goß ein Glas voll und trank. „Egal, was es beweist", sagte er, „es ist zu seinem Besten. Entweder wir kriegen ihn, oder die anderen kriegen ihn. Wenn wir ihn kriegen, dann lebt er länger." „Wieviel länger?" 96
„Von mir aus hundert Jahre." „Und ihr", fragte sie, „wer ist das?" Daraufhin erzählte er ihr alles.
Nachdem Zoe telefoniert hatte, fuhren sie mit dem Jeep gut eine Stunde durch die Nacht. „Er war ein Spion", sagte sie. „Was wollt ihr von ihm?" „Hilfe." „Jetzt ist er nur noch ein sehr alter Spion und zu nichts nutze." „Wir mobilisieren sogar Lahme und Blinde." „Steht es so schlimm um euch?" „Hoch drei." „Ja, dann", sagte sie. Zoe fuhr so kraftvoll wie ein Truck-Driver seinen Lkw mit fünfundzwanzig Tonnen Gemüse, immer einen geraden Strich, vorausschauend bremsend, zügig in die Kurven Lenkend. Das Vierganggetriebe des Jeeps handhabte sie mit einem Nachdruck, den es gar nicht erforderte. Sie warf den Knüppel regelrecht in die nächste Schaltstufe. Wenn sie Gas gab, dann tat sie es, als gelte es, einen lahmen Diesel zu mobilisieren. Gewöhnlich war aus der Art wie der Mensch sein Fahrzeug bewegte, auf seinen Charakter zu schließen. Urban hütete sich vor Voreiligen Kombinationen, aber diese Frau wußte, was sie wollte, und zog eine Sache durch, wenn sie sich dazu entschlossen hatte, und sei es von irgendeinem Punkt ab, bei der Wahrheit zu bleiben. Urban versuchte, die Wahrheit herauszufinden. „Wann verließ Bibifax sein Haus am Kap?" 97
„Schon vor längerer Zeit. Als er merkte, daß seine Tarnung Löcher bekam." „Man war hinter ihm her?" „Nun, es gab Anzeichen dafür, daß man sich für ihn interessierte. Mal stand ein fremdes Auto vor dem Haus, oder ein Mann saß auf einer Bank und las Zeitung. Mal starrte ihn in der Bar ein Gesicht an, mal folgte ihm ein Boot, wenn er zum Fischen hinaussegelte. Dinge, die ein Mensch mit hochentwikkeltem Instinkt sofort bemerkt." „Oder sich einbildet, wenn der Instinkt zu verkümmern anfängt." „Er fragte sich natürlich, was man von ihm nach so langer Zeit wollte." „Und vor allem wer", ergänzte Urban. „Nun, er weiß immer noch genug, um einer Menge Leute schaden oder nützen zu können." „Machte er Aufzeichnungen?" Sie lachte amüsiert. „Nicht eine Zeile. Das überläßt er Schlagersängern und Fernsehansagern, die mehr zu erzählen haben als er." „Wohin ging er, als er sich entschlossen hatte, noch, einmal abzutauchen." Sie machte eine Handbewegung, ergriff aber, als diese beendet war, sofort wieder das Lenkrad. „Spanien ist groß." „Genaugenommen verließ er Mallorca gar nicht." „Wie kommst du darauf?" „Weil er meinetwegen bestimmt nicht zurückgekommen wäre." „Er sagte", erzählte sie, „wir denken uns eine Tüte voll guter Tricks aus, Baby. Wir führen sie an der Nase herum, bis sie die Lust verlieren. Wenn aber 98
doch einer so fix ist und so stur, daß er alle durchschaut und sich als hartnäckig erweist, dann werden wir uns überlegen, ob wir ihn nicht doch anhören. Zumindest dies." „Vorausgesetzt, er hat die richtige Feldpostnummer", ergänzte Urban, „und das nötige Kleingeld bei sich." „Er wird dich anhören, Dynamit." „Ich hoffe." „Und wem hast du das zu verdanken?" „Mir allein", äußerte er. „Bist du seine Tochter? Du könntest seine Tochter sein." „Er war nie verheiratet." „Um Vater zu werden, braucht man kein gestempeltes Stück Papier." „Ich pflegte ihn, als er krank war", sagte Zoe, „und blieb dann bei ihm." „Als was?" „Haushälterin, Köchin, Sekretärin, Reisebegleiterin, Unterhalterin, Pflegerin, Finanzverwalterin fehlt noch was?" „Geliebte." „Bedaure, da hat er einen anderen Geschmack." „Du auch?" „Auch ich", gestand sie. Sie kamen in die Berge. Oben in den Korkeichenwäldern hing der Nebel wie Watte. Es wurde kühl und feucht, und der Jeep hatte keine Heizung. Aber bald kamen enge Stellen, Haarnadelkurven. Der Motor hatte schwer zu arbeiten. Da er ein 99
mächtiges Stück Gußeisen war, lieferte er von unten her etwas Wärme. „Folgt dir dein Helfer im Chrysler?" fragte Zoe. „Ich hoffe." „Diese Steigung ist schwierig, hier wird er Probleme kriegen." „Hauptsache ich habe keine mit Zaccarios." Nach etwa zwei Kilometern nahm sie Gas weg. „Wir sind da." Hinter Buschwerk tauchte eine graue Mauer auf. Als sie um die Ecke in den Hof fuhren, sah Urban Licht aus einem Stall sickern.
„Ich bin es." Der Mann stand am glühenden Holzofenkamin. „Auch wenn ich nicht so aussehe. Aber wer weiß schon, wie ich aussehe." Urban wußte es jetzt. Hinter grauen Bartstoppeln zeigte sich immer noch das Babyface, das Gesicht eines Mannes, der trotz feiner Feiten nicht älter werden wollte, obwohl er jetzt gebückt dastand, um Wärme zu suchen. „Und wer bist du, Junge?" Urban trat ins Licht der Gaslampe. Stromanschluß hatte dieses einsame Gehöft nicht. Zaccarios nickte. „Sie nennen dich Dynamit." „Wir sind uns nie begegnet." „Nicht, daß ich den Puls noch schlagen höre, aber noch vernehme ich den Atem des Untiers, das sich die Welt der Geheimdienste und Spionage nennt. Als ich ausstieg, warst du im Kommen. Vielleicht stieg ich aus, weil ich gegen die paar wirklich großen Jungen 100
nichts mehr auszurichten hatte." Er setzte sich schwer in einen massiven Sessel, dessen Polsterung aus einer mehrfach zusammengefalteten Pferdedecke bestand, und fuhr fort: „Aber seine Ruhe bekommt man wohl nie." „Das ist wie bei Malaria. Man besiegt sie selten vollständig." Bibifax lachte in sich hinein. „Mit Malaria könnte man leben. - Kommen wir zur Sache, Dynamit, machen wir schnell. Solche konspirativen Konferenzen, wie wir sie hier abhalten, ziehen Ohren und Augen an wie frisches Blut den Hai." Urban machte ihm mit wenigen Sätzen klar, was sie unternommen hatten, um ihn zu finden, weil er der einzige Mann sei, der in der Lage war, ihnen in einem gewissen Punkt Sicherheit zu geben. „Wir, das ist die NATO", präzisierte der alte Spion. Urban nickte. „Die Organisation mit dem technisch perfektesten Geheimdienstsystem", fügte Zaccarios hinzu. „Das an seine Grenze stößt, wenn es um Dinge geht, die elektronisch nicht erfaßbar sind. Hier zum Beispiel die vergangenen." „Ja, die Computer können sehr gut in die Zukunft rechnen, aber nicht gut rückwärts." „Was nicht nötig ist. Was die Vergangenheit betrifft, verfügen wir normalerweise über genügend Kenntnisse durch Daten und Fakten." „Warum", fragte Bibifax Zaccarios, „bist du dann gekommen, Dynamit?" „Wegen Polyphem", stellte Urban jetzt klar. Zu seiner Beruhigung zeigte der alte Spion, daß er verstanden hatte. Man brauchte ihn nicht erst mühsam fünfundzwanzig Jahre zurückzuführen. Er hob die Hand und beschrieb mit dem Daumen in 101
Stirnmitte einen Kreis. „Einauge." „Er ging als Perspektivagent, als Maulwurf, in den Osten." „Das weiß ich." „Dort stieg er bis zur Spitze auf. Da er abgeschaltet war, wußte niemand mehr, daß es ihn noch gab. Und nun, nach einem Vierteljahrhundert, dringt seine Stimme aus der Weite Rußlands zu uns." „Und was spricht die Stimme?" Babyface winkte ab. „Nein, ich will es gar nicht wissen. Aber liege ich richtig, wenn ich annehme, daß man seiner Botschaft mißtraut?" „Sie könnte zu Komplikationen führen, wenn sie nicht stimmt." „Zu Krieg?" „Ein Apfel an die falsche Dame verteilt, das Krümmen eines Fingers um wenige Millimeter um einen Abzug oder eine falsche Bewegung hat schon zu mörderischen Kämpfen geführt." Der alte Spion konnte noch außerordentlich gut mitkombinieren. „An der Qualität der Botschaft bestehen also Zweifel." „An der Echtheit der Quelle." „Wie ist es mit den Zeremonien? Stimmen sie?" „Ja, die Codes, die Kontaktpersonen sind okay." „Aber alle, die Polyphem kennen, sind passé." „Außer dir, Zaccarios." „Verstehe." Der Alte stand auf, trat wieder an den Kamin und stellte sich so hin, daß die aufsteigende Wärme seinen Rücken streichelte. „Ich soll ihn auf irgendeine Weise identifizieren.'' Urban faßte es genauer. 102
„Du gabst ihm den Namen Polyphem. Er wurde als offizielle Deckbezeichnung übernommen." „Richtig." „Warum Polyphon?" „Weil der Zyklop nur ein Auge hatte, mitten in der Stirn, das ihm Odysseus ausbrannte, um fliehen zu können." Urban stieß eine MC aus der Packung. Während er sie ansteckte, formulierte er in Gedanken die nächste Frage. „Menschen, die zu Spionen prädestiniert sind, müssen eine Reihe seltener Fähigkeiten aufweisen. Aber eines dürfen sie nicht, nämlich auffallen, sich durch ihr Aussehen von anderen abheben. Der Durchschnittstyp, anders als bei Frauen, ist immer der erfolgreichste Spion gewesen. Ein Mann mit einem Auge mitten in der Stirn käme dafür nie in Frage." „Polyphem sah auf beiden Augen recht gut", versicherte Bibifax. „Er hatte völlig normale blaue Augen. Sie standen nicht zu weit auseinander, nicht zu eng beisammen, sein Blick war vielleicht etwas unruhig." „Warum dann der Name Polyphem?" Nun war es, als würde sich die Gestalt des alten Spions straffen. „Wie lautet dein Angebot, Dynamit?" „Man wird dich in Ruhe lassen." „Zuwenig." „Man wird dich notfalls beschützen." „Dazu seid ihr nicht in der Lage." „Man baut dir", schlug Urban vor, „eine neue Identität auf, gibt dir notfalls ein chirurgisch verändertes Aussehen." „Für meine Wohlfahrt kann ich selbst sorgen." 103
„An Geld kann es nicht liegen", tippte Urban. „Du bist ein reicher Mann." „Wann ist man reich?" fragte Zacharias. ,,Mit wieviel Millionen? Nein, es geht um etwas anderes. Natürlich läßt sich alles in Geld ausdrücken, aber ich Habe noch einen Wunschtraum. Es gibt da ein wundervolles Haus auf einem Hügel an einer malerischen Küste dieses Landes, das sich dieser verdammte deutsche Bier- und Zigarettenkönig zu verkaufen weigert. Genau das möchte ich haben, plus einhunderttausend Dollar." Urban nickte. „Wir werden es versuchen." „Ich kriege es, oder nichts läuft." Urban wollte nicht unfair sein und Dinge versprechen, die er nicht halten konnte. „Wir tun, was wir können." „Setzt ihn unter Druck." „Das erfordert Zeit", gab Urban zu bedenken, ,,Die Sache mit Polyphem hat aber keine Zeit" „Ich soll ihn nur identifizieren?" „So ist es." „Dazu wäre es nötig, mich an ihn heranzubringen. Wenn euch das gelingt, habt ihr selbst alle Chancen, ihn zu durchleuchten." „Wir kennen ihn nicht genau. Wie ist sein Name?" „Damals in Ettal führten wir nur Nummern." „Bist du in der Lage, ihn anhand von Fotos der sowjetischen Führung auszusondern?" Jetzt lächelte der alte Spion. „Nicht nötig", erklärte er. „Es gibt im Kreml einen Mann, der Polyphem sein könnte. Ich sage könnte. Natürlich habe ich die Bewegungen in der Nomenklatura stets aufmerksam verfolgt." 104
Urban grenzte das Problem jetzt scharf ein. Polyphem war nur über den alten Spion faßbar. Und nur so ließ sich auch bestimmen, ob er noch derjenige war, der vor einem Vierteljahrhundert nach Moskau ging, um in die Führungsspitze zu infiltrieren. „Was euch Sorgen macht", vermutete Zacharias, „ist, daß er enttarnt und umgedreht oder umgetauscht worden sein könnte." Urban bestätigte diese Annahme. „Ist er es also, oder ist er es nicht? Wenn er es ist, steht er noch auf unserer Seite, oder hat man ihm eine Gehirnwäsche angedeihen lassen? Ist er es nicht, benutzt man eine Art Doppelgänger oder künstliches Produkt dazu, um uns eine Nachricht zuzuspielen, die uns manipuliert und zu Gegenmaßnahmen politischer, militärischer oder technischer Art zwingt." Der Mann am Kamin nahm ein Glas vom Sims, das eine helle Flüssigkeit enthielt, vermutlich Inselwein. „Ganz einfach alles." „So einfach ist das", bestätigte Urban." „Und ich soll das abklären. - Okay, bringt mich zu ihm." „Daran arbeiten wir gerade." „Polyphem", bemerkte der Spion, „kann nur einer in einem bestimmten Kreis von Männern sein. Das ist euch klar. - Stellt mir den Kerl gegenüber, und ich sage ja oder nein." „Was immer wir vorhaben", faßte es Urban zusammen, „wie immer wir diesen Mann vor unsere Flinte kriegen, du wirst für uns schießen. Okay?" „Für das Haus bei Cartagena", erinnerte Zacharias. „Das wäre der angemessene Preis für einen miesen alten Spion." 105
„Wo finde ich dich?" „Fragt Zoe", sagte der alte Mann, trank das Glas leer und ging hinaus.
Nachdenklich schob Urban sich auf den Beifahrersitz. Zoe wendete. „Bist du mit ihm klargekommen?'' fragte sie. „Wie mit einem störrischen alten Esel." „Er ist okay." „Er fordert nur einen Palast. Aber sonst ist er in Ordnung." „Das steht ihm zu." „Soll er sich die verdammte Hütte doch selbst kaufen", fluchte Urban. „Wenn dieser Knilch sie aber nicht hergibt und immer nur auf ihn herunterspuckt." Von Anfang an hatte Urban befürchtet, daß es da noch persönliche Gründe gab. „Die beiden hassen sich. Stimmt's?" „Zaccarios mag ihn ungefähr so gern, wie man einen Kerl mag, der einem die über alles geliebte Frau weggenommen hat." Urban äußerte Zweifel. „Ob es die Frau dann wert ist, daß man ihr nachweint?" „Es kommt auch auf die Methode der Eroberung an." „Kaufte sie der Bierkönig?" „Er ließ sie entführen und hielt sie so lange eingesperrt und unter Drogen, bis sie sich vor die Wahl gestellt sah, zu krepieren, oder seine Geliebte zu werden und sich für sein Bett zu entscheiden." „Wie im Mittelalter." 106
„Im frühen." „Und Zacharias", wunderte sich Urban, „lief nicht zu Hochform auf und holte sich zurück, was ihm gehörte?" Sie nahm die steilen Serpentinen abwärts im ersten Gang. Dann erzählte sie weiter. „Erst war er sehr krank. Wochen später, als er seinen Plan fertig hatte, erfuhr er, daß die Frau an der Nadel hing. Sie starb, ehe er eingreifen konnte. Aber er rächte sich an dem Entführer. Er machte mit ihm etwas, das man am besten mit dem Satz Er schnitt ihm die Eier ab umschreibt. Nun sitzt er oben auf seiner Burg und sinnt über Vergeltung nach." „Dann wird es schwer werden", befürchtete Urban, „mit dem Haus." „Aber ihr werdet zahlen." „Bei Erfolg, ja." Die nächste Serpentine war so eng, daß sie zurücksetzen mußte. „Ist das nun eine wundervolle Information?" fragte Zoe. „Sie macht mein Herz schwer." „Werdet ihr ihn bescheißen?" „Das würde er spüren." „Ich hoffe, dir geholfen zu haben, Dynamit." „Hast du", versicherte er. Sie lachte bitter. „Wann sagst du dann endlich mal Dankeschön?" „Weiß ich noch nicht", erwiderte er. „Du gehörst zu den Burschen, die sich eher die Zunge abbrechen, als Danke zu sagen." Darauf antwortete er nicht. Zoe aber ließ nicht locker. „Du zeigst dich nie erkenntlich, wie?" 107
„Kommt darauf an." Entschlossen rollte sie nach rechts auf an ebenes Stück zwischen Buschwerk, stellte den Motor ab und ratschte die Handbremse an. „Los, zeig dich erkenntlich!" forderte sie. „Willst du eine Zigarette, einen Schluck aus der Pulle?" „Dich", erklärte sie. „Jetzt sofort?" „Auf der Stelle. Ich mag's spontan oder nie." Zweifellos wäre das Sofa in ihrer Wohnung um tausend Prozent günstiger gewesen als die Enge des Jeeps bei Nässe und Kälte. „Okay, dann zieh dein Höschen aus." „Nein, nackt", verlangte sie, „total nackt." „Du bist nicht ganz normal." „Nein", keuchte sie: „Ich mag es nur, wenn ich gerade verrückt bin auf eine verrückte Art und Weise." Sie entkleidete sich mit der raschen Exaktheit, mit der sie Auto fuhr. Weil es um diese Jahreszeit auf Mallorca doch etwas wärmer war als nördlich der Alpen, trug sie unter der Steppjacke nur Pullover, Rock und einen schmalen Slip. Sie schlüpfte so flink heraus, daß sie bei seinem Gürtel, den Knöpfen und Reißverschlüssen mithalf. Sie war eine gefärbte Rotblonde. Überall anderswo war sie dunkel. Ein reizvoller Kontrast, wie er fand. Es ging eng zu, aber sie kannte wohl die Gegend und auch die Verkehrsordnung. Doch dann, als es in die Einbahnstraße ging, da erfuhr Urban, daß man sich irren konnte. Plötzlich raste sie los wie eine Wilde, nahm die Kurven auf zwei Rädern, egal ob sie 108
ins Schleudern kam, ob sie sich drehte oder überschlug. Die ersten Kilometer durchraste sie weit über dem Limit. Es gab kaum langsame Abschnitte. Doch ganz besonders irre war sie in den Sonderprüfungen ...
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10. In Mons, nahe der belgischen Hauptstadt Brüssel, war für sechs Männer dieser Tag nicht wie jeder andere. Die Besprechung nannte sich schlicht NATO-Spitzenkonferenz. Zunächst hörte sich alles an wie beim Zusammentreffen von Experten für die Bekämpfung von Gartenschädlingen. Es ging um befallene Gebiete, um die Bestimmung von Positionen, um die Aufdeckung unterirdischer Wege und schließlich darum, wie man des Maulwurfs habhaft wurde, um ihn bestimmen zu können. „Wie jagt man ihn aus seinem unterirdischen Gängesystem, ohne ihn zu töten?" So lautete die Frage des Koordinators der Geheimdienste des Bündnisses. „Mit Gaspatronen", riet einer. „Oder durch gezielte Spatenstiche." „Die treffen ihn nicht. Ein Maulwurf gräbt schneller, als man seine Gänge aufschaufelt." Jeder wußte, um was es ging. „Wie kriegen wir diesen Mann auf eine Position, wo der einzige Lebende, der ihn mit Sicherheit kennt, seine Identität feststellen kann?" „Wir verfügen nicht einmal über seine Fingerabdrücke", gestanden die Delegierten von BND und MI-6. „Aber wir haben, wenn ich recht verstehe, Babyface." „So lautet der Deckname unseres Zeugen." Der Sprecher des BND erläuterte die Grundzüge des Planes. „Wir müssen den Zeugen, der ihn persönlich kennt, mit Polyphem zusammenbringen." 110
„Ist der Zeuge bereit dazu?" „Er steht uns zur Verfügung." „Er weiß über das Risiko Bescheid?" „Durchaus." „Woran erkennt er Polyphem?" „Das verschweigt er." „Um uns zu hintergehen, etwa?" „Oder um von uns nicht hintergangen zu werden", erklärte der BND-Sprecher. „Der Mann ist Insider. Er war lange Jahre als Spitzenagent tätig, als einer unserer besten. Er prägte damals den Namen Polyphem." Dieser Teil des Planes wurde einstimmig angenommen. Doch nun stellte der amerikanische Kollege die entscheidende Frage. „Wie kann man die Echtheit einer Quelle prüfen lassen, wenn die Quelle selbst nicht bekannt ist?" Der Vertreter des deutschen und der des britischen Geheimdienstes blickten sich kurz an. „Es ist ein Mann aus dem innersten Kreis der sowjetischen Führung," „Sie haben doch nahezu fünfzig Minister." „Aber nur ein Dutzend Politbüromitglieder." „Immer noch genug. Die meisten von ihnen verlassen das Gebiet der UdSSR so gut wie niemals. Wie also wollen Sie Ihren Zeugen an ihn heranbringen? Das scheint mir der nicht realisierbare Teil dieses phantastischen Planes zu sein." Nun bat der Brite sowohl den BND-Sprecher als auch den Bevollmächtigten der CIA in einen Nebenraum. Als die Tür geschlossen war, sagte er ohne Pathos und Feierlichkeit: „Wir können davon ausgehen, daß es sich bei Polyphem um den Innenminister, KGB-General und 111
stellvertretenden Generalsekretär der KPdSU, Viktor Masinin, handelt." Der Amerikaner drückte die Zigarette in den Sand eines Aschers. „Masinin", wiederholte er mit belegter Stimme. „Das sieht ihm ähnlich. Nach außen hin der größte Scharfmacher, in Wirklichkeit ein gekauftes Subjekt, ein Verräter." „Unser Verräter, Sir." „Ja, natürlich. - Aber Sie gestatten, daß ich mich doch ein wenig wundere, Gentlemen." Die drei kehrten wieder in den großen Konferenzraum zurück. „Ich bitte um Pause von einer Stunde", beantragte der Amerikaner.
Um 16.00 Uhr trat die Polyphem-Konferenz wieder zusammen. Von seiten der nicht direkt durch den Fall betroffenen NATO-Mitglieder wurden keinerlei Anträge gestellt, was die Preisgabe der Person Polyphems betraf. Dies war ein ungeschriebenes Gesetz innerhalb des Bündnisses, daß nicht jeder mit allen Problemen der anderen belastet werden sollte. Ein anderes Gesetz sah jedoch vor, sich gegenseitig zu unterrichten, soweit dies möglich war. „Wie, Gentlemen", ließ der Italiener anfragen, „gedenkt man nun Zeugen und Täter zusammenzuführen?" Inzwischen nahm dieser zweifellos schwierigste Teil des Planes schon Umrisse an. 112
Der Vertreter des MI-6 London meldete sich zu Wort. „In den nächsten Tagen treten sowjetische Spitzenpolitiker eine Reise an. Die Reise wird sie ins Ausland führen, und falls unsere Informationen zutreffen, gehört Polyphem dieser Gruppe an." Der Belgier zweifelte an der Richtigkeit der Nachricht. „Männer aus der obersten Führung treten nie in Horden auf. Es würde das Gewicht des einzelnen schmälern." „In diesem Fall geht es darum, einen einst befreundeten Staat, der sich dem Westen anschloß, zurückzugewinnen, indem man kombinierte wirtschaftliche, militärische und sicherheitstechnische Hilfe gewährt Ein Milliarden-Rubel-Programm." Dafür kamen nicht allzuviele Staaten in Frage. Der Portugiese traf mit seinem Tip sofort ins Schwarze. „Liege ich richtig, wenn ich annehme, daß es sich um Ägypten handelt?" „Nun, die Zeit der Carter-Begin-Sadat-Freundschaft ist vorbei. Ägypten wendet sich wieder dem arabischen Lager zu. Moskau sieht seine Zeit für gekommen. Es geht um Einfluß im Spiel der Kräfte in Mittelost. Nun, da schickt man schon die besten Leute los, die man hat." „Wer gehört der Delegation an?" „Der Verteidigungsminister, der Außenminister und der stellvertretende Staatschef Masinin." „Ja, Viktor Masinin." „Wann fliegen die Genossen?" „Dienstag nächster Woche." „Und wie will man den Zeugen an Polyphem heranführen?" „Da dies in Moskau nicht möglich sein wird, muß es 113
in Ägypten stattfinden." Einer der Experten winkte heftig ab. „Die Sicherheitsmaßnahmen nach Landung der Regierungsmitglieder in Kairo werden ebenso umfassend sein wie in Moskau, vielleicht noch stärker. Nicht eine Laus könnte sich durch diesen vielfachen Cordon unkontrolliert einem der Russen nähern." Die Männer jener Dienste, die der Fall, ganz besonders betraf, gaben zu, daß es die letzte Lücke in ihrem Plan wäre, daß man aber hoffe, sie bald schließen zu können. Der Vertreter Spaniens äußerte, daß er sehr neugierig wäre, zu erfahren, wie dies gehandhabt werden würde.
Ein dreiköpfiger Sonderstab der NATO-Luftüberwachung prüfte unter strengster Geheimhaltung alle Möglichkeiten, Wie konnte man ein sowjetisches Regierungsflugzeug auf der Route Moskau-Kairo zu einer außerplanmäßigen Landung zwingen? Zunächst wurde die wahrscheinliche Flugroute der Maschine ermittelt. „Sie nehmen natürlich den kürzestmöglichen Weg", erklärte einer der Oberste. „Sie fliegen also nicht via Afghanistan - Arabisches Meer - Rotes Meer. Das wäre ein Umweg von siebentausend Kilometern." ,,Sie fliegen auch nicht über Murmansk via Nordatlantik - Gibraltar - Mittelmeer." „Nein, auch dies wäre ein Riesenumweg. - Von einer Tatsache müssen wir jedoch ausgehen. Sie werden unter allen Umständen vermeiden, NATO-Territorium zu überqueren." Inzwischen hatte einer aus dem Planungsteam eine 114
rote Linie von Moskau nach Kairo gezogen. Sie lief zunächst direkt nach Südwesten, Richtung Bukarest. Von dort führte sie nach Westen weiter. „Die Jugoslawen lassen sie anstandslos durch." „Anschließend fliegen sie die Adria entlang, mit gutem Abstand zum griechischen und italienischen Luftraum, um Kreta herum, und schon sind sie in Kairo." „Flugzeit für eine TU-144 knapp drei Stunden." Der Offizier, der die Begleitschutzpraktiken im Ostblock kannte, meinte dazu: „Bis Rumänien haben sie Deckung durch sowjetische MiG-Jäger. Über Jugoslawien müssen die MiGs umkehren. Die Jugoslawen werden sich vermutlich wenig um die Sache kümmern. Sie werden sie gewissermaßen ignorieren. Später wird die NATO eine Rotte Tornados zur Beschattung dranhängen, und südlich von Kreta wird das Empfangskomitee der Ägypter auf zehntausend Meter Höhe stehen." „Und wo knacken wir sie?" fragte der deutsche Luftwaffenoberst. Da niemand mit einem Vorschlag herausrücken wollte, denn es gab derzeit noch keinen brauchbaren, deutete der Deutsche auf Kreta. „Hier muß die TU-144 spätestens runter." „Aber wie?" „Unbeschädigt." „Die fliegen doch nur bei strahlendem Wetter." „Was schert eine TU-144 das Wetter." „Mal langsam" , bat der Engländer mit seiner Inselerfahrung. „Die Russen sind die letzten, die einen minutiös geplanten Staatsbesuch wegen schlechten Wetters verschieben. Das würde ein schiefes Licht auf 115
die Qualität ihrer Piloten, Flugzeuge und Elektronik werfen." „Schön, gehen wir also davon aus, daß sie auch fliegen, wenn es regnet, stürmt oder schneit." „Was sowieso nur Erschwerungen bei der Landung auslöst." „Vor allem dann, wenn ein Triebwerk ausfällt" Der Amerikaner grinste. „Diese Maschinen sind hundertmal gecheckt bis zur letzten Klodeckelschraube. Da fällt kein Triebwerk aus." „Vielleicht das Anflugradar oder der Funk." „Die Regierungstupolew hat davon alles dreifach an Bord." Wie das russische Flugzeug vor Kairo zur Landung veranlaßt werden konnte, war nicht ihr Problem. Sie kamen jedoch zu dem Ergebnis, daß dies überhaupt nur auf einem türkischen oder griechischen Flughafen möglich sei. „Falls dessen Piste für einen Überschalljet lang genug ist", schränkte das deutsche Kommissionsmitglied ein. Der Plan wurde ausgearbeitet und verschlüsselt dem wartenden Kurier übergeben. Der Rest war Sache der technischen Experten der CIA. „Die werden sich schon was ausdenken", hoffte der Engländer und steckte sich zur Tasse Tee eine NavyCut-Zigarette an.
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Das Team der Sabotagegruppe der CIA bestand aus hochkarätigen Ingenieuren und Wissenschaftlern. Anhand der vom Planungsstab NATO-Luft vorbereiteten Unterlagen erarbeiteten sie ihr dreistufiges Programm. Phase eins begann, sobald die sowjetische TU-144 die Adria erreichte. „Auf Flughöhe dreißigtausend Fuß werden die Wetterbedingungen wie stets normal sein." „Aber wir haben ein vorzügliches Hustenmittel für Jet-Triebwerke." „Kein Antihustenmittel natürlich", ergänzte der Chefchemiker, „sondern ein Aerosol, das wir mit Jägern hochbringen oder mit einer Wetterrakete. Das kann eine Stunde vor dem Vorbeifliegen der TU-144 stattfinden, denn die Aerosolwolke bewegt sich und sinkt sehr langsam." „Aber man muß den genauen Kern kennen. Sagen wir auf vier Meilen genau." „Dann blasen wir eben mehrere Asthma-Behälter leer." „Außerdem halten sich die Russen an die vorgegebenen Luftkorridore." Die Koordination von Radarüberwachung sowie NATO-Tornados mit Aerosolbehältern, verteilt auf Stützpunkte von Bari bis Heraklion, wurde in die Wege geleitet. „Schön, die Russen haben Triebwerkprobleme. Und dann?" „Müssen sie herunter." „Wenn sie reine Luft atmen, arbeiten die Triebwerke wieder einwandfrei." „Nicht gut genug, als daß die Piloten nichts unter117
nehmen würden, wenn außerdem noch die Elektronik streikt." „Elektronikausfall durch massierte Radarstrahlung - das fällt auf." „Ich denke an atmosphärische Störungen, ähnlich denen, wie sie bei der Explosion einer Neutronenbombe entstehen. Wir können das hervorrufen, indem wir den Rumpf der TU-144 mit Laser streicheln." „Eine Art Narkose für die Chips also." „Die ein, zwei Stunden anhält." „Ohne Navigation, ohne Funk, ohne Radar sind die Russen aufgeschmissen." „Und wie reagieren sie?" „Auch Umkehr ist nicht mehr möglich." „Was also können sie noch tun?" „Sie können tiefer gehen und Mayday schießen." „Wir sind natürlich zur Stelle und geleiten sie zu einer ausreichend langen Landepiste." Das war leicht gesagt, aber äußerst schwierig zu bewältigen. In Tag- und Nachtarbeit, zweiundsiebzig Stunden lang, wurde die Logistik erstellt. Störsender und Laserkanonen mußten auf den mutmaßlichen Routen des roten Regierungsjets bereitgestellt werden. Dies war nur mit technischer Hilfe der 6. Flotte machbar. Druckfeste Behälter mit einem quecksilberstaubähnlichem Aerosol, das Jet-Triebwerke beeinträchtigte, wurden auf den Absprungbasen der Höhenjäger gelagert, nachdem C-47 Transporter es aus Texas nach Europa geflogen hatten. Radarexperten, Funkleitoffiziere, Kommandeure von Boden- und Marineeinheiten sowie die beteiligten 118
Piloten, wurden zu einem Spezialbreefing nach Neapel befohlen. Die Fernschreiber tickerten pausenlos Anordnungen, chiffriert und mit der Geheimstufe Cosmic versehen, zu den an der Operation beteiligten Verbänden. Im Laufe des Sonntagnachmittags und in der Nacht zum Montag meldeten die Dienststellen nacheinander Klar zum Einsatz. Jetzt blieben noch zweiundzwanzig Stunden bis zur Minute X.
Das der französischen Concorde verdächtig ähnliche sowjetische Überschall- Verkehrsflugzeug TU-144 startete auf die Minute pünktlich in Moskau. Wegen seiner rasanten Schönheit wurde der elegante Deltaflügler gerne für Auslandsreisen, bei denen es galt, den Fortschritt des Ostens herauszustellen, eingesetzt. Nach dem Start stieg die TU-144 in den für sie freigemachten Luftkorridor. Das Wetter war, von einigen Störungen im Mittelmeerraum abgesehen, gut. An Bord befanden sich drei Regierungsmitglieder im Ministerrang, nebst Sekretären, Referenten und dem Sicherheitspersonal. Die TU-144 flog von Moskau auf schnurgerader Linie über die Ukraine nach Budapest und weiter über den Luftkorridor Sarajevo zur dalmatinischen Küste. Die Stimmung an Bord war ein wenig gespannt wie immer, wenn man nicht wußte, welchen Erfolg eine 119
Mission am Ende haben würde. Dies, obwohl der Gesprächsverlauf langst mit den Ägyptern abgestimmt worden war. Einhundertzehn Minuten nach dem Start erreichte die TU-144 internationalen Luftraum über der Adria. Ihre Flughöhe betrug 14 000 Meter, die Reisegeschwindigkeit 1,3 Mach. Kaum lag die pfeilspitzenartige Maschine auf Südostkurs, als eines der vier Kusnezow-Mantelstromtriebwerke erhöhte Temperaturen anzeigte. Der Bordingenieur ergriff die nötigen Maßnahmen. Schließlich wurde auch die Leistung reduziert. Aber es blieb bei der Überhitzung. Als Gefahr für die Turbine bestand, schaltete der Pilot, ein Oberst der sowjetischen Luftflotte, das Triebwerk ab. Wenig später fing dasselbe Malheur mit dem nächsten Triebwerk an. Eine TU-144 kam mit zwei funktionierenden Motoren noch einigermaßen zurecht, die Dinger leisteten 13 000 Kp Schub, aber die Fracht war zu kostbar. Für diesen Fall gab es zwingende Vorschriften. „Funkspruch an Basis", sagte der 1. Pilot. Im Begriff, Kontakt mit Arad aufzunehmen, stellte der Funker Totalausfall der Elektronik fest. Auch der Navigator meldete Probleme. Die elektronischen Peilgeräte, die Flug- und Positionsrechner waren ausgefallen, ebenso alle Kompasse bis auf den Notkreisel, der mit Preßluft gespeist wurde. In seiner Not bat der Pilot den Genossen Außenminister ins Cockpit und unterrichtete ihn rückhaltlos über die Lage. „Was für eine Blamage", kommentierte der Politiker erregt. 120
„Sie wird noch unerfreulicher, wenn wir notlanden müssen, Genosse Minister." „Wo?" fragte der Minister. „Wir geben Mayday." „Was ist das?" Der Pilot unterrichtete den Politiker. „Ein internationales Notsignal." „Klingt verdammt englisch." „Es kommt aber von dem französischen m'aidez helfen Sie mir." „Brauchen wir denn Hilfe?" „Ich fürchte schon, Genosse Minister." Nachdem feststand, daß es keine Möglichkeit gab, ohne fremde Hilfe irgendeine passende Landebahn ausfindig zu machen, fragte der Minister: ; „Und wie geben Sie Mayday?" „Normalerweise auf Notfrequenz. Zweimal pro Stunde herrscht auf Sprechfunkwelle Funkstille, damit andere Flugzeuge, Schiffe oder Küstenfunkstellen den Notruf empfangen können. Wir beginnen mit einem Alarmsignal. Zwei Töne sind dreißig Sekunden lang abwechselnd zu senden. Danach ist dreimal das Wort Mayday auszusprechen, nebst Angabe von Flugzeugkennzeichen, Position und Art der Gefahr." „Was passiert dann?" „Dann wird jeder, der kann, zu Hilfe eilen." Der Minister war kein Schwachkopf. „Zum Teufel, was nützt uns das, wenn der ganze Funk ausgefallen ist?" Zu diesem Zeitpunkt liefen noch zwei Triebwerke der TU-144. Sie verlor rasch an Höhe. „In diesem Fall", sagte der Pilot noch einigermaßen zuversichtlich, „gehen wir hinunter und versuchen, ein optisches Zeichen zu setzen. Durch Zünden mehrerer orangefarbener Hauchraketen oder Lichtsignale." 121
Der Minister verschwand und kam nach wenigen Minuten wieder. „Tun Sie, was Sie tun müssen", entschied er. „Aber das eine garantiere ich Ihnen, Oberst, wenn sich bei der späteren Überprüfung ergeben sollte, daß es andere Möglichkeiten für unsere Rettung gab, dann sind Sie erledigt." Auf Höhe 4000 ließen sich die ausgefallenen Triebwerke wieder anlassen und mit halber Leistung einsetzen. Der Funk blieb nach wie vor tot, und die ganze Elektronik spielte verrückt Zum Glück tauchte ein italienischer Interceptor auf, der das merkwürdige Verhalten der TU-144 aufmerksam beobachtete. Der NATO-Pilot erkannte das orangefarbene Notsignal und gab durch Handzeichen zu verstehen, daß er bereit sei, die havarierte TU-144 auf den Boden zu lotsen. Die Todesangst wich allmählich von den Passagieren der Tupolew, aber die Verantwortlichen konnten ihren Arger nur in Wodka ertränken. „Was für ein unendlich glorreicher Tag für den Beweis der Überlegenheit und des Fortschritts im System des Sowjetkommunismus marxistisch-leninistischer Prägung", sagte der Innenminister Viktor Masinin. „Nasdarowje Genossen!"
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11. „Sie geben Mayday", übermittelte Urban dem alten Spion und blieb weiter in der Standleitung zum Oberkommando NATO-Süd. „Wo landen sie?" „Das erfahren wir binnen weniger Minuten." „Und wenn es nicht hier auf Kreta ist?" „Warum sollten wir mehr Glück haben als sie?" Urban deutete durch das Fenster des Büros hinaus zum Rollfeld. Dort standen drei Fluggeräte bereit, um Babyface so rasch wie möglich an jedem Punkt des Mittelmeeres abzusetzen. Ein Bell-Helikopter, der zweistrahlige BND-Jet für größere Distanzen, und für mittlere Entfernungen eine Propeller-Kuriermaschine, eine DO-27. Urban wechselte den Telefonhörer ans andere Ohr und drückte die MC-Kippe in den Ascher. „Kaffee?" fragte der griechische Geheimdienstkollege. „Immer. Danke." Das Bildfunkgerät begann zu arbeiten. Die Walze drehte sich. Als sie stand, klemmte der Grieche das fertige Foto aus der Halterung und zeigte es Urban. „Kommt über International-Press aus Moskau." „Ihr Reporter muß es beim Abflug geschossen haben." Die Gesichter der drei winkenden Politiker waren deutlich erkennbar. Urban reichte das Foto an Babyface Zaccarios weiter. „Ist er dabei?" 123
Der alte Spion brauchte keine Brille, um es zu beurteilen. „Ja, er ist dabei." „Masinin?" „Vielleicht." „Woran erkennst du, ob es unser Masinin Ettal ist?" Bibifax antwortete nicht darauf. Er wollte sich seine Pfunde nicht aus der Tasche ziehen lassen. „Ich erkenne ihn. Basta!" „Auch in angezogenem Zustand?" „Auch angezogen." „Ganz sicher?" „Es gibt Dinge, die kann man nicht wegoperieren, wie man auch Fingerabdrücke nur unzureichend beseitigen kann. Wenn es unser Mann ist, dann weiß ich es nach ein bis zwei Blicken." Urban hatte es versucht, aber er brachte Zacharias nicht dazu, es preiszugeben. Es konnte ein Augenzwinkern sein, eine nervöse Bewegung, ein Zucken, ein bestimmtes Heben der Braue, ein Absenken des Mundwinkels, das Entstehen einer Vertiefung im Gesicht, wenn er lächelte oder um ernsten Ausdruck bemüht war. Es konnte eine Kopfdrehung sein, wenn man leise mit ihm sprach, etwas an den Händen, in der Haltung, am Gang. „Okay, behalte es für dich, sturer Bock." „Aber klar. Würdest du es anders machen, Dynamit?" Das Warten ging weiter. Irgendwo über der Adria hing jetzt die havarierte TU-144, und bald würden sie wissen, wo das Flugzeug landete. Der Mann der CIA in Kreta betrat den überheizten Büroraum. , 124
„Sie warten am Telefon in Washington, in London, überall." „Ich auch, wie du siehst", sagte Urban. „Unsere Einheiten stehen in den Bereitstellungsräumen in Florida, Texas und Alabama. Der Aufmarsch läßt sich nicht mehr lange tarnen." „Behauptet eben, es handle sich um vorgeschobene Herbstmanöver." „Kubanische Spione sitzen überall an der Golfküste. Die werden es Castro melden." „Schätze, die USA werden immer mit ihm fertig." „Aber ein unverhoffter Angriff spart Blut und Material." Urban nahm den letzten Schluck Kaffee aus der Tasse. Er war kalt geworden und unten am Boden zu süß, „Was uns betrifft, wir sind bereit, das weißt du." Der Amerikaner wirkte übernervös. „Achtzigtausend Mann", fuhr er fort, „in neunhundert Landebooten, die halbe Atlantikflotte, ein Drittel unserer Luftwaffe und ein Geschwader von Versorgungsschiffen, alles wartet auf grünes Licht." Urban schaute auf die Uhr. Zum Teufel, allmählich mußten sie doch wissen, wo die TU-144 herunterging. „Und alles hängt von einem einzigen Mann ab", bemerkte der Amerikaner und hob demonstrativ den Daumen. „Und von einem Loch in Kuba." „Die letzten Aufklärerfotos sind verwirrend. Sie haben die Baustelle mit Planen abgedeckt." „Weil es im Herbst öfter mal regnet", beruhigte Urban ihn. 125
„Nein, weil sie die Vorgänge vor unseren Kameras verbergen wollen." Urban konnte sich gut vorstellen, wie jetzt Hunderte von Funkern an ihren Empfängern saßen und auf das Stichwort warteten. Auch im Pentagon saßen sie und im Weißen Haus und warteten darauf, daß von der CIA das Okay kam. Und im CIA-Hauptquartier Langley warteten sie auf den Code ihres Mannes in Kreta, und der wieder wartete darauf, daß Urban ihm bestätigte, daß Babyface die Quelle als echt eingestuft hatte. „Verdammt, warum melden die sich nicht?" fluchte der Amerikaner in einem fort. Sein Verhalten schien Babyface zu amüsieren. „Was regt er sich auf?" fragte der alte Spion, „Was soll ich da erst sagen?" „Rufen Sie NATO-Süd an", drängte der Amerikaner Urban. „Die rennen doch zum Telefon, sobald sie etwas wissen." „Vielleicht ist die Leitung unterbrochen." „Wir haben eine Ersatzleitung, dazu Funk- und Fernschreiber." In diesem Moment gab das Telefon endlieh einen Ton von sich. Neapel war im Draht. „Sie sind im Anflug auf Brindisi", meldete NATOSüd. „Aeroporto?" fragte Urban. Neapel bestätigte dies. „Sie haben Landeerlaubnis." „Wir kommen." Urban rief den Jet-Piloten Spiegel aus dem Bereitschaftsraum und nannte Zaccarios das Ziel. „Achthundert Kilometer", rechnete Spiegel, ,,siebzig Minuten. Können wir?" 126
Sie warfen sich in den Jeep und rasten hinaus zum Lear-Jet. Die Mechaniker hatten ihn längst betankt. Die Triebwerke liefen auch schon.
Über der südlichen Adriaküste hing tiefe Bewölkung. Regenschauer fegten über die Betonlandebahn, als der BND-Jet aufsetzte. Spiegel erhielt Rollanweisung durch den Tower. Der Mann des italienischen Geheimdienstes dort richtete es so ein, daß sie die russische TU-144 passieren mußten. Das eindrucksvolle Flugzeug stand bei den Hangars. Carabinieri mit Maschinenpistolen bewachten es, während sich sowjetische Crew-Mitglieder um die Triebwerke kümmerten. „Sie werden rasch feststellen, daß der Schaden gar kein gravierender war", meinte Spiegel. „Hoffentlich nicht zu schnell." Urban gab Babyface das Zeichen. Kaum war der Lear-Jet ausgerollt, kam ein FiatCombi und nahm sie auf. Die Italiener hatten wie immer fix gearbeitet. Im Bus hingen zwei weiße Overalls mit dem Emblem des Flughafens von Brindisi. Hinten stand Alitalia drauf. „Wir wußten die Maße nicht", bedauerte der italienische Geheimdienstkollege. Der größere paßte. Babyface bekam Gummistiefel dazu, eine Mütze und eine Werkzeugtasche. „Was stelle ich eigentlich dar?" fragte er. „Einen Elektriker, der für alles zuständig ist, für Licht, Klima und so weiter. Wir haben den Ventilator 127
ausfallen lassen. Schätze, es wird denen ganz schön heiß im VIP-Raum." „Eine Brille wäre gut." „Getönt? Welche Dioptrien?" „Fensterglas", bat der alte Spion. Dann war er bereit. „Spricht er Italienisch?" wandte sich der SISMIMann an Urban. „Spanisch," „Soviel wie unsere roten Brüder kann ich allemal", meinte Babyface. Als der Bus hielt, stieg er als erster aus. Der Offizier vom Geheimdienst schleuste ihn durch die Gepäckabfertigung hinein, durch die Halle, an der Zollsperre vorbei zum VIP-Raum, wo man die Russen untergebracht hatte. Ein Kellner aus dem Restaurant schob einen Wagen mit Drinks und Sandwiches vorbei. Babyface schloß sich ihm an. Erst wurden sie von italienischen Sicherheitskräften kontrolliert, dann von den russischen Leibwächtern. Der Kellner kam durch. Babyface fragten sie: „Was willst du?" „Die Klimaanlage funktioniert nicht", antwortete er auf englisch. „Das hat Zeit bis später." „Es ist mein Job." „Verdammt, ich sagte später!" zischte der Russe. „Willst du einen Werktätigen behindern, Genosse?" „Ich bin nicht dein Genosse", entgegnete der Russe. „Moment mal", mischte sich ein Angestellter der Flughafenverwaltung ein. „Wir sind hier nicht in 128
Moskau, Signori. Der Mann erledigt seine Arbeit. Sie sind unsere Gäste. Ihr Wohlbefinden liegt uns am Herzen. Was Sie aber nicht berechtigt, unsere Routine zu stören." Schließlich durfte der Mechaniker durch. Hinter dem Kellner mit dem Servierwagen ließ man ihn in den eleganten Warteraum für Erste-Klasse-Passagiere. Ein Blick, und Pedro Zaccarios wußte, wie vorzugehen war.
Der Raum wirkte größer, als es seinen achtzig Quadratmetern entsprach. Das kam von der ungewöhnlichen Höhe, die man in Süditalien wegen der Hitze bevorzugte. Drei Wände bestanden aus hellem Holz, eine aus Glas. Die Glasfront hatte querlaufende Veneziani, also Plastikjalousien. Gegen die Blicke Neugieriger hatte man sie schräg gestellt. An den Wänden, rechtwinklig zu der Glasfront, standen rote Ledersofas. Vor jeder Sofareihe ein langer, kniehoher Glastisch. Am mittleren Tisch servierte der Kellner Getränke und Sandwiches, denn dort saßen die Funktionäre. Der in der Mitte war der Ranghöchste, Viktor Masinin. Er war hagerer geworden. Seine Augen umgaben Tränensäcke, und das früher braune Haar hatte graue Strähnen. Außerdem trug er eine Brille. Sie verdeckte jedoch nur wenig von seinem Gesicht, denn sie war randlos. Im Vorbeigehen sah der Spion, daß der Außenminister - seine Augen wirkten jetzt eher kühl, fast abweisend - aus einer silbernen Büchse eine Tablette nahm und mit Mineralwasser nachspülte. 129
Sofort suchte er nach dem Zeichen an Masinin, dem Kainsmal, dessentwegen er ihn einst Polyphem getauft hatte. Es war etwas Seltenes in Stirnmitte. Wenn er sie runzelte, bildeten die schmalen Falten dort eine runde Stelle, wie die Maserung im Holz, wenn sie um einen Astansatz herumlief. Damals hatte Babyface diesen Punkt wie ein blindes Adlerauge gesehen. Jetzt eben war die Stirn des Russen glatt. Er saß entspannt da und nickte, als der Kellner fragte, ob er Zucker in den Kaffee wünschte. Der Spion trat zum Fenster und betätigte die Jalousien. Er zog sie auf und stellte sie wieder schräg. Durch den Lichteinfall änderte sich nichts an Masinins Ausdruck. „Was treibt der Bursche da?" fragte jemand. „Ein Mechaniker." Babyface blickte nach oben zu dem stehenden Ventilator und betätigte einen Schalter. Der Ventilator sprang nicht an. Nur eine Neonröhre zuckte auf. Der Spion ging weiter zum nächsten Schalter und drückte ihn mit dem Schraubenzieher aus der Wand. Italienische Schalter wurden meist mit Federklemmbügeln in der Dose festgehalten. Der Spion spielte ein wenig an den Drähten herum und schielte dabei zu den Funktionären hinüber. Ständig war Bewegung im Raum. Immer wieder kamen Leute herein, gingen andere weg. Anordnungen wurden erteilt, Meldungen überbracht. Der Verteidigungsminister stauchte leise, aber fluchend, einen der Offiziere zusammen. „Verdammt, wann geht es endlich weiter?" „Die Triebwerke sind überprüft." „Woran lag es?" „An der Elektronik wird noch gearbeitet." 130
„Grund der Störung?" fragte der Minister. „Möglicherweise überstarkes Radar oder sogar Laser." „Diese Schweine", bemerkte der Minister angewi dert. Babyface drückte den Schalter wieder ins Mauerwerk und wußte, daß jetzt der entscheidende Schritt zu tun war. Er merkte aber auch, daß man ihn beobachtete. Einer der Leibwächter verfolgte jeden seiner Handgriffe. Er nahm also seinen Werkzeugkasten, hängte ihn über die Schulter und ging langsam zu dem Tisch mit den Funktionären hinüber. Da er seine Absicht nicht gleich verraten wollte, blieb er vor dem Außenminister stehen. Der blickte griesgrämig wie immer. „Was wollen Sie?" fragte er unfreundlich. Babyface antwortete nicht. Er ließ es darauf ankommen, und er hatte richtig kalkuliert. Auch der Innenminister wurde jetzt aufmerksam. „Was hat der Bursche vor?" Der alte Spion schwieg und lächelte nur. „Machen Sie gefälligst, daß Sie weiterkommen." In dieser Sekunde faltete sich die Stirn des Viktor Masinin, und der alte Spion sah, was er hatte sehen, was er hatte wissen wollen. Der Verteidigungsminister winkte einem Sicherheitsbeamten. „Los, schafft uns diesen aufdringlichen Itaker vom Hals." „Nur ein Autogramm, Signori", bat Babyface, „Wir sind keine Filmstars, Mann." „Aber Signori, ich bin Mitglied der Kommunistischen Partei Italiens. Ein Foto von Ihnen mit Auto131
gramm und ein paar Worten, das wäre das größte Geschenk für mich." Schon wurde Babyface am Arm gepackt und weggerissen. Sie brachten ihn aber nicht hinaus, sondern schoben ihn in eine Ecke. „Dich kenne ich doch", erklärte einer der Leibwächter, zweifellos ein GRU-Offizier. „Wüßte nicht, woher." Doch der andere schien seiner Sache sicher zu sein. „Aus Spanien", sagte er. „Mallorca vielleicht?" „Bin nie dort gewesen, Signore." Ein anderer kam hinzu. „Klar, das ist der Hundesohn, den wir jagten und der uns immer wieder entkam. Das ist Pedro Zaccarios. Ich gab sein Foto an Drigo." Er hatte dies sehr laut geäußert, so laut, daß seine Worte bis zu den Funktionären auf dem Ledersofa drangen. Einer von ihnen, der Innenminister und Stellvertreter des sowjetischen Staatschefs, reagierte darauf. „Sagten Sie Zaccarios?" „Ich bin sicher, Genosse Minister." Da erhob sich Viktor Masinin, hob die Hand und bat um Ruhe und sagte: „Erst mal alle Türen zu. Keiner geht hinaus, keiner darf herein." Dann kam er quer durch den Raum herüber zu dem alten Spion, musterte ihn scharf und lange. „Bist du Zaccarios?" Der alte Spion tat erstaunt. „Wen meinen Sie, Signore? Etwa mich?" „Du bist Zaccarios." „Mein Name ist Emile Pieroni." Die Stimme des Ministers wurde drohend. 132
„Du sprichst jetzt die Wahrheit, oder ich lasse dich auf der Stelle umlegen. Und ich halte stets mein Wort." Da nickte Babyface. „Ja, ich bin Peter Zacharias", gestand er. Kaum hatte er den Satz beendet, fürchtete der alte Spion, daß sein Leben verwirkt sei.
Vierzig Minuten später meldete die Crew die TU-144 startklar. Es gelang den sowjetischen Sicherheitsbeamten, den alten Spion aus dem VIP-Raum zum Bus und in das Flugzeug zu verfrachten. Sie zogen ihm den Uniformmantel eines Begleitoffiziers über und die Mütze eines anderen. Noch ehe die TU-144 startete, nahm sich der KGBGeneral den Mann persönlich vor. Dazu ließ er ihn in einen der Schlafräume bringen. Masinin setzte sich auf das Klappbett, Zacharias mußte stehen. Die Hände hatten sie ihm auf den Rücken gefesselt. „Mein alter Freund Zacharias", rief der KGBGeneral und Innenminister. Babyface glaubte zu diesem Zeitpunkt noch, daß er mit der Wahrheit am weitesten käme. „Ich bin nicht Ihr alter Freund, General." „Natürlich bist du Zacharias, der vielversprechende BND-Agent von der Agentenschule in - wie hieß doch das Kloster da drüben in Oberbayern? Es lag unweit jener kleinen Stadt, in der alle zehn Jahre die Passionsspiele abgehalten werden. War der Name des Klosters nicht Ettal?" 133
„Richtig." „Ich erinnere mich", der General stand auf und trat ans Bulleye, „ziemlich genau." „Wohl kaum", erwiderte Babyface, „denn Sie sind nie dort gewesen, General." Masinin fuhr herum, blieb aber gelassen. „Nun, inzwischen sind dreißig Jahre vergangen, und die Zeit reißt Löcher in das Gedächtnis wie in alte Vorhänge." „Sie sind nicht Viktor Masinin", beharrte Babyface. Masinin lächelte. „Wer dann wohl, mein Freund?" „Das weiß ich nicht, aber Sie sind nicht der Mann, den ich einst Polyphem taufte." Der General hatte sich eine Zigarette angesteckt und feuchtete sie ein wenig mit der Zunge an. „Woher sollte ich dich sonst kennen, Babyface?" „Aus den Akten", vermutete der alte Spion, „der Verhöre jenes Mannes, der sterben mußte, damit es keine Zeugen gibt gegen denjenigen, der die Stelle unseres Maulwurfs übernahm." „Und wozu?" fragte der General und setzte sich wieder. „Und wozu das Ganze?" „Keine Ahnung." „Und warum bist du hier? Nur um festzustellen, daß ich nicht die Quelle Polyphem bin?" „Es ist sehr merkwürdig, daß die Quelle nach so langer Zeit wieder sprudeln sollte. Sie tat es, als es galt, eine Falschinformation in den Westen zu leiten." „Ich glaube, dir fehlt da der politische Durchblick", bemerkte Masinin. ,,Mag sein", räumte der alte Spion ein. „Aber eines ist sicher: Ihnen fehlt das dritte Auge auf der Stirn. Sie mögen ungefähr aussehen wie Masinin heute 134
aussehen könnte, aber er wurde wohl längst enttarnt und dürfte daran verstorben sein." Der Russe gab keine direkte Antwort darauf. „Und wozu, Zacharias", sagte er näher rückend, „sollte das denn gut sein?-— Der Übertritt Oligows ins andere Lager, der Schachspieler im Park, der kubanische Silberpeso, der Hinweis auf die Halbinsel Matansas und die Tatsache, daß wir einen der gefährlichsten Agenten des Westens, Mister Dynamit, wieder zurückfliegen ließen, obwohl wir wußten, daß er sich unter der Maske dieses britischen Viehdoktors versteckte. - Wozu das alles wohl?" „Um den Bluff zu vervollkommnen", tippte Babyface, „und zwar hundertprozentig." Da schien auch der General begriffen zu haben, daß ihr fabelhaft raffiniert konstruiertes Gebäude in die Brüche ging, wenn er jetzt nicht das Ruder herumriß. „Du hattest noch keine Gelegenheit, deine Erkenntnisse, Polyphem betreffend, an deine Leute weiterzugeben." „Noch nicht, leider." „Wir werden es verhindern." Der General rief zwei KGB-Leute. Sie durchsuchten den alten Spion, fanden aber nichts, womit sich irgendein Signal geben ließ. Als sie wieder allein waren, erklärte der General kurzentschlossen: „Wir werden dich liquidieren, Zacharias." Babyface konnte darüber nur lächeln. „Okay, tun Sie das. Wenn ich nicht zurückkomme, dann wissen meine Leute sofort Bescheid," Die Triebwerke der TU-144 liefen. Der wiederbelebte Russenvogel rollte auf seinem stelzenartigen 135
Fahrwerk zum Startpunkt ganz am Ende der Piste, denn er brauchte einen langen Anlauf. Und der General verfiel in Nachdenken.
Die Tu-144 befand sich im Steigflug. Alle Systeme arbeiteten einwandfrei Bei den Russen vertiefte sich der Eindruck, daß sie einer technischen Manipulation der NATO zum Opfer gefallen seien. Und der General drohte dem alten Spion mit Foltern, mit jammervollem Sterben, mit dem Tod. Zaccarios jedoch reagierte mit der Gelassenheit eines Mannes, der die besseren Argumente hatte. „Und wie erklären Sie mein Verschwinden den Männern von MI-six, CIA und BND?" erwiderte Babyface völlig unbeeindruckt. „Du bist zu uns übergelaufen, Zaccarios." „Aus welchem Grund wohl?" „Wir entdeckten unter der Verkleidung einen alten Bekannten. Um dein Leben zu retten, warst du bereit, das Lager zu wechseln." „Zu dünn", befürchtete Zacharias. „Das glaubt vielleicht der eine oder andere, aber Urban glaubt es nicht." „Immer dieser Hundesohn Dynamit." „Er wartet auf mein Zeichen", erklärte Zacharias in der Hoffnung, sich damit aus der Affäre ziehen zu können. Aber auch die Russen hatten ein Druckmittel. „Ich ließ dich kassieren, zu meiner Sicherheit. Das ist nur logisch." „Damit ist der letzte Draht durchschnitten", gab Babyface zu bedenken. 136
„Was wurde zwischen euch vereinbart?" „Ich bestätige Urban Ehre Echtheit, Genosse Minister. Polyphem oder nicht Polyphem." „Du wirst ihn aus Kairo anrufen. Du behauptest, es sei dir erst im Flugzeug möglich gewesen, mich zu identifizieren, und du hättest dich deshalb an Bord geschlichen." Babyface wischte sich über die Augen. „Urban ist ja nicht bescheuert." „Dann laß dir etwas einfallen." Der alte Spion nickte. „Ist bereits geschehen, Genosse General." „Dann laß hören", drängte Masinin. „Was immer Sie vorhaben", begann der alte Spion. „Der Plan funktioniert nur, wenn ich mitspiele. Wenn ich sage, er ist es, er ist der echte Maulwurf Polyphem, seine Informationen stimmen, man muß dementsprechend handeln," „Richtig." „Andernfalls würde der sowjetischen Regierung irgendeine riesige Sache danebengehen. Und das wurde eine Menge Dollars kosten. Milliarden vielleicht." „Wir rechnen in Rubel, Mann." Dies war für Zacharias das Stichwort. „Schön, dann fordere ich eine Million Goldrubel für meine Kooperation, zahlbar sofort." Der General ging hinaus und kam nach einer Weile wieder. Gegen die Innenseite der Tür gelehnt blieb er stehen. „Das ist Erpressung." „Auge um Auge, Genosse Minister." „Wir sind einverstanden", kam es zögernd. 137
„Sie haben das Geld nicht an Bord, fürchte ich." „Unsere Botschaft in Kairo kann darüber verfügen. Zahlbar gegen deine telefonische Echtheitsgarantie." „Die ich zurücknehme, wenn mir nur das Geringste passiert", schränkte Zacharias ein. „Wir kennen das Geschäft", vesicherte der General. „Dir wird nichts geschehen, denn es würde der NATO nur bestätigen, daß das Gegenteil deiner Aussage der Wahrheit entspricht." Der Russe hielt dem alten Spion die Hand hin. Babyface verzichtete darauf, einzuschlagen. „Ich verkaufe ja kein Panjepferd", sagte er. Über den Bordlautsprecher erfolgte eine Durchsage. „Wir landen in fünfunddreißig Minuten auf Kairo International Airport."
In Kairo stand schon alles bereit. Das Empfangskomitee, rote Teppiche, eine Ehrenkompanie, eine Musikkapelle, gepanzerte Limousinen. Aber auch ein Wagen des sowjetischen Botschafters in Ägypten. Darin wartete ein Mann mit einem Koffer, gefüllt mit Goldmünzen im Wert von einer Million Dollar. Jeder Rubel wog 31 Gramm. Es handelte sich um 2350 Rubel, Gesamtgewicht 75 Kilogramm.
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In Brindisi hörte Urban sich die Tonbandaufzeichnung zum x-ten Male an. Es war Babyfaces Stimme. Darüber bestand kein Zweifel. Der Anruf war aus Kairo gekommen. Das hatte sich überprüfen lassen. Trotzdem verstand Urban vieles nicht. „Laßt es noch einmal ablaufen", bat der CIAKollege. Urban schaltete ein. Die Spulen drehten sich. Telefonklingeln, Abhebeklick, Leitungsrattern. Dann eine Stimme. „Hier Babyface. Bitte Signor Urban." Drei, vier Sekunden vergingen, ehe Urban übernommen hatte. „Hier Urban." „Das Kennwort!" „Polyphem." „Hör zu, Bob. Alles klar. Er ist es." „Wie kommst du nach Kairo?" „Konnte ihn nur in der TU-hundertvierundvierzig sprechen. War verteufelt schwierig für ihn, mich wieder loszuwerden, ohne daß die anderen Verdacht schöpften. Aber wir sind ja beide Agenten aus der Ettaler Schule." „Und du bist völlig sicher, Babyface?" „Absolut. Er hat das Polyphemauge, wenn er die Stirn runzelt. Und ich sprach mit ihm. Ein paar Sätze nur, aber jeder Irrtum ist ausgeschlossen." „Gab er die Bestätigung für die Information über Oligow und Qu?" „Nach Kuba werden mehrere tausend Tonnen jenes verheerenden Nervengases geliefert, das die UdSSR loswerden möchte. Gezündet werden sie durch eine Atombombe von Nagasaki-Größe, falls nur ein ameri139
kanischer Soldat Kuba unerlaubt betreten sollte." „Wahnsinn." „Bis Ende des Monats ist alles fertig. Schon nächste Woche kann es also zu spät sein." „Sind das Polyphems Worte?" „Die des KGB-Generals, Innenministers und stellvertretenden Generalsekretärs der KPdSU." „Und du hast ihn mit klaren Sinnen wirklich erkannt?" Urbans Frage klang beschwörend. „Und er hat mich erkannt. Er wußte, daß ich sein Mitschüler aus Ettal bin." „Du kannst von Glück reden, daß du lebst, Babyface." „Und ich werde mich dementsprechend verhalten. Rechnet damit, daß ich für einige Zeit untertauche." „Mach's gut, Junge, farewell!" Damit war das Gespräch beendet. Urban stoppte das Band. „Was für ein mieser alter Spion", kommentierte er. „Irgend etwas stimmt da nicht." „Egal, wir werden losschlagen", erklärte der CIAVerbindungsmann. „Etwas", überlegte Urban, „stimmt nicht. Aber was?" „Die Kubaner machen das nicht allein aus Selbstschutz. So groß ist ihre Angst gar nicht. Sie wollen die Hände freihaben, um in aller Ruhe den ganzen mittelamerikanischen Raum mit ihrer kommunistischen Ideologie verseuchen zu können. Das ist der Background." Urban fürchtete, daß er den Kollegen nicht davon abhalten konnte, das Ergebnis der Operation nach Washington zu melden. 140
Und das erzeugte in ihm ein ungeheuer schlechtes Gefühl. „Meinetwegen sollen sie tun, was sie nicht lassen können", sagte er schließlich, „aber sie sollen um Gottes willen den Angriff noch einmal um vierundzwanzig Stunden verschieben." Das konnte ihm der Amerikaner nicht versprechen.
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12. Urban fand Zoe in ganz Palma nicht. Aber die Wohnung in der Galle Rosa, die Finca auf dem Cap und auch der Ort, wo er Babyface zum erstenmal getroffen hatte, waren mehr oder weniger auf den Kopf gestellt worden. „Perfekte Arbeit", sagte Bubi Spiegel, durch die Trümmer steigend. „Für KGB-Maßstäbe", ergänzte Urban; „und die sind von relativ hohem Qualitätsanspruch." „Schätze, sie haben Vandalen-Niveau." „Sie wissen, um was es geht." „Weißt du es auch, Oberst?" „Wäre ich sonst auf Zoes Spur?" „Du weißt nicht alles, was du gerne wissen würdest." „Deshalb bin ich hier." „Sie haben einen Vorsprung." „Einen satten", befürchtete Urban und fing zum hundertstenmal an, nachzugrübeln. Mit herkömmlichen Erfahrungsmodellen ging hier nichts. Aber soviel wußte er, wenn ein Glied den Ansprüchen der Logik nicht standhielt, dann riß die ganze Kette. „Warum", fragte Spiegel, „sind sie „wieder hinter ihm her?" „Warum haben sie ihn nicht schon in Kairo umgelegt?" fragte Urban dagegen. „Verhinderte es Polyphem wirklich nur, damit Bibifax telefonieren konnte?" „Er sieht in ihm eine latente Gefahr für seine Person." „Zu einfach", erwiderte Urban. „Merk dir, mein 142
Junge, solche Fälle sind nicht doppelbödig. Sie haben drei Böden, mitunter sogar vier." Sie schauten sich um, wie an den anderen Orten auch, und gingen dann wieder zu dem Mietwagen. Spiegel fuhr los. Als sie in Santa Maria an die Kreuzung kamen, ließ er den Wagen ausrollen. „Wohin?" „Ja, wohin." „Flugplatz." „Zu einem Telefon", schlug Urban vor. „Alter Hetzer." „Wir bleiben am Ball, Junge", rief Urban. „Wir bleiben am Gas, wir bleiben am Zügel, bleiben am Drücker." Urban hatte nicht vor, in Palma zu übernachten. Sie brauchten kein Hotelzimmer. Er telefonierte, in der Hauptpost, wo es erfahrungsgemäß besser klappte als von jeder Telefonzelle aus. In München warteten sie schon auf seinen Bericht. Doch auf Sebastians Frage, ob Urban mit Babyface Zaccarios Kontakt habe, antwortete Urban: „Er ist natürlich auf Tiefe gegangen wie ein angehakter Merlin." „Er fuhr immer U-Boot", ergänzte der Oberst. „Diesmal hat er einen triftigen Grund, Seine sämtlichen Stützpunkte auf Mallorca wurden mehr oder weniger heimgesucht." „Von wem?" „Es zeigt die Handschrift von Drigo. Drigo ist ein gefährlicher KGB-Killer. Als wir mit Zacharias die Insel verließen, war alles noch einigermaßen in Ord143
nung." „Aber der KGB war schon hinter ihm her." „Schon lange." „Besteht die Möglichkeit", fragte Sebastian, „daß man ihn in Brindisi erkannte und in das Flugzeug schleppte?" „Durchaus", bestätigte Urban seine eigenen Befürchtungen. „Aber warum sucht oder erwartet man ihn dann hier? Und gibt es noch andere Fluchtburgen, wo man ihn finden könnte?" „Das müssen wir klären." Mit dem nächsten Satz kam Sebastian von sich aus zu einem Thema, das Urban auf den Nägeln brannte. „Die Amerikaner..." „Wann marschieren sie los?" fiel Urban ihm ins Wort. „Im Morgengrauen." Urban rechnete. Wenn man die Zeitverzögerung einbezog, blieben bis zum Beginn der US-Invasion auf Kuba noch seine Rolex zeigte 14.00 Uhr mitteleuropäischer Zeit noch 22 Stunden also. „Das wäre in zweiundzwanzig Stunden." „Und nichts mehr wird sie aufhalten." „Aber das nimmt Moskau nicht hin." „Ja, wir sollten hierzulande schon mal die Fenster bombenfest verbarrikadieren." Urban, der konsequent zu denken pflegte, kam automatisch zu einer ganz anderen Frage. „Was ist mit der Villa in Cartagena, die Bibifax als Gegenleistung forderte?" „Wir verhandeln noch." „Verstehe ich recht, daß unser Anwalt mit dem Anwalt dieses Bierkönigs Brinken verhandelt?" „Es läuft wider Erwarten gut", berichtete Sebastian. 144
Urban staunte nicht schlecht „Er verkauft also?" „Ohne weiteres. Sein Preis ist korrekt. Er fordert eins Komma sieben Millionen D-Mark." „Immobilien sind in Spanien billig." „Vereinbarungsgemäß trägt die CIA aus ihrem Budget sämtliche Kosten." Urban war mit der Auskunft trotzdem nicht zufrieden. Er hatte erwartet, daß sich der Besitzer weigern würde und daß man ihn unter Druck setzen mußte. Daß es anders kam, machte ihn stutzig. „Hat man direkt mit Brinken gesprochen?" „Ja, mit dem Besitzer", bestätigte Sebastian. „Er ist krank. Er verträgt das Klima nicht mehr und muß in ein Sanatorium in die Schweiz." „Das soll Bibifax nicht gewußt haben?" „Die Anwälte sind sich so gut wie einig", ergänzte Sebastian noch. „Wenn Babyface nicht verfügbar ist, wird die Überschreibung mit Hilfe einer Procuragenerale vorgenommen." Spätestens in diesem Moment schlossen sich in Urbans Gehirn mehrere Ganglienzellen zu einer Gruppe zusammen und begannen, einen zunächst noch recht verschwommenen Gedanken zu bilden, der aber zusehends mehr Konturen annahm, wie ein belichteter Film im Entwicklerbad. „Bleiben Sie", bat Urban den Operationschef, so dicht wie möglich in der Nähe eines Telefons." „Was haben Sie vor, Nummer achtzehn?" „Ich fliege weiter nach Cartagena." „Wie lange dauert das?" „Drei Stunden maximal." Sebastian, der Hartgesottene, schien zu spüren, daß es jetzt um Sein oder Nichtsein ging. „Gott stehe euch bei!" 145
„Danke, der Teufel bat uns längst abgeschrieben." Als Spiegel Urban kommen sah, ließ er vorsorglich schon an. „Zum Flugplatz?" rief er. Urban nickte nur. „Denn wir bleiben am Ball", zitierte der Oberfeldwebel. „Wir bleiben am Gas, wir bleiben am Zügel, wir bleiben am Drücker." „Was bist du für ein Tierkreiszeichen?" wollte Urban wissen. „Eisbein mit Kraut im Aszendenten." „Dann spar dir deinen Senf gefälligst", bat Urban, „und laß andere Herrschaften in Ruhe nachdenken."
Das Refugio von Ex-Senator Wolfgang Blinken lag südöstlich von Cartagena am Ende des buchtenreichen Sunds. Man sah die weiße Villa schon von weitem auf der steilen Höhe. Eine kurvige Bergstraße führte hinauf. „Welcher Palast!" meinte Spiegel, als das protzige Gebilde aus weißen Mauern, mit Terrassen, Arkaden, Säulen und riesigen Fensterfluchten immer deutlicher zwischen den Pinien sichtbar wurde. „Ein Häuschen wie im ganz gewöhnlichen Leben von jedermann", beruhigte Urban ihn. „Du mußt nur tüchtig Steuern hinterziehen und voilà, spätestens dann, wenn nicht früher, gehört dir so etwas." „Steuern verkürzen", korrigierte Urban ihn, „heißt das. Und es ist natürlichski, völlig legal." „Gehst du auch legalski hinein?" „Auf kürzestem Weg, Amigo mio." 146
Weil er es im Gefühl hatte, daß das Ganze nicht abging, ohne daß spitze Gegenstände sehr schnell durch die Luft flogen, hielt Urban den Piloten aus der Sache heraus und ließ ihn nahe der Mauer, etwa zweihundert Meter unterhalb des Haupttors anhalten. Dort stieg Urban erst auf die Motorhaube des Mietwagens, dann auf dessen Dach und von dort bequem über die Mauer. Auf der anderen Seite, im Park, war es, als betrete man eine andere Welt. Die Vögel zwitscherten vornehmer, die Grillen hielten sich eine Oktave zurück, es duftete nicht nach Straßenstaub, sondern nach exotischen Blumen, und die Luft war kühler. Kein Wunder, überall rieselte Wasser. Aus Brunnen, aus dem Pool; aus glitzernden Fontänen. Urban blieb in Deckung, erreichte ohne die geringste Behinderung die Terrasse und warf seinen langen nachmittäglichen Schatten durch die halboffene Glaswand. Die Halle hatte die Abmessungen eines Einfamilienhauses vom Parterre bis zum Giebel. Obenherum lief eine Galerie. Die Marmorböden glänzten. Es gab eine Spiegelwand, der Kamin war weiß mit etwas Gold, vor dem Kamin stand ein Krankenfahrstuhl Darin saß ein Mann im Hausmantel, grauhaarig mit Zwicker. Er schien eingenickt zu sein. Doch Urbans wandernder Schatten weckte ihn. Zuerst brachte er sein Augenglas in Stellung, dann bewegte er den Kopf auf vorsichtige Art. Er bewegte die Lippen, um einen Ton zu erzeugen. Am Ende brachte er aber doch nur ein rabenartiges Krächtzen zustande. „Sind Sie", setzte er an, ,,dieser deutsche Anwalt?" 147
Urban fand es angenehm, sich in so ruhigem Ton unterhalten zu können. „Wegen der Verkaufsmodalitäten", fuhr der Greis fort. Urban nickte und kam näher, bis der Alte entsetzt die Hand hob und so laut schrie, wie er nur konnte. „Bleiben Sie stehen, junger Mann, wo Sie sind, auf der Stelle!" „Ist Ihre Krankheit ansteckend, Herr Blinken?" erkundigte Urban sich. Der Alte nahm den Zwicker ab und setzte ihn wieder auf. „Wie kamen Sie herein?" „Durch die Tür." „Haben Sie im Park - sind Sie im Park einem Menschen begegnet?" „Sollte ich das?" „Nein, ich bin ganz allein im Haus", äußerte Brinken theatralisch, als rezitiere ein uralter Schauspieler Shakespeare, „mutterseelenallein. Doch es war mir, als sei jemand da." „Ich fürchte, Sie sind nach wie vor sehr verlassen." Urban näherte sich wieder zwei Schritte. Wieder stoppte ihn eine beschwörende Handbewegung. „Wollen Sie auf dieselbe erbärmliche Weise krepieren wie ich?" „Ich dachte, es gibt keine ansteckenden Seuchen mehr", bemerkte Urban, nun einigermaßen neugierig und mißtrauisch geworden. „Haben Sie noch nie", fragte Brinken, „noch nie von Aids gehört, von dieser Lustseuche? Wo leben Sie, junger Mann? Ich bin schon seit Jahren Aids-positiv, und jetzt geht es wohl dem schmerzhaften Ende zu. Denken Sie, ich würde dieses Paradies hier..." 148
Seine Handbewegung endete mangels Kraft, noch ehe sie ausgeführt worden war. Trotzdem fand Urban, daß hier einiges nicht den Gesetzen der Logik entsprach. „Aids", sagte er, „das ist diese böse Sache, die hauptsächlich unter Homos verbreitet sein soll" „Ist, junger Mann, verbreitet ist." „Und sie nistet sich vorwiegend nur in den Körpern von Schwulen ein." „Leider, mein Sohn." Urban versuchte es andersherum. ;,Wie kommt es nun ...", setzte er an. „Was?" . „Sie kennen doch Pedro Zaccarios?" fragte Urban. „Sie sind gewissermaßen Todfeinde. Man sagt, Sie hätten ihm die Frau weggenommen." „Sagt man das? Wirklich?" „Sie als ein Homosexueller", bohrte Urban ,,Das scheint mir doch einigermaßen zweifelhaft. Ich glaube, man hat mir da eine recht tragische, aber durch und durch erlogene Geschichte erzählt." „Sie meinen eine erfundene." Urban steckte sich eine MC an und kam trotz angeblich herumschwirrender tödlicher Bakterien noch näher. „Sie konnten ihm die Frau gar nicht wegnehmen", erklärte er. Brinken lächelte, und Urban fuhr fort: „Weil es die Frau gar nicht gab - und weil Sie gar nicht Brinken sind." In der Sekunde vor der absoluten Wahrheit, als Urban im Begriff war, diesen Mann im Rollstuhl ein letztes Mal zu demaskieren, störte ihn eine Unterbrechung im hereinfallenden Licht. 149
In der Tür stand ein Mann, breitbeinig, gegen die Sonne als schwarze Kontur erkennbar. Der Mann ging in die Hocke, streckte den Arm vor, unterstützte die Rechte, indem er sie mit der Linken fixierte, und er hatte eine Waffe in der Faust. Schneller als er denken konnte, mithin vollautomatisch, tat Urban dreierlei. Er riß Brinken aus dem Rollstuhl, drehte den Stuhl herum und schob ihn mit aller Kraft gegen den Mann mit der Waffe. Dann brachte er sich selbst in Deckung. - Aber getroffen wurde er nur deshalb nicht, weil die Kugel über ihn hinwegpfiff. Der Rollstuhl, ein schweres Ding, hatte den Killer aus der Balance gebracht. Auch sein zweiter und dritter Schuß verfehlten die Ziele. Dann war es irgendein Gegenstand aus Ton oder Terrakotta, der aus der Tiefe der Halle heranwirbelte und den Schützen seitlich am Schädel traf. Er feuerte noch einmal zur Decke, dann riß es ihn auf die Zehenspitzen. Er wirbelte herum und zeigte seinen Rücken. Gleichzeitig hechtete Urban ihn an. Urbans Handkantenschlag traf in den Nacken und schien den Killer aus der Halbnarkose zu wecken. Er drehte sich um und griff an. Er war ein erstklassiger Boxer. Im Faustkampf war er deutlich besser als mit der Waffe. Er setzte Urban hart zu und trieb ihn durch die Arkaden bis zur Terrassenmauer an der Seeseite, wo es verdammt weit, gut zweihundert Meter, senkrecht nach unten ging. Urban sah die Dünung zwischen den Felsen gischten und dachte, nur nicht jetzt, wo du die Sache fast in der Hand hast. 150
Er kassierte einen üblen Treffer unterhalb der Rippenbögen und konterte. Sein Schwinger traf den Kerl am Hals zwischen Ohr und Schlüsselbein, an einer Stelle, wo es war, als würde der Blitz einschlagen, wenn man sie berührte. Der Killer riß die Arme hoch und rang nach Luft. Sein Keuchen ging in Röcheln über. Er suchte sich zu retten, indem er über die Mauerböschung flankte. Aber er landete drüben nicht im weichen Boden, wie er wohl gehofft hatte, sondern fiel schreiend und fiel und fiel... Urban hörte ihn in der Tiefe aufschlagen. Dann ging er zu Blinken hinein.
Der angebliche Ex-Senator saß in seinem Sessel. Urban hatte die Waffe des Killers in der Hand und schob sie in den Hosenbund. Brinken ließ sich den Zwicker wegnehmen und auch die Perücke mit dem dünnen grauen Haar. „Bibifax", sagte Urban kopfschüttelnd „du uralter Halunke. Entweder du sprichst jetzt wie ein Grammophon, oder ich werfe dich dem Killer hinterher." „Mister Dynamit", antwortete Babyface leise, „der Mann mit dem berühmten Kriegsnamen, der Killerwal im großen Teich der Karpfen, das lässig lockere Monster, Urban das Untier, der Donnerkeil, die schiere Legende, Urban, der Eschnapur-Tiger..." Urban bremste ihn barsch. „Spar dir die Tiraden! Was lief in Brindisi?“ Babyface mußte endlich begriffen haben, daß Urban ihn in der Hand hatte. 151
„Das mit dem Haus hier", wich er aus, „war eine Dummheit. Meine einzige." „Es gehört dir längst", erklärte Urban. „Du wolltest es verkaufen und beides behalten, Geld und Villa. Das nenne ich Raffgier. Aber das wurde mir in Mallorca klar, deshalb bin ich hier. Nun möchte ich wissen, wie es in Brindisi wirklich lief." „Du hast mir abermals das Leben gerettet", äußerte der alte Spion. Urban merkte, daß er anders vorgehen mußte, um die Sperre in Zaccarios zu brechen. „Polyphem ist nicht Polyphem", behauptete er im Ton einer Feststellung. „Das dritte Auge fehlt an ihm", gestand Babyface leise. „Ich vermißte es sofort. Den echten Polyphem hatten sie schon nach wenigen Jahren enttarnt und an seiner Stelle einen anderen Mann aufgebaut. Jetzt, als es an der Zeit war, wurde er als Polyphem aktiviert." „Sie kannten ja alle Codes und Chiffres noch." „Sie taten es, um ihren Bluff durchzubringen." „Das Loch", präzisierte Urban. Babyface grinste. „Das Loch, es ist nur ein Vorwand. Die Kubaner graben es für irgendeine andere Sache, aber die Russen stellten es hin, als würde dort die Selbstvernichtungsanlage errichtet, die auch die USA gefährdet, wenn man sie aktiviert. Moskau will, daß die USA in Kuba landen. Und zwar bald." Urban hatte diesen Dreh befürchtet und ahnte auch den Grund. Nur konnte er die strategischen Absichten Moskaus nicht genau lokalisieren. „Jugoslawien", fragte er, „Iran?" „Pakistan", erklärte Babyface. „Sobald die USA in Kuba landen, nehmen sie die Gelegenheit wahr und 152
tun dasselbe in Pakistan. Asien war das Ziel ihrer Transportgeschwader." „Zusammen mit den Indern." „Vermutlich ja. Um den Bau der pakistanischen Atombombe, die so gut wie fertig ist, im letzten Moment zu verhindern." Urban verstand nun alles. Er suchte sich ein Glas, eine Flasche, goß ein, trank und wußte nicht, ob es sich um Sherry oder Cognac handelte. „Man provoziert den Gegner zu einer Invasion, um die eigene, ungestört von der anderen Weltmacht, beginnen zu können. Was für ein glänzender, was für ein perverser Plan." „Sie stehen an Pakistans Grenze wi e die USA in Florida und am Golf von Mexiko." „Mit der Invasion allein ist es nicht getan. Dabei bleibt es nicht." „Sie haben es im Griff." „Nichts haben sie im Griff", befürchtete Urban. Und immer noch höchst mißtrauisch, fragte er. „Woher weißt du das alles?" „Im Flugzeug, als ich bereit war, für eine Million Goldrubel zu schweigen und mitzuspielen, hörte ich ihre Gespräche. Die Wände in Flugzeugen sind dünn." „Und sie ahnten nicht, daß du Russisch sprichst?" „Sie hatten es wohl vergessen." Ein Rest Zweifel war immer noch in Urban. „Und sie ließen dich damit ziehen? Mit dem Gold und dem brisanten Wissen." „Der Verdacht, ich könnte etwas gehört haben, muß 153
ihnen wohl im nachhinein gekommen sein, Sie hetzten, gegen alle Abmachungen, Killer hinter mir her." „Wohl auch, damit der falsche Polyphem sich seines Erfolges sicher sein konnte." „Bist ein kluger Junge", sagte Babyface. „Auch deshalb natürlich." Ruckartig stand Urban auf. „Was hast du vor? Bitte jetzt keine Hektik mehr. Ist das nicht ein Grund zum Feiern?" Urban schaute auf die Rolex. „Ein Grund zum Telefonieren. Um Armeen aufzuhalten genügt es nicht, in letzter Minute anzurufen. Wenn die erst rollen, dann rollen sie. Allerhöchste Zeit, wenn man sie noch stoppen will." Das Telefon stand drüben an der Spiegelwand. Der Spiegel war völlig zerschossen.
Als Urban vor dem kaputten Spiegel telefoniert hatte, legte er auf und steckte sich eine MC an. Wie siehst du aus, dachte er. Selten hatte er ein so ungepflegtes Abbild von sich gesehen. Er war unrasiert, übernächtigt, ein wenig verdreckt. Am Hals blutete er. Und dann sah er im Spiegel Zoe neben sich stehen. Sie hatte eine Flasche Champagner in der Hand und zwei Gläser. „Zeit zu leben", sagte sie. „Ja, die Zeit zu sterben ist vorbei." „Für eine Weile." „Für eine kurze Pause." „Gehen wir nach oben?" fragte sie. „Erst ein Bad." „Aber dann gehen wir nach oben." 154
„Ja, machen wir." Sie tranken und betrachteten dabei ihre Spiegelbilder, und Zoe fragte: „Liebst du mich?" „Nein. - Liebst du mich etwa?" „Gott bewahre", gestand sie. „Das wäre wohl das Letzte." „Dann ist ja alles gut." Er nickte befriedigt, ehe er das Glas endgültig leerte. ENDE
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