Manfred Weinland
Meister der Lüge Bad Earth Hardcover Band 24
ZAUBERMOND VERLAG
Das Angksystem wird von mehreren hu...
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Manfred Weinland
Meister der Lüge Bad Earth Hardcover Band 24
ZAUBERMOND VERLAG
Das Angksystem wird von mehreren hunderttausend feindlichen Schiffen belagert. Sie warten darauf, dass sich eine Lücke in dem Schutzwall auftut, der das letzte Mittel zu sein scheint, um die bewohnten Welten des Systems vor den Aggressoren zu schützen. Angeführt werden die Belagerer von den Auruunen, einer Spezies aus der Milliarden Lichtjahre entfernten Galaxis Eleyson. Die Ganf nennen die Auruunen den URFEIND. Und die RUBIKON, das wird immer klarer, ist die letzte Hoffnung aller, die sich hinter der protochaotischen Wolke verschanzt haben.
Was bisher geschah … Auf der Suche nach Saskana, der Heimatwelt des verstorbenen Boreguir, wird die RUBIKON-Crew im Zentrumsgebiet der heimatlichen Milchstraße Zeuge eines Raumgefechts. Eine goldene Kugel wird von fremden Raumschiffen angegriffen und vernichtet. Der Gloride Fontarayn wird als einziger Überlebender geborgen. Er stammt aus Andromeda und führt die RUBIKON hinter den Ereignishorizont des zentralen Milchstraßen-Black-Holes, wo sich eine sogenannte CHARDHIN-Perle befindet, die zu einem universellen Netz von Stationen gehört, welche zu jeder Zeit existieren. Mit Mühe kann die RUBIKON-Crew den Gefahren der Station trotzen. Wieder heil zurück im Normalraum, begegnen sie einem weiteren Gloriden namens Ovayran. Zum ersten Mal erfahren sie etwas über die Treymor, die Fontarayns Schiff vernichteten. Um der TreymorGefahr Herr zu werden, beschließt man den Aufbruch zur Andromeda-Perle. Bei einer Transition dorthin wird die RUBIKON jedoch zweihundert Jahre weit in die Zukunft geschleudert … und findet Andromeda völlig anders vor, als von Fontarayn beschrieben. Es häufen sich die Anzeichen, dass die Satoga, die vor zwei Jahrhunderten nach Andromeda aufbrachen, um sich dort friedlich anzusiedeln, verheerende Kriege gegen die hier beheimateten Völker geführt haben. Aber es kommt noch schlimmer: Die Andro-Perle steht kurz vor der Aufgabe durch die Gloriden und ihren Perlenweisesten. Als letzten Gefallen will er die RUBIKON in die Vergangenheit versetzen und ihr so die Möglichkeit geben, die Hintergründe des rasanten Verfalls des universellen Netzwerks aufzudecken. Scobee will diesen Transfer jedoch nicht mitmachen, sondern bricht stattdessen mit Ovayran in dessen Schiff Richtung Milchstraße auf. John Cloud und die RUBIKON passieren indes die Portalschleuse der Andromeda-Perle und erreichen ihrerseits die Milchstraße, jedoch in einer anderen Zeit.
Nicht identifizierbare Objekte umschwärmen die MilchstraßenPerle. Cloud und Jarvis begegnen schließlich einem der legendären ERBAUER. Er nennt sich Kargor und übernimmt die volle Befehlsgewalt über die RUBIKON, die zu einer Mission in die Milchstraße aufbricht, von der laut Kargor der Fortbestand des ganzen Universums abhängen könnte. Im System Butterfly-M2 wird man schließlich fündig. Dort residiert der »Zeitverbrecher« Darnok, ganz in seinem Streben nach Rache aufgehend. Die Besatzung der RUBIKON überwältigt ihn, doch es sind Jahrzehntausende in der Milchstraße vergangen, als das Entartungsfeld endlich erlischt. Jahrzehntausende, in denen sich die Menschen auf der Erde und sämtliche anderen bekannten Hochzivilisationen, vom Rest der Galaxie abgeschnitten, fortentwickelt haben. Auch die Erde ist nicht mehr wiederzuerkennen. Ihr Besuch endet in einem Beinahe-Desaster, denn sie und der Mond sind zu einem von der sogenannten »Oortschale« umschlossenen Hohlweltkonstrukt geworden, in dessen Vakuumzone eine ganz neue Menschenspezies aktiv ist: die Vaku-Farmer. Bei ihrem Vorstoß zerstört die RUBIKON unbeabsichtigt »Weiden« der Farmer, worauf John Cloud vor ein Tribunal gestellt wird. Oberster Richter ist der mit einem Residenz-Gigahirn verwobene Reuben Cronenberg, der eine bizarre Unsterblichkeit erlangt hat. Der RUBIKON mit John Cloud gelingt die Flucht aus Cronenbergs Machtbereich, als eine Flotte von Treymor-Schiffen über der Erde auftaucht. Kurz darauf steht ein sehr viel angenehmeres Wiedersehen auf dem Programm: Kargor führt die Crew wieder mit Scobee zusammen und offenbart das Angksystem mit all seinen Geheimnissen. Als es dort auf dem Planeten Portas – wohin es zeitweise auch Jiims Sprössling Yael verschlägt – Anzeichen gibt, die darauf schließen lassen, dass die ERBAUER, die sich selbst Bractonen nennen und als Schöpfer unseres Universums zu erkennen geben, endlich wieder den Weg zurück in ihr angestammtes Kontinuum finden könnten, verabschiedet sich Kargor von der RUBIKON-Mannschaft, die enormen Zuwachs von den Angkwelten erhalten hat.
In der Anomalie eines Milchstraßenplaneten trifft sie ausgerechnet auf Sobek. Der bringt die RUBIKON in seinen Besitz und steuert gemeinsam mit seiner Gefährtin Siroona die alte Heimat der Foronen, Samragh, an. Dort kommt es zum Duell mit Mecchit, der das wieder erblühende Foronenreich mit harter Hand regiert. Sobek siegt, Mecchit stirbt … aber dann kommt alles anders als erwartet. Ein in den Randgebieten Samraghs auftauchendes Phänomen – Tausende Sterne verschwinden ohne erkennbaren Grund – lockt Sobek an, und die Fremdtechnik aus der Anomalie, mit der er die RUBIKON unter seine Kontrolle bringen konnte, wird im Einflussbereich des Unfassbaren zerstört. Sobek stirbt. Und Siroona erhält von John Cloud die Chance, ihr Volk auf einen friedlichen Weg zu führen. Bald darauf machen wieder einmal die Treymor von sich reden. Der Aquakubus, die vielleicht größte technische Leistung der Foronen, befindet sich in ihrer Gewalt. Nur noch Taurt und ein paar Getreue leisten Widerstand. Die RUBIKON kann dem dortigen Terror mit knapper Not entkommen. Tovah'Zara transitiert mit unbekanntem Ziel. Niemand ahnt, dass der Kubus im irdischen Sonnensystem auf Höhe der einstigen Jupiterbahn rematerialisiert. Und dass Reuben Cronenberg, der uralte Herrscher auf Terras Thron, kurz darauf Besuch von einem Wesen hält, das die Treymor gerufen haben. Es gehört einer Spezies an, die von den Käferartigen als VÄTER verehrt wird. Und es scheint aus einer über 13 Milliarden Lichtjahre entfernten Galaxie zu kommen … Indes verweilt die RUBIKON immer noch bei den Koordinaten, wo der Aquakubus den Ortungssystemen entwischte. Und einmal mehr rückt das Angkdorf in den Brennpunkt des Interesses. Erst recht, als es sich verändert. Die RUBIKON fliegt den Planeten Kentyr an. Ein Wesen aus Nabissmaterie lotst sie dorthin. Dieses Wesen scheint »Charly« übernommen zu haben, Yaels imaginären Freund. Es begleitet Jarvis zu einem Außeneinsatz auf Kentyr, in dessen Verlauf die Leiche eines toten Ganf geborgen wird. Jarvis schließt den Leichnam in seiner Körperfülle ein und kehrt damit an Bord zurück.
Anschließend fliegen sie zum Angksystem, das sich hinter einer »protochaotischen Wolke« verschanzt hat und von über zweihunderttausend feindlichen Schiffen belagert wird. Diese Schiffe werden von den Auruunen angeführt, dem URFEIND derer, die sich als heimliche Herren des Angksystems zu erkennen geben: den Ganf. Und die Ganf sind es auch, die John Cloud auffordern, sich umgehend, nach Portas zu begeben, der Verbotenen Welt …
1. Die RUBIKON raste der Hölle von Angk III entgegen. Schon einmal hatte das Rochenschiff das Wagnis auf sich genommen, in die Atmosphäre der verbotenen Welt Portas vorzustoßen – als es galt, den Jungnargen Yael von dort zurückzuholen, zu bergen. Yaels Ungestüm oder eine unbekannte Macht hatten die tief in Jiims Sprössling schlummernde, besondere Gabe aktiviert, über die er seit Geburt verfügte. Und die ihn in die Lage versetzt hatte, nach Portas zu »teleportieren« – etwas in der Art jedenfalls. Genau geklärt worden war nie, welche Kräfte freigesetzt wurden, um Yael nach Portas zu tragen. Aber letztlich zählte nur, dass man ihn hatte aufspüren und zurückholen können. Ich habe ihn aufgespürt und zurückgeholt, dachte John Cloud. Ich war mit dem Schiff und seiner Künstlichen Intelligenz, mit Sesha, verschmolzen, als wir hinabtauchten in sturmumtoste Gebiete, gegen die jeder Hurrikan wie ein laues Lüftchen anmutet. Ich weiß heute nicht mehr, wie wir es von Portas zurückschafften. Die Gewalten, die an der RUBIKON – und an mir – zerrten, waren mörderisch. Doch nun … … nun wusste er erst recht nicht, wie ihm geschah, weil die RUBIKON gerade eine »Schicht« durchbrochen hatte, unter der alles anders war als darüber. Darüber kochte die Luft des Planeten, herrschten infernalische Zustände und Gesetzmäßigkeiten, die bei jedem, der dem Planeten zu nahe kam und der bei geistiger Gesundheit war, einen sofortigen Fluchtreflex hätten auslösen müssen. Darunter aber … HIER! … war keine Spur mehr von Inferno, und spontan glaubte Cloud, die RUBIKON müsse durch eine unbekannte Technologie entstofflicht, räumlich versetzt und über einem ganz anderen Planeten rematerialisiert worden sein.
»Das ist nicht mehr Portas – oder?«, meldete sich prompt auch Jarvis in diesem Sinne zu Wort. Sein Freund in dem aus Nanomaterial geformten Kyberkörper, der aber dank »bractonischem Tuning« auf die meisten Betrachter wie eine lebendige Hülle aus Fleisch und Blut wirkte – genauer gesagt wie Jarvis' früherer Originalkörper – war kaum zu bremsen. »Hagel und Granaten! Die haben uns gelinkt!« Wen er damit meinte, stand außer Frage. Diejenigen, die John Cloud erst dazu gebracht hatten, Portas überhaupt anzusteuern. Eine Höllenwelt. Eine Welt, die selbst den Bractonen Bauchschmerzen bereitete – weil sie sie zu diesem Chaosplaneten gemacht hatten, sie und ihre unseligen Versuche, von dort aus eine Rückkehrmöglichkeit in ihr angestammtes Kontinuum zu öffnen, um nach Jahrmilliarden endlich wieder dorthin zurückkehren zu können … Alles Lüge, dachte Cloud. Alles Lüge, haben sie gesagt. Und ich bin ihnen auf den Leim gegangen. Ihnen – den Ganf. Lange hatte er die Ganf nur aus Erzählungen des Nargen Jiim gekannt. Dessen Volk hatte einst, bevor ein riesiges Stück ihres Mondes Maron zum gezielten Absturz auf Kalser, ihre Heimatwelt, gebracht worden war, in friedlicher und sich gegenseitig befruchtender Koexistenz mit den Ganf gelebt. Die Ganf waren riesige Wesen, die laut Jiim schneckenhausartige Gebilde mit sich herumgetragen hatten. Diese Gehäuse waren auch nach dem Niedergang der Zivilisation noch vielerorts auf Kalser zu finden gewesen. Aber kein Narge konnte sagen, wohin die dazugehörigen Geschöpfe verschwunden waren – ob sie bei der planetenumspannenden Katastrophe umgekommen waren oder vielleicht noch rechtzeitig von Kalser hatten flüchten können. Denn die Mittel dazu, das hatte sich ganz allmählich und lange im Nachhinein herausgestellt, hatten sie offenbar besessen. Die Ganf waren viel mächtiger und in kosmologischen Fragen versierter, als die unbedarften, in vielerlei Hinsicht völlig naiven Nargen es sich je hätten erträumen lassen. Irgendwann aber war Jiim in der Toten Stadt – einer der verlasse-
nen Pyramidenkomplexe aus der Zeit vor der Katastrophe – offenbar noch einmal einem lebenden Ganf begegnet. Der hatte ihm eine Rüstung geschenkt … und eine Transmitterverbindung geöffnet, die Jiim bis in die Große Magellansche Wolke versetzt hatte, wo er schließlich mit der RUBIKON-Besatzung zusammengetroffen war. Das alles war Jahre her. Ebenso wie der Konflikt zwischen Satoga und Dex, zwischen CLARON und den Anorganischen, zwischen … HIER! Noch einmal schnitt der Gedanke wie eine glühende Klinge durch Clouds Gedanken. Erinnerungen zählten in diesem Moment nicht. Er musste sich dem Hier und Jetzt stellen. War dies noch Portas – so unwahrscheinlich es auch erscheinen mochte – oder eine fremde Welt? Oder vielleicht einfach nur einer der anderen Angkplaneten? »Sesha?« »Commander?« »Analyse! Positionsbestimmung! Wo befinden wir uns? Noch im Angksystem, noch über Angk III, oder …?« »Negativ.« »Was ist negativ?« »Ich bin nicht in der Lage, die Frage zu beantworten.« »Deine Sensoren …« »… sind schon seit unserer Ankunft in der Stasezone extrem in ihrer Leistungsfähigkeit eingeschränkt.« Die Stasezone. Ein weiteres Absurdum, dem sie sich gegenübersahen, seit die RUBIKON Einlass ins Angksystem gefunden hatte, das von einer protochaotischen Wolke wie von einem Schutzschild gegen die es belagernden Einheiten abgeschirmt wurde. Gegen die Flotten eines Gegners, von dem sie bislang wenig mehr als den Namen kannten. Auruunen. Das Angksystem unter dieser Wolke, die wie ein Schutzwall wirkte, jedenfalls präsentierte sich seit dem letzten Besuch wie unter ei-
ner dicken, unsichtbaren Eisschicht erstarrt. Das Eis der Zeit, dachte Cloud. Oder ihrer Abwesenheit … Grob waren ihnen die Zusammenhänge von einem Ganf namens Tecum erklärt worden. Und ebendieser Tecum hatte John Cloud auch dafür gewinnen können, Kurs durch den Raum ohne Zeit auf Portas zu nehmen. Dorthin sollte eine makabre Fracht überführt werden – eine Fracht, die zugleich Last und Bedrohung war. Zumindest für die RUBIKON und ihre Besatzung. Oder die Welt, von der sie geborgen worden war. Kentyr. Seither befand sich an Bord die Leiche eines Ganf, deren schädliche Ausstrahlung mühevoll von den angkgebürtigen Crewmitgliedern eingedämmt werden musste, damit sie nicht auch hier Schaden anrichtete. Denn was der Begriff Leiche bei den Ganf bedeutete, hatten sie auf besagtem Planeten Kentyr erfahren müssen, wo eine Zivilisation nach und nach von den Träumen des Toten vergiftet und die Bewohner auf eine andere Realitätsebene verschoben worden waren. Ein vergleichbares Szenario wollte auf der RUBIKON niemand manifestiert sehen. »Du kannst unsere Position also nicht bestimmen? Weder bestätigen noch dementieren, dass wir uns weiter über Portas befinden?« »Korrekt. Ich verfüge seit dem Eintauchen in die Atmosphäre nur noch über die Bilder, die auch ihr in die Holosäule geliefert bekommt – Bilder der normaloptischen Kameras.« »Denen zufolge können wir nicht mehr über Portas sein!«, mischte sich Scobee ein, die Cloud neben Jarvis am längsten kannte. Sie drei hatten den Sprung in eine Zukunft vollzogen, in der nichts mehr so war, wie sie es von ihrem »ersten Leben«, wie sie es nannten, her kannten. »Die reine Logik lässt auch mich zu diesem Schluss kommen«, sagte die KI. »Aber ich kann nur wiederholen – Bestätigung finde ich über keines meiner Instrumente.« »Gibt es Anzeichen für eine Transition oder eine andere Technologie, die zum normalen Repertoire der RUBIKON gehört?«, fragte
Cloud. »Negativ.« »Dann wären wir nach Adam Riese immer noch über der Tabuwelt – auch wenn wir ihre charakteristischen Merkmale ›vermissen‹.« »Wer ist Adam Riese?«, fragte Sesha. »Der Freund von Eva Zwerg«, konnte Jarvis sich nicht verkneifen, die KI zu foppen. »Eva …?« »Lass dich nicht auf den Kindskopf ein«, wandte sich Cloud an die KI. »Es handelt sich um eine Redensart. Nicht weiter wichtig. Aber Orientierung ist wichtig. Also: Sonden …« Er verstummte, weil er sich bei einem Fehler ertappt zu haben glaubte. Sofort korrigierte er sich: »Okay, ich schätze Sonden sind unmöglich. Sie würden das verlassen, was uns gegen die Zeit-Abwesenheit da draußen schützt – Darnok, die Nabissschicht, die darin aufgegangenen Sternlinge …« Im Grunde rekapitulierte er gerade für alle noch einmal, was alles hatte geschehen müssen, um die RUBIKON überhaupt ins Angksystem zu bringen und hier manövrierfähig zu halten. »Wäre aber auch eine Möglichkeit, herauszufinden, ob wir uns noch im Angksystem befinden«, schlug Assur vor, die ebenfalls auf dem Kommandostand Platz genommen hatte. »Wenn die Sonden scheitern, ist klar, dass wir noch innerhalb der Zone sind, die von irgendwelchen Kräften erzeugt und manipuliert wird.« Cloud fand an der Argumentation nichts auszusetzen. »Gute Idee«, sagte er. »Sesha? Wir setzen nur eine Sonde aufs Spiel, das aber gleich. Ist alles bereit für eine solche Aktion?« »Bereit«, sagte die KI. »Dann Start mit der üblichen Modifikation für Planetenerkundung. Bilder der Sonde – also Bilder, die sie zeigen und solche, die sie überträgt – in die Säule!« Das zylinderförmige Hologramm spannte sich vom Boden des Kommandopodests bis hinauf zur Decke. Dreidimensional war darin die äußere Umgebung der RUBIKON abgebildet. In diesem Fall der Blick auf eine nicht weiter auffällig wirkende Wolkenschicht, von der nur geschätzt werden konnte, wie weit sie von der Oberflä-
che entfernt lag. Es gab jedenfalls keine Spur von all den Schrecknissen ihres ersten Portas-Besuches, was schon erstaunlich genug war. Sesha erzeugte ein paar zusätzliche Holofenster innerhalb der Säule, mit denen sie ab dem Moment, da Cloud den Start befohlen hatte, die ausfliegende Sonde verfolgen konnten. Da rückte sie auch schon ins Bild. »Start gelungen«, meldete Sesha in neutralem Ton. »Sonde entfernt sich. Bilder kommen.« »Wie weit reicht das Neutralisationsfeld um die RUBIKON?«, fragte Assur. »Dessen Grenzen wurden bereits überschritten«, antwortete Scobee anstelle von Cloud. »Die Sonde muss längst aus ihm heraus sein.« »Aber sie fliegt weiter. Kein Systemausfall, oder Sesha?«, fragte Assur, bereits halb jubelnd. »Nicht, was ihren Antrieb angeht«, erwiderte die KI. »Aber?« »Mich erreichen keine Bilder.« »Was bedeutet das?«, fragte Jarvis. »Sind wir demnach also weiterhin im Einflussbereich der Zeitlosigkeit?« »Wäre es so, müsste die Sonde außerhalb der RUBIKON zum Stillstand kommen. Tut sie aber nicht«, sagte Scobee. »Also?« »Hm.« Cloud las die Dateneinblendungen der noch funktionierenden Außensensoren. »Sie fliegt weiter. Aber ihre Systeme können keine Bilder oder Messungen zu uns übertragen. Vielleicht ein Sondenfehler? Riskieren wir eine zweite. Sesha?« »Gestartet.« Wieder wurde ein Flugobjekt sichtbar, das sich von der RUBIKON löste. Es verschwand ebenso wie die erste Sonde in der Ferne, ohne auch nur ein Bild übertragen zu haben. »Vielleicht ein Störfeld, das Übertragungen verhindert und das wir nicht lokalisieren können. Aber jedenfalls keine Abwesenheit von Zeit«, sagte Jarvis. »Mit welcher Geschwindigkeit gleiten wir durch die Atmosphäre, Sesha?«, fragte Cloud die KI.
»Moderate tausend Stundenkilometer.« Sie hatte es kaum gesagt, geschah etwas Aufsehenerregendes: Teile der Zentrale schienen sich zu verwandeln. Die Wände überwucherten mit etwas Porösem von vielfältiger Ausprägung; binnen weniger Sekunden sah dieser Bereich wie der Teil eines Korallenriffs aus, der komplett von Wasser befreit worden war. »Verdammt!«, fluchte Jarvis in Erwartung dessen, was nun passieren würde. Und auch schon passierte. Vor dem Hintergrund der strukturellen Umwandlung materialisierte die Gestalt eines Ganf. »Tecum!« Cloud war aufgesprungen. Der Ganf kam mit beschwichtigender Geste näher. Eine Geste, die zu einem Menschen gepasst hätte, nicht aber zu einer riesigen Schnecke mit Gliedmaßen. »Es ist an der Zeit, euch zu leiten«, sagte er. »Da ihr mich bereits kennt, fiel die Wahl der Ganf an Bord auf mich.« Ganf an Bord – auch so ein Ding, das eigentlich unmöglich hätte sein müssen. Doch inzwischen wussten sie, dass die Ganf die RUBIKON schon vor längerem für ihre Zwecke präpariert hatten – in einer nach wie vor kaum begreiflichen Weise. Fakt schien allerdings: Seither gab es zwei Schiffe … oder besser gesagt: zwei Seiten derselben Medaille. Durch eine normalerweise nicht überschreitbare Dimensionsgrenze unsichtbar, existierte auf der RUBIKON eine Ebene, auf der sich die Ganf eingenistet hatten. Vor kurzem erst hatten sie sich bemerkbar gemacht und teilweise erklärt. Durch sie war man nach Kentyr gelangt, durch sie hatte man den Ganf-Leichnam geborgen, und durch sie war man überhaupt erst ins abgeschüttete Angksystem gelangt. Und auch dass die RUBIKON das Wagnis eingegangen war, Portas anzusteuern, lag letztlich an Versprechungen der Ganf, sich dort des Leichnams entledigen zu können und weitere Erklärungen zu erhalten, die die Gesamtsituation betrafen. Bis dahin hatte Tecum die Crew bereits mit der Aussage konfrontiert, dass die Bractonen eins mit Sicherheit nicht waren – die Schöp-
fer des Universums nämlich, wie sie es von Anfang an behauptet hatten. Waren die Schöpfer im Rückschluss dann aber jene, die diese Überzeugung erst in die Bractonen gepflanzt hatten, die Ganf also? Darüber war noch nicht gesprochen worden, aber es war darüber zu sprechen. Vielleicht bot sich jetzt eine Gelegenheit dazu. »Commander …« Tecum kam Cloud entgegen. »Darf ich das Schiff übernehmen?« Die Frage überraschte Cloud nicht einmal. »Wozu?«, fragte er nur. »Um sie zu ihrem Ziel zu steuern.« »Wir befinden uns also noch im Angksystem?« »Und über Portas – natürlich.« »Warum können dann plötzlich Sonden weiterfliegen, nachdem sie die RUBIKON verlassen haben? Ich dachte, die Vorkehrungen, um die Zeitstarre zu egalisieren, wirken nur auf die RUBIKON?«, verlangte Cloud nach Erklärungen. »Die Zeitstarre gilt für alles in diesem System – ausgenommen Portas.« »Und das soll eine Erklärung sein?«, mischte sich Jarvis ein. »Also könnten wir hier über Portas darauf verzichten, Darnoks Kräfte anzuzapfen?«, fragte Cloud. »Er wurde bereits ausgeklinkt. Ihn hier aktiv zu belassen, würde sich sehr nachteilig für Schiff und Besatzung auswirken.« »Auch für euch?« »Auch für uns.« »Und die unterbrochene Verbindung zu den Sonden? Davon weißt du doch sicher auch längst.« »Wie vermutet – ein Störfeld.« »Und wozu diese Störung?« »Wir wollen selbst bestimmen, was ihr zu sehen bekommt und was nicht.« »Habt ihr kein Vertrauen zu uns?« »Wir sind … wie würdet ihr sagen? Nun, wir sind gebrannte Kinder, wenn ihr versteht.« »Euer Vertrauen wurde schon einmal enttäuscht? Von wem?«
»Das tut nichts zur Sache. Ich übernehme jetzt.« Der Ganf trat nicht wie ein wirklicher Bittsteller auf, aber auch das war Cloud, waren alle an Bord inzwischen gewöhnt. »Du kannst meinen Sitz übernehmen«, sagte er. »Wie lange wirst du brauchen, um uns dorthin zu lenken, wohin es den Ganf beliebt?« »Wenige Minuten eurer Zeitrechnung.« »Dann los.« Cloud zeigte zu seinem Sitz. Er ignorierte die wenig erfreuten Blicke seiner Gefährten, allen voran Assur und Scobee. Tecum bewegte sich geschmeidig auf den Kommandositz zu, nahm dann aber etwas umständlich darauf Platz. Offenbar wies die Konstruktion ergonomische Mängel für einen Ganf auf. Letztlich störte ihn das aber nicht und hinderte ihn auch nicht an seinem Vorhaben. Cloud übergab die Autorisation »offiziell« an Tecum, wobei er bezweifelte, dass es dessen bedurft hätte. Von der »anderen« Schiffsseite aus hatten die Ganf schon derart drastische Eingriffe ins Gefüge der RUBIKON genommen, dass er davon ausging, dass es Tecum nur ein müdes Lächeln gekostet hätte, die volle Kontrolle an sich zu reißen. Aber Tecum erinnerte in vielem an Kargor, der auch einmal nach Belieben an Bord geschaltet und gewaltet hatte. Das war lange her, aber in Erinnerung geblieben. Kargor … Zum ersten Mal wurde Cloud die Möglichkeit bewusst, dass sie dem Bractonen auf Portas über den Weg laufen würden. Seit die Tridentische Kugel nach Angk III vorgestoßen und hinter den Atmosphäreschleiern verschwunden war, hatte niemand mehr etwas von der Expedition gehört, die Kargor anführte. Erklärtes Ziel des Bractonen war es gewesen, durch eine Art »Tor« in das angestammte Kontinuum zu gelangen. Dieses Tor hatte irgendwann in der Vergangenheit zu jener Katastrophe geführt, nach der Portas zur Tabuwelt erklärt worden war. Dennoch war Kargor vor seinem Abflug der Überzeugung gewesen, dass er es schaffen könnte, die Alte Heimat zu erreichen.
Nach den eigenen Erfahrungen, die Cloud und seine Crew gerade machten, musste allerdings die Frage erlaubt sein, ob es dieses Tor überhaupt gab – und was mit Kargor und seiner Tridentischen Kugel passiert war. Hatten sie auch das laut Tecum wahre Gesicht von Angk III schauen dürfen? Oder waren sie so getäuscht worden wie die RUBIKON bei ihrem ersten Besuch? Cloud wartete ab, bis Tecum die Steuerung des Rochenraumers erkennbar übernommen hatte, dann trat er neben ihn und sagte: »Dir ist hoffentlich klar, dass die RUBIKON nicht landen kann. Wir sollten eine bestimmte Höhe nicht unterschreiten.« Tecum schien diesen Hinweis nicht einer Antwort für wert zu befinden. Die RUBIKON ging tiefer. Ziel des Ganf im Kommandositz war es offenbar, die Wolkenschicht zu durchstoßen, was Cloud grundsätzlich begrüßte, da er es kaum erwarten konnte, mehr Informationen über den Planeten zu erhalten, der sich bislang allen Erkundungsversuchen erfolgreich entzogen hatte. »Bist du immer noch überzeugt, das Richtige zu tun?«, wandte sich Scobee mit gefurchter Stirn an ihn. »Ja.« »Ist das alles, was du dazu zu sagen hast? Ein simples Ja?« »Du hast gefragt, ich habe geantwortet. Wenn ich nein meinen würde, würde ich nein sagen. Aber ich bin überzeugt. Genügt das?« »Nein.« »Ach. Ein simples Nein? Ist das alles, was du –« »Idiot!« Sie richtete demonstrativ den Blick in die Holosäule. »Idiot, Sir! Wenn ich bitten darf.« Cloud lächelte kurz. Er wusste, was er an Scobee hatte. Ein »Idiot!« mehr oder weniger machte daran keinen Unterschied. Gegenseitiger Respekt drückte sich in anderen Dingen aus. Als er kurz zu Assur sah, grinste sie ihn herausfordernd an. »Noch jemand, der das Kommando übernehmen will?«, fragte er in die Runde. »Es wurde bereits übernommen – nur falls es dir entgangen sein
sollte, Commander«, merkte Jarvis süffisant an. In diesem Moment durchstieß die RUBIKON die Wolkenschicht, und unter ihnen lag der Planet unverhüllt vor ihnen. Cloud fühlte sich fast auf die Erde versetzt, als diese noch keine Hohlwelt und noch nicht von den Keelon annektiert gewesen war. Sie bewegten sich auf sattgrünen Regenwald zu, wie er 2041 noch weite Teile Südamerikas geprägt hatte. »Der blaue Planet …«, rann es über seine Lippen, ohne dass er es zurückhalten konnte. »Ja«, stimmte sofort Scobee in den gleichen Tenor ein. »So sieht es wirklich aus – als flögen wir über den fruchtbarsten Zonen der guten alten Erde.« »Atemberaubend.« Jarvis wollte auch nicht zurückstehen. »Der Ozean unter uns … aber erst recht dort: Das Festland, auf das wir zuhalten. Was ist das? Insel oder Kontinent?« »Wir werden langsamer. Tecum drosselt die Geschwindigkeit«, interpretierte Assur die Werte, die in die Holosäule eingeblendet wurden. Weit vor ihnen, noch vor der Küste, schwebten etwa drei Dutzend Gebilde am Himmel. Es waren Objekte von unterschiedlichster Form und Größe, und je näher die RUBIKON kam, desto mehr erinnerten sie an Obelisken, die von unsichtbaren Kräften dicht über den Meereswellen gehalten wurden. »Ist das unser Ziel?«, fragte Cloud. »Unsere erste Station«, erwiderte Tecum. »Es wird höchste Zeit für Shayol.« »Shayol?« »Mein toter Bruder – der sich nach Zejna sehnt. Dem Ort seiner letzten Erfüllung.«
2. Varx spürte die Erschütterungen in sich ab dem Moment, da das Raumschiff, auf dem er sich befand, in die Atmosphäre von Portas eintauchte. Die Erschütterung ereignete sich tief in ihm – dort, wo sich ein eigener Kosmos, begrenzt von nachtschwarzer Haut, befand. Der Sternling blieb abrupt stehen und schrie auf, und da der Schrei nach innen gerichtet war, zerschmetterte er Planeten und Monde, ließ Sonnen zu Supernovae entarten. Noch nie zuvor war Varx von solchen Gefühlen übermannt worden. Da er aber nicht allein war, sondern in Gesellschaft von Aylea, mit der er kürzlich unter ganz besonderen Umständen Freundschaft geschlossen hatte, versetzte er seine Begleiterin in Angst und Schrecken. »Varx!« Ihr Schrei war nach außen gerichtet. Und deshalb konnte er Varx für eine lange Zeit nicht erreichen …
Aylea starrte fassungslos auf ihren Begleiter, mit dem sie eine Minute zuvor durch ein Schott getreten war, das in eine komplexe autarke Welt an Bord der RUBIKON führte. Nach Kalser. Pseudokalser. Die Holo-Nachbildung der Nargen-Heimat hatte Aylea und Varx mit einem klaren Himmel empfangen. Der Blick reichte weit über die Baumhäuser am Schrund hinaus, bis hin zu den eisigen Feldern aus Permafrost. Aber sie hatten die Strecke zum Dorf noch nicht einmal zur Hälfte zurückgelegt gehabt, als eine unheimliche Verwandlung mit Varx vonstattenging. Vor Ayleas Auge bekam die Haut des Freundes Risse. Und aus
diesen Verletzungen quollen Sternennebel und Galaxien hervor … Varx war von einem Schritt auf den nächsten wie zur Salzsäule erstarrt. Ayleas Schrei alarmierte Yael, der über ihr Kommen unterrichtet war und sie bereits zusammen mit Winoa erwartet hatte. Sekunden später landete der geflügelte Freund, von Ayleas Schrei angelockt, neben ihr – und starrte zunächst ebenso entgeistert wie sie auf Varx. »Wie … ist das passiert?«, keuchte er. Hinter ihm kam Winoa angerannt. »Ich weiß es nicht. Aber er braucht dringend Hilfe! Vielleicht stirbt er …« »Können Sternlinge überhaupt sterben?« »Was weiß ich?«, rief sie ungeduldig. »Hast du so etwas jemals gesehen? Es ist, als würde er auslaufen. Als wäre in ihm eine Flüssigkeit, die durch ein Leck entweicht. Und mit ihr alles, was darin schwimmt …« »Aber ich kann nichts tun. Und mein Orham ist nicht hier. Er wollte in die Zentrale. Sesha muss helfen. Sesha?« »Yael?« »Siehst du, was hier passiert?« »Du meinst den Sternling?« »Ja! Wen sonst?«, schrie Aylea so ungehalten, dass sie sich sofort danach die Hand vor den Mund hielt, als hätte sie Sorge, dass der Schrei Varx Haut noch mehr Risse zufügen könnte – wie ein hochfrequenter Ton Glas zum Zerspringen brachte. »Ich fürchte, ich kann nichts tun«, sagte die KI. »Ein solcher Fall ist noch nie vorgekommen.« »Könnte Tecum dahinterstecken?«, fragte Winoa, als sie ihre Freunde außer Atem nach dem Spurt, den sie hingelegt hatte, erreichte. Sie war ebenso wie Yael von Aylea haarklein über alles unterrichtet worden, was die Freundin und Varx im Cy Memorial und auf Arrankor erlebt hatten. »Nein«, sagte Aylea kopfschüttelnd. »Uns wurde vom Commander versichert, dass Varx unter seinem persönlichen Schutz steht –
und er das jedem, auch dem Ganf, unmissverständlich zu verstehen gibt!« »Dann hat er das auch getan. Du hast recht«, lenkte Winoa sofort ein. »Auf John ist Verlass – sagt jedenfalls meine Mutter ungefähr dreihundertmal am Tag. Okay, gefühlte dreihundertmal.« Sie grinste, obwohl auch sie nur Augen für Varx und das hatte, was mit dem Sternling geschah. Es sah tatsächlich so aus, als blute er Sterne und Planeten. Doch dann … … schien jemand auf eine Rückspultaste zu drücken, und alles, was aus Varx bis dato herausgeströmt war, floss innerhalb von Sekunden wieder in ihn zurück. Am Ende stand er scheinbar unversehrt vor ihnen. Und auch die Lähmung fiel von ihm ab. »Was ist?«, fragte er scheinbar arglos. »Warum schaut ihr mich so komisch an? Ist was?«
»Du kannst dich wirklich nicht erinnern?« »Ich erinnere mich schon – aber nicht an das, was ihr mir gerade erzählt habt.« »Und an was erinnerst du dich?« »Ich verlor kurz das Bewusstsein. Ein Schwindelgefühl. Chaos. Schreckliche Laute … Ich glaube, ich habe sie selbst ausgestoßen …« »Du warst vollkommen stumm. Die ganze Zeit – während es aus dir herauslief.« »Aus mir kann nichts herauslaufen.« »Sesha ist unser Zeuge!« Varx blickte betreten auf die Schar von neuen Freunden, die er seit seiner Rückkehr auf die RUBIKON dank Ayleas »Vermittlung« gefunden hatte. Sie hatte ihn mit Winoa und Yael zusammengebracht, weil es Freunde von ihr waren. Und diese hatten Varx ohne jeden Vorbehalt auf Anhieb akzeptiert und in ihre Clique aufgenommen. Eine Clique – das hatte Varx zuvor noch nicht einmal in der Theorie gekannt.
Es war für ihn ein erhebendes Glücksgefühl, wie ein Mensch behandelt zu werden – obwohl er definitiv keiner war. Aber diese Redensart, jemanden »wie einen Menschen behandeln«, war auch für ihn klar begreiflich. Vielleicht war es das, wonach er sich immer so gesehnt hatte, seit … ja, seit wann eigentlich? Wann hatte sein Sein, seine Existenz eigentlich begonnen? Nach menschlichen Maßstäben war er uralt. Er war dabei gewesen, als die ersten Menschen im Angksystem angekommen waren. Und er hatte einige von ihnen bei ihren anfangs noch unsicheren Versuchen, sich eine Lebensgrundlage auf den Angkwelten zu schaffen, begleitet. Er hatte Sahbu persönlich kennengelernt, die Lange Paula … und natürlich Prosper. Prosper Mérimée. In ihm waren so viele Erinnerungen, so viele Geschichten hinterlegt, dass er jahrelang pausenlos davon hätte erzählen können. Er war es gewesen, der Prosper Mérimée damals, als dieser längst Wurzeln geschlagen und eigenen Nachwuchs gezeugt hatte, nach Portas gelotst hatte. Ja, Portas. War es nicht verrückt, dass er all die Zeit nie mehr daran gedacht hatte, dass er dort schon einmal gewesen war? Wie hatte er das vergessen können? »Varx? Varx! Was ist mit dir? Du bist so still. Fängt es etwa schon wieder an?« »Nein, nein«, beruhigte er Aylea, die ehrlich besorgt um ihn schien. Er mochte sie sehr. »Es ist nur …« »Was?« »Ich musste gerade an damals denken.« »Damals?« »Als ich mit Prosper zusammen nach Angk III ging, in ihrem Auftrag.« »Prosper? Du meinst nicht etwa Prosper Mérimée?«, fiel Aylea aus allen Wolken. »Aber wie könntest …? Wie alt müsstest du sein? Tausend? Zehntausend Jahre?« Varx wollte ihr antworten. Aber in diesem Moment kam der nächste Schub. Es war, als hätte die erste Erschütterung Dämme nie-
dergerissen, und nun kamen lawinenartig die Erinnerungen über ihn. Erinnerungen an Portas. An Prosper Mérimée … und die Dinge, die sie erlebt hatten. Damals, als Prosper seine Bestimmung gefunden hatte – so groß das persönliche Opfer auch gewesen, so schwer es ihm auch gefallen war. »Prosper …« Varx erstarrte vor den Augen seiner Freunde abermals zur Statue. Diesmal jedoch bildeten sich keine Risse, die äußerlich erkennbar gewesen wären. Diesmal blutete er nach innen …
3. Vergangenheit Prosper Mérimées Blick war so starr auf den vor ihm aufragenden Koloss gerichtet, als bestünde dieser Blick aus einem permanenten Strom mikroskopisch kleiner Eisenspäne, die von einem Supermagneten angezogen wurden. Prospers Blick klebte förmlich an dem Gebilde, das groß wie ein mehrstöckiges Haus war und kein lebendiges Wesen sein konnte. Und doch hatte es gerade zu ihm gesprochen. Worte, die sich wie Feuer in seinen Geist gebrannt hatten. Worte in einer Sprache, die er noch niemals gehört zu haben meinte und dennoch verstand. Fließend verstand. Für einen Moment zweifelte er an der realen Existenz von allem, was er in den letzten Stunden erlebt hatte – seit »Roddy« auf Arrankor aufgetaucht war, der Welt, auf der Prosper fast beschaulich mit seiner Familie gelebt hatte. Den Resten seiner Familie. Denn mit Sarahs Tod war der gefühlte Mittelpunkt dieser Familie weggebrochen. Mithilfe von Varx, einem Sternling, der sich der Roddy-»Maske« bedient hatte, um Prosper leichter zur Teilnahme an diesem Himmelfahrtskommando überreden zu können, waren sie nach Portas gelangt. Hierher. Portas galt seit jeher als die verbotene unter den sieben Angkwelten – auf ihr, so munkelte man, war irgendwann in grauer Vorzeit ein extrem wichtiges Experiment der ERBAUER so grundlegend gescheitert, dass danach der gesamte Planet in eine Sperrzone hatte verwandelt werden müssen. Was genau auf Portas passiert oder fehlgeschlagen war, darüber gab es die wildesten Gerüchte. Prosper
hatte sich nie großartig an diesbezüglichen Spekulationen beteiligt, während Sarah ganz fasziniert von der Thematik gewesen war. Sie hatte damit auch ihre Kinder infiziert, und selbst nach dem Tod ihrer Mutter hatte Prosper sie oft über Angk III reden und fantasieren hören. »Roddys« Auftauchen und Ankündigung, Prosper mit nach Portas nehmen zu müssen, weil sonst dem gesamten Sieben-WeltenSystem eine Katastrophe drohte, hatte die Gedanken des ehemaligen Zirkusdirektors und Bewohner des Erdghettos fast schmerzhaft abrupt auf Angk III fokussiert. Er hatte sich von dem falschen Roddy überreden lassen. Weil er alles getan hätte, um seinen Kindern und Enkelkindern eine heile Welt zu erhalten. Sie hatten das Glück, wie selbstverständlich auf einer Angkwelt groß zu werden. All den Gefühls- und Erinnerungsballast, den ihre Eltern und Großeltern mit sich herumtrugen, weil sie irgendwo doch von den Umständen, wie sie einst zu den ERBAUERN gelangt waren, traumatisiert wurden, schleppten sie gar nicht erst mit sich herum. Und das war gut so. Arrankor war ihre Heimat. Dort hatten sie ihre Wurzeln, weil Prosper und Sarah sich vor Jahrzehnten an einer der Meeresküsten niedergelassen und ein wundervolles Wunschhaus gebaut hatten – Wunschhaus deshalb, weil es aus einer speziellen Materie hergestellt war, die überall auf Arrankor in sogenannten Depots gelagert war. Sie stand den menschlichen Siedlern zur Verfügung. Es war ein intelligentes Baumaterial, das sich allein kraft der Gedanken formen ließ. Und wenn er zufrieden mit dem Resultat war, konnte der »Architekt« bestimmen, dass es in der erzielten Form stabil blieb. Andere vermochten dann nicht mehr daran zu rütteln; nur der kreative Kopf eines Werks selbst, indem er die »Sperre«, die es sicherte, bewusst wieder aufhob. Dann konnte er den ganzen Bau verwerfen oder selektiv Änderungen vornehmen. Das war in den Jahrzehnten mehrfach geschehen. Nur nicht mehr seit Sarahs Tod, da sie gemeinsam mit Prosper als autorisierte Erbauerin in der Nanostruktur des Gebäudes verankert war. Es hatte stets ihrer beider geistiger Einwilligung bedurft, um Änderungen vorzunehmen. Nun war das Haus fast so etwas wie ein Denkmal für
Sarah geworden. Was die Familienangehörigen aber nicht daran hindern würde, sich eigene Häuser in der Nähe oder irgendwann auch weiter fort zu errichten. Mit einem eigenen Depot. Prosper hing nur einen Sekundenbruchteil in Gedanken dem nach, was er hinter sich gelassen hatte, um hierher zu kommen. Und noch wusste er nicht, wie er auf den Betrug mit Roddy reagieren sollte – oder was er überhaupt von der Situation halten sollte, in der er war und die sich ihm völlig anders darstellte, als er es je hatte erwarten können. Portas. Die Tabuwelt. Sie galt als eine Art Vorhölle, die nicht einmal mehr von den ERBAUERN selbst betreten wurde. Und nun war er hier, und alles … sah so verdammt friedlich aus. Bis auf den Koloss vielleicht, dessen Worte Prosper nicht aus dem Kopf gingen. Denn er hatte prophezeit, Portas würde zu genau der Hölle werden, die Prosper vorschwebte, wenn er, Prosper, dies nicht verhindere! Punkt. Ausrufezeichen! Endlich gelang es ihm, den Blick von dem unglaublichen Geschöpf zu lösen, in dessen Schatten er stand. Hilfesuchend hielt er Ausschau nach Varx, die ihn schließlich hierher gebracht hatte. Aber Varx schien verschwunden. Prosper wandte sich mit geballten Fäusten wieder dem Koloss zu. »Wer bist du?« Er erwartete eine Antwort, die ebenso prompt kam wie die Behauptung von vorhin, mit der Prosper sich so rein gar nicht unter Druck gesetzt fühlte. Ironiemodus aus, dachte er gequält. Und musste dann mit ansehen, wie der möglichen Antwort erst einmal eine Verwandlung vorausging. Vor seinen Augen begann der Gigant … zu schrumpfen. Am Ende des Prozesses blieb ein Wesen übrig, das genauso groß – oder klein – war, wie Prosper, nur völlig anders geformt.
Prinzipiell war das Geschöpf vor ihm offenbar mit einer irdischen Schnecke verwandt; zumindest sprach dafür die ölig glänzende, absolut glatte Haut und die teleskopartig abstehenden Stiele, an deren Enden sich »Augen« zu befinden schienen. Augen, die Prosper so unverwandt und interessiert anschauten, als sähen sie ihn auch gerade zum ersten Mal aus der Nähe. Was sogar gut sein konnte, denn zuvor hatten sie sich zwanzig, dreißig Meter über ihm befunden. »Ich bin ein Ganf«, sagte das geschrumpfte Wesen. Prosper spürte, dass er etwas erwidern sollte, aber die Hemmschwelle war größer. Die Stimme des nun Gleichgroßen transportierte immer noch so viel Überlegenheit, als wäre es noch der Koloss von zuvor. »Ein Ganf …« »Ganf ist die Bezeichnung für die Art, der ich angehöre. So wie du dich Mensch nennst«, sagte das schneckenartige Wesen. »Und wie heißt du?« »Varol«, sagte der Ganf. »Ich bin –« »Wir wissen, wer du bist. Du bist gekommen, weil wir dich brauchen und nach dir geschickt haben.« Das hatte Prosper beinahe vergessen. Er war immer noch wie benommen. Fast noch erstaunlicher als der Ganf waren die Bedingungen, unter denen er mit ihm zusammentraf. Wenn das hier wirklich Portas war – wozu kamen dann all die Horrormärchen, die sich auf Angk III bezogen? Erinnere dich – diese »Märchen« werden von keinem ERBAUER dementiert, sondern eher bekräftigt. Die Tavner sind das Sprachrohr der Bractonen. Bractonen hatte Varx die ERBAUER genannt. Auch sie sprachen oft von der Ausnahmestellung der dritten der Angkwelten. Sie warnten vor ihr. Portos dürfte nicht so sein wie … wie das hier! Varol schien seine Gedanken zu erraten. »Der Schein trügt manchmal. Ich sehe, wie es hinter deiner Stirn arbeitet. Aber es gibt für alles eine Erklärung.« »Liest du meine Gedanken?« Prosper trat unwillkürlich einen Schritt zurück.
»Nein«, behauptete der Ganf. »Aber dein ganzer Körper spricht unablässig zu mir, jede Geste, jedes Muskelzucken, jeder Blick.« »Selbst innerhalb ihrer Spezies«, erwiderte Prosper verhalten, »fällt es Menschen oft schwer, die Mimik und Körpersprache eines Gegenübers zu deuten. Und du willst sagen, dass du sie bei einem Artfremden wie mir mühelos verstehst? Und fast so perfekt, als wäre es Gedankenlesen?« »Du bist mir nicht fremd. Keiner von denen, die mit dir kamen und sich über die Welten verstreuten, blieb uns fremd. Wir beobachten und studieren euch, seit ihr kamt. Es war ein langwieriger Lernprozess. Aber er fruchtete, wie du siehst.« »Ihr habt uns … beobachtet?« Prospers immer stärker werdender Argwohn weckte auch instinktive Abneigung. Er wich noch zwei Schritte zurück. »Ausspioniert?« »Bleiben wir bei ›beobachtet‹«, sagte Varol. »Wir waren euch stets zugetan, eure Förderer.« »Die … die ERBAUER sind unsere Förderer! Sie brachten uns gegen unseren Willen hierher – man könnte auch sagen, Kargor hat uns entführt und im Angksystem ausgesetzt. Aber das habe ich und haben ihm wahrscheinlich alle anderen Betroffenen, von denen die meisten noch leben, längst verziehen. Inzwischen sehen wir das Schicksal, das uns aufgezwungen wurde, als Chance. Wahrscheinlich hätten wir nie irgendwo in der Galaxie unter ähnlich ›kontrollierten‹ und behüteten Bedingungen ansässig werden können wie auf Arrankor, Gismo und wie die Angkwelten sonst noch heißen. Wir sind den Bractonen dankbar. Zumindest überwiegt der Dank gegenüber allem, was man ihnen vorwerfen kann und vielleicht auch muss. Aber dazu müsste man sie erst einmal vor die Nase bekommen. Das ist uns … mir zumindest … in all den Jahrzehnten seit der Aussetzung nicht gelungen. Kargor war der erste und letzte ERBAUER, den ich zu Gesicht bekam.« »Kargor ist ein Kapitel für sich«, sagte Varol. »Vielleicht sprechen wir eines Tages einmal darüber. Aber wahrscheinlicher ist, dass es keinen Sinn machen würde.« Prosper war verblüfft, in welcher Art und Weise der Ganf über die
ERBAUER im Allgemeinen und Kargor im Speziellen redete. »Nichts hier macht einen Sinn!«, sprudelte es aus ihm heraus. »Ich bin fast sogar geneigt, an nichts von dem, was ich hier zu erleben meine, zu glauben! Kann es sein, das sich brutal getäuscht werde? Hat Varx mich unbemerkt unter Drogen gesetzt? Halluziniere ich hier munter vor mich hin?« »Das traust du uns – und ihm – zu?« »Ich traue Leuten, die ich nicht die Spur kenne, prinzipiell jede Schandtat zu!« »Eine gesunde Einstellung.« »Für eine Halluzination nimmst du den Mund ganz schön voll!« »Vielleicht weil ich keine Halluzination bin.« »Beweise es!« »Meinst du, das lässt du zu?« »Was soll das heißen?« »Das soll heißen, dass jemand unbedingt seine bereits gefestigte Überzeugung bewahren will, sich auch von den allerbesten Argumenten nicht umstimmen lässt – weil er für jedes Argument Indizien findet, die es infrage stellen.« »Das ist jetzt aber eine billige Art, sich vor Argumenten zu drücken.« »Ich hatte ohnehin vor, dich mitzunehmen – wozu sonst wärst du hier?«, sagte Varol. »Und dort, wohin ich dich bringe, wartet das, was dich hoffentlich davon überzeugt, dass Realität ein unverkennbares und unverfälschliches Erkennungsmerkmal hat.« »Ach ja? Ich bin gespannt. Welches?« »Man kann sie greifen.« Varol winkte Prosper zu sich heran. Noch während Mérimée überlegte, ob er dem Wink Folge leisten sollte, schwebte von links etwas auf den Ganf zu. Es sah aus wie ein Würfel, der aus nichts anderes zu bestehen schien als aus so hoch verdichtetem Licht, dass es davon seinen blendenden Glanz etwas verloren hatte, matter und damit zugleich auch fassbarer geworden war. Der Würfel verhielt in Reichweite eines der dünnen Ärmchen des Ganf, und dieser griff hinein.
Prosper sah nicht, dass sich irgendwo eine Öffnung bildete. Für ihn hatte es den Anschein, als durchdringe Varols Hand die offenbar doch nur vorgegaukelte Substanz. So viel zum Thema ›greifbarer Beweis‹, konnte Prosper sich den bissigen Gedanken nicht verkneifen. Doch dann leistete er innerlich Abbitte, denn als Varol seine Finger zurückzog, hielt er dazwischen etwas offenbar durchaus Handfestes. Erneut winkte der Ganf den Menschen zu sich heran und hielt ihm zugleich den Metallreif entgegen. Der Würfel entfernte sich wieder, als habe er seinen Dienst erfüllt. Prosper nahm sich nicht die Zeit, dem davonschwebenden Quader nachzuschauen. Der Reif in Varols Hand schien ihm bedeutsamer. »Was ist das?« »Eine Hilfe.« »Eine Hilfe für wen und wofür?« »Für dich. Damit du mich dorthin begleiten kannst, wo ich und andere, die sind wie ich, leben und wohnen.« »Und das kann ich ohne dieses Ding da nicht?« »Du würdest dich sehr unwohl fühlen.« »Sagt der, der jede Geste, jedes Muskelzucken, jeden Blick von mir versteht. Wenn man dich so hört, muss man glauben, du bist unheimlich besorgt um mein Wohl.« »Das steht außer Zweifel.« »Deinem vielleicht, meinem nicht. Noch mal: Was ist das für ein Ding.« Der Ganf trat langsam auf Prosper zu, und obwohl dessen erster Impuls war, die vorherige Distanz wieder herzustellen, beherrschte er sich und erwartete Varol, der dicht vor ihm stehen blieb, den Reif immer noch zwischen seinen feingliedrigen Fingern. »Nimm. Du brauchst keine Angst zu haben. Ich will dir nicht schaden. Das hätte ich längst tun können, wenn ich es vorhätte.« Prosper, der Wert auf gute Argumente legte, musste sich eingestehen, dass dieses schwer zu widerlegen war. Er hob die rechte Hand und führte sie bis auf wenige Zentimeter
an den Reif heran. Er glaubte, eine Art Aura zu spüren, die davon ausging. Zugleich bildete er sich ein, wie seine Finger langgezogen wurden, wie bei einem Special Effect in einem Film, den er vor sehr langer Zeit geschaut hatte. Er zuckte zurück, keuchte. »Was war das?« »Hat es weh getan?« »Nein, aber –« »Dann lass es an dich heran.« »An mich heran? Ich werde den Teufel tun!« Plötzlich begann Varol vor ihm zu wachsen. Binnen Sekunden wurde er wieder der Koloss, der er bei der ersten Sichtung gewesen war. Prosper musste die Beine in die Hand nehmen, um vor dem expandierenden Geschöpf, das ihn sonst geschoben hätte, zu flüchten. »Heh!« Von weit oben kam die Frage: »Und das gefällt dir besser?« Prosper fluchte, ohne den Zusammenhang zu seiner Frage nach Sinn und Zweck des Reifs herstellen zu können. »Es gefällt mir natürlich nicht besser! Komm wieder runter!« Zu seiner Überraschung gehorchte Varol. Aber er wirkte um einiges ungeduldiger, als er jetzt wieder zu Prosper trat. »Nimm!«, verlangte er. »Es ist nötig. Sonst können wir nicht auf Augenhöhe und in einer für alle akzeptablen Atmosphäre über das reden, was dich hierher geführt hat.« »Das nenne ich Erpressung. Nötigung.« »Ein winziger Sprung nur«, lockte Varol, als müsste er ein kleines Kind überreden. »Über deinen eigenen Schatten. Deinen Stolz, Mensch, den dir niemand nehmen will. Nimm den Reif, und er erklärt sich von selbst.« Prosper überwand seine Zweifel und griff zu. Der Effekt von zuvor blieb aus, sodass er glaubte, Varol hätte ihn zuvor gezielt eingesetzt. Der Reif fühlte sich kühl und großartig an. Großartig? Was denke ich da? Bin das überhaupt noch ich? Verblüfft sah er zu, wie er sich den Reif über die linke Hand schob,
bis hinauf zu Oberarm. Wie die Hand das selbsttätig tat, ohne dass er es bewusst vorgehabt hatte. Er rang nach Luft. Da entfaltete sich aber schon die Wirkung des Reifs. Prosper begann zu wachsen – und der Reif mit ihm. Gebannt ließ Prosper den Rollentausch mit sich geschehen. Für kurze Zeit war er der Gigant und Varol der Wicht! Prosper blickte zu dem Ganf hinab und bekam ein Gefühl dafür, wie es war, die Umgebung von dieser Warte aus zu erleben. Es fühlte sich … gut an. Für einen Moment verfiel er der Verlockung, die dieser Zustand fast automatisch mit sich brachte – er kam sich erhaben und jedem, selbst dem Ganflein da unten, überlegen vor. Dann aber explodierte der Wicht förmlich zu derselben Größe, die auch Prosper gerade innezuhaben glaubte. Varol sagte: »Wie ist es für dich – akzeptabel?« Prosper hätte lügen müssen, es abzustreiten. »Worum geht es dir dabei?«, fragte er. »Was hast du davon, wenn ich mich auf diese Ebene begebe, scheinbar zumindest.« »Du weißt, wie es funktioniert?«, fragte der Ganf. Prosper schüttelte den Kopf. »So ein Genie bin ich nicht.« »Dafür hast du andere Qualitäten«, schmeichelte ihm Varol. »Mag sein. Aber woher willst du das wissen?« »Weil du deiner Qualitäten wegen hier bist. Aber zurück zu deiner Verwandlung. Der Reif um deinen Arm ermöglicht dir, was wir Ganf von Natur aus können.« »Und das wäre? Nach Belieben wachsen und wieder verkleinern?« Varol machte eine Geste, die Prosper als Bestätigung deutete. »Genauso ist es.« »Warum sollte die Natur sich so etwas einfallen lassen?« »Vielleicht hatte sie an dem Tag, an dem sie unser Erbgut festlegte, gerade Langeweile?« Prosper lachte kurz und hart auf. Er war aber nicht amüsiert, sondern eher eigentümlich berührt. »Der Reif«, fuhr Varol fort, »imitiert auf technischem Weg, was wir allein mit unserem Willen bei uns hervorzurufen vermögen. Es
handelt sich um ein energetisches Spannungsfeld, das deine sämtlichen Sinne auf die Größe ›aufbläht‹, die du jetzt einnimmst. Anders erklärt: Du ›siehst‹ dadurch aus der Höhe, in der sich deine Augen befinden würden, wenn du tatsächlich diese Größe hättest. Du hörst aus der Position, wo deine Ohren wären. Mich erreichen deine gesprochenen Worte so, als befände sich dein Mund tatsächlich in Höhe meines eigenen Kopfes. Du riechst sogar von dort aus, wo deine Nase wäre, wenn du plötzlich ein echter Riese geworden wärst.« Prosper hatte Zweifel, ob er das alles verkraften würde. »Das sind nicht alle meine Sinne – wie steht es mit dem Tasten? Das kann nicht funktionieren, oder?« »Probiere es aus. Mir würdest du es vermutlich ungeprüft nicht glauben, also trau dir selbst. Berühre mich. Hier zum Beispiel.« Varol zeigte auf eine Stelle in Höhe von Prospers Brustkorb – der Ganf selbst hatte keine Brust im eigentlichen Sinn. Prosper streckte vorsichtig Hand aus. Seine Hand. Wenn er an sich herabblickte, hatte er den Körper eines Riesen, obwohl ihm sein Verstand sagte, dass er immer noch zwergisch klein irgendwo tief da unten stand, einen Reif um den Arm, der ihm all das nur vortäuschte. Er stieß auf Widerstand. Der Ganf fühlte sich an wie ein gerade aus dem Wasser gezogener Fisch. Das Gewebe war straff, die Haut nicht glitschig, aber von einer Flüssigkeit bedeckt, die als permanenter dünner Film erkennbar war. Als Prosper die Finger zurückzog, verflüchtigte sich die Feuchtigkeit darauf augenblicklich. »Und?«, fragte Varol, als interessiere es ihn tatsächlich, was Prosper zu dem Versuch sagte. »Ich bin überrascht.« »Nur überrascht? Du solltest überwältigt sein.« »Darauf legst du es an? Mich zu überwältigen?« »Beeindrucken ist vielleicht das treffendere Wort.« »Wenn ihr selbst keine technische Krücke dafür braucht«, sagte Prosper nach kurzem Nachdenken kritisch, »warum solltet ihr dann überhaupt ein Gerät entwickeln, das zu etwas imstande ist?«
»Ganz einfach«, sagte Varol. »Du bist nicht der Erste, mit dem wir Kontakt haben und der sich bei unserem normalen Erscheinungsbild hoffnungslos unterlegen fühlen muss. Wir sind … oder waren zumindest … immer ein geselliges Volk. Es gab eine Zeit, da waren wir auf vielen Welten der Milchstraße präsent. Wir wählten stets Planeten aus, die schon eine eigene vernunftbegabte Spezies hervorgebracht hatten. Dort bildeten wir eine Art Parallelgesellschaft – aber nicht, wie du vielleicht denken magst, um die Ureinwohner zu unterdrücken oder zu bevormunden. Nein, wir sahen uns stets als Mentoren, als Förderer. Niemand musste jemals bereuen, sich mit uns eingelassen zu haben. Doch die Zeiten und Bedingungen änderten sich. Es kam der Tag, an dem wir uns von den meisten Welten zurückzogen.« »Warum – und wohin?«, fragte Prosper. »Hierher etwa, ins Reich der ERBAUER?« Der Ton, der sich Varols Körper entrang, klang entfernt wie ein Seufzer. »Du legst den Finger genau auf die Wunde.« »Welche Wunde?« »Auf das Kardinalproblem, das für dich einem tieferen Verständnis, mit wem du es bei uns Ganf zu tun hast, im Wege steht. Erst wenn dein größter Irrtum ausgeräumt ist, kannst du beginnen zu verstehen. Die Wahrheit zu verstehen.« »Wessen Wahrheit? Deine? Die, die du mich glauben machen willst?« »Wahrheit ist universell«, sagte der Ganf. »Aber leider auch ihre Kontrakraft. Die Lüge.« Spätestens in diesem Moment begann es Prosper Mérimée zu dämmern, dass ein steiniger Weg vor ihm lag. Die Verständigung mit diesem Wesen war, obwohl es kein Sprachproblem gab, extrem schwierig. »Wieso spreche ich überhaupt deine Sprache?«, fragte er. »Ich höre sie und weiß, wie ungewohnt und fremd sie mir sein müsste, aber gleichzeitig setzt irgendetwas in meinem Gehirn sofort jedes Wort in einen Begriff um, den ich eben doch verstehe. Das ist doch nicht normal. Ich hatte nie mit Ganf zu tun, und doch ist es, als wäre ich mit
deiner Sprache groß geworden!« »Sie wurde dir schon vor langer Zeit – lange im Verständnis deiner Spezies –, ohne dass du es bemerkt hast, erfolgreich vermittelt. Du hattest bislang nur noch nie Anlass, sie in dir abzurufen.« »Blödsinn!« Allmählich flammte Ärger in ihm auf. »Ich und meine Kinder hatten Lehrer, die uns von den Bractonen gestellt wurden. Tavner. Warum hätten sie uns hintergehen sollen?« »Tavner!« Varols Ruf klang beinahe belustigt. Als würde er die Schildkrötenmenschen nicht als ernstzunehmende Spezies betrachten. »Warum so hochmütig?«, fragte Prosper. »Sie waren immer freundlich zu uns. Es gab nie Probleme. Warum gibst du dich so arrogant, wenn ich über sie rede?« »Wir sprechen von den Dienern der Diener«, stellte Varol klar. »Es hat nichts mit Hochmut zu tun. Aber man kann Tatsachen beim Namen nennen.« »Diener der Diener?« Prosper überlegte, ob er die Anspielung wirklich richtig verstanden hatte. Aber da war Portas – als Welt, die allem widersprach, was man sich dort, woher er kam, darüber erzählte. War das nicht Indiz genug, um sofort und intuitiv zu begreifen, was Varol andeutete? »Die Bractonen«, sagte der Ganf. »Sie sind unser verlängerter Arm. Wir bedienen uns ihrer seit einer Ewigkeit …«
4. »Shayol? Du kennst sogar den Namen des Leichnams, den wir von Kentyr mitbrachten?« Scobee machte kein Hehl aus ihrer Überraschung. Tecum erwiderte nichts darauf; er näherte die RUBIKON vorsichtig der Luftlandschaft aus schwebenden Obelisken an. In einer Entfernung von maximal einem halben Kilometer vor dem nächstgelegenen Objekt stoppte das Schiff schließlich und kam völlig zum Stillstand. Die Außenkameras waren jetzt in der Lage, selbst kleinste Details an den wie schwerelos schwebenden Gebilden hochauflösend in die Holosäule zu liefern. »Schriftzeichen … Sind das Schriftzeichen?« »Was überrascht dich daran?«, fragte Tecum mit unverhohlenem Stolz. »Es sind die Zeichen von Zejna.« »Zejna?« »Der Ort der Letzten Erfüllung.« »Glauben Ganf eigentlich an einen Gott?« Tecum schwieg. Er wirkte geistesabwesend. »Es wird geschehen«, sagte er nach einer Weile. »Sie sind unterwegs.« »Hast du eine Nachricht erhalten?«, fragte Cloud. »Sesha? Gab es messbare Funkaktivität?« »Negativ.« Er hatte nichts anderes erwartet. »Was wird geschehen?«, wandte er sich wieder an den Ganf, der immer noch auf seinem Sitz thronte. »Wer ist unterwegs?« »Wir sind an der Letzten Stätte angekommen«, sagte Tecum. »Letzte Stätte?«, echote Jarvis. »Das klingt ebenso wie dieses ›Zejna‹ verdammt nach Friedhof.« »Es ist ein Friedhof. Friedlicher geht es nicht«, sagte Tecum. Cloud ahnte, worauf es hinaus laufen würde. »Ich hatte fast ver-
gessen, dass wir einen Toten an Bord haben, der begraben werden will.« »Begraben? Er darf für immer träumen – ohne jemals wieder eine Gefahr für andere, anderes Leben, zu werden.« »Und was genau wird mit ihm geschehen?« »Die Antwort«, sagte der Ganf, »nähert sich uns bereits von dort …« Er nahm eine Schaltung vor, und ein seltsames Geschehen füllte das Hauptsegment der Säule aus. Die Darstellung zeigte die RUBIKON als Mittelpunkt, der aus allen Richtungen nicht identifizierbare Schemen anzog. Zuerst hielt Cloud sie für Vögel. Doch je näher sie kamen und je mehr Details erkennbar wurden, desto klarer wurde, dass es sich viel wahrscheinlicher um Geister handelte. Geister? Verlier nicht den Verstand. Warte die endgültige Annäherung ab! Auch seine Gefährten wurden aufmerksam. »Besteht Gefahr für das Schiff?«, fragte Jiim. Seit er sein Nabiss verloren hatte, wirkte er um einiges entspannter als früher. Cloud war froh, einen seiner ältesten Freunde in solch guter Verfassung zu sehen. Zwischenzeitlich hatte er durchaus Anlass zur Sorge gegeben. »Ich gebe die Frage an Tecum weiter«, sagte Cloud, als der Ganf nicht sofort reagierte. Tecum stemmte sich mit seinen dünnen, aber nichtsdestotrotz kräftigen Armchen aus dem Kommandositz. Geschmeidig verließ er das Rund und platzierte sich vor Cloud. »Nein. Keine Gefahr. Sie werden Abstand halten, bis die Übergabe vollzogen ist. Und dann werden sie tun, was ihre Pflicht ist.« Endlich waren die Schemen nah genug, um sie in allen Einzelheiten betrachten zu können. Sie wirkten wie schwarzer Rauch, der ein unstetes Eigenleben führte. Nein, korrigierte sich Cloud wenig später – und erschrak fast ein wenig, weil sein Verstand eine Verbindung herstellte, mit der Cloud nicht gerechnet hatte. Nicht wie Rauch. Wie das Weltall. Bei den ERBAUERN – was soll das bedeuten? Sie sehen aus wie … wie Sternlinge. Nur ohne humanoide Gestalt. Aber auch in ihnen treiben Himmelskörper –
Sonnen, Sternhaufen, ganze Galaxien. Das kann kein Zufall sein. Aber was bedeutet es? Er überlegte, Varx in die Zentrale zu beordern. Er war der einzige Sternling, den sie noch dazu hätten befragen können. Alle anderen einmal an Bord befindlichen waren mit der nabissüberzogenen Außenhülle der RUBIKON verschmolzen. »Ich begebe mich jetzt zu meinem toten Bruder und werde die Übergabe vorbereiten.« Tecum setzte sich in Bewegung, stieg vom Podest und ging auf den Ausgang zu. »Halt!«, versuchte Cloud ihn aufzuhalten. »Es ist inakzeptabel, uns so in der Luft hängen zu lassen. Ich erwarte, dass die Ganf uns ins Bild setzen, was hier genau passiert – und wie der geplante Ablauf der Geschehnisse ist.« »Geduldet euch noch etwas. Ich kehre zurück. Vorher wird sich am Status quo nichts ändern. Bewahrt Ruhe. Es droht keine Gefahr. Nicht von unserer Seite. Das versichere ich euch.« »Du willst Shayol hier bestatten?« Cloud stieg ebenfalls vom Podest und holte Tecum kurz vor dem Ausgang ein. »Ihr würdet es bei einem der Euren so nennen, vermutlich.« »Wie lange wird es dauern?« »Die Vorbereitungen sind rasch abgeschlossen. Aber wir können die Letzte Stätte nicht verlassen, bis die Hülle fertiggestellt ist.« »Welche Hülle.« »Geduldet euch. Nur noch kurze Zeit.« Tecum hatte kurz innegehalten, doch nun setzte er den unterbrochenen Weg fort. Vor ihm bildete sich ein Transmitterfeld im Türrahmen des Ausgangs. Der Ganf tauchte hinein. Kurz darauf erlosch das Feld. »Wo ist er hin? Sesha?« »Zu den Angks«, berichtete die KI. »Die den Leichnam behüten.« Fast alle angkgeborenen Crewmitglieder waren dazu abgestellt worden, mit ihren besonderen Kräften zu verhindern, dass das Traumgift des toten Ganf Schaden an Bord anrichten konnte.
Der Tote entfaltete auf metaphysischer Ebene immer noch enorme Kräfte. Wie es ohne das regulierende Moment der Angks hier auf Portas mit ihm weitergehen sollte, konnte sich Cloud bislang noch nicht wirklich vorstellen. Aber offenbar waren sie tatsächlich bei dem ganfschen Äquivalent eines Friedhofs angekommen. Die schwebenden Obelisken mochten die Grabmale darstellen. Aber wo war das Grab? Irgendwo unter ihnen im Meer? Wurden verstorbene Ganf wieder rituell zum Ursprung allen organischen Lebens zurückgeführt, ins Wasser? »Soll ich ihm folgen?«, erbot sich Jarvis »uneigennützig« vom Podest aus. »Wozu sollte das gut sein?«, spöttelte Scobee. »Willst du dir eine Abfuhr einhandeln? Oder ihm ›helfen‹?« »Helfen natürlich. Ich war ja wohl bereits eine Hilfe.« »Stimmt, ohne dich läge die Leiche immer noch auf Kentyr begraben.« »Der Hund«, sagte Jarvis. »Wie bitte?« »Die Redensart heißt ›der Hund liegt begraben‹.« »Das bringt uns jetzt ungemein weiter«, seufzte Cloud und ging zu dem Sitz, in dem Assur saß. Er beugte sich zu ihr und legte seine Hand auf ihre Schulter. Niemand störte sich an der vertrauten Geste, auch Scobee nicht, obwohl sie vielleicht etwas zu bemüht Gelassenheit demonstrierte. »Ist euch auch die Ähnlichkeit der Fetzen da draußen mit Sternlingen aufgefallen?«, fragte Jarvis. Die Schemen als »Fetzen« zu titulieren, brachte auch nur er fertig. Cloud nickte. »Ich hatte schon überlegt, Varx hierher zu beordern. Ihr wisst, dass er der einzige noch verbliebene Sternling hier an Bord ist.« »Du meinst, er könnte uns etwas zu der Identität oder Bedeutung der Schemen sagen?«, fragte Scobee. Sie brachte sich mit einem langen Blick in die Holosäule auf den neuesten Stand, was den Zulauf des Phänomens aus allen Himmelsrichtungen anging. »Der Zustrom scheint ins Stocken geraten zu sein. Wahrscheinlich sind die meisten
dieser geisterhaften Erscheinungen, in denen sich Vergleichbares widerspiegelt wie in den Sternlingen, inzwischen eingetroffen.« »Was tun sie?«, fragte Assur, während sie versuchte, die Antwort darauf selbst zu finden. »Oh. Nichts. Sie hängen einfach nur nun.« »Das wollte ich gerade sagen«, beschwerte sich Jarvis. »Du meinst also, du hast ein Patent auf flapsige Sprüche?«, fragte Assur lächelnd. »Eher ein Monopol«, antwortete Scobee für ihn. »Ihr habt ja keine Ahnung. Ich habe eben meinen eigenen Stil. Im Gegensatz zu euch. Ihr redet einfach, wie alle reden – und findet das auch noch prickelnd.« »Zurück zu Varx«, versuchte Cloud das Gespräch wieder in seriöse Bahnen zu lenken. »Ich finde die Idee, ihn hinzuziehen, nicht schlecht«, sagte Assur. »Unterstütze das.« »Okay«, sagte Cloud, als kein Argument dagegen kam. »Sesha? Wir brauchen Varx. Den Sternling. Verständige ihn. Er soll so schnell wie möglich zu uns in die Zentrale kommen.« »Das dürfte problematisch werden«, sagte die KI. »Warum?« »Er befindet sich in der Obhut von Yael, Winoa und Aylea. Auf Pseudokalser. Er hatte einen … ich glaube, man könnte es Zusammenbruch nennen.« »Warum erfahre ich das erst jetzt?«, wunderte sich Cloud. »Ich hielt es für nicht von elementarer Bedeutung – nicht in der Phase, die Tecum diktierte.« »Er diktierte nicht, er navigierte«, versuchte er, der KI begreiflich zu machen. »Das mag Interpretationssache sein«, erwiderte Sesha gelassen. Jarvis feixte. Offenbar gefiel ihm die hintersinnige Formulierungskunst, mit der ihm Sesha augenscheinlich aus dem Herzen sprach. »Wie ernst ist Varx' Zustand? Geht es ihm schlecht? Hast du Maßnahmen ergriffen, ihm zu helfen?« »Sein Zustand ist stabil. Aber er ist momentan offenbar nicht bei Bewusstsein.«
»Nicht bei Bewusstsein – aber gleichzeitig nicht von elementarer Bedeutung, na, ich danke«, lästerte Jiim. »Heißt das, man muss hier erst tot umfallen, bevor man sich die Aufmerksamkeit und Beachtung der KI verdient? Und was heißt, er ist in der Obhut meines Jungen? Hat Yael irgendetwas mit Varx' Krise zu schaffen? Ich verlange Aufklärung!« Cloud verstand Jiims Erregung. »Du hast es gehört, Sesha. Wir verlangen alle Aufklärung. Hast du Bilder für uns?« »Aktuelle oder die des Vorfalls?« »Vorfall? Du meinst den Moment, als sich der Kollaps ereignete?« »Es gab zwei Ereignisse. Das erste war schon dramatisch – aber der Sternling fing sich kurzzeitig wieder. Seit dem zweiten, den ich als Kollaps bezeichne, ist er ohne Bewusstsein und nicht mehr ansprechbar.« »Vitalwerte?« »Sternlinge haben keine Vitalwerte. Jedenfalls keine, die ich zu deuten vermag.« »Zeig uns Varx von der ersten Auffälligkeit bis zum Fall in die Bewusstlosigkeit«, verlangte Cloud. Sofort generierte Sesha die aufgezeichneten Szenen. Ihre Cyberaugen reichten bis hinein in die fernsten Winkel des Schiffes, selbst in so spezielle Bereiche wie Pseudokalser. Fassungslos verfolgten die Gefährten, wie Varx' Körper plötzlich »undicht« zu werden schien und wie sich Inhalte daraus in die Umgebung ergossen … bis etwas den Vorfall stoppte und wieder umkehrte. Kurzzeitig schien er sich wieder erholt zu haben. Dann erstarrte er erneut. »Wir müssen Tecum einschalten. Sofort!«, sagte Assur. »Varx ist ein lieber Kerl. Ihr wisst, welche Ängste er noch vor kurzem ausstand. Und dass Aylea vielleicht gar nicht mehr am Leben wäre, wenn er nicht …« »Du vergisst, dass er Aylea erst in den Schlamassel geritten hatte. Aber Schwamm drüber«, sagte Cloud. »Ich stimme dir zu. Vollinhaltlich.« »Sag noch mal jemand, ich würde mich gewöhnungsbedürftig aus-
drücken«, sagte Jarvis und grinste. »Ich sehe ihn mir an. Begleitest du mich?«, wandte sich Cloud an Assur. »In die Nargen-Enklave?« Er nickte. »Jiim, du willst sicher auch mitkommen. Und dich, Algorian, hätte ich ebenfalls gerne dabei.« »Was ist mit mir?«, fragte Jarvis, während sich Narge und Aorii bereits von ihren Plätzen erhoben. »Du hältst hier die Stellung. Einer muss die ›Fetzen‹ da draußen schließlich im Auge behalten. Sollte sich da draußen zwischen den Obelisken eine Entwicklung abzeichnen, verständige mich umgehend. Scobee?« »Schon gut, ich weiß. Ich soll bleiben. Einer muss dem Burschen ja auf die Finger schauen.« »Meint die mich?«, empörte sich Jarvis. Cloud verzichtete auf eine Antwort. Seite an Seite mit Assur und gefolgt von Algorian und Jiim verließ er die Zentrale. Sesha schaltete eine Transmitterverbindung zu der Gegenstation, die Pseudokalser am nächsten lag. Zwei Minuten später betraten sie bereits die Holowelt, in der drei Jugendliche der Verzweiflung nahe und voller Sorge waren. Als sie bemerkten, wer sich ihnen näherte, schienen sie im ersten Augenblick erleichtert. Doch die Angst um Varx kehrte sofort wieder zurück. Mit den Worten »Sesha sagt, sie könne nichts für ihn tun. Das geht doch nicht!« kam Winoa ihrer Mutter entgegengerannt. »Ich will ihn mir ansehen«, sagte Cloud. »Was wir tun können, werden wir tun. Lasst mich mal zu ihm. Tretet ein Stück zurück. Algorian?« Er winkte den Telepathen nah zu sich heran und fragte ihn: »Hast du schon mal einen Sternling geespert?«
Varx stand da wie seine eigene, lebensecht nachgebildete Statue. Er hält sich aufrecht, selbst in diesem Zustand, dachte Cloud. Er wartete darauf, dass Algorian eine erste Stellungnahme abgab. Seit gut
fünf Minuten hatte sich der Aorii direkt vor dem Sternling postiert und die Augen geschlossen. Bislang hatte er sich noch nicht wieder aus seiner Trance gelöst. »Hoffentlich wirkt Varx' Befindlichkeit nicht ansteckend«, flüsterte Assur. »Nicht dass auch noch Algorian …« Wie auf Stichwort schlug der Aorii die Augen auf. Er wankte leicht. Offenbar hatte er Mühe, sich wieder zurechtzufinden. »Konntest du etwas herausfinden?«, fragte Cloud. Der Aorii legte beide Handflächen gegeneinander – die Geste der Bejahung. »Was? Was ist los mit dem Sternling? Ist es ernst? Ist er krank? Oder etwa schon …« Cloud verstummte. Erst an seinem eigenen Verhalten merkte er, wie wichtig ihm der Sternling tatsächlich war. »Er schwebt in keiner akuten Gefahr – soweit ich es beurteilen kann. Allerdings hat er sich komplett von seiner Umgebung abgeschottet«, sagte Algorian. »Momentan nimmt er uns nicht wahr. Trotzdem ist sein Bewusstsein hyperaktiv.« »Ich dachte, er sei bewusstlos«, warf Aylea ein. Algorian verneinte. »Er … wie soll ich es sagen? Er … er schwelgt in Erinnerungen. Sehr intensiven Erinnerungen. Sie überrollen ihn wie eine Lawine. Irgendetwas hat es ausgelöst. Ich kann aber nicht feststellen, was. Ich bin lediglich in der Lage, die Auswirkungen zu erspüren. Er durchlebt gerade etwas, das offenbar von einschneidender Bedeutung für ihn war, und ist regelrecht gefangen darin. Wann und wie er sich daraus wieder lösen wird …« »… und ob überhaupt?«, fragte Cloud. »… und ob überhaupt«, bestätigte der Aorii, »kann ich nicht sagen. Es tut mir leid.« »Aber Erinnerungen können doch keine Verletzungen hervorrufen, wie wir sie sahen«, meldete Winoa Zweifel an. »Varx platzte auf, als würden Nähte an seiner Haut reißen. Das, was in ihm ist, diese Sternbilder … ihr wisst schon – es strömte einfach aus ihm heraus.« »Das wissen wir«, sagte Assur und nahm ihre Tochter fester in den Arm. »Sesha stellte uns die Bilder zur Verfügung. Noch mysteriöser scheint zu sein, dass die Verletzungen wieder heilten. Zumindest ich
fand es zwar erleichternd, aber auch gespenstisch.« Cloud hatte zugehört, dabei den Blick über die Jugendlichen schweifen lassen. »Was macht ihr eigentlich alle hier in der Enklave? Schön, dass ihr euch untereinander gut versteht und auch Varx dabei einschließt, aber gab es einen besonderen Grund, euch hier zu treffen?« Yael trat vor. »Ich bin der Grund«, sagte er. Über Jiim Gesicht huschte bei diesen Worten ein seltsamer Ausdruck. Bei einem Menschen hätte er »Bitte! Nicht schon wieder! Lass es eine harmlose Erklärung geben!« bedeuten können. Offenbar bei Nargen auch. »Inwiefern?«, fragte Cloud. »Oder ist es ein Geheimnis?« »Nein«, sagte Yael. »Auch wenn es mir etwas peinlich ist, es zuzugeben.« »Lass mich reden«, erbot sich Winoa, löste sich aus der Umarmung ihrer Mutter und stellte sich demonstrativ neben Yael. Eng neben ihn. Cloud war nicht unbekannt, dass die beiden mehr füreinander empfanden als pure Freundschaft. Zwischen ihnen herrschte eine traute Eintracht, wie vielleicht nur die zarten Bande einer ersten Liebe sie knüpfen konnten. »Ich höre«, sagte er. »Er wollte nicht allein sein, wenn die RUBIKON Portas erreicht. Und er wollte die Enklave nicht verlassen. Also sind wir zu ihm gekommen.« »Ihr wolltet es ihm leichter machen, nach Portas zurückzukehren?« Cloud verstand sofort, was Yael bewegte. Dass er im Vorfeld nicht daran gedacht hatte, mit ihm oder wenigstens Jiim zu sprechen, beschämte ihn. Nun wandte er sich wieder direkt an den Jungnargen. »Beschäftigt es dich immer noch so sehr? Ich meine, dass du schon einmal auf Angk III warst? Du hast immer noch daran zu knabbern?« Yael kniff den lippenlosen Mund zusammen. Seine hinter ihm aufragenden Flügel erzitterten leicht. Schließlich sagte er: »Es war mehr eine vorbeugende Maßnahme. Ich wusste nicht, wie es werden wür-
de.« »Und wie ist es geworden?« »Ich …« Ein schwaches Lächeln erschien auf seinen Zügen. »Ich merke bislang nichts davon. Dafür hat er …« Er zeigte auf Varx. »… offenbar an etwas zu knabbern – was aber wahrscheinlich nichts mit Portas zu tun hat. Oder?« Cloud zuckte mit den Achseln. »Das können wir noch nicht sicher sagen. Vielleicht kann – vor allem aber will – Tecum uns mehr darüber sagen, sobald er … nun ja, sobald er fertig ist. Er kümmert sich gerade darum, den Ganf-Leichnam zu überführen.« »Nach Portas?«, fragte Yael. »Aber Portas … ist ein schrecklicher Ort. Ich glaubte mich damals in –« »Beruhige dich«, sagte sein Orham Jiim. »Portas ist anders, als wir alle glaubten. Auch anders, als du seinerzeit glaubtest. Etwas muss dich und uns getäuscht haben. Wir parken mit der RUBIKON vor einer Art Friedhof – der Ganf nennt es Zejna, was bei ihnen wohl ›Ort der Letzten Erfüllung‹ bedeutet.« Yael blieb skeptisch. Der Begriff schien ihm jedoch nichts zu sagen – wie auch? »Vielleicht werdet ihr jetzt getäuscht.« Cloud schüttelte den Kopf. »Um Portas scheint eine Abschirmung zu liegen, die selbst den Bractonen vorgaukelt, eine ihrer Welten für immer verloren zu haben.« »Den Bractonen? Das hieße, dass sich mitten in ihrem Reich jemand versteckt hält, der …« »Offenbar«, fiel Jiim ihm ins Wort, »sind die Bractonen nicht die, die wir bislang in ihnen sahen.« »Schlimmer«, sagte Assur, »sie sind nicht einmal die, die sie selbst zu sein glauben.« In knappen Sätzen unterrichteten sie die Jugendlichen von den neuen Erkenntnissen. Besonders Yael schien Probleme zu haben, sich darauf einzulassen. Aber er war auch der Einzige von ihnen, der so hautnah mit der vermeintlichen Hölle Portas in Berührung gekommen war. »Was geschieht jetzt weiter mit Varx?«, fragte Aylea, die vielleicht
die engste Beziehung zu dem Sternling aufgebaut hatte. »Kann er hierbleiben? Können wir uns um ihn kümmern – auf ihn aufpassen?« »Sesha?«, wandte sich Cloud an die KI. »Hast du einen Platz, wo Varx eher geholfen werden kann?« »Ich habe nicht einmal eine Möglichkeit, ihn zu diagnostizieren«, erwiderte die KI. »Ich könnte blind experimentieren. Aber das würde ihm unter Umständen beträchtlich mehr Schaden zufügen als diese Art von Erstarrung, in die er gefallen ist. Ich schlage vor, den Fall an die Ganf zu übergeben. An Tecum. Sobald dieser wieder Kapazitäten frei hat.« »Ihr habt es gehört«, wandte sich Cloud an die drei Jugendlichen. »Aber wollt ihr es auch wirklich auf euch nehmen? Es bedeutet auch Verantwortung …« »Jeder Schritt hier an Bord bedeutet Verantwortung«, meinte Aylea altklug. »Hallo? Wir sind schon groß.« »Zumindest das Mundwerk ist schon riesig«, bestätigte Assur mit einem Lächeln, das selbst Aylea entwaffnete. Algorian trat vor. Der spindeldürre Aorii hielt sich die meiste Zeit seines Lebens bescheiden im Hintergrund. Manchmal hatte Cloud das Gefühl, dass er dies selbst, wenn er allein war, fertigbrachte. »Ja, Algorian? Was ist?« »Ich würde gerne auch hierbleiben. Bei Varx. Falls es für euch in Ordnung ist.« Er blickte fragend zu Aylea, Winoa und Yael. Offenbar überraschte es ihn, wie freudig sie bejahten. »Konntest du das, was Varx gerade durchlebt, so sortieren, dass es für dich einen Sinn ergibt?«, fragte Cloud. »Sind seine Gedanken lesbar?« »Das ist es, was ich probieren will«, erklärte der Aorii. »Bei meinem ersten Versuch musste ich aufpassen, nicht selbst in den Sog der Bilder zu geraten, die sein Bewusstsein durchwirbeln. Mit etwas mehr Zeit und Muße könnte ich vielleicht tatsächlich ein wenig von dem verstehen, was er gerade nacherlebt.« »Er kann auch jederzeit wieder zu sich kommen. Wir wissen so
gut wie nichts über seine Befindlichkeit.« »Ich wünsche mir nichts mehr als das. Denn dann könnte er uns selbst, mit seinen Worten, erzählen, was ihm durch den Kopf ging – und warum all das gerade jetzt mit solcher Intensität über ihn hereingebrochen ist …« Sesha meldete sich aus dem Off. »Ich soll eine Nachricht von Jarvis übermitteln – an den Commander.« »Ich höre.« »Jarvis wünscht, Achtung O-Ton, ›den Commander auf der Brücke zu sehen, weil die Geister beim Friedhof begonnen haben, verrückt zu spielen‹.« Cloud nickte den Versammelten zu. »Offenbar kommt Bewegung in die Sache. Ich habe nichts dagegen – solange es keine Gefahr für uns bedeutet.« Er wandte sich dem Ausgang zu. »Passt gut auf Varx auf – bis wir mit Tecum zurückkehren. Und …« Er zögerte, winkte ihn aber dann doch zu. »Und passt gut auf euch auf. Besonders du, Algorian, damit du bei deinem Vorhaben ja keinen Schaden nimmst. Man weiß nie …«
Cloud betrat die Zentrale der RUBIKON mit dem Schwung, den er sich aus Pseudokalser mitgenommen hatte. Er war erleichtert, dass Varx offenbar »nur« in Erinnerungen schwelgte – auch wenn es etwas merkwürdig anmutete, wie sich das bei ihm äußerte. Aber was wussten sie schon über Sternlinge und ihre Lebensumstände? Hinter Cloud folgte nur noch Assur. Jiim hatte angekündigt, später nachzukommen. Er wurde nicht unbedingt in der Zentrale benötigt, konnte sich also Dingen widmen, die zum Alltag eines Nargen gehörten. Wahrscheinlich wollte er aber Yael auch nicht ganz sich selbst überlassen, nachdem er offenbar selbst davon überrascht worden war, wie problematisch die Rückkehr nach Portas für diesen war. »Was genau hat sich verändert?«, wandte er sich, während er sich in seinen Sitz fallen ließ, an Jarvis und Scobee, die beide ihre Plätze
unverändert einnahmen. Jarvis zeigte in die Holosäule. »Die Schemen haben vor genau vier Minuten und elf Sekunden begonnen, sich wie Derwische zu gebärden. Davor schwebten sie wie schwarz eingefärbte Nebelschleier zwischen den Obelisken. Aber sieh es dir selbst an. Ich übertreibe nicht. Sie schießen mal in die eine, mal in jene Richtung, bremsen ab, zucken wieder irgendwohin … unaufhörlich. Eine Tendenz ist aber festzustellen.« »Tendenz?«, fragte Cloud, während er sich ein Bild von dem verschaffte, was Jarvis beschrieben hatte. »Ja, sie rücken uns dabei immer mehr auf die Pelle – ohne allerdings bislang bis zum Schiff vorgedrungen zu sein.« »Siehst du darin eine Gefährdung?« »Da wir nichts über die Dinger wissen, sollten wir präventiv besser eine potenzielle Gefährdung darin sehen, oder?« »Es wäre nicht verkehrt, wachsam zu sein, da gebe ich dir recht. Was ist mit Tecum? Gibt es Nachricht von ihm?« Er blickte zu Scobee. »Keine Nachricht, aber Sesha sollte informiert sein, wie weit er mit seinen Bemühungen gediehen ist.« »Sesha?« »Kein Kontakt zu Tecum«, sagte die KI. »Aber ich habe wieder Kontakt und Verbindung zu sämtlichen Angks.« Der Kontakt zu mehreren tausend angkstämmigen Crewmitgliedern war abgerissen, als diese von den Ganf dafür »zwangsrekrutiert« worden waren, sich um den Leichnam zu kümmern. »Können wir daraus rückschließen, dass sie ihre Aufgabe beendet haben?« »Das dürfte mit hoher Wahrscheinlichkeit der Fall sein«, sagte Sesha. »Wo sind sie?« »Sie treten gerade aus der Pyramide im ehemaligen Angkdorf.« »Bilder? Wie geht es ihnen?« Sesha stellte Bilder zur Verfügung, die die Angks zeigten. »Sie wirken etwas orientierungslos, aber ich habe bereits Bots los-
geschickt, die sich um sie kümmern.« »Bots!«, fauchte Assur verächtlich. Kaum dass sie sich gesetzt hatten, sprang sie auch schon wieder auf. »Ich kümmere mich persönlich darum. Falls es recht ist.« »Eine gute Idee.« Cloud nickte ihr zu. Sie verließ die Zentrale. Cloud wandte sich wieder den Bildern und Sesha zu. »Seit wann genau hast du wieder Verbindung zu den Angks?«, fragte er. »Lässt sich der Zeitpunkt exakt festmachen?« »Warum fragst du das?«, wollte Jarvis wissen. »Ich will wissen, ob es einen Zusammenhang mit der hellen Aufregung gibt, die die Schemen da draußen erfasst hat. Es ist nur eine vage Vermutung, aber möglicherweise reagieren sie auf den Leichnam – seit die Angks aufgehört haben, ihn mit ihren Kräften unter Kontrolle zu halten.« »Die Idee ist nicht schlecht«, musste Jarvis zugeben. »Ich hoffe, Sesha hat uns zugehört und vergleicht bereits …« »Sesha?« »In Arbeit, Commander. Gleich …« Gespannt warteten sie auf das Resultat. Schließlich meldete die KI: »Nach einem intensiven Abgleich der Zeitwerte beider Ereignisse steht fest: Ja, es gibt einen Zusammenhang. Die Schemen begannen in dem Moment verrückt zu spielen, als ich die Angks wieder spüren konnte.« Cloud nickte zufrieden. »Aber viel mehr, als dass sie so etwas wie eine Witterung aufgenommen haben, wissen wir immer noch nicht. Tecum hätte uns kaum hier postiert und die Annäherung der Schemen so unbeteiligt hingenommen, wenn sie uns bedrohen würden.« »Das setzt aber voraus, dass der Ganf kein falsches Spiel treibt«, sagte Scobee. »Und eigentlich wissen wir das nicht sicher.« Cloud schüttelte den Kopf. »Er ist nicht immer sehr mitteilsam, da gebe ich dir recht. Aber ich hatte nie das Gefühl, dass er uns welcher Sache auch immer opfern würde.« »Nie?« Sie legte die Stirn in Falten. »Auch nicht, als wir über Kentyr fast in das Gebiet der ›aufgeweichten‹ Wirklichkeit gesogen wur-
den?« »Es war mit keinem Vorsatz von Seiten der Ganf verbunden.« »Aber ihre mangelhafte Mitteilsamkeit hätte uns trotzdem um ein Haar erledigt.« »Unser Überleben stand schon öfter auf des Messers Schneide, auch ohne Ganf.« »Mag sein. Ich sehe sie trotzdem kritisch.« »Das tue ich auch. Aber ein gesundes Misstrauen heißt nicht gleich, alles was ein anderer tut, mit Bausch und Bogen zu verdammen.« »Wir drehen uns im Kreis.« »Wie die Fetzen da draußen«, steuerte Jarvis nun auch seinen Beitrag zur Diskussion bei. Für seine Verhältnisse hatte er sich schon unmenschlich lange im Zaum gehalten. »Die führen immer verrücktere Tänze auf – obwohl, täusche ich mich, oder kommt ganz allmählich ein bisschen System in ihre Bewegungen?« Sesha bestätigte die Beobachtung. »Sie werden ruhiger – und kommen uns dabei noch näher. Einige sind nur noch wenige Meter von der Schiffshülle entfernt.« Wenige Meter?, wollte Cloud alarmiert nachfragen. Aber die KI schoss bereits die nächste Statusmeldung hinterher. »Korrigiere: Einige sind bereits durch die Außenhülle gedrungen. Ich orte sie innerhalb.« »Verdammt, das riecht nach Ärger!«, fluchte Jarvis. »Sie konnten einfach so durch die nabissoptimierte Hülle?«, fragte Cloud. »Es sieht so aus«, antwortete Sesha. »Soll ich die Schilde aktivieren?« Cloud zögerte. Und beim nächsten Atemzug stand auch schon Tecum wieder in der Zentrale. Er kam schnellen Schrittes auf das Podest und ließ sich in dem Sitz nieder, den Assur kurz zuvor frei gemacht hatte. »Tecum! Ich verlange eine Erklärung!«, empfing ihn Cloud hörbar verärgert. »Bist du über das Treiben der …« Er zeigte in die Holosäule. »… der Schemen informiert? Sie entern das Schiff!«
»Sie sind keine Bedrohung«, versicherte der Ganf im Brustton der Überzeugung. »Alles läuft völlig normal und planmäßig ab. Sie müssen ins Schiff. Es ist ihr Instinkt. Wir hätten den Leichnam auch ausschleusen können. Aber wozu, wenn doch keine Gefahr von ihnen droht? Sie nehmen uns nur Arbeit ab. Wobei ›Arbeit‹ es nicht trifft. Mein Bruder wird zur letzten Ruhe gebettet. Ich bin glücklich, dass wir ihm das ermöglichen konnten.« »Die Schemen streben der Pyramide entgegen, aus der immer noch Angks strömen«, meldete Sesha. »Verbindung zu Assur herstellen!«, befahl Cloud spontan. »Hergestellt.« »Assur?« »John?« »Pass auf. Gleich kommen die Schemen, die zwischen den Obelisken tanzten, zu dir in den Bereich des Angkdorfes. Ich will nicht, dass du dich dazu verleiten lässt –« »Sie sind bereits da«, unterbrach ihn Assur. »Sie machen keinen aggressiven Eindruck. Sie strömen einfach nur ins Innere der Pyramide.« »Halte trotzdem Abstand. Bitte.« »Verstanden.« Bevor sich Cloud wieder Tecum zuwandte, sagte er: »Sesha? Schwergewicht der Bilder in der Säule auf die Hauptpyramiden im Angkdorf.« Die KI reagierte augenblicklich. »Draußen ist kein einziger Schatten mehr. Dafür gleiten sie aus verschiedenen Einfallwinkeln durch die RUBIKON. Ihr erklärtes Ziel ist die große Pyramide«, sagte Jarvis. »Nachdem sie darin verschwunden sind«, sagte Tecum, »wird es nicht lange dauern.« »Was wird nicht lange dauern?«, fragte Cloud. »Bis sie den Toten aufgenommen haben.« »Sie holen ihn demnach ab?« »So könnte man es sagen.« »Und bringen ihn … wohin?«
Tecum zeigte in das Säulensegment, das nach wie vor die Umgebung der RUBIKON zeigte. Die Ansammlung von Obelisken. »Zu eurem Friedhof?« »Ja.« »Aber wo liegt er? Da unten im Meer? Oder …« »Die Obelisken sind der Friedhof, die Obelisken bilden Zejna«, sagte Tecum. Cloud fiel es wie Schuppen von den Augen. Warum er nicht vorher schon darauf gekommen war, wusste er sich im Nachhinein selbst nicht zu erklären. »In jedem dieser Gebilde steckt ein toter Ganf?« Der Ganf auf Assurs Sitz bejahte. »Und in welchem davon wird Shayol beigesetzt?«, fragte Scobee. »Sieh selbst«, sagte Tecum. Sesha erklärte fast zeitgleich: »Achtung. Die Pyramiden sind verschwunden. Soeben ist das Angkdorf in seiner alten Form zurückgekehrt.« Nach einer kurzen Pause, die Cloud dazu nutzte, um sich ein Bild von dem Gehörten zu verschaffen, vor allem aber, um sicherzustellen, dass Assur und den Angks bei der neuerlichen Umwandlung des Dorfes nichts geschehen war, fuhr die KI fort: »Und draußen ist ein neuer Obelisk dazugekommen.« »Heranzoomen!«, befahl Cloud. Eines der schwebenden Objekte nahm daraufhin fast den Durchmesser der Holosäule ein. Es erinnerte, wie auch die umgebenden Gebilde, an einen sich nach oben hin verjüngenden Pfeiler mit vier Kanten, dessen Spitze aussah, als wäre eine Pyramide daraufgesetzt worden. Aus welchem Material der Obelisk bestand, war nicht zu erkennen, aber er war schwarz wie ein Sternling, und auch auf seiner Oberfläche schienen Sterne und Galaxien dahinzutreiben. »Woher ist die Ruhestätte, die für Shayol vorgesehen zu sein scheint, gekommen?«, fragte Cloud. »Und wo ist Shayol, nachdem das Angkdorf wieder sein ursprüngliches Aussehen bekommen hat. Was ist mit den schattenartigen Schemen? Du merkst, ich habe viele
Fragen und große Lust auf Antworten.« »Ich dachte, ihr hättet es schon begriffen.« »Was?« »Dass Shayol bereits in seiner Letzten Stätte dort …« Tecum zeigte auf den Obelisken. »… seinen Platz eingenommen hat. Und dass das, was ihr Schemen nennt … nun, dass sie ihn einerseits aus der RUBIKON befördert haben und dass sie andererseits die Substanz für das, was wir jetzt sehen, gespendet haben.« »Du willst sagen, die Schemen sind der Obelisk?«, fragte Jarvis ungläubig. »Wie sollte das zugehen – und vor allem, warum?« »Worin unterscheidet sich dieser Obelisk von den älteren, die um ihn herum schweben?«, fragte der Ganf. »Seine Oberfläche. Sie erinnert an Sternlinge, während die anderen mehr wie aus mattem Metall oder einem sehr glatt polierten Stein zu bestehen scheinen, in den Schriftzeichen oder Symbole eingraviert wurden«, sagte Cloud. »Dieses Aussehen wird auch Shayols Zejna-Stein annehmen. Sobald die Verschmelzung abgeschlossen ist.« »Was für eine Verschmelzung?« »Derer, die ihr als Schemen wahrgenommen habt. Aber es waren … ich weiß nicht, wie ich es begreiflich machen soll. Es waren Shayols Emissionen von einst, die zu ihm strebten, um ihm die Ewige Ruhe zu schenken. Wenn ein Ganf stirbt, ruft er alles in seiner Reichweite zu sich zurück, was er jemals emittierte.« »Was meinst du mit emittieren?« »Das, was ihr als Sternlinge kennt – sie kommen aus den Ganf. Im Laufe eines Lebens emittieren wir Hunderte von ihnen.«
5. Sesha war ihnen behilflich, wo sie nur konnte. Um Algorian und den Jugendlichen etwas mehr Komfort zu bieten, ließ sie um den erstarrten Sternling herum von Spinnenbots in Rekordtempo eine kleine Hütte mit einem Kamin errichten. Schon kurz nachdem die Arbeiten begonnen hauen, waren sie abgeschlossen. Holografische Kosmetik tat ein Übriges, um die Illusion einer Blockhütte zu erzeugen, wie sie in irgendwelchen Wäldern eines erdähnlichen Planeten hätte stehen und von einem Trapper bewohnt sein können. »Wessen Idee war das gleich noch mal?«, fragte Yael mit nicht gerade glücklichem Mienenspiel. Offenbar empfand er den Bau als Stilbruch innerhalb von Pseudokalser. Aber Aylea, die den Vorschlag gemacht hatte, beruhigte ihn: »Sobald Varx wieder gesund ist, werden wir die Hütte wieder entfernen.« »Lassen.« »Lassen«, sagte sie lächelnd. »Auf der Erde kann es zu deiner Zeit doch solche Häuschen auch nicht mehr gegeben haben«, sagte Winoa. »Wie bist du darauf gekommen?« Sie saßen um einen rustikalen »Holztisch« mit ebenso rustikalen Stühlen. Am Kopfende des Tisches stand Varx, und an einer Wandseite flackerte ein Feuer im Kamin, von dem aber keine Hitze ausging. »An den Feinheiten kann ich in Absprache mit Sesha ja noch feilen«, schlug Aylea vor. »Und gesehen habe ich so eine Hütte in einem von Prospers Büchern, damals im Ghetto.« Alle Versammelten wussten Bescheid über ihre Herkunft, deshalb fragte auch keiner nach, was sie mit Ghetto meinte. »Prosper Mérimée … Ich wünschte, ich hätte ihn auch noch kennengelernt. Er ist einer der Urväter. Eine Legende auf den von Menschen bewohnten Angkwelten.«
»Ja, es ist komisch. Er war mit mir an Bord der RUBIKON. Und dann wurden er und seine Attraktionen … hey, ihr wisst, wie ich das meine … wurden sie von Kargor mitgenommen. Niemand wusste, warum und wohin. Bis wir euch auf den Angkwelten begegneten und nach und nach erfuhren, dass ihr auf Prospers Zirkus zurückgeht … Die Menschen von sechs Planeten auf eine kleine Gruppe, die vor nicht mal zehn Jahren von den Bractonen entführt wurden …« »Es sind ja nur aus deiner und meiner Sicht erst ein paar Jahre vergangen«, sagte Algorian, »der sich bislang eher zurückhielt. Dadurch, dass die Bractonen offenbar weit in die Vergangenheit reisten und die Gekidnappten dort aussetzten, hatten sie eine gewaltige Zeitspanne, um sich so zu vermehren, dass wir heutzutage von Millionen sprechen können.« »Komisch ist es trotzdem«, murmelte Aylea und starrte auf ihre Hände, die vor ihr auf dem Tisch lagen. Nach einer Weile, in der niemand gesprochen, nur ab und zu einen fast verstohlenen Blick auf Varx geworfen hatte, fragte Winoa: »Wann fängst du damit an?« Sie sah zu Algorian hoch, der ihr gegenübersaß und sie selbst sitzend um einen guten Kopf überragte. »Mit Espern?« Sie nickte. »Ich dachte, deshalb bist du hier.« »Wollt ihr lieber unter euch sein? Soll ich –« »Nein«, beeilte sich Winoa zu versichern. »Was hast du nur immer. Wir mögen dich. Du aber tust so, als würden wir dich gerade mal ertragen.« »Ich weiß.« Er legte auch die Hände auf den Tisch und knetete sie. »Seit Cy gestorben ist, ist es schlimmer geworden. Er war ein guter Freund. Wenn ich jemanden zum Reden brauchte, war er immer da. Die Meisten reden lieber selber, als richtig zuzuhören. Cy war anders.« Yael pflichtete ihm bei. »Ja. Er war ein fantastischer Zuhörer. Ich glaube, er ist manchmal einfach eingeschlafen, wenn ich ihm etwas lang und breit erzählte. Ab und zu raschelte er ein bisschen mit seinen Blättern, um so zu tun, als wäre er noch wach. Aber, hey, das
reichte mir schon. Er war da. Er wusste nicht ständig alles besser. Man konnte sich alles von der Seele reden und musste nicht tausend Einwürfe beantworten.« Winoa sah ihn schräg von der Seite an. »Und mit mir kannst du nicht so reden?« »Doch. Natürlich.« Ein klein wenig zu spät bemerkte Yael, dass er gerade, obwohl wie alle anderen sitzend, in ein Fettnäpfchen getreten war. Ein typisch weibliches Fettnäpfchen. »Also«, wandte er sich schnell an Algorian, »du weißt jetzt, dass wir dich mögen. Dann könntest du doch beginnen.« Algorian nickte. »Ich weiß nur nicht, warum ihr so drängelt. Ihr müsst euch ohnehin gedulden, bis ich es geschafft habe, die Gedanken in seinem Kopf … oder womit immer er denkt … so zu sortieren, dass ich ihnen linear und chronologisch folgen kann.« »Deshalb sollst du ja endlich anfangen. Je länger du wartest, desto länger dauert es – oder?« »Schon gut. Und ihr wollt die ganze Zeit dabei bleiben.« »Wir haben's doch versprochen«, sagte Aylea. »Oder?« Algorian seufzte. »Gut. Dann fange ich jetzt an. Ihr könnt ganz normal weitersprechen, das stört mich nicht.« »Und wenn du selbst sprichst?« »Wie meinst du das?«, wandte er sich an Winoa, die gefragt hatte. »Na ja, so eine kleine Live-Reportage aus Varx Erinnerungen … das wäre nicht das Übelste für uns, die wir zum Nichtstun verdonnert sind. Meinst du, du bekämest das hin – sobald du genug ›sortiert‹ hast?« Algorian schloss kurz die Augen. Als er sie wieder öffnete, nickte er Winoa zu. »Dein Glück, dass du es wirklich ernst meinst. Ich fände es gar nicht nett, wenn du mich auf den Arm nehmen willst.« »Hast du etwas in meinem Kopf spioniert?« »Nur oberflächlich – und diesen einen Punkt betreffend.« »Na, dann sei dir noch mal verziehen. Aber mach das nicht wieder!« »Es tut mir leid. Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist …«
»Jetzt fangt er schon wieder mit seiner Arie an!« Algorian seufzte noch tiefer. »Ich fange jetzt an. Bei Varx.« »Endlich.« Er lächelte. Als er die Augen schloss, fühlte er sich zum ersten Mal seit Cys Tod wieder froh. Er mochte diese Kinder. Sie hatten etwas übrig für Außenseiter. Das merkte man schon daran, wie sie sich um den Sternling bemühten. Algorian tastete mit seinen telepathischen Fühlern nach Varx. Dabei wurde ihm bewusst, dass es auch ein wenig Angst gewesen war, die ihn so lange hatte zögern lassen. Angst vor dem unglaublichen Reichtum an Erinnerungen, der sich in dem Sternling staute, und der einem Lauscher wie Algorian klar machte, dass sein eigenes Leben nach Varx Maßstäben wahrscheinlich erst ein paar Stunden oder allenfalls Tage währte. Er gab sich einen Ruck und überwand die letzte Barriere, die ihn vom Geist des Sternlings trennte. Dann tauchte er ein in die Lebensphase, in die Varx momentan am intensivsten verstrickt war …
Vergangenheit »Wir bedienen uns der Bractonen, seit wir sie fanden.« Varols Worte klangen in Prosper Mérimée nach. »Das hört sich für mich an«, sagte er mit rauer Stimme, »als würdet ihr euch ihrer wie Marionetten bedienen. Aber sie sind unsagbar mächtig. Wesen wie Kargor müssten es merken, wenn man sie mit unsichtbaren Fäden lenkt!« »Es gibt immer etwas oder jemanden, der noch mächtiger als der Mächtige ist. Genau das ist das Problem … Aber ich will nicht vorgreifen. Du bist jetzt präpariert. Wir können vor das GREMIUM treten, das dir alles, was du wissen musst, um deine Aufgabe erfüllen zu können, erklärt.«
»Du bringst mich zu anderen … Riesen?« »Ich bringe dich in die Stadt der Riesen.« Varol schien zu schmunzeln. Wie zuvor der Würfel, der den Reif gebracht hatte, näherte sich wie auf ein unhörbares Signal, eine hauchdünne, aber fast hundert Meter durchmessende Schwebescheibe. »Werden wir damit reisen?«, fragte Prosper. »Ja.« »Wo ist Varx? Der Sternling, der mich herbrachte. Kommt er nicht mit?« »Doch, er kommt mit. Er ist bei uns. Mach dir keine Sorgen um ihn.« »Ich kann ihn nirgends sehen …« Prosper drehte sich um seine eigene Achse. Aber der Sternling blieb verschwunden. Warum behauptete Varol dennoch, er würde sie begleiten? Die Schwebescheibe war höchstens vier, fünf Zentimeter dick – unfassbar bei diesem Durchmesser. Sie senkte sich vor Prosper und Varol zu Boden, und der Ganf glitt darauf. Prosper folgte mit leichtem Zögern. Kaum hatten sie sich beide darauf begeben, erhob sich der Schweber senkrecht wie eine Liftplattform über den Boden, schoss geschätzte tausend Meter aufwärts und glitt dann mit einem mörderischen Tempo davon. Prosper war überrascht, weder Andruck noch Fahrtwind zu spüren. Eigentlich fühlte er gar keinen Luftzug. Offenbar gab es versteckte technische Gimmicks, darunter ein Prallfeld, das sie wie eine Scheibe von allen Seiten schützte. Allein mit dem Ganf unterwegs, wünschte sich Prosper, Varx wäre tatsächlich bei ihm gewesen. Aber davon war entgegen Varols Worten offenbar nicht auszugehen. »Besteht keine Gefahr, von der Platte zu stürzen?«, fragte er naiv. »Versuch es«, erwiderte Varol. »Den Teufel werde ich –« »Es würde dir ohnehin nicht gelingen. Das Transportmittel gibt auf seine Benutzer acht. Du könntest nicht herunterfallen, selbst
wenn du springst.« Prosper testete es lieber nicht. Offenbar stiegen sie kontinuierlich noch höher, ohne dass Prosper unter Druckminderung, Atemnot oder einem Temperaturunterschied litt. Unter ihnen zogen Landschaften unterschiedlichster Prägung vorbei. Allen war jedoch eines gemeinsam: Sie glichen eher einem Paradies als höllischen Gefilden. Ein Meer tauchte auf, und für einige Zeit flogen sie nur über Wasser. Erst als Prosper einen kobaltblauen Turm wie einen Leuchtturm auftauchen sah, kam wieder Land in Sicht. »Wir überfliegen gleich die Tote Zone«, sagte Varol plötzlich. »Aus dieser Höhe ist nicht viel zu sehen. Die Details erfährst du aber in Kürze.« »Was ist eine Tote Zone?« »Überbleibsel des letzten Angriffs. Ein verzweifelter Akt, ein Durchkommen der ANDEREN zu verhindern. Bei der Errichtung des aktuellen Provisoriums waren Opfer zu beklagen, die wir nur noch bei der Letzten Stätte besuchen können.« »Ganf kamen ums Leben, als sie einen Abgriff abwehrten? Und wen meinst mit ›die ANDEREN‹? Ist das die Katastrophe, von der Roddy … ich meine Varx sprach?« Plötzlich verringerte die Scheibe ihr Tempo. Prosper spähte über ihren Rand in die Tiefe. Zuerst sah er nur eine weitere saftig grüne, von üppiger Vegetation bedeckte Landschaft. Doch dann … »O – mein – Gott!« »Wahrscheinlich hast du noch nie etwas Schrecklicheres geschaut«, sagte Varol. »Auch wenn du nur einen Bruchteil von dem sehen kannst, was da unten tatsächlich vor sich geht …«
Die Landschaft, die Varol ihm zeigte, wirkte selbst aus gewaltiger Höhe unansehnlich im elementarsten Sinn des Wortes. Sie war nicht anzuschauen. Prosper versuchte händeringend, Details der verwüste-
ten Oberfläche in seinem Gehirn so weit ankommen zu lassen, dass sich ein Begreifen der Struktur einstellte – aber es war, als würde sein Verstand daran zersplittern, davon abprallen und sich wie Funken in den finstersten Niederungen seines Geistes verlieren. »Was – ist das?«, krächzte er. »Das Problem«, sagte der Ganf, »nach dessen Lösung wir suchen. Wir werden dich langsam daran gewöhnen – sodass du irgendwann in der Lage bist, es zu ertragen, selbst wenn du nicht nur aus der Ferne, wie jetzt, darauf schaust, sondern …« »Sondern?« »… dich dort unten, mitten drin, befindest.« »Das wollt ihr mir antun? Ihr … ihr seid geisteskrank! Das da unten …« »Ist nur ein kleiner Vorgeschmack dessen, was dem ganzen Angksystem droht, wenn auch du scheiterst. Dem System, der Milchstraße und noch weiten Teilen darüber hinaus.« Prosper konnte den Blick kaum von der Tiefe lösen. »Ihr seid so mächtig und doch auf mich angewiesen, um das da unten in den Griff zu bekommen?« Er konnte nur die Hände über dem Kopf zusammenschlagen. Varol erlöste ihn, indem er die Scheibe noch höher aufsteigen ließ und dann in der Horizontalen beschleunigte. Nach einigen Minuten, in denen der Ganf nicht auf Prospers Frage eingegangen war und dieser auch nicht mehr hatte nachhaken wollen, tauchte vor ihnen eine große Stadt auf. Erst im Näherkommen begann Prosper zu realisieren, dass die Stadt allein deshalb nur groß auf ihn wirkte, weil er selbst zum Riesen mutiert war; mithilfe der Technik, die Varol ihm zur Verfügung gestellt … nein, regelrecht aufgeschwatzt hatte. »Ist das dein Zuhause?«, fragte er. »Werde ich hier anderen Ganf begegnen?« »Zweimal ja«, sagte Varol. »Habt ihr eine Regierung? Seid ihr eine Demokratie oder eine Diktatur?« »Schwarz oder weiß«, sagte Varol. »Du bist viel im Weltall herum-
gekommen. Solltest du dich von solchem Denken nicht längst verabschiedet haben?« Ausflüchte, dachte Prosper. Er wollte Klartext. »Diktatur oder Demokratie?«, beharrte er. »Eine diktatorische Demokratie«, fand Varol sofort wieder ein Schlupfloch, mit dem er offenbar leben konnte. Prosper nicht. Er fühlte sich nicht ernst genommen. Die Schwebeplatte hielt auf einen offenbar noch im Bau befindlichen Turm zu, der jetzt schon fast die Höhe der höchsten umliegenden Gebäude erreicht hatte. Und obwohl er unfertig war, wie die emsigen Geschöpfe, die daran arbeiteten, verrieten, strahlte er jetzt schon so etwas wie Absolutheit aus, für das selbst Prosper empfänglich war. »Was ist das für ein Material, aus dem eure Häuser gebaut werden?«, fragte er, fasziniert von dem Gewimmel von Gestalten, die auf dem und um den Turm herum zu sehen waren. Es waren keine Ganf, so viel wurde im Näherkommen rasch klar. Aber was dann? Prosper kniff die Augen zusammen. Waren das … Spinnen? Offenbar waren die Arbeiter dort beim Turm tatsächlich arachnoiden Ursprungs. Und noch bevor Varol ein Wort sagte, kannte Prosper bereits die Antwort auf seine gerade gestellte Frage. »Die Quifax liefern den Baustoff – und setzen ihn auch gleich nach unseren Vorgaben ein.« »Quifax?« »Eine Spezies, die schon dort, woher wir stammen, Hand in Hand eng mit uns verbunden war.« »Und von wo seid ihr gekommen? Ihr und diese … Qui… du weißt schon!« »Gedulde dich.« »Was glaubst du, was ich die ganze Zeit mache?« Prosper lachte bitter auf. »Ich wäre lieber bei meiner Familie, das darfst du mir glauben. Das, was ich gerade erlebe, ist nichts, was ich zu meinem Glück bräuchte. Von dem, was offenbar noch auf mich zukommt, ganz zu schweigen.« »Manchmal müssen Einzelne Opfer bringen, um den Bestand des
Ganzen zu sichern.« »Ach, und ich bin das Opfer? Na, danke!« Varol schien ein wenig irritiert von Prospers Art zu sein, sich zu äußern. Trotzdem lenkte er die Schwebescheibe tiefer und näher an den im Bau befindlichen Turm heran. Nach und nach wurden die Arachniden noch klarer erkennbar. Sie schienen höchstens so groß zu sein, wie Prosper – oder irgendein Mensch – normalerweise. Allerdings unterschied sich ihre Physis doch beträchtlich. Von ihrem Rumpf gingen schwarz glitzernder Gliedmaßen aus, an denen keine Gelenke zu erkennen waren. Vielmehr ähnelten sie mehr den Tentakeln eines Tintenfischs. Diese Gliedmaßen dienten ihnen sowohl zum Laufen – selbst an steilsten Wänden hoch –, als auch zum Greifen. Unterhalb des konisch zulaufenden Rumpfes, der an der Oberseite von mit wie Perlen an einer Schnur aufgereihten Augen umlaufen wurde, ragte eine Drüse hervor, aus der bei Bedarf offenbar ein Sekret gepumpt und mit den zu Greifarmen umfunktionierten Gliedmaßen modelliert wurde. Das Sekret schäumte beim Kontakt mit der Luft und blähte sich zu einem Vielfachen seines ursprünglichen Volumens auf. Erst wenn es offenbar den Ansprüchen des Arachniden gerecht wurde, fügte dieser es an einer bestimmten Stelle des Bauwerks ein. Prosper fragte sich, wie lange die Quifax schon daran arbeiteten – und wie lange es noch bis zur Vollendung brauchen würde. Aber offenbar war der untere Bereich bereits bezogen und erfüllte seine ihm von den Ganf zugedachte Funktion. Varol steuerte den Schweber durch eine Toröffnung, die sich bei ihrer Annäherung gebildet hatte … und auch direkt hinter ihnen wieder schloss. Was immer Prosper im Inneren des Turms erwartet hatte, in seiner Vorstellung wäre es einem kahlen Hangar oder fantasielosen Betonbauten wohl ziemlich nahe gekommen. Umso mehr fühlte er sich angenehm von der tatsächlichen Umgebung, in der ihn Varol absetzte, überrascht. »Damit habe ich nicht gerechnet«, gab Prosper bereitwillig zu, während seine Augen nicht rasteten, von einem Detail zum anderen
schweiften und sich einfach nicht satt sehen konnten an so viel Schönheit, die die Sinne anregte. »Kunst«, erwiderte Varol, »ist das Wichtigste im Universum. Manche nennen sogar Krieg eine Kunst – und ergötzen sich daran, sie zu verfeinern. Wir Ganf sahen uns, vielleicht unser Fehler, von jeher der Ästhetik und Harmonie verpflichtet. Wenn sie dich aus dem, was du hier siehst, erreicht, sind unsere Seelen verwandter als du es vielleicht denkst.«
Diktatorische Demokratie, Ästhetik und Harmonie … Prosper Mérimée wusste nicht, wie – und ob tatsächlich! – sich diese Begriffe miteinander vereinbaren ließen. Trotzdem ließ er sich auf den Rausch des Neuen ein, das ihn visuell und mit Klängen umschmeichelte. Er sah Wandmalereien, die den Betrachter förmlich in sich hineinzuziehen begannen, sobald man sich darauf einließ; er sah Skulpturen, die aus verschiedenen Betrachtungswinkeln verschiedene »Gesichter« hatten und ganz unterschiedliche Saiten in ihm zum Klingen brachten; ja, es gab sogar Objekte aus Spiegeln, in denen er selbst – und Varol neben ihm – zum Kunstwerk wurde. Das Atemberaubendste daran: Prosper entdeckte ganz neue Dinge an sich. Als der Ganf ihn irgendwann weiterzog, weil Prosper sich in den Spiegelfechtereien zu verlieren drohte, hatte Mérimée das Gefühl, sein ganzes Leben noch einmal rückblickend, aber auch aus ganz ungewohnten Perspektiven betrachtet zu haben, sodass er vieles neu bewertete. Er war völlig in diesen Eindrücken gefangen und bekam von den nicht minder eindrucksvollen Exponaten unterwegs kaum etwas mit. Erst als Varol ein gigantisches Tor öffnete, durch das sie beide in einen noch gewaltigeren Saal traten – gewaltig von seiner Menschlein-Warte aus betrachtet, die noch immer in Prospers Hinterstübchen schüchtern und verschreckt verfolgte, was mit ihm geschah –, wo sie bereits erwartet wurden. Prosper zählte zwölf Ganf auf sphärischen Sitzen, mit Varol zusammen waren es sogar dreizehn.
Mérimée räusperte sich, weil er Blicke wie Zentnergewichte auf sich lasten fühlte, und auch die Präsenz der Anwesenden als solche schien ihn schier zu erdrücken. An Varol gewandt flüsterte er: »Bleibst du bei mir?« »Du brauchst keine Scheu und erst recht keine Sorge zu haben. Wir wissen, was du für uns bedeutest. Möglicherweise bist du der Schlüssel, um der latenten Bedrohung endlich Herr zu werden. Der Respekt aller hier ist dir deshalb sicher.« Prosper mochte es trotz Varols Worten nicht recht glauben. Er fühlte sich weiter von den Blicken der Ganf im weiten Rund des Saales seziert. »Willkommen«, sagte ein Chor von Stimmen, dem sich erstaunlicherweise auch Varol anschloss. Prosper sah deutlich, dass sich auch dessen Sprechorgane bewegten. »Wir sind das GREMIUM. Willkommen auf Portas, Prosper Mérimée. Du wurdest getäuscht, aber der kleine Vasall wurde von uns entsprechend instruiert – er ist der Unschuldigste bei allem. Und wir griffen auch nur zu diesem Mittel, um dich schnell hierher holen zu können. Die Zeichen, dass die Invasion droht, mehren sich. Von der anderen Seite wurde vehement angeklopft. Wir konnten mit allem, was wir haben, ein Provisorium als Bollwerk errichten. Aber wie lange es standhalten wird, weiß keiner. Ein schwaches Pochen, das stetig anschwillt, ist bereits wieder zu vermerken …« Wovon bei allen Zirkusgeistern reden diese Irren?, dachte Prosper, der sich gerade wie in einer der Veranstaltungen vorkam, die er früher für die Ghettobewohner inszeniert hatte. Jedes Wort, das an ihn gerichtet wurde, erklang aus dem Mund aller anwesenden Ganf. Nie sprach nur ein Einzelner, stets war es ein Chor. Dadurch wirkten die Sätze wie auswendig gelernt, und das erleichterte es Prosper nicht gerade, sich an die Ganf-Präsenz zu gewöhnen. Auch Varol war Mitglied des Chores geworden. »Ich fürchte …« Prosper räusperte sich erneut. »Ich fürchte, ich verstehe von alldem kein einziges Wort. Ihr habt euch den Falschen geholt. Wahrscheinlich träume ich das alles nur. Es kann nicht real sein. Ihr … dieser Planet … das alles ist entweder nicht wirklich
oder völlig falsch dargestellt. Meine Fantasie spielt mir Streiche. Ich halluziniere. Schon Roddy war eine Fata Morgana. Aber dasselbe gilt für Varx, für –« »Glaube ihnen. Sie sind echt«, ertönte ein Stimmchen irgendwo hinter und tief unter ihm. Als er sich umdrehte und die Augen zu Boden richtete, erblickte er den Sternling, den er seit Besteigen der Schwebescheibe vermisst hatte. Varx war winzig klein. Offenbar hatte er keinen Reif abbekommen. »Wo kommst du denn her?« Prosper schüttelte den Kopf. Die Tür, die sich hinter Varol und ihm geschlossen hatte, hatte sich nicht wieder geöffnet, seit sie im Saal waren. Das hätte er schwören können. Entweder war Varx auf die allen Sternlingen eigene Weise erschienen, oder er war schon vorher im Saal gewesen. »Es geht nicht um mich. Ich bin nur … nun, man war gerade so freundlich, mich einen Vasallen zu nennen.« »Varx, ich will hier weg! Hilf mir dabei!«, raunte Prosper dem Sternling zu, obwohl ihm klar war, dass er von den Ganf ebenso gehört wurde. »Du musst dich der Verantwortung stellen. Alles, was ich auf Arrankor über die Gefahr auf Portas zu dir sagte, hat immer noch Bestand. Wenn du nicht helfen kannst, wird … wird alles überrollt. Es wird nirgends mehr Schutz oder Sicherheit geben. Erst fällt Portas, dann die anderen sechs Welten des Systems. Und du weißt, was das bedeutet. Du hast Kinder und Freunde auf Arrankor. Du kennst Menschen, die nach Schaggrom, Gismo, Myron, Voosteyn oder Nomad gingen, persönlich. Sie und die Nachkommen, die sie zeugten, sind ebenso dem Untergang geweiht, wie die Ganf hier oder die Bractonen und Tavner auf den angrenzenden Welten! Ich sage das nicht, um dich unter Druck zu setzen, sondern weil es eine furchtbare Wahrheit ist, mit der du lernen musst, umzugehen, oder alles wird dem FEIND zum Opfer fallen. Die furchtbare Wahrheit ist …« Um ihn herum nahm der Chor der Ganf seine Worte auf und begann sie synchron zu ihm ebenfalls hervorzustoßen – als wären die Ganf Resonanzkörper, mit deren Hilfe Varx seiner eigenen Stimme
mehr Gewicht verlieh. »Die furchtbare Wahrheit ist«, hallte es von allen Seiten auf Prosper Mérimée, »DASS DU UNSERE LETZTE HOFFNUNG BIST!« Es war das Entsetzlichste, was er je gehört hatte. Die letzte Hoffnung von jemandem zu sein, war schwerer zu ertragen als eine Krankheit oder Verletzung, von der man sicher wusste, dass sie tödlich enden würde. Weil es nicht mehr um einen selbst und schon gar nicht um einen allein ging, sondern um etwas so Gewaltiges wie die Allgemeinheit. Eine Allgemeinheit, die überdies nicht nur so bizarrabstrakte Wesenheiten wie die Ganf, die Bractonen oder die Sternlinge beinhaltete, sondern Männer, Frauen, Kinder, mit denen Prosper auf höchst persönlicher Ebene vernetzt war. Meine Kinder, die Kinder meiner Kinder, meine Freunde … die Freunde meiner Kinder und Kindeskinder … Schon auf Arrankor hatte der falsche Roddy es angedeutet. Es aber hier mit solcher Vehemenz und aus den Mündern solcher Wesen wieder zu hören, überstieg alles Erträgliche. Prosper ächzte, spürte etwas wie Hitze durch seinen Kopf fließen, fast so, als seien alle Adern darin auf einmal geplatzt … Doch dann kam eine Dunkelheit und Stille über ihn, die er als wohltuend und erlösend empfand.
Als er wieder zu sich kam, war er nicht mehr in dem Saal mit den Ganf. Varx war bei ihm. »Ich fürchtete schon das Schlimmste – obwohl sie mich beruhigten …« »Varx …« Er richtete sich auf der weichen Unterlage auf, die auf jede Bewegung reagierte, als wäre sie etwas Lebendiges, das sich an seine Konturen anzuschmiegen versuchte. »Was ist passiert?« »Du wurdest ohnmächtig. Varol meint, das alles sei ein bisschen zu viel für dich gewesen. Dabei hatten sie so behutsam mit dir umgehen wollen. Sei ihnen nicht böse. Die Ganf sind verzweifelt.« Prosper sah sich in dem kleinen Raum um, und erst jetzt fiel ihm
auf, dass er Varx nicht mehr wie einen Winzling wahrnahm, sondern als fast gleichgroßes Gegenüber. Sofort tastete er nach seinem Arm. Der Reif war verschwunden. Varx zeigte zu einem Tischchen neben dem Bett. Der Reif lag darauf. »Sie meinten, es sei besser, ihn dir für die Zeit der Ohnmacht abzunehmen. Bis du den Raum wieder verlässt. Alles hier …« Varx machte eine Geste. »… ist auf kleine Wesen wie mich abgestimmt. Oder dich.« »Sind wir noch in dem Turm?« »Natürlich.« »Kennst du die Arachniden – die den Turm bauen?« Varx bejahte auch dies. »Was sind das für Wesen? Sklaven? Carol behauptete, sie würden schon … schon immer für die Ganf schuften.« »Keine Sklaven!«, wehrte der Sternling vehement ab. »Ich kann mir die Ganf ohne die Quifax nicht vorstellen – und die Quifax nicht ohne Ganf.« »Sie sind demnach gleichberechtigt?« »Wer? Die Quifax, mit den Ganf?« Varx schüttete sich aus vor Lachen. Als er sich etwas beruhigt hatte, sagte er: »Die Ganf sind eine eigene Qualität. Alles andere … du, ich, die Quifax … wissen und können nicht annähernd, was sie vermögen. Sie kennen die Geschichten hinter den Geschichten. Die Realität hinter der Realität. Wenn wir den kleinen Ausschnitt von etwas sehen und stolz darauf sind, es zu begreifen, dann sehen sie das Gesamtwerk. Alles, was damit in Verbindung steht.« Prosper bezweifelte stark, dass die Verehrung, die aus Varx sprach, in dem Maße, wie er sie praktizierte, tatsächlich begründet war. Zumal die Ganf ihn, Prosper Mérimée, offenbar für ihre letzte Hoffnung hielten. Hoffnung – wobei? »Warum wurde ich hergebracht?«, wandte er sich an den Sternling. »Warum genau? Sag es mir, wenn du es weißt. Ich halte es nicht mehr aus, ständig vertröstet zu werden!«
»Ich darf ihnen nicht vorgreifen …« »Von mir erfahren sie es nicht.« Varx lachte verzweifelt auf. »Nichts bleibt vor ihnen verborgen. Nichts, was ich tue, sage oder auch nur denke.« »Das wäre dann die totale Kontrolle – nicht gerade etwas, was für die Ganf spricht.« »Du verstehst es nicht. Sie belauschen oder kontrollieren ihre Vasallen nicht. Es ist ganz natürlich, dass sie wissen, was wir tun oder besprechen. Die Verbindung zwischen mir und dem, der mich –« Er brach ab. »Was ist? Warst du dabei, mir etwas zu verraten, was ich nicht wissen darf?« »Ich muss gehen.« »Wohin?« »Ich muss gehen.« »Warte! Lass mich hier nicht allein zurück! Ich will nicht auf Portas bleiben! Das ist keine Welt für Menschen! Hier könnte ich nie heimisch werden …« Aber noch während er sprach, löste sich Varx vor seinen Augen auf. Prosper fluchte. Sein Blick fiel auf den Armreif. Wenn er jetzt nach ihm griff, wenn er ihn sich hier und jetzt überstreifte … … würde die Transformation zum Riesen dann diesen Raum sprengen? Würde er sich bei einem solchen Versuch verletzen oder gar sterben? Er war versucht, es auszuprobieren. Aber dann ließ er es doch bleiben. Er mochte verbittert, verzweifelt und überfordert sein von dem, was auf ihn einstürmte. Aber noch war er nicht lebensüberdrüssig. »Varol?«, rief er. »Verdammt, Varol, wenn du mich hören kannst – komm her und beende diese Hinhalterei! Sagt, was ich für euch tun soll – und lasst es mich entscheiden, ob ich dazu auch bereit bin!« Ein Chor, der von überall her zugleich zu kommen schien, wisperte: »SO SEI ES!«
6. »Die Sternlinge sind die Kinder der Ganf?« Cloud brauchte nur in die Gesichter seiner anwesenden Freunde zu blicken, um zu wissen, dass sie sich ebenso von Tecums Aussage überrumpelt fühlten wie ihr Commander. Der Ganf schien leicht zusammenzuzucken. »Wie kommst du darauf?«, fragte er. Es klang fast beleidigt. »Du sagtest gerade –« »Emissionen sind keine Kinder«, wies ihn Tecum in unüberhörbar scharfem Ton zurecht. »Wir haben Nachwuchs – aber er sähe niemals aus wie ein Sternling!« »Dann war es ein Missverständnis. Ich wollte dir, deinem Volk, nicht zu nahe treten.« Tecum schien sich wieder unter Kontrolle zu haben. »Ihr müsst vieles verarbeiten, womit ich groß geworden bin. Es gibt nichts zu entschuldigen. Aber nun ist es geklärt.« Wie bitte, geklärt?, dachte Cloud. Mit Verlaub: Du spinnst, mein Freund. Die Erklärungen fangen gerade erst an! So leicht lasse ich dich nicht wieder vom Haken! »Du hast also dafür gesorgt, dass sämtliche Sternlinge, die aktuell in Shayols Reichweite waren, zu ihm gerufen wurden.« »So ähnlich verhält es sich.« »Reichte dieser Ruf über Portas hinaus?« »Nein.« »Und hatten diejenigen, die er erreichte, auch die Möglichkeit, ihm nicht zu folgen?« »Worauf willst du hinaus? Willst du eine Debatte über Moral führen?« »Ich will nur wissen …« »Es sind Emissionen.« »Aber an Varx können wir sehen, dass sie ein Bewusstsein, eine
Persönlichkeit besitzen.« »Manche«, sagte Tecum. »Nicht alle. Je mehr sie erleben, je länger sie existieren, desto wahrscheinlicher wird es, dass sie zu eigenständigen Individuen heranreifen.« »Aber selbst dann betrachtet ihr sie nicht als gleichwertige Geschöpfe?« »Gleichwertig?« Wieder geriet Tecum aus der Fassung. »Wenn du schwitzt, Mensch, betrachtest du dann die Schweißtropfen, die du ausdünstest, als dir gleichwertig?« »Ich glaube nicht, dass man das vergleichen kann.« »Für uns ist es dasselbe. Ganf-Emissionen sind keine Ganf-Kinder. Und dennoch achten wir sie. In gewisser Weise. Weil sie einen Nutzen erfüllen. Bevor sie eine Letzte Stätte formen und nachdem sie es getan haben.« »Wie können Sternlinge überhaupt erst zu den Schemen werden, die wir beobachtet haben, und anschließend wieder zu etwas so Festem wie diesen Obelisken?« »Sobald sie gerufen werden, bricht ihr Körperverbund auseinander. Sie werden wieder zu den Emissionen, als die sie begannen. Sie suchen den Toten auf, der sie einst emittierte, und schmiegen sich wie ein Gas um ihn. Dann versetzen sie sich und ihn nach Zejna. Nach dem Sprung bildet sich die Form, der Obelisk, von der sie wissen, dass es dem Wunsch des Toten entspricht, sie anzunehmen. Und nach dem Sprung werden sie umgehend zu einem Stoff, härter als Stahl.« »Das klingt alles sehr kompliziert.« »Für dich vielleicht, bei uns ist es ein fester Bestandteil des Lebens. Diese Rituale und Prozesse reichen länger zurück als unser Aufenthalt auf Angk III.« »Stimmt«, sagte Jarvis. »Unser Freund hat noch gar nicht gesagt, woher die Ganf stammen. Ursprünglich.« »Wir werden darüber sprechen, sobald wir die Stadt erreicht haben«, sagte Tecum. »Wir begeben uns zu einer Stadt?«, fragte Cloud. »Wo liegt sie?«
»Auf der anderen Seite von Portas.« »So weit entfernt von diesem ›Zejna‹ liegt das eigentliche Ziel? Hatte Shayol eine besondere Beziehung zu dieser Letzten Stätte, dass er nicht näher bei der Stadt, von der du redest, beigesetzt werden konnte?« »Deiner Frage entnehme ich, dass du glaubst, es gäbe mehr als einen Zejna. Dem ist nicht so.« Cloud musterte Tecum fast sprachlos. Schließlich sagte er: »Aber wenn das hier euer einziger ›Friedhof‹ wäre, hieße das auch, dass, seit ihr auf Portas lebt, nicht mehr als dreißig oder vierzig deiner Artgenossen verstorben sind und auf die beschriebene Weise beigesetzt wurden …« »So ist es. Der Tod eines Ganf ist ein denkbar seltenes Ereignis. Wann und wo immer wir ihn vermeiden können, tun wir es.«
Die Skyline, die schließlich vor ihnen aufwuchs, war so gigantisch, dass es dafür nur eine Assoziation gab. »Das ist eine Stadt für Riesen«, rann es staunend über Scobees Lippen. »Purer Gigantismus.« »Du weißt nicht, wie recht du hast«, sagte Tecum. »Aber genau deshalb erlaubt uns die Stadt, so zu leben, dass wir uns zuhause fühlen.« »Deine Erklärungen … falls es welche sein sollen …«, sagte Cloud. »… werden immer kryptischer.« »Ihr werdet verstehen, sobald wir ankommen. Ich übernehme noch einmal die Steuerung. Das Schiff wird am höchsten Turm anlegen. In diesem Turm werden wir bereits erwartet.« Wieder überließ Cloud dem Ganf das Ruder. Was ihn nicht davon abhielt, zu versuchen, selbst mehr über das Ziel herauszufinden. »Sesha? Daten! Bereite uns auf das vor, was uns erwartet. Alles, was du bereits feststellen kannst, wir aber noch nicht erkennen.« Schnell näherten sie sich den gewaltigen Bauten. Cloud war mehrfach im New York zur Mitte des 21. Jahrhunderts gewesen – bevor es zur Metrop wurde. Und so, wie Manhattan sich
einer im Anflug befindlichen Passagiermaschine präsentiert hatte, so ähnlich sah die Stadt der Ganf auf dem Planeten Portas aus. Nur noch um ein Vielfaches atemberaubender. Die einzelnen Wolkenkratzer kratzten tatsächlich an den Wolken. Sesha meldete Gebäude von mehr als zehn Kilometern Länge! Das war fast die Reisehöhe eines antiquierten irdischen Passagierflugzeugs gewesen! Verbunden waren die Kolossalbauten über ein Netz von gewundenen Spiralen, bei denen es sich unmöglich um Straßen im herkömmlichen Sinn handeln konnte. Vielmehr erinnerten sie an das, was einmal das Angksystem ausgezeichnet hatte: die Energiebahnen, über die man von Welt zu Welt hatte reisen können. Vielleicht waren es nur architektonische Schnörkel, doch dafür wäre der Aufwand wohl zu groß gewesen. »Was für ein Anblick«, musste selbst Jarvis Bewunderung zollen. »Da! Da unten am Boden – zwischen den Häuserschluchten … das können unmöglich Ganf sein, denn …« »Denn dann wären es Riesen«, vollendete Scobee für ihn. Sie wandte sich an Tecum. »Sag uns, was das zu bedeuten hat. Bist du gar kein typischer Vertreter deiner Spezies? Oder sind das dort unten keine typischen Ganf …?« »Doch. Absolut typisch.« Tecum schloss das Manöver ab, das die RUBIKON an den höchsten der Turmbauten heranbrachte und auf unbekannte Weise an der Spitze verankerte. »Sie da unten ebenso wie ich hier bei euch.« »Wie kann das sein? Entweder trifft typisch auf die Stadtbewohner zu oder auf dich, der du in etwa unserer Größe entsprichst, und das ist bei weitem nicht das, was da unten herumläuft«, sagte Cloud. »Sesha? Wie groß sind die Passanten in den Straßen?« »Zwischen fünfzig und hundert Meter«, antwortete die KI prompt. »Entsprechend ist die Straßenbreite. Ich messe im Schnitt etwa einen Kilometer.« »Wo liegt der Widerspruch?«, fragte Tecum und klang dabei, als bereite ihm das Geplänkel diebisches Vergnügen. »Ich bin auch ein Riese. Ihr habt es nur noch nicht gemerkt.«
»Du bist kein Riese. Manchmal muss man sich den Realitäten stellen, so schmerzhaft es auch sein mag. Sieh mich an. Ich bin leider kein Mensch mehr aus Fleisch und Blut – auch wenn ich einiges dafür gäbe, es wieder zu sein«, knurrte Jarvis den Ganf in ihrer Mitte an. »Habe ich mich damit abgefunden? Ja! Auch wenn es eine Weile gedauert hat.« Cloud warf Jarvis einen nachdenklichen Blick zu. Sie hatten lange nicht mehr über dieses Thema gesprochen, und zuletzt hatte es Jarvis sehr wohl beschäftigt. Cloud wäre froh gewesen, wenn der Freund tatsächlich über den Verlust, den er hatte hinnehmen müssen, hinweggekommen war. Aber er bezweifelte, dass es Jarvis selbst bewusst war, wie er immer noch darunter litt. Tecum ausgerechnet damit zu kommen, war sicherlich nicht die klügste Idee. Aber der Ganf ließ es unkommentiert. »Ihr werdet, um mich begleiten zu können, auch zu Riesen«, versprach er lediglich. Cloud schüttelte verärgert den Kopf. »Ich denke, es reicht allmählich – dieses Gerede von Riesen, okay? Worum geht es hier? Das will ich wissen. Wen werden wir treffen?« »Ganf«, sagte Tecum. »Die uns erklären, warum wir hier sind – und warum Portas ist, wie er ist?« »Davon gehe ich aus.« »Okay. Wann?« »Ich erhalte Nachricht, sobald wir aufbrechen können.« »Minuten, Stunden?« »Es wird noch eine Weile dauern. Ein, zwei Stunden eurer Zeitrechnung.« »Dann wärst auch du noch abkömmlich? Oder wirst du vorausgehen?« »Ich bleibe. Wir gehen gemeinsam.« »Dann bist du möglicherweise die Rettung für einen … Freund?«
»Worum handelt es sich?«, fragte Tecum zurückhaltend. »Für dich wahrscheinlich nur um eine Emission. Aber mir und allen, die ich kenne, bedeutet er sehr viel mehr.« »Du redest von einem Sternling? Hier an Bord? Es gibt nur noch einen. Ich habe von Restriktionen gegen ihn abgesehen …« »Ich weiß. Dafür danke ich dir. Aber … es geht ihm schlecht.« Cloud schilderte Tecum, was passiert war. Sesha steuerte noch einmal die Szenen bei, die das Problem deutlich machten. »Ist dir so etwas schon einmal untergekommen – bei Sternlingen?« »Nicht in dieser Form, nein. Aber ich habe einen Verdacht, den ich überprüfen werde – wenn euch so viel daran liegt.« »Varx ist ein vollwertiges Mitglied meiner Crew. Und ich möchte, dass er das bleibt. Gesund.« »Wie gesagt, ich werde meine Vermutung prüfen. Sobald wir das Schiff verlassen haben. Vorher begebe ich mich kurz zu ihm. Wo ist er?« Cloud zögerte. Ihm war nicht ganz wohl dabei, den Ganf zu Varx zu lassen. Ein Wesen, das ein anderes nur als seine Ausdünstung betrachtete, mochte nicht gerade zimperlich zu Werke gehen. »Versprich, dass du nichts tust, was seinen Zustand noch verschlechtert.« »Wofür hältst du mich? Ein Monstrum?« »Ich habe nicht den Eindruck gewonnen, als würden Sternlinge Respekt bei den Ganf genießen. Deshalb will ich mich vorher versichern …« Tecum sagte: »Ich verspreche es. Wo finde ich ihn?« Cloud blickte zu Scobee. »Würdest du …?« »Sehr gern. Ich bringe dich zu ihm, Tecum. Was willst du dort?« »Eine Probe«, sagte der Ganf. »Ich brauche eine Probe von ihm, um meinen Verdacht entweder zu bestätigen oder zu widerlegen. Aber ich glaube jetzt schon, ich bin auf der richtigen Fährte.« »Mehr willst du uns aber noch nicht verraten?« »Nein.« Scobee bleckte die Zähne – ein Lächeln sah anders aus. Gemeinsam mit dem Ganf verließ sie die Zentrale.
»Hoffentlich war das eine gute Idee«, sagte Jarvis. »Dem ist doch alles zuzutrauen! Emissionen … Kaufst du ihm das wirklich ab?«
Algorian und die drei jugendlichen Beschützer des Sternlings waren von John Cloud vorgewarnt – sonst hätte sie das Erscheinen des Ganf vermutlich mehr erschreckt als alles, was sie in letzter Zeit erlebt hatten. Außerdem war Scobee dabei – als zusätzliches Beruhigungspflaster. »Sein Zustand ist unverändert, sagt Sesha«, wandte sich Scobee an das Quartett, das Varx in der eigenwilligen Hütte Gesellschaft leistete. Auch Tecum schien vom Aufenthaltsort des Sternlings seltsam berührt zu sein, er sagte jedoch nichts. »Was genau hat er vor?«, wandte sich Aylea an Scobee. »Er sagt, er will eine Probe nehmen. Unterwegs beteuerte er, dass es absolut schmerzfrei und folgenlos für Varx sein wird. Ich habe ihm schon angedroht, mir bei ihm eine Probe zu holen, falls es sich als Täuschung herausstellt.« »Du bist die Beste, danke, Scob!« Aylea fiel ihr fast um den Hals. »Langsam, langsam. Lasst ihn erst mal durch. Er muss wenigstens die Chance bekommen, sich Pluspunkte zu sammeln.« Tecum gab sich völlig unberührt von all dem Gerede. Er verlor auch keine Zeit. Geschmeidig trat er vor Varx und berührte ihn mit einem seiner Händchen … in dem etwas schimmerte, das kleiner als ein Fingerglied des Ganf war. Er setzte es kurz auf Varx Haut – dann zog er es auch schon wieder zurück. »Das war alles?« »Das war alles.« »Und was hast du getan?« »Die Probe entnommen, um zu klären, welcher Herkunft er ist.« »Du meinst, wer sein Vater ist?«, fragte Winoa arglos. Scobee hatte keine Lust, das Thema »Emission« schon wieder aufs Tablett zu bringen. Sie schob Tecum aus der Hütte, wartete, bis er
draußen war, und drehte sich selbst noch einmal zu Algorian um. »Hast du schon etwas herausfinden können?« »Ihr habt ihn mitten in der Geschichte unterbrochen«, sagte Yael anstelle des Aorii. »Geschichte?« »Er war drin – in Varx. Und er hatte gerade angefangen, für uns ›simultan zu übersetzen‹, was er espert«, sagte Winoa in völlig ernsthaftem Tonfall.
7. »Was hat das zu bedeuten?« Kaum dass auch Scobee die Hütte auf Kalser verlassen hatte, wandte sich Yael besorgt an seine Freunde. »Diese ›Probeentnahme‹. Was bezweckt der Ganf damit?« »Scobee scheint der Meinung zu sein, dass er Varx vielleicht helfen kann.« Winoa wandte sich ihrem geflügelten Freund zu. »Kann, ja. Aber will er das auch?« Auch in Ayleas Worten schwangen Skepsis und Sorge mit. »Der Commander hält offenbar große Stücke auf ihn«, sagte Algorian zurückhaltender. »Wer weiß. Vielleicht ist er auch nur in einer Zwickmühle.« Yael zuckte nervös mit den Schwingen. »Wie meinst du das?«, wollte Winoa wissen. »Na, dass die Ganf Teile der RUBIKON unter ihrer Kontrolle haben, dürfte wohl mittlerweile jedem klar geworden sein. Diese ominöse ›andere‹ Seite, auf die es auch uns beide schon verschlug, Wi, zeigt doch, wozu sie fähig sind. Das weiß auch John. Und selbst wenn es ihn in den Fingern juckte, die Ganf von Bord zu schmeißen – er hätte gar nicht die Mittel dazu. Er würde sie nur dazu animieren, sich ihre Schminke, mit der sie sich als Wohltäter maskieren, abzuwischen und richtig Zunder zu geben.« »Du hältst sie also nicht für unsere Verbündeten?« Aylea war es, die das fragte. Yael verzog das Gesicht. »Ich weiß es nicht. Sie mögen unsere Verbündeten sein und uns auch brauchen – aber bislang habe ich den Eindruck, dass sie uns als alles andere als gleichberechtigt betrachten. Wann immer es ihnen beliebt, setzen sie alle Hebel in Bewegung, um uns – die RUBIKON – nach ihren Interessen in Position zu bringen. Wie die Figuren auf einem …« »… Schachspiel«, sagte Aylea. Sie nickte. »Da ist viel Wahres dran. Sie wissen, dass sie in einer überlegenen Position sind. Weil sie of-
fenbar auch sämtliche Hintergründe dessen kennen, was im Angksystem und außerhalb davon abläuft. Diese gewaltige Belagerungsflotte … ihr wisst schon … die Ganf kennen diejenigen, die all die Kriegsschiffe vor der protochaotischen Wolke aufgeboten haben. Uns hingegen haben sie nicht mehr als einen Namen hingeworfen: Auruunen.« »Und dass sie die ERBAUER wie Marionetten benutzen, wirft auch nicht gerade ein gutes Licht auf sie. Habt ihr auch gehört, dass sie ihnen absprechen, die Schöpfer des Universums zu sein – was sie uns gegenüber stets vehement behauptet haben? Die Bractonen, meine ich.« Yael schüttelte die Flügel jetzt so heftig hinter seinem Rücken, dass kleinere Federn davonstoben. »Die Auruunen scheinen diejenigen zu sein, vor denen sich selbst die Ganf fürchten«, gab auch Algorian wieder einen Kommentar ab. »Sie sollen von unermesslich weit her stammen.« »Eleyson. Der Name der Galaxie ist Eleyson«, sagte Yael. »Schlappe dreizehn Milliarden Lichtjahre von hier …« Er seufzte. »Lassen wir es gut sein. Wir können nur hoffen, dass der Ganf, der hier war, ein wirkliches Interesse daran hat, Varx zu helfen und zu heilen.« »Was sollte er sonst für eine Absicht mit seinem Auftritt verfolgen?«, fragte Winoa. »Ich will lieber nicht darüber nachdenken.« »Hey, mach uns keine Angst!«, fuhr ihn Aylea an. »Algorian – konntest du nicht ein bisschen was in seinem Kopf lesen, was diese Unke hier …« Sie zeigte auf Yael. »… aufhören lässt, schwarz zu sehen?« »Die Bewusstseine der Ganf sind für mich nicht greifbar.« »Vielleicht denken sie gar nicht.« Yael kicherte leise. »Dann habt ihr wenigstens etwas gemeinsam«, stichelte Aylea. »Könnten wir jetzt dort weitermachen, wo wir unterbrochen wurden? Algorian? Fühlst du dich in der Lage, deinen Bericht aus Varx' Gedächtnis fortzusetzen. Es … es wurde gerade spannend. Prosper … ich würde gerne so viel wie möglich über die Zeit hören, die Varx mit Prosper verbrachte …« »Ich versuche es«, sagte Algorian. »Versprechen kann ich nichts.«
Als Ruhe eingekehrt war, schloss er die Augen und tastete nach dem Geist des Sternlings, der immer noch starr und steif neben ihnen stand. Alle warteten darauf, dass Algorian zu sprechen begann. Das, was schließlich stattdessen geschah, leerte die kleine Hütte binnen eines einzigen Augenblicks. Die Jugendlichen, und selbst Algorian, fanden nicht einmal mehr die Zeit für einen Schrei.
Die Nachricht schlug in der RUBIKON-Zentrale ein wie eine Bombe. Jiim meldete sich aus der Nargen-Enklave. »Ich wollte gerade einen Happen für die Kinder in die Hütte bringen«, stieß er atemlos über Bordsprech hervor. »Aber sie waren nicht mehr drin. Keiner ist mehr dort – auch Varx nicht! Hat jemand von euch veranlasst, dass sie –« »Sie sind nicht mehr in der Hütte?«, fragte Scobee. »Kein Irrtum möglich? Ich war erst vorhin dort. Mit Tecum. Er entnahm Varx eine Probe. Als wir gingen, war noch alles in Ordnung.« »Aber dann …« Jiims Stimme verebbte immer mehr. Offenbar schnürte ihm die Sorge die Kehle zu. »Bleib, wo du bist. Ich komme«, rief Scobee. An Cloud gewandt, fragte sie: »In Ordnung?« »Natürlich. Ich überlege gerade, ob ich mitkomme. Tecum ist mit der Probe von Bord. Aber sonst hat sich noch nichts getan. Unsere Aufforderung zur Audienz scheint noch ein wenig zu brauchen. Ich hätte also Zeit. Und ich will ebenso wie du wissen, was da vorgeht … Okay.« Er stemmte sich aus dem Sitz. »Lass uns zusammen zu Jiim gehen. Jarvis? Du übernimmst hier. Sobald Nachricht von Tecum oder den Ganf allgemein eingeht, informierst du mich unverzüglich!« »Klar, Commander. Ich hab ja auch das beste Sitzfleisch von uns allen. Nein, es macht mir nichts aus, dass mich keiner fragt, was ich gerne möchte, was mich interessiert … Geht nur! Das Schiff ist bei mir in guten Händen.«
Jiim empfing sie völlig aufgelöst gleich hinter dem Schott, das nach Pseudokalser führte. Cloud und Scobee versuchten, ihn zu beruhigen. Aber insbesondere Yael hatte für sein geringes Alter schon so viele Hochs und Tiefs durchgemacht, dass ihre Bemühungen wenig fruchteten. Jiim war Realist. Er wusste, was es bedeutete, wenn sich ein Vorfall wie dieser ereignete. Die Verschwundenen konnten ebenso gut an einen anderen Ort verschlagen worden – oder bereits tot sein. Letztere Möglichkeit wollte Cloud dennoch nicht wahrhaben, obwohl es für ihn feststand, dass Varx etwas mit dem Verschwinden zu tun haben musste. Bereits unterwegs hatten sie Sesha kontaktiert und erfahren, dass die KI keine Bilder liefern konnte, die im Zusammenhang mit dem aktuellen Vermisstenproblem standen. »Warum nicht?«, hatte Cloud gefragt. »Das Innere der Blockhütte muss für dich auch einsehbar sein. Das war eine der Bedingungen für den Bau!« »Das Innere der Blockhütte war für mich einsehbar. Doch etwas hat die optischen Sensoren geblendet. Ich habe Bots in die Hütte geschickt, um die Ursache zu ermitteln. Sie haben aber gerade erst mit der Spurensuche begonnen.« »Sind sie jetzt in der Hütte?« »Ja. Ihr werdet sie antreffen.« Das war vor fünf Minuten gewesen. Als Cloud, Scobee und Jiim jetzt bei der Hütte ankamen, strömten die Bots gerade wieder heraus. Jiim wollte sich ihnen in den Weg stellen – offenbar ein Reflex, der mit der Sorge des Nargen um seinen Sprössling und die anderen Verschwundenen zusammenhing. Scobee hielt ihn zurück. »Sesha?« »Erste Ergebnisse liegen vor«, sagte die KI aus dem Off. »Wir hören«, drängte jetzt auch Cloud. »An den Sensorpunkten, die mir hätten Einblick verschaffen sollen, wurden Reste einer Substanz gefunden, die offenbar auf Varx
zurückgeht. Fragmente fanden sich auch an Tisch und Stühlen.« »Und davon wurden deine Sensoren beschädigt?« »Korrekt.« »Das hört sich nicht gut an. Das hört sich an«, jammerte Jiim, »als wäre der Sternling …« Er zögerte, quetschte dann hervor: »… explodiert.« »Hast du Aufzeichnungen über die Situation unmittelbar vor dem Ausfall deiner Beobachtungssysteme in der Hütte?« Cloud trat, während er fragte, ins Innere des Baus, der auf ihn völlig unangetastet und unversehrt wirkte. Keiner der Stühle war umgeworfen. Sie waren so positioniert, als säße das Quartett, das sich mit Varx hatte befassen wollen, noch immer unsichtbar darauf. Aber darauf war wohl nicht zu hoffen. »Falls Varx der Auslöser des Verschwindens war – wieso hat es nur die Lebenden getroffen?«, fragte Scobee, während sich über dem Tisch ein von Sesha geschicktes Hologramm aufbaute. »Warum nicht auch die Gegenstände hier?« Sie zeigte auf das spärliche Inventar. Cloud selbst fand am Abstrusesten, dass im Kamin immer noch ein Feuer knisterte, das eine momentan völlig unpassende Romantik vorgaukelte. »Sesha. Schalte bitte den Kamin ab.« Das Feuer verschwand. Sofort stahl sich die Stimmung in den Raum, die der Situation wirklich angemessen war. In dem Holowürfel, der über der Tischplatte schwebte, erschien ein Duplikat des Raumes, in dem Cloud, Scobee und Jiim standen. In dem Würfel waren sie nicht vorhanden, dafür die Vermissten, inklusive Varx. Offenbar war Algorian gerade damit beschäftigt, den Sternling zu espern. Seine Haltung deutete jedenfalls darauf hin. Im nächsten Moment erlosch die Aufnahme. »Das kann nicht alles sein«, sagte Cloud. »Sesha. Die Szene bis zum Bildausfall verlangsamen. Meinetwegen Einzelbilder. Es muss irgendetwas sichtbar sein, das uns verrät, was passiert ist. Konzen-
triere dich auf Varx!« »Das habe ich längst alles durchprobiert, Commander«, kam die Antwort der KI. »Nicht einmal in der extremsten Verzögerung deutet sich eine Veränderung innerhalb der Hütte an, weder bei Varx noch einem der anderen Anwesenden.« »Das kann nicht …«, setzte Cloud an. Dann zuckte er mit den Schultern. »Offenbar ist es aber passiert. Der Übergang von Normalität zur Katastrophe muss so schnell vonstattengegangen sein, dass die Sensoren für ein Erkennen und Festhalten zu träge waren.« »Es gibt allen Anlass, Varx als Verursacher zu betrachten. Die Substanzreste, die laut Sesha von den Bots gefunden wurden …«, sagte Scobee. »Die Substanzreste deuten auf eine tatsächliche Katastrophe hin«, sagte Jiim mit Grabesstimme. »So etwas kam noch nie vor, oder? Nicht bei uns an Bord zumindest. Als Varx das letzte Mal sich und einen anderen … Aylea … ›transportierte‹, war er in einem stabilen Zustand. Das ist der Unterschied, der vermutlich über Tod oder Leben entscheidet. Ich fürchte … ich fürchte, mein Junge ist …« Er brachte es nicht über die Zunge. Scobee legte den Arm ums eine Taille und drückte ihn. »Wir müssen positiv denken. Immerhin haben wir nur Reste von Varx gefunden – so schlimm auch das ist, denn Varx ist für mich ein gleichberechtigtes Crewmitglied. Aber wären die anderen umgekommen, sollten auch von ihnen … Spuren zu finden sein.« »Sesha?« »Negativ. Bis auf die DNA, die jedes Lebewesen dort hinterlässt, wo seine nackte Haut mit Gegenständen in Berührung kommt. Auf dem Tisch etwa, an den Stühlen. Aber alles im Rahmen des absolut Normalen.« »Vielleicht sind die Spuren, die die Bots von Varx fanden, auch nur solche … ›DNA‹-Abdrücke«, sagte Scobee. »Hast du das überprüft, Sesha?« »Überprüft – aber als These unhaltbar. Dann hätte der Sternling solche Spuren auch schon zu anderen Zeiten an anderen Orten hinterlassen müssen. Das ist nicht der Fall.«
»Schade«, murmelte Scobee. Cloud kam derweil ein anderer und absolut unschöner Gedanke. »Du warst bei Tecum, als er hier seine ›Probe‹ holte«, wandte er sich an Scobee. »Ist dir im Umgang des Ganf mit dem Sternling etwas aufgefallen?« »Wie meinst du das?« »Na ja, war er rücksichtsvoll. Zeigte er sich in irgendeiner Weise besorgt, oder …« Scobee schüttelte den Kopf. »Ich glaube, für ihn war es nur eine lästige Pflichterfüllung. Erinnere dich, was uns über die Sternlinge an sich eröffnet wurde. Emissionen. Das ist doch der Hammer, oder?« »Wir haben es bei den Ganf mit einer Lebensform zu tun, die offenbar in anderen Kategorien denkt als wir«, sagte Cloud. »Wenn die Sternlinge tatsächlich so entstehen, wie Tecum es schilderte …« »Selbst dann«, fiel ihm Scobee ins Wort, »sollten sie Achtung vor ihnen haben. Der Punkt ist, dass Varx Verstand und Persönlichkeit hat. Ich gehe davon aus, dass alle Sternlinge diese Eigenschaften entwickeln. Und dann kann man sie nicht wie ein Ding einstufen und behandeln!« »Ich bin ja deiner Meinung.« »Und warum hast du nach Tecums Verhalten gefragt, als er hier war?« »Weil«, sagte Cloud, »ich mich frage, ob er etwas mit dem Zwischenfall zu tun haben könnte. Ich will hier keine falschen Verdächtigungen streuen, aber gerade weil wir das Verhältnis der Ganf zu den Sternlingen als nicht ganz konfliktfrei kennengelernt haben, darf ich zumindest die Möglichkeit nicht ausschließen, dass Tecum unter dem Vorwand, eine Probe entnehmen zu wollen, etwas ganz anderes angestoßen hat.« »Du meinst, Tecum ist an der Katastrophe schuld?«, fragte Jiim mit mühsam unterdrückten Gefühlen. »Du meinst, er könnte den Sternling vorsätzlich beseitigt und dabei auch in Kauf genommen haben, dass mein Junge … und die anderen … umkommen?« Cloud seufzte. »Genau das wollte ich vermeiden. Eine Vorverur-
teilung. Jiim … sei vernünftig. Wir werden es klären. Ich werde es klären. Ich spreche unverzüglich mit Tecum.« »Warum sollte er es zugeben?« »Weil er ein Ganf ist.« »Und das heißt?« »Das heißt, dass ihm bewusst ist, dass wir ihm nicht an den Hals gehen können, selbst wenn er das getan hätte, was ich gerade als Möglichkeit in den Raum gestellt habe.« »Können wir nicht?« Jiim hob seine kleinen, mit den Schwingen verwachsenen Ärmchen und machte mit den Hände eindeutige Bewegungen. »Du wirst schon sehen, was ich kann und was nicht, Guma Tschonk! Wenn er dahintersteckt, drehe ich ihm die Gurgel um – und sei versichert, ich finde sie an seinem schleimigen Körper, ich finde sie!«
Die RUBIKON ankerte immer noch am höchsten Turm der Stadt der Riesen. Das Leben in den Straßenschluchten schien seinen Gang zu gehen, ohne dass die sich dort bewegenden Ganf die Anwesenheit des Rochenschiffs als Sensation zu empfinden schienen. »Seht sie euch an – die tun, als bekämen sie jeden Tag Besuch von so ausgesucht hübschen Raumschiffen wie unserem«, frotzelte Jarvis bei Clouds und Scobees Rückkehr in die Zentrale. »Hat sich Tecum schon zurückgemeldet?«, fragte Cloud, ohne auf den Scherz einzugehen. »Nein. Vermisst du ihn?« »Ja! Sesha?« »Commander?« »Auch wenn es nichts bringen sollte – versuchen will ich es auf jeden Fall: Strahl einen Dauerruf nach Tecum ab. Auf allen Frequenzen. Inhalt: BRAUCHEN HILFE IN DRINGENDER ANGELEGENHEIT! Bestätigen, Sesha.« »Bestätige. Ausführung eingeleitet. Spruch wird ab sofort abgestrahlt.« »Danke.« Scobee wandte sich Jarvis zu. »Es geht um die Vermiss-
ten. John schließt nicht aus, dass der Ganf die Hände im Spiel hat.« »Tecum?« Sie nickte. »Inwiefern?« Sie schilderte ihm, was Cloud fast schon bereute, zur Sprache gebracht zu haben. Tat er den Ganf, allen voran Tecum, Unrecht? Steckte etwas ganz anderes hinter Varx' Schicksal und dem der mit ihm Verschwundenen? »Boah. Starker Tobak.« Jarvis blickte fragend zu Cloud, als wolle er sich die Bestätigung holen, dass Scobee ihn auch wirklich richtig verstanden hatte. Widerwillig nickte Cloud. »Es ist ein Verdacht. Mehr nicht. Tecum soll dazu Stellung beziehen.« »Er wird nicht sehr amüsiert sein.« »Es geht auch nicht um gute Laune. Es geht um Algorian, Yael, Winoa, Aylea …« »Und Varx«, ergänzte Scobee. »Und Varx«, bekräftigte Cloud. »Wenn man vom Teufel spricht …« Jarvis zeigte hinter Cloud. »Varx?« Cloud wirbelte herum. »Nein, ich meine den da!« Tecum glitt auf den Kommandostand zu. Wie er gekommen war, erklärte er wie stets nicht. »Worum geht es? Ich habe eure Nachricht erhalten. Aber ich war ohnehin auf dem Weg hierher.« »Um uns das Resultat dessen mitzuteilen, was du mit der ›Probe‹ – du weißt, wovon ich spreche – angestellt hast?« »Nein. Um dich abzuholen. Du kannst bestimmen, wer dich noch begleitet. Maximal zwei Personen können sich dir anschließen, wenn du den Gewählten entgegentrittst.« »Den Gewählten?« »Halte dich nicht mit Begrifflichkeiten auf.« »Ich gehe nicht, bevor nicht mein Anliegen geklärt ist.« »Der Sternling hat keine Priorität.« »Für mich schon.« »Du hast keine Ahnung, wovon du redest.«
»Und du bist offenbar nicht auf dem aktuellen Stand.« Cloud berichtete dem Ganf, was passiert war. Auch danach wirkte Tecum nicht wirklich beeindruckt. »Wahrscheinlich betrachtet er es als Kollateralschaden, der hingenommen werden muss«, ätzte Jarvis, als keine Reaktion von Seiten des Ganf erfolgte. »Frei nach dem Motto: Wo gehobelt wird, da fallen Späne!« »Wir sind in großer Sorge«, wandte sich Cloud an Tecum. »Ich kann das Schiff nicht verlassen, bevor alles Menschenmögliche getan ist, um die Vermissten zu finden!« »Das Menschenmögliche habt ihr doch offenbar bereits getan – und seid gescheitert«, merkte Tecum süffisant an. »Und jetzt wollt ihr das Ganfmögliche in die Waagschale werfen.« »Du Eingebildeter …!« Jarvis drohte Tecum mit der Faust. Von Tecum löste sich etwas, das entfernt an die Schemen bei den Obelisken erinnerte. Es schwebte zu Jarvis und legte sich auf seinen drohend gereckten Arm. Es ging so schnell, dass Jarvis völlig überrascht wurde. Das gasähnliche Gebilde schien von Jarvis' Haut absorbiert zu werden. Im nächsten Moment versagte die HightechKosmetik an der Stelle des Körpers. Während der restliche Jarvis vermeintlich aus Fleisch und Blut blieb, offenbarte sich der Arm in seiner tatsächlichen Form – als die Gliedmaße eines Roboters. Jarvis starrte völlig perplex darauf, und im nächsten Moment verwandelte sich der Arm erneut. Es sah aus, als habe sich Jarvis eine Handpuppe darübergestülpt. Eine Puppe mit den Erscheinungsmerkmalen eines Ganf … »Aufhören! Sofort!«, mischte sich Cloud ein, als helle Panik den Freund erfasste. »Ich weiß nicht, wie du das machst, aber beende es!« »Du hast deine Leute nicht im Griff«, erwiderte Tecum ungerührt. »Meine Leute müssen auch nicht ›im Griff‹ gehalten werden. Unsere Effizienz basiert auf Freiheiten. Die werden jedem Mitglied der Besatzung zugestanden. Natürlich gibt es Regeln. Aber die hat er nach meinem Dafürhalten allenfalls geschrammt, nicht überschritten. Dein Verhalten hat ihn unnötig provoziert. Vielleicht solltest du
nicht nur andere, sondern auch dich selbst kritisch betrachten. Waren wir nicht auch behilflich, als es darum ging, den Ganf-Leichnam hierher zu überführen? Das bedeutete dir und euch doch offenbar ziemlich viel. Und wäre es als Reaktion nicht natürlicher, uns auch bei etwas uns Wichtigem uneingeschränkt zu unterstützen, anstatt hier Machtspiele zu betreiben, Einschüchterungsversuche?« Cloud baute sich vor Tecum auf. Tecum verharrte minutenlang schweigend, sodass Cloud sich fragte, ob der Ganf auf unbekannte Weise in einen Dialog mit anderen seines Volkes trat, sich mit ihnen besprach. Schließlich sagte Tecum: »Die Begegnung mit dem GREMIUM kann nicht verschoben werden. Aber ich verspreche, dass ich mich unmittelbar danach mit dir zurück auf dieses Schiff begebe und alles in meinen Kräften Stehende beitrage, um Licht ins Dunkel des Vorfalls zu bringen.« »Wir haben fünf Vermisste, die vielleicht gerade ums nackte Überleben kämpfen – für die es vielleicht auf die Minute ankommt, dass wir sie rechtzeitig finden. Und du redest von einem Treffen, das nicht verschoben werden kann?« Cloud schüttelte unnachgiebig den Kopf. »Es wird verschoben werden – wenn wir euch so wichtig sind, wie ihr tut. Und du hilfst uns gleich, sofort, mit allem, was in deinen Kräften steht! Es gibt keine Diskussion – ich komme erst mit, wenn du mir bewiesen hast, dass du a) wirklich alles versucht hast, um unsere Freunde aufzuspüren, ihren Verbleib zu klären und b) nicht selbst hinter ihrem Verschwinden steckst!« »Ich …?«, fragte Tecum. Fassungsloser hatte noch nie ein Ganf diese Frage gestellt.
»Ich bin stolz auf dich«, sagte Scobee leise. »Wirklich stolz, Commander.« »Was hattest du denn erwartet? Dass ich den Schwanz einziehe und mich mit Tecum trolle?« »Er hat die Macht. Wie sind nur Spielbälle.« »Hat sich was mit Spielbällen der Macht. Ich werde langsam sauer.
Und sauer hat der Kerl mich noch nicht erlebt!« »Ich auch eher selten. Steht dir aber gut.« Sie zwinkerte ihm zu. Nebeneinander traten sie durch das Schott nach Pseudokalser. Tecum kannte den Weg, er lief fünf Schritte voraus. Ob er sie hören konnte, schien Scobee egal zu sein. Wahrscheinlich wollte sie es sogar. Wenig später untersuchte der Ganf die verlassene Hütte. Cloud und Scobee warteten draußen, hielten dabei nach Jiim Ausschau, aber der Freund ließ sich nicht blicken. Und die holografischen Nargen, die den Schrund bevölkerten, zeigten auch keinerlei Interesse an ihnen. Schließlich kam Tecum heraus und bestätigte Seshas Untersuchungen. »Ich wollte bis zu unserer Rückkehr warten – weil das GREMIUM wichtiger ist als …« Er schenkte sich irgendeine herablassende Bezeichnung für Varx. Offenbar war ihm klar geworden, dass es nicht gut angekommen wäre. Nach kurzer Pause fuhr er fort: »Aber ich beuge mich deinem Wunsch, John Cloud. Du sollst sehen, dass wir keine Despoten sind, die nur das eigene Ziel verfolgen.« »Du hast jetzt mehrfach zum Ausdruck gebracht, was dir wichtiger wäre, wenn du zu bestimmen hättest«, sagte Cloud. »Aber das bringt uns nicht weiter. Ich bin sicher, du hast mehr als nur eine Ahnung, was passiert ist – und was für Folgen es für diejenigen hatte, die in der Hütte waren. Lass uns an deinem Wissen teilhaben!« »Wissen!« Tecum winkte ab. »Ich kann auch nur vermuten. In diesem Punkt zumindest. Was ich aber sicher weiß, sollt ihr erfahren. Nicht erst nach dem GREMIUM, sondern jetzt.« Cloud blickte ihn starr an. »Heißt das, du hast bereits das Resultat? Des Tests, dem du die Probe unterzogen hast?« Tecum wedelte mit den Händen. »Ja.« »Soll ich Jiim rufen?«, fragte Scobee. »Du weißt schon – wegen der Gurgel.« Cloud versuchte, sich nicht ablenken zu lassen. Er wollte wütend sein, und diese Wut auch gerne so lange in sich spüren, bis die verschwundenen Freunde wieder aufgetaucht waren. Am liebsten wäre
er Tecum selbst an die Gurgel gegangen. »Was hast du herausgefunden?«, fragte er bebend. Der Ganf schien die Spannung, die sich zwischen ihnen aufgebaut hatte, zu spüren. »Ich fand heraus, wer Varx einst emittiert hat. Dazu müsst ihr wissen, dass die Erbinformationen eines jeden Ganf, der jemals auf Portas das Licht der Welt erblickte oder hier weilte, in einer speziellen Gen-Bank gespeichert sind.« »Wozu?«, fragte Scobee. »In der Hauptsache, um Defekte an den originalen Ganfkörpern beheben zu können, die mit fortschreitender Lebensdauer zunehmend anfälliger für Krankheiten werden. Mit den gespeicherten Informationen können individuell zugeschnittene Therapien eingeleitet werden …« »Okay. Verstanden. Ansatzweise«, bremste ihn Cloud. »Und jetzt zu der Probe, die du Varx entnommen hast. Mit ihrer Hilfe konntest du feststellen, von welchem Ganf der Sternling abstammt?« »Genauso ist es. Und …« Tecum wand sich. »Und ich muss gestehen, dass das Ergebnis eine Überraschung war.« »Wieso Überraschung? Hast du nichts gefunden? Stammt sie von keinem euch bekannten Ganf?« »Im Gegenteil«, sagte Tecum. »Er stammt sogar von einem sehr prominenten Ganf.« »Was heißt in dem Fall ›prominent‹?«, fragte Scobee mit unverhohlenem Spott. »Das GREMIUM«, holte Tecum aus, »besteht seit Ganfgedenken aus dreizehn vom Volk gewählten Persönlichkeiten. Auch ich gehöre ihm an. Es kommt nicht oft zu einem Austausch der Räte. Es müssen schon schwerwiegende Gründe vorliegen, um eine Nachfolge herbeizuführen.« »Wenn ein Gremiums-Mitglied stirbt, nehme ich an«, sagte Cloud. »Genauso so ist es – und war es, als ich nachrückte«, sagte Tecum. »Und nun die Überraschung – für mich jedenfalls: Der Ganf, auf den Varx zurückgeht, war mein Vorgänger im Rat. Sein Name war Varol.« »Varol …«, sprach Cloud nach, was Tecum gesagt hatte. »Nie ge-
hört.« »Wie solltet ihr auch. Aber Varol war … ist einer der unvergesslichen Helden meines Volkes. Er gab sein Leben im Kampf gegen die Gefahr, die uns alle bedroht …« »… und über die wir noch immer im Unklaren gelassen werden«, fiel ihm Cloud ins Wort. »Nicht mehr lange«, behauptete Tecum. »Aber um zu Varx zurückzukommen: Dass sein ›Erzeuger‹ tot ist, erklärt wahrscheinlich das, was ihm widerfuhr. Diese … Schübe, die euch alarmiert haben und die ihr auch mir gezeigt habt. Ich schätze, es hat mit eurer Ankunft auf Portas zu tun. Die unmittelbare Nähe dessen, der ihn zeugte, führte zu Körperreaktionen bei dem Sternling, die er nicht kontrollieren kann.« »Hättest du das nicht gleich erkennen müssen?«, fragte Scobee. »Nein. Ein solcher Fall … ist noch nicht vorgekommen.« »Das ist Unsinn, oder? Wie hoch wäre die Wahrscheinlichkeit, dass ein Mensch, den ich kenne, plötzlich mit einer noch nie zuvor da gewesenen Krankheit zu kämpfen hätte? Eben, nahe null. Und bei Varx verhält es sich nicht anders. Dass ausgerechnet er ein Sternling sein soll, der so aus der Reihe tanzt …« »Er ist kein gewöhnlicher Sternling«, warf Tecum ein. »Und was soll das jetzt wieder heißen?«, fragte Scobee äußerst gereizt. »Was zauberst du als Nächstes aus dem Hut?« »Es ist die Wahrheit. Ich habe recherchiert. Varx ist höchstwahrscheinlich mit dem Sternling identisch, von dem man damals glaubte, er sei im Zuge der Ereignisse um Varols Tod ebenfalls umgekommen.« »Wann starb dieser Varol, der dein Vorgänger war?«, fragte Cloud. »In euren Jahren ausgedrückt?« »In unseren Jahren, ja, bitte.« Tecum schien kurz überlegen zu müssen. Dann sagte er: »Vor rund fünfzehntausend Jahren.« »So alt ist Varx schon?« »Sogar älter. Vor fünfzehntausend Jahren starb der Ganf, der ihn
einst emittierte.« »Befindet sich dieser Varol auch unter den Obelisken, die wir sahen?«, fragte Cloud. »Natürlich. Nach seinem Tod eilten alle Sternlinge, die von ihm abstammen und in Reichweite waren, herbei und formten seinen Zejna-Obelisken.« »Warum nicht Varx?« »Denk nach: Was könnte der Grund gewesen sein?« »Dass er nicht in Reichweite war?« »So ist es.« »Aber du sagtest, er sei dabei gewesen, als Varol starb – demnach müsste er nah genug gewesen sein, um –« »Wie so oft, ist die Wirklichkeit spannender als jede Fantasie«, fiel ihm Tecum ins Wort. »Ich bin bereit, euch alles zu erklären. Nach dem GREMIUM oder während wir dort sind.« »Aber du hattest versprochen, uns zu helfen!«, ereiferte sich Scobee. »Alles was wir jetzt wissen, ist, von wem Varx abstammt. Wichtiger wäre zu erfahren, wo er ist.« »Ich weiß es nicht. Anhand der Spurenlage ist kein Rückschluss möglich – und das ist die Wahrheit!« »Könnte er noch an Bord sein?«, fragte Cloud, bemüht, sich seine Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. »Er könnte.« »Und wo könnte er sonst sein?« »Praktisch überall. Und die, die ihr mit ihm vermisst, ebenso. Im ungünstigsten Fall, wurden sie ins angrenzende Weltall geschleudert, im günstigsten auf eine andere Angkwelt.« »Dort wären sie der Zeitstarre ausgesetzt.« »Vermutlich.« »Kannst du uns helfen, die RUBIKON nach ihnen zu durchkämmen?« »Ihr habt eigene Mittel, sie hier ausfindig zu machen, sollten sie noch da sein.« »Ich bezweifle, dass unsere Methoden so effizient sind wie deine.« »Ich modifiziere eure Systeme. Dann kann eure KI die Suche über-
nehmen, während wir uns vor das GREMIUM begeben. Ist das ein akzeptabler Kompromiss?« Cloud willigte ein. Scobee gab sich weiter rebellisch. »Begleitest du mich?«, fragte Cloud. Sie schüttelte mit zornfunkelnden Augen den Kopf. »Vorhin war ich wirklich stolz auf dich, John. Aber jetzt … jetzt lenkst du doch ein …« »Ich habe erreicht, was zu erreichen war.« »Glaubst du das wirklich?« Er nickte. »Begleitest du mich? Es wäre mir wichtig.« »Nein. Ich bleibe. Das hier ist für mich wichtig. Ich will unsere Leute finden. Nimm Jarvis mit. Der brennt darauf, mal wieder rauszukommen.« »Überleg's dir. Es wird sicher eine Weile dauern, bis Tecum die Bordsysteme den neuen Erfordernissen angepasst hat. Bis dahin hast du Zeit, dich doch noch zu entschließen. Ich darf zwei Personen mitnehmen. Du und Jarvis – das wäre perfekt.« »Was ist mit Assur? Du und Assur und Jarvis – das wäre doch noch perfekter.« Cloud schüttelte den Kopf. »Assur hat wirklich allen Grund, hier an Bord zu bleiben, um nach den Verschwundenen zu fahnden. Du weißt, dass Winoa mit vermisst wird. Du und ich und Jarvis, wir haben keine Angehörigen unter den Verschwundenen.« »Aber Freunde. Verdammt gute Freunde.« »Überleg's dir.« Sie schüttelte den Kopf. »Du kannst schon mal ohne mich planen.« Sie drehte sich um und ging Richtung Baumdorf – offenbar wollte sie Jiim aufsuchen. Cloud ließ sie ziehen. Tief im Herzen wäre er lieber mit ihr gegangen, als die Nargen-Enklave zusammen mit Tecum zu verlassen.
8. Eine Schockwelle hatte sie niedergemäht. Alle vier. Algorian hatte den Titanenhieb am schnellsten wieder verdaut. Er öffnete die Augen. Der Ort, an dem er zu sich kam, war hell. Und metallisch. Die ferne Decke schimmerte ebenso bläulich stählern wie die Rechtecksäulen, die sich bis dorthin spannten, und der Boden, auf dem sie standen. Jede Säule maß von ihrer Grundfläche etwa einen auf zwei Meter. Bis zur Decke waren es ungefähr vier Meter. Der Aorii richtete sich ungelenk auf. Nur zögerlich kehrte die Erinnerung zurück. Er hatte versucht, erneut in Varx hineinzulauschen. Dabei war es ihm mit einem Mal vorgekommen, als wären seine telepathischen Fühler skalpellscharfe Klingen, die die Haut des Sternlings so verletzten, wie sie schon einmal verletzt worden war – von einem Moment zum anderen platzte die Haut des versteinert dastehenden Sternlings auf. Nicht nur an einer oder einigen wenigen Stellen, nein, Algorian war es in seiner Halbtrance so vorgekommen, als wäre Varx innerhalb eines Sekundenbruchteils komplett enthäutet worden. Entsprechend heftig waren die Folgen gewesen. Alles, was bis dahin von dem Sternling verwaltet worden war, seine sämtlichen Innereien, waren nach allen Seiten gespritzt und hatten das getroffen, was sich innerhalb der Hütte befand. Diesen Eindruck hatte Algorian mit in seine Ohnmacht genommen. Und nun, da er wieder erwachte und sich erhob, fragte er sich, wo die Hütte, wo Pseudokalser geblieben war. Ein Stöhnen in unmittelbarer Nähe ließ ihn aufmerksam werden. Er umrundete eine der Rechtecksäulen und sah Aylea am Boden sitzen. Sie wimmerte leise und hielt sich mit beiden Händen den Kopf. Offenbar hatte sie Algorians Schritte auf dem Metallboden gehört,
denn sie schaute auf und schien ihm die Schuld an ihrem Zustand zu geben – zumindest sprach ihr Gesicht diesbezüglich Bände. »Wo sind wir? Hey, das ist nicht mehr Kalser, oder? Hier ist gar nichts so, dass ich das Gefühl habe, es schon mal gesehen zu haben … Algorian! Was ist passiert? Wo ist Varx? Wo sind Winoa und Yael?« »Ich weiß es nicht. Ich bin selbst gerade erst zu mir gekommen. Wie geht es dir? Bist du verletzt?« »Verletzt?« Offenbar horchte sie erst jetzt richtig in sich hinein. »Nein. Nein, ich glaube nicht.« Sie holte tief Luft und rief: »Yael! Winoa! Varx! Wenn ihr mich hört …« »… hört … hör … hö …«, echote es von den Wänden der Säulen. »Wie unheimlich«, flüsterte Aylea erschrocken. Von irgendwo kamen andere Rufe, ebenfalls echobegleitet. »Hier bin ich, hier …« Winoa. »Ich … auch.« Yael. Nur von Varx kam keine Antwort. »Offenbar ist er immer noch in seiner Starre«, sagte Aylea. »Aber wo? Wo liegt Pseudokalser in Bezug auf das hier …« Sie zeigte um sich. Dann erhellte sich ihr Gesicht, und sie bog den Kopf in den Nacken, sah zur Decke hoch. »Sesha? Melde dich, Sesha! Wir brauchen –« »Ich glaube nicht, dass sie uns hört, oder dass es Sinn macht, sie hier zu vermuten«, sagte Algorian. »Was willst du damit sagen?« »Dass der Ort fremd ist. Sehr fremd. Ich kann die Gedanken von dir, Winoa und Yael espern. Aber darüber hinaus ist nichts. Auch nicht, wenn ich mich stark konzentriere.« »Aber Varx …« »Ich spüre auch Varx nicht mehr.« »Was soll das heißen?« Sie schüttelte erst langsam, dann immer heftiger den Kopf. »Nein!«, keuchte sie. »Nein! Nicht schon wieder! Er kann mich nicht schon wieder sonst wohin katapultiert haben
…!« »Uns«, sagte Algorian. Sie beruhigte sich. »Meinetwegen. Uns. Aber das letzte Mal … war er bei mir, als ich zu mir kam. Auf Arrankor. Was ist passiert? Weißt du, was passiert ist?« »Ich habe nur gemerkt, dass es passierte. Aber was genau … Varx schien wieder über die Grenzen seines Körpers hinauszutreten. Das, was in ihm war, schoss uns entgegen, berührte uns … und dann verloren wir offenbar ausnahmslos das Bewusstsein.« »Er muss uns räumlich versetzt haben!« Es war nicht Aylea, die das sagte, sondern Winoa, die um die Ecke einer Säule bog. Ihr Gesicht war grau wie Asche. Sie wirkte um Jahre gealtert. »Sehe ich auch so aus?«, fragte Aylea erschrocken – und erschreckte damit Winoa. »Wieso?«, fragte das Angkmädchen. »Wie sehe ich denn aus?« »Müde. Erschöpft. Mitgenommen«, sagte Algorian. Er winkte sie näher. »Sieh dir Aylea an – dann weißt du, was ich meine. Oder mich. Ich glaube nicht, dass es mich nicht mitgenommen hat …« Als Letzter stieß Yael zu ihnen. Auch er wirkte verändert. Gealtert. Möglicherweise aber auch nur ebenso erschöpft, wie Algorian es von sich und den anderen hoffte. Sie konnten nicht in so kurzer Zeit so erkennbar älter geworden sein. Unsinn. Er merkte, wie er zitterte. »Algorian. Was ist? Hast du Schüttelfrost?« Der Aorii konzentrierte sich und versuchte, das Zittern abzustellen. Es überlief ihn abwechselnd heiß und kalt. Wie bei einer sich ankündigenden Erkältung oder einem anderen Infekt. »Wie fühlt ihr euch?«, fragte er zähneklappernd. »Beschissen«, sagte Aylea. »Ich will wissen, wo ich bin! Und ich will wissen, was mit Varx ist. Er kann uns doch nicht einfach ins Blaue schicken und sich selbst nicht blicken lassen …« »Wir sollten noch auf Portas sein«, sagte Yael. »Falls jemand das
als gute Nachricht verbuchen will.« »Woher willst du das wissen?«, fragte Winoa. »Über das Angksystem hinaus wird uns Varx kaum versetzt haben – falls unsere Annahme überhaupt stimmt, dass wir versetzt wurden. Und wären wir auf einem der anderen Planeten herausgekommen, könnte vielleicht Aylea sich noch bewegen, aber wir anderen wohl kaum. Wir bringen nicht ihre Voraussetzungen mit. Wir haben nie auf von Zeitanomalien verseuchtem Gelände gelebt, wurden folglich nie ›immunisiert‹ wie sie.« »Da ist was dran«, sagte Aylea. »Aber wo auf Portas könnten wir sein? Oder ist es auch möglich, dass wir immer noch auf der RUBIKON sind – nur eben an einer Stelle, in die Sesha keinen Einblick hat?«, fragte Algorian. »Offenbar bleibt uns nichts anderes übrig, als einen Ausgang zu suchen. Einen normalen Ausgang. Den wird es hoffentlich geben«, sagte Winoa. »Bei den kobaltblauen Türmen – meine Mutter wird mir den Hals umdrehen, dass ich ihr schon wieder solche Sorgen mache!« »Du kannst ja nichts dafür«, versuchte Yael, sie zu trösten. »Ach nein? Ich glaube langsam doch! Es ist, als würde einem das Pech an den Händen kleben. Alles, was man anfangt …« »Hey! Für Selbstmitleid ist später auch noch Zeit. Reißen wir uns am Riemen. Alle!« Aylea hatte die Fäuste in die Hüften gestemmt und sah die Freunde herausfordernd an. »Immerhin haben wir zwei Sonderbegabte bei uns, das sind Trümpfe, die wir nur richtig ausspielen müssen. Also – kein Grund zu übertriebener Sorge.« »Sonderbegabte?«, fragte Yael. »Sie meint dich – und mich«, erläuterte ihm Algorian. »Mich?« »Du hast es mehrfach bewiesen. In dir schlummern Kräfte, die meine Telepathiefähigkeit bei weitem übertreffen. Denk an Charly. Was ist eigentlich mit ihm? Wenn du ihn entstehen und als Kundschafter aussenden könntest …« »Charly ist passé. Ich beschäftigte mich nicht mehr mit ihm.« »Warum nicht?«
»Die Ganf haben ihn ihm verleidet«, erklärte Winoa für ihn. »Irgendetwas wurde an ihm manipuliert. Er entglitt Yael völlig. Und seither boykottiert er seine Fähigkeit, ihn zu erzeugen.« »Das ist doch völlig unlogisch. In der jetzigen Situation wäre er von unschätzbarem Nutzen.« Yael verkrampfte sich wie unter Schmerzen. »Respektiert meine Entscheidung. Ihr habt ja keine Ahnung, wie es ist … oder war … Lasst mich. Ich befürworte, dass wir nach dem Ausgang aus diesem Raum suchen. Kann ja nicht so schwer sein. Vielleicht sucht man uns auch längst. Oder wir finden Spuren von Varx …« »Wenn Varx hier wäre, würde ich es merken«, beharrte Algorian auf seiner Aussage von zuvor. »Ja, ja. Wir werden sehen.« Yael setzte sich missmutig in Bewegung. »Zu wenig Freiraum zwischen den Säulen, zu geringe Deckenhöhe, um zu fliegen«, murrte er. Die Freunde folgten ihm. »Wir haben nicht einmal einen Anhaltspunkt für die Richtung, in die wir uns bewegen müssen«, wagte Aylea einzuwerfen. »Wir gehen einfach alle in dieselbe Richtung. Wenn wir auf eine Wand stoßen, werden wir über kurz oder lang auch eine Tür finden«, behauptete Yael. »Tolle Strategie«, unkte Aylea. »Du kannst ja hier bleiben und warten, bis wir dich abholen.« »Bis dahin bin ich wahrscheinlich wirklich alt.« Sie sahen einander an, und plötzlich mussten sie lachen. Alle. Ohne Ausnahme. Nach diesem befreienden Akt stiegen Stimmung und Zuversicht merklich. »Los jetzt, gehen wir. Wer den Raum als Letzter verlässt, macht das Licht aus!«
Bald darauf erreichten sie tatsächlich ein Ende des Raumes. Abseits der Säulenreihen blieben sie zunächst stehen und blickten den Weg zurück, den sie gekommen waren.
»Wie viele Säulen mögen das sein? Wie groß mag dieser Ort überhaupt sein?« Winoa schauderte. »Ich bin auf den Angkwelten groß geworden – aber wer nun denkt, das sei ein Vorteil, solange wir uns innerhalb des Systems bewegen – wo auch immer –, der täuscht sich gewaltig. Mir ist das hier wahrscheinlich noch viel unheimlicher als euch …« Yael spürte die Beklemmung, die seine Freundin gepackt hatte. Vorsichtig schlang er einen seiner Flügel um sie. Sie sah dankbar und verliebt zu ihm auf. Algorian räusperte sich. »Ich bin beunruhigt von der absoluten Stille abseits eurer Köpfe«, sagte er. »Ich hoffe, ihr versteht, was ich damit meine. Meine telepathischen Kräfte finden nur noch bei euch Resonanz. Überall sonst in diesem Raum ist Stille. Und nach draußen vermögen meine Fühler auch nicht zu dringen. Es ist, als … als …« »Als was?«, fragte Aylea angespannt. »Als gäbe es jenseits dieser Wände nichts mehr.« »Das klingt in der Tat beunruhigend«, seufzte Yael. »Aber es kann simple Erklärungen dafür geben.« »Welche?«, fragte Aylea. »Nenn ein Beispiel.« Er fauchte ärgerlich, was so viel heißen mochte wie: Treib mich nicht in die Enge! Wir müssen zusammenhalten! »Hört auf zu streiten«, sagte Algorian. »Ich … ich habe mich getäuscht. Eben war mir ganz komisch. So … als wären wir doch nicht ganz allein in dieser Halle …« »Was hast du aufgefangen? Gedanken?«, fragte Aylea in noch besorgterem Ton als zuvor. »Keine ausformulierten Gedanken. Mehr ein … Rauschen. Ein Rauschen von Leben …« »Ein Rauschen von Leben.« Yael verzog das Gesicht. »Wie ist das denn gemeint?« »Nun …« Algorian ließ sich nicht beirren. »Es erinnert mich an das, was Tiere oder Pflanzen für mich ausstrahlen. Was ich von Leben empfange, das nicht nach unseren Maßstäben als intelligent bezeichnet werden kann.«
»Dann sind hier irgendwo Tiere? Wilde vielleicht sogar, die uns gefährlich werden können?« Aylea sah sich nach allen Seiten um. »Unsinn!«, keuchte Yael. »Hier ist alles so unglaublich steril. Da lebt nichts. Außer uns! Wir sind die einzigen Ausnahmen in diesem … was weiß ich, was es ist!« »Eben! Wir wissen es nicht, und deshalb müssen wir vorsichtig sein.« Winoa löste sich langsam aus Yaels Umarmung. Sie ging zu der nächstgelegenen Säule. Yael versuchte, sie zurückzurufen. »Hey! Warte! Wir wollten nach einem Ausgang suchen!« »Fangt ihr schon mal an«, sagte Winoa, ohne sich umzudrehen. »Wir haben uns noch gar nicht richtig angesehen, was diesen Raum ausmacht. Diese Säulen. Ich dachte zuerst, es seien nur Stützpfeiler. Aber es sind so viele, und … na ja, der Raum scheint nur für die Pfeiler da zu sein. Normal wäre es doch, dass die Pfeiler für einen Raum da sind, verhindern, dass die Decke einstürzt. Hier sind die Pfeiler der einzige Inhalt … Das kann kein Zufall sein. Das …« Ihre Stimme verebbte. Yael tauschte Blicke mit Aylea und Algorian, dann eilte er Winoa hinterher.
Winoa folgte dem, worauf sie sich im Verlaufe ihres Lebens schon häufig hatte verlassen können – ihrer Intuition. Und ihre Eingebung sagte ihr in diesem Moment, dass einzig und allein die Säulen der Grund waren, warum es diese weite Halle überhaupt gab. Eingebung … Ihr Vater hätte sie ausgelacht. Rotak war ein nüchterner Pragmatiker. Ihre Mutter hingegen … Plötzlich und überfallartig überkam Winoa Heimweh, als ihr bewusst wurde, dass die Möglichkeit bestand, Assur – und auch Rotak – nie mehr wiederzusehen. In ihrem Hals bildete sich ein Kloß. Genau in dem Moment, als Yael bei ihr ankam. »Wi …« Sie drehte sich zu ihm um, und ihre Augen schwammen in Tränen.
»Hey!« Er bezog es sofort auf sich und sein Verhalten von eben. »Ich wollte dich nicht so anfahren. Du hast ja recht, wir können nicht vorsichtig genug sein, und wenn Algorian etwas espert, ist zumindest Vorsicht –« Weiter ließ sie ihn nicht kommen. »Ist schon gut, ist ja schon gut. Darum geht es gar nicht. Ich hab mich doch auch wie ne Zicke benommen.« Sie blickte zu Boden. »Hab nur gerade an Mum gedacht. Sie wird verrückt vor Sorge. Wieder mal. Was tue ich ihr bloß immer an?« »Sie ist auch nicht ohne, oder?«, sagte er vorsichtig und spielte damit auf Assurs Abenteuerlust und Risikofreude an. »Das hast du bestimmt von ihr geerbt.« Er lächelte scheu. Sie schlang spontan die Hände um seinen Nacken, zog ihn zu sich heran und küsste ihn. Er errötete. »Wofür war das denn?« »Dafür, dass du da bist.« »Dann könnten wir ja direkt weitermachen. Ich bin … immer noch da …« Sie lächelte, und er auch. Dann löste sie ihre Hände von ihm und wandte sich dem Pfeiler zu. »Darf ich dir helfen?« Wie verhalten er sein konnte, wenn er verlegen war. Winoa wusste, dass sie sich spätestens in diesem Moment in den Nargen verliebt hätte, wenn es nicht schon längst passiert wäre. »Aber ja. Gern.« Sie blickte über die Schulter zu Aylea, die bei Algorian geblieben war. Beide schienen bereits die Wand in Augenschein zu nehmen, offenbar auf der Suche nach einer nicht auf den ersten Blick erkennbaren Tür. »Ich nehme mir diese Seite vor, du die gegenüberliegende«, schlug Winoa vor. Yael begab sich sofort auf die andere Seite der Rechtecksäule, die sie sich ausgesucht hatten. Winoa lächelte. Trotz der fehlenden Orientierung und einer Kluft, die sie von ihren Eltern trennte, war sie einigermaßen guter Dinge, auch diese Herausforderung bewältigen zu können. Immerhin war sie nicht allein. Zu viert bildeten sie eine schlagkräftige Gruppe, wo-
bei sie sich fragte, was aus Varx geworden war. Stand er immer noch starr in der Blockhütte, während etwas – wahrscheinlich sogar er mit seinen Kräften – sie räumlich versetzt hatte? Ihr wäre lieber gewesen, wenn Varx auch zu ihnen gefunden hätte. Mit ihm hätten sie gleichzeitig eine »Reisemethode« gehabt, die ihnen momentan fehlte. »Meine Seite leuchtet«, hörte sie Yael rufen. »Deine auch?« Sie blickte genauer hin. Ein Leuchten sah sie nicht. Das Material, bei dem sich nicht sicher sagen ließ, ob es Metall oder Stein war, glänzte, schimmerte … wahrscheinlich meinte er das. Nach einer Weile fiel ihr auf, dass er nichts mehr sagte. Sie selbst hatte auch nichts mehr geäußert, aber bei Yael war es eher ungewöhnlich. »Yael?« Keine Antwort. Sie erschrak. So schnell sie konnte trat sie um die Säule herum und erreichte die andere Seite. Vor Erleichterung musste sie erst einmal tief durchatmen. Da stand er. Sie hatte schon befürchtet, er wäre verschwunden. Für die Veränderung des Pfeilers hatte sie erst den zweiten Blick übrig. Sofort verstand sie, was Yael mit »Leuchten« gemeint hatte. Und auch, warum er keine Antwort auf ihr Rufen gegeben hatte. Er war völlig gebannt von dem, was er sah. Die Seite der Rechtecksäule, die von dort, wo Winoa gestanden hatte und wo sich auch Algorian und Aylea befanden, nicht eingesehen werden konnte, hatte ihren Metal-/Steincharakter verloren. Sie sah plötzlich aus wie aus klarem Glas gemacht. Eine Scheibe, durch die man mühelos ins Innere der Säule blicken konnte, und die war wie in Schubladen unterteilt, in Fächer, die übereinandergestapelt jedes eine Höhe von etwa einem Meter hatten, am Boden begannen und bis zur Decke reichten. »Wie hast du das gemacht?«, hauchte Winoa. Sie hörte, wie die anderen aufmerksam wurden und sich ebenfalls näherten.
»Habt ihr etwas entdeckt?« Das war Aylea. »Ja! Schnell! Scheint interessant zu sein …« Algorian. Schon drängten sie sich hinter ihren Freunden. »Was … ist das?«, murmelte Aylea. »Hat jemand eine Idee?« »Es ist stärker geworden«, sagte Algorian. »Was?« »Das … Rauschen …« »Kann es von da kommen?« Winoa zeigte auf die Säule, die verschiedenen Fächer. »Absolut. Nicht nur von da«, sagte Algorian, »aber von da empfange ich es am stärksten.« »Wurde es stärker, als die Säule transparent wurde?«, fragte Yael, der sich wieder gefangen hatte. »Ich vermute es.« Er nickte. Winoa fröstelte. »Was ist das da drin?« Sie zeigte auf die einzelnen Fächer, die ausnahmslos gefüllt waren mit etwas, das Assoziationen zu Föten, Embryonen, ungeborenem, noch nicht sehr weit entwickeltem Leben weckte. Jedes winzige Wesen lag in einer Art Flüssigkeit. Keines bewegte sich. Die Flüssigkeit mochte ebenso gut etwas völlig Hartes sein, in die die kleinen Gestalten wie in Bernstein einzementiert waren. Algorian trat vor. Er legte die Hände gegen das Glas, als könnte er auf diese Weise leichter einen Kontakt herstellen. Plötzlich begann eine der winzigen Formen sich zu bewegen, zu zappeln. Nicht einzementiert, dachte Winoa. Es schwimmt in irgendetwas. Algorian war in einem ersten Impuls zurückgezuckt. »Es lebt«, flüsterte er. »Das sehen wir auch«, sagte Aylea und überspielte ihr eigenes Erschrecken mit Forschheit. »Ob ich das war?«, murmelte Algorian, als hätte er ihre Bemerkung gar nicht gehört. Winoa schüttelte zweifelnd den Kopf. »Ich tippe eher …« Sie blickte zu Yael. »… auf ihn.«
»Ich?« Ihr Freund sah sie verwirrt an. »Wieso ich?« »Du hast doch die Säule verändert – wie?« »Ich stand nur da und habe …« »Ja?« »Habe mich einfach nur gefragt, was sich wohl in dem Pfeiler befindet – falls überhaupt etwas darin ist.« »Und dann wurde es transparent?«, fragte Aylea misstrauisch. »Dann wurde es so, wie es jetzt ist.« »Du hast nichts berührt?« Winoa musterte ihn ernst. »Gar nichts.« Sie glaubte ihm. Die anderen offenbar auch. »Dann lasst es uns auch mal versuchen«, schlug Algorian vor. »Wie meinst du das?«, fragte Yael. Algorian war schon auf dem Weg zur Nachbarsäule. Er stellte sich davor. Seine Freunde begriffen. Aber ebenso wie er, warteten sie vergeblich darauf, dass sich an der Säule etwas veränderte. »Vielleicht die falsche der beiden Längsseiten«, sagte Winoa. Algorian versuchte es auf der gegenüberliegenden Seite. Wieder ohne Erfolg. Aylea und Winoa stellten sich zu beiden Seiten derselben Säule und stellten sich auch vor, unbedingt wissen zu wollen, was sich darin befand. Der Pfeiler blieb unverändert. »Vielleicht ist der hier«, sagte Yael, der vor der transparenten Säule verharrte, »einfach eine Ausnahme. Ich glaube ohnehin nicht, dass es etwas mit mir zu tun hat. Das Material wäre vermutlich auch ohne mein Wünschen durchsichtig geworden.« »Träum weiter«, stichelte Aylea. »Was soll das heißen?« »Das soll heißen, dass du jetzt sofort zu uns kommst und es hier noch mal probierst!« »Ernsthaft?« »Ernsthaft«, ermunterte ihn noch auch Winoa. »Dann wissen wir wenigstens Bescheid, ob du es hingekriegt hast oder ob es ohnehin
geschehen wäre.« Yael zögerte. Doch dann kam er zu ihnen. Er stellte sich auf Winoas Seite. Es dauerte nur Sekunden. Sekunden, in denen die Freunde abwechselnd ihn und den Pfeiler anstarrten. Der zu leuchten anfing und zu Glas wurde …
»Es ist wieder stärker geworden«, brach Algorian das Schweigen. »Das Rauschen?«, fragte Yael, um sich nicht mit dem beschäftigen zu müssen, was gerade zum zweiten Mal passiert war. »Jetzt kannst du dich nicht mehr rausreden«, sagte Aylea, während Algorian antwortete: »Ja, das Rauschen auf mentaler Ebene.« Winoa warf derweil einen Blick zur ersten Säule – und musste schlucken. »Seht!« Sie zeigte dorthin, wo es plötzlich in jedem der sichtbaren Fächer nur so wimmelte von zuckenden fötenartigen Körpern. »Die hier«, prophezeite Aylea, »werden auch gleich aus ihrer Starre erwachen. Wetten?« Niemand widersprach. »Wir scheinen uns an einem Ort zu befinden, in dem ungeborenes Leben aufbewahrt wird«, sagte Algorian. »Aber nicht die Föten von Ganf oder einer einzelnen anderen Spezies – das hier sind in jedem Fach völlig verschiedene Kreaturen. Keine ähnelt der anderen!« »Aber alle denken? Schon in diesem Stadium?«, fragte Yael betroffen. »Ich habe schon gesagt: Es ist kein richtiges Denken. Es sind Muster. Wie bei Tieren oder Pflanzen. Aber bei Neugeborenen meiner Spezies oder eurer verhält es sich ähnlich. Das Gehirn muss sich erst komplett ausbilden. Nach der Geburt werden Geschöpfe den Reizen ausgesetzt, die das Bewusstsein und das Denken entstehen lassen.« »Das heißt im Umkehrschluss: Das hier könnten alles potenziell intelligente Lebewesen sein?«, fragte Aylea. Algorian bestätigte es. »Und ich … habe sie geweckt?« Yael hatte sichtlich damit zu
kämpfen, was er losgetreten hatte. »Du brauchst dir keine Vorwürfe zu machen …«, setzte Winoa an, ihn zu trösten. »Nein? Wer dann? Wer weiß, was jetzt aus ihnen wird. Offenbar ruhen sie hier schon seit langer Zeit. Wäre ich nicht gekommen und hätte sie … aufgeweckt, hätten sie vermutlich gar nicht daran gedacht, ihren Schlaf zu beenden! Und niemand ist da, der weiß, wie man sich um sie kümmert, nachdem sie ihre Starre abgelegt haben …« Seine Freunde verstanden seine Selbstvorwürfe. »Wir sind auch nicht unschuldig«, sagte Winoa. »Ich zumindest. Hätte ich nicht mit den Säulen angefangen …« »Und ich nicht gleich die nächste ausprobieren wollen«, mischte sich Algorian ein, »wären zumindest die Wesen da drin nicht erweckt worden.« Er zeigte auf die zweite Säule, in der sich, wie erwartet – oder befürchtet – weiteres Leben zu regen begann. »Das ist nicht die RUBIKON«, sagte Aylea. »So viel ist jetzt sicher. Sesha hätte uns einen solchen Ort niemals so lange vorenthalten.« »Dann sind wir entweder auf Portas«, sagte Winoa mit müder Stimme, »oder ganz woanders. Vielleicht nicht einmal mehr im Angksystem. Was wissen wir schon, wie weit ein Sternling seine ›Passagiere‹ transportieren kann?« Die Mutlosigkeit, die ihre Worte auf die Gesichter der anderen zauberte, machte ihr erst selbst bewusst, wie enorm sich ihre Lage damit verschlechterte. Und wie wenig Hoffnung ihnen auf ein persönliches Happy End blieb.
9. »Wohin genau bringst du uns?«, wandte sich Cloud an den Ganf, der sich mit ihnen – Cloud und Jarvis – auf das flirrende Transmitterfeld zu bewegte, das sich im Rahmen des Türschotts spannte. Tecum hatte erklärt, die Justierung des Abstrahlfeldes abgeschlossen zu haben. Mit einem einzigen Schritt sollten sie ins Innere jenes Turms gelangen, in dem das ominöse »GREMIUM« auf sie wartete. Jarvis hatte das Angebot, Cloud »in diplomatischer Mission« zu begleiten, ohne das geringste Zögern angenommen. Anders als erwartet, war Scobee bei ihrem Nein geblieben, worauf Cloud sich entschieden hatte, den Weg nur mit Jarvis als Verstärkung anzutreten. Wäre Algorian verfügbar gewesen, hätte er wahrscheinlich auch auf ihn zurückgegriffen – es war immer gut, einen Telepathen an seiner Seite zu haben, auch wenn die Ganf scheinbar gegen Esperversuche gefeit waren. »Das weißt du doch«, erwiderte Tecum. »Vor das GREMIUM.« »Direkt und ohne Umweg?« »Direkt und ohne Umweg.« »Wie genau wird unsere Begegnung mit deinen Leuten ablaufen?« »Das Procedere?« Cloud nickte. »Zwanglos«, erwiderte Tecum. »Es gibt nur eine Kleinigkeit zu beachten. Aber die erkläre ich euch auf der anderen Seite des Transmitters.« »Warum nicht hier?« »Weil sie hier nicht demonstriert werden … sollte.« »Du machst mich neugierig.« »Es ist nur eine Formsache.« »Ich werde immer neugieriger.« »Dann kommt.« Tecum ging mit gutem Beispiel voraus. Er trat in das Energiefeld, das seinen Körper förmlich einsog.
Cloud und Jarvis tauschten Blicke, bevor sie folgten. »Sollen wir wirklich?«, fragte Jarvis ungewohnt zurückhaltend. »Seit wann so vorsichtig?« »Ich komme mir bei den Ganf immer so … klein vor. Winzig. Geradezu.« »Wahrscheinlich sind das immer noch Nebenwirkungen aus der Zeit, als du den Leichnam in dir hattest, der dich vergiftete. Fühlst du dich körperlich vollständig davon genesen?« »Schon …« »Dann komm, lassen wir ihn nicht unnötig warten.« Cloud blickte hinter sich, wo ein seltenes Bild zu sehen war: Auf keinem der sieben Kommandositze hatte jemand Platz genommen. Assur und Scobee waren ebenso wie Jiim noch in der Nargen-Enklave, Jelto im Cy Memorial und Algorian wurde weiterhin vermisst. Da Sesha über allem wachte und jederzeit Kontakt zu Scobee oder einem anderen aufnehmen konnte, ganz gleich, wo auf der RUBIKON sie sich aufhielten, war es zwar nicht dringend notwendig, den Kommandostand besetzt zu halten – aber ein psychologisches Moment war es allemal. Seufzend wandte Cloud den Blick ab und trat durch das Türfeld. Er setzte den Fuß bereits in der Gegenstation auf. Hinter ihm folgte Jarvis, Tecum wartete offenbar schon mit leichter Ungeduld. »Gab es Probleme?« Jarvis grinste: »Vielleicht haben wir eine etwas lahmere Transmitterverbindung erwischt. Kann vorkommen.« Tecum schien es für bare Münze zu nehmen. »Ich werde es unverzüglich reparieren lassen.« Nicht nötig, wollte Cloud ihm reinen Wein einschenken. Aber da wieselte von irgendwoher schon Gestalten herbei, die entfernt an die Spinnenbots der RUBIKON erinnerten. »Die Quifax werden sich kümmern«, sagte Tecum. Cloud war sofort fasziniert von den Arachniden. »Quifax«, murmelte er. »Ich dachte, hier gäbe es nur Ganf …« Tecum ging nicht weiter darauf ein. Er streckte beide Ärmchen aus
und hielt sowohl Jarvis als auch Cloud jeweils einen Metallreif entgegen. »Was sollen wir damit? Werden wir angekettet?«, fragte Jarvis. »Was ist das?«, gab sich Cloud moderater. »Ihr begegnet jetzt Ganf in ihrer ureigenen Form.« »Und das heißt? Nackt?« Jarvis verzog demonstrativ das Gesicht. »Ob ich das ertrage …« »Würdet ihr Größe ertragen?«, fragte Tecum. »Wahre Größe?« »Will der uns jetzt mit inneren Werten und all so 'nem Kram kommen?« Jarvis machte keine Anstalten, den für ihn bestimmten Reif zu ergreifen. »Was meinst du mit wahrer Größe? Das hier …«, sagte Cloud und zeigte um sich, »ist bereits so gigantisch … Ich habe mir den Turm groß vorgestellt, weil ich die Maße rein vom Papier her kenne – aber hier drin zu stehen, unter einer Decke, die … wie weit über uns ist? … nun, das übertrifft die Theorie doch um einiges!« »Darum geht es«, erklärte Tecum. »Ihr seid jetzt auf Portas angekommen. Bislang habe ich euch über meine wahre Größe getäuscht. Aber ich demonstriere sie euch jetzt – damit ihr versteht, was die Technik, die ich euch leihe, bewirken wird. Zu eurem eigenen Besten.« Er beugte sich vor und legte beide Metallreife vor Cloud und Jarvis ab. »Bleibt bitte, wo ihr seid.« Er selbst entfernte sich ein gutes Stück weit von ihnen. Cloud und Jarvis verharrten im Schatten eines Transmitterbogens, dem ebenfalls nur das Prädikat gigantisch gerecht wurde. »Was hat er vor?«, fragte Jarvis. »Wir sehen es bestimmt gleich.« Aber was dann geschah, überraschte auch Cloud. Tecum wuchs wie im Zeitraffer vor ihnen empor, bis er eine Größe erreicht hatte, die der Umgebung angepasst schien, Cloud und Jarvis aber zu Zwergen degradierte. »Versteht ihr jetzt?«, dröhnte Tecums Stimme zu ihnen herab. »Das, was ihr jetzt seht, ist die naturgegebene Größe eines Ganf. So wie ich jetzt dastehe, empfängt euch das komplette GREMIUM.
Wollt ihr euch das antun? Wollt ihr euch uns physisch dermaßen unterlegen fühlen – oder mir vertrauen und den Größenunterschied für die Dauer eures Besuchs egalisieren?« »Wie sollte das gehen?«, fragte Cloud. »Wie hast du das überhaupt gemacht? Mit so einem Reif?« »Wir benötigen dafür keine Technik. Es ist eine Fähigkeit, die uns in die Wiege gelegt wurde. Wir können uns bei Bedarf verkleinern, auf die Niederungen der meisten Spezies hinab begeben. Aber hier … auf Portas, wo wir zuhause sind … wird sich das GREMIUM niemals anders präsentieren, als die Natur es geschaffen hat.« Cloud versuchte, das Gehörte zu verarbeiten. »Und die Reife?«, rief er dem Tecum hoch über sich zu. »Sie sind technische Hilfen – für euch. Nehmt sie auf, und sie erklären sich in ihrer Wirkung von selbst.« »Sind wir die ersten Menschen, die so etwas versucht haben?«, fragte Jarvis. »Nein. Vor langer Zeit gab es schon einmal einen, der vor das GREMIUM geholt wurde. Sein Name dürfte euch bekannt sein.« »Bekannt?«, fühlte sich Cloud überrumpelt. »Wer?« »Der legendäre Prosper Mérimée.«
Der legendäre Prosper Mérimée … Am meisten an Tecums Antwort irritierte Cloud das Wort »legendär«. »Prosper war hier? Wann?« »Auch er wird Gegenstand unserer Gespräche sein. Jetzt nehmt die Leihgabe, die ich vor euch hingelegt habe. Sie schadet euch nicht. Der Effekt wird euch gefallen. Dem Legendären gefiel es.« »Glaubst du ihm?«, raunzte Jarvis Cloud zu. »Dass Prosper wirklich hier war? Bei den Ganf, auf Portas?« »Die eigentliche Frage wäre: Warum sollte er uns anlügen?« »Vielleicht ist Lügen sein tagtägliches Geschäft. Denk dran, was sie mit den Bractonen treiben. Das ist nicht die feine Art, oder?« Cloud musste ihm beipflichten. Das Verhältnis Ganf-Bractonen
stellte sich in einem so unglaublich neuen Licht dar, dass er eigentlich stundenlang nur darüber hätte nachgrübeln können. Die Zeit hatte er aber nicht, weil ständig irgendetwas passierte. Und jetzt schon wieder. Er war noch gar nicht richtig auf Portas und in diesem Turm angekommen, da wurde ihm schon die erste – schwerwiegende, wie er fand, denn es mochte persönliche Konsequenzen haben – Entscheidung abverlangt! »In Ordnung«, rief er zu Tecum hinauf. »Ich tue es im Namen gegenseitiger Vertrauensbildung.« Er beugte sich vor und hob den Reif auf. Eigentlich berührte er ihn nur – und schon trat der Effekt ein. Der Reif glitt wie von allein über Clouds Finger, das Handgelenk und den Arm hinauf. Unmittelbar über dem Ellbogen schmiegte er sich dann an seiner endgültigen Stelle um die Haut. Aber das … … erkannte Cloud erst, als er längst wieder Tecum in Augenhöhe gegenüberstand. Im ersten Moment glaubte er, der Ganf habe sich doch wieder zu ihnen herabgelassen. Doch dann erreichten ihn auch schon Jarvis' Rufe von tief unten, und als er zu Boden sah, war der Freund ein Winzling und Wicht … Cloud stöhnte unwillkürlich auf. Seine Umgebung hatte sich ebenfalls verändert. Sie kam ihm jetzt normal groß vor – im Verhältnis zur eigenen Größe. »Probier es – es ist … atemberaubend«, ermunterte Cloud seinen Freund. »Ich atme ohnehin nicht.« Trotz dieser Bemerkung war Jarvis hörbar beeindruckt. Auch er griff jetzt nach dem Reif. Cloud wartete darauf, dass Jarvis zu ihm »heraufkam«. Doch das geschah nicht. »Fehlanzeige«, rief Jarvis. »Da tut sich nichts.« Er drehte den Reif zwischen den Fingern. »Was geht da schief?«, wandte sich Cloud an Tecum. Der Ganf schwieg eine Weile, schließlich meinte er. »Die Reiftechnologie kollidiert mit dem bractonischen Generator, den dein Beglei-
ter trägt. Er muss ihn zuerst deaktivieren. Dann müsste es funktionieren.« »Hast du gehört, Jarvis?« »Also soll ich mich nackig machen?« »Scheint so. Probiers.« Unter Cloud verschwand die Maskerade des ehemaligen GenTec. Da er den Reif immer noch in Händen hielt, übernahm er nun auch bei ihm die Initiative. Noch während der Gegenstand aus einer Ganfschmiede zu seinem bevorzugten Platz am Oberarm hinaufglitt, wuchs Jarvis bereits. Und dann war auch er auf »Augenhöhe«. Als anthrazitfarbener Robot. »Wie kommt ihr zurecht?«, fragte Tecum. Dann erklärte er, was der Reif für sie leistete. Cloud war verblüfft und erfreut zugleich, dass er nicht real zum Riesen geworden war, sondern dass die Ganftechnik ihn lediglich perfekt täuschte. »Erstaunlich, dass es auch bei Jarvis funktioniert«, sagte er. »An die Größe könnte ich mich gewöhnen«, grinste Jarvis. »An Bord hättest du dadurch leichte Probleme.« »Wir könnten die RUBIKON sicher anpassen. Mithilfe unserer neuen besten Freunde hier …« Er nickte zu Tecum. »Vergiss es. Wir verunstalten unser schönes Schiff nicht für deinen Egotrip!« »Spielverderber.« »Ich wünschte, es wäre ein Spiel. Aber fangen wir langsam an, uns dem Ernst des Lebens zu stellen. Tecum?« »Folgt mir.« So sicher und geschickt, als wären sie nie etwas anderes als Riesen gewesen, begleiteten sie Tecum zu dem Tor, hinter dem das GREMIUM wartete. Als die Torflügel auseinander glitten, wurden sie von einem Chor begrüßt, der fortan jede Äußerung der Ganf begleitete und an dem sich auch Tecum beteiligte, als hätte er gar keine andere Wahl. Das GREMIUM sprach mit einer Zunge.
Aber das war nicht das Eigentümlichste, was Cloud und Jarvis hier erwartete …
Sie saßen auf Sphärenstühlen. So nannte Tecum es. Zwölf Ganf, ebenso gigantisch wie die eintretenden Besucher. Tecum steuerte den einzigen freien Platz an und setzte sich. Die Sphärenstühle schwebten leicht über dem Boden und verliehen den Ganf trotz ihrer Größe etwas unbeschreiblich Filigranes. Wie Schleier umflossen unwirkliche Nebel die Mitglieder des GREMIUMS. Dazu passte die chorartige Kommunikation, die jedoch Zweifel keimen ließ, ob es sich bei den Dreizehn überhaupt noch um Individuen handelte. Sie sprachen wie gleichgeschaltet. Cloud und Jarvis blieben in der Nähe des wieder geschlossenen Tores zurück. Der Chor, der zu ihnen gesprochen und sie willkommen geheißen hatte, war ohne Zweifel das Gewöhnungsbedürftigste hier, aber offenbar ein Charakteristikum des GREMIUMS. »Kriegen wir keinen Sitz angeboten«, flüsterte Jarvis. »Wie unhöflich. Bei uns an Bord genoss Tecum einen besseren Service.« »Jetzt sei mal für fünf Minuten still – zumindest, wenn du nichts gefragt wirst.« »War das jetzt schon eine Frage?« »Du bist unverbesserlich.« »Ich bin froh, dass du meine Perfektion anerkennst.« »So meinte ich es nicht.« »Halt einfach die Klappe!« »Commander?« Der Chor. Cloud wusste nicht, in welches der ohnehin kaum unterscheidbaren Gesichter er blicken sollte. »Ja?« »Wir sind froh und dankbar, dass ihr den Weg fandet.« »Welchen?«, fragte Cloud. »Generell ins Angksystem – oder hierher nach Portas?« »Beides.« »Nun, wir hatten jemanden an Bord, von dem wir nichts ahnten.« Er blickte zu Tecum. »Nichts von seiner Anwesenheit – für eine lan-
ge Zeit –, und danach nichts von seiner Bedeutung innerhalb eures Volkes. Offenbar bildet Tecum mit euch anderen zusammen den obersten Rat … so würden wir Menschen es nennen … auf Portas.« »Wir sind das GREMIUM.« »Ich verstehe.« »Wir danken dir. Die RUBIKON ist eine große Hoffnung in diesen furchtbaren Zeiten.« Eine Weile schwieg der Chor, dann setzte er neu an und versicherte: »Um ehrlich zu sein, ihr seid unsere einzige Hoffnung, nachdem der erste Versuch kein Resultat erbrachte.« Die einzige Hoffnung von jemandem zu sein, vor allem, wenn er von einem Kaliber wie die Ganf war, wirkte eher demotivierend. Aber Cloud schluckte die Kröte kommentarlos. Noch zumindest. Er fragte jedoch: »Was für ein ›erster Versuch‹? Ich gestehe, ich bin etwas ratlos. Ich ahnte bis vor kurzem noch nicht, dass es bei unserem Vorstoß ins Angksystem von Seiten der Ganf um wesentlich mehr geht, als die Heimführung eines Verstorbenen ihrer Spezies. Doch Tecum machte schon Andeutungen, die mich zutiefst beunruhigen. Ich weiß nicht, ob ihm überhaupt bewusst ist, was er mit seiner Behauptung, die Bractonen stünden unter eurer Kontrolle, bei uns angerichtet hat. Wir selbst haben die ERBAUER stets als eine Instanz erlebt, die fast gottgleiche Züge aufwies. Nun werden sie plötzlich zu etwas degradiert, das man wohl am ehesten als … als Diener bezeichnen könnte. Diener der Ganf. Wie konnte das geschehen? Das ist die Frage, die mich momentan am stärksten bewegt. Von euch wurde uns eröffnet, dass vieles von dem, was sie uns einst vermittelten, nicht der Wahrheit entspricht, gleichwohl die Bractonen das, was sie sagen, glauben. Sie glauben, die Schöpfer des Universums zu sein – was laut Tecum aber schon Bestandteil der Täuschung ist, mit der ihr sie belegt. Das zu verdauen, fällt mir wirklich schwer. Und wenn ihr vorhabt, noch ein weiteres Feuerwerk abzubrennen, das uns endgültig desillusioniert …« Er schwieg. Wartete auf eine Reaktion. Und die erfolgte auch. »Es geht um die Wahrheit. Solltet ihr daran wirklich kein Interesse
haben, seid ihr die Falschen. Unser Fehler …«
Tecum sprang von seinem Sitz auf. Offenbar klinkte er sich dadurch auch aus dem Chor der anderen aus. Er glitt auf Cloud zu und stellte sich demonstrativ neben ihn. »Sie sind die Richtigen. Sie gehören derselben Spezies an wie der legendäre …« »… Prosper Mérimée«, sagte Cloud zeitgleich mit Tecum. »Was für eine Legende ist das, die über ihn kursiert? Würde mich ehrlich interessieren.« Das GREMIUM sagte: »Will er nun die Wahrheit erfahren oder nicht?« »Er will«, antwortete Tecum für Cloud; dazu machte er eine beschwichtigende Geste in Richtung des Menschen. »Dann erkläre du als sein Protegé es ihm. Wir schreiten nur ein, wenn wichtige Dinge ausgelassen oder missverständlich dargelegt werden.« Tecum wirkte erleichtert. »Ich will es versuchen. Mehr als nur Worte ist nötig, um das zu vermitteln, was geschah, geschieht und geschehen wird. Wehrt euch nicht gegen die Bilder, die in euren Geist drängen – sie werden von mir geschickt. Die Armreife helfen mir dabei. Sie sind multifunktional.« Cloud blickte unwillkürlich auf die Metallklammer um seinen Oberarm. »Mich würde wirklich interessieren, was euch mit Prosper verbindet. Wie er –« »Die Geschichte, die ich vor euch ausbreiten werde, beinhaltet auch ihn«, versprach der Ganf. »Denn ohne ihn … gäbe es uns längst nicht mehr.« Er begann zu erzählen, und mit seinen Worten strömten die Bilder – Bilder aus einer lange vergangenen Zeit, als ein Mensch von einem Sternling über einen kobaltblauen Turm nach Portas geführt worden und dort einem Ganf namens Varol begegnet war …
10. Vergangenheit Die Bilder stürmten auf Prosper Mérimée ein, und es hätte der unterstützenden Worte kaum bedurft, um ihm klar zu machen, was das GREMIUM der Ganf von ihm erwartete. Sein Geist wurde zu einem Ort geführt, den er schon bei seiner Ankunft hatte schauen müssen. Aber aus so großer Höhe, dass ihn allenfalls ein Bruchteil der Tragödie erreicht hatte, die hier ihre Wurzeln hatte. Und die offenbar mit allen den Ganf zur Verfügung stehenden Mitteln eingedämmt wurde. »Wo bin ich?«, wandte er sich an die unsichtbar Gewordenen, deren Chor verstummt war. Auf eine ihm unbekannte Weise vermittelten sie ihm das Gefühl, außerhalb des Turms über der Oberfläche von Portas zu schweben – und genau auf den Ort zuzugleiten, den er zum ersten Mal aus nächster Nähe sehen sollte. Und davor fürchtete er sich. Die Angst schien ihn förmlich zu schütteln, und er hätte am liebsten geschrien: »Aufhören! Hört sofort auf! Lasst mich zurück nach Arrankor! Ich will mit alldem nichts zu schaffen haben!« Und vielleicht schrie er es sogar. Aber niemand reagierte darauf. Im Gegenteil, die Geschwindigkeit, mit dem er dem Ort der Verderbnis entgegen schoss, nahm noch zu. Wie ein Projektil raste Prospers Geist über Portas' sattgrüne Dschungellandschaften, bis – – die Reise jäh endete. Weil er am Ziel angelangt war. Das Ziel, das die Ganf ihm bestimmt hatten. Prosper hatte im Ghetto der Erde gelebt, auf dem Grund und Bo-
den des zerstörten Peking, über das sich lange vor seiner Zeit eine Master-Residenz der Keelon erhoben hatte. Dieses gewaltige, achthundert Meter hohe Bauwerk war eines Tages durch Untergrundkämpfer zerstört worden – mit Folgen, die nicht einmal die Zerstörer hätten erahnen können. Fortan waren die Reste der Metrop Peking ein Ort vielfältiger, oft namenloser Schrecken gewesen. Menschen, die dem Regime unbequem wurden, deportierte man über viele Generationen dorthin, wo sie zwar eine eigene kleine Gesellschaft bildeten, aber jeden Tag neu um ihr Überleben oder ihre Gesundheit kämpfen mussten. Prosper Mérimée hatte also schon eine Hölle gesehen, bevor er von den Ganf und ihren geistigen Kräften hierher geführt wurde. Aber das Ghetto war nicht einmal ansatzweise mit dem Albtraum, wie er sich Mérimée aus nächster Nähe darbot, zu vergleichen. Als ihm das bewusst wurde, glaubte er Varols Stimme in sich zu hören. Sie fragte: »Was siehst du?« »Ich kann es nicht in Worte fassen …« »Dabei ist es nur ein Tor.« »Ein Tor?« »Oder eine Schleuse. Es gibt viele Bezeichnungen dafür, aber es gibt nur die eine Bedrohung, die damit verbunden ist.« »Eine Bedrohung …« Er zwang sich, den Blick auf die Stelle gerichtet zu lassen, die von zwei himmelwärts aufragenden Balken markiert wurde. Diese Balken waren ein jeder so dick wie der Leuchtturm, den Prosper mit einem seiner Söhne aus Nanomaterie gebaut hatte; Nanomaterie aus einem der Depots von Arrankor … Die Erinnerung an seine Familie und sein Zuhause zerfaserte unter dem Ansturm der Reize, die an seinen Netzhäuten und zum Gehirn führenden Sehnerven nagten und fraßen, als wären mikroskopisch kleine Ungeheuer über sie hergefallen. Die Säulen atmeten förmlich das hohe Alter, das sie mit einer Patina überzogen hatte, die aus weit mehr als nur oxidierter Oberfläche bestand. In der Patina lauerte ein Schrecken, der unablässig zu Prosper Mérimée und Varol und wer sonst noch »da« war herüberzublicken schien. Als wäre die feine Ablagerung mit Millionen Augen
versehen, die zu Millionen oder gar Milliarden Köpfen führte, in der sie das zu Bildern formten, was von den Pfeilern aus zu sehen war – so wie umgekehrt Prospers Augen die Pfeiler betrachteten, analysierten (es zumindest versuchten) und unter dem litten, was sie anschauen mussten. An diesem Ort, in weitem Umkreis, war alles Leben geronnen. Die ursprünglich hier einmal beheimatete Flora und Fauna verhöhnte den Betrachter mit Farben und Formen, die nicht einmal ein Wahnsinniger ertragen hätte, ohne noch mehr Schaden zu nehmen. Prosper fragte sich, wie er es dann aushalten konnte. Aber der einzige Grund, der ihm einfiel, war der, dass die Ganf ihm beistanden, ihn schützten und bewahrten vor allem, was über eisigen Schrecken und die Sinne verdrehendem Wahnwitz hinausging. Da war eine Lichtung, die wie in die umgebende Normalität hineingebrannt schien. Die Lichtung war riesig und gesäumt von Felsformationen, bei deren Anblick Prosper sich unweigerlich fragte, ob es wirklich nur Fels war oder Lebewesen, die der schiere Anblick des verheerten Gebiets zu Stein hatte erstarren lassen. »Ja«, sagte endlich Varols Stimme. »Eine Bedrohung, deren Größe kein Geschöpf dieser Galaxie auch nur zu erahnen vermag.« »Was für eine Bedrohung?« »Sie nennen sich Auruunen …« Auruunen. Prosper hatte den Namen noch nie gehört. Varol sprach weiter. »Die Schleuse, die du siehst, ist unser einziges Bollwerk, das die Auruunen daran hindert, in unsere Zuflucht zu gelangen. Was sie permanent versuchen. Immer und immer wieder. Bislang konnten alle Attacken abgewehrt werden. Aber der URFEIND entwickelt sich weiter. Der URFEIND klopft immer machtvoller, immer unwiderstehlicher gegen das Tor, die Schleuse, durch die wir einst hierher kamen.« »Warum habt ihr das Tor nicht zerstört?« Varol gab einen Laut von sich, der Prospers Herz zum Rasen brachte. »Nicht zerstört? Woher sollst du es auch wissen … Was du gerade
schaust, diese entartete Landschaft … die schroffen, krustigen und fast verfallenen Aussehen Torpfeiler … glaubst du, das hätte der URFEIND getan?« »Wer sonst?« »Wir!«, keuchte Varol. »Wir! Bei dem Versuch, diesen Weg für immer zu schließen. Für … im … mer …! Es war unser größter Fehler. Weil wir der Kräfte, die hier wirken, danach überhaupt nicht mehr Herr wurden …« Die Geister, die ich rief, dachte Prosper. Er hatte es aus einem seiner Bücher. Aus Zeiten, als er noch eine Bibliothek und Seelenverwandte auf der fernen Erde besessen hatte. »Wie lange ist das her?« »Es spielt keine Rolle. Seither begnügen wir uns mit Flickwerk. Aber wir fürchten, dass der geringste Druck von der anderen Seite genügen wird, um den Widerstand, den wir hier noch aufbieten, wie ein Kartenhaus in sich zusammenstürzen zu lassen.« »Das hört sich furchtbar an, und ihr könnt euch meines aufrichtigen Mitgefühls versichert sein, aber ich weiß immer weniger, was ich bei all dem für eine Rolle einnehmen soll …« Plötzlich erklang wieder mehr als nur eine einzelne Stimme, die Prosper Varol zuordnete. Der Chor … der Chor brandete wieder auf. »ERINNERE DICH!« »Erinnern, woran?« »Als du mit Kargor unterwegs warst in einer Milchstraße, in der die Zeit wucherte und entartete, weil ein einzelner Verbrecher sich seiner widernatürlich verstärkten Kräfte bediente …« Darnok, dachte Prosper. Bei den Erinjij, ja, ich erinnere mich gut … so gut … Es war die schrecklichste Phase seines Lebens gewesen. Schrecklicher noch als das Ghetto. »Was wollt ihr mir damit sagen?« Ihn graute vor der Antwort. Aber die Ungewissheit war noch schwerer zu ertragen. »Dass du etwas in dir trägst, das von uns vermessen und für ge-
eignet befunden wurde, einen Riegel zu bilden, wie wir ihn auf technische Weise nicht annähernd so stark bauen könnten.« »Ihr sprecht von der … Zeitanomalie, die in mir steckt? Ich weiß nicht einmal, ob sie noch da ist. Ich habe sie seit Kargors Missbrauch nicht mehr gespürt …« »Missbrauch nennst du, was der Bractone in unserem Auftrag tat? Es galt eine Galaxie zu erlösen. Unzählige Völker.« »Aber er hat mich einfach benutzt – wollt ihr das etwa auch? Mich einfach benutzen?« »Wir hoffen, dass du die Notwendigkeit von dir aus erkennst.« »Und wenn nicht?« Schweigen. »Ihr würdet es also tun. Mich zwingen. Was würde das für mich bedeuten? Dass ich wieder in meinem Körper irgendwo angekettet und geknebelt dahinvegetiere? In irgendeinem seltsamen Mechanismus, den ich mit meiner Anomalie antreibe wie eine Batterie?« »Nein«, rief der Chor. Aber Prospers Erleichterung darüber währte nur eine Sekunde. Denn der Chor fuhr fort: »Dein Körper würde nicht mehr gebraucht. Nie mehr. Alles, was nötig ist, steckt in deinem Geist. Die Anomalie ist nicht mit deinem Fleisch, sondern mit deinem Geist verschmolzen. Und der Riegel, den sie formen soll, wird vermutlich nie wieder geöffnet. Er soll für die Ewigkeit Bestand haben und dieses Reich für immer schützen.« »Ihr seid völlig wahnsinnig! Und außerdem kaufe ich euch nicht ab, dass ihr mich … ausgerechnet mich, einen einfachen Menschen … braucht, um euren abartigen Plan in die Tat umzusetzen. Ihr behauptet, hinter den Bractonen zu stehen. Sie nach Belieben zu lenken. Aber die Bractonen beherrschen die Zeit, wie kein anderes Volk, mit dem wir je Kontakt hatten. Sie haben die Ewige Kette mit den CHARDHIN-Perlen. Die Perlen können Lebewesen und Dinge in jede beliebige Zeit befördern. Zeit ist eine Dimension, die die ERBAUER im Schlaf beherrschen und manipulieren. IHR BRAUCHT MICH NICHT! ES IST EINE LÜGE!« Er hatte sich noch nie so schreien hören.
Aber er war auch noch nie so hilflos und verzweifelt und ohnmächtig gewesen. »Dein Einwand ist verständlich, aber falsch. Er basiert auf mangelndem Wissen. Wie sollen wir es dir erklären? Nimm einen Computer. Selbst die modernsten Geräte, die du dir vorstellen kannst, sind nicht imstande, auch nur annähernd das zu leisten, was das Gehirn eines intelligenten Lebewesens – eine Art organischer Computer also – zu leisten vermag. Die Natur hat unglaublich komplexere Mechanismen hervorgebracht, als eine Technologie sie jemals gleichwertig ersetzen könnte.« »Ich glaube euch nicht«, beharrte Prosper, wenngleich schon mit deutlich weniger Aufbegehren. »Ihr wollt mich verstümmeln und meiner Identität berauben! Ich werde nie mehr meine Kinder in die Arme schließen oder deren Kinder. Ihr könntet mich genauso gut auf der Stelle töten! Dann wäre ich wenigstens bei Sarah …« »Das sind nicht deine wahren Gedanken. Und es ist auch nicht dein letztes Wort. Wir kennen dich besser als du selbst.« »Wollt ihr mit solchen Worten schönreden, was ihr vorhabt, mir auf jeden Fall anzutun?« »Nicht schönreden. Sieh dir an, was unsere Technik, die du so hochentwickelt glaubst, an Nebenwirkungen hinterließ. In all den Zeiten, da wir es allein damit versuchten. Wir haben auch andere Geschöpfe vermessen. Aber keines war wie du. Du beherbergst das erstaunlichste Potenzial. Es ist, als würde die Anomalie in dir permanent auf ein unerschöpfliches Reservoir aus Zeit zurückgreifen können. Wenn sie nicht oder wenig gefordert wird, liefert sie nichts oder wenig von der Energie, der der Zeit innewohnt. Aber je stärker du gefordert wird, desto immenser wird dein Ausstoß sein. Du bist die Lösung, versteh das endlich. Wenn es uns gelingt, dich in die Barriere, die wir errichtet haben, zu integrieren, wird von der anderen Seite nie mehr auch nur das Geringste nach hier vorstoßen können. Der Planet wird auch dort wieder gesunden, wo jetzt Chaos und bizarre Effekte die Landschaft verschandeln. Du hast es in der Hand. Du wirst unsterblich – auf eine Weise, die du dir nie erträumen konntest.«
»Ohne … Körper!«, ächzte Prosper. »Woraus erwächst Glück?«, fragte das GREMIUM scheinbar zusammenhanglos. »Sagt ihr es mir, o Allwissende!« Er konnte es sich nicht verkneifen. Zu bizarr war alles, was er hier erlebte. »Wenn wir das nur wären … Nun, Glück erwächst in erster Linie aus Gutem, das man anderen tut. Aus Hilfeleistungen, Geschenken, die man macht, weniger aus denen, die man erhält …« »Ihr seid wirklich unbeschreiblich!« Prosper hätte sich am liebsten übergeben. Er hatte sich noch nie so schlecht gefühlt. Am schlimmsten war, dass diese verfluchten Ganf recht hatten. So verdammt recht. Er hätte jedes Opfer dafür gebracht, um wenigstens seine Nachkommen und all die Angehörigen und Freunde, die ihm sonst etwas bedeuteten, in Sicherheit zu wissen. Alles, was er brauchte, war absolute Gewissheit, dass die Ganf ihn nicht betrogen. Dass alles, was sie gesagt und ihm gezeigt hatten, die Wahrheit und nichts als die Wahrheit war. »Könnt ihr das?«, keuchte er. »Könnt ihr mir garantieren, dass mein Verzicht auf ein normales Lebensende … diese und die anderen sechs Welten meiner neuen Heimat vor dem rettet, was ihr den URFEIND nennt …?«
11. Der Tote gab ein würdiges Denkmal ab. Kein Tag, an dem Jelto nicht bei ihm verweilte. Ein paar Meter von dem Sockel entfernt, auf dem Cy von unsichtbaren Staseschauern bestrahlt wurde, hatte er eine Sitzbank aufgestellt, und dort ließ er sich nieder, wenn er mit seinem verstorbenen Freund Zwiesprache hielt. Ja, Zwiesprache. Jelto hatte nie das Gefühl, dass seine Gedanken, mit denen er sich an Cy wandte, eine Einbahnstraße berühren. Es kam so vieles auch wieder zurück. Wenn er mit jemandem darüber geredet hätte, wären wahrscheinlich schlaue Sprüche gekommen wie: Du gibst dir die Antworten, die scheinbar von dem Aurigen kommen, selbst. Die Gedanken, die du angeblich von ihm empfängst, entstehen in dir selbst, tief in deinem Unterbewusstsein. Das ist okay, aber es ist nicht Cy. Und solcher schlauer Kommentare und Erklärungen wegen weihte er erst gar keinen in seine Begegnungen mit dem Verstorbenen ein. Basta. Er lächelte. Cy Memorial, wie er den Park getauft hatte, strahlte einen Frieden aus, wie es der zerstörte und noch nicht wieder neu angelegte hydroponische Garten nie vermocht hatte. Jelto wusste, dass das am allerwenigsten an seinen Fähigkeiten lag. Fast alle Gewächse, die sich so harmonisch in die Anlage einfügten, waren Fakes. Sie würden nach und nach durch echte Pflanzen ersetzt werden, aber dazu mussten sie erst einmal wieder irgendwo »Bodenkontakt« mit einer fruchtbaren Welt bekommen. Dass Portas diese Welt sein könnte, hatte bis vor kurzem noch niemand auch nur im Traum geglaubt. Aber den neuesten Nachrichten zufolge, strotzte die 3. Angkwelt entgegen aller Behauptungen von
Bractonen-Seite nur so vor Leben. Jelto war fest entschlossen, sich diese Chance, wieder echte Pflanzensamen zu ergattern, nicht entgehen zu lassen. Aber gerade als er sich deshalb zum Commander hatte begeben wollen, war die Neuigkeit zu ihm gedrungen, dass es in der NargenEnklave zu einem Zwischenfall gekommen war. Seither galten Aylea – es versetzte ihm einen Stich ins Herz; er mochte dieses Mädchen über die Maßen –, Winoa, Yael, Algorian und ein Sternling als vermisst. In dieser Situation hatte Jelto dann doch nicht wegen einer solchen Banalität vorsprechen wollen. Er wollte erst einmal abwarten, was mit den Vermissten wurde. Ach, Cy … Er wollte sich gerade seufzend von seinem Freund für diesen Tag verabschieden, als etwas Verblüffendes geschah. Von einem Moment zum anderen zerrann das Idyll. »Sesha!«, keuchte Jelto, als innerhalb eines einzigen Atemzugs sämtliche holografischen Ausschmückungen des Parks ausgeblendet und selbst die Wirkung der Dimensatoren eingestellt wurde. Im nächsten Moment saß Jelto auf der nackten Konstruktion, die eben noch wie eine hübsch verzierte Holzbank ausgesehen hatte. Jetzt war es blanker Stahl, und der Raum, in dem Jelto sich wiederfand, hatte die Maße, die einem Park Hohn sprachen – die Maße von Cys ehemaliger Kabine. Doch das war noch nicht alles. Jelto erkannte auch mit einem einzigen Blick, dass er nicht allein in der behäbigen Enge war. Doch er traute seinen Augen nicht, ausgerechnet diese Gestalt hier zu sehen. »Varx?«, krächzte er, wohl wissend, dass es nur noch einen einzigen Sternling an Bord gab, der nicht in der Außenhülle aufgegangen war. Aber auch dieser galt offiziell als spurlos verschwunden. Die Hoffnung, auch die anderen Vermissten irgendwo zu sehen, veranlasste Jelto aufzuspringen und sich langsam um seine eigene Achse zu drehen. Aber außer dem am Boden kauernden Varx war niemand zu ent-
decken. Im nächsten Moment, und noch bevor auch nur die geringste Reaktion von dem Sternling kam, wurde die Kabinentür geöffnet, und Bots strömten herein.
Scobee und Assur ließen den Bots den Vortritt. Sie wollten erst einmal die Lage gesichert wissen – und den Mann, von dem sie wussten, dass er sich ebenfalls im Cy Memorial aufhielt. Jelto stand zwischen zwei schnörkellosen Konstruktionen; aus der einen wurde dank Holoschminke eine gemütliche Sitzbank, aus der anderen der gediegene Sockel, auf dem Cys sterbliche Überreste »montiert« waren; beide Bauten waren ihrer Tünche beraubt und sahen in dieser Form mehr als ernüchternd aus. Nur Cy wirkte unverändert. Aber um ihn ging es in diesem Fall nicht – auch nicht um den Florenhüter, der entgeistert sowohl den Ansturm der Spinnenbots vermerkte, als auch auf den Sternling starrte, der wie ein Häuflein Elend unweit von ihm am nackten Kabinenboden kauerte. »Scobee!«, rief Jelto halb erleichtert, halb vorwurfsvoll, als sie die ernüchternde wahre Kulisse betraten, die hinter dem vor einer Minute noch sichtbaren Idyll steckte. »Assur!« »Jelto – wir wollten dich nicht so überfallen, aber …« Scobee zeigte zu Varx. »Wir mussten das Überraschungsmoment nutzen. Wir durften ihn nicht noch einmal verlieren.« Noch bevor sie gesprochen hatte, waren die Bots in Aktion getreten und hatten ein von Tecum vorgeschlagenes Fesselfeld um den Sternling gelegt. Laut Ganf gab es daraus kein Entkommen, auch nicht mittels der besonderen Sprung-Fähigkeit des Sternlings. »Er war die ganze Zeit hier?« Jelto schüttelte betroffen den Kopf. »Und ich habe es nicht bemerkt?« »Das solltest du dir nicht vorwerfen«, sagte Assur. »Nicht einmal Sesha war in der Lage, ihn zu orten – bis Tecum einige Modifikationen an den Sensoren vornahm. Das Resultat siehst du vor dir. Wir haben ihn! Den Ganf sei Dank, wir haben ihn!«
Offenbar verstand Jelto, welche Hoffnungen sie mit dem Aufspüren des Sternlings verband. Er nickte. »Aber es scheint ihm nicht gut zu gehen. Seht nur, wie er dasitzt. Es sieht nicht nach einfacher Angst aus, das ist Erschöpfung, Verwirrung … ich würde sogar sagen Verzweiflung …« »Du hast recht. Aber wir wollen ihm nichts Böses. Ganz bestimmt nicht. Ich will nur von ihm wissen – wo meine Tochter ist«, brach es aus Assur hervor. »Und natürlich die anderen, die bislang unauffindbar sind. Varx! Varx, hörst du mich?« Sie trat ganz nah an den Sternling heran, ohne dass die Bots einschritten. »Soll ich euch allein lassen?«, fragte Jelto. »Nein, bleib hier«, sagte Scobee. »Ich glaube, es hat einen Grund, dass sich Varx ausgerechnet hier versteckt.« »Versteckt?«, nahm Assur den Faden auf. »Wieso redest du von ›versteckt‹? Bislang gingen wir davon aus, dass es ihn irgendwohin verschlagen hat. Ebenso wie Winoa und die anderen.« »Sieh ihn dir doch an«, erwiderte Scobee. »Er wirkt genauso, wie Jelto ihn beschrieben hat. Offenbar ist er bei Bewusstsein, trotzdem hat er sich nicht an uns gewandt.« »Willst du etwa andeuten, er habe die Kinder und Algorian vorsätzlich verschwinden lassen und sich danach hier verkrochen?« Scobee hatte Assur noch nie so kreidebleich gesehen. Schnell schwächte sie ihren Einwand ab. »Nein. Aber er muss seit dem Vorfall so durch den Wind sein, dass er sich keinem anvertrauen wollte oder konnte. – Stimmt das so, Varx? Verstehst du, was wir reden?« Das Fesselfeld ließ Varx Platz, um sich aufzurichten. Das tat er unvermittelt – und stellte sich leicht wankend vor die Menschen. »Was … ist … passiert?« »Weißt du das wirklich nicht?«, fragte Assur voller Enttäuschung. Scobee fasste sie am Arm. »Wir dürfen ihn nicht so bestürmen.« Selbst wandte sie sich an Varx mit den Worten: »An was erinnerst du dich überhaupt? Glaubst du, du kannst uns das sagen? Sollen wir lieber woanders hingehen?« »Nein! Ich will hierbleiben, bei …« »Offenbar ist es der Park, der ihm ein Gefühl von Geborgenheit
vermittelt und ihn schon einmal hierher kommen und sich verstecken ließ – damals vor dem Tecum aus Nabiss, ihr erinnert euch?«, sagte Jelto. »Nicht der Park«, widersprach Varx unerwartet deutlich. »Sondern?«, fragte Assur. Sie blickte hoch auf den Sockel, wo Cy in Staseschauern badete. »Doch nicht etwa …« Wieder verneinte Varx, der ihrem Blick gefolgt war. Er hob langsam den Arm und zeigte auf … Jelto. »Ich?«, entfuhr es dem Florenhüter. »Du willst sagen, du bist immer nur wegen mir hierhergekommen?« Auch Scobee war verblüfft. Aber der Sternling bestätigte es. »In deiner Nähe … fühle ich mich …« »Ja?«, fragte Jelto sanft. »… aufgehoben.« »Aufgehoben. Okay. Das schmeichelt mir, danke. Aber …« »Es ist in Ordnung«, mischte sich Scobee ein, die hoffte, einen Ansatz gefunden zu haben, um Varx nicht nur zu helfen, sondern auch sein Vertrauen zu erringen. »Dann bleiben wir hier. Die Bots … verschwinden. Sesha?« »Ja?« »Ist es möglich, das Fesselfeld zu Varx eigenem Schutz weiterhin aufrecht zu erhalten, auch wenn die Bots weg sind?« »Kein Problem.« »Gut, dann lassen wir es vorläufig bestehen.« Sie sah zu, wie die Bots aus der kahlen Kabine verschwanden. »Könntest du dann auch wieder den Park erstehen lassen?« Seshas Antwort bestand in einem sich radikal wieder ändernden Umgebungsbild. Von einem Atemzug zum nächsten standen sie wieder im Cy Memorial. »Ich habe statt des Gebüschs, in dem der Sternling sich versteckte«, sagte Sesha, »als winzige Modifikation eine freie Grasfläche erzeugt. Ist das akzeptabel?« »Natürlich. Eine mitdenkende KI – was will man mehr?«, lobte Scobee.
Jelto war seltsam berührt. Und gerührt. Das Verhalten des Sternlings verblüffte ihn einerseits; andererseits weckte es aber auch sofort das Bedürfnis in ihm, dem Wesen zu helfen. Falls er dazu in der Lage war. Aber die Bereitschaft war gegeben, mehr als das. Vielleicht finde ich auf diese Weise heraus, was aus Aylea wurde … Das wäre es wert. Er hörte, wie Scobee den Sternling fragte: »Woran kannst du dich als Letztes erinnern? An die Hütte?« »Hütte?« Varx wirkte ratlos. »In der Nargen-Enklave«, versuchte Scobee, ihm Stichworte zu liefern. Er schwieg. »Du warst mit Aylea unterwegs, um dich mit Yael und Winoa zu treffen«, warf Assur ein. »Eigentlich ging es darum, Yael zu helfen, dem die Rückkehr nach Portas offenbar zusetzte. Aber dann … dann passierte etwas mit dir …« Schweigen. Scobee sagte: »Inzwischen glauben wir einen Hinweis zu haben, was deinen Anfall auslöste. Vermutlich beide Male.« »Anfall?«, fragte Varx, als hätte er wirklich nicht die leiseste Erinnerung. »Beide Male?« »Eigentlich waren es drei. Der erste verlief noch glimpflich«, sagte Scobee, »beim zweiten sahen wir uns schon veranlasst, dir Beistand an die Seite zu geben … Algorian, Yael, Winoa und Aylea … und der dritte scheint die genannten Personen irgendwohin gefegt zu haben. Hoffentlich nur irgendwohin gefegt …« Varx wimmerte. »Ich … erinnere mich nicht …! Ich versichere euch, es ist die Wahrheit!« »Du warst mit verschwunden. Dann half uns Tecum, die bordinternen Sensoren zu modifizieren, um nach dir zu suchen. Es gelang. Sesha ortete dich hier. Was dann geschah, hast du erlebt. Wir kamen und fanden dich. Aber allein. Die vier Personen, die bei dir waren, sind immer noch verschwunden.«
Diese Nachricht schien Varx endgültig in die Verzweiflung zu stürzen. Laute, die an menschliches Schluchzen erinnerten, drangen aus dem Fesselfeld. »Es ist nur eine Idee«, wandte sich Jelto betreten an Scobee und Assur, »aber vielleicht … nun, vielleicht stimuliert es Varx dahingehend, dass er sich vielleicht doch wieder an etwas mehr erinnert.« »Was hast du vor?« »Irgendetwas an mir scheint ihn anzuziehen, ihm gutzutun. Ich wüsste nicht, was außer meiner Aura das sein könnte.« Scobee nickte. »Wäre möglich. Weiter«, ermunterte sie Jelto, obwohl sie vielleicht schon ahnen mochte, worauf er hinaus wollte. »Ich könnte meine Aura aktivieren und Varx darin aufnehmen – sinnvollerweise, während das Fesselfeld wenigstens vorübergehend abgeschaltet ist.« Er wartete auf die Reaktion. Sie fiel verhalten aus. Offenbar fürchtete man, dass sich Varx sofort wieder aus dem Staub machen könnte. »Was wäre das Schlimmste, das passieren könnte?«, fragte Jelto unverblümt. »Er weiß momentan nichts, absolut gar nichts über den Verbleib der Vermissten. Sie sind auch nicht hier im Park. Das Dramatischste, was zu befürchten ist, wäre sein abermaliges Verschwinden. Am Status der anderen Vermissten würde das vermutlich nichts ändern, andererseits haben wir die Chance, dass er da bleibt, und dass ich vielleicht Verschüttetes aus seinem Unterbewusstsein zu Tage fördern kann …« Scobee und Assur schienen sich für seine Argumente erwärmen zu können. »Du hast recht«, entschied Scobee. »Sesha? Fesselfeld abschalten.« Die KI stellte keine Fragen, sondern gehorchte. »Und nun?«, fragte Assur. »Und nun beginne ich«, sagte Jelto. »Ich habe wenig Hoffnung, mental an Varx heranzukommen. Ich bin weder Telepath noch ist er eine Pflanze, zu der ich einen gewissen Draht hätte. Wir wissen nicht einmal, ob meine Aura eine Wirkung bei ihm zeigt. Aber Probieren geht über Studieren, und schaden wird es wohl nicht.«
Jelto zündete das gleißende Licht, das direkt aus seinen Zellkernen zu kommen schien. Es stimulierte jede bekannte Vegetation – aber wie er es gerade treffend formuliert hatte: Varx war keine Pflanze. Und ob die Aura bei so viel Exotik überhaupt verfing, musste sich zeigen. Jelto machte ein paar Schritte auf Varx zu, während sich Scobee und Assur bemühten, der Aura auszuweichen, als fürchteten sie Nachteile für sich, wenn sie ebenfalls davon berührt wurden. Jelto verstand ihre Unsicherheit und nahm es nicht persönlich. Auch Varx schien im ersten Moment von ihm abrücken zu wollen, aber dann akzeptierte er das Licht, das selbst die Nacht zwischen seinen Sternen und Galaxien aufzuhellen schien. »Aaaahhh …«, seufzte er. »Alles in Ordnung?«, fragte Jelto. »N-nein …! Wie es brennt …!« Varx stürzte zu Boden und verfiel in konvulsivische Zuckungen. »Aufhören!«, hörte Jelto Scobee rufen. »Sofort aufhören!« Er brachte seine Aura zum Erlöschen. Varx zuckte weiter am Boden. »Das … wollte ich nicht!«, keuchte Jelto maßlos erschrocken. »Glaubt mir.« Varx' Bewegungen erlahmten, und nach einer Weile rührte er sich gar nicht mehr. »Ist er tot?«, fragte Jelto erschüttert.
Konnten Sternlinge überhaupt sterben? Jeltos Gedanken überschlugen sich. Er sah, wie Scobee sich über Varx beugte, an ihm herumfuhrwerkte und sich wenig später wieder ratlos aufrichtete. »Er rührt sich nicht, aber er ist weit von der Instabilität entfernt, die wir aus den Aufnahmen kennen. Trotzdem könnte die Starre ein neuer Schub sein, mit dem er auf die Nähe seines toten Erzeugers reagiert. Wenn ich Tecum richtig verstanden habe, ist ein nachträgliches Aufgehen in einen Obelisken für Sternlinge nicht möglich –
entweder sie befinden sich in dem Moment, da der ›Ruf‹ an sie ergeht, in Reichweite des Ganf-Leichnams, um rechtzeitig zu ihm zu gelangen und ihre Substanz zur Bildung des Grabobelisken beizusteuern, oder sie haben ihre Chance … falls man es eine Chance nennen will … für immer vertan.« »Varx war demnach nicht in Reichweite«, sagte Jelto, der bei dem Gespräch mit Tecum nicht dabei gewesen war. »So hat es den Anschein. Aber dass er im Nachhinein auf die Nähe des Obelisken so extrem reagiert, verwunderte selbst den Ganf. Gleichzeitig deutete er an, dass Varx eine Sonderstellung unter allen Sternlingen einnimmt, die er kennt.« »Eine Sonderstellung?«, fragte Jelto. »Erklärte er das näher?« »Leider nein.« »Besteht die Möglichkeit, diesen Ganf zu kontaktieren, um ihn um Hilfe zu bitten?« »Wir können es versuchen. Er ist aktuell mit John und Jarvis in dem Turm, an den die RUBIKON angelegt hat. Er soll dort mit anderen Ganf zusammengeführt werden, die offenbar über die Geschicke dieser Spezies bestimmen.« »Dann ist es vielleicht gerade ungünstig …« Assur drängte sich vor, die Hände zu Fäusten geballt. »Ungünstig dürfte das falsche Wort sein – mein Kind ist immer noch verschwunden, und jetzt haben wir den, der daran ›schuld‹ – in Anführungsstrichen – zu sein scheint, endlich aufgestöbert. Das verändert die Situation. Ich finde, dass dies sehr wohl Grund genug ist, den Ganf zu kontaktieren! Scobee?« Scobee lächelte verständnisvoll. »Wir versuchen es. Mehr können wir nicht tun. Schade, dass die Auren-Idee in anderer Weise ›gezündet‹ hat, als erhofft.« Offenbar spielte sie auf Varx' Schreie an, mit denen er mehr oder weniger deutlich ein »Ich verbrenne!« signalisiert hatte. In diesem Augenblick sagte Assur: »Täusche ich mich, oder ist es kälter geworden?« Sie sah sich im Park um. Jelto konzentrierte sich auf die Temperatur. »Ja, es kommt mir auch so vor. Vielleicht ein neues Programm-Detail der Illusions-
steuerung für das Cy Memorial …« »Ich dachte, du würdest das zusammen mit Sesha designen«, wunderte sich Scobee, die sich auch die Oberarme rieb, als friere sie. »Eigentlich schon.« »Sesha?« Scobee legte den Kopf schief und wartete auf die Antwort der KI. »Ja?« »Warum wird es hier so kühl? Ist das gewollt oder gibt es Probleme mit der Klimatisierung?« Offenbar überprüfte die KI ihre Geräte. Schließlich sagte sie: »Es gibt Probleme.« »Welcher Art?« »Die Klimakontrolle muss in Cys ehemaliger Kabine Schwerstarbeit gegen den Kälteeinbruch leisten.« »Kälteeinbruch?«, fragte Assur ungläubig. »Du machst Witze, oder? Wo sollte hier ein …« Sie verstummte. Blickte zu Varx. Da sagte Sesha auch schon: »Es geht von dem Sternling aus. Er strahlt Weltraumtemperaturen aus. Kommt ihm bloß nicht zu nahe.«
Weltraumtemperaturen! Für eine Weile lähmte die Erkenntnis, dass sie offenbar die Gefahr Varx immer noch unterschätzten, jede Reaktion. Doch Scobee schüttelte die Lähmung schließlich ab. »Sesha? Wie hoch ist der Grad der Gefährdung für uns und das Schiff?« »Vernachlässigbar. Ich habe bereits Maßnahmen ergriffen. Eine neue Abschirmung liegt über dem Sternling. Die Verhältnisse innerhalb des Parks werden sich gleich normalisieren.« »Sicher?« »Im Rahmen meiner Wahrscheinlichkeitsparameter … so gut wie sicher.« »Manchmal frage ich mich, ob du ein Programmsegment für Humor hast.« »Ja, das frage ich mich auch manchmal.«
»Sesha!« »Entschuldige. Kommt nicht wieder vor.« Schade, dachte Scobee. Aber sie hatte jetzt auch anderes im Kopf, als sich um eine KI mit Verhaltensauffälligkeiten zu kümmern. »Zurück zu Varx … Varx, hörst du mich?« »Mir ist so warm.« Fast gespenstisch klang die Stimme. Aber das der Sternling überhaupt auf die Ansprache reagierte, war mehr, als Scobee erwartet hätte. »Warm? Na ja, allmählich wird es wieder. Sesha hat recht. Ihre Regelmechanismen greifen. Aber warm …« »In mir drin. Die Kälte, die ich für meine Existenz brauche, entweicht mir. Ich kann es nicht stoppen.« Scobee begann zu ahnen, was er damit meinte. Offenbar war in Sternlinge wirklich ein eigener Kosmos, ein winziges Weltall eingeschlossen. Die Kälte dieses Alls schien Varx zu entfliehen. »Hat es mit Jeltos Engagement zu tun?« »Ich … weiß es nicht. Aber ich glaube es eher nicht.« »Dann liegt es vielleicht immer noch an der Nähe deines Schöpfers?« »Meines Schöpfers?« »Tecum sprach von einem Ganf, der dich einst … einst erzeugte.« »Varol?« Varx wirkte mit einem Mal wie ausgewechselt. Die eigenen Probleme schienen weit in den Hintergrund zu rücken. Sein einziges Interesse galt jetzt dem Ganf, auf den Scobee die Rede gebracht hatte. »Varol, ja.« »Ich hatte ihn fast vergessen.« »Ist das dein Ernst?« »Nein. Wie könnte ich das je? Ich hatte es nur verdrängt. Dabei hätte mir klar sein müssen, dass er hier auf Portos weilt.« »Du weißt aber schon, dass er … tot ist.« So schwer nachvollziehbar es auch war, Varx schien es tatsächlich nicht – oder nicht mehr – gewusst zu haben. »Tot …?«
Scobee hatte das Gefühl, ins größte Fettnäpfchen des Universums getreten zu sein. Aber sie war so sicher gewesen, dass Varx vom Tod seines Ganf-Erzeugers wusste. So sicher … »Es tut mir leid. Ich wollte nicht mit der Tür ins –« »Jetzt verstehe ich«, hauchte Varx. »Warum es mir so schlecht geht. Wie nah bin ich ihm? Ich müsste ganz dicht bei ihm sein. Als Sternling wäre es meine Pflicht … Es zerreißt mich! Ich glaube, ich höre ihn. Er ruft nach mir …« Spätestens jetzt wurde Scobee wirklich kalt. Varx klang wie ein Todessüchtiger. »Laut Tecum kann das nicht sein, Varx. Bitte kämpf dagegen an. Wir helfen dir, wo wir nur können. Varol ruht in seinem ObeliskenSarkophag, den seine anderen Sternlinge für ihn formten. So wurde es mir gesagt. Wärst du in der Nähe gewesen, als er starb, wärst du auch –« »Ich war ihm näher als jeder andere Sternling!«, keuchte Varx. »Es ist nicht recht, dass ich noch hier bin. Ich müsste auch … auch bei ihm sein …« Hätte es noch eines letzten Beweises bedurft, dass die relative Nähe Varols für Varx Krise verantwortlich war, an ihm zerrte und nagte, dann wäre er hiermit erbracht, begriff Scobee. Es schmerzte sie bis ins Mark, dass sie nichts gegen Varx' Seelenschmerz tun konnte – zumindest wusste sie nicht, welches Kraut dagegen gewachsen wäre. »Vielleicht«, meldete sich Assur aus dem Hintergrund, »würde es ihm helfen, wenn er erzählte, was damals geschah. Varx? Hast du mich gehört? Rede es dir von der Seele! Es muss ein einschneidendes Ereignis gewesen sein. Kannst du dich überhaupt richtig daran erinnern?« »Ich erinnere mich wieder an alles. Es ist, als wäre ein Vorhang gefallen. Varol ist tot – ja. Er starb auf die entsetzlichste Weise, die man sich vorstellen kann. Aber sein Opfer war nicht umsonst. Sonst gäbe es die Angkwelten so lange Zeit danach nicht mehr. Nicht mehr in der Form, wie du, Assur, und du, Scobee, wie ihr beide sie kennengelernt habt!« »Was ist damals so Schreckliches passiert?«, fragte Scobee. Sie
fühlte sich so zerschlagen, als hätte sie einen mehrstündigen Gewaltmarsch mit schwerem Gepäck absolviert. Varx' Leiden und seine Andeutungen laugten sie körperlich aus. »Passiert?« Varx schien in Gedanken weit zurückzugehen. »Passiert ist, dass Prosper gerade noch rechtzeitig kam – wenn auch nicht rechtzeitig genug für Varol …« Prosper, immer wieder Prosper, dachte Scobee. Aber dann schaltete sie ihre eigenen Gedanken auf Sparflamme und beschränkte sich darauf, Varx einfach nur zuzuhören, wie er anfing, vom Damals zu erzählen. Von dem Moment, der sein ganzes weiteres Dasein verändert hatte …
12. Vergangenheit Varol lenkte den Schweber, mit dem Prosper dem Ort entgegengetragen wurde, an dem sich nach dem erklärten Wunsch der Ganf sein Schicksal entscheiden sollte. Und noch eine dritte Person war mit von der Partie. Varx. Der Sternling, der Prosper von Arrankor bis hierher geführt hatte. Kein Zwerg unter Riesen, sondern fast gleichgroß wie Prosper und Varol es zurzeit waren. Prosper hatte sich ausbedungen, dass er den Reif ablegen durfte und Varol sich wieder mit einer Größe bescheiden sollte, die Prosper dennoch auf Augenhöhe mit ihm brachte. »Vergibst du mir, dass ich dich in diese Lage brachte?«, wandte sich Varx unvermittelt an den Menschen. »Bist du frei in deinem Tun?«, fragte Prosper, dem es schwerfiel, sich auf eine Unterhaltung einzulassen – was nicht an Varx lag, sondern an dem Ziel, auf das sie mit hoher Geschwindigkeit zuhielten. »Wie meinst du das?« »Wird dir von den Ganf diktiert, wie du deinen Tag gestaltest?« »Nicht komplett.« »Du hast ›Freizeit‹?« Aus irgendeinem Grund amüsierte die Vorstellung Prosper. »Natürlich.« »Und die nutzt ein Sternling wofür?« »Ich reise gerne.« »Du willst mich veralbern.« »Nein, wie kommst du darauf.« »Wo warst du denn schon überall?«
»Das weiß ich nicht mehr. Die Reisen gelten keinem besonderen Ziel, und die Orte, die ich besuche, tragen auch keinen Namen, der mir bekannt wäre …« »Wow. Geniale Art zu reisen.« »Jetzt veralberst du mich, Prosper Mérimée. Findest du das nett?« »Sei nicht so empfindlich.« »Ich halte dir nur den Spiegel vor.« Prosper musste gegen seinen Willen und gegen das Gefühl von Angst und Verlorenheit, das ihn wie ein stählernes Korsett zu jeder Sekunde ihrer Fahrt einschränkte, lächeln. »Eins zu null für dich. Aber zurück zu deinem Zeitvertreib: Was ist das für ein Reisen?« »Ich reise in mein eigenes Inneres.« Varx zeigte auf seine Haut, unter der Sterne und Galaxien dahintrieben. Sie wirkten so echt wie ein Blick durch ein Teleskop, das zum dunklen Nachthimmel hinauf gerichtet wurde. »Wir nennen das intermediieren.« »Intermediieren?« »Ja. Es bezeichnet Reisen durch den inneren Kosmos.« »Hört sich … na ja, ich weiß nicht, wie es sich anhört. Kann spannend, aber auch ziemlich langweilig sein.« »Langweilig?« Varx verneinte entschieden. »Ich fliege mit meinem Geist durch Riesensonnen oder Nebel, in denen gerade erst Sterne geboren werden. Ich –« »Gibt es da drinnen …« Prosper zeigte auf Varx' Körper. »… auch Planeten? Hey, ich gehe noch einen Schritt weiter, auch wenn es albern klingen mag: Aber gibt es in dir auch bewohnte Welten?« »Was glaubst du?« »Natürlich nicht.« »Lass es mir als mein Geheimnis, ja?« Prosper zuckte mit den Achseln. »Wenn es dich glücklich macht.« Varol hatte sich nicht ein einziges Mal in das Gespräch eingemischt. Jetzt aber sagte er: »Wir sind gleich da. Da vorne beginnt die Wüste der Entartung mit dem Tor.« Die Schlinge zog sich enger.
Er bereute es. Er bereute seine Zusage in dem Moment, da sie etwas anflogen, das noch bizarrer – und auf einer sentimentalen Ebene von Prospers Wahrnehmung sogar krank – wirkte, als er es aus der Höhe des ersten Überflugs auch nur ansatzweise hatte erkennen können. Da hatte ihn die Landschaft, respektive das, wozu sie sich verformt hatte, erschüttert. Nun aber, aus dieser Nähe, war es das technische Equipment, das die Ganf hier aufgeboten und aufgefahren hatten, und das offensichtlich keinem anderen Zweck diente, als diesen Ort zu sichern. Zu verhindern, dass irgendetwas durch das Nadelöhr zweier riesiger Säulen schlüpfte, die die Eckpfeiler einer Art Tor waren, das entfernt ähnlich einem Transmitter arbeiten mochte. Aber genau das, das Arbeiten, sollte der waffenstarrende Ring aus monströsen Apparaturen, der um die beiden Torpfeiler gezogen war, ganz offensichtlich verhindern. Und wenn es denn nicht zu verhindern war, sollten sie vermutlich dem Tod und Verderben entgegenspeien, was versuchte, auf diese Seite des Transportweges zu gelangen. »Hast du es dir so vorgestellt?«, fragte Varol. »Niemand, der es noch nicht gesehen hat, könnte sich so etwas vorstellen«, erwiderte er. Sein Rachen, seine ganze Mundhöhle war wie ausgedörrt. »Mich wundert nur eins – ungeachtet all dessen, was ich hier sehe und gar nicht verstehen will.« »Was?«, fragte Varol. »Als wir da oben … weit da oben schwebten … noch bevor wie vor das GREMIUM gelangten – du weißt schon, gleich nach meiner Ankunft, als wir schon einmal hier vorbeiflogen –, da berührte mich selbst der Anblick aus großer Höhe so extrem, dass mein Gehirn das, was meine Augen hier nur winzig klein sahen, kaum verarbeiten, geschweige denn mit mir vertrauten Begriffen belegen konnte.« »Und jetzt ist das anders«, sagte Varol – es war keine Frage, sondern eine Feststellung. »Ja! Nur verstehe ich nicht, warum. Es müsste aus der Nähe doch viel stärker sein …«
Wenn er sich umsah, entdeckte er grauenhafte Mutationen der Landschaft, der sie bedeckenden Vegetation. Selbst Tiere schienen mitten in der Bewegung zu etwas verformt und erstarrt worden zu sein, das jeder Kulisse aus einem Horrorfilm zur Ehre gereicht hätte. Trotzdem ließ es Prosper über die reine Feststellung hinaus seltsam unberührt. Fast unbeteiligt und nüchtern, als ginge ihn all das nichts an, registrierte er hier ein Detail und dort ein anderes. »Wir haben uns erlaubt, deinen Geist, ohne dass du es gemerkt hast, darauf vorzubereiten.« Prosper brauchte seine Überraschung nicht zu spielen, sie war echt, ebenso echt wie die Enttäuschung, die damit einherging. »Ihr manipuliert mich! Ist das auch Teil unseres Abkommens? Steht das im Ultrakleingedruckten?« Mit dem Seitenhieb schien Varol nichts anfangen zu können. Er verteidigte die Maßnahme dennoch. »Es ist keine Manipulation, es ist eine mentale Stärkung, die sich einzig und allein auf diesen Ort und seine Auswüchse bezieht. Glaubst du, ich selbst oder Varx könnten hier sein, ohne eine solche Wappnung?« »Willst du damit sagen, ihr wurdet auch behandelt?« »Natürlich. Die Alternative wäre eine noch schwerere oder gar nicht heilbare geistige Zerrüttung. Du weißt nicht, was ein Anblick wie dieser …« Er wies um sich. »… ungefiltert anzurichten vermag.« Varx bestätigte es ebenfalls, wenn auch sehr verhalten. Die Plattform landete innerhalb des Abwehrrings. Dabei fiel Prosper auf, dass das Unheimliche, das den Boden mit all seiner einstigen Flora und Fauna befallen hatte, auch nicht vor den eindrucksvollen Waffen Halt machte. Er sah Konstruktionen, die, obwohl aus Stahl gefertigt, von einer Art Krebs befallen waren. Wie Geschwüre wucherten Verformungen über Material, das dagegen eigentlich hätte geschützt sein müssen. Doch an ihnen nagte mehr als nur einfacher Rost. »Gibt es hier gefährliche Strahlung?«, fragte Prosper. »Ja«, sagte Varol. »Aber Ganfkörper sind sehr resistent, und Sternlinge haben auch nichts zu befürchten.«
»Menschen aber schon?« »Menschen wie du schon, durchaus.« »Was aber keine Rolle mehr spielt beziehungsweise ein vernachlässigbarer Faktor bei jemandem ist, der ohnehin gleich den Strick um den Hals gelegt bekommt.« »Hast du es dir doch noch anders überlegt?«, fragte Varol. »Hier im Angesicht des ganzen Ausmaßes der Gefahr?« Prosper war selbst überrascht, dass das genaue Gegenteil der Fall war. »Wenn das hier nicht nur ganz Portas, sondern auch den angrenzenden Welten droht, ist meine Entscheidung richtig. Aber lass mir meine Momente, in denen mir nach Selbstmitleid zumute ist. Wer stirbt schon gern?« »Du stirbst nicht in der Weise, die deinem normalen Lebensverlauf ohnehin folgen würde.« »Wie tröstlich. Aber es wären normale letzte Jahre, nicht wahr? Keine, in denen ich eingesperrt in einem … was eigentlich? … bin!« »Wir kennen und begleiten deine Spezies schon eine Weile«, sagte Varol. »Wir haben viele deiner Art beobachtet, wie sie mit zunehmendem Alter gebrechlicher und auch geistig verwirrter wurden. Manche fingen an, sich auf das geistige Stadium eines Kleinkinds zurückzuentwickeln, während ihre Körper mehr und den Dienst quittierten. Viele mussten jahrelang gepflegt werden, von Angehörigen, denen dies alle Kraft abverlangte, sodass sie, als die Alten schließlich gingen, selbst kränkelten und pflegebedürftig waren. Hältst du das für erstrebenswert?« »Das sind Extrembeispiele.« »Es kommt häufiger vor, als du ahnst.« »Und gibt es das bei Ganf nicht auch? Dass einer krank und bedürftig wird? Lassen ihn die anderen dann fallen, weil er plötzlich lästig ist?« »Ganf ziehen dem Tod jedem Siechtum vor. Wenn ein Fall wie der beschriebene eintritt, erkennt der Körper dies und stellt sämtliche Funktionen ein.« »Prima. Dann scheint der Tod für Ganf keinen Schrecken zu besitzen. Wie beneidenswert.«
»Der Tod ist nicht das Ende. Bei meiner Spezies. Dementsprechend sind wir ein schlechter Vergleich.« »Ihr sterbt nicht?« »Doch. Aber wir wechseln in eine andere Zustandsform.« »Diese Art Glaube gibt es bei uns Menschen auch. Manche schöpfen daraus Trost, andere ziehen es vor, nur an dieses eine Leben, das sie gerade führen, zu glauben – an nichts danach.« »Ich verstehe, was du meinst, aber bei uns ist es anders. Es würde jetzt zu weit führen, es dir erklären zu wollen.« »Ist es so eilig, mich umzubringen?« »Du bleibst beharrlich bei dieser Formulierung?« »Es hilft mir, damit fertig zu werden – du wirst es noch ein bisschen ertragen müssen.« »Das werde ich.« Varol trat von der Schwebeplatte und winkte Prosper und Varx, ihm zu folgen. Prosper Mérimée fragte sich, ob Varx eine Art persönlicher Adjutant des Ganf war. Er folgte ihm auf Schritt und Tritt, erfüllte aber keine offensichtlichen Aufgaben. Zuletzt war er tätig geworden, als es galt, Prosper nach Portas zu lotsen. Seither verhielt er sich eher passiv. Trotzdem war Prosper für die Anwesenheit des Sternlings dankbar. Er hatte entfernt menschliche Züge, während die Ganf ihm vollkommen fremd blieben. Auch zu Varol, mit dem er von allen Ganf die meiste Zeit verbracht hatte, fand er keinen wirklichen Zugang auf emotionaler Ebene – zu Varx schon eher. Nacheinander betraten sie das Fundament, auf dem die Pfeiler rechts und links errichtet worden waren. Die Pfeiler ragten so hoch in den Himmel, dass sie sich einfach irgendwo dort oben verloren. Und auch hier unten war Größe ein entscheidender Faktor. Beide Säulen standen mindestens zehn Kilometer auseinander … und wirkten trotzdem wie mächtige Festungstürme, die ein jeder selbst mindestens eine Grundfläche von einem Kilometer im Durchmesser einnahmen. Entsprechend breit war der betongraue Streifen, in dem Prosper das Fundament vermutete, das den Säulen Halt und Stabilität verlieh.
Prosper fühlte sich wie ein winziges Sandkorn zwischen den Gigantensäulen. Was sollte er hier? Was? »Es ist beeindruckend, oder?«, fragte Varx unvermittelt. »Beängstigend trifft es eher.« »Ja«, stimmte der Sternling zu. »Vor allem das, was es alles befallen hat, wohin du auch siehst, selbst die Säulen …« Er zeigte nach rechts und links. Prosper hatte es schon bemerkt, aber zu ignorieren versucht, dass nicht nur der Waffenring von Verwachsungen befallen war, sondern auch die riesigen Pfeiler. »Durch dieses Tor«, wandte er sich an Varol, »versucht der URFEIND zu euch zu gelangen?« »Ja.« »Wann versuchte er es zuletzt?« »Er versucht es permanent.« »Davon ist nichts zu spüren.« »Vielleicht nicht für dich. Für dich mag dieser Raum zwischen den Säulen leer erscheinen. Aber meine Sinne, die Sinne eines Ganf, bemerken unablässige Attacken.« Prosper wusste nicht, was er davon halten sollte. »Wir müssen uns beeilen. Es ist, wie das GREMIUM befürchtete, die nächste Großattacke, die auch du wirst sehen können, steht unmittelbar bevor. Uns bleibt nicht mehr viel Zeit!« Er drängte Prosper auf ein rechteckiges Gebäude zu, aus dem ihnen andere Ganf entgegenstrebten, die aber offenbar nicht dem GREMIUM angehörten. »Wer ist das?«, fragte Prosper, bevor sie sie erreichten. »Meine Henker?« Diesmal ließ Varol die Wortwahl des Menschen unkommentiert. Lernfähig, der Gute. »Sie überwachen den gesamten Komplex – und haben alle erforderlichen Vorbereitungen getroffen, um dich in der dir angekündigten Weise in das Tor zu integrieren.« Die ankommenden Ganf erwiesen nicht nur Varol, sondern auch
Prosper ihren Respekt. Lediglich Varx wurde von ihnen ignoriert. Der Sternling schien ihnen nicht einmal eine Geste wert zu sein. Prosper seufzte. Zeit, Abschied zu nehmen, dachte er und drehte sich langsam um seine eigene Achse. All das, so bizarr und furchteinflößend vieles hier auch wirkt, werde ich vermissen. Er ging davon aus, dass mit dem Aufgehen seines Geistes in das hiesige System, auch jede Individualität erlosch. Das tröstliche Gefasel des GREMIUMS von »Unsterblichkeit« verbuchte er unter leeren Versprechungen. Er stellte sich lieber auf das Schlimmste ein. »Ich will nicht drängen«, sagte Varol, »aber …« Er wirkte nervös. Genau wie die anderen Ganf, und auch Varx schien Unruhe befallen zu haben. »Spürst du auch, was Varol sagt?«, raunte Prosper dem Sternling zu. »Dieses Gerede von ›permanenten Angriffsversuchen‹, die ich nicht wahrzunehmen vermag?« »Ja«, sagte Varx einsilbig. Prosper ließ sich ins Innere des Gebäudes und in einen Raum führen, wo bereits alles für seinen physischen Tod vorbereitet war. Spätestens als er die bedrohliche Konstruktion sah, die seinen Körper aufnehmen sollte und die über fremdartige Kabel mit noch fremdartigeren Geräten verbunden war, wusste er, wie sich ein Delinquent fühlen musste, der zu seiner Hinrichtung geführt wurde.
Varx sah zu, wie Prosper Mérimée seine letzten Atemzüge tat. »Kümmere dich um ihn«, hatte Varol ihm aufgetragen. »Du liegst auf einer Wellenlänge mit dieser Spezies, das konnten wir schon zu anderen Zeiten und Gelegenheiten erkennen. Erinnere dich an die ersten Schritte der Siedler, an Sahbu und …« Er machte eine Bewegung, die es zur unbedeutenden Nebensache erklärte, noch mehr Namen derer aufzuzählen, mit denen Varx es schon zu tun bekommen hatte. Es stimmte. Er hatte eine Vorliebe für Menschen, wie sie sich nannten. Und diesen hier hatte er schon zu schätzen gelernt, bevor er ihm
das erste Mal persönlich gegenübergetreten war. Der gerade erwähnte Sahbu hatte unzählige Male von Prosper Mérimée geschwärmt. Sie hatten gemeinsam lange Jahre über ein besonderes Gebiet ihrer Heimatwelt … nun, geherrscht war der falsche Ausdruck … sie waren dort umtriebig gewesen. Varx kannte all die Geschichten, die Sahbu ihm jemals dazu erzählt hatte; sie waren so sicher wie in einem Schatzkästchen in ihm verwahrt. Und nun lag der Mann, den Sahbu über die Maßen geschätzt und gepriesen hatte, vor ihm und wartete darauf, dass ihm die Ganf, die ihn betreuten, das Lebenslicht ausbliesen. Varx musste gegen die paranoide Versuchung ankämpfen, hinzurennen und Prosper aus den Klauen seiner Mörder zu befreien. Sie würden ihn töten, aber sie waren keine Mörder, machte er sich klar. Sie versuchten, diesen Teil des Universums vor dem Schlimmsten zu schützen, was ihm hätte zustoßen können. Auruunen sind das URBÖSE. Der URFEIND. Diese Doktrin kannte jeder Sternling und sonstige Vertraute der Ganf. Und natürlich die Ganf selbst. Die Mächtigen, die beinahe ohnmächtig wirkten, paralysiert, im Dunstkreis der so akut gewordenen Auruunen-Bedrohung. »Du wirst einen Ehrenplatz in der Loge der Helden erhalten«, hörte Varx sich zu Mérimée sagen. Insgeheim hasste er sich dafür. Er vermittelte dem Menschen, dass Ruhm und Ehre so viel mehr wert waren als das einfache Leben, das er bis zu dem Tag geführt hatte, an dem Roddy/Varx bei ihm aufgetaucht war. Dabei war es aus Varx' Sicht fast umgekehrt: Ein Leben wie Prosper Mérimée es ohne den Druck der Ganf geführt hatte, war der Gipfel allen Glücks … Was denke ich da? Ich bin ihnen verpflichtet. Und ganz besonders … Er blickte zu Varol … ihm. »Varx?«, krächzte Prosper. »Ja?« »Hör auf mit diesem Unsinn!« »Ja«, sagte Varx, fast dankbar.
»Bist du bereit?«, fragte Varol, an Mérimée gerichtet. »Jetzt ist besser als nachher«, erklärte der Mensch im Angesicht des Todes. »Je länger ihr wartet, desto mehr kriege ich Schiss vor der eigenen Courage …« Varol gab ein Zeichen, das Prosper Mérimée wahrscheinlich gar nicht bemerkte. Einer der Ganf legte einen Hebel um. Um den Menschen herum bildete sich ein flimmerndes Feld, das schlagartig die Strahlkraft einer Sonne erlangte. Ein Alarm gellte auf. Den hörte Prosper Mérimée schon nicht mehr. Sein Körper war in der künstlichen Sonne verdampft.
Der Alarm galt nicht dem Prozess, der die Anomalie aus Prosper Mérimée herausschälen und sie für die Ganf nutzbar machen sollte. Der Alarm signalisierte das, was Varol schon bei seiner Ankunft bemerkt hatte – eine Attacke auf das Tor stand unmittelbar bevor. Die andere Seite plante offenbar einen neuen Versuch, bis in die Zuflucht durchzudringen. »Ihr kümmert euch weiter um das Projekt«, befahl Varol den versammelten Ganf. »Die Essenz darf nicht verloren gehen … Du!« Er zeigte auf Varx. »Du begleitest mich!« »Wohin, Herr?« »Hinaus! Ich will sehen, was dort vorgeht. Mich auf Monitore verlassen, kommt nicht infrage!« Er sah, wie sich der Sternling in Bewegung setzte. Er schätzte Varx – auch wenn er es ihm nicht oft zeigte. Für einen Sternling war er beachtlich. Sie erreichten das Freie. Was sich der visuellen Wahrnehmung des Menschen entzogen hatte, sahen Varol und Varx mit ihren ganz eigenen Sinnesorganen. Für sie war der Bereich zwischen den Säulen nicht nur von Luft gefüllt. Dort spannte sich das Feld, das sich nicht mehr abschalten ließ, seit dem schrecklichen Anschlag, der die Umgebung des Tors
nachhaltig verwüstet hatte. Hier überlappten seither die Dimensionen, rieben aneinander, produzierten spukhafte Effekte, die selbst den Ganf Albträume bescherten. Eine mögliche Torpassage wurde mit allem blockiert, was den Ganf an Technik zur Verfügung stand. Aber es wurde immer schwieriger, den Gewalten, die von drüben gegen das Portal pochten, Einhalt zu gebieten. Von der Mérimée-Komponente erhofften sie sich eine Verstärkung des Riegels, die ihn für alle Zeit stabilisieren und unzerbrechlich machen würde. Aber nun war es, als ahnten die Kräfte der anderen Seite, dass eine entscheidende Stärkung der Barriere unmittelbar bevorstand … … und das hatte sie möglicherweise zu diesem neuen Schlag animiert, dem Portas sich nun ausgesetzt sah! Varol hatte das Gefühl, den Boden unter den Füßen weggezogen zu bekommen. Aber vielleicht lag es auch nur an der spontanen Entfaltung seiner wahren Größe, die ihn scheinbar vom Boden wegkatapultierte, während Varx da unten zurückblieb. Varol blickte fassungslos auf das höherdimensionale Feld, das sich zwischen den riesigen Torbalken spannte und sich ihm in diesem Moment entgegen wölbte, als drücke von der anderen Seite ein gigantischer Rammbock dagegen. Er hörte Varx aufschreien, als auch er die herüberschwappende Gefahr bemerkte. Aber da berührten die Gewalten Varol auch schon. Brandeten gegen ihn und brachen sich an ihm wie die Wellen eines aufgewühlten Ozeans an einer keilförmig aufragenden Klippe. Er stemmte sich gegen den Sog, der ihn mit sich zu reißen drohte. Die zersprengten Energien spritzten nach allen Seiten, und wo sie auftrafen, hinterließen sie Wunden, die selbst die Folgen der vorherigen Attacke weit in den Schatten stellten. Varol versuchte, sich in das Gebäude zurückzuziehen, in dem die Ganf wahrscheinlich verzweifelt versuchten, die Barriere, die das Tor dicht hielt, zu stabilisieren. Aber er brach zusammen, bevor er mehr als ein paar Schritte dar-
auf hatte zutun können. Im Fallen sah er, wie Varx von einer Energiefahne getroffen wurde … und einfach verschwand. Ich sterbe, dachte der Ganf. Es war nichts, was er fürchten musste. Aber die Welt … Portos … stand vor ihrem totalen Untergang. Varols Sinne schwanden. Sein Körper stellte alle Lebensfunktionen ein. Der Ewige Traum der Ganf nahm auch ihn in seine Arme, während die Attacke der Auruunen ungebremst weiterging, bis … … ein anderer frisch Verstorbener so triumphierte, wie es sich die Mitglieder des GREMIUMS erhofft hatten. Prosper Mérimées Essenz floss in das Feld zwischen den Portalpfeilern. Die Kraft der darin verwurzelten Anomalie beruhigte das Geschehen schlagartig. Zum ersten Mal seit langer Zeit drang nicht mehr die geringste Erschütterung von drüben hierher vor. Für eine Weile überschattete Varols Tod den Sieg. Bis sich die Ganf in Erinnerung riefen, dass der Tod nicht das Schlechteste war, was einem der ihren widerfahren konnte. Statt Varol zu betrauern, feierten sie das Eintreffen von Varols Sternlingen, die ihn zur Letzten Stätte brachten und den Zejna-Obelisken um ihn formten. Bei alldem fiel gar nicht auf, dass der Sternling fehlte, den Varol stets bevorzugt hatte. Erst die Kommission, die den abgewehrten Angriff untersuchte und alle verfügbaren Informationen auswertete, wurde wieder auf Varx aufmerksam. Doch sie kam zu dem Schluss, dass der Sternling von den freigesetzten Gewalten verschlungen worden war. Zu diesem Zeitpunkt trieb Varx an der äußersten Grenze des Angksystems. Seine Erinnerung war verschüttet, und das Geschehen hatte ihn traumatisiert. Er dämmerte in Agonie dahin. Es dauerte fast tausend Jahre, die er ohne Luft und Nahrung überstand, weil er nichts dergleichen brauchte, bis er, vom zentralen Gestirn des Systems angezogen, sich in einer der Energiestraßen ver-
fing, die die Planeten miteinander verknüpften. Er wurde davon erfasst und mitgerissen. So gelangte er auf eine der Welten, auf denen die Menschen seit nunmehr tausend Jahren Anstrengungen unternahmen, sich einzurichten. Und einer dieser Pioniere … fand ihn schließlich … Varx hatte einen Großteil seiner Erinnerung verloren, fing im Dunstkreis der Menschen noch einmal fast ganz von vorne an. Es brauchte lange, bis er wieder die Nähe eines kobaltblauen Turms suchte und dort neue Aufgaben zugewiesen bekam, die eng mit den Bractonen verflochten waren, die zu diesem Zeitpunkt keine sichtbare Bedeutung mehr auf den Angkwelten erfüllten. Aber sie hatten Mechanismen hinterlassen, die in ihrem Sinne arbeiteten. Und als eines Tages wieder ERBAUER über die Welten des Systems wandelten, gehörte Varx zu denen, die für eine ganz spezielle Aufgabe auserkoren wurden. Sie sollten ein Raumschiff bereichern, das nach einer großen und leistungsstarken Crew verlangte. Das Raumschiff hieß RUBIKON, und es wurde zu Varx' neuem Betätigungsfeld …
13. Die Frage nach den Koordinaten ihres unfreiwilligen Aufenthalts überstrahlte für eine Weile selbst die wundersame Entdeckung in den Säulen. Aber alles Lamentieren führte zu nichts. Schließlich wandte sich Winoa an Yael. Sie zeigte auf die beiden von ihm in irgendeiner Weise »aktivierten« Säulen. »Kannst du das auch wieder beenden?« »Wie meinst du das?« »Abschalten.« »Ich habe gar nicht ab-« »Dann eben wünschen«, seufzte sie. »Wozu?«, fragte Aylea. »Es behagt mir nicht«, erwiderte Winoa. »Ich habe Angst vor dem, wie es weitergeht. Was geschieht mit den Föten, wenn sie wach bleiben? Wachsen sie – oder sterben sie ab? Beides wäre nicht in unserem Sinne, oder? Wir haben hier in etwas reingepfuscht, von dem wir keine Ahnung haben. Folglich wäre es das Beste, es ungeschehen machen zu können.« »Klingt plausibel«, gestand Aylea ein und wandte sich ebenfalls an Yael. »Und? Kannst du?« »Ich kann es versuchen.« »Es wäre sicher wirklich das Beste«, erklärte nun auch Algorian. »Ihr wisst gar nicht, wie extrem das Rauschen geworden ist. Besonders eine Komponente scheint unglaublich begierig darauf zu sein, sich mir …« Er schüttelte den Kopf. »Nein, das kann nicht sein.« »Was kann nicht sein?«, fragte Winoa sofort. »Worauf begierig?« »Begierig darauf, mit mir … in Verbindung zu treten.« Er lächelte schief. »Du meinst, einer der Föten – bleiben wir bei der Bezeichnung«, sagte Yael, »einer der Föten hat dich bemerkt und will mit dir in Kontakt treten? Ich dachte, da wäre nur ein diffuses ›Rauschen‹ und
die Viecher zu unterentwickelt, um zu mehr als eben diesem fähig zu sein …« »Ja«, sagte Algorian unglücklich, »das dachte ich ja auch. Aber eines dieser Geschöpfe ragt aus den anderen heraus, keine Ahnung, warum. Ich kann nicht einmal genau sagen, welches. Nur …« »Was?« »Dass es in der ersten Säule ist, nicht in dieser hier.« Ihre Blicke richteten sich sofort auf den Pfeiler, von dem der Aorii sprach. »Wenn ich vom bloßen Gezappel ausgehen könnte, würde ich sagen – der da!«, meinte Aylea und zeigte auf einen Fötus, der die heftigste Aktivität von allen zeigte. Algorian seufzte. »Ich will es gar nicht wissen.« »Könnte es nicht auch eine Chance sein?«, fragte Aylea. »Was meinst du damit?«, wollte Yael wissen. »Wenn ›es‹ in Kontakt mit Algorian tritt, könnten wir vielleicht etwas erfahren, das uns weiterbringt.« »Von etwas, das sich gerade erst seiner Umgebung bewusst zu werden beginnt?« Yael schlug verächtlich mit den Flügeln. Aylea ließ sich nicht beirren. »Idiot. Wir können nicht überall von unserer eigenen Warte ausgehen. Extraterrestrisches Leben hat seinen eigenen Kopf!« »Sie hat recht«, sagte Winoa. »Trotzdem plädiere ich für: Versuch es rückgängig zu machen oder zumindest zu stoppen!« Sie sah Yael tief in die Augen. »Und bitte mach schnell!« »Macht es dir solche Angst?« »Mit macht Angst, was Algorian dazu sagt.« »Okay.« »Und meine Meinung ist mal wieder völlig schnurz«, schmollte Aylea und stampfte mit dem Fuß auf. »Sei nicht kindisch«, sagte Yael. »Ich versuche es jetzt. Seid mal kurz still, damit ich mich so sammeln kann wie vorhin, als ich es … na, zum Leuchten brachte.« Sie schwiegen, aber ihre Anspannung blieb fast greifbar. Selbst
Aylea wirkte insgeheim froh darüber, dass ihrem Vorschlag nicht stattgegeben wurde. Eine Minute verstrich. Zwei Minuten … »Es tut sich nichts«, flüsterte Winoa. Yael schien schon aufgeben zu wollen, als … »Da!« Algorian zeigte nach vorn. Die anderen sahen es zur gleichen Zeit. Das Licht, das die Säulen – beide von Yael »aktivierten«! – erhellt und durchsichtig wie Glas hatte werden lassen, schwächte ab, als würde ihm die Stromzufuhr gedrosselt. Nach einigen Sekunden erlosch es ganz, und die Pfeiler wirkten wieder wie massiver Stein oder unnachgiebiges Metall. Winoa atmete tief durch. Sie merkte erst jetzt, wie stark der Fund sie beunruhigt hatte. »Ich bin froh«, sagte sie, »dass es dir gelungen ist.« Sie gab Yael einen schnellen Kuss auf die Wange. Aylea ging zu ihrer Freundin und legte ihr den Arm um den Hals, drückte sie. »Ich auch. War 'ne blöde Idee, was ich sagte. Mir war das hier auch verdammt unheimlich …« »Dann sind wir ja hoffentlich alle zufrieden«, sagte Algorian. »Von glücklich will ich nicht reden. Dazu fehlt noch, dass wir zurück in unsere vertraute Umgebung finden. Deshalb sollten wir dort weitermachen, womit Aylea und ich vorhin schon anfingen – lasst uns nach einer Tür suchen!« Der Vorschlag stieß auf allgemeine Zustimmung. »Was ist mit dem Rauschen?«, wollte Winoa von Algorian wissen, als sie den Säulen den Rücken kehrten. »Wird stetig leiser. Ich denke, es wird bald wieder das Level von vor der Säulenöffnung erreichen.« »Ich hab sie nicht geöffnet«, legte Yael Wert darauf, festzustellen. Algorian beschwichtigte. »So war es nicht gemeint. Also: Volle Konzentration auf die Türsuche!« Sie fühlten sich alle von einem Druck befreit, den sie gar nicht so genau hätten benennen können. Und keiner von ihnen, nicht einmal Algorian, merkte, wie es in einer der Säulen weiter rumorte …
Die Säulenhalle hatte keine klaren Unterscheidungsmerkmale. Algorian fragte: »Hat jemand einen Stift oder etwas anderes, womit wir eine Markierung anbringen können, um zu wissen, wann wir beim Ausgangspunkt unserer Suche wieder angelangt sind, was hieße, dass wir sämtliche Wandbereiche abgeklappert haben?« »Nein«, sagte Aylea. »Aber ich habe einen anderen Vorschlag. Statt alle in der gleichen Richtung zu suchen, teilen wir uns in zwei Gruppen auf. Die eine geht nach links, die andere nach rechts, immer dem Wandverlauf folgend. Sobald wir wieder aufeinandertreffen, heißt das, wir haben alle Wandflächen durch. Und wenn jemand vorher fündig wird, schickt er einen seiner Gruppe den anderen entgegen, um sie zu verständigen. Guter Plan?« »Perfekt«, sagte Algorian. Aylea sonnte sich in ihrem kurzzeitigen Ruhm. Dann wandte sie sich mit Algorian nach der einen Seite, und Winoa und Yael gingen in die andere Richtung. So sehr sie die Augen auch offen hielten, die Wand abtasteten, dagegen klopften oder – was Yael anging – es auch mal mit Wünschen versuchten, eine Tür fanden sie weit und breit nicht. Schließlich trafen beide Gruppen tatsächlich wieder aufeinander, ohne dass sie den geringsten Erfolg vermelden konnten. »Jetzt wird's langsam kritisch«, unkte Aylea. »Wer hat noch eine Idee?« »Ich hätte ja immer noch den Vorschlag, dass Yael …«, meldete sich Algorian zu Wort und blickte dem Nargen unverwandt ins Gesicht. »Na ja, dass du diesen imaginären Burschen aus deinem Repertoire hervorholst und ihn als Kundschafter durch die Wand schickst. Soviel ich weiß, kannst du durch seine Augen sehen – das wäre ideal für den Anfang. Und dann könntest du dich oder sogar uns alle dorthin befördern, wohin er vorausgegangen ist … Sowas hast du doch schon öfter gemacht.« »Nicht öfter – sehr, sehr selten. Weil es mir immer suspekt war, so etwas zu können«, seufzte Yael. »Und auch auf die Gefahr, dich und
die anderen zu enttäuschen: Ich krieg es nicht mehr hin. Seit mir Charly förmlich entrissen wurde, gelang es mir nie mehr, etwas Vergleichbares auf die Beine zu stellen.« »Mit entrissen meinst du, dass dieser Ganf aus Nabiss, der sich auch Tecum nannte, sich deines Charlys bemächtigte, richtig?«, warf Winoa ein. »Richtig«, sagte Yael mit finsterer Miene. »Aber Algorians Idee ist trotzdem nicht so verkehrt, oder? Allmählich machen sich Hunger und Durst bemerkbar – bei uns allen, schätze ich. Irgendwann werden unsere Kräfte dramatisch schwinden. Es dann noch zu versuchen, wird um einiges schwieriger als jetzt, wenn du noch auf der Höhe deiner Kondition bist.« »Was ist an ›ich krieg es nicht mehr hin‹ nicht zu verstehen?«, fragte Yael mürrisch. »Denkt ihr, ich hätte es nicht längst versucht? Charly ist keine Option.« »Und eine neue imaginäre Figur?«, fragte Aylea. »Wenn Charly nicht funktioniert, funktioniert auch kein Paul.« »Wer ist Paul?« »Hör auf. Du weißt, was ich meine. Respektiere es. Respektiert es alle!« »Das würde ich unter anderen Umständen, ohne noch ein Wort darüber zu verlieren«, sagte Algorian. »In unserem Fall sage ich dir: Du musst über deinen Schatten springen. Du trägst nicht nur Verantwortung für dich allein, sondern für uns alle.« »Jetzt klingst du wie mein Orham zu seinen besten Zeiten!« »Du kannst auch stolz auf deinen Orham sein. Jiim ist eine der loyalsten Personen, die mir je begegnet sind. Und der beste Freund, den man sich wünschen kann.« Yaels Blick wurde immer verdrossener. Winoa wagte nicht, ihn anzusprechen. Schließlich platzte es aus dem Nargen heraus: »Prima! Als ob ich nicht wüsste, dass mein Elter der Beste des Universums ist! Und dass ich's euch schuldig bin, es wenigstens zu versuchen … Danke, dass du mich erinnerst!« »Keine Ursache«, erwiderte Algorian, die Ruhe in Person.
Nicht nur Yael, auch die beiden anderen Jugendlichen rieben sich die Augen, wie sehr er in dieser Extremsituation über sich hinaus wuchs. Bevor Yael aber den Versuch starten konnte, einen neuen imaginären Freund entstehen zu lassen, klangen unvermittelt schleifende Geräusche auf. Der erste Gedanke der vier war: Varx! Er ist also doch hier! Aber dann bog eine Gestalt um die Ecke einer Säule, die so gar keine Ähnlichkeit mit dem Sternling aufwies. Winoa stieß Yael den Ellbogen in die Rippen. »Ist er das etwa schon? Hast du es schon getan?« Der Narge konnte nur perplex verneinen. Die seltsame Erscheinung, die schnurstracks auf sie zukam, war nicht auf seinem Mist gewachsen. Zumindest hoffte er das.
Die näherkommende Gestalt erinnerte Aylea spontan an eine Raupe, wie sie, viel kleiner allerdings, auch auf der Erde vorgekommen war. Während der Zeit, als Aylea noch in einer scheinbar intakten Familie gelebt und nicht ins Ghetto deportiert worden war, hatte sie solche kleinen Dinger im Holo-Zoo bestaunt und einmal sogar lebendig über den Arm kriechen lassen. Aber selbst in der Größe, wie sie gerade auf die Gruppe zukam, wirkte das Raupenwesen nicht eine Sekunde abstoßend oder gar gefährlich. Sein Hauptmerkmal war bunt. Gleich danach kam behaart. Der grünliche Grundkörper war mit abstehenden Haarbüscheln sowie roten und blauen Ringsegmenten übersät. Das schleifende Geräusch entstand bei der Fortbewegung, die ebenso von einer irdischen Raupe abgeschaut hätte sein können. Ganz vorne am Kopf gab es zwei handflächengroße schwarze Augen, und je näher das Wesen kam, desto deutlicher war ein Duft zu bemerken, der an eine Blumenwiese im warmen Sonnenschein erinnerte. »Vorsicht!«, ermahnte Algorian seine Freunde trotzdem. »Ich kann
keinerlei Gehirnaktivität feststellen. Der Boden unter meinen Füßen ist mental nicht aktiviert.« »Das heißt doch gar nichts«, sagte Aylea. »Und Vorsicht hin oder her: Es sieht nett aus.« Sie trat der Raupe entgegen. »Was bist du?« Zur Überraschung aller griff das Wesen die Frage sofort auf. »Emsig.« »Emsig?« Aylea schaute verwundert. Zum einen wegen des Wortes, zum anderen weil die Raupe ihre Sprache zu sprechen schien. »Ich kenne diese Spezies«, sagte Winoa überraschend. »Ich bin ihr nie persönlich begegnet, aber in der Schule lehrten uns die Tavner …« Sie überlegte kurz. »… dass sie auf Angk VII ansässig ist, auf Voosteyn. Sie heißen Lymantrier.« »Lymantrier … Bist du sicher?«, fragte Yael. »Fast.« Sie lächelte entwaffnend. »Voosteyn«, sagte die Raupe in diesem Moment. »Wo sonst? Wer seid ihr? Wer schickt euch? Niemand kommt mehr. Seit langem. Bin ganz allein. Allein.« Algorian murmelte im Hintergrund: »Ich verstehe nicht, dass ich rein gar nichts bei dem Wesen espern kann.« Yael schloss zusammen mit Winoa zu Aylea auf. Die Raupe schob sich bis zu ihnen vor. »Ihr wolltet wissen, was ich bin: emsig. Wenn ihr hingegen erfahren wollt, wie ich heiße …« »Ich habe mich ungeschickt ausgedrückt«, entschuldigte sich Aylea, die nichts vermasseln wollte. »Dispar. Ich bin Dispar. Und ihr? Wer schickt euch?« »Die Ganf«, log Aylea. Es kam ihr wie von selbst über die Lippen. Der Lymantrier bildete mit seinem Raupenkörper einen Buckel und fauchte hörbar. »Ist das wahr?« Die Stimme klang plötzlich unendlich sehnsüchtig. Obwohl es ihm zu widerstreben schien, sagte Yael: »Ja. Sie schickten uns, um nachzusehen, ob bei dir alles … nun, in Ordnung ist. Hier auf … Voosteyn.« »Hier auf Voosteyn hüte und wache ich wie befohlen. Aber nur in den Zonen der Kartei. Bin von der Außenwelt abgeschnitten. Keine
Nachricht. Keine Antwort. Kein Besuch. Ihr seid die Ersten. Was ist passiert? Draußen! Die Ganf melden sich nicht mehr. Die wahren Herren …« »Du weißt, dass die Ganf die wahren Herren im System sind?«, fragte Algorian sofort nach. Endlich trat auch er näher. »Was für eine Frage«, reagierte Dispar misstrauisch. Plötzlich verschwanden die Farben auf seinem Körper, und im selben Moment wirkte er auch keine Spur mehr freundlich und verspielt, wie noch Sekunden zuvor. »Es war ein Test. Du hast bestanden.« Algorian trat vor. »Draußen, außerhalb der Zonen, hat sich eine furchtbare Katastrophe ereignet.« Er improvisierte in solch schwindelerregendem Maße, dass ihm fast vor seiner eigenen Courage graute. »Wir sind die ersten Sendboten der Ganf, seit sie eintrat. Sie umfasst beinahe das gesamte Angksystem. Nur das hier …« Er zeigte in die Säulenhalle. »… und Portas sind noch davon ausgenommen.« Die Farben kehrten zurück. »Dann bin ich froh, sehr froh. Wenigstens Portas und die Zonen. Die Kartei wird von mir gut gepflegt. Niemand kann mir vorwerfen, dass ich nachlässig gewesen bin.« »Nein! Gewiss nicht, nein!«, beeilte sich Algorian zu versichern. »Die Ganf werden froh sein, von uns zu hören, wie gut in Schuss du alles gehalten hast.« »Wundere mich«, sagte Dispar. Es klang wieder so, dass es die hier Gestrandeten nicht gewundert hätte, wenn die Farben wieder vom Körper des Lymantriers verschwunden wären. »Worüber?«, fragte Algorian vorsichtig. »Dass ihr euch bewegen könnt. Frei bewegen. Habt ihr auch Gürtel? Ich sehe keine.« »Gürtel?«, fragte Algorian. Der Lymantrier zeigte auf ein schimmerndes Band künstlichen Ursprungs, das seinen Körper ungefähr in der Mitte umschlang. »Ein Staseneutralisator«, sagte er. »Wie sollte ich mich sonst durch Zone bewegen? Würde sofort erstarren. Und ihr?« »Stase«, wiederholte Algorian und tauschte Blicke mit seinen Freunden. »Ja. Natürlich. Aber die Gürtel …« Er zeigte auf den von
Dispar. »… sind veraltet. Wir wurden gechipt. Tragen Staseneutralisatoren unter der Haut. Wirst du bestimmt auch demnächst bekommen.« »Aber wir haben genug gesehen«, mischte sich Winoa ein. »Prima Arbeit, Lymantrier. Prima Arbeit. Wir gehen dann wieder. Bringst du uns noch zum Ausgang?« Die Farben flohen regelrecht vom Körper des Raupenwesens. »Ausgang?« »Klar«, sagte Algorian. »Wir müssen den Ganf Bericht erstatten, dass du trotz der Probleme draußen, die Kontrolle bewahrt hast. Die Karteien … Sie sind bei dir in besten Händen … Wir werden es lobend erwähnen.« Der Lymantrier buckelte und fauchte. »Legitimiert euch. Wer von den Herren hat euch geschickt? Mit welchem genauen Auftrag?« »Du riechst gut«, sagte Aylea. »Aber dein Misstrauen stinkt zum Himmel! Du solltest ein anderes Benehmen an den Tag legen. Wir können auch anders!« »LEGITIMIERT EUCH!« Die gerade noch hübsch anzusehende, farbenprächtige Kuschelraupe war zum bleigrauen furchteinflößenden Wächter mutiert. Yael stellte sich schützend vor seine Freunde. Obwohl er der Jüngste von allen war, wirkte er körperlich doch am imposantesten, und dessen war er sich bewusst. Auch Algorian schob sich nach vorne. »Tecum!«, improvisierte er. »Tecum hat uns geschickt! Genügt dir das? Er wird wenig erfreut sein, wie du uns hier behandelst. Ein einfacher Lymantrier …« Wider Erwarten gab Dispar seine aggressive Haltung auf. »Tecum … Einer vom GREMIUM … Wie solltet ihr auch sonst hierher kommen? Aber was sollte diese Bemerkung mit dem Ausgang. Ihr wisst doch, dass es keinen … Ah, verstehe. Test. Aber warum werde ich getestet. Erledige alles zur vollen Zufriedenheit. Wurde immer gelobt. Guter Dispar, hieß es stets. Guter vorbildlicher Dispar …« »Beruhige dich«, sagte Aylea, obwohl sie selbst das genaue Gegenteil war. Kein Ausgang? Was redete die Raupe da? Der Lymantrier erstrahlte wieder in seiner ganzen bunten Pracht.
»Nach der Katastrophe, die alle Welten des Systems heimgesucht hat, geht es darum zu verhindern, dass hier Probleme auftauchen. Tecum vom GREMIUM ist in Sorge, dass der Wächter der Kartei ebenfalls Schaden genommen hat. Immerhin ist auch Voosteyn betroffen. Er schickte uns, um herauszufinden, ob mit der Kartei alles in Ordnung ist. Die Zone, in der sie sich befindet, ist aber offenbar eine ebensolche Ausnahme und unversehrt wie Portas. Vielleicht sollten wir doch noch ein wenig bleiben und sicherstellen, dass auch wirklich alles zum Besten steht. Du selbst merkst vielleicht gar nicht, dass du von den Verhältnissen jenseits der Zone beeinträchtigt wirst. Lass es uns auch kurz testen.« »Wie?« Diesmal kam die Frage ohne erkennbares Misstrauen. »Was kann ich tun?« »Ein paar einfache Fragen beantworten«, sagte Aylea, die nicht mehr zu bremsen war. Da ihre Freunde längst begriffen hatten, was sie beabsichtigte, galten ihr bewundernde Blicke. Nur Yael wirkte in sich gekehrt, fast geistesabwesend. Auf seiner Haut hatten sich winzige Schweißperlen gebildet. Wer ihn kannte, wusste, dass das klare Anzeichen für einen enormen Stress waren, dem er sich ausgesetzt fühlte. Winoa trat neben ihn und nahm wie beiläufig seine Hand. Auch darauf reagierte er kaum. »Frag«, sagte Dispar. »Wer hat die Kartei angelegt?« Der Lymantrier zögerte kurz, aber die Farbe blieb. Er wirkte vielmehr wie ein menschlicher Arbeiter, der hochspezielle Fragen über seinen Job erwartete – und sich dann einer völligen Banalität gegenübersah. Etwas, was ein Kleinkind ohne jede Qualifikation hätte beantworten können. »Meine Herren, die Ganf.« »Nicht die Bractonen?« »Wie kommst du auf –« »Antworte nur auf meine Fragen.« »Nein, die Ganf. Natürlich die Herren.« »Natürlich.« Aylea lächelte. Sie schien langsam warmzulaufen. »Jetzt wird es etwas schwieriger. Was ist die Kartei?«
»Wenn ich das nicht mehr wüsste«, sagte Dispar, »wäre ich in der Tat unwürdig, hier die Interessen der Herren zu vertreten.« »Dann sprich.« »Die Kartei ist eine Einrichtung, in der der UNVERGESSENE HORT gehütet und gepflegt wird.« Von Dispar offenbar unbemerkt, tauschten die Freunde Blicke, die dem gerade gefallenen rätselhaften Begriff galten. »Was ist der UNVERGESSENE HORT?«, fragte Aylea. »Die Heimat, aus der wir vertrieben wurden.« »Ein Sternensystem?« »Eine Galaxie«, erwiderte Dispar fast aufgebracht. »Aus der auch du stammst?« »Mein Volk, ja.« »Sehr gut, Dispar, bislang … und ich freue mich, dir das schon sagen zu können … läuft alles tadellos. Das GREMIUM und Tecum werden erfreut sein.« Der Lymantrier schien noch etwas bunter zu leuchten. »Und wie wird hier in der Kartei der alten Heimat gedacht?« Dispar krümmte sich so, als wollte er hinter sich zu den zahllosen Säulen zeigen. »Bitte etwas schwerere Fragen. In den Säulen schlummern von allen erhaltenswerten Arten des UNVERGESSENEN HORTS mindestens ein Exemplar. Eins, wenn es sich um eine Spezies handelt, die sich aus sich selbst reproduziert, zwei oder mehr, wenn dazu Sexualpartner notwendig sind.« Winoa drückte Yaels Hand unwillkürlich fester. Aber der Narge reagierte auch darauf nicht. Während alle anderen Gestrandeten fasziniert dem lauschten, was Aylea der Raupe mit ihrem frechen Auftritt entlockte, schien Yael mit etwas ganz anderem beschäftigt zu sein. Die Schweißperlen auf seiner Haut waren mehr geworden. »Und sie werden in Stase gehalten, diese Exemplare?«, fragte Aylea zum ersten Mal hörbar verunsichert. »Hier in den Säulen?« »Fast die gesamte Zone liegt unter Staseeinfluss«, sagte Dispar und drängte ungeduldig: »Schwerer! Bitte schwerere Fragen!« Aylea versuchte ihm den Gefallen zu tun. »Kannst du die hier ruhenden Artenvertreter aufwecken? Ich meine rein theoretisch.«
»Nein! Nur die Herren könnten das. Ich habe keinen Schlüssel zu den Säulen.« »Und du hast auch nichts Beunruhigendes, Ungewöhnliches festgestellt – in letzter Zeit?« »Zeit«, sagte die Raupe stolz, »findet hier nicht statt. Nur der Gürtel … oder eure Chips … ermöglichen es, sich in der Kartei zu bewegen. Habe ich das richtig erklärt?« »Du hast«, sagte Aylea, »noch nicht auf meine eigentliche Frage geantwortet.« Dispar dachte nach. »Ungewöhnliches, Beunruhigendes? Außer euch …? Nein. Nichts.« »Kein Vorfall?« »Kein Vorfall, außer –« »– uns.« Aylea lächelte. Schon klar. »Du bist ein guter Wächter. Lässt dich nicht ins Bockshorn jagen, von niemandem. Aber jetzt zeig uns, wie du hierhergekommen bist. Oder wie die Herren dich hier besuchen. Kein Tor in der Wand, ist klar. Die Frage danach war auch nur ein Test. Aber wo ist die Stelle, an der du kommst und gehst?« Ihre Freunde ahnten es bereits, und auch Aylea wusste, dass dies der kritischste Moment war. Die Reaktion des Lymantriers fiel eindeutig aus: Aylea hatte den Bogen überspannt. »ICH GLAUBE DIR NICHT! DU BIST NICHT … IHR SEID NICHT, WER IHR ZU SEIN VORGEBT!« Mit dem ohrenbetäubenden Gebrüll der Raupe wichen auch wieder jäh ihre Farben. Mit gesträubten Haaren, an deren Spitzen eine vorher nie bemerkte Flüssigkeit schillerte, richtete sie ihren Oberkörper vor Aylea, Jiim, Algorian und Winoa auf. Gift, dachte Winoa geschockt. Das an den Haarspitzen … könnte Gift sein! Sie warnte die anderen, die sich sofort zurückzogen. Nur Yael stand wie festgewachsen da und widersetzte sich Winoas Versuch, ihn mit sich zu ziehen. In dem Moment, als die Raupe zum Angriff übergehen wollte,
flimmerte vor ihr die Luft. Dispar zuckte zurück. Erst recht, als die zunächst nebelhafte Gestalt Form und Kontur gewann. Winoa ließ Yaels Hand los und wich zurück bis zu den anderen, die ebenso überrascht wurden. »Meister!«, hauchte die Raupe.
»Was geht hier vor?« »Ich habe unbefugte Eindringlinge gestellt, Meister!« »Wen? Die da etwa …?« Der Ganf drehte sich zu der Gruppe um. »Wieso unbefugt? Haben Sie sich nicht legitimiert?« Der Lymantrier blieb seiner bleiernen Farblosigkeit treu. »Sie behaupteten, von dir geschickt worden zu sein, Herr. Vom GREMIUM. Aber –« »Genauso ist es. Wir waren und sind in Sorge – offenbar nicht unbegründet –, was die Kartei angeht. Du beweist gerade, Dispar, dass du der neuen Situation nicht gewachsen bist. Sagten meine Gesandten nicht, dass sie dich überprüfen? Stellten sie dir nicht alle dafür erforderlichen Fragen?« Obwohl Tecums Stimme kaum Schärfe aufwies, duckte sich Dispar unter jedem einzelnen Wort. »Die Fragen«, sagte er und musste dazu offenbar allen Mut zusammenkratzen, »waren merkwürdig, Erhabener.« »Merkwürdig? Inwiefern?« »Sie fragte nach absurden Dingen wie einem Tor, das aus der Kartei herausführt. Oder der Stelle, an der ich komme und gehe – oder du, Meister. Verstehst du, was ich meine?« »Es war ein Test«, erinnerte Tecum ungerührt. »Und offenbar …« Er glitt näher an Dispar heran, was er zuvor offenbar tunlichst vermieden hatte. Irgendwie wirkte er von Sekunde zu Sekunde selbstbewusster. »Ja, Meister?« Falls Lymantrier vor Angst schlottern konnten, dann tat Dispar es gerade.
»… hast du ihn mit Bravour bestanden! Ich gratuliere!« »Bestanden?« Die Erleichterung malte neue Farben ins bleierne Grau. »Natürlich. Wie du siehst, haben deine Herren dich während des gesamten Tests beobachtet. Ich beglückwünsche dich zu deinem Verhalten. Ein echter Eindringling hätte keine Chance gehabt!« Der Lymantrier erblühte noch mehr. »Danke, Erhabener, danke!« »Und jetzt lass uns allein.« »Allein?« »Ich muss Vertrauliches mit meinen Gesandten besprechen. Bevor sie mit mir zusammen gehen.« Dispar zögerte, doch wie sich zeigte, geschah dies nicht wegen der »Gesandten«. »Ist mir eine Frage erlaubt, Herr?« Tecum schien zu überlegen. »Ich behalte mir vor, sie unbeantwortet zu lassen, wenn es dafür Gründe gibt. Aber frag.« »Was ist da draußen geschehen? Außerhalb der Zonen der Kartei – und außerhalb von Portas, auf den anderen Systemwelten, die unter bractonischer Verwaltung stehen?« »Verwaltung … ein interessanter Ansatz«, sagte Tecum. »Aber zu deiner Frage: Der Feind steht vor den Toren.« »Welcher Feind?« »Ein sehr mächtiger. Wir mussten das System schützen. In nie da gewesener Weise. Daraus resultieren Nebeneffekte, die den normalen Verkehr zwischen den Welten zurzeit unterbinden.« »Was werden die Herren gegen die Belagerer tun?«, fragte Dispar spürbar erregt. »Das wäre schon die nächste Frage. Werde nicht unbescheiden. Geh jetzt. Du bist nicht vergessen. Wir werden uns beizeiten deiner erinnern.« Der Lymantrier kroch gehorsam davon. Das schleifende Geräusch entfernte sich. »Nun zu uns«, sagte Tecum, als Dispar außer Hörweite war, »was sagt ihr – war ich gut?«
Die Verblüffung wich stiller Begeisterung – und einer gehörigen Portion Unglaube. Selbst Winoa war ganz verdattert. Sie huschte zu Yael und zerrte ihn fast grob am Arm. »Steckst du etwa dahinter?« Die Tecum-Attrappe antwortete für den Nargen. »Tu ihm nicht weh! Er hat's nur für euch getan!« Algorian ging auf den gefälschten Ganf zu und umrundete ihn. »Täuschend echt. Für mich jedenfalls. Was mich aber schon erstaunt, ist, dass ein Wesen wie Dispar darauf hereinfällt – zumal er ja klar Tecum in diesem Kerl hier erkannt zu haben scheint. Für mich sehen alle Ganf gleich aus, tut mir leid. Deshalb verstehe ich die durchschlagende Wirkung nicht. Es sei denn, wir gehen davon aus, dass der Lymantrier tatsächlich mit seiner Aufgabe überfordert ist und längst ausgetauscht gehörte …« Auch Aylea stand jetzt vor Yael und trommelte ihm wie ein jähzorniges Kleinkind gegen die Brust. »Du bist ein Genie! Aber du hast mich dermaßen erschreckt …« »Mehr als Dispar, als er sich aufplusterte?«, fragte Yael zweifelnd und grinste. Mit jedem seiner Worte und seiner Körpersprache brachte er zum Ausdruck, wie selbstbewusst ihn der Erfolg gemacht hatte, an den vielleicht noch nicht einmal er selbst geglaubt hatte. »Das war Rettung in höchster Not«, seufzte Winoa. »Aber wir haben allenfalls eine Verschnaufpause. Die Raupe wird über kurz oder lang zurückkommen, und ob Dispar sich dann noch mal täuschen lässt …« »Wenn er zurückkommt«, sagte Yael, »werden wir hoffentlich nicht mehr da sein.« »Reine Hoffnung … oder hast du einen konkreten Plan?« »Du hast ›Tecum‹ gehört: Er will uns mitnehmen. Das Angebot sollten wir annehmen.« Die Tecum-Attrappe, die sich als neuer »imaginärer Freund« herausgestellt hatte, winkte ihnen aufmunternd zu. »Dann war mein Vorschlag wohl nicht ganz verkehrt«, sagte Algorian. »Freut mich. Du ahnst nicht, wie sehr mich das freut, Yael.«
»Und mich erst! Anfangs rührte sich gar nichts. Ich war so konzentriert, wie vielleicht noch niemals in meinem Leben!« »Das steckte also hinter deinem auffälligen Verhalten …« Winoa nickte. »Ich werde jetzt den ersten Schritt zu einer erfolgreichen Rückkehr auf die RUBIKON vollziehen«, sagte Yael. »Du schickst ›Tecum‹ als Vorauskommando?«, fragte Algorian. »Ich versuche es zumindest. Garantieren kann ich für nichts – schon in Anbetracht der schwierigen physikalischen Bedingungen innerhalb des Systems.« »Du solltest keine Zeit verlieren«, drängte Aylea, die schon wieder Ausschau nach Dispar zu halten schien. Offenbar erwartete sie jederzeit seine Rückkehr. Yael nickte. Er schloss die Augen. Die Tecum-Fälschung verschwand aus der Kartei-Halle. Aylea, Winoa und Algorian scharten sich um Yael, der nach einiger Zeit sagte: »Fasst mich an den Händen. Alle! Ich bin durch. Gleich geht es …« Das »… los!« sagte er schon auf Kalser. Der künstlichen Nargen-Enklave an Bord der RUBIKON. Tecum, der sie »hinter sich her gezogen« hatte, winkte ein letztes Mal, ehe er sich vor ihnen auflöste. Mit nargentypischem Keckern – Zeichen maßloser Erleichterung – stürmte Jiim heran. »Yael …! Kinder! Dürrer!« Mit dem letzten Ausruf meinte er zweifellos Algorian, der sich davon aber nicht im Mindesten irritieren ließ. »Woher kommt ihr?« »Gegenfrage«, rief Aylea ihm zu. »Wo ist Varx? Geht es ihm gut? Ich mache mir solche Gedanken um ihn!«
Nachdem sie sich über das Wichtigste ausgetauscht hatten, fragte Jiim: »Was ich gar nicht an eurer Geschichte verstehe, ist, dass ihr euch auf Voosteyn, in dieser ›Kartei‹ frei bewegen konntet – und
dieser … wie nanntet ihr ihn, Lymantrier? Und dieser Lymantrier auch.« »Er hatte einen Gürtel«, sagte Yael, »von dem er behauptete, dass er ihn vor der Stase schützt.« »Ihr hattet aber keinen, oder?« »Nein«, sagte Winoa, anstelle des Jungnargen. »Aber womöglich hat uns Varx etwas mitgegeben, das uns anhaftete – oder die Stasis in der Säulenhalle hob die Zeitlosigkeit auf, in die der restliche Planet und der überwiegende Teil des Angksystems gehüllt sind.« »Dann hätte die Stase aber in der Kartei-Halle generell aufgehoben sein müssen, oder?«, fragte Jiim. »Ihr habt von den beiden Säulen erzählt, die Yael transparent machte. Erst nach einer Weile begann das darin erstarrt liegende Leben, sich zu bewegen. Wenn die These mit dem sich gegenseitig aufhebenden Staseeinfluss zuträfe, wären die Föten in den Säulen von Anfang an rege gewesen. Oder kapiere ich's einfach nicht?« »Es könnte sein, dass uns wirklich etwas von Varx anhaftete. Sternlinge sind immun gegen die Zeitstarre, das konnte Aylea schon bei ihrem ersten ›Ausflug‹ mit Varx feststellen.« »Ja, aber sie hatte auch extrem zu leiden«, rief ihm Jiim in Erinnerung. »Sag's ihm, Aylea, dir ging es nicht gut. Dein Körper brauchte lange, um sich auf der bis auf die Sternlinge völlig erstarrten Welt zurechtzufinden.« »Das stimmt«, bestätigte Aylea nachdenklich. »Aber diesmal war es auch ganz anders als bei meinem Sprung mit Varx allein. Ich hatte das Gefühl, dass er explodiert sei und uns mit einem Regen seiner Substanz überschüttete … Deshalb auch meine Angst um ihn. Ich bin froh, dass er noch lebt!« »Falls man es Leben nennen kann«, sagte Jiim in keinster Weise abfällig. »Wie immer man es nennen muss, für mich wird er immer eine Person wie alle meine sonstigen Freunde sein!« »Das ehrt dich.« »Es ist selbstverständlich, oder?« Jiim lächelte. »Ich bringe euch zu Varx. Wie sein aktueller Zustand
ist, weiß ich nicht – nur dass er gefunden wurde. Es wird ihm sicher guttun, wenigstens euch wohlbehalten wieder zurück zu sehen.«
Zur gleichen Zeit Dispar drehte seine Runde. Aber in seinen Gedanken war er immer noch bei dem Erhabenen, der ihn – endlich, nach so langer Zeit – besucht und das Missverständnis aufgeklärt hatte. Inzwischen waren der Erhabene und seine Gesandten wieder, wie von ihm angekündigt, gegangen. Die Einsamkeit war in die Kartei zurückgekehrt. Normalerweise hatte Dispar damit keine Probleme, aber der Besuch hatte ihn aufgewühlt, und wenn er jede Situation noch einmal durchging, kamen neue Zweifel auf, ob denn wirklich alles seine Richtigkeit gehabt haben konnte. Der einzige Faktor, der jede Unstimmigkeit entschuldigte, war der Meister, der ihn schlussendlich belobigt hatte. Tecum. Doch gerade der Erhabene hinterließ einen schalen Beigeschmack in dem Lymantrier. Irgendwie war er anders aufgetreten als bei zurückliegenden Begegnungen. Er war es gewesen, zweifellos, aber sein Verhalten … Vielleicht, dachte Dispar kritisch, bin aber auch ich es, der sich in der Zeit des Alleinseins verändert hat. Ich bin froh, dass der Meister es mir nicht zum Nachteil auslegte. Ich sollte jetzt aufhören, an mir und anderen zu zweifeln, es tut mir nicht gut. Ich bin der Hüter der Halle. Ich bin der Beschützer der Kartei. Nichts und niemand wird diesen Ort entweihen oder ihm Schaden zufügen. Er begann, sich mit seinem Los abzufinden. Mit der Einsamkeit, obwohl ihn geballtes Leben umgab. Aber das war eingefroren. Im Eis der Stase. Ein Geräusch, das nicht er erzeugte, sondern das von weiter weg
kam, ließ ihn innehalten. Schon wieder?, dachte er. Stand eine neue Überprüfung an, ein neuer Test? Oder war der Erhabene zurückgekehrt, weil ihm im Nachhinein doch noch eine Kritik eingefallen war? Das Geräusch wiederholte sich. Dispar konnte es nicht deuten. Es waren keine Stimmen oder Schritte, wie zuletzt. Es hörte sich eher an wie etwas Martialisches. Wie … zerreißendes Metall oder brechender Stein … Er schauderte. Je näher er der Quelle des Lärms kam, desto mehr veränderte sich der Lymantrier. Aus dem gutmütig und verspielt aussehenden Wesen wurde eine lebende Waffe. Er brauchte es nicht einmal bewusst zu tun, seine tiefverwurzelten Instinkte pumpten Gift in die Haarspitzen, die hart wie Nadeln wurden. Vor einer Säule am äußeren Hallenrand blieb er stehen. Das Geräusch war verstummt, als hätte der Verursacher Dispars Annäherung bemerkt. Wenn der Lymantrier über eines verfügte, dann über Geduld. Er verharrte so lange, bis sich die unbekannte Kraft offenbar wieder sicher fühlte. Aus der Säule heraus kam ein hartes Knacken, als würden stählerne Klauen oder Zähne sich durch das Material des Pfeilers wühlen. Dispar hatte Derartiges noch niemals zuvor erlebt, und er konnte sich auch keinen Reim darauf machen. Dann entstand ein erkennbarer Sprung in der Oberfläche der Säule. Ein Riss, der sich rasch erweiterte. Der Lymantrier nahm die Haltung ein, die jedem Gegner, der ihn so sah, die Aussichtslosigkeit eines Angriffs klar machen musste. Was für ein Gegner?, fragte sich Dispar selbst. Es kann sich nur um eine Nebenwirkung der Geschehnisse handeln, die offenbar auch nach der geschützten Zone greifen. Die Einflüsse von draußen müssen in einer der Säulen einen Defekt hervorgerufen haben … hoffentlich nur in einer … Er glaubte bis zuletzt, Herr der Lage zu sein.
Doch dann platzte die Säule förmlich auseinander unter der erdrückenden Gewalt dessen, was darin mit monströser Geschwindigkeit zu wachsen und heranzureifen begonnen hatte. Ein Hagel von Trümmern prallte gegen den vergeblich fauchenden Lymantrier. Die Kreatur, die dem Hagel unmittelbar folgte, scherte sich nicht um Gifthaar oder andere organische Verteidigungsmechanismen. Sie war gegen beinahe alles gefeit. Die Auruunen hatten sie vor einer halben Ewigkeit präpariert. Aber es hatte gewisser Umstände bedurft, um die manipulierte Kreatur zur Entfaltung kommen zu lassen. Jetzt war sie da. Und sie zögerte nicht, ihr erstes Opfer zu schlagen. Dispar starb an seinen eigenen Stacheln, die der Erwachte ihm durch die bleigraue Haut rammte und der Lymantrier qualvoll röchelnd verendete. Dann beugte der Erwachte sich über ihn, sättigte sich an den biochemischen Verbindungen, die zugleich Träger der Gedächtnisinhalte des Lymantriers waren, ignorierte den Gürtel des Wächters, den er nicht brauchte, und begab sich zu einer der Wände, die keinen Ausgang hatten. Noch nicht …
14. John Cloud schüttelte sich wie ein nasser Hund. Er versuchte, die Scheuklappen abzustreifen, die seinen Geist einzig auf Tecums Übertragung fokussiert und die Vergangenheit für ihn und Jarvis hatten aufleben lassen. »Ihr habt Prosper in dieses ›Portal‹ verbannt«, sagte er. »Er wurde von euch benutzt wie irgendein geistloses Ding … ein Apparat … Aber wir sprechen hier von einem Menschen!« Er wusste nicht, wie er mit dem Gehörten umgehen sollte. Jarvis hatte damit weniger Probleme. »Arschlöcher!«, sagte er. »Was seid ihr nur für abgehobene ignorante Arschlöcher?« Es war spürbar, wie nahe auch Jarvis Prospers Schicksal ging. Sie hatten ihn beide gekannt und geschätzt. Als er mit seinem Ensemble aus der RUBIKON verschleppt worden war, hatten sie lange gebraucht, sich daran zu gewöhnen, ihn und die anderen nie mehr wiederzusehen – aber als sie das Angksystem fanden und erfuhren, dass Prosper und die anderen die Begründer der dortigen Menschheit waren, hatten sie ihren Frieden mit Kargor und dessen zuvor nicht entschuldbaren Tat gemacht. Sie waren davon ausgegangen, dass Prosper und seine Schicksalsgenossen die Chance auf ein erfülltes Leben erhalten hatten, auch wenn sie gegen ihren Willen ins Erste Reich der Bractonen gekommen waren. Nun hörten sie, dass zumindest Prospers Leben eine dramatische Wendung genommen hatte – und dass die Ganf ihr Vorgehen ebenso entschuldigten, wie Kargor und die Bractonen es vor ihnen getan hatten. Immer führten sie »höhere Gründe« an. Beriefen sich auf das Wohl vieler, das vor dem Wohl Einzelner zählte. Und immerhin, das hatte Tecum während seines Berichts mehrfach betont, habe Prosper schlussendlich selbst entscheiden, den Märtyrer geben zu wollen. Cloud wusste genau, dass das ein bloßes Zurechtbiegen von Moral war. Prosper hatte sein Los freiwillig auf sich genommen – aber nur,
weil die Ganf ihm ein ums andere Mal eingebläut hatten, dass mit dem Fall von Portas auch alle anderen Welten des Systems fallen würden – Arrankor, die Heimat von Prospers Nachkommen, inbegriffen. Wie hätte ich mich entschieden, dachte Cloud, wenn ich an Prospers Stelle gewesen wäre? Vermutlich genauso. »Verbannt ist ziemlich verharmlosend ausgedrückt, John«, hörte er Jarvis sich weiter ereifern. »Er wurde umgebracht. Du hast es doch auch miterlebt. Diese Arschlöcher sind Killer!« »Ich glaube nicht, dass ihnen deine Beschimpfungen etwas ausmachen«, sagte er. »Sollten sie aber – weil ich gerade dabei bin, richtig sauer zu werden. Und wenn ich richtig sauer bin –« »Nein!«, bremste Cloud den Freund, der bereits begonnen hatte, die Nanostruktur seines Körpers umzubauen. Aus Armen formten sich Waffen, die vielleicht sogar Ganf zu schaden vermochten. Aber darauf wollte Cloud es keinesfalls ankommen lassen. »Wenn ihr wenigstens euer Bedauern zum Ausdruck bringen würdet. Aber ich bekomme den Eindruck, dass für euch nur das Resultat zählt. Die Frist, die ihr euch durch Prospers Opfer erschlichen habt!« »Ich lege die Karten vor euch offen«, sagte Tecum, ohne Anstalten zu machen, Clouds und Jarvis' berechtigten Zorn zu mildern. »Das Urteil über uns muss ich euch überlassen. Aber richtet nicht vorschnell. Was Prosper Mérimée dazu bewog, seine Körperlichkeit zu opfern, war von uns nicht aufgebauscht, sondern es beschrieb die reale Gefahr, in der wir damals wie heute schweben.« »Es hat letztlich nichts genutzt«, sagte Jarvis. »Die Auruunen stehen vor dem System. Du hast die Schiffe ebenso gesehen wie wir. Es sind viele. Verdammt viele. Und es scheinen immer mehr zu werden. Über kurz oder lang werden sie einen Weg durch die Chaoswolke finden, die ihr als letzten Verteidigungswall errichtet habt … So ist es doch, oder? Die Wolke ist euer letzter Trumpf!« »Ihr sagt es.«
Jarvis lachte auf. »Du täuschst mich nicht. Ich durchschaue deine Taktik. Immer schön alles einräumen. Alles zugeben. Aber irgendetwas hast du ebenso mit uns vor, wie deine Kollegen da auf ihrem Thron! Ihr verschwendet eure Zeit doch nicht umsonst mit uns! John! Sag ihnen, dass wir nicht ganz so naiv sind, wie sie denken. Wir wissen, wann wir vor einen Karren gespannt werden sollen. Und das hier stinkt zehn Meilen gegen den Wind!« »Er drückt sich seltsam aus«, sagte Tecum ruhig. Ebenso ruhig erwiderte Cloud: »Das ist Jarvis.« »Aber er hat recht«, sagte Tecum. »Auch das ist Jarvis.« Cloud nickte. »Ihr wollt uns also vor euren Karren spannen. In welcher Weise? Was sollen wir für euch tun?« Tecum machte eine Geste, als wollte er sagen: Okay, keine Spielchen, keine Hinhalte-Taktik mehr. »Der Name Kargor fiel schon mehrfach«, sagt er. »Es ist noch nicht lange her, dass er nach Portas kam – auf besonderer Mission mit einer Tridentischen Kugel – und mit all jenen Bractonen an Bord, die von hier aus den Sprung in ›ihr angestammtes Kontinuum‹ versuchen wollten. Kargor glaubte, die Zeichen der Zeit verstanden zu haben und rechnete sich eine Chance aus, die Schwelle zwischen den Kontinuen überwinden zu können. In seiner Erinnerung und Vorstellung war Portas die Welt, auf der die Bractonen schon vor Äonen versuchten, ein Tor in das Heimatkontinuum zu öffnen.« »In ihrer Erinnerung ging dieser Versuch schrecklich schief«, nahm Cloud den Faden auf. »Aber ich schätze mal, auch das ist eine gefälschte Erinnerung, eine Lüge, die ihr in das Kollektivgedächtnis dieses Volkes gepflanzt habt.« »So ist es«, gab Tecum unumwunden zu. »Aber wir empfingen die Tridentische Kugel auf unsere Art. Kargor und seine Artgenossen merkten es nicht einmal. Für sie blieb Portas die Hölle, die sie erwarteten. Und sie steuerten das Nadelöhr an, das wahrhaftig ein Tor ist – eins, das seit Prosper Mérimées Verschmelzung damit nie wieder auch nur für den Bruchteil einer Sekunde auch nur einen winzigen Spalt offen war.« »Ihr habt Kargor in dem Glauben gelassen, einen offenen Riss zwi-
schen zwei Kontinuen anzufliegen?« »Ja. Wir können Illusionen in jedem Geist verankern und diesen Geist glauben machen, dass es sich um die Wahrheit, die reine Wahrheit handelt. Außer bei …« Diesmal fiel ihm Jarvis ins Wort. »Außer bei den Auruunen.« »Auch das ist richtig.« Tecum gab nicht zu erkennen, ob er der Kombinationsgabe seiner Zuhörer Respekt zollte. Er fuhr fort. »Wir ließen, und das wird euch interessieren, die Kugel passieren. Für Kargor und die anderen Bractonen an Bord muss es so gewesen sein, als hätten sie sich selbst bis zur Nahtstelle der beiden Kontinuen vorgekämpft und aus absolut eigener Kraft geschafft, diese Grenze zu überwinden.« Cloud konnte beim Zuhören nur noch den Kopf schütteln. »Warum?« »Sie sind auf der anderen Seite angekommen, davon gehen wir aus. Das Siegel wurde für sie für einen Moment gebrochen. Gezielt und bewusst. Danach nahm es seine Schutzfunktion wieder auf. Leider ging etwas schief – in zweierlei Hinsicht.« »Drang auch etwas von der anderen Seite zu euch durch?« Cloud spürte, wie ihn eisiger Schrecken beim bloßen Gedanken daran durchrieselte. Zu seiner Erleichterung verneinte Tecum. »Zum einen«, sagte er, »kehrte die Tridentische Kugel bislang nicht zu uns zurück.« »Sollte sie das denn?«, zeigte sich Jarvis verwundert. »Wir haben es so bestimmt«, sagte Tecum. »Kargor und seine Mitpassagiere wurden in dem Glauben gehalten, auf der anderen Torseite läge das Kontinuum, aus dem sie dereinst kamen. Und wohin ihnen nach der Erschaffung dieses Universums der Rückweg versperrt war. Für lange, lange Zeit.« »Das ist verrückt«, sagte Cloud. »Ihr habt sie ins offene Messer laufen lassen. Ihr wusstet, dass jenseits eures Tores der Feind lauert, vor dem ihr euch mehr fürchtet als vor irgendetwas anderem. Und trotzdem habt ihr die Tridentische Kugel durch das anomalieverstärkte Siegel geschleust! Momentan klingt das für mich, als wärt ihr Monster.«
»Es diente dem Schutz der Kugelbesatzung«, behauptete Tecum. »Nichts über die wahren Machtverhältnisse hier im Angksystem zu wissen, ist ihre beste Lebensversicherung, falls sie in Feindeshand fallen.« »Das verstehe ich nicht. Der Feind – die Auruunen, wenn ich recht verstehe – probiert doch schon seit ewig langer Zeit, hierher zu gelangen. Welche Informationen wären so neu für ihn, dass ihr sie auf diese Weise sichern müsst?« »Die wichtigste Information, die die Auruunen zu erringen suchen, seit sie uns suchen, sind die Koordinaten, zu denen wir uns flüchteten.« »Die kennen sie nicht?« »Sie kannten sie nicht. Auch noch nicht, als Kargor durch das Siegel ging.« »Aber jetzt sind sie da – draußen, jenseits eures Schutzwalls. Eine riesige Flotte«, sagte Jarvis. »Denkt ihr, die Bractonen aus der Kugel haben ihnen die Koordinaten verraten?« »Wir wissen nicht, wie sie das hätten schaffen sollen. Denn auch die Speicherbänke der Kugel wurden von uns natürlich manipuliert.« »Ließe sich diese Manipulation nicht rückgängig machen?«, fragte Cloud. »Es sind die einzigen Daten in Kargors Schiff. Von denen auch Kargor glaubt, dass sie fehlerfrei sind. Nein – wir haben allenfalls die Erklärung, dass es mit der Ewigen Kette zu tun hat. Und einer Spezies, die ihr Treymor nennt.« Jetzt war Cloud wirklich betroffen. »Die CHARDHIN-Perlen, von denen die Bractonen glauben, sie hätten damit das Universum generiert, in dem wir leben … Und die Käferartigen, die dort schon ihr Unwesen trieben, zuletzt sogar im Milchstraßenzentrum waren, als wir die Negaperle gegen eine intakte Tridentische Kugel hinter dem Ereignishorizont des Super Black Holes austauschten …« »Inzwischen«, sagte Tecum düster, »gibt es kaum noch einen Zweifel, dass die Treymor von den Auruunen rekrutiert wurden.« »Als Hilfsvolk?«
»Ja.« »Aber auch Kargor kehrte nicht zurück, sagtest du, obwohl ihr es ihm eingeimpft hattet? Was sollte er tun, beim Feind für euch spionieren … während er glaubte, die Heimat seines Volkes erreicht zu haben?« »Diesen Irrtum muss er sofort nach der Passage erkannt haben. Aber ebenso zwangsläufig wird er an eine Fehlfunktion des Risses geglaubt haben, der ihn statt nach Hause in eine weit entfernte Galaxie geschleudert hat.« »Und wie hätte er zurückkehren sollen? Ihr selbst habt das Tor nach seiner Passage doch sofort wieder verschlossen. Es gäbe also gar kein Durchkommen für ihn. Er kann es in den verstrichenen zwei Jahren viele Male versucht haben, aber er wird nie –« »Er hätte die Möglichkeit. Die Tridentische Kugel besitzt ein Identifikationsmerkmal, das auf unserer Seite eine kurzzeitige Öffnung des Siegels herbeiführen würde.« »Aber die Kugel könnte von den Auruunen erobert und mit einer eigenen Mannschaft versehen worden sein.« »Das würde das von mir erwähnte Merkmal zerstören. Die Passage bliebe geschlossen.« »Demnach könnte genau das hinter der Nicht-Wiederkehr eures Kundschafters stecken«, sagte Jarvis. »Die Kugel wurde abgefangen.« »Die größere Wahrscheinlichkeit ist, dass sie nicht mehr existiert«, sagte Tecum. »Die Bractonen sind so konditioniert, dass sie sich auf keinen Fall in die Hände des Gegners fallen lassen. Wenn dies droht, beenden sie ihre Existenz selbst. Und falls dies geschehen ist, haben sie dabei keinerlei verwertbare Reste ihrer selbst oder der Tridentischen Kugel hinterlassen.« »Ihr seid schon radikal«, sagte Jarvis, der selbst nicht gerade zimperlich vorging, wenn er sich und andere verteidigen musste. »Scheiße, wie seid ihr nur drauf?« »Mich würde interessieren«, sagte Cloud, »warum die Auruunen so hinter euch her sind? Sie sind die Bösen, nicht ihr – oder habe ich das etwa nur falsch verstanden, weil ihr es uns so darstellt?« »Nach ihrer Ankunft in der Milchstraße wird es sich kaum vermei-
den lassen, dass sie die Antwort auf diese Frage geben. Schon bald«, sagte Tecum. »Du sprachst vorhin von zwei Dingen, die gründlich schiefgingen«, erinnerte sich Cloud. »Das eine war Kargors Kugel, die nicht wie vereinbart zu euch zurückfand. Und das andere?« »Unser Siegel«, sagte Tecum. »Es hat sich verselbstständigt.« »Prosper?« Cloud horchte sofort auf. »Was ist passiert?« »Wir wissen es nicht. Wir kennen nur die Auswirkung.« »Und die wäre?« »Es begann, kurz nachdem das Siegel für das Erkundungsschiff vorübergehend durchlässig gemacht worden war. Aber zunächst fiel es nicht auf. Es war ein schleichender Prozess.« »Was ist passiert?« »Ihr wurdet damit konfrontiert«, sagte Tecum. »Die Raumzeit. Das Siegel begann, die Raumzeit an sich zu ziehen.« »An sich zu ziehen? Heißt das, der Effekt, auf den wir im Angksystem getroffen sind, entspringt nicht der Absicht der Ganf? Ich hielt ihn für einen Begleiteffekt des Schutzschirms, den ihr um eure Welten gelegt habt – die protochaotische Wolke.« »Damit hat die Zeitstarre nichts zu tun«, sagte Tecum. »Und erstaunlicherweise verschont sie als einzige unserer Welten die, auf der der Verursacher steht.« »Dem ›erstaunlicherweise‹ entnehme ich, dass ihr noch immer keinerlei Erklärung für das Phänomen habt«, sagte Cloud mit einem flauen Gefühl im Bauch. »Aber wie kommt ihr überhaupt darauf, dass das versiegelte Tor etwas damit zu tun hat?« »Unsere Messungen sind eindeutig. Dem System wurde nach und nach sämtliche Zeit entzogen, nur nicht hier auf Portas! Und selbst als wir es erkannten, waren wir nicht in der Lage, es aufzuhalten.« »Könnte das Siegel auf Bemühungen der anderen Seite reagieren, es zu zerstören?« »Wir schließen es nicht aus.« »Du verstehst, wie ich es meine: Möglicherweise braucht der Riegel, den ihr mit der Verschmelzung von Prospers Anomalie vorgeschoben habt, wesentlich mehr Energie, als die Anomalie zu liefern
vermag – daraufhin hat sie sich die Raumzeit der Umgebung geschnappt, um die Leistung aufbringen zu können, die nötig ist, um seine Dichtigkeit zu bewahren.« »Das würde nicht erklären, warum Portas verschont bleibt.« »Nein«, sagte Cloud. »Das erklärt es nicht.« Aber eine andere Idee hatte er nicht. »Blieb bei der Verschmelzung Prospers mit dem Tor eigentlich etwas von ihm übrig? Hattet ihr ihm nicht so etwas wie Unsterblichkeit versprochen?« »Nicht in der Weise, dass er sich seiner dauerhaften Fortexistenz bewusst wäre«, sagte Tecum. »Solange das Siegel besteht, wird auch das, was er ihm beigesteuert hat, Bestand haben. Unsterblichkeit war nicht seine Intention. Die Bewohner dieses Systems zu schützen, überzeugte ihn von der Notwendigkeit der Selbstaufgabe.« »Daran habt ihr aber kräftig gedreht«, murmelte Cloud. Doch zu Gunsten der Ganf musste er ihnen zugestehen, dass sie es sich auch viel leichter hätten machen können. Offenbar besaßen sie die Möglichkeiten, Lebewesen nach Belieben zu manipulieren. Bei Prosper schienen sie den steinigeren Weg gegangen zu sein, auf seine Einsicht zu bauen. Oder war Prosper schlichtweg nicht so einfach zu beeinflussen gewesen? »Würdet ihr nicht auch alles versuchen, einen potenziellen Verbündeten zu überzeugen, euch im Kampf gegen eine Gefahr beizustehen, die so akut und gewaltig ist, dass ihr ihr ohne seine Hilfe nicht mehr Herr werden könntet?« »Vielleicht«, sagte Cloud. »Es kommt immer auf die genauen Umstände an. Und die kennt ihr sicherlich besser als ich.« »Dann werdet ihr es uns nachsehen, dass wir auch euch versuchen werden zu überzeugen, für uns tätig zu werden.« »Darauf warte ich schon die ganze Zeit«, raunte Jarvis Cloud zu. »Endlich lassen sie die Katze aus dem Sack. Dass wir nicht nur hier sind, um einem Ganf seine letzte Ruhe zu sichern, war doch klar!« »Wie soll diese Tätigkeit aussehen?«, fragte Cloud. »Sollen wir ebenfalls nach der Ursache der Siegelveränderung forschen?«
»Nein. Darum kümmern sich bereits unsere besten Köpfe.« Cloud war darüber nicht unfroh. »Wie dann?« »Ihr sollt für uns durch das Tor gehen, wie es vor euch schon Kargor tat – und herausfinden, warum er nicht zurückgekehrt ist. Gleichzeitig sollt ihr seine Aufgabe übernehmen und uns mit aktuellen Informationen über den Feind versorgen.« »Wir sollen …« Cloud hatte geglaubt, nicht mehr so leicht zu erschüttern zu sein. Tecum bewies ihm das Gegenteil. »Wie weit, sagtet ihr doch gleich, ist Eleyson von der Milchstraße entfernt?« »Läppische dreizehn Milliarden und ein paar gequetschte Lichtjahre«, kam Jarvis dem Ganf zuvor. »Und dorthin sollen wir? Wir kämen nie mehr zurück, wenn das Tor sich uns ebenso verweigerte, wie es das vielleicht bei Kargor getan hat …« »Aber ihr gelangt auch an einen Ort, den ihr unter anderen Umständen niemals erreichen würdet.« »Nichts, was wir bisher darüber gehört haben, lässt in mir so etwas wie Reiselust entstehen«, erwiderte Cloud. »Und wenn ich spontan antworten soll – für mich und meine Crew –, dann sage ich nein. Aber wie ich euch kenne, hält euch ein Nein von eurem längst entschiedenen Vorhaben nicht ab.« »Darüber muss ich mich mit dem GREMIUM beraten.« »Und wir müssen draußen warten«, spottete Jarvis. »Stimmt's? Eine ›nicht öffentliche Sitzung‹ …« »Ihr kehrt an Bord eures Schiffes zurück, bis wir zu einem Ergebnis gekommen sind.« Und wahrscheinlich werden wir nicht einmal merken, dass ihr zu einem Ergebnis gekommen seid. Ihr manipuliert unsere Hirne so, dass wir einfach starten … durch das Siegel … und denken, es sei unser ureigener Wille! Cloud war sich bewusst, dass sie der Willkür der Ganf ausgeliefert waren. Mit Jarvis und einem selten schlechten Gefühl kehrte er zur RUBIKON zurück. Noch ahnte er nicht, dass auch die Ganf nicht darüber entscheiden würden, ob der Rochenraumer nach Eleyson aufbrach oder nicht.
Und am allerwenigsten ahnten es die Ganf selbst …
Scobee und Assur empfingen ihn zur Abwechslung mal mit guten Nachrichten. John und Jarvis erfuhren von der Rückkehr der Verschwundenen, wobei die Umstände dieser Rückkehr teils haarsträubend waren. »Voosteyn?«, wiederholte Cloud, was Assur ihm berichtete. »Die Zonen der Kartei?« Von dem Begriff hatte er schon einmal gehört, was dahinter steckte, war ihm neu. »Eine Art Arche Noah der Ganf also«, sagte er. »Der UNVERGESSENE HORT ist mit hoher Wahrscheinlichkeit mit Eleyson identisch. Offenbar wurden sie von dort vertrieben wie einst die Foronen aus der Großen Magellanschen Wolke.« »Oder die Jay'nac von den Satoga«, machte Jarvis deutlich, dass das Muster von Jäger und Gejagtem offenbar ein universelles Gesetz darstellte. »Ich wäre da momentan noch vorsichtig. So ganz sehe ich die Rolle der Ganf noch nicht als die von ewig gehetztem Wild. Und auch über die Auruunen wissen wir bislang noch zu wenig, um sie in eine Schublade pressen zu können.« »Fakt ist, dass mit Ganf und Auruunen zwei Machtblöcke aufeinander prallen, die zahllose Unschuldige mit ins Verderben reißen können«, gab Scobee zu bedenken. Ebenso wie Assur hatte sie sich auch die Neuigkeiten angehört, die der Commander mitbrachte. Und die wiederum fielen eher in die Kategorie Hiobsbotschaften. »Es wäre Wahnsinn, sich durch dieses ›Tor‹ schleusen zu lassen«, bekundete auch Assur ihre klare Meinung zu einem solchen Unternehmen. »Und deshalb werde ich es auch kategorisch ablehnen«, sagte Cloud. Er blickte zu Jarvis und nickte ihm zu. »Nur wissen wir nicht, ob diese Ablehnung auch noch in ein paar Stunden, Tagen oder Wochen Bestand hat.« »Wie meinst du das?«
»Er meint«, sagte Jarvis, »dass diese verdammten Ganf sich einen feuchten Kehricht darum scheren, was andere Spezies wollen oder nicht. Wenn sie mit links den Bractonen weismachen können, die Schöpfer unseres Universums und die Herren in diesem System zu sein, dann bläuen sie uns mit höchstens halblinks ein, dass wir verdammt noch mal ganz begierig darauf sind, Milliarden Lichtjahre hinter uns zu bringen, um den Auruunen in den Arsch zu treten!« »Auch wenn er es drastisch ausdrückt, im Kern hat er halb recht.« Cloud versuchte zu schmunzeln und die Situation zu entkrampfen. »Wieso halb?«, fragte Jarvis. »Weil wir, wenn es nur nach dem Willen der Ganf geht, wahrscheinlich gar nichts von ihnen als Auftraggeber und Drahtzieher wissen werden, wenn wir das Tor durchfliegen. Sie werden uns einer Gehirnwäsche unterziehen, die …« »… sich gewaschen hat?« Assur lächelte unglücklich. »Genau das!« »Wäre es dann nicht besser, ›freiwillig‹ den Abstecher nach Eleyson in Kauf zu nehmen?«, fragte Scobee. »Aber dann wenigstens bei vollem Bewusstsein, warum und wofür wir das Risiko auf uns nehmen?« »Theoretisch ein verführerischer Gedanke«, sagte Cloud, »nur werden es sich die Ganf kaum nehmen lassen, uns so zu konditionieren, dass wir, wenn wir den Auruunen in die Hände fallen, nicht unfreiwillig zu Verrätern werden.« »Was könnten wir schon ausplaudern?« Cloud zuckte mit den Achseln. »Sollten wir wirklich das letzte Aufgebot der Ganf sein? So, wie sie sich beschreiben, dürften sie nie und nimmer auf uns angewiesen sein«, sagte Assur. »Offenbar waren sie schon einmal auf einen Menschen angewiesen. Und sind es noch heute«, erinnerte Jarvis. »Ich sage nur Prosper …« »Wie lange werden wir auf die Entscheidung dieses ›GREMIUMS‹ warten müssen?«, fragte Scobee. »Das lässt sich schwer sagen. Ich schätze aber mal, dass die Ent-
scheidung nicht so schwer vorauszusehen ist und es deshalb auch nicht großartig viel Zeit beanspruchen wird, uns davon in Kenntnis zu setzen – so oder so.« Tatsächlich erschien Tecum schon kurz nach Clouds und Jarvis' Rückkehr auf der RUBIKON. »Ihr werdet unverzüglich aufbrechen«, sagte er. »Es sind nur noch ein paar Modifikationen an diesem Schiff und an euch notwendig.« »Ich wusste es!« Jarvis reagierte gewohnt gerade heraus. »Wir werden also gezwungen, die Spione für euch zu geben?«, sagte Cloud zu dem Ganf. »Was Eingriffe in unser Gedächtnis einschließt.« »Wir beginnen mit dem Schiff. Und die Korrekturen eurer Gedächtnisinhalte werden sich auf das Notwendigste beschränken. Wir sind uns unserer Verantwortung bewusst.« Das bezweifelte Cloud mittlerweile entschieden. Aber er konnte nicht verhindern, dass Tecum genauso schnell wieder verschwand, wie er gekommen war.
15. Erst einen vollen Bordtag später tauchte Tecum erneut auf. Er kam nicht allein, sondern hatte mehrere Angehörige seines Volkes und sogar ein paar Quifax bei sich. Sie verstreuten sich sofort über das Schiff. Cloud stellte den Ganf zur Rede, obwohl er sich denken konnte, was der Grund ihres Kommens war. »Sie setzen in die Tat um, was ich ankündigte«, sagte Tecum. »Worin bestehen die Modifikationen?« »Eure vorhandenen Abwehrschilde und Offensivwaffen werden gestärkt. Und ein vorhandener Aspekt, der nicht unbedingt mit Defensive oder Offensive zu tun hat, wird ebenfalls modifiziert, in seiner Leistung erhöht.« »Was für ein Aspekt?« »Die Dimensionswälle, die aktiviert äußerlich eine wesentlich kleinere RUBIKON vorgaukeln, als es tatsächlich der Fall ist.« »Und verändert daran wird …?« »Wenn ihr das Tor von dieser Seite aus passiert, tritt eine Automatik in Kraft, die das Schiff für die Außenwelt so extrem verkleinert, dass sie nicht einmal mehr der Ortung eines wachsamen Gegners auffallen dürfte. Die Transformation zurück in die gewohnte Größe wird von dir selbst eingeleitet – nachdem eure eigene Ortung sichergestellt hat, dass keine unmittelbare Gefahr mehr besteht.« »Und wir spüren davon nichts?«, fragte Jarvis, der dem Gespräch ebenso beiwohnte wie erneut Scobee. Nur Assur war gerade unterwegs. »Spürt ihr jetzt etwas?« »Nein.« »Es macht keinen Unterschied für euch. Nur die Aggregate, die die Dimensionsverzerrung erzeugen, mussten neu ausgelegt werden.«
Mit all dem hatte Cloud keine grundsätzlichen Probleme. Probleme bereitete ihm nur die Aussicht auf die anstehende Gehirnwäsche. »Wann werden die Arbeiten abgeschlossen sein?« »In weniger als acht eurer Stunden.« »So schnell?« Tecum bestätigte. »Und dann wendet ihr euch uns zu?« »Die biomentalen Maßnahmen laufen bereits«, verblüffte sie Tecum. »Sie dürften etwa zeitgleich abgeschlossen sein.« Cloud fühlte sich ein weiteres Mal überrumpelt. Er hatte gehofft, ihnen würde noch eine Galgenfrist bleiben, um die Ganf vielleicht doch noch umzustimmen. Nachdem Tecum abermals verschwunden war, berief er eine Krisensitzung ein, in der er alle führenden Persönlichkeiten der Besatzung über den bereits laufenden Eingriff informierte – gleichzeitig wurde die Sitzung in alle Bereiche des Schiffes übertragen. Vor seiner Mannschaft scheute er sich nicht, sich die aktuelle Entwicklung höchstpersönlich anzulasten. »Ich war zu blauäugig«, sagte er. »Ich hätte kritischer sein müssen. Und dann vielleicht den Ganf argumentativ und kräftemäßig Paroli bieten können.« Scobee schlug sich sofort auf seine Seite. »Unwahrscheinlich«, behauptete sie. »Details hätten anders gemacht werden können – aber das ist immer so. Herunter gebrochen auf das Unumstößliche bleibt, dass wir so oder so versucht hätten, den Angkmenschen zuhilfe zu kommen. Und spätestens dann wären wir den Ganf in die Arme gelaufen. Sie sind uns machttechnisch einfach zu hoch überlegen, daran führt kein Weg vorbei.« So oder ähnlich äußerten sich nach und nach auch die anderen Mitglieder seines engsten Stabes. Echten Trost schöpfte Cloud daraus nicht. Und dann sprengte Tecum die Sitzung durch sein bloßes Erscheinen. »Sind die acht Stunden schon um?«, wunderte sich Cloud mit
Blick auf den Chronometer. »Nein«, erklärte der Ganf, was die Uhr auch genauso bestätigte – knappe drei Stunden waren erst verstrichen. »Aber eine unerwartete Verschärfung der Situation ist eingetreten.« »Was genau ist passiert?«, fragte Cloud, der die Frustration der vergangenen Stunden von sich schob. »Auf die Generatoren des Walls, der das Angksystem gegen den umgebenden Weltraum abschottet – und damit gegen die Belagerer – ist ein Anschlag verübt worden. Die Generatoren wurden irreparabel geschädigt.« »Und das heißt?«, fragte Scobee, obwohl sich alle die Konsequenz mühelos selbst ausmalen konnten. »Das heißt, dass der Schutzwall kollabiert. Er wird in weniger als den fünf Stunden, die für die Arbeiten auf der RUBIKON veranschlagt wurden, komplett in sich zusammengebrochen sein. Danach steht nichts mehr zwischen uns und dem Feind!«
Etwa zur gleichen Zeit »Orham?« »Yael?« »Kann ich dich sprechen?« »Immer. Das weißt du doch. Worum geht es?« »Um meinen Aufenthalt in dieser … Kartei.« »Auf Voosteyn.« »Ja, auf Voosteyn.« »Alles ist gut ausgegangen. Du solltest aufhören, darüber zu grübeln, was alles hätte geschehen können.« »Ich wünschte, es wäre so einfach.« »Was ist daran so schwer?« »Dass ich schon wieder Neues über mich habe erfahren müssen.« »Du meinst deine Fähigkeiten.« »Ja.«
»Ohne sie wärt ihr vermutlich nicht heil aus dem Abenteuer hervorgegangen.« »Mag sein – dennoch …« »Was?« »Es macht mir Angst. Das, was in mir steckt, macht mir Angst!« »Mir macht es auch manchmal Angst«, gestand Jiim seinem Sprössling zu dessen Verwunderung. Yael sah ihn groß an. »Aber lieber lasse ich mir davon manchmal Angst machen«, fuhr Jiim nach einer Weile fort, »als dass ich um dich trauere. Du verstehst, was ich meine?« »Du meinst, ohne meine Kräfte wäre ich nicht mehr am Leben?« »Siehst du es anders?« Yael seufzte. »Du weißt, was passiert ist. Erst ›wünschte‹ ich mir zu erfahren, was in den Säulen steckt, und es erfüllte sich. Dann brauchte ich einen neuen Projektionskörper à la Charly … und ein Double von Tecum erschien, das so täuschend echt wirkte, dass sich selbst ein Wächter wie dieser Dispar hinters Licht führen ließ … Eigentlich dürfte das nicht möglich sein. Charly war eine andere Qualität als diese Schöpfung, die von dem Lymantrier sofort hätte durchschaut werden müssen …« »Aber nicht wurde«, sagte Jiim, »und allein das zählt.« »Aber es ist keine Erklärung.« »Nein«, sagte Jiim. »Trotzdem gilt und sollte auch für dich gelten, was ich vorhin sagte: Ich rätsele und ängstige mich auch in Zukunft tausendmal lieber, als dass ich um dich trauere!« »So ähnlich drückte sich Winoa auch aus.« »Du hast auch mit ihr darüber gesprochen?« »Ja. Sie … sie ist mir wichtig.« Jiim lächelte. Und dann grinste er noch breiter. »Was ist?« »Es ist noch gar nicht so lange her, da war ich ein bisschen eifersüchtig auf deine Freundin«, sagte Jiim. »Eifersüchtig?« »Verstehst du das nicht?«
Yael verneinte. »Nun, das brauchst du auch nicht, denn heute bin ich nur noch froh, dass du jemanden gefunden hast wie sie. Sie scheint sich nicht daran zu stören, dass du …« »Dass ich was?«, fragte Yael, als sein Orham in seinem Redefluss stockte. »… kein Mensch bist«, sagte Jiim. »Das ist nicht wichtig«, sagte Yael. »Ich weiß. Und es ist gut, dass es noch jemanden gibt, der genauso denkt.« Eine Weile herrschte Schweigen. Dann sagte Yael: »Dort auf Voosteyn … Ich werde das Gefühl nicht los, dass wir etwas übersehen haben. Oder falsch einschätzten.« »Wie kommst du darauf?« »Es ist nur ein Gefühl – aber es wird mit jeder Stunde, seit ich zurück bin, stärker.« »Das bildest du dir ein, mein Junge.« »Glaubst du?« »Ich bin ganz sicher. Entspann dich.« »Ja. Ich gehe zu Winoa. Danke, dass du dir Zeit genommen hast.« Jiim sah seinem Sprössling nachdenklich hinterher. Als er sicher war, dass Yael nicht mehr zurückschaute, legte sich ein Schatten über seine Züge. Er wünschte, er hätte wirklich glauben können, dass Yaels Sorge reiner Einbildung entsprang. Es fängt schon wieder an, dachte er. Rätselhafte Ahnungen, diffuse Ängste – aber der Himmel möge mich davor bewahren, irgendwann um meinen Jungen trauern zu müssen …! Er blickte sich um. Auf Pseudokalser schien die Welt noch in Ordnung zu sein. Doch das täuschte. Jenseits der holografischen Idylle brauten sich die dunkelsten Wolken zusammen, die die RUBIKON jemals hatte durchfliegen müssen.
»Wer hat die Generatoren sabotiert? Ein Anschlag müsste doch aus dem Inneren des Systems heraus erfolgt sein, oder?«, fragte Cloud in diesem Moment. Der Ganf bestätigte es. »Dann gibt es unter den Portas-Bewohnern offenbar jemanden, der dem Feind in die Hände spielt. Das wirft kein gutes Licht –« »Wir vermuten etwas anderes«, unterbrach ihn Tecum. »Es gab noch einen weiteren Zwischenfall. Auf demselben Planeten, auf dem die Generatoren stehen, auf Voosteyn.« »Voosteyn?« Algorian war aufgesprungen. »Auf Voosteyn befinden sich mehrere speziell gesicherte Räume, auf die sich nicht einmal die Zeitstarre negativ auswirken kann. Dazu gehören die Schutzwall-Anlagen, aber auch die Kartei.« Cloud kannte die Berichte der vier wiedergekehrten Besatzungsmitglieder, die sich dem eigenen Vernehmen nach in genau dieser von Tecum erwähnten »Kartei« aufgehalten hatten. Deshalb wusste er auch in etwa, was sich hinter dem Begriff verbarg. Und den Rest steuerte Tecum bei. »Um was für einen Vorfall handelt es sich?« »Der Wächter der Kartei, ein gewisser Dispar, wurde ermordet aufgefunden. Und ein paar der Geschöpfe, die innerhalb der Kartei untergebracht sind, fehlen.« »Du vermutest, dass sie hinter der Sabotage stecken?« Cloud fand das an den Haaren herbeigezogen. Er erinnerte sich, dass Algorian und die anderen zeitweilig dorthin Verschlagenen ihm von fötenhaften Wesen berichtet hatten, die in den Säulen lagerten. »Das vermuten wir, ja. Aus gutem Grund. Wir fanden nicht nur den ermordeten Wächter, sondern auch noch zwei Kreaturen, die das, was mit ihnen geschehen, offenbar nicht überstanden haben.« »Was ist mit ihnen geschehen?« »Nachdem sie aus noch unbekannten Gründen aus ihrer Stase erwachten, setzte bei ihnen die Wirkung einer extremen Wachstumsbeschleunigung ein. Wir gehen davon aus, dass sie das letztlich nicht verkraftet haben und daran gestorben sind. Aber nicht alle Er-
wachten sind verendet. Es waren die Inhalte von zwei Säulen betroffen.« Cloud glaubte Algorian ächzen zu hören, aber er war zu sehr auf Tecums Aussagen konzentriert. »Ich verstehe immer noch nicht –« »Ganz einfach«, sagte der Ganf. »Die Spezies, die in der Kartei lagern, stammen aus Eleyson, was auch unsere Heimat war. Als wir vor den Auruunen flohen, nahmen wir von jeder uns bedeutungsvoll erscheinenden Art so viele Arten mit, wie nötig sind, wenn wir sie eines Tages in unsere hiesige Fauna einführen wollen. Bislang ist das noch nicht geschehen. Die Artenvielfalt, die die Angkwelten von Natur aus boten, erschien uns mehr als ausreichend. Offenbar war das in all der Zeit, die wir hier sind, unser Glück …« »Glück? Du meinst …? Oh, ich glaube, ich verstehe.« »Offenbar wurden die meisten, wenn nicht gar alle, von uns katalogisierten und konservierten Arten, die in die Kartei Eingang fanden, bereits in Eleyson …« »… präpariert«, vollendete Cloud für ihn. »Genauso ist es. Die Auruunen müssen ihre Hände im Spiel haben. Sie haben es geschafft, uns eine fünfte Kolonne unterzuschieben. Aber dass dieser weit in der Vergangenheit vorbereitete Schachzug ausgerechnet jetzt greift … verstehen wir nicht.« Wieder glaubte Cloud Algorian ächzen zu hören. Möglicherweise fürchtete er, dass ihr Aufenthalt auf Voosteyn der Auslöser für das Erwachen einiger Arten innerhalb der Kartei gewesen sein könnte. Cloud wollte kein Öl ins Feuer gießen und überging es deshalb, solange Tecum bei ihnen weilte. »Nur noch wenige Stunden jedenfalls, bis der Schutzwall um das System zusammenbricht – was wollt ihr dagegen tun?«, wandte er sich an den Ganf. »Wir können nichts tun. Die Generatoren sind in der Kürze der Zeit nicht reparabel. Unser aller Ende steht bevor. Eure Mission ist sinnlos geworden, ich gratuliere.« »Du gratulierst?« »Ihr habt euch doch bis zuletzt gegen die Maßnahme gewehrt, die nun auch ihren Sinn verloren hat.«
»Die Gehirnwäsche?« »Als solche war es nie gedacht. Aber die begonnenen Maßnahmen wurden bereits eingestellt.« »Die Schiffsaufrüstung?« »Ist so gut wie abgeschlossen.« Cloud konnte deutlich die Antriebslosigkeit aus Tecums Antworten hören. »Du glaubst, die Auruunen und ihre Verbündeten werden alles überrennen? Aber die Zeitstarre …« »Wenn der Wall fällt, wird die umgebende Raumzeit die Verhältnisse binnen kürzester Frist normalisiert haben. Nichts wird den URFEIND dann noch aufhalten.« »Werdet ihr fliehen?« »Wohin?« In diesem Moment schlug Sesha, die sich lange auffallend zurückgehalten hatte – wahrscheinlich als Folge der Arbeiten im Schiff – Alarm. »Ich messe unbekannte Einflüsse an.« »Sie sind unbekannt, aber messbar?«, war Clouds spontane Frage. »Gewaltige Verschiebungen im hyperphysikalischen Bereich …« »Es geht los«, sagte Tecum. »Noch schneller als erwartet.« Offenbar erhielt auch er gerade neue Informationen über Kommunikationskanäle, die Cloud unzugänglich waren. »Der Wall ist gefallen. Die ersten Feindschiffe stehen über Portas …«
Tecum floh regelrecht aus der RUBIKON, und für wertvolle Minuten herrschte auch unter John Clouds Crew Uneinigkeit über die weitere Vorgehensweise. Das Angksystem wurde überrannt. Von eben jenen über zweihunderttausend Kampfeinheiten, die es bis dato belagert hatten. Und dann spitzte sich die Lage noch mehr zu. Sesha meldete, dass sich nicht nur ein paar wenige Einheiten des Feindes – überwiegend Ringschiffe – über Angk III tummelten, sondern dass sich vermutlich sämtliche zweihunderttausend Raumer
wie eine Oortschale um Portas positionierten. Vorhandene Lücken wurde mittels energetischer Felder geschlossen. »Sie wissen offenbar genau, wohin sie sich zu wenden haben«, sagte Jarvis. »Und sie unterbinden, dass auch nur eine Maus der Falle entrinnt!« Der Abstand der so entstandenen Schale zur Portas-Oberfläche betrug nicht ganz vierhunderttausend Kilometer. Etwa die Distanz Erde-Mond, dachte Cloud. Er rechnete jeden Moment damit, dass die Feindschiffe das Feuer auf Angk III eröffneten, und hatte sicherheitshalber längst die Schirme hochgefahren. Aber welcher Schild sollte gegen den konzentrierten Beschuss dieser Übermacht bestehen? »Okay«, sagte Cloud, »mit dem GREMIUM brauchen wir nicht mehr zu rechnen. Sesha – befinden sich noch Ganf oder ihre Helfer an Bord?« »Negativ. Sie haben sich alle zeitgleich mit Tecum zurückgezogen.« »Gut. Dann Fahrt und Suche aufnehmen!« »Suche?«, fragte die KI. »Halte Ausschau nach etwas, das den Torsäulen ähnelt, durch die die Ganf uns schicken wollten.« »Danach brauche ich nicht zu suchen – die Koordinaten wurden mir bereits übertragen.« Cloud nahm es hin. Als eine der wenigen positiven Überraschungen. »Dann schnellstmöglich zu diesen Koordinaten!« »Was hast du vor?«, fragte Scobee. »Was schon? Siehst du hier irgendwo einen anderen Ausweg?« »Aber du wolltest um keinen Preis der Welt –« »Ich wollte nicht zu ihren Bedingungen. Aber die Situation hat sich geändert. Hat irgendjemand Einwände?« Niemand meldete sich. Es hätte ihn auch nicht mehr umgestimmt. Die RUBIKON wühlte sich durch die Atmosphäre von Portas, die sich violett zu färben begann. »Was ist das?«, fragte Jarvis. »Sesha?« »Strahlung«, meldete die KI. »Sämtliche Einheiten des Feindes ha-
ben begonnen, sie auszuschütten.« »Was für eine Strahlung?« »Unbekannt?« »Wirkung?« »Unbekannt.« Vor ihnen tauchten zwei gewaltige Säulen auf, höher als der Turm, in dem Cloud und Jarvis dem GREMIUM gegenübergetreten waren. Der Raum dazwischen leuchtete weltraumschwarz. Wie das tiefste, dunkelste, sternenlose All. Die RUBIKON steuerte genau darauf zu. »Wir werden umkommen!«, keuchte Algorian. »John … Commander! Die Ganf hätten das Siegel erst für uns brechen müssen. So werden wir nur zerschellen – oder Schlimmeres!« »Ich hoffe, dass sie unseren Weg noch verfolgen können und nicht bereits ausgeschaltet wurden«, erwiderte Cloud so kühl, dass er nur verwundert den Kopf über sich selbst schütteln konnte. »Ich würde sagen, die Chancen für uns stehen fifty-fifty – es nicht zu versuchen, ist wahrscheinlich erst recht Selbstmord!« Die Distanz zum Torfeld schrumpfte weiter. Das Violett begann sich trotz verstärkter Schilde zur RUBIKON durchzufressen. »Fünf Sekunden …«, zählte Sesha. »Drei …« »Wir schaffen es nicht!«, flüsterte Scobee. »… eins …« Die RUBIKON prallte gegen die Wand aus schwarzer Energie. Eine Automatik ließ das Schiff auf die Größe eines Atoms schrumpfen. Dieses Atom – durchschlug die Wand wie ein mit 10.000 km/h abgefeuertes Projektil. Dann trat es auf der anderen Seite wieder heraus. Aber die andere Seite lag nicht mehr auf Portas … nicht einmal mehr in der heimatlichen Galaxie, sondern – – – – – – in absoluter Fremde … ENDE
Glossar Die RUBIKON
Eigentlich RUBIKON II, denn mit der ersten RUBIKON starteten Cloud und andere Astronauten 2041 zum Mars. Die aktuelle RUBIKON ist mit dem irdischen Raumschiff von damals nicht zu vergleichen. Sie geht auf die Hochzivilisation der Foronen aus der Großen Magellanschen Wolke zurück und war über Jahrzehntausende im Zentrum eines gigantischen Würfels versteckt, der eine Kantenlänge von einer Lichtstunde hat – dem Aquakubus, von seinen Bewohnern Tovah'Zara genannt. Der »gute Geist« des rochenförmigen Raumschiffs ist die Bord-KI, in Anlehnung auf den originalen Schiffsnamen Sesha genannt. Die Ausmaße des Schiffes sind gewaltig, werden aber meist von sogenannten Dimensionswällen eingedämmt; abgeschaltet »explodiert« die RUBIKON förmlich auf das Zehnfache ihrer nach außen vorgegaukelten Größe. Der Rochenraumer bedient sich der Dunklen Energie, um wahlweise zu transitieren oder überlichtschnell und ohne das Kontinuum zu verlassen durch den Weltraum zu reisen. Bei letzterer Variante bewegen sich die Schwingen wie bei einem tatsächlichen Rochen, der durch die Tiefen eines Ozeans gleitet. Ihrer Größe geschuldet, ist die RUBIKON eigentlich eine bewegliche Stadt. Längst sind nicht alle Bereiche bis ins Letzte erkundet. Die Crew bewegt sich in einem Kerngebiet nahe der Bordzentrale mit den sieben Kommandositzen, die wie Sarko-
John Cloud
Assur
Jarvis
phage geschlossen werden können, wodurch eine innige geistige Verschmelzung mit dem Schiff möglich ist. 35 Jahre alt, geb. 2013 als Sohn von Nathan Cloud, dem ersten Marsfahrer. Als Cloud 2041 zum Roten Planeten aufbricht, geht es auch darum, das ungeklärte Schicksal der ersten Marsexpedition unter Leitung seines Vaters aufzuklären – für ihn zumindest. Im Späteren gelingt dies auch. Cloud ist 1,84 m groß, von schlanker, durchtrainierter Statur, dunkelblond, hat mittellanges Haar, blaugraue Augen und markante Gesichtszüge. Seitdem Fund der von den Foronen im Aquakubus versteckten RUBIKON (von ihren Erbauern SESHA genannt), ist Cloud der Commander des Schiffes, dem mit Scobee und Jarvis zwei Gefährten der ersten Stunde zur Seite stehen, sie begleiteten ihn schon bei der damaligen Marsmission, bei der sie alle um 211 Jahre in die Zukunft versetzt wurden – und eine völlig veränderte Erde unter außerirdischer Herrschaft wiederfanden. Kam als Angkgeborene an Bord und bevölkert die RUBIKON seither mit rund fünftausend anderen »Angks«, darunter ihre Tochter Winoa und ihr ExPartner Rotak, mit dem sie liiert war, bevor sie eine Beziehung mit John Cloud einging. Assur hat weißblondes Haar, ist sehr schlank und 1,78 m groß, Augenfarbe grün. Als Angk ist sie in der Lage, ihr geistiges Potenzial bei Bedarf in den Dienst des Raumschiffes zu stellen, ebenso wie alle anderen Angks. Dadurch werden Möglichkeiten eröffnet, über die die RUBIKON vor ihrer Aufrüstung durch die Bractonen nicht verfügte. Eigentlich tot. Doch sein Bewusstsein wurde von einem foronischen Körper aus Nanomaterie aufge-
Scobee
fangen und so vor dem Verlöschen bewahrt. Dieser Kunstkörper ist extrem wandelbar, es lassen sich bei Bedarf auch Komponenten abspalten und später wiedervereinen. Dank eines Kristalls der Bractonen, die als die Erbauer des Angksystems und der Ewigen Kette gelten, ist Jarvis in der Lage, sich täuschend echte, beliebige Masken aufzulegen – rein optisch ist er danach nicht mehr von Lebewesen aus Fleisch und Blut zu unterscheiden. Mit einer Ausnahme: Angkgeborene – also der größte Teil der neuen RUBIKON-Crew – durchschauen die Illusion wie selbstverständlich. Für sie sieht Jarvis wie ein Roboter mit humanoider Form aus. Das bevorzugte, kristallgenerierte Erscheinungsbild von Jarvis ist nach wie vor jenes Aussehen, das er als lebender Mensch hatte, das heißt er tritt als 1,85 m großer Mann mit schmalem, energischem Gesicht und streichholzkurzem, steil aufgerichtetem Haar auf. Ursprünglich in vitro gezeugt, gehörte er dem geheimen GenTec-Programm der amerikanischen Regierung an – ebenso wie Scobee und der inzwischen verstorbene Resnick. 1,75 m groß, violettschwarzes, schulterlanges Haar, schlank, Ende zwanzig. Ihr Markenzeichen sind verschnörkelte Tattoos, die sie anstelle von natürlichen Augenbrauen trägt. Ihre Augenfarbe chargiert, je nach Umgebungslicht und Sehweise, der sich Scobee gerade bedient, denn: Ihre Augen funktionieren im Dunkeln wie Restlichtverstärker, was auf ihre Klon-Herkunft hinweist. Auch sie gehörte dem GenTec-Programm der amerikanischen Regierung an. Scobee hatte einmal eine Liaison mit John Cloud, doch das liegt »ewig« zurück. Was Assur nicht daran hindert, ab und zu die Krallen
Jiim
Yael
Charly
Jelto
auszufahren – Scobee selbst sieht das gelassener. Sie hat über das Freundschaftliche hinaus keine Gefühle (mehr) für ihren Commander. Geflügelter Ex-Bewohner des Planeten Kalser, die sich selbst Nargen nennen. Jiim ist ein Freund der Menschen und war lange Zeit im Besitz einer fast metaphysischen goldenen Rüstung namens Nabiss, die zeitweise sogar mit seinem Körper verschmolz. Inzwischen wurde er des Nabiss' beraubt. Mit welchen persönlichen Folgen, ist noch unabsehbar. Jiims Sprössling, der einen rasanten Wachstumsprozess hinter sich hat und dessen Gefieder in der Farbe von Jiims einstigem Nabiss erstrahlt: golden. Yael verschlug es kurzzeitig nach Portas, wo ebenso gefährliche wie rätselhafte Dinge vorzugehen scheinen. Nach seiner Rettung von dort kann er sich an nichts mehr erinnern, was mit seinem Aufenthalt zu tun hat. Aber mehr und mehr muss er erkennen, dass er anders als normale Nargen ist und offenbar über gewaltige Kräfte verfügt – allein, er vermag sie in den seltensten Fällen kontrolliert einzusetzen. Ein rätselhaftes Geschöpf, das ursprünglich von Yael ins »Leben« gerufen wurde, inzwischen aber ein Eigenleben entwickelt hat, das niemand so recht einzuschätzen weiß. Höhepunkt dieser »Entartung« ist, dass er offenbar zum Gesandten der Ganf wurde, der sich einen Realkörper aus Nabissmaterie zu Eigen machte. Der frühere Charly konnte von Yael kraft seines Geistes irgendwohin geschickt werden, und Yael vermochte dann durch Charlys Augen die dortige Umgebung zu schauen. Ob das immer noch möglich ist, wurde von Yael noch nicht getestet. In der Retorte erschaffener Klon, der über eine
Algorian
Aura verfügt, die es ihm erlaubt, in Kontakt mit jeder bekannten pflanzlichen Lebensform zu treten. Unter dem Einfluss dieser Aura wird florales Leben von Krankheiten geheilt, zu stärkerem Wachstum angeregt oder einfach nur in ein Klima starken Wohlbefindens versetzt. Jelto hat schockgrüne Augen und asketische Züge. Er ist in der Regel zurückhaltend und fällt keine voreiligen Urteile. Bei der Besatzung ist er beliebt und geschätzt. Von ihm wurde der riesige hydroponische Garten an Bord der RUBIKON angelegt. Doch im Zuge der Besetzung durch die Treymor wurden alle darin befindlichen Pflanzen durch mörderische Strahlung vernichtet. Gegenwärtig ist Jelto um Wiederaufbau bemüht, doch es hat sich einiges in seinem Garten verändert … Telepath und Angehöriger des Volkes der Aorii, groß gewachsen, kahlköpfig und spindeldürr. Die Aorii gehörten CLARON an, dem Bündnis organischer Spezies in der Milchstraße, das sich der Bedrohung durch anorganisches Leben (vornehmlich der Jay'nac) entgegenstellte. CLARON ist längst Geschichte, was aus den Aorii im Zuge von Darnoks Zeitentartungs-Feldzug wurde, ist bislang ungeklärt. Algorian ist ein »Zweitling«, der im strengen Kastensystem der Aorii stets hinter seinem »Hassbruder« Rofasch zurückstehen musste. Beide verband aber zugleich eine Art Hassliebe, und noch heute leidet Algorian unter Rofaschs gewaltsamem Tod.
Vorschau In absoluter Fremde von Manfred Weinland Die RUBIKON flieht auf spektakuläre Weise aus dem Angksystem, das dem URFEIND der Ganf in die Hände gefallen ist. Was wird mit den Menschen und anderen Spezies auf den sieben Welten passieren? Was mit den Ganf? Einstweilen verlieren John Cloud diese Fragen aus den Augen, denn sie gelangen in einen Bereich des Universums, der unvorstellbar weit von der Milchstraße entfernt ist. Einen Bereich, der vom schlimmsten Gegner regiert wird, dem sich die Crew der RUBIKON jemals gegenübersah.