Alfred Jarry Messalina Roman aus dem alten Rom Messaline
-1-
Fernand Khnopff - Acrasia, Schönheit im Bann der Vereinsa...
54 downloads
879 Views
919KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Alfred Jarry Messalina Roman aus dem alten Rom Messaline
-1-
Fernand Khnopff - Acrasia, Schönheit im Bann der Vereinsamung
n
Alfred Jarry (1873 – 1907) Jarrys »Roman aus dem alten Rom« entstand 1900 und erschien zuerst in sechs Fortsetzungen in der von Thadée Natanson herausgegebenen Zeitschrift »La Revue Blanche«, die Buchausgabe folgte im Januar 1901 im Verlag Éditions de la Revue Blance. Der Übersetzung von Grete Osterwald lag der kritisch kommentierte Neudruck der Erstausgabe von Thieri Foulc (Collection Merdre, Eric Losfield, Paris 1977) zugrunde. In »Messalina« ― nur auf den ersten Blick vergleichbar mit den damals beliebten in poetischer Prosa geschriebenen Romanen über das antike Liebesleben wie »Aphrodite« von Pierre Louys oder »Thais« von Anatole France ― ist die römische Antike keine historische Staffage, Jarry entwirft nur ein hauptsächlich sprachlich herbeizitiertes antikes Klima, um die Erzählung in desto kühnere Phantastik steigern und seinem poetischem Universum anverwandeln zu können. In keinen anderen seiner Romane hat Jarry derartig viele griechische und römische Quellentexte eingearbeitet und doch wollte er alles andere als einen historischen Roman schreiben. Das überließ er Autoren wie Henry Sienkiewicz, der mit »Quo vadis« ein üppiges Schreckensbild von Kaiser Nero, den Christenverfolgungen und dem Verfall der Sitten in Rom gemalt hatte, um letztlich doch nur eine erbauliche Liebesromanze in effektvolles Licht zu rücken. Ein historischer Roman als Vorschau auf Hollywood-Kino. Jarry entdeckte dagegen das Beunruhigende, das für seine Zeit Aktuelle des Stoffs und der Figur einer Mann-Frau wie Messalina, einer liebeshungrigen Frau, die wie ein Mann sich Lust verschaffen will (die Männer sollen ihr zu Willen sein und nicht sie den Männern), sie aber nur in der Vernichtung findet. -2-
Alfred Jarry Gesammelte Werke Herausgegeben von Klaus Völker bei Zweitausendeins
-3-
Alfred Jarry Messalina
Roman aus dem alten Rom
Deutsch von Grete Osterwald
Zweitausendeins
-4-
1. Auflage, Dezember 1987. Copyright © 1987 by Zweitausendeins, Postfach, D-6000 Frankfurt am Main 61. Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das Recht des Nachdrucks in Zeitschriften oder Zeitungen, des öffentlichen Vortrags, der Verfilmung oder Dramatisierung, der Übertragung durch Rundfunk, Fernsehen oder Video, auch einzelner Text- und Bildteile. Der gewerbliche Weiterverkauf von Platten, Büchern oder anderen Sachen aus der Zweitausendeins-Produktion bedarf in jedem Fall der schriftlichen Genehmigung durch die Geschäftsleitung vom Zweitausendeins Versand in Frankfurt. Umschlag- und Buchgestaltung Hannes Jahn. Typographie und Herstellung Dieter Kohler & Bernd Leberfinger, Nördlingen. Satz Laupp & Göbel, Tübingen. Druck Wagner GmbH, Nördlingen. Einband G. Lachenmaier, Reutlingen. Printed in Germany. Diese Ausgabe gibt es nur bei Zweitausendeins im Versand (Postfach, D-6000 Frankfurt am Main 61) oder in den Zweitausendeins-Läden in Berlin, Essen, Frankfurt, Freiburg, Hamburg, Köln, München, Saarbrücken. In der Schweiz über buch 2000, Postfach 89, CH-8910 Affoltern a.A.
-5-
Erster Teil Der Priapus des Königlichen Gartens
-6-
Ι
D AS H AUS DES G LÜCKS Tamen ultima cellam clausit, adhuc ardens rigidae tentigine vulvae, (et lassata viris nec dum satiata recessit). D. I UN. I UVENALIS Sat. VI »Als letzte schloß sie ihr Kämmerchen, noch immer heiß von der Brunst ihrer Scheide, und ging fort, zwar ganz matt, doch nimmer satt nach so vielen Männern.« D. J. J UVENAL, Satiren, VI
In dieser Nacht stieg sie, wie in vielen Nächten, von ihrem Palatin-Palast hinab, auf der Suche nach dem Glück. Ist es wirklich die Kaiserin Messalina, die ihren geschmeidigen Leib dem vor Seide und Perlen glanzvoll erstrahlenden Lager des Claudius Cäsar entzogen hat, und die nun, lautlos wie eine Wölfin, durch die obszöne Straße von Subura streunt? Es wäre weniger unerhört, hätte die andere, die bronzene Wölfin selbst, die kurzbeinige etruskische Statue mit dem gestreckten Rücken und dem ver-
-7-
drehten Hals, Ahnin der Stadt und Hüterin der Stadt, am Fuß des Palatin, gegenüber dem legendären Feigenbaum Ficus Ruminalis, unter den es Romulus und Remus verschlagen hatte, die vorgestülpten Lippen der königlichen Zwillinge von ihren kalten Zitzen lustlos abgeschüttelt, wie wenn man einer Goldkrone entsagt, um sich dann, nach einem Sprung von ihrem Postament, mit schabenden, wie die Schleppe eines übermäßig aufgeputzten Kleides schleifenden Krallen einen Weg durch die Dreckhaufen der Vorstadt zu bahnen. Diese Gestalt, die mit dem schabenden Geräusch von Krallen oder einer Schleppe durch die Gegend streift, ist zweifellos so etwas wie ein läufiges Tier, das aber keine Spur von dem abscheulichen Geruch einer Wölfin verströmt. Hat man je die Brunst einer Statue gerochen? Indes, das Ungeheuer, das da zu seiner Höhle strebt, ist ruchloser, lechzender und schöner als das Weibchen aus Metall: Die einzige Frau, die absolut das Wort verkörpert, mit dem man die Prostituierten seit den ersten Anfängen der lateinischen Sprache, lange vor der neugegründeten Stadt, anspuckt oder küßt: Lupa ― und diese lebende Abstraktion ist ein ärgeres Wunder als die un-
-8-
verhoffte Beseelung eines Standbildes auf seinem Sockel. Der älteste Mythos Latiums lebt in diesem dreiundzwanzigjährigen Fleische wieder auf: Die Wölfin, Nährmutter der Zwillinge, ist nur ein Sinnbild der tellurischen Göttin Acca Larentia, der Mutter der Laren, der Leben gebärenden Erde, der Gemahlin des in Gestalt eines Wolfes verehrten Pan, der Prostitution, die Rom bevölkert hat. Auf den Münzen, die aus der Vorzeit der Wölfin stammen, findet sich eine reinere Prägung: Die Quadranten des 5. Jahrhunderts zeigen das Bild einer Sau. Doch die Gründerin der Stadt, die über die Stadt herrscht, ist und bleibt die Wölfin. Und hier naht Messalina, und sie nähert sich der Tür, hinter der sie sich mehr Kaiserin fühlt denn in ihrem Palast auf dem Palatin, der Tür des Lupanar, des Bordells, dem Haus des Glücks. Das Glück, so sagt man, haust in einem der verkommensten Löcher von Subura, zu ebener Erde von sechs Stockwerken erdrückt, wie ein Schamteil, das sich unter die Masse eines Körpers verkriecht. Kotkübel stehen an der Schwelle, während rechts und links die Häuser des Schlächters und des Henkers rissig werden.
-9-
Der Laden ― denn es handelt sich um einen Laden ― unterscheidet sich nur durch das Aushängeschild von seinen Nachbarn: Am Fenster des Henkers trocknet eine blutige Peitsche, und der Schlächter hat auf seine geschlossenen Fensterläden einen Drachen malen lassen, ein Schreckgespenst gegen die verpißten Kinder und das Würstchen von den Haken angelnde Bettlerpack. Zwischen den bewegten Schlangenlinien der Peitsche, die der nächtlichen Brise grausam auf der Flucht nachsetzt, und den buntgefärbten Windungen des Lindwurms reckt sich über der Tür des Glücks eine Art Stange, die im Kontrast zu all den unbeständigen Formen noch gerader wirkt, aber doch ein wenig dicker ist als eine Stange, wie wenn ein Fahnentuch sich drumherum gewickelt hätte. In den Augen eines heutigen Passanten böte die Fassade wohl den Anblick einer gewöhnlichen Landgendarmerie, außer wenn gerade Sonntag wäre. Aber das Ding da ist monströser, aufregender und verlockender als eine Fahne, denn es bedeutet etwas. Sollte das Glück, das dort wohnt, wie eine Inschrift in roten Lettern besagt, sein Heim derart
- 10 -
erfüllen, daß es strotzend überquillt und als spitzer Vorbau über der Tür aufragt? Das animalisch-göttliche Emblem, der große Phallus aus Feigenholz, ist an den Türsturz genagelt wie ein Nachtvogel an eine Scheune oder ein Gott an den Giebel eines Tempels. Seine beiden Flügel sind Laternen aus gelber Blase. Sein Kopf ist mit Zinnoberrot geschminkt wie das Gesicht des Jupiter Capitolinus. Darüber, im Laternenschein gut lesbar, würde das als Aushängeschild dienende Spruchband wohl im Winde flattern, hätte der steif gereckte Gott es nicht zwischen sich und die Mauer, seinen Bauch, gespannt. Angesichts des aufgehängten Tieres wirkt die Erlauchte Hure vom Fleisch der göttlichen Kaiser, verkleidet mit einem dunklen, überaus weiten Purpurmantel, dessen Falten sie mit Rinnen der Finsternis umgeben, und im Schwarz der Kapuze, unter der ihre blonde Perücke (Messalina hat dunkles Haar) einen Stern entzündet, als wäre sie, mehr Göttin denn Larentia, die Nacht persönlich, durch den pfeifenden Ruf ihres sterbenden Uhus vom Himmel geholt. Dabei ist sie bloß eine Frau, die gemerkt hat, daß ihr Gatte schläft.
- 11 -
Claudius Cäsar ist vor lauter Venusdiensten eingeschlummert, aber … Darf der Gatte Messalinas jemals schlafen? Messalinas Gemahl ist man im Moment der Liebe, und man ist es noch und immerdar, sofern man ununterbrochen Momente der Liebe leben kann. Ihr einziger Gatte ist der, der nicht schläft, und Messalina, im falben Gewand der Kurtisanen, angetan mit deren scharlachroten Stiefelchen, als träte sie mit blutgem Fuß die erschöpfte Kraft des Claudius, ist zu dem gekommen, der nicht schläft, dem Tier-Gott, dem immer stehenden Mann, zu dessen Rechter und zu dessen Linker die beiden Laternen wachen. Im Gefolge hat sie nur eine einzige Dienerin, die vorzügliche gewerbsmäßige Prostituierte, die ihr in einem Liebeswettkampf, der einen Tag und eine Nacht lang währte, um eine Nummer überlegen war, indem sie auch den fündundzwanzigsten Freier schaffte. Die Kaiserin hielt es für eine ausreichend demütige Huldigung nach Art der besiegten Gladiatoren, daß sie derjenigen, die sie bezwungen hatte, das Recht vergönnte, ihr als Sklavin die Schleppe zu tragen.
- 12 -
Sie schlüpften durch die niedrige Tür des Lupanars, heiß wie eine Vulva. Innen das düstere Flimmern rußiger Lampen. Ein streng begrenzter Korridor, beidseitig gesäumt von Zellen, die geschlossen sind, bewohnt. Das Glück, von dem das Haus, wenn man dem Aushängeschild glauben darf, so strotzend überquillt, wird, sofern nicht reiner Schwindel auf den Etiketten an den Zellen steht, in allen Kammern häppchenweise feilgeboten. Hinter jeder Scheidewand steckt ein Maß voll Glück, eine Frau, ein Jüngling, ein Hermaphrodit, ein Esel oder ein Eunuch, je nach der Dosis, die ein gewöhnlicher Sterblicher zu genießen vermag. Und die Männer warten zu Hauf; und genau wie sie unter den Etiketten gewählt haben, werden die Prostituierten sie auf den Feingehalt des mitgebrachten Etiketts überprüfen, das sich, ob Sesterz oder Denar, zu jener Münze rundet, mit der sie ihre Begierde rechtfertigen. Der Schatz ihrer Sesterzen und ihrer Begierden stapelt sich in einem kreisrunden Atrium, und jenseits der Mauer, die es von den Logen trennt, herrscht das aufgeregte Treiben eines Bienenschwarms.
- 13 -
Eine einzige Zelle ist leer, freigehalten für die Bienenkönigin, der die Augusta, hier als Lysisca eingetragen, nicht wenig ähnlich sieht ― ganz nackt jetzt und mit Gold an den Brüsten, ohne daß auch nur eines ihrer schwarzen Haare hervorlugt unter der kleinen Haube aus falschen Zöpfen in Flachsgelb, der Einheitsfarbe der Kurtisanen. Bisweilen umspann ein goldenes Netz ihre Brüste mit schwerer Liebkosung; doch in dieser Nacht erbebten sie frei, die Warzenhöfe mit goldenem Balsam geschminkt. Die Zelle, winziger als der unbequemste moderne Waschraum, läßt sich wohl am ehesten mit der Ausstattung eines Wasserklosetts vergleichen: Das einzige Möbelstück ist eine sehr breite Steinbank, kürzer als ein ausgestreckter Körper, die sich unter einer roten Matratze von einer Wand zur anderen zieht. Eben dort ließ Messalina sich nieder, und sogleich kam ein Mann, und sie legte sich auf die linke Seite, mit geschlossenen, angewinkelten Knien, und die behaarten Beine des Mannes, schwer vom eisenbeschlagenen Schuhwerk, schmiegten sich in die Mulden ihrer Kniekehlen; und als er ihr in den Nacken biß, wandte sie, um seine Zunge zwischen den Zähnen zu suchen, den Kopf nach rechts.
- 14 -
Erst jetzt sah sie ihm ins Gesicht und auf die Schultern. Es war ein Soldat in Lederkleidung, und Messalina hatte das Gefühl, daß sich ein lebendiger Bocksfellschlauch in sie ergoß. Leicht berauscht drängte sie den ersten Liebhaber zum Aufbruch, denn alsbald schlug die Zellentür, ein letztes Echo der Trommeln der Bacchantinnen; die Schwaden des Bordells brodelten im Dunst des geöffneten Spalts, und wie ein blutroter Pfau, der seine staunenden Augen rollen läßt, entstieg ein Athlet ― mit Bimsstein poliert durch die rächende Hand des Marmors, der sich zum Bildhauer aufwirft und doch zugeben muß, weniger schön zu sein ― dem Purpur seines mit der geübten Hand eines Netzfechters im Fluge abgeworfenen Athletenmantels. Doch nur die Lampe blinzelte, und die schwarzen Augen der blonden Kurtisane überdauerten, unverwüstlichen Trauben gleich, die pressende Kelter zwischen dem Steinbett und der Brust des Mannes. Und wenn sie sich vor Lust doch schlossen, als ihre harten Schenkel den über ihr hockenden Ringer in die Zange nahmen, wachten, an ihrer Statt und ewiger als sie, die vergoldeten Brustspitzen,
- 15 -
die wahren Augen der Kurtisane, mit ihrer unermüdlichen Glut. Dann verbrannte sich ein Wagenlenker von der Abteilung der Frösche an ihrem Leuchtfeuer; Messalina stieß ihren Schopf rücklings gegen die Wand, wie eine goldverzierte Zirkusschranke, die unter der unwiderstehlichen Wucht eines Rades bricht, und die Frau schrie auf, als die elfenbeinerne Deichsel des Viergespanns tief in ihr ihren Schoß zermalmte. Und es kamen Männer, Männer und Männer. Bis zum Morgengrauen, als der Leno seine Jungfrauen entließ. Als letzte, nachdem sogar die Dienerin schon fort war, schloß sie ihre Zellentür, doch die Begierde verzehrte sie noch. Draußen wendet Messalina sich auf einen Abschiedsblick dorthin zurück, wo sie so kurze Zeit glücklich war. Das aus Feigenholz geschnitzte Bild des Erzeuger-Gottes, des höchsten Gottes der Antike, von dem sogar der Göttervater abhing, da auch er Vater nur durch seine Gunst geworden war: der Sonnengott, Emblem des universellen Lebens, leuchtet noch am Giebel seines Tempels.
- 16 -
Und im Angesicht des Idols frischt Messalina den ewigen Mythos vom Widerstreit in der Liebe zwischen der Wölfin und dem Ficus Ruminalis, dem Baum der Fruchtbarkeit, wieder auf. Doch das Haus ist geschlossen, das grobe Bildnis des Glücks scheint ihr von seinem Platz über der Schwelle Zeichen zu geben, indem es einen Weg in andere Gefilde weist und ihr bedeutet, daß dies hier nicht sein wahrer Wohnsitz ist. Sein Zyklopenauge auf die Unendlichkeit der wie durch wachsende Entfernung verblassenden Sterne gerichtet ― hat es sie vielleicht fortgeschleudert, gleichzeitig mit Mund und Blick? ―, strebt das Glück, der scharlachrote Kahlkopf, zum Absoluten hin. Man möchte meinen, es wäre ein großer Vogel, der den Hals reckt, ehe er sich zum Flug aufschwingt. Messalina wich nicht von der Stelle, bis daß der nächtliche Himmel, wie nach einem Opfer in triumphalem Purpur, sich wieder in seine morgenrote Prätexta hüllte und die Zwillingslaterne mit einem Knistern von Stierfett erlosch. Mit einem Knistern: Messalina vernahm deutlich die Flucht des Gottes unter dem schrillen Geräusch sich aufspannender Flügel. Das Feigenholzbild des steif gereckten Gottes der Gärten ließ seine Priesterin und den Tempel zu Subura im Stich; es hatte
- 17 -
sich verflüchtigt, ja es war zweifellos zu höheren Göttersitzen entschwunden, als hätte der Unsterbliche, der immer noch, ja mehr als durch die obszönrituelle Zinnoberschminke, darob errötete, daß er sich unter allen Göttern am stärksten als Mann gezeigt, das Bedürfnis gehabt, seine Apotheose zu erneuern. Dort, wo er niedergehen würde, war sicher der ständige Wohnsitz des Glücks. Und zurückgekehrt in Cäsars Bett, zu dessen Erwachen sie in dieser Nacht wohlweislich keine der dienstbaren Beischläferinnen bestellt hatte, begierig, noch einmal mehr besessen zu sein, und diesmal von dem einzigen Mann, der berechtigt war, sie am nacktesten zu lieben, warf Messalina freudig ― nicht ohne dem Schmuck ein wenig nachzutrauern, doch ihre Wangen waren aufs Köstlichste besudelt mit all den stinkenden Dünsten des Bordells! ― die Zierde ihrer goldenen Perücke ab.
- 18 -
II Z WISCHEN V ENUS UND DEM H UND Colitur nam sanguine et ipsa more deae, nomenque loci ceu numen habetur; atque Urbis Venerisque pari se culmine tollunt templa: simul geminis adolentur thura deabus. A UREL. P RUDENTII Contra Symmachum lib. I, 219 »Denn auch sie (die Stadt Rom) wird mit Blutopfern verehrt, genau wie die Göttin, und der Name des Ortes wird für ein Vorzeichen gehalten; und die Tempel der Stadt und der Venus erheben sich in gleicher Höhe, und zur gleichen Zeit wird für beide Göttinnen Weihrauch verbrannt.« A. P RUDENTIUS, Gegen Symmachus, Buch I, 219
Und kaum daß Messalina endlich schlief, stand Claudius auf, und im hellen Morgenlicht seines viereckigen verglasten Studienkabinetts mitten auf der Dachterrasse des Palastes ― dem Belvedere des Augustus ― diktierte er, eine so einfältige und unverständliche Person, daß man nie herausgefunden hat, ob er ein Genie war oder ein Idiot, seinem Sekretär Narcissus, wie er ihm bereits die einundvierzig Bücher Römische Geschichte, die Verteidigung
- 19 -
Ciceros gegen Asinius Gallus, die zwanzig in griechischer Sprache verfaßten Bücher Tyrrhenische Annalen und die acht Bücher über die Geschichte Karthagos diktiert hatte: DIE BÜCHER DER WÜRFEL Lebenserinnerungen des Claudius Tiberius Nero Drusus Germanicus Britanniens Cäsar Diese meine Aufzeichnungen sollen einmal im Jahr nach Art einer öffentlichen Vorlesung im neuen Museum von Alexandria, meinem Museum, wo man meine Werke lehrt, vorgetragen werden; möge es, beim Namen des Augustus, den Göttern gefallen, daß sie nützlicheres Wissen verbreiten als meine Bücher über Rom seit den Anfängen der neugegründeten Stadt, war es doch schierer Wahnsinn, daß einer sie schrieb, dessen von rechts nach links wackelnder Kopf kaum fähig ist, die Wege seines eigenen Schicksals zu entwirren und herauszufinden, zu was er geboren ward, König zu sein oder Trottel, Telegenius oder Cäsar! Und doch, auf dem Gueridon, über den die Würfel rollen, kann man nicht gleichzeitig entziffern, was
- 20 -
oben und was unten liegt. VENUS, die dem glücklichsten Wurf, den beiden Sechsen, ihren Namen gab, versteckt sich stets, blanker als ihr Meeresspiegel, zwischen dem Elfenbeinwürfel und dem Tisch, während die beiden Einer, die Augen des H UNDES , der einen ruiniert, unersättlich nach oben starren. Ο ihr Gärtner mit euren Daumen, die härter sind als Spielknöchel, füllt, denn der Tag bricht an, mit blauen Hyazinthen … ah! sehr viel lieber noch mit gelben Ringelblumen ― denn ich ward am ersten Tage im August geboren, und zur elften Stunde schlug ich meine Augen auf, in dem Moment, da diese flammenden Blüten der Kaienden ihre Pracht entfalten ― eure Körbchen aus hellen Weiden und Binsengeflecht, ihr, die ihr Loblieder auf Fors-Fortuna singt, weil eure Taschen prall sind vor Geld, und zur Ehre des Iacchus, der euren Durst vor dem Palast des Kaisers löschte! Wenn aber der senes der Venus nie oben auf den Würfeln schwimmt, hat dies dann nicht den einfachen Grund, daß sie mehr Frau als Göttin ist, daß sie in den tiefsten Tiefen der Betten ihre sichersten ozeanischen Abgründe findet? Mehr Frau? Dann muß es Valeria Messalina sein, meine Frau. Denn wahrlich, sie ist sehr schön.
- 21 -
»Ja«, sagte Narcissus, der das wußte, auch er ein Buhle Messalinas, genau wie die Freigelassenen und die meisten Freunde (eine Bezeichnung für die Höflinge) des Kaisers, jedoch ohne daß die breite Schrift seines stumpfen Griffels auf dem Wachs ins Stocken geriet, und ohne daß Claudius ihn zu hören schien. … Und vor allem, seit ich sie geheiratet habe, sie, meine Dritte (Paetina habe ich verstoßen, weil sie ein Weib wie alle anderen war, das nur unbedeutende Fehler beging, Verbrechen einer gemeinen Sterblichen! Die nachfolgende Urgulanilla hingegen fand Geschmack am Menschenmord, und ich vertrieb sie ebenfalls, indem ich ihr Claudia, ihre splitternackte Tochter, hinterherwarf!), ja, seit ich Messalina geheiratet habe, hinke ich mit dem rechten Fuß stärker als zuvor: Gatte der Venus, Ή ― φαισ ― τος! Beide tragen wir Namen mit ungeraden Silben, was nach dem Spruch des Pythagoras einen Mangel auf der rechten Seite anzeigt. Der Gott Vulcanus! Aber hatte der Herr der Zyklopen etwa, wie ich, einen Hofmeister, der nicht gerade ein gründlich in der Grammatik unterwiesener Freigelassener, sondern ein S AUMTIERTREIBER war?
- 22 -
Ich ließ ihn nicht vergessen, daß er Viehtreiber war, und bedroht durch seine Zuchtrute, trottete ich starren Blicks dahin; und meine Mutter, Antonia die Jüngere, nannte mich eine Mißgeburt und von der Natur nicht fertiggeboren, während meine Großmutter, die Augusta, mir solches nur in Briefen mitzuteilen geruhte. Ha ha! Diese Livia, so scharfsinnig, daß Gaius, ihr Urenkel, sie einen Odysseus im Weiberrock schimpfte, hat mir nie etwas anderes zu sagen gewußt, als Schmähungen auf kleinen Wachstafeln. Zur Antwort habe ich, aber erst, nachdem sie tot war, meine kaiserliche Göttlichkeit ein wenig spielen lassen und ihr die Apotheose zuerkannt. Und Tiberius, mein Onkel, hat nur einen einzigen vergessen, als er den Senatoren auf dem Sterbebett Empfehlungen für die Nachfolge in der Herrschaft gab, und das war ich! Aber mein Onkel vergaß eben gern, was wichtig war. Als Adoptivsohn der erlauchten Julier konnte er sich nicht erinnern, daß Venus die Mutter der Julier war, und so hat er den Tempel der Venus Erycina auf Sizilien unvollendet gelassen. Ich dagegen habe den Tempel der göttlichen Ahnin wiederaufgebaut und vollendet. Doch bevor ich zu alledem fähig war, zog ich, schüchtern und erst recht mich töricht gebend, mit
- 23 -
dem niedrigsten Pöbel durch die Schenken; nervenkrank und von meinem Vater im Stich gelassen, trank ich mit den Säufern und … Und meine Mutter Antonia kannte für niemanden eine schlimmere Beleidigung wie: »Er ist dümmer als mein Sohn Claudius!« Dümmer als Claudius! Sie hätte es, und das wußte sie nicht, als das unwiderleglichste Axiom der Philosophen in die ganze Welt hinausschreien können! Es gab niemanden, weder ein Genie noch einen König, der neben Claudius nicht ein armseliger Depp gewesen wäre, selbst wenn ich in den Tavernen einschlief, gleichgültig gegenüber dem Gesumm der Fliegen ― ich jedenfalls war nicht derjenige, der schnarchte! ― und den Olivenkernen, mit denen man mich zum Spott bewarf, nachdem ich mich als schlichter Privatmann Tage und Nächte der einzig wahrhaft kaiserlichen Sorge hingegeben hatte: das Schicksal der Spielknöchel in meiner Hand zu halten! Und wenn ich mir die eher vom Traum als vom Erwachen geblendeten Augen mit zierlichen Frauenstiefeln rieb, die man mir arglistig über die Hände gezogen hatte, und wenn man mir eine Feder in den Schlund steckte, biß ich die Zähne zusammen, als bisse ich in den blutenden Mund einer Mätresse, und dann schrie ich Haltet-den-Dieb mit dem Schopf der
- 24 -
Fortuna, den man mich, so träumte mir, auszuspeien nötigte. Dieses Leben währte sechsundvierzig Jahre. Mit sechsundvierzig Jahren war ich noch nicht Senator. Man hatte mich den Soldaten nie gezeigt. Erst später sah ich einen, dann viele Soldaten. Und da es jedermann klar war, daß mein Verstand für keines der gegenwärtigen Geschäfte taugte, machte man mich zum Auguren: Ich erhielt die Aufgabe, die Zukunft vorauszusehen. Indem ich meinen Augurenstab von Ost nach Westen schwang, um das geweihte Templum abzugrenzen und den äußersten Punkt meines Blicks zu bestimmen ― ich bin kurzsichtig! ―, kam ich mir vor wie ein Blinder, der mit seinem Stock durch den düsteren Himmel tappt. Deswegen habe ich, nachdem ich Kaiser geworden war, den Senat nicht aufgefordert, die Unverletzlichkeit meiner künftigen Handlungen zu beschwören, obwohl dies seit den Triumvirn Sitte ist. Und doch, so natürlich mir das Hinken mit dem rechten Fuß erschien, so natürlich schien es mir, als ich, zum Konsul ernannt, erstmals das Forum betrat ― wo mein erster öffentlicher Akt im Schachspiel mit meinem Kollegen Vitellius bestand ―, daß ein Adler sich auf meine rechte Schulter setzte.
- 25 -
Ich verfluche den Makel des Vulcanus nicht mehr: Sogar Jupiter würde hinken, trüge er den blitzeschleudernden Adler immer auf derselben Schulter. Das gleichbleibend einseitige Hinke-Schicksal ist ― der große Glückstreffer. Also geschah es, daß der kaiserliche Adler mich erwählte: Als die Verschwörer G. Cäsar Caligula ermordeten, entfloh ich durch den hohen gewölbten Gang mit den schrägen Fenstern, der den Zirkus mit dem Palast verbindet, vor dem grellen Licht des Blutes und der in den Klingen sich spiegelnden Fackeln, bleicher als der Hund beim Knöchelspiel. Im Hermäum versteckt, ragten meine unglückseligen Füße (ich glaube, daß mein Kopf und meine Füße die beiden Pole eines Würfels sind!) unter einem Vorhang hervor, und kaum stürzte dröhnend das erste Schwert herein, dessen leere Scheide scheppernd auf den rechten Schenkel des Soldaten schlug, fiel ich zu dessen Knien und flehte um mein Leben, und mein Kopf zitterte hinter dem Vorhang wie eine Franse. Es kann nur Schicksal gewesen sein, daß dieser Soldat, seine eherne Klinge auf den noch unsichtbaren Körper über den ungleichen Füßen gerichtet, das Haupt mit dem spärlichen weißen Haar, der langen Nase und den wirren Augen für ebenso würdig be-
- 26 -
fand, wie der Adler es für erwählenswert gehalten hatte, denn der Prätorianer warf sich mir zu Füßen, küßte seinerseits meine Knie, die sicherlich vor Angst, ein wenig aber auch, weil ich an diesem Tag schon Fünfzig war, wie Espenlaub zitterten, und begrüßte mich als Imperator. Er rief die anderen, und sie trugen ihren Kaiser im Triumph zu ihrem Lager, durch das am weitesten vom Feind entfernte Tor der zehnten Kohorte trugen sie mich zum Schall der krummen Hörner und der geraden Trompeten … weil ich dermaßen zitterte, daß ich nicht gehen konnte. Braver Soldat! Auch war ich der erste, der die Soldaten mit Geld gekauft! Schluß mit all den Abzeichen, die zu nichts taugen, als daß man sie aufhängt im Tempel des Mars und der Ehre: Bürgerkronen, Mauerkronen, Lagerkronen, Schiffskronen, Ordensbänder, unbeschlagene Lanzen (die bloße Schäfte sind), Ordenssterne … Ich habe den Ruhm in Natura erdacht: das Ehrengold! Oh, wie war ich hager, dürr und groß hinter diesem Vorhang! Weiß ich überhaupt, ob ich mich hinter dem Vorhang versteckte? Verhüllte ich mir ― groß, wie ich war ― nicht vielmehr den Kopf, weil es ruchlos ist, wenn ein Gott die Augen eines Toten in seine Augen dringen läßt?
- 27 -
Aber beim Namen des Augustus! Ich bin doch nicht Gott: Die Apotheose ist nur ein eitler Ruhm der Schatten. Ich dagegen lebe! Meine Knochen schütteln die Zahlen der Würfelseiten noch in aller Harmonie. Augustus ist derjenige, welcher. Er steht, ganz aus Bronze, am Ende der Spina des Allergrößten Zirkus, und ihn, ja ihn verhüllt man jedesmal, wenn bei den Spielen einer abgestochen wird. Ich bleibe ein freier Zuschauer auf dem Balkon meines Pulvinars, während er sich, oder während seine Göttlichkeit ihn ewig steif hält, steifer als die Leichname, die fortgetragen werden, solange sie noch warm und biegsam sind, da man den toten Körpern gemeiner Gladiatoren nicht die Zeit geben darf, das unflexible Metall der kaiserlichen Bildnisse nachzuäffen. Weil ich aber sehr gütig bin, habe ich seine Statue vollends aus dem Zirkus entfernen lassen. Ich will die Bronze nicht zum Weinen bringen. Und außerdem mußte man ihn gar zu oft in seine Schleier hüllen. Ich glaube ― ja ―, daß ich sehr gütig bin. Ich habe verboten, daß die Zirkusspiele öfter als einmal am Tag wiederholt werden, wenn in irgendeiner Form gegen das Gesetz des Zirkus’ verstoßen worden ist! Jeder Tierfechter soll sicher sein, nicht öfter als zweimal den Tod zu riskieren.
- 28 -
Zudem habe ich, trotz flehentlicher Bitten des Volkes, den Löwen töten lassen, der auf das Menschenfressen abgerichtet war! Ich darf ruhig einmal die Härte haben, dem Volk etwas zu verweigern! Ich bin sehr sanft und sehr bescheiden; nach einem Triumph bin ich die Stufen des Kapitols auf Knien hinaufgerutscht, auf meinen alten Knien, die mich zum Kaiser machten … Immerhin ging es doch aufwärts! Gewiß, man sagt, daß ich ungeschickt sei im Handeln und beim Reden stottere. Ich aber weiß, daß ich ein großer Redner bin! »Was habe ich bloß gesagt? Narcissus, ergebenster Narcissus! Hältst du, tief in deinen Wachs geprägt, auch die ganze Seele von Claudius, dem Kaiser, fest?« Der Sekretär liest das Geschriebene ungerührt noch einmal vor, und es könnte sein, daß Claudius, seinen Träumen nachhängend, nichts anderes diktiert hat als: Der erste Claudier, der Sabiner Attus oder Atta Clausus, kam im Jahre 250 nach Rom und ließ sich daselbst nieder. Sein Name wandelte sich in Appius Claudius. Die Klienten, die er mitgebracht hatte, bil-
- 29 -
deten die Tribus Claudia, wie Vergil, An. VII, 706 bis 709, berichtet … Und in der Zwischenzeit wird unter dem Belvedere Messalina wach. Kurz nach der vierten Stunde, wir würden sagen, kurz nach zehn Uhr morgens, fingen ihre Frauen an, sie herzurichten. Das Ankleidegemach hat nichts Bemerkenswertes ― Stuckplatten zwischen den Säulen, leere Flächen, bis auf verschiedene winzig kleine angemalte Motive in der Mitte: Leier, Füllhorn und Fruchtkorb, die auf dem glatten Weiß wie Tellerornamente schimmern ―, außer einem hohen schmalen Spiegel aus Sidonglas auf der einen Seite des Fensters, das den Blick auf das Panorama der Stadt freigibt, gegenüber dem westlichen Hang des Hügels der Gärten; und, auf der anderen Seite, in einem gleichgearteten Goldrahmen, ein Porträt Messalinas, das ihren Körper in Lebensgröße vollständig und nackt zeigt, ganz aus Perlen, bis auf vier Punkte, an denen Rubine funkeln. Hier und dort, auf Regalen und Konsolen, fügen sich Flacons und Kästchen mit allerlei Essenzen, Pudern, Salben und Schminken dem Vorsitz der in
- 30 -
verschiedenen Materialien die Deckel mit regloser Laszivität schmückenden Statuetten der Liebesgöttinnen, als da sind V ENUS , K OTTYTO , P ERFICA, PREMA, PERTUNDA, L UBENTIA und V OLUPIA . V ENUS ist nicht auf den Regalen: Sie macht sich nicht gemein mit den sechs kleinen Göttinnen. Sicher steckt sie in dem Porträt aus Perlen. Die kleinen Götter männlichen Geschlechts zieren die Griffe von Brennscheren, Handspiegeln, Goldnadeln und Glöckchen, mit denen man den Sklaven läutet: PRIAPUS, B ACCHUS, M ERCURIUS und PHALLUS . Die Haarpracht des noch kindlichen Bacchus, so kraus, daß jede Locke einer Weinbeere gleicht, umwallt die Brennschere in Gestalt gewundener Ranken. Der sich schließende Schlangenkreis des Caduceus, der einen güldenen Spiegel rahmt, bestätigt darin seine doppelte Symmetrie, als wenn zwei Aale übereinstimmend mit ihrem Spiegelbild um die Oberfläche einer Pfütze schwämmen. PHALLUS fehlt. Er müßte, als Verlängerung irgendeiner Schmucknadel in Edelstein gehauen, die kostbare Miniatur des großen Aushängeschildes vor dem Bordell von Subura sein. Doch seine Mätresse und ergebenste Verehrerin hat ihn gleich nach dem Erwachen wutentbrannt mit Füßen getreten und
- 31 -
zum Fenster hinausgeschleudert, ziellos in das grüne Panorama, als sie sich wie an einen Alptraum an die Halluzination von dem monströsen Bild erinnerte, von seiner Flucht im Morgengrauen, das die Häuser des Glücks verschließt, ihre Ausstellaternen erlöschen läßt und Gespenstern oder Geistern das Leben nimmt. PRIAPUS ist ein korallenes Spielzeug, mit dem Messalinas kleine Hand ein niedliches Silberskelett, ähnlich denen, die man von den Gastmählern kennt, zum Tanzen bringen kann, so daß es mit allen seinen Gliedern in hellen Tönen klimpert ― das im Moment aber woanders hängt als die Glöckchen, auf deren Bimmeln die Zofen erscheinen. Messalina wendet sich ab von der Weite des Spiegels, dem letzten und dem ersten und dem sinnlichsten all ihrer Bäder, und wieder aufgetaucht von diesem Meeresgrund legt sie, nach einem neidlosen Blick auf die andere, die aus Perlen bestehende Anadyomene, ihre eigenen Perlen ab, das heißt, sie läßt sich ankleiden. Mit dem Rücken zum Spiegel und zum Fenster, dessen weite Öffnung sich über den Zwischenraum von einer Stucksäule zur anderen erstreckt, überwacht sie die Brennschere der Haarkräuslerin mit einer Kombination aus zwei Spiegeln, und auf dem
- 32 -
Grund der kleinen blanken Goldscheibe, deren verschlungenen Griff aus gepaarten, zum Caduceusrahmen erwachsenden Schlangen sie umfaßt, sieht sie abermals die Locken ihres in den Nacken fallenden Haars und, im Fensterrahmen verkleinert, die Terrassen des Lucullus am Westhang des Hügels der Gärten. Die Stadt und die Frau schmücken sich. Und schon hat die Verzierungskünstlerin ihr alle Kämme in die Hochfrisur gesteckt, und schon messen sich zwei Köpfe, gleich groß und genau gleich, Seite an Seite im Spiegel: Hier der unter Platanen und Efeu sich kräuselnde Hügel, aufgeputzt mit großem Reichtum an Korallen, Schildpatt sowie emailliertem Gold; dort der von Gipfeln und Schluchten effektvoll glänzende Schopf Valeria Messalinas, teils aufgebauscht durch Esplanaden, teils fließend, von einem roten Porphyrbecken zum anderen über bunte Säulen sich ergießend. Und im gleichen Moment, in dem die Verzierungskünstlerin ihre Arbeit mit einem Diamantstrauß krönt, der in der Mittagssonne funkelt, entfaltet das Wasserspiel der höchsten Terrasse des Lucullus seine ganze Pracht im hohen und immerwährenden Zenith der kleinen güldenen Scheibe, in der beide sich spiegeln, die Stadt und die Kaiserin.
- 33 -
Es gibt eine Kamee Messalinas, dargestellt bei Rubens und durch ihn überliefert, die etwas Ähnliches zeigt wie der Spiegel mit dem Paar aus Frauenkopf und Stadtansicht: Die Kaiserin (hinter ihr ihre Kinder Octavia und Britannicus) und das behelmte Rom, wie sie einander in die Augen schauen. Der Sardonyx hat die Form eines Bogens, und die Haltung der beiden Büsten ähnelt den beiden Armen eines Kandelabers. Dieser Kamee und einer anderen zufolge, auf der Claudius und Messalina von zwei Drachen bewacht abgebildet sind, hat die Kaiserin ein übermäßig rundes Gesicht, rund wie eine Brust oder wie alles, was durch eine Kraft anschwillt; der Mund, obwohl winzig, verschlingt doch das ganze Gesicht, weil die Muskeln der Kinnbacken riesig sind, für ein Raubtiermaul geschaffen; dazu breite Nüstern, die Nase der Cleopatra, ein Erbe von Marcus Antonius, Messalinas Urgroßvater (es kommt vor, daß unter dem tiefen Eindruck einer Liebe der Liebhaber die Züge seiner Mätresse auf die Kinder der rechtmäßigen Gattin überträgt). Insgesamt also nicht gerade schön, aber nur, weil die Glut der Augen in dem toten Sardonyx erloschen ist. Und ist Schönheit nicht eine Mode? Oder vielmehr, ist eine als schön bezeichnete Form etwas anderes als ein Behältnis
- 34 -
der Leidenschaft, das sogar gesprungen sein darf, da nur ein Riß es vollends durchsichtig macht? Unter der zarten Haut, Schaum der meerfarbenen Adern, entdeckte Claudius die Venus Anadyomene! Und es wunderte ihn überhaupt nicht, daß die Kaiserin der Stadt die Waage halten wollte, gab es doch parallel zum Kult der VENUS einen Kult der STADT. Doch ganz abgesehen davon ― hatte Augustus nicht eigens den Wunsch ausgedrückt, der Kult Roms möge auf immer mit dem des Kaisers verbunden sein? Smyrna errichtete den ersten Tempel für die Stadt im 559. Jahr deren Bestehens, als Cato der Ältere Konsul war; den zweiten schuf Alabanda vierundzwanzig Jahre später nach dem Vorbild der Venustempel, und so haben die ersten christlichen Dichter schreiben können: Blutig ist ihr Kult (der Kult der Stadt), ihr zur Ehre wie zur Ehre einer Göttin, und man hält den Ort für einen Gott; und die Tempel der Stadt und der Venus erheben sich in gleicher Höhe, und vereint steigt beider Weihrauch zu den Zwillingsgöttinnen auf.
- 35 -
In der gleichen Weise also, wie jede Frau sich wohlgefällig im Spiegel bewundert, betrachtet Messalina in ihrem Handspiegel das dichte Gebüsch, die als Bilder gestalteten Buchsbaumbeete, die gestutzten Taxusbäume, die Strohhütten, die Priapen des Gartens, weniger zahlreich als die Ziernadeln in ihrem eigenen Haar und ihre Edelsteine. … Und plötzlich bricht sie in Schluchzen aus, und in dem Ankleidegemach ist es ganz so, als sei der große Rahmen aus Sidonglas auf dem Mosaikboden zerschellt, als habe er durch die Zerstäubung seines Spiegelsteins eine glitzernde Arena geschaffen; oder auch, als zerbräche das Porträt, die Schönheit Messalinas, nachdem die Perlen sich gelöst hätten, in tausend Stücke. Etwas wie der Schrei: »Der große Pan ist tot!« Sie hat ihn in seinem Bocksstall aufgesucht ― Pan, Priapus, Phallus, Phales (welches sein göttlicher Name ist), Amor, Glück, den Gott, für den sie die meisten Anrufungen kennt! Wenn er existiert, ist sein Wohnort sicher dort, nicht aber in den lächerlichen Statuetten, dem Tempelschmuck, den zerbrechlichen Toilettenutensilien. Sie hat ihn gesehen.
- 36 -
Den Männern gewogen, schenkt er ihnen eine kurze Gunst, und er stirbt, sobald er eine Frau berührt ― o das Schluchzen der Venus aus Perlen, die wieder in den ganzen Staub des Meersandes zerfällt, Katadyomene! Und wenn er wiederaufersteht, so nur, um abermals zu sterben; genau wie sein Abbild, der große Adler der Nacht, der, als er oben auf der Tür seines Tempels saß, die blitzeschleudernden Augen erlöschen ließ, die Spanne seiner verliebten Schwingen beruhigte und davonzufliegen schien ― die Erinnerung der Nymphomanin suggeriert ihr eine immer präziser werdende halluzinatorische Vision: Ja, der im Morgengrauen wahrhaftig davonflog, der mit den letzten Sternen entfloh! »Wo bist du, Phales, Priapus, Sohn des Bacchus und der Venus? Und bei deinem einzigen Namen, der ewig unverändert bleibt, wo bist du, Gott der Gärten? Mein Schauen auf dich ist so absolut, meine Begierde so unzweifelhaft, daß ich weiß, daß du irgendwo anders existierst als im Heiligen des Stalles oder im toten Frauenschmuck. Der Göttervater Jupiter wohnt im Olymp und in seinem Tempel auf dem Kapitol; Augustus im Augustustempel; Livia, die zur Göttin erhobene Großmutter meines Gemahls, im Augustustempel und
- 37 -
überall dort, wo wir Frauen bei ihrem Namen schwören … Wir Frauen … Wir Götter! Denn die Frau eines göttlichen Cäsars ist einem Gott näher als andere Menschen! Gott ― obwohl Claudius von seiner Person nur ein einziges Standbild zugelassen hat, und auch das nur aus Silber, neben zwei anderen aus Erz und aus Stein, und obwohl er verbietet, daß man vor ihm niederkniet, dem Imperator und Bezwinger der Stadt des Cynobellinus, Camulodunum nahe der Themse und jenseits der Grenzen der bewohnbaren Welt, wo die Legionen, selbst die der Getreuen und Gottesfürchtigen Claudier, ihm nimmermehr gefolgt wären, hätten die weiblichen Adler auf den fahnenlosen Stangen nicht die lodernde Fackel am Himmel verfolgt, die Spur des wohlgesonnenen, blitzeschleudernden Adlers! Adler von Rom und von Subura, bist du vielleicht zurückgekehrt in die Sümpfe Britanniens, um daselbst zu erlöschen? Ich bin deine ganze Stadt! Ich bin Augusta! Mein Gemahl wird bald vollständig Gott sein: Er ist schon achtundfünfzig Jahre alt. Und ich …
- 38 -
Priapus, mein göttlicher Bruder, sei mir nicht gram, daß ich der Apotheose noch so ferne bin: Gott der Liebe, ich bin eben jung! Gott der Gärten …« (Die hochstehende Sonne der sechsten Stunde tauchte die Terrassen des Lucullus in funkelnden Glanz, die Pallien der Griechen wogten durch die Bögen des Säulengangs der Bibliothek, die Statuen zwischen den Xysten belebten sich, die heilige Kuh der persischen Diana, ganz aus Silber und durch eine Lampe hervorgehoben, ein Abbild jener anderen, die von dem Gründer der Gärten ― ebenso schön wie die der Könige ― auf dem Euphrat geopfert worden war, schimmerte auf einmal im Spiel von Licht und Schatten wie ein großer Fisch am Grunde eines tiefen Flußbettes durch die Springbrunnen hindurch, und das Standbild des Mithridates, reines Gold und sechs Fuß hoch, strich mit seinem Schild aus Edelstein, allseits blinkend wie ein Lockspiegel, den ganzen Orient über die Beete.) »… GOTT DER GÄRTEN! Zum ersten Mal verstehe ich deinen Namen, und dein Name zeigt mir dein Zuhause an: Du wohnst im allerschönsten Garten! In diesem schattigen Laubwerk, dem Dach über dem Haus des Glücks! Beschützt du auch die kleinen Vorgärten der Armen mit deinem armseli-
- 39 -
gen, von einem Schuster mit dem Schabeisen gefertigten Bildnis aus wild gewachsenem knorzigem Feigenholz, so residiert das schönste deiner Idole ― du selbst, o Phales! ― doch im göttlichsten aller Gärten!« Die Kaiserin, ans Fenster ihres Palastes gelehnt, wartet darauf, daß der Schleier des grünenden Tempels sich teilt und die Männliche Gottheit hervortritt. Aber die Blattgeflechte aus Platanengrün und Efeugrün und die Wiesen aus flüssigem Akanthus bleiben undurchdringlicher als eine Maske, die ihre Augen schließen könnte; etwas einfacher würde man sagen, daß die Frau dort unten, deren Kopf so groß ist wie die Stadt, ja daß Rom selber hartnäckig den Kopf abwendet. Und die Kaiserin wendet sich ihrerseits vom Fenster ab, und die große Stadt zeigt sich wieder verkleinert und abgeflacht im Schlangenrahmen des runden Spiegels, wie eine Schaumünze. Doch kaum waren Messalinas Augen dem Spiegel zum zweitenmal begegnet, brach sie erneut in Schluchzen aus. Mit der gleichen krankhaften Klarheit, mit der sie zunächst den Wohnsitz ihrer entfleuchten Chimäre aus ihm herausgelesen hatte, stand ihr nun in
- 40 -
prangenden Buchstaben der Grund vor Augen, warum der Gott sich davongemacht hatte. Bekanntlich war es ein alter lateinischer Glaube, daß Rom mehrere Namen haben mußte. Der profane Name, ROMA , der im Griechischen Kraft bedeutet, genau wie der Tiber in der etruskischen Sprache Rumon heißt und der Feigenbaum, Ficus Ruminalis, alljährlich wieder grünt, drückte ungefähr aus, welchem Gott die Stadt geweiht war. Als Kind hatte Messalina von den Vestalinnen die priesterliche Anrede gelernt: FLORA. Außerdem aber gab es einen geheimen und furchtbaren Namen, den auszusprechen unter Todesstrafe stand (man legte dem Volk die irreführende Vermutung nahe, es könne V ALENTIA oder ANGEROMA sein) und der kein anderer war, als der Name des Gottes der Stadt selber. Und die Priester lehrten, der Tag, an dem der Name ausgesprochen würde, werde der Tag sein, an dem die Schutzgottheit Abschied nähme, um dem heiligen Spruch gemäß anderswo einen umfassenderen Kult zu suchen. Darum, und obwohl niemand den Namen kannte, hatte sich aus Angst vor einem unglücklichen Zufall die Gewohnheit durchgesetzt, einfach zu sagen: »Die Stadt.«
- 41 -
Und das profane Wort R OMA verschleierte wie eine Maske die Giebel jener Monumente, an denen eine Inschrift die Stadt beim Namen nennen mußte. Messalina aber hatte, eingeprägt in die Schaumünze der Stadt, die der güldene Spiegel ihr zeigte, den Namen gelesen (doch der Weinkrampf überkam sie so plötzlich, daß ihre Lippen ihn nicht buchstabierten), den kaum je geahnten, als Namen der Stadt nie ausgesprochenen heiligen Namen des Gottes der Stadt, des entschwundenen Gottes: das letzte Wort der Widmung über dem Portal der Lucullischen Bibliothek in spiegelverkehrter Schrift:
Indes, nachdem die Kaiserin geweint hatte, wurden die Gärten ― wie von einem Regen, der auf sie niedergegangen wäre ― so schön, daß sie auf der Stelle begriff: Der Gott konnte die Gärten nicht verlassen haben. Und sie betrachtete sich im Spiegel, und ihr Gesicht verfinsterte die Stadt, und sie schrie aus Leibeskräften, indem sie den Gott furchtlos bei seinem Namen nannte: »Danke, A MOR, Gott der Stadt Rom, daß du Rom und sein stinkendes Subura aufgibst um der Gärten
- 42 -
willen, die vor Messalinas Fenster ihre Pracht entfalten. Du warst nicht zum Städter geboren; schmück dich mit Blumen, ländlicher Gott, ewiger Gott der Gärten! Einen umfassenderen Kult als in deinem neuen Reich wirst du andernorts nicht finden, GOTT MESSALINAS!« Fröhlich stellte sie sich wieder ans Fenster. »Wem sieht sie nur ähnlich, diese Stadt, die, behelmt mit der grünen Perücke, eine Frau sein will? Oder diese Frau, die die Stadt sein will? Als ob es außer Messalina noch eine andere gäbe, die mit dem kleinen Mund ihres Geschlechts die ganze Stadt verschlingen könnte! Ich erkenne dich wieder, auch wenn du dein Gesicht verbirgst! Du bist Poppaea Sabina, die Geliebte des Valerius Asiaticus, der deinen Launen zuliebe, um ein Bildnis deines Nackens und deines Haarschopfes zu errichten, die Lucullischen Gärten bezahlte, ebenso königlich, wie er deinen Gemahl Cornelius Scipio bezahlt, damit er den Gatten nur spielt! … Der Garten ist sehr schön, und Poppaea Sabina ― nicht so schön wie ich ― ist eine sehr schöne Frau. Sie hat Kleider, die bis zum Boden reichen und aus einem einzigen Stück Seide sind, bestickt mit Vogelfiguren, und auf deren Schleppe die fünf-
- 43 -
hundert Eselinnen, die sie für die tägliche Milch ihrer Bäder braucht, bequem Parade halten könnten. Im Garten befindet sich, ich habe es gesehen ― während mein Gemahl (der den Gott natürlich nicht gesehen hat), mißtrauisch wie immer, sämtliche Baumgruppen durchsuchen ließ ―, eine wunderbare Kugel aus Sidonglas, dick wie ein Menschenkopf! Ich habe hier, in diesem Gemach, keinen so vollkommenen Spiegel, außer meinem Perlenporträt. Wie schon bei dem Smaragd aus Scythenland, den ich im Allergrößten Zirkus mit meinem Blick durchdrang, erscheinen die nahen Dinge in ihr maßlos vergrößert, und die entfernteren Dinge entsprechend klein. Ich glaube, sie sagt die Zukunft voraus. Ich habe für spätere Zeiten winzige Falten an mir entdeckt. Zu wissen, daß ich in der Kugel sehr häßlich war, hat mir großen Spaß gemacht. Und Cäsars Knubbelnase sah darin aus wie eine Gurke. Sähe ein nackter Mann sich als Mann in dieser Kugel, sähe er sich als Gott! Als der Gott, den ich suche. Dabei ist in der Glaskugel nichts anderes als in einem Menschenkopf, nichts als eitle Träume. … Der Asiaticus hat die Kugel wohl aus Asien gebracht, um dem Gott einen Spiegel vorzuhalten! Allein das ihr einverleibte Bild des Phales verleiht ihr diese Gabe, vergöttlichte Erscheinungen zu-
- 44 -
rückzustrahlen. Der Asiaticus steht gewiß in der Gunst des Gottes, er ist der Priester seines Tempels. Der Sonnengott besucht zuerst die Menschen jener Länder, in denen die Sonne aufgeht! Es wundert mich nun gar nicht mehr, daß Poppaea den Asiaticus ihrem Gatten vorzieht. Obwohl Cornelius doch ein schöner Mann ist, das weiß ich genau, schließlich habe ich mit ihm geschlafen! Der Asiaticus ist glatzköpfig und fett, so wurde mir berichtet, und er hat schräge Augenbrauen. Ich habe ihn nicht kennengelernt, den Asiaticus … noch nicht. Und wenn ich …? ― Ich werde den Gott kennenlernen, den er in seinem Garten hütet ― es sei denn, er selber wäre der Gott der Gärten. Und genau wie ich mein Geschmeide in einem geschlossenen Kästchen aufbewahre, werde ich den Schlüssel der Gärten, den Schlüssel des Gottes, ganz für mich haben!« Und sie streckte die Hand aus nach einem der Bildnisse Phales’ (es gab kaum einen Toilettengegenstand ohne ein solches Bildnis am Griff), und, wieder aufgeheitert und zu jedem Spaß bis hin zur Grausamkeit bereit, nahm sie das kindischste Spielzeug, die Silberschelle mit dem hellen Klang, der gebieterisch und kaiserlich an klappernde Knochen erinnerte ― und läutete ihrem Denunzianten.
- 45 -
III D ER ASIATISCHE H ERR DER BÄUME
Sed truncum forte dolatum arboris antiquae numen venerare Ithyphalli terribüis membri, medio qui sernper in horto inguinibus puero, praedoni falce minetur. L. IUN. MOD. COLUMELLAE De Re rustica lib. X (De cultu hortorum) »Verehre vielmehr einfach den roh behauenen Stamm eines alten Baumes als die Gottheit Priapus mit dem schreckenerregenden Glied, der stets inmitten eines Gartens den Knaben mit seinem Geschlecht, den Dieb mit seiner Sichel bedroht.« L. J. M. C OLUMELLA, Zwölf Bücher über Landwirtschaft, Buch X (Über Gartenbau)
Mit den gerichtlich bestallten Anklägern, die ihren Strafantrag, nachdem sie ihn selbst unterzeichnet und den Beigeordneten zur Unterschrift vorgelegt hatten, in Gegenwart des Angeklagten beim Prätor einzureichen pflegten, war es unter Tiberius so weit gekommen, daß sie dem Kaiser ihre Denunziationen heimlich zukommen ließen. Der stets beunruhigte
- 46 -
Despot fand sich mit ihnen ab und nannte sie Hüter des Rechts, weil sie diejenigen bestrafen ließen, die dagegen verstießen, oder auch aus Ironie, im gleichen Sinne, wie man von den Eumeniden spricht. Mit Gold oder mit Versprechungen zog er sie je nach Bedarf aus ihren Schlupfwinkeln, wie man ein Schwert aus der Scheide zieht; und dieser Vergleich, durch den der geschickteste Denunziant gleichgesetzt wurde mit einem nackten, blank gezückten Schwert, war gang und gäbe geworden. Das nackteste und Messalina auch das liebste von allen ― derjenige, den sie gerufen hatte, damit er den Asiaticus auf dem Rechtswege beseitige ― war ein gewisser Publius Suilius, ein ehemaliger Quästor des Germanicus, und, weil er für ein Urteil Bestechungsgeld genommen hatte, dereinst von Tiberius auf eine Insel verbannt. Als der nächste Tag vor Messalinas Augen seine zarte Scham entblößte, welche die Morgenröte war, schlief die Kaiserin gegen ihre Gewohnheit nicht ein, sondern hielt Claudius im Bett zurück. Und in das kaiserliche Schlafgemach, wo das Elfenbeinbett als Thron der Gerechtigkeit fungieren sollte, trat der Denunziant Publius Suilius, gefolgt von Soldaten, die eher als Haufen denn als Trupp erschienen, so wirr scharten sie sich um einen
- 47 -
Mann, und wandte sich mit folgenden Worten an den Kaiser: »Hier habe ich die Beweise und die Zeugen für sämtliche Verbrechen des Valerius Asiaticus, des Mannes, der öffentlich bedauert, daß er, ο Cäsar! die Ermordung Cäsars nicht mit dem eigenen Schwert beging, und ich überstelle ihn in deine Hände!« Auf den Laken, weniger blutleer als Claudius’ schlotternde Finger, stießen deren Glieder gegeneinander. »All diese, die dich als erste zum Kaiser ausriefen und dein teuerster Schatz sein müssen, da sie dich entlasteten von deinen Schätzen, haben beobachtet, wie er nach Gaius Cäsars Tod voller Hochmut auf einer Anhöhe den Schrei ausstieß: ›Wäre er doch bloß durch meine Hand gefallen!‹ Und sie alle erklärten sich bereit zu schwören, daß Valerius seit jenem Tag keinen Hügel mehr besteigen kann, ohne daß es ihn wie rasend nach einem Kaisermord gelüstet. Nun gibt es aber ganze sieben Hügel in der Stadt, und deine kostbare Person ist einzig, Cäsar.« »Er hat versucht, uns durch die seltsame Verschwendung seiner Reichtümer zu bestechen«, sagte ein Soldat; »doch wir sind loyal und mitnich-
- 48 -
ten käuflich, weder durch Gold noch durch Unzucht ― jedenfalls jetzt, wo wir Cäsars Mannen sind.« »Er rüstet sich für eine Reise zu den germanischen Heeren«, sagte ein anderer; »in Vienna geboren und gestützt auf seine ebenso zahlreiche wie mächtige Verwandtschaft im Vorfeld der barbarischen Levante, wird es ihm ein Leichtes sein, die Volksstämme seiner Landsleute aufzuwiegeln.« »Er ist Poppaeas Liebhaber, glaube ich«, säuselte Messalina. »Nun aber genug der Worte«, unterbrach Claudius; »das Schicksal hat schon in dem Moment entschieden, da die Anklage vor der Verteidigung gehört worden ist.« »Schließlich«, hub Suilius noch einmal an, »und um nichts auszulassen, habe ich gesehen, wie er sich zur Schande seines Geschlechts mitten im Zirkus der Unzucht preisgab; was für einen Jüngling statthaft ist, wird bei diesem kahlköpfigen Greis geradezu monströs.« Und er richtete den Zeigefinger auf die Menge. »He, auf welchen kahlköpfigen Greis zeigst du denn da, Hüter des Rechts?« spottete Claudius. »Das ist doch mein Schnellschreib-Stenograph!«
- 49 -
Und Messalina klimperte mit den Augenlidern, denn die unregelmäßige, aber dichte Aufstellung der Soldaten verbarg ihr den Asiaticus noch immer. »Frag deine Söhne, Suilius«, sprach vibrierend eine sonore Stimme, die jede Silbe absonderte und die Menge teilte; und mit einem einzigen Schritt, so gedämpft, daß er der Rede keinen Laut hinzufügte, trat Valerius hervor. »Wenn du mich auch nie gesehen hast, hat ihr Fleisch doch gründlich erfahren, daß ich ein Mann bin!« »Wird die Gerechtigkeit zum ersten Male schwerer wiegen als das Schicksal?« murmelte der Kaiser, der Interesse an der Sache fand. Dann sagte er ganz laut: »Bleib, wo du bist, und sprich.« Valerius Asiaticus war von mittlerer Statur, wirkte durch seine hohen serischen Stelzschuhe mit schnabelförmig aufragenden Spitzen aber größer; er stand in der Blüte der Jahre, und sein Schädel sah nur deshalb aus wie eine Glatze, weil er kahlgeschoren war, bis auf den langen pechschwarzen Zopf, der wie eine baumelnde Peitsche liebkosend bis zu den Hüften über sein blaues, goldumranktes Seidenkleid strich ― nach der Mode jenes Landes, das, abgesehen von dem Buch des Amometus, ferner war als alle Erinnerung, in das er den Namen Roms getragen hatte und dessen Bräuche er ohne
- 50 -
Einschränkung übernahm, nachdem er es auf dem Flußwege durch die Verschiffung von Seidenwaren, Pelzen, Sklaven und Edelgestein zu den Warenlagern von Dioscurias, wo sich die Kaufleute von siebzig Völkern trafen, für Rom ebenso erreichbar gemacht hatte wie die Tartarei und Indien: ― China. Und seine Verteidigung war unwiderlegbar (Wie sollte er Poppaeas Liebhaber gewesen sein, wo man die Gemahlin des Cornelius doch in seinen eigenen Gärten bei Verabredungen mit dem Pantomimen Mnester überrascht hatte? Und stellte er seine beträchtlichen Reichtümer nicht ausschließlich in den Dienst des Kaisers?) und so leidenschaftlich, daß sie Claudius vor Rührung zittern ließ und Messalina Tränen entlockte. Sie ging hinaus, um selbige zu trocknen und um Vitellius, den Konsul, zu ermahnen, er möge den Angeklagten nicht entwischen lassen. Claudius begann griechisch zu sprechen, was bei ihm ein Zeichen der Besorgnis war, ebenso oft mitleidig oder wohlwollend wie blutrünstig: »Στατιλίου δε Ταύρου μετά Λουκίου Λίβωνος ύπατεύσαντος, ό Τιβέριος άπεϊπεν έσθήτι σηρική μηδένα άνδρα χρήσθαι.«
- 51 -
(»Unter den Konsuln Statilius Taurus und Lucius Libo verbot Tiberius den Männern das Tragen seidener Kleider!«) Allem Anschein nach hielt er an keiner anderen Beschwerde gegen den Asiaticus fest als an dieser Promiskuität der Kleidung, waren doch koische Stoffe und Seiden nach dem Wortlaut der Gesetze gegen den Aufwand einzig den Frauen vorbehalten (ein Pfund serische Seide entsprach in Rom einem Pfund Gold), und schickte sich an, ihn freizusprechen. Messalina kehrte im Gefolge des Vitellius zurück. »Dieses haarige Geflecht auf seinem Kopf gleicht genau dem, das, weniger lang, widerborstig aus Pans Lenden steht«, überlegte sie. »Er hütet den Gott … Und seine Nägel, die göttliche Krallen sind …« »Cäsar«, schrie sie auf, »der Nagel seines kleinen Fingers steckt in einer Schilfrohrscheide! Erinnere dich, seit dem Unfall mit dem Dolch eines Angeklagten, den deine Wange in unvergeßlicher Erinnerung bewahrt, hast du klugerweise sogar den Schreibern untersagt, in deiner Gegenwart ihre Griffelbüchsen bei sich zu behalten …« »Angst, ich?« murmelte Claudius vor sich hin. »Bin ich nicht ein Kind der Götter?«
- 52 -
»So höre doch, Cäsar«, sagte Messalina. »Er hütet den Gott, die Gärten, die Kugel … Cäsar! Ich will sagen, er besitzt das Schachbrett des Pompeius nach dessen drittem Triumph, ganz aus Sidonglas … Nein! Gefertigt aus nur zwei verschiedenfarbigen Edelsteinen, vier Fuß lang und ihrer dreie breit, stark genug, um einen dreißigpfündigen Goldmond zu tragen, nebst sämtlichen, aus dem Material der beiden gleichen Edelsteinen gehauenen Figuren. »Venus? …«, faselte Claudius. »Lucullus spielte Kaiser, und der Asiaticus konspiriert in denselben Gärten!« »Beim Namen des Augustus!« sagte Claudius gequält. »Hercules, Gott der Stärke, vor dessen Tempel ich gewöhnlich richte, Hercules-ad-Musas, ich bin kein Schiedsrichter, sondern ein Diener des Schicksals: Inspiriere mich zu großer Gerechtigkeit!« »Er steigt von der rechten Seite aufs Pferd«, warf Suilius tückisch und zungenfertig ein; »er hat seinen kranken Vater mit Suppen aus Menschenfleisch genährt und sich der Beerdigung erfreut (dies ist das einzige Verbrechen, für das ich ihn beinahe zu entschuldigen wage, jedenfalls im Vergleich zu seinen Anwandlungen nach der Ermordung eines Cäsar!), er ißt mit künstlichen Fingern,
- 53 -
er setzt sich ― sieh nur! ― einfach hin, statt in deiner kaiserlichen Gegenwart stehend zu verharren, und er scheint, bei Pollux!, auch noch zu glauben, daß er dir die gebührende Schuldigkeit erweist; in seinem Bad treibt er es mit Fliegen, und er baute seine Bibliothek und seine Pinakothek, indem er mit dem Dach begann!« »Phales beginnt mit dem Olymp!« dachte Messalina laut. Doch sie verbesserte sich: »Der Asiaticus zettelt mit Sicherheit eine Verschwörung an, Cäsar!« »Erlaube ihm«, sagte da in die allgemeine Stille hinein Vitellius, der gewartet und noch nicht gesprochen hatte, »wo doch nicht feststeht, ob er schuldig ist, und dieser Umstand seines Verbrechens Beachtung verdient, erlaube ihm ― ich war immer sein Freund und ich kenne deine Milde, Cäsar ―, die Art seines Todes selber zu wählen!« Statt die Verteidigungsrede durch ein Schlußwort zu beenden, richtete der Asiaticus seine Unschuld im goldenen Gewände auf, in der Haltung eines seltenen, exotischen und unbegreiflichen Idols. »Meine Milde! Eine große Gnade, ja gewiß!« sagte Claudius. »Ich bin sehr milde.« Und es trat
- 54 -
Schaum vor seinen Mund. »Ich glaube, er ist unschuldig, dieser in Seide gehüllte Mann, zumal ja die Zeugen, die ihn gesehen haben wollen, nur meinen Sekretär erkannten. Doch das Schicksal… Gewiß, so ist es nur gerecht: Beim Namen des Augustus und bei Hercules, ich will, daß er die Art seines Todes selber wähle! Aber er möge keine großen Neuerungen einführen, noch möge er den Brauch der Ahnen durch fremde Todesarten ersetzen! Er ist dein Freund, Vitellius; auch ich, dein Kollege, will mich durch einen Rat zu seinem Freunde machen: Du bist jung, Asiaticus; du wirst kaum vierzig sein, also hast du fürderhin das Recht, dir den Bart mit dem Messer zu rasieren und das Scheren den Jüngeren zu überlassen! Aber du, du machst dir mit diesem Rasiermesser aus echtem serischem Stahl schon jetzt eine Krone, weiß wie Knochen! Du spielst gern mit scharfen Sachen, und damit deine Nägel spitz bleiben, steckst du sie in ein Holzfutteral. Nimm heute abend dein gewohntes Bad und kratz dir das Leben ganz unten aus dem Hals, Asiaticus, sehr tief ist es nicht, glaube ich ― etwas tiefer nur als die Wurzeln deines Bartes. Sogar ich, der ich Cäsar bin, speie, wenn man mir nur eine starre Feder in den Schlund steckt, ohne weiteres die Göttin Fortuna aus. Schlafe du ein in einem roten Bad,
- 55 -
das tut gut, sehr gut, besser, als wenn sich weiche Federn in den Ohren drehen … glaube ich. Ich bin dein guter, guter Freund, Asiaticus. Ich hätte dir, ο Asiaticus, der du dich färben wirst mit all dem cäsarischen Purpur deiner bestickten Brust, gern eine Freude gemacht, wenn es stimmt, was die, die lügen, sagen: daß es dir Freude macht, einen Kaiser umzubringen! ‘Aνδρ’ άπαμύνασθαι ότε τις πρότερος χαλεπήνη. Bin ich nicht ein großer Redner?« Die Soldaten nahmen Valerius wieder in ihre Mitte: Mit dem Ausspruch von Homer am Ende seiner Rede nahm Claudius gewöhnlich Abschied von denen, die er zum Tode verurteilte. Und Messalina ihrerseits rief dem stumm abtretenden Asiaticus nach: »Du bist doch nicht der Gott, sonst würdest du nicht sterben! Aber glücklich bist du, daß du hinter den fest verschlossenen Toren deiner Gärten, die ich öffnen werde, zu Füßen des Gottes der Gärten für immer entschwinden wirst! Genau wie Lucullus, der in seinem schönsten Speisesaal, dem Apollon, mit Phales zu Abend aß, an dem Gott gestorben ist! Denn ich weiß, daß er den Liebestrank nicht überlebte, den Callisthenes, sein Freigelassener, ihm
- 56 -
eingab, um das dem Gott geopferte Herz seines Herrn zurückzugewinnen! Wäre ich doch nur würdig, den Tisch des Gottes zu teilen (der Gott erhöre mich!), wenn die Zeit meiner Apotheose gekommen ist ― im Atropos bei Lucullus!« Und am nächsten Abend, zur Stunde ihres gewohnten Ganges nach Subura, entließ sie ― verkleidet, aber leuchtend vom Purpur ihres weiten Mantels, unter dem sie in einer Lackschachtel den kleinen, drachenförmig gewundenen Bronzeschlüssel verbarg, den Schlüssel zum Tor der Gärten, der ein Zeichen dafür war, daß diese Gabe ihres Herrn die Endgültigkeit eines Vermächtnisses hatte ― alle ihre Begleiterinnen und vergaß, Claudius beim Abschied darüber zu täuschen, wohin sie ging. Von Venusdiensten erschöpft, schlief er ein, ohne noch an den Urteilsspruch vom Vortag zu denken, und gewahrte nichts mehr, außer daß es sich um ein Tor handelte: »Hüte dich vor dem Hund«, träumte der Kaiser. Messalina aber war ganz vertieft in die vage Vorstellung einer bestimmten Ecke des Lucullischen Parks, die, nachdem alle Blüten der Bildhauerei und alle verschiedenfarbigen Formen des Gartenbaus ausgeschöpft waren, dem auf höchsten Luxus bedachten Geschmack der raffiniertesten Gartenar-
- 57 -
chitekten entsprechend in einem kahlen, ländlichen Stück Feld bestand, nackt wie die Nacktheit eines Mannes, bis auf den Ithyphallus aus Feigenholz. Wie gewöhnlich fehlte der ährengekrönten und von Rauken umwachsenen Pflanzengottheit keines der beiden Attribute, die ihr ― das erste durch sein Zinnoberrot, das zweite durch seine schneidende Klinge ― erlauben, den Kindern Angst zu machen und die Diebe zu vertreiben. Die große Schwinge ihrer uralten Sense, in der Spannweite nur halb so groß wie die unendliche Schere der Atropos ― ist der schamrote Liebestempel nicht vielleicht das Zwillingsblatt dazu? ―, säte im Gleichtakt mit der anderen Geste des Fruchtbarkeit spendenden Gottes den Tod über das ganze Feld.
- 58 -
IV D IE K AISERIN AUF DER JAGD NACH DEM G OTT Όπου και νυν, έπιδοσιν τοιαύτην της τρυφής έχούσης, οι Αουκουλλιανοί κήποι των βασιλικών εν τοις πολυτελεστάτοις αριθμούνται. ΠΛΟΥΤΑΡΧΟΥ Λουκούλλου λθ’. »So daß denn auch jetzt noch, nachdem der Luxus so gewaltig zugenommen hat, die Lucullischen Gärten in einem Atem mit den großartigsten kaiserlichen Gärten genannt werden.« M. P LUTARCH, Lucullus, 39
Es ist nicht gewiß, daß Poppaea, Tochter des Poppaeus Sabinus und Mutter jener Poppaea, die Neros Gemahlin wurde und der sie nicht nur ihre Schönheit hinterließ, sondern auch die geheimnisvolle Kunst, selbige zu bewahren, tatsächlich die Geliebte des Valerius Asiaticus war; dennoch verübte Messalina an dem Herrn der Gärten und an ihrer Spiegelrivalin die gleiche vernichtende Rache. Andererseits steht fest, daß die Ritter Petra bald darauf von Suilius unter dem Vorwand denunziert wur-
- 59 -
den, der Gattin des Cornelius Scipio einen Treffpunkt für ihre Verabredungen verschafft zu haben. Es war aber keineswegs erwiesen, daß sie dort den Asiaticus traf. In den Handschriften, durch die uns der Text von Tacitus, soweit er sich mit der Todesursache der Ritter Petra befaßt, überliefert ist, heißt es nicht etwa: »die Zusammenkünfte zwischen Poppaea und Valerius«, obwohl dies die gängige Übersetzung ist (Lallemand, Brotier, Oberlin, Dureau de Lamalle, Juste-Lipse, Ernesti, Burnouf). Als den Namen des Mannes geben sie vielmehr Nester oder Nestor oder Vester an. Dotteville vermutet: Mnester. Wenn nun der weitere Verlauf der Geschichte und alles, was Dion Cassius über den Mimen berichtet, ein Verhältnis zwischen Mnester und einer Frau unwahrscheinlich machen, darf man wohl annehmen, daß der Schauspieler für teures Geld das Alibi des Asiaticus spielte. In der Tat, nachdem einige von der Kaiserin gedungene Helfer Poppaea durch das Schreckgespenst des Kerkers zum Selbstmord bewogen hatten, entfloh aus dem Hause der Petra in Richtung der Gärten eine seltsame bocksfüßige Gestalt, die solche Sprünge machte, daß man nicht erkennen konnte, ob sie ein Fell oder Kleider trug.
- 60 -
Und das nämliche Jahr stand im Zeichen mehrerer Wunder, und es tauchte bei der Tierinsel eine kleine Insel aus den Fluten auf, und Messalina schändete mit dem zierlichen Bronzedrachen das eiserne Schloß des Lucullischen Parks. Ruhiger und dichter staute sich die Nacht zwischen den hohen Ringmauern und den Vorbauten der Villa, und der althergebrachte, von Claudius vorhergesagte Höllenhund des Pförtners sah wegen seiner weißen Farbe aus wie ein Gespenst. Aber es war nur ein sitzender Porzellanhund, der einen Ball unter der Vorderpfote hielt, ein kolossales chinesisches Porzellangefäß ohne Dekor und mit gläsernen Augen, so fein gearbeitet und kraus, daß die Locken der langen Mähne stärker im Wind erzitterten als die Blütenblätter der Blumen. Während der Wachhund das Entblättern einer Rose imitierte, nahmen gestutzte Stechpalmen rundliche Tierformen an, und je mehr der Rasen zurückwich vor dieser weißer als der Morgen dämmernden Vorbotin des Mondscheins, umso deutlicher traten schwarze Umrisse, die scharfen Schatten am Himmel sich bekämpfender vierbeiniger Wolkengänger nachahmend, in der Gestalt von Hirschen, Elefanten, Mantichoren oder Einhörnern ge-
- 61 -
geneinander an, je nach dem gezähmten Willen der Buchsbaumarabesken. Solche Buchsbaumbüsche in Tiergestalt gehörten in den römischen Gärten zur üblichen Ästhetik, die jedoch beim Asiaticus von dessen schlitzäugigen Architekten bis zum Äußersten, ja sogar über die Grenzen hinaus getrieben worden war, genau wie diese Männer einst die sagenhaften Ufer ihrer Grenzflüsse Cambari und Lanos überschritten hatten, um die Wohltaten eines Anschlusses an die familia des Lucullus zu genießen. Und der Buchsbaum zeichnete von oben nach unten ihre mysteriösen Namen auf die gedeckten Säulengänge. Hier und dort, in regelmäßigem Wechsel mit den schönsten griechischen Statuen, den indischen oder persischen Götzenbildern aus höchst prunkvollen Materialien und den dickwanstigen chinesischen Göttern, bildeten Taxusbäume Amphoren nach, und der Gang eines Labyrinths zog sich vor einer spiralförmigen Reihe Zwergstauden, stiefmütterlich von der Schere zurechtgestutzt, in eine niedrige, unter dem ewig abgestuften Buchsbaum verborgene Mauer zurück. Aber nirgendwo erkannte Messalina, kupferrot auf Akanthusgrün, die heiligen Feigenbäume, Be-
- 62 -
schützer aller Gärten Roms, verdorrt und ― beim Asiaticus! ― doch so reif vom reinsten Zinnoberrot Asiens, nachdem sie den ganzen Tag in der Sonne geprangt und mit ihrem Glanz sogar die Fenster der Cäsaren beschämt hatten. Und weder über dem sinnreich mißgestalteten Buschwerk, das kurzgehalten wirkte wie ein Pinscher an der Leine, noch im Hochwald der künstlichen Bäume aus Pappmache oder gegossenem Zement, ähnlich denen, die heute rund um Paris die Lustwäldchen der Gartenlokale umrahmen und berühmte Baumstatuen parodieren, fand sie jenes Höchstmaß an Schönheit wieder, das ein Garten, ob heute oder in der römischen Zeit, überhaupt erlangen kann: den Spiegel des Gottes, die Sidonkugel aus Glas! Es sei denn, daß gar keine andere Kugel vorhanden war als die des Mondes, der aufging wie eine emporgehobene Lampe und ihr beim Suchen half. Dies galt ihr als Zeichen dafür, daß es innerhalb der Einfriedung, in welcher der Gott persönlich umherstreifte, keiner Idole bedurfte: Keine phallischen Bilder mehr in Phales’ Gegenwart, keine Spiegel mehr (nicht einmal eine Wunderkugel), wenn die strahlende Gestalt erscheinen sollte.
- 63 -
Am Ende des Beetes mündeten mit all ihren muschelförmigen Eingängen die Speisesäle des Lucullus. Messalina stieß eine Tür auf, so versteckt und massiv, daß sie ein denkbar abgelegenes, unterirdisches und gewölbtes Versteck dahinter vermutete; innen aber tat sich zu ihrer Verblüffung ein unter freiem Himmel vom Vollmond überfluteter, recht weitläufiger Hof auf, betont rechteckig durch die Symmetrie der vier Platanen, die im Spiegel eines im Zentrum befindlichen Marmorbeckens von der gleichen Art, wie es in jedem Atrium angelegt wird, ihre Marsyasqual beklagten. Dieses Becken indes, gefüllt mit klarem Wasser, war das ewig fleckenlose Tischtuch eines eigenwilligen Gedecks, und darauf schwammen, für leichte Gerichte bestimmt, Schüsseln in Form kleiner Schiffe. Ihre weiße Leere verlieh ihnen das obszöne Aussehen länglicher Nachttöpfe, scaphae genannt. Etwas weiter entfernt, mitten auf einem Stück Brachland, das bis auf einen Apfelbaum und eine winzige Rocaillepyramide völlig unbebaut war, bot ein anderes Speisezimmer seine drei Jaspislager unter einem künstlichen Efeudach aus gemalten und lackierten Metallranken dar. Es folgte ein dritter Zufluchtsort, wo unentwegt ein Fenster klirrte, bewegt von automatischen
- 64 -
Windstößen und einem Scheinregen, für dessen Funktionieren ein erhöhter Aquädukt die Wolke spielte, während gegenüber eine Dachluke Ausschau hielt auf die Ruhe der Nacht und den Mond ohne einen Lufthauch über die Bahn seines Wolkenmahles dahingleiten sah. Dann kam ein riesengroßer runder Saal, ähnlich wie Agrippas Pantheon, belüftet durch eine kreisrunde Öffnung in der Kuppel, so hoch, daß der Innenraum vollständig windgeschützt blieb und ein Regenschauer, der diesmal echt vom Himmel fiel, senkrecht und ohne daß ein einziger Tropfen das trockene Pflaster des Rundgangs traf, in das mittlere Becken prasselte, dessen Durchmesser genau dem der Kuppelöffnung entsprach. Und so viele Türen, so viele offene Höfe folgten unvermittelt auf unterirdische Gänge, daß Messalina nicht mehr wußte, ob es eine Scheidewand oder ob es die Nachtluft war, die ihr mit ihrer dichten Elfenbeinlüge den Weg verstellte. Und der letzte pflanzliche oder metallische Vorhang, den sie zwischen zwei Baumstämmen einer Allee lüftete, schloß nach ihrem Eintreten hermetisch seine Schuppen; und es gab keine andere Möglichkeit mehr, da wieder herauszufinden, als eine Treppe, die zu einem Gewölbe führte.
- 65 -
V D ER V ATER DES P HOENIX Paullo Fabio, L.Vitellio consulibus, post longum seculorum ambüum, avis phoenix in Aegyptum venit … Et primam adulto curam sepeliendi patris … subire patrium corpus, inque solis aram perferre atque adolere. C. C. TACITI Annalium lib. VI, 28 »Unter dem Konsulat des Paulus Fabius und L.Vitellius erschien nach einer Pause von vielen Jahrhunderten in Ägypten wieder der Vogel Phoenix … Und sobald der junge Vogel herangewachsen ist, besteht seine erste Sorge darin, den Vater zu beerdigen … Er nimmt die väterliche Leiche auf, trägt sie zum Altar des Sonnengottes und verbrennt sie.« C. TACITUS, Annalen, Buch VI, 28
Unterdessen war der Asiaticus nach Hause zurückgekehrt, und zuallererst diktierte er in der monosyllabischen Sprache sein Testament, das der Schreiber mit zwei Federn in Grasschrift, die fast eine Kurzschrift ist, auf Reispapier festhielt, ebenso schnell, wie der Wind der Levante die Ähren niederdrückt.
- 66 -
Und er sagte frei heraus, daß es ehrenvoller für ihn gewesen wäre, durch die Gerissenheit eines Tiberius oder die Gewalttätigkeit eines Gaius Cäsar ums Leben zu kommen, als durch die Hinterlist eines Weibes und das Schandmaul eines Vitellius. Dann unternahm er einen Spazierritt durch einen Teil seiner von Mauern umgebenen Gärten, zerstreute sich bei seinen alltäglichen Leibesübungen und speiste in heiterer Stimmung mit seinen Konkubinen, deren Füße so klein waren, daß er immer den Eindruck hatte, sie verlören sich irgendwo in der Ferne, und deren Achseln nach Tee dufteten, begleitet vom harmonischen Klang der Zimbeln. Während des Essens arbeiteten die Gärtner an einem Scheiterhaufen, wie er es geheißen; und damit sein verströmendes Blut sich keinesfalls mit Pflanzensaft vermischen konnte, schärfte er ihnen ein, ihn nur aus trockenen Baumstämmen zu errichten. Beflissen verwendeten sie alle beschnittenen, hochgewachsenen Feigenbäume, die keine Schößlinge hatten, außerdem kostbare, aus Zedern- und Sandelholz geschnitzte Masten und dicke Pfähle mit Wurzelköpfen, unverderblich, da man sie verkehrt herum eingerammt hatte und das Holz nur bei aufsteigendem Saft faulen kann.
- 67 -
Darum verwunderte sich Messalina, daß sie kein einziges Lingam wiederfand und auch keinen Ithyphallus sah, der seinen Pfahl über die Lustwäldchen des Gartens reckte. Valerius begrüßte den Aufbau aus runden Balken, so rot schon vom Lack, als kämen sie frisch aus dem Feuer, ordnete jedoch an, den Scheiterhaufen an einen anderen Ort zu verlegen, da er befürchtete, das dichte grüne Blattgewölbe könne durch die glühende Luft versehrt werden. Er überließ es seinen Verwaltern, einen freien Platz ohne Bäume ausfindig zu machen, was in dem wundervollen Park, dessen verschlungene Wege er nie ganz erforscht hatte, ein Leichtes sein sollte. Und seine letzte, sehr ruhige Anweisung lautete, daß die Sklaven und die Weiber seinen Leichnam, sobald dieser den Flammen überantwortet sei, allein lassen sollten, ohne das Wirken der Holzscheite länger zu stören, und daß der letzte, der den Park verließe, das nur von seinen auserwählten Freunden entzifferbare Testament mitnehmen möchte, ebenso den Schlüssel zum Tor der Gärten, den er seinem einzigen ausdrücklichen Testamentszusatz gemäß der Kaiserin schenken wolle. Dann schnitt er sich auf dem Ruhebett mit dem Rasiermesser schräg seitlich in den Hals und be-
- 68 -
gann, aufrecht sitzend und mit steif vorgestrecktem Kopf, die Kahlheit seines Hauptes und die Transparenz seines Gesichts, das schon den Tod durchscheinen ließ, von rechts nach links zu wiegen wie eine Raupe, die aufsteigt, um sich einzuspinnen. Und die feine Seide aus dem Blut der Schlagader wob durch dieses schwingende Hin und Her sein purpurnes Leichentuch auf dem plötzlich gealterten Körper und den Kissen, die weiß waren wie ein Bart. Schließlich brachte man den toten Körper in Amiant gehüllt an den freien Platz ohne Bäume ― ohne andere Bäume als die trockenen Stämme des Scheiterhaufens aus Sandelholz, deren exotische Dryaden ihrem Herrn in die gelbe Unterwelt vorausgeeilt waren. Die Flamme schloß all ihre Finger um den eingehüllten Leichnam, der wie ein goldenes Ei aussah, genau wie ein Kokon, der immer dunkler wird, bis sein Bewohner alle Fäden ausgeschieden hat und im innersten Raum seines Labyrinths, wo er sich am Ziele weiß, zur schlafenden Mumie wird. Dann öffnete sie sich und entfaltete sich prachtvoll in die Höhe lodernd wie der ausgehauchte Atem, der eingesogene Atem, der gestreute Atem, der beschleunigte Atem und der vereinigte Atem sämtlicher Bäume, sämtlicher Bücher, sämtlicher Statuen sowie der Edelsteine
- 69 -
und der Stoffe; und alsdann stieg sie empor, als habe sich der ganze Orient unter dem gelben Haupt und im aufgeblähten Bauch des Asiaticus gestaut. Und ihre Spannweite schien eindeutig die gleiche zu sein wie die des Phoenix, der nicht nur ein wirklicher Vogel ist, den man in Ägypten hat sehen können (der letzte Phoenix ward unter Tiberius geboren), sondern auch eine Allegorie der in astronomischen Zyklen sich ereignenden Wiedergeburt der Künste, denn die Gelehrten können genau berechnen, im Abstand welcher Perioden er sich verbrennt und wiederaufersteht. Die langen, von ihrer trockenen Scheide befreiten Nägel der Flamme hoben den Amiantsack ― wie die in Zeiten der Liebe aufgestellten Schwungfedern der Vögel ―, prall gefüllt mit Leere, Knochenstaub und Seele, auf einen Schild, und das Flimmern märchenhafter Federn überwältigte ihn und trug die väterliche Leiche dem Ritus gemäß zur orientalischen Sonne empor.
- 70 -
VI D ER P RIAPUS DES K ÖNIGLICHEN G ARTENS Oriens murrhina mittit. Inveniuntur enim ibi pluribus locis, nec insignibus, maxime Parthici regni: praecipua tamen in Carmania. Humorem putant sub terra densari. C. P LINII S ECUNDI Nat. Historiae lib. XXXVII, 8 »Die Murragefäße kommen aus dem Orient. Denn man findet sie dort an mehreren unbedeutenden Orten, namentlich denen des Partherreichs: ganz hervorragende allerdings in Kirman. Man glaubt, daß eine Flüssigkeit sich unter der Erde verdichtet.« G. PLINIUS DER ÄLTERE, Naturgeschichte, Buch XXXVII, 8
Die Treppe, deren spiralförmige Windungen zu einem noch geheimeren, noch abgeschlosseneren Raum zu führen schienen, mündete abrupt und stumpf auf dem Gipfel eines kahlen Hügels, wo sie Messalina in ihrem Purpurmantel wie eine Zunge aus der Klapptür stieß, mitten in die Einöde des Gartens.
- 71 -
Diese Veränderung überraschte die Kaiserin nicht mehr, als wenn sie nach den Erquickungen des Mittagsschlafs durch das bloße Durchschreiten einer Doppeltür von ihrem Gemach auf dem Palatin in das sonnige Getümmel des Allergrößten Zirkus hinüberwechselte. In dem Hügel klaffte, ohne daß man es hätte ahnen können, ein riesiger bogenförmiger Ausschnitt, der sich ― wenn man die Rundung bis in die Ferne verfolgte, von wo sie in dem Moment, da man sie zu verlieren glaubte, in umgekehrter Richtung wieder zurücklief ― als konkav entpuppte und der an einen Krater erinnert hätte, wäre dieser Krater nicht eher oval als rund gewesen und in jeder Hinsicht einem Amphitheater gleich. Es war der Hippodrom des Lucullus. Und wie der moderne Käufer eines winzigen Vorstadtparks, von anderen Sorgen geplagt, den Goldfischteich vertrocknen läßt, hatte der Asiaticus diesem Pfuhl hinter den Hochwäldern keinerlei Beachtung geschenkt, und mit der gleichen Nachlässigkeit, mit der er dem Unkraut gestattet hätte, ihn nach Belieben ungestört zu überwuchern, hatte er die dem Blick entschwindende Arena in der Vertiefung des hunderttausend Plätze fassenden Zirkus’ dem launischen Ordnungssinn der Gärtner überlassen.
- 72 -
Und ein ums andere Mal, dem Wechsel der Jahreszeiten folgend, hatten die drei- und vierspännigen Wagen ihre Rennen wiederholt, bis sie den alten, mit der schwarzen Erde ihrer Furchen sich mischenden Kristallsand ganz aufgewühlt hatten. Und wie Homer berichtet, wie auch auf dem Schild des Achilles bildlich dargestellt, leerte der pflügende Wagenlenker nach jeder Kehre, die, an beiden Enden gleich, in parallel verlaufenden Spuren um einen mit goldenen Eiern gekrönten Grenzstein aus grünem Porphyr sich zog, einen großen Becher auf dem Grund jenes anderen großen Bechers, den der Zirkus bildete. Und wie die tanzenden Reigen von Frauen oder Göttinnen, die oftmals den Rand der Becher und Krater zieren, lief Messalina auf der Suche nach einem schwindelfreien Abstieg den obersten Rand der riesigen Treppe entlang, deren kreisförmige Stufen, je tiefer der Blick in den Abgrund fiel, sich verjüngende Kronen bildeten, wobei die letzte noch die demütig gesenkte Stirn der Nacht umfing, zu weit unten, als daß die Kaiserin hätte erkennen können, ob diese Krone auf ihre Stirn ebenso zugeschnitten war wie die Perücke einer Kurtisane. Der Mond war rund und voll, nur zeigte er dem Himmel sein Antlitz nicht mehr, und es waren
- 73 -
weiße, von Mondmilch gequollene Wolken, deren verschleiertes Licht den äußersten Rand des Amphitheaters benetzte und ihm die Farbe von Elfenbein oder Knochen verlieh. Und Messalina begriff mit zunehmender Gewißheit, daß sie hinuntersteigen mußte, daß der kostbarste Ort des Gartens nur dieser sein konnte, wo die zentripetale Treppe in den mysteriösen Tiefen zusammenlief, wo zweifellos der Scheiterhaufen des Asiaticus, ja sicherlich der Tempel des Gottes war! Und EINES wies ihr noch gebieterischer den Weg, den es ihr aber zunächst durch den herrlichen Schauer eines Wunders verstellte. Auf jedem Platz des hunderttausend Plätze umfassenden Amphitheaters, in der gespannten Reglosigkeit fasziniert-unansprechbarer Zuschauer, erhoben sich murrinische Gefäße der hierarchischen Rangordnung gemäß auf den Sitzen des Volkes, der Soldaten, der Ritter, der Beamten und der Vestalinnen, in die Betrachtung der unter ihnen liegenden dunklen Arena vertieft. Plinius zufolge sind die murrinischen Gefäße ein gebrannter Saft der Erde, wie der Kristall ein gefrorener ist.
- 74 -
Es handelt sich um orientalische Edelsteine (die schönsten kommen von Kirman), die man zu Bechern oder Schalen formt. Ihre Farben sind Purpur und ein undurchsichtiges Weiß: Blut und Milch, die sich in einem Feuer winden. Sie duften und zeichnen sich meist durch einen Makel in Form dunkler Flecken oder flacher Warzen aus, wie bei einer Menschenhaut. Obwohl Properz (IV, 26) von den »in parthischen Feuerstätten gebrannten murrinischen Bechern« spricht, was an geflammtes Steingut oder Glaspaste erinnern könnte, oder auch, der Hypothese eines zeitgenössischen Geschichtsschreibers zufolge, an eine Art chinesisches Porzellan, so steht doch fest, daß die Materie der murrinischen Gefäße ein Werk der Erde und kein Werk der Menschen ist; es sind Becher, die direkt in einen dem Achat sehr ähnlichen Stein, heute Flußspat oder Fluorkalzium genannt, eingearbeitet sind. Sie gehören zu den wertvollsten aller Kostbarkeiten, denn allein das murrinische Gefäß, aus dem Claudius zu trinken pflegte, hatte den Kaiser dreihundert Talente oder eine Million vierhundertsechsundsiebzigtausend Francs gekostet. Und ohne daß der Asiaticus sie beachtet hätte, entfalteten sie ihre Pracht unter dem mit trocke-
- 75 -
nem Dung versetzten Staub und den Spinnweben seltener Blumen, die ihnen Kleider und Barte anlegten, schon seit Lucullus die großzügige Anlage seines Hippodroms mit dem einzigen Ziel der Zurschaustellung seiner murrinischen Gefäße hatte erbauen lassen (Nero ahmte das Gepränge nur unvollkommen in dem kleinen, auf der rechten Seite des Tibers gelegenen Theater seiner Kinder nach). Ihr Feuerfleck, der sich ähnlich dem Stern der Sternsaphire mit dem Licht bewegt, war in diesem Moment vollständig reglos, und so saßen sie da, ihre gedrungene Masse (manche erreichten die Breite eines kleinen Gueridon) auf einem goldenen Fuß balancierend, und stierten wie ein Schwärm einbeiniger Zyklopenvögel immer geradeaus. Unermüdlich öffnet ihr Feuer lüsterne Augen oder gierig dürstende Münder auf das schweigende Schauspiel, bei dem die schwarze Nacht die Rolle des Chors übernimmt. Da löste Messalina sich auf einmal aus ihrer staunenden Erstarrung, die ihr den Antrieb gab zu einem unerhörten Lauf, und sie sprang wie ein Tier von den obersten Stufen durch die unbezahlbaren Gebilde, während ihr fliegender Mantel an den Goldkrallen hängenblieb und jene anderen Tiere, die Edelsteine waren, einfach über den Haufen
- 76 -
stieß, wobei einige von Absatz zu Absatz neben ihr her rollten, glücklich stöhnend über jeden Sprung und weil sie nun, genau wie die Kaiserin, mit dem Geschlecht einer Frau vor dem Gott erschienen! Die letzte Stufe, die sie zu überwinden hatte, war vorn durch einen Sockel begrenzt, bestehend aus einer Wacholderhecke von den Ufern des Amor und des Psitaras; hochgewachsene blaue Margeriten (so die ursprüngliche Farbe dieser Blumen aus dem Land der Serer), größer als Menschen und dichter als das Korn auf einem Weizenfeld, bedeckten einheitlich die horizontale Arena; und in sternförmig angelegten Gängen, die Messalinas Augen auf das Zentrum lenkten, während ihre Füße ohne einzusinken von elastischen Blumenstengeln getragen wurden, eiferten unergründliche Tulpen und endlose Fuchsschwänze den murrinischen Gefäßen nach, die einen in der Form, die anderen in ihrem Streben nach Unsterblichkeit. Und im Zentrum der Arena oder vielmehr in einem der beiden Brennpunkte ihrer elliptischen Oberfläche schwankte unmerklich so etwas wie ein riesiges Ei, reiner als der Mond in seiner Milchwolke. Messalina erkannte schließlich einen Kopf, der, in den Nacken gelehnt, zwischen den Blumen auf einem Kissen aus blonden Haaren ruhte; außerdem
- 77 -
zwei zwischen den Schenkeln durchgeschobene Hände, die sich um fahlrote Lenden klammerten, und zwei hinter demselben Nacken verschränkte Füße, kürzer als Ziegenhufe. Messalinas Augen glänzten triumphierend; und rings um sie her, bis hin zu dem korbförmigen Gipfel aus grünem Porphyr und zu ihren Füßen, regten sich unter ihrem herausfordernden Blick die Feuersterne der murrinischen Gefäße ― manche gesprungen und klaffend über den Rasen aus blauen Margeriten, Immortellen und Tulpen verstreut, andere auf ihren Plätzen, wie Pilze mit verdrehten Schirmen, entstellt vom Lufthauch der Abgründe oder von einem übertriebenen Entfaltungsdrang ―, indem sie lüsterne Augen oder gierig dürstende Münder öffneten. Und sie sah das murrinische Gefäß der kaiserlichen Loge. Lucullus, aller trinkbaren Substanzen, ja sogar des Goldes überdrüssig, hatte es, ehe er sich an das Gift wagte, dem Trinken nämlich vorgezogen, in den dickeren Wein des kostbaren kirmanischen Steins zu beißen. Die angenagten murrinischen Gefäße sind daher erst recht unschätzbar in ihrem Wert.
- 78 -
Und jetzt war es der flache, breite und angefressene Becher ― prunkvoll von den Zähnen des Herrn geprägt wie der Lack von den Spuren des Siegels ―, der seinen den Biß maßlos vergrößernden Schatten von der Höhe der kaiserlichen Loge herabsenkte und die undeutliche, in der weißen Kugel, dem Kuß des Narziß, zerschmolzene Menschengestalt mit seinem von Zinnen gekrönten Zwergenprofil verschlang. Der tiefste Biß indes war jener, den der nackte, zwischen den Blumen eingerollte Mann mit seinem eigenen Mund hinterließ; doch Messalina unterbrach ihn, denn sie begann, ihm mit ausgestreckter Hand über den stark behaarten Rücken zu streichen, und ihr war, als hätte sie das gleiche Gefühl wie bei der Berührung der Kropffedern eines Nachtvogels. Er entspannte seine Brust, auf der sich durch den Druck des flaumigen Kinns ein rosa Fleck gebildet hatte, seinen Bauch und seine Pansbeine; und seine ganze Gestalt reckte sich verkehrt herum in die Höhe, die geschlossenen Beine in der Luft, während die Arme und der Kopf sich noch auf den Blumensockel stützten. Dann sanken seine Füße schlaff hinter dem Kopf zu Boden, setzten auf, und er ließ zum zweiten Mal, jetzt allerdings in ganz natürlicher Haltung stehend, behutsam eines nach dem anderen alle seine Gelenke knacken;
- 79 -
und es regnete Margeritenblüten von seinem wirr in die Stirn fallenden Haar und von seinem kurzen Bart. Die Kaiserin erkannte im Gesicht des Gottes die Züge des berühmten Pantomimen Mnester wieder, der einst der Vertraute Caligulas gewesen war, und dem sie selber im Zirkus applaudiert hatte. Und der den kursierenden Gerüchten zufolge eher als der Asiaticus Poppaeas Geliebter gewesen sein dürfte. Trotzdem glaubte Messalina immer noch, daß sie tatsächlich dem Gott gegenüberstand. Und sie war glücklich, daß der Gott in seinen eigenen Körper verliebter war als in den Körper Poppaeas. Der aufrecht stehende Gott tat aufs Geratewohl ein paar ungelenke Schritte, schwankend wie ein Mensch, der sich, um es Mnester gleichzutun, zum ersten Mal im Kopfstand übt; vielleicht aber auch wie die Götter bei ihrem ersten Gehversuch auf Erden; und Messalina streckte die Hände vor, weniger aus Neugier oder aus Begierde, denn um sich durch diese Geste vor dem drohenden Fall eines Körpers zu schützen. Und da sogar Priapus oder ein jonglierender Akrobat es schließlich müde wird, einen langen
- 80 -
Baum zu balancieren, sank das Geschlecht des Gottes mit Wucht in die Hände der Kaiserin. Es war so brutal, so schwer und so entsetzlich des Phales’ leibhaftige Gegenwart, daß Messalina durch die Wiese aus blauen Blütenblättern Hals über Kopf in die Blumen entfloh, während Mnester, einem Blutegel gleich, seinen länglichen Körper wie ein kriechendes Neunauge windend, monströs genug, um schön zu sein, und bleicher noch als Elfenbein, sich mit der Langsamkeit eines Schöpfers, der die Weltenkugel rollt, in den nahen Tempel der jugendlichen Amaranten verzog. Und Messalina sah ihn erst im Zirkus wieder. Es erschien der Kaiserin ebenso unmöglich, vor Tagesanbruch die Stufen des von murrinischen Gefäßen erleuchteten Hippodroms emporzusteigen, wie ein mit rotglühendem Eisen beschlagenes Firmament zu erklimmen. Und indem sie umherirrte, durchquerte sie einen Raum ohne Blumen und ohne Bäume, der das zweite Zentrum der elliptischen Arena bildete …, der ihr zweiter Brennpunkt gewesen war: Denn unter Messalinas Absatz knackte irgend etwas Kleines, wobei dieses Geräusch unendlich viel leiser war als
- 81 -
das Zerspringen der murrinischen Gefäße, etwas Kleines, aus dem sich, als sie es aufhob, ein feiner umbrafarbener Staub ergoß; sie wußte nicht, ob es eine Mohnkapsel war oder jene Elfenbeinhülle, deren Zerbrechlichkeit der kostbare Scheiterhaufen besser herausgearbeitet hatte, als die Finger eines serischen Ziseleurs es vermöchten: Der Kopf des Herrn der Bäume.
- 82 -
VII ER TANZTE MANCHMAL DES N ACHTS Saltabat autem nonnunquam etiam noctu. C. S UETONII T RANQUILLI C. Caligulae LIV »Manchmal aber tanzte er sogar des Nachts.« G. S UETON, Cäsarenleben: Caligula, 54.
Und am ersten Tag der folgenden Kalenden, der Kalenden des August, auf dem Fest, mit dem Claudius seinen achtundfünfzigsten Geburtstag beging, trat in Caligulas Theater oder vielmehr auf einer Estrade, zu Füßen des von Nuncoreus, dem Sohn Sesosis’, für Gaius erschaffenen rosa Granitobelisken mitten in dessen Zirkus auf dem Vatikan, der später Neros Zirkus war, zum Klang der Flöten, der Wasserorgel und der quietschenden Luftsohlen, die endlich das Schweigen der Blumen brachen, Mnester auf. Er trug ein Gehänge aus mondsichelförmigen Goldschuppen, die zwischen ihren beiden Hörnern eine Spitze hatten, wie Haken oder Kußabdrücke von oben bis unten auf allen Blößen seines Körpers. Ein größeres Halbmöndchen aus reinem Gold hing
- 83 -
an seinem linken Ohr und sah aus, als wäre es eine vom Haarkräusler versehentlich angesengte Locke; ein anderes legte sich wie nachdenkliche Falten über seine Stirn, und ein ganz großes schließlich, das ihm als Geschlechtsschurz diente, spielte die Rolle einer Maske, die das nachbildet, was sie schmückt. Dem Rasseln eines weiten Panzerhemdes oder der stählernen Brandung des Meeres gleich, umtoste der Applaus jeden Schritt des Eintretenden und erfüllte die drei Ränge des Zirkus von unten nach oben, von den Senatorenbänken bis zum äußersten Rand der riesigen, aus gemeinem Volk bestehenden Krone. Man brauchte das Volk nicht mehr an die alten Zeiten zu gemahnen, da jeder Nachlässige, der als Beifall für den Liebling des Gaius auch nur etwas flau in die Hände klatschte, von den Wachen zum Pulvinar geschleppt, die brutale Rechte des Kaisers auf seiner Wange zu spüren bekam, wie sie schallend fortfuhr in ihrer Huldigung, während die Linke ruhte. Aus diesem Grunde unter vielen anderen, und ohne daß wir hätten feststellen können, ob Mnester tatsächlich Genie besaß, konnte das römische Volk auf seinen Mimen nicht verzichten.
- 84 -
Hoch oben in der kaiserlichen Loge wackelte Claudius nervös mit dem Kopf, und seine Hände klatschten so aufgeregt, daß ein Würfel aus dem Elfenbeinbecher sprang, der in den Ring seines Mittelfingers eingearbeitet war. Und Messalina übertönte den Tumult durch ein Zungenschnalzen. Mnester antwortete allen mit einem bloßen Lächeln um den Mund, so karminrot geschminkt, daß er ganz schwarz aussah, und mit einem rosa Saum, der, je nach dem, bald erstarb und bald erblühte, wie das Dunkel im Vorfeld der Nacht. An diesem Tag nämlich war er der Alleindarsteller des Exodiums, jener als Einlage bezeichneten possenhaften Farce, die dem Brauch gemäß ― häufiger noch als die Atellane ― im Anschluß an eine Tragödie oder als Zwischenspiel aufgeführt wurde. Und der Zirkus platzte vor Neugier, denn der spaßhaft-laszive Tanz des Mimen sollte den Schmerzenskrampf jenes Helden darstellen, der ein Höchstmaß an entsetzlicher Tragik verkörperte: Orest unter den Furien. Der letzte Beifall verebbte, flackerte hier und dort noch einmal auf, bis es schließlich still wurde, während gleichzeitig die Oberfläche der rauschgoldenen Tunika zur Ruhe kam.
- 85 -
Doch Mnester, Mittelpunkt einer leichten Verwunderung, verharrte so reglos, daß er von den Vergoldungen am rosa Sockel des Gaius-Obelisken, gegen die er sich lehnte, kaum noch zu unterscheiden war, und er verharrte so lange, daß der Dreitakt der Flöten und die feuchten Trompetenstöße der Äolsbälle der Wasserorgel, die das Vorspiel zu seinem Tanz gaben, genau wie das Händeklatschen leiser wurden und warteten. Da aber das Volk leicht ungeduldig wird, wenn es nicht versteht, warum es warten soll, stieg in dem Zirkustrichter abermals ein dumpfes Grollen aus Gemurmel, Schreien und Flüchen auf. Der rosa Obelisk mit der goldenen Sockelfigur stach unversöhnlich aus all dem hervor. Gegen diesen Leuchtturm, der seine Lampe am Fuße trug, brandeten Pfiffe und Rufe, an ihm brachen sie sich rhythmisch und nahmen eine Form an, die wie ein Tier in stürmisch angreifenden Sätzen durch den Zirkus sprang: »Tanz, Mnester!« Da trat Mnester an den Rand der Estrade und sprach mit der müden Geste eines Sonnenschläfers, der sich räkelnd dem Gesumm der Fliegen entzieht: »Ich bitte um Entschuldigung, ich kann nicht: Ich habe eben mit Orest geschlafen.« Und er legte sich wieder auf sein vertikales Bett.
- 86 -
In der halblauten, von Geflüster geprägten Stille kamen Mediziner und Philosophen mit Claudius überein, daß die Worte des Pantomimen sinnreich die Anstrengungen der schöpferischen Erfindung einer außerordentlichen Rolle zum Ausdruck brachten; das Volk und Messalina indes, viel zu leidenschaftlich für so spitzfindige Erklärungen, erhoben sich von ihren Plätzen, wobei das Volk Cäsar mit Drohungen schmähte und auf den Orest verwies, den das Gerücht schon entlarvt zu haben schien: Messalina, die Entführerin von Lastenträgern, Schauspielern und Gladiatoren, die dem Geschrei den eisigen Schild ihrer unverschämt-schamlosen Augen entgegenhielt. »Meine Herren«, stotterte Claudius, der die römischen Bürger mit diesen Worten anzureden pflegte, »es ist nicht meine Schuld; ich habe kein Verhältnis mit ihm, und was mich betrifft, so möchte ich ihn auch gern tanzen sehen, meine Herren.« »Tanz, Mnester!« rief die Menge erneut, indem sie sich gebieterisch mit ihren Wünschen an den Mimen wandte. »Ich weiß ― Orest, das sind all diese hier; aber dennoch, tanze, Mnester, was immer du willst, tu es für mich, ich flehe dich an«, gurrte Messalina.
- 87 -
»Es beliebt meiner Gattin wie dem Volke, und ich, ich befehle dir, daß du nun tanzen mögest«, sagte Claudius. »Ich werde tanzen«, erwiderte Mnester langsam, »Cäsar und Gattin des Cäsar, aus Furcht vor tausend Peitschenhieben, unter denen auch ein Biß von einem Mund sein kann.« Und so geschah es zur Feier des achtundfünfzigsten Geburtstages, den Claudius beging, in Caligulas Theater oder vielmehr auf einer Estrade, zu Füßen des für Gaius erschaffenen rosa Granitobelisken mitten im Zirkus des Gaius, daß zum Klang der Flöten, der Wasserorgel und der rhythmisch quietschenden Luftsohlen Mnester vortrat und tanzte. Die Tunika aus Goldschuppen bebt in der Sonne wie das vom Wind gerauhte Rückgrat eines Flusses. Alle Teile seines geschmeidigen Körpers scheinen miteinander zu jonglieren, und ein jeder wird, wohin er sich auch wenden mag, verliebt von einem Sonnenfleck verfolgt. Und erstmals, seit die Pantomimen unter Augustus begonnen hatten, dichterische Werke, die vom Chor oder von einer Einzelstimme vorgetragen wurden, durch ihr Gebärdenspiel zu illustrieren, er-
- 88 -
hob sich die Stimme des Mimen selber ― man hätte meinen mögen, es wäre ein dumpferes Rauschen des Schmuckes, den er beim Tanze trug ― zum Gesang. Ein dumpferes Rauschen: Seine Stimme ist so tief, daß sie weniger wie eine Stimme klingt als wie der quietschende Trompetenschall der hohlen Schuhsohlen des Tänzers, aus denen bei jedem Sprung die Luft mit einem immer gleichen Laut entweicht; oder wie das Stöhnen, das der Schoß der Erde unter den Schwingungen des mehrköpfigen Instruments von sich gibt, unter den Schwingungen der mit Wasserdampf betriebenen hydraulischen Orgel, einer Erfindung der Göttin Pallas, in Altarform gebaut von Pindar Ctesibios aus Alexandria und beschrieben von Pindar dem Dichter, von Heron, Claudianus und Vitruv; nachgeahmt, wie Cornelius Severus sagt, vom Ätna, und auf der Nero sich hören zu lassen gelobte, als er eines Tages in Todesgefahr geriet. Der Mime sang: Mitten in deinem Zirkus, Gaius, tanze ich. Ich tanze in der Sonne. In so herrlichem Glanz, ο mein schönes gemaltes Idol, erstrahltest auch du auf dem donnerrollenden Wagen,
- 89 -
und dein Mund trank den Blitz aus dem gold’nen Bart des rothaarigen Kutschers! Und so überquertest du, dich wiegend in purpurner Seide, die Brücke, die Land am dem Meer werden ließ zu Bajä, die Tiefe erleuchtend mit deiner Chlamys aus indischem Edelgestein. Nach deinem Abglanz tauchend, folgten Tausende dir nach, herbeigeströmt, dich zu bewundern. Ihr Tod war dir ein Gelage und voll dein Becher hier, am Ort der mondsichelförmigen Felsen. Den großen Triumph trugst du davon am sandigen Grund des Meeres, der diese Legionen nun birgt, genügen doch für den großen Triumph an die fünftausend tote Feinde; und zu Recht nahmst du die mit Palmen bestickte Toga, und mit Fug bautest du, zwölf Stockwerke hoch und dir selber verehrt, den Feuerturm zu Bolonia,
- 90 -
nachdem du sämtliche Muscheln am Meeresstrand hattest gefangennehmen lassen durch deine Gallier von hohem Wuchs, mit rötlich-blondem, nach Art der Germanen gefärbtem Haar, deine schönen Gallier von triumphaler Größe. Du verfolgtest mit gerechtem Zorn die alexandrinischen Juden, die ihren namenlosen Gott dir vorgezogen haben. Gott aber trägt einen Namen, der G AIUS heißt. Odeine Hand auf der Wange dessen, der meinem Tanz nicht applaudiert’, dein Mund auf meinem Munde, das Spiel unterbrechend, mitten im Tanz! »Er spricht von Gaius«, brummte Claudius. »Ich weiß nicht mehr genau, ob ich verboten habe, die Erinnerung an diesen Toten zu beleben… Ja: Ich war dagegen, als der Senat ihn brandmarken wollte… doch in der Nacht habe ich alle seine Statuen verschwinden lassen!«
- 91 -
»Es ist Apollo und es ist Orpheus«, erhoben sich Stimmen im Volk, »öffnete man die Käfige, würden die im Zirkus losgelassenen Raubtiere sich kuschen…« »Kusch dich, Volk!« schrie Messalina. Immer noch windet und verrenkt Mnester seine Glieder, und das Geräusch seiner dumpfen Stimme klingt wie das Grollen eines kostbaren, aber auch furchtbaren Räderwerks, und noch immer wird jeder Körperteil, wohin er sich auch verirren mag, verliebt von einem Sonnenfleck verfolgt. Er jongliert mit den Splittern der Sonne. Claudius, so vernarrt in gute Mimen, daß er träumend vor der leeren Bühne sitzenbleibt, während das Volk essen geht, hat jede Erinnerung, selbst die an Publilius Syrus, verloren. Er beugt sich über den Rand des Pulvinars, um Beifall zu klatschen, und das Licht des heißen Nachmittags hebt seinen langen Hals und seinen Kopf hervor, der gewohnheitsgemäß ein wenig zittert, ganz wie die flimmernde Hitze der Hundstage über den Grünflächen oder wie die am Türsturz baumelnden Puppen, die seit Herkules an die Stelle der zur Ehren Saturns auf dem Kapitolium, dem ihm geweihten Hügel, aufgehängten Menschenschädel getreten sind.
- 92 -
»Es ist Orpheus, beim Augustus!« sagte er im Einklang mit dem Volk. »Und es ist Amphion, und rund um die Lyra seines Körpers wird ein Theben entstehn, und die sieben Planeten werden niedergehen, um durch seine sieben Tore einzutreten!« Man versteht ihn nicht mehr, den Gesang, der unten am Boden kriecht, tiefer noch als das Röcheln einer Raubkatze: denn der Mime ist nach einem anderthalbfachen Salto mortale in kubistischer Haltung auf den Händen gelandet, mit aufgefächerten, weit gespreizten Goldschuppen; die spiegelglatten Möndchen reflektieren nur noch Schatten; Licht und Blicke küssen Mnester durch die Maschen auf die nackte Haut, während der Schurz umklappt wie ein aufgeschlagenes Visier. Und abermals wird das Murmeln zu Gesang, sehr deutlich jetzt, da die Luftsohlen verstummt sind: Mitten in deinem Zirkus, Gaius, tanze ich mit der Sonne. So, liebster Toter, spielt jemand UNTER MEINEN F ÜSSEN DORT OBEN Knöchelchen mit deinen Knochen. Der Mime springt in Riesensätzen auf einem Arm umher, ohne daß die dumpfe Klage abreißt oder stockt; und nun dreht er sich sehr schnell und im-
- 93 -
mer schneller auf seiner zur Erde geöffneten Hand, die im runden Schatten des vertikalen Körpers weiß aufglänzt, wie ein gefallener Stern. Es ist nicht natürlich, daß ein Mensch seine Knochen so vielseitig verrenkt, ohne sich dabei die Knochen zu brechen. Noch, daß er die Sonne auseinandernimmt und sie in Dutzende von kleinen Spiegeln zerlegt, ohne sie am Ende zu beschädigen und sich hilflos zu fragen, wie er sie reparieren soll. Und dem anschwellenden Brummen eines ehernen Kreisels gleich wird seine Stimme nun schallend und gewaltig: Zu Füßen deines Geschlechts, Gaius, werde ich tanzen wie Gaius! Er tanzte mit mir hier im Zirkus, der sein Zirkus war, mitten in der Sonne, mit mir und der Sonne. Und: Er tanzte manchmal des Nachts. Gaius, ο gold’nes Idol aus Edelgestein, Gaius, Geliebter des M ONDES, Gaius, bleicher vom Lieben als das bleiche Gestirn ―
- 94 -
Er tanzte manchmal des Nachts! Und er ließ die Fackeln erlöschen mit eigener Hand, war er doch, da er allein es vermochte, gezwungen, es selber zu tun… Mnester singt nicht mehr, sondern er spricht, ganz für sich allein; in Meditationshaltung hat er die Arme verschränkt und den Kopf auf die Brust gesenkt, und auf dem Nacken dreht er sich jetzt wie die trägen Planeten unter seinen geschlossenen Füßen, ganz langsam, als täte er es seit Ewigkeit. … Er holte die Sterne vom Himmel, gelenkig genug, sich zu Sternen des Himmels zu recken, und er löschte die Fackeln des Himmels, so wie jetzt … und dann… TANZTE ER … MANCHMAL… In diesem Moment sah man den Tanz nicht mehr. Der Zirkus füllte sich mit plötzlicher Nacht, mit Tumult und mit Schrecken. Eine schwarze Scheibe fraß sich in die Sonne, bis nur eine rote Sichel übrigblieb, ähnlich dem Halbdunkel um Mnesters Lippen und den tausend eben-
- 95 -
falls mondsichelförmigen, jetzt auf einmal purpurnen Maschen seiner Tunika, die das siderische Fleisch mit der unergründlichen Gier von Spiegeln in sich aufsaugten. Das Gestirn blakte wie eine Lampe vor dem Erlöschen. »Es ist Cäsars Geburtstag! Dieser Unglücksvogel von Cäsar hat das Wunder bewirkt! Im übrigen ist er es gewesen, der den Mimen zu tanzen zwang! Tod dem Cäsar! Tod seiner Hure! Gaius ist der Hölle entstiegen!« Diese und tausend andere widerstreitende Schreie erhoben sich nach dem langen Augenblick der ersten Verblüffung in den verborgenen Falten des entsetzlichen Dunkels. Die Musik war mit der Sonne erstickt, und nur ein Flötenspieler, plötzlich vom Wahn befallen, blies aus Leibeskräften fast unentwegt den gleichen schrillen Ton; und die wundersame Trompete der Dampforgel gab stampfend wie ein blinder Elefant ihren mechanischen, unerträglich fröhlichen Dreierrhythmus von sich. Am obersten Rand des Zirkus, schräg gegenüber dem Pulvinar, blinkte ein letzter roter Strahl, der direkt auf Claudius fiel und dessen übliches Kopfwackeln noch beschleunigte, nachdem er es, ein letzter Halt für all die schiffbrüchigen Blicke, der
- 96 -
rasenden Verzweiflung der Menge preisgegeben hatte. Seit der Vorhang der Nacht gefallen war, dachten die Zuschauer nicht mehr an den Mimen. In den Resten des kaiserlichen Lichts waren nur die Augen Messalinas, schwärzer noch als zwei verglimmte Kohlen, fest und auf nichts anderes gerichtet als auf das unzerstörbare Dunkel am Grunde des Zirkus ― wo Mnester die letzte und die stillste Geste seines Tanzes vollzog. »Meine Herren«, begann das Gestammel, das Claudius vernehmen ließ, und alle seine Zähne (er hatte falsche) klapperten wie zweiunddreißig Würfel im blutroten Becher; doch durch die äußerste Zuspitzung seiner Angst steigerte sich das Zittern zum Schüttelreim der Sibyllen. Er stotterte nicht mehr, und als er sich erhob, lenkte er die Aufmerksamkeit der Menge auf seinen Kopf, indem er sich entschlossen die letzte Krone aus blutroter Sonne aufsetzte: »Hören Sie, meine Herren!« rief er in einem Atemzug. »Ich bin es, Cäsar, Kaiser und Gott, Augur und bewandert in sämtlichen mathematischen Wissenschaften bis hin zur Musik und zur Astronomie ― ich bin es, der seine Stimme erhebt. DIES IST EINE SONNENFINSTERNIS! Der Mond, meine Her-
- 97 -
ren, der seine Bahn, wie Sie wissen, unterhalb der Sonne zieht, ob nun unmittelbar darunter oder so, daß Merkur und Venus dazwischen sind, bewegt sich wie dieses Gestirn in der Längsrichtung… Ist denn, erlauchte Senatoren, keiner eurer Söhne gebührend geschult in unserer uralten und heiligen Lehre der Opferschau aus Etrurien zurückgekehrt, daß er die Eingeweide des Himmels wie die der Opfer zu deuten vermöchte? Es besteht überhaupt keine Gefahr! Dieser Mime hier ist kein Astrologe! … Der Mond bewegt sich in der Längsrichtung … Kommen Sie mir nicht näher, hören Sie zu! Im übrigen hat Agrippa die Chaldäer und die Astrologen aus der Stadt verjagt! Doch der Mond, und darauf kommt es an, macht außerdem eine Bewegung in der Breite, was die Sonne nicht kann!… Bleiben Sie ruhig, meine Herren!… Und so zieht er vor der Sonne her und verfinstert sie mit seinem Schatten! Unter der Quästur meines Vaters Drusus hat Augustus den Astrologen verboten, irgend jemandes Tod vorauszusagen! Nehmen Sie Ihre Plätze wieder ein! Die Sonnenfinsternis wird nicht länger als die Hälfte einer Viertelstunde dauern, es lohnt nicht einmal, Fackeln anzuzünden! Der Mond wird seinen Schleier gleich von der Sonne lösen!«
- 98 -
Claudius fiel, des scharlachroten Lichthofes beraubt, auf die Kissen seiner Loge zurück und tupfte sich mit Messalinas Taschentuch die kleine Schaumflocke vom Mund. Wie alle anderen nahm auch die Sonne ihren Platz wieder ein und spiegelte sich, genau wie die Kaiserin, im blitzenden Sand der sphinxhaften Arena, um festzustellen, ob sie nicht mehr allzu rot aussah. Doch als die Zuschauer sich untereinander anblickten, hatten sie das wiederaufgetauchte Gestirn so gierig angestarrt, daß sie statt der Köpfe nur noch schwarze Flecken sahen und der ganze Zirkus von Negern bevölkert schien. Irgend etwas war von der Bühne gerollt und verdunkelte noch immer das Licht am Boden: Eine Kugel, so vollständig rund wie die Scheibe eines abgestürzten Planeten ― der unentwirrbar verknäulte Körper des Mimen Mnester am Ende seines Tanzes. »Verknäulung aber ist ein astronomischer Begriff, glomeramen«, bemerkte nicht ohne Pedanterie der Arzt Vectius Valens, als man den Mimen auf Messalinas Geheiß behutsam zum Palast der Cäsaren trug, begleitet, da das Volk wieder fröhlich geworden war, vom Klang der Flöten und der Wasserorgel, »der die Schwankung der Mondachse bezeichnet.«
- 99 -
Und am Abend des achtundfünfzigsten Geburtstages, den Claudius beging, ereignete sich folgendes: »Claudius, mein Gemahl, Kaiser und Gott«, sagte Messalina im Bett, während sie sich, wie sie es gerne tat, so lange verweigerte, bis sie eine positive Antwort auf irgendeinen blödsinnigen Einfall erhielt; »Cäsar, großer Augur, der du in der Musik und vor allem in der Astronomie so bewandert bist: Ich will DEN MOND.«
- 100 -
Zweiter Teil Die rechtmäßigen Ehebrecher
- 101 -
- 102 -
Ι
U NTER DEN L AMPEN DER PERSISCHEN D IANA Siquidem Latinarum feriis quadrigae certant in Capitolio, victorque absinthium bibit. C. PLINII S ECUNDI Nat. Historiae lib. XXVII, 28 »Denn beim Fest des lateinischen Bundes wetteifern Viergespanne auf dem Kapitol, und der Sieger trinkt Wermut…« G. P LINIUS DER Ä LTERE, Naturgeschichte, Buch XXVII, 28
»Er ist nicht mehr ohnmächtig, aber immer noch reglos, und er spricht kein Wort«, sagte der Arzt, als er in die Grotte zurückkehrte. Diese Grotte war das kühlste Speisezimmer im Sommerhaus des Lucullus, der unterirdische und unterseeische Saal der persischen Diana Anaitis, kälter als die Höhle, das Landhaus des Tiberius in Terracina, von dem er ohne Übergang in das eisige Reich des Schwertes und des Todes einging. Die Wände waren mit ganzen Kuhhäuten vom Euphrat bespannt, in deren Flanken statt der heiligen
- 103 -
Lichter ein Bullauge leuchtete, blank vom Salzwasser des Tiber, das seit den kunstvollen Schöpfungen des Lucullus, der als Baumeister von Aquädukten den Ruf eines römischen Xerxes genoß, hinter den Mauern toste. »Mehr noch als in seinem Tempel aus Porphyr und Immortellen«, träumte Messalina, »verschließt der Gott mir mit geballter Faust das Geheimnis seines Herzens.« … »Claudius«, sagte sie, »der Pantomime Mnester weigert sich, mir in einer Sache zu gehorchen!« Claudius antwortete zuerst nicht, so gespannt lauschte er dem Knirschen der Kristallfenster: Birnenförmige Weinflaschen, dermaßen alt, daß ein Panzer aus Korallen sie wie ausgeweidet wirken ließ, krochen auf Krebsfüßen oder auf den dutzendfach sich bewegenden, schwindelerregenden Ekel aufrührenden Bauchlamellen von Pfeilschwänzen, deren mit Wachs überzogene Rücken ihre Hälse versiegelten. Dann hallte im Glas das Rollen einer Taprobane-Trommel wider, und ein Taucher, der einen Stein zwischen den Schenkeln trug, stieg hinab, um Austern aus Burdigala zu pflücken, und während er den Atem anhielt, schützte ihn der Zaubermusikant vor dem lauernden Haifisch, der den kreisrunden Park bewachte.
- 104 -
»Was ist das für eine Sache?« fragte Claudius. Doch Messalinas Denken hatte mit dem Taucher den Atem angehalten; und der Mundschenk, ein Soldat, nutzte die Muße, um ein neues Stück Falerner-Wein im heißen Wasser des kaiserlichen Bechers zu schmelzen. Claudius trank, und seine Wangen tönten sich purpurrot, wodurch die Narbe seiner Griffelverletzung bleich hervortrat: »Ich selbst habe den veralteten Brauch erneuert, die Schauspieler unter den Sklaven auszuwählen! Und wenngleich Augustus das Recht der Sklavenzüchtigung eingeschränkt hat, hat er es für die Histrionen doch beibehalten! Der Mime muß dir gehorchen, Valeria, in allen Dingen!« Ein furchtbares Gerassel folgte dem von Claudius mit meckernder Stimme erteilten Befehl: In gleicher Weise, wie gegerbte Tierhäute die Epidermis des Saales rund um die Fenster und bis hinauf zum Deckengewölbe bildeten, waren die Mauern unten mit Soldaten besetzt, ausgestattet mit Helmen und Gesichtern, deren Augen stumpfsinniger glänzten als die Jadepupillen der Kühe und die aufblitzenden Lanzen. Denn seit den ersten und den eingebildeten Attentaten auf seine Person legte sich der Kaiser
- 105 -
nicht mehr zum Essen nieder, ohne daß die Armee sein silbernes Tafelgeschirr ergänzte. Auf Befehl der Kaiserin und mit Einverständnis des Claudius ging ein Liktor zu Mnester hinaus, um erst spät mit blutigen, zerbrochenen Ruten zurückzukehren. »Er spricht nicht, sinkt in sich zusammen und rollt weg«, berichtete der Liktor. »Jetzt wird er wohl mit einem Netz aus kleinen Bluthalbmonden geschmückt sein, ähnlich wie vorher, als er die Sonne, die mit ihm im Zirkus war, verdunkelte«, sagte Messalina. Und in ihrer Erinnerung bildete seine Zunge ein weiteres rotes Möndchen, das Möndchen Nummero Tausendundeins. »Er weigert sich«, sagte Vectius Valens, der dem Kaiser gegenüber auf dem dritten Bett lag und trank. »Und du behauptest, du hättest ihn ausgewählt unter deinen Sklaven!« rief Messalina. Aber Claudius war gerade eingenickt, die Wange mit dem Schmiß auf dem Ellbogen; und in seinem Dämmerzustand war er, als seine Frau zu ihm sprach, nur noch einer Geste mächtig, die darin bestand, seinen großen Becher zu schütteln und auf dem Thujatischchen umzustülpen: Kleine Scharlach-
- 106 -
rote Klumpen rollten dahin und befleckten nicht nur die Lager, sondern auch die bedienenden Sklaven. Messalina wandte sich liegend dem Arzte zu: »Sollte ein Liebestrank wirksamer sein als Ruten und Blut, um jenen zur Liebe zu zwingen, der nur sich selber liebt, genau wie die Jungfrau Artemis, die den ganzen Himmel verschmäht und es vorzieht, ihre beiden Hörner einander zuzuneigen? Ich bin mir jetzt ganz sicher, daß ich von einem Gott besessen bin und nicht von einem zum Histrionen erwählten Sklaven, den ich schlagen ließ! Kannst du die Götter beschwören, Arzt?« »Du sprichst von Artemis?« sagte Valens, indem er fast ohne Unterbrechung weitertrank. »Artemisia, der Wermut, ist selber ein Liebestrank. Artemis, Luna, Phoebe ― dreigestaltige Hekate! Es gibt drei Sorten Wermut: den der Gallier, den santonischen mit den goldenen Haaren; dann den politischen vom Pontus und weiter nach dem Orient zu, wo das Vieh sich damit vollfrißt, so daß die Galle zart bleibt und die Leber rein, durchlässig für das Licht des Flusses, und diese Tiere ähnlich weit geöffnet scheinen wie die trächtigen Kühe, deren Föten die große Vestalin am Tag der Palilien verbrennt ― und dies, Valeria, ist der beste. Der italienische ist bitterer…«
- 107 -
»Bei Gott, ich fragte dich nicht nach Stutenschleim für einen Stier, sondern nach einem Liebestrank für Priapus!« sagte Messalina. »… Der Meer-Wermut, der edle Seriphum aus Taposiris in Ägypten, das einen, wenn man nur ein Zweiglein in der Hand hält oder es mit Öl und Salz zu einem Tranke braut, in die Geheimnisse der Isis einweiht! Ein Pfund vom Pontischen, in vierzig Sestern Weinmost gekocht, bis ein Drittel verdampft ist, genau wie bei der Herstellung von Ysopwein…« »Diese Kräuterweine sind Parfüms«, sagte Messalina. »Ich nehme sie nur für meine Toilette.« »Parfüms haben die Kraft von Liebestränken, erinnere dich. Erinnere dich an meinen Phthorium von Thasos, wo ich die Purgierwinde mit dem Helleborit der Schwarzen Nieswurz mischte, beides abtreibende Mittel, mit denen ich dich, meine Gebieterin, prunkvoller schmückte als mit Blumenessenzen oder mit Edelgestein; ätherische öle der Erde, für die ich, um sie dir zu kaufen, gern die achtzig Talente, die mir das Heilen oder der dir erwiesene Gehorsam im Jahr einbringen, restlos ausgegeben hätte. Ich habe den Phthorium erschaffen, indem ich die Heilkraft der Pflanzen um die Wurzeln der Weinstöcke säte! Und für dich braute ich mit
- 108 -
Wermut und Honig allerlei Heilmittel, die den Monatsfluß befördern. Und aus all dem werde ich dir für den Gott der Liebe selbst einen Liebestrank bereiten, der unverdächtig und unwiderstehlich ist, wenn der gnädige Gott nur meine Weinernte gedeihen läßt!« »Das ist noch lange hin: Bis dahin ist der Gott längst tot, oder ich habe mich in einen Mann, vielleicht auch in einen Esel verliebt, denn meine Liebe wartet nicht auf eine Jahreszeit«, sagte Messalina. »Du kannst die Artemisia einen Tag und eine Nacht in gesalzenem Regenwasser ziehen lassen. So erhältst du eben den Absinth, der auf den alten Festen Latiums, in einem Becher dargereicht, der höchste Preis war, den es bei den Wagenrennen am Fuß des Kapitols zu gewinnen gab ― höher noch als der goldene Kranz! Denn mit Wasser zubereitet, verleiht er unanfechtbare Gesundheit und er schärft den Blick, während er mit Wein gemischt eigentlich eher gegen die Gifte von Schierlingen, Drachenfischen, Spitzmäusen und Skorpionen hilft! Wenn man daran riecht, wirkt er als Schlafmittel, und das gleiche geschieht, wenn du ihn Mnester unter das Kopfkissen schiebst, ohne daß er es weiß!«
- 109 -
Kaum hatte die Kaiserin die letzten Rezepte ergattert, war sie der redseligen Gegenwart des trunkenen Arztes auch schon entflohen. »Alles weitere über die Eigenschaften des Wermuts«, brachte er unter dauerndem Schluckauf hervor, während Claudius schnarchte, »werde ich dir mit Wermuttinte aufschreiben, und wenn du es nicht lesen willst, wird die Nachwelt es tun, denn Wermuttinte ist vor Ratten sicher!« Nach einem Tag und einer Nacht, an denen, wie Freudentränen, ein warmer und lösender Regen gefallen war, unter dem Messalina die Pflanze pflücken ließ, um den Liebestrank daraus zu brauen, fragte Vectius: »Hat er getrunken?« »Er hat getrunken«, sagte Messalina, strahlend und rasend von der wiedererwachten Wollust und der nie erlebten Schmach; »er hat getrunken, so folgsam, daß er nicht mehr Phales noch Mnester ist, sondern ein winzig kleines Kind in einer Wiege, das seine Göttlichkeit vergessen hat, ja das sich in mir vergessen hat!« »Wenn der Wermut, mit Regenwasser aufgegossen, einen Tag und eine Nacht gezogen hat, fördert er bei Frauen in der Tat den Fluß der monatlichen Reinigung, doch bei Männern wirkt er harntrei-
- 110 -
bend«, urteilte der Arzt Vectius Valens mit ernster Miene. Indes, es dauerte nicht lange, bis das Volk, weil man ihm seinen Mimen genommen, wieder murrend um den Palast der Cäsaren zog. Und nachdem Messalina aus vollen Händen Gold unter die Meuternden geworfen hatte, ließ sie aus den ehernen Münzen des Gaius, deren Einschmelzung der Senat gerade beschlossen hatte, in verschwenderischer Fülle Statuen von Mnester gießen, über das ganze Reich verteilt. Diese Bildnisse, die aussahen wie goldene Eier, verewigten die Heldentat des Narziß der Gärten und die Erinnerung an das Gestirn im Theater des Gaius. Und die Ausgrabungen unserer modernen Zeit haben einen dieser bronzenen Akrobaten im Schwimmbad von Capri zutage befördert. Vectius Valens studierte interessiert das metallische Porträt: »Das also ist Phales?« »Oh ja«, sagte Messalina, »es war zwar ein ganz kleines Kind, aber doch schon Phales’ leibhaftige Gegenwart. Phales, Priapus, der Gott der Liebe ist ein verschämtes kleines Kind, das hinter einem
- 111 -
Baum, den es überall mit sich herumträgt, Verstekken spielt.« »Und sein geheimstes Versteck ist das weit zartere Splintholz der Frau«, scherzte Vectius. »Es war wirklich Priapus, ich habe ihn gesehen«, wiederholte Messalina stur. »Angesichts der Unbestreitbarkeit eines Augenzeugenberichts«, schloß der Arzt, »ist Priapus für uns hinfort ein kalter Mann.«
- 112 -
II D ER SCHÖNSTE ALLER R ÖMER C. Silium, juventutis romanae pulcherrimum. C. C. T ACITI Annalium üb. XI, 12 »G. Silius, der schönste Jüngling Roms.« TACITUS, Annalen, Buch XI, 12.
Nachdem Messalina Mnesters Ebenbild so zahlreich in Umlauf gebracht hatte, und zweifellos aus eben diesem Grunde bemerkte sie eines Tages, daß es nur ein einziges Modell für all die Bilder gab; nun liegt es aber im Wesen keiner Frau, lange zwischen einem einzigen Gott, und sei er der Gott der Liebe, und einer Mehrzahl von Männern zu schwanken. Also verliebte sie sich glühend in einen jungen Patrizier, G. Silius Silanus, designierter Konsul, der sie nach Poppaeas Tod im Laufe des Prozesses gegen die Ritter Petra stark durch seine Beredtsamkeit beeindruckt hatte, durch die Art, wie er die Ehre der alten Redner pries (was damals der beliebteste Gemeinplatz der Redekunst war), insbesondere die des Corvinus Messalla, eines Ahnen Messalinas, und wie er Suilius bloßstellte, jenen
- 113 -
Denunzianten, den sie sich dienstbar gemacht hatte, indem sie ihn von einer Insel, auf die er verbannt war, zurückrief. Silius betörte sie ferner durch seinen purpurroten Teint, seinen pechschwarzen Bart, die ausladenden Gesten seiner schweren Hände, wobei der kleine Finger seiner Linken den goldenen Ring zu sprengen drohte, und durch seine Lippen, die sich vorwölbten wie eine zweite Zunge. Die Kaiserin und die ganze Bande ihrer früheren Liebhaber, der Freigelassenen (außer Polybius, dem Vorleser, den sie nach einem Liebeszwist hatte umbringen lassen): Callistus, der behauptete, er habe Claudius unter Gaius’ Herrschaft vor dem Gift bewahrt, Narcissus, Euodus und Pallas, ein Nachkomme der Könige von Arkadien, vornehmer Sklave und des Cäsars Verwalter, sowie der Arzt Vectius Valens ― die Kaiserin und die Freigelassenen also machten sich daran, das Bürgerrecht »wie Schankwirte«, berichtet Dion, feilzubieten, ja es sogar an die Bretonen zu verkaufen, und desgleichen alle absatzfähigen Privilegien, so daß Messalina in kürzester Zeit, aber doch nicht schneller als das Pochen ihres Herzens, die aus Edelstein gefertigte Börse, die sie prahlerisch über ihrer linken Brust festzustecken pflegte, anschwellen fühlte.
- 114 -
Unterdessen ließ Claudius, nichtsahnender Handlanger seiner Freigelassenen, der Reihe nach all diejenigen hinrichten, die sich, wie ihm schien, den Titel des Bürgers widerrechtlich angeeignet hatten, und Messalina oder Pallas verkauften diesen Titel, sobald er frei wurde, wieder an den Meistbietenden weiter. Messalina verschaffte sich eine Menge Gold, denn aus Erfahrung wußte sie, daß sie den reichen Geliebten, zum Konsul erkoren und dieses Standes allgemein für würdig befunden, edel bezahlen mußte. Silius indes war nicht nur ein zum Konsul erkorener Mann, reich an Ehren und an Gütern, sondern er stellte auch, frisch verheiratet, eine große Liebe für seine junge Frau Junia zur Schau. So wurden dem neuen Gott vor den stumpfen Augen Claudius’, dessen starrer Blick, heftig geschüttelt durch das zunehmende Zittern seines Gesichts, nichts mehr erkannte, zahlreiche Geschenke dargebracht, und nachdem das ganze Gold für Geschenke ausgegeben war, bekam er sämtliche im Palast der Cäsaren angehäuften Reichtümer aus dem neronischen und dem drusischen Erbe, bis hin zum Schachbrett des Pompeius; ja sogar die Sklaven des Kaisers, unter denen keiner war, der sich nicht zum Beweis seiner Vortrefflichkeit Christus oder Chre-
- 115 -
stus nannte; und schließlich die einzige Goldstatue, die es von Mnester gab. An dem Tag, da der letzte Schatz (mit Ausnahme des kaiserlichen Bettes), das Perlenbild mit dem Porträt Messalinas, auf den noch verbliebenen Schultern weiblicher Sklaven den Palatin hinuntergetragen wurde, da erst, als letzte nach der letzten Sklavin, gab die Kaiserin sich Gaius Silius hin. Silius fand sie kaiserlich und schön, und vor allem erinnerte er sich an den Tod des Appius Silanus, Messalinas Stiefvater, der als Verschwörer enthauptet worden war ― denn war es nicht eine Verschwörung, sich den Begierden der Augusta zu verweigern? ―, und an den Tod des durch Gift umgekommenen Konsuls Vicinius Quartinus, und an viele andere Tote. Kaiserlich. Und genau wie man sich in eine schöne verliebte Frau durch Ansteckung verliebt, spürte der so beredte designierte Konsul, den die Stadt einmütig den schönsten aller Römer nannte, wie die Leidenschaft, mit der die Kaiserin ihn umgab, ihre Kreise immer enger zog, bis sie seine Schläfen mit einer Kaiserkrone umschloß. Aus diesen Gründen und um ihrer Schönheit willen liebte er sie.
- 116 -
Messalina war ganz nackt gekommen, wie man sich einem Sklavenkäufer zur Wahl anbietet; und in Erwartung der besitzergreifenden Arme des Herrn hatte sie sich in den weiten Mantel gehüllt, der, wenn sie ausging, die suburanische Kurtisane barg, oder auch die Jägerin, die dem Gott der Gärten in dessen Gärten nachstellte. Der Stoff, der sich liebkosend an ihren Körper schmiegte, konnte jederzeit der Mantel von Subura genannt werden, denn um sie als Kurtisane auszuzeichnen, bedurfte es der goldenen Perücke nicht. Und vor ihrem jetzigen Geliebten wie zu Füßen des Phales, dem zu Ehren die Straße der Prostituierten eine Liebesspur zog, wirkte sie, umgeben von den Schatten der Dunkelheit, immer noch wie die Nacht selber, die ihren fröstelnden Vogel beschützt. Für eine solche Gottheit der Finsternis ist ein Sonnenstrahl eisiger Regen im Vergleich zu dem lüsternen Weihrauch einer Lampe, die eben im Bordell erlischt. Nun war es aber (wie ein Detail zu erkennen gab) nicht das Kleidungsstück von der Nacht im Bordell, sondern jenes andere vom Abend im Hippodrom des Asiaticus, welches Messalina bei Silius auszog!
- 117 -
Da Irrtümer jedoch logisch und menschlich sind, wenn man nach dem Äußeren der Frauen geht, wettete Claudius absurderweise, Messalina gehöre nur ihm allein, ausgerechnet an jenen Tagen, an denen sie getränkt mit dem Geruch der rauchigen Zelle Lysiscas zu ihm zurückkehrte! An dem nämlichen Abend beim Asiaticus also hatte sich ein kleines murrinisches Gefäß, allerliebst wie aus dem Nest gefallen, mit der ganzen Kraft seiner etwas verdrehten Krallen an ihre Schleppe geklammert; und da sie diesen Mantel seither nicht mehr getragen hatte, bemerkte sie den mit Milch bespritzten rosa Stein erst lange nachdem sie ihren Mantel, flauschiger als jeder andere Teppich, auf die mit Fellen ausgelegten Fliesen in Silius’ Schlafzimmer geworfen hatte. Sie schenkte ihm dieses letzte Kleinod ― das Gold ihrer Brüste hatte der Mund des Geliebten soeben gepflückt ―, und als das Paar endlich auf das Lager sank, wurde ein Knabe gerufen, damit er schäumenden Caecuber-Wein in den prachtvollen Trinkedelstein goß. Darauf stützte sich der schönste aller Römer, flach auf dem Bauche liegend, mit beiden Ellbogen ab und zog die Augenbraue hoch zu Messalinas Hand, die ihm den Becher reichte. Es war einer
- 118 -
jener Becher, die von der Kaiserin im eiligen Lauf über die Stufen geschleift worden waren; und sein Sprung, ebenso klaffend wie die gespreizten Finger, die ihn hielten, weinte wie die Wasseruhr der Stunden der Liebe. Selbstherrlich, von der Höhe all der ihm verehrten Schätze, die er ohne Makel fand, bis auf ― so sagte sein boshafter Blick ― die Spenderin und ihre allerletzte Gabe, schrie Silius: »Bist du nicht neidisch, Valeria, auf all die weiblichen Dinge, die du mir schenkst?« »Mein Geschlecht ist das kleinste!« erwiderte sie mit einer Geste.
- 119 -
III D IE EHEBRECHERISCHE H OCHZEIT Ουδέ τι οϊδα Eϊ μοι έτ’ έμπεδόν έστι, γύναι, λέχος ― ΟΔΥΣΣΕΙΑΣ Ψ. »Ich weiß nicht, Weib, steht unser Bett denn noch am alten Platz?« HOMER, Odyssee, XXIII, 202–203
Das Bett der Cäsaren war nicht, wie die Möbel und die Sklaven und wie Messalinas Liebe, zu Silius gebracht worden ― nicht etwa, weil dieses Bett nach dem Vorbild vom homerischen Lager des Odysseus im Boden des Palastes verwurzelt gewesen wäre, noch weil es natürlicher ist, wenn ein Mensch sein Bett aufsucht, als wenn ein Bett zum Menschen kommt; sondern weil das Bett der Cäsaren in Messalinas Vorstellung ein solches nur ist, solange es den ganzen Palast der Cäsaren zum Baldachin hat, von den Fundamenten, deren tiefstes in den Grundmauern Roms besteht, bis hin zum Giebel, verkörpert durch Claudius Cäsar persönlich, in seinem durchsichtigen Belvedere mit der Geschichtsschrei-
- 120 -
bung eben dieses Roms befaßt, ohne jedoch beim aktuellen Stand seiner langsam fortschreitenden Gelehrsamkeit diese letzte Schicksalswende schon zu erkennen. Und eines Morgens in der Dämmerung bog sich das breite Hochzeitslager mit den untersetzten, in Silber gefaßten Elfenbeinfüßen, nach der Mode von Delos ganz mit dem gleichen gediegenen Metall verkleidet und mit adlerbesticktem Purpur bedeckt, schweigend unter der nackten Muskellast des Silius, dessen schwarzer Bart die reinweiße Seide des Lakens und die Schulter Messalinas noch strahlender erscheinen ließ. Erst kürzlich hatte Claudius, kahl und weiß, in eben diesem Zimmer alle Dinge mit der Farbe seines grauen Haars getönt. Das aber betrübte ihn keineswegs, da er es als Verjüngung empfand, allerdings ohne daß er sich wünschte, in eine allzu frühe Jugend zurückversetzt zu werden. Als er noch keine grauen Haare hatte, war er nicht der Geliebte der Venus gewesen. Wie aus Schnee, flochten sie ihm die Morgendämmerung seiner Kaiserkrone. Was hingegen die absolute Reinheit betrifft, so sah Claudius ihr nicht ins Gesicht, und sein Kopf-
- 121 -
wackeln erklärte sich zweifellos auf die gleiche Weise wie das eines in die Enge getriebenen Schwans, der den Hals abwechselnd, je nach dem, wo gerade kein Jäger ist, nach rechts und nach links streckt, weil der Atem des Lebens ihm nicht lang genug war für den Gesang der Apotheose. Und als Silius sich, kaum in Messalinas Armen, im nämlichen Bett ausstreckte, bezeugte er ihr, genau wie vor dem Kelch ihres ersten Kusses, mit grollendem Blick eine so schmerzliche Angst, daß sie ihm sogleich verzieh und den Fehler, den sie begangen zu haben vermutete, sogar bereute, welches dieser Fehler auch gewesen sein mochte. Silius suchte, tastete wie wild mit beiden Händen unter der großflächigen Nacktheit seiner breiten Schultern, und packte ― war es ein Tier, das ihn gebissen hatte? ― den Gegenstand seines Entsetzens. Fahl, eckig, kristallhart, streng, greisenhaft, obszön, nackt bis auf die Knochen: Ein Würfel. »Es wäre gut gewesen, eine Sklavin zu behalten«, sagte Silius auf dem Teppich stehend, »um des Cäsars Laken zu wechseln.«
- 122 -
»Aber ich habe dir alles gegeben, Silius«, schluchzte Messalina; »ich dachte nicht, daß du es beachten würdest… dieses Ding; ich dachte nicht, daß du dieses Ding da finden würdest! Daß man Claudius’ Laken beibehielt, war ebenso naiv, wie ich dich, wäre Claudius nicht aus diesem Bett verschwunden, als du im Heldenkostüm hereinkamst … auf seinem Körper geliebt hätte. (Im Heldenkostüm, das heißt ganz nackt, mit einem locker über die linke Schulter geworfenen Tuch.) Mein ganzes Leben habe ich dir gegeben! Aber ich liebe dich doch, Silius! Und mein Körper, den du nicht verschmähst… Willst du mir denn die Haut abziehen, die Claudius gehört? Ich liebe dich!« »Ja, Valeria, du magst uns alle beide ― das gemeine Volk der anderen will ich gar nicht zählen ―, uns beide, mich und Cäsar. … Steh’ auf! Du hast mir nichts gegeben, kein Stückchen Liebe, da mir ein Stück von deiner Liebe fehlt! Oder, wenn du mir alles gibst, wenn du dich mir ganz hingibst… Derjenige, der Cäsars Gattin absolut besitzt, ist… Ich bin Cäsar! Ich bin dein rechtmäßiger Gemahl, und vielleicht ist es nur die Angst, dem Urteil aller meiner kaiserlichen Ahnen zu widersprechen, die auch mich davon abhält, den zu bestrafen, der mich in meinem eigenen Palast
- 123 -
schon seit vielen Jahren so fürchterlich betrügt, daß er mir meine Gemahlin erst heute überließ, in dieser letzten Nacht, der ersten… Darum kann ich sie auch nicht verstoßen, ich habe unsere junge Ehe noch nicht genossen, denn für mich und bis zu dieser Nacht… (Silius weint) M ESSALINA IST J UNGFRAU !« »Du hast recht, ab-so-lut recht, Silius«, sagte Messalina. »Silius! Aber natürlich: Silius! Ich werde wahnsinnig«, sagte Silius. »Alles, was ich gesagt habe, ist lächerlich, ich habe die Schätze der Cäsaren usurpiert und dem Cäsar sein Weib geraubt, wie jedermann, das ist alles. Ich bin nichts, nur Silius, designierter Konsul, ein schlichter Privatmann und Gatte der Junia Silana. Ha, ha, ha! Gemahl der Augusta! Wo ist unser Ehevertrag, Kaiserin? Wo ist die Urkunde?« »Du bist Cäsar, ja du bist es absolut, ο Cäsar«, sagte Messalina auf Knien.
- 124 -
IV D IE N ACHAHMUNG DES B ACCHUS
Kai σύμπασιν αν τοις χρωμένοις αύττ) κατά συμβόλαια συνφκησεν, ει μήπερ ευθύς εν τω πρώτω ψωραθεϊσα άπώλετο. Των ΔΙΩΝΟΣ ‘Ρωμαϊκών βιβλίον Ξ. »Sie hätte auch wohl mit allen Männern, mit denen sie Umgang hatte, Eheverträge geschlossen, wenn sie nicht gleich beim ersten Versuch ertappt und hingerichtet worden wäre.« D. C ASSIUS, Römische Geschichte, LX, 31
Nun machte Claudius sich eines Tages auf den Weg nach Ostia an der Tibermündung, wo er die Mole und den Leuchtturm, zwei von Cäsar begonnene Werke, vollendet und den Hafen für das Getreide aus Afrika sowie für die Früchte aus Spanien, Gallien und dem Orient angelegt hatte, um daselbst im Tempel des Kastor, der ― ein Sohn des Tyndareos ― Unwetter und Piraten vertreibt, ein Opfer darzubringen, denn ein einziger Sturm hätte genügt, um Rom in Hungersnot zu stürzen.
- 125 -
Acht Liburner trugen ihn in einer Sänfte über die Landstraße, zu Pferde angenehm und kurz, mit Wagen aber kaum befahrbar, da sie, bald eingeengt von Feigen- oder Maulbeerhainen, bald ausladend, von flachem Weideland umgeben, nirgendwo gepflastert war. Gelehrsam über alles aufgeklärt, außer über seine Ehe, setzte er sich, die Geruhsamkeit seiner überdachten Sänfte nutzend, in den Kopf, Männern wie Cadmus, Cecrops, Linus, Palamedes, Simonides, Damaratus und Euandros nachzueifern, indem er drei nie dagewesene Buchstaben des Alphabets erfand: Das äolische d (Digamma), das ) ( (Antisigma) sowie einen ganz unerhörten Diphthong, der das doppelte Schicksal des Kusses lautmalerisch widergeben sollte. Unterdessen ging des Cäsars Gemahlin mit der gleichen Muße wie die im Menschentrott sich fortbewegende, auf acht Stützen ruhende Sänfte eine rechtmäßige Ehe mit Silius ein. Für die Eheschließung genügte in Rom das Einverständnis der Eheleute, gepaart mit der Zustimmung derer, von denen sie abhingen. Die Hochzeitszeremonien waren Nebensache. Die Frau aber ging so in die väterliche Gewalt ihres Gatten über, sie geriet unter seine Vormund-
- 126 -
Schaft und wurde sein Eigentum, wie ein Stück Möbel, und dies auf drei Arten: usu, coemptione, farre. Durch den Gebrauch: Wenn sie nach der Hochzeit ein volles Jahr bei ihrem Gatten geblieben war, gehörte sie ihm aufgrund der Verjährung. Durch Koemption: Der Mann kaufte sie wie eine Sache, indem er alle Formalitäten eines fiktiven Kaufvertrags erfüllte. Durch Konfarreation, die religiöse Heirat unter Opfer eines Speltkuchens: Messalina entschied sich für diese Art der Vereinigung, vollzogen im Beisein von zehn Zeugen durch die Hände des Pontifex Maximus und des Jupiter dienenden Flamen, κατά τους ιερούς νόμους. Und den Göttern wurde ein Speltkuchen, far genannt, zum Opfer gebracht. Während dieser Zeit betete Claudius zu Kastor, dem Beschützer des Korns, daß es Rom an Brot und far nicht mangeln möge. Die Konfarreation galt als unauflösliche Vereinigung, bei der keine Scheidung möglich war. Sie bestand in einer langwierigen Zeremonie, die durch das unheilvolle Zeichen eines Donnerschlags unterbrochen werden konnte ― aber Claudius wurde von Kastor erhört!
- 127 -
Am Vortag hatte Silius sich von Junia Silana scheiden lassen. Messalina indes, Silius’ Gattin auf Lebenszeit, sagte sich weder von der Eheverbindung mit Cäsar los, noch wünschte sie Claudius Cäsars Tod. Die vielfache Mörderin ließ in ihrem Herzen, dessen unendliche Weite auch für Freigebigkeit nicht zu eng war, Gnade gegenüber allen früheren Lieben walten und erkannte im Witwenstand nur noch den Vorteil jener von Seneca gegeißelten Vereinfachung, die darin bestand, den Kalender nach den verschiedenen Gatten statt nach Konsulaten einteilen zu können. Denn eine Frau, die die Welt durch ihr Geschlecht erfährt, mag zwar fähig sein, sich an die Namen ihrer Gatten zu erinnern, aber sie ist doch nicht über sämtliche Konsuln informiert: Manche sind tot oder weit weg oder Eunuchen, und außerdem sind es immer zwei. Und sie redete sich mit so absoluter Aufrichtigkeit ein, der Buhle des gegenwärtigen Augenblicks sei ihr ehelicher Gemahl, daß sie Vorbereitungen traf, in gleicher Weise, jedoch ohne einem früheren Gatten zu entsagen, mit ihren künftigen Lieben eine Vielzahl gerechter und unauflöslicher Hochzeiten zu feiern. Die erste war von Straflösigkeit gekrönt.
- 128 -
Der Herbst ging zu Ende, und so kam ihr als Hohn auf den kleinlichen Wechsel der Jahreszeiten, allgemein für ein Symbol des einheitlich sich schließenden Kreises der Gatten gehalten, nichts Geeigneteres in den Sinn, als das runzlige Fruchtfleisch der verblichenen Trauben künstlich aufzublähen und zur Feier ihres diesmaligen Hochzeitstages sowie zu Ehren des Bacchus, der Priapus’ Zögling war, im Seitenflügel des kaiserlichen Palastes das Trugbild einer Weinlese entstehen zu lassen. Zwischen Ulmen, die sich, in Kästen gepflanzt, unter den eingesackten Trauben bogen, umgeben vom Tanz und Gesang der als Bacchantinnen geschminkten Sklavinnen, unter dem Stöhnen der bis aufs Blut gepreßten Keltern und dem siedenden Wallen der Bottiche spürte das Brautpaar, freizügig in Bocksfelle gehüllt ― Messalina mit aufgelöstem Haar den Thyrsus schwingend ―, wie der Weihrauch des Weins erst die Kothurnen küßte und sodann die Köpfe umnebelte, bis alles die zügellose Gestalt eines Rundtanzes annahm, als erfreuten die Götter sich an den kreisenden Bewegungen der Sonnen. Und dieser Wirbel von Männern, wirrer noch als die zerstampften Trauben, war die Gesellschaft aller früheren Liebhaber der Braut, von Mnester,
- 129 -
als Pan mit einem Wolfsfell bekleidet, bis hin zu dem Strichjungen Cesoninus, bartlos, wie Bacchus bekränzt und mit einer Efeukappe, dem Messalina sich einst als Mann hatte erweisen wollen… Aller ― außer Narcissus, dem Ältesten im Bunde, der sich aufgrund einer verspäteten und plötzlich ausgebrochenen Eifersucht fernhielt, denn die Eheschließung war seiner Sekretärsnatur erst jetzt, da schriftlich niedergelegt, zur Realität geworden. Vectius Valens, ausgelassen vor Trunkenheit, tat scherzend so, als wolle er davonfliegen, um die kostbaren Dünste des Weins auf ihrer Flucht nach oben einzuholen, zumal sie unter dem Vorwand, die Götter krönen zu wollen, den Nimbus von der Stirn der Säufer nahmen; er schwang sich auf die höchste Ulme und rief im Tonfall eines Astrologen, der sein Haus vom Himmel abgrenzt: »Äolus lädt sich selbst zu unserem Winzerfest: Ich sehe von Ostia her einen rasenden Sturm aufziehen!« Darüber schwollen die Evohe-Rufe an, und es verstärkte sich die vielfach quietschende Heiterkeit der kupfernen Tamburine. Besonnen wandte er sich vom Himmel ab und gewahrte auf einer improvisierten Bühne aus nackter Erde, leergefegt vom Wirbelwind des Tanzes, der
- 130 -
die letzten welken Weinblätter vertrieben hatte, während die Absätze im trunkenen Glauben, die Arbeit der Weinlese zu vollenden, unentwegt auf den Estrich stampften, folgenden Ausschnitt des irdischen Schauspiels: Es raschelte in den Weinreben, als drücke ein Elefant, der sich mit seinem schwarzen Rüssel einen Weg zu bahnen sucht, rechts und links die Gräser Asiens nieder, die hohe Bäume sind; und ein äthiopischer Neger, nackt wie Pech, sprang hervor, der richtungweisend ihm vorauseilenden Pansbockgeste nach. Seine Hände waren hinter dem Kopf zusammengebunden, und die Ellbogen standen eher wie ungeheure Lochohren als wie Bockshörner von ihm ab. So konnte er nur ein einziges Glied frei bewegen, wie die Spore eines Kampfhahns mit einer Stahlspitze geschärft. Und gemäß einer von den Schwarzen Äthiopiens bevorzugten Mode trug er ein im äußersten Hautrand verkapseltes Silberglöckchen, so schallgedämpft, daß es kaum zu hören war; dennoch bimmelte es in Messalinas Ohren, als der Wettkämpfer in prahlerischem Galopp dreimal die Runde der Arena machte, lauter als die Schellen sämtlicher
- 131 -
Maultiergespanne, die einen Sturmbock zur Stadt schleifen. Der weiße Gladiator, der, an eine Ulme gelehnt, vor dem Purpur der Trauben bleich aussah wie eine Perle, die das Ohr, das sie schmücken soll, wund und blutig reißt, machte sich unterdessen gekonnt langsam zum Kampf bereit, wie zu einer Kreuzigung. Da aber der Weiße schön war und der sichere Sieger, fühlte Messalina sich ganz in den Neger verliebt. Und während die Schar der Frauen, einschließlich Cesoninus, sowie Silius und die Gäste abwechselnd einen der beiden Kämpfer mit Brunstgeschrei oder Gelächter ermutigten, stützte sie sich wortlos auf die zum Bersten mit Reben behangene Schranke und, ihre schützenden Felle bis zu den Knöcheln vom Liebessaft der Trauben besudelt, richtete hinter dem Neger, der sie nicht sehen konnte, ihre Augen auf den weißen Gegner, so daß ihn all die glühenden Spiegel ihrer Begierden trafen. Und weil sie eine sehr geschickte und unwiderstehliche Prostituierte war und der andere nur ein Mann, begegnete Messalinas Blick nicht der prompten Antwort eines ihr standhaltenden Blickes, sondern einer prompten Ergebenheit und dem treu-
- 132 -
herzigen Geschenk einer ihr zu Füßen gelegten Seele! Da jetzt aber nur noch ein Entwaffneter zu bekämpfen war, und da Blut die Manen erfreut, wurde dem siegreichen Neger erlaubt, ihn zu töten. Messalina indes verlangte nach dem Schwert eines erfahrenen Henkers, damit die Hinrichtung schneller vonstatten ging. »Sie hat es eilig«, dachte Silius, »nach dem Fest in unser Hochzeitsbett zu kommen.« Doch als der Mann bereits tot war, wiederholte die Kaiserin: »Töte!« »Bacchus hat dich blind gemacht«, sagten sie alle, indem sie auf den noch am Boden liegenden Beweis des vollstreckten Befehls und auf die Lache aus einem anderen Blut als dem der Keltern wiesen. »Töte!« sagte Messalina, ohne Silius noch die geringste Aufmerksamkeit zu schenken, schmachtender an den Neger gewandt, als die Frauen des Tiberius mit ihren flehentlichen Bitten um die unvergleichliche Liebkosung seines vergifteten Fingernagels an ihren Herrn. »Tu es jetzt! Ο töte mich«, forderte sie.
- 133 -
Der rohe Schwarze, der sich, in bestürzter Erstarrung, immer noch bereithielt, schickte sich an, Hand an den schneidenden Sporn zu legen. »Ein guter Neger, fürwahr, und einer, der sich aufs Leben versteht«, versuchte Silius zu scherzen, um die Zeugen seiner Eheschließung etwas davon abzulenken, daß er der Gatte war, während er insgeheim die Entlassung des Titius Proculus erwog, jenes Beamten, dem er die Überwachung seiner Gemahlin Messalina oder vielmehr das Amt ihres Herzkammerherrn anvertraut hatte. »Nein, der wäre zu lang«, seufzte Messalina. »Du allein wärest mehr, schon du wärest zuviel, ο mein einzig Geliebter!
- 134 -
V D ER ÄSCHENFISCHER Λαίμαργος δέ μάλιστα των Ιχθύων ό κεστρεύς εστί και άπληστος- ― όταν δέ φοβηθή, κρύπτει την κεφαλήν, ώς δλον το σώμα κρυπτών. ΑΡΙΣΤΟΤΕΛΟΥΣ Περί τά Ζώα ιστοριών Η, β. »Der gefräßigste und unersättlichste von allen Fischen ist die Meeräsche… Wird sie erschreckt, so versteckt sie ihren Kopf, als ob der ganze Körper nun verborgen wäre.« A RISTOTELES, Naturgeschichte der Tiere, Buch VIII, 4.
Das Folgende ereignete sich in Nimes, an dem Tag, da in Rom, der Stadt der Ehebrecher, seit die Kaiserin ein entsprechendes Vorbild geliefert, diese sich hinter ihrer letzten Sklavin zu Gaius Silius begab. An dem schmalen Strand, den das Mittelmeer noch besaß, betrachtete der Arzt Vectius Valens im breiten Schatten seines Thessalierhutes von der gleichen Art, wie die Theaterbesucher und die Fischer des Meeres ihn zu tragen pflegen, interessiert einen Korb voller Fische.
- 135 -
Bleigraue Rücken schimmerten so wulstig, daß die Tiere fast zylindrisch wirkten; reglose Bäuche lagen so glanzlos da, daß jeder von ihnen, eine Elle lang, einem elfenbeinernen Stoßzahn glich, stellenweise metallgepanzert und mit sieben grauen Niellostreifen an den Seiten. Die Köpfe, die auf einer Halskrause mit vier kräftigen Stacheln und dornenförmigen Kiemen saßen, waren regelrechte Wunderwerke: Stark nach unten geneigt, mit vieleckigen Schuppen besetzt, die Augen halb verdeckt durch den doppelten Wulst der Fettbrille, und dazu ein dicklippiges, dreieckiges Maul, das sich schloß, wie wenn sich ein Keil einfrißt ― Vectius öffnete eines mit dem Fingernagel, und statt der toten Augen sah ihn die zuckende Lippe an, denn die feinen Zähne waren halb geschlossen und blinzelten genau wie Wimpern. Der Fischer begann, seine Ware nach den verschiedenen Sorten anzupreisen: Die Kopf-, Goldund Springäschen sowie die ganz kleine Mugil labeo; doch da der Arzt völlig in seine Beobachtungen vertieft war, ohne sich durch irgendeine Geste kaufwillig zu zeigen, sagte er: »Ich warte nur noch auf die Meeräschen. Aber sehen Sie, da kommen die Boote gerade zurück; Sie
- 136 -
werden den abschließenden Fang des Chelo und des Ramodo selbst miterleben. Ein vereinzeltes kleines Boot tauchte auf, ein Celox mit Segeln und Rudern, in voller Fahrt dem Punkt entgegenstrebend, an dem die Gesprächspartner standen, dem innersten Teil der Bucht, wo der große, mit dem Meer verbundene Salzsee Latera begann. »Seit Tagen schleppen sie vom Atlantik eine männliche Meeräsche mit einer an Maul und Kiemen befestigten Schnur hinter sich her«, erklärte der Mann. »Und die Bank der Weibchen folgt blindlings nach, denn die Meeräsche ist dumm und geil!« »Die Natur spottet der Äschen«, sagte Vectius, »weil sie den Kopf bis zu den eng anliegenden Bauchflossen vergraben und sich so in Sicherheit wähnen.« »Sind Sie Fischer?« wunderte sich der Fischer. Vectius blickte aufs Meer hinaus. Die Boote waren jetzt alle in Sicht, jedoch ohne erkennbare Ordnung und, so schien es, ohne daß sie versuchten, einen Halbkreis zu bilden oder Netze quer durch die Bucht zu spannen. Und weißer als die Segel, bewegten sich vor ihnen schäumende Wellenkämme.
- 137 -
Denn eine Vorhut von Delphinen, nur an der Wasseroberfläche sichtbar, trieb wie eine geschlossene Meute die Bank der Chelos vor sich her. »Die Meeräsche flieht vor den Delphinen, während sie über ein Schiff ohne weiteres hinüberspränge«, erläuterte der Fischer. Und die massenhaft herbeigeströmten Männer und Frauen, die das Gestade und die Ufer am schmalen Eingang des Sees besetzt hatten, fingen mit Dreizacken und Handnetzen die ganze im seichten Wasser gestrandete Bank, ohne die in wogenden Tollheiten sich ergehenden Delphine so zu stören, daß diese die Flucht ergriffen hätten. »Heute erwarten sie ihren Anteil an der Beute«, sagte der Fischer, »aber sie werden die ganze Nacht und auch morgen noch bleiben, bis sie als ihren gewohnten Lohn weingetränktes Brot bekommen. « Dann kam er wieder auf seine noch triefenden frischen Körbe zurück und fuhr fort: »Das alles schmeckt köstlich, denn mit ihrem spitzwinkligen Maul können die Meeräschen sich nur von Weichtieren ernähren, und außerdem läßt ihr filterförmiger Schlund nur zarte Substanzen in den Magen gelangen.« »Du könntest hinzufügen, Freund, daß die Verdauung dieses Magens unendlich fein ist, denn er
- 138 -
endet in einem Kaumagen, wie die Vögel ihn haben.« »Kaufen Sie nun endlich, oder bist du Fischer?« murrte der Mann mit den Äschen. »Ich fische, ja, aber anders als du, ohne von Meereshunden abhängig zu sein und in reicheren Fischgründen. Ich hole in Rom«, sagte der Arzt, indem er seinen Thessalierhut zurechtrückte, »die als rechtmäßige Strafe in den After getriebenen Äschen aus den hintersten Gründen der Ehebrecher. «
- 139 -
VI
D URCH VERMITTLUNG DER K URTISANEN Προανηρήκεί δε την γυναίκα Μεσσαλίναν διά ζηλοτυπίαν. ΦΛ. IΟΣΗΦΟΥ Ίουδ. ‘Αρχαιολογίας βιβλ. Κ, κεφ. Ζ »Seine Frau Messalina hatte er aus Eifersucht umbringen lassen.« F. J OSEPHUS, Jüdische Altertümer, XX, 8
Claudius aber, der, noch in Ostia weilend, von Narcissus wie auch aus dem Munde seiner Lieblingsbeischläferinnen Calpurnia und Cleopatra alles erfahren hatte, fragte verwirrt, wer von beiden, er oder Silius, denn nun Cäsar und wer bloßer Privatmann sei. Diese wahnsinnige Ratlosigkeit ließ wenig Raum für ein bestimmtes Gefühl, das, wie es scheint, den Römern jener Zeit, vor allem aber Claudius beinahe unbekannt war: die Eifersucht, den Haß auf die Hahnreischaft ― obwohl Flavius Josephus schreibt, Claudius habe Messalina aus Eifersucht umbringen lassen.
- 140 -
»Du kannst dir das Lachen kaum verkneifen, meine kleine Cleopatra« stotterte er. »Mach dich nicht über mich lustig, ich bin ein armer Mann in einer Schenke. Du willst mir weismachen, daß ich nicht mehr Cäsar bin! Aber so leicht nimmt man Cäsar nicht alles weg, seinen Palast und seine Schätze und seine Autorität und Venus! Ich bin vollauf bei Verstand, Calpurnia, ich bin ganz vernünftig; du versuchst zwar immer noch, mir deine verdreckten Stiefelchen über die Hände zu ziehen (es gibt Leute in meiner Umgebung, die mich nicht als ihren Herrn betrachten!), doch du vergeudest deine Zeit, ich schlafe nicht. Meine Augen sind nicht geblendet! Ich bin nie Cäsar gewesen! Diese Unterstellung ist wirklich absurd!« Er schreckte auf. »Die Fackeln! Das Blut! Soldat, mein Freund, hier hast du Geld, massenhaft Goldmünzen. Du hast kräftige Schultern, Soldat, schieb, damit das Rad sich drehe, schieb! Hurra, Triumph! Fors-Fortuna!« »Cäsar«, begann Narcissus, der hinzugekommen war. »Ha ha! Cäsar«, sagte Claudius. »Das bin nicht ich, Narcissus, nicht wahr?«
- 141 -
»Aber nein«, stimmte der Vertraute zu. »Cäsar ist Cäsar, wenn Fortuna es will. Sie ist da, ihr Wagen angespannt, bereit zu fahren.« »Sie ist da… Venus!« fragte Claudius mit schlotternden Gliedern. »Sie erwartet dich… Fors-Fortuna, Cäsar.« Und in der gleichen Sänfte, die ihn nach Ostia gebracht hatte, zwischen Vitellius und Largus Cäcina, die ihn in ihre Mitte nahmen, schlug Claudius Cäsar unter dem wachsamen Blick des Narcissus abermals die sandige Straße nach Rom ein. Unterdessen fuhr Venus, wie ein Stück Gartenmist auf einem Dreckskarren, da sie kein anderes Fahrzeug hatte auftreiben können ― dabei stand ihr als Augusta ebensogut ein Wagen zu wie der Göttin Livia! ―, furchtlos dem Cäsar entgegen, wohlwissend, daß sie, um die kaiserlichen Augen vor dem bis oben hin mit dem Schmutz ihrer Schandtaten gefüllten Karren zu verschließen, nur den wollüstigen Fächer ihrer eigenen Augen zu öffnen brauchte. Und da der imaginäre Soldat wie jedes andere Geschöpf, das ein Bild des Princeps trägt, unantastbar ist, nahm Messalina ihre Kinder mit, Octavia und Britannicus, die Claudius ähnlich sahen, ob er nun ihr Vater war oder nicht.
- 142 -
Mit dem gleichen Zynismus schließlich, mit dem sie sich in ihren verhurten Nächten der heiligen Lampe der Jungfrauen bedient hatte, ließ sie Vibidia, die älteste der Vestalinnen, vorausgehen. »O Schandtat!« flüsterten Cäcina und Vitellius methodisch sich abwechselnd rechts und links in Claudius’ große Ohren, als wollten sie dem Keuchen der Träger einen Rhythmus geben. Narcissus, halb ausgestreckt dem Kaiser gegenüber, sprach diesem, weit geschickter, tief ins Innere seiner Seele, indem er seine Aufmerksamkeit auf eine Denkschrift lenkte, in der alles über Messalinas Vergangenheit stand. »Eine Denkschrift?« fragte Claudius, der gierig darin zu blättern begann. Letzte Nachkommin der vornehmen und jahrhundertelang unbescholtenen, mit Ehrungen gekrönten Familie der Messalla, Tochter von Messalla dem Bärtigen und Domitia Lepida, der Zarten Bezwingerin, hatte Messalina, ob Claudius sie nun rein oder unrein geheiratet hatte und ob Lepida ihr das Beispiel eines ausschweifenden Lebens oder das einer tugendhaften Ehefrau gegeben hatte, ihr niederträchtiges Wesen so lange im Zaum gehalten, bis sie die Gewißheit besaß, es auf dem Gipfel des Reichs voll ausspielen zu können.
- 143 -
Von da an folgte ein Mord dem anderen: Julia, die Nichte des Claudius. Julia, die Schwester des Claudius. Appius Silanus, der zweite Gemahl von Messalinas Mutter Lepida, die durch ihre Tochter zur Witwe wurde. Der Sohn des Appius, ein angehender Schwiegersohn von Claudius. Claudius’ Schwiegersohn Pompeius der Große sowie dessen Vater und dessen Mutter. Callistus, ein Studiengefährte und Freigelassener des Claudius. Vicinius Quartinus. Das berühmte Paar Paetus und Arria… Der Morde überdrüssig, begann Claudius, beider Liste der Verbannungen Zerstreuung zu suchen: Seneca… Vom blutigen Grund dieses schmutzigen Gemetzels hob er den Kopf nicht zu der noch schaleren Pestilenz des Kippkarrens empor.
- 144 -
VII I M A TROPOS BEI L UCULLUS Et vincula, et carcerem, et tormenta, et supplicia (miles) administrabit, nee suarum erit ultor injuriarum? Jam stationes aliis magisfaciet quam Christo? Q. SEPT. FLOR. TERTULLIANI De Corona, 11 »Wird er, der über Fesseln und Kerker, über Folter und Hinrichtung verfügt, das Unrecht nicht ahnden, das ihm widerfährt? Und wird er eher für andere Wache halten als für Christus?« Q. S. F. T ERTULLIANUS, De Corona, 11
Die ehrwürdige Witwe, nunmehr gewiß, daß ihr schuldiges Kind bestraft werden würde, hatte Mitleid, und sie kam, die Unglückliche zu trösten, die sich hinter die Eisentore ihrer Gärten geflüchtet hatte, vergeblich bemüht, dem drohenden Schwert der Soldaten ein Hindernis in den Weg zu stellen. Was ihre Komplizen betrifft, so richteten die mechanischen Befehle des Kaisers sie ohne Anteilnahme hin. Claudius, Kenner und Liebhaber der alten Sitten, hatte lediglich gesagt: »Bestraft sie nach Art der Altvordern.«
- 145 -
Und da jeder archaische Brauch Latiums blutig war, bedeutete dieser Befehl: Bestraft mit dem Tode. Es gab eine ganze Reihe traditioneller Todesarten: Mit Ruten zu Tode peitschen oder mit Ruten auspeitschen und zu guter Letzt enthaupten; oder vom Tarpejischen Fels stürzen, wenngleich diese Marter insbesondere den Vatermördern vorbehalten war ― doch war der Kaiser nicht ein Vater, und war Messalinas Gatte nach römischem Recht nicht auch ihr Vater? Man konnte ferner im Tullianum oder im Robur erdrosseln. Silius verlangte mit heldenhafter Prahlerei den Richtblock, wie es sich für ihn geziemte; Vectius Valens wurde geschwätzig, und Mnester verbarg sich unter einer Art Deckmantel aus feigen Bitten, indem er sich mit der Zurschaustellung jener Striemen umgab, die der Cäsar ihm dereinst in der Höhle der persischen Diana durch Rutenschläge hatte beibringen lassen. »Das spielt keine Rolle«, sagte Claudius; »ich habe einen designierten Konsul und zu viele hochgestellte Persönlichkeiten enthaupten lassen, als daß ich einen Histrionen von ihrem Schicksal ausnehmen könnte! Im übrigen heißt er ΜΝΗΣΤΗΡ, der Freier; und sein Name wird mir den von Homer übernommenen Titel für das Kapitel über seinen
- 146 -
Tod in meiner Römischen Geschichte liefern: Μνηστηροφονία, die Ermordung der Freier… Penelopes, um die es im zweiundzwanzigsten Gesang der Odyssee geht. Er soll sich der Hinrichtung nicht entziehen: Er würde mich um meinen Titel bringen.« Das Folgende aber ereignete sich unweit der Grotte Dianas: »Klein’s, klein’s Mädchen… Sie war ein so liebes kleines Mädchen! Sag, Mama, gibst du mir die kleine Silberlampe, damit ich Vestalin spielen kann?« Es ist Messalina, die da spricht. Eben hat man die Gartentore gewaltsam geöffnet. An die Knie der Domitia Lepida gelehnt, nimmt ihr tödlicher und jäher Schrecken den Taumel ihrer Todesangst vorweg. »So lieb! Sie wird das futüe nicht mehr zerbrechen, indem sie damit Kreisel spielt!« Das futüe war ein sakrales Gefäß, mit dem man den Tempel der Vesta besprengte, und das wie eine Sodaflasche unten konisch zusammenlief, damit nie Wasser darin stehenblieb. »Gib mir die Lampe der kleinen Vestalin!«
- 147 -
Da erscheint im Gefolge eines Centurio, der die Wachuniform trägt und dessen militärische Schweigsamkeit unheilvoller und unerbittlicher wirkt als seine Bewaffnung, der Freigelassene Euodus, eine Fackel in der Hand, und überschwemmt den Rasen mit dem grellen Lichtschwall seiner gemeinen Schmähungen. Lepida hüllt ihr Haupt wieder in den Witwenschleier. »Hündin, Wölfin, Hure!« schreit der Freigelassene, und er wird, bis sein Auftrag erfüllt ist, nicht mehr aufhören, laute Beschimpfungen loszulassen, außer wenn er dem Soldaten einen dringenden Befehl zu erteilen hat. »Ein Soldat!« lispelt Messalina. »Da ist ein Soldat. Irgend jemand hat mich mit den Worten eines Soldaten liebkost. Mama, laß mich mit den schönen Soldaten gehn! Sag?…« Sie tastet über das Gesicht, das sich schweigsam hinter die Maske aus weißem Wollstoff zurückgezogen hat. »… der Schleier! Sieh an, der Gott Augustus ist in Schleier gehüllt!« Fröhlich fährt sie fort: »Schön, wunderbar! Der große Gladiator wird den kleinen niedermetzeln! Heb mich hoch, Mama,
- 148 -
damit die Jünglinge mit der Goldkugel mich bewundern, wenn ich meine Daumen aneinanderdrücke!« Der Freigelassene wird ungeduldig. »Es ist sinnlos, verrückt zu spielen, ο du niederträchtigste aller Ehebrecherinnen! Du bist nicht im Zirkus, Komödiantin! Dein Hahnrei von Cäsar hat sich endlich aufgerafft, Gerechtigkeit zu üben, und du entkommst mir nicht! Wachtribun, tritt vor.« Mit wippenden Orden und Medaillen auf der Brust tritt der Tribun vor Messalinas Augen. Die Centurionen und die Soldaten wurden damals oft mit Hinrichtungen beauftragt. Tertullian, der die verschiedenen Aufgaben des Soldaten beschreibt, empört sich: »Was? Wird er, der über Fesseln und Kerker, über Folter und Hinrichtung verfügt, das Unrecht nicht ahnden, das ihm widerfährt? Und wird er eher für andere Wache halten als für Christus?« »Liebster«, sagt Messalina ― sie mustert ihn von Kopf bis Fuß, immer noch über den Knien ihrer verschleierten Mutter liegend ―, »ich liebe dich. Ich hatte es so eilig, dich zu lieben, daß ich unsere Zeit nicht damit verschwendet habe, mich nach deinem Gesicht umzusehen. Aber jetzt bin ich froh zu wissen, daß du Soldat bist. Du bist schön, und in deiner Lederjacke siehst du aus wie ein Bocksfellschlauch!
- 149 -
Das riecht gut. Auch ich bin schön, nicht wahr? Der Kuppler sagt, daß ich die Schönste bin. Die Männer nennen mich Lysisca.« »Schweig, unflätiges Weib!« brüllt der Freigelassene; »dein Mund beschmutzt sogar den Namen der Vorstadtdirnen.« Nachdenklich und keß steckt sie einen Finger in den Mund. »Mama, wenn du deinem kleinen Mädchen schon verbietest, in Subura spazierenzugehen ― dabei sagt Nunuch Halotus, daß es sehr schön dort ist, und es gibt einen großen Kübel, in den die Männer Pipi machen ―, dann leih mir wenigstens dein Armband mit dem kleinen Thyphallus als Spielzeug.« Die Matrone steht unvermittelt auf, und ohne ihr schmerzliches Schweigen zu brechen, drückt sie ihrer Tochter jenen Dolch in die Hand, in dessen Griff ihre eigenen Fingernägel sich schon vor dem Erscheinen der Scharfrichter krampfhaft hineingebohrt hatten. Die Realität des Metalls bringt Messalina zu sich und läßt die ganze Kaiserin wieder lebendig werden. »Ich habe geträumt! Ich war von Sinnen! Sterben, ja, mich reinwaschen von meiner ganzen Schmach… Aber nicht doch, törichte kleine Diene-
- 150 -
rin, dieses Bad ist zu kalt, du hättest verdient, daß ich dich mit der Goldnadel piekse. Wo bin ich? Die Gärten?« Sie fällt auf die Knie. »Phales! Er ist fort! Er fliegt davon. Kleiner, kleiner… Ich werde ihn nie einholen! ― Kottyto, du sollst belohnt werden, daß du mein Schmuckstück gefunden hast. Die kleine Brosche aus Korallen und Sardonyx, unverzichtbar für meine kostbar aufgeputzte Stola. Ο mein Vögelchen, endlich wieder im Nest! Hübsches murrinisches Gefäß, Schälchen aus Moos, Silius!« »Schluß mit dem Unsinn«, brummt Euodus. »Ich glaube, dein Buhle ist gerade dabei, seine Verbrechen mitsamt dem Blute auszuspucken. Wenn es deinem Mund gestattet wäre, seine Seele zu trinken, müßtest du aus lauter Angst, sie möchte anderswohin entfliehen, deine Finger um all ihre Wunden schließen, ο du, die du gemeiner bist als jede Komödiantin und jede Flötenspielerin!« »Oh, tut ihm nicht weh, dem Silius. Die Melodie meiner Küsse wird auch bei sieben Buhlen noch die gleiche sein, ohne ihn zu kränken. Ο Pan! Ο Syrinx!« Unentschlossen liebkost sie ihre Kehle mit dem Stilett.
- 151 -
»Sie redet immer mehr wie eine Irre. Auf die Knie, Hure! Tribun, zieh dein Schwert!« Und langsam befördert der Soldat die ersten Zoll der schweren Klinge ans Tageslicht. Sobald sie aufblitzt, läßt Messalina ihren Dolch fallen und klatscht in die Hände. »Ja, den des Soldaten! Den des Soldaten! Claudius, mein Allerliebster, laß, ich will dich entkleiden! Du bist schön, weil du alt bist, alt und kahl, so kahl, wie man nackter gar nicht sein kann! Und auch nicht häßlicher, ο mein Geliebter! Wo die Häßlichkeit des Mannes an ihrem Höhepunkt sich selbst übertrifft, da erst beginnt die Schönheit der Blume! Komm, Lilie der Gärten! Komm, mein Kaiser!« Sie hat das lange, zur Enthauptung bestimmte Schwert am sichtbaren Ende des glänzenden Stahls gepackt und zieht es bis zur Entfaltung seiner vollen Pracht heraus. Der Freigelassene zögert jetzt. »Warte, Tribun. Vielleicht tötet sie sich selbst. Der Sekretär hat gesagt, daß es besser wäre, man brächte sie dazu, sich selbst zu töten.« Der Tribun hält den Arm ganz still, ohne das Schwert jedoch loszulassen, den einzig nützlichen, das heißt, den Schandfinger der Soldatenfaust.
- 152 -
»Oh, wie sehr du frierst!« sagt sie. »Rühr Messalina nicht gleich ans Herz, dort ist es so warm, daß du dich, aus solcher Kälte kommend, wohl verbrennen würdest. Auch würdest du mich nicht lieben, wäre ich nicht ein wenig kokett! Ich will dir das Gefühl, nicht mehr zu frieren, noch eine kurze Zeit verweigern. Laß meine Küsse dich ganz sanft erwärmen. « Sie drückt die Klinge an ihre Wange und es sieht aus, als schliefe sie auf ihrem Spiegel. »Weib«, sagt der Freigelassene zu Lepida, »weiß Eure Tochter, was sie sagt?« Lepida lüftet ihren Schleier und schaut mit dem Auge der Juno. Messalina hat die leichte Hülle ihres Kleides oben herum fieberhaft zerrissen, und ihre Brust ist nackt wie eine Klinge. »Schlampe!« sagt Euodus. »Was sagst du mir, mein großer Spiegel? Warum bewundere ich mich ganz nackt!« Lächelnd wendet sie sich an das Schwert, das glänzt, wie die triefenden Fische mit den Niellostreifen an den Flanken, und auf den Stoß durch die Hand seines Gebieters wartet: »Und du, badest du etwa ganz angezogen?« Mit einer groben, ungeschickten Bewegung versucht der Tribun, seine Waffe freizubekommen.
- 153 -
»O geh nicht fort!« sagt Messalina. »Drück dich an mich. Nicht so fest! Stoß mich nicht so zurück mit deinen starken Armen. Laß mich, daß ich mich zu deinem Mund erhebe.« Sie richtet sich auf, kommt dem Tribun immer näher. »Oh, wie wahr du Gott bist, P HALES! Phales, ich wußte nichts von der Göttlichen Liebe; ich kannte alle Männer, du aber bist der erste Unsterbliche, den ich liebe! Phales, endlich, spät! Ich wußte wohl, daß du im Garten warst; Bösewicht, du hattest mir bloß einen Histrionen geschickt, der deine Maske trug! Deine so maßlos schwere Maske! Aber jetzt bist du es selbst. Willkommen! Ihr habt lange auf Euch warten lassen, großer Herr. Gehen wir heim. Meine Mutter schaut nicht hin, sie nicht. Und sie tut gut daran. Sie ist nur die Witwe eines riesengroßen Bartes. Sie würde nicht begreifen. Ja, du bist es wirklich. Ich habe nicht geträumt, oder träume ich jetzt?« Euodus, stumpfsinnig: »Sie träumt, es sei denn, daß sie sich lustig macht.« Messalina in Ekstase zum Schwert: »Willkommen.«
- 154 -
Das stählerne Ungetüm erwidert ihren Kuß mit einem Vorspiel, einem kleinen Biß über der Kehle, um sie dann ganz zu nehmen. »Trag mich hinfort, Phales! Die Apotheose! Ich will sie jetzt, bevor ich alt geworden bin! Oder mach mich auf der Stelle alt genug für die Vergöttlichung. Trag mich empor in unser Heim, in den allerhöchsten Himmel! Den allerhöchsten! Den ersten! Du bist der erste, ο Unsterblicher! Du siehst doch, daß ich Jungfrau bin! Gib sie her, gib mir die Lampe, damit ich die kleine Vestalin spielen kann! So jungfräulich! So spät! Glück, ο wie tust du mir weh! Töte mich, Glück! Der Tod! Gib sie her… die kleine Lampe des Todes. Ich sterbe… Wußte ich doch, daß man nur aus Liebe sterben kann! Ich habe ihn… Mama!« Der Schwertträger hält sich Messalina wie eine Viper vom Leibe. Sie streckt ihre tastenden Hände nach Lepida aus, die sich ohne Eile entzieht. Die Matrone hat ihren Schleier wieder angelegt und entfernt sich rückwärts. »Aber das ist doch ein Schwert, du Luder«, geifert der Freigelassene, »das ist kein…« Jetzt aber bricht er selbst in Schluchzen aus und kniet nieder, wie unter dem Odem eines Gottes; und seine Bisse verkriechen sich zwischen die Blumen,
- 155 -
deren Duft sich schwärmerisch über seinen Schrei erhebt: »Ich liebe sie doch! Ich liebe sie!« Und so lechzt er unter den Blumen nach der Hoffnung auf eine weibliche Gestalt. Nichts dergleichen. Die Witwe geht ernst und unerbittlich fort. Sie ist so sehr Witwe, so rein und unerbittlich, daß sie schon lange nicht mehr da ist. Das, was unter ihrer unbefleckten Haube steckt und sie mit einem Kopf belebt, kann nur die Göttliche Obszönität sein, die sich in die Geheimnisse des Gartens verzieht. Nur ein Gott oder ein Gespenst kann so gerade Falten werfen. Eine wirkliche Frau hätte früher geweint als der Sklave, und ihre Tränen hätten sie unter dem verweinten Tuch enthüllt! Der Gott ist fort. Es ist niemand mehr in Seinen Gärten, außer dem Tribun und Messalina; und die Frau versinkt, je mehr die Klinge sich von ihr zurückzieht, im Nichts der Blumen. Der Tribun hat sein ganzes Schwert herausgezogen; nach einer Weile stellt er fest: »Hure!«
- 156 -
VIII A POKOLOKYNTOSIS Inter cetera in eo mirati sunt homines et oblivionem et inconsiderantiam, vel, ut grsece dicam, μετεωρίαν et άβλεψίαν. Occisa Messallina, paulo post, quam in triclinio decubuit, ›cur domina non veniret‹, requisivit. C. S UETONII T RANQUILLI Tib. Claud. XXXIX. »Unter anderem fiel besonders seine Vergeßlichkeit und Unüberlegtheit auf oder, um griechische Ausdrücke zu gebrauchen, seine ›Entrücktheit‹ (meteöria) und seine »Zerstreutheit« (ablepsia). So zum Beispiel fragte er nach der Ermordung Messalinas, bald nachdem er sich zu Tisch niedergelassen hatte: »Warum kommt die Kaiserin nicht?«« G. S UETON, Cäsarenleben: Claudius, 39.
»Messalina ist tot«, sagte Narcissus. Claudius aß, halb eingeschlafen, auf seinem Lager bei Tisch. »Sie ist schön, sie ist verliebt, sie ist tot, sie ist Venus«, wiederholte er mit tonloser Stimme. »Sag ihr, sie soll zum Essen kommen. Sie ist schön, ich liebe sie, ich bin glücklich.« »Sie ist tot«, sagte Narcissus.
- 157 -
»Tot, ja, ich verstehe. Sie ist mir sehr treu. Ich habe sie heute morgen nicht umarmt. Sag ihr, sie soll kommen, es ist schon spät.« »Deine Essenszeit wurde vorverlegt, Cäsar.« »Die Zeit, vorverlegt? Gut so! Man sollte mir die Zeit immer vorverlegen. Das ist es also, deswegen bin ich so fröhlich, und weil ich weiß, daß sie sich nicht verspätet hat. Wie ich sehe, geht es ihr nicht schlecht. Ich bin sehr froh. Ruf sie her.« Narcissus tippt Claudius auf die Schulter und wirft ein rot beflecktes Unterkleid auf sein Lager. »Sie ist tot, begreifst du endlich?« Beim Anblick des Blutes erbeben die weiten Nasenflügel des Kaisers. »Der Mond? Entschuldige, Narcissus, ich hatte es vergessen: In letzter Zeit ist mein Geist etwas … entrückt und zerstreut! Bald werde ich von dem, was auf den Planeten geschieht, weniger wissen als die Völker in Taprobane, die den Mond erst in der zweiten Woche jedes Monats über der Erde entdecken! Du bist ein guter Kalender, Narcissus. Ich habe verstanden. Trotzdem wünsche ich, daß meine Frau mir hier an diesem Tisch Gesellschaft leistet. Ich habe einen Hunger voller Glück.« »Cäsar?«
- 158 -
»Sie ist tot, ich weiß. Jedesmal, wenn Vollmond ist, spielen die Frauen die Ermordeten.« »Du hast keine Frau mehr, Cäsar! Gestern, als du befahlst, alle umzubringen, sogar den bedeutungslosen Histrionen, hast du keine Sonderanweisung gegeben, daß sie nicht getötet werden solle. Man hat sie erdolcht, und sie ist nicht mehr da, und der Senat hat ihren Namen und ihre Bildnisse bereits von den öffentlichen und privaten Orten sowie auch aus deinem Palast und aus diesem Saal entfernen lassen, Cäsar.« »Dann… ist Venus… nicht mehr da?« Und wie ein Irrer schlägt er mit seinem Becher blindlings auf das klirrende Silbertablett, das den ganzen Gueridon bedeckt, und lauscht der fallenden Stille.
Er lauscht mit der ganzen Angst einer über ihre Qual gebeugten Danaide. Dann bricht er unvermittelt in homerisches Gelächter aus, und während sich in seinen Augen der Funke einer göttlichen Hoffnung entzündet, hält er dem Mundschenk seinen Becher hin: »ZU TRINKEN!«
- 159 -
Und so kam es, daß Claudius Cäsar, mit den Ellbogen auf sein Lager gestützt, in seiner unersättlichen Gier nach Liebe und Festen, bleich, ja dank der noch frischen Emsigkeit seines Barbiers mit himmelblau-durchscheinenden Wangen ― ein Inbegriff von Blaubart und nicht einmal so viele Generationen von diesem entfernt, wie der Pavian mit seinem scharlachroten Po es von uns als Ahne unserer kriegerischen Ehren ist ―, über seine vierte Frau nachsann: Agrippina.
- 160 -
- 161 -
- 162 -
Zu DIESER AUSGABE
Jarrys »Roman aus dem alten Rom« entstand 1900 und erschien zuerst in sechs Fortsetzungen in der von Thadee Natanson herausgegebenen Zeitschrift »La Revue Blanche« (Nr. 170–175, 1.7.–15.9.1900), die Buchausgabe folgte im Januar 1901 im Verlag der Editions de la Revue Blanche. Der Übersetzung von Grete Osterwald lag der kritisch kommentierte Neudruck der Erstausgabe von Thieri Foulc (Collection Merdre, Eric Losfield, Paris 1977) zugrunde. In »Messalina« ― nur auf den ersten Blick vergleichbar mit den damals beliebten in poetischer Prosa geschriebenen Romanen über das antike Liebesleben wie »Aphrodite« von Pierre Louys oder »Thais« von Anatole France ― ist die römische Antike keine historische Staffage, Jarry entwirft nur ein hauptsächlich sprachlich herbeizitiertes antikes Klima, um die Erzählung in desto kühnere Phantastik steigern und seinem poetischem Universum anverwandeln zu können. In keinen anderen seiner Romane hat Jarry derartig viele griechische und
- 163 -
römische Quellentexte eingearbeitet und doch wollte er alles andere als einen historischen Roman schreiben. Das überließ er Autoren wie Henryk Sienkiewicz, der mit »Quo vadis« ein üppiges Schreckensbild von Kaiser Nero, den Christenverfolgungen und dem Verfall der Sitten in Rom gemalt hatte, um letztlich doch nur eine erbauliche Liebesromanze in effektvolles Licht zu rücken. Ein historischer Roman als Vorschau auf HollywoodKino. Jarry entdeckte dagegen das Beunruhigende, das für seine Zeit Aktuelle des Stoffs und der Figur einer Mann-Frau wie Messalina, einer liebeshungrigen Frau, die wie ein Mann sich Lust verschaffen will (die Männer sollen ihr zu Willen sein und nicht sie den Männern), sie aber nur in der Vernichtung findet. Was Jarry interessiert, ist der Versuch, wie man Geschichte verlebendigend erzählen kann, analog zum Verfahren eines Historikers wie Paul Veyne, der »verständlich« machen will, wie sich die Dinge abgespielt haben, der Geschichte philosophisch erklären will, das, was wirklich geschehen ist, indem man es erzählt. Geschichte kann immer nur von der Gegenwart des Schreibenden geschrieben werden und hat für Veyne mehr mit dem Roman gemein als mit der Wissenschaft, mit Romanen eben wie zum
- 164 -
Beispiel »Messalina« von Jarry oder »Heliogabal« von Artaud. Paul Veyne schreibt in seinem Buch »Aus der Geschichte« (Merve-Verlag) über Messalina: »Daß eine Kaiserin mit einer Prostituierten in einen Wettkampf tritt, um einen Rekord an Freiern aufzustellen, das geschieht nicht alle Tage. Daß sie sich vom Kaiser, ihrem Gatten, trennt, ohne daß dieser von der Scheidung auch nur informiert worden wäre, ist noch befremdlicher. Aber daß sie bei alldem romantisch und sentimental wie eine zarte Blume ist und am Ende, mit dreiundzwanzig Jahren, ihre Arglosigkeit als Liebende mit dem eigenen Blut bezahlt, darüber wird die Sache surrealistisch. « Ohne bestallter Philologe zu sein, war Jarry ein ausgezeichneter Kenner fast aller wichtigen Autoren des klassischen Altertums. Für die »Messalina« benutzte er in erster Linie die »Annalen« des Tacitus (Buch XI), die Claudius-Biographie (und gelegentlich die des Caligula) im »Leben der Cäsaren« von Sueton sowie die 6. und 10. Satire des Juvenal, dessen »pittoreske Brutalität«, wie Rene Massat im Vorwort zur »Messaline« in der Jarry-Gesamtausgabe von 1948 schreibt, er sich geschickt anzueignen wußte. Phantastisch dichtete er die antike Realität neu, »indem er ihren Umkreis auf die Dirnen-
- 165 -
sion des integralen Ulks, der reinen Sinnlichkeit und der schmutzigsten Sexualität erweiterte«. Weil er träumen wollte, las er Bücher über die römische Geschichte und horchte in sie hinein »mit all der Angst einer Danaide, die sich über ihre Qual beugt«. Jarrys geschichtliche Erkundungen waren keine archäologischen Spaziergänge, sondern »Höllenfahrten« im Sinne Gerard de Nervals oder Rimbauds. Messalina, die Kaiserin, die ins Bordell geht, ist für Jarry eine Wölfin (lupa) und sie wird von ihm verschmolzen mit dem Stadtsymbol Roms, der Wölfin, die Romulus und Remus säugte ― sie ist Venusgöttin und mythische Wölfin. Das Bild von Frau und Tier, das Wappentier der urbs Romana, ist beherrscht von Phales, die zum »kalten Mann« erstarrte, in ein priapisches Idol verwandelte Hirtengöttin Pales, und Phales ist der kindliche Fund, den die Wölfin gehegt, den sie am Ende als Liebes- und Todesmittel walten läßt. »Das also ist Phales?« fragt Vectius Valens. ― »Oh ja, es war zwar ein ganz kleines Kind, aber doch schon Phales’ leibhaftige Gegenwart. Phales, Priapus, der Gott der Liebe ist ein verschämtes kleines Kind, das hinter einem Baum, den es überall mit sich herumträgt, Verstekken spielt.«
- 166 -
»Was ich in mir am höchsten achte, ist mein Gott«, sagt die in Einsamkeit und Liebessehnsucht sich verlierende »Jongleuse« Eliante Donaiger von Madame Rachilde (erschienen 1900), die 1899 schon den Roman »Der Liebesturm« veröffentlicht hatte, in dem die »fixe Idee« der Liebe haltlos inmitten des »alten Mörders Ozean« treibt. Und auch Madelame in Rachildes Roman »Die Prinzessin der Finsternis« ergibt sich einem gespenstischen phallischen Dämon, den sie »Hunter« nennt. Der Gedanke des Todes ergänzt in beängstigender und beruhigender Weise den der Liebe: »L’amour« und »la mort« ziehen sich wie ein tief symbolisches Wortspiel durch das Werk Rachildes und Jarrys. Die »Lüsternheit« Messalinas ist zu begreifen als der verzweifelt »keusche« Versuch, nicht Objekt männlicher Begierde zu sein, sondern Herrin ihrer selbst zu bleiben und doch die Schauer der Wollust zu erleben. Sie empfängt »Phales« sterbend, aber sie ist es selbst, die sich den Tod gibt, sie ist Herrin auch im Tode (den Claudius in seiner Ohnmacht angeordnet hat). Ihr Tod ist ihr Triumph, mit dem sie die Macht des Claudius verhöhnt. Messalina ist jetzt, l’amour und la mort vereinigend, die wahre Herrscherin und die reine Hure. Jarry gab Rachilde, die ihm ein treuer Freund und keine Freundin war, ein Exem-
- 167 -
plar der »Messalina« mit folgender Widmung: »Für Rachilde diesen schlichten Phales in Form des Liebesturms.« Am 15.2.1903 erschien in der »Revue Blanche« das Gedicht »Madrigal« von Jarry, das in einer gewissen Beziehung den zentralen Gedanken der »Messalina« noch einmal aufgreift und rückwirkend ein Licht wirft auf die Feststellung »Messalina ist Jungfrau« (S. 124). Madame Rachilde bescheinigte dem Gedicht die herrliche Schönheit eines Baudelaireschen Sonetts: Ihr seid für alle. Doch für mich bist du. Von ihnen war nicht einer wahrer Herr. Schlaf endlich. Schließen wir das Fenster zu. Wir sind zu Haus. Das Leben ist versperrt. Wir leben hoch. Zuende ist die Welt. Die Ganzheit kann nicht mehr geleugnet sein. Sie hat sich groß als letztes eingestellt, und Messalina bleibt erschöpft allein. Hier bist du ganz für dich mit Aug und Ohr. Wer zu oft fällt, verlernt es, wie man geht. Der Erdenlärm ist fern, wie Aschenflor im blauen Weihrauch unerkannt verweht.
- 168 -
So wie der Plätscherschlag von Karpfen klopft, in Fontainebleau erblickt, mit Stimmen vollgestopft, vom Wasserkuß erstickt. Wie ist das doppelte Geschick geknüpft? Solang ich deine Steige nicht gebraucht, warst du dem Mutterleib noch nicht entschlüpft, Vergangnes, das in einen Spiegel taucht. Doch der gemeine Unrat hat den Schuh an deinem kleinen Fuße kaum geküßt. In all das Leid gebissen hast nur du, damit dein Mund so rein geblieben ist. (Deutsch von Ludwig Harig) Seite 7: Die Kapitelüberschrift meint ein Haus, das seine Besucher mit dem Türschild »Hic habitat felicitas« lockte, offensichtlich ein Bordell, wenn auf dem Schild auch noch ein Phallussymbol eingraviert war, obwohl dessen Vorhandensein nicht unbedingt als Indiz für Bordellbetrieb genommen werden konnte. War das »Haus des Glücks«, wie jenes, das Archäologen in Pompeji ausgruben, nur eine Backstube, so war ihr gewiß eine kleine Schankwirtschaft angegliedert, und der Schritt zum »Glück« von hier auch nicht mehr weit. Seite 7 Juvenal (60–140): der letzte bedeutende römische Satirendichter. Seine Satiren (16 haben sich erhalten) zäh-
- 169 -
len zu den erhellendsten Quellen für die Erforschung der Sitten und Laster der römischen Gesellschaft im 1. nachchristlichen Jahrhundert. Das dem Kapitel als Motto vorangestellte Zitat aus der 6. Satire ist hier in der Übersetzung von Harry C. Schnur wiedergegeben (Reclam Verlag, Stuttgart o.J., S. 57). Seite 8 Ficus Ruminalis: der als Fruchtbarkeitssymbol aufgefaßte und verehrte legendäre Feigenbaum, unter dem laut Sage Romulus und Remus, die Gründer Roms, von einer Wölfin gesäugt wurden, die sich der im Tiber ausgesetzten, aber an Land gespülten Knaben angenommen hatte. Seite 8 Lupa: Im Lateinischen synonym für Wölfin und Hure. So war es möglich, daß »Lupa« geehrt und gefürchtet wurde, daß an der Stelle, wo die Wölfin die Gründer Roms gesäugt hatte, das Fest der Luperkalien (am 17. Februar) seinen Ausgang nahm, ein Fest zu Ehren Fauns, dessen Beiname Lupercus war, Wolfsabwehrer, weil er die Herden beschirmen sollte. Böcke wurden geopfert, deren Felle wurden zwei Jünglingen übergeworfen, die mit blutiger Stirn und mit aus Fellen geschnittenen Riemen in den Händen durch die Stadt liefen. Um fruchtbar zu werden, ließen sich Frauen von diesen »Luperci« mit den Riemen schlagen. Seite 11 die Erlauchte Hure: »Augusta Meretrix« nennt sie Juvenal in Vers 118 der 6. Satire. Seite 12 Liebeswettkampf: Bei Plinius (Naturgeschichte X, 63) ist Messalina der Prostituierten überlegen. In seinem Roman »Der Übermann« hält sich Jarry an die überlieferte Lesart, hier aber hat er bewußt den Fakt geändert, um den
- 170 -
nach Erfüllung hastenden und solitären Charakter seiner Heldin zu betonen. Seite 14 Lysiska: In den römischen Quellen heißt die Prostituierte meistens Lycisca. Die Schreibweise Lysiska ist uns vertrauter, sie findet sich in Pierre Dufours »Geschichte der Prostitution«, die zum Beispiel auch Frank Wedekind für die Gestalt seiner Lysiska in dem Stück »Tod und Teufel« als Quelle benutzt hat. Messalinas Auftritt als Lysiska im Bordell mit blonder Perücke und vergoldeten Brustwarzen hält sich an die Beschreibung Juvenals (6. Satire, 122–123). Seite 16 leno: der Bordellwirt, Kuppler. Seite 19 Aurelius P. Clemens Prudentius (348–405): der bedeutendste lateinische christliche Dichter der Antike. Sein bekanntestes Werk ist die »Psychomachia« (Der Kampf um die Seele), in der von der Überwindung der heidnischen Laster durch christliche Tugenden gehandelt ist. Seite 20 Lebenserinnerungen des Claudius: Hauptquelle dieser Aufzeichnungen ist die Lebensbeschreibung des Claudius von Sueton, hier besonders die Abschnitte 41,42. In Abschnitt 33 erwähnt Sueton, daß Claudius ein begeisterter Brettspieler war: »Das Brettspiel trieb er sehr eifrig und schrieb über diese Kunst sogar ein Buch; ja, er pflegte sogar beim Fahren zu spielen, wobei das Spielbrett so im Wagen befestigt war, daß das Spiel nicht in Verwirrung geraten konnte.« Seite 20 Telegenius: Im Lat. heißt das Sprichwort »Theogonius oder Telegenius«. Telegenius ist der sprichwörtliche Narr. Bei Sueton (Claudius, 40) fragt der Kaiser: »Hältst du mich etwa für den Telegenius?«
- 171 -
Seite 21 senes: lat. der Greis. Wahrscheinlich ist die Vermutung von Thieri Foule (im Anhang seiner Ausgabe der »Messalina« von 1977) zutreffend, daß Jarry hier den senio meint, die Sechs des Würfels. Seite 22 Urgulanilla: Laut Sueton (Claudius, 26) folgte Paetina der Urgulanilla. Seite 22 Ή-φαισ-τος: Hephaistos, bei den Griechen der Gott des Feuers und der Schmiedekunst, der mit verkrüppelten Beinen zur Welt kam und von Homer »der Hinkende« genannt wurde, ihm entspricht bei den Römern der Gott Vulcanus. Seite 22 Saumtiertreiber: Sueton (Claudius, 2) sagt »superjumentarius«, was mehr ein Aufseher der Lasttierknechte ist. Jarry hat sich hier an den französischen Sueton-Übersetzer Laharpe gehalten. Seite 26 der Hund: der schlechteste Wurf beim Tali, einem Spiel. Seite 26 Hermäum: Ist ein nach Hermes benannter Gartenpavillon (in der Lebensbeschreibung des Claudius von Sueton, Abschnitt 10, erwähnt), zugleich bedeutet »Hermaion« den unerwarteten Gewinn beim Spiel. Seite 28 Spina: die Mittelachse. ― Der «Allergrößte Zirkus« ist der Circus Maximus in Rom. ― Pulvinar ist die Kaiserloge im Circus Maximus. Seite 31 Venus, Kotytto …: Im Kreis der hier erwähnten Liebesgöttinnen um Messalina nimmt sich »die kekropische Göttin Kotytto« (der bei Juvenal, 2. Satire, Vers 92, priapisch gehuldigt wird) fremd aus. Kotytto ist eine thrakische Gottheit, der phrygischen Magna Mater verwandt, deren orgiastischen Kult der alte athenische Komödien-
- 172 -
dichter Eupolis in seinem Stück »Die Priester der Kotytto« auf die Bühne gebracht hat. Seite 34 eine Kamee Messalinas: Die Kamee befindet sich im Cabinet des medailles de la Bibliotheque Nationale in Paris. Auf ihr sind nur drei Personen dargestellt: Messalina, Britannicus und Octavia (die gelegentlich für die Rom personifizierende Göttin gehalten wird). Auf einer Zeichnung von Rubens ist diese Kamee tatsächlich wiedergegeben. Auch die »andere« Kamee ist im Cabinet des medailles de la Bibliotheque Nationale aufbewahrt. Auf ihr sind Claudius (stehend in römischer Feldherrentracht) und Messalina (leicht vornübergebeugt, im Chiton) in einem von zwei Drachen (oder genauer zwei geflügelten Schlangen) gezogenen Wagen abgebildet. Seite 35 im 559. Jahr: Nach unserer Zeitrechung also 195 v. Chr. Seite 35 die ersten christlichen Dichter: Es handelt sich um den Verfasser des Mottos zu diesem Kapitel, Prudentius (siehe Anm. zu S. 19). Jarry hat die Verse über den Kult von Rom offensichtlich nach den Prudentius-Zitaten im Anhang seiner Ausgabe der »Annalen« von Tacitus, herausgegeben von A. Nicolas, übersetzt (Anmerkung zu »Annalen« IV,56). Die Formulierung »die ersten christlichen Dichter« stammt von A. Nicolas. Seite 37 Katadyomene: Die Venus Katadyomene ist die in die Wellen Eintauchene/Eindringende, die auf S. 35 erwähnte Venus Anadyomene ist die aus den Wellen Auftauchende. Seite 38 Cynobellinus: Ein König von Britannien, der Camulodonum zur Hauptstadt seines Reiches machte, das
- 173 -
heutige Colchester. Kaiser Claudius entthronte in Camulodonum die Söhne des kurz vor der Landung der römischen Truppen gestorbenen Cynobellinus (Shakespeares »Cymbeline«), Togodomnus und Caratacus. Jarrys Quelle ist Dion Cassius (150–235), der eine »Römische Geschichte« in griechischer Sprache verfaßte (siehe Buch LX, 19–22). Seite 41 Angeroma: Jarry änderte Angerona wohl in Angeroma, weil Plinius in der Naturgesch. (11,65) angibt, daß Angerona als geheimer Name von Rom galt. Angerona oder auch Diva Angerona war bei den Römern eine Göttin, die mit verbundenem Munde und an den Mund gelegtem Finger dargestellt wurde. Ihre Bildsäule stand in Rom im Heiligtum der Volupia am Palatin, gehuldigt wurde ihr am 21. Dezember, dem Tag der Angeronalia. Je weniger die Römer das Wesen dieser Gottheit verstanden, umso beklemmender wurde sie empfunden: sie war schließlich nur noch eine Göttin der Angst. Seite 42: das Palindrom Roma-Amor galt schon in antiker Zeit als »klassisch«. Seite 46 Lucius Iunius Moderatus Columella lebte im 1.Jahrhundert n.Chr. Das als Motto verwendete Zitat stammt aus dem 10. Buch seiner »Zwölf Bücher über Landwirtschaft« (hier zitiert nach der deutschen Ausgabe, München 1982, Band 2, S. 423). Das 10. Buch schrieb Columella als Ergänzung zu den Georgica des von ihm verehrten Vergil in Hexametern. Seite 47 Eumeniden: die »wohlmeinenden« (Rache-)Göttinnen, die beschönigende Bezeichnung für die Erinnyen der antiken Mythologie.
- 174 -
Seite 48 die Ermordung Cäsars: Hier hält sich Jarry im wesentlichen an Tacitus, Annalen XI, 1-3. ― Der Ausspruch »Wäre er doch bloß durch meine Hand gefallen!« findet sich bei Dion Cassius, Rom. Gesch. LIX,30. Seite 49 Vienna: Nach Tacitus wurde der Asiaticus in Vienna an der Rhone, französisch Vienne, geboren. Wien (bzw. lat. Vindobona) an der Donau, »im Vorfeld der barbarischen Levante«, heißt auf französisch ebenfalls Vienne. Seite 50 die jede Silbe absonderte: die charakteristische Diktion Jarrys, wenn er sich in der Öffentlichkeit anschickte, wie Ubu zu sprechen. Die Passage scheint ein wichtiges Indiz dafür zu sein, daß Jarry in der Figur des Valerius Asiaticus am persönlichsten gegenwärtig ist. Seite 50 Amometus: Griechischer Schriftsteller im 3. Jahrhundert v. Chr., Autor eines verlorenen Buchs über das sagenhafte asiatische Volk der Attakoren (vergl. Plinius, Naturgesch. VI, 20). Seite 51 Dioscurias: Eine Stadt in Kolchis am Schwarzen Meer. Als Treffpunkt für Kaufleute beschreibt sie Strabon in seiner »Erdkunde«, XI,497. Seite 51/52: Das griechische Zitat stammt aus der Rom. Geschichte des Dion Cassius, Buch LVII,15. Seite 53 mit künstlichen Fingern: Der Asiaticus, China-begeistert, ißt mit Stäbchen. Seite 56 Ausspruch von Homer: Das Homer-Zitat stammt aus der »Ilias« (XXIV, 369) und heißt: »Immer drauf auf den Mann, der mich so höhnisch beleidigt!« Nach Sueton (Claudius, 42) schloß Kaiser Claudius seine Urteilsverkündungen mit Homer. Seite 56 Apollon: Plutarch erwähnt in seiner Lebensbeschreibung des Lucullus, wie dieser Pompejus und Cicero
- 175 -
in einem seiner kostbarsten Zimmer, dem »Apollon«, bewirtet. ― Daß Callisthenes dem Lucullus einen Liebestrank reichte, berichtet Plinius in der Naturgesch. XXV,7. Seite 57 Atropos: Eine der drei Moiren (Schicksalsgöttinen), und zwar diejenige, die das »Unabwendbare« verkörpert und zum Tode führt, die den Lebensfaden mit einer Schere durchschneidet. Der franz. Ausdruck »en Atropos« läßt zwei Übersetzungen zu: »als Atropos«, das heißt, Messalina wird sich in den Gärten des Lucullus selbst den Tod geben, und dies wird ihr höchstes Lustempfinden und ihr Triumph über Claudius sein, sie wird »als Atropos« handeln. Naheliegender im Sinne Jarrys ist aber, auf jenes Liebesnest im Garten des Lucullus den Namen der Atropos zu übertragen, Messalina also ihre Apotheose« »im Atropos bei Lucullus« erleben zu lassen. Seite 59: Das Motto von Plutarch ist hier zitiert nach der Übersetzung der Ausgabe »Große Griechen und Römer«, Band 2, Zürich und Stuttgart 1955, S. 93. Seite 60 Dion Cassius über den Mimen: Dion Cassius, Rom. Gesch. LX, 22, führt aus, daß Mnester mit Caligula »Beziehungen« hatte, ohne diese eindeutig als homoerotische zu interpretieren. Sueton, dem Jarry im Kap. VII, das von Mnester handelt, hauptsächlich folgt, läßt dagegen an der homoerotischen Natur dieser Beziehungen keinerlei Zweifel (Lebensbeschreibung des Caligula, Abschnitt 36 u. 55). Seite 61 der von Claudius vorhergesagte Höllenhund: Im vorigen Kapitel hatte der Kaiser das cave canem, das »hüte dich vor dem Hund« geträumt, der Hund, von dem hier die Rede ist, hat kein römisches Aussehen, sondern chinesisches, wie es dem Asiaticus entspricht.
- 176 -
Seite 61 Wolkengänger. Bei Jarry sind es Nephelibaten, die bei Rabelais im »Pantagruel« (IV, 56) vorkommen, ein imaginäres Volk, dessen Kriegslärm in den Lüften zu Eis gefriert. Rabelais schildert ein »großes blutiges Treffen zwischen den Arimaspern und Nephelibaten« an der Grenze des Eismeers. Seite 61 Mantichoren: Plinius (Naturgesch. VIII,30) beschreibt das bei Ktesias erwähnte Tier Mantichorea: »Es hat drei Reihen kammartig ineinander greifende Zähne, Gesicht und Ohren eines Menschen, graublaue Augen, eine blutrote Farbe, den Körper eines Löwen und einen Schwanz, der wie ein Skorpion Stacheln einbohrt, eine Stimme, die der Klangmischung einer Schalmei und Tuba gleicht, eine große Schnelligkeit und besondere Gier nach Menschenfleisch.« Seite 62 Cambari, und Lanos: Bei Plinius (Naturgesch. VI, 20) erwähnte Flüsse im Land der Attakoren, der 2. und 3. Fluß nach dem Grenzübertritt in China, wenn man auf die Weise ins Land kommt, wie es Plinius beschreibt. Seite 68 Lingam: Sanskritausdruck für Phallus. Seite 73 wie Homer berichtet: Siehe »Ilias«, XVIII,541-47. Seite 74 murrinische Gefäße: Siehe Plinius, Naturgesch. XXXVII, 7–8. Seite 75 Properz (50–15 v. Chr.): Jarry zitiert den 26. Vers der 5. Elegie aus Buch IV der Gedichte von Properz: »murreaque in Parthis pocula cocta focis.« (In der Übersetzung von Rudolf Helm, Berlin 1965: »Flußspatbecher, gebrannt auf Parthischem Herd«.) Seite 77 Amor und Psitaras: Der sibirisch-chinesische Fluß Amur (Fluß des schwarzen Drachens) heißt französisch
- 177 -
Amour wie L’amour (die Liebe). ― Psitaras ist der erste Fluß in China, auf den man nach dem Grenzübertritt stößt, wenn man das Land auf die von Plinius beschriebene Weise betritt (vergl. Anmerkung zu S. 62). Seite 78 die angenagten murrinischen Gefäße: Jarry dichtet Lucullus hier etwas an, was nach Plinius (Naturgesch. XXXVII,7) der Konsulatsbeamte tat, dessen Sammlung murrinischer Gefäße von Nero konfisziert wurde. Seite 84 Beifall für den Liebling: Sueton (Caligula, 55) berichtet: »Für wen Caligula eingenommen war, den begünstigte er bis zum Wahnsinn. Den Pantomimen Mnester küßte er sogar oft im Theater, und jeden, der bei dem Tanz desselben irgendein, wenn auch noch so schwaches, Zeichen des Mißfallens gab, ließ er sofort vor sich schleppen und peitschte ihn eigenhändig aus.« Seite 86 Äolsbälle oder Äolipile: Die Äolipile oder Dampfkugeln sind kleine Metallkesselchen zur Gewinnung von Dampf Strahlenenergie, an die ein mit enger Mündung endendes Ausflußrohr angesetzt ist. Ist das Kesselchen teilweise mit Flüssigkeit gefüllt und wird diese erhitzt, so strömen die Dämpfe aus der Rohröffnung hervor und dienen als Antriebsmittel für Flügelräder. Der entzündbare Dampfstrahl mit Weingeist gefüllter Äolipile, die schon um 120 v.Chr. bei Heron aus Alexandreia erwähnt sind, diente zum Glasblasen und Löten. Jarrys Schreibweise »Eolipyles« deutet darauf hin, daß seine Quelle Rabelais gewesen ist, dessen etymologische Erklärung »porte d’Eole« lautet (griech. pyle = Tor, Pforte statt lat. pila = Kugel). Im »Pantagruel« (IV,44) heißt es: »Das ist ja wie Hansel von Quinquenais, der seine Gret auf den Stertzen brunzt’,
- 178 -
und dergestalt den muffigen Wind legt’, der wie aus einer magistralischen Aeolipyl daraus herfürquoll.« Seite 89 Gaius: Das heißt: Caligula. Die Details dieses Poems von Mnester stützen sich auf die Lebensbeschreibung des Caligula von Sueton. Seite 99 glomeramen: Das lat. Wort glomeramen bedeutet zusammengeknäultes Kügelchen, als astronomischer Begriff ist es bei Lukrez (De rerum natura, V,726) zu finden, der allerdings glomeramen und pila synonym zu verwenden scheint: »luciferam partem glomeraminis atque pilai« (diesen erleuchteten Teil der geballten Masse und Kugel). Seite 103 Kuhhäuten vom Euphrat: Bei Plutarch (Lucullus, 24) ist den Kühen der persischen Diana, die am Euphrat weiden, als Zeichen der Göttin eine Fackel aufgedruckt. Seite 104 eines römischen Xerxes: Laut Plutarch (Lucullus, 39) nannte der Stoiker und Rechtsgelehrte Quintus Aelius Tubero, als er die kaiserlichen Lustgärten und Landschaftsarchitekturen sah, Lucullus »einen Xerxes in der Toga«. Seite 104 Taprobane: So nannten die Griechen die Insel Ceylon. Seite 104 Burdigala: Der lat. Name von Bordeaux. Seite 107 ihre beiden Hörner: Die phallischen Hörner des Mondes sind gemeint, der das Emblem der Göttin Artemis ist. Der Mond wird vorwiegend durch den Halbmond, bzw. die Mondsichel oder durch Kuhhörner symbolisiert. S. 107 Artemisia: Die Ausführungen über Wermut, Kräuterweine und Parfüms/künstliche Weine stützen sich auf Plinius, Naturgesch. XIV, 19 und XXVII, 28 und 29.
- 179 -
Seite 107 Palilien: Das Fest der Hirtengöttin Pales (die Jarry in Phales verwandelt, um ihre phallische Qualifikation zu würdigen) am 21. April. An diesem Tag ist der Sage nach Rom gegründet worden. Nach der Göttin benannt sind das Palatium um die Palatinischen Hügel. Seite 108 Phthorium: Der griech. Phthorios genannte vinum phthorium hieß laut Plinius »Ver-derber, weil er die Leibesfrucht abtreibt«. Seite 110 in mir vergessen hat: In einem fragmentarischen Text Jarrys, »Moral in spitzen Worten«, heißt es entsprechend: »Er nahm die Gattin seines Nachbarn nicht; da sie aber eine schmutzige Dirne war, pinkelte er in sie.« Seite 114 berichtet Dion: Dion Cassius, Rom. Geschichte, LX,17. Seite 115 Christus oder Chrestus: Bei Sueton (Claudius, 25) heißt es: »Die Juden vertrieb er aus Rom, weil sie, von Chrestus aufgehetzt, fortwährend Unruhe stifteten.« Die Vertreibung der Juden geschah im Jahr 49 oder 50. Der »Hetzer« dürfte ein Sklave Chrestus gewesen sein. Chrestus wird zwar von den Kirchenvätern häufig auf Christus gedeutet, diese Annahme läßt sich aber nicht beweisen, da der Name Chrestus auch sonst vorzukommen pflegt. Verurteilung und Tod von Christus fielen jedenfalls schon in die Regierungszeit von Kaiser Tiberius. Seite 118 Caecuber-Wein: Bei Plinius (Naturgesch. XIV, 8) im Kapitel »Edle Weine« erwähnt. Seite 124 Messalina ist Jungfrau: Vergl. das Kapitel III des Romans »Die absolute Liebe«. Seite 126 drei nie dagewesene Buchstaben: In den »Annalen« des Tacitus heißt es (XI, 13): »Auch fügte er neue Buchsta-
- 180 -
ben dem Alphabet hinzu und führte sie ein, da ja bekanntlich auch das griechische Alphabet nicht gleich mit seinem Entstehen vollständig gewesen sei.« Seite 127 Κατά τους ίεροϋς νόμους: Sozusagen frei nach Seneca: »Gemäß den heiligen Gesetzen« (De beneficiis 111,16). Seite 129 den Thyrsus schwingend: Wie Tacitus (Annalen XI, 31) berichtet. Seite 135 Aristoteles: Das Motto aus der Naturgeschichte hier zitiert nach der Ausgabe dieses Werks, Frankfurt 1816, S. 405. Vom Motto abgesehen, hält sich Jarry in diesem Kapitel dennoch nicht an Aristoteles, sondern an Plinius. In Buch IX, 8 seiner Naturgesch. berichtet Plinius vom See Latera (L’Etang de Lattes) bei Nemausus (Nimes), »wo die Delphine mit dem Menschen Fische fangen. Eine Unzahl von Meeräschen stürzt zu bestimmter Zeit durch den engen Ausgang des Sees ins Meer hinaus, wobei sie auf die Ebbe achten. Es lassen sich deshalb keine Netze ausspannen, da diese unmöglich dem Gewicht der Masse widerstehen würden…« Und in Buch IX, 17 erweisen sich die Weibchen der Meeräschen als wahre Messalinas: »Man lacht über die Eigenschaft der Meeräschen, daß sie, wenn sie Furcht haben, den Kopf verstecken und sich dann einbilden, ganz unsichtbar zu sein. Übrigens ist ihre Geilheit so unbedachtsam, daß in Phönikien und in der narbonensischen Provinz zur Zeit der Begattung die Weibchen einem Männchen, das man mit einer durch das Maul zu den Kiemen gezogenen langen Schnur aus dem Fischbehälter ins Meer läßt und wieder zurück holt, bis ans Ufer folgen.«
- 181 -
Seite 140: Der Titel des Kapitels ist an eine Formulierung bei Dion Cassius angelehnt, das Kapitel selbst hält sich aber weitgehend an Tacitus. Seite 140 Flavius Josephus (37–95): In der deutschen Ausgabe der »Jüdischen Altertümer« des jüdischen Historikers, der in griechischer Sprache schrieb, wird Messalina nur »verstoßen« (XX, 8,1 ― Übers. Heinrich Clementz). Seite 145 Tertullianus (150–230): Gilt als der eigenwilligste lateinische Kirchenschriftsteller und Schöpfer der lat. Kirchensprache. Der Schwerpunkt seiner literarischen Tätigkeit lag im rigoristischen Kampf gegen alles, was seiner Meinung nach einen Christen mit der vom Teufel verderbten Welt und der heidnischen Gesellschaft zu verwickeln droht. Seite 147 Μνηοτηροφονία: Mnesterophonia (= die Ermordung der Freier). Seite 148 in Schleier gehüllt: Das Standbild des Augustus wurde beim Tod eines Gladiators verhüllt. Seite 150 Nunuch Halotus: Der Eunuch Halotus, Vorkoster des Kaisers, zählt laut Sueton (Claudius, 44) zu den Verdächtigen, die Claudius vergiftet haben sollen. Seite 154 Witwe eines Bartes: Der Gemahl der Domitia Lepida und Vater der Messalina hieß Barbatus Mesalla (Mesalla, der Bärtige). Seite 157 Apokolokyntosis: So lautet der Titel einer geschliffenen Satire von Seneca auf den Tod von Kaiser Claudius (der Seneca in die Verbannung geschickt hatte), zu übersetzen mit »Verkürbissung« oder »Veräppelung«. Seneca läßt dem wegen seiner Spielleidenschaft bekannten Claudius zum Beispiel einen Würfelbecher ohne Boden überrei-
- 182 -
chen. Er verspottet den Kaiser als Herrscher ohne Herz und Hirn, der Menschen mit der gleichen Leichtigkeit hingemordet habe, »mit der ein Hund das Bein hebt«. Der Verspottung, meint auch Jarry, ist Claudius wert, nicht Messalina. Seite 160 der Pavian mit seinem scharlachroten Po: Der Hundsaffe Backenbuckel in dem Roman »Heldentaten und Ansichten des Doktor Faustroll, Pataphysiker«. Die Abbildung auf der vorderen Umschlagseite ist eine Zeichnung von Pierre Bonnard, entstanden für eine Werbeanzeige zu Jarrys Roman »Messalina«, die der Verlag der »Revue Blanche« in Nr. 209 der Zeitschrift vom 15.2.1902 veröffentlichte. ― Das Porträt Jarrys aus dem Jahr 1896 auf S. 162 stammt von Lucien Lantier. ― Die Abbildung auf der hinteren Umschlagseite ist eine Zeichnung Jarrys auf einem Blatt mit Notizen zu Buchplänen wie »Messalina«, »Ubu Knecht« und »Navigationen im Spiegel« (Gedichte).
- 183 -
- 184 -
INHALT
Erster Teil I II III IV V VI VII
Das Haus des Glücks .................................... Zwischen Venus und dem Hund ............... Der asiatische Herr der Bäume ................... Die Kaiserin auf der Jagd nach dem Gott . Der Vater des Phoenix.................................. Der Priapus des Königlichen Gartens ....... Er tanzte manchmal des Nachts ................
7 19 46 59 66 71 83
Zweiter Teil I II III IV V VI VII VIII
Unter den Lampen der persischen Diana.. Der schönste aller Römer............................. Die ehebrecherische Hochzeit ......... .......... Die Nachahmung des Bacchus ................... Der Äschenfischer ......................................... Durch Vermittlung der Kurtisanen ............ Im Atropos bei Lucullus............................... Apokolokyntosis ...........................................
103 113 120 125 135 140 145 157
Zu dieser Ausgabe........................................................ 163
- 185 -