O T T O ZIERER
BILD DER J A H R H U N D E R T E EINE WELTGESCHICHTE IN 19 EINZEL- UND 11 DOPPELBÄNDEN
FRÜHZEIT EUROPA...
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O T T O ZIERER
BILD DER J A H R H U N D E R T E EINE WELTGESCHICHTE IN 19 EINZEL- UND 11 DOPPELBÄNDEN
FRÜHZEIT EUROPAS ist der Titel des soeben erschienenen zweiten Bandes dieses bedeutsamen Werkes, der vom „Trojanischen Krieg" bis zur Begründung der Athenischen Demokratie an der Schwelle des fünften Jahrhunderts führt.
* Die große Wanderung der Indogermanen, über die der erste Band dieser neuartigen Weltgeschichte in dichterisch-erzählender Form berichtet, führt neue Völker in den Kulturkreis des Südens und Südostens. In der Begegnung des uralten, magischen Geistes, den der Orient ausstrahlt, mit der naturhaften Art der Nordvölker entscheidet sich das Schicksal des Abendlan !es. An den Küsten und Inseln der Ägäis ringt Hellas um Selbstbewußtsein und eigene Form. In farbenglühenJen, einprägsamen BuJern, doch historisch getreu, wird hier die Geburtsstunde Europas erschaut und gestaltet. Auch dieser Band ist in sich vollkommen abgeschlossen und enthält wieder ausgezeichnete Kunstdrucktafeln und zuverlässige historische Kaiten. Er kostet in der gleichen gediegenen Ausstattung wie der erste Band in der kartonierten Ausgabe mit zweifarbigem, lackiertem Überzug DM 2.95 und in der herrlichen Ganzleinenausgabe mit Rot- und Goldprägung und farbigem Schutzumschlag DM 3.60. Prospekt kostenlos vom
VERLAG SEBASTIAN LUX • MURNAU/MÜNCHEN
KLEINE BIBLIOTHEK DES WISSENS
LUX-LESEBOGEN NATUR-
UND KULTURKUNDLICHE
HANS
WILHELM
HEFTE
SMOLIK
VERLAG SEBASTIAN LUX • MURNAU/MÜNCHEN
Schniefnase taucht auf und zwei Tierfreunde streiten sich erbst ist's. In dicken Schwaden ziehen die Bodennebel über die gilbenden Wiesen. Die Silberfaden des Altweibersommers fliegen dem pflügenden Bauern um die Nase. Feucht schimmern die aufgeworfenen Schollen und das bunte Laub der Chausseebäume im späten Morgenlicht. Oberförster Krause und Dorfschullehrer Wicke sind auf der Fahrt in die Kreisstadt. „Schade um den Tag!" knurrt der Förster und schaltet den dritten Gang ein, als er von der Gemeindestraße auf die große Landstraße einbiegt. Die alte Kiste macht einen Satz und rattert dahin. Der Oberförster muß zu einer Sitzung in die Stadt und hat eine schöne Wut im Bauch. Denn er weiß schon, was die Herren dort von ihm wollen: Holz, Holz, und noch einmal Holz! „Für die müßten die Bäume schießen wie die Spargelstangen", schimpft er vor sich hin. Der Dorfschullehrer neben ihm, der ebenfalls zu einer Sitzung muß, nickt dreimal tiefsinnig und schüttelt danach dreimal den grauen Kopf. Auch er freut sich nicht auf die Stadt, wäre viel lieber mit seinen Jungen in den Wald gezogen. Im Wald geht ihm das Herz auf. Vor seinen Kindern, vor Tieren und Pflanzen, da löst sich seine Zunge, sonst aber unterhält er sich lieber mit seinen Büchern.
„Ja, ja, Wicke!" räuspert sich der Förster und spuckt verächtlich auf die Straße. Im nächsten Augenblick aber bremst er so scharf, daß der kleine Wagen fast ins Schleudern kommt und der Lehrer erschrocken hochfährt. Er sieht eine kleine erdfarbene Kugel, die mitten auf der Straße liegt und um ein Haar überfahren worden wäre. Der Förster schaut zurück. „Schniefnase!" meint er. Dann gibt er wieder Gas. „Schniefnase?" fragt der Lehrer. „Was war das?" „Ein Igel, Wicke! Ein ausgewachsener fetter Swinigel!" „Und deshalb fährst du uns fast in den Straßengraben?" „Es ging nicht um den Igel, Verehrtester, sondern um meine Reifen! Solch ein Igelstachel ist spitzer und härter als eine Grammophonnadel! Schon mancher Autofahrer hat das erfahren müssen. Ich jedenfalls fahre nicht mutwillig in hundertsechzigtausend spitze Nadeln hinein!" „Einhundertundsechzigtausend Nadeln?" staunt der Lehrer. „Hast du die selber gezählt?" Der Oberförster schmunzelt. „Nee, ich nicht!" sagt er dann. „Aber irgendeiner, der es durchaus wissen wollte. Es soll ja noch bedeutendere Tierkundige geben als einen gewissen Herrn Wicke." „Kaum glaublich!" gibt der Lehrer den gutmütigen Spott zurück. „Was hat Schniefnase überhaupt noch draußen zu suchen? Er sollte doch längst schlafen!" meint er dann. „Eben!" nickt der Oberförster. „Der Igel verdient eine ernsthafte Vermahnung! Wenn die Außentemperatur nur noch acht Grad Celsius beträgt und es im Winterlager des Igels kälter als fünfzehn Grad wird, hat er in den Winterschlaf zu fallen. Er darf dann auch nur sechs bis höchstens neun Atemzüge in der Minute tun." „Falsch!" unterbricht ihn jetzt der Lehrer. „Die neuesten Forscher erlauben ihm nur einen bis fünf Atemzüge in der Minute!" „So?" gibt der Förster zurück. „Ich las aber erst gestern: sechs bis neun Atemzüge." „Und ich kann es dir schwarz auf weiß zeigen: ein bis fünf Atemzüge!" trumpft der Lehrer auf. „Minutenlang soll die Atmung sogar ganz aussetzen." Die beiden Männer blinzeln sich vergnügt an und lachen dann laut auf. „Übrigens", fährt der Lehrer fort, „muß ich dich auch noch auf einen anderen Irrtum hinweisen. Du hast behauptet, die jungen Igel kämen nackt und ohne Stacheln auf die Welt, nicht wahr?" 3
„Stimmt!" nickt der Förster. „Schon mehr als einmal habe ich mir Igel gehalten, und immer kamen die Jungen nackt und stachellos angepurzelt." „Dann mußt du das nächste Mal deine Augen besser aufreißen! Der junge Igel wird mit Stacheln geboren! Er hat aber eine derartig, weiche und aufgequollene Haut, daß die noch weichen Stacheln sich in dieses Polster zurückdrücken. Die Haut schrumpft nach der Geburt schnell ein, und die Stacheln erheben sich." „Na schön! Man sieht zwar keine Stacheln, aber er hat doch schon Stacheln! Warum nicht? Sonst noch etwas Neues vom Igel?" „Ja!" nickt der Lehrer, und der Schalk blitzt in seinen Augen. „Es ist nicht wahr, daß der junge Igel das Zusammenrollen erst spät lernt. Er kann es schon nach vierzehn Tagen! Es sind ferner Fabeln, daß der Igel Obst auf seinen Stacheln einträgt, daß er erwachsene Mäuse fangen kann, daß er giftfest ist und daß ihn der Fuchs ins Wasser rollt oder mit seinem Urin bespritzt." „Ach was?" ruft der Förster, aber er ärgert sich schon ein bißchen. „Dann ist also der Tiervater Brehm ein Schafskopf und mein verstorbener Kollege, der Hegemeister Otto, ein Aufschneider? Denn der hat es doch mit seinen eigenen Augen gesehen, wie sich der Igel mehr als fünfzehn Birnen auf seine Stacheln spießte und daheim seine Jungen damit fütterte! Und das waren wohl weiße Mäuse, die der Igel vor meinen Augen aus dem Acker buddelte? Und die Kreuzottern der Naturforscher Lenz und Schreitmüller hatten wohl kein Gift mehr in ihren Zähnen?" Der Förster kommt immer mehr in Fahrt. „Menschenskind, jetzt hat der Spaß aber ein Ende! Wir beide haben doch selbst gesehen, wie mein Igel sogar mit zwei alten Kreuzottern fertig wurde, wie er mehrere Bisse in die Schnauze bekam und doch kreuzfidel weiterlebte!" „Trotzdem stirbt der Igel, sobald er einen Biß in die Schnauze bekommt, bereits nach drei Stunden! Am Gift der Ölkäfer und der Spanischen Fliegen allerdings stirbt er nicht. Diese Käfer kann er fressen, so viel er will." „Weißt du was, du Bücherwurm", fällt hier der Oberförster grimmig ein, ich pfeife auf deine wissenschaftlichen Bücher! Ich verlasse mich auf meine Augen!" „Das ist nicht ganz richtig, mein Lieber! Der Wissenschaftler und der Naturfreund sollten vielmehr gute Freundschaft schließen. Beide sollten bedenken, daß es auch unter den Tieren Starke und Schwache, Dumme und Findige, Mutige und Feige, kurz richtige Persönlich-
keiten gibt. Muß denn ein Igel dem anderen Igel gleichen? Kann es nicht sein, daß der eine durch Zufall auf den Obsttransport kam, besonders, wenn er in einer obstreichen Gegend wohnte? Ist es nicht möglich, daß der eine Igel, der vielleicht schon in früher Jugend von einer Kreuzotter gebissen wurde, bedeutend giftfester als der andere Igel ist? Muß es ausgeschlossen sein, daß ein besonders gerissener und erfahrener Fuchs, der den Igel vor ohnmächtiger Wut mit seinem Harn bespritzte, sich gemerkt hat, daß er so dem Stachelritter beizukommen vermag? Warum soll mancher Igel sich bei der Mäusejagd nicht sehr täppisch anstellen? Es gibt doch nicht überall so viele Mäuse, daß sie für jeden Igel ein alltägliches Wild sind!" Der Oberförster schießt noch einen mißtrauischen Seitenblick auf seinen Mitfahrer, dann aber heitert sich sein bärbeißiges Gesicht auf. „Mann Gottes!" ruft er. „Du hast den Nagel auf den Kopf getroffen! Wir kennen ja die Tiere viel zu wenig, um die einzelnen Gattungen in Bausch und Bogen beurteilen zu können! Weiß ich denn, was mein Hund denkt, und lebe doch nun schon fünfundzwanzig Jahre mit Hunden zusammen?!" „So ist es!" nickt der Lehrer. „Darum sollten wir nicht der Versuchung unterliegen, unsere eigenen zufälligen Beobachtungen nun gleich zu verallgemeinern und zu sagen: der Igel ist so und so, und nicht anders, er verhält sich immer und überall so, wie wir es sahen. Nein, wir sollten sagen: der Igel, den ich beobachtete, der war giftfest, der trug Obst auf seinen Stacheln ein, der stahl Eier und vermochte sie geschickt zu öffnen und auszuschlürfen, konnte das der von dir beobachtete Igel auch? Mein Igel legte sich schlafen, als das Thermometer fünfzehn Grad Celsius zeigte, meiner atmete, als ich ihn während des Winterschlafes untersuchte, nur fünfmal in der Minute, und wie verhielt sich dein Igel? Nur so können wir allmählich ein gutes und treffendes Bild vom Wesen eines Tieres erlangen. Wenn aber jeder seine eigenen Beobachtungen als ein Evangelium hinstellt und über die Erfahrungen anderer nur lacht, oder diese anderen gar für Lügner hält, dann bleiben wir immer Stümper in der Tierkunde." „Amen!" sagt der Förster und setzt sich zufrieden zurück. „Es lebe die Freude am Tier! Es lebe der Igel!" ruft er, um gleich darauf wieder zu schimpfen: „Da haben wir die Bescherung! Es regnet! Nun aber los!"
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Schniefnase ist beleidigt u n d f l beschließt, schlafen zu gehen • chniefnase liegt unterdessen noch immer fest zusammengerollt auf der Landstraße. Das Auto hat ihn mächtig erschreckt, und das Kreischen der Bremse, das Quietschen der Räder ist ihm durch Mark und Bein gegangen. Schniefnase haßt grelle Geräusche. Er hat ein sehr empfindsames Gehör und liebt deshalb auch die stille Nacht. Den lauten Tag pflegt er zu verpennen, wie er überhaupt die Ansicht vertritt, daß der Schlaf das Leben verlängert. So an die siebzehn bis achtzehn Stunden kann er täglich ganz gemütlich herunterratzen; außerdem verläßt er sich nicht gern auf seine kleinen schwarzen Zwinkeraugen. Die immer feuchte Nase und die ziemlich großen Ohren führen, leiten und warnen ihn bedeutend besser. Sie haben sein Geschlecht durch die Jahrmillionen hindurch noch nie im Stich gelassen. Ja, Jahrmillionen! Denn Igel, genau solche Igel, wie Schniefnase einer ist, gab es schon in den Braunkohlenwäldern der älteren Tertiärzeit. Und darum ist es ungehörig, den Vertreter eines so altehrwürdigen Tiergeschlechts in früher Morgenstunde schon derartig zu erschrecken. Schniefnase ist mit Recht beleidigt. Und überhaupt, das Leben wird immer schwieriger. Der Stachelpelz hält nicht mehr warm. Das Insektenvolk hat sich in seine Schlupfwinkel verkrochen, Schnecken sind schon köstliche Seltenheiten. Wie eine Heuschrecke, ein Käfer oder eine Maulwurfsgrille aussehen, kann er sich kaum noch erinnern. Junge Vögelchen und Vogeleier, wohlschmeckende Frösche und Eidechsen scheint es nie gegeben zu haben. Nein, es ist nichts mehr los! Selbst mit den Mäusen ist es diesmal schlecht bestellt. Schon gestern in der Dämmerungsstunde ist er halb hungrig geblieben. Die Jagd um Mitternacht hat eine einzige Maus eingebracht. Und heute morgen ist er schon eine ganze geschlagene Stunde auf den Beinen und hat nur einige Frostspanner und zwei Regenwürmer erbeuten können. So, und jetzt fängt es auch noch zu regnen an! Schniefnase zuckt unter jedem Regentropfen zusammen. Auch vom Wasser hält er nicht viel. Sein ganzes Fell beginnt zu zucken. Langsam schiebt sich der vordere und der hintere Teil der Stachel6
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kugel auseinander, und schnüffelnd kommt die leicht triefende Rüsselnase zum Vorschein. Schniefnase steht jetzt wieder auf seinen vier kurzen Beinen hat aher die Stirn noch dick gefaltet und blinzelt mißtrauisch umher. Richtig wütend sieht er aus, und bös und finster. Aber das machen nur die dicken Falten. Schon legen sich auch die Stacheln des Kopfes zurück, die kleine spitze Schnauze wird länger, glättet sich, und nun ist er wieder der gemütliche Herr Schniefnase und setzt sich in einen fördernden Trab. Jetzt sehen wir auch, daß er ein recht stattliches Kerlchen ist und einen hübschen schwarzen Schnurrbart trägt. Die weißen Flecken hinter den Augen lassen die Gucklöcher noch heller und freundlicher erscheinen. Die Stacheln spielen von einem lichten Braun am Grunde in ein schmutziges Gelb hinüber und haben fast schwarze Spitzen. Das breite Mäulchen sitzt überraschend tief und läßt darauf schließen, daß unser Freund seine Beute wie eine kleine Dampfwalze zu überfahren liebt. Behend wuselt Schniefnase in den Straßengraben hinunter und schnauft auf der anderen Seite flink wieder empor. So! Jetzt fühlt er sich schon sicherer. Im Windschatten des Feldsteines juckt er sich ungeschickt, fährt sich mit der Schnauze und den Pfoten in die Stacheln und scheuert sich eifrig seinen Pelz. Wie jeder Igel sitzt er voller Igelflöhe und Holzböcke und hat seine liebe Not mit diesen lästigen Untermietern, die anscheinend wissen, daß er ihnen nicht an den Leib kann. Dann aber durchfährt es ihn plötzlich wie ein elektrischer Schlag. Er hat da etwas gehört, etwas so Verlockendes, daß sein Maul sofort Geschmacksfäden zieht. Vorsichtig schleicht er um den Feldstein herum, und dick fährt ihm auch schon der Mäuseduft in die Nase. Und da ist es aus mit der Behäbigkeit! Wie der Blitz stößt er seine Nase in das Loch, und weiß nun, daß da unten ein Nest voll junger Feldmäuse ist. Da gibt es kein Halten mehr. Selbst ein Maulwurf wäre vor Neid erblaßt, hätte er gesehen, wie schnell sich Schniefnase in die Tiefe arbeitet, wie er wühlt und buddelt. Und da piepst es auch schon auf! Die Mausmutter springt dem Räuber verzweifelt ins Gesicht. Sie ist im Nu zerrissen. Die sieben hilfslos umherwuselnden nackten und noch blinden Mauskinder folgen ihr in den unersättlichen Rachen. Das ist ein Frühstück! Schniefnase schnauft behaglich und kostet die Wärme des Nestes und den Duft der Verschlungenen noch ein Weilchen nach. Er wird 7
dabei an sein eigenes warmes Nest erinnert. Nein, auch dieser glücklich» Fang soll ihn nicht irre machen! Es wird Zeit, dieser unfreundlichen Welt den Rücken zu kehren. Schnurstracks trippelt er den Feldrain entlang, murrt ob des Regens und wühlt sich am Waldrand unter den schon entblätterten Heckenrosenbusch. Stachlige Zweige liegen hier zuhauf und der Wind hat die welken Blätter zu einem dichten Filz zusammengeweht. Die Äuglein fallen ihm zu. Und er fühlt, das ist keine Tagesmüdigkeit, das ist wieder einmal jener komische Zustand, jenes unaufhaltsame Absinken in eine langes Dämmerleben. Darum streckt er sich auch nicht aus, wie sonst, wenn er sich schlafen legt, sondern rollt sich fest zusammen. Selbst ein kräftiger Mann vermag nicht, diese Stachelkugel aufzubrechen, wenn er seine Hände auch gut mit Handschuhen schützte. Dieser feste Schluß aber ist wichtig, denn der Iltis scheut auch nicht vor einem Einbruch in die sicherste Igelhöhle zurück. Bis zum späten Abend ruckt und zuckt Schniefnase ab und zu noch einmal, dann aber ist er wirklich und wahrhaftig hinübergedämmert. Bewegungslos liegt der Stachelknäuel im Laubfilz und nur die Flöhe turnen noch in seinem Fell herum. Auch sie sind zufrieden damit, nun endlich und endgültig im Warmen zu sitzen. Denn wenn auch die Körperwärme des schlafenden Igels im gleichen Maße wie die Außentemperatur absinken wird, so bleibt doch immer noch eine kleine Spanne dazwischen, die das Leben erhält. Tiefer als bis auf sechs Grad Wärme verkühlt sich der Leib ihres Wirtes nie. Wenn es wirklich einmal geschehen sollte, daß der Frost so tief in die Erde und durch das Laubnest dringt, daß diese sechs Grad gefährdet sind, dann wacht Herr Schniefnase auf und entschließt sich zu einem erwärmenden Dauerlauf. So kann es geschehen, daß wir mitten im Winter einen Igel durch den Schnee trippeln sehen. Das ist aber eine große Ausnahme und zugleich ein bedenkliches Unterfangen für den Stachelritter selbst. Es muß ihm dann gelingen, auch etwas zum Fressen zu erwischen. Muß er hungrig wieder in seine Höhle zurückkehren, dann kann es leicht geschehen, daß er bald wieder erwacht, wieder hinaus muß und sich so schwächt, daß er zuletzt in die ewigen Gefilde hinüberschläft.
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Schniefnase erwacht und betrachtet sieh bekümmert seinen Bauch s ist so weit! Unter dem Rosenbusch, der schon grüne Blättchen treibt, blühen die Veilchen. Auch das Rotkehlchen ist wieder da und treibt sich aufgeregt scheckernd am Waldrand herum. Die Weidenkätzchen am Bach empfangen den ersten Hummelbesuch und auch die Stare haben sich heimgefunden. Dorfschullehrer Wicke, der dicht neben dem Rosenbusch auf einem gefällten Eichenstamm sitzt, auf den er natürlich erst sein Taschentuch" gebreitet hat, blinzelt in die blendende Frühjahrssonne. Er beschließt gerade, seinen Jungen einen Aufsatz über die Frühjahrsverkünder in der Pflanzen- und Tierwelt schreiben zu lassen. Ein Rascheln im Laube unter dem Busch läßt ihn aufmerken. Er verhält sich mucksmäuschenstill und spannt. Das Rascheln wird stärker. Etwas glänzend Schwarzes, in der Mitte gefällig Gespaltenes taucht zwischen den Blättern auf. Dabei wird ein Geräusch laut, das den Lehrer daran erinnert, daß sein Schüler Gaßmann niemals ein Taschentuch mithat. Dessen Nase ist zwar nicht ganz so schwarz, wie die, die sich jetzt vollends aus dem Laubhaufen herausschiebt, aber sie schnüffelt verblüffend ähnlich. Der Nase folgt jetzt ein zugespitzter Kopf, der hinwiederum einem verniedlichten Schweinerüssel gleicht; Der Lehrer denkt schmunzelnd daran, vom Schüler Gaßmann eine genaue Beschreibung des Igels zu verlangen und dann an die triefende und schnüffelnde Nase einige herzhafte, erzieherische Worte anzuhängen. Schniefnase ahnt nicht, welche Gedankenverbindungen sein Erscheinen im Kopf des Lehrers auslöste. Er hat andere Sorgen. Vor allen Dingen ist er von einem tiefen Mißbehagen und einem großen Mißtrauen erfüllt. Außerdem hat er einen schweren und taumeligen Kopf. Vierundzwanzig Wochen hat er gepennt und ist erst heute vormittag aufgewacht. Sein Gehirn ist fast blutleer, und das Herz und die Lungen ersticken schier in der aufgespeicherten Kohlensäure. Stundenlang hat er noch vor sich hingedöst und nur allmählich wich der schwere Schlafbann von ihm. Dann hat er sich aufgerollt und 9
gestreckt und gedehnt. Das hat wieder eine gute Weile gebraucht, Zuletzt aber gab das kleine Gehirn den ersten Funken von sich: Raus! Empor an die frische Luft! Die Lungen vollpumpen und den Darm reinigen! Und nun ist er da! Wie wild schnauft er. Das Herz beginnt schneller zu pumpen, das Blut flotter zu kreisen. Und obwohl es ihm dabei so schwindlig wird, daß er fast umkippt, fühlt er doch voller Behagen, daß die Körperwärme ansteigt. Das erste vergnügte Schnalzen entfährt ihm, und die kleinen schwarzen Augen bekommen wieder Glanz und Frische. Und jetzt meldet auch schon die Nase wieder. Achtung! Es riecht nach Mensch! Aber bald beruhigt sich Schniefnase wieder und schiebt sich in die Sonne. Das ist ein Genuß! Er dehnt sich wohlig unter den warmen Strahlen, macht sich lang und länger. Dann aber krümmt er sich plötzlich zusammen und legt unter Murren und Puffen das ab, was ihn quälte. Ach, wie sieht der Bauch aus?! Er ist zusammengeschlottert und hängt in dicken Falten am Gerüst. Das letzte Gramm Fett ist aufgebraucht. Wehmütig denkt Schniefnase daran, wie sich dieses Bäuchlein im Herbst spannte und wölbte. Richtig elend ist ihm zumute. Der Hunger überfällt ihn wie eine reißende Bestie. Der Hunger ist es auch, der nun den Rest der Benommenheit vertreibt und die Sinne schärft. Schniefnase muß jetzt etwas in den Magen bekommen! So flott, als ob sein gedrungener Körper auf Rädern laufe, schiebt er sich an den Baumstamm heran und stößt die Nase unter das angewehte Laub. Aha! Die Herren Regenwürmer haben sich auch schon wieder aus der Tiefe heraufgewühlt. Na, komm nur! Behutsam und fachmännisch zieht Schniefnase den roten Wurm aus der mulmigen Erde und zerkaut ihn schmatzend. Eine Nacktschnecke, eine behaarte Raupe, eine Schmetterlingspuppe und ein Mistkäfer folgen dem Regenwurm auf dem Fuße. Aber das alles ist nur ein bescheidener Anfang, denn der Hunger ist gewaltig. Der Lehrer notiert in seinem Gedächtnis gewissenhaft jedes einzelne Beutetier. Er weiß, daß seine Bauern noch immer nicht so recht daran glauben, daß der Igel ein großer Insektenvertilger und Schädlingsbekämpfer ist. Schniefnase hat sich inzwischen vom Lehrer entfernt. Er blickt jetzt schon zufriedener in die Welt und wagt sich ein Stück in die Wiese hinein.
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Besonders ängstlich braucht ein Igel ja nicht zu sein. Wildernde Hunde und Katzen können ihm nichts anhaben. Der Fuchs und das Wiesel holen sich nur blutige Schnauzen bei ihm. Einzig der Iltis und die großen Raubvögel können ihm ans Leben. Der Iltis versteht es, ihn schnell zu untergraben, wenn er sich zusammenrollt. Und die großen gefiederten Räuber, die Eulen und die Habichte, greifen mit ihren gepanzerten Ständern durch seinen Stachelpelz hindurch. Doch oft gelingt es ihm, auch noch diesen Feinden zu entwischen. Unser Freund buddelt jetzt eine Grille aus ihrer Höhle, zuckt aber plötzlich zusammen und duckt sich nieder. Einige Krähen rudern über die Wiese und schwingen sich in ihren Schlafbaum am Waldrand. Schniefnase vermerkt das unwillig. Er weiß, diesen Krähen werden jetzt in kurzen Abständen noch viele folgen, und drüben am Waldrand wird es ein langes Gekrächze geben, ehe jeder Vogel seinen Ast gefunden hat. Darum bleibt er im Schatten des Feldraines und pirscht sich behutsam wieder zum Rosenbusch zurück. Hungrig ist er nicht mehr, also kann er sich jetzt bis gegen Mitternacht noch gute vier, fünf Stunden aufs Ohr legen. Nur immer mit der Ruhe! Nur keine unschöne Hast! Abends zwei Stündchen nach Sonnenuntergang, mitternachts zwei Stündchen, und dann im ersten Morgengrauen noch ein gutes Stündchen, das ist Bewegung genug. So haben es die Igel immer gehalten, und auch er wird von dieser weisen Lebensregel nicht abweichen. Später wird die Liebe und werden die Kinder schon Unruhe mit sich bringen. Schniefnase schlieft in seine Höhle, denkt noch einmal an die Genüsse des Tages, schnalzt genießerisch und legt sich auf die Seite. Er ahnt nicht, daß sich im Dorf ein Mensch um ihn sorgt. Der Lehrer hat nämlich auf seinem Heimweg, nicht weit von der alten Sandgrube, einige abgeschirrte Zigeunerpferde und zwei bunte Wohnwagen gesehen. Er weiß, daß die Zigeuner den Igelbraten schätzen. Sie packen den braven Stachelträger in eine dicke Lehmschicht und drehen diese Kugel über dem Feuer. Ist der Lehm hartgebrannt, brechen sie ihn wieder ab, und der im eigenen Saft geschmorte Igel gilt ihnen als ein Leckerbissen. Die Stacheln bereiten ihnen keine Schwierigkeiten mehr, denn sie bleiben im harten Lehm stecken. Der Lehrer nimmt sich vor, die Zigeunerkinder im Auge zu behalten.
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Schniefnase verläßt sich auf seinen Stachelpanzer und ist verlassen wei Tage später tanzt der struppige Zigeunerköter wahrhaftig vor dem Rosenbusch herum. Er hat Schniefnase auf dem Heimweg im ersten Morgengrauen überrascht, ihn gestellt und gebärdet sich nun wie ein Verrückter. Bis zur Höhle hätte Schniefnase keine dreißig Igelschritte mehr gehabt. Doch das Gekläff war ihm derartig in die Glieder gefahren, daß er die Stacheln nach vorn warf und sich zusammenrollte, ehe er überhaupt an Flucht denken konnte. Schon zweimal hat sich der Hund eine blutige Nase geholt, und nun jault und kläfft er, was der Hals hergibt. Schniefnase straft den Lärmenden mit Verachtung. Er bedenkt leider nicht, daß dort, wo ein Hund ist, der Mensch nicht weit weg zu sein pflegt. Obwohl die Zigeuner um diese Stunde noch zu schlafen geruhen, könnte das Heulen des Hundes doch Tote erwecken. Im Wohnwagen wird die kleine Gardine zur Seite geschoben. Zwei lebhafte Augen spähen durch das Fensterchen in den jungen Tag hinaus. Und dann kommt es in langen Sprüngen über die Wiese dahergerannt. Der Hund schnappt jetzt vor Eifer über. Schniefnase aber hör' beunruhigt das Getrappel des springenden Jungen. Bald hat er de Menschengeruch in der Nase und fühlt sich noch ungemütlicher Auch der freudige Aufschrei des kleinen Zigeuners kann ihn nich entzücken. Da! Und was ist das? Er fühlt sich gefaßt, weich un sicher gepackt, auf den Rücken gedreht und emporgehoben! No nie ist ihm solches geschehen. Darum weiß er auch nicht, wie e sich verhalten soll. Seine Lage ist in des Wortes Bedeutung s_ ungewöhnlich, daß er einfach platt ist. Er liegt da auf dem Rücken, was ihm übrigens gar nicht gefällt, liegt in den weichen und warmen Menschenhänden und schwebt durch die Luft. Der wuschelköpfige Junge ist jetzt wieder beim Wohnwagen angekommen. Er weiß, daß er ein Lob ernten wird. Aber da Vater und Mutter schon wieder schlafen, kann er sich noch ein Weilchen an dem drolligen Kerl erfreuen. Den Igel setzt er auf die kleine Treppe an der Wagentür und bindet dann erst einmal den störenden Hund ans Wagenrad. Dann kauert er sich zu seinem Gefangenen und streichelt ihn behutsam. Die zornigen Laute des Igels werden 12
schwächer. Gleich darauf lockert sich das dichte Gewirr der starrenden Stacheln und neugierig schiebt sich die kleine Nase vor. Es ist aber auch zu aufregend, was es hier alles zu schnuppern gibt! Es riecht nach Mensch, nach Pferd, nach Hund, nach Katze und vielen anderen unbekannten Dingen. Immer weiter eröffnet sich Schniefnase und der kleine Zigeuner klatscht vor Freude in die Hände. Unser Freund fährt erschrocken zusammen, kugelt sich sofort wieder und rollt die kleine Treppe herunter. Der Hund beginnt wie verrückt zu jaulen. Aber es ist nicht allein der Igel, der ihn zum Toben bringt. Nein, drüben von der Wiese naht sich ein Mann im grünen Kleid, der gar nicht hierher gehört. Oberförster Krause ist auf dem Nachhausewege von seinem Morgengang durchs Revier. Sein Jägerblick hat die Lage sofort erfaßt. „Sieh da! Freund Schniefnase", lacht er! „Da wäre bald ein Sonntagsbraten aus dir geworden! Gut, daß die Alten dich nicht erwischt haben, du Streuner." Unbekümmert um das Gekeife des Köters, hat er sich unseren Schniefnase gegriffen und setzt seinen Weg fort. Den Igel wird er nicht mehr freigeben, bis die Luft rein ist. Für einen Leckerbissen im Wohnwagen ist Freund Igel denn doch zu schade! Der Weg des Försters führt am Schulhaus vorbei. Lehrer Wicke aber schläft noch. Der Förster verweilt und überlegt, ob er einen Stein durch das offene Fenster werfen soll. Der Schalk blitzt in seinen Augen auf. Im Fenster steht zwischen den Blumentöpfen eine kleine Gießkanne. Dahinein würde der Igel vielleicht passen? Ein Schritt, ein Sichaufrecken, ein leiser Plumps, und schmunzelnd zieht der Förster weiter. Unserem Stachelritter aber wird es jetzt zu bunt. Es ist einfach zu viel, was man seiner Gemütlichkeit an diesem Morgen zumutet. Er verliert seine göttliche Ruhe und tobt wie ein Wilder in dem engen Gefängnis herum. Sein Zorn macht sich in einem lauten Grunzen, Murksen, Puffen und einem eigenartigen Trommeln Luft. Seine Stacheln kratzen kreischend die blechernen Wände der Gießkanne. Und dieses Geräusch macht ihn vollends toll. Im Nachthemd tritt der Lehrer ins Zimmer und lauscht verdutzt umher. Er blinzelt, reibt sich die Augen, kommt zum Fenster und entdeckt den Igel in der Gießkanne. Sein Gesicht ist in diesem Augenblick nicht gerade der Weisheit Thron. Dann aber vermutet er, daß ihm da einer seiner Lausejungen einen Streich gespielt hat. 13
Zu ärgern jedoch vermag er sich nicht. Nein, er freut sich über das Geschenk. Er nimmt die Gießkanne, trägt sie zum Tisch, kippt sie um, und wartet, daß sicti der Igel herausbegebe. Schniefnase aber denkt nicht daran. Er hat sich ausgetobt und wieder in seine alte Gelassenheit gefunden. Fest zusammengerollt liegt er und läßt den Lehrer zappeln. „Na, dann nicht!" murmelt der, stellt die Kanne wieder auf und wirft sich schnell in seine Kleider. Die ersten Kinder trappeln drüben schon in die Schulstube, und er hat noch nicht einmal gefrühstückt. Die alte Schwester des Lehrers, die ihm die Wirtschaft führt und jetzt mit dem Kaffeebrett kommt, muß dulden, daß die Gießkanne auf dem Tische stehenbleibt. Aber sie ist schon Kummer gewöhnt mit ihrem gelehrten Bruder. Sie hat schon Meerschweinchen im Küchenschrank, Frösche in der Badewanne und Blindschleichen im Sofa gehabt. Sie hat das alles mit Humor ertragen, und weil 6ie den auch heute nicht verliert, reizt sie den Bruder an, doch einmal den Rauch seiner Tabakspfeife in die Gießkanne zu blasen. Das kann er nun auf keinen Fall ablehnen. Obwohl die Jungen drüben einen Mordskrach vollführen, zündet er sich doch noch die Pfeife an, kippt die Gießkanne wieder um und bläst eine dicke Wolke durch das Kannenrohr. Wenn seine Jungen ihn so gesehen und dann noch beobachtet hätten, wie der Igel wie vom Blitz getroffen zusammenfuhr, sich aufrollte und im Nu auf dem Tische stand, sie wären in ein noch kräftigeres Indianergeheul ausgebrochen, als sie jetzt eben von drüben vernehmen ließen. Schniefnase aber ist empört. Noch nie hat er etwas derartig Widerwärtiges gerochen. Er schüttelt sich und niest und prustet. Dann lauft er über den Tisch, rennt das kleine Milchkännchen um, tapst in die weiße Lache und stutzt. Dieses weiße Zeug hinwiederumsteigt ihm lieblich in die Nase. Er muß schnell einmal kosten. Hm, wirklich nicht schlecht! Sein Schnäuzchen färbt sich weiß. Mit leuchtenden Augen stehen die beiden alten Menschen am Tisch und schauen auf den milchtrinkenden Igel. Ein putzwunderliches Kerlchen, dieser Stachelritter!
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Schniefnase kehrt zum Rosenbusch zurück und trifft Triefm'äulchen ie Schwester des Lehrers hat Schniefnase schon bald ins Herz geschlossen, besonders nachdem er sich ein gründliches Bad hat gefallen lassen und bewiesen hat, daß er stubenrein ist. So ist Schniefnase jetzt vielleicht der erste Igel, der kein Ungeziefer hat. Aber auch sonst liegt der Weg zum Wundertier frei vor ihm. „Er ist anhänglicher als ein Hund, er hört aufs Wort, und er ist das drolligste und gemütlichste Tier der Welt!" behauptet das alte Frauchen. Obwohl die Zigeuner schon über alle Berge sind, will der Lehrer den Igel noch so lange behalten, bis sich alle Bauern bei ihm überzeugt haben, daß Schniefnase mit den vorgelegten Eiern nichts anzufangen weiß. Er schiebt die großen Hühnereier wohl hin und her, läßt sie aber schließlich doch liegen. Nur dann, wenn das Ei angeknickt wird, patscht er weiter drauflos und schleckt die zertrümmerten Schalenstücke gründlichst aus. So aber wird es sich auch sonst verhalten, daß der Igel sich nur an angeknickten Eiern vergreift. Ein geübter Hühnereierdieb würde sich zweifellos geschickter anstellen. Schniefnase hat also in diesen Tagen eine große Aufgabe zu erfüllen und wirkt in vielen Schaustellungen für das Wohl und Wehe zukünftiger Igelgeschlechter. Und weil er sich so herrlich dämlich anstellt, bekommt er nach einer Woche auch die Freiheit wieder geschenkt. Heimlich und leise trägt ihn der Lehrer zum Rosenbusch zurück und entläßt ihn hier mit gemischten Gefühlen. Er hat es sich nicht verkneifen können, unserem Schniefnase einen kleinen weißen Lackfleck auf den Rücken zu tupfen, um ihn später wiedererkennen zu können. Er hofft, daß dieses leuchtende Mal dem braven Stachelträger nicht einmal zum Verhängnis werde. Schniefnase erkennt sofort, wo er sich befindet. Er nimmt keinen großen Abschied, sondern trippelt schnurstracks und ohne sich einmal umzusehen auf den Rosenbusch zu. Hier schnüffelt er einige Augenblicke herum, dann wühlt er sich unter das Laub. Er ist durchaus nicht beglückt, sondern eigentlich recht beunruhigt. Ganz komisch hat es da oben an der Röhre gerochen. Und jetzt kommt ihm dieser Geruch noch stärker entgegen. Was ist während seiner 15
Abwesenheit hier geschehen? Zögernd nur rutscht er tiefer und hält nach drei Schritten wieder an. Natürlich! Er hat es sich doch gleich gedacht! Ein anderer Igel sitzt in seiner Höhle! Schniefnase läßt ein kriegerisches Trommeln ertönen. Soll er sich das gefallen lassen? Niemals! Er wirft die Stacheln über die Stirn, daß sie wie gefällte Spieße vorstehen, und dringt entschlossen vor. Aha, da rührt sich auch schon etwas! Jetzt drauf und dran! Ein helles Quieken sagt ihm, daß er getroffen hat. Aber über diesen Anfangserfolg kommt er nicht hinaus. Der Eindringling ist größer und stärker und verstopft die ganze Röhre. Und auch er hat jetzt die Stacheln vorgeworfen. Böse grunzend liegen sich die Beiden gegenüber. Dann zieht sich Schniefnase zurück. Er verläßt die Röhre und schlieft leise in den zweiten Eingang. Behutsam dringt er vor und macht eine neue Entdeckung. Dieser fremde Igel ist ein Weibchen! Klar, er riecht es deutlich. Und er kennt diesen Geruch. Schniefnase war schon fünfmal verheiratet. Zugleich aber stellt er fest, daß an diesem Geruch heute etwas Neues, etwas Andersartiges ist, das ihn besonders aufregt. Doch wie dem auch sei, das hier ist seine Höhle! Darauf muß Schniefnase trotzdem bestehen. Entschlossen rückt er vor und trifft das Weibchen überraschend von hinten. Hei, und jetzt hat die Sache geklappt. Ganz plötzlich ist der Gang leer. Droben aber wundert sich der Lehrer, der noch ein Weilchen gewartet hat, daß auf einmal ein Igel an ihm vorüberwuselt, der keinen weißen Fleck auf dem Rücken trägt und ihm auch größer' erscheint. Schnell setzt er den Fuß vor und betrachtet sich den Stutzenden näher. Er nimmt ihn auf und murmelt: „Das ist doch nicht möglich!" Aber dann sieht er es deutlich: dieser Igel hat eine weiße Brust und einen weißen Fleck auf dem Bauche. Schniefnase aber, dafür läßt sich der Lehrer köpfen, hatte eine braune Brust, einen grauen Bauch und einen dunklen Keilfleck mitten auf der Stirn. Die Augen des Lehrers blitzen, sein Gesicht rötet sich, ja, seine Hände beginnen etwas zu zittern. „Erinaceus, erinaceus roumanicus!" flüstert er. „Ein Rumäne!" Er setzt den Igel wieder ab und rennt mit flatternden Hosenbeinen davon. Unverzüglich muß er jetzt heim und nachlesen, und dann 16
zu seinem Förster. Junge, der wird Augen machen! Die Tabakspfeife wird er fallen lassen! Ich weiß nicht, liebe Leser, ob ihr den Lehrer Wicke verstehen könnt? Ob ihr selbst schon einmal eine naturwissenschaftliche Entdeckung gemacht und die tiefe, die köstliche und erhebende Freude erlebt habt, daß ihr zum ersten Male ein Tier saht, von dem ihr bisher immer nur gelesen und gehört habt? Es ist eine schöne Freude! Ja, es ist ein Glück, ein reines Glück. Ihr müßt jetzt freilich noch wissen, daß es in Deutschland und überhaupt in Europa zwei Igelarten gibt. Und zwar sind daran die Eiszeiten schuld. Als nämlich vor einigen Jahrhunderttausenden die Gletscher aus dem hohen Norden auch über Deutschland rutschten, da mußte mit vielen anderen Tieren der Igel ausreißen. Die osteuropäischen Igel flohen damals nach dem Balkan und die westeuropäischen Igel nach Italien und Spanien. Nachdem aber diese bösen Zeiten vorüber waren, kehrten auch die Igel wieder in ihre alte Heimat zurück. Und dabei stellte sich nun heraus, daß die Balkanigel weiße Flecken auf dem Bauche und auf der vorderen Brusthälfte hatten, während die Spanienigel einen grauen Bauch und eine braune Brust zeigten. Der Lehrer ist jetzt daheim angekommen. Er tritt an seinen Bücherschrank, reißt ein Buch heraus und liest laut: „Die Igel aus Rumänien und vom Balkan besiedelten Ungarn, die Ukraine, Polen, und drangen vom Osten her bis zur Oder vor, sie erreichten in den letzten Jahren das Fichtelgebirge und den Böhmerwald. Die Igel aus Spanien besiedelten Frankreich, Belgien, Holland und drangen in Deutschland bis nach Mecklenburg, Brandenburg, Sachsen und Niederbayern vor. Die ungefähre Grenze der „Europäer" und der „Rumänen" zieht sich von Rügen bis nach Triest quer durch Europa." Der Lehrer reibt sich die Hände. Er hat den ersten „Rumänen" in Mitteldeutschland entdeckt! Er klemmt das Buch untern Arm und stürzt ohne Abendbrot davon. Kopfschüttelnd sieht ihm die Schwester nach und setzt den Tee und die Bratkartoffeln in die Ofenröhre zurück. So kommt es, daß sich Schniefnase und der Dorfschullehrer Wicke gleichermaßen über das Auftauchen von Triefmäulchen, das der rumänischen Igelart angehörende Igelweibehen, erregen. Denn auch Schniefnase kann sich noch nicht beruhigen. Irgendwie hat ihn das Erlebnis aus dem Gleichgewicht gebracht. Es hält ihn nicht in seiner Höhle. Eifrig schnuppernd folgt er der Spur und 17
läuft immer schneller, je dichter der Geruch wird. Unter dem Schlehenbusch am Feldrain bleibt die Duftwolke stehen und versammelt sich. Hier also scheint das Weibchen zu hausen?! Schniefnase trippelt rings um den Busch und weiß es nun ganz genau: sie sitzt darunter! Mit seiner Ruhe ist es aus. Er schnauft, schnieft und schnüffelt, als ob er keine Luft mehr bekäme. Triefmäulchen hat ihn natürlich bemerkt, rührt sich aber nicht. Die Stiche in der Schnauze und im Schwanz brennen jetzt noch. Was will dieser Grobian jetzt von ihm? Er soll es nur wagen, in sein Lager einzudringen! Unerhört, er wagt es tatsächlich! Fauchend stürzt Triefmäulchen vor und beißt kräftig zu. Quiekend taumelt Schniefnase zurück und leckt sieh seine mißhandelte Nase. Selbstverständlich kann er diese Schlappe nicht hinnehmen. Wieder stürzt er vor und empfängt wieder einen Biß. Aber er kennt dieses kratzbürstige Gebahren der Igelweibchen schon und läßt sich durchaus nicht entmutigen. Angriff und Abwehr wiederholen sich. Auch Triefmäulchen empfängt manchen Riß, Schmiß und Biß. Schniefnase blutet die Nase. Nachdem eine Stunde vergangen ist, verschnaufen beide und sitzen sich dicht gegenüber. Ihre schwarzen Äuglein blitzen und funkeln, ihre Flanken beben, und ihre Nasen schnüffeln um die Wette. Triefmäulchen hat erkannt, daß Schniefnase ein ganzer Kerl ist. Und Schniefnase hat erkannt, daß er noch nie einem derartig schönen und starken Weibchen begegnet ist. Besonders der weiße Brustlatz hat es ihm angetan. Überhaupt erscheint sie ihm auffällig anders als seine bisherigen Frauen. Darum denkt er auch nicht daran, sich wieder zu trollen. Wenn er ein Mensch wäre, würde er jetzt vielleicht sagen: „Diese oder keine!" Doch wenn er es auch nicht sagen und auch nicht so klar empfinden kann, so handelt er doch dementsprechend. Der Tanz beginnt von neuem und währt wieder eine gute Stunde. Inzwischen ist schon die Sonne untergegangen. Schniefnase greift immer noch an und erntet noch immer für jede plumpe Vertraulichkeit eine schmerzhafte Zurechtweisung. Doch läßt sich nicht verkennen, daß die Bisse und Schmisse Triefmäulchens nicht mehr ganz so bösartig und giftig sind. Und als wieder eine Stunde später der Mond den Kampfplatz bescheint, da ist der Friede geschlossen. Da ist geschehen, was sich der Lehrer und der Förster in ihren kühnsten Träumen gewünscht haben. Da ist aus dem „Europäer" und der „Rumänin" ein Paar geworden! 18
Schniefnase ist glücklich und zieht zweimal um enschen gibt es, sehr gescheite Menschen sogar, die nichts davon wissen wollen, daß auch ein Tier glücklich sein kann. Sie glauben es nicht und werden bös, wenn sie irgendwo lesen, daß sich ein Tier erfreute oder bekümmerte. Diesen Leuten zum Trotz aber muß ich doch sagen: Schniefnase ist jetzt glücklich! Er kann es sich garnicht vorstellen, seine liebe Frau nur eine Stunde verlassen zu müssen. Er ist immer um sie herum*und schläft natürlich bei ihr in der Höhle. Ohne zu zögern hat er seine sichere Behausung unter dem Rosenbusch verlassen und ist nach dem Schlehenbusch umgezogen. Das Leben macht ihm jetzt richtig Spaß. Er spielt und scherzt und tollt mit Triefmäulchen nach Herzenslust herum und hat ganz vergessen, daß er schon sechs Jahre alt ist und sich eigentlich gesetzter und vernünftiger benehmen müßte. Triefmäulchen hält ihn allerdings auch immer in Atem. Es nimmt die Ehe auf die leichte Achsel, ist nicht sehr treu und muß gut bewacht werden. Dabei treiben sich plötzlich überraschend viele Igel während dieser wetterwendischen Aprilwochen in der Nähe des Schlehenbusches herum. Igelmännchen, die sich zäh, unverfroren und aufdringlich um Triefmäulchen bewerben. Bedauerlicherweise unternimmt Triefmäulchen von sich aus wenig, um nicht zu sagen gar nichts, diese Burschen abzuschrecken. Im Gegenteil, sie hat sich vollkommen verwandelt und geht jedem neuen Freier entgegen. Aber Schniefnase versteht in solchen Sachen keinen Spaß. Er entwickelt sich zu einem Kampfhahn erster Klasse. Sobald er nur Igel riecht, beginnt er böse zu grunzen und zu fauchen, wirft die Stacheln über die Stirn und geht trommelnd auf den Störenfried los. Bis jetzt hat noch jeder eine derartige Abreibung erhalten, daß er froh war, wenn er den Waldwinkel wieder verlassen hatte. Die Kräfte unseres Freundes scheinen sich in dieser Zeit verdoppelt und verdreifacht zu haben. Wie ein aufgezogener kleiner Panzerwagen schiebt er flink durchs Gelände, stürzt sich bedenkenlos auf jeden Feind und überfährt ihn meistens schon im ersten Ansturm. Dann aber verteilt er Püffe und Schmisse nach allen Regeln der Kunst. Einem besonders frechen Burschen sticht Schniefnase sogar ein 19
Auge aus. Rundherum tanzt er um die verdatterten Nebenbuhler und landet Angriff auf Angriff. Er ist wie ein gewandter Turnierreiter des Mittelalters und jagt seine harten Speere dem unverschämten Rivalen immer wieder in die Weichen, beißt ihn in die Beine — und empört trommelt er dabei sein wütendes, erregtes Angriffssignal. Triefmäulchen ist eben zu hübsch und zu jung! Aber dafür kann es ja nichts. Schniefnase dagegen befriedigt es sehr, wenn er immer wieder einmal einen Nebenbuhler in die Flucht schlagen und sich damit bei seiner Frau ins beste Licht setzen kann. Er vermag sich kein schöneres Leben vorzustellen, als das, was er jetzt führt. Er begreift nicht, wie er vorher so allein durch Wald und Flur ziehen konnte. Denn wie schön sind jetzt die gemeinsamen nächtlichen Streif züge!" Dicht an dicht schieben Schniefnase und Triefmäulchen dahin. Jeden Fund teilen sie sich mit. Und oft überläßt der eine dem anderen die Beute. Der Tisch ist jetzt auch wieder reichlich gedeckt. Es gibt Käfer und Schnecken in rauhen Mengen, hin und wieder auch ein köstliches Vogelei, leicht angequollene Bucheckern und Eicheln, fette Würmer und Larven unter jedem Laubhaufen, schlaftrunkene Zauneidechsen und Blindschleichen, junge Mäuse und saftige Frösche. Schniefnase und Triefmäulchen treiben sich besonders gern am Waldrand herum. Der blasse Mond ist ihre Sonne. Die Geräusche der Nacht sind ihnen vertraut. Sie wissen genau: was da oben in den sich begrünenden Wipfeln faucht und klagt, das sind die Käuzchen. Was da tief im Walde glockt und gongt, das ist der Fasan. Was da knarrt und seufzt, das sind die Äste, die sich aneinander reiben. Und was da so heimlich gluckst und läutet, das ist der Waldbach. Freie Strecken überqueren sie nicht gern, sondern halten sich lieber in Deckung. Ihr gedrungener Körper ist ja vortrefflich zur Durchdringung jeglichen Gestrüpps, Gedorns und Gebüschs geeignet. Auch heute sichern sie wieder lange, ehe sie die Waldschneise überqueren. Dann aber rennen sie los, einer dicht hinter dem anderen. So schnell sie aber auch dahintrippeln, der Förster erblrckt sie doch. Er erkennt Schniefnase sofort am weißen Lackfleck und Triefmäulchen aus der Beschreibung des Lehrers. Er freut sich, daß die beiden sich wirklich gefunden haben. In vier Wochen spätestens wird es die ersten Kreuzungen 20
zwischen „Europäern" und „Rumänen" zu sehen geben. Dann heißt es aufpassen, damit man die Igelfamilie erwischt und sich diese Wunderkinder näher betrachten kann. Die beiden Tierfreunde werden von Triefmäulchen auch nicht enttäuscht, Schniefnase jedoch in den nächsten Wochen um so mehr. Seine Frau verliert nämlich die Freude am Scherzen und Tollen und zeigt sich von Tag zu Tag kratzbürstiger. Faul und bequem liegt sie im Lager und riecht auch nicht mehr so gut und so aufregend. Schniefnase findet, sie habe sich grundlegend verändert und murrt und knurrt. Ja, er vergißt sie sogar für drei Tage und macht einem anderen Igelweibchen den Hof. Triefmäulchen riecht es natürlich, wo er war, zeigt sich aber höchst gleichgültig. So traurig die Sache ist, und so unverständlich es auch nach all den schönen Wochen erscheint: Triefmäulchen macht sich nichts mehr aus Schniefnase! Na, und da wird auch er allmählich kälter und unfreundlicher. Und als er eines Tages an seinem Rosenbusch vorbeikommt, muß er doch einmal nach seiner Höhle schauen. Ja. und er findet sie so nett und so traulich, daß er nicht mehr zum Schlehenbusch zurückkehrt. Wenn er in Zukunft auf Triefmäulchen stößt, beschnuppern sich beide kurz, haben sich aber sonst nichts mehr zu sagen. Er stellt lediglich fest, daß sie recht dick und unförmig aussieht, und sie stellt fest, daß er ein alter muffliger Kerl geworden ist. So vergehen die nächsten Wochen. Die Maikäfer purren schon durch den Abend. Am Waldrand schluchzt die Nachtigall, ü b e r den Teich schaukeln die Fledermäuse und irgendwo in den Wiesen 'schnurrt die Nachtschwalbe. Einsam und verlassen liegt Triefmäulchen in seinem Läger, das es tüchtig ausgepolstert hat, und stöhnt. Großes und Schmerzliches geht mit ihm vor und niemand ist da, der ihm helfen oder es ein wenig streicheln könnte. Triefmäulchen klagt jedoch deswegen nicht. Jede Tiermutter ist in ihrer schweren Stunde allein. Sie stöhnt nur wegen der Schmerzen, die nun schon den ganzen Abend anhalten und in immer kürzeren Abständen wiederkommen. Triefmäulchen wirft sich hin und her und schnauft ganz wild. Und plötzlich zuckt es sehr zusammen und — ein kleiner weißer blinder Igel, kaum so lang wie ein kleiner Männerfinger, liegt neben ihm! Wie ein niedliches Marzipanschweinchen sieht er aus. Wer aber genauer hinsieht, der bemerkt, daß er doch schon winzige weiße Stacheln hat. Nur sind diese Stacheln noch weich und liegen dicht der Haut an. 21
Triefmäulchen schnauft freudig auf. Und dann wirft es noch vier weitere Junge, ganz kurz hintereinander. 0, sie ist eine starke Mutter! Und ist nun froh, daß alles so gut gegangen ist. Sorgfältig werden die Kerlchen saubergeleckt. Berauschend steigt der Kleinkindergeruch in die mütterliche Nase. Dann aber legt sich Triefmäulchen auf die Seite und säugt seine Kinder. Im Anfang will das zwar noch nicht so recht klappen, weil die Dummerchen noch blind und tolpatschig sind. Aber bald hat die Mutter Ordnung hineingebracht, und nun liegen sie dicht nebeneinander und trinken. Triefmäulchen ist glücklich! Am zweiten Tage richten sich die Stacheln der jungen Igel schon auf und färben sich dunkel. Da kann es Triefmäulchen wagen, die kleine Bande allein zu lassen und sich schnell ein Abendbrot zusammenzujagen. Es entfernt sich jedoch nicht weit, nimmt auch mit der kleinsten Beute vorlieb und lauscht auf jedes Geräusch. Sowie eines der Kinder losquiekt, wuselt es pfeilschnell zurück und schaut nach, ob auch noch alles in Ordnung ist. Denn für so junge Igel, die es noch nicht einmal fertigbringen, sich zusammenzurollen, sind der Hamster und die Krähe fürchterliche Feinde. Aber auch die Igelmutter ist in dieser Zeit ein gefährliches Raubtier, das unbedenklich das soeben geworfene Häschen oder die kaum geschlüpften Rebhühner auffrißt. Sie hat keine Zeit und muß sich schnell den Magen füllen. Die Kinder trinken viel, und das Fell schlottert ihr sowieso um die Knochen. Deswegen wollen wir diese ihre Schandtaten nicht an die große Glocke hängen und die Igel alle in Bausch und Bogen verdammen. Not kennt kein Gebot. Und eine Mutter denkt immer zuerst an ihre Kinder.
Schniefnase entdeckt, daß er Vater ist und übernimmt die Führung s ist ein milder uind warmer Juniabend, Die Leuchtkäfer schwingen sich funkelnd über das Niederholz am Waldrand, und im Grase blitzen die grüngoldenen Laternen ihrer ungeflügelten Weibchen. Der Lehrer und der Förster sitzen auf dem Eichenstamm am Rosenbusch und lauschen in die Stille hinein. Der letzte rosige Schimmer der untergegangenen Sonne verblaßt im Westen und der Wald beginnt stärker zu rauschen. 22
Im Dorf unten läutet die Feierabendglocke, und hier und da blitzen schon Lichter hinter den kleinen Fenstern auf. Der Rosenbusch steht wie eine geschmückte Braut, ist über und über von rosaroten Blüten bedeckt. Ganz eng schmiegt sich die Schönheit des vielfältig gegliederten Landes an die Herzen der Männer. Auf einmal legt der Lehrer die Hand auf den Arm des Freundes und hebt dann den Zeigefinger. Ein feines Rascheln im Laub kommt näher. Knapp vor ihren Stiefeln schlängelt sich ein grauer und geschmeidiger Körper vorüber. Ganz deutlich ist die dunkle Zickzacklinie auf dem Schlangenrücken zu erkennen. Auf gleicher Höhe mit den Männern angekommen, stutzt die Kreuzotter und hebt den Kopf. Noch jetzt im Dämmerlicht ist zu sehen, wie kräftig gewinkelt sich die Unterkiefer der Giftschlange vom Hals absetzen. Diese Unterkiefer, die dunkle Zickzacklinie und die schlitzförmige Pupille unterscheiden die Kreuzotter von den harmlosen Nattern. Obwohl es dem Förster ein leichtes gewesen wäre, die Kreuzotter mit dem Stock zu erschlagen, rührt er sich nicht, sondern schaut gebannt zu ihr hin. Er und der Lehrer wissen, daß auch dieses schöne Tier unnötig verschrien und verleumdet wird, daß die meisten Zeitungsmeldungen von gebissenen Kindern nur dem Sensationsbedürfnis der Menschen zuliebe geschrieben werden. Der Förster schätzt die Kreuzotter als einen tüchtigen Mäusejäger. Die Kreuzotter wendet sich auch nicht den Männern zu, sondern lauscht mit schiefgehaltenem Kopf in die entgegengesetzte Richtung. Von dort läßt sich jetzt ein stärkeres Rascheln und bald auch ein vielstimmiges Schniefen vernehmen. Die Schlange läßt den Kopf sinken und verschwindet im Grase. Gleich darauf taucht ein runder, dunkler Schatten am Rande der kleinen Blöße auf, verweilt, schnüffelt und trippelt näher heran. Ihm auf dem Fuße folgen im Gänsemarsch fünf kleinere Schatten. Triefmäulchen mit Kinderschar! Ein breites Schmunzeln verklärt die Züge der beiden Männer. Ihre Augen bohren sich durch die Dunkelheit. Aber sie brauchen sich gar nicht so zu bemühen. Triefmäulchen tut ihnen den Gefallen und rückt ganz dicht heran, ja, es stößt sogar mit der Nase an den Stiefel des Försters. Dieser Stiefel allerdings scheint ihm verdächtig zu riechen. Es zuckt zusammen und schnauft auf. Auch die kleinen Igel versammeln sich um diesen noch nie gerochenen Gegenstand. Triefmäulchen treibt sie davon und biegt seitwärts aus. Die Igel23
kinder, die erst ein bißchen durcheinandergeraten, reihen sich bald wieder an und folgen. Und jetzt kann der Lehrer nicht mehr an sich halten. Er bückt sich und greift sich das letzte Kerlchen. Der kleine Igel füllt gerade seine hohle Hand. Er ist natürlich sehr erschrocken und rollt sich ein. Da sein Rückenmuskel jedoch noch nicht kräftig genug ist, kann man trotzdem noch seinen grauen Bauch und einen weißen Fleck an der Oberbrust sehen. Triumphierend begegnen sich die Augen der beiden Tierfreunde. Dann setzt der Lehrer den kleinen Kerl wieder ab. Er braucht sich dazu nur umzudrehen, denn die Igelfamilie ist inzwischen hinter den Baumstamm getrippelt. „Hast Du gesehen?" flüstert der Lehrer. Seine Stimme bibbert richtig ein bißchen. „Grauer Bauch und weißer Brustlatz!" Der Förster nickt begeistert. „Unbedingt müssen wir uns später einen solchen Wunderkerl schnappen! Am besten ein Weibchen und ein Männchen." Dann erheben sie sich befriedigt und wandern langsam ins Tal hinunter. Einen derartig verlockenden Sommerabend kann natürlich auch Schniefnase nicht verschlafen. Kaum, daß die beiden Männer am Rosenbusch vorüber sind, schiebt er seine Nase hervor und bummelt ebenfalls los. Am Baumstamm angekommen, wittert er die Spur Triefmäulchens, wundert sich aber gleich, daß da auch noch viele andere Düfte wahrzunehmen sind. Mit gesenktem Kopf steht er da und scheint nachzudenken, was bei seinem kleinen Gehirn bestimmt keine leichte Aufgabe ist. Trotzdem tauchen irgendwoher die Bilder von vielen kleinen Igeln in ihm auf. Natürlich, es riecht nach jungen Igeln! Schniefnase weicht heute abend der Spur Triefmäulchens nicht aus, sondern folgt ihr. Im gleichen Augenblick, da er um den Baumstamm herumschwenkt, stößt er mit der ganzen Familie zusammen. Triefmäulchen erschrickt und fährt ihn unwillig an. Aber die fünf kleinen Igel beschnuppern ihn neugierig und zeigen keine Scheu. Der Reihe nach stellen sie sich vor. Schniefnase findet, daß sie alle gut riechen und also gesund sind. Nun, das war ja wohl auch bei einer solchen Mutter"nicht anders zu erwarten. Die Mutter selbst freilich kommt ihm ziemlich dürr und abgetrieben vor. Besonders freundlich stellt sie sich auch nicht an, sondern murrt und knurrt vor sich hin. Doch Schniefnase kennt auch das und nimmt es ihr nicht weiter übel. Ohne große Erklärung setzt er sich an die Spitze 24
des Zuges und zeigt seinen Kindern einmal, was ein alter und erfahrener Igel alles zu finden weiß. Die fünf kleinen Kerle merken bald, daß es sich in der Spur dieses großen Igels gut wandeln laßt. Sein Rüssel pflügt die Erde bedeutend kräftiger auf, und er selbst scheint gar keinen Hunger zu haben. Sie können sich sättigen wie noch nie. Und als sie zwei Stunden später wieder eng beieinander unter dem Schlehenbusch liegen, da vergessen sie zum ersten Male, daß es bei der Mutter etwas zu trinken gibt. Triefmäulchen ist deswegen nicht böse. Es hat sich an diesem Abend ebenfalls wieder einmal so richtig den Magen vollschlagen können und schläft großartig. Schniefnase aber findet in seinem Bau keine Ruhe. Er zieht wieder los, buddelt ein Mäusenest aus und schleppt die toten Nacktkittelchen unter den Schlehenbusch. Er kann es dann nicht erwarten, bis die Jungen ausgeschlafen haben, sondern stößt sie wach und gibt acht, daß jedes zu einer Maus kommt. Auch für Triefmäulchen ist eine übrig. Schniefnase darf dafür im Lager unter dem Schlehenbusch bleiben. So also fanden sieh Schniefnase und Triefmäulchen über ihre Kinder wieder zusammen. Sie bleiben nun auch vereint, solange die jungen Igel noch der Hilfe bedürfen. Schniefnase führt sie durch sein Reich, durch den lichten Buchenwald mit dem grünenden Unterholz, in dem sich tausend Verstecke bieten und jeder Winkel eine kleine Speisekammer für sich ist, durch den kleinen Kleeacker bis zur Landstraße, an die auf der anderen Seite das Haferfeld anschließt, an den kleinen Wiesenteich, wo es die saftigen Frösche und ab und zu auch einmal eine Ringelnatter gibt, zum kleinen Steinbruch, in dem die Blindschleichen und die Eidechsen hausen. 0, sie können viel von ihm lernen, die kleinen Kerle! Sie begreifen bald, daß man den flinken Mäusen nur mit List und Tücke zu Leibe rücken kann, daß man vor dem Geschrei der Frösche nicht zu zittern braucht, daß jegliches Zirpen im Grase als eine Einladung zu fröhlichem Schmaus zu verstehen ist, daß es sich immer verlohnt, kleine Steine umzuwälzen, weil sich darunter Käfer, Würmer und Schnecken verstecken, und daß die großen grauen Schneckenhäuser das beste Fleisch der Welt enthalten. Sie erfassen noch schneller, daß ein Igelmagen eigentlich alles vertragen kann. Selbst die blauschillernden Ölkäfer und die grünschimmernden Spanischen Fliegen, an deren Gift Tier und Mensch sterben, darf ein Igel unbedenklich 25
fressen. Na, und wenn es sich gerade ergibt, daß sie einmal einen toten Vogel oder einen anderen kleinen Leichnam finden, so können sie sich auch diesen einverleiben, ohne fürchten zu müssen, daß das Leichengift ihnen schaden könnte. Selbst vergiftete Krähen braucht ein Igel nicht liegen zu lassen. Ein Igelmagen kann alles verwerten und übertrumpft noch den besten Schweinemagen. Auf diesen Wundermagen baut sich dieUnvergänglichkeit des Igelgeschlechts auf. Nur die großen schwarzen und roten Wegschnecken, die frißt sogar ein Igel nicht. Doch nicht nur solche Erfahrungen weiß Schniefnase zu vermitteln. Er bringt seinen Kindern auch bei, daß in jeglicher Gefahr die Ruhe die beste Waffe ist. Nur nicht unnötig aufregen, nur nicht die Nerven verlieren, nur keine Angst zeigen! Besonders sind die Feinde, die viel Krach machen, meistens ungefährlich. Bellende Hunde, fauchende Katzen und krächzende Krähen straft ein Igel mit Verachtung. Viel bedenklicher ist die Geschichte, wenn sich ein Schatten lautlos niedersenkt. Weder Eule noch Habicht sind vorher zu riechen noch zu hören. Auch der Dachs ist ein heimlicher Schleicher und der Fuchs ein heimtückischer Gegner. Der Todfeind aber ist der Iltis! Wie gefährlich er ist, läßt sich schon daran erkennen, daß ihn die Kreuzotter noch mehr fürchtet als den Igel. Die beste Schule für die jungen Igel jedoch ist das Leben selbst. Weder Schniefnase noch Triefmäulchen können es verhindern, daß sich eben der Iltis eines der Jungen holt. Mitten aus der Reihe der friedlich dahintrippelnden Schar wird der kleine Kerl gerissen. Der Angriff geschieht so schnell und so unvermutet, daß Schniefnase junior nicht einmal Zeit zum Einrollen findet. Als Triefmäulchen aufmerksam wird, 6tößt sie nur noch auf einige Blutstropfen. Der Geruch des Räubers aber steht dick darüber. Ängstlich treibt sie die anderen Kerlchen heim. Der Iltis kommt am nächsten Abend sogar an den Schlehenbusch. Er wagt einen kühnen Sprung, prallt jedoch in die Stacheln des wachhabenden Schniefnase und schleicht beschämt hinweg. Daß er wiederkommen wird, ist sicher. Darum bezieht Familie Schniefnase noch in der gleichen Nacht den sicheren und tiefen Bau unter dem Rosenbusch. Hätten sich aber der Förster und der Lehrer nicht so oft im Waldwinkel eingestellt, wäre der Iltis vielleicht öfter gekommen. Der Menschengeruch jedoch vertreibt ihn bald aus diesem Jagdgebiet. „Es sind nur noch vier Junge!" stellt der Lehrer fest. „Wir müssen bald zugreifen, wenn wir uns zwei der Kerlchen sichern wollen." Der Förster nickt. „Nächste Woche!" meint er dann. 26
Schnief nase wird wieder Einzelgänger und säubert den Steinbruch von Kreuzottern ine Woche später zählt der Lehrer nur noch drei ' Junge. Und nun überwindet er sich und greift auch seinerseits zu. Alle drei Igelkinder nimmt er auf und sucht die zwei aus, die beide Gattungsmerkmale tragen. Er fühlt sich zwar nicht sehr wohl, wie er dann mit seiner Beute heimwärtstrabt, tröstet sich aber damit, daß um der Wissenschaft willen schon Schlimmeres mit den Tieren geschehen ist. Das letzte Junge wird von Tag zu Tag selbständiger und denkt nicht mehr daran, immer hinter den Alten herzutroddeln. Es bricht entweder zeitiger auf oder kommt später heim oder schlägt sich unterwegs seitwärts in die Büsche. Selbst Schniefnase und Triefmäulchen vertragen sich nicht mehr so gut, streiten sich immer häufiger um die aufgestöberten Happen und weisen sich die Stacheln. Es zeigt sich, daß der Igel eben doch ein dickköpfiger Einzelgänger ist. Triefmäulchen bezieht wieder sein Lager unter dem Schlehenbusch und beißt das eigene Kind weg, wenn es gewohnheitsmäßig bei der Mutter Unterschlupf sucht. Auch Schniefnase erweist sich als ein Rabenvater und will plötzlich nicht länger mehr seine Höhle mit dem jungen Igel teilen. Der aber stutzt nicht lange. Na, dann eben nicht! denkt er und wandert ohne Träne und Abschied aus. Die Welt ist so groß! So gewöhnt sich Schniefnase daran, nicht mehr jeden Abend zum Rosenbusch zurückzukehren, sondern im nahegelegenen Steinbruch unter die Brombeeren zu kriechen. Der ausgebeutete alte Steinbruch wird von den Menschen schon lange gemieden. Eines schönen Sommerabends wird der Frieden des stillen Steinbruchs empfindlich gestört. Ein Trupp junger Wandervögel schlägt hier seine Zelte auf und beginnt abzukochen. In jedem Winkel trappen die genagelten Schuhe herum, denn die Jungen brauchen dürres Holz. Einer der Suchenden tritt Schniefnase schier auf den Leib, als er die Brombeeren entdeckt und erfreut einsammelt. Schniefnase muffelt empört und verkriecht sich tiefer ins undurchdringliche Gestrüpp. Das Geschrei und Gelächter, und später das laute Singen der fröhlichen Schar ist ihm überaus lästig. Und erst, als die Nacht schon angebrochen ist, verläßt er mißtrauisch schnüffelnd seinen Schlupfwinkel. 27
Ein rotglühendes Licht zieht ihn unwiderstehlich an. Die älteren Jungen sitzen still um das Lagerfeuer und schauen zu den Sternen empor. Nur ab und zu wirft einer einen Ast in die Flammen. Ob er will oder nicht, Schniefnase muß sich näher an das Feuer heranschieben. Da aber hat ihn einer der Jungen bereits enjdeckt und die anderen auf den stillen Gast aufmerksam gemacht. Sie verhalten sich nun noch stiller und sind gespannt, ob der Igel noch näher heranrücken wird. Die Jungen ahnen nicht, daß sie wenige Minuten später gebannte Augenzeugen eines dramatischen Tierkampfes sind. Der Feuerschein und die von ihm ausstrahlende Wärme haben nämlich auch Zischelzunge, die alte Kreuzotter, angezogen. Immer näher rückt sie dem verführerisch züngelnden Schein und läßt angeregt ihre gespaltene Zunge spielen. Wie verzückt ist die Otter und darum um so wütender, als die unendlich feinfühlige Zunge auf die Stacheln des Igels trifft. Augenblicklich dick anschwellend zischt sie Schniefnase an und geht in die Verteidigungsstellung. Das heißt, sie drückt die Schlingen ihres muskulösen Leibes dichter aneinander und zieht den Kopf zurück. Aus dieser Stellung heraus kann sie bis zu dreißig Zentimeter vorschießen und ihren Biß anbringen. Der vom Licht ein wenig geblendete Igel hat sie noch gar nicht richtig erkannt. Die leise Berührung der Schlangenzunge hat er kaum wahrgenommen. Erst das wütende Zischen läßt ihn auf lauschen. Doch auch das nimmt er nicht ernst. Er wendet den Kopf in Richtung der Schlange und schnüffelt. Und schon zuckt es wie ein Blitz aus der Dunkelheit. Schniefnase hat einen kräftigen Biß in die Schnauze weg und leckt verwundert den Rüssel. Die Kreuzotter hat sich inzwischen noch enger zusammengebogen und zischt noch durchdringender. Das klingt, wie wenn jemand die Luft laut zwischen den Zähnen ausstößt und ein wenig leiser durch die Nase wieder einzieht. Auf und ab schwellen diese beiden Töne und können wohl Furcht einflößen. Doch nun ist es wohl endlich so weit, daß auch im Igel die Wut das rechte Maß erreicht hat. Er läßt ein ganz eigenartiges dumpfes Trommeln vernehmen, senkt den Kopf so tief, daß er nicht mehr zu sehen ist, zieht auch die Beine enger an und macht einen Schub und Ruck auf die Kreuzotter zu. Der zweite und dritte Biß, die sich so schnell folgen, daß sie wie eine einzige Bewegung erscheinen, gehen mitten in die scharfen Stacheln. Der Kopf der jähzornigen Otter bäumt sich auf und steht schief in der Luft. Der Igel rückt trommelnd ein kleines Stück näher. Und nun ist es, als ob die Otter 28
von einer blinden Raserei ergriffen werde. Kopf, Hals und Oberkörper sind eine wildzüngelnde Linie in Richtung auf den Igelkopf. Wohl zwanzigmal beißt sie zu, beißt und schlägt sich blutig, und ihre Augen glühen rot auf. Die Jungen können jetzt nicht länger sitzen. Sie stehen auf und starren mit geweiteten Augen auf die kämpfenden Tiere. Sie haben eben nicht die Nerven, die Schniefnase hat. Der rückt jetzt noch ein Stückchen weiter an die rasende Schlange heran und setzt plötzlich ein Bein fest auf ihren Leib. Wie vom Blitz getroffen bäumt sich die Kreuzotter auf, wieder schlägt der Kopf wie irrsinnig in die Stacheln hinein. Es ist kaum noch anzusehen, wie sie sich zurichtet. Schmerz und Wut lassen in ihr wohl keinen Raum mehr für eine Überlegung. Endlich aber senkt sie den aus vielen Wunden blutenden und zerfetzten Kopf und hält erschöpft inne. Ja, und jetzt sind die Augen der Jungen wieder nicht schnell genug! Denn jetzt handelt Schniefnase. Blitzschnell packt er den Kopf der Schlange und zermalmt ihn mit seinem scharfen Gebiß. Die Jungen hören förmlich, wie die feinen Knochenspangen zerkrachen. Sie schaudern zusammen, wie sie sehen, daß der Igel den Kopf der sich wild windenden Schlange langsam in sich hineinkaut. Der Kampf ist aus! Diese Jagd verlohnte sich also! Da braucht er nicht stundenlang umherzuwandern, um satt zu werden. In wenigen Wochen hat er den Steinbruch von allen Kreuzottern gesäubert, allerdings auch manche harmlose Blindschleiche mitverschlungen.
Sehniefnase lernt fliegen und landet in der Oberförsterei ie Zeit vergeht. Blumen und Halme fallen zum dritten Male der Sense zum Opfer. In den Pflaumenbäumen blaut es samten, und auch die würzigen Schlehenbeeren reifen. Schniefnase trollt in der Dämmerung den Steinbruchhang hinab und erreicht die Landstraße. Hier verweilt er ein wenig unter den Pflaumenbäumen und sucht nach Fallobst. Dann greift er sich einen grüngoldenen Laufkäfer und einige Nacktschnecken. Danach muß er sich wieder einmal gründlich jucken. 29
Schniefnase ist so in sein Geschäft vertieft, daß er bis ins Herz hinein erschrickt, als ihm plötzlich sausende Schwingen um die Ohren klatschen. Gleich darauf spürt er einen Griff im Rücken, daß er alle Flöhe und Holzböcke vergißt und sich vor Schmerzen krümmt. Eisern ist dieser Doppelgriff und krallt sich tief in seine Speckschwarte. Wütend schnellt Schniefnase hoch und beißt in die Luft. Da aber hat er schon einen Hieb weg, daß ihm das Blut aus der Nase spritzt und das Stoppelfeld vor seinen Augen verschwimmt. Trotzdem gelingt es ihm noch, sich einzurollen, obwohl er dabei das Gefühl hat, als ob ihm einer den Rücken zerfleische. Die nächsten Hiebe erschüttern ihn nicht mehr groß. Dafür geschieht nun etwas, was er nicht begreift. Er verliert den Boden unter den Füßen! Er schwebt wie damals, als ihn der Zigeunerbub aufnahm. Schwebt immer höher, und rechts und links ist ein seltsames Sausen. Schniefnase fliegt! Mit sicherem Griff und großer Kraft trägt ihn der Habicht in die Höhe und flügelt am Waldrand entlang. Schniefnase spürt, daß er seinen Meister gefunden hat. Doch der Habicht hat trotzdem keinen glücklichen Tag. Vom Waldrand wird er durch einen schreienden Hütejungen vertrieben. Am Findlingsstein, wo der gefiederte Räuber seine Beute zu kröpfen pflegt, sitzt ausgerechnet an diesem Abend der Schafhirt. Und dieser Kerl schmeißt auch noch mit irgend etwas nach ihm. Der Habicht muß seine Beute noch weitertragen. In kaum zwanzig Meter Höhe überfliegt er die große Wiese vor der Försterei. Am Rande dieser Wiese weiß er einen Eichenriesen mit breit ausladenden, abgestorbenen Ästen. Ein wenig schwerfällig rudert er jetzt über den Hof. Und das war falsch! Ein Schuß zerreißt die Stille des Abends. Der Habicht zuckt zusammen. Der eiserne Griff der Klauen lockert sich. Der Vogel ist zwar nicht ernstlich getroffen, aber so erschrocken, daß er seine Beute fahren läßt. Und so geschieht es, daß statt eines Habichts ein Igel vom Himmel fällt und geradenwegs in die große Kastanie am Tor prasselt. Verdutzt hört der Förster, wie es im Baume von Zweig zu Zweig plumpst, springt hinzu, und mehr tot als lebendig rollt ihm der blutende Igel vor die Füße. Im nächsten Augenblick weiß der Förster auch, wen er da vor sich hat, denn der weiße Lackfleck auf dem Rücken ist noch immer zu sehen, obwohl er inzwischen tüchtig nachdunkelte. Dieser Fleck läßt den Fluch oh des Fehlschusses zwischen den Zähnen des Försters ersterben. Es ist zwar eine Schande, den SO
Habicht nicht getroffen zu haben, wo er doch so langsam und so niedrig flog, aber wenn es die Jagdgöttin will, kann man eben auch Igel aus der Luft herunterschießen. Der Oberförster lehnt das Gewehr an die Kastanie und nimmt Schniefnase auf. Der gibt keinen Mucks mehr von sich. Es ist schwer festzustellen, ob er den Schuß abbekommen hat oder ob ihn der Habicht und der Sturz der Sinne beraubten. Auf alle Fälle trägt der Mann ihn in den Stall und legt ihn hier in eine heugefüllte Futterkrippe. Eine Stunde später besucht der Lehrer den Förster und will seinen Ohren nicht trauen, als der ihm die Fabel von dem vom Himmel gestürzten Igel erzählt. Die beiden Männer gehen in den Stall und sehen beim Lampenschein, wie sich Schniefnase die Schnauze leckt. Das Kerlchen tut ihnen leid. Schniefnase wird in die Stube hinübergetragen. Er bekommt geschabtes Fleisch und auch eine Schale, und er frißt und säuft. Seine letzte Stunde hatte eben doch noch nicht geschlagen. Die Wunden am Rücken und am Kopf verheilen schnell. Mit jedem Tage wächst sein Appetit. Nach drei Tagen verläßt er seine Kiste und strolcht durch die Stube. Na, und da freuen sich die beiden alten Männer doch. Schniefnase bekommt einen Winkel im Holzschuppen angewiesen. Er hält in Haus und Hof die Mäuse kurz, kratzt an manchen Abenden an der Stubentür und holt sich noch einen zusätzlichen Leckerbissen. Er wird sichtlich langsamer und auch bequemer. Die Last der Jahre scheint ihn allmählich zu drücken. Ja, und was soll ich euch noch sagen? Schniefnase verschwand im Herbst spurlos und wurde nicht wieder gesehen. Der Lehrer vermutete, daß er vielleicht doch noch einmal in seine Höhle unter dem Rosenbusch fand und daselbst aus dem Winterschlaf in den ewigen Schlaf hinüberglitt. Schniefnase hat es vorgezogen, über seine letzten Tage einen Schleier zu ziehen. Auch von Triefmäulchen, der „Rumänin", zeigte sich keine Spur mehr. Doch alles brauchen wir Menschen auch wirklich nicht zu wissen. Wir mischen uns schon viel zu viel in das Leben der Tiere. Umschlaggestaltung und Ausstattung : Karlheinz Dobsky
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