Perry Rhodan
Band 095
Mensch aus
dem Nichts
Prolog Die Jahre 3583 und 3584 n. Chr. halten für die Menschheit viel...
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Perry Rhodan
Band 095
Mensch aus
dem Nichts
Prolog Die Jahre 3583 und 3584 n. Chr. halten für die Menschheit vielfältige Entscheidungen und Verände rungen bereit. In der Milchstraße weiß niemand, wie es um die SOL, das größte Fernraumschiff der Menschheit, bestellt ist. Perry Rhodan ist der Spur des verschollenen Planeten Erde gefolgt und findet die Heimat welt der Menschen in der Hand eines überlegenen Gegners. Zwanzig Milliarden Menschen sind spur los verschwunden. Perry Rhodan glaubt, dass die Superintelligenz BARDIOC dafür verantwortlich ist, denn die letzten Bewohner des Planeten – eine Hand voll zu allem entschlossener Männer und Frauen, die das Schicksal zusammengeführt hat – werden von einer Inkarnation BARDIOCs bedroht. Keiner von ihnen kann wissen, was inzwischen in der Milchstraße geschieht. Anfang Oktober des Jahres 3583 erscheint ein Mensch in einer verlassenen terranischen Raum station. Er hat keine Erinnerung, kommt scheinbar aus dem Nichts – und er ist ein Phänomen. Mit ihm nimmt eine ungeahnte Entwicklung ihren Anfang, in einer Zeit, in der die Laren als Besatzungs macht plötzlich mit schwerwiegenden Problemen konfrontiert werden und die Kelosker ihren Achtzig Jahre-Plan zur Befreiung der Milchstraße von der Herrschaft des Konzils vorantreiben.
1.
D
ie riesige Metallkonstruktion war verlassen. Aber Aggregate, für Jahrhunderte wartungsfreien Betriebs konstruiert, fuhren einpro grammierte Prüfroutinen, korrigierten Hitze und Kälte, führten winzige Kurskorrekturen durch und beseitigten Schäden, die im Lauf der Zeit auftraten. In der Station gab es dennoch nicht ein einziges Geräusch, das darauf hingewiesen hätte, dass sich ein lebender Organismus in ei ner der leeren Kammern befand. Etwa hundertzwanzig Jahre lang war SI-RS-290 verlassen. Im leeren Raum der galaktischen Eastside, als stählerner Mond von den gelegent lichen Patrouillen der Blues nicht einmal mehr beachtet, driftete jener unwichtige Rest der terranischen Expansionsbestrebungen. Solares Imperium, Relais-Station Nummer 290. Die Buchstaben glänzten gelb und schwarz auf den Flanken. Das war eine von unzähligen Sta tionen, die das Solare Imperium installiert hatte, damals … Die Erhabenheit der Sonnen und Dunkelwolken umgab dieses stäh lerne Staubkorn. In einer riesigen Kreisbahn, die an markanten stella ren Feuern vorbeiführte, driftete SI-RS-290 seit mehr als einem Jahr hundert ohne Besatzung durch das All. Wo waren die Terraner, die mit den Blues verhandelt hatten, die Ein blick in das komplizierte und technisch-logische Denkvermögen, in die fremden Sitten und die spartanische Lebensführung der Gataser ge wonnen hatten? Verschwunden, zerstreut, gestorben, untergegangen in dem alles zermalmenden Strom aus Zeit und Abenteuer. Keiner der Namen, die in der Zentralpositronik verankert waren, hatte heute noch Bedeutung. Heute gab es hier weder Menschen noch Blues. Eine Positronik war nicht in der Lage, Bedauern oder Niedergeschla genheit zu empfinden. In diesem Fall hätte sie sich abgeschaltet, alle 1
Nebenaggregate deaktiviert und die Station irgendwann in eine Sonne stürzen lassen. Seit dem Jahr 3460 arbeitete SI-RS-290 ohne Zwischen fall.
***
21.9.3563 – 14 h 34 min 55 sec Ein fingergroßer Meteorit traf die Außenhülle, stanzte ein sechskan tiges Loch und verwandelte sich auf dem rasenden Flug in einen weiß glühenden Melalltropfen, der wie ein Geschoss eine Decke durch schlug, abermals einen Teil seiner Masse und seiner kinetischen Ener gie verlor und eine Wohnkabine teilweise verwüstete. Alarm wurde ausgelöst. Ein Roboter erfasste den Strom der entwei chenden Atmosphäre und versiegelte die Außenhülle. Eine zweite Ma schine machte sich daran, die Schäden im Innenbereich zu beseitigen.
***
30.09.3583. – 12 h 00 min 02 sec Zuerst: Eine dumpfe Vibration, die dem Aufprall von rund neunzig Kilopond auf einem Zwischendeck entsprach. Sofort erwachten Hun derte Messeinrichtungen. Dann: Das unverkennbare Geräusch, das entstand, wenn ein zweibei niges Individuum langsam durch einen Raum ging. Wo? Mittelebene. Aufenthaltsraum neben halbautomatischem Restaurant. Richtung? Kor ridor mit Endpunkt Positronikterminal IV. Die erste Überwachungs einrichtung lieferte der Zentralen Positronik ein Bild des Besuchers. Das Bild: Ein männlicher Terraner, etwa dreißig Jahre alt, mit grau em, halblangem Haar und grünen Augen, schlank, Größe 191 Zenti meter, neunzig Kilogramm und 750 Gramm schwer. Er trug einen wei ßen, modern geschnittenen Overall mit gefälligen Taschen und hohem Kragen, die Ärmelaufschläge waren offen. Form des Gesichts: länglich 2
oval. Kein Bart. Die Maschine war nicht programmiert, Gesichtsaus drücke zu interpretieren. Sonst hätte sie festgestellt, dass der Besucher verwirrt und unsicher wirkte. Die Positronik protokollierte alles, aktivierte dann die zur Lebenser haltung notwendigen Subsysteme und bewirkte, dass die Robotküche ihre Tätigkeit wieder aufnahm. Auch die Versorgung des Terminals, auf das der Besucher zuging, schaltete sich ein. Es war, als begänne für den technischen Organismus von SI-RS-290 ein neuer Abschnitt des Lebens.
***
Ich weiß, dass ich Chung Lo bin. Etwas über dreißig Jahre alt, an Körper und Geist gesund. Zuletzt war ich – und hier beginnt die Erinnerung zu flimmern wie heiße Luft über einer sonnenbeschienenen Straße – Chefmechaniker, ein wertvoller Mann, den man zu allen möglichen Spezialarbeiten heranzog. Wie ich hierher komme, weiß ich nicht. Aber ich lebe, und das ist wichtig. Zunächst spürte ich, wenn ich in meinen Körper hineinhorchte, Durst und Hunger. Nur keine Panik, Lo! Wo bin ich? Jedenfalls in einem Umfeld, das menschlichen Bedürfnissen ent spricht. Saubere, kühle Luft mit hohem Sauerstoffanteil. Geruch nach Sauber keit und Frische. Unter mir ein moosgrüner, wunderbar weicher Teppich. Ein Korridor mit metallenen Wänden. Also bin ich in einem Raumschiff aufge wacht. Sehr rätselhaft … partielle Amnesie. Soll vorkommen. Ruhig bleiben, Lo! Ir gendetwas ist passiert, und du wirst dich schon wieder zurechtfinden, alter Junge. Damen scheint es hier nicht zu geben, dafür jede Menge Platz. Ich weiß, dass ich ein methodischer Mensch bin. Muss ich schließlich sein als Mechaniker. Also muss ich versuchen, jetzt und hier methodisch vorzugehen. An dernfalls werde ich verrückt. Und natürlich niemand da, den ich fragen kann. Erst einmal einen kräftigen Schluck trinken – wenn es hier überhaupt etwas 3
gibt. Ich glaube, ich sollte versuchen, jemanden zu finden, der mir erklärt, wo ich bin.
***
Chung Lo hob den Kopf und rief laut: »He! Hallo! Ich bin hier und suche Kommunikation!« Niemand antwortete ihm. Er hob die Schultern, schaute sich erneut um, las die Beschriftungen und Piktogramme an der Wand. Sogar ein Analphabet hätte den Weg dorthin gefunden, wo es Essen und Trinken geben musste. Also setzte sich Chung Lo in die betreffende Richtung in Bewegung und schob die Tür zur halbautomatischen Küche auf. Die Anlage machte einen gebrauchsfertigen Eindruck. Er tippte eine Anzahl von Gerichten, suchte sich Getränke aus und benutzte die Ein richtung so problemlos wie seine eigene Küche. Die Ausgabestelle ser vierte ihm sterile Teller, Bestecke, Gewürze und Servietten. Chung Lo setzte sich an einen Tisch des kleinen Speisesaals, öffnete eine Dose dunkles Bier und langte kräftig zu. Eine Automatik registrierte den Gast im Speiseraum, schaltete zu sätzliche Beleuchtungen ein und startete ein Musikprogramm. Nur an zwei Bearbeitungen klassischer Stücke von Boncard und Grey konnte sich der hungrige Mann erinnern, alle anderen Melodien waren ihm fremd. Nach etwa vierzig Minuten fühlte er sich besser. Zumindest sein kör perliches Wohlbefinden war wiederhergestellt. Er wischte sich die Lip pen ab, goss den Inhalt einer zweiten Bierdose in das Glas und trank genießerisch mit geschlossenen Augen. Wo waren seine Erinnerungen? Chung Lo wusste nicht, woher er kam. Vage Gedanken an die Erde, an den Zustand der Menschen in der Endphase der Aphilie, an ein plötzliches Aufhören aller gedanklichen Funktionen, stiegen wie Schat 4
tenbilder in seinem Geist auf und verschwanden wieder. Er trank aus und erhob sich zögernd. Was sollte er tun? Vielleicht gab es hier eine Daten-Bibliothek. Er hatte unendlich viele Fragen. Aber würde er die erhofften Antworten bekommen? »Ich habe keine Eile. Es gibt eine Küche, also werde ich auch ein Bett finden«, sagte er halblaut, nur um seine Stimme zu hören. Chung Lo trat wieder hinaus auf den Korridor. Gemächlich ging er geradeaus, bis er den Hinweis auf die Zentrale entdeckte. Er folgte den Leitsymbolen und blieb nur kurz stehen, wenn sich ein für ihn interes santer Blick bot, in ein Labor oder in verlassene Räume, von denen ei nige wirkten, als wären sie für nicht humanoide Wesen entworfen wor den. Schließlich änderte sich die Kennfarbe des Bodens hin zu einem satten Gelb. »Ich wette, hier ist ebenfalls niemand!«, rief Chung Lo im Selbstge spräch. Er behielt natürlich Recht. Niemand antwortete. Einige Schotten zeigten ihm, dass er sich ent weder im Weltraum oder auf einem Planeten mit giftiger oder zumin dest problematischer Atmosphäre befand. Seine Umgebung war in Sek toren unterteilt wie ein Raumschiff, das auch nach einer Havarie Über lebenschancen bot. Wieder eine neue Erkenntnis, dachte er fatalistisch. Er war zufrieden mit seiner stabilen Psyche, trotzdem fühlte er, dass in ihm ein deutlicher Schub von Panik lauerte, der nur darauf wartete, aufzutauchen wie ein Albtraum. »Noch nicht, mein Freund«, murmelte er. Vor ihm glitten zwei Kunstglasscheiben auseinander, und er betrat einen mittelgroßen, schätzungsweise vier Meter hohen und rechteckigen Raum, der von Pa noramaschirmen geprägt wurde. Zu vier Fünfteln umliefen Instrumen tenkonsolen den Raum. Chung Lo sog die Luft ein, als sich die Hologramme aufbauten. Ein Sternenmeer wurde sichtbar. Er stand in der Mitte der Zentrale und drehte sich langsam um sich selbst. Pfeilspitzen aus Licht, drohend und kalt, fraßen sich in sein Bewusstsein vor. Sterne in unbekannten 5
Konstellationen. Senkrecht zur Schwerkraftebene verlief ein breiter, vielfach verzweigter Arm einer atemberaubenden Konzentration von Millionen und Abermillionen ferner Sonnen. Sie bewegten sich nicht – nichts bewegte sich dort draußen. »Sterne … Ich befinde mich in einer Raumstation. Aber wo?«, stöhn te Chung Lo. Er fürchtete die Sterne nicht, diese eindringlichen Bilder schockierten ihn vielmehr. Jetzt erst, da die optische Verbindung zwi schen innen und außen bestand, packte ihn das beklemmende, eigent lich entsetzliche Gefühl, dass er sich weitgehend ohne Erinnerungen an einem unbekannten Ort befand. Verloren im Kosmos. Verirrt, hinausgeschleudert ins All. Wo war Sol, die Sonne der Erde? Wo gab es in diesem Chaos aus Licht einen festen Bezugspunkt? »Es gibt keinen«, ächzte Chung Lo, als ihn die Schwäche zu überwäl tigen drohte. Das war kein körperlicher Zusammenbruch wie nach gro ßer Überanstrengung, sondern eine Sinnesverwirrung. Sekundenlang zuckte ein bohrender Schmerz durch seinen Schädel. Dieser Schmerz machte ihn halb blind. Seine Identität verwischte – besser konnte er den Vorgang nicht umschreiben. Eben noch hatte er die Kontrolle über seinen Verstand und den Körper besessen und sich gefreut, dass er nicht wahnsinnig geworden war in diesem Schock der Einsamkeit, nun fühlte er, dass die Identität Chung Lo bedeutungslos wurde. Etwas anderes schob sich vor seine Sinne und verdrängte sein Ich. Chung Lo verstand nicht, was mit ihm geschah. Er erkannte auch nicht, dass all das innerhalb von Sekundenbruch teilen geschah. Jedenfalls schien derjenige, der nun schwankend und halbblind durch die Zentrale taumelte und wimmernd in einen Kontursessel sank, ein anderer Mensch zu sein.
6
***
Ein faszinierendes Halbpanorama! Ich könnte mir vorstellen, dass dieses Meer von Sternen der Eastside zuzurechnen sein könnte, dieser senkrechte milchstra ßenartige Ast ist sicher nur eine lokale Erscheinung, aber immerhin charakte ristisch. Ich muss nachdenken, denn ich kenne dieses Bild, wenngleich nur von Studienaufnahmen. Keiner soll sagen, dass Abel el Pumán in irgendeinem Sektor der Milchstraße fremd sei. Ich kenne nicht gerade jeden Stern, andererseits hat ein professioneller Astronom einen sechsten Sinn dafür, wo er sich gerade befindet – ich erinnere mich der Tests, die wir während der Ausbildung zu Tausenden über uns ergehen lassen mussten. Ein holografisches Bild, zehn Sekunden Zeit, dann eine schnelle Antwort. Von hundert möglichen Treffern erzielte ich stets zwischen einund neunzig und neunundneunzig. Natürlich: Ich befinde mich in der Eastside der heimischen Milchstraße, im Gebiet der Blues. So weit, so gut. Aber: Wie bin ich hierher gekommen? Ruhe, Abd el Pumán! Keine Panik. Du spürst deinen Körper, hast auf der Zunge den widerlichen Geschmack von dunklem Bier, sitzt in einem mäßig hel len Schaltraum in einem Sessel – aber du bist ratlos, weil dir ein gehöriger Teil deiner Erinnerungen fehlt. Wo bin ich? »Ich habe keine Ahnung«, muss ich mir eingestehen. Das ist irgendeine Raumstation. Eastside? Blues? Eine gewisse Ruhe und Stille? Ich kann mich nicht einmal erinnern, vor kurzer Zeit gegessen und ausgerech net dunkles Bier getrunken zu haben. Zweifellos habe ich irgendwann das Be wusstsein verloren und bin von jemandem oder von etwas in eine leer anmu tende Raumstation im Einflussbereich der Gataser-Abkömmlinge mit ihren tel lerförmigen Köpfen gebracht worden. Darüber hinaus glaube ich zu wissen, dass mein Körper irgendwie anders ausgesehen hat. Oder anders war. Der Körper, den ich jetzt spüre, ist schlanker als meiner, den ich in Erinnerung habe. Ich glaube, ich werde noch einmal diese faszinierenden Sternanhäufungen studieren 7
und danach versuchen, meine Fragen zu beantworten. Hoffentlich gibt es ein schlägige Beobachtungsinstrumente, ich glaube nämlich zu wissen, dass ich in zwischen viel verlernt habe. Wo ist der Kollege, der die Hologalerie aktiviert hat?
***
Abd el Pumán sah sich zwanzig Minuten später in einer Spiegelwand. Eben noch war sein Gesicht anders gewesen, nun wirkten die Augen auf rätselhafte Weise dunkler, und die Mundwinkel zogen sich leicht abwärts. Die Schulterhaltung war die eines Mannes, der lange Zeit vor Instrumenten, Tabellen und Rechnern verbracht hatte, dessen Liebe nicht Tieren, Maschinen oder Raumschiffen gehörte, sondern den Vor gängen in den Chromosphären und Kernen der Sterne aller Klassifizie rungen. In einem Warmluftstrom trocknete sich Abd el Pumán die schlan ken Hände ab und ließ sein Gesicht mit einem feinen Nebel beleben den Parfums einsprühen. »Niemand da«, sagte er laut zu sich selbst. In dem strahlend saube ren Toilettenraum hallten seine Worte wider. »Eine merkwürdige Stim mung. Naja, wenigstens stört mich keiner.« Noch hatte er kein Identitätsproblem, war er überzeugt, dass er er selbst war und kein anderer. Aber ein deutliches Gefühl der Unsicher heit verließ ihn nicht, als er anfing, das Observatorium in dieser Sta tion zu suchen und sich überhaupt einen Überblick zu verschaffen. Vielleicht, so dachte Abd el Pumán skeptisch, fand er denjenigen, der ihn hierher gebracht hatte. Alle anderen Probleme, die mit seiner nicht vorhandenen Erinnerung, mit jener gewaltigen Gedächtnislücke zu tun hatten, vergaß er zwar nicht, er verschob ihre Klärung nur auf später. Ein halber Tag verging. Der Astronom war durch endlose Gänge und Korridore und über eine Vielzahl von Rampen gelaufen. Er hatte bestimmt zweihundert verschiedene Räume betreten und festgestellt, 8
dass alle Räumlichkeiten, die Menschen als Aufenthaltsort dienen konnten, klimatisiert und bestens ausgestattet waren. Proviant schien für eine kleine Ewigkeit vorhanden zu sein. Er hatte umfangreiche Magazine gesehen, in denen Ausrüstungsteile gelagert waren, benutzte und neue Raumanzüge, Wassertanks, Aufbe reitungsanlagen und winzige, abgekapselte Systeme, die Grundsubstan zen herstellten, aus denen eine sinnreiche Automatik bei Bedarf Pro teine, Fette und Zucker gewinnen konnte. Ein Schwimmbad war eben so vorhanden wie ein Solarium, ein Sportraum von fantastischen Aus maßen konkurrierte mit einem Auditorium. Die Station an sich wies einen geschätzten Durchmesser von etwa hundertfünfzig Metern auf und war allem Anschein nach kugelförmig. Es gab kein einziges Raumfahrzeug – die Hangars für Space-Jets und andere Beiboote waren leer. Die Besatzung schien mit ihnen geflohen zu sein. »Und es gibt keinen einzigen Menschen außer mir!« Stöhnend mas sierte sich Abd el Pumán die Schläfen. Er korrigierte sich. Natürlich gab es Spuren. Hier ein Holowürfel, der eine junge Familie zeigte, dort einige Lesekristalle, die ebenso ei nem Besatzungsmitglied gehört hatten und beim Aufbruch zurückge lassen worden waren. Dort ein großes Bild eines lachenden jungen Mannes und eines lächelnden Mädchens. Seltsam. Warum lachten auf Fotos alle? Weshalb waren sie nicht ernst? Warum weinten sie nicht, obwohl sie doch ahnen mussten, dass sie denjenigen Menschen, der ihr Foto bei sich trug, niemals wiedersehen würden? Vielleicht lachen sie gerade deswegen, dachte der Astronom und sah sich um. Er befand sich längst im eigentlichen Wohnbezirk, einem zylin derförmigen Segment, ausgefüllt von robotgepflegten Pflanzen und Blüten. Übereinander verliefen Rampen, hinter denen die Eingänge in Apartments lagen. Hervorragend gebaut, aus einem verwirrenden, aber sinnvollen System von Fertigteilen, genormt und dennoch abwechs lungsreich. 9
Abd el Pumán blieb auf halber Höhe stehen und bewunderte die wuchernden Pflanzen und die makellose Ordnung, dann gähnte er. »Vielleicht bringen ein paar Stunden Schlaf die Erleuchtung«, mur melte er, als er die nächste Tür öffnete. Er ließ sie offen, schaltete alle Lichtquellen in dem mittelgroßen Apartment ein und streifte sich vor der Bettnische die Stiefel ab. Schließlich aktivierte er die Musikberieselung, regelte die Akustikfel der auf Maximalstärke und zog sich aus. In der angrenzenden Hygie nezelle fand er alles, was er brauchte. Nur kurze Zeit lag er noch wach. Dann schlief Abd el Pumán wäh rend einer langen Adagio-Passage ein.
***
Etwa fünf Stunden später registrierte die Automatik, dass alle Beleuch tungskörper des Solariums und des Schwimmbads eingeschaltet wur den. Ein nackter, schlanker Mann warf sich mit einem Hechtsprung ins Wasser, ohne vorher die Temperatur geprüft zu haben. Immer schneller durchschwamm er das Becken, wobei er hin und wieder über lange Strecken sogar tauchte. Erst nach knapp sechzig Minuten verließ er triefend den Pool und stellte sich unter die Wechseldusche. Die Haltung des Körpers hatte sich deutlich verändert. Unschwer war zu erkennen, dass Hubert Kelassny sich über das Bad und die an schließende Robot-Vibrationsmassage freute und jede Sekunde davon genoss. Er fühlte sich wie neugeboren, als er die Erholungszone verließ und in einem langsamen Trab durch die matt erleuchteten Gänge lief. Die Automatik hatte, wie immer seit Hunderten von Jahren, die Beleuch tung und Versorgung der Standard-Nachtphase eingeregelt. Mühelos fand Kelassny den einzigen bewohnten Raum der Station. Auf dem Bettlaken sah er den eigenen Körperabdruck. Er legte sich wieder hin, endlich entspannt und beruhigt, und löschte das Licht. 10
Die Arme hinter dem Kopf verschränkt, dachte Hubert Kelassny zum ersten Mal, seit er aufgewacht war, intensiv nach.
***
Natürlich weiß ich, dass ich nicht verrückt bin. Ich, Hubert Kelassny, erkenne meine Umwelt exakt und bediene mich mühelos aller gewohnten Einrichtungen. Ich wollte schwimmen und habe den Swimmingpool auch gefunden, und ich spüre die nachwirkende Strahlung des Solariums auf meiner Haut. Ich erinnere mich an den Moment, in dem ich mich im offenen Schott dieses Apartments wiederfand. Ich lief los, von einer unerklärlichen Kraft getrieben, bis ich die Erholungsräume fand. Wo bin ich? Nach allem, was ich gesehen habe, in einer Raumstation oder einem verlas senen Raumschiff. Wie bin ich hierher gekommen? Warum wachte ich erst in diesem Bett auf, das ich allem Anschein nach selbst zurechtgemacht hatte? Ich bin nicht allein! Ich spüre meinen Körper. Ich, Hubert Kelassny, hatte eben die völlige Kon trolle über diesen biologischen Mechanismus. Mein Verstand funktionierte wie stets. Nun aber merke ich, dass etwas geschieht. Ein zweiter Verstand scheint in meinem Kopf zu wohnen, als hätte ich zwei verschiedene Gehirne. Ein einziger Körper, von zwei verschiedenen Persönlichkeiten beherrscht? Ich spüre aufkommende Panik … Ganz ruhig bleiben! Nicht aufspringen, dies ist keine Lösung. In mich hin einhorchen, suchen, tasten, finden … Ich muss mich zur Ruhe zwingen, obwohl der andere sich aus verborgenen Tiefen des Verstandes heraufschiebt. Ist ein Dialog möglich? Ich versuche es.
***
11
Der Andere: Ich bin Abd el Pumán. Ich nenne mich Abd el Pumán. Wer bist du? Wir sind zusammen in einem Körper. Ich: Hubert Kelassny. Biologe. Ich bin eben aufgewacht und war schwimmen. Der Andere: Deswegen ist mein Haar so feucht. Ich glaube, ich werde verrückt. Was hast du Mistkerl in meinem Körper zu suchen? Der Körper krümmt sich, federt zurück in die Embryonalhaltung. Der andere Verstand fürchtet sich und verbirgt seine Furcht – oder ver sucht es – hinter markigen Worten. Kelassny befiehlt den Muskeln be wusst, sich wieder zu strecken. Sein Bewusstsein neutralisiert die Im pulse des anderen. Den lautlosen Kampf von fünf Sekunden Dauer ge winnt schließlich Kelassny. Der Körper liegt endlich, vor Anstrengung schweißgebadet, wieder ausgestreckt. Der Andere: Na schön, die Muskeln gehorchen dir, Kelassny. Dafür weiß ich, wo wir sind. Bist du neugierig? Ich: Nicht besonders. Nur der Umstand, dass wir zu zweit in einem Körper stecken, macht mir Sorge. Bist du ein Mutant oder so etwas? Der Andere: Nein. Aber ein Klasse-Astronom! Der beste in dieser Raumstation. Warst du es, der dieses furchtbare Bier getrunken hat? Ich: Bier? Welches Bier? Gedankliches Schweigen. Nur eine Art Hintergrundgeräusch ist zu spüren. Die Unterhaltung der beiden Persönlichkeiten fand nicht in einzelnen Sätzen statt, sondern sehr viel schneller und mit viel höherer Informationsdichte ausgestattet. Es gab fast keine Redundanz, eine lü ckenlose Kette von Bildern, Bedeutungen, ineinander verketteten Fak ten und Informationen wurde ausgetauscht. Die Verständigung war tief, schnell und total – und erschreckend in ihrer Deutlichkeit. Fast gleichzeitig spüren beide Persönlichkeiten diese Gefahr. Ein Hauch von Abwehr und Ekel scheint durch die Überlegungen zu ziehen. Das Schweigen der Erkenntnis und des Schreckens geht vorüber. Ich: Du hasst Bier. Ich kann mich nicht erinnern, Bier getrunken zu haben. Also … 12
Der Andere: Dunkles Bier! Ich: Dann gibt es noch jemanden zwischen uns? Ein Körper mit drei fachem Verstand? Ein Anderer: Richtig. Hier bin ich, Chung Lo, der Mechaniker. Ich habe dieses verdammte Bier getrunken. Ich hoffe, ihr prügelt mich nicht deswegen. Wieder Schweigen. Dann, als sich die drei Persönlichkeiten halbwegs miteinander abgefunden haben … Ein abermals Anderer: Wir sind vier. Es wird sich herausstellen, ob das zweckmäßig ist. Wir sollten wählen, wer zu schlafen und wer zu agie ren hat. Übrigens, ich bin Pynther Äslinnen, Positroniker. Ich werde für uns die Station manipulieren. Ich kenne alles, was es auf diesem Gebiet gibt. Plötzlich füllen vier komplexe gedankliche Persönlichkeiten jenen imaginären Raum aus, den sie als den Sitz ihres Verstandes betrachten. Jedes dieser Elemente trägt unverwechselbar die Kennzeichen der ge samten Persönlichkeit, wie eine Eizelle oder eine überaus perfekte Be schreibung eines Menschen. Chung Lo: Begabt, aber zurückhaltend und zaudernd. Er schenkte niemandem sein Vertrauen, schon gar nicht den drei anderen, mit denen zusam men zu existieren er gezwungen wurde. Im Augenblick erfüllten ihn Abscheu und Furcht. Er war kontrollierbar, und sie würden jede seiner Reaktionen, nein, schon die Überlegungen und Reflexe, herumdrehen und begutachten, mit ihrer ätzenden Kritik vernichten. Schon jetzt baute er eine Sperre auf und hoffte, dass sie ihn schützen würde. Je denfalls würde er sich freiwillig nicht den anderen drei Persönlichkei ten anvertrauen. Abd el Pumán: Er genoss es, der Einzige zu sein, der allein herausgefunden hatte, wo sich dieser seltsame Verbund von einem Körper und vier Persönlich keiten befand. Er wusste nicht im Geringsten, welche Macht ihre 13
mehrfache Persönlichkeit hierher gebracht hatte. In Wirklichkeit fürch tete sich Abd el Pumán vor der Erkenntnis und vor den Folgen, die diese merkwürdige Konstellation hervorrufen würde. Neurosen und Psychosen würden aufblühen, blitzschnell um sich greifend, wenn es nicht gelang, die anderen Persönlichkeiten zurückzudrängen. Und wer würde eingeschränkt und geknechtet werden? Er, derjenige, der den Gefahren auswich? Eine unbändige Wut erfüllte ihn, und er wollte die sen Hass den anderen entgegenschreien, aber dann würden sie mit ver einten Kräften über ihn herfallen. Deshalb schwieg er. Seine Stunde war noch nicht gekommen. Hubert Kelassny: Auf eine sarkastische Weise war er belustigt. Jedenfalls fürchtete er sich nicht, denn er erkannte keine unmittelbare Gefährdung seines Körpers, und der Zustand des Körpers garantierte ein Überleben seines Verstandes. Hubert wusste, dass er stark, gelassen und mit Hilfe von Ironie und Sarkasmus fähig war, schwierige Situationen zu meistern. Dies war zweifellos eine solche Lage: Ihm fehlten sämtliche Informa tionen darüber, wie, wann und an welchem Ort der verzwickte Zu stand hergestellt worden war, von wem und zu welchem Zweck. Ande rerseits entschädigte diese Variante des Lebens für zu erleidende Ein schränkungen. Inzwischen gab es in diesem Verbund von Hirnen oder Bewusstseinen einen Astronomen, einen Biologen, einen hochqualifi zierten Mechaniker und einen Positroniker. Vier Fachleute also, die ab wechselnd und problemorientiert den Körper steuern und in ein machtvolles Instrument verwandeln konnten. Hubert Kelassny hatte keine großen Sorgen, was die nahe Zukunft betraf. Seine Ruhe machte ihn zu einem starken Teil des Verbundes. Vielleicht zum stärksten? Ein Anderer: Ich weiß, dass ich schwach bin. Aber das sind alle Künstler. Ich bin Pheuch! Tamoe Pheuch! Den Übrigen zeigte sich kurz das flirrende Bild eines grazilen jungen Mannes in wollener Kleidung, der eine glitzernde Stange in der Hand hielt und seinen Körper in grotesken, eleganten und gewagten Sprün 14
gen und Schritten über eine ebene Fläche bewegte. Pheuch sagte: »Ich bin Choreograf, müsst ihr wissen. Ich genieße es, so starke Charaktere um mich zu haben. Ich weiß, dass ihr mich be schützen werdet.« »Keine Sorge, Kleiner«, erwiderte Kelassny in Gedanken. »Vielleicht brauchen wir deine Begabung, um etwas Leben in diese Station zu bringen.« Pheuch lispelte: »Ihr seid nett, ihr alle. Ich mag euch, wisst ihr?« Pynther Äslinnen: »Jetzt sind wir wieder einer mehr. Fünf! Erstaun lich, was in einen solchen Menschenkopf hineingeht. Aber das ist gar nichts gegen die Wirkung einer Positronik meiner Generation. Ein kopfgroßer Speicher kann bis zu einundzwanzig Persönlichkeiten spei chern.« Äslinnen war ein ›Maniac‹, ein Mann, der in technischen Vorgängen dieser Art das eigentliche Wunder dieser Jahrhunderte sah. Denkma schinen und Aggregate, die von ihnen gesteuert wurden, beherrschten sein Denken und seine Empfindungen. Er selbst bezeichnete sich als trockenen, spezialisierten Charakter und lag damit auf seltsame Art völlig richtig. Äslinnen war kein schlechter Kerl. Gutmütig, anspruchslos, was per sönliche Bedürfnisse und Ansprüche betraf, aber störrisch, wenn er zu spüren glaubte, dass jemand über seine offensichtliche Begeisterung spottete. Fünf verschiedene Identitäten in einem Körper! Keiner der fünf ver mochte einen Sinn in dieser Problematik zu sehen. Ein Anderer: Ich auch nicht! Wieder breitete sich ein vakuumhaftes Schweigen der Verwunderung aus. Hubert Kelassny: Sind wir sogar sechs? Ein Anderer: Nein, sieben! Alle: Wer seid ihr? Ich bin N'kamo Fassa. Ich bin Filmreporter. Ich habe ebenfalls keine 15
Ahnung, wie wir hierher und in dieses geistige Gefängnis gekommen sind. Könnt ihr es mir sagen? Hubert Kelassny: Nein. Das kann niemand. Ich zweifle daran, dass wir sieben es jemals erfahren werden. Ein Anderer – der Siebente: Ich bin Nahrungsmitteltechniker. Vanni Delgiudice. Ich kann sämtliche Rezepte ausführen und für fast alle menschlichen Völker zubereiten. Mir ist klar, dass ich gegen Äslinnen oder Kelassny nicht konkurrieren kann. Sonst weiß ich nichts. Hubert Kelassny: Ist außerdem jemand da? Möglicherweise hat unser unfreiwillig ausgesuchter Körper größere Kapazitäten aufzuweisen. Wenn nicht, bringen wir es hinter uns. Schließlich werden wir in nächster Zeit auf gute Nachbarschaft angewiesen sein. Führungskämpfe der einen oder anderen Persönlichkeit haben sicher nur den Effekt, dass ich-wir verrückt werden. Es ist ein gutes Zeichen, dass wir alle sie ben diese Entdeckung so schnell akzeptiert haben. Im Moment gehörte der Körper zu Kelassny. Er lag entspannt auf dem Bett. Die Dunkelheit, von fahlem Lichtschimmer hinter Geräte skalen durchbrochen, wirkte wohltuend auf den Organismus. Die Aus brüche von Angstschweiß waren vorbei. Mild umfächelte die Luft aus der Klimaanlage den Körper. Chung Lo: Kelassny hat Recht. Wir dürfen nicht miteinander kämp fen. Vielleicht ergibt sich die Gelegenheit, einen anderen Körper zu übernehmen. Wir wissen nichts. Tamoe Pheuch: Wir wissen überhaupt nichts. Pynther Äslinnen: Aber wenn ich für ein paar Stunden den Körper übernehme und mit der Positronik arbeite, werden wir über sämtliche Möglichkeiten dieser Station verfügen können. Vanni Delgiudice: Das ist, denke ich, ein guter Vorschlag. Trotzdem sollten wir den Körper erst ausschlafen lassen. Wir müssen ihn scho nen, denn wir haben keinen anderen. N'kamo Fassa: Ich bin müde. Ich ziehe mich zurück. Die Gefühle, die sieben verschiedene Persönlichkeiten hatten, waren 16
kaum zu beschreiben. Ihre Kommunikation ging lautlos und in rasen der Schnelligkeit vor sich. Darüber hinaus war die Informationsdichte der Gedanken ungewohnt. Bisher hatten sich die sieben Menschen auf dem langwierigen Weg über die Sprache unterhalten müssen. Dies fiel nun weg, und sie alle waren erstaunt darüber, wie armselig die Sprache war gegenüber dieser mentalen Kommunikationsweise. Ganz langsam legte sich das wirbelnde Chaos aus allen erdenklichen Abwehrreaktio nen, das in diesem Siebenfach-Verstand tobte. Abd el Pumán: Und wir wissen nicht einmal, ob wir nicht vielleicht auch in der Zeit umhergeschleudert worden sind. Pynther Äslinnen: Das werde ich morgen herausfinden. Für uns alle. Als sich die sieben Persönlichkeiten zurückzogen und behutsam jeg liche Kontrolle über den Körper abgaben, erschlaffte der Organismus. Der Körper rollte zur Seite. Bald darauf ertönten gleichmäßige, tiefe Atemzüge. Das einzige lebende Wesen in der Relaisstation schlief.
***
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Die sieben Persönlichkeiten hatten weder Zeit noch Muße, staunende Beobachtungen über den rund dreißigjährigen, schlanken und gesun den Körper anzustellen. Sie hätten sonst drei- oder viermal verblüffen de Dinge gesehen. Je nachdem, welche Persönlichkeit gerade den Kör per steuerte, veränderte sich dieser innerhalb bestimmter Grenzen. Die Arroganz und der übersteigerte Anspruch von Abd el Pumán drückten sich in Bewegung und Körperhaltung ebenso aus wie die Scheu und Ängstlichkeit des Mechanikers. Im Augenblick lief der Körper, der jetzt Pynther Äslinnen war, auf die Zentrale zu. Äslinnen hatte einen merkwürdigen Gang, er machte kleine, hüpfende Schritte. Und seine Fingerspitzen bewegten sich unaufhörlich. Er wirkte wie ein Pianovir tuose, der unaufhörlich Läufe und Figuren übte. Aber er spielte nicht auf Tasten, sondern auf Schaltern und Reglern positronischer Anlagen. Vor ihm fuhren die Kunstglastüren auseinander. »Eine herrliche Anlage!«, bemerkte er zufrieden. Langsam ging er ein mal entlang der vielen Pulte und Skalenfelder, bemerkte die alten Schnelldrucker und die wenigen Analogschirme und dann, als er wie der in der Mitte des Raumes stand, die großen Panoramaholos mit dem faszinierenden Himmelspanorama. »Gehen wir methodisch vor«, sagte er und setzte sich in den Sessel des Stationschefs für den technischen Bereich. Mit schnellen Schaltun gen aktivierte er die wichtigsten Sequenzen und verschaffte sich Klar heit über Kapazität und Bedeutung der externen Elemente. Er rief das Datum ab, das ihm bislang unbekannt war. »Wir schreiben das Jahr 3583, den ersten Oktober«, sagte er gleich mütig. In seiner Erinnerung fehlte ein Datum, das er in Bezug bringen konnte. »Ich brauche weitere Informationen.« Er aktivierte ein Testprogramm. »Wo befindet sich diese Station?« Die Positronikstimme war männlich, ein Bariton, der weder sonder lich angenehm noch unangenehm klang – eine durchaus normale Kunststimme. Äslinnen kannte fortschrittlichere Anlagen dieser Art, 18
nur hatte er nicht die geringste Ahnung, ob er dieses Gerät tatsächlich folgerichtig als aus weit zurückliegender Produktion stammend einstu fen durfte. »Die Relaisstation des Solaren Imperiums befindet sich auf einer sta bilen Umlaufbahn in der Eastside der Galaxis. Die Koordinaten des Bahnmittelpunkts sind …« Zahlen und Buchstabenkombinationen folgten. Der Verstand Pumáns, der bis eben passiv beobachtet hatte, schob sich in den Vordergrund und gab Äslinnen eine kurze Erklä rung. »Wiederhole die Koordinaten!«, verlangte der Positroniker sofort. Abd el Pumán verstand die Koordinaten, erfasste den Standort der Station beziehungsweise die Position im Weltraum, um die herum sich SI-RS-290 auf einer Halbjahresbahn bewegte, dann ließ er seinen Körper fragen: »Die Relaisstation war ein Treffpunkt zwischen Menschen und Blues?« »Richtig«, bestätigte die Positronik. »Mittlerweile ist die ehemalige Besatzung abwesend, ein Kontakt mit Angehörigen der Blues fand zum letzten Mal im Mai des Jahres 3460 statt.« »Ich verstehe. Drucke die Koordinaten zur Sonne Soluman, Rich tung, Distanz und alle anderen wichtigen Informationen aus!« »Die Ausgabe wurde eingeleitet.« Lautlos verständigten sich Äslinnen und Pumán. Der Astronom und der Positroniker tauschten ihre Überlegungen aus. Abd el Pumán er klärte, dass er die von ihm erwähnte Sonne in seiner Erinnerung ge funden hatte. Ihr System lag in der Nähe des Blues-Gebietes. Damit wurde die Position der verlassenen Station konkreter. Dann übernahm wieder Äslinnen den Körper. »Berichte in kurzen Zügen über die letzten gespeicherten Informationen, die Menschheit betreffend!« Die Positronik erwiderte, dass die letzten Informationen aus dem Jahr 3460 stammten und daher veraltet wären. »Das ist unwichtig. Alle Informationen ausdrucken!« 19
Mit einem tiefen Summgeräusch arbeitete der Schnelldrucker. Eine eng beschriebene Folienbahn wurde ausgegeben, die Äslinnen sofort an sich nahm.
***
Was Pynther Äslinnen erfuhr und damit auch die anderen, war aufre gend und unbefriedigend zugleich. Die dramatischen Ereignisse, mit denen die Auflösung des Solaren Imperiums eingeleitet worden waren, sagten ihnen nichts. Sie wussten allerdings, dass sie auf eine schwer zu beschreibende Art zu den Terranern gehörten, die dieses Chaos betrof fen hatte, damals, im Juli, vor einhundertdreiundzwanzig Jahren. Die Station verfügte nur über Informationen, die auf dem Funkweg oder über Kuriere eingetroffen waren. Terra und Luna waren mit ihren Be wohnern durch den Sol-Transmitter aus der Milchstraße geflohen. Ju lian Tifflor und Atlan – Namen, die seltsam bekannt schienen und dennoch kaum etwas an tieferer Bedeutung für die sieben Persönlich keiten hatten – hatten zu retten versucht, was in der Milchstraße nicht zerfallen war. Wahre Wunderdinge schienen von der USO vollbracht worden zu sein, aber die neuen Herrscher und ihre Helfer, die Über schweren, besaßen die Machtmittel, um das Solare Imperium und des sen Reste niederzuhalten. Die Mächte des Konzils traten ungehindert als Eroberer auf. Wirtschaft, Raumfahrt und Handelsbeziehungen waren innerhalb kürzester Zeit zusammengebrochen. Die Besatzungsmitglieder der Station hatten SI-RS-290 nach und nach verlassen. Sie hatten keinen Sinn mehr in ihrer Anwesenheit ge sehen. Die Datenspeicher enthielten nur die Startmeldungen der Bei boote, nicht die anvisierten Ziele. »Befindet sich noch ein Raumfahrzeug in einem Hangar der Sta tion?«, wollte Pynther Äslinnen wissen. »Negativ!«, lautete die Antwort. 20
Äslinnen nickte. Es wäre verrückt gewesen, das Gegenteil anzuneh men. Sie waren nicht nur Gefangene in einem Körper, sondern zu gleich Gefangene der Relaisstation. Der ausgedruckte Text beschäftigte sich weiterhin mit den politi schen und wirtschaftlichen Möglichkeiten einer Zusammenarbeit mit den Blues und kam zu dem bedauerlichen Schluss, dass auch ihre Völ ker von den Laren und den Überschweren versklavt wurden. Die Bank rotterklärung des Solaren Imperiums lag vor, als Äslinnen die letzten Zeilen las und danach die Folie zusammenknüllte und in den Abfall vernichter warf. »Tragisch und nicht im Geringsten weiterführend«, sagte er verson nen und bedauerte selbst, dass er keine Emotionen spürte. Sie alle befanden sich in einer Art Vakuum. Jeder von ihnen war in der Lage, sich aller Einrichtungen zu bedienen, die zum Leben eines Terraners in einer weitestgehend problemfreien Umgebung gehörten. Dies hatten sie irgendwann als Kinder und Heranwachsende nahezu automatisch gelernt. Jeder von ihnen verfügte über einen funktionie renden Verstand, keiner war schizophren oder paranoid. Ihr gemeinsa mer Körper schien dem Leistungsstandard eines gesunden und trai nierten Dreißigjährigen zu entsprechen. Doch keiner der sieben wusste, wie er in den Körper gekommen war. Gehörte der Leib, den sie sich teilten, einem von ihnen – waren sechs der Bewusstseine demnach Gäste oder Gefangene? Wer hatte sie in dieser einzigartigen Weise manipuliert oder gar versklavt? Warum hatte keiner von ihnen so etwas wie eigene Erinnerungen? Warum war jener Faktor, den sie als Gedächtnis kannten, leer und sau ber wie ein unbeschriebenes Stück Folie? Warum waren sie hier? Wie lange sollten sie hier bleiben? Warum das alles? Gab es einen Sinn hinter diesem System von verrückten oder mysteriösen Einzelheiten? Pynther Äslinnen sprach aus, was die sechs anderen, passiv zuhören 21
den Persönlichkeiten dachten: »Völlige Desorientierung! Keiner hat die geringste Ahnung. Was wir in den nächsten Tagen unternehmen kön nen, beschränkt sich auf reine Überlebenstechnik. Vielleicht wird uns derjenige, der dies alles zu verantworten hat, erklären, was geschehen soll. Vielleicht auch nicht.« Ihre Existenz erschien wie der Gipfel der Sinnlosigkeit. Auf eine Weise, deren Definition ihre Vorstellungskräfte um mehrere Potenzen überstieg, schienen sie eine Versuchsanordnung zu sein – ein Modell, nichts anderes. Ein multipler Terraner. Ein Mehrfachmensch. Vier der sieben Persönlichkeiten hätten an diesem Punkt der Über legungen, in dieser an sich undramatischen, aber unzweifelhaft stattfin denden Sekunde der ultimaten Wahrheit Suizid begangen. Sie versuch ten es nicht, weil deutlich wurde, dass die drei stärkeren Persönlichkei ten dies mit Nachdruck verhindern würden. Die Unsicherheit marterte dennoch alle sieben. Hubert Kelassny: Wir sieben sind einer, sind eins. Wenn wir überleben, dann nur deswegen, weil wir uns gegenseitig nicht behindern. In dieser Form werden wir eine unbestimmte Zeitspanne lang existieren müssen. Einen Tag, einen Monat oder zwanzig Jahre …, ich weiß es nicht. Der gemeinsame Körper ernährt uns und ermöglicht uns das Weiterexistie ren. Wir müssen uns abfinden, bis sich die Situation ändert. In einer plötzlichen Intension des Mutes oder gar der Tollkühnheit fragte der Choreograf Tamoe Pheuch: »Und was bleibt uns übrig, was können wir unternehmen?« Seine Gedanken, in denen Angst, Existenz not und Ratlosigkeit klar zu Tage traten, waren schrill und ängstlich wie die eines Kindes. Hubert Kelassny antwortete beruhigend: »Wir müssen abwarten. Überstürzte Aktionen sind häufig der Grund für tödliche Gefahren.« Auch Kelassny zog sich dann zurück und überließ die Handlungs freiheit wieder dem Positronikspezialisten. Pynther Äslinnen wandte sich erneut an den Zentralrechner: »Verfügt die Station über ein Hy 22
perfunkgerät?« »In Raum 77 B befindet sich eine autarke Einheit. Sie wurde zuletzt Ende Mai 3460 benutzt und ist funktionsfähig. Weshalb erfolgte die Frage?« »Das geht dich einen feuchten Abfall an!«, schrie Äslinnen. Aus einem Grund, den nicht einmal Äslinnen erkennen konnte, er schien ein Stück Folie in der Ausgabe: Die Relaisstation wurde mit einem positronischen internen und externen Verteidigungssystem ausgerüstet. Es ist ebenso sorgfältig gewartet worden wie alle anderen Minisysteme von SI-RS-290. Äslinnen antwortete mit einer deftigen Verwünschung. Selbst er war vorübergehend völlig ratlos.
2.
T
obby Beugner sah ihr Ebenbild im Spiegel verdrossen an, zuckte in einer Geste der Resignation mit den Schultern und drehte sich um. Heute war zweifellos einer der Tage, an denen sie sich nicht leiden konnte. Ein Tag, an dem sie die Farm und sich selbst hasste, den herr lich blauen Himmel, die Sonne und alles, was den Überbegriff Wirgier trug. Hätte es eine Gelegenheit gegeben, Wirgier zu verlassen, sie wäre ohne Gepäck und Geld an Bord des nächsten Raumschiffs gegangen und hätte sich in die Arme eines Offiziers der NEI-Flotte geflüchtet. »Alles wäre leichter, wenn ich ein Mann wäre«, murmelte sie. Sie war wirklich nicht der Typ für Farmerburschen. Sie war überhaupt kein Typ, sondern eine von sechshunderttausend. Eine der Verwalterinnen einer Zukunft, die grau und chancenlos aussah. Für Tobby Beugner, die Tochter eines der reichsten Farmer, gab es nur zwei Ebenen des Lebens. 23
Die eine: Sie leitete die Farm und kümmerte sich dann sogar um die kleinsten Probleme. Die andere: Sie behielt ihre Träume, und ein Teil der Träume war höchst real – nämlich der Umstand, dass sie eine Agentin des NEI war. Beide Beschäftigungen waren mit viel Arbeit und Frustrationen ver bunden und brachten ihr kaum Erfolgserlebnisse. Wirgier, einst eine Welt der verarbeitenden und verfeinernden In dustrie und großer Handwerksbetriebe, litt unter katastrophalem Roh stoffmangel und war in eine merkwürdige Mischkultur zurückgefallen eine Verbindung von reiner Agrarwirtschaft mit den hochtechnisierten Resten einer vergessenen Zeit. Störanfällige Kernkraftwerke arbeiteten hier und dort, und die Zahl funktionierender Maschinen nahm mit je dem Jahr weiter ab. Die Bevölkerung, einstmals dreißig Millionen Ko lonialterraner und mehr, war auf klägliche sechshunderttausend zu sammengeschrumpft, die aus den Zentren der verfallenden Städte im mer weiter in die Randgebiete hinausgezogen waren. Mehr als eine Viertelmillion verschieden großer Farmen lagen im Land verstreut. Die Bedeutungslosigkeit des Planeten war vollkommen, denn die La ren regierten mit absoluter Macht. Nur noch selten landete ein Raum schiff. Handel war so gut wie ausgeschlossen. Das Weltbild der Farmer schmolz ebenso zusammen wie ihre technischen Möglichkeiten. Niemand brauchte zu hungern, niemand litt wirklich Not, das Leben war lediglich sehr unbequem geworden. Die landschaftliche Schönheit, die mit dem Verlust der Industrie immer mehr in den Vordergrund ge rückt war, entschädigte für vieles, aber eben nicht für alles. Tobby schüttelte den Kopf, grinste sich im Spiegel an und verließ den Raum. Sie und ihr Vater lebten in einer ehemaligen Schaltstation des Wasserkraftwerks. Die Turbinen und Pumpen waren vor sieben undzwanzig Jahren ausgefallen, drei Jahre vor ihrer Geburt. Seitdem lief das Wasser in einem imposanten Katarakt über die Staumauer. Aus diesem Stausee bewässerte ihr Vater seine Felder und Gemüsekulturen. 24
»Ich könnte weinen, wenn ich an unsere ungenutzten Chancen den ke«, sagte sie, als sie den großen Wohnraum betrat. Ihr Vater saß in einem Sessel, der hundertfünfzig Jahre alt war. Die zusammengenähten Felle von gefangenen Kleintieren lagen über dem ruinierten Bezug. So oder ähnlich war es überall auf dem Planeten: Jeder verwertete, so gut es ging, die Reste einer bedeutungslos gewordenen Vorzeit. »Lass es bleiben, Tobby«, antwortete der Vater. »Iss etwas, und dann werden wir versuchen, den Dampfpflug anzuwerfen.« Er grinste sie breit an, ein anscheinend stets gutgelaunter, bärtiger Mann mit riesigen Händen und vielen Lachfältchen um die Augen. Er hatte durchgesetzt, dass Tobby an zwei verschiedenen Universitäten studiert hatte, auf ehemals terranischen Schulplaneten. Vor knapp ei nem Wirgier-Jahr war sie mit dem Diplom eines abgeschlossenen Ma schinenbau-Ingenieur-Studiums zurückgekommen. Ihr Fachgebiet war robotgesteuerte Landwirtschaftstechnologie. Und dann verbrachte sie das halbe Jahr damit, im Führerstand der spuckenden, fauchenden Ma schine zu sitzen und riesige Äcker umzubrechen? »Schon gut. Hin und wieder überfallen mich eben solche Überlegun gen.« Tobby setzte sich an den Tisch. Das Frühstück war einfach, aber nahrhaft, Luxusartikel waren kaum mehr bekannt. »Ich kann's verstehen«, sagte David Beugner kauend. Der Tag war gut für die Feldarbeit. Früher einmal hatte es genügend Roboter hier gegeben, die perfektere Furchen zogen, als jeder Mensch es konnte. Heute funktionierten nur noch wenige, meist stationäre Po sitroniken. Auf Wirgier gab es eben keine Ersatzteile mehr. David trank den letzten Schluck aus dem Tonbecher und blickte sei ne Tochter kritisch an. »Du scheinst heute wirklich deinen nachdenk lichen Tag zu haben«, murmelte er verdrießlich. »So ähnlich«, antwortete Tobby leise. »Ich weiß zufällig sehr genau, dass wir auf Wirgier sogar relativ gut dran sind.« »In Bezug auf Laren und Überschwere, meinst du?« Sie nickte. »Sie lassen uns in Ruhe. Immerhin. Aber fünf Schiffsla 25
dungen voller Ersatzteile, und wir hätten viel mehr Zeit für Bildung, Ausbildung und daher bessere Chancen. Der Planet verblödet.« David Beugner zupfte an seinem Bart. Dann bewies er wieder ein mal, dass er weit mehr war als ein einfacher Farmer. »Die Geschichte der Menschheit ist Tausende von Jahren in einem ständigen Auf und Ab verlaufen«, sagte er. »Hundert Jahre hin oder her sind in einer sol chen Zeitspanne nur unbedeutend. Derzeit sind wir unten, zweifellos. Aber es wird einen Tag geben, an dem wir wieder oben stehen werden. Wir sehen nur Momentaufnahmen, und, zugegeben, es sieht nicht so aus, als ob wir uns auf der Straße des Siegers befänden. Aber …«, er lä chelte und schaute seiner Tochter tief in die Augen, »denke daran, dass wir Terraner eine Menge ruhender Reserven haben.« Tobby dachte an die geheimen Kontakte während ihrer Ausbildung. Rätselhafterweise hatten die Laren nur wenige Kontrollen durchgeführt. Die von ihnen beherrschten Welten konnten wenigstens überleben. »Ich weiß das, David«, sagte Tobby. »Leider sind wir hier auf Wirgier von diesen Reserven weit entfernt. Geschichten und Gerüchte helfen uns nicht, wenn wir uns nicht selbst helfen.« »Am besten, indem wir dieses schauerliche Monstrum in Bewegung setzen! Worauf warten wir eigentlich?« Sie liebten ihren Planeten und seine wiedergewonnene Schönheit. Aber gerade deshalb schmerzte es beide, dass Wirgier weder autark noch entwicklungsfähig war. Sie gingen durch den wuchernden Garten hinaus zu der Dampfmaschine. Aus vielen Einzelteilen angerosteter Anlagen hatte Tobby das Gerät zusammengeschweißt. Es funktionierte sogar. Inzwischen hatte das Holzfeuer ausreichend Hitze erzeugt. Da vid Beugner schleppte den Pflug heran, klinkte ihn ein, und Tobby kletterte in den primitiven Steuerstand. Pleuelstangen bewegten sich, Dampf zischte, die riesigen Räder begannen sich zu drehen. Das unge federte Gefährt setzte sich in Bewegung, bog auf der schmalen Straße hinaus auf das Feld, und dort klappte die Pflugschar hinunter. Die langweilige, aber letztlich doch befriedigende Arbeit hatte wieder 26
angefangen. Der Planet und seine Bevölkerung mussten überleben. Die großen Städte waren zu Ruinen zerfallen, und nun lösten sich auch die Reste dessen auf, was einst terranische Kultur und Zivilisation genannt worden war. Tobby Beugner war nicht gewillt, dies einfach hinzunehmen.
***
Pynther Äslinnen kontrollierte am Nachmittag des zweiten Tages wie der seinen Körper. Zeitweise hatte Kelassny den Körper übernommen und sich in der Schwimmhalle ausgetobt und die Muskeln trainiert. dann hatte Tamoe Pheuch die Verfügungsgewalt eingefordert und zu Musik in höchster Lautstärke eine wilde Serie von Tanzschritten geübt. Äslinnen ging an seinen Arbeitsplatz in der Zentrale. Hier kannte er inzwischen jede noch so unbedeutende Anzeige. »Ich glaube«, sagte er sich und nahm vor dem Pult Platz, »ich sollte es riskieren!« Mehrmals hatten sich die Bewusstseine beraten. Aber trotz aller An strengungen waren sie kaum klüger als zuvor. Pynther Äslinnen gab die Namen und alle bekannten Charakteristika der sieben Persönlichkeiten ein. Er versuchte, das Problem mit Hilfe der Positronik zu klären. Auf welche Weise mochte es möglich gewe sen sein, die sieben Bewusstseine in den gemeinsamen Körper zu pfer chen? Der Rechner reagierte ganz anders, als Äslinnen es sich vorgestellt hatte. Offensichtlich identifizierte die Maschine ein Wesen, das sich aus einem Körper mit sieben darin enthaltenen Persönlichkeiten zu sammensetzte, nicht als einen Menschen. Die Positronik arbeitete ununterbrochen, über die Schirme huschten rätselhafte Symbole, schließlich sagte die mechanische Stimme entschieden: »Dieses Wesen ist kein Terraner, es ist auch kein Blue. Für Angehörige anderer Völker ist die Station weder eingerichtet noch betretbar. Ich habe soeben alle Systeme der Relaisstation auf Alarmzustand geschaltet.« 27
Hubert Kelassny: Das klingt alles andere als beruhigend, Pynther! Pynther Äslinnen: Ich werde schon mit diesem Gerät fertig. Immerhin ist der Alarm nur gegenüber einer hypothetischen Person ausgelöst worden. Chung Lo: Ich bin sicher, du irrst dich! Der Alarm gilt uns! Äslinnen gab in rasender Eile ein: Lösche sämtliche Fragen! Dieses Kon strukt war rein rhetorischer Natur! »Ich identifiziere den Körper am Programmierpult mit diesem NichtTerraner. Wesen anderer Völker bedeuten für die Relaisstation eine ernst zu nehmende Bedrohung.« Dieser Körper ist ein Terraner. Die Alarmschaltung beruht auf einem Rechen fehler! »Der Problemkreis wurde mehrmals nach verschiedenen Kriterien durchgerechnet. Ein Irrtum ist ausgeschlossen. Zeitgleich wurden die Verteidigungssysteme der Relaisstation aktiviert!« Abel el Pumán: Wir müssen in die Galaxis hinausflüchten! Chung Lo: Womit denn, du Sternenforscher? Vanni Delgiudice: Es wird sich etwas finden. Schlagartig erkannte Pynther Äslinnen die gesamte Tragweite des Rechenergebnisses. An irgendeiner Stelle hatte die Positronik aus einer falschen Information und mit einer falschen Berechnung diesen winzi gen, aber verhängnisvollen Fehler begangen. Aus der Sicht positroni scher Arbeitsweise war es kein Fehler, aber die Ergebnisse hatten aus dem anscheinend sicheren Bezirk der leeren Relaisstation ein System weitgehend unbekannter Fallen werden lassen. »Ich glaube«, sagte Äslinnen und hoffte, dass die anderen Persönlich keiten zuhörten, »wir sollten uns Gedanken darüber machen, wie wir den Nachstellungen der Positronik entgehen können!« Ein starker Impuls des gemeinsamen Verständnisses drang von allen Seiten auf ihn ein. Zwar wusste er es nicht definitiv, doch Anlagen dieser Art begleiteten einen Alarm nicht unbedingt mit akustischen oder optischen Signalen. 28
Die Stimme hatte die Maßnahmen deutlich genug angekündigt. SI RS-290 verwandelte sich in eine Unzahl kleiner, möglicherweise töd licher Sperrzonen. Urplötzlich packte Äslinnen die Furcht. Durch den dicken Schleier des Unbehagens, der die Persönlichkeiten seit ihren ersten Kontakten umgab, drang die Erkenntnis, dass dieser einzigartige Organismus sich in tödlicher Gefahr befand. Er fragte sich, welche Chancen der Mehr fachmensch haben konnte, dem Irrtum der Positronik zu entkommen. »Freunde«, sagte Äslinnen unruhig und verkrampft vor Nervosität und Angst, »es wird verdammt ernst. Vielleicht sind wir eine lebensun tüchtige Fehlkonstruktion, die in den nächsten Stunden ausgerottet wird. Handeln wir schnell, wir müssen fliehen!« Chung Lo: Aber wohin? Die Station kann uns umbringen! Pynther Äslinnen: Nötigenfalls müssen wir die Relaisstation verlassen. Als Äslinnen den Körper aus der Zentrale hinausgehen ließ, schloss sich hinter ihm ein schweres Schott. Der Rückweg war damit versperrt. Pynther Äslinnen kannte die Relaisstation bereits sehr gut, und er be schleunigte seine Schritte sofort. Er rannte über den weichen Boden belag, bis er die Treppe fand, die ihn in einen winzigen Raum brachte. Er konnte nur hoffen, dass nicht auch diese Tür positronisch verrie gelt worden war. Schließlich hatte er keine Waffe, um das Schloss ge waltsam zu öffnen. Mit einem kräftigen Satz warf er sich vorwärts und berührte den Kontakt. Das Stahlschott glitt auf. Auch die Raumbeleuchtung funk tionierte noch. Pynther Äslinnen wusste, dass es in diesem Raum eine der wenigen Chancen für ihn gab. Er wusste genau, was er zu tun hat te. Mit schnellen Griffen klappte er Verkleidungsteile der halb manns großen Apparatur herunter und aktivierte die Sensorflächen. Noch schien die zentrale Positronik nicht erkannt zu haben, was geschah. Der Hyperfunksender war nicht an das Energienetz der Station an geschlossen. Die Positronik hatte allerdings stets dafür gesorgt, dass die Speicher gefüllt waren. Pynther Äslinnen leitete die Energie auf die 29
Sendeantenne. Er wählte eine der geläufigsten Frequenzen. »Hier Relaisstation zweihundertneunzig!«, sagte er drängend. »Wir sind … Ich bin in Gefahr. Die Positronik der Station ist verrückt ge worden. Die Koordinaten sind …« Sofort übernahm Abd el Pumán die Kontrolle über den gemeinsa men Körper. »Die Koordinaten entsprechen zunächst in Grobpeilung der Sonne Soluman in der Eastside. Die augenblicklichen Bahnpunkte sind …« Der Astronom ratterte die Datenkolonnen herunter und rech nete die Bewegung der Station auf ihrer Kreisbahn dazu. »Wir befin den uns in Gefahr durch die Station selbst. Wer immer diesen Funk spruch empfängt, wir sind in Lebensgefahr! Wir brauchen sofort Un terstützung, und wir senden, bis die Energie erschöpft ist. Ich wieder hole …« Pumán zog sich zurück, der Positroniker aktivierte die Endloswieder holung. Dann sprang Äslinnen auf und hastete zur Tür. Aus dem Kor ridor erklangen Unheil verkündende Geräusche. Roboter!, dachte Äslinnen verzweifelt. Er schloss die Tür hinter sich, fand jedoch keine Möglichkeit, sie von außen zu verriegeln. Chung Lo: Wir müssen ins Magazin! Dort gibt es sicher Waffen, aber vor allem Raumanzüge. Wir werden einen brauchen, um überleben zu können! Äslinnen huschte die Rampe abwärts. Das Summen hinter ihm war lauter geworden. Kalter Schweiß trat auf seine Stirn, und ein Gefühl lähmender Kälte kroch die Wirbelsäule empor. Abermals reagierte eine der Persönlichkeiten und bewies, dass der Mehrfachmensch ein größeres Überlebenspotenzial besaß, als seine sie ben Einzelbewusstseine ahnten. »Vertraut mir! Ich schaffe es. Nur muss Pynther mir sagen, wo das Magazin ist. Ich werde mit den Maschinen fertig!«, schrie Tamoe Pheuch. Seine Gedanken waren schrill, aber nichtsdestoweniger selbst bewusst. 30
»Einverstanden!«, sagten alle sechs. Pheuch übernahm den Körper, als der erste Kampfroboter erschien. Ein Schuss fiel, aber wo der gleißende Strahl einschlug, befand sich der Choreograf schon nicht mehr. Der Robot hatte keineswegs mit einem Lähmstrahler, sondern mit tödlicher Energie gefeuert. Von Panik getrieben, hetzte Tamoe Pheuch durch diesen Sektor der Station. Äslinnen dirigierte ihn in die richtige Richtung. Erst wechselte die Farbe des Bodens, dann veränderte sich das Licht. Der Körper hatte das Arsenal erreicht, doch inmitten der Regalreihen und der vielfarbigen, in Kunststoffgespinste gehüllten Ausrüstungspa kete gab es kaum einen Überblick. Chung Lo: Ich kann euch helfen – ich übernehme! Als Chefmechaniker kannte er Ersatzteillager besser als jedes andere seiner Mitbewusstseine. Nicht einmal eine Zehntelsekunde brauchte er, um die Herrschaft über den Körper an sich zu ziehen. Chung Lo rann te mit untrüglicher Sicherheit auf die Stelle zu, an der sich zwischen den Gerüsten aus Metall und Kunststoff massivere Elemente erhoben. Unmittelbar bevor er den gesonderten Abschnitt erreichte, erlosch die Beleuchtung. Obwohl sich alles in ihm dagegen sträubte, hastete Chung Lo zu rück und riss eines der Pakete weiter vorne aus dem Regal. Ein schwe rer Handscheinwerfer polterte zu Boden. Chung Lo fand ihn trotz der Finsternis fast augenblicklich, und dann flammte ein Strahl weißer Helligkeit auf. Sekunden später riss der Mechaniker das Waffenmaga zin auf. »Hier spricht die zentrale Positronik«, erklang es aus Lautsprecherfel dern. »Ich fordere den Fremden auf, die Station umgehend zu verlas sen. Für die Dauer dieser Aktion werden die Kampfroboter neutrali siert.« Chung Lo grinste zwar, doch seine Erleichterung war nicht von lan ger Dauer. Er richtete den Scheinwerfer auf die Waffen, die hier aufbe wahrt waren. Eine kleine Armee konnte damit ausgerüstet werden. 31
Schockstrahler, ungefüge Zweihandgeräte, Kombistrahler – schließlich riss der Chefmechaniker ein schweres Zweihandgerät aus den Halteklemmen und dazu einen Gürtel mit zwei kleineren Strahlern. »Ich wiederhole! Verlassen Sie umgehend die Station! Die zentrale Positronik wünscht keine Auseinandersetzung. Ein Hangar wird auf der Ebene geöffnet, auf der Sie sich gerade befinden!« »Ist ja schon gut«, murmelte Chung Lo und dachte an den Rauman zug. Er würde nicht mehr sein als eine Überlebenshilfe. Pynther Äslinnen: Nicht einmal ich weiß, was diese verrückt geworde ne Positronik unternehmen wird. Es wäre gefährlich, sie zu unterschät zen. Sie kann fast alles. Die Raumanzüge befanden sich an einer anderen Stelle des Maga zins. Chung Lo hastete zwischen den Regalen hindurch. Er kannte die Anzugsgröße, die dem Körper entsprach. Fauchend strömte Luft in die Vakuumversiegelung des Transportbehälters, und der Raumanzug fiel auf Chung Los Schulter, als er die Halteklammern löste. Mit fliegen den Fingern überprüfte der Mechaniker den Anzug, er fand sogar ei nen kleinen Antigravgürtel und schaltete ihn ein. Auf die Weise war der schwere Anzug bequemer zu transportieren. In die Beintaschen stopfte er zusätzliche Mikrotanks für Atemluft, Wasser und Konzen tratnahrung, dann trat er den Rückweg an. Vor dem Magazin warteten drei Roboter. Als Chung Lo erschien, hoben sie ihre Waffenarme, aber sie feuerten nicht.
***
Hubert Kelassny wusste, dass es für ihn nichts zu tun gab. Del giudice, Fassa und er waren überflüssig, das war die Stunde der tech nischen Spezialisten – und vielleicht auch Tamoes, dessen Körperbe herrschung sie erst vor wenigen Minuten gerettet hatte. Chung Lo hatte Waffen und einen Raumanzug gefunden. Abd el Pu mán kannte die Koordinaten, Pynther Äslinnen kümmerte sich um die 32
Aktionen der Positronik. Natürlich fürchtete sich jede der sieben Per sönlichkeiten, die einander erst in diesem Körper kennen gelernt hat ten. Aktuell lenkte wieder Äslinnen den Körper. Er bewegte sich mit ge spielter Selbstsicherheit an den wartenden Robotern vorbei, ver schwand in einem schmalen Quergang und blieb in dem kleinen Raum stehen, in dem sich eines der externen Terminals befand. Er schaltete aus gutem Grund die optische Überwachung aus und sprach nicht, sondern wählte die Tastatureingabe. Ich will die Station verlassen, schrieb er. Eine halbe Sekunde später flimmerte die Antwort auf dem Holoschirm. Genau das habe ich soeben angeordnet. Aber ich bin ein Wesen, das die Lebensbedingungen eines Terraner benötigt. Ich bin ein Terraner! Wie soll ich im Vakuum existieren können? Es wäre mein sofortiger Tod. Gespannt und fast neurotisch vor Erwartung und Angst sahen und verstanden die sechs passiven Persönlichkeiten. Sie sind kein Terraner. Ich kann Sie nicht als Menschen identifizieren! Pynther Äslinnen war beharrlich, aber selbst als Positronikspezialist wusste er nicht, ob seine nervösen Versuche die Entwicklung aufhalten konnten. Er schrieb, fast ohne nachzudenken: Die Unzulänglichkeit der Beobachtungssysteme ist Grund für diesen Fehler der Positronik. Maschinen im Dienst des Menschen dürfen Menschen nicht verletzen! Denke an die Grund regeln! Ich sterbe, wenn du mich angreifst, ich sterbe, wenn ich die Station ver lassen muss. Ich brauche deinen Rat und deine Fürsorge! Ich kann Sie weder als Menschen noch als Terraner identifizieren. Beim Ver lassen der Station erlischt meine Sorgfaltspflicht. Ich bin nicht eingerichtet, um Fremdwesen Fürsorge jeglicher Art angedeihen zu lassen! Meine Beobachtungen sind korrekt und zuverlässig! Äslinnen spürte, dass er den begangenen Fehler niemals wieder wür de rückgängig machen können. Er versuchte es auf einem anderen Weg. Ich bitte, obwohl Terraner, um Asyl bis zu dem Zeitpunkt, an dem ich 33
abgeholt werde! Die Wahrscheinlichkeit, dass Sie abgeholt werden, ist gleich null. »Du verdammtes Stück einer Rechenmaschine«, knurrte Äslinnen in heißer Wut. »Ich werde dir zeigen, wozu wir fähig sind!« Er traute es sich zu, einen Teil der Station lebensfähig zu erhalten, selbst wenn die meisten Speicher und Positroniken zerstört waren. Es gab genügend Teilsysteme, die er unabhängig von einer zentralen Steuerung schalten konnte. Also Kampf! Er schrieb: Ich bin ein Terra ner. Du bist nicht in der Lage, diese Wahrheit zu begreifen und festzustellen. Also bist du reparaturbedürftig. Ich werde dies besorgen, denn nur eine gelun gene Reparatur wird dich erkennen lassen, was du richtig berechnet hattest, als ich hier eintraf. Ich repariere dich auf meine Weise. Die zentrale Positronik antwortete: Soeben wurde die Neutralisierung der Roboter aufgehoben. Sie zeigen sich halsstarrig und werden, tot oder lebendig, aus der Station entfernt. Chung Lo: Ich kann ziemlich gut schießen, Äslinnen. Überlasse mir diesen Teil unseres auslaufenden Lebens. Pynther Äslinnen: In Ordnung. Mach's gut, Kumpel. Du weißt, wo die Schaltzentren der Roboter versteckt sind? Chung Lo: Lächerlich. Als Mechaniker … Knackend entsicherte er die schwere Waffe. Er packte den Gürtel und schnallte ihn sich um, zog die beiden kleineren Handfeuerwaffen heraus, justierte ihre Bündelung ein und schob sie zurück. Dann, als er ein Summen näher kommen hörte, hob er den schweren Zweihand strahler und feuerte, sobald er den Roboter sah. Der zweite Schuss ließ das kybernetische Zentrum der Maschine aufglühen. Der Roboter wur de schneller, drehte sich um die eigene Achse und schlitterte den Kor ridor entlang, auf den Mittelpunkt der Station zu. Mit einem gewal tigen Donnern schlug er in das Sicherheitsschott. Chung Lo spähte in das Halbdunkel des Korridors. Er konnte nur hoffen, dass die Zahl der Roboter gering war. Schlagartig erloschen alle Leuchtelemente. Die Dunkelheit war voll 34
kommen. Chung Lo stolperte rückwärts. Er schrammte mit dem Lauf der Waffe an einer Wand entlang, dann ertastete er die baumelnden Arme und Beine des Raumanzugs. Er griff nach oben und packte den schweren, teils gepanzerten Stoff, als wäre es ein Rettungsanker. Falls die Zentrale weitere Roboter schickte, war es das Beste, ihnen auszuweichen, bevor sie zur Gefahr wurden. »Wohin, Pynther?« Äslinnen beschrieb den Weg zum nächsthöheren Deck. Wieder mel dete sich ein anderes Bewusstsein: Diesmal war es überraschenderweise N'kamo Fassa. »Ich bin in Dunkelheit ziemlich gut, Freunde. Lasst mich helfen!« Allgemeine Zustimmung war zu spüren. Der Fotoreporter übernahm den Körper und tastete sich an der Wand weiter, wurde dabei rasch sicherer und rannte letztlich lautlos durch die absolute Finsternis. Mehrmals folgte er Äslinnens Hinweisen, der den Bauplan der Station tatsächlich auswendig gelernt hatte. Schließlich, als die Geräusche von Robotern schon aus allen Richtungen zu kommen schienen, riss der Fotograf eine schmale Tür auf, hinter der eine Wendeltreppe aus Kunststoffrastern aufwärts führte. Fassa zählte vier volle und eine halbe Umrundung und blieb stehen, als die Stufen endeten. Er lehnte sich sekundenlang an eine Wand, und plötzlich spürte er etwas, das er zuvor nicht wahrgenommen hatte. Ein tiefes, brummen des Dröhnen erschütterte in langwelligen Vibrationen der Station. Zu gleich ging ein deutlich spürbarer Ruck durch die Relaisstation. Chung Lo: Das war eben eine Erschütterung. Vielleicht hat ein Schiff angelegt. Unwahrscheinlich zwar, aber so ähnlich hört es sich an. Tut mir Leid, wenn ich falsche Hoffnungen … Fassa drehte sich um. Seine Finger tasteten suchend über die Flächen vor ihm. Er berührte einen Lichtsensor, doch nichts geschah. Dann fühlte er den Öffnungsmechanismus und ließ die Tür einen winzigen Spalt weit aufgleiten. Fassa spähte in die Finsternis vor ihm. Nicht der geringste Lichtschimmer zeichnete sich ab. 35
Konnte es sein, dass die Positronik ihn verloren hatte? N'kamo Fassa machte mehrere zögernde Schritte hinaus, zog den Raumanzug hinter sich her und blieb stehen. Die Dunkelheit wurde jetzt von seltsamen Geräuschen durchdrungen. Immer wieder ertönte dieses Rumpeln, dazwischen langgezogene, dunkel quäkende Laute. Pynther Äslinnen: Das hört sich wie Alarm an. Aber wegen uns…? Kaum vorstellbar. Es wird das Beste sein, wir versuchen, uns auf dieser offenbar ungefährlichen Ebene wieder der Zentrale zu nähern. Nur dort können wir etwas ausrichten. Vielleicht gelingt es uns, das Schott aufzuschießen. N'kamo, bringe uns dorthin, aber vorsichtig. N'kamo Fassa signalisierte erleichtert seine Zustimmung und lief schnell in die angegebene Richtung. Er hielt sich instinktiv in der Mit te des schmalen Korridors. Bisher war kein Roboter erschienen. Wenige Meter weiter schlug die Positronik zu. Auf beiden Seiten des Korridors öffneten sich die Wände. Als er den jähen Luftzug spürte und die Geräusche von Robotern vernahm, handelte der Choreograf instinktiv. Er federte in den Knien durch, stieß sich ab und machte einen Salto rückwärts. Schon als er aufkam, feuerte er einen ersten, wenngleich schlecht gezielten Schuss ab. Er ignorierte den plötzlichen stechenden Schmerz im rechten Knö chel, sah seinen Strahlschuss an glattem Stahl auseinander fließen und die Silhouetten mehrerer Roboter der Finsternis entreißen. Schon zuckten weitere Energieschüsse aus der schweren Waffe, während sich der Körper des Mehrfachmenschen mit unberechenbaren Sprüngen durch den Korridor bewegte. Dicht an Pheuchs Kopf zuckte eine Glutbahn in die Dunkelheit. Im Hechtsprung warf er sich in einen Seitenkorridor, kam ein wenig un sanft auf, rollte sich dennoch blitzschnell ab und stand gleich darauf schwankend wieder auf den Beinen. Er rannte sofort weiter. Kelassnys Bewusstsein schob sich in den Vordergrund und ließ die anderen mit Entschiedenheit wissen: »Zwei Roboter können wir viel leicht besiegen. Sollten aber mehr auftauchen, dann sind wir so tot wie 36
die Beleuchtung in der Station.« Ein zweiter, diesmal härterer Stoß durchlief die Station. Alle sieben Bewusstseine fragten sich erschrocken, was das zu bedeuten hatte.
***
Trintir traute seinen vier Augen nicht, als vor ihm Signallampen auf leuchteten. Er, der Patrouillenführer, konnte sich nicht erinnern, je mals im normalen Flugbetrieb diese Signalkonstellation gesehen zu haben. »Ryüphüry!«, rief er mit seiner zirpenden Stimme. Sofort drehte der Kopilot den tellerförmigen, rosafarbenen Kopf und starrte mit zwei großen Katzenaugen dorthin, wohin die siebenfingrige Hand des Kom mandanten deutete. »Hyperfunkspruch! In fremder Sprache!« Obwohl beide genau wussten, was zu tun war, dauerten ihre Über legungen länger als notwendig. Sie mussten überaus vorsichtig operie ren, denn die Konzilsmächte kontrollierten alles, ganz besonders die Raumfahrt. »Ich schalte ein!«, sagte Kommandant Trintir. Das kleine Diskusschiff befand sich auf einem Kurierflug. Die Laren hatten die großen, schwer bewaffneten Schiffe eingezogen und gestatte ten den kleineren Einheiten nur genau umrissene Flugbewegungen. Aber jetzt vergaßen die beiden Jülziish im Steuerstand alle Verbote. »In diesem Bereich der Eastside«, verkündete Ryüphüry aufgeregt, »ist ein Hyperfunkspruch eine Seltenheit.« Augenblicke später hörten die beiden Raumfahrer – und kurz darauf über die Bordsprechanlage auch die übrigen Besatzungsmitglieder – durch das Prasseln und Knistern der Störungen eine deutlich erregte Stimme. Trintir hatte noch nie einen Terraner gesehen, aber er kannte die Ge schichtsdaten. In diesem Sektor hatte es einst eine Kontaktstelle gege 37
ben, und die Sprache des Hilferufs war terranisch akzentuiertes Inter kosmo. Selbstverständlich war im Translator der linguistische Erfah rungsschatz von gut einem Dutzend Generationen Jülziish gespeichert. Der Kommandant aktivierte die Übersetzung – sofort wechselte die Stimme in den Ultraschallbereich über, in dem sich die Blues verstän digten. Blues – so nannten Terraner die Völker der Eastside wegen ihrer Körperhaarfarbe. »… ich bin in Gefahr. Die Positronik der Station ist verrückt gewor den. Die Koordinaten sind … die Koordinaten entsprechen zunächst in Grobpeilung der Sonne Soluman in der Eastside. Die augenblick lichen Bahnpunkte sind …« Ryüphüry hob die schmalen Schultern unter dem runden Kragen der Raumkombination. Verwirrt schlossen und öffneten sich seine schil lernden großen Augen. »Ein Terraner in Gefahr? Es gab tatsächlich eine Relaisstation, aber das ist mehr als ein Jahrhundert her. Dort lebt niemand mehr …« Der Kopilot speicherte die Grobkoordinaten und dann die genaue ren Positionsdaten. Dreimal wurde die Durchsage wiederholt. Dann meldete sich der Kommandant über Bordrundruf: »Ich erwarte alle umgehend in der Steuerkanzel! Wir müssen beraten, was zu tun ist.« Sie spürten ihre Aufregung wachsen. Trotz oder gerade wegen der Einschränkungen durch die Konzilsmächte würden sie das Risiko ein gehen müssen. Der Kommandant sah schon an der Haltung seiner Leute, dass sie ebenso dachten wie er selbst. In ihren Gesichtern drückte sich aber abwartende Vorsicht aus. »Ich habe von einer Station gelesen, die in der Vergangenheit von beiden Seiten für Kontakte benutzt wurde«, warf einer der Besatzung ein. »Völlig zutreffend. Mein Verdacht ist, dass es sich um diese Station handelt. Ryüphüry, nimm Kurs auf die exakten Koordinaten!« Ein menschlicher Beobachter hätte von dem Gespräch der sieben Blues nicht viel gehört, der größte Teil der Kommunikation verlief im 38
Ultraschallbereich. Das Zirpen und Murmeln, das für einen Menschen akustisch wahrnehmbar gewesen wäre, ergab sich nur aus charakteristi schen Bässen bestimmter Ausdrücke. »Wir holen den Terraner ab?«, fragte Jüyrenzyi leise. An seinen Un terarmen sträubte sich das samtweiche Fell. Für ihn schien das Risiko, von einer Patrouille der Laren ertappt zu werden, nicht unbeträchtlich zu sein. »Wir informieren uns, was wirklich vorgeht«, erklärte der Komman dant. »Danach werden wir an Ort und Stelle entscheiden. Einverstan den?« »Vielleicht ist tatsächlich ein Terraner in die Station eingedrungen«, erklärte Jüyrenzyi. »Und die Maschinen der Station sind veraltet und identifizierten den Terraner als Gegner.« »Ich bitte unseren Ortungsspezialisten, besonders aufmerksam zu sein«, sagte der Kommandant. »Die SVE-Raumer der Laren erscheinen immer dort, wo man sie nicht vermutet. Außerdem wird die Station selbst schwer zu entdecken sein.« »Nicht, falls der Sender noch längere Zeit arbeitet.« Dass sich ein ter ranisches Schiff in der Zielregion aufhalten würde, war nahezu ausge schlossen. Diese Zeit gehörte endgültig der Vergangenheit an. Von der einstmals stolzen Flotte des Solaren Imperiums war so gut wie nichts mehr übrig, auch dafür hatten die neuen Herren der Galaxis gesorgt.
***
Kommandant Trintir ging kein Risiko ein. Als sich die Relaisstation in der Ortung abzeichnete, ließ er das Diskusschiff mit hohem Gegen schub abbremsen. »Feuerleitstelle!« »Alle Systeme sind einsatzbereit. Wollen Sie …?« »Nein. Aber wir müssen auf unsere eigene Sicherheit achten. Nie mand kann vorhersehen, welche weiteren Fehler die terranische Posi 39
tronik macht.« Der Sender arbeitete immer noch. Eine halbe Lichtstunde betrug die Distanz. Die Besatzung des Diskusschiffs hatte mittlerweile alles Wis sen zusammengetragen. Demzufolge musste es sich bei dem kugelför migen Objekt in der Ortung um eine vergleichsweise uralte terranische Relaisstation handeln. »Eine Falle?«, argwöhnte der Kommandant. Langsam näherte sich sein kleines Schiff der Station. »Das ist nicht auszuschließen«, antwortete Ryüphüry. »Aber wer soll te uns eine Falle stellen? Die Terraner haben andere Sorgen. Außerdem wusste niemand, dass unser Schiff so nahe vorbeifliegen würde.« »Richtig!« Trintir wurde zum ersten Mal unsicher. Es gab keinen er kennbaren Grund, weshalb sich ausgerechnet jetzt diese längst verges sene Station eines in Bedeutungslosigkeit versunkenen Volkes in eine womöglich tödliche Falle verwandelt haben sollte. Jüyrenzyi meldete sich. »Kommandant! Wir entdecken nicht einmal offene Hangarschleusen. Wenn tatsächlich jemand gefährdet ist, dann besteht diese Gefahr ausschließlich im Innern der Station.« »Wir gehen näher heran! Aber mit aller Vorsicht. Geschütze regulie ren und feuerbereit! Schutzschirme einschalten! Erbitte Bestätigung!« »Kommandos bestätigt!« Für die Hand voll Yülziish war das Signal in terranischer Sprache wie eine Nachricht aus der Vergangenheit. Plötzlich wurden ausgerechnet sie mit Geschehnissen konfrontiert, die es eigentlich nicht mehr geben durfte. Die Zeit, in der Yülziish gegen Terraner gekämpft hatten, war für sie graue Vorgeschichte. Die wenigen Jahrzehnte, in denen die ehe maligen Gegner auf der Basis der Vernunft miteinander verkehrt hat ten, kannten sie nur aus Lehrstoffen und Erzählungen der Älteren. Langsam näherte sich der Diskus der Relaisstation. Im Hintergrund des Kommandostands redete immer noch die terranische Stimme. Viel leicht lockte die Hyperfunksendung auch ein Schiff der Überschweren oder gar einen SVE-Raumer der Laren an. 40
»Wir versuchen, an der Station anzulegen!«, bestimmte Trintir. »Gibt es Erkenntnisse über Funk?« Die Antwort kam sofort. »Wir senden unsere Kennung über Trans lator und auf derselben Wellenlänge. Keine Antwort.« Trintir beobachtete konzentriert die Holoschirme, auf denen die ter ranische Station in verschiedenen Wiedergabemodi erschien. Ruhig beobachtete er die eingeblendeten Zahlenkolonnen der Distanz- und Relativfahrt-Anzeigen. Niemand an Bord redete noch, alle schienen auf ein überraschendes Ereignis zu warten. Trotzdem blieb ihnen keine Zeit, zu erschrecken. Jeder sah das grelle Aufblitzen drüben bei der Station, im selben Sekundenbruchteil ließ die gegnerische Waffenenergie den eigenen Schutzschirm auflodern. Ein zweiter Strahlschuss erwischte den Diskus im Abdrehen, rief aber ebenfalls keine Schäden hervor. Dann schien dieser Sektor wieder in Einsamkeit zu versinken. »Es war also doch eine Falle«, stellte Kommandant Trintir zornig fest. »Ich bin entschlossen, diesen Angriff gebührend zu beantworten. Feuerleitstelle?« »Fertig!« Die Yülziish waren weit von ihrem ursprünglichen Kurs abgewichen, um vielleicht jemandem helfen zu können, der auf ihre Hilfe angewie sen war. Dass sich der Hilferuf als Hinterhalt erwiesen hatte, steigerte ihren Zorn. Sie hatten niemals ernsthaft gekämpft. Aber die Männer in der Feu erleitzentrale waren hervorragend ausgebildet. Wer immer die terrani sche Station besetzt hatte, und wenn es wirklich Terraner waren, sie würden demjenigen zeigen, was es bedeutete, sich mit Yülziish anzule gen. Mehrmals wurde der Diskus getroffen, zeigte der eigene Schutzschirm erste Auflösungserscheinungen, aber der Gegner hatte weit schwerere Schäden zu verzeichnen. Mehrere Treffer nacheinander durchschlugen die Kugelhülle. Weißglühende Kreise breiteten sich um 41
die Einschlagstellen herum aus, dann explodierten in den Räumen da hinter irgendwelche Energieanlagen. Stahlplatten wurden aus dem Rumpf herausgerissen. Nach wie vor schrie der Sender seinen Hilferuf hinaus.
***
Erst nach Sekunden löste sich die Starre. Panik und Angst schüttelten den Körper, Äslinnen führte eine Reihe unkontrollierter Bewegungen aus, bis schließlich Chung Lo die Leitung übernahm und allen klar machte, dass der wertvolle Körper im Raumanzug besser geschützt war. Abd el Pumán: Ich habe nicht geglaubt, dass es in dieser abgelegenen Region wirklich Schiffsverkehr gibt. Aber es muss so sein. Dort drau ßen geht etwas vor, was mich zu dieser Ansicht zwingt. Der Choreograf schaltete sich ein. Sein Bewusstsein verdrängte Chung Lo, der wegen seiner Nervosität ernsthafte Schwierigkeiten beim Anziehen des Raumanzugs hatte. Dankbar zog sich der Chefme chaniker zurück. Hubert Kelassny: Das klingt tatsächlich nach einem Kampf. Pynther Äslinnen: Eindeutig sogar. Das bedeutet für uns, dass ein Teil der positronischen Kapazität derzeit anderweitig gebunden ist. Sie wird sich nicht mehr voll auf uns konzentrieren können, diese schwachsin nig gewordene Rechenmaschine. Tamoe Pheuch stellte die Handlampe so auf den Boden, dass ihr breit streuender Lichtkegel die Decke beleuchtete, während er fortfuhr, den Anzug sachgerecht zu schließen und den Waffengurt anzulegen. Er handelte in rasender Eile. »Verdammt!«, schrie Pheuch. Er war soeben im Begriff, den linken Handschuh mit dem Ärmel zu verbinden. Er machte einen Satz in Richtung der Lampe, aber die Roboter waren bereits zu nahe herange kommen. Sie schwebten an beiden Seiten des Verbindungsgangs vor bei und hielten ruckartig inne, als sie das Licht und die sich bewegen 42
de Gestalt erkannten. Der Choreograf schien noch einmal über sich hinauszuwachsen. Er warf sich zu Boden, fand mit untrüglicher Sicherheit die schwere Waffe und ihren Auslöser, und schon fraß sich der erste gebündelte Energiestrahl in den stählernen Leib eines der Roboter. Keine Handbreit über Pheuch fauchte ein Thermoschuss hinweg und floss an der Wand hinter ihm auseinander. Im zuckenden Widerschein erkannte Tamoe eine schmale Tür und warf sich, ohne Unterbrechung feuernd, in wilder Entschlossenheit dagegen. Tamoe Pheuch taumelte in den Raum dahinter. Tobender als zuvor spürte er den Schmerz im Knöchel. Er biss die Zähne zusammen, als er aufsprang und im Zickzack weiterhetzte. Energieblitze schlugen hin ter ihm in den winzigen Raum. Wieder erschütterte ein Stoß die Station. Tamoe wurde von den Fü ßen gerissen und wie eine Puppe gegen die Wand geschleudert. Aber auch der Roboter schien plötzlich mit Schwierigkeiten konfrontiert zu sein, jedenfalls lagen seine Schüsse plötzlich meterweit entfernt. »Chung Lo, hilf mir!«, wimmerte der Choreograf. Der Chefmechaniker fürchtete sich nicht weniger. Aber er konnte mit der Waffe besser umgehen. Er verbiss sich den mittlerweile toben den Schmerz beim Auftreten, torkelte zeitgleich mit einer neuerlichen Erschütterung zurück bis zu der Türöffnung und hielt sich mit der lin ken Hand fest. Die schwere Waffe in der rechten Armbeuge liegend, schoss er auf den Roboter und zog sich sofort wieder zurück, als der Roboter von einer Stichflamme aufgerissen wurde. Pynther Äslinnens Bewusstsein sagte drängend: »Ich bringe uns zu einem Hangar. Wir können nicht mit dem angreifenden Raumschiff sprechen. Aber ein Schiff ist auf alle Fälle da draußen, und die Besat zung muss Grund haben, die Station zu beschießen. Vorwärts jetzt!« Der Mehrfachmensch, von Äslinnen gelenkt, verließ den raucherfüll ten, extrem erhitzten Raum und wich dem glühenden Torso des zwei ten Roboters mit respektvollem Abstand aus. Er warf sich die schwere 43
Waffe über die Schulter und schaltete die Gürtellampe des Rauman zugs ein. Der Lichtkegel bohrte sich in die Finsternis des Korridors, der zur Peripherie der Kugel führte. Im Streulicht zog sich Äslinnen endlich die Handschuhe an und schloss die Nahtstellen zu den Är meln. Hastig kontrollierte er die Versorgung. Er blieb kurz stehen und verlagerte das Körpergewicht auf den unversehrten Fuß. Währenddes sen befestigte er den Antigravgürtel über dem Waffengurt. In der Nähe der Außenwandung verzweigte sich der Korridor in rechtwinklig abbiegende Stollen, Treppen und Rampen. Die Zähne zusammengebissen, humpelte Äslinnen weiter. Nachdem er eine Trep pe hinaufgestolpert war, erreichte er den Vorplatz einer Schleuse. Sie führte zu einem Space-Jet-Hangar. Ungeduldig wartete er darauf, dass er den Hangar betreten konnte. Irgendwie hoffte er sogar, dass sich die Positronik auch bei den Bei booten geirrt hatte. Aber dann dröhnten die nächsten Erschütterungen durch die Station. Und jedes Mal schien es ein wenig schlimmer zu werden. Hubert Kelassny: Das ist möglicherweise nur ein einziges Raumschiff. Vielleicht hat die Station jemanden, der unseren Hilferuf gehört hat, beschossen? Vanni Delgiudice: Sarkasmus erscheint in unserer Situation unange bracht. Abd el Pumán: Wir werden sterben. Ich fühle das! Macht endlich die Schleuse auf! Äslinnen! Chung Lo: Ruhe und bitte keine Panik! Pynther, schließe den Helm und teste die Systeme. Du schaffst das, oder? Pynther Äslinnen: Wenn ich einen Moment stillstehen kann, öffne ich sogar die Innenschleuse. Binnen einer einzigen Sekunde führten die Bewusstseine den Dialog. Die Erschütterungen ebbten wieder ab. Äslinnen schloss den Helm und nahm, so gut es ihm eben möglich war, die nötigsten Kontrollen vor. Alles funktionierte, und den lästigen Geruch, den der nie getra 44
gene Raumanzug verströmte, bemerkte Äslinnen nicht einmal. Tief at mete er die scheinbar frische Luft ein und fühlte sich dabei wie ein Taucher, der aus großer Tiefe an die Oberfläche zurückkehrte. Einem plötzlichen Entschluss gehorchend, öffnete er die Schleuse zum Hangar über die Handsteuerung. Die Atmosphäre entwich fau chend, dann war der Spalt so groß, dass Äslinnen den gemeinsamen Körper hindurchzwängen konnte. Drei vorsichtige Schritte machte er in die Halle hinaus – und dann sah er die Sterne. Sie leuchteten durch das zerrissene, von deformierten Stahlteilen bedeckte Gittergerüst der Außenwandung. Ein ausgeglühtes Loch, nicht weniger als fünf Meter durchmessend, befand sich genau dort, wo es einmal zwei funktions fähige Schleusentore gegeben hatte. Natürlich wartete keine Space-Jet in dem Hangar. Abgesehen von kleineren Trümmerstücken war er leer. Hubert Kelassny: Die sarkastische Betrachtungsweise scheint doch die richtige gewesen zu sein. Ein veritabler Kampf hat stattgefunden. Pynther Äslinnen: Ich versuche, etwas zu erkennen. Vielleicht können wir Signale geben! Er ging geradeaus. Die künstliche Schwerkraft funktionierte merk würdigerweise noch einwandfrei. Mehrmals stieß er gegen herumliegen de Trümmer, dann hielt er sich an einem Wandfragment fest und starr te hinaus in den Weltraum. Abd el Pumán: Dieses Panorama der Sterne ist atemberaubend. In die sem Sektor bieten sich ideale Beobachtungsmöglichkeiten. Aber ihr habt mich ja nicht ein einziges Mal in das Observatorium gehen las sen! Chung Lo: Ich habe den Eindruck, einer der Sterne bewegt sich! Äslinnen blickte suchend in die Richtung, die ihm der Hinweis des anderen Bewusstseins gezeigt hatte. Es war tatsächlich ein winziger, grünlich glühender Lichteffekt, der sich auf einer schräg nach oben zie lenden Bahn näherte. Im Kern dieser Leuchtblase schimmerte etwas, das wie ein Diskus aussah. Wie weit dieses Raumfahrzeug entfernt war, 45
konnte der Positronikspezialist nicht abschätzen, dazu fehlten ihm Größenvergleiche. Noch während er das vermeintliche Schiff beo bachtete und überlegte, wie er sich bemerkbar machen könnte, schrie N'kamo Fassa: »Funken! Helmfunk auf größte Reichweite schalten!« Äslinnen reagierte nicht darauf. Von irgendwo über seinem Standort und von weiter rechts zuckten Energiebahnen auf und schlugen dem Diskusschiff entgegen. Dort blitzte es ebenfalls grell. Weil der Schutzschirm aufloderte, aber auch, weil die Geschütze des Diskusschiffs zu rückfeuerten. Der Gedanke war noch nicht zu Ende gebracht, als die gegnerischen Energiebahnen in der Nähe des Hangars einschlugen. Blendende Glut überall. Strahlträger zerbarsten in entsetzlicher Laut losigkeit. Verkleidungsplatten wurden zusammengestaucht, ehe sie sich losrissen und wie Papierfetzen davonwirbelten. Die meisten Trümmer wirbelten von der Station weg, gerieten in den Schussbereich und ver glühten wie auflodernde Sternschnuppen in der Atmosphäre eines Pla neten. Äslinnen hörte sich ins Helmmikrofon brüllen: »Aufhören! Die Sta tion wird von einem defekten Rechner geleitet … Ich bin allein. Helft mir, ich bin wirklich ein Mensch – hier in einem leeren Hangar …« Die anderen Bewusstseine hatten sich abgekapselt. Nur Äslinnen er duldete die Angst, die der Körper miterlebte. Ein jäher Ruck ließ ihn den Halt verlieren, und dann schwebte er plötzlich hilflos durch den halb zerstörten Hangar. Die künstliche Schwerkraft war ausgefallen. In nächster Nähe schie nen Speicherbänke kritisch zu werden, denn eine Wand des Hangars glühte auf, und Sekunden später zerplatzte sie in einem Regen weißglü hender Fragmente. Etwas wirbelte den Körper herum und schleuderte ihn wie einen Ball durch die Einschussöffnung in den Schleusentoren. Der nächste Ener gieschuss riss den Hangar weiter auf. Pynther Äslinnen war immer noch allein, als er, halb geblendet und 46
am Rand seiner Beherrschung angelangt, die Orientierung wiederfand. Der Körper war zusammengekrümmt wie ein Embryo und über schlug sich um mindestens zwei Achsen. Die Sterne tanzten jedenfalls einen irrwitzigen Reigen. Ein Geräusch wurde deutlicher. Es waren die eigenen qualvollen Atemzüge. Mühsam setzte Äslinnen alles daran, die Drehbewegung un ter Kontrolle zu bekommen. »… helft mir! Hier bin ich, ich treibe durch den Raum … Ihr müsst mich doch sehen – helft mir!«, schrie er immer wieder. Seine Stimme verwandelte sich in dem engen Gefängnis des Helmes in eine Laut folge, die er nicht mehr zu erkennen vermochte. Nach einer Weile trieb ein dunkler Gegenstand vor seine Sichtblen de. Er hatte Mühe, die Waffe zu erkennen, mit der er sich gegen die Roboter verteidigt hatte. Sie schwang, am Riemen über der Schulter ge halten, vor seinen Kopf. Er griff danach und veränderte abermals die Lage seines Körpers. Seine tastenden Finger fanden den Abzug. Äslinnen bemerkte, dass er sich der Schwelle des Wahnsinns näherte. Er schrie und weinte und stammelte wirres Zeug. Er erkannte nicht einmal mehr, dass er ebenso pausenlos die Waffe abfeuerte. Die scharf fokussierten Strahlen zuckten nach allen Seiten, weil sich der Körper weiterhin drehte und langsam von der Station wegdriftete. Hinter dem Mehrfachmenschen detonierten die letzten Energiebänke von SI-RS-290. Die Glut ließ ein aufloderndes Gerüst erkennen, das stählerne Skelett der zerstörten Station.
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3.
T
rintir spürte, dass seine Erregung verebbte. In einer langgestreck ten Kurve schnitt der Diskus durch den Raum, in dem die bren nende Station und ihre wie Funkenregen davonstiebenden Trümmer dominierten. »Der Sender, denke ich, ist ausgefallen?« »Ja, Trintir. Aber es gibt inzwischen ein merkwürdiges Hintergrund geräusch…« »Verstärken und auf Lautsprecher umlegen!« Sie hörten eine verzerrte Stimme: »… ich treibe durch den Raum … Ihr müsst mich doch sehen – helft mir!« Ein Wimmern folgte, das der Translator nicht mehr übersetzen konnte. Betäubt schloss Trintir die Frontaugen und senkte den Kopf. Das war ein echter Notruf. »Sucht ihn!«, sagte er laut. »Ortung! Versucht, einen Terraner im Raumanzug zu finden. Er treibt irgendwo zwischen den Trümmern.« Ryüphüry sprach seine Gedanken laut aus: »Wahrscheinlich schaltete der Flüchtling den Stationssender ein. Danach wurde er von der Posi tronik der Station angegriffen, und sie griff uns ebenfalls an. Es war offensichtlich so, wie der Notruf sagte.« »Wenn es so war, dann haben wir uns geirrt, und es gab keine Falle. Wir werden es erfahren, wenn wir einen Terraner im Raumanzug fin den.« Ununterbrochen kamen neue Positionsmeldungen. Aber die Or tung war übersät von Reflexen. Unmengen von Trümmern trieben in unterschiedlichen Geschwindigkeiten vom Ort der Zerstörung weg. Trotzdem näherte sich der Diskus dem Gebiet, aus dem die verwor renen Signale mit geringer Sendekapazität kamen. Stetig verglühten Wrackteile im Schutzschirm. Erst nach geraumer Zeit stieß der Kopi 48
lot einen verblüfften Ruf aus. »Lichtblitze, Kommandant! Im Vektor Chi!« Die optische Vergrößerung zeigte einen Schatten am Rand des schwächer werdenden Glutregens. Ausschnittvergrößerungen zeigten endlich eine menschliche Gestalt, die einen schweren Strahler in Hän den hielt und in Dreierintervallen auslöste. Möglicherweise feuerte die Waffe automatisch, denn das Wimmern im Funkempfang hatte auf gehört. »Die Bergung einleiten! Vorsicht vor der Energiewaffe!« »Wir haben verstanden, Kommandant!« Der Kopilot brachte das Schiff sehr nahe an den hilflos treibenden Terraner heran und schaltete eine große Strukturlücke im Schutzschirm. Traktorstrahlen griffen nach dem reglosen Körper und zogen ihn heran. Weitere Zugfelder halfen, die Drehung abzubremsen. Ein Yülziish verließ das Schiff und nahm dem Terraner die Waffe ab. Erst danach holten sie ihn an Bord. Nur Minuten später beschleunigte das Diskusschiff und strebte ei nem ungewöhnlichen Ziel entgegen.
***
Hubert Kelassny blinzelte verwirrt. Er stellte ohne Überraschung, aber voller Befriedigung fest, dass er noch lebte, und er merkte, dass er frei atmen konnte. Tief holte er Luft und versuchte, die verworrene Erin nerung an Zerstörung, Flucht, kreatürliche Furcht und das Dahintrei ben im Weltraum zu verdrängen. Erst allmählich wurde er sicher, dass er sich unter Raumfahrern be fand. Er sah vor sich vier Beinpaare in dünnen, ungewöhnlich aus sehenden Hosen und Stiefeln. Zögernd hob Kelassny den Blick und schaute zu den Fremden auf. »Wer seid ihr?«, brachte er halblaut hervor. Seine Lippen waren trocken wie Papier. 49
Zwischen den vier Fremden, die entfernt humanoid aussahen, aber blauen Pelz an den sichtbaren Stellen der Gliedmaßen, überlange Hälse und flache, tellerförmige Köpfe hatten, und Kelassny selbst, der in einem breiten, in die Waagerechte gekippten Sessel ausgestreckt war, stand ein kleiner Translator. An die Fremden hatte Kelassny keine Er innerung. Außerdem schien das Übersetzungsgerät nicht richtig zu funktionieren, denn nach seiner verwirrten Frage gab es nur wenige sehr schrille, zirpende Laute von sich. Schweigend und erstaunt, aber nicht beunruhigt, verfolgte der Biologe – der Mund der fremden Raumfahrer, die ihn wohl aus dem All gefischt und gerettet hatten, öff nete sich an der Übergangsstelle zwischen Hals und Brustkorb –, dass die Tellerköpfe miteinander sprachen. Und zwar mit diesen zirpenden Lauten. Kelassny begriff jetzt. Der Translator übersetzte. »Wir haben dich in den Trümmern gefunden. Du hast den Notruf abgestrahlt?« »Ich wurde aus der Station geschleudert. Die zentrale Automatik ist defekt… gewesen. Ich weiß nicht, wie ich in diese Station kam. Habt ihr zu trinken für mich? Etwas, das mich nicht gleich umbringt?« Er registrierte, soweit er das karge Mienenspiel der Fremden richtig interpretierte, deutliche Überraschung. Einer der Blaupelze verließ sei nen Platz und kam kurz darauf mit einem Trinkgefäß zurück, aus dem ein dicker Trinkhalm herausragte. »Danke.« »Wer bist du? Ein Terraner?«, fragte ein anderer. Ihre Sprache, fand Kelassny heraus, benutzte weitestgehend den Ultraschallbereich. Ver mutlich konnte keiner von ihnen Terranisch oder Interkosmo, jeden falls konzentrierten sie sich auf die Übersetzung. »Ja. Genauer: Ich bin sieben Terraner«, sagte er und nahm einen län geren Schluck. »Sieben Bewusstseine in einem Körper, der unter einem gestauchten Knöchel leidet.« »Er ist wahnsinnig geworden«, gab der Translator von sich. »Viel leicht lebt er schon so lange in der verlassenen Station, dass sein Ver 50
stand gelitten hat.« Hubert Kelassny grinste. Er war gerettet, nur das zählte. Er trank den Becher leer und versuchte, den Sessel hochzuklappen. Leise berieten sich die Fremden. »Ich sage die Wahrheit«, fuhr er fort. »Plötzlich befand sich mein Körper, vor einigen Tagen, in der verlassenen Station. Wir entdeckten, dass sich sieben individuelle Bewusstseine in diesem Körper befinden – aber keiner von uns sieben weiß, wie das zugegangen sein mag. Auf alle Fälle danken wir euch für die Lebensrettung. Die Station war drauf und dran, uns umzubringen.« Mit veränderter Stimme sagte Pynther Äslinnen: »Kelassny hat Recht. Wir haben auch sieben verschiedene Berufe, nicht wahr, Delgiudice?« Vanni Delgiudice: »Richtig. Ich bin Nahrungsmitteltechniker. Und Fassa ist Fotograf.« N'kamo Fassa: »Leider bin ich völlig nutzlos. Ich ziehe mich wieder zurück!« Als das Gerät übersetzt hatte, war nicht klar, ob die Fremden sowohl die viermalige Änderung im Ausdruck des Gesichts als auch die vier unterscheidbaren Stimmen registriert hatten. Chung Lo: »Es ist leider kein Raumfahrer unter uns. Aber wenn ihr etwas zu reparieren habt, bin ich gern bereit, euch zu helfen. Ihr seid richtig nette Kerls, wie?« Abermals veränderten sich Ausdruck, Sprechweise und Stimmhöhe. Abd el Pumán hob die Schultern und maulte: »Wir beschuldigen euch nicht, unsere sieben Persönlichkeiten in einen Körper hineingepresst zu haben. Aber … habt ihr wirklich nichts damit zu tun?« Tamoe Pheuch: »Danke auf jeden Fall. Wohin bringt ihr uns? Auf eure Welt? Können wir dort überhaupt leben? Wir sind natürlich völlig ver stört, und ihr müsst uns verstehen. Wir alle haben die Hölle durchge macht.« Siebenmal hatte sich der Körper im Ausdruck verändert. Kelassny, der jetzt wieder übrig geblieben war, grinste abermals. Er konnte sich 51
unschwer vorstellen, dass die Fremden ihn als verrückt, wahnsinnig oder verstandesgeschädigt bezeichnen mussten. Einen Monolog mit verteilten Stimmen und verändertem Gesichtsausdruck, einschließlich der Gestik – eine solche Zurschaustellung würde auch ihn zu unschö nen Folgerungen veranlasst haben. Obwohl er inzwischen die Last ebenso wie die Vorteile des multiplen Terraners mit wechselnden Fä higkeiten kennen gelernt hatte, verstand er die Fremden. Oder gerade deswegen. Stumm und verwundert betrachteten sie ihn. Schließlich sagte einer der vier Tellerköpfe: »Ich bin Kommandant Trintir.« Wenigstens über setzte der Translator diese Lautfolge. »Wir haben unsere Pflicht als Raumfahrer getan. Du bist zweifellos unter Angehörigen deines Volkes besser aufgehoben als an Bord unseres Schiffes. Außerdem haben wir Strafen zu befürchten, wenn wir dich mitbringen. Deshalb werden wir dich zu deinesgleichen bringen. Aber dort leben nur Menschen, die einen Körper und einen Verstand haben.« »Aus einem Grund, den ich euch nicht erklären kann, begrüße ich euren Entschluss«, sagte Hubert Kelassny und fühlte eine große innere Ruhe aufkommen. Wohin sie ihn bringen würden, interessierte ihn nicht. Jetzt noch nicht.
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Zischend entwich der Überdruck aus dem Ventil, und die Dampfwolke bildete in der Abendluft einen Regenbogen. Mit schmerzendem Rü cken kletterte Tobby Beugner aus dem Führerstand der eisernen, ros tigen, heißen und stinkenden Dampfmaschine. Trotzdem strahlte sie über das ganze Gesicht, als sie die Arbeitsleistung der drei vergangenen Tage überblickte. »Unsere Saat für dieses Jahr ist untergebracht!«, rief sie aufgeregt und wischte die Handflächen an der Hose ab. 52
Die Abendsonne zauberte auf ihrem kurzgeschnittenen goldroten Haar seltsame Reflexe. David Beugner stand regungslos vor ihr, stemm te sich seine erdbeschmutzten Hände in die Seiten und betrachtete den riesigen Acker. Die umgebrochene Erde, viertausend Meter lang und halb so breit, roch gesund und vielversprechend. Es schienen hun derttausend tiefe Furchen zu sein, die parallel zueinander verliefen. Erst in zwei Monaten würden sie das Feld bewässern müssen. »Ohne dich, Tobby, wäre das alles nicht zu schaffen gewesen.« In den Ställen wieherten die Hoptiquags. Sie waren hungrig und wollten bewegt werden. Es schien ein starker Nachtwind aufzukom men, in der Luft winselte und heulte es leise. »Übertreibe nicht, Väterchen! Jedenfalls bin ich hungrig. Vielleicht bekomme ich morgen die Pumpe zufrieden stellend repariert zurück. Dann können wir die Reisterrassen fluten!« »Vielleicht. Bisher ist sie immer nach zwei Stunden wieder heißge laufen.« David legte einen Arm um die Schultern der Tochter und ging ausgesprochen heiter mit ihr zurück ins Haus. Einmal stutzten sie, denn das Winseln war lauter geworden. »Das klingt nach einem einfliegenden Raumschiff«, bemerkte Tobby. Wieder einmal stellte David fest, dass sie die Größe und die weiße Haut ihrer Mutter geerbt hatte. Nur die Sommersprossen gehörten allein Tobby. Er drängte die Erinnerung gewaltsam zur Seite und ging weiter. Inzwischen war das ferne Geräusch lauter und deutlicher geworden. Als sie die langgestreckte, von Pflanzen überwucherte Pergola vor dem Haus erreichten, erkannten sie fast gleichzeitig, dass es tatsächlich das unverkennbare Geräusch eines Raumschiffs im Landeanflug war. Über rascht blieb Tobby stehen und ignorierte das ungeduldige Lärmen der Reit- und Zugtiere. »Aber … die verdammten Überschweren waren erst vor einem Monat hier und haben ihre Kontrollen durchgeführt«, sagte sie bitter. Immer dann, wenn sie von den Knechten der Konzilsmächte sprach, verwan 53
delte sie sich trotz der unverkennbaren weiblichen Formen in den Ausdruck kalten Hasses. »Sie können uns nichts mehr wegnehmen, weil wir nichts mehr ha ben«, schränkte David ein. Er stieß die Tür auf und ging in den Vor raum, um seine schweren Stiefel auszuziehen. »Wir haben noch den Rest unserer Freiheit zu verlieren!«, rief Tobby hinter ihm her. Nur dreißigtausend Lichtjahre war die kleine blaue Sonne von dem ehemals bedeutungsvollen Standort Sol entfernt, der unvergesslichen Heimat. Und nun verödete wegen der Larenherrschaft dieser einstmals ungeheuer wichtige Knotenpunkt des galaktischen Handels. Das Heu len aus der Höhe wurde schneidender. In der Abendsonne blinkte ein winziger ferner Punkt auf, jagte über die ehemalige Stadt und das lang gestreckte, längst vom Dschungel überwucherte Industriegelände hin weg und näherte sich dem Boden. Das Objekt wurde größer und deut licher, und als letztes Signal dröhnte der Unterschallknall heran. »Ein Raumschiff landet!«, rief Tobby. »Ein Diskus!« Aus der Dusche antwortete der Farmer: »Ich komme sofort. Sattle die Hoptiquags!« Während ihrer Ausbildung hatte Tobby Beugner in den Archiven, sofern sie nicht zensiert oder gelöscht waren, manches über die Ge schichte des Solaren Imperiums und die Personen erfahren, die im Lauf eines mörderischen Schicksals in dieses Auf und Ab integriert ge wesen waren Namen wie Rhodan, Atlan, Tifflor, Bull oder Gucky und deren wirkliche Bedeutung kannte sie ebenfalls. Sie wusste, dass Wir gier der dritte von acht Soluman-Planeten war und dass sämtliche Bluesvölker diese Oase der Ruhe und des ungefährlichen Treffens be grüßt hatten, damals, nach den Schrecken des langen Krieges im Welt raum. Sie lief hinüber zu den Ställen, einer Anlage aus Ruinen der Schalt station und Anbauten aus Stämmen und dicken Riedgrasdächern, zog zwei Hoptiquags ins Freie und zäumte sie. Die Tiere waren Allesfres 54
ser und sahen aus wie eine Parodie eines knochigen Pferdes. Tobby schnallte die einfachen Sättel fest und registrierte zwischen dem Krei schen der aufgeregten Tiere, dass sich das Geräusch des landenden Schiffes verändert hatte. Eine kurze Strecke halsbrecherischen Galopps lag der noch benutzbare Teil des ehemals riesigen Raumhafens ent fernt, die ovale, von üppigem Grün umwucherte Fläche neben dem rostigen Stumpf des Towers. Wer immer hier landete, er schien sich jenem Bereich zu nähern. Als Tobby Beugner mit den unruhigen Tieren den Platz zwischen Wohn haus und Stall betrat, kam ihr Vater aus der Tür. »Tatsächlich! Ein Schiff!«, rief er und rieb sich dabei das Haar tro cken. Er warf das Handtuch über eine Mauer und rannte auf die Tiere zu. »Es sieht nicht so aus, als wäre es ein SVE-Raumer!«, bestätigte Tobby. »Auf jeden Fall könnte das interessant werden.« Tobby und ihr Vater schwangen sich in die Sättel. Im Galopp sprengten die grünfelligen Tiere aus dem Hof der Farm hinaus auf die moosbewachsene Straße. Jenseits des Dschungels, der jedes Jahr mehr von der Hafenfläche verschlang, landete der Diskus.
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Das Raumschiff setzte mit laufenden Triebwerken auf. Schon in der nächsten Minute wurde die Hauptschleuse geöffnet. Zischend fuhr eine schmale Rampe aus. Drei Gestalten erschienen in der Schleuse, sie trugen zwischen sich einen Menschen. Mit schnellen, trippelnden Schritten schleppten sie ihn aus dem Schiff und legten ihn nicht eben sanft auf den rissigen Beton der Piste. Sofort wandten sie sich um und verschwanden wieder in dem Schiff. Die Triebwerke summten. Der Diskus hob sich aus den länger wer denden Schlagschatten des nahen Waldes und stieg zuerst langsam, dann immer schneller in den Abendhimmel. Kurze Zeit später ver 55
schwand er in einem fern aufblitzenden Reflex. Stille… Erst nach einiger Zeit erwachten die kleinen und unsichtbaren Ge schöpfe des dichten Waldes auf Wirgier wieder zu tobendem Lärmen. Die Sonne berührte den Horizont. Die Gestalt im offenen Raumanzug bewegte sich stöhnend. Minuten später umstanden mehr als dreißig Frauen und Männer den ausgesetzten Fremdling. Sie waren auf Reittieren gekommen, auf Wa gen und einige sogar mit einem altersschwachen, klapprigen Gleiter. Tobby und David Beugner sprengten auf ihren knochigen Tieren her an. Flüchtig und ohne besondere Herzlichkeit begrüßten sich die Pla netarier. Es gab keinen unter ihnen, der nicht von der täglichen Arbeit erschöpft gewesen wäre. »Habt ihr gesehen, was geschehen ist?« »Ich war dort drüben«, sagte der junge Farmer, der ein Ersatzteillager besaß, um das ihn jeder beneidete. »Der Diskus landete, drei Raumfah rer schleppten diesen Mann heraus und legten ihn einfach da ab. Kurz darauf starteten sie wieder.« »So muss es wohl gewesen sein. Sie haben den armen Chung Lo ein fach fallen lassen«, sagte der Fremde mit dem schmalen Gesicht und den grauen, halblangen Haaren unvermittelt. Er stemmte sich hoch und verharrte vorübergehend auf den Knien. Seine grünen Augen rich teten sich auf Tobby, die energisch zwei Frauen zur Seite schob und ihm half, vollends aufzustehen. »Wo bin ich?«, fügte er nach einem tie fen Seufzen hinzu. »Auf Wirgier. Erdähnlicher dritter Planet der Sonne Soluman«, sagte Tobby. »Ich bin Tobby Beugner. Das ist mein Vater. Woher kommen Sie?« »Ich habe nicht die geringste Ahnung. Aus einem Raumschiff. Es zerstörte die Relaisstation, in der ich mich aus irgendeinem Grund be fand. Ich habe Hunger.« »Wer oder was sind Sie?«, erkundigte sich David und musterte den 56
Mann. Er sah verwahrlost und erschöpft aus, Schrecken und Hunger kennzeichneten sein Gesicht mit einem mehrere Tage alten Bart. »Ich bin Mechaniker«, fing Chung Lo an. »Aber da sind andere …« Er sah Tobbys Blick. Die hübsche Frau machte ihn noch nervöser. Er hörte auf zu sprechen, aber da sich keines der anderen Bewusstseine in den Vordergrund schob, wiederholte er: »Ja. Ich bin Mechaniker. Haben Sie vielleicht eine Dusche und eine Matratze? Ich bin ziemlich am Ende.« Tobby grinste ihn mit Verschwörermiene an. Mechaniker, das war genau das richtige Stichwort für sie. Nichts brauchte die Farm dringen der als jemanden, der alle möglichen Geräte reparieren konnte. Sie packte Chung Lo an der Hand und zog ihn mit sich. Sie nickte den Umstehenden zu und verkündete nicht ohne Triumph: »Ich leihe ihn euch gern – später. Er ist arm dran. Daddy und ich kümmern uns schon um ihn.« Fast willenlos ließ Chung Lo alles mit sich geschehen. Tobby zog ihn zu einem der knurrenden Tiere. Sie hielt die Zügel fest, und ihr Vater half dem Mann in den Sattel. Chung Lo verkrampfte beide Hän de um das hölzerne Sattelhorn, als sich Tobby mit einem Satz hinter ihn auf den schmalen Rücken des Tieres schwang. Tobby riss an den Zügeln, rief einige Worte, und die Reittiere dreh ten sich mehrmals um die eigene Achse. Durch die einsetzende Dun kelheit rasten sie dann entlang des kaum sichtbaren Weges. »Alle waren total verblüfft!«, rief David Beugner über die Schulter zu rück. »Mir geht es nicht anders«, antwortete Chung Lo. »Jeder befürchtet, dass Maylpancer uns bestraft!«, kommentierte Tobby. »Die Laren brauchen nur einen einzigen SVE-Raumer zu schicken, um unsere Welt unbewohnbar zu machen. Alle fürchten sich davor.« »Inzwischen fürchte ich mich auch«, gestand Chung Lo. Vor ihnen tauchte ein schwacher Lichtschimmer auf. »Das ist Beugners Paradies!«, erklärte die Frau. »Wir haben sogar ei 57
nen kleinen Generator. Sie dürfen ihn reparieren.« »Morgen«, sagte Chung Lo ausweichend. »Gewiss. Nach einer Dusche, einem guten Essen und einem Schluck Selbstgebranntem.« Kurz darauf stand Chung Lo ein wenig hilflos zwischen bunt zusam mengewürfelten Gebäuden. David Beugner nahm ihn am Arm und zog ihn auf einen schaukelnden Vorhang zu. Chung Lo fühlte sich schlagartig wohl, als er den Wohnraum betrat.
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Als er eine Stunde später vor dem Kaminfeuer saß, an einem reich ge deckten Tisch, in der Beleuchtung von Öllampen, einen Tonbecher mit wunderbar nach Beeren riechendem Schnaps in den Fingern, fühl te er sich noch viel wohler. Aber er war nicht mehr Chung Lo. Hubert Kelassny war es, der ein altes, weiches Hemd Davids trug und eine Ho se, deren Beine er hochgekrempelt hatte. Sein Overall und die übrigen Sachen befanden sich bereits in der Lauge einer Waschmaschine. »Ich danke euch«, sagte er halblaut. »Wir alle neun sind Terraner, sprechen dieselbe Sprache und haben dieselben Bedürfnisse. Aber sie ben von uns sind, in gewisser Weise, komplette Ignoranten.« David blickte ihn irritiert an. Er zweifelte mit Recht am Verstand dieses gutaussehenden dreißigjährigen Mannes. Tobby schien mitten in der Bewegung zu erstarren und blickte ihn bohrend an. »Wie war das?« »Im Augenblick bin ich – oder sind wir – Hubert Kelassny. Biologe und Fachmann für geschlossene ökologische Systeme. Meine Ge schichte oder auch unsere beginnt in dieser Station, von der ich eben erzählte …« In einer Art faszinierter Erstarrung registrierten David und Tobby Beugner, dass sich Sprache, Stil und auch die Bewegungen ihres Ge genübers verändert hatten. War Chung Lo mürrisch und ängstlich ge wesen, so strömte Hubert Kelassny einen beruhigenden Charme aus. 58
Wenn er lächelte, fühlte Tobby einen seltsamen Stich. »Wir sind gespannt. Allerdings brauchen wir dringend einen guten Mechaniker!«, sagte Tobby. »Lässt sich machen«, erklärte Kelassny ruhig. »Nun zu uns sieben. Zuerst die Namen …« Er berichtete, was er wusste. Das stufenweise Erwachen der einzelnen Persönlichkeiten, das öde Innere der Relaisstation, die ununterbroche ne Verwirrung, die fehlenden Erinnerungen, danach die Jagd durch Korridore und Kammern und schließlich die Rettung durch die Teller köpfe. »Und wie steht es mit diesen Laren, mit Maylpancer und den SVE-Raumern?«, wollte er zuletzt wissen. »Ich kenne – wir kennen – diese Bedeutungen nicht. Kann ich das erfahren?« »Ja, natürlich. Wir verfügen hier über ein kleines Hyperfunkgerät. Einer von uns hört die offiziellen Nachrichten ab, aber auch viele an dere Funksprüche. Die Informationen werden beim Markttag ausge tauscht. Was Sie sehen, ist das Ergebnis einer Versklavung der Galaxis oder wenigstens eines sehr großen Bereichs der Milchstraße …« Während David erklärte, beschäftigte Tobby sich mehr mit dem Schicksal dieses merkwürdigen Mannes. Was er sagte, klang nach ver wirrtem Verstand, aber es schien trotzdem nicht unmöglich zu sein. Mit weiblichem Instinkt konzentrierte sie sich auf Hubert Kelassny, zu dem sie sich irgendwie sogar hingezogen fühlte. Jene Siedler, die entweder mehr Furcht oder mehr Verantwortungsge fühl verspürten, würden den seltsamen Vorfall sicher der nächsten Kontrolle der Überschweren melden. Dies konnte für Kelassny nur die Auslieferung an die Laren bedeuten, denn das Konzil würde eine neue Geheimwaffe Rhodans oder Atlans wittern. Vorerst konnte Hubert Kelassny sich auf der Farm nützlich machen und als Chung Lo die anstehenden Reparaturen erledigen. Vielleicht gelang es ihr inzwischen, mit einem anderen NEI-Agenten Verbindung aufzunehmen. Tobby folgte den Erklärungen ihres Vaters zwar nur mit halbem Ohr, aber sie machte hier und dort Einwürfe. Hubert Kelassny 59
hingegen wirkte ruhig und gefasst und nickte jedes Mal, wenn David einladend den Krug mit dem Selbstgebrannten hob. »Für mich ist alles neu und vor allem verblüffend«, sagte Kelassny nach einer Weile. »Ich vermute, dass die Laren mich sehen wollen, so bald eines ihrer Schiffe landet. Aber ich glaube auch, dass ihr zwei mich nötigenfalls verstecken werdet.« »Ungefähr richtig. Zunächst bist du für einige Wochen in Sicher heit.« David wechselte unvermittelt zum Du über. »Niemand sucht dich, niemand wird dich hetzen. Vielleicht klärt die Ruhe deine ver wirrten Gedanken.« »Das glaube ich nicht. Wir sieben Wesenheiten, Bewusstseine oder Persönlichkeiten bezeichnen uns untereinander als einen Mehrfach menschen. Keiner von uns ist verrückt, aber es kann vorkommen, dass sich in einer Stunde nacheinander alle sieben melden. Wir haben unter uns Tamoe Pheuch, einen Balletttänzer …« Es war fast erschreckend, wie sich urplötzlich der Ausdruck veränder te. Mit einer neuen Stimme erklärte Pheuch: »Nicht Balletttänzer. Ich bin Choreograf, ich lasse tanzen.« Schlagartig verwandelte sich der Körper wieder in Kelassny. Er zuckte hilflos mit den Schultern und murmelte: »So ungefähr geschieht es. Der Choreograf rettete den Körper mehrmals, weil er über geradezu artistische Fähigkeiten verfügt, die sonst keiner von uns hat.« David und Tobby schwiegen verwirrt. Zuerst hatten sie die verrück ten Reden und Erzählungen als Ausdruck einer grässlichen Erschöp fung betrachtet. Jetzt, in Ruhe und ohne Dramatik, stellte sich heraus, dass es wohl so sein musste, wie Hubert sagte. Auch morgen, nach einem erfrischenden Schlaf, würde sich kaum etwas daran ändern. »Über alles werden wir noch einmal reden müssen.« David schenkte die Becher erneut voll und stellte den Krug auf ein Wandregal zurück. »Für heute haben wir uns die Ruhe verdient. Aber im Ernst, Hubert, kannst du diesen Mechaniker in eurem Team dazu bewegen, sich mor gen unseren beweglichen Schrott genauer anzusehen?« 60
Mit einem fatalistischen Lachen verkündete Kelassny: »Ich sage es ihm, sobald ich ihn treffe.«
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Nur sie selbst sah sich in einem der fleckig gewordenen Spiegel, aber sie wusste, dass sie in dem vergilbten, durchlöcherten Morgenmantel ihrer Mutter im Dunkeln hinreißend aussah. Auf Zehenspitzen husch te sie dann den schmalen Korridor entlang, den David mit einem selbst gewebten Teppich aus Tierwolle ausgelegt hatte. Der Geruch kal ten Rauches im Wohnraum war ein vertrauter Eindruck, nur die Ge danken an Hubert Kelassny irritierten sie. Tobby holte einen Becher vom Regal und goss ihn aus dem schweren Krug voll. Sofort durchzog das Aroma sonnengereifter Beeren den Raum. Tobby ging langsam zu rück in ihr Zimmer, setzte sich auf die Fensterbank und schaute zu den Sternen auf. Wenn Maylpancer von dem Mehrfachterraner erfuhr, würde er ihn gefangen nehmen und untersuchen lassen. Die Überschweren waren dafür berüchtigt, dass sie Menschen so untersuchten, als wären sie aus einanderschraubbare Maschinen. Sie musste Hubert also verstecken, falls sich seine Erzählungen als Wahrheit erwiesen. Das NEI würde an dem Phänomen brennend inte ressiert sein. Sie, Tobby, erkannte bereits jetzt die augenscheinlichen Vorteile des Körpers mit sieben Bewusstseinen. Sieben Spezialisten, ausgesucht nach Können und Begabung, in einem schlagkräftigen Kör per – das war tatsächlich eine Superwaffe. Flucht in den Dschungel oder in die Berge? Und zwar so, dass kein Verdacht auf sie und David fiel. Und schließlich, nach vermutlich lan ger Zeit, würde sie vielleicht jene Männer und Frauen wieder treffen, denen sie während ihrer Ausbildung alles berichtet hatte, was sie über die Blues und den Planeten Wirgier gewusst hatte. Nur durch diesen Kontakt konnte das Phänomen in die richtigen Hände gelangen. 61
Tobby trank schluckweise. Nein, sie war nicht verliebt. Aber sie machte sich Gedanken wegen Hubert. Wie sollte sie sich verhalten? Was sollten David und sie mit dem Mehrfachmann anfangen, ohne selbst in Gefahr zu geraten? Das musste in den nächsten Tagen drin gend geklärt werden. »Tobby, du bist einigermaßen ratlos«, murmelte sie im Selbstge spräch.
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Chung Lo erwachte erst, als die Sonne schon hoch am Himmel stand. Der Tag auf Wirgier dauerte fünfundzwanzig Stunden und etwas mehr als zwölf Minuten. Er fühlte sich wohl, sogar der Schmerz im Knöchel war einem dumpfen Druck gewichen, der ihn nicht mehr behinderte. Er befand sich in einer Umgebung, die ihm behagte: unter seinen Füßen der Boden, über ihm ein stahlblauer Himmel, um ihn herum die von einem milden Wind bewegte Luft. Nichts war künstlich. Er wusch sich, zog sich an, ging in den Wohnraum hinüber und aß mit bestem Appetit. Trotzdem blieb ein Gefühl, das ihn belästigte. Er fühlte sich verfolgt. Nicht von den beiden Farmern, sondern von Mächten und Organisa tionen, die er nur schemenhaft erkannte. Nach dem Frühstück machte er einen langen Rundgang. Was er sah, ließ ihn immer wieder zusammenzucken, zugleich freute er sich, weil aller Schrott, die Achsen, Räder, Drähte, Bleche und Werkzeuge ihn daran erinnerten, dass er seine Qualitäten mit einfachen Mitteln unter Beweis stellen musste. Letztlich stand er in einer Art ehrfürchtiger Bewunderung, die mehr mals in einen Lachanfall überging, vor einem riesenhaften Gerät, das eindeutig mit Dampf betrieben wurde. Auf den ersten Blick erkannte er die mechanische Logik – primitiv, aber irgendwie hinreißend. »Es gibt viel zu tun«, sagte er sich. »Irgendwo sollte ich anfangen.« 62
Chung Lo sichtete die Ausstattung der Werkstatt und entdeckte die uralte, oft reparierte Hochleistungspumpe. Er konnte sich leicht aus rechnen, dass ein solches Gerät für die Farm von lebenswichtiger Be deutung war. Also zog er sich einen wackligen Stuhl heran, griff nach einem antiken Schraubenschlüssel und arbeitete. Binnen einer halben Stunde vergaß er sogar seine Angst, verfolgt zu werden. Nach und nach entdeckte er die Fehler an der Pumpe, besei tigte sie, feilte und schliff, löste mühsam Schrauben und befestigte sie wieder, fand einen Topf Farbe und lackierte zum Schluss das fertig montierte Gerät. Er wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, aber wohl, dass die Pumpe das kommende Jahr ununterbrochen funktionie ren würde. »Ich garantiere dafür! Ich, Chung Lo«, murmelte er in grim miger Freude. »Tobby und ich hören das gern!«, sagte eine Stimme hinter ihm. Er hatte nicht auf die Umgebung geachtet. David stand da und starrte die Pumpe an, als hätte er sie nie vorher gesehen. »Doch, wirklich! Sie wird funktionieren«, beharrte Chung Lo und stellte fest, dass sein Magen knurrte. Die Sonnenstrahlen fielen schräg in die Werkstatt herein. »Wie spät ist es eigentlich?«, wollte er wissen. »Früher Abend«, antwortete David. »Tobby kocht gerade für uns. Dieses Bündel Schrott funktioniert tatsächlich?« Ärgerlich rief Chung Lo aus: »Trauen Sie mir nicht? Sie auch nicht? Ich garantiere Ihnen, dass die Pumpe läuft und läuft. Sie müssen nur die Dichtung von Zeit zu Zeit schmieren und diese fünf Schrauben nachziehen, hier, mit dem Dreiundzwanziger-Schlüssel. Übrigens: Ha ben Sie kein besseres Werkzeug?« »Mehr und besseres Werkzeug wird niemand auf Wirgier finden«, erwiderte David. »Kommen Sie, Chung Lo. Wir sind hungrig. Schließ lich haben wir den ganzen Tag gearbeitet.« »Wie die Geistesabwesenden«, bestätigte der Mechaniker zutreffend, warf den Schlüssel zurück auf die Werkbank und stand auf. Während 63
er neben David auf das Hauptgebäude zuging – überall sah er impro visierte, schlecht ausgeführte und geradezu hilflos konstruierte Din ge –, veränderte sich sein Gang. Er wirkte plötzlich gelassener und lä chelte, als wolle er sich entschuldigen. Hubert Kelassny sagte: »Wie war die Arbeit?« »Wie immer. Schwer, aber letzten Endes befriedigend. Wir wissen, dass unsere Welt jedes Jahr ein klein wenig autarker wird. Das Klima hält keine drastischen Überraschungen für uns bereit. Übrigens habe ich mit Tobby gesprochen.« »Worüber, David?« Kelassny wusch sich am Brunnen. »Über dich.« »Ein faszinierendes Gesprächsthema. Was Chung Lo für die Pumpe ist, bin ich für die Unterhaltung, wie?« »Auf dem Raumhafen befindet sich eine noch funktionierende, sehr kleine, aber gut ausgestattete Medoklinik. Vielleicht kann die Automa tik dir helfen.« »Inwiefern, David?« »Die Wahrheit ist in manchen Fällen unbequem, aber sie ist meis tens ehrlich. Du würdest sozusagen eine Auskunft von berufener Seite erhalten.« Kelassny zuckte die Achseln. »Von mir aus, gern. Wie kommen wir dorthin? Und bringe ich die anderen Kolonisten damit in Verlegen heit?« »Nein, sicher nicht. Niemand, der nicht unbedingt muss, konsultiert diese Station. Sie ist zu wertvoll, als dass sie für jeden aufgeschnittenen Finger aufgesucht werden würde. Wir wissen nicht, wie lange sie noch funktionieren wird.« Hubert Kelassny nickte nachdenklich.
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Die Hoptiquags galoppierten entlang sorgfältig gepflegter Felder. Hu bert Kelassny hatte sich bereits an diese Art der Fortbewegung ge wöhnt und genoss den Ritt an der Seite der schönen Frau sogar. »Was hast du wirklich mit mir vor, Tobby?«, wollte er wissen. »Nichts – außer vielleicht die Wahrheit über dich zu erfahren. Ich kann mir vorstellen, dass sogar Hubert Kelassny daran interessiert ist.« »Wie wahr.« Er lächelte sie an. Sie umrundeten einen Bereich der ehemaligen Abfertigungsgebäude des Raumhafens und bogen auf einen schmalen Pfad ein. Hier kam der Dschungel bis dicht an die Gebäude heran, aber viele Stämme wa ren gefällt worden und lagen abholbereit gestapelt da. Ganz in der Nähe band Tobby beide Hoptiquags an, dann führte sie ihren Begleiter in einen überraschend gut erhaltenen Bereich der ein stigen Abfertigungshallen. Es roch förmlich nach Sauberkeit. »Hier arbeiten noch einige Roboter«, sagte Tobby und schwieg dann, während sie durch endlos anmutende Korridore liefen. Schließlich öff nete sie die Tür zu einem nicht sehr großen Raum und deutete auf den schweren Spezialsessel, der hier stand. »Lege dich dort hinein! In drei bis vier Stunden wissen wir dann mehr.« Hubert Kelassny warf ihr einen unsicheren Blick zu. Er fürchtete sich nicht vor dem Ergebnis der psi-analytischen Anlage, war selbst sogar äußerst gespannt darauf. Er argwöhnte nur, dass die Maschine der Be lastung nicht standhalten würde. »Ich warte«, sagte Tobby. Hubert nahm Platz und schaute zu der halbkugeligen Haube auf, die sich langsam über seinen Kopf und die Schultern senkte. Eine kleine Ewigkeit schien zu vergehen, begleitet von gelegentlichen summenden Lauten, bis endlich ein Foliendrucker Ergebnisse aus spuckte. Langsam und gründlich las Tobby die medizinische Auswer tung, dann reichte sie das Blatt weiter. »Die Wahrheit, Hubert. Doch sie erklärt nichts.« 65
Auf gewisse Weise war Kelassny enttäuscht. »Vermutlich bin ich, sind wir, ein neues Exemplar«, sagte er. »Wenn deine Berichte über das Phä nomen der Aphilie richtig sind, und ich zweifle nicht daran – dann kann es sein, dass der Mehrfachmensch ein neuer Versuch der Evolu tion ist. Aber ich selbst und meine sechs schweigenden Freunde wissen nichts davon.«
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Dreizehn Tage und Nächte vergingen viel zu schnell. Chung Lo setzte seinen Ehrgeiz daran, alles zu reparieren, was ihm unter die Finger kam. Jeden Tag vollbrachte er ein neues kleines Wunderwerk. Hin und wieder erschien Pynther Äslinnen, führte frustrierte Gespräche und be mängelte das Fehlen all dieser nützlichen Dinge wie Fusionsmeiler, Po sitroniken, Roboter oder Schaltanlagen größeren Formats. Einmal ver schwand Abd el Pumán in tiefer Nacht zu einer Art Beobachtungs gang, um die Sterne zu betrachten, aber die Moskitos jagten ihn zu rück ins Bett. Tamoe Pheuch schien sich verkrochen zu haben, er übernahm nur zwei- oder dreimal den Körper. Fassa und Delgiudice verhielten sich sogar völlig passiv. Kelassny war demnach, ohne sich anstrengen zu müssen, der Herr des Körpers geworden. Besonders jetzt. Flüchtig quälte ihn der Gedanke, dass ihn in der nächsten Zeit ein unfreiwilliger Zuschauer stören könnte. Er saß näm lich auf dem breiten Sims in Tobbys Zimmer, hielt die junge Frau im Arm und küsste ihren Nacken. »Ich fühle mich keineswegs als höhere Existenzform«, flüsterte er an ihrem Ohr. »Ich glaube, es ist ganz normal, was wir tun.« Sie sagte überraschenderweise: »Ich habe Angst, Hubert.« »Wovor?« Seine Finger streichelten ihren Körper. Auch an so etwas hatte er keine Erinnerungen. Aber er war überzeugt, dass es richtig war, was er tat und wie er es tat. »Davor, dass die Überschweren kommen und dich mitnehmen.« 66
Tobby seufzte. »Es wäre dein Tod.« »Im Augenblick denke ich an alles andere als daran. Niemand wird uns finden, wenn wir durch den Dschungel fliehen. Eine Schiffsbesat zung reicht nicht aus, um einen Planeten abzusuchen.« Sie wussten, welche Gefahr ihnen drohte. Mit der Information, dass Tobby eine Agentin des Neuen Einsteinschen Imperiums war, konnte Hubert nichts anfangen, aber er erkannte, dass sie für die Überschwe ren eine Spionin sein musste. Sie vertraute ihm, und er hatte keine an dere Möglichkeit, als Tobby ebenfalls sein Vertrauen zu schenken. Ir gendwie erkannte er, dass sie ihn nicht hintergehen wollte. Aber da Ke lassny die eigene Existenz nicht in Bezug zum Rest des Universums bringen konnte, hing er sozusagen im freien Fall. »Sie sind schnell. Und sie haben verwirrende technische Möglichkei ten«, beharrte Tobby und klammerte sich an ihn. Vorsichtig hob er sie auf und trug sie hinüber zu ihrem Bett. Ihre Küsse waren Ausdruck der Leidenschaft, keine Spielerei. »Jeder Tag, den wir länger hier bleiben«, sagte er und zog Tobby an sich, »bringt uns in zusätzliche Gefahr.« »Du hast Recht, aber darüber sprechen wir morgen. David darf nichts erfahren. Er hat keine Ahnung, dass ich mit der neuen Mensch heit in Verbindung stehe.« Hubert nickte. Momentan war ihm alles gleichgültig: Laren oder Überschwere, Deportation oder Gefangenschaft. Im Augenblick gab es für ihn nur Tobby.
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Chung Lo befand sich in der Generatorenstation des Stausees. Er wuss te dass die mächtigen Maschinen eine Energieflut liefern würden, wenn es ihm gelang, die Fehler zu finden und die Generatoren so anzu schließen, dass sie Strom ins Umspannwerk lieferten. Er lauschte dem Rauschen und Gurgeln der Wassermassen, die seit Jahren ungenutzt ins Tal stürzten. Er sah und hörte nichts von der Außenwelt, sondern studierte das Schaltschema und beobachtete die wenigen noch funktionierenden Anzeigeinstrumente. Alles war logisch aufgebaut. Vor allem erschien es ihm undenkbar, dass diese Maschinen defekt waren. Er glaubte zu wis sen, dass sie für einen reparaturlosen Betrieb über fünfhundert planeta re Jahre und mehr eingerichtet waren. Er fand einen Inspektionsschacht, turnte ihn abwärts und benutzte die ausmontierte Lampe des Raumanzugs als Lichtquelle. Nach einer Stunde kam er mit einem breiten Grinsen wieder in den verstaubten Kontrollraum zurück und wusste, dass die Turbinen sich rasend dreh ten. Alle vier waren an Generatoren angeschlossen, die sich ebenfalls bewegten. Das Summen und Rauschen übertönte selbst das Murmeln seiner Selbstgespräche. Er reagierte erst, als sich eine Hand auf seine Schulter legte. »Hubert!«, schrie Tobby. »Du musst sofort kommen! Sie sind gelan det und wissen alles …« Hubert Kelassny verdrängte Chung Lo und übernahm den Körper. »Wann sind sie gelandet?«, brüllte er zurück und zerrte die Frau in Richtung des Ausgangs. »Wahrscheinlich während der Nacht. Sie sind schon in der Farm. Wir müssen von hier aus fliehen!« Das Generatorenhaus war halb in den Felsen hineingebaut, halb sprang es am Ende des Wasserfalls ins Tal vor. Wenn die Überschwe ren in der Farm waren, dann hatten sie von David wohl schon erfah ren, wo er sich befand. Kelassny fragte sich, ob unter diesen Umstän 68
den eine Flucht überhaupt noch sinnvoll war. »Entlang des Ufers flussabwärts!«, schrie Tobby, als habe sie seine Gedanken erraten. Tobby kannte hier jeden Pfad und jeden Stein. Sie rannte voraus und zog Hubert hinter sich her. Sie verließen den Stahlbetonbau, ein feuchter, kaum sichtbarer Pfad nahm sie auf. Mit der Zeit fühlten sich die beiden Menschen im Versteck hinter feuchten Blättern und triefenden Ästen sicherer. Keuchend und mit rasendem Puls, von Kopf bis Fuß nass von dem feinen Sprühnebel zwischen den Pflanzen, taumelten sie auf eine schmale Sandfläche hinaus. Wenige Meter neben ihnen toste das Was ser, das hundert Meter oder mehr über die Staumauer herunterstürzte. »Können sie uns wirklich finden, Tobby?«, schrie Hubert Kelassny gegen den Lärm an. »Ich weiß es nicht…« Als sie eine Bewegung gewahrten, war es bereits zu spät. Über die Wasserfläche raste ein schwerer Gleiter heran. Eine unsichtbare Faust traf Tobby Beugner und Hubert Kelassny und warf beide bewusstlos in den nassen Sand.
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Als Tobby Beugner aufwachte, von prickelnden Schmerzen am ganzen Körper gefoltert, konnte sie sich nicht bewegen. Hand- und Fußgelen ke waren mit breiten Metallbändern an einen harten Sessel gefesselt. Quer über ihren Magen spannte sich ein doppelt breites Band, und über ihrem Kopf schwebte eine rauchfarbene Haube. Tobby sah sich zudem zwei Überschweren gegenüber. Diese Kolosse waren für sie Visionen des Schreckens. Einer von beiden sagte halblaut, aber schneidend: »Etliche Farmer haben die Landung des Bluesschiffes beobachtet. Sie sahen, dass Ihr Vater und Sie den Fremden mitnahmen, und verständigten uns als zu 69
ständige Kontrollinstanz. Sie werden verhört, weil Sie in dem Verdacht stehen, eine Agentin des NEI zu sein. Anschließend werden Sie getötet oder vielleicht auf einen Strafplaneten gebracht, was für unsere Milde und das Entgegenkommen der larischen Behörden spricht. Wir haben selbstverständlich auch den Terraner, den die Blues irgendwo aufge lesen haben und der, wie wir hörten, aus mehreren Persönlichkeiten bestehen soll. Was haben Sie zu diesen Beschuldigungen zu sagen, Tobby Beugner?« Die Frau rechnete sich keine Chancen aus. Trotzdem versuchte sie, Zeit zu gewinnen. »Ihr Schiff befindet sich schon im Weltraum?«, fragte sie heiser. »In wenigen Stunden werden wir Ihren Schützling den Laren über geben. Am Treffpunkt erwartet uns ein SVE-Raumer.« »Mein Vater und ich haben einen Ausgesetzten aufgenommen und gepflegt.« Tobbys Stimme ließ ihre Furcht deutlich hören. »Niemand kann etwas dagegen haben, nicht einmal Maylpancer!« »Das ist nicht Kern der Vorwürfe!« »Sondern …?« »Sie hätten, sobald Sie die wahre Natur dieses Mannes erkannten, umgehend unseren Kontaktmann aufsuchen müssen. Dann wären wir gekommen, und möglicherweise wäre Ihre Spionage für das NEI nie mals entdeckt worden.« Tobby fühlte, wie neue Schmerzen auf sie zurollten. Eine Droge oder unbekannte Schwingungen lähmten ihren freien Willen und ihre Widerstandskraft. Ein unerklärlicher Zwang, alles zu erzählen, was sie dachte und wusste, ergriff sie. Sie hörte die Fragen, aber sie begriff ihren Sinn nicht. Nach Stunden verstand sie, dass alle ihre Antworten der Wahrheit entsprachen. Die Überschweren brachten sie zurück in eine enge Zelle, in der sie erschöpft einschlief. Alles war umsonst gewesen. Alles…
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Zur selben Zeit verhörten die Überschweren auch den Mehrfachmen schen, nur waren in seinem Fall sie die Verlierer. Das Verhör wuchs sich zu einer gespenstischen Groteske aus. Weder Schmerz und Dro gen noch andere Methoden vermochten, die sieben Persönlichkeiten zu einer vernünftigen Antwort zu bewegen. Viele Fragen wurden gestellt. Immer antwortete ein anderer und er zählte mit mehr oder weniger denselben Worten, dass er nur über Er innerungen verfügte, die nicht älter waren als rund dreißig Tage. Jeder gab von dem Erscheinen in der Station bis zur Gefangennah me einen identischen, wenngleich persönlich gefärbten Bericht. Die Überschweren kannten die Zuverlässigkeit ihrer Methoden. Chung Lo, Abd el Pumán, Hubert Kelassny und Pynther Äslinnen gaben die glei chen Antworten wie Tamoe Pheuch, N'kamo Fassa und Vanni Delgiu dice. Kein Zweifel, dieser Terraner war geisteskrank. Psychologisch ge sehen ein faszinierendes Phänomen, aber vom Standpunkt des Unter suchenden aus eine totale Pleite.
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Einen halben Tag später schwebte das Kugelschiff der Überschweren neben einem SVE-Raumer der Laren, die beiden Gefangenen wurden den Vertretern des Konzils der Sieben überstellt. Tobby Beugner und Hubert Kelassny sagten kein Wort. Tobby er kannte sofort, dass der Körper jetzt Hubert gehörte. Sie waren ratlos und hatten ihre hoffnungslose Lage erkannt. »Die Erinnerung an acht Nächte wird mir niemand nehmen kön nen«, flüsterte die Frau. Die Überschweren bildeten einen Halbkreis um die Gefangenen und wichen vor mehreren näher kommenden Laren zur Seite. Hubert Ke 71
lassny hob seine gefesselten Hände und strich sanft über Tobbys Wan ge. »Wohin ich auch gehe«, sagte er und lächelte wie damals, als er ver wirrt am Tisch gesessen war, »ich nehme diese Erinnerungen mit.« Dann verschwand er vor aller Augen. Seine Gestalt wurde durch scheinend und löste sich schließlich auf wie eine holographische Pro jektion, deren Energie heruntergefahren wurde. Die Laren machten den Überschweren heftige Vorwürfe. Die Rede war von terranischen Mutanten und verantwortungslosem Leichtsinn, von Sabotage und davon, dass die neueste Geheimwaffe der Terraner entkommen war. Tobby Beugner ahnte, dass sie Zeugin einer kosmisch wichtigen Entwicklung geworden war. Sie verlor ihre Furcht. Die Zu kunft konnte sie nicht mehr schrecken.
4.
D
ie Ebene der Grafitsäulen war das Zentrum von Phark, und Var ryleinen Ev Cymth war ihr Wächter. Jedes Mal, wenn die Große Tube sich öffnete und dampfenden Brei in die Mulden fließen ließ, verließ Ev Cymth seinen Platz auf dem Wachturm und kletterte auf den Boden hinab. So auch jetzt. Breitbeinig stand er da und wartete, dass der Brei sich festigte und rissig wurde. Dann stieß er einen Schrei aus, der weit über die Ebene von Phark hallte, aber nicht beantwortet wurde. Lange lauschte der Wächter, den Kopf schräg geneigt und die blinden Augen geschlossen. Später, als die Masse aus der Großen Tube bereits zerbröckelt war und vom Lichtwind in alle Richtungen verstreut wurde, schüttelte Ev Cymth den Kopf und kehrte zu dem Wachturm zurück. Noch einmal 72
sah er sich um und ließ die Bilder, die der Kontrollmechanismus auf seinem Kopf an sein Gehirn sandte, auf sich einwirken. Die Schatten der Grafitsäulen wurden bereits länger, denn Kaftra war bis zum Hori zont hinabgesunken und wurde bereits von ihm halbiert. Ev Cymth stieg die stählernen Sprossen der Leiter hinauf. Seine Be wegungen wirkten langsam und müde, aber nichtsdestoweniger kraft voll. Mitten auf der Leiter hielt er inne. Sein Gehör, das ebenfalls durch künstliche Mechanismen verfeinert worden war, hatte ein Geräusch aufgefangen. Es hörte sich an wie das Tappen von Füßen im getrock neten Brei. Ev Cymth drehte sich um, wobei er sich nur noch mit einer Kralle an den Sprossen festhielt. So hing er da, ein untersetztes, bärenhaftes Wesen, aus dessen Körper zahlreiche Instrumente ragten. In dieser Si tuation zeigte sich, dass Varryleinen Ev Cymth zu lange allein gelebt hatte, dass ihm seine Einsamkeit selbstverständlich erschien und dass er nicht in der Lage war, schnell auf ein ungewohntes Ereignis zu rea gieren. Kaftra erlosch mit einem letzten Aufblitzen, und die schwarzen Gra fitsäulen in der Ebene wurden eins mit ihren Schatten. Oben im Wachturm flackerte die Laterne, aber ihr Licht reichte nicht aus, um mehr als die Plattform am Ende der Leiter zu erhellen. Ev Cymth erwachte aus seiner Starre und stieg die letzten Sprossen hinauf. Er nahm die Laterne vom Haken und hielt sie über die Brüs tung. Rund um den Turm war nichts zu sehen. Wie immer bei Beginn der Dunkelperiode nahm der Lichtwind an Heftigkeit zu. Die Verstrebungen des Turmes knarrten leise. Ev Cymth stieß einen Warnschrei aus. Auf der anderen Seite des Turmes lag Endetal mit der riesigen Todes schachtel. Der Wächter war selbst nie in Endetal gewesen, und er dach te nur mit einem gewissen Schaudern daran, dass er jemals gezwungen sein könnte, dorthin zu gehen. 73
Ev Cymth befestigte die Graise an einem Körperhaken und stieg die Leiter wieder hinab. Er trug die Laterne an einem zweiten Körperha ken, sie schwankte bei jeder seiner Bewegungen und schuf groteske Lichtreflexe auf dem Turmgerüst. Im Licht der Laterne bot der Wäch ter ein ausgezeichnetes Ziel, aber dieses Risiko musste er auf sich neh men, bis er den Boden wieder erreicht hatte. Unten angelangt, befestigte er die Laterne an einer Sprosse und ent fernte sich mehrere Schritte vom Turm. Der Boden war wieder glatt, der zu Staub zerfallene Brei war weggeweht worden, entweder nach En detal hinüber oder über den Horizont hinaus. Ev Cymth hatte die Graise nie benutzt, sie war ihm von seinen Auf traggebern als schreckliche Waffe geschildert worden. Sie ähnelte einer kleinen Keule aus poliertem Metall. Am dünnen Ende besaß sie eine trichterförmige Erweiterung. Auf einer Seite war eine Öse festge schweißt, durch die ein aus vier Kugeln bestehender Stab führte. Wenn er den Stab durch die Öse drückte, dass zu beiden Seiten je zwei Ku geln herausragten, war die Graise aktiviert. Ev Cymth machte die Waffe einsatzbereit. Die Geräusche, die ihn alarmiert hatten, wiederholten sich nicht, aber er spürte deutlich, dass jemand in der Nähe war. Er umrundete den Sockel des Turmes, wobei er die Grenze zwischen der Ebene und Endetal überschritt, und kehrte dann bis zu der vordersten Grafitsäule zurück. In einer Vergangenheit, die so weit zurücklag, dass Ev Cymth sich kaum an sie erinnern konnte, waren diese Grafitsäulen Pflanzen gewesen. Um sie vor dem drohenden Absterben zu retten, hatten die Bewohner von Endetal sie konserviert. Der Wächter hatte niemals eine richtige Pflanze gesehen, so dass er sich kein Urteil darüber erlauben konnte, was diese Säulen noch mit einer solchen Lebensform gemein hatten. Eine sah aus wie die andere. Angeblich bezogen sie aus dem Brei der Großen Tube die notwendige Kraft, um unter ihrem Grafitmantel nicht völlig abzusterben, aber Ev Cymth war nicht in der Lage, diesen Vorgang auf seine Effektivität zu 74
kontrollieren. Dazu war er auch nicht hier. Seine Aufgabe bestand da rin, das Zentrum von Phark vor Eindringlingen zu schützen. Diese Eindringlinge konnten aus dem Weltraum oder von jenseits des Ho rizonts kommen, wobei die Wahrscheinlichkeit, dass es wirklich ge schah, als sehr gering eingeschätzt wurde. Ev Cymth hatte sich deshalb oft gefragt, ob er nicht eher das Opfer des Wunsches nach bleibenden Symbolen war als eine Notwendigkeit. Derzeit sah es so aus, als hätte er sich in der Beurteilung seiner Lage getäuscht. Eindringlinge waren da, woher auch immer. Ev Cymths künstliche Sehorgane blieben in die dunkle Ebene ge richtet. Wenn etwas geschah, würde es vor dem Aufgang von Kaftra geschehen, denn kein Eindringling würde die Vorteile der Nacht un genutzt verstreichen lassen. Der Wächter hob den Kopf. Durch die künstliche Atmosphäre wa ren Sterne zu sehen, genauso wie ein Teil der zentralen Galaxis. Dort draußen lebten vielleicht noch die Nachkommen jener Wesen, die alles geschaffen hatten. Es gab einen trockenen Knall. Die Laterne erlosch und zerbarst, Ev Cymth hörte ihre Trümmer auf den Boden regnen. Seine Sinne waren zum Zerreißen gespannt, und mit dieser Anstrengung ging eine totale Aktivierung seines künstlichen Wahrnehmungssystems einher. Er zog sich bis zum Turm zurück. Die Leiter verlieh ihm das Gefühl einer gewissen Sicherheit, doch schlagartig wurde es um ihn herum hell. Geblendet schloss er die Mikro-Jalousien seiner Kunstaugen. Erst als er sich an die Helligkeit gewöhnt hatte, registrierte er, dass sie von zwei kugelförmigen Gebilden ausging, die wenige Schritte von ihm entfernt über den Säulen schwebten. Er hob die Graise und stieß den Kugelstab ins Zentrum der Öse. Aber nichts geschah! Varryleinen Ev Cymth starrte sprachlos auf die Waffe, durch deren Besitz er sich unschlagbar gewähnt hatte. War die Wirkung so ungewöhnlich, dass sie sich nicht feststellen ließ? »Wächter!«, rief eine leise Stimme. Ev Cymth fuhr herum. Auf der 75
Plattform des Turmes standen zwei Fremde. Er riss die Graise hoch. »Das hat keinen Sinn«, sagte einer der beiden Ankömmlinge. »Diese Waffe funktioniert nicht mehr. Andernfalls wäre sie von uns neutrali siert worden.« Die Fremden, so viel konnte Ev Cymth in der ungewissen Düsternis erkennen, waren schlank und hoch gewachsen. Ihre Körper sahen glatt aus, ihre Gesichter, die auf diese Entfernung nicht voneinander zu un terscheiden waren, drückten Gleichgültigkeit und Hochmut aus. Der Wächter warf die Graise weg. »Was wollt ihr von mir?«, fragte er. »Wer seid ihr, und woher kommt ihr? Warum sprecht ihr die Sprache der Gegangenen?« »Willst du nicht zu uns heraufkommen? Dann können wir uns über alles unterhalten.« Ev Cymth dachte an Flucht, aber wohin hätte er sich schon wenden können? Die Ebene der Grafitsteine reichte bis zum Horizont, und er wusste nicht, was dahinter lag. Endetal war ein verrufener Ort, den er niemals ohne Zwang aufgesucht hätte. Nach kurzem Zögern stieg Ev Cymth zur Plattform hinauf. Als er vor den Fremden stand, sah er, dass sie einander tatsächlich glichen. Einer schien das Abbild des anderen zu sein. »Unsere Namen sind Wastor und Klamous«, sagte ihr Sprecher. »Wir wissen von der Existenz dieses künstlichen Planetoiden, seit er in den Bereich der Mächtigkeitsballung von ES eingedrungen ist.« Solange er zurückdenken konnte, war die Welt durch das Große Nichts geflogen. Ev Cymth erinnerte sich jetzt an diesen Umstand. Vermutlich war diese Welt nun in einen Bereich geraten, der von einer Macht beherrscht wurde, die sich ES nannte. Ev Cymth war überzeugt davon, dass die Fremden ihn in Ruhe lassen würden, sobald sie sich von seiner Harmlosigkeit überzeugt hatten. »Wastor und ich sind Abgesandte von ES«, fuhr Klamous fort. »Die ser Planetoid scheint geeignet zu sein, einen Test durchzuführen.« 76
»Die Welt gehört den Gegangenen«, protestierte der Wächter. »Nur sie haben das Recht, hier zu leben und zu experimentieren.« »Grundsätzlich ist das richtig«, stimmte Klamous zu. Ev Cymth hat te den Eindruck, dass die beiden sich amüsierten. »Aber jene, die die sen Planetoiden geschaffen haben, werden niemals zurückkommen. Sie existieren nicht mehr.« Die kühl ausgesprochene Behauptung erschütterte ihn schwer, denn sie stellte seine Arbeit der vergangenen Jahrhunderte infrage. Sie stem pelte ihn zu einem sinnlosen Bestandteil dieser Welt – zu einem Me chanismus. »Alle, die den Planetoiden bewachen, erfüllen eine sinnlose Funk tion«, sagte Klamous. Bedeutete dies, dass es außer ihm noch andere Wächter gab?, über legte Ev Cymth bestürzt. Er hatte sich stets als einmalig angesehen und aus dieser Selbsteinschätzung die Kraft bezogen, seinen einsamen Dienst zu verrichten. »Wir werden eurem Dasein einen neuen Sinn geben«, versprach Kla mous. »ES hat uns beauftragt, diesen Planetoiden zu präparieren. So bald das geschehen ist, wird ein Konzept hierher kommen.« »Was ist ein Konzept?«, erkundigte sich Ev Cymth. »Ein Mensch!« Diesmal hatte Wastor gesprochen. »Oder besser ge sagt – mehrere Menschen.« Der Wächter trat an den Rand der Plattform und lehnte sich über die Brüstung, um sich hinabzustürzen. Er verstand kaum etwas von dem, was die Eindringlinge sagten, aber sie schienen zumindest in ei ner Beziehung die Wahrheit zu sprechen: Es gab keine Gegangenen mehr, deshalb war es sinnlos, Phark zu bewachen. Varryleinen Ev Cymth kippte sich über die Brüstung, doch der er wartete Aufprall, der allem ein Ende setzte, blieb aus. Stattdessen schwebte er sanft zu Boden. Einer der beiden Abgesandten folgte ihm über die Leiter. »Das war leichtfertig von dir«, stellte der Fremde fest. »Ohne unsere Antigrav 77
projektoren hättest du den Sturz nicht überstanden.« Ev Cymth schwankte bis zu einer Grafitsäule, ließ sich nieder und lehnte sich mit dem Rücken dagegen. »Du hast nichts zu befürchten«, versicherte ihm das Wesen. »Weder dir noch einem der anderen Wächter wird etwas geschehen. Sobald der Test abgeschlossen ist, werden wir uns wieder zurückziehen. Danach kannst du selbst über dein Schicksal entscheiden. Wir befürchten je doch dass du schwerlich anderes tun kannst als das, was dich all die Jahre ausgefüllt hat.« Nun kam auch der zweite Fremde vom Turm. »Weißt du, dass wir uns ähnlich sind?«, fragte er, nachdem er vor dem Wächter stand. »Ich wüsste nicht, was uns miteinander verbindet«, entgegnete Ev Cymth mürrisch. »Wir sind alle drei Androiden.«
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Indem es einen Teil seiner selbst aus dem Nichts reproduzierte, erlang te das Geistwesen ES die Fähigkeit, über seine Situation intensive Überlegungen anzustellen. Der mit NATHAN gemeinsam erarbeitete Plan der Vollendung war zu überstürzt realisiert worden, obwohl es durch den Sturz der Erde in den Schlund des Mahlstroms keine an dere Wahl gegeben hatte. In einer verzweifelten Aktion hatte ES zwanzig Milliarden mensch liche Bewusstseine in sich integriert und ihre Körper in einem Hyper raumreservoir deponiert. ES musste jedoch erkennen, dass dieser Vor gang vorher nicht absehbare Probleme aufgeworfen hatte. Die augen blicklich herrschenden Zustände konnten durchaus mit dem Begriff chaotisch umschrieben werden. Schon immer war ES bei der Aufnah me von Bewusstseinen bis an die Grenze seiner Kapazität gegangen, und das hatte sich bei dem Eintreffen von zwanzig Milliarden Men schen als verhängnisvoll erwiesen. 78
Zwar hatte ES mit NATHANs Hilfe die PILLE an fast alle Men schen auf der Erde verteilt und auf diese Weise ein Eindringen aphili scher Bewusstseine verhindert, aber die zahlenmäßige Belastung war dadurch nicht geringer geworden. Es gab spontane Ausstoßeffekte. ES hatte nicht verhindern können, dass Bewusstseine, ausgerüstet mit einem Körper aus dem Hyperraumreservoir, spontan an verschie denen Stellen des Weltraums materialisiert waren. Der Überdruck suchte nach einem Ventil. Diese Entwicklung war dramatisch, denn keineswegs konnte ausgeschlossen werden, dass alle menschlichen Bewusstseine auf diese Weise irgendwo im Universum verschwanden. Bislang hatte ES alle spontan aus dem Verbund ausgestoßenen Be wusstseine nach einiger Zeit zurückholen können. Doch blieb keine andere Wahl, als zu versuchen, aus der Not eine Tugend zu machen. Deshalb war ES entschlossen, den mentalen Überdruck in seinem In nern zu mildern und Bewusstseine kontrolliert abzugeben. Dieser Vor gang konnte indes nicht ohne Erprobung in die Praxis umgesetzt wer den. Die Konzeption sah so aus, dass ein Körper aus dem Reservoir, mit sieben Bewusstseinen ausgerüstet, an einen bestimmten Ort geschickt werden sollte. ES nannte diese Daseinsform ›Konzept‹. Es galt, keine Zeit zu verlieren. Alles musste sehr schnell gehen, denn der Druck in ES wuchs unaufhaltsam. Gerade weil Zeit für eine Wesenheit unter normalen Gegebenheiten keine Rolle spielt, verdient festgehalten zu werden, dass ES zum ersten Mal am 3. Januar des Jahres 3584 kontrolliert und mit voller Absicht ein Konzept entließ und mit einem Auftrag betraute. Vom Ausgang dieses Unternehmens hing letztlich ab, ob ES um die Existenz von zwanzig Milliarden menschlichen Bewusstseinen bangen musste oder ob es ihm gelingen würde, das Chaos in seinem Innern zu beenden …
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Aus einem Traum zu erwachen und bewusst den eigenen Körper zu spüren ist eine Erfahrung, die sich für jeden Menschen im Verlauf sei nes Lebens oft wiederholt. Für Kershyll Vanne war das anders. Er erwachte und stellte fest, dass außer ihm sechs andere mensch liche Bewusstseine in dem Körper wohnten, den er für seinen eigenen hielt. Der Schock über diese Erkenntnis war merkwürdigerweise gering, als hätte jemand Vannes Bewusstsein darauf vorbereitet. Kershyll Vanne erinnerte sich sofort daran, woher er kam: aus einer gewaltigen Ansammlung menschlicher und nichtmenschlicher Bewusst seine des Gemeinschaftswesens ES. Früher hatte er als Aphiliker auf der Erde gelebt. Vor dem Sturz der Erde in den Schlund war er zum Konsumenten der PILLE geworden, und das hatte ihn von der Aphilie befreit. Vanne erinnerte sich ebenso an den Zeitpunkt der Auflösung. Er war sich befreit und glücklich vor gekommen. Mit seiner Aktion hatte ES zwanzig Milliarden Menschen vor dem Zugriff einer fremden Macht gerettet. Vanne wusste nicht viel über jene Macht, aber sie schien ES in mancher Hinsicht ebenbürtig zu sein. Kershyll Vanne spürte, dass die sechs anderen Bewusstseine sich zag haft regten. Sie schienen ebenfalls zumindest eine unbewusste Form der Vorbe reitung erfahren zu haben, denn sie reagierten weder furchtsam noch besonders erschrocken. Vanne beobachtete alle sechs. Wahrscheinlich, überlegte er, konnten sieben Bewusstseine nicht ohne Schwierigkeiten in einem Körper wohnen. Es würde, wenn nicht zu einer feindlichen, so doch zu einer konkurrierenden Verhaltensweise kommen. Jedes der anderen sechs Bewusstseine würde versuchen, den Körper für sich zu gewinnen, und Kershyll Vanne dachte nicht daran, bei diesen Anstren 80
gungen zurückzustehen. Er war so in die Betrachtung seiner geistigen Nachbarn versunken, dass er der Umgebung, in der er erwacht war, keine Beachtung schenk te. Er hatte registriert, dass ihr gemeinsamer Körper, von dem er nach wie vor als seinem Körper dachte, auf hartem Untergrund und in völli ger Dunkelheit auf dem Rücken lag. Vanne empfand die Anwesenheit der anderen als diffuses geistiges Hintergrundrauschen. Ohne in der Lage zu sein, mit ihnen in Kontakt zu treten, wusste er doch alles, was sie wussten – und umgekehrt war das sicher genauso. Da das Wissen seiner Konkurrenten sein eigenes war, wusste Vanne auch, wer sich mit ihm zusammen in diesem Kör per aufhielt. Die Zusammensetzung war erstaunlich und schien eher dem Zufall als einer kontrollierten Auswahl entsprungen zu sein. Vanne überlegte, wie die anderen Persönlichkeiten sich ihm gegenüber ver halten würden. Auf der Erde der Aphiliker hatte er als einer der geheimnisvollsten Männer gegolten und war von Trevor Casalles Regierung zur Bekämp fung aphiliefeindlicher Organisationen wie der Organisation Guter Nachbar eingesetzt worden. Kershyll Vanne hatte eine Ausbildung als Psychomathelogist, die ihm die Fähigkeit verlieh, nicht nur kriminalis tische Vorfälle definieren zu können, sondern auch Begebenheiten, die weit über den Rahmen alltäglicher Vorkommnisse hinausgingen. Auf dem Höhepunkt seines Wirkens hatte er als einer der wenigen Aphiliker gegolten, die die Beweggründe der Widerstandsgruppen er fassten. Vanne war in der Lage gewesen, Gefühle wie Liebe und Menschlichkeit nicht nur von der Logik her zu beurteilen, sondern alle sich daraus ergebenden Konsequenzen zutreffend einzuschätzen. Im Zusammenhang mit seiner Geheimdiensttätigkeit hatte er sich außerdem ein umfassendes Allgemeinwissen auf dem Gebiet der Welt raumfahrt erworben. Ein Gefühl der Scham beschlich Vanne, als er daran dachte, dass die sechs Bewusstseine, mit denen er sich den Körper teilen musste, von 81
seiner Rolle als Immunenjäger wussten. Nur weil er aus dem Hinter grund heraus gearbeitet hatte, war Vanne niemals so gefürchtet gewe sen wie Jentho Kanthall. Er spürte plötzlich, dass er zurückgedrängt wurde. Eines der anderen Bewusstseine hatte seine Nachdenklichkeit genutzt, um sich an die körperbeherrschende Stelle der Gruppe zu setzen. Vanne erlebte die Gegenwart nun wie der Zuschauer eines Filmes, er beobachtete aus dem Hintergrund, ohne selbst eingreifen zu können. Zweifellos geschah der Wechsel nicht nach einem vorbestimmten Rhythmus. Vanne beschloss, die Kriterien, nach denen ein Bewusstsein an die Spitze gelangen konnte, möglichst schnell herauszufinden. Im Augenblick wurde der Körper von einem Bewusstsein namens Hito Guduka beherrscht. Guduka hatte auf der Erde als TotalenergieIngenieur gearbeitet. Er war in der Lage, komplizierteste technische Anlagen nicht nur zu bedienen, sondern sie sogar zu reparieren und zu konstruieren. Das betraf zum größten Teil sogar extraterrestrische Ge räte. Dieses Bewusstsein, so stellte Vanne fest, machte einen verschlosse nen und mürrischen Eindruck. Guduka blieb nicht lange in seiner führenden Position. Vanne ge wann den Eindruck, dass ein organischer Mechanismus, den er noch nicht durchschaute, jetzt schnell andere Bewusstseine in die dominie rende Position brachte. Das geschah zweifellos, damit sie die Lage, in der sich der gemeinsame Körper befand, ergründen konnten. Hito Guduka machte Platz für das Bewusstsein von Pale Donkvent. Donkvent war Ultra-Physiker. In der aphilischen Epoche hatte er an der Entwicklung von Protonenstrahl-Antimaterie-Triebwerken für Raumschiffe gearbeitet. Kaum hatte er die Führung übernommen, suggerierte Donkvent dem gemeinsamen Körper das Bedürfnis nach Alkohol, ein Vorgehen, das zu seiner umgehenden Ablösung führte. An Donkvents Stelle trat ein weibliches Bewusstsein, dessen Anwesenheit auf Kershyll Vanne verwir 82
rend wirkte. Die Medizinerin Ankamera war Spezialistin für Organtransplantatio nen. Gleichzeitig hatte sie eine Ausbildung als Biologin erhalten. Vanne überlegte, wie ihr gemeinsamer Körper, der männlichen Ge schlechts war, auf die Lenkung durch ein feminines Bewusstsein reagie ren würde. Zudem besaß Ankamera eine starke erotische Ausstrahlung, die Vanne nicht entging. Mit der augenblicklichen Situation konnte jedoch auch Ankamera nichts anfangen, so dass sie gegen Albun Kmunah ausgetauscht wurde. Vanne spürte die Ruhe und Ausgeglichenheit, die vom Bewusstsein dieses Alpha-Mathematikers ausging. Alpha-Mathematik hatte sich erst im Zuge der Aphilie voll entwickelt. Sie reichte noch über Hyperphy sik hinaus und berücksichtigte abstrakte und artfremde Begriffe nicht menschlicher Intelligenzen. Kmunah verweilte beinahe so lange wie Kershyll Vanne an der Spitze der sieben Bewusstseine, aber die von ihm in die Wege geleiteten Denkprozesse führten nicht zu einer Lösung der wichtigsten Frage. Kmunah wich Indira Vecculi, einer Neurobio-Positronikerin. Prompt zuckte Vannes Bewusstsein zurück. Seine auf Weiblichkeit fixierten Sinne erkannten in Indira Vecculi den Geistesinhalt einer hässlichen und zänkischen Frau. Er unterdrückte sein Gefühl der Ab neigung jedoch schnell, denn vorerst war nicht abzusehen, wie lange er den Körper auch mit diesem Bewusstsein teilen musste. Schließlich trat die letzte und siebente Persönlichkeit in den Vorder grund, die Vanne in diesem Verbund für die ungewöhnlichste hielt. Sie gehörte einem dreizehnjährigen Jungen namens Jost Seidel. Jost hatte bei den Aphilikern als Wunderkind gegolten und besaß bereits eine abgeschlossene Ausbildung als Galaktochemiker. Mit dem sicheren Instinkt der Jugend erfasste er sofort, wo die sieben Bewusst seine mit ihrem Körper herausgekommen waren. Seine Erkenntnis wurde von allen anderen als fester Bestandteil des gemeinsamen Wissens aufgenommen, und als Kershyll Vanne wieder 83
die Leitung übernahm, zweifelte er nicht mehr daran, dass er sich auf der Oberfläche eines Planeten oder planetenähnlichen Gebildes be fand. Vanne tastete mit den Händen umher und stellte überrascht fest, dass er einen Anzug aus glattem Stoff trug. Um die Hüften war ein Gürtel geschlungen. Andere Ausrüstungsgegenstände gab es nicht. Der Boden, auf dem er lag, bestand aus glattem Metall. Endlich be merkte Kershyll Vanne auch das leuchtende Band ferner Sterne. Vanne, der wie alle anderen Bewusstseine dieses Körpers auf der Erde im Mahlstrom geboren worden war, ahnte nicht, dass diese Galaxis die Urheimat der Menschheit war – die Milchstraße. Er beobachtete den nächtlichen Himmel lange, und keiner seiner geistigen Nachbarn störte ihn dabei. Als er zum letzten Mal bewusst zu den Sternen aufgeschaut hatte, vor dem Sturz Terras in den Schlund des Mahlstroms, waren sie gegenüber dem Leuchten der ge waltigen Naturerscheinung verblasst. Wo mochte die Erde jetzt sein?, fragte sich Vanne. War sie beim Sturz durch den Schlund untergegan gen? Vanne war froh, dass er durch die PILLE noch vor der Katastrophe vom Zustand der Aphilie befreit worden war. ES hätte die Präsenz von zwanzig Milliarden aphilischen Bewusstseinen in seinem Verbund nie mals ertragen. Deshalb hatte ES Maßnahmen zur Beseitigung der Aphilie eingeleitet. Kershyll Vanne erinnerte sich an die jüngste Vergangenheit. Als körperloses Bewusstsein war er in ES ausgesprochen glücklich ge wesen und hätte seine Daseinsform gegen kein noch so verheißungs volles materielles Leben eingetauscht. Dann jedoch hatten ihn die Ver hältnisse mehr und mehr belastet, denn ES war nicht in der Lage ge wesen, die zwanzig Milliarden zusätzlichen Bewusstseine zu integrieren. Der mentale Druck war ständig angestiegen. Vanne wusste, dass ES bereits mehrfach Bewusstseine ungewollt ab gegeben hatte, weil der Druck nach einem Ventil gesucht hatte. 84
Diesmal war der Ausstoß von Bewusstseinen kontrolliert erfolgt. Umso mehr wunderte Vanne sich über die Zusammensetzung der kleinen Gemeinschaft, zu der er ebenfalls gehörte. Er fragte sich, was ES mit diesem Verbund bezweckte. Vanne hatte den Eindruck, dass ES von ihm und den sechs anderen etwas erwartete. Im Grunde genommen befanden sich sieben Spezialis ten in diesem Körper. Welche Aufgabe sollten sie lösen? Vanne senkte den Kopf. Er war froh, wieder einen Körper zu besit zen, wenngleich er ihn mit sechs anderen Bewusstseinen teilen musste. Die Luft, die er einatmete, war geruchlos, sie gab ihm keinen Hin weis auf den Zustand der näheren Umgebung. Der Sternenschimmer reichte nicht aus, um die Dunkelheit wenigstens zu erhellen. Trotzdem stemmte Vanne sich in die Höhe. Kaum stand er auf den Beinen, wurde er zurückgedrängt. Indira Vec culi übernahm den Körper. Sie versuchte, die Situation zu ergründen. Dabei wurde sie durch die Tatsache abgelenkt, dass sie in einem männlichen Körper steckte. Während der Aphilie hatte sie nie das Bedürfnis gekannt, gefühls mäßige Beziehungen zum anderen Geschlecht aufzunehmen, und zu sexuellen Kontakten mit ihr hatten sich Männer nie entschließen kön nen. Als wüsste der gemeinsame Körper, dass solche Überlegungen in der augenblicklichen Situation gefährlich waren, schickte er das Bewusst sein von Albun Kmunah an die Oberfläche. Der Alpha-Mathematiker verarbeitete die wenigen zur Verfügung ste henden Informationen. Vannes Erkenntnis, dass sie sich auf einem Himmelskörper in einer Sternenarmen galaktischen Randzone be fanden, entsprach zweifellos den Tatsachen. Es war auch richtig, dass sie von ES bewusst ausgestoßen worden waren. Die Zusammensetzung der Bewusstseinsgruppe deutete außerdem darauf hin, dass von ihnen die Lösung technisch-wissenschaftlicher Probleme erwartet wurde. Da bei war es denkbar, dass diese Probleme konstruiert waren. Alles konn 85
te ein Experiment sein, um einen mit sieben Bewusstseinen bestückten menschlichen Körper zu testen. Kmunah bewegte sich nicht. Solange die Umgebung fremd war, konnte jeder Schritt verhängnisvoll sein. Kalkulierte ES Tod und Ver nichtung des abgestoßenen Verbundes ein?, überlegte er. Und was würde beim Tod dieses Körpers geschehen? Kehrten die Be wusstseine zu ES zurück, oder starben sie mit ihrem Körper? All das war des Nachdenkens wert. Schon als Aphiliker war Albun Kmunah still und zurückhaltend ge wesen. Ihn belastete die Gegenwart der sechs anderen Bewusstseine nicht, und er war bereit, sich sofort zurückzuziehen, wenn einer der anderen nach vorn drängen sollte. Die Sterilität der Luft und die totale Stille weckten seinen Verdacht, dass er sich in einer nicht natürlichen Umgebung befand, vielleicht so gar auf einem künstlichen Himmelskörper. War dies das Problem von ES? Sollte eine Heimat für jene Bewusstseine aktiviert werden, die ES nicht mehr an sich binden konnte? Kmunahs Gedanken kreisten so intensiv um mehrere Variationen der Wahrheit, dass er kaum merkte, wie er in den Hintergrund trat und wieder Platz für Kershyll Vanne machte. Natürlich, dachte der einstige Immunenjäger, war Abwarten richtig. Aber nur für eine gewisse Zeit. Schließlich konnte er nicht ewig hier stehen bleiben und warten, dass etwas geschah. Wenn alles ruhig blieb, wollte Vanne die Initiative ergreifen. Dabei Kümmerte es ihn wenig, wie die anderen darüber dachten. Solange er das Kommando hatte, würde er die Entscheidungen treffen. Außerdem gab es konkrete Hinweise, dass der Körper, in dem er sich befand, ge nau jener war, den er vor dem Sturz der Erde in den Schlund noch allein beherrscht hatte. Falls sich diese Vermutung als richtig erweisen sollte, hatte ES Vanne von vornherein die wichtigste Rolle zugedacht. Um jedoch ganz sicher zu sein, musste Kershyll Vanne sich in einem Spiegel betrachten können. 86
Immerhin, dachte er mit einem Anflug von Humor, war er jetzt sechsmal klüger als früher und besaß Fähigkeiten, die er wahrschein lich nie hätte erlernen können. Die Entwicklung, die er durchgemacht hatte, erschien ihm selbst unter kosmischen Gesichtspunkten bedeut sam. Am Horizont erschien ein Lichtschimmer. Sofort begab sich das Bewusstsein von Hito Guduka an die Spitze des Verbundes. Der Totalenergie-Ingenieur beobachtete, dass über dem Horizont der obere Abschnitt einer glühenden Kugel erschien. Das Land musste vollkommen flach sein, anders war dieser eigenartige op tische Effekt nicht zu erklären. Eine Sonne ging auf – eine künstliche Sonne, wie Guduka gleich da rauf erkannte. Gemessen an ihrer Größe und Entfernung reichte sie sicher nicht aus, um diese Welt zu erwärmen. Entweder hatte sie sym bolische Bedeutung, oder sie sollte für Wesen, die Guduka nicht kann te, den Tag-und-Nacht-Rhythmus erhalten. Als der künstliche Stern in seiner vollen Größe über dem Horizont stand, reichte sein Licht aus, um das Land sichtbar werden zu lassen. Es war keineswegs so eben, wie Guduka zunächst angenommen hatte, sondern wies eine Reihe seltsamer Erhöhungen auf. Zur Linken er streckte sich eine Kette zackenförmiger Hügel, viel zu regelmäßig ange ordnet, als dass sie geologischen Ursprungs gewesen wären. Der Boden selbst war mattblau und fugenlos, als hätten Unbekannte die Oberflä che der Welt mit einer Glasur aus poliertem Stahl versiegelt. Zwischen den Hügelreihen und einigen Gebilden von unterschied licher Form auf der rechten Seite erstreckte sich die Ebene, die Gu duka zunächst gesehen hatte, bis zum Horizont. Das Bewusstsein befahl dem Körper, sich langsam um die eigene Achse zu drehen. Vor ihm lag nun eine Zusammenballung fremdar tiger Gebilde. Vielleicht handelte es sich um eine Stadt, vielleicht war es auch etwas völlig anderes … 87
5.
I
m Gegensatz zu den beiden Abgesandten war Varryleinen Ev Cymth ein schlechter Wanderer, so dass Wastor und Klamous im mer wieder anhalten und warten mussten, bis er zu ihnen aufgeschlos sen hatte. Sie hatten die Ebene der Grafitsäulen durchquert und Ende tal mit der Todesschachtel ebenso weit hinter sich gelassen wie den Wachturm, in dessen Nähe Ev Cymth den größten Teil seines Lebens verbracht hatte. Dabei waren sie an der Öffnung der Großen Tube vor beigekommen. Das bodenlose Loch war Ev Cymth eher wie ein gieri ges Maul erschienen denn als eine Quelle flüssigen Breies. Der Ort hatte eine unheimliche Ausstrahlung. Seine Begleiter schienen nicht von derart düsteren Ahnungen geplagt zu werden – auf jeden Fall sprachen sie nicht darüber. Hinter dem Horizont lag die Festung Phark. Ev Cymth hatte von ihrer Existenz gewusst, aber er hatte sie noch nie gesehen. Kaftra war aufgegangen und beleuchtete den Komplex, der in seiner gewaltigen Ausdehnung den Wächter an eine hässliche Riesengeschwulst erinner te. »Haben dort die Gegangenen gelebt?«, erkundigte sich Wastor. Er hatte, damit Ev Cymth ihn von Klamous unterscheiden konnte, ein blaues Kopfband angelegt. »Bevor sie nach Endetal gegangen sind«, bestätigte der Wächter. Sein massiger Körper ruhte nun auf allen vieren. Er war froh über den Auf enthalt, nicht nur, weil dieser ihm eine Ruhepause verschaffte, sondern weil er es als einen Akt unverantwortlichen Leichtsinns angesehen hät te, einfach in die Festung hineinzumarschieren. Für seine Furcht gab es keinen vernünftigen Grund, aber Ev Cymth stellte fest, dass eine Reihe vergessen geglaubter Ängste aus seinem Un terbewusstsein hervordrängten, seit er mit den Abgesandten zusammen 88
war. Vielleicht lag das auch daran, dass er seinen angestammten Platz verlassen hatte. »Phark besteht nicht nur aus dieser Festung, sondern die Ebene der Grafitsäulen und Endetal gehören ebenfalls dazu«, stellte er fest. »Das sagtest du bereits«, verwies Wastor ihn ungeduldig. »Traust du dir zu, die Eingänge zur Festung zu finden?« »Ich war noch nie dort.« »Aber ja«, widersprach Klamous. »Du hast es lediglich vergessen.« In Ev Cymth stieg eine vage Erinnerung an eine Zeit empor, als er noch nicht erblindet gewesen war und keiner künstlichen Sehmecha nismen bedurft hatte. War er womöglich nicht nur schon in der Fes tung, sondern auch in Endetal gewesen? »Ist dieses … Konzept bereits eingetroffen?«, erkundigte er sich. Wastor nahm eine Haltung ein, als müsste er eine innere Uhr befra gen. »Ja«, antwortete er knapp und wechselte sofort wieder das Thema. »Wie viele Wächter halten sich in der Festung auf?« »Einer«, vermutete Ev Cymth. »Jeder Komplex wird von einem Wächter bewacht.« Wastor warf einen ungläubigen Blick in Richtung der Festung. »Ich sage nur, was ich annehme«, fügte Ev Cymth hastig hinzu. Die beiden Wesen, die sich selbst als Androiden bezeichnet hatten, nickten. »Wir gehen weiter«, entschied Klamous. »Dann werden wir ja sehen.« Ev Cymth erhob sich auf die Hinterbeine, denn in dem Watschel gang, den er in dieser Haltung einschlagen konnte, kam er schneller voran. Trotzdem gewannen Wastor und Klamous innerhalb kürzester Zeit wieder einen beachtlichen Vorsprung.
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»Was hältst du von ihm?«, erkundigte sich Wastor, als sie außer Hör weite waren. »Er ist ein Anachronismus«, beurteilte Klamous vorsichtig. »Auf keinen Fall ist er ein Kind dieser Umgebung. Wahrscheinlich war es sogar voreilig, ihn als Androiden zu bezeichnen. Er ist ein aus einer evolutionären Entwicklung hervorgegangenes Wesen, das für seine Auf gabe konditioniert wurde.« »Ich wette, man hat ihn von einem Planeten hierher geschafft«, sagte Wastor. »Auf jeden Fall ist er unberechenbar«, stellte Klamous fest. »Und was für ihn gilt, trifft sicher auch auf alle anderen Wächter zu.« »Er versteht nicht, worum es geht. Das kann für das Konzept gefähr lich werden.« Klamous' glattes Gesicht verzog sich zu einem Lächeln. »Es war nie die Rede davon, das Konzept gegen alle Eventualitäten zu schützen. Entweder es bewährt sich, oder unser Auftraggeber muss sich eine an dere Form der Materialisation ausdenken.« »Ich fürchte, dafür bleibt nicht mehr viel Zeit«, sagte Wastor be drückt. Sie hielten an und warteten, bis Ev Cymth wieder bei ihnen war. »Ich bin dieses Tempo einfach nicht mehr gewohnt«, sagte der Wächter atemlos. »Was habe ich all die Jahre schon viel getan? Auf dem Turm wird man fett und träge.« »Du strotzt vor Selbstmitleid«, warf ihm Wastor vor.
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Ev Cymth rückte das Gestell mit den künstlichen Wahrnehmungsorga nen auf seinem Kopf zurecht. Die Festung lag unmittelbar vor ihnen. Die Stelle, auf die sie sich zubewegten, bestand aus einer Gruppe bu ckelförmiger Erhebungen mit rutenähnlichen Auswüchsen auf der Spitze. Der Wächter fragte sich, ob die Behauptung, dass die Gegangenen nicht mehr existierten, der Wahrheit entsprach. Vielleicht wollten ihn die Abgesandten mit dieser Aussage nur von seiner Aufgabe ablenken. »Dieser Planetoid war eine Fluchtstation«, sagte Wastor. »Das Volk, das ihn gebaut hat, stand vor einer Katastrophe auf seiner Heimatwelt. Die Überlebenden zogen sich hierher zurück. Bald jedoch mussten sie feststellen, dass sie in dieser Umgebung nicht leben konnten. Die meis ten von ihnen brachen mit Raumschiffen auf, um eine bessere Welt zu finden. Sie sind in den Tiefen des Universums verschollen. Jene, die geblieben sind, wurden wahnsinnig und schufen den Mythos von En detal. Dorthin zogen sie sich schließlich zurück, um in der Todes schachtel auf ihr Ende zu warten.« »Woher weißt du das so genau?«, fragte Varryleinen Ev Cymth ver blüfft. »Glaubst du, ES schickt ein Konzept auf eine Welt, bevor sie nicht in allen Einzelheiten überprüft wurde?« Wastor schüttelte den Kopf. »ES weiß alles über diesen künstlichen Planetoiden, der vor vielen Jah ren in seine Mächtigkeitsballung eindrang. Aufgrund der vorliegenden Informationen wurde dieser Himmelskörper ausgewählt, um das Kon zept zu überprüfen.« »Ich verstehe nichts«, murmelte Ev Cymth verdrossen. Der Boden stieg zu den Buckeln hin leicht an, besaß aber auch hier jene charakteristische mattblaue Farbe. Vom Innenhof der Festung ver lief eine Spirale zur Spitze des höchsten Turmes. Es sah aus, als würde sie sich langsam drehen, doch das war eine optische Täuschung, die vom Licht der künstlichen Sonne erzeugt wurde. Hinter den Buckeln begann eine Muldenstraße, die bis zum Hauptkomplex führte. Sie be 91
stand aus unzähligen schmalen Segmenten, die man jederzeit in andere Richtungen verlegen konnte. Diese Straße konnte jeder noch so engen Biegung zwischen den Festungsgebäuden folgen. Ev Cymth vermutete, dass sie von den Gegangenen früher zum Transport von Gütern be nutzt worden war. Hinter den mittleren Buckeln wölbte sich ein doppelter Torbogen, der sowohl den Eingang zur Muldenstraße als auch den Beginn eines breiten Korridors markierte. Wastor deutete auf diese Öffnung. »Dort können wir eindringen!«, stellte er fest. Seinem Satz folgte ein markerschütternder Aufschrei von der Spitze des höchsten Turmes. Die drei Ankömmlinge richteten ihre Blicke nach oben. Ev Cymth sah ein auf diese Entfernung winzig wirkendes Wesen, das eine unübersehbare Ähnlichkeit mit ihm selbst hatte. Es stand auf ei nem Sockel und hielt irgendetwas in einer Kralle. »Der Wächter«, sagte Klamous gelassen. »Oder einer der Wächter, die hier leben.« Ev Cymth fühlte sich seltsam berührt. Er beobachtete, wie sein Art genosse über die Brüstung kletterte und auf die Spirale stieg. Dort rutschte er zu Ev Cymths Überraschung schnell in die Tiefe. »Er kommt hierher«, sagte Klamous. »Wahrscheinlich wird er ver suchen, uns anzugreifen. Er trägt eine Waffe.« »Darüber können wir uns später Gedanken machen«, entgegnete Wastor ungeduldig. »Lasst uns jetzt in die Festung gehen und einen guten Platz suchen, von dem aus wir das Konzept beobachten kön nen.« »Wie kannst du so sicher sein, dass das Konzept die Festung betreten wird?«, wollte Ev Cymth wissen. »Es wird das Bedürfnis haben, sich überall umzusehen, um einen Ausweg zu finden.« Wastor ging auf die linke Seite des Torbogens zu und verschwand in dem Korridor. Die beiden anderen folgten ihm. Die Scheinwerfer der Abgesandten erhellten einen mit stählernen 92
Platten belegten Gang. An seinem Ende befand sich ein gitterförmiges Tor. Klamous drückte es ohne sichtbare Anstrengung auf. Das Licht fiel in eine Halle, in deren Mitte eine mit Ornamenten verzierte Säule stand. In Kopfhöhe ragten aus ihr Stacheln heraus, de ren Spitzen leuchteten. Die Decke bestand aus dunkelroten ineinander gefügten Figuren aus einem transparenten glasähnlichen Material, das sich mit dem Licht Kaftras aufzuladen schien. An den Wänden hingen Stahlpeitschen. Sie waren von Korrosion zerfressen, und als Klamous eine davon berührte, zerfiel sie zu rotem Staub. Draußen hörten sie den zweiten Wächter vor Enttäuschung aufbrül len. Er war offenbar gerade am unteren Ende der Spirale angekommen und hatte die Eindringlinge nicht mehr vorgefunden. »Wollt ihr ihn nicht einweihen?«, erkundigte sich Ev Cymth. »Wenn er eine Graise hat, wird er das Konzept töten, sobald es die Festung betritt.« »Es genügt, wenn wir diese Waffe neutralisieren«, sagte Wastor. Ev Cymth fragte sich, warum er eine Sonderstellung einnahm. Wahr scheinlich war er dazu ausersehen, Fragen zu beantworten und Erklä rungen abzugeben, obwohl seine Begleiter mehr über diese Welt zu wissen schienen als er selbst. Aus den Tiefen der Festung drangen maschinelle Geräusche an sein Gehör. Die in ferner Vergangenheit entstandenen Anlagen funktionier ten immer noch und erfüllten ihren Zweck. Ohne sie hätte es keine Lufthülle gegeben, und Kaftra wäre erloschen. Ev Cymth begriff, dass auch sein eigenes Leben von den im Untergrund verborgenen Maschi nen abhängig war. Dass die Stahlpeitschen verrostet waren, bedeutete nichts. Sie waren von der Heimatwelt der Gegangenen hierher gebracht worden und wa ren Bestandteile einer anderen Technik. Aber wies die Haltbarkeit aller Einrichtungen auf dem Planetoiden nicht ausdrücklich daraufhin, dass die Gegangenen doch irgendwann zurückkehren würden? »Wir müssen weiter!«, drang Wastors Stimme in Ev Cymths Bewusst 93
sein. Der Durchgang zu einer Halle von gewaltigem Ausmaß war offen. Eine scheinbar endlose Reihe tropfenförmiger Fahrzeuge geriet in das Blickfeld des Wächters. Sie stellten eine stumme Herausforderung an die Besucher dar, von dieser Möglichkeit der Fortbewegung Gebrauch zu machen. Auf einer Seite der Halle gab es Dutzende große Tore, die gegenüberliegende Wand wies zahlreiche nischenähnliche Vertiefungen auf. Dort waren fremdartige Instrumente untergebracht, die nach Ev Cymths Ansicht zur Montage oder Wartung der Fahrzeuge gedient hatten. Über eine Rampe gelangten die drei in das nächste Stockwerk. In die Wände waren große, an Bullaugen erinnernde Fenster eingelassen, hier erhob sich zudem ein Instrumentensockel. Die Abgesandten machten sich daran zu schaffen, und plötzlich leuchteten die vermeintlichen Fenster auf. Der Wächter erkannte, dass es sich um holografische Schirme handelte. »Wenn es uns gelingt, alle Apparate zu justieren, können wir große Gebiete der Festung beobachten«, sagte Klamous. »Und das Konzept«, vermutete Ev Cymth. Was für ein Wesen moch te das sein?, fragte er sich. Die Abgesandten hatten es als Menschen bezeichnet. Wieder hörten sie den anderen Wächter brüllen. Der Lärm schien aus der Nähe zu kommen. Offenbar hatte er die Spur der Eindringlin ge aufgenommen. »Ich kümmere mich um ihn«, erbot sich Wastor. »Klamous, du bleibst hier und versuchst, die Schirme einzustellen.« Er verließ den Raum. »Was geschieht mit mir?«, fragte Ev Cymth, der sich beinahe über flüssig vorkam. »Du bleibst bei mir«, entschied Klamous. »Wir wissen viel über den Planetoiden, aber nur wenig über die Wächter. Wenn es zu den er warteten Zusammenstößen zwischen dem Konzept und deinesgleichen 94
kommt, kann es sein, dass wir dich brauchen.« »Wie kannst du so sicher sein, dass ich euch helfen werde?« »Wastor und ich sind die Einzigen, die dich aus deiner schrecklichen Lage befreien können. Nachdem du die Sinnlosigkeit deiner Arbeit er kannt hast, wirst du sie nicht länger ausführen wollen. Du willst von hier weg.« Er hat Recht!, dachte Ev Cymth erstaunt. Er würde nie wieder als Wächter arbeiten können. Dieses Dasein erschien ihm in der Rück schau unerträglich, und er wunderte sich, wie er es so lange ertragen hatte. Bevor er seinen Platz auf dem Turm wieder einnahm, würde er eher nach Endetal gehen und seinem elenden Leben in der Todes schachtel ein Ende bereiten.
***
Über den ausgewachsenen und starken Körper eines Mannes zu ver fügen war für das Bewusstsein eines Jungen wie Jost Seidel eine durch aus angenehme Erfahrung. Das, wonach sich Jugendliche in seinem Alter sehnten, nämlich erwachsen zu sein, war für den Galaktoche miker auf unerwartete Art und Weise Wirklichkeit geworden. So war es nicht erstaunlich, dass Jost, als er an die Stelle von Hito Guduka trat, den Wunsch verspürte, die Fähigkeiten des Körpers so fort auszunutzen. Diese völlig unwissenschaftliche Reaktion löste of fenbar einen Alarmeffekt aus, denn kaum hatte Jost mit dem Spiel der Armmuskeln begonnen, wurde er schon wieder zurückgedrängt. Ker shyll Vanne übernahm seinen Platz. Vanne seufzte und fragte sich, was die anderen noch mit dem Körper anstellen würden. Er verdrängte diesen Gedanken aber schnell wieder, denn es gab wichtigere Dinge, über die er sich sorgen musste. In etwa eineinhalb Kilometern Entfernung erhob sich der rätselhafte Komplex, den Guduka zuerst entdeckt hatte. Sicher war es keine Stadt, überlegte Vanne, jedenfalls nicht im eigentlichen Sinn. Vielmehr schien 95
es sich um eine Art Vielzweckgebäude gewaltigen Ausmaßes zu han deln. Zu welchem Zweck es seine Benutzer erschaffen hatten, ließ sich nicht einmal erraten. Die Anlage wirkte verlassen, und obwohl keine Spuren des Zerfalls zu erkennen waren, schien sie uralt zu sein. Kershyll Vanne grübelte darüber nach, warum sein Körper ausgerech net hier materialisiert war. Entweder hatte ES den Vorgang gesteuert und ihn bewusst an diesen Platz geschickt, oder seine Anwesenheit entsprang tatsächlich nur einem Zufall. In beiden Fällen stand er vor dem gleichen Problem: Er musste ergründen, wo er sich befand, ob es Gefahren für ihn gab und wie er Kontakt zu anderen Menschen auf nehmen konnte. Seine Nachdenklichkeit machte ihn unaufmerksam, so dass es dem Bewusstsein von Pale Donkvent gelang, ihn ziemlich rücksichtslos zu rückzustoßen. Was immer das für ein Gebäude war, überlegte Donkvent, es recht fertigte eine gründliche Untersuchung, denn vielleicht gab es dort drü ben einen ordentlichen Schluck zu trinken. Ärgerlich über die Unterbrechung, übernahm Vanne wieder das Kommando. So, wie ihm die Gewohnheiten aller Bewusstseine be kannt waren, wusste er auch um Donkvents stille Leidenschaft. Das fehlte noch, dass er seinen Körper diesem Säufer überließ. Eigentlich war es verblüffend, dass Donkvent als Aphiliker dem Al kohol verfallen war. Damals hatte der Ultra-Physiker sich diverse Ge tränke selbst hergestellt und seine Trunksucht dadurch getarnt, dass er sie als die Folge einer rätselhaften Strahlenkrankheit ausgegeben hatte. Für diese Behauptung hatte er sich mit Hilfe von eigenen Messergeb nissen sogar glaubwürdige Atteste beschafft. Vanne befürchtete, dass es Situationen geben würde, in denen er Donkvent aufgrund dessen spe zieller Fähigkeiten notgedrungen den gemeinsamen Körper überlassen musste. Das würde dann zwangsläufig Probleme mit sich bringen. Er richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf die gebäudeähnliche Ansammlung. Dass sie von ihren Bewohnern verlassen worden war, be 96
deutete nicht gleichzeitig, dass es dort keine Gefahren gab. Aber wo wollte er Auskünfte über diese Welt erhalten, wenn nicht dort? Vanne durfte sich nicht darauf verlassen, dass ES ihn irgendwann zu rückholen würde. ES war vermutlich froh, dass es sieben Bewusstseine losgeworden war. Kershyll Vanne setzte sich in Bewegung. Die anderen Bewusstseine hielten sich diszipliniert im Hintergrund, es gab für sie ohnehin keine Veranlassung, ihm die Führung abzunehmen. Vanne hatte den Ein druck, dass er bereits als Anführer akzeptiert war. Das bürdete ihm eine nicht geringe Verantwortung auf. Er fragte sich, ob ein einzelnes, von ES ausgestoßenes Bewusstsein sich in dieser fremden Umgebung überhaupt zurechtgefunden hätte. Womöglich wäre es seelisch zusammengebrochen. ES hatte bestimmt Gründe, ausgerechnet sieben Bewusstseine in einem Körper zu vereini gen. Plötzlich ertönte ein Schrei. Vanne blieb stehen. Er war sicher, die Stimme eines lebenden We sens aus Richtung des gebäudeähnlichen Komplexes gehört zu haben. Sollten sich dort noch Intelligenzen aufhalten? Vanne zog sich zurück und überließ seinen Platz Ankamera. Die Medizinerin und Biologin überlegte. Hochintelligente Wesen, wie man sie in dieser Umgebung vermutet hätte, pflegten sich nicht durch solche Laute zu verständigen. Noch unwahrscheinlicher erschien es ihr, dass sich in der künstlichen Umgebung Tiere aufhielten. Viel leicht hatte Vanne sich getäuscht und ein technisches Geräusch falsch interpretiert. Der Ruf ertönte ein zweites Mal. Diesmal schien er aus größerer Ent fernung zu kommen, aber womöglich hatte, wer immer den Lärm ver ursachte, nur seine Position in der Stadt gewechselt. Ankamera bezweifelte nicht mehr, dass sie ein lebendiges Wesen ge hört hatte. Zögernd setzte sie den Körper wieder in Bewegung. Einem objektiven Beobachter wäre aufgefallen, dass sich die Gangart des 97
Menschen veränderte – sie hatte plötzlich etwas Weibliches. Hundert Meter vor dem Gebäudekomplex übernahm Kershyll Vanne wieder die Führung. Die einzelnen Gebilde waren so ineinander ver schachtelt, dass es schwer fiel, ihre Bedeutung zu erkennen. Ungefähr in der Mitte der Anlage ragte eine Art Turm in die Höhe. Von seiner Spitze führte eine Metallschleife bis zum Boden herab. Vanne entdeckte zahlreiche Öffnungen in den Außenflächen, aber er war nicht sicher, ob sie mit Zugängen identisch waren. Sein Gefühl sagte ihm, dass er vor den Unterkünften fremder Intelligenzen stand. Trotzdem gab es auch eine Reihe anderer Erklärungsmöglichkeiten. Durch die Nähe der anderen Bewusstseine sensibilisiert, glaubte Vanne zu spüren, dass er beobachtet wurde. Er musste sich zum Wei tergehen zwingen. Alles in ihm drängte nach rascher Flucht, obwohl dies sicher das Unsinnigste gewesen wäre, was er hätte tun können. Wohin hätte er sich wenden sollen? Auf der anderen Seite der Ebene gab es nicht minder rätselhafte Bauwerke. Dort waren die Gefahren, eingebildet oder nicht, bestimmt nicht geringer. Vanne blickte zu der künstlichen Sonne hinauf. Sie würde bald ihren Zenit erreicht haben. Von dieser Atomsonne ging keine spürbare Wär me aus. Wahrscheinlich wurde die Atmosphäre von subplanetaren An lagen aufgeheizt und stabilisiert. Wenige Schritte vor dem ersten Metallhügel blieb Kershyll Vanne stehen. Das gut zehn Meter hohe Gebilde erinnerte entfernt an einen Pilz, der mit einer Gruppe anderer, unterschiedlich großer Pilze ver wachsen war. Dazwischen gab es knollenförmige Auswüchse und Öff nungen, die wie Auslassventile aussahen. In einer Art Rinne waren scheibenförmige Stufen eingelassen. Diese ›Treppe‹ führte über die Pilzgruppe hinweg zu einem achteckigen Ge häuse aus dessen Oberfläche ein Gewirr von Metallfühlern ragte. Vanne überzeugte sich, dass niemand in der Nähe war, dann schwang er sich auf die untere Stufe. Dort verharrte er und sah sich um. Da nichts geschah, stieg er weiter nach oben. 98
Von dem Gehäuse aus erstreckte sich eine schräge Stahlwand nach oben. Drei Körperlängen über Vanne befand sich eine mannsgroße rechteckige Öffnung. Die Wand war jedoch vollkommen glatt, so dass er nicht hinaufklettern konnte. Während Vanne überlegte, wie er an die Öffnung gelangen konnte, entstand über ihm eine Bewegung. Er sah den Schatten einer hoch aufgerichteten Gestalt, dann fiel etwas auf ihn herab. Eine armdicke stählerne Schlinge ringelte über sei nen Körper und wand sich zielsicher um seine Hüften. Vanne bemerkte, dass das Seil bis zur Öffnung oben in der Wand verlief. Er packte es mit beiden Händen, um es vom Körper zu strei fen, doch es zog sich nur fester zusammen. Augenblicke später straffte es sich ruckartig und zerrte ihn in die Höhe. Kershyll Vanne ver wünschte seinen Leichtsinn. Schon hing er vor der Öffnung und blickte in einen dunklen Gang, in dem das Seil verschwand. Bevor er etwas unternehmen konnte, wur de er mehrere Meter weit über den glatten Boden geschleift, schließ lich lockerte sich die Schlinge und fiel von ihm ab. Er hörte ein scharrendes Geräusch, als kratze jemand auf dem glatten Boden. Als Sekunden später ein Schatten auf ihn fiel, machte er zwar eine instinktive Abwehrbewegung, aber da wurde er schon mit unwi derstehlicher Gewalt gepackt und hochgehoben. Animalischer Gestank stieg in seine Nase. Er hatte das Gefühl, etwas Pelziges zu berühren. Durch den Eingang fiel nicht genügend Licht in den Korridor, um Vanne Einzelheiten erkennen zu lassen. Er vermutete jedoch, dass ihn ein ungemein kräftiges Wesen gefangen hatte und durch den Gang da vontrug. Ankamera übernahm vorübergehend die Spitzenposition in der Gruppe. Es war sicher falsch, den Gegner als Tier zu bezeichnen, dazu war er zu klug vorgegangen. Ankamera war überzeugt davon, dass man ihr aufgelauert hatte. Wahrscheinlich war sie seit geraumer Zeit beobachtet worden. Sollte sie Vanne einen Vorwurf machen, dass er mehr oder we 99
niger blind in diese Falle geraten war? Damit hätte sie ihm sicher un recht getan. Ohnehin waren alle Bewusstseine mit einer Untersuchung der Anlage einverstanden gewesen, auch Ankamera. Der Fremde, der sie nun wegschleppte, hatte eine durchaus men schenähnliche Körperform. Seine Verhaltensweise machte außerdem deutlich, dass er Wahrnehmungsorgane besaß, die mit denen eines Menschen vergleichbar waren. Zweifellos war er kein Geschöpf dieser Welt, sondern von einem anderen Planeten hierher gekommen oder – gebracht worden. Kaum dass Ankamera ihre Erkenntnisse so weit vervollständigt hatte, zog sie sich zurück und überließ Albun Kmunah ihren Platz. Ihre Er fahrungen waren allen anderen Bewusstseinen sofort zugänglich, so dass auch der Alpha-Mathematiker damit arbeiten konnte. Kmunah war weniger am Metabolismus des Gegners interessiert als an seiner Verhaltensweise. Der Angriff stempelte den Fremden zum Fleischfresser und zu einem Wesen, dessen Art sich beim Kampf ums Überleben gegenüber ande ren Daseinsformen behauptet hatte. Der Überfall ließ außerdem erken nen, dass der Bepelzte taktische Überlegungen anstellen und Entwick lungen vorhersehen konnte. Dass er sich bei der Ausführung seiner Pläne einer komplizierten Waffe bedient hatte, verdeutlichte, dass es sich um einen beachtenswerten Gegner handelte. Trotzdem glaubte Kmunah nicht, dass er es mit einem Bewohner dieser Anlage zu tun hatte. Dafür wirkte seine Handlungsweise zu na turverbunden. Die Erbauer dieses Komplexes hingegen mussten sich in einem Stadium der Entwicklung befunden haben, das ein solches Vorgehen schon nicht mehr zuließ. Zwei Möglichkeiten zeichneten sich ab: Entweder handelte der An greifer im Auftrag anderer Wesen, oder er war, genau wie die sieben Bewusstseine, hierher verschlagen worden. Der Unbekannte schien sein Opfer nicht töten zu wollen, jedenfalls nicht unmittelbar, denn dazu hätte er längst Gelegenheit gehabt. 100
Als Albun Kmunah abtrat, fand Pale Donkvent Gelegenheit, für we nige Sekunden an die Oberfläche zu schlüpfen. Empört registrierten die sechs anderen, dass Donkvent den Fremden nach Alkohol fragen wollte. Vanne drückte den Ultra-Physiker in den Hintergrund. Da keiner der anderen im Augenblick mehr herausfinden konnte, als sie bereits wussten, war es nur selbstverständlich, dass jenes Bewusst sein die Kontrolle ausübte, das am besten mit dem gemeinsamen Kör per umzugehen vermochte. Vanne war damit automatisch derjenige, der alle körperlichen Auseinandersetzungen bestreiten musste. Vannes Entschluss, sofort etwas zu unternehmen, bekam einen gehö rigen Dämpfer, als er probeweise den Körper anspannte. Sofort ver stärkte sich der Druck der ihn umschlingenden Arme, und zum ersten Mal spürte Vanne auch Krallen, die sich in seine Seite bohrten. Sofort gab er seine Bemühungen auf. Der Gang machte einen scharfen Knick. Kershyll Vanne konnte das nicht nur an den Bewegungen seines Widersachers erkennen, sondern zugleich an dem Lichtschein, der jetzt von vorn in den Korridor fiel. Er drehte den Kopf, so dass er das Wesen sehen konnte, das ihn überwältigt hatte. Auf den ersten Blick ähnelte es einem massigen Bä ren mit grauem Pelz. Dann erkannte Vanne jedoch erhebliche Unter schiede. Der Unbekannte hatte einen ovalen Kopf mit eingedrückter Gesichtspartie. Sie war schwarz und bestand in erster Linie aus einer senkrecht verlaufenden Atemöffnung, die an den Rändern blasenför mig verdickt war und unablässig pulsierte. Zu beiden Seiten darüber saßen zwei Augen, die wie zerbröckelte Kieselsteine aussahen. Das Wesen ist blind!, erkannte Kershyll Vanne irritiert. Er korrigierte seine Meinung, als er bemerkte, dass der Fremde ein kompliziert aussehendes Instrument auf dem Kopf trug. Wahrschein lich ersetzte es ihm die Augen und andere Sinne. Aber nicht nur auf dem Kopf besaß diese Kreatur ein Gerät. Als Vannes Blick abwärts glitt, registrierte er ein gutes Dutzend ähnlich konstruierte Gebilde, 101
die scheinbar aus dem Körper wuchsen. Vanne wurde in einen Raum geschleppt, an dessen Wänden sich eine verwirrende Vielfalt von Instrumenten befand. Röhren und Kabel ver liefen von dort aus bis unter die Decke, wo sie sich zu einem Knäuel vereinigten. Aus diesem Gebilde hing eine Art Sonde mitten in den Raum herab. Unter der Sonde stand ein Sockel mit einer nierenförmi gen Scheibe, die sich langsam drehte. Vanne, der erwartet hatte, dort abgelegt zu werden, stellte erstaunt fest, dass er losgelassen wurde. Er wollte sich umwenden und fliehen, aber der Eingang war schon zugeglitten und eine zweite Tür schien es nicht zu geben. Das Pelzwesen kümmerte sich nicht länger um Vanne, sondern legte sich rücklings auf die Scheibe. Die Sonde glitt herab, sie teilte sich an ihrem unteren Ende in einen Fächer mit mehreren Dutzend Fühlern. Jeder dieser Fühler stellte mit einem der aus dem Körper des Bepelzten ragenden Instrumente Kontakt her. Vanne sah gebannt zu. Als er einen Schritt auf den Sockel zumachte, stieß er gegen eine unsichtbare Energiebarriere. Er vermutete, dass der Fremde die Kommunikation mit anderen Wesen oder einer Robotsta tion aufgenommen hatte. Vielleicht regenerierte er auch seinen Körper. Auf jeden Fall war er in diesem Zustand hilflos, sonst hätte er sich kaum durch einen Schutzschirm abgesichert. Kershyll Vanne tauschte seinen Platz im Bewusstseinsverbund mit Hito Guduka, denn der Totalenergie-Ingenieur war am ehesten in der Lage, die Bedeutung der Schaltanlagen in diesem Raum zu ergründen und mit ihrer Hilfe vielleicht eine Fluchtmöglichkeit zu finden. Guduka studierte die Instrumente an der nächstgelegenen Wand. Es war zweifellos ein Fehler, die Anlage isoliert zu sehen. Sie war Teil eines gesamten, nur schwer zu verstehenden Komplexes. Guduka ging davon aus, dass er in erster Linie Mess- und Kontroll instrumente vor sich hatte, die mit funktionellen Geräten auf der einen und mit auswertenden Rechnern auf der anderen Seite verbunden wa 102
ren. Er hielt sich nicht lange damit auf, sondern suchte nach jenen Teilen der Anlage, die nichts mit der eigentlichen Aufgabe dieses Rau mes zu tun hatten, sondern dazu da waren, klimatische Veränderungen herbeizuführen, Schutzschirme aufzubauen und Türen zu öffnen und zu schließen. Dabei stieß er auf ein Instrumentenbord, das in eine Wandvertiefung eingelassen war. Darüber befand sich eine Leucht scheibe, über die dunkle Vierecke wanderten. Guduka wusste, dass er kaum Zeit haben würde, den Sinn der Anzeigen zu verstehen. Er muss te aufs Geratewohl experimentieren. Der Erfolg war verblüffend, als er eine Schaltfläche berührte. Vor dem Sockel öffnete sich der Boden. Die Scheibe, auf der das Pelzwesen lag, kippte in die Senkrechte. Die Kontakte lösten sich aus den kör pereigenen Instrumenten des Fremden, danach glitt er mit der Scheibe in das Loch im Boden und verschwand. Guduka berührte eine zweite Fläche. Das war offensichtlich ein Fehler, der zur Befreiung des Unbekann ten führte. Der Totalenergie-Ingenieur sah zwei Krallenhände am Rand der Bodenöffnung auftauchen und hörte einen wütenden Knurrlaut. Gleich darauf schwang sich der Bepelzte aus dem Loch. Guduka presste seine Handflächen auf mehrere Schaltflächen zu gleich. Es war eine Art Panikreaktion, die er selbst nicht verstand. Das Kabelbündel unter der Decke löste sich auf und klatschte gegen die Wände, gegen den Fremden und gegen Guduka selbst. Er wurde gegen die Instrumente geschleudert. Irgendetwas zerbarst mit einem explosionsähnlichen Knall, und eine hellblaue Rauchsäule stieg zur Decke auf. Auch der Bepelzte war zu Boden gegangen und versuchte nun, sich aus dem Kabelwust zu befreien. Auf der anderen Seite des Raumes öffnete sich dicht über dem Bo den eine Wandklappe, aus der dahinter verborgenen Höhlung schnell te ein Metalltentakel von beachtlichen Ausmaßen. Er besaß eine klau enförmige Greifhand, mit der er in rasender Geschwindigkeit Kabelen den ergriff, aufritzte, versiegelte und wieder fallen ließ. 103
Guduka beobachtete noch, als er den Vortritt wieder dem Bewusst sein von Kershyll Vanne überlassen musste. Vanne warf sich auf den Fremden und zerrte ihm mit einer hastigen Bewegung das Instrumentengestell vom Kopf. Das Wesen schrie wü tend auf und schlug blindlings um sich. »Tut mir Leid«, sagte Vanne. Er hastete auf die Bodenöffnung zu und stellte fest, dass der Schutzschirm nicht mehr existierte. Mit einem Blick in die Tiefe überzeugte er sich davon, dass er durch das Loch in einen anderen Raum gelan gen konnte. Nach kurzem Zögern stellte Vanne das geraubte Gerät neben der Öffnung auf den Boden. Dort würde es der Fremde sicher früher oder später finden. Vanne nahm an, dass das Wesen ohne seine künstli chen Sinne verloren war, außerdem hoffte er, dass dieser Ausdruck gu ten Willens bei der Gegenseite Anerkennung finden würde. Mit den Beinen voran ließ er sich in das Loch gleiten. Seine Hände umklammerten noch den Rand, dann ließ er sich fallen. Der Sturz war ziemlich tief, der Aufprall entsprechend heftig. Vanne richtete sich ächzend auf. »Liebe Freunde«, sagte er, »ich habe dort oben gerade festgestellt, dass ich mit meiner alten Stimme spre che. Das kann nur bedeuten, dass es der gute alte Kershyll Vanne ist, in dem wir alle leben.« Über sich hörte er den Bepelzten ziellos umhertappen. »Hoffentlich fällt er nicht in das Loch«, sagte Vanne. Es tat ihm ein fach gut, seine Stimme zu hören. Er versuchte, sich zu orientieren.
***
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Klamous wusste, dass Wastor und er nicht die ersten Abgesandten wa ren, die ES geschickt hatte, um Verbindung zu Menschen aufzuneh men. In nicht allzu ferner Vergangenheit hatte es ein Wesen namens Homunk gegeben, das diese Aufgabe erfüllt hatte. Homunks Stütz punkt war der Kunstplanet Wanderer gewesen. Vielleicht, dachte Kla mous, würden Wastor und er ebenfalls eine solche Heimat finden. Sei ne eigene Existenz war ihm rätselhaft, er wusste nur, dass Wastor und er Androiden waren, die in jeder Beziehung von ES abhingen. Wastor kam zurück. »Ein ziemlich streitsüchtiger Bursche«, bemerkte er. »Ich musste ihn paralysieren.« Das bezog sich auf den zweiten Wächter und war für Ev Cymth gedacht, aber der reagierte nicht da rauf. Wastor warf einen Blick auf die Holoschirme. »Habt ihr das Kon zept entdeckt?« Klamous schüttelte verlegen den Kopf. Er hatte sich mit seinen eige nen Problemen beschäftigt, anstatt sich um die wirklich wichtigen Auf gaben zu kümmern. »Es wird Zeit, dass wir das Konzept ausfindig machen«, sagte Wastor entschieden. »Wenn es einem dieser Wächter in die Hände fällt, kann das Schlimmste geschehen.« Die Androiden machten sich gemeinsam an den Schaltanlagen zu schaffen. Es gelang ihnen, die verschiedensten Räume der Festung zu beobachten, aber das Konzept fanden sie nicht. »Es wäre reiner Zufall, wenn wir es auf diese Weise entdeckten«, stell te Wastor schließlich fest. »Vielleicht kann Ev Cymth uns helfen.« »Ich verstehe diese Instrumente nicht«, versetzte der Wächter. »Ich war nur für den Turm zuständig. Dort kenne ich mich aus. Aber hier …« Wastor winkte ab. »Die hier lebenden Wächter stammen alle von ei nem Volk ab. Es muss doch möglich sein, dass ihr euch untereinander verständigt.« Ev Cymth schaute ihn verständnislos an. 105
»Wahrscheinlich haben einige deiner Artgenossen das Konzept schon aufgespürt«, fuhr der Androide fort. »Sie sind schließlich dazu da, die Festung zu bewachen.« »Du meinst, dass ich sie rufen soll?«, fragte Ev Cymth scheu und fügte verbissen hinzu: »Das tue ich nicht!« »Niemand verlangt, dass du sie in eine Falle locken sollst. Wenn wir ihnen Schaden zufügen wollten, könnten wir das auch ohne deiner Mitwirkung tun. Es kommt uns nur darauf an, diesen Menschen zu helfen, bevor deine Artgenossen ihm Schaden zufügen.« Ev Cymth begab sich zögernd zum Tor. »Versuch es!«, drängte Wastor. »Je schneller wir hier fertig sind, desto eher können wir dir und deinesgleichen helfen.« Das leuchtete dem Wächter ein. Er holte tief Atem und stieß einen lauten Schrei aus. Kurz darauf war eine Antwort zu hören. »Es hat funktioniert«, sagte Wastor befriedigt. »Was hast du erfah ren?« »Einer der Wächter befindet sich in Gefahr«, antwortete Ev Cymth verdrossen. »Es sieht so aus, als wäre dieses Konzept gar nicht so hilf los, wie ihr gesagt habt. Es ist ihm gelungen, dem Wächter die Augen abzunehmen.« »Kannst du uns dorthin führen, wo das geschehen ist?« »Ich glaube nicht, dass es einen Sinn hätte. Das Konzept ist wieder verschwunden.« »Du musst mit anderen Wächtern ebenfalls Kontakt aufnehmen!« »Ich werde überhaupt nichts mehr tun«, sagte Ev Cymth entschie den. »Gleichgültig, ob ihr mir helfen werdet oder nicht.« Die beiden Abgesandten wechselten einen kurzen Blick. Sie sahen ein dass sie Ev Cymth nicht zwingen konnten. Das Schicksal, das dem anderen Wächter widerfahren war, hatte ihn misstrauisch gemacht. Dass es dem Konzept gelungen war, einen Wächter zu überwältigen, war erfreulich, bedeutete aber eine zusätzliche Bedrohung für diesen Menschen, denn nun würden alle gemeinsam Jagd auf den Eindring 106
ling machen. »Wir gehen ab sofort getrennt vor«, schlug Wastor vor. »Jeder von uns sucht ein bestimmtes Gebiet ab.« Klamous deutete auf Ev Cymth. »Was geschieht mit ihm?« »Er kann hier bleiben oder einen von uns begleiten – wie er will!« »Ich gehe zu meinem Turm zurück und warte dort auf euch«, sagte Ev Cymth. »Wenn ich sofort aufbreche, kann ich mein Ziel noch vor Anbruch der Dunkelheit erreichen.« Getrennt setzten die beiden Homunkuliden die Suche nach dem Konzept fort.
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Als Ankamera vorübergehend die Führung innehatte, taufte sie die seltsame Welt auf den Namen ›Nachtfalter‹. Kershyll Vanne hielt die sen Begriff für zu poetisch, andererseits erschien ihm der Name neben sächlich, so dass er ihn bei seiner erneuten Kommandoübernahme nicht korrigierte. Auf seiner Flucht war Vanne in einen lichtüberfluteten Korridor ge langt. Abzweigungen führten in gewölbeartige Lagerräume, in denen je doch nur leere Gestelle und Behälter standen. Ab und zu erinnerten Schreie aus entlegenen Räumen Vanne daran, dass er nicht den einzi gen Bewohner dieses Gebäudekomplexes kampfunfähig gemacht hatte. Wahrscheinlich waren die Gegner hinter ihm her. Ein Wesen, das wie Vanne aus dem Nichts erschienen war, signalisierte Gefahr, darüber brauchte er sich keine Illusionen zu machen. Am Ende des Korridors führte eine Rampe in höher gelegene Räu me. Oben gab es keine Eingänge oder Wände im eigentlichen Sinn, sondern nur Säulen aus leuchtendem Metall, die als Abgrenzung der verschiedenen Räume dienten. Zwischen zwei dieser Säulen entdeckte Vanne ein auf dem Boden lie gendes Rad, das ihn an einen Rotor erinnerte. Es durchmaß etwa sechs 107
Meter und hatte im Zentrum ein dreistufiges Podest. Auf der obersten Stufe war eine Leiste mit Instrumenten und Schalthebeln angebracht. Vanne sah darin eine Art Flugkörper. Nachdem er über ein Rotorblatt in die Mitte der Scheibe balanciert war, überließ er es Hito Guduka, die Maschine zu inspizieren. Der Totalenergie-Ingenieur untersuchte sofort die Instrumente. Es ge lang ihm tatsächlich, die Bedeutung einiger Schalter zu erkennen. Da raus zog er Rückschlüsse auf andere Teile der Steueranlage. Seine Konzentration wurde jäh gestört, als jemand die Rampe herauf kam. Ein Pelzwesen erschien hinter den Säulen. Es blieb sekundenlang stehen, als bereitete ihm die Unverfrorenheit des Eindringlings, der an einer zu diesem Gebäude gehörenden Maschine hantierte, einiges Kopfzerbrechen. Guduka umschloss einen der beulenförmigen Auswüchse, die er für Drucktasten hielt. Ruckartig hob die Scheibe ab. Der Totalenergie-In genieur klammerte sich an der Instrumentenleiste mit beiden Händen fest, denn die Scheibe hüpfte auf und nieder und schüttelte ihn heftig durch. Das Pelzwesen umrundete indessen das tanzende Rad und gab wü tende Laute von sich. Guduka berührte andere Tasten. Der Rotor drehte sich jetzt, die Scheibe glitt seitwärts, auf eine der Säulen zu. Doch der befürchtete Aufprall blieb aus, die Scheibe bog vor der Säule ab in Richtung der Rampe. Offenbar besaß sie ein empfindliches Sensorensystem, das Hindernissen auswich. Der Verfolger stürmte hinterher. Vor dem unteren Ende der Rampe holte er die Flugscheibe ein. Mit einem Satz, den Guduka diesem eher plump wirkenden Wesen nicht zugetraut hätte, bekam es den äußeren Rahmen des Gebildes zu fassen. Das Rad wackelte heftig, aber es flog weiter. Guduka hatte genügend Erfahrungen mit dem Steuermechanismus gesammelt, so dass jedes andere Bewusstsein die Maschine nun eben 108
falls fliegen konnte. Also machte er Platz für Kershyll Vanne, der am ehesten als Verteidiger in Betracht kam. Vanne sah, dass der Angreifer sich am Scheibenrahmen hochzuzie hen versuchte. Das war für den Pelzigen ein lebensgefährliches Unter fangen, denn er konnte schnell in die rasenden Rotorblätter geraten. Trotzdem ließ er nicht los. Vannes Lage war nicht dazu angetan, angesichts dieser Hartnäckig keit auch noch Bewunderung zu empfinden. Da er keine Waffe besaß, um den Gegner loszuwerden, war er auf seine Körperkraft angewiesen, aber die half ihm momentan wenig. Er blickte auf die Kontrollen. Wenn er jäh abbremste, genügte vielleicht der Ruck der Scheibe, um den Angreifer abzuschütteln. Diese Überlegung war zweifellos richtig, erwies sich aber als undurch führbar. Die Flugscheibe reagierte nicht mehr auf die von Vanne aus gelösten Schaltungen. Da sie ihre Richtung änderte und mit unvermin derter Geschwindigkeit weiterflog, konnte das nur bedeuten, dass sie nun von außerhalb kontrolliert wurde. Vanne fragte sich, was er mehr fürchten musste, den Bepelzten, der sich mit dem Mut der Verzweif lung festklammerte, oder die Fernsteuerung. Er stand auf der unteren Stufe im Zentrum des Rades und musste hilflos mit ansehen, wie es eine riesige Halle durchquerte und sich ei nem Tor näherte, das langsam aufglitt. Außerhalb erstreckte sich eine lichtüberflutete, mit seltsamen Sockeln übersäte Ebene. Aus einem Seitengang erschien ein menschenähnliches Wesen. Es blieb beim Anblick der Scheibe stehen und warf beide Arme in die Höhe, als wollte es Vanne Zeichen geben. Zu seiner Verblüffung rief es in akzentfreiem Interkosmo: »Springen Sie ab! Springen Sie sofort ab!« Dieser wahnwitzige Vorschlag kam einer Aufforderung zum Selbst mord gleich. Vanne zögerte – und dann blieb die mysteriöse Begeg nung schon hinter ihm zurück. Die Scheibe verließ die Halle und tauchte ein in das Licht der künst lichen Sonne von Nachtfalter. 109
Lange Reihen grauer Säulen ragten aus dem Boden. Kershyll Vanne riskierte es, nacheinander alle anderen Bewusstseine nach ›oben‹ zu las sen, damit sie einen unmittelbaren Eindruck von der seltsamen Land schaft gewinnen konnten. In der Ferne, am Rand der Ebene, erhob sich ein turmähnliches Gebilde. Dahinter herrschte Dunkelheit. Vanne nahm eine Bewegung unter sich wahr. Zwischen den Säulen bewegte sich ein weiteres Pelzwesen. Sein Ziel schien der Turm zu sein. Als es die Flugscheibe sah, blieb es stehen und blickte herauf. Das Pelzwesen schrie, und der sich am Rand der Maschine festklam mernde Passagier erwiderte den Schrei. Das Rotorrad flog weiter und ließ den einsamen Wanderer hinter sich.
***
Der Wächter Varryleinen Ev Cymth blickte der Scheibe nach. Wenn ihn nicht alles täuschte, war sie unterwegs nach Endetal. Ev Cymth wusste nicht, was er davon halten sollte, vor allem bedau erte er den anderen Wächter, der sich an dem Flugobjekt festhielt. Wahrscheinlich hatte der Arme sein ganzes Leben in der Festung von Phark zugebracht und wusste überhaupt nichts von Endetal und der Todesschachtel. Ev Cymth erreichte seinen Wachturm unmittelbar vor Sonnenunter gang. Er kletterte hinauf und wartete. Sein Blick suchte den Horizont ab, denn er war überzeugt davon, dass dort bald die beiden Abgesandten erscheinen würden. Er täuschte sich nicht. Zwischen den Schatten der Grafitsäulen wurden die Androiden sicht bar. Sie bewegten sich mit einer Geschwindigkeit, die Ev Cymth in Er staunen versetzte. Als Kaftra unterging, erschienen über den Besuchern wieder jene Leuchtkugeln, die Ev Cymth schon bei der ersten Zusammenkunft 110
erschreckt hatten. Die Kugeln schwebten auf den Turm zu und erhell ten ein weites Gebiet. Wastor und Klamous tauchten im Lichtschein auf. »Ev Cymth, bist du dort oben?«, rief Wastor. »Ich weiß, warum ihr zurückgekommen seid«, erwiderte der Wächter. »Das Konzept ist mit einem Flugobjekt nach Endetal unterwegs, zu sammen mit einem anderen Wächter.« »Wie lange ist es her, dass die Scheibe vorbeigeflogen ist?« »Noch keine zehn langen Gedanken.« Ev Cymth hatte den Eindruck, dass diese Auskunft die Androiden nicht sehr befriedigte. »Wirst du uns begleiten?«, fragte Wastor. »Um keinen Preis.« »Was weißt du über Endetal?« »Nichts!« Die beiden Wesen unten vor dem Turm beratschlagten leise. Wahr scheinlich hielten sie es für besser, auf eigene Faust Nachforschungen anzustellen, anstatt ihre Zeit mit einem weiteren Verhör Ev Cymths zu vergeuden. Auf jeden Fall gingen sie weiter, und ihre Leuchtkugeln flogen vor ihnen her. Ev Cymth war wieder allein. Er fühlte sich fast in die Zeit zurück versetzt, da das Leben für ihn ausschließlich im Rhythmus des Wach dienstes stattgefunden hatte. Das Geräusch, mit dem sich die Große Tube öffnete und ihren Inhalt in die Mulden der Ebene presste, ver stärkte diesen Eindruck. Doch die jüngsten Erlebnisse hatten ihn verändert. Er hatte erkannt, dass er selbst ein Gefangener war.
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6.
N
ach einem beängstigenden Flug durch ein Gebiet totaler Dunkel heit wurde es schlagartig wieder hell. Diesmal kam das Licht aber nicht von einer künstlichen Sonne, sondern aus einer Senke mit ten im Land. Die nächtliche Region war offenbar durch eine Energie barriere abgeschirmt, die diese Helligkeit fern hielt. Kershyll Vanne blinzelte hektisch, bis die Blendung wich und er wei tere Einzelheiten wahrnahm. Er vermutete, dass vor ihm ein kontrol lierter atomarer Prozess ablief, denn darauf ließ ein mächtiger Wall schließen, der sich rund um die Senke aufwölbte. Weiter nach außen verliefen Furchen unterschiedlicher Breite und Länge. Sie bildeten ein geometrisches System, das zweifellos einen Sinn besaß. Zwischen diesen Rillen, vor allem an ihren Schnittpunkten, gab es Tausende Erhebungen, die mit antennenähnlichen Auswüchsen aus gerüstet waren. Da diese Antennen stetig geschwenkt wurden oder um die eigene Achse rotierten, entstand der Eindruck, als befinde sich das ganze Land in unablässiger Bewegung. Erst nach einer Weile bemerkte Vanne, dass die Scheibe über der Senke kreiste, als warte sie auf weitere Anweisungen. Das Pelzwesen hing immer noch am Rand der Maschine. Früher oder später würden seine Kräfte erlahmen, aber Vanne hoffte, dass die Scheibe zuvor lan dete. Er wollte nicht mit ansehen müssen, wie der Pelzige abstürzte. Der Sinn seines Aufenthalts auf Nachtfalter blieb ihm weiterhin ver borgen, er war nach dem Zusammentreffen mit dem menschenähnli chen Wesen, das Interkosmo gesprochen hatte, noch rätselhafter ge worden. Woher war dieser Fremde gekommen? Die Antwort konnte ei gentlich nur lauten, dass es sich ebenfalls um einen von ES abgegebe nen Körper handelte. Aber jenes Geschöpf hatte offenbar von Vannes Existenz gewusst, was umgekehrt nicht zugetroffen hatte. 112
Vanne wusste, dass vor ihm und seinen sechs Schicksalsgefährten bereits andere Bewusstseine willkürlich ausgestoßen worden waren. Sie waren materialisiert, ohne ihre Herkunft und wahre Identität zu ken nen. Allmählich hatte ES diesen Vorgang aber unter Kontrolle ge bracht, so dass Vanne von sich behaupten konnte, der erste gewollt abgegebene Bewusstseinskomplex zu sein. Eine Frage drängte sich ihm auf. Wieso schickte ES die zwanzig Mil liarden Menschen nicht wieder zur Erde? Existierte die Erde nicht mehr? Oder musste ES aus bestimmten Gründen vorsichtig operieren? Vannes Überlegungen wurden jäh unterbrochen, weil die Flugscheibe zur Landung ansetzte. Sie glitt jetzt aus dem Bereich des Furchen systems hinaus und flog dicht über jenen im Halbdunkel liegenden Gebilden, die Vanne schon vorher gesehen hatte. Er nahm an, dass es sich um Gebäude oder Maschinenanlagen handelte. Die Maschine landete. Gleichzeitig schrie das Pelzwesen schmerzvoll auf. Mit einem gewaltigen Satz sprang Kershyll Vanne von der Scheibe, sofort zur weiteren Flucht bereit. Der befürchtete Angriff blieb jedoch aus. Nur das Wimmern des Pelzwesens war zu hören. Vanne wartete, dass sich seine Augen besser an das Halbdunkel gewöhnten. Von sei nem Platz aus war das Glühen in der Senke nur undeutlich zu sehen. Vanne erkannte, dass der Pelzige unter die Scheibe geraten war und nun versuchte, sich von dem Gewicht zu befreien. Das konnte aber ebenso eine Falle sein. Vorsichtig näherte er sich dem Unbekannten. Nur dessen Oberkör per ragte unter dem Rotorrad hervor. »Ich weiß nicht, wer du bist und was du vorhast«, sagte Vanne leise. »Natürlich will ich sicher sein, dass es kein Fehler ist, wenn ich dich befreie.« Der Bepelzte verstand ihn offenbar nicht, denn er reagierte nicht auf seine Worte. Vanne zögerte. Wäre er noch Aphiliker gewesen, hätte ihm diese 113
Situation keine Schwierigkeiten bereitet. Er hätte den Unbekannten einfach seinem Schicksal überlassen. Aber so konnte er nicht anders, als wenigstens zu versuchen, den anderen aus der misslichen Lage zu befreien. Doch wie er befürchtet hatte, war die Scheibe so schwer, dass sie sich nicht einmal anheben ließ. Das Wimmern des Verunglückten verstummte, wahrscheinlich beo bachtete er gespannt, was geschah. Vanne kletterte auf die Scheibe und versuchte, sie wieder zu starten. Obwohl er die Kontrollen nach Gudukas Erfahrungen bediente, rea gierte die Maschine nicht. Sie befand sich weiterhin unter dem Ein fluss eines übergeordneten Kontrollsystems. Dieses abzuschalten er schien Vanne unmöglich. Er musste einen anderen Weg finden, um seinem Gegner zu helfen. Suchend schaute er sich um. Er benötigte möglichst eine stabile Me tallstange, die er als Hebel benutzen konnte. Als er sich entfernte, wimmerte der Bepelzte. Offensichtlich glaubte er Vanne habe seine Bemühungen eingestellt und ließe ihn im Stich. Vanne machte zum Abwarten auffordernde Handzeichen, aber er be zweifelte, dass der andere ihn verstand. Unweit der Landestelle stieß er auf eine stählerne Wand. Er bewegte sich an ihr entlang bis zu einer Art Torbogen. Zwei massige Säulen be grenzten den Durchgang. Erst als Kershyll Vanne einen Schritt zurück trat, um sich einen Überblick zu verschaffen, machte er eine seltsame Entdeckung. Die Säulen waren nichts anderes als die Beine einer Sta tue. Der extrem nach hinten gebogene Körper dieses Kunstwerks schien das Dach der Anlage zu bilden. Die Düsternis und die eigen willige Haltung der Statue hinderten Vanne daran, sich ein genaues Bild von der Darstellung zu machen. Zweifellos hatte jedoch ein ent fernt menschenähnliches Wesen als Modell gedient, nicht ein Pelzwe sen wie jenes unter der Flugscheibe. Kershyll Vanne wurde von der Biologin Ankamera abgelöst. Sie sah sofort, dass Vanne sich getäuscht hatte. Das dargestellte We 114
sen war nicht menschenähnlich, sondern es handelte sich um einen Vierbeiner. Ankamera umrundete die Anlage und entdeckte genau auf der anderen Seite ein weiteres Portal, dessen Säulen ebenfalls aus zwei modellierten Metallbeinen bestanden. Der zum Dach ausgebildete Körper war flach und erinnerte an eine Riesenspinne. Wahrscheinlich stellte das Ganze kein intelligentes Wesen, sondern ein Tier dar. Viel leicht war es eine mythologische Figur. Ankamera lief zum nächsten Komplex und stellte fest, dass es sich dabei ebenfalls um eine zoomorphe Darstellung handelte. Vielleicht war das Gebiet rund um die Senke von den Anhängern eines Tierkults errichtet worden. Ankamera war so fasziniert, dass sie den eigentlichen Grund ihres Hierseins vergaß. Das den Bewusstseinen übergeordnete Regulativ ließ ihr jedoch keine Chance, den gemeinsamen Körper länger als notwen dig für ihre eigenen Neigungen einzusetzen, denn nun kehrte Kershyll Vanne wieder an die Spitze zurück. Er war sich darüber im Klaren, dass er hier draußen nicht finden würde was er suchte. Also musste er in eine der Statuen eindringen. Sofort argwöhnte er automatische Sperren und Fallen. An eine Be drohung durch lebende Wesen glaubte er nicht, denn wer immer diese Anlage geschaffen hatte, schien längst verschwunden zu sein. Auch Artgenossen des Pelzwesens hielten sich in diesem Gebiet wohl nicht auf, sonst hätten sie längst auf die Klagerufe des Verunglückten rea giert. Vanne trat vorsichtig zwischen zwei Beinsäulen. Die absolute Dun kelheit im Innern des Monuments würde die Suche erschweren, aber das musste er in Kauf nehmen. Er tastete sich mit ausgestreckten Ar men vor, bis er gegen ein Hindernis stieß. Eine Wand verlief parallel zum Eingang. An ihr entlang konnte er zu beiden Seiten tiefer in das Gebilde eindringen. Vanne entschied sich für den nach links verlaufenden Gang. Die Luft war von einem undefinierbaren Duft erfüllt, der ihn abstieß. Vielleicht 115
war das sogar ein beabsichtigter Effekt, um Eindringlinge fern zu hal ten. Vanne vernahm ein fernes Rauschen. Es war nicht gleichmäßig, son dern kam in Intervallen. Der Verdacht drängte sich auf, es könnte sich um eine Art Botschaft handeln. Kershyll Vanne blieb stehen – und im gleichen Augenblick wurde er von der Lenkung des Körpers verdrängt. Indira Vecculi nahm die Gelegenheit wahr, sich einen direkten Ein druck von den Geräuschen zu machen. Als Neurobio-Positronikerin war sie am ehesten in der Lage, den Sinn einer fremdartigen Nachricht zu entschlüsseln. Sie hielt Vannes Vorgehen grundsätzlich für falsch, und sie hätte, wenn sie dazu in der Lage gewesen wäre, sofort andere Maßnahmen er griffen. Sie wusste jedoch längst, dass sie nur so lange die Führung be halten konnte, wie es im Interesse der Gesamtkonzeption notwendig erschien. Der Versuch, einem fremden Wesen, das sich zudem feind lich verhalten hatte, trotz der eigenen Schwierigkeiten zu helfen, er schien ihr absurd. »Reine Gefühlsduselei!«, murmelte sie und erschrak prompt vor dem männlichen Klang ihrer Stimme. Sie entsann sich, dass sie und die anderen Bewusstseine in Vannes Originalkörper existierten. Ihrer Ansicht nach hatte ES mit der Ver mischung maskuliner und femininer Bewusstseine in einem männ lichen Körper einen Fehler begangen. Außerdem war da noch dieses Kind, dieser Jost Seidel. ES hätte seine Wahl nicht ausschließlich nach den erlernten Fähigkeiten der Bewusstseine treffen dürfen, wie es wohl geschehen war. Psychische Gegebenheiten hatten allem Anschein nach keine Be rücksichtigung gefunden. Wie sonst war es denkbar, dass sie, die auch unter den Aphilikern hochgeachtete Wissenschaftlerin, mit einem Säufer wie Pale Donkvent in einem Körper zusammenleben musste? Indira Vecculi war überzeugt davon, dass sie längst nicht alle Nach teile kannte. Die würden sich erst mit der Zeit herausstellen, und 116
sicher stand dann eine Reihe unangenehmer Überraschungen bevor. Dank ihres vereinigten Wissens stellten die sieben Bewusstseine ein einmaliges Konzept dar, aber das war schon alles. Trotz ihrer Unzufriedenheit vergaß Indira nicht ihre Aufgabe und ließ die Geräusche aus den Tiefen des Bauwerks auf sich einwirken. Bald stellte sie fest, dass die Intervalle rhythmisch waren. Falls es sich tatsächlich um eine Nachricht handelte, dann wurde diese regelmäßig wiederholt. Und sie war für andere Wesen gedacht als ausgerechnet für sieben in einem menschlichen Körper vereinigte Bewusstseine! Die Wissenschaftlerin war überzeugt davon, dass der Lärm erst nach ihrem Eindringen in dieses Monument begonnen hatte. Wenn es ein Alarmsignal war, diente es vielleicht dazu, unbekannte Bewacher her beizurufen. Indira setzte den Körper, den sie nicht als ihren eigenen akzeptieren konnte, wieder in Bewegung. Sie wunderte sich, dass ihr die motori sche Steuerung keine Schwierigkeiten bereitete und dass selbst das ve getative System seine unbewussten Aufgaben ausführte, egal, ob Vanne oder ein anderes Bewusstsein das Kommando innehatte. Das ließ auf eine völlige Integration aller Bewusstseine schließen. Es bedeutete aber zugleich – und diese Vorstellung eröffnete fantastische Konsequen zen –, dass ein menschlicher Körper in der Lage war, für mehr als nur ein Bewusstsein da zu sein. Konnte ein einzelner Körper eine unbegrenzte Anzahl von Bewusst seinen aufnehmen? Die Vorstellung, zwanzig Milliarden Menschen in einem Körper als eine Art Superinkarnation wiederzufinden, ließ In dira vorübergehend schwindlig werden. Aber letztlich glaubte sie nicht, dass so etwas möglich sein könnte. Die Wand, an der sie sich entlanggetastet hatte, war mit einem Mal zu Ende. Ein fauchendes Geräusch ließ Indira zusammenfahren, dann wurde sie von gleißend grellem Licht geblendet, und eine unwidersteh liche Kraft schleuderte sie zu Boden. Aber als der Körper aufprallte, war es bereits wieder Kershyll Vanne, der sich geschmeidig abrollte. 117
***
Als Klamous und Wastor in Endetal ankamen, entdeckten sie mit Hilfe ihrer körpereigenen Peilanlagen die Flugscheibe, auf der das Konzept aus der Festung entkommen war. Zu ihrer Überraschung fan den die beiden Androiden einen völlig erschöpften Wächter unter dem Rad. Mit Hilfe ihrer Antigravprojektoren befreiten sie ihn aus seiner misslichen Lage und versuchten ihm zu erklären, wer sie waren. Poog dez Nowarth, so nannte sich der Wächter, war so erleichtert über seine Rettung, dass er alle Erklärungen akzeptierte, obwohl er sie mit Sicherheit nicht verstand. »Es ist dem Konzept also gelungen, dich hereinzulegen«, spielte Was tor auf den Zustand an, in dem Klamous und er den Wächter ange troffen hatten. »Nein«, widersprach dez Nowarth. »Es war ein Unfall. Der Fremde, den ihr als Konzept bezeichnet, hat sogar versucht, mich zu befreien.« Wastor sah sich um. Er registrierte, dass der Strahlenpegel in diesem Gebiet ungewöhnlich hoch war. Hoffentlich bestand keine Gefahr für das Konzept. »Wohin hat sich der Fremde gewandt?«, wollte Klamous wissen. Poog dez Nowarth rückte seine künstlichen Wahrnehmungsorgane zurecht. »Ich nehme an, dass er sich umsieht. Er gab mir durch Zei chen zu verstehen, dass er zurückkommen wollte.« Wastor verschwieg, dass er das bezweifelte. Vielleicht hatte das Kon zept wirklich vorgehabt, zurückzukehren, die Frage war nur, ob ihm das gelingen würde. »Kennst du dich hier aus?«, fragte Wastor. »Nein!« Poog dez Nowarth leckte seine blutenden Krallen. »Ich weiß nur, dass wir uns im Endetal befinden und dass dies ein Platz ist, den man besser meiden sollte.« »Du besitzt weniger Informationen als wir«, stellte Wastor enttäuscht 118
fest. »Aber das war nicht anders zu erwarten. Wenn du dir zutraust, die Ebene von Pharkzu erreichen, kannst du jetzt aufbrechen.« »Allein?« »Du kannst natürlich warten, bis unsere Mission hier beendet ist.« »Dann warte ich«, sagte Nowarth mit Nachdruck und setzte sich auf den Rand der Flugscheibe. Als sie sich außer Hörweite des Wächters befanden, bemerkte Wastor sorgenvoll: »Die Strahlung ist ungewöhnlich stark. Hoffentlich hat sich das Konzept nicht zum Atombrand begeben.« »Dazu ist es zu klug«, meinte Klamous. »Wahrscheinlich hat es die Bedeutung der Lichtquelle sofort erkannt. Drei der Bewusstseine müss ten aufgrund ihres Wissens erkennen können, was sich in der Senke abspielt.« »Wohin ist das Konzept dann gegangen?« »Vermutlich in eine der Inkarnationshallen.« Sie schwiegen eine Zeit lang und hingen ihren Gedanken nach. Schließlich sagte Wastor niedergeschlagen: »ES würde uns nicht ver zeihen wenn dem Konzept etwas zustoßen sollte.« »Ich glaube, dass ES dieses Risiko einkalkuliert hat. Wir können das Konzept nicht in jeder Situation beschützen, das ist auch nicht der Sinn des Auftrags. Wir sind hier, um zu beobachten und, falls erforder lich, Situationen zu konstruieren, in denen das Konzept sich bewährt.« Wastor kontrollierte seinen Mentalpeiler, aber er konnte nur die Im pulse von Poog dez Nowarth lokalisieren. Angesichts der unzähligen störenden Strahlungsquellen war das nicht unbedingt ein Indiz dafür, dass das Konzept endgültig verschwunden war – es konnte sich hinter der nächsten Inkarnationshalle aufhalten. »Das ganze Problem wäre gelöst, wenn ES die Menschen zurückschi cken würde«, meinte Wastor unwillig. »Du meinst, zur Erde?« »Natürlich!« »Das ist unmöglich. Jedenfalls hat ES behauptet, dass es unmöglich 119
sei.« »Die von ES unkontrolliert abgegebenen Konzepte haben sich nach einer Heimat umgesehen«, erinnerte Wastor. »Ihre Bemühungen auf Goshmos Castle sind zwar von rührender Hilflosigkeit, aber sie be weisen, wie sehr sich die Bewusstseine nach einem festen Ort sehnen, wo sie körperlich existieren können.« »Das sind alles Vermutungen aufgrund vager Berichte, die ES von den zurückgekehrten Bewusstseinen erhalten hat. Schließlich kamen die spontan ausgestoßenen Konzepte nicht nur auf Goshmos Castle heraus. Ein Konzept soll sogar eine Kommunikation entwickelt ha ben.« Wastor war nachdenklich geworden. »Glaubst du, ES wird die Be mühungen der Bewusstseine in Bezug auf Goshmos Castle unterstüt zen, wenn das Experiment hier auf dieser künstlichen Welt gelingt?« »Ich kenne die Pläne von ES nicht, aber wir dürfen nicht vergessen, dass Goshmos Castle im Grenzbereich von BARDIOCs Mächtigkeits ballung liegt. Eigentlich kann ich mir nicht vorstellen, dass ES sich we gen der Menschheit mit BARDIOC anlegt.« »Manchmal denke ich, ES würde für die Menschheit beinahe alles tun«, sagte Wastor verdrossen. »Warum auch nicht? Die Menschheit ist für eine ungeheure Aufgabe ausersehen.« »Dazu sollte man die Menschen selbst fragen. Wahrscheinlich wären sie überhaupt nicht interessiert.« »Im gegenwärtigen Stadium bestimmt nicht! Aber die Menschen ste hen unter dem Einfluss kosmischer Entwicklungen, was sie dazu zwingt, sich ebenfalls weiterzuentwickeln und die Dinge von einem wechselnden Standpunkt aus zu betrachten.« Wastor sah seinen Begleiter an. »Wir reden von der Menschheit«, sagte er. »Möchtest du entscheiden, wer das in erster Linie ist? Jene zwanzig Milliarden Bewusstseine, die in ES zusammengepfercht sind? Die Angehörigen des NEI oder die Besatzung der SOL?« 120
Klamous beendete das Thema mit einer entschiedenen Geste. »Wir müssen uns um das Konzept kümmern. Wahrscheinlich hält es sich in einer der Inkarnationshallen auf.« Seine Stimme wurde zu einem Flüs tern. »Ob sie noch funktionieren?« »Bestimmt! Schon deshalb müssen wir hier draußen warten und da rauf hoffen, dass das Konzept zurückkommt.« Klamous wusste, was Wastor befürchtete. Es war möglich, dass das Konzept in den Einfluss jener Kräfte geriet, die einst die Erschaffer des Planetoiden von hier weggeholt hatten. Für die damals betroffenen In telligenzen war das ein absichtlich eingeleiteter Prozess gewesen, aber das Konzept hatte bestimmt kein Interesse daran, in der Todesschach tel zu landen.
***
Sekundenlang spürte Kershyll Vanne Panik. Er hatte das Gefühl, in einen bodenlosen Abgrund zu stürzen. Es gab keine Möglichkeit zur Orientierung, seine Sinne hatten sich verwirrt. Zum ersten Mal spürte er die anderen Bewusstseine wie materiell anwesende Menschen. In ihrer Not versuchten sie alle, an die Oberfläche zu drängen und ir gendetwas zu unternehmen. Aber selbst in dieser Situation erwies sich das Prinzip, nach dem immer das am besten geeignete Bewusstsein den Körper lenkte, als stärker. Vanne behielt seine Position. Er erkannte, dass er sich in einem energetischen Spannungsfeld be fand. Dazu kam das Gefühl, nicht mehr allein zu sein. Kershyll Vanne registrierte die Anwesenheit einer überaus fremdartigen Existenz. Dann ließ die blendende Lichtfülle nach. Vanne spürte wieder har ten Boden unter sich, und ihm war, als blicke er in einen Tunnel, an dessen Ende ein unbegreiflicher Ort war. Er ahnte, dass er um ein Haar in diesem Tunnel verschwunden wäre und dass ihn dann keine Macht des Universums hätte zurückholen können. Aber der Sog war schwächer geworden, um ihn herum gewann die Realität an Substanz. 121
Vanne lag auf einer Art Plattform. Der Anblick der Wände ringsum ließ ihn verwirrt blinzeln, denn sie bestanden aus scheinbar unendlich vielen Kanten und Ecken, die mit Linien verbunden waren, über deren wirklichen Verlauf Vanne nur Vermutungen anstellen konnte. Einige der Linien schienen frei in den Raum zu ragen, andere verschwanden im Nichts. Zweifellos sah Vanne nicht die Wirklichkeit. Geduldig wartete er, dass die verwirrenden Linien und Schnittpunkte verschwinden würden – und das geschah tatsächlich. Dahinter schälten sich die Konturen stählerner Wände hervor. Albun Kmunah übernahm den gemeinsamen Körper, und der beson nene Alpha-Mathematiker stellte die Vermutung an, dass das Span nungsfeld das Tor zu einer anderen Wirklichkeit gewesen war. Am ehesten ließ es sich mit einer Art Transmitter vergleichen, wenngleich der Ort, den man über diese Konstruktion erreichen konnte, nichts mehr mit dem zu tun hatte, was menschlichem Verstand zugänglich gewesen wäre. Kmunah erschauerte, als er daran dachte, dass die Erbauer dieser An lage durch das Tor gegangen sein mochten. Doch ihm ging es nicht um die Handlungsweise einer womöglich verschwundenen Zivilisation, er musste an seine eigene Rettung denken. Außerdem wartete ein ver letztes Wesen auf Hilfe. Der Raum wies keine Besonderheiten auf. Das Licht kam aus einer rund unter der Decke verlaufenden Rille. Als Kmunah sich umdrehte, sah er den Eingang. Durch ihn hatte Indira Vecculi den Körper herein geführt und damit beinahe seine Auflösung heraufbeschworen. Kmunah richtete sich auf. Seine Bewegungen wirkten behutsam, als fürchte er, neue Reaktionen auszulösen. Langsam zog er sich in Rich tung des Eingangs zurück. Als er den Gang erreichte, erlosch das letzte Licht im Innenraum. Kmunah sah jedoch den fahlen Schimmer des Hauptausgangs und bewegte sich darauf zu. Er atmete auf, als er wieder vor dem Gebäude stand. 122
Kmunah hatte den Verdacht, dass der Körper mit den sieben Be wusstseinen nicht zufällig auf dieser seltsamen Welt materialisiert war. Entweder wollte ES mit Hilfe der Bewusstseinsgruppe mehr über Nachtfalter herausfinden, oder alles war eine Art Erprobung. Ange sichts der Bedrängnis von ES war Kmunah geneigt, an die zweite Mög lichkeit zu glauben, zumal ES sicher andere Möglichkeiten hatte, In formationen über diese Welt zu erhalten. Vielleicht plante ES, alle menschlichen Bewusstseine auszustoßen und hierher zu schicken. Es war denkbar, dass die Ausführung dieses Planes davon abhing, wie Vanne und die anderen sich zurechtfanden. Wenn diese Überlegung richtig war, gab es Terra nicht mehr, denn die Erde wäre der natürliche Platz für die Menschheit gewesen. Nachtfalter dagegen war ungeeignet, so fremdartig, dass es gewaltiger Anstrengungen bedurft hätte, um diese Welt für Menschen bewohnbar zu machen. Als Kmunah sich langsam von dem Gebäude entfernte, entdeckte er die Silhouetten zweier menschenähnlicher Gestalten. Er blieb wie an gewurzelt stehen. Einer der Fremden musste mit jenem Wesen iden tisch sein, das er unmittelbar nach dem Start der Flugscheibe gesehen und das ihn zum Abspringen aufgefordert hatte. Gab es also andere Menschen auf Nachtfalter? Kmunah war sicher, dass die beiden ihn beobachteten, aber er war offensichtlich nicht das kompetente Bewusstsein für eine Begegnung, denn nun kam Ankamera in den Vordergrund. Die Biologin fühlte sich überfordert. Am liebsten hätte sie einen Kontakt hinausgezögert, um über verschiedene Dinge nachzudenken. Sie blickte zu der Flugscheibe hinüber und sah, dass das Pelzwesen freigekommen war. Es hockte neben der Maschine und schien den Er eignissen kein Interesse abzugewinnen. Das war eine grundlegende Ver änderung seines Verhaltens. Hatte das Wesen sich selbst befreit, oder war es von den beiden Un bekannten gerettet worden? Hatten sie erreicht, dass der hartnäckige 123
Verfolger seine Feindseligkeiten einstellte? Ankamera wäre am liebsten geflohen, doch sie befürchtete, dass dann sofort eines der anderen Bewusstseine diese Flucht verhindert hätte. Ich muss herausfinden, ob die beiden ebenfalls Bewusstseine aus ES sind, die ihre Körper aus dem Hyperraumreservoir erhalten haben, dachte die Bio login. Sie ertappte sich dabei, dass sie Vanne imponieren wollte. Er sollte erkennen, dass sie ebenso gut mit seinem Körper umgehen konnte wie er. So, wie er sich in ihrem Bewusstsein darstellte, gefiel er ihr. Auch wie er handelte, imponierte ihr. Mein Gott, dachte sie, während ihr die Röte ins Gesicht kroch, ich kann mich doch nicht in ein Bewusstsein verlieben! Auch dieses Gefühl verwandelte sich in einen Erfahrungswert, an dem die sechs anderen – Vanne ebenfalls – teilhaben konnten. Anka mera war davon zumindest überzeugt, und das steigerte ihre Verlegen heit. Am liebsten hätte sie sich zurückgezogen, aber kein anderes Be wusstsein war da, um ihre Stelle einzunehmen. Sie ergriff die Flucht nach vorn und ging auf die beiden Gestalten zu. Im Licht, das aus der Senke kam, sah Ankamera, dass sie keine Menschen sein konnten. Ihre Gesichter waren zu glatt, ihre Körper zu ebenmäßig. Äußerlich waren sie völlig identisch. Natürlich sind sie Roboter!, dachte Indira Vecculi, die in diesem Augen blick wieder die führende Rolle übernahm. Es fiel ihr schwer, sich auf die Fremden zu konzentrieren, denn ihre Empfindungen ließen den gemeinsamen Körper beben. Was dachte Ankamera sich eigentlich dabei, einen mentalen Flirt mit dem wich tigsten Bewusstsein anzufangen? Kershyll Vanne war das Bewusstsein, das in Notfällen den Körper lenkte. Ihn zu verwirren kam einer Schwä chung des Körpers gleich. Ankamera hatte einfach kein Recht dazu, Vanne in dieser Form zu bewundern, zumal vor dem Bewusstsein des altklugen Jungen. Zu dem Säufer Pale Donkvent kam nun auch noch eine Frau, die ihre Gefühle nicht unter Kontrolle hatte. Die Gefahr, dass die überhastet geschaf 124
fene Einheit der sieben Bewusstseine in die Brüche ging, war nicht zu leugnen. Dann würde sie eben mit so verlässlichen Mitgliedern der Gruppe wie Kmunah und Guduka zusammenarbeiten, dachte Indira trotzig, obwohl ihr nicht ganz klar war, wie sie eine derartige Selektion in die Realität umsetzen sollte. Trotz ihres Grolls vergaß sie nicht, warum sie nun das Kommando besaß. Als Positronikerin kam sie vor allen anderen in Betracht, die Roboter zu untersuchen. Hatte ES von ihrer Anwesenheit gewusst? Vielleicht war irgendwann ein EXPLORER in diesem Raumsektor ge wesen, hatte Nachtfalter erforscht und die beiden Automaten zurück gelassen. Allerdings musste es sich um Spezialroboter handeln. Indira kannte die Modelle der Solaren Flotte, und solche Typen waren nicht darunter. Es hatte jedoch, vor allem in der voraphilischen Zeit, Privat firmen gegeben, zum Beispiel die Whistler Company, die Roboter im Spezialauftrag hergestellt hatten. Vor den beiden Gestalten blieb Indira stehen und blickte in ihre glatten Gesichter. Sie sahen aus … wie gemalt! Indira fand den Ver gleich, der ihr spontan einfiel, sehr zutreffend. Zugleich kamen ihr Zweifel, ob es sich tatsächlich um von Menschen produzierte Roboter handelte. Vielleicht war die Ähnlichkeit nur zufällig. Trotzdem ergriff sie die Initiative. »Zeigt mir euren Willen zum Gehorsam!«, verlangte sie anstelle einer Begrüßung. »Zitiert die Robotergesetze!« Sie gewann den Eindruck, dass ihre Forderung einige Verblüffung auslöste, obwohl das Mienenspiel der Unbekannten nichtssagend blieb. Mit wohlklingender Stimme antwortete eines der Wesen: »Erstes Ge setz: Kein Roboter darf ein menschliches Wesen verletzen oder durch Untätig keit zulassen, dass ein menschliches Wesen Schaden erleidet. Zweites Gesetz: Ein Roboter muss allen von menschlichen Wesen gegebenen Befehlen gehorchen, es sei denn, solche Befehle stünden in Widerspruch zum ersten Gesetz. Drittes 125
Gesetz: Ein Roboter muss sich selbst schützen, solange er damit nicht gegen das erste oder das zweite Gesetz verstößt.« »Richtig«, sagte Indira unsicher. »Diese Gesetze wurden übrigens von einem terranischen Wissen schaftler und Science-Fiction-Autor namens Isaac Asimov ausgearbeitet und später in der Kybernetik übernommen«, fügte ihr Gegenüber hin zu. »Isaac Asimov wurde am 2. Januar 1920 in Petrowsk geboren und kam als Dreijähriger in die damaligen Vereinigten Staaten von Nord amerika. Er promovierte an der Columbia-Universität zum …« »Halt!«, unterbrach Indira den Redeschwall mit schwacher Stimme. »Ihr habt mich überzeugt. Wer seid ihr, und wie kommt ihr hierher?« »Mein Name ist Wastor«, entgegnete der Sprecher. »Mein Begleiter ist Klamous. Woher wir exakt kommen, entzieht sich unserer Kennt nis.« »Ein Roboter vergisst nichts, es sei denn, das betreffende Programm wäre gelöscht worden.« »Niemand sagt, dass wir Roboter sind«, entgegnete Wastor sanft. In diesem Zusammenhang fiel Indira Vecculi schlagartig ein, dass die von ihr geforderte Gehorsamsbezeigung ausgeblieben war.
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Trotz seiner besonderen Fähigkeiten war ES nicht in der Lage, das kontrolliert abgegebene Konzept ständig zu beobachten oder gar zu steuern. Hätte das in seiner Macht gelegen, hätte ES sich die Entsen dung der Homunkuliden Wastor und Klamous ersparen können. Auf seiner Existenzebene war ES an Spielregeln gebunden. Ebenso musste darauf geachtet werden, dass es zu keinen Zusammenstößen mit ebenbürtigen Mächten kam. Daran war ES gewöhnt und handelte entsprechend. Derzeit jedoch waren die Zustände in ES alles andere als normal. Neben jener nicht genau bekannten Anzahl von Bewusstseinen, die 126
zu jeder Zeit in ES vereinigt waren, drängten sich jetzt zusätzlich zwan zig Milliarden menschlicher Egos in unerträglicher Enge. Der unvor stellbare mentale Druck war eine Belastung, der ES bisher nur wie durch ein Wunder standgehalten hatte. Dementsprechend war das Wunder keineswegs vollkommen. ES hatte nicht verhindern können, dass sich unkontrolliert Bewusstseine abgespalten hatten. ES hatte sie unter großen Anstrengungen zurückgeholt. Nun endlich hatte ES gezielt ein Konzept zusammengestellt, mit ei nem Körper versehen und auf einem eigens dafür ausgesuchten Kunst planetoiden materialisiert. Für ES stellte das nur die erste Stufe dar. Früher oder später brauchte die Menschheit, die ES in sich aufgenom men hatte, um sie vor dem Zugriff einer anderen Superintelligenz zu retten, eine neue Heimat. ES schloss nicht aus, dass die Erde durch Manipulationen BARDIOCs an ihre derzeitige Position gebracht worden war. Dies war aller dings ein Verdacht, der sich erst bestätigen musste. ES war sich darü ber im Klaren, dass es die Zukunft der Menschheit nur in einem be stimmten Maße beeinflussen durfte. Bisher hatte das fast immer zu po sitiven Entwicklungen geführt, und das war nicht zuletzt Perry Rhodan zu verdanken. ES konnte sich vorstellen, wie verzweifelt dieser Mann über die ak tuelle Entwicklung sein musste. Im Gegensatz zu ihm wusste ES, wo hin der Weg der Menschheit führen sollte – jedenfalls kannte ES die sen Weg bis zu einem bestimmten Punkt. Und was lag dahinter? Es war müßig, darüber nachzudenken. ES fühlte, wie sich die gewaltige Anzahl von Bewusstseinen in sei nem geistigen Verbund regte. Alle drängten nach draußen. ES konnte das verstehen. Unter normalen Bedingungen hätten die Bewusstseine ihren derzeitigen Zustand begrüßt und als großes Glück empfunden. Der Test musste beschleunigt werden. Für ES blieb nicht mehr viel Zeit, und ihm genügte schon, zu wissen, dass das Konzept sich so ver hielt, dass es Überlebenschancen hatte. 127
ES dachte an die Bewusstseine, die es willkürlich abgestoßen hatte. Diese waren an verschiedenen Bezugspunkten aufgetaucht. Auf Inter mezzo, auf Goshmos Castle, an Bord der SOL, auch auf der Raum station SI-RS-290 und an vielen anderen Orten mehr. Zum Glück war es gelungen, diese Bewusstseine zurückzuholen, bevor sie größeres Un heil anrichten konnten. Nun war zum ersten Mal eine Gruppe von sieben Bewusstseinen zu einem Konzept zusammengefügt worden, das sich über seine Herkunft im Klaren war. Wenn der Test auf dem Planetoiden nur einigermaßen gelang, konnte ES seine Pläne fortführen. Außerdem bestand dann die Möglichkeit, den starken Druck im Bewusstseinsverbund jederzeit durch die gezielte Abgabe von Bewusstseinen zu mildern. Unter den gegebenen Umständen hatte ES aber nicht viele Möglich keiten, Perry Rhodan hilfreich zur Seite zu stehen. Und das ausgerech net jetzt, da die Terraner sich immer tiefer in den Konflikt zweier Su perintelligenzen verstrickten. ES wusste, was die Auseinandersetzung zwischen zwei Mächtigkeits ballungen bedeutete. Galaxien würden in Flammen aufgehen, und Völ ker würden sterben, ohne überhaupt zu begreifen, welchen Ereignissen sie zum Opfer fielen. Der offene Krieg zwischen BARDIOC und der Kaiserin von Therm schien unmittelbar bevorzustehen. In verschiede nen Bereichen wurde schon gekämpft, wenn auch nicht ausschließlich mit Mitteln der Gewalt. ES, das diesen totalen Krieg schon aus eigenem Interesse verhindern wollte, besaß in diesem kosmischen Spiel nur eine einzige Karte: Perry Rhodan. Der Terraner konnte die selbstzerstörerische Auseinanderset zung zweier Superintelligenzen verhindern, wenn er das auch noch nicht ahnte. ES hatte zwar die kleinste Karte in dem Spiel, aber es war eine ver deckte Karte. Und das war die Chance!
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Als Indira Vecculi begriff, dass sie das Rätsel der beiden Männer mit ihren Fähigkeiten allein nicht lösen konnte, wurde sie schon in den Hintergrund gedrängt. Pale Donkvent, der bereits auf eine Gelegenheit gewartet hatte, die Führung zu übernehmen, sah Wastor und Klamous abschätzend an. »Ich habe den Eindruck, dass wir uns ausführlich unterhalten müssen«, sagte er. »Wenn ihr euch hier auskennt, wisst ihr sicher, wo ein ruhiger Platz zu finden ist. Dort können wir Informationen austauschen – bei einem guten Schluck, versteht sich!« Er lauschte ängstlich in sich hinein, ob sein Begehren eine Revolte auslöste. »Es gibt nicht viel zu sagen«, erwiderte Wastor. »Das wenige können wir ebenso gut hier besprechen.« »Meinetwegen«, stimmte der Ultra-Physiker ärgerlich zu. Er ahnte, dass er nicht lange an der Spitze der Bewusstseine bleiben würde, denn er wusste mit Wastor und Klamous noch weniger anzufangen als die zänkische alte Hexe Indira Vecculi. Erschrocken wurde er sich bewusst, dass Indira solche Gedanken je derzeit als Erfahrungsgut aus dem gemeinsamen Gehirn abrufen konn te. Ich entschuldige mich!, dachte er. Prompt wurde er von Jost Seidel abgelöst, der mit seiner jugendli chen Intuition sofort spürte, dass Wastor und Klamous nicht bösartig waren. Jost sah, dass vor ihm ein Metallklumpen lag, und trat dagegen. Der Brocken flog mehrere Meter weit davon. Jost wäre am liebsten hinter hergerannt und hätte noch einmal zugetreten, aber er beherrschte sich. »Was tun Sie da?«, fragte Wastor irritiert. »Nichts«, antwortete Jost Seidel ausweichend. Als aphilisches Kind hatte er Sport getrieben und sogar Fußball gespielt, aber er hatte 129
nichts dabei empfunden. Die Erfahrung, dass man solche Dinge mit Lust und Freude betreiben konnte, war neu für ihn. Er warf einen sehnsüchtigen Blick in Richtung des Metallklumpens, dann verdrängte er den Gedanken daran. »Sind Sie zornig?«, forschte Klamous. »Keineswegs«, beteuerte Jost. Warum bohrten die beiden ständig wei ter? Er konnte ihnen sowieso nicht erklären, wie seine Handlung aus gelöst worden war. Außerdem wollte er den sechs anderen in diesem Körper beweisen, dass er erwachsen war und sie sich auf ihn verlassen konnten. Diese alte Schachtel sollte … Er unterbrach seinen Gedanken gang. »Wenn Sie beide keine Roboter sind – was sind Sie dann?«, fragte er hastig. »Androiden!« »Das ist eine schwer überprüfbare Behauptung«, meinte Jost zurück haltend. »Wer hat Sie geschaffen?« »Offensichtlich liegt ein Trugschluss vor«, sagte Wastor. Der Unmut in seiner Stimme war unüberhörbar. »Hier geht es nicht um uns, son dern um Sie.« Jost fragte erregt: »Sie wissen etwas über mich … über uns?« »In Ihrem Körper befinden sich sieben menschliche Bewusstseine. Sie bilden eine Vereinigung, die wir Konzept nennen. ES hat Sie hier her geschickt, um herauszufinden, ob ein Konzept aus ausgewählten Bewusstseinen funktionstüchtig ist.« »Ich weiß, dass wir aus ES kommen«, sagte Jost Seidel. »Wie würden Sie sich selbst beurteilen?«, wollte Klamous wissen. Jost lächelte. »Mir gefällt dieser Körper.« »Sind Sie das Vanne-Bewusstsein?« »Nein, aber Kershyll Vanne ist unser Leitbewusstsein. Ich bin Jost Seidel.« »Aha, das Kind.« »Ich bin kein Kind mehr!«, protestierte der Junge. »Ich bin sicher, 130
dass ich aufgrund meines Wissens und meiner Fähigkeiten berufen wurde – nicht wegen meiner Jugend.« In diesem Moment ertönte ein markerschütternder Schrei. Jost zuck te zusammen. Er hatte seine Umgebung vorübergehend völlig igno riert, und diese Nachlässigkeit traf auch auf die beiden Androiden zu. Der Donner einer Explosion machte ihn fast taub. Klamous zerbarst vor den Augen des Konzepts, er wurde förmlich zerrissen. Aus seinem Innern quollen Relais, Sensoren, Kunststofforgane und eine grünfarbe ne breiige Masse. Jost Seidels Bewusstsein wurde jäh zurückgedrängt. Kershyll Vanne, der retten musste, was noch zu retten war, ließ sich auf den Boden fal len. Eine zweite Explosion erfolgte. Diesmal wurde niemand getroffen, denn Wastor hatte sich ebenfalls gedankenschnell zur Seite geworfen. Vanne robbte hastig davon. Sein Ziel war eines der gebäudeähnli chen Monumente, hinter dem er Deckung suchen wollte. Von den Angreifern war nicht viel zu sehen. Der Psychomathelogist vermutete, dass es sich um mehrere jener Pelzwesen handelte. Er beo bachtete, dass Wastor wieder auf die Beine kam. Der Androide be wegte sich jedoch unkontrolliert. Wahrscheinlich hatte er einen Streif schuss erhalten. Das konnte bedeuten, dass er nicht mehr in der Lage war, Gegenmaßnahmen zu treffen. Vanne kroch schneller davon. Als er zurückblickte, sah er die Geg ner. Acht Pelzwesen stürmten auf Wastor zu. Sie stießen triumphieren de Schreie aus, schienen sich ihres Sieges sicher zu sein. Drei von ihnen trugen merkwürdig geformte Geräte, wahrscheinlich Waffen. Auch Wastor schrie jetzt, und er benutzte die Sprache der Angreifer, deren Gruppe immerhin stoppte. Vanne bedauerte, dass er nichts ver stand. Er erreichte sein Ziel, presste sich mit dem Rücken gegen die Wand und blickte zu Wastor hinüber. Deutlich konnte er erkennen, dass der Androide angeschlagen war und sich nur mühsam auf den Beinen hielt. 131
Fast wäre das Konzept aus seinem Versteck gestürmt, um Wastor bei zustehen. Aber das wäre ein unverzeihlicher Fehler gewesen, der nichts an der Situation geändert hätte. Zwischen dem Androiden und den Pelzigen schien eine hitzige Dis kussion stattzufinden. Vanne atmete auf, als die Angreifer ihre Waffen sinken ließen. Doch seine Erleichterung war nur von kurzer Dauer. Wastor war offenbar schlimmer verletzt, als es zunächst den Anschein hatte, er sank in sich zusammen. Eine Zeit lang kauerte er zusammen gekrümmt da, dann schienen ihn seine Kräfte vollends zu verlassen, und er streckte sich auf dem Boden aus. Vorsichtig näherten sich die Angreifer dem Androiden auch die letz ten Schritte. Vanne presste die Lippen zusammen, als der erste Wastor mit einer Kralle anstieß. Wastor rührte sich nicht. In Vanne krampfte sich alles zusammen. Zwei der Bärenähnlichen hoben Wastor auf und schleppten ihn davon. Sie verschwanden aus Vannes Blickfeld, ohne dass er herausfinden konnte, wohin sie sich wandten. Die anderen sahen sich suchend um. Vanne brauchte kein Hellseher zu sein, um zu wissen, dass sie hinter ihm her waren. Er warf sich herum und rannte davon. Dabei achtete er darauf, dass das Monument zwischen ihm und den Verfolgern blieb und ihn we nigstens für eine gewisse Zeit vor ihren Blicken schützte.
7.
D
as Auftauchen der acht Wächter hatte Poog dez Nowarth so überrascht, dass er zunächst zu keiner Reaktion fähig gewesen war. Er wunderte sich, dass seine Artgenossen den Mut gefunden hat ten, der Flugscheibe bis hierher zu folgen. 132
Als dann der heimtückische Angriff erfolgte, erkannte Nowarth die schreckliche Wahrheit. Die acht waren keine Wächter aus der Festung von Phark, sie gehörten hierher, nach Endetal. Es war nie ganz klar gewesen, ob Endetal eigene Wächter besaß, und von vielen war das sogar bezweifelt worden. Die jüngsten Ereignisse schufen Klarheit. Mit Entsetzen hatte dez Nowarth das Ende eines seiner beiden Ret ter beobachtet. Langsam, um nicht selbst die Aufmerksamkeit seiner Artgenossen zu erregen, hatte er sich zurückgezogen und sich hinter der Flugscheibe verkrochen. Von dort aus hatte er die weiteren Ge schehnisse verfolgt. Offensichtlich war auch der zweite Fremde so schwer getroffen wor den, dass er seinen Verletzungen erlegen war. Nun war nur noch jener am Leben, der den Flugapparat aus der Festung hierher geflogen hatte. Aber die Wächter hatten die Verfolgung aufgenommen, und sie kannten sich in Endetal zweifellos so gut aus, dass ihnen niemand ent kommen konnte. Das Schicksal des Unbekannten belastete Poog dez Nowarth nicht so sehr wie der Gedanke an das, was ihm bevorstand. Er fragte sich, wie er jemals von hier wegkommen sollte, nachdem die beiden nicht mehr lebten, die ihn gerettet hatten. Wenn er nicht eines gewaltsamen Todes starb, war er dazu ver dammt, für alle Zeiten in Endetal zu leben. Die Gegangenen würden niemals zurückkommen, diese Hoffnung hatte er endgültig aufgege ben. Er konzentrierte sich wieder auf den überlebenden Fremden. Zwi schen ihm und seinen Rettern musste es eine tiefere Beziehung geben, sonst hätte ihre Zusammenkunft niemals stattgefunden. Nur mit Hilfe des Fremden konnte Poog dez Nowarth also entkommen. Doch dazu musste dieses Wesen am Leben bleiben. Nowarth betrachtete seine verletzten Krallen. Er besaß nicht einmal eine Waffe. Die Verfolger dagegen trugen Graisen. Was sollte er allein 133
gegen sie unternehmen? Er richtete sich hinter der Flugscheibe auf. Zumindest wollte er die Wächter verfolgen, um zu beobachten, was sie unternahmen. Das Licht aus der Senke war hell genug, um ihn die Umgebung er kennen zu lassen. Solange Poog dez Nowarth zurückdenken konnte, hatte er immer nur die Festung von Phark bewacht. Bisher war es zu keinem Zwischenfall gekommen, aber nun sah es so aus, als sollten die Wächter schon bei der ersten Bewährungsprobe versagen. Nowarth ging aufrecht, denn er wollte seine verletzten Krallen nicht belasten. Weit vor sich hörte er die Schreie der Verfolger.
***
Je weiter Kershyll Vanne sich von der Senke entfernte, desto dunkler wurde es. Hinter den Monumenten schien sich flaches Land zu erstre cken. Vanne hatte den Eindruck, dass es sich um eine Landebahn han delte. Er konnte nicht erkennen, was sich auf der anderen Seite befand. In der Nähe der Senke gab es zahlreiche Möglichkeiten, sich den Bli cken der Verfolger zu entziehen. Allerdings würden sie sein Vorgehen früher oder später durchschauen und sich trennen, um nach ihm zu suchen. Das würde ihre Chancen beträchtlich erhöhen. Sobald er das Landefeld überquerte, war er ohne Deckung, aber er konnte hoffen, auf der anderen Seite ein Gebiet zu erreichen, das ihm Möglichkeiten bot, den Pelzwesen endgültig zu entkommen. Vanne hörte seine Gegner schreien. Offenbar hatten sie seine Spur entdeckt. Das ließ ihm keine Wahl. Er rannte los, hinaus auf das Lan defeld. Seine körperlichen Fähigkeiten schienen gegenüber früher un verändert. Er hatte schon immer über eine gute Konstitution verfügt und war trainiert gewesen. Das kam ihm jetzt zugute. Vanne rannte einfach geradeaus. Im flachen Gelände halfen keine Tricks. Er musste so schnell wie möglich auf die andere Seite der Piste gelangen, das war alles. 134
Als er sich umdrehte, sah er die Silhouetten der Monumente gegen den hellen Hintergrund der Senke. Von den Verfolgern war nichts zu entdecken. Wahrscheinlich hatten sie das Landefeld ebenfalls erreicht, so dass er sie nicht mehr ausmachen konnte. In diesem Augenblick bildete sich am Horizont ein Lichtschimmer. Vanne murmelte eine Verwünschung, als er den Grund dafür erkannte. Die künstliche Sonne ging auf. Er hetzte weiter, aber schon zuckten die ersten Lichtspeere über den Himmel. Die sechs anderen Bewusstseine verhielten sich still. Zum ers ten Mal seit seiner Ankunft auf Nachtfalter hatte Vanne das Gefühl, allein zu sein. Die ganze Zeit über hatte er geglaubt, dass er einen sol chen Zustand begrüßen würde, nun musste er feststellen, dass er sich getäuscht hatte. Er vermisste die anderen! War es möglich, dass er sich so schnell an sie gewöhnt hatte? Oder war das nur eine Schutzreaktion seines Körpers? Rechter Hand wurde es hell. Vanne konnte sehen, wie die Lichtwand über das Landefeld wanderte – viel zu schnell, er konnte ihr nicht ent kommen. Augenblicke später sah er die Verfolger. Sie waren zu sechst, und sie hatten ihn ebenfalls entdeckt und schrien triumphierend. Am Ende des Landefelds erschienen jetzt langgestreckte Gebäude im Licht der ersten Sonnenstrahlen. Vanne seufzte enttäuscht, als er fest stellte, wie weit sie noch von ihm entfernt waren. Die Distanz zwischen ihm und dem ersehnten Ziel schien kaum ge ringer zu werden. Das Geschrei der Verfolger klang in seinen Ohren, vielleicht waren sie ihrer Sache so sicher, dass sie ihn nicht töten, son dern gefangen nehmen wollten. Was Vanne erst für flache Gebäude gehalten hatte, entpuppte sich beim Näherkommen als Halden, die am Rand des Landefelds aufge schüttet waren. Er konnte Metallbrocken verschiedenster Form erken nen. Eines der Pelzwesen war bereits dicht hinter ihm. Kershyll Vanne ließ 135
sich blitzschnell fallen, und der Verfolger stürzte über ihn und über schlug sich. Mit einem gewaltigen Sprung war Vanne über ihm und drückte ihn zurück. Sein Gegner brummte überrascht, als Vanne ihm die Waffe aus den Krallen riss. Zitternd hielt das Konzept die keulenförmige Waffe in der Hand. Sie war zu fremdartig, als dass Vanne ihre Funktion sofort verstanden hät te. Er schien sie jedoch richtig zu handhaben, denn der am Boden lie gende Verfolger hob erschrocken beide Arme und wälzte sich zur Sei te. Inzwischen waren die fünf anderen ebenfalls herangekommen. Sie beobachteten die Szene mit großer Ratlosigkeit. »Rührt euch nicht!«, drohte Vanne, obwohl er sicher war, dass sie ihn nicht verstanden. »Wer mich angreift, ist verloren.« Vielleicht erkannten sie am Klang seiner Stimme, dass er zum Äußer sten entschlossen war. Er hielt das trichterförmige Ende der Waffe auf seine Gegner gerichtet und ging langsam rückwärts davon. Über alles, was nun geschehen sollte, war er sich noch im Unklaren. Sobald die Pelzigen sich von ihrer Überraschung erholt hatten, würden sie erkennen, dass sie ihm überlegen waren. Mindestens drei von ihnen waren ebenfalls bewaffnet, und im Gegensatz zu Vanne wussten sie ge nau, wie sie ihre Waffen zu benutzen hatten. Hito Guduka übernahm seinen Platz. Der Totalenergie-Ingenieur untersuchte sofort die Waffe. Zweifellos war der durch die seitliche Öse geführte Kugelstab identisch mit dem Abzugsmechanismus. Gu duka richtete den Trichter auf den Boden vor den Verfolgern und schob eine Kugel durch die Öse. Es gab eine verheerende Explosion, und ein gewaltiger Krater bildete sich an der Einschlagstelle. Die Bepelzten warfen sich zu Boden und rührten sich nicht. Guduka zog den Kugelstab in die ursprüngliche Position zurück, denn er wollte die Fremden nicht töten. »Ausgezeichnet!«, lobte Vanne, als er seinen Körper wieder über 136
nahm. Die Gegner rührten sich noch immer nicht, dabei hatte Vanne erwartet, dass sie das Feuer erwidern würden. Unangefochten erreichte er die erste Halde. Die Anhäufung metal lischer Objekte war gut zwanzig Meter hoch und erstreckte sich über eine Länge von mindestens einhundert Metern. Vanne sah etwa vierzig bis fünfzig solcher künstlicher Hügel. Zwischen ihnen gab es schmale Durchgänge. Als er zwischen zwei Halden hindurchrannte, ertönte eine Explosion. Eine Wolke zerborstener Metallbrocken wirbelte auf, verhielt sekun denlang in scheinbarer Schwerelosigkeit und prasselte dann auf den Boden herab. Vanne wurde von kleineren Brocken getroffen, aber sie verletzten ihn nicht ernsthaft. Die Verfolger hatten ihn allem Anschein nach aus den Augen verloren und schossen nun wild auf die Halden. Entweder hofften sie, ihn auf diese Weise auszuschalten, oder sie waren entschlossen, sich unter allen Umständen freie Bahn zu schaffen. Vanne schlug einen Haken. Er überlegte, ob er seine Waffe erneut einsetzen sollte. Er hatte nicht vor, die Verfolger zu verletzen oder gar zu töten, aber vielleicht genügte es schon, wenn er ihnen einen zweiten Schrecken einjagte. Er hastete einen Hang hinauf, um das Landefeld überblicken zu kön nen. Die Gegner kamen in breiter Front näher. Vanne feuerte die Waffe ab. Er hatte auf die Piste vor den Halden gezielt. Dort entstand ein großer Krater, der den Verfolgern erst einmal den Weg versperrte. Kershyll Vanne stürmte den Hang wieder hinab und setzte die Flucht fort. Es war für ihn eine tiefe Befriedigung, seinen Körper auf diese Weise zu spüren. Wahrscheinlich empfand er so wegen des lan gen Aufenthalts als pures Bewusstsein in ES. Er dachte an seine zwanzig Milliarden Schicksalsgenossen. Früher oder später musste ES dafür sorgen, dass sie wieder Körper erhielten. Dann brauchten sie, falls die Erde wirklich nicht mehr verfügbar war, eine neue Heimat. Vanne vermutete, dass einige der ungewollt von ES 137
ausgestoßenen Bewusstseine bereits Bemühungen unternommen hat ten, eine Heimat zu finden oder zu erschaffen. Am Ende der künstlichen Hügel entdeckte er ein Gebäude, das ihn entfernt an einen überdimensionalen Hut erinnerte. Nach allem, was er bisher erlebt hatte, musste er befürchten, dort auf weitere Pelzwesen zu stoßen. Womöglich erwarteten sie ihn schon. Vanne blickte zurück. Weit hinter ihm tauchte der erste Verfolger auf. Entweder hatte er den Einschusskrater umrundet oder durchklet tert, auf jeden Fall ließ sein Erscheinen keine Wahl mehr. Kershyll Vanne rannte auf das Gebäude zu. Was aus der Ferne wie die Krempe eines Hutes ausgesehen hatte, ent puppte sich als eine Art Veranda. Vielleicht hatten hier einst Veranstal tungen stattgefunden, wer wollte das heute noch feststellen? Die Gebäudewände waren glatt, zumindest auf dieser Seite waren kei ne Eingänge zu erkennen. Vanne überquerte die Veranda. Ein Schuss riss schräg vor ihm ein gewaltiges Loch in die Wand. Als der Qualm der Explosion sich verzogen hatte, stürmte Vanne auf die Öffnung zu und sprang, ohne zu zögern, hindurch. Er brauchte mehrere Sekunden, um sich in dem Halbdunkel zu orientieren. Staub rieselte auf ihn herab, beschädigte Verstrebungen knackten unheildrohend. Vanne befürchtete, dass das Dach herabstür zen könnte, trotzdem stolperte er eine treppenförmige Abstufung hin ab. Schräg vor sich sah er einen vagen Lichtschimmer, wahrscheinlich eine Öffnung auf der anderen Seite des Gebäudes. Vorsichtig ging er darauf zu. Ein heiserer Schrei ließ ihn herumfahren. Er sah die Silhouetten zweier Verfolger vor dem Durchbruch. Die Frage war, ob sie ihn eben falls bemerkten. Wieder fiel ein Schuss. Vanne wurde von den Beinen gerissen. Er prallte gegen eine Säule und blieb halb betäubt liegen. Aus!, dachte er verzweifelt. Nun hatten sie ihn doch erwischt. Er hörte Schritte näher kommen, versuchte sich aufzurichten und 138
wegzukriechen. Doch der Verfolger erreichte ihn. Vanne roch den ani malischen Gestank des Pelzigen und presste sich dicht auf den Boden. Seine Gefühle waren wie ausgelöscht, er wartete auf einen tödlichen Angriff. Dann wurde er zu seiner Überraschung sanft hochgehoben und weg getragen.
***
Das Dröhnen der Graisen hatte Poog dez Nowarth die Verfolgung er leichtert, und in Höhe der Halden war es ihm gelungen, die anderen Wächter zu überholen und vor ihnen in das Gebäude am Rand des Landefelds einzudringen. Seine Vermutung, dass der Fremde hier Unterschlupf suchen würde, war richtig gewesen. Trotzdem war er zu spät gekommen. Seine Artge nossen aus Endetal hatten den Glatthäutigen schon gestellt und unter Beschuss genommen. Fast wäre auch er selbst getroffen worden. Poog dez Nowarth stellte fest, dass der Fremde noch lebte. Er schien allerdings verletzt zu sein. Dez Nowarth hob ihn auf und trug ihn in eine dunkle Ecke des Raumes. Alles hing davon ab, wie die Wächter sich verhielten. Falls sie abzo gen, konnte Nowarth hoffen, den Unbekannten zu retten. Setzten sei ne Artgenossen die Verfolgung fort, um sich zu überzeugen, dass sie ihr Opfer zur Strecke gebracht hatten, würden sie ihn und seinen Schützling früher oder später entdecken. Poog dez Nowarth glaubte nicht, dass ihm selbst Gefahr drohte, aber der Verletzte durfte kaum mit Gnade rechnen. Er hörte die Verfolger in der Nähe der Einschussstelle. Offenbar hat ten sie mit der Suche begonnen. Poog dez Nowarth konnte nicht alles verstehen, was sie sagten, aber er erkannte, dass sie sich über ihr wei teres Vorgehen uneinig waren. Eine Gruppe wollte die Suche fortset zen, während die andere überzeugt davon war, den Auftrag ausgeführt 139
zu haben. Zu Nowarths Erleichterung setzten sich jene durch, die für einen Ab bruch der Jagd plädierten. Die Wächter entfernten sich wieder, und bald darauf waren ihre Schritte verklungen. Nowarth trug den Glatthäutigen ins Freie, um ihn in der Helligkeit untersuchen zu können. Der nicht eben schwere Körper fühlte sich schlaff an. Draußen legte Nowarth ihn vorsichtig auf den Boden. Erst als er das weiße Gesicht sah, wurde ihm bewusst, worauf er sich eingelassen hatte. Wie sollte er diesem Wesen überhaupt helfen? Was er auch unternahm, er konnte damit sogar den Tod des Verwundeten herbeiführen. Nowarth riss dennoch die Kleidung seines Schützlings auf, um nach zusehen, ob der Körper offene Wunden hatte. Das war nicht der Fall, und für den Wächter wurde damit alles noch problematischer. Er frag te sich, wie er nun feststellen sollte, was getan werden musste. Unter anderen Umständen hätte er den Unbekannten an einen warmen und sicheren Platz gebracht… Seine Überlegungen stockten, als der Verwundete die Augen auf schlug. Poog dez Nowarth hob die Krallen, um seine Friedfertigkeit zu demonstrieren. Der Fremde bewegte den Mund, brachte unverständ liche Laute hervor. »Ich wünschte, ich könnte dich verstehen«, sagte der Wächter bedau ernd. »Vielleicht kannst du mir mit Zeichen erklären, was ich tun soll.« Er machte selbst einige Gesten, um dem Verletzten zu zeigen, dass er ihn wegschaffen wollte, hatte aber keinen Erfolg damit. »Offenbar soll es mit unserer Verständigung nicht funktionieren«, sagte er resignierend. »Trotzdem werde ich dich nicht verlassen. Ich bleibe, bis du mir begreiflich machen kannst, was zu tun ist.« Der Fremde richtete den Oberkörper auf. Dabei gab er einen Schmerzenslaut von sich. Nowarth streckte die Arme aus und registrierte erleichtert, dass der andere sich bereitwillig helfen ließ, auf die Beine zu kommen. Schließ 140
lich stand er schwankend da und stützte sich mit einem Arm auf den Wächter. Diese Berührung löste seltsame Gefühle in Nowarth aus. Sie erinnerten ihn an eine lange zurückliegende Zeit, da man ihm auf ähn liche Weise geholfen hatte. Eine vage Erinnerung an seine Eltern stieg in ihm auf. Das alles musste in unvorstellbar ferner Vergangenheit ge schehen sein, auf einer anderen Welt. Poog dez Nowarth konnte die Erinnerung nicht festhalten. Zu viel Zeit war seitdem verstrichen. Er blickte an sich hinab und sah die Instrumente, die an verschiede nen Stellen aus seinem Körper ragten. Zweifellos befähigten sie ihn da zu, in der Festung von Phark zu leben. Doch das war kein Leben, zu dem er von Natur her bestimmt gewesen wäre. Enttäuschung und Trauer übermannten ihn, als er verstand, dass es für ihn kaum ein Zu rück geben würde. Er war ein Werkzeug der Gegangenen, daran war nichts zu ändern. Ein Geräusch erklang in unmittelbarer Nähe. Hastig entriss Poog dez Nowarth dem Verletzten die Graise, die dieser noch umklammert hielt. »Die Waffe ist neutralisiert«, sagte eine bekannte Stimme. Zu seinem maßlosen Erstaunen sah der Wächter den totgeglaubten Wastor vor sich. Er erkannte ihn an dem blauen Band um den Kopf. Auch der Glatthäutige schien überrascht zu sein, denn seine Augen weiteten sich. »Ich werde mich um dich kümmern, Wächter«, versprach Wastor. »Aber zuerst gilt meine Aufmerksamkeit dem Konzept.« Das war noch weniger als eine Erklärung, dachte Poog dez Nowarth. Trotzdem war er erleichtert, dass ihm die Verantwortung für den Ver letzten nun abgenommen wurde.
***
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Wastors unverhofftes Erscheinen veranlasste Kershyll Vanne zu der Überlegung, ob der Androide überhaupt ernsthaft verletzt gewesen war. Vielleicht gehörte das Schauspiel, das Vanne bei den Monumen ten erlebt hatte, zu einem von ES geplanten Experiment. War der Tod von Klamous ebenfalls eingeplant gewesen? »Wie fühlen Sie sich?«, fragte Wastor. »Sind Sie verletzt?« »Nicht schlimm«, gab Vanne wahrheitsgemäß zurück. »Ich war nur vorübergehend ohnmächtig.« Er deutete auf den Wächter. »Er hat mich gerettet. Vermutlich wäre ich nicht mehr am Leben, wenn er mich nicht vor seinen Artgenossen geschützt hätte.« Wastor nickte. »Spreche ich mit dem Vanne-Bewusstsein?«, wollte er wissen. »Ja«, bestätigte der Psychomathelogist. »Gut. Sie wissen, dass Sie nicht allein in Ihrem Körper sind, sondern mit sechs anderen Bewusstseinen ein Konzept bilden. Dass Sie hand lungsfähig sind, haben Sie auf diesem künstlichen Planetoiden bewie sen. Wie schätzen Sie Ihre Fähigkeiten ein?« Kershyll Vanne lächelte. Er war einen Meter neunundachtzig groß und 38 Jahre alt. Er hatte eine athletische Figur. Sein ebenmäßiges Ge sicht mit den hellblauen Augen wurde von schwarzem, lockigem Haar umrahmt. »Ich würde mich zunächst als ungewöhnlich bezeichnen. Wahr scheinlich muss ich … müssen wir noch viel lernen.« Sein Lächeln ge fror. »Werden wir Gelegenheit dazu bekommen, oder muss ich nach Abschluss dieses Experiments in ES zurückkehren?« Wastor schüttelte den Kopf. »ES hat eine Aufgabe für Sie! Sie müs sen Kontakt zu Julian Tifflor im Neuen Einsteinschen Imperium her stellen. Tifflor soll alle Informationen erhalten. Nicht zuletzt hat ES vor, die Menschen des NEI zur Erde zu bringen.« Vanne blinzelte. »Ich verstehe so gut wie nichts«, gestand er. »Natürlich«, sagte Wastor trocken. »Bevor Sie mit Ihrer Mission be ginnen, erhalten Sie das nötige Wissen.« 142
»Die Zusammensetzung der Bewusstseine ist nicht unproblematisch«, erklärte Vanne. »Hat ES sich darüber Gedanken gemacht?« »Das entzieht sich meiner Kenntnis. Nur ES kennt die Kriterien, nach denen das Konzept zusammengestellt wurde.« »Ich will nicht den Eindruck erwecken, dass ich einzelne Bewusst seine gegen andere austauschen möchte«, sagte Kershyll Vanne verle gen. »Aber meine Effektivität wird davon abhängen, dass alle harmo nisch zusammenarbeiten.« »Dieses Problem muss das Konzept selbst lösen.« »Wird es noch andere Konzepte geben?« »Mit Sicherheit!« Vanne wechselte erneut das Thema. »Ich verstehe nicht, warum ES die Menschen des NEI zur Erde bringen will, wenn ihm zwanzig Mil liarden Bewusstseine zur Verfügung stehen, die bisherige Bevölkerung Terras.« »ES hat Gründe für seine Handlungsweise.« Ein schrecklicher Verdacht stieg in Vanne auf. War den Menschen, die beim Sturz der Erde durch den Schlund in ES aufgegangen waren, die Rückkehr nach Terra für alle Zeiten versperrt? Oder wollte ES diese zwanzig Milliarden Bewusstseine als einen Bestandteil seiner selbst be halten? Vanne befürchtete, dass er die wahren Hintergründe so schnell nicht erfahren würde. Trotzdem war er entschlossen, jede verlangte Mis sion auszuführen, denn dann musste er nicht in die mentale Enge von ES zurück. Sein Blick fiel auf den Wächter. »Was geschieht mit diesen Wesen?« »Wir werden ihnen helfen«, versicherte der Androide. »Sie werden mit einem Raumschiff auf eine Welt gebracht, auf der sie in einer na türlichen Umgebung leben können.« »Und Nachtfalter?« »Der Planetoid ist bedeutungslos. Er gehörte einst einem Volk, das von den Wächtern die Gegangenen genannt wird. Aber auch die Men 143
schen haben in der Vergangenheit schon eine Station dieses Volkes ge funden. Ein Wissenschaftler namens Till Leyden entdeckte ein Obser vatorium und nannte die unbekannten Erbauer Oldtimer.« »Das sagt mir nichts«, brachte Kershyll Vanne nachdenklich hervor. »Es ist für Ihre weiteren Arbeiten unwichtig.« Wastor wirkte unge duldig. »Ich will mir jetzt noch einen Eindruck von der Verfassung machen, in der sich die anderen Bewusstseine befinden.« »Einverstanden«, sagte Vanne, obwohl ihm die Vorstellung, dass nun jedes Bewusstsein mit seinen Sorgen und Problemen auf Wastor zu kommen würde, keineswegs angenehm war. Es kam ihm fast wie eine Zurschaustellung seiner innersten Gefühle vor. Er wusste leider nicht, wie er diese Entwicklung verhindern sollte. Während Vanne noch darüber nachdachte, trat Albun Kmunah in den Vordergrund. »Die Führungsrolle hat gewechselt, nicht wahr?«, erriet der Androide. »Sieht man es?«, fragte der Alpha-Mathematiker verblüfft. »Keineswegs«, versicherte Wastor. »Jedenfalls nicht bei Ihnen. Wel ches Bewusstsein sind Sie?« »Albun Kmunah!« »Gut. Ich möchte von Ihnen wissen, ob Sie Schwierigkeiten haben. Was denken Sie über die Integration der Bewusstseine, wie kommen Sie mit den anderen zurecht?« »Ich bin zufrieden«, antwortete Kmunah ruhig. »Immerhin ist es bes ser, mit sechs anderen diesen Körper zu lenken, als in der mentalen Enge von ES nur als nacktes Bewusstsein zu existieren. Außerdem ver trage ich mich mit allen sehr gut. Wir machen gemeinsame Erfahrun gen und benutzen sie, verstehen Sie das?« »Nein.« »Es gibt noch etwas, das ausgezeichnet funktioniert, nämlich das System, nach dem das jeweils wichtigste Bewusstsein an die Spitze der Gruppe tritt. Natürlich ist Vanne unser körperlicher Anführer, aber er geht jedes Mal sofort in den Hintergrund, wenn ein anderer besser zur 144
Lösung eines Problems geeignet ist.« Kmunah schilderte die Situation, wie er sie empfand. Dabei war er sich im Klaren, dass nicht alle Bewusstseine seine Meinung teilten. Beinahe unbemerkt wurde er von Hito Guduka ersetzt. Guduka sah den Androiden an und nannte seinen Namen. »Sie kennen natürlich die Fragen, die ich an Vanne und Kmunah ge richtet habe«, sagte Wastor. »Ich kann sie aus unserem gemeinsamen Gehirn abrufen«, bestätigte Guduka. »Und wie ist Ihre Meinung?« »Mir passt es nicht, wenn andere Bewusstseine sich in meinen Fach bereich einmischen«, erklärte Guduka ärgerlich. »Geschieht das oft?« Guduka sagte drohend: »Dagegen wüsste ich mich schon zu weh ren.« »Wollen Sie aus dem Konzept ausscheiden?« »Auf keinen Fall!« Der Totalenergie-Ingenieur war entsetzt, dass der Androide ihm überhaupt einen derartigen Vorschlag unterbreitete. Bevor er weiter darauf eingehen konnte, wurde er von Indira Vec culis Bewusstsein abgelöst. Die Neurobio-Positronikerin konnte nicht verhindern, dass sich die Körperhaltung des Konzepts veränderte und weniger starr wurde. Ihr femininer Einfluss machte sich bemerkbar. »Guduka ist in den Hintergrund getreten«, verkündete sie. »Nun spricht das Bewusstsein von Indira Vecculi.« »Sie wissen, worum es geht. Haben Sie grundsätzliche Fragen?« »Und ob!«, rief die Wissenschaftlerin heftig. »Ich verlange, dass dieser Trinker und das Kind aus dem Verbund genommen werden. Außer dem soll Ankamera aufhören, Kershyll den Kopf zu verdrehen.« Der Androide sah sie schweigend an, so dass sie sich fragte, ob er den Sinn ihrer Vorwürfe überhaupt verstand. Schließlich bemerkte Wastor lakonisch: »Ich dachte an akademische Probleme. Alle psycho logischen Schwierigkeiten lassen sich im Verlauf der Zeit beheben.« 145
»Das bezweifle ich.« »Es geht nicht darum, dass andere zurücktreten, weil Sie nicht mit ihnen einig sind. Lediglich Sie können ausscheiden, wenn Sie das wün schen, und in ES zurückkehren.« Raffiniert!, dachte Indira ärgerlich. Laut sagte sie aber: »Ich bleibe, wo ich bin. Ich bin dazu fähig, meine berechtigten Interessen dem Allge meinwohl unterzuordnen.« Sie verschwand aus der Spitzenposition. Ankamera, die ihre Stelle einnahm, betrachtete den Androiden mit einer gewissen Verlegenheit. »Ich habe nicht vor, Vanne den Kopf zu verdrehen«, sagte sie leise. »Ah«, machte Wastor. »Sie sind die Ärztin?« »Medizinerin und Biologin! Natürlich gibt es eine mentale Affinität zwischen Vanne und mir, aber das muss nicht unbedingt ein Nachteil für das Konzept sein.« »Das habe ich nicht zu beurteilen.« Wastor trat einen Schritt zurück, als sei er gezwungen, den Körper aus größerer Distanz zu betrachten. »Es kommt auch nur auf Ihre eigene Position an. Sind Sie glücklich?« »Ja … Nein … Ich weiß es nicht.« »Aber Sie wollen in diesem Konzept bleiben?« »Ja!« Ankamera war froh, dass sie von Jost Seidel zurückgedrängt wurde. Der Junge ging sofort auf den Androiden zu und berührte ihn. Er wollte wissen, wie sich ein solcher Körper anfühlte. »Ich bin Jost Seidel!«, rief er. »Mir gefällt es in diesem Körper. Er ist prima, und alles, was ich mit ihm bisher erlebt habe, war abenteuerlich und interessant. Ich hoffe nur, dass es so bleibt.« »Wie ist dein Verhältnis zu Kershyll Vanne?« »Er ist ein prima Freund!«, versicherte Jost überschwänglich. »Genau nach meinem Geschmack! Kershyll hat Mut und weiß, worauf es an kommt.« »Hm!«, machte Wastor nachdenklich. »Belastet dich seine Beziehung zu Ankamera nicht?« 146
»Belasten? Pah! Ich weiß schließlich, wie Ankamera einmal ausgese hen hat. Ist doch klar, dass Vanne und sie zusammengehören.« »Das reicht!«, sagte Wastor, der zum ersten Mal aus dem Gleichge wicht zu geraten schien. »Ich denke, dass mit dir alles in Ordnung ist.« »Überhaupt nichts ist in Ordnung«, sagte Pale Donkvent, der als letztes Bewusstsein die Führung des Körpers übernahm. »Auf die indi viduellen Wünsche der einzelnen Konzeptmitglieder wird zu wenig Rücksicht genommen.« »Wie sehen diese Wünsche in Ihrem Fall aus, Pale Donkvent?« Der Ultra-Physiker leckte sich über die Lippen und senkte seine Stimme. »Dieses verdammte Konzept müsste sich ab und zu einen zu Gemüte führen, finde ich.« »Was …?«, stammelte Wastor. »Was wollen Sie damit sagen?« »Wie soll ich vernünftig arbeiten, wenn die Luft immer so trocken ist?« Der Androide dachte angestrengt nach und antwortete: »Trockene Luft könnte eigentlich nur von dem Körper selbst als unangenehm empfunden werden.« »Wissenschaftliches Geschwätz!« Empört winkte Donkvent ab. »Ich will lediglich ab und zu ein Bierchen, mein Freund.« »Jetzt verstehe ich«, gab Wastor zurück. »Indira Vecculi beklagte Ihre Angewohnheit.« »Das kann ich mir denken! Diese …« Donkvent verschluckte die nächsten Worte und legte vertraulich einen Arm um Wastors Schul tern. »Nach allem, was wir wissen, bist du ziemlich einfallsreich, mein Freund. Da wir bald in ein schweres Gefecht ziehen werden, brauche ich einen guten Schluck. Du kannst mir dabei helfen, ihn zu beschaf fen.« »Vielleicht auf synthetischer Basis …«, überlegte Wastor. »Aber ich weiß nicht, ob das …« »Ja, ja!«, drängte Donkvent. »Lass uns auf der Stelle damit anfangen. Ich habe lange genug auf dem Trockenen gesessen.« 147
Bevor die Angelegenheit weiter erörtert werden konnte, übernahm Kershyll Vanne wieder das Kommando.
***
Am 21. Januar des Jahres 3584 schickte ES ein Raumschiff nach Nachtfalter und ließ die Wächter abholen. Am selben Tag endete das Experiment mit dem Konzept. ES war mit den Ergebnissen zufrieden und informierte Wastor, dass der Test abgeschlossen sei. Der Androide sollte das Konzept auf die bevorstehende Entmaterialisation aufmerksam machen. Wastor begab sich umgehend in die Festung von Phark, wo Kershyll Vanne die letzten Tage verbracht hatte. Zu seinem Entsetzen kam das Konzept schwankend auf ihn zu. »Was ist geschehen?«, fragte Wastor bestürzt. »Gab es einen Zwi schenfall mit den Wächtern?« »Mit … mit den Nachtwäscher… Wächtern«, lallte Vanne. »Alter Freund … hicks … da haben Sie uns einen Klascheschtoff … Schtoff, meine ich… gebraut.« Wastor starrte ratlos auf das Konzept. »Mit welchem Bewusstsein spreche ich?«, fragte er. »Und was ist während meiner Abwesenheit pas siert?« »Sie schprechen mit … hicks … der Konischen von Schaba … hicks … auch unter dem Namen … Indira Veschulli bekannt.« Wastor schrumpfte förmlich zusammen. »Das wollte ich nicht!«, be teuerte er. »Ich habe doch nur eine einzige Flasche – ich meine, ich wollte Donkvent den Gefallen tun.« Das Konzept wäre gestürzt, wenn Wastor es nicht aufgefangen hätte. Er wurde umarmt und mit leidenschaftlichen Küssen bedeckt und wehrte sich, so gut es eben ging. »Beherrschen Sie sich doch!«, flehte er. »Die Entmaterialisation kann jederzeit erfolgen. Was soll ES den ken, wenn ich ihm sieben angeheiterte Bewusstseine zurückbringe?« 148
Das Konzept tätschelte ihn zärtlich. Wastor drückte es auf einen So ckel, wo es schließlich sitzen blieb. »Wir müssen etwas dagegen tun«, sagte der Androide. »Nur keine … hicks … Hektik!« »Es ist ein Malheur«, jammerte Wastor. »Aber das lag keinesfalls in meiner Absicht, Frau Vecculi.« »Veschulli? Hier ist Vanne, der gute … hicks … alte Vanne.« Der Körper wurde von einem heftigen Rülpser erschüttert. Wastor sah ein, dass er wirklich nichts tun konnte. Ihm blieb nur zu hoffen, dass der Rausch schnell abklingen würde. Unvermittelt entstand eine fahle Aura um das Konzept. »Die Entmaterialisation!«, stieß Wastor alarmierend hervor. »Sie be ginnt.« »Darauf trinken wir einen!«
8.
K
ein Volk, kein Intelligenzwesen dieses Universums ist völlig unabhängig. Jedes Wesen hängt von etwas ab und ist Zwängen unterworfen. Lebende Wesen müssen sich ernähren, sie bedürfen eines Partners, um sich fortpflanzen zu können. Schon die simple Tatsache, dass jedes Volk die Triebfeder hat, seine Kollektivexistenz zu behaupten, zeigt, dass es tatsächlich nichts Lebendes gibt, was vollkommen unabhängig wäre. Wie sieht es mit uns selbst aus, mit Terranern und den Milliarden von Men schen, deren Vorfahren auf Terra geboren wurden? Wir bedauern das Ver schwinden der Erde und seiner Bewohner. Warum? Terra ist ein Planet, und es gibt Milliarden reizvoller Planeten im Univer 149
sum. Auf eine Welt mehr oder weniger kommt es nicht an – wenn man logisch an diese Frage herangeht. Wir bedauern das Verschwinden der Terraner, obwohl die meisten von uns nie einen Erdgeborenen gesehen haben. Wir haben hier un sere Familien, unsere Freunde und Bekannten. Brauchen wir die Erdbewohner wirklich? Und wie steht es mit den Laren? Sie bedrohen uns, nachdem sie die Galaxis unterworfen haben. Warum widerstreben wir ihnen? Weil sie unsere Freiheit bedrohen. Sehen wir uns die Lage in der Milchstraße an: Die Laren und ihre Verbündeten haben den Menschen die Freiheit genom men. Aber diese Menschen leben, sie arbeiten und haben Familien. Wer sich nicht offen gegen die Laren auflehnt, kann relativ zufrieden leben. Trotzdem kämpfen diese Menschen im Untergrund gegen die Statthalter des Konzils. Sie riskieren ihren kostbarsten Besitz, ihre eigene Existenz, um einen Zustand zu erreichen, den sie Freiheit nennen. Das, meine Freunde, ist unser Zwang, unsere Unfreiheit – dass wir nicht leben wollen ohne diese Freiheit, ohne die Erde und ihre Bewohner in unserer Nähe zu wissen. Unser Glück ist davon abhängig, dass uns kein Lare befehlen kann, was wir zu tun oder zu lassen haben. Wir können sehen, dass wir Menschen unsere Abhängigkeiten haben. Die La ren sind intelligente Lebewesen, auch sie sind nicht frei von solchen Zwängen. Unsere Aufgabe wird darin bestehen, die Abhängigkeiten der Laren herauszu finden. Dort müssen wir dann ansetzen, um ihre Vorherrschaft zu brechen. Das ist unser Ziel. Denkt daran, Freunde – wir haben nicht viel Zeit. Die Generation, die jetzt die Milchstraße bevölkert, kennt die Freiheit von der Bevormundung durch die Laren nur vom Hörensagen. Ihre Eltern haben ihnen erzählt, wie es damals war, als die Erde sich noch um die Sonne Sol drehte, als Raumschiffe frei und ungehindert durch die Galaxis streiften. Die neue Generation, die unter der Herrschaft der Laren geboren wird, kennt diese Freiheiten nicht. Wenn es uns nicht gelingt, die jetzt geborenen Kinder zu befreien, haben wir für alle Zeit verspielt. Mit jedem Jahrzehnt, das ungenutzt 150
verstreicht, wird die Sklavenmentalität wachsen und die Erinnerung an frühere Zeiten in Vergessenheit geraten. Uns wird man als verrückte Spinner betrach ten, die den Blick für die Wirklichkeit verloren haben. Achtzig Jahre bleiben uns. Und wir stehen erst am Anfang! (Julian Tifflor, Frühjahr 3583. Unveröffentlichtes Manuskript einer Rede vor den Absolventen der Galaktonautischen Akademie)
***
Hambodar-Tenh blickte missmutig auf die Anzeigen. Sein SVE-Raumer kroch förmlich durch den Raum. Das Schiff hatte eine lange Reise durch die Galaxis hinter sich. Zwei neue Völker von geringer Intel ligenz waren aufgespürt und dem Hetos der Sieben botmäßig gemacht worden. Die ersten Tribute in Form seltener Mineralien und erlesener Pelze stapelten sich in den Frachträumen des Schiffes. Zu Kampfhandlungen war es nur einmal gekommen, als eine kleine Flotte verwegener Blues versucht hatte, sich gegen den Strafangriff des SVE-Raumers zur Wehr zu setzen. Hambodar-Tenh, der ursprünglich hatte Milde zeigen wollen, war danach energisch vorgegangen. Die Dis kusraumschiffe gab es nicht mehr. »Gesindel!«, murmelte er. Die lange Expedition hatte die Energiereserven aufgezehrt. Es wurde höchste Zeit, eine Tankstation anzufliegen. Datenkolonnen zeigten dem Schiffskommandanten die Koordinaten der nächsten Welt, auf der eine Mastibekk-Pyramide stationiert war. »Wir sind zu langsam«, monierte Hambodar-Tenh. Der Haupt-Ingenieur in der Maschinenzentrale reagierte sofort. »Kommandant, wir haben kaum Reserven. Wenn es einen Fehler gibt…« »Was für einen Fehler?«, fauchte Hambodar-Tenh. Er war überreizt, 151
anders konnte er sich nicht erklären, dass er mit einem Untergebenen seine Befehle diskutierte. »Vielleicht ist die Pyramide defekt … vielleicht ist die Sonne zur No va geworden … Es gibt viele Möglichkeiten …« »Glauben Sie allen Ernstes, der Verkünder der Hetosonen würde für einen Tankstützpunkt eine Welt aussuchen, die in einer Nova ver gehen könnte? Und was soll dieses unqualifizierte Geschwätz über de fekte Mastibekk-Pyramiden?« Hambodar-Tenh legte alle Schärfe in sei ne Stimme. Gerade in der aktuellen Lage durfte es unter den Laren kei ne Zwistigkeiten geben, zu einer Zeit, da das Konzil ohne Führung zu sein schien. »Ich habe es bisher nicht erlebt, Kommandant«, antwortete der Lei ter der Maschinenzentrale ruhig. »Ich bin aber auch noch nicht gestor ben – trotzdem weiß ich, dass der Tod mich eines Tages treffen wird. Und was die Mastibekks angeht, so habe ich ein ungutes Gefühl.« »Mir wäre wohler«, fauchte der Kommandant, »würden Sie Ihre Ge fühle auf die Maschinen konzentrieren und nicht durch leichtfertiges Geschwätz die Besatzung in Aufruhr versetzen.« Zumindest das Wort Aufruhr ließ den Ingenieur verstummen. Ham bodar-Tenh lächelte überlegen. Der Hinweis auf Auflehnung und Ob struktion half immer. Allerdings wurde er sich schmerzlich bewusst, dass dieser Hinweis in jüngster Zeit häufiger gebraucht werden musste, die Besatzungen zu beruhigen. Es gärte im Konzil, und es gärte ganz besonders bei den Laren. Hambodar-Tenh verstand nicht viel von der großen Politik, aber sein wacher Verstand sagte ihm, dass die Unruhe unter den Laren gefähr lich war. Selbst wenn es dafür keinen greifbaren Anlass gab, reichte diese Strömung allein aus, Schwierigkeiten zu schaffen. Der Raumsektor war erreicht, in dem die Mastibekk-Pyramide stand. Nun würde es nicht mehr lange dauern, bis die Station die Reserven des SVE-Raumers ergänzt hatte. Dann wird endlich wieder Ruhe an Bord einkehren, dachte Hambodar 152
Tenh zufrieden.
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Die Mastibekk-Pyramide war nicht zu übersehen. Sie stand auf einem kahlen und unwirtlichen Planeten. Die Welt war der Sonne zu nahe, als dass sich auf ihr Leben in der üblichen Form hätte entwickeln kön nen. Im schwachen Sternenschein war der weiße Kreis gut zu erkennen, der die Pyramide umgab. Obwohl Hambodar-Tenh die tödliche Dro hung dieses Kreises kannte, war er erleichtert, das Zeichen zu sehen. Wenn die Maschinen der Mastibekks die Panikstrahlung erzeugten, mussten alle anderen Anlagen ebenfalls intakt sein. Langsam sank der SVE-Raumer auf die leblose Oberfläche des Pla neten hinab. Hambodar-Tenh wartete auf das Aufleuchten der energe tischen Nabelschnur. Sobald sie Schiff und Pyramide verband, konnte die Energie aus der Pyramide in die Anzapfungspolblöcke seines SVERaumers fließen. Die Nabelschnur bildete sich nicht, obwohl die kritische Distanz schon unterschritten war. Hambodar-Tenhs Erregung wuchs. Seine Gedanken überschlugen sich. Die Mastibekk-Pyramide musste intakt sein. Zum einen arbeitete der Projektor für die Panikstrahlung, die unerwünschten Besuch fern hal ten sollte. Zum anderen hätten die Mastibekks längst für Abhilfe ge sorgt, wäre es zu Fehlschaltungen oder Schlimmerem gekommen. Die Pyramide war einsatzbereit, daran gab es keinen Zweifel. »Meuterei?«, murmelte Hambodar-Tenh. »Offener Aufruhr?« Seine Furcht wuchs. Nach dem Ausfall der Konzilsspitze hatten die Laren die Führung übernommen, und bislang war niemand dagegen vorge gangen. Außer den Rebellen des NEI, aber sie waren notorische Auf rührer und Unruhestifter. 153
War die Konzilsspitze wieder tätig?, fragte sich Hambodar-Tenh be sorgt. Waren die wirklichen Herren des Konzils ausgezogen, um die wi derspenstigen Laren zu züchtigen? Ohne die Mastibekk-Pyramiden waren die SVE-Raumer höchst verwundbare Gebilde, zwar weiterhin technisch perfekt und jeder anderen bekannten Raumschiffskonstruk tion überlegen – nur eben nicht mehr in dem gewohnten Ausmaß. »Das könnte unser Untergang sein, wenn nicht sogar des ganzen Konzils«, murmelte Hambodar-Tenh. Er fragte sich, ob das NEI hinter dieser Aktion der Mastibekks steckte. Oder gar Rhodan selbst? Der Lare schüttelte den Kopf. Natürlich nicht Rhodan. Der lästige Terraner war ein vernachlässigbarer Faktor geworden. Selbst wenn es ihm noch einmal gelingen sollte, seine Heimatgalaxis zu erreichen, würde er den Anflug nicht überleben. »Rhodan scheidet aus«, überlegte Hambodar-Tenh halblaut im Selbstgespräch. Er bemerkte nicht, dass ihn seine Offiziere schweigend anstarrten. Immer tiefer sank der SVE-Raumer, aber die Mastibekks rea gierten nicht. Das NEI? Die Stärke des Neuen Einsteinschen Imperiums war eher passiver Natur. Für Hambodar-Tenh zeichneten sich unbequeme Perspektiven ab. Ein von Laren geführtes Konzil ohne Mastibekks? Kaum denkbar, es sei denn, der Verkünder der Hetosonen hatte mit solchen Aktionen ge rechnet und sich vorbereitet. »Funkspruch an das Hauptquartier!«, befahl Hambodar-Tenh. Endlich kam wieder Bewegung in die Zentrale. Die Offiziere beeilten sich, ihre Gefechtspositionen einzunehmen. Hambodar-Tenh entging nicht, dass seine Untergebenen ebenfalls Angst hatten. Der Ausfall der Mastibekk-Pyramide beraubte das Schiff seiner wertvollsten Defensiv waffen, und der Gedanke daran war schlicht entsetzlich. »Verbindung steht, Kommandant!« Hotrenor-Taak wurde sichtbar. »Verkünder …«, sagte Hambodar-Tenh zögernd. 154
»Warum senden Sie einen Ruf mit äußerster Dringlichkeit? Sie sehen nicht aus, als befänden Sie sich in extremen Schwierigkeiten.« Der scharfe Ton von Hotrenor-Taaks Stimme ließ den Kommandanten förmlich schrumpfen. »Verkünder, wir haben einen äußersten Notfall. Wir stehen über einer Mastibekk-Pyramide, bekommen aber keine Energie!« Hotrenor-Taak machte eine abwehrende Geste. »Die Pyramide wird defekt sein. Derlei kommt vor. Ist das alles?« Mit einer Fingerbewegung schaltete Hambodar-Tenh das Bild der Außenüberwachung auf den Hyperfunkkanal, der ihn mit dem Haupt quartier verband. »Sehen Sie selbst, Verkünder«, sagte er erregt. »Ich glaube nicht, dass die Pyramide defekt ist. Ich glaube vielmehr« – er dämpfte seine Stimme zu einem Flüstern –, »dass die Mastibekks meu tern!« Nur sekundenlang zeigte Hotrenor-Taaks Miene ebenfalls Besorgnis, dann glätteten sich seine Züge wieder. »Ich werde den Vorfall untersu chen lassen«, versicherte er. »Bislang liegt keine weitere Meldung dieser Art vor.« »Sollen wir die Pyramide vernichten?«, fragte Hambodar-Tenh. »Ich fürchte, dass dieses Beispiel sonst Schule machen könnte.« »Keine übereilten Aktionen!«, lehnte Hotrenor-Taak ab. »Haben Sie noch Fragen?« »Unser Raumer hat kaum mehr Energiereserven, Verkünder. Bis zum nächsten Stützpunkt mit einer Mastibekk-Pyramide werden wir es nicht schaffen.« »Standort?« Hastig nannte Hambodar-Tenh die Koordinaten. Der Verkünder der Hetosonen überlegte nur kurz. »Sie bekommen neue Koordinaten. Fliegen Sie jenen Stützpunkt an und tanken Sie dort auf.« »Eine Pyramide?« Im unteren Bereich des Holos wurden Zahlenrei hen sichtbar. Hambodar-Tenh war ein vorzüglicher Navigator, er 155
konnte auf den ersten Blick abschätzen, welchen Sektor die Daten be zeichneten. Nach seinen Informationen gab es dort keine Mastibekks. Hotrenor-Taak schüttelte den Kopf. »Unsere eigene Station«, gab er bekannt. »Wir arbeiten daraufhin, das technische Monopol der Masti bekks zu brechen. Noch ist dieser Stützpunkt geheim, ich gebe Ihnen die Koordinaten nur, weil Sie keine andere Chance haben. Diese An gelegenheit bleibt auf jeden Fall unter uns!« »Ich habe verstanden«, antwortete Hambodar-Tenh. Der Verkünder der Hetosonen unterbrach die Verbindung.
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Die Mastibekks sollten revoltieren? Diese Nachricht kam, wenn sie zu treffend war, äußerst ungelegen. Hotrenor-Taak verspürte wenig Lust, sich von solchen Ereignissen in die Defensive drängen zu lassen. Seine Erfolge der letzten Zeit waren beeindruckend gewesen. Der Übergang in der Führung des Konzils war schnell und nahezu lautlos vonstatten gegangen. Die Hyptons waren kaltgestellt und als Machtfak tor ausgeschaltet. Gleiches galt für die nunmehr bedeutungslosen Grei kos. Von der ehemaligen Führung des Konzils kam keine Nachricht, und der Verkünder der Hetosonen war sicher, dass die Laren von der Konzilsspitze nie wieder etwas hören würden. Die Kelosker arbeiteten in Zukunft für die Laren, auf Goorn II sollten sie eigentlich sicher sein. Was die Terraner und ihre Nachfahren anging, glaubte HotrenorTaak relativ wenig Grund zur Besorgnis zu haben. Es hatte sich in der Galaxis herumgesprochen, dass die Laren mit einem raffinierten tech nischen Trick alle Zellaktivatorträger ausgeschaltet hatten. Perry Rho dan konnte nicht in die Milchstraße zurückkehren, und falls er es den noch versuchte, würde er sterben. Mit diesem Schlag war dem Wider stand das Rückgrat gebrochen. Ohne ihren legendären Helden waren die Menschen als Gegner keinen Soli mehr wert. 156
»Alles, was ich brauche, ist ein wenig Zeit«, murmelte HotrenorTaak. Nach seiner Planung noch mehrere Jahre, um die technischen Erfahrungen der Mastibekks mit eigenen Leistungen überbieten zu können. Dann waren die letzten Verbündeten, auf die er Rücksicht zu nehmen hatte, ebenfalls unterworfen. »Verkünder!« Ein junger Nachrichtenoffizier näherte sich. Er musste wichtige Informationen bringen, sonst hätte er es nicht gewagt, sich so eilig und formlos zu nähern. Vor allem hätte er den Gedankenfluss des Verkünders nicht einfach unterbrochen, sondern respektvoll daraufge wartet, dass Hotrenor-Taak ihn ansprach. »Meldungen aus allen Teilen der Galaxis!«, sprudelte der Mann her vor. »Überall das gleiche Problem – die Mastibekks weigern sich, un sere Raumer aufzutanken.« »Sie weigern sich?« »Sie reagieren auf keinen Funkspruch, keinen Notruf. Sie schweigen. Das ist eine Revolution!« Hotrenor-Taak überspielte seine Besorgnis mit einem Lächeln. »So weit sind wir noch nicht. Es gibt keinen Grund zur Panik, wir werden mit diesem Problem fertig werden!« Der Verkünder der Hetosonen trat zum Kartenprojektor und be trachtete ein dreidimensionales Abbild der Milchstraße. Alle bekann ten Sonnen waren markiert. Er schaltete die Standorte der SVE-Raumer hinzu. Alle Schiffskommandanten meldeten in regelmäßigen Abstän den ihre Position an das Hauptquartier. Dort wurden die Meldungen in die Milchstraßenprojektion eingespeist. So ließ sich mit einem Blick kontrollieren, welche Sektoren überwacht wurden. Derzeit waren die SVE-Raumer ziemlich gleichmäßig über die Ga laxis verteilt. Natürlich gab es auch Konzentrationen – Reserveflotten, die jederzeit zu Strafaktionen mit geballter Stärke aufbrechen konnten, aber diese Eingreifreserve war zahlenmäßig gering. »Wieso erfahre ich davon erst jetzt?«, fragte der Verkünder der Heto sonen beiläufig, während er sich mit den logistischen Problemen be 157
schäftigte, die ein Ausfall der Mastibekks zwangsläufig nach sich zog. »Die meisten Kommandanten haben das Versagen der Pyramiden erst gemeldet, als sie die zweite Station erreicht hatten. Die erste nicht funktionierende Pyramide hielten viele wohl für eine unbedeutende Panne.« Hotrenor-Taak nickte verbissen. Wahrscheinlich streikten die Py ramiden schon seit Tagen, nur hatte es kein Kommandant gewagt, mit dieser Nachricht das Hauptquartier zu behelligen. Jeder hatte in Eigen initiative nachgeprüft, ob es sich um einen einmaligen Ausfall handel te. So war es nicht verwunderlich, dass das Hauptquartier erst jetzt un terrichtet wurde – mit einer lawinenartig anschwellenden Flut besorgter Anfragen. Die Entscheidung fiel Hotrenor-Taak verhältnismäßig leicht. Ohne hin hatte er kaum eine andere Alternative. »Befehl an alle Schiffskom mandanten!«, sagte er. »Die SVE-Raumer sollen mit größtmöglicher Energieeinsparung operieren. Im Notfall sollen sie unsere eigenen Zapfstellen aufsuchen. Angriffe auf streikende Mastibekk-Anlagen sind grundsätzlich untersagt. – Außerdem: Sorgen Sie dafür, dass die Ar beiten an unseren eigenen Anlagen schnellstmöglich vorangetrieben werden! Aber wir dürfen unsere Feinde nicht auf die problematische Situation aufmerksam machen. Die Kommandanten werden angewie sen, darauf zu achten.« »Ist die Lage so prekär, Verkünder?« »Wir werden das Problem lösen«, behauptete Hotrenor-Taak. »Und wir werden damit einmal mehr beweisen, dass uns der Führungsan spruch im Konzil zusteht – ohne jede Einschränkung!«
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Es stimmte also: Die Mastibekks streikten galaxisweit, und es war nicht einmal auszuschließen, dass die Pyramiden auch in anderen Bereichen nicht mehr zur Verfügung standen. Unter Umständen traf dies so gar … Hambodar-Tenh wagte nicht, den Gedanken zu Ende zu bringen. Eine Ausweitung des Mastibekk-Streiks auf die Heimatgalaxis der La ren hätte das unwiderrufliche Ende bedeutet. Die Reste des Konzils würden in Windeseile auseinander brechen. Angespannt verfolgte der Schiffskommandant die Zahlenkolonnen auf dem Kontrollbild. Wenn sein Raumer den geheimen Stützpunkt überhaupt erreichte, dann mit den allerletzten Reserven. Nichts durfte dabei schiefgehen. Die Ortung hatte das Stützpunktsystem schon erfasst: eine kleine, grellweiß strahlende Sonne, die von vier Planeten und einem Asteroi denschwarm umlaufen wurde. Ein Anblick wie dieser war Routine, dennoch beschlich Hambodar-Tenh ein ungutes Gefühl. Eine innere Stimme wollte ihm einreden, dass dieses System eine tödliche Gefahr für ihn und sein Schiff bereithielt. »Aberglaube, nichts weiter«, murmelte er. Selbst wenn dieses System eine Gefahr für das Schiff bereithielt, konnte ihm das gleichgültig sein. Er gehört der Geheimen Bruderschaft des Großen Goldenen Auges an. Für die Brüder des Bundes war der Tod lediglich ein unangenehmes Ereignis, nicht mehr. Hambodar-Tenh sah sich in der Zentrale um. Wie viele der Offiziere mochten gleich ihm der Bruderschaft angehören? Kein Bruder kannte den anderen, das war auch unnötig. In diesem Leben gab es für sie nichts zu besprechen oder zu organisieren. Erst nach dem Tod erfüllte die Bruderschaft ihren Zweck. Das Stützpunktsystem wurde in den Normaloptiken sichtbar. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis der SVE-Raumer die Station er reicht hatte. Der Kommandant fixierte den Energiepegel – es durfte nicht mehr lange dauern. 159
Wieder schweiften seine Gedanken ab. Er erinnerte sich, wie er auf gefordert worden war, der Bruderschaft beizutreten, von der er nie zu vor gehört hatte. Erst als Eingeweihter begriff er, dass keiner sich für die Bruderschaft bewerben konnte, sondern jeder ausgewählt wurde. Als Hambodar-Tenh seine Untergebenen flüchtig musterte, überkam ihn eine Anwandlung von Stolz. Er war auserwählt. Er stand über den kleinen, gewöhnlichen Laren und war zu Höherem berufen. Urplötzlich wusste Hambodar-Tenh, dass dieser Einsatz ein böses Ende nehmen würde. Beim besten Willen konnte er nicht sagen, wo her er diese Gewissheit bezog. Hatte die Bruderschaft ihn informiert? Wollte sie ihm sagen, dass seine Zeit gekommen war und er den unwi derruflichen Schritt zur Aufnahme in das Goldene Auge zu machen hatte? Er konzentrierte sich auf die Landung und fühlte Enttäuschung, als er keine Pyramide fand. Offenbar hatten die eigenen Wissenschaftler einen anderen Weg als die Mastibekks eingeschlagen, um die SVE-Rau mer mit Energie zu versorgen. Hambodar-Tenh sah ein ausgedehntes Areal, das mit einer verwirren den Vielzahl technischer Bauten bedeckt war. Seltsame Antennen rag ten in den Himmel, Entladungen zuckten zwischen Umformerblö cken, undefinierbare Gebilde bewegten sich in skurrilen Rhythmen. Mit den schlanken, elegant zu nennenden Pyramiden der Mastibekks hatte diese Anlage nicht die geringste Ähnlichkeit. »Lassen Sie Ihr Schiff langsam sinken!«, erklang es im Funkempfang. Wenigstens in einem Punkt schienen die Versorgungssysteme der La ren und der Mastibekks übereinzustimmen – ein unmittelbarer physi scher Kontakt war nicht nötig, um den Energiefluss zu gewährleisten. »Sind Sie bereit?«, fragte die Kontrolle. Hambodar-Tenh hörte einen Unterton der Besorgnis. Waren diese Anlagen schon technisch ausge reift? Die Ortung zeigte, dass soeben ein SVE-Raumer das System ver ließ, und diese Tatsache trug viel dazu bei, Hambodar-Tenh zu beruhi gen. 160
»Wir sind bereit!« Ein Kreischen hallte durch den Raumer, das den Kommandanten ruckartig in die Höhe fahren ließ. Vor die Bildwiedergabe schob sich ein energetischer Schleier, der keine Beobachtung mehr zuließ. Auch die Energieortung wurde durch den Zapfstrahl völlig geblendet. Hambodar-Tenh atmete aus. Das Spiel der Skalen beruhigte sich schon wieder, und es war nicht zu übersehen, dass Energie von der Station in die Speicherbänke floss. »Es funktioniert!«, lachte ein Offizier. Der Kommandant kam nicht mehr dazu, auf diese Bemerkung zu antworten. Die Energie, die von der Station in den Raumer geleitet wurde, brauchte nicht mehr als eine hunderttausendstel Sekunde, um jedes einzelne Atom des Schiffes aufzubrechen. Eine zweite Sonne entstand hoch über der Tankstation, während sich auf der Planetenoberfläche zugleich starke Schutzschirme aktivier ten. Sie konnten das Chaos aber nur zum Teil verhindern. In unmess bar kurzer Zeit entstand zwischen dem explodierenden Raumer, der Station und der Sonne, deren Energie angezapft wurde, eine überlicht schnelle Verbindung. Die Hologramme, die 5-D-Vorgänge darstellten, zeigten gigantische Sonnenprotuberanzen in den Raum hinausschie ßen. Das alles nahm nur Sekunden in Anspruch. Danach gab es Hambo dar-Tenhs Raumer nicht mehr, und die Zapfstation war schwer in Mit leidenschaft gezogen. Aus den benachbarten galaktischen Sektoren flogen weitere SVE-Rau mer diese Station an, um ihre Energiereserven aufzufüllen.
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»Zwei Stationen völlig zerstört«, wiederholte Hotrenor-Taak unbewegt. »Vier weitere schwer, acht andere teilweise beschädigt. Insgesamt vier zehn Raumschiffe vernichtet.« »Es sieht düster aus, Verkünder!« Hotrenor-Taak machte eine Handbewegung, die den Nachrichtenof fizier verstummen ließ. »Wir haben Schlimmeres überstanden«, sagte er halblaut, wobei er besser als jeder andere wusste, dass dies nur ein Gemeinplatz war. Natürlich hatten die Laren schon schwierigere Lagen gemeistert, aber diesmal lag der Fall völlig anders. Solange sie nur ausführendes Organ der Konzilsspitze gewesen wa ren, hatten sich Rückschläge verkraften lassen. Wer informiert gewesen war, hatte gewusst, dass hinter den Laren eine stärkere Macht stand, die eine Niederlage notfalls noch in einen Sieg verkehren konnte. Aber nun traf jeder Hieb doppelt schmerzhaft, denn die Konzilsspitze selbst hatte sich als verwundbar erwiesen, und mit einem zerstörten Mythos waren Siege schwer geworden. Jede noch so unbedeutende Schlappe der Laren würde den Widerstandswillen der Galaktiker anstacheln. »Wir müssen mit den Mastibekks verhandeln!«, erklärte HotrenorTaak verdrossen. Der Nachrichtenoffizier wirkte plötzlich wie verstei nert. Wenn Laren bisher verhandelt hatten, dann aus der Position des Stärkeren heraus. Auch mit dem längst vergangenen Solaren Imperium hatten sie verhandelt, obwohl die Flotten der SVE-Raumer die militä rische Macht des Imperiums binnen weniger Tage hätten vernichten können. Verhandlung war einfach billiger gewesen. Jetzt aber mussten die Laren verhandeln und damit ihre Schwäche ein gestehen – zumindest den Mastibekks gegenüber. Dieser Gedanke war geradezu revolutionär, ein krasser Bruch mit den überkommenen Wertvorstellungen. Hotrenor-Taak sah auf. »Es schadet nichts, wenn die Mastibekks glauben, dass wir auf sie angewiesen sind«, sagte er. »Zumindest wer den wir bei diesen Verhandlungen erfahren, was sie wirklich wollen. 162
Und wenn sie sich stur stellen, haben wir trotzdem einiges aufzubie ten.« Der Verkünder der Hetosonen besann sich kurz. »Ein Funkspruch an unsere Besatzung auf Olymp: Kontakt mit den Mastibekks aufnehmen, Gründe für Tankverweigerung ermitteln, Ver handlungsgrundlagen sondieren, gegebenenfalls Möglichkeiten für ge waltsame Aktionen vorbereiten!« Der Nachrichtenoffizier wartete sekundenlang. Als keine Ergänzun gen kamen, zog er sich hastig zurück. Hotrenor-Taak blieb allein. Er betrachtete den Inhalt eines kleinen Speicherkristalls. »Strategisch-politischer Entwurf zur vollen Kontrolle des Hetos der Sieben«, las er leise. »Hoffentlich ist den Keloskern das Richtige eingefallen.«
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Vaneerda Vouner arbeitete als Bedienung im Dusty Safe Café, und die Arbeit gefiel ihr. Sie wiederum gefiel den männlichen Gästen, und das erfreute den Besitzer – bei ihm schlug sich dieses Gefallen in klin gender Münze nieder. Das Café war eines der wenigen, die menschliches Personal beschäf tigten. Nur dank der fast schon exklusiven Kundschaft konnte sich der Inhaber diesen Luxus erlauben. Auf der anderen Seite sorgten die Ho norare für das Personal für entsprechend gesalzene Preise, die eben nur von einem bestimmten Kundenkreis bezahlt wurden. Vaneerda Vouner lächelte verhalten, als der hochgewachsene, schlan ke Mann das Café betrat. Der Gast erwiderte ihr Lächeln. »Wie üb lich«, bestellte er und ließ sich auf seinem gewohnten Platz nieder. Von hier aus konnte er das Treiben auf der Straße beobachten, ohne selbst gesehen zu werden. Er schätzte diesen Vorteil. Ein Blick aus dem Fenster lieferte ihm oft genug eine Beschreibung der Stimmung in der Bevölkerung, weit präziser als Nachrichtensendungen oder komplizier 163
te Umfragen. An diesem Tag war die Stimmung durchwachsen. Viele Passanten schienen mit wichtigen Problemen beschäftigt zu sein. »Ihr Tee, Sir!« Der Gast nickte dankend, dann sah er hoch. »Ich habe Sie beobach tet, Vaneerda.« »Sie auch?« »Warum nicht? Mir ist aufgefallen, dass Sie alle Gäste freundlich und zuvorkommend bedienen. Nur wenn Sie mir servieren, haben Ihre Au gen einen beinahe schalkhaften Ausdruck. Hat das einen bestimmten Grund?« »Es ist deswegen!« Tifflor folgte ihrem Blick und griff sich an die Brust. »Was hat der Aktivator damit zu tun? Wollen Sie ihn mir abschmeicheln?« »Um Himmels willen, nein. Aber einer meiner unmittelbaren Vorfah ren war ebenfalls Zellaktivatorträger.« Julian Tifflor runzelte die Stirn. »Dann müsste ich die Person ken nen. Sie sind nicht etwa eines jener Geschöpfe, deren Existenz dem ge heimen Mitwirken eines Aktivatorträgers zugeschrieben wird?« »Mein Ururvorfahre hieß Hendrik Vouner. Er hat einen der ersten Zellaktivatoren gefunden. Nachdem man ihn deswegen auf Aralon wie Freiwild gehetzt hatte, gab er den Aktivator ab.« »Und das tut Ihnen heute Leid?« »Hätte er es nicht getan, lebte ich nicht. Aktivatorträger sind offen bar sehr einsame Menschen. Darum freue ich mich jedes Mal, wenn ich Sie und Ihren Aktivator sehe. Schmeckt der Tee?« Tifflor nickte nachdenklich. »Tee, der auf Terra gewachsen ist, wäre mir lieber. Nicht weil er besser schmeckt, sondern aus rein sentimenta len Gründen.« »Eine Frage, Sir: Glauben Sie, dass Rhodan zurückkehren wird? Dass die Erde eines Tages wieder um ihre alte Sonne kreisen wird?« »Wenn ich das nicht glaubte, wäre ich nicht hier«, behauptete Tiff 164
lor. »Aber ich kann Ihnen nicht versprechen, dass Sie das noch erleben werden.« »Das bleibt abzuwarten«, entgegnete Vaneerda fröhlich und wandte sich dem Mann zu, der während der kurzen Unterhaltung mit schnel len Schritten näher gekommen war. »Sie haben zugenommen, RoctinPar!«, sagte sie. Der Provconer lachte halblaut. »Daran ist der Kuchen schuld, den Sie servieren. Für mich auch einen Tee – und diesmal keinen Kuchen!« Vaneerda Vouner zog sich zurück, und Roctin-Par setzte sich so, dass er Tifflor in die Augen schauen konnte. »Unsere Leute werden unruhig«, eröffnete der Lare. »Sie hassen das Gefühl, in diesem System förmlich eingesperrt zu sein.« »Uns geht es nicht anders.« Tifflor nickte bekümmert. »Meine Freun de drängen mich seit geraumer Zeit, endlich aktiv zu werden. Sie wis sen, Roctin-Par, was es an Argumenten gegen solche Pläne gibt.« »Selbstverständlich«, erwiderte der Lare. Er bedankte sich bei Vaneer da, die den Tee servierte. »Wir sind zu schwach und unsere Gegner zu stark«, fuhr er fort, als die Bedienung wieder verschwunden war. »Das Risiko ist zu groß, dass die Konzilslaren eines Tages herausfinden, wo wir uns versteckt halten.« Roctin-Par zog einen Datenspeicher aus der Tasche. »Die Informatio nen sind gerade hereingekommen«, sagte er und übergab Tifflor das kleine Lesegerät. Sorgfältig ging der Terraner die Daten durch. Sein Gesicht zeigte plötzlich einen Anflug von Überraschung und Misstrauen. »Das hat den Anschein, als wollten sich die Mastibekks aus dem Konzil zurück ziehen.« »Das wahrscheinlich nicht«, widersprach der Provconer. »Dass die Mastibekks sich gegen das Konzil stellen werden, erscheint mir sehr zweifelhaft. Aber es sieht ganz danach aus, als würden sie den Laren künftig ihre Hilfe verweigern.« »Ich kann mir nicht vorstellen, dass Hotrenor-Taak damit einverstan 165
den sein wird. Wie ich den Verkünder der Hetosonen einschätze, wird er in der Aktion der Mastibekks offenen Widerstand sehen und dem entsprechend handeln.« »Wie auch immer sich dieser Schritt der Mastibekks erklären lässt, eines steht fest: In der Galaxis wird es Unruhe geben. Dies ist ein Schlag gegen die Laren, wie er stärker zurzeit von keinem geführt wer den könnte.« Tifflor sah, wie schwer es seinem Gegenüber fiel, einfach von Laren zu sprechen. Die Provconer waren selbst Laren. Es musste sie immer wieder schmerzen, wenn sie, auch wenn dies unabsichtlich geschah, mit den Konzilslaren über einen Kamm geschoren wurden. »Die Mastibekks verweigern den SVE-Raumern also Energie«, fasste Julian Tifflor zusammen. »Mehr besagen die Informationen nicht. Es gibt keinen Hinweis, warum sie dies tun. Bedenken Sie die Möglich keit, dass es in der Heimatgalaxis der Laren einen Umsturz gegeben ha ben könnte. Vielleicht ist dies nur ein taktisches Manöver, um uns aus der Reserve zu locken. Wir strecken unsere Nasen aus unserem Ver steck, und ehe wir es uns versehen, tauchen voll getankte Larenflotten auf, um uns den Garaus zu machen.« »Sie sehen zu schwarz, Tifflor«, sagte Roctin-Par. »Um mit Weishei ten Ihres eigenen Volkes zu kommen: Wer nicht wagt, der nichts ge winnt.« Tiff grinste leicht. »Langsam wächst sich unsere Unterhaltung zum Zitatenwettbewerb aus. Ernsthaft, Roctin-Par, was haben Sie vor?« »Wir wollen einen Vorstoß in die Milchstraße unternehmen, mit un seren eigenen Schiffen!« »Wie viele Schiffe haben Sie?« Julian Tifflor kannte die Antwort. Er wollte aber erreichen, dass Roctin-Par selbst die Einwände vorbrachte, die nach seiner Ansicht gegen einen solchen Einsatz sprachen. »Sieben SVE-Raumer stehen uns zur Verfügung«, zählte der Lare auf. »Ich weiß, was Sie sagen wollen. Nur zwei sind tatsächlich einsatzbe 166
reit, die anderen haben nicht mehr genug Energie für weite Flüge.« »Und die beiden flugtauglichen werden am Ende dieses Einsatzes ebenfalls flügellahm sein«, ergänzte Tifflor unerbittlich. »Das muss ich Ihnen hoffentlich nicht vorrechnen?« »Die Mastibekks arbeiten nicht mehr für die Laren«, beharrte der Provconer. »In absehbarer Zeit werden alle SVE-Raumer nahezu flug unfähig sein. Meine Freunde und ich wollen herausfinden, ob die Mastibekks vielleicht …« Tifflor lachte verhalten. »Verzeihen Sie mir, Roctin-Par, ich will Sie nicht kränken. Aber der Gedanke, dass die Mastibekks den mächtigen Laren die Gefolgschaft verweigern, dafür aber einer Hand voll Rebellen die Schiffe auftanken, erscheint mir reichlich euphorisch.« »Es gibt zwei Möglichkeiten«, sagte Roctin-Par beschwörend. »Ent weder helfen die Mastibekks uns, dann können wir unsere Schiffe je derzeit mit Energie versorgen, die Laren aber nicht. Was dies für einen Einfluss auf unsere Bewegungsfreiheit und unsere gesamte langfristige Strategie hat, brauche ich Ihnen nicht zu erklären.« »… oder die Mastibekks helfen den Provconern nicht«, setzte Tifflor den Gedanken fort. »Dann sind die Energien für die SVE-Raumer bald erschöpft, und was bleibt, sind sieben Wracks, die zwar beeindruckend aussehen, aber zu nichts mehr taugen.« »Früher oder später wird es ohnehin zu diesem Zustand kommen. Verstehen Sie nicht, Tifflor, dass wir diesen Versuch unternehmen müs sen? Selbst wenn es ein Spiel mit hohem Einsatz ist.« Obwohl der Provconer seine Stimme nur unmerklich hob, gelang es ihm, ihr einen beschwörenden Klang zu geben. Julian Tifflor sah sich unauffällig um. Niemand schien sie zu beachten. »Sehen Sie, Roctin-Par …« Tiff zögerte kurz. Er musste seine Worte sehr sorgfältig wählen, wenn er den Provconer überzeugen wollte. »Es ist schon sehr lange her, da befand sich das Solare Imperium in einer ähnlichen Lage wie das NEI heute. Wir hatten einen Gegner, der uns in jeder Beziehung haushoch überlegen war. Unser einziger Vorteil 167
war, dass dieser Gegner – wie heute die Konzilslaren – nicht wusste, wo er nach uns zu suchen hatte. Auch damals verfügten wir nur über sehr wenige Schiffe, und wir haben sie gehütet wie unsere Augäpfel. Ich kann mich an diese Situation genau erinnern, ich bin damals dabei ge wesen.« Roctin-Pars Augen verengten sich, je länger Tifflor redete. »Sie sind ein Lügner, Julian Tifflor, und ein schlechter dazu.« Das Grinsen, mit dem der Provconer seinen Vorwurf begleitete, nahm der Behaup tung etwas von ihrer Schärfe. »Sie spielen zweifelsohne auf die Gegner schaft zwischen Terranern und dem arkonidischen Robotregenten an.« »Allerdings. Wir mussten damals mit aller Vorsicht vorgehen.« »Das mussten Sie«, pflichtete Roctin-Par bei. »Sie haben es nur nicht getan, und das weiß kaum jemand besser als Sie selbst. Ich habe die Geschichte der Terraner genau studiert. Muss ich Sie daran erinnern, dass Sie selbst mit einigen wenigen Gefährten den Kampf gegen die überlegenen Springer aufgenommen haben? Haben Sie Ihre Rolle als kosmischer Lockvogel vergessen? Von allen Draufgängern, die zu Rho dans Mitstreitern zählten, waren Sie ohne jeden Zweifel der schlimms te. Und Ihren Zellaktivator haben Sie bestimmt nicht bekommen, weil Sie besonders vorsichtig gewesen waren.« »Treffer«, gab Tifflor zu. Vor seinem geistigen Auge tauchten die Ge fährten jener Tage wieder auf. »Aber das war die Vergangenheit, die Zeiten haben sich geändert – und ich mich ebenso. Sie vergessen, Roctin-Par, dass ich – zumindest was Erfahrung angeht – ein alter Mann bin, der seine stürmischen Jahre hinter sich hat.« »Also gut, wenn das nichts nutzt, dann andersherum!« Roctin-Par lehnte sich leicht zurück und schaute sein Gegenüber triumphierend an. »Was würde Ihr alter Freund Perry Rhodan in einer solchen Lage unternehmen? Würde er sich verstecken und einfach abwarten?« Tifflors Gesicht drückte seine Betroffenheit überdeutlich aus. »Perry ist nicht hier, das wissen Sie genau.« »Sie sind sein Stellvertreter, Julian Tifflor! Handeln Sie, wie er han 168
deln würde, wäre er jetzt auf Gäa!« Tifflor hob die Hände. »Was soll der Widerstand?«, fragte er. »Wenn Sie es sich in den Kopf gesetzt haben, Ihre beiden letzten kampftaugli chen Einheiten zu riskieren, kann ich Sie davon nicht abhalten. Wir Menschen sind schließlich so etwas wie Gäste in der Provcon-Faust.« »Es gibt Unterschiede zwischen Gästen und Freunden«, sagte RoctinPar betont. »Natürlich hätten wir ein solches Unternehmen auf eigene Faust starten können, aber warum sollten wir? Wir müssen auch auf die Menschen Rücksicht nehmen, die in der Provcon-Faust leben. Wir bieten Ihnen zum wiederholten Mal unsere Hilfe an, Hilfe in jeder Form. Wir Provconer sind ebenso wie Sie daran interessiert, die Tyran nei des Konzils zu beenden. Wir werden alle unsere Kräfte anstrengen, um den Achtzig-Jahre-Plan zu vollenden, wenn möglich in kürzerer Zeit!« Tifflor wiegte nachdenklich den Kopf. Es tat gut zu hören, dass die Provconer so eindeutig auf der Seite der Unterdrückten standen.
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Nach den Meldungen aus allen Teilen der Milchstraße gab es nicht mehr eine einzige Pyramide, die ein SVE-Raumschiff mit Energie ver sorgt hätte. Der Aufstand der Mastibekks war umfassend. Für Hotrenor-Taak war dies ein harter Schlag, vor allem, weil er aus seiner Sicht ein wenig zu früh kam. »Warum jetzt?«, überlegte er. »Was für einen Grund gab es, ausgerechnet diesen Zeitpunkt zu wählen?« Flüchtig durchsuchte er die Nachrichten der letzten Woche, fand aber nichts Auffälliges. Lokale Aufstände waren schnell niedergeschla gen worden, ansonsten taten die Völker der Galaxis, was ihnen be fohlen wurde. Natürlich gab es hier und da Schwierigkeiten, sie über stiegen aber nicht jenes Ausmaß, das die Laren seit langem als unver meidlich erkannt hatten. Der Prozess der Unterwerfung brauchte ein fach Zeit. 169
Noch einmal überflog der Verkünder der Hetosonen die Daten. Kei ne Meldung über das NEI war gespeichert, nur Belanglosigkeiten. Hat ten sich die Rebellen von der galaktischen Bühne zurückgezogen? Er runzelte die Stirn. Es sah den Terranern und ihren Nachkommen nicht ähnlich, dass sie sich ruhig verhielten. Ihr Widerspruchsgeist reizte sie immer zu Aktionen, die für Aufregung sorgten. Hotrenor-Taak summierte die Ergebnisse seiner Überlegungen. Von Seiten des NEI drohte offenbar derzeit keine Gefahr. Es sei denn, das NEI steckte hinter den Aktivitäten der Mastibekks. Das aber war nur schwer vorstellbar, zumal die Mastibekks ihre technischen und militäri schen Mittel nicht gegen die Laren einsetzten. Von der GAVÖK waren keine Aktivitäten zu fürchten, dessen war sich der Verkünder der Hetosonen sicher. Es blieben drei Problemkreise. Frage eins, überlegte Hotrenor-Taak. Das Energieproblem muss gelöst wer den. Problem zwei: Jede möglicherweise aufkommende Unsicherheit in den eige nen Reihen muss im Keim erstickt werden. Und drittens: Maylpancer! Er versuchte abzuschätzen, was von dem Überschweren zu erwarten war, sobald die Nachrichten über die Energieprobleme Maylpancer er reichten. Schwierigkeiten dieser Art kannten die Überschweren nicht, sie fanden überall Treibstoff für ihre Raumschiffe. »Das wäre eine günstige Gelegenheit für eine Offensive der Über schweren«, argwöhnte Hotrenor-Taak. Auf der anderen Seite war Maylpancer kein Hasardeur. Der Über schwere konnte nicht wissen, welche Mittel die Laren in der Hinter hand hatten – und ohne diese Informationen würde er niemals rebel lieren. »Ich werde Maylpancer bitten, den Wachdienst in der Milchstraße vollständig zu übernehmen«, murmelte Hotrenor-Taak. Ein harter Zug dominierte sein Gesicht. »Er wird sich über diese Anerkennung freu en – aber nicht lange.« 170
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in Relais sprach an und löste weitere Vorgänge aus. Es war so klein, dass ein menschliches Auge es nur mit Hilfe hochwertiger Mikroskope hätte sehen können. Siganesen hatten es erfunden, kon struiert und gebaut. Es funktionierte einwandfrei, auch nach sehr lan ger Zeit. Er wachte auf. Ein Signal hatte ihn erreicht, das eine bestimmte Nachricht aus drückte. Etwas oder jemand war in sein Reich eingedrungen. Er überlegte mit der ihm eigenen Geschwindigkeit und Präzision. Die Wahrscheinlichkeit, dass es in einem Bereich des verzweigten La byrinths zu einer tektonischen Erschütterung gekommen war, war kaum relevant, aber völlig auszuschließen war diese Möglichkeit nicht. Er überprüfte eine zweite Variante. Ein Freund konnte zu ihm unter wegs sein. Für diese Möglichkeit sprach ebenfalls nicht viel. Es lag nicht daran, dass er keine Freunde gehabt hätte – nur waren sie sehr weit entfernt und mussten erschreckend große Risiken auf sich neh men, um zu ihm zu gelangen. Außerdem wären Freunde nicht einfach in sein Reich eingedrungen. Also blieb die Möglichkeit, dass es sich bei dem Eindringling um ei nen Feind handelte. In der Nähe seines Reiches wimmelte es von Geg nern, und er konnte ohne Überheblichkeit behaupten, dass er auf ihrer Abschussliste einen ausgesprochenen Führungsplatz einnahm. Die Prüfung war rasch abgeschlossen. Er entschied sich für die Vari ante Feind. Daraus ergaben sich die Richtlinien für sein weiteres Vor gehen. Der Vario-500 machte sich daran, sein Programm mit der für ihn typischen Ruhe und Präzision auszuführen.
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Kershyll Vanne blinzelte verwirrt. Er hätte gerne sofort gewusst, wo er angekommen war, doch vorerst sah er nur graue Mauern aus fugenlo sem Beton. An der Decke gab es Leuchtkörper, die größtenteils funk tionierten, und in den Winkeln zwischen Decke und Wänden verliefen Kabelstränge. Kershyll Vanne spürte, dass seine Mitbewusstseine nicht minder er regt waren als er selbst. Einstweilen gab es keinen Grund, die Führung einer anderen Persönlichkeit zu überlassen, also machte sich Vanne allein an die Aufgabe, mehr über seine Umgebung herauszufinden. Mit etwas Pech lief er allerdings schon nach der nächsten Biegung einem bewaffneten Gegner in die Hände. Er spürte, dass sich etwas in ihm regte, aber noch dachte er nicht da ran, sein Bewusstsein zurückzuziehen. Für die Probleme, die jetzt zu lösen waren, war er der beste Fachmann. Langsam schritt Vanne den Gang entlang. Seine hellblauen Augen musterten kritisch jeden Quadratmeter Wandfläche. Er entdeckte win zige blitzende Einschlüsse, die sich als Kameraobjektive entpuppten. Kershyll Vanne wusste von dem Moment an, dass er beobachtet wur de.
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»Und das in meinem Alter!« Hathor Manstyr jammerte ausgiebig und rieb sich die Gelenke. In der Programmierung des Vario-500 gab es keine Fehler. Wenn der Roboter in eine Maske schlüpfte, dann wurde diese Maske echt. Es war ausgeschlossen, dass der Vario in der Rolle des Kaisers Anson Argyris Stunden vor einem Schminktisch zubrachte oder, als junge Frau verkleidet, unmäßig trank oder schauerlich fluchte. Nur wenn es 172
nicht zu vermeiden war, gab der Roboter die Standardprogrammierung auf und besann sich auf sein wahres Innenleben. Hathor Manstyr jammerte und fluchte. Er war weit über hundert Jahre alt und gebrechlich, die Gicht hatte seine Gelenke verändert. Mit eckigen Bewegungen schob er seine Prothese an die richtige Stelle zu rück, immer wieder lockerte sich das uralte künstliche Gebiss und drohte aus dem Mund zu fallen. Selbst jetzt, da er allein war, behielt der Vario seine Rolle bei. Ein gichtbrüchiger Alter wankte durch die Gänge und stieß endlich auf ei nen der zahlreichen Räume, von denen aus ein Sachkundiger den Zu stand des gesamten unterolympischen Labyrinths kontrollieren konnte. Nacheinander ging der Vario die Sektionen seines Reiches durch. Während er geruht hatte, waren die Laren auf ein Lebensmittellager ge stoßen und hatten es geplündert. Den Trick aber, der ihnen Zugang zu weiteren Bereichen der ausgedehnten Anlagen verschafft hätte, hatten sie nicht herausgefunden. Endlich entdeckte der Vario-500 den Eindringling. Erstaunt nahm er zur Kenntnis, dass es sich nicht um einen Laren, sondern um einen Menschen handelte. Der Fremde war etwa einen Meter neunzig groß, hatte eine schlanke Statur, und seine Bewegungen verrieten, dass er durchtrainiert war und die Muskulatur sinnvoll einzusetzen verstand. Sein Alter schätzte der Vario auf etwa vierzig Jahre. Das Gesicht war ebenmäßig, eine grad rückige Nase und dunkle, lockige Haare vervollständigten das Bild. »Was will er?«, rätselte Manstyr. Zu der Kokonmaske des alten Man nes gehörte als Verhaltensstereotyp, dass er häufig Selbstgespräche führte und sich oft über sein hartes Los beklagte. Was der Vario-Grundkörper an Wissen barg, hätte ihn dazu befähigt, mehrere Studiengänge an terranischen Hochschulen mit Bravour zu absolvieren. Deshalb erkannte Manstyr sofort, dass der Fremde offen kundig nicht wusste, wo er sich befand. Und es lag auf der Hand, dass der Eindringling Schwierigkeiten mit dem Labyrinth hatte. Für ein lo 173
gisch denkendes Wesen gab es den Zwang, sich den Rückweg zu si chern, aber der Fremde brachte keinerlei Markierungen an. »Entweder hat er ein fotografisches Gedächtnis, oder es ist ihm egal, wohin er läuft.« In Manstyrs heiserer Stimme schwang Skepsis mit. Der Unbekannte war kein Arkonide, also verfügte er mit Sicherheit über kein Extrahirn. Menschen mit einem fotografischen Gedächtnis waren jedoch außerordentlich rar. Zudem – der Vario registrierte jeden Schritt und sublimierte die Bewegungen – verhielt sich der Mann nicht so, als habe er ein überragend gutes Gedächtnis. Es gab für Hathor Manstyr nur eine Möglichkeit, der Ungewissheit ein Ende zu bereiten – er musste den Fremden festnehmen und verhö ren. »Nichts leichter als das«, kicherte der Alte und hustete unter drückt. »Diese Kälte hier unten bringt mich noch um!« Wenige Schaltungen genügten, um das Labyrinth in eine Ansamm lung von Fallen zu verwandeln, die teilweise so speziell waren, dass der Vario sich fragen musste, ob er selbst eine Chance gehabt hätte, sein eigenes Sicherheitssystem zu durchbrechen. Er nahm die Aktivierung aber nur für den Bereich vor, in dem sich der Eindringling befand. Gequält schnaufend machte sich der alte Mann auf den Weg zu sei nem Gefangenen.
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Kershyll Vanne hatte nicht die leiseste Ahnung, wo er sich befand. In stinktiv hoffte er, dass er Gäa erreicht hatte. Aus der Größe der Kor ridore ließ sich ablesen, dass sie für Wesen gebaut worden waren, die etwa seine Statur hatten. Als er den ersten Sensor erreichte – der nichts weiter bewirkte als ein Abdimmen der Beleuchtung –, stand für das Konzept fest, dass dieses Gangsystem von Menschen gebaut worden war. Gerade noch rechtzeitig spürte Vanne, dass unter seinem linken Fuß der Widerstand schwand. Blitzschnell stieß er sich mit dem anderen 174
Bein ab und schnellte vorwärts. Alles ging rasend schnell. Er prallte auf, aber seine Beine baumelten ins Leere, und die Hände fanden trotz weit ausgestreckter Arme kaum Halt. Er rutschte ab, schaffte es nur, diesen Vorgang ein wenig zu verlangsamen, nicht völlig aufzuhalten. Mit letzter Kraft schwang er das rechte Bein in die Höhe und bekam wenigstens mit dem Fuß besseren Halt. Es war eine Tortur, sich über die Abbruchkante zu ziehen, aber endlich lag er wieder auf festem Bo den und rollte sich zur Seite. Ausgerechnet eine Falltür!, ging es Vanne durch den Sinn. Die primitivste Falle von allen! Eine mannsgroße Öffnung klaffte neben ihm. Das Licht reichte nicht bis auf den Grund des Schachtes hinab, was immer dort unten warten mochte. Vielleicht war das Loch nur wenige Meter tief. Ebenso hätte er sich beim Aufprall auch sämtliche Knochen brechen können. Auf jeden Fall war das ein netter Willkommensgruß. Wortlos übernahm Ankamera die Führung des gemeinsamen Kör pers. Mit Verwunderung verfolgte Kershyll Vanne, dass sich die Medi zinerin um die kleinen Verletzungen kümmerte, die der Körper abbe kommen hatte. Als sie dann sogar etwas von dem Staub zusammen kratzte, der den Boden bedeckte, verlor Vanne die Geduld und drängte sie zurück. »Narr«, lautete Ankameras Kurzkommentar. Kershyll Vanne kümmerte sich nicht um den Impuls. Mit äußerster Vorsicht ging er weiter. Für einen Psychomathelogisten seines Formats war es nicht allzu schwer, sich den weiteren Verlauf des Ganges zu vergegenwärtigen. Er konnte sich gut in die Überlegungen desjenigen hineinversetzen, der diese Falle gebaut hatte. Sein Instinkt sagte Vanne, dass die Falltür gerade so groß war, dass ein guter – ein sehr guter, verbesserte er sich – Mann der Falle gerade noch entgehen konnte. Das Opfer, nun eindringlich gewarnt, würde danach sehr vorsichtig sein und den Boden vor jedem Schritt prüfen. 175
Eine zweite Falltür war daher vorerst nicht zu befürchten. Andererseits benötigte eine Person, die aus Vorsichtsgründen den Gang entlang schlich, mehr Zeit als bei flottem Ausschreiten. Es lag nahe, dass die nächste Falle genau mit dieser Tatsache spielte. Kershyll Vanne dachte nicht daran, seinen Körper mutwillig in Ge fahr zu bringen. Also schritt er forsch aus und kümmerte sich nicht darum, dass die anderen Bewusstseine vor Entsetzen protestierten. Der Tenor ihrer Emotionen war unverkennbar. Als sich wenige Meter vor ihm die Decke plötzlich absenkte, konnte Vanne sich ein selbstzufriedenes Grinsen nicht verkneifen. Er lief nun noch schneller. Das schleifende Geräusch hinter ihm konnte nur von einem schweren Block stammen, der ihn zerquetschen würde, wenn er so ungeschickt war, Zeit mit der Untersuchung dieser Falle zu verlie ren. Vanne stieß sich ab und rutschte über den Boden. Die Decke hing erst in halber Höhe, aber sie senkte sich hinter ihm weiter in spitzem Winkel herab, und in die verbliebene Höhlung fügte sich ein heran gleitender keilförmiger zweiter Block ein. Vanne achtete nicht darauf, ob sich die Falle vollständig schloss. Er dachte darüber nach, was das für ein Wesen sein mochte, das solche Fallen baute. Wichtigster Faktor war, dass diese Fallen unmittelbar töd lich wirkten. Wer darauf hereinfiel, hatte gerade noch Zeit für ein Stoßgebet, dann war es aus mit ihm. Der Erbauer des Labyrinths hatte offenbar kein Interesse, sich mit ungebetenen Besuchern zu unterhal ten – er fühlte sich erst dann sicher, wenn es keine Eindringlinge mehr gab. Kershyll Vanne war klar, dass er sich auf jeden Fall in der heimatli chen Milchstraße befand. Schon in einer unmittelbar benachbarten Galaxis hätte sein Erscheinen keinen Sinn gehabt. Und keinesfalls war er zufällig an diesem Ort erschienen. Offenbar hatte ES ihn dazu aus ersehen, einem Sadisten das Handwerk zu legen. Daraus ergab sich die Frage, welcher Menschenhasser so bedeutungs 176
voll war, dass ES tätig wurde. Vanne fiel nur ein Name ein: Maylpancer! Das Konzept hatte von ES alle Informationen über die galakto-politi sche Lage erhalten. Für einen Überschweren waren die Gänge zwar etwas klein geraten, aber durchaus noch bequem passierbar. Über Maylpancers Charakter hatte Vanne genug erfahren, um ihm diese Anlage zuzutrauen. Er musste sich jetzt beeilen. Der Überschwere wäre ein Narr gewesen, hätte er seine Fallen nicht mit einem Signalgeber gekoppelt. Wahr scheinlich würden bald die ersten Bewaffneten erscheinen, um dem un liebsamen Besucher den Garaus zu machen. Ohne sich umzusehen, rannte Kershyll Vanne weiter. Um die Rich tung kümmerte er sich nicht. Hauptsache war, dass er schnellstens den Bereich der beiden bereits ausgelösten Fallen verließ. Erst nach zehn Minuten hielt er wieder inne. Nach seiner Schätzung hatte er eine genügend große Distanz zurückgelegt. Zeit für die nächste Falle, erkannte er sarkastisch. Als Vanne eine beschriftete Tür entdeckt, geriet sein Verdacht ins Wanken. Man konnte Maylpancer eine Menge zutrauen, nur würde er sicherlich nicht einen Raum als medizinisches Labor bezeichnen, in ei nem Schriftzug in Interkosmo, dessen Schrifttypen unverkennbar irdi schen Ursprungs waren. Diese Anlage war von Menschen gebaut wor den, die Schrift entsprach dem Standard der ehemaligen Solaren Flot te. Kershyll Vanne stieß die Tür auf. In dem Labor wurde die Beleuch tung aktiviert, und die Klimaanlage lief an. Vannes Bewusstsein machte Platz für Jost Seidel.
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Ein derart gut ausgerüstetes Labor hatte der Junge lange nicht mehr gesehen. Jost verpasste der Tür einen Tritt, dass sie krachend ins Schloss fiel. Sofort ging er zu dem Experimentiertisch hinüber. Seine Augen strahlten. Jost konzentrierte sich. Er spürte dumpf, dass in dem Gedächtnis des Körpers Informationen existierten, die ihn brennend interessierten, weil er mit diesen Dingen bisher nichts zu tun gehabt hatte, aber eine unerklärliche Scheu hielt ihn davon ab. Dass Gedächtnis verriet ihm allerdings auch, dass Ankamera sich intensiv mit dem Staub beschäf tigt hatte. »Warum eigentlich nicht«, kicherte Jost und machte sich an die Ar beit. Er bezweifelte zwar, dass es richtig war, die Bitte zu erfüllen, die Pale Donkvent an ihn gerichtet hatte. Aber es war ebenso unschön, immer zurückgedrängt zu werden. Jost spürte drängende Impulse der anderen, aber er störte sich nicht daran. Mit Hilfe des Brutlabors war es ihm ein Leichtes, Pales Wunsch zu erfüllen. Hefepilze gab es in der Luft, Wasser war vorhanden, und die übrigen Kleinigkeiten lagen griffbereit herum. Jost mischte einen an sehnlichen Vorrat zusammen, danach widmete er sich wieder dem Staub. Er arbeitete geschickt und von Minute zu Minute sicherer. Vor allem fand er, dass dieser Körper viel differenzierter arbeitete, was die Fein motorik anging, als sein eigener – soweit er sich dessen entsann. Aber Kershyll war eben ein trainierter Erwachsener und hatte es leichter, ge schickt zu sein. Jost Seidel legte die sorgfältig präparierte Probe in den Analysator.
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Hathor Manstyrs Atem pfiff wie ein alter Teekessel, und das Geräusch in seiner Kehle ließ diese Assoziation noch naheliegender werden – es hörte sich nach losem Kesselstein an. Er lehnte sich an das stählerne Schott und holte tief Luft. Sein Gesicht war gerötet, die knochigen Beine zitterten bedenklich, und die Augen quollen immer weiter aus ihren Höhlen. Manstyr keuchte. Das Gebiss hatte sich schon wieder gelockert und fiel zu Boden, als er den Mund öffnete. Ächzend bückte sich der Alte, und fluchend hob er die künstlichen Zähne auf, die in zwei Teile zer brochen waren. Umständlich nestelte er eine Tube Alleskleber aus der Tasche. Viel Zeit verging, bis Hathor Manstyr beide Flächen der Bruchstelle mit dem Kleber bestrichen und die Tube wieder verschlossen hatte. Ein spannender Kampf entbrannte, in dem sich der hartnäckige Adhäsiv masse, der umständlich hantierende Alte und die Teile des Gebisses gegenüberstanden. Der halbe Oberkiefer war an der Tube hängen ge blieben. Nachdem Manstyr ihn befreit hatte, hing die Tube an einem dünnen Faden Klebstoff von seinem Bart herab und schaukelte bei je der Bewegung. Dicke Klebespuren in dem schütteren Bart zeugten ohnehin davon, dass Auseinandersetzungen dieser Art an der Tagesord nung waren. Versehentlich klebte Manstyr die Bruchstücke falsch zu sammen, daher musste er sie wieder voneinander lösen, was ihn aber mals minutenlang beschäftigte. Dass sein Bart Haare verlor, die sich zwischen den Zähnen verfingen, nahm er nicht wahr. Um keinen Preis hätte sich Hathor Manstyr von dieser Prothese getrennt, der einzigen im bekannten Universum, die von vornherein mit Karies ausgerüstet war. Endlich saßen die Teile richtig aneinander. Manstyr schob sich das Gebiss wieder in den Mund. Es kreischte, als er die Prothese ange passt hatte und zum ersten Mal wieder den Mund öffnete. »Wie immer«, jammerte der Alte. »Klebstoff im Gelenk. Ich werde mich beschweren, jawohl, das werde ich!« Jetzt erst kam er dazu, die Tür zum Kontrollraum zu öffnen. Auf 179
wackligen Beinen schlurfte er zu den Monitoren, die jeden Bereich des Labyrinths zeigten. »Donnerwetter«, stellte Manstyr anerkennend fest. »Die ersten Fallen hat er ausgeschaltet. Nun ja, allzu schwierig ist das nicht gerade … Er wird sich nur wundern, wenn er feststellt, woraus die Falle wirklich be stand!« Ein Anfall von Husten und Lachen schüttelte seinen mageren Leib. Der Alte krümmte sich. Erst nach einer Weile war er wieder im Stande, sich den Instrumenten zuzuwenden. Hathor Manstyr brauchte knapp zwei Minuten, bis er den Fremden gefunden hatte. Das Ergebnis war für den Vario-500 außerordentlich überraschend.
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Vannes Körper schwankte. Der Schnaps, den Jost Seidel zusammenge mischt hatte, war erheblich durchschlagskräftiger, als Pale Donkvent vermutet hatte. Mittlerweile hatte Jost alle Mühe, seine Gliedmaßen zu beherrschen und zielgerichtet zu bewegen. Der Junge rülpste und schämte sich dafür. Er fand den Zustand wi derwärtig, in den Pale Donkvent den gemeinsamen Körper versetzt hatte. Vor allem verstand er nicht, warum Pale so etwas tat. Jost fühlte sich, als seien seine Gedanken in dicken Nebel getaucht. Mit unsicheren Fingern holte er die Probe aus dem Analysator. Schlagartig veränderte sich sein Gesichtsausdruck. Was für ihn nicht mehr gewesen war als eine biochemische Fingerübung, erwies sich plötzlich als hoch bedeutsam. Jost sah die Strukturformel, die der Analysator aufgezeichnet hatte. Er hatte keine Ahnung, wie sich ordinärer Staub zusammensetzte. In einem Punkt war er aber sicher: Hochwirksame aromatische Verbin dungen hatten in gewöhnlichem Staub nichts zu suchen. Abschnittsweise prüfte Jost die komplizierte Formel auf ihre physio logischen Wirkungen. Was er fand, erschreckte ihn. 180
Sekundenbruchteile vergingen, in denen die Plätze getauscht wurden. Ankamera setzte die Untersuchung der Probe fort. Ihr geschulter Ver stand fand sehr schnell heraus, welche Wirkungen das Präparat haben musste. Vor allem war ihr sofort klar geworden, dass sich dieser merk würdige Staub keineswegs zufällig im Bereich der ersten Falle angesam melt hatte. Chemikalien dieser Komplexität gab es nicht einfach so in verlassenen Gängen. Das Molekül zerfiel innerhalb weniger Tage, folg lich musste die Droge erst vor kurzem freigesetzt worden sein – sie war Bestandteil der Falle. Nicht nur das. Der Staub war die eigentliche Falle. Nach Ankameras Schätzung verblieben knapp vier Stunden, bis die Droge den Körper vollständig gelähmt haben würde. Dieser Zustand würde, so schätzte die Medizinerin, länger als einen Tag anhalten, be vor er sich von selbst verflüchtigte. So tröstlich letztere Aussicht auch sein mochte, Ankamera konnte sich ausrechnen, dass mit Sicherheit Wachen erscheinen würden, um den Gelähmten abzuführen. Sie konzentrierte sich, um Jost Seidel alle Informationen zu geben, die er benötigte, um ein Gegenmittel herzustellen. Kompliziert wurde das vor allem durch den Umstand, dass der Körper unter Alkoholein fluss stand. Mehrmals musste die Medizinerin sich abstützen, um nicht einfach umzufallen. Sie war schlicht sauer auf Donkvent, dessen Trunksucht dieser Zustand letztlich zuzuschreiben war. Wieder übernahm Jost Seidel den Körper. Die Knie gaben nach. Es gelang ihm gerade noch, seinen Sturz abzu fangen. Wäre der Körper nicht trainiert gewesen, hätte der Sturz üble Folgen haben können, denn nur um wenige Zentimeter verfehlte seine Stirn die Vorderkante des Experimentiertischs. Mühsam rappelte sich der Junge wieder auf und setzte alles daran, sich zu konzentrieren. Seit frühester Kindheit interessierte er sich für Chemie und hatte mit dreizehn, als die Erde in den Schlund gestürzt war, bereits als Kapazität gegolten. Obwohl es ihm schwer fiel, gegen die Benommenheit anzukämpfen, die der Alkohol ausgelöst hatte, 181
stürzte er sich in die Arbeit. Lästig erschien ihm nur, dass einige Schritte der chemischen Syn these Zeit brauchten – und genau diese Zeit arbeitete gegen ihn. Zu allem Überfluss machte sich die Wirkung der Droge bemerkbar.
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Hathor Manstyr beobachtete fasziniert. Offenbar verstand sein Opfer einiges von Biochemie. Der Vario konnte sich aber nicht vorstellen, dass die Experimente des Mannes von Erfolg gekrönt sein würden. Der Eindringling war schwer bezecht, und dieser Umstand verstärkte die Wirkung der Droge, die der Vario für seine Falle verwendet hatte. Der Roboter erinnerte sich daran, wie lange die Chemiker seiner Freifahrer gebraucht hatten, um dieses Gebräu zusammenzustellen. Er hielt es für ausgeschlossen, dass ein einzelner Mann in der Lage sein konnte, das Gegenmittel in kurzer Zeit zu finden. Wie ein Ziegenbock meckerte Manstyr, als er sah, dass der Fremde eine Probe des Trankes nahm, die er aus den Laborbeständen gebraut hatte. »Auch das wird dir nicht helfen!« Torkelnd versuchte der Unbekannte, das Labor zu verlassen. Bevor er die Tür erreichte, gaben seine Beine nach. Mit einem dumpfen Stöhnen knickte er ein und versuchte, sich mit beiden Händen am Boden festzuhalten. Der Vario brauchte ihn nur abzuholen.
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Eine der Fähigkeiten, die Kershyll Vanne zu einer der führenden Per sonen der Aphilie gemacht hatten, war seine unbändige Willenskraft. Er hatte damals kein Aufgeben gekannt, und das kannte er heute erst recht nicht. Vanne spürte, dass sich Jost zurückgezogen hatte. Der Körper war damit führungslos, und das aus gutem Grund. Die psychische Wir kung der Droge trat ein, sobald eines der sieben Bewusstseine die Füh rung übernahm. Kershyll Vanne stemmte sich mit aller Kraft gegen die Beeinflussung. Er jagte seinen Puls in die Höhe, damit der Abbau des Mittels be schleunigt wurde. Trotzdem musste er sich immer wieder zurückzie hen, weil die Wirkung ihn zu überwältigen drohte. Im Wechsel unter stützten ihn die anderen Bewusstseine, so gut es ihnen möglich war. Selbst Pale Donkvent unternahm einige vergebliche Versuche, die Kon trolle über den Körper zurückzugewinnen. Nach langer Zeit schaffte es Kershyll Vanne, zumindest ein Bein zu bewegen, und der Erfolg spornte ihn an.
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Hathor Manstyr lehnte an der Wand. Sein graues Haar war vom Schweiß strähnig verklebt, sein Gesicht immer noch fleckig gerötet. Trotz dieser Schwierigkeiten sah der Vario-500 keine Notwendigkeit, das Verhalten der Maske zu ändern. Er wusste den Eindringling in sicherem Gewahrsam, also lag kein Grund vor, das vorgeschriebene Schema zu verlassen. Die Tatsache, dass er sogar in extremen Situatio nen maskengetreu agierte, machte sein Auftreten besonders eindrucks voll und verstärkte die Wirkung der Kokonmasken. Manstyr zitterte am ganzen Körper. Den Schweiß auf seiner Stirn wischte er mit dem Jackenärmel ab, dann betrachtete er traurig seine Schuhe, deren Spitzen sich wie Schiffskiele nach oben wölbten. Nur in einem Punkt wich der Vario vom Verhaltensschema ab. Die 183
schnapsgefüllte Flasche in der rechten Jackentasche hatte er nicht an gerührt, abgesehen von einem Schluck, den er brauchte, um seinem Atem die unverwechselbare Fahne zu verleihen. Der Gestank nach Schweiß, Alkohol und kaltem Rauch hing ohnehin so fest in seiner Kleidung, dass er nicht ständig erneuert werden musste. Der Alte raffte sich auf und schlurfte weiter. Unterwegs fischte er eine Zwiebel aus der linken Tasche. Oberflächlich wischte er den Schmutz mit dem Ärmel ab, dann biss er herzhaft in die rohe Zwie bel. »Das schmeckt«, stöhnte er genussvoll, obwohl ihm die Tränen über das Gesicht liefen und auf der Haut ein verwirrendes Muster schufen. Hathor Manstyr stieß ein siegessicheres Kichern aus, als er die Tür des Labors erreichte. Er spuckte den Rest der Zwiebel aus und griff nach der Waffe, die in seinem Hosenbund steckte. Der Desintegrator nahm sich in seiner dürren Hand wunderlich aus. Manstyr stieß die Tür auf – und ließ die Hand mit der Waffe wieder sinken. »Donnerwetter!«, staunte der Alte. Das Labor war leer.
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Kershyll Vanne taumelte von einer Seite des Korridors auf die andere. Der Alkohol und die Droge hielten den Körper fest in ihrem Griff, trotzdem hatte er es geschafft, die Wirkung so weit zu unterdrücken, dass er sich mehr schlecht als recht bewegen konnte. In Gedanken be dachte er Pale Donkvent mit den übelsten Beschimpfungen. »Ich brauche etwas Schlaf«, murmelte Vanne schwerfällig. Vor seinen Augen verschwamm das Bild seiner Umgebung, er tor kelte durch eine Welt, die nur mehr aus verwaschenen Schleiern zu be stehen schien. In diesem Wirrwarr einen Anhaltspunkt zu finden, dem er folgen konnte, fiel schwer. Irgendetwas rechts von Vanne gab nach, als er seinen Körper abstüt 184
zen wollte. Polternd fiel er in den Raum, dessen Tür nur angelehnt ge wesen war. Mit zitternden Händen tastete Kershyll Vanne nach dem Lichtkontakt. Unstet wanderte sein Blick durch den Raum. Er sah ein breites, be quemes Bett mit allen Servoeinrichtungen, die dem neuesten Stand der Technik entsprachen. Eine geräumige Hygienezelle schloss sich an, und sogar eine Küche war da. Vanne hatte nicht mehr die Kraft, sich mit der Tatsache auseinander zu setzen, dass er ausgerechnet in dieser Umgebung eine kleine und komfortable Wohnung entdeckt hatte. Er ahnte dumpf, dass dies eine neue Falle sein musste, aber er war zu geschwächt, um darauf Rück sicht zu nehmen. Er brauchte Schlaf, egal, welche Gefahren ihm daraus erwachsen konnten. Seufzend sank das Konzept auf das Bett und war Sekunden später fest eingeschlafen.
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Hathor Manstyr stand reglos da. Die Positronik des Vario-500 arbeitete indessen auf Höchsttouren. Das Problem wurde umfangreicher. Nicht nur, dass ein Fremder in das Labyrinth eingedrungen war, auf eine Art und Weise, die sich bislang allen Feststellungen entzog, dieser Fremde hatte auch zwei Fallen geschickt umgangen und sich danach sinnlos betrunken. Ganz nebenbei hatte er, trotz deutlicher Folgen des Alko holgenusses, eine chemische Analyse durchgeführt und sein merkwür diges Benehmen damit gekrönt, dass er ein Gegenmittel für das Be täubungsgift entdeckt hatte. Dass ein Mann, der zu solchen Leistungen fähig war, sich in einem gefährlichen Augenblick voll laufen ließ, war für den Vario unvorstell bar. Der Fremde musste hochintelligent sein, das lag auf der Hand. Langsam dämmerte dem Roboter, dass der Eindringling offenbar den schmalen Grat, der das Genie vom Wahnsinn trennte, bereits hinter 185
sich gebracht hatte. Die positronische Logik sagte ihm, dass er vorsichtig sein musste. Die Reaktionen eines normalen Gegners konnte er bestens berechnen, bei einem Irren lag der Fall anders. Hier musste er jederzeit auf Verhal tensweisen gefasst sein, die sich mit logischen Überlegungen nicht mehr vorhersagen ließen. »Wo mag der Bursche stecken?«, rätselte Hathor Manstyr. So rasch ihn seine krummen Beine trugen, suchte er die nächstgele gene Kontrollstation auf. Auf dem Weg überlegte er sich, ob er – rol lengetreu – eine Schlafpause einlegen sollte, aber er verwarf den Gedan ken. Angesichts eines derart eigenartigen Gegners war das Rollenverhal ten nicht mehr unter allen Umständen beizubehalten. Eine erste Prüfung ergab, dass sich der Fremde nicht mehr in dem Bereich des Labyrinths aufhielt, in dem die Fallensysteme aktiviert wa ren. Offenbar hatte er es geschafft, die übrigen Fallen zu umgehen. Der Vario-500 suchte den Sektor noch einmal sorgfältig ab. Danach überprüfte er die anderen Abteilungen seiner Zuflucht. »Keine Spur von ihm!«, staunte Manstyr. Die Überwachung war nicht manipuliert worden, das hätten die Kontrollelemente verraten. Die Bilder waren also authentisch. Sie zeig ten die Gänge und Räume des Labyrinths – nur den Fremden zeigten sie nicht. Die These vom verrückten Genie bekam einen Knacks, denn nun mussten dem vermeintlich Irren auch höchst gefährliche Eigenschaften zugesprochen werden. Womöglich handelte es sich um einen Telepor ter, und das machte sein Eindringen besonders gefährlich. Der Plasmateil des Varios geriet in Erregung. Hathor Manstyr musste auf der Hut sein!
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Nitrylar-Huth grinste zufrieden. Er war auf der Siegerstraße, der Stapel von Scheinen und Münzen vor ihm wurde höher und breiter. »Glück muss man haben«, verkündete er, als handle es sich um eine Weisheit, die er selbst gerade gefunden hatte. Es tat ihm gut zu sehen, dass die anderen diese Bemerkung eher als Verspottung denn als Weis heit auffassten. »… oder geschickte Finger«, kommentierte Koletan-Num bissig. »Willst du mich des Falschspiels bezichtigen?«, fragte Nitrylar-Huth scharf. »Ich will gar nichts«, wehrte Koletan-Num ab. »Höchstens gewinnen, aber das will jeder. Mir kommt deine Glückssträhne nur langsam ver dächtig vor. Eines Tages wirst du dafür zahlen müssen.« »Alles gleicht sich aus«, murmelte Nitrylar-Huth. »Das Glück, das Pech, Liebe und Hass, Vorteil und Nachteil … nur das Leben hat kein Gegenstück.« Koletan-Num schaute auf. »Bist du unter die Poeten gegangen? Wo her hast du diese Weisheiten?« Nitrylar-Huth schrak zusammen. Es passierte ihm immer wieder, dass er zu schwätzen anfing, wenn er sich besonders wohl fühlte. Wenn er sich nicht zusammennahm, würde ihn die Bruderschaft eines Tages ausschließen. »Außerdem«, versetzte Koletan-Num, »ist das, was du sagst, ziemli cher Blödsinn. Natürlich hat das Leben ein Gegenstück – den Tod.« Nitrylar-Huth lächelte verhalten. Was wusste der junge Schnösel schon von den Lehren der Bruderschaft, dass der Tod und das NichtLeben grundverschiedene Dinge waren, dass Nicht-tot-zu-sein noch lange nicht Leben genannt werden konnte? Nitrylar-Huth war Eleve der Geheimen Bruderschaft des Großen Goldenen Auges. Noch war er nicht in alle Mysterien eingeweiht, aber was er bereits erfahren hatte, reichte für ein deutliches Überlegenheitsgefühl. Nitrylar-Huth hätte gern gewusst, wer außer ihm zur Bruderschaft gehörte. Man hatte ihm gesagt, es würden nur wenige Auserlesene berufen. 187
Im Stillen wusste er, dass er alles andere als ein Auserlesener war, so gar ein ausgemachter Schurke, und das nicht nur aus der Sicht der Ga laktiker, die er drangsalierte. Er stahl und raubte, erpresste und betrog, unterschlug und fälschte. Viele ahnten zwar, dass er ein Verbrecher war, doch niemand konnte das beweisen. Trotzdem oder gerade deswe gen erschien es ihm rätselhaft, dass ausgerechnet er eingeladen worden war, der Bruderschaft beizutreten. Was sie letztlich bezweckte, war ihm weiterhin verborgen, aber die wenigen Andeutungen hatten schon aus gereicht, ihn zu begeistern. Vor allem war er daran interessiert, heraus zufinden, wer außer ihm der Bruderschaft angehörte. Waren es tatsäch lich ausgesuchte Laren, dann bot sich die beste Möglichkeit für einen einträglichen Fischzug. Nur ein Problem beschäftigte ihn noch – er glaubte fest an das, was ihm über die höheren Mysterien der Bruderschaft berichtet worden war. Stimmten diese Informationen aber, dann war die Gefahr groß, dass er seiner kriminellen Neigungen wegen eines Tages ausgeschlossen werden würde. Genau das fürchtete er. »He, was ist mit dir? Du sollst setzen!« Nitrylar-Huth schrak erneut zusammen. Irritiert warf er eine Münze planlos auf das grüne Tuch. Man konnte den Terranern nachsagen, was man wollte, aber ihre Glücksspiele waren erlesen. Roulette hatten sie dieses Spiel genannt. Nitrylar-Huth war nicht schlecht erstaunt gewesen, als er das Spiel aus gerechnet in einem Geschäft für Kinderspielzeug entdeckt hatte. Wenn schon die Kinder der Terraner hasardierten, dann war nicht verwunder lich, dass sie sich immer wieder zu selbstmörderischen Aktionen auf rafften und dabei – oft genug – Sieger blieben, wenn auch nur für kur ze Zeit. Die weiße Kugel landete in einem Fach. »Es ist nicht zu glauben«, murmelte Koletan-Num. »Er hat schon wieder gewonnen! Wenn ich das Rad nicht selbst gedreht hätte …« Nitrylar-Huth grinste und strich seinen Gewinn ein. »Hat jemand 188
mehr Geld, das er an mich verlieren will?«, fragte er boshaft. KoletanNum bedachte ihn mit einem wütenden Blick. In dem Moment meldete sich der Hyperkom. Nitrylar-Huth ging zu dem Gerät hinüber, nicht ohne vorher seinen Gewinn in den Taschen verstaut zu haben. »Hier Station Olymp«, mel dete er sich. »Nitrylar-Huth spricht!« »Befehl des Verkünders!«, eröffnete sein Gegenüber. »Sie sollen ver suchen, mit den Mastibekks Kontakt aufzunehmen!« Deutlich konnte Nitrylar-Huth die Abzeichen erkennen. Der Mann war entschieden ranghöher als er. »Das haben wir schon versucht. Sie reagieren auf keinen Funk spruch!« »Dann bedienen Sie sich anderer Methoden! Verhandeln Sie mit ihnen, und wenn es gar keine Möglichkeit mehr gibt, versuchen Sie, die Mastibekks zu zwingen.« »Mit Gewalt?«, fragte Nitrylar-Huth zweifelnd. »Notfalls sogar das!«, erklärte der Offizier und schaltete ab. »Gewalt«, wiederholte Nitrylar-Huth spöttisch. »Ausgerechnet gegen die Mastibekks, und das mit so wenigen Leuten …« »Wir haben fünf SVE-Raumer zur Verfügung«, erinnerte KoletanNum. Der Kommandant lachte verächtlich auf. »Du weißt so gut wie ich, dass wir die Schiffe keinen Kilometer mehr in die Höhe bekommen, wenn die Mastibekks uns nicht helfen. Glaubst du, die werden so dumm sein, ausgerechnet die Geschütze zu laden, mit denen sie be schossen werden sollen?« »Wenn sie laden, brauchen wir nicht zu schießen«, formulierte Koletan-Num. »Ein kleiner, aber wichtiger Unterschied, meinst du nicht auch?« »Keine voreilige Freude«, warnte Nitrylar-Huth. Er fühlte sich unbe haglich, vor allem, wenn er an die Sicherheitsvorkehrungen der Masti bekks dachte. Allein das Panikfeld … 189
»Es hilft nichts«, sagte Koletan-Num leise. »Machen wir uns auf den Weg!«
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Langsam öffnete Kershyll Vanne die Augen. Nur zögernd kam die Er innerung an die Ereignisse der letzten Stunden zurück. Und sofort er wachte sein Misstrauen. Nach den Fallen, die er überwunden hatte, er schien es ihm merkwürdig, dass der Erbauer des Labyrinths ihn unge stört hatte schlafen lassen, und das gleich mehrere Stunden lang. Ker shyll Vanne hatte allerdings kein Interesse daran, sich deshalb den Kopf zu zerbrechen. Er ging in die angrenzende Hygienezelle und er frischte sich. Als er eine Stunde später die kleine Wohnung verließ, war er satt, sauber und sogar frisch eingekleidet. An seinem Gürtel baumelte eine geladene Waffe, außerdem hatte er einen Handscheinwerfer gefunden und mitgenommen. Nach wie vor wusste er nicht, wo er sich befand. Ihm war nur klar, dass er in Gefahr schwebte. Vorsichtig lief Vanne wieder durch die Gänge, und dabei suchte er vergeblich nach Orientierungshilfen. Offenbar kannte sich sein Wider sacher in diesem Irrgarten auch ohne Hinweise hervorragend aus – das sprach entweder für die Qualitäten des Erbauers oder dafür, dass die Anlage nicht zu groß sein konnte. Nach einem ereignislosen Marsch von fast einer Stunde war Ker shyll Vanne überzeugt davon, dass der Bewohner des Labyrinths ein überaus gutes Gedächtnis haben musste, wenn er sich ohne Wegweiser zurechtfand. Er hatte Dutzende von Räumen flüchtig untersucht. Es gab alles, was ein Mensch zum Überleben brauchte. Beinahe erschien es ihm, als hätte jemand hier eine Notunterkunft für mehrere hundert Menschen schaffen wollen. Es gab Wohnungen, Vorratsräume, Gemeinschaftszim 190
mer, eine Bücherei und vieles mehr. Der größte Teil der Räume war hermetisch versiegelt worden, so dass Vanne nicht feststellen konnte, wann die Zimmer zum letzten Mal belegt worden waren, ob sie über haupt je benutzt worden waren. Er fragte sich, woher die Energie kam, mit der alle Räume klimati siert und beleuchtet wurden. Angesichts der Größe der Anlage musste die Versorgung beachtliche Dimensionen erreichen – folglich gab es ir gendwo in dieser Welt eine Art Maschinenzentrale. Kershyll Vanne wusste, dass er mit der Suche nach einer solchen Zentrale ein großes Risiko einging, trotzdem sah er keine andere Wahl. Nur mit unerhört viel Glück hätte er einen Ausweg aus dem Labyrinth gefunden. Vieles schien mittlerweile dafür zu sprechen, dass der Bereich, in dem er sich bewegte, abgeschlossen war. Der Zugang zu dem Laby rinth wäre demnach nicht in der Horizontalen, sondern in der Vertika len zu suchen gewesen. Eine Öffnung, die auf einen Antigravschacht hingedeutet hätte, hatte Vanne aber bislang nicht entdeckt. Vermutlich waren sogar die Antigravschächte versteckt, es fragte sich nur, wo. Vannes Blick blieb auf einem Feuermelder hängen, der seine Verwun derung erregte. Was hatte ein geradezu vorsintflutlicher Feuermelder in dieser technisch modernen Verwirrwelt zu suchen? Es handelte sich um einen rot lackierten Metallkasten, in dem, auf weißem Grund, ein dicker schwarzer Knopf zu sehen war. »Im Notfall niederdrücken!«, las Vanne den ausschließlich in Interkosmo angebrachten Text. Er sah sich das Objekt genauer an. Es widersprach jeder Vernunft, musste man jedes Mal vor dem Benutzen eines Antigravs die Glas scheibe einschlagen. War der Melder also echt? Vanne streckte die Hand aus. Geräuschlos glitt der schwarze Knopf ein Stück zurück. Jetzt erst merkte der Psychomathelogist, dass er auf eine Täuschung hereingefallen war. Der rote Kasten diente nur dazu, die Einstiegsöff nung für den Antigrav verschwinden oder auftauchen zu lassen. Kershyll Vanne schwang sich in das im Boden entstandene Loch. 191
Langsam schwebte er in die Tiefe.
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Hathor Manstyr hatte auf Schlaf verzichtet, weil ihm das Problem des Eindringlings keine Ruhe ließ. Der Mann war plötzlich verschwunden, als habe ihn der Erdboden verschluckt. Stunden hatte der Vario-500 ergebnislos damit verbracht, nach dem Unbekannten zu suchen. Die Dreistigkeit, sich in einer der Notwohnungen zu verstecken, traute der Vario dem Fremden nicht zu. Eine Kontrollanzeige signalisierte, dass die Verkleidung eines Anti gravschachts geöffnet worden war. Der Vario konnte das mit einem Funkbefehl bewerkstelligen, jeder andere musste sich des vermeintli chen Feuermelders bedienen. Rasch lokalisierte der Roboter das Signal. Sein Zellplasmateil war ent setzt, denn der Fremde bewegte sich zielstrebig auf die Maschinenzen trale zu. Der Unterwelt Olymps drohte damit Gefahr. Manstyr aktivierte das Sicherheitssystem der zweiten Etage. Er verzog die dünnen Lippen zu einem Lächeln. Hier würde der Fremde nicht entkommen.
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Kershyll Vanne ahnte, dass er auf dem richtigen Weg war. Immer öfter kam er an Türen vorbei, auf denen unübersehbar Warnungen prang ten. Hinter mehreren solcher Türschotten hatte er schon Waffenlager entdeckt – Großmagazine, die genug Ausrüstung enthielten, um eine komplette Raumlandedivision auszurüsten. Sorgfältig hatte er sich auch in den Lebensmittellagern umgesehen. Seine Vermutung, dass er sich in der Milchstraße befand, war zur Ge wissheit geworden. Die Etiketten auf den Konserven ließen keinen an deren Schluss zu. Fast ehrfürchtig hatte er einen Aufdruck gelesen, der 192
ihm verraten hatte, dass die vakuumkonservierten Pfirsiche in Kalifor nien gewachsen waren. Alle Planeten des ehemaligen Solaren Imperiums waren vertreten, die in früheren Jahren für ihre Gemüse und Obstkonserven berühmt ge wesen waren. Zu Vannes Leidwesen hatte aber keine der Kennzeich nungen verraten, wann das betreffende Obst oder Gemüse konserviert worden war. Er wusste nur, dass Frischobst so behandelt werden konn te, dass es über Jahrhunderte hinweg frisch blieb und seine Vitamine behielt. Nun stellte sich die Frage, wo in der Milchstraße das Konzept sich aufhielt. Seine Aufgabe war es, zum NEI vorzudringen und Julian Tiff lor ein verwegenes Vorhaben zu unterbreiten. Wie das geschehen soll te, konnte Kershyll Vanne nicht einmal annähernd abschätzen. Er wusste nur, dass ES eine Schwäche für Spielereien mit der Zeit hatte und überdies einen mehr als absonderlichen Humor. Fast wäre er der Versuchung erlegen, sich an einer Flasche Ssagis von Shand'ong zu vergreifen, aber er unterließ es. Er wollte Pale Donkvent nicht herausfordern. Wer hatte dieses Lager angelegt? Wer bewahrte tausende Tonnen hochwertiger Nahrungsmittel auf, dazu Waffen jeglicher Art? Vanne zögerte nicht, als er an einer Kreuzung zweier Gänge wieder auf einen falschen Feuermelder stieß. Eine halbe Minute später sank er tiefer in die geheimnisvolle Anlage hinab.
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Von seiner Altersschwäche war nichts mehr zu sehen, als Hathor Manstyr rannte. Seine Hustenanfälle gehörten ebenso der Vergangen heit an. Der Vario-500 hatte ein Signal empfangen, das seine Maskentreue hinfällig werden ließ. Auf Olymp war etwas im Gange, die Laren schie nen unruhig geworden zu sein. Der Roboter kalkulierte, dass dies mit 193
dem merkwürdigen Streik der Mastibekks zu tun haben musste. Da die Bedrohung durch die Laren weit wichtiger war als der Eindringling, hatte der Vario entschieden, sich zuerst um die Ereignisse an der Ober fläche zu kümmern. Manstyr erreichte einen Kontrollraum. Es gab Dutzende solcher Räu me, anders ließ sich das Arsenal im Untergrund von Olymp nicht überwachen. Nur positronische Perfektion konnte den gewaltigen Komplex steuern, ohne auf Unterstützung angewiesen zu sein. In der Oberflächenbeobachtung war die Pyramide der Mastibekks zu sehen. Der Superroboter Vario-500 hatte bereits seine Erfahrungen mit Mastibekk-Pyramiden gemacht. Da war zum Beispiel sein Vordringen in der Maske einer korpulenten alten Springerin gewesen, das als Er gebnis einen zerstörten SVE-Raumer und eine vernichtete Kokonmaske erbracht hatte. Damals war er in den Bereich des Zapfstrahls geraten, und die Erinnerung daran ließ den Plasmateil des Robotkaisers heute noch zittern. Die Pyramide stand an ihrer alten Position. Ein Ortswechsel hatte die Warnung des Kontrollautomaten also nicht ausgelöst. Der Vario ging alle Anzeigen durch. Seit die Pyramide auf Olymp ge landet war, ließ Anson Argyris sie beobachten. Zahlreiche Messinstru mente waren auf das Objekt gerichtet. Vielleicht gab es eine Möglich keit, aus solchen Messungen abzulesen, wie die Verbindung zwischen den SVE-Raumern der Laren und den Pyramiden der Mastibekks funk tionierte. Noch besser wäre gewesen, man hätte ein Mittel zur Abwehr beider Konzilsvölker finden können. Leider waren die Ergebnisse bis lang alles andere als durchschlagend. Ein spezieller Sensor maß stetig die Intensität des Panikfeldes an, mit dem sich die Mastibekk-Pyramiden vor unerwünschten Besuchern schützten. Dreimal überprüfte der Vario die Daten, dann war er sicher, dass das Panikfeld wirklich nicht mehr bestand. In einem kleinen Hologramm war zu sehen, dass sich drei Laren vor sichtig der Pyramide näherten. 194
10.
N
itrylar-Huth war nervös. Immer wieder lockerte er den Griff, mit dem er seine Waffe umklammert hielt, und alle paar Minuten musste er die schweißfeuchten Hände an der Hose abwischen. Lang sam wurde ihm bewusst, dass der Verkünder der Hetosonen seine Un tergebenen auf Olymp kaltlächelnd in den Tod schickte. Nie hatte ein Lare gewagt, gegen eine Mastibekk-Pyramide vorzugehen, ein solcher Versuch kam einem Selbstmord gleich. Da waren das Panikfeld und jene geheimnisvolle Strahlung, die den weißen Ring rund um die Py ramide geschaffen hatten. Wer sich in diese Zone wagte, wurde ent färbt und starb. Nitrylar-Huth wagte nicht, seiner Verzweiflung Ausdruck zu verlei hen. Wenn er sich offen gegen den Verkünder der Hetosonen äußerte, war ihm der Tod sicher. Der Tod voraus, den Tod im Nacken – für ihn war es letztlich egal, wo und wie er starb. »Wenn dieses Unternehmen fehlschlägt«, murmelte Koletan-Num düster, »wird keiner von uns überleben.« »Aber wenn es gut geht, werden wir alle berühmt«, sagte der dritte Lare, ein junger Mann namens Kirtayn-Ker. Er war alles andere als glücklich, für dieses Unternehmen ausgewählt worden zu sein. Warum ausgerechnet ich?, hatte sein Gesicht ausgedrückt. Gesagt hatte KirtaynKer aber nichts. Die drei Laren näherten sich der Pyramide, deren schwarze Außen haut wie eine tödliche Drohung wirkte. Vor dem Übergang in den Kreis blieb Nitrylar-Huth kurz stehen. »Ich gehe als Erster!«, sagte er unsicher. Für einen Moment schloss er die Augen und schickte ein Stoßgebet an das Große Goldene Auge. Wenn es stimmte, was ihm gesagt wor den war, dann konnte er den nächsten Schritt sorglos machen. Mehr 195
als sterben konnte er nicht, und was war der Tod schon für einen Bundesbruder? Trotzdem überkamen ihn Zweifel. Koletan-Num verharrte schweigend und fragte nicht, worauf sein Vorgesetzter wartete. Er schien zu wissen, welche Gedanken den Kom mandanten bewegten. Dann machte Nitrylar-Huth den ersten Schritt in die Todeszone.
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Eine Minute später lachte der Kommandant, dass ihm die Seiten schmerzten, und seinen beiden Untergebenen erging es nicht anders. Gemeinsam standen sie nun auf dem ausgebleichten weißen Boden. Schlagartig war die nervenzerreißende Spannung von ihnen abgefallen. Das Panikfeld existierte nicht mehr. Der Boden war zwar weiterhin weiß, aber es fand keine Entfärbung statt. »Das Schwierigste liegt hinter uns. Vorwärts, rücken wir den Masti bekks auf den Pelz!« Mit weit ausgreifenden Schritten gingen sie auf die Pyramide zu. Ihre Bewegungen sollten jedem, der das Geschehen verfolgte, signalisieren, dass sie keine Furcht kannten und sich ihrer Sache sicher waren. »Wie schaffen wir es ins Innere?«, wollte Kirtayn-Ker wissen. Nitrylar-Huth hob seine Waffe. »Wenn die Mastibekks uns nicht öff nen, müssen wir uns den Zugang damit verschaffen!« Kirtayn-Ker war jung, aber schon erfahren genug, um zu erkennen, dass sich ein weiterer Risikofaktor eingeschlichen hatte. Der Komman dant wurde leichtsinnig. Nach dem ersten schnellen Erfolg war seine Stimmung umgeschlagen. Der schwarze Keramiküberzug der Pyramide strahlte eine Bedrohung aus, die fast greifbar zu sein schien. Wieder spürte Kirtayn-Ker seine Angst. Langsam gingen die drei Laren um die Pyramide herum. Zum ersten Mal sah Kirtayn-Ker eine solche Konstruktion aus der Nähe. Der 196
Überzug wies leichte Unebenheiten auf, Risse und Sprünge. KirtaynKer konnte nicht erkennen, ob es sich um schleichende Schäden han delte oder womöglich um geheimnisvolle Schriftzeichen. Dass sie keinen Eingang fanden, ließ die Zuversicht des Komman danten sinken. Er zögerte geraume Zeit, bevor er zur Waffe griff und mit dem Kolben auf die Keramik schlug. Leise knisternd brach ein Splitter aus der Hülle und fiel zu Boden. Mit großer Geschwindigkeit löste er sich dann auf. Zurück blieb ein dunkler Fleck wie ein böse bli ckendes Auge. »Weiter!«, befahl Nitrylar-Huth, auch wenn er Unbehagen dabei empfand.
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Kershyll Vanne pfiff leise vor sich hin. Es ging ihm wieder besser, und in den letzten Stunden war nichts geschehen, was seine gute Laune hätte trüben können. Antworten auf seine drängenden Fragen hatte er zwar nicht gefunden, aber zumindest war er keiner akuten Bedrohung ausgesetzt. Es schien, als hätte der Erbauer des Labyrinths darauf ver zichtet, das Kernstück der Anlage mit Sicherheitseinrichtungen zu ver sehen. Kershyll Vanne hatte auch dafür einen plausibel erscheinenden Grund gefunden. Waren nämlich Feinde schon so weit in die Anlage eingedrungen, dann wurde ohnehin jede Verteidigung sinnlos. Es ent sprach nicht der terranischen Mentalität, in solchen Situationen Freund und Feind gleichermaßen in die Luft zu sprengen. Seit er diese Schlussfolgerung gezogen hatte, war Vanne auf der Su che nach einem neuen Ziel. Es hätte jeder Vernunft widersprochen, wenn der oder die Bewohner des Irrgartens auf ein Fortbewegungsmit tel verzichtet hätten, das im Notfall für eine schnelle Evakuierung sor gen konnte. Irgendwo stand also mit Sicherheit ein kleines raumtüch tiges Schiff. Dieses Schiff wollte Vanne finden. Vielleicht gelang es ihm so, Kontakte zum NEI aufzunehmen. 197
Ein schillernder Energievorhang spannte sich vor ihm quer durch den Gang. Vanne lachte in sich hinein. Das war ein Fall für Hito Gu duka, den Totalenergie-Ingenieur. »Endlich!«, polterte Hito los. »Wollt ihr mich ewig in den Hinter grund drängen?« Er konnte spüren, dass die anderen Bewusstseine auf seinen Vorwurf gekränkt reagierten. »Natürlich«, knurrte er. »Erst wenn es brenzlig wird, werde ich gerufen.« Trotz seines Ärgers machte sich Guduka an die Arbeit. Schon auf den ersten Blick erkannte er, dass es sich keineswegs um ein normales Schirmfeld handelte. Einige Schaltelemente des Projektors waren modi fiziert worden. Es galt herauszufinden, welche Elemente das waren, und vor allem musste er feststellen, wie sie verändert worden waren. Die erste Frage konnte er schnell klären. Auf die zweite eine Antwort zu finden erwies sich als wesentlich schwieriger. Was half es, wenn er die spezifischen Komponenten des Energiefeldes kannte, an den Pro jektor aber nicht herankam. Dass der Projektor innerhalb des Schirm felds stand, war für ihn selbstverständlich. Es gab zwei Möglichkeiten, solche Sperren zu überwinden. Die erste war, sie durch Überlastung zum Zusammenbruch bringen. Die zweite Möglichkeit bestand darin, den Trick zu finden, mit dessen Hilfe sich der Projektor selbst ausschaltete. Wenn kein Bedienungspersonal vor handen war, gab es eine Vorrichtung, die durch Funksignale oder Ähn liches betätigt wurde. Zweifellos konnte Guduka von letzterer Voraus setzung ausgehen. »Wie kommen wir an das Ding heran?«, überlegte er. Die Lösung, die er schließlich fand, war für ihn typisch – er zog die Waffe und betrachtete sie nachdenklich. Wenn er an dem Strahlprojek tor ein wenig herumspielte … Hito Guduka brauchte fast eine Stunde, bis er sicher sein konnte, dass er das Richtige tat. Inzwischen hatte sich herausgestellt, dass er sein Ziel auf jeden Fall erreichen musste. Ohne Vorwarnung war näm lich hinter ihm ein zweites Schirmfeld entstanden, das den Rückweg 198
versperrte. Hito Guduka justierte den Strahler auf Dauerfeuer und legte ihn auf den Boden. Dann betätigte er den Auslöser. Ein violett schimmernder Strahl traf auf das Schirmfeld und floss daran auseinander. »Gegen einen Experten ist eben kein Kraut gewachsen!«, lachte Gu duka triumphierend, dann zog er sich zurück. Kershyll Vanne hatte seine Zweifel, ob der Trick tatsächlich funktio nieren würde. Er wusste inzwischen, nach welchem Prinzip Hito den Strahler modifiziert hatte. Die Waffenenergie und das Schirmfeld waren größtenteils interferent und hoben sich gegenseitig auf. In der Sperre klaffte bereits eine Lücke, die groß genug war, einen Menschen passieren zu lassen. Allerdings erstreckte sich die Interferenz nicht auf den gesamten Frequenzbereich. In unregelmäßigen Abständen zuckten starke Entladungen durch die Lücke. Da hindurchzukriechen war mit Sicherheit nicht angenehm. Zudem missfiel Vanne die Tatsache, dass er den Strahler zurücklassen musste. Ihn ärgerte, dass er sich aus den umfangreichen Beständen nicht großzügiger bedient hatte. Schließlich nahm er einen kurzen Anlauf und sprang. Das schien ihm die einzige Möglichkeit, ohne große Risiken die Strukturlücke zu überwinden. Er hatte sich verschätzt, eine Entladung zuckte gleichzeitig auf. Ker shyll Vanne spürte einen entsetzlichen Schmerz, dann verlor er das Be wusstsein.
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Anson Argyris, Kaiser der Freifahrer und Beherrscher der Unterwelt von Olymp, traute seinen Augen nicht. Die Laren praktizierten das, was ihm nicht gelungen war. Der Vario sah die Lücke, die sie in die Außenwand der Pyramide gebrochen hatten, und er sah, wie die drei Laren in die Pyramide eindrangen. Der Vario, weiterhin in der Maske des Hathor Manstyr, wartete da 199
rauf, dass die Pyramide zurückschlug, aber nichts geschah. Offenbar kümmerten sich die Mastibekks überhaupt nicht um die Eindringlin ge. Er zögerte unmerklich. Es wurde Zeit, dass er sich wieder um den ungebetenen Besucher kümmerte. Der Impuls dazu kam vom Plasmateil, wurde jedoch sofort von der Positronik unterdrückt. Einstweilen waren die Laren wichtiger. Was sich dort draußen abspielte, konnte Auswirkungen auf die gesamte galaktische Politik haben. Würden sich die Erbauer der Pyramiden zur Wehr setzen? Unter Umständen be gann hier auf Olymp ein Konflikt, der das gesamte Konzil erfassen und die Herrschaft der Laren für alle Zeit beenden konnte. Nur ab und zu warf der Vario einen Blick auf die Kontrollen seines eigenen Herrschaftsbereichs. Dort schien sich nichts zu regen, aber diese Ruhe erschien trügerisch.
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Die Laren hielten ihre Waffen schussbereit, jederzeit darauf gefasst, mit Überraschungen konfrontiert zu werden. Es war beklemmend still in der Pyramide, nicht einmal das Arbeitsgeräusch von Maschinen war zu hören. Nur der Widerhall ihrer eigenen Schritte. »Wo sind die Mastibekks?«, murmelte Koletan-Num. »Haben sie die Pyramide verlassen?« »Unbemerkt?«, fragte Nitrylar-Huth sarkastisch. Er leckte sich über die gelben Lippen, die vor Aufregung trocken geworden waren. Seine Augen spiegelten seine Erregung deutlich wider. »Wenn das gut geht, werde ich der Heftigen Göttin der Blauen Nacht ein Opfer darbringen«, murmelte Kirtayn-Ker. Nitrylar-Huth reagierte nicht darauf. Es war typisch, dass dieser Jungschnabel in gefährlichen Situationen Zuflucht in lächerlichem Aberglauben nehmen musste. Der Kult der Heftigen Göttin war einer der kleinsten und unbedeutendsten. 200
»Still!«, zischte er, als er eine schwache Bewegung wahrnahm. Ein kleines Tier huschte heran, beäugte die Besucher und verschwand wie der. Mehr als ein dunkles Fell mit grünen Punkten darin hatten die La ren nicht erkennen können. »Ein Dämon!«, flüsterte Kirtayn-Ker. »Wir sollten uns zurückziehen!« »Unfug!«, wehrte Nitrylar-Huth ab. »Wenn wir zurückweichen, wer den wir einen weit schrecklicheren Dämon kennen lernen. Der Verkün der der Hetosonen versteht keinen Spaß, wenn es um feige Laren geht!« »Ich bin nicht feige«, setzte sich Kirtayn-Ker zur Wehr. »Ich bin le diglich vorsichtig.« »Ich empfinde momentan ein seltsames Gefühl.« Nitrylar-Huth ver suchte, seinen Zustand zu beschreiben. »Irgendwie beklemmend, als ob ich ausgesaugt würde. Wie ist das bei euch?« »Mir geht es ähnlich«, antwortete Koletan-Num. »Ist das eine Folge unserer Furcht, oder haben die Mastibekks damit zu tun?« Kirtayn-Ker kannte sich mit seinen Vorgesetzten nicht mehr aus. Er wurde angezischt, weil er seine Angst gestand, aber sie unterhielten sich offen über das gleiche Thema. Auch er spürte eine gewisse Leere, fast war es ihm, als würde langsam jeder Funke Lebenskraft aus ihm herausgesogen. Das Innere des Mastibekk-Schiffes war in ein eigenartiges Licht ge taucht. Auf geheimnisvolle Art schien dieses Licht zu leben. Der Raum, den die Laren jetzt betraten, war bis auf wenige Geräte leer. Sie arbeiteten nicht. »Ein Kommunikator«, stellte Kirtayn-Ker erfreut fest. »Soll ich eine Verbindung schalten?« »Versuche es!«, bestimmte Nitrylar-Huth. Während sich Kirtayn-Ker an dem Funkgerät zu schaffen machte, un tersuchte der Kommandant mit Koletan-Num die übrigen Aggregate. Es handelte sich um Anlagen zur Überwachung der Außenbordaktivi täten. Der Reihe nach schaltete Nitrylar-Huth die Geräte ein. Holo 201
gramme bauten sich auf und zeigten die Umgebung, die Station der Laren und die bald flugunfähigen SVE-Raumer auf dem Landefeld. »Könnt ihr mich hören? Hier spricht Kirtayn-Ker! Bitte melden!« »Schrei nicht so, Kleiner. Wir hören dich gut«, kam die Antwort über Funk. »Wie sieht es bei den Mastibekks aus?« Kirtayn-Ker zuckte mit den Achseln. »Ziemlich normal eigentlich, nur die Beleuchtung ist seltsam. Und dann dieses komische Gefühl.« Nitrylar-Huth schob ihn zur Seite. »Habt ihr Neuigkeiten für uns?«, fragte er. »Hier steht alles bestens, obwohl wir bislang nicht viel her ausfinden konnten.« »Bei uns ist alles ruhig«, meldete der andere. »Der Verkünder hat in einem zweiten Funkspruch erneut alle Schiffsführer aufgefordert, sehr sparsam mit der Energie umzugehen.« »Wir melden uns, sobald es Neues gibt.« Nitrylar-Huth wollte die Verbindung gerade unterbrechen, als sein Gegenüber rief: »Warten Sie, Nitrylar-Huth! Unsere Schirme zeigen ein Echo.« »Ein Raumschiff?« »Es sieht aus, als wäre es eines unserer Schiffe!« Der Kommandant runzelte die Stirn. Hatte er nicht eben erst gehört, dass der Verkünder der Hetosonen strengste Sparsamkeit angeordnet hatte? Was hatte dann ein SVE-Raumer im Bereich von Olymp zu su chen? »Es sind sogar zwei Schiffe!« Nitrylar-Huth machte eine unwillige Geste. »Wir warten ab, was die Besatzungen vorhaben«, entschied er. »Vielleicht will der Verkünder der Hetosonen persönlich mit ansehen, wie wir uns mit den Masti bekks auseinander setzen.« Der Lare am anderen Ende der Leitung lachte verhalten. »Glauben Sie, der Verkünder käme Ihretwegen und dann gleich mit zwei Schif fen?« Das Argument saß, Nitrylar-Huth fühlte sich getroffen. »Wir werden sehen«, entgegnete er zornig. »Unternehmt einstweilen nichts ohne 202
meinen Befehl. Wir warten ab!«
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Roctin-Par fieberte der Landung entgegen. Auf den Tasterschirmen zeichnete sich Olymp ab, die ehemalige Welt der Freifahrer, beherrscht von dem eigentümlichen Robotkaiser Anson Argyris. Roctin-Par war einer der wenigen, die Anson Argyris persönlich kannten. Er hatte den eiförmigen Metallkörper eigenhändig über den Boden Olymps gerollt, damals, als die ersten Mastibekk-Pyramiden in der Milchstraße erschie nen waren. Das war lange her. Die Konzilslaren hatten die Galaxis fest im Griff und überall gab es die Monumente der Macht, die Mastibekk-Pyrami den. Als Erstes wollte Roctin-Par versuchen, mit den Mastibekks zu ver handeln und von ihnen Energie zu bekommen. Da auf Olymp sicher lich einige SVE-Raumer der Laren stationiert waren, musste er zusätz lich versuchen, diese Schiffe entweder zu erbeuten oder zu vernichten. Außerdem beabsichtigte Roctin-Par, seinen alten Freund Anson Ar gyris abzuholen, den Robotkaiser, der wie kein anderer prädestiniert schien, das wilde Völkchen der Freifahrer anzuführen. »Ich fürchte, es hat wenig Sinn, mit den Konzilslaren zu unterhan deln.« Der Schiffskommandant unterbrach Roctin-Pars Überlegungen. »Wir sollten ihre Raumer sofort angreifen und vernichten. Jede Minu te, die wir verlieren, stärkt ihre Verteidigungskraft, und wir können uns stundenlange Gefechte nicht erlauben. Anschließend wären unsere Re serven ebenfalls erschöpft.« »Es gibt vielleicht Möglichkeiten«, überlegte Roctin-Par laut. »Ich hörte, unsere larischen Gegner hätten bereits eine Lösung für ihr Ener gieproblem gefunden.« Der Kommandant schaute ihn ungläubig an. »Das kann nicht Ihr Ernst sein, Roctin-Par. Erstens sind diese Tankstellen sehr unvollkom 203
men. Die Berichte von Totalverlusten häufen sich. Außerdem wimmelt es im Bereich jeder Station von Raumschiffen. Sie werden uns in einer Sekunde aus dem Raum blasen!« »Das bezweifle ich! Das Energieversorgungssystem für die SVE-Rau mer ist restlos zusammengebrochen. Was sie momentan verwenden, ist improvisiert. Niemand wird es merken, wenn über einer der neuen Tankstellen ein Schiff mehr erscheint. Es ist nur eine Frage gut ge fälschter Unterlagen.« »Das wäre heller Wahnsinn!«, stöhnte der Kommandant auf. Roctin-Par wehrte lachend ab. »Sie müssen noch viel lernen, vor allem von unseren menschlichen Freunden. Ein solcher Trick ist ty pisch für die Terraner und ihre Nachkommen. Haben Sie sich mit der Geschichte der Menschheit befasst?« »Ich habe ein Raumschiff zu führen«, entschuldigte sich der Kom mandant. »Sie sollten es dennoch tun. Übrigens stimme ich mit Ihrer Interpre tation der Sachlage überein – greifen Sie die SVE-Raumer sofort an! Aber schicken Sie zunächst schwache Schüsse hinunter, damit die Be satzungen eine Chance haben, der Vernichtung ihrer Schiffe zu entrin nen!« »Wie Sie wollen, Roctin-Par. Haben Sie diese … äh … Anwandlungen ebenfalls bei den Terranern gelernt?« »Nicht nur von ihnen«, sagte der Provconer halblaut. Er blickte auf den Panoramaschirm, der die Oberfläche von Olymp zeigte. Deutlich waren fünf SVE-Raumer zu sehen, aufgereiht wie Perlen auf einer Kette – und eine Mastibekk-Pyramide, schwarz, reglos – und bedroh lich.
***
204
Nitrylar-Huth schrie erschrocken auf. Mit allem hatte er gerechnet, nur damit nicht. Mit hoher Restfahrt rasten die beiden SVE-Raumer durch die Atmosphäre des Planeten. Schüsse zuckten auf, die ersten der auf dem Boden stehenden Raumer wurden beschädigt. Nitrylar-Huth sah ihre Besatzungen in wilder Panik fliehen. Der Lare stöhnte. Es war für ihn entsetzlich, mit ansehen zu müssen, wie die feindlichen SVE-Raumer wüteten. Nacheinander nahmen sie die stillliegenden Schiffe unter Beschuss und ließen von ihren wehrlo sen Opfern erst ab, als von den fünf Einheiten nichts mehr geblieben war außer einigen kläglichen Materieansammlungen. Dann war die Station an der Reihe. Die Angreifer ließen die Laren ihre Niederlage voll auskosten. Anstatt den Stützpunkt mit einem ein zigen Feuerschlag zu vernichten, legten sie die Gebäude systematisch in Schutt und Asche. Offenbar erfreute die Rebellen der Anblick um ihr Leben rennender Laren. »Verräter!«, tobte Nitrylar-Huth. »Elende Verbrecher!« In ohnmäch tiger Wut musste er zusehen, wie die Rebellen ganze Arbeit leisteten. Ihr Angriff dauerte nur wenige Minuten, dann war die Macht der La ren auf Olymp gebrochen. Was blieb, waren qualmende Ruinen und entsetzte Mannschaften, die mit Mühe und Not ihr Leben gerettet hat ten. Sie konnten nur hoffen, dass die auf Olymp lebenden Terra-Nach kommen nicht sofort von ihrer Bedrängnis erfuhren. Waren sie infor miert, dann mussten die Laren befürchten, von den wütenden Terra nern bis zum Letzten gehetzt zu werden. Eine andere Vorstellung hat ten sie nicht von der zu erwartenden Reaktion der Menschen. »Das ist unser Todesurteil«, raunte Kirtayn-Ker bebend. »Diese De mütigung larischer Macht wird der Verkünder uns nie verzeihen!« »Wir werden Rache nehmen, an jedem Einzelnen dieser Rebellen«, sagte Koletan-Num. »Ob es Meuterer sind, Nitrylar-Huth?« Der Kommandant antwortete nicht. Die Außenüberwachung zeigte einen Vorgang, der ihm die Sprache verschlug. 205
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Langsam wurde sich Kershyll Vanne seiner selbst wieder bewusst. Sei ne Glieder zitterten. Der Überschlag, der ihn betäubt hatte, war nicht ohne Folgen geblieben. Vanne spürte einen brennenden Schmerz im Rücken und eine unglaubliche Schwere in allen Gliedmaßen. Schwan kend kam er auf die Beine. Hinter ihm hatte sich der Energieschirm wieder geschlossen, die Strukturlücke gab es nicht mehr. Vanne wusste, wie viel Energie ein Strahlermagazin enthielt und wie viel davon bei Dauerfeuer verbraucht wurde. Eine oberflächliche Schät zung verriet ihm, dass er mindestens zwei Stunden lang ohne Besin nung gewesen war. Trotz der tobenden Muskeln setzte er sich wieder in Bewegung. Er ahnte, dass er in einen wichtigen Bereich vorgedrungen war. Hier ver fügten alle Türen über Impulsschlösser. Ohne Indira Vecculis Fähigkei ten hätte er keines dieser Schlösser überwinden können. Nacheinander durchsuchte Kershyll Vanne mehrere Räume, und er fand seinen Verdacht bestätigt. Jemand hatte sich ein Reich geschaffen, das in sehr großem Maßstab aufgebaut worden war. Hinter dieser An lage steckte bestimmt keine Einzelperson. Kershyll Vanne war mittler weile davon überzeugt, im Zentrum einer geheimen Interessengruppe gelandet zu sein. Nach seinen Vorstellungen kamen dafür nur die GA VÖK oder eine ähnliche Organisation in Frage – oder das NEI selbst. »Gäa?«, überlegte er. Aber Gäa war dicht besiedelt, und selbst ein Außenstützpunkt des NEI wäre intensiv überwacht worden. Was Vanne besonders störte, war der Umstand, dass bislang niemand gekommen war, um ihn festzuset zen. »Ich finde keinen Anfang«, stellte er deprimiert fest. »Ich weiß nicht, wo ich bin, und ich habe nicht einmal eine Ahnung, wann.« Das dritte Problem artikulierte er nicht. Genau genommen wusste er 206
immer noch nicht, was er überhaupt war. Ein Konzept! Na und? Ker shyll Vanne konnte das einigermaßen zutreffend beschreiben, aber mit den speziellen Problemen seiner Existenzform kam er nur schwer zu recht. Er wusste nicht in letzter Konsequenz, was er von den anderen Bewusstseinen halten sollte, und die Zeit, in der er seinen Körper nicht selbst kontrollieren konnte, hatte für ihn etwas unsagbar Fremdes und Unwirkliches an sich. Es würde ihm schwer fallen, dass er sich auf Dauer mit diesem Zustand abfand. Abrupt wurde Kershyll Vanne abgedrängt. »Träume nicht, sondern handle!«, forderte ihn Indira Vecculi auf. Vanne lächelte schwach. Es war ein beängstigendes Gefühl, zu wis sen, dass andere Wesen selbst die geheimsten Gedanken erfahren konn ten. Oder im eigenen Gehirn Informationen vorzufinden, die ein an derer hinterlassen hatte. Kershyll Vanne korrigierte den Gedanken. Dies war nicht länger sein Gehirn, es gehörte den anderen ebenso wie ihm. Damit musste er sich abfinden. Müde und zugleich ein wenig resigniert lief er durch die Räume, ohne detailliert wahrzunehmen, was ihn umgab. Er wurde erst wieder hellwach, als er spürte, dass er – wieder einmal – gefangen war. Diesmal gab es kein Entkommen, denn das Energiefeld war lücken los. Und Kershyll Vanne verfügte nicht mehr über Hilfsmittel, die er hätte verwenden können. Er saß endgültig fest. In der Situation dachte der Psychomathelogist wieder an ES. Konnte die Superintelligenz ihm helfen?
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Fasziniert verfolgte Anson Argyris, was sich abspielte. Wäre er sich sei ner Sinnesorgane nicht absolut sicher gewesen, hätte er sich geweigert, die Szene für echt zu halten. Langsam stieg einer der beiden SVE-Raumer wieder auf. Ihr Vernich 207
tungswerk war beendet, nun hatte der Kommandant anderes vor. Er leitete das Tankmanöver ein, mit dem die Laren aus den MastibekkPyramiden Energien bezogen. Schon nach kurzer Zeit später stand der Raumer in der richtigen Position. Der Vario-500 verzog die schmalen Lippen seiner Maske zu einem spöttischen Grinsen, das zu einer Grimasse gefror, als von der Pyra mide ein Blitz zu dem SVE-Raumer emporzuckte. Er schaltete die Blenden vor, denn er kannte das unerträglich grelle Leuchten der Na belschnur, die eine Mastibekk-Pyramide während des Aufladevorgangs mit dem SVE-Raumer verband. »Es ist nicht zu fassen«, murmelte Hathor Manstyr. »Die Mastibekks helfen einem Raumer, der soeben fünf Einheiten der Laren vernichtet hat.«
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»Das ist Verrat!«, schrie Nitrylar-Huth. »Gemeiner, abscheulicher Ver rat! Die Mastibekks helfen den Feinden des Konzils!« Kirtayn-Ker schüttelte fassungslos den Kopf. Das Geschehen über stieg sein Begriffsvermögen. Ein Vorgang dieser Art war einmalig in der Geschichte des Konzils – ein Konzilsvolk stellte sich offen gegen die Konzilsspitze. Die Grundfesten des larischen Selbstverständnisses gerie ten hier ins Wanken. Nicht abzuschätzen war die Entwicklung, sobald diese Nachricht sich verbreitete. Und bekannt würde sie werden, dafür würden schon die Terraner sorgen, die auf Olymp lebten. »Es gibt nur eine Chance für uns«, stellte Nitrylar-Huth fest. Seine Stimme war tonlos, denn das Entsetzen ließ ihn nicht mehr los. »Wir müssen den Energiefluss unterbrechen und den Raumer vernichten und danach den Verkünder alarmieren. Kein Augenzeuge darf diesen ungeheuerlichen Vorgang weitergeben.« Sein Gesicht war bleich, als er seine Begleiter ansah. »Ihr wisst, was das bedeutet?« 208
Koletan-Num nickte gefasst. Kirtayn-Ker schüttelte ahnungslos den Kopf, dann erst verstand er. »Doch nicht…«, stammelte er. »Warum wir?« »Ich sagte, dass kein Augenzeuge diese Nachricht verbreiten darf!«, erklärte Nitrylar-Huth. »Wir sind Augenzeugen. Im Interesse des ge samten Konzils müssen wir uns opfern!« »Ich denke nicht daran!«, schrie Kirtayn-Ker auf. »Was tut das Konzil für mich, dass ich so viel für das Konzil opfere? Wer verlangt von mir, dass ich mein Leben wegwerfen soll, als wäre es nichts wert?« »Das Wohl des Konzils verlangt es, der Verkünder der Hetosonen erwartet es, und ich erwarte es ebenfalls. Ich verlange nichts von dir, was ich nicht selbst ebenfalls tun werde!« In Kirtayn-Kers Augen flackerte die Angst. Er sah nur noch einen Weg. Seine Hand bewegte sich zum Gürtel und schloss sich um den Griff der Waffe. Im selben Moment zuckte ein Blitz auf. Nitrylar-Huth senkte seinen Strahler wieder, mit dem er Kirtayn-Ker erschossen hatte. Er hatte dem jungen Laren nicht den Hauch einer Chance gelassen. »Ich konnte nicht anders!«, sagte er gepresst. KoletanNum nickte langsam. »Geh voran!« Sein Freund gehorchte, zumal der Kommandant ihm mit schussbe reiter Waffe folgte. Langsam drangen sie tiefer in die Pyramide vor. Ein seltsamer Zwang trieb sie in Bereiche, die nie zuvor ein Lare gesehen hatte. Als sie merkten, dass sie ihrem Ende entgegenschritten, war es schon zu spät. Eine unwiderstehliche Kraft griff nach ihren Körpern und löste sie auf. Zur gleichen Zeit brachen überall auf Olymp Laren zu sammen. Wenig später waren auch sie verschwunden. Währenddessen entfernte sich der erste SVE-Raumer von der Pyra mide und machte den Platz frei für das zweite Schiff. Der Tankvorgang lief weiter. 209
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»Roctin-Par an Kaiser Anson Argyris! Melden Sie sich, Majestät!« Seit fünf Minuten funkte der erste der beiden SVE-Raumer diesen Spruch ohne Pause. Der Vario-500 saß in seinem Kontrollraum und überlegte. War dies eine Falle? Dann kam die Ergänzung: »Sektion Hazard, Gelb sticht! Sektion Hazard, Gelb sticht!« Der alte Mann lächelte zum ersten Mal. Er wusste nun, dass der Anruf echt war. Nur Roctin-Par konnte diesen Kode kennen, mit dem eine der vielen Eingangssperren von Argyris' unterirdischem Reich de aktiviert wurde. »Hier Anson Argyris, ich höre Sie, Roctin-Par!« »Endlich, Majestät. Ich will Sie mitnehmen, natürlich komplett. Sie wissen, was ich meine?« »Natürlich, Roctin-Par. Sie müssen aber warten. Es gibt zu tun für mich. Haben Sie so viel Zeit?« »Ich werde auf Sie warten, Kaiser. Melden Sie sich, sobald Sie Ihre Aufgabe erledigt haben!« Der Vario schaltete ab. Während des Tankvorgangs hatte ihn ein Sig nal seines Alarmsystems erreicht. Endlich hatte er den Fremden gefan gen, der sich im Labyrinth herumtrieb. Erst wollte der Vario diesen Mann überprüfen, danach würde er Olymp verlassen. Denn es war nur eine Frage der Zeit, bis das erste Larenkommando erschien.
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Hotrenor-Taak ging unruhig auf und ab. Die Nachrichtenlage war nicht besser geworden. Die Mastibekks streikten weiterhin, und das Problem der eigenen Energieversorgung für die SVE-Raumer war wei terhin nicht gelöst. Eine Welle von Schwierigkeiten zeichnete sich ab, die sich immer höher auftürmte. »Was gibt es Neues von Olymp?«, fragte er einen Untergebenen. »Wurde endlich versucht, mit den Mastibekks Kontakt aufzunehmen?« »Von Olymp ist keine Meldung eingetroffen, Verkünder!« Der Mann redete zögernd, denn Hotrenor-Taak war der Ärger deutlich anzusehen, und es war nicht ratsam, ihn in diesem Zustand mit schlechten Nach richten zu behelligen. »Was glauben diese Burschen eigentlich? – Wer ist Kommandant auf Olymp?« »Nitrylar-Huth, Verkünder. Bisher keine auffälligen Einträge in seiner Personaldatei.« »Es wird bald einen geben«, drohte Hotrenor-Taak. »Ist ein Schiff startklar?« »Wir haben noch einen Raumer mit vollen Reserven. Soll ich ihn abrufen?« Hotrenor-Taak vollführte eine zustimmende Geste. »Ich werde mir die Angelegenheit selbst ansehen.« Seine Wut war kaum verhohlen. »Olymp hat uns immer schon Ärger gemacht, ich werde dafür sorgen, dass es keine Störungen mehr geben kann. Vor allem muss dieser Kai ser Argyris endlich gefangen werden. Er ist einer unserer hartnäckigsten Opponenten.« Hotrenor-Taak lächelte boshaft. »Ich werde ihm das Opponieren austreiben!«
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Kershyll Vanne blieb nichts anderes übrig, als sich mit seiner Gefan genschaft abzufinden. Der enge Energiekäfig war nicht zu überwinden. 211
Deshalb spielte es keine Rolle, ob er selbst den Körper lenkte oder Jost Seidels Drängen nachgab. Der Junge – in dem Moment war seine hohe wissenschaftliche Qua lifikation schwer zu glauben – hatte in einer Tasche ein Messer gefun den und kratzte mit der Klinge mehrere Quadrate auf den Steinboden. Ihm war langweilig. Gleich darauf hüpfte er auf einem Bein von Qua drat zu Quadrat. »Das habe ich aus einer historischen Aufzeichnung über Spiele und Verhaltensweisen von Kindern und Jugendlichen«, sagte er, als müsse er sich dafür entschuldigen. Jost Seidel war so vertieft, dass er heftig zusammenzuckte, als ihn jäh eine heisere Stimme anredete: »Na endlich, jetzt habe ich dich. Was willst du hier, Bursche?«
11.
Z
um zweiten Mal in einer verhältnismäßig kurzen Zeitspanne hatte der Vario Schwierigkeiten, die einlaufenden Informationen sach gerecht zu interpretieren. Er hatte den Eindringling gefangen, aber was tat dieser? Der Gefangene hüpfte nach den Regeln eines jahrtausendeal ten Kinderspiels durch die Gegend und sang dazu. Als der Vario den Gefangenen anredete, erschrak der heftig und sagte völlig verblüfft: »Entschuldigen Sie bitte, war ich zu laut?« »Sind Sie von Sinnen?«, fragte Hathor Manstyr schrill. Die Gesichtszüge des Fremden veränderten sich leicht. Während das Gesicht immer noch von harter Entschlossenheit gezeichnet war, trat in die Augen ein milder Schimmer. »Ich heiße Kershyll Vanne, und Sie?« 212
»Hathor Manstyr«, antwortete der Robotkaiser programmgemäß. »Was suchen Sie hier?« Der Gefangene besaß die Unverschämtheit zu lächeln. »Das weiß ich nicht«, log er. »Es ist mir ein Rätsel, wie ich hierher gekommen bin.« »Sie werden mir trotzdem verraten müssen, wie Sie den Zugang in mein Reich gefunden haben. Ich kann Schnüffler nicht leiden …« Ein Hustenanfall schüttelte den Alten. Kershyll Vanne machte einige Schritte auf ihn zu. »Kann ich helfen?« Manstyr richtete sich auf und zog mit zitternder Hand seine Waffe. »Bleiben Sie mir vom Leib, Vanne! Ich möchte wissen, was mich daran hindern sollte, Sie einfach niederzuschießen. Dies ist mein Reich, hier hat außer mir niemand etwas zu suchen.« »Sie würden Schwierigkeiten mit den Behörden bekommen«, sagte Vanne sanft. Abrupt änderte er seine Stimmung, und schon erklang es rau: »Verschwinde endlich und lass uns hier raus, Alter!« Manstyrs Augen weiteten sich. Sie wurden noch größer, als das Ge sicht des Gefangenen deutliche Zeichen von Verärgerung aufwies. »Haben Sie das öfter?«, fragte der Vario vorsichtig. Mit diesem Irren war nicht zu spaßen, das stand für den Robotkaiser fest. Er war, wie alle Roboter menschlicher Fertigung, auf die Roboter gesetze eingeschworen. Folglich konnte er den Irren weder niederschie ßen noch ihn sich selbst überlassen. Er musste irgendetwas mit dem seltsamen Gefangenen anfangen, es fragte sich nur, was. Zunächst galt es herauszufinden, was der Fremde wollte und wie er wirklich hieß. Vor allem interessierte Argyris, wie es der Mann fertig gebracht hatte, so lange durchzuhalten. Das Verhör erbrachte nichts, selbst mit Fangfragen konnte Argyris sein Gegenüber nicht verwirren. Kershyll Vannes Antworten kamen blitzschnell und waren von nicht angreifbarer Logik. Argyris musste sich eingestehen, dass er selbst von sich mehr verriet, als der Fremde an Informationen preisgab. »Hören Sie, Kershyll Vanne«, sagte der Vario schließlich. »Ich bin 213
mit meiner Geduld am Ende. Wenn Sie nicht schnell die Wahrheit sa gen, werde ich Sie einfach niederschießen!« Er richtete die entsicherte Waffe auf den Kopf des Gefangenen. »Das glaube ich nicht«, erwiderte Vanne. Er machte einen stark irri tierten Eindruck. »Ich bin nämlich der Ansicht, dass Sie ein Roboter sind!« Diese Feststellung kam selbst für die Positronik des Vario-500 überra schend. Panik überflutete, vom Plasma ausgehend, Hathor Manstyrs Gedanken. Sein Maskengesicht zeigte deutliche Betroffenheit. »Woher wollen Sie das wissen?«, fragte er schroff. »Es liegt an Ihnen«, antwortete Vanne ruhig. »Sie reagieren in gewis sen Situationen eben wie ein Roboter – ein bemerkenswert guter Ro boter, wie ich zugeben muss.« Anson Argyris hatte Schwierigkeiten, und er wusste das. Er war ein hervorragender Psychologe, aber bei diesem Gefangenen schienen seine Kenntnisse wertlos zu sein. Der Vario war darauf programmiert, die Mimik seines Gegenübers zu beobachten, Schlüsse aus seiner Körper sprache zu ziehen. Das hatte er auch in diesem Fall getan, aber das Er gebnis lief darauf hinaus, dass sich sein Gefangener aus mindestens drei verschiedenen Persönlichkeiten zusammensetzte. Natürlich kannte der Vario die Phänomene der Schizophrenie eben so wie die der multiplen Persönlichkeitsstörungen. Nur hatte er nie da von gehört, dass sich die Symptome dieser Krankheiten zu einer sol chen Vollkommenheit herausbilden konnten. »Wollen Sie mir nicht wenigstens sagen, wo wir sind?«, bat Kershyll Vanne. »Ich weiß zwar nicht, was Ihnen daran liegt, aber wenn Sie das unbe dingt hören wollen – wir befinden uns auf Olymp.« Übergangslos lachte der Gefangene, bis ihm die Tränen kamen. Hat hor Manstyr versuchte, gegen diese Frechheit zu protestieren, aber zu mehr als einem würgenden Husten reichte es bei ihm nicht. »Sparen Sie sich die Mühe – Majestät!« 214
Erneut war der Vario fassungslos. Bevor er sich von seinem Schreck erholt hatte, setzte Vanne seine Offensive fort: »Sie sind Kaiser Anson Argyris, der Herrscher der Freifahrer. Oder soll ich Sie Vario nennen? Vario-500?« Anson Argyris schaltete seine Maske sozusagen ab. Es war soeben sinnlos geworden, den gebrechlichen Alten zu mimen. »Sie wissen verdächtig viel. Woher kommen Sie?« Die Antwort stürzte den Vario in die nächste Überraschung. »Ich komme von der Erde. Oder von Terra, wenn Ihnen dieses Wort lieber ist!« »Ach nein!«, höhnte der Vario. »Und wo ist die Erde? Wie haben Sie hergefunden? Was wollen Sie eigentlich überhaupt?« »Ich will das NEI erreichen, weil ich mit Julian Tifflor sprechen muss. Ich habe einen für die gesamte Menschheit wichtigen Auftrag zu erfüllen.« Die Zweifel des Vario-500 wuchsen. »Berichten Sie mir von der Erde, mit möglichst vielen Details!«, verlangte er. Kershyll Vanne überlegte nur kurz, dann sprach er von der Aphilie und von anderen Dingen, die nur jemand wissen konnte, der tatsäch lich einige Zeit auf der Erde verbracht hatte. »Es hört sich gut an, was Sie mir sagen«, bestätigte der Robotkaiser. »Die Informationen, die Sie mir gegeben haben, entsprechen der Wahrheit. Ich kenne sie, seit die SOL die Milchstraße erreicht hat. Aus dieser Quelle könnten Sie jedoch ebenfalls geschöpft haben.« »Warum diskutieren wir Ihre Zweifel nicht später?«, fragte Kershyll Vanne. »Ich habe es eilig und muss schnell zu Julian Tifflor. Als Nor malmensch bin ich gegen Sie ohnehin wehrlos. Welches Risiko gehen Sie schon ein?« »Ich würde sogar ein beachtliches Risiko eingehen«, beharrte der Vario, und dann feuerte er ins Blaue: »Sie sind kein normaler Mensch. Was also sind Sie wirklich?« Kershyll Vanne senkte den Blick wie ein ertappter Sünder. »Sie haben 215
Recht«, sagte er schließlich. »Ich bin kein normaler Mensch. Ich bin ein Konzept!« »Ein was?« »Ein Konzept. Ich versuche, es Ihnen zu erklären!« »Darauf bin ich sehr gespannt«, sagte der Vario-500 und richtete sei ne Waffe wieder auf den Besucher. Je länger Kershyll Vanne redete, desto besser verstand Anson Argyris alle Zusammenhänge. Mehr noch: Der Plasmaanteil seiner Persönlich keit war von dem Bericht des Konzepts unerhört beeindruckt. Die geistige Verwandtschaft faszinierte das Bioplasma. Hier wie dort gab es das gleiche Problem: mehrere zum Teil grundverschiedene Persönlich keiten. Während sich in dem Konzept sieben Bewusstseinsinhalte ei nen Körper teilen mussten, konnte der Vario-500 seinen Körper wech seln und damit seine Persönlichkeit. Nur der Kern blieb stets gleich. Im Grunde genommen waren Vanne und er selbst Pendants, eine Art Zwillingsverwandtschaft in der Konstruktion verband sie. »Ich glaube Ihnen«, sagte der Roboter schließlich. »Ich öffne den Schirm.«
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Stunden waren vergangen, seit Roctin-Par mit dem Kaiser von Olymp gesprochen hatte. Seitdem hatte sich der Vario nicht mehr gemeldet. Roctin-Par konnte sich nicht vorstellen, dass dem Vario-500 etwas zu gestoßen sein sollte, also musste sein Stillschweigen andere Ursachen haben. Erleichtert atmete der Provconer auf, als das Funkgerät endlich an sprach. »Hier spricht Anson Argyris, Kaiser von Olymp. Ich rufe das Schiff, das auf meiner Welt gelandet ist!« Typisch Argyris, erkannte Roctin-Par. Er wird gejagt, aber die großsprecheri schen Reden hat er nicht verlernt. 216
»Hier Roctin-Par«, antwortete er. »Wir erwarten Sie an Bord, Majes tät. Brauchen Sie Transporter für Ihre … äh … Ausrüstung?« »Kaiser Anson Argyris benötigt keine Hilfe. Haben Sie außer für mich Platz an Bord für einen Freund?« »Haben wir«, versprach Roctin-Par, obwohl er sich wunderte. Menschen gab es kaum mehr auf Olymp. Die meisten waren vor den Laren geflohen oder deportiert worden. Die wenigen Freifahrer, die ihren Traditionen treu geblieben waren, waren inzwischen an Al tersschwäche gestorben, und wenn überhaupt, dann lebten Menschen auf Olymp in sicheren Verstecken. Woher also nahm Anson Argyris einen Freund, ganz abgesehen davon, dass dieses Wort aus dem Mund eines Roboters einen merkwürdigen Klang hatte. Offiziell, fiel Roctin-Par ein, war Anson Argyris kein Roboter. Spielte er etwa immer noch …?
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Er spielte. Angetan mit der roten Seidenhose, die größtenteils von den hüfthohen Lederstiefeln verdeckt wurde, dem bunten Oberhemd und der dunkelroten, lose fallenden Jacke schritt der Kaiser über den Platz. Die Jacke blähte sich im Wind, der auch an den beiden Bartenden zerrte. Im Sonnenlicht glänzten die Howalgonium-Epauletten, die den Bart an den Schultern festhielten. »Anson Argyris, wie er leibt und lebt«, stellte Roctin-Par schmun zelnd fest. So hatte sich der Robotkaiser in früheren Jahren gegeben, als die Milchstraße noch nicht von den Laren beherrscht worden war. Fast zwei Meter groß war die Gestalt, breitschultrig und mit den gelassenen Bewegungen eines Mannes, der von seiner Kraft und seinem Rang überzeugt war. Seinen Sinn für wirkungsvolle Auftritte hatte der Vario-500 nicht ver loren. Hinter ihm schleppte eine Schar schwitzender Roboter – Roc 217
tin-Par musste zweimal hinsehen, bis er sich davon überzeugt hatte, dass die Roboter tatsächlich schwitzten – große Kisten und Ballen. Es fehlt nur ein Schwarm leicht gekleideter Frauen, und der Märchenpotentat ist fertig, erkannte Roctin-Par. Die Bilderfassung zeigte Argyris im Zoombereieh. Wenn es eines Be weises bedurft hätte, dann hätte der breite Ledergürtel ihn geliefert. Der Knopf von Roi Danton auf dem Gürtel kennzeichnete den Träger als Freifahrer und Ureinwohner von Olymp. Verbunden mit den ge heimen siganesischen Geräten, war dieser Gürtel ein Markenzeichen des Robotkaisers von Olymp. Neben Argyris war ein zweiter Mann erschienen, den Roctin-Par nie zuvor gesehen hatte. Der Kaiser legte einen Arm um seine Schultern und redete auf ihn ein. Die freie Hand beschrieb wilde Gesten in die Luft, einige davon waren recht eindeutig zweideutig. Der Begleiter des Kaisers machte den Eindruck, als wisse er mit der schillernden Persön lichkeit des Anson Argyris nichts Rechtes anzufangen. Während die schwitzenden Roboter die Gepäckstücke sehr vorsich tig im Laderaum des SVE-Raumers verstauten, begaben sich der Kaiser und sein Begleiter in die Zentrale. Die Provconer verharrten in ehrfürchtigem Schweigen, als Anson Ar gyris eintrat. »Ein feiner Knabe, der alte Roctin-Par. Du wirst ihn gern haben, Ker shyll. – Da ist er ja. Willkommen auf der Welt des Kaisers, Roctin-Par. Was immer Olymp an Genüssen zu bieten hat, seien sie teuer oder fragwürdig – sie seien Euer!« Mit weit ausgebreiteten Armen ging Anson Argyris auf den Provco ner zu und nahm ihn in die Arme. »Mein Lebensretter!«, rief er empa thisch. »Mein Held, mein Freund!« Er streckte die Arme aus und hielt den Laren vor sich. »Sie sind kaum gealtert seit unserer letzten Zusam menkunft, Roctin-Par.« »Ihr seid das auch nicht, Majestät«, gab der Provconer zurück. »Wir Laren werden älter als normale Menschen, und das Gleiche scheint für 218
Kaiser von Olymp zu gelten.« »Wir Freifahrer sind unsterblich!« Argyris drückte den ob dieser Ehre verwirrten Laren erneut an seine breite Brust. »Darf ich meinen Freund vorstellen: Kershyll Vanne. Jeder wird noch erleben, was alles in ihm steckt.« Der Kaiser brach in ein Gelächter aus, das bis in die Tiefen der Laderäume hörbar sein musste. RoctinPar verstand nicht, was es zu lachen gab. »Was gibt es an Neuigkeiten?«, wollte Argyris wissen. »Sehen Sie nach draußen, Majestät!«, forderte der Provconer den Kai ser auf. Argyris wölbte die Brauen, dann folgte er der Aufforderung. Kershyll Vanne trat neben ihn. »Teufel auch, die machen sich aus dem Staub!« Die saloppe Bemer kung galt der schwarzen Pyramide. Langsam stieg das Gebilde, das Roctin-Par einmal ein Monument der Macht genannt hatte, in den Himmel auf. »Was hat das zu bedeuten?«, fragte Argyris erregt. »Die Mastibekks ziehen sich zurück«, sagte Roctin-Par leise. »Die Monumente der Macht werden die Milchstraße verlassen. Sie werden künftig weder uns noch den Laren zur Verfügung stehen.« »Woher wollen Sie das wissen, Roctin-Par?« »Ich bin Lare, Majestät, und ich weiß es. Vertrauen Sie mir, die Mas tibekks werden die Milchstraße verlassen!« »Das ist die beste Nachricht, die ich seit der Landung dieser vermale deiten Kästen gehört habe. Die Laren haben ausgespielt, Verzeihung, die Konzilslaren.« »Hoffen wir es, Majestät!«, sagte der Provconer leise.
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»Die Mastibekks ziehen ab, Verkünder. Überall aus der Milchstraße wird gemeldet, dass die Pyramiden starten!« In der Stimme des Melders schwang Angst mit. Eine derartige Katastrophennachricht hatte er noch nie überbringen müssen. Hotrenor-Taak stand regungslos da, aber seine Gedanken über schlugen sich. Was steckte hinter dieser Aktion, was bewog die Masti bekks, das Konzil zu verraten? Denn anders als Verrat konnte er diese Aktion nicht deuten. Die Mastibekks würden so etwas niemals aus eigenem Antrieb tun, dessen war sich der Verkünder der Hetosonen sicher. Die Lage wurde zusehends verfahrener. Erst der Streik, nun der Ab zug. An Verhandlungen mit den Mastibekks war nicht zu denken, und auf kriegerische Aktionen wollte sich Hotrenor-Taak nicht einlassen. Wie führte man Krieg gegen seinen Waffenhändler, dem man eine Mo nopolstellung eingeräumt hatte? Auf diese Frage fand er keine Ant wort. »Olymp in Sicht, Verkünder. Die Station schweigt.« Hotrenor-Taak winkte ab. Die Station war nicht gerade bedeutend, sie konnte ersetzt werden, sobald wieder ausreichend Energie zur Ver fügung stand. Misslich war nur, dass die Laren nicht einfach den be nötigten Schiffsraum bei den Völkern der Milchstraße einziehen konn ten. In Gedanken sah der Verkünder schon die Karikatur eines Laren, der vor ein galaktisches Volk hintrat und sagte: »Wir brauchen eure Schiffe, um euch weiterhin unterdrücken zu können!« Hotrenor-Taak wusste, dass er in arge Bedrängnis geraten war. Er ent schloss sich, so bald wie möglich mit den Keloskern zu reden. »Verkünder – sehen Sie!« Hotrenor-Taak zuckte zusammen. Was jene nachglutenden Frag mente einmal gewesen waren, wusste jeder, der das Bild sehen konnte. Fünf SVE-Raumer, zerstört, vernichtet, ausgeglüht. In der Nähe die Sta tion, ebenfalls in Trümmer gelegt. »Überlebende?« 220
»Bislang keine Feststellung, Verkünder.« »Dann sucht nach Überlebenden!«, befahl Hotrenor-Taak müde. »Und sucht auch nach diesem Kaiser Anson Argyris. Wenn möglich, bringt ihn mir lebend!« Die Untergebenen eilten davon. Hotrenor-Taak blieb mit seinen quälenden Gedanken allein. Über die Tatsache, dass auf Olymp, in der Nähe der zerstörten Station, eine Mastibekk-Pyramide stehen sollte, hatte er kein Wort verloren. Die Pyramide war nicht mehr da. Der Verkünder der Hetosonen glaubte nicht, dass die Suche nach Überlebenden Erfolg haben würde. Sie hätten längst das landende Schiff angefunkt. Und daran, dass seine Laren den Kaiser Argyris fin den würden, glaubte er ebenfalls nicht. »Ein Fehlschlag«, murmelte Hotrenor-Taak. »Ein böser Fehlschlag!« Niemand wusste besser als er, was aus solchen Gegebenheiten er wachsen konnte. Das Konzil war in Gefahr. Und es gab etwas, das noch schlimmer war: Der Verkünder der Hetosonen selbst war in Ge fahr. Denn den Mächtigen wurden Misserfolge nur selten verziehen.
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»In der Provcon-Faust sind wir absolut sicher«, sagte Roctin-Par stolz. »Kein Schiff der Konzilslaren wird jemals seinen Weg durch die Ener giewirbel finden.« Er sagte dies nicht nur, um Anson Argyris von der Sicherheit des Verstecks zu überzeugen, sondern vor allem, um dem vincranischen Lotsen ein Kompliment zu machen. Die Vincraner brauchten diese Be zeugungen ab und zu, um ihr Selbstvertrauen zu bewahren. Ihre Situa tion war alles andere als einfach. Auf der Flucht vor den Halutern waren ihre Vorfahren hier gelandet, und immer noch schwelte die Angst vor jenen gewaltigen Kämpfern. Übergroß war das Sicherheitsbedürfnis der Vincraner – seit die Prov 221
coner die Terraner in die Wolke eingeladen hatten, hatte sich ein in tensiver Schiffsverkehr entwickelt. Diese Tatsache erschien den Vincra nern längst bedrohlich. Umso dankbarer waren sie, wenn ihnen be stätigt wurde, dass sie – und nur sie – in der Lage waren, einen Weg in die Dunkelwolke Provcon-Faust zu finden und sogar die größten Raumschiffe sicher zu lotsen. Kershyll Vanne kannte die Provcon-Faust und ihre Probleme, er kannte sie besser als irgendein Mensch. »Kein Schiff wird hier durchkommen«, fuhr der Provconer fort. »Ohne die Lotsen ist kein Zugang möglich.« »Ach wirklich?« Vannes Stimme war leise und freundlich. Roctin-Par und der Vincraner fuhren fast gleichzeitig herum, der Provconer ehrlich erschrocken, der Vincraner zornig. »Was soll das heißen, ach wirklich?«, fragte Roctin-Par scharf. Er hatte den merkwürdigen Mann, den Anson Argyris als seinen Freund be zeichnete, mehr oder weniger ignoriert. »Ich meine, dass vielleicht auch andere als die Vincraner einen Weg durch die Provcon-Faust finden könnten.« »Sie?«, fragte der Lotse höhnisch. Noch gab es eine geringe Chance, den Konflikt zu vermeiden. Anson Argyris erkannte das und wollte eingreifen. Er kam zu spät. »Warum nicht?« Kershyll Vanne lächelte freundlich. Der Vincraner riss die Augen auf, dann verschränkte er die Arme vor der Brust. »Nur zu!«, sagte er. Einzig Roctin-Par erkannte die Gefahr in ihrem ganzen Ausmaß. Der Lotse würde das Schiff nicht mehr steuern. Er war beleidigt worden und nahm persönlich Rache. Schweigend würde er zusehen, wie Ker shyll Vanne das Schiff lenkte – in den sicheren Tod. Der Vincraner würde dabei ebenfalls sterben, jedoch in dem Gefühl, seine Ehre wie derhergestellt zu haben. »Heilige Galaxis!«, stöhnte Roctin-Par kaum hörbar. Er konnte nichts unternehmen. Wollte er warten, bis ein anderes Schiff die Wolke mit 222
einem Lotsen verließ, musste er womöglich lange Zeit außerhalb der Wolke verbringen. Und wahrscheinlich würde sich jener Lotse ohne Zögern mit seinem Kollegen solidarisieren. »Ich brauche eine leistungsfähige Positronik!«, sagte Vanne. »Sie wollen es allen Ernstes versuchen?«, fragte Roctin-Par. Er warf ei nen verzweifelten Blick zu Anson Argyris, aber der Robotkaiser dachte nicht daran, seinem Freund in den Arm zu fallen. »Sie werden bekommen, was Sie verlangen«, sagte der Provcon-Lare resigniert. »Vielen Dank!« Kershyll Vanne lächelte freundlich. Der Vincraner starrte nur noch die Wand an. Er wartete auf den Tod, der die Schmach rächen sollte, die ihm und seinem Volk angetan worden war. Der Tod würde den unumstößlichen Beweis liefern, dass nur die Vincraner in der Lage waren, ein Schiff ungefährdet durch die Provcon-Faust zu lenken. Für ihn war es unerheblich, wenn neben dem Mann, der ihn beleidigt hatte, zugleich die Besatzung des Schiffes sterben musste. Und wenn der zweite SVE-Raumer so tollkühn war, sich dem Unternehmen des Frevlers anzuschließen, würde die Zahl der Opfer noch höher werden.
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»Er hat was?« »Er hat das Schiff sicher und ohne einen Gefahrenmoment durch die Provcon-Faust gesteuert, als hätte er nie etwas anderes getan. Den Vin craner mussten wir allerdings in ein Medocenter einliefern. Er braucht eine psychotherapeutische Behandlung, bevor er zu seinen Leuten zu rückkehren kann.« »Schicken Sie mir den Burschen her!« Julian Tifflor schüttelte un gläubig den Kopf. Eine solche Nachricht war eine Sensation allerersten Ranges. Wenn das stimmte, dann war das Monopol der Vincraner so eben gebrochen worden. 223
Die Tür öffnete sich. Roctin-Par trat ein. Neben ihm der übers ganze Gesicht strahlende Anson Argyris und ein Mann, den Julian Tifflor nicht kannte. Das musste Kershyll Vanne sein. Paradiagnostik nannten die Wissenschaftler seine besondere Fähigkeit schon. Den Namen haben sie verdammt schnell geprägt, dachte Julian Tifflor, während er die Besu cher begrüßte. »Was haben Sie mir zu berichten, Kershyll Vanne? Sollen Sie mir Grüße von Perry Rhodan übermitteln?« Vanne schüttelte den Kopf. »Leider nicht, Sir. Ich komme zwar von der Erde, aber das ist nur die halbe Wahrheit.« Tifflor wurde bleich. »Die Erde … sie existiert hoffentlich noch? Perry sagte etwas von einem Mahlstrom der Sterne, aber … So reden Sie schon!« »Die Erde existiert noch, Sir, nur – die Menschheit hat die Erde ver lassen.« Tifflors Augen weiteten sich. Kershyll Vanne bedeutete ihm mit einem unmissverständlichen Blick, dass sie besser zu zweit darüber re den sollten. Kurz darauf waren sie beide allein. »Wo sind die Menschen?«, drängte Julian Tifflor. »Mussten sie aus wandern?« »Die terranische Menschheit ist in ES aufgegangen. ES hat seinen Geist um die Bewusstseine von zwanzig Milliarden Menschen erwei tert!« Tifflor wurde blass. »Und was sind Sie?«, wollte er wissen. »Kein Mensch?« »In gewissem Sinne nein. Nicht mehr jedenfalls, Sir. Ich bin ein Konzept!« »Sie sind ein – was?« »Ein Konzept. Dies ist der Körper eines Mannes, der Kershyll Vanne hieß. Der Einfachheit halber haben wir diesen Namen beibehalten. Das Bewusstsein, das jetzt zu Ihnen spricht, ist das von Kershyll 224
Vanne. Außerdem enthält das Konzept die Bewusstseinsinhalte von sechs weiteren Menschen, die je nach Sachlage von dem Körper Besitz ergreifen können. Das erklärt diese überragenden geistigen Fähigkeiten des Konzepts!« »Ich muss mich setzen«, murmelte Tifflor. »Aber reden Sie weiter. Sie stammen also aus ES, wenn ich es so ausdrücken kann. Hat ES Sie ge schickt, und wenn ja, mit welchem Auftrag?« Vanne sah, dass Tifflor nicht alles glaubte, was er ihm berichtet hatte. Genauer gesagt: Tifflor wollte bestimmte Dinge nicht glauben. Vor allem nicht, dass die Menschheit der Erde nicht mehr in der Form existierte, die ihm vertraut war. Kershyll Vanne hütete sich daher, sei nen wahren Auftrag zu nennen. Erst wenn Tifflor die volle Wahrheit verstanden und akzeptiert hatte, wollte er ihm den zweiten Exodus der Menschheit vorschlagen, die Übersiedlung des NEI zur Erde. »Ich bin gekommen, um dem NEI gegen die Laren zu helfen!«, sagte Kershyll Vanne. »Das ist auch dringend nötig.« Tifflor stand auf und ging zu der klei nen Bar hinüber. »Für Sie ebenfalls einen Schluck? Das ist zwar kein irdischer Schnaps, aber …« »Äthanol ist Äthanol, überall im Universum. Für mich lieber nicht. Einer meiner Partner …« Kershyll Vanne brach ab. Tifflor füllte ein Glas, dabei sah er Vanne aufmerksam an. Er hatte keine Mühe, den abgebrochenen Satz zu vervollständigen. Langsam fing er an zu begreifen, was es bedeutete, sieben Bewusstseinsinhalte auf Dauer in sich zu tragen. Es war peinlich genug, einen Altmutanten zu übernehmen, aber das war immer nur kurzfristig gewesen, und die Mutanten hatten jahrhundertelange Erfahrung mit fremden Bewusst seinsinhalten. Die Vorstellung, dass ein durchschnittlicher Mensch mit allen Fehlern und Stärken das nicht einzuschränkende Recht bekam, im Innenleben eines anderen zu wühlen … Tifflor dachte an das, was er seine ›wilden Jahre‹ nannte und was – nach jetzigen Maßstäben – eine ausgesprochen hochanständige Phase 225
seines Lebens gewesen war. Wenn jemand … Nein, lieber nicht. »Sie sind mir hochwillkommen, Kershyll Vanne, und das nicht nur, weil Sie notfalls einen Vincraner ersetzen können. Ich kann jeden qua lifizierten Mann sehr gut brauchen. Es sieht aus, als dürften wir end lich eine Offensive wagen. Was halten Sie von der Situation in der Milchstraße?« Vanne war von der Frage irritiert. Er hatte nicht damit gerechnet, dass Tifflor ausgerechnet ihn um eine Stellungnahme bitten würde. »Besser als vor einigen Jahren«, formulierte er vorsichtig. »Aber längst nicht so gut, wie sie sein sollte.« In dem Raum lastete eine deutliche Atmosphäre des Unbehagens. Kershyll Vanne spürte, dass er Tifflor nicht überzeugt hatte, und genau genommen wusste Tifflor auch nicht, was er mit Vanne anfangen soll te. Die beiden Männer sahen sich an, und sie kamen sich gegenseitig auf die Schliche. Das Lächeln wurde ein wenig deutlicher. Trotzdem wussten beide nicht, was sie voneinander halten sollten. Sie waren nur in einem Punkt völlig einig. Den bedrängten Menschen in der Milchstraße musste geholfen werden, und das bald.
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12.
Howalara/Goorn II aan Wegenrat trat bis an den Rand der Mauer vor und blickte in die Tiefe. Der Wind trieb vertrocknete Pflanzen durch die leeren Straßen der Stadt. Der Ingenieur verzog das Gesicht. Er konnte sich gut erin nern, wie es früher gewesen war, wusste noch, welch atemberaubender Blick sich ihm an dieser Stelle geboten hatte. Die Straßen waren voller Leben gewesen. Wegenrat schloss die Augen und horchte in sich hinein. Für Sekun den war es ihm, als höre er leise Musik, die aus den Räumen hinter ihm kam. Näherten sich ihm nicht auch die gedämpften Schritte einer Bediensteten, die ihm, wie üblich zu dieser Stunde, Getränke anbieten wollte? »Na, alter Junge? Träumst du wieder?«, fragte stattdessen eine tiefe Stimme hinter ihm. Jaan Wegenrat schreckte aus seinen Erinnerungen auf und wandte sich hastig um. Vor ihm stand ein junger Mann – er betrachtete ihn jedenfalls als jung, seltsamerweise, denn Piet Alfrat war erst 74 Jahre alt, mithin also über fünfzig Jahre jünger als er selbst. »Ich träume nicht«, antwortete der Ingenieur verärgert. »Ich habe mich nur erinnert, das ist etwas anderes.« Er stieß einen Stein mit dem Fuß zur Seite, hob ihn dann aber auf und schleuderte ihn zu einem der Gebäude hinüber. Eine Scheibe klirrte. Wegenrat lächelte und be ruhigte sich. »Was verstehst du schon davon, Piet? Herzlich wenig.« »Meine Familie war nie so reich, wie du es einmal gewesen bist. Das macht wohl den Unterschied aus.« »Vielleicht. Aber lass uns gehen.« Er verließ den Raum, der vor Jah ren sein Büro gewesen war, ohne sich um die Verkatnager zu küm mern, die seinen Arbeitstisch unaufhaltsam in einen Trümmerhaufen
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verwandelten. Über Jahre hinweg war er fast täglich hier gewesen, um Verfall und Zerstörung zu verhindern. Doch mit der Zeit waren seine Besuche seltener geworden. Mittlerweile hatte er die Anstrengungen aufgegeben, das Zerstörungswerk der Natur aufzuhalten. Im Gegenteil. Manchmal hatte er selbst seinen ohnmächtigen Zorn an den Gegen ständen ausgetobt, die er irgendwann in der Vergangenheit für viel Geld von fernen Planeten geholt hatte. Wahre Kostbarkeiten waren da bei gewesen. Wegenrat blieb neben der Tür stehen. Er hob die Hände und rich tete ein Bild an der Wand. Doch kaum hatte er es berührt, als es end gültig zerfiel. Mit dem Staub und den Bruchstücken schwebten Goorn-Ameisen nach unten. Sie verschwanden in einem Mauerriss. Der Ingenieur verfolgte sie mit seinen Blicken. Sekundenlang war er versucht, die Insekten zu zertreten. Er ließ den schon erhobenen Fuß wieder sinken, als er Piet Alfrat lachen hörte. »Du hast Recht«, erkannte er bitter. »Es hat keinen Sinn. Unsere Zeit ist vorbei und kommt nie wieder.« Er betrachtete die Reste des Bildes. Wie damit, so war es mit allem gewesen – nichts hatte Bestand gehabt. Sogar die mühsam erarbeiteten Millionen hatten sich buchstäblich in nichts aufgelöst. Jaan Wegenrat verließ das Büro und trat auf den Mittelgang des Hauses hinaus. Langsam zunächst, dann schneller ging er die Nottrep pe hinunter. Der Antigravschacht funktionierte längst nicht mehr. »Es ist mir unbegreiflich, dass sie alles so verfallen lassen«, sagte er zu Alfrat, der ihm schweigend folgte. »Ich werde es nie verstehen kön nen. Es wäre einfach gewesen, alles zu übernehmen und weiterzufüh ren. Aber nein, sie mussten ihre eigene Stadt bauen.« Er blieb stehen und drehte sich um. Sein Gesicht verzerrte sich, sei ne dunklen Augen funkelten vor Zorn. »Demütigen wollten sie uns, uns auf die Knie zwingen und sagen: Seht! So winzig seid ihr!« Piet Alfrat schwieg weiterhin. Diese Worte hatte er vermutlich zu oft gehört und wusste nicht mehr, was er darauf antworten sollte. Alles, 228
was er je dazu gesagt hatte, war Wegenrat sowieso nicht recht gewesen. Der Ingenieur drehte sich wieder um und eilte weiter. Es schien ihm Spaß zu machen, mehrere Stufen auf einmal zu nehmen und immer schneller zu werden, bis er ganze Treppenabsätze übersprang. »Hör auf!«, brüllte Alfrat. »Du brichst dir die Knochen.« Wegenrat hielt keuchend inne. Er wartete, bis Piet Alfrat bei ihm war. »Manchmal muss ich toben«, sagte er. »Ich muss einfach rennen, weil ich spüre, dass ich sonst verrückt werde.« »Du spinnst. Wenn du dir hier die Beine brichst, ist es aus mit dir. Du weißt, wie miserabel unser medizinische Versorgung ist. Medika mente haben wir kaum, und die wenigen, die wir haben, werden für die Jungen reserviert.« »Ist ja schon gut.« Er winkte missmutig ab. »Wer will so etwas schon hören. Meine Knochen sind in Ordnung, so schnell brechen sie nicht.« »In deinem Alter sind die Knochen nicht mehr so stabil, Jaan. Sie verlieren Kalk und …« »Vielleicht ist es so«, unterbrach der Ingenieur den ehemaligen Kol legen hitzig. »Und wenn es so ist, dann wandert bei mir der Kalk aber nicht ins Gehirn. Das wolltest du doch andeuten – oder?« Piet Alfrat lachte. Er schüttelte den Kopf. »Nicht so aggressiv, Jaan! Lass uns lieber überlegen, ob wir unseren Plan irgendwie verwirklichen können.« Wegenrat runzelte die Stirn. Er gab einen unwilligen Laut von sich, drehte sich um und eilte weiter. Erst als er den Ausgang des Gebäudes erreicht hatte, blieb er stehen und wartete, bis Alfrat aufschloss. »Wie stellst du dir das vor?«, wollte er wissen. »Hast du eine Idee?« »Ich habe eine gute Idee gehabt«, sagte der Nukleartechniker. »Gehabt? Dann ist alles wieder weg? Wenn du so vergesslich bist, solltest du dir alles Wichtige aufschreiben.« »Ich habe es nicht vergessen, Jaan. Ich wollte sagen, dass ich einen guten Einfall gehabt habe und daraufhin in den Minenunterlagen ge 229
lesen habe. Mich interessierten die letzten Tage vor der Arbeitseinstel lung.« »Und, was hast du gefunden?«, fragte Wegenrat elektrisiert. Er packte den Jüngeren an der Schulter und schüttelte ihn. »Heraus damit! Sag schon!« »Immer ruhig. Wenn du so schnell den Verstand verlierst, Jaan, suche ich mir einen anderen Partner.« Betroffen ließ Wegenrat die Hände sinken und verschränkte sie sicherheitshalber hinter dem Rücken. »Also schön, großer Meister«, spottete er. »Ich höre, und ich bin ganz ruhig.« »In den letzten Arbeitstagen wurde eine Space-Jet ins Bergwerk ge bracht. Der Diskus sollte direkt unten nach einer neuen Verlademetho de versorgt werden. Doch das Experiment wurde nie abgeschlossen. Je denfalls steht nichts davon in den Speichern.« »Das würde der Fall sein, wenn man das Experiment beendet hätte«, stimmte Wegenrat zu. Er brachte die Hände wieder nach vorn. »Du meinst also, wir sollten in den Berg gehen, die Space-Jet suchen und mit dem Schiff starten?« »Das meine ich.« »Ein verwegener Gedanke, das gebe ich zu. Glaubst du wirklich, dass wir das schaffen können? Die erwischen uns, bevor wir Goorn II ver lassen haben.« »Die kriegen uns nicht so leicht. Wir können warten. Ein paar Tage mehr oder weniger spielen keine Rolle. Sobald der Zeitpunkt günstig ist, starten wir. Ich garantiere dir, dass wir es schaffen.« Jaan Wegenrat lächelte schief. »Und wenn nicht, spielt das keine Rol le. Lieber auf die Weise vor die Hunde gehen als länger hier bleiben. Ich habe das restlos satt.« »Du bist also dabei?« »Selbstverständlich. Gehen wir gleich ins Bergwerk?« »Ich wusste, dass du mit Elan an die Geschichte herangehen wür dest«, sagte Alfrat begeistert, während er neben dem Ingenieur hereilte. 230
»Kannst du überhaupt mit einer Space-Jet umgehen?« »Mann, ich habe den Erste-Klasse-Schein. Wenn du willst, bringe ich dich durch die gesamte Galaxis, ohne irgendwo anzustoßen.« Die beiden Männer durchquerten die Stadt. Es war ein mühsamer Marsch durch die zum Teil mit Trümmern übersäten Straßen. Trans portmittel gab es nicht. Die wenigen Geräte, die die kleine Kolonie auf Goorn II noch hatte, waren für wichtige Anlässe reserviert. Erinne rungsgänge ins Zentrum von Howalara waren nicht wichtig. Wegenrat fluchte schon nach einer Stunde. Er blieb stehen, um sich auszuruhen. »Ein Blödsinn sondergleichen ist es, dass die Bergwerksmaschinen gewartet und mit Batterien versorgt werden, während für ein paar Glei ter keine Energie zur Verfügung gestellt wird«, sagte er. »Niemand glaubt noch ernsthaft, dass wir das Bergwerk wieder in Betrieb nehmen können.« »Du irrst dich«, erwiderte Alfrat ruhig. »Es gibt eine Reihe wichtiger Männer, die davon überzeugt sind, dass die Macht der Laren zu Ende geht. Sie glauben, dass alle Konzilsangehörigen in zwanzig oder dreißig Jahren aus unserer Galaxis verschwunden sein werden.« »Dafür haben wir dann die Überschweren auf dem Hals. Das macht keinen Unterschied.« »Vielleicht schon«, widersprach der Nukleartechniker. »Die Über schweren haben eine ganz andere Technik als die Laren, vergiss das nicht. Sie haben unsere Technik. Die fünfdimensionalen Howalgo nium-Schwingquarze sind für uns wie für die Überschweren unerläss lich für alle überlichtschnell arbeitenden Geräte und Maschinen. Hy perfunk ohne Howalgonium ist undenkbar.« »Wem sagst du das.« Wegenrat schnaubte verächtlich. »Dir. Weil du es anscheinend vergessen hast. Die Laren kennen be reits künstliche Schwingquarze auf der 5-D-Ebene. Trotzdem halte ich es für möglich, dass sie die Howalgonium-Adern unter unseren Füßen als eine Art stille Reserve ansehen. Ich sage dir, die Laren wissen genau, 231
was für Schätze hier ruhen.« »Mag sein«, gab Wegenrat mürrisch zu. »Aber was hilft uns das? Überhaupt nichts. Die Laren zahlen uns nichts für das Howalgonium und die Überschweren ebenfalls nicht.« »Vielleicht«, sagte Piet Alfrat. »Aber das ist jetzt nicht unser Problem. Wir wollen von hier verschwinden. Oder hast du das vergessen?« Bald darauf erreichten sie die Außenbezirke der Stadt, in denen die Bewohner von Goorn II lebten. Auch hier zeigte sich überall Verfall. Viele Häuser waren verlassen. Nur die bewohnten Gebäude wirkten ge pflegt und ordentlich. Deutlich erkennbar war die Wirkung der Rei nigungskolonnen, die dafür sorgten, dass die Straßen sauber blieben und dass sich kein Ungeziefer einnisten konnte. Ein Teil der verlasse nen Häuser war versiegelt worden, damit sie nicht zerfielen und ver schmutzten. Ursprünglich hatte Jaan Wegenrat vorgehabt, sein Verwal tungsgebäude in der Stadtmitte ebenfalls so zu sichern, aber die dafür notwendigen Arbeiten wären zu umfangreich und zu kostspielig ge wesen. Er blieb murrend stehen, als sie den Raumhafen erreichten. Alfrat zog ihn jedoch weiter. Der Raumhafen von Goorn II war tot. Hier war seit Jahren kein Schiff mehr gelandet. Sowohl die Laren als auch die Überschweren mieden den Planeten, als hätten sie mit Gefahren zu rechnen. Roboter und kleine Gruppen von Spezialisten warteten den Raumhafen, so dass dieser jederzeit wieder in Betrieb genommen werden konnte. Auch da für hatte der Ingenieur nur wenig Verständnis. Es wäre einfacher gewe sen, alle Anlagen zu versiegeln und sie so vor Verfall und Zerstörung zu bewahren. Er war der Ansicht, dass die Wartungseinheiten nur Energie verschwendeten, die an anderer Stelle nutzbringender einge setzt werden konnte. Der Zugang zur Mine war mit Panzerschotten abgesichert. Doch das bedeutete kein Problem. Wegenrat kannte sich aus. Mühelos öffnete er das positronische Schloss, das er selbst eingerichtet hatte. Danach 232
glitten die Schotten zur Seite. Wegenrat blieb stehen und atmete mehr mals tief durch. Rührung drohte ihn zu übermannen. Dies war seit vie len Jahren das erste Mal, dass er die Stollen betrat. Die Erinnerung an die verlorene Freiheit und an den Reichtum erdrückte ihn nahezu. Piet Alfrat war nicht so reich und mächtig gewesen wie der Inge nieur, aber er hatte ebenfalls alle Vorzüge jener pulsierenden Welt ge nossen, die Goorn II selbst einige Zeit nach dem Fall des Solaren Im periums noch gewesen war. »Wo ist die Jet?«, fragte Wegenrat mit belegter Stimme. »Sie muss in der Halle in elf B sein«, antwortete der Nukleartechni ker. »Wir werden sie schon finden.« Wegenrat schloss die Schotten, nachdem er sich einen Schutzhelm mit Scheinwerfer aufgesetzt hatte. Auch Alfrat versah sich mit einem Helm, so dass sie genügend Licht hatten. Der in den Berg führende Stollen war glatt und eben. Transportgleiter hatten früher die Schwing quarze nach oben gebracht. Auch Wände und Decke waren glatt. Posi tronisch gesteuerte Desintegratorstrahler hatten den Weg zu den Ho walgonium-Adern freigeschnitten. Dumpf hallten die Schritte von den Wänden wider. Beide Männer schwiegen und hingen ihren Gedanken nach. Sie hofften, die Space-Jet schnell zu finden. Jaan Wegenrat dachte daran, das kleine Raumschiff mit Howalgonium zu beladen, aber dann besann er sich, wie sinnlos das gewesen wäre. Verbittert lachte er auf. »Was ist los mit dir?«, fragte Alfrat besorgt. »Ich dachte gerade daran, dass wir für das Howalgonium Milliarden kassieren würden, wenn wir es irgendwo in der Galaxis absetzen könn ten.« Der Ingenieur schüttelte den Kopf. »Es ist nicht zu fassen. Da sitzen wir auf einem gewaltigen Schatz. Noch vor wenigen Jahren hät ten wir damit die halbe Galaxis kaufen können. Aber heute ist das Zeug nichts mehr wert.« »Übertreibe nicht«, sagte der Nukleartechniker ruhig. »Völlig wertlos ist Howalgonium bestimmt nicht. Vorläufig können wir es nur nir 233
gendwo verkaufen.« Sie erreichten einen Verteiler, von dem ein Schacht und Stollen in verschiedene Richtungen abzweigten. »Wir trennen uns«, schlug Wegenrat vor. »Über Funk können wir in Verbindung bleiben. Wir schalten aber nur ein, wenn einer fündig ge worden ist. Es wäre dumm, die Laren aufmerksam zu machen.« »Glaubst du, dass sie uns abhören?« »Ich weiß, dass es irgendwo eine robotische Sicherung gibt. Die könnte Alarm schlagen, wenn wir uns allzu sorglos benehmen.« »Na schön. Wie du willst.« Wegenrat lachte. »Hast du Angst, allein durch die Mine zu laufen? Mensch, Piet, wir sind die Einzigen hier. Und an Gespenster glaubst du hoffentlich nicht?« Alfrat lächelte verlegen. Er schüttelte den Kopf. »Aus dem Windelal ter bin ich heraus.« Damit drehte er sich um und ging davon. Wegen rat beobachtete ihn, bis der Lichtschein der Helmlampe in der Ferne verschwand. Dann wählte er einen anderen Stollen aus und ging eben falls los. Ein seltsames Gefühl beschlich ihn. Ihm war, als sei er nicht allein. Er schalt sich selbst einen Narren, drehte sich dann aber doch um und blickte zurück. Hinter ihm war niemand. Doch das ungute Gefühl wollte nicht weichen, es ließ ihn frösteln. Jaan Wegenrat fluchte verhalten und beschimpfte sich selbst wegen sei ner Schreckhaftigkeit. Bald erreichte er die ersten Stollen, deren Wände von schimmernden Howalgonium-Adern durchzogen waren. Er wusste, dass Piet Alfrat knapp zwei Kilometer von ihm entfernt sein musste. Er wusste auch, dass sich auf keinen Fall jemand anders im Bergwerk aufhalten konnte. Kein Mensch hätte hier längere Zeit leben können. Es gab weder Le bensmitteldepots noch Wasser. Und das Sicherheitsschott war unver sehrt gewesen. Trotzdem hörte Jaan Wegenrat jemanden hinter sich atmen. 234
***
Goorn II Tallmark spürte es als Erster, als der SVE-Raumer noch weit von Goorn entfernt war. Zunächst glaubte er, dass der Druck von der alten roten Sonne käme. Je näher das Raumschiff aber dem zweiten Planeten rückte, desto deutlicher wurde, dass es diese Welt war, die 5-D-Schwin gungen ausstrahlte. Tallmark war entsetzt. In panischer Furcht suchte er nach einem Ausweg. Da bemerkte er, dass Llamkart und Sorgk sich von ihren La gern aufrichteten. Auch Plarark, Splink, Zartrek, Pragey und die an deren wurden unruhig. »Das geht nicht«, sagte Sorgk stammelnd. Er hob die Tentakel und wickelte sie um seinen Kopf. Der SVE-Raumer raste mit unverminderter Geschwindigkeit weiter dem zweiten Planeten der roten Sonne entgegen. Plarark brach als Erster zusammen. Er eilte mit den für ihn typi schen plumpen Bewegungen auf den Ausgang zu, schaffte es aber nicht mehr bis zum Schott. Mit allen Anzeichen eines 5-D-Schocks sank er zu Boden, seine Gliedmaßen zuckten konvulsivisch. »Wir müssen es ihnen sagen!«, rief Llamkart. »Auf keinen Fall!«, widersprach Sorgk. »Wenn sie es erfahren, muss sich alles ändern, und der gesamte Plan wird scheitern.« »Das ist wahr«, antwortete Llamkart überrascht. Daran hatte er nicht gedacht. »Aber wir müssen etwas tun. Ich halte das nicht aus!« Die anderen fünfundzwanzig Kelosker äußerten sich ähnlich. Sie alle hatten das Gefühl, in eine Katastrophe zu geraten. Doch keiner von ihnen raffte sich auf, dagegen einzuschreiten. Keiner war in der Lage, einen Plan wenigstens für die nächste Stunde zu entwerfen. Tallmark dämmerte es, dass diese Tatsache das eigentlich Bestürzen de war. 235
Der SVE-Raumer landete auf dem Larenstützpunkt auf Goorn II, und die Kelosker blieben wie gelähmt auf ihren Plätzen. »Wir können nur eins tun«, erklärte Sorgk endlich, nachdem er Pla rark wieder auf die Beine geholfen und Splink und Zartrek ermuntert hatte. Die beiden waren ebenfalls zusammengebrochen, hatten sich aber schneller erholt als Plarark. »Wir dürfen uns nichts anmerken las sen. Dies ist wahrscheinlich ein Howalgonium-Schock. Wir werden ihn überwinden.« »Richtig«, stimmte Tallmark zu. »Die Laren dürfen nichts merken. Alles andere ergibt sich von selbst.« »Hoffentlich«, sagte Llamkart, der wesentlich pessimistischer als die anderen war. Die Ausstrahlungen der auf Goorn II vorhandenen HowalgoniumKristalle führten dazu, dass die Kelosker ihre Fähigkeiten der Extrapo lation bis in siebendimensionale Bereiche nahezu völlig verloren hat ten. Auch ohne extrapolieren zu können, waren sie sich darüber klar, was das für sie bedeutete. Sie waren in diesem Zustand nicht mehr in der Lage, folgerichtig im Sinne des Achtzig-Jahre-Plans weiterzuarbei ten. Darüber hinaus waren sie im höchsten Maß gefährdet. Tallmark sprach aus, was alle dachten: »Wenn Hotrenor-Taak erfährt, dass wir zu Denkern seiner Dimension geworden sind, kann er auf unsere Mit arbeit verzichten. Wir dürfen nicht vergessen, wie er dann reagieren würde.« »Er würde uns abschieben?«, fragte Zartrek zweifelnd. »Vielleicht sogar töten«, vermutete Tallmark. »Deshalb müssen wir die Laren täuschen und so tun, als seien wir weiterhin in ihrem Sinne einsatzfähig.« Voller Unbehagen blickten die Kelosker sich an. Pläne zu schmieden und zu verwirklichen, je komplizierter desto besser, das war ihre Stär ke. In direkter Konfrontation jedoch falsches Spiel zu treiben, ent 236
sprach nicht ihrer Mentalität. Daher wurden sie unsicher. Und da sie sich dessen bewusst waren, wuchs ihre Unsicherheit weiter. »Wir müssen Hotrenor-Taak veranlassen, uns so schnell wie möglich in ein anderes System zu bringen«, sagte Tallmark. Bevor die anderen sich äußern konnten, entstand eine Öffnung in der sie umgebenden Energiewand. Ein Lare betrat den Raum. »Wir sind da«, sagte er lapidar und blickte sich flüchtig um. Als er sah, dass die Kelosker sich von ihren Liegen erhoben, drehte er sich um und ging davon. Tallmark gab den anderen ein Zeichen und folgte dem Laren. Zö gernd schlossen alle sich ihm an. Der Lare blieb vor dem Raumschiff stehen. Er zeigte zu dem großen Gebäude in der Ebene hinüber. Tallmark spürte die hohe Schwerkraft des Planeten sofort. Die Belastung lenkte ihn zunächst von seinen Sor gen ab, und begierig nahm er alles Neue in sich auf. Goorn II war eine trockene Welt mit wüstenähnlichem Charakter. Die tief hängenden Wolken schimmerten rot, und sogar die wenigen verkrüppelten Pflanzen, die Tallmark sah, waren rötlich. Die Laren leg ten keinen Wert auf Landschaftspflege, demgemäß zeigte sich die Zer störung der Natur allzu deutlich. »Hotrenor-Taak wartet auf Tallmark und Sorgk«, sagte ihr Begleiter. Es fällt ihm schwer, uns auseinander zu halten, dachte Tallmark trium phierend. Auf dieser Erkenntnis baute sich seine Hoffnung auf, dass ihre Befangenheit unbemerkt bleiben würde. Seit Jahrtausenden waren die Laren mit den Keloskern vertraut, trotzdem gab es immer Angehö rige dieses Konzilsvolks, die einen Kelosker nicht von dem anderen unterscheiden konnten. Leider gehörte Hotrenor-Taak nicht dazu, das wusste Tallmark. Der ehemalige Verkünder der Hetosonen war ein Mann, den er keinesfalls unterschätzen durfte. Drei Antigravplattformen trugen sie hinüber zum Stützpunkt der Laren. Dort wurden ihnen Unterkünfte zugewiesen. Tallmark und 237
Sorgk erhielten erneut den Befehl, sich sofort bei Hotrenor-Taak zu melden. Voller Unbehagen liefen sie hinter einem Laren her, der sie zu dem mächtigsten Mann der Galaxis führte. Sie dachten an ihren Achtzig Jahre-Plan, den sie für Perry Rhodan entwickelt hatten und der in letz ter Konsequenz zum Zusammenbruch der larischen Macht führen soll te. Der Plan sah vor, die Laren davon zu überzeugen, dass sie allein die Herrschaft in der Milchstraße anstreben mussten. Das hatte HotrenorTaak inzwischen verwirklicht. Wie beabsichtigt hatten die Laren sich mit den anderen in der Galaxis vertretenen Abordnungen der Konzils völker überworfen. Aber nun, durch den Abzug der Mastibekks, war eine äußerst kritische Situation entstanden. Wie kritisch, das wurde Tallmark und Sorgk erst voll bewusst, als sie den Arbeitsraum Hotrenor-Taaks betraten. Der Verkünder der Hetosonen war bis zum Äußersten gereizt. Zor nig ging er auf Tallmark und Sorgk los.
***
Jaan Wegenrat drehte sich ruckartig um. Seine Kehle war wie zuge schnürt. Er war sich nicht klar darüber, wen er eigentlich zu sehen er wartete, er wusste nur, dass jemand hinter ihm sein musste. Doch er irrte sich. Der Stollen war leer, so weit der Lichtschein der Helmlampe reichte. Der Ingenieur schüttelte den Kopf und rieb sich die Augen. »Du fängst an zu spinnen, Alter«, sagte er ärgerlich zu sich selbst, dann lachte er gequält und ging weiter. Er war entschlossen, sich durch nichts mehr nervös machen zu lassen. Niemand außer ihm und Piet Alfrat befand sich in dem Bergwerk, also lag auch kein Grund vor, sich vor irgendjemandem zu fürchten. Als Jaan Wegenrat zehn Schritte weit gegangen war, knisterte es hin ter ihm, als breche der Gang zusammen. Wieder fuhr er herum, aber 238
die Wände sahen so stabil aus wie vorher, und niemand befand sich in seiner Nähe. Er beschleunigte seine Schritte und pfiff laut vor sich hin, um alle Geräusche zu übertönen, die ihn irritieren konnten. Er erreichte ein Zwischenschott, legte seine Hand auf die Kontaktplatte und öffnete den Stahlflügel. Er entdeckte die Space-Jet sofort, die inmitten von Bergwerksmaschinen stand. Er griff zu seinem Schutzhelm, um das Funkgerät einzuschalten und Piet Alfrat zu rufen. In dem Moment legte sich eine Hand auf seine Schulter. Wegenrat zuckte zusammen, als habe er einen elektrischen Schlag be kommen. Er sprang vor und wirbelte erst dann herum. Auch diesmal war niemand da. Trotzdem tastete er mit der rechten Hand seine Schulter ab. Ganz deutlich hatte er den Druck gespürt. Er lachte verzerrt. »Verdammt, Piet«, sagte er rau. »Fast hättest du mich hereingelegt. Ich habe tat sächlich nicht daran gedacht, dass es Deflektoren gibt, mit denen du dich unsichtbar machen kannst. Also gut, Junge, du hast deinen Spaß gehabt. Leg jetzt die Maske ab und benimm dich wie ein Erwachsener. Wir haben die Jet gefunden, damit ist alles klar. Hm?« Alfrat antwortete nicht. Ärgerlich drehte Jaan Wegenrat sich einmal um sich selbst. »Hör zu!«, sagte er. »Allmählich habe ich kein Verständnis mehr für diesen Mist.« In seinem Helmlautsprecher knackte es. Er schaltete das Funkgerät ein. »Jaan!«, rief Piet Alfrat keuchend. »Wo bist du?« »Ich habe die Jet gefunden. Aber das weißt du ja selbst. Komm end lich zu dir und lass den Quatsch.« Ein grauenhafter Schrei antwortete ihm. Alfrat schien sich in höch ster Gefahr zu befinden. »Piet, was ist los?«, brüllte Wegenrat. Nur ein Ächzen und Keuchen antwortete ihm. Es hörte sich an, als 239
ob der Nukleartechniker versuchte, etwas zu sagen, das aber nicht mehr über die Lippen brachte. Dann war Stille. Wegenrat zitterte am ganzen Körper. Er blickte sich gehetzt um und flüchtete zur Space-Jet. Mit fliegenden Fingern betätigte er den Öff nungsmechanismus. Er atmete auf, als das Schott zur Seite glitt, und er sprang förmlich in die Schleuse hinein. Als der Zugang sich schloss, wähnte er sich in Sicherheit. Sein Herz schlag beruhigte sich. Er kletterte zur Zentrale hoch und aktivierte die Energieversorgung. Dabei erinnerte er sich an Alfrat, und sein Gewis sen meldete sich. Jetzt schaltete er das starke Funkgerät des Kleinraum schiffs ein, wurde sich aber dessen bewusst, dass er damit so etwas wie ein Alarmsignal an die Laren abstrahlen würde. Deshalb versuchte er es wieder mit dem Helmgerät und deutlich geringerer Sendeleistung. »Piet?«, rief er zaghaft. Der Nukleartechniker antwortete nicht. Wegenrat ließ sich in einen der Andrucksessel sinken, aber er würde zeitlebens Gewissensbisse ha ben, wenn er sich nicht um Piet kümmerte. Er konnte nicht einfach starten und fliehen, sondern musste etwas unternehmen. Jaan Wegenrat durchsuchte die Schränke. Wie erhofft fand er eine Waffe, einen schweren Kombistrahler, dessen Reichweite größer war, als die äußeren Bedingungen im Bergwerk verlangten. Er überprüfte die Waffe und fand, dass sie in Ordnung war. Die Energiepatrone wies eine Kapazität von fast neunzig Prozent aus. Wegenrat entsicherte die Waffe und verließ die Zentralekuppel. Nachdem er sich noch einmal davon überzeugt hatte, dass der Strah ler einsatzbereit war, verließ er die Space-Jet. Der Lichtkegel seiner Helmlampe huschte über brüchiges Gestein, in dem sich die schimmernden Quarzadern abzeichneten. Er hielt sich aber nicht auf, sondern stürmte zu der Abzweigung zurück, an der Alf rat und er sich getrennt hatten. Dort schlug er den Weg ein, den Piet genommen hatte. Währenddessen versuchte er mehrmals, Funkkontakt zu dem Nukleartechniker zu bekommen. Ohne Erfolg. 240
Je weiter er vordrang, desto langsamer ging er. Er wollte nicht über rascht werden. Mittlerweile zweifelte er nicht mehr daran, dass etwas Fremdartiges in den Bergwerksstollen lauerte. Dieses Fremde musste Piet Alfrat überwältigt und vielleicht gar getötet haben. Nach einer Weile fand er einen einzelnen Schuh. Wegenrat hob ihn auf und erinnerte sich, bei Alfrat derartiges Schuhwerk gesehen zu ha ben. Hinter ihm war ein scharfes Knacken. Darauf hatte er angespannt gewartet. Blitzschnell fuhr er herum und feuerte den Strahler ab. Deutlich konnte er sehen, wie der Blitz den ge raden Stollen entlangschoss und sich in einiger Distanz verlor. Für Se kundenbruchteile wurden die Wände grell beleuchtet. Aber da war niemand, nicht einmal ein Schatten. Stöhnend fasste Wegenrat sich an den Kopf. »Nerven behalten!«, murmelte er und drehte sich wieder um. Seine Augen weiteten sich. denn der Schuh, den er fallen lassen hatte, war verschwunden. Er sprang auf und wich mehrere Schritte zurück. In panischem Ent setzen suchte er seine Umgebung nach dem Schuh ab. Vergeblich. Ir gendjemand oder irgendetwas musste ihn weggenommen haben. Wegenrat schrie auf und jagte einen Schuss in die andere Richtung. Höchstens fünfzig Metern entfernt sah er eine reglose Gestalt auf dem Boden liegen. Er rannte sofort los und achtete nicht einmal auf die verwehende Hitze des Energieschusses, die ihm entgegenschlug. Neben der verkrümmten Gestalt sank er auf die Knie. Er packte den Mann an der Schulter und zerrte ihn mit einer wilden Bewegung her um. Stöhnend prallte er zurück. Piet Alfrat war tot, und sein verzerrtes Gesicht sah aus, als wäre es aus Howalgonium herausgeschnitten.
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Hotrenor-Taaks Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. »Ich frage mich, ob die Konsequenzen aus den Vorschlägen nicht klar er kennbar waren«, sagte er. »Ich bin Ihrem Ratschlag gefolgt und habe mit aller Energie die alleinige Herrschaft über diese Galaxis ange strebt.« »Das war richtig«, bemerkte Tallmark hastig, als der Lare eine kurze Pause machte. »In der Folge wurden die freundschaftlichen Beziehungen zu den an deren Konzilsvölkern zerstört.« »Die Abhängigkeiten zu ihnen«, verbesserte Sorgk. Hotrenor-Taak stutzte. Er zögerte mit seiner Antwort, stimmte aber schließlich zu: »Das mag sein. Wir sind jedoch bis heute von den Mastibekks abhängig. Die Tatsache, dass sie uns keine Energie mehr liefern, kommt einer Katastrophe gleich.« »Das sieht auf den ersten Blick so aus«, erwiderte Tallmark. »Es war indes von Anfang an klar, dass die Mastibekks ersetzt werden müssen, da sonst das Energieproblem für die SVE-Raumer nicht zu lösen ist.« »Warum höre ich davon erst jetzt?«, brüllte der Lare außer sich vor Zorn. »Weil nach unseren Berechnungen nicht damit zu rechnen war, dass die Mastibekks schon zu diesem Zeitpunkt abziehen«, antwortete Sorgk. Er bluffte, und er war dabei so unsicher, dass er fürchtete, sich zu verraten. Doch Hotrenor-Taak bemerkte nichts. Er hatte sich von jeher auf die hypermathematischen Berechnungen der Kelosker verlas sen, ebenso wie es alle Laren getan hatten. Daher war er bereit anzu nehmen, dass die Kelosker sich geirrt hatten oder dass ein vorher nicht erfassbarer Faktor die politische Entwicklung verändert hatte. Der Ge danke an Verrat erschien ihm so abwegig, dass er ihn zur Seite schob, bevor er ihn zu Ende gebracht hatte. »Na schön«, sagte er einlenkend. »An welche Ersatzlösung ist ge dacht, und wann steht sie bereit?« Der Verkünder der Hetosonen ahnte nicht, in welch schwierige Lage 242
er die Kelosker mit seinen Fragen brachte. Wie hätte er wissen sollen, dass sie unter einem Howalgonium-Schock standen? Seit Jahren weil ten er und die Kelosker schon in der Milchstraße, aber von ihrer Über empfindlichkeit gegen den 5-D-Schwingquarz war ihm bislang nichts bekannt geworden. Ohnehin war zuvor kein Kelosker in die Nähe einer derart intensiven Howalgonium-Konzentration gekommen. Tallmark und Sorgk hatten Mühe, die Einzelheiten des Planes in we nigen Worten zusammenzufassen, ohne sich dabei zu verraten. »Achttausend Lichtjahre vom Solsystem entfernt steht in einer Zone raumzeitlicher Instabilität ein alternder Stern, die kleinere Kompo nente eines Doppelsternsystems. Dieser wird, wenn die natürliche Ent wicklung unbeeinflusst weitergeht, in etwa einer Million Jahren den Zustand eines Neutronensterns erreichen«, führte Tallmark aus, wobei er sich bei der Zeitangabe auf zwischen ihm und Hotrenor-Taak fest gelegte Begriffe stützte. »In einer Million Jahren?«, fragte der Lare verblüfft. Er verzog den Mund und fügte spöttisch hinzu: »Das ist ein bisschen sehr lange, nicht wahr?« Sorgk hob beschwichtigend seine Tentakel. »Nur, wenn der Stern nicht beeinflusst wird.« Der Verkünder der Hetosonen schien nicht beeindruckt zu sein. Er setzte sich in einen Sessel, schlug die Beine übereinander und ließ die Fingerspitzen tastend über sein rostrotes Haar wandern. »Weiter!«, for derte er. »In der Nähe befinden sich einige junge Sonnen. Wir planen, diese Sonnen durch SVE-Raumer anzuzapfen und die dabei gewonnene Energie dem alternden Stern zuzuführen.« »Das soll den stellaren Entwicklungsprozess anheizen?«, fragte der Verkünder der Hetosonen skeptisch. Er schüttelte den Kopf. »Das ist schwer vorstellbar.« »Für jemanden, der bis in siebendimensionale Bereiche extrapolieren kann, schon«, sagte Sorgk. 243
Hotrenor-Taak biss sich auf die gelben Lippen. »Also gut«, gestand er dem Kelosker zu. »Nehmen wir einmal an, dass alles funktioniert. Was geschieht weiter?« »Diese Sonne wird sich in einen Neutronenstern umwandeln und in sich zusammenbrechen«, erklärte Tallmark geduldig. Der Kelosker spürte, dass er Hotrenor-Taak im Griff hatte, seine Unsicherheit schwand, und er litt plötzlich nicht mehr so intensiv unter der Strah lung, die seine Gedanken träge und schwerfällig verlaufen ließ. »Der Zusammenbruch wird damit enden, dass ein Schwarzes Loch entsteht.« »Ein Black Hole, das von uns gesteuert werden kann!«, fügte Sorgk hinzu. Hotrenor-Taak schüttelte den Kopf und blickte die beiden Kelosker an, als habe er es mit Schwachsinnigen zu tun. »Wir sprachen davon, dass die SVE-Raumer keine Möglichkeit mehr haben, sich an den Pyra miden der Mastibekks aufzutanken«, sagte er ärgerlich. »Bis jetzt habe ich von Ihnen nicht erfahren, wo meine Flotte künftig die benötigte Energie beziehen kann. In dem Black Hole womöglich?« »Das nicht«, antwortete Tallmark sanft. »Aber mit diesem Schwarzen Loch hätten Sie wieder Zugang zu dem Dakkardim-Ballon und zu den Galaxien aller Konzilsvölker.« Der Verkünder der Hetosonen horchte auf. Forschend blickte er die beiden Kelosker an. »Weiter!«, sagte er drängend. »Endlich wird es inte ressanter.« »Damit hätten Sie die Möglichkeit, einen Präventivschlag gegen jene Konzilsvölker zu führen, die mit Ihrem Vorgehen in der Milchstraße nicht einverstanden sind.« »Und Sie könnten in Galaxien vordringen, in denen sich Pyramiden der Mastibekks befinden«, fügte Sorgk hinzu. »Es gibt in der Milchstraße zahlreiche Black Holes«, erinnerte Hotre nor-Taak. »Vor allem im Zentrum der Galaxis.« »Das ist richtig«, erwiderte Tallmark. »Leider können wir sie nicht so manipulieren, dass sie zu Durchgängen in den Dakkardim-Ballon und 244
zu anderen Galaxien werden. Das geht nur mit diesem einen Schwar zen Loch. Und nur unter der Voraussetzung, dass der Energiestrom von den anderen Sonnen über die SVE-Raumer sorgfältig gelenkt wird.« Diese Behauptung beeindruckte den Verkünder der Hetosonen sicht lich. Die Kelosker hatten ihren Plan ausreichend erläutert. Tallmark und Sorgk waren froh, dass sie den Plan – der ein wichtiges Detail des Achtzig-Jahre-Plans war – schon vor dem Howalgonium-Schock ausge arbeitet hatten. Wäre das nicht der Fall gewesen, hätten sie HotrenorTaak nichts bieten können, und dann wäre die Katastrophe perfekt ge wesen. »Ich bin einverstanden«, sagte Hotrenor-Taak zögernd. »Wir haben mit erheblichen Energieproblemen zu kämpfen. Das heißt, dass meine Flotte nur sehr gezielt eingesetzt werden darf. Ich habe jede Energiever schwendung unter Strafe gestellt. Das betrifft auch Sie!« »Dessen bin ich mir bewusst«, antwortete Tallmark gelassen. »Selbstverständlich«, fügte Sorgk hinzu. »Also gut. Die SVE-Raumer stehen für die Manipulation der Sonne zur Verfügung. Wie groß sind die Erfolgschancen dieses Experiments?« »Der Erfolg ist gesichert!«, behauptete Tallmark. »Sie gehen kein Ri siko ein.« Davon schien der Lare nicht völlig überzeugt zu sein. Er blickte die beiden Kelosker forschend an. »Wir werden sehen«, sagte er, und eine düstere Drohung lag in seinen Worten.
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13.
Wegenrat wich langsam von dem toten Piet Alfrat zurück. Seine Jaan Hände zitterten. Mehr als siebzig Jahre hatte er mit Howalgonium zu tun gehabt, aber so etwas war ihm nie begegnet. Es war ihm völlig unerklärlich, wie sich der Kopf des Nukleartechnikers in Howalgo niumerz hatte umwandeln können. Ein solcher Vorgang war, wie er meinte, physikalisch unmöglich. Wegenrat bereute, dass er überhaupt auf die Suche nach Piet gegan gen war. Jetzt sagte er sich, dass es besser und sicherer gewesen wäre, an Bord der Space-Jet zu bleiben. Er warf sich herum und rannte wie von Furien gehetzt davon. Je näher er dem Verteiler kam, desto weniger wusste er, wohin er sich wenden sollte, sobald er den Knotenpunkt erreicht hatte. Sollte er die Mine verlassen? Dann würde sich nichts ändern. Sollte er zur Jet flie hen? In dem Fall lief er Gefahr, wie Piet von dem Unheimlichen er fasst und umgebracht zu werden. Aber nur dann hatte er die Chance, endlich von Goorn II zu entkommen und draußen in der Galaxis ein neues Leben anzufangen, das ihm wieder Hoffnung gab und in dem er nicht mehr Sklave der Laren war. Als er den Verteiler erreichte, zögerte er zwar kurz, stürmte dann aber durch den Stollen weiter, der zu der Space-Jet führte. Die Luft wurde ihm knapp, und er hatte heftiges Seitenstechen, trotzdem hielt er nicht inne. Er glaubte, dass es auf Schnelligkeit ankam. Als die Jet aus dem Dunkel vor ihm auftauchte, war er schon so er schöpft, dass er fürchtete zusammenzubrechen. Mit letzter Anstren gung warf er sich vorwärts. Er zitterte derart heftig, dass er kaum den Öffnungskontakt der Schleuse betätigen konnte. Endlich, viel zu lang sam, glitt das Schott zur Seite. Mit dem sicheren Gefühl, dass ihm nun nichts mehr zustoßen konn 246
te, drehte Jaan Wegenrat sich um und leuchtete seine Umgebung mit dem Helmscheinwerfer ab. Niemand befand sich in seiner Nähe. »Du hast verdammtes Glück gehabt, Alter«, sagte er keuchend. Dann wandte er sich wieder der Space-Jet zu. Erstickt schrie er auf, als er das seltsam schillernde Gebilde in der Schleuse sah. Es glich einer Spirale und schien aus reinem Howalgonium zu bestehen. Es drehte und wand sich wie eine Schlange. In seiner Panik riss Wegenrat die Waffe hoch und feuerte, als sich das seltsame Gebilde auf ihn stürzte. Deutlich sah er, dass es in der Schussbahn aufleuchtete, die Form veränderte und die sonnenheiße Glut durchbrach. Filigranartige Howalgoniumfinger legten sich um sein Handgelenk. Jaan Wegenrat konnte den Strahler nicht mehr hal ten. Die Waffe polterte zu Boden. Danach erlosch der Helmscheinwer fer. Der Ingenieur wandte sich zur Flucht. Er kam nur zwei oder drei Schritte weit, dann schwanden ihm die Sinne. Irgendwann später erwachte er wieder. Es war stockdunkel um ihn herum. Seine Hände tasteten über den glatten Boden, waren jedoch eigenartig gefühllos. Schließlich erinnerte Wegenrat sich daran, dass er unmittelbar neben der Space-Jet liegen musste. Vorsichtig kroch er etwa zwei Meter in die Richtung, in der er das Kleinraumschiff vermutete, und kehrte rück wärts zu seinem Ausgangspunkt zurück, als er sie nicht fand. Er drehte sich ein wenig zur Seite und unternahm den nächsten Vorstoß. Auch dieser ging ins Leere, und erneut schob er sich zu seinem Ausgangs punkt zurück. Die Furcht, sich in der Dunkelheit zu verirren, wurde übermächtig. Er wusste, dass er nie mehr aus dem Labyrinth der Stol len und Schächte herausfinden würde, wenn es ihm nicht gelang, sich einen Scheinwerfer zu beschaffen. Endlich berührte er die Kante der offenen Schleuse, warf sich förm lich in die Kammer hinein und betätigte den Mechanismus. Leise zi schend schloss sich das Außenschott, und die Innenwand öffnete sich. 247
Gleichzeitig flammte die Beleuchtung auf. Jaan Wegenrat schleppte sich zu der Leiter, die nach oben führte. Er hatte das Bedürfnis, sich hinzulegen und sich auszuruhen. Als sich sei ne Hände um die Trittsprossen legten, erstarrte er. Fassungslos blickte er auf seine rechte Hand. Sie schien ihm nicht mehr zu gehören. Er zog sie von der Leiter zurück und drehte sie lang sam hin und her. Sie war beweglich wie zuvor, dennoch hatte sie sich entscheidend verändert. Sie bestand jetzt aus schimmerndem Howal gonium. Jaan Wegenrat sank zu Boden. Er würgte, und ihm wurde übel. Er umklammerte das rechte Handgelenk mit der linken Hand und rüttel te daran. Sekundenlang bildete er sich ein, er könne so das Unheim liche von sich abschütteln. Dann krümmte und streckte er die Finger der rechten Hand. Sie gehorchten seinen Befehlen, aber sie waren ge fühllos. Wegenrat schluchzte. Er ekelte sich vor dem, was ihn erfasst hatte. Wild riss er sich den Ärmel bis zur Schulter auf. Das Howalgonium reichte über den Ellenbogen aufwärts. Erst an der Schulter sah sein Arm wieder so aus, wie er aussehen sollte. Der Ingenieur sprang auf. Wie ein Besessener kletterte er die Leiter zur Zentrale hoch. Hier öffnete er einen Ausrüstungsschrank nach dem anderen, bis er endlich einen Desintegrator fand. Er richtete die Waffe auf seinen Arm und wollte abdrücken, um sich den Howalgo niumarm abzutrennen. Doch dieses Mal gehorchten ihm die Finger nicht. Etwas Fremdes war in ihm und hinderte ihn daran, sich von dem Howalgonium zu befreien. Wegenrat kämpfte mit sich und dem Fremden. Mehrmals versuchte er, die Waffe einzusetzen, stets ohne Erfolg. Schließlich sank er in einen der Sessel. Alles in ihm verkrampfte sich. Seine Schultern zuckten, und er wandte das Gesicht ab, um seine rech te Hand nicht sehen zu müssen. Schon immer hatte er einen unüberwindlichen Widerwillen gegen 248
alles empfunden, was nicht von Natur aus zu seinem Körper gehörte. Es war ihm nur mühsam gelungen, zwei implantierte künstliche Zähne zu akzeptieren, das war aber schon alles. Seit Jahrzehnten litt er unter Funktionsstörungen der Nieren, vor fünfzehn Jahren hatte ihm sogar eine Niere entfernt werden müssen. Die Ärzte hatten sie durch eine synthetische Niere ersetzt, doch sein Unterbewusstsein hatte sich gegen das Transplantat gesträubt und das künstliche Organ abgestoßen. Alle weiteren Versuche, ihm zu helfen, waren vergeblich gewesen. Jetzt bereitete ihm die Tatsache, dass Howalgonium in seinen Körper eingedrungen war, heftige Übelkeit. Die Situation war unerträglich. Wegenrat überlegte verzweifelt, wie er sich selbst helfen konnte. Seine Gedanken verliefen allerdings nicht so flüssig und leicht, wie er das ge wohnt war. »Auf jeden Fall werde ich unter diesen Umständen nicht fliehen«, sagte er endlich laut. Er erhob sich, suchte sich aus den Schränken ei ne Kombination heraus und zog sie sich an. Danach streifte er sich ei nen Handschuh über die rechte Hand und umwickelte das Handge lenk, damit er sich durch einen hochrutschenden Ärmel nicht verraten konnte. Dann versah er sich mit zwei Handscheinwerfern. Einen nahm er in die linke Hand, den anderen hängte er sich um. Auf eine Waffe ver zichtete er diesmal bewusst. Er dachte daran, wie sich das Howalgo nium durch den Energiestrahl hindurch an ihn herangearbeitet hatte, und er fürchtete, dass der Howalgoniumbefall bei einem zweiten Zwi schenfall dieser Art noch schlimmer werden würde. Seltsamerweise empfand er keine Furcht, als er die Space-Jet verließ und durch die Stollen des Bergwerks ging. Flüchtig dachte er an Piet Alfrat. Nun wusste er, dass es dem Nukleartechniker ähnlich ergangen war wie ihm. Piet war indes schlimmer dran gewesen, das Howalgo nium hatte seinen Kopf überschwemmt, und sein Gehirn war diesem Ansturm offensichtlich nicht gewachsen gewesen. Wegenrat drehte sich nicht ein einziges Mal um. Er erreichte ohne 249
weiteren Zwischenfall das Stollenmundloch und trat ins Freie hinaus, ohne aufgehalten zu werden.
***
Trömsat III Der Überschwere Maylpancer stoppte die Antigravplattform, als er den Strom überflogen hatte, und blickte über einige Hügel hinweg zu der nahen Lichtung. Im matten Licht der Sonne Trömsat kämpften zwei Wasserbullen, mächtige Tiere, deren Körper aus Muskelbergen zu be stehen schienen. Sie stützten sich auf sechs Beine, und ihre kantigen Köpfe trugen schwere Hornplatten, die eine ausgezeichnete Panzerung darstellten. Der Überschwere ließ die Plattform weitergleiten, bis er nahe genug bei den kämpfenden Kolossen war. Er hob seinen Paralysestrahler und betäubte eines der Tiere. Sofort ließ der andere Wasserbulle von sei nem Gegner ab und trottete auf den Strom zu. Damit war Maylpancer aber nicht einverstanden. Er streifte die Jacke seiner Kombination ab und sprang von der Antigravplattform hinunter, nachdem er sich da von überzeugt hatte, dass niemand ihn beobachten konnte. Er rannte auf den Bullen zu, hob dabei einen großen Stein auf und schleuderte ihn auf das Tier. Als auch das nichts half, überholte er den Koloss und versperrte ihm den Weg zum Wasser. Endlich blieb der Bulle stehen. Schnaubend senkte er den Kopf und beobachtete den Überschweren aus seinen kleinen, tückischen Augen. »Komm her!«, rief Maylpancer. »Ich will mit dir kämpfen!« Der Überschwere spürte ein unbändiges Verlangen, sich bis an die Grenze seiner Kraft auszutoben. An Bord hätte er mühelos Gegner ge funden, mit denen er sich messen konnte. Das wollte er aber nicht. Der Erste Hetran der Milchstraße ging nicht das Risiko ein, gegen je manden zu verlieren, der ihm später womöglich die Macht streitig machte. 250
Als der Bulle nicht angriff, trat Maylpancer zwei Schritte vor, ballte die Rechte und schlug sie dem Tier mit aller Kraft über den Schädel. Die Panzerplatten krachten, zerbrachen jedoch nicht. Nun schnellte sich der Bulle vorwärts und drang mit ungestümer Gewalt auf den Überschweren ein. Der wich mit einem geschickten Sprung zur Seite aus, packte eines der sechs Beine, riss es hoch und warf sich gleichzei tig seitlich gegen den Bullen. Das reichte zwar, diesen ein wenig zur Seite zu drängen, nicht aber, ihn umzuwerfen. Laut brüllend schüttelte das Tier den Gegner ab. Die Hufe wühlten den Boden auf und fegten Grassoden zur Seite. Unter der Krume wur de eine Stahlplatte sichtbar. Maylpancer sah sie und war so überrascht, dass er um einen Sekun denbruchteil zu spät reagierte. Der Bulle erwischte ihn mit dem Schä del an der Hüfte und schleuderte ihn meterweit zur Seite. Trotzdem lachte der Überschwere nur. Trömsat III hatte eine Schwerkraft von 1,23 Gravos, Maylpancer war an 2,1 Gravos gewöhnt. Das war der Grund dafür, dass er es wagte, sich mit einem derart gefährlichen Geg ner einzulassen. Maylpancer sprang auf, als der Bulle wieder angriff. Doch er dachte nicht mehr daran, sich noch länger körperlich anzustrengen. Er griff zur Hüfte und zog den fingerdicken Stab aus dem Gürtel, den er für Notfälle eingesteckt hatte. Als der Bulle nur mehr zwei Meter von ihm entfernt war, zuckte ein sonnenheller Strahl aus dem Stabende und durchbohrte die Panzerplatten. Das Tier stürzte abrupt zu Boden und blieb liegen. Maylpancer schob die Waffe zurück und eilte zu der Stahlplatte. Er scharrte den Boden zur Seite, fand einen Stahlgriff, der sich drehen ließ, und legte danach ein positronisches Schloss frei. Dieses war nicht verschlüsselt, wie er mühelos feststellte. Er nahm eine einzige Schal tung vor, und die Stahlplatte glitt zur Seite. Darunter wurde ein Hohlraum sichtbar, der etwa fünf Meter lang und vier Meter breit war. Maylpancer rief die Antigravplatte mit einem 251
Befehlsimpuls zu sich heran. Er nahm eine Stablampe an sich und ließ sich in den Hohlraum hinab. Er fand eine Tür, die leicht zu öffnen war, und geriet in einen Lagerraum, in dem Waffen unterschiedlichster Art bis unter die Decke gestapelt waren. Staunend nahm er zwei zylinderförmige Gegenstände auf, die als po sitronische Generatoreinheiten ausgezeichnet waren. An ihnen klebten jedoch nachträglich angebrachte Zettel, die vor dem Inhalt warnten – vor nuklearen Sprengsätzen. Mit einem derartigen Fund hatte Maylpancer nicht gerechnet. Tröm sat III war ein kleiner und unbedeutender Planet am Rand der galakti schen Eastside. Er war von den Überschweren als Depotplanet einge richtet worden. Maylpancer hatte festgestellt, dass es kleine Siedlungen von Akonen und eine winzige Blueskolonie im näheren Umfeld gab. Die Depots waren so abgesichert, dass Zwischenfälle auszuschließen waren. Davon war Maylpancer bislang überzeugt gewesen. Jetzt musste er seine Meinung hinsichtlich potenzieller Zwischenfälle ändern. Er suchte nach einem Hinweis, wer dieses Waffenlager angelegt hatte. Dazu musste er den Raum bis in den äußersten Winkel durchwühlen, bis ihm schließlich eine Reihe von Stäbchen in die Hände fiel. Sie wa ren unterschiedlich lang und verschieden gefärbt. Zunächst wusste er damit nichts anzufangen. Schließlich erinnerte er sich an einen Ge heimkode, der von einem Bluesvolk aufgestellt worden war. Er ordnete die Stäbe nach ihrer Länge und ihrer Farbzusammenstellung, bis es ihm endlich gelang, sie so zusammenzufügen, dass die richtige Buch stabenkombination herauskam. GAVÖK, stellte er überrascht fest. Also hatte die Galaktische-Völkerwürde-Koalition hier Waffen ver steckt, mit denen eine Guerillatruppe von gewaltiger Schlagkraft aufge baut werden konnte. Die Waffen reichten aus, einen Planeten wie Trömsat III zu verwüsten. Die Bomben konnten auch eine Raumflotte vernichten, wenn sie an den richtigen Stellen angebracht wurden. Maylpancer hatte die GAVÖK stets belächelt. Die Koalition war eine 252
Versammlung von Schwätzern, die niemand, wie er geglaubt hatte, ernst zu nehmen brauchte. Nun zeigte sich, dass sie zumindest über brisante Waffen verfügte. Der Erste Hetran fragte sich, ob er das einzige Waffendepot auf die sem Planeten aufgespürt hatte oder ob es mehrere davon gab. Existier ten auf anderen Welten weitere Lagerstätten? Was braute sich da zusammen? Er hörte, dass sein Funkgerät einen Anruf signalisierte. Das Gerät hatte er vor dem Kampf mit dem Bullen abgelegt. Also stieg er aus der Höhle nach oben und nahm den Anruf eines seiner wichtigsten Offi ziere entgegen. »Ein SVE-Raumer ist in Schwierigkeiten, nur zwölf Lichtjahre ent fernt. Wir müssen sofort starten, wenn wir helfen wollen.« »Einverstanden«, sagte Maylpancer, ohne zu zögern. »Ich fliege mit der GRAMSHAH.« Er schaltete ab und streifte sich seine Sachen über. Dabei blickte er zu dem erlegten Wasserbullen hinüber. Große Vögel hatten sich schon bei dem Kadaver eingefunden. Sie stritten mit spin nenähnlichen Aasfressern um die Beute. Maylpancer widerte das Schauspiel an. Er stieg noch einmal in das Waffendepot hinab. Vom Raumhafen her ertönte Triebwerksdonnern, und knapp eine Minute später jagte der Walzenraumer PLOSH KHAHN in den grünen Himmel. Der Überschwere sah das Schiff im Dunst verschwinden und wollte sich bereits abwenden, als sich jäh glutroter Feuerschein über das halbe Firmament ausbreitete. Maylpancer brüllte vor Wut. Er spürte die Druckwelle, und er sah Wrackstücke wie einen Feuerregen in der Stratosphäre verglühen. Nur die größten Fragmente schlugen in einiger Entfernung krachend auf den Boden. Die stolze PLOSHKHAHN existierte nicht mehr. Eine gigantische Wolke breitete sich in großer Höhe aus. Der Erste Hetran schnellte sich mit einem Sprung aus dem Bunker hinaus, rannte zur Antigravplattform und startete. Er war noch keine hundert Meter weit gekommen, als weitere abregnende Wrackteile ihn 253
zur Umkehr zwangen. Er musste im Unterstand Schutz suchen, bis es ruhig geworden war. In ohnmächtigem Zorn blickte er schließlich über die weit verstreuten Reste des Raumschiffs hinweg. Er rief das Depot an. Ein Offizier meldete sich. »Was war los?«, frag te Maylpancer. »Ein Angriff?« »Ein Unglücksfall. Alles war völlig normal. Der Kommandant hatte keinerlei Schwierigkeiten. Für uns ist das unerklärlich.« Maylpancer schaltete wortlos ab. Für ihn war die Zerstörung des Raumers kein Rätsel mehr. Er wusste, dass die GAVÖK zum ersten Mal zugeschlagen hatte. Es war nur ein Zufall gewesen, dass er sich nicht an Bord der PLOSHKHAHN aufgehalten hatte. Ursprünglich war es seine Absicht gewesen, mit diesem Schiff zu fliegen. Ein Groß teil seines Eigentums, wichtige Unterlagen und Schätze aus allen Tei len der Galaxis waren bereits an Bord gewesen. Maylpancer ließ die Plattform langsam treiben. Er brauchte Zeit, um den Schock zu überwinden. Vor allem versuchte er, sich darüber klar zu werden, ob die GAVÖK von seiner Absicht gewusst haben konnte, an Bord zu gehen. War dies ein gezielter Anschlag auf ihn gewesen, oder hatte die GAVÖK nur blind zugeschlagen? Als die Energiekuppel des Depots in Sicht kam, beschleunigte der Überschwere. Die letzten Kilometer bis zur Station legte er mit Höchstgeschwindigkeit zurück. Zwei weitere Walzenraumer waren startbereit. Es konnte nur mehr Minuten dauern, bis sie abheben würden. Maylpancer setzte sich mit der Zentrale in Verbindung. »Jeder Start hat vorerst zu unterbleiben!«, befahl er. »Wir werden die Schiffe und das Depot gründlich untersuchen. Die PLOSHKHAHN ist einem Bombenattentat zum Opfer gefallen. Wir müssen klären, ob weitere Sprengsätze an Bord unserer Schiffe gebracht worden sind. Und wir müssen herausfinden, wie sie überhaupt ins Depot gelangen konnten.« Er durchflog eine Strukturlücke im Schirm und näherte sich dem Kontrollgebäude. Dabei wurde er sich dessen bewusst, dass er mit sei 254
ner Flotte auf Trömsat zurzeit völlig hilflos war. Auf dem Landefeld standen sieben riesige Walzenraumer, aber keiner von ihnen durfte starten. Er war vor allem nicht in der Lage, dem in Not geratenen SVE-Raumer beizustehen. Unwillig blickte Maylpancer in den Himmel hinauf. Die Schwärze breitete sich aus. Wenn das Depot und die Raumschiffe jetzt vom Raum aus angegriffen wurden, war die Flotte so gut wie verloren.
***
Goorn II Jaan Wegenrat eilte mit weit ausgreifenden Schritten von der Mine in die Stadt. Er fühlte sich aber nicht freier und unbelasteter, als er Ho walara erreichte. Sein rechter Arm hing schwer an seiner Seite, alles Le ben schien aus ihm gewichen zu sein. Vergeblich versuchte der Inge nieur, das zu ignorieren. Kurz erinnerte er sich an alte Erzählungen von indischen Fakiren auf Terra. Diese behaupteten, es habe Männer gegeben, die sich selbst ver stümmelt hatten, um ihrer religiösen Überzeugung zu huldigen. Einige von ihnen hatten diesen Berichten zufolge einen Arm so lange in die Höhe gehalten, bis er verdorrt war. Wegenrat blieb unter einem verkrüppelten Baum stehen und hob den rechten Arm senkrecht in die Höhe. Schon bald spürte er, wie er schwerer und schwerer wurde. Der Arm schmerzte immer heftiger und sank schließlich wie von selbst wieder nach unten. Nun tobte das Blut durch die Adern. Stechende Schmerzen zogen sich von den Fingerspitzen bis zur Schulter hoch, und Wegenrat be reute, was er getan hatte. Das Ergebnis seines Experiments war für ihn zugleich ein Beweis dafür, dass die Erzählungen von den Fakiren un möglich wahr sein konnten. Er konnte sich jedenfalls nicht vorstellen, dass ein Mensch solche Qualen auszuhalten vermochte, bis der Arm abstarb. So wurde er das Howalgonium nicht los. 255
Er lief durch die Außenbezirke. In einigen Gärten arbeiteten die Fa milien daran, Gemüse und Obst heranwachsen zu lassen. Die Versor gungslage war schlecht. Auf dem trockenen Boden gedieh nur wenig. Goorn II war vor vielen Jahrzehnten auch nicht wegen seiner landwirt schaftlichen Möglichkeiten, sondern allein wegen der riesigen Howal gonium-Vorkommen besiedelt worden. Die Menschen auf diesem Pla neten waren stets von außen versorgt worden, denn Kosten hatten nicht die geringste Rolle gespielt. Einige Männer grüßten Wegenrat, aber er beachtete sie nicht. Das hatte er nie getan, und er dachte auch in seiner Notlage nicht daran, das zu tun. Dabei fiel ihm ein, dass er Hilfe benötigte. Wenn er seinen Arm ab trennen wollte, musste das ein Helfer übernehmen. Doch an wen soll te er sich wenden? Piet war sein einziger Vertrauter gewesen. Wegenrat betrat das Haus, in dem er wohnte. »Tag, Vater«, sagte seine Tochter. Sie saß am Fenster und löste mit einem Messer mühsam das Mark aus Selbanpflanzen heraus. Es war essbar und außerordentlich wohlschmeckend. Nur in tagelanger Arbeit war jedoch genügend Mark zu gewinnen, dass zwei oder drei Men schen davon satt wurden. Jaan Wegenrat antwortete mit einem mürrischen Brummen und wollte die Treppe zum ersten Stockwerk hinaufsteigen. »Seit wann trägst du Handschuhe?«, rief seine Tochter erheitert. Er blieb stehen und runzelte die Stirn. »Das geht dich überhaupt nichts an«, erwiderte er grob. »Kümmere dich um deinen eigenen Kram und lass mich zufrieden.« Sie legte die Schale mit den Pflaumen zur Seite und lächelte. Daya war eine schöne, dunkelhaarige Frau mit intelligenten und wachen Au gen. »Brauchst du Hilfe?«, wollte sie wissen. »Blödsinn«, antwortete er abweisend. »Wie kommst du darauf?« »Ich sehe es dir an.« Jaan gab einen unbestimmbaren Laut von sich und ging weiter. Kra 256
chend fiel die Tür hinter ihm zu. Kaum war er allein, riss er sich den Handschuh herunter. Er biss die Zähne zusammen, und Tränen schossen ihm in die Augen, als er seine Hand sah. Den Anblick ertrug er nicht. Schwer atmend ging er auf den Balkon hinaus. Von hier aus hatte er eine gute Aussicht über die Außenbezirke von Howalara hinweg bis hin zu dem weit entfernten Larenstützpunkt. Er fühlte, dass von dort etwas ausging, konnte das aber nicht definieren oder auch nur an nähernd beschreiben.. Die rechte Hand juckte. Er rieb sie sich am Körper, und dann plötz lich streckte sich der Howalgoniumarm wie von selbst aus und zeigte zu dem Stützpunkt hinüber. Entsetzt blickte Wegenrat auf den Arm. Er sah, dass seine Finger zit terten, die wieder in dem Handschuh steckten, doch er spürte es nicht. Er legte die linke Hand auf die Armbeuge und presste den Arm nach unten. Dann schob er die rechte Hand in die Hosentasche. Der Howalgoniumarm entwickelte ein eigenes Leben. Wegenrat stemmte sich dem entgegen, spürte aber, dass er das alles nicht lange ertragen würde. In dem Moment betrat Daya den Garten und blickte zu ihm herauf. Wegenrat wurde blass. Sie durfte nicht sehen, was geschah. Keuchend drehte er sich um und ging in sein Zimmer zurück. Er warf sich auf sein Bett und presste das Gesicht in die Kissen. Sein Körper schüttelte sich und zuckte wie im Fieber.
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Angesichts der Gefahr, die dem Schiff drohte, beteiligte sich Mayl pancer an der Untersuchung. Er konnte nicht starten, bevor einwand frei geklärt war, ob sich eine Bombe an Bord befand. Da er die Sprengsätze in dem Versteck gesehen hatte, glaubte er zu wissen, wo er suchen musste. Doch seine Bemühungen blieben vergeb 257
lich. Er ließ die gesamte Generatorenanlage auseinander nehmen, ohne fündig zu werden. Dadurch verringerte sich seine Unsicherheit aber nicht, er wurde vielmehr von Stunde zu Stunde nervöser. »So kommen wir nicht weiter«, sagte Kadcance schließlich, einer sei ner Offiziere. »Ich schlage vor, dass wir uns die Siedler vorknöpfen. Sie müssen damit zu tun haben. Und wenn nicht, dann können sie uns vielleicht einen Hinweis geben, wer die Waffendepots angelegt hat.« »Ich werde mich selbst darum kümmern«, stimmte Maylpancer zu. »Inzwischen wird die Suche mit allen Mitteln fortgesetzt. Wie weit ist Nircande mit seiner Arbeit? Hat er herausgefunden, wie die GAVÖKAgenten an Bord gelangen konnten?« »Leider nicht.« »Ich könnte mir vorstellen, dass es Epsaler waren. Vielleicht sogar ju gendliche Ertruser, die ungefähr unsere Statur hatten.« »Wir sind dabei, das alles zu prüfen«, erwiderte der Offizier. Sein Tonfall verriet dem Ersten Hetran, dass er keine große Hoffnung hatte, zu einem greifbaren Ergebnis zu kommen. Verärgert wandte Maylpancer sich ab und stürmte zu einem Hangar. Kurz nach ihm erschienen zwanzig Männer, die von Kadcance zusam mengerufen worden waren. Sie verteilten sich auf fünf Kampfgleiter und starteten nach Maylpancer, der mit Kadcance flog. »Wir verwandeln diesen Planeten in eine Wüste, wenn die Siedler mit der GAVÖK zusammenarbeiten«, kündigte Maylpancer an. »Sie wer den es bereuen.« Der Waffenleitoffizier der GRAMSHAH meldete sich. »Wir haben eine Bombe gefunden«, berichtete er. »Sie steckte in einer Energieka none im vorderen Teil des Schiffes.« »Das bedeutet, dass die Hauptleitzentrale bei einer Explosion sofort zerstört worden wäre«, folgerte Maylpancer. Der Waffenleitoffizier bestätigte die Vermutung mit einer knappen Geste. »Suchen Sie weiter!«, befahl Maylpancer heiser und schaltete ab. 258
Minutenlang schwieg er in ohnmächtigem Zorn. Mit gnadenloser Härte und bedingungslosem Einsatzwillen hatte er sich bis zur Spitze hochgekämpft. Er war zu der vielleicht wichtigsten Stütze von Hotrenor-Taaks Macht in der Milchstraße geworden. Nun aber sah er sich einer Bedrohung gegenüber, die sich nicht im offenen Kampf besiegen ließ. Die stundenlange Suche nach den Sprengsätzen hatte ihm gezeigt, dass er es bei der GAVÖK überraschenderweise mit einem Gegner zu tun hatte, den er ernst nehmen musste. Darüber hin aus zeigte sich die GAVÖK als Feind, der nicht so ohne Weiteres greif bar war.
***
Die Kampfgleiter näherten sich einer Siedlung aus etwa einhundert Häusern. Sie lagen am Südhang eines Berges. Maylpancer war über zeugt, dass er in wenigen Minuten den Feind identifiziert haben wür de. Die Gleiter schwärmten aus und landeten. Mit zwei Kombistrahlern in den Händen rannte Maylpancer auf das nächste Haus zu. Er warf sich mit der Schulter gegen die Tür und sprengte sie auf. Als er eine schattenhafte Bewegung wahrnahm, schoss er sofort. Der sonnenhelle Energiestrahl zuckte quer durch den Raum und traf ein Tier, das aus dem Raum fliehen wollte. Der Energiestrahl setzte zudem eine Holz vertäfelung in Brand. Maylpancer zog sich sofort wieder zurück. Mit angeschlagener Waffe wartete er darauf, dass jemand aus dem brennenden Gebäude kommen würde. Aber er wurde auch hier enttäuscht. Ähnlich erging es den anderen Überschweren. Sie hatten ebenfalls Häuser gestürmt und waren ins Leere gestoßen. Fluchend eilte Maylpancer zu dem nächsten Bungalow und drang ungestüm ein. Auf einem Tisch standen Teller und eine Suppenschale halbvoll grünlicher Flüssigkeit. Der Überschwere tauchte einen Finger 259
hinein. »Die Suppe ist kalt«, sagte er. Kadcance beugte sich über den Tisch und roch an dem Essen. »Die Schale steht noch keine fünf Stunden hier«, behauptete er. »Das ist eine Sonnen-Pilzsuppe. Ich kenne sie, weil ich bei meinem letzten Aufenthalt auf dem Planeten mit den Blues verhandelt habe. Dabei habe ich dieses grüne Zeug kennen gelernt. Die Suppe wird nach sechs Stunden sauer und ungenießbar. Die hier ist frisch. Das bedeutet, dass die Siedler vor etwa vier bis fünf Stunden verschwunden sind.« »Also ungefähr eine Stunde nach der Explosion der PLOSH KHAHN.« Maylpancer verließ das Haus, Kadcance folgte ihm. »Wo sind sie jetzt?« »Vermutlich in den Bergen«, antwortete der Offizier. »Hier gibt es viele große Höhlen. Wenn wir sie suchen würden, hätten wir keine Chance, sie zu finden.« »Wir fliegen zurück!«, entschied Maylpancer. Kadcance war überrascht, denn er hatte mit einer Strafaktion gerech net. »Wollen wir die anderen Siedlungen noch inspizieren?«, fragte er. »Nein«, antwortete Maylpancer. »Wenn wir dort jemanden vorfin den, haben die Leute nichts mit dem Anschlag zu tun. Haben sie aber etwas damit zu tun, halten sie sich versteckt. Wir starten in zehn Stun den. Bis dahin werden wir unsere Schiffe bis in den hintersten Winkel durchsucht haben.« Kadcance gab den Befehl weiter. Wenig später starteten die Kampf gleiter und flogen mit hoher Geschwindigkeit zum Stützpunkt zurück. Im Lauf der nächsten Stunden förderten Maylpancers Offiziere und Mannschaften sieben nukleare Sprengsätze zu Tage, von denen jeder ausgereicht hätte, ein Raumschiff zu vernichten. Der Erste Hetran befand sich in einer äußerst kritischen Lage. Er durfte vor seinen Untergebenen keine Blöße zeigen. Er musste starten, obwohl die Frage nach weiteren Bomben offen war. Nie zuvor hatte er eine Situation als derart unangenehm empfunden. Maylpancer hatte Angst. 260
Er wusste, dass die meisten seiner Männer ebenfalls Angst hatten. »Sollen die Bombenleger ungestraft davonkommen?«, fragte Kad cance, als Maylpancer sich in den Sessel des Kommandanten sinken ließ. »Natürlich nicht.« Der Erste Hetran blickte seinen Offizier durch dringend an. »Wir schießen mehrere Kampfsatelliten in eine Umlauf bahn und sorgen dafür, dass sie jedes Raumschiff vernichten, das sich nicht mit unserem Kode ausweist. Das wird eine böse Überraschung für die GAVÖK werden. Von heute an sind die Siedler dieser Welt von allem abgeschnitten. Sie müssen sehen, wie sie allein fertig werden.« Er lehnte sich zurück und schwieg. Mit gedämpfter Stimme erteilte Kadcance alle nötigen Befehle. Je näher der Starttermin rückte, desto ruhiger wurde es an Bord. Endlich erhob sich die GRAMSHAH als erstes Schiff. Langsam stieg sie auf, und erst als sie den freien Weltraum erreicht hatte, startete das nächste Raumschiff. Maylpancer ging kein Risiko ein. Falls die GRAM SHAH explodiert wäre, hätte sie keine weitere Einheit beschädigen oder gar zerstören dürfen. Die GRAMSHAH war etwa zwanzigtausend Kilometer von Trömsat entfernt, da explodierte das ihr folgende Walzenschiff. Der Erste Hetran zuckte wie unter einem Peitschenhieb zusammen, als sich auf der Panoramagalerie eine grelle Energieflut ausbreitete. Er hatte schon nicht mehr damit gerechnet, dass etwas geschehen würde. In der Hauptzentrale herrschte Totenstille. »Warum startet die KUSHTHAN nicht?«, fragte Maylpancer. »Sollten wir das Schiff unter diesen Umständen besser noch einmal durchsuchen lassen?«, fragte Kadcance zögernd. »Alle Schiffe starten!«, befahl der Erste Hetran. »Es gibt keine weitere Verzögerung.« Kadcance ging zum Funkleitstand und nahm Verbindung mit den Kommandanten auf, die noch auf Trömsat waren. Er erteilte ihnen den Befehl, den Start wie geplant fortzusetzen. 261
Er wusste ebenso wie alle Offiziere, dass Maylpancer nicht anders entscheiden konnte. Es durfte keine abermalige Verzögerung geben. Wurden die Walzenraumer so gründlich untersucht, wie es nötig ge wesen wäre, wenn man alle Bomben finden wollte, dann würden darü ber Wochen oder gar Monate vergehen. So viel Zeit durfte Maylpancer nicht verlieren. Mit verschlossener Miene beobachtete der Erste Hetran die Starts. Er sann auf Vergeltung. Nun plötzlich erschien ihm die Maßnahme. Kampfsatelliten abzusetzen, als nicht mehr ausreichend. Nachdem je doch alle Raumer den freien Raum gewonnen hatten und sich mit ho her Beschleunigung von Trömsat entfernten, beruhigte Maylpancer sich ein wenig. Er winkte Kadcance zu sich heran. »Ich will wissen, wie das möglich war. Stellen Sie eine Untersu chungskommission zusammen! Wir müssen herausfinden, ob die Bom ben tatsächlich auf Trömsat an Bord gebracht worden sind oder viel leicht schon auf einem der Planeten, auf denen wir vorher gewesen sind.« »Ich werde das veranlassen!«, erwiderte Kadcance. »Und danach werden wir auf unsere Weise antworten.« Maylpancer ballte die Hände. »Wir werden die Schuldigen finden und vernichten.«
***
Goorn II »Ich kann nicht mehr«, sagte Tallmark stöhnend. Der Kelosker saß wie ein Häuflein Elend auf dem Boden und hielt sich den Kopf. »Ich kann meine Gedanken nicht zusammenhalten.« Die anderen Kelosker blickten ihn schweigend an. Ihnen erging es keinen Deut besser, auch sie standen unter dem Druck der von den Howalgonium-Vorkommen ausgehenden Strahlung, der ihnen zeit weilig sogar körperliche Schmerzen bereitete. Sie waren froh, dass Ho trenor-Taak zurzeit keine Berechnungen von ihnen verlangte, denn sie 262
hätten sie nicht ausführen können. »Wir müssen diesen Planeten verlassen. So schnell wie möglich«, be merkte Tallmark, als ihm niemand antwortete. »Wir müssen etwas un ternehmen und dürfen nicht einfach nur abwarten.« »Was können wir tun?«, fragte Splink ratlos. »Warum verschweigen wir Hotrenor-Taak weiterhin, dass wir hier nicht arbeiten können?«, wollte Sorgk wissen. »Er darf das auf keinen Fall wissen.« Tallmark gestikulierte entsetzt. »Er würde an unseren Fähigkeiten zweifeln. Sagen wir ihm, dass wir hier nicht bis in siebendimensionale Bereiche hinein extrapolieren können, wird er sich fragen, welche Vorteile er von uns noch hat. Nor mal-Denker braucht er nicht. Und er wird sich fragen, ob wirklich alles richtig ist, was wir ihm vorgelegt haben. Wenn aber seine Zweifel wachsen, führt er nicht mehr aus, was wir ihm vorschlagen. Damit ge fährden wir den Plan.« »Das ist richtig«, erkannte Sorgk schließlich. »Wir dürfen uns nicht an die Laren wenden. An die Überschweren ebenso wenig.« »Also bleiben nur die Siedler auf diesem Planeten«, stellte Splink fest. »Wir müssen Verbindung mit ihnen aufnehmen. Ich denke, sie werden uns helfen.« Tallmark erhob sich auf seine hinteren Beine und trottete zu einer Panzerplastwand. Er blickte zu der verfallenen Stadt hinüber. Ein Wal zenraumer der Überschweren senkte sich soeben herab und landete gut fünf Kilometer entfernt. »Wie könnten wir in die Stadt gelangen?«, fragte er. »Das Land ist öde und leer, und wenn wir offiziell ersuchen, den Stützpunkt verlas sen zu können, würden wir sehr schnell auffallen.« »Ich versuche es«, kündigte Splink entschlossen an. »Sie werden dich erschießen, sobald du den Stützpunkt unerlaubt verlässt.« »Ich werde es dennoch versuchen. Wenn wir nichts unternehmen, lähmt uns diese Strahlung bald völlig, und dann ist es für uns alle zu 263
spät.« »Ich gehe mit dir«, sagte Tallmark, aber Splink lehnte seine Beglei tung ab. »Einer allein kann es vielleicht schaffen. Zwei behindern sich gegen seitig.« Er zeigte nach draußen. »Einer kann sich in dieser Landschaft verstecken. Zwei fallen viel schneller auf.« Die anderen Kelosker akzeptierten Splinks Entscheidung. Einzelun ternehmungen dieser Art lagen ihnen ohnehin nicht. Sie waren Wissen schaftler, die mit wahrer Besessenheit komplizierteste Berechnungen anstellten und sich dabei glücklich fühlten. Gefährliche Vorstöße ent sprachen nicht ihrer Mentalität. Sie waren ungeschickt und überließen solche Dinge lieber anderen.
***
Maylpancer trat auf den Gang hinaus und wandte sich dem Antigrav schacht zu, als er einen jungen Mann bemerkte, der auf ihn zukam. Der Mann blutete aus einer Wunde an der Wange, seine Augen waren verquollen. Mehrere Überschwere verließen soeben einen weiter entfernten Raum. »Da ist er!«, schrie einer von ihnen. Maylpancer streckte ein Bein vor, doch der Flüchtende wich ge schickt aus und rannte weiter. Der Erste Hetran dachte nicht daran, ihm zu folgen, das überließ er den anderen. Allerdings hielt er einen der Verfolger zurück. »Was geht hier vor?«, wollte er lautstark wissen. »Es ist ein Epsaler«, erklärte der Mann. Seine Uniform wies ihn als Mechaniker des Triebwerksbereichs aus. »Er ist derjenige, der die Bom ben an Bord gebracht hat.« Maylpancer gab dem Mechaniker mit einem Wink zu verstehen, dass er sich wieder an der Verfolgung beteiligen sollte. Er blickte ihm nach, bis er hinter einer Gangbiegung verschwand. Seine Vermutung war also 264
richtig gewesen. Es war einem offenbar jungen Epsaler gelungen, sich so zu maskieren, dass die Wachen ihn als Überschweren hatten passie ren lassen. Maylpancer nahm sich vor, die verantwortliche Wache zu ermitteln und hart zu bestrafen. Im Antigravschacht schwebte er bis zur Hauptzentrale. Kadcance kam ihm entgegen. »Wir haben den Mann ermittelt, der die Bomben …«, sagte er, doch der Erste Hetran unterbrach ihn heftig. »Ich weiß. Ich bin ihm begegnet.« Maylpancer blickte zum Steuer leitpult und zur Panoramagalerie hinüber. Das Raumschiff hatte den zweiten Planeten der Sonne Goorn erreicht und befand sich im Lande anflug. Plötzlich entstand bei den Offizieren am Hauptkontrollbord Unruhe. »Was ist los?«, fragte Maylpancer scharf. »Jemand hat die Hauptschleuse 41 betätigt«, berichtete einer der Offiziere. »Wir können uns diesen Vorfall nicht erklären.« »Klären Sie das auf!«, befahl der Erste Hetran. Der Offizier eilte aus der Zentrale, kehrte aber schon nach wenigen Minuten mit einem anderen ranghohen Offizier zurück. »Der Epsaler hat sich selbst gerichtet«, teilte er atemlos mit. »Er hat sich ohne Raumanzug aus einer Schleuse gestürzt.« Maylpancers Gesicht wurde zu einer Maske düsterer Drohung. Un willkürlich wich der Offizier vor ihm zurück. »Wer sind Sie?«, fragte er den anderen Mann. »Ploshowon. Mir oblag die Untersuchung. Wir haben den Epsaler im Triebwerksbereich überrascht, als er eine Fehlschaltung vornahm, die zum Absturz während der Landung geführt hätte. Der Mann hat gestanden, zwei Bomben an Bord gebracht zu haben. Diese beiden Bomben haben wir bereits auf Trömsat gefunden und entfernt.« »Wieso konnte er entkommen?« »Das kann ich …« Weiter kam Ploshowon nicht, denn Maylpancer schlug ihn mit einem einzigen Hieb zu Boden. 265
»Bringt ihn hinaus!«, befahl er zornig. »Versager kann ich nicht brau chen. Er wird degradiert und sein Vermögen eingezogen.« Ploshowon erhob sich mühsam. Blut lief ihm aus den Mundwin keln. Er hielt sich nur unter größter Kraftanstrengung auf den Beinen, als er die Zentrale verließ. »Die GAVÖK hat gute Chancen gegen uns, solange wir solche Feh ler machen«, sagte Maylpancer erregt. »Dieser Epsaler hätte uns alles erzählen können, was wir wissen müssen. Mit einem einzigen Schlag hätten wir das Problem lösen können. Aber diese Narren lassen es zu, dass der Attentäter Selbstmord begeht.« Die Offiziere zogen sich zurück. Nur Kadcance blieb in Maylpan cers Nähe. Er hatte nichts zu befürchten, doch er wusste, dass bereits ein kleiner Fehler genügte, in Ungnade zu fallen. Der Erste Hetran war bis zum Äußersten gereizt. Ungeduldig wartete Maylpancer ab, bis das Schiff gelandet war. Dann stürmte er aus der Zentrale. Auf einer Antigravplattform raste er wenig später zum Stützpunkt der Laren hinüber. Kurz darauf begegnete er Hotrenor-Taak, der ihn in einer positronischen Bibliothek erwartete. Maylpancer schloss aus dem Material auf dem Arbeitstisch, dass der Verkünder sich mit der Ge schichte der Konzilsvölker beschäftigt hatte. »Ich erwarte Sie seit Stunden«, sagte Hotrenor-Taak. »Sie hatten Schwierigkeiten?« Der Lare blickte nur flüchtig auf, aber Maylpancer fuhr dabei un merklich zusammen. Wieder wurde ihm bewusst, dass Hotrenor-Taak ein ausgezeichneter Psychologe war, den so leicht niemand täuschen konnte. »Es gibt in der Tat Probleme«, bestätigte der Überschwere. »Berichten Sie!«, forderte der Verkünder der Hetosonen. »Bisher haben wir die GAVÖK belächelt«, sagte Maylpancer. »Das war ein Fehler. Mittlerweile scheint uns ein Gegner erwachsen zu sein, den wir nicht unterschätzen dürfen.« Er umriss mit wenigen Worten, was geschehen war. 266
Hotrenor-Taak ließ sich nicht beeindrucken. »Wollen Sie mir zu ver stehen geben, dass Sie mit diesem Problem nicht fertig werden?«, fragte er. Maylpancer ergrünte vor Ärger. Er schüttelte den Kopf. »Ich habe er fahren, dass es auf zahlreichen Planeten zu Aufständen, Unruhen und Sabotageakten gekommen ist. Die Völker der GAVÖK scheinen Mor genluft zu wittern.« »Wenn das der Fall ist, haben Sie die Aufgabe, ihnen beizubringen, dass sich nichts geändert hat!«, sagte der Lare scharf. »Ich kenne meine Aufgaben«, erklärte der Überschwere ebenso ge reizt. »Ich bin hier, um Sie zu informieren und zu warnen. Die Aktivi täten der GAVÖK werden sich ausdehnen. Die Bombenattentate ha ben mir gezeigt, dass meine Raumschiffe nicht dieselbe psychologische Wirkung haben wie die SVE-Raumer. Meine Schiffe kann man mit Bomben bekämpfen. Bei den SVE-Raumern haben solche Anschläge wenig Aussicht auf Erfolg.« »Das ist richtig«, stimmte Hotrenor-Taak zu. »Dennoch steht mir nur eine gewisse Anzahl von SVE-Raumern zur Verfügung. Diese ha ben wichtigere Aufgaben zu erfüllen und können nicht freigestellt wer den. Bewältigen Sie das Problem allein! Von mir dürfen Sie derzeit keine Hilfe erwarten.« Die Augen des Laren blitzten drohend auf. »Es könnte jedoch sein, dass ich gezwungen bin, die Machtkonstellation in der Milchstraße zu überdenken, wenn Sie weiterhin mit der GA VÖK nicht fertig werden.«
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14.
W
enige Räume weiter saßen 26 Kelosker dumpf brütend beisam men und suchten nach einem Ausweg aus ihrer Situation. Sie hatten eine n-dimensionale Impulskette empfangen, die sich als die vielleicht wichtigste Nachricht ihres Lebens erwies. Sie hatten erfahren, dass ihre Brüder unter der Führung von Dobrak heimgekehrt waren. Diese Nachricht hatte zunächst große Aufregung hervorgerufen. Un ter normalen Umständen hätten sie alles versucht, dem Lockruf zu fol gen, leider herrschten keine normalen Bedingungen. Die Erkenntnis der eigenen Hilflosigkeit löste bei den meisten Kelos kern tiefe Niedergeschlagenheit aus. Lediglich Splink und Tallmark berieten, was sie tun konnten. Splink war nach wie vor entschlossen, den Stützpunkt zu verlassen und Hilfe zu holen. Die Frage war nur, wie er seinen Plan verwirklichen konnte. »Es lässt sich nicht planen«, sagte Splink schließlich resignierend. »Ich muss es einfach versuchen.« Er eilte zur Tür und hantierte daran herum, bis es ihm gelang, sie zu öffnen. Dabei zerstörte er das elektronische Schloss. Bestürzt blickte er auf die zerbrochenen Teile. »Wir übernehmen das«, sagte Tallmark. »Irgendetwas wird uns schon einfallen, wenn die Laren fragen. Beeile dich!« Splink schnaufte laut und schob sich durch den Türspalt auf den Korridor hinaus. Hier hielt sich niemand auf, und er lief los. An einer der nächsten Türen hielt er an. Mit seinen plumpen Greiflappen ver suchte er, auch dieses Schloss zu öffnen, ohne es zu zerstören. Sosehr er sich aber bemühte, es gelang ihm nicht, die Einzelimpulse auszulö sen, die notwendig waren, um die Sperre zu beseitigen. Als er Stimmen hörte, die sich näherten, flüchtete er zu einem auf 268
wärts gepolten Antigravschacht. Er war sich mit Tallmark darüber ei nig geworden, dass es äußerst gefährlich war, einen solchen Fluchtweg zu benutzen. Sollte er in dem gepolten Schwerefeld bemerken, dass er Laren direkt in die Arme schwebte, konnte er nicht mehr umkehren. In seiner Not sprang Splink dennoch in den Schacht. Er wusste nicht, wohin er sich sonst hätte wenden sollen. Er hatte Glück. Als er im nächsthöheren Stockwerk auf einen Korridor hinaustrat, war er allein. Hier stand der Durchgang zum Westflügel des Stützpunkts so gar offen. Splink eilte schwerfällig weiter. Immer wieder hörte er Stimmen oder Arbeitsgeräusche, die ihm die Nähe vieler Laren verrieten. Er blieb hin und wieder stehen, um sich ein wenig zu erholen. Splink war es nicht gewohnt, derart schnell zu laufen und dabei leise zu sein. Außerdem belastete ihn die Strahlung des Howalgoniums im mer mehr. Als er endlich in einen großen Kartenraum gelangte, war er völlig er schöpft. Er ließ sich auf den Boden sinken und rang keuchend nach Atem. Minuten verstrichen, in denen er absolut hilflos war. Wäre jetzt ein Lare erschienen, hätte er sich widerstandslos zurückführen lassen. Aber niemand kam. Schließlich erhob er sich und eilte bis zu der Fensterfront, die den Raum abschloss. Er hatte den Grenzbereich des Stützpunkts erreicht, doch nun wusste er nicht, wie er ihn verlassen konnte, ohne Alarm auszulösen. Es widerstrebte ihm, die Fenster einzuschlagen. Ratlos blickte er sich um. Gab es wirklich keinen Ausweg? Splink entschloss sich, umzukehren und in dem Antigravschacht ab wärts zu schweben. Er hoffte im unteren Geschoss auf einen Ausgang, den er benützen konnte. Auf dem Weg zur Tür hörte er Stimmen und blieb erschrocken stehen. Unwillkürlich stützte er sich auf einem Tisch ab. Die darauf liegenden Sternkarten rutschten zur Seite. Splink griff hastig danach und hielt sie fest. Im der nächsten Sekunde hatte er schon vergessen, dass sich jemand näherte. Fasziniert blickte er auf die 269
Karten. Sie zeigten die Region der Doppelsonne, die Tallmark und Sorgk dem Verkünder der Hetosonen zur Umwandlung in ein Schwar zes Loch empfohlen hatten. Splink kam zu dem Schluss, dass die Laren sich tatsächlich der Falle näherten, die achttausend Lichtjahre vom Solsystem entfernt entstehen sollte – wobei die Laren selbst die Baumeister sein würden.
***
Schwerer Kreuzer PLEYST Kommandant Hendrik Vayne richtete sich stöhnend von seinem Kran kenlager auf, als der Ortungsalarm durch das Schiff heulte. Ihn schwin delte. Dennoch hielt es ihn nicht im Bett. Er wälzte sich über die Kan te seiner Liege, streifte sich die Uniform über und stand mühsam auf. Die Luft wurde ihm so knapp, dass er versucht war, sich die Atem maske vom Gesicht zu reißen, um frei durchatmen zu können. Vayne legte zwar die Hand an die Maske, ließ sie dann aber wieder sinken. Er schleppte sich aus der Kabine. Erst als der Alarm ausklang, erreichte er die Zentrale. Der Erste Offizier Coddman eilte ihm besorgt entgegen. »Sie dürfen nicht aufstehen, Sir!«, sagte er. »Auf gar keinen Fall. Diese Infektion ist zwar nicht ansteckend, aber dennoch zu gefährlich …« »Egal ob ich als krank gelte oder nicht. Sie hätten mich sofort infor mieren müssen!«, entgegnete Vayne ärgerlich. »Ich bin zwar leicht an gekratzt, das heißt aber keineswegs, dass mich nicht mehr interessiert, was an Bord vorgeht. Wirklich erholen werde ich mich erst auf Gäa.« Coddman schüttelte den Kopf. »Wir haben Anweisung, in Infek tionsfällen wie diesen nicht nach Gäa zu fliegen, Sir. Haben Sie das vergessen? Die Gefahr für das NEI wäre zu groß.« Hendrik Vayne strich sich müde mit der Hand über die Stirn. »Ver dammt, ja. Sie haben Recht.« Er blickte auf die Ortungsschirme, konn te aber nichts erkennen, weil vor seinen Augen alles verschwamm. 270
Coddman stützte ihn und verhinderte, dass er zusammenbrach. Der Offizier führte den Kommandanten in seine Kabine zurück und legte ihn wieder unter die Medokontrollen. »Wir haben eine Flotte von SVE-Raumern beobachtet«, berichtete er. »Seltsamerweise konzentrieren sich die Schiffe in der Nähe eines Dop pelsternsystems.« »Gibt es dort Planeten, die früher von uns besiedelt worden sind?« »Das nächste Sonnensystem, das zum Solaren Imperium gehört hat, ist 423 Lichtjahre entfernt«, antwortete Coddman. »Die Aktion der La ren kann damit nichts zu tun haben.« »Welche Erklärung haben Sie?« »Momentan noch keine Erklärung, Sir.« »Dann beobachten Sie weiter und informieren Sie Tifflor!«, befahl der Kommandant schwach. »Er muss erfahren, was hier geschieht. Die Laren haben Schwierigkeiten mit ihren SVE-Raumern. Wenn sie eine Flotte zusammenziehen, hat das zweifellos große Bedeutung.« »Dieser Meinung bin ich ebenfalls, Sir.« »Wie weit sind wir von der Flotte entfernt?« »Neununddreißig Lichtjahre. Wir stehen im Ortungsschutz einer Sonne.« »Ich verlasse mich auf Sie, Coddman«, stöhnte der Kommandant. Ein Schwächeanfall zwang ihn, das Gespräch zu beenden.
***
Gäa Die Behauptung Kershyll Vannes, er komme von ES und berge sechs weitere Persönlichkeiten in sich, kam Julian Tifflor reichlich abenteuer lich vor. Sinnend betrachtete er den hochgewachsenen Mann, der über das gewaltige Häusermeer von Sol-Town blickte. Tifflor verfügte über eine Möglichkeit, die Wahrheit schnell heraus zufinden. Er konnte sich nur noch nicht dazu entschließen, dieses 271
Mittel anzuwenden. Prüfend schaute er sein Gegenüber an. Vannes Augen waren von ei nem ungewöhnlich hellen Blau, das die Härte seiner Gesichtszüge mil derte. Diese Augen mochten viele täuschen oder irritieren. Tifflor ließ sich davon weder ablenken noch beeindrucken. »Ich schlage Ihnen ein Experiment vor«, sagte er spontan. »Dagegen habe ich nichts einzuwenden.« »Vielleicht schon, wenn Sie hören, worauf ich hinauswill. Ich muss wissen, wer Sie wirklich sind, Vanne. Verzeihen Sie mir, aber ich kann einfach nicht akzeptieren, was Sie berichtet haben.« Die Atmosphäre des Unbehagens wollte nicht weichen. »Ich wäre enttäuscht gewesen, Sir, wenn Sie es getan hätten«, erwi derte der Mann, der sich als Konzept bezeichnet hatte. »Wenn Sie einverstanden sind, werde ich Sie mit Betty Toufry be kannt machen. Betty ist Telepathin.« Julian Tifflor beobachtete Vannes Miene. Sie blieb unbewegt. »Ich habe nichts zu verbergen. Im Gegenteil. Mir liegt daran, Ihr Vertrauen schnellstens zu gewinnen. Eine Überprüfung durch eine Telepathin ist mir daher nur willkommen.« Tifflor lächelte erleichtert. »Also gut. Dann verlieren wir am besten keine Zeit.«
***
Wenige Stunden später wusste Julian Tifflor, dass er Kershyll Vanne in jeder Hinsicht vertrauen konnte. Die aus dem PEW-Block auf Vanne übergewechselte Altmutantin Betty Toufry hatte es ihm durch Vannes Mund gesagt. Es hatte keine Schwierigkeiten gegeben, als ihr Bewusst seinsinhalt zu jenen sieben hinzugekommen war, die das Konzept bil deten. Danach war Betty wieder in den PEW-Block zurückgekehrt. Nun standen sich Julian Tifflor und Kershyll Vanne auf der Terrasse von Tifflors Haus gegenüber. Sie waren allein. 272
Perry Rhodans Stellvertreter in der Milchstraße hatte tausend Fragen, die er jedoch alle zurückdrängte, um sich auf das Wesentliche be schränken zu können. Naturgemäß interessierte ihn das Schicksal der Erde und ihrer Menschen. Er hätte sich liebend gern schildern lassen, wie ES die Bewusstseinsinhalte von Milliarden Terranern in sich auf genommen hatte. Er hätte gern mehr von Perry Rhodan und den an deren Freunden gehört. Aber zunächst sagte er nur: »Erzählen Sie mir mehr über sich, Kershyll Vanne!« Das Konzept nickte, nachdenklich, wie es schien. »Ich gehörte zum Geheimdienst, als die Erde sich dem Schlund näherte, durch den sie später gestürzt ist. Ich bin Psychomathelogist, und zurzeit überlassen mir die anderen Bewusstseine das Wort.« »Das kann sich ändern?« »Jederzeit. So, wie es für das Konzept am besten ist.« »Wer ist noch in Ihnen?« »Ich fange mit Albun Kmunah an«, antwortete Vanne offen. »Er ist Alpha-Mathematiker, ein stiller, in sich gekehrter Mann. Im Gegensatz dazu Hito Guduka, unser Totalenergie-Ingenieur. Auch diese Berufsbe zeichnung stammt aus dem Sprachschatz der Aphiliker, ebenso wie die des Alpha-Mathematikers. Guduka ist ein Supertechniker, der kompli zierteste Triebwerke und andere Geräte beherrscht.« »Sie brauchen nicht so sehr in die Einzelheiten zu gehen«, sagte Tiff lor. »Wenn Guduka das Konzept leitet, könnte es Verständigungsschwie rigkeiten geben. Er kann recht mürrisch sein. Sollte ich plötzlich nach harten Schnäpsen verlangen, dürfen Sie sicher sein, dass der Ultra-Phy siker Pale Donkvent die Führung übernommen hat. Er kann proble matisch werden, wenn wir ihn in dieser Hinsicht nicht kurz halten.« Vannes Augen wurden vorübergehend matt, seine Lippen zuckten. Tifflor hatte den Eindruck, dass der Psychomathelogist in sich hinein horchte. Offenbar setzte Vanne sich soeben mit Donkvent auseinan der, weil diesem die Charakterzuordnung nicht gefiel. Doch schnell 273
klärte sich der Blick wieder. Kershyll Vanne nickte. »Zu uns gehört außerdem Indira Vecculi, eine Neurobio-Positroni kerin. Sie hat mir mit einem gewissen Vergnügen verraten, dass sie auf der aphilischen Erde als das spitzfindigste und hässlichste Weib aller Zeiten gegolten hat. Ich weiß nicht, ob das wahr ist, glaube aber, dass sie herrschsüchtig und zänkisch sein kann.« »Ein echter Gefahrenherd oder ein Unzuverlässigkeitsfaktor?«, fragte Tifflor. Kershyll Vanne schüttelte energisch den Kopf. »Das ist keiner von uns. Das würde auch nicht in die Überlegungen von ES passen.« »Welche Überlegungen sind das?« »Lassen Sie mich erst vorher eine Bemerkung zu Ankamera und zu Jost Seidel machen«, bat Vanne. »Ankamera ist Medizinerin. Ich habe den Eindruck, dass sie am meisten von uns allen darunter leidet, dass sie keinen Körper mehr für sich allein hat.« Kershyll Vanne lächelte beziehungsreich, und Tifflor verstand ihn ohne weitere Fragen. »Jost Seidel ist noch ein halbes Kind«, schloss Vanne seinen Bericht ab. »Das sollten Sie allerdings nicht unterschätzen. Er ist trotz seiner dreizehn Jahre bereits eine Kapazität auf dem Gebiet der Galaktoche mie gewesen. Wenn er in den Vordergrund kommt, kann es sein, dass Sie einen etwas kindlichen Eindruck von mir gewinnen – verzeihen Sie, ich meine natürlich von uns.« Als wolle er Tifflor das Gesagte demonstrieren, wirbelte er sein Glas in die Luft und fing es spielerisch leicht wieder auf. Gleichzeitig wurde sein Gesicht weich und nahm tatsächlich einen eher jugendli chen Ausdruck an. Nach wenigen Sekunden war alles wieder vorbei. Kershyll Vanne stellte das Glas ab und verschränkte die Hände hinter dem Rücken. »Ich glaube, es wird Zeit, Ihnen zu sagen, weshalb ich vor allem hier bin«, bemerkte er. »Auch wenn ich vor kurzem der Ansicht war, es sei noch zu früh dafür.« »Ich höre.« 274
Kershyll Vanne blickte Tifflor forschend an. »Ich bin gekommen, um Ihnen zu sagen, dass ES die Neue Menschheit, die in erster Linie im NEI integriert ist, auf die verlassene Erde bringen will. ES möchte das Unternehmen Pilgervater starten und den Menschen die Erde zurück geben.« Tifflor blickte Vanne sprachlos an. Er war von diesem Vorhaben au genblicklich fasziniert, konnte sich aber nicht vorstellen, dass eine Rea lisierung überhaupt möglich sein sollte. »Wie stellen Sie sich das vor?«, fragte er, nachdem er sich von seiner Überraschung erholt hatte. »Oder vielmehr: Wie stellt ES sich das vor? Die Neue Menschheit hat sich in der Provcon-Faust etabliert. Gäa ist für uns nicht mehr nur eine Art Notaufnahmelager. Hier ist eine eigenständige Zivilisation entstanden.« »Ich weiß«, entgegnete Vanne ruhig. »Außerdem sind da noch die Laren, die bis jetzt unangefochten die Herren der Milchstraße sind. Sie würden einen Massenexodus fraglos bemerken und uns bestimmt nicht einfach ziehen lassen. Vielmehr würden sie über uns herfallen und uns unterjochen. Seit Jahren warten sie darauf, Gäa zu finden.« Kershyll Vanne lächelte ruhig. »Der Plan muss nicht von heute auf morgen verwirklicht werden. Natürlich ist das Problem der Laren vor her zu lösen. Wenn Sie mir die Möglichkeiten einräumen, werde ich meinen Teil dazu beitragen.« Julian Tifflor trat bis an den Rand der Terrasse und blickte über das Häusermeer hinweg. »Sie werden kämpfen können, Vanne«, erklärte er. »Ich werde Sie unterstützen, wo ich kann – aber unterschätzen Sie die Laren nicht.« »Keine Sorge«, sagte das Konzept. »Ich kenne die Gefahr.« Ein Mann in einer schlichten Uniform trat auf die Terrasse heraus und überreichte Tifflor eine schriftliche Nachricht. Tiff überflog sie und blickte dann Vanne forschend an. »Ich habe soeben eine Nachricht von der PLEYST erhalten«, sagte er. 275
»Die Besatzung des Schweren Kreuzers hat eine Flotte der Laren im Bereich einer Doppelsonne entdeckt. Entfernung zum Solsystem etwa achttausend Lichtjahre.« »Was hat das zu bedeuten?«, fragte Vanne. »Das weiß ich nicht. Aber das ist Ihre erste Gelegenheit, sich um die Laren zu kümmern. Der Kommandant der PLEYST ist schwer erkrankt und wird vorübergehend abgelöst.« »Was habe ich zu tun? Woran denken Sie?« »Zunächst sollen Sie nur beobachten. Ich will wissen, was da ge schieht. Die Laren müssen einen Grund haben, wenn sie eine Flotte in dieser Region zusammenziehen. Es bleibt Ihnen überlassen, aktiv zu werden, wenn Sie dafür eine Notwendigkeit sehen. Sind Sie einverstan den?« »Das bin ich.« »Nun gut, Vanne, dann wird Polrank Sie zum Raumhafen bringen. Viel Glück!« Tifflor reichte dem Konzept die Hand und blickte beiden Männern nach, als sie zu einem Gleiter gingen. Er vertraute Kershyll Vanne, da ES hinter ihm stand. Und weil Vanne von ES kam, konnte Julian Tifflor sich auch vorstellen, dass das Unternehmen Pilgervater eines nicht allzu fernen Tages Wirklichkeit wurde.
***
Goorn II Jaan Wegenrat stieg die Treppe zum Erdgeschoss seines Hauses hinun ter. Wie üblich ignorierte er seine Tochter. Doch diesmal ließ sie ihn nicht vorbeigehen und verstellte ihm den Weg. »Moment, Vater. Ich muss mit dir reden.« »Es gibt nichts zu besprechen«, erwiderte er mürrisch. »Wenn dir etwas nicht passt, kannst du ja verschwinden. Ich halte dich nicht.« »Du wirst unerträglich.« 276
Er wollte sie zur Seite schieben, aber sie wich ihm nicht aus. »Ich will wissen, was passiert ist. Was ist mit deiner Hand? Wieso trägst du plötzlich Handschuhe?« »Das geht dich nichts an, und ich habe keine Lust, mit dir darüber zu diskutieren.« Er stieß Daya schroff zur Seite und eilte zur Tür. Sie lief hinter ihm her, packte ihn nicht weniger energisch an der Schulter und riss ihn herum. Mit flammenden Augen blickte sie ihn an. »Irgendwo ist eine Grenze«, fauchte sie zornig. »Benimm dich gefäl ligst wie ein zivilisierter Mensch!« Er lachte schrill auf. »Wie ein zivilisierter Mensch? Wo gibt es hier noch eine Zivilisation? Begreifst du denn nicht? Wir können nicht mehr tun als darauf warten, dass wir sterben. Goorn II ist eine tote Welt, hier passiert nichts mehr.« »Jetzt verstehe ich«, sagte sie mitfühlend. »Du hast Torschlusspanik.« »Nenne es, wie du willst. Auf jeden Fall weiß ich, dass ich nicht mehr lange zu leben habe. Vielleicht noch fünf Jahre, vielleicht zehn. Dann ist es aus. Ich habe keine Lust, diese Jahre auf Goorn II zu ver bringen, wenn so lange anderswo in der Milchstraße Zivilisationen be stehen, die wenigstens etwas Lebensqualität bieten.« »Du kannst unsere Welt nicht verlassen, das weißt du genau. Was hilft es dir, dass es irgendwo eine Neue Menschheit gibt? Du wirst dich ihr nicht anschließen – du nicht und wir alle nicht. Selbst wenn du ein Raumschiff hättest, könntest du hier nicht weg. Also finde dich damit ab. Benimm dich wie ein Mann, aber nicht wie ein alter Trot tel.« Jaan Wegenrat legte seine Hand an den Howalgoniumarm. Er spürte den harten Kristall unter seinen Fingern. Seine Tochter hatte Recht, er wusste es genau. Und doch wollte er sich nicht nach dem richten, was sie sagte. Alles wäre ganz anders gewesen, wenn nicht das Unheimliche nach ihm gegriffen hätte. Er blickte Daya forschend an. Sanft strich er ihr mit den Fingern sei ner gesunden Hand über die Wange. »Ich werde vernünftig sein«, ver 277
sprach er. »Und ich werde mich bessern. Ich weiß, dass ich mich ekel haft benommen habe. Das soll anders werden. Du wirst keinen Grund mehr haben, dich über mich zu beschweren.« Er küsste Daya leicht auf die Wange, ging an ihr vorbei und verließ das Haus. Dieses Mal hielt sie ihn nicht auf. Kaum fühlte Wegenrat sich unbeobachtet, als das Lächeln aus seinem Gesicht verschwand. Er beschleunigte seine Schritte. Er dachte nicht daran, sich zu ändern, geschweige denn seine Pläne aufzugeben. Er war entschlossen, Goorn zu verlassen. Notfalls würde er sogar seine menschliche Würde dafür opfern. Irgendwo in der Ga laxis gab es ein Neues Einsteinsches Imperium, immer wieder kursier ten Gerüchte über diese Macht. Warum sollte er auf Goorn II vergrei sen, wenn es noch eine Welt gab, auf der zu leben es sich lohnte? Jaan Wegenrat entfernte sich zunächst in nördlicher Richtung von Howalara. Als er sicher war, dass ihn niemand mehr sehen konnte, wandte er sich nach Osten. Ein ödes, wüstenartiges Gelände trennte ihn von dem Stützpunkt der Laren. Es war unwegsam und gefährlich, von giftigen Insekten und angriffslustigem Kleingetier verseucht. Aber davon würde Wegenrat sich nicht zurückhalten lassen. Jetzt nicht mehr! Er dachte an die Space-Jet in der Howalgonium-Mine und überlegte flüchtig, dass er zu ihr zurückkehren und starten konnte. Doch schnell schob er diesen Gedanken weit von sich, weil er eine erneute Konfron tation mit dem Unheimlichen fürchtete, das inmitten der Howalgo nium-Adern lauerte. Er sagte sich auch, dass er ohne ausreichende In formationen nicht die Spur einer Chance hatte, das geheimnisvolle Gäa zu finden, das Zentrum des NEI sein sollte. Was half es ihm, wenn er tatsächlich mit dem kleinen Diskusraumer in den Weltraum fliehen konnte? Wohin sollte er sich wenden? Die Milchstraße war rie sig. Selbst wenn er in jeder Minute einen anderen Planeten aufsuchte, würde der Tod ihn eingeholt haben, bevor er überhaupt in die Nähe des NEI gelangte. 278
Er war sich dessen bewusst, dass er nur eine Möglichkeit hatte, wie der eine pulsierende Zivilisation zu spüren. Er musste in die Dienste der Laren oder der Überschweren treten und zumindest vorübergehend zum Verräter an der Menschheit werden, wenn er sein Ziel überhaupt erreichen wollte. Jaan Wegenrat war bereit, alle moralischen Bedenken über Bord zu werfen. Er wollte tun, was aus seiner Sicht unerlässlich war.
***
»Wir müssen etwas unternehmen«, sagte der Kelosker Tallmark und gestikulierte heftig. »Wir dürfen uns nicht nur auf Splink verlassen.« »Aber was können wir tun?«, fragte Sorgk hilflos. »Wir müssen versuchen, uns gegen die Strahlung abzuschirmen.« »Eine gute Idee«, bemerkte Grongk spöttisch. »Nur haben wir lei der überhaupt keine Möglichkeit dazu.« »Wir müssen uns einen Antigravprojektor besorgen«, schlug Tall mark vor. »Wenn wir ihn manipulieren, leiten wir einen Teil der Strah lung ab. Das wäre schon eine spürbare Erleichterung für uns.« Die Kelosker, sonst geniale Planer und Strategen, übersahen die Schwierigkeiten. Unter der Beeinträchtigung durch die HowalgoniumStrahlung erkannten sie selbst grobe Fehler nicht mehr. Begeistert stimmten sie daher Tallmarks Vorschlag zu. Tallmark selbst ging sofort mit Sorgk ans Werk. Sie ließen sich in einem Antigravschacht abwärts sinken, bis sie den zugehörigen Maschinenraum erreicht hatten. Mit einiger Mühe bauten sie das Hauptaggregat aus, dann ließen sie sich von dem Gerät wieder nach oben tragen und schleppten es zu den anderen. Mit einiger Mü he manipulierten sie es so, dass ein Feld erhöhter Gravitation unter halb ihrer Gemeinschaftsunterkunft entstand. Aufatmend deckten sie das Aggregat mit einigen Tüchern ab, weil sie glaubten, dass dann kein Lare darauf aufmerksam würde. 279
Sie warteten darauf, dass die Howalgonium-Wirkung nachlassen wür de. Aber sie warteten vergebens.
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Splink zuckte zusammen. Plötzlich wurde ihm bewusst, dass er eben Stimmen gehört hatte, die sich dem Kartenraum näherten. Ängstlich blickte er sich um. Er sah eine Projektionstafel und entschied, dass sie ein geeignetes Versteck sein konnte. Hastig eilte er zu der Tafel hin über und verbarg sich dahinter. Sekunden später traten zwei Laren ein. Sie diskutierten über irgend ein Problem. Splink erfasste nicht viel von dem, was sie sagten. denn er bemerkte, dass die Tafel nicht bis zum Boden hinunterreichte. Wenn die Laren sich ihm zuwandten, mussten sie ihn zwangsläufig entdecken. Splink stöhnte vor Entsetzen auf. Die Laren verstummten. »Was war das?«, fragte einer von ihnen. »Lenken Sie nicht ab!«, bemerkte der andere ärgerlich und kam so fort wieder auf das Problem zurück, das er angesprochen hatte. Splink wurde es abwechselnd heiß und kalt. Endlich entfernten sich die Stim men wieder, die Tür schloss sich. Erleichtert ließ der Kelosker sich auf den Boden sinken. Ihn schwin delte, und er fragte sich, warum er sich auf dieses Abenteuer eingelas sen hatte, das offensichtlich seine Kräfte überstieg. Er erwog, zu den anderen zurückzukehren. Aber dann dachte er an die Fragen, die sie ihm stellen würden. Sollte er darauf antworten, dass ihn der Mut ver lassen hatte? Das wollte Splink nicht. Er schob sich bis zur Tür und lauschte angestrengt. Auf dem Gang war alles ruhig, dort schien sich niemand aufzuhalten. War das aber wirklich so? Oder warteten die beiden Laren auf ihn? Sie mussten ihn einfach gesehen haben. Splink zögerte. Er fürchtete sich davor, dass die Tür zur Seite gleiten 280
und er vor den Laren stehen würde. Vor allem fürchtete er sich vor ihrem Hohn. Schließlich raffte er sich auf und betätigte den Öffnungskontakt. Be bend vor Anspannung wartete er, bis er in den Korridor hinaussehen konnte. Ihn schwindelte vor Erleichterung, als er feststellte, dass dort niemand war. Seine Angst schlug in beinahe euphorische Begeisterung um. Er eilte zum Antigravschacht und wollte hineinspringen, als er sah, dass sich von oben herab ein Lare näherte. Erschrocken wich er zurück und blickte sich hilflos um. Nirgendwo bot sich ein Versteck. Er lief einige Schritte weit zur Seite und presste sich mit dem Rücken gegen die Wand. Er hielt den Atem an und streckte einen Arm aus, als könne er damit alles Unheil von sich fern halten. Der Lare trat aus dem Antigravschacht hervor, wandte sich aber so fort in die entgegengesetzte Richtung und eilte davon, ohne sich um zusehen. Splink raste förmlich zum Schacht und stürzte sich hinein. Während er abwärts schwebte, fiel ihm ein, dass er es versäumt hatte, sich davon zu überzeugen, dass er allein war. Aber nun wagte er es nicht mehr, nach oben zu sehen. Er verließ den Antigravschacht im Erdgeschoss und erreichte gleich darauf den Zugang zu einem Positro nikraum. Er wollte ihn öffnen, als er von der anderen Seite Stimmen hörte. In aller Eile wälzte er sich zu einer Tür neben dem Antigravschacht zurück. Er zerstörte in seiner Nervosität das Schloss, konnte die Tür danach aber leicht aufdrücken. Als er sich hindurchzwängte, befand er sich unvermittelt im Freien. Stöhnend vor Erleichterung, rang Splink nach Atem. Die Schatten verkrüppelter Bäume fielen auf ihn. Er sah zwei große Käfer auf sich zukriechen. Sie hatten seltsame Zangen, die sie ihm ent gegenstreckten. Da er nicht wusste, ob die Insekten womöglich gefähr lich waren, erhob er sich und ging einige Schritte zur Seite. Bisher hatte er sich noch nicht mit der Frage beschäftigt, wie er un 281
bemerkt vom Hauptgebäude des Larenstützpunkts wegkommen konn te. Erst allmählich wurde ihm bewusst, dass er nicht einfach durch die Gegend laufen konnte. Er blickte zu den tief hängenden roten Wolken hinauf. Den Stand der Sonne konnte er nicht erkennen, aber die Tage auf dieser Welt waren ungewöhnlich lang. Splink durfte nicht stundenlang bis zum Einbruch der Dunkelheit warten, sondern musste seine Flucht jetzt fortsetzen.
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Jaan Wegenrat versteckte sich hinter einem Baum, als er die Raubvögel bemerkte, die aus den Wolken herabstießen. Sie strichen nur wenige Meter über ihn hinweg, und er blickte ihnen nach. Er musste damit rechnen, dass sie ihn angriffen. Deshalb zog er den Kombistrahler unter seiner Jacke hervor und wartete. Eigentlich wollte er gar nicht schießen, denn die Laren hatten den Besitz von Waffen verboten. Wegenrat erinnerte sich an einen Bekannten, der seinen Kombistrahler nicht abgeliefert hatte. Die Laren hatten ihn gefasst, nachdem er den Paralyseteil einmal ausgelöst hatte. Wegenrat schloss daraus, dass es vollautomatische Ortungsanlagen gab, die sofort Alarm auslösten, wenn in der Nähe des Stützpunkts eine Waffe abgefeuert wurde. Auf diese Weise wollte er nicht Kontakt mit den Laren aufneh men. Er hoffte, dass die Raubvögel ihn nicht angreifen würden. Doch ei nes der Tiere stieß jäh aus dem Schutz der Bäume auf ihn herab. We genrat riss den Kombistrahler hoch, den er jahrelang unentdeckt in sei nem Haus versteckt gehabt hatte. Gleichzeitig flog sirrend etwas an ihm vorbei. Er sah, dass ein Pfeil den Vogel durchbohrte. Kreischend stürzte das Tier ins Gras, wo es wild mit den Flügeln schlug und schließlich verendete. Wegenrat drehte sich langsam um. Eine schlanke Gestalt trat unter 282
den Bäumen hervor. »Daya«, sagte er überrascht. »Du bist mir ge folgt?« »Das war wohl notwendig.« Sie wies auf den toten Raubvogel. Das Tier war zwar klein, aber diese Art hatte Giftdrüsen unter den Krallen. Schon die geringste Verletzung würde unweigerlich zum Tod führen. Wegenrats Tochter hängte sich den Bogen über die Schulter. Sie musterte ihren Vater. »Du hast einen Kombistrahler? Woher?« »Das geht dich nichts an.« »Wie du meinst«, entgegnete sie gleichmütig. Wegenrat wurde unru hig. Er wartete darauf, dass Daya nach Howalara zurückkehren würde, aber sie blieb vor ihm stehen. »Was willst du?«, fragte er endlich. »Ich gehe mit dir.« Sie deutete zum Stützpunkt der Laren hinüber. »Ich glaube, ich verstehe dich jetzt. Ich bin dein Fleisch und Blut, des halb halte ich es hier auch nicht mehr aus. Ich will weg, ebenso wie du. Ich gehe mit dir.« »Das kommt überhaupt nicht in Frage«, wies er Daya zurück. »Du bist jung und kannst warten. Vielleicht dauert es nur mehr wenige Jah re, dann sind die Laren aus der Milchstraße verschwunden. Rhodan kehrt mit der Erde zurück, und alles ist wieder so wie früher.« »Das glaubst du selbst nicht. Dein Rhodan, wer immer er sein mag, wird nie wiederkommen. Nie, verstehst du?« »Vielleicht«, sagte Jaan Wegenrat ruhig. »Aber das spielt keine Rolle. So oder so nehme ich dich nicht mit.« Er drehte sich um und ging auf den Stützpunkt zu, der noch etwa eineinhalb Kilometer entfernt war. Daya folgte ihm, bis er nach wenigen Schritten wieder stehen blieb. »Wenn du nicht vernünftig bist, werde ich dich paralysieren«, erklär te er drohend. Sie blickte ihn forschend an. »Was willst du den Laren bieten? Du weißt genau, dass sie dich rauswerfen, wenn du mit leeren Händen kommst. Also, was ist es?« Jaan Wegenrat griff zum Kombistrahler und richtete ihn auf seine 283
Tochter. »Nimm den Energiemodus«, bat sie, während Tränen in ihren Augen erschienen. »Erschieß mich, das geht schneller.« »Wieso?«, fragte er verwirrt. Dann biss er sich auf die Lippen. Ihm fiel ein, dass er sie nicht paralysiert in der Wildnis liegen lassen durfte. Raubinsekten würden über sie herfallen, bevor sie die Lähmung über wunden hatte. »Verdammt!«, sagte Wegenrat zornig. »Verschwinde endlich!« Er wollte Daya ohrfeigen, doch sie griff blitzschnell nach seinem Arm. Dabei rutschte der Ärmel zu weit hoch. Aufschreiend wich die junge Frau zurück, die Augen weit aufgerissen. Jaan Wegenrat hob seinen Howalgoniumarm. Ein eigenartiges rötli ches Leuchten ging von dem Hyperkristall aus. Daya schrie auf. Panik artig wandte sie sich um und floh. »Daya!«, schrie Wegenrat verzweifelt. »Warte. Lass dir erklären …« Sie hörte nicht auf ihn. Er folgte ihr, war jedoch zu langsam und konnte seine Tochter nicht einholen. Schließlich blieb er stehen und blickte ihr nach, bis sie im Dickicht der roten Bäume verschwand. Er hatte ohnehin nicht gewollt, dass sie bei ihm blieb. Er war fest ent schlossen gewesen, allein zu den Laren zu gehen. Doch jetzt war ihm auch nicht wohl, dass sie vor ihm wie vor einem Ungeheuer floh. Der Gedanke quälte ihn, dass sie sich vor ihm ekelte. Zornerfüllt hieb er seine Howalgoniumhand mit aller Kraft auf einen Felsen. Er spürte keinen Schmerz. Die Hand blieb heil, aber der Fels zersplitterte wie unter einem Stahlhammer. Er wich zurück, streckte die Howalgoniumhand von sich und würg te, doch sein Entsetzen verflog schnell. Neugierde gewann die Ober hand. Jaan Wegenrat holte zu einem zweiten Schlag aus, drosch die Hand gegen einen Baumstamm und durchtrennte ihn mühelos. »Nicht schlecht«, sagte er staunend zu sich selbst. »Sogar ziemlich gut. Vielleicht sollte ich versuchen, mich mit dem Ding anzufreunden. Wer weiß, wofür ich es noch gebrauchen kann.« Er bückte sich und 284
hob den Handschuh auf, der ihm entfallen war.
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Splink war sich dessen bewusst, dass er nicht länger untätig verharren durfte. Er musste weitergehen. Da das Gelände vor ihm allzu leicht eingesehen werden konnte, schob er sich etwa dreißig Meter weit an der Wand des Hauptgebäudes entlang, bis er einige Felsen erreichte. Zwischen ihnen fühlte er sich sicherer. Er lief nach Westen vom Ge bäude weg. Dabei wagte er es nicht zurückzuschauen. Er verhielt sich wie ein kleines Kind, das glaubt, dass eine Gefahr nicht existiert, wenn es nur nicht hinsieht. Splink hatte Glück. Niemand bemerkte ihn. Er wähnte sich bereits in Sicherheit, als er gegen einen unsichtbaren Energiezaun prallte. Benommen stürzte er zu Boden und wusste minu tenlang nicht mehr, wo er sich befand und was er geplant hatte. Es be reitete ihm Mühe, zu sich selbst zu finden. Ächzend richtete er sich schließlich wieder auf und ließ seine Greif lappen über das Prallfeld gleiten. Dabei wurde ihm bewusst, wie un vorsichtig er gewesen war. Hatte er nicht selbst überall Fallen und positronische Kontrollen vermutet? Er kauerte sich zwischen zwei Felsen und konzentrierte sich. Seine Gedanken verliefen träge, es fiel ihm schwer, sich mit dem Problem zu befassen, das er zu bewältigen hatte. Die Howalgonium-Strahlung lähmte ihn mehr als zuvor. Nur langsam gelang es ihm, sich die Kon struktion der Prallfeldzäune in Erinnerung zu rufen. Sie sollten den Stützpunkt nach außen hin absichern, von innen nach außen zu gelan gen war indes möglich. Splink kroch am Prallfeldzaun entlang, bis er einen der unscheinba ren Energiefeldprojektoren entdeckte. Das Gerät war nur wenige Zenti meter lang. Er versuchte, es abzubrechen, aber das gelang ihm nicht. Mit einem Steinsplitter, den er im Sand fand, konnte er jedoch nach 285
fast einstündiger mühseliger Arbeit eine Sicherungsmulde öffnen. Er nahm die Sicherung heraus und versteckte sie unter einem Stein. Er leichtert stellte er fest, dass der Prallfeldzaun vor ihm nicht mehr vor handen war. Er war sich darüber klar, dass irgendwo im Stützpunkt eine Warnan zeige leuchtete. Wenn die Laren aufmerksam waren, mussten sie die Lücke im Energiezaun schnell bemerken. Splink hoffte auf ihre Sorg losigkeit. Er lief hinaus ins Dickicht. Als ihn vom Stützpunkt aus niemand mehr sehen konnte, schwenkte er in Richtung der Stadt ein. Gleichzei tig versuchte er, sich zu erinnern, was er dort überhaupt wollte. Er blieb abrupt stehen, als er sich bewusst wurde, dass er es vergessen hat te. Der Druck der Howalgonium-Strahlung wurde beinahe unerträg lich. Schließlich blickte Splink zum Stützpunkt zurück. In diesem Moment hörte er ein lautes Splittern und Bersten. Er ruckte herum und sah, dass etwa hundert Meter entfernt ein Baum umstürzte. Neugierig schob er sich näher. Aus dem Gebüsch tauchte ein hochgewachsener Mann auf. Sein schlohweißes Haar fiel ihm bis auf die Schultern. Im ersten Moment glaubte Splink, einen Arkoniden vor sich zu haben, dann erkannte er, dass der Mann Terraner sein musste. Gleichzeitig fiel ihm wieder ein, weshalb er aus dem Stützpunkt geflohen war. Er rief laut, um den Fremden auf sich aufmerksam zu machen. Der Mann erschrak heftig und zog eine Waffe. »Nicht schießen!«, schrie Splink entsetzt. Er schaltete hastig den Translator ein, der vor seiner Brust baumelte. »Ich bin ein Freund der Terraner, und ich bin in Not.« Eine seltsame Faszination ging von dem Weißhaarigen aus. Splink fühlte sich zu ihm hingezogen. Es war, als sei der Mann von einer schwer fassbaren Kraft erfüllt, die auf ihn selbst übersprang und ihn in seltsamer Weise belebte. Splink glaubte, mit einem Mal wieder klarer denken zu können, während sich seine Gedanken tatsächlich schlim 286
mer verwirrten als zuvor. Keuchend blieb er vor dem Mann stehen. »Mein Name ist Splink«, sagte er, »ich bin Kelosker und ein Freund Perry Rhodans.« »Ich heiße Jaan Wegenrat«, antwortete der Terraner. »Und ich bin ein Freund aller, die in Not sind.« »Helfen Sie uns!«, flehte der Kelosker. »Meine Freunde und ich sind in Not.« Sein Gegenüber steckte die Waffe weg und verschränkte die Arme vor der Brust. »Wo liegt das Problem?«, fragte er. »Das Howalgonium auf dieser Welt lähmt uns. Wir können nicht mehr klar denken. Wir leiden unter der Strahlung, und wir können un sere strategischen Pläne nicht mehr so verfolgen, wie es notwendig ist.« »Was wollt ihr mit diesen Plänen erreichen?«, erkundigte sich Wegen rat. »Wir wollen, dass die Laren weit entfernt ein Black Hole erschaffen. Es soll für sie zu einer kosmischen Falle werden.« »Interessant. Und weiter?« Splink hatte blindes Vertrauen zu dem Terraner. Er verriet ihm alles, was er wusste, und der Mann hörte aufmerksam zu. »Was soll ich tun?«, fragte Wegenrat, als Splink seinen Bericht been det hatte. »Wir müssen gegen die Strahlung abgeschirmt werden. So schnell wie möglich. Ständig besteht die Gefahr, dass die Laren bemerken, in wel cher Lage wir uns befinden. Ist ihr Vertrauen aber erst einmal ver schwunden, wird der Plan nicht mehr gelingen.« »Das müssen wir auf alle Fälle verhindern«, sagte Wegenrat. »Lässt sich die Strahlung abschirmen?« »Das ist kein Problem«, behauptete der Terraner. »Ich kann in eini gen Tagen alles bewerkstelligt haben. Bis dahin müssen Sie und Ihre Freunde durchhalten.« »Das werden wir schaffen!«, rief Splink dankbar und voller Zuver sicht. 287
»Kehren Sie in den Stützpunkt zurück«, sagte Wegenrat. »Die Laren dürfen nicht merken, dass Sie ihn verlassen haben. Sie müssen Ihre Spuren aber nicht unbedingt verwischen. Wenn Sie wieder zu den an deren Keloskern gehen, genügt das.« »Vielen Dank, Wegenrat!« Splink drehte sich um und eilte davon. Er sah noch das Lächeln im Gesicht das Terraners, aber er bezog es auf die Hilfe, die ihm und seinesgleichen zuteil werden sollte.
15.
Schwerer Kreuzer PLEYST ershyll Vanne betrat mit dem Vario-500 die Hauptschleuse der PLEYST. Ein untersetzter Mann mit schwarzgelockten Haaren kam ihnen entgegen. Er trug eine schlichte Uniform ohne Rangzei chen. »Ich bin Killion Varmell«, sagte er mürrisch, fast abweisend. »Kom mandant der PLEYST.« »Julian Tifflor nannte mir Ihren Namen«, entgegnete Vanne. »Mein Vorgänger Hendrik Vayne liegt auf einer Quarantänestation«, erklärte Varmell. »Er hat sich mit einem unbekannten Virus infiziert.« Das schien er als ausreichende Erklärung anzusehen, denn er drehte sich um und ging vor Vanne her ins Schiff. Das Konzept folgte ihm, ohne Fragen zu stellen. Als sie die Hauptleitzentrale erreichten, erteilte Varmell den Start befehl. Knapp und prägnant gab er seine Anweisungen, bis der Schwe re Kreuzer aufstieg. Dann setzte er sich in den Kommandantensessel. Es schien, als habe er vergessen, dass Kershyll Vanne an Bord gekom
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men war. Vanne tippte dem Piloten auf die Schulter und lächelte freundlich. »Würde es Ihnen etwas ausmachen, mir diesen Platz zu überlassen?«, fragte er. Der Pilot blickte verblüfft zu Varmell hinüber. Der Kommandant nickte stumm. »Hat Julian Tifflor Sie nicht ausreichend informiert?«, erkundigte sich Vanne, während er sich setzte. »Mich nicht«, antwortete der Pilot gereizt. Er verließ die Zentrale. Vannes Blicke glitten über die Instrumente. Er nahm kleinere Kor rekturen vor und beschleunigte mit schnell wachsenden Werten. Die PLEYST raste auf die Energiewirbel der Dunkelwolke zu. Je näher sie ihnen kam, desto unruhiger wurde der Kommandant. »Es stimmt also?«, fragte er schließlich. »Natürlich«, erwiderte Vanne. »Die Vincraner kommen dieses Mal nicht. Ich werde das Schiff allein durch die Dunkelwolke führen.« Killion Varmell schien erneut zu vergessen, dass er nicht allein war. Er machte einen noch verschlosseneren Eindruck als zuvor. Vanne ließ sich davon nicht irritieren, er wusste, dass Varmell aufgrund seiner überragenden Qualitäten zum Interimskommandanten des Schweren Kreuzers bestimmt worden war. Killion Varmell blieb stumm, als die PLEYST in die Energiewirbel der Dunkelwolke eindrang. Alle in der Hauptleitzentrale beobachteten den hochgewachsenen Mann mit den eigenartig hellen Augen, der den Kreuzer lenkte. Er war der Erste, der das Monopol der Vakulotsen brach. Noch kein Mensch hatte es geschafft, ein Raumschiff ohne die Unterstützung der Vincraner durch die tückische Wolke zu steuern. »Eine ausgezeichnete Leistung«, sagte Killion Varmell anerkennend, als das Schiff die tödliche Zone endlich überwunden hatte und in den freien Raum vorstieß. Kershyll Vanne lächelte stolz. »Ich wollte Ihren Piloten nicht beleidi gen oder demütigen«, entgegnete er. »Aber er wäre nicht in der Lage 289
gewesen, das Schiff allein auf diese Weise zu fliegen.« Der Kommandant hüstelte. »Haben Sie es allein geflogen?«, fragte er mit eigenwilligem Unterton.
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Goorn II Hotrenor-Taak betrat das Rechenzentrum des Stützpunkts. KastulPook unterbrach seine Arbeiten an der Positronik sofort und kam ihm entgegen. »Wann sind Sie endlich fertig?«, fragte der Verkünder der Hetosonen barsch. »Ich verstehe nicht, weshalb Sie so viel Zeit benötigen.« »Erlauben Sie mir den Hinweis, dass wir keine siebendimensionalen Denker sind wie die Kelosker«, entgegnete der Wissenschaftler. »Ihre kosmologisch-strategischen Berechnungen stellen uns vor erhebliche Probleme.« »Damit hatten wir gerechnet. Nur das Ergebnis interessiert mich – nicht mehr.« Hotrenor-Taak hatte die Pläne der Kelosker nicht einfach akzeptiert, sondern Überprüfungen veranlasst. Dabei war er sich von Anfang an bewusst gewesen, dass sich die Arbeit der Kelosker nicht exakt nach vollziehen ließ, weil larische Gehirne nicht in der Lage waren, alle Ge dankengänge der Para-Abstrakt-Denker zu übernehmen. »Wir sind unter Vorbehalt zu der Ansicht gekommen, dass die Kelos ker die benötigten Energien vierfach überhöht angesetzt haben«, be merkte Kastul-Pook. »Die betreffende Sonne lässt sich schon mit weit geringerem Energieaufwand in ein Schwarzes Loch verwandeln.« »Viermal so hoch wie notwendig?«, fragte Hotrenor-Taak überrascht. »Soll das bedeuten, dass wir den Keloskern nicht mehr vertrauen kön nen? Ausgerechnet in unserer Situation ohne die Pyramiden der Mastibekks?« »Ich kann Ihnen keine Erklärung geben, Verkünder«, erwiderte Kas 290
tul-Pook vorsichtig. »Wir wissen zu wenig. Sie müssen sich von den Keloskern selbst erläutern lassen, weshalb sie diese Anweisung gege ben haben.« »Darauf können Sie sich verlassen«, sagte Hotrenor-Taak erregt. Er verließ das Rechenzentrum wieder und stürmte zu dem Raum, in dem sich die Kelosker aufhielten. Er hatte die Kontrolle nicht durchführen lassen, weil er ihnen misstraut hätte, sondern weil er sich ungern nur auf eine Aussage verließ. Nun war jedoch sein Misstrauen erwacht. Die Flotte war nur mehr beschränkt einsatzfähig. SVE-Raumer pat rouillierten aufgrund der keloskischen Empfehlungen an der Peripherie der Galaxis. SVE-Raumer verbreiteten außerdem weiterhin die MitoseStrahlung in der Galaxis. Das bedeutete eine Aufsplitterung der Flotte und zudem hohen Energieaufwand für die Raumschiffe. Bis Hotrenor-Taak die Unterkunft erreichte, wurde ihm bewusst, dass die Kelosker weder mit der einen Seite noch mit der anderen paktieren konnten, denn ihre Maßnahmen richteten sich gegen die wichtigsten Gegner überhaupt. Da waren die Konzilsvölker auf der einen und der Terraner Rhodan auf der anderen Seite. Der Verkünder zögerte. Nachdenklich öffnete er die Tür. Dabei über sah er das beschädigte Schloss. Unter den Keloskern herrschte Unruhe. Tallmark bemerkte ihn und kam auf ihn zu. »Ich sehe Ihnen an, dass Sie ein Problem haben!«, rief der Kelosker. Hotrenor-Taak sagte kühl und distanziert, was ihn bewegte. »Und das wundert Sie?«, fragte Tallmark. »Allerdings. Sie kennen unsere Energiesituation.« »Selbstverständlich«, erwiderte Tallmark ruhig. »Nur wollen wir nicht irgendein Schwarzes Loch erzeugen, sondern einen Zugang zum Dakkardim-Ballon ermöglichen. Dazu gehört mehr Energie. Nur ein Vier tel des errechneten Bedarfs wird für die Erzeugung des Schwarzen Lo ches benötigt.« »Und wozu die anderen drei Viertel?« 291
»Zur Steuerung. Weil wir die Welten der Zgmahkonen erreichen wol len. Das ist ein schwieriges Unterfangen, das sorgfältig vorbereitet wer den muss. Wenn der Umwandlungsprozess perfekt ablaufen soll, be nötigen wir die angegebene Energie unbedingt. Ohne diesen Aufwand ist das Projekt nicht zu realisieren.« Hotrenor-Taak atmete auf. Die Antwort des Keloskers stellte ihn zufrieden. »Sie misstrauen uns?«, fragte Tallmark in dem Moment. »Selbstverständlich nicht«, antwortete der Lare und verabschiedete sich sogar mit einer freundlichen Geste.
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Der Walzenraumer war gigantisch. Jaan Wegenrat hatte vergessen, wie groß diese Raumschiffe waren. Lange war er nicht mehr nahe an so ei nen Koloss herangekommen. Er marschierte über die glasierte Ebene. Staub wirbelte unter seinen Füßen auf. Transportplanen mit Versorgungsgütern für den Stützpunkt schwebten vorbei. Der Ingenieur hatte zunächst versucht, Splink in den Larenstütz punkt zu folgen. Aber er war am Prallschirmzaun gescheitert. Dabei war er dem Kelosker dicht auf den Fersen geblieben. Er verwünschte die Tatsache, dass die Laren den Energiezaun so schnell wieder ge schlossen hatten. Inzwischen hatte er den Westflügel des Stützpunkts umgangen und näherte sich dem Walzenraumschiff, das weit vor dem Stützpunkt ge landet war. Die gigantischen Ausmaße des Schiffes hatten Wegenrat über die Entfernung getäuscht. Erst als er bis auf hundert Meter herangekommen war, wurden die Überschweren auf ihn aufmerksam. Wegenrat fürchtete, dass sie ihm einen Roboter entgegenschicken würden, aber sie warteten gelassen ab, bis er vor ihnen stand. Er hob grüßend den Arm, wobei er sorg 292
fältig darauf achtete, dass der Ärmel nicht wieder verrutschte. »Mein Name ist Jaan Wegenrat«, sagte er in Interkosmo. Er wusste, dass die Überschweren ihn verstanden. »Ich habe eine wichtige Nach richt für Maylpancer.« Wegenrat wusste nicht genau, wer Maylpancer wirklich war. Nie mand in Howalara hatte zuverlässige Informationen über den Ersten Hetran. Alle wussten nur, dass die Überschweren die Macht der Laren in der Galaxis unterstützten. »Für Maylpancer, eh?«, fragte einer höhnisch. »Für den Ersten Hetran«, ergänzte Wegenrat unsicher. »Ich muss ihn unbedingt sprechen.« Die Überschweren diskutierten miteinander. Der Ingenieur schloss aus ihrem Verhalten, dass sie zum niederen Bordpersonal gehörten. »Was ist das für eine Nachricht?«, fragte der Überschwere, der schon vorher mit ihm gesprochen hatte. »Sie ist für Maylpancer bestimmt«, wiederholte Wegenrat entschlos sen, »für niemanden sonst.« »Hast du eine Waffe bei dir?« »Allerdings. Hier ist sie.« Er erschrak, denn er hatte versäumt, den Kombistrahler rechtzeitig abzulegen. Nun reichte er ihn mit dem Kol ben voran dem Überschweren. Er hob die Arme und ließ sich wider standslos nach weiteren Waffen durchsuchen. Schweiß perlte auf seiner Stirn. Er fürchtete, der Überschwere würde merken, dass mit seinem rechten Arm etwas nicht in Ordnung war, aber die massigen Hände ließen schnell wieder von ihm ab. »In Ordnung. Komm mit.« Jaan Wegenrat fühlte, dass sein Puls raste, als er die Hauptschleuse des Walzenraumers betrat. War er schon am Ziel? Würde er das Schiff wieder verlassen, oder würden die Überschweren ihn mitnehmen? Er wagte kaum, an sein Glück zu glauben. Skrupel hatte er nicht. Er wollte Goorn II verlassen, alles andere spielte keine Rolle. Der Überschwere führte ihn zu einer Kabine. Hinter einem einfa 293
chen Tisch saß ein Offizier. »Sie sind Maylpancer?«, fragte Wegenrat. »Mein Name ist Kadcance. Was wollen Sie?« »Ich muss mit dem Ersten Hetran sprechen, mit niemandem sonst.« »Weg mit ihm!«, befahl Kadcance. »Warten Sie!«, schrie Wegenrat. »Ich habe eine lebenswichtige Nach richt für den Kommandanten.« Kadcance schickte den Überschweren, der Wegenrat geführt hatte, mit einer knappen Geste hinaus. Dann sagte er: »Reden Sie!« »Ich verlange, dass Sie mir eine verbindliche Zusage machen, bevor ich Ihnen sage, was ich weiß.« »Was für eine Zusage wollen Sie?« Jaan Wegenrat erklärte es dem Offizier. Kadcance lachte ihm ins Ge sicht. Er erhob sich und kam drohend auf ihn zu. »Was bilden Sie sich ein?«, fragte er höhnisch. »Verschwinden Sie!« Als Wegenrat nicht augenblicklich reagierte, zuckte die Faust des Überschweren vor. Sie traf ihn an der Hüfte und schleuderte ihn bis zum Schott zurück. Hier ging der Ingenieur ächzend zu Boden. »Ich weiß, dass die Kelosker die Laren verraten«, sagte er gepresst. »Sie arbeiten in Wirklichkeit für Rhodan. Sie haben Pläne entwickelt, mit deren Hilfe Rhodan die Laren vernichten und die Macht der Über schweren brechen wird. Es ist der so genannte Achtzig-Jahre-Plan.« »Idiotisch«, brauste Kadcance auf. »Verschwinden Sie, oder ich bre che Ihnen sämtliche Knochen!« »Glauben Sie mir doch!«, flehte Wegenrat. »Hotrenor-Taak wurde getäuscht.« »Woher willst du Narr das wissen?« »Einer der Kelosker hat den Stützpunkt verlassen und mir alles ver raten.« Kadcance lachte schallend auf. »Ein Kelosker verlässt den Stützpunkt und eröffnet dem ersten Vagabunden, der ihm begegnet, Pläne, die ihn das Leben kosten können, sobald sie bekannt werden.« Kadcance pack 294
te Wegenrat am linken Arm und stieß ihn durch die aufgleitende Tür auf den Gang hinaus. »Bringt ihn aus dem Schiff!«, befahl er. »Wenn der Kerl sich weigert, erschießt ihn!« Jaan Wegenrat wusste, dass er verloren hatte. Die Überschweren nah men keine Rücksicht auf jemanden, der nicht willkommen war. Sie stießen ihn aus der Hauptschleuse, und er rannte sofort in Rich tung des Stützpunkts davon. Das brüllende Gelächter der Überschwe ren verfolgte ihn. Einer feuerte sogar seinen Thermostrahler ab. Die Glutbahn zuckte hoch über Wegenrat hinweg.
***
Splink jubelte innerlich vor Erleichterung, als er sich wieder innerhalb des Energiezauns befand. Nun brauchte er nur noch zu den anderen Keloskern zurückzukehren. Das – so meinte er – sei weiter kein Pro blem. Aber die Tür, durch die er das Gebäude zuvor verlassen hatte, öff nete sich, als er etwa fünfzig Schritte entfernt war. Ein Lare und ein Roboter traten ins Freie. Splink ließ sich hinter einen Felsbrocken sinken und presste sich auf den Boden. Schlagartig wurde ihm bewusst, dass er längst nicht in Sicherheit war. Er hörte die Schritte auf sich zukommen und überlegte fieberhaft, was er sagen sollte, wenn er entdeckt wurde. Augenblicke später gingen der Lare und der Roboter nahe an ihm vorbei. Splink zitterte. Hilflos schob er die Arme über den Kopf und wartete auf einen Ausruf des Laren. Doch die Schritte entfernten sich. Splink hob den Kopf und blickte den beiden Gestalten nach. Er beobachtete, dass der Lare sich an dem Energiefeldprojektor zu schaffen machte und eine neue Sicherung einsetzte. Eilig suchte Splink ein Versteck auf, in dem er sich sicherer fühlen konnte. Wenig später kehrten der Lare und der Roboter in das Gebäude zurück. Die Tür ras tete hörbar ein. Das Geräusch verriet Splink, dass auch hier eine Repa 295
ratur vorgenommen worden war. Er wusste aber nicht mehr genau, inwieweit sie wirklich notwendig gewesen war. Nach einigen Minuten verließ Splink sein Versteck und schob seinen Körper zu der Tür hin über. Sie widerstand allen Bemühungen, sie zu öffnen. Auch das näch ste Türschott, mehr als hundert Meter weiter, reagierte nicht. Niedergeschlagen sackte der Kelosker in sich zusammen. Es wurde bereits dunkel, und er war allein. In der Hoffnung, vielleicht doch einen Zugang zu finden, lief er wei ter – und blieb gleich darauf entsetzt stehen. Am anderen Ende des Gebäudes schwebten vier Roboter über einigen nadelförmigen Felsen. Langsam glitten sie auf ihn zu. Splink bezweifelte nicht, dass die Roboter ihn suchten. Nun durfte er sich keine Experimente mehr erlauben. Er musste schnell und ent schlossen handeln, oder alles war verloren.
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Tallmark gurgelte entsetzt, als er erkannte, welchen Fehler er gemacht hatten. »Sorgk!«, rief er. »Wir müssen den Antigravprojektor sofort zu rückbringen.« »Warum sollten wir das tun?«, fragte Sorgk. »Er schützt uns doch.« Tallmark hatte einen lichten Moment, in dem sein Denkvermögen von der Howalgonium-Strahlung nicht so stark beeinträchtigt wurde. »Davon merke ich nichts«, erklärte er. »Aber das ist auch unwichtig. Entscheidend ist, dass jeder, der in den Schacht springt, abstürzen wird. Nichts warnt ihn davor!« »Das ist wahr«, erkannte Sorgk verblüfft. »Wie konnten wir das nur übersehen?« »Weil wir nicht mehr zielstrebig denken können«, antwortete Tall mark mühsam. »Lange ertrage ich die Strahlung nicht mehr.« Sorgk öffnete die Tür. Er fuhr jedoch sofort zurück, weil sich auf dem Gang mehrere Laren aufhielten. Ratlos blickte er Tallmark an. 296
In diesem Moment blitzte es weit außerhalb des Stützpunkts hell auf. »Was war das?«, rief Llamkart. »Jemand hat drüben bei dem Walzenraumer der Überschweren ge schossen«, sagte Zartrek. Sorgk und Tallmark blickten aus den Fenstern. Die Nacht zog be reits herauf, viel war nicht mehr zu erkennen. Tallmark bemerkte eine humanoide Gestalt, die sich dem Stützpunkt näherte. »Da ist ein Mann«, sagte er überrascht. »Er scheint alt zu sein. Je denfalls hat er weißes Haar.«
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Jaan Wegenrat schlug einen Haken und rannte weiter. Mehrmals blick te er zu den Überschweren zurück. Erleichtert stellte er fest, dass wohl niemand mehr auf ihn schießen wollte. Damit schien die größte Ge fahr vorbei zu sein. Dennoch lief Wegenrat so schnell weiter, wie ihn seine alten Beine trugen. Er hielt sich dicht an die Kolonne der schwebenden Lastplat ten, die in den Stützpunkt hineinglitten. Dabei kam ihm ein Gedanke. Die Überschweren glaubten ihm nicht. Sie hatten ohnehin eine Aversion gegen Terraner, das wusste er. Sie hörten schon deshalb nicht richtig zu, weil er selbst Terraner war. Warum sollte er also nicht ver suchen, seine Nachricht direkt zu den Laren zu bringen? Vielleicht wussten die Überschweren gar nichts von den Keloskern im Stütz punkt? Wenn er den Laren nun unterbreitete, was er von Splink erfah ren hatte? Neue Zuversicht flackerte in ihm auf. Während er neben den Anti gravplattformen lief, sah er sie sich genauer an. Als er eine entdeckte, die mit Einzelmaschinen beladen war, sprang er an der Bordwand hoch. Seine Finger verkrallten sich um die Ladekante. Wegenrat war überrascht, wie gut sein rechter Arm funktionierte. Der Arm war kei 297
neswegs hinderlich, sondern half ihm sogar, sich auf die Transport scheibe zu ziehen. Wegenrat warf sich zwischen den Maschinen zu Boden und zog die Beine an. Schließlich kippte er ein leichteres Teil halb über sich, so dass er auch von oben her nicht so ohne weiteres zu sehen war. An der Strukturlücke im Energiezaun musste sich alles entscheiden.
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Gäa Julian Tifflor nahm den Anruf über die Blickschaltung entgegen. »Ker shyll Vanne hat sich gemeldet«, berichtete sein Sekretär. »So schnell schon?«, fragte Tifflor erstaunt. »Es sind erst zwei Tage seit seinem Abflug vergangen.« »Er ist offenbar ein eifriger Forscher«, stellte der Sekretär lächelnd fest. »Vanne glaubt, dass er herausgefunden hat, was die Laren vorha ben. Er ist der Ansicht, dass sie die ältere Komponente der Doppelsonne manipulieren wollen.« Der Sekretär unterbrach seinen Bericht. »Entschuldigen Sie«, sagte er. »Soeben ist Roctin-Par gekommen.« »Schicken Sie ihn zu mir herein«, bat Tifflor erfreut. Er erhob sich. Augenblicke später stand der larische Freiheitskämpfer vor ihm. Tifflor streckte ihm die Hand entgegen, und Roctin-Par er griff sie. »Sie kommen wie gerufen«, sagte Rhodans Stellvertreter. »Ich habe einige Fragen, die ich gern mit Ihnen besprechen würde.« Er hatte den Provconer seit Tagen nicht mehr gesehen, davor jedoch häufig mit ihm konferiert. Die fünfzehn Millionen Laren auf Gäa wur den unruhig. Aufmerksam beobachteten sie die Lage in der Milchstra ße und verfolgten die zunehmende Schwächung der Konzilslaren unter Hotrenor-Taak. Viele von ihnen waren zu der Ansicht gelangt, dass bald ein Angriff auf Hotrenor-Taak und seine Truppe erfolgen sollte. Sie waren überzeugt davon, dass ein solcher Angriff endlich gute Er 298
folgschancen haben würde. »Was gibt es?«, fragte der Provconer, als er sich gesetzt hatte. Tifflor schaltete zu seinem Sekretär durch. »Haben Sie Ihren Bericht abgeschlossen?«, fragte er. »Oder ist da noch etwas, das ich wissen soll te?« »Mehr hat Vanne nicht mitgeteilt«, erwiderte der Gäaner. »Er glaubt, dass die Laren die Sonne Arcur-Beta manipulieren wollen. Das ist al les.« »Gut. Danke.« Julian Tifflor schilderte Roctin-Par, was er erfahren hatte. Er schloss mit der Frage: »Was halten Sie davon? Was beabsichtigen die Laren tatsächlich?« Der provconische Rebell überlegte. Er kannte die kosmische Situa tion ebenso gut wie Tifflor. »Das kann nur einen Grund haben«, sagte er selbstsicher. »Hotrenor-Taak braucht dringend Energie. Die Masti bekks liefern sie ihm nicht mehr, also muss er sich Energie selbst be schaffen. Was ist effektiver, als jeglichen Bedarf direkt von einer Son ne abzuzapfen?« »Sie glauben demnach, dass Hotrenor-Taak eine neue Technik ent wickelt hat?« »Eine andere Möglichkeit gibt es wohl nicht. Wir können nur hof fen, dass sein Experiment nicht gelingt, denn sonst haben wir es bald wieder mit einer starken Flotte zu tun. Ein Angriff auf die SVE-Rau mer des Konzils käme dann zu spät.«
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299
Goorn II Splink hastete zurück zu der Tür, durch die der Lare und der Roboter verschwunden waren. Zwischen ihm und den näher kommenden Ro botern erhoben sich die Felsen, so dass er die Maschinen nicht mehr sehen konnte. Nervös bearbeitete er das Schloss und setzte dabei alles auf eine Karte. Er klammerte sich an eine Türkante und zerrte mit aller Kraft daran. Die Tür gab nach. Splink riss heftiger, und endlich brach das Schloss knirschend auf. Er stürzte sich geradezu durch die Öff nung und schlug die Tür hinter sich zu. Furchtsam schaute er sich um. Der Gang, durch den er ursprünglich gekommen war, war leer. Nun war es nicht mehr weit bis zu den ande ren Keloskern. Doch gerade jetzt spürte er einen intensiven Strahlungs schub. Stöhnend taumelnd Splink weiter, drehte sich mehrere Male um sich selbst und wusste anschließend nicht mehr, wohin er sich wenden musste. Er schaffte es nicht, den Weg zu rekonstruieren, auf dem er gekom men war, und entschloss sich, einfach loszugehen. Erst als er vor dem Rechenzentrum stand, erkannte er, dass er in die falsche Richtung ge gangen war. Bestürzt wandte er sich um. Unmittelbar vor ihm verließ ein Lare den Antigravschacht. Der Mann lief zwar erst weiter, blieb dann aber abrupt stehen und wollte sich umdrehen. Gleichzeitig handelte Splink. Er reagierte, ohne nach zudenken, hob den rechten Arm und ließ ihn auf den Kopf des Laren fallen. Immerhin fiel sein Schlag so heftig aus, dass der Lare bewusst los zu Boden sank. Unschlüssig stand Splink vor dem Bewusstlosen. Das hatte er nicht gewollt, er verabscheute jede Art von Gewalttätigkeit. Am liebsten hät te er sich um den Laren gekümmert und ihm irgendwie wieder auf die Beine geholfen. Aber genau das durfte er nicht. Splink entschloss sich stattdessen, die Flucht fortzusetzen. Fünfzig Meter entfernt lagen die beiden nächsten Antigravschächte. Er näherte sich ihnen mit aller Vorsicht, blickte sich aber vergeblich nach einem 300
Versteck um, das er aufsuchen konnte, falls auch hier Laren erschie nen. Mit einem Mal hörte er die Stimmen von Keloskern. Sie schienen Meinungsverschiedenheiten zu haben, denn vorübergehend redeten sie laut aufeinander ein. Splink war derart erleichtert, dass er vor Freude fast aufgeschrien hätte. Er hastete an den Antigravschächten vorbei. Ein gellender Schrei ließ ihn herumrucken. Er sah gerade noch, dass ein Lare im linken Schacht in die Tiefe stürzte. Dumpf schlug der Mann auf. Splink lief zu der Schachtöffnung zurück und schaute nach unten. Der Abgestürzte lag mit verrenkten Gliedern auf der Endplatte des Schachtes. Er hatte die Augen geschlossen, bewegte sich aber noch. Splink erinnerte sich an den anderen Laren, den er niedergeschlagen hatte. Er spähte zu ihm hinüber und stellte erschrocken fest, dass der Mann Anstalten machte, sich zu erheben. Nun blieb ihm keine andere Wahl mehr. Er hastete zu der Tür hinüber, hinter der er die anderen Kelosker vermutete, riss sie auf und prallte in panischem Schrecken zu rück. An einem Tisch saß ein Lare. Er wandte ihm den Rücken zu. Bevor er sich umdrehen konnte, warf Splink die Tür krachend zu und lief weiter. Mit der nächsten Tür hatte er mehr Glück. Er taumelte sei nen Freunden entgegen. Die Tür fiel hinter ihm zu, als der Lare aus dem Nebenraum auf den Flur heraustrat und sich wütend umsah.
***
Jaan Wegenrat hielt den Atem an. Die Plattform hatte den Energie zaun erreicht, und es gab eine kurze Verzögerung. Der Ingenieur ver krampfte sich, er fürchtete schon, dass man ihn entdeckt hatte. Aber da setzte sich die Lastenplattform wieder in Bewegung und glitt auf das Hauptgebäude zu. Nun hatte er es geschafft. Als Wegenrat sich vorsichtig aufrichtete, stellte er fest, dass die Transportplatten vor ihm in eine Halle einflogen, in der sie von Robo 301
tern entladen wurden. Laren entdeckte er nicht. Er wartete ab, bis seine Plattform in die Halle einschwebte, dann stieg er über die Geräte hinweg und sprang auf den Boden. Ohne sich um die Roboter zu kümmern, ging er zu einer Tür, von der er hoffte, dass er durch sie in das Stützpunktgebäude gelangen würde. Niemand hielt ihn auf, die Roboter beachteten ihn nicht. Wegenrat passierte sogar einen Kontrollraum. Er gelangte auf einen breiten Kor ridor, von dem zahlreiche Räume abzweigten. Allerdings hatte er sich vorgenommen, sich erst einmal möglichst weit von der Materialhalle zu entfernen. Deshalb lief er, ohne anzuhalten, den Gang entlang und blieb erst an einer Einmündung kurz stehen. Noch war er keinem La ren begegnet. Er sagte sich, dass er als Firmenchef nie in den unteren Etagen gear beitet hatte, als Howalara noch eine blühende Stadt gewesen war. Sein Büro hatte stets im obersten Geschoss gelegen. Also ging er davon aus, dass auch die Laren in Führungsposition die ruhigeren Gebäudebe reiche vorzogen. Im nächsten Antigravschacht ließ er sich nach oben tragen. Irgendwann, als er sich im mittleren Gebäudeabschnitt befand, öff nete sich eine Tür, und zwei Laren traten heraus. Sie musterten ihn nur flüchtig, beachteten ihn ansonsten aber nicht. Jaan Wegenrat grins te, als sie vorbei waren. Sie hatten zweifellos geglaubt, dass er sich hier aufhalten durfte. Er schob die rechte Hand in die Hosentasche und ging langsamer weiter als zuvor. Wenn es ihm gelang, bis zu HotrenorTaak vorzustoßen, konnte er dem Verkünder der Hetosonen unter vier Augen berichten, was die Kelosker planten. Er war fest davon über zeugt, dass Hotrenor-Taak ihm glauben würde. Längst bereute er, dass er erst zu den Überschweren gegangen war. Diese Demütigung hätte er sich sparen können.
***
302
Hotrenor-Taak stutzte, als er das Blinkzeichen registrierte. Sofort schal tete er eine Kontrollverbindung. »Wieso geben Sie Sicherheitsalarm?«, fragte er, kaum dass sich das holografische Abbild eines Offiziers auf baute. »Wir haben eine Reihe von Zwischenfällen notiert, die darauf hin deuten, dass ein feindlicher Agent den Stützpunkt betreten hat«, erwi derte der Sicherheitsoffizier. »Was ist vorgefallen?«, fragte der Verkünder der Hetosonen gelassen. »Ein Projektor am Prallfeldzaun wurde beschädigt. Eine Struktur lücke entstand, durch die jemand eindringen konnte. Der Unbekannte hat gewaltsam eine Tür geöffnet, einen Wissenschaftler niedergeschla gen und den Antigravschacht sabotiert. Ein Techniker ist abgestürzt und hat sich erheblich verletzt.« »Lassen Sie den Stützpunkt sofort schließen und zusätzlich ab sichern! Außerhalb sind Roboter zu postieren. Alle Abteilungen infor mieren, und dann finden Sie den Mann! Ich will wissen, wer er ist, wo her er kommt und was er beabsichtigt.« Hotrenor-Taak schaltete ab. Er hatte nicht damit gerechnet, dass je mand in den Stützpunkt eindringen würde. Bisher war die Sicherheits frage recht sorglos gehandhabt worden, weil Goorn II nie Unruhen er lebt hatte.
***
Als Splink seinen Bericht beendet hatte, fragte Tallmark: »Hatte der Mann langes weißes Haar? War er hochgewachsen?« Splink beschrieb Wegenrat genauer. Die anderen Kelosker hörten ihm mit wachsender Bestürzung zu. Splink spürte ihre Unruhe. »Was ist eigentlich los?«, fragte er schließlich. »Ich hatte doch Erfolg. Bald wird dieser Mann uns gegen die Strahlung abschirmen, und dann ist alles in Ordnung.« »Dieser Mann ist bei den Überschweren gewesen«, antwortete Sorgk. 303
»Sie haben auf ihn geschossen, und er ist geflüchtet. Wir haben ge sehen, dass er auf eine Transportplattform geklettert und in den Stütz punkt gekommen ist.« »Er versucht also bestimmt nicht, die Strahlung abzuschirmen«, fügte Tallmark hinzu. »Er ist befindet sich hier, in unserer Nähe.« »Wahrscheinlich versucht er, zu Hotrenor-Taak zu gelangen, um ihm alles zu berichten«, bemerkte Llamkart bedrückt. »So ist es«, bestätigte Sorgk. »Er ist ein Verräter.« Zerknirscht suchte Splink nach Entschuldigungen, aber er fand kei ne. Blind hatte er einem Fremden vertraut, weil der ein Terraner war. Auch jetzt konnte er nicht begreifen, dass dieser Mann ihn verraten wollte. »Vielleicht ist er aus einem anderen Grund hier?«, fragte er zaghaft. »Bestimmt nicht«, erwiderte Tallmark. »Wir müssen eingreifen!«, drängte Sorgk. »Eigentlich haben wir nur eine Möglichkeit. Wir müssen den Mann abfangen, bevor er zu Hotre nor-Taak gehen und uns verraten kann.« »Wie sollen wir das anstellen?« Splink hob hilflos die Arme. »Wir können uns nicht frei bewegen.« »Warum eigentlich nicht?«, fragte sich Tallmark. »Bisher war es auch nicht anders. Mittlerweile haben wir schon gar nichts mehr zu verlie ren. Fragen wir Hotrenor-Taak doch, ob wir denn unbedingt hier in diesem Raum bleiben müssen.« »Wir gehen einfach hinaus«, sagte Sorgk. »Wenn die Laren protestie ren, können wir uns immer noch an Hotrenor-Taak wenden. Niemand hat uns befohlen, hier zu bleiben.« Die Kelosker drängten durch die Tür nach draußen. Mit einem Mal erschien jedem von ihnen die Unterkunft erdrückend eng, als müssten sie in dem Raum ersticken. Mehrere Laren kamen ihnen entgegen. »Bitte bleiben Sie in Ihrer Unterkunft!«, sagte ein Offizier. »Wir brauchen Bewegung«, erwiderte Tallmark. »Schließlich sind 304
wir keine Gefangenen – oder doch?« »Natürlich nicht«, antwortete der Offizier. »Wir suchen aber jeman den, der in den Stützpunkt eingedrungen ist. Wahrscheinlich ist er ge fährlich.« Splink zuckte zusammen, erholte sich aber rasch von seinem Schre cken, als er begriff, was das bedeutete. Die Laren verdächtigten einen Eindringling und lasteten ihm alle Beschädigungen und Zwischenfälle an. Splink atmete auf und ging weiter, während Sorgk ruhig sagte: »Es ist uns eine Ehre, Ihnen zu helfen. Wenn uns jemand begegnet, der nicht befugt ist, sich im Stützpunkt aufzuhalten, werden wir ihn über wältigen und an Sie ausliefern.« Der Lare zögerte, hatte aber keine Einwände mehr. Er ging weiter. »Wohin kann er sich gewandt haben?«, fragte Tallmark leise. Sorgk zeigte in die Höhe. »Nur dorthin«, behauptete er selbstsicher. »Falls er zu Hotrenor-Taak will, bleibt keine andere Möglichkeit.« Tallmark, Sorgk, Splink und Llamkart schwangen sich in den nächs ten Antigravschacht. »Ich spüre, dass er da oben ist«, sagte Splink plötzlich. »Von ihm geht etwas aus, was ich erfassen kann. – Er ist da oben!« Tallmark blickte ihn sinnend an. »Ich fühle es ebenfalls. Seltsam. Es ist, als ob er mit der lähmenden Strahlung zu tun hätte.« »Ich kann mir kaum vorstellen, dass es so etwas gibt«, bemerkte Llamkart. »Er ist ein Terraner. Dennoch gebe ich zu, dass ich ebenfalls etwas spüre, was ich mir nicht erklären kann.« Sie drängten aus dem Antigravschacht hinaus. »Da ist er!«, rief Splink. Der Terraner fuhr ruckartig herum. Sein Gesicht wurde bleich. Se kundenlang schien er nicht in der Lage zu sein, sich zu bewegen. Erst als Splink sich in Bewegung setzte und die Tentakelarme ausstreckte, reagierte Wegenrat. Es waren nur wenige Meter bis zu einer Zwischentür. Der Terraner schlug seine Hand auf den Öffnungskontakt und blickte sich um, als 305
suchte er nach einem zweiten Fluchtweg. Als die Tür zur Seite glitt, war Splink bei ihm und schlang einen Arm um seine Körpermitte. Wegenrat schlug mit voller Wucht mit seinem rechten Arm nach dem Kelosker, streifte ihn aber nur. Dennoch ging Splink stöhnend zu Boden. Tallmark, Sorgk und Llamkart stürzten über ihn. Tallmark warf sich dabei nach vorn und wischte den Terraner gerade noch von den Beinen. Sorgk kam als Erster wieder hoch. Er wälzte sich über Tallmark hin weg auf Wegenrat. Mit seinem ganzen Gewicht drückte er den Terraner zu Boden, der plötzlich krampfhaft nach Luft rang. Gemeinsam packten die Kelosker den alten Mann und hoben ihn hoch. Wegenrat wehrte sich nach Kräften, aber gegen vier Kelosker, die seine Arme mit aller Kraft zur Seite zerrten, kam er nicht an. Sie schleiften ihn zum Antigravschacht. Vor ihnen betrat ein Lare diese Etage. Blitzschnell rückten die Kelos ker so eng zusammen, dass Wegenrat zwischen ihren Leibern ver schwand. Splink presste ihm außerdem den Greiflappen seines rechten Arms auf Mund und Nase. »Es ist besser, wenn Sie in Ihrem Quartier bleiben«, sagte der Lare freundlich. »Wir haben den feindlichen Agenten bisher nicht aufge spürt. Es könnte also gefährlich für Sie werden.« »Besten Dank«, entgegnete Sorgk. »Wir sind bereits auf dem Weg zurück.« Er drängte die anderen weiter und schwebte mit ihnen nach unten. Auf dem Gang vor ihrem Aufenthaltsraum hielten sich etwa zwanzig Laren auf. Ebenso viele Kelosker waren aber auch da, so dass ein gro ßes Durcheinander entstand. Hotrenor-Taak persönlich redete auf ei nige Kelosker ein und versuchte sie davon zu überzeugen, dass sie in dem ihnen zugewiesenen Raum bleiben mussten. Tallmark, Sorgk, Splink und Llamkart schoben sich zwischen Laren und Keloskern hindurch, wobei sie sich keineswegs sonderlich beeilten. Es gelang ihnen, Wegenrat zwischen sich so zu verstecken, dass nie 306
mand aufmerksam wurde. Splink stöhnte vor Erleichterung, als sie endlich ihren Raum betreten hatten. Jaan Wegenrat sank bewusstlos in einer Ecke zu Boden. Splink hatte ihm zu lange Nase und Mund zugehalten. Jetzt bemühte sich Splink ängstlich um ihn, drückte ihm rhythmisch die Greiflappen auf die Brust und pumpte so Atemluft in seine Lungen. »Warum tust du das?«, fragte Tallmark mit stockender Stimme. »Er muss sterben, sonst verrät er alles.« Splink hielt inne. »Ich kann ihn nicht sterben lassen. Ich bin dafür verantwortlich, dass er sich in diesem Zustand befindet, deshalb muss ich ihm irgendwie helfen.« Er machte mit seinen pumpenden Bewe gungen weiter. Tallmark hob zwar zögernd seine Arme, aber letztlich hielt er Splink doch nicht auf. Wegenrat erholte sich tatsächlich. Sehr schnell öffnete er die Augen und richtete sich in sitzende Haltung auf. Er war totenbleich. »Und nun?«, fragte er leiser. »Wir können Sie nicht entkommen lassen«, sagte Sorgk unsicher. Er wandte sich an die anderen Kelosker. »Er wird uns verraten. Also muss einer von uns ihn töten. Nur wenn er stirbt, bleibt unser Geheimnis gewahrt.« Wegenrat verstand, was die Kelosker sagten, weil Splink seinen Trans lator eingeschaltet hatte. »Ich verspreche, dass ich nichts verraten wer de«, stieß er hastig hervor. »Ich gebe Ihnen mein Wort, die Laren wer den nichts erfahren.« »Wir dürfen ihm nicht glauben«, sagte Llamkart unglücklich. »Also müssen wir ihn töten.« »Aber ich kann ihn nicht töten!«, rief Splink. »Unmöglich.« »Es kostet unser aller Existenz«, bemerkte Sorgk. »Findet sich nie mand bereit?« »Niemand!«, behauptete Plarark hilflos. Sorgk blickte in die Runde. Die anderen Kelosker wichen ihm aus. 307
Sie wandten sich zur Seite oder taten so, als hätten sie nichts gehört. Jaan Wegenrat erkannte, dass er sich retten konnte, und übernahm sofort die Initiative. »Wozu verlieren wir Zeit, wenn mich doch nie mand töten kann?«, fragte er heiser. »Jeden Moment können die Laren kommen, dann ist es zu spät. Ich schwöre Ihnen, dass ich schweigen werde.« Ein verächtliches Lächeln huschte über seine Lippen. Er dachte gar nicht daran, sein Versprechen zu halten. Er fühlte sich den Keloskern überlegen. Sein Problem war nur, wie er es anstellen konnte, ihrer Nähe ungehindert zu entkommen. Er überlegte, ob er schreien sollte, aber er schob diesen Gedanken sofort beiseite. Beim ersten Ton würden die Kelosker wieder über ihn herfallen und ihn zum Schweigen bringen. Sie waren stark. Wenn sie zu heftig zupackten, konnte ihn das leicht das Leben kosten. Wegenrat wurde deutlich, dass er den Keloskern demonstrieren muss te, dass er ihnen kräftemäßig gewachsen war. Er griff zu seiner rechten Hand und streifte den Handschuh ab. Die Kelosker wichen zurück, als sie den schimmernden Quarz sahen. Wegenrat lachte drohend. »Das ist nicht alles«, sagte er und zerriss den Ärmel bis hoch zur Schulter. Der Howalgoniumarm lag nun frei. Er holte aus und schlug den Arm mit aller Kraft gegen die Wand. Er wollte sie zertrümmern, doch er erzielte eine völlig andere Wirkung. Die Wand platzte krachend auf, wie er es beabsichtigt hatte. Aber dann geriet seine Howalgoniumhand in eine Energieleitschiene. Jaan Wegenrat schrie gellend auf. Sein rechter Arm glühte plötzlich von den Fingerspitzen bis hoch zur Schulter. Er verspürte jedoch kei nen Schmerz, der Arm war und blieb gefühllos. Auch die Kelosker reagierten anders, als er es erwartet hatte. Fas sungslos beobachtete Wegenrat, wie die Kolosse zuckend zusammen brachen. Er riss seine Hand zurück. Schlagartig begriff er, was Splink ihm ge sagt hatte. Zunächst hatte er ihm nicht geglaubt, weil er sich nicht vor 308
stellen konnte, dass das Howalgonium tatsächlich eine solche Wirkung auf diese plumpen Wesen hatte. Ihm war aber auch keineswegs klar, was siebendimensionales Denken beinhaltete. Jetzt erkannte er Zusammenhänge zwischen den Howalgonium-Vor kommen von Goorn II, seinem umgewandelten Arm, dem Energieschock und den Keloskern. Er war schuld daran, dass sie zusammen gebrochen waren. Die Kelosker taten ihm plötzlich Leid. Jaan Wegenrat bereute, dass er vorgehabt hatte, sie zu verraten. Er beugte sich zu Tallmark hinun ter und legte ihm die linke Hand an den Kopf, um zu fühlen, ob noch so etwas wie ein Pulsschlag spürbar war. Ihm wurde bewusst, was es bedeutete dass die Kelosker ihn nicht hatten töten können, obwohl er bereit gewesen war, ihr Leben zu vernichten. Er übersah völlig, dass sein Schlag in die Wand noch andere Folgen haben musste. Fassungslos richtete er sich auf, als die Tür aufgestoßen wurde und mehrere Laren hereinstürmten. Er streckte ihnen die Hände entgegen, als er sah, dass sie ihre Strahlwaffen auf ihn richteten. »Ich habe sie nicht getötet!«, schrie er. »Sie sind nicht tot!« Für die Laren musste der Eindruck entstehen, dass er sie umgebracht hatte. Seit sie nach dem Eindringling suchten, hatten sie wohl vergeb lich darüber nachgedacht, welche Absicht er verfolgte. Nun mussten sie glauben, die Wahrheit zu erkennen, dass er die Kelosker, die für sie lebenswichtigen Rechengenies, ermorden wollte. Drei Laren schossen gleichzeitig. Jaan Wegenrat stand plötzlich in mitten eines Feuerballs, der nicht mehr erkennen ließ, dass sein rechter Arm schrecklich verändert war. Der Ingenieur war sofort tot.
***
309
Tallmark war einer der Ersten, die aus der Ohnmacht erwachten. Er hatte Schmerzen am ganzen Körper, und er glaubte sich verraten. Ängstlich schaute er sich um. Auch die anderen Kelosker kamen lang sam wieder zu sich. Er sah ihnen an, dass sie alle den gleichen Gedan ken hatten – sie glaubten, dass der weißhaarige Terraner sie verraten hatte. Erst als Splink sich erhob, bemerkte Tallmark den verbrannten Leichnam Wegenrats. Hastig überprüfte er, ob alle 26 Kelosker unver letzt waren. Hotrenor-Taak kam in den Raum. »Was ist passiert?«, schrie er. Einer der Laren, die Wegenrat getötet hatten, berichtete ihm, was vorgefallen war. Tallmark eilte währenddessen zu dem Terraner. Mit einem Funkstab schabte er die Asche von den Armen des Toten. Ein deformierter Kristallklumpen verbarg sich darunter, das war alles, was von dem Howalgoniumarm geblieben war. »Hotrenor-Taak!«, rief er geistesgegenwärtig. »Kommen Sie!« Der Verkünder der Hetosonen eilte zu ihm. »Ich konnte nicht verstehen, dass wir alle das Bewusstsein verloren haben«, antwortete Tallmark. »Jetzt ist es mir klar. Der Fremde hatte irgendeine Apparatur bei sich. Als sie durch die Energiestrahlen zer stört wurde, war mir, als hätte ich einen Stich ins Gehirn bekommen. Ich wurde bewusstlos.« Sorgk schaltete sich ein. »Jetzt ist alles wieder in Ordnung«, beteuerte er. »Wahrscheinlich wollte der Fremde uns mit dieser Apparatur tö ten.« Hotrenor-Taak bückte sich und drehte den geschwärzten Klumpen vorsichtig hin und her, um sich nicht daran zu verbrennen. »Ich kann nicht mehr erkennen, was das gewesen sein soll«, sagte er ratlos. »Glücklicherweise sind Ihre Leute rechtzeitig gekommen«, bemerkte Tallmark. »Glücklicherweise«, erwiderte Hotrenor-Taak. »Wir werden zu klären 310
haben, wie es möglich war, dass dieser Mann überhaupt so weit vor dringen konnte. Aber Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen. So etwas wird sich nicht wiederholen. Ich habe mich entschlossen, Sie von Goorn II fortzubringen.« »Das überrascht mich«, entgegnete Tallmark, dem es gelang, sich nicht anmerken zu lassen, wie erleichtert er über diese Mitteilung war. Er tat, als sei er nicht ganz einverstanden. »Liegt dafür ein besonderer Grund vor?« »Ich will Sie in der Nähe der Sonne haben, die wir in ein Schwarzes Loch umwandeln wollen. Sie sollen unmittelbare Beobachter sein. Zu dem können Sie Ratschläge für eine Beschleunigung der Arbeiten ge ben und den Ablauf überwachen.« »Mir scheint, das ist ein vernünftiger Entschluss«, sagte Tallmark. Für einen kurzen Moment stutzte der Lare. Doch dann nickte er den Keloskern zu und verließ den Raum. Tallmark wusste, dass der Verkünder der Hetosonen nicht im Ge ringsten an der Loyalität der Kelosker zweifelte. Hatte nicht gerade der Anschlag des Terraners bewiesen, dass sie auf seiner Seite standen?
16.
I
rgendwo am Rand des Universums schwebte Ernst Ellerts körperlo ses Bewusstsein und versuchte, sich zu orientieren. In direkter Linie gesehen lagen zwischen ihm und der heimatlichen Milchstraße sieb zehn Galaxien. Sobald er sie überwunden hatte, mussten Andromeda und die eigene Galaxis vor ihm sein. Nur einmal, etwa fünf Millionen Lichtjahre vor Andromeda, ent deckte er ein Raumschiff. Es besaß die Form einer Pyramide. Er war 311
neugierig, und ohne Schwierigkeit durchdrang er den schwachen Ener gieschirm. Obwohl der Antrieb der Pyramide problemlos zu funktio nieren schien, fand er niemanden an Bord vor. Die Lebenserhaltungs systeme arbeiteten, aber das Schiff war leer. Die Mannschaft musste es verlassen haben. Ernst Ellert hätte gern erfahren, was geschehen war, doch ohne einen Körper konnte er das Logbuch nicht abrufen. Als energetisches Wesen war es ihm möglich, Materie zu durchdringen, nicht, sie zu berühren oder zu bewegen. Er verließ das Schiff und sah ihm nach – ohne Au gen oder andere Sinnesorgane –, bis es gegen den Hintergrund des Sternengewimmels der Galaxis verschwand, die er soeben passiert hatte. Als er Andromeda erreichte und vor sich die vertraute Milchstraße erkannte, ergriff ihn ein eigenartiges Gefühl. Er konnte ein Ziel in Se kundenschnelle – Relativzeit – erreichen, selbst wenn es Millionen Lichtjahre entfernt war, er musste es dafür nur optisch wahrnehmen. Es nützte ihm also nichts, wenn er jetzt schon an die Erde dachte und sich auf sie konzentrierte. Es muss noch viel Menschliches in mir sein, dachte Ernst Ellert, während er in die Milchstraße eindrang. Ich bin unsterblich, und das Universum ge hört mir, trotzdem sehne ich mich danach, einen kleinen und eigentlich unbe deutenden Planeten wiederzusehen. Vielleicht ist es nicht einmal dieser Planet, sondern es sind seine Bewohner, deren Nähe ich vermisse… Er entdeckte einen bekannten Stern. Jetzt wusste er, dass Sol nur mehr wenige hundert Lichtjahre entfernt war. Auch die Richtung konnte er bestimmen, und so geschah es, dass er plötzlich vor sich eine kleine gelbe Sonne sah. Er hatte es geschafft und war wieder zu Hause! Mit einem einzigen Gedankenimpuls schwebte er über der Ekliptik des Sonnensystems. Sofort erkannte er, dass etwas nicht stimmte. Sa turn mit den Ringen war unverkennbar. Jupiter und seine Monde bo ten den gewohnt prächtigen Anblick. Pluto fehlte, statt seiner um 312
kreiste ein zweiter Asteroidengürtel die Sonne. Ein kosmisches Ereignis mochte ihn zerstört haben, so wie einst den Planeten Zeut zwischen Mars und Jupiter. Ellert zählte hastig. Die Sonne hatte einen Planeten zu wenig. Der dritte Planet war nicht die Erde, sondern der Mars. Terra fehlte! Er fragte sich, wie weit er in die Zukunft vorgedrungen und was ge schehen sein mochte. Nach mehreren ergebnislosen Versuchen gelang es ihm, für kurze Zeit einen pensionierten Offizier der Solaren Raumflotte zu überneh men, der auf dem Saturnmond Titan lebte. Dessen Erinnerungsvermö gen entlockte Ernst Ellert die Geschehnisse, die sich seit der Invasion der Laren und des Konzils in der Milchstraße abgespielt hatten. Perry Rhodan hatte sich entschlossen, die Erde mit Hilfe eines Son nentransmitters an einen sicheren Ort zu versetzen. Das Experiment musste fehlgeschlagen sein, wenngleich die Erde wie geplant ver schwunden war. Ernst Ellert zog sich zurück. Er erkannte, dass seine Odyssee nicht zu Ende war, obwohl er sich wieder in der Gegenwart befand, auf der gleichen Zeitebene wie Perry Rhodan. Neben der Sonne bemerkte er erst jetzt den weißen Zwergstern Ko bold, der geholfen hatte, Terra zu entmaterialisieren. Musste nicht auch er abgestrahlt werden, wenn er sich in den Brennpunkt der Ener gielinien begab? Und würde er nicht ebenso dort rematerialisieren, wo die Erde angelangt war? Ernst Ellert beschloss, den Versuch trotz aller Risiken zu wagen.
***
313
Als Ernst Ellert zwischen Sol und dem weißen Zwerg schwebte, sah er Tausende Sterne zurückweichen, bis sie so eng zusammenrückten, dass sie die bekannte Spiralform der Milchstraße bildeten. Auch diese schrumpfte schnell und wurde zu einem winzigen Punkt, der sich in der Schwärze verlor. Ernst Ellert sah vor sich zwei Galaxien auftauchen. Sie berührten sich und verschmolzen miteinander. Gigantische Gravitationskräfte ris sen zigtausende Sonnen aus ihren Bahnen und schleuderten sie in den Raum. Diese kosmische Katastrophe verlief mit einer Geschwindigkeit, die Ellert nur zu deutlich verriet, dass er in eine andere Zeitebene geraten war. Er konnte nicht ahnen, dass er die relative Vergangenheit erlebte und nun erneut in die Zukunft stürzte. Der Vorgang, den er beobach tete, dauerte viele Millionen Jahre. Beide Galaxien durchdrangen sich gegenseitig und trennten sich wie der. Zwischen ihnen entstand ein Gebilde wie eine Nabelschnur, die sie lose verband – eine Nabelschnur aus heimatlosen Sternen und Son nensystemen. Er schwebte zwischen den fremden Sternen und stellte fest, dass die rasende Bewegung der Planeten langsamer wurde. Das konnte nur be deuten, dass er sich der eigenen Zeitebene näherte und damit dem temporalen Ausgangspunkt seiner Reise. Wo aber war die Erde? Hier irgendwo zwischen den beiden Galaxien oder in einem ihrer Arme? Es gab Hunderte Milliarden Sterne, von de nen einer die neue Sonne Terras sein konnte. Ein nahezu hoffnungs loses Unterfangen, sie finden zu wollen. Aber Ellert schüttelte den beklemmenden Gedanken ab. Er würde die Erde suchen, und sollte es Jahrtausende in Anspruch nehmen. Das waren Jahre, die er ohnehin nicht spüren konnte. Wo die kosmische Nabelschnur die auseinander strebenden Galaxien noch zu halten versuchte, entstanden gewaltige energetische Stürme und Strudel. Ellert konnte sich ausrechnen, wann die nächsten Sterne 314
von dem verheerenden Strom verschlungen würden. Hatte die Erde dieses Schicksal erlitten? Er versuchte, seine Heimatwelt zu entdecken, und ließ sich absicht lich von dem Mahlstrom mitreißen, um sich zwischen Milliarden von unbekannten Sonnen wiederzufinden. Irgendwann wurde sein Bewusstsein müde, konnte es dem Heimweh nach der Sonne und der Milchstraße nicht mehr widerstehen. Viel leicht, sagte er sich, war die Erde von den unbekannten Kräften des Kosmos an ihren Ausgangspunkt zurückgeschleudert worden. Dann suchte er hier vergebens. Mit einiger Mühe fand er die Milchstraße wieder. Er spürte ein leich tes Zerren, das ihn in eine bestimmte Richtung zu lenken versuchte, in eine Richtung, in der auf keinen Fall die Sonne stand. Zuerst wehrte er sich nicht gegen den sanften Sog, denn er hatte ein mal Ähnliches erlebt und war dann mit ES zusammengetroffen. War es diesmal wieder ES …? Ohne sein Dazutun trieb Ernst Ellert dahin. Das war nicht mehr die vertraute zeitlose Fortbewegung, sondern ein sanftes Dahingleiten nur mit mehrfacher Lichtgeschwindigkeit. Das erkannte er am langsamen Vorbeizug naher Sterne. Der Sog wurde stärker. Ernst Ellert ahnte, dass er etwas dagegen tun musste. Er sah einen blauen Riesenstern abseits der aufgezwungenen Richtung, ungefähr dort, wo er Sol vermutete, und schickte seinen Geist dorthin. Aber nichts veränderte sich. Der Sog blieb. Dieser Sog, dessen wurde Ellert sich bewusst, war energetischer Natur wie er selbst und konnte nur deshalb auf ihn einwirken. Als Bewusst sein war er zwar unvergänglich, eine energetische Katastrophe konnte seiner Existenz jedoch ein Ende bereiten oder ihn für immer in eine Dimension ohne Rückkehr schleudern. Ein ähnlicher Umstand hatte einst sein körperliches Dasein beendet. Kein Wunder also, dass Panik ihn überflutete, als er seine Hilflosig keit erkannte und sich dem Sog überlassen musste, der ihn ins Unbe 315
kannte riss. Er gab seinen ohnehin fruchtlosen Widerstand auf, um die eigenen Kräfte nicht zu vergeuden. Während die Sterne an ihm vorbeizogen, suchte er in seiner Erinne rung nach einem ähnlichen Ereignis. Er entsann sich eines schwarzen Neutronensterns, der alles in seiner Nähe unwiderruflich eingefangen hatte. Dessen Kraftfeld war dennoch nicht stark genug gewesen, Ellerts Bewusstsein festzuhalten, hatte seine Flugrichtung aber verändert, so dass er sich unvermittelt zwischen unbekannten Galaxien wiedergefun den hatte … Oder jene pulsierende Gaswolke am Rande des Universums, die sich gerade anschickte, den endlosen Weg über den Abgrund anzutreten, der sie vom benachbarten Universum trennte. Beinahe zu spät hatte Ellert erkannt, dass diese Wolke keine Ansammlung gewöhnlicher Ma terie darstellte, sondern eine energetische Intelligenz unerhörten Aus maßes und mit Fähigkeiten ausgestattet, die er niemals hätte begreifen können. Sie hatte ihn aufsaugen und assimilieren wollen, obwohl er Lichtjahre entfernt gewesen war. Pulsierend hatte sie ihn in den Ab grund hineingetrieben, den noch kein Lichtquant je überwunden hatte. Ernst Ellert hatte den Sog gespürt und war mitgerissen worden, aber dann hatte ihn eine andere Kraft erfasst und festgehalten und erst wie der freigegeben, als die intelligente Wolke nicht mehr als ein ferner Lichtpunkt gewesen war. ES hatte ihn damals befreit. Damals … Und was war heute?
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Ellert spürte, dass seine Geschwindigkeit sich verringerte, obwohl der Sog nicht schwächer geworden war. Vor sich, zwei oder drei Lichtjahre entfernt, erblickte er zwei auffallende Sterne, die scheinbar dicht ne beneinander standen. Eine Konstellation, die in ihrer Zusammenset zung so selten war, dass niemand sie vergessen konnte. Ernst Ellert erinnerte sich. Die hellgelbe Riesensonne war in den ter 316
ranischen Sternkarten als Arcur-Alpha eingetragen. Er wusste das von gelegentlichen Besuchen während jener Zeit, in der das Solare Impe rium gegründet und aufgebaut worden war. Verantwortlich für die Besonderheit dieser Konstellation war aber der dunkelrot leuchtende und bereits hochverdichtete kleinere Stern mit der Bezeichnung Arcur-Beta. In etwa einer Million Jahren würde Ar cur-Beta zu einem Black Hole kollabieren. Bis dahin galt das Doppel gestirn zwar als harmlos, wurde aber trotzdem von terranischen Raum schiffen weitgehend gemieden. Der Grund lag darin, dass es in der so genannten Hektikzone stand, einem Raumsektor, in dem fünfdimen sionale Kraftflüsse zusammenliefen und eine raumzeitliche Instabilität erzeugten. In solchen Zonen waren verhängnisvolle Navigationsfehler an der Tagesordnung, und die Schiffe, die in ihnen spurlos verschwun den waren, hätten eine beachtliche Flotte bilden können. Natürlich konnte Ellert nicht ahnen, dass ausgerechnet die Laren sich die physikalischen Gegebenheiten des Doppelsterns auf Anraten der Kelosker zu Nutze machen wollten. Es war ihre Absicht, den ent stehenden Neutronenstern in ein Black Hole zu verwandeln. Immerhin wusste er nun, dass er sich etwa achttausend Lichtjahre vom Solsystem entfernt befand, wenngleich ihm diese Erkenntnis nicht weiterhalf, denn weiterhin wurde er mit unwiderstehlicher Ge walt auf die beiden Sterne zugerissen. Ihm war klar, was geschehen würde. Der alternde Stern würde ihn in sich aufnehmen und in die fünfte oder nächsthöhere Dimension schleudern, aus der es in diesem Fall keine Rückkehr geben konnte. Seine Existenz würde damit zu Ende sein, wenigstens in der jetzigen Form. Es gab nur eine einzige Möglichkeit, das zu verhindern. Er brauchte einen materiellen Körper! Wenn es in unmittelbarer Nähe ein denken des Wesen gab, dann musste er es aufspüren und – für eine Weile we nigstens – übernehmen. Die beiden Sonnen waren größer geworden, die Entfernung betrug 317
kaum mehr ein halbes Lichtjahr. Er näherte sich ihnen unaufhaltsam. Hier konnte es kein Leben geben, und doch war es ihm, als finge er Gedankenimpulse auf. Ihre Muster kamen ihm vage bekannt vor, ohne dass er sie hätte identifizieren können. Stammten sie von einem Menschen? Die Impulse wurden deutlicher und zugleich verwirrender. Mit ei nem Mal erkannte Ernst Ellert, warum sie ihm vertraut erschienen. Die Muster waren seinen eigenen sehr ähnlich. Ihm blieb keine Zeit mehr, diesem Phänomen nachzuspüren. Im Umkreis von einem halben Lichtjahr gab es ein denkendes Lebewesen, wahrscheinlich mit einem Körper. Wenn er die Gedankenmuster an peilen konnte, dann musste es ihm auch möglich sein, den Körper und dessen Bewusstsein zu übernehmen. Die Frage war nur, ob ihm das trotz des energetischen Sogs gelingen würde. Während Ellert sich auf die einfallenden Impulse konzentrierte, be merkte er eine leichte Veränderung seiner Sturzrichtung. Die Sonnen waren nicht mehr sein exaktes Ziel. Die aufkeimende Hoffnung wurde zur Gewissheit, als er den zweihundert Meter durchmessenden Kugel raumer sah, der den Doppelstern in relativ großer Entfernung um kreiste. In diesem Schiff war das Bewusstsein, das er angepeilt hatte. Er empfing außerdem andere Gedanken, aber sie schienen nicht die Kraft zu haben, ihn anzuziehen und dem Sog zu entreißen. Das konn te nur dieses eine rätselhafte … Es pulsierte stark. Und es pulsierte doppelt, dreifach, vierfach … Ernst Ellert durchdrang die Hülle des Kugelraumschiffs und fand sich in einem Körper wieder. Der Mann war zweifellos ein Terraner. etwa vierzig Jahre alt und mit schwarzem, lockigem Haar. Aber das war es nicht, was den Teletemporarier total verwirrte. Der Mann, in dessen Körper er geschlüpft war, besaß sieben verschiedene Identitäten und ebenso viele Bewusstseine. Er, Ernst Ellert, war nun das achte. 318
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Killion Varmell, Kommandant des Schweren Kreuzers PLEYST, schien die Gespräche und Ansichten der Zentralebesatzung nicht zu hören. Schweigend blickte er auf das Panoramaholo und machte sich seine eigenen Gedanken. Die komplizierte energetische Wechselwirkung zwischen den ArcurSternen garantierte einen gewissen Ortungsschutz, so dass er einiger maßen sicher sein konnte, nicht von den Laren entdeckt zu werden. Die Passivortung zeigte drei SVE-Raumer in einer Kreisbahn um ArcurBeta. Weitere Schiffe der Laren hielten sich in der Nähe von Alpha und den benachbarten Sonnen auf. Das Konzept Kershyll Vanne setzte sich wortlos in den Sessel neben dem Kommandanten und beobachtete ebenfalls sehr konzentriert die Anzeigen. »Was haben die Laren mit der Sonnenmanipulation wirklich vor, Vanne?«, fragte Killion Varmell wie beiläufig. »Ich weiß es nicht«, antwortete das Konzept. »Zumindest bin ich mir noch nicht hundertprozentig sicher. Ein Zusammenhang mit dem Abzug der Mastibekk-Pyramiden und den Energieproblemen der SVERaumer mag durchaus bestehen. Andererseits …« Kershyll Vanne ließ den Gedanken unausgesprochen. »Julian Tifflor möchte Gewissheit.« »Wir ebenfalls.« Vanne ließ ein amüsiertes Lachen hören. »Es ist nur unmöglich, die Laren zu fragen. Ihre Antwort bestünde aus schweren Energiesalven. Ich habe jedenfalls den Eindruck, dass sie alles, was sie hier tun, geheim halten wollen. Ginge es ihnen allein um die Energie versorgung, wäre das stark übertrieben.« Der Kommandant nickte. »Das denke ich ebenfalls. Damit decken sich zwar unsere Vermutungen, aber leider bringt das noch keine Ge wissheit. Arcur-Beta ist ein alternder Stern, der seine Eigenheiten hat. 319
Wäre es für die Laren nicht einfacher, irgendeine unkompliziertere Sonne anzuzapfen?« Kershyll Vanne nickte zufrieden. Ihm war anzusehen, dass er auf die sen Einwand gewartet hatte. »Genau das ist der Punkt!«, stellt er fest. »Die Milchstraße ist voll mit kostenlosen Tankstellen, aber die Laren suchen sich zielstrebig Arcur-Beta aus. Ausgerechnet einen Stern in der Hektikzone.« Varmell beobachtete wieder den Holoschirm. Die Schiffe der Laren waren in der Passivortung deutlich zu erkennen. Sie hatten ein beacht liches Aufgebot zusammengezogen. »Fragen Sie doch Ihr Bewusstsein Hito Guduka, Vanne. Mir wurde berichtet, er sei Totalenergie-Ingenieur, was immer wir Nicht-Aphiliker auch darunter verstehen sollen. Er müsste zumindest eine Idee …« »Natürlich habe ich eine ungefähre Vorstellung von Möglichkeiten«, fiel das Konzept dem Kommandanten ins Wort. »Arcur-Beta könnte in eine Art Dimensionstor verwandelt werden, die Struktur des Sterns ließe eine solche Deutung zu. Wir wissen, dass Beta in einer Million Jahren kollabieren wird. Ich bin überzeugt, dass die Entwicklung auch beschleunigt werden kann. Wenn wir es nicht können, die Laren kön nen es bestimmt. Aber welchen Sinn sollte das haben?« Der Kommandant kniff die Augen zusammen. Irritiert musterte er Kershyll Vanne, dessen Stimme plötzlich anders geklungen hatte, mür rischer als noch Sekunden zuvor. Auch wirkte Vannes Gesicht nun härter. »Wir können den Sinn nicht erraten.« Killion Varmell schlug seine zur Faust geballte Rechte hart auf die linke Handfläche. »Um weiterzukommen, brauchen wir das Motiv der Laren, Varmell!« Die Veränderung, die eben mit Kershyll Vanne vor sich gegangen war, schien sich wieder umzukehren. Ein Lächeln umfloss die eben ver härteten Mundwinkel. »Ich bin ab sofort in meiner Kabine, Komman dant, falls Sie mich brauchen.« Killion Varmell sah auf. »Warum bleiben Sie nicht hier in der Zen 320
trale, Vanne? Sie sind doch Kershyll Vanne oder?« »Jetzt wieder.« Das Konzept lachte leicht amüsiert. »Eben hat Hito Guduka zu Ihnen gesprochen. Der Einfachheit wegen.« Varmell seufzte. Sein Blick schien Vanne förmlich zu sezieren. »Irgendetwas … hat mich gerufen«, sagte Kershyll Vanne stockend. »Ich weiß nicht, wie ich Ihnen das erklären soll, Kommandant. Mir war, als sei da urplötzlich ein weiteres Bewusstsein in mir aufgetaucht und versuche, sich verständlich zu machen. Ich muss Ruhe haben und mich konzentrieren können.« »Ein achtes Bewusstsein?« Varmell schüttelte den Kopf. »Das verstehe ich nicht.« Vanne lächelte nur noch vage. »Es dürfte Ihnen schon schwer genug fallen, sieben Bewusstseine zu akzeptieren. Aber grämen Sie sich des wegen nicht. Ich verstehe das im Augenblick ebenso wenig.« Er ging, ohne eine Antwort abzuwarten.
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In seiner Kabine streckte sich Kershyll Vanne auf dem Bett aus. Er schloss die Augen und lauschte in sich hinein. Seine sechs Mitbewusst seine meldeten sich nicht. Aber da war ein fremdes Bohren. Erst schien es noch weit entfernt, mit jeder Sekunde kam es näher. Es wurde stärker und schien Kontakt aufnehmen zu wollen. Vergeblich versuchte Vanne, diese Verbindung nun von seiner Seite aus herzustellen, indem er sich nur auf das andere Bewusstsein konzen trierte und seinerseits intensive Gedanken ausschickte, um dem Su chenden zu helfen. Eigentlich musste so eine Verbindung zu Stande kommen. War es möglich, dass ES ihm eine Verstärkung zubilligte, weil er mit den vorhandenen Persönlichkeiten nicht auskam? War das Larenpro blem nicht anders zu lösen? 321
Während Kershyll Vanne darüber spekulierte, drang das Unbekannte vehement in seinen Körper und sein Bewusstsein ein. Der Zusammen stoß war so gewaltig, dass er sich unmittelbar danach nicht mehr be wegen konnte. Nur langsam ordneten sich seine Gedanken. Zögernd empfing er un deutliche Impulse, die nichts als Verwirrung verrieten. Das fremde Be wusstsein, das ihn gesucht hatte, musste Panik empfinden, was Ker shyll Vanne unlogisch erschien. War das alles nur ein verrückter Zufall? Ein anderes Konzept, von ES geschickt, ohne Ziel und Absicht? Vanne versuchte sich aufzurichten, aber sein Körper war noch wie gelähmt. Er konnte stockend sprechen, wenn er alle Kraft darauf verwendete, sonst nichts. Über die Akustikschaltung aktivierte er den Interkom. »Komman dant Varmell – hören Sie mich?« Es dauerte einige Sekunden, ehe Killion Varmell antwortete und nachfragte, was geschehen sei. »Kommen Sie zu mir!«, drängte Vanne. »Und bringen Sie den Vario mit!« »Den Roboter?« »Beeilen Sie sich, bitte!« »Wollen Sie mir nicht verraten …?« »Schnell!« Erschöpft schloss Vanne die Augen und versuchte, ruhig zu bleiben. Der Aufruhr in seinem Innern verstärkte sich. Ein Bewusstsein nach dem anderen stemmte sich gegen den Eindringling, der voller Verzweif lung die Oberhand zu gewinnen suchte. Er schien Angst davor zu ha ben, Vannes Körper wieder verlassen zu müssen. Wovor fürchtete er sich? Wer war er überhaupt? Der Kommandant stürmte in die Kabine und blieb mit einem Ruck stehen, als er Vanne auf dem Bett liegen sah. »Deshalb rufen Sie mich?«, fragte er empört. »Als ob ich nichts anderes zu tun hätte, als 322
meine Besatzung in den Schlaf zu singen.« Kershyll Vanne öffnete die Augen. »Setzen Sie sich, Kommandant! Ich kann mich nicht bewegen. Wo bleibt der Roboter?« »Er ist unterwegs. Was ist passiert?« Der Vario-500 erschien im Türschott und kam in die Kabine. In sei ner eigentlichen Gestalt war er nur fünfzig Zentimeter groß und glich einem auf zwei Beinen daherstelzenden Ei. Besorgt eilte er auf Vanne zu. »Was ist passiert?«, wiederholte er die Frage des Kommandanten. Kershyll Vanne fiel das Sprechen weiterhin schwer, stoßweise brachte er die Worte hervor. Den Fremden, der in seinen Körper eingedrungen war, auf Distanz zu halten kostete ihn die meiste Anstrengung. »Ein weiteres Bewusstsein ist in mich eingedrungen … aber es kann kein normales Bewusstsein sein. Es ist stark, ungemein stark. Und es ist fremd! Ich weiß nicht…« Sein Aufschrei ließ Varmell entsetzt zurück weichen. Der Vario-500 hingegen trat ans Bett und versuchte, Vanne zu be ruhigen. »Kämpfe nicht dagegen an, mein Freund. Vielleicht ist ein Kontakt heilsam und erwünscht. Nicht mehr wehren, hörst du?« Aber Vanne hörte nicht mehr. Mit geschlossenen Augen lag er reglos auf dem Bett. Langsam und regelmäßig hob und senkte sich sein Brustkorb, als sei er in tiefe Bewusstlosigkeit gefallen.
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Ernst Ellerts Verwirrung war unbeschreiblich. Für ihn schien es absolut undenkbar, dass ein Körper sieben Bewusstseine enthielt. Sechs davon stemmten sich sofort gegen sein Eindringen. Was die dunkelrote Sonne Arcur-Beta anging, so befand er sich im Augenblick außer Gefahr, von ihr absorbiert zu werden. Der fremde Körper hatte ihn davor gerettet. Was aber würde geschehen, wenn er sich nicht in diesem Körper halten konnte? Verzweifelt versuchte er, Kontakt aufzunehmen. Aber das Hauptbe 323
wusstsein – ein gewisser Kershyll Vanne – reagierte ablehnend. Trotz dem gelang es ihm, das Erinnerungsreservoir anzuzapfen, wenn auch nur für Bruchteile von Sekunden. Was er in diesem kurzen Zeitraum erfuhr, war schockierend und beruhigend zugleich. ES, der Unsterb liche vom Kunstplaneten Wanderer, war mit im Spiel. Mehr konnte er dem Gedächtnis des seltsamen Individuums nicht entnehmen, das ihn unfreiwillig gerettet hatte. Kershyll Vanne war Ter raner, daran bestand kein Zweifel, wenngleich ein sehr seltsamer Terra ner. Und er besaß einen gewissen Kontakt zu ES, was das Geheimnis um ihn weiter vergrößerte. Aber wenn das alles so war, verstand Ernst Ellert nicht, warum Vanne sich gegen die Aufnahme seines Bewusstseins zur Wehr setzte. ES musste wissen, in welcher Gefahr er sich befand. Ellert spürte den Schock, den die sieben Bewusstseine erlitten hatten. Sein Versuch, abermals Verbindung aufzunehmen, scheiterte kläglich. Das mentale Chaos nahm Überhand und drohte ihn aus dem Ver bund hinauszudrängen. Mit aller ihm verbliebenen Energie stemmte er sich dagegen und erreichte, dass er zunächst Halt fand. Es war nicht seine Absicht gewesen, seinem unfreiwilligen Gastkörper Schaden zuzufügen oder gar dessen Existenz zu gefährden. Er hatte nur Zuflucht vor der drohenden Vernichtung seines eigenen Daseins gesucht, das war alles. Der Sog machte sich wieder bemerkbar, wenn auch anders als zuvor. Nun vermittelte er etwas Beruhigendes, keine Drohung. Aber er zerrte weiterhin an Ellerts Bewusstsein, das mit allen Kräften versuchte, in dem Körper zu bleiben. Woher kam dieser Kershyll Vanne überhaupt? Und was hatte ES damit zu tun? Ernst Ellert stellte sich diese Fragen, obwohl er genug damit zu tun hatte, dem auf ihn einwirkenden Zwang zu trotzen. Übergangslos wurden die vereinten Bewusstseine wieder aktiv. Mit einer ungeheuren Anstrengung wurde Ellert von ihnen angegriffen und mit unwiderstehlicher Gewalt aus dem rettenden Gastkörper hinausge 324
drängt. Vergeblich suchte er nach einem festeren Halt, denn er wusste, welches furchtbare Schicksal ihm ohne Körper drohte. Die werdende Neutronensonne würde ihn in das Nichts schleudern, aus dem es kei ne Rückkehr gab. Die Verbindung riss, als haben jemand ein rettendes Seil durch schnitten. Ernst Ellert stürzte ins Uferlose. Aber er fiel nicht der Sonne entgegen. Das Raumschiff blieb zurück, die beiden Sterne versanken in der Finsternis des interstellaren Raumes. Alle Sterne erloschen, als Ellert in die Existenzebene des Unbegreiflichen glitt. Hatte ihn das Schicksal nun doch ereilt …? Nicht so, wie er zuerst befürchtet hatte, denn Arcur-Beta hatte damit nichts zu tun. Kershyll Vanne, gemeinsam mit seinen anderen sechs Bewusstseinen, hatte ihn davongestoßen. Vielleicht dorthin, von wo das rätselhafte Konzept einst gekommen war. Ellerts letzte Gedankenfrage war: Was überhaupt ist ein Konzept…? Dann wurde es um ihn herum unerträglich hell.
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Als Vanne mühsam die Augen aufschlug, sah er über sich die besorg ten Gesichter des Kommandanten Killion Varmell und des Bordmedi ziners Dolencor. Der Vario-500 war nicht anwesend. »Wie fühlen Sie sich?« Der Arzt betrachtete ihn so interessiert wie ein Schmetterlingssammler einen neuen farbenprächtigen Falter. »Sie waren lange bewusstlos, aber ich finde keine Erklärung dafür.« »Kann das ein neuer Trick der Laren sein?«, erkundigte sich Varmell misstrauisch. »Ich traue ihnen so ziemlich alles zu.« Dolencor schüttelte den Kopf. »Es war etwas anderes, aber nur Vanne selbst kann uns eine Antwort darauf geben. Ich hoffe es wenigs tens.« Er blickte das Konzept auffordernd an. »Wie ist es damit?« »Schuld war das fremde Bewusstsein«, murmelte der Angesprochene. »Es drang in mich ein – vielleicht, um mich zu übernehmen. Aber 325
seine Emotionen waren keineswegs feindselig, sie erschienen mir viel eher hilfesuchend.« »Was ist jetzt?« Vanne richtete sich ein wenig auf, als wolle er prüfen, ob er sich wie der bewegen könne. Dann sank er zurück. »Es ist fort. Ich nehme an, meine sechs Mitbewusstseine haben das geschafft. Ihre Abwehr hat den Eindringling … nun, hinausgeworfen.« »Sie sind sicher, dass die Laren nichts damit zu tun haben?«, erkun digte sich der Kommandant. »Keine neue Waffe?« »Die Laren sind nicht beteiligt, wie sollten sie das auch anstellen? Ich bin fast überzeugt, es handelte sich um ein körperloses Konzept, das von ES geschickt wurde, um mir beizustehen. Nun ist es verschwun den.« Der Mediziner winkte ab. »Machen Sie sich deshalb keine Sorgen. Vanne. Es war sicherlich nicht Ihre Schuld, sondern eine ganz natür liche Reaktion. Ich würde mich ebenfalls dagegen wehren, von einem anderen Bewusstsein übernommen zu werden.« »Trotzdem interessiert mich, was wirklich geschehen ist«, murmelte Vanne. »Wie kann ich weiterexistieren, wenn ich die Wahrheit nicht herausfinde? Habe ich einen Plan von ES durchkreuzt? Und falls ja, welche Folgen kann das haben?« Dolencor schüttelte den Kopf. »ES ist mächtig genug, jeden Fehler zu korrigieren, wenn man in Ihrem Fall überhaupt von einem Fehler sprechen kann. Ich sagte schon, dass es eine natürliche Abwehrreak tion war. Wenn ES damit zu tun hat, erfolgt ein zweiter Versuch, und dann werden Sie sich nicht mehr wehren.« Kershyll Vanne nickte schwach. »Das mag sein, jedenfalls werde ich daran denken. Vorerst mache ich mir jedoch Sorgen um das fremde Bewusstsein, das von uns zurückgestoßen wurde. Ist es im Nichts ver schollen, oder kann es ES von dem missglückten Versuch berichten? Ich habe Angst davor, etwas Wichtiges versäumt zu haben.« Er schüt telte den Kopf. »Eine neue Waffe der Laren war es jedenfalls nicht!« 326
»Also ES!« Killion Varmell schaute das Konzept an. »Dolencor hat Recht. Wenn ES dieses Bewusstsein schickte, dann wird ES auch Ihre Reaktion verstehen.« Er ging zur Tür. »Ich muss mich wieder um die Laren kümmern, Vanne. Ruhen Sie sich jetzt aus, bitte.« Ohne eine Antwort abzuwarten, verließ der Kommandant die Ka bine. Erst als sich die Tür geschlossen hatte, sagte Vanne zu dem Arzt: »Er hat es schwer genug, aber trotzdem leichter als ich. Wie sieht üb rigens Ihr medizinischer Befund aus?« »Keine Auffälligkeiten. Sie sind völlig gesund – soweit man das von einem Mann sagen kann, der sieben verschiedene Persönlichkeiten in sich vereinigt.« Kershyll Vanne versuchte zu lächeln. »Sieben Persönlichkeiten …? Das stimmt, aber immer kann nur eine den Körper führen. Alles ist ge plant und geordnet. Bislang jedenfalls. Diese achte Persönlichkeit… ich weiß nicht. Hat ES sie tatsächlich geschickt? Irgendetwas in mir sträubt sich dagegen, das zu akzeptieren. Der Kontaktversuch war zu ungestüm und zu unkoordiniert, ganz so, als habe der oder das Unbe kannte keinen anderen Ausweg mehr gesehen. Verstehen Sie, was ich meine?« »Ich versuche es zumindest«, antwortete der Mediziner. »Aber ich weiß nicht, ob ich das wirklich nachvollziehen kann.« Kershyll Vanne verschränkte die Arme hinter dem Kopf. »Haben Sie, rein medizinisch gesehen, etwas dagegen, wenn ich jetzt schlafe? Ich fühle mich jedenfalls erschöpft.« Dolencor erhob sich und öffnete die Tür. »Schlaf ist die beste Medi zin – heute wie vor Jahrtausenden«, sagte er.
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Im ersten Moment war da unerträgliche Helligkeit. Ernst Ellert hatte keine Augen, die er hätte schließen können, aber schon nach wenigen Sekunden schien das grelle Licht nachzulassen. Der zerrende Sog hatte aufgehört. Dafür umgab ihn eine Aura, die ihn an das Stimmengewirr tausender Menschen erinnerte, die, in einem Saal versammelt, auf etwas Be stimmtes warteten. Dieses Stimmengewirr war jedoch lautlos, ein unbe schreibliches mentales Chaos. Ernst Ellert unterdrückte seinen Fluchtimpuls. Seine Neugier war größer als die Furcht, er musste einfach herausfinden, was mit ihm ge schehen war. Nie während seiner langen Existenz war er in eine ähnliche Situation geraten. Er schwebte in der Helligkeit, die ihm grenzenlos erschien. Um ihn herum hielten sich nicht nur Tausende, sondern viele Milliar den Bewusstseine auf, die ebenso wenig einen Körper hatten wie er. »Wer seid ihr?«, fragte Ellert lautlos. »Was wollt ihr von mir, und wo bin ich?« Das Gedankengewirr nahm nicht ab, eher schwoll es an, als wollten ihm die vielen Milliarden gleichzeitig antworten. Dabei hätte ein Ein ziger zur Verständigung genügt. Der Teletemporarier sah eine hell glänzende Kugel heranschweben, genau auf ihn zu. Ihm fehlte jeder Vergleich, ihren Durchmesser zu be stimmen. Sie mochte so groß sein wie der Kopf eines Mannes oder ein Planet oder eine Sonne. Es gab keine Relationen, um das festzustellen. Die auf ihn eindrängenden Impulse zogen sich allmählich zurück, als wichen sie vor etwas Mächtigem. Ellert verdrängte abermals das Verlangen, mit einem Gedankensprung zu fliehen. Wieder war sein Wissensdurst stärker. In der nächsten Sekunde entstand in seinem Bewusstsein ein lautlo ses Lachen, das er lange nicht mehr vernommen hatte. Es war jenes Lachen, das auch Perry Rhodan und die ihn begleitenden Terraner einst vernommen hatten, als sie zum ersten Mal dem Unsterblichen 328
vom Planeten Wanderer begegnet waren. »Ellert, Ellert! Du hast den Weg gefunden …?« Die Worte entstanden klar und deutlich in ihm, während die leuchtende Kugel näher schweb te – ES in seiner ursprünglichen Gestalt? »Nun, Ellert? Willst du mir nicht antworten?« »Doch, natürlich … ich bin nur immer noch verwirrt. Du hast mich geholt?« Wieder das lautlose Lachen. »Das Konzept Kershyll Vanne schickte dich dorthin zurück, woher es selbst kam. Das war deine Rettung. Nun bist du hier.« »Was ist hier? Wer sind die körperlosen Bewusstseine, die mich um geben? Sind es die Gestorbenen?« »Eine törichte Frage, Ellert. Könnten sie denken, wenn sie tot wä ren?« »Aber wo sind ihre Körper, wenn sie noch leben?« »Du hast ebenfalls keinen Körper, bist du deswegen tot?« Ellert gab keine Antwort darauf. Stattdessen fragte er: »Wo ist die Erde? Ich habe sie gesucht…« »In einer anderen Galaxis. Perry Rhodan hat sie bereits gefunden, nicht aber die Menschen, die von ihrer Oberfläche verschwanden. Sie sind hier. Aber nur ihre Bewusstseine, denn ihre Körper warten in ei nem Hyperraumreservoir. Der Sturz durch den Mahlstrom brachte sie auseinander.« »Ich verstehe nicht …« »Du wirst es verstehen, Ellert! In ferner Zukunft wirst du alles verste hen, glaube mir. Begreife jetzt nur, dass ich diese Bewusstseine, mehr als zwanzig Milliarden, in mich aufnehmen musste, um sie zu retten. Nun sind sie hier, aber es wird schwer für mich, sie zu halten. Meine Kapazität hat Grenzen.« »Was ist ein Konzept?« »Mehrere Bewusstseine erhalten einen Körper und verlassen mich. Das geschah bisher unkontrolliert, brachte mir aber Erleichterung. 329
Kershyll Vanne ist das erste geplante Konzept. Ein Konzept kann sich meist wie du ohne Zeitverlust von einem Ort zum anderen begeben – und wieder von dort verschwinden. Aber sie besitzen einen Körper – das ist der Unterschied zu dir in deiner bisherigen Form.« »In meiner bisherigen?« »Ja, Ellert. Ich werde dir einen Körper geben. Er wird es dir ermögli chen, den Menschen zu helfen, die von den Laren unterjocht werden.« »Und was ist mit Rhodan?« »Perry Rhodan …?« Eine Pause entstand, als müsse ES nachdenken. »Rhodan ist in den Machtkampf zweier Superintelligenzen geraten. Er hat genug mit sich selbst und seinem Generationenschiff SOL zu tun. Atlan ist bei ihm, und viele seiner alten Freunde sind es ebenfalls. In der Milchstraße vertritt Julian Tifflor den Rest der Menschheit. Ihm gelten meine Sorge und meine Unterstützung.« »Wenn ich helfen kann …« »Ja, du kannst es! Ich werde dich nach Gäa senden, zum Versteck der Menschheit in der Provcon-Faust.«
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Ernst Ellert spürte eine abrupte Veränderung – er wurde in einen Kör per hineingezogen. Der Körper hatte einem Mann gehört, untersetzt und sehr muskulös. Das Gesicht wirkte uneben und vierschrötig. Im Widerspruch dazu standen die blauen Augen und das braune lockige Haar. Er wirkte ge sund und physisch leistungsfähig. Sein Alter mochte zwischen fünf unddreißig und vierzig Jahren liegen. Die schwieligen Hände und die fliehende Stirn ließen darauf schließen, dass der Mann keine besondere Leuchte war. Er wirkte eher primitiv. Aber Körper war Körper. Auf den ihn beseelenden Geist kam es letztlich an … Ohne Widerstand ließ Ernst Ellert sich von dem Körper aufnehmen. 330
Jäh war der Sog wieder da. Ellert fühlte, dass er ins Bodenlose stürz te, doch gab es keine Sterne, die ihm einen Anhaltspunkt geboten hät ten. Und plötzlich war er nicht mehr allein. Der Körper, den ES ihm ge geben hatte und in den sein Bewusstsein geschlüpft war, beherbergte ein zweites Bewusstsein, das sich passiv verhielt und abwartete. Als er das registrierte, stand er schon auf festem Boden und sah mit den Augen des Mannes, dessen Körper nun sein eigener war, über sich eine rote Sonne am wolkenlosen Himmel…
17.
D
ie Bürgerversammlung, die routinemäßig in der verfallenen Stadthalle von Stonoc abgehalten wurde, hatte nichts Neues er geben. Thorn Kersten, Bürgermeister der insgesamt 432 Seelen zählen den Restkolonie auf dem Planeten Stiftermann III im Bedden-System, ging durch die leeren Straßen der Stadt nach Hause. Seit die Laren und Überschweren in dieses abgelegene System ge kommen waren und alle wichtigen Anlagen demontiert hatten, war auf dem ehemaligen Kolonialplaneten nichts mehr los. Jeder, der noch hier lebte, konnte froh sein, nicht mit den anderen Siedlern ver schleppt worden zu sein. Aber vielleicht legte das Konzil Wert darauf, dass nicht alles verfiel. Und den Überlebenden von Stiftermann III war nur wichtig, dass man sie in Ruhe ließ. Was in der Milchstraße ge schah, blieb für sie ohne Interesse. In der heutigen Versammlung hatte Forrest Palcot vorgeschlagen, ei nige der alten Abwehrforts wieder in Stand zu setzen und zumindest den Überschweren einen Denkzettel zu verpassen, wenn sie mal wieder 331
auftauchten. Palcot war Kerstens Gegenspieler. Mit seinen sechzig Jah ren hoffte er, den um vierundzwanzig Jahre älteren Bürgermeister der kleinen Restkolonie eines Tages ablösen zu können. »Statt dass wir zusammenhalten …«, knurrte Kersten unmutig vor sich hin. »Nur vierhundert Menschen sind wir, aber doch nicht einig. Kirna wird ihm schon die Meinung sagen! Schade, dass sie heute nicht dabei war …« Bei dem Gedanken an seine Frau teilten sich seine Gefühle. Auf der einen Seite hatte sie immer zu ihm gehalten und war ihm eine un schätzbare Hilfe gewesen. Auf der anderen Seite gab es genug Stim men, die sie als den eigentlichen Bürgermeister bezeichneten. Thorn Kersten hätte das zwar nie öffentlich zugegeben, aber es stimmte. »Forrest muss wahnsinnig sein«, beendete er eine Stunde später beim Essen seinen Bericht über die Versammlung. »Wir können froh sein, dass die Laren und ihre Söldner uns in Ruhe lassen. Ich habe keine Lust, den Rest meines Lebens auf einem ihrer Strafplaneten zu verbrin gen.« »Ich werde Forrest Palcot schon die Meinung sagen!«, versprach Kirna grimmig. »Er hat Angst vor mir.« »Vor mir leider nicht«, bedauerte Thorn. Der Nachmittag verlief dann in Routine. Wie jeder andere Bürger von Stonoc arbeitete auch der Bürgermeister auf den gemeinsamen Feldern. Er schloss sich einer Gruppe von Männern an, die seine An sichten teilten, weil er keine Lust zum Debattieren verspürte. Müde kehrten sie zu Beginn der Dämmerung in die Stadt zurück. Vom Rand des Landefelds her stieß eine andere Gruppe zu ihnen. Es waren Männer mit verschlossenen Gesichtern, und an ihrer Spitze ging Forrest Palcot. Sie kamen aus einer Richtung, in der es keine Felder gab. Thorn Kersten gab sich einen Ruck. »He, Forrest, wo kommt ihr her? Neue Felder angelegt? Davon weiß ich ja nichts.« Palcot schüttelte stumm den Kopf. 332
»Da drüben …«, Thorn deutete nach rechts, direkt an dem ehemali gen Raumhafen vorbei, auf dem längst kein Schiff mehr stand, »… da drüben liegen die alten Forts. Willst du mir nicht verraten, was ihr in der Arbeitszeit dort zu suchen habt?« Palcot ging langsamer, bis Kersten ihn einholte. »Was werden wir dort gemacht haben?«, stellte er eine Gegenfrage. »Wir haben uns die Forts angesehen. Es wird nicht viel Mühe kosten, sie wieder funktions fähig zu machen. In den unterirdischen Arsenalen liegen genug Ersatz teile herum, und fähige Köpfe hat die Opposition sowieso.« Thorn Kersten blieb stehen. »Du bist verrückt, Forrest! Die Mehrheit hat beschlossen, die Forts nicht anzurühren. Wir wollen weiterleben wie bisher.« »Das nennst du Leben?« Palcot deutete auf seine Begleiter. »Wir haben es satt! Begreifst du das endlich? Wir haben es endgültig satt, auf die Gnade der verdammten Überschweren angewiesen zu sein, die sich aufspielen, als hätten sie persönlich die Galaxis erobert.« »In gewissem Sinn haben sie das auch, leider«, gab Kersten zurück. »Es waren die Laren«, korrigierte Palcot. »Und die haben sich schon lange nicht mehr hier sehen lassen.« »Sie werden wieder kommen, sobald die Überschweren den gerings ten Widerstand melden. Und dann kommen sie mit Vernichtungswaf fen.« »Die Überschweren dürfen keine Gelegenheit erhalten, die Laren zu informieren. Wenn sie ahnungslos hier landen, sind sie so gut wie tot. Und ihr Schiff – das können wir gut gebrauchen.« Forrest Palcot schaute den Bürgermeister herausfordernd an. »Siehst du nun, wie mein Plan ausgeführt werden kann? Ohne jedes Risiko!« Kersten schüttelte den Kopf und ging weiter. Palcot folgte ihm. »Du bist verrückt, Forrest! Jedes Schiff würde sehr schnell vermisst werden.« »Und du bist ein friedfertiger alter Narr!«, schimpfte Palcot wütend. »Du kannst dich auf die nächste Versammlung freuen, denn ich werde 333
einen neuen Antrag einbringen und diesmal gewinnen.« »Abwarten«, riet Thorn Kersten ruhig. Er war überzeugt davon, dass die Probleme der Milchstraße sie nichts mehr angingen. Sie besaßen eine ganze Welt für sich, die letzten Menschen im Bedden-System.
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Forrest Palcot machte seine Drohung war. Die nächste Versammlung beeindruckte er mit einer flammenden Rede über Freiheit und Gerech tigkeit und forderte Kampf den Unterdrückern. Thorn Kersten sprach von Frieden, Sicherheit und Geborgenheit und davon, dass die Überlebenden von Stiftermann III niemals in der Lage sein würden, auch nur den Überschweren die Stirn zu bieten. Lediglich spärlicher Beifall kam auf, als er sich setzte. Das brachte Kirna Kersten in Rage. Wütend sprang sie auf. »Habt ihr den Verstand verloren?«, rief sie. »Wenn ihr auf Forrest hört, seid ihr in ein paar Wochen oder Monaten tot. Und wenn ihr großes Pech habt, landet ihr auf einem Strafplaneten. Ich brauche wohl nicht zu sagen, wie es dort zugeht. Was sollen wir mit einem oder zwei Abwehr forts gegen eine Flotte ausrichten? Vielleicht könnt ihr ein Schiff ka pern oder zerstören, aber danach werden Hunderte kommen und furchtbare Vergeltung üben. Wenn ihr auf Thorn hört, dann werden wir wenigstens leben, verdammt noch mal!« Betroffenes Schweigen schlug ihr entgegen, bis jemand zaghaft Beifall zollte. Sekunden später übertönten die positiven Zurufe alle Proteste. Forrest Palcot hatte abermals eine Schlacht verloren.
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Am Himmel stand bewegungslos ein Schiff der Überschweren. Es setz te weder zur Landung auf dem alten Raumhafen an, noch schickte es ein Beiboot zur Oberfläche hinab. Es schwebte nur hoch über der Stadt und beobachtete. Thorn Kersten schaute Palcot forschend an. »Was wäre geschehen, wenn wir auf dich gehört hätten? Glaubst du, die hätten nicht be merkt, dass jemand an den Forts arbeitet?« »Wir hätten das Schiff heruntergeholt!« »Rede keinen Unsinn! Es würde Monate dauern, bis nur ein einziges Geschütz einsatzbereit wäre. Du solltest endlich realer denken. Politi ker mit Wunschträumen sind immer gefährlich.« »Lass mich in Ruhe …!« Thorn Kersten seufzte und ging weiter. Er verschwendete keinen Blick mehr an das Schiff der Überschweren. Der Walzenraumer blieb zwanzig Stunden, dann verschwand er wie der, und das Leben ging weiter.
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Bei der nächsten Bürgerversammlung erhielt Forrest Palcot nur noch knapp fünfzig Stimmen für seinen Vorschlag. Am Abend besuchte er seinen Gegner. Kirna empfing ihn an der Tür. »Wenn du Ärger machen willst, kannst du gleich wieder verschwinden«, eröffnete sie ihm. Palcot hob beschwichtigend die Hand. »Ich bin nur gekommen, um Thorn einen Ausflug vorzuschlagen.« »Da steckt doch mehr dahinter«, vermutete Kirna misstrauisch. »Rück schon raus damit!« »Nicht zwischen Tür und Angel«, sagte Palcot. Thorn Kersten schaute überrascht auf, als beide den Wohnraum be traten. »Was verschafft mir die Ehre deines Besuchs, Forrest?«, fragte er nachdenklich. 335
Wortlos schob Kirna Palcot einen Stuhl hin und holte einen Krug Wein. »Ein Ausflug, Thorn«, antwortete Palcot. »Einige meiner und deiner Freunde haben beschlossen, im Gebirge zu jagen. Wir hatten lange kein Wildbret mehr, weil uns die Zeit fehlte. Auch Fische aus den Seen im Norden wären wieder an der Reihe. Kommst du mit?« Thorn lehnte sich zurück. »Im Prinzip habe ich nichts gegen einen Jagdausflug … Also gut. Wann wollt ihr aufbrechen?« »Morgen vor Sonnenaufgang. Wir haben schon alles vorbereitet und nehmen Gewehre und einen Transportwagen mit. Wird Zeit, dass die Ochsen wieder einen Karren ziehen, sie kommen sonst aus der Übung.« »Stimmt, Forrest. Aber unterwegs kein Wort über Politik!« »Versprochen, Thorn!« Sie tranken den Wein, den Kirna eingeschenkt hatte, als wären sie nie in ihrem Leben Gegner gewesen. Schließlich waren sie nicht in der Bürgerversammlung.
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Die Straße war rissig und mit Unkraut überwuchert. Niemand brauch te sie mehr, weil alle Siedler in Stonoc lebten. Jetzt polterte der Ochsenkarren mit den Vorräten und Gewehren über die Unebenheiten. Die Teilnehmer des Jagdausflugs gingen zu Fuß daneben her. Lediglich Doc Prcylos saß auf dem Kutschbock, sei ne Medizintasche neben sich. Sie waren zwölf Männer, angeführt von Thorn Kersten und Forrest Palcot. Die beiden Streithähne hatten vorübergehend Waffenstillstand geschlossen. Vor ihnen lag die mit niedrigem Gras bedeckte Steppe, die sich bis zum fernen Gebirge erstreckte. Zweimal mussten sie übernachten, ehe sie endlich die ersten frischen Spuren einer Herde wilder Rinder entdeckten. 336
Die Gewehre wurden verteilt und zwei Gruppen gebildet. Nur der Doc blieb im Lager zurück. Palcot und seine Männer gingen nach Osten, Kersten wandte sich in nordwestliche Richtung, zur Flussniederung. Thorn Kersten hoffte, bei der Tränke die besten Chancen zu haben. Neben ihm lief Brancal, Kir nas Bruder. Er war ein Mann, der den Mund nur dann aufmachte, wenn es unbedingt nötig war. Er war damit das Gegenteil seiner Schwester. »Die Bewegung tut uns gut«, versuchte Thorn, ein Gespräch in Gang zu bringen. »Die Feldarbeit ist zu einseitig.« Sie marschierten der sin kenden Sonne nach und konnten den Fluss schon sehen. »Hm«, knurrte Brancal als Antwort. Die Männer seiner Gruppe, die schon vorgegangen waren, duckten sich und winkten Kersten zu. Eine Herde junger Rinder war an der Tränke, ein wenig abseits wälzten sich schwarze Schweine im Ufer schlamm. Thorn Kersten wartete, bis alle ein Ziel ausgesucht hatten, dann nickte er. Zwei Schweine und drei Rinder stürzten, als die Schüsse fie len, die anderen stoben in wilder Flucht davon. Wortlos machte sich der erfahrene Brancal daran, die Tiere auszu nehmen und ihr Fleisch zu verteilen. Sie füllten die mitgebrachten Säcke und traten danach den Rückmarsch zum Lager an. Auch Palcots Gruppe hatte drei Rinder und zwei Schweine erlegt. Nach diesem ›Patt‹ wurde der Abend feuchtfröhlich beendet. Eine Wache war nicht nötig, denn außer dem Jagdtrupp und den Leuten in der Stadt gab es keine Menschen auf Stiftermann III, und Raubtiere waren ohnehin nie aufgetaucht. Doch als Thorn Kersten im Morgengrauen als Erster aufwachte, sah er keine fünfzig Meter vom Lager entfernt einen Mann stehen, der zu ihm herüberblickte. Jeder in Stonoc kannte den anderen. Der untersetzte Kerl war ein Fremder. Er kam langsam auf das Lager zu. 337
Thorn Kersten griff nach dem Gewehr.
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Was Ernst Ellert nach seiner Rematerialisation sah, war nicht gerade ermutigend. Das sollte der Planet Gäa sein, die Hauptwelt der Terra ner? Er stand im kniehohen Gras. Die Ebene erstreckte sich bis zum Ho rizont, der im Norden von einem Höhenzug begrenzt wurde. Im Wes ten schlängelte sich ein Fluss durch die baumlose Prärie. Die rote Sonne hatte den Zenit bereits überschritten. Gäa? Das war niemals Gäa. Aber da gab es noch ein anderes Problem. Das Bewusstsein, das mit ihm gekommen war, hatte bis eben den dominierenden Ellert nicht behindert. Nun, da es kein Zurück mehr gab, nahm es Kontakt auf. »Ich bin Gorsty Ashdon.« Damit konnte Ellert nicht viel anfangen. »Warum bist du bei mir?«, fragt er. »Hat ES dich geschickt?« »Ich musste mitkommen, denn die Enge war unerträglich. Ich kann dir helfen. Wir werden gut zusammenarbeiten.« »Zusammenarbeiten? Dies ist bestimmt nicht Gäa, mein Ziel. Irgend etwas ist fehlgeschlagen. Wer bist du, Gorsty Ashdon? Du hast also den Sturz der Erde in den Mahlstrom miterlebt? Und was geschah?« Ashdon berichtete, dass er erst zwölf Jahre alt sei und die Entmate rialisation beim Sturz in den Schlund mitgemacht habe. Als Aphiliker sei er dank eines so genannten proportionalen Intelligenzeinschusses überdurchschnittlich begabt und ein technisch-physikalisches Genie gewesen, was er jederzeit unter Beweis stellen könne. Alle technischen Dinge seien ihm in Theorie und Praxis geläufig. Ellert erfuhr weitere Details, was mit der Erde geschehen war. Trotz der Informationen von ES war sein Wissen um einzelne Geschehnisse noch mangelhaft. 338
»Gut, Gorsty, ich denke, wir sind ein passables Konzept-Team. Viel leicht war es Absicht, dass du mit mir kamst. ES kann dich mitge schickt haben – wir wissen es nicht. Was sagst du dazu, dass wir nicht auf Gäa sind? Oder könnte diese Welt tatsächlich Gäa sein?« »Nein, das ist nicht Gäa. Wir befinden uns nicht einmal in der Prov con-Faust. Ich weiß nicht, wo wir sind. Setze deinen … eh, unseren Körper in Bewegung. Wir suchen Menschen – oder was immer hier lebt.« Ellert stellte bald fest, dass das Bewusstsein des Jungen sehr aktiv und unternehmungslustig war und zielbewusst und konsequent dachte. Er hätte sich keinen besseren Partner wünschen können, nahm sich aber vor, niemals seinen Führungsanspruch aus der Hand zu geben. Weniger behagte ihm, dass er den neuen Körper auf eigenen Wunsch nicht mehr verlassen und auch keinen Ortswechsel nach Belieben vor nehmen konnte. Er schien alle Fähigkeiten, die er als reines Bewusst sein besessen hatte, verloren zu haben. Andererseits war er in der La ge, mit Gorsty unmittelbar mentalen Kontakt aufzunehmen – wie auch dieser mit ihm. Gorsty Ashdon, vor dem es keine Geheimnisse mehr geben konnte, fragte: »Ernst Ellert …? Wer bist du eigentlich? Kann ich deinen Na men schon einmal gehört haben, vielleicht von meinen Eltern?« »Ziemlich unwahrscheinlich. Es ist lange her, etwa eineinhalbtausend Jahre, da lebte ich auf der Erde.« Während Ellert nach Süden ging, wo die Prärie bis zum Horizont reichte, erzählte er dem Jungen seine Geschichte. Jäh blieb er stehen. Er hatte in der Einöde einen sich bewegenden Punkt entdeckt, der sich bald als primitiver Karren mit zwei Rindern oder Ochsen davor entpuppte. Er wurde von zwölf Menschen beglei tet. Ellert ging in Deckung. »Wir müssen warten, Gorsty, solange wir nicht wissen, wer sie sind. Immerhin tragen sie Waffen.« Sie beobachteten, wie sich die Männer in zwei Gruppen teilten. Ei ner blieb zurück und sammelte Holz für ein Feuer. Später hörten sie 339
Schüsse. Dann kehrten die Trupps mit Jagdbeute zurück. Aber noch zögerte Ellert, sich zu zeigen. Er schlug Gorsty vor, bis zum kommen den Morgen zu warten. Dunkelheit konnte die Männer misstrauisch machen, wenn ein Fremder plötzlich vor ihnen stand. Außerdem stell te Ellert fest, dass er keine Gedankenimpulse mehr auffing. Diese Fä higkeit hatte er im Austausch für den Körper ebenfalls verloren. Gorstys Bewusstsein zog sich zurück. Zum ersten Mal seit langer Zeit spürte Ellert nun wieder etwas, das er lange nicht mehr kannte: Müdig keit. Er streckte sich im Gras aus und schloss die Augen. Schlaf war etwas Wunderbares…
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Die ersten Sonnenstrahlen weckten ihn. Gorsty schien schon darauf gewartet zu haben. »Einer der Männer ist aufgewacht«, sagte das Be wusstsein des Jungen. Nur kurze Zeit beobachtete Ellert den blonden Hünen. Dessen Be gleiter schliefen noch neben der glimmenden Asche des Lagerfeuers. Vielleicht war jetzt der richtige Moment, sich bemerkbar zu machen. Ellert stand auf und verließ die Deckung. Langsam ging auf das La ger zu und blieb erst ziemlich nahe stehen. Der Mann sah ihn und griff nach seinem Gewehr. »Vorsicht!«, warnte Gorsty. Ernst Ellert ging wieder weiter. Er hob beide Arme, um zu zeigen. dass er waffenlos war. »Ich komme, um euch um Hilfe zu bitten«, sag te er und wunderte sich über den Klang der ihm fremden Stimme. »Ich habe keine Waffe.« Nun erwachten auch die anderen. Verwundert blickten sie die ihnen fremde Erscheinung an. Der Blonde senkte das Gewehr. »Kommen Sie näher, Fremder! Und erklären Sie uns, woher Sie kom men! Wir leben allein auf Stiftermann III.« Also Stiftermann III im Bedden-System! Ellerts Gedächtnis funktio 340
nierte einwandfrei, er vergaß keine Information. Die Männer umringten ihn neugierig. Ihre Gesichter drückten Miss trauen aus. Einer von ihnen durchsuchte Ellert nach Waffen. »Also schön, wo kommen Sie her?«, wiederholte der blonde Hüne seine Frage. Ernst Ellert war klar, dass er die Wahrheit nicht sagen durfte, die Männer würden ihm nicht glauben. Außerdem war nicht sicher, ob das im Sinne von ES gewesen wäre. »Vor einigen Tagen landeten wir auf der anderen Seite des Gebirges«, erklärte er. »Wir waren auf der Flucht vor den Überschweren und ver steckten uns. Als ich nach einem Erkundungsgang zurückkam, waren meine Freunde und das kleine Schiff fort. Also machte ich mich auf die Suche nach Hilfe. Das ist alles.« »… ein Kindermärchen, Fremder. Flucht vor den Überschweren – das kannst du anderen erzählen. Die Überschweren haben dich als Spion abgesetzt. Ist es so?« »Ich kann nichts anderes sagen, denn das ist die Wahrheit!« »Es wird sich klären lassen«, versuchte der Blonde zu beschwich tigen, aber die meisten standen wohl auf der Seite des anderen Spre chers. »Wir nehmen ihn mit in die Stadt, dann sehen wir, was die Mehrheit dazu sagt«, schlug der Mann vor, der während der Jagd allein im Lager zurückgeblieben war. Sie redeten eine Zeit lang sehr kontrovers, dann brachen sie auf. Das Gespann kam schneller voran, als Ellert erst befürchtet hatte. Schon nach einer Übernachtung sah er eine Stadt am Horizont. Der gemeinsame Tag hatte das Misstrauen der Männer nicht schwin den lassen. Immerhin kannte Ellert nun ihre Namen und wusste, dass es Forrest Palcot war, der immer wieder von neuem versuchte, Wider sprüche in seinen Aussagen zu entdecken. Manchmal ließ Ellert den jungen Gorsty für sich antworten und stellte bald fest, das dieser fast noch klügere Antworten gab als er selbst. 341
Als sie die Stadt erreichten, verbreitete sich die Kunde von der An kunft eines Fremden wie ein Lauffeuer. Die nicht gerade sehr große Be völkerung lief zusammen, um Ellert wie ein Wundertier zu bestaunen. »Sieht ganz danach aus, als wollten sie uns einsperren«, bemerkte Gorsty. »Frei laufen lassen werden sie uns nicht«, gab Ellert ebenso lautlos zurück. »Ich kann ihr Misstrauen ja verstehen, aber Palcot übertreibt. Der Bürgermeister scheint vernünftiger zu sein.« Stonoc hatte offenbar kein Gefängnis, denn Ernst Ellert wurde in den Keller des Gemeindehauses geführt und dort eingeschlossen. Da saß er dann mit einem Laib Brot, einem großen Stück gebratenem Fleisch und einem Krug Wein. Er konnte hören, dass vor der schweren hölzernen Tür zwei Wachen redeten. »Es ist gut, dass du jetzt nicht allein bist, nicht wahr?«, sagte Gorsty zufrieden. »Und ich bin sehr froh darüber, dass ich dem Gedränge in ES entfliehen konnte.« »Ist es im Gefängnis besser?« »Wenn du willst, werden wir nicht lange hier drinnen sein. Ich kann das primitive Schloss jederzeit öffnen.« »Warte damit!«, sagte Ellert und streckte sich auf dem harten Boden aus, um wieder zu schlafen.
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Die außerplanmäßige Bürgerversammlung am anderen Tag verschärfte Ernst Ellerts Lage. Forrest Palcot stellte offiziell den Antrag, den ver dächtigen Fremden, wie er sich ausdrückte, unschädlich zu machen. »Wir können niemanden ohne Beweise verurteilen!«, rief Thorn Kers ten in den Saal. »Ich schlage vor, er bleibt im Gefängnis, bis seine Schuld oder Unschuld einwandfrei bewiesen ist.« »Bringt ihn um, dann ist Ruhe!«, kam ein Zwischenruf. »Zuerst ein Urteilsspruch!«, warf Palcot ein. »Und der wird natürlich 342
auf schuldig lauten. Dieser Fremde ist ein Spion der Überschweren, ei ner von den Kerlen, die sich auf die Gegenseite geschlagen haben. Mit einem Schiff gelandet, in dem Terraner waren, und dann zurückgeblie ben … Das kann niemand glauben!« Tosender Beifall. Jemand forderte erneut ein Todesurteil. Ellert, der mit auf dem Rücken gefesselten Händen in der ersten Rei he saß und zudem bewacht wurde, machte sich allmählich Sorgen. Sicher, wenn sein Körper starb, würde er wieder als bloßes Bewusstsein weiterleben – wenigstens hoffte er das. Was aber würde aus Gorsty wer den? Kehrte er automatisch in das Reservoir von ES zurück? Noch einmal mahnte Kersten zur Mäßigung. Gerade dann, wenn der Fremde ein Spion der Überschweren sein sollte, wäre es klüger, abzu warten. Vor allem gäbe es nichts zu verbergen. Der abschließende Hinweis auf Sanktionen der Überschweren ver fehlte die Wirkung nicht. Die Stimmung wurde nüchterner. Die Abstimmung fiel zu Kerstens Gunsten aus. Wütend verließ Pal cot den Saal, gefolgt von seinen treuesten Anhängern. Auch ohne Gedanken lesen zu können, wusste Ernst Ellert, dass sein Leben nicht mehr sicher war. In einer Nacht, in der Palcots Männer Wache vor dem Gefängnis hielten, würde sich Entscheidendes ereig nen. Er und Gorsty mussten darauf vorbereitet sein.
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Die Nachricht, dass die Laren mit der Energieversorgung ihrer SVERaumer Schwierigkeiten hatten, verbreitete sich schnell in der Milch straße. Auch, dass deshalb die Überschweren intensiver in die Überwa chung eingebunden wurden. Das führte zu stärker werdendem passiven Widerstand der unter drückten galaktischen Völker. Auch die GAVÖK wurde wieder aktiv. In der Galaktischen-Völkerwürde-Koalition waren Arkoniden, Akonen, Terraner, Blues, Aras, Springer und andere raumfahrende Völker zu 343
einer Allianz vereinigt, um den Invasoren Einhalt zu gebieten. Dieses Bündnis war nur selten zum Tragen gekommen, aber es bestand. Ein Schiff der GAVÖK war der akonische Kugelraumer GOR mit ei nem Durchmesser von nur einhundert Metern. Als Kommandant fun gierte der terranische Abenteurer Marc, der seinen Nachnamen verges sen hatte oder auch bewusst verschwieg. Die Besatzung der GOR re krutierte sich bunt gemischt aus Widerstandskämpfern vieler Völker. Der Kommandant sah seine Aufgabe vordringlich darin, die vielen von ihren Mutterwelten abgeschnittenen Kolonien zum Aufstand ge gen Laren und Überschwere zu bewegen. Das gemeinsame Ziel schweißte zusammen. Unsinnige Vorurteile waren abgebaut worden, alte Feindschaften endlich vergessen oder bereinigt. Ein terranisches Schiff konnte sich mittlerweile ohne großes Risiko in die Eastside der Blues wagen, ohne mit der Vernichtung konfron tiert zu werden, wie das früher oft der Fall gewesen war. Der mächtige Feind hatte der Vernunft endlich zum Sieg verholten. Marc warf einen Blick auf die Sternkarten, die der Akone Orkos vor ihm ausbreitete. »Das Bedden-System«, sagte er interessiert, als sein Stellvertreter darauf deutete. »Da soll angeblich eine Restkolonie be stehen. Die müssen wir ebenfalls mobilisieren, richtig.« »Der Kampf beginnt erst«, pflichtete Orkos bei. »Jeder Widerstand zermürbt die Überschweren. Eines Tages werden sie aufgeben.« »Die Laren haben sich beinahe schon totgesiegt.« Marc grinste und gab die Koordinaten in die Navigationspositronik ein. »Nur zweihun dert Lichtjahre bis Stiftermann III. Wir gehen vor wie üblich: Funk sprüche mit der Bitte um Unterstützung. An der Antwort sehen wir, wer dort regiert, und können uns rechtzeitig absetzen, falls notwen dig.« »Klarer Fall, Freund.« Marc sah den Akonen offen an und seufzte. »Warum konnten wir nicht früher Freunde werden, die Akonen und die Terraner, überhaupt alle Völker der Milchstraße? Früher, als noch alles in Ordnung war.« 344
»Eben weil alles in Ordnung war«, sagte Orkos bestimmt. »Es gab keine Probleme, und das ließ uns Zeit, selbst welche zu schaffen.« Die Transition wurde eingeleitet. Wenig später leuchtete in der Pano ramagalerie eine große rote Sonne: der Stern Bedden mit seinen sieben Planeten.
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Weder Thorn Kersten noch Forrest Palcot gerieten in die heikle Situa tion, eine endgültige Entscheidung wegen des Gefangenen treffen zu müssen. Diese wurde ihnen abgenommen, als ein Funkspruch eintraf. Es gab in Stonoc eine einzige Funkstation, die ständig besetzt war. Die Überschweren hatten darauf bestanden, damit ihre Patrouillen, falls erforderlich, schon vom Weltraum aus Kontakt aufnehmen konn ten. Der Diensthabende erwachte aus seinem Halbschlaf, als der Fre quenztaster ansprach. Eine Stimme erklang: »… ruft Stiftermann III! – Hier Raumschiff GOR, Kommandant Marc. Benötigen Unterstützung und rufen die Kolonie auf Stiftermann III! Antworten Sie …!« Der Funker stürzte auf die Straße und rief einem vorbeigehenden Mann zu, Thorn müsse sofort in die Station kommen. Dann machte er sofort kehrt und versuchte, den Kontakt zu bestätigen. Als Thorn Kersten eintraf, gab der Kommandant der GOR soeben eine Rückmel dung durch. Kersten schob den Funker einfach zur Seite. »Ich rufe die GOR, hier spricht der Bürgermeister von Stonoc. Sie baten um Unterstützung. Weshalb?« Nach einer kurzen Pause kam es zurück: »Sie sind Terraner, Bürger meister? Kann ich mit einem Vertreter der Besatzungsmacht sprechen, mit einem Laren oder Überschweren?« Thorn Kersten machte ein verdutztes Gesicht. »Warum das, wenn Sie Hilfe benötigen? Außerdem befinden sich auf unserer Welt weder La 345
ren noch Überschwere.« »Wirklich nicht? Können Sie das garantieren?« Kersten wurde misstrauisch, jedoch im positiven Sinne. »Haben Sie etwas zu befürchten, Kommandant? Sie können offen mit mir reden, ich bin nicht gerade ein Freund der Laren.« »Also gut, Vertrauen gegen Vertrauen. Wir haben keine Havarie und benötigen keine Hilfe technischer Art, trotzdem bitten wir um Lande erlaubnis. Wir haben Ihnen einige Vorschläge zu unterbreiten.« »Wir erwarten Sie. Was sind Sie – ein terranisches Schiff aus dem NEI?« »Nicht direkt. Aber wir verfolgen ähnliche Ziele.« »Sie sind uns auf jeden Fall willkommen«, beendete Kersten das Ge spräch und überließ den Platz wieder dem Funker. Anschließend unterrichtete er Forrest Palcot. Der Oppositionsführer runzelte die Stirn. »Also Terraner und Anhänger der Menschen in der Provcon-Faust? Unsere Verbündeten, wenn ich das richtig sehe.« »Natürlich Verbündete, aber das dürfen die Laren nie erfahren, sonst geht es uns an den Kragen.« »Hast du schon wieder Angst, Thorn?« »Unsinn! Wir müssen einfach vorsichtig sein. Bin gespannt, was sie von uns wollen.« »Das erfahren wir, sobald das Schiff gelandet ist. Ich nehme an, du wirst mich an der Beratung teilnehmen lassen.« »Wäre ich sonst hier?«, fragte Kersten beleidigt.
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Hundert Meter durchmaß die Stahlkugel nur, trotzdem wirkte sie un glaublich imposant. Thorn Kersten und Forrest Palcot lösten sich aus der Masse der Schaulustigen und gingen auf das Schiff zu, als dessen Kommandant schon in der Bodenschleuse erschien. Ihm folgten ein Akone und ein Blue. »Mit den blaupelzigen Brüdern hatten wir doch immer Ärger«, flüs terte Palcot. »Sollte sich das geändert haben?« »Hoffentlich«, gab Kersten ebenso leise zurück. »Wäre ja ein Se gen…« Sie gingen den Raumfahrern entgegen. »Willkommen auf Stiftermann III«, sagte Kersten. »Wir bekommen selten angenehmen Besuch.« »Angenehmer als die Überschweren oder Laren werden wir Ihnen bestimmt sein«, entgegnete der Kommandant. »Das sind meine Freun de und Mitstreiter Orkos und Rüyjin. Ich denke, es gibt vieles zu be sprechen.« Thorn Kersten stellte Palcot vor und deutete zurück zum Rand des Landefelds. »Ich konnte den Auflauf nicht verhindern, aber ich sagte ja schon, dass wir selten Besuch erhalten. Die Bevölkerung ist neugie rig.« »Wir werden ihre Neugierde befriedigen, nur möchten wir vorher mit Ihnen allein reden. Ich bitte Sie, an Bord zu kommen.« Kersten winkte der Menge beruhigend zu, bevor er ebenfalls die Schleusenkammer betrat. Marc führte seine Gäste in die Offiziersmesse, in der ein kleiner Im biss vorbereitet war, der Kersten und Palcot staunend erkennen ließ, was sie in ihrer kleinen Kolonie alles vermissten. Ihre Unterhaltung blieb belanglos, bis Marc nach einer halben Stun de endlich auf das Wesentliche zu sprechen kam. Vor allem Palcot spitzte die Ohren. »Wir von der GAVÖK führen einen heimlichen Krieg gegen Laren und Überschwere«, erklärte der Kommandant. »Die Zeit ist reif, die 347
Laren haben Versorgungsschwierigkeiten. Wenn wir jetzt nicht ver suchen, sie so empfindlich wie möglich zu treffen, werden wir es nie schaffen. Es gibt genug Welten, die sich gegen ihre Vorherrschaft auf lehnen, aber weder Laren noch Überschwere können überall zugleich sein, diese Zeiten sind vorbei.« Forrest Palcot konnte seine Freude nicht zurückhalten. Fast hätte er Marc umarmt, als er ausrief: »Ganz nach meinem Herzen, wirklich! Die Überschweren haben unsere Abwehrforts demontiert. Ich hätte sie schon lange wiederhergestellt, leider war unser friedliebender Bürger meister stets dagegen. Bei ihm werden Sie kaum Gehör finden, aber bei mir und meinen Freunden schon. Bisher waren wir allein. Wenn Sie sagen, dass auch andere Planeten …« »Eine Vielzahl von ihnen«, unterbrach Marc den plötzlichen Rede schwall, und der Akone Orkos nickte zustimmend. »Sicher, es sind im mer nur kleine Entscheidungen, die bisher fielen, aber eines Tages, so bald sich alle gegen die Invasoren erheben, wird das Ende der Laren gekommen sein.« Kersten hatte Palcots Ausbruch ignoriert. Nüchtern fragte er: »Wie stellt sich das NEI dazu? Bisher operierte es sehr vorsichtig, soweit mir das bekannt ist. Ich bin gegen jede voreilige Handlungsweise.« »Ihr Freund hier …«, Marc deutete auf Palcot, »… scheint anderer Meinung zu sein.« »Wir sind politische Gegner«, erklärte Thorn Kersten. »Forrest vertritt die radikale Richtung.« Der Kommandant nickte Palcot wohlwollend zu. »Dann können wir zumindest mit Ihrer Unterstützung rechnen?« »Jederzeit!« Rüyjin wiegte seinen Tellerkopf. »Terraner sind sich selten einig, das hat mich die Erfahrung gelehrt. Wir müssen ihnen Zeit lassen, sich zu beraten. Es hat wenig Sinn, ihnen bis dahin mehr zu verraten.« »Sehr richtig, Rüyjin«, pflichtete Marc bei. »Sie müssen sich einig sein, sonst treten Komplikationen auf. Wie ist das zu erreichen?« 348
Thorn antwortete schnell: »Das Problem muss vor die Bürgerver sammlung, eine bessere Möglichkeit sehe ich nicht. Ich lade Sie ein, an der morgigen Versammlung teilzunehmen. Dort können Sie Ihre Argumente vorbringen. Die Mehrheit entscheidet, ob wir zustimmen oder nicht.« Marc erklärte sich einverstanden, aber im weiteren Gespräch kristal lisierte sich seine Sympathie für Palcot deutlich heraus. Er wollte eben falls, dass die Forts wieder einsatzbereit waren und jedes Schiff der Überschweren vernichteten, das sich Stiftermann III näherte. »Und glauben Sie nur nicht, Bürgermeister Kersten, dass wir die Ein zigen sind, die zum Aufstand gegen die Laren aufrufen. Oh nein!« Marc schüttelte entschieden den Kopf. »Dutzende Schiffe sind unter wegs. Je weiter die verschiedenen Brennpunkte voneinander entfernt sind, desto leichter werden uns diese Siege fallen.« »Bravo!«, rief Palcot begeistert. Kersten nickte zwar zustimmend, schwieg jedoch verbissen. Er fürch tete um den Frieden auf Stiftermann III.
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Die Bürgerversammlung wurde stürmisch. Außer Doc Prcylos, der bei einer Geburt helfen musste, und dem diensthabenden Funker hatten sich alle im Saal des Gemeindehauses eingefunden. Selbst die Wachen vor Ellerts Gefängnis waren abgezogen worden. Kersten übernahm die offizielle Vorstellung der Gäste und bemühte sich, seine Erklärungen neutral zu halten, ohne den eigenen Stand punkt zu gefährden. Nach ihm ergriff der Kommandant der GOR als Vertreter der GA VÖK das Wort. Marc war ein geschickter Redner und brachte seine Argumente für den Widerstand äußerst wirksam vor. Eigentlich mit reißend. Nach ihm sprach Palcot, selbstsicherer als sonst und voller Sen 349
dungsbewusstsein. Er hielt eine flammende Anklage gegen Unfreiheit und Unterdrückung. Er sprach von der Notwendigkeit, den Wider stand der GAVÖK zu unterstützen und in der entscheidenden Phase nicht im Stich zu lassen. Nicht ohne Genugtuung erinnerte er die Bür ger von Stonoc an seine Forderung nach Instandsetzung der Abwehr forts. Der Beifall für Palcot wollte kein Ende nehmen. Kersten leitete schließlich die Abstimmung ein. Er forderte die Versammlung auf, sich nicht durch vorübergehende Emotionen in ih rer Verantwortung beeinflussen zu lassen. Er sprach von der einge brachten Ernte, die alle gut über den kommenden Winter bringen würde, und von dem Frieden, den ein übereilter Beschluss vielleicht gefährden könnte. Während er redete, wurde es stiller im Saal. Immer mehr Gesichter verrieten Betroffenheit und Nachdenklichkeit. Die Abstimmung hätte wahrscheinlich für keine der beiden Richtun gen die notwendige Mehrheit erbracht, aber es kam noch nicht dazu, denn Doc Prcylos betrat endlich den Saal. Einige Freunde informier ten ihn über den Sitzungsverlauf, und als Thorn Kersten seinen Vor trag beendete, meldete er sich zu Wort. Einem der anwesenden Männer teilte er gleich zu Anfang mit, dass seine Frau einen kräftigen Sohn geboren hatte, dann kam er zum The ma. Er gab sowohl Palcot als auch dem Bürgermeister Recht, lobte die Absichten der GAVÖK und ihrer anwesenden Vertreter und schlug einen Kompromiss vor. »Jede übereilte Entscheidung kann zur Kata strophe führen. Wir sollten uns die Sache gründlich überlegen. Um beiden Seiten gerecht zu werden, halte ich es für sinnvoll, zumindest zwei der Forts in aller Heimlichkeit wieder einsatzbereit zu machen, aber darüber hinaus keine verdächtige Tätigkeit an den Tag zu legen. Sollten in nächster Zeit wieder Überschwere landen, werden wir sie wie bisher empfangen und als unsere Herren akzeptieren. Sollten sie aller dings auf die Idee kommen, die unterirdischen Forts zu besichtigen, 350
nehmen wir sie gefangen, und zwar so, dass ihre Besatzung keine Gele genheit mehr erhält, einen Funkspruch abzustrahlen. Mit anderen Worten: Ich empfehle nicht den offenen, sondern den geheimen Wi derstand. Alles andere ist gefährlich.« Die anschließende Debatte ergab eine überwältigende Mehrheit für den Kompromissvorschlag. Kommandant Marc und seine Begleiter akzeptierten das Abstim mungsergebnis. Sie hatten immerhin eine Saat ausgebracht, die eines Tages aufgehen würde. Die Einladung zum Abendessen beim Bürger meister nahmen sie gerne an.
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Kirna Kersten brachte nach dem Essen gerade die Weinkrüge, als ein Mann in den Raum stürzte. Thorn sah unwillig auf. »Hast du deine gute Erziehung vergessen, Rarok? Wir haben Gäste, wie du siehst.« »Der Gefangene, Thorn …! Er ist fort!« Kersten erhob sich langsam, aber in seinen ruhigen Bewegungen lag eine unheilvolle Drohung. »Wer hatte Wache?« »Niemand. Nach der Versammlung dachte keiner mehr daran.« Der Bürgermeister warf Palcot einen wütenden Blick zu, als dieser das Gesicht zu einem hämischen Lachen verziehen wollte. »Findet den Kerl und bringt ihn her!« Als sich die Tür wieder geschlossen hatte, fragte Marc: »Ihr habt ei nen Gefangenen? Was hat er verbrochen?« Mit wenigen Worten war alles gesagt, was es zu sagen gab. »Ein Spion der Überschweren …?«, sann der Kommandant der GOR. »Alles spricht gegen ihn«, bestätigte nun auch Kersten. »Aber der Beweis oder ein Geständnis fehlen.« Marc warf Orkos einen Blick zu. Der Akone nickte. »Schafft diesen Spion wieder herbei und überlasst ihn uns!«, sagte der Kommandant. »Wir haben die Mittel, ihn zum Sprechen zu brin 351
gen.« »Wohin sollte er sich schon wenden auf einem sonst unbewohnten Planeten?«, bemerkte Palcot. »Er kann sich in die Berge zurückziehen und dort sein Leben als Einsiedler beenden.« »So viel Zeit haben wir nicht.« Der Akone legte die Stirn in Falten. »Morgen machen wir uns mit einem Gleiter auf die Suche. Wir finden ihn.« »Und was dann?«, fragte Kersten beunruhigt. »Wollen Sie den Mann an Bord Ihres Schiffes verhören?« »Wir werden ihn zu unserem Hauptstützpunkt bringen. Falls er wirk lich ein Spion der Laren oder Überschweren ist, könnten wir wertvolle Dinge in Erfahrung bringen. Machen Sie sich keine Sorgen um sein Wohlergehen – tot nützt er uns nichts.« Der Bürgermeister hatte trotzdem Bedenken. »Sollte er ein Spion sein, dann ist seinen Auftraggebern bekannt, wo er sich aufhält. Wenn er nicht zurückkehrt, werden sie sich bei uns umsehen. Was sollen wir dann sagen?« Marc beugte sich vor. »Die Wahrheit, Kersten, nur die Wahrheit! Wir haben keine Furcht vor den Überschweren, und sie sollen ruhig wissen, dass wir nicht untätig sind.« »Aber sie werden uns bestrafen.« »Wieso denn? Sagt ihnen einfach, der Mann habe frei unter euch ge lebt, und dann seien wir gekommen und hätten ihn mitgenommen.« »Richtig!«, rief Palcot. »Wir sind den Spion los und tragen nicht län ger die Verantwortung für ihn.« »Ich habe keine Einwände mehr«, erklärte Thorn Kersten.
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Ernst Ellert lauschte in die Dunkelheit des provisorischen Kerkers. »Ich glaube, Gorsty, die Wächter sind fort«, stellte er nach einer Weile fest. »Ich kann sie jedenfalls nicht mehr hören.« 352
»Sie stehen schon seit einiger Zeit nicht mehr vor der Tür«, erwiderte der Junge. »Sie wurden abgezogen.« »Eine Falle?« »Das glaube ich nicht. Vielleicht halten sie wieder eine ihrer Ver sammlungen ab.« Ellert hatte es sich abgewöhnt, allein Entscheidungen zu treffen, seit Ashdons Bewusstsein bei ihm war. Der Junge besaß ein gutes Urteils vermögen und war äußerst praktisch veranlagt. Er bedeutete in jeder Situation eine unschätzbare Hilfe. »Sollen wir die Flucht wagen?« »Ich schlage vor, ja«, antwortete Gorsty. Ernst Ellerts Bewusstsein zog sich zurück und überließ dem Jungen die Initiative und den gemeinsamen Körper. Einmal zur Flucht ent schlossen, hantierte Gorsty Ashdon an dem primitiven Schloss, bis es aufschnappte. Jetzt waren wieder Geräusche zu hören. Sie kamen von oben, aus dem Gemeindesaal. Jemand sprach, mehrfach erklang Beifall. Tatsächlich eine Sitzung, dachte Ashdon erleichtert. Sie haben genug mit sich selbst zu tun und werden nicht auf mich … auf uns achten. »Ich übernehme nun wieder, Gorsty, aber zieh dich nicht zurück.« Vorsichtig schlich Ellert durch den Kellergang bis zur Treppe. Seine Augen gewöhnten sich schnell an die Dunkelheit. Die obere Tür war unverschlossen, Gorsty Ashdon musste nicht noch einmal seine Fingerfertigkeit beweisen. Der Lärm aus dem Saal war lauter geworden, eine heftige Diskussion schien entbrannt zu sein. Ernst Ellert war das nur recht. Niemand begegnete ihm, als er das Gemeindehaus verließ und auf die nächtliche Straße hinaustrat. Licht brannte nirgendwo. Kurz darauf näherten sich Schritte. Ellert-Ashdon glitt in den Sicht schutz eines Baumes. Ein Mann eilte dicht an ihm vorbei, ohne ihn zu bemerken, betrat das Gemeindehaus und verschwand auf der nach oben führenden Treppe. 353
»Weiter!«, drängte Ashdon. Sie erreichten den Stadtrand und liefen in nördliche Richtung weiter. Bis zum Morgengrauen musste Ellert-Ashdon eine ausreichende Dis tanz zwischen sich und die Verfolger gebracht haben. Noch vor Sonnenaufgang stieg das Gelände merklich an. Die ersten Sonnenstrahlen erhellten die Berggipfel. Ernst Ellert fand den Eingang zu einem schmalen Tal, das tiefer in das Gebirge führte.
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Marc nahm die Verfolgung des geflohenen Gefangenen mit dem Glei ter auf. Kersten und Palcot begleiteten ihn, da sie die Gegend wie ihre Westentasche kannten. Den ersten Hinweis, dass sich der Flüchtige nach Norden gewendet hatte, fanden sie bereits nach einer Stunde. Auf einem quer durch das Gelände verlaufenden Sandstreifen waren Fußspuren zu erkennen. Schließlich kam das Gebirge in Sicht. Marc landete, und sie setzten die Suche zu Fuß fort. »Hier gibt es Dutzende Täler und Schluchten, die ausgezeichnete Verstecke bieten«, sagte Kersten. »Es wird nicht leicht sein, den Mann aufzuspüren.« Sie brauchten tatsächlich Stunden, bis sie den nächsten Hinweis ent deckten. Zwischen den Dornen eines halb vertrockneten Strauches hing ein winziger Stofffetzen, der nur von dem Flüchtling stammen konnte. Hinter dem Gestrüpp führte ein von Tieren getrampelter Pfad leicht bergauf und mündete schließlich in ein schmales Tal, das in ei niger Entfernung an einer Felswand zu enden schien. »Wenn er wirklich vor uns ist, entkommt er uns nicht mehr«, sagte Marc. »Wartet hier, ich hole den Gleiter.« Geraume Zeit verging, dann landete er mit der Maschine und nahm die beiden Männer wieder an Bord. In sehr geringer Höhe, nur wenig schneller als Schritttempo, flog er weiter. 354
Geröll und Gestrüpp machten das Tal unübersichtlich. Ein kleiner Bach versickerte zwischen Felsblöcken, die aus der Höhe herabgestürzt waren und einen Wall bildeten. Unzählige Höhlen in den Felswänden ließen eine lange Suche be fürchten. Der Kommandant landete wieder. »Einer muss hier zurück bleiben, damit der Flüchtling das Tal nicht verlassen kann«, stellte er fest. »Ich bleibe«, sagte Kersten. »Das Auf und Ab mit dem Gleiter be kommt mir ohnehin nicht.« Er postierte sich auf einer kleinen Anhöhe, von der aus er das Ge lände ringsum gut überblicken konnte.
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Als Ellert den Gleiter sah, wusste er, dass die Verfolger ihn früher oder später finden würden, denn das Tal hatte keinen zweiten Ausgang. Und die Höhlen, an die Gorsty Ashdon ihn erinnerte, konnten die Gefangennahme bestenfalls hinauszögern. Außerdem fragte er sich, woher die Siedler plötzlich den Gleiter hatten, der zudem akonischer Bauart zu sein schien. Ellert-Ashdon suchte sich eine der Höhlen mit besonders engem Eingang als Zuflucht aus. Auf allen vieren kroch er vorwärts, bis das Licht von außen völlig versiegte. Fast gleichzeitig ertastete er, dass es ohnehin nicht mehr weiterging. Es saß in der Falle. »Überlassen wir alles dem Zufall«, schlug Ashdon vor. »Vielleicht achten sie nicht auf den engen Zugang.« Mit dem Rücken an die Felswand gelehnt, lauschte Ellert in die Dunkelheit hinaus. Irgendwann wurden Schritte laut. Jemand näherte sich der Höhle. »Sie ist klein, Marc, aber wir müssen alle durchsuchen«, sagte eine Stimme, die Ellert kannte. Forrest Palcot, vermutete er. »Kriechen Sie hinein? Sie sind schmaler als ich …« 355
Ellerts Faust ließ den Stein wieder los, den er als Waffe benutzen wollte. »Gorsty, auf dieser Welt duzen sich die wenigen Überlebenden«, sagte er in Gedanken. »Wir haben es mit einem Fremden zu tun.« »Wo soll der plötzlich herkommen?« Der Lichtkegel einer Lampe schwankte suchend hin und her, bis der Schein direkt auf Ellerts zusammengekauerten Körper fiel. »Ihr Ausflug ist beendet«, sagte der Fremde. »Kommen Sie freiwillig mit, oder müssen wir Gewalt anwenden?« »Nur keine Mühe«, gab Ellert zurück und kroch an dem Mann vor bei zum Höhlenausgang. Das Erste, was er draußen sah, war Palcots höhnisches Grinsen.
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Im Gleiter sagte Marc seinem Gefangenen offen, wer er war und was er mit ihm vorhatte. Ohne Ellert zu unterbrechen, hörte er sich dessen erfundene Geschichte an. Schließlich schüttelte er den Kopf. »Ich glaube nichts, was nicht bewiesen werden kann. Die Wahrheit werden wir herausfinden, verlassen Sie sich darauf. Und seien Sie froh, dass wir Sie mitnehmen, hier wären Sie Ihres Lebens nicht mehr länger sicher gewesen.« »Ich bin kein Spion! Das ist doch alles Unsinn!« »Umso besser für Sie«, schloss Marc das Thema ab. Sofort nach der Ankunft auf dem Raumhafen brachte der Akone den Gefangenen in das Raumschiff und arrestierte ihn in einer Zelle. Dann hatte es die Besatzung der GOR plötzlich sehr eilig. Der Kom mandant stellte einen baldigen zweiten Besuch in Aussicht und ver sprach eine Ladung energetischer Handwaffen. Wenig später startete der Kugelraumer.
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18.
E
inhundertfünfundachtzig Lichtjahre vom Bedden-System entfernt stand ein kleiner, schwachrot leuchtender Stern, der von zwei un bedeutenden Planeten umkreist wurde, die niemals Leben getragen hät ten und wohl auch niemals Leben tragen würden. Zwischen beiden Welten erstreckte sich ein dichter Gürtel von Trümmerresten eines dritten Himmelskörpers. Seit der Katastrophe mochten Jahrmillionen vergangen sein. Mehr als dreizehntausend Lichtjahre vom Solsystem entfernt hatte dieses kleine Sonnensystem niemals eine besondere Bedeutung erlangt – eine Tatsache, die sich die ehemalige Abwehrorganisation USO zu Nutze gemacht hatte. Überall in der Milchstraße hatte Atlans United Stars Organisation geheime Stützpunkte, Relaisstationen und getarnte Flottenbasen unterhalten, aber heute waren sie meist verlassen. Einige waren sogar in nahe Sonnen gelenkt worden, damit die Laren sie nicht für ihre Zwecke nutzen konnten. Die Station MOSA-Nord 444 war niemals von den Statthaltern des Konzils der Sieben entdeckt worden. Lange Zeit war sie zwar verwaist geblieben, aber dann hatte der Arkonide sich entschlossen, sie für das NEI zu reaktivieren. Seitdem war die Station ständig besetzt. Außer Atlan, Julian Tifflor und einigen Eingeweihten kannte niemand die Koordinaten von MOSA-Nord 444. Energetisch autark, war die Station mit einem Hochleistungstrans mitter ausgerüstet, dessen Reichweite knapp zweihundertfünfzig Licht jahre betrug. Unter normalen Umständen wäre damit die Empfangssta tion auf Stiftermann III leicht zu erreichen gewesen. Aber es herrsch ten keine normalen Umstände. Die beiden NEI-Agenten Ersten Grades, Carol van Dyker und Kor tanger Tak, versahen mit der Robotbesatzung seit rund vier Monaten 357
ihren Dienst in MOSA-Nord 444. Carol van Dyker war fünfunddreißig Jahre alt, in Kosmobiologie und Chemie ausgebildet und in militärischen Belangen nicht unerfah ren. Hinter ihr lagen schon einige erfolgreiche Einsätze. Sie betrachtete den aktuellen Auftrag eigentlich mehr als eine dringend notwendige Ruhepause. Im Gegensatz zu ihrem Partner Kortanger Tak, fünfund fünfzig Jahre alt und Spezialist für Kybernetik und höhere Mathema tik. Er hatte ein bewegtes Leben hinter sich, die Ruhe und Untätigkeit in der einsamen Station behagten ihm gar nicht. Schon deshalb kam es oft zu kleinen Reibereien zwischen ihnen, die aber stets in einer Ver söhnung endeten. Vorräte waren ausreichend vorhanden und wurden zudem bei jeder Ablösung ergänzt. Jetzt, gegen Ende der halbjährigen Dienstzeit, wur den lediglich die Delikatessen und die Getränke rar. Kein Wunder, denn oft genug hatte Versöhnung angestanden. Heute steuerten beide Agenten wieder darauf zu. Carol van Dyker hatte einen schwachen Funkverkehr aus dem Bed den-System aufgefangen, der die Ankunft eines Schiffes ankündigte. Die Nachricht war allerdings verstümmelt und ließ keine Rückschlüsse zu. »Das geht uns nichts an«, knurrte Kortanger Tak, als er die Funkzen trale betrat. »Könnte ebenso gut ein Schiff der Überschweren auf Pat rouille sein.« »Das sind keine Überschweren, Korty. Hör dir die Aufzeichnung an! Es muss sich um ein Schiff der GAVÖK handeln.« »Mit dem Verein haben wir noch weniger zu tun.« »Da bin ich anderer Meinung. Im Grunde ist die GAVÖK unser Verbündeter.« »Bislang haben sich alle nur passiv verhalten.« »Wir etwa nicht? Atlan ist sogar mit Rhodan auf und davon, angeb lich nur, um die Erde zu suchen. Tifflor steht allein da. Fein finde ich das jedenfalls nicht.« 358
Kortanger seufzte. »Fein oder nicht fein, wir haben hier unsere Pflicht zu erfüllen und uns nicht um das zu kümmern, was die auf Stiftermann treiben. – Sonst keine Funksprüche?«, erkundigte er sich. »Ich muss mich um die Anlage Süd kümmern. Da spinnt der Anti grav.« »In Ordnung. Aber du musst mich in zwei Stunden ablösen, Korty.« Er grinste schräg. Wenigstens nannte sie ihn noch Korty. Sobald sie seinen Vornamen ungekürzt aussprach, wurde es mulmig. »Wenn ich bis dahin fertig bin …«, schränkte er ein. »Du bist fertig, Kortanger!«, sagte Carol bestimmt. Tak hatte es plötzlich sehr eilig, in die Anlage Süd überzuwechseln.
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Marc schickte zwei bewaffnete Springer los, um den Gefangenen vor führen zu lassen. Mit Orkos saß er in dem kleinen Konferenzraum und gab sich alle Mühe, gleichmütig auszusehen. Es kam darauf an, den vermeintlichen Spion nicht einzuschüchtern, sondern sein Ver trauen zu gewinnen. Der Mann betrat den Raum. Marc deutete auf den bereitgestellten Stuhl. »Setzen Sie sich. Ihr Name?« »Gorsty Ashdon«, sagte Ellert, der seinen Namen nicht preisgeben wollte. Es gab noch, wie das Beispiel von Gorstys Eltern zeigte, genü gend Menschen, die sich an ihn erinnerten. »Ich protestiere gegen meine Festnahme. Dafür besteht nicht der geringste Grund.« »Wir sind hier, um das herauszufinden«, entgegnete der GAVÖKKommandant ruhig. »Antworten Sie wahrheitsgemäß auf unsere Fra gen, dann sind Sie vielleicht bald wieder ein freier Mann. Die Men schen auf Stiftermann III werfen Ihnen vor, ein Spion der Laren oder Überschweren zu sein. Stimmt das?« »Der Verdacht ist unsinnig. Ich bin kein Spion!« »Können Sie das beweisen?« 359
»Ebenso wenig, wie Sie Ihren Verdacht beweisen können.« »Das stimmt, leider. Aber wir werden das natürlich nachprüfen kön nen, Ashdon. Wir bringen Sie zu unserem Hauptplaneten. Dort ver fügen wir über ausgezeichnete Methoden, die Wahrheit herauszufin den.« Ellert zögerte. Er wollte die Leute von der GAVÖK nicht unnötig herausfordern, denn im Grunde genommen verfolgten sie die gleichen Ziele wie die Terraner in der Provcon-Faust. Aber er verspürte auch keine Lust, sich einer peinlichen Befragung unterziehen zu lassen. Die Wahrheit klang noch unglaublicher als alle Lügen, die er erfinden konnte. Kein Wort würde man glauben und ihm bestenfalls einen posthypnotischen Zwang unterstellen. »Ich wurde auf Stiftermann III von meinen Freunden zurückgelas sen«, wiederholte Ellert-Ashdon. »Sie fürchteten wohl, entdeckt zu wer den.« »Sie kennen das Versteck der Menschheit, das NEI?« »Das werde ich Ihnen nie verraten.« »Abwarten! Verstehen Sie doch, wir sind keine Gegner des NEI, wir haben den Terranern sogar gewisse Vorschläge zu unterbreiten.« »Ich weiß: Widerstand und Krieg gegen die Invasoren. Warum war ten Sie nicht den günstigsten Zeitpunkt dafür ab?« »Der ist jetzt gekommen. Aber worüber diskutieren wir eigentlich? Es geht nur darum, ob Sie ein Spion der Gegenseite sind oder nicht. Das müssen wir klären, nicht strategische Fragen erörtern.« Orkos beugte sich vor. Sein Blick schien sich in Ellerts Augen boh ren zu wollen. »Was haben Ihnen die Überschweren geboten? Wir geben Ihnen das Doppelte.« »Das Doppelte von nichts ist nichts«, sagte Ellert, der sich zurück zog und Gorsty Ashdons Bewusstsein das Feld überließ. »Sie sind hartnäckig! Was halten Sie von einer Hungerkur?« »Ich bin ohnehin ein wenig zu dick«, gestand Ellert-Ashdon. »Das Scherzen wird Ihnen bald vergehen«, warnte der Akone. 360
»Seien Sie unbesorgt«, versuchte der Kommandant zu vermitteln. »Bis wir unseren Stützpunkt erreichen, bleiben Sie unbehelligt. Sie be harren also auf Ihrer Version der Dinge?« »Es besteht kein Grund, sie zu ändern.« Marc betätigte einen Signalgeber. »Sollten Sie es sich anders überle gen, sagen Sie der Wache vor Ihrer Zelle Bescheid. Sie werden dann so fort zu mir geleitet.« Die beiden Springer traten ein und brachten Ellert-Ashdon in die Gefängniszelle zurück. Er setzte sich auf das Bett. »Was hältst du diesmal von dem Schloss, Gorsty? Es wird nicht so einfach wie auf Stiftermann sein, fürchte ich.« »Aber es ist nicht unmöglich. Ich frage mich nur, was wir tun sollen, wenn wir hier raus sind …« »Außerdem wirst du das Schloss kaum öffnen können, ohne dass die Wachen es bemerken.« »Wenn schon. Dann lassen wir sie eben selbst öffnen …« Ernst Ellert verstand sofort, was der Junge meinte. »Und wann?«, fragte er. »Sobald die Zeit reif ist«, gab Gorsty zurück.
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Die GOR überwand mit einer kurzen Linearetappe neunzig Lichtjahre und fiel in den Normalraum zurück. Die Fernortung stellte in einiger Entfernung ein fremdes Objekt fest, das sich als antriebslos im freien Fall befindliches Raumschiff entpuppte. »Unbekannter Typ. Die Überschweren haben so etwas nie gebaut.« Der Kommandant nickte zustimmend. »Fast ovale Form. Länge gut zweihundert Meter.« »Man kann Bug und Heck nicht unterscheiden«, stellte Marc fest. »Ich sehe nichts von einem Antriebssystem.« »Und ich entdecke keine Anzeichen einer Bewaffnung«, sagte der 361
Akone. »Schauen wir es uns an?« »Natürlich«, antwortete Marc. »Vielleicht haben wir einen poten ziellen neuen Verbündeten vor uns.« Mit aller Vorsicht näherte sich die GOR dem anderen Schiff. Die nächste Sonne stand knapp zwei Lichtjahre entfernt. Der Kurs des ova len Schiffes ließ sich vorausberechnen, und er war bereits von dem Schwerkraftfeld des nahen Sterns abgelenkt worden. Der Kommandant, Orkos und Rüyjin machten sich zum Übersetzen fertig. »Sieht verlassen aus«, stellte der Blue fest, als sie auf der Hülle des ovalen Schiffes standen. Er schaffte es, das Außenschott einer kleinen Schleuse ohne Schwierigkeiten zu öffnen. In dem Schiff – oder handelte es sich um eine Station im interstel laren Raum? – gab es keine Atmosphäre mehr. Es war von seiner Besat zung verlassen. Oder waren die beiden Toten, die seit unbestimmter Zeit hier warteten, die Einzigen an Bord gewesen? Diese Wesen waren nicht humanoid, und keiner der drei Galaktiker hatte Angehörige die ses Volkes schon einmal gesehen. Den Kommandanten erinnerten sie an insektenähnliche Tiere, die er irgendwann auf Reproduktionen terranischer Bilder zu Gesicht bekom men hatte. Nur waren die Toten komplizierter gebaut und mit hervor ragenden Greifwerkzeugen ausgestattet. Wenn sie eine Kleidung getra gen hatten, so war nichts mehr davon vorhanden. »Wer mögen sie ge wesen sein?«, fragte er beklommen. Orkos zuckte mit den Schultern, eine Geste, die er sich während sei ner langen Bekanntschaft mit dem Terraner angewöhnt hatte. »Viel leicht finden wir Aufzeichnungen. Ich jedenfalls behaupte, dass Ako nen diesem Volk niemals begegnet sind.« »Die Galaxis ist groß«, zirpte Rüyjin ausdruckslos. »Vielleicht wissen nicht einmal die Laren, dass dieses Volk existiert – oder einst existier te.« Sie fanden nichts, was Aufschluss gegeben hätte, weder einen Hin 362
weis auf den Ursprung des Schiffes und seiner Besatzung noch auf die technische Natur des Antriebs, der hinter versiegelten Räumen verbor gen lag. »Wenn wir keine wichtigeren Aufgaben hätten, würde ich vorschla gen, dieses Schiff zum nächsten Stützpunkt zu bringen«, sagte Orkos. »Wir können zumindest Koordinaten und Kurs speichern!«, riet Rüyjin. »Das werden wir«, stimmte Marc zu. »Falls sich die Gelegenheit für eine spätere Inspektion ergibt. Ansonsten schlage ich vor, den toten Unbekannten ihren Frieden zu lassen. Sie werden mit ihrem Schiff irgendwann in eine Sonne stürzen. Gäbe es ein würdigeres Grab als einen Stern?« Rüyjin schloss die Schleuse sorgfältig, als sie zur GOR zurückkehr ten. Das Totenschiff war noch eine Weile auf den Schirmen zu sehen, ehe es zwischen den Sternen verschwand.
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Ein zweites Verhör verlief ebenso ergebnislos wie das erste. »Es ist gut, dass die Kabine des Kommandanten und unser Gefäng nis so weit auseinander liegen«, bemerkte Gorsty, als die Wachen El lert-Ashdon zur Zelle zurückführten. »Ich kenne nun das halbe Schiff. Es dürfte mir nicht schwer fallen, mit Antrieb und Navigation fertig zu werden.« »Wir werden bald handeln müssen«, gab Ernst Ellert ebenso lautlos zurück. »Sobald das Schiff sein Ziel erreicht, dürfte es für uns zu spät sein. Wir wollen nach Gäa. Und wenn schon Kontakt mit der GA VÖK, dann wenigstens nicht als Gefangener.« Ellert hatte genug Vertrauen zu dem Jungen, dessen technisches Ge nie er neidlos anerkannte. Es gab nur einen Punkt, in dem Gorsty ihm unterlegen war: Er besaß nicht seine, Ellerts, Erfahrung. Ernst Ellert überließ Gorsty den Körper, ohne die Kontrolle aber 363
völlig aufzugeben. Wenn es nötig wurde, konnte er jederzeit eingreifen. Die Besatzung der GOR schien nicht sehr groß zu sein, denn nur einmal begegneten ihnen zwei Blues und ein Ara, die aber kaum von den beiden Wächtern und ihrem Gefangenen Notiz nahmen. Als der eine Springer die Zellentür öffnete, sagte Gorsty: »Ich brachte dem Kommandanten eine Beschwerde vor. Es wäre gut, Sie würden sich in meinem Gefängnis umsehen … Ja, Sie beide, damit nicht einer gegen den anderen aussagen kann.« Die Mienen der Springer verrieten Überraschung. »Eine Beschwerde? Worüber haben Sie sich beschwert?« Ellert-Ashdon deutete auf die Tür. »Sehen Sie selbst!« Einer der Springer legte die Hand auf den Griff seines Kombistrah lers und ging voran. Der andere ließ dem Gefangenen den Vortritt und folgte als Letzter. Sie blickten sich suchend um, aber ehe einer nachfragen konnte, handelte Ellert-Ashdon. Mit einem harten Handkantenschlag setzte er den ersten Wärter außer Gefecht und ergriff blitzschnell die zur Waffe zuckende Hand des anderen. Er entriss dem Springer den Strahler, während gleichzeitig seine Faust genau auf die Kinnspitze des Über raschten traf. Der Springer ging zu Boden. Ellert-Ashdon justierte die erbeutete Waffe auf Paralysemodus und schaltete die Springer mit zwei Schüssen für die nächsten drei Stunden aus. »Wann werden sie abgelöst?«, fragte Ernst Ellert. »In etwa zwei Stunden, aber die Ablösung wird nicht kommen.« »Was hast du vor?« Über das gemeinsame Gesicht huschte ein Grinsen, es stammte von Gorstys Bewusstsein. »Wir übernehmen das Schiff«, sagte der Junge überzeugt. »Nicht weit von hier liegen die Vorratsräume mit Ersatzteil lager und Ausrüstung. Außerdem kamen wir zweimal an der Zentrale der Klimaanlage vorbei, mehr haben wir vorerst nicht nötig.« Ellert-Ashdon nahm dem zweiten Springer die Waffe ab. Eine schob 364
er hinter seinen Gürtel, die andere behielt er entsichert in der Hand. Vorsichtig öffnete er das Türschott und schaute auf den Korridor hin aus. Niemand war zu sehen oder zu hören. Gorsty hatte sich den Weg genau eingeprägt. Der Kodechip, den er einem der Springer abgenommen hatte, öffnete auch die Lagerräume. »Wie sollen wir hier das Richtige finden?«, flüsterte Ellert erschro cken, als er die zahllosen Nischen und Regale sah, die bis zum Rand gefüllt waren. »Da brauchen wir Tage, bis wir durch sind.« Komprimiertes Gas wurde natürlich nicht in Kisten aufbewahrt. Da zu gehörten Druckflaschen und Ähnliches. Sie fanden ein ganzes Lager mit Druckbehältern, konnten aber mit den Bezeichnungen nichts an fangen. »Wir brauchen Narkosegas!«, sagte Gorsty eindringlich. »Jeder Irrtum wäre tödlich für die Besatzung. Ob unsere Springer mehr wissen als wir?« »Sie sind bewusstlos«, erinnerte Ellert. »Dann fragen wir eben den Kommandanten«, entschied Gorsty. »Bist du verrückt geworden?« »Warte doch ab, mein Freund! Sieh hier, es gibt nur drei verschie dene Bezeichnungen auf den Flaschen. Also bringen wir von jedem Behälter einen zum Lebenserhaltungssystem. Dann erkundigen wir uns über Interkom, welche Sorte von der Mannschaft bevorzugt wird. So einfach ist das.« Ellert schüttelte den Kopf, ohne dass Gorsty es verhindert hätte. »So einfach ist es eben nicht. Sobald der Kommandant gewarnt ist, ergreift er Gegenmaßnahmen. Er wird der Besatzung befehlen, Gasmasken oder Raumanzüge anzulegen.« »Dazu bleibt ihm keine Zeit, denn er wird von uns nur fünf Sekun den zum Überlegen erhalten. Wenn er sich in dieser Frist nicht ent scheiden kann, öffnen wir eine der drei Flaschen, egal welche. Das Gas ist innerhalb von zwei Minuten im Schiff verteilt. In so kurzer Zeit kann niemand den Raumanzug anlegen, es sei denn, er braucht nur 365
noch den Helm zu schließen.« »Und wir?«, fragte Ellert. »Dort drüben liegen Atemmasken. Wir sind also versorgt.« Hundertprozentig überzeugt war Ellert nicht, aber das Überra schungsmoment war auf ihrer Seite, und das bedeutete einen unschätz baren Vorteil. Der Körper, den ES ihnen zur Verfügung gestellt hatte, war kräftig. Er nahm gleich zwei der schweren Flaschen unter die Arme und lief los. Die zentrale Klimaanlage lag auf gleicher Ebene, knapp vierzig Meter entfernt. Beidseits zweigten Korridore zu anderen Sektionen ab. Ohne Zwischenfall schaffte Ellert-Ashdon die Flaschen in den Zentralraum und kehrte sofort um, um die dritte und eine Atemmaske zu holen. Er verriegelte das Türschott zu dem Lagerraum und machte sich auf den Rückweg. In dem Moment näherten sich Schritte. Für eine Umkehr war es zu spät, und ein Seitengang, in den er sich hätte zurückziehen können, war nicht in unmittelbarer Nähe. Also ging Ellert einfach weiter, als gehöre er zur Besatzung. Die wenigsten hatten ihn zu Gesicht bekommen, und da es sich um eine gemischte Mannschaft handelte, bestand durchaus die Möglichkeit, dass niemand so schnell auf ihn achtete. Ein Blue kam in Sicht. In einer seiner siebenfingrigen Hände hielt er ein technisches Gerät. Ellert nickte ihm freundlich zu und ging an ihm vorbei. Hinter sich hörte er die Schritte des Blues verklingen, der das Nicken mit seinem Tellerkopf erwidert hatte. »Na also!«, bemerkte Gorsty Ashdon zufrieden. »Gleich haben wir es geschafft.« »Wird auch Zeit«, gab Ellert erleichtert zurück. Er verschloss die Kli mazentrale und stellte die Flaschen griffbereit. Auch er würde sich in Sekundenschnelle entscheiden müssen, welche zu öffnen war. Gorsty übernahm wieder den Körper und hantierte an der Ventila tionsanlage, die er eine Weile studiert hatte. Werkzeug für die Wartung 366
fand er in einem Fach. Geschickt öffnete er die Klappe zur Verteiler kammer, ohne den Luftstrom zu unterbrechen. »Alles klar. Wir brauchen die entsprechende Flasche nur zu öffnen und hineinzuschieben. Der Rest geschieht von allein.« »Soll ich mit dem Kommandanten sprechen?«, wollte Ellert wissen. »Gut, das überlasse ich dir«, antwortete der Junge. »Du musst dich kurz fassen, damit ihm keine Zeit zum Überlegen bleibt. Alles muss sehr schnell gehen, sonst überrumpeln sie uns im Handumdrehen.« Ellert überzeugte sich noch einmal davon, dass die Sicherheitskap pen der Flaschen abgeschraubt waren. Ein Knopfdruck genügte, um das Gas ausströmen zu lassen – welches auch immer. Dann schaltete er den Interkom ein. Erst nach einigen Sekunden erschien das Gesicht des Akonen, der beim Verhör dabei gewesen war. Schlagartig veränderte sich seine Mi mik, als er den Anrufer erkannte. »Sie …?« »Ich nehme an, Sie vertreten den Kommandanten und haben ent sprechende Vollmachten. Ich habe die Zentrale der Luftversorgung be setzt. Hier stehen drei Druckbehälter mit unterschiedlichen Bezeich nungen. In fünf Sekunden werde ich einen davon öffnen und das Gas in die Anlage strömen lassen. Ich will Sie nicht töten, also nennen Sie mir die Bezeichnung für das Narkosegas. Wenn nicht, nehme ich wahl los eine der Flaschen. Fünf Sekunden – ab jetzt!« »Fünf…«, stammelte der Akone. Er wirkte wie gelähmt. »Aber…« Ellert-Ashdon griff nach einer der Flaschen. Er sah, wie sich die Au gen des Akonen weiteten, als er die Beschriftung erkannte. »Nein!«, hallte es aus dem Lautsprecherfeld. Ellert setzte die Flasche ab und nahm die nächste. Es erfolgte kein Protest mehr, aber auch keine Aufklärung. Das Gesicht des Akonen war verschwunden. »Schnell!«, riet Gorsty. »Das muss die richtige sein!« Ellert schob die Flasche halb in die Öffnung der Verteilerkammer, 367
öffnete das Ventil und setzte die Atemmaske auf. Er zog beide Strahl waffen und richtete sein Augenmerk auf den Interkom und die Tür gleichzeitig. »Sie sind verrückt!«, erklang es in dem Moment aus der Übertra gung. Der Kommandant hatte es tatsächlich noch rechtzeitig bis in die Hauptzentrale geschafft. Sein Gesicht drückte undefinierbare Emotio nen aus. »Niemand kann ein Schiff wie die GOR allein manövrieren.« »Ich schon! Wie ist die Luft bei Ihnen?« »Was wollen Sie eigentlich erreichen? Wir haben Sie gut behandelt. Auf Stiftermann hätte man Sie früher oder später umgebracht.« Die Stimme des Kommandanten wurde heiser. Er presste sich ein Tuch auf Mund und Nase. Auf den Gedanken, die Luftzufuhr zu sperren, war er noch nicht gekommen. Im Hintergrund der Bildübertragung erschien wieder der Akone. Mit beiden Händen hielt er sich an einem Kontursessel vor den Kontrollen fest, dann sackte er zeitlupenhaft langsam in sich zusammen. Der Kommandant krächzte ein Kommando, das Ellert nicht ver stand. Allerdings konnte er sehen, wie sich nun das Gitter der Klima anlage schloss. Dann erlosch die Übertragung. Gorsty übernahm wieder und stellte nacheinander Verbindungen zu allen Schaltstellen des Interkoms her. Er sah nur außer Gefecht gesetz te Besatzungsmitglieder. »Ich denke, wir haben es geschafft«, sagte der Junge zufrieden und schaltete ab. »Aber wir dürfen die Möglichkeit nicht außer Acht las sen, dass jemand verschont blieb. Es gibt so dumme Zufälle.«
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Als der Kommandant die beginnende Lähmung spürte, wusste er, dass er seinen Gefangenen unterschätzt hatte. Immerhin hatte Orkos ver hindern können, dass Ashdon Giftgas in die Ventilation brachte. Die Tatsache, dass der Entflohene sie nicht zu töten beabsichtigte, beruhig te ihn. Aber er wusste auch, dass nun alle seiner Willkür ausgeliefert waren. Ein einzelner Mann, davon war Marc überzeugt, konnte das Schiff nicht unter Kontrolle halten. Der Gefangene würde also Hilfe benöti gen. Das war die Chance, die ihm selbst und seiner Besatzung blieb. Es war genug Gas in die Zentrale gedrungen, um alle bewegungsun fähig und zum größten Teil sogar bewusstlos werden zu lassen. Marc kämpfte dagegen an und atmete so flach wie möglich, als er auf dem Boden lag. Seine Augen waren auf das Hauptschott gerichtet, das sich zweifellos in Kürze öffnen würde. Sprechen konnte er nicht mehr, wohl aber denken. Er balancierte nur am Rand der Bewusstlosigkeit, ohne die Grenze zu überschreiten. Dann kam Ashdon in den Raum, in jeder Hand einen Strahler. »Wir haben es geschafft, Gorsty«, sagte er. »Allerdings wird es besser sein, wir geben ihnen noch eine Dosis Narkosestrahlen, damit wir wenigs tens ein paar Stunden in Ruhe arbeiten können. Was meinst du?« »Ganz deiner Meinung«, antwortete dieselbe Stimme. »Wir können nicht vorsichtig genug sein.« Er spricht mit sich selbst, benutzt aber zwei verschiedene Namen, erkannte der Kommandant verwirrt. Und er spricht in der Mehrzahl… Ashdon bestrich die Zentrale mit schwach eingestelltem Paralysemo dus, und diesmal erwischte es auch den Kommandanten.
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»Wirst du klug daraus, Gorsty?« Ernst Ellert deutete auf die Schalt bänke und Kontrollsysteme. »Ich habe nur eine schwache Erinnerung an die Technik der Akonen. Hoffentlich weißt du mehr darüber.« »Das ist kein Problem. Fast alles arbeitet automatisch, sobald die richtige Programmierung ausgewählt ist.« Ellert-Ashdon wuchtete einen Akonen aus dem Pilotensessel und ließ ihn sanft zu Boden gleiten. »Eine Linearetappe wurde bereits programmiert. Ich breche den Vor gang ab und lasse eine neue Berechnung laufen. Wohin wenden wir uns?« »Wo sind die Sternkarten?« Der Navigationsraum grenzte an die Kommandozentrale an. Ellert versuchte, sich in dem Sektor zurechtzufinden, in dem sie sich aufhiel ten. Der Standort des Schiffes wurde durch eine Markierung in der dreidimensionalen Projektion wiedergegeben. »Die Provcon-Faust – wo soll sie sein?« »Das scheint niemand zu wissen.« Ernst Ellert versuchte, sich zu erinnern. Was für die USO streng ge heim gewesen war, hatte nie für ihn gegolten. Die Frage war nur, ob diese Stützpunkte heute noch besetzt waren. »Es existierte eine Station, knapp hundertfünfzig Lichtjahre entfernt. Im Koppner-System. Sie muss …«, er markierte eine neue Position in der Wiedergabe, »etwa hier sein.« »Etwa …?« »Das System stimmt schon, aber die Station ist getarnt. Ohne Funk kontakt würden wir sie niemals finden, nicht in hundert Jahren.« »Was schlägst du vor?« Ellert freute sich, von dem Jungen um Rat gefragt zu werden. »Wir programmieren den Flug ins Koppner-System und funken dort auf Normalfrequenz. Nur lichtschnell. Wenn die Station besetzt ist, erhal ten wir eine Antwort.« Wenig später glitt die GOR in den Linearraum. 370
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Das große Rundumholo der Station MOSA-Nord 444 zeigte das üb liche Panorama. Die Menschen Mitte des vierten Jahrtausends waren diesen Anblick gewohnt, sie alle waren den Sternen und damit der Ewigkeit längst ein Stück näher gerückt. Carol van Dyker war innerlich davon überzeugt, in dieser Hinsicht eine Ausnahme zu sein. Sie liebte die einsamen Stunden der Wache in der Kontrollzentrale, wenn Kortanger Tak in seiner Kabine schlief und sie nicht störte. Auf dem Holoschirm waren die Asteroiden deutlich zu erkennen, wenn sie von der kleinen Sonne angeleuchtet wurden. Dann schimmer ten auch sie in einem schwachen Rot, als würden sie von innen heraus glühen. Einige waren schneller als die Station und zogen langsam vorüber, andere folgten auf Parallelkurs. Die Gefahr einer zufälligen Kollision wurde durch Abstoßfelder vermieden. In jedem Koppner-Jahr geriet die Station einmal in eine Region dicht gedrängter Staubpartikel, dann wurde das Sonnenlicht millionenfach gebrochen und abgelenkt. Um die Station herum entstand ein farben prächtiges Meer halbtransparenter Materie, das für einige Tage ihr stän diger Begleiter blieb, bevor sich das Naturschauspiel wieder verflüch tigte. Carol van Dyker hatte die Aufzeichnungen gesehen und bedauerte, dass sich MOSA-Nord 444 erst in vier Monaten wieder dieser Zone näherte. Ihre Ablösung würde schon nach der halben Zeit eintreffen. Mit dem Raffersystem überprüfte sie alle während der letzten vier undzwanzig Stunden aufgefangenen Funkmeldungen. Zweimal ertönte der vertraute Ton, der Eingangsaktivität anzeigte. Routinemäßig fand Carol die betreffenden Positionen und ließ sie ablaufen. Der Taster hatte tadellos gearbeitet, denn der Sender funkte auf einer nicht ge bräuchlichen Frequenz. Außerdem – und nun wurde die Agentin un 371
gewöhnlich munter – sendete er mit Normalfunk. Die Sendung war demnach jahre- oder jahrhundertealt, oder sie war innerhalb des Koppner-Systems abgestrahlt worden. Anfangs hörte Carol nur ein Rauschen, erst nach wenigen Sekunden erklang eine Stimme in bestem Interkosmo. Es war eine Stimme, die ihr nicht besonders gefiel, denn sie klang ein wenig rau und emotions los. Die Worte passten einfach nicht zu diesem Klang. »Ich rufe die USO-Station MOSA-Nord 444 des ehemaligen Solaren Imperiums und bitte um genaue Positionsangabe. Weitere Informatio nen folgen, sobald Sie sich melden. Ich wiederhole …« Der Text wurde zweimal wiederholt. Carol van Dyker musste zu geben, dass sie vorübergehend ratlos war. Die Informationen, die ihr und Kortanger zur Verfügung standen, besagten eindeutig, dass die Sta tion geheim war. Niemand außer wenigen Eingeweihten kannte sie. Aber nun erschien jemand in diesem Sonnensystem und wusste von MOSA-Nord 444 … Er kannte lediglich den derzeitigen Standort in nerhalb des Asteroidengürtels nicht. Aber er würde ihn bei gründlicher Suche finden. Carol entschloss sich, Kortanger zu Rate zu ziehen. Die Zeitkontrol le hatte ergeben, dass der erste Funkspruch vier und der zweite eine Stunde alt war. Sie weckte Kortanger Tak, der nur unwillig brummte und versprach, in wenigen Minuten bei ihr zu sein. Als er mit verschla fenem Gesicht erschien, ließ er Carol erst gar nicht zu Wort kommen. »Ich hatte den schönsten Traum meines Lebens! Eine außerordent lich hübsche Frau, dir nicht unähnlich, forderte mich auf …« »Lass den Unsinn, Korty! Ich habe einen Funkspruch aufgefangen.« »Das passiert jeden Tag. Was soll daran besonders sein?« Er setzte sich und blickte suchend auf die Apparaturen. »Normalfunk, Korty, und nicht älter als wenige Stunden.« Er begriff sofort. Carol spielte ihm die Aufnahmen vor. »Es kann sich um ein terranisches Schiff in Not handeln, aber ich frage mich, woher die Besatzung von unserer Station weiß«, pflichtete 372
Kortanger Tak seiner Kollegin bei. »Wir müssen auf jeden Fall antwor ten und eine Identifikation anfordern.« »Dann können sie uns anpeilen.« Tak zögerte kurz. »Das Risiko gehen wir ein!«, entschied er.
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Das Konzept hatte mehrere Stunden geschlafen. Natürlich benötigte nur der Körper Ruhe, nicht die beiden Bewusstseine. Für sie gab es keinen Schlaf, höchstens etwas, das ein normaler Verstand mit Ruhe umschrieben hätte. Obwohl der Körper fest schlief, lauschten Ellert und Ashdon auf je des Geräusch im Funkempfang. Bislang war die erhoffte Antwort nicht eingetroffen. »Vielleicht gibt es diese Station nicht mehr«, vermutete Gorsty Ash don. »Abwarten!«, riet Ellert. »Die Besatzung muss zwangsläufig misstrau isch sein. Sobald sich jemand meldet, gebe ich mehr Informationen. Einer wird sich schon an meinen Namen erinnern.« »Solange es sich vermeiden lässt, würde ich es nicht tun.« Natürlich hat Gorsty Recht, dachte Ellert. Man soll nicht immer gleich mit der Tür ins Haus fallen. Die Crew der GOR war versorgt. Nach der neuerlichen Paralyse wür den alle mindestens weitere fünf bis sechs Stunden schlafen. Ein Signal leuchtete auf. »Sie antworten!«, rief Gorsty und weckte den gemeinsamen Körper auf. Gähnend fuhr er fort: »Aufzeichnen!« Eine angenehme weibliche Stimme war zu vernehmen. Sie entlockte dem jungen Gorsty einen gedanklichen Pfiff, den Ellert vergnügt zur Kenntnis nahm. »Station MOSA-Nord hat Ihre Aufforderung erhalten und bittet um nähere Informationen vor Bekanntgabe der Position. Geben Sie das 373
vereinbarte Kodewort durch!« Ellert antwortete: »Kodewort auf Grund besonderer Umstände nicht bekannt. Ich bin Terraner und Freund des NEI. Name: Gorsty Ash don. Mein Schiff ist die GOR von der GAVÖK. Ich habe es gekapert. Benötige Unterstützung.« Es dauerte mehrere Minuten, bis die Antwort eintraf. »Informatio nen ungenügend. Sind Sie allein an Bord?« »Die Besatzung liegt im Narkoseschlaf. Ich schalte den Interkom auf Hangar Drei, Sie können sich überzeugen.« Ellert-Ashdon nahm die notwendige Schaltung vor und überspielte das empfangene Bild auf Normalfunk. Kurz darauf kam die Bestäti gung und Feststellung: »Das kann ein Trick sein. Senden Sie mir Ihr Bild!« Ellert tat der Unbekannten den Gefallen und hoffte, dass sein ge borgtes Gesicht keinen zu schlechten Eindruck hinterließ. Es war nicht seine Schuld, dass ES ihm keine Schönheit zur Verfügung gestellt hat te. »Immerhin, ein Terraner«, sendete MOSA-Nord 444. »Wo stehen Sie mit Ihrem Schiff?« Ellert gab die Position durch. Die weibliche Stimme wurde eine Spur freundlicher. »Ich nenne Ihnen die Koordinaten. Die Entfernung beträgt fünfzig Lichtminuten. Wir erwarten Sie in eineinhalb Stunden. Stoppen Sie in fünf Kilome tern Distanz und melden Sie sich wieder.« »Einverstanden … und danke.« Ellert lehnte sich zurück und fragte: »Nun, Gorsty, wie haben wir das gemacht?« »Gut, was sonst? Lass mich wieder übernehmen.« Die GOR beschleunigte und näherte sich schnell der angegebenen Position. Die Ortung erfasste zwar Dutzende Asteroiden, von denen jeder die getarnte Station sein konnte, aber nur eine einzige ziemlich starke Energieabstrahlung. Die Zielpeilung ließ einen kleinen Felsbro 374
cken mit zerklüfteter Oberfläche erscheinen, um den herum sich so eben ein Schutzschirm aufbaute. Sie hatten MOSA-Nord 444 gefun den.
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»Ein Kugelraumer akonischer Bauart«, bestätigte Kortanger ruhig. »Gib dem Burschen unsere Bedingungen bekannt. Er soll ruhig denken, du wärest allein in der Station.« Carol lächelte flüchtig. »Hören Sie mich, Ashdon?« »Klar und deutlich.« »Dann verankern Sie Ihr Schiff in der momentanen Umlaufbahn und kommen Sie im Raumanzug herüber. Ohne Waffen, das ist Vor aussetzung! Meine Detektoren sind unbestechlich, und ich habe An weisung, einem Fremden nur im Notfall Zutritt zu gewähren.« »Dies ist ein Notfall!« »Nehmen Sie die Bedingung an?« »Habe ich eine andere Wahl?« »Nein!«
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Ernst Ellert legte die beiden Kombistrahler ab und erhob sich. Für den Kommandanten Marc hinterließ er für den Fall, dass dieser frühzeitig wieder zu sich kommen sollte, eine Nachricht mit der Aufforderung, den verschwundenen Gefangenen schnell zu vergessen und das System sofort zu verlassen, ohne weiter nach ihm zu suchen. Danach legte er einen Raumanzug an und verließ das Schiff. Der Schutzschirm der Asteroiden-Station erlosch. Ein grelles Licht markierte die Zugangsschleuse. Ellert testete das Tornisteraggregat des Anzugs, ehe er sich abstieß 375
und mit schwachem Schub zur Station hinüberschwebte. Plötzlich hatte er das Gefühl, wieder körperlos zu sein, frei von allen Beschwer nissen und weit entfernt von jeder Gefahr, die alles Materielle ständig bedrohte. Aber schon spürte er die geringe Anziehungskraft des Asteroiden und wurde sich wieder bewusst. dass er an einen Körper gefesselt war und sich nicht wirklich frei nennen durfte. Er fragte sich, ob er auch seine Unsterblichkeit verloren hatte oder ob er weiterexistieren würde, wenn sein jetziger Körper vernichtet wurde. Es gab keine Antwort da rauf, und freiwillig würde er sie auch nicht suchen. »Denk nicht so viel nach!«, riet Gorsty. Der Asteroid wurde größer. Gegen das erleuchtete Viereck der Schleuse hob sich die Gestalt eines Menschen im Raumanzug ab. Ellert-Ashdon landete direkt in der Schleusenkammer. Das Außen schott schloss sich hinter ihm, und Luft strömte ein. Der Unbekannte, der ihn empfangen hatte, öffnete den Helm. Das Gesicht eines Man nes blickte ihm entgegen. Es war nicht unsympathisch und verriet eine gehörige Portion Neugier. Ellert-Ashdon öffnete ebenfalls seinen Helm und entledigte sich ohne besondere Aufforderung seines Anzugs, um zu zeigen, dass er waffenlos gekommen war. »Mein Name ist Kortanger Tak«, sagte der andere. »Über Funk spra chen Sie mit Carol van Dyker. Und Sie dürften Ashdon sein. Folgen Sie mir!« »Danke«, war alles, was Ellert-Ashdon erwiderte. Auf dem Weg zur Zentrale erklärte Kortanger: »Van Dyker und ich sind NEI-Agenten mit besonderen Vollmachten. Nur diesem Umstand haben Sie es zu verdanken, dass wir auf Ihren Funkspruch reagierten. Jeder gewöhnliche Agent wäre dazu nicht befugt gewesen. Ich denke, Sie sind uns einige Informationen schuldig.« »Das denke ich ebenfalls«, gab Ellert zu. Carol erhob sich, als die beiden Männer eintraten. Sie streckte El 376
lert-Ashdon die Hand entgegen. »Wir kennen uns ja schon, Mister Ashdon. Und nun berichten Sie, was vorgefallen ist. Haben Sie Hun ger?« »Durst und Hunger, ehrlich gesagt.« Ernst Ellert erzählte seine Geschichte, ohne bei der Wahrheit zu blei ben. Er verschwieg die Existenz von Ashdons Bewusstsein in dem Kör per, der auch nicht sein eigener war. Immer deutlicher spürte er den Unglauben und die Skepsis der beiden Agenten. »Haben Sie eine ständige Hyperfunkverbindung zum NEI, zu Julian Tifflor?«, fragte er deshalb. »Das werden wir Ihnen nicht auf die Nase binden«, sagte Kortanger Tak unwillig. »Natürlich ist das geheim.« Ellert-Ashdon nickte. »Trotzdem bitte ich Sie, eine Nachricht an Tifflor abzustrahlen und ihm meine An kunft zu melden. Es ist außerordentlich wichtig.« »Ich habe den Namen Gorsty Ashdon nie gehört«, wandte Carol van Dyker ein. »Dabei habe ich ein ungemein gutes Gedächtnis.« »Also gut«, bequemte sich Ellert zu einem Geständnis, da er keinen anderen Ausweg mehr sah. »Dann muss ich Ihnen Dinge mitteilen, die sicherlich noch wichtiger und geheimer als diese Station sind. Julian Tifflor wird Sie, wenn er davon erfährt, zu strengstem Stillschweigen verpflichten.« »Das müssen wir dann wohl auf uns nehmen«, sagte Carol kühl und gelassen. »Erfahren wir jetzt, was Sie hartnäckig verschwiegen haben…?« »Ist Ihnen der Name Ernst Ellert bekannt?« Kortanger schüttelte den Kopf. Carol van Dyker hingegen schaute ihr Gegenüber forschend an und schien nachzudenken. »Der Name wird in den Geschichtsarchiven erwähnt, in Verbindung mit merkwür digen und rätselhaften Zusammenhängen, die nicht näher erläutert werden«, sagte sie überlegend. »Aber was hat Ihre Geschichte mit je nem Phantom Ellert zu tun?« »Ich bin dieser Ernst Ellert!« 377
Ihre Augen öffneten sich weit, dann wurden sie zu schmalen Schlit zen. »Ach ja …? Und warum nannten Sie sich zuerst Ashdon?« »Aus vielen Gründen. Ich nahm einen Namen, den niemand kennt und der für Sie ohne Bedeutung sein musste. Aber ich gebe Ihnen mein Wort, dass ich diesmal die Wahrheit sage. Ich bin Ernst Ellert, und ich bitte Sie, sofort eine entsprechende verschlüsselte Information an Julian Tifflor weiterzuleiten. Er muss erfahren, dass ich zurückge kehrt bin.« »So, meinen Namen kennt niemand, und er ist bedeutungslos?«, er kundigte sich Gorsty empört. »Du willst dieser Dame bloß imponie ren, wie ich dich kenne. Warte nur, das zahle ich dir heim!« »Stör mich jetzt nicht!«, dachte Ellert zurück. »Außerdem ist die Dame viel zu alt für dich.« »Das lass sie nur nicht hören«, riet Gorstys Bewusstsein bissig. »Gut«, entschied Carol van Dyker. »Geben Sie mir den gewünschten Text für die Verschlüsselung. In der Zwischenzeit kann Korty Ihnen die Gästekabine zeigen.« »Danke, Carol. Sie werden sehen, dass Tifflor sehr positiv reagieren wird, wenn Sie ihm meinen Namen nennen. Aber ich will mich nicht in eine Kabine zurückziehen, sondern warte lieber hier die Antwort ab.« »Das kann dauern.« Ellert lächelte. »Sie wollten den Text: An Julian Tifflor, NEI, von Ernst Ellert, MOSA-Nord 444. Bin zurückgekehrt mit Grüßen von ES. Kannst du mich hier abholen?« Er nickte Carol zu. »Das wäre alles.« Sie bedachte ihn mit einem erstaunten Blick. »Das soll genügen?« »Glauben Sie mir, es wird genügen. Mein Name und die Erwähnung von ES werden Julian Tifflor eine ganze Menge sagen. Ehe Sie zweimal ausgeschlafen haben, werde ich abgeholt – was mir eigentlich ein wenig Leid tut, Carol.« Sie verzog das Gesicht. »Fangen Sie nicht auch damit an …« Die Agentin begab sich in den Funkraum. 378
»Was ist mit Ihren narkotisierten Akonen, Blues und so weiter?«, fragte Kortanger. »Die schlafen noch eine Zeit lang. Und dann werden sie aus diesem System verschwinden, ich bin mir dessen sicher.« Nach einer Weile kam Carol van Dyker zurück. »Der Spruch ist ab gesetzt und bestätigt worden. Nun können wir nur warten.« »Bald wird eine erste Anweisung eintreffen«, prophezeite Ellert. »Ich kenne Tifflor. Er lässt niemanden lange warten.« Die Agentin nickte Kortanger zu. »Sieh zu, Korty, ob du eine brauchbare Flasche findest. Ich meine, eine der guten Flaschen! Es müssen noch welche da sein. Schließlich müssen wir mit unserem Gast die Versöhnung feiern.« »Versöhnung?« Ernst Ellert verstand nicht. »Wieso das? Hatten wir Ärger?« »Nur so eine Redensart. Haben Sie etwas gegen Versöhnungen?« Ellerts Gastkörper reckte sich. »Nein, ganz im Gegenteil. Fein, Korty, dann holen Sie eine Flasche. Es ist lange her, dass ich so etwas ge trunken habe.« »Wie lange?«, fragte Carol und schaute ihn nachdenklich an. »Eine Ewigkeit«, gab Ellert zu, meinte aber etwas ganz anderes. Tief in der Berührzone beider Bewusstseine vernahm er Gorsty Ashdons lautlose Stimme: »Ellert, du bist auf dieser Station ein Problem. Ich frage mich nur, ob unser Körper oder dein Bewusstsein dieses Problem schafft.« »Alles zusammen, Gorsty. Und dazu die lange Zeit …«
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19.
E
r hatte keinen Namen. Deshalb gab er sich selbst einen. Weil er sich so allein und verlassen vorkam und sich für das einsamste Wesen des Universums hielt, nannte er sich ›Einsam‹. Und weil er sich den Heroen wie Georlanfannen, Viodriator und Anffinnen verbunden fühlte, zählte er sich zum männlichen Ge schlecht. Dabei war er geschlechtslos. Er hatte nur eine einzige Aufgabe zu erfüllen. Diese erledigte er ge wissenhaft, wie man es von ihm erwarten durfte. Aber es war immer dasselbe. Es wiederholte sich alles. Er hatte jede der genau vorgeschrie benen Tätigkeiten schon unzählige Male verrichtet, und er würde sie noch oft verrichten müssen, bis der ersehnte Tag kam. Obwohl er wusste, wie unsinnig seine Hoffnung war, lauschte er im mer wieder ins All hinaus. Aber so viele Impulse auch auf ihn ein strömten, der, auf den es ankam, war nicht darunter. Er blickte sehnsüchtig zu dem nahen Doppelstern in der Erwartung, dass sich die eine Komponente verdunkle und in sich zusammenstür ze. Aber die Implosion fand nicht statt. Sie würde noch lange nicht stattfinden, das ergaben die Berechnungen. Er wusste, dass seine Be rechnungen stimmten, dennoch überprüfte er sie immer wieder. Wie nicht anders zu erwarten, fand er keinen Fehler. Und manchmal ließ er seine Blicke über den Doppelstern hinaus wandern, drang in die Tiefe des Weltraums vor in der bangen Erwar tung, dass endlich jemand erschien, der ihn forderte. Er wollte einer harten Prüfung unterzogen werden, um seine Fähigkeiten beweisen zu können, er wollte durch Taten bestätigt sehen, dass er nicht nutzlos war. Endlich lösten die wachsamen Sensoren Alarm aus. Ein unbekanntes Flugobjekt tauchte im Raum des kleinen roten Sterns auf und nahm 380
Kurs auf den einzigen Planeten. Das Objekt stieß auf den riesigen Himmelskörper hinunter und landete in der Dämmerzone zwischen heißem Tag und kalter Nacht. Es ging an der Stelle nieder, unter der das Llungo-Mokran lag. Das Flugobjekt war ein hochverdichtetes energetisches Gebilde in Kugelform. Sein Durchmesser war variabel. Einsam sammelte die Fakten und speicherte sie. Ihn interessierten mehr die Wesen als ihre Technik. Es dauerte nicht lange, dann verlie ßen sie in Schutzanzügen das Energiegebilde. Ihr Aussehen war fremd artig, er hatte solche Lebewesen nie gesehen. Jedoch memorierte er, dass viele der aufgefangenen Impulse aus jüngster Vergangenheit von diesem Leben stammten. Aber obwohl er so viele Informationen über sie gesammelt hatte, hätte er sich ihr Aussehen anders vorgestellt. Sie waren klein, halb so groß wie die Llungorenischen Heroen zu Le benszeiten. Sie gingen aufrecht, besaßen vier Extremitäten, von denen sie nur zwei zum Gehen verwendeten, während sie mit den anderen beiden ihre Technik bedienten. Die oberen Extremitäten erschienen Einsam, als wären sie ihre wichtigsten Hilfswerkzeuge. Ihre Körper waren verhältnismäßig kurz und breit. Sie wirkten ge drungen. Ihre Hautfarbe war dunkel, schwarzbraun bis tiefschwarz. Im starken Kontrast zur Hautfarbe standen die vollen Lippen, die gelblich schimmerten, und die Augen, die in den verschiedensten Grüntönen leuchteten und die in dem flach wirkenden Gesicht weit auseinander standen. Dazu kam auf dem Haupt eine zumeist rot schillernde Haar pracht aus drahtähnlich geringelten Borsten, die zu einer kranzartig geschnittenen Frisur geformt war. Diese exotischen Gesichter waren auf ihre Art faszinierend. Einsam konnte sich daran kaum satt sehen, waren es doch die ersten Fremdlebewesen, die er nach endlos anmu tender Zeit zu sehen bekam. Die Fremden luden technische Instrumente aus ihrem Flugkörper, dessen Energiehülle zusammenschrumpfte, je mehr Ballast entladen wurde. 381
Einsam beobachtete. Einsam sammelte Informationen. Die Fremden nannten sich Laren. Sie waren als Invasoren in diese Galaxis gekommen und hatten sie erobert. Nun hatten sie sich von ihren Verbündeten getrennt und die Alleinherrschaft über die Völker dieser Sterneninsel übernommen. Die Laren kamen zum Denkmal der Llungorenischen Heroen und bestaunten das gewaltige Monument, das nur zu einem geringen Teil über die Oberfläche des Himmelskörpers hinausragte. Einsam hatte schon längst gelernt, ihre Funkimpulse zu entschlüs seln, jetzt hatte er endlich Gelegenheit, auch ihre Akustik verstehen zu lernen. Das war weiter nicht schwer. Denn die Laren waren Sauerstoff atmer und mussten auf dem luftleeren Himmelskörper Schutzanzüge tragen, so dass sie sich nur durch Sprechfunk verständigen konnten. Einsam konnte so auf ihre Lautsprache schließen. »Dieses Bauwerk ist uralt«, erklärte ein Lare. »Es stammt von keinem der heute in der Milchstraße lebenden Völker.« »Es würde sich gut als Fundament für unsere Station eignen«, sagte ein anderer. »Zuerst müssen wir aber die subplanetaren Anlagen über prüfen.« Einsam ließ die Laren gewähren. Er war froh, dass sie in die Anlagen eindrangen, denn hier besaß er bessere Möglichkeiten, sie zu erfor schen. Aber die Laren fanden es nicht der Mühe wert, die Anlagen wirklich zu untersuchen. Sie begnügten sich mit Fernortungen und kamen zu dem Schluss, dass die bestehenden Einrichtungen ihr Projekt nicht ge fährden konnten. Sie entdeckten Einsam nicht, und Einsam sah von sich aus keine Veranlassung, sich zu erkennen zu geben. Schließlich hatten die Laren das Llungo-Mokran nicht entweiht. Und wenn sie auf dem Denkmal ihre Station errichteten, so war das für die Heroen der Llungorenischen Schlachtfelder keine Entehrung. Einsam wartete ab. 382
Die Laren errichteten auf dem Kriegerdenkmal einen Kuppelbau. Einsam beobachtete. Aber auf Dauer wurde ihm das zu langweilig, und er kehrte zu seinen Pflichten zurück. Wieder sang er die Helden lieder und sagte die drei Millionen Namen der Heroen auf. Irgendwann brachten die Laren sechsundzwanzig Fremdwesen in die Kuppelstation auf dem Kriegerdenkmal. Es waren groteske Wesen. Sie hatten plumpe, unförmige Körper von schmutzig grauer Farbe, mit Schattierungen von Gelb bis Braun. Zum Unterschied von den Laren besaßen sie drei Paar Extremitäten, von den jedoch nur das oberste Paar einigermaßen ausgebildet war. Diese Wesen konnten sich entweder auf zwei stummelartigen Beinen am Ende ihrer Körper fortbewegen oder auch das zweite Stummelpaar, das sich in der Körpermitte befand, zu Hilfe nehmen. Sie hatten dem nach vier Beine. Ihre Arme waren besser ausgebildet, viel länger als die Beine und reichten sogar in aufrechtem Gang bis zum Boden hinunter. Allerdings besaßen die Arme an ihrem Ende nur je zwei Greifwerkzeuge, mit de nen sie ausschließlich grobe Arbeit verrichten konnten. Ihre Köpfe waren fast so breit wie die Schultern, aus denen die tenta kelartigen Arme entsprangen, und passten zum Gesamteindruck von unterentwickelten Geschöpfen. Sie hatten vier große Augen, von denen zwei seitlich angeordnet waren, während die anderen beiden das Ge sicht oben und unten abgrenzten. So primitiv das Aussehen dieser Geschöpfe wirkte, die vier höckerar tigen Auswüchse auf ihren mächtigen Schädeln sprach ihrer sonstigen Erscheinung Hohn. Als Einsam herausfand, dass es sich um Zusatzge hirne handelte, die diesen Wesen komplizierte n-dimensionale Berech nungen ermöglichten, war ihm klar, dass er sie höher einschätzen musste als die Laren. Sie wurden Kelosker genannt, und sie waren die Strategen der Laren! Einsam glaubte nun, dass er mit den Keloskern endlich Herausfor derer fand, an denen er seine Fähigkeiten messen konnte. Doch bald 383
musste er erkennen, dass er sie überschätzt hatte. Möglich, dass sie un ter normalen Umständen zu einem Prüfstein für ihn geworden wären, aber er fand schnell heraus, dass mit ihnen etwas nicht stimmte. Er er kannte nicht, wo das Problem lag, aber es wurde augenscheinlich, dass sie die Erwartungen der Laren nicht erfüllen konnten. Einsam verlor das Interesse an ihnen. Er wollte sich wieder seinen Routineaufgaben zuwenden, als sich abermals ein Zwischenfall ereig nete. Einsam empfing endlich die lang ersehnte Botschaft, die das Ende des langen Wartens ankündigte. Ungläubig registrierte er die Sig nale, ließ sie alle Kontrollen durchlaufen und überprüfte die Ergebnis se erneut. Die Signale kamen aus Richtung der nahen Doppelsonne, und es gab keinen Zweifel, dass sie von dem kleinen roten Begleiter der gel ben Riesensonne ausgestrahlt wurden. Der alternde Stern starb endgül tig, jener heilige Stern, von dem es in den Llungorenischen Heldenlie dern hieß, dass an seinem Alter die Ewigkeit gemessen werden könne. Dort war auch sein Ende vorausgesagt worden. Nur der Zeitpunkt stimmte nicht. Nach den Prophezeiungen hätte der Alterungsprozess sehr viel länger dauern müssen. In Wirklichkeit durchlief die Sonne rasend schnell alle Phasen hin zur Entwicklung eines Neutronensterns. Einsam fand bald die Erklärung dafür, warum die Voraussagen nicht mit der Realität übereinstimmten. Er ortete im Bereich der Doppelson ne eine große Flotte larischer Flugobjekte. Sie zapften die gelbe Riesensonne und andere nahe Sterne an und leiteten die gewonnenen Ener gien an den roten Zwergstern weiter, um dessen Entwicklung künstlich zu beschleunigen. Dieser Umstand stimmte ihn äußerst nachdenklich.
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Voolcor-Lot, der Kommandant des SVE-Raumers, empfing die Kelos ker in der Zentrale. »Wir sind am Ziel«, eröffnete er ihnen. »In Kürze wird ein Beiboot Sie auf den Planetenstützpunkt bringen.« »Hoffentlich machen wir hier nicht wieder nur Zwischenstation«, sagte Tallmark, der Sprecher der Kelosker. »Wie sollen wir uns auf un sere Arbeit konzentrieren können, wenn man uns quer durch die Milchstraße schleppt und von einem Stützpunkt zum anderen bringt?« »Sie wissen selbst, dass Sie nach dem ertrusischen Angriff auf Rolfth nicht mehr sicher waren«, sagte Voolcor-Lot. »Nur deshalb kamen Sie nach Goorn II. Dass Ihr Aufenthalt dort nicht von längerer Dauer sein konnte, war klar, als Sie das Startzeichen für das Projekt Arcur-Beta ga ben. Es ist notwendig, dass Sie sich im Operationsgebiet befinden, um die Arbeiten überwachen zu können. Wir waren bemüht, Sie so nahe wie möglich an der Doppelsonne Arcur unterzubringen. Deshalb ha ben wir Houxel, den einzigen Planeten der Sonne Paarft, ausgewählt. Dort befindet sich eine neue Station, die für Ihre Bedürfnisse umge baut wurde. Sie werden zufrieden sein, Tallmark.« Der Lare hatte eine Projektion aktiviert, die einen Planeten als schmale Sichel zeigte. Mit bloßem Auge war nur eine zerklüftete Kra terlandschaft zu erkennen. »Sehr einladend sieht diese Welt nicht aus«, bemerkte Sorgk, der sich zu Tallmark gesellt hatte. »Der Planet ist ein Einseitendreher, wendet seiner Sonne also immer dieselbe Seite zu«, sagte der Lare. »Nur in der Zwielichtzone herrschen einigermaßen erträgliche Bedingungen, dort befindet sich der Stütz punkt.« »Warum muss es ausgerechnet diese Welt sein?«, fragte Tallmark. »Wegen der Nähe zur Doppelsonne Arcur. Die Sonne Paarft ist nur drei Komma acht Lichtjahre entfernt und befindet sich demnach noch im Bereich der Hektikzone. Dieser Umstand wird Ihnen bei Ihren wei teren Berechnungen sehr entgegenkommen.« Der Lare nahm eine Meldung entgegen. 385
»Mir wurde soeben mitgeteilt, dass Ihr Beiboot eingetroffen ist«, sagte er. »Der Kommandant des Stützpunkts, Germaar-Vonk, ist per sönlich zu Ihrem Empfang erschienen. Er wird Ihre weiteren Fragen beantworten.«
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Germaar-Vonk war verhältnismäßig klein und wirkte schwächlich, doch ein Blick in seine tiefgrün leuchtenden Augen belehrte die Kelos ker eines anderen. Aus ihnen sprach eine unbeugsame Strenge. Seine Bewegungen wirkten eckig und unbeholfen. Wenn er sprach, unterstrich er jedes Wort mit einer Handbewegung. Sein Gestikulieren wirkte beinahe menschlich, und Tallmark sagte auch sofort: »Sie haben viel mit Menschen zusammengelebt, Germaar-Vonk, und sich etliche ihrer Eigenschaften angeeignet.« Der Befehlshaber von Houxel grinste breit. »Ich war Leiter einer Strafkolonie. Natürlich hatte ich sehr viel Umgang mit Menschen, nur kann niemand von Zusammenleben sprechen. Und glauben Sie mir, ich habe die Menschen mehr geformt als sie mich.« Tallmark nahm sich vor, bei Germaar-Vonk besonders vorsichtig zu sein. Ihm gegenüber durften sie sich nicht die geringste Blöße geben. Auf den Holoschirmen schien sich der Riesenplanet Houxel unter ihnen zu drehen. Die Nachtseite wanderte aus dem Bild, der Termina tor erschien als schmaler Streif, gefolgt von der glühenden Tagseite. »Trotz seines gewaltigen Durchmessers besitzt Houxel nur eine Schwerkraft von 1,62 Gravos«, erläuterte der Lare. »In Ihrem Stütz punkt befindet sich selbstverständlich ein Schwerkraftregler. Sie werden überhaupt die besten Arbeitsbedingungen vorfinden.« Das Beiboot landete neben einem glockenförmigen Kuppelbau. Fern am Horizont war ein schmaler Streifen der grell lodernden Tagseite zu erkennen. Es gab keine Atmosphäre, das Land bestand aus zerklüfteten Kratern, 386
unergründliche Schlünde durchbrachen die weite Ebene, und zerris sene Felsformationen reckten sich in den Himmel. Wenige Kilometer entfernt sah Tallmark drei weitere Kuppelbauten. Demnach hatten die Laren nicht nur einen Stützpunkt auf Houxel errichtet. Durch einen energetischen Verbindungstunnel konnten die Kelosker aus dem Beiboot in die Station überwechseln. Tallmark blieb stehen, als er das unterste Geschoss vor sich sah, eine einzige große Halle. Hier waren die Kraftwerke der Station unterge bracht. Es handelte sich um die standardisierte Bauart, nur ihre Anord nung wirkte sehr unorthodox, nicht zweckentsprechend, sondern eher willkürlich gewählt. Noch seltsamer erschienen Tallmark die Fundamente, quaderförmige Blöcke, die gegeneinander versetzt über- und nebeneinander standen und durch eine glasartige Masse miteinander verschweißt waren. Auch der Boden bestand aus solchen Blöcken, die stufenförmig zu den Ma schinenfundamenten hinaufführten, und entlang der Wände türmten sich derartige Blöcke zu verschachtelten Türmen. Der Wortführer der Kelosker entdeckte keinen Sinn hinter dem Gan zen. Es passte so gar nicht zu den Laren, dass sie einen Zweckbau der art verfremdeten. Durch die ästhetisch angeordneten Quader machte die Kraftstation den Eindruck eines Monuments oder einer unver ständlichen Plastik. Während Tallmark noch grübelte, sagte der Stützpunktkommandant: »Was Sie hier sehen, sind die Reste einer Niederlassung, die von einem unbekannten Volk errichtet wurde. Wir wissen weder, wie die Erbauer ausgesehen haben, noch was sie eigentlich erschaffen wollten. Das Bau werk macht den Eindruck, als wäre es nie vollendet worden. Allerdings reicht es tief in die Planetenkruste hinab und weist dort ein regelrech tes Labyrinth verzweigter Gänge auf. Das haben wir mittels Messungen festgestellt.« »Auf den Überresten der unbekannten Zivilisation haben Sie also die Station errichtet«, sagte Tallmark verstehend. 387
»Sie geben ein gutes Fundament ab. Das hat uns Mühe und Material erspart. Wir brauchten darauf nur die Stahlkuppel aufzustellen und mussten uns lediglich beim Bau des Kraftwerks den Gegebenheiten anpassen. Aber das soll Sie nicht stören. Ihre Arbeitsräume befinden sich in den Obergeschossen.«
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Nachdem die Kelosker allein waren, zogen sie sich zur Beratung zu rück. »Wir hätten verhindern müssen, dass uns die Laren so nahe zur Dop pelsonne Arcur bringen«, sagte Sorgk. »Hier, im direkten Einsatzgebiet, werden Probleme auf uns zukommen, die wir nicht bewältigen kön nen.« »Ich sehe keine so großen Schwierigkeiten«, widersprach Zartrek. »Wir haben den Laren den ausgearbeiteten Plan für das Projekt Neu tronenstern vorgelegt. Wenn sie sich daran halten, kann nichts schief gehen.« Tallmark winkte ab. »Dieser Illusion darfst du dich nicht hingeben, Zartrek. Bei einem solchen Projekt muss es zwangsläufig zu Komplika tionen kommen. Es geht um die Manipulation einer Sonne, bedenke das! Die Erschaffung eines Black Holes lässt sich nicht fehlerlos vor ausberechnen. Es werden Detailfragen auftauchen, die wir nicht beant worten können, solange wir unsere gesamten Fähigkeiten nicht wieder erlangt haben.« Nach dem Verlassen des Howalgonium-Planeten Goorn II hatte sich zwar eine Besserung ihres Zustands eingestellt, dennoch waren sie wei terhin nicht in der Lage, n-dimensionale Berechnungen vorzunehmen. »Wir sind den Laren trotzdem überlegen«, behauptete Llamkart. »Wenn Probleme auftauchen, können wir immer noch so tun, als wä ren wir in der Lage, sie zu berechnen. Auch wenn unsere Lösungen falsch sein sollten, können die Laren das nicht beurteilen.« 388
»Ich bin ebenfalls der Meinung, dass wir besser falsche Antworten geben sollten als überhaupt keine«, gab Tallmark zu. »Die Laren wer den wir vielleicht täuschen können. Aber wir müssen bedenken, wel che Folgen falsche Antworten für den Achtzig-Jahre-Plan haben könn ten. Wir dürfen nicht selbst alles zerstören, was wir bisher aufgebaut haben.« »Dieser Zustand kann doch nicht ewig anhalten«, sagte Plarark. »Über kurz oder lang werden wir unsere volle Kraft zurückerhalten. Aber die Wahrscheinlichkeit ist sehr groß, dass die Laren Fehler be gehen oder dass andere unvorhergesehene Probleme auftauchen. Wenn wir diesbezüglich nicht die richtigen Entscheidungen treffen, kann es sofort zu einer Katastrophe kommen.« Tallmark musste Plarark Recht geben. Die Pläne für die Umwand lung des alternden Sterns in ein Black Hole waren von ihnen im Sinn des Achtzig-Jahre-Plans erstellt worden, als sie noch vollwertige ndimensionale Strategen gewesen waren. Die Gesamtkonzeption war zwar so abgefasst, dass die Laren danach arbeiten konnten, aber eben so wenig wie die Laren wussten, welche Vorgänge sie auslösten, konn ten die Kelosker in ihrem momentanen Zustand die eigenen Berech nungen verstehen. »Sollten wirklich Komplikationen eintreten, dann müssen wir das Projekt verzögern«, erklärte Tallmark. »Aber eine Hinhaltetaktik hat Tücken. Wie lange wird es uns möglich sein, die Laren noch zu täu schen?« Schweigen folgte seiner Frage. »Wie sehr beneide ich unsere Brüder, die unter Dobraks Führung endlich heimgefunden haben«, durchbrach Splink die Stille.
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Einsam rief die drei Millionen Heroen bei ihren Namen, und er fügte hinzu: »Das Tor wird sich schon bald öffnen. Ihr werdet eingehen in euer Reich und im Licht hinter der Schwärze baden. – Und euer einsa mer Wächter wird endlich Ruhe finden«, fügte er leiser hinzu. Einsam begab sich auf seine letzte Inspektion. Er hatte einen Zeit plan erstellt, so dass sein Rundgang zu dem Zeitpunkt beendet sein würde, wenn das Tor sich öffnete. Um nicht gestört zu werden, schaltete er die technischen Anlagen auf Vollautomatik. Er wollte nur mehr Tempeldiener und Hoher Pries ter sein, Wegbereiter der Heroen auf dem Weg ins Reich Nirgendwo, Waffenmeister für ihren allerletzten Gang. Seht! Der Ewigkeits-Stern schrumpft, sein Leuchten wird dunkler, bis es endgültig erlischt. Der Ewigkeits-Stern ist gestorben. Doch sein Tod ist eine Wiedergeburt. Die Schwärze ist seine Stärke, denn die Schwärze enthält alles Licht. Nur kann es nicht strahlen, weil es durch die Kraft des Sterns in sich gekrümmt ist. Und so ist das Tor entstanden … Noch war es nicht so weit. Einsam öffnete die Heroenlade, putzte die Waffe und die Orden und die wenigen Pretiosen. Er wandte sich der nächsten Heldenlade zu. Doch da stutzte er. Die Ortung hatte eine Reihe neuer Daten in die Speicher eingegeben, die sich von den Routinemeldungen deutlich unterschieden. Im Ortungs bereich von Llungo-Mokran war ein Flugobjekt aufgetaucht, das sich von den Larenschiffen grundlegend unterschied. Es war so unschein bar, dass die Ortung es kaum erfassen konnte. Es tauchte nur kurz auf und war sofort wieder verschwunden. Einsam suchte es vergeblich. Das kleine Schiff war nicht mehr aufzufinden. Die Berechnungen er gaben jedoch, dass es nicht aus dem Ortungsbereich verschwunden sein konnte. Es hatte sich versteckt. Entweder im Sonnenschatten, oder es war in einem der Störfelder untergetaucht, von denen es un zählige im weiteren Bereich der Hektikzone gab. 390
Einsam setzte seinen Rundgang fort.
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Der Vario-500 war in Sorge. Kershyll Vanne hatte aus eigenem Antrieb die medizinische Abteilung aufgesucht, um sich untersuchen zu lassen. Nun war er schon ziemlich lange fort … Endlich tauchte Vanne im Schott der Kommandozentrale auf. Der große Mann mit dem durchtrainierten Körper machte zwei unsichere Schritte und taumelte. Auf seiner Stirn perlte Schweiß. Der Vario, in der Maske des alternden Prospektors Clynt Talahassie, war sofort zur Stelle, um den Freund zu stützen. »Kershyll!«, entfuhr es ihm entsetzt. »Hat sich wieder dieses achte Bewusstsein in deinem Körper manifestiert?« »Nein!« Kershyll Vanne schüttelte die helfende Hand ab. »Von we gen achtes Bewusstsein! Mir ist, als hätten sich sechzehn Bewusstseine in meinem Körper eingenistet.« Der Vario schnupperte und grinste. »Du bist betrunken?« »Jawohl!« Vanne nickte nachdrücklich. »Pale hat seine Führungsrolle schändlich ausgenutzt. Als er in der Ordination kurz unbeaufsichtigt war, hat er sich eine Flasche mit Äthylalkohol geschnappt. Zum Glück konnte ich das Schlimmste im letzten Augenblick verhindern.« Der Vario-Roboter verzog das wettergegerbte Gesicht seiner Kokon maske zu einem Grinsen. Ein angeheitertes Konzept war ihm immer noch lieber als ein von einem bösen Geist besessenes. Vanne schien seine Gedanken zu erraten. »Von dem unbekannten Bewusstsein habe ich nichts mehr zu befürchten«, sagte er schwer fällig. »Da bin ich ziemlich sicher, weil es sich nicht mehr gemeldet hat. Für mich besteht kein Zweifel, dass ES damit einen Versuch un ternommen hat. Das Ganze war ein Fehlschlag.« »Du musst das am besten wissen, Kershyll.« Der Roboter betrachtete das Thema als abgeschlossen. »Der Kommandant möchte dich spre 391
chen.« »Liegt ein besonderer Grund vor?« »Nein. Nur Interesse an deiner Meinung zur allgemeinen Lage. Schließlich bist du ein Multi-Talent.« Gemeinsam begaben sie sich zu Killion Varmell in die Hauptzen trale. »Alles in Ordnung, Vanne?«, erkundigte sich der Interimskomman dant, der wusste, welche Probleme das Konzept mit dem fremden Be wusstsein gehabt hatte. »Alles in Ordnung«, bestätigte Kershyll Vanne. »Gibt es Neuigkei ten?« »Hier hat sich nichts verändert.« Sie patrouillierten seit Tagen im Raum der Doppelsonne Arcur. um die Aktivitäten der larischen SVE-Raumer zu beobachten. Die PLEYST war in der Hektikzone einigermaßen sicher, da die kosmophysikali schen Verhältnisse einen guten Ortungsschutz boten. Andererseits brachte dies den Nachteil, dass auch die Ortungsergebnisse des Schwe ren Kreuzers alles andere als befriedigend waren. »Wir wissen jetzt definitiv, dass die Laren Arcur-Alpha nicht anzap fen, um Energie für ihre Raumschiffe zu tanken«, fuhr der Komman dant fort. »Jedenfalls leiten sie alle Energien an Arcur-Beta weiter und heizen den alternden Stern auf.« »Wir müssen eben noch abwarten«, sagte Vanne lakonisch. »Und was soll ich nach Gäa berichten?« »So wenig haben wir gar nicht herausgefunden.« Der Vario warf dem Konzept einen schnellen Blick zu. Täuschte er sich, oder hatte sich Vannes Verhalten geändert, weil ein anderes Be wusstsein die Führung des Körpers übernommen hatte? Dann musste es sich bei dem referierenden Bewusstsein um den Alpha-Mathematiker Albun Kmunah handeln. Aber mit Sicherheit konnte der Vario das nicht behaupten. Das Konzept fuhr fort: »Arcur-Beta ist ein alternder Stern. Die Laren 392
beschleunigen seine Entwicklung hin zu einem schnellen Zusammen bruch, das ist eindeutig.« »Was bezwecken sie damit?« »Denken Sie an die Notlage der Laren«, sagte das Konzept. »Die Mastibekks haben den Energiehahn zugedreht, und durch die Vor gänge im Dakkardim-Ballon sind die Laren von den Galaxien der Kon zilsvölker abgeschnitten. Es liegt auf der Hand, dass sie nach einem Weg suchen, um ihren Nachschub zu sichern und …« »Tut mir Leid, Vanne, Sie machen mir zu große Gedankensprünge«, unterbrach Killion Varmell. »Was hat die Energieversorgung der Laren mit dem potenziellen Neutronenstern zu tun? Wir wissen doch, dass sie hier ihre SVE-Raumer nicht auftanken.« »Nein, natürlich nicht. Aber wenn sie Arcur-Beta weiterhin mit die sen Werten anheizen, beschleunigen sie die natürliche Entwicklung um ein Vielfaches. Das heißt, dass diese Sonne bereits in wenigen Jahr zehnten zur Supernova werden kann und unmittelbar oder über den Umweg eines Neutronensterns zu einem Black Hole. Und damit hät ten sie eine Sternenbrücke zu den anderen Konzilsvölkern geschlagen.« »Ist das wahr?« Varmell wirkte auf einmal erregt. »Ich meine, sind Sie ganz sicher, dass die Laren das vorhaben?« »Wie alles andere ist auch das nur eine Mutmaßung«, erklärte Vanne. »Aber sie hat einen hohen Wahrscheinlichkeitsgehalt.« »Das NEI kann seine Strategie nicht auf Wahrscheinlichkeitsberech nungen aufbauen.« »Dann bleibt uns keine andere Wahl, als weiterhin zu beobachten«, sagte der Vario. »Ich schlage aber vor, dass wir unseren Aktionsradius vergrößern und uns im weiteren Umkreis der Hektikzone umsehen. Die Aktivitäten der Laren erstrecken sich immerhin über einen größe ren Raumsektor.«
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Nach einer kurzen Linearetappe ging die PLEYST sofort in den Or tungsschutz der kleinen roten Sonne Paarft. Wegen ihrer relativen Nähe zu den beiden Arcur-Sternen kam Paarft eine gewisse Bedeutung zu. Ansonsten gänzlich uninteressant, war die Sonne in den Katalogen als Navigationspunkt aufgeführt. Raumschiffe orientierten sich an Paarft, um der Hektikzone auszuweichen. Die Sonne hatte nur einen einzigen Planeten, der jedoch war ein wahrer Riese mit einem Durchmesser von 82.713 Kilometern, jedoch geringer Dichte. »Für die Laren ist dieses Einplanetensystem mehr als ein Koordina tenpunkt«, behauptete der Vario. »Wenn die Beobachtungen richtig in terpretiert werden, haben sie auf Houxel einen Stützpunkt eingerich tet.« »Houxel liegt noch so nahe am Einsatzgebiet, dass Steuerung und Überwachung des Projekts von hier aus möglich sind«, sagte Kershyll Vanne. »Zugleich ist der Planet weit genug entfernt, dass die Aus wirkungen der Hektikzone nicht allzu stark spürbar werden.« Der Vario in der Maske des Prospektors nickte. »Dann unterhalten die Laren auf Houxel nicht nur einen einfachen Stützpunkt, sondern wohl ihr Hauptquartier. Da sowohl auf der Nacht- als auch auf der Tagseite zu extreme Temperaturen herrschen, können wir unsere Un tersuchungen auf die Zwielichtzone beschränken.« »Die PLEYST bleibt vorerst im Ortungsschutz!«, sagte Kommandant Varmell entschieden. »Ich lasse Robotsonden ausschicken, mehr nicht.«
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Höchstens eine halbe Stunde war vergangen, als Killion Varmell nach Kershyll Vanne und dem Roboter rief. Beide waren sofort zur Stelle. »Wird die Situation brenzlig?«, fragte der Vario-500. »Wir haben in den letzten Minuten einen interessanten Funkverkehr 394
zwischen den Wachschiffen und der Bodenstation aufgefangen«, er klärte der Kommandant der PLEYST. »Es war nicht schwer, die Ge spräche zu entschlüsseln. Nun erscheint das Projekt der Laren unter einem eindeutigen Aspekt.« Zuerst war aus den Akustikfeldern nur das Krachen statischer Störun gen zu hören. Dann ertönte die Stimme eines Laren. »Hier Wachschiff HOLTAR-VRIK. Kommandant Vrinkeng-Koo mel det keine besonderen Vorkommnisse.« »Verstanden«, kam die Antwort – zweifellos von der Bodenstation. »Wie ist das Wetter im All?« »Alles ruhig. Nur im Bereich von Arcur-Alpha/Beta wandern neue Störfelder.« »Besteht Gefahr, dass sie zu uns überschlagen?« »Die Wahrscheinlichkeit ist gering, aber die Hektikzone ist einfach unberechenbar. Die Aufheizung von Arcur-Beta scheint jedenfalls ohne Komplikationen vor sich zu gehen.« »Germaar-Vonk wünscht über jede Veränderung sofort Bericht.« »Das ist nicht unsere Aufgabe! Wir sollen den Raumsektor Paarft ge gen Feinde absichern. Alles andere geht uns nichts an. Wozu habt ihr die Rechengenies auf Houxel?« »Schon gut …« »Was war das eben?«, fragte Kershyll Vanne alarmiert. »Sie haben richtig gehört«, antwortete Varmell. »Aber die Laren spre chen es noch deutlicher aus.« Vanne wechselte einen kurzen Blick mit dem Vario in seiner Pros pektoren-Maske. Der zwinkerte ihm zu. Das Gespräch zwischen dem larischen Wachschiff und der Bodensta tion in der Zwielichtzone des Riesenplaneten Houxel ging weiter. »Die Kelosker müssten die Sternentwicklung vorausberechnen kön nen«, erklärte der Kommandant des Wachschiffs. »Deshalb könnten sie auch Prognosen über etwaige Turbulenzen in diesem Raumsektor stel len. Richtig?« 395
»Richtig. Nur …« »Was ist?« »Germaar-Vonk hat Schwierigkeiten mit ihnen.« »Inwiefern?« »Ich weiß es nicht. Es steht mir auch nicht zu, darüber zu sprechen.« »Nun hab dich nicht so, Partenor-Fent …« »Zügle deine Neugierde. Germaar-Vonk will eine Nachricht an Ho trenor-Taak senden. Daraus kannst du alles Nähere ersehen.« »Was ist wirklich mit den keloskischen Strategen los?« »Keine Ahnung. Aber du weißt, wie übervorsichtig und misstrauisch unser Kommandant ist.« Der Funkkontakt brach ab. »Ist das alles?«, fragte der Vario. »Was ist mit der Nachricht an Ho trenor-Taak?« »Wurde noch nicht abgeschickt«, erklärte Varmell und fügte hinzu: »Ist das nicht eine Überraschung, dass die Kelosker auf Houxel statio niert sind?« »Wir hätten es uns denken können«, erwiderte Vanne. »Die Aufhei zung von Arcur-Beta kann nur nach keloskischen Plänen geschehen. Es ist logisch, dass die Kelosker das Projekt dann auch überwachen.« »Du weißt, was das in letzter Konsequenz bedeutet?«, fragte der Vario. Vanne nickte. »Julian Tifflor hat mich über das Doppelspiel der Ke losker aufgeklärt. Wenn sie ein Black Hole erschaffen, dann muss das im Sinne des Achtzig-Jahre-Plans sein.« »Bestimmt. Aber nun scheinen die Kelosker Schwierigkeiten zu ha ben«, gab der Vario zu bedenken. »Keine voreiligen Schlussfolgerungen«, mahnte Vanne. »Wir wissen nur, dass der Stützpunktkommandant Schwierigkeiten mit ihnen hat. Das kann darauf zurückzuführen sein, dass er ihre n-dimensionale Lo gik nicht versteht. Warten wir seinen Bericht an Hotrenor-Taak ab.« 396
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Germaar-Vonk war kein Wissenschaftler, ebenso wenig ein Galakto psychologe. Aber als Soldat hatte er gelernt, fremde Intelligenzen ein zuschätzen. Mit den Keloskern war das jedoch anders, und das ver unsicherte ihn. Er wollte nicht so weit gehen und sagen, dass sie ihm unheimlich waren, aber in ihrer Gegenwart beschlich ihn ein deut liches Unbehagen. Ihre fremdartige Denkweise hatte auf ihre Menta lität abgefärbt. Bevor die Kelosker auf Houxel eingetroffen waren, hatte er sich be reits damit abgefunden, dass ihr Verhalten für ihn so unverständlich sein würde wie ihre Berechnungen. Aber schon nach der ersten Kon frontation war er zu der Ansicht gelangt, dass sein Bild von den Re chengenies nicht stimmte. Deshalb suchte er nach Gründen, um ihr Verhalten studieren zu können. Er musste sich klar darüber werden, was ihn eigentlich an ihnen störte. Germaar-Vonk begab sich mit etlichen Speicherkristallen zu ihnen. Er fand Tallmark mit zwei Artgenossen, Llamkart und Sorgk, in der Rechenzentrale. Sie studierten aus der Hektikzone einlaufende Berichte und überprüften sie mit vorhandenen Unterlagen. Eigentlich hatte der Stützpunktkommandant erwartet, dass die Ar beitsweise der Kelosker so unverständlich sein müsste wie die n-dimen sionalen Berechnungen, mit denen sie sich befassten. »Haben Sie Pro bleme?«, erkundigte er sich und hatte den Eindruck, dass Tallmark bei seiner Frage zusammenzuckte. »Keineswegs«, antwortete der Kelosker. »Wie kommen Sie darauf?« »Ich dachte nur, dass sich ein Fehler eingeschlichen haben könnte«, sagte Germaar-Vonk. »Oder sind Ihnen Ihre eigenen Pläne zu unver ständlich, weil Sie alles überprüfen? Das sollte natürlich ein Scherz sein.« »Ich glaube, dass wir diese Art von Humor nicht verstehen, Germaar 397
Vonk. Es steht Ihnen natürlich frei, Prüfrechnungen zu vollziehen. Was führt Sie zu uns?« »Ich habe einige Probleme und hoffe, dass Sie mir dabei zur Seite stehen können.« »Im Zusammenhang mit dem Projekt?« Germaar-Vonk straffte sich. »Es geht um die Schiffe, die deswegen in der Hektikzone gebunden sind. Sie wissen, dass ein Teil der Flotte die Grenzen der Milchstraße absichert, während der andere Teil für die Verbreitung der Mitose-Strahlung sorgt.« »Diese Maßnahmen wurden aufgrund unserer Planung getroffen.« »Eben. Aber nun haben Sie veranlasse dass aus diesen Verbänden SVE-Raumer für das Projekt Neutronenstern abgezogen wurden. Das sind Kriegsschiffe, die zweckentfremdet gebunden werden.« »Hotrenor-Taak war der Meinung, dass sie gerade hier sinnvoll ein gesetzt werden«, erwiderte Tallmark. »Auch in so großer Zahl?«, fragte Germaar-Vonk. »Ich habe mir ge dacht, dass wir etliche Schiffe freisetzen könnten. Zum Beispiel indem wir die Kapazität zumindest der Raumer erhöhen, die keine andere Aufgabe haben, als Arcur-Alpha anzuzapfen und die Energien nach Ar cur-Beta zu leiten. Ich weiß, das ist laienhaft ausgedrückt. Aber ich glaube, dass wir ein Drittel der betreffenden SVE-Raumer abziehen könnten, wenn die Leistung der verbliebenen verstärkt wird.« »Das ist undurchführbar«, behaupteten Llamkart und Sorgk wie aus einem Mund. »Ist es nicht möglich, Ihre Pläne entsprechend abzuändern?« »Theoretisch schon, aber in der Praxis …« Dann erklärten ihm die drei Kelosker abwechselnd die Gründe, wa rum seine Forderung nach Abzug von Schiffen undurchführbar war. Germaar-Vonk verstand kein Wort davon, obwohl einzelne Begriffe ihm nicht fremd waren. Als die Kelosker schließlich geendet hatten, fühlte sich der Lare wie benommen. »Das hat mich nicht restlos überzeugt«, erklärte Germaar-Vonk, als 398
sei er durchaus in der Lage gewesen, den Ausführungen zu folgen. »Versuchen Sie, eine Lösung für dieses Problem zu finden! Ich erwarte Ihre Vorschläge.« Eine halbe Stunde später legte der Stützpunktkommandant seine Aufzeichnung des Gesprächs mit den Keloskern den Wissenschaftlern zur Auswertung vor. »Verstehen Sie, was die Kelosker gemeint haben, Dargmenon-Gelk?«, erkundigte er sich bei dem Chefwissenschaftler, nachdem dieser sich einen ersten Eindruck verschafft hatte. »Nach meiner Meinung haben sie ein einfaches Problem kompliziert umschrieben«, sagte der Wissenschaftler leicht amüsiert. »Als wollten sie Verwirrung stiften. Aber das ist wohl ihre Art.« »Und worum ging es?« Der Wissenschaftler gab eine ähnlich unverständliche Erklärung wie vor ihm die Kelosker. Germaar-Vonk ließ nicht locker, bis die kompli zierte Materie auf einen verständlichen Nenner gebracht war. Dem nach war die große Anzahl von Schiffen notwendig, um den potenziel len Neutronenstern gleichmäßig von allen Seiten anzuheizen und eine kontinuierliche Entwicklung zu garantieren. »Warum haben das die Kelosker nicht gleich gesagt?«, ärgerte sich der Kommandant. »Weil sie in höheren Bahnen denken und sich nicht einfach ausdrü cken können.« »Aber Sie sind in der Lage, diesen Ausführungen zu folgen, Dargme non-Gelk …« »Wären wir nicht in der Lage, die Planung der Kelosker wenigstens im Prinzip zu verstehen, dann könnten wir damit überhaupt nichts an fangen. Was haben Sie eigentlich gegen die Para-Abstrakt-Denker?« Der Stützpunktkommandant gab keine Antwort. Er hätte ohnehin nicht sagen können, was ihm an dem Verhalten der Kelosker seltsam erschien. Aber er würde es herausfinden. 399
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Germaar-Vonk machte noch einen Versuch, die Qualifikation der Ke losker anzuzweifeln. Durch Zufall stieß er auf den Bericht eines Wis senschaftlers, der in der Hektikzone seinen Dienst versah. Darin be schwerte sich der Mann, dass die nach Arcur-Beta geleitete Energie weit über dem Wert lag. der für die Entwicklung zu einem Neutronen stern benötigt wurde. »Sie haben den Energiebedarf viermal höher als nötig angesetzt«. hielt der Kommandant den Keloskern vor. »Auf diesen Umstand hat uns schon Hotrenor-Taak hingewiesen«, er klärte Tallmark. »Wurden Sie vom Verkünder der Hetosonen nicht un terrichtet?« »Ich will von Ihnen eine Erklärung, Tallmark!« »Wie Sie wünschen. Wir benötigen diese Energiemenge, weil wir kein herkömmliches Black Hole erzeugen wollen, sondern eine Verbindung in den Dakkardim-Ballon. Drei Viertel der Energie benötigen wir allein für dessen Steuerung.« Germaar-Vonks Wissenschaftler bestätigten die Aussage der Kelosker, und der Lare ärgerte sich, dass er nicht vorher ihre Meinung eingeholt hatte. Nach dieser neuerlichen Schlappe verlegte er sich darauf, das Verhal ten der Kelosker zu studieren. Manchmal reagierten sie auf einfache Fragen völlig konfus, dann wieder wirkten sie apathisch oder ereiferten sich über Nichtigkeiten. Und allzu oft beschwerten sie sich über Stö rungen oder unzumutbare Arbeitsbedingungen. Für Germaar-Vonk schien es fast, als wollten sie damit von etwas ablenken. Germaar-Vonk ging die Berichte über Goorn II durch. Er glaubte, schon hier Anzeichen für eine bevorstehende Krise zu erkennen. Im mer drängender fragte er sich, was auf dem Minenplaneten vorgefallen sein mochte. Der Zustand der Kelosker beunruhigte ihn, denn irgend 400
wann würde sich das negativ auf ihre Fähigkeiten auswirken. Der Stützpunktkommandant bezeichnete die von ihm beobachteten Symptome als Hypersensibilität. Die Kelosker waren für äußere Reize leicht empfänglich, gerieten schnell aus der Fassung und hatten zeit weise Angstzustände. Das alles trat nicht eklatant zu Tage, doch ihm entging es nicht. Germaar-Vonk empfand es als seine Pflicht, seine Beobachtungen an Hotrenor-Taak weiterzuleiten. Seiner Meinung nach versuchten die Kelosker ängstlich, ihre Unzulänglichkeit zu verbergen.
20.
W
enn dieser Germaar-Vonk wüsste, wie Recht er mit seiner Ver mutung hat!«, sagte der Vario. »Dann stünde es sehr schlimm um die Kelosker.« »Es sieht auch so nicht gut aus«, stimmte Kershyll Vanne zu. »Aber wieso?«, wunderte sich Killion Varmell. »Dem Laren erscheint nur ihr psychischer Zustand seltsam. Er verdächtigt sie nicht, doppel tes Spiel zu treiben.« »Das eine kann sehr leicht das andere ergeben«, stellte der Vario fest. »Ich finde es schon Besorgnis erregend, dass der Lare sich über die Verfassung der Kelosker wundert.« Vanne nickte zustimmend. »Wenn die Kelosker entlarvt werden, ist der Achtzig-Jahre-Plan nicht mehr durchzuführen.« Kommandant Varmell blickte von einem zum anderen. »So bedroh lich kann die Lage nicht sein …« »Doch«, behauptete Vanne. »Wenn die Kelosker ihre Integrität ver lieren, kann das ganze Gerüst, auf dem der Plan basiert, mit einem 401
Schlag zusammenstürzen. Die Laren werden alles zerstören, was an Vorarbeit geleistet wurde. In der Konsequenz wird das dazu führen, dass sie alle von den Keloskern angeregten Projekte fallen lassen und in der Milchstraße hart durchgreifen, um ihre Herrschaft zu erhalten.« »Sie sehen zu schwarz, Vanne«, sagte Varmell rau. »Sie bauschen die sen Zwischenfall zu sehr auf.« »Keineswegs«, widersprach der Vario. »Natürlich kann der Komman dant von Houxel den Keloskern fachlich nichts anhaben. Wahrschein lich ärgert ihn das, er fühlt sich ihnen unterlegen und sucht deshalb verzweifelt nach einem anderen Weg. Das ist aber auf jeden Fall ge fährlich.« Varmell war nachdenklich geworden. »Ein Flottenaufgebot in den Einsatz zu schicken wäre sinnlos. Für eine direkte Konfrontation sind wir nicht stark genug, und ein Ablenkungsmanöver könnte das Gegen teil dessen bewirken, was wir bezwecken wollen.« »Völlig richtig«, stimmte Kershyll Vanne zu. »Uns kann nur eine klug durchdachte Aktion in kleinem Rahmen helfen.« »Sie haben hoffentlich nicht vor …?« Vanne brachte den Kommandanten der PLEYST mit einer Handbe wegung zum Verstummen. »Vorerst besprechen wir nur theoretische Möglichkeiten«, erklärte er und wechselte abrupt das Thema. »Sind die Ortungsergebnisse aus der Hektikzone schon ausgewertet, Komman dant? Besorgen Sie uns bitte alle Daten.« Der Vario verzog sein Clynt-Talahassie-Gesicht zu einem Grinsen, als Varmell den Raum nach einem knappen Nicken verließ. »Du wolltest ihn nur abwimmeln, Kershyll?«, vermutete er. »Wegen der Aktion in ganz kleinem Rahmen«, bestätigte das Kon zept. »Wir müssen einschreiten. Es wäre gut zu wissen, wie die Situa tion der Kelosker wirklich aussieht.« »Du hast Recht, mein Freund«, stimmte der Robotkaiser zu. »Var mells Einwände sind nur störend. Ich würde kein Risiko scheuen, um die Kelosker zu unterstützen.« 402
»Natürlich wird der Arbeitsbereich der Kelosker auf Houxel stark be wacht…« »Davon müssen wir ausgehen«, bestätigte der Vario. »Aber jede Sicherheitsanlage hat ihre Lücken, und ich kenne mich mit den Ab wehrsystemen der Laren aus. Auf Olymp habe ich mich ständig mit ihnen herumschlagen müssen.« »Nicht so hastig«, wehrte Vanne ab. »Wer hat überhaupt von dir ge sprochen?« »Während du unentschlossen theoretisierst, habe ich längst einen Plan entwickelt«, erklärte der Vario-500. »Ich denke daran, ein Beiboot zu präparieren und auf Houxel notzulanden. Vor den Augen der La ren. Als wunderlicher Prospektor, der Schiffbruch erlitten hat, werde ich kaum Verdacht erregen.« »Das kaufen dir die Laren nicht ab.« Kershyll Vanne schüttelte den Kopf. »Sie erwarten, dass früher oder später Spione des NEI oder der GAVÖK auf der Matte stehen. Die Manipulationen an Arcur-Beta sind ja nicht verborgen geblieben. Also werden die Laren jeden, der hier auftaucht, eingehend überprüfen.« »Du glaubst hoffentlich nicht, dass sie mich durchschauen könn ten?«, fragte der Vario empört. »Nein, das nicht«, antwortete Vanne. »Aber sie werden dich nicht frei herumlaufen lassen. Ob du zehn Kilometer von den Keloskern ent fernt bist oder etliche Millionen, das spielt keine Rolle. So einfach geht das nicht.« »Genau hier scheiden sich die Geister«, erwiderte der Vario. »Ich muss mich ja nicht freiwillig in die Gefangenschaft der Laren begeben. Bis sie mich erwischen, kann ich längst meine Mission erfüllt haben.« »Es wäre dennoch ein unverantwortliches Risiko«, beharrte Vanne. »Du solltest dir schon einen plausibleren Grund einfallen lassen, um auf Houxel aufzutauchen.« »Den habe ich«, behauptete der Vario. »In deinem Eifer scheint dir entgangen zu sein, dass die Station der Kelosker auf den Resten einer 403
Uralt-Anlage erbaut wurde. Eine unbekannte Zivilisation hat subplane tare Anlagen errichtet, die teilweise noch zu funktionieren scheinen. Schließlich haben wir eine schwache Energieortung von dort.« »Ich höre«, sagte Kershyll Vanne unbeeindruckt. »Es klingt plausibel, dass der Prospektor Clynt Talahassie vor Jahren schon auf Houxel war und diese Anlagen entdeckte. Er begnügte sich mit einer oberflächlichen Untersuchung, nahm sich aber vor, später wiederzukommen, um die vermuteten Kulturschätze zu bergen. Jetzt will Clynt sein Vorhaben ausführen. Aber was muss er sehen? Die La ren haben die Zeugnisse der alten Kultur geschändet und darauf einen Stützpunkt errichtet. Als waschechter Prospektor wird er sich nicht da rum kümmern und trotzdem versuchen, in die Anlagen vorzudringen und zu seiner Beute zu kommen. Das hört sich nicht schlecht an, oder?« Vanne schüttelte den Kopf. »Du wirst gar keine Gelegenheit haben, den Laren deine rührende Geschichte zu erzählen. Denn sie werden dein Schiff schon im Anflug atomisieren.« Der Vario wollte widersprechen, doch in dem Moment wurde Alarm gegeben. »Nicht weiter schlimm«, meldete der Kommandant. »Die Doppelsonne Arcur hat in der Hektikzone einen Protonensturm ausgelöst. Das kommt in einem Raumgebiet von solcher Intensität schon mal vor.« »Und warum der Alarm?«, wunderte sich Vanne. »Eine Vorsichtsmaßnahme. Die Vorausberechnungen haben ergeben, dass auch Paarft im Einzugsgebiet des Protonensturms liegt. Wir soll ten darauf vorbereitet sein.« Die Clynt-Talahassie-Maske stieß Vanne grinsend an. »Ist das nicht ein gutes Omen? Der Protonensturm könnte verhindern, dass ich den Laren das Märchen vom beutehungrigen Prospektor auftischen muss.« »Wovon sprechen Sie eigentlich?«, fragte Varmell irritiert. Sowohl der Vario-500 als auch das Konzept ignorierten die Frage. 404
»Ja, so könnte es gehen«, stimmte Vanne zu. »Sobald der Sturm sein Maximum erreicht hat, wäre die Ortung eines Kleinstraumschiffs prak tisch unmöglich. Wir könnten einen Mann unbemerkt auf Houxel ab setzen. Mich stört nur eines daran – dass du mir mit diesem Plan zu vorgekommen bist.«
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Die Raumlinse war startbereit, die Techniker räumten bereits den Han gar. Jeder wartete nur noch darauf, dass der Protonensturm sein Maxi mum erreichte. Killion Varmells Warnungen vor diesem Todeskommando waren un gehört verhallt. Kershyll Vanne hatte einfach auf seine Flugerfahrungen auf der aphilischen Erde verwiesen und darauf, dass er einen vincrani schen Lotsen vollwertig ersetzt hatte. »Noch fünf Minuten!«, hallte eine positronische Stimme durch den Hangar. Vanne und der Vario in der Maske des grauhaarigen Prospektors leg ten die leichten Druckanzüge an. Der Roboter hatte auf einem flug fähigen Anzug bestanden, weil er im Orbit über Houxel abgesetzt wer den wollte. Auf Grund der neuen Konzeption war ihm eine Landung selbst mit einer Raumlinse zu riskant erschienen. Es stand zu erwarten, dass Arcur-Beta in absehbarer Zeit weitere Stür me auslösen würde. Die Hyperphysiker der PLEYST sprachen aller dings davon, dass der alternde Stern viel zu früh in diese Phase getre ten sei. Kershyll Vanne wirkte, seit er das gehört hatte, sehr nachdenk lich. »Noch eine Minute!« Vanne und der Vario zwängten sich in die enge Kabine der Raumlinse. Die PLEYST hatte Fahrt aufgenommen und den unmittelbaren Be reich der Sonne Paarft verlassen, damit das winzige Beiboot nicht durch Protuberanzen gefährdet wurde. 405
Kaum hatte die Raumlinse im Katapultstart den Schweren Kreuzer verlassen, wurde sie zum Spielball der tobenden Gewalten. Kershyll Vanne bekam das Boot zwar schnell unter Kontrolle, dennoch wurde der Flug mehr als unruhig. »Das gefällt mir gar nicht«, sagte Vanne nach einiger Zeit. Der Vario warf einen Blick auf die verrückt spielenden Instrumente. »Mir ebenso wenig. Aber ich habe vollstes Vertrauen zu dir.« »So habe ich das nicht gemeint«, erwiderte Vanne. »Uns kommt der Protonensturm ja gelegen, aber für den Achtzig-Jahre-Plan kommt er viel zu früh. Ich mache mir deshalb Sorgen.« »Das kann ich verstehen.« Vanne schwieg wieder minutenlang. »Protonenstürme entwickeln sich erst kurze Zeit vor dem implo sionsartigen Kollaps eines Neutronensterns«, griff er das Thema dann wieder auf. »Vom ersten Protonensturm bis zu einem Black Hole dau ert es nicht einmal mehr Jahrzehnte. Das bedeutet aber, dass die Kelos ker den Prozess beschleunigen. Warum tun sie das? Der Plan ist darauf ausgerichtet, dass das Black Hole erst in einigen Jahrzehnten entsteht. Das lässt sich nicht einfach über den Haufen werfen.« »Du fragst dich nun, was sich die Kelosker dabei gedacht haben«, sagte der Vario-500. »Und du hegst womöglich ähnliche Befürchtun gen wie der Larenkommandant?« »Ich will nicht das Schlimmste hoffen …« »Es ist meine Aufgabe, das herauszufinden!« Das Prospektorengesicht grinste breit. Houxel zeichnete sich bereits zwischen den tobenden Energie schleiern ab. Langsam wurde der Planet größer, und schließlich zog Kershyll Vanne die Raumlinse in eine Kreisbahn. »In Ordnung«, sagte der Vario-Roboter. »Ich setze mich jetzt ab!«
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406
Er schwebte geostationär über dem Riesenplaneten. Die Raumlinse hatte soeben wieder abgedreht, als der Vario drei kleine Larenschiffe ortete. Es handelte sich um Beiboote von SVE-Raumern, die in an nähernd gleicher Höhe wie er eine Umlaufbahn um Houxel einge schlagen hatten. Noch schienen die Laren ihn nicht bemerkt zu haben, aber sobald er den Antrieb seines Schutzanzugs einschaltete, würden ihre Geräte auf die Energiequelle reagieren. Die Laren waren da, weil der Protonen sturm sich schon rapide abschwächte, und sie näherten sich rasch. Zuerst registrierte der Vario die auftreffenden Impulse nur über den Empfangsteil seines Grundkörpers, der in die Pseudo-Variable Kokon maske eingebettet war. Lediglich zum Schutz dieser Prospektoren-Mas ke hatte er den Raumanzug übergestreift. Augenblicke später reagierte auch der Funkempfang des Schutzanzugs auf die Impulse. Der Vario-500 hatte sie da schon analysiert und erkannt, dass ihr Ur sprung in der Uralt-Anlage zu suchen war, über der die Kelosker ihre Station errichtet hatten. Waren diese Impulsketten erst nur undeutlich zu vernehmen gewe sen, traten sie sehr schnell in den Vordergrund. Es schien, als würden sie durch einen Richtstrahl komprimiert. Der Vario reagierte mit dem Äquivalent menschlichen Erschreckens, denn dieser Umstand bedeutete, dass er von der Planetenoberfläche aus geortet worden war – genauer gesagt, von einer subplanetaren An lage. Er fühlte sich entlarvt und seiner Maske entblößt… etwas konnte durch die falsche Identität hindurchsehen und seine Tarnung überwin den. Das Fremde tastete bis in sein Innerstes vor. Die Schreckreaktion des Bioplasma-Teils wurde von der positroni schen Logik eliminiert. Bislang hatten die Laren keine Ahnung von der Beschaffenheit des Vario-500, obwohl sie seit Jahrzehnten Jagd auf ihn machten. Wenn sie ihn in seinem Urzustand auffanden, erkannte der Robotkaiser, würden sie nicht einmal Rückschlüsse auf seine Herkunft ziehen können. Hier, im Raumsektor Paarft, würden sie nie in Erwä 407
gung ziehen, dass er ein Produkt terranischen Erfindergeists sein kön ne. Die stärker werdenden Impulse der fremden Anlage ließen in dem Vario einen neuen Plan entstehen. Da er ohnehin als robotisches Pro dukt entlarvt worden war, entschied er, sich auch vor den Laren zu entblößen. Er aktivierte die Hochenergiewaffen, die in den Gliedern seines Grundkörpers verborgen waren, und zerstrahlte die Prospekto ren-Maske von innen heraus. In Sekundenbruchteilen verdampfte der Kokon mitsamt dem Schutzanzug. Der Vario-500 hing nun als metallenes Ei mit einer Höhe von fünf zig Zentimetern und einem mittleren Durchmesser von zwanzig Zenti metern über dem Planeten. Er ortete. Eines der Beiboote nahm direkten Kurs auf ihn. Gleich darauf schwenkten die beiden anderen ebenfalls ein. Die Laren hatten ihn entdeckt. Der Vario empfing weiterhin Impulse der subplanetaren Anlage. Er leitete sie über den Bioponblock weiter, um sie von seinem biopositro nischen Gehirn entschlüsseln zu lassen. Eine leicht verständliche Sym bolsprache wurde erkennbar. Der Vario fand den Kode dafür. Während die Laren näher kamen, lauschte er der Botschaft. Der Stützpunkt hieß Llungo-Mokran und war vor unermesslich lan ger Zeit erbaut worden. Damals hatte in fernen Sternenzonen ein Krieg zwischen zwei Völkern getobt, die Llungorenischen Schlachtfelder wa ren mit den Leichen der gefallenen Heroen übersät gewesen … Das Llungo-Mokran war zu ihrem Andenken errichtet worden, und es war das größte Heiligtum eines ganzen Volkes. Ein vollrobotisches System sorgte dafür, dass sich die Anlage selbstständig erneuerte. Tech nisch gesehen funktionierte das System immer noch und würde bis zum letzten aller Tage arbeiten. Dennoch schien etwas damit nicht zu stimmen. Die diesbezüglichen Impulse waren zu verwirrend, nicht ein 408
mal der Vario verstand sie. Für ihn hörte es sich an, als sei die Anlage verwaist, als fühle sie sich einsam und suche nach einer starken Führungshand, die den Ablauf aller Vorgänge wieder regeln würde. Der Vario konnte trotz größten Bemühens den wahren Sinn und die Aussage der Impulse nicht erkennen. Er verstand nur eins: Die Anlage bot ihm an, ihr Wächter zu werden. Das war zwar ein schmeichel hafter Vorschlag, aber ihm stand der Sinn nicht danach, Wächter eines Heiligtums eines fremden Volkes zu werden und Helden mit unaus sprechlichen Namen zu lobpreisen. Besiege den Geist der Heroen und erhebe dich so zu ihrem Hüter … Es konnte durchaus reizvoll sein, sich mit einer fremden Automatik zu messen und den Helden vergangener Äonen zu zeigen, dass terrani sche Produkte ebenfalls zu kämpfen verstanden, aber … Vielleicht ein andermal, dachte der Vario. Er hatte Wichtigeres zu tun. Aber das ließ er den Unbekannten nicht wissen, der ihm das verlo ckende Angebot unterbreitet hatte. Im Gegenteil. Der Vario sandte Im pulse aus, die analog jenen waren, wie er sie von der Anlage empfing. Er verfolgte damit einen eindeutigen Zweck.
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Joraan-Perk hatte Alarmstufe eins gegeben, als das unbekannte Flugob jekt gemeldet worden war. Der Kommandant der Paarft-Patrouille be trachtete angespannt die Schirme und ließ seine smaragdgrünen Augen immer wieder zu der Datenanzeige gleiten. Das Ding war eiförmig, in seiner scheinbar fugenlosen Metallhülle spiegelte sich der rötliche Schein der Sonne. Es bestand aus einer un bekannten, äußerst widerstandsfähigen Legierung und verfügte über eine eigene Energiequelle. »Was hältst du davon?«, fragte sein Stellvertreter. »Es scheint sich um einen Satelliten zu handeln, um einen orbitalen Bestandteil der frem 409
den Anlage auf Houxel.« »Es muss wohl so sein.« Joraan-Perk deutete auf die Messergebnisse. Sie hatten herausgefunden, dass der eiförmige Satellit geostationär über der Station stand. Außerdem funkte er in unverkennbarem Gleichklang mit der subplanetaren Anlage. »Mich wundert nur, dass wir nicht früher auf dieses Objekt gestoßen sind«, sagte der Patrouillenführer nachdenklich. »… dass wir überhaupt daraufgestoßen sind«, ergänzte sein Stellvertre ter. »Die Wahrscheinlichkeit spricht jedenfalls dagegen. Was willst du unternehmen?« »Erst warten wir die Auswertung der Feinortung ab.« Auch aus diesen Messergebnissen wurde Joraan-Perk nicht klüger. Die Ortungsstrahlen konnten das Ding nicht analysieren. »Wir fangen den Satelliten ein und bringen ihn zur Bodenstation zur Untersuchung«, entschloss er sich endlich. »Sollen die sich damit herumschlagen.« Mit einem Zugstrahl holte er den Satelliten heran und ging dabei überaus vorsichtig vor – weniger, um das Ding nicht zu beschädigen, sondern aus Furcht vor einer Explosion infolge unsachgemäßer Be handlung. Die Möglichkeit, dass es sich um einen Sprengsatz handelte, konnte er nicht gänzlich ausschließen. Joraan-Perk umgab das Objekt mit einem hyperenergetischen Schutz feld. »Sieht eigentlich ganz harmlos aus«, stellte er fest. »Es sendet weiterhin die seltsamen Impulse aus«, erklärte ein Or tungsspezialist, »obwohl diese wegen des Schutzschirms die Bodensta tion nicht mehr erreichen können. Das beweist, dass es sich um eine programmierte Robotsonde handelt.« »Man sieht dem Ding nicht an, dass es seit undenklichen Zeiten im Orbit steht«, bemerkte der Patrouillenführer. »Welche Erklärung gibt es dafür?« »Es kann sich um eine Legierung handeln, der kosmische Partikel 410
nichts anhaben können. Wahrscheinlicher ist aber – nach dem Alter der planetaren Anlage zu schließen –, dass der Satellit regelmäßig er neuert wurde.« »Egal.« Joraan-Perk winkte ab. »Das ist nicht unser Problem.« Das Beiboot verließ die Umlaufbahn und nahm Kurs auf die Zwie lichtzone von Houxel.
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Der Vario-500 triumphierte. Die Laren hielten ihn für einen Satelliten der fremden Anlage. Genau das hatte er bezweckt. Er sandte weiterhin die monotonen Impulse aus, während er von Zugstrahlen an eines der Beiboote herangezogen wurde, aber jäh schnappte die Falle zu. Ein hy perenergetischer Schutzschirm schloss ihn ein. Erst dann wurde er an Bord geholt. Hatten die Laren Verdacht geschöpft? Der Vario sandte weiterhin die Funkimpulse aus. Er wollte nicht, dass er als hochkomplizierter Roboter erkannt wurde. Andererseits soll te das Interesse an ihm groß genug bleiben, dass die Laren ihn zur Un tersuchung in den Stützpunkt brachten. In dem Energiegefängnis war er hermetisch abgeriegelt. Er konnte sich zwar vorstellen, dass die Laren weiterhin versuchten, ihn zu analy sieren, aber von diesen Vorgängen bekam er nichts mit. Der Vario funkte unaufhörlich im Gleichklang mit der uralten An lage. Dann wurde er aus dem Schiff abtransportiert. Das Schutzfeld er losch, als er sich in einem energetischen Verbindungstunnel befand. Er maß 1,62 Gravos an und wusste, dass er sein Ziel erreicht hatte. Die Laren hatten ihn in ihre Station auf Houxel gebracht. Hier war alles auf larische Verhältnisse abgestimmt, nichts deutete auf die Anwesen heit der Kelosker hin. »Ist das der Satellit, den uns Joraan-Perk angekündigt hat?«, fragte 411
ein Wissenschaftler. »Wie könnt ihr sicher sein, dass es sich um einen Trabanten der alten Station handelt?« »Spricht etwas dagegen?«, fragte der Überbringer. »Was spricht dafür?« »Das sollt ihr herausfinden.« »Als ob wir nichts Wichtigeres zu tun haben. Ist Germaar-Vonk we nigstens unterrichtet?« »Es obliegt euch, den Stützpunktkommandanten zu verständigen.« Der Überbringer verabschiedete sich mit einem militärischen Gruß und verschwand. Der zurückgebliebene Wissenschaftler betrachtete den Vario etwas ratlos. Die offensichtliche Interesselosigkeit des Laren passte dem Spezialroboter ebenso wenig wie ein denkbarer Übereifer. Er sah sich schon in irgendeinen Winkel abgeschoben, wo er in Ver gessenheit geraten würde. Deshalb variierte er seine Funkimpulse ge rade so weit, dass den Laren die Veränderung auffallen musste. »Die Impulse werden unregelmäßig, Dargmenon-Gelk!«, rief einer der Männer an den Messgeräten prompt. Der Wissenschaftler ergab sich in sein Schicksal. »Also gut, küm mern wir uns eben erst einmal um das Ding«, sagte er unwillig. »Aber verständigt den Kommandanten. Er muss selbst entscheiden, ob wir wertvolle Zeit mit dem Metallei vergeuden sollen.« Der Vario-500 ließ eine Reihe oberflächlicher Untersuchungen über sich ergehen, die den Laren keine neuen Erkenntnisse brachten. »Achtung!«, ertönte auf einmal eine herrische Stimme. Die Wissenschaftler nahmen vor einem Laren Haltung an, der so eben das Laboratorium betrat. Er warf einen prüfenden Blick auf das Metallei, blieb aber mehrere Schritt auf Distanz. »Ist das der Fund?«, fragte er schroff. »Was versprechen Sie sich da von? Handelt es sich wirklich um einen Satelliten der fremden Sta tion?« »Alles deutet daraufhin«, erklärte Dargmenon-Gelk. »Mit absoluter Sicherheit lässt sich das bislang nicht sagen. Wir stehen erst am Beginn 412
der erforderlichen Untersuchungen. Aber Satellit oder nicht, das Ding dürfte ein komplizierteres Innenleben haben als angenommen. Mag sein, dass es uns Aufschlüsse über die fremde Kultur geben kann.« »Seit wann interessieren Sie sich für fremde Kulturen?«, brauste der Lare auf. »Ich dachte, dass in diesem Stützpunkt an einem wichtigeren Projekt gearbeitet wird.« »Ich hatte nicht vor, eigenmächtig zu handeln«, versuchte der Wis senschaftler eine Rechtfertigung. »Ich wollte nur Ihre Befehle einholen, Kommandant. Mir persönlich wäre es lieber, Sie würden die Kelosker das Ding untersuchen lassen.« Der Vario glaubte, es in den grünen Augen des Stützpunktkomman danten aufleuchten zu sehen. »Warum eigentlich nicht?«, sagte er. »Das ist gar keine so schlechte Idee.« »Sie haben Hintergedanken dabei, Germaar-Vonk?«, wagte der Wis senschaftler einzuwerfen. Der Kommandant klopfte mit der Hand auf das Metallei. »Eine Prü fung mehr für die Kelosker«, erklärte er. »Wenn sich mein Verdacht als unbegründet erweist, werde ich das bestimmt nicht bedauern. Aber wenn wirklich etwas mit ihnen nicht stimmt, bekomme ich es heraus. Irgendwann werden sie einen Fehler begehen.« »Sollen wir das Objekt zur Station der Kelosker schicken?« »Ich werde es persönlich überbringen!« Der Vario hätte triumphieren können, denn es schien, dass er sein Ziel schneller und leichter erreichen würde als erwartet. Die Situation entbehrte auch nicht einer gewissen Pikanterie, wenn ihn der Laren kommandant selbst zu den Keloskern brachte. Der Transport verlief eintönig. Der Vario nutzte die kurze Zeitspan ne, um seinerseits verschiedene Messungen vorzunehmen. Er stellte fest, dass der Stützpunkt der Laren aus drei Kuppeln gleicher Größe bestand, jede an die hundert Meter hoch, mit einem Basisdurchmes ser von über fünfzig Metern. Die Station der Kelosker bestand nur aus einer einzigen Kuppel. 413
Diese Kuppel war auf Fundamenten erbaut, die von den Llungore nern erschaffen worden waren. Das wusste er bereits. Auch, dass es sich bei der Anlage, die ihre Erbauer Llungo-Mokran genannt hatten, offenbar um das Denkmal für ihre heroischen Kämpfer handelte. Die Frage blieb, ob die Llungorener ein kriegerisches Volk gewesen waren. Als der Bodengleiter die Station der Kelosker erreichte, konzentrierte der Vario sich auf die subplanetare Anlage. Sie reichte tief hinab und hatte eine überraschend große Ausdehnung. Eine Luftschleuse … Das Innenschott öffnete sich. Laren eilten her bei, um den Vario weiterzutransportieren. In dem Moment geschah der Zwischenfall. Die Laren reagierten dennoch blitzschnell. In der Bodenhalle erschien eine gepanzerte Gestalt. Sie war über zweieinhalb Meter groß und sah annähernd humanoid aus. Der Vario erkannte, dass der Gepanzerte zwei Arme und zwei Beine hatte. Über all an seinem Körper glänzte Metall, unter dem Helmvisier glühte es auf. Der Gepanzerte schrie etwas. Es hörte sich an wie »Koelkettanfollan nen«. Gleichzeitig zerstrahlten die Laren diese Erscheinung. Der Kommandant zeigte sich davon unbeeindruckt. »Es sieht aus, als habe der Protonensturm die Station aktiviert«, sagte er verdrossen. »Wir werden ein besonderes Augenmerk darauf richten müssen.«
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Bei den Keloskern herrschte Aufregung. Die Laren hatten sie über das unbekannte Objekt informiert und zudem das Erscheinen des Stütz punktkommandanten angekündigt. »Die Sache gefällt mir nicht«, sagte Sorgk argwöhnisch. »GermaarVonk hat stets versucht, uns zu überlisten. Bestimmt steckt auch dies mal eine Gemeinheit hinter seinem Besuch.« Tallmark war derselben Ansicht. Er glaubte, dass der Lare ihnen misstraute. »Germaar-Vonk kennt die Wahrheit über uns nicht«, ver 414
sicherte er dennoch. »Er ist kein Wissenschaftler und versteht nichts von unserer Arbeit. Wir dürfen uns nur nicht durch unser Verhalten verraten.« Die Bildüberwachung zeigte, dass die Laren in der Halle eingetroffen waren. Tallmark rief eine Vergrößerung ab, so dass nur mehr das unbe kannte Objekt sichtbar war. Es hatte Eiform und eine metallische Hül le, wirkte also recht gewöhnlich. »Was bezweckt Germaar-Vonk damit?«, fragte einer der Kelosker aus dem Hintergrund. Tallmark verstand die Furcht der anderen, die zugleich auch die sei ne war. Der Achtzig-Jahre-Plan hing nurmehr an einem dünnen Faden. »Bleibt hier zurück!«, bestimmte er. »Vertieft euch in die Arbeit. Der Protonensturm hat uns ohnehin vor Probleme gestellt. Llamkart und Sorgk, nur ihr beide begleitet mich.« Sie eilten zum nächsten Lastenantigravschacht und schwebten nach unten. »Überrascht, mich zu sehen?«, empfing Germaar-Vonk sie. »Ihr Erscheinen wurde uns angekündigt«, antwortete Tallmark. »Ebenso, dass Sie uns ein Untersuchungsobjekt überbringen wollen. Es muss sich um eine sehr wichtige Angelegenheit handeln, wenn Sie per sönlich kommen.« Der Lare machte in Richtung des Metalleis eine wegwerfende Hand bewegung. »Nicht der Rede wert. Sie können mir bestimmt in kür zester Zeit sagen, um was es sich bei dem Ding handelt. Ich warte auf das Untersuchungsergebnis.« »Vielleicht dauert es doch länger«, entgegnete der Wortführer der Ke losker unbehaglich. »Sie sind zu bescheiden, Tallmark.« Die Wachposten steuerten das Objekt mit dem Antigravfeld zum Lift. Tallmark hatte gehofft, dass die Laren sie wenigstens während der Untersuchung allein lassen würden. Doch Germaar-Vonk folgte ihnen hartnäckig. 415
»Was wissen Sie über dieses Ding?«, erkundigte sich Tallmark wie ne benbei. »Nicht viel. Es wurde von einem Patrouillenschiff im Orbit von Houxel aufgebracht. Es stand in einem stationären Orbit über der Sta tion. Interessant, nicht wahr?« »Das hat nichts mit uns zu tun«, erwiderte Tallmark eine Spur zu heftig. Er spürte die Blicke des Laren fast körperlich und fügte schnell hinzu: »Unter unserer Station befinden sich die Anlagen eines ausge storbenen Volkes. Dort sollten Sie Zusammenhänge suchen.« Germaar-Vonk schien enttäuscht. Er entspannte sich. »Diese Mög lichkeit habe ich selbst schon bedacht«, sagte er mürrisch. »Meine Wis senschaftler haben sogar herausgefunden, dass der Satellit Impulse aus sendet, wie sie ebenfalls von der subplanetaren Anlage kommen.« Tallmark fühlte sich plötzlich erleichtert. Trotz seiner eigenen Unzu länglichkeit fühlte er sich dem Laren gegenüber wieder etwas überle gen. Nun wusste er wenigstens, dass die Laren das Ding für einen orbi talen Trabanten hielten. Oder wollte der Kommandant ihm das nur einreden? Nein. Es gehörte kein n-dimensionales Genie dazu, um zu wissen, welche Schlussfolgerung die Laren aufgrund der Gegebenheiten ziehen mussten. Natürlich waren sie misstrauisch genug, um auch andere Möglichkeiten in Betracht zu ziehen. »Was halten Sie davon, Tallmark?« »Ihre Wissenschaftler vermuten richtig«, antwortete der Kelosker, oh ne zu zögern. »Es handelt sich um einen Robotsatelliten der fremden Station.« Tallmark entging nicht, dass Llamkart und Sorgk zusammenzuckten. Hoffentlich verrieten sie sich dadurch nicht. Germaar-Vonk hatte ihre Verhaltensweise gut genug studiert, um Gefühlsreaktionen deuten zu können. Aber momentan achtete der Kommandant nur auf ihn. »Und weiter?«, forderte der Lare ungeduldig. »Welche Aufgaben hat der Satellit? Ist er ein kriegstechnisches Werkzeug, oder dient er den 416
Wissenschaften?« »Er ist in jedem Fall ein harmloser Roboter«, erklärte Tallmark be stimmt. Wieder spürte er die zweifelnden Blicke der Kameraden auf sich ruhen. Wenigstens war ihre anfängliche Angst einer zögernden Ge lassenheit gewichen. Tallmark war immer noch in der Lage, so weit hochzurechnen, dass er sich in ihre Überlegungen hineinversetzen konnte. Ebenso wie er hatten sie erkannt, dass das Metallei niemals ein Satellit der subplanetaren Anlage war. Die Uralt-Station benötigte kei ne Außenposten, sie erfüllte allein ihren Zweck – welchen auch immer. Sie arbeitete autark. Doch das konnten die Laren nicht wissen. Und das erkannten nun zum Glück auch Llamkart und Sorgk. Wenn sie auf Anhieb sahen, dass das Metallei keinesfalls ein Produkt der Fremden war, so konnten die Laren das noch lange nicht. »Mehr, als dass dieses Ding harmlos ist, können Sie mir nicht sa gen?«, fragte Germaar-Vonk ungehalten. »Nicht auf Anhieb. Wir müssten es einer genaueren Untersuchung unterziehen.« Tallmark spannte sich. Falls der Stützpunktkommandant ihnen das Objekt nicht überließ, würde seine Lüge bald aufgedeckt werden. Denn bei eingehender Überprüfung mussten auch die Laren die Wahrheit erkennen. Und das konnte ungeahnte Folgen nach sich ziehen. Germaar-Vonk zögerte, dann sagte er: »Eigentlich liegt mir nicht viel an der Aufklärung. Aber wenn Sie Ihre vordringlichen Aufgaben nicht vernachlässigen, können Sie sich mit dem Ding befassen.« »Wir machen das nebenbei«, sagte Tallmark so emotionslos wie möglich. »Gut – unter dieser Bedingung.« Germaar-Vonk zog sich mit seinen Wachposten zurück. Als die Laren fort waren, wurde Tallmark von seinen Gefährten be stürmt. »Warum bist du dieses Risiko eingegangen?«, fragte Sorgk vorwurfs 417
voll. »Was soll es uns nützen, über diesen Robotkörper eine falsche Aussage zu machen?« »Ich dachte, jeden Moment erkennt der Lare alles«, gestand Llam kart. »Es ist doch offensichtlich, dass der Fund nicht zu der alten Sta tion gehört.« »Für uns, Llamkart, nur für uns ist das eindeutig«, sagte Tallmark zufrieden. »Die Laren sind anderer Meinung.« »Trotzdem verstehe ich nicht, warum du uns mit dieser Lüge in Ge fahr gebracht hast«, beharrte Sorgk. »Was bringt sie uns ein?« »Ich bin von der Schlussfolgerung ausgegangen, dass unsere Verbün deten versuchen, mit uns in Verbindung zu treten«, erklärte Tallmark. »Das wäre eine einleuchtende Erklärung für dieses Objekt.« »Das wäre sogar die wahrscheinlichste Erklärung – zumindest, soweit ich das erkennen kann«, musste nun selbst Sorgk zugeben. Sie umstanden den seltsamen Fund und betrachteten ihn von allen Seiten. Plötzlich wurde ein teleskopartiger Stab ausgefahren, auf dem sich ein Kugelkopf von zehn Zentimetern Durchmesser aufblähte. Daraus ertönte eine leise Stimme in Interkosmo: »Eigentlich hätte ich von ke loskischen Genies erwartet, dass sie meine wahre Identität sofort er fassen.«
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»… ich komme im Auftrag des NEI«, sagte der Robotkaiser ab schließend. »Ich trage die Bezeichnung Vario-500, bin aber besser un ter dem Namen einer meiner Masken als Kaiser Anson Argyris be kannt.« Er betrachtete die drei Kelosker durch die Sehorgane seines Ortungs kopfs. Sie standen immer noch stumm, aber er glaubte jetzt, dass sie unsäglich erleichtert wirkten und ihn geradezu ergriffen anschauten. Er fuhr die Gliedmaßen aus und erhob sich zu seiner vollen Größe. 418
»Glaubt ihr mir nicht? Ihr dürft mich nach allen Regeln n-dimen sionaler Mathelogik überprüfen. Nur zu, ich lege euch nichts in den Weg, denn mir liegt viel daran, schnell zu einer Verständigung zu kom men.« »Wir … sind überzeugt, dass Sie die Wahrheit sprechen, Vario«, sagte Tallmark stockend. »Als wir erkannten, dass Sie kein Produkt der sub planetaren Anlage sind, haben wir sofort die richtigen Schlüsse gezo gen. Wir waren sicher, dass Sie geschickt wurden, um mit uns Verbin dung aufzunehmen.« »So sicher scheint ihr gar nicht zu sein«, bemerkte der Vario skep tisch. »Fällt unsere schlechte Verfassung deutlich auf?«, erkundigte sich Sorgk. »Ihr wirkt verstört«, sagte der Vario. »Was ist geschehen?« »Wir haben unsere Fähigkeiten verloren«, antwortete Tallmark. Mit allem hatte der Vario-500 gerechnet: dass die Laren den Kelos kern Schwierigkeiten machten und sie unter Druck setzten. Dass die Kelosker durch die Ortsveränderung einen seelischen Knacks erlitten hatten. Tausend Möglichkeiten hatte er in Betracht gezogen – nur das nicht. »Einfach so?«, fragte er ungläubig. »Es geschah auf Goorn II«, berichtete Tallmark. »Wir erlitten auf dem ehemaligen Minenplaneten einen Howalgonium-Schock. Die Ein wirkung der Schwingquarz-Vorkommen beeinträchtigt unsere Fähigkei ten, rechnerisch bis in siebendimensionale Bereiche vorzudringen.« »Und das hat sich nach dem Verlassen des Planeten nicht geändert?« »Unser Zustand hat sich gebessert, leider nicht ausreichend. Vorerst können wir die Entwicklung von Arcur-Beta zum Neutronenstern nicht kontrollieren«, gestand Tallmark verzweifelt. Für den Vario fügte sich ein Punkt zum anderen. »Wenn Arcur-Beta überhitzt wird und ein beschleunigter Verfall eintritt, wäre niemand in der Lage, diese Entwicklung zu stoppen?«, wollte er wissen. 419
»Falls es dazu kommt, können wir nichts dagegen unternehmen«, be stätigte Tallmark.
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Der Zeitpunkt, da die Heroen auf die Reise ins Heldenland gehen konnten, war nicht mehr fern. »Georlanfannen, Taangaronnen, Arsgir danspoggen …« Einsam zählte alle drei Millionen Namen auf, deren Andenken er zu schützen hatte, und er fügte mit donnernder Stimme hinzu, dass es durch das Labyrinth hallte: »Hört, ihr Tapferen, der Tag eurer Heimkehr wird bald kommen! Habe ich euch nicht eine Ewig keit hindurch gut gedient? Habe ich eure Waffen nicht nach bestem Wissen und Gewissen gepflegt? Ihr werdet mit strahlenden Orden und blanken Waffen durch das Tor in euer Reich einziehen können. Sagt, dass ihr mit mir zufrieden seid!« Einsam wartete vergeblich auf eine Antwort. Er ließ eine angemessen lange Zeitspanne verstreichen. »Ja, ich habe euch gut gedient«, antwor tete er sich dann selbst. Er hatte stets geglaubt, dass die Station mit ihm zufrieden sei, ja, er hatte sich selbst schon als einen Teil der Station betrachtet. Er war ihr unumschränkter Herrscher, ihm standen alle Anlagen zur Verfügung, er hatte sich ihrer nach eigenem Gutdünken bedienen können. Aber nun stellte sich die Station gegen ihn. Er hatte es geahnt, hatte sofort gewusst, dass es mit dem unscheinbaren Schiff Probleme geben würde, das so unvermittelt im Bereich der roten Sonne aufgetaucht war. Oder sollte er es so sehen, dass sein Ruf erhört worden war? »Ich habe nach einem ebenbürtigen Gegner verlangt, an dem ich mich messen kann«, gestand er sich ein. »Ich habe es mir selbst zuzu schreiben, wenn das Llungo-Mokran diesem Wunsch nachkommt. Ich bin kein Feigling, ich stehe zu meinem Wort. Zeige dich, Varioggan tenmaggenen!« 420
Einsam beruhigte sich wieder. Er sang Heldenlieder. Es wäre alles nicht so schlimm gewesen, wäre er nicht dahinterge kommen, dass die Station gegen ihn intrigierte. Einsam hatte den Ruf abgehört, den das Llungo-Mokran an den ›eisenbeschlagenen, rund ge schliffenen Vario von den Fünfhundert‹ ausgesandt hatte. Die Station warb um ihn und bezeichnete ihn sogar schon als den kommenden Wächter der Heroen. »Wollt ihr es so, Georlanfannen, Taangaronnen …?« Diesmal kam die Antwort: »Nein!« Die Stimme klang fest und uner schütterlich. Es war die Stimme eines Heroen. Die Stimme Ernstel wlatscheks. Einsam war gerührt. Der erste von drei Millionen Heroen, der sich für ihn ausgesprochen hatte. Noch dazu einer der legendenumwo bensten. »Ich stehe zur Tradition!«, ließ der Held mit dröhnender Stimme wissen. Einsam, der sich vor der strahlenden Erscheinung ehrfurchtsvoll zu rückgezogen hatte, war ergriffen. Ernstelwlatschek ging für ihn in den Kampf. Der Held würde den Herausforderer besiegen, der nicht einmal würdig war, einen Heldennamen zu tragen. Einsam stimmte eine Hymne auf Ernstelwlatschek an. Er wusste. dass drei Millionen Helden mit ihm waren.
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Germaar-Vonk war enttäuscht und verbittert über die lakonische Ant wort von Hotrenor-Taak. Sie war eindeutig, kühl und distanziert ab lehnend. Kein Ton der Anerkennung, vielmehr eine einzige Zurecht weisung. Der Stützpunktkommandant von Houxel überlegte lange, ob und wie er darauf reagieren sollte. Er war noch zu keinem Entschluss ge langt, da geschah etwas, das seinem Misstrauen neue Nahrung gab. 421
Die Wissenschaftler hatten alle Daten über den Protonensturm aus gewertet. Dargmenon-Gelk erstattete ihm persönlich Bericht. »Sie sind wohl mächtig stolz darauf, dass es Ihnen gelungen ist, den Sturm zu analysieren«, sagte Germaar-Vonk giftig. »Es gibt einige Details, die mir erwähnenswert erscheinen«, erklärte der Chefwissenschaftler ruhig. »Zuerst fällt auf, dass das Auffinden des Satelliten mit dem Ende des Protonensturms zusammentrifft. Es könn te also sein, dass die Anlage auf kosmische Ereignisse programmiert ist.« »Ist das bedeutungsvoll?« »Vielleicht. Immerhin befindet sich dieser Stützpunkt nahe der Hek tikzone. Auf diese Art von Aktivität hat die Anlage jedoch nicht er kennbar reagiert. Erst jetzt, da wir Arcur-Beta aufheizen und dadurch den Protonensturm verursachten, wurde ein Satellit ausgeschickt. Ist das Zufall? Oder steht zu vermuten, dass die Uralt-Anlage erst tätig wird, sobald der potenzielle Neutronenstern in eine bestimmte Ent wicklungsphase eintritt?« »Was schließen Sie daraus?« »Wenn ich mit meiner Vermutung Recht habe, dann gibt es in dem subplanetaren Labyrinth Instrumente, mit denen die Entwicklung eines Neutronensterns zum Black Hole verfolgt werden kann. Die Instru mente wären für uns von großem Wert, denn mit ihnen könnten wir die Berechnungen der Kelosker besser überprüfen.« »Ist das alles?« »Die wichtigste Erkenntnis habe ich schon angedeutet, aber das ist Ihnen entgangen.« »Ich will keine Andeutungen hören!«, schrie Germaar-Vonk wütend. »Drücken Sie sich verständlich aus, Dargmenon-Gelk!« »Wie Sie wünschen«, sagte der Chefwissenschaftler. »Der Protonen sturm wurde durch den in Arcur-Beta stattfindenden Umwandlungs prozess ausgelöst. Das ist an sich nicht überraschend. Es wird im wei teren Verlauf mehrfach zu solchen Prozessen kommen. Nur sind wir 422
nicht in der Lage, vorauszusagen, wann Protonenstürme einsetzen wer den. Um das zu können, müssten wir Sieben-D-Mathelogiker sein …« Germaar-Vonk fuhr hoch. »Die Kelosker hätten den Protonen sturm voraussagen können?«, fragte er. »Unbedingt. Leider haben sie es nicht getan.« »Nein, sie haben es nicht getan«, wiederholte Germaar-Vonk. Er blickte den Wissenschaftler bohrend an. »Warum nicht?« »Darauf können Ihnen nur die Kelosker selbst Antwort geben.« »Ich werde sie fragen! Bei den Hetosonen, ich werde von ihnen eine Erklärung verlangen.« »Wenn die Kelosker nicht einmal in der Lage sind, einen harmlosen Protonensturm vorauszuberechnen, kann man sich vorstellen, wie es bei der endgültigen Erstellung des Black Holes zugehen wird«, versetz te der Chefwissenschaftler. »Es wäre das vollkommene Chaos.« Germaar-Vonk versuchte gar nicht erst, seinen Triumph zu verbergen. »Sie können gehen, Dargme non-Gelk.« Er machte sich sofort auf den Weg zur Station der Kelosker. Diesmal kündigte er sein Kommen nicht an, er wollte die Para-Abstrakt-Den ker überraschen. Doch das misslang kläglich. Kaum betrat er die Maschinenhalle, als wüster Lärm entbrannte. Die Wachposten drängten ihren Kommandanten sofort zurück und schar ten sich schützend um ihn, so dass er das Geschehen kaum überbli cken konnte. Umso überraschender traf ihn deshalb der Anblick der metallisch verhüllten Riesengestalt, die in der Halle erschienen war. Dann erst sah er, dass einer der mächtigen Blöcke verschoben war und eine Öffnung zu den subplanetaren Anlagen freigegeben hatte. Das Metallungetüm ließ seine dröhnende Stimme erschallen. Hinter dem Visier glühte es auf. Die Wachen eröffneten sofort das Feuer, doch ihre Energieschüsse wurden von einem unsichtbaren Schutzschirm absorbiert. Der metal 423
lene Riese wandte sich der Rampe zu, die in die oberen Etagen führte. Germaar-Vonk eilte zum Antigravschacht. Bislang war es nie zu sol chen Vorfällen gekommen, erst seit der eiförmige Satellit aufgebracht worden war. Er vermutete, dass etwas in der Anlage versuchte, den Sa telliten zurückzuholen. »Haltet die Erscheinung auf!«, befahl er mehreren Männern. »Die an deren kommen mit mir!« Zwischen fünf Soldaten schwebte der Kommandant zu den Arbeits räumen der Kelosker hoch. Diesmal konnten sie sich nicht herausre den. Für ihn war erwiesen, dass sie versagt hatten. »Tallmark!«, schrie er, schon als er den Antigravschacht verließ. Von unten ertönte Kampflärm. Er stieß die Türen zu verschiedenen Arbeitsräumen auf. »Wo ist Tall mark?«, herrschte er die Kelosker an, die von ihrer Arbeit hochschreck ten. »Er untersucht den Satelliten …« Eine Seitentür öffnete sich, Tallmark erschien. Der Lare stürmte so fort auf ihn zu und drängte ihn in den angrenzenden Raum zurück. Llamkart und Sorgk standen dort vor dem Metallei, das in halber Raumhöhe schwebte. »Wir haben unsere Untersuchungen noch nicht …«, begann Tall mark. Doch Germaar-Vonk unterbrach ihn heftig. »Darum geht es mir nicht«, herrschte er den Kelosker an. »Ich will wissen, warum Sie uns nicht vor dem Protonensturm gewarnt haben!« »Weil wir ihn für bedeutungslos hielten«, antwortete Tallmark. Für einen Moment war Germaar-Vonk sprachlos. Er erkannte, dass er die Frage anders hätte formulieren müssen, und er bereute es be reits, dass er Dargmenon-Gelk nicht als Berater mitgenommen hatte. »Einen Protonensturm von solchen Ausmaßen hielten Sie für bedeu tungslos?«, setzte er nach. »Geben Sie zu, dass Sie von der Entstehung des Sturms nichts gewusst haben! Sie waren nicht fähig, ihn voraus zuberechnen.« 424
»Glauben Sie das wirklich?«, erwiderte Tallmark. »Wenn wir nicht einmal das könnten, dürften wir uns niemals an die Erschaffung eines Black Holes wagen.« Diese Aussage war von bestechender Einfachheit. Trotzdem wollte der Lare sich den Verdacht nicht ausreden lassen, schon gar nicht mit solcher Logik. »Warum haben Sie den Sturm nicht gemeldet?«, bohrte er weiter. »Ich sagte es schon.« Tallmark schlenkerte unruhig mit seinen Ten takeln. »Wir haben lange vor dem Ausbruch den genauen Zeitpunkt und die zu erwartende Stärke errechnet. Aber wir haben den Sturm ignoriert, weil wir ihn für das Projekt nicht als bedeutungsvoll an sahen. Wollen Sie die Unterlagen haben, die unsere Prognose betref fen?« Germaar-Vonk winkte heftig ab. Er würde mit diesen Unterlagen nichts anfangen können, und selbst wenn, dann würde es ihm nicht möglich sein zu beweisen, zu welchem Zeitpunkt die Berechnungen erstellt worden waren. Der Kampflärm war verstummt. Während Germaar-Vonk noch über legte, wie er sich den besten Abgang verschaffen konnte, meldete ein Wachposten, dass der Eindringling vernichtet worden sei. Germaar-Vonk nützte die Gelegenheit sofort. Er deutete auf das Me tallei. »Was haben Sie mit diesem Ding angestellt, dass die alte Anlage plötzlich ihre Verteidigung aktiviert?« »Mit unseren Untersuchungen hängt das nicht zusammen«, erklärte Tallmark fest. »Wieso erscheinen dann diese Kampfmaschinen? Das geschieht erst, seit der Satellit in den Stützpunkt gebracht wurde.« »Ich muss Sie berichtigen, Germaar-Vonk«, erwiderte Tallmark. »Bei diesen Kampfmaschinen, wie Sie sagen, handelt es sich keineswegs um Roboter. Das sollten inzwischen auch Ihre Leute erkannt haben.« »Keine Roboter?«, wiederholte der Lare überrascht. »Was sind sie dann?« 425
»So weit, um diese Frage mit Bestimmtheit beantworten zu können, sind wir noch nicht. Und Vermutungen wollen wir vorerst für uns be halten.« Das war natürlich eine Anspielung. Aber Germaar-Vonk ging nicht darauf ein. »Was halten Sie von der Theorie, dass der Protonensturm mit der Aktivierung der alten Anlage zu tun haben könnte?«, erkun digte er sich wie nebenbei. Wenn der Kelosker sie bejahte, widersprach er damit seiner Behauptung, dass der Protonensturm bedeutungslos ge wesen sei. »Diese Theorie ist Unsinn«, antwortete Tallmark. Germaar-Vonk gab sich dennoch nicht geschlagen. Die Kelosker wirkten auf einmal zu selbstsicher, und das gefiel ihm nicht.
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»Das ist gerade noch gut gegangen«, sagte der Vario, als er wieder mit den Keloskern allein war. »Aber ihr habt euch nur eine Gnadenfrist erkämpft. Germaar-Vonk hat Blut geleckt und wird keinesfalls aufge ben.« Tallmark ließ sich auf alle viere nieder. Der Zwischenfall hatte ihn mehr mitgenommen, als er sich selbst eingestehen wollte. »Lange halten wir diesem Druck nicht mehr stand«, sagte Llamkart müde. »Es muss sich bald Entscheidendes ändern.« »Mir ist ebenfalls bewusst, dass etwas geschehen muss«, sagte der Vario. »Die Sache mit dem Protonensturm zieht ungeahnte Kreise. Germaar-Vonk kam mit seiner Vermutung der Wahrheit schon sehr nahe.« »Ich weiß«, sagte der Kelosker bedrückt. »Aber nachdem wir den Protonensturm als bedeutungslos abgetan haben, konnte ich nicht aus sagen, dass die Anlage auf Arcur-Beta programmiert ist. Germaar-Vonk hat auf einen Widerspruch gelauert.« »Sie verstricken sich ohnehin immer mehr in ein Lügengespinst«, 426
betonte der Vario. »Aber ich will sehen, was ich unternehmen kann. Ich muss mit dem Schiff in Verbindung treten, das mich gebracht hat.« »Wie wollen Sie das vor den Laren verbergen?«, fragte Tallmark. »Ich sende auf der Frequenz der subplanetaren Anlage. Ein geraffter und kodierter Spruch auf der Basis dieser Impulse wird den Laren kaum auffallen.« »Aber er könnte weitere dieser kriegerischen Erscheinungen anlo cken«, gab Llamkart zu bedenken. »Die Llungorenischen Heroen werden ohnehin kommen, wenn ich mich nicht bald zum Kampf stelle.« »Wissen Sie denn, worum es sich bei diesen Erscheinungen han delt?«, fragte Sorgk angespannt. »Germaar-Vonk wird das von uns er fahren wollen.« Die Kelosker taten dem Vario regelrecht Leid. Im Vollbesitz ihrer Fähigkeiten hätte es sie nur eine kurze Überlegung gekostet, um die Llungorenischen Heroen zu analysieren. »Haltet ihn hin!«, riet er. »Ich werde die Wahrheit bestimmt vor den Laren herausfinden.« Er speicherte eine Zusammenfassung der Situation auf Houxel und über den Zustand der Kelosker, der Kershyll Vanne alles Wissenswerte entnehmen konnte, und schickte die Daten als ultrakurzen Impuls ab. Der Vario hatte zu Vanne vollstes Vertrauen. Das von ES gesandte Konzept mit den sieben Bewusstseinen war für ihn in seiner Gesamt heit ein Genie. Aber das war nicht der einzige Grund, warum er sich zu Vanne hingezogen fühlte. Er war überhaupt die gelungene – wenn nicht die vollkommene – Synthese von Geist und Körper. Ein kurzer Gedanke, ein flüchtiger Traum: eine Menschheit nur aus Konzepten. Und der Preis dafür? Würde das der Verzicht auf jede In dividualität sein? Ein zu hoher Preis? Kershyll Vanne schien das Gegen teil zu beweisen, er war in jedem Fall ein erster Schritt hin zur Voll kommenheit … Der Gedanke verblasste. »Jetzt müssen wir uns eine Fluchtmöglichkeit schaffen«, sagte der 427
Vario zu den Keloskern. »Sie denken an das subplanetare Labyrinth?«, fragte Tallmark. »Ist das nicht zu gefährlich?« »In unserer Lage nicht gefährlicher als Untätigkeit. Außerdem habe ich mir vorgenommen, das Rätsel der Llungorener zu lösen.«
21.
E
s fiel den Keloskern nicht schwer, einen Doppelgänger für den Vario-500 zu entwerfen, denn dabei kam es nur auf die äußere Form an. Allerdings waren sie nicht in der Lage, das Duplikat auch an zufertigen. Ihre ungeschickten Greiflappen erlaubten es ihnen nicht, die Bestandteile zu einem exakten Ellipsoid zusammenzusetzen. Diese Arbeit musste der Vario selbst übernehmen. Da sein simpler Doppelgänger ihm nur optisch ähnlich sah und die Laren den Schwindel schon bei einer oberflächlichen Überprüfung be merkt hätten, bauten die Kelosker ein Kraftfeld um ihn herum auf, das nur durch Impulse wie von der alten Station abgeschaltet werden konnte. »Es kann gar nichts schiefgehen«, versicherte der Vario. »Ihr könnt den Laren einreden, dass ihr das Schutzfeld aufbauen musstet, damit ich mit den Anlagen nicht in Verbindung treten kann, und dass das für eure n-dimensionalen Versuche zwingend notwendig sei.« »Das klingt unglaubwürdig«, wandte Tallmark ein, der alles versuch te, um den Vario zurückzuhalten. »Nicht für die Laren«, erwiderte der Roboter. »Sie können das Ge genteil nicht beweisen.« Inzwischen hatte er das Wachsystem der Laren längst erkundet. Sie 428
hatten nur bei den Kraftwerken in der Bodenhalle und nahe dem Zu gang in das subplanetare Labyrinth Posten aufgestellt. Die Zugänge in die oberen Räume wurden nicht bewacht, hier begnügten sie sich mit gelegentlichen Patrouillengängen. Das größte Problem für den Vario war, dass die Laren seit neuestem eben auch den Abgang in den subplanetaren Bereich sicherten. Über seine Ortung hatte er herausgefunden, dass unter den Block fundamenten Hohlräume lagen, vermutlich Zugänge, die den Laren bislang unbekannt waren. Es war ihm jedoch nicht gelungen, den Öff nungsmechanismus zu entschlüsseln. Immerhin gelangte er ungesehen in die Halle und verbarg sich zwi schen den Kraftwerksanlagen. Von hier aus sendete er auf der Frequenz der alten Station. »Ich komme«, signalisierte er. »Ich will das Angebot prüfen, Wächter des Llungo-Mokran und Hüter der Heroen zu wer den. Aber wie kann ich unbemerkt ins Llungo-Mokran gelangen?« Die Antwort kam prompt. Porrgellantiggandondter wird dir den Weg weisen. Der Vario wartete ab. Die larischen Wachposten schienen sich zu langweilen und vertrie ben sich die Zeit mit einer Art Würfelspiel. Sie bemerkten nicht, dass sich einer der mächtigen Blöcke in die Luft erhob und in drei Metern Höhe in der Schwebe verharrte. In der entstandenen Öffnung erschien eine metallgepanzerte Gestalt. »Porrgellantiggandondter!«, schallte ihr Kriegsruf durch die Halle, als sie auf die Laren losstürmte. Während die Wachen auf die Erscheinung feuerten, verschwand der Vario in der Unterwelt. Über ihm verklang der Kampflärm. Deshalb glaubte er, dass die La ren den Llungorenischen Heroen wie seine Vorgänger eliminiert hät ten. Aber wieder erklang der markerschütternde Kriegsruf. Ein mon ströser Schemen stürmte durch die Öffnung und prallte gegen den Robotkaiser. Zugleich fiel der Steinblock herab und verschloss die 429
Öffnung wieder. Der Vario wich aus der unmittelbaren Nähe der gepanzerten Gestalt zurück. Die völlige Dunkelheit beeinträchtigte ihn wegen seiner In frarotwahrnehmung nicht. Der gepanzerte Krieger stand breitbeinig da, dem Roboter zuge wandt, der nun zum ersten Mal Gelegenheit hatte, einen Llungoreni schen Heroen in Ruhe zu betrachten. Der Anblick erinnerte ihn an ei nen Haluter, zumindest was den wuchtigen Körper anbetraf und die stämmigen Beine und Arme. Nur das zweite Armpaar fehlte. Der Kopf war kugelrund, ebenfalls gepanzert und bestand aus sieben quer laufenden Ringen, die senkrecht geschlitzt waren. So entstand der Eindruck eines aufklappbaren Visiers. Der Vario hatte schon während der ersten Konfrontation erkannt, dass durch die Schlitze Strahlenbündel verschossen wurden. Noch glühte es dahinter nicht auf, aber er richtete sich darauf ein, sich ver teidigen zu müssen. Sein Gegenüber blieb abwartend. Es hatte den Anschein, als wolle der Krieger dem Vario Gelegenheit geben, ihn in Augenschein zu neh men. Endlich empfing der Robotkaiser einen Funkimpuls: Ich bin Porrgel lantiggandondter. Du bist Varioggantenmaggenen. »Vario würde genügen«, erwiderte er. Im Vergleich zu dem über zwei einhalb Meter großen Gepanzerten wirkte er zerbrechlich. »Wenn du dich mit den Llungorenischen Helden messen willst, brauchst du einen Heroennamen. Komm!« Der Gepanzerte setzte sich in Bewegung, eine steile Rampe hinunter, auf der seine Schritte wie Donner hallten. Von seinen Beinen ging eine starke und leicht zu ortende Magnetstrahlung aus. Der Versuch, den Heroen zu durchleuchten, schlug dagegen fehl. Der Vario folgte ihm auf seinen Gliedern aus Atronital-Compositum, das die fünfzigfache Widerstandskraft von Terkonitstahl besaß. »Wo hin bringst du mich?«, fragte er. 430
»Einsam wünscht dich zu sehen.« Der Vario hatte angenommen, die Station sei verwaist, zumindest ohne Führung. Die Krieger zählten nicht als solche. Aber Einsam war gewiss kein Name eines Heroen. »Wer ist Einsam?« »Das wird er dir selbst sagen.« Der Gepanzerte drehte den Kugel kopf um 180 Grad, ohne den Körper die Drehung mitmachen zu las sen. Er wandte dem Vario sein Visier zu. »Nachdem du mit Einsam ge sprochen hast, gehörst du mir.« Der Vario schwieg. Offenbar hatte er sich eine völlig falsche Vorstel lung von dieser Anlage zurechtgelegt. Nach den ersten Informationen war er der Ansicht gewesen, dass es sich um ein Denkmal für die gefal lenen Krieger eines fremden Volkes handelte, die vor undenklicher Zeit auf den Llungorenischen Schlachtfeldern gekämpft hatten. Nun waren diese Krieger aber mehrmals aufgetaucht. Dabei hatte er der Aussage, dass er gegen den ›Geist der Llungorenischen Heroen‹ anzukämpfen haben würde, nur symbolische Bedeutung beigemessen. Llungo-Mokran übersetzte der Vario mit ›Stätte der Toten‹ und as soziierte das mit dem antiken Nekropolis. Aber Nekropolis schien zu leben. Die Absicht, notfalls mit den Keloskern hierher zu flüchten, er schien ihm plötzlich nicht mehr so verlockend. Durch hohe Hallengänge und über geradlinig verlaufende Rampen drangen sie tiefer in die Station vor. Die Wände und der Boden be standen aus dem gleichen Material wie die Blöcke in der Bodenhalle der Kelosker-Station. »Warum willst du mit mir kämpfen, Porrgellantiggandondter?« »Weil ich an der Tradition festhalte.« Die Antwort brachte ihn nicht weiter. Der Vario entschied, keine Fragen mehr zu stellen, sondern sich diese für den ominösen Einsam vorzubehalten. »Wir sind da!« Der Gepanzerte hielt an. In der nächsten Sekunde verschwand er. Dem Vario schien es, als diffundiere der Heroe blitz 431
schnell. Gleichzeitig blieb eine Restenergie zurück, die sich nur lang sam abschwächte. Vor dem Vario entstand eine Wand mit einem großen Torbogen, da hinter eine große Halle, deren Decke sich im diffusen Licht verlor. Am Ende der Halle entdeckte er endlos scheinende Wände, insgesamt zwanzig, die untereinander durch metallene Sprossen verbunden wa ren. Jede Sprosse war von der nächsten einen Meter entfernt, sowohl in der Höhe als auch in der Tiefe, so dass der Eindruck eines Gerüsts entstand. Eine Gestalt kletterte dort auf den Boden herab und näherte sich. Es war unverkennbar ein Roboter. Das bestätigte auch die Ortung des Va rio-500. Der andere Roboter hatte keinen eigentlichen Körper. Dennoch war er unverkennbar nach dem Vorbild eines humanoiden Wesens erbaut worden. Er war so groß wie die Gepanzerten und dabei unglaublich dünn. Sein faustgroßer Kopf, dem des Varios nicht unähnlich, die Spinnen arme und Spinnenbeine, noch dünner und filigranartiger wirkend als die des Robotkaisers, wurden von einem rückgratartigen Verbindungs glied zusammengehalten. Dieses Rückgrat bildete zugleich den Körper. »Ich bin Einsam«, signalisierte der Roboter. »Warst du es, der sich mit mir im Orbit in Verbindung setzte?«, er kundigte sich der Vario. Er war entschlossen, von Anfang an klare Ver hältnisse zu schaffen. Vor allem musste er diesem Roboter klar ma chen, dass er nicht an dem Posten eines Wächters von Llungo-Mokran interessiert war. Das würde ihm bestimmt einige Unannehmlichkeiten ersparen. »Ich bin Einsam«, wiederholte der andere. »Ich weiß alles, was im Llungo-Mokran vor sich geht – auch die Geschehnisse außerhalb blei ben mir nicht verborgen.« »Hast du mich gerufen?«, fragte der Vario. »Ich habe mich lange danach gesehnt, mich bewähren zu können«, 432
sagte Einsam, als hätte er die Frage nicht gehört. »Ja, es gab Zeiten, da hätte ich mich gefreut, jemanden zu finden, der sich die Aufgaben mit mir geteilt hätte. Doch es kam niemand, der würdig gewesen wäre, mit mir das Heiligtum zu betreuen. Roboter waren zu gefühlskalt, Lebewe sen hingegen zu emotionsgebunden und zu kurzlebig. Du, Varioggan tenmaggenen, bist aus demselben Material wie ich gefertigt.« »Vario genügt …« »Früher hätte ich dich freudig empfangen«, fuhr Einsam fort. »Nun muss ich dich als Rivalen betrachten, denn du bist zu spät gekommen. Vario…« Der Robotkaiser schnitt Einsam das Wort ab, bevor er den ganzen Zungenbrecher von sich geben konnte. »Warum komme ich zu spät?« »Weil das Tor sich bald öffnen wird, durch das die Heroen in ihr Reich einziehen werden. Für diese kurze Zeitspanne möchte ich die Verantwortung mit niemandem mehr teilen.« »Meinst du mit dem Tor das Schwarze Loch, zu dem die kleinere Sonne des Doppelsterns zusammenfallen wird?« »Nenne die Dinge ruhig bei jenen Namen, die ihr ihnen gegeben habt«, sagte Einsam. »Ich kenne sie alle … Aber du weißt wenig, eigent lich nichts. Du wirst viel lernen müssen, wenn du mich ablösen willst. Zuerst solltest du die drei Millionen Namen der Heroen kennen ler nen. Speichere sie! Haemmmeringas …« »Wozu?«, wandte der Vario ein. »Ich will dir dein Amt nicht streitig machen. Im Gegenteil, wir könnten auf einer anderen Basis zusammen arbeiten.« »Du bist dem Ruf der Station gefolgt, das verpflichtet dich!« »Gehörst du nicht zur Station?«, wunderte sich der Vario. »Du musst doch ein Teil dieses Stützpunkts sein.« »Als solcher betrachte ich mich schon lange nicht mehr«, erklärte Einsam. »Die Station arbeitet gegen mich. Das wird deutlich, weil sie mich durch dich ablösen will.« »Da habe ich aber ein gewichtiges Wort mitzureden«, sagte der 433
Vario. »Beginnen wir mit der praktischen Information.« Einsam setzte sich in Bewegung. »Du wirst die Namen der drei Millionen Heroen lernen müssen. Ebenso die Heroenlieder, die du während des feierlichen Zere moniells zu singen hast. Aber das ist eine Kleinigkeit für deine Posi tronik. Außerdem ist dir die Station gewogen und wird dich unterstüt zen. Sie kann dir praktisch unbegrenzte Möglichkeiten bieten.« Der Vario musste Einsam wohl oder übel folgen, wenn er mehr über das Llungo-Mokran erfahren wollte. Einsam erreichte die hoch aufragenden Trennwände, die eine Stärke von nur drei Metern hatten. Sie erstreckten sich über zehn Kilometer hinweg, wie der Vario durch eine Messung feststellte, und ihre Flächen waren in Quadrate unterteilt. Jedes Quadrat hatte eine Seitenlänge von fünf Metern und wies fremdartige Schriftzeichen auf. Daneben gab es Instrumente und Tastaturen. »Das sind die Heroenladen.« Einsam deutete auf ein Quadrat. »Ins gesamt drei Millionen, für jeden Llungorenischen Helden eine Lade.« Wieder zog der Vario den Vergleich mit Nekropolis. Diese Heroenladen waren vermutlich nichts anderes als die letzten Ruhestätten für die Krieger des längst vergessenen Volkes. Das Llungo-Mokran war demnach ein gigantisches Mausoleum. Dem Vario wurden die Zusammenhänge deutlich. Die Llungorener hatten mit diesem Mausoleum ihren Helden ein Denkmal gesetzt und für jeden von ihnen ein Grab geschaffen. Dieses Denkmal hatte das Volk überdauert, denn es sollte bestehen, bis Arcur-Beta zu einem Black Hole zusammenfiel. Darauf war die Robotanlage programmiert. Unter normalen Umständen hätte das Denkmal noch eine Million Jahre bestehen müssen. Aber wegen der Manipulationen der Laren wurde Arcur-Beta schon viel früher zu einem Neutronenstern. »Eigentlich wäre es nicht nötig, die Heroenladen zu warten«, fuhr Einsam fort, »denn sie sind durch eine sich ständig regenerierende Au tomatik gesichert und vor Verfall geschützt. Aber die Helden haben 434
eine bessere Behandlung verdient. Deshalb gibt es mich. Ich ehre sie, indem ich ihr Andenken mit einfühlsamer Hand pflege. Ich besinge ihre Taten, damit ihr Ruhm alle Zeiten überdauern kann. Ich verehre die Helden … Aber vielleicht wirst schon bald du diese Aufgabe über nehmen.« »Wie oft muss ich erklären, dass ich das nicht will?«, rief der Vario. Einsam ließ den Einwand nicht gelten. Er hantierte an einem der Quadrate. Aus der Wand ertönte ein anschwellendes Summen. Andere Töne vermischten sich damit zu fremdartigen Klängen. Einsam sang dazu. Und pries zwischendurch immer neue zungenbre cherische Namen. Endlich verklang die Musik. Einsam verstummte ebenfalls. In dem Quadrat waren Linien entstanden, die sich zu einem Rechteck von vierzig mal siebzig Zentimetern vereinten. Im Schnittpunkt der Diago nalen erschien ein Griff. Einsam zog daran – und tatsächlich glitt die Lade auf. Sie befand sich in zwei Metern Höhe, so dass Einsam bequem hineinblicken konnte. Der Vario hingegen musste eine der Sprossen erklimmen. Der Anblick, der sich dem Robotkaiser bot, überraschte ihn. Wäh rend er den optischen Eindruck verarbeitete, stellte er Messungen an. Die Lade war in drei Sektoren unterteilt, jeder von dem anderen durch transparente Wände und Energiebarrieren getrennt. In dem ei nen Drittel sah der Vario drei verschieden große Stäbe, deren eines Ende verdickt war und einen Griff aufwies, während das andere spitz zulief. Dabei konnte es sich nur um Waffen handeln. Um Heroenwaf fen sozusagen. In dem zweiten Drittel lagen sieben Kristalle unterschiedlicher Grö ße, von feinen Drähten durchzogen, auf die winzige Kügelchen aufge fädelt waren. »Swuttaeraennengottarriigs Waffen und seine Orden«, erklärte Ein sam. Im letzten Drittel lag ein Gebilde, das aussah wie eine ausgetrocknete 435
Wurzel. Diese erinnerte den Vario an die terranische Mandragora, auch Alraune genannt, die gelegentlich menschenähnlich aussah und der in alten Zeiten magische Kraft zugeschrieben worden war. »Was ist das?« Der Vario deutete auf das Wurzelgebilde. »Der Heroe selbst!«, antwortete Einsam ehrfurchtsvoll. Der Vario, der seine Positronik ausschließlich mit den Ortungen be schäftigte, brauchte eine Weile, um diese Worte mit dem Bioplasmateil seines Gehirns zu verarbeiten. Schließlich schaltete er über den Bio ponblock die Positronik hinzu und analysierte das ausgetrocknete Ge bilde. Er erkannte, dass es im wahrsten Sinne des Wortes ausgetrocknet war – exakter ausgedrückt, dehydriert. Das ließ nur den Schluss zu, dass die Llungorener ihren toten Helden alles Wasser entzogen hatten, um sie auf diese geringe Größe schrumpfen zu lassen und sie platzsparend in den Heroenladen unterbringen zu können. Aber waren diese dehydrierten Wesen überhaupt tot? Konnte man sie ins Leben zurückrufen, wenn man ihren Körpern das entzogene Wasser zurückgab? Einsam nahm nacheinander die Waffen und Orden heraus, fuhr lie bevoll mit seinen metallenen Fingern darüber und bestrahlte sie aus einem in seinem Ortungskopf eingebauten Projektor. Er legte Waffen und Orden zurück und schloss die Lade. »So, Vario«, sagte er. »Es wird Zeit für deine Bewährungsprobe. Du musst dir einen Heldennamen verdienen, bevor du zum Wächter des Llungo-Mokran werden kannst.« Der Vario versuchte Einsam erneut klar zu machen, dass er kein Konkurrent für ihn war. Doch der Roboter hörte ihm nicht zu. Er wandte sich bereits der nächsten Heroenlade zu und stimmte eine Hymne an den darin verewigten Helden an. Es hatte keinen Sinn, sich weiter mit diesem verrückten Roboter auf zuhalten. Er musste wirklich verrückt sein, anders war sein Verhalten nicht zu erklären. Der Vario wandte sich dem Ausgang der Helden 436
gruft zu. Als er durch den Torbogen trat, verschwand dieser hinter ihm sofort. Für Sekundenbruchteile konnte der Vario noch ein Trans mitterfeld anmessen, dann war auch dieses erloschen. Sofort erschien der Gepanzerte wieder. »Bist du bereit, Vario?« Hinter den Schlitzen des Visiers glühte es. »Worauf wartest du noch, Porr?«, rief der Vario zurück. Er hatte aus seinem linken Arm den Desintegrator ausgefahren, in seiner Rechten war der Thermo-Intervallnadler erschienen. Dem Heroen schien es gar nicht zu gefallen, dass sein unaussprech licher Name verstümmelt worden war. Denn kaum hörte er sich als Porr angesprochen, da stürmte er los. Da der Vario keinen Energieschirm aufbauen konnte, um sich vor den Waffen des Gegners zu schützen, eröffnete er sofort das Feuer. Er nahm den Kugelkopf des Gepanzerten mit Desintegrator und Thermo nadler unter Punktbeschuss und zielte dabei auf einen der Visierschlitze. Der Heroe hatte gerade sein Kampflied angestimmt und verstummte abrupt. Sein Bewegungsablauf veränderte sich jedoch nicht, er tänzelte mit seltsamen Schritten heran – aber nun völlig lautlos. Der Vario feuerte eine zweite Desintegratorsalve ab – und Porr löste sich auf. Er hinterließ nicht einmal eine Infrarotspur. Es schien, als hätte der Gepanzerte nie existiert. Die erste Hürde hast du genommen, Vario, erreichte ihn ein Funkimpuls. Aber es werden sich dir viele in den Weg stellen. »Hoffentlich nicht alle drei Millionen Helden. In diesem Fall lassen wir es lieber. Ich kehre freiwillig zu den Keloskern zurück.« Es gibt keine Rückkehr, verkündete die Station. Du hast den Fehdehand schuh aufgenommen. Der Vario betrat einen Stollen, der sich nach hundert Metern ga belte. In jeder Abzweigung wartete ein Gepanzerter. »Warum lässt du es zu, dass Einsam die Ruhe der Heroen stört und sie auf mich hetzt?«, fragte der Robotkaiser die Station. »Hast du die 437
Kontrolle über ihn verloren?« Du hast es gesagt: Einsam verletzt die Ehre der Heroen. Deshalb ist er zu er setzen. Du wirst seine Nachfolge antreten, aber dafür musst du kämpfen. »Ich kämpfe nur um mein Überleben!«, erwiderte der Vario. Einer der Gepanzerten hatte sich in Bewegung gesetzt. Seine Schritte hallten durch den Gang. Der Vario ortete, erhielt aber kein befriedi gendes Ergebnis. Die Erscheinung vor ihm schien nur aus einer verwir renden Fülle verschiedenster Energiefelder zu bestehen. Er war gerade zu ein Energiebündel – und die Ortung konnte bis zu seinem materiel len Kern nicht vordringen. Für einen Sekundenbruchteil spielte der Vario mit dem Gedanken, dass in der zweieinhalb Meter großen Energierüstung nur die dehy drierten Reste eines Heroen steckten. Aber er verwarf diese Überlegung sofort wieder. »Wulffioroennengeahaünnen!«, rief der Gepanzerte seinen Helden namen. »Dann mal drauflos, Wulff!« Auch dieser Heroe brüllte bei der Verstümmelung seines Namens auf und stürmte wutentbrannt los. Der Vario nahm einen der Visierschlitze ins Ziel und feuerte. Augenblicklich trat Stille ein. Er ließ den schweigenden Heroen näher kommen und wich ge schickt aus. Der Stumme glitt an ihm vorbei, wandte sich in dem ge wohnten Bewegungsablauf um und ging erneut zum Angriff über. Dabei machte der Vario eine alarmierende Entdeckung. Der Energie haushalt seines Gegners normalisierte sich wieder. Gleichzeitig bekam der Gepanzerte seine Stimme zurück und stimm te sein Kampflied wieder an. Auch seine Schritte wurden erneut hör bar. Der Vario sah, dass sich das Visier öffnete. Dahinter war – nichts. Nur Leere. Und geballte Energie, die sich in der Öffnung zu einer faustgroßen Miniatursonne konzentrierte. 438
Das war der entscheidende Moment. Der Vario eröffnete das Feuer, und der Heroe kam im Zickzack auf ihn zu, als wolle er den Thermo und Desintegratorstrahlen ausweichen. Doch der Vario hatte seine Zieleinrichtung perfekt justiert. Wieder senkte sich Schweigen über den Gepanzerten. Die glutende Energie in der Helmöffnung erlosch, und dann löste sich die Erschei nung auf. Der Vario gewann den Eindruck, gegen Gespenster zu kämpfen. Schon stellte sich ihm das zweite Gespenst zum Kampf. Es stieß sei nen Heldennamen aus – und lief geradewegs in die Schussbahn der tödlichen Strahlen. Diesmal ließ der Vario der Erscheinung keine Chance, sich wieder zu festigen. Er stellte das Feuer erst ein, als der Heroe nicht mehr existierte. Kein weiterer Gepanzerter war zu sehen. Der Robotkaiser fragte sich, wozu dieses Kampfspiel gut sein sollte. Zum einen waren die Heroen nur Energieprojektionen – das hatte er schon herausgefunden. Trotz mangelnder Ortungsergebnisse oder gerade deswegen. Zum anderen wurde er gar nicht richtig gefordert. Die Heroen hatten noch keinen Schuss auf ihn abgegeben. Hatten sie erkannt, dass er über keine Defensivbewaffnung verfügte, und nah men deshalb Rücksicht auf ihn? Es schien immer mehr, als sei das Ganze nur ein Turnierspiel, das zur Erbauung unsichtbarer Zuschauer stattfand. Oder nur eines einzigen Zuschauers. Einsam? »Was geht hier eigentlich vor?«, signalisierte der Vario. Du musst dir den Weg ins Zentrum erkämpfen, kam die Antwort. Dann hast du gesiegt. »Wie gelange ich ins Zentrum?« Durch das Labyrinth. Der Vario erkannte, dass er bisher am eigentlichen Problem vorbeige gangen war. Es galt, das Schema zu finden, nach dem das Labyrinth angelegt worden war. Er befand sich irgendwo in diesem Irrgarten zwi schen dem Zentrum der Anlage und dem Ausgang zur Oberwelt. Bei 439
des schien für ihn unerreichbar, und ihm wurde deutlich, dass er nicht zu den Keloskern zurückkehren konnte, wenn er nicht vorher die an ihn gestellten Anforderungen erfüllte. Er musste ins Zentrum gelangen, dort lag der Schlüssel zu seiner Freiheit. Er ortete vergeblich. Überall waren Störfelder. Er raste mit Höchstgeschwindigkeit durch die Gänge. Aber er hatte das Gefühl, sich im Kreis zu bewegen. Ein neuer Kriegsruf erscholl vor ihm. Ein Heroe kam in der bekann ten rituellen Art näher, die er jedoch individuell abgewandelt hatte. Die Positronik schaltete sofort und ließ den Vario das Kampfritual nachvollziehen – und ebenfalls abwandeln. So belauerten sich die beiden Widersacher. Die Bio-Komponente des Varios zog sich zur Beobachtung zurück und überließ der Positronik die Verteidigung. In der Ortung zeigte sich der Heroe als kompliziertes Strahlungsmuster, das sich im Rhyth mus der Bewegungen veränderte. Der Vario eröffnete das Feuer aus dem Thermostrahler. Unter Dau erbeschuss veränderte sich das Strahlungsmuster der Energieprojektion, und aus der verwirrenden Fülle schälten sich Schemata heraus, das Muster wurde deutlicher und offenbarte sich nicht nur als Teilplan des Labyrinths, sondern zeigte sogar den momentanen Standort an. Bevor die Bioplasma-Komponente alle Einzelheiten registrieren konnte, verging der Heroe im Dauerfeuer. Die beiden Gehirn-Komponenten des Vario-500 wurden über den Bioponblock wieder zu einer Biopositronik vereint. Nun wurde ihm endgültig deutlich, welche Aufgaben die Energieprojektionen hatten. Ein normales Wesen hätte ihre Funktion nie erkannt, ebenso wenig wie ein nicht mit schöpferischem Denken begabter Roboter. Das Tur nierspiel war ein kompliziertes Puzzle, in dem jeder Heroe nur ein Teilstück bedeutete. Der Vario fragte sich, wer so verspielt war, ihm auf diese Weise Informationen zukommen zu lassen: die Zentrale von Nekropolis oder Einsam? 440
»Wo sind die Helden der Llungorenischen Schlachtfelder?«, signali sierte er. »Sind die Heroen zu feige, sich Varioggantenmaggenen zum Kampf zu stellen? Lügen die Hymnen, die den llungorenischen Mut lobpreisen?« Diese Herausforderung blieb nicht ungehört. Die Energieprojektio nen der Heroen erschienen eine nach der anderen. Und jede zeigte durch ihr Strahlungsmuster dem Vario ein Stück des Weges ins Herz von Nekropolis, bis sie ihn endlich an sein Ziel gewiesen hatten. Die Zentrale von Llungo-Mokran war im Vergleich zu dem riesigen Labyrinth, das sich bis tief unter die Oberfläche von Houxel und an den Rand der Zwielichtzone erstreckte, klein und unscheinbar. Bedie nungsinstrumente, wie der Vario sie kannte, gab es nicht. Nekropolis wurde durch Funkimpulse gesteuert. Über die Kuppeldecke spannte sich ein Abbild des Irrgartens – und darin waren Impulsgeber und -empfänger untergebracht. Angesichts dieser Schaltzentrale wirkte der humanoide Roboter wie ein Anachronismus. Einsam stand in der Mitte der Zentrale und er wartete den Vario. »Du hast gesiegt«, erklärte er. »Du hast die Prüfung bestanden und kannst nun meine Nachfolge antreten. Aber glaube nicht, dass du als Herrscher über das Llungo-Mokran deine eigenen Ziele verfolgen kannst. Llungo-Mokran bin ich – und ich werde darüber wachen, dass du den llungorenischen Heroengedanken hochhältst. Ich weiß, dass du dazu fähig bist, das hast du durch deinen Sieg über Einsam bewiesen.« »Bist du nicht Einsam?«, fragte der Vario verblüfft. »Ich bin Llungo-Mokran. Einsam wurde eliminiert.« Allmählich erkannte der Vario-500 die Wahrheit, und es war tatsäch lich so, dass die Erkenntnis nur langsam in sein Bewusstsein einsicker te. Denn der positronische Teil seines Gehirns verwarf die Möglichkeit als unlogisch, dass die Robotanlage unter einer Art Schizophrenie litt. Aber leugnen ließ sich dieses Spaltungsirresein ebenso wenig – es musste sich sogar um eine mehrfache Bewusstseinsspaltung handeln. 441
»In mir gibt es keine Einsamkeit«, sagte der Roboter. »Ich bin Llun go-Mokran, und ich vereine drei Millionen Helden in mir.« Der Bioplasma-Anteil des Varios empfand die Szene als gespenstisch. Er sah Parallelen zwischen sich und dem Roboter, der ihm gegen überstand. An dessen Stelle wäre er wahrscheinlich demselben Wahn sinn verfallen. Es gab keinen Zweifel, dass der Stationsroboter ebenfalls Bioplasma zusätze haben musste. Anders war sein Irresein nicht zu erklären. Noch wahrscheinlicher war, dass die Erbauer des Llungo-Mokran die Positronik der Schaltzentrale mit einem Plasmazusatz versehen hatten. Als die Llungorener die Totenstadt für ihre gefallenen Helden er richtet hatten, da hatten sie ihnen zweifellos ein Denkmal für die Ewigkeit setzen wollen. Nicht nur, dass sie ihre toten Helden in dehydrierter Form erhielten, damit diese Jahrmillionen überdauern konnten, sie hatten ebenso bestimmt, dass die Helden in ferner Zu kunft ein Begräbnis besonderer Art bekommen sollten. Oder glaubten sie an ein Leben nach dem Tod im Hyperraum? Es schien fast so. Warum sonst hätten sie Nekropolis unter riesigem tech nischem Aufwand errichtet, damit die Stadt Äonen überdauern konnte – bis zu jenem Zeitpunkt, da sich Arcur-Beta in ein Black Hole ver wandelte. Der Vario fand in den Speichern, die er über Funk leicht abrufen konnte, keine Anhaltspunkte über den Glauben der Llungorener. Wahrscheinlich hatte die Bio-Robotanlage im fortgeschrittenen Sta dium des Irrsinns alle diese Aufzeichnungen gelöscht, um die Heroen noch mehr zu mystifizieren. Dafür sprach auch der Umstand, dass Einsam die Betreuung der Heroenladen unter einem immer kompli zierter werdenden Ritual vorgenommen hatte. Diese Heldenverehrung hatte schließlich dazu geführt, dass sich die Anlage mit den Heroen identifizierte. Sie hatte sich schon vorher in zwei Komponenten gespalten, in jenen Teil, der sich als Llungo-Mo kran verstand und alle technischen Anlagen in sich vereinigte, und in 442
Einsam, der die llungorenische Tradition weiterführte. Der Höhepunkt des Irrsinns war eine ausweglose Situation, die nur durch das Black Hole gerettet werden konnte. So gesehen war es für Nekropolis das Beste, dass die Laren die Entwicklung des Neutronen sterns beschleunigten. Der Vario musste sich das alles zusammenreimen, weil es keine Auf zeichnungen gab. Aber er wusste, dass er der Wahrheit sehr nahe kam. Es überraschte ihn, dass der Riesenroboter nicht auch die techni schen Vorgänge auf ein Minimum reduziert hatte. Aber wahrscheinlich hatten die Erbauer ihn mit einer entsprechenden Sperre versehen. Des halb war es dem Vario möglich, technische Daten abzurufen. Ihm war schon bei der Untersuchung der Heroenladen aufgefallen, dass die Urnen für die dehydrierten Helden den kleinsten Raum in den Blöcken einnahmen. Den übrigen Platz beanspruchten technische Anlagen, die nicht nur der Erhaltung der sterblichen Überreste der Helden dienen konnten. Eine vage Vermutung hatte er nicht weiterver folgt, aber nun erhielt er die Bestätigung dafür. Jede Lade war ein Mi niaturraumschiff mit einem Steuersystem, das auf die Schwerkraft ei nes Black Holes ansprach. Allerdings waren diese Schiffe nicht so leis tungsstark, um von Houxel aus starten zu können. Deshalb wunderte es den Vario-Roboter nicht, als er eine Einrichtung entdeckte, die ei nem Fiktivtransmitter gleichkam. Damit konnten die Kleinstraumschif fe mit den dehydrierten Helden in Lichtjahre entfernte Gebiete abge strahlt werden. Der Fiktivtransmitter war auf die Doppelsonne Arcur justiert. Er würde sich erst aktivieren, nachdem Arcur-Beta zu einem Black Hole geworden war. »Du hast Einsam abgelöst«, sagte der llungorenische Roboter. »Nun musst du eine Lösung unseres Problems finden.« »Welches Problems?« »Die Automatik muss abgeschaltet werden. Die Heldenladen müssen schon sehr viel früher als programmiert auf die Reise geschickt werden, 443
denn die Sternentwicklung geht zu schnell vor sich. Das ist unnatür lich, aber wir müssen uns den Gegebenheiten anpassen. Es gibt außer dem einen zweiten Grund, der rasches Handeln verlangt: die Laren. Durch dein Erscheinen wurde ihr Interesse am Llungo-Mokran ge weckt. Ich könnte ihnen die drei Millionen Heroen entgegenstellen, aber das würde zu erbitterten Kämpfen führen. Die Helden sollen ihre Ruhe haben. Ich will nicht den gleichen Fehler begehen wie Einsam.« »Dann hat Einsam mir den Weg hierher gewiesen?«, wollte der Vario wissen. Doch er erhielt keine Antwort. »Du wirst zu Ende führen, was die Heroen in ihrem letzten Willen verlangten«, erklärte der Roboter. »Schicke sie auf die Reise in das Land hinter dem schwarzen Tor. Du hast keine andere Wahl.« Der Vario überlegte. Das Labyrinth hatte seine Schrecken für ihn verloren, er kannte den Weg zurück. Sollte er sich seinen Weg mit Waffengewalt freikämpfen? Aber dann hätte er die gesamte Station zerstören müssen. Sobald die Laren weit genug in die Anlage vordrangen, würden sie Beweise dafür vorfinden, dass die Kelosker falsche Aussagen gemacht hatten – und vor allem konnten sie aus der llungorenischen Technik darauf schlie ßen, dass er, der Vario, kein Bestandteil von ihr war. »Ich kann dich zwingen, Vario…« Der Roboter kam nicht mehr da zu, den Heroennamen zu vollenden. Der Robotkaiser hörte die Dro hung, sah, dass der Roboter eine verräterische Bewegung machte, und aktivierte augenblicklich seine Waffen. Der llungorenische Roboter ver glühte. Im selben Sekundenbruchteil schloss sich ein energetischer Schutzschirm um die Schaltzentrale. Der Vario war gefangen. Alle Schaltkreise und Speicher waren nach wie vor leicht für ihn zu gänglich. Es gab keine Sperren, die verhindert hätten, dass er auf die Anlage Einfluss nahm. Nur den Schutzschirm konnte er nicht abschal ten. Ihm blieb keine andere Wahl, als die Forderungen zu erfüllen. Bisher hatte er noch nicht darüber reflektiert, was von ihm eigentlich 444
verlangt wurde. Der Roboter hatte gesagt, dass die Automatik abge schaltet werden musste und die Miniaturraumschiffe vorzeitig auf die Reise zu schicken waren, damit sie ihr Ziel rechtzeitig erreichten. Aber warum hatte er dies nicht selbst eingeleitet? Der Vario glaubte, vor einer nicht zu bewältigenden Aufgabe zu ste hen. Dennoch verlor er keine Zeit und ging ans Werk. Er war schon zu lange hier. Mit jeder Stunde, die er den Keloskern fernblieb, er höhte sich die Gefahr, dass die Laren sein Duplikat als Attrappe ent larvten … Er schickte tastende Impulse aus, mit denen er die Schaltkreise er forschte. Ihr Schema war für ihn leicht zu durchschauen, so dass er bald auf die Automatik stieß. Ein einziger Funkimpuls genügte, um sie auszuschalten. Warum hatte Llungo-Mokran es nicht getan, wenn alles so einfach war? Der Vario kam zu dem Schluss, dass die Erbauer des Roboters eine Hemmschwelle errichtet hatten. Alles blieb friedlich, nachdem er die Automatik abgeschaltet hatte. Endlich wusste der Vario, dass er keine versteckte Sicherheitsschaltung zu befürchten hatte. Er konnte den Impuls abgeben, der den Fiktiv transmitter aktivierte und die drei Millionen Miniaturraumschiffe auf die Reise schickte. In derselben Sekunde, als der Transmitter anlief, erlosch der Schutzschirm um die Schaltzentrale. Der Vario erhielt einen letzten Impuls vom Llungo-Mokran. Er stammte allerdings nicht von den Anlagen selbst, sondern war von ihnen nur gespeichert worden. Es war eine Nachricht von Kershyll Vanne.
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»Wir werden von Germaar-Vonk auf Schritt und Tritt belauert«, klagte Llamkart. »Er muss etwas wissen.« »Wir müssen durchhalten«, beschwor Tallmark den Gefährten. 445
»Wenn wenigstens der Vario bald zurückkäme«, sagte Sorgk. Tallmark betrachtete die Roboterattrappe. Bei seinem letzten Besuch hatte der Stützpunktkommandant die Herausgabe des Metalleis ver langt und dies damit begründete, dass er den Keloskern nicht mehr zu traue, seine Geheimnisse zu enträtseln. Tallmark hatte das Schlimmste gerade noch verhindern können. Aber lange würde sich der Lare nicht mehr hinhalten lassen. Die Kelosker zuckten zusammen, als aus der Bodenhalle Kampflärm erscholl. In der Überwachung sahen sie zwischen den Quadern eine ge panzerte Gestalt auftauchen. »Varioggantenmaggenen!«, brüllte sie. Die larischen Wachposten eröffneten das Feuer. Der Gepanzerte stürzte sich auf sie und bahnte sich einen Weg zur Rampe in die obe ren Etagen. Gespannt verfolgten die Kelosker seinen Weg. Sie ahnten, wer sich hinter dieser Tarnung verbarg, denn die ersten Silben des Heroenna mens klangen ihnen sehr vertraut. Der Angreifer hatte den Arbeitsbereich der Kelosker fast erreicht, als er in den Energieschüssen der Laren verging. Die Wachen sahen nicht, dass aus der Glutwolke ein eiförmiges Gebilde fiel und sofort wieder verschwand. »Endlich!« Tallmark war die grenzenlose Erleichterung anzuhören. »Wir haben schon befürchtet, Sie seien in der Station verschollen.« »Zeitweise befürchtete ich selbst, dass ich nicht zurückkommen würde«, sagte der Vario. »Glauben Sie, dass der Zeitpunkt für eine Flucht gekommen ist?«, fragte Sorgk. »Im Gegenteil. Wir werden die Stellung halten.« »Was haben Sie in der Anlage entdeckt, das Sie so zuversichtlich macht?« »Meine Zuversicht hat damit nichts zu tun. Ich habe eine Nachricht von meinem Freund Kershyll Vanne erhalten.« »Hat er einen Ausweg gefunden?« 446
»Das nehme ich an. Andernfalls hätte er mir sein Erscheinen auf Houxel nicht angekündigt.« Die Kelosker schwiegen eine Weile – betroffen, wie es schien. »Das wirft nur weitere Probleme auf«, sagte Llamkart schließlich. »Wie sollen wir auf das Erscheinen eines Menschen reagieren? Und wie sollen wir es erklären? Denn das werden wir wohl müssen.« »Allerdings«, stimmte der Vario zu. »Doch ich bin überzeugt, dass es einen Ausweg gibt. Tallmark, haben Sie denn überhaupt kein Selbst vertrauen mehr?« »Doch«, versicherte der Kelosker fest. »Das Auftauchen des Konzepts sollte uns neuen Mut geben. Nach allem, was Sie uns über Kershyll Vanne berichtet haben, muss es sich um eine außergewöhnliche Per sönlichkeit handeln, mit für einen Menschen unwahrscheinlichen Fähigkeiten.« »Das will ich meinen!«, sagte der Vario. Er schaltete das Energiefeld ab, in dem sein Doppelgänger ruhte, und demontierte ihn eigenhändig. Dabei dachte er wehmütig an die Maske des Clynt Talahassie. Der alternde Prospektor und Kershyll Vanne hätten ein gutes Team abgegeben. Schade, dass er gezwungen worden war, die Maske zu vernichten.
22.
K
ershyll Vannes nachdenklicher Blick verriet Besorgnis. Killion Varmell, der Kommandant der PLEYST, registrierte es genau. Aber er schwieg dazu. »Wenn die Laren das merken, geht es den Keloskern an den Kragen«, sagte Vanne unvermittelt. 447
Varmell stellte noch immer keine Frage. Kershyll Vanne hatte vor wenigen Minuten eine Serie hyperphysika lischer Messungen beendet und sofort im Anschluss daran Varmell um eine Unterredung gebeten. Die PLEYST stand weiterhin in der Koro na der Sonne Paarft. Weitaus näher an der Doppelsonne Arcur stan den etliche Messsonden siganesischer Bauart – zu winzig, als dass sie den Laren in der Hektikzone aufgefallen wären. Von ihnen kamen stetig neue – und zum Teil erschreckende – Daten. »Die Kelosker haben versagt!«, stellte Kershyll Vanne fest. »Inwiefern?«, wollte Killion Varmell wissen. »Arcur-Beta wird sich schon in den nächsten zwölf Monaten in ein Schwarzes Loch verwandeln!« Der Interimskommandant atmete tief ein – und hielt die Luft an. »Ich kann mir nicht denken, dass den Laren auf Houxel die Ent wicklung lange verborgen bleibt«, fuhr Vanne fort. »Sie haben bessere Messgeräte als wir und kennen die Physik der stellaren Evolution bes ser.« »Ich nehme an«, bemerkte Killion Varmell, »Sie halten dennoch an Ihrem Vorhaben fest, nach Houxel zu gehen.« »Je schneller, desto besser. Die Kelosker brauchen Hilfe.« »Bei Gelegenheit sagen Sie mir, wie Sie sich auf Houxel einschleusen wollen«, schlug Varmell vor. »Ich bin gespannt darauf. Was der Vario geschafft hat, klappt auf diese Weise ohnehin kein zweites Mal.« »Wie das mit mir funktioniert, das ist Sache des Robotkaisers und der Kelosker. Sie sind informiert, dass ich komme. Also werden die Kelosker auch dafür sorgen, dass ich in ihre Nähe gelangen kann.« »Glauben Sie nicht, dass dies eine sehr pauschale Hoffnung ist?« »Nicht ganz so pauschal, wie Sie denken.« Kershyll Vanne sah ruck artig auf, als sei ihm ein neuer Gedanke gekommen. »Wir müssen einen zweiten Funkspruch nach Houxel absetzen! Weil ich nicht sicher sein kann, ob die Kelosker den weiter beschleunigten Zusammenbruch von Arcur-Beta bemerkt haben. In Kürze werden die Laren auf sie zu 448
kommen und fragen, wann mit der Entstehung des Schwarzen Loches zu rechnen sei.« Killion Varmell zuckte mit den Schultern. »Tun Sie, was Sie nicht lassen können. Ich habe von Gäa die Anweisung, Ihnen weitgehend freie Hand zu lassen. Wenn die Laren uns orten, müssen wir eben ver schwinden.«
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Stützpunktkommandant Germaar-Vonk war begeistert. Die Informa tion eines seiner Wissenschaftler hatte ihm endlich den Beweis gelie fert, den er brauchte. Die angeblich so genialen Sieben-D-Mathemati ker hatten in der Tat ihre außergewöhnlichen Fähigkeiten verloren. »Einer der keloskischen Anführer ist sofort zu mir zu bringen!«, be fahl er. »Sorgk, Tallmark oder Llamkart, einer von den dreien.« Geraume Zeit verging. Germaar-Vonk starrte auf das Panoramaholo, das eine Wand seines Arbeitsraums einnahm. Es zeigte das Gelände außerhalb der Kuppel, eine öde Steinwüste in der Dämmerungszone des Riesenplaneten Houxel. Endlich brachten zwei Wachen den Kelosker. Es war Sorgk. In dem Raum gab es kein Sitzmöbel, das geeignet gewesen wäre, sei nen massigen Körper aufzunehmen. Andererseits hielt Germaar-Vonk es ohnehin nicht für nötig, den Keloskern gegenüber noch Höflichkeit zu zeigen. Es machte ihm nichts aus, dass Sorgk stehen musste. »Wann, glauben Sie, wird sich Arcur-Beta in ein Schwarzes Loch ver wandeln?«, fragte er. Sorgk verriet weder Überraschung noch Unsicherheit. »Bevor dieser Planet einmal seine Sonne umrundet hat«, antwortete er. Germaar-Vonk sprang auf. »Nach eurem Plan hätte es noch Jahr zehnte dauern müssen!«, schrie er unbeherrscht. »Das ist richtig«, gab der Kelosker zu. »Es war uns nicht bekannt, dass sich Arcur-Beta in einer Zone hypertropher Instabilität befindet. 449
Wir haben das erst vor kurzem bemerkt. Die Instabilität ist dafür ver antwortlich, dass der Zerfallsprozess wesentlich schneller abläuft als geplant.« »Wenn Ihre Berechnungen derart unzuverlässig sind, stelle ich alles in Frage!«, schnaubte der Kommandant aufgebracht. »Wir haben nicht darum gebeten, nach Houxel gebracht zu werden«, erinnerte ihn Sorgk. »Wir gehorchen Hotrenor-Taaks Befehl. Im Übri gen sind wir uns darüber im Klaren, dass wir in diesem einen Punkt versagt haben. Wir bedauern das. Der Plan des Verkünders der Hetoso nen ist jedoch in keiner Weise gefährdet. Die neue Entwicklung ver setzt Hotrenor-Taak vielmehr in die Lage, sehr viel eher als erwartet den Zugang in den Dakkardim-Ballon zu finden.« Germaar-Vonk registrierte ungläubig, dass der Kelosker ihm die Argu mente zunichte machte, die er gleich ins Feld geführt hätte. »Wir sind verwirrt über unsere Unzulänglichkeit«, erklärte Sorgk. »Wir haben keine Erklärung für dieses Versagen – außer, dass das Schicksal der Heimatlosigkeit unsere Fähigkeiten beeinträchtigt. Auf jeden Fall sind wir bemüht, keinen Schaden entstehen zu lassen. Die ses Bemühen wird sicher erfolgreich sein, wenn Sie uns Ihre Erlaubnis geben, den Sieben-D-Mann aufzunehmen.« Germaar-Vonk blinzelte überrascht. »Sieben-D-Mann – was ist das?« »Ein Terraner mit den Gaben eines Keloskergehirns«, antwortete Sorgk ominös. »Woher kommt er?« »Aus Balayndagar – auf Irrwegen.« Sorgk gab mit Absicht knappe Antworten. Aufmerksam beobachtete er Germaar-Vonks zunehmende Erregung. Die Geschichte, die er zu er zählen hatte, ließ sich dem Laren umso leichter verkaufen, je aufgereg ter dieser war. »Wie kommt ein Terraner nach Balayndagar?«, fragte Germaar-Vonk ungeduldig. »Wie kommt er zu einem keloskischen Gehirn?« »Sie kennen unsere Geschichte?«, fragte Sorgk. »Sie wissen, wie Perry 450
Rhodan die Kleingalaxis Balayndagar vernichtete und uns damit zu Heimatlosen machte?« »Was hat der Sieben-D-Mann mit der Geschichte der Kelosker zu tun?« »Viel«, antwortete Sorgk. »Der Sieben-D-Mann ist unser Geschöpf. Er war ein Besatzungsmitglied der SOL, das wir bei den Kämpfen in Balayndagar in unsere Gewalt bekamen. Damals war das Schicksal un serer Galaxis schon besiegelt. Wir verlangten nach Rache, aber wir wa ren allein zu schwach, gegen diesen Feind anzutreten. Also mussten wir ihn von innen heraus angreifen.« »Mit Hilfe des Gefangenen?« Sorgk registrierte erfreut das Interesse des Stützpunktkommandanten. »So ist es«, antwortete er. »Wir statteten seinen Verstand mit den Ga ben eines keloskischen Bewusstseins aus. Es war ein langwieriger und komplizierter Prozess …« »Aber irgendwann musste er an Bord seines Schiffes zurückkehren. Und dann?« »Wir verankerten einen hypnotischen Block in seinem Gehirn und formten sein Bewusstsein so, dass er nach unseren Wünschen handeln musste. Dieser Terraner erhielt den Befehl, die SOL zu zerstören.« Germaar-Vonk schwieg eine Zeit lang. »Es hat nicht funktioniert«, bemerkte er schließlich. »Offenbar nicht«, gab Sorgk zu. »Wir setzten den Mann auf einer Welt aus, auf der die SOL landen würde. Das hatten wir berechnet. Er wurde von dem Schiff auch aufgenommen. Aber wir haben wohl die Terraner falsch eingeschätzt. Vannes Bericht scheint sie nicht über zeugt zu haben.« »Vannes?«, fragte der Lare. »Kershyll Vanne ist sein Name. Wir wissen, dass er zunächst auf der SOL festgesetzt wurde. Mit dem Schiff kehrte er in diese Galaxis zu rück. Es gelang ihm, sich zu befreien, und vor kurzem hat er einen Hinweis auf unseren Aufenthaltsort gefunden: die kollabierende Son 451
ne, die nicht der natürlichen Entwicklung folgt, sondern manipuliert wird. Für den Sieben-D-Mann war das ein deutliches Zeichen, dass Ke losker am Werk sind. Er machte sich auf den Weg und strahlte Para mental-Signale ab. Hätten Sie mich nicht holen lassen, hätte Tall mark Sie um eine Unterredung gebeten. Wir möchten, dass der SiebenD-Mann zu unserer Unterstützung nach Houxel kommt. Es ist sicher auch in Ihrem Sinn, Germaar-Vonk, dass es keinen verheerenden Zwi schenfall mit Arcur-Beta gibt.« Also doch! Das war der Beweis, dem er seit Tagen wie einem Phan tom nachjagte. Der Beweis, dass die Kelosker mit ihren siebendimen sionalen Fähigkeiten nicht mehr zurechtkamen. Germaar-Vonk dachte an den Protonensturm. An die Lügen des Keloskers Tallmark. Ja, Lü gen waren es gewesen, und er hatte es von Anfang an gewusst. Nun konnten sie nicht mehr anders, als ihre Probleme einzugestehen. Aber was, überlegte der Stützpunktkommandant, würde geschehen, wenn die Entwicklung den Keloskern völlig entglitt? Wenn Arcur-Beta nicht zu einem Schwarzen Loch wurde, das den Zugang in den Dakkardim-Ballon gewährleistete? Hotrenor-Taak würde ihn dafür verant wortlich machen. Ohne sein Zutun befand er sich plötzlich in der ärgsten Bedrängnis seiner Karriere. Die Gefahr bestand, dass die Doppelsonne vernichtet wurde und mit ihr Dutzende wertvoller SVE-Raumer. Germaar-Vonk erkannte in dem Moment, dass er nie eine Chance gehabt hatte, das zu verhindern. Aber hielt ihm der Kelosker nicht zugleich den rettenden Ast ent gegen? Er vermied es, Sorgk anzusehen. »Ich wusste, dass die Kelosker Probleme haben«, stieß er ungehalten hervor. »Doch ich fühle mich nicht dafür verantwortlich.« »Das ist Ihre Angelegenheit, Germaar-Vonk«, sagte Sorgk, und für einen Moment glaubte der Kommandant, eine einstudierte Rede zu hören. »Dem Verkünder der Hetosonen wird es nicht gefallen, eine Sonne zu verlieren, die mit großem Aufwand angeheizt wurde. Und 452
zudem viele seiner Schiffe.« Ich ziehe die SVE-Raumer zurück!, durchzuckte es den Laren. Sofort! Er verwarf den Gedanken umgehend wieder. Vielleicht legten es die Kelos ker nur darauf an, dass er sich selbst bei Hotrenor-Taak in Ungnade stürzte. Was, wenn sich später herausstellte, dass er die Flotte ohne zwingenden Grund abgezogen hatte? Wenn seinetwegen das Anheizen der Sonne zum Fehlschlag wurde, weil die Unterbrechung der Energie zufuhr ihm anzulasten war? Er fühlte jetzt schon seinen Kopf rollen. Er verfluchte die Kelosker. Zumindest in dem Moment waren sie ihm überlegen. Sie hatten ihn in eine Situation gebracht, in der jede Entscheidung, die er traf, genau die falsche sein konnte. »Ich bin sicher, Germaar-Vonk, Sie werden uns Ihre Zustimmung nicht verweigern«, drängte der Kelosker. Der Kommandant griff zur Waffe, seine Finger verkrampften sich um den kühlen Griff des Strahlers. Aber er beherrschte sich, wenn gleich nur mühsam. Vorerst, sagte er sich. Das letzte Wort ist noch nicht gesprochen. »Es geht um nicht mehr, aber auch nicht um weniger als um die Zu kunft der Laren«, versetzte Sorgk. »Und die der Kelosker!«, herrschte Germaar-Vonk sein Gegenüber an. »Ich hoffe, Sie wissen, dass ich Sie alle als Verräter erschießen lassen kann.« »Das macht die Bedrohung für Hotrenor-Taaks Pläne nicht unge schehen«, entgegnete Sorgk erstaunlich gelassen. Sie hatten es berechnet. Sie hatten genau berechnet, dass ihm keine Wahl blieb. Diese verfluchten Genies verfügten also doch noch über einen Teil ihrer Fähigkeiten. »Wozu brauchen Sie den Sieben-DMann?«, fragte Germaar-Vonk, seinen Zorn mühsam im Zaum haltend. »Er muss die Ergebnisse unserer mehrdimensionalen Analysen über prüfen und feststellen, welche Fehler uns unterlaufen sind. Die hyper trophische Instabilität, in die Arcur-Beta eingebettet ist, wäre ihm be stimmt nicht entgangen. Er hätte uns sofort auf diesen Irrtum auf 453
merksam gemacht. Außerdem benötigen wir seine Hilfe dringend in der Sekunde, in der das Black Hole entsteht. Wir müssen zum exakten Zeitpunkt an Bord eines Raumschiffs in seiner Nähe sein und dafür sorgen, dass es sich tatsächlich in der Richtung des Dakkardim-Bal lons und damit der Zgmahkonen öffnet. Diese Schaltungen können nicht vorgeplant und automatisiert werden. Sie müssen jede zu einem gewissen Zeitpunkt ausgeführt werden, der sich aus dem Ablauf des Er eignisses ergibt.« Sorgk wedelte mit den Hautlappen an den Enden seiner Arme. »Die Natur hat uns zu Denkern, nicht zu Handelnden erschaffen. Wir hat ten daran gedacht, einige Laren zu trainieren, damit sie uns im ent scheidenden Augenblick zur Seite stehen könnten. Aber sie wüssten nicht, was sie bewirken. Wer den Grund und das Ziel seines Handelns nicht kennt, neigt sehr stark zu Fehlern.« Die vier Augen des Keloskers richteten sich auf Germaar-Vonk. Der Stützpunktkommandant ließ sich Zeit, ehe er antwortete. Zumal ihm diese Antwort schwer fiel. »Sie haben mich nur halbwegs überzeugt, Sorgk. Aber der SiebenD-Mann soll kommen. Allerdings werde ich ihn einer eingehenden Prüfung unterziehen, bevor ich ihn den Keloskern überlasse.« »Das ist Ihr gutes Recht«, antwortete der Kelosker würdevoll. »Dage gen haben wir nichts einzuwenden. In dieser schwierigsten Phase des Vorhabens kann sich keiner von uns Misstrauen leisten.«
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Kershyll Vanne hatte sich zurückgezogen. Er musste nachdenken und mit sich selbst ins Reine kommen. »Ich muss davon ausgehen«, erklärte er den anderen Bewusstseinen, »dass der Vario-500 mich den Keloskern geschildert hat. Sie werden wohl nur ungefähr verstehen, was für eine Art von Wesen wir sind. Aber da ihnen der Vario meine Hilfe anbietet, müssen sie zu der Über 454
zeugung kommen, dass ich geeignete Fähigkeiten besitze. Es wird den Keloskern nicht schwer fallen, einen Fall zu konstruieren, der unsere Existenz erklärt. Daraus wird sich folgerichtig ergeben, warum wir uns plötzlich in der Nähe von Houxel befinden und auf dem Weg zu den Keloskern sind.« »Die Kelosker und du – ihr seid Freunde seit den Tagen von Balayn dagar«, meldete sich Jost Seidel. »Das ist keine natürlich gewachsene Freundschaft«, erklärte Ankame ra. »Du bist eindeutig das Geschöpf der Kelosker.« »Richtig, so muss es sein. Einst war ich ein ganz normaler Mensch – ein Besatzungsmitglied der SOL. Die Kelosker präparierten mich und machten ein anderes Wesen aus mir.« Kershyll Vanne empfand Begeisterung, als er erkannte, dass er drauf und dran war, die richtige Lösung zu finden. Das Zusammenspiel aller sieben Bewusstseine ergab eine derart unglaubliche Vielfalt der Gedan ken, dass jedes Problem im Handumdrehen analysiert und Tausende von Lösungswegen untersucht und auf ihre Verwendbarkeit geprüft werden konnten. Unfehlbar erkannte das Gemeinschaftsbewusstsein die optimale Lösung. Eine Mentalstimme schreckte ihn aus der Nachdenklichkeit auf. »Der Zweck?«, meldete sich Albun Kmunah. »Diese Präparation muss einem Zweck gedient haben.« »Rache natürlich«, antwortete Ankamera. »Die Kelosker wollten sich an der Besatzung der SOL für die Zerstörung ihrer Galaxis Balayndagar rächen.« »Kelosker sind nicht rachsüchtig, wie man uns gesagt hat«, gab Hito Guduka zu verstehen. »Wer sehnt sich nicht nach Rache, wenn seine Heimatgalaxis ver nichtet wird?«, fragte Indira Vecculi spitz. »Meinetwegen nenne es auch Vergeltung.« »Sie hat Recht«, erklärte Pale Donkvent burschikos. »Die Vernich tung der Heimatgalaxis macht selbst den Friedlichsten zum Berserker.« 455
Kershyll Vanne lauschte amüsiert. Indira Vecculi und Pale Donkvent waren die Extreme des Konzepts. Normalerweise reagierte Indira pi kiert, wenn ihr Pales Unterstützung zuteil wurde. Diesmal sträubte sie sich nicht, und das war ein Beweis dafür, dass das Konzept funktio nierte. Es ging um wichtige Dinge, da hatten persönliche Ressenti ments keine Existenzberechtigung. »Aber wie geht es weiter?«, fragte Vanne. »Wie kam ich in die Milch straße, und warum habe ich die SOL nicht vernichtet?« »Weil Rhodan dich durchschaute!«, rief Jost Seidel. »Mensch – an Bord der SOL haben die Mutanten. Sie sind dir einfach auf die Schli che gekommen.« »Sie haben dich eingesperrt«, fügte Albun Kmunah hinzu. »Und sie wollten dich untersuchen und herausfinden, was die Kelosker aus dir gemacht haben.« »Und dann?« »Die erste Gelegenheit hast du genutzt, um von der SOL zu fliehen. Mit deinen Fähigkeiten war das nicht schwer. Du hast nur gewartet, bis die SOL in die heimatliche Milchstraße zurückkehrte. Dann bist du mit einer Space-Jet auf und davon.« »Weil es an Bord der PLEYST auch Space-Jets gibt?«, wandte Kershyll Vanne ein. »Natürlich«, antwortete Kmunah leicht ungnädig. »Aber selbst so ist die Sache noch schwierig genug. Das Fahrzeug muss richtig aussehen.« »Detailproblem!«, beschwerte sich Ankamera. »Wie kommt Kershyll dazu, die Kelosker ausgerechnet auf Houxel zu suchen?« »Das ist einfach«, sagte Hito Guduka, der Totalenergie-Ingenieur. »Kershyll hat die sterbende Sonne entdeckt. Arcur-Beta reagiert auf so ungewöhnliche Weise, dass die Handschrift der Kelosker nicht zu übersehen ist.« »Das ist die einzig plausible Erklärung«, pflichtete Pale Donkvent bei. Er war Ultra-Physiker und verstand von solchen Dingen sehr viel. »Die charakteristische Hyperstrahlung von Arcur-Beta ist über mehrere 456
tausend Lichtjahre hinweg einwandfrei zu identifizieren. Kershyll wird keine Schwierigkeiten haben, zu erklären, warum er ausgerechnet in der Nähe von Arcur nach den Keloskern sucht.« »Überdies«, ergänzte Ankamera, »wird er sich durch Paramental-Sen dung bei den Keloskern angemeldet haben. Das ist die Weise, wie er mit ihnen über große Entfernungen hinweg kommunizieren kann, und hat mit ihren Paranormhöckern zu tun. Daher wissen die Kelosker von seiner Ankunft, und daher weiß Kershyll, dass sie sich auf Houxel be finden.« »Sonst noch was?«, fragte Kershyll. »Reicht das nicht?«, spottete Donkvent. »Wir haben uns einen guten Schluck verdient.«
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Was Ankamera als Detail zunächst beiseite geschoben hatte, erwies sich als die größte Schwierigkeit. Die Space-Jets an Bord der PLEYST waren keineswegs identisch mit den Fahrzeugen gleichen Typs der SOL. Das Problem war nur, wie weit die Laren über solche Dinge Be scheid wussten. Als Killion Varmell diese Frage stellte, antwortete Vanne: »Wir wissen es nicht. Also müssen wir annehmen, dass ihnen sogar kleinste Einzel heiten bekannt sind.« »Dann vergessen Sie am besten das ganze Vorhaben«, brummte der Kreuzer-Kommandant. »Wir sind keine fliegende Werft und haben nicht die Mittel, Ihre Space-Jet umzubauen.« Kershyll Vanne lächelte. »Die Laren erwarten, einem Genie zu begeg nen. Einem Wesen wie mir muss die Standardausstattung einer SpaceJet unbeholfen und unzulänglich vorkommen. Ich habe selbstverständ lich Umbauten an dem erbeuteten Fahrzeug vorgenommen.« »Das wäre machbar. Ob die Umbauten Funktionen haben werden, die Ihrer Genialität entsprechen, möchte ich bezweifeln.« 457
»Es wird letzten Endes darauf ankommen, dass sie überhaupt vor handen sind. Und auf ein paar prägnante Einzelheiten, mit denen wir die Laren ablenken können.« Killion Varmell dachte sekundenlang darüber nach. Dann stimmte er zu. »Wir werden das machen. Wir werden außerdem dafür sorgen, dass die Jet aussieht, als hätten Sie sich schon einige Zeit und tausende Lichtjahre weit in der Gegend herumgetrieben.« »Verstauen Sie in Winkeln ein paar Gegenstände, die mit dem Na men SOL gekennzeichnet sind«, bat Vanne. »Das wird helfen.« »Richtig, das wird helfen«, brummte Varmell. »Allerdings nur, wenn die Laren Sie wirklich auf Houxel landen lassen.«
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Einige Tage waren vergangen, seit der Kelosker Sorgk zum Stützpunkt kommandanten geholt worden war, da erfasste die Ortung des Stütz punkts auf Houxel einen ungewöhnlichen energetischen Impuls. Ein kleines Raumfahrzeug hatte wenige Lichtstunden entfernt den Linear raum verlassen. Es bewegte sich auf den Planeten zu. Zur selben Zeit verlangte der Kelosker Tallmark dringend, den Kom mandanten zu sprechen. Er berichtete, dass der Sieben-D-Mann sich bereits in der Nähe befinden müsse und in Kürze Houxel erreichen würde. Germaar-Vonk erhielt damit eine Erklärung für die Annäherung des fremden Raumschiffs. Er hatte die Ortung ohnehin schon mit dem an gekündigten Erscheinen dieses Menschen von der SOL in Verbindung gebracht, aber nun konnte er sicher sein. Da die Kelosker auf seinen Befehl keinen Zutritt zu den Ortungsanlagen hatten, gab es wohl tat sächlich diese paramentale Verbindung zwischen ihnen und ihrem Ge schöpf. Der Lare veranlasste, dass dem Fremden ein Landeplatz zugewiesen wurde. Er meldete sich selbst über Hyperfunk, was er natürlich auf 458
zeichnete. Die Auswertung sowie Bild- und Stimmanalyse ließen erken nen, dass der Fremde zwar überrascht, aber nicht beeindruckt gewesen war, einen larischen Stützpunkt zu finden.
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Der Lare im Funkempfang sprach ein akzentfreies Interkosmo – eine Kunst, die Laren nur selten beherrschten, wie Kershyll Vanne erfahren hatte. »… die Spur meiner Freunde führt auf diesen Planeten zu«, beantwor tete Kershyll Vanne die Nachfrage und registrierte mit Schrecken, dass auch ein Konzept anfällig für menschliche Flüchtigkeit war. Um ein Haar hätte er ›auf Houxel zu‹ gesagt. »Kelosker arbeiten hier auf Houxel«, antwortete der Lare. »Das ist richtig. Aber ich kann Sie nicht landen lassen, wenn ich nicht weiß, was Sie von ihnen wollen. Wen suchen Sie überhaupt?« »Tallmark, Llamkart und die anderen aus Balayndagar. Sie gaben mir einen Auftrag, den ich nicht ausführen konnte. Ich bin meinen Freun den Rechenschaft schuldig. Deswegen muss ich mit ihnen sprechen!« »Können Sie sich nicht auf paramentalem Weg unterhalten?«, fragte der Lare. Es bedurfte nicht der Warnung von Indira Vecculis Bewusst sein, Kershyll Vanne erkannte auch so den lauernden Ton. »Was ist schon der paramentale Kontakt?«, antwortete er geringschät zig. »Wir können uns gegenseitig identifizieren und tauschen kümmer liche Grundgedanken aus. Ein Gespräch führen kann auf diese Weise niemand von uns.« Kommentarlos übermittelte der Lare die Landekoordinaten und schaltete ab. Vanne sah den Planeten bereits deutlich vor sich. Er war zufrieden. Die Landung würde zweifellos problemlos verlaufen. Er wurde erwar tet. Aber der Lare – er hatte sich nicht als Stützpunktkommandanten vorgestellt, doch Vanne zweifelte nicht daran – war misstrauisch. Na 459
türlich würde ein Verhör stattfinden. Kershyll Vanne fürchtete sich nicht davor, wenngleich er die Auswirkungen möglicher parapsychi scher Verhörmethoden nicht abzuschätzen vermochte. In der Situa tionsanalyse, die er mit den anderen Bewusstseinen durchgeführt hatte, war deutlich geworden, dass die Kelosker bei der Schilderung seiner Herkunft, seines Wesens und seines Auftrags Details vermieden hatten. Das war einfach ein Gebot der Klugheit. Die Laren waren demnach nicht in der Lage, Fangfragen zu stellen. Die Laren würden wohl sehr schnell feststellen, dass es in seinem Be wusstsein anders zuging als in normalen menschlichen Bewusstseinen. Das konnte nur nützlich sein. Kershyll Vanne landete die Space-Jet mit der Bezeichnung SOL-SJ-38 auf dem atmosphärelosen Planeten.
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Das Abholkommando der Laren kam mit einem Bodengleiter. Ker shyll Vanne stand mit geschlossenem Raumanzug schon seit mehreren Minuten in der Bodenschleuse der Jet. Er trug keine Waffe, denn die Laren hätten sie ihm ohnehin abgenommen. »Steigen Sie ein!«, erklang es im Helmempfang. Vanne ließ sich nicht zweimal bitten. Ihm war klar, dass die drei Männer, die ihm jetzt ent gegenkamen, den Auftrag hatten, seine Space-Jet zu untersuchen. Außer dem Gleiterpiloten befanden sich noch zwei Laren in dem Gleiter. Sie trugen Schutzanzüge, hatten die Helme jedoch geöffnet. Vanne öffnete seinen Helm ebenfalls und schob die Folie in den Na cken zurück. Die Laren starrten ihn an. Er starrte zurück. Nach einer Weile grinste Vanne breit. »Eine nette Begrüßung«, sagte er spöttisch. Die Laren waren von unterschiedlicher Gestalt. Der eine – er schien der Ältere zu sein – war stämmig gebaut. Der andere wirkte im Gegen satz eher schmächtig, war auch eine Handspanne kleiner. Er war der 460
jenige, mit dem Vanne den Funkkontakt gehabt hatte, daran konnte es keinen Zweifel geben. »Fremde sehe ich mir genau an – besonders wenn ich nicht weiß, woher sie kommen«, sagte der Schmächtige endlich. Sein unausgespro chener Vorwurf war deutlich. »Ich bin bereit, Ihnen alles über meine Irrfahrt zu berichten«, bot Vanne an. »Ich werde Ihre Geschichte hören, Kershyll Vanne. Sie sind Terra ner?« Seinen Namen hatte er über Funk genannt, weil er davon ausgegan gen war, dass die Kelosker ihn so avisiert hatten. Seine Herkunft war dabei nicht angeklungen. »Man sagt, ich sei Terraner, aber ich fühle mich nicht so. Ich wurde an Bord eines großen Raumschiffs geboren, einige Jahre nachdem dieses die Erde verlassen hatte.« »Dieses Raumschiff…?« »Es heißt SOL«, beantwortete Kershyll Vanne die unausgesprochene Frage. »Eigentlich bin ich ein kosmischer Mensch – ich bin Terraner, Solaner, aber vor allem bin ich Kelosker!« »Mein Name ist Germaar-Vonk«, sagte der Lare endlich. »Ich habe den Befehl über alles, was auf diesem Planeten geschieht. Mein Beglei ter ist Ladom-Tar. Sie würden ihn wohl einen Psychophysiker nennen. Er hat die Aufgabe, Sie zu untersuchen. Sie werden sich hoffentlich nicht dagegen sträuben.« Kershyll Vanne lächelte. »Ladom-Tar mag sich vorsehen!«, riet er, wo bei er abwechselnd beide Laren anschaute. »Mein Bewusstsein ist von besonderer Art, es kann gefährlich sein, ihm allzu nahe zu kommen. Und wer sind die Leute, die sich an meiner Space-Jet zu schaffen ma chen?« »Das sind Fareydon-Par und zwei seiner Spezialisten. Fareydon-Par ist Experte in allem, was mit terranischer Technologie zusammenhängt. Er wird uns sagen, woher Ihr Raumschiff stammt.« »Vertrauen ist nicht die starke Seite der Laren?«, spottete Kershyll 461
Vanne. »Vertrauen am falschen Platz ist wie der Holzwurm in der Lanze des Kriegers«, zitierte Germaar-Vonk ein altes larisches Sprichwort. Erst jetzt gab er dem Piloten den Befehl, die Station anzufahren.
***
Der Raum war halbdunkel und mit fremdartigen Geräten angefüllt. Kershyll Vanne lag ohne die Schutzmontur auf einer Liege. Über sei nem Kopf schwebten Sonden, mit denen sein Bewusstsein untersucht werden sollte. »Wir beginnen jetzt«, sagte Ladom-Tar. »Sie werden nichts spüren – höchstens einen kurzen Schmerz, sobald die Anlage wieder abgeschal tet wird.« Kershyll Vanne hielt es nicht für nötig, darauf zu antworten. Er starr te hinauf zu den matt leuchtenden Geräten. Alle Bewusstseine des Konzepts waren ruhig und gelöst. Trotzdem fieberte jeder auf seine Weise der Untersuchung entgegen. Ladom-Tar würde sich wahrschein lich sehr wundern. Ein intensives, durchdringendes Summen erklang, das geraume Zeit anhielt. Darüber hinaus blieb alles ruhig. Nur einmal hörte Kershyll Vanne einen der Laren einen halblauten Ruf ausstoßen, wahrscheinlich vor Überraschung. Eine halbe Stunde, vielleicht sogar eine Stunde verging, dann gab Ladom-Tar einen lauten Befehl. Nahezu im selben Moment empfand Vanne einen stechenden Schmerz, der sich durch sein Gehirn bohrte. Instinktiv hatte er das Gefühl, er müsse sich zur Wehr setzen. Ladom-Tar täuscht sich!, schoss es ihm durch den Verstand. Ein norma les Bewusstsein hätte nur geringen Schmerz empfunden – nicht wir! Das Stechen ließ schließlich nach. Vanne spürte aber, dass er hand lungsunfähig geworden war. »Lass den Unsinn, Pale!«, rief Ankameras mentale Stimme. »Du 462
bringst uns in Gefahr!« »Unsinn, mein Täubchen«, antwortete Pale Donkvent. »Ich weiß ge nau, was ich tue!« Entsetzt erkannte Kershyll, was geschehen war. Pale Donkvent hatte die Sekunde ausgenützt, in der das herrschende Bewusstsein, nämlich Kershyll Vannes, gegen den bohrenden Schmerz kämpfte. Er hatte Ker shyll beiseite geschoben und sich selbst zum Lenker des Konzepts auf geschwungen. Vanne war vorerst hilflos, er erkannte nur, dass Pale Donkvent irgendetwas vorhatte. Sobald er das erreicht hatte, würde Pale die Lenkung freiwillig wieder abgeben. Ladom-Tar stand vor der Liege, die Augen weit aufgerissen. Stau nend, geradezu fassungslos starrte er den Menschen an, der vor ihm lag. Da schwang Pale Donkvent sich auf. Nicht gerade sanft schob er den Laren beiseite und sprang von der Liege herab. »Ich hoffe, du weißt jetzt alles, was Germaar-Vonk von dir wissen will«, sagte er grob. »Sie sind … Sie sind … ein Wesen mit sieben … sieben Bewusstsei nen!«, stammelte Ladom-Tar. Der Terraner grinste ihn spöttisch an, während er seine Schutzmontur überstreifte. »Klar doch!«, rief er. »Ich bin der unnachahmbare Sieben-D-Mann!« Die Bezeichnung hatte er willkürlich gewählt. Sie bot sich geradezu an. Dass sie mit dem Namen, den die Kelosker ihrem Geschöpf gegeben hatten, übereinstimmte, war an sich unerheblich. Auf Ladom-Tar machte die Übereinstimmung jedoch einen tiefen Eindruck. »Ganz so, wie Sorgk es sagte!«, staunte er. Der Terraner trat auf den Laren zu und legte ihm vertraulich eine Hand auf die Schulter. »Hör zu, mein Junge, du musst mir einen Gefallen tun. Ich brauche einen kräftigen Schluck! Ihr Laren haltet nicht viel von meinem Wunderelixier, also wird es hier in der Station nichts davon geben. Ich muss an Bord meines Raumschiffs. Wirst du Lärm schlagen, wenn ich gehe?« Ladom-Tar war verwirrt. »Ich darf Sie nicht gehen lassen! Germaar 463
Vonk…« »Ach was, der Kommandant muss davon nichts erfahren. Wenn du deiner Sache nicht sicher bist, begleite mich einfach! Ich mach nichts kaputt, und in ein paar Minuten sind wir wieder zurück.« Ladom-Tar besprach sich kurz mit seinen Helfern. Für ihn war es in teressant, herauszufinden, was der Terraner wollte, und seine Leute würden die Wachen informieren. Ihm konnte also nichts geschehen. Durch einen Antigravschacht erreichten sie den Hangar, in dem mehrere kleine Gleitfahrzeuge standen. Der Sieben-D-Mann schloss sei nen Schutzanzug, Ladom-Tar zog sich nun ebenfalls eine Montur an. Minuten später schwebte der Gleiter schon in der geräumigen Schleu senkammer, und als der Druckausgleich hergestellt war, glitt er in die Düsternis der Zwielichtzone hinaus. Ungehindert erreichten beide die Space-Jet. Aus der Zentralekuppel waren die Stimmen von Fareydon-Par und seinen Leuten zu hören. Der Terraner grinste listig. »Sie brauchen uns nicht zu bemerken«, raunte er. »Was ich suche, befindet sich in einer der Kabinen.« Er zog den Laren einen schmalen Gang entlang. Zur linken Hand öffnete er ein Schott. »Hier hinein!« Sie betraten einen hell erleuchteten Raum. »Mach's dir irgendwo bequem! Es dauert nur eine Minute, bis ich mein Elixier gemixt habe.« Ladom-Tar gehorchte mechanisch. Sein Begleiter zeigte auf einen Schrank in der Ecke. »Wenn du mal auf meinen Geschmack kommen solltest, dann merke dir das Zeichen dort! Wo du das siehst, da kannst du ruhig zugreifen!« »Das rote Kreuz?«, fragte Ladom-Tar. »Ja, genau, das rote Kreuz!« Der Lare schaute zu, wie sein Proband den Schrank öffnete und eine Weile angestrengt hantierte. Schließlich richtete der Sieben-D-Mann sich auf. In der linken Hand schwenkte er einen Behälter mit einer glasklaren Flüssigkeit. »Das hier ist der Lebensstoff – reiner Alkohol!« 464
Ladom-Tar wusste nicht, was er von alldem halten sollte. Einerseits war für seine Beurteilung wichtig, was der Sieben-D-Mann tat, anderer seits wurde sein Eindruck immer zwiespältiger. Irritiert folgte er den schlenkernden Bewegungen der linken Hand. Was der Terraner mit der Rechten tat, entging ihm. Als der winzige Injektionspfeil ihn am Halsansatz traf, spürte er nur ein leichtes Jucken. Eine Zehntelsekunde später fühlte Ladom-Tar eine seltsame Übelkeit in sich aufsteigen. Er spürte noch, dass er zur Seite kippte, dann verlor er die Besinnung.
23.
P
ale Donkvent wusste nicht, ob sein Eingriff noch rechtzeitig er folgt war. Alle hatten übersehen, dass in der Positronik der SpaceJet der Rufkode der PLEYST gespeichert war. Grundsätzlich handelte es sich bei dem Kurzstrecken-Rufkode eines Beibootes um den des Mutterschiffs, im Fall der SOL-SJ-38 also um den von Rhodans Fern raumschiff. Zweitens – und zumindest das hielt der Ultra-Physiker für tödlich – war der PLEYST-Rufkode nach den Kommunikationsricht linien des NEI aufgebaut. Mit dem NEI aber durfte die Space-Jet nie in Berührung gekommen sein. Falls Fareydon-Par diesen Kode fand und entschlüsselte, ging es den Keloskern und dem Sieben-D-Mann unwiderruflich an den Kragen. In aller Eile hatte Pale Donkvent, direkt von der Zentraleinheit aus, den PLEYST-Kode gelöscht. Das war jedoch nicht so rasch gegangen, wie er es gerne gehabt hätte. Im Schwanken zwischen Hoffnung und Verbitterung vernahm Donkvent wieder die Mentalstimmen seiner Mitbewusstseine. 465
»Das war Rettung in höchster Not!«, bescheinigte ihm Kershyll Vanne. »Allerdings hättest du mich nur darauf aufmerksam machen müssen. Unter meiner Leitung wäre die Sache genauso gelaufen.« »Weiß ich«, antwortete der Ultra-Physiker belustigt, »aber ich bin nicht nur deswegen an Bord gekommen.« »Warum noch?«, fragte Albun Kmunah. »Dreimal darfst du raten!«, antwortete Jost Seidel vorwitzig. »Unser Freund ist am Verdursten!« »Genau«, bestätigte Donkvent. »Wer ist dafür verantwortlich?«, erkundigte sich Indira Vecculi. »Wofür? Dass er säuft?« »Dafür, dass der Rufkode der PLEYST nicht aus dem Speicher ge löscht wurde.« »Er sollte gar nicht gelöscht werden«, antwortete Pale Donkvent selbst. »Wir brauchen ihn, falls wir im Notfall mit der PLEYST in Kon takt treten müssen. Was vergessen wurde, war, ihn umzuformatieren. Die Laren hätten sofort gemerkt, dass es sich um einen Kode nach NEI-Richtlinien handelt.« »Ist der SOL-Kode überhaupt im Speicher?« »Natürlich. Da ist alles einwandfrei: altes Format, Langstreckenkodes bis auf einen, und der nennt die SOL als Empfänger.« »Wohin jetzt?«, fragte Ankamera, als der gemeinsame Körper sich wieder dem Lazarettraum zuwandte. »Einen heben«, brummte Donkvent. Zwölf Minuten waren vergangen. Der Lare lag noch bewusstlos auf dem Boden. Donkvent richtete ihn auf und lehnte ihn gegen die Wand. Er untersuchte die Stelle an Ladom-Tars Hals, wo der Injek tionspfeil getroffen hatte. Es war keine Spur einer Wunde zu sehen. Pale Donkvent nahm den Alkoholbehälter wieder zur Hand und öff nete den Verschluss. Wenige Sekunden später kam Ladom-Tar zu sich. Er schaute sich verblüfft um. Pale Donkvent stand vor ihm und musterte ihn besorgt. 466
»Junge, hast du mir Sorgen gemacht! Du kannst das Zeug wohl gar nicht vertragen, wie?« »Welches Zeug?«, fragte der Lare benommen. »Den Alkohol. Einmal an der Flasche gerochen und – bums! – warst du hinüber!« Wie unabsichtlich näherte Donkvent den Behälter, aus dem es durchdringend roch, dem Gesicht des Laren. Ladom-Tar wich zurück. »Nicht noch einmal!«, wehrte er ab. »Gut.« Donkvent schmunzelte. »Ist mir ohnehin lieber, wenn ich das Zeug für mich behalten kann.« Er schloss den Behälter und schob ihn in eine Tasche seiner Montur. »War ich lange – so?«, fragte der Lare. »Nur ein paar Minuten. Aber lange genug, um mir einen gehörigen Schreck einzujagen. Ich wusste nicht, dass ihr so heftig auf Alkohol reagiert.« So vorsichtig, wie sie gekommen waren, verließen sie die Space-Jet wieder. Anscheinend hatte niemand ihre Anwesenheit bemerkt. Ladom-Tar steuerte den Gleiter zur Station zurück. »Warte hier!«, forderte der Psychophysiker Pale Donkvent auf, als sie sich wieder in dem Untersuchungsraum befanden. »Ich muss GermaarVonk das Ergebnis der Untersuchung mitteilen. Ich nehme an, er wird dir dann erlauben, das Quartier der Kelosker aufzusuchen.« Es war unverkennbar, dass Ladom-Tar den unheimlichen Terraner so schnell wie möglich loswerden wollte. Pale Donkvent hockte sich auf den Rand der Liege. Die teils misstrauischen, teils furchtsamen Blicke, mit denen die anderen Laren ihn musterten, ignorierte er. »Es ist Zeit, dass du die Kontrolle abgibst, Pale«, mahnte Vanne den Wechsel ein. »Willst du übernehmen, Kershyll?« »Wie sehr bist du alkoholisiert?« »Überhaupt nicht!«, protestierte der Physiker. »Das waren nur zwei kräftige Schlucke. Ich weiß, ihr alle haltet mich für einen verantwor 467
tungslosen Gesellen. Aber das stimmt nicht.«
***
Zwei Roboter brachten Kershyll Vanne zum Stützpunktkommandan ten. Germaar-Vonk musterte den Sieben-D-Mann unbewegt. Sein Miss trauen blieb unterschwellig vorhanden, obwohl das Untersuchungser gebnis ihn beeindruckt hatte. Aber vielleicht hatte der Terraner es ir gendwie geschafft, die Ergebnisse zu manipulieren. Sicher konnte Germaar-Vonk seiner Sache erst sein, wenn Fareydon-Pars Bericht vorlag und wenn darin stand, dass in dem terranischen Kleinraumschiff ab solut nichts Verdächtiges gefunden worden war. »Sie wollen die Kelosker sehen?«, fragte der Lare. »Deshalb bin ich hier. Das sagte ich schon bei unserem ersten Ge spräch.« »Was wollen Sie von ihnen?« »Ich muss Bericht erstatten. Sie gaben mir einen Auftrag, den ich nicht erfüllen konnte. Auch das wissen Sie, Germaar-Vonk.« »Verstehen Sie die keloskische Denkweise?« »Ich kann sie nachempfinden. Aber ich kann nicht selbstständig den ken wie ein Kelosker.« »Falls in ihren siebendimensionalen Berechnungen ein Fehler auftritt, würden Sie das bemerken?« »Vielleicht nicht in jedem Fall, aber in den meisten.« Germaar-Vonk lehnte sich in seinem Sessel zurück und bedachte Kershyll Vanne mit einem bedeutsamen Blick. »Es könnte sein, dass ich Verwendung für Sie habe«, sagte er. Vanne schwieg dazu. »Die Kelosker haben sich vor kurzem seltsam verändert«, erklärte Germaar-Vonk sein Anliegen. »Sie scheinen einen Teil ihrer Fähigkei ten verloren zu haben. Auf jeden Fall schleichen sich Unstimmigkeiten in ihre Berechnungen ein. Ich brauche jemanden, der auf sie aufpasst 468
und mir Meldung erstattet, sobald Fehler geschehen.« »Sie wollen mich als Spion gegen meine Freunde einsetzen?«, fragte Vanne bitter. »Nennen Sie das, wie Sie wollen. Ich biete Ihnen Zugang zu den Ke loskern und Freizügigkeit auf Houxel – unter der Bedingung, dass Sie Ihre Freunde überwachsen und mir jeden Fehler unverzüglich mel den.« Kershyll Vanne hielt dem Blick des Laren stand. »Ich könnte Sie ein fach anlügen«, sagte er freiheraus. »Natürlich könnten Sie das – aber ich würde es merken. Die Kelos ker müssen mich mittlerweile täglich über alle Fortschritte informieren. Und sie müssen Prognosen über die zukünftige Entwicklung abgeben. Diese Prognosen kann ich anhand der eintretenden Ereignisse überprü fen. Wenn eine Vorhersage nicht zutrifft, bemerke ich es. Wenn Sie sich an unser Abkommen halten, weiß ich über Fehler aber schon sehr viel eher Bescheid. Und das kann von enormer Bedeutung für uns alle sein, auch für die Sicherheit der Kelosker.« »Ich sagte schon, dass ich wohl nicht alle Fehler erkennen kann.« »Acht von zehn gestehe ich Ihnen zu. Wenn Sie mich bei zehn Fehl prognosen über acht rechtzeitig unterrichten, werde ich unser Abkom men als eingehalten ansehen.« »Also gut«, sagte Vanne. »Ich gehe darauf ein.«
***
Kershyll Vanne betrat eine Vorhalle. Unter der Toröffnung gegenüber wartete ein Kelosker. »Tallmark …!«, rief Vanne im Ton größter Freude. Innerhalb einer Sekunde hatte er sich mit seinen Mitbewusstseinen abgestimmt, dass es nur Tallmark sein könne, der ihn empfing. Der Kelosker watschelte ihm entgegen. »Kershyll, mein Freund!«, ant wortete er über den Translator. Er streckte einen seiner biegsamen Arme aus und berührte Vanne mit dem Greiflappen auf der Stirn und 469
an der Schulter. Das war das keloskische Begrüßungszeremoniell. Gemeinsam gingen sie in einen Raum, der mit plumpen Möbeln ein gerichtet war. In monströsen Sesseln kauerten weitere zwei Kelosker. Vanne begrüßte sie ebenso begeistert wie Tallmark und nannte sie beim Namen: Sorgk und Llamkart. Weitschweifig, aber ohne auf kritische Details einzugehen, erzählte er seine Geschichte seit Balayndagar. Er war überzeugt, dass die Laren den Raum abhörten. Sein Bericht dauerte gut eine Stunde. »Genauso hatten wir es uns gedacht«, bestätigte Tallmark, als Vanne geendet hatte. »Wahrscheinlich war unser Plan zu naiv. Du hast getan, was du tun konntest, aber wir hatten nicht mit den Mutanten an Bord der SOL gerechnet. Sie sind lästig.« Tallmark deutete auf einen Ausgang. »Ich will dir etwas zeigen.« Erst mehrere Meter hinter der Tür blieb der Kelosker stehen. »Von hier an können Sie reden«, sagte er. »Die inneren Räume werden nicht überwacht. Wir haben uns vergewissert.« »Wie klang meine Geschichte?«, fragte Vanne. »Sie entsprach genau dem, was wir Germaar-Vonk und seinem Stell vertreter berichtet hatten.« »Haben Sie unsere letzte Meldung empfangen? Wissen Sie, dass der Kollaps des Sterns sich wesentlich schneller vollziehen wird als voraus gesagt?« »Wir wissen es jetzt. Der Lare hatte schon Verdacht geschöpft und wollte uns eine Falle stellen. Aber Sorgk gab ihm die richtige Antwort, und Germaar-Vonk war sehr verblüfft.« Ohne weiteren Kommentar führte Llamkart das Konzept in einen Raum, in dem die Plumpheit der technischen Gerätschaften verriet, dass alles speziell für die Bedienung durch keloskische Greiflappen an gefertigt worden war. Vor einem leeren Sessel stand ein niedriger Tisch, auf dem ein eiförmiges Metallgebilde ruhte. Kershyll Vanne wusste sofort, woran er war. Ohne dass er sich er klären konnte, warum, empfand er den Anblick als komisch. »Mein 470
Freund Vario!«, rief er. »Wie sehr hast du dich verändert!«
***
»Das Diskusschiff trägt die Kennung SOL-SJ-38. Wie aus unseren Da tenbeständen hervorgeht, hatte die SOL ein Beiboot dieses Namens an Bord«, erstattete Fareydon-Par Bericht. »Wir haben Proviantrationen gefunden, die ebenfalls den Aufdruck SOL tragen. Ausschließlich. Die Funkpositronik enthält nur Rufkodes im alten Format, der einzige Kurzstreckenkode ist der der SOL. Die Schiffshülle ist durch Mikro meteoriten stark zerkratzt, mit diesem Schiff wurde also eine beacht liche Distanz überwunden.« Germaar-Vonk machte geistesabwesend die Geste der Zustimmung. »Der Treibstoffvorrat ist fast verbraucht«, führte Fareydon-Par weiter aus. »Der Sieben-D-Mann hat es anscheinend nicht gewagt, auf einer zivilisierten Welt zu landen und Deuterium nachzufüllen.« Germaar-Vonk schaute den Spezialisten für terranische Technik nach denklich an. »Ist das wirklich alles?«, fragte er drängend. »Gibt es keine Verdachtsmomente gleich welcher Art?« »Keine!«, bestätigte Fareydon-Par. »Das Schiff stammt von Bord der SOL.« »Und die SOL hat sich schon lange aus der Milchstraße zurückgezo gen«, fügte der Stützpunktkommandant hinzu. »Gut. Ich muss den Sieben-D-Mann wohl als ein Geschöpf der Kelosker akzeptieren. Dann bin ich schon gespannt darauf, was er für uns leisten wird.«
***
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Der erste Blick auf die Berechnungen der Kelosker erschütterte Ker shyll Vanne. Er hatte gewusst, dass es nicht leicht sein würde, einen Überblick über die Tätigkeit der Para-Abstrakt-Denker zu gewinnen. Dass er gar nichts verstehen würde, darauf war er nicht vorbereitet. Erst als Vanne sich allmählich von dem ärgsten Schreck erholte, re deten die anderen auf ihn ein. »Es ist klar, dass wir damit nicht ohne Weiteres zurechtkommen«, sagte Pale Donkvent. »Wir verstehen nicht einmal die verwendeten Symbole.« »Auf uns allein gestellt, können wir das nicht schaffen«, bemerkte Ankamera. »Die Kelosker müssen uns jeden Ansatz erklären.« »Unsere Spezialität ist eben nicht das siebendimensionale Rechnen«, erklärte Hito Guduka. »Aber wir können sämtliche denkbaren Lösun gen eines Problems überblicken und das optimale Ergebnis definieren. Damit müssen wir es versuchen. Die Kelosker schildern uns das Pro blem – wir überdenken die Möglichkeiten und finden die beste davon. Diese vergleichen wir dann mit der Lösung der Kelosker.« »Alle einverstanden?«, fragte Kershyll Vanne. Niemand widersprach. »Haben Sie einen Fehler gefunden?«, erkundigte sich Tallmark. »Mir fehlen die Voraussetzungen, Ihre Ansätze zu verstehen«, erklärte Vanne. Sie konnten sicher sein, in dem Laborbereich nicht abgehört zu werden, in den sie sich zurückgezogen hatten. Deshalb redete Vanne völlig offen. »Es hat keinen Zweck, wenn wir versuchen, auf kelos kische Weise zu denken. Wir müssen unserem eigenen Weg folgen. Sie schildern mir die Aufgabe, Tallmark, und wir versuchen, eine gangbare Lösung zu finden.« »Wenn Sie es so haben wollen«, antwortete der Kelosker bereitwillig. »Eine andere Möglichkeit wird es wohl nicht geben.« Kershyll Vanne nahm sich die Daten ein zweites Mal vor. Gemein sam gingen sie in den nächsten Stunden Schritt für Schritt vor. Es wurde eine mühselige Arbeit. 472
In sechs Fällen stimmte der Lösungsvorschlag des Konzepts mit dem keloskischen bis auf winzige Abweichungen überein. Die siebte Lösung hatte mit dem Resultat der Kelosker aber nicht einmal die Grundzüge gemeinsam. Kershyll Vanne startete den Denkprozess von neuem. Diesmal suchte er nach der zweitbesten Lösung. Die Übereinstimmung war perfekt. »Das ist nicht die optimale Lösung«, sagte er zu Tallmark. »Inwiefern?« »In diesem Stadium der Sternentwicklung hätte die Energiezufuhr vorübergehend gedrosselt werden müssen, weil der Zerfallsprozess so viel Energie nicht verdauen kann. Wird sie dennoch zugeführt, wird sie zweckentfremdet wirken.« »Sie haben Recht«, erkannte der Kelosker. »Welche Folgen wird das haben?« »Unangenehme, fürchte ich«, antwortete Vanne. »Die Energie, die der Prozess nicht selbst verbrauchen kann, fließt in den umgebenden Raum ab. Es wird zu einer vorübergehenden Verspannung des Zeit Raum-Gefüges kommen.« »Mit welcher Reichweite?«, fragte Tallmark erschreckt. »Wenn wir Pech haben, schlägt sie bis nach Houxel durch.«
***
Auf Gäa ließ sich Julian Tifflor von seinem persönlichen Referenten Bericht erstatten. Howard Jesseune, hochgewachsen, schlank, knapp über neunzig Jahre alt und von einer Erscheinung, die man nicht an ders als vornehm nennen konnte, verstand es, Wichtiges von Unwich tigem zu trennen und Situationen mit knappen Worten präzise zu um reißen. »Thema Nummer eins, Sir«, begann Jesseune an diesem Morgen, »sind die Aktivitäten der GAVÖK.« Tifflor nickte. Die GAVÖK war seit Wochen das Topthema. »Kon 473
kretes?«, fragte er. »Sehr konkret, Sir«, bestätigte sein Referent. »Im Rigel-Sektor hat eine Flotte von Akonen, Arkoniden, Springern und Aras eine Patrouille der Überschweren angegriffen und vernichtet.« »Oha!«, fuhr Tifflor auf. »Das wird Maylpancer sehr zornig machen.« »Die Information gelangte über die Kanäle der Gäa-Abwehr zu uns. Die Frage ist, ob Maylpancer überhaupt von dem Vorfall erfährt, er wird gegebenenfalls nur das Verschwinden von acht Raumschiffen registrieren. Es gibt keinen Anhaltspunkt für eine GAVÖK-Aktion.« »Wissen wir wenigstens, wer den Überfall geleitet hat?« »Die Recherchen laufen. Bislang ist nur bekannt, dass ein Teil der Angriffsflotte von der neu-arkonidischen Kolonie Artagan stammt.« »Artagan?«, wiederholte Julian Tifflor überrascht. »Es trifft sich anscheinend nicht ganz zufällig, dass der Gesandte von Artagan heute bei Ihnen vorsprechen will.« Tifflor lächelte. »Die alte GAVÖK. Wer hätte je gedacht, dass sie sich zu so viel Wagemut aufraffen könnte. Ich kann mir vorstellen, was der Gesandte will!« »Unterstützung, Sir.« »Wir werden ihm Hilfe zusagen. Noch hat der Achtzig-Jahre-Plan nicht einmal seine Anlaufphase hinter sich. Aber je eher es gärt und brodelt, desto nervöser und unsicherer werden die Laren. Gäa ist Mit glied der GAVÖK, also werden wir unsere Hilfe nicht verweigern.« Ein Summer ertönte. »Was gibt es?«, fragte Tifflor. »Jaan Kartha zur dringenden Berichterstattung, Sir!« »Soll reinkommen!« Ein Mann von etwa vierzig Jahren, in der Arbeitsmontur der gäani schen Flotte, betrat den Raum. Er war muskulös und stämmig gebaut und von mittlerer Größe. Vor Julian Tifflors Arbeitstisch salutierte er nicht eben stramm, was bewies, dass er sich in einiger Aufregung be fand. Dabei schob er einen Holospeicher über den Tisch. »Eine Mel dung von der PLEYST, Sir!« 474
Tifflor überflog den Bericht. Dann stutzte er. »Der Text hört mitten im Satz auf! Was ist vorgefallen, Kartha?« »Wir wissen es nicht. Der Versuch, mit der PLEYST Kontakt aufzu nehmen, läuft noch.« »Wurde das Signal nur allmählich schwächer, oder …?« »Es riss plötzlich ab, als sei die PLEYST in dem Augenblick explo diert.« »Verdammt!«, entfuhr es Tifflor. Er starrte nachdenklich vor sich hin. Dann richtete er den Blick auf Jesseune. »Wissen Sie, was das heißt?« »Wir haben ein Kriegsschiff verloren.« »Nicht nur ein Schiff, Jesseune. Eine tüchtige Mannschaft dazu – und obendrein das Konzept Kershyll Vanne!«
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Die Warnung der Kelosker vor der entstehenden Raum-Zeit-Verspan nung war rechtzeitig genug eingetroffen. Germaar-Vonk fragte nicht, ob er das dem Wirken des Sieben-D-Mannes zu verdanken hatte, er ließ die Warnung umgehend an alle Vorpostenschiffe in der Umge bung der Doppelsonne Arcur weiterleiten. Als er wenig später erfuhr, dass sich die betreffenden SVE-Raumer im Anflug auf Houxel befanden, wurde ihm gleichzeitig mitgeteilt, dass der Sieben-D-Mann Kershyll Vanne um die Erlaubnis bat, seine SpaceJet gegen die bevorstehende Verspannung des Raum-Zeit-Gefüges zu sichern. »Wie will er das machen?«, fragte Germaar-Vonk verwundert. »Das entzieht sich meiner Kenntnis«, antwortete die Ordonnanz. »Auf jeden Fall benötigt er die Unterstützung eines der Kelosker.« Germaar-Vonk zögerte nicht lange. »Er hat meine Erlaubnis. Aber ich werde ihn ebenfalls begleiten!«
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»Was hat der Kommandant vor?«, fragte Kershyll Vanne verblüfft. »Warum will er dabei sein?« »Manchmal ist es sehr schwierig, die Motive eines Laren zu erken nen«, antwortete Tallmark. »Ich nehme an, es handelt sich um triviale Neugierde. Und wahrscheinlich kann er sein Misstrauen nicht über winden.« Germaar-Vonk erwartete sie schon in dem Gleiterhangar. Kershyll Vanne manövrierte das Fahrzeug durch die Druckschleuse und nahm Kurs auf die Space-Jet. Mit dem, was gleich darauf geschah, hatte das Konzept nicht gerech net. Tallmark wurde davon ebenso überrascht. Zuerst bemerkte Vanne, dass er der Space-Jet nicht mehr näher kam, obwohl der Gleiter mit hoher Geschwindigkeit dicht über den Bo den hinwegraste. Gleich darauf beobachtete er mit Staunen, dass die SOL-SJ-38 kleiner wurde, als entferne sie sich. Wie aus dem Nichts erschien eine Nebelwand, in die der Gleiter trotz einer schnellen Kurskorrektur hineinraste. Houxel war eine at mosphärelose Welt, woher also hätte der Nebel kommen sollen? Es gab ein knirschendes Geräusch. Die Absorber schienen zu versa gen, denn Vanne wurde tief in den Pilotensessel gedrückt. Sekunden lang verlor er die Besinnung. Als er halb benommen wieder zu sich kam, sah er hellen Sonnen schein und blickte durch die Frontverglasung auf eine grasbewachsene Ebene. Vereinzelt ragten Bäume auf, und am Horizont bemerkte er Sil houetten, die Gebäude oder Ruinen sein mochten. Über der Ebene wölbte sich ein wolkenlos blauer Himmel, und eine weißgelbe Sonne hing hoch am Firmament. Die Szene hatte etwas ungemein Friedli ches. Vannes Blick wanderte zu den Instrumenten. Gedankenschnell rech 476
nete er die larischen Werte um und nahm zur Kenntnis, dass außer halb der Kabine ein normaler Luftdruck und eine Temperatur von 27 Grad Celsius herrschten. Erst jetzt wandte er sich um. Der Lare hing schlaff im Gurt und war noch nicht ansprechbar. Tallmark dagegen genoss bereits den wun dersamen Ausblick. »Wo sind wir?«, fragte Vanne. »Auf einer fremden Welt«, antwortete der Kelosker gelassen. Wie sind wir hierher gekommen?, wollte Vanne fragen, er besann sich gerade rechtzeitig. »Die Verspannung hat uns erwischt?« »So ist es«, antwortete der Kelosker. »Du hast den vermeintlichen Nebel gesehen – das schwache Abbild einer Raum-Zeit-Falte.« Er be nutzte wieder die vertrauliche Anrede, weil der Lare in ihrer Nähe war. »Wir sind nicht der Krümmung der Falte gefolgt, sondern direkt hin durchgestoßen, Kershyll. Es gibt keinen Zweifel, wir befinden uns in einem anderen Universum.« In dem Moment kam Germaar-Vonk zu sich und stieß einen gur gelnden Schrei aus. »Wo sind wir?« »In einem anderen Universum«, antwortete Vanne unbewegt und ließ beide Schotten der Druckschleuse aufgleiten. Aufmerksam muster te er die Anzeige im Ärmel seiner Montur. Die Atmosphäre war atem bar. Dennoch widerstand er der Versuchung, den Helm zu öffnen. Er stieg aus und inspizierte den Gleiter. Der Aufbau war an mehre ren Stellen eingedrückt, als sei das Fahrzeug aus größerer Höhe abge stürzt. Das erklärte die Geräusche und die unbarmherzige Kraft, die ihn in den Sessel gedrückt hatte. Als der Gleiter diese Welt erreicht hatte, musste er eine deutlich grö ßere Flughöhe gehabt haben als über Houxel. Wahrscheinlich hatte das Versagen der Steuerung zur automatischen Triebwerksabschaltung geführt, und dann war die Maschine abgeschmiert. Germaar-Vonk folgte ihm. Er war grau im Gesicht. »Was ist das für eine Welt?«, fragte er schroff. 477
»Eine paradiesische Welt mit wärmender Sonne und atembarer Luft«, antwortete Vanne. »Trotzdem halten Sie Ihren Helm geschlossen?«, bemerkte der Lare misstrauisch. »Weil ich nicht will, dass mir die Luft ausgeht, wenn wir ebenso plötzlich nach Houxel zurückkehren, wie wir hierher gelangt sind. Vielleicht kehrt sich der Prozess um.« Germaar-Vonk blickte zum Horizont. »Was sind das für Bauwerke? Können Sie erkennen, ob diese Welt besiedelt ist?« Hinter ihnen zwängte sich Tallmark durch die Schleuse. Er hatte die Frage gehört. »Das ist sehr unwahrscheinlich«, antwortete er an Vannes Stelle. »Die Umrisse gehören zu Gegenständen hinter dem Horizont, die nur wegen ihrer Höhe für uns noch sichtbar sind. Große Gebäude werden aber nur von fortgeschrittenen Zivilisationen errichtet, die im allgemeinen Funk und schnelle Fahrzeuge entwickelt haben. Von beidem kann ich nichts erkennen. Wenn es hier einmal eine Besiedelung gegeben hat, dann existieren die Bewohner nicht mehr.« »Wir sollten uns die Gebäude ansehen«, schlug der Lare vor. »Dieser Platz muss zuvor markiert werden«, sagte Vanne. »Hier sind wir angekommen, und es ist sehr gut möglich, dass wir nur an dieser Stelle wieder gehen können.« »Es kann nicht schaden, diese Position zu markieren«, stimmte Tall mark zu. »Allerdings würde ich an deiner Stelle erst prüfen, ob die Markierung bereits stattgefunden hat.« Germaar-Vonk blickte den Kelosker verwundert an. Kershyll Vanne hingegen verstand sofort. Falls der Gleiter nicht mehr flugfähig war, dann war die Landestelle durch das Wrack ausreichend kenntlich ge macht. Vanne schwang sich wieder an Bord und ließ das Triebwerk anlau fen. Es stotterte anfangs, arbeitete aber bald gleichmäßig. Alles funk tionierte. Tallmark hatte mittlerweile Buschwerk ausgerissen und auf geschichtet. Das reichte als Markierung aus. 478
Nachdem der Lare und Tallmark wieder an Bord waren, ließ Vanne den Gleiter bis auf gut drei Meter Höhe steigen und nahm Kurs auf die Gebäude am Horizont. Die Umrisse wurden schnell deutlicher. Sie gehörten zu Bauwerken, die in der Tat gigantisch anmuteten. Sie waren halb zerfallen, vermittel ten aber noch immer einen atemberaubenden Eindruck von der Zivili sation, die sie vor langer Zeit errichtet hatte. Einst hatten hier neun Türme gestanden. Von fünf zeugten noch einigermaßen stattliche Überreste, die rest lichen vier waren zu Schutthaufen zusammengesunken. Der Grundriss der Türme war rund. Nach oben hin hatten sie sich leicht verjüngt. In Bodennähe betrug der Durchmesser eines Turmes gewiss einhundert Meter. Kershyll Vanne schätzte die Masse der verbliebenen Schuttberge und kam zu der Überzeugung, dass jeder Turm mindestens achthun dert Meter hoch gewesen sein musste. Ihre Standorte bildeten die Eckpunkte eines regelmäßigen Neunecks. Der herabstürzende Schutt hatte sich hauptsächlich im Innern des Neunecks aufgesammelt. Etwa im Zentrum lag er an die fünfzig Meter hoch. Jenseits der neun Türme schien die Welt so unberührt wie auf der Seite, von der Kershyll Vanne, Tallmark und der Lare gekommen wa ren. Es sah fast so aus, als seien auf diesem Planeten vor unvordenk licher Zeit Raumfahrer gelandet, nur um die neun Türme zu errichten. Anschließend waren sie wieder verschwunden und hatten keine andere Spur hinterlassen als nur ihre Bauwerke. Warum? Kershyll Vanne entging nicht, dass Tallmark die gigantische Anlage mit angespannter Aufmerksamkeit musterte. Er wirkte erregt – eine Seltenheit bei einem Kelosker, der sonst den Eindruck des Ge stalt gewordenen Phlegmas vermittelte. Fast wollte Kershyll glauben, dass Tallmark mehr von diesen neun Türmen wusste – wer sie erbaut hatte, warum sie hier standen, welche Funktion sie erfüllten. Trotzdem fragte er nicht danach. Wenn der Kelosker etwas zu sagen 479
hatte, würde er das beizeiten von selbst tun. »Wo landen wir?«, erkundigte sich der Sieben-D-Mann. »Außerhalb des Neunecks«, antwortete Tallmark. »Zwischen den Turmruinen, fürchte ich, ist es ziemlich gefährlich.« Das klang wie der Beginn einer geheimnisvollen Erklärung, aber als Tallmark den erwar tungsvollen Blick des Laren auf sich gerichtet sah, fügte er beiläufig hinzu: »Wegen der herabstürzenden Trümmer!« Kershyll Vanne landete etwa zweihundert Meter von dem südlichsten Turm entfernt. Die vier Himmelsrichtungen hatte er nach dem Son nenstand festgelegt. Die fremde Sonne, die sich schnell dem Horizont zuneigte, stand zur Linken, im Westen. Der Gleiter hatte sich nord wärts bewegt. Der südlichste Turm war derjenige, den das Fahrzeug als ersten erreichte. Kershyll Vanne schaltete das Triebwerk ab. »Was haltet ihr davon?«, fragte er seine Mitbewusstseine. »Bevor ihr euch in lange Erörterungen einlasst«, meldete sich Pale Donkvent, »mir macht die Zahl Neun zu schaffen.« »Richtig!«, pflichtete Ankamera bei. »Drei, fünf, sechs und sieben – wir kennen mehrere Zivilisationen, die diese Zahlen als magisch an sahen. Ich erinnere an die Sonnensechsecke, an die sechs Pyramiden von Kahalo und so weiter. Neun ist aber eine Zahl, die uns bislang so noch nicht begegnet ist.« »Worauf soll das hinauslaufen?«, fragte Vanne. »Wir wollen wissen, was wir vor uns haben – gleichgültig, ob es aus acht, neun oder sieb zehn Türmen besteht.« »Das wird Tallmark beantworten können«, sagte Indira Vecculi. »Er scheint diese Anlage zu kennen.« »Er hat lediglich eine vage Erinnerung an irgendein Volk, dem die Zahl Neun heilig war«, fügte Albun Kmunah hinzu. »Ich wollte auf etwas anderes hinaus«, bemerkte Kershyll Vanne. »Seht euch das Neuneck an. Es macht den Eindruck, als stünde es seit Zehntausenden von Jahren hier. Die Türme zerfallen allmählich. 480
Aber wohin fällt der Schutt?« »Nur ins Innere des Neunecks«, bemerkte Indira. »Wenn ein Gebäude wie ein solcher Turm auseinander bricht, dann verstreut er seine Trümmer nach allen Richtungen«, sagte Hito Gudu ka. »Ihr habt Recht: Es ist höchst merkwürdig, dass der Schutt nur im Innern des Neunecks liegt.« »Noch etwas«, bemerkte Albun Kmunah. »Die Anlage erweckt den Eindruck, als befinde sie sich im Stadium des fortgeschrittenen Zer falls. Aber solange wir hier sind, hat sich noch kein einziges Mauer stück gelöst.« »Das könnte statistisch bedingt sein«, widersprach Vanne. »Anderer seits: Je mehr Zeit vergeht, ohne dass sich irgendwo ein Fragment löst, desto merkwürdiger wird die Sache.« »Da gibt es noch etwas, das sogar gelehrten Geistern anscheinend überhaupt noch nicht aufgefallen ist!«, krähte Jost Seidel. »Was?« »Diese Welt ist sehr fruchtbar. Wenn die Trümmer da wirklich im Lauf von vielen tausend Jahren herabgestürzt sind, wie kommt es dann, dass auf ihnen kein einziger Grashalm wächst?« »Richtig«, sagte Ankamera. »Könnte es sein, dass das Trümmerfeld erst vor ganz kurzer Zeit entstanden ist?« »Halt! Wir bewegen uns in eine falsche Richtung«, warnte Kershyll Vanne. »Es müsste sich jemand extreme Mühe gegeben haben, den neun Türmen das Aussehen uralter Ruinen zu geben, wenn die Trüm mer wirklich erst in jüngster Zeit entstanden sind. Das aber ergäbe kei nen Sinn.« »Ihr seht noch immer am Kern der Sache vorbei«, behauptete Jost Seidel vorlaut. »Wie wäre es, wenn die Trümmer nur zur Täuschung da sind? Stellt euch vor: Irgendein Unbekannter errichtet eine Anlage. Diese Anlage erfüllt einen bestimmten Zweck. Er möchte nicht, dass die Anlage daran gehindert wird, ihren Zweck zu erfüllen. Das heißt, er will verhindern, dass jemand kommt und die Bauwerke vernichtet. 481
Womöglich hat er Feinde, die so etwas nur zu gerne tun würden. Also richtet er das Ganze so her, dass es auf den ersten Blick völlig harmlos wirkt. Als Trümmerfeld zum Beispiel.« »Daraus könnte man etwas machen«, stimmte Pale Donkvent zu. »Aber es erklärt nicht, warum auf den Trümmern kein Gras wächst.« »Doch!«, widersprach Indira Vecculi. »Wenn die Anlage eine be stimmte Funktion versieht, dann lässt sich leicht ausmalen, dass sie etwas von sich gibt, eine Strahlung meinetwegen, durch die Pflanzen am Wachsen gehindert werden.« »Fassen wir zusammen!«, schlug Kershyll Vanne vor. »Die Anlage wurde für einen bestimmten Zweck errichtet und hatte von Anfang an diese Form. Sie gibt wahrscheinlich eine Strahlung von sich, die ver hindert, dass auf den Trümmern Gras wächst. Ist das unser aller An sicht?« »So etwa könnte man es ausdrücken«, antwortete Pale Donkvent. »Und jetzt«, sagte Indira Vecculi, »sollten wir uns mit Tallmark kurz schließen, damit er uns verrät, was er über die neun Türme weiß.«
***
»Warum unternehmen Sie nicht endlich etwas?«, protestierte GermaarVonk zornig. »Ich dulde nicht, dass Sie einfach abwarten.« »Dann machen Sie einen Vorschlag!«, sagte Tallmark. »Bin ich vielleicht ein siebendimensionales Genie? Ich verlange, dass Sie beide den Weg zurück nach Houxel finden!« »Mit Verlangen und Wollen allein ist es nicht getan«, entgegnete Tallmark gelassen. »Wir müssen denken und planen – erst danach kön nen wir richtig handeln.« »Also gut«, lenkte der Lare ein. »Worüber denken Sie nach?« »Über ein uraltes Sternenvolk, das man die Trümmerleute nennt.« »Ich verstehe nicht …« »Wir wissen so gut wie nichts von ihnen. Vor Jahrtausenden zogen 482
sie von Universum zu Universum und hinterließen ihre Spur in Form von Anlagen wie dieser hier. Neun Türme an den Ecken eines regel mäßigen Neunecks, der Innenraum mit Schutt bedeckt, die Türme zum großen Teil verfallen. Als die erste dieser Stationen entdeckt wur de, hielt man den Schutt für ein Anzeichen ihres hohen Alters. Erst viel später, als weitere solcher Anlagen bekannt geworden waren, wurde man darauf aufmerksam, dass alle das gleiche Stadium des Verfalls er reicht hatten, dass überall in den Innenräumen der Schutt gleich hoch lag und dass die Trümmer mit gleichbleibender Regelmäßigkeit in das Innere des Neunecks fielen, aber kaum nach außen.« Germaar-Vonk hörte schweigend zu. Und Kershyll Vanne empfand große Befriedigung, dass er und seine Mitbewusstseine dieselben Dinge bemerkt hatten wie seinerzeit die Kelosker. »Also lag der Schluss nahe«, fuhr Tallmark fort, »dass die Trümmer leute ihre Anlagen mit Absicht in dieser Form errichtet hatten. Ent weder war die Ansammlung von Schutt wichtig für die Funktion der Neunturmanlagen, oder sie diente als Tarnung. Es mochte Gegner der Trümmerleute gegeben haben, die ein Interesse daran hatten, dass de ren Anlagen nicht funktionierten. Wenn sie bei der Suche auf eine An lage dieser Art stießen, dann mussten sie zu der Überzeugung gelan gen, dass die neun Türme unmöglich noch funktionieren konnten. Das wiederum veranlasste sie, der Anlage keine weitere Beachtung zu schenken.« Als der Kelosker schwieg, fragte Germaar-Vonk sofort: »Welche Funktion versehen die neun Türme?« »Das wissen wir bis heute nicht«, antwortete Tallmark. In diesem Punkt – dessen war Kershyll Vanne sich so sicher, als hätte er sich zuvor mit dem Kelosker abgesprochen – sagte Tallmark nicht die Wahrheit. Er wollte das Geheimnis für sich behalten und es keines falls mit dem Laren teilen.
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»Wir warten, bis die Nacht hereinbricht«, schlug der Kelosker vor. »Ich bin überzeugt, wir werden etwas Eigenartiges zu sehen bekom men!« Mehr sagte er nicht.
24.
D
ie fremde Sonne war längst hinter dem Horizont verschwunden. Ein merkwürdig sternarmer Nachthimmel umspannte die Welt der Trümmerleute. »Seht!«, rief Tallmark plötzlich. Kershyll Vanne blickte zwischen zwei Turmruinen hindurch auf das Trümmerfeld im Innern des Neunecks. Geisterhafter bläulicher Schein zuckte über die Fragmente hinweg, huschte über Kanten und Spitzen und wurde von Minute zu Minute intensiver, bis der riesige Schutt berg von innen heraus glühte, als sei er von loderndem Gas durch drungen. »Darauf habe ich gewartet«, erklärte der Kelosker. »Das Leuchten be deutet, dass es hier vielleicht einen Rückweg nach Houxel gibt. Wäre das Leuchten nicht, hätten wir keine Möglichkeit. Ich muss hinaus, um den Schutt zu untersuchen.« »Ich gehe mit dir!«, bot Vanne sich an, weil er das Gefühl hatte, dass der Kelosker genau das von ihm erwartete. »Brauchen Sie meine Unterstützung?«, fragte Germaar-Vonk. Es war offensichtlich, dass er sich in der Geborgenheit des Gleiters sicherer fühlte als draußen. »Es sollte eine Wache hier bleiben«, sagte Tallmark. »Für den Fall, dass diese Welt doch eigene Intelligenzen hervorgebracht hat.« »Ich übernehme die Wache«, entschied der Lare. Gleichzeitig besann 484
er sich, dass er das Kommando hatte. Barsch fügte er hinzu: »Sie beide achten darauf, ständig Kontakt mit mir zu halten!« Kershyll Vanne und der Kelosker ließen den Gleiter hinter sich und näherten sich schnell dem nächsten Turm. Wo sie von Germaar-Vonk nicht mehr gesehen werden konnten, öffnete Tallmark den Helm. Vanne tat es ihm nach. »Es gibt Dinge, über die ein Lare nichts zu wissen braucht«, sagte der Kelosker. »Hast du deinen Helmsender abgeschaltet?« »Natürlich.« »Wir wissen mehr über die Trümmerleute, als ich dem Kommandan ten gegenüber jemals zugeben würde«, erklärte Tallmark. »Vor einer Zeit, die eher nach Millionen als nach Tausenden von Jahren zählt, müssen sie selbst auf der Suche gewesen sein. Wonach, davon hat nie mand eine Ahnung. Fast scheint es, als seien jene, die wir heute Trüm merleute nennen, der versprengte Rest eines großen Volkes gewesen, der sein Volk suchte. Denn die Neunturmanlagen sind ohne Ausnah me gigantische Leuchtfeuer. In regelmäßigen Intervallen strahlen sie starke sechsdimensionale Signale ab, die sogar die Grenzen von Uni versen durchdringen. Diese Leuchtfeuer werden von Kraftwerken ge speist, die ihre benötigte Energie aus dem Innern benachbarter Sonnen abziehen. Die Entladung eines Leuchtfeuers ist eine gewaltige energeti sche Eruption. Danach dauert es lange Zeit, bis die Kraftwerke das Leuchtfeuer wieder aufgeladen haben, damit es das nächste Signal ab strahlen kann.« »Wie lange?«, fragte Kershyll Vanne. »Genau dreiundzwanzig Stunden und achtzehn Minuten nach eurer Zeitrechnung«, antwortete Tallmark. »Merkwürdigerweise ist dieses In tervall unabhängig von der Leistung der Kraftwerke. Man sollte mei nen, dass die Trümmerleute ihre Leuchtfeuer umso öfter aufflammen ließen, je mehr Leistung ihnen zur Verfügung stand. Aber nein: Bei allen Neunturmanlagen, die wir bisher gefunden haben, war das Signal intervall dreiundzwanzig Stunden und achtzehn Minuten.« 485
»Diese Zeitspanne muss den Trümmerleuten also etwas Besonderes bedeutet haben«, vermutete das Konzept. »Wir nehmen an, dass es die Rotationsdauer des Planeten symboli siert, von dem ihr Volk stammt.« »Ist das Leuchtfeuer dafür verantwortlich, dass wir auf dieser Welt ge landet sind?« »Nicht alleine. Die Verspannung des Raum-Zeit-Gefüges und das Leuchtfeuer zusammen haben dies bewirkt. Ich werde dir unterwegs mehr darüber erzählen. Jetzt sollten wir Germaar-Vonk eine kurze Nachricht zukommen lassen, damit er nicht zu nachdenklich wird, und uns dann auf den Weg machen.« »Auf den Weg? Wohin?« »Nach unten. Du sollst das Kraftwerk und die Leuchtfeueranlage sehen!« Sie teilten dem Laren mit, dass sie im Begriff standen, in das Schutt feld einzudringen. Er forderte sie unmissverständlich auf, vorsichtig zu sein, was Vanne ein spöttisches Grinsen entlockte. Germaar-Vonk woll te offensichtlich nicht allein auf dieser Welt zurückgelassen werden. Tallmark fand eine halb eingestürzte Öffnung, die ins Innere des Turmes führte. Kershyll Vanne blickte nach oben und sah jenseits der offenen Turmspitze zwei Sterne. »Sechs der neun Türme sind rein dekorativ«, erklärte der Kelosker. »Nur drei haben die Funktion, Energie von den benachbarten Sonnen abzuzapfen. Dieser hier ist einer von den funktionslosen Türmen. Das heißt: nicht ganz. Gewöhnlich in dem am weitesten südlich liegenden Turm befindet sich der Zugang zu den tieferen Systemen. Ich gehe da von aus, dass dies hier ebenso der Fall ist.« Er tappte durch die Dunkelheit. Was er tat, konnte Vanne nicht er kennen. Plötzlich ertönte ein summendes Geräusch. Im schuttbedeck ten Untergrund öffnete sich ein großes Viereck, in dem es orangefar ben schimmerte. »Noch etwas wissen wir von den Trümmerleuten«, sagte Tallmark. 486
»Sie verwenden mit Vorliebe orangefarbenes Licht. Es scheint, dass ihre Heimatwelt eine orangerote Sonne umkreist.« Vanne blickte in einen rechteckigen Schacht, der in unabsehbare Tiefe reichte. Der Kelosker hatte anscheinend volles Vertrauen zu der Funktions tüchtigkeit der Anlage. Jedenfalls schwang er sich über den Rand des Schachtes und sank, getragen von einem Antigravfeld, langsam ab wärts. Kershyll Vanne folgte ihm sofort. Fast eine halbe Stunde lang schwebten sie in dem Schacht nach un ten. Während dieser Zeit erklärte Tallmark, wie er sich die seltsame Versetzung des Gleiters von einem Universum in das andere zusam menreimte. »Die Auswirkungen einer Raum-Zeit-Verspannung sind im Grunde banal«, sagte er. »Einen Teil davon haben wir bemerkt, als wir mit dem Gleiter aufbrachen. Du hast gesehen, wie die Space-Jet sich von uns entfernte – das Raum-Zeit-Gefüge war im Begriff, sich auszudehnen. Zeitverschiebungen wären als Nächstes gekommen. Auf Houxel wären die Uhren unterschiedlich schnell gelaufen. Das sind die typischen Auswirkungen einer Verspannung. Was uns jedoch widerfuhr, war das zufällige raumzeitliche Zusammentreffen der Verspannung, die im Grunde ein fünfdimensionaler Vorgang ist, mit dem sechsdimensiona len Leuchtfeuer-Signal der Trümmerleute. Der Zusammenstoß beider Energiefronten ließ Risse und Löcher in unserem Kontinuum ent stehen. Durch eines dieser Löcher sind wir hierher geraten.« »Unsere Rückkehr nach Houxel muss warten, bis das Leuchtfeuer wieder aufleuchtet?« »Das wäre die günstigste und sicherste Möglichkeit. Andererseits kann es in der Nähe der Energiespeicher zu Streueffekten kommen. Dabei handelt es sich zwar nur um geringfügige Energiemengen, aber wenn diese über die Kontinuumsgrenzen hinweg auf die Raum-ZeitVerspannung im Arcur-Sektor treffen, können dennoch winzige und in ihrer Lebensdauer begrenzte Perforationen entstehen.« 487
Der gemauerte Schacht endete jäh. Vanne und der Kelosker schweb ten nun innerhalb eines gewaltigen unterirdischen Raumes, dessen Bo den noch Hunderte von Metern unter ihnen lag. Die Halle war neun eckig, und ebenso neuneckig war das Gebilde, für dessen Unterbrin gung sie anscheinend konstruiert worden war. Es hatte die Form eines Kabelstrangs, der um neun Ecken herumge bogen worden war, so dass er schließlich wieder in sich selbst zurück führte. Von den Kabeln, symbolisch gesprochen, durchmaß jedes min destens zwölf Meter. Etwa dreißig zusammen bildeten den Strang, der jeweils in der Mitte zwischen zwei Ecken durch metallene Bänder oder Zwingen zusammengehalten wurde. Der Strang war an der Basis breiter als am oberen Ende und ragte gut und gerne sechzig Meter in die Höhe. Das Neuneck, das der Strang bildete, hatte nach Vannes Schätzung einen Durchmesser von vierhundert Metern. Zwischen den einzelnen Kabeln tanzten blaue Flammen. Auch im leeren Innenraum des Neun ecks waren diese Erscheinungen zu beobachten. Es roch nach Ozon, und ein stetes Knistern lag in der Luft. Vanne bemerkte erst jetzt die drei gigantischen Metallstreben, die von der Hallendecke herabreichten und an drei verschiedenen Stellen auf der Oberfläche des Kabelstrangs endeten. Das mussten die Energiezulei tungen aus den drei Türmen sein, von denen Tallmark gesprochen hat te. Der Kelosker und das Konzept würden unweigerlich im Innern des Neunecks den Boden berühren. »Die blauen Flammen sind ein Anzeichen dafür, dass sechsdimensio nale Energie aus dem Speicher leckt«, erklärte Tallmark. »Wo sie auf die Raum-Zeit-Verspannung treffen, muss ein Riss in der Grenze zwi schen beiden Universen entstehen. Wenn du Glück hast, kannst du ihn als dunklen Schemen wahrnehmen.« Während sie weiter abwärts sanken, beobachtete Kershyll Vanne die Flammen. Sie flackerten hier nicht so heftig, wie er es draußen über 488
den Trümmern gesehen hatte. Dafür leuchteten sie intensiver – ein Zei chen, dass die Energie in diesem Bereich konzentrierter war als drau ßen. Gewöhnlich verschwanden sie innerhalb weniger Sekunden wie der. Nur manchmal geschah es, dass eine von ihnen wie ein Irrlicht eine größere Distanz überbrückte. Ein einziges Mal bemerkte das Konzept, was es ohne Tallmarks Hin weis für einen flüchtigen Schatten gehalten hätte. Dieser Schatten wirk te in Form und Größe wie ein knapp zwei Meter hohes Oval. Gerade bequem für einen Mann, um hindurchzusteigen, ging es Vanne durch den Kopf. Schließlich standen sie auf dem Boden. »Das Neuneck, das du ringsum siehst, ist der Energiespeicher. Er ist direkt mit dem Leuchtfeuermechanismus verbunden, der eine Etage tiefer in einem ebensolchen Raum liegt. Neun muss den Trümmerleu ten eine heilige Zahl gewesen sein. Der Speicher besteht aus siebenund zwanzig Kapazitoren – das sind die dicken Röhren. Sein Umfang be trägt 729 Wegeinheiten der Trümmerleute, das sind neun mal neun mal neun. Und die Energie, die bei jedem Aufflammen des Leuchtfeu ers freigesetzt wird, würde ausreichen, ein Dutzend Sonnen in Super novae zu verwandeln, sofern sie vier- oder fünfdimensionale Struktur hätte.« Kershyll Vanne war beeindruckt. Und dann geschah das, womit weder Tallmark noch er selbst gerech net hatten. Eine kleine blaue Flamme zuckte langsam und gemächlich an Vanne vorbei. Er sah sie, hielt sie aber nicht für bedrohlich. In der nächsten Sekunde schlug die Flamme einen Haken und sprang direkt auf ihn zu. Vanne wollte ausweichen, doch das irrlichternde Zucken änderte abermals die Richtung. Nur undeutlich gewahrte Kershyll Vanne den bedrohlichen Schatten, der neben ihm aufwuchs. Seine Ausweichbewegung führte zur Berührung. Vanne verschmolz mit dem Schatten und verschwand. So wenigstens sah Tallmark die Entwicklung. Aus Sicht des Konzepts 489
bot sie sich ganz anders dar.
***
Kershyll Vanne war im ersten Schreck erstarrt. Er hatte den Helm noch geöffnet, weil er sich mit dem Kelosker unterhalten wollte, ohne von Germaar-Vonk über Funk gehört zu werden. Instinktiv erwartete er die luftleere Kälte von Houxel. Dass er nichts davon spürte, war ein weiterer Schock – womöglich noch größer als der erste. Blitzschnell griff er nach dem Helm, zog ihn nach vorne und schloss ihn. Gierig sog er den einströmenden Sauerstoff in seine Lun gen. Zugleich sagte er sich, dass er keine Zeit mehr gefunden hätte, den Helm zu schließen, wenn er wirklich im Vakuum materialisiert wäre. Es war finster um ihn herum. Bei dem Versuch, sich zu orientieren, stellte Vanne fest, dass es zu beiden Seiten Wände gab, aber nicht vor und hinter ihm. Er befand sich demnach in einer Art Korridor. Mit ständiger Wandberührung ging er weiter. Dabei öffnete er den Helm wieder und stellte fest, dass die Luft kühl, trocken und frisch war. Er befand sich offenbar in einem Gebäude. Die Zahl der Gebäude auf Houxel war begrenzt. Doch ebenso gut konnte er sich in einem unterirdischen Gang des Llungorenischen Labyrinths befinden wie in einem Korridor der Larenstation. Er hatte etwa dreihundert Schritte zurückgelegt, da bemerkte er vor sich einen matten Lichtschimmer. Kershyll Vanne lief schneller und ge langte in einen der Hangars für Bodengleiter. Der Gedanke, dass er un versehens wieder Houxel erreicht hatte, während die Laren ihn, Tall mark und den Stützpunktkommandanten verschollen wähnten, hatte etwas Erregendes an sich. Gab es Dinge, die er hier ausrichten konnte? Er schloss den Helm zum zweiten Mal und schaltete den Funkemp fang ein. Sofort vernahm er aufgeregtes Stimmengewirr, mehrere Laren unterhielten sich offenbar über den Verkünder der Hetosonen. Vanne 490
reagierte wie elektrisiert. War Hotrenor-Taak auf Houxel gelandet? Als er auch noch jemanden von den Keloskern reden hörte, musste er sich vergewissern.
***
Kershyll Vanne fand einen Antigravschacht, der ihn nach oben trug. Das Stimmengewirr im Helmempfang hatte aufgehört. Er bewegte sich vorsichtig, als er die Halle erreichte, in der er selbst von Tallmark empfangen worden war. Weiter nach oben … Die Tür zu dem Versammlungsraum der Kelosker öffnete sich, ohne dass er damit Probleme gehabt hätte. In dem Raum hielt sich niemand auf, aber aus dem Korridor im Hintergrund erklangen Stimmen. Kershyll Vanne schlich weiter bis in die Nähe des Rechnerraums. Der Eingang stand offen. Vanne erblickte eine Gruppe von elf Keloskern und einen Laren, der ihm aber den Rücken zuwandte. Dennoch hatte Vanne keinen Zweifel, dass er Hotrenor-Taak sah. Er kannte den Ver künder der Hetosonen von vielen Aufnahmen. Er verstand nicht viel aus der sicheren Distanz. Hotrenor-Taak redete von einem Filter, aber das war ein dehnbarer Begriff. Die Kelosker schienen seinem Anliegen nicht allzu viel Begeisterung entgegenzubrin gen. Schließlich hantierte einer der Kelosker, es war Llamkart, an der Rechenanlage. Er war mindestens zehn Minuten lang intensiv beschäf tigt. Schließlich wandte Llamkart sich wieder Hotrenor-Taak zu. »Es ist vollbracht«, glaubte Vanne zu verstehen. Die ganze Zeit über war Kershyll Vanne nicht bemerkt worden, weil die Aufmerksamkeit aller sich auf die Unterhaltung zwischen Llamkart und Hotrenor-Taak konzentriert hatte. Jetzt wurde das anders. Die Ke losker schienen erleichtert zu reagieren, was immer zwischen ihnen und dem Verkünder der Hetosonen gewesen sein mochte, und für Vanne war dies das eindeutige Signal, dass er sich zurückziehen muss 491
te. Seine Absicht, irgendetwas zu unternehmen, um die Kelosker end gültig zu rehabilitieren, war momentan jedenfalls nicht durchführbar. Er hörte Llamkart dem Laren antworten, wobei der Name Tallmark mehrmals fiel, und er sah, dass Hotrenor-Taak auf Llamkarts Aussage überrascht, geradezu bestürzt reagierte. Fast kam es ihm so vor, als habe der Verkünder zum ersten Mal von Tallmarks Verschwinden er fahren. War das plausibel? Angesichts der Inflexibilität der larischen Hierar chie und ihres Leistungszwangs durchaus. Das Verschwinden von Tall mark – und zweifellos auch das Abhandenkommen des Sieben-D-Man nes, von dem Hotrenor-Taak sicherlich wusste – war eine schwerwie gende Angelegenheit. Von den Laren auf Houxel hatte, aus Furcht vor Bestrafung, sicher keiner den Verkünder sofort informiert. Dieser Ent schluss musste sogar leicht gefallen sein, falls Hotrenor-Taak den Wunsch geäußert hatte, sofort die Kelosker aufzusuchen. Die Kelosker würden auch für die Abwesenheit des Stützpunktkommandanten eine plausible Erklärung finden, mochten die Laren gedacht haben. Hotrenor-Taak hatte die Kelosker veranlasst – augenscheinlich ge zwungen –, an der Programmierung ihres Rechners Änderungen vorzu nehmen. Warum? Verstand der Lare überhaupt etwas von diesen Sach verhalten? Nicht einmal mit sieben Bewusstseinen, stellte Kershyll Vanne fest, war es ihm leicht, eine Antwort zu finden. Mittlerweile hatte er den Hangar wieder erreicht und betrat den fins teren Korridor, in dem er materialisiert war. Er wollte auf die fremde Welt zu Tallmark zurückzukehren. Falls dies überhaupt noch möglich war. Seine Geduld wurde auf keine allzu harte Probe gestellt. Er sah Ne belschleier, die aus einem Riss in der Seitenwand zu quellen schienen. Der Nebel kondensierte schnell. Kershyll Vanne warf sich einfach vor wärts. 492
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Es wurde ein recht hässlicher Sturz. Vanne prallte hart auf, schlug ir gendwo mit der Schulter an und verlor vor Schmerz kurzzeitig das Be wusstsein. Als er wieder zu sich kam, gewahrte er Tallmark, der sich mit deutlichen Zeichen der Besorgnis über ihn beugte. »Bist du verletzt?«, hörte Kershyll Vanne im Helmempfang. Noch halb benommen, richtete er sich auf. Seine Schulter schmerz te, aber sonst fühlte er sich leidlich. Die orangefarbene Helligkeit der riesigen Halle umgab ihn. Er war fast auf den Meter genau an den Ort zurückgekehrt, von dem aus er verschwunden war. »Es ist alles in Ordnung«, sagte er und öffnete den Helm. »Du warst auf Houxel?«, wollte der Kelosker wissen, wartete die Ant wort aber gar nicht erst ab, sondern fügte im selben Atemzug hinzu: »Wie lange etwa?« »Rund vierzig Minuten«, meinte Vanne. »Hier sind eineinhalb Stunden vergangen.« Kershyll Vanne schaute den Kelosker überrascht an. »Die Zeitabläufe in beiden Universen sind verschieden?« »Ganz eindeutig«, bestätigte Tallmark. »Hast du wichtige Beobach tungen gemacht?« »Hotrenor-Taak ist auf Houxel!« »Damit habe ich gerechnet«, erklärte der Kelosker. »Den Sieben-DMann muss er sich unbedingt ansehen.« »Die Laren haben ihm offenbar noch nicht gesagt, dass wir ver schwunden sind«, bemerkte Vanne. »Er wird es erst von deinen Leuten erfahren. Er war bei ihnen. Llamkart arbeitete für ihn am Rechner.« »Was hat er gemacht?« »Ich verstand fast nichts davon. Aber Llamkart hat irgendetwas an der Programmierung verändert.« »Wir werden sehen«, sagte Tallmark nachdenklich. »Jetzt gehen wir 493
zu Germaar-Vonk zurück. Ich habe in der Zwischenzeit mehrmals mit ihm gesprochen. Er wird ungeduldig und unleidlich.« Auf demselben Weg, auf dem sie gekommen waren, kehrten sie an die Oberfläche zurück. Über dem Trümmerfeld war das bläuliche Glimmen intensiver geworden, wenn auch längst nicht so kräftig wie in der Halle des Energiespeichers. »Wir sind wieder oben!«, meldete Tallmark. »Gut!«, bestätigte der Lare. »Das Leuchten wird unheimlich. Bedeutet es wirklich, dass wir einen Rückweg finden können?« »Diese energetische Erscheinung beweist, dass Risse in den Hüllen der Universen entstehen.« »Ich will das aus der Nähe sehen!«, sagte Germaar-Vonk. »Ich kom me zu Ihnen.« Er hatte den Suchscheinwerfer des Gleiters eingeschaltet und auf die Ecke des Turms gerichtet, vor dem Kershyll Vanne und der Kelosker standen. Der grelle Schein blendete beide. Sie sahen den Stützpunkt kommandanten erst, als er fast schon vor ihnen stand. Er hatte den Helm offen, ebenso wie Tallmark und der Terraner. »Es sieht aus, als brenne das Gestein«, stellte er fest, als er am Rand des Trümmerfelds stand. »Was für eine Art von Energie ist das?« »Wir wissen es nicht«, antwortete der Kelosker. »Die Geheimnisse der Trümmerleute hat bisher niemand enträtselt.« Während er mit halbem Ohr zuhörte, ließ Kershyll Vanne den Blick wandern. Ihm erschien es, als sei das blaue Leuchten in den letzten Se kunden deutlich kräftiger geworden. Er wollte Tallmark darauf auf merksam machen, da sah er eine der Flammen von der Trümmerhalde aufsteigen und auf den Turm zuschweben, den der Scheinwerfer an strahlte. »Vorsicht!«, rief Vanne. Der Kelosker bemerkte die Gefahr und wich aus. Germaar-Vonk be griff zunächst nicht, was geschah, und blieb stehen. Das war auch gut so, bemerkte Vanne, denn die Flamme schwebte meterweit an dem 494
Laren vorbei. Das zuckende Leuchten geriet in den Scheinwerferkegel und wurde dadurch nahezu unsichtbar. Nach einer, längstens zwei Sekunden kam die Flamme wieder zum Vorschein. Sie leuchtete greller als zuvor, als hätte sie die Energie des Lichtes in sich aufgesaugt. Und sie hatte die Richtung geändert und bewegte sich geradlinig auf den Laren zu. Mit einem Aufschrei sprang Kershyll Vanne vorwärts. Er prallte mit dem Laren zusammen und riss ihn zu Boden. Im Fallen ergriff er ihn am Helmkragen, kam sofort wieder auf die Beine und zerrte den wie erstarrt wirkenden Mann zur Seite. Unmittelbar hinter sich vernahm Vanne ein eigenartiges Knistern und dann ein Geräusch, als ob kräftiges Gewebe zerrissen würde. »Was soll das?«, fauchte der Kommandant wütend. »Was fällt Ihnen ein, mich derart …?« »Sehen Sie sich das an!«, fiel Vanne dem Wütenden ins Wort und deutete auf die Ecke des Turmes. Der Lare gehorchte seltsamerweise. Aus der Basis des Turmes war ein übermannsgroßes Stück Guss mauerwerk verschwunden. Ein Loch, durch das zwei Männer neben einander hätten einsteigen können, gähnte in der Wand, der untere Rand kaum eine Handbreit über dem Boden. »Das hat die kleine blaue Flamme hinterlassen«, sagte Vanne betont. »Sie ist mit der Raum-Zeit-Verspannung auf der anderen Seite dieses Universums zusammengeprallt und hat ein Stück Mauerwerk ver schwinden lassen.« »Wohin?« »Wahrscheinlich nach Houxel.« »Dann wäre ich überhaupt nicht in Gefahr gewesen!« »Wenn Sie im Vakuum materialisiert wären …« Vanne langte sich de monstrativ an die Kehle und verdrehte die Augen. Der Lare verstand die Geste sehr wohl. Er wurde grau im Gesicht und zitterte sogar, als er nach seinem zusammengefalteten Helm griff. Eine Weile stand er wie erstarrt, die Hand unschlüssig im Nacken, 495
dann fuhr er herum und blickte Kershyll Vanne durchdringend an. »Sie haben mir das Leben gerettet«, brachte er stockend hervor, als könne er genau das selbst nicht glauben.
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Der Gleiter schwebte dicht über der Oberfläche des unbekannten Pla neten. Das blaue Leuchten über dem Trümmerfeld war so intensiv ge worden, dass die Dunkelheit der Nacht bis weit über die Peripherie des Neunecks hinaus zurückgedrängt wurde. In der gespenstischen Beleuchtung warteten die Insassen des Gleiters angespannt. Tallmark vertrat die Ansicht, dass sich bald eine Möglich keit bieten werde, nach Houxel zurückzukehren. Kershyll Vanne fragte sich, was geschehen würde, wenn der Gleiter innerhalb der Station oder gar unter der Oberfläche von Houxel mate rialisierte. Solche Gedanken erfüllten ihn nicht eben mit Behagen. »Der Augenblick ist nahe«, sagte Tallmark. »Woher wollen Sie das wissen?«, fragte der Lare irritiert. »Ich kenne die Einheit, nach der die Trümmerleute ihre Zeit gemes sen haben. Sie ist nicht allzu verschieden von einer Standardstunde, wie sie in der Galaxis der Terraner verwendet wird.« »Und was hat das mit unserer Rückkehr nach Houxel zu tun?« »Die Trümmerleute verehrten die Zahl Neun. Ist es nicht denkbar, dass das Leuchtfeuer alle neun Stunden aufflammt? Neun ihrer Stun den, meine ich.« »Wenn das alle Hoffnung ist, die wir haben … Ich verwünsche Sie und Ihresgleichen, Tallmark«, schnaubte Germaar-Vonk. Vanne schmunzelte insgeheim. Die Kelosker wussten weit mehr über die Geschichte der Trümmerleute, als Tallmark dem Laren gegenüber jemals zugeben würde. »Wann genau ist es so weit?«, fragte er. »Wir nähern uns der Sekunde …« 496
Wie enttäuschend! Das war Kershyll Vannes erster und einziger Ge danke, als das Ereignis unvermittelt eintrat. Zuerst erlosch das Blau, dann verschwanden die Sterne. Die Konturen des nächstgelegenen Tur mes verwischten und wurden durchsichtig. Gleichzeitig dehnte sich die Felswüste von Houxel, beleuchtet von den Sonnenlampen des Laren stützpunkts, unter dem Gleiter. Die Vorsichtsmaßnahme, die sie mit dem laufenden Triebwerk getroffen hatten, war notwendig gewesen, denn einen Absturz aus beinahe hundert Metern Höhe hätte keiner der Insassen überstanden. So sackte der Gleiter nur ruckartig durch und stabilisierte sich knapp unterhalb seiner maximalen Flughöhe. »Zurück zur Station!«, befahl Germaar-Vonk. »Sofort!« Er war wieder in seinem Element. Kershyll Vanne gehorchte. Erst als der Gleiter sich den Kuppeln näherte, bemerkte er Tallmarks eigenartigen Blick. »Was gefällt dir nicht?«, fragte er. »Hast du gesehen, wie langsam sich der Übertrittseffekt entwickelte? Normalerweise geschieht das so schnell, dass kein Auge die einzelnen Vorgänge trennen kann.« Etwas verwundert fragte sich Vanne, was der Kelosker unter normaler weise verstand. Waren solche Durchbrüche von einem Universum zum anderen etwas völlig Normales für ihn? »Das bedeutet, dass wir von Glück sagen können, dass wir zurück sind«, erklärte Tallmark. »Die Raum-Zeit-Verspannung hat sich abge schwächt und wird bald völlig verschwunden sein. Ohne Verspannung aber gibt es keine Risse in den Wänden der Universen.« Es war nicht zu erkennen, ob der Stützpunktkommandant auch nur ein Wort der Unterhaltung mitbekommen hatte. Er saß weit vornübergebeugt und starrte nach draußen. Hinter den Kuppeln war eine grell leuchtende große Kugel sichtbar geworden, ein larischer Strukturva riabler-Energiezellen-Raumer, dessen Hülle aus purer Energie bestand. Allerdings leuchtete dieser Raumer weit greller als alle anderen, die Kershyll bislang zu Gesicht bekommen hatte. 497
»Der Verkünder!«, stieß Germaar-Vonk hervor. »Ich erkenne sein Schiff. Hotrenor-Taak ist auf Houxel gelandet.«
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Der Verkünder der Hetosonen erwartete den Kommandanten von Houxel in dessen privaten Gemächern. Germaar-Vonk hatte Tallmark und den Sieben-D-Mann fortgeschickt. Im Angesicht des Verkünders wollte er nicht in Begleitung eines Keloskers und schon gar nicht eines Terraners erscheinen. »Ich freue mich, Sie wohlbehalten wiederzusehen«, eröffnete Hotre nor-Taak in gesprächigem Tonfall die Unterhaltung. »Ich wurde unter richtet, dass Sie spurlos verschwunden wären. Allerdings waren es nicht Ihre Leute, die mir das sagten, ich erfuhr die traurige Nachricht von den Keloskern.« »Die Sonne Arcur-Beta erzeugt hin und wieder merkwürdige Verän derungen des Raum-Zeit-Gefüges in ihrer Umgebung«, antwortete Germaar-Vonk. »Es kam zu einer Verspannung. Ich war mit einem Gleiter unterwegs und verschwand plötzlich von Houxel.« »Ich weiß von der Verspannung. Unsere Geräte registrierten sie, als wir uns Houxel näherten. Sie war schon im Abklingen und muss in zwischen vollends erloschen sein. Wohin wurden Sie versetzt?« »Auf eine fremde Welt«, antwortete Germaar-Vonk lakonisch. »Und Sie fanden den Rückweg? Ich beglückwünsche Sie!« »Ich wäre wahrscheinlich nicht mehr am Leben, wenn der Sieben-DMann mich nicht gerettet hätte.« »Ah, richtig – er befand sich bei Ihnen, zusammen mit Tallmark. Ich hörte auch davon. Wie hat er Ihnen das Leben gerettet?« Germaar-Vonk berichtete wahrheitsgetreu, was sich ereignet hatte. Er erzählte Geheimnisvolles über das Volk der Trümmerleute, nur um Hotrenor-Taak davon abzulenken, dass er sich nicht aus eigener Kraft hatte retten können. Diese Bemühung erwies sich indes als unnötig. 498
Hotrenor-Taak interessierte sich ohnehin für ganz andere Dinge als die Fähigkeit oder Unfähigkeit seines Kommandanten. »Sie haben mir von dem Sieben-D-Mann berichtet«, erinnerte er Germaar-Vonk. »Sind seine Fähigkeiten wirklich so erstaunlich?« »Außerordentlich, Verkünder!«, versicherte Germaar-Vonk. »Er arbei tet mit den Keloskern bestens zusammen. Seitdem er hier ist, gewinne ich die Überzeugung, dass die Kelosker uns nicht verraten wollten, sondern nur einen Teil ihrer Fähigkeiten vorübergehend verloren ha ben.« »Die Kelosker?«, staunte der Verkünder. »Uns verraten?« Sein Gesicht nahm einen verächtlichen Ausdruck an. »Quatsch! Aber diesen SiebenD-Mann muss ich mir ansehen. Seinetwegen bin ich gekommen. Ich werde ihn auf die Probe stellen.«
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»Sie verstehen es, mit dem Rechner der Kelosker umzugehen?«, fragte der Verkünder der Hetosonen. Kershyll Vanne stand aufrecht vor ihm und überragte ihn um we nigstens eine Haupteslänge. Ringsum an den Wänden des Rechnerrau mes saßen oder standen alle sechsundzwanzig Kelosker. »Vorsicht!«, drang Indira Vecculis Gedankenstimme aus der Tiefe des Gemeinschaftsbewusstseins. »Er will dich hereinlegen!« »Ich weiß das«, antwortete Kershyll Vanne. Und zu Hotrenor-Taak sagte er: »Nicht besonders gut. Ich brauche Tallmarks Hilfe.« Der Kelosker schob sich näher heran. »Ich will eine Frage von dir beantwortet haben, Sieben-D-Mann«, sagte der Lare. »Wie lange hätte die Verspannung des Raum-Zeit-Gefü ges dauern sollen?« »Die soeben vergangen ist?« »Genau die!« Die sieben Bewusstseine schlossen sich zusammen und arbeiteten an 499
dem Problem. Sie sammelten alle Einzeldaten, den Energiezufluss von den Saugstationen, die Nachweise über die Gravitationsfronten, die Be schleunigung des Kollapses von Arcur-Beta … In Sekundenschnelle hatte Kershyll Vanne alle denkbaren Lösungswege überblickt und den einzig gangbaren herausgesucht, und er wandte sich an Tallmark: »Ich diktiere dir die Rechenprozeduren. Du wirst für mich danach die er forderlichen Daten aus dem Speicher abrufen.« Der Kelosker hob einen Arm zum Zeichen des Einverständnisses. Vanne nannte zuerst die Parameter, deren Zahlenwerte aus dem Spei cher geholt werden mussten, anschließend bezeichnete er die Prozedu ren. Tallmark machte mitunter eine zustimmende Geste: Der SiebenD-Mann war also auf dem richtigen Weg. Kurz darauf erschienen die Ergebnisreihen in der holografischen Wiedergabe. Kershyll Vanne erkannte schon an Tallmarks Gesichtsaus druck, dass etwas schief gegangen war. »Knapp zwei Millionen Jahre«, murmelte der Kelosker bestürzt. »Ist das richtig, Sieben-D-Mann?«, fragte Hotrenor-Taak schneidend. »Natürlich nicht«, antwortete Vanne. »Die Verspannung hatte eine Dauer von wenigen Stunden, wie wir alle wissen.« »Was ist falsch? Wenn die hohe Meinung, die Germaar-Vonk von Ihnen hat, zu Recht besteht, müssen Sie es wissen.« Die sechs Mitbewusstseine schwiegen. Sie wussten keinen Rat. Hotre nor-Taak hatte den Rechner umprogrammieren lassen. Daran musste es liegen. Aber was war geändert worden? »Wir müssten die Prozeduren Schritt für Schritt nachvollziehen«, sagte Kershyll Vanne gedankenverloren. Er sah auf und bemerkte Ho trenor-Taaks spöttischen Blick. Da schoss es ihm wie ein greller Blitz durch den Verstand. Der Filter! Die Daten, die Tallmark aus dem Spei cher abgerufen hatte, waren Messdaten, mit frequenzabhängigen Feh lern behaftet. Für ihre Verwertung mussten sie einen numerischen Fil ter durchlaufen, der fehlerhafte Frequenzen entfernte. Die Funktion des Filters war es, die Messdaten zu glätten. 500
Hotrenor-Taak hatte die Filterprozedur verändern lassen! »Nun?«, drängte der Lare höhnisch. »Ich kann überlegen, wie ich will, es fällt mir immer nur eines ein«, brummte Vanne. »Ich weiß nicht, wieso und wie – aber jemand muss den Glättungsfilter manipuliert haben.« An der Enttäuschung, die sich auf dem Gesicht des Laren spiegelte, erkannte Kershyll Vanne, dass er die Prüfung bestanden hatte.
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In Sol-Town – wenigstens in den Kreisen, in denen man um die Vor gänge wusste – herrschte Bestürzung. Die PLEYST blieb verschwunden. Der letzte Bericht war in jeder Hinsicht analysiert worden. Die Über tragung war nicht einwandfrei, vermutlich infolge des Protonensturms zum Sendezeitpunkt. Der Bericht erwähnte ihn. Aus der Nachricht ging hervor, dass es dem Vario-500 gelungen war, sich nach Houxel einzuschleusen. Es war zudem die Rede davon, dass das Konzept Kershyll Vanne dem Roboter folgen und ihn unterstützen solle. Unmittelbar danach riss der Text ab. Die Annahme lag nahe, dass sich Kershyll Vanne noch an Bord befunden hatte, als die PLEYST verschwand. Julian Tifflor war allein in seinem Arbeitszimmer. Seine Gedanken wanderten zu dem Achtzig-Jahre-Plan, den Perry Rhodan in Gang ge setzt hatte. Die Kelosker spielten darin die Schlüsselrolle. Nur ihnen konnte es möglich sein, ein Black Hole künstlich zu erzeugen und den Weg zu den Zgmahkonen wieder zu öffnen. Wer den Dakkardim-Bal lon erreichte, der konnte sich zum Herrscher über das Konzil auf schwingen. Nach dem Willen der Kelosker sollte das Schwarze Loch von ArcurBeta aber die Falle werden, in der sich die Laren fingen. Von den achtzig Jahren, die der Plan bis zum Erfolg laufen sollte, waren erst drei Jahre vergangen. 501
Julian Tifflor geriet ins Philosophieren. Siebenundsiebzig Jahre, die noch fehlten, waren eine lange Zeit – selbst für einen potenziell Un sterblichen.
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Kershyll Vanne war mit sich selbst zufrieden. Er hatte sich die Gele genheit nicht entgehen lassen, dem Verkünder klar zu machen, dass weitere und zunehmend kräftigere Verspannungen des Raum-Zeit-Ge füges über Houxel hinwegbranden würden. Sehr nachdenklich gewor den, war Hotrenor-Taak an Bord seines SVE-Raumers zurückgekehrt. Vanne hatte sich daraufhin sofort zu dem Vario-500 begeben und das Metallei unversehrt auf dem Tisch liegend vorgefunden, auf dem die Kelosker es abgelegt hatten, um es gelegentlich zu untersuchen. »Hältst du es nicht für an der Zeit, dass du dich wieder anziehst?«, hatte Vanne in gutmütigem Spott bemerkt. »Meine Nacktheit ist wesentlich leichter zu ertragen als die eines Menschen«, war ihm von dem Robotkaiser daraufhin würdevoll erklärt worden. Das war vor mehreren Tagen gewesen. Inzwischen hatte sich herum gesprochen, dass Hotrenor-Tak – der vor kurzem wieder abgeflogen war – Anweisung erteilt hatte, Houxel bis auf eine kleine Restmann schaft zu evakuieren. Ein SVE-Raumer stand bereit, um die Kelosker und den Sieben-D-Mann aus der Gefahrenzone zu bringen. Alle technischen Geräte einschließlich der larischen Rechenanlage waren schon an Bord geschafft worden. Der Stützpunktkommandant hatte nicht mehr nach dem eiförmigen Satelliten der Uralt-Anlage gefragt, es schien in Vergessenheit geraten zu sein. Kershyll Vanne und Tallmark hatten den Vario im Gehäuse ihrer Rechenanlage untergebracht. Wo immer das Ziel lag – der Vario-500 würde bei ihnen sein. Nicht zuletzt auch deswegen war Kershyll Vanne mit sich zufrieden. 502