Naiomi Mitchison
Memoiren einer Raumfahrerin
Science fiction-Roman
BASTEI LÜBBE
BASTEI-LÜBBE-TASCHENBUCH Science F...
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Naiomi Mitchison
Memoiren einer Raumfahrerin
Science fiction-Roman
BASTEI LÜBBE
BASTEI-LÜBBE-TASCHENBUCH Science Fiction Bestseller Band 22 020 © Einführung 1976 by Hilary Rubinstein © Copyright 1962 by Naomi Mitchison All rights reserved Deutsche Lizenzausgabe 1980 Bastei-Verlag Gustav H. Lübbe, Bergisch Gladbach
Originaltitel: Memoirs of a Spacewoman Ins Deutsche übertragen von Rosemarie Hundertmarck Titelillustration: Eric Ladd Umschlaggestaltung: Bastei-Grafik (W) Druck und Verarbeitung: Mohndruck Graphische Betriebe GmbH, Gütersloh Printed in Western Germany ISBN 3-404-22020-10
Mary, eine terranische Spezialistin für Fremdrassen-Kommunikation, berichtet von ihren Reisen zu fernen Sternen und ihren unglaublichen Erlebnissen mit außerirdischen Intelligenzen. Sie sieht dabei ihre außerirdischen Partner nicht nur mit dem kalten Blick der Wissenschaftlerin. Für Mary wird jede Reise zu einem Ausflug in fremde Gefühlswelten und eine fremde Sexualität. Naiomi Mitchison stammt aus einer schottischen Adelsfamilie und ist mit einem LabourAbgeordneten verheiratet. Ihr Buch ist einer der wenigen geglückten Versuche der Science Fiction, in die Spekulation über ferne Welten auch die Erotik mit einzubeziehen.
Einführung
Im Gegensatz zu den Fußgänger-Genres – Western, Liebesromanen, Kriminalromanen und dergleichen – schiebt die Science Fiction die Grenzen des Romans immer weiter hinaus. Ihre wesentliche Funktion ist, die Phantasie anzuregen und zu beflügeln. Daraus ergibt sich zwangsläufig, daß diese Literaturgattung sich Freiheiten mit den traditionellen Regeln nimmt, die für das Erzählen einer Geschichte gelten. Memoiren einer Raumfahrerin hat wenig Ähnlichkeit mit einem konventionellen Roman: Das Buch hat weder einen bedeutungsvollen Anfang noch einen Höhepunkt und auch keine eigentliche Handlung, und die Personen sind, abgesehen von der Heldin selbst, nur flüchtig charakterisiert. Außerdem gibt sich das Buch wenig Mühe, sich in das Gewand wirklicher Memoiren zu kleiden. Es verrät wenig oder nichts über Marys früheres Leben, sondern präsentiert einfach eine Reihe von Anekdoten, die mit ihrer interplanetaren Forschungstätigkeit zusammenhängen. Spielen seine Schwächen als Roman eine Rolle? Für jeden, den die Science Fiction anspricht, muß die Antwort lauten: »Nicht im geringsten!« Die Memoiren sind nicht nur gute Science Fiction, sie haben darüber hinauf in mehr als einer Beziehung Anspruch auf eine Ehrentafel in der Ruhmeshalle dieser Literaturgattung. Zunächst einmal gehört das Buch zu den ganz wenigen Romanen, bei denen die grenzenlosen Möglichkeiten menschlicher Sexualität aufgezeigt werden. Selbst männliche Autoren greifen sexuelle Themen ziemlich selten auf. (Consider Her Ways von John Wyndham, The Lovers von Philip José Farmer und Das große Verschwinden von Philip
Wylie sind drei bemerkenswerte Ausnahmen.) Es gibt überhaupt wenige Frauen, die Science Fiction schreiben, aber unter dieser Handvoll von Büchern fällt einem kaum ein einziges anderes ein, das Sex so delikat und entzückend behandelt wie die Memoiren. Winterplanet von Ursula Le Guin porträtiert mit vielen Einzelheiten eine ambisexuelle Gesellschaft. Doch niemand könnte erraten, daß es von einer Frau geschrieben ist, wenn Mrs. Le Guin ein neutrales (ambisexuelles?) Pseudonym gewählt hätte – von solcher klinischen Sachlichkeit sind die Schilderungen. An dem Geschlecht der Autorin der Memoiren kann dagegen kein Zweifel aufkommen. Es ist an sich schon bemerkenswert, daß Naomi Mitchison in ihrem ersten Science-Fiction-Roman (ihr zweiter, Solution 3, wurde nach einer Pause von dreizehn Jahren 1975 veröffentlicht) die sexuelle Barriere durchbrochen hat. Doch man kann nicht genug darüber staunen, daß sie so offen und mit soviel Lebensfreude vom Standpunkt einer Frau aus über sexuelle Experimente berichtet. Zu beachten ist, daß die Memoiren 1962 erschienen sind, also vor Betty Friedans Weiblichkeitswahn. Mary ist eine durch und durch emanzipierte Frau, aber sie hat ihrer Unabhängigkeit nichts von ihrer Weiblichkeit oder ihrer emotionalen Intelligenz geopfert. Und dann bedenken Sie, daß Naomi Mitchison bereits dreiundsechzig war, als sie dies Buch schrieb! Man kann an diesen witzigen Memoiren gewiß seine Freude haben, ohne etwas über die Autorin zu wissen. Aber Naomi Mitchison ist eine so außergewöhnliche Frau – hinsichtlich ihrer Interessen ebenso wie ihrer Fähigkeiten – und hat so viele ihrer Ansichten und Meinungen in den Charakter der Mary hineingelegt, daß der Leser ihr Werk bestimmt noch besser zu würdigen weiß, wenn er ein paar Informationen über ihr Leben bekommt. Sie wurde gegen Ende der viktorianischen Ära im
Jahr 1897 als Tochter J. S. Haldanes, eines berühmten und brillanten Oxforder Wissenschaftlers, geboren. Die Haldanes von Gleneagles waren ein distinguierter, der Oberklasse angehörender schottischer Clan, und Naomi verbrachte ihre Kindheit in großen, bequemen, mit reichlich Personal ausgestatteten Häusern und Schlössern. Lord Haldane, einer ihrer Onkel, war ein gefeierter Lord Chancellor. Aber Naomi ist immer ein unbezähmbares Mitglied der oberen Klassen gewesen, und in ihrem ganzen Leben hat sie soziale Schranken mit eben solchem Erfolg durchbrochen, wie sie sich von den viktorianischen Sexualtabus freimachte. Mit achtzehn heiratete sie G. R. Mitchison, einen reichen, aber linksstehenden Rechtsanwalt, der 1945 Mitglied der Labour-Fraktion im Parlament und 1964 Pair auf Lebenszeit und Minister der Labour-Regierung wurde. Naomi Mitchisons politische Aktivitäten, ob im Wahlkreis ihres Mannes oder als Mitglied des Argyllshire County Council (dem sie länger als fünfundzwanzig Jahre angehörte) oder beim Highland Advisory Panel (achtzehn Jahre) oder in vielen Einzelaktionen zugunsten von Flüchtlingen, Zigeunern, Arbeitslosen, stehen unter dem Zeichen eines leidenschaftlichen Einsatzes für soziale Gerechtigkeit. Nur ein kleiner Teil ihrer erstaunlichen Energie floß in politische Tätigkeiten. Als Schriftstellerin hat sie zu beinahe jeder Literaturgattung beigetragen – Poesie, Dramen, geschichtliche und politische Abhandlungen, etwa ein Dutzend Romane (darunter The Corn King and the Spring Queen, der es verdient, zusammen mit den Werken von Mary Renault und Zoé Oldenbourg unter die Klassiker der historischen Fiktion aufgenommen zu werden), viele Kurzgeschichten und mehrere Kinderbücher. Sie hat zwei größere Symposia über den Status der Welt herausgegeben – in den Dreißigerjahren An Outline of Knowledge for Boys and Girls and their Parents und in den
Sechzigerjahren What the Human Race Is Up To, und sie hat die Zeit gefunden, für Zeitungen und Zeitschriften Artikel und Buchrezensionen zu schreiben. Ihre Leistungen wären schon erstaunlich genug, wenn sie nur auf politischem und literarischem Gebiet tätig gewesen wäre. Doch zwischendurch hat sie noch fünf Kinder aufgezogen und sich mit Nachdruck für die drei schottischen F – Farmen, Forstwirtschaft und Fischerei – eingesetzt. Und dann blieb ihr immer noch Zeit, einer der gastfreundlichsten Menschen zu sein, die der Schreiber dieser Einführung je kennengelernt hat. Sie hat vor dem Krieg in dem Londoner Haus der Mitchisons mit Ausblick auf die Themse bei Hammersmith Mall und von den Dreißigerjahren an in einem altmodisch-geräumigen schottischen Haus in Carradale an der Ostküste der KintyreHalbinsel Gesellschaften im Stil des neunzehnten Jahrhunderts gegeben. Doch waren ihre Gesellschaften etwas völlig anderes als die üblichen Zusammenkünfte der Reichen. Zunächst einmal ist ihre Gastfreundschaft ebenso wie ihr Schreiben völlig unprätentiös. Zweitens waren ihre Gäste auf herrliche Weise gemischt: Nobelpreisträger, Stammeshäuptlinge aus Botswana, Kabinettsminister, hervorragende Schriftsteller, führende Gewerkschaftler und Akademiker und der unvermeidliche Botschafter mischten sich mit Studenten, Veterinären, Bauern und Fischern, ganz zu schweigen von Kindern, Enkeln, Freunden und Freunden der Freunde. Und sie ist sofort in ihrem Element beziehungsweise in einem ihrer Elemente, wenn sie in der Küche helfen, die Kühe melken, auf dem Feld arbeiten, Lachse fangen, schwimmen, schottische Tänze tanzen und vom frühen Morgen bis zum nächsten Morgen reden und zuhören kann. Sie hat ein nie müde werdendes Interesse an Menschen und einen unersättlichen Appetit auf das Stimulus neuer Ideen.
Diese Freude an menschlicher Gesellschaft – der ganzen menschlichen Gesellschaft, nicht nur der vertrauten Gruppe oder Klasse, in die hinein man zufällig geboren ist – ist eins der auffallendsten Merkmale der Memoiren einer Raumfahrerin. Die wissenschaftliche Glaubwürdigkeit des Buches ist ein zweites. Die Memoiren halten sich so gut wie gar nicht mit den kniffligen technischen Einzelheiten auf, wie es der Hauptstrom der SF tut. Das Buch ist einer der verhältnismäßig wenigen SF-Romane, die vom Standpunkt eines wissenschaftlichen Insiders aus geschrieben sind und dem Leser die wissenschaftliche Infrastruktur der Geschichte auf unvergleichliche Weise nahebringen. Die Autorin kennt sich auf dem Gebiet der Immunologie bestens aus: Theorie und Technik der Transplantation von extraterrestrischen Gewebeteilen tragen das Siegel der Wahrscheinlichkeit. Naomi Mitchison ist nicht selbst praktizierende Wissenschaftlerin – eins der wenigen Dinge, das sie nicht ist –, aber durch ihre Geburt, ihre Erziehung und die Gesellschaft, in der sie sich befunden hat, ist ihr ein instinktives Verständnis für wissenschaftliche Methoden und Werte erwachsen. Ihr Vater war ein gefeierter Physiologe, ihr Bruder, J. B. S. Haldane, erwarb sich gleichen Ruhm als Genetiker. Von ihrer frühesten Kindheit an hat sie mit der wissenschaftlichen Elite zusammengelebt. Niels Bohr, so erzählt sie, schenkte ihr einen winzigen Becher für ihr Puppenhaus, und in ihrem Tagebuch vermerkt sie als Siebenjährige, sie habe Professor D’Arcy Thompson kennengelernt, der mehr über Wale wisse als sonst irgendwer auf der Welt. Ihr ganzes Leben lang hat sie Vertreter der unterschiedlichsten Fachbereiche kennengelernt und von ihnen gelernt, und diese Begegnungen waren oft zum gegenseitigen Nutzen – man beachte zum Beispiel die Danksagungen an die Mitchisons und ihr Haus in Carradale in J. D. Watsons The Double Helix. Geerbte wissenschaftliche
Gene sind offensichtlich auch an die nächste Generation weitergegeben worden. Naomi Mitchisons drei Söhne sind alle Professoren in verschiedenen Fachbereichen. Der älteste hat den Lehrstuhl für Bakteriologie an der Royal Postgraduate Medical School, und die beiden jüngeren sind Professor für Zoologie in Edinburgh beziehungsweise am University College, London. Wir erwähnten Naomi Mitchisons unerschöpfliche Freude an den Menschen. In den Memoiren geht das Interesse der Heldin in einer Weise, die fast mit der des Heiligen Franziskus zu vergleichen ist, bis zu einer – Empathie mit der Tierwelt darüber hinaus, und sie schließt alle Kreaturen ein, seien sie auf der Erde beheimatet oder nicht. Marys Spezialgebiet innerhalb der Raumerforschung ist die Kommunikation. Die Befriedigung, die Mary aus ihren Bemühungen um Raupen, Schmetterlinge und einige exotischere Bewohner ferner Planeten gewinnt, hat eine Parallele im Leben ihrer Schöpferin. Naomi Mitchison hat bisher noch keine Autobiographie geschrieben, aber in Small Talk: Memoirs of an Edwardian Childhood (Bodley Head, London 1973) läßt sie uns ein paar Blicke auf ihre Verbundenheit mit der ganzen Schöpfung tun. Da heißt es zum Beispiel über Mäuse: Eine der hübschesten Erfahrungen in meinem jungen Leben waren meine Mäuse. Nach dem Frühstück zog ich mir meinen Mausrock – will sagen, die dunkelblaue Kinderschürze – an, und die seidigen Mäuschen kamen aus ihrem Käfig und kletterten auf mir herum. Ich weiß nicht, wie oder warum wir kommunizierten, aber vermutlich taten wir es. Oder über eine Ente namens Timothy Titus: Timothy Titus von Tavistock muß während der schulfreien Zeit einen ganzen Sommer lang meine Gedanken beschäftigt haben. Irgend jemand schenkte mir ein gelbes Entenküken, das schwächste aus einem Gelege, das auf dem Bauernhof nicht überlebt hätte. Mit geschlossenen Augen
kauerte er matt in meinen Händen. Aber wir gaben ihm Whisky, und von da an ging es aufwärts mit ihm. Ich glaube, er war auf mich geprägt. Er folgte mir überall in Haus und Garten am St. Margaret’s Road. Anfangs trug ich ihn die Treppen hinauf, dann arbeitete er sich Stufe für Stufe empor. Ich lernte es schnell, seine verschiedenen Entenlaute zu verstehen. Den Gedanken, daß er eines Tages, wenn er erwachsen war, auf den Bauernhof zurückkehren müsse, ertrug ich nur, weil man mir sagte, er werde König sein. Oder über ein Meerschweinchen: Polly hat bei mir nie die Stellung eines Schoßtieres gehabt. Er war eine Person, die in meinen Armen starb. Mein Vetter ließ ihn bei uns zurück; wir haben nie erfahren, wie alt Polly war. Er war ungeheuer zärtlich und, wie ich glaube, er verstand alles. Als ich mir das Bein gebrochen hatte, spazierte Polly ganz vorsichtig, damit er mir nicht wehtat, bis zu meinem Gesicht und küßte mich mit offenem Schnäuzchen und seiner kleinen, weichen, trockenen Zunge… Oder, wenn er besonders freundlich gestimmt war, erbrach er Kugeln aus Nahrung, um mir eine davon anzubieten. Während er bei uns war, war ich imstande, mit den Araras im Zoo zu kommunizieren, sogar mit den großen rotgelben (Polly war blau-grün). Ich brachte sie dazu, mir zu antworten, sich auf mein Handgelenk zu setzen und sich kraulen zu lassen. Es gab neben den wirklichen auch solche Tiere, die nur in ihrer Phantasie lebten. Sie hat eine vage Erinnerung daran, einen Schmetterling gezähmt zu haben. Eine noch enthüllendere Anekdote in Small Talk beschreibt ihre Hochzeit mit einem Hasen. Erfahrungen und Träume dieser Art lassen einige der bizarreren Abenteuer Marys in den Memoiren weniger fremdartig erscheinen. Gute Science Fiction ist niemals pure Phantasterei oder Zukunftsschau, sie ist immer mit dem Hier und Jetzt
verbünden. Oberflächlich betrachtet mögen die Memoiren die Kommunikation mit fremdartiger Fauna beschreiben, aber ihr wirkliches Thema ist uns Heutigen sehr nahe: Das Problem, Kontakte mit Menschen einer uns fremden Kultur herzustellen. In Marys Ringen um Verständnis für das Leben nichtterrestrischer Spezies schildert Naomi Mitchison wieder eigene Erfahrungen. Ein paar Jahre, bevor sie die Memoiren schrieb, wurde sie vom British Council darum gebeten, für eine Gruppe von Großbritannien besuchenden Afrikanern in Carradale einen Tee zu geben. Unter den Gästen war ein junger Mann namens Linchwe, Erbe der Häuptlingswürde des Bakgatla-Stammes in dem Land, das damals die britische Kolonie Betschuanaland war, kurz darauf jedoch seine Unabhängigkeit gewinnen und sich Botswana nennen sollte. Diese zufällige Begegnung erwies sich als folgenschwer. Linchwe lud Mrs. Mitchison ein, sein Land zu besuchen, und dem ersten Besuch folgten viele weitere. 1963 widerfuhr Naomi Mitchison eine einmalige Ehre: Sie wurde zur Mutter der Bakgatla erwählt. Seit dieser Zeit hat sie jedes Jahr mehrere Monate bei ihrem Adoptiv-Stamm verbracht. Nur wenige andere hätten den Mut und das Einfühlungsvermögen, eine Brücke zwischen zwei so verschiedenen Kulturen zu schlagen. Naomi Mitchison ist selbst eine Expertin auf dem Gebiet der Kommunikation, und nur aufgrund persönlicher Erfahrung war sie fähig, in den Memoiren eine so bemerkenswerte Passage wie die folgende zu schreiben: Peder Pedersen… sagte mir, die Demütigung, wie sie auch hervorgerufen sein möge, sei eine notwendige Phase in der Forschung. Die größten Forscher stammten nie aus den Reihen derer, die selbstbewußt und sich stets gleich seien. Damals war das schwer zu verstehen, aber ich glaube, daß ich es jetzt verstehe. Er sagte, man müsse bereit sein, sich
hereinlegen zu lassen, auch wenn das bedeute, daß man hinterher ausgelacht werde. Denn es dürfe keine Barrieren zwischen einem selbst und anderen Wesenheiten geben. Unglaubwürdigkeit muß abgebaut werden. Demütigung. Bis zum tiefsten Grund, bis das moralische und intellektuelle Selbst, das man so sorgfältig aufgebaut hat, niedergerissen wird. Wenn es nichts mehr zwischen dem Ich und den achtlos trampelnden Füßen der Realität gibt, dann kann man endlich richtig beobachten und erfahren. Und der Prozeß der Demütigung, so sagte Peder, müsse sich ständig wiederholen. An anderer Stelle schreibt sie aus derselben Überzeugung heraus: »Ich frage mich, ob Françoises Einmischung wirklich so viel schlimmer war als die Einmischung, die wir alle begehen, wenn wir fremde Welten besuchen, einfach indem wir dort sind, stehen und schauen und Informationen sammeln.« Heute, wo ich diese Einführung schreibe, ist Naomi Mitchison neunundsiebzig Jahre alt. Den Jahren nach gerechnet, ist sie eine alte Frau. Aber wie Mary in den Memoiren bemerkt: »Kalenderjahre haben die Bedeutung für uns verloren, auch wenn wir uns in unserer Kindheit und Jugend danach gerichtet haben.« Naomi hat ebenso erfolgreich eine Brücke zwischen den Generationen geschlagen wie zwischen Kulturen, und die gegenseitige Bereicherung durch Gruppen verschiedenen Alters und sozialer Stellung, die der Grundton in Carradale ist, hat ihr zweifellos dabei geholfen, ihre seelische Jugendlichkeit zu bewahren. In den Memoiren fallen mehrere weise Bemerkungen über die Kluft zwischen den Generationen: Man soll die Jungen allein lassen. Wie oft habe ich das zu mir selbst gesagt! Und für gewöhnlich, das kann ich getrost behaupten, habe ich mich auch daran gehalten. Oder:
Heutzutage kommt es einem als Eltern merkwürdig vor, für ein Kind soviel Verantwortung zu haben. Normal ist das genaue Gegenteil. Man quillt nicht über vor zärtlichem Verlangen nach den eigenen Kindern, zumindest nach den ersten paar Monaten nicht mehr. Man behandelt sie als menschliche Wesen, als Individuen mit dem unverbrüchlichen Recht, niemandes Besitz zu sein und ihren eigenen Raum und ihre eigene Zeit zu haben. Wenn man Naomi Mitchison gegenübersteht, fällt es einem schwer, sich daran zu erinnern, daß sie seit beinahe fünfzig Jahren eine berühmte und erfolgreiche Schriftstellerin ist und daß ihre erste Eintragung im Who’s Who schon 1941 erfolgte. Übrigens erfährt man eine Menge über ihre hauptsächlichen Anliegen, wenn man die aufeinanderfolgenden Eintragungen im Who’s Who liest. Sie gehört zu den Menschen – der verstorbene Sir Osbert Sitwell war auch einer von ihnen –, die im Gespräch großzügig Informationen über die Dinge geben, denen sie sich widmen. Nur haben sich Naomi Mitchisons Interessen im Laufe der Jahre oftmals gewandelt. Hier sind ein paar zur Auswahl: Leicht aufzutreten Knoten zu lösen Neue Fertigkeiten zu lernen Die Räder Gottes zu beschleunigen Ein wenig Gefahr Die Freude aneinander womöglich zu steigern Grenzen zu überschreiten. Auf die Frage, um was es in den Memoiren einer Raumfahrerin eigentlich geht, ist dies eine angemessene Antwort. Hilary Rubinstein, 1976
I
Ich denke an meine Freunde und die Väter meiner Kinder. Ich denke an meine Kinder, aber ich denke weniger an meine vier lieben Normalen, als ich an Viola denke. Und ich denke an Ariel und die anderen. Manchmal frage ich mich, wie alt ich wäre, wenn ich die Jahre des Zeit-Blackouts während der Forschungsreisen mitzählte. Es wäre ein beunruhigender Gedanke, wenn ein solcher Gedanke mich beunruhigen könnte. Dann überlege ich mir, wie viele weitere Reisen ich noch unternehmen soll, vorausgesetzt natürlich, daß ich nicht ums Leben komme. Ich bin mehrmals gefragt worden, ob ich die Leitung einer Expedition übernehmen wolle, aber mir liegt diese Art von Verantwortung nicht. Ich weiß, ich würde meine Aufgaben vergessen, sobald ich auf ein wirklich interessantes Kommunikationsproblem stieße. Und für den Leiter müssen seine eigenen Pflichten im Vordergrund stehen. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob ich bei der augenblicklich geplanten Expedition, die uns zurück zu der Schmetterlingswelt führen wird, stellvertretende Leiterin sein will. Ich möchte mich ausschließlich mit den Kommunikationsproblemen befassen und ergründen, welche Veränderungen seit unserer Abreise stattgefunden haben. Manchmal denke ich über mein Leben in Zeitbegriffen nach: Meine eigene Zeit und die sehr unterschiedlichen Zeiten anderer Leute. Und manchmal denke ich in Moralbegriffen darüber nach. Wir Terraner haben immer moralische Probleme gehabt, wenigstens behaupten das die Vergangenheitsforscher. Viele andere Formen bewußten Lebens haben sich damit nicht abplacken müssen. Doch gibt es einige Welten, die noch
kompliziertere Moralvorstellungen haben als wir, besonders wenn nicht nur eine, sondern zwei oder mehr beherrschende Spezies auf ihnen leben. In der Beziehung haben wir noch Glück gehabt. Je mehr wir erforschen, desto mehr Probleme tun sich für uns auf. Aber würden wir es anders haben wollen? Ich glaube nicht. Ungefähr zu der Zeit, als es mit der Raumerforschung richtig losging, wurden bei den Menschen die ernsthaften moralischen Probleme knapp. Die Mitte des 20. Jahrhunderts war noch voll von ihnen gewesen, aber als sich herausstellte, daß die meisten ganz leicht zu lösen waren – vorausgesetzt natürlich, daß man eine Lösung wirklich wünschte –, drohte die Gefahr der moralischen Langeweile. Nun, die ist jetzt gründlich gebannt! Selbstverständlich war uns nicht von Anfang an klar, daß Zeit-Blackouts zu Schwierigkeiten führen würden. Es waren ein paar größere Skandale nötig, um sie auszuräumen, und schließlich hat das terranische Inzest-Tabu vernünftige biologische Gründe. Heutzutage ist die Eltern-Kind-Beziehung recht streng organisiert, so daß wir nicht in Versuchung geraten, uns in unsere Söhne zu verlieben, so erwachsen sie in der Zeit des Blackouts auch geworden sein mögen. Ich habe den Eindruck, daß manche unter uns sogar überkonditioniert sind, so daß sie nicht einmal eine natürliche Zärtlichkeit für sie entwickeln. Hoffentlich passiert mir so etwas nie! Aber natürlich gibt es auch noch die Söhne der Freundinnen. Jedoch weiß ich so gut wie alle anderen, daß man sich nicht in Versuchung bringen darf, und die Väter meiner Kinder waren auch alle in meiner eigenen Altersgruppe oder älter. Man soll die Jungen allein lassen. Wie oft habe ich das zu mir selbst gesagt! Und für gewöhnlich, das kann ich getrost behaupten, habe ich mich auch daran gehalten.
Doch das ist das geringste der Probleme, weil es ein rein terranisches Problem ist, obwohl es natürlich auf Welten mit einer vergleichbaren soziosexuellen Struktur ähnliche Dinge gibt. Auf dem Mars kommt so etwas nicht vor, hat Vly mir erzählt, und das leuchtet mir ein. Heutzutage haben unsere Probleme viel öfter mit der Einmischung zu tun. Bevor die Regeln für die Raumerforschung zum Gesetz erhoben wurden, gab es immer wieder Fälle, in denen sich jemand absichtlich in fremdes Leben einmischte, und fast immer nahm das ein katastrophales Ende und erschwerte die Kommunikation für mehrere Generationen. Immer noch ist das die gefährlichste Versuchung, und deshalb kann die Strafe dafür auch nicht aufgehoben werden. Man muß zur Erde beziehungsweise auf seinen Heimatplaneten zurückkehren und darf niemals mehr als Forscher arbeiten. Man ist wieder Gefangener der Zeit. Und doch, wie oft muß diese Strafe immer noch verhängt werden! Ich selbst bin nahe daran gewesen. Ebenso war ich sehr nahe daran, daß meine ganze Persönlichkeit erschüttert und auf nicht rückgängig zu machende Weise verändert wurde. Natürlich sind die Jungen ungeduldig. Ich war es auch. Die Flut der Neugier läuft auf, und man wird sich drängend all der Galaxien bewußt. Man weiß, daß es Jahre dauert, bis man die Kommunikation erlernt hat, und doch sehnt man sich die ganze Zeit danach, hinauszuziehen. Nicht umsonst wurden alle brauchbaren abkürzenden Techniken – ebenso wie beinahe alle unbrauchbaren – von Leuten unter dreißig entdeckt. Einige von ihnen beruhen auf der Arbeit von Männern und Frauen, die entdeckt hatten, daß ihre genetische Struktur eine Kommunikation immer schwierig machen würde. Die Erkenntnisse anderer Wissenschaften können entfliehen oder geteilt werden, aber die Kommunikation ist wesentlich. Und inzwischen warten weitere Welten.
Man liest und beobachtet, man vergräbt sich in 3D und 4D, man übt sich bei ekelhaften und schrecklichen Ereignissen in der Zurückhaltung; man trainiert sich darauf, bizarre Standpunkte einzunehmen. Und man wird über das ZeitBlackout informiert. Mir sagte es meine Mutter. Sie war gerade von einer Reise zurückgekommen, und ich stellte auf einmal fest, daß sie unverändert war, während ich erwachsen wurde und in jeder Zelle meines Körpers den wundervollen, schönen Kreislauf der terranischen Jahreszeiten, den arktischen Frühling, die zuckenden Blitze des Monsuns, das Toben der Hurrikans über dem westlichen Atlantik empfand. Als Kind hatte ich es gedankenlos akzeptiert, daß die Großen sich nicht veränderten. Im Leben des Kindes und seiner eigenen geliebten Gruppe, mit denen es die ersten Experimente in sexuellen Spielen und im Dichten und Malen macht, gibt es ältere Personen, die sich immer gleich bleiben. Für mich und meine Freunde kamen und gingen Eltern und Großeltern, obwohl einer von ihnen gelegentlich ein Alter erreichte, wo er oder sie den Entschluß faßte, die Forschung aufzugeben und sich wieder in der Zeit niederzulassen. Dann war der Betreffende nicht lange danach tot. Manchmal gab es auch Eltern, die keine Forscher waren, sondern zum Beispiel Verwaltungsbeamte. Auch diese reisten über weite Entfernungen und hatten Zeit-Blackouts. Nur natürlich nicht so oft. Sie alterten. Das war bei meiner Mutter nicht der Fall. Wir sind alle imstande, unsere Eltern zu lieben. Unsere Konflikte mit älteren Leuten beziehen sich nicht auf sie, einfach aus dem Grund, weil sie nicht da sind und damit auch keinen Widerspruch hervorrufen. Widerspruch gegen die terranischen Nicht-Forscher erhoben wir oft genug. Die Armen! Das heißt, sie selbst sehen sich natürlich nicht in diesem Licht. Mir wurde nun auch klar, daß meine Mutter mir ein Jahr ihres Lebens geschenkt hatte. In dieser Zeit, dem
üblichen Kinderjahr, stabilisierte sie mich. Um ganz ehrlich zu sein: Ich habe dies Jahr immer genossen, auch wenn es eine teilweise Kapitulation vor der Zeit bedeutet. Es gibt Augenblicke, nicht wahr, in denen eine Kapitulation, selbst vor jenem alten Feind, süß ist. Also, meine Mutter erklärte mir alles, und nun verstand ich auch einige Dinge, über die ich gelesen, die ich aber nicht begriffen hatte. »Zeit-Blackout« ist ein einfaches Wort, aber die Sache selbst ist alles andere als einfach. Ich bin der Meinung, es sollte immer die Mutter sein, die ein Kind darüber aufklärt. Es war das letzte Mal, daß wir zusammen waren. Sie kam von ihrer nächsten Reise nicht zurück, und niemand hat je genau herausgefunden, was mit dem Schiff geschehen ist. Vielleicht waren sie alle im Blackout, als das Ende kam. Wie es der Zufall wollte, befand sich auch der Vater meines Vaters auf diesem Schiff. Ich glaube, er hatte die Absicht, dies seine letzte Reise sein zu lassen. Doch bis ich davon erfuhr, sollte eine ganze Reihe von terranischen Jahren vergehen. Und dann sehnte ich voller Aufregung meine eigene erste Reise herbei. Ich glaube, eins der Dinge, die einen am schwierigsten ankommen, ist, daß man eine stabile Persönlichkeit entwickeln muß und daß sie trotzdem unvermeidlicherweise von anderen Lebensformen, mit denen man in Kommunikation tritt, geändert werden wird und daß man diese biopsychischen Änderungen akzeptieren muß. Und nur eine stabile Psyche kann sie akzeptieren. Und das Erlangen der Stabilität allein kostet die Hälfte der Zeit, die man früher eine Lebensspanne nannte, ganz gleich, was die Mutter im ersten Lebensjahr für einen getan hat. Für die Kindheit und Jugend bis zu einem Alter von dreißig oder fünfunddreißig gibt es keine schönere Welt als Terra, die gute alte Terra, die wir so oft beinahe zerstört haben, und ihre ganze liebenswerte Fauna, für die Zuneigung zu empfinden so
leicht ist. Vor allem gilt das für das weibliche Kind. Ich mag altmodisch sein, aber ich bin der Meinung, die Biologie und natürlich vor allem die Kommunikation ist hauptsächlich für Frauen eine lohnende Arbeit. Ja, ich weiß, daß es Physikerinnen wie Yin Ih und Molekular-Astronominnen gegeben hat – ich habe die alte Jane Rakadsalis noch selbst kennengelernt, und ich werde nie vergessen, wie ihr schwarzes, altersloses Gesicht in einem Lächeln aufblühte. Aber trotzdem scheinen Wissenschaften, die sich mit dem Leben befassen, den meisten von uns Frauen mehr zu liegen. Ich empfinde es als merkwürdig, daß bei der Forschung immer wieder Dinge passieren, die wir einfach nicht erwartet haben, auch wenn wir noch so viele Belehrungen und Warnungen erhielten. Ist das ein Versagen der Kommunikation? Oder der Vorstellungskraft? Vernichtet die Kommunikation die Vorstellungskraft, die in gewisser Weise Sache des einzelnen ist? Meine Gruppe arbeitet gerade mit einigen recht jungen Freiwilligen, und vielleicht erhalten wir Resultate. Die Schwierigkeit scheint zu sein, daß wir als Kinder voraussetzen, wir seien stabile Persönlichkeiten und völlig sicher. Es kommt uns unmöglich vor, daß wir abweichen könnten, daß wir jemals in die Versuchung der Einmischung geraten. Ich doch nicht! denken wir. Wie jung man sein kann! Und das trotz aller Bücher, Filme und Kontakte. Man muß eben überstabil sein, wenn man späteren Anforderungen gewachsen sein soll, aber die Tatsache der Überstabilität bewirkt, daß man sich vor Dingen, die gewiß geschehen werden, nicht in acht nimmt, während man sich in acht genommen hätte, wenn man sich in irgendeiner Beziehung schwach gefühlt hätte. Schließlich schleift sich das ab. Aber der Aufprall anderer Welten auf diese scheinbar unerschütterliche Stabilität kommt als Überraschung. Niemand findet Gefallen an seiner ersten
Persönlichkeitsänderung. Die meisten von uns haben irgendwann einmal jene Halluzinogene ausprobiert, die eine zeitweilige Änderung hervorrufen, aber das bereitet einen längst nicht in dem Maße vor, wie man es erwartet hat. Wenigstens meiner Erfahrung nach nicht. Junge Leute probieren es gelegentlich sogar einmal aus, zeitweilig zu Fleischessern zu werden, um ihre Persönlichkeit ja recht zu erschüttern. Ich habe das selbst nie getan, aber ich bin auch verfressen und bin mir des Geschmacks und der Struktur dessen, was ich esse, sehr bewußt. Außerdem finde ich, einem Kommunikationsmädchen sollte so etwas unmöglich sein. Auf Terra gibt es keine eßbare Lebensform, die nicht bei jedem von uns ein gewisses Maß an Empathie hervorrufen könnte. Obwohl ich wie alle jungen Leute darauf brannte, auf meine erste Forschungsreise zu gehen, beunruhigte meine erste Welt mich sehr. Ich erinnere mich so gut daran! Natürlich wird man nicht gleich anfangs an ganz unbekannten oder sehr gefährlichen Orten eingesetzt, und zum Glück gibt es eine unendliche – oder heißt es unbegrenzte? Nun, das ist nicht mein Gebiet – Zahl von Möglichkeiten. Ich galt als gut in der Kommunikation (das bin ich natürlich auch, oder Sie könnten diese Seite, die Sie gerade lesen, nicht verstehen). Deshalb steckte man mich in ein Team mit anderen Experten, alle ziemlich jung, ausgenommen Peder Pedersen, der Leiter, der Mathematiker war. Es war ein Glück für mich, daß er der Leiter meiner ersten Expedition war. Ein großes Glück. Es ist etwas Faszinierendes an den Einzelheiten der ersten Reise im Raum. Nach einiger Zeit werden sie schrecklich langweilig, und das ist vielleicht nur gut so, denn andernfalls hätte man weniger Gelegenheit zur Kontemplation, für die ein leichtes Unbehagen Voraussetzung ist. Heutzutage versenke ich mich normalerweise während der ganzen Reise in Kontemplation, ob in oder außerhalb der Zeit, aber damals
beherrschte ich noch keine der gebräuchlichen Techniken, was in jenem Alter auch nicht zu erwarten ist. Die Welt war Lambda 771 in der Q-Serie. Sind Sie schon einmal dagewesen? Keine unmögliche Atmosphäre, und das Schwerkraftproblem ist verhältnismäßig gering. Aber zur Kommunikation war es dort noch nicht gekommen. Die Schwierigkeit lag nicht etwa in einer irgendwie gearteten feindseligen Einstellung. Das ist ein längst überwundener Standpunkt, außer in den wenigen Galaxien, über die wir alle Bescheid wissen. Aber auf Lambda 771 hatten sich die Einwohner aus einer radialen Lebensform entwickelt, ähnlich einem fünfarmigen Seestern, der wiederum von einer Spirale abstammte. Sie traten in verschiedenen Größen auf; der Durchmesser variierte von wenigen Zentimetern bis zu beinahe einem Meter. Anfangs war es nicht klar, ob es sich um Kinder und Erwachsene oder um verschiedene Rassen handelte, aber alle hatten Arme, die sie teilweise einziehen und flachmachen konnten und die mit Saugnäpfen versehen waren, so daß sie fähig waren, Werkzeuge zu halten. Zu ihren wichtigsten Artefakten gehörten große, aber niedrige Hütten, deren Dächer an den Unterseiten reich bemalt waren, meistens mit spiralförmigen Pilz- und Wurzelgewächsen. Man mußte sich auf Hände und Knie niederlassen, wenn man sie sich ansehen wollte, aber das war der Mühe wert. Bei diesen Geschöpfen gab es ein Oben und ein Unten, was sich der Schwerkraft wegen von selbst verstand. Aber die radiale Anordnung ihrer Körper, die ihnen im Laufe der ganzen Evolution geblieben war, beherrschte ihr gesamtes geistiges und körperliches Leben. Nur in einer derartigen Umgebung wird uns bewußt, daß wir selbst zweiseitig und nach dem Entweder-Oder-Prinzip konstruiert sind. Wir sind Fischen ähnlicher als Stachelhäutern. Das hatte ich vorher gewußt, aber trotzdem erschwerte es mir
den ersten Kommunikationsversuch mehr, als ich mir vorgestellt hatte. Außerdem nahm ich mir zu wenig Zeit für die Akklimatisation, was sehr dumm ist, aber mit den jungen Forschern ist es immer das Gleiche. Ich mußte mich von den übrigen Expeditionsteilnehmern vollständig loslösen, und das fiel mir nicht leicht, weil ich mich durch einen von ihnen – T’o M’kasi – stark angezogen fühlte. Er ist immer noch ein sehr schöner Mann, obwohl er sich seitdem vergeistigt hat. Damals war überhaupt nichts Vergeistigtes an ihm. Er hatte das köstlich krause Haar der ethnischen Gruppe seines Vaters, aber er wollte mir nicht erlauben, es zu berühren – zumindest anfangs nicht. Damals war er ein klassischer Geologe, aber er hat seitdem Fortschritte gemacht. Nun, ich durfte mich davon nicht aufhalten lassen, wenn ich auch zugeben muß, daß es mich ein paar Stunden lang doch aufhielt. Dann packte ich meine verschiedenen Sende- und Empfangsgeräte ein. Natürlich hatte ich viel zu viele mitgenommen. Das tut man als Anfänger immer. Später lernte ich es, mit weniger auszukommen. T’o kam und sah mir zu. Ich erinnere mich, daß er mit irgendwelchen kristallinen Strukturen experimentierte, denen er ziemlich mißtraute. Mit gutem Grund, wie sich herausstellte, aber das war erst später. Er trug Handschuhe, aber er staubte seine Hände aneinander ab und zog den rechten Handschuh aus. Seine Finger waren lang und hatten die Farbe von einem gut durchgebackenen, knusprigen Keks. Ich hatte das Gefühl, ich könne sie mit Zähnen und Zunge schmecken. Er sagte: »Du wirst doch vorsichtig sein, Mary? Vielleicht schirmen sie sich absichtlich gegen eine Kommunikation ab. Wenn sie wollen, daß du aufhörst, mach nicht weiter.« »Ach nein. Wie viele Expeditionen hast du denn schon mitgemacht?« Ich überprüfte ganz genau meine Instrumente.
»Drei«, antwortete er, und ich sah aus dem Augenwinkel, daß er näherkam. Gleichzeitig stieg in mir Angst auf, natürlich nur ein bißchen. Ich war als völlig stabil eingestuft worden, und ich wußte, daß man mich auf diese Expedition nicht mitgenommen hätte, wenn statt mit bloßen Schwierigkeiten mit wirklichen Gefahren zu rechnen gewesen wäre. »Du nimmst dich doch in acht vor den Stechern?« fragte er. »Du wirst immer daran denken, daß du deine Abschirmung niemals öffnen darfst, nicht wahr, Mary?« »Ist doch klar«, sagte ich. Er versuchte, mir beim Einpacken meiner Instrumente zu helfen, aber ich bat ihn, es nicht zu tun. Das ist etwas, das man unbedingt selbst tun muß. Aber es gefiel mir, daß er es versucht hatte und daß sein Kopf dabei so nahe an meine Hand gekommen war. Ich brauchte nur die Finger auszustrecken – und schon kitzelte das wie Heidekraut gekräuselte Haar meine Fingerspitzen in einer Weise, wie glattes blondes Haar es niemals fertigbringt. Er zog seinen Kopf nicht weg.
II
Es war ein ziemliches Problem, zu diesen Radialwesen durchzukommen. Natürlich beobachtete ich sie erst geraume Zeit, ohne sie zu stören, und dachte darüber nach, welche Kommunikationstechnik ich am besten benutzen sollte. Ihre wichtigen Organe waren selbstverständlich zentral angeordnet und nicht in irgendeine Richtung orientiert. Schon bald merkte ich, daß jede Unebenheit im äußeren Gehirn-Augen-Ring als Entstellung galt, aber ich war mir nicht sicher, ob in moralischer oder körperlicher Beziehung. Manchmal trugen sie eine dünne künstliche Hülle, die entweder zum Schutz oder zur Hervorhebung des Ringes gedacht war. Anscheinend wurde die Hülle unter dem Körper verwahrt; vielleicht wurde sie auch von der Unterseite ausgeschwitzt. Wenn man das Material berührte, blieb es einem an den Fingern haften, und es hatte einen Geruch, der mir völlig neu und schwierig zu definieren war. Es war außerordentlich mühsam, in Erfahrung zu bringen, was das war, ohne sich einzumischen. Und ich hütete mich sehr vor einer Einmischung, zumal das meine erste Welt war. Nach einiger Zeit kam ich zu dem Schluß, ich müsse mich auf bestimmte Perioden konzentrieren, in denen es zu einer merkwürdigen Aktivität kam. Zuerst kroch eins der Radialwesen unter ein Schutzdach und begann sich zu drehen, erst in der einen, dann in der anderen Richtung. Offenbar war es reiner Zufall, welche Richtung für den Beginn gewählt wurde – wenigstens fanden wir nie einen Beweis für das Gegenteil. Ich bin beinahe überzeugt, daß dies eine Art von Rückfall in die spiralförmige Lebensweise war. Auf unserer
Welt drehen sich spiralförmige Lebewesen stets nur in einer Richtung, aber bei den Vorfahren meiner Radialwesen muß das meiner Meinung nach anders gewesen sein. Ich fand auf dieser Welt eine kleine Lebensform, die eine Schale erzeugt, und ich stellte mit großem Interesse fest, daß die Spiralen in beiden Richtungen verliefen. Wie dem auch sei, der Tanz begann immer mit einem Individuum. Dann merkte ein zweites, was da vorging, und näherte sich. Beide schlossen sich wie Zahnräder aneinander, so daß ein »Arm« immer in eine Vertiefung griff. Für gewöhnlich tauchten ziemlich bald andere Wesen auf. Innerhalb einer halben Stunde hatten sie einen dichten Teppich gebildet, wobei die inneren sich zusammendrängten und die äußeren sich offenbar bemühten, nach innen zu gelangen, besonders wenn es so viel waren, daß das Schutzdach sie nicht alle bedeckte. Wenn diese Geschöpfe von sechsarmigen Vorfahren abgestammt hätten, wäre es leichter gewesen, sich zusammenzuschließen. Wegen ihrer fünf Arme wurde die Vollkommenheit des Teppichs immer wieder durch Lücken gestört, auch wenn sie die Arme einzogen, ausstreckten oder sonstwie anzupassen versuchten. Und es schien, als verfolgten sie alle das Ziel, sich in völliger Harmonie zu verbinden. Wenn das für einen Augenblick erreicht war, glitten die Membranen über ihren Augen (die Augen waren von einem tiefen bläulichen Grün, das im Kontrast zu dem bräunlichen Gelb ihrer Körper stand) nach unten, und der Gehirnring mit den Knötchen an den zentralen Armnerven flachte sich ab. Wir kannten die Anatomie dieser Geschöpfe. Das hatten wir der Tatsache zu verdanken, daß wir gelegentlich ein Wesen gefunden hatten, das von einem insektoiden Feind getötet worden war. Die Insektoiden waren einem Moskito nicht unähnlich, aber bis zu dreißig Zentimeter lang und mit besonders harten Saugkiefern ausgestattet. Sie ließen sich von
oben auf die Radialwesen herabfallen. Wir nannten sie Stecher. Sie erweckten den Eindruck, so gut wie kein Bewußtsein zu haben, und deshalb hatten wir sie provisorisch als Nichtleben eingestuft. Es wird einmal die Zeit kommen, wo wir mit allen Lebensformen kommunizieren können, auch mit zerstörerischen und nicht mit Bewußtsein ausgestatteten. Aber soweit sind wir heute noch nicht. Dafür hatten die Insektoiden uns auf dieser Welt in die Lage versetzt, einige ihrer Bewohner zu sezieren und zu konservieren. Wir konnten nur hoffen, daß das keine Einmischung in irgendwelche Todes- oder Bestattungsriten bedeutete. Wir dachten, daß unsere Radialwesen ihre Dächer zum Schutz gegen die Stecher bauten. Die Stecher ließen sich mit den Kiefern nach unten auf den Augenring fallen und töteten innerhalb von Minuten. Noch nie hatte ein Stecher einen von uns angegriffen, aber die Möglichkeit bestand natürlich immer. Mehrmals hatten sie sich auf Ausrüstungsgegenstände gestürzt, deren glitzernde Teile ihnen wie Augen vorgekommen sein mochten. Wir gingen kein Risiko ein. Ich probierte verschiedene Mittel der Kommunikation mit den Radialwesen aus, bis ich endlich Kontakt bekam. Ich weiß noch, daß es lange Zeit brauchte. Heute würde ich alles wahrscheinlich viel schneller schaffen und eher auf eine Lösung meiner Probleme kommen, aber schließlich war das meine erste Welt. Es gab Tage, an denen ich mich völlig mutlos fühlte. Doch ich konnte nicht zurückgehen und T’o M’Kasi oder irgendeinem anderen sagen, ich sei nicht imstande gewesen durchzukommen. Ich machte eine Reihe von Beobachtungen, die die von anderen Mitgliedern der Expedition durchgeführten ergänzten. Ich war zu dem Schluß gekommen, am besten liefe ich, so weit das möglich war, auf Händen und Knien umher, damit ich mich auf dem gleichen ästhetischen Niveau befände wie die
übrigen Bewohner. Hätte ich es nicht getan, dann hätte ich wahrscheinlich die Natur einiger beweglicher Artefakte nicht erkannt. Tatsächlich konnte ich nicht immer erkennen, welchem Zweck sie dienten, falls sie überhaupt einen Zweck hatten, aber ich konnte sie bewundern. Ich betrachtete ein gerundetes Objekt aus einem Material, das ich nicht identifizieren konnte. Es trug auf der Innenseite Verzierungen, die denen sehr glichen, die zu bestimmten Zeiten der menschlichen Kunstgeschichte voller Stolz von Glasarbeitern produziert wurden. Offensichtlich war es etwas, das durch Muskelbewegungen um den Augenring gerollt wurde. Ich hielt es nicht für einen Gegenstand, den man als nützlich bezeichnen kann. Und plötzlich erhielt ich auf meine ästhetische Bewunderung ein Echo. Ich merkte, daß ich durchgekommen war. Wie üblich bei Kommunikationsproblemen war der erste Schritt der schwerste. Sobald man weiß, nach welcher Art von Rapport man Ausschau halten muß, ist es eine Angelegenheit der schleunigsten Sammlung von Daten. Und immerhin hatte ich die entsprechende Ausbildung. In einer Phase meiner Arbeit – besser gesagt, unserer gemeinsamen Arbeit, denn die Radialwesen kamen mir ebenso eifrig entgegen wie ich ihnen – kam mir ein glücklicher Zufall zu Hilfe. Ich sah einen der Stecher herabstürzen, und es gelang mir, ihn im Flug zu töten. Es ist merkwürdig, aber ich hatte zuvor noch nie irgend etwas getötet. Terra ist frei von Feinden. Ich wußte, daß die Stecher als Nichtleben galten, aber trotzdem war ich über meine Tat entsetzt. Die Radialwesen waren es durchaus nicht. Nun, ich will Sie mit meinen Beobachtungen nicht langweilen. Die Forschungsergebnisse der Expedition sind alle im Journal nachzulesen. Ich erinnere mich, daß ich einen sehr lächerlichen Fehler in bezug auf ihr Sexualleben machte. Das wurde in einer späteren Ausgabe berichtigt; meine
anthropomorphe Betrachtungsweise war schuld daran. Ich war davor oft genug gewarnt worden, aber man weiß nie genau, ob man nicht doch in die Falle läuft. Zweifellos beschäftigte sich mein Unterbewußtsein ständig mit mir und T’o. Mein Bewußtsein konzentrierte sich jedoch voll und ganz auf die Radialwesen. In einer Wochen dauernden Zeitspanne entwickelte ich allmählich die Kommunikation, angefangen von verallgemeinerter Billigung oder Mißbilligung und einfachen Übereinstimmungen zu komplizierteren und präzisen Aussagen auf dem Gebiet der Kunst und der Mathematik. Sobald sie begeistert mitarbeiteten, machten wir schnelle Fortschritte. Natürlich mußte ich mich wie beim Tanz meinen Kommunikatoren anpassen. Das ist einer der Gründe, warum ich, wie ich bereits sagte, die Kommunikationswissenschaft für eine hauptsächlich weibliche Angelegenheit halte. Sie entspricht der grundlegenden sexuellen Struktur. Und je mehr ich mich ihnen anpaßte, um so mehr geriet ich aus dem Schritt mit meinen eigenen normalen Konzepten. Es kam mir schon unnatürlich vor, wenn ich mich auf meiner Matratze auf die andere Seite drehte. (Ich Ratte eine von denen, die zu Nichts zusammenschrumpfen und sich bei Berührung mit jeder Art von Atmosphäre aufblähen. Heute meditiere ich und brauche keine mehr.) Das Herumdrehen bedeutete nämlich eine Wahl zwischen rechts und links. Rechts oder links – welch unmögliche Alternativen! Wie Sie wissen, kommt man in der Kommunikation durch die ständige Folge von a oder b, der Wahl zwischen a und b, schnell voran. Diese halbintuitive Technik, die wir alle gelernt haben, ist sowohl geistig als auch manuell, weil dazu auch Instrumente benutzt werden. Mir wurde die Wahl zwischen a und b immer schwerer. Es kam mir vor, als gehe ich mühsam
durch losen Sand und schleppe andere Konzepte wie schwere Gewichte hinter mir her. Man ist so gewöhnt an ein zweiseitiges Gehirn, an zwei Augen, zwei Ohren und so weiter, daß man den menschlichen Körper und alles, was daraus folgt, für selbstverständlich nimmt. Nicht korrekt, aber unvermeidlich. Meine Radialwesen hatten ein ganz anderes Weltbild. Als ich sie besser kennenlernte, wurde mir klar, daß sie in vieler Beziehung das waren, was wir »hochzivilisiert« nennen. Aber sie dachten niemals in der Form von Entweder – Oder. Langsam fand ich es sehr eigenartig, daß ich es tun sollte. Warum traten meine Vorstellungen immer paarweise auf? Gut und schlecht, schwarz und weiß, Sein oder Nichtsein. Auch wenn man einräumte, daß moralische und intellektuelle Urteile sich ändern und nur von beschränkter Dauer sind, schienen sie doch zu existieren. Vor allem Urteile von wissenschaftlicher Präzision. Das verwischte sich alles in mir, nachdem ich mit den Radialwesen ein gewisses Maß an Kommunikation erlangt hatte. Wenn die Alternative nicht heißt »Eins von beiden«, sondern eins, zwei, drei oder vier von fünf, dann wird das Handeln kompliziert und verlangsamt sich bis zu dem Tempo, das einem Organismus mit vielen Hunderten von Organen angemessen ist, die vor der Evolution einfache Saugnäpfe und Greifer waren, sich aber dann in Mittel zur Fortbewegung, zum Aufnehmen von Nahrung und zum Bedienen von Werkzeugen ausbildeten. Der Tastsinn der Radialwesen war sehr hoch entwickelt, und sie mußten noch andere Fähigkeiten haben, von denen ich nur einen unvollkommenen Eindruck erhielt. Ohne daß ich es selbst merkte, kam es mir auf einmal viel einleuchtender vor, daß zwei oder drei Entscheidungen wohl mehr oder weniger in Konflikt miteinander stehen, aber sich niemals diametral gegenüberstehen können. Allmählich nahm ich die gleiche Geisteshaltung an.
Als ich gelernt hatte, die Radialwesen als Individuen zu unterscheiden – das ist bei einer völlig anderen Spezies immer ein wenig schwierig, und man neigt dazu, sich als Unterscheidungsmerkmale unwesentliche Markierungen, Deformationen und dergleichen zu merken –, wurde die Sache schwieriger. Sie gaben sich keine Namen, wie wir Terraner es tun und uns einbilden, daß es auch andere Wesen so halten sollten. Es gab jedoch Gruppennamen, die ineinander übergingen. Langsam vergaß ich meinen eigenen Namen. Es leuchtet ein, daß ihre Mathematik sich von unserer grundlegend unterschied, und ich fand sie anfangs sehr schwer zu begreifen. Sie war genau das, was sie für ihre Technik brauchten. Sie besaßen nämlich eine Technik. Das merkte man, sobald man zu unterscheiden gelernt hatte, welche Objekte auf dieser Welt natürlich und welche künstlich hergestellt waren. In meinen Augen war es sehr merkwürdig, daß den Radialwesen überhaupt keine wirksamen Maßnahmen gegen die Stecher eingefallen waren. Vielleicht hatte das etwas mit ihrem Sehvermögen zu tun. Natürlich sahen sie nicht wie wir durch Linsen, die von einem Muskelring scharf eingestellt werden können. Sie erhielten nicht zwei, sondern eine große Anzahl von Bildern einer diffusen Art. Es ließ sich aus ihrer Kunst ableiten, daß sie ihre Umwelt auf diese Weise wahrnahmen. Sie sahen nach allen Seiten gleich gut, weil sie weder vorn noch hinten kannten. Aber es hatte den Anschein, als könnten sie nicht weit nach oben sehen – jedenfalls nicht bis zu der Höhe, in der die Stecher flogen und von der sie sich herunterfallen ließen. Deshalb schienen die Stecher plötzlich aus dem Nichts aufzutauchen, und es gab vor ihnen keine Rettung. Ich hätte meine Radialwesen so gern dazu gebracht, es einmal zu versuchen! Aber das wäre Einmischung gewesen. Ihr einziger Schutz waren die bemalten Unterstände, und solange sie darunter blieben, waren sie sicher. Draußen jedoch
nicht. Aber drinnen und draußen waren zu scharfe Gegensätze, als daß sie ihnen hätten klar sein können. Und auch mir waren sie nach gewisser Zeit nicht mehr klar. Denn ich stimmte mich immer mehr auf eine Welt mit fünf möglichen Entscheidungen ein. Natürlich merkte ich nicht, daß meine eigene Persönlichkeit beeinflußt wurde. Ich hatte nur das Gefühl, alles gehe so, wie es solle, und ich lerne die Gedanken und Handlungen der von mir erwählten Welt immer besser zu würdigen. Wenn sie ihre Rundtänze begannen, drehte ich mich im Geist mit ihnen, auch wenn ich in Wirklichkeit still oder beinahe still stand. Ich ging in einer allseitigen Verbindung auf, die etwas ganz anderes war als eine Gegenüberstellung Auge in Auge. Noch einen Schritt weiter, und Probleme schienen sich von selbst zu lösen, obwohl manchmal Ungewißheiten blieben, die jedoch ohne Bedeutung waren. Es ist nicht leicht, sich all das wieder ins Gedächtnis zurückzurufen, weil die Worte, in denen ich mich erinnere, zu scharf und zu alternativ sind. Es sind klare, kompromißlose terranische Wörter, und zu vielen gibt es ein genaues Gegenteil. Ich begann, über allgemeine philosophische Fragen auf eine Weise nachzudenken, die mir neu und voller Möglichkeiten vorkam. Und trotzdem konnte ich meine Gedanken nicht in der direkten Weise auf sie richten, wie ich es auf Terra getan hatte. Am Abend nach der Arbeit tauchte eine Idee, das heißt eigentlich mehrere Ideen in meinem Kopf auf, und sie schienen faßbar zu sein und neues Licht auf irgendeine Realität zu werfen. Andererseits entglitt mir irgend etwas. Und dann entglitten mir auch meine Vorstellungen von To M’Kasi. Ich hatte angenommen, ich sei mir über ihn im klaren. Aber wer war ich? Was war mein Verstand? Das, was mit mir geschah, ließ sich mit dem Einfluß bestimmter Halluzinogene vergleichen, wenn die Art der Wahrnehmung zerreißt, so daß
verschiedene Aspekte eines Objekts, das einem sonst als eines vorgekommen ist, nun getrennt gesehen werden. Mit einem leichten Unbehagen erinnerte ich mich daran, daß es einige Zeit dauert, bis sich die Persönlichkeit nach derartigen DrogenExperimenten wieder integriert, und ich dachte, ich solle lieber zu den übrigen Expeditionsteilnehmern zurückkehren. Zurückkehren? Zurück? Das hatte gar keine Bedeutung. Oder doch? Also, ich suchte mit einigen Schwierigkeiten meine Apparate, meine Notizen und meine Abschirmung zusammen und setzte mich mit den anderen in Verbindung. Ich hatte von Zeit zu Zeit Botschaften an unsere Basis geschickt, wie wir es alle tun, wenn wir allein arbeiten, aber ich hatte daran wie auch an den Antworten mehr und mehr das Interesse verloren. An jedermanns Antwort. Dann geschah etwas. Ich trug meine Abschirmung, hatte jedoch die Augenmaske in die Höhe geschoben, denn wir betrachteten eine im Schlagschatten liegende Darstellung. Ich sah langsam nach oben und ringsum, und dabei imitierte ich, wie ich glaube, die Art der Radialwesen. Und plötzlich entdeckte ich einen Stecher, der sich von hoch oben direkt auf meine Augen stürzte. Einen Augenblick lang war ich völlig außerstande, mich zu schützen. Dabei konnte ich einfach meine Augenmaske herunterklappen, meinen Kopf beugen, so daß die Schirme mich bedeckten, meine Hand heben, meine Augen schließen – all das waren so gleichwertige Maßnahmen, daß ich mich für keine von ihnen entscheiden konnte. Glücklicherweise fand ich noch rechtzeitig zu meinem normalen Selbst zurück und bückte mich. Der Stecher zerschmetterte auf meinem Schild. Aber ich war doch ziemlich erschüttert. Ich sah nach unten auf den zerquetschten Stecher, und meine Handlung kam mir aufs Geratewohl und ohne Überlegung ausgeführt vor. Hätte da nicht sonst noch etwas sein sollen?
T’o M’Kasi kam und holte mich ab. Er kam mir anders vor. Oder lag es nicht an ihm? Lag der Unterschied in ihm oder in mir? Ich konnte mich nicht einmal entscheiden, was für ein Unterschied es war – falls es einen gab. Es war, als sei ich auf eine eigentümliche Weise anderswo. Als spreche er zu mir von hinter etwas. Ich konnte es nicht erfassen. Dann sagte er etwas, das in mir eine Glocke läuten ließ. »Du bist zu lange bei ihnen gewesen. Du denkst radial. Stimmt’s?« Sicher stimmte es. Warum sollte ich denn nicht radial denken? »Willst du in diesem veränderten Zustand bleiben?« fragte er. Verändert, dachte ich, verändert? Wir waren jetzt unter unserem Schutzdach. Langsam nahm ich meine Abschirmung ab. »Wir sind alle ein wenig davon beeinflußt worden«, fuhr T’o M’Kasi fort. »Wir merkten, daß wir wie sie dachten. Wenn wir überhaupt in Kontakt mit ihnen kamen. Und du bist in sehr engem Kontakt mit ihnen gewesen, Mary. Es gibt nur eine Möglichkeit, dich schnell wieder daraus zu lösen.« »Welche?« fragte ich beunruhigt. Denn jetzt empfand ich es sehr stark, daß meine Persönlichkeit verändert worden war, und ich wollte nicht, daß sie so blieb. Ich wollte lieber wieder so sein wie früher – wieder so, wie er und ich gewesen waren. »Welche? Was soll ich tun?« »Triff eine Entscheidung, Mary. Eine Entweder-OderEntscheidung. Aber schnell!« »Dann stelle mich vor eine Entscheidung«, antwortete ich, und ich wußte immer noch nicht, was er sagen würde. Wenn ich mein eigenes Selbst gewesen wäre, hätte ich es bestimmt erraten. »Sollen wir ein Baby haben?« fragte er. Ich erinnere mich, daß ich nicht antwortete. Nicht antworten konnte. »Ein Baby oder kein Baby?« setzte er hinzu. »Eine Entweder-OderEntscheidung, Mary. Schnell!«
Nun wußte ich sehr genau, was meine ursprüngliche Persönlichkeit sich gewünscht und was sie geantwortet hätte. Ich war während der ersten Woche, als ich allein war und die Radialwesen studierte, aber noch nicht von ihnen verändert worden war, zu dem Schluß gekommen, es sei eine gute Idee, bei der Rückkehr nach Terra ein Baby zu bekommen. Es konnte sogar während der Reise durch den Raum empfangen werden, da dies, so merkwürdig es ist, keine schlechten Einwirkungen hat. Für mich hätte das bedeutet, daß ich zwei Jahre mit der Forschungstätigkeit aussetzen mußte, doch ich hatte einige Einfälle zu der Theorie der Kommunikation, die ich ausarbeiten konnte. Manche Frauen ziehen es vor, erst mehrere Forschungsreisen durchzuführen, ehe sie sich das Vergnügen gestatten, ein Kind zu haben. Ich bin immer der Meinung gewesen, das sei ein zu schematisches und sogar ein unbiologisches Verhalten. Außerdem hätte ich gern ein hellbraunes Baby gehabt. Und ich wünschte mir, T’o überall zu berühren. Ich hatte mir gewünscht, meine Hände in seinem Haar zu vergraben und sie über seinen Hals und seine Arme gleiten zu lassen. Ich wußte noch, daß ich mir das gewünscht hatte, aber ich wußte es auf eine Weise, als hätte ich es in einem Buch gelesen. Und das Buch war in einer anderen Galaxis. Wenn die Frage doch nur damals gestellt worden wäre und wenn T’o mich damals angesehen hätte, wie er mich jetzt ansah. Ich stand unter dem Schutzdach zwischen all den terranischen Gegenständen, von denen jeder einem bestimmten Zweck diente, und das machte sie irgendwie seltsam und abnormal. Mit einigem Interesse beobachtete ich mich selbst in diesem Augenblick, als ich nicht fähig war zu sprechen. Es war mir unmöglich, das zu tun, was für mich bereits ein fester Entschluß gewesen war. Es kam mir lächerlich, ja, beinahe verkehrt vor, daß ich eine eindeutig positive oder negative
Entscheidung fällen sollte. Ich wehrte mich dagegen. Und trotzdem versuchte ich verzweifelt, zornig, meine eigene Persönlichkeit und meinen eigenen Standpunkt wiederzufinden, denn bestimmt würde ich nach all diesem Hin und Her wieder ich selbst sein. Schnell, sagte ich zu mir, und T’o sagte kaum hörbar dasselbe. Aber ich konnte nicht zu mir zurückfinden, ich konnte nicht sprechen. Ich konnte nicht ja sagen.
III
Das ist eine der Zwickmühlen, in die man geraten kann. Aus dieser kam ich zu gegebener Zeit wieder heraus, aber zu spät für T’o. Natürlich ist das jetzt schon lange her, und ich erinnere mich nur noch schwach daran, daß ich mich widerwillig auf den mühsamen Rückweg zur Normalität machte. Als ich wieder ein Wesen war, das Entweder-OderEntscheidungen treffen und ja sagen konnte, war T’o längst auf einer anderen Expedition. Ich bekam mein erstes Kind erst fünf Jahre später und unter ganz anderen Umständen. Dazwischen lagen zwei Expeditionen. Übrigens, wenn ich von Jahren spreche, meine ich natürlich subjektive Jahre. Kalenderjahre haben die Bedeutung für uns verloren, auch wenn wir uns in unserer Kindheit und Jugend danach gerichtet haben. Damals müssen sie nützlich gewesen sein, aber damals waren wir den Uhren auch noch auf Gnade und Ungnade ausgeliefert. Als ich mit anderen aus meiner Altersgruppe über die Erfahrungen meiner ersten Expedition sprach, erfuhr ich, daß die Persönlichkeit bei einer ersten Expedition oft einen schweren Knacks abbekommt, doch danach noch stabiler wird. Das mag für Forscher ganz normal sein. Ich glaube nicht, daß die Marsianer mit den gleichen Schwierigkeiten zu kämpfen haben, aber es ist ziemlich schwierig, eine diesbezügliche Frage zu formulieren, auf die man die richtige Antwort erhalten wird. Mir ist es nie gelungen, nicht einmal bei Vly. Meine zweite Expedition setzte meiner Laufbahn als Forscherin beinahe ein Ende. Sie ging zu einer EpsilonKolonie. Sie haben doch von den Epsies gehört? Sie gehörten zu den ersten Kontakten, nachdem wir in die Galaxis
aufgebrochen waren, und in mancher Beziehung haben gerade sie uns außerordentlich geholfen. Allerdings glaube ich, haben sie auch manche Leute von der Raumerforschung abgeschreckt. Die Epsies waren uns in ihrer Raumtheorie und auch auf einigen Gebieten der Chemie weit voraus. Sobald wir die anfänglichen Mißverständnisse beseitigt hatten (das war lange vor meiner Zeit, aber ich weiß, daß es für die Betroffenen besonders unerfreulich war), erklärten sich die Epsies mit Freuden bereit, ihre Kenntnisse mit uns zu teilen. Aus irgendwelchen Gründen konnte ich jedoch die Epsies nie recht leiden. Als Kind lernt man, alles Leben zu lieben, aber es ist unvermeidlich, daß man einiges Leben mehr liebt als anderes. Als menschliches Wesen bringt man es nicht fertig, neutral zu bleiben. Und die Epsies sahen auf beunruhigende Weise Tausendfüßlern ähnlich. Ihre Mundpartien hatten sich auf die gleiche Art entwickelt, und sie krochen auch genauso. Zweifellos war das auf ihrer Ursprungswelt eine Notwendigkeit gewesen, denn dort mußten sie sich zwischen den Platten des purpurfarbenen, schieferähnlichen Gesteins, aus dem ihr ganzer Planet bestand, verstecken. Jetzt waren sie über derlei Zwänge längst hinaus, wenn sie auch ihre Behausungen immer noch zwischen dünnen Platten anlegten. (Architektonisch interessant war das nicht, sobald sie ihr Baumaterial einmal völlig unter Kontrolle hatten.) Ihre natürlichen Feinde waren seit zweitausend Jahren ausgestorben. Aber wenn die Evolution einmal bis zu einem bestimmten Punkt in einer bestimmten Richtung gegangen ist, kann man nicht mehr viel dagegen tun, wie viele Lebensformen zu ihrem Unglück erfahren mußten. Die Muster verhärten sich, und Mutationen können sie nicht mehr ändern. Und die Epsies hielten sich so, wie sie waren, für gerade richtig, genau wie wir es auch tun. Der Metallschmuck, den sie
gern trugen, betonte noch die Eigenschaften, die einem menschlichen Beobachter am wenigsten gefallen konnten. Wir Menschen – und das trifft auf Männer und Frauen beinahe im gleichen Maße zu – mögen Geschöpfe, die warm, rund und angenehm anzufassen sind und gut riechen, obwohl der Geruchssinn natürlich der subjektivste aller Sinne ist. Wenn wir auf Lebewesen dieser Art stoßen, sind wir bereit, ihnen unsere Sympathie zu schenken und sie als unseresgleichen zu betrachten, sogar wenn es sich um nicht intelligente Wesen handelt. Aber die Epsies hatten keine dieser liebenswerten Eigenschaften. Sie waren nichts als intelligent. Ihr Gehirnmaterial verteilte sich entlang ihren pulsierenden Seiten. Stellte man ihnen schwierige Fragen, versteiften sie sich auf typische und erkennbare Weise. Wenn ihr Verstand nicht arbeitete, vollführten ihre Beine Wellenbewegungen, auch wenn sie nicht liefen. Das obere Drittel ihrer Körper hielten sie für gewöhnlich aufgerichtet. Es machte ihnen Spaß, wenn man ihnen Fragen stellte, und ich dachte manchmal, der Grund dafür sei dies plötzliche Erstarren zu vollständiger Unbeweglichkeit, das dann immer eintrat. Ich war natürlich auf dem Gebiet der Kommunikation tätig. Das war bei allen meinen frühen Expeditionen meine Aufgabe. Auch heute noch macht mir die Arbeit das alte Vergnügen. Die anzuwendenden Techniken waren von der ersten und zweiten Expedition zur Heimatwelt der Epsies ausgearbeitet worden, aber es standen immer noch ein paar Fragen offen. Ich hatte mich darauf gefreut, sie zu lösen, auch dann noch, als ich mir ein paar 4D-Filme über meine künftigen Kontakte angesehen hatte. Ich hatte das Gefühl, daß ich verpflichtet sei, die Epsies lieben zu lernen, auch wenn ich im Augenblick nicht wußte, wie das geschehen solle. Übrigens geschah es auch nie. Zweifellos machten Atmosphäre und Schwerkraft es noch schwieriger. Die Schwerkraft war nicht so schlimm wie auf
vielen Welten, aber sie ermüdete einen doch, auch wenn man die üblichen Krafttechniken anwandte, und besonders spürten es die Füße. Wir machten jeden Tag Fußgymnastik. Sehr achtgeben mußten wir auf unsere Individualatmosphären. So etwas geschieht ganz unterbewußt, doch ich war die meiste Zeit etwas ängstlich. Wieder war Peder Pedersen unser Leiter. Er hatte uns vor Halluzinationen gewarnt: Das kleinste Leck, und schon fingen sie an. Ich weiß noch, daß ich einmal meinte, T’o zu sehen. Die Epsies hatten viele Kolonien gegründet. Das war während einer Periode moralischer Unempfindlichkeit, die die Menschen zum Glück bereits überwunden hatten, als sie den technischen Standard in der Raumfahrt erreichten, zu dem die Epsies bereits früher gelangt waren. Dieser neue Planet, den sie besiedelt hatten, war – zumindest in unseren Augen – viel angenehmer als die ursprüngliche Epsie-Welt. Die Vegetation war schön. Sie leuchtete in Schattierungen eines intensiven Blaus und zeigte exquisite Formen. Es gab gewundene Seen, die mit Wasser gefüllt zu sein schienen. Die lokale Fauna war einem sofort sympathisch. Die Tiere waren keine echten Hominiden, aber man hatte das Gefühl, sie seien es. Sie hatten runde Köpfe, große, dunkle Augen mit Augenlidern und pfotenähnliche Hände. Dazu waren sie sehr spielerisch veranlagt. Die Epsies spielten nicht; sie stellten, und beantworteten Fragen, schmückten sich, arbeiteten an ihren Behausungen und an ihrer technischen Organisation und ließen sich von den selten vorkommenden Paarungen nicht weiter stören. Aus diesen entstand eine ungeheuer große Brut, die bald unabhängig wurde, aber gefüttert werden mußte. Die Epsies waren Fleischesser. Früher einmal hatte nur ein bestimmter Prozentsatz der Jungen überlebt. Das Ansteigen der Überlebensrate hatte die Epsies zur Kolonisation gedrängt. Darüber hatten wir vor
Beginn der Expedition eine eigene Studie durchgeführt. Wir nannten es unsere Hausarbeiten, weil wir das alles auf Terra machten. Aus den 4D-Filmen war klar zu erkennen, daß die Epsies ekelhafte Eßgewohnheiten hatten und daß sie Tiere töteten. Doch war das nichts Neues. Peder Pedersen warf einmal einen Blick auf ein Bild und sagte grinsend zu mir: »Du mußt dir vorstellen, daß du selbst in dem Gehirn hinter diesem Mund steckst.« Das war eine schwierige, aber notwendige Übung, wenn ich zu einer echten Kommunikation kommen wollte, und ich hatte mir fest vorgenommen, es diesmal besser zu machen als bei meiner ersten Expedition. Es gehörte zur Grundausbildung in der Kommunikationstechnik, sich in die Gestalt des Kontaktes hineinzudenken, aber manchmal kostet es dann große Mühe, sich in den eigenen Körper zurückzuversetzen. Die letzte Expedition hatte auch diesen Planeten besuchen wollen, dann aber ihre ganze Zeit auf der ursprünglichen Epsilon-Welt verbracht, wo es so viele Informationen zu sammeln gab. Peder hatte mir eine Andeutung darüber gemacht, unter den Mitgliedern der letzten Expedition habe so gut wie niemand etwas von Biologie verstanden. Man möchte ja einen anderen Fachbereich nicht kritisieren, aber jeder weiß, wie die Molekular-Chemiker sind. Und die Epsies hatten ihnen viel zu bieten. Ihre Atmosphäre erzeugte ein paar sehr merkwürdige Riesenmoleküle, die unsern guten alten Kohlenstoff in die Steinzeit verwiesen. Mir macht so etwas nicht viel Spaß, aber für manche Leute ist es die Marmelade auf dem Brot. Die Abreise war wie immer. Die technischen Einzelheiten, die Aufregung, das Auslöschen der Zeit. Und dann diese Welt, schön bis auf – wie ich schon erwähnte – die Atmosphäre und in gewisser Weise auch die Schwerkraft. Ich hatte mich bereits entschieden, welchen Kommunikationsblock ich überwinden
wollte, und freute mich sehr auf die Arbeit. Die Epsies waren informiert worden, daß wir kamen, und hatten eine Fläche Landes für uns hergerichtet. Sie hatten sogar ein Gebäude erstellt, in dem wir unsere eigene Atmosphäre haben konnten – richtig genial, mit hindurchführenden Korridoren mit ihrer und unserer Luft, so daß sie in unser Haus kommen und durch ein System von sinnreich angelegten Schleusen – wenn man sie so nennen darf – kommunizieren konnten. Wir alle drückten unseren Dank und unsere Zufriedenheit aus, aber das Baumaterial war ganz und gar transparent, und ich muß gestehen, es war ein eigentümliches Gefühl, die Epsies hinter einer durchsichtigen Wand vorbeikriechen zu sehen. Auch ohne das hätten wir nie vergessen können, daß wir uns in einem von Epsies gebauten Haus befanden, denn es war ihnen nicht ganz gelungen, sich vorzustellen, daß Menschen nicht flach sind, und deshalb standen die Trennwände viel zu dicht beieinander. Es gab nur zwei oder drei Stellen, wo zwei Personen bequem aneinander vorbeigehen konnten. Das war besonders unangenehm für Peder Pedersen, der sich mittlerweile eine gewisse skandinavische Stämmigkeit zugelegt hatte. Störend war auch, daß man sich nie in ein privates Eckchen zurückziehen konnte. Zu alldem kam, daß die eine oder andere Kommunikationsschleuse nicht ganz dicht war – wir fanden bald heraus, welche es waren –, und prompt traten bei den meisten von uns Halluzinationen auf. Natürlich konnte man sich im Schiff ausruhen. Als Peder Pedersen sich mit archaischen norwegischen Flüchen Luft gemacht hatte (merkwürdig, daß sie für so lange Zeit mehr theologisch als sexuell geblieben sind; ich habe darüber eine eigene Theorie entwickelt), brachten wir anderen ihn fast dazu, sich im Schiff einzuquartieren. Ich fragte einen Teilnehmer, wie alt Peder seiner Meinung nach sei. Damals schien er mir sehr viel älter zu sein als ich. Komisch, daß ich diese
Vorstellung von ihm hatte. Ich selbst hielt mich bei dieser Expedition nicht viel im Schiff auf. Ich wollte die Zeit so gut wie möglich ausnützen. Silis Grasni, die bei der ersten Epsilon-Expedition dabeigewesen war, die ich aber erst kennenlernte, als ich nach Terra zurückkam – sie war in den Monaten, als wir uns vorbereiteten, zu einer Konferenz auf dem Mars, bei der es, wie ich glaube, um Wein ging –, erzählte mir, es sei nur natürlich, daß sich die Epsies auf den Kolonialwelten von denen auf der Ursprungswelt unterschieden. »Für die Kolonisation bedarf es eines ganz besonderen Typs. Das ist überall das Gleiche. Sogar bei uns!« meinte Silis. »Die alten Epsies hätten ein bißchen mehr Takt walten lassen, wenn auch das Ergebnis in etwa dasselbe gewesen wäre. Aber trotzdem waren sie auf ihrer Heimatwelt eine andere Spezies.« Ich sah, daß sie die Stirn runzelte. »Vielleicht nicht besonders liebenswert. Aber ich mochte sie.« Ich verstand genau, was sie meinte. Nun ja, man muß der Kolonisten-Mentalität Zugeständnisse machen. Wir wissen darüber genug aus unserer eigenen Geschichte. Jetzt begegnete ich dem Phänomen zum ersten Mal im wirklichen Leben, und mir waren die traditionellen Epsie-Begriffe, nach denen ich die Gesellschaft auf diesem kolonisierten Planeten hätte beurteilen können, unbekannt. Die Chemiker der anderen Expedition waren daran auf unglaubliche Weise desinteressiert gewesen. Während der ersten Zeit kommunizierte ich nur mit den Epsies, die in unser Haus kamen. Wir entwirrten einige unserer Probleme, und ich konnte Fragen über verschiedene wissenschaftliche und philosophische Gebiete stellen, über die schon vorher Gespräche geführt worden waren. All das war interessant und befriedigend, aber bald schon fragte ich mich, mit welchen anderen Lebensformen wir auf diesem Planeten
Kontakt aufnehmen könnten. Unser Botaniker, der seine Freude an den blauen Wäldern hatte, meinte, bestimmt gebe es Möglichkeiten. So kam ich mit der rundköpfigen, dunkeläugigen Fauna zusammen. Auf meine Spielannäherung erfolgte eine sofortige Reaktion. Ich stellte fest, daß sie sich Unterkünfte bauten, sich mit gefransten blauen Blättern und einer glänzenden, nußähnlichen Frucht schmückten und daß sie ihren seidigen Pelz zu Mustern kämmten. Und dann wurde mir klar, daß ein Teil ihrer Spiele etwas sein mußte, das dem Singen und Tanzen gleichkam. Ich hatte mich bereits völlig auf diese Wesen eingestellt, und ich fand das so schön und ergreifend, daß ich anfangs den Verdacht hatte, es könne teilweise halluzinatorisch sein. Doch dann stellte ich durch alle möglichen Tests fest, daß es das nicht war. In meinen Augen war ihre charakteristischste Eigenschaft ihre Lebendigkeit. Es ist nicht leicht, zu erklären, was ich damit meine. Sie bewegten sich schnell, sie schlüpften in die blauen Dickichte hinein und wieder hinaus, sie sprangen rhythmisch über am Boden liegende Zweige, sie benutzten sehr geschickt ihre handähnlichen Vorder- und Hinterpfoten. Und vor allem tanzten sie. Das alles erzeugte eine Ausstrahlung, ein Schimmern, das etwas mit der Zirkulation der blutähnlichen Substanz unter ihrer halbtransparenten Haut und ihrem leichten Pelz zu tun haben mochte, der Substanz, über die wir später viel zu viel herausfinden sollten. Sie zankten sich, schlugen nach ihren Gefährten und jagten sich bei ihren reizenden sexuellen Spielen. Ich wurde es nie müde, sie zu beobachten und mich ihnen anzuschließen, soweit es mir mein schwerfälliger Atmosphären-Anzug und die Behinderung durch die Schwerkraft erlaubten. Oft starrten sie mir in die Augen und wollten sie mit Pfoten oder Lippen berühren, aber
die Sichtscheibe hielt sie ab. Es hätte mich gefreut, wenn ein näherer Kontakt möglich gewesen wäre. Natürlich versuchte ich zu kommunizieren. Daraus machte ich kein Hehl, und ich begann, die Epsies über diese Wesen zu befragen. Offenkundig bestand zwischen den Epsies und ihnen eine enge Beziehung. Endlich fand ich unter den Epsies einen, der alles über sie zu wissen schien. Uns fiel es schwer, die Epsies voneinander zu unterscheiden, doch das geht einem immer so bei einer Spezies, die einen emotional nicht berührt. Wenn sich einer von uns gestattet hätte, die Epsies zu hassen, hätte er sie vielleicht auseinanderhalten können. Aber Haß ist etwas, dessen sich kein Forscher jemals schuldig machen sollte. Jedenfalls war dieser eine größer als die anderen und trug sehr viel Schmuck. Seine Füße waren mit verschiedenen Metallen eingelegt, was einen überwältigenden Effekt zeitigte, wenn sie ihre wellenförmigen Bewegungen vollführten. Natürlich kommunizierten wir nicht mit Tönen, und an richtigen Namen waren die Epsies ganz uninteressiert. Wir wußten nicht einmal, ob sie welche hatten. Wir nannten diesen einen unter uns Glitterboy. Er schien besonderen Spaß daran zu haben, über die anderen Wesen befragt zu werden. Für sie gab es sogar einen Epsie-Namen, der mit dem Begriff einer Kugel oder eines Kreises zusammenhing; ich übersetzte ihn als »Die Runden«, und er bezog sich wohl auf die Form ihrer Augen und Köpfe. Glitterboy teilte mir mit, wenn ich mehr über die Runden herausfinden wolle, möge ich zu einer Zeit, die er mir noch nennen wollte, mit ihm kommen. Peder war ebenfalls interessiert und wollte uns begleiten. Die übrigen hatten mit ihren eigenen Problemen zu tun. Mein nächster Versuch bestand darin, die Runden über die Epsies zu befragen. Das war schwieriger, weil ich nicht wußte, was ihnen über die andere Spezies bekannt war. Ich begann
damit, daß ich ihnen lebensgroße Fotos zeigte, aber sie waren nicht imstande, Fotos zu erkennen beziehungsweise in Information umzusetzen. Dann bat ich einen der anderen Teilnehmer, mir bei der Herstellung von dreidimensionalen Papierbildern zu helfen. Die Runden reagierten zuerst mit Frustration, doch endlich erkannten sie, was das sein sollte. Ihre Reaktion verriet eindeutig Zorn. Sie schlugen nach den Bildern und zerrissen sie, und ein paar rannten weg. Ich war sehr gespannt, was sich daraus ergeben werde. »Denke an das dritte Gesetz«, warnte Peder Pedersen. »Nichteinmischung«, antwortete ich automatisch, denn das wird einem nachdrücklich eingebleut. Ich setzte hinzu: »Du glaubst doch nicht etwa – ?« »Du fängst an, die Runden gern zu haben, Mary«, sagte er. »Und es ist schwer, unsere intelligenten Freunde gern zu haben.« Er wies mit dem Kopf auf den völlig von unserem Raum getrennten, aber deutlich sichtbaren Gang, der nur Zentimeter an unseren Wangen und Händen vorbeiführte. An seinem Ende befand sich ein Epsie, der den Eindruck machte, er brenne darauf, befragt zu werden. Peder Pedersen fuhr fort: »Es ist leichter auf einer Welt, wo uns weder die äußere Erscheinung noch das Verhalten so vertraut vorkommen, daß wir sie moralisch zu bewerten beginnen.« Als ich mich rückwärts hinausschob – für etwas anderes war der Raum zu eng –, stieg ein scheußlicher Verdacht in mir auf. Doch dauerte es noch ein paar Tage, bis Glitterboy uns Bescheid sagte. Inzwischen tat ich eine Menge Forschungsarbeit im Freien. Außer den Runden gab es noch andere Wesen in recht seltsamen Formen, von einem quallenähnlichen Ding, das in den blauen Wäldern umherwabbelte, über einen in Herden lebenden Typ, der wie ein Frosch auf Stelzen aussah, und rötlichen Krabbeltieren, die meine Runden mit dem Schwanz aufnahmen, obwohl sie sie
nicht aßen, bis zu einem großen Nachttier, das ich nie deutlich zu sehen bekam. Wir experimentierten vorsichtig mit der Vegetation und aßen ganz kleine Mengen davon. Alles erwies sich als für uns völlig unverdaulich. Es gehört vor allem für die jungen Forscher zu den Enttäuschungen auf einer neuen Welt, daß man oft etwas findet, das wie eine köstliche Frucht, eine Pflaume oder ein Pfirsich, aussieht, es jedoch so gut wie nie ist. Der Zeitpunkt kam. Glitterboy forderte uns auf, mit ihm zu kommen. Ich war froh, daß Old Peder in seinem AtmosphäreAnzug neben mir herstampfte. Die Schwerkraft rief bei ihm verschiedene Sorten von Schmerzen und unangenehmen Empfindungen hervor, über die er nie direkt sprach, die aber offensichtlich der Grund für seine häufigen Flüche waren. Auf diesem Planeten gab es keine Transportmittel. Das war ein Gebiet, auf das die Epsies niemals einen Gedanken verschwendet hatten – vielleicht weil soviel Emotion in ihren Füßen lokalisiert war. Ich bezweifele, ob sie überhaupt im menschlichen Sinn müde werden konnten. Selbst ich, so jung ich damals noch war, wurde ziemlich müde. Peder sagte einmal zu mir: »Mary, setz dich lieber ein Weilchen hin und ruh dich aus.« Damals dachte ich, er brauche einen Vorwand, um selbst rasten zu können, deshalb ließ ich mich gehorsam an seiner Seite nieder. Heute bin ich überzeugt, daß er meine Erschöpfung bemerkt hatte und mir einen Gefallen tun wollte. An seine eigenen Beschwerden war er gewöhnt. Glitterboy jedoch ergoß sich unermüdlich über Fels und Schotter, unter den Wedeln der blauen Bäume hindurch und über gestürzte Stämme. Beim Laufen senkten die Epsies auch das vordere Körperdrittel zu Boden, das sie aufrichteten, wenn wir ihnen Fragen stellten. Glitterboys Füße rasselten. Ich wunderte mich darüber, daß keine Runden zu sehen waren. Die gelben Quallen und die Stelzenfrösche waren da wie immer.
Vor unserem Aufbruch hatte ich Peder gefragt, ob wir Waffen mitnehmen sollten. Alle Expeditionen nehmen sie zur Verteidigung im äußersten Notfall mit, und auch zu dem Zweck, sich selbst oder seine Freunde in bestimmten Eventualitäten schmerzlos töten zu können – obwohl man dann nur zu oft die Waffe nicht dabei hat. In der Theorie wußte ich, wie man damit umzugehen hat, aber benutzt hatte ich noch nie eine. Peder lächelte und erwiderte, er werde einstecken, was nötig sei. Ich brauche mich nicht zu bewaffnen. »Denke daran«, mahnte er, »wenn du dich in Gefahr glaubst, mußt du Fragen stellen. Immerzu Fragen stellen!« Nun erreichten wir eins ihrer Gebäude, eine glatte Wand aus einer glasartigen Substanz, einer chemischen Zusammensetzung, die die Atmosphäre möglich machte. Glitterboy teilte uns mit, jetzt würden wir erfahren, welchem Zweck die Runden dienten. Ich bemerkte, daß sich seine Mundpartien auf sehr abstoßende Weise bewegten – für mich abstoßend. Mir fiel ein, wie Peder mir in der Vorbereitungszeit, als wir uns den Film ansahen, geraten hatte, mich in das Gehirn hinter diesem Mund zu versetzen. Das brachte ich jetzt nicht fertig, aber ich versuchte, mir nichts anmerken zu lassen. Wie bei allen Epsie-Gebäuden befanden sich die Angeln der Tür an der oberen Kante. Peder und ich mußten uns bücken. Als wir uns wieder aufrichteten, standen wir in einem hohen, engen Hof, an dessen Wänden einige sehr steile, sehr schmale Treppen zu einer oben ringsumlaufenden Brüstung führten. Und der Hof war gedrängt voll mit Runden, und sie waren in einem wirklich schrecklichen Zustand, voller Angst und Aufregung und in heftiger Bewegung. Einige rannten und sprangen, andere schienen in unnatürlichen Stellungen erstarrt zu sein. Wieder andere sangen, aber nicht die Lieder, die ich bei ihren Tänzen und sexuellen Spielen gehört hatte. Ich
merkte, daß Peder es nicht als Singen erkannte, aber für mich, die ich öfter als er mit ihnen zusammen gewesen war, gab es gar keinen Zweifel. Das ganze erinnerte mich an etwas, auf das ich im Augenblick nicht kam. Und dann durchfuhr es mich wie ein Blitz. In dem Kurs über Sozialgeschichte hatte ich eine Reihe von Fotos gesehen. Sie zeigten die Insassen eines Krankenhauses für Geisteskranke, eine »Irrenanstalt«, wie man damals sagte. Dort sperrte man heftig erregte Menschen ein und brachte sie so außer Sicht. Was ich jetzt vor mir hatte, war eine Kombination aus diesen alten Bildern. Genau so sahen die armen Runden aus, abgesehen davon, daß ein Schimmern von ihnen ausging, wie ich es bei ihnen in Perioden der Erregung schon früher bemerkt hatte. Glitterboy richtete sein vorderes Drittel auf und begann mit einer so schnellen Kommunikation, daß ich ihm nicht folgen konnte. Bei einigem davon schien es sich um Formeln der organischen Chemie zu handeln. Eine spätere Übersetzung zeigte mir, daß sie das Blut betrafen beziehungsweise die blutähnliche Flüssigkeit, die innerhalb der Runden auf eine für ihn so einladende Weise zirkulierte, und auch die chemischen Bedürfnisse seines eigenen Körpers, die er genau kannte. Aber der Ton der ganze Kommunikation hatte etwas erschreckend Abstoßendes. Und etwas Gefährliches auch. Sogar für uns. Ich sah zu Peder hin. Er sandte mir durch die Sichtscheibe seines Anzugs einen Blick zu, der mich aufforderte: Frage. »Zu welchem Zweck – « begann ich, und Glitterboy sprudelte weitere Informationen heraus, mit denen ich nichts anzufangen wußte. Plötzlich stürmte er auf die Runden zu. Verschiedene andere Epsies, die ruhig an den Wänden gestanden hatten, taten das Gleiche. Am anderen Ende des Hofes klappte eine Tür auf, und die Runden rannten in einer Panik hindurch, die ich sofort als Nein, nein, verstand.
Dann kroch Glitterboy eine der Treppen zur Brüstung hinauf. Ich dachte, wir sollten ihm lieber folgen, denn der Gedanke, mit den Runden durch das Tor zu laufen, gefiel mir gar nicht. Es war ein mühsamer Weg. Die Stufen waren zu steil für die Schwerkraft und zu schmal für eine Treppe, die an der offenen Seite kein Geländer hatte. Für Peder, dessen Körper teilweise über den Abgrund hinausragte, war es noch schlimmer. Die obere Brüstung war auch nicht breiter. Aber vielleicht war es ganz gut, daß die geringe Gefahr, in der wir uns selbst befanden, uns von dem, was unten geschah, ablenkte. Glitterboy hielt jetzt ein metallenes Instrument, dessen Form uns ebenso fremd war wie alle Epsie-Werkzeuge. Dann erlebte ich, welchem Zweck es diente. Während die Runden mit gesenkten Köpfen unter der Tür durchliefen, hielten er oder ein anderer der Epsies das Instrument über sie und drückte es. Jeder der Runden stieß einen hohen, dünnen Schrei aus, den wir durch die Hörfilter unserer Atmosphäreanzüge gerade eben vernehmen konnten. Doch danach rannten sie weiter. Sie rannten durch einen noch engeren Gang in einen anderen Hof. Und dort schienen sie sich zu beruhigen. Jedenfalls machte ihr Verhalten diesen Eindruck. Sie gingen umher, aber sie hatten aufgehört zu springen, zu schreien, zu singen oder heftige Erregung auszudrücken, und offenbar hatten sie keine Schmerzen. Wir gingen vorsichtig über die Brüstung, bis wir uns oberhalb von ihnen befanden. Ich stellte fest, daß ihre Körper nicht mehr schimmerten. Was war geschehen? Dann beobachtete ich, wie die Epsies ohne Hast oder Gewalt einige Runde hinter eine Absperrung trieben. Glitterboy rasselte schnell in diese Richtung und tauchte die Wand hinunter. Wir sahen uns an. Peder schüttelte leicht den Kopf. Wir beobachteten weiter die Runden. Soweit ich das, was sie einander mitteilten, auffangen konnte, war es Zustimmung.
Einige von ihnen hatten sich gesetzt oder hingelegt. Als sich einer der Epsies ihnen näherte, schien sie das nicht zu beunruhigen. Dabei hatten sie auf die 3D-Bilder, die ich ihnen gezeigt hatte, doch mit Zorn und Entsetzen reagiert. Aber was ging innerhalb der Absperrung vor? Plötzlich kam Glitterboy herausgekrochen. Von seinen Mundpartien tropfte etwas Grauenhaftes. Silis berichtete mir später, die Epsies auf der Heimatwelt ließen beim Essen nichts herabtropfen. Aber Glitterboy war ein Kolonist. Er erstarrte und hob seine metallverzierten Füße in der zufriedenen Geste eines Epsies, dem Fragen gestellt werden. Schnell fragte ich ihn, was er getan habe, und er antwortete – wie ich erwartet hatte – mit der biochemischen Beschreibung einer Absorption, drückte dabei jedoch eine gewisse Aufregung aus. Er schlug vor, wir sollten uns den Prozeß ansehen und vielleicht sogar daran teilnehmen. Für uns als Mitglieder einer Expedition war es natürlich wichtig, alles zu beobachten und soweit wie möglich daran teilzunehmen, aber die Epsies wußten, daß die auf diesem Planeten vorkommenden Substanzen für uns unverdaulich waren. Daß er uns jetzt einen Leckerbissen anbot, war nur seiner freudigen Stimmung zuzuschreiben. Wir beobachteten, machten Notizen und stellten Fragen. Es war genau so, wie wir vermutet hatten. Die Epsies klammerten sich an die Runden in der Absperrung und saugten sie aus. Ein Körper mochte sieben bis acht Liter der blutähnlichen Flüssigkeit enthalten. Das war relativ zu Größe und Gewicht der Runden mehr, als wir Menschen an Blut haben. Die gründlich leergesaugten Körper wurden verarbeitet und als Baumaterial verwendet. Die Runden ließen alles ganz ruhig geschehen, nur beim ersten Zubiß zuckten die meisten zusammen. Ganz bestimmt verspürten sie keine Angst. Als Peder eine Frage über die Zirkulation der blutähnlichen
Flüssigkeit stellte, zeigten sich Glitterboy und ein zweiter Epsie gefällig und rissen den Körper eines lebenden Runden auf. Das Zirkulationsorgan saß überraschend hoch oben, aber es gab auch keine Lungen, die mit denen von Säugetieren zu vergleichen gewesen wären. Das Gehirn befand sich wie bei uns im Kopf, aber der Schädel war eher häutig als knochig. Das machte es den Epsies leicht, die Runden durch einen kleinen Einstich aus aufsässigen, kampfbereiten Wesen zu gehorsamen, arglosen Kreaturen zu machen. Auch wurde dadurch die Zirkulation verlangsamt, was das Aussaugen zu einer weniger bluttriefenden Angelegenheit machte. Wenn es darauf überhaupt ankam. Nicht einmal die Runden, deren Inneres zur Erweiterung unserer Kenntnisse bloßgelegt wurde, zeigten Todesangst. Unbehagen schon. Aber das verschwand beim Sterben. Statt dessen packte die Todesangst mich. Peder Pedersen und ich fragten uns den Rest der Geschichte zusammen. Die Epsies fingen nicht die gesamte Population der Runden ein. Sie ließen genug übrig, daß sie sich von neuem vermehren konnten und daß beim nächsten Mal wieder genug da waren. In der Zeit, als man die Runden wohl schon eingesperrt hatte, es aber noch nicht üblich gewesen war, sie zu betäuben, hatte es regelmäßig Widerstand gegeben. Ich hatte den ekligen Verdacht, daß Glitterboy es vorgezogen hätte, wenn heute nicht alles gar so leicht gemacht würde. In früheren Zeiten hatten die Runden gelegentlich die Epsie-Jäger angegriffen, hatten mit den Klauen nach den verwundbaren Augen und Gehirnflecken gekratzt und waren ziemlich häufig entkommen – nicht alle, aber einige von ihnen. So etwas kam heute nicht mehr vor. Alle glaubten, daß hochklappende Tor sei ein Weg hinaus in die Freiheit. Sie konnten sehen, daß ihre Gefährten sich ein Stück jenseits davon ruhig und friedlich verhielten. Die Anlage war so konstruiert, daß die Runden die Instrumente nicht im Blickfeld hatten.
In mir stieg Haß auf die Epsies auf, den ich mir nicht anmerken lassen durfte. Sie erkannten, daß irgend etwas schiefgegangen war, aber sie wußten nicht, was. Peder Pedersen durchschaute mich natürlich. Er sagte mir über unsere Funkverbindung, die die Stimmen verzerrte, so daß ich seine Worte als leise und von Knattern begleitet im Gedächtnis habe: »Alles, was du gern tun möchtest, bedeutet Einmischung.« Ich wußte es, ich wußte es! Und trotzdem konnte ich das nicht ertragen. Ich merkte, daß ich keuchte. Ich wußte, wenn von uns beiden ich die Person mit der Waffe gewesen wäre, hätte ich sie hätte ich sie benutzt. »Ich habe Schlimmeres gesehen«, meinte Peder Pedersen, »ohne mich einzumischen.« Ich blickte hinab auf die Runden und die Epsies und stieß mich an dem Geländer. Es geschah weiter nichts, aber es drang etwas Außenluft in meinen Anzug ein. Das rief eine Folge von außergewöhnlichen Halluzinationen in der Form religiöser Episoden hervor. In seiner Jugend lernt jeder die ganze seltsame Geschichte, und oft lebt man eine frühere religiöse Erfahrung noch einmal durch. Ich hatte mich als Mädchen mehr für die Entwicklung des Islams im frühen einundzwanzigsten Jahrhundert interessiert, aber diese Halluzinationen waren ganz und gar christlich. An einem Kreuz hing der Protagonist und wurde aufgerissen und hörte nicht auf zu bluten. Ich erinnere mich, daß ich irgendwen darauf hinwies, das Herz sitze an der gleichen Stelle wie beim Menschen, könne aber auf irgendeine Weise leicht in das Zirkulationsorgan der Runden umgewandelt werden. Alle Arten von Wesen, die ich in Büchern und Filmen gesehen hatte, kamen herbei und leckten das fließende Blut auf. Und zuletzt kamen die Epsies. Wie es so oft bei Halluzinationen der Fall ist, schien das Erlebnis einen langen Zeitraum zu umspannen, auch wenn es,
gemessen am Pulsschlag und an der Atmung, nur Sekunden dauerte. In einer Ecke meines Bewußtseins war mir klar, daß es als Einmischung gilt, auf einer anderen Welt in der Öffentlichkeit eine terranische Religion zu praktizieren. Das ist eine sehr alte Vorschrift, die heute kaum noch von Interesse ist, weil an den Expeditionen nur selten einmal ein Mensch teilnimmt, der sich mit diesen Dingen befaßt. Aber mir kam es vor, als sei die einzige Möglichkeit, mein Ziel zu erreichen, selbst das Kreuz zu besteigen und zu bluten und mit lauter Stimme zu rufen, ich sei nicht betäubt worden, ich sei bei vollem Bewußtsein, und dies Blut werde für alle Zeiten stellvertretend für das der Runden vergossen. Ich kämpfte darum, dies all den verschiedenen Welten mitzuteilen, und gleichzeitig hatte ich Mitleid mit mir selbst, weil ich unwiderruflich an ein Stück schweres Holz gebunden war und niemals mehr auf eine Forschungsreise gehen konnte. Doch dann fühlte ich Hände an meinem Körper, terranische Hände, und eine Stimme sagte: »Du mußt hinunter, hinunter – « Es knatterte schwach, und ich erkannte Peders Stimme. Hinunter – wie konnte ich vom Kreuz hinuntergelangen? Aber irgendwie mußte ich es tun. Die Halluzination verblaßte, und ich sah, daß Peder das undichte Gelenk meines Atmosphäreanzugs zusammenhielt und mich auf die Treppe zuschob. Außen an der Wand befanden sich nämlich auch Treppen, die ebenso steil und ebenso schmal waren. Ich kletterte hinunter. Der einer Halluzination folgende Kopfschmerz baute sich an meiner Schädelbasis auf. Innerhalb der Mauern ging das Entsetzliche weiter. Auf dem Rückweg erzählte mir Peder Pedersen über das knatternde Funkgerät von seiner Kindheit in einem immer noch ziemlich abgelegenen Teil Terras, wie im Frühling der Schnee schmolz und die Birken grüne Blättchen trieben, von dem Beerenpflücken der Kinder und der Mitternachtssonne, von den Nordlichtern, die
einem so wundervoll vorkamen, bis man in der Galaxis weitaus Seltsameres zu sehen bekam, die jedoch von neuem wundervoll sein werden, wenn man alt wird und sich entschließt, von nun an für immer an den freundlichen Brüsten Terras zu bleiben. Irgendwie brachte mich das wieder zu mir. Ich ruhte mich eine oder zwei Stunden im Schiff aus, wo ich keinen Epsie zu sehen bekam, bis der Kopfschmerz und der Haß verschwunden waren. Doch in gewissem Sinne hielt mich die Halluzination weiter in ihrem Griff. Hätte ich irgendwie irgend etwas in diesem Sinne tun können? Ich wußte nicht, wie. Noch heute weiß ich es nicht. Und trotzdem habe ich das Gefühl, ich hätte einen Weg finden müssen. Ein tiefes Schamgefühl überwältigte mich. Ich war aufs äußerste gedemütigt, weil ich so hilflos gewesen war. Ich hatte diejenigen, die meine Freunde waren, im Stich gelassen, vielleicht sogar betrogen. Das Gefühl blieb mir für die ganze Dauer dieser Expedition. Es half mir auch nicht im geringsten, daß es mir gelang, einige der Kommunikationsbarrieren zu durchbrechen, die meinen Vorgängern bei den Epsies Schwierigkeiten gemacht hatten. Erst als unser Schiff am Ende der Reise für die Landung auf Terra abbremste, als wir alle schon an Terra dachten, sprach ich mit Peder Pedersen darüber. Er sagte mir, die Demütigung, wie sie auch hervorgerufen sein möge, sei eine notwendige Phase in der Forschung. Die größten Forscher stammten nie aus den Reihen derer, die selbstbewußt und sich stets gleich seien. Damals war das schwer zu verstehen, aber ich glaube, daß ich es jetzt verstehe. Er sagte, man müsse bereit sein, sich hereinlegen zu lassen, auch wenn das bedeute, daß man hinterher ausgelacht werde. Denn es dürfe keine Barrieren zwischen einem selbst und anderen Wesenheiten geben. Unglaubwürdigkeit muß abgebaut werden. Demütigung. Bis zum tiefsten Grund, bis das moralische und intellektuelle
Selbst, das man so sorgfältig aufgebaut hat, niedergerissen wird. Wenn es nichts mehr zwischen dem Ich und den achtlos trampelnden Füßen der Realität gibt, dann erst kann man endlich richtig beobachten und erfahren. Und der Prozeß der Demütigung, so sagte Peder, müsse sich ständig wiederholen. Als junger Mensch stellt man sich die großen Forscher nicht so vor. Aber ich glaube, es ist schon etwas daran.
IV
Anfangs war das Gefühl, versagt zu haben und gedemütigt worden zu sein, nur schmerzhaft. Ich spürte nicht den geringsten Antrieb dazu, mich auf die nächste Expedition vorzubereiten. Und doch wußte ich, die Sache mit den Epsies und den Runden war, als moralisches Problem betrachtet, ziemlich einfach, und es waren schon verschiedene Expeditionen auf ähnliche Dinge gestoßen. Wenn nur T’o dagewesen wäre! Er hätte mich aus meinem Schmerz herausreißen können, und wir wären auf Terra glücklich gewesen. Aber es klappte nicht; es war nicht möglich, unsere subjektiven Jahre zu synchronisieren. Ich war nicht einmal imstande, über meine Beobachtungen einen ordentlichen Bericht zu schreiben. Peder Pedersen hatte sehr viel Verständnis für mich gezeigt, aber er war bereits wieder zu einer Expedition aufgebrochen. Er hatte mich aufgefordert mitzukommen, aber ich kam nicht mit. Ich konnte nicht. In mir erwachte ein schwaches Interesse für die Immunologie, und ich schloß mich den Immunologen in einem ihrer Zentren an. Dann geschah etwas, das mich wieder voll aufweckte. Wie Sie wissen, erzeugt das Gewebe von fremden Lebewesen in einem lebenden Säugetier Antikörper. Aber wenn man ein so fremdartiges Gewebe nimmt, daß es nicht einmal als feindlich erkannt wird, dann entstehen keine Antikörper. Und wenn das Gewebe noch dazu von einer Art stammt, die mit einem Säugetier in Symbiose leben und sich entwickeln kann? Das war lange nichts als eine theoretische Vermutung. Ganz plötzlich wurde es zu einer Möglichkeit. Die Art des Lebens auf einer kleinen und isolierten Welt hatte
genau die erforderlichen Eigenschaften, und es waren ein paar Musterexemplare nach Terra geschafft worden. Alle hatten zugestimmt, sie seien von der Intelligenz zu weit entfernt, als daß das moralisch zu beanstanden wäre. Die Wesen auf jener Welt regenerierten sich vollständig aus ziemlich kleinen Teilen, so wie wir alle es schon bei dem terranischen Regenwurm beobachtet haben. In einer ihnen zusagenden Umgebung entstand aus den Stücken das vollständige Tier, aber es war nur ganz klein und kaum lebensfähig, obwohl es möglich war, es zu etwas Ähnlichem wie einem erwachsenen Zustand aufzufüttern. Aber wurden sie auf einen Wirt aufgepfropft, überlebten sie nicht nur, sondern wuchsen sich auch zu ihrer normalen Größe aus, die fast einen Meter in der Länge betrug. Danach bildete sich ein Hals zwischen ihnen und dem Wirt, und sie lösten sich im allgemeinen von selbst ab. Auf den ersten Blick wirkten sie ziemlich formlos und ein wenig abstoßend. Man hatte den Eindruck, sie seien in einer evolutionären Phase, wo sie sich zu irgend etwas entwickeln könnten, aber noch keinen Entschluß gefaßt hätten. Das Verhalten der Transplante machte diese Vorstellung noch plausibler. Es wäre nicht korrekt, es in Ausdrücken zu beschreiben, die Intelligenz voraussetzen, aber ganz gewiß zeigten sie eine Empfindungsfähigkeit, die ihnen charakteristische Eigenschaften verlieh. Man konnte ihnen sehr wohl Lust und Schmerz, Gedächtnis, Furcht und möglicherweise auch Zuneigung zuschreiben. Sie hatten keine Knochenstruktur, aber eine Art von knorpelförmigen Verdickungen. Es war nicht unangenehm, sie anzufassen. Ihre Außenhaut war im allgemeinen ziemlich weich, konnte jedoch – offenbar willkürlich – verhärtet werden. Auch konnten sie – wieder offenbar willkürlich – Scheinfüßchen ausstrecken, meistens drei oder fünf. Mit ihrer Hilfe krochen sie, und sie mochten auch noch für andere Zwecke nützlich sein.
Sie konnten Nahrung zu sich nehmen, obwohl diese unter Laborbedingungen gründlich zerkleinert sein mußte. Sie konnten in ihrer Nähe befindliche Objekte wahrnehmen, auch wenn wir nicht wußten, wie. Einige Objekte oder Stimuli schienen Aktivität hervorzurufen. Dann krümmten und rollten sich die Transplante schnell auf einen Gegenstand zu beziehungsweise von ihm weg. Aber was war das für ein Wahrnehmungssinn, über den sie verfügten? Es war kein ausgebildetes Organ an ihnen zu entdecken. Der ganze Körper mußte daran beteiligt sein. Das war nicht nur bei terranischen Lebewesen, sondern auch bei den meisten extraterrestrischen Lebewesen unbekannt. Die Transplante gaben uns Rätsel über Rätsel auf, und ich kam mit ihnen zuerst als Kommunikationsexpertin in Berührung. Auch mir waren sie ein Rätsel, aber sie interessierten mich. Die Transplante waren anfangs verschiedenen Versuchstieren aufgepfropft worden – Hunden, Schweinen, Schakalen, Pferden, den liebenswerten marsianischen Znydgi und ein paar anderen Spezies. Das hatte zu unvorhergesehenen Ergebnissen geführt. Offenbar wurde – wenigstens in einem gewissen Ausmaß – das Verhaltensmuster des Wirtes übernommen. Das wurde zum Beispiel bei Transplanten auf Hunden deutlich. Alle Hunde in diesem Zentrum liebten die Laboranten, und unter ihnen besonders einen, der ihre ständige Kontaktperson war. Die Transplante zeigten die gleichen Gefühle und ringelten sich der bevorzugten Person eifrig entgegen. Die Znydgis dagegen, so niedlich und amüsant sie sein mögen, entwickeln niemals Zuneigung zu Menschen, und die auf ihnen gewachsenen Transplante nahmen von den Laboranten gar keine Notiz. Sie liebten sie nicht, aber sie fürchteten sich auch nicht vor ihnen. Es hatte außerdem den Anschein, als gediehen die Schakal- und Hyänen-Transplante besser, wenn man ihnen
Fleischbrei unter das Futter mischte. Setzte man diese Nahrung Pferde-Transplanten vor, verschmähten sie sie. Ein oder zwei Transplante waren wilden Tieren angesetzt worden, die man absichtlich darauf konditioniert hatte, einigen oder allen Menschen im Tierhaus zu mißtrauen. Diese Einstellung trat ebenso bei den erwachsenen Transplanten auf. Sie rollten sich ein oder verhärteten sich und zogen sich von den entsprechenden Personen zurück. Natürlich war alles viel komplizierter, als ich es hier schildere. Während meiner Anwesenheit wurde eine Anzahl Pawlowscher Experimente gemacht, es wurden sehr viele anatomische und zytologische Beobachtungen durchgeführt und ausgewertet. Damit erhoben sich ethische Probleme. Die Transplante waren von ihrer Heimatwelt ursprünglich unter der Voraussetzung entfernt worden, daß sie weit unter der Stufe standen, auf er sich Bewußtsein zeigt, von Intelligenz ganz zu schweigen. Andernfalls wäre es ein sehr tadelnswertes Unternehmen gewesen. Bei der Transplantation operierte man die Scheinfüßchen heraus, was offenbar dem Spender überhaupt keinen Schaden tat. Versuchte man jedoch, ein Stück des eigentlichen Körpers zu entnehmen, verursachte das Unbehagen, vielleicht sogar Schmerz, ob die Scheinfüßchen nun ausgestreckt waren oder nicht, und es blieb ein Abscheu vor der Person zurück, die es getan oder zu tun versucht hatte. Aber wo saß dieses Gedächtnis? War es, wie das Wahrnehmungsvermögen, ein nicht an bestimmter Stelle lokalisierter, sich auf den ganzen Körper erstreckender Effekt? Wirklich, die Transplante warfen ständig neue Fragen auf. Über ihre Heimatwelt war nicht viel bekannt. Sie hatte nicht den Eindruck erweckt, besonders interessant zu sein, und wahrscheinlich würde es einige Zeit dauern, bis sie wieder von einer Expedition besucht wurde. Doch war das kein Grund, die Untersuchungen nicht weiter fortzuführen. Logischerweise
mußte der nächste Schritt sein, einen menschlichen Wirt zu finden. Ich diskutierte darüber mit Pete Lorim, einem der Immunologen. Er meinte, zu schwierig würde es nicht sein. Das Transplant brauche den Wirt nur für zwei oder drei Monate, und in der ersten Zeit sei es kaum zu spüren. Aber Pete hatte ein persönliches Problem. Er und Silis Grasni waren sehr viel zusammen – durch Silis hatte ich übrigens die Immunologen-Gruppe erst kennengelernt –, und Pete glaubte, Silis werde ihm bald erlauben, Vater ihres Kindes zu werden. Nun war er sich gar nicht sicher, wie sie darauf reagieren würde, wenn er ein großes Transplant am Körper trug. Selbstverständlich kritisiert eine Wissenschaftlerin einen Kollegen nicht, wenn er sich mitten in einem Experiment befindet, aber wenn er der Vater eines ihrer Kinder werden soll, mag sie wohl ein bißchen eigen sein. Silis war zu dieser Zeit sehr attraktiv (ehrlich gesagt, ich hatte es ziemlich satt, die Leute ständig darüber sprechen zu hören), und ich konnte Petes Bedenken nur zu gut verstehen. »Wenn Silis nicht wäre, würdest du es selbst tun?« fragte ich ihn. »Natürlich«, antwortete er. »Doch ich nehme an, es wird sich einer von den anderen zur Verfügung stellen. Es handelt sich ja nur darum, zwei Monate zurückgezogen zu leben – und, wie ich glaube, sich zu langweilen.« Und dann sagte ich: »Ich finde, das ist keine Aufgabe für einen Mann. Du solltest eine Frau dafür nehmen. Sie würde eine bessere Verbindung zu dem Transplant bekommen.« Er dachte kurze Zeit nach. »Müßte man nicht damit rechnen, daß die Verbindung zu gut würde?« »Das bezweifele ich«, meinte ich. »Schließlich kommt eine wirklich enge Verbindung nur da zustande, wo es die Möglichkeit zur Kommunikation gibt – oder zumindest einer
Art von Kommunikation.« Ich setzte hinzu: »Wie wäre es mit mir?« Also, wir wurden uns einig. Ich würde im Immunologenzentrum wohnen. Dort gab es eine besonders gute Bibliothek mit Büchern und Filmen. Ich konnte eine Menge Wissenslücken füllen. Noch etwas anderes lockte mich, wenn es auch keine sehr bedeutende Rolle spielte. Gleich unterhalb des Zentrums war ein großes Stück Land mit Obstbäumen und Gemüse bepflanzt, an denen neue Techniken ausprobiert wurden. Einige Pflanzen waren galaktische Importe, die ständig scharf beaufsichtigt wurden für den Fall, daß sie zu erfolgreich wurden. (Sie erinnern sich sicher an die Venusalgen, die erst große Freude hervorriefen, weil sie alle Protein-Probleme lösten, bis sie anfingen, den Golf von Mexiko zu blockieren.) Die Leute von der Gesundheitsbehörde waren sehr nett, und wir hatten oft interessante Diskussionen. Natürlich waren auch viele martianische Berieselungspflanzen dabei. Unter den terranischen Früchten und Gemüsen gibt es leider nur wenige Geschmacksvariationen, selbst wenn man die aller Klimazonen einbezieht. Man kann beinahe verstehen, warum unsere Vorfahren hauptsächlich Fleischesser waren. Meiner Meinung nach hat zu der Tatsache, daß wir das Fleischessen so völlig überwunden haben, die Entdeckung einer Reihe von galaktischen Pflanzen mit ihrem so anderen Kohlenstoffaufbau wesentlich beigetragen. Welch ein Glück, daß wir sie verdauen können! In dem Versuchsgarten waren einige sehr erfolgreiche Veredelungen durchgeführt worden, zum Teil von Silis. Dort wuchsen verbesserte Mangos und eine neue Pfirsichsorte, winzig, aber köstlich im Geschmack. Heutzutage herrscht die Neigung vor, sowohl Obst als auch Gemüse auf kleineren Umfang zu züchten, damit mehr Spielraum für kulinarische Kompositionen ist.
Ich bin zwar verfressen, aber mein Hauptgrund war das nicht. Natürlich freute ich mich nach der streng auf Zweckmäßigkeit ausgerichteten Raumdiät auf die Abwechslung, und ein langer Aufenthalt im Zentrum wurde dadurch sehr viel attraktiver. Zuerst einmal beobachtete ich die noch mit Wirten verbundenen wie die erwachsenen Transplante mit großer Sorgfalt und Aufmerksamkeit. Besonders interessierte mich, welche Wirkung sie auf die Versuchstiere hatten, die ihnen als Wirte dienten. Selbstverständlich kommunizierten die Laboranten täglich mit ihnen. Den Tieren mußten sehr viele Erklärungen gegeben werden, sonst hätten sie sich sehr unbehaglich gefühlt, und besonders die Fleischesser hätte man auf unethische Weise unter Zwang setzen müssen. Alle Versuchstiere fanden die Sache ermüdend, und am Ende des Experiments waren sie trotz zusätzlichem Futter nicht im besten Gesundheitszustand. Aber sobald sich ein Transplant gelöst hatte, erholten sie sich schnell, und es war leicht zu entfernen, wenn es voll ausgewachsen war und begonnen hatte, sich selbständig zu bewegen. Das Experiment wurde den Tieren so dargestellt, daß sie es verstehen konnten. Für die meisten war es eine Sache, die sie aus Zuneigung und Treue zu den geliebtesten Menschen auf sich nahmen und die ihnen Lob und noch mehr Liebe eintrug. Die aktiveren Tiere stellten fest, daß sie langsamer wurden. Ich fragte mich, ob das allein auf das Gewicht der Transplante und die von ihnen verursachte Behinderung zurückzuführen war. Bemerkenswert war, daß sowohl die Hunde als auch die Pferde ihre Transplante noch Tage oder sogar Wochen später wiedererkannten, offenbar am Geruch, und es sah so aus, als sei dies Wiedererkennen gegenseitig. Bei den Schweinen war das auch zu bemerken, aber in geringerem Maß, und bei den Znydgis kam es gar nicht vor. Eine große Labrador-Hündin machte sich noch mehrere Monate lang Gedanken über ihr
Transplant. Sie war bekümmert, daß es nicht hundeähnlicher geworden war. Ihr spezieller Laborant und ich versuchten beide, ihr Trost zu kommunizieren, aber es gelang uns nicht ganz. Sie wußte, das Transplant war kein Welpe, sondern ein Transplant, und trotzdem konnte sie diese Tatsache nicht akzeptieren. Den Hyänen erging es ähnlich. Ich konnte den Hunden verständlich machen, daß ich wie sie werden und ein Transplant bekommen würde. Darüber regten sich einige ziemlich auf. Aber ich konnte nicht herausfinden, ob es ihnen nur leid tat, daß ich körperliche Unannehmlichkeiten auf mich nehmen sollte, oder ob sie noch einen anderen Grund hatten. Jedenfalls paßte das, was ich vorhatte, zu meiner seelischen Verfassung der Demütigung: Ich würde eine intime Verbindung mit einer nicht intelligenten Lebensform eingehen. Konnte man noch tiefer hinabsteigen? Doch gleichzeitig war mir bewußt, daß dies auch eine erregende und ganz neuartige Forschungsaufgabe war. Wir entschieden, das Transplant an meinem Oberschenkel anzusetzen, wo es reichlich mit Blut versorgt werden würde. Ich trug es in einer Art Schlinge, so daß es mir in den ersten Wochen überhaupt keine Unbequemlichkeit verursachte. Keiner von uns konnte genau wissen, wie schnell es wachsen würde, und ein paar Tage lang waren wir sogar besorgt, ob es überhaupt am Leben bliebe. Es hatte den Anschein, als bildeten sich jetzt doch Antikörper. Glücklicherweise war das nicht der Fall. Wäre es geschehen, dann hätte eine vollständig neue Theorie aufgestellt werden müssen. In den Stunden, als wir es für möglich hielten, diskutierten wir sehr aufgeregt darüber, aber uns kamen nur die verrücktesten Einfälle. Es war bisher noch kein Experiment an einem der Primaten durchgeführt worden denn es war schon immer schwierig gewesen, einen der höheren Affen zu einem Experiment zu überreden, das Unbequemlichkeiten mit sich brachte. Bei
allem, was von ästhetischem Interesse oder geistig anregend war, arbeiteten sie so bereitwillig und in so freundschaftlicher Haltung mit, daß es niemandem im Traum eingefallen wäre, sie zu etwas zu zwingen. Wir wußten nicht, welche Wirkung die Transplante auf den normalen weiblichen Zyklus haben würden. Auf meinen Vorschlag hin wurde mein Transplant in der Mitte des Zyklus angesetzt, und es kam interessanterweise nicht zu einer Ovulation. Als das Transplant größer wurde, traten bei mir Beschwerden auf, wie sie früher – heute allerdings nicht mehr – während der Schwangerschaft allgemein waren. Sobald sicher feststand, daß das Transplant angewachsen war, maßen wir ihn einen um den anderen Tag. Erst hatte ich dazu eine ganz sachliche Einstellung. Doch allmählich machte ich ein Getue, das mir gar nicht ähnlich sah und das meine wissenschaftlichen Kollegen offenbar überraschte. Es war mein Transplant, und ich konnte mich in allem, was ihn betraf, nicht mehr kühl verhalten. Wenn die Schlinge, in der er hing, zufällig gegen einen Gegenstand stieß, hatte ich keine Ruhe, bis ich mich überzeugt hatte, ob es ihm gutging, und es war ihm auch nie etwas geschehen. Nach etwa sieben Wochen, in denen er kräftig gewachsen war, fing er an, sich selbständig zu bewegen. Zu diesem Zeitpunkt war meine eigene Bewegungsfreiheit schon stark eingeschränkt, auch wenn ich den Weg zur Bibliothek immer noch langsam zurücklegen konnte. An die Bibliothek angeschlossen war ein Sonnenraum voller interessanter und schöner Pflanzen, von denen einige Versuchszwecken dienten. Hier legte ich mich mit meinem Transplant hin und befreite ihn aus der Schlinge, woraufhin er sich zu bewegen begann. Ständig kamen und gingen Kollegen, und sehr oft brachten sie mir etwas Gutes zu essen oder zu trinken, und ich war der Meinung, das brauche ich auch. Ich habe Dutzende der
veredelten Mangos gegessen! Auch trank ich doppelt soviel wie sonst, und doch hatte ich immer noch Durst. Ich sehnte mich danach zu schwimmen, aber mit dem Transplant war es schon schwierig, ein Wannenbad zu nehmen. Manchmal saß ich da und tauchte Hände und Füße in Wasser, aber das erquickte mich nur für kurze Zeit und war nicht richtig das, was ich mir wünschte. Silis kam und sprach mit mir über Pete, und Pete kam und sprach über Silis. Ich fühlte mich immer weniger wohl, und ich war unglücklich, daß ich immer weniger Nutzen von der Bibliothek machen konnte, aber trotzdem überwand ich nach und nach die mir widerfahrene Demütigung. Ich dachte endlos über mein Transplant nach, oder vielmehr ich träumte eher, als daß ich nachdachte. Ohne einen Namen kam ich dabei nicht aus, und so nannte ich ihn völlig unpassend Ariel. Ich hatte das Gefühl, er sei Teil von mir, genau so, wie Ariel und Caliban Teil von Prospero sind, wie es für gewöhnlich im Sturm dargestellt wird, jenem Drama von Shakespeare, das so besonders geeignet für eine moderne Behandlung aller Effekte ist. Zufällig hatte ich es erst vor kurzem gesehen. Als ich Ariel zwei Monate lang getragen hatte, zeigte er ein beträchtliches Maß von Leben. Er war sehr flexibel, es war nicht die geringste Verhärtung bei ihm eingetreten, und er begann, Scheinfüßchen auszustrecken. Bald gelang es ihm, sich umzudrehen, so daß er sich fester an mich anschmiegen konnte. Er drückte sich gegen meinen Oberschenkel, und die Scheinfüßchen tasteten sich auf die Mittellinie meines Körpers zu. Ich stellte fest, daß meine Brüste etwas anschwollen und die Brustwarzen dunkler wurden. Pete meinte, etwas Ähnliches sei auch mit den Hündinnen geschehen, doch Milch habe sich nicht gebildet. Er war überzeugt, mein Transplant sei aktiver als die anderen. Wir
überlegten, welche Verhaltensmuster oder Vorlieben er am besten von mir übernehmen könne. Ich schlug vor, mir Musik anzuhören. Das mochte zu einem interessanten Ergebnis führen. Zweifellos wird Musik mit dem Ohr aufgenommen, aber das ist längst nicht alles. Der taube Beethoven hörte seine Musik, während er sie schrieb. Ebenso war es zwei Jahrhunderte später mit dem fremden Genie Battacharya Drei. Wir entschieden außerdem, ich solle mich intensiv mit der Zahlentheorie beschäftigen. Ich war dafür, mir Bilder anzusehen, und in der Folge versuchte ich, mir sowohl figürliche als auch abstrakte Kunst verschiedener Schulen aus Gegenwart und Vergangenheit so tief wie möglich einzuprägen. In den letzten zwei Monaten tat ich all das mit wachsender Konzentration. Ich trug Ariel beinahe vier Monate. Schon gegen Ende des dritten Monats war er voll ausgewachsen, und Pete wollte ihn von mir trennen. Aber irgendwie war er – wie kann ich es nur ausdrücken? – Fleisch von meinem Fleisch geworden. Anfangs hatte ich es mir so vorgestellt, daß man das Transplant als eine Art Tumor empfinden und froh und erleichtert sein würde, wenn man ihn wieder loswurde. Aber so war es ganz und gar nicht. Inzwischen war Ariel fast einen Meter lang geworden. Er liebte es, sich an meinem Körper entlangzustrecken – er reichte jetzt schon bis zu meinem Mund – und mir zart ein Scheinfüßchen zwischen die Lippen und an andere Stellen zu schieben. Als mich die Wirkung, die das auf mich hatte, zu beunruhigen begann, sprach ich mit Silis darüber. Sie lachte nur und sagte, ich solle mir keine Gedanken machen. Heute, wo ich die Erinnerungen an die Väter meiner späteren Kinder habe, spüre ich immer noch auf meiner Zunge das eigentümliche Gefühl und den Geschmack von Ariels Scheinfüßchen.
Immer noch hatte ich das merkwürdige Verlangen zu schwimmen. Vielleicht hätte ich es in einer anderen Umgebung versucht. Aber hier kam ich mir töricht vor. Doch mir war bekannt, daß alle Versuchstiere das Bedürfnis nach Wasser gehabt hatten. Ich sprach noch einmal mit der Labrador-Hündin darüber, einem schönen, goldenen Geschöpf mit warmen Augen, und einer der Schakalinnen, bei der Gedächtnis und Fähigkeit zur Kommunikation ebenso gut waren. Beide hatten sich gewünscht, richtig in Wasser einzutauchen, aber das ihnen gewährte Bad war zu seicht. Ich merkte mir vor, daß diesem Phänomen weiter nachgegangen werden müsse. Das Verbindungsglied zwischen dem Transplant und mir wurde nun dünner. Es war kaum noch mehr als ein kurzer Stengel, und von Tag zu Tag zog es sich mehr zusammen, und Ariels Schlängelbewegungen zerrten daran. Eines Morgens war es ganz verschwunden. Übrig blieb nur eine kleine wunde Stelle auf meinem Oberschenkel, die schnell heilte. Etwa eine Stunde lang konnte ich mich nicht dazu aufraffen, Pete darüber zu informieren. Ich war über die Trennung durchaus nicht erleichtert; mir war, als könne ich es nicht ertragen. Ich weinte sogar ein bißchen. Dann kam Silis herein. Sie half mir auf die Füße, denn seit etwa vierzehn Tagen hatte ich nicht mehr gehen können, und ich fühlte mich schwach. Ich hatte die ganze Zeit auf einer breiten, niedrigen Couch gelegen, wo ich alles in Reichweite hatte. Ich sah auf Ariel herab. Er bewegte sich zweifelnd, streckte fünf Scheinfüßchen aus und machte es sich dann an der Stelle der Couch bequem, wo mein Körper eben noch geruht hatte. Nun trat Pete ein, dann noch zwei oder drei andere aus seiner Gruppe. Sie sagten, sie würden auf Ariel aufpassen. Ein bißchen Bewegung werde mir nur guttun. Aber ich brachte es nicht übers Herz, weit wegzugehen. Mir war immer noch weinerlich zumute. Meine Brüste schmerzten,
aber Milch hatte ich nicht. Als ich zurückkam, war der arme Ariel offensichtlich aufgeregt und ängstlich. Ich kniete mich nieder, und sofort schlängelte er sich und rollte auf mich zu. Die nächsten zwei oder drei Tage waren schmerzlich. Auch wenn das ganz unvernünftig war, wie mir jeder versicherte, fühlte ich mich schuldig. Aber ich verbrachte sehr viel Zeit mit Ariel. Die musikalische Erziehung war ein überwältigender Erfolg. Wenn ich nicht da war und Ariel unruhig wurde, brauchte nur irgendwer die Musik einzuschalten, die ich mir angehört hatte. Das hatte sofort eine beruhigende Wirkung, und es schien ihm auch Freude zu machen. Wie? Diese Wesen, sowohl als Transplante wie auch auf ihrer eigenen Welt, hatten kein spezifisches Hörorgan. Das war ein noch seltsamerer Fall von Ganzheitswahrnehmung. Musik machte auf Hunde- und Schweine-Transplante überhaupt keinen Eindruck, obwohl wir vermuteten, das eine oder andere von den Pferde- und RinderTransplanten reagiere darauf. Doch keines der Transplante machte sich etwas aus Bildern, so nahe man sie ihnen auch hinhielt. Ich fragte mich, ob es möglich sei, daß die Musik als direkte Vibration aufgenommen wurde (ich hatte früher bereits festgestellt, daß die Transplante die Vibrationen von Zentrifugen und ähnlichen Maschinen wahrnahmen, auch wenn diese sich in einiger Entfernung befanden), aber zu einer Wertschätzung der Musik war es erst durch mich gekommen. Außerdem stellte ich fest, daß Ariel in seiner zerkleinerten Nahrung den gleichen Geschmack wie ich zeigte. Er hatte gern viel Obst, vor allem Mangos. Ich gab mir viel Mühe mit Kommunikationsversuchen und probierte verschiedene Techniken aus, aber ohne allen Erfolg. Eins war klar. Ariel und ich erkannten einander auch in Anwesenheit einer ganzen Reihe anderer Exemplare unserer eigenen Spezies sofort. Ich konnte nicht erklären, woran ich Ariel erkannte, aber ich irrte mich nie. Eines Tages dachte ich
gerade darüber nach. Ich lag auf dem Fußboden neben Ariel, der noch größer und jetzt auch ein wenig härter geworden war. Wir befanden uns an meinem alten Zufluchtsort, dem Sonnenraum neben der Bibliothek. (Wenn ich den Duft bestimmter Blumen rieche, kommt mir sofort eine lebhafte Erinnerung an all das.) Ariel streckte ein Scheinfüßchen aus und berührte damit meine Handfläche. Kurze Zeit darauf merkte ich, daß der Druck mal stärker, mal schwächer wurde, und ein paar Sekunden später fragte ich mich, ob das ein Rhythmus sein könne – und wenn, welcher? Vorsichtig, ganz vorsichtig schrieb ich mit der anderen Hand mit. Und es war – die Kommunikation einer Zahlenfolge! Ich war außer mir vor Aufregung! Ich rief die anderen herbei. Wir wiederholten unsere Rhythmen. Ich gab den Druck zurück. Es ging langsam, aber es war wundervoll. Es war ein Anfang. Welche Möglichkeiten eröffneten sich da! Es ging weit über alles hinaus, was wir je bei terrestrischen Säugetieren, von uns selbst abgesehen, erreicht hatten. Aber was war das? Oder war es darauf zurückzuführen, daß Ariel und ich eine untrennbare Einheit bildeten? Es wurde eine Woche der Konferenzen, die ich niemals vergessen werde. Als die Neuigkeit sich herumgesprochen hatte, kamen alle angerannt. Das ging nicht nur die Immunologen an. Wir diskutierten die Angelegenheit von allen Gesichtspunkten aus. Wir schmiedeten Pläne für Transplantationen an einer großen Zahl von menschlichen und martianischen Freiwilligen. Dann sprachen wir über die Wiedereinführung von ausgebildeten Wesen auf Ariels Heimatwelt. Aber – wäre das Einmischung? Die philosophischen und neotheologischen Argumente explodierten nur so im Raume. Ich kam mir unsicher und ganz als Anfängerin vor. Und dann – dann starb Ariel.
Es gab kein warnendes Zeichen. Es schien alles in Ordnung zu sein. Wir wußten auch nichts über die normale Lebensspanne dieser Wesen. Aber eines Tages merkte ich, daß Ariel völlig bewegungslos dalag. Ich rief Pete. Wir beobachteten ihn. Ariels Außenhaut wurde auf schreckliche Weise weich. Dann löste sich Ariel vor unseren Augen auf, wurde zu einer undifferenzierten Substanz. Ariel, Fleisch von meinem Fleisch. Wir fanden keine Antwort. Konnte Ariel so viel von mir übernommen haben, daß ihm eine von mir losgelöste Existenz nicht möglich war? Aber er war doch nach der Trennung so voller Leben gewesen! Es war nicht so, als sei ihm der Hals gebrochen worden, wie es bei den Hunde-Transplanten vorkam. Die biochemischen Untersuchungen des Materials, das einmal Ariel gewesen war, erwiesen sich als unbefriedigend. Nur eins stand fest: Ich selbst war völlig unverändert. Fast hatte ich gehofft, es hätte mich verändert. So tief war mein Leid. Eine Zeitlang hielten mich die Konferenzen mit all den Diskussionen, der Aufregung, der Enttäuschung, den Spekulationen und Plänen in Atem. Man sprach über weitere menschliche Wirte und neue Experimente; an Freiwilligen würde es nicht fehlen. Und dabei hatte ich die ganze Zeit das Gefühl, ich müsse sie davon abbringen, sie dürften es nicht noch einmal zulassen, daß jemand so unglücklich wurde. Aber ich konnte es ihnen nicht sagen. Ich fühlte mich wie betäubt. Und dann hörte ich von einer Expedition, die ganz interessant sein mochte. Die Mitglieder waren teils Terraner, teils Marsianer, und das war an sich schon etwas, das ich gern einmal mitgemacht hätte. Auch versprach die Reise ein gewisses Maß an Gefahr und Anstrengung. Und auch das wünschte ich mir. Silis und Pete halfen mir bei meinen Vorbereitungen.
V
Es gab mehr Gefahren auf dieser Expedition, als ich erwartet hatte, viel mehr. Es wurde daraus die katastrophal endende Expedition nach Jones 97. Sie werden sich daran erinnern. Ich gehörte zu denen, die noch Glück hatten. Eigentlich erinnere ich mich nur an sehr wenig: In meiner Erinnerung ist alles wie ein Traum. Ich habe nur noch einen vagen Eindruck von der dunklen jonesischen Landschaft, schimmernd und zerbröckelnd. Der Knall, der mir für ein paar Tage das Gehör raubte, existiert in meinem Gedächtnis nicht. Meine Erinnerung setzt da wieder ein, wo Vly sich um mich kümmerte und mir alles an Trost und Zuneigung kommunizierte, was in ihm war. Er war der marsianische Kommunikationsexperte, mein Fachkollege auf dieser Expedition. Wie Sie wissen, sprechen Marsianer selten, eigentlich nur dann, wenn sie in eine für sie außergewöhnliche Situation geraten. Sie kommunizieren mit ihren hochempfindlichen Tastsinnen. Diese entwickelten sich, als sie viele Jahrtausende in unterirdischer Dunkelheit lebten. Später lernten sie, sich über eine gewisse Entfernung hinweg zu verständigen, und ihr Sehvermögen besserte sich. Aber die taktile Kommunikation geht bei ihnen schneller und wird als naturgegeben empfunden. Der liebe Vly kommunizierte über meinen ganzen Körper mit seiner Zunge, seinen Fingern, seinen Zehen und seinen sexuellen Organen. Ich war ihm so dankbar; es war sehr, sehr freundlich von ihm. Man muß sich nämlich vor Augen halten, daß die Marsianer bei einer gemischten Expedition niemals den Wunsch haben, außer zu rein technischen oder
wissenschaftlichen Zwecken mit den Menschen zu kommunizieren. Mit einem Gefühl der Dankbarkeit für Vly, mit einem Nachlassen der Spannung, so erwachte ich allmählich wieder zum Bewußtsein. Aber war es nichts als Dankbarkeit? Konnte es etwas weniger Geistiges, etwas Körperlicheres gewesen sein? Das ist schwer zu entscheiden. Ich konnte kaum atmen; jeder Herzschlag war ein Sieg. Als ich meine Umgebung endlich wieder klar erkannte, überkam mich ein ganz außerordentliches Wohlbefinden, das nicht im geringsten von den Schmerzen beeinträchtigt wurde, die sich anmeldeten. Beinahe jeder meiner Muskeln war verzerrt, zwei oder drei Knochen waren gebrochen. Außerdem war ich taub und hätte mit meinen Mitmenschen gar nicht kommunizieren können. Wie Sie sich erinnern werden, starben die meisten der Terraner bei der Jones-Expedition. Die Marsianer retteten diejenigen, die überlebt hatten. Ihre zähen, schwammartigen Schalen waren der Katastrophe besser gewachsen als das mit Fleisch und Haut bedeckte spröde Knochengerüst der Menschen, und alle taktilen Zonen waren sehr gut geschützt. Wir Menschen hatten, da diese Welt bereits auf ihre Sicherheit hin untersucht worden war, keine ausreichenden Vorsichtsmaßnahmen getroffen. Einen schlimmeren Fehler hätten wir gar nicht begehen können. Man rechnet nicht mit einem Verlust von vier Fünfteln des Personals bei einer Expedition. Zu den Toten gehörte auch von Braun. Anfangs faßte ich es einfach nicht. Olga, die ich später so gut kennenlernen sollte, ging es ebenso. Es war ihre erste Expedition, und als Botanikern war sie enttäuscht gewesen. Die flechtenähnlichen Gewächse auf Jones 97 waren langweilig und schön erst recht nicht; keine ihrer Eigenschaften war biologisch oder chemisch von irgendwelchem Interesse. Olga hatte sich auf die Suche nach mikroskopisch kleinen Gewächsen gemacht, und sie blieb
verschont, weil sie gerade auf dem Gesicht lag und in eine Spalte spähte. Die Marsianer sammelten sie ebenso wie mich in bewußtlosem Zustand auf und schleppten uns ins Schiff zurück. Natürlich nehmen die Marsianer ihre Schutzschilde ab, wenn sie kommunizieren wollen. Das war immer ein klein wenig peinlich, weil sie uns in mancher Beziehung so ähnlich sind, aber ihre unbedeckten Körperteile unterscheiden sich von den unseren. Ich erinnere mich, daß Olga blutrot wurde, als sie zum ersten Mal zwei Marsianer in voller Kommunikation erblickte. Sie fragte: »Was machen die denn da?« »Sie kommunizieren – sie sprechen miteinander«, erklärte ich. »Ja, sie verständigen sich mit Hilfe ihrer sexuellen Organe. Du weißt doch, daß sie alle zweigeschlechtlich sind. Sie nehmen nur zu bestimmten Zeiten monosexuelle Eigenschaften an. Es ist wirklich nichts Unanständiges dabei, Olga, mein Mädchen.« »Das will ich hoffen!« schnaufte Olga. Ich hatte Geduld mit ihr, denn schließlich war es ihre erste Expedition. Also erläuterte ich ihr, daß die unbedeckten, beweglichen sexuellen Organe, auf die Olga kaum einen Blick zu werfen gewagt hatte, besonders empfindlich waren, was ja nicht unnatürlich ist, und feinste Bedeutungsunterschiede kommunizieren konnten. Ich selbst kommunizierte mit diesen Organen, wenn es auf feinere Bedeutungsunterschiede ankam. Nein, das fand ich gar nicht abstoßend, eine solche Einstellung wäre höchst unethisch gewesen. »Anfangs waren sie ganz entsetzt über uns, weißt du«, sagte ich zu Olga, »weil wir das bedecken, was doch unbedeckt bleiben sollte. Sie konnten sich nicht daran gewöhnen. Sie dachten, wir hätten ein gräßliches Tabu gegen die Kommunikation. Sobald wir in ein freundschaftlicheres Verhältnis zueinander kamen – was ziemlich früh geschah, lange bevor wir in die Galaxis
aufbrachen –, fingen sie an, uns Predigten über dies Thema zu halten. Den ersten Forschern zogen sie die Hosen herunter, und dann fragten sie sie teilnahmsvoll, ob sie sich jetzt nicht glücklicher fühlten.« Olga warf den Kopf in den Nacken und lachte ebenso aus ganzem Herzen, wie sie vorher errötet war. »Finden sie uns immer noch gräßlich?« wollte sie wissen. Ich antwortete, ja, ich glaubte schon, aber sie hätten sich an uns gewöhnt. An unsere komischen Gewohnheiten und Kleider, an die merkwürdige Monosexualität und die Tatsache, daß wir alle ein bißchen zu groß waren. Die meisten Marsianer waren nicht viel größer als einen Meter zwanzig, und sehr schwer wurden sie nie. Ganz bestimmt fanden sie uns nicht attraktiv. Die bloße Tatsache, daß wir ihnen etwas ähnlich sahen, aber ihnen durch und durch fremd waren, sprach gegen uns. Der instinktive Abscheu konnte nur durch einen bewußten Akt der Empathie überwunden werden, und das war nur den intelligentesten Personen möglich. Für die Marsianer war es eine harte Arbeit gewesen, die schweren Körper von Olga und mir und dem armen Zeke, der später starb, zurück ins Schiff zu bringen. Auch einige von ihnen waren verletzt worden, aber das hatte sie nicht davon abgehalten, bei jedem von uns, den sie finden konnten, einen Rettungsversuch zu machen. (Einige waren in Fetten gerissen worden.) Vly war der einzige der Marsianer, den ich mit einigem Recht als Freund bezeichnen konnte. Ich kannte die anderen recht gut, aber bei weitem nicht so gut wie Vly. Da sie so selten in Worten sprechen und das unter normalen Umständen auch für unpassend halten, fühlte ich mich sehr geschmeichelt und geehrt, als Vly mir in der Lautsprache seinen Namen nannte. (Ich könnte ebensogut »ihren Namen« statt »seinen Namen« sagen, aber aus Gründen,
über die ich noch berichten werde, scheint es mir richtiger, von Vly ständig als von »ihm« zu sprechen.) Er war nicht nur Kommunikationsexperte, er war auch ein brillanter Mathematiker und ein Weinbauer. Die langen, gestreiften Hülsen der entsprechenden marsianischen Pflanze sehen zwar ganz und gar nicht wie Trauben aus, aber das aus ihnen gewonnene Erzeugnis schmeckt tatsächlich wie bester Wein. Als er nun seinen Namen genannt und begonnen hatte, mich – mit einiger Anstrengung – Mary zu nennen, hatte ich das Gefühl, es sei eine Barriere gefallen. Ich war daher sehr froh, als ich im Schiff wieder zu vollem Bewußtsein erwachte (wir waren inzwischen gestartet), daß Vly da war und mit mir kommunizierte. Anfangs wünschte ich mir, er könne die ganze Zeit bei mir sein. Wenn er mich allein ließ, weil er sich um verschiedene Navigationsprobleme zu kümmern hatte (im Schiff war allerhand beschädigt, und der Start war sehr schwierig gewesen), war ich unglücklich und ruhelos. Ich wachte aus dem Schlaf auf und jammerte nach ihm. Nach einiger Zeit merkte ich, daß ich halb ausgezogen war. Der Atmosphäreanzug war von meinem gebrochenen Arm, dem gebrochenen Knochen in meinem Fuß und von allen Stellen meines Körpers, wo ich äußere Verletzungen hatte, losgeschnitten worden. Es tat mir ein bißchen weh, wenn Vly mit mir kommunizierte, obwohl er ein solches Leichtgewicht war, aber ich wollte das lieber ertragen als ohne ihn sein. Ich war nicht ganz ich selbst, und ich brauchte den Kontakt. Sicher hätte es Olga geholfen, wenn man mit ihr in gleicher Weise verfahren wäre, aber sie hatte mit den Marsianern nur auf dem Gebiet der Biologie kommuniziert. Es hätte ihr auch gar nicht gepaßt, wenn ein Marsianer sie ausgezogen hätte. Die Marsianer hielten es natürlich für am besten, mit den Teilen des menschlichen Körpers Kontakt aufzunehmen, die am empfindlichsten gegen Berührungen waren. Im allgemeinen
respektierten sie unsere Tabus, aber nicht in einem Notfall wie diesem. Vor der Katastrophe war ich die einzige gewesen, die gern mit Marsianern kommunizierte. Doch selbstverständlich gab es auch zwischen den anderen menschlichen und marsianischen Expeditionsteilnehmern eine gewisse Verständigung, die am leichtesten in mathematischen Symbolen und besonders zwischen zwei Mathematikern zustande kam. Von Braun selbst hatte immer sehr wenig Geschick dafür. Und einigen Marsianern war anzumerken, daß sie nicht einmal mit mir gern kommunizierten. Aber bei Vly wurde die Tatsache, daß Marsianer die Terraner im allgemeinen ziemlich abstoßend finden, von der reinen wissenschaftlichen Neugier und der Empathie mit einer Kollegin überwunden. Nun verging ein’ Tag nach dem anderen, und ich lernte es langsam wieder, zu atmen und zu hören und mich zu bewegen, wenn auch unter Schmerzen und Mühen. Ich machte mir klar, was geschehen war. Meine Freunde und Kollegen waren tot, unsere Daten verlorengegangen. Aber das Mitgefühl der Marsianer spendete mir Trost. Sie waren über das katastrophale Ende der Expedition ebenso entsetzt und unglücklich wie wir und ebenso bestrebt, daraus für die Zukunft zu lernen, aber der Tod von Terranern bedeutete ihnen nicht soviel. Olga erholte sich eher als ich. Sie war bei Zeke, als er an seinen vielfältigen Verletzungen starb. Vor seinem Ende brachten die Marsianer es noch fertig, ihm Trost und Mitgefühl zu kommunizieren, und Olga meinte, das habe es ihm leichter gemacht. Wir legten seinen Körper in die Tiefkühlkammer; vielleicht könnte eine Obduktion irgendwelche Einsichten ergeben. Unter uns war kein Physiologe. Und wir alle wußten, daß jedes größere Objekt, das durch die Schleusen in den Raum gestoßen wird, die grauenhafte Tendenz zeigt, um das Schiff zu kreisen.
Immer, wenn Olga zu mir kam – sie ging langsam, weil ihr Rücken schlimm verletzt war –, deckte sie mich zu. Ich sagte: »Denk dir nichts dabei. Die Marsianer möchten die Zone für die taktile Kommunikation gern so groß wie möglich haben.« »Das wäre mir unangenehm«, meinte sie. »Du bist auch kein Kommunikationsmädchen«, erwiderte ich. »Ich darf mich durch nichts behindern lassen, und wenn wir uns mit richtigen Fragen und Antworten unterhalten wollen, ist es notwendig, daß ich ihnen auf halbem Weg entgegenkomme.« »Du versuchst herauszufinden, was im einzelnen geschehen ist, als auf Jones 97 alles zerstört wurde, nicht wahr? Geht darum die ganze Kommunikation?« fragte Olga. Dann erkundigte sie sich: »Ist Vly männlich oder weiblich oder beides zusammen?« »Er muß wohl beides sein«, antwortete ich. »Es sei denn, der Schock über das Unglück hat monosexuelle Eigenschaften hervorgerufen, doch davon habe ich noch nichts gemerkt.« Mir schoß es durch den Kopf, daß die Möglichkeit bestand. Aus meinen Studien der marsianischen Geschichte wußte ich, daß ein schwerer Schock eine ganze Gruppe für ziemlich lange Zeit in das eine oder andere Geschlecht treiben konnte. Doch erholten sich die Betroffenen immer wieder. Ich dachte aber nicht weiter darüber nach, weil wir uns ganz darauf konzentrierten, die Ereignisse auf Jones 97 langsam und methodisch zu rekonstruieren. Wir waren zu dem Schluß gekommen, daß es sich nicht um eine »natürliche« Katastrophe gehandelt haben konnte, aber wir waren uns nicht im klaren darüber, was sie hervorgerufen hatte. Lag so etwas in der Macht der Fauna, die wir beobachtet und mit der zu kommunizieren wir versucht hatten, oder war uns einfach die Existenz einer völlig anderen Lebensform entgangen? Sie mochte nicht auf dieser Welt selbst, sondern innerhalb des
Systems leben. Schrittweise gelangten die Marsianer und ich zu dem Schluß, die Antwort müsse irgendwo auf dieser Linie zu finden sein, und nur weitere Expeditionen würden volle Klarheit gewinnen. Wir überlegten uns, wie das möglich sei, suchten und fanden Präzedenzfälle, und währenddessen fanden die Marsianer und Olga und ich in einer herzerwärmenden solaren Loyalität zueinander. Es sah aus, als liege noch eine lange Reise vor uns, da wichtige Ausrüstungsteile des Schiffes zerstört waren und wir nicht in vollständigen Zeit-Blackout gehen konnten. Es war uns möglich, unsere grundlegenden Lebensfunktionen so herabzusetzen, daß wir uns keine Sorgen wegen der Nahrung, der Atmosphäre und so weiter zu machen brauchten und das Zeitproblem teilweise gelöst war, aber wir verbrauchten einiges an Kraft und Energie für unsere Berechnungen und Pläne. Nach dem ersten wundervollen Gefühl, ins Leben zurückzukehren, ging es mir wieder schlechter, und es stand nicht genau fest, was die Ursache dafür war. Ich machte den Schock dafür verantwortlich. Einmal fragte ich Vly, ob auch die Marsianer alle unter Schockeinwirkung gelitten hätten. Er antwortete, ja, und die meisten hätten einen oder zwei Tage später entdeckt, daß sie sich in einer aktiven Phase der Monosexualität befänden. Was wir miteinander sprachen, übersetze ich im folgenden so gut ich kann ins Terranische. Ich hatte mich inzwischen so vollständig in marsianische Vorstellungen und Gefühle hineingedacht, daß die Kommunikation leicht und beinahe herzlich war. Meistens verständigten wir uns Gesicht an Gesicht und mit den Fingerspitzen. »Sieh uns an«, forderte Vly mich auf, und ich sah sie mir an. Jetzt, wo er mich darauf aufmerksam gemacht hatte, erkannte ich ganz deutlich, daß sich die Marsianer sogar in ihren einheitlichen, praktischen Schutzanzügen voneinander unterschieden. Man sah es auch an ihren Gesichtern. Aber ihre
sexuellen Organe hatten sich nur wenig verändert, was sich leicht erklären ließ, wenn man bedachte, daß sie sie viel öfter zur Kommunikation als zum Geschlechtsverkehr benutzten. »Und was bist du, Vly?« fragte ich. »Nein, sag nichts, laß mich raten. Du bist ein Mann.« Das sei richtig, erwiderte er, und dann setzte er hinzu, er hoffe, daß er während der ersten Phase der Kommunikation nicht versehentlich ein Ei von mir aktiviert habe. »Du warst in tiefer Bewußtlosigkeit«, erklärte er, »und ich mußte dir so nahe wie möglich kommen.« Das interessierte mich außerordentlich, und ich freue mich, ehrlich sagen zu können, daß das meine erste Reaktion war. »Weißt du sicher, daß so etwas geschehen kann?« fragte ich. »Es kommt selten vor«, sagte er. »Aber gelegentlich ist es schon zwischen Menschen und Marsianern wie auch zwischen unseren Znydgis und einem eurer Tiere – Nasenbären nennt man sie, glaube ich – passiert. Die Nachkommen waren haploid.« »Ich verstehe nicht, wie – « begann ich. »Ich auch nicht«, antwortete er. »Aber ich bin auch kein Genetiker. Glaubst du, es ist passiert? Und wenn ja, würde es für dich Unannehmlichkeiten bedeuten?« Mit einem marsianischen Gesicht läßt sich Besorgtheit schlecht ausdrücken, aber er sprach die Laute »Mary, Mary« mit einem Gefühl aus, das – nun, das vielleicht alle wissenschaftlichen Kollegen füreinander empfinden sollten, aber selten empfinden. Eine Minute oder zwei sagte ich gar nichts. Doch mir wurden einige Dinge klar, die mich bisher verwirrt hatten. Jetzt geriet ich doch in Unruhe über die Folgen, die für mich daraus entstanden. Vly spürte es und reagierte sofort mit der Versicherung, es werde alles in Ordnung kommen. So klar sah ich das nicht. Hätten wir uns auf Terra befunden, dann konnte ohne Schwierigkeiten etwas gegen eine unerwünschte Schwangerschaft (oder, wie in
diesem Fall, eine Aktivation) unternommen werden, wenn so etwas auch selten vorkam. Aber wir befanden uns in einem Raumschiff. Sehr schnell überdachte ich die ganze Geschichte von verschiedenen Standpunkten aus. Wenn aus dieser Aktivation ein lebendes haploides Kind hervorging, wie würde es sein? Wahrscheinlich klein, weiblich, unfruchtbar. Das Gehirn? Der Körper? Welches Recht hatte ich, ein solches Wesen zu schaffen? Ich wußte, daß es auf keinen Fall normal sein würde. Aber konnte es glücklich sein? Konnte es lieben? Geliebt werden? Von mir? Zweifellos ließ sich die Schwangerschaft unterbrechen, nicht wie üblich ohne jede Gefahr und mit völliger Sicherheit, aber doch irgendwie. Aber hieß das nicht, ein interessantes und vielleicht wertvolles Experiment abzubrechen? Ein haploides Wesen. Die Aktivation würde ein Kind erzeugen, das keines der Gene des sogenannten Vaters hatte, dafür aber eine Verdoppelung der mütterlichen Gene, so daß rezessive Erbanlagen aus ihren dunklen somatischen oder psychischen Ecken hervorkriechen und verrückt spielen konnten. Sollte ich das zulassen? Nein, das mußte verhindert werden, und zwar sofort! Ich sann über Mittel und Wege nach, und doch – Plötzlich fiel mir ein, daß Olga darüber ganz aus der Fassung geraten würde, und zum Glück fand ich das so komisch, daß es mich ablenkte. Ich fühlte Vlys Fingerspitzen, aber im Augenblick konnte ich nicht mit ihm kommunizieren. Das beunruhigte ihn sehr. Er versuchte es mit der Zunge, und ich begann zu lachen, was nach marsianischen Begriffen sehr ungezogen war. Der arme Vly suchte nach einer anderen taktilen Zone, entblößte meine Brüste und berührte sie mit Zunge und Fingern. Das war so terranisch – und doch im Grunde so unterranisch –, daß ich eine ganze Weile brauchte, bis ich wieder zu einer ernsthaften Unterhaltung fähig war.
Mittlerweile war ihm der Verdacht gekommen, er habe irgend etwas getan – er wußte allerdings nicht, wie oder warum –, das die Kommunikation völlig blockierte, und darüber regte er sich so auf, daß jetzt er Schwierigkeiten hatte, sich verständlich zu machen. Schließlich erfaßte ich, daß er mich zu fragen versuchte, ob ich das aktivierte Ei abstoßen könne? Sein Wissen über terranische Physiologie war nicht groß, aber schließlich war es ja auch nicht sein Fachgebiet. »Nein«, sagte ich, »es soll sich entwickeln. Es wird interessant sein.« Denn mir war eingefallen, daß eine so lange Reise ohne Zeit-Blackout ermüdend werden würde. Ehe ich noch wußte, wie mir geschah, breitete sich ein Glücksgefühl in mir aus. Das wollte ich ihm so schnell wie möglich mitteilen. Ich faßte nach seinem sexuellen Organ und begann darauf zu kommunizieren. Es kam mir sehr merkwürdig vor, daß es in seiner nicht-kommunikatorischen Funktion eine Wirkung auf eine Terranerin haben konnte. Wie richtig hatte ich Olga doch eingeschätzt! Sie geriet ganz außer sich. Erst als ich ihr auseinandersetzte, die Reise werde wahrscheinlich Jahre dauern, auch wenn es uns gelang, die Zeit zu verzögern, erschien ihr der Gedanke an ein neues Wesen langsam erfreulich. Aber sie erkundigte sich ängstlich bei mir, welche Marsianer männlich und welche weiblich seien, und eine Zeitlang mied sie die männlichen Marsianer, was recht dumm war. Vergeblich setzte ich ihr auseinander, bei mir handele es sich um einen äußerst seltenen Zufall. Kein männlicher Marsianer werde jemals absichtlich eine Terranerin schwängern. Die Tatsache, daß Vly und ich uns ehrlich gern hatten, war etwas ganz Ungewöhnliches. Doch unsere gemeinsame Arbeit auf dem gleichen Fachgebiet hatte zu einer Empathie geführt, die den üblichen gegenseitigen Abscheu überwand.
Vielleicht wäre es mir möglich gewesen, meine Körperfunktionen und damit auch die Entwicklung des Embryos zu verlangsamen. Bei ordnungsgemäßem ZeitBlackout kann das geschehen. Silis gelang es bei einer ihrer Expeditionen. Manchmal frage ich mich, wie alt Silis sein würde, wenn man ihr Alter in Kalenderjahren nachrechnete. Aber das tut man natürlich nie. Jedenfalls konnte ich es unter den gegebenen Umständen nicht tun. Die Geburt war nicht allzu schwer, obwohl sie ohne die üblichen terranischen Sicherheitsmaßnahmen stattfand. Aber ich hatte natürlich einiges theoretisches Wissen über Muskelentspannung, und Viola war als Haploid beträchtlich kleiner als ein normales Kind. Trotzdem war sie sehr gut proportioniert. Sie war selbstverständlich ganz terranisch, aber ich nannte sie Viola, weil ihr Name dem Vlys so nahe wie möglich kommen sollte. Marsianer verfügen über starke elterliche Gefühle, obwohl die daraus resultierenden Handlungen uns manchmal befremden, und Vly fühlte sich für Viola verantwortlich. Ich erzählte ihm, Viola bedeute nicht nur eine reizende, süßduftende Blume und ein Musikinstrument, sondern die Viola komme auch so nahe an eine bisexuelle Person heran, wie es auf der Erde nur möglich sei. Doch als ich versuchte, ihm die Geschichte von der Zwölften Nacht zu erzählen, war ihm alles völlig unverständlich, und er fand es wohl mehr als nur ein bißchen unanständig. Mir machte es nichts aus. Mein kleiner Liebling bezauberte mich und bald auch Olga. Es war nicht ganz einfach, sie zu nähren, denn anfangs war ihr Mund zu klein für meine Brustwarzen. Aber wir fanden eine Lösung. Die Reise ging immer weiter. Wir waren fast alle für die Geburt und einige Zeit danach zu normalem Bewußtsein und Metabolismus zurückgekehrt, aber das konnte nicht immer so weitergehen. Wir diskutierten darüber, Vly und ich ganz besonders. Wir
wußten nicht genau, wie sich die Verlangsamungstechnik auf Viola auswirken würde, und wir fühlten uns beide für dies winzige Leben voll und ganz verantwortlich. Aber zum Schluß entschieden wir, wir müßten es versuchen, denn sonst hätte zumindest ich im Normalzustand bleiben müssen, um mich Viola anzupassen. Und das bedeutete abgesehen von allem anderen ein Ernährungsproblem. Es ging alles gut. Aber bei einem so kleinen Kind war eine Verlangsamung des Metabolismus noch nie vorgenommen worden, und es stellte sich später heraus, daß die Wirkung bei ihr nicht voll eingesetzt hatte. Als wir unsere eigene Galaxis erreichten und der Zeit erlaubten, wieder normal abzulaufen, als wir dem Sonnensystem näherkamen und die Zeit sich beschleunigte, als wir uns endlich mit der Basis in Verbindung setzten, da stellten wir fest, daß Viola wuchs und wuchs. Sie entwickelte sich so schnell vom Säugling zum Kleinkind, als müsse ein angehaltener Prozeß nachgeholt werden. Ich fand es aufregend. Gewiß hatte ich dadurch nur wenig von dem animalischen Vergnügen, das eine Frau aus der verhältnismäßig langen Zeit gewinnt, die ein normales menschliches Kind im Säuglingsalter ist, und die ich bei meinen späteren Kindern erfuhr. Aber ich empfand diese schnelle, liebliche Entfaltung als etwas Schönes und Freudenvolles, vor allem, als es zweifellos feststand, daß das geringe Gehirnvolumen den Intelligenzquotienten nicht herabsetzte. Immer wieder ertappte ich mich bei dem Gedanken, daß ich die Schwangerschaft unterbrochen hatte, ohne auch nur ein Problem darin zu sehen, wäre diese einmalige Aktivation auf Terra oder im Solarsystem geschehen. Wie traurig wäre das gewesen!
Dies glückliche, kleine Wesen, nicht völlig menschlich und doch mein – ich erinnere mich so an die Zärtlichkeit, die ich für Viola empfand! Und seltsam – die gleiche Zärtlichkeit empfand ich auch für Vly.
VI
Danach ging ich auf eine verhältnismäßig kurze Reise, doch dabei stieß ich auf ein Kommunikationsproblem, das ich nicht völlig lösen konnte. Solche Probleme gibt es noch viele. Es handelte sich um eine jener globalen Intelligenzen, die nicht in körperliche Wesenheiten unterteilt war, aber ein paar sehr seltsame Parasiten hatte, mit denen wir ursprünglich kommunizieren wollten. Das hatte zu Schwierigkeiten geführt. Natürlich war das nicht der erste Fehler dieser Art, und manchmal ist es wirklich schwer zu entscheiden, welches die Wesenheit ist, die am ehesten den Durchbruch bringen wird. Es war in vieler Beziehung eine häßliche und unerfreuliche Welt mit einer einmalig tödlichen Atmosphäre. Ich war froh, als ich ihr den Rücken kehren konnte. Mit auf der Expedition war ein jüngerer Sohn meines Vaters, aber von einer anderen Mutter. Er hatte einen Unfall, der aus einem ganz kleinen Fehler in seiner Isolierung herrührte. Bis wir ihn ins Schiff zurückgebracht hatten, war er sehr krank. Eine Zeitlang dachten wir, wir könnten ihn nicht retten, so sehr wir uns auch Mühe gaben. Miß Hayes war Leiterin dieser Expedition, und sie hatte bisher noch nie einen Teilnehmer verloren. Er wäre gern der Vater eines Kindes von mir geworden, aber ich sagte nein; die Verwandtschaft war zu eng. Ich machte mir schon Sorgen genug um Viola, denn sie war zwar bildschön, doch von der Zartheit, die man mit Haploidismus verbindet. Zum Glück ist meine eigene Erbmasse im großen und ganzen gut, aber es gefiel mir gar nicht, daß sie zu plötzlich auftretenden Kopfschmerzen neigte. Der Gedanke, noch ein
Kind mit ähnlichen Genen in die Welt zu setzen, schreckte mich. Aber ich hätte gern ein Baby gehabt und ein Jahr damit verbracht, es zu stabilisieren. Ich hatte auch eine Menge Material, das ich in dieser Zeit hätte bearbeiten können. Der Vater, den ich schließlich wählte, war nur entfernt mit mir verwandt, ein gestandener Forscher, für den ich die größte Achtung hatte. Sie würden seinen Namen kennen. Vielleicht suchte ich ihn mir mit allzuviel Vernunft und Überlegung aus. Unser Sohn ist intelligent und gibt nicht den geringsten Anlaß zur Klage, und er mag so gut wie sein Vater werden. Meine Beziehungen sowohl zum Vater wie zum Sohn sind ausgezeichnet. Aber ich wünsche mir kein zweites Kind von ihm. Danach brannte ich darauf, mich der Expedition anzuschließen, die das Problem der Transplante lösen wollte. Erst vor kurzem hatte man herausgefunden, indem man alle alten Unterlagen der ersten Expedition noch einmal durchackerte, daß die Symbiose auf der Erde anders verlief als auf dem Ursprungsplaneten. Es schien wichtig zu sein, das aufzuklären. Pete Lorim sollte die Leitung übernehmen. Silis befand sich anderswo. Olga hatte die Absicht, sich uns anzuschließen, weil es auf dieser Welt interessante Wasserpflanzen zu geben schien. Sie meinte, es könne nützlich sein, wenn bei Experimenten auf der Erde soviel wie möglich von der Umgebung der Heimatwelt reproduziert werde. Aber dann fand auch sie jemanden, von dem sie sich aus ganzem Herzen ein Kind wünschte, und sie faßte den Entschluß, sich die Zeit dafür zu nehmen. Sie hatte jedoch eine Halbschwester, die ebenfalls eine sehr kompetente Botanikerin war und es vor allem liebte, Pflanzen von der einen Welt auf einer anderen zum Wachsen zu bringen, eine Tätigkeit, bei der man aus offensichtlichen Gründen sehr vorsichtig sein muß. Rima ist wie Olga manchmal mit Menschen unwirsch, aber mit
Pflanzen hat sie eine unglaubliche Geduld und die behutsamsten Hände. Da es sich um eine Welt mit erträglicher Atmosphäre handelte, hätte ich gern eins der Versuchstiere mitgenommen, eine Labrador-Hündin namens Daisy. Die liebe Daisy! Sie war eine Enkelin der Hündin, die zu den ersten Versuchstieren gehört hatte. Ob man ihr von den Transplanten »erzählt« hatte, ist ungewiß, aber bestimmt war ihr irgendein Wissen weitergegeben worden: Sie hatte instinktiv sehr viel Verständnis für sie. Daisy sah ihrer schönen Großmutter sehr ähnlich. Wir hatten gute Beziehungen zueinander aufgebaut, und ich glaubte, ihr einige Aspekte der Arbeit erklären zu können. Dann begegnete ich T’o M’Kasi wieder. Es war der reine Zufall. Ich beschwerte mich im Restaurant eines Flughafens über das Obst. Wenn irgendwo, dann müßte es doch an diesem Ort frisches Obst geben! T’o hörte mich und kam zu mir herüber. Ich sah ihn vor den Blumen auf der Terrasse, und zum Glück für den Koch des Restaurants vergaß ich meine Beschwerde vollkommen. Wir sprachen miteinander, und ich stellte fest, daß seine Stimme noch genau so war wie früher. Und seine Hände. Wir verpaßten beide unsere Flugzeuge. Er erzählte mir, die Expedition, auf die er sich vorbereite, werde aufbrechen, sobald ein fehlerhafter Apparat ausgetauscht worden sei. Ich mußte schnell sein. Nicht, daß es irgendwelche Schwierigkeiten gegeben hätte. Diesmal brauchte ich keinen Entweder-Oder-Entschluß zu fassen. Und ehe ich noch wußte, wie mir geschah, war ich nicht mehr in der Verfassung, daß ich an Petes Expedition hätte teilnehmen können. Ich hatte jedoch davon gesprochen, es sei ratsam, eins der Versuchstiere mitzunehmen, und Pete entschied sich für Daisy, die Labrador-Hündin, und Kali, eine der Schakalinnen, die besonders schnell und intelligent und ebenfalls eine Freundin
von mir war. Ich war entzückt darüber, denn andernfalls hätte ich, wenn ich nach meinem neuen Baby wieder auf eine Expedition ging, was ich selbstverständlich vorhatte, sie niemals wiedergesehen, kurzlebig und zeitgebunden, wie sie waren. Es war nicht üblich, Mitglieder anderer Tiergemeinschaften in Zeit-Blackout zu bringen. Aber diese beiden, die auf dem Gelände des Zentrums aufgewachsen waren, waren anders und hatten größeres Verständnis für menschliche Konzepte. Ich gab ihnen vorab schon einige Erklärungen, damit sie, wenn der Augenblick kam, zumindest bereit zur Mitarbeit waren. Im allgemeinen gehen die Betreuer der Tiere nicht auf Forschungsreisen, aber einer von ihnen entschloß sich, Daisy und Kali zu begleiten. Er war in mancher Beziehung ein schlecht integrierter Mann, und er wünschte sich ehrlich, von seiner Gruppe wegzukommen. So war er zwar anders motiviert als ein Forscher, aber es war nichts dagegen einzuwenden. T’o und ich nahmen an der Abschiedsparty teil. Ich bedauerte es ein wenig, daß ich nicht mitkonnte. Aber nicht sehr. Vielleicht sagen Sie jetzt, ich hätte ja warten können, aber vor T’o lag eine Expedition, die als gefährlich betrachtet wurde. Und tatsächlich kehrte zwar er lebend zurück, aber zwei andere kamen dabei um. Auf mich wartete wieder ein Stabilisierungsjahr. Drei Jahre meines Lebens hatte ich dann auf Terra im Griff der Zeit verbracht! Aber es wurde ein herrliches Jahr, zusammen mit meiner kaffeefarbenen, lockenköpfigen Tochter und meinem blauäugigen kleinen Jungen, die sich überhaupt nicht ähnlich waren. Mein Sohn begann zu sprechen und Zahlen und Entfernungen und Begriffe zu verstehen. Und dann war da noch meine kleine Viola, der ich helfen konnte, ihre Schwierigkeiten zu überwinden und die Fähigkeiten zu entwickeln, die ihr von bestem Nutzen waren. Oh, ich kam mir
vor wie eine Mama aus dem zwanzigsten Jahrhundert! Ich sang und tanzte mit ihnen, ich fütterte sie, ich lehrte sie, mit Bienen und Spinnen behutsam und verständnisvoll umzugehen. Ich stabilisierte sie, ich flüsterte ihnen, wenn sie schon halb schliefen, die binomischen und andere grundlegende Gleichungen ins Ohr. Ich führte sie in ihre Altersgruppe ein und zog mich in dem Maß, wie sie sich integrierten, nach und nach zurück. Genau das muß es in alter Zeit bedeutet haben, eine Mutter zu sein. Nur konnte ich weggehen, das war der Unterschied. Wie schön war es – trotz einem kleinen bißchen Sehnsucht –, wieder in einem Schiff und zwischen meinen Instrumenten und Tabellen zu sein und konzentriert und ohne Störung nachdenken zu können! Und wunderbar war es auch, nach dem Denken in die Meditation und aus der Zeit zu gehen. Irgendwie hat mir Viola immer am nächsten gestanden. Für sie konnte es nie eine hundertprozentige Integration geben. Ich glaube, sie braucht mich immer noch ein bißchen, und sei es, damit ich ihr Glück und ihre Erfolge mit ihr teile. Ihre körperliche Zartheit war nicht das eigentliche Problem. Ich meine immer, als ihr einziger Elter habe ich für sie doppelte Verantwortung. Aber die Tatsache, daß ihr Entstehen auf eine unbeabsichtigte Aktivation durch Vly zurückzuführen ist, machte auch ihn zu einer Art Elter und schwemmte seinen instinktiven Abscheu vor einer terranischen Frau hinweg. Außerdem gefällt es ihm, daß sie so klein ist. Er hat mehrfach für eine Gelegenheit gesorgt, Terra zu besuchen, wenn ich auch da war, und wir waren oft zusammen bei ihr. An dieser Sache ist etwas, das mich überzeugt, es sei eine positive Größe in der großen moralischen Gleichung. Die nächste Expedition, an der zwei Marsianer teilnahmen, ging zu einer Welt von großer Schönheit, war jedoch trotzdem nicht einfach. Die Atmosphäre war nicht eigentlich gefährlich,
aber dick, und die Schwerkraft war von der Art, daß wir am besten mit Schwimmflossen und rudernden Bewegungen vorankamen. Daran mußten sich die Muskeln erst gewöhnen. Die Vogelfische, die die am häufigsten vorkommende Spezies waren, schraubten sich mit propellerartigem Kreisen ihrer glitzernden Membranen voran. Die langen, fließenden Formen der Vegetation erstrahlten in weichen Farben. Sie öffneten und schlossen sich rings um uns, während die Vogelfische ohne jeden Argwohn an uns vorbeischwebten. Die dominierende Rasse ähnelte unseren Delphinen. Sie hatten große Gehirne und große Augen, aber auch sie machten korkenzieherartige Bewegungen. Wir waren es gewöhnt, Delphine und delphinartige Lebewesen als uns intellektuell gleichwertig und in mancher Beziehung überlegen zu betrachten. Folglich hätte es nicht zu schwierig sein sollen, zu einer Kommunikation zu kommen. Ein unglücklicher Umstand war jedoch, daß wir sie an eine Lebensform erinnerten, die sie vor kurzem restlos vernichtet hatten – man konnte verstehen, warum. Es kostete uns einige Mühe, ihnen klarzumachen, daß wir völlig andere Wesen seien. Sie bauten eine Art Falle für uns, etwas wie einen elektrischen Zaun, nur mit einer anderen Energie geladen. Einer der beiden Marsianer wurde gefangen. Unter solchen Umständen treten bei einer gemischten Expedition immer psychologische Schwierigkeiten auf. Die Terraner waren auf gewisse Weise erleichtert, daß es nicht einen von ihnen getroffen hatte, und dies Gefühl versuchten sie gegenüber dem anderen Marsianer zu kompensieren. Dieser wiederum grollte und fühlte sich in seiner Abneigung gegen Menschen bestärkt. Wir gaben uns Mühe, damit fertig zu werden, und es entstand eine einigermaßen künstliche Situation. Ich war ehrlich bekümmert. Ich war mit dem toten Marsianer gut ausgekommen. Er war ein Verwandter von Vly. (Bitten Sie
mich bloß nicht, Ihnen marsianische Verwandtschaften zu erklären!) Und ich empfand es teilweise als meine Schuld, weil ich bei meinen Kommunikationen nicht schneller gewesen war. Es gelang uns schließlich, mit den delphinartigen Wesen in Kontakt zu kommen. Das geht immer leichter, wenn die Kontaktpersonen über erkennbare Körper verfügen. Wirkliche Schwierigkeiten treten erst dann auf, wenn sich zum Beispiel eine Intelligenz dünn über eine ganze Galaxis verteilt. Oder wenn wir die beherrschende Lebensform einfach nicht wahrnehmen – wie es auf Jones 97 geschehen ist. Mit zunehmender Praxis erwarb ich mir die Fähigkeit, mehr auf diesem Gebiet zu tun. Doch es gibt immer noch uns sehr fernstehende Formen, bei denen noch niemandem eine Kommunikation gelungen ist. Wie Sie wissen, werden bestimmte Galaxien nicht besucht, und wir halten sie sehr aufmerksam unter Beobachtung. Selbst in Galaxien, wo wir bereits Kontakte hergestellt haben oder wo Leben bisher nur sporadisch aufgetreten ist, gibt es Systeme, um die wir vorerst einen Bogen machen. Einmal wird die Zeit kommen – davon bin ich überzeugt –, in der wir den Durchbruch schaffen. Ich habe ein paar Ideen, die meine Gruppe ausarbeitet, aber wir brauchen noch viel Forschungsarbeit und viele Experimente, und mit schnellen Ergebnissen dürfen wir nicht rechnen. Eine der seltsamsten Welten lernte ich bei einer Mineralienexpedition kennen. Es war meine erste Erfahrung mit Leuten vom Mineral-Ministerium, und anfangs bekam ich keinen rechten Anschluß. Sie waren nicht so wie andere Forscher. Offensichtlich waren sie auf einem Spezialgebiet Experten. Sie entliehen sich von anderen Fachbereichen das, was sie brauchen konnten, aber irgendwie ohne die richtige wissenschaftliche Neugier, das größte Geschenk der Menschheit. Jedenfalls taten sie auf dem Gebiet der
Mineralienforschung eine sehr notwendige Arbeit, und allmählich gefielen sie mir besser. Ein Mann war dabei, der sich Hals über Kopf in meine kleine Viola verliebt hatte, als er sie auf dem Bildschirm sah. Sie hatte sich inzwischen beim Fernsehen einen Namen gemacht. Seit ihrer Geburt war ich auf zwei Expeditionen gewesen, und obwohl es für mich nur eine kurze Zeit gewesen war, hatte sie ihr genügt, erwachsen zu werden und Erfolg zu haben. Aber würde das alles sein? Wenn sie wirklich glücklich war, hoffte ich es halb und halb. Doch sie war immer noch sehr jung. Und wenn sie zur Frau gereift war? Bei unserem letzten Ferngespräch hatte sie mir kichernd von Briefen erzählt, die sie erhalten hatte, und soviel ich verstand, waren es sehr ernstgemeinte Briefe, und der Mann vom Ministerium hatte sie geschrieben. Ich verriet ihm nie, daß ich davon wußte. Viola ist natürlich unfruchtbar, und vielleicht ist das ganz gut so, denn sie ist viel zu klein, als daß sie ein Kind von einem menschlichen Vater haben könnte. Im Augenblick schien ihre Kleinheit sie überhaupt nicht zu belasten. Sie gehörte einer Gruppe junger Leute an, und ich glaube, sie litt nicht darunter, daß sie anders war als die übrigen. In der terranischen Geschichte hat es Zeiten gegeben, wo das Leben für ein Mädchen wie Viola sehr schwer gewesen wäre. Aber heute ist uns höfliches Benehmen gegenüber Wesen der unterschiedlichsten Formen so selbstverständlich, daß eine bloße Abweichung von der normalen Größe gar nichts bedeutet. Während des Zeit-Blackouts befand ich mich teilweise in Meditation, aber meine Technik war noch nicht genügend entwickelt und verflüchtigte sich immer wieder zu Nichts. Als ich endlich wieder zur normalen Zeit zurückkehrte, kreisten wir um eine Welt, deren Oberfläche mit gleichmäßigen, dick bewaldeten Hügeln bedeckt war. Ozeane entdeckten wir nicht,
nur gelegentlich dunkle Stellen zwischen den runden Kuppen, die Wasser sein mochten. Die Mineralogen hatten durch spektroskopische Analysen und andere Techniken bereits festgestellt, daß diese Welt über einige sehr wertvolle Substanzen verfügte. Man sah ihnen an, wie wild sie darauf waren. Tatsache ist, daß wir Minerale zu schnell verbrauchen. Wir hatten eine Menge hitziger Diskussionen darüber. Unsern Landeplatz bereiteten wir mit den üblichen Räumungstechniken vor, wobei wir versuchten, die Fauna durch ein sehr unangenehmes, aber nicht tödliches Geräusch, durch Hitze-, und Energiewellen vor der eigentlichen Rodung zu verscheuchen. Das war eine Routinemaßnahme, und doch hat sie jedesmal für mich etwas Quälendes. Wir könnten, ohne es zu wissen, Leben zerstören, das sich von keinem dieser Stimuli bewegen ließ, das Gebiet zu verlassen, und natürlich zerstörten wir Vegetation. Doch es gibt keine andere Möglichkeit. Atmosphäre und Schwerkraft stellten keine zu großen Probleme dar. Die Mineralogen, die sich immer zu wenig Zeit für die Akklimatisation nehmen, schossen mit einer Vielzahl klickender und summender Maschinen davon, auf die ich mir überhaupt keinen Reim machen konnte. Doch einer der Mineralogen hatte mein persönliches Interesse erweckt. Er war ein junger Mann namens Qui-nag – ein richtiger Charmeur. Ich konnte mir nicht vorstellen, was er im Ministerium tat, nahm jedoch an, daß er sich irgendwann einmal unpassend benommen haben mochte. Der Mann, der die Briefe an Viola schrieb, konnte sich gar nicht unpassend benehmen. Peder Pedersen war auch dabei. Er sagte, dies solle seine letzte Reise sein, und er habe den Posten des Leiters abgelehnt, da er sich die notwendige Kraft und Flexibilität nicht mehr zutraue. Nun war unsere Leiterin diese merkwürdige Frau, die
sich selbst 513 nannte, weil sie zu einer Gruppe gehört hatte, die die Namen – und auch sonst eine Menge – verwarf. Das Ministerium hatte volles Vertrauen zu ihr, und wahrscheinlich wußte sie von Geheimsachen. Für so etwas waren diese Leute die Richtigen. Anfangs beschäftigten wir uns mit ordentlicher, altgewohnter Forschungsarbeit. Ich fand keine Spezies, mit der eine Kommunikation möglich gewesen wäre, obwohl es kleine Wesen gab, die wie Mäuse oder Krabben durch die Lücken der dicken Vegetation auf den Hügeln trippelten, und noch kleinere geflügelte Wesen, oft in leuchtenden Farben. Die vorherrschende Vegetation bestand aus drei Arten. Da war ein hohes, zylindrisches, biegsames Gewächs, das sich rhythmisch bewegte. Nachdem wir es eine ganze Zeit beobachtet hatten, stellten wir fest, daß es über einen sehr einfachen, zuschnappenden Kopf mit zwei Kiefern verfügte. Aber waren das wirklich Kiefer oder nur verhärtete dicke Blätter? Sie öffneten und schlossen sich und finden gelegentlich eins der geflügelten Wesen. Dann gab es dickere Gewächse, die oben ein schwankendes, zitterndes Federbüschel trugen. Ich hatte den Eindruck, sie gehörten, um eine ziemlich archaische Klassifikation zu benutzen, dem Tierreich an und gab mir bei meinen Beobachtungen große Mühe, sie nicht zu verletzen. Und dann bemerkten wir noch seltsame, schöne, sechseckige, oben stumpfe Gebilde, die Auswüchse und Streifen hatten und in herrlichen Farben leuchteten. Was mochten sie sein? Sie waren hart wie Stein, und wir dachten, es könnte sich um koralline Formen handeln. Anfangs kamen sie uns wie Artefakte vor, als Säulen eines ungewöhnlichen Tempels vielleicht, und doch war das unwahrscheinlich, besonders, da sie aus dem harten Gestein hervorwuchsen, das nur, soweit wir es feststellen konnten, mit ein paar Zentimetern Staub und Geröll bedeckt war. Jedenfalls machten wir uns wegen dieses
anfänglichen Irrtums auf die Suche nach Intelligenzen, die die Säulen hätten herstellen können. Wenn wir sie gefunden hätten, wäre eine Kommunikation bestimmt möglich gewesen. Aus einem anderen Grund waren unsere Mineralogen ganz aufgeregt. Die leuchtenden Farben rührten nämlich von Spuren des seltenen Materials her, nach dem sie Ausschau hielten. Sofort schlugen sie Proben ab, brachten sie ins Schiff und diskutierten lebhaft über die Möglichkeiten eines Abbaus in großem Maßstab. 513 bemerkte trocken, wir sollten lieber zuerst herausfinden, was diese Objekte seien und welchem Zweck beziehungsweise wem sie dienten. Es beunruhigte einige unter uns, daß sie, ohne darüber nachzudenken, die Stücke abgehauen hatten, denn ein bißchen unethisch war das schon. Wir waren an das Vorgehen der Leute vom Ministerium nicht gewöhnt. Dann stießen wir weiter vor, hinunter ins Tal bis an den Rand des dunklen, gewundenen Sees am Fuß des großen, runden Hügels. Es gab keinen Strand, nur dicke Knäuel der Schnapper, die sich in die oberen Schichten des Wassers hineinbogen – es war Wasser, aber es enthielt eine Reihe von Mineralen in dichten Lösungen und war absolut nicht trinkbar. Die obere Schicht war gedrängt voll mit Leben auf ziemlich niedriger Stufe; wir nahmen ein paar Musterexemplare mit. Der See war mit Vegetationsteppichen bedeckt, die zum größten Teil aus aneinanderhängenden großen Einzellern bestanden. Doch einige darunter hatten einen etwas komplizierteren Aufbau und boten jede Menge Material für unsere Klassifikatoren, für die es das höchste der Gefühle war, diese Lebensformen mit denen von anderen Welten der gleichen Galaxis und sonstwo zu vergleichen. Die Wassertiere, das stand fest, hatten sich aus einer aquatischen Form entwickelt und hielten sich aus Sicherheitsgründen unterhalb der Wasseroberfläche auf, wenn sie auch manchmal zum
Fressen hinaufstiegen. Ich entdeckte keine Spur eines Bewußtseins, mit dem eine Kommunikation möglich gewesen wäre, und eine Lebensform, die die Säulen hätte herstellen können, war erst recht nicht zu finden. Über die Frage, ob wir zum See hinabsteigen sollten, hatte es Streit gegeben. Wir mußten uns mit einigen Schwierigkeiten zwischen den Schnappern, den Federbüschen und den Säulen hindurchdrängen. Die Schnapper waren für uns völlig ungefährlich; sie konnten nicht einmal eine unbehandschuhte Hand verletzen. Aber die Mineralogen, die größere Wassermengen zur Analyse zurückbringen wollten, hatten die Absicht, einen Weg auszuhauen und zu planieren. Peder und ich waren dagegen, und 513 glücklicherweise auch. Sie entschied zum Schluß, die Ministeriumsleute müßten warten. Als sie über die Zeitverschwendung murrten, hielt sie ihnen eine Vorlesung über das Wesen der Zeit, die sie verstummen ließ. Quinag beschäftigte sich inzwischen damit, mich zu verführen. Es gibt keine angenehmere Art, sich eine freie halbe Stunde zu vertreiben, und da es auf dieser Welt kein bewußtes Leben zu geben schien, mit dem ich in Kommunikation treten konnte (natürlich machte ich mir weiter meine Gedanken darüber, stellte verschiedene Hypothesen auf und verwarf sie wieder), nahm ich an, ich werde eine ganze Menge freier halber Stunden haben. Aber ich war der Meinung, als Vater sei er unpassend. Man verlangt doch schließlich mehr als gutes Aussehen und Erfahrung. Er bemühte sich außer um mich auch noch um ein Mädchen namens Soo, deren Herz offensichtlich nicht bei der Mineralogie war. Ich fand sie ein bißchen unreif für eine Raumexpedition. Wir hatten uns in zwei Lager gespalten. Die eine Gruppe wollte vor allem herausfinden, um was für eine Welt es sich handelte, wie diese ganz gleichmäßig gerundeten Hügel entstehen konnten, von denen jeder – wir hatten inzwischen
verschiedene andere besichtigt – mit den gleichen Gewächsen bedeckt war. Mit unseren Schlauchbooten konnten wir den See gut befahren. Wir schoben uns zwischen den Schnappern hindurch. Sie waren nicht so hart, daß sie ein echtes Hindernis dargestellt hätten, selbst wenn sie sich zufällig um einen Arm oder ein Paddel schlangen. Wir hatten festgestellt, daß sie Stücke von Malzbrot verdauen konnten, und fütterten sie oft, besonders wenn wir sie für die Zeit, in der wir unsere Beobachtungen an der Fauna und Flora der oberen Wasser Schicht durchführten, ruhig halten wollten. Ich beteiligte mich daran, weil ich mit meiner eigenen Aufgabe doch nicht vorankam. Es kann nie schaden, mit Wissenschaftlern eines anderen Fachbereichs zusammenzuarbeiten. Es gab eine erstaunliche Vielfalt von sehr kleinen Lebewesen. Wir begannen, sie erst nach uns und dann nach allen unseren Freunden zu benennen. Über die Erforschung der Schnapper und der Federbüsche herrschten zwei Meinungen vor. Sie mochten über Bewußtsein verfügen; man hatte auf anderen Welten schon ebenso seltsame Formen gefunden. An denen, die in der Nähe unseres Landeplatzes wuchsen, stellten wir fest, daß sie Wurzeln hatten, die tief in den steinigen Untergrund hinabreichten. Aber einen Beweis für das Vorhandensein von Bewußtsein fanden wir nicht. Das andere Lager bestand aus den Mineralogen. Zu ihrer Befriedigung hatten die Materialproben, die sie analysiert hatten, alles gehalten, was sie sich davon versprochen hatten, und nun wollten sie das Schiff damit volladen. Sie hatten dem See auch beträchtliche Wassermengen entnommen. Aber am meisten interessierten sie sich für die harten Säulen. Einige davon hatten wir beim Roden unseres Landeplatzes zerstört, und die Trümmer waren zum größten Teil davongeblasen worden. Wie auf so vielen Welten wehte ein nicht heftiger,
aber niemals aufhörender Wind ständig in einer Richtung. Die Mineralogen fällten zwei oder drei Säulen und stellten fest, daß nur die äußere Rinde in einer Dicke von zwei oder drei Zentimetern interessant für sie war. Die Minerale konzentrierten sich in den schönen Punkten und Graten, die von einem Exemplar zum anderen ein wenig differierten, obwohl sie im großen und ganzen das gleiche Muster aufwiesen. Der harte Kern war offensichtlich tierischen Ursprungs. Aber wann war das Material einmal von Leben erfüllt gewesen? Würden wir jemals, so fragte ich mich, eine junge Säule finden? Gab es eine Spur, die uns entgangen war? Das war es, was 513 dachte. Sie sagte, wahrscheinlich liege die Spur offen vor unseren Augen. Wir sollten nur ständig den Gesichtspunkt wechseln, und die Erklärung werde uns plötzlich anspringen. Ich versuchte immerzu, den Gesichtspunkt zu wechseln, doch während ich es tat, fiel mein Blick immer wieder auf Quinag. Einige von uns suchten in der oberen Wasserschicht nach einer Fauna, die – vielleicht in Kolonien – Strukturen dieser Art bauen könnte. Wir fanden einige, aber sie waren winzig und schienen doch erwachsen zu sein. Das war die Erklärung nicht. Ebenso gaben wir acht, ob auf dem gerodeten Platz irgend etwas nachwuchs. Wir machten ein paar Experimente in situ und fanden heraus, daß der Federbusch ein Atmer war, auch wenn wir nicht feststellen konnten, was es war, das er zum Leben brauchte. Wir begannen uns zu fragen, ob es einen Zusammenhang zwischen den drei Arten gebe, besonders als wir entdeckten, daß da, wo die Mineralogen eine Säule abgehauen hatten, der nächststehende Schnapper welkte und seine Kiefer nicht mehr bewegte, und die Federbüsche breiteten sich nicht voll aus. Und war das alles? Peder Pedersen meinte, er habe eine Art von Beben verspürt. Die Instrumente bestätigten seinen Verdacht, wenn die Ausschläge
auch nur ganz gering waren. Ich selbst hatte nichts davon bemerkt. Wir arbeiteten eine Theorie über die Verbindung aus. Wenn es eine gab, mußte sie sich unterhalb der Gesteinsoberfläche befinden oder durch die Atmosphäre erfolgen. Letzteres kam uns wahrscheinlicher vor, und wir experimentierten mit einer Reihe von Auffangvorrichtungen. Wenn die Entfernung einer Säule die anderen Arten vernichtete oder ernsthaft beschädigte, mußten wir vorsichtig sein, daß wir keine Einmischung begingen. Inzwischen sammelten die Mineralogen weiter ein. Quinag war allerdings nicht sehr fleißig. Von unserem eigenen Hügel aus konnten wir alle die runden, sich gleichenden Hügel der Nachbarschaft überblicken. Jeder war von dem nächsten durch einen breiteren oder schmaleren Streifen dunklen, tiefen Wassers getrennt. Ich stand gerade oben und sah zwischen zwei Säulen ins Weite. Ich fühlte mich ziemlich gereizt, denn gerade hatte ich eine freie halbe Stunde, und Quinag war mit Soo weggegangen. Ich sagte mir, eine so kleinliche Haltung sei für eine Forscherin von meinem Alter und meiner Erfahrung höchst unpassend, und doch ärgerte ich mich darüber. Die Schnapper schwankten über meinem Kopf. Ich begann, mich zu konzentrieren und die Umgebung zu beobachten. Plötzlich war mir, als müsse mir die Erklärung für diese Welt jeden Augenblick offenbar werden. Ich verbannte alle Gedanken an Quinag und konzentrierte mich noch mehr. Es schien etwas Seltsames vorzugehen. Einer der weiter entfernen Hügel stieg ganz langsam in die Höhe, und gleichzeitig sanken zwei andere. Vielleicht, dachte ich, ist das auch schon früher vorgekommen, und wir haben uns nur nie lange genug oben auf der Kuppe aufgehalten, um es zu bemerken. Der erste Hügel hörte auf, sich zu bewegen. Die beiden anderen sanken immer noch tiefer ins Wasser ein. Doch inmitten all dieser gleichförmigen, runden Objekte war es
schwer, ganz sicher zu sein. Ja, zumindest der eine von ihnen senkte sich. Und plötzlich kam mir zu Bewußtsein, daß diese Landschaft mit ihren Säulen und Schnappern genau das war, was man unter einem Mikroskop von geringer Energie bei Betrachtung eines Seeigels sieht. Diese Hügel waren nichts als gigantische Stacheltiere. Ich bog mich vor Lachen. Es war alles so offensichtlich. Und natürlich so gefährlich. Das dunkle Wasser war um jenen Hügel gestiegen – oder vielmehr, der Hügel war ins Wasser gesunken. Jetzt war nur noch eine kleine runde Insel zu sehen. Aber hatten diese riesenhaften Stacheltiere irgendeine Art von Bewußtsein oder Intelligenz entwickelt? Konnte man irgendwie Kontakt zu ihnen herstellen? Welcher Stimulus ließ sie aufsteigen und untertauchen? Wie sahen sie auf der Unterseite aus? Wie konnte man das feststellen? Ich ging sofort zu 513. »Ah«, sagte sie, »das steht in Zusammenhang mit dem Beben.« Sie zeigte mir Zahlenreihen mit Notizen über das Fällen der Säulen. Darauf folgten jetzt regelmäßig Beben, und ihre Stärke nahm zu. »Ich hatte eine andere Theorie aufgestellt, aber ich will dich damit gar nicht erst langweilen. Es sieht nämlich so aus, als ob unsere Wirte unsere Anwesenheit bemerkt haben, und wahrscheinlich werden sie sich entlausen. Ich rufe auf der Stelle die Ministeriumsleute zurück.« Das tat sie, und sie erklärte ihnen die Situation. Ich schätzte, daß das Versinken des Hügels, dem ich zugesehen hatte, ungefähr eine Stunde gedauert hatte. Aber zweifellos konnte es auch schneller geschehen. Die Beben traten jetzt schneller und regelmäßiger auf. Wir mußten alles ins Schiff schaffen und den Start vorbereiten. Die Ministeriumsleute waren sehr ärgerlich. Sie hatten den Laderaum noch längst nicht gefüllt. Jetzt erinnerten sie 513 an
verschiedene Notwendigkeiten und Versprechen, und sie drückten sich so weitschweifig aus, daß ich selbst nicht wußte, worauf sie eigentlich hinauswollten. 513 schnitt ihnen das Wort ab. Sie war für die Sicherheit der Expedition verantwortlich. Kühl stellte sie fest, wahrscheinlich hätten wir uns der Einmischung schuldig gemacht, was sie in ihrem Bericht erwähnen müsse. Aber man werde uns nicht bestrafen, wenn wir unsere Tätigkeit sofort einstellten. Quinag hatte sich an mich herangeschoben und fragte im Flüsterton, ob ich das nicht auch für Unsinn hielte. Spielte 513 sich nicht nur auf? Das Ministerium hatte ihnen einen Bonus versprochen, wenn sie mit wertvoller Fracht zurückkämen. Wie konnte man denn hier von Einmischung reden? Seine Stimme und seine Berührung lenkten mich sehr ab, aber mir war plötzlich eine Methode eingefallen, die es uns vielleicht ermöglichen würde, mit der Wesenheit unter unseren Füßen zu einer Kommunikation zu kommen. Ich antwortete: »Sei ruhig.« Das war das letzte, was ich zu ihm sagte. Denn ich rannte nach meinen Instrumenten, und Peder folgte mir. Quinag interessierte sich nicht für das, was wir vorhatten. Es gab zwei oder drei mögliche Einstellungstechniken. Ich versuchte es mit allen. Endlich kam ich durch, und es war erschreckend. Was ich empfing, war Zorn in ganz außergewöhnlichen Farben und Formen. Ich konnte es kaum aufnehmen, und daran ändern konnte ich überhaupt nichts. Ich konnte mich nicht im geringsten verständlich machen. Die Farben und Formen verkrampften sich, und unter unseren Füßen spürten wir deutlich das Beben. Peder sagte: »Ich glaube, ich helfe dir beim Zusammenpacken.« Er murmelte die alten norwegischen Flüche vor sich hin, an die ich mich von der Epsilon-Expedition her erinnerte. Bei unserer Rückkehr versuchte der Chef der Mineralogen immer noch, 513 umzustimmen, aber als ich meinen Bericht
erstattet hatte, gab er auf. Ich sah mich nach Quinag um. Er war nicht da, und Soo auch nicht. Wir hatten viel zu tun, und dann gab es ein weiteres Beben, und jemand rief uns vom Rand des Sees aus zu, wo sie die Boote zusammenlegten. Wir begannen zu sinken. Die Zoologen stolperten den Hang herauf. Das noch halb aufgeblasene Boot und die Behälter mit ihren Probeexemplaren zerrten sie hinter sich her. Unsere Wesenheit sank schneller als der Hügel, den ich beobachtet hatte, und das wunderte mich gar nicht. Die Alarmsirene wurde angestellt. Alles drängte sich ins Schiff. Einige Ausrüstungsgegenstände mußten wir verloren geben, aber es war nicht mehr, als in einem derartigen Notfall zu erwarten war. Die Navigatoren bereiteten den Start vor. Ich sah den Chef der Mineralogen ein Säulenstück heranschleppen, das er kaum tragen konnte. Ich half den Zoologen; meine eigenen Apparate waren alle schon eingeladen. Das Wasser schlug in Wellen zu uns hoch, und die Schnapper beugten sich eifrig über den Rand. Auf dem gerodeten Platz befand sich niemand mehr. Die beiden Zoologen stemmten eine letzte Kiste hoch, ich faßte vom Schiff aus zu und half ihnen, und dann knallte die Schleusentür hinter ihnen zu. Vibrationen liefen durch das Schiff. »Startpositionen einnehmen!« kam es über die Lautdenker. Wir rannten zu unseren Plätzen und legten uns hin, und die Liegen hielten uns fest. Und dann kam der Andruck, dann die Schwerelosigkeit und die Stille. Wir konnten uns wieder bewegen und vor dem Zeit-Blackout eine Bestandsaufnahme machen. Ich erinnere mich, daß ein paar Dinge zerbrochen waren, nichts sehr Wichtiges, aber wir hatten eben in der Eile nicht alles so gut verstaut wie sonst. Und dann fragte der Chef der Mineralogen: »Wo ist Quinag?« Und er zeigte dabei anklagend auf mich!
Ich antwortete: »Aber er muß hier sein!« Denn ich konnte nicht glauben, daß er nicht da war, und dann schrie ich zu 513 hinüber: »Wo ist er? Haben Sie es nicht nachgeprüft?« Sie erklärte sehr ernst: »Er ist ebenso gewarnt worden wie jeder andere auch. Er hätte beim Verladen helfen sollen. Das hat er nicht getan.« »Er ist immer ein Drückeberger gewesen!« schimpfte der Mann vom Ministerium. Er war beinahe hysterisch, und sein Zeigefinger wies noch immer auf mich. 513 fuhr fort: »Wir hatten keine andere Wahl. Wir sind im letzten Augenblick gestartet. Wir hatten keine zwei Sekunden mehr zu versäumen.« »Also haben Sie ihn zurückgelassen – Sie haben ihn ertrinken lassen!« brüllte der Mann vom Ministerium. »Ja, es tut mir leid«, antwortete 513. »Und die arme kleine Soo ist auch ertrunken.« Ich drehte mein Gesicht zur Wand und weinte lautlos. Sie wissen, wie wenig Platz man in einem Raumschiff hat. Undeutlich hörte ich, wie Peder Pedersen auf den Mann vom Ministerium einsprach. Dann kam Peder zu mir und legte mir einen Arm um die Schulter. Der Arm war stark und schwer, und Peder war alt und so ganz anders als Quinag, aber ich brachte es fertig, darüber hinwegzusehen. Er sagte: »Sie konnte nicht anders handeln.« »Aber sie wußte, daß er nicht zurückgekommen war!« »Das wußte sie. Sie mußte die Entscheidung fällen. Ich hätte dasselbe getan, wenn es meine Expedition gewesen wäre. Zum Glück bin ich nie in eine solche Situation gekommen.« »Ja, es war allein sein Fehler.« »So ist es. Ich glaube, er war nicht der richtige Typ für eine Expedition. Und das arme kleine Mädchen!« »Wahrscheinlich wollte er noch einmal – oh, Peder, war es nicht teilweise auch meine Schuld?«
»Nur zu einem ganz kleinen Teil«, beruhigte er mich, »und jetzt läßt sich nichts mehr tun, als es zu vergessen. Du wirst es versuchen, nicht wahr?« Ganz vergessen konnte ich das nie. Aber das Ertrinken ist eine sanfte Todesart für einen Forscher. Nur war er gar kein richtiger Forscher. Nicht so wie Peder und ich. Forscher können leicht einen grausameren Tod haben. Doch da sie Forscher sind, wissen sie, wie sie ihm zu begegnen haben.
VII
Später hatte ich ein Kind von Peder Pedersen, einen blonden Sohn. Peder war vorher erst einmal Vater geworden, und sein erster Sohn war bei seiner zweiten Expedition ums Leben gekommen. Peder erzählte es mir nach dem Zeit-Blackout auf der Rückreise, als ich immer noch ziemlich außer Fassung war. Es war gut für mich, darüber nachzudenken, was anderen Menschen schon zugestoßen war. Das Unglück, das die Expedition von Peders Sohn betroffen hatte, war später aufgeklärt worden, und er hatte nicht die Art von Tod gefunden, die man einem seiner Kinder wünschen möchte. Peder war immer noch nicht ganz darüber hinweggekommen. Und dabei konnte er andere Menschen so gut trösten. Er wollte keine weitere Reise mehr unternehmen, höchstens noch gelegentlich zu einer Konferenz in unserer eigenen Galaxis, aber nicht weiter hinaus. Er würde allen meinen Kindern als Vater zur Verfügung stehen, und er würde Viola eines Tages zu einem Besuch bei ihrem Vater mitnehmen. Nachdem ich einen oder zwei Monate mit Peder zusammen gewesen war, fragte ich mich, warum die Frauen sich nicht um ihn als Vater ihrer Kinder gerissen hatten. Sicher hat er mehr als einmal nein sagen müssen. Inzwischen waren im Zentrum der Immunologen eine große Anzahl von Transplantationen durchgeführt worden, und ich war sehr begierig, Näheres darüber zu erfahren. Nach terranischen Jahren gerechnet, war ich eine ganze Zeit weggewesen, und der hübsche junge Mann – war er 18 oder 28? Man kann es nicht abschätzen, wenn man selbst über die erste Jugend hinaus ist! – war Pete und Silis Sohn Ket. Pete
war seit nahezu zehn Jahren abwesend, doch zweifellos bedeutete es für ihn in subjektiver Zeit nicht mehr als ein Jahr. Silis war eine Weile auf Terra gewesen und hatte ein zweites Kind bekommen – nicht von Pete, sondern von einem Topologen, der an ganz ausgefallenen galaktischen Problemen arbeitete. Jeder konnte sehen, daß sie sich mit dem jungen Mann, dessen Mutter sie war, ausgezeichnet verstand. Er erzählte mir alles über die Transplantationen. Vielleicht hatte er das Gefühl, den Stellvertreter seines Vaters zu spielen. Ich gewann den Eindruck, Ket identifiziere sich gar zu stark mit Pete, vielleicht wegen unterdrückter Gefühle für seine Mutter. Ich amüsierte mich darüber. Wir diskutierten Petes Pläne in allen Einzelheiten. Wenn er zurückkehrte, waren wir bereit, noch weitreichendere Experimente zu machen. Früher oder später waren alle Transplante gestorben, nicht nur mein Ariel, und das hatte große Trauer hervorgerufen. Natürlich nicht bei den Znydgis und auch bei keinem der männlichen Versuchstiere, aber in unterschiedlichem Maß bei allen Stuten, Hündinnen, Sauen und Schakalinnen. Einige Marsianer hatten sich als Freiwillige angeboten, und jedesmal wurden sie aus der Bisexualität in weibliche Monosexualität geworfen. Ihr Leid war das gleiche, wie ich es kennengelernt hatte. Übrigens hatten sich alle Transplante im Tod genau wie Ariel aufgelöst. Es lagen jetzt zahlreiche Beobachtungen darüber vor, daß alle Wirte schrecklich durstig wurden und schwimmen oder baden wollten, wie es auch mir ergangen war. Aber wenn sie es taten, lösten sich die Transplante auf. Die Zellwände hielten nur für wenige Augenblicke stand. Die ganze biochemische Integration brach zusammen. Zum Beispiel waren zwei der marsianischen Wirte schwimmen gegangen (Marsianern fällt das Schwimmen besonders leicht, weil sie Lufttaschen unter den Schalen haben), und sie hatten ihre Transplante verloren.
Das führte zu weiteren Experimenten. Es genügte, ein Transplant mit Wasser zu bespritzen, um einen Prozeß in Gang zu setzen, bei dem die Außenhaut und die inneren Knorpel weich wurden. Die meiste Arbeit war jedoch darauf verwendet worden, wieviel die Transplante von ihren Wirten übernehmen konnten, und die Ergebnisse waren sehr merkwürdig. Zum Beispiel zeigten die Marsianer-Transplante eine Abneigung gegen Menschen, besonders gegen solche männlichen Geschlechts – eine Abneigung, die die zeitweilig weiblichen Marsianer aus Höflichkeit verborgen hatten. Immer noch ließ sich Musik am leichtesten vom Wirt auf das Transplant übertragen. Bisher hatte kein anderes Transplant Ariels mathematische Demonstrationen wiederholt. Aber, so sagte ich zu mir selbst, es war auch noch kein Transplant so geliebt worden wie er. Wir hatten keine Ahnung, wann Pete zurückkommen würde. Bei einer Raumreise über so große Entfernungen kommt es auch heute immer noch zu Zeitabweichungen. Ich glaube, eines Tages werden wir imstande sein, ohne Zeitverlust von Galaxis zu Galaxis zu kommunizieren. Oder vielleicht doch nicht? Jedenfalls ist es im Augenblick noch unmöglich. Doch vorbereitende Arbeit wird schon getan, von der vieles (aber zitieren Sie mich nicht!) ganz nutzlos sein wird. Manchmal frage ich mich, ob ich ein so hohes Ausmaß an Kommunikationsmöglichkeiten wirklich begrüßen würde. Könnte das in der Raumerforschung nicht etwas vernichten, das uns fehlen würde – eine spirituelle Spannung, die nur in der Isolation entsteht? Für mich war es an der Zeit, mich auf eine neue Expedition vorzubereiten. Ich war versucht gewesen, im Immunologenzentrum zu bleiben und vielleicht sogar selbst ein neues Transplant zu nehmen. Merkwürdig, wenn man einmal eins gehabt hat, wird man zwischen widersprüchlichen
Empfindungen hin- und hergerissen. Es ist eine Mischung von Anziehung und Abstoßung, die für einen normalen Seelenzustand einfach zuviel ist. Die Versuchstiere hatten es alle ebenso wie ich empfunden. Also, ich wollte es noch einmal versuchen. Doch dann kam mir zu Bewußtsein, daß mein Interesse an dem Zentrum nicht rein wissenschaftlich war. Nicht nur die Transplante rührten meine Emotionen auf, sondern auch der junge Ket. Ich mußte mich entfernen, oder ich würde Einmischung zwischen ihm und seiner Altersgruppe begehen. Natürlich ist das durch kein Gesetz verboten, aber wir alle vertreten die Meinung, man sollte es nicht tun. Ich erfuhr, daß Miss Hayes eine nur aus Frauen bestehende Biologengruppe für einen Planeten zusammenstellte, der von Sonden erforscht und als wahrscheinlich bewohnbar klassifiziert worden war. Er hatte eine atembare Atmosphäre und bestimmt irgendwelche Lebensformen. Olga, die ihren kleinen Sohn zu ihrer Zufriedenheit stabilisiert hatte, kam mit. Miss Hayes bot mir den Posten der stellvertretenden Leiterin an. Ich war einverstanden. Die Gelegenheit kam mir wie gerufen. Es wurde eine außerordentlich interessante Expedition, und ich werde sie mit einiger Ausführlichkeit beschreiben, weil sie uns zum Schluß in ein ziemlich kompliziertes moralisches Problem verwickelte. Ich ließ also Ket sitzen und machte einen schnellen Besuch bei Peder, um ihm und Viola Lebewohl zu sagen. Peder erläuterte mir – und das erwies sich später als sehr nützlich –, wie ich den neuesten Typ von Schutzschirm anzuwenden habe. Von Pete hatte man noch nichts gehört, als wir starteten. Ich hatte es mir nicht verkneifen können, ein letztes Ferngespräch mit dem jungen Ket zu führen, und zwar bevor ich mein leichtes terranisches Kleid mit einem anständigen Raumanzug vertauschte. Bei mittleren Entfernungen kommen die Farben so gut zur Geltung! Die Reise verlief ohne Zwischenfall. Im
Beobachtungsorbit dachte ich über eine neue Technik nach. Ich sprach mit Françoise darüber, die auf dieser Expedition meine Kommunikationsassistentin war. Sie schien ein sehr intelligentes Mädchen zu sein. Aber die Technik hing von molekularem Druck ab, und natürlich kann man vorher nie wissen, was das Wesen ist, mit dem man eine Kommunikation versucht. Dieser Planet wurde ziemlich eng von zwei Monden umkreist, die der Navigation einige Schwierigkeiten gemacht hatten. Es war rührend, wie aufgeregt Nadira, unser jüngstes Mitglied, über ihre erste Expedition war. Ein Stück festen Bodens – als das stellte es sich glücklicherweise heraus – wurde als Landeplatz ausgewählt. Soweit wir es beurteilen konnten, war es leer von Artefakten oder Gegenständen, die Artefakte sein konnten, und natürlich war es einigermaßen flach und nicht zu stark bewachsen. Erst nachdem wir alle Ecken und Winkel der zahlreichen Schluchten durchforscht hatten, fanden wir die diesen Planeten bewohnende Rasse, die wir später immer die Raupen nannten. Natürlich nannten sie sich selbst nicht so, aber es dauerte einige Zeit, bis es zu einer Kommunikation kam, obwohl wir sie ständig miteinander summen hörten, was offenbar eine Art von Lautkontakt war. Es war auch nicht der Name, den wir von Anfang an für sie benutzten, denn wir hatten keine Ahnung, welche Lebensform sie sein mochten. Die voll ausgewachsenen Exemplare waren mindestens einen Meter lang, und wir hatten sie weniger mit Larven als mit geschlechtsreifen Wasserlebewesen in Verbindung gebracht. Es war so klar, daß diese Geschöpfe über eine Art von Bewußtsein und Intelligenz verfügten, daß es überhaupt nicht in Frage kam, eins von ihnen zu sezieren. Es ist jedoch immer eine solche Freude, echtes Bewußtsein zu finden, daß man über den größeren Zeitaufwand nicht murrt.
Wir beobachteten ihre Gewohnheiten, und wir waren bald ganz sicher, daß die Geschöpfe Vegetarier waren. Die Vermutung, es handele sich um Wasserlebewesen, verstärkte sich durch ihre Vorliebe für feuchte Stellen und das Suhlen in halbflüssiger vegetabiler Materie, besonders in den von violetten und purpurnen Algen bedeckten Sümpfen. Wir sahen auch keine Wesen, deren Larvenform sie hätten sein können. Ihr Atemapparat war nicht leicht zu erkennen. Sie konnten für Stunden in den feuchten Tiefen der Algen verschwinden, und wenn sie wieder auftauchten, hatten sie auf oft ganz verblüffende Weise die Farbe gewechselt – wenigstens war das der einzige Wechsel, dessen wir im Anfang sicher sein konnten. Diese Algensümpfe waren fast immer am Boden einer Schlucht zu finden und schienen sehr tief zu sein. In einem von ihnen kam es beinahe zu einem schlimmen Unfall. Weiter oben gab es verschiedene Arten von Vegetation, mit oder ohne eine Substanz, die auf den ersten Blick wie Chlorophyll wirkte. Manche Pflanzen waren sehr schön. So schön, daß man es; kaum glauben konnte – daß sich die Erinnerung daran verwischt. Während ich diese Pflanzen erforschte, kam ich zufällig als erste in Kontakt mit der anderen Lebensform, doch auf ziemlich unerfreuliche Weise. Zu diesem Zeitpunkt waren wir zu dem Schluß gekommen, es handele sich hier um eine Welt, auf der es keine Wirbeltiere und, zu unserer Überraschung, auch keine fliegenden Wesen gebe. Wir hatten spinnenähnliche und krabbenähnliche Formen gefunden, die teilweise nicht ganz ungefährlich waren, und in den warmen Lagunen eine außergewöhnliche Vielfalt von Wasserleben, an dem wir noch arbeiteten. Die meisten Wesen schienen sich auf einer Stufe unterhalb der des Bewußtseins oder doch der der Intelligenz zu befinden. Allerdings warnte uns Miss Hayes, die mehr Erfahrung als jede von uns hatte, immer vor voreiligen Schlüssen. Wir hatten bereits eine große
Anzahl von Musterexemplaren gesammelt und massenhaft Fotos und Notizen gemacht. In meiner Akklimatisierungsfreizeit ging ich mit Olga spazieren. So etwas darf man bei einer Expedition nicht vernachlässigen, obwohl es immer wieder Leute gibt, die das Zeitverschwendung nennen. Ich finde, dabei kommen einem die besten Ideen. Olga redete aufgeregt über die Pflanzen. Zum Glück kamen wir in dieser Atmosphäre ohne Masken aus. Guter alter Sauerstoff, gutes altes Kohlendioxyd, gute alte grüne Blätter! Was sich hier entwickelt hatte, war eine fast perfekte Parallele zum Chlorophyll, und wir fühlten uns wie zu Hause. Manchmal beneidete ich Olga beinahe um ihre auf nur ein Ziel gerichtete Neugier. Wir hatten vor, uns in der Gegend umzusehen und dabei ein bißchen leichte Feldbotanik zu treiben. Zum Herumklettern in den Schluchten seilten wir uns an. Wir hatten genug von den Sümpfen. Was die Botanik betrifft, so glaube ich, daß ich es fertigbrächte, die Schönheit der Blumen zu kommunizieren, die wir am Rand der Schlucht fanden. Aber das würde Zeit erfordern, und Englisch wäre auf keinen Fall die richtige terranische Sprache, in der ich mich ausdrücken könnte. Die Engländer haben so viele gefühlsbetonte Obertöne in ihre eigenen Blumennamen hineingelegt – die tanzenden Narzissen, die Schlüsselblume am Bachesrand, alle Wildpflanzen bei Shakespeare, die Kirsche, der lieblichste Baum – daß es ihnen schon schwer wird, in passenden Ausdrücken an andere Wildblumen der kleinen Erde zu denken, die zufällig, nicht auf englischem Boden wachsen. Die Japaner sind ebenso schlimm. Man könnte einen Versuch in Neo-Sanskrit machen. Lassen Sie mich nur sagen, daß diese sich wiegenden, zartbeflügelten Blüten meinen Puls und meine Atmung beschleunigten. Olga, die unter mir am Seil hing, gab ein löwenähnliches Knurren von sich und wies auf etwas.
Ich streckte meine Hand aus, und dann dachte ich einen Augenblick lang, die Pflanze selbst habe mir etwas getan, habe mich mit einem winzigen Stachel oder Dorn gestochen. Aber wie? Sie schien unbeweglich zu sein. Dann schrie Olga auf und zeigte wieder. Ich sah, daß etwas auf mich zuschoß, ein Flirren von Licht und Farbe. Ich faßte zu, brach eine einzige Blüte ab und kollerte den Abgrund hinab bis zu Olga, die einen großen farnähnlichen Wedel herabzog und uns dahinter verbarg. Jetzt wurde mir bewußt, daß ich nicht körperlich gestochen worden war, sondern daß das, was sich wie Stiche angefühlt hatte, ein entsetzliches Schuldgefühl hinterließ. Es war kein Gefühl, wie es einem Erwachsenen anstand, aber es überwältigte mich und schrie laut nach Strafe. Erst als ich weinte und mir die Flüssigkeit aus Mund und Nase lief und Olga mich schüttelte, merkte ich, daß ich in Kommunikation mit – »Was war das?« fragte ich, und Olga flüsterte zurück: »Schmetterlinge. Nichts als große Schmetterlinge.« Das erleichterte mich ein wenig. Olga bückte sich, hob die Blume auf und steckte sie schnell in ihre Botanisiertrommel. Das Anfassen der Blüte hatte keine Wirkung auf sie, und ich war froh, daß sie außer Sicht war. Anderenfalls hätte ich mich vielleicht verpflichtet gefühlt, sie an die Stelle zurückzubringen, wo sie gestanden hatte. Allmählich wich das klägliche Schuldgefühl von mir. Jetzt wünschte ich mir nur, die Kommunikation wiederherstellen zu können, selbst wenn ich Schmerz erleiden mußte. Olga war es gelungen, ein Foto zu machen. Als es entwickelt worden war, setzten wir uns zu einer Besprechung zusammen. Das Wesen sah aus wie eine fliegende Insektenart. Bisher hatten wir nichts von ihr gewußt. Ich glaube, Nadira war es, die ziemlich schüchtern, denn sie war die unerfahrenste des Teams, als erste die Meinung äußerte, vielleicht seien die
Raupen – Raupen, deren geschlechtsreife Form endlich aufgetaucht sei. Aber wir zögerten, diese Hypothese zu übernehmen. Geraume Zeit sahen wir dann nichts mehr von den Schmetterlingen. Inzwischen hatten wir in der Kommunikation mit den Raupen gute Fortschritte gemacht. Anfangs hatten wir uns auf den einfachen Freude-SchmerzKomplex konzentriert. Es wurde leichter für uns, als Françoise entdeckte, daß die Geschöpfe es liebten, berührt zu werden oder jedenfalls an bestimmten Teilen ihres Körpers berührt zu werden. Françoise war diejenige, die Sympathie für die Raupen entwickelte. Ich begann, große Hoffnungen auf sie zu setzen. Sie machte den Eindruck, als sei sie mit ganzem Herzen bei ihrer Arbeit. Es war ihre dritte Expedition, und dazwischen hatte sie einige Zeit mit meiner Gruppe verbracht, so daß ich sie recht gut kannte. Doch Nadira, die ihr im subjektiven Alter näherstand, kannte sie vielleicht noch besser. Bei keiner Expedition kann man im voraus etwas darüber sagen, welches Mitglied diese Sympathie oder Empathie, die man immer noch »instinktiv« nennt, mit anderen Lebensformen entwickeln wird. Aber für gewöhnlich geschieht es, und es ist außerordentlich wichtig und nützlich. Françoise lehrte mich, die Geschöpfe zu ihrer Zufriedenheit zu behandeln und erleichtert mir dadurch meine Arbeit auf dem Gebiet der Kommunikation. Das Vergnügen der Raupen bestand zum großen Teil aus dem Essen und Ausscheiden. In ihrer Nahrung befanden sich reichliche Mengen von unverdaulicher Zellulose, die als Kugeln in verschiedenen dunklen, leuchtenden Farben herauskamen. Aus ihnen wurden kunstvolle Muster hergestellt, die denen, die sie mach ten, wie auch denen, die herbeikamen, um sie sich anzusehen, große ästhetische Befriedigung verschafften. Die Raupen streichelten die Kugeln mit ihren weichen, stumpfkantigen Beinen, umringten den erfolgreichen
Künstler, berührten ihn und erhoben im Chor lobende Stimmen. Wir selbst fanden die Muster interessant. Sie waren meistens asymmetrisch, aber nicht ohne mathematische Bedeutung. Tiefes Blau und Rot herrschten vor, und der Geruch war nicht unangenehm. Als die Raupen unser Interesse bemerkten, machten sie uns Platz, und dabei gelang uns unsere erste wirkliche Kommunikation. Nach und nach schlossen wir alle die Raupen immer mehr ins Herz, und wir fühlten, daß dies Gefühl erwidert wurde. Françoise war auf den Gedanken gekommen, das Herstellen der Muster könne irgendeine biologische Bedeutung haben. Auch bei intimer Besichtigung und Betastung hatten wir bei diesen Geschöpfen keine Geschlechtsmerkmale feststellen können, und das allein sprach schon dafür, daß es sich um eine Larvenform handelte, die noch nicht geschlechtsreif war. Aber sicher waren wir nicht. Wieder war es Françoise, die aufgrund ihrer Sympathie für die Raupen zu einer Art Lösung gelangte. Inzwischen hatte sich unsere Kommunikation bis auf das Niveau »Komm-geh; freundlich-unfreundlich« entwickelt. Die Raupen betrachteten uns als Freunde, die zum Teil gleiche Interessen mit ihnen, aber gar nichts gemein mit den Waldkrabben hatten, die zu den Fleischessern gehörten und ihre besonderen Feinde waren. Wir hatten uns angewöhnt, unsere Rationen da zu essen, wo die Raupen uns beobachten konnten. Das erweckte ihre Sympathie. Aber sie wollten nun auch das Ergebnis des Verdauungsprozesses sehen. Françoise tat ihnen den Gefallen, doch sie fanden das Produkt vom ästhetischen Standpunkt aus enttäuschend und versuchten, Françoise ihr Mitleid auszudrücken und ihr sogar Vorschläge zu machen, wie sie ein besseres Ergebnis erzielen könne. Das war ein erster wichtiger Schritt zu einer höheren Kommunikation zwischen unseren Gruppen.
Kurz danach entdeckte Françoise, was in den Sümpfen mit den violetten Algen vor sich ging, und das brachte uns für einige Zeit von der Larvenspur ab. Denn es handelte sich um ein lange dauerndes sexuelles Wälzen, an dem eine ganze Anzahl von Individuen teilnahm. Wie es genau vor sich ging, war uns nicht klar, und es sprach auch nichts dafür, daß die Raupen männlich und weiblich im herkömmlichen Sinn waren. Doch es bewirkte eine merkwürdige Art von Befruchtung, die später offenbar wurde, ein Ansteigen der Temperatur und einen großen Lustgewinn. Wir konnten die Raupen überreden, uns die Entnahme einer gelegentlichen Blutprobe zu erlauben, und zu unserer Überraschung stellten wir fest, daß es nach einem solchen Wälzen zu einer allgemeinen Zellteilung kam. Ein Individuum pflegte zum Zwecke eines erfolgreichen Wälzens mehrmals zurückzukehren. Die Raupen, die an Françoises Wohlergehen liebevoll Anteil nahmen, forderten sie auf, dies Erlebnis mit ihnen zu teilen, und ich bin überzeugt, sie hätte mindestens einen Versuch gemacht, wäre unser Atemapparat dazu nicht ganz ungeeignet gewesen. Aber unsere Kontakte entwickelten sich auch ohne das sehr zufriedenstellend, und unsere Notizbücher füllten sich. Doch dann traten Ereignisse ein, die alles über den Haufen warfen. Das Wälzen im Sumpf fand normalerweise dann statt, wenn die beiden Monde zusammen am Himmel standen. Wenn wir mit unseren starken Strahllampen für zusätzliche Helligkeit sorgten, kamen mehr Raupen herbei, und sie blieben länger unten. Während der Befruchtungsperiode aßen sie große Mengen, so daß es danach gesteigerte künstlerische Aktivität mit den Rückständen gab, die leuchtendere Farben zeigten als üblich. Jedes Stück des Bodens war mit den Mustern beziehungsweise mit dem Rohmaterial dazu bedeckt. Die Oberfläche des Sumpfes war ein beträchtliches Stück
abgesunken, nachdem die Raupen herausgekommen waren. Wir hatten noch nicht entdeckt, wie die nächste Stufe der Reproduktion aussah, und wir konnten auch von den Raupen selbst keine Aufklärung bekommen. Aber ich glaube, wir alle hofften, jeden Augenblick das Geheimnis lüften zu können. Wir hatten noch nie Raupen gesehen, die kleiner als acht Zentimeter waren. Eines Nachts beobachteten wir, wie sich die Raupen am Grund der Schlucht versammelten, die wir unter uns Wardour Street nannten. Komisch, wieviel von dem alten London überlebt hat! Wir empfanden starke Sympathie und Wärme für die Geschöpfe, zum Teil deshalb, weil wir alle Frauen waren. Wir beugten uns über den Rand und sahen zu, und die Strahlen unserer Lampen kamen den Monden zu Hilfe. Françoise und Nadira flüsterten miteinander. Unsere Aufnahme- und Sendegeräte waren eingestellt. Die Raupen schlängelten sich herbei. Unter ihrer weichen, halb durchsichtigen Haut pulsierten die Farben. Ihre Beine bewegten sich emsig, ihre Augen leuchteten. Sie hatten nichts dagegen, daß wir da waren und sie beobachteten. Im Gegenteil, sie schienen uns willkommen zu heißen. Und dann stürzten Flügel auf uns herab – oder vielmehr auf die Raupen, nicht auf uns. Wir wurden nur von der Streustrahlung der Gefühle getroffen, die sie auf die Raupen projizierten. Ich erkannte sie als das Schuldgefühl, das mich traf, als ich die Blume abgepflückt hatte. Meine erste Reaktion war großes Mitleid für die Raupen, deren Freude zerstört wurde. Man konnte es aus ihrem Verhalten erkennen, noch bevor die Kommunikation durchkam. Und die Kommunikation war ein herzzerreißender Hilfeschrei. Ich mußte an meine eigenen kleinen Kinder denken, vor allem an Viola und meinen Jüngsten, den goldlockigen Jon, Peders Sohn.
Die unseligen Raupen krümmten sich zusammen oder krochen zur Seite. Ihre Farben verblaßten, ihre Augenflecke trübten sich. Sie schrumpften ein, als würden sie von innen versengt. Wir hatten schreckliches Mitleid mit ihnen, aber wir wußten nicht, ob oder wie wir etwas unternehmen sollten. Dabei ließen wir die Angreifer nicht aus dem Auge, das Flattern und Flirren der Flügel, die Farben, deren Pracht ich noch auf keinem Planeten und unter keiner Sonne gesehen hatte, die Fühler, steif vorwärtsgelichtet wie Angriffswaffen, die glitzernden Beine, die aussahen, als steckten sie in einer Rüstung. Es waren mehrere, und manchmal schwebte der eine oder andere für einen kurzen Augenblick ruhig in der Luft, so daß wir ihn sehen konnten, wie er zweifellos auch uns mit seinen facettierten Juwelenaugen sah, die jetzt wie Diamanten, jetzt wie Saphire oder Smaragde aufblitzten. Doch es ging über unser Begreifen hinaus, was sich da abspielte und warum es Zorn und Strafe auf die unseligen Raupen in ihrem Algensumpf herabregnete. Zwei der Raupen hatten es geschafft, bis zu Françoise hinzukriechen. Sie beugte sich über sie und streichelte die armen Dinger. Ich tat dasselbe, als eine zu mir kam, und ich merkte, daß meine Hand zitterte. Obwohl wir nicht das direkte Ziel der Projektion waren, vergingen wir fast vor Scham. Und was hatten unsere guten, weichen Freunde denn getan? Es gab einen Moment, in dem ich meinte, jetzt werde es mir klar. Auch ich begann, die gepeinigten Geschöpfe als zu Recht bestraft anzusehen. Dann brach der Kontakt ab. Es flatterte in der Luft. Die Schmetterlinge waren verschwunden.
VIII
Wir mußten uns überzeugen, ob einige Raupen bei dem Angriff das Leben verloren hatten, und sahen nach. Doch das war nicht geschehen. Die unter ihnen, die wie in Todesstarre dalagen, entspannten sich langsam und krochen davon, sobald sie ihre knochenlosen Beine wieder mühsam bewegen konnten. Keine der Raupen kehrte in den purpurfarbenen Sumpf zurück. Einige, die sich uns am nächsten befanden, begannen zu kommunizieren. Zuerst war es nur unzusammenhängendes Jammern und Klagen, doch allmählich empfing ich etwas, das ich fast in die Worte übersetzen konnte: »Immer, immer kommen sie, wenn wir glücklich sind, sie nehmen uns unser Glück, warum machen sie das? Sie tun uns weh. Sie tun uns weh. Wir sind schlecht. Sie brennen in uns hinein. Schmerz. Schmerz. Wir sind schlecht. Sie haben uns verändert, verändert. Wir werden das Glück nie wiederfinden.« Françoise und ich kommunizierten ihnen Trost, aber wir verstanden das Ganze nicht. Waren unsere Freunde tatsächlich verändert? Waren sie jetzt nicht mehr fähig, beim Fruchtbarkeitswälzen in den tiefen Sümpfen Lust zu empfinden? Waren ihre Herren so durch und durch grausam, daß sie ihnen das unmöglich gemacht hatten? Wenn ja, warum? Wir mußten unsere Freunde fragen. Zuerst versuchten wir es mit der »Warum«-Frage. Wußten sie, warum ihnen das angetan worden war –? Die Antwort war ein leises, schuldbewußtes Wimmern, doch es stand fest, daß sie nicht wußten, wessen sie sich schuldig gemacht hatten. Da war nur das Gefühl, sie seien »schlecht«, aber kein Wissen darüber,
was es sein könnte. Es war, als werde ihrem Inneren von einer nicht zu begreifenden Macht Schmerz zugefügt. Da sie sich nicht analysieren konnten, taten wir ihnen nur noch mehr weh, wenn wir sie darüber befragten. Trotzdem mußten wir unbedingt eins herausfinden: Welche Verbindung bestand zwischen diesen beiden verschiedenen Lebensformen? Konnten unsere Raupen wirklich die Larven dieser Schmetterlinge sein? Wenn das stimmte – aber die Frage hatte für sie keinen Sinn. »Was geschieht, wenn ihr alt seid?« versuchte ich es von neuem. »Wir werden zugemacht«, antworteten sie, »wir schmelzen, wir gehen.« – »Und bevor ihr hier wart?« – »Wir waren klein. Genau so, aber klein. Unser Leben besteht aus einem einzigen Stück.« Nun probierten wir es von einem anderen Gesichtspunkt aus. Wir fragten, ob die Angreifer (für die Raupen ein »Wort« benutzten, das den Sinn von »Herren« oder »Schmerzbringern« hatte) auch zu anderen Zeiten kämen. »Ja, sie kommen, sie kommen, aus dem Nichts kommen sie. Plötzlich kommen sie. Immer, wenn wir glücklich sind, immer vernichten sie unser Glück. Sie hindern uns daran, Muster zu machen. Sie zerstören unsere Muster. Immer tun sie uns weh, machen uns weniger. Manchmal lassen sie uns lange Zeit in Ruhe, wir vergessen sie. Wir sind glücklich. Immer kommen sie zurück. Helft uns, bitte, helft uns.« Es war schwer, davon nicht erschüttert zu sein. Wir hielten eine Besprechung ab. Françoise hatte mehrere Raupen bei sich, die sich nicht von ihr hatten trennen wollen. Wir konnten keinen körperlichen Schaden an ihnen feststellen, und doch mußten sie verletzt sein. Ihre Farben waren trübe; sie hatten ihre Vitalität verloren. Die Kommunikation wurde ständig von unartikuliertem Jammern unterbrochen. Wir alle streichelten
sie und versuchten zu kommunizieren. Natürlich verstanden sie nicht, was wir untereinander sprachen. Über einen Punkt herrschte bei uns Einigkeit. Wir mußten weiter hinausziehen. Bisher hatten wir nur ein ziemlich kleines Gebiet untersucht. Die ersten Expeditionen hatten ihre Energien und ihre Hilfsmittel verschwendet, indem sie weite Strecken zurücklegten. Heute geht die Tendenz zur Akklimatisierung und detaillierten Erforschung einer bestimmten Stelle, die dadurch zum »Zuhause« wird. So hatten auch wir es gehalten. Auf längere Ausflüge hatten wir schon deshalb gern verzichtet, weil die Berührung und der Geruch einiger Pflanzen sehr unerfreuliche Wirkungen zeitigte. Miss Hayes und ich hatten bei der Vorbereitung dieser Expedition entschieden, daß wir uns nicht mit zuviel Transportmitteln belasten wollten. Schließlich ist der Platz in einem Raumschiff begrenzt, und schon ein leichter Schweber nimmt eine Menge Platz weg. Und natürlich ist die Kommunikation um so schwieriger, je mehr Technik zwischengeschaltet ist. Jetzt aber mußten wir die Sache von neuem durchdenken. Wenn die Raupen, wie es wahrscheinlich war, das Larvenstadium ihrer Angreifer darstellten, mußten wir auf die Suche nach den anderen Stufen gehen: dem Ei, der Verbindung zwischen Schmetterling und Raupe, und der Puppe oder etwas Ähnlichem, der Verbindung zwischen Raupe und Schmetterling. Miss Hayes war die erste, die aufstand und die Konferenz verließ. Als Angehörige der älteren Generation verstand sie unter »Forschung« noch hauptsächlich die räumliche Forschung. Ihre Empathie für andere Spezies war weniger stark entwickelt. Sie hatte hauptsächlich an der Klassifizierung der Lebewesen in den Lagunen gearbeitet. Und sie liebte es, allein zu arbeiten. Es war möglich, daß sie einmal bei einer Expedition in eine Lage geriet, wo sie bei wichtigen
Beobachtungen allein sterben würde. Wahrscheinlich wünschte sie es sich nicht anders. Welch ein Glück, wenn einem Menschen der Tod widerfährt, den er sich selbst ausgesucht hat! Wir rechneten damit, daß sie stundenlang nicht zurückkommen werde. Wir übrigen machten uns Sorgen um eine Anzahl von Raupen, die zu uns gekommen waren und sich faktisch unter unseren Schutz gestellt hatten. Von ihnen erfuhren wir, daß ihre fliegenden Herren und Unterdrücker weitere Bestrafungen durchgeführt hatten. Wir entschlossen uns, einen Schutzschirm über unseren Gästen zu installieren. Zum Glück hatte Peder mir nicht nur gezeigt, wie man das macht, er hatte Miss Hayes auch dazu überredet, das allerneueste Modell mitzunehmen. Olga und ich begannen, den Kleincomputer entsprechend zu füttern. Es war faszinierend, zu beobachten, wie der Schutzschirm sich von selbst aufbaute. Dann kehrte Miss Hayes zurück und berichtete, sie habe zwei oder drei Raupen gesehen, die einwandfrei tot seien und bereits von den Waldkrabben angefressen würden. Wir regten uns sehr auf. Die armen, sanften, unglücklichen Dinger! Durch unsere Heftigkeit drang der Inhalt des Gesprächs zu den anwesenden Raupen durch. Eine, die neben mir saß, begann auf eine Weise zu kommunizieren, die überraschend persönlich war. Im allgemeinen hatten sie immer als Kollektiv zu uns »gesprochen«. Aber diese Raupe bemühte sich, den Gedanken auszudrücken, daß der Tod durch einen Angriff der Waldkrabben zwar schrecklich, aber verständlich sei. Der Tod durch die Schmetterlinge war nicht verständlich, da die Schmetterlinge sie nicht töteten, um Nahrung zu gewinnen. Die Waldkrabben aßen jetzt die toten Raupen, aber nicht deswegen hatten die Schmetterlingen die Raupen getötet. Und ein Körper, der nicht des Essens wegen getötet wurde, sollte zugemacht werden, sollte in Ruhe gelassen werden,
sollte nicht gesehen werden. So war es richtig, wie auch das Töten, um zu essen, richtig war. Aber was durch die Schmetterlinge geschah, war nicht richtig. Es war falsch, falsch, und jetzt würde es immer weitergehen, hier oder da. Die Herren, die Bestrafer, sie griffen immer Schlag auf Schlag an. Wenn man dachte, sie seien fort, kamen sie zurück. So gut es mir möglich war, erklärte ich den Raupen die Funktion des Schutzschirmes. Eine der Navigatorinnen hatte damit begonnen, Raupen aufzuheben und unter den Schirm zu tragen. Aber meine Freundin wollte sich nicht trösten lassen. Sie wiegte den Kopf mit den seltsamen, vorstehenden Augen. »Ich kann nicht bei dir bleiben«, sagte sie, »ich muß gehen – ich muß weit weg von dir gehen.« »Aber wohin?« »Ich weiß es nicht. Ich werde alt. Ich muß – ich muß – « Und dann war nichts mehr zu verstehen. Steif und langsam setzte sie sich in Bewegung. »Bleib unter dem Schutzschirm, und du wirst in Sicherheit sein. Wir helfen euch«, drängte ich. Aber vergeblich. Wieder bewegte meine Freundin den Kopf, ruckhaft jetzt, und die Kommunikation von Zuneigung und Abschied kam durch. Dann krümmte sie ihren Körper und kroch aus dem Schutz hinaus. »Ich gehe mit ihr«, sagte ich, seltsam bewegt, »ich bleibe in Kontakt. Vielleicht erfahren wir so, was wir wissen wollen.« Ich bemerkte, daß auch eine von Françoises Freundinnen aufbrach und denselben Weg einschlug. Dann schloß sich uns eine weitere Raupe an, die zusammengerollt und wie bewußtlos dagelegen hatte. Sie krochen an ihren Eßplätzen und, ohne auch nur hinzusehen, an mehreren besonders schönen Mustern vorbei. Sie wurden schneller. Sie kamen an ein Dickicht aus einem wuchernden, verfilzten Gewächs, das, wie ich aus früherer Erfahrung wußte, auf Menschen zwei unerfreuliche Wirkungen
hatte. Die Blätter verursachten einen nesselartigen Ausschlag, und der Geruch, rief, obwohl er nicht stark war, wahrscheinlich durch eine direkte Nervenreizung Erbrechen hervor. Aber ob die Raupen nun etwas davon spürten oder nicht, sie drängten sich hindurch. Also mußte ich ihnen folgen. Ich schützte Gesicht und Hände, so gut ich konnte, und holte noch einmal tief Atem. Trotzdem mußte ich erbrechen. Bis ich wieder aus dem Dickicht herauskam, war es so schlimm geworden, daß ich mich blindlings an den Zweigen anklammern mußte. Durch die Berührung mit den Blättern entzündete sich meine ganze Haut. Glücklicherweise hielt das nicht länger als zwei Stunden an, aber solange es dauerte, war es scheußlich. Jenseits des Dickichts befand sich ein kleiner Wald aus hohen Bäumen mit gerade herabhängenden Blättern, die ich bisher noch nicht gesehen hatte. Ich hütete mich davor, sie zu berühren, doch später stellte sich heraus, daß sie ganz harmlos waren. Alle Raupen kletterten mühsam nach oben. Ich versuchte, mit ihnen zu kommunizieren, aber vergeblich. Schwach und elend, wie ich mich fühlte, setzte ich mich auf den Boden und sah zu, wie sie höherstiegen. Dann ließen sie sich kopfüber von den Ästen fallen, an denen sie mit dem letzten Paar Füße klebenblieben. Sie schienen auf der Stelle hart und steif zu werden. Ich berührte eine der Raupen. Sie erinnerte in nichts mehr an das lebende Geschöpf, das sich vor kurzem noch so gern hatte streicheln lassen und dessen weichen Körper ich so gut kannte. Ich stellte mein Funkgerät ein, setzte mich mit den anderen in Verbindung und sagte ihnen, das wäre es. Wir hatten das Zwischenglied gefunden. Gern hätte ich gewartet, aber natürlich konnte ich nicht wissen, wie lange der Puppenzustand dauern würde. Ich riet meinen Kolleginnen, mir nicht durch das Dickicht zu folgen. Sobald ich mich entschlossen hätte zurückzukehren, würde ich ihnen Bescheid
geben, so daß sie mich auf der anderen Seite mit den geeigneten Medikamenten erwarten könnten. Ein zweiter, ebenso starker Anfall von Erbrechen mußte mich ziemlich krank machen. Dann spazierte ich einige Zeit in dem Wald umher. Er war voll von Puppen, die starr und steif von den Bäumen hingen. Diese Bäume hatten wir nicht früher entdeckt, weil wir uns vor dem Dickicht gehütet hatten. Mein Gesicht und meine Hände waren immer noch dick geschwollen, doch der Schmerz ließ langsam nach. Ein paar Stiche mußten auch durch meine Kleidung gedrungen sein, besonders rings um die Fußknöchel. Hätte ich nur eine Erste-Hilfe-Tasche dabeigehabt! Und dann bekam ich es plötzlich mit der Angst zu tun. Zweifellos war das hauptsächlich eine Nachwirkung des Erbrechens; ich hatte Durst, aber auch daran ließ sich im Augenblick nichts ändern. Ich fürchtete mich vor der absoluten Stille. Noch einmal rief ich die anderen an, und sie schienen weit weg und ganz unwirklich zu sein. Für gewöhnlich denkt man bei einer Expedition nicht an Terra oder an terranische Verbindungen. Das ist in einer Zeit, in der man sich voll konzentrieren muß, nur ablenkend. Jetzt dachte ich an Peder. Erst tröstete mich das, doch dann wurde auch er ganz unwirklich. Wirklich waren nur die vollständige Stille und diese steifen Körper, die, jeder etwa einen Meter lang, in ihrer todesähnlichen Erstarrung von den Ästen hingen. Und dann wurde die Stille von einem leisen, lächerlichen, knallenden Geräusch zu meiner Linken gebrochen. Ich lief hin, so schnell ich konnte, und sah zu, wie der trockene alte Körper, der jetzt nichts anderes als ein Behälter mehr war, zerplatzte. Etwas drängte sich hinaus, offensichtlich unter Schmerzen, denn es begann beinahe sofort zu kommunizieren. Ich konnte nicht alles genau verstehen, und das Wesen bemühte sich auch gar nicht, mit mir in Kontakt zu kommen. Ich stand unter ihm
und starrte ununterbrochen nach oben. Es war naß von einer Geburtsfeuchtigkeit, die schnell trocknete. Kein Zweifel, das wurde ein Schmetterling. Das Geschöpf hatte die gepanzerten Beine, in den noch trüben Augen kündigten sich die Juwelenfarben an, und auf seinem Rücken hockte eine graue, knitterige Masse, die das Schmerzzentrum bilden mußte. Ein Schauer nach dem anderen durchlief sie. Ich wünschte so sehr, dem Wesen helfen zu können, wie ich ihm in einem früheren Leben geholfen hätte. Dabei vergaß ich nicht, nach einem Geschlechtsmerkmal Ausschau zu halten, entdeckte jedoch nichts dergleichen. Und dann platzte eine zweite Puppe auf, und wieder überfiel mich eine Kommunikation von Schmerz und Verzweiflung und Hilfeschreien. Das Gefühl, völlig nutzlos und daher verächtlich zu sein, rief neues Erbrechen bei mir hervor, wenn auch nicht so schlimm wie vorher. Endlich bekamen die kämpfenden Wesen eine Antwort. Flirrende Flügel stürzten herab, überraschend wie immer, denn die Bewegung, die sie nach unten führte, war das Ende eines rapiden Zickzackflugs. Über dem zuerst ausgeschlüpften Geschöpf schwebten zwei Schmetterlinge. Offenbar ermutigten sie es, denn es begann, sich schneller zu regen, und die Kommunikation verriet weniger Elend und mehr Aufregung. Die beiden Schmetterlinge benutzten die Klauen und die nach unten gerichteten Fühler dazu, die Flügelmasse zu entfalten, zu trocknen und zu glätten. Plötzlich war klar, daß der neue Schmetterling keinen Schmerz mehr empfand. Durch seinen Körper flackerten und pulsierten Farben, er streckte sich, wurde härter und begann zu leuchten. Die Juwelenfarben blitzten in seinen Augen auf. Er sah mich an, aber er schien mich nicht als ein lebendes Wesen, ob Feind oder Freund, zu erkennen. Ich hatte so gebannt zugesehen, daß ich den Anfang
dessen, was mit dem zweiten ausschlüpfenden Schmetterling geschah, verpaßte. Sie töteten ihn! Sie versengten und zerstörten ihn, nicht durch Gewaltanwendung, sondern allein durch ihren brennenden Tadel, der auch über mich hinwegflutete. Das Wesen, das einmal eine Raupe gewesen war, verging vor Scham und Schuldbewußtsein, und es hatte doch keine Ahnung, wessen es sich schuldig gemacht hatte. Es verlor sein Selbstvertrauen, es verlor allen Willen, geboren zu werden und zu leben. Es starb. Dann erkannte ich, daß seine Flügelmasse ungleichmäßig war. Wenn es gelebt hätte, dann hätte es einen verkrüppelten Flügel gehabt. Aber es hatte nicht gelebt. Nicht in seinem neuen Leben. Ich beugte mich über das Wesen, teils aus Mitleid, doch hauptsächlich, um es zu untersuchen und mir Notizen zu machen. Besonders interessant waren seine Füße, denn das erste Paar hatte sich, wie ich nach dem Verhalten der Schmetterlinge bereits vermutet hatte, in teilweise ungepanzerte Greifklauen verwandelt. Plötzlich strömten die Waldkrabben herbei, und ich ging ihnen schnell aus dem Weg. Sie hatten bisher noch keinen von uns menschlichen Beobachtern angegriffen, aber mir gefielen ihre Methoden nicht. Jetzt sah ich, daß das neue Individuum seinen ersten Flug versuchte. Die anderen, fertig mit dem begangenen Mord, ermutigten es. Sie schüttelten den Zweig, auf dem es saß. Es zögerte, seine Farben flackerten, und dann hob es sich plötzlich in die Luft und schlug mit den Schwingen. Ich empfing den Bruchteil eines Gefühls staunender Freude. Wenn es mich voll getroffen hätte, wäre es stärker als alles gewesen, was ich bisher erfahren hatte, obwohl ich sehr wohl weiß, was Freude ist. Es lag darin das Entzücken an der neuen Bewegung, am Licht nach der Dunkelheit, am Leben in seiner herrlichsten Form. Aber es lag darin auch ein ungeheures
Selbstbewußtsein, fast so etwas wie Selbstgerechtigkeit, und doch war es ein reines Gefühl, da es ohne Ursprung und ohne Richtung war. Die anderen Schmetterlinge wirbelten mit ihm in die Höhe. Dann ließ sich einer wieder fallen und kam auf mich zu. Ich erschrak. Ich hatte unmißverständlich auf der anderen Seite gestanden. Wollte dies Wesen mich behandeln, als ob ich eine Raupe sei? Das Erbrechen und der ausgestandene Schmerz hatten mich geschwächt. Ich hatte meine Waffe mitgenommen – dies Ding, das ich bei allen meinen Expeditionen niemals gebraucht hatte. Kam jetzt der Augenblick, wo ich der Waffe bedurfte? Ich gebe zu, daß ich vor dem Schmetterling Angst hatte. Aber meine Neugier, die mich in gefährlichen Situationen schon so oft gerettet hatte, wurde auch jetzt stärker als meine Furcht. Ich wartete, ich versuchte, mich einzustimmen, ich konzentrierte mich auf den Rhythmus der Farbänderungen in den Flügeln und Augen des Schmetterlings. Seine erste Kommunikation war wieder strenger Tadel, doch nicht von der versengenden Art, wie die Schmetterlinge ihn auf die Raupen abstrahlten. Diese Modifizierung war das, worauf ich achten mußte. Wenn die Schmetterlingen Geräusche produziert hätten, wäre es mir leichter geworden. Aber die Kommunikation erfolgte ausschließlich durch die Abstrahlung von Gefühlen und – wie ich jetzt merkte – von Gedanken. Ich wurde meiner Gedanken und Absichten wegen getadelt, doch schwang auch eine Art von Verständnis mit. Der Schmetterling schien von mir zu verlangen, ich solle den Unterschied zwischen dem freudenvoll aufgeflogenen neuen Wesen und dem Toten erkennen, denn der Tote sei aus einem Grund tot, der in seiner eigenen Beschaffenheit gelegen habe. Und dieser habe Strafe, Strafe, Strafe erfordert.
Ich gab mir Mühe, ihm in Gefühl und Gedanken meine reine Wißbegier mitzuteilen, aber es war nicht leicht. Ich entdeckte, daß der Schmetterling meine Schwierigkeiten – wenn auch ungeduldig – zur Kenntnis nahm. Nein, ein Feind im eigentlichen Sinne des Wortes war er nicht. Seine Fühler zitterten, seine Augen wechselten in schneller Folge die Farbe. Was auch ihre Methode der Kommunikation sein mochte, sie war fürchterlich genau gezielt und eng gebündelt, und Ausflüchte gab es davor nicht. Plötzlich raste der Schmetterling im Zickzack davon. Ich blieb mit einem Gefühl des Verlustes zurück, das sich für mich später mit ihrem unvermittelten Verschwinden assoziieren sollte. Mir war recht kläglich zumute, und ich wünschte, ich hätte einen Schluck Alkohol oder Kaffee oder ein ähnliches Stimulans haben können. Langsam ging ich zu dem Baum zurück, an dem meine erste arme Freundin jetzt hing und sich verwandelte. Weiter weg platzte eine neue Puppe auf, aber ich konnte nicht mehr rechtzeitig hinkommen. Der Schmetterling mußte schnell und schmerzlos ausgeschlüpft sein. Auch fand ich einen halb aufgefressenen Krüppel, zweifellos durch Tadel getötet. Hatten die neuen Schmetterlinge irgendeine Erinnerung an ihren früheren Zustand? Das bezweifelte ich sehr. Sie mußten während der Umwandlung von der einen Art des Seins in die andere verlorengehen. Ich dachte über die Tatsache nach, daß es bei den Raupen nach dem Wälzen zu einer Zellteilung gekommen war. Gab es einen vollständigen zytologischen Zusammenbruch, oder überdauerten die individuellen Zellen? Das konnte ich an dem halb aufgefressenen Exemplar feststellen. In meiner augenblicklichen Verfassung empfand ich jedoch eine merkwürdige Scheu, es zu berühren. Ich stand da mit einer Hand auf der Puppe meiner alten Freundin, die mich nicht wiedererkennen und auch nicht den
Wunsch verspüren würde, mit mir zu kommunizieren. Aus meiner Traurigkeit wurde ich erst aufgerüttelt, als meine Kolleginnen mich anriefen und mir mitteilten, die Raupen seien in meiner Richtung unterwegs. Wenn sie den Wald erreicht hätten, sollte ich entweder durch das Dickicht zurückkommen, worauf ich sofort behandelt würde, oder Miss Hayes würde zu mir vorstoßen und mir Hilfe bringen. Ich antwortete, ich käme. Etwas anderes zu tun, hatte gar keinen Zweck. Sicher hätten wir einen Teil des Gebüschs vernichten können, doch hätte das gegen die fundamentalen Regeln der Nichteinmischung verstoßen. Ich wartete, bis die ersten der Raupenschar auftauchten. Ich streichelte sie, und sie zeigten mir schwach ihre Zuneigung. Dann kletterten sie die Bäume hinauf und ergaben sich in das, was für sie, wie sie jetzt waren, dem Tod gleichkam. Es mochte auch der tatsächliche Tod sein, wenn sie sich nicht zur Zufriedenheit ihrer Herren entwickelten. Ich quälte mich durch das Dickicht zurück. Es war sehr unangenehm, und als ich den ersten Schritt ins Freie machte, war ich kaum noch bei Bewußtsein. Als ich die Augen wieder öffnete, lag mein Kopf in Olgas Schoß. Ich starrte die mir wohlbekannte Narbe auf Miss Hayes’ Wange an, als habe sie für mich eine besondere Bedeutung. Vielleicht hatte sie das auch: Sie war ein Symbol ihres edlen biologischen Forschungsdrangs. Übelkeit und Schmerz ließen nach. Bald schon konnte ich weitergehen. Nun folgte eine lange und interessante Diskussion über die Techniken, mit denen wir die Kommunikationen der Schmetterlinge in etwas für uns Verständliches umsetzen konnten. Das heißt, wir wollten nicht nur wissen, was sie sagten, wir wollten auch zu einem echten Gespräch kommen. Dazu bedurfte es einiger Kooperation von ihrer Seite. Wir wollten als erstes versuchen, unsere eigenen
Kommunikationen für sie zu vereinfachen und in geeigneter Form zu übermitteln. Ach, wie wenig war noch von dem alten, glücklichen Raupenleben übrig! Sie machten keine Muster mehr, sie wälzten sich nicht mehr im Sumpf. Wir entdeckten jetzt mehr kleine, junge Raupen, aber sie kommunizierten, auch untereinander, nur sehr wenig, und ihre Tätigkeiten machten einen unkoordinierten Eindruck. Ob die älteren Raupen ihnen die Legende über die schrecklichen, auf sie herabstürzenden Schmetterlingen überliefert hatten? Waren sie vor ihnen gewarnt worden? Françoise war sehr deprimiert. Sie hatte sich mit den Raupen stärket identifiziert, als eine Forscherin es darf. Wir von Terra sollten es nach all unseren Erfahrungen wissen, daß wir unsere weichen Herzen nicht von den Problemen einer anderen Spezies oder einer völlig fremden Lebensform rühren lassen dürfen. Doch von Zeit zu Zeit geschieht es eben. Françoise stand vor den alten Mustern aus Exkrementen, die jetzt vertrockneten und vom Wind verweht wurden, und weinte. Manchmal ging Nadira, manchmal eine der Navigatorinnen mit ihr, um sie zu trösten. Miss Hayes zog wieder allein los und büßte bei einer ihrer Expeditionen das obere Glied eines Fingers ein. Olga schrieb ihre Beobachtungen nieder. Sie holte sich ihre botanischen Musterexemplare des Nachts, weil es bei Tag wahrscheinlicher war, daß sie von den Schmetterlingen angegriffen wurde. Olga war von uns allen diejenige, die für die Kommunikation von Zorn und Tadel am wenigsten anfällig war, aber auch sie fand sie bedrückend. Ich selbst arbeitete eifrig an den Kommunikationstechniken. Glücklicherweise hatte mein Fachkollege auf der Schmetterlingsseite die gleiche Linie verfolgt. Aber mit Glück hatte das eigentlich nichts zu tun. Soweit ich feststellen kann,
waren er und ich auf die einzig mögliche Lösung gestoßen. Jedenfalls stimmten unsere Koordinaten überein. Wir waren alle zusammen, als es geschah. Die Schmetterlinge stürzten sich herab. Françoise hatte zwei halb erwachsene Raupen bei sich und liebkoste sie. Sie hatten gerade begonnen, einfache Muster herzustellen, und deshalb fühlte Françoise sich ein wenig aufgeheitert. Als Olga aufschrie und auf die Schmetterlinge zeigte, nahm Françoise die Raupen schützend in ihre Arme. Es waren zwei. Bei dem einen von ihnen herrschte im Rhythmus des Farbwechsels ein Rot vor, das manchmal in grauen Tönen verschwand. Es ist schwer zu beschreiben, und es fiel einem auch schwer, sich das anzusehen, denn man erhielt eine Art von visuellem Schock. Vermutlich handelte es sich um ein Infrarot, das wir nicht sehen konnten. Ähnlich war es, wie ich entdeckte, wenn die blaue Farbe vorherrschte, die ins Ultraviolette überging. Der zweite Schmetterling lag im mittleren Bereich des Spektrums. Wenn etwas zu hören gewesen wäre, hätte man sagen können, daß sie uns ansprachen. Oder vielmehr, der rote Schmetterling sprach mich nach einigen Versuchen an, und der andere strahlte einen scharfen Tadel auf Françoise ab. Mich fesselte diese erste Verständigung so sehr, daß ich nichts merkte, bis Françoise loskreischte. Ich hatte keine Ahnung davon gehabt, daß der alte Gossenjargon bei den Studenten der Sorbonne überlebt hatte. Sogar der Schmetterling wich für einen Augenblick vor der Heftigkeit ihrer Emotionen zurück. Dann setzte er zu einem neuen Angriff an. Wir hielten immer noch einen kleinen Schutzschirm in Betrieb, und Olga rannte zum Computer, um ihn erweitern zu lassen. Françoise zog sich, die Raupen an sich gedrückt, darunter zurück, und zu meinem Bedauern muß ich sagen, daß sie ausspuckte. Offensichtlich konnte der Schirm weder sie
noch die Raupen völlig vor den Projektionen der Schmetterlinge schützen. Ich sah, wie die Raupen sich krümmten und zusammenrollten, und es gelang mir, den roten Schmetterling davon zu überzeugen, daß das aufhören müsse, bevor wir weiter kommunizieren könnten. Ich werde nun versuchen, den Inhalt unseres Gesprächs in Worte zu übertragen. Ich stütze mich dabei auf die Notizen, die damals jede von uns für sich machte und die wir später zusammenstellten. Wir hatten nicht immer die gleiche Bedeutung verstanden, und gelegentlich waren wir alle uns nicht sicher gewesen. Ich glaube auch nicht, daß die Schmetterlinge unsere Erklärungen immer ganz richtig verstanden haben. Später gelangen uns wie ihnen Verbesserungen. Bestimmt hatten die Schmetterlinge das Gespräch auf andere Weise beginnen wollen, aber Françoise und ihre Raupen lenkten sie ab. »Warum schützt es sie?« wollten sie wissen. »Das ist falsch.« Ich sagte: »Wir wollen ihnen helfen. Sie sind gut, und sie sind traurig. Warum tut ihr ihnen weh?« »Man muß ihnen wehtun«, antworteten die Schmetterlinge. »Man muß sie bestrafen. Dann werden sie diese Dinge nicht mehr tun. Diese bösen Dinge.« »Warum wollt ihr nicht, daß sie sie tun? Es gehört zu ihrem Leben. Eines Tages werden sie sein wie ihr.« Es gefiel den Schmetterlingen nicht, daß ich das aussprach; ihre Vibrationen schienen mißtönend zu schnarren. Und doch war es etwas, das ihnen bekannt war. Der Rote drückte sich sehr vorsichtig und unangenehm berührt aus: »Aus dem, was sie sind, wird das, was sie sein werden. Sie machen uns.« Ich stimmte zu. Der Schmetterling richtete seine bebenden Fühler grimmig auf Françoise, und ich hatte den Eindruck, daß diese sehr beweglichen Fühler die emotionalen Kommunikationen konzentrieren konnten. »Es hält sie fest«, sagte der
Schmetterling. »Es hilft ihnen, unrecht zu tun. Es hilft ihnen, Muster zu machen!« »Warum dürfen sie keine Muster machen?« fragte ich. Der rote Schmetterling setzte für einen Augenblick mit der Kommunikation aus, und der andere schoß zornig über dem Schutzschirm hin und her. Dann erklärte der Rote: »Wenn sie es tun, dann werden, sobald sie zum Leben erwachen, die Flügel – « Die Kommunikation wurde undeutlich. »Die Flügel – werden verletzt. Die Flügel – kommen nicht.« Das mochte die Erklärung für das sein, was ich gesehen hatte. »Warum?« fragte ich. Beide Schmetterlinge begannen zu kommunizieren, und es war schwierig, sie auseinanderzuhalten. Aber ich faßte ihre Erklärungen so auf – und die anderen bestätigten es mir später –, daß für das Herstellen der Muster die Eingeweide besonders angestrengt werden mußten – jedenfalls war das ihre Theorie –, und das tat einer gesunden Entwicklung der Flügel Abbruch. Auch wandte es – wieder laut den Schmetterlingen – einen Rhythmus oder ein Muster nach außen, das innerlich sein sollte. Mit einem Mal erkannte ich, daß der Farbenrhythmus in den Flügeln, auch wenn er viel komplizierter war, mit den aus Exkrementen verfertigten Mustern der Raupen Ähnlichkeit hatte. Anscheinend hofften die Schmetterlinge, sie könnten die Raupen dazu zwingen, diese Rhythmen im Inneren zu bewahren. Sie haßten nichts mehr als die großen Musterausstellungen, die uns nicht nur den ersten richtigen Kontakt mit den Raupen ermöglicht, sondern bei Françoise und schließlich bei uns allen Empathie mit den Raupen hervorgerufen hatten. Wir konnten nicht nachprüfen ob die Theorie der Schmetterlinge richtig war und jedenfalls hätte es dazu anatomischer Untersuchungen bedurft. Françoise, die schließlich keinen Schmetterling mit verkrüppelten Flügeln aus
der Puppe hatte schlüpfen sehen, glaubte ihnen einfach nicht. Sie versuchte, ihnen zu sagen, daß sie nichts als Macht wollten und die Geschichte erfunden hätten, um sich selbst zu rechtfertigen. Doch vielleicht glücklicherweise gelang es ihr nicht, sich verständlich zu machen, außer daß sie völlige Ungläubigkeit ausstrahlte. Plötzlich machte einer der Schmetterlinge eine Äußerung, die sich offenbar auf Françoise bezog: »Es hindert uns am Sprechen. Es haßt. Wir werden wiederkommen.« Und sie wirbelten so schnell davon, wie sie erschienen waren. Das gab uns eine Menge Stoff zu diskutieren. Leider ergriffen wir für die eine oder andere Seite Partei. Miss Hayes hielt die Schmetterlinge für eine höchst interessante Lebensform, eine Möglichkeit zu einem intellektuellen Kontakt und ein Stimulus. Françoise erklärte kalt, was die Schmetterlinge behaupteten, sei unmöglich und unwahr. Sie könne fühlen, wieviel Grausamkeit und Haß dahintersteckten. Sie liebkoste die beiden kleinen Raupen, die sich ein wenig entspannten. »Das Herstellen der Muster ist ihr Glück und ihre am höchsten entwickelte Fertigkeit«, sagte sie. »Wir können sie nicht im Stich lassen. Jedenfalls kann ich es nicht.« Nadira stand ihr in der Frage der Loyalität bei, sah jedoch ein, daß sie sich beide auf einen ziemlich unwissenschaftlichen Standpunkt stellten. Die Navigatorinnen waren unsicher und besorgt. Ebenso die Geologin, die nicht weiter darüber nachdenken wollte. Olga lachte und zog uns andere auf. Ich selbst wollte die Kommunikation fortsetzen und bessere Methoden ausarbeiten. Außerdem hatte ich zwar auch Sympathie für die Raupen und nicht zuletzt für ihr Wälzen empfunden, aber ich hielt es im Augenblick für das Wichtigste, so objektiv wie möglich zu sein. Es schoß mir durch den Kopf, daß die heftige Spannung, die sich zwischen uns entwickelte,
vielleicht ein bißchen gemildert worden wäre, wenn an dieser Expedition auch zwei oder drei Männer teilgenommen hätten. Es dauerte ein paar Tage, bis die Schmetterlinge zurückkamen. Und in der Zwischenzeit ermutigte Françoise die schnell wachsenden jungen Raupen dazu, Muster herzustellen. Das war schon keine bloße Sympathie mehr, das war etwas, das sehr nahe an Einmischung herankam. Miss Hayes und ich machten uns Sorgen deswegen. Was sollten wir tun? Ich saß mit Olga zusammen, reparierte und prüfte einen meiner Apparate und plauderte mit ihr über unsere Rückreise. Da stürzten die Schmetterlinge auf uns herab. Die Kommunikation begann beinahe noch bevor wir bereit dazu waren. Diesmal wollten sie uns die zweite Untat erklären, für die die Raupen Strafe verdienten. Es handelte sich um das Wälzen in den Algensümpfen, und es dauerte einige Zeit, bis sie sich verständlich gemacht hatten, weil sie sich so darüber aufregten, daß ihre Gefühle die Kommunikation erschwerten. Ebenso war es mit ihrer Ungeduld, als ich ihnen nicht gleich folgen konnte. Schließlich ergab sich folgendes: Diese befruchteten Raupen wurden als Schmetterlinge wiedergeboren, die früher oder später Eier legen mußten. Das Eierlegen tötete den Schmetterling, nicht nur durch die körperliche Anstrengung, sondern auch durch das Wissen, daß er dazu verurteilt war, Dutzenden, wenn nicht Hunderten – die Zahlenbegriffe waren mir nicht klar – dieser niedrigen Kreaturen das Leben zu geben, die eine böse Tat nach der anderen vollführen und so nie in den Stand der Gnade gelangen würden. Ich versuchte, sie darauf hinzuweisen, daß es, wenn keine Eier mehr gelegt würden, nicht nur keine Raupen, sondern auch keine Schmetterlinge mehr gäbe. Diesen Einwand wischten sie weg. Es kam gelegentlich vor, so erläuterten sie
mir, daß eine nicht befruchtete Raupe – wahrscheinlich durch Angriffe der Schmetterlinge an jedem Versuch, sich im Algensumpf zu wälzen, gehindert – sich verpuppte. Wenn man sie dann auch noch davon abgeschreckt hatte, Muster zu machen, und wenn sie vollkommene Flügel hatte, dann gab es keinen Grund, warum der aus ihr entstehende Schmetterling nicht für ewig leben sollte. Die Schmetterlinge hatten, soweit wir feststellen konnten, keine natürlichen Feinde. Sie wurden auch nicht durch einen Wechsel der Jahreszeiten dahingerafft, wie es auf anderen Planeten der Fall ist. Es war schwierig, von ihnen Auskünfte über Krankheiten und Unfälle zu erhalten. Aber anscheinend war jedes einzelne Individuum, das keine Eier zu legen brauchte, noch am Leben und in einer Glückseligkeit, die mir meine Gesprächspartner nicht näher erläutern konnten. Sie benutzten ein Gleichnis: Wenn ein Schmetterling über eine Lagune fliegt, ist da der Schmetterling und das Spiegelbild des Schmetterlings. Die unfruchtbaren Individuen befanden sich in einem Zustand, der dem des Schmetterlings verglichen mit seinem Spiegelbild entsprach. Wir brauchten mindestens zwei Stunden, um so weit zu kommen. Dann sausten sie davon, und uns beide überkam das Gefühl des Verlustes. Doch sie kehrten sehr schnell zurück, und jetzt stürzten sie sich in die Sache mit den Blumen. Wir hatten bereits beobachtet, daß es Blumen gab, aus denen sie nicht den Nektar, sondern den Duft selbst sogen. Andere Blumen spielten in einer Art rhythmischem Spiel oder Tanz eine Rolle. Es war unmöglich zu beurteilen, ob in all dem ein Element des ästhetischen Genusses enthalten war. Doch wir hatten den Eindruck gewonnen, daß die schönsten Farben und Formen die Schmetterlinge ebenso ansprachen wie uns. Jede Einmischung bezüglich der Blumen galt als tadelnswert, nicht ganz so wie die Untaten der Raupen, aber doch mit einer
scharfen Attacke zu bestrafen. Diese war in ihrer Wirkung teilweise auch körperlich, weil damit andere Formen des Insektenlebens, die die Blumen beschädigen könnten, abgeschreckt werden sollten. Für das Schuldbewußtsein, das der Bestrafte empfand, mochten diese niedrigen Tiere nicht empfänglich sein. Deshalb also hatte ich geglaubt, gestochen worden zu sein. Der Rote wollte wissen, warum »es« die Blumen abgepflückt habe. Ich erklärte, Olga begehre nur ein Musterexemplar von jeder Sorte, um darüber nachdenken zu können, und sie präserviere sie sorgfältig. Mit einiger Schwierigkeit erfaßte ich, daß die Schmetterlinge das sehen wollten. Olga holte eins unserer besten Muster. Natürlich war es, da uns für den Rücktransport nur ein beschränkter Raum zur Verfügung stand, nicht museumsreif hergerichtet. Es war mir unmöglich, den Schmetterlingen klarzumachen, daß die weitere Bearbeitung der Blume ihre ursprüngliche Schönheit fast ganz zurückgeben werde. Beide Schmetterlinge wurden sehr aufgeregt. Ich glaube, sie waren der Meinung, Olga habe nicht bloß die Blume an sich, sondern auch ihre Farbe, ihre Struktur und ihren Duft geraubt. Sie versandten die Stiche, die ich mehr spürte als Olga. Ich versuchte, sie mit der Erklärung zu besänftigen, dies unansehnliche Objekt werde nicht nur wiederhergestellt, sondern auch zu einem Gegenstand der Wissensbereicherung und Bewunderung werden. Aber es war schwer zu entscheiden, wieviel die Schmetterlinge in ihrer Erregung davon verstanden. Plötzlich rasten sie mit Flügelschlägen, die zu schnell waren, um vom Auge erfaßt zu werden, davon, und gleich darauf waren sie außer Sicht. »So was!« sagte Olga und schüttelte sich wie ein Hund, der aus dem Wasser kommt.
IX
Wie üblich, waren für unsere Rückreise ein paar geringfügige navigatorische Probleme zu lösen, was mit etwas Mühe und der notwendigen Ausrüstung immer gelingt. Aber das Gefühl, daß sich die Expeditionsteilnehmerinnen uneinig waren, bedrückte uns alle und behinderte die Zusammenarbeit, die in diesem Stadium lebenswichtig war. Françoise verbrachte ihre ganze Zeit mit einer Gruppe junger Raupen. Sie wuchsen schnell bis auf die, die nicht wiedergutzumachende Schäden davongetragen hatten, und auf diese schien uns Françoise ein ganz unvernünftiges Maß an Liebe und Fürsorge zu verschwenden. Ziemlich trotzig erklärte sie, die gesunden Raupen seien bald so weit, daß sie Muster machen könnten, und dann würden sie in die Phase des Wälzens eintreten. Ich war darüber besonders beunruhigt, weil ich inzwischen zweioder dreimal die Schmetterlinge besucht hatte und es mir gelungen war, verschiedene Punkte zu klären. Aber Françoise war im Augenblick vernünftigem Zureden nicht zugänglich. Eine der Navigatorinnen, bei der eine besondere Begabung für unsere Art der Kommunikation zutage getreten war, stellte sich auf ihre Seite. Miss Hayes ging wieder allein auf eine Expedition – wie ich glaube, teilweise deswegen, weil sie über alles in Ruhe nachdenken wollte. Als sie in einer der Schluchten herumkletterte, fand sie durch Zufall einen der uns noch fehlenden Hinweise. Hinterher erzählte sie mir, sie sei von Traurigkeit überwältigt worden, je weiter sie in der Schlucht vordrang. Sie fürchtete, Françoises unvernünftige Haltung werde sich auf andere Teilnehmerinnen übertragen. Das konnte den Start nicht nur
für uns, sondern auch für unsere Musterexemplare gefährlich machen. Nun hätte sie normalerweise gegen solche Sorgen zumindest eine mentale Abwehrmaßnahme getroffen. Doch jetzt erwiesen sie sich als zu stark für sie. Sie mußte an Erlebnisse auf Terra zurückdenken, die sie längst sublimiert und an die sie sich bisher ruhig und oft genug belustigt erinnert hatte. Auf einmal belasteten sie sie wieder. Sie hatte das Gefühl eines unersetzlichen Verlustes, als sei ihr plötzlich bewußt geworden, daß ihr ganzes Arbeitsleben nur ein Traum gewesen war. An irgendeinem Punkt mußte sie eine falsche Entscheidung getroffen haben, und danach gab es nichts mehr, was einen Wert gehabt hätte. Das Gefühl war so stark, daß sie beinahe mit ihren Beobachtungen aufhörte, und in diesem Zustand marschierte sie geradewegs in die Quelle all dieses Leids hinein. Ihr war, als erwache sie aus einem Alptraum. Denn natürlich legte da ein Schmetterling seine Eier ab und starb dabei. Die Erschaffung neuen Lebens, für uns etwas Schönes und Wundervolles, war für den Schmetterling, wie wir wußten, etwas Verabscheuungswürdiges. Seine Fühler hingen herab, seine Greifklauen schlossen und öffneten sich unaufhörlich, Farbschauer, gebrochene Rhythmen durchliefen seine Flügel. Die Eier strömten heraus, zerrissen seinen Körper und hinterließen eine Spur auf den Algen. Langsam sanken sie, vielleicht nicht bis auf den Grund, aber zumindest unter die Oberfläche. Es war schwer zu entscheiden, ob der Schmetterling im gleichen Sinn wie wir Terraner und viele extraterrestrische Spezies Schmerz empfand. Was er aussandte, waren Wellen des Leids und der äußersten Verzweiflung. Sobald Miss Hayes erkannt hatte, was da geschah, versuchte sie, dem Schmetterling ihr Mitgefühl zu übermitteln. Aber vielleicht ist Mitgefühl eine zu menschliche Angelegenheit; es hatte nicht die geringste Wirkung. Miss Hayes jedoch fragte sich, ob sie als Mitglied einer etwas älteren Generation
vielleicht nicht ganz auf dem neuesten Stand der Kommunikationstechnik sei. Ich oder eine der anderen mochte mehr Erfolg haben. Sie setzte einen Funkspruch ab, und wir alle eilten zu der von ihr angegebenen Stelle. Hier war endlich das lange gesuchte Verbindungsstück. Zufällig waren Olga und ich dem Ort am nächsten, da wir einige botanische und ökologische Beobachtungen durchführten. Bei unserer Ankunft empfingen auch wir sofort das unendliche Leid, und wir versuchten zu kommunizieren, aber es schien unmöglich zu sein. In früheren Zeiten muß eine Geburt für terranische Mütter ebenso schmerzvoll gewesen sein – das heißt, wenn man den von zerrissenem Gewebe verursachten Schmerz auf dem einen Planeten mit dem auf einem anderen Planeten vergleichen kann. Aber diese Frauen empfanden auch Glück und Stolz, und ihre mütterlichen Gefühle erwachten, und dadurch konnten sie Schmerz und Furcht teilweise überwinden. Der Schmetterling hatte keine mütterlichen Gefühle, konnte sie gar nicht haben. Die Evolution auf dieser Welt sah dergleichen nicht vor. Die Eier konnten für sich selbst sorgen, auch wenn ein paar zugrunde gingen, und wenn die neuen Lebewesen ausschlüpften, die sich grundlegend von ihrer Mutter unterschieden, konnten auch sie für sich selbst sorgen. Mütterliche Gefühle wären ganz fehl am Platze gewesen. Für die Schmetterlingsmutter war das Eierlegen nichts als ein Verlust. Wir versuchten, ihr den Gedanken zu übermitteln, sie sorge für die Fortsetzung des Lebens, sie sei Teil eines Prozesses, den wir nicht zu erklären versuchten, sondern nur in Form eines Trostes kommunizierten. Doch sie verstand uns nicht. Sie wurde schwächer, die Farben ihrer Flügel verblaßten. Sie schien nichts sehen zu können. Aus dem schrecklich zerrissenen Eileiter drangen nur noch wenige Eier hervor. Aber
war es ein Eileiter? Vielleicht war es nur eine Wunde im Unterleib, durch den Druck der hervorquellenden Eier entstanden. Wir hofften, das später untersuchen zu können. Wie viele Eier waren gelegt worden? Miss Hayes wußte es nicht genau, denn als sie ankam, war der Prozeß schon eine ganze Weile im Gange. Wahrscheinlich waren die ersten Eier schon unter die algenbedeckte Oberfläche gesunken. Nach der Größe der Eier und der Größe des Schmetterlings konnten wir die Anzahl jedoch auf über fünfzig und unter hundert schätzen. Nun tauchten Nadira und Françoise auf. Françoise sagte wenig, aber aus dem, was sie sagte, ging deutlich hervor, daß das Mitgefühl, das sie für die Raupen hatte, sich nicht auf den leidenden Schmetterling erstreckte. Mir kam das ziemlich merkwürdig vor. Wir standen da und sahen zu und fühlten uns unglücklich, weil es unmöglich war, der Ausstrahlung zu entrinnen, die traurige Erinnerungen und Vorahnungen heraufbeschwor. Und dabei wußten wir doch, daß die Angelegenheit uns außer in unserer Eigenschaft als Mitgeschöpfe nicht berührte. Da geschah etwas. Drei andere Schmetterlingen stürzten sich herab, denen die Aufregung anzumerken war. Ich fragte mich, ob sie ihrer sterbenden Freundin, die mit dem Eierlegen schon fast aufgehört hatte, Hilfe bringen konnten. Wenn dem so war, entging es uns völlig. Doch kann die Hilfe eher intellektueller als emotionaler, mitfühlender Art gewesen sein. Es war nicht so, daß das über unser Begriffsvermögen hinausgegangen wäre, wir waren nur nicht darauf eingestellt. Ich meinte, eine Änderung in der Flut des Kummers zu spüren, fast eine Änderung der Haltung. Es war nicht leicht, das zu erfassen, denn mich hatte plötzlich eine tiefe, irrationale Trauer über den Tod meines eigenen Vaters überkommen. Das war ganz unlogisch und wäre unter normalen Umständen niemals passiert, denn ich war stolz und
glücklich, daß mein Vater sich aus freiem Willen und erfolgreich einer interessanten Aufgabe unterzogen hatte, die mit der Fortdauer menschlichen Lebens unvereinbar war. Doch jetzt verursachte mir sein unvergessenes Gesicht Leid. Dann erinnerte ich mich ebenso lebhaft an meine Mutter und stellte mir vor, wie sie an mich, ihr Kind – für sie immer ihr kleines, geliebtes Kind – gedacht haben mochte, als ihr Schiff explodierte und die Leere zwischen den Galaxien sie verschlang. Die Tränen liefen mir übers Gesicht, und ich sah, daß Olga – ausgerechnet Olga! – unter dem gleichen Einfluß stand. Sie erzählte mir später, auch sie habe an ihre tote Mutter gedacht. Ihr Vater, ein Verwaltungsbeamter, war noch am Leben. Als ich mich mit Mühe aus diesen seltsamen persönlichen Schatten befreit hatte, bemerkte ich plötzlich eine Änderung an dem sterbenden Schmetterling. Er schien in Kontakt mit den anderen zu stehen, denn seine Fühler hatten sich aufgerichtet. Das Leid nahm eine andere Färbung an, vergeistigte sich vielleicht. Dann rief Françoise: »Seht!« Auf die eben gelegten Eier wurde ein Angriff ausgeführt. Es schien ein Angriff der Art zu sein, wie Olga und ich ihn beim Blumenpflücken erlebt hatten. Die halbtransparenten Eier schrumpften wie unter der Einwirkung großer Hitze zusammen. Mit einiger Schwierigkeit beugte ich mich über den Algenteppich – ich wußte nicht, wie tief es hier war – und holte ein Ei heraus. Beim Anfassen empfand ich einen Stich, aber ich brachte es und noch ein paar weitere in Sicherheit. Wir brauchten immer noch eine Menge anatomischer und biochemischer Daten. Dann schüttelte Françoise sich zornig. Die Schmetterlinge mußten sie erkannt haben und beschossen sie mit Tadel – das kommt davon, wenn man das Wälzen der Raupen verteidigt! Sofort geriet sie mit ihnen in eine heftige gefühlsmäßige Auseinandersetzung, die ganz im Widerspruch zu unserer Ethik der Nichteinmischung
stand, zu der sie sich vor der Expedition wie wir alle aus ganzem Herzen bekannt hatte. Zum Glück waren sowohl Françoise als auch die Schmetterlinge zu aufgeregt für eine wirkliche Kommunikation. Und ich, die ich keinen Ärger wollte, brachte es fertig, die Verständigung zusätzlich zu blockieren. Wie töricht war das alles! Zweifellos stand auch Françoise unter dem Einfluß der Leidausstrahlung, und sie wurde dadurch veranlaßt, an ihre armen Raupen zu denken. An ihre Kinder. Ein eigenes Kind hatte sie bisher noch nicht geboren. Ganz plötzlich schaltete das Leid sich ab. Ich fühlte mich wieder im seelischen Gleichgewicht. Der Schmetterling war tot. Es war sehr merkwürdig: Die Farben in den Flügeln verwischten sich, wurden statisch und häßlich wie ein geschmackloser Teppich oder Vorhang. Die Zartheit der Schattierungen war verschwunden. Wir waren in einiger Verlegenheit. Wir hofften, man werde uns erlauben, den Körper mitzunehmen. Aber die Schmetterlinge, die jetzt im Zickzack über uns herumflogen, waren nicht diejenigen, mit denen wir kommuniziert hatten, und sie schienen nicht imstande zu sein, das zu verstehen, was ich und die anderen ihnen über unsere Absichten mitzuteilen versuchten. Kurze Zeit darauf erschien jedoch der rote Schmetterling, mit dem wir schon richtige Gespräche geführt hatten. Wir erklärten ihm, wir würden den toten Körper seiner Freundin gern mit in unser Lager nehmen. Das hatte eine Wirkung, die niemand vorausgesehen hatte. Die Schmetterlinge gerieten in leidenschaftlichen Zorn, und bald stellte ich fest, daß sie uns mit den Waldkrabben identifizierten. Natürlich hatte es keinen Sinn, sich darüber zu entrüsten. Ich versuchte zu kommunizieren, nur die Bewunderung für die
Schönheit des Schmetterlings habe uns zu der Bitte bewogen. Aber vielleicht konnte ich das wissenschaftliche Interesse nicht ganz heraushalten. Jedenfalls lautete die Antwort, wenn wir ihn zu absorbieren, ihn in uns aufzunehmen, kurz ihn zu essen wünschten, könnten sie uns das nicht erlauben. Das sei grauenhaft. Dieser Schmetterling bedeutete ihnen nicht dasselbe wie die verkrüppelten Individuen, die sie wie selbstverständlich getötet und für die Waldkrabben liegengelassen hatten. Dieser hier war einer von ihnen, von einem Unglück getroffen, dem sie vielleicht selbst nicht auf die Dauer entrinnen konnten. Dieser Schmetterling hatte mit ihnen über den Blumen getanzt, er war Teil von ihnen. Widerstrebend verzichteten wir auf unser Vorhaben. Wir sahen ihnen zu, wie sie einen ganzen Körper voller ungelöster Probleme aufhoben und mit ihm verschwanden, um ihn einer Bestimmung zuzuführen, über die wir nur Vermutungen anstellen konnten. Françoise erklärte bitter: »Die Raupen werden von den Waldkrabben gefressen, und diesen Schmetterlingen ist das ganz egal!« Sie machte in dieser Phase aus allem eine persönliche Angelegenheit. »Wir sollten die Oberfläche des Algensumpfes abkratzen«, bemerkte Miss Hayes und schob den Pflanzenteppich beiseite. »Vielleicht bekommen wir ein paar Eier.« »Nein!« widersprach Françoise. »Wollen auch wir noch zu ihren Feinden werden?« Nadira gelang es, sie zu beruhigen und zu einer rationaleren Einstellung zu bringen. Viele Jahrhunderte der indischen Achtung vor dem Leben, die sich von der europäischen sehr unterscheidet, zusammen mit der Ausbildung zur Biologin hatten Nadira zu einem zivilisierteren Menschen gemacht als Françoise, deren Ahnen Soldaten und Steakesser gewesen waren, die mit Leidenschaft irgendeine Partei ergriffen. Auch diese Dinge haben ihre Wirkungen.
Wir stellten fest, daß der Sumpf an dieser Stelle nicht tief war, und wir sammelten eine Anzahl von Eiern ein. Aus ihrem Aufbau ließ sich vielleicht schließen, wann die Raupen zu schlüpfen pflegten. An diesem Abend arbeiteten wir an den Eiern. Es war faszinierend, und das meiste davon kam natürlich in unseren Bericht. Nur Françoise schloß sich aus. Uns interessierten die Fragen, ob die Schmetterlinge wußten, was ihnen bevorstand, ob der Zwang zur Eiablage sie plötzlich überkam, ob sie irgendwelche Vorbereitungen, ob emotionaler oder körperlicher Art, trafen. Wenn ein sehr hoher Prozentsatz von ihnen, wahrscheinlich einschließlich der Individuen, die Zeugen des Todes geworden waren, das selbst einmal durchmachen mußten, dann konnte man ihr heftiges Einschreiten gegen das Sumpfwälzen der Raupen verstehen. Wann und wie erkannte ein Schmetterling, daß er zu der unbefruchteten Minderheit gehörte? Oder hielten sie alle die Hoffnung bis zum letzten aufrecht? In den nächsten Tagen diskutierten wir immer wieder darüber. In gewisser Weise war es wie in der Zeit auf Terra, als die Leute ihr Leben noch nicht bewußt und freiwillig aufs Spiel setzten, wie wir Forscher es tun, aber sehr leicht an einem schmerzhaften Zerreißen des Körpergewebes sterben konnten, wie wir es bei dem eierlegenden Schmetterling gesehen hatten. Auch auf Terra mußte eine solche Todesart viel Leid und Groll und Zorn erzeugt haben. Dann kamen die beiden Schmetterlinge zurück, mit denen wir zuerst kommuniziert hatten. Wie üblich waren sie plötzlich da und verlangten, daß wir ihnen, ganz gleich, was wir gerade taten, auf der Stelle zuhörten. Diesmal drängten sie uns nur, mit ihnen zu kommen. Kommt, kommt, kommt! Wieder waren sie ungeheuer aufgeregt, aber es war eine freudige Aufregung. Auf Françoise schossen sie nicht einmal einen Blitz ab.
Wir stolperten hinter ihnen her. Es war ein beschwerlicher Weg. Sie führten uns durch ein Dickicht der gleichen Pflanzen, wie sie vor dem Wald mit den Puppen wuchsen. Wir litten noch unter dem Erbrechen und der Hautentzündung, als uns etwas ganz Neues widerfuhr. Von nun ab wird es mir sehr schwer, es zu beschreiben. Ich kann es nur in Analogien tun. Es ähnelte dem Traum, den, wie ich glaube, die meisten Terraner haben. Darin erweisen sich alle Probleme als lächerlich einfach zu lösen, sobald nur ein bestimmtes Prinzip begriffen worden ist: Das Prinzip, daß vollständiges, ewiges Glück und Wissen in bequemer Reichweite sind. Das widerspricht natürlich der menschlichen Natur, obwohl wir uns auf diesem Weg vielleicht ein kleines Stück vorangekämpft haben. Wir gerieten jedenfalls damals in eine Stimmung von unerschütterlichem Optimismus, uns erfüllte das Gefühl, wir seien beinahe schon am Ziel der universellen Wahrnehmung und Einsicht. Übelkeit und Schmerzen verschwanden im Strahlen dieses Glücks, oder vielmehr, sie waren noch da, aber sie wurden unwichtig – so unwichtig wie das Jucken einer alten Narbe für jemanden, der den Höhepunkt eines ihn bewegenden Musikstücks genießt. »Ihr seid nahe«, signalisierten die Schmetterlinge uns, »nahe«. Und irgendwie waren wir überzeugt – wenigstens ich war es –, daß sie von den gleichen Empfindungen beseelt waren wie wir. Seltsam, daß keine von uns den anderen Schmetterling bemerkte, bis wir dicht davorstanden. Ich vermute, wir hatten ein noch überwältigenderes Farbenspiel erwartet. Tatsächlich war er beinahe farblos. Doch der Rhythmus in seinen Flügeln war vorhanden und wechselte zwischen Grau- und Cremetönen, Abendund Morgendämmerung. Der Schmetterling kreiste um einen Baum, der besonders schöne und seltsam geformte Blüten trug. Einmal stieg der Schmetterling in die Höhe, um die Schönheit des Baumes aus
einem anderen Gesichtswinkel zu betrachten, und das Echo des ästhetischen Genusses erreichte mich als ein überhöhtes Wohlbefinden oder Hoffen. Ich sah Miss Hayes lächeln, als sie dies Gefühl empfing, und Olga sah ein bißchen nervös aus, denn sie hatte die Blüten in gewissermaßen räuberischer Art betrachtet. Der rote Schmetterling begann mit der Kommunikation. Er berichtete uns, hier Sei einer, der dem allgemeinen Untergang entronnen sei. Ich versuchte herauszufinden, wie alt er sei, aber offenbar wußte der Rote es nicht. Ich setzte mich auf einen Stein. Es gab überhaupt keinen Grund, warum ich jemals wieder weggehen sollte. Wo konnte es einem wohler sein als hier? Miss Hayes und Nadira setzten sich auch, und dann Olga und die beiden Navigatorinnen links und rechts von ihr. Ich weiß nicht, wie lange wir dort saßen, aber plötzlich merkte ich, daß mich jemand schüttelte. Es war Françoise. Ihr Gesicht war rot und verzerrt vor Anstrengung. »Weg von hier!« rief sie. »Kommt mit! Erinnert euch daran, was sie tun – dieser Schmerz!« Es war offensichtlich, daß sie gegen die Empfindungen von Glück und Frieden ankämpfte, und ich in meiner eigenen Glückseligkeit fühlte mich verpflichtet, ihr zu helfen, und wenn das bedeutete, daß ich selbst das Gefühl verlor. Ich stellte die Kommunikation mit den Schmetterlingen ein. Vielleicht hatten wir für unsere Zwecke, für die Forschung und den Bericht, wirklich schon genug erfahren. Noch mehr von diesem Rausch konnte eine demoralisierende Wirkung auf uns haben und unsere Denkfähigkeit beeinträchtigen. »Grausamkeit!« rief Françoise heftig, »Grausamkeit und Unterdrückung! Was darauf gegründet ist, kann nicht recht sein!« »Suchen wir nach Recht und Unrecht?« fragte ich. »Sind wir nicht nur Beobachter? Ist das nicht der Grund, aus dem wir hier sind?«
»Wir werden verändert«, erwiderte Françoise. »Sie verändern uns, mit Absicht. Zumindest – dich.« Stimmte das? Wurde ich von den Schmetterlingen beeinflußt – über den Punkt hinaus, wo ich kritisch und in allen Einzelheiten beobachten konnte? Ich wollte eine andere Meinung, vorzugsweise die von Miss Hayes, hören, aber es widerstrebte mir, sie aus ihrem glücklichen Zustand zu reißen. Es war schließlich nicht so, daß sie das oft erlebte. Für erwachsene menschliche Wesen ist ein so intensives Glück überhaupt selten, und noch seltener ist es für diejenigen, die den Höhepunkt des Lebens überschritten haben und an Geist und Körper den unvermeidlichen Degenerationsprozeß spüren. Vielleicht wandte ich mich besser an Olga. Aber es war ziemlich schwierig, sie aus der Versunkenheit zu wecken, mit der sie lächelnd den Unsterblichen betrachtete. Wir drei und die Navigatorinnen gingen ein Stück zur Seite, weg aus dem Gebiet akuter Glückseligkeit und über einen Felsengrat. Ich mußte an unsere geologischen Proben denken, die alle schon sicher verpackt waren. Ich dachte auch, es sei doch merkwürdig, daß unsere Geologin von den Schmetterlingen nur so wenig beeinflußt wurde. Sie hoffte, die Leute vom Mineralministerium würden sich für diese Welt interessieren. Ich hoffte, sie würden es nicht tun! Wir überließen Nadira, die Jüngste, und Miss Hayes, die Älteste, ihrer Kontemplation und ihrer Kommunion mit der Ekstase. Ich bezweifle, ob sie gemerkt haben, daß wir weggingen. Wir setzten uns. Von hier aus konnte man die Windungen einiger der größten Schluchten und das Plateau sehen, auf dem die Raupen ihre Muster gemacht hatten. Es entwickelte sich eine völlig vernünftige Diskussion. Hatten die Schmetterlinge das moralische Recht, ihre eigene Larvenform mit solcher Grausamkeit zu behandeln, nur damit es gelegentlich zu diesem Glücksempfinden unter ihnen kam? »Wenn sie es den
Raupen erklären könnten – « meinte Olga stirnrunzelnd. »Das ist nicht möglich«, fiel Françoise ein. »Ich habe selbst versucht – und mich lieben sie! –, ihnen zu kommunizieren, daß sie nicht einfach enden, sondern sich in Schmetterlinge verwandeln werden. Das können sie nicht begreifen. Es ist nicht vorstellbar für sie. Es gibt keine Möglichkeit, es ihnen klarzumachen.« »Und deshalb sieht die Sache wie willkürliche Unterdrückung aus«, sagte Olga nachdenklich. »Es ist willkürliche Unterdrückung!« erklärte Françoise. Olga fuhr fort, als habe sie es nicht gehört: »Auch in der menschlichen Geschichte ist Ähnliches vorgekommen, glaube ich. Die guten Dinge der Gegenwart wurden den Menschen wegen der guten Dinge in der Zukunft versagt. Dies Hinausschieben der Freude – ja, das hat es sowohl in den kapitalistischen Ländern zur Zeit ihrer stärksten industriellen Entwicklung als auch in meinem Land nach der Revolution gegeben. Aber wenn es auch vielen als Tyrannei vorkam – denn sie selbst würden die guten Dinge niemals zu sehen bekommen –, hat es doch immer die Möglichkeit der Kommunikation gegeben. Ich weiß, es ist nicht das Gleiche, Françoise. Aber hilft dieser Vergleich nicht?« Françoise schüttelte den Kopf. Eine der Navigatorinnen drückte in mathematischen Symbolen aus, daß sie im großen und ganzen zustimme. Françoise achtete nicht darauf, sie saß nur stirnrunzelnd da. Dann ergriff ich das Wort. »Ist es nicht eher wie das, was in der menschlichen Geschichte im Namen der Religion verübt worden ist? Da wurden Menschen gefoltert und bei lebendigem Leibe verbrannt, um ihre Seelen für ein anderes Leben zu retten, an das sie vielleicht nicht einmal geglaubt haben. Aber die Folterer glaubten dran. So war es bei unseren Vorfahren in Europa, und ich bin sicher, Nadiras Vorfahren haben in Asien ebenso schlimme Dinge getan. Bis
heute habe ich keine Erklärung für diese Greuel gefunden, aber jetzt beginne ich, sie zu verstehen.« »Wären wir denn mit der Spanischen Inquisition einverstanden gewesen?« fragte Françoise. »Nein, nein! Aber das zukünftige Leben, das die Kirche verkündete, war ja auch in gar keiner Hinsicht real – « »Also glaubst du, das da – « sie wies mit dem Daumen über den Felsgrat zurück – »ist real – ist eine Rechtfertigung für soviel Elend und Schmerz? Ist es das da wert, alles zu zerstören, was die Raupen an – an Zivilisation haben?« »Wenn man es Zivilisation nennen kann«, sagte Olga. Und dann: »Ja, vielleicht hast du recht. Ohne ihre Muster und ohne das Wälzen sind die Raupen nichts.« Ich ließ mich für einen Augenblick in die Kommunikation mit dem Schmetterling zurückgleiten. Dann erklärte ich: »Ich glaube, daß das, was wir eben gesehen haben, eine Rechtfertigung ist.« »Nein!« widersprach Françoise. »Nein und nochmals nein! Diese – Individuen – sind nur wenige – « »Aber offenbar unsterblich. Folglich steigt ihre Anzahl«, bemerkte Olga. »Ich frage mich, ob sie wirklich unsterblich sind«, überlegte Françoise. »Oder ob ihr den Aussagen der anderen Schmetterlinge nur glaubt, weil ihr es glauben wollt.« Ich schlug vor: »Wir sollten diesen einen fragen, ob er sich tatsächlich für unsterblich hält, und wenn ja, aufgrund welcher Beweise. Wie lange er schon in diesem Zustand ist. Ob er sich an einen Zustand geringerer Glückseligkeit erinnern kann. Ob andere, die wie er waren, gestorben oder – verschwunden sind. Wir haben ihm eine Menge Fragen zu stellen – wenn wir es können.« Olga nickte. Ich schob meine Hand unter Françoises Arm. »Sieh mal, Françoise, ganz gleich, ob wir das alles für richtig
oder falsch halten, wir können es nicht ändern. Wir dürfen nicht einmal versuchen, es zu ändern. Wir verlassen diese Welt bald.« »Wir lassen die im Stich, die unseren Schutz brauchen«, entgegnete Françoise. Sie fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen. »Du bist grausam!« »Das ist Mary nicht«, warf Olga ein. »Schließlich ist es ja nicht unsere Welt.« Eine Zeitlang saß Françoise nur schweigend da. Wir konnten sehen, daß sie zwischen ihrer Liebe zu den Raupen und dem Wissen, daß wir auf einer anderen Welt keine Einmischung begehen durften, hin- und hergerissen wurde. Auf dem Fundament der Nichteinmischung beruhte die Ethik der Raumerforschung, und dies Fundament war durch Generationen von Menschen und eine ganze Reihe von Fehlern – oft, wie in ihrem Fall, aus Mitleid begangen – gelegt worden. Sie wußte das alles, genau wie wir. Wir brauchten ihr darüber keine Predigt zu halten. Ich fing an, im Geist schon die Fragen zu formulieren, die wir dem unsterblichen Schmetterling stellen wollten, und überlegte, auf welche Weise ihm unser Wissensdurst am besten zu kommunizieren war. Olga dachte auch darüber nach, aber weniger vom Standpunkt der Kommunikation aus. Außerdem hätte sie gern ein botanisches Musterexemplar von dem Baum des Schmetterlings gehabt. Dann schien sich Françoise beruhigt zu haben. Sie beteiligte sich ganz vernünftig an der Diskussion darüber, was wir noch alles herausfinden müßten. Ich hatte den Eindruck, die Intensität der Kommunikation mit dem unsterblichen Schmetterling lasse nach. Vielleicht konnten wir ihn jetzt stören. Wir gingen zurück. Miss Hayes wandte den Kopf und lächelte uns zu. Die Kommunikation mit diesem Schmetterling war viel schwieriger als mit den anderen. Wir erhielten keine
zufriedenstellenden direkten Antworten. Keine von uns war sich sicher, wie weit das Gedächtnis des Schmetterlings zurückreichte. Dieser hier erinnerte sich wohl an ein früheres Stadium, aber auch da war er schon ein Schmetterling gewesen. Er freute sich auf eine weitere Entwicklung, aber wir hatten keine Ahnung, was das sein könnte – vielleicht gab es eine intellektuelle Höhe, die wir nicht mehr begreifen konnten. Gelegentlich erhielten wir einen Hinweis darauf, und zumindest ich gewann die Überzeugung, daß die kommunizierte Glückseligkeit nur einen Teil des Zustands kennzeichnete, in dem der Schmetterling sich befand. Wir empfingen die Emotion, aber keine Einzelheiten vom intellektuellen oder ästhetischen Gesichtspunkt aus. Ja, es gab weitere Schmetterlinge, die sich wie dieser hier entwickelt hatten und weiter entwickelten. Nein, sie starben nicht. Sie verschwanden nicht. Der rote Schmetterling, der uns bei der Kommunikation zu helfen versuchte, steuerte einige Informationen bei. Wir gewannen den Eindruck, daß die »normalen« Schmetterlinge vom Zusammensein mit diesen anderen profitierten. Doch sie konnten nicht immer mit ihnen zusammen sein. Irgendwann würde der Unsterbliche sie auffordern zu gehen. Wir fragten den roten Schmetterling so taktvoll wie möglich, ob er ebenfalls so werden könnte. Er geriet in eine verzweifelte Aufregung, und wir spürten, daß es möglich, aber nicht wahrscheinlich war. Viel, viel wahrscheinlicher war es – aufgrund von Geschehnissen, die an einem anderen Ort stattgefunden hatten –, daß er zum Untergang verurteilt war. Der Schmetterling scheute sich davor, auch nur anzudeuten, daß die Raupe, aus der er sich entwickelt hatte, eine Handlung begangen haben mochte, die eine Vollendung unmöglich machte. Klar ausgedrückt: Wenn die Raupe befruchtet worden war, würde auch dieser Schmetterling eines Tages, vielleicht
ganz plötzlich, den Zwang zur Eiablage verspüren, und die verhaßten Eier würden ihn töten. Natürlich hätte das durch eine einfache zytologische Untersuchung klargestellt werden können. Aber die Schmetterlinge hatten den physischen Kontakt mit uns immer vermieden, und wir hielten es nicht einmal für möglich, eine Blutprobe zu bekommen. Sie vermieden auch jede direkte Berührung der Raupen, und es hatte den Anschein, als koste es sie eine ungeheure Anstrengung, die frisch geschlüpften Schmetterlinge anzufassen. Miss Hayes und ich hatten inzwischen weitere Puppen platzen sehen. Mindestens einer von vier jungen Schmetterlingen schien auf die eine oder andere Weise verkrüppelt zu sein und wurde vernichtet. Es gelang uns, zwei Körper ins Lager zu schaffen, bevor die Waldkrabben sie angefressen hatten, und einige anatomische und zytologische Untersuchungen durchzuführen. Wir fanden einen in Teilung begriffenen Zellhaufen, der sich zu etwas Ähnlichem wie einem befruchteten Eierstock hätte entwickeln können. Aber wir konnten uns über die Anatomie immer noch nicht ganz sicher sein. Die Körper machten den Eindruck, als habe – abgesehen von den äußeren Organen, den Flügeln, Beinen und Greifklauen – noch keine richtige Differenzierung eingesetzt. Irgendwelche Organe deuteten sich in der Kopfregion an. Vielleicht hatten sie etwas mit der Kommunikation zu tun. Es schien eine Nervenverbindung zu den Fühlern zu geben. Wenn wir nur einmal einen erwachsenen Schmetterling mit voll ausgebildeten Organen zur Verfügung gehabt hätten! Auf dieser Welt standen immer noch viele Fragen offen, die von künftigen Forschern gelöst werden mußten. Für eine erste Expedition hatten wir genug Lösungen gefunden. Man soll nie so viel tun, daß man dann keine Zeit mehr zur Auswertung hat.
Inzwischen stand fest, daß die Schmetterlinge selbst unbeirrbar daran glaubten, einige von ihnen seien unsterblich und ihre augenblickliche wie auch ihre weiter zu erwartende Entwicklung rechtfertige alles, was zur Entstehung solcher Wesen beitragen konnte. Das heißt, die Schmetterlinge hatten durchaus nicht das Gefühl, das, was sie den Raupen antaten, bedürfe der Rechtfertigung. Es war für sie ein selbstverständlicher Prozeß, ebenso wie, sagen wir, das Schmelzen von Erz zur Herstellung von Stahl oder das Mahlen von Weizenkörnern zur Herstellung von Brot. Für die Raupen hatten sie keine Spur von Mitleid, wie wir Menschen es kennen. Ich meinte, sie hätten dem sterbenden Schmetterling schon Mitleid gezeigt, aber auch das mochte nicht menschlich gewesen sein. Nach all dem war mir klar, daß wir nicht zugunsten der Raupen eingreifen konnten. Am Ende einer langen Diskussion glaubte ich, es sei Françoise und Nadira ebenso klar.
X
Das Datum unserer Abreise stand jetzt endgültig fest. Miss Hayes war mit allen Berechnungen fertig und hatte jede Einzelheit mit den Navigatorinnen überprüft. Sie tat das alles mit äußerster Sorgfalt und vollständigem Selbstvertrauen, und zumindest das war geeignet, mir wieder Sicherheit zu geben. Peder war auch so, und von Braun war es seinerzeit ebenfalls gewesen. Keiner der großen Expeditionsleiter verläßt sich auf die fragwürdige Genauigkeit von Maschinen. Wie immer mußte entschieden werden, was an Material wir aussortieren und was wir unserem Gedächtnis einprägen mußten. Wir waren der Meinung, wir hätten alle Informationen gesammelt, die wir über diese Welt – oder zumindest über den Teil, den wir kannten – überhaupt bekommen konnten, besonders über die Schmetterlinge und Raupen und ihren Lebensablauf. Ich war sicher, daß das bei unserer Rückkehr größtes Interesse finden würde, und im großen und ganzen war ich zufrieden mit den Leistungen aller und mit meiner Lösung der Kommunikationsprobleme. Nach weiteren Überlegungen und Diskussionen mochten spätere Expeditionen zu einer noch klareren Verständigung gelangen. Ich dachte an verschiedene Kollegen, mit denen ich darüber sprechen wollte. Besonders Vly würde sich sehr dafür interessieren. Auch mußten noch andere Gebiete dieser Welt besucht werden. Wir wußten nicht, ob es die Schmetterlinge »überall« gab. Sie selbst schienen das vorauszusetzen, aber sicher konnten wir nicht sein. Ich merkte, daß Nadira nervös und vergeßlich war, und das zu einem Zeitpunkt, wo normalerweise entschuldbare Vergeßlichkeit gefährliche Konsequenzen haben kann.
Françoise schien völlig beherrscht zu sein. Doch endlich vertraute Nadira mir an, sie habe Angst. Françoise hatte die jungen Raupen ermutigt, Muster herzustellen. Das wußte ich, und ich beklagte es auch der Raupen wegen, denn für sie konnte es bedeuten, daß sie als frisch ausgeschlüpfte Schmetterlinge getötet wurden. Doch eine Einmischung in das Leben eines anderen Planeten war das noch nicht. Aber jetzt sagte Nadira, sie glaube, Françoise kommuniziere auch mit den Schmetterlingen und versichere ihnen, diese besonderen Individuen, die der Grund all ihrer Bemühungen waren, lebten doch nicht für immer. Die einzige Unsterblichkeit liege im Eierlegen und der Fortführung des Lebens über die Larvenform. Sie versuchte tatsächlich, ihren Glauben zu unterminieren, damit sie die Raupen in Frieden ließen. Ich war beunruhigt. Das war tatsächliche Einmischung. Wenn die Schmetterlinge mit ihrer Theorie über die Auswirkungen der Musterherstellung und des Wälzens recht hatten und wenn Françoise ihnen den Glauben an die Richtigkeit ihres Tuns nahm, so daß sie den Raupen ihr Vergnügen ließen, dann konnte eine ganze Generation verkrüppelter Schmetterlinge entstehen. Und selbst wenn sie nicht getötet wurden, waren sie lebensfähig? Würden sie nicht den Waldkrabben zum Opfer fallen? Françoise glaubte nicht daran, daß ein Zusammenhang zwischen der Musterherstellung und der Entwicklung der Flügel bestehe, und wir hatten ja dafür auch keinen anderen Beweis als das Wort der Schmetterlinge. Sie war überzeugt, die Grausamkeit der Schmetterlinge sei so willkürlich, wie sie den Raupen vorkam. Aber ich neigte zu der Auffassung, daß sie wußten, was sie taten. Zu Nadira sagte ich, ich bezweifle, ob dieser Versuch die Schmetterlinge sehr beeindrucken werde. War sie sicher, daß es Françoise gelungen war, eine echte Kommunikation herzustellen? Es machte mir Sorgen, daß sie mit mir, ihrer älteren Kollegin, nicht darüber
gesprochen hatte. »Und Françoise ist innerlich so zornig«, fuhr Nadira fort. »Ich kann sie nicht erreichen. Ihr Mitleid mit den Raupen ist zu Zorn geworden, und das ist verkehrt.« »Ja«, antwortete ich, »Zorn macht einen Menschen labil. Und das können wir beim Start nicht brauchen.« Von da an hielt ich ein Auge auf Françoise, aber ich hatte selbst sehr viel zu tun. Ich erinnere mich, daß ich eines Morgens früh aufwachte und sah, daß Françoise noch schlief. Eine der Raupen lag neben ihr, und Françoise hatte eine Hand leicht auf sie gelegt. Ich fragte mich, ob ich versuchen solle, ihre Gedanken auszuforschen. Aber, wie Sie wissen, ist das etwas, daß man bei einem verantwortlichen Erwachsenen nur mit größtem Widerstreben tut. Trotzdem wünschte ich jetzt, ich hätte es getan. Es hätte mir das Recht zur KonterEinmischung verliehen. Danach hatte ich überhaupt keine Zeit mehr. Selbst Forscher, die doppelt so viele Expeditionen hinter sich haben wie ich, geraten durch den Streß der rapiden Frageund-Lösung-Technik für Ankunft und Abreise an den Rand der Erschöpfung. Endlich hatten wir den Start hinter uns; die Navigatorinnen konnten sich ausruhen. Wir hatten vor, bald in den ZeitBlackout zu gehen. Von unserem Planeten und seinen unbeantworteten Fragen waren wir schon sehr weit weg. Da sagte Françoise ganz ruhig zu Miss Hayes: »Dieser Schmetterling – dieser eine, der Sie zu dem Glauben gebracht hat, es sei alles richtig, was sie tun – « »Der Unsterbliche.« In der Erinnerung an ihn lächelte Miss Hayes. »Sie sind nicht unsterblich«, erklärte Françoise. »Möglich, daß sie nicht altern, daß sie keine Krankheiten bekommen und keine natürlichen Feinde haben. Aber man kann sie töten. Ich habe ihn getötet.« Das war für uns alle ein Schock, denn natürlich gibt es auf so beschränktem Raum kein Gespräch unter vier Augen. Ich sah
Nadira an. Ihr Gesicht verzog sich vor Traurigkeit; Tränen stiegen ihr in die Augen. Das Lächeln um Miss Hayes’ Mund war verschwunden, doch sie beherrschte sich. »Wie?« fragte sie. »Mit meiner Waffe«, sagte Françoise kalt. »Die nur im äußersten Notfall benutzt werden darf«, zitierte Miss Hayes die Vorschrift, die wir alle auswendig kannten. »Ich habe sie – und uns – vor einer Lüge verteidigt«, stellte Françoise fest. »Du weißt, was du getan hast. Das ist Einmischung«, antwortete Miss Hayes. Wir alle warteten mit angehaltenem Atem. Das war etwas, das ich noch nie erlebt hatte. Über Nadiras braune Wangen liefen jetzt Tränenspuren, und auch Françoises Augen wurden feucht. Sie wußte, welche Strafe sie erwartete. Wir alle wußten es. »Ich mußte es Ihnen sagen, weil es die Einstellung der Schmetterlinge ändern kann. Das war meine Absicht. Meine einzige Absicht. Und die nächsten Beobachter müssen darüber informiert werden«, sagte Françoise. »Du wirst nicht zu ihnen gehören«, gab Miss Hayes zurück. Françoise flüsterte: »Ich weiß.« Nadira jammerte: »Oh, Françoise, warum hast du mir nichts davon erzählt? Vielleicht wäre uns – eine andere Möglichkeit eingefallen.« »Es gab keine andere Möglichkeit«, erwiderte Françoise. Es kommt gelegentlich vor, daß ein Expeditionsmitglied, meistens wegen seiner besonders starken Empathie mit einer neuen Lebensform, Einmischung begeht. Die Strafe bedeutet lebenslängliche Gefangenschaft auf Terra. Schöne, langweilige, sichere alte Terra. Es bedeutet, in der Galaxis flügellos zu sein, Gefangener der Zeit zu sein. Françoise wußte es. Sie machte keinen Versuch, der Strafe zu entgehen. Ganz selten geschieht es, daß ein Forscher seine Tat zu
verschweigen trachtet, aber das steht so völlig in Widerspruch mit den heutigen ethischen Begriffen, daß es den Lügner immer in eine geistige Blockierung treibt. Was er versteckt hat, muß aus ihm herausgeholt werden, und das ist sehr unangenehm. Dann ist es noch besser, es wie Françoise zu machen: Das Verbrechen zu gestehen und die Strafe auf sich zu nehmen. Und sich auf eine neue Art des Lebens einzustellen, wie sie es jetzt tut. Wahrscheinlich wird sie sich entscheiden, eine Menge Kinder zu haben. Das erzählte sie uns, als wir sie das letzte Mal sahen, Peder und ich. Aber wie wird sie sich zurechtfinden? Sie hatte die Mentalität und die Neigungen einer Forscherin, und die tiefenpsychologische Schulung hatte ihre Interessen ganz auf extraterrestrisches Leben gelenkt. Ich kann mir nicht vorstellen, was werden soll, wenn sie als Väter für ihre Kinder Forscher oder Verwaltungsbeamte wählt. Sogar die Ministeriumsleute machen Raumreisen. Sie würden viele Jahre terranischer Zeit abwesend sein und sie größtenteils im Blackout verbringen, während Françoise altert. Kommen sie dann zurück, ist sie alt und verbraucht. Sie wird sich Sorgen machen, wie man sie auf einer Expedition nicht kennt, weil man alle Energie auf ein Ziel richten muß. Das wird an ihr zehren. Es wird zu peinlichen und traurigen Situationen kommen. Françoise ist immer noch überzeugt, sie kann damit fertig werden. Kann sie es wirklich? Und ihre Kinder? Sie wird niemals eine alterslose, schöne Mutter sein wie meine eigene Mutter. Wenn ihre Kinder erwachsen sind, ist sie eine alte Frau. Und Nadira und Olga – und sogar ich, ihre Vorgesetzte und Lehrerin – werden dann immer noch verhältnismäßig jung und zu neuen Unternehmungen und neuen Ideen fähig sein . Es wird schwierig für uns werden, mit ihr zu sprechen.
Ein alternder Forscher hat soviel Erfahrung, hat soviel gesehen und soviel in sich gespeichert, worüber sich nachzudenken lohnt, daß er oder sie so eindrucksvoll ist wie die großen religiösen und politischen Bauwerke aus der terranischen und marsianischen Vergangenheit. So ist Peder. Es gibt kein Ende für das, was man von ihm lernen kann. Aber Françoise hat nicht die Erfahrung, die sie auf diese Weise alt werden lassen könnte. Ihr wird die zusätzliche Zeit nicht gewährt, in der sie ihre Erfahrungen ordnen kann. Denn im Zeit-Blackout kann man nicht nur meditieren, man kann auch über Tatsachen nachdenken, und auf einmal kristallisieren sie sich, zeigen ihre wesentliche Form, während die körperliche Hülle des betrachtenden Geistes sich im völligen Ruhezustand befindet und nicht altert. All das wird Françoise niemals kennenlernen. Im Augenblick arbeitet sie in meiner Gruppe für die Kommunikationsforschung, und jeder einzelne hat sie freundlich aufgenommen, weil alle wissen, daß sie schon genug bestraft ist. Ich möchte wissen, ob es klappen wird. Die anderen sind abwechselnd für fünf oder zehn ihrer Jahre auf Reisen, doch sie muß immer zu Hause bleiben. Sie sagte mir, sie sei imstande, uns andere ohne Neid zu betrachten. Aber für wie lange? Ich kann nicht glauben, daß Françoise sich jemals mit den Terranern anfreunden wird, die keine Forscher sind. Sie wird den üblichen Kontakt mit ihnen haben wie wir alle. Es gibt viele gemeinsame Interessen und natürlich auch Vergnügungen. Aber früher oder später kommt einem das alles ziemlich seicht vor. Wird es etwas geben, woran Françoise echten Anteil nehmen kann? Wahrscheinlich wird sie mit auf Halluzinogen-Trips gehen, aber für gewöhnlich hat das am Ende unliebsame Folgen.
Auch der Ausweg in die Vergangenheitsforschung ist ihr verbaut. Das kann eine höchst faszinierende Tätigkeit sein, ob nun auf unserem eigenen Planeten oder einem anderen. Doch dafür hätte sie sich viel früher entscheiden müssen. Die besten Vergangenheitsforscher konditionieren sich schon in ihrer Kindheit auf den künftigen Beruf. Merkwürdig, ich glaube, meine kleine Tochter Lilburn, T’os Kind – was ist sie hübsch! – wird das möglicherweise tun. Mehrere aus ihrer Altersgruppe haben großes Interesse daran und haben schon bei einigen kleinen Zeitsprungsexperimenten mitgemacht. Manchmal frage ich mich, ob das etwas mit ihrem Namen zu tun hat. Ich hätte ihr gern einen der schönen, vielsilbigen afrikanischen Namen gegeben, aber T’o bat mich, einen der alten Namen, wie auch ich einen trage, zu wählen. Und so kam es, daß ich ihr ihren Namen erklärte und ihr viel von der alten Geschichte erzählte. Gerade jetzt lernt sie mit großem Eifer galaktische Geschichte und läßt sich durch nichts ablenken. Aber für Françoise ist es zu spät, jetzt noch die entsprechenden Persönlichkeitsänderungen durchzuführen. Außerdem weiß ich nicht, was die Zeitsprunggruppen von jemandem halten würden, der Einmischung begangen hat. Sie könnten fürchten, daß sie ein zu großes Risiko darstellt. Bei der Vergangenheitsforschung muß man sich, soviel ich weiß, von der beobachteten Szene völlig isolieren. Nein, Françoise hat aus sich eine Forscherin und eine Kommunikationsexpertin gemacht, und in diesem Rahmen muß sie ihr Leben weiterführen. Natürlich sind da immer noch ein paar terranische Spezies, die Intelligenz zu haben scheinen, mit denen es aber bisher nicht zu einer Kommunikation gekommen ist. Mit ihnen kann Françoise arbeiten. Sie ist von uns übrigen durchaus nicht ganz abgeschnitten. Aber im Laufe der Jahre wird sie uns immer mehr leid tun, und ich fürchte, darauf wird sie keinen Wert legen.
Und manchmal frage ich mich, ob Françoises Einmischung wirklich so viel schlimmer war als die Einmischung, die wir alle begehen, wenn wir fremde Welten besuchen, einfach indem wir dort sind, stehen und schauen und Informationen sammeln. Als die ersten Raumreisenden von anderen Welten auf Terra eintrafen, hatten wir das Gefühl, daß sie sich bei uns einmischten, nur weil sie uns beobachteten. Diese Überzeugung wurde so stark, daß wir versuchten, wie Sie sich erinnern werden, sie loszuwerden, und wenn es mit Gewalt sein mußte. Natürlich wissen wir es heute besser, aber das haben wir nur durch Erfahrung gelernt. Die Nichteinmischung, wie sie normalerweise interpretiert wird, ist kein exakt umrissener Begriff. Wir mischen uns ständig ein, und es scheint hart zu sein, daß die von Françoise begangene Einmischung so schwer bestraft worden ist. Ich fragte Miss Hayes nach ihrer Meinung darüber. Sie schüttelte nur den Kopf und forderte mich auf, mich noch einmal an diesen Ort der Glückseligkeit zurückzudenken, den es jetzt durch menschliches Mitleid und menschliche Einmischung nicht mehr gibt. Sie hat recht. Und wenn derartige Strafen nicht verhängt würden, womit würde es enden? Vielleicht setzt sich nach einem weiteren Dutzend Generationen die Meinung durch, daß es schon Einmischung ist, wenn man eine fremde Welt besucht. Dann wäre Schluß mit den Raumreisen. Oder könnten wir es irgendwie so einrichten, daß man uns überhaupt nicht wahrnimmt? Aber wir können nicht in die Zukunft sehen, und das wäre auch schön langweilig. Für uns ist jetzt die wichtigste Frage, ob Françoises Tat bei den Schmetterlingen eine Wirkung hervorgerufen hat. Wurde ihr Glaube so erschüttert, daß sie ihr Verhalten geändert haben? Dauert diese Änderung an, oder haben sie den Tod des Unsterblichen wegerklärt, ihn in etwas der Poesie oder Musik Entsprechendes umgesetzt? Ist ihre Grausamkeit gegen die
Raupen stärker oder schwächer geworden? Wie werden sich die Schmetterlinge gegen die Menschen der nächsten Expedition verhalten? Man sieht, daß diese eine Handlung weite Kreise zieht. Es muß eine neue Expedition durchgeführt werden, und einige von uns, ja am besten so viele wie möglich von der ursprünglichen Gruppe, müssen dabei sein. Ich habe übrigens den schrecklichen Verdacht, Françoise wird zur Abschiedsparty kommen und große Tapferkeit zur Schau tragen. Doch das liegt noch in der Zukunft. Nach der Landung erkundigte ich mich als erstes, ob Pete zurück sei. Er war es, und ich begab mich sofort in das Immunologenzentrum, um alle Neuigkeiten über die Transplante zu erfahren, über die neuen Forschungsergebnisse nachzudenken und einen Entschluß zu fassen, was wir als nächstes tun sollten.
XI
Pete und die übrigen Teilnehmer an seiner Expedition hatten soviel Material, daß wir drei Tage lang damit beschäftigt waren, zuzuhören, anzusehen, wenn möglich zu riechen, zu schmecken, zu fühlen, Daten durchzugehen, zu fragen und Ideen zur Diskussion zu stellen. Es war fast wie eine Assimilationszeit, nur viel gedrängter. Olga und Miss Hayes waren beide mit mir gekommen und waren mit Begeisterung dabei. Ich selbst fand alles so ungeheuer interessant, daß ich den jungen Ket, als er hereinkam, nicht einmal erkannte! Es war mir eine Freude, Daisy und Kali wiederzusehen. Beide waren in bester Verfassung, nur ein bißchen verwirrt durch den Zeit-Blackout. Es waren so viele terranische Jahre vergangen, daß keiner ihrer Tierfreunde mehr da war, aber sie bestanden darauf, diejenigen, die da waren, seien die alten. Kalis Schwester Mani hatte Junge gehabt, und unter ihren Nachkommen war wieder eine besonders intelligente Schakalin. Kali »wußte«, es sei ihre Schwester. Sie waren sehr freundlich zu mir, und wir sahen uns einige Filme von der Expedition gemeinsam an. Daisy und Kali erkannten die Welt, die sie besucht hatten, wieder. Sie zitterten und knurrten vor Aufregung. Daisy hatte ein ganz erstaunliches Verständnis für die Transplante, das ihr vielleicht auf irgendeine Weise von ihrer Großmutter überliefert worden war. Sie wußte, daß sie wichtig und sowohl furchteinflößend als auch wundervoll waren; es war wie das Entstehen einer Mythologie. Aber die Fragen und Diskussionen waren für Daisy und Kali zu schwierig, obwohl ich versuchte, sie ihnen zu übersetzen. Olgas Schwester Rima hatte Pflanzen mitgebracht, an denen
Daisy und Kali mit vorsichtigem Interesse schnüffelten. Doch danach rannten sie hinaus, um sich zu überzeugen, daß die alten terranischen Pflanzen noch so wie immer rochen. Ich konnte nicht in Erfahrung bringen, wie ihr Betreuer zurechtgekommen war. Er konnte sich nicht besonders gut ausdrücken, außer seinen Tieren gegenüber. Natürlich war ihm klar gewesen, daß bei seiner Rückkehr auf Terra beträchtliche Zeit vergangen sein würde, und das war ihm nur recht gewesen, denn er wollte von seiner Gruppe und besonders von einer bestimmten jungen Frau weg. Er verbrachte die meiste Zeit mit den Schakalen. Wir bemühten uns, ihn an der Diskussion zu beteiligen, aber er war daran nicht interessiert. Ich glaube, die Wahrheit ist, falls man den Zeit-Blackout nicht schon als sehr junger Mensch kennenlernt, bedeutet er einen gewaltigen psychischen Schock. Die Welt, von der die Transplante stammten, war an sich nicht von besonderem Interesse, berichteten Pete und seine Kollegen. Für die Geologen bot sie nichts Neues; wegen der weiten Entfernung von der Sonne war das Licht schlecht, und es gab viel Feuchtigkeit. Überall waren die Wesen zu finden, aus denen wir Transplante gemacht hatten. Sie waren so offensichtlich ohne Bewußtsein, daß es kein Wunder war, wenn die frühere Expedition sie als Nichtleben eingestuft hatte. Aus einer schnellen Umkreisung gemachte Aufnahmen zeigten, daß die Ökologie überall gleich war. Ja, es gab eine Menge langweiliger Vegetation mit großporigen Blättern, meistens von purpurner Farbe, ziemlich häßlich. Hier lachte Rima und warf ein, Pete solle sie nicht nach terranischen Vorstellungen beurteilen. Wir müßten uns unbedingt ihre Muster und Fotos ansehen. Im Lauf der Expedition habe sie so gut wie vollständige Unterlagen über die Pflanzenphysiologie auf Band aufgenommen. Olga stellte ein paar Fragen darüber. Ein sehr großer Teil des Planeten war mit Wasser bedeckt,
aber das Wasser war meistens flach, schlammig und – für unsere Sinne – stinkig. Wieder ermahnte Rima Pete, nicht so terranisch zu denken – das Wasser sei völlig in Ordnung! Man hatte eine Anzahl von fisch- und reptilienähnlichen Lebewesen gefunden, die aber sechs Beine hatten und sich auch sonst von den terranischen Formen unterschieden. Alle schienen Eier zu legen. Das hatte bereits die erste Expedition festgestellt, die jedoch aus verschiedenen Gründen nur wenige zoologische Beobachtungen gemacht hatte. Es war das alte Lied: An der Expedition hatten zu viele Verwaltungsbeamte teilgenommen, und sie hatten gehofft, auf diesem Planeten gäbe es etwas Wertvolles (nach ihren Begriffen) zu finden. So war es aber nicht, und es ist richtig pervers, daß ich mich darüber freue. Jedenfalls hatte Petes Expedition sehr viele Beobachtungen gemacht. Einige der Lebewesen, die sie entdeckten, ähnelten so stark den Dinosauriern aus der Frühzeit Terras, daß man begann, sie die »Dinos« zu nennen. Sie futterten ununterbrochen, denn sie brauchten phantastische Mengen der dicken, purpurnen Blätter. Ihr Gehirn war klein, und der größte Teil davon wurde für die Probleme der Fortbewegung benutzt. Sechs lange Beine und mit Schwimmhäuten versehene platte Enden – sie besaßen im Gegensatz zu den Vorfahren unserer Reptilien keine Fuß- und Zehenstruktur – bedürfen einer komplizierten Koordination. Die Expedition stellte freundschaftliche, aber nicht sehr lohnende Beziehungen zu ihnen her. Weniger Erfolg hatte sie bei den Vettern der Dinos, die völlig in dem seichten Wasser lebten und ständig die Unterwasservegetation kauten, Pflanzen, die denen auf dem Land so ziemlich glichen. Die Wasserreptilien hatten am ganzen Körper eine harte Haut, die zwar ausreichend flexibel war, aber so zäh, daß sie den Angriffen der kleinen,
egelähnlichen Tiere widerstand. Doch diese saugten sich an Stellen fest, wo die Haut abgeschürft oder eingeschnitten war. Bei den Landreptilien hatte sich die harte Haut in schuppige Stellen und Gebiete mit weicher Haut, besonders um die Beine und unter der Kehle, umgewandelt. An diesen weichen Stellen und beinahe immer bei weiblichen Dinos fanden die Expeditionsteilnehmer die Transplante, die auf jener Welt ausgesprochene Parasiten waren. Es dauerte einige Zeit, bis man herausgefunden hatte, was sich da abspielte. Und es gab immer noch verschiedene Möglichkeiten der Interpretation des Lebenszyklus, über die wir in diesen drei Tagen diskutierten. Die Parasiten, die etwa zu der gleichen Größe wie die terranischen Transplante heranwuchsen, bedeuteten für die großen Dinos keine besondere Unbequemlichkeit, und wenn die Dinos gewollt hätten, wäre es ihnen leicht möglich gewesen, sich die Parasiten abzuscheuern. Nur wollten sie das gar nicht. Zumindest die weiblichen Dinos wollten es nicht. Dessen war Pete ganz sicher. Wie bei mir und den Versuchstieren entstand eine echte Verbindung. Die Wesen wurden zu einem Teil ihres Wirtes, obwohl es, ohne Einmischung zu begehen, nicht festzustellen war, inwieweit sich Zellstruktur und biochemischer Aufbau glichen. Ganz bestimmt hatten die weiblichen Dinos die Wesen gern. Der Kommunikationsexperte der Expedition – ich wurde ein bißchen eifersüchtig auf ihn – überzeugte uns davon. Die großen Tiere entwickelten mütterliche Gefühle, die sie als Reptilien gegenüber ihren eigenen Kindern nicht hatten. Sie bogen ihre langen Hälse herab und liebkosten die Parasiten. Sie leckten sie sanft mit ihren gespaltenen Zungen. So weit, so gut. Nun sah es so aus – wenn auch die Beobachtungszeit zu kurz gewesen war, um ganz sicher sein zu können –, daß sich die weiblichen Dinos etwa alle drei oder vier Monate, vielleicht durch klimatische Änderungen
veranlaßt, in das seichte Wasser begaben. Dort legten sie eine große Anzahl kleiner Eier, die ziemlich zufällig von den männlichen Dinos, die – angezogen von irgendeinem Geruch oder einem ähnlichen Stimulus – auch ins Wasser gingen, befruchtet wurden. Die Dinos tranken zwar sehr viel, aber zu anderen Zeiten stiegen sie nicht ins Wasser hinein. Während der Eiablage verschwanden die Parasiten. Sie mußten sich wohl ebenso auflösen, wie es Ariel und die übrigen getan hatten. Wodurch wurde dieser Vorgang ausgelöst? War es nur das Wasser, oder hatte es etwas mit der Eiablage und Befruchtung zu tun? Konnte zum Beispiel irgendein Hormon am Werk sein? Zur Beantwortung dieser Frage wären eine Menge Laboratoriumsarbeit und Versuche, die mit dem Gesetz der Nichteinmischung nicht zu vereinbaren waren, nötig gewesen. Es ist ganz gut möglich, daß die einfachste Hypothese, es sei das Wasser, die richtige war. Die nächste Phase lag noch ziemlich im dunkeln. Aber sie hatte etwas mit den Eiern zu tun. Zwischen den Eiern und den aufgelösten Parasiten kam es zu irgendeiner Reaktion. Man konnte es nicht mit der einfachen Formel beschreiben, es habe eine Vereinigung von Zellen oder Zellengruppen stattgefunden, denn die Zellwände der Parasiten waren zerstört. Aber eine Zelle ist etwas sehr Kompliziertes, wie man zuerst Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts entdeckte. Petes Mikro-Beobachtungen waren alles andere als klar, vielleicht teilweise deswegen, weil die männlichen Dinos zu dieser Zeit besonders reizbar waren. Einige seiner Leute waren bei dem Versuch, Proben zu entnehmen, getreten oder kopfüber ins Wasser geworfen worden. Rima hatte ein Stückchen Film darüber aufgenommen, das sehr komisch war. Jedenfalls war das Endergebnis, daß nur wenige Eier überlebten. Daraus schlüpften kleine, umherflitzende Dinos,
die ich sehr niedlich fand. Die anderen wurden irgendwie absorbiert und entwickelten sich zu kleinen Parasiten, zehn oder zwanzig Zentimeter lang, ähnlich denen, die wir ohne Transplantation im Laboratorium aufgezogen hatten. Diese schwammen zwischen der Vegetation umher, streckten ihre Scheinfüßchen aus und ernährten sich von teilweise zerkauten Blättern, die die sehr unmanierlich speisenden Dinos fallengelassen hatten. Hin und wieder zerbiß ein Dino eins der Wesen. Das hatte immer dieselbe Wirkung. Der Dino schüttelte heftig den Kopf und zog die Lippen zurück, und Stücke des zerbissenen Parasiten flogen umher und landeten zuweilen auf den nicht von Schuppen geschützten Körperteilen. Auf eine Weise, die noch nicht völlig geklärt war, gelang es ihnen, haften zu bleiben. Langsam arbeiteten sie sich durch die Haut, und die Symbiose begann. Es hatte tatsächlich den Anschein, als werde die Haut weicher, um es ihnen leichter zu machen. Dann kam ein weiterer interessanter Punkt. Wenn der durch den Zufall bestimmte Wirt männlich war, erweckte der Parasit keine »mütterlichen« Gefühle. Er wurde als lästig betrachtet (auch hierin war sich der Kommunikationsmann sicher), und früher oder später wurde er abgescheuert. Gelegentlich blieb er auch haften, doch dann schien er nie zu voller Größe auszuwachsen. Manchmal starben die abgescheuerten Parasiten, und manchmal erhielten sie eine neue Chance und wurden von einem weiblichen Dino geschnappt. Wenn sie starben, lösten sie sich sehr schnell auf. In gewissem Ausmaß geschah das alles zum Vorteil der Dinos. Wenn aus allen befruchteten Eiern kleine Dinos geschlüpft wären, hätten sie den ganzen Planeten kahlgefressen, denn Raubtiere gab es nicht. Meiner Meinung nach ist auch die Freude, die die weiblichen Dinos erlebten, nicht gering zu schätzen. Auch sie schienen zu trauern, wenn
die Parasiten zur Zeit der Eiablage abfielen, aber ihr Kummer war längst nicht so groß wie die vorangegangene Freude. Es war sehr schwer zu verstehen, wie sich das alles entwickelt hatte. Aber es warf Licht auf das, was mit uns und unseren Transplanten geschehen war. Wir waren Säugetiere, und das hatte den Zyklus geändert. Trotzdem hatten sich die weiblichen Exemplare unter uns ähnlich wie die weiblichen Dinos verhalten. Es erklärte auch das seltsame Verlangen, ins Wasser zu gehen. Und ob nun schon von ihrem terranischen Wirt getrennt oder nicht, die Transplante lösten sich auf, wenn das Ende ihres normalen Lebenszyklus erreicht war. Als Individuen starben sie. Manchmal war es im Immunologenzentrum gelungen, die Desintegration für einige Zeit hinauszuschieben, aber es war noch nicht festgestellt, wie und warum es geschah, vielleicht hatte es etwas mit der anderen Ernährung zu tun, wenn die Transplante auf Fleischessern wuchsen. Es war noch viel Forschungsarbeit zu leisten. Uns war klar, warum die Teilnehmer der ersten Expedition, die die Parasiten beziehungsweise Stücke von ihnen mitgebracht hatten, der Meinung gewesen waren, diese Wesen ständen weit unter der Stufe, auf der sich Bewußtsein bildet. Wenn die Parasiten die Intelligenz ihrer Dino-Wirte übernahmen, konnten sie eben nicht besonders klug sein. Sie waren niemals besser als die »Mutter«. Aber was würde geschehen, wenn ein Transplant, das Teil eines intelligenten Wesens gewesen war, auf seine Heimatwelt zurückgebracht wurde? Vielleicht wären die Folgen nur Einmischung und Leid. Eine der ersten Entscheidungen, die wir trafen, lautete: Wir mußten ein großes Reptil oder zumindest ein eierlegendes Tier als Wirt finden, so schwierig es auch sein würde, ihm den
Vorgang zu erklären. Dabei dachten wir an große Schildkröten oder die großen Komodo-Eidechsen. Aber die waren auch nicht besonders intelligent! Ebenso war es mit Krokodilen und Alligatoren, die als Versuchstiere einfach unbrauchbar sind. Doch dann würden wir wenigstens erfahren, ob unter terranischen Bedingungen etwas Ähnliches wie der normale Lebenszyklus entstand. Vielleicht konnten wir auch herausfinden, ob allein das Wasser die Auflösung bewirkte oder ein Bestandteil des »mütterlichen« Blutes. Es konnte sogar sein, daß sich einige der Reptilieneier mit den aufgelösten Transplanten verschmolzen und neue Individuen entstanden. »Was ist mit Batrachien?« fragte jemand. Natürlich sind terranische Frösche oder Kröten nicht groß genug, um Transplante zu tragen, aber man könnte die eben befruchteten Eier im kritischen Augenblick ins Wasser tun. Dann wies einer der Marsianer auf ein eierlegendes Wassertier hin, das noch nie vom Mars nach Terra gebracht worden war. Trotzdem wußten wir alle mehr oder weniger darüber Bescheid: Es war so etwas wie eine Plage in den Kanälen, und wir würden sehr achtgeben müssen, daß es uns auf unserem eigenen Planeten nicht entwischte, denn dann wäre sofort die Polizei hinter uns her. In Filmen wirkte dies Wesen wie eine größere Ausgabe der gewöhnlichen Kröte. Ich fragte Pete: »Du hast neues Gewebe mitgebracht, nicht wahr?« »Ja«, antwortete er, »in verschiedenen Stadien.« Während wir miteinander sprachen, schoß es mir durch den Kopf, daß er mit seinem hellen, wilden Haar, den Lachfältchen um die Augen und dem warmherzigen Lächeln ein sehr attraktiver Mann war. Aber irgendwie erregte das nicht das alte Prickeln. Komisch war, daß ich überhaupt nicht an Ket dachte. Ich dachte immerzu an Peder. Ich hatte ein Ferngespräch mit ihm geführt, ihn aber noch nicht gesehen. War ich eine Ein-
Mann-Frau geworden? So alt konnte ich doch noch gar nicht sein! Der Gedanke entsetzte mich. Dann dachte ich, nein, es hatte nichts mit meinem Alter zu tun. Es war einfach so, daß Peder interessanter war als alle übrigen Männer zusammen. Und wenn er damit einverstanden war, hätte ich gern ein zweites Kind von ihm gehabt, eine Tochter, ein weizenblondes Mädchen. Aber ich befand mich nicht hier, um darüber nachzudenken. »Nun«, sagte ich, »ich glaube, wir müssen das Experiment wiederholen. Schließlich hatten alle Transplante eine Reihe von künstlichen Zyklen durchlaufen. Es war, als seien sie ein Dutzend Mal, vielleicht noch öfter, abgeworfen und wieder aufgeschnappt und gewachsen und wieder abgeworfen worden. Richtig?« Pete nickte. »Jetzt mag alles ganz anders sein«, sagte ich. »Ich werde ein neues Transplant nehmen.« Wir besprachen die Sache. Pete stimmte zu. Olga und Miss Hayes machten sich mehr Sorgen als ich. Etwas war riskant. Anscheinend hatten die Transplante auf ihre Wirte den Einfluß, daß letztere mütterliche Liebe entwickelten und den Wunsch verspürten zu baden beziehungsweise tief ins Wasser zu gehen. Drängten die Transplante außerdem auf eine Befruchtung hin? Wie würde sich das auf einen terranischen Wirt, besser gesagt, eine Wirtin auswirken? »Mir kommt das unwahrscheinlich vor. Als ich den armen Ariel trug, hatte mein normaler Menstruationszyklus aufgehört. Es war, als sei ich bereits befruchtet worden«, gab ich zu bedenken. »Ja, aber mit dem neuen Material – « überlegte Pete. »Es mag die Ovulation aufhalten, sie dann wieder in Gang setzen und dich dann dazu bringen, daß du badest. Nimm einmal an, die Substanz des aufgelösten Transplants dringt irgendwie in dich ein, während du im Wasser bist! Das wäre doch
außerordentlich gefährlich. Wir wissen ja nicht, wie die Gebärmutter darauf reagiert.« Ich stimmte zu, das sei ein Aspekt, der Vorsicht erfordere. Aber man konnte das Transplant ja ins Wasser halten, ohne die in Rede stehenden Teile des eigenen Körpers einzutauchen. Das galt für alle Säugetiere. »Und was eine normale Befruchtung anbelangt«, fuhr Pete fort, »mein junger Ket verzehrt sich immer noch vor Sehnsucht nach – « »Komm, komm, Pete«, wehrte ich ab. »Ich begehe keine Einmischung in seine Altersgruppe.« »Das hast du bereits getan, liebe Mary«, erwiderte Pete. »Es gelingt uns nicht, dich aus seinem Kopf zu entfernen. Er spricht immerzu von dir. Ich bin für ihn ein alter Vater! Wie lange ist es, in seinen Jahren gerechnet, her, daß du nach dem Schmetterlingsplaneten aufgebrochen bist?« »Ach, du meine Güte«, entrang es sich mir. »Ich hätte nicht gedacht, daß es so weit gehen würde. Was bewundert er denn nur an mir, Pete?« »Eine Menge Unsinn«, erklärte Pete. Verständlicherweise war er ziemlich ärgerlich. »Dein Selbstbewußtsein, dein Wissen, deine Fähigkeiten. Wie er sagt, deine Zivilcourage! Alles das, was er selbst noch nicht hat.« »Das kann man in seinem Alter auch noch nicht verlangen«, antwortete ich. »Er wird diese Eigenschaften später erwerben. Dafür sorgen schon seine Erbanlagen. Trotzdem, ich werde sehen, was ich tun kann. Ich vermute, in Wirklichkeit begehrt er seine Mutter. Silis entspricht genau der Beschreibung. Und da zwischen ihm und ihr eine Barriere ist, bin ich die nächstbeste.« »Du bist halb so alt wie Silis, Mary«, platzte Pete heraus, »und sehr viel attraktiver – «
Aber es kam weder mit Pete noch mit Ket zu etwas. Im Augenblick langweilten sie mich alle beide. Ich wollte nichts weiter, als so schnell wie möglich mit den neuen Transplantationsversuchen anfangen.
XII
Doch zuerst mußte ich Peder sehen, also flog ich zu ihm. Es ist immer noch eine wilde Gegend dort in den Bergen, voller Echos und Stille. Es tut gut, einmal auf ein langsameres Tempo umschalten zu können. Er holte mich ab, und Jon und Viola waren bei ihm. Plötzlich spürte ich einen Rest des Schuldbewußtseins, einmal, weil die Schmetterlinge es auf mich projiziert hatten, dann aber auch, weil ich stellvertretende Leiterin einer Expedition gewesen war, bei der ein Mitglied Einmischung begangen hatte. Tatsächlich waren weder Miss Hayes noch ich dafür getadelt worden, aber trotzdem bedrückt es einen natürlich, wenn ein Ereignis eine solche Kette von Folgen hervorruft. Jon war bei meiner Abreise ein kleiner Junge gewesen, sehr gut in seiner Gruppe integriert und mit einer guten, gleichmäßigen Begabung. Jetzt war er fast voll erwachsen. Er hatte lange Beine und eine helle Haut, die in der Sonne rot wurde. Peder muß genauso gewesen sein, ein junger Mann, der seine Zuneigung auf schüchterne Weise zeigte und dafür seine Fähigkeiten und seinen Mut zur Schau stellte, wie es für sein Alter natürlich war. Ich sah immerzu von einem zum anderen. Peder selbst war gealtert, aber nicht so stark, wie ich vermutet hatte, denn er hatte nicht widerstehen können, sich einer interessanten kleinen Expedition anzuschließen, die ein paar Punkte aufklären wollte. Dadurch hatte er ein paar Jahre im Zeit-Blackout verbracht. Seine Reise hatte ihn zu einer Welt ohne Leben geführt, auf der es faszinierende pseudomagnetische Echo-Effekte gab. Mit seinem mathematischen Genie hatte er sie bis ins letzte durchleuchtet.
Glücklicherweise waren keine wertvollen Minerale da! Die ganze Zeit, die wir miteinander sprachen, hielt ich nach Anzeichen des Alters Ausschau. Doch ich konnte nur feststellen, daß seine blauen Augen tiefer in den Höhlen saßen und die silberne Strähne in seinem Haar breiter geworden war. Aber ich hatte den Eindruck, daß Viola mit Schwierigkeiten kämpfte. Dafür fühlte ich mich verantwortlich, denn schuld waren meine rezessiven Gene, die in Erscheinung getreten waren, weil sie keine Chromosomen von einem zweiten Elter mitbekommen hatte. Sie war in ihrer eigenen Gruppe fröhlich aufgewachsen und hatte in Fernsehspielen erfolgreich mitgewirkt. Doch jetzt wollte sie, wie es mit meinen Genen unvermeidlich war, Forscherin werden, und das ging nicht so ohne weiteres. Schon allein ihrer geringen Größe wegen konnte sie die Standard-Ausrüstung nicht bedienen, und es war viel verlangt, alles für sie umzubauen. Das Raumreisen ist die teuerste Unternehmung der Menschheit, wenn auch die lohnendste. Aber wir Forscher müssen manchen Kampf mit der Verwaltung ausfechten. Viola hatte die Beamten zu überzeugen, daß sie Sonderausgaben wert war, und dabei würde ich ihr helfen müssen. Inzwischen hatte ich mir einen solchen Namen erworben, daß man mein Gutachten über eins meiner Kinder, besonders eins ohne Vater, ernst nehmen würde. Heutzutage kommt es einem Elter merkwürdig vor, für ein Kind soviel Verantwortung zu haben. Normal ist das genaue Gegenteil. Man quillt nicht über vor zärtlichem Verlangen nach den eigenen Kindern, zumindest nach den ersten paar Monaten nicht mehr. Man behandelt sie als menschliche Wesen, als Individuen mit dem unverbrüchlichen Recht, niemandes Besitz zu sein und ihren eigenen Raum und ihre eigene Zeit zu haben. Darüber sind sich selbst die erdgebundenen Menschen klar, die keine Forscher sind. Auch
sie lösen sich von ihren Kindern und gleichzeitig damit von jedem Schuldgefühl. Trotzdem hatte ich daran zu tragen. Mehrmals kehrte ich im Traum zu den Schmetterlingen und mehr, als einmal zu den Epsies und den Runden zurück. Allerdings tauchte in den letzteren Träumen für gewöhnlich Peder auf und erklärte die Last hinweg. Einmal träumte ich von der Raumreise mit Vly. In meinem Traum fällte ich die andere Entscheidung. Ich beendete die Schwangerschaft. Voller Entsetzen und mit einem noch verstärkten Schuldgefühl wachte ich auf. Die Gene, die mich zur Kommunikationsexpertin gemacht haben, bestimmten auch Violas Veranlagung. Sie beherrschte die Theorie rückwärts. Sie hatte mit verschiedenen terranischen Spezies praktiziert. Ich beobachtete sie, wie sie sich mit einem Blaufuchs in Verbindung setzte, Vertrauen schuf, ihm näherkam. Es war gute Arbeit. Aber unglücklicherweise waren die Gene auch für andere Dinge verantwortlich. Abgesehen von ihren Kopfschmerzen, die besser geworden waren, hatten sich bei ihr eine oder zwei kleine Allergien, die ich habe, verstärkt. Mit einer normalen Allergie kann man leicht fertigwerden; bei ihren war es komplizierter. Außerdem fühlte sie sich sehr zu Männern hingezogen. Und es verliebten sich viele Männer in sie, die sie auf dem Bildschirm gesehen hatten. Leider waren sie längst nicht mehr so begeistert, wenn sie den neunzig Zentimetern Fleisch und Blut gegenüberstanden, die ihr Intellekt bewohnte, trotz ihrer wundervoll zarten Haut und dem herrlichen Haar. Jedes einzelne Haar hatte die Hälfte der normalen Stärke und war unglaublich seidig. Es flog ihr auf geradezu elfenhafte Art um die Schultern. Ach, wie gern denke ich an die Tage in den beschneiten Bergen zurück, und immer empfinde ich tiefe Liebe für meine kleine Viola.
Die Menschheit hat Fortschritte darin gemacht, mit ungewöhnlichen Lebensformen umzugehen und sie zu respektieren. Es war auch nicht so, als ob meine Viola in irgendeiner Weise geistig oder körperlich deformiert gewesen wäre. Aber sie konnte zum Beispiel keine der üblichen Maschinen bedienen, so daß sie so manchen Zeitvertreib ihrer Altersgruppe nicht mitmachen konnte. Männer neigten dazu, ihr eine Art von Freundlichkeit zu zeigen, die das genaue Gegenteil von dem war, was sie sich wünschte. Doch sie war eine großartige Skiläuferin, und das bedeutete, daß Peder uns sie viel zusammen sein konnten, ohne daß es den Eindruck erweckte, daß er sie immerzu ängstlich überwache. Sie sprach sich mit mir nicht sofort aus. Aber eines Abends, als wir über Kybernetik geredet hatten, brach sie plötzlich in Tränen aus. Anfangs wußte ich nicht, ob der Grund in ihren Schwierigkeiten, Forscherin zu werden, oder in der Tatsache lag, daß ein bestimmter junger Mann nicht so weit gegangen war, wie sie es sich gewünscht hatte. Ich war an eine solche Beziehung mit jemandem, der nicht meiner Altersgruppe angehörte, nicht gewöhnt, und ich hielt mich davor zurück, Violas Gedanken zu lesen. Ich mußte jedoch irgend etwas Vernünftiges sagen, und da fragte ich sie, ob sie Peder gern zu einer Konferenz auf dem Mars begleiten wolle. Vly würde dafür sorgen, daß sie etwas von der Welt zu sehen bekam. Für sie bedeutete es einen modifizierten Time-Blackout und eine erste Erfahrung mit dem Raumreisen. Ich bemerkte: »Wenn du in der Kommunikation mit den Znydgis irgend etwas erreichst, wirst du klüger sein als wir alle.« Auch erzählte ich ihr ein bißchen über den ZeitBlackout, und ich dachte daran, wie meine Mutter so mit mir gesprochen hatte. Danach fiel Schnee, und wir liefen alle Ski. Das helle Sonnenlicht erzeugte gleißende Flächen und scharfe Kanten.
Es ist für alle Planeten dieselbe Sonne, für unsere marsianischen Kollegen und für die pulsierenden Gehirne der venusianischen Schlammbewohner, für die Kolonisten auf dem Saturn und dem Jupiter – und für andere ist sie ein winziger Lichtfleck am Himmel. Ich verfolgte ständig die Nachrichten: Ziemlich langweilige Berichte der Gesundheitsbehörden, die ständig auf der Jagd nach Bakterienmutationen oder eventuellen Eindringlingen von anderen Welten waren, die Alpträume des Verteidigungsministeriums über Angriffe aus anderen Galaxien und den Polizeiberichten. Auf Terra und anderswo wurden verschiedene Forschungsprojekte verfolgt. Was gab es Neues auf dem Gebiet der schönen Künste? Hier fand der stärkste Kontakt zu den Nichtforschern statt, die sich ihr Stückchen von der Ewigkeit nicht durch den Zeit-Blackout, sondern durch die Erschaffung von Schönheit sichern, und auch mit der jungen Generation, die die Kunst ernster nimmt, als wir Forscher es tun. Dann gab es natürlich noch eine Menge Klatsch, wer wo hinter was her war, wer ein Kind bekam und so weiter. Peder erzählte mir, 513 sei mit einer kleinen Gruppe zu einer besonders gefährlichen Expedition aufgebrochen, und es sei jede Spur von ihr verlorengegangen. Auch wenn keine Anklage wegen Einmischung bei der Mineralexpedition gegen sie erhoben worden war, hatte der Gedanke an das, was geschehen war, sich doch mehr und mehr zur Belastung für sie entwickelt. Ich fühlte mich mitverantwortlich; ich hätte eher zu der in letzter Minute erlangten Erkenntnis kommen müssen! Auch Peder meinte, er hätte es versäumt, die richtigen Schlüsse zu ziehen. Und doch war es diese Expedition, die uns an diesen Ort geführt hatte und die verantwortlich für die Existenz Jons war. Und dann war es Zeit, zurück an die Arbeit zu gehen und an die Transplante zu denken. Viola freute sich auf ihre Reise
zum Mars; Peder traf die Vorbereitungen. Auch ich freute mich. Eine Zeitlang hatte ich befürchtet, Viola werde ein Leben unter Nichtforschern führen müssen. Aber da ich noch nicht sicher war, ob ich ihr den Weg in die Forschung bahnen konnte, sagte ich nicht viel darüber. Ich bat sie, für Vly terranische Samen mitzunehmen; die Genetiker hatten verschiedene Pflanzen für ihn geändert. Sie waren dazu bestimmt, die Qualität seiner Weine noch weiter zu verbessern. Oder sollte ich von »ihren« Weinen sprechen? Peder hatte für mich eine Botschaft von Vly, daß er weiblich geworden war und ein Kind bekommen hatte. Für mich war das ein ganz komisches Gefühl; so festgewurzelt sind wir in unseren Konventionen. Aber seine Weiblichkeit war wie die frühere Männlichkeit nur eine zeitweilige Abweichung von der normalen Bisexualität. Ich hätte gern gewußt, was bei Vly die monosexuelle Phase ausgelöst hatte. Inzwischen hatte das Immunologenzentrum um Pseudokröten vom Mars gebeten, und sie waren praktisch sofort abgeschickt worden. Jetzt waren sie in der besten Annäherung an ihre heimatlichen Umweltbedingungen untergebracht. Sie waren nicht sehr attraktiv, denn sie hatten nicht die schönen Augen unserer terranischen Kröten. Es war zweifelhaft, wieviel sie überhaupt sehen konnten. Aber sie legten ihre Eier im Wasser ab, wo sie sofort befruchtet wurden, und ihre Nahrung war wenigstens zum Teil vegetarisch, auch wenn sie nichts dagegen hatten, alles zu probieren. Ihre Schulterhöhe betrug etwa sechzig Zentimeter, und sie waren sehr breit. Man konnte sich vorstellen, daß einige wenige genügten, um einen Kanal zu blockieren. Ihre Haut war zäher als die unserer Kröten und leicht geschuppt, aber es gab weiche Stellen, an denen man Transplante ansetzen konnte. Wir standen um sie herum und sahen sie an. Wenn jemand irgendeinen kleinen Gegenstand auf ihre Haut fallenließ, schleuderten sie ihn eine ziemliche
Strecke weit weg. Ich fand, sie rochen scheußlich, und Daisy war der gleichen Meinung. Sie und Kali waren beide sehr aufgeregt. Sie sprangen dauernd an mir hoch und kommunizierten mit Stimme und Zunge. Ich habe es immer ein wenig als unangenehm empfunden, von einem Schakal beleckt zu werden. Die meisten Hunde sind dazu erzogen worden, sich von anderen Proteinen zu ernähren, aber die Schakale sind immer noch Fleischesser und müssen mit den toten Körpern anderer Tiere ernährt werden. Gelegentlich bat ein Betreuer, der seine Tiere besonders liebte, darum, ihnen seinen Körper nach seinem Tod zur Verfügung zu stellen. Aber sie nahmen ihn nicht an, es sei denn, er war in Pension gegangen und starb in hohem Alter, wenn er lange Zeit von ihnen getrennt gewesen war. Anderenfalls erkannten sie seine Leiche und weigerten sich, sie anzuschneiden. Jedenfalls war die Unterhaltung mit den fleischessenden Schakalen weniger angenehm als mit den Hunden, auch wenn sie ebenso intelligent waren und manchmal sogar selbständiger dachten. Die Hyänen sind ebenfalls intelligent und zur Kommunikation geeignet. Leoparden neigten dazu, ständig geistesabwesend zusein. Allen hatte man die Transplante gezeigt, die sie bekommen sollten, und sie waren sehr gespannt darauf. Es war ihnen erklärt worden, daß es sich um etwas Neues und Wichtiges handele. Ein männlicher Schakal, mit dem ich mich nie hatte anfreunden können, obwohl er ein sehr kluges Tier war, sollte zur Kontrolle ebenfalls ein Transplant ragen. Die Znydgis sprangen umher, wedelten mit ihren hübsch gegabelten Schwänzen und ließen ihre langen, leuchtenden Augenbrauen tanzen. Dabei stießen sie ihre Pfeiflaute aus, die ein Mensch tadellos imitieren kann. Und doch haben sie noch nie zu einer Kommunikation geführt. Aus diesem Grund sind mir die Znydgis immer ein wenig auf die Nerven gegangen. Andere
Leute können sie dagegen unaufhörlich beobachten. Manchmal hielten sie im Spiel inne, legten sich in die Sonne und taten so, als seien sie gestreifte Steine, wie sie es wahrscheinlich auf dem Mars gemacht haben. Es war überhaupt nicht zu verstehen, warum bei ihnen kein Durchbruch zu erzielen war. Daisy empfand ebenso. Sie war sehr neugierig und hatte viele Freunde unter anderen Tierarten, auch wenn sich ihre Zuneigung vor allem auf die Menschen richtete. Ich weiß noch, daß sie mich überall beschnüffelte und dann einige dieser ziemlich peinlichen Hundefragen stellte, erst über To, an den sie sich erinnerte, und dann, als sie merkte, daß sie nicht auf dem laufenden war, über Peder und mich. Ich zog sie an den Ohren und kitzelte sie da, wo sie es gern hatte. Bei Kali waren es andere Stellen. Gleichzeitig arbeitete ich mit den Betreuern der Tiere zusammen. Ich versuchte den anderen Spezies zu erklären, was sich abspielte. Die Sauen reagierten mit auffallender Gleichgültigkeit. Aber da war eine junge Kuh namens Trude, die zu verstehen schien, um was es sich handelte. Ich stellte jedoch fest, daß eine Kommunikation mit ihr nur zu bestimmten Zeiten möglich war. Beim Wiederkäuen fiele sie in eine Art Trance. Offenbar bedeutete das für sie eine glückliche Zeit, in der sie von Bildern oder Gerüchen träumte, aber der Intellekt und die Fähigkeit zur Kommunikation waren dann vollständig ausgeschaltet. Olga war eine Weile bei ihrer Schwester geblieben. Es war ihnen gelungen, eine Menge von Rimas Pflanzen zum Wachsen zu überreden, vor allem die dominierende Art mit den dicken Blättern. Olga entwickelte immer mehr Fingerspitzengefühl. Aus Hinweisen, die wir anderen gar nicht bemerkten, erkannte sie, was eine Pflanze brauchte. Sie und Rima fachsimpelten andauernd. Ich schlug Olga vor, auch ein Transplant zu nehmen, doch das wollte sie nicht. Sie verhielt
sich gegen mich sehr loyal, und doch glaube ich, daß sie die ganze Idee unerfreulich und schockierend fand. Wir bekamen unsere Transplante alle zur gleichen Zeit. Unter uns war ein marsianischer Freiwilliger namens Zloin. Mein Transplant wurde wieder am Oberschenkel angesetzt, Zloins auf dem weichen Gewebe nahe der Schale. Wir hatten uns entschlossen, uns näherzukommen, damit wir unsere Symptome vergleichen konnten, und ich brachte Zloin dazu, mir seinen Namen (oder besser, ihren Namen, denn gleich nach Ansetzen des Transplants wurde er in weibliche Monosexualität geworfen und blieb so für die ganze Dauer des Experiments) in der Lautsprache zu nennen. Es war wichtig, daß wir alle, Marsianer, Menschen, Hunde, Schakale und andere Spezies, soviel Informationen wie möglich tauschten, besonders wenn wir früher schon einmal ein Transplant getragen hatten und jetzt andere Erfahrungen machten als früher. Es sollten regelmäßig verschiedene Proben genommen und Versuche gemacht werden, die möglicherweise unbequem, aber nicht schmerzhaft sein würden. Das war alles schön und gut, aber wir hatten nicht damit gerechnet, daß die Transplante uns so stark beeinflussen würden, daß wir sämtlichen Tests mit äußerstem Argwohn gegenüberstanden. Auch wollten wir viel lieber allein mit unseren Transplanten schmusen, als ernsthaft über sie diskutieren oder sogar in aller Öffentlichkeit Experimente mit ihnen machen. In gewisser Weise ging es uns allen wie Daisy, die einmal meinte, sie habe das Gefühl, das Transplant befinde sich nicht an, sondern in ihrem Körper. Zloin hatte vorher noch kein Transplant gehabt. Die Marsianer, die sich an den ersten Experimenten beteiligt hatten; wollten sie nicht wiederholen. Sie waren auch beide auf Expeditionen.
Ich glaube, sie hatten Zloin davon abgeraten, aber glücklicherweise gibt es auf dem Mars ebenso wie auf Terra Individuen, die sich von einem Experiment nicht abhalten lassen.
XIII
Es gab tatsächlich Unterschiede, aber sie schienen auf die Vitalität der frischen Transplante zurückzuführen zu sein. Wir hatten zwei Methoden angewendet: Ein Teil der Transplante wurde wie vorher chirurgisch eingepflanzt, andere den Wirten nur auf die Haut gelegt und mit einer ganz leichten Bandage festgehalten. Ich überzeugte Daisy, die letztere Art sei die interessantere und werde mehr Anerkennung finden, und ich würde es selbst so machen. Es funktionierte bei beiden von uns, auch bei einigen marsianischen Pseudo-Kröten, aber nicht bei den dickhäutigen Tieren wie den Sauen, Stuten und Kühen. Zloin hatte die andere Methode vorgezogen. Die Transplante wuchsen sehr viel schneller und hatten auf uns einen stärkeren Einfluß. Überraschend bald entwickelte sich bei Zloin weibliche Monosexualität, und mir war viel früher übel als damals bei Ariel. Bei allen Tieren wie auch bei mir wurde der sexuelle Zyklus unterbrochen. Wir alle beschäftigten uns mit den Dingen, von denen wir glaubten, daß die Transplante sie übernehmen könnten. Meine eigene Idee war, daß Daisy und ich der gleichen Art von Musik zuhörten. Ich fand heraus, daß sie besonders gern Holzblasinstrumente hörte, und ich lernte dabei überhaupt eine Menge über den künstlerischen Geschmack von Hunden. Die Zusammenarbeit brachte uns in eine ganz neue Phase unserer Beziehungen. Zum Schluß verließ Daisy das Immunologenzentrum und blieb bei Peder und mir. Nach ziemlich kurzer Zeit lechzten wir alle nach Wasser, obwohl wir reichlich Gelegenheit hatten, uns zu waschen, und einen Überfluß an kalten Getränken und Obst erhielten. Bei
mir war es viel schlimmer als beim ersten Mal. Nach und nach wurde ich besessen von der Vorstellung, meines Transplants wegen müßte ich es irgendwie fertigbringen, zu schwimmen. Ich konnte mich von diesem Zwang kühl distanzieren, wenn ich mit Pete oder Olga oder einem der anderen darüber diskutierte, aber wenn ich allein war oder mit einem der anderen Wirte kommunizierte, kam der Zwang um so stärker zurück. Olga war sehr besorgt und riet mir, das Transplant loszuwerden, bevor es ganz von mir Besitz ergriff. Ich tat so, als stimme ich ihr zu, sann dann aber listig auf Ausflüchte. Und die ganze Zeit genoß ich meine unwissenschaftlichen und pflichtvergessenen Täuschungsmanöver, ebenso wie ich es genoß, Olga zu hintergehen. Aber in welchem Sinne war ich noch ich? Unter normalen Umständen hätte ich mit Zloin durch Berührung kommuniziert, aber jetzt, wo sie ein Transplant trug, mochte sie es nicht mehr, wenn man ihre Geschlechtsteile anfaßte. Bei einer Expedition oder bei einem gemeinsamen Experiment trifft man sonst keinen schwangeren Marsianer, und ich hatte nicht gewußt, daß Zloin das normale Verhalten vor einer Geburt zeigte. Ich fürchtete vielmehr, ich hätte bei der Kommunikation einen Fehler begangen, der sie verschreckte, und ich kam zu dem Schluß, überwinden lasse sich das Mißverständnis nur dadurch, daß wir gemeinsam badeten. Wie ich zu dieser Folgerung kam, verstehe ich heute selbst nicht mehr, aber damals kam sie mir ganz logisch vor. Ich glaube, ich hatte mir vorgestellt, daß eine intime Kommunikation durch das Medium des Wassers möglich sei. Das ist natürlich Unsinn. Aber alle meine gedanklichen Prozesse wurden von dieser Besessenheit gesteuert. Pete erzählte mir später, ich hätte mich bei Unterhaltungen sehr merkwürdig benommen. Er machte ohne mein Wissen ein paar Fotos, und ich erkenne mich auf ihnen kaum. Es ist, als ob
ich versucht hätte, mich zu verstecken. Etwas Gutes kam auch dabei heraus. Ket verlor jedes Interesse an mir. Er kam zu mir, und ich versuchte sofort, ihn in dieser Badeangelegenheit zu meinem Verbündeten zu machen. Ich erinnere mich, daß ich mir zu meiner Schlauheit selbst gratulierte. Er jedoch bekam es mit der Angst zu tun und rannte, so schnell er konnte, zu seiner eigenen Altersgruppe zurück. Mir kam es so vor, als liege der ganze Zweck des Experiments nur in diesem kritischen Bad, und außerdem sei es sehr grausam gegen das unschuldige, geliebte Transplant, ihm nicht zu geben, was es brauchte. Diesmal behielt ich den Namen meines Transplants für mich. Zloin machte es ebenso, obwohl wir uns als Geheimnis anvertraut hatten, daß unsere Transplante Namen trugen. Alle Tiere beleckten ihre Transplante ständig. Ich fragte mich, welche Wirkung das haben mochte, aber der wässerige Stimulus war wohl zu gering, um eine drastische Wirkung zu zeitigen. Ich liebkoste mein Transplant und Zloin das ihre, und wir beide bevorzugten stille Winkel. Im Laufe der Zeit wurde unser Verhalten immer abnormaler und pflichtvergessener. Ich stellte fest, daß mein Transplant (nach all diesen Jahren bringe ich es immer noch nicht über mich, in Gedanken seinen Namen zu nennen) bereits auf die Musik reagierte, die er – oder ich – gehört hatte. Er vollführte mit Körper und Scheinfüßchen regelmäßig rhythmische Bewegungen, die mich entzückten. Ich antwortete darauf, indem ich ihn küßte und sogar leckte und sanft biß, genauso wie es die Dinos getan hatten. Dann schlängelte er sich und drückte sich fest an mich. Diese Schlängelbewegungen schienen mich zu durchdringen, und während es mich unruhig gemacht hatte, wenn Ariel ein Scheinfüßchen in meinen Mund steckte, freute ich mich bei diesem Transplant darüber. Ich kann den Geschmack nicht beschreiben, aber ich weiß, daß mich ein Gefühl der Zufriedenheit überkam. Das gleiche schien auf alle Wirte
zuzutreffen. Natürlich hätte ich darüber berichten und auch feststellen müssen, ob Daisys Transplant, das die gleiche Musik wie meines gehört hatte, ebenfalls darauf reagierte. Ich tat es nicht. Es gehörte mit zu meinem Geheimnis. Ich wurde ganz und gar antiwissenschaftlich. Glücklicherweise bemerkte Nadira, als sie zu einem Informationsbesuch kam, daß sich Daisys Transplant auf die gleiche rhythmische Weise bewegte. Sie wollte mit mir darüber sprechen, aber als sie in mein Zimmer trat, stellte ich mich schlafend. Am Anfang hatten wir beschlossen, einige der Wirtstiere in einem Teich baden zu lassen und abzuwarten, was dann geschehen werde. Die marsianischen Pseudokröten sollten zuerst drankommen, das Becken befand sich vor ihrem Haus. Es hatte sogar eine gewisse architektonische Eleganz, und ich mußte ständig daran denken. Olga hatte einige der Wasserpflanzen von der Heimatwelt der Transplante angesiedelt. Wir hatten mehreren weiblichen Kröten, offensichtlich zu ihrem Vergnügen, Transplante angesetzt, aber die männlichen Kröten schüttelten ihre mit einem oder zwei heftigen Rucken ab. Wir hielten es für möglich, daß wir den Zyklus vollständig wiederholen konnten und daß die Transplante sich auflösen und mit den Kröteneiern verschmelzen würden. Tatsächlich war ich diejenige gewesen, die vor Beginn des Experiments am eifrigsten dafür gesprochen hatte. Jetzt entwickelte ich eine sehr merkwürdige Eifersucht auf die Kröten. Warum durften ihre Transplante sich erfüllen und meines nicht? In einem Augenblick geistiger Klarheit erwähnte ich das – lachend! – Pete gegenüber. »Aber Mary«, hielt er mir vor, »wenn der Zyklus seinen normalen Verlauf nimmt, verschwindet das Transplant vollständig – es ist sein Ende. Möchtest du denn, daß dein Transplant sich auflöst?«
»O nein«, sagte ich. »O nein! Du verstehst einfach nicht.« Und meine Hand lag zärtlich auf meinem Transplant. »Natürlich, wenn etwas von ihm sich mit einem Ei verbindet, ist das nicht das genetische Ende – « fuhr er fort. Wie wenig er davon weiß, dachte ich, welcher Art diese Erfüllung ist! Aber ich konnte nicht in Worte fassen, was ich selbst zu wissen glaubte. Ich hatte mich auf einen prä-intellektuellen Zustand zurückgezogen. Eines Nachmittags lag ich träumend da. In meinem Kopf verschmolzen Pläne und Möglichkeiten miteinander. Da hörte ich einen schrecklichen Lärm. Nach einiger Zeit wurde mir bewußt, daß Zloin mich mit den Zehen berührte und eine Frage kommunizierte. Zögernd antwortete ich ihr, das seien Kali und Mani. Aber es steckte mehr dahinter. Bald darauf trat Pete Lorim ein. Er wirkte sehr aufgeregt, und er hatte einen Verband um einen Arm. Ich wollte es gar nicht hören, aber er zwang mich dazu, und dann wartete er, während ich mit Zloin kommunizierte, weil er sicher sein wollte, daß auch sie es begriffen hatte. Beide Schakale hatten Symptome gezeigt, als kämen sie in die Hitzeperiode, und hatten angefangen zu kläffen. Andere Fleischesser hatten sich ihnen angeschlossen, auch meine arme, liebe Daisy, die sich immer so schämt, wenn sie emotionale Geräusche von sich gibt, statt mit denen, die sie liebt, vernünftig zu kommunizieren. Ihr Betreuer – es war der, der mit auf der Raumreise gewesen war – hatte immer am besten mit den Schakalen umgehen können und noch nie eine Sekunde lang Angst vor ihnen gehabt. Er ging in ihren Spielhof, weil er versuchen wollte, sie zu beruhigen. Beide sprangen ihm an die Kehle, warfen ihn zu Boden, bissen ihn heftig und rannten davon. Sie suchten nicht nach dem Schakalrüden, aber er befand sich in einem anderen Teil des Zentrums, und sie konnten ihn wahrscheinlich nicht riechen. Blutend und schreiend rappelte der arme Laborant sich auf,
und Pete und zwei andere versuchten die Schakale abzufangen, die sich eigentlich wegen der Transplante gar nicht hätten schnell bewegen können. Doch sie rissen Petes Unterarm auf und galoppierten mit Höchstgeschwindigkeit, die Transplante hinter ihnen herflatternd, zu dem Krötenteich und sprangen hinein. »Und dann?« fragte ich zitternd. »Die Transplante schmolzen ab«, berichtete Pete. »Genau wie bei den Dinos. Und wahrscheinlich sind sie in die Körper der Schakale gelangt.« »Ja«, sagte ich und schloß die Augen. »Ja«. Mit dem bißchen, das von meiner Intelligenz noch übriggeblieben war, erkannte ich, wie gefährlich das alles war, wie die Transplante bei den Schakalen eine völlige Änderung des Charakters hervorgerufen hatten. Und dasselbe bewirkte mein Transplant bei mir – und ich wollte es so. »Ich würde dich gern bitten, mit den Schakalen zu sprechen«, sagte Pete. »Aber, Mary – ich traue dir nicht. Verstehst du, ich traue dir nicht.« Ich dachte: Vielleicht hat er recht. Pete tat etwas sehr Vernünftiges, er zog Françoise heran. Sie war meine Schülerin gewesen, und sie war glücklich, daß er sich an sie wandte und daß sie wieder eine von uns sein konnte. Ich erfuhr es erst später, aber sie schaffte es, zu den Schakalen durchzukommen. Sie waren in einem jämmerlichen und sehr aufgeregten Zustand, besonders Kali. Sie liebte ihren Betreuer und konnte sich nicht einmal daran erinnern, was sie getan hatte. Als Françoise sie aufforderte, sein Blut abzulecken, das noch ihre Pfoten und Lippen beschmierte, wollte sie vor Jammer und Schuldbewußtsein gar nicht wieder aufhören zu heulen. Zum Glück hatten die Schakale den Betreuer nicht getötet, wenn sie auch nahe daran gewesen waren. Seine rechte Hand war schlimm verletzt.
Die Hunde, besonders Daisy, warfen einen richtigen Haß auf die Schakale. Was sie getan hatten, zerstörte vorübergehend die Freundschaft zwischen Tieren und Laboranten, etwas, das für beide Seiten von großem Wert war. Und dann fingen die Pseudo-Kröten an. Man öffnete ihnen den Zugang zum Teich, und schon waren sie drin. Die Männchen umklammerten die Weibchen und befruchteten die austretenden Eier, die Transplante lösten sich im Wasser auf, und jetzt konnte eine ganze Serie von biochemisch und zytologisch äußerst interessanten Experimenten gemacht werden. Natürlich stellten sie die Grundlage für Pete Lorims Meisterwerk dar. Heute muß ich mich noch darüber wundern, daß ich den Kopf schüttelte, als er mich aufforderte, hinzukommen und zuzusehen. Mein eigenes Transplant, das wußte ich instinktiv, war noch nicht so weit. Oder ich war noch nicht so weit. Wir waren in einer Entwicklung begriffen, die man nicht beschleunigen konnte. Ich kann es mir nur so erklären, daß ich fürchtete, wenn ich dem Krötenexperiment zusah, könnte ich in einen normalen Geisteszustand zurückgeworfen werden. Dann kam Trude an die Reihe. Sie sprang über einen Zaun, an den sich ein sanftmütiges, junges Rind normalerweise nie gewagt hätte, und gelangte an den Teich, dessen Oberfläche jetzt mit den Eiern der Pseudo-Kröten bedeckt war. Wieder versuchten zwei oder drei Leute, sie aufzuhalten. Trude senkte den Kopf, griff an und stieß Olga um. Sie sprang ins Wasser und suhlte sich darin, und ihr Transplant löste sich auf. Jetzt schickte Pete ohne mein Wissen eine Botschaft an Peder, er möge herkommen. Den Schakalen und Trude passierte es, daß die Transplante in ihren Körper eindrangen und sich mit den Eiern, einschließlich der in den Eierstöcken, verbanden. Das wurde ein paar Tage später durch heftige Schmerzen offenbar. Mani fiel in Krämpfe
und starb. Bei Kali und Trude wurden die Eierstöcke operativ entfernt. Aber mit Daisy geschah etwas ganz anderes. Sie erzählte es mir später, als wir alle wieder normal waren, meine arme, seidenhaarige, goldene Daisy! Eigentlich war es ganz einfach: Es lief ein Bullenbeißer herum, ein sehr würdevoller Hund, der ein besonderer Freund Petes war. Sein Geruch, von dem Daisy vorher kaum Notiz genommen hatte, wurde plötzlich überwältigend. »Ich wollte es, ich wollte es«, winselte Daisy. Ich streichelte sie. »Ich weiß, Daisy. Ich wollte es auch.« Als nun Daisy ins Wasser ging, hatte ihr Transplant bereits dafür gesorgt, daß sie befruchtet worden war. Sie war das letzte der Säugetiere, das an den Teich kam. Es war klar, daß allen das gleiche geschah, und es hatte keinen Sinn, es noch einmal zuzulassen. Aber die Laboranten und Forscher waren so gar nicht daran gewöhnt, Gewalt gegen die ihnen anvertrauten Tiere anzuwenden, daß sie improvisieren mußten. Sie begannen damit, daß sie Spritzen mit Betäubungsmitteln in verschiedener Dosierung bereithielten. Françoise erwies sich als äußerst nützlich. Sie beruhigte die Weibchen verschiedener Spezies, und ich fürchte, sie erzählte ihnen auch Lügen. Nur gut, daß die Hyäne nicht zu ersten gehörte, die zum Teich durchbrannten, denn sie hätte ihren Betreuer wahrscheinlich getötet. Nur die Znydgi waren so gleichmütig wie immer. Ihre Transplante waren alle ziemlich klein geblieben und zeigten in Anbetracht der Verspieltheit ihrer Wirte merkwürdig wenig Aktivität. Aber das erzählte man mir erst hinterher. Während es geschah, hörte ich nur den Lärm, achtete jedoch kaum darauf. Ebenso verhielt sich Zloin, die sich mit einem der mathematischen Puzzles beschäftigte, die bei den Marsianern aus irgendeinem Grund angenehme und beruhigende Gefühle
auf der Haut erzeugen. Ich erinnere mich, daß Vly sie in schwierigen Augenblicken der Raumreise auch zur Hand nahm. Ein Marsianer im normalen bisexuellen Zustand kann zwei Puzzles gleichzeitig lösen, aber Zloin spielte mit einem ziemlich langsam herum. Sie hatte sich in sich zurückgezogen und wartete genau wie ich. Mir wurde es schwer, mich zu bewegen, und doch wußte ich, wenn die Zeit gekommen war, würde ich Kraft haben. Dann geschah alles auf einmal. Die Erinnerung, die ich unmittelbar danach hatte, war so unerfreulich, daß ich sie fast ganz ausgelöscht habe. Sicher bin ich nur, daß ich völlig unter dem Einfluß des Transplants stand, und daß doch ganz tief unten in mir immer noch ein lautlos kämpfender, beinahe erstickter Beobachter steckte. Ich erinnere mich, daß Peder eintraf, und es war entweder ein zufälliges Zusammentreffen oder der Stimulus, daß das Transplant nach einer Befruchtung verlangte. »Du hast wahrscheinlich nicht die geringsten Umstände gemacht«, sagte Peder später. »Und, meine Liebe, ich hätte dich nicht befruchtet, wenn Pete mir die Fallstudien nicht gezeigt hätte!« Und dann kämpfte ich mich verzweifelt zum Wasser durch, und der ohnmächtige Beobachter in mir stellte fest, daß der ursprüngliche Plan, die Transplante ins Wasser zu halten, ohne den eigenen Körper zu gefährden, einfach nicht durchführbar war. Ich schlug auf Peder und Pete, auf Olga und Françoise ein, und das Schreckliche war, daß ich Sieger blieb. Sie waren zivilisierte Wissenschaftler, denen es schwerfällt, Gewalt gegen ein anderes menschliches Wesen anzuwenden, aber ich war es nicht mehr. Ich biß Françoise, meine Schülerin. Ich boxte Pete gegen seinen zerbissenen, entzündeten Arm, und er ließ mich los. Nur Peder hielt mich noch fest, aber ich war stärker als er, jünger und stärker, und das Wasser war so nahe, und ich konnte es riechen und beinahe fühlen!
Dann schnitt Olga den Hals des Transplants durch, schnitt hinein, schnitt in mich hinein. Sie tat es mit einem Skalpell, sehr geschickt. Aber der Hals war noch nicht geschrumpft wie damals das Verbindungsstück zwischen Ariel und mir, und ich blutete und blutete. Sie betupften mich mit Verbandszeug und versuchten, zu mir durchzukommen. Ich hatte das Gefühl einer ungeheuerlichen Katastrophe, eines fürchterlichen Leids, aber denken konnte ich nicht. Dann gab mir irgendwer eine Spritze, und ich fiel in Nacht und Nichts.
XIV
Ich erwachte in einem Zimmer, das ich nicht kannte, und weinte. Die Tränen rannen mir kitzelnd in die Ohren. Was war denn nur mit mir? Ich versank wieder in Bewußtlosigkeit. Zloin lag auf dem Bett neben mir. Wieso? Seltsam, unverständlich. Ohne ihr Transplant. Françoise schüttelte mich, sagte: »Sprich mit ihr. Versuche, zu ihr durchzukommen. Ich kann es nicht.« Nach langer Pause streckte ich meine Hand aus, tastete nach Zloins Fingern, drehte mich auf die Seite, um auch die andere Hand berühren zu können. Ich empfing Traurigkeit, Verlust, Zerstörung, Groll auf die Terraner. »Zloin«, sagte ich in der Lautsprache. An der Stelle nahe der Schale, wo das Transplant gesessen hatte, war eine wunde Stelle. Das bemerkte ich als erstes. Dann bemerkte ich noch etwas. Ich hatte jetzt eine ganze Menge Erfahrung mit Marsianern, und mir kam es vor, als pendele Zloin zwischen männlicher und weiblicher Monosexualität hin und her. Mir war schwindlig, doch ich zwang mich, mich aufzusetzen und dann auf die Füße zu stellen. Françoise hielt mich an einem Ellenbogen, Peder am anderen. Wie kam denn Peder hierher? Ich sah auf meinen Oberschenkel hinab. Er trug noch einen Verband, ich spürte immer noch einen dumpfen Schmerz. Ich ging zu Zloin, legte mich zu ihr und begann mit der tiefen taktilen Kommunikation zwischen allen tastempfindlichen Körperteilen. Plötzlich brach die Barriere zusammen. Zloin antwortete. Durch den marsianischen Körperbau und die schützende Schale war Zloin in geringerer Gefahr gewesen als ich. Aber niemand konnte sicher voraussagen, was geschehen werde,
und die Terraner fühlten sich für Zloin besonders verantwortlich. Deshalb hatte man beschlossen, ihr Transplant zu entfernen. Der Hals war ein wenig dünner gewesen als bei mir, aber trotzdem war es zu starken Blutungen gekommen. Pete hatte sich große Mühe gegeben, beide Transplante am Leben zu halten, doch es war ihm nicht gelungen. Im letzten Augenblick wollte er eins der beiden – es war meins – an einer anderen Person ansetzen. Françoise hatte sich angeboten. Sie gaben ihr eine so große Dosis Antigene, wie sich eben noch verantworten ließ. Es war nutzlos. Sie konnte mein Transplant ebenso wenig behalten, wie sie mein eigenes Körpergewebe hätte behalten können. Antikörper entstanden, das Transplant schrumpfte ein und fiel ab, ohne daß irgendein Gefühl in ihr erwacht wäre. Sie war enttäuscht, und die Antigene hatten die üblichen unerfreulichen Nachwirkungen, aber die geistigen Störungen und der Kummer waren ihr erspart geblieben. Es war zu erwarten gewesen, daß das geschehen würde, aber eine kleine Chance hatte eben doch bestanden. Für Françoise war es sehr traurig, denn sie hatte es sicher als einen Akt der Wiedergutmachung für das, was sie getan hatte, empfunden und geglaubt, wir würden sie wieder als eine von uns ansehen. Ich dankte ihr eigens dafür. Olga tat, als sei es selbstverständlich gewesen – und das mag besser gewesen sein. Ich weiß es nicht. Doch all das geschah, als ich noch nicht wieder zu mir gekommen war. Noch etwas ereignete sich. Daisy gebar acht Junge, aber keine Bullenbeißer-Mischlinge, sondern scheußliche kleine Dinger, von denen jedes wie ein leicht angeschwollener Fötus mit einer Haut wie die der Transplante aussah. Die arme Daisy haßte sie so sehr, daß sie in die atavistische Versuchung geriet, sie zu fressen. Und dann erlag sie ihr und fraß zwei. Wir alle hatten Mitleid mit ihr, und es gelang uns, ihr die Schuldgefühle ganz auszureden. Die übrigen sechs Wesen wurden ihr
weggenommen, und man tat alles, um sie am Leben zu erhalten, aber sie nahmen weder Nahrung zu sich noch wuchsen sie. Sie stellten wirklich ein völliges morphologisches und biochemisches Durcheinander dar! Offensichtlich war hier mit dem Zyklus der Transplante etwas schiefgegangen. Aber aus vielen der Kröteneier schlüpften kleine Parasiten, die sich mit Eifer über Teilchen der Pflanzen aus ihrer eigenen Welt hermachten. Sie streckten Scheinfüßchen aus und paddelten im Teich umher, als seien sie dort zu Hause. Ich erinnere mich, daß ich einmal am Teich stand und ihnen zusah, und Olga trat gedankenverloren nach einem von ihnen. Sie hatte etwas gegen sie. Aber das war später. Als ich zu Zloin durchkam, sagte sie mir, ihr Transplant wäre anders geworden, er wäre freundlich gewesen. (Die Bedeutung, die Zloin mir übermittelte, war natürlich nicht »freundlich«, sondern ein marsianischer Begriff, der nicht leicht zu übersetzen ist, doch er hat mit den Beziehungen zu anderen Wesen zu tun.) Er hätte Intelligenz gehabt, das habe sie bereits bemerkt. Ich fragte, warum sie das niemandem erzählt habe. Sie wären gekommen und hätten sich eingemischt, ihn gemessen, das Geheimnis zwischen ihr und ihrem Transplant zerstört. Warum hatte sie es mir, ihrer Freundin, nicht erzählt? Ich hätte sie betrogen, ich sei auch eine Terranerin. Ich versuchte ihr zu erklären, was ich jetzt erfassen konnte, wenn auch durch einen Schleier des Kummers: Ihr Transplant habe ebenso wie meins seinen Zyklus vollenden und uns ins Wasser führen müssen und als Individuum, das in uns Liebe erregt habe, existiere es nicht mehr. Zloin weigerte sich, das zu verstehen. Sie gab nur Haß auf die Terraner zu erkennen. Ich kam mit meiner Kommunikation nicht dagegen an, teilweise auch deswegen, weil meine eigene Intelligenz noch nicht wieder auf voller Höhe war. Aber es war schrecklich zu fühlen, daß sie sogar die grundlegende solare Loyalität verleugnete, in
die wir alle schon in unserer Kindheit hineinwachsen. Mich erfaßte ein neues Schwindelgefühl, denn man hatte mir eine reichliche Dosis eines Narkotikums gegeben. Ich kann mich nur noch erinnern, daß ich murmelte, Peder solle mir helfen. Er hob mich auf und nahm mich von der armen Zloin weg. Mich umfingen Dunkelheit und seine Arme. Als ich endgültig wieder zu mir kam, war der Kummer beinahe verschwunden; er war nur noch wie ein dumpfer Schmerz. Dafür erfüllte mich ganz und gar das Bewußtsein, mich sehr schlecht benommen zu haben. Der winzige Beobachter in mir hätte es nicht zulassen dürfen, daß ich mich überwältigen ließ. Später fand ich heraus, daß es meiner Kollegin Zloin ebenso erging. Sie schämte sich sehr, daß sie (das heißt, mittlerweile er) die Terraner gehaßt und das auch noch gezeigt hatte. Immerzu versicherte Zloin, welche Gefühle auch immer unabsichtlich an die Oberfläche gestiegen seien, ich sei anders, nicht ganz so terranisch, viel verständnisvoller. »Du hast unsern Wein getrunken«, sagte Zloin. Ich sagte, ja, das hätte ich tatsächlich, und erzählte von Vly. »Das warst also du«, meinte Zloin. (Ich übersetze so genau, wie es möglich ist.) »Wo ist das Kind?« Ich antwortete, Viola sei zweifellos mit ihrer Gruppe zusammen, doch bald werde sie eine Reise zum Mars machen. Beinahe zu eifrig versicherten Zloin und ich uns, diese gegenseitigen Besuche seien eine ausgezeichnete Idee. Wir sprachen über Vly. Sein – oder ihr – Kind habe einen wunderschön gezeichneten Schädel. Ich dachte auf einmal, ich würde Viola gern noch einmal sehen, bevor sie abreiste. Als Peder hereinkam, fragte ich ihn, wo sie sei. »Liebes, sie ist schon vor einem Monat abgereist«, antwortete er. Ich sah ihn dumm an. »Aber du, bist du denn nicht weg?«
»Du siehst mich doch«, grinste er. »Ich konnte dich in dem Zustand, in dem du warst, nicht verlassen, Mary.« Ich wußte nicht, was ich sagen sollte. Von einem erwachsenen Kollegen erwartet man nicht, daß er etwas Derartiges tut. Hätte ich das gleiche für Peder getan? Plötzlich dachte ich: Ja, vielleicht. Ich wollte etwas sagen, ich weiß nicht mehr, was. Er unterbrach mich, brummte einen Fluch vor sich hin. Ich erinnere mich, daß er sagte: »Die Wahl ist mir nicht schwergefallen.« Er fuhr fort: »Wußtest du, daß Viola mit den Znydgis gearbeitet hat, mit den verschiedenen Kolonien, die wir auf Terra haben?« Ich schüttelte den Kopf. »Das dachte ich mir. Sie wollte es dir wohl noch nicht verraten. Mir gegenüber ist es ihr nur herausgerutscht.« Es war merkwürdig. Ein kleines bißchen nahm ich es übel, daß sie es mir nicht gesagt hatte, und dann fing ich an zu lachen – aber natürlich, es lag doch auf der Hand, daß Peder derjenige war, an den sie sich wandte, wenn sie es überhaupt einem Menschen erzählte! Aber was in allen Galaxien hatte sie entdeckt? »Sprich weiter!« drängte ich. »Nun, es sieht so aus, als sei es ihr gelungen, mit den Znydgis zu leben, ohne sich über sie zu ärgern – wie es dir gegangen ist, Liebes. Möglicherweise hängt es mit ihrer Größe zusammen. Sie konnte zwischen ihnen umhergehen, und sie nahmen gar keine Notiz von ihr.« »Sie nehmen von niemandem Notiz.« »So wird behauptet«, antwortete Peder langsam und kratzte sich das dichte Haar. »Ja, das haben wir alle geglaubt. Aber vielleicht stimmt es nicht.« »Meinst du – « »Sie schenkte diesen Pfeiftönen, die noch nie zu etwas geführt haben, keine Aufmerksamkeit. Wenigstens berichtete sie es mir so. Es hat den Anschein, als sei da etwas anderes. Und sie kann es erfassen. Die Znydgis hielten Viola für eine
Erscheinung, die ihnen keine Veranlassung gab, sich in Steine zu verwandeln.« Ich hörte jetzt mit gespannter Aufmerksamkeit zu, ich verstand, was er meinte – was Viola meinte. Ich nickte. »Auf dem Mars wird Viola Znydgis antreffen, die noch nie Kontakt mit Menschen gehabt haben. Sie hat gute Ideen. Aber sie will nicht darüber sprechen, bis sie ganz sicher ist«, fuhr Peder fort. »Bestimmt hat sie recht«, antwortete ich. Sind die Znydgis für ihre Transplante auch Steine? schoß es mir durch den Kopf. »Aber glaubst du, sie kann es schaffen? Wirklich und wahrhaftig, Peder? Sie kann Erfolg haben, wo noch kein Marsianer und kein Terraner etwas erreicht hat?« »Vielleicht hätten wir Erfolg gehabt, wenn die Marsianer uns nicht versichert hätten, es sei unmöglich. In diesem Vorurteil haben wir uns gegenseitig bestärkt. Doch irgendwer mußte eines Tages die Lösung finden«, meinte Peder. »Warum nicht Viola? Du hast den richtigen Instinkt für die Kommunikation, Mary. Ich benutze ein romantisches altes Wort wie ›Instinkt‹ ungern, aber es umschreibt immerhin etwas. Und da deine Gene in Viola verstärkt auftreten, mag sie wohl diejenige sein.« »Sie wird sich einen Namen machen «, erklärte ich. »Nicht, daß die Znydgis so überaus wichtig wären, aber schließlich ist das eine Sache, an der wir uns alle versucht und versagt haben. Oh, wäre das schön! Und wenn sie irgendeinen Kontakt mit ihnen herstellen kann, was wird sie dann bei unseren großen Problemen leisten! Die Expeditionsleiter werden sich um sie reißen.« »Das würde dich freuen, nicht wahr, Mary?« »O ja! Ich hatte solche Angst, sie müßte ein zeitgebundenes Leben führen. Oh, Peder – « Und dann begann ich zu weinen, aus keinem anderen Grund, als daß ich von dem Narkotikum und dem Schock immer noch schwach und nicht wieder ganz
ich selbst war. Peder saß da wie ein Berg, ein großer, schneebedeckter, noch nie bestiegener Berg unserer eigenen Erde. Natürlich blieben wir noch für die Dauer der Diskussionen im Immunologenzentrum. Dabei tauchte mein ältester Sohn auf. Ich freute mich und fühlte mich sehr geschmeichelt. Er bereitete sich gerade auf seine erste Raumreise vor. Ich stelle fest, daß Silis ihn sehr attraktiv fand. Er hörte sich alle unsere Probleme an. Da war zum Beispiel die Schwierigkeit, daß die ersten Transplante sich wohl aufgelöst, aber die Eier oder zukünftigen Eier ihrer Wirte nicht angegriffen beziehungsweise sich nicht von ihnen angezogen gefühlt hatten (wie nahe verwandt diese beiden Begriffe sind!). Wir schrieben es dem Verlust an Vitalität zu, der den ersten Transplanten durch die dauernde Unterbrechung ihres Lebenszyklus widerfahren war. Da wußten sie einfach nicht mehr, was sie zu tun hatten. In der symbiotischen Phase waren sie zuletzt bei den Dinos gewesen; sie verlangten nach mütterlicher Liebe und nach Wasser. Aber als sie zerschnitten wurden und sich regenerierten, hatten sie den Anschluß an die nächste Phase verpaßt. Es ist wahrscheinlich, daß wir die molekularen Grundlagen für all das bald finden werden. In der Zukunft gibt es noch eine Menge Arbeit zu tun. Zum Beispiel muß herausgefunden werden, auf welche Weise die Transplante ihre weiblichen Wirte beeinflussen, ob durch Unterdrückung oder Verstärkung eines Hormons oder dergleichen. Ganz bestimmt handelt es sich nicht um eine einfache Hormonreaktion, das zeigten unsere Blutproben. Aber die Proben und Tests müssen erst noch gründlich ausgewertet werden, was nicht zu schwierig sein sollte. Ich zweifele sehr daran, ob ich das nächste Mal wieder mitmachen möchte. Jetzt ist Silis zurück, und da kann sie ein Transplant nehmen.
Am letzten Tag der Diskussionen brachte irgendwer eine Botschaft für Pete. Er zögerte, bevor er uns alle darüber informierte. Durch den Abfluß des Teiches waren einige Eier der Pseudo-Kröten weggeschwemmt worden, und kaum waren die Kröten ausgeschlüpft, da wuchsen sie auch schon und suchten die Gemüsefelder heim, auf denen sie eine Reihe Marspflanzen entdeckten. Das Zentrum bekam eine Menge Ärger mit der Polizei – nicht ganz unverdient. Gegen die Kröten mußte mit Gewalt vorgegangen werden, und das brachte alle aus der Fassung. Glücklicherweise schmeckte der Hyäne das Krötenfleisch besonders gut, und da sich alle ihr gegenüber schuldig fühlten, wurde auf gewisse Weise wieder ein Ausgleich erzielt. Es konnte einen jedoch wirklich in Unruhe versetzen, wenn man bedachte, welche Mengen an köstlichen Leckerbissen von den Kröten vernichtet werden konnten, die den Geschmack, das darf man als sicher annehmen, gar nicht zu würdigen wissen. Während der Diskussionen bekam ich die Fotos zu Gesicht, die Pete von mir gemacht hatte, als ich das Transplant noch trug. Auch jetzt noch stiegen die alten Gefühle wieder in mir hoch. Ja, ich war jemand ganz anderes gewesen, ich hatte alle meine Pflichten als Wissenschaftlerin vergessen. Diese Erfahrung hatte mich stärker angegriffen als mein Kontakt mit den Radialwesen bei meiner ersten Expedition. Zweifellos war der Grund darin zu sehen, daß ich nicht nur durch meine eigene Neugier und Sympathie hineingezogen worden war, sondern daß das Transplant in mir gefährliche Emotionen erzeugt hatte, die ich allerdings bereit war zu akzeptieren. Wir sind noch nicht imstande, uns auf solche Angriffe völlig vorzubereiten, besonders dann nicht, wenn wir Kommunikationsexperten sind, die alle Kanäle offenhalten müssen.
Noch einmal sah ich mir die Fotos an. Sollte ich das sein? Würden meine Kinder mich darauf erkennen? Und war ich sicher, daß ich jetzt wieder völlig normal war? In intellektueller Hinsicht gewiß, aber gefühlsmäßig nicht. »Ich werde mich vor meiner nächsten Expedition stabilisieren müssen«, sagte ich zu Peder. Ich lehnte mich an seine Schulter und dachte an die Tochter, die wir haben wollten. An einem blaßblauen Morgen flogen wir in einem altmodischen, halb leeren Flugzeug nach Trondheim. Françoise weinte ein wenig, als sie uns Lebewohl sagte. Ich glaube, sie beneidete mich vielleicht aus mehr als einem Grund.