Nr. 2190
METANU-Station Unter Kattixu und Helioten - vier Menschen in der Höhle des Löwen von Horst Hoffmann
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Nr. 2190
METANU-Station Unter Kattixu und Helioten - vier Menschen in der Höhle des Löwen von Horst Hoffmann
Während sich in den Weiten der Galaxis Tradom die Entscheidung zwischen den Terranern und ihren Verbündeten auf der einen Seite sowie der Inquisition der Vernunft auf der anderen Seite anbahnt, ist das Raumschiff SOL in einer anderen kosmischen Region unterwegs: Das Hantelschiff operiert unter dem Kommando des Arkoniden Atlan im Ersten Thoregon, einer Art Miniatur-Universum. Im Frühjahr 1312 Neuer Galaktischer Zeitrechnung entdecken die Menschen an Bord der SOL, dass sich im Ersten Thoregon seit Jahrmillionen wichtige Entwicklungen anbahnen, die von großer Bedeutung für die bewohnten Planeten der heimatlichen Milchstraße sind. Wenn die Mächte in diesem Kosmos – die Superintelligenz THOREGON und die ihr zuarbeitenden Völker – ihre Ziele verwirklichen, droht den Bewohnern der Menschheitsgalaxis gar die Vernichtung. Vor der Abwehr der ungeheuren Gefahren steht für die SOL-Besatzung erst einmal die Erkundung. Aus diesem Grund stoßen Atlan und drei seiner Begleiter ins Zentrum des Sternhaufens vor, zum Kern der Gefahr. Die vier Männer aus der Milchstraße besuchen die geheimnisvolle METANU-STATION …
METANU-Station
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Die Hautpersonen des Romans: Trabzon Karett - Der Computerspezialist wird mit einer schweren Aufgabe und seiner Vergangenheit konfrontiert. Zog Markarm - Der Sicherheitschef von METANU-Station kämpft mit privaten Problemen. Atlan - Der Arkonide geht mit drei Begleitern in einen riskanten Einsatz. Startac Schroeder - Der Teleporter muss auf den Einsatz seiner Mutantengabe verzichten. Trim Marath - Der Kosmospürer lässt sich eine Maske als Design-Humaner verpassen.
1. Trabzon Karett 9. Mai 1312 NGZ Da war sie wieder, die alte Angst. Er hatte sie für besiegt gehalten, aber nun kroch sie ihm das Rückgrat hinauf. Sein Herz schlug rasend unter der Ganzkörpermaske, die aus ihm einen Design-Humanen machte. Der Computerspezialist zwang sich zu ruhigem Atmen. Es gelang ihm nur fast. »Deinen ID-Chip«, sagte der Kattixu, der ihm in der Kabine gegenübersaß, und streckte verlangend die Hand aus. Seine Stimme war rau. Alles an dem durch ein grünes Verzerrerfeld getarnten Wesen wirkte bedrohlich. Es war, als stamme es aus einer anderen Welt. Dabei war sein Körper durchaus humanoid. Wie humanoid, das wusste Trabzon Karett sehr genau, aber es war jetzt kein Trost für ihn. »Warum zitterst du?«, fragte das in eine tiefschwarze Montur gekleidete Wesen. »Hast du Angst, die Tests nicht zu bestehen und zurückgeschickt zu werden?« »Nein«, antwortete Karett und schluckte. Natürlich war das gelogen. Er sah die Instrumente in der Kabine und schauderte. Wenn er getestet wurde und dabei durchfiel, war seine Mission gescheitert. Er, Atlan, Trim Marath und Startac Schroeder, getarnt als die Brüder Azeitto, würden bestenfalls zurück nach Aegori-A geschickt werden. Viel wahrscheinlicher aber war, dass sie enttarnt wurden. Es wäre gleichbedeutend mit ihrem Ende. Hier, zwischen Tausenden von bewaffneten Kattixu und Design-Humanen, gab es kein
Entkommen. Hier lauerte nur der Tod. So wie damals auf Thorpei … Trabzon Karett durfte nicht daran denken. Sein Blick haftete auf dem Kattixu ihm gegenüber. Jetzt steckte er den ID-Chip in ein Lesegerät und las die gespeicherten Daten von einem kleinen Bildschirm ab. Karett hielt den Atem an. Dieser Augenblick entschied alles – wenigstens vorläufig. Sie waren erst am Anfang ihrer Mission. Atlan und die beiden Mutanten wurden in diesem Moment möglicherweise in anderen Kabinen auf ihre Gesundheit und körperliche Fitness untersucht. Der Kattixu stieß einen Laut der Überraschung aus. Unwillkürlich fuhr Trabzons Hand zu seinem Hals, dorthin, wo sich die Würgemale befanden. Sie juckten wie immer, wenn ihn die Erinnerung und die Angst einholten. »Aus den Daten geht hervor, dass du bereits untersucht worden bist«, sagte der Kattixu. »Wieso hast du mir das nicht gesagt?« Karett brauchte einige Sekunden, um diese Auskunft zu verdauen. Er atmete auf. Eine zentnerschwere Last schien von seinen Schultern zu fallen. Also hatte das vorab auf Aegori-B nahe der Hauptstadt Kavvia eingeschleuste Kommando aus ehemaligen TLDAgenten perfekte Arbeit geleistet. Die Männer und Frauen hatten Trabzon Karett und dabei auch Atlan, Schroeder und Marath – die »Azeitto-Brüder« – in den Rechnern des Gemm-Katt auf den Status »bereits überprüft« gesetzt. Die ID-Chips hatten nicht nur ihre Scheinidentitäten als angebliche Prospektoren gespeichert, sondern interferierten durch die Lesegeräte direkt mit den Computern der Kattixu. »Bereits überprüft und diensttauglich«,
4 las der Grünverzerrte von seinem Bildschirm ab. »Das verstehe ich nicht.« Dann versuch's auch gar nicht!, dachte Trabzon. Er schwitzte trotz der atmungsaktiven Körpermaske. Was passierte, wenn der Kattixu auf einer neuen Untersuchung bestand? Offenbar war er sich unschlüssig. Sein Schweigen war furchtbar. Sein Blick klebte an dem Terraner. Er ist misstrauisch!, dachte Karett. Alles in ihm drängte auf Flucht. Die Kabine schien um ihn herum zu schrumpfen, drohte ihn zu ersticken. Die Geräte kamen ihm vor wie mittelalterliche Folterinstrumente. Er begriff, dass er nahe daran war, den Verstand zu verlieren. Dann endlich erhob sich der Kattixu und gab ihm seinen Chip zurück. »Die Computer lügen nicht«, sagte er. »Ich verzichte auf eine zweite Untersuchung. Wir haben genug zu tun. Du kannst weitergehen.« »Nicht ohne meine Brüder«, protestierte Trabzon. »Wenn sie ebenfalls schon getestet wurden, kannst du draußen auf sie warten.« »Danke«, sagte Karett leise und nahm seinen Chip entgegen. Er verstaute ihn in seiner Kombination. Als er die Kabine verließ, kam er sich vor wie neugeboren. Die Luft im Herzen des Gemm-Katt – der mächtigen Organisation der Kattixu – kam ihm mit einem Mal frischer vor. Sein Zittern hörte auf. Er hatte das Gefühl, dem Tod ein zweites Mal von der Schippe gesprungen zu sein. Aber wo waren Atlan, Marath und Schroeder in ihren Masken als Atlan Azeitto, Marath Azeitto und Shroder Azeitto? Trabzon musste sich gegen den Strom der tiefer ins Gemm-Katt-Herz drängenden Design-Humanen stemmen, die mit ihnen auf Aegori-B angekommen waren. So viele Wesen, kaum Luft zum Atmen, es fühlte sich fast so an wie damals auf Thorpei, und wieder kam die Angst angekrochen. Trabzon Karett wünschte sich, niemals
Horst Hoffmann die SOL verlassen und sich diesem gefährlichen Kommando angeschlossen zu haben. Er hielt weiterhin Ausschau nach Atlan und den beiden Mutanten. Je länger er nach ihnen suchte, desto unruhiger wurde er. Er war nie ein Feigling gewesen, aber jetzt wurde aus seiner Angst langsam Panik. Wo blieben die Gefährten? In welcher der überall aufgestellten Kabinen befanden sie sich? Oder waren sie schon auf dem Weg zurück zum Raumhafen von Kavvia? Als untauglich befunden oder enttarnt? Plötzlich drückte sich etwas in Karetts Rücken. Der Computerspezialist hob unwillkürlich die Arme. Das war's, dachte er. Sie haben mich doch erwischt. Der Kattixu in der Kabine war misstrauischer, als er es zeigte! Trabzon Karett schloss mit seinem Leben ab.
2. SOL 8. Mai 1312 NGZ An Bord der SOL herrschte eine angespannte Stimmung. Expeditionsleiter Atlan und die anderen Verantwortlichen waren sich darüber im Klaren, dass sie schnell handeln mussten, wenn sie eine kosmische Katastrophe nie gekannten Ausmaßes noch in letzter Sekunde verhindern wollten: die Vernichtung der Milchstraße, des Sternhaufens Thoregon und mindestens zweitausend anderer Galaxien durch die Kosmokraten. »Die Zeit läuft uns davon«, sagte der Arkonide in der Zentrale des Hantelschiffs. »Wenn wir noch etwas retten wollen, muss das Analog-Nukleotid METANU von uns betreten und abgeschaltet werden. Ich weiß, allein der Plan klingt schon wie Blasphemie, wenn wir an echte Kosmonukleotide wie zum Beispiel DORIFER denken. Doch das Analog-Nukleotid verfügt, wie wir wissen, über eine gänzlich andere Entstehungsgeschichte.« »Was heißt das schon?«, fragte Fee Kellind skeptisch. Die Kommandantin legte den
METANU-Station Kopf schief. »Wir können nicht einfach durch das METANU-Tor einfliegen. Selbst wenn wir die technischen Mittel dazu besäßen – es wird von fünftausend KattixuRaumern abgeriegelt, gar nicht zu reden von den riesigen Basisschiffen.« »Wir dürfen den Kopf nicht in den Sand stecken.« Atlan war aufgestanden und ging unruhig auf und ab. »Wir müssen einfach Erfolg haben. Einiges an wertvollen Informationen haben wir ja auch bereits zusammengetragen. Ich sage es noch einmal: Das Analog-Nukleotid ist ganz sicher nicht funktionsgleich mit einem normalen Kosmonukleotid.« »Stimmt genau«, kam es von Ronald Tekener. »Zwei Tatsachen dazu sind uns ja bereits bekannt. Erstens wurde das AnalogNukleotid aus der Substanz einer toten Superintelligenz geschaffen, wie immer das geschehen sein soll. Aber das dürfte sich von der normalen Entstehung eines Kosmonukleotids wohl grundlegend unterscheiden.« »Das wollte ich sagen«, nahm Atlan den Faden auf. »Zweitens benötigt METANU zum Funktionieren offenbar ein Regelsystem, das aus einer unbekannten Anzahl von auf dem Planeten Cencha-1 hergestellten Satelliten besteht.« Myles Kantor, der Chefwissenschaftler, nickte. »Es gibt diese Unterschiede«, sagte er, »aber dennoch war das Analog-Nukleotid anscheinend in der Lage, Kosmische Messenger zu erschaffen, die im Standarduniversum bereits eine furchtbare Wirkung entfaltet haben. Die Informationen, die wir von den Pangalaktischen Statistikern in Wassermal erhalten haben, sind leider eindeutig. Wir müssen davon ausgehen, dass dies wieder geschieht.« »Und wie wollen wir das verhindern?«, fragte Roman Muel-Chen, der Erste Pilot. »Möglicherweise über das Satellitensystem«, antwortete Atlan. »Seine Existenz stellt vielleicht unsere einzige Chance dar. Wenn im Innern von METANU komplexe Regelkreisläufe aufrechterhalten werden müssen, bedeutet das, man kann diese Kräfte
5 auch angreifen.« »Unsere bisher reichlich diffuse Zielrichtung, etwas gegen die Funktion des AnalogKosmonukleotids zu unternehmen, kann endlich präziser gefasst werden«, ergänzte Tekener. Er blickte die Kommandantin an und fuhr fort: »Es hilft alles nichts. Wir müssen einen Weg finden, ins Nukleotid einzudringen, und dort versuchen, das Satelliten-Kontrollsystem außer Funktion zu setzen.« »Klingt gut«, sagte Startac Schroeder, der Teleporter. Im Einsatz auf Cencha-1 hatten er und Trim Marath die entscheidenden Entdeckungen gemacht, von denen die Mission jetzt möglicherweise profitierte. »Aber wie sollen wir das bewerkstelligen?« »Informationen!«, sagte Atlan. »Was wir brauchen, sind unbedingt noch mehr Informationen.« »Noch mal nach Cencha-1 vorstoßen?«, fragte Schroeder. »Du meinst, wir sollten euer Abenteuer wiederholen?«, fragte der Arkonide. Er hob die Schultern. »Ich dachte eigentlich an METANU-Station, sozusagen als letzter Ausweg. Aber wir werden kaum – wie beim letzten Mal – via Raumfrachter und Teleportation euch Mutanten einschleusen können. Auf der Gegenseite hat man euer Wirken aus nächster Nähe studieren können. Derlei Tricks nutzen sich leider schnell ab.« »Aber wie sonst sollen wir ins Zentrum der Macht vorstoßen?« Atlan lächelte fein. »Ich habe mir etwas überlegt. Ich gehe davon aus, dass METANU-Station ebenso wie die Cencha-Planeten von Kattixu bewacht wird.« »Das ist anzunehmen«, sagte Fee Kellind. »Und die Kattixu wiederum sind durch den Einsatz unserer beiden Mutanten demaskiert. Es handelt sich um jene Wesen, die nach Informationen unserer Mochichi-Freunde im Sternhaufen Thoregon als DesignHumane von Aegori-B bekannt sind.« Ronald Tekener, der Smiler, grinste plötzlich. »Du meinst«, sagte er, »dass Menschen und Design-Humane einander wirklich sehr
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ähnlich sind …« »Vorausgesetzt, man legt eine gute Maske an«, sagte Atlan. Die beiden Aktivatorträger verstanden sich.
3. METANU-Station 8. Mai 1312 NGZ Zog Markarm presste es den Atem aus den Lungen, nachdem ihn der Stoß direkt auf der Brust getroffen hatte. Er fiel nach hinten, sah vor seinen Augen die Sterne tanzen. Als er im Staub der Arena lag, tastete er mit beiden Händen nach seiner eigenen stumpfen Lanze. Nur solche Waffen waren bei den rituellen Kämpfen erlaubt. Markarm fand sie nicht. Dafür erschien sein junger Gegner über ihm und setzte ihm die stumpfe Spitze seiner Lanze an den Hals. Das war ihm noch nie passiert. Bisher hatte er, der Si'Cambo und Sicherheitschef von METANU-Station, alle Kämpfe für sich entscheiden können. Sollte es wirklich sein, dass Mo Essiam ihm seine erste Niederlage beibrachte? Er, der erst seit einem halben Jahr in der Station Dienst tat? Zog Markarm gab nicht so schnell auf. Er zog blitzschnell die Beine an, stieß den Widersacher von sich. Essiam stieß einen Schrei aus und landete diesmal selbst auf dem Rücken. Im Handumdrehen war Markarm über ihm. Der ranghöchste Kattixu der Station entriss dem Jüngeren seine Waffe und packte sie mit beiden Händen. Er drückte Essiam den Schaft gegen die Kehle, bis dieser keine Luft mehr bekam. Essiams Augen rollten. Noch einmal nahm der Jüngere alle Kraft zusammen, stieß nun seinerseits Markarm von sich. Der Si'Cambo federte hoch und fand sein Gleichgewicht wieder. Er taumelte nur kurz. Dann trat er mit voller Wucht Mo Essiam gegen den Kopf, genau auf die Schläfe. Sein Rivale war auf der Stelle bewusstlos. Das bedeutete das Ende des Kampfes.
Zog Markarm überzeugte sich davon, dass sein Gegner noch lebte. Danach war er erleichtert. Essiam war ein wertvolles Mitglied seiner Mannschaft, ein aufstrebender Kattixu. Er brauchte ihn noch. Außerdem war er kein Mörder. Sportliche Auseinandersetzungen dieser Art waren in METANU-Station an der Tagesordnung. Sie schulten den Körper und den Geist. Markarm wischte sich den Staub von der tiefschwarzen Kleidung, dem Xaram, und rief über Funk nach zwei Robotern, die sich um den Bewusstlosen kümmern sollten. Er selbst hatte dazu keine Zeit. Er wurde in der Station gebraucht. Der Kampf hätte eigentlich gar nicht stattfinden dürfen. Er war ein Luxus gewesen, den er gebraucht hatte. In regelmäßigen Abständen mussten die angestauten Aggressionen ein Ventil finden. Zog Markarm fühlte sich tatsächlich von dem inneren Drang befreit. Sein linker Oberschenkel schmerzte stark. Während des Kampfes hatte er das ignoriert. Sollte die alte Wunde wieder aufgebrochen sein? Der Si'Cambo verließ die Arena, die eigens für die rituellen Kämpfe angelegt worden war. Es gab in allen sechs Segmenten von METANU-Station eine solche Stätte. Sie nahmen nur einen winzigen Teil der gewaltigen Anlage ein. Zog Markarm nahm eine Dusche, um sich den Schweiß und den auf der Haut klebenden Staub abzubrausen. Dazu musste er den Xaram ablegen. Er verwandelte sich von dem in ein grünes Verzerrerfeld gehüllten Kattixu in einen Design-Humanen mit bläulich-gelb schimmernder, chamäleonartiger Haut. Niemand sah ihn so. Obwohl alle Kattixu von ihrer wahren Gestalt wussten, trugen sie im Dienst immer ihren Xaram mit den kleinen Metallplättchen, die die Technik für das Verzerrerfeld enthielten. Markarm sah das gelbe Blut aus seiner Beinwunde sickern. Er erschrak. Sie konnte sich jederzeit wieder entzünden, und dann …
METANU-Station Jetzt im Nachhinein schalt er sich einen Narren, sich auf den Zweikampf eingelassen zu haben. Er hätte Mo Essiam nicht herausfordern dürfen. Der junge Kattixu wusste nichts von seiner Wunde. Niemand wusste davon, niemand außer Thorg Quantur, dem Mediziner. Der Sicherheitschef legte den Xaram wieder an, nachdem er die Wunde mit antiseptischen und blutstillenden Mitteln behandelt und verbunden hatte und seinen Körper mit Stoffen hatte bedampfen lassen, welche die Haut geschmeidiger machten. Sofort verschwammen seine Konturen wieder in einem grünlichen Feld. Markarm vertraute sich Laufbändern und Antigravlifts an und erreichte in kurzer Zeit den gewaltigen Hauptkontrollraum dieses Segments der Station. Sofort spürte er die Spannung, die über dieser Zentrale lag. Überall in METANU-Station herrschte dieser Tage einige Aufregung. Denn der Augenblick, da METANU wieder lodern würde, lag nicht mehr fern. Wenn METANU loderte … Das war ein Vorgang, den wohl kein Kattixu und kein Mochichi verstehen konnte. Die nähere Umgebung von METANU-Station wurde dann mit einer ungeheuren Vielfalt verwirrender mentaler Impulse überschüttet. Sämtliche Schiffe und Stationen der Umgebung mussten auf Automatik geschaltet werden, denn kein denkendes Wesen war dann noch handlungsfähig. METANUS Lodern war zudem ein Vorgang, der mit einer seltsamen Euphorie einherging, die weder Mochichi noch Kattixu missen mochten. »Gibt es etwas Neues?«, fragte Markarm einen der anwesenden Mochichi. Das humanoide, nur anderthalb Meter große Wesen, ein Konstrukteur von hohem Rang, sah von seinen Instrumenten auf. Seine großen schwarzen Augen richteten sich auf den Kattixu. »METANU ist aktiv«, antwortete es. »Es dauert nicht mehr lange, bis es zu lodern beginnen wird.«
7 »Wie lange?«, fragte der Sicherheitschef. »Wir schätzen, maximal noch zwei Wochen, Si'Cambo.« Damit wandte sich der Mochichi wieder seiner Arbeit zu. Er demonstrierte deutlich, dass Markarm ihn störte. Der Kattixu ließ ihn in Ruhe und ging auf eine Gruppe von Artgenossen zu. Sie unterbrachen ihre Unterhaltung und sahen ihn fragend an. »Zwei Wochen«, sagte er. »Wir haben nicht mehr viel Zeit.« »Zeit wozu?«, fragte einer der Offiziere. »Wir können nichts an dem ändern, was von METANU kommt.« »Natürlich nicht«, sagte Markarm. »Aber wir können die Schiffe und die Stationen in der Umgebung präparieren.« Die Kattixu schwiegen. Die Nervosität im Kontrollraum war deutlich spürbar. Schließlich fragte einer: »Gibt es neue Meldungen von dem hantelförmigen Raumschiff, das in den Sternhaufen Thoregon eingedrungen ist?« »Das bedrückt euch also«, stellte Markarm fest. »Nein, es gibt keine neuen Nachrichten oder Erkenntnisse. Die Fremden in ihrem Schiff bleiben uns ein Rätsel.« »Du solltest sie nicht ignorieren«, wurde ihm vorgehalten. »Gerade jetzt können wir uns auf METANU-Station alles Mögliche leisten, aber keine Störungen im ohnehin kaum überschaubar komplizierten Betrieb.« »Dazu wird es nicht kommen«, betonte Zog Markarm. »Wir halten das Schiff unter Beobachtung. Und sollte es uns zu nahe kommen, sind wir gewappnet.« »Hoffentlich«, sagte ein Go'Cambo, was dem mittleren militärischen Dienstgrad entsprach. »Aber ja«, versuchte Markarm ihn zu beruhigen. »Das fremde Schiff ist groß, aber gegen unsere Flotte ist es ein Zwerg.« »Es kommt nicht immer auf die Größe allein an«, bekam er zu hören. Markarm fühlte Unmut in sich aufsteigen. Er war nicht in die Zentrale gekommen, um sich das Gerede verunsicherter Feiglinge anzuhören. Also verabschiedete er sich und
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Horst Hoffmann
zog sich in seine Kabine zurück, wo er Nachrichten von seinen in den Raumschiffen stationierten Leuten vorzufinden hoffte. Leider war diese Hoffnung vergebens. Alles im Bereich von METANU-Station schien wie gelähmt zu sein. Das bevorstehende Ereignis paralysierte die Sinne selbst von Zog Markarms Agenten. Wenn er in sich hineinlauschte und ehrlich zu sich selbst war, musste er zugeben, dass er von der gleichen Unruhe erfüllt war. Aber er konnte besser damit umgehen. Wenn er keinen klaren Kopf bewahrte, wer dann? Markarm trank etwas, das ihn leicht aufputschte. Er hatte das Gefühl, dass an diesem Tag noch etwas Besonderes geschehen würde, und er hatte gelernt, auf seine Gefühle zu hören. Seine Ahnungen hatten ihn selten getrogen. Die Beinwunde brannte nun fürchterlich. Markarm biss die Zähne zusammen. Aber er weigerte sich, schmerzstillende Mittel zu nehmen. Es war für ihn eine Bewährungsprobe, ein Kräftemessen mit dem Wundbrand. Wenn er sich den Medizinern anvertraute, drohte ihm ein vermutlich längerer Aufenthalt in einer Medo-Station, und das konnte er sich nicht leisten. Der Sicherheitschef nahm Kontakt mit verschiedenen Stellen auf und fragte nach unvorhergesehenen Ereignissen. Immer lautete die Antwort: »Nein!« Das beunruhigte ihn mehr, als ihm lieb sein konnte. Das große Ereignis, das Lodern METANUS, stand unmittelbar bevor – was waren schon zwei Wochen! Er erwartete etwas und konnte doch nicht sagen, was. Zog Markarm musste nur eine Stunde warten. Dann erreichte ihn ein Anruf aus der Zentrale. Er sollte sofort kommen. Mit sehr gemischten Gefühlen machte er sich auf den Weg.
* Die riesige Zentrale hatte sich mittlerweile gefüllt. Weitere Kattixu-Offiziere und
Mochichi, die wissenschaftlichen Leiter von METANU-Station, hatten sich eingefunden. Zog Markarm sah den Grund dafür mit einem Blick. Gleichzeitig wusste er, dass ihn sein Gefühl nicht getrogen hatte. Genau in der Mitte der Zentrale, in gebührendem Abstand umringt von den Kattixu und Mochichi, schwebte eine ein Meter durchmessende Kugel aus reinem silbernem Licht – ein Heliote! Das Wesen aus reiner Energie wartete einige Minuten, bis die letzten Offiziere eingetroffen waren. Markarm war sicher, dass dies auf Geheiß des Helioten geschah. Dann begann er. Eine mentale Stimme erklang in den Köpfen der Anwesenden. »Ich bin gekommen, um euch zu warnen«, sendete der silberne Heliote. »Es hat einen Überfall auf Thoregon-Cencha gegeben. Anscheinend wurden dabei auch psionische Kräfte eingesetzt. Es ist nicht gelungen, die Eindringlinge zu identifizieren. Aber wir schließen nicht aus, dass ein Zusammenhang mit dem hantelförmigen Schiff besteht, das uns allen Rätsel aufgibt.« Zog Markarm holte tief Luft. ThoregonCencha überfallen! Das System mit seinen drei Planeten war fast so gut bewacht wie METANU-Station und METANU-Tor. Trotzdem hatten es Unbekannte verstanden, den Blockadering zu durchbrechen und aktiv zu werden. Tatsächlich das Hantelschiff? Warf das nicht seine Überzeugung um, es könne ihnen hier nicht gefährlich werden? »Für uns bedeutet dies«, fuhr der Heliote fort, »dass METANU-Station sofort psisicher gemacht werden muss. Es ist allerhöchste Vorsicht geboten – gerade jetzt, da METANUS Lodern bevorsteht. Ich verlange von jedem von euch, dass er tut, was in seiner Macht steht. Wir dürfen uns keinen Zwischenfall leisten!« Niemand wagte es, eine Frage an den Helioten zu stellen, alle spürten, dass die »Audienz« beendet war. Das silberne Wesen hatte ihnen nichts mehr zu sagen, aber die Warnung war klar, wenn auch unausgespro-
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chen gewesen. Wenn es ihnen nicht gelang, METANU-Station frei von Eindringlingen zu halten, würden sie dafür bestraft werden. Helioten scherzten nicht. Das Lichtwesen verschwand von einem Augenblick auf den anderen. Zurück blieben etwa hundert Kattixu, Mochichi und wenige Worphen und Leftass. Sämtliche Blicke richteten sich auf Zog Markarm. Der Sicherheitschef fühlte sich nicht gerade wohl dabei. Er wusste, was jeder von ihm verlangte. Die Besatzung von METANU-Station bestand aus 18.000 Kattixu, 1,2 Millionen Worphen, dreitausend Mochichi und zwei Millionen Leftass; dazu kamen einige tausend Angehörige anderer Völker. Die Mochichi kommandierten die Station. Hin und wieder jedoch schalteten sich, wie eben geschehen, silberne Helioten direkt in die Abläufe ein und erteilten Weisungen, die für sämtliche Besatzungsmitglieder der Station bindend waren. Die Kattixu, und hier kam Markarm ins Spiel, handelten in Sicherheitsfragen autark. Ihre Aufgabe war unter anderem, im Hinblick auf das Zirkular auch die Mochichi zu kontrollieren. In der Tat war es nie einem Zirkular-Aktivisten gelungen, in der Station tätig zu werden. Das Problem, METANU-Station »psi-sicher« zu machen, wie es der Silberne verlangt hatte, lag also in Markarms Verantwortungsbereich. Er hatte gewusst, dass etwas auf ihn zukommen würde, und machte sich gleich an die Arbeit. Keinem Gegner sollte es gelingen, METANU-Station in diesen bedeutsamen Tagen zu überfallen. Rewa Cunch, jener Mochichi, der ihn vor Stunden abgewiesen hatte, kam zu ihm und versicherte, dass er und seine Artgenossen ihm voll zur Seite standen. Markarm dankte ihm und verließ die Zentrale. Nicht jeder musste hören, was er mit seinen Spezialisten zu besprechen hatte.
4. Aegori-Sphäre
9. Mai 1312 NGZ Der Sandsturm blies ihnen ins Gesicht. Sie hatten die Augen durch Spezialbrillen geschützt und marschierten stur Richtung Osten. Einen Teil ihrer Ausrüstung trugen sie selbst auf dem Rücken, den anderen die Quaileys, eselgroße Tiere, die ihre Last ohne Murren schleppten. Sie brauchten, im Gegensatz zu ihren Herren, kein Wasser. Sie speicherten es in der Art terranischer Kamele in ihren beiden Rückenhöckern. »Wie weit ist es denn noch?«, fragte einer von ihnen in den Wind. Seine Lippen waren trotz Schutzspray aufgesprungen. Das Sprechen tat ihm weh. »Wann endlich erreichen wir diesen verdammten Raumhafen?« »Nur die Ruhe, Karett!«, rief der Führer des aus vier Männern bestehenden Trupps. »Bis zum Anbruch der Dunkelheit haben wir es geschafft.« Sie alle hießen mit Nachnamen Azeitto. Jedenfalls war das ihre Tarnidentität. Sie reisten als Prospektoren, die auf dem Wüstenplaneten Aegori-A ein Vermögen an seltenen und kostbaren Mineralien gemacht hatten. In Wirklichkeit stammten die »Funde« aus den Beständen der SOL, und die angeblichen Azeitto-Brüder waren keine anderen als die durch Maskenspezialisten verkleideten Atlan, Trabzon Karett, Trim Marath und Startac Schroeder. Durch die ihnen angepassten Ganzkörpermasken glichen sie perfekt den Design-Humanen, den Bewohnern der Aegori-Sphäre. Ihre Haut war elastisch und schimmerte wie die eines irdischen Chamäleons. Ihre Gesichter waren fast menschlich. Die Tarnung war beinahe perfekt – bis auf die schnellere Atmung der Design-Humanen. »Warum haben wir uns bloß nicht viel näher am Raumhafen absetzen lassen?«, murrte Trim Marath, der sich dem Sandsturm entgegenstemmte. »Es wäre doch viel einfacher gewesen.« »Und zu verräterisch«, sagte der Arkoni-
10 de. »Wir haben uns ein schönes Alibi zurechtgestrickt und sind deshalb mitten in der Wüste abgesetzt worden. Außerdem müssen wir davon ausgehen, das in der Nähe des Raumhafens Patrouillen fliegen.« »Das leuchtet ein, Trim«, sagte Schroeder. »Wir mussten mindestens zehn Kilometer vom Raumhafen entfernt ausgeschleust werden, um unsere Rolle glaubhaft spielen zu können.« »Natürlich weiß ich das auch«, knurrte der Kosmospürer. »Es ist nur wegen diesem Sturm.« »Kopf hoch, Trim«, sagte Atlan. »In spätestens drei Stunden, noch vor Anbruch der Dunkelheit, sind wir im Raumhafen oder sitzen bereits in einer Fähre nach Aegori-B.« Aegori-B war die Zentralwelt der aus fünf Planeten bestehenden Aegori-Sphäre. Die Planeten trugen die Bezeichnungen AegoriA bis Aegori-E. Während Aegori-A eine Extremwelt war, die nur für Abenteurer und Glücksucher attraktiv sein konnte, war Aegori-B eine hoch industrialisierte Welt mit dem Sitz des Gemm-Katt-Herzens – und somit das Ziel Atlans und seiner Begleiter. Offiziell galten sie als Prospektoren, die bis zum letzten Tag auf Aegori-A Geld in Form von kostbarsten Rohstoffen gescheffelt hatten. Und offiziell würden sie eine Passage zur Hauptwelt buchen, um dort ihre zwanzigjährige Dienstzeit im Gemm-Katt abzuleisten. Ihre wahren Pläne waren ganz anderer Natur. Das Gemm-Katt sollte für sie nur ein Sprungbrett nach METANU-Station sein. Die Vorbereitungen für den Einsatz hatten nicht mehr als zwölf Stunden gedauert. Allein sechs Stunden lang hatten sie mit der SOL den Funkverkehr in der Aegori-Sphäre abgehört. SENECA hatte alle gewonnenen Daten zusammengefasst, eine Art kulturellen Spiegel extrahiert und als Inhalt einer Hypnoschulung den vier Agenten »aufgespielt«. Ihre Identität, die von einem Spezialkommando ehemaliger TLD-Agenten in den Rechnern der Hauptstadt von Aegori-B an-
Horst Hoffmann gelegt worden war, kostete weitere sechs Stunden, inklusive Landeunternehmen und Undercover-Aktion. Möglich war das nur, weil der Stamm der SOL-Besatzung aus ehemaligen Agenten des Terranischen LigaDienstes bestand und weil die Kattixu nicht wie die USO, der TLD oder die arkonidischen Geheimdienste im Feindgebiet operierten, sondern praktisch ausschließlich im Sternhaufen Thoregon. Die Tradition des allgemeinen Misstrauens war einfach nicht vorhanden. Die einzigen echten Gegner der Kattixu bestanden bisher aus den Mochichi des Zirkulars – und diese hatten niemals angegriffen, sondern immer nur sich zu entziehen versucht. Atlan und die TLD-Agenten konnten also ihre Überlegenheit in Geheimdienstaktionen ausspielen. Der Sandsturm ließ etwas nach. Das Gehen wurde leichter. Nach einer Stunde legten die falschen Prospektoren eine Pause ein. Sie holten Flaschen aus den Satteltaschen ihrer Lasttiere und tranken. Dann ging der Weg weiter. Nach einer weiteren halben Stunde hatte sich der Sturm so weit gelegt, dass die Sonne wieder als verwaschener Fleck am Himmel erschien. Sie stand schon sehr tief. Als der Abend dämmerte, konnten die »Brüder« die Lichter des Raumhafens sehen. Es war kein Sand mehr in der Luft. Der Anblick gab ihnen noch einmal neue Kräfte. »Ich sagte doch, wir schaffen es bis zur Dunkelheit«, triumphierte Atlan Azeitto. Die Lichter kamen schnell näher. Ein heller Schein lag über dem Wüstengelände. Eine knappe Stunde dauerte es noch, dann hatten die vier den Hafen erreicht. Sie hatten Hunger, richtigen Hunger auf etwas Deftiges, nicht die mitgeführten Konzentrate, von denen sie sich bisher ernährt hatten. Als sie das Abfertigungsgebäude erreicht hatten, blieben sie stehen und schlugen sich den Sandstaub aus den Kleidern. Sie wussten, dass die erste Bewährungsprobe jetzt bevorstand. Sie wussten aber auch, dass sie perfekt vorbereitet waren, soweit es die
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knappe Zeit zugelassen hatte. Und dennoch: Der kleinste Fehler, die geringste Unachtsamkeit konnte sie verraten.
* Die Maskenspezialisten der SOL hatten nicht viel Arbeit mit den vier Männern gehabt. Design-Humane besaßen bis auf den um dreißig Prozent voluminöseren Brustkorb die gleiche Gestalt wie Menschen. Dieser Teil der Körpermasken war hohl und diente dem Transport wichtiger Dinge wie Ausrüstung und Medikamente. Über den ganzen Körper spannte sich die »Chamäleonhaut«, die von den Spezialisten rasch gezüchtet worden war. Das einzige wirkliche Problem waren die Augen gewesen. Die Augenpartien der Masken simulierten hektische, permanent blitzschnelle Bewegungen der Augäpfel, wobei das eigentliche Gesichtsfeld über positronisch gesteuerte Kontaktlinsen-Systeme auf die menschlichen Pupillen abgebildet wurde. Es konnte eigentlich nichts schief gehen, das riefen sich die vier falschen Prospektoren immer wieder ins Bewusstsein, als sie das Abfertigungsgebäude betraten und ihre Lasttiere in die Obhut eines Design-Humanen gaben. Das Wesen sah ihnen nach, aber das lag wohl an den gefüllten Satteltaschen, die sie sich über die Schulter geworfen hatten. Der Design-Humane schöpfte keinen Verdacht. Für ihn waren die vier »Brüder« Artgenossen, die aus der Wüste kamen. So wie andere Abenteurer auch. Vielleicht beneidete er sie sogar um ihren Mut und ihren Erfolg. In der Kantine des Abfertigungsgebäudes stärkten sie sich, stets unter den neugierigen Blicken anderer Humanen. Einige Blicke waren offen feindselig, was durchaus an der Art und Weise liegen konnte, wie sich die Azeitto-Brüder gaben. Sie lachten laut und prosteten sich zu, auf ihre Schätze und das gemachte Vermögen. Ein solches Verhalten wurde von ihnen erwartet. Design-Humane galten laut den In-
formationen der SOL als raue Gesellen, leicht aufbrausend und immer gut für eine Rauferei. »He, Kumpels«, sagte schließlich einer, der mit fünf Artgenossen an einem Nachbartisch saß. Der Kleidung nach zu urteilen, waren sie ebenfalls Prospektoren. »Darf man mitfeiern? Wenn ihr so viel Glück gehabt habt, lasst doch mal 'ne Runde für uns springen.« »Sprichst du mit uns?«, fragte Atlan Azeitto. »Das weißt du genau«, knurrte der Design-Humane. Seine Chamäleonhaut war ungewöhnlich hell, was ihn fast wie einen »richtigen« Menschen aussehen ließ. »Was ist? Seid ihr zu geizig? Wie wär's, wenn wir uns eure Schätze mal ansehen würden? Ihr könntet uns ruhig was davon abgeben. Wir hatten nicht so viel Glück.« »Lass uns in Ruhe!«, sagte Karett Azeitto und gab seiner Stimme einen gereizten Klang. »Oder …« Der fremde Prospektor grinste seine Artgenossen an. Dann stand er auf. Breitbeinig baute er sich vor Karett auf. »Oder was?«, fragte er provozierend. Auch seine Kumpane erhoben sich jetzt, was ihn mutiger werden ließ. »Ihr sucht Streit? Den könnt ihr haben.« Drohend kam er näher, gefolgt von seinen Freunden. Karett fuhr in die Höhe, ballte die Hände. Der Design-Humane lachte nur und holte zu einem Schwinger aus. Karett konnte nicht schnell genug ausweichen, bekam den Schlag direkt in die Bauchgegend und ging japsend zu Boden. Geistesgegenwärtig rollte er sich ab, um möglichen Tritten zu entgehen. Bevor er sich erneut aufrichten konnte, stand Atlan an seiner Seite. Zwei rasche Hiebe trafen den Raufbold am Rumpf und am Gesicht; der Mann stürzte sofort. Seine Nase blutete. Atlan hielt die Freunde des Angreifers mit einigen raschen Fußtritten auf Distanz. Trim Marath und Startac Schroeder sprangen ebenfalls auf und nahmen Kampfhaltung
12 ein. Karett wusste, dass sie vor ihrem »Ausflug« nach Cencha-1 eine besondere Schulung durch eine junge Frau namens Yiana erhalten hatten – seither besaßen die beiden Mutanten mehr Kondition und Kampfstärke. Im Nu war eine heftige Schlägerei im Gange, bei der auch die beiden Mutanten kräftig mitwirkten. Atlan kämpfte mit allen Mitteln der Dagor-Technik sowie anderer Kampftechniken, die er im Verlauf seines nach Jahrtausenden zählenden Lebens erlernt hatte. Mit hohen und raschen Tritten hielt er die Angreifer auf Distanz, mit gezielten Schlägen und Sprüngen schaltete er sie aus. Auch Trabzon Karett kam auf die Beine und warf sich in den Kampf. Weitere Design-Humane beteiligten sich an der Rauferei. Die vier von der SOL mussten Schläge einstecken, aber sie teilten kräftig aus. Mach dem Kampf ein Ende!, sendete Atlans Extrasinn. Eure Masken könnten beschädigt werden! Das war ein wichtiges Argument. Atlan beschleunigte seine Abwehr der Angreifer. Weitere Design-Humane gingen zu Boden – und erneut Trabzon Karett. Dann zogen sich die angreifenden Chamäleonhäutigen zurück und flohen aus der Kantine. »Ich warne euch!«, sagte Atlan, als ein halbes Dutzend weitere Design-Humane von ihren Tischen aufstand. »Wer sich noch Schrammen holen will, der soll nur herkommen!« Daran schien aber keiner der anderen zu denken. Sie setzten sich wieder und taten so, als wäre nichts geschehen. Nur einer fragte, wo die vier Brüder so zu kämpfen gelernt hatten. »In der Wildnis«, sagte Atlan Azeitto. »Und auf Planeten, auf denen das Gesetz des Stärkeren gilt. Wir haben schon ganz andere Kämpfe durchgefochten und geben euch gern Nachhilfe.« Allerdings schien der Bedarf der DesignHumanen gedeckt zu sein. Atlan Azeitto und
Horst Hoffmann seine drei »Brüder« nahmen wieder ihre Plätze ein und setzten in Ruhe ihre Mahlzeit fort. Erst als sie damit fertig waren, standen sie auf. Atlan Azeitto versetzte einem Prospektor, der ihn voller Feindseligkeit und seine Satteltasche voller Habgier ansah, eine Ohrfeige und packte ihn an der Nase. »Hütet euch davor, uns zu folgen!«, sagte er und blickte in die Runde, wobei er den Humanen immer noch an der Nase gepackt hielt. »Es gäbe eine Keilerei, gegen die das eben hier Geschehene harmlos war.« »Schon gut«, sagte einer. »Wir lassen euch ja in Ruhe.« Atlan ließ den anderen los und gab seinen Gefährten einen Wink. Gemeinsam verließen sie die Kantine. Hasserfüllte Blicke verfolgten sie. An einem Abfertigungsschalter buchten sie eine Passage mit einer Interplanetar-Fähre zum Zentralplaneten Aegori-B, wo die Rekrutierungen für das Gemm-Katt stattfanden. Schon wenige Stunden später saßen sie in der Fähre und verließen Aegori-A. Bis jetzt war alles nach Plan verlaufen. Ihre Scheinidentitäten hatten sich bewährt. Aber die wirkliche Bewährungsprobe stand ihnen erst noch bevor.
* Im Passagierraum der Fähre herrschte ebenfalls ein ziemlich raues Klima. Kaum ein Design-Humaner vertrug sich mit dem anderen – und es gab schätzungsweise dreihundert Passagiere. An den Ausgängen standen einige Kattixu. Mehr als zwei der Wachen ließen sich nie zusammen sehen. Aber sie griffen nicht ein, wenn es zu Rangeleien kam. Die falschen Azeitto-Brüder hatten ihre Satteltaschen im Raumhafen von Aegori-A zur Verwahrung aufgegeben und nur einige wirklich wertvolle Steine und Kristalle mit sich genommen. Alle vier trugen die Tarnkappen um den
METANU-Station Hals, die sie von Mochichi des Zirkulars erhalten hatten. Die Bänder sollten sie für Helioten quasi unsichtbar machen. Die Maskierung wäre mit so lückenhaften Vorinformationen normalerweise unmöglich gewesen. Doch die Design-Humanen trugen nicht umsonst den für Terraner seltsam klingenden Namen. Innerhalb ihrer Volksgruppe waren starke genetische Abwandlungen mehr oder weniger an der Tagesordnung. Die Ausnahme war bei ihnen sozusagen die Regel. War die Chamäleonhaut des einen blaugrün, so glänzte sie bei einem zweiten in hellen Gelbtönen. Beim Dritten dagegen ging sie ins Rote. Kaum einer von ihnen glich dem anderen. Atlan und seine »Brüder« hatten sich auch offiziell nie für längere Zeit in den Wüsten von Aegori-A aufgehalten. Erst vor Stunden waren sie gelandet, mit allen nötigen Informationen, einer falschen Identität und Vergangenheit und den entsprechenden IDChips ausgerüstet. Und jetzt saßen sie schon in der Interplanetar-Fähre und rasten dem Zentralplaneten der Aegori-Sphäre entgegen. Die vier Männer hatten keine Ahnung, was sie im Gemm-Katt erwartete. Gerüchte gab es zu Millionen, eigentlich nur haltlose Flüstereien. Wer seine zwanzigjährige Dienstzeit beendet hatte, sprach in der Regel nicht über seine Erlebnisse. Die Design-Humanen wussten lediglich, dass sie im Sternhaufen Thoregon als eine Art Polizeitruppe eingesetzt werden sollten. Auf einmal ging in einer Ecke des großen Laderaumes eine Schlägerei los. Immer mehr Design-Humane beteiligten sich daran, und sie weitete sich immer weiter aus. Nur wenige hielten sich am Rand und schauten zu. Auch Atlan wurde direkt von einem hünenhaften Mann attackiert. Der Arkonide wehrte die ersten Hiebe nur ab und schlug erst zurück, als es nicht anders ging. Atlans Gegner war um einen Kopf größer
13 als er, ein muskelbepackter Kerl, der wahrscheinlich noch nicht viele Kämpfe verloren hatte und sich dementsprechend stark fühlte. Doch Atlan war der erfahrenere Kämpfer. Mit wenigen Dagor-Griffen schleuderte er den Hitzkopf zu Boden. Das war ein klares Zeichen für andere der aggressiv kämpfenden Design-Humanen. Mindestens zehn kamen drohend näher. Die falschen Azeitto-Brüder hingegen stellten sich demonstrativ zu Atlan. Im Nu entwickelte sich eine Schlägerei um die Azeitto-Brüder: Es wurde getreten, geschlagen und geschubst. Der Ausgang des heftigen Kampfes war bald klar. Wieder benutzten die vier Männer DagorKampftechniken und brachten so ihre Gegner zu Boden. Die Angreifer holten sich blutige Nasen. Als sie einsahen, dass sie gegen diese vier »Prospektoren« keine Chance hatten, zogen sie sich zurück – aber nur, um mit anderen Passagieren den Kampf fortzusetzen. Die Kattixu hielten sich nach wie vor im Hintergrund. Aber sie beobachteten weiterhin. Atlan hatte das dumme Gefühl, genau registriert worden zu sein. Vielleicht machten sich die Kattixu ihre Gedanken über die Kampfkraft der Prospektoren. »Die Design-Humanen stecken voller Aggressionen«, sagte Atlan, als sie wieder saßen. »Wir wissen aus dem abgehörten Funkverkehr, dass das Gemm-Katt nur etwa null Komma fünf Prozent der zum Dienst verpflichteten Personen in der Praxis annimmt. Deshalb die Rekrutierungen. Nur jeder Zweihundertste muss den zwanzigjährigen Dienst ableisten, egal ob männlich oder weiblich.« »Ideale Verhältnisse für Unwillige«, kam es von Startac Schroeder. »Sie brauchen nur die Eignungstests nicht zu bestehen, und schon sind sie frei.« Atlan schüttelte den Kopf. »Das siehst du falsch, Startac. Die meisten Design-Humanen wollen nach unseren Informationen doch vom Gemm-Katt rekrutiert werden. Sie sind tief beseelt von dem
14 Gedanken an Thoregon, den Gott, der in den Sternen wohnt. Also ist hier jedermann jedermanns Konkurrent. Das erhöht die Aggressionen nur noch, die den Design-Humanen ohnehin schon innewohnen.« »Sicher hast du Recht«, sagte der Teleporter. »Aber dann sollten wir uns auch gegenseitig an den Kragen gehen – nur zur Schau, versteht sich. Wir fallen auf, wenn wir zu nett zueinander sind.« »Das muss nicht unbedingt gesagt sein«, meinte Karett. »Wir bilden eine eigene kleine Gruppe. Unsere Gegner sind die anderen.« »Warum greifen die Kattixu nicht ein?«, fragte Trim Marath. »Wozu sind sie überhaupt hier, wenn sie sich nicht von der Stelle rühren?« »Sie überwachen uns«, meinte Karett. »Atlan hat Recht. Sie würden eingreifen, wenn die Auseinandersetzungen zu heftig wären. Tote soll's ja keine geben.« Die Kämpfe in der Fähre ebbten allmählich ab. Mit Blessuren und schwer atmend nahmen die Design-Humanen ihre Plätze wieder ein. Derjenige, mit dem Atlan als Erstem aneinander geraten war, starrte die vier falschen Prospektoren an. »Wer seid ihr wirklich?«, fragte er schließlich, während er anscheinend mühsam um seine Fassung rang. »Wo habt ihr so zu kämpfen gelernt?« In Atlan schrillte eine Alarmglocke. Zum zweiten Mal stellte man ihnen jetzt schon diese Frage. Sie konnten auffallen, weil sie zu friedlich waren, aber ebenso, wenn sie sich als haushoch überlegene Kämpfer erwiesen. »Hast du noch nicht genug?«, fragte Trabzon Karett. Atlan legte dem Computerspezialisten eine Hand auf den Arm. Karetts Impulsivität verwirrte ihn. »Was haben wir zu verbergen?«, sagte er. »Nichts. Wir waren viele Jahre Prospektoren auf Aegori-A. Glaub mir, das stählt jeden. Und jetzt lass uns in Ruhe. Ich sagte dir schon, wir sind müde.«
Horst Hoffmann Der Fremde gab keine Antwort mehr. Stattdessen stand er auf und ging – und zwar direkt zu einer der Kattixu-Wachen.
* »Was hat er mit ihm zu bereden?«, fragte Trim Marath flüsternd. »Es geht doch um uns, oder?« »Anzunehmen«, meinte Startac. »Aber ob der Kattixu etwas auf die Worte dieses Hitzkopfs geben wird, ist die andere Frage.« »Wir bleiben ganz ruhig«, sagte Atlan. »Es müsste mit dem Teufel zugehen, wenn wir hier enttarnt werden sollten.« Die vier Männer ließen sich nichts anmerken, als der Design-Humane eine Minute später zurückkehrte und sich wieder setzte. Sein Blick war finster, das Gesicht wirkte missmutiger als vorher. Es war offensichtlich, dass er sich eine Abfuhr geholt hatte – was immer er hatte bezwecken wollen. Atlan hoffte, dass der Rest des Fluges ohne weitere Zwischenfälle vonstatten gehen würde. Sie hatten sich Respekt verschafft, das war die Hauptsache und die Bedingung dafür, dass sie ihr Ziel erreichten. Dieses Ziel ihres Einsatzes bestand darin, auf dem kürzest möglichen Weg in die Organisation der Kattixu einzudringen – und so METANU-Station zu erreichen, jenes Objekt, das am ringförmigen Feld des AnalogNukleotids schwebte. Ob sich dies als machbar erwies oder nicht, würde sich bald zeigen. Die ersten Hürden hatten sie auf jeden Fall genommen. Tatsächlich verlief der weitere Flug für die vier Menschen ruhig. Zwar kam es an Bord immer wieder zu Rangeleien, aber an die vermeintlichen Prospektoren traute sich niemand mehr heran. Nach insgesamt achtzehn Stunden landete die Fähre auf Aegori-B, dem Zentrum der Sphäre. Es war eine Industriewelt mit pulsierenden Metropolen, wie den dreihundert Passagieren durch Holos gezeigt wurde. In die beeindruckenden Bilder eingeblendet wurden die spezifischen Daten des Planeten.
METANU-Station Man tat alles, um den Rekrutierungswilligen die wichtigsten Informationen vorab zu geben. Dann begann der Ausstieg. An den Kattixu-Wachen vorbei, reglos wie Statuen, die hinter dem grünen Verzerrerfeld verschwommenen Gesichter wie dämonische Fratzen, verließen die Passagiere das große Fahrzeug. Es war heller Tag. Ein Strom von Reisenden ergoss sich aus der Interplanetar-Fähre und sammelte sich am Boden. Auch hier kam es zu gelegentlichen Reibereien, jedoch nicht so schlimm wie in der Enge an Bord. Die Luft war angenehm kühl und gut atembar – kein Vergleich zu Aegori-A. Das Raumhafengelände war riesig. Atlan konnte kein Ende erkennen. Aber er sah weitere Fähren. Überall standen sie und vor ihnen Kolonnen von entladenen Passagieren, ausnahmslos Design-Humane. Niemand schien zu wissen, wie es nun weitergehen sollte. Trabzon Karett, der Mann mit den Würgemalen am Hals, fragte sarkastisch, ob sie hier wohl ihr Lager aufschlagen sollten. »Das alles scheint mir perfekt organisiert zu sein«, widersprach Atlan. »Bald wird man sich um uns kümmern.« Tatsächlich erschienen eine halbe Stunde später, nachdem eine weitere Fähre gelandet war, zahlreiche Schwebebusse über dem Hafen und landeten zwischen den Ankömmlingen. Die Design-Humanen stürzten sich auf sie. Jeder wollte zu den Ersten gehören, die an Bord gingen – als erhöhe dies ihre Chancen bei der Rekrutierung. Doch der Ansturm wurde schnell gestoppt. Bewaffnete Kattixu in grünen Tarnfeldern sprangen aus den Bussen und gaben Schüsse in die Luft ab. Sofort kam Ruhe in die Reihen der Design-Humanen. Die Kattixu ließen sie passieren, in einer geordneten Reihe einer nach dem anderen. Plötzlich konnten die DesignHumanen sich zivilisiert benehmen. Atlan fiel ein, was er noch über sie gelernt hatte: Sie waren rau und unbeherrscht, aber
15 ihr Volk begriff sich trotz aller Wildheit als Teil einer umfassenden Gesellschaft. Verschiedene Völker des Thoregon-Sternhaufens lieferten Technik, Nahrungsmittel und anderes in die Aegori-Sphäre. Die Design-Humanen stellten dafür ihre Effizienz in den Dienst der Kultur Thoregon. Denn sie begriffen sich alle als Thoregons Kinder, entsprechend der vorherrschenden Philosophie im Sternhaufen. Immer neue Schwebebusse landeten, während die ersten schon wieder starteten – nach Osten, wo sich die planetare Hauptstadt Kavvia erstreckte. Auch das hatten die falschen Prospektoren aus den vor der Landung gezeigten Holos erfahren. Jeder der Busse fasste schätzungsweise hundert Ankömmlinge. Es schien eine Ewigkeit zu vergehen, bis die Reihe an Atlan und seinen Gefährten war. Sie hielten ihre ID-Chips bereit, auf denen ihre Scheinidentität gespeichert war, brauchten sie aber nicht. Im Ersten Thoregon gab es – wie man schon von Alaska Saedelaere und Monkey wusste – so gut wie keine Kontrollen. Sie wurden einfach von den Kattixu durchgewunken und fanden ihren Platz in dem Bus. Nach einigen Minuten hob das Fahrzeug ab. Es gab keine Fenster, aber die Passagiere konnten per Holo sehen, was unter ihnen geschah. Und sie erblickten eine Megalopolis, wie sie beeindruckender kaum sein konnte. Himmelhohe Türme wechselten sich mit quaderförmigen Flachbauten ab. Spiralförmig geschwungene Magnetstraßen führten bis zu den Spitzen der Türme hinauf. Überall herrschte reger Gleiterverkehr. Atlan wurde an einen Bienenstock erinnert. Er schätzte den Durchmesser der Hauptstadt auf mindestens hundert Kilometer. Daran schlossen sich Vorstädte an, Wohnsiedlungen und Parks. Die Stadt war von einem breiten Grüngürtel umschlossen – bis auf eine Ausnahme. Im Süden grenzte an Kavvia ein gewaltiger, den Informationen nach neunzehn Kilometer durchmessender, tief schwarzer Bau,
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Horst Hoffmann
der wie eine überdimensionale Schüssel die Stadt begrenzte: das Herz des Gemm-Katt! Dahinter erstreckte sich unüberschaubar weit der Raumhafen der zentralen Anlage. Überall standen die tiefschwarzen, keilförmigen Einheiten der Kattixu, achtzig Meter lang und 65 Meter breit, ohne jegliche erkennbare äußere Oberflächenstruktur. »Seht euch das an«, sagte der Arkonide zu seinen Begleitern. »Das sind Hunderte!« Die anderen schwiegen beeindruckt. In weiter Entfernung waren jetzt, halb hinter einem Dunstschleier verschwunden, einige Raumhafengebäude zu erahnen, die vermutlich zur Wartung und Ähnlichem dienten. Die Höhle des Löwen!, meldete sich Atlans Extrasinn. Du hast es nicht anders gewollt! Nein, das hatte er nicht. Er hatte mit einer ähnlichen Flottenpräsenz der Kattixu gerechnet – und war doch überrascht. Er vermisste nur ihre Basisschiffe über dem Planeten. Die Gefährten sprachen kein Wort mehr, bis sie vor der »Schüssel« landeten. Jeder war mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt. Sie schwiegen auch noch, als sie an der Reihe waren, den Schwebebus zu verlassen.
* Kattixu wiesen ihnen den Weg ins Innere des Gemm-Katt, und Kattixu nahmen sie in Empfang, zusammen mit Hunderten anderen Ankömmlingen. Es ging durch eine gewaltige Pforte hinein ins Innere der riesigen »Schüssel«. Es herrschte ein unglaubliches Gedränge, trotz aller Disziplinierungsbemühungen der überall gegenwärtigen Kattixu. Atlan und seine Begleiter hatten Mühe, zusammenzubleiben. Manchmal mussten sie sich unterhaken, um nicht im Strom der Neuankömmlinge voneinander getrennt zu werden. Sie wurden gestoßen, geschubst und getreten. Es war wie eine Lawine aus menschenähnlichen Leibern, die sich ins Innere des Gemm-Katt schob. »Lange halte ich das nicht mehr aus«, be-
schwerte sich Trabzon Karett. Seine Stimme klang fast hysterisch. »Die drücken uns die Luft ab!« »Aushalten, Trabzon«, sagte Atlan. »Lange kann es nicht mehr dauern.« Sie wurden durch einen langen, breiten Korridor geführt. Manchmal, wenn sie die Stöße und Knüffe der Nachrückenden spürten, fiel es ihnen schwer, das Gleichgewicht zu halten und nicht zu fallen. Einmal drehte Trabzon Karett durch und schlug wild um sich. Er verschaffte sich und seinen Freunden Respekt, und genau das war es, was die Kattixu anscheinend von ihnen erwarteten. »Ich könnte mit Trim teleportieren, um zu sehen, wo wir herauskommen«, schlug Startac Schroeder vor. »Untersteht euch!«, warnte Atlan. »Denkt an das totale Psi-Verbot. Das gilt für euch beide. Im Gemm-Katt sowie an allen anderen neuralgischen Punkten muss jederzeit mit frisch installierten Psi-Sensoren gerechnet werden!« Der Arkonide sah die Enttäuschung in Schroeders Gesicht und fügte hinzu: »Ihr müsst euch eure Fähigkeiten eben für den absoluten Notfall aufheben.« Dabei war die Grenze schwer zu definieren. Schroeders Orterfähigkeit und Maraths Fähigkeit als Kosmospürer waren rein rezeptiver Natur und konnten genauso wenig ausgeschaltet werden wie zum Beispiel das Gehör. Anders verhielt es sich mit der Fähigkeit der Teleportation. Sie war aktiver Natur. Hier im Gemm-Katt durfte definitiv keine Teleportation stattfinden. Eine Schwachstelle stellte in den Planungen der falschen Prospektoren Trim Maraths Schwarzer Zwilling dar. Der Nebelkrieger manifestierte sich ja nicht bewusst gesteuert, sondern wurde lediglich bei akuter Lebensgefahr aktiv. Atlan war sich des Risikos bewusst, das Marath verkörperte. Der Arkonide wollte jedoch nicht auf Maraths Fähigkeiten als Kosmospürer verzichten – insbesondere dann
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nicht, wenn sie tatsächlich METANU-Station und damit die unmittelbare Nähe von METANU-Tor erreichten. Noch etwas beunruhigte Atlan. Insgeheim erwartete er, plötzlich einen oder mehrere Helioten zu sehen. Zwar waren sie alle vier durch die Tarnkappen geschützt, die sie vor den »Blicken« der Lichtwesen bewahrten. Dennoch blieb ein fades Gefühl. Der Marsch ins Gemm-Katt hinein stockte. Es ging nicht mehr weiter. Atlan und seine Begleiter liefen auf die vor ihnen gehenden Design-Humanen auf, und von hinten drängten die Massen nach. Sie bekamen kaum noch Luft. Und wieder war es Trabzon Karett, der die Nerven verlor und um sich schlug. »Karett!«, rief der Arkonide und nahm seinen Arm. »Jetzt reicht es!« »Sie zerquetschen uns!«, gab der Computerspezialist wütend zurück. »Siehst du das nicht?« »Die Kattixu werden so etwas nicht zulassen«, sagte Trim Marath, scheinbar völlig ruhig. »Beruhige dich wieder, Bruder.« Karett maulte etwas. Dann entspannte sich sein Körper. Atlan fragte sich, ob es nicht ein Fehler gewesen war, ihn mitzunehmen. Aber ohne einen Könner wie ihn wäre die ganze Mission undenkbar gewesen. Und bei früheren Missionen hatte sich der ehemalige Agent mehrfach bewährt. Der Arkonide beschloss dennoch, ein wachsames Auge auf Karett zu haben.
* Ganz langsam ging es wieder vorwärts. Trabzon Karett versuchte durch spezielle Atemübungen, die innere Anspannung zu lösen. Halbwegs gelang es ihm, aber die Angst blieb. Ohne sich dessen bewusst zu sein, strich er sich mit der Hand über den Hals, dort, wo die Würgemale waren. Doch seine Finger betasteten nur die kalte Chamäleonhaut seiner Verkleidung.
Der Computerspezialist fühlte sich nicht wohl darin. Er war beengt, und beengt zu sein war für ihn so ziemlich das Schlimmste, was es gab – ob es nun in diesem speziellen Fall seine Maske betraf oder das Eingeklemmtsein zwischen Hunderten, nein Tausenden von fremden Wesen. Er hatte so etwas schon einmal erlebt, damals auf Thorpei, und er wollte es nie wieder. Schritt für Schritt ging es vorwärts. Karett wäre am liebsten gerannt. Er wollte in die Höhe springen, um über die Köpfe der Design-Humanen sehen zu können, was sich vor ihnen befand. Aber dadurch hätte er sich noch auffälliger gemacht. Atlan hatte selbstverständlich Recht. In ihrer Lage durften sie sich keinerlei Aufsehen erlauben – er schon gar nicht. Er war so etwas wie das Herz der gesamten Operation. Wenn er ausfiel oder von den anderen getrennt wurde, konnten sie aufgeben. Trabzon Karett war beileibe kein Feigling, im Gegenteil. Aber er litt unter einem Handicap. Wenn er sich nicht bewegen konnte und er eingeschlossen war, kam die alte Angst wieder in ihm hoch, die Panik, die ihm kein Psychologe nehmen konnte. Die furchtbare Erinnerung … Etwa eine Stunde lang musste er untätig ausharren. Im Schneckentempo kamen sie voran. Der breite Korridor war hell erleuchtet. Dann plötzlich waren Markierungen an den Wänden und an der Decke zu sehen: leuchtende Pfeile, die Wegschleusen markierten. Nun gab es Barrieren, zwischen denen die Ankömmlinge hindurchmussten. Wie in enge Pferche gepresst ging es weiter, zwar immer noch langsam, aber immerhin. Die Design-Humanen folgten den Pfeilen. Die Gruppe Atlan hatte Mühe, zusammenzubleiben. Endlich sah Trabzon Karett die ersten Abfertigungsterminals vor sich. Es waren Hunderte, an denen offenbar Hunderte von Design-Humanen gleichzeitig abgefertigt wurden. Sie waren mit Kattixu besetzt. Wie im-
18 mer bisher, wenn Karett diese Wesen in ihrem typischen schattenhaften, grünlich leuchtenden Verzerrerfeld sah, kamen ihm ihre verwaschenen Gesichtszüge unwillkürlich dämonisch vor. Er atmete tief durch. Jetzt würde sich zeigen, was ihre Vorbereitungen wert gewesen waren. Trabzon Karett ging als letzter der Azeitto-»Brüder« in ihrer Warteschlange. Einem Impuls folgend, drängte er sich an Atlan, Trim und Startac vorbei. Es ging nicht ohne Beschwerden seitens der Mutanten ab, doch Atlan schien seine Absicht zu durchschauen. Wenn jetzt, bei der ersten erwarteten Kontrolle, etwas schief ging, war er der Einzige, der die Sache vielleicht ausbügeln konnte. Dann waren die vier Männer an der Reihe. Karett hielt den Atem an. Die Kattixu saßen zu beiden Seiten der Schlange in kleinen, gläsernen Kabinen, die nach vorne hin offen waren. Einer von ihnen streckte dem Computerspezialisten eine Hand entgegen. Karett reichte ihm seinen ID-Chip, den die TLD-Agenten auf Aegori-A für ihn und seine Begleiter mit ihren Pseudodaten bespielt hatten. Der Kattixu schob den Chip in ein Lesegerät. Jetzt musste sich alles entscheiden. Die Sekunden erschienen dem Computerspezialisten unendlich lang – bis der Kattixu den Chip nahm und ihn an Karett zurückreichte. Er winkte ihn weiter. Trabzon Karett fiel eine Zentnerlast von der Schulter. Er ging einige Schritte weiter und wartete auf seine Gefährten. Vor ihm löste sich der Stau aus »Menschen«-Leibern auf. Wer die Terminals passiert hatte, hatte freie Bahn, was seine Beweglichkeit betraf. In Wirklichkeit wurden sie nur zum nächsten Test geführt. Wie nicht mehr anders zu erwarten, wurden auch Atlan, Trim Marath und Startac Schröder als Azeitto-Brüder bestätigt und konnten weitergehen. Ihre Leute auf Aegori-
Horst Hoffmann A hatten gute Arbeit geleistet. Jenseits der Enge fühlte sich Trabzon Karett wie neugeboren. Vorbei waren die Angst und das Panikgefühl in der Menge, die ihn auf so fatale Weise an die Menge von Wesen aller Art auf Thorpei erinnerte, den grölenden Mob, der feierte … Er wollte davon nichts mehr wissen. Er wollte es ein für alle Male vergessen. Fast wäre ihm das auch gelungen. Bis zum heutigen Tag wieder … »Sie fordern uns zum Weitergehen auf«, sagte Atlan. »Gehen wir.« Tatsächlich winkten Kattixu die Ankömmlinge weiter in die riesige Anlage hinein. Die falschen Brüder folgten dem Strom der Design-Humanen. Vor ihnen waren zahlreiche Kabinen zu erkennen, ohne Fenster, nur mit einer Tür. Dafür sagte eine Lautsprecherstimme: »Es folgt die medizinische Überprüfung von Fitness und körperlichem Leistungsvermögen. Betretet dafür die Untersuchungskabinen, sobald ihr an der Reihe seid. Ihr werdet geführt!« Für Trabzon Karett stand fest, dass hier nun die zweite Vorauswahl stattfand, nach der Identitätskontrolle. Er wusste aber auch, dass sie diesen Test niemals überstehen konnten, ohne als Maskierte aufzufallen. Oder waren sie das schon? Hatten die Kattixu in der Interplanetar-Fähre besser hingesehen, als ihnen lieb sein konnte? Hatten sie einer der Bodenstationen Meldung erstattet, mit dem Hinweis darauf, dass die angeblichen Prospektoren viel bessere Kämpfer waren als die üblichen DesignHumanen? In den Untersuchungskabinen aber konnte es genau umgekehrt sein. Vielleicht wurden körperliche und geistige Reaktionen verlangt, mit denen die Menschen nicht dienen konnten – jedenfalls nicht, ohne ihre Masken fallen zu lassen. Ein Kattixu tauchte vor ihnen auf und führte Trabzon Karett als Ersten in eine der Kabinen. Hinter ihm schloss sich die Tür. Er sah im kalten Kunstlicht vor sich verschie-
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dene Apparate. Egal, welche Anforderungen sie an ihn stellten: Er würde sich niemals so bewegen wie ein Design-Humaner, so klein die Unterschiede auch waren. Er würde auffallen, und dann … Thorpei, ein Planet des Arkon-Imperiums. Er war als TLD-Agent enttarnt worden. Und danach – der Galgen; die grässliche Grimasse des Todes. Die aufgeputschte Menge rings um ihn herum, Tausende, Zehntausende aufgehetzter Menschen … Er hatte es überstanden, aber das hier war genauso gefährlich. Ein Kattixu betrat hinter ihm die Kammer. Er stellte verschiedene Instrumente für ihn ein. Trabzon Karett kämpfte um seine Beherrschung. Es kostete ihn Überwindung, dem Fremdartigen nicht an die Kehle zu springen. Er musste ruhig bleiben, ruhig und auf die Arbeit der TLD-Leute auf Aegori-A vertrauen – und nicht zuletzt auf die Agenten, die auf dem Zentralplaneten im Verborgenen wirkten. Gerade auf sie kam es jetzt an. Wenn sie sich nur einen einzigen Fehler erlaubten, war es um die Gruppe Atlan geschehen. Trabzon Karett hatte sie an Bord der SOL instruiert. Wenn sie scheiterten, war es sein Scheitern. Er hoffte und wollte das nicht. Der Plan musste klappen!
5. METANU-Station Zog Markarm hatte alle notwendigen Schritte eingeleitet. METANU-Station war psi-sicher gemacht worden. Kein PsiBegabter hatte von nun an noch eine Chance, etwa zu teleportieren, zu orten oder Telekinese anzuwenden. Auf seine Spezialisten konnte sich der Sicherheitschef der Station unbedingt verlassen. Aber nicht auf seinen Körper. Immer häufiger zog er sich in sein Quartier zurück, wenn er es vor Schmerzen nicht mehr aushalten konnte. Die Wunde am Bein war gelblich umrandet und hatte Blasen gebildet,
aus denen Blut und Eiter quollen. Aber immer noch weigerte sich Markarm, sich den Ärzten anzuvertrauen. Auf illegalem Weg hatte er sich Antibiotika besorgt, die er sich spritzte. Auch das tat höllisch weh, doch Zog Markarm war dazu erzogen worden, Schmerzen zu ertragen. Wirklich schlimm wurde es nur, wenn sie sein Denkvermögen trübten. Denn das konnte er in einer Lage wie dieser absolut nicht brauchen. Er hatte sich gerade frisch verbunden und angezogen sowie ein neues Dampfbad genommen, als der Türsummer aufklang, und das mitten in einem Gebet an die Gottheit Thoregon. Diese Gebete fanden an jedem Tag zur gleichen Zeit statt und waren heilig. Überrascht, wer ihn trotzdem ausgerechnet jetzt in seiner Privatsphäre zu stören wagte, warf Markarm einen Blick auf den Monitor über dem Eingang. »Essiam!«, entfuhr es ihm. »Mo Essiam!« Er betätigte den Öffner. Die Tür glitt zur Seite, und der junge Kattixu trat ein. Er lächelte und deutete eine Verbeugung an. »Was führt dich zu mir?«, fragte Markarm und lud seinen unerwarteten Gast mit einer unwilligen Geste ein, sich niederzulassen. Er setzte sich nicht über das Gebot der Gastfreundschaft hinweg. »Etwas zu trinken?« »Das wäre nicht schlecht«, gab sein Gegenüber zurück. Zog Markarm bemühte nicht seinen Servo-Roboter, sondern holte selbst zwei hohe Gläser und eine Flasche aus einem Schrank. Er goss die Gläser halb voll und setzte sich Essiam gegenüber. Dann prosteten sie sich zu und tranken. »Ich wollte dich im Kampf nicht verletzen«, sagte Markarm. Wirklich sah er in Mo Essiam fast so etwas wie einen Sohn. Er war sein Schützling, den er gegen alle Widernisse des Lebens verteidigte. Eines Tages konnte er vielleicht seine Nachfolge antreten. »Das musst du mir glauben.« »Ich weiß es.« Mos Gesichtszüge verrieten eine andere Sprache. »Aber du hast mich
20 besiegt, und ich wünsche eine Revanche. Ein zweites Mal überraschst du mich nicht.« Er trug es kalt vor. Zog Markarm fröstelte es. War das der junge Kattixu, den er protegiert hatte? Auf den er all seine Hoffnungen setzte? Noch gab er nicht auf. Er ließ sich vom Robot eine Pfeife bringen und stopfte sie mit Sharit. Er rauchte selbst an, dann gab er sie an Essiam weiter. Süßlicher Duft erfüllte den Raum. »Bestehst du wirklich auf einer Revanche?«, fragte Markarm, nachdem die Glut erloschen war. Er fühlte sich heiter. Sharit rauchte man nur unter guten Freunden und zu besseren Gelegenheiten. Der Sicherheitschef erkannte, dass jetzt nicht die Zeit dazu gewesen war. »Wir sind doch Freunde, Mo, und ich will dir nicht wieder wehtun. Wie gesagt, es war keine Absicht …« In diesem Augenblick durchzuckte ihn ein stechender Schmerz. Sein Bein schien zu brennen. Er verzog das Gesicht und stöhnte laut auf. Viel zu spät erkannte er, dass er sich damit eine Blöße gegeben hatte. »Was hast du?«, fragte Mo Essiam. »Nichts«, stöhnte Markarm. »Vergiss es!« Die beiden Kattixu saßen sich gegenüber. In Essiams Gesicht war keine Regung zu erkennen, bis er sagte: »Ich bestehe auf der Revanche und warte auf eine Antwort, Zog Markarm.« »Ich bin bereit«, sagte Markarm wider besseres Wissen. Mit der aufgebrochenen Beinwunde hatte er diesmal keine Chance gegen den Jüngeren. »Aber lass mir Zeit. Du hast hoffentlich mitbekommen, dass METANU-Station quasi in Alarmzustand versetzt worden ist.« »Es ist mir nicht entgangen«, sagte Essiam. »Deshalb räume ich dir eine Frist von drei Tagen ein. Bis dahin musst du dich stellen. Du weißt, welche Folgen ein Verweigern haben würde.« Zog Markarm wusste es nur zu gut. Er würde zum Feigling werden. Jeder Kattixu würde über ihn spotten. Das durfte und konnte er sich nicht erlauben, wenn er länger
Horst Hoffmann Sicherheitschef bleiben wollte. »Kann es sein, dass du mich hasst?«, fragte der Sicherheitschef. »Warum, Mo? War ich nicht immer wie ein Vater zu dir?« »Eben deshalb«, sagte Essiam. »Ich will meinen eigenen Weg gehen. Und du bist mir dabei hinderlich. Ich brauche deine Unterstützung nicht.« Damit erhob er sich und ging. Kurz vor der Tür drehte er sich noch einmal um und sagte: »Drei Tage, vergiss das nicht.« Zog Markarm blieb allein zurück, allein mit seinem schmerzenden Bein. Und er wusste: In dieser Verfassung konnte er keinen weiteren Kampf gewinnen. Seine Ahnung sagte ihm, dass schwere Tage auf METANU-Station zukommen würden. Dann musste er gewappnet sein. Aber wie mit der ausufernden Wunde an seinem Bein? Wenn Mo Essiam Ernst machte, und das war eine Frage der Ehre, war er tot.
6. Aegori-B Atlan und die beiden Mutanten waren bereits abgefertigt. Was sich da in seinen Rücken gebohrt hatte, war zum Glück nur der Daumen des Arkoniden gewesen, mit dem er auf sich aufmerksam zu machen versucht hatte. Also keine Waffe eines Kattixu, wie Karett anfangs befürchtet hatte. »Es hat geklappt«, sagte Schroeder. »Und zwar bei jedem von uns. Du kannst ruhiger werden, Trabzon.« Sie standen zusammen zwischen den Untersuchungskabinen, während Design-Humane an ihnen vorbeigeführt wurden, immer tiefer ins Herz von Gemm-Katt hinein. Ein Kattixu-Führer kam zu ihnen und nahm sich ihrer an, nachdem sie klar gemacht hatten, dass sie unbedingt zusammenbleiben wollten. Sie betraten einen Antigravschlitten, und sofort ging es weiter in das Gemm-Katt hinein, durch scheinbar endlose Korridore. Überall wimmelte es von DesignHumanen und ihren Kattixu-Führern.
METANU-Station
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Dann endlich hielt der Antigravschlitten vor einer Tür. »Wir sind vorerst am Ziel«, sagte der Führer. »Hinter dieser Tür liegt euer Quartier. Zunächst werdet ihr zusammen hier wohnen. Danach sehen wir weiter. Es hängt davon ab, wie ihr euch in der Ausbildung bewähren werdet.« »Wir danken dir«, sagte Atlan. Der Arkonide musste sein Urteil über die Kattixu revidieren. Sie entsprachen nicht dem Feindbild, das er sich von ihnen gemacht hatte. Wahrscheinlich war es ein großer Irrtum gewesen. Sie handelten im Auftrag und glaubten genauso an ihre Mission wie er an die seine. Die Frage war nur, in wessen Diensten sie wirklich standen.
* Es war ein großer Schlafraum, ausgelegt für sechs Personen. Das zeigte die Zahl der aufgestellten Pritschen an den Wänden. In der Mitte des Raums stand ein primitiver Tisch mit Stühlen. Angeschlossen war eine Hygienezelle. »Wer sagt's denn?«, meinte Startac Schroeder. »Eine Palastsuite ist das wirklich nicht, aber für unsere Zwecke ausreichend.« Mit geschultem Blick suchten die vier Männer den Raum nach Wanzen und verborgenen Kameraaugen ab, zum Glück ohne Erfolg. Sie konnten nichts entdecken. Trotzdem mussten sie vorsichtig sein. »Ich brauche vorerst keinen Schlaf«, sagte der Arkonide, »aber ihr solltet euch für ein paar Stunden hinlegen, Marath und Shroder.« Sie benutzten wieder ihre Tarnnamen. »Ihr wart drei Tage am Stück auf den Beinen und müsst müde sein. Wenn's darauf ankommt, brauche ich ausgeschlafene Brüder. Das gilt leider nicht für dich, Karett.« »Ich verstehe«, sagte der Computerspezialist, für den jetzt erst die eigentliche Arbeit begann. Trim Marath und Startac Schroeder waren einsichtig genug, um auf Atlans Rat zu hören. Jeder suchte sich eine Pritsche aus und
schlug die Decken zurück. »Aber ihr weckt uns, wenn sich etwas tut«, sagte Schroeder. Atlan versprach es. Es dauerte keine Viertelstunde, bis die Mutanten eingeschlafen waren. Startac schnarchte laut, was Atlan nur lieb sein konnte. So konnte er sich besser mit Trabzon Karett unterhalten. Etwaige doch vorhandene Wanzen konnten mit dem Getuschel garantiert nichts anfangen. Der Arkonide und der Terraner besprachen die Situation sowie Karetts erste Schritte. In dem hohlen Teil seiner Maske, über dem Brustkorb, führte der ehemalige TLD-Agent diverses Gerät zur Manipulation von Computern mit sich. Eines davon war ein spezielles multifunktionales Funkgerät. Er holte es heraus, nachdem er noch einmal die Decke und die Wände unter die Lupe genommen hatte. »Ich glaube nicht an Kameras«, sagte Atlan leise. »Hier gibt es Tausende von Design-Humanen. Die Kattixu können sie unmöglich alle überwachen.« »Hoffentlich hast du Recht.« Trabzon Karett machte sich an die Arbeit. Er strahlte einen ultrakurzen Impuls aus, der an die auf Aegori-B versteckten Agenten gerichtet war. Es dauerte nur Sekunden, bis er Antwort erhielt. Der Impuls war ebenfalls ultrakurz und hochgradig verschlüsselt. Er kam von dem »draußen« operierenden Kommando. Atlan sah angespannt zu, wie Karett ihn mit seinem Spezialgerät entschlüsselte. Dann nickte der Spezialist zufrieden. »Es sind sämtliche bereits ermittelten Zugangskodes plus Datenmaterial«, verkündete Trabzon. »Respekt.« »Und nun?«, fragte Atlan. Karett nickte. »Nun werde ich versuchen, mich drahtlos in die Computersysteme des Herzens einzuloggen, unter Verwendung desselben Funkgeräts.« Er begann mit der Arbeit. Atlan sah ihm schweigend und mit heimlicher Bewunderung zu. Er wusste, dass er den Spezialisten
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Horst Hoffmann
jetzt nicht stören durfte. Doch dann stieß Karett einen kurzen Pfiff aus. »Ich bin drin«, sagte er. »Ein vergleichsweise primitives System, die brauchen hier auch nichts Komplexes. Die Zugangskodes funktionieren auf jeden Fall jetzt einwandfrei. Was soll ich den Computern eingeben?« »Vorerst noch nichts. Wir vier haben natürlich nicht die Zeit, die Grundausbildung der Kattixu mitzumachen. Einige Tage müssen reichen – sagen wir: vier. Danach musst du unseren Status auf vollständig ausgebildet setzen und uns mit Hilfe einer weiteren Computermanipulation nach METANU-Station versetzen lassen.« Trabzon Karett pfiff durch die Zähne. »Das wird riskant werden«, sagte er. »Verdammt riskant, aber wir werden es schaffen. Schlimmer werden die vier Ausbildungstage sein. Man wird uns als Neuankömmlinge nicht gerade mit Samthandschuhen anfassen. Wie ich das Ganze praktisch ohne Schlaf aushalten soll, weiß ich nicht. Denn nachts muss ich die Computer der Kattixu schon einmal vorsichtig präparieren und außerdem mit unseren Agenten Kontakt halten.« »Bevor du uns umfällst, lassen wir dich schlafen«, versprach der Arkonide. »Wenigstens für ein paar Stunden.« »Warten wir's ab«, sagte der Computerspezialist skeptisch.
* Schlaf fand er keinen. Trabzon Karett war tatsächlich die ganze Nacht über beschäftigt. Der nächste Tag begann mit einer Mahlzeit, die, wie man im Vorfeld ermittelt hatte, für menschliche Mägen gut verträglich war. Die vier Männer aßen in aller Ruhe, wobei sie wussten, dass es damit bald für sie vorbei sein würde. Später wurden sie abgeholt. Überall waren Gruppen von Design-Humanen unterwegs, jeweils geführt von einem Kattixu. Sie vereinten sich zu größeren Gruppen, bis es
schließlich auf den Innenhof hinausging. Als die angeblichen Brüder auf einem Antigravschlitten ins Freie gebracht wurden, sahen sie schon Hunderte von Humanoiden, die von Kattixu in Reih und Glied manövriert wurden. Die Azeittos bekamen ihren Platz zugewiesen. Sie sprangen von dem Schlitten und nahmen Aufstellung. Trabzon Karett war nervös. Schon wieder diese Ansammlung von Design-Humanen. Obwohl es diesmal kein Gedränge gab, machte es ihn unsicher. Der ehemalige TLD-Agent verspürte noch immer die Angst, sich zu verraten. Vielleicht hätte es ihm geholfen, mit Atlan und den Mutanten darüber zu sprechen, doch das hätte sie nur beunruhigt. Nein, er musste selbst damit fertig werden. Vielleicht war es auch nur die Müdigkeit; die Furcht davor, dass ihm einfach die Augen zufielen oder er umkippte. Karett zwang sich zur Konzentration. Jetzt sah er, wie überall vor den DesignHumanen große Antigravplatten mit Kattixu aufstiegen. In fünf Metern Höhe hielten sie an, und Karett hörte, was auch alle anderen hörten. Die Kattixu sprachen per Lautsprecher zu den Auszubildenden. Trabzon sah, wie Atlans Gestalt sich versteifte. Die beiden Mutanten zeigten keinerlei Regung. Er beneidete sie um ihre Ruhe. »Anwärter!«, schallte die raue Stimme eines der Grünverzerrten über den Innenhof. »Ihr seid alle gekommen, um in den Dienst Thoregons zu treten. Nur wenige von euch werden es schaffen. Das ist euch bekannt. Ein großer Teil wurde bereits bei den ersten Untersuchungen ausgesiebt und zurück nach Hause geschickt. Ihnen wurde die Erinnerung an das genommen, was sie im Herzen des Gemm-Katt gesehen und gehört haben. Das Gleiche trifft jeden von euch, der die Rekrutierung nicht besteht. Das werden noch neunzig Prozent sein. Nur jeder Zehnte wird die Prüfungen der nächsten Tage mit Erfolg absolvieren. Niemandem, bei dem
METANU-Station dies nicht der Fall ist, wird ein Leid zugefügt, nur die Erinnerung muss gelöscht werden. Das gilt für alles, was ihr hier erlebt habt.« Der Sprecher machte eine Pause. Trabzon Karett hörte, wie neben und hinter ihm getuschelt wurde. Offenbar nahmen einige der Design-Humanen die Worte aus den unsichtbaren Lautsprechern doch als Drohung. Trabzons »Brüder« schwiegen. Er selbst zwang sich zur Geduld und versuchte sich klar zu machen, dass für sie keine Gefahr bestand, solange sie nicht aus der Rolle fielen. Bis zum Betreten der »Schüssel« hatten sie das gekonnt. Es war sogar von ihnen erwartet worden. Doch nun war das anders, glaubte er. Die Kattixu würden bestimmt keinen Aufstand und keine Schlägereien unter den DesignHumanen dulden. Hier hatten sie das Sagen, sie ganz allein. »Ihr werdet hier und jetzt erste Informationen erhalten, die für euch wichtig sind, um einmal wie wir zu Kattixu zu werden«, fuhr der Sprecher fort. »Vorher jedoch bekommt jeder von euch seine Kombination, den Xaram. Dabei handelt es sich um ein spezielles schwarzes Kleidungsstück, dessen Stoff sich der Statur seines Trägers automatisch anpasst. Ihr werdet sehen, dass um die Brustbereiche des Xaram-Overalls in einer Art Paillettenmuster metallene Plättchen aufgeklebt sind, welche die Technik für den Verzerrer enthalten. Sobald ihr als Kattixu im Dienst sein werdet, müsst ihr stets und unbedingt eure Maske einschalten: die optischen Verzerrerfelder. Völker anderer Herkunft dürfen niemals die wahre Identität der Kattixu, nämlich die von Design-Humanen, erkennen!« Trabzon Karett wunderte sich über die Offenheit, mit der der Kattixu sprach – immerhin vor einem Auditorium, von dem im Laufe der weiteren Tests neunzig Prozent wieder zurückgeschickt wurden. Wie sicher konnte er sich sein, dass die Gedächtnislöschung bei jedem von ihnen funktionierte und niemand etwas von den Geheimnissen
23 der Kattixu verriet? Völker anderer Herkunft dürfen niemals die wahre Identität der Kattixu erkennen … Die Reaktion der Design-Humanen um ihn herum ließ Karett zu dem Schluss kommen, dass auf diese Weise Mythen geschaffen werden sollten. Die Masken der Kattixu waren Teil einer subtilen Unterdrückung. Karett wurde abgelenkt, als große Mengen von Antigravscheiben in den Innenhof geschwebt kamen, jede von ihnen beladen mit tiefschwarzen Monturen, die an die Design-Humanen verteilt wurden. Auch das war seltsam: Neunzig Prozent würden sie nach nicht bestandenen Prüfungen wieder abgeben müssen. Das Verteilen der Overalls dauerte geschlagene zwei Stunden. Trabzon Karett nahm seinen Anzug in Empfang, Atlan und die beiden Mutanten ebenfalls. Sie hielten sie auf den Armen und warteten auf das Kommando, sie anzulegen. Doch sie warteten vergebens. Stattdessen wurden sie aufgefordert, die Monturen bei sich zu tragen und sie in ihre Unterkünfte mitzunehmen. Man würde ihnen sagen, wann sie sie anzuziehen hatten. Plötzlich, es war schon früher Nachmittag, spürte Trabzon Karett ein schmerzhaftes Ziehen im Oberbauch. Unwillkürlich beugte er sich stöhnend nach vorn. Dann war es vorbei. Ein schneller Blick auf seine Gefährten verriet ihm, dass keiner von ihnen ähnliche Beschwerden hatte. Er schob es auf seine Nervosität, und gerade das beunruhigte ihn. Wenn es schlimmer wurde … Immer noch standen die Design-Humanen in Reih und Glied, jeder mit seinem schwarzen Anzug auf den Armen. Da erklang die Stimme des Kattixu-Sprechers erneut. Wenn Trabzon geglaubt hatte, dass es für heute genug gewesen wäre, sah er sich jetzt getäuscht. Es ging weiter. Der Sprecher wiederholte seine Warnung noch einmal. Wer ein Kattixu war, wer sich im Dienst befand, tat dies im Namen der Gottheit Thoregon – und zwar maskiert. Es
24 handle sich hier um eine lange Tradition, die sich bewährt habe. Noch aber war es nicht so weit. Die Positroniken, in den Masken der falschen Brüder verborgen, arbeiteten die ganze Zeit über mit Hochdruck daran, den Algorithmus zu knacken, mit dem die Verzerrerfelder arbeiteten. Die Gesichter der Kattixu wurden ja nicht vollständig verborgen, sondern lediglich unkenntlich gemacht. Zu sehen war ja immer nur die »Teufelsfratze«, die dem Gesicht Leben verlieh. Sie wollten auch ohne die Xaram-Anzüge erkennen, mit wem sie es zu tun hatten. Aber vorerst gab es keinen Erfolg. Andere Details hingegen forderten die ganze Aufmerksamkeit der Galaktiker. Der Kattixu-Sprecher stellte das Rangsystem seiner Artgenossen vor, das sich jeder Anwärter einzuprägen hatte. Ebenso erläuterte er, wie man die Ränge als Kattixu dann unterhalb des Verzerrfeldes wahrnehmen konnte. Demnach gab es drei Arten von Mannschaftsdienstgraden: den Taffael als untersten Mannschaftsdienstgrad, den Go'Taffael als mittleren und den Si'Taffael als obersten Mannschaftsdienstgrad. Ihnen übergeordnet waren der Cambo als unterster Offiziersgrad, der Go'Cambo als mittlerer Offiziersgrad und der Si'Cambo als oberster Offiziersgrad. Schließlich folgten der Paz als Kommandant und der Si'Paz als Admiral. Der Kattixu, der sich als Si'Cambo vorgestellt hatte, redete weiter, doch Karett bekam davon nicht mehr viel mit. Er hörte nur so viel, dass die eigentliche Ausbildung am anderen Tag beginnen sollte und die DesignHumanen jetzt in ihre Unterkünfte zurückkehren sollten. Er war ihm dankbar dafür, denn jetzt kamen die Schmerzen wieder. Es waren Krämpfe im ganzen Leib. Karett konnte sich kaum noch gerade halten. Alles verschwamm vor seinen Augen. Halb bekam er noch mit, wie sich die Kattixu auf ihren Plattformen zurückzogen und ihre Führer wieder erschienen. Atlan und Startac Schroeder hakten ihn
Horst Hoffmann unter und trugen ihn auf den bereitstehenden Antigravschlitten. Ihr Kattixu-Führer schien nichts zu bemerken. Und falls doch, so zeigte er sein Misstrauen nicht. Eine halbe Stunde später waren sie zurück in ihrem Schlafquartier. Kaum, dass sich die Tür hinter ihnen geschlossen hatte, schwankte Trabzon in die Hygienezelle und übergab sich. Ihm folgte Trim Marath. Danach kam Startac Schroeder. Trabzon Karett krümmte sich auf seiner Pritsche. Obwohl durch das Brechen befreit, hatte er das Gefühl, von innen heraus explodieren zu müssen. Noch schlimmer war die Furcht, sich durch seine furchtbaren Beschwerden demaskieren zu müssen – und dadurch das gleiche Schicksal zu erleiden wie auf Thorpei …
* Nur Atlan blieb vorerst verschont. Während seine Gefährten einer nach dem anderen in die Hygienezelle verschwanden, um sich dort zu erleichtern, verspürte er kein Unwohlsein. Der Arkonide führte es auf die neutralisierende Wirkung seines Zellaktivators zurück, was nichts anderes bedeutete, als dass seine Freunde vergiftet worden waren – durch etwas, das sich in ihrer Nahrung befunden hatte. Sie hatten offenbar etwas übersehen, was von seinem Aktivatorchip unwirksam gemacht worden war. Die Stunden vergingen. Trim, Startac und Trabzon waren bei Einbruch der Nacht praktisch aktionsunfähig. Karett war nicht mehr in der Lage, seine eigentliche Aufgabe auszuführen, nämlich den Einbruch und die Manipulation der Computersysteme des Gemm-Katt-Herzens. Atlan blieb keine andere Wahl, als sich persönlich das zur Verfügung stehende Datenmaterial vorzunehmen. Dazu verließ er ihr gemeinsames Quartier und schlich sich in den nächstbesten Com-
METANU-Station puterraum. Der Gang war nicht bewacht und nur spärlich erhellt. Lautlos betrat er den Computerraum. Er war glücklicherweise leer. Atlan arbeitete sich in die Funktionen des Computers hinein, ausgestattet mit Trabzon Karetts speziellem Funkgerät. Es dauerte Stunden, und immer musste er mit einer Wachablösung rechnen. Mehr noch: Falls ihr Quartier doch überwacht wurde, konnte sein Verschwinden jeden Moment einen Alarm auslösen. Dann hatte er endlich Erfolg: Die Mentalität der Design-Humanen war aufbrausend und lebhaft, so, wie sich Atlan und seine Gefährten auch in ihrer Rolle als Prospektoren eingangs gegeben hatten. Als Kattixu jedoch hatten sie emotionslos und kalt zu agieren. Um dies zu erreichen, wurden sämtliche Design-Humanen im Dienst des Gemm-Katt auf Caam gesetzt. Und Caam, das ging aus den Computerdaten eindeutig hervor, war nichts anderes als eine psychogen wirkende Droge. Das Ausbildungssystem im Gemm-Katt war für Atlan eine Mischung aus permanenter Gehirnwäsche und Hochleistungsdrill. So schätzte er es jedenfalls ein. Das Caam spielte dabei eine wichtige Rolle: Es nahm den Design-Humanen die ungestüme Wildheit und machte sie zu höchst effizienten Polizisten. Nach Ableisten der Dienstzeit wurde das Caam jeweils abgesetzt, und die Erinnerungen, die unter Caam zustande gekommen waren, verblassten in der Regel rasch. Allerdings, dachte der Arkonide, konnte das nicht mit der Löschung der Erinnerung bei den Design-Humanen identisch sein, die die Grundausbildung nicht bestanden hatten oder bereits aussortiert worden waren. Letztere hatten noch gar kein Caam bekommen. Atlan las weiter. Alle Dienstverpflichteten im Gemm-Katt standen also permanent, während ihrer gesamten Dienstzeit, unter dem Einfluss der Droge. Jeder Design-Humane erhielt seine individuelle Dosis, die nach Abschluss der medizinischen Grunduntersuchung festgelegt wurde.
25 Die vier falschen Prospektoren hatten diese Untersuchung jedoch übersprungen. Die Caam-Dosis war in ihrem Fall auf den Wert »Standard« gesetzt worden. Das war ein Flüchtigkeitsfehler, den das »draußen« operierende Kommando begangen hatte, der aber durch den Zeitdruck mehr als nur entschuldbar war. Allerdings hatte man jetzt die Bescherung. Das Caam übte auf Atlans Gefährten eine verheerende Wirkung aus. Die Computer des Herzens mussten ihre Caam-Dosis unbedingt auf null setzen. Aber dazu war der Arkonide nicht in der Lage. Trabzon Karett war jetzt doch gefordert! Atlan verließ den Computerraum. Vorsichtig schlich er zurück zu ihrer Unterkunft. Er gab das vereinbarte Klopfzeichen, und Trim Marath öffnete ihm. Der junge Mutant war totenbleich. Atlan schloss die Tür hinter sich und setzte sich auf den Rand der Pritsche, auf der Trabzon Karett lag. Kurz berichtete er, was er herausgefunden hatte. Dann legte er dem Computerspezialisten eine Hand auf die Schulter. »So sieht es also aus, Trabzon«, sagte er. »Wir brauchen dich. Wie fühlst du dich?« »Schön, dass du schon danach fragst«, antwortete Karett mit schwacher Stimme. »Die Schmerzen haben nachgelassen, aber ich bin vollkommen schlaff. Außerdem ist da noch das Schwindelgefühl. Verdammte Droge – dass wir daran nicht gedacht haben!« Trabzon, auf dem Rücken liegend, richtete den Oberkörper auf und stützte sich auf die Ellbogen. »Gebt mir ein Aufputschmittel, damit ich mich an die Arbeit machen kann.« »Es kann riskant werden«, sagte Atlan. »Zwei miteinander konkurrierende Medikamente …« »Ach was. Schlimmer als jetzt kann es nicht kommen.« Atlan klopfte ihm dankbar und aufmunternd auf die Schulter. Dann wandte er sich
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Horst Hoffmann
an Trim Marath, der ihre »Reiseapotheke« im Brustkorbversteck trug. »Du hast es gehört«, sagte er zu dem Mutanten. Trim litt ganz offensichtlich stumm, genau wie Startac. Aber es ging ihnen besser als vor seinem Alleingang. Wahrscheinlich hatten sie sich auch schon etwas injiziert.
* Nach einer Viertelstunde wirkte das Mittel. Trabzon Karett konnte aufstehen. Atlan stützte ihn noch und führte ihn zum Tisch, setzte ihn auf einen der Stühle. Noch war der Spezialist wacklig auf den Beinen, aber das kam vom Schwindel. Dann brach sein Kreislauf zusammen. »Trim, ein stabilisierendes Mittel!«, rief der Arkonide. »Schnell!« »Noch ein Medikament?«, fragte der Mutant. »Das kann noch größere Schwierigkeiten geben.« »Es muss jetzt sein!«, drängte Atlan. »Wir haben damit angefangen und müssen es zu Ende führen. Ich verantworte es.« Der Mutant gehorchte. Er reichte Atlan ein Injektionspflaster, und dieser wagte es, Karetts Maske im Nacken zu öffnen und das Pflaster auf seine Haut zu kleben. Darüber verschloss er die Verkleidung wieder sorgfältig. Banges Warten begann, bis sich Karetts Gestalt langsam wieder entkrampfte. Der Schüttelfrost, unter dem er gelitten hatte, hörte auf. Karett atmete tief und ruhig. Er sah seine Gefährten der Reihe nach an. Schroeder holte ihm aus einem Spender einen Becher mit Wasser. Karett trank in vorsichtigen Zügen. »Ich dachte, ich käme nicht mehr auf die Beine«, sagte er dann. »Was immer ihr mit mir angestellt habt – danke!« »Traust du dir zu, dich wieder in die Computersysteme des Herzens einzuloggen?«, fragte der Arkonide. »Lass ihn doch erst einmal richtig zu sich kommen!«, verlangte Startac.
Doch Karett hob eine Hand und winkte ab. »Ich muss es versuchen«, sagte er. »Atlan?« Der Spezialist streckte fordernd die Hand aus. Atlan reichte ihm sein Multifunktions-Funkgerät. Karett wischte sich über die Stirn und betastete seinen Hals. Danach begann er mit seiner Arbeit. »Was macht dein Schwindel?«, erkundigte sich Marath. »Das ist vorbei«, versicherte Karett. »Dein Medikament hat Wunder gewirkt.« Sie sprachen ihn jetzt nicht mehr an, um ihn nicht in seiner Konzentration zu stören. Sie ließen ihn arbeiten. Wieder verging eine Stunde. Die Zugangsdaten zum medizinischen Register des Gemm-Katt waren bekannt. Karett musste »nur« ihre Daten heraussuchen und ihre Caam-Dosis auf den Wert null herabsetzen. »Wir haben es geschafft«, sagte er nach der schier endlosen Zeit des Wartens. »Von nun an dürfte unserer Nahrung keine Droge mehr beigemischt werden. Wenn wir unseren Kater überstanden haben, werden wir vor dem Giftzeug sicher sein.« »Den Göttern sei Dank«, sagte Atlan. »Damit wäre eine weitere Hürde genommen. Ich schlage vor, ihr drei legt euch jetzt hin und schlaft euch für den Rest der Nacht aus. Ich werde Wache halten.«
7. METANU-Station Zog Markarm sah ein, dass es keinen Wert mehr hatte. Überall bildete er sich ein, dass die Kattixu, Mochichi, Worphen und Leftass ihm nachsahen, wenn er an ihnen vorbeiging. Soweit es ging, hielt er sich in seinem Quartier auf, aber ab und zu musste er sich in der Zentrale sehen lassen. Und er konnte nicht mehr verbergen, dass er stark humpelte. Niemand sprach ihn darauf an. Das wäre unhöflich gewesen. Aber die anderen mochten sich ihren Teil denken. Es führte kein Weg daran vorbei: Er mus-
METANU-Station ste zu einem Mediziner, gegen seine Überzeugung. Er konnte sich nicht mehr selbst helfen. Zu allem Überfluss bekam er jetzt auch noch Fieber. Dabei wurden seine Ahnungen immer stärker, dass etwas Entscheidendes bevorstand. Das fremde Hantelschiff! Nach wie vor befand es sich an seiner alten Position – aber wie lange noch? Wie sah seine Besatzung aus, und was wollte sie hier im Sternhaufen Thoregon? Zog Markarm sprach das Gebet an die Gottheit Thoregon und nahm zum letzten Mal ein Dampfbad für seine Haut. An verschiedenen Stellen begann sie sich abzuschälen. Der Dampf verlangsamte den Prozess, konnte ihn aber nicht stoppen. Kattixu und Design-Humane häuteten sich zweimal im Jahr. Es war ein äußerst unangenehmer Prozess, aber danach, mit der neuen Haut, fühlten sie sich wie neugeboren. Wer sich nicht mehr schälte, war krank oder zu alt. In beiden Fällen war der Tod nahe. Der Tod … War er nicht unausweichlich, angesichts der Herausforderung durch Mo Essiam? Und war es nicht Zog Markarms Pflicht, einen Nachfolger zu zeugen, bevor er im Staub der Arena verendete? Er spielte schon lange mit dem Gedanken. Aber im Augenblick war etwas anderes wichtiger. Zog überwand sich und suchte eine der Krankenstationen auf. Thorg Quantur, ebenfalls ein Kattixu, war ihm nicht nur persönlich gut bekannt, sondern auch einen Gefallen schuldig. Außerdem hatte der Arzt ihn schon einmal behandelt. Er glaubte, sich darauf verlassen zu können, dass Thorg Quantur über seine Verletzung schwieg. Wenn bekannt wurde, dass der Sicherheitschef der Station schwer verwundet war, war dies gleichbedeutend mit dem Ende seiner Karriere. Markarm traf Quantur alleine an. Sie begrüßten sich wie alte Freunde. Dann führte ihn der Arzt in ein modernes Behandlungszimmer.
27 »Was kann ich für dich tun, Zog?«, fragte Quantur. »Ist es wieder die alte Wunde? Du ziehst dein Bein nach.« Er erinnerte sich also sofort, was es für Markarm nur leichter machte. Der Sicherheitschef schaltete sein Verzerrerfeld aus und streifte das Unterteil seiner schwarzen Montur herab, so dass die notdürftig verbundene Wunde mit dem Verband frei vor dem Mediziner lag. »Ich bin voller Vertrauen zu dir gekommen, Thorg«, sagte Markarm, »und ich bitte dich, mit niemandem darüber zu sprechen. Verarzte mich nur so weit, dass ich wieder normal gehen kann und das Fieber zurückgeht.« Der Arzt entfernte den Verband und sah die offene Wunde. Markarm sah, wie er zusammenzuckte. Quantur unterdrückte einen Aufschrei. »Ist es so schlimm?«, fragte der Sicherheitschef, der es eigentlich besser wissen musste. Die ganze letzte Nacht hatte er keinen Schlaf gefunden. Er hatte sich im Bett gewälzt, von einer Seite auf die andere, unter stärksten Schmerzen. Die Medikamente aus seiner privaten Apotheke hatten auch nichts mehr genützt – weder die zum Schlafen noch die gegen die Schmerzen. »Schlimm, fragst du?«, sagte der Mediziner. »Es ist mehr als das. Warum bist du nicht früher zu mir gekommen? Jetzt kann es zu spät sein.« Markarm erschrak. »Wie meinst du das?«, fragte er. »Wie ich es sage, Zog. Die Wunde ist stark vereitert. Die umliegenden Hautpartien sind bereits stark angegriffen. Es ist ein Wunder, dass dein Blut noch nicht vergiftet ist. So kannst du deiner Arbeit nicht nachgehen. Was du brauchst, ist Ruhe. Strikte Bettruhe!« Markarm schüttelte heftig den Kopf. »Gerade jetzt kann ich mir das nicht erlauben. Du musst die Wunde verarzten, Thorg, so gut es geht. Entscheidende Dinge stehen bevor, ich spüre es. Dann muss ich auf dem
28 Posten sein. Also bitte keine Belehrungen. Handle!« »Du bist unvernünftig, Zog«, sagte der Mediziner. »Ich kann deine Wunde reinigen, ein elastisches Wundpflaster aufspritzen und dir ein entzündungshemmendes Mittel injizieren. Das ist alles, was ich für dich tun kann. Aber wenn du so weitermachst, kann ich keine Garantie für eine Genesung geben.« »Dann tu es, mein Freund.« Thorg Quantur stand auf und machte sich an die Arbeit. Nach einer halben Stunde war Markarm versorgt, so gut es eben ging. Zusätzlich bekam er ein schmerzlinderndes Mittel, eine Droge von der stärksten Sorte. Als Quantur mit ihm fertig war, fühlte er sich besser. Er konnte aufstehen und auftreten, ohne dass ihm die Schmerzen wie Flammenspeere das Rückgrat hinaufschossen. »Ich danke dir, Thorg«, sagte er. »Und bitte: zu niemandem ein Wort. Ich verlasse mich auf deine Diskretion.« »Das kannst du. Aber du hast doch noch etwas auf dem Herzen, Zog.« In diesem Moment brachen bei Markarm alle Dämme. Er erzählte dem Mediziner von seinem Kampf gegen Mo Essiam und dessen Forderung nach einer Revanche. Quantur machte eine heftige Geste der Ablehnung. »Darauf darfst du dich auf gar keinen Fall einlassen, Zog!«, appellierte er an seinen Patienten und Freund. »Du wärst schon nach seinem ersten Angriff ein toter Mann.« »Und was soll ich tun deiner Meinung nach? Es geht um die Ehre.« »Zum Teufel mit der Ehre!«, fuhr der Arzt auf. »Es geht um dein nacktes Leben – und um die Sicherheit der Station. Bei keinem anderen wäre sie in besseren Händen als bei dir.« »Danke«, sagte Markarm. »Du brauchst mir nicht zu danken. Ich bin dir verpflichtet. Außerdem bin ich davon überzeugt, dass du der beste Mann auf diesem Posten bist. Ich werde von mir aus Kontakt zu Mo Essiam aufnehmen und ihn zu
Horst Hoffmann mir bitten. Du brauchst dich um nichts mehr zu kümmern. Mach dir keine Sorgen mehr und schone dich, wo du nur kannst. Morgen erwarte ich dich wieder bei mir.« »Du … du hast doch nichts Illegales mit Mo vor?«, fragte Zog Markarm. »Wir sind alle nur Thoregon verpflichtet«, antwortete der Heiler orakelhaft.
* Markarm hatte tatsächlich keine Schmerzen mehr, aber die Wirkung des Medikaments konnte jede Stunde nachlassen. Doch solange sie anhielt, wollte er in der Zentrale präsent sein. Er wandte sich an Rewa Cunch, den Mochichi, und erkundigte sich nach dem Stand der Dinge, vor allem, was das Hantelschiff betraf – und die Helioten. »Das fremde Schiff hat sich noch nicht gerührt«, wurde ihm mitgeteilt. »Und es sind keine weiteren Helioten an Bord aufgetaucht. Es hat sich seit vorgestern nichts verändert.« Aber es wird etwas geschehen, dachte der Sicherheitschef. Er spürte es geradezu. »Ich bin wieder in meiner Kabine«, sagte er. »Ich möchte sofort unterrichtet werden, sobald sich irgendetwas tut.« »Natürlich«, antwortete der Mochichi. Zog Markarm zog sich aus der Zentrale zurück, mit einem letzten Blick auf Rewa Cunch. Er traute ihm nicht. Aber wem sollte er trauen an Bord der Gigant-Station? Deutlicher als je zuvor wurde ihm bewusst, wie einsam er auf seinem Posten in Wirklichkeit war. Spürte er allein, was da kommen würde?
8. Aegori-B 11. Mai 1312 NGZ Atlan hatte, wie angekündigt, die ganze Nacht über Wache gehalten. Jetzt wurden wieder die Speisen verteilt. Der Arkonide
METANU-Station hoffte, dass Trabzon Karetts Kunstgriff bereits wirkte und sie kein Caam mehr in der Nahrung hatten. Karett war zwei Stunden vor dem morgendlichen Wecken aufgestanden und hatte sich an die Arbeit gemacht. Er hatte ein Wunder bewirkt und es geschafft, mit seiner Ausrüstung den Algorithmus zu entschlüsseln, mit dem die Xaram-Anzüge die Optik der Kattixu maskierten. Die Bestätigung zeigte sich den Gefährten, als die Kattixu mit dem Frühstück in dem Schlafraum erschienen. Mit einem Mal schälten sich aus den dämonischen Zügen die wirklichen Gesichter der Kattixu heraus, nämlich die der Design-Humanen, die sich hinter der Maske verbargen. Atlan ging davon aus, dass sich die Kattixu untereinander problemlos erkannten – nur die Design-Humanen sollten ausschließlich die Zerrfelder wahrnehmen. Die angeblichen Azeitto-Brüder ließen sich nichts anmerken. Sie aßen und folgten anschließend ihrem Führer, dessen Gesicht nun klar vor ihnen lag, zum Antigravschlitten. Es ging hinaus in den Innenhof. Die Design-Humanen hatten schon wieder Aufstellung genommen, und nach kurzer Zeit verkündete ein Kattixu-Sprecher, wie der erste richtige Ausbildungstag aussehen sollte. Demnach würde es eine technische Lerneinheit plus eine Lerneinheit Selbstverteidigung geben. Das waren Anforderungen, die die Gefährten bewältigen konnten, ohne sich als Nicht-Design-Humane zu demaskieren – das hofften sie jedenfalls. Sie ließen die Techno-Schulung geduldig über sich ergehen. Einige interessante Dinge lernten sie, nämlich wie mit verschiedenen Geräten innerhalb des Gemm-Katt umzugehen war. Das meiste aber war uninteressant für sie, blanke Theorie. Nach einer kurzen Mittagspause begann die Kampf Schulung. Mehrere Dutzend Kattixu-Ausbilder bauten sich vor den DesignHumanen auf und riefen nach Freiwilligen, an denen sie ihre Künste vorführen konnten. Alle waren unbewaffnet, was kein Wunder
29 war. Die Design-Humanen wollten in den Dienst Thoregons aufgenommen werden. Da lag nichts ferner als ein Aufstand. Außerdem waren sie durch das Caam ruhig gestellt. Tatsächlich flogen die Hände in die Höhe. Fast jeder Bewerber wollte kämpfen, um sich zu bewähren und Punkte für die Rekrutierung zu sammeln. Atlan, Trim, Startac und Trabzon hielten sich zurück. Atlans Begleiter waren noch zu geschwächt, um mehr als wenige Sekunden gegen einen Kattixu bestehen zu können. Und der Arkonide wollte mit ihnen zusammenbleiben. Gerade das aber machte sie zur Zielscheibe eines der Ausbilder. Er war ein kräftiger Mann und kam geradewegs auf die einzigen vier zu, die den Arm nicht gehoben hatten. »Ihr!«, rief er. »Seid ihr Feiglinge, oder warum meldet ihr euch nicht?« »Wir wollten zunächst nur beobachten«, antwortete Atlan. »So! Darf man eure Namen erfahren?« Atlan nannte sie ihm. »So!«, sagte der Kattixu. »Und du bist euer Sprecher. Sind die anderen stumm?« »Sie schweigen aus Respekt vor dir«, konnte Atlan sich nicht verkneifen zu sagen. »So! Dann hast du sicher nichts dagegen, mir in die Arena zu folgen und deine erste Lektion zu erhalten.« Atlan nickte und gab seinen Freunden ein Zeichen, ihm nicht zu folgen und auf ihn zu warten. Dann setzte er sich in Bewegung. »Sei vorsichtig!«, rief Schroeder ihm nach. »Du hast ihn nur unnötig gereizt!« Die »Arenen« waren abgegrenzte Flächen überall im Innenhof, eher einem Boxring vergleichbar. Der Kattixu führte Atlan in eine Arena, die gerade frei wurde. Ein Ausbilder hatte einen Design-Humanen bewusstlos geschlagen und trug ihn über der Schulter nach draußen. Atlan blickte ihm nach. »Sein« Kattixu sagte grinsend: »Da hast du einen Vorgeschmack, Großmaul. Genauso werde ich dich aus der Arena tragen, wenn ich mit dir fertig bin.«
30 »Soll das der Zweck der Ausbildung sein?«, fragte Atlan ironisch. Statt eine Antwort zu geben, griff der Kattixu an. Seine Faust landete in der Magengrube des Arkoniden. Atlan ließ sich fallen. Der Ausbilder stand über ihm und versetzte ihm einen Tritt in die Seite. Wehr dich nur so, wie es ein DesignHumaner tun würde!, appellierte der Extrasinn. Auch wenn es dir schwer fällt! »Du hast eine große Klappe, aber keine Ahnung, wie man kämpft«, frohlockte der Kattixu. »Schau her, ich zeige dir, wie man sich wehrt.« Damit begann er, verschiedene Selbstverteidigungstechniken vorzuführen. Atlan tat beeindruckt. Er hätte den Ausbilder jederzeit mit einem einzigen Schlag zu Boden schicken können. Aber genau das durfte er nicht. Die Warnung des Extrasinns war überflüssig gewesen. Er durfte alles, nur nicht auffallen. »So!«, sagte der Kattixu. »Und jetzt steh auf und wehre dich so, wie ich es dir gezeigt habe. Dann dürftest du meine ersten zwei, drei Angriffe überstehen.« Der Arkonide erhob sich. Kaum stand er auf den Füßen, als schon die Faust des Gegners herangeflogen kam. Atlan wich im letzten Moment aus. Vom eigenen Schwung getragen, schoss der Kattixu an ihm vorbei. Atlan konnte nicht anders: Er versetzte ihm einen leichten Handkantenschlag in den Nacken. »So! Du schlägst zurück!«, rief der Kattixu, als er herumwirbelte. »Du sollst dich doch nur verteidigen! Aber nimm das hier!« Atlan reagierte automatisch, als der Schlag kam. Er packte das Gelenk des Ausbilders und bog ihm den Arm auf den Rücken. Dann stieß er ihn von sich. Vorsichtig, du Narr!, schalt ihn sein Extrasinn. Der Kattixu landete im Staub. Mit einem Wutschrei kam er wieder in die Höhe. Atlan sah ein, dass er es übertrieben hatte. Sein Gegner brauchte dringend ein Erfolgserlebnis, wollte er nicht noch misstrauischer wer-
Horst Hoffmann den. Also wehrte der Arkonide die nächsten Angriffe nur halbherzig ab. Er ließ sich verprügeln, was dem Ausbilder ganz offensichtlich gut tat. Atlan konnte ihn trotz seiner Maske gut genug sehen. Ein ums andere Mal ließ er sich fallen und stand scheinbar mühsam wieder auf. Irgendwann taumelte er. »So!«, rief der Kattixu. »Am Anfang hattest du nur Glück! Jetzt mach dich auf die letzte Lektion gefasst!« Damit rammte er Atlan den Schädel gegen die Brustverkleidung. Es gab ein Knirschen, und der Arkonide erkannte mit Schrecken, dass seine Brustkorbverkleidung unter der schwarzen Montur gerissen oder beschädigt sein musste. Wenn er nicht wollte, dass es noch schlimmer kam, musste er dem Kampf ein schnelles Ende bereiten. Alles konnte er sich leisten, nur keine Demaskierung. »Komm!«, sagte er so leise, dass nur sein Gegner es hören konnte. »Bringen wir es zu Ende.« Der Ausbilder starrte den Arkoniden an wie einen Geist. Dann kam er wieder. Atlan erwartete ihn, wich dem Schlag aus und griff seinerseits an. Mit Hilfe von Dagor-Kampftechniken hebelte er ihn mehrmals aus – bis der Kattixu am Boden liegen blieb und sich nicht mehr rührte. Er röchelte. Durch das Verzerrerfeld seines Xaram konnte Atlan sein vor Hass verzerrtes Gesicht sehen. Überall um sie waren die Kämpfe unterbrochen worden. Jetzt war genau das geschehen, was Atlan hatte vermeiden wollen: Er stand im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Er hatte einen Ausbilder bezwungen, noch dazu einen kräftigen. Das konnte hier nicht normal sein. Der Arkonide ging zu seinem geschlagenen Gegner und beugte sich über ihn. Er reichte ihm eine Hand, doch der andere schlug sie aus. Er richtete sich von selbst auf. »Wer bist du?«, fragte er heiser. »Wie hast du das gemacht?«
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»Ich war lange Jahre Prospektor auf Aegori-A«, gab Atlan die Standardantwort, »und da lernt man zu kämpfen. Der Rest war … Zufall.« »Das glaube ich dir nicht! So! Ich werde dich im Auge behalten. Dich und deine Freunde!« »Tu, was du nicht lassen kannst«, sagte Atlan und trat an ihm vorbei. Er ließ den Aufseher einfach stehen und ging zu seinen »Brüdern« zurück.
* Am Abend des Tages, als sie wieder in ihrer Unterkunft waren, hatte sich ihre Lage eher verschlechtert als verbessert. Der Kattixu, der als ihr Führer fungierte, hatte ihnen zu verstehen gegeben, dass Atlan sich einen einflussreichen Feind gemacht hatte. Der Name des Ausbilders war Kantoja Resh, und er galt als besonders nachtragend und ehrgeizig. Wer sich mit ihm anlegte, der hatte verdammt schlechte Karten. Noch schlimmer als die Niederlage war angeblich nur, wenn man ihn wegen seines »So!«-Ticks aufzog. »Damit müssen wir leben«, sagte der Arkonide, als sie allein waren. »Wir werden versuchen, ihm aus dem Weg zu gehen. Mehr können wir nicht tun.« »Das wird schwer werden«, sagte Trabzon Karett und kratzte sich am Hals. Atlans Brustkorbverkleidung hatte tatsächlich einen Riss. Sie klebten ihn mit einem Spezialkleber, den Startac Schroeder in seiner Maske mit sich führte. Der Panzer wurde so wieder zusammengeschweißt. Die nächsten vier Stunden verbrachten sie mit Gesprächen. Sie entwickelten Pläne für die kommenden Tage. Immer wieder kamen sie auf den zentralen Punkt zurück, nämlich das Kunststück zu schaffen, dass die Azeitto-Brüder geschlossen aus dem Herzen von Gemm-Katt nach METANU-Station versetzt wurden. Trabzon Karett, der dieses Wunder bewirken sollte, hatte bereits tiefe Ringe unter den
Augen. Die drei Stunden Schlaf der letzten Nacht waren viel zu wenig gewesen, um ihn zu regenerieren. Und doch musste er durchhalten. Als die anderen, mit Ausnahme von Atlan, sich schlafen legten, ließ er sich noch eine stimulierende Injektion geben. Das war alles, was seine Gefährten für ihn tun konnten. Trabzon Karett war nur halb bei der Sache. Er wusste genau, was von einem Erfolg abhing, aber immer wieder holte ihn die schreckliche Erinnerung ein …
9. Damals auf Thorpei Trabzon Karett lebte und wirkte als TLDAgent unter Kolonialarkoniden auf dem Planeten Thorpei, einer arkonidischen Kolonialwelt, in der Nähe des Brysch-Sektors gelegen. Es war seine Aufgabe, geheimen Waffenlieferungen der Arkoniden auf die Spur zu kommen, die an die zahlreichen kleinen Sternenvölker in der weiteren stellaren Umgebung gingen, und sie an den TLD weiterzumelden. Leider hatte er einen entscheidenden Fehler begangen, indem er seinen drei Kameraden blind vertraute. Es entging ihm völlig, dass einer von ihnen die Fahnen wechselte und ins Lager der Arkoniden überlief. Zudem war es ausgerechnet der Anführer der Gruppe, Torastan March. Als Karett es merkte, war es zu spät. Er konnte nur noch einen gerafften und verschlüsselten Hilferuf an das Einsatzschiff senden, das am Rand des Thorpei-Systems wartete. Dann hatten die Celistas das Versteck der Agenten gestürmt und bedrohten sie mit ihren Waffen. Die Terraner hatten nicht den Hauch einer Chance gegen die arkonidischen Geheimdienstler. Jeglicher Gedanke an Gegenwehr oder Flucht war illusorisch. »Verratet uns wenigstens, wie ihr uns gefunden habt«, sagte Trabzon Karett bitter. »Wie haben wir uns verraten?«
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Torastan March gab die Antwort. Er löste sich von der Gruppe und ging zu den Arkoniden. Demonstrativ stellte er sich vor sie. »Ich war es«, sagte er. »Ich sehe nicht mehr in der Liga meine politische Heimat. Die Zukunft gehört Arkon. Wenn ihr schlau seid, schließt ihr euch uns an. Dann wird euch nichts geschehen. Weigert ihr euch aber …« »Ja?«, fragte einer von Karetts Begleitern, Reddo Seheja. »Dann?« »Das wisst ihr genau. Auf Spionage steht der Tod. Aber ihr werdet eine faire Verhandlung bekommen.« Seheja reagierte so schnell, dass der Blick ihm kaum folgen konnte. Blitzschnell riss er sich den Strahler vom Gürtel und feuerte. Sein erster Schuss traf den Verräter mitten in die Brust. Er starb auf der Stelle. Zwei Arkoniden folgten ihm in den Tod. Dann war der Spuk vorbei. Reddo Sehejas in Sekundenbruchteilen aufgebauter Schutzschirm brach unter dem konzentrierten Feuer der Arkoniden zusammen. Der Agent verging in den Thermogluten der Celistas. »Ich würde euch raten, jetzt keine Dummheiten mehr zu machen«, sagte einer der Arkoniden. »Denkt erst gar nicht daran, wie er den Helden spielen zu wollen.« »Das werdet ihr bereuen«, knurrte Trabzon Karett. Der Geheimdienstler lachte laut. »Irrtum. Ihr seid nicht in der Lage, uns drohen zu können. Legt die Hände auf den Rücken – los, los!« Karett sah angesichts von zwei Dutzend auf ihn gerichteten Waffenmündungen keine Chance, jetzt irgendetwas zu tun. Er gehorchte widerwillig und ließ sich fesseln. Ein Arkonide nahm ihm die Waffen und die technische Ausrüstung ab, die er bei sich trug. Dann wurden er und sein Kamerad abgeführt.
* Es gab tatsächlich eine Verhandlung. Sie
war eine Farce und wurde über den ganzen Planeten übertragen. Vorher jedoch kamen die schrecklichen Verhöre. Als Trabzon Karett nach einem besonders brutalen Verhör wieder zu sich kam, lag er in einem Bett in einer Medostation. Er wurde behandelt, man injizierte ihm etwas. Als er den Kopf drehen konnte, sah er neben sich seinen Kameraden, ebenfalls in einem Bett. He-Lam Shehean machte einen erschreckenden Eindruck. Er hatte das Verhör anscheinend nicht so »gut« überstanden wie Karett. »Hörst du mich, He-Lam?«, fragte der Computerspezialist. Shehean nickte schwach, ohne die Augen zu öffnen. »Sie haben uns danach gefragt, was wir herausgefunden haben, also hat ihnen March nichts erzählen können. Sie ahnen nichts von unserem Schiff. Im Prozess werden sie uns wieder verhören, dann mit subtileren Mitteln. Wir sagen nichts, hörst du?« »Ja …«, flüsterte Shehean. Man gönnte ihnen einen Tag Ruhe. Dann wurden sie in den Gerichtssaal geführt. Kameras schwebten überall. Es gab Großbildschirme und Holo-Projektoren. Mehrere hundert Planetarier säumten die Zuschauerbänke. Trabzon Karett verstand nicht, weshalb man um sie so ein Theater machte. Der Ausgang des Prozesses stand ohnehin schon fest. Die Anklage wurde verlesen, sie war erwartungsgemäß eine Farce. Karett und Shehean wurden als bedeutende Spione der LFT hingestellt – der größte Fang, der den Agenten des Kristallimperiums in dieser Region des Imperiums seit langem ins Netz gegangen war. Wäre die Lage nicht zu ernst gewesen, Karett hätte laut gelacht. So aber schwieg er, als die Verhöre begannen. Sie zogen sich stundenlang hin. Karett hielt sich tapfer, obwohl die Atmosphäre des Hasses, die ihn umgab, ihn unsicher werden ließ. Trabzon erwartete ein Erschießungskom-
METANU-Station mando, vielleicht auch Gift. Schlimmer noch wäre ein Psychoverhör, das ihm den Verstand wegbrannte und ihn zum menschlichen Wrack machte. Davor hatte er die größte Angst. Als er dann allerdings das Urteil hörte, glaubte er, seinen Ohren nicht trauen zu dürfen. Es lautete: Tod durch den Strang! Der Galgen! Das passte nicht in diese Zeit, nicht zum Kristallimperium. Dann aber hörte er, dass es sich um eine klassische Hinrichtungsart auf Thorpei handelte, die man auf diesem Planeten schon immer für Verräter benutzt hatte. Und man betrachtete die beiden Agenten des Terranischen Liga-Dienstes als echte Verräter. Shehean stöhnte leise auf. Karett legte ihm eine Hand auf den Arm. Es hatte keinen Sinn, dem Urteil zu widersprechen. Es würde auf jeden Fall vollstreckt werden. Symptomatisch war, dass der »Verteidiger« der beiden Agenten sich nicht die geringste Mühe gab, das Schicksal seiner Mandanten zu lindern. Die Sitzung wurde geschlossen. Polizisten der planetaren Regierung führten Karett und Shehean ab. In geschlossenen Gleitern wurden sie zum Richtplatz geflogen, der bereits von Tausenden Thorpeiiden bevölkert war. Die Menge johlte, als die beiden Gefangenen auf dem vorbereiteten Podest abgesetzt wurden, über dem zwei Galgenstricke hingen. Zwei vermummte Henker warteten auf sie. Immer mehr Schaulustige kamen hinzu, aus allen Richtungen. Karett schätzte sie bald auf über zehntausend. Der Mob tobte vor Begeisterung. »Tod den Terranern!«, skandierten viele. »Tod den Feinden des Imperiums!« Trabzon schnürte es schon jetzt die Kehle zu. Die Hände auf den Rücken gefesselt, konnte er sich nicht bewegen. »Macht schon!«, rief He-Lam Shehean den Henkern zu. »Bringt es endlich hinter euch!« Seine Stimme überschlug sich. Karett er-
33 kannte, dass er, der so tapfer geschwiegen hatte, von der gleichen kreatürlichen Angst erfüllt war wie er. Da endlich legten ihnen die Henker die Schlingen um den Hals. Karett und Shehean standen ruhig und warteten darauf, dass sich die Klappe unter ihren Füßen öffnete und sie einfach nur fielen und der Alptraum beendet war. Es würde für sie eine Erlösung sein. »Viel Glück in einer neuen Welt!«, rief Karett seinem Kameraden zu. »Vielleicht sehen wir uns dort wieder.« »Werde jetzt nur nicht pathetisch!«, rief Shehean zurück. Die Klappen fielen herab, und die beiden Verurteilten stürzten haltlos ins Leere, viele Meter tief. Karett spürte noch einen furchtbaren Ruck und einen Schmerz. Dann verließ ihn das Bewusstsein.
* Als Karett zu sich kam, war er zu benommen, um sofort zu verstehen, dass er noch lebte. Wie von ferne hörte er das Toben der Zuschauermenge. Der Agent atmete flach. Als er die Augen wieder öffnete, sah er als Erstes He-Lam Shehean, der direkt neben ihm lag. Sein Blick war gebrochen. Er konnte nichts mehr für ihn tun. Und er selbst? Warum war er nicht tot? Sein Hals brannte wie Feuer. Seine Handfesseln waren ihm abgenommen worden. Als er nach dem Hals tastete, spürte er die Würgemale. Hände griffen nach ihm. Er wurde umgedreht und sah in die Gesichter von TLDEinsatzagenten. Sie hatten darauf verzichtet, sich als Arkoniden zu tarnen. Es war auch nicht nötig, denn durch die Verschalung unterhalb des Podests war es der tobenden Menge unmöglich zu sehen, was hier ablief. »Ich bin Major Staff Colby«, sagte einer der Terraner hastig. »Du hattest großes Glück. Dein Genick wurde nicht gebrochen, du bist nur erstickt. Gott sei Dank waren wir bereits hier und konnten dich reanimieren.
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Wir kommen vom Schiff und hatten deinen Notruf erhalten.« Karett fragte in diesem Augenblick nicht, wie die Agenten es geschafft hatten, in so kurzer Zeit unentdeckt zu landen und sich unter dem Galgen zu verstecken. Er sah, wie sie einen tragbaren Transmitter aufbauten. Keinen Augenblick zu früh! Die Verschalungen unter dem Galgenpodest wurden hin und her gerissen. Die Zuschauer der Hinrichtung wollten sich davon überzeugen, dass die gegnerischen Agenten auch wirklich tot waren. In diesem Augenblick wurde Karett gepackt und durch das Entmaterialisierungsfeld geschoben. Er kam in ihrem Einsatzschiff an. Die anderen Männer folgten ihm. Der letzte berichtete, dass sich der tragbare Transmitter unter dem Galgen in wenigen Sekunden selbst zerstören würde. Für He-Lam Shehean hatten sie nichts mehr tun können. Niemand konnte mehr etwas für – oder gegen – ihn tun. Für ihn war der Alptraum vorbei. Für Trabzon Karett fing er gerade erst an. Auch wenn er es nach außen hin zu verbergen suchte.
10. Gegenwart Seit diesem Tag hatte er die Würgemale als eine Art Auszeichnung getragen. Ihn, der am Galgen gehangen hatte, sollte nichts mehr erschüttern können. So sollte es nach außen hin aussehen. Aber in Wirklichkeit war es anders. In Wirklichkeit hatte er schlimme Angst davor, noch einmal das Gleiche erleben zu müssen wie auf Thorpei. Und an diesem Tag wäre es fast geschehen. Karett hatte Wasser und Blut geschwitzt, als er Atlan im »Ring« gegen Kantoja Resh kämpfen sah. Er wusste sofort, dass der Arkonide nur den Unterlegenen spielte, um nicht aufzufallen – bis etwas Gravierendes geschehen sein musste, der Riss in seiner
Brustkorbmaske, und er den Kampf schnell beendete. Von da an hatten sich alle Blicke auf Atlan gerichtet, die von den Kattixu und den Design-Humanen. Sie waren ihm gefolgt, als er zu Trim, Startac und ihm zurückkehrte. Und dann war nichts mehr gewesen wie vorher. Trabzon hatte sie kommen sehen, die Häscher – aus allen Richtungen. Er hatte sich eingeschlossen gefühlt in dem riesigen, übervölkerten Innenhof des Gemm-Katt. Sein Herz hatte wild geschlagen, und er hatte das furchtbare Gefühl bekommen, keine Luft mehr zu kriegen. Die Erinnerung zehrte auch jetzt noch an ihm, nachdem sie seit Stunden wieder in ihrem Schlafraum waren. Er wusste, dass er an ihrem großen Problem arbeiten musste: die Versetzung nach METANU-Station. Aber er war wie gelähmt. Atlans prüfende Blicke entgingen ihm nicht. Sollte er sich ihm endlich anvertrauen? Ihm allein? Er konnte sich vorstellen, dass der Arkonide sein Geheimnis für sich bewahren würde. Aber ihn damit belasten? In der jetzigen Situation? Trabzon Karett entschied sich dagegen. Er zwang sich zum Weiterarbeiten. Mit seinem Spezialgerät verschaffte er sich Zugang zu den Speichern der Kattixu-Computer, ohne große Fortschritte zu erzielen. Er konnte Daten abrufen, ihnen selbst einen neuen Status geben, doch an das, was er wirklich brauchte, kam er noch nicht heran: METANU-Station und die Schiffe, die sie anflogen. Die Nacht verflog. Trabzon arbeitete wie ein Besessener. Dann und wann kam Atlan und reichte ihm einen Becher Wasser. Was hätte Karett jetzt für eine Kanne heißen Kaffees gegeben! Um wach zu bleiben und seine Sinne zu stimulieren. Am anderen Morgen, als das Frühstück gebracht wurde, hatte er keine Stunde geschlafen. Er war kein Aktivatorträger. Er konnte den Mangel an Schlaf nicht einfach wegstecken.
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Es half nichts, er musste sich eine weitere Injektion verabreichen lassen – wissend, dass dies auf Dauer sein Tod sein würde. Damit begann der neue Tag. Sie wurden wieder in den Innenhof geführt – wo Kantoja Resh bereits auf sie wartete.
11. METANU-Station Zog Markarm erwachte mit einem dumpfen Schmerz in seinem Bein. Als er die Augen aufschlug, war er schweißgebadet. Über sich sah er das vertraute Gesicht von Thorg Quantur. »Du bist wach«, stellte der Arzt fest. »Das wurde auch Zeit. Wir befürchteten schon, dass …« Als er stockte, richtete Markarm seinen Oberkörper auf. »Was?«, fragte er. »Was ist geschehen?« »Nimm jetzt all deinen Mut zusammen, Zog«, sagte Quantur. »Du bist zusammengebrochen. Ich konnte nicht anders. Ich musste dir dein Bein abnehmen.« »Nein!« Markarm fuhr in seinem Krankenlager auf, das er erst jetzt als solches erkannte. »Sag, dass das nicht wahr ist!« »Leider doch«, sagte der Arzt. »Aber reg dich nicht umsonst auf. Du hast bereits ein neues Bein. Es ist bis jetzt sehr gut angewachsen. Du darfst dich nur nicht zu ruckhaft bewegen, um den Prozess nicht zu gefährden.« Zog Markarm ließ sich im Bett zurückfallen. »Wann werde ich wieder aufstehen können, Thorg?«, fragte er, nachdem der erste Schock verdaut war. »Und mich bewegen? Sag mir die Wahrheit.« »In fünf Tagen etwa«, lautete die Antwort. »Zwei!«, forderte Markarm. »Du denkst immer noch an den Kampf gegen Mo Essiam? Vergiss es, mein Freund. Essiam hatte einen … Unfall.« »Einen Unfall? Da hast du doch nachgeholfen!« »Er ist tot«, sagte Quantur. »Er hätte auf
einem Revanchekampf bestanden, auch gegen einen Einbeinigen.« »Du hast ihn umgebracht!« Der Mediziner antwortete nicht mehr. Stattdessen schlug er die Decke über Markarms linkem Bein zurück und injizierte ihm etwas. »Das Anwachsen macht gute Fortschritte. Doch sei vorsichtig! Ich habe aus Zeitgründen kein Bein aus deinen Zellen züchten können – du hast jetzt ein Synthobein, das aus genetisch neutralen Zellen stammt. Normalerweise macht das keine Probleme, aber es können Komplikationen auftreten. Mit etwas Glück wirst du in fünf Tagen wieder gehen können, Zog.« »In zwei Tagen!«, verlangte der Sicherheitschef. »Bete zu Thoregon«, sagte Thorg Quantur nur.
12. Aegori-B 12. und 13. Mai 1312 NGZ Der nächste Tag verstrich mit mehr oder weniger vergeblichen Versuchen Atlans, Kantoja Resh aus dem Weg zu gehen. Resh suchte nach ihm und seinen Freunden. Tatsächlich gelang es immer wieder, sich in der Menge der Design-Humanen vor ihm zu verstecken. Am Ende des dritten Tages auf Aegori-B war es ihnen mehrfach nur mit viel Glück gelungen. Der Aufseher suchte sie, und sie wussten: Je länger sie sich im Herzen des Gemm-Katt aufhielten, desto größer wurde die Wahrscheinlichkeit, dass er sie auch fand. Es war ohnehin ein Wunder, dass er sie noch nicht in ihrer Unterkunft aufgesucht hatte. Resh kannte ihre Namen. Vorausgesetzt, dass er über ein gutes Gedächtnis verfügte, lag es nahe, dass er sie über die Computer suchen ließ. Es dürfte ihm keine großen Schwierigkeiten bereiten. Am vierten Tag war es endlich so weit. Atlan hatte nicht mehr daran geglaubt, aber Trabzon Karett hatte es in der Nacht tatsächlich geschafft! Die Brüder Azeitto würden
36 geschlossen aus dem Herzen von GemmKatt nach METANU-Station versetzt werden. Das Computernetz sah es nun so vor, und die Computer irrten sich bekanntlich nicht. Die Gefährten atmeten erleichtert auf, als ein zu Tode erschöpfter Trabzon Karett ihnen dieses Ergebnis seiner Arbeit bekannt gab. Noch waren sie nicht fort, aber sie konnten sich ausmalen, dass niemand in einem gigantischen Betrieb wie diesem nach Einzelschicksalen fragte. Wenn eine solche Versetzung stattfand, gab es dafür Gründe. Das Gemm-Katt war groß, das Gemm-Katt war mächtig. Noch galt es, einen Ausbildungstag durchzustehen. Das Raumschiff nach METANU-Station sollte erst in der kommenden Nacht starten. Also ließen sie sich zum letzten Mal in den Innenhof bringen. Sie liefen Kantoja Resh direkt in die Arme. Der Ausbilder stand plötzlich vor ihnen und winkte ihrem Führer, dass er sich entfernen solle. »So!«, sagte er. »Jetzt sind wir unter uns. Wie habt ihr das angestellt?« »Was?«, fragte Atlan überrascht zurück. Er wusste nicht, was der Kattixu meinte. »Tu nicht so unschuldig, Atlan Azeitto!«, brauste Resh auf. »Ich weiß Bescheid. Ich habe in den Computern nach euch gesucht und dabei erfahren, dass ihr zum Abtransport nach METANU-Station vorgesehen seid. Alle vier!« »Das wurde uns auch bereits mitgeteilt«, log Atlan. »Wir waren genauso überrascht wie du.« »So! Das soll ich euch glauben! Nein, meine Freunde, hier geht etwas nicht mit rechten Dingen zu! Ich werde alle Hebel in Bewegung setzen, um das zu überprüfen. Noch seid ihr nicht fort!« Trabzon Karett schwankte. Vor Müdigkeit fielen ihm die Augen zu. »Was ist mit ihm?«, wollte Resh wissen. »Ist er krank?« »Ja«, sagte Schroeder schnell. »Aber wir wissen nicht, was es ist. Vielleicht ist es an-
Horst Hoffmann steckend. Ich fühle mich auch nicht sehr wohl …« Der Ausbilder wich unwillkürlich einige Schritte zurück. »Das gibt es nicht!«, sagte er. »Ihr seid wie alle anderen auf eure Gesundheit untersucht worden! Und hier im Innern des Gemm-Katt-Herzens könnt ihr euch unmöglich angesteckt haben. Das ist ein Trick, um mir Angst zu machen! Gebt es zu!« »Das würden wir ja gerne«, sagte Atlan. »Aber du siehst selbst, was mit unserem Bruder los ist. Es hat in dieser Nacht angefangen und ist immer schlimmer geworden.« Karett war wach genug, um das Spiel zu durchschauen und mitzuspielen. Er stieß einige jämmerliche Laute aus und begann zu taumeln – was ihm nicht schwer fiel. Resh wich einen weiteren Schritt zurück. »Damit kommt ihr mir nicht durch!«, rief er. »So! Ihr werdet jetzt zurück in eure Unterkunft gehen und auf die Medo-Roboter warten, die ich euch schicke. In diesem Zustand werdet ihr Gemm-Katt nicht verlassen!« Atlan grinste hinter seiner Maske. Er und Schroeder hakten Karett unter und stützten ihn. Nach einer Viertelstunde waren sie wieder im Schlafraum. »Und jetzt?«, fragte Trim Marath. »Der Kerl bekommt es fertig und macht uns im letzten Moment einen Strich durch die Rechnung.« »Mach dir da mal keine Sorgen«, sagte Karett. »Lass die Robots nur kommen. Sie werden feststellen, dass wir gesund sind. Nur ich bin etwas erschöpft, aber auch das werden sie erkennen.« »Etwas ist gut«, sagte Atlan. »Du wirst dich jetzt schlafen legen, bis die Roboter kommen. Kantoja Resh hätte uns keinen größeren Gefallen tun können, als uns zurückzuschicken.« Trabzon gehorchte nur zu gern. Der wertvolle Schlaf war ein Garant für das Gelingen ihres Plans. Er brachte sie dem Erfolg näher. Die Roboter ließen sich Zeit. Erst nach sechs Stunden kamen sie. Die Untersuchung fiel gründlich aus.
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Atlans einzige große Sorge, die Medos könnten sie als verkleidete Fremde erkennen, bestätigte sich zwar, aber Trabzon Karett selbst sorgte dafür, dass die Diagnose am Ende lautete: »Azeitto-Brüder überprüft, Zustand normal!« Die Gefährten warteten die Nacht ab, ohne dass sich etwas Unvorhergesehenes ereignete. Dann riefen sie nach ihrem Führer, mit dem sie mittlerweile fast so etwas wie Freundschaft verband, und ließen sich zu dem schwarzen Keilraumschiff bringen, das sie gemeinsam mit einigen hundert anderen aus dem Herzen Richtung Sperrgebiet des Sternhaufens Thoregon transportieren sollte. Als sie im Weltraum waren, glaubten sie, jegliche Gefahr hinter sich gelassen zu haben. Ihre Mission war bisher ein voller Erfolg gewesen.
* Die vier Männer aus der SOL konnten allerdings nicht ahnen, dass einer der Kattixu an Bord eine Botschaft des Ausbilders Kantoja Resh bei sich führte. Die Botschaft richtete sich an den Si'Cambo Zog Markarm. Der Sicherheitschef war mit Resh gut bekannt. Gewiss, das Gemm-Katt war allgegenwärtig und sah alles. Fehler gab es praktisch keine. Aber Markarm solle ein Auge auf die vier Design-Humanen haben, die sich die Azeitto-Brüder nannten. Immerhin kamen sie mit nur wenigen Tagen Ausbildung hinter sich bereits nach METANU-Station …
13. METANU- Station 14. Mai 1312 NGZ Der Flug dauerte komplette zwei Tage – eine Zeitdauer, die dem Kommando von der SOL schmerzlich lang vorkam. Aber Trabzon Karett fand den Schlaf, den er brauchte, um sich zu regenerieren. Vom Weltall aus bot METANU-Station
einen majestätischen Anblick. Sie war ein Konglomerat aus sechs Weltraumtraktoren, durch gigantische Streben zu einem rotierenden Sechseck von rund zwanzig Kilometern Durchmesser zusammengeschweißt. Im Mittelpunkt des Kreises befand sich eine Scheibe von 7,5 Kilometern Durchmesser und 1,5 Kilometern Dicke, die beidseitig als Raumdock diente. Kommandiert, so erfuhren die angeblichen Brüder kurz vor dem Andocken, wurde die Station von den Mochichi, deren Gesamtzahl dreitausend betrug. Dazu kamen Kattixu, Worphen, Leftass und Angehörige anderer Völker. Hin und wieder, so die weitere Auskunft, schalteten sich silberne Helioten direkt in die Abläufe ein und erteilten Weisungen, die für sämtliche Besatzungsmitglieder der Station bindend waren. Die Kattixu dagegen handelten in Sicherheitsfragen autark. Ihre Hauptaufgabe war, im Hinblick auf das Zirkular auch die Mochichi zu kontrollieren. In der Tat, hörten Atlan und seine Gefährten, war es bis heute keinem Zirkular-Aktivisten gelungen, in der Station tätig zu werden. Atlan nahm diese Informationen interessiert zur Kenntnis. Er fieberte dem Augenblick entgegen, in dem er endlich die Station betreten konnte. Wenngleich Karett und die Mutanten so Zeit zur Erholung fanden, brannte ihm die Zeit unter den Nägeln. Die Kosmokraten konnten jederzeit die Galaxienzünder in Betrieb setzen, von deren Art und Aussehen der Arkonide keine Ahnung hatte, oder den entscheidenden Angriff auf Thoregon starten. Dies war längst keine ferne Option mehr, sondern mittlerweile eine äußerst reale Bedrohung. Vor dem Andocken aber konnte Atlan einige interessante Beobachtungen machen. So trafen permanent Frachtschiffe bei METANU-Tor und METANU-Station ein. Alle diese Schiffe benutzten beim Austritt aus dem Hyperraum verschiedene Orientierungspunkte. Dort verhielten sie eine Weile
38 und ermittelten anscheinend die exakte Distanz zu METANU-Station – wohl um angesichts der erschwerten Ortung Unfälle zu vermeiden. Ein Teil der eintreffenden Schiffe legte an den Dockplätzen der Station an, so, wie es auch Atlans Raumer tun würde. Der andere Teil jedoch steuerte auf direktem Weg Richtung Analog-Nukleotid. Atlan und seine Begleiter konnten es aus nächster Nähe beobachten. Durch das ringförmige Energiefeld des Tors flogen mit geringer Geschwindigkeit von maximal 120 Sekundenkilometern permanent Raumfahrzeuge – und kamen auf der anderen Seite nicht mehr zum Vorschein. Es war eindeutig, dass diese Raumfahrzeuge durch das Feld in das eigentliche, in das im Hyperraum eingelagerte Analog-Nukleotid vordrangen. Im Gegensatz zu dem echten Nukleotid DORIFER, das ausschließlich Verkehr von DORIFER-Kapseln zuließ, flogen im Fall von Objekt METANU außerdem Raumfahrzeuge praktisch jeglicher Größe in das Feld – selbst die Basisschiffe der Kattixu. Deren Maße waren mit fast sechs Kilometern Durchmesser immerhin gewaltig. »Irgendwie schon faszinierend«, sagte Trim Marath. »Jetzt sehen wir die ganzen Anlagen mal aus direkter Nähe. Aber wie können all diese verschiedenen Objekte ins METANU-Tor einfliegen?« Atlan zögerte mit der Antwort. Er betrachtete voller Interesse die verschiedenen Holos, die ihnen die Umgebung zeigten. Darunter waren auch Orterergebnisse. »Ich weiß es nicht, Trim«, sagte er dann. »Ich nehme aber an, dass zum Vorstoß in Objekt METANU eine besondere Technologie notwendig ist. Denn kurz vor dem Durchstoßen des psionischen Feldes verändert sich jeweils der Orterreflex eines passierenden Fahrzeugs sehr stark.« »Du hast Recht«, sagte Karett. »Man kann es genau erkennen. Also können wir annehmen, dass zum Einflug in Objekt METANU eine noch unbekannte technische Vorrich-
Horst Hoffmann tung verwendet werden muss …« »Wenn wir die hätten«, dehnte Startac Schroeder. Dann war es so weit. Das Raumschiff der Kattixu durchdrang den Schutzschirm, der METANU-Station umgab.
* Die angeblichen Brüder Azeitto brauchten nach der Landung nicht lange zu warten. Sie wurden von Kattixu in Empfang genommen. Die Männer von der SOL wurden mit dem Status »voll ausgebildete Taffael« unverzüglich dem Wachdienst der Station zugeteilt – etwas, das Trabzon Karett in der letzten Nacht auf Aegori-B noch geschafft hatte. Man wollte sie ab dem kommenden Tag in die Dienstpläne einbinden. Sie erhielten einen speziellen »Fremdenführer«, eine Art Armband, das sie als Neuankömmlinge standardmäßig in den Aufbau und die Abläufe innerhalb der gewaltigen Station einführen sollte. Besser hätten sie es gar nicht treffen können. Atlan, Marath, Schroeder und Karett nahmen an diesem ersten Tag in METANU-Station keinerlei Nahrung zu sich – bis sichergestellt war, dass sich kein Caam in ihrem Essen befand und dass die im Gemm-Katt festgesetzten Werte auch in der Station gültig blieben und nicht neu definiert wurden. Allerdings sah es ganz so aus, als seien die entsprechenden Daten in ihren ID-Akten und Chips gespeichert. Trim Marath nahm mit seiner Fähigkeit als Kosmospürer die Nähe METANUS so deutlich wahr wie ein Normalsterblicher vielleicht ein Kaminfeuer – so jedenfalls drückte er sich aus. Doch neue Aufschlüsse vermochte der Mutant nicht zu liefern. Sie bekamen, wie schon im Gemm-Katt, ein Gemeinschaftsquartier zugewiesen. Und ebenso wie dort erhielten sie einen KattixuFührer, der sie, in Ergänzung zu den Fremdenführern, mit den Einrichtungen der Station vertraut machen sollte. Der erste Tag bestand aus Instruktionen
METANU-Station und Einweisungen. In der darauf folgenden ersten »Nacht«-Ruhepause gelang es Karett, sich in die Rechner von METANU-Station einzuarbeiten, was jedoch ohne die Unterstützung einer TLD-Einsatzgruppe zu einer höchst kniffligen Angelegenheit wurde. Es war unverkennbar, dass METANU-Station zum höchsten Sicherheitsbereich im Sternhaufen Thoregon gehörte. Zwar ließen sich die Sicherungsvorkehrungen in keiner Weise mit dem vergleichen, was etwa SENECA in der SOL aufzubieten hatte. Dafür war der Zentralspeicher von METANU-Station dem Computerspezialisten der Gruppe zu unbekannt. An Sabotage und dergleichen konnten die Galaktiker nicht denken. Man war in der Station auf derlei Versuche, zum Beispiel seitens des Zirkulars, durchaus vorbereitet. Allerdings schwebte Karett auch nicht gerade Sabotage als Mittel vor. Der Spezialist brauchte Ruhe und Zeit, um zu arbeiten. Um das zu erreichen, wandte er einen Trick an, auf den ihn Kantoja Resh gebracht hatte. Karett arbeitete sich in das Rechnersegment ein, das die Gesundheitsdaten der Kattixu verwaltete. Danach benutzte er den Zugang, um sich in den automatischen Dienstplänen als »krank« einzutragen – mit der Anweisung, Kabinenruhe zu halten. Wenn alles gut ging, konnte er aus der Unterkunft rund um die Uhr das Computersystem der Station infiltrieren. Die Gefährten verbrachten eine ruhige Nacht. Am anderen Morgen wurden sie abgeholt, bis auf Karett. Seine Manipulation war erfolgreich gewesen. Er konnte in der Unterkunft bleiben, während Atlan, Trim und Startac in eine riesige Halle gebracht wurden. Ihr Führer wies sie an, sich den Weg genau zu merken beziehungsweise von ihren Fremdenführern speichern zu lassen. In der Halle wimmelte es von Kattixu, allesamt Neuankömmlinge bis auf jene, die auf einer Art Bühne standen und lautsprecherverstärkt zu den Neuen sprachen. »Dem Symbol auf seiner Brust nach muss
39 es ein Si'Taffael sein«, flüsterte Trim. »Oberster Mannschaftsdienstgrad.« Er meinte den Kattixu, der gerade das Wort hatte. Die Neuankömmlinge wurden in Gruppen eingeteilt und so vor die Bühne geführt. Der Si'Taffael, er stellte sich als Gangor Vech vor, begrüßte sie offiziell in Thoregons Dienst und sagte ihnen, wo in der Station sie sich einzufinden hatten. Dort würden sie von altgedienten Kattixu empfangen werden und weitere Instruktionen erhalten. Gruppe auf Gruppe wurde vor die Bühne geführt, begrüßt und eingewiesen. Danach verschwanden sie in den verschiedenen Ausgängen. Die Halle leerte sich zusehends. Atlan spürte eine leichte Unruhe in sich. War es Zufall, dass man ausgerechnet die Gruppe, zu der die angeblichen Brüder gehörten, als letzte holte? »Das gefällt mir nicht«, flüsterte Schroeder. Der Arkonide gab keine Antwort, denn nun wurden sie nach vorn gewinkt. Gangor Vech teilte ihnen mit, dass er höchstpersönlich sich ihrer annehmen würde. Er stieg von der Bühne herab und setzte sich an ihre Spitze. Die Gruppe bestand aus etwa dreißig Kattixu, mittlerweile dank der Aggregate alle grünlich verzerrt, und folgte dem Si'Taffael. Die Fremdenführer speicherten den Weg. In einer kleineren Halle blieb Vech stehen und teilte die Gruppe in Teams von je drei Ankömmlingen ein. Auch das ein Zufall? Ging es noch mit rechten Dingen zu, dass Atlan, Marath und Schroeder zusammen ein Team bildeten? »Hört mir gut zu«, sagte der Si'Taffael. »Ihr seid mir direkt unterstellt. Wenn es Probleme gibt, kommt damit zu mir. Aber ich glaube es nicht. Innerhalb von METANU-Station ist alles perfekt organisiert. Eure Aufgabe ist, euch innerhalb der blau markierten Sektion der Station bei den Mochichi und Worphen sehen zu lassen. Blickt ihnen bei der Arbeit über die Schulter, aber belästigt sie nicht. Seht euch überall gut um und lernt die
40 Station kennen. Erkundet die blaue Sektion, aber verlasst sie nicht. Am Ende müsst ihr innerhalb der blauen Sektion blind agieren und von einem bestimmten Punkt zu einem anderen finden können. Habt ihr das verstanden?« Die Ankömmlinge bestätigten. »Natürlich können euch die normalen Mochichi nicht auseinander halten«, sprach der Ausbilder weiter. »Für die sind wir alle Kattixu und sehen gleich aus. Aber es gibt einige höherrangige Mochichi, die besitzen Entzerrer, mit denen sie unsere Felder optisch durchdringen können. Diese wichtigen Konstrukteure müssen schließlich wissen, mit wem sie es zu tun haben. Nicht dass ihr euch dann einmal wundert …« Die Neuankömmlinge wurden nach diesen Begrüßungsworten aufgefordert, sich nun auf den Weg zu machen. »Auf den Weg wohin?«, fragte Trim Marath leise. »Er hätte uns ruhig klarere Anweisungen geben können. Jetzt stehen wir hier herum wie bestellt und nicht abgeholt.« »Einfach irgendwohin«, sagte Startac. »Du hast es doch gehört, wir sollen uns einfach nur umsehen und mit der Station vertraut machen. Einfach Streife gehen.« Atlan ging bereits auf einen Ausgang zu. Die beiden Mutanten folgten ihm. Die anderen Gruppen waren in verschiedene andere Richtungen aufgebrochen. Es war ungewohnt, keinen lebenden Führer zu haben, sondern nur die Armbandgeräte. Es ging durch weite Korridore und Antigravschächte. Alles wirkte wie in einem riesigen Raumschiff. Die Wände und Decken waren steril. Auf dem Boden gab es Laufbänder, mindestens drei parallel und mit verschiedenen Geschwindigkeiten. Die drei Azeittos erreichten einen ersten Kontrollraum, in dem Mochichi und Worphen arbeiteten. Atlan tat das, was Gangor Vech ihm geraten hatte: Er sah den Mochichi über die Schultern, was angesichts ihrer geringen Größe nicht schwer war, und versuchte einen Sinn in ihren Tätigkeiten zu ergründen. Aber er sprach sie nicht an. Auf
Horst Hoffmann der anderen Seite nahmen die humanoiden Wesen auch keine Notiz von ihnen. Nach einer Weile gingen die drei »Brüder« weiter. Immer wieder fanden sie kleine Schaltzentralen. Hier und auf den Gängen und in den Schächten wimmelte es von Leben, es brummte geradezu von Aktivität. Atlan entging es nicht, dass seine beiden Begleiter immer nervöser wurden. Aber wirklich unruhig wurden sie erst, als sie in einem Schaltraum die ersten drei silbernen Helioten sahen. Zwar hätten sie nach den Worten des Si'Taffael auf eine solche Begegnung vorbereitet sein müssen, dennoch kam sie zu schnell und unverhofft. Die Gefährten wussten zwar, dass ihr Halsband sie vor Entdeckung durch die Lichtwesen schützte. Trotzdem wurde es ihnen plötzlich unangenehm. Die Helioten gaben den Mochichi Befehle. Atlan, Marath und Schroeder rührten sich nicht von der Stelle. Sie mussten eine halbe Stunde lang warten, bis die Silberkugeln durch ein Schott aus dem Raum schwebten. Die drei von der SOL entfernten sich rasch. Den Rest des Tages verbrachten sie damit, »Streife zu laufen«, wie Schroeder es genannt hatte, und sich so viel von ihren Fremdenführern erklären zu lassen, wie sie nur aufnehmen konnten. Das erstaunliche Ergebnis am Ende ihres ersten Ausflugs bestand darin, dass neunzig Prozent der Aktivitäten in METANU-Station dem Zweck dienten, jene Kontrollsatelliten, die auf Cencha-1 und Cencha-2 montiert wurden, feinzujustieren. Dies geschah nach Daten, die man in der Station immer wieder aktuell aus dem Innern des Analog-Nukleotids gemeldet bekam. Täglich erreichten zudem einige Dutzend Kontrollsatelliten aus dem Inneren METANUS die Station. Diese Satelliten benötigten neue Justierungen, waren beschädigt oder Ähnliches. Atlan nahm diese Informationen mit
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großem Interesse auf. Nur was da im Innern von METANU von den Satelliten kontrolliert werden musste, darüber gab es keinerlei Aufschluss. Vielleicht hatte es mit jenem geheimnisvollen Vorgang zu tun, auf den sich alle in der Station vorzubereiten schienen? Mit jenem Vorgang, den sie METANUS Lodern nannten?
* Zog Markarm wagte die ersten vorsichtigen Gehversuche, entgegen Thorg Quanturs Warnungen. Es klappte besser, als er es erwartet hatte. Zwar musste er sich auf Krücken stützen, zwar hämmerte der Phantomschmerz in seinem Bein, aber er konnte gehen, und zwar besser als vor der Amputation. »Na also«, sagte er zu dem Arzt. »Was willst du denn noch?« »Der Schein trügt, Zog«, antwortete Quantur. »Du magst dich jetzt gesund fühlen, geradezu wie neugeboren – aber es liegt nur an den starken Mitteln, die ich dir gab. Es ist noch nicht erwiesen, ob dein Körper das gezüchtete Bein überhaupt behalten will.« »Sicher will er das!«, fuhr Markarm ihn an. »Auf deine ewige Schwarzmalerei kann ich verzichten! Hier – sieh her!« Damit warf er die Krücken von sich. Er stand ruhig und sicher. »Was sagst du nun?« »Ich kann nur meine Warnungen wiederholen«, beteuerte der Mediziner. Zog Markarm winkte ab. »Ich verstehe dich ja, Freund. Aber du brauchst dir wirklich keine Sorgen mehr zu machen. Ich fühle es, ich bin gesund. Und das verdanke ich dir.« Der Sicherheitschef drehte sich um und schritt, noch leicht humpelnd, auf den Ausgang zu. »Was hast du vor?«, fragte Quantur. »Ich gehe in die Zentrale. Man hat mich dort viel zu lange nicht mehr gesehen. Sie sollen nicht auf die Idee kommen, einen
Nachfolger für mich zu suchen.« »Zog, du …« »Halte mich nicht auf!«, rief der Sicherheitschef. »Dann lass mich dir wenigstens einen Trageroboter mitgeben, der dich bis vor die Zentrale bringt!« Zog Markarm gab nach. Er wollte es sich mit seinem Lebensretter nicht verderben. Vor der Zentrale angekommen, stieg er aus dem Antigravkissen des Robots. Beim Auftreten durchzuckte ein stechender Schmerz sein Bein, aber er biss die Zähne zusammen. Sicher würde sich das gleich geben. Rewa Cunch, der Mochichi, kam ihm entgegen. »Wo warst du nur so lange?«, fragte er. »Wir haben uns große Sorgen gemacht.« »Arbeiten«, antwortete der Sicherheitschef. »Es gab einige Probleme, aber die konnte ich lösen. Sektor Rot, du verstehst? Aber jetzt stehe ich wieder voll und ganz zur Verfügung.« »Das freut uns alle, Si'Cambo«, sagte der Mochichi. »Es ist auch erforderlich, denn selten weilten so viele silberne Helioten in der Station wie jetzt. Niemals zuvor wurden ähnlich viele Kontrollsatelliten in Einsatz gebracht oder von der Station nachjustiert. Nie zuvor gab es derart viele Transporte von roten Helioten ins Innere von METANU. Etwas sehr Wichtiges muss da im Gange sein.« »Danke, Rewa«, sagte Markarm. »Ich habe keine Ahnung, was da vor sich geht. Es sei denn, es hängt mit METANUS Lodern zusammen, das wir in eineinhalb Wochen erwarten. Aber das sind Dinge, die ihr Wissenschaftler herausfinden müsst, nicht der Sicherheitschef der Station.« »Den Sicherheitschef könnte aber etwas anderes interessieren«, sagte Cunch, deutlich distanziert. »Es ist eine seltsame persönliche Nachricht an dich, von Aegori-B, aus dem Gemm-Katt. Der dortige Ausbilder Kantoja Resh bittet dich, auf vier Kattixu ein Auge zu haben, die in unsere Station versetzt wurden.«
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Das Bein! Zog Markarm biss die Zähne zusammen und hoffte, dass man ihm nichts anmerkte. Aber das Bein zog wieder und brannte, brannte! Ein inneres Feuer schien seinen gesamten Körper zu durchziehen. »Was ist das für ein lächerliches Ansinnen!«, polterte Markarm los. »Als Sicherheitschef der Station kann ich nicht eineinhalb Wochen vor METANUS Lodern und in der augenblicklichen Stresssituation vier Kattixu beaufsichtigen!« »Aber Kantoja Resh gibt sich als dein Freund aus …« »Das kann er auch sein, aber nicht jetzt! Der zuständige Si'Taffael soll die vier überprüfen. Wer ist das?« »Momentan Gangor Vech, Si'Cambo«, antwortete der Mochichi. »Dann soll er sich der Sache annehmen, teile ihm das mit. Ich habe andere Dinge zu tun.« Damit war der Vorgang für Markarm erledigt. Er schwitzte stark und beeilte sich, die Zentrale zu verlassen, bevor er noch stärkere Zeichen von Schwäche zeigte. Jedenfalls konnte er eines nicht mehr von der Hand weisen: Das Fieber kroch an ihm empor, und wahrscheinlich gab es nichts mehr, was es noch stoppen konnte. Vor allem eines hielt ihn noch aufrecht: Er wollte METANUS Lodern noch sehen.
* Zwei Tage später hatten Atlan, Marath und Schroeder die ihnen zugewiesene blaue Zone zur Genüge erkundet. Sie kannten sich nun aus. Am Morgen des 16. Mai beschlossen sie, die Nachbarzonen zu erforschen. Atlan bewegte sich stur geradeaus in der Hoffnung, so am ehesten an die Grenze der blau markierten Sektion zu kommen. Nach zwei Stunden war es so weit: Statt blau waren die Markierungen an den Wänden nun rot. Es geschah übergangslos mitten in einem langen Korridor. Der Arkonide blieb nicht stehen. Sein Ziel
war, den Eindruck zu erwecken, er habe sich verlaufen. Höchstwahrscheinlich wurden die Übergänge von einer Sektion zur anderen überwacht. Also gab er sich den Anschein, gar nichts davon bemerkt zu haben. Erst später wollte er damit beginnen, sich zu »wundern«. Anfangs unterschieden sich die Örtlichkeiten nicht von jenen der blauen Sektion. Atlan mied allerdings die Schalträume und ging, soweit möglich, den Besatzungsmitgliedern der Station aus dem Weg. Allmählich änderte sich das Bild. Atlan fand sich in gewaltigen Fabrik- und Hangarkomplexen wieder. In den Hangaranlagen wurden Hunderte von Kontrollsatelliten von ganzen Heerscharen von Worphen, LeftassArbeitern und Robotern versorgt das Ganze teils kontrolliert von Kattixu. Mochichi oder Helioten waren nicht zu sehen. Atlan ging selbstsicher weiter, mischte sich sogar unter die Kattixu. Schließlich mussten sie glauben, er wäre einer von ihnen. Niemand hielt ihn auf, niemand stellte Fragen. So gelangte er in einen Hangar, in dem sich ein »Stützwerkschiff« befand. So zumindest hatte Trim Marath die 188 Meter durchmessenden, scheibenförmigen Einheiten bezeichnet, von denen er jetzt eine vor sich hatte. Das Schiff bestand aus einem dichten, extrem dicken Gestänge. Modul-Zellen wie Antrieb, Steuertechnik, Lebenserhaltungsanlagen und Ähnliches waren in der Form von Kapseln in die Struktur eingehängt. Das Gestänge verfügte in der Mitte über eine Aussparung, die den Kern mit der größten Stabilität umschloss. Und in der Aussparung erkannte Atlan acht halbkugelförmige, tiefrote Apparaturen mit einem Durchmesser von jeweils rund drei Metern. Der Arkonide war wie elektrisiert. Etwas sagte ihm, dass er einem großen Geheimnis auf der Spur war. Sein Extrasinn schwieg jedoch dazu. Eine der Halbkugeln wurde soeben mit Hilfe ultrastarker Antigravprojektoren und
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Traktorstrahl-Lafetten aus dem so genannten Stützwerkraumer entladen. Im selben Moment gab Atlans Fremdenführer auf Aufforderung weiterführende Informationen frei. Der Arkonide hatte es einfach versucht – und Erfolg gehabt. Demnach besaßen die tiefroten Halbkugeln die unglaubliche Masse von rund 15.000 Tonnen – das entsprach einer Materialdichte von 2,13 Kilogramm pro Kubikzentimeter! Es handelte sich um spezielle Aggregate, die das Durchdringen von METANU-Tor sowie das Manövrieren im Innern von METANU ermöglichten! Die vom Fremdenführer so genannten Isolationseinheiten nannte Atlan kurzerhand Iso-Werke. Was im Fall von DORIFER allein mit DORIFER-Kapseln möglich war, wurde bei METANU per technische Vorrichtung für beliebige Raumfahrzeuge möglich. Atlan stand unter Hochspannung. Sein Gefühl hatte ihn nicht getrogen. Er hatte die wichtigste Entdeckung seit dem Betreten von METANU-Station gemacht.
brauchte er nur noch zu prüfen, welche Daten abgerufen worden waren. Dies entlarvte zwar noch nicht Atlans wahre Identität, es verriet ihn aber als Lügner. Der Arkonide setzte alles darauf, dass er mit seiner Dreistigkeit davonkam. Der Kattixu atmete tief. War es ein Zeichen seiner Aufregung oder der Unsicherheit? Dann aber befahl er Atlan, in die blaue Sektion und zu seinen Brüdern zurückzukehren. Er verzichtete auf ein »Verhör« des Fremdenführers. Atlan atmete auf. »Du und deine Brüder, ihr werdet euch zu Beginn der nächsten Schicht in meinem Büro melden«, sagte der Si'Taffael noch. »Dies gilt natürlich auch für den Erkrankten. Ich werde euch dann einer eingehenden Überprüfung unterziehen.« Atlan fragte sich, was damit gemeint sein mochte. Aber er gehorchte und machte sich auf den Weg zurück, wobei ihn Gangor Vech begleitete.
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Es war Abend, als Atlan in die Unterkunft zurückkehrte. Trim Marath und Startac Schroeder waren schon da. Die beiden Mutanten hatten nichts Außergewöhnliches entdeckt. Trabzon Karett hatte die ganze Zeit von seinem »Krankenlager« aus versucht, Informationen über das Innere und die Funktion des Analog-Nukleotids zu sammeln, immer wieder gestört von Medo-Robotern, die sich nach seinem Zustand erkundigten und ihm zu helfen versuchten. Nur mit Mühe hatte er sich die Roboter vom Leib halten können. Doch es schien beinahe so, als existierten die entsprechenden Informationen im Computersystem von METANU-Station überhaupt nicht. Karetts Folgerung war, dass die Besatzung der gewaltigen Anlage selbst nicht wusste, welchem Zweck ihre Tätigkeiten genau dienten. Dafür hatte der ehemalige TLD-Agent etwas anderes gefunden: Ihm war das Kunst-
Atlan sah den anderen Kattixu kommen, der direkt und mit schnellen Schritten auf ihn zueilte. Er erkannte ihn auf Anhieb. Es war kein anderer als Atlans »Vorgesetzter«, nämlich Gangor Vech. »Was hast du hier zu suchen, erklär es mir!«, fuhr der Si'Taffael den Arkoniden harsch an. »Ich hoffe, du hast eine gute Erklärung! Wie kommst du dazu, als Neuling in METANU-Station außerhalb des dir zugeteilten blauen Bereichs herumzustromern und deine eigentlichen Pflichten zu vernachlässigen?« »Ich habe mich verlaufen«, behauptete Atlan ruhig. »Ich habe meinen Orientierungssinn testen und ohne Hilfe des Fremdenführers den Rückweg finden wollen.« Er wusste genau, wie löchrig diese Ausrede war. Der Si'Taffael musste sich nur den Fremdenführer aushändigen lassen. Dann
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44 stück gelungen, in die Datenbänke der Mochichi-Konstrukteure einzudringen. Im für ihn zugänglichen Datenfundus war das Phänomen, das sich »METANUS Lodern« nannte, ziemlich genau beschrieben. »Es gibt auf Seiten der Besatzung eine Reihe von mentalen Phänomenen, die zwar durchaus kritisch sind, die aber von vielen geradezu ersehnt sind«, erläuterte der Spezialist. »Zuerst gibt es eine Art von Irrsinn, der anscheinend alle erfasst, der dann aber in einen unglaublichen Euphorieschub am Ende übergeht, der starke Glücksgefühle auslöst. Darüber ist sehr viel verzeichnet. Dass man uns darüber noch nichts erzählt hat, liegt wohl daran, dass man uns damit überraschen will. Andererseits gibt es eine … ich möchte sagen, Killer-Information, die beinahe in den anderen Informationen untergeht.« Karett machte eine bedeutungsvolle Pause, bis Atlan ihn zum Weiterreden aufforderte. »METANUS Lodern«, sagte Karett, »wird offensichtlich immer dann ausgelöst, wenn ein Kosmischer Messenger außerhalb des Analog-Nukleotids METANU entsteht.« Fast eine halbe Minute lang sprach keiner der Gefährten. »Die Mochichi«, sagte Karett schließlich, »haben offensichtlich keinerlei Ahnung davon, was ein Kosmischer Messenger ist. Sie kennen nur den Begriff. Daher die Nichtbeachtung dieser Information, über die man an Bord der Station auch nicht spricht.« Atlan, Karett und die Mutanten wussten dagegen sehr genau, welche umfassende Bedeutung hinter dem Begriff stand: Hatte ein Kosmonukleotid wie etwa DORIFER Informationen abzugeben, formierten sich Psionische Informationsquanten – die so genannten Psiqs – in einer bestimmten Reihenfolge entlang seiner »Wandung«. Die Formierung bewirkte die Entstehung eines Messengers außerhalb der Wandung, der die in den Psiqs enthaltenen Informationen kopierte. Ein Messenger bestand aus fünfdimensionalen psionischen Feldern und stieß in viel-
Horst Hoffmann fach überlichtschnellem Flug durch den Hyperraum zu dem Ort vor, an dem die kopierte Information wirksam werden sollte. Über die Art, wie das geschah, waren dagegen kaum Einzelheiten bekannt. Die Wirkung, die THOREGON mit den Messengern erzielte, war jedoch unverkennbar. Die Pangalaktischen Statistiker hatten allein in den letzten zehn Wassermal-Jahren ein halbes Dutzend Galaxien registriert, die entweder scheinbar unvermittelt ihren Kurs verändert hatten oder – wie in zwei Fällen – durch spontane Transitionen eine andere Position eingenommen hatten. Die Statistiker hatten Anzeichen dafür gesehen, dass die Materiequelle GOURDEL in der Galaxis Erranternohre vor dem Erlöschen stand. Dafür schien eine neue Negasphäre im Entstehen begriffen zu sein. Die physikalischen Vorbedingungen wurden durch einen nicht erkennbaren Einfluss soeben geschaffen. Keimzelle dieser Negasphäre dürfte nach Beobachtungen der Pangalaktischen Statistiker eine Galaxis namens Hangay sein. Die Nachbargalaxis der Milchstraße! Aus dem Universum Tarkan in die Lokale Galaxiengruppe transferiert! »War das jetzt alles«, fragte Atlan, »oder hast du noch mehr erfahren können, Karett?« Der Computerspezialist zögerte einen Augenblick. Er rieb sich die Würgemale am Hals, in einer unbeabsichtigten Geste. »In METANU-Station«, sagte Karett, »rechnet man fest damit, dass METANUS Lodern in eineinhalb Wochen stattfinden wird. Das heißt, dass dann der Messenger entsteht.« »Anderthalb Wochen!«, entfuhr es Atlan. Er ballte die Hände. »Dass die Zeit knapp wird, die uns zur Verhinderung der Katastrophe zur Verfügung steht, das wussten wir. Doch nun wissen wir endlich, wie knapp. Die Kosmokraten werden nicht zulassen, dass THOREGON noch einen weiteren Messenger schickt.« »Und das bedeutet?«, fragte Schroeder,
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aber er kannte die Antwort. »Das bedeutet«, sagte Atlan leise, »dass spätestens am ersten Juni 1312 NGZ die Katastrophe stattfinden wird.«
14. Ein Verzweiflungsplan Trabzon Karett machte abermals die Nacht zum Tag. Nur die Mutanten schliefen. Atlan hielt wie gewohnt Wache. Ab und zu setzte sich der Arkonide zu Karett und leistete ihm Gesellschaft, wenn der Spezialist eine Pause einlegte. »Ich habe ein verdammt schlechtes Gefühl, wenn ich an den Beginn der nächsten Schicht denke«, sagte Karett. »Die Gefahr, bei der Überprüfung durch den Si'Taffael aufzufliegen, ist groß.« »Wem sagst du das.« Atlan seufzte. »Es steckt etwas im Busch. Warum sonst hätte der Kattixu uns alle vier zu sich bestellt, angesichts Hunderter von Neuankömmlingen in den letzten Tagen? Es muss irgendeine Art von konkretem Verdacht geben.« »Dann sind wir geliefert«, sagte Karett. »Vielleicht nicht. Wir müssen nur umdenken und selbst die Initiative ergreifen.« Karett lachte trocken. »Und wie soll die wohl aussehen?« »Erstens werden wir nicht zu Gangor Vech gehen. Er wird eine Weile warten, bis er Wachen schickt, die uns holen sollen. Diese Zeit müssen wir ausnutzen.« »Ausnutzen wozu?«, fragte Trabzon. »Ich habe selbst nur eine vage Vorstellung. Wir haben schon eine Menge über die Kattixu, über METANU-Station und METANU-Tor in Erfahrung gebracht. Die beste Information aber scheint mir nicht die von der bevorstehenden Ankunft des Kosmischen Messengers zu sein, sondern die Beobachtung, die ich bei dem Stützwerkraumer gemacht habe.« »Du hast davon berichtet. Du meinst die roten Halbkugeln?« Atlan nickte. »Die tiefroten Halbkugeln, diese Iso-Werke, sind Aggregate, die das
Durchdringen von METANU-Tor sowie das Manövrieren im Innern von METANU selbst ermöglichen. Wir haben mehrfach beobachtet, wie Objekte von der Größe eines Weltraumtraktors durch METANU-Tor ins Innere des Analog-Nukleotids vorgedrungen sind.« »Weiter«, forderte Karett angespannt. Atlan stand auf. Er ging einige Male auf und ab, von Karetts Blicken verfolgt. Dann blieb er stehen und drehte sich abrupt um. »Hör mir gut zu und korrigiere mich, falls ich einen Denkfehler begehe«, sagte der Arkonide. »Was Weltraumtraktoren können, das kann folglich auch die SOL – oder? Es muss im Innern von METANU eine hoch entwickelte Infrastruktur geben: Raumschiffe, Kontrollsatelliten und vieles mehr. Wenn es uns nun gelänge, einige der roten Halbkugeln in unseren Besitz zu bringen, könnten wir vielleicht mit der ganzen SOL einfliegen!« Karett pfiff durch die Zähne und verzog das Gesicht zu einem Grinsen. »Eine geniale Idee«, sagte er. »Aber du weißt ja selbst um die Schwierigkeiten. Wir müssten aus METANU-Station fliehen, und zwar mit diesen Halbkugeln. Schon allein das halte ich für kaum zu schaffen. Und falls es uns doch gelingen sollte, wie nähmen wir dann Kontakt zur SOL auf, ohne sie und uns zu verraten?« »Das muss sich zeigen«, murmelte Atlan. »Wir haben gar keine andere Wahl. In eineinhalb Wochen kommt für Terra, Arkon, die Milchstraße und für eine Unzahl weiterer Galaxien möglicherweise bereits das Ende, wenn wir das Entsenden eines Messengers nicht verhindern – und zwar an Ort und Stelle, in METANU! Wenn sich THOREGON noch aufhalten lässt, dann nur dort!« Er hatte sich in Rage geredet. Trim Marath und Startac Schroeder wurden wach und schauten ihre Begleiter an. Atlan erklärte ihnen noch einmal, worum es ging. Die beiden Mutanten waren sofort Feuer und Flamme. Alle blickten Trabzon Karett an.
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* Der Computerspezialist hatte keine Wahl: Er musste sich fügen. Also arbeitete er sich wieder in die Rechnersysteme der Station ein. Dabei ging er auf höchstes Risiko. Jetzt war nicht mehr die Zeit, überaus vorsichtig zu sein. Die Gefahr einer Entdeckung war groß, wenn nicht sogar wahrscheinlich. Und damit kam leider auch die alte Angst wieder. Karett versuchte, sie abzuschütteln oder wenigstens zu ignorieren. Die Gefährten sprachen ihm Mut zu. Wussten sie, wie er litt? Der ehemalige TLD-Agent schaffte es drei Stunden vor Beginn ihrer nächsten Schicht (also drei Stunden bevor sie sich bei Gangor Vech zu melden hatten), an die ersten wichtigen Informationen zu kommen. Demnach sollte das von Atlan beobachtete Stützwerkschiff in wenigen Stunden von METANU-Station ablegen. Kurz darauf konnte Karett vermelden, dass der Stützwerkraumer vier seiner acht transportierten Iso-Werke in der Station abgeliefert hatte. Die restlichen vier waren für den Industrieplaneten Ord Regimen bestimmt, um dort in fabrikfrische Weltraumtraktoren eingebaut zu werden. Die Maske der Design-Humanen war zwar atmungsaktiv. Dennoch floss der Schweiß unter ihr an Karetts Körper hinab. Er trank einen Becher Wasser leer und kratzte sich am Hals. »Bestens, Trabzon«, lobte Atlan. »Du übertriffst dich selbst. Ohne dich wären wir niemals bis hierher gekommen.« »Das weiß ich selbst«, knurrte der Spezialist schroffer als beabsichtigt. Er schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. »Entschuldigt, aber …« »Es ist schon gut«, sagte Schroeder. »Mach weiter, wenn du dich danach fühlst, Trabzon.« »Wir haben keine Zeit!«, rief Karett leidenschaftlich aus. »Keine Zeit, versteht ihr?
In nur noch zwei Stunden sollen wir bei diesem Si'Taffael sein! Er wird vielleicht eine halbe Stunde lang warten, aber dann ein Kommando schicken, um uns zu holen!« »Bis dahin sind wir von hier verschwunden«, sagte Atlan. Karett blickte ihn skeptisch an. »Und was erwartest du von mir?« »Du lässt uns vier Azeitto-Brüder als Kattixu-Geleit für das Stützwerkschiff einteilen«, sagte Atlan. »Ich weiß, das Risiko ist gewaltig, aber wir müssen es eingehen. So eine Gelegenheit bekommen wir wahrscheinlich nie mehr – zur Flucht und zur Entwendung von vier Iso-Werken.« Karett seufzte und wandte sich wieder seiner Arbeit zu. Er brauchte genau 33 Minuten, bis er sich zurücklehnte und das Spezial-Funkgerät aus den Händen legte. »Es ist geschafft, Freunde«, sagte er mit matter Stimme. »In zwei Stunden haben wir uns im Hangar einzufinden.« Seine Begleiter feierten ihn geradezu als ihren Helden. Das lenkte ihn für wertvolle Momente von seiner Angst ab, im letzten Augenblick von den echten Kattixu entlarvt zu werden und dann … Wieder schmerzliche Verhöre? Wieder ein Prozess? Wieder der Galgen oder diesmal ein Erschießungskommando? Atlan ordnete den Aufbruch an. Zwei Stunden – so lange hatte er bis zur roten Sektion gebraucht. Dann noch einmal eine halbe Stunde bis zum fraglichen Hangar. Sie mussten sich beeilen. Trabzon Karett bekam noch einmal eine stimulierende Injektion. Er schwor, dass es die letzte sein würde. Noch einen Kreislaufzusammenbruch würde er vielleicht nicht überstehen. Die Männer öffneten vorsichtig die Tür ihrer Unterkunft. Weit und breit war von Wachen nichts zu sehen. Angesichts des Verdachts, den Gangor Vech äußerte, hätte es Trabzon nicht verwundert. Rasch betraten sie das schnellste der drei Laufbänder. Atlan kannte den Weg noch, sein fotografisches Gedächtnis hatte alle In-
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formationen gespeichert.
* Zog Markarm lag in einem Antigravbad. Die Luft um ihn war voller ätherischer Dämpfe. Der Sicherheitschef hatte keine andere Möglichkeit gesehen, als Thorg Quantur noch einmal aufzusuchen, auch auf die Gefahr hin, schwerste Vorwürfe zu hören. Und so war es dann auch gewesen. Quantur hatte sich zu Anfang sogar dagegen gewehrt, ihn weiter zu behandeln, aber ihre alte Freundschaft hatte sich als stärker erwiesen als aller medizinische Streit. Quantur hatte ihm ein Injektionspflaster auf die Haut geklebt, das die furchtbaren Schmerzen im Bein linderte und zugleich das Fieber heruntertrieb. Auch der Arzt konnte nicht sagen, wie lange die heilsame Wirkung anhalten würde. Noch fühlte Markarm sich wieder gut und entspannt. Er traute sich zu, die Medo-Station wieder zu verlassen. »Bitte nicht, Zog«, warnte der Mediziner. »Mach nicht noch einmal denselben Fehler. Dein Körper braucht Zeit, um das neue Bein zu akzeptieren. Das geht nicht von heute auf morgen.« »Aber ich habe das Schlimmste doch hinter mir, oder? Ich werde in der Zentrale gebraucht, Thorg. Warum siehst du das nicht ein?« »Weil ich will, dass du lebst, du Narr!« Quantur allein konnte es sich erlauben, einen Si'Cambo so zu behandeln. »Was nützt dir die ganze Station, wenn du tot bist? An einer ganz primitiven Wundfäulnis gestorben, weil das Synthobein von deinem Körper nicht sofort akzeptiert wird, du aber ihm auch nicht die Zeit geben willst.« Zog Markarm atmete die aromatischen Düfte ein, die ihn zusätzlich zu den Medikamenten belebten. Quantur, das wusste er tief in seinem Innern, hatte Recht. Aber er hatte eine Aufgabe, die er erfüllen musste. In den Stunden, die er hier im Antigrav-
bad gelegen hatte, hatte er sich unter anderem an die Warnungen vor vier Neuankömmlingen erinnert, die Botschaft von Kantoja Resh. Er mochte Resh längst nicht so sehr, wie dieser es sich vielleicht einbildete. Aber er kannte ihn und hätte besser auf ihn hören sollen. Was, wenn diese vier Kattixu etwas mit dem Lodern von METANU zu tun hatten? Wenn sie hier waren, um einen Anschlag zu verüben? Gab es etwa schon Kattixu, die mit dem mysteriösen Zirkular unter einer Decke steckten? Markarm durfte gar nicht daran denken. Es wäre einem Scheitern als Sicherheitschef gleichgekommen. Und er hatte ausgerechnet den Si'Taffael Gangor Vech damit beauftragt, sich ihrer anzunehmen! Ihn, von dem er selbst so wenig hielt. »Ich muss zurück in die Zentrale, Thorg«, sagte er. »Ob es dir recht ist oder nicht, ich muss dort sein. Irgendetwas stimmt nicht in METANU-Station!« »Hör auf mich und bleib in deinem Bad!«, appellierte der Mediziner an ihn. »Noch einmal kommst du nicht so leicht davon!« »Ich muss aber unbedingt.« Quantur wollte etwas erwidern, doch in diesem Moment schrillte ein Alarm durch METANU-Station.
* Atlan und seine Begleiter erreichten den Hangar quasi in letzter Minute. Sie konnten sehen, wie einige Worphen und ein Mochichi an Bord des Stützwerkraumers gingen. Dann gellte auch schon der Alarm durch die Station. »Jetzt schnell!«, zischte der Arkonide seinen Gefährten zu. Er rannte los, die anderen hinterher. Sie bestiegen jene Gondel des Raumers, in der auch schon der Mochichi und die Worphen verschwunden waren. Kaum waren sie drinnen, als bereits starke Aggregate anzulaufen begannen. »Seid ihr die vier Kattixu, die uns auf
48 dem Flug nach Ord Regimen begleiten sollen?«, fragte der Mochichi. Die Worphen verhielten sich vollkommen passiv, nahmen in aller Ruhe ihre Plätze ein. »Natürlich sind wir das«, antwortete Atlan und zückte seinen ID-Chip. »Hier, überprüfe es selbst.« Der Arkonide hoffte, dass Trabzon Karett keinen Fehler gemacht hatte. Der Mochichi steckte Atlans und der anderen Chips in ein Lesegerät, nickte beinahe menschlich und gab sie ihnen zurück. »Das ist in Ordnung«, sagte er. »Auch wenn ihr außerplanmäßig für den Transportflug eingeteilt wurdet. Die Computer irren sich nicht.« »Wozu dieser Alarm?«, erkundigte sich Atlan scheinheilig. Dabei ahnte er bereits, dass es mit ihrer inzwischen entdeckten Flucht aus ihrem Gemeinschaftsquartier zu tun hatte. »Ich weiß es nicht«, antwortete der Mochichi, »aber er gilt sicher nicht uns, denn hier ist alles in Ordnung. Wir legen ab.« Die Hangarschleuse öffnete sich. Das seltsame Schiff hob auf Antigravpolstern ab und wurde in den freien Raum gesteuert. Atlan hielt den Atem an, doch das Startmanöver verlief absolut problemlos, trotz des Alarms. Trabzon Karett hatte wirklich hervorragende Arbeit geleistet – wieder einmal. Diesmal waren die vier Männer in den Verzerrerfeldern der Kattixu bewaffnet, so, wie es für Außeneinsätze vorgeschrieben war. Sie trugen stabförmige Strahler, die auf Thermowirkung und Paralyse schaltbar waren. Sie schwebten in den Weltraum hinaus und entfernten sich rasch von der Gigantstation. Atlan wollte noch nicht so recht daran glauben, doch schien ihr Plan in Erfüllung zu gehen. Ein absolutes Plus war, dass der Stützwerkraumer nicht voll beladen war, er also schnell beschleunigen konnte. Damit dürfte im Zweifelsfall niemand rechnen.
Horst Hoffmann
* Gangor Vech wartete in der Zentrale auf Zog Markarm. Der Si'Taffael war sichtlich nervös. Dass er von kaum einem der Anwesenden beachtet wurde, machte ihn noch unruhiger. Als dann Markarm endlich eintraf, stürzte Vech auf den Si'Cambo zu. Erst einen Meter vor ihm kam er zum Stehen. »Bist du verrückt geworden?«, fuhr Markarm ihn an. »Willst du mich umbringen?« Erst jetzt sah Gangor Vech, dass sein Vorgesetzter seltsam verkrümmt ging. Er wich ein paar Schritte zurück. »Entschuldige, Si'Cambo«, sagte er schnell, »aber ich musste den Alarm auslösen lassen. Es sind …« »Du hast ihn auslösen lassen? Du weißt genau, das geht über deine Befugnisse.« »Ich habe Rewa Cunch darum gebeten«, verteidigte sich der Si'Taffael. »Als er hörte, was vorgefallen ist, war er einverstanden.« »Und was ist vorgefallen?«, fragte Zog Markarm. Er griff sich ans Bein und stöhnte verhalten. »Berichte!« »Die Brüder Azeitto«, sagte Vech hastig. »Sie sind verschwunden!« »Die Brüder Azeitto?«, fragte Markarm. Spontan konnte er den Namen nicht zuordnen. »Jene vier Kattixu, die aus dem GemmKatt nach METANU-Station gekommen sind. Kantoja Resh hat dir die Nachricht zukommen lassen, erinnere dich! Du hast mir die Verantwortung für sie übertragen.« »Ja«, sagte der Si'Cambo langsam. »Ich weiß es wieder. Aber was heißt das, sie sind verschwunden? Sie können die Station nicht verlassen.« »Normalerweise nicht«, stimmte Vech zu. »Als ich gestern einen von ihnen in der roten Sektion stellte, trug ich ihm auf, sich am heutigen Morgen bei mir einzufinden – mit all seinen Brüdern, auch dem erkrankten. Aber sie kamen nicht. Als ich einen Trupp zu ihrer Unterkunft schickte, fand er diese
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verlassen vor.« »Vielleicht sind sie zu einer Schulungseinheit gegangen«, überlegte der Sicherheitschef. »Nein, das habe ich selbstverständlich überprüfen lassen. Es ist, als habe es sie nie gegeben.« Plötzlich kam Leben in den bisher lethargisch wirkenden Zog Markarm. Er packte den Si'Taffael am Arm. »Du hast einen von ihnen in die rote Sektion verfolgt?«, überzeugte er sich. Dann rief er Rewa Cunch zu sich. Er sprach jetzt hastig, auch wenn er ab und zu eine Pause machen musste, so als habe er große Schmerzen. »Los, Cunch!«, befahl er. »Lass sofort von allen Computersystemen nach den Azeitto-Brüdern fahnden! Es eilt.« Der Mochichi bestätigte den Befehl und huschte zu seinen Apparaturen. Von seinem Arbeitsplatz aus konnte er alle Computer der Station ansprechen. Zog Markarm setzte sich in einen hohen Sessel, der sich sofort seinen Körperformen anpasste. Kurz verzog er das Gesicht zu einer Grimasse des Schmerzes, aber das sah niemand. Es dauerte einige Minuten, dann kam Rewa Cunch zurück. Der Mochichi war aufgeregt. »Si'Cambo«, rief er, »etwas Unglaubliches ist geschehen! Die vier Verdächtigen sind als Geleitschutz auf einen Stützwerkraumer kommandiert worden!« »Wie bitte?« Zog Markarm sprang auf. Im nächsten Moment kippte er und fiel mit einem Schmerzenslaut in den Sessel zurück.
* Jetzt wussten sie es alle! Die Schmerzen brannten wie ein Feuer in Zog Markarm. Für das Bein selbst hatte er kein Gefühl mehr. Er wusste, was das bedeutete. Thorg Quantur hatte es prophezeit: Der Körper stieß das Bein ab.
In seinem Rumpf war eine schmerzhafte Nekrosenbildung im Gange. Es war nur eine Frage der Zeit, wie lange er so noch überleben konnte, wenn die Vergiftung erst einmal sein Herz erreicht hatte. Aber er durfte jetzt nicht aufgeben. Selbst wenn er noch einmal in die Medo-Station hätte gehen wollen – erstens hatte er nicht die Zeit dazu, und zweitens hätte er es ohne fremde Hilfe gar nicht mehr gekonnt. Er erkannte die grausame Wahrheit. Die vier Brüder – Kantoja Resh hatte Recht gehabt. Es waren Saboteure, sie hatten sogar die Computer manipuliert. »Ist der Stützwerkraumer schon gestartet?«, fragte er den Mochichi. Rewa Cunch bejahte hektisch. »Gerade eben, Si'Cambo! Aber er hat die direkte Umgebung von METANU-Station noch nicht verlassen!« Zog Markarm stöhnte wieder. Vor seinen Augen verschwamm die Umgebung. Er wartete nicht ab, bis sich sein Blick wieder klärte. »Auf der Stelle den Stopp-Befehl an die abfliegende Einheit schicken«, sagte er mit schwacher Stimme. Er versuchte, ihr einen festeren Klang zu geben, schaffte es aber nicht. »Was immer mit diesen seltsamen Brüdern los ist, wir werden es herausfinden. Ich will nicht hoffen, dass es sich um die ersten in der Geschichte bekannten KattixuÜberläufer zum Zirkular handelt.« »Sofort, Si'Cambo!«, rief der Mochichi und eilte zu seinem Platz. Nur wenige Sekunden später konnte er vermelden, dass der Stützwerkraumer reagierte: Die Einheit begann gemäß Befehl abzubremsen. Zog Markarm bäumte sich auf. Etliche Befehle lagen auf seiner Zunge. Der Stützwerkraumer musste aufgebracht werden. Er durfte nicht vernichtet werden. Die Gegner waren in Gewahrsam zu bringen. Er musste wissen, in wessen Auftrag sie handelten und was sie herausgefunden hatten. Doch Markarm kam nicht mehr dazu, sei-
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ne Anweisungen zu geben. Sein Schicksal ereilte ihn in der Stunde seiner größten Bewährung. Das Wundgift hatte sein Herz erreicht. Der Sicherheitschef starb einen qualvollen Tod – und verschaffte damit den unbekannten Feinden den Vorsprung, den sie brauchten.
* Atlan hatte den anderen Mochichi in einem Holo gesehen. Er sprach offensichtlich von der Station aus. Der Mochichi aus dem Stützwerkraumer bestätigte seinen Befehl, denn um einen solchen musste es sich handeln. Der Arkonide verstand nur etwas von »abbremsen«. Da wusste er, dass ihre »Flucht« entdeckt worden war. Und das bedeutete wiederum, dass sie entlarvt waren. Atlan zögerte keinen Augenblick. Er schaltete seine Waffe auf Paralyse-Wirkung und schoss auch schon. Seine Gefährten folgten seinem Beispiel. Innerhalb von Sekunden waren der Mochichi und die Worphen gelähmt, sanken in ihren Sitzen zurück oder kippten auf ihren Gleisketten nach vorn und rührten sich nicht mehr. Im Gegensatz zu den falschen Kattixu waren sie nicht bewaffnet gewesen. Es hätte ihnen auch nichts genützt, so schnell und zielbewusst handelten die vier Männer. »Wir sind aufgeflogen!«, rief der Arkonide. »Der Mochichi konnte das Bremsmanöver noch einleiten. Trabzon, wir müssen die Steuerung übernehmen und das Schiff wieder auf Kurs bringen!« »Wir sind bisher nicht weit genug von METANU-Station entfernt«, beklagte der Computerspezialist. »Wenn sie dort starke Traktorstrahlen einsetzen, kommen wir nicht mehr fort.« »Woher willst du das wissen?«, fragte Marath. »Es käme darauf an, was stärker ist – ihre Strahlen oder der Antrieb des Schiffes.«
»Redet nicht lange, sonst ist es wirklich zu spät«, sagte Atlan. Der Arkonide schob einige paralysierte Worphen auf ihren Ketten zur Seite und baute sich vor den Kontrollen auf. Trabzon Karett kam endlich zu sich und hob den Mochichi aus seinem Sessel. Er setzte sich selber hinein. »Wie sieht es aus, Trabzon?«, fragte Atlan, der in fiebriger Eile die verschiedensten Systeme überprüfte. »Kommst du an den Bordcomputer heran? Jede Sekunde zählt!« »Ich versuche es!«, gab Karett zurück, das Spezialfunkgerät in der Hand. »Ich bin drin! Ich gebe den Befehl, die Stoppfahrt aufzuheben und sich wieder von METANU-Station zu entfernen.« »Hervorragend! Startac? In diesem Schiff dürfte es keine Anti-Psi-Sperren geben. Versuche, in die anderen Module zu teleportieren, und paralysiere die restliche Besatzung. Ich will den Stützwerkraumer vollkommen unter meiner Kontrolle haben.« Schroeder entmaterialisierte mit der stabförmigen Waffe in der Hand. Fast im gleichen Moment stieß Karett einen Triumphschrei aus. »Was hast du erreicht?«, fragte Atlan und beugte sich ihm über die Schulter. »Die Stoppfahrt ist aufgehoben! Wir beschleunigen wieder!« »Dem wird man in METANU-Station nicht tatenlos zusehen«, unkte der Arkonide. »Traktorstrahlen haben sie bisher nicht eingesetzt, und ich glaube auch nicht mehr daran. Sie werden stärkere Geschütze auffahren.« »Vernichtungsstrahlen?«, fragte Trim Marath. »Doch nicht auf ein Schiff, das vier ihrer wertvollen Iso-Werke an Bord hat.« »Vielleicht gerade deshalb. Immerhin sind sie ja jetzt in der Hand des Feindes, wen immer sie hinter dem Diebstahl vermuten mögen. Vielleicht halten sie uns für Agenten des Zirkulars. In METANU-Station sind wir nicht mit Psi-Kräften tätig geworden. Es dürfte also schwer fallen, uns mit der SOL in Verbindung zu bringen.«
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»Du meinst, sie schießen uns lieber ab, als uns mit den Iso-Werken entkommen zu lassen?« »Natürlich!«, knurrte Karett. »Was glaubst du denn?« »Wie schnell sind wir?«, fragte Atlan. »Wie lange, bis wir in den Hyperraum entkommen können?« »Viel zu lange«, sagte Karett. »Hier, seht auf die Schirme!«
15. Im letzten Augenblick »Sie greifen uns an!«, rief Trabzon Karett in panischer Angst. »Alle in unserer Umgebung befindlichen Kattixu-Raumer! Aber weshalb so spät?« »Sei froh«, antwortete der Arkonide trocken. Es musste in METANU-Station einige Probleme mit der Kommandostruktur geben, anders konnte es sich der erfahrene Arkonide nicht vorstellen. Aber darüber wollte er sich jetzt auch nicht den Kopf zerbrechen. Dafür ist jetzt auch keine Zeit, du Träumer!, schalt ihn der Extrasinn. »Schutzschirme hochfahren!«, befahl Atlan deshalb. »Ist schon geschehen!«, antwortete Karett. »Die ersten Treffer schlagen ein!« »Wie lange noch bis zum Hyperraumeintritt?« »Es kann sich nur um Sekunden handeln. Trotzdem könnte es zu spät sein!« Die Schiffszelle erbebte unter der kinetischen Wucht der Treffer. Die auftreffende Energie wurde absorbiert – noch. Die Schirme erreichten unter dem konzentrierten Feuer der Kattixu schnell ihre Belastungsgrenze. »Wir sind überlastet!«, schrie Karett und griff sich an den Hals. »Das kann nicht gut gehen!« Startac Schroeder materialisierte wieder in der Gondel. Der Teleporter erfasste die Situation mit einem Blick. Noch hielt der Abwehrschirm allen Treffern stand. Aber es konnte bis zu seinem Zu-
sammenbruch nicht mehr lange dauern. Dann aber steuerte Atlan das Stützwerkschiff endlich in den Hyperraum, nur Sekunden vor dem wirklich großen Schlag der Kattixu-Einheiten.
* Trabzon Karett war unglaublich erleichtert. Sie waren entkommen! Sein Leben war nicht mehr direkt bedroht, obwohl sie enttarnt worden waren. Sie konnten nicht wieder nach METANU-Station oder zu einem anderen Stützpunkt der Kattixu zurückkehren, doch das wollten sie auch gar nicht. Karett fühlte sich leicht und befreit. Der Druck, der die ganze Zeit über auf ihm gelastet hatte, war verschwunden. Er schämte sich für sein Verhalten. Wenn das Schicksal es gewollt hätte, wäre er gestorben, aber er hätte nicht um sein Leben gewinselt – genauso wenig wie damals auf Thorpei. Er hätte den letzten Schritt mit Würde getan. Aber jetzt war es vorbei. Zum ersten Mal seit Tagen lächelte der Computerspezialist wieder. Startac Schroeder grinste zurück. Sie hatten ihre Verzerrerfelder abgeschaltet. Aus Kattixu waren wieder Design-Humane geworden. Bald würden sie diese Maske ablegen können und wieder auch äußerlich Menschen sein. Atlan kam und reichte Karett die Hand. »Ich weiß, dass du Probleme hattest, Trabzon«, sagte er, »aber ohne dich wären wir nicht von METANU-Station und auch nicht von Aegori-B entkommen.« »Danke«, sagte Trabzon. Er wollte etwas hinzufügen, aber ihm fielen die richtigen Worte nicht ein. Der Computerspezialist lächelte verlegen und tat so, als müsse er sich auf die Bildschirme der Gondel konzentrieren. Atlan hatte vollkommen Recht. Sie hatten ihre Mission mehr als erfolgreich abgeschlossen, und er hatte den größten Anteil daran. Plötzlich war sie wieder da, die Müdig-
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keit. Trabzon Karett sehnte sich nach seiner Kabine in der SOL und der bequemen Konturliege. Und dann nur noch Schlaf, Schlaf und nochmals Schlaf … mindestens fünf Tage lang …
Epilog Der Sprung durch den Hyperraum dauerte nur wenige Minuten und führte über nicht mehr als acht Lichtjahre hinweg. Mitten zwischen den eng beieinander stehenden Sonnen des Zentrumbereichs fiel der Stütz-
werkraumer in den Normalraum des Ersten Thoregons zurück. Mit geringster Reichweite sendete Atlan eine Klartext-Nachricht, die sie identifizieren sollte. Nur wenige Minuten später tauchte mit einem Hypertakt-Sprung die SOL vor der gekaperten Einheit auf. Man schrieb den 17. Mai 1312 Neuer Galaktischer Zeitrechnung.
ENDE
Erneut konnten weitere Erkenntnisse über das Erste Thoregon gesammelt werden. Mittlerweile wissen die Besatzungsmitglieder der SOL recht gut über den Sternhaufen Bescheid, können auch die Gefahren einschätzen, die von METANU ausgehen. Um jedoch das vorhandene Wissen zu vertiefen, bleibt nichts anderes übrig, als einen direkten Vorstoß zu wagen. Das ist Thema des PERRY RHODAN-Romans der nächsten Woche, der von Michael Nagula geschrieben wurde. Der Roman erscheint unter folgendem Titel: ALLES FÜR DIE EWIGKEIT
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53 Kommentar: Thoregon-Plan? (II)
Hat ein Kosmonukleotid Informationen abzugeben, formieren sich – so das gängige Modellbild – Psiqs in einer bestimmten Reihenfolge entlang seiner »Wandung«. Diese Formation bewirkt außerhalb die Entstehung eines Messengers, der die in den Psiqs enthaltenen Informationen kopiert. Nach bisherigem Wissen besteht ein Messenger ebenfalls aus hyperenergetischen psionischen Feldern. Nachdem sich sein Anfang bei einem beliebigen Nukleotid gebildet hat, übernimmt er üblicherweise auch die Informationen sämtlicher zum selben Kosmogen gehörender Nukleotide, bis die Information des gesamten Kosmogens übertragen ist. Vom letzten Nukleotid legt der Messenger ab und wird durch den Hyperraum zu dem Ort im Standarduniversum versetzt, an dem die kopierte Information wirksam werden soll. Über die Art, wie der Messenger wirksam wird, sind keine Einzelheiten bekannt. Ebenfalls unklar ist, inwieweit die potenziellen Welten eines Kosmonukleotids real verwirklicht sind oder ob sie tatsächlich nur als Wahrscheinlichkeitsform anzusehen sind. Psiq-Gruppen, die »Fehlinformationen« tragen, also beispielsweise über potenzielle Zukünfte mit geringem Wahrscheinlichkeitsgrad, bleiben im Normalfall auf das Kosmonukleotid beschränkt. Es wird vermutet, dass sie sich irgendwann auflösen. Es kann allerdings auch sein, dass sie als Träger paralleler Wahrscheinlichkeiten erhalten bleiben. Fest scheint nur zu stehen, dass sie im Regelfall nicht in einen Messenger kopiert und abgestrahlt werden. Für das von der Superintelligenz THOREGON geschaffene Analog-Nukleotid bieten sich also verschiedene Formen der Einsatzmöglichkeit. Einerseits kann es dazu benutzt werden, »Pseudo-Messenger« zu erstellen – umschrieben als »METANUS Lodern«. Über die Schnittstellen der Mega-Dome ins Standarduniversum entlassen, rufen sie direkt vor Ort gewünschte Wirkungen hervor. In diese Kategorie der Manipulation dürften beispielsweise plötzlich transitierende oder ihre Bewegung verändernde Galaxien fallen, von denen die Pangalaktischen Statistiker berichtet haben. Aber auch das Erlöschen der Materiequelle GOURDEL könnte damit gemeint sein. Eine zweite Manipulationsmöglichkeit besteht darin, sich mit gezielt kodierten Pseudo-Messengern unter das normale Messenger-Geschehen zu mischen, so dass Psiq-Informationen verfälscht oder ins Gegenteil verkehrt werden oder gar die natürliche Kopierung und Abstrahlung von Messengern unterlaufen wird. Mit vermutlich katastrophalen Auswirkungen, weil auf diese Weise auch die oben angesprochenen Welten von geringem Wahrscheinlichkeitsgrad konkret realisiert würden. Weiterhin kann nach den Aussagen und Befürchtungen der Statistiker nicht ausgeschlossen werden, dass die Pseudo-Messenger vielleicht sogar die Fähigkeit besitzen, in die natürlichen Kosmonukleotide einzudringen oder Fehlinformationen in sie einzuspeisen, so dass als Ergebnis das ganze Psiq-Spiel aus
den Fugen gerät. Wir hätten es dann quasi mit einem virusähnlichen Prozess zu tun, bei dem die Kosmonukleotide »infiziert« werden und ihrerseits nur noch jene echten Messenger produzieren, die allerdings dem Programm THOREGONS folgen … Dass der Moralische Kode nicht unverletzlich ist, hat die Vergangenheit mehrfach gezeigt. DORIFER kapitulierte vor der massiven Strahlung der spontan deflagrierenden Paratau-Mengen. TRIICLE-9 ließ sich von seinem Ursprungsstandort »entführen« und als Frostrubin von Bewohnern des Standarduniversums, den Porleytern, vor Anker legen. Unantastbar ist der Kode also nicht. Zumindest seine Elemente, die Kosmonukleotide, können in Bedrängnis gebracht werden. Noch wissen wir nicht, wie der THOREGON-Plan im Einzelnen aussieht, welche Wirkungen im Großen wie im Detail erzielt werden sollen. Fest steht nur, dass THOREGONS Aktivitäten die Hohen Mächte auf den Plan gerufen haben und sie beispielsweise mit den inzwischen stationierten Galaxienzündern in massiver Form dagegen vorzugehen beabsichtigen – sofern nicht im quasi letzten Augenblick, so zumindest die Hoffnung an Bord der SOL, die beabsichtigte Manipulation verhindert werden kann. Unabhängig von diesen ins Standarduniversum oder gar ins Multiversum hineinreichenden Manipulationen muss auch ein weiterer Aspekt bedacht werden. Mit der Stationierung des Analog-Nukleotids im Ersten Thoregon könnte auch verbunden sein, dass die im »Außerhalb« angesiedelten Thoregons über die Vernetzung der Brücke in die Unendlichkeit die Qualität eines »echten neuen Multiversums« mit eigenem Moralischen Kode entwickeln. Würden irgendwann die Verbindungen gekappt, hieße die Konsequenz eine komplett eigenständige Entwicklung – mit THOREGON als »Schöpfer« … Es ist nicht klar, in welche Richtung die Ziele des THOREGON-Plans genau tendieren. Möglicherweise sieht er sogar in abgestufter Weise sämtliche angesprochenen Punkte vor, also Unruhe, Störung und Manipulation im Einflussbereich der Hohen Mächte wie die letztlich angestrebte Kappung der Verbindung und die Entwicklung hin zum »eigenen« THOREGONMultiversum. Vor diesem Hintergrund müssen die Versuche der SOL-Besatzung in jeder Hinsicht als »letzte Verzweiflungstat« angesehen werden, deren Chancen nur als denkbar schlecht einzustufen sind. Atlan & Co. mischen sich in Dinge ein, die sie deutlich überfordern, die problemlos als Selbstüberschätzung anzusehen sind … wären da nicht das Rätsel im SOL-Flansch und der Zettel mit der Botschaft, die Atlan zweifellos an sich selbst gerichtet hat. Es mutet zwar wie ein Vabanquespiel an, sich auf solch vage Hinweise und Hoffnungen zu verlassen. Aber es bleibt Atlan in der derzeitigen Situation vermutlich kaum etwas anderes übrig, soll er – und mit ihm die SOL-Besatzung – nicht von vornherein resignieren und das Handtuch werfen …
54 Rainer Castor
Horst Hoffmann