C.H.GUENTER
MEIN
BEGRÄBNIS IN
MEMPHIS
VERLAGSUNION ERICH PABEL-ARTHUR MOEWIG KG,
7550 RASTATT
1.
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C.H.GUENTER
MEIN
BEGRÄBNIS IN
MEMPHIS
VERLAGSUNION ERICH PABEL-ARTHUR MOEWIG KG,
7550 RASTATT
1.
Eintausendsiebenhundert Jahre vor Christus – lange vor Moses und König David – lebte ein Hirte namens Jakob in Kanaan. Jakob und seiner Frau Rahel, die er nach hebräi scher Tradition heiratete, wurden viele Söhne geboren. Einer von ihnen wurde zum hervorragendsten Mann seiner Zeit. Rom 1956. – Zwei Tage vor der Abreise des italienischen Filmproduzenten nach Amerika erreichte sein Büro in der Filmstadt Cinecittà ein Anruf. Ein Unbekannter, der mit Akzent sprach, wollte mit dem er folgreichsten Produzenten Europas verbunden werden. Die Sekretärin, geübt im Abwimmeln von Schnorrern jeder Art, bedauerte: „Der Dottore ist nicht im Haus.“ „Es ist wichtig.“ „Das behaupten alle. – Kann ich etwas ausrichten?“ Der Anrufer fand sofort den richtigen Ton und die rechten Worte. „Es geht um Leben und Tod.“ „Auch das behaupten alle.“ „Er wird die USA nicht lebend erreichen, wenn er meinen Rat nicht befolgt. Ich will nichts von ihm. Keine Rolle, keinen Job, nicht eine einzige Lira. Ich will nur, daß er meinen Rat befolgt, denn ich möchte nicht, daß er seine von mir verehrte Frau zur Witwe macht.“ Die Sekretärin wurde offenbar nachdenklich. Sie sagte dem Anrufer, unter welcher Nummer der Commendatore zu errei chen sei. Minuten später hatte der unbekannte Warner ihn am Telefon. Der Produzent war von seiner Bürokraft vorbereitet worden. Er reagierte unfreundlich. „Ich gebe Ihnen zwei Minuten, Signore.“ „Danke, das genügt“, sagte der immer noch namenlose Un bekannte. „Sie fahren übermorgen nach den USA.“ 3
„Richtig. Über New York nach Hollywood. Das ist bekannt und stand in allen Zeitungen.“ „Sie fahren mit dem Luxusdampfer Andrea Doria.“ „Ab Genua. Wieder richtig. Ich habe zwar wenig Zeit, aber ich hasse das Fliegen. Deshalb reise ich mit dem Schiff. – War das alles?“ „Nein, Dottore“, erklärte der Anrufer. „Nun mein Rat! Überwinden Sie nur einmal Ihre Angst vorm Fliegen. Sie ret ten dadurch Ihr Leben. Denn die Andrea Doria wird New York niemals erreichen. Sie wird im Nordatlantik untergehen, wie einst die Titanic. Und es wird viele Tote geben.“ Der Filmemacher bemerkte höhnisch: „Woher wissen Sie das? Legen Sie etwa eine Bombe?“ „Ich weiß noch viel mehr“, gestand der Unbekannte. „Ich weiß, daß Sie meinen Rat befolgen werden und in Hollywood die größten Filme aller Zeiten produzieren werden. – Das war alles, Signore. Buon giorno!“ Der Filmproduzent glaubte nicht an Astrologie oder Wahr sagerei. Trotzdem machte er seine Kabinenbuchung auf der Andrea Doria rückgängig und flog nach Hollywood. Noch während er in Kalifornien über sein nächstes Groß projekt – die Verfilmung der Bibel – verhandelte, das war etwa eine Woche später, ging die Nachricht von der Katastrophe um die Welt. Der italienische Luxusliner Andrea Doria war vor der nordamerikanischen Küste mit dem schwedischen Ozeandampfer Stockholm zusammengestoßen und gesunken. Washington. – Anfang der siebziger Jahre, als es Präsident Nixon durch Geheimpolitik gelang, jenen Krieg zu beenden, den everybodys Darling, John F. Kennedy, begonnen hatte, diesen grausamen Krieg, der sechzigtausend amerikanischen Soldaten das Leben kostete, ging eines Abends in der Redakti on der Washington Post ein Telefon. In Redaktionen schrillten immerzu Telefone, aber es war kurz vor Mitternacht, und der Redakteur vom Nachtdienst hob ab. 4
Der Anrufer nannte keinen Namen, deutete aber an, er habe eine wichtige politische Information für Mister Zucker. – Zucker galt als der schärfste Reporter in diesen Jahren. „Zucker ist in Vietnam“, hieß es. „Dann geben Sie mir einen anderen.“ „Wen denn, den Nachtwächter oder den Klo-Mann? Außer uns dreien ist keiner mehr an Bord, Sir.“ „Wann kommt Zucker zurück?“ wollte der Fremde wissen. „Er möchte, wie ich hörte, den glorreichen Rückzug unserer Armee miterleben“, spottete der Redakteur. „So lange kann ich nicht warten“, bedauerte der Unbekannte, „das wäre zu spät. Okay, dann erhält die Nachricht der Star oder der Kurier.“ „Rücken Sie schon raus, was Sie auf dem Herzen haben, Mann“, drängte der Jungredakteur. „Ich notiere es und gebe es weiter. Und Sie sind es los, Mann.“ Der Unbekannte räusperte sich. Dann sagte er mit einem Akzent, den der Redakteur für osteuropäisch hielt – es konnte aber auch ein deutscher sein: „Also schön. Notieren Sie!“ „Ich notiere, Sir.“ „Präsident Nixon“, sagte der Mann, „treibt ein infames Spiel zum Schaden der Nation gegen den politischen Gegner. Es gibt ein Hotel in dieser Stadt. Es ist das Hauptquartier der Demokraten. Dort wird Nacht für Nacht von Verschwörern Nixons eingebrochen. Es sind Männer der CIA oder vom FBI. Sie durchsuchen die Schränke, die Safes, die Akten nach bri santem Material, um die Feinde Nixons mit Rufmordkampag nen zu verfolgen.“ „Wie heißt das Hotel?“ wollte der Redakteur wissen. „Watergate!“ Der Anrufer wiederholte: „Das Watergate Ho tel.“ Am nächsten Morgen wurde in der Redaktionskonferenz darüber gesprochen. Zunächst wollte keiner daran glauben. Die Anschuldigungen gegen Nixon waren zu ungeheuerlich. Schließlich fanden sich 5
zwei junge Journalisten bereit, der Sache nachzugehen. In wochenlanger mühsamer Kleinarbeit führten sie die Beweise gegen den Präsidenten. Aus der Affäre wurde später der soge nannte Watergate Skandal. Als Folge davon mußte Nixon mitten in seiner Regierungs zeit abtreten. Er tat es, um dem Impeachment und der Zwangs entlassung zu entgehen. Es war der erste Fall von Rücktritt eines Präsidenten in diesem Jahrhundert und insofern eine Tragödie, als Nixon einer der besten Präsidenten dieses Jahr hunderts gewesen war. London. Seit einigen Tagen wurden britische Spitzenpolitiker von anonymen Anrufen verfolgt. Der erste ging im Sitz der Premierministerin in Downing Street Nr. 10 ein. Dort erklärte man dem Unbekannten, ein Telefongespräch mit der Regierungschef in sei unter gar kei nen Bedingungen möglich. Nun versuchte der Anrufer es beim Verteidigungsminister. – Wieder vergeblich. Selbst beim Oppositionsführer, dem Vo r sitzenden der Labour Party, kam er nicht ans Ziel. Nun wandte sich der hartnäckige Unbekannte an den Ge heimdienst Ihrer Majestät. Beim MI-6, zuständig für den Be reich Ausland, fand er ein offenes Ohr. Der Anrufer faßte sich kurz. „Was melden Ihre Agenten aus Argentinien?“ fragte er. „Die Preise für Corned beef steigen“, antwortete man ihm locker. „Ist das alles, Sir?“ „Was gibt es in Argentinien sonst noch außer Tango, Senori tas und Inflation?“ „Panzer“, erklärte der Anrufer, „Kanonen, Raketen, Haubit zen, Kriegsschiffe, U-Boote, Jagdbomber. Die Armee macht mobil.“ „Seit dem Tode von Evita Perón steht sie ständig unter Alarm.“ „Aber diesmal“, sagte der Namenlose, „steht sie unter 6
Alarm, um England das wegzunehmen, was man ihm schon immer streitig macht.“ „Die Meere beherrschen wir schon lange nicht mehr, Sir.“ „Aber noch weht auf den Falkland Inseln Britanniens Flag ge“, bemerkte der Anrufer. „Für den Fall, daß Ihre Agenten in Buenos Aires schlafen, betrunken oder im Kerker sind, nur soviel: Binnen vier Wochen wird Argentinien die Falklands überfallen, besetzen und an sich reißen. – Okay, es sind nur ein paar Weiden, nur ein paar Schafherden, aber England wird sie nicht hergeben, und Argentinien wird sagen, es sei alter argentinischer Besitz. – Es wird also zum Krieg kommen.“ „Wegen der paar Mückenschisse im Südatlantik?“ zweifelte der MI-6-Beamte. „Es wird Krieg geben“, beharrte der Anrufer. „Nehmen Sie das in Ihren Tagesbericht für die Premierministerin auf. Und noch etwas: England wird nach einem kurzen blutigen Kampf als Sieger daraus hervorgehen. Dies aber nur dann, wenn man vorbereitet ist und den Angreifern keine Zeit läßt, sich dort festzubeißen.“ „Eine Frage, Sir“, sagte der Mann in der Abteilung für priva te Informationen beim MI-6. „Eine Frage noch, Sir. Aus we l chem Irrenhaus sprechen Sie, bitte?“ Daraufhin legte der Anrufer auf. Argentiniens Flotte und Luftwaffe traten zum Angriff auf die Falkland Inseln an. London stellte ein Ultimatum, die Inseln zu räumen. Die Argentinier ließen es verstreichen. Daraufhin unternahm England äußerste Anstrengungen, um die Reste seines ohnehin stark geschmolzenen Weltreiches zu erhalten. Nach einer Reihe von erbittert geführten harten und blutigen Schlägen wurden die Argentinier von den Falklands herunter ins Meer gejagt. Zu diesem Zeitpunkt gab es in Frankreich schon einen Jour nalisten, der diese merkwürdigen Vorhersagen in Italien, in den USA und nun in England näher recherchierte, prüfte und alle Daten in seinen Computer einspeicherte. Bukarest – Bonn – Tokio – Moskau. 7
In den vergangenen vierundzwanzig Monaten häuften sich die Anrufe eines Unbekannten, sei es bei Zeitungen, TV- und Radiostationen oder bei den Ministerien der jeweiligen Regie rungen. Die Anrufe wurden als Horrormeldungen belächelt, als dü stere Prophezeiungen nicht ernst genommen und als Weissagungen eines Verrückten abgelegt. Zumeist in Papierkörben. Aber alle trafen sie ein. In Rumänien stand das Volk auf. Es gab eine Revolution. Man hatte genug vom Terror Ceausescus und seines Geheim dienstes. Die Regierung wurde weggefegt, der Diktator getö tet. Die Information – an das Bundeskanzleramt in Bonn erfolg te im Juli 1989. – Sie bestand aus der Behauptung, in der DDR finde eine stille Revolution, ein Umsturz von nahezu einmali ger Eleganz statt. Die Honecker-Clique und der allgegenwärti ge Stasi würden entmachtet. Die Mauer würde fallen. Nur glaubte das niemand. Aber am 10. November war es soweit. Die Wiedervereini gung nahm ihren Lauf. Nach Tokio meldete der Unbekannte, der mit europäischem Akzent sprach, daß der Kaiser im Frühjahr sterben würde. Hirohito starb in der Woche, die der Unbekannte genannt hatte. Und für Moskau sagte er katastrophale Zeiten voraus. Den Zerfall der Sowjetunion, Hungersnöte, letzte Versuche des Generalsekretärs, die Lage zu retten. Das Volk aber wolle keinen neuen Diktator, der noch mehr Macht ausübe als Stalin. Von einem Tass-Redakteur befragt, wie das alles enden wü r de, sagte der Unbekannte nur einen Satz: „Schlimm. – Und dann noch die Krise in Nahost.“ Man wollte noch mehr wissen, aber das marode Telefonnetz in Moskau brach wieder einmal zusammen. Paris. – Alle diese erstaunlichen Vo rhersagen beobachtete 8
Pierre Ponard, ein Mann, der sich mit dem Mysterium der Parapsychologie seit Jahren befaßte. Und er fand noch mehr heraus. Ein Unbekannter, der jeweils in der Landessprache, aber mit deutschem Akzent sprach, hatte noch anderes angekündigt. Den Krach an der New Yorker Börse, den Fall des Dollars und den Rücktritt der britischen Premierministerin. Der aufmerksame Journalist in Paris fragte sich: Ist es im mer ein und derselbe Wahrsager, ist es Zufall? – Wenn ja, woher bezieht dieser Mann seine Kenntnisse. Ist er ein Medi um? – Bei Hellsehern war es wie bei der Wettervorhersage. Es gab immer eine Genauigkeit von mindestens fünfzig Prozent. Die Treffsicherheit bei diesem Mann lag aber bei 99,9 Pro zent. Pierre Ponard, Journalist und Sensationsreporter in Paris, bereitete eine großangelegte Artikelserie vor. Sie begann Ende des Monats in der Tageszeitung Matin. 2. Der Hirte Jakob nannte seinen Sohn Josef. Josef wurde von seinem Vater auf besondere Weise geliebt Deshalb haßten seine Brüder ihn. Josef war noch keine neun Jahre alt, da hatte er Vorahnungen, Träume, Gesichte. Seine Prophezeiungen trafen ein. Egal ob es um das Wetter, die Herden oder um Krankheiten ging. Das flößte seinen Brüdern Angst und Schrecken ein. Die Artikelserie des französischen Journalisten Pierre Po nard (Kürzel P. P.) über den geheimnisvollsten Propheten des Jahrhunderts wurde weltweit gelesen. Die Geheimdienste nahmen ihn zur Kenntnis, und auch der Bundesnachrichten dienst mit Sitz in Pullach vor München befaßte sich damit. Der Mann, der alle Veröffentlichungen in französischer Sprache auszuwerten hatte, wandte sich an seinen Kollegen. „In wie vielen Sprachen ist der Ponard-Artikel bis jetzt er 9
schienen?“ „Ich glaube, er erschien nur noch nicht in Suaheli und in ei nigen grönländischen Eskimo-Dialekten.“ „Hast du gelesen, was Ponard heute schreibt?“ „Du meinst, was er über die Schuldigen am Tod Marilyn Monroes äußert.“ „Nein, über den Tod Kennedys.“ „Angeblich hat er auch ihn vorhergesagt, aber im Weißen Hatis hörte man nicht darauf, weil es um die Wählerstimmen von Texas im Senat ging.“ „Der Guru behauptete, Kennedy würde durch die Hand des amerikanischen Geheimdienstes sterben, doch niemand würde je in der Lage sein, es zu beweisen.“ Ein Kollege von ihnen, er saß im Nebenzimmer und war Ex perte für die Auswertung der Veröffentlichungen in spanischer und portugiesischer Sprache, rief herüber: „Ihr sprecht von diesem Ponard-Artikel. Stimmt’s?“ „Über das, was Ponard von diesem merkwürdigen Säulen heiligen schreibt.“ „Er soll Hinweise darauf geben, wer Che Guevara umbrach te.“ „Und daß Juan Domingo Perón 1974 nicht an einer herkömmlichen Krankheit starb, sondern an einer durch Gift herbeigeführten.“ „Was er nicht behauptet“, steuerte der Englisch-Übersetzer höhnisch bei, „ist, daß Adolf Hitler noch lebt.“ „Der wäre über hundert.“ „Kanaillen werden stets uralt.“ Gewöhnlich um die Mittagszeit herum, wenn die Tagesnach richten, sowohl aus den Print- als auch aus den elektronischen Medien erfaßt worden waren, begann die Vorauswahl. Sie sortierten das Wichtigste aus und reichten es an den Abtei lungsleiter weiter, der es mit anderen Informationen verglich und zwecks Vorlage beim Präsidenten eindampfte. Dieser wiederum notierte sich die wichtigsten Punkte für sein Refe rat beim Bundeskanzler in Bonn jeweils am Dienstag und Don 10
Donnerstag. Wie meist Anfang der Woche fand der Präsident auch eine Kurzfassung, den Artikel des französischen Journalisten Pi erre Ponard betreffend, vor. Diese Informationen waren in der Aktenmappe immer we i ter nach oben gewandert. Dabei hatte die farbliche Markierung erst von Gelb auf Blau, dann auf Grün gewechselt. Inzwischen war sie orangerot. – Man maß der Sache also wachsende Bedeutung zu. Aus diesem Grund rief der BND-Vizepräsident einen Agen ten, den er für seinen fähigsten hielt, zu sich. Robert Urban, Code Nr. 18, hatte an diesem Tag sein Äußeres geändert. Er trug zwar seine Standardkleidung, dunkelblaue Hose, zweireihigen Glenchecksakko, das Karo nur weniger hellgrau als der Grundton, azurblaues Hemd, jedoch eine für seine Verhältnisse gewagte Krawatte. Sie war zwar wie stets dunkelblau wie die Hose und bestand aus feingewirkter Seide, hatte aber am Knoten einen feinen roten Querstreifen. Der Streifen verlief wie auf den Kragenknoten von Matrosen, näm lich von Steuerbord nach Backbord, von oben gesehen also von rechts nach links. Der BND-Vize, ein Mann von britischer Lässigkeit, benei dete seinen Top-Agenten stets um drei Dinge. Um seine Ar l berger Skilehrerbräune, um seine stets messerscharfe Bügelfalte und um seinen Verstand, der ebenso scharf war wie die Bügelfalten. Der Vize winkte vom Schreibtisch her mit Papieren. „Schon gelesen?“ Urban hatte Falkenaugen und war in der Lage, auch Spiegel schrift zu entziffern. „Die Ponard-Story?“ fragte er. Und ohne die Antwort abzu warten: „Ja, ich kenne sie.“ „Was sagen Sie zu diesem Kokolores?“ Es konnte sich nur um zwei Behauptungen handeln. Die eine war die Vorhersage der gewaltfreien Revolution in der DDR 11
und die andere der deutsche Akzent des unbekannten Prophe ten. Urban nahm an, daß es um letzteres ging. „Ponard fragt, warum einer mit deutschem Akzent spricht, wenn er nicht Deutscher ist. Wobei erst einmal bewiesen werden muß, ob es sich nicht um einen schweizerischen, österreicherischen, Tiroler oder vielleicht sogar skandinavi schen Akzent handelt.“ Der Vize nickte in Übereinstimmung mit Urban. „Können Sie das feststellen?“ „Indem ich diesen Ponard in Paris anrufe, meinen Sie.“ „Fragen Sie ihn, wie er darauf kommt, der große unbekannte Warner sei Deutscher. Und ob es Tonbandprotokolle seiner Stimme gibt.“ „Wenn ja, wird er sie nicht hergeben. Der Bursche vermark tet die Serie weltweit unter seinem Copyright. Der läßt keinen ans Eingemachte. Ich fürchte, er rückt nicht eine Zeile Mate rial heraus, jetzt, wo sie ihm jede Spalte mit Gold auf wiegen.“ Der Vize staunte. „Hat diese Revolverstory denn so eingeschlagen?“ „Sogar der Knatterbacher Anzeiger druckt sie schon nach.“ Der Vize massierte mit den schmalen Fingern, die sowohl einem Chirurgen wie einem Pianisten hervorragend zur Be rufsausübung gedient hätten, sein hageres Gesicht. Dabei setzte er sich gerade und wirkte nun wie ein aufrechtstehender Golfschläger der Größe vier oder fünf. Bedächtig holte er von seinen NIL-Zigaretten eine aus der Pappschachtel. Während er sie ansteckte, sah er aus, als würde er irgend etwas Tiefenphilosophisches im Stile Kants oder Nietzsches von sich geben, sagte aber nur: „Shit!“ „Nur wenn uns dieser Ausbund an schriftstellerischer Phan tasie, Pierre Ponard, damit etwas anzuhängen versucht.“ „Ist das zu verhindern?“ „Kaum.“ „Mit Geld?“ 12
„Schwerlich.“ „Angenommen, er gräbt noch andere Stories aus. Man stelle sich vor, Hollywood macht sogar einen Film.“ „Man muß“, riet Urban, „dieses Prophetenmärchen in der Luft zerfetzen. Eine falsche Gegendarstellung gegen eine falsche Darstellung. Wir behaupten, der Mann sei aus dem Elsaß. Dann haben die Franzosen den Schwarzen Peter.“ „Eine spitze Nadel würde den ganzen Luftballon platzen las sen. So was wie diesen Mann, ich meine, einen Wahrsager mit dieser Trefferquote, kann es doch gar nicht geben.“ „Und wenn, dann höchst selten“, meinte Urban. „Wie selten?“ „Alle tausend Jahre einen.“ Der Vize kniff die Augen schmal. „Das wäre schon einer zuviel. Suchen Sie einen Weg, um dem Burschen in die Parade zu fahren.“ Urban hatte mit diesem Gespräch gerechnet und darüber nachgedacht. „Ich frage in Bonn nach.“ „Wegen dieser Vorhersage damals im letzten Herbst?“ „Es muß registriert worden sein, wann er anrief.“ „Wer käme in Frage?“ „Bundespresseamt, Kanzleramt, Außenministerium. Das In nenministerium schon weniger. Die Ämter zeichnen alle ein gehenden Anrufe auf. Schon aus Sicherheitsgründen.“ Der Vize drückte die nächste flache Zigarette rund, damit sie besser zog. „Eine Bandaufzeichnung könnte man analysieren.“ „Sie würde uns vielleicht noch andere Hinweise liefern.“ „Versuchen Sie es“, sagte der Vize. „Noch einen Cognac?“ Da der Vize spanischen bevorzugte, Urban aber alle Cognacs mit Ausnahme spanischer schätzte, winkte er dankend ab. „Sie mit Ihrem fürchterlichen Bourbonzeug, gebrannt aus Mais oder Korn. Was ist das gegen einen edlen Brandy aus Wein.“ „Wie sagt man in Bayern“, antwortete Urban, „Katzen fres sen Mäuse roh. – Ich mag sie nur gegrillt.“ 13
„Wenn ich ein höflicher Mensch wäre“, meinte der Vize, „würde ich sagen: Hauen Sie bloß ab, Dynamit! Von Ihnen lasse ich mir meinen Cognac nicht miesmachen. An so einem Tag ist das Leben in München viel zu schön.“ Mit einem Schlag war das Leben nicht mehr so schön. Sie hatten beim Bundespresseamt die Aufzeichnung vom Anruf des unbekannten Propheten gefunden und mehrmals nach München zum BND überspielt. Eine der Überspielungen war nahezu von Studioqualität. Urban sorgte dafür, daß man sie im Stralman-Labor sofort auswertete. Das Ergebnis lag binnen weniger Stunden vor. Während Urban, im Büro des Professors sitzend, den Text überflog, kommentierte der Stimmenexperte: „Der Anrufer ist männlichen Geschlechts.“ „Ja, hört sich so an.“ „Ungefähr fünfzig bis fünfundfünfzig Jahre alt.“ „Und Nichtraucher“, scherzte Urban. „In der tat, eine sehr klare, saubere Stimme, ohne die typi schen Merkmale von Leuten, die dem Nikotin und dem Alko hol verfallen sind“ Urban, der sich damit angesprochen fühlte, bemerkte: „Und der Akzent ist der eines Vegetariers.“ „Wir entdeckten eine Reihe von Akzenten.“ „Welche Muttersprache hat er?“ „Englisch mit einigen Berliner Labialen. Aber ich fand noch andere Akzente, spanische, italienische, ganz besonders engli sche. Und bei den Halslauten, also was tief hinten in der Kehle erzeugt wird, fanden wir sogar arabische Gurrtöne.“ „Die Tiroler erzeugen Konsonanten auch tief hinten.“ „Aber die sind für den Fachmann deutlich erkennbar an ders.“ Man widmete sich nun dem Wortlaut des Textes. Der Experte war der gleichen Meinung wie Urban und Stral man, daß es sich um eine Person von gehobener Bildung han delte. Er deutete auf zwei typische Ausdrücke. 14
„Zum Beispiel diese Zeile. Er sagte: In den Großstädten der DDR, speziell in Leipzig und Dresden, wird es in den ersten Novemberwochen zu Versammlungen kommen, die sowohl qualitativ wie quantitativ… Ein Mann mit niedrigem Bildungsniveau hätte sie als leidenschaftliche Massenkundge bungen bezeichnet. – Es gibt noch mehrere solcher Stellen.“ Sie arbeiteten den Text durch. Aber weiter brachte sie das nicht. „Ein Mann“, faßte Urban zusammen, „gebildet, um die Fünf zig, vermutlich Europäer.“ Der Experte wollte noch einiges versuchen. Dann waren Urban und Stralman allein. Urban hatte noch etwas auf dem Herzen. „Weniger als die Person dieses Wahrsagers“, meinte er, „faszinieren mich seine präzisen Vorankündigungen.“ „Vorausgesetzt, dieser Pierre Ponard hat sich nicht alles aus den Fingern gesogen“, wandte der weißhaarige Professor ein. „Das wurde zwischenzeitlich weltweit überprüft. Ponard holte sich seine Informationen von überall her in jahrelanger Kleinarbeit zusammen. Aus Redaktionen, von Ministerien, Geheimdiensten und so weiter. Insoweit ist das alles in Ord nung. Natürlich kann man über die Art, wie er es auswertet, verschiedener Meinung sein.“ „Vielleicht sind es auch mehrere Hellseher und nicht nur ei ner.“ „Möglich.“ „Oder eine Reihe von Zufällen.“ „So viele?“ zweifelte Urban. „Man kann bei historischen Ereignissen hinterher immer behaupten, dieser und jener hätte es auf den Punkt vorherge sagt.“ „Wenn es so wäre, hätte die neidische Konkurrenz diese Masche längst mitgekriegt.“ „Was mag noch alles in Ponards Computer stecken?“ fragte Stralman und hauchte seinen Zwicker an, ehe er die Gläser am Ärmel des Labormantels polierte. 15
„Erfahrungsgemäß enthält er nicht mehr viel. Ponard hat sein Pulver bis auf Reste verschossen. Jetzt kann er nur noch ins Detail gehen, herumphantasieren, mutmaßen, analysieren oder etwas erfinden und uns Bären aufbinden. Es sei denn…“ „Was könnte sein?“ fragte Stralman neugierig. „Dieser unbekannte Mann las Ponards Artikel und benutzt Ponard fortan als sein Sprachrohr. Wer schon vor vierzig Jah ren genaue Vorhersagen machte, dem geht diese Fähigkeit des Blickes in die Zukunft nicht von heute auf morgen verloren.“ „Keine völlig abwegige Theorie“, pflichtete Stralman ihm bei. „Aber du hast noch etwas anderes auf dem Herzen, Jun ge.“ Urban nickte und steckte sich eine MC an. „Da fühle ich mich überfordert“ gestand Stralman, nachdem Urban geendet hatte, „wie der Buntspecht vor der Eierhand granate, die er für eine Kokosnuß hält. Also, um was geht es genau?“ „Sind nach wissenschaftlicher Erkenntnis überhaupt ernst zunehmende Zukunftsvorhersagen möglich?“ faßte Urban es in einen Satz. „Es gibt an der Universität Freiburg sogar einen Lehrstuhl für Parapsychologie. Mit dem ehemaligen Chef der Fakultät bin ich sogar befreundet. Dort befaßt man sich mit allem, was man dem Begriff Psi zuordnen kann. Mit Hellseherei, Vorher sagen, Präkognation, Beeinflussung von Materie durch imma terielle Kräfte, mit Gedankenübertragung und, und, und.“ „Was fand man heraus?“ „Zu neunzig Prozent ist alles Mumpitz.“ „Und die restlichen zehn Prozent?“ „Da beginnen die unerklärbaren Wunder.“ „Reden wir über solche Sonderfälle“, bat Urban. Stralman, ein Mensch mit derart profundem Allgemeinwi s sen, wie man es kaum noch antraf, an Mann, der längst den Nobelpreis hätte haben müssen, wenn es bei dessen Verlei hung nicht nur um Onanie für die Jury gegangen wäre, sagte so 16
einfach wie ein Laienpriester bei der Predigt: „Jeder, aber auch jeder Mensch hat mindestens einmal in seinem Leben eine echte Vorahnung. Egal in welchem Alter und in welcher Situation. Einmal ist jeder in der Lage zu sagen, dieses oder jenes wird eintreffen. Und wenn er es nicht aus drückt, dann hat er es im Gefühl. Und prompt trifft es auch zu. – Es ging dir und mir und Millionen anderen so. Aber wer achtet schon darauf. – Nun gibt es aber Auserwählte, die haben diese Gesichte in beängstigender Häufigkeit und Dichte. Man kann das in sich selbst kultivieren und pflegen. Viele Men schen haben Angst davor und verdrängen diese Eigenschaft. Doch dann gibt es eben jene, die wissen darum und nutzen ihre Fähigkeiten. Sie fühlen sich berufen als Seher, als Propheten. Sie sind die Spitze der Pyramide. Es gibt sie als Wahrsager im Zirkus, im Variete, als Wunderärzte, Wunderheiler, auch als berufsmäßige Geschäftemacher. Doch dann gibt es einige, die sind die wahren Propheten. Sie sind die großen Warner. Denn wer weiß, was sein und was kommen wird, der kann nicht ein fach so dahinleben. Er wird seine Stimme erheben.“ „Die irdische Existenz eines solchen Menschen ist also denkbar“, äußerte Urban. „Eines Menschen unter Milliarden von Menschen“, schränkte Stralman ein. „Weniger als eine Handvoll auf der ganzen Erde. Der eine versteckt sich im Kloster, der andere im Himalaja, wieder andere landen in Irrenhäusern und we rden umgebracht, weil sie den Menschen unbequem sind. Ich bin sicher, daß es solche Evolutionssprünge gibt, so sicher, wie ich nicht an UFOs glaube.“ Stralman bot Urban einen Schnaps an. Einen von seinen exo tischen Brannten. Seit neuestem befaßte er sich mit der De stillation von Orchideen, die nur einmal im Jahr in einer Vollmondnacht blühten. – Urban wußte das und lehnte dankend ab. Sprengstoff hatte eine einschläfernde Wirkung dagegen. „Du warst schon härter im Nehmen“, bedauerte Stralman. Nach all dem, was Urban in der kurzen Stunde bei Stralman erfahren hatte, war der Tag in München mit einemmal nicht 17
mehr gar so schön. 3.
Eines Tages, als Josef seinen Brüdern vorhersagte, eine Hyäne würde ihre Schafe reißen, und die Hyäne dann sieb zig Schafe tötete, wuchs ihr Haß auf ihn so, daß sie be schlossen, ihm eine Lektion zu erteilen. Sie überfielen ihn bei Nacht, als er schlief und warfen ihn in einen tiefen Brunnen. Und dann verhöhnten sie ihn. Er habe alles vor hergesagt, nur nicht seinen Tod. Der Pariser Zeitungsmann Pierre Ponard wurde wegen sei ner Artikelserie so angefeindet, daß er versuchte, einen Be weis für seine Berichte zu erbringen. Das war nur möglich, wenn er mit dem unbekannten Prophe ten Kontakt aufnahm. Ponard, ein eitler intellektueller Fatzke, dachte sich etwas aus, um seinen angeschlagenen Ruf als Journalist zu reparie ren. In der letzten Folge seines Berichtes über den Propheten des 20. Jahrhunderts sprach er ihn persönlich an und schrieb etwa wie folgt: Wenn Sie existieren, Monsieur, dann geben Sie ein Zeichen und beantworten Sie mir ein paar Fragen. Dann kam deren Auflistung: 1. Wann regnet es endlich wieder im ausgedörrten Süd frankreich? 2. Wer wird Fußballweltmeister? 3. Überlebt der Generalsekretär der UdSSR die nächste De legiertenversammlung? 4. Wie weit fällt der Dollar noch?
5. Wird die Deutsche Mark aufgewertet?
Nun fing das Warten an.
Da alle Fragen durch den Lauf der natürlichen Ereignisse
beantwortet werden würden, blieb dem Unbekannten nicht viel Zeit. In seiner Artikelfolge vom Freitag erwähnte Pierre Ponard, 18
daß der Unbekannte sich gemeldet habe. Seine telefonisch durchgegebenen Antworten seien elektronisch aufgezeichnet worden. Mehrere Redaktionskollegen hätten sie bestätigt. Die Vorhersage liege bei einem Pariser Notar unter Verschluß. Am Wochenende rief Urban in Paris bei Ponard an. Er nann te seinen Namen und erklärte, für wen er arbeite. Der Franzose hatte von ihm gehört. „Sie sind Mister Dynamit. Freut mich, Sie wenigstens tele fonisch kennenzulernen“, sagte Ponard, „Wenn mir auch jeder andere Zeitpunkt lieber gewesen wäre. Ich erhalte ungefähr hundert Anfragen täglich aus Geheimdienstkreisen. Tut mir leid, ich gebe keine Auskünfte. Auch nicht, wie die Fußball weltmeisterschaft ausgehen wird. Ich kann nur eines sagen: Binnen achtundvierzig Stunden steht fest, ob dieser Mann der größte Wahrsager aller Zeiten oder ob er nur ein begabter Schwindler ist. Wobei ich zu ersterem neige. Also lesen Sie die nächste Ausgabe des Matin.“ „Uns geht es speziell darum, ob dieser Mann eventuell Deutscher ist, vielleicht ein Maulwurf im Kanzleramt, bei der Bundesbank oder sogar in einem der westdeutschen Geheim dienste“, erwähnte Urban. „Bis Montag“, fertigte der Franzose ihn ab und wollte schon auflegen. „Kann ich Sie in Paris treffen?“ fragte Urban noch. Ich nehme nächste Woche an der Sitzung der Strategiekommissi on teil.“ „Nein“, sagte Ponard und war aus der Leitung.
Am Montag, kurz; vor Urbans Abreise nach Paris, erhielt er einen Anruf, mit dem er nicht gerechnet hatte. Pierre Ponard aus Paris meldete sich unter Urbans Privat nummer. „Mein Artikel“, sagte Ponard, „ist bereits im Satz. Ich ve r 19
traue Ihnen also kein großartiges Geheimnis an, wenn ich Ihnen sage, wie der Test ausging. Folgende Vorhersagen des Unbekannten stimmen: heute nacht hat es in Südfrankreich zum ersten Mal seit Monaten wieder geregnet Die Deutschen wunden gestern in Rom Fußballweltmeister. Gorbatschow wurde vom Konvent der sowjetischen Teilrepubliken zum Präsidenten bestätigt, und der Dollar fiel bei der letzten No tierung unter sein historisches Tief von fünf Francs.“ „Was“, fragte Urban, „sagt Ihr Mann zur Aufwertung der DMark?“ Nach einer Pause, nicht länger als drei Sekunden, rückte Pierre Fernand damit heraus, daß er ziemlich enttäuscht sei. „Hier haute er total daneben. Aber auch hundertzehnprozen tig. Er kündigte eine Aufwertung der D-Mark von sechs Pro zent an. Und nichts ereignete sich. Es sah vielleicht so aus, aber Ihr Bundesbankchef hat es nicht veranlaßt“ „Ziehen Sie nun alle Prophezeiungen Ihres Supermediums in Zweifel?“ wollte Urban wissen „Fünf Fragen, vier richtige Antworten. Trefferquote achtzig Prozent. Da kann auch der Zufall mitspielen. Ich weiß nicht, was ich davonhalten soll“, gestand der Franzose, „vor allem nicht von dieser anderen Sache.“ Urban ahnte etwas. „Rufen Sie mich deshalb an, Ponard?“ Der Journalist bejahte. „Sie deuteten an, daß Sie zur Sitzung der Strategiekommis sion nach Paris kommen, Monsieur Urban.“ „Sie findet übermorgen statt.“ „Dort wird von einem Geheimdienst- und Militärausschuß die politische wie die militärische Weltlage erörtert. Ist das richtig?“ „Unter Berücksichtigung der wirtschaftlichen Parameter.“ „Nun, das ist alles ein großes unteilbares Ganzes“, meinte der Franzose. „Können Sie mir bei diesem Gremium Zutritt und Gehör verschaffen?“ Urban mußte bedauern. 20
„Das ist in der Regel unmöglich, Ponard.“ „Keine Regel ohne Ausnahme“, bemerkte der Franzose. „Na schön. Und warum sollte ich mich dafür einsetzen?“ er kundigte Urban sich. Nun kam Ponard zum eigentlichen Grund seines Anrufes. „Der uns allen unbekannte Prophet hat mir einige Dinge ge sagt, die Zukunft der Welt betreffend, die meine Furcht erre gen, obwohl ich wahrlich ein abgebrühter Bursche bin. Und das hätte ich gerne der Strategiekommission vorgetragen. Obwohl…“ „Obwohl?“ hakte Urban nach. „Obwohl“, fuhr der Franzose fort, „und das ist über alle Maßen sonderbar, obwohl der Anrufer mich auch davor warn te, am kommenden Mittwoch dorthin zu fahren, ja, an diesem Tag überhaupt mein Haus zu verlassen. Da aber langfristig schönes Wetter angekündigt ist, also kein Schneesturm droht, kein Orkan die Bäume entwurzelt und Dächer abdeckt und wohl auch kein Erdbeben stattfindet, werde ich vor der Strate giekommission ein Referat halten, sofern Sie es mir ermögli chen.“ „Sie halten die Vorhersage also für wichtig.“ „Für außerordentlich.“ „Trotz des Fehlers bei Frage fünf?“ „Jeder hat einen Fehlschuß. Aber zugegeben, seine falsche Prognose, was die DM-Aufwertung betrifft, läßt mich seiner Warnung wenig Glauben schenken.“ „Die Warnung, das Haus nicht zu verlassen“, präzisierte Ur ban. „Das meinte ich damit.“ „Und warum sehen Sie seine Weltbotschaft nicht unter den gleichen Voraussetzungen?“ „Das“, erwiderte der Franzose, „kann ich Ihnen vom Verstand und von der Vernunft her nicht erklären. Aber die Strategiekommission sollte sich anhören, was dieser Mann vorhersagt.“ Urban versicherte Ponard, er tue sein Möglichstes. Er kenne 21
die meisten Delegierten gut und wolle versuchen, die Einla dung eines Fremden durchzusetzen. „Merci“, sagte Pierre Ponard. „Und was Ihre Frage über un seren unbekannten Freund betrifft, stelle ich Ihnen meine sämtlichen Unterlagen gern zur Verfügung.“ Die Strategiekommission setzte sich aus Experten der NATOMitgliedstaaten und der EG zusammen. Politiker gehörten dazu, Militärs, Leute aus der Wirtschaft, der Forschung und von den Geheimdiensten. Sie tagten im Palais de Chaillot unweit des Eiffelturms in einem abhörsicheren Raum. Nach der Pause sollten Krisen und Spannungen, ausgehend vom NATO-Bereich bis Fernost, erörtert werden. Aber erst einmal war Pause. Ein deutscher Bundesbanker zog Urban beiseite. „Ich las eben, daß als letzter Programmpunkt ein Kurzrefe rat dieses Journalisten aufgenommen wurde, wie heißt er doch?“ „Ponard.“ „Ist er nicht das Sprachrohr des großen namenlosen Prophe ten Jesaja?“ „Der leider mit der letzten Vorhersage falsch lag.“ Der Bankier blickte in sein Glas. „Was hat Ponard uns zu sagen?“ „Er möchte eine Botschaft des großen Jesaja übermitteln. Nichts Gutes, wie er mir andeutete. Aber man darf es wohl nicht so ernst nehmen.“ Der Bankier blickte nun von seinem Whiskyglas auf. „Warum nicht?“ „Offenbar sind seine Vorhersagen nicht allzu perfekt.“ „War das zu erwarten?“ „Keinesfalls.“ „Und inwiefern, Oberst Urban, sind sie nicht perfekt gewe sen?“ „Bei dem Punkt DM-Aufwertung vertat er sich restlos.“ 22
Nun legte der weißhaarige Bankier seine Hand auf Urbans Schulter und schob ihn in die hinterste Ecke des Aufenthalts raumes. Dann senkte er die Stimme so weit, daß sie gerade noch zu vernehmen war. „Der Hohe Priester der Zukunftsschau hat sich leider nicht geirrt“, deutete der Mann aus Frankfurt an. „Wie bitte?“ „Ich sagte, er hat sich nicht geirrt. Es war in der Tat geplant, am vergangenen Wochenende die D-Mark aufzuwerten. Und zwar um sechskommafünf Prozentpunkte. Aber aufgrund der Matin-Artikelserie kam es an den Börsen zu einem Chaos. Der Dollar fiel noch weiter. Weltweit entstand ein Run auf die DMark und andere deutsche Werte. Um riesigen Spekulations gewinnen in Milliardenhöhe vorzubeugen, wurde die Aufwer tung unserer Währung in letzter Sekunde unterlassen und auf einen späteren Zeitpunkt verlegt. Wir können unsere Geldpo litik nicht von dubiosen Vorhersagen bestimmen lassen. Oder?“ „Dann lag der Mann ja richtig.“ „Was sagen Sie jetzt?“ „Ich bin platt. Also hatte der Unbekannte im Grunde ja lauter Treffer.“ „Jetzt sind Sie dran, Urban.“ Urban wußte, was er zu tun hatte. Wenn die Vorhersage der DM-Aufwertung zutraf, dann gab es auch einen triftigen Grund dafür, warum Pierre Ponard sein Haus heute nicht verlassen sollte. Urban eilte zum nächsten Telefon und rief bei Ponard an. Dort meldete sich der Anrufbeantworter. Fernand hatte seine Wohnung schon verlassen. Wie stets vor Ende jeder Sitzung der Strategiekommission kam die wohlbekannte Frage: „Ist mit neuen Mitgliedern im Club der AtomwaffenBesitzer zu rechnen?“ „Nicht in absehbarer Zeit“, meinte einer der technischen 23
Experten. „Wer wird in nicht genau absehbarer Zeit dazustoßen?“ „Zweifellos Pakistan und der Irak.“ „Wann rechnet man damit?“ „In ein paar Jahren.“ „Wann genau?“ „Nun gewöhnlich nach dem ersten Test der Bombe. Ohne Test geht nichts. Und Tests sind weltweit kontrollierbar. Egal wo sie stattfinden. Überirdisch oder unterirdisch.“ Einer der Delegierten wollte wissen, ob man A-Bomben überhaupt noch testen mußte. Er meldete erhebliche Zweifel an. „Gentlemen“, sagte er. „Bis heute besitzen folgende Staa ten die Atombombe: die USA, die Sowjetunion, Großbritanni en, Frankreich, China und Indien.“ „Und Israel“, wurde durch Einwurf ergänzt. Das war der Punkt, wo der Zweifel des türkischen Delegier ten einsetzte. „Gentlemen, alle soeben von Ihnen aufgezählten Staaten ha ben die Bombe getestet. Die USA in Texas, Die UdSSR in Sibirien, England in Australien, Frankreich in der Südsee, China in der Wüste Gobi, Indien in einem seiner einsamen Gebiete des Zentralen Subkontinents. Wenn nun behauptet wird, auch Israel habe die Atom-Bombe, wo bitte, Gentlemen, hat Israel seine Bombe getestet? Bis heute fand kein Test einer israelischen Bombe statt.“ Ein Delegierter fragte, ob es nicht möglich sei, eine Bombe durch Computersimulation zu testen, wie das bei Medikamen ten neuerdings gemacht würde. Er wurde belehrt. Die Funktion der Einzelkomponenten, der kritischen Masse sowie die Zündsysteme lasse sich nur durch Vollzug einer nuklearen Reaktion prüfen. „Na schön. Aber wo und wann haben die Israeli die Bombe getestet?“ „Auf dem Mond vielleicht“, meinte der Holländer gähnend. Niemand meldete sich zu Wort. Einige hatten ungefähre Vorstellungen von der Realität, aber keiner äußerte sich dazu. 24
Der einzige Delegierte, der es genau wußte, nämlich der ame rikanische General, ordnete seine Papiere, um den verstohle nen Blicken seiner Kollegen zu entgehen. Dann konzentrierte er sich voll und ganz auf seine Havanna. Die Sitzung ging zu Ende. Der Leiter schlug vor, man möge noch eine kurze Pause einlegen, ehe der Gastreferent, der Journalist Pierre Ponard, zu Wort komme. Im Raum summte ein Telefon. Der spanische Delegierte hob in seiner Funktion als Schriftführer ab und wandte sich an Urban. „Sie werden in die Vorhalle gebeten, Colonel. Ich glaube, es ist Ponard.“ Urban ging hinaus. Es war nicht Ponard. Der Journalist war noch nicht da. Ein Sekretär eilte auf Urban zu. „Colonel Urban?“ „Der bin ich.“ „Sie sind es doch, der Ponards Referat bei der Kommission arrangierte.“ Urban nickte bestätigend. „Ponard kann nicht kommen.“ „Warum?“ „Sein Referat muß ausfallen.“ „Er wollte es doch unbedingt halten.“ Der Sekretär hatte einen Zettel in der Hand. „Es ist nicht sein Verschulden. Als er die Élysées hinunter fuhr und in den Kreisverkehr am Place d’ Étoile einbog, nur ein paar hundert Meter von hier, ist es passiert.“ Die Warnung des Wahrsagers! überkam es Urban blitzartig. „Was ist passiert?“ „Ein LKW wechselte die Spur und streifte einen Bus. Der Bus war nicht mehr lenkbar und überrollte Ponards Citroen von hinten.“ „Was ist mit ihm?“ Der Sekretär hob die Schultern. 25
Urban fragte nicht weiter. „Bedaure“, erklärte der Angestellte des Ministeriums. Abgesehen davon, daß er ziemlich erschüttert war, dachte Urban an das, was Ponard der Kommission hatte bekanntgeben wollen. Wenn es Notizen davon gab, dann hatte er sie gewiß bei sich gehabt. Doch mit einem einzigen Wort machte der Sekretär Urbans Hoffnung zunichte. „Verbrannt“, sagte der Sekretär. „Alles?“ „Ponard und sein Automobil. Das ist das Kreuz bei Unfällen mit kleinen Stadtflitzern.“ Urban beeilte sich, den Kollegen von der Kommission mit zuteilen, was geschehen war. 4. Josef, der Sohn Jakobs, wurde von seinen Brüdern in den Brunnen geworfen – aber er war nicht tot. Midianitische Händler, die mit einer Karawane vorbeikamen, hörten sein Rufen. Sie holten ihn heraus und pflegten ihn. Als er gesund war, nahmen sie ihn mit nach Ägypten. Die Transportmaschine der israelischen Luftwaffe war eine Stunde nach Mitternacht von der Hadera-Basis gestartet. Zuerst flog sie ein Stück an der Küste entlang, bog vor Tel Aviv landwärts ab und hielt nun Kurs 165 Grad. Dieser Kurs führte sie westlich an Jerusalem vorbei über die Berge Judäas an den Rand der Negev-Wüste. Das Glitzern in der Ferne waren die Lichter von Sodom, und der unwirkliche blaue Schimmer war der Reflex des klaren Nachthimmels auf der unbewegten Fläche des Toten Meeres. Die Piloten der Transportmaschine bekamen das Funkfeuer von Arad in den Peiler und leiteten nun den Endanflug auf die Landepiste des militärischen Sperrgebietes ein. Der hundertfünfzig Kilometer lange Flug hatte nur eine hal be Stunde gedauert. 26
Sie setzten noch bei völliger Dunkelheit in Dimona auf. Nachdem die Boeing ausgerollt war, verlosch sofort die Landebahnbefeuerung. Die Piloten saßen hoch oben im Cock pit und warteten. Es kam ihnen vor, als wären sie auf einem fremden Stern ge landet. Niemand schien sich um sie zu kümmern. Der Major rief den Tower, ohne daß eine Antwort erfolgte. Der Captain, II. Pilot der Besatzung, sagte: „So was von Stille.“ „Und so was von Dunkelheit.“ „Nicht mal die Grillen zirpen.“ „Die wurden alle vernichtet. Könnte ein Spion darunter sein.“ Nicht der fahlste Lichtschein drang aus dem Flughafenge bäude, aus den Kasernen und aus den Hallen der riesigen Waf fenfabrik. Der Bordingenieur steckte sich eine Zigarette an. Der Navigator versuchte einen Sender hereinzukriegen, der noch Musik brachte. Aber auf allen Frequenzen lagen Störgeräusche. „Totalabschirmung nennt man das“, stellte der Major fest. „Na ja, bei dem, was sie hier so bauen.“ „Soll ja alles gespickt sein mit vollautomatischen, radarge steuerten Flak- und Raketenbatterien.“ „Hier möchte ich nicht zufällig als Fremder mit Motorscha den landen müssen.“ „Dann lieber gleich runter mit Aufschlagbrand und tot“, sag te der Captain. Nachdem etwa eine Viertelstunde vergangen war, meldete der Navigator „Sonnenaufgang in siebzig Minuten. – Dachte, bis dahin sollten wir längst wieder weg sein.“ „So lautet der Flugauftrag.“ Der Navigator griff sein Fernglas, stieg zu der kleinen Glas kuppel, von der aus er gewöhnlich mit dem Sextanten die Son ne oder die Sterne zwecks Standortbestimmung schoß, und nahm einen Rundblick 27
Er sah nichts, aber es schien ihm, als hülle eine blaßgrüne Radium-Aura, geformt wie ein Regenbogen, die Fabrik ein. – Er konnte sich aber auch irren. Als nahezu eine halbe Stunde verstrichen war und sie sich fühlten wie bestellt und nicht abgeholt, deutete der II. Pilot durch die rechte Cockpitscheibe. „Da!“ sagte er. Der Boeing näherte sich etwas, das dunkler war als die Dun kelheit, ein trapezförmiger schwarzer Kasten, der allmählich größer wurde. Der Major schob die Cockpitscheibe ein Stück auf und lauschte hinaus. „Benzinmotor.“ „Stark gedämpft“, erklärte der Bordingenieur, „wie bei den Wüstenpatrouillenfahrzeugen. Man hört sie kaum auf hundert Meter Entfernung.“ „Achtrad-Spähpanzer“, vermutete der Kommandant der Boeing. Das Fahrzeug blieb stehen. Von seinem Turm her blitzte ein dünner, aber scharfer Lichtstrahl auf. „S… und M“, buchstabierte der Navigator. ,,Das Erken nungssignal, Major.“ „Geben Sie verstanden und Q-V.“ Der Radpanzer rollte wieder an und um das Heck der Boeing herum bis zur linken Tragfläche. Sie öffneten von innen die Kabinentür, ließen die Aluleiter herunter und standen auf dem Boden der verbotenen Stadt Dimona einem Uniformierten aus dem Radpanzer gegenüber. „Ich bin Major Carmiel“, sagte der Boeing-Kommandant. „Und ich bin Esher Natan.“ Eine Frau. – Sie hatte eine Stimme so klar wie Quellwasser, das sich in gefrorenem Zustand befand. Der Major nahm an, daß sie zur Abteilung für innere Sicher heit gehörte. 28
Die Prozedur hatte etwas Lächerliches an sich. Besonders wenn man den Aufwand gegen das Ergebnis abwog. Die schwere vierdüsige Langstreckentransportmaschine wurde bei Nacht und Nebel nach Dimona beordert, um einen Gegenstand, nicht größer als ein Fernsehapparat, zu überneh men. Dann war dieser Koloß von Ladung noch um die halbe Welt zu befördern. Als sich der Metallkoffer an Bord befand, prüften zwei ziemlich wortkarge Männer in Zivil, ob er auch richtig festge zurrt war und die Umgebungstemperatur nicht weniger als 22 Grad betrug. „Selten“, sagte der Captain zum Navigator, „sah ich so einen riesigen Berg eine so winzige Maus gebären.“ „Mich wundert gar nichts mehr“, antwortete der Navigator. „Bin schon zu lange beim Militär.“ Der 707-Kommandant mußte so viele Papiere unterzeich nen, daß sie zusammengefaltet ein mittleres Telefonbuch ergeben hätten. „Die zwei Zivilisten fliegen mit nach Texas“, sagte der weibliche Sicherheitsoffizier, eine überraschend junge Frau, wie der Major feststellte. Sogar in der Uniform war sie sehr attraktiv. „Das ist mir bekannt, Captain.“ „Der eine ist Diplomingenieur Dr. Sternstein, der andere ein Mann vom Geheimdienst“, sagte Esher Natan. „Sein Name tut nichts zur Sache.“ „Wann können wir starten, Captain?“ „Sofort.“ „Wie steht es mit Jagdschutz?“ „Die Mirages starten von Basis Hakikar, sobald Sie abheben. Bis Sie Reiseflughöhe erreicht haben, sind die Maschinen zur Stelle. Sie eskortieren Sie bis Cypern. Dort übernehmen grie chische Phantoms Ihren Schutz bis Gibraltar und westlich von zehn Grad die Amerikaner mit F-18.“ „Also kein Grund zur Panik“, scherzte der BoeingKommandant. 29
„Sollte jemand versuchen, Sie runterzuholen, wer auch im mer, er würde sich eine verdammt blutige Nase holen.“ Der Major notierte die Kennungen, auf die der automatische Signalgeber der Boeing in den einzelnen Sektionen einzustel len war, damit man die Maschine auch bei schlechtem Wetter einwandfrei identifizieren konnte. „Alles hat höchste Geheimhaltungsstufe“, fügte der weibli che Sicherheitsoffizier noch hinzu. „Atomal-secret. Ich neh me an, niemand von Ihrer Besatzung hat ein Wort über diesen Einsatz verloren.“ „Nur ich weiß Bescheid“, versicherte der Major. „Dann guten Flug!“ „Und Schalom!“ rief der Pilot, der als letzter auf der Not gangway nach oben stieg und die Kabinentür von innen ve rrie gelte. Die Triebwerke der 707 wurden angelassen. Noch einmal flammten die Landebahnlichter von Dimona für wenige Minuten auf. Die 707 fegte tosend über die Beton piste und wurde in den Nacht himmel gezogen. Sie hatte Treibstoff für einen vierzehntausend Kilometer langen Flug an Bord. 5. In Ägypten wurde Josef, der Sohn des Jakob, auf dem Skla venmarkt verkauft. Wegen seiner Schönheit und seiner Klugheit kam er in das Haus eines vornehmen Ägypters namens Potiphar. Potiphar war oft in kriegerischen Ge schäften unterwegs. Und Potiphars Weib warf ein Auge auf den Sklaven Josef. Pierre Ponard hatte im alten Clichy ein Haus geerbt und es bis zu seinem Tode bewohnt. Der BND-Agent Robert Urban kannte die Adresse. Durch sein letztes Gespräch mit Ponard fühlte er sich als dessen Vertrauter. 30
Er fuhr also nach Clichy. Dies in der Hoffnung, Hinweise auf das Referat, das Ponard vor der Strategiekommission hatte halten wollen, zu finden. Inzwischen waren Stunden vergangen. Urban nahm an, daß er der erste Besucher im Hause des Toten sei. – Es sah jedenfalls ganz danach aus. Um das Gartentor lag eine Kette mit Vorhängeschloß. – Er ging um das Haus herum und kletterte hinten über den Zaun. Die Haustür vorne hatte drei Schlösser. Eines am Knauf, eines darüber, eines in der Mitte. Bei Schlössern in Türmitte handelte es sich meist um Sperriegel, die weit in die Mauer reichten. Gewaltsam kam man nur mit der Kraft eines Baggers hinein. Urban tastete sich in der Dunkelheit wieder um das Haus. Die Küchentür hatte Schnappschloß und Schließkette. Den Schnapper bekam er mit der American-Express-Karte auf und die Schließkette mit Hilfe der Nagelfeile. Drinnen duftete es nach dem, was Franzosen in ihren Kü chen sehr schätzten: nach Karnickelragout, Rotwein und Käse. Im Zwischengang roch es nach WC und feuchtem Badezim mer. Im Wohnraum gab es zwei Dinge, die Urbans empfindlicher Nase auffielen: der Rußgestank von kaltem Kaminfeuer und der von Elektronik auf Stand-by-Schaltung. Das Wohnzimmer, zugleich der Arbeitsraum des Journali sten, hatte links eine Sesselgruppe, rechts Bücherregale, und dazwischen allen möglichen Computerkram, der von einer Hi Fi-Anlage, Videorecorder und Fernseher ergänzt wurde. Der PC war von modernster Konstruktion und funktionierte mit dem gängigen Betriebssystem. – Im Schlitz steckte eine Diskette. Urban begann am Terminal herumzutasten und fand den Ein schalter. Der Bildschirm wurde aktiv. In Großbuchstaben erschien das Wort YOSSY. Zunächst konnte er sich wenig darunter vorstellen. Er nahm aber an, daß Pierre Ponard sich in den letzten Monaten mit 31
nichts anderem als mit seiner Artikelserie über den unbekann ten Wahrsager befaßt hatte. Gewiß war Yossy so etwas wie ein Code- oder Deckname. Urban arbeitete sich weiter durch das Computerlabyrinth und fand die gesammelten Daten über alle von Yossy stam menden Vorhersagen. – Da er sie inzwischen kannte, arbeitete er sich tiefer und stieß auf das, was man bei Geheimdiensten eine Legende nannte. Die wahre oder erfundene Geschichte eines Spions oder Agenten. Die Zeilen ergänzten sich Buchstabe für Buchstabe, Weiß auf Dunkelgrau. Urban kam aus dem Staunen nicht mehr her aus, was Pierre Ponard alles über den Unbekannten gesammelt hatte. Die Geschichte las sich wie der Entwurf einer Filmsto ry. Ein Spähtrupp von Rommels Afrikacorps findet in einem verlassenen Dorf am oberen Nil einen blonden Knaben. Man schreibt das Jahr 1942. Der Knabe ist ungefähr sieben Jahre alt und halb verhungert. Seine Haut ist von eitrigen Schwären bedeckt. Der Knabe spricht Englisch und Deutsch. Da das Kind die Intelligenz eines Zwanzigjährigen zu besitzen scheint, nimmt der Spähtruppführer ihn mit ins deutsche Hauptquartier. Dort wird der Knabe im Lazarett des Afrikakorps gesund gepflegt und allgemein bestaunt. Er besiegt die besten Poker- und Schachspieler der Division und ist in der Lage, sogar das Wetter vorherzusagen. Obwohl Rommels Afrika-Armee sich auf dem Vormarsch befindet, verkündet der Knabe für das nächste Jahr ihren Untergang. – Und so kommt es auch. Beim Rückzug aus Afrika wird der Knabe, der behauptet, Joseph zu heißen, und Jossy genannt wird, hinter dem Pilo tensitz einer Me-109 zusammengekauert aus Afrika nach Sizilien geflogen. Von Sizilien aus gelangt er auf Umwegen in die Hände der Waffen-SS, die ihn einer ihrer Eliteheim schulen übergibt. Diese SS-Ordensburg, gebaut an einem der Berliner Seen, wird beim Kampf um die Reichshauptstadt von Russen 32
besetzt. Die Erzieher und die meisten Schüler sind geflohen. Sie finden sich im späteren britischen Sektor der viergeteil ten Stadt wieder. Yossy, namenlos, jetzt ungefähr zehn Jahre alt, verwildert und schließt sich einer Kinderbande an. Diese Bande lebt von Diebstahl und Schwarzhandel, bis sie von einer Einheit der britischen Militärpolizei gefaßt wird. Ein britischer Colonel nimmt sich des blonden Knaben Yossy an. Yossy, der nicht auf die homosexuellen Wünsche seines Gönners eingeht, flieht in ein britisches Offiziersbordell. Dort lernt er bald alle Tricks des Gewerbes, verblüfft aber auch die Prostituierten durch seine Fähigkeit, Dinge und Ereignisse vorherzusagen. Eines der Mädchen, eine Irin, nimmt ihn unter ihren müt terlichen Schutz. Nach Auflösung des Bordells reisen beide nach Dublin. Dort betreibt Yossys Ziehmutter ein Luxusbordell und kann es sich leisten, ihren Adoptivsohn auf eine bessere Schule zu schicken. Doch dort überkommt Yossy die große Langeweile. Wozu seine Mitschüler ein Jahr brauchten, um es zu lernen, erfaßt er binnen einer Woche. Ein Lehrbuch, einmal durchgelesen, bleibt in seinem Gedächtnis haften wie eine Fotografie. Mit kaum fünfzehn Jahren ist er hochschulreif. Aufgrund seiner Jugend wird er an der Universität jedoch nicht auf genommen und befaßt sich nun im Selbststudium mit Medi zin, Chemie, Biologie und Jurisprudenz. Als Yossys Ziehmutter stirbt und seine Geldquelle damit versiegt, nutzt er seine Fähigkeiten als Gedächtniskünstler und Wahrsager erst im Zirkus, dann in einem Nachtclub, später in einem Revue-Theater. Mit einer Artistengruppe gelangt er in die USA. Er ver dient viel Geld, verläßt eines Tages seine Truppe und ver schwindet spurlos. Mit neuer Identität beginnt Yossy seine neunhundert Dol lar Erspartes zu vermehren. Er spekuliert an der Börse und 33
erzielt in nur wenigen Jahren Gewinne in Millionenhöhe. Durch Kontakte mit der Finanzwelt – er hat Politiker und Bankiers als Freunde, erkennt er, daß es einige Dinge gibt, die die Welt zugrunde richten werden. Nämlich Macht- und Gewinnstreben. Wieder von einem Tag zum anderen ändert er sein Leben. Er reist anonym in ferne Länder, erforscht besonders Ägypten. Dort, in Heliopolis und Memphis, fühlt er neue unerklärliche Kräfte in sich strömen. Er kehrt nach Europa zurück, um das Leben eines Ein siedlers zu führen, wenn auch in großem Luxus. Irgendwo in einem unzugänglichen Gebirge erwirbt er Ländereien. Täler, Wälder und Berge. Auf einem dieser Berge läßt er sich mit Helikoptern ein Refugium aus luxu riösen Fertigbungalows errichten. Dort sitzt er nun als einsamer Mann, gepeinigt von seinen Zukunftsvisionen, die er der Menschheit mitteilt, um sie vor ihrem drohenden Untergang zu retten. Yossy, der weise Warner, der große Prophet, der Retter unserer Erde. Die Zeilen waren auf dem Bildschirm langsam nach oben gewandert. Sie waren von unten gekommen und am oberen Rand verschwunden. Urban saß ziemlich benommen da. Lange dachte er nach. Die Frage lautete: Entsprang dieses Dossier Ponards Phan tasie, oder war es die Wahrheit? – Hatte Ponard mit Yossy Kontakt aufgenommen? Um seine Gehirnzellen zu lockern steckte Urban sich eine Goldmundstück-MC an. Über den Aufenthaltsort von Yossy gab die Speicherdiskette wenig Auskunft. Sie enthielt darüber kaum Fakten. Wie Pierre Ponard in offenbar mühevoller Kleinarbeit ermittelt hatte, waren alle Warnungen Yossys per Telefon erfolgt. Vermutlich jeweils am Ort der angekündigten Ereignisse, von Rom, Wa 34
shington, London, Bonn, Tokio, Bukarest und Moskau aus. Yossy mußte sich also zum jeweiligen Zeitpunkt dort auf gehalten haben. Auf dem besten Wege, daraus Schlüsse zu ziehen, war Po nards Arbeit durch seinen gewaltsamen Tod beendet wo rden. Urban befürchtete, daß Pierre Ponard nicht zufällig hatte sterben müssen, und fand diese Auffassung schon Sekunden später bestätigt. Wie der stählerne Arm eines Roboters näherte sich von hin ten, an seiner linken Schulter vorbei, eine Hand dem Compu ter. Die Hand war von schwarzem Leder umhüllt. Sie faßte in den Schlitz des Gerätes, riß die Diskette heraus und zerbrach sie mit dem brutalen Druck ihrer Finger. Urban sprang auf und fuhr herum. Vor ihm stand ein Mann. Alles an ihm war schwarz. Ove rall, Gesichtsmaske, Brille, die Strickmütze. Auch das Messer in seiner Hand war schwarz lackiert. Der Mann war ihm gefolgt oder schon vor ihm im Haus gewesen. – Jetzt stach er zu. Urban duckte sich weg. Sein einziger Wunsch war: Laß ihn nicht finden, was ich fand, und laß es dunkel werden, o Herr. Vor dem nächsten Angriff mit dem schwarzen Messer riß Urban die Mauser vom Magnethalfter und hielt dorthin, woher alles im Raum seine Energie bezog. Es war ein Blechkasten auf halber Raumhöhe. Von oben mündeten Stromkabel in ihn. Unten zweigten dün ne Kabel ab. Sie liefen zu den Computern, zur Stereoanlage, zum TV-Gerät und zu den Lampen. Urban hieb mit der Handkante auf den Arm mit dem Messer und schoß dabei. Er feuerte ein halbes Magazin auf den Strom verteiler. Die Kugeln schlugen krachend in ihn ein. Das Er gebnis waren Funken, Blitze und Gestank. Es qualmte weiß aus dem Kasten. Das Licht flackerte und ging aus. In seinem letzten Schein visierte Urban den Gegner an und setzte die Handkante dorthin, wo der Hals aus der 35
Schulter des schwarzen Overalls wuchs. Der Mann mit dem Messer taumelte und sackte mit seinem Stöhnlaut zusammen. Wenn er wieder erwachte, würde er nichts Brauchbares mehr vorfinden, dafür sorgte Urban. Denn wer immer dieser Mann war, er würde nicht der einzi ge sein, der hinter dem Geheimnis des großen Yossy herjagte. 6. Als Potiphar von einem Kriegszug zurückkam, beschuldigte sein Weib Josef. Sie sagte, der Sklave habe ihr Gewalt an getan. Josef beteuerte seine Unschuld. Aber wer glaubt einem Sklaven? – So kam Josef ins Gefängnis. Josef teilte seine Kerkerzelle mit dem Mundschenk des Pharao, dem vorgeworfen wurde, er habe versucht, seinen König zu ver giften. Das Transportflugzeug der israelischen Luftwaffe bekam nach langem Flug die amerikanische Ostküste in Sicht. Infolge starker Gegenwinde hatte die Flugzeit sich um vier zig Minuten verlängert. Gleichzeitig hatte der Treibstoffve r brauch sich um nahezu sieben Prozent erhöht. Der Bordingenieur ermittelte laufend den Kerosinvorrat und reichte dann einen Zettel an den I. Piloten, Major Carmiel. „Treibstoff-Nullstand in fünfundzwanzig Minuten.“ Der Major winkte den Bordingenieur nach vorn. „Wir haben gerade Florida unter uns.“ „Wie weit noch bis Edward Base?“ „Zwölfhundert.“ „Das entspricht einer Flugzeit von neunzig Minuten. Edward Base ist also unter keinen Umständen erreichbar.“ Der Major fluchte lautlos durch die Zähne. Es gab Transportmaschinen bei der Luftwaffe seines Landes, die waren zum Nachtanken in der Luft ausgerüstet. Bei diesem Einsatz hatte man aus vielerlei Gründen darauf verzichtet. Außerdem war die 707 mit Zusatztanks ausgerüstet. 36
„Wie stark war der Jetstream, den wir gegen uns hatten?“
„Achtzig Knoten“, sagte der Navigator.
Gegenwinde mit der Geschwindigkeit eines D-Zuges hatten
sie also über dem Atlantik stundenlang angeblasen Der II. Pilot hatte seine eigene Rechnung aufgemacht. „Fünfundzwanzig Minuten, das sind knapp vierhundert Ki lometer.“ „Dann sind die Tanks aber trocken. Da müssen wir schon am Boden sein.“ Sie schauten auf der Karte nach. Der einzige Flughafen im Süden der USA, den sie mit Si cherheit erreichen konnten, war Atlanta. Atlanta war groß genug für einen Notfall. Der Major traf schweren Herzens die Entscheidung: „Funkspruch an die Begleitjäger: haben Treibstoffprobleme. Neuer Kurs Atlanta.“ Dann riefen sie Atlanta Tower und meldeten einen Notfall. Atlanta fragte, ob Triebwerk- oder Fahrwerkschaden vorlie ge. „Treibstoffprobleme“, antworteten sie. „Feuerwehr und Schaumteppich sind nicht erforderlich.“ Aber man müsse sie sofort zur Landung freigeben. Inzwischen merkten die Passagiere hinten im Laderaum, daß etwas faul war und kamen nach vorn. Major Carmiel setzte sie ins Bild. Der ältere, der grauhaarige Zivilist, den der Sicherheitsoffi zier als Ingenieur bezeichnet hatte, hob entsetzt beide Hände. „Das ist unmöglich, Major.“ „Was dann? Soll ich die Kiste ins Meer oder in die Appala chen fallen lassen?“ „Wer, zum Teufel, verantwortet das?“ fragte Dr. Sternstein ratlos. „Der Wettergott, Doktor.“ „Das mußte doch einkalkuliert werden.“ „Normalerweise blasen in unserer Flughöhe die Winde in 37
anderer Richtung und schieben uns. Leider haben wir uns einen von den wenigen Tagen im Jahr ausgesucht, an denen sie es nicht tun.“ Der verantwortliche Ingenieur erblaßte und mußte sich stüt zen. „Ich… ich kann das nicht zulassen“, äußerte er immer wi e der.“ „Angenommen…“ „Was?“ „Ist Atlanta ein Zivilflughafen?“ „Der größte im Südosten der USA.“ „Nicht vorstellbar, wenn etwas passieren sollte.“ „Geht schon glatt“, hoffte der Kommandant der Transportmaschine. Der Funker-Navigator gab von hinten Klarzeichen. „Atlanta hat soeben bestätigt. Nach Funkfeuer Augusta Kurs zwei-sechs-null halten und Sinkflug einleiten. Landebahn eins acht.“ „Und die Air-force?“ „Wünscht uns viel Glück.“ „Ist für die Sicherheit gesorgt?“ fragte der Zivilingenieur. „Man stelle sich vor, den Palästinensern wäre unsere Mission bekannt, und sie haben ein Terrorkommando in Atlanta.“ „Das wären zu viele Zufälle auf einem Haufen“, meinte Ma jor Carmiel. „Wenn aber doch?“ Die Piloten hatten jetzt alle Hände voll mit dem Anflug und der Landung zu tun. „Begeben Sie sich zurück in die Kabine, Doktor“, sagte der Major. „Gurten Sie sich fest, und fangen Sie schon mal an zu beten.“ Im Grunde beteten sie alle, lautlos, jeder für sich. Immerhin war es das erste Mal in der Geschichte der Luft fahrt, daß auf einem stark frequentierten internationalen Ai r port ein Flugzeug landete, das eine funktionsfähige Atombom be an Bord hatte. 38
Noch schlug das Schicksal nicht zu. Die geheime Operation der israelischen Armee mit dem Decknamen Fire-bullet verlief, abgesehen von der Treibstoff panne, in den nächsten achtundvierzig Stunden glatt. In Atlanta wurde die Boeing 707 durch Anweisung des Pen tagon in eine Parkposition dirigiert, die abseits vom zivilen Flugverkehr lag. Dort übernahmen zum Atlanta-Airport dirigierte Armeeein heiten ihre Sicherung. Ein Tankwagen rollte herüber und pumpte 6000 Gallonen Kerosin in die leeren Tanks des Düsenjets. Kaum war das Tanken beendet, erhielt die 707 aus Tel Aviv vorrangig Startfreigabe. Um 15.00 Uhr amerikanischer Ostküstenzeit flog sie weiter zu ihrem Bestimmungsort in der Wüste zwischen Texas und New Mexiko, Llano Estacado genannt Wieder eskortierten sie F-18-Begleitjäger. Die israelische Boeing landete auf der Wüstenpiste mit der tiefstehenden Abendsonne im Rücken. Sie wurde von einem Traktor an den Haken genommen und in einen der Hangars gezogen. Wenig später kamen zwei Fahr zeuge herüber. Ein gepanzerter Dreivierteltonner und eine Limousine. Der Dreivierteltonner übernahm den schiffskoffergroßen Metallbehälter und die zwei Experten. Die Air-force-Offiziere aus der Limousine sprachen mit den israelischen Piloten. „Hatten Sie außer Treibstoffmangel noch andere Probleme mit Ihrem Flugzeug?“ „Keine, Sir.“ „Einer der hydraulischen Druckzylinder am Fahrwerk ve r liert ein wenig Öl.“ „Das bringen wir in der Werft in Tel Aviv in Ordnung, Sir.“ „Brauchen Sie einen Wagen zur Entsorgung der Abwasser tanks?“ 39
„Wir waren nur sechs Mann an Bord, Sir. Nein danke.“ „Wann treten Sie den Rückflug an?“ wollten die Amerikaner wissen. „Meine Order lautet“, sagte Major Carmiel, „den Test und die Meßergebnisse abzuwarten und die Experten mit nach Hause zu nehmen. Nach Plan sollte der Test binnen achtund vierzig Stunden über die Bühne gegangen sein.“ „Wenn der Teufel nicht wieder im Detail steckt“, meinte der Air-force-Colonel. „Was uns betrifft, Sir, ist alles bestens.“ Sie fuhren zur Unterkunft für die Gäste der Testzone. Auf der Fahrt dorthin sagte der Amerikaner zu seinem israe lischen Kollegen: „Wie ich höre, bringen wir die Bombe noch heute nacht ein.“ „Mußten Sie für uns ein neues Loch bohren?“ „Ja, achthundert Meter tief. Jeder unterirdische Bombentest erfordert ein neues Erdloch. Die Bohrlöcher fallen durch die Wahnsinnsenergie der atomaren Sprengung wieder zusammen und bilden einen Trichter. Die Erde darüber wird hart wie Beton, außerdem ist sie für Jahrzehnte verseucht.“ „Aber warum“, fragte der Israeli, „kostet so ein Test gleich zehn Millionen Dollar?“ Der Amerikaner lachte. „Sie können es natürlich billiger haben, wenn wir das Loch von Maulwürfen graben lassen. Aber vergessen Sie nicht, eine Bombe muß ordentlich versenkt werden. Dann das Dutzend von Meßsonden und Rezeptoren, die einzubauen sind, die Videokamera, die die letzten Sekunden vor der Zündung in der Tiefe der Erde filmen, ferner die Sicherheitsmaßnahmen im Luftraum, im ganzen Bezirk Sweetwater bis nach Abilene und Wichita. Das kostet ein paar Cents. Umsonst ist der Tod, mein Bester.“ „Er kostet das Leben“, verkniff Carmiel sich den alten Ka lauer nicht. 40
Die Vorbereitungen für den unterirdischen Test der israeli schen A-Bombe liefen wie am Schnürchen. Die Bombe wurde ihrem Transportbehälter entnommen, durchgecheckt, dann in den Aufzug gebracht, der sie in die Tiefe fuhr. Unten legten die Fachleute sie in ein vorbereitetes Beton bett und schlossen alle Kabel und Leitungen – aus Gründen der Redundanz waren sie jeweils dreifach ausgelegt – an. Die Kabel führten durch ein besonders strahlenisoliertes Stahlrohr nach oben zum Meßbunker. Sodann wurde die Kaverne in der Tiefe durch einen tresor türartigen Stahlriegel verschlossen und mit Erdreich und Be ton ausgefüllt. Dazu waren ungefähr zweitausend Kubikmeter Sand, Kies und Zement nötig. – Armeepioniere erledigten das binnen eines Tages und einer Nacht. Nach letzten Funktionsprüfungen wurde das Gebiet geräumt. Auf einer Fläche von vier Quadratmeilen, also einem Vier eck von je zwei Meilen Kantenlänge, befand sich jetzt kein Mensch mehr. Vielleicht noch hie und da ein Kleinlebewesen, Wüstenmäuse, Schlangen, Skorpione, Vögel, Käfer, aber nichts was größer war als ein Karnickel. Am Dienstagmittag, vier Tage nach dem Start der Boeing in Dimona, war auf dem Atomtestgelände der US-Army alles klar für die Auslösung der unterirdischen Atomexplosion. Man war zufrieden. Alle Systeme zeigten Grün. „Zündung Ihres Babys in hundert Minuten“, sagte der leiten de Offizier des Testgeländes zu dem Experten aus Israel. Noch genug Zeit, um Kaffee zu trinken und eine Zigarette zu rauchen. Die Wetterbedingungen waren günstig. Ein sonniger Tag, nicht zu heiß und nahezu windstill. Niemand zweifelte daran, daß der Test ein voller Erfolg we r den würde. 7. 41
Im Gefängnis sagte Josef zu seinem Zellengenossen, dem Mundschenk des Königs: „Deine Anklage wird zurückgezo gen. Ehe dreimal die Sonne aufgeht, bist du ein freier Mann und wieder an der Tafel des Königs.“ – „ Wie kannst du das wissen“, fragte der Mundschenk. – „Ich weiß es“, sagte Josef. – Seine Vorhersage traf ein. – „Ich werde dich nie vergessen“ ,versprach der Mundschenk des Pharao. Nach den umfangreichen Angaben in Pierre Ponards PC hat te der Geheimagent Robert Urban ein Phantombild anfertigen lassen. Er zweifelte nicht dran, daß es reichlich ungenau war. Er wußte aber auch, daß jedes noch so kleine Hilfsmittel zur Erledigung des Auftrags, Yossy zu finden, wichtig war. Er holte sich die Zutaten von überallher, wo er sie kriegen konnte. Bald wußte er mehr als die anderen Dienste und auch mehr als Pierre Ponard. Neben die Weltkarte, die eine ganze Wand der Operations abteilung einnahm, hatte er einen großen DIN-A3-Bogen ge pickt. „Sieht kompliziert aus“, erklärte er Oberst Wolf Sebastian, dem Operationschef, „ist es aber nicht.“ Auf dem Bogen befanden sich eine Reihe kleiner Kreise zu einem großen Kreis angeordnet. In jedem kleinen Kreis stand ein Datum und eine abgekürzte Notiz. Von den kleinen Krei sen führten Linien zum Mittelpunkt. Das Viereck dort füllte ein Fragezeichen und das Wort Yossy aus. „Mit diesem System wollen Sie den Burschen kriegen?“ zweifelte der früher dackelgesichtige, jetzt mehr mäusege sichtige Oberst Sebastian. „Zunächst zu den Kreisen.“ Urban deutete auf die im Rund angeordneten Satelliten. „Das sind seine Prophezeiungen.“ „Die eingetroffenen.“ „Beginnen wir mit Rom. Vorhersage des Untergangs der Andrea Doria. Laut Ermittlungen von Sismi muß das Gespräch von Rom aus geführt worden sein. – Gehen wir weiter nach 42
Dallas, wo Kennedy starb. Dann nach Washington. Im Jahr 1972 unterrichtete Yossy durch einen Anruf bei der PostRedaktion die Reporter, daß Nixon in die Zentrale der Demo kraten im Watergate Hotel habe einbrechen lassen. Was dann zu seinem Rücktritt führte. – Gehen wir noch weiter. In Lon don kündete er den Falkland-Krieg lange vorher an, ebenso wie er Jahre später in Bonn mit nahezu furchterregender Prä zision den Zerfall der DDR vorhersagte. Ganz abgesehen von den Prophezeiungen in Rumänien, Tokio und Moskau. – Wie von allen Nachrichtendiensten ermittelt wurde, kamen die Anrufe immer direkt vom Ort des Ereignisses. Also aus Rom, Washington, London, Bonn, Bukarest, Tokio, Moskau.“ Sebastian klemmte das Monokel aus und blickte so traurig wie ein Hund, der seinen Freßnapf leer vorgefunden hatte. „Und damit wollen Sie ihn kriegen?“ wiederholte er. „Damit habe ich zumindest herausgefunden, wann sich der Mann wo aufhielt. Ich habe weiter ermittelt, auf welchem Weg er jeweils in diese Hauptstädte der Welt kam, um sich dort selbst von der Richtigkeit seiner Vorhersagen zu überzeugen. Er fuhr nicht mit dem Auto, nicht mit der Bahn, nicht mit dem Schiff, sondern nahm das Flugzeug. – Soweit es zurückver folgbar ist, taucht in den Passagierlisten einer bestimmten Fluggesellschaft, passend zum Datum, immer ein- und dersel be Name auf.“ „Yossy!“ hatte der Alte mitgedacht. „Yossy Shepherd.“ „Shepherd bedeutet Hirte.“ „Schafhirte“, präzisierte Urban. Der Alte wurde ungeduldig. „Kompliziert, kompliziert. Das Einfache ist schöner.“ Er ging mit kleinen Schritten auf und ab, die Stirn gerunzelt wie seine Hose, die unten und hinten und eigentlich überall Falten schlug. „Shepherd, der Hirte. Na und?“ Urban rückte damit heraus, was bis jetzt nur er allein wußte. „Er flog immer mit der Schweizer Luftlinie Swissair.“ 43
„Er hält eben was von Sicherheit und Service.“ „Dann konnte er auch die Lufthansa wählen oder die PanAm. Aber nein, er nahm die Swissair. Was dürfen wir daraus schlie ßen?“ „Daß er anhänglich ist.“ „Oder vorhersehend wie stets. Bei der Swissair sah er die geringsten Komplikationen.“ Als Zeichen, daß der Alte nicht so verknöchert war, wie man ihm nachsagte, fragte er: „Start von wo?“ „Das muß ich noch ermitteln. Das geht aber nicht per Tele fon, nicht mit besten Kontakten. Ich fahre nach Genf.“ „Zur Zentrale der Swissair.“ „In Genf steht ihr großer Buchungscomputer.“ Das Gesicht des Alten wurde noch mäuseartiger, aber wie das einer vollgefressenen wabbeligen alten Maus. „Und dort fressen Sie sich rein wie eine Maus“, bemerkte er zu allem Überfluß. „Wer handelt wie eine Maus, der denkt wi e eine Maus“, sag te Urban. „Und wer wie eine Maus denkt, der ist eine Maus. Nein, ich gehe hin mit meinem fränkisch aufrechten Gang.“ Der Alte gab ihm einen seiner überflüssigen Ratschläge mit auf den Weg. „Aber meißeln Sie nicht wieder Ihren schlechten Ruf in Granit.“ Urban polierte die Fingerspitzen am Revers seines Glen checksakkos. „Nur mit dem Fingernagel“, sagte er. Genf lag noch in jenem Nahbereich, für den Urban das Auto mobil benutzte. Getreu seinem Wahlspruch: Fliegen ist was für arme Leute, die keine Zeit haben, drosch er den alten 633 CSi-BMW an den Lac Léman. Schon von München ab glaubte er beschattet zu werden. In 44
Lindau war er sicher und ab Zürich davon überzeugt. Es handelte sich um einen Mercedes 190 aus Wien mit den neuen österreichischen Kennzeichentafeln, Schwarz auf Weiß, mit roten Kantenstreifen und dem Wappen des Bundeslandes. Der Fahrer war nicht zu erkennen. Er trug Mütze und Brille und hatte den Kragen seiner Windjacke hochgeschlagen. Einmal gelang es Urban den Mercedes durch einen Zwi schenspurt abzuhängen. Doch dann mußte er vor Solothurn tanken, und der schwarze 190er hing wieder an ihm. Dann bist du in Genf dran, Junge, dachte Urban. Bei Lausanne verließ er die Autobahn, rollte durch die Stadt zum See hinunter und hoffte, im starken Verkehr der Uferstra ße den Mercedes abzuhängen. – Es mißlang ihm jedoch wi e der. Also versuchte er es mit Trick vierzehn. Im Zentrum von Genf nahe dem Rhôneufer fand Urban einen Parkplatz. Er stieg aus und schlenderte zu einem der hohen Bürogebäude. Es gehörte einer Versicherung. Mit dem Lift fuhr er nach oben und beobachtete durch die Scheiben im siebten Stock, was sich unten tat. Der Mercedes war ebenfalls geparkt worden und stand ohne Fahrer da. Also war der Bursche ihm gefolgt Urban fuhr wieder hinunter, eilte hinüber und schaute sich das Mercedes-Innere an. – Ein paar Sachen sagten ihm alles. Auf dem Beifahrersitz stand eine angezupfte Schachtel Kleenex, und am Boden vor dem Sitz lag ein Papiertaschen tuch mit ein wenig Rot dran. Lippenrot. – Da Männer sich in der Regel höchst selten schminkten, war der Verfolger also eine Frau. Urban notierte die Wiener Nummer. Er wollte schon gehen, als sein Blick durch die rechte Scheibe der hinteren Tür auf den Kardantunnel fiel. Dort lag eine Plastiktüte, die einen Spaltbreit offen war. Urban erkann te eine Maschinenpistole der Marke Uzi. Es war allgemein bekannt, wer UZis benutzte. Urban bekam es durch den Auf druck der Plastiktüte bestätigt. Es handelte sich um hebräi 45
sche Lettern. Achtung! signalisierte sein Gehirn, der MOSSAD ist hinter dir her, Amigo. Er nahm sich vor, auf der Hut zu sein. Zwar hatte er prima Kumpels beim israelischen Geheimdienst, aber wenn es um Dinge ging, die die Sicherheit ihres Staates betrafen, kannten sie kein Erbarmen. Urban betrat ein Bistro, bestellte ein Glas Rosé und etwas zum Knabbern und wartete am Fenster stehend. Nach etwa zwanzig Minuten sah er vom Eingang der Winter thur-Versicherung zwei Beine in Jeans, eine verwaschene Windjacke und einen Kopf mit mühsam unter der Mütze ge bändigtem Haar herüberschlendern. Er kannte diese Frau. Du lieber Himmel, sie war so eiskalt wie schön. Schwarzes Haar, schwarze Augen, sonnengebräunte Haut. Er dachte we i ter abwärts. Schlanke Beine, gewiß zwei wundervolle Brüste, straff und mit großen violetten Brustwarzen. Sie hieß Esher Natan und arbeitete für den MOSSAD. Sie war ein Gedicht, dieses Flintenweib. Ein schönes Ge dicht, aber auch ein leidenschaftliches, in dem Blut und Tod vorkamen. Urban kannte sie nicht nur vom Hörensagen, sondern auch von einer kurzen Begegnung irgendwo in Algerien. Was für ein Mist! Ausgerechnet dieses Biest. Er überlegte, ob er auf sie zugehen und Hallo, Esher, wie geht’s, wie steht’s? rufen oder sie warten lassen sollte, bis sie einen platten Hintern bekam. Urban entschied sich zu letzterem. Er verließ das Bistro durch die Tür beim WC. Bei der Swissair-Computerzentrale hatten sie Urban erwartet und wußten Bescheid. Mit der bekannten Schweizer-Uhrwerks-Präzision hatten sie bereits Vorarbeiten geleistet. „Nicht allein Ihretwegen“, schränkten sie ein. „Wir haben auch Anfragen von Interpol.“ 46
„Und Scotland Yard“, ergänzte Urban. „Und MI-6 und CIA und Kempetai aus Tokio. Und ob Sie es glauben oder nicht, sogar von den Russen.“ Urban glaubte gern alles, Hauptsache, sie lieferten ihm brauchbare Ergebnisse. Doch damit sah es zunächst düster aus. „Der Passagier Yossy Shepherd flog jedesmal von Genf aus in die weite Welt.“ „Glauben Sie, daß er in Genf domiziliert?“ bediente Urban sich des Schweizer Ausdrucks für wohnhaft. Der Angestellte wiegte erst den Kopf, dann äußerte er klar und deutlich: „Er kam angereist.“ „Womit? Per Bahn, Bus, Taxi?“ „Mit einer Fluglinie. Sein Ticket war meist bei der Iberia gekauft worden.“ „Also Iberia via Swissair via Washington, London, Rom, To kio, Bonn et cetera?“ „So ist es, Monsieur.“ Urban hätte noch gern einiges gewußt. – Wo war der Ge suchte gestartet, und wo hatte er sein Ticket gekauft. Das Ergebnis war eine weitere Irritation. „Zweimal benutzte er auch die Air France“, lautete die Ant wort. „Machen Sie mir das Leben nicht noch schwerer“, bat Ur ban. „Soviel steht fest“, ließ der Schweizer nun die Katze aus dem Sack, „Er flog von zwei Airports ab. Entweder von To u louse oder von Barcelona.“ Urban projezierte die geographische Lage und damit die Möglichkeiten auf seinem inneren Bildschirm. Toulouse lag in Südfrankreich, Barcelona in Nordspanien. Nahm man von der Verbindungslinie die Mitte, also die Hälfte der Zweihundertfünfzig-Kilometer-Distanz von Flughafen zu Flughafen, dann landete man in den Pyrenäen. 47
Die Pyrenäen, rekapitulierte Urban, Grenzgebirge zwischen Frankreich und Spanien, fünfhundert Kilometer lang, bis zu dreitausendfünfhundert Meter hoch, kaum Längstäler. Wald reich, oben Hochgebirgscharakter mit Gletschern. – Ach du guter Gott, was für ein tolles Angebot. Dort sollte Yossy also zu finden sein. Äußerlich entzückt, innerlich niedergeschlagen, bedankte Urban sich und ging. Nach einem Bourbon mit Nachspülen hatte er eine Idee. Vielleicht gab es bei der Air France oder bei der Iberia, wo die Tickets gekauft worden waren, eine genaue Adresse. Er kannte jetzt immerhin die Provinz. Aber den Ort, die Straße und die Hausnummer zu bekommen war natürlich zu viel verlangt. Es war schon dunkel, als Urban sich seinem geparkten BMW näherte. Der Mercedes stand noch immer gegenüber. Aber die MOSSAD-Dame schlief auf dem abgekippten Rücksitz. Urban stieg ein, ließ an und fuhr weg. Über Autotelefon aktivierte er die Kollegen von Interpol und seinen Freund, Coronel Erneste Segovia von der Brigada investigación in Madrid. Was er brauchte, formulierte er wie folgt: „Sucht die Adresse eines Mannes namens Yossy Shepherd, und zwar auf der Linie Toulouse-Barcelona.“ Sie wollten alles tun, was in ihren Kräften stand.
Auf der öden Autoroute nach Perpignan machte Robert Urban ab und zu halt. Er legte Schlafpausen ein, telefonierte und erfuhr, daß in den Kräften seiner Freunde leider sehr wenig stand Nur Erneste Segovias Leute hatten ermittelt, daß ein gewi s ser Yossy Shepherd, also Josef der Schafhirte, vor mehr als zwanzig Jahren einen Großbauern in den Pyrenäen vor dem 48
drohenden Bankrott bewahrt hatte. Und zwar dadurch, daß er ihm seinen Grundbesitz, zwei von Norden nach Süden verlau fende Täler mit einem Berg dazwischen, abgekauft hatte. Und dies zu einem fairen Preis. Madonna! dachte Urban, das war vor einem Vierteljahrhundert. Täler und Berge pflegten nach dieser Zeit noch zu existieren, Menschen hingegen nicht im mer. Er änderte seine Fahrtrichtung ein wenig nach Südwest. Was ihn beruhigte, war der Umstand, daß der schwarze Mer cedes aus Wien nicht mehr hinter ihm war. Was ihn jedoch beunruhigte, war die Größe des Gebietes, in dem sich Yossy Shepherd, vielleicht oder auch nicht, aufhielt. Da vor jeder Gewißheit die Hoffnung kam, blieb er stur auf Kurs Südwest. In Peripignan, das er gegen Mittag erreichte, verließ er die Autoroute und nahm die Straße Nr. 116 über Prades und Olet te hinein ins Gebirge. Olette lag schon in den Ausläufern der Pirineos, wie die Spanier sie nannten. Bevor er die Straße zur Paßhöhe und Grenze unter den Rä dern hatte, rief er noch einmal in Madrid an. Coronel Segovia lieferte Neuigkeiten. „Das letzte große Areal da oben wurde im Jahre 1968 ve r kauft. Und zwar von einem Hacendero namens Pedro San Cai xans.“ Urban hatte den Namen schon auf der Karte gelesen. „Es gibt einen Ort, der so heißt.“ „Si, kurz hinter der Grenze auf spanischem Gebiet. Dieser Senor Caixans verkaufte viele Morgen Tierra, Bosque und Montana, zwei Täler und einen Berg dazwischen, der auch im Sommer Schnee trägt, an einen Amerikaner.“ „Viele Kilometer quadratos, also“, verstand Urban, „Dachte, der Erweb von so viel Land sei für einen Ausländer verboten.“ „Man munkelt, der Amerikaner habe den Generalissimo Franco einen großen Dienst erwiesen, als er ihm riet, Juan Carlos zum König zu machen. So wurde der Erwerb geneh migt. Man hört auch, es sei noch eine Bedingung daran ge knüpft. Vermutlich die Vererbung betreffend.“ 49
„wo liegt das Territorium?“ „In der Sierra Delcadi, und zwar westlich der Grenze zu Ka talonien. Der Kauf wurde damals nicht in Ripoll, sondern beim Notar in Seo de Urgel verbrieft. Das liegt in der Provinz Leri da.“ „Dann muß sich das Gebiet zweifellos auch dort befinden.“ „Der Notar lebt leider nicht mehr, und die Grundbuchauszü ge zu bekommen, das kann Wochen, ja Monate dauern. Am besten du fragst in den Dörfern herum.“ „Ist der Name des Käufers bekannt?“ „Leider nein“, bedauerte Segovia. „können wir sonst etwas für dich tun? Es ist eine ziemlich rauhe Gegend. Mann kommt dort schnell unter die Geier.“ Urban lachte. „Solltest du nichts mehr von mir hören, dann stell einen Suchtrupp zusammen. Er tankte voll, versorgte sich mit Proviant und nahm die letz ten dreißig Kilometer unter die Räder. Jenseits der Frontera, in Caixans begann er zu fragen. Niemand konnte ihm helfen. Also fuhr er zur Kirche und be trat das Haus des Pfarrers. Der äußerte, er habe von Senor Pedro Caixans gehört. Die ser Mann sei zwar ein großer Spieler, aber nie ein Wohltäter der Armen gewesen. Er habe seinen ganzen Besitz in den Casi nos von Biarritz und Monte Carlo verzockt. Alles kam unter den Hammer. – Urban möge doch in Arseguell noch einmal fragen. Das sei ein mieser kleiner Ort in einer miesen Gegend an einem so miesen kleinen Fluß, daß er nicht einmal im Früh jahr Forellen führe. Es ging auf den frühen Abend, als Urban Arseguell erreichte. Man schickte ihn weiter Richtung Organa. Auf der Straße dorthin gebe es eine Tankstelle und einen Mann, der die Autos in Schuß halte. Er sei der einzige, der sich auf dieses Hand werk verstehe und kenne so gut wie jeden Campesino und jeden Traktor in der Gegend. Ein Fahrzeug müsse der Mann, den er suche, schließlich besitzen 50
Als Urban zu der Tankstelle kam, regnete es schon in dem bewaldeten Tal. Um 16.00 Uhr war es dunkel wie normaler weise erst an Abend. Und der Werkstattinhaber war unfreund lich. Urban zeigte ihm das Phantom-Foto. „Nie gesehen diesen Mann“, äußerte der mürrische Patron. „Amerikaner. Name Yossy Shepherd.“ „Den gibt es hier nicht.“ „Aber einen Senor Pedro San Caixans gab es mal.“ Der Patron, ein schwerer, schmalstirniger Mann, brummte: „Mein Vater erzählte von ihm. Don Pedro kam im Bürger krieg durch Spekulationen zu großen Ländereien, verlor aber alles wieder. Er war ein Guerillero, ein Bandolero.“ Urban ließ nicht locker. „Und wo liegen diese Ländereien?“ Dem Patron war es zuviel. Er deutete in westliche Richtung auf zwei Berge, zwischen denen dunkle Wolken hingen, und ging. „Keine Zeit. Buenas noches, Senor.“ Nun zog Urban einen Schein aus seinem Sakko. Einen blauen D-Mark-Hunderter. Der war so bekannt und begehrt wie Dol lars. Der Patron nahm ihn und steckte ihn weg. „Das ist was anderes. Damit haben Sie eine halbe Stunde meiner kostbaren Zeit gekauft, Senor.“ Urban faßte sich trotzdem kurz. „Das Land da hinten wurde also verkauft.“ „So ist es. Die reichen Leuten hier legten zusammen, um ei ne Cooperative zu bilden und das Land für die Gemeinde zu ersteigern. Sie wunden schamlos überboten.“ „Von wem?“ „Von Don Jose Pastor.“ Urban sprach Spanisch und Englisch gut genug, um Querver bindungen zwischen beiden Sprachen herzustellen, ohne im Lexikon nachschlagen zu müssen. Pastor bedeutete Hirte, vielleicht auch Schafhirte, aber das war jetzt egal. Don Jose Pastor oder zu deutsch Josef Schäfer 51
– das mußte Yossy Shepherd sein. „Beschreiben Sie mir diesen Mann“, bat Urban. „Ist sehr schwer“, jammerte der Kfz-Meister. „Hab’ ihn nur ein oder zweimal gesehen. Also, er ist so groß wie Sie, Senor, mindestens. Aber eckiger. Alles an dem ist eckig. Der Kopf, sogar die Augen, das Kinn, die Ohren, alles eckig.“ „Augenfarbe?“ „Hell, sehr hell, heller als die Ihren, Senor.“ „Mund?“ „Hab’ keinen bemerkt. Hat der überhaupt einen?“ „Nase?“ Jetzt grinste der Patron. „Diablo! Was heißt Nase! Das ist keine Nase, das ist ein ge buckelter, tief herabhängender Zinken, ist das.“ „Bart?“ „Nein.“ „Wie kleidet er ach?“ „Wie die Waldarbeiter hier. Hohe Stiefel, wetterfestes Zeug, pelerinenartiger Mantel. Geht nie ohne Gewehr. Aber wie gesagt, ich hatte selten mit ihm zu tun. Nur einmal, als sein Jeep nicht mehr lief. War ein kapitaler Motorschaden. Er dachte wohl, ein Jeep ist wie ein Teekessel und kommt allein mit Wasser aus.“ „Jeep?“ fragte Urban. „Landrover.“ Der Patron steckte sich eine Tabacalera an. Urban hatte noch Fragen, wie man am besten ins Tal hinauf kam und wo er dort Hütten gab. Der Spanier nahm ihm jede Illusion. „Es gibt keine Hütten. Häuser und Dörfer erst recht nicht.“ „Aber wo wohnt dann dieser Don Pastor?“ „Ob er überhaupt da ist. Oft sieht man ihn ein Jahr lang nicht.“ Der Regen hatte zugelegt. In der Ferne blitzte es. „Volltanken!“ bat Urban. Der Mann von der Benzinstation sah sich das Sportcoupe an und schüttelte den Kopf. 52
„Mit dem kommen Sie nicht weit, Senor.“ „Gibt keine schlechten Wege, nur schlechte Fahrer.“ „So gut kann gar kein Fahrer sein, Senor. Warum mieten Sie nicht gleich einen Jeep? Sonst müssen wir Sie doch nur her ausholen.“ „Vermieten Sie Jeeps?“ „Ich verkaufe welche. – Aber ab und zu gibt es bei vertrau enswürdigen Leuten Ausnahmen.“ Er forderte den BMW als Kaution samt der Papiere und dann noch zweitausend Mark extra. Dafür bekam Urban einen herabgewirtschafteten C-7, dreckverkrustet, aber offenbar noch nicht völlig am Ende. Urban ließ noch zwei Kanister füllen, kaufte eine Korbfla sche Wein, Mineralwasser, Brot, Wurst, Käse, ein paar Dosen Fruchtkonserven. Als er startete, warf der Tankstellenbesitzer ihm einen Satz Ketten in den Jeep. „Wird Schnee geben, da oben. Geht schnell bei solcher Wetterlage. Können Sie damit umgehen?“ „Ich hoffe.“ Urban fuhr los. Der Asphalt war bald zu Ende. Urban rollte über den Fluß, verließ die Straße und wuchtete den Jeep über glitschige We ge mit wassergefüllten Löchern auf den Hochwald zu. Er wußte, daß es verrückt war, hier eine Spur dieses Mannes finden zu wollen, und noch zehnmal verrückter war es zu hof fen, er könne ihn bald finden. – Aber im Augenblick hatte er keine andere Wahl Mit dem BMW hätte er schon zehn Meilen vorher aufgeben müssen. – Nach einer Stunde Fahrt kam es, wie der Patron im Tal vorhergesagt hatte. Der dichte Regen ging in nassen, labb rigen Schnee über. Es gab keinen Weg mehr. Urban fuhr quer durchs Gelände und mußte im zweiten Gang bleiben. Er kam an Bäche mit steilen Ufern und fuhr an ihnen 53
entlang. Brücken gab es keine. Wenn die Bäche abbogen, nach Norden oder Süden, quälte er den Jeep durch das kiesige Bachbett und wieder auf Westrichtung. Dann weitete sich die felsige graue Schlucht zu einem Tal, als würde sich eine Mauer öffnen. Ein Tal mit Ahnen. Hier konnte sogar Milchwirtschaft be trieben werden. Es gab Weiden, kilometerlang, und genug Quellwasser. Doch jetzt war alles matschig, naß und neblig. Der Schnee verdichtete mitunter den Nebel zu einem wehen den Vorhang. Die Scheibenwischer stellten ihre Arbeit ein. Urban kippte kurzerhand die Scheibe ab. Später stieß er auf die Reste von Gehöften. Alles war leer, verfallen, heruntergekommen. Die Spur eines Mulis kreuzte seinen Weg. Zweifellos war hier ein Huftier durchgekommen. Er folgte der Spur bis zu einer Felswand aus Granit. Von da ab ging es nur noch für Gemsen weiter. Es war Nacht geworden. Urban kam auch mit Allrad und Ge ländereifen in der grundlosen Schmiere kaum noch vo rwärts. Trotz der Scheinwerfer sah er kaum fünf Meter weit. – Er mußte warten, bis der Schneesturm nachließ. Das mochte dauern. Mindestens bis zum Morgen. Er richtete sich darauf ein, die Nacht im Freien zu verbrin gen. Aber wenn schon, dann so geschützt wie möglich. Also fuhr er weiter. Jetzt wurde auch noch die Batterie schwach. Die Lampen runzelten nur noch gelb. Bevor die Batterie so leer war, daß sie keinen Zündstrom mehr lieferte, brachte er den Jeep in den Schutz hoher Tannen. Er zog eine Plane über seinen Kopf, steckte sich eine MC an und nahm ein paar Schlucke Bourbon. Dann war die Flasche leer. Hinten hatte er in der Gemüsestei ge Cognac. Leider nur spanischen. Der kam zu allerletzt dran. Es wurde kalt. Die Kälte kroch von allen Seiten heran. Er stieg aus, lief ein Stück, um sich aufzuwärmen, und hörte plötzlich einen Wasserfall rauschen. 54
Urban ging an dem gurgelnden Bach entlang. Da war wirklich ein Pfad, und der führte über eine Brücke, so schmal, daß nur ein Waldläufer sie benutzen konnten. Urban kehrte zum Jeep zurück, kaute lustlos ein paar Schei ben Wurst, Käse und Brot. Immerzu blitzte es, die Donner krachten. Einmal besonders stark. – Plötzlich hörte der Bach auf zu rauschen. Das gibt’s nicht, dachte er, und machte sich auf den Weg, um nachzusehen. Er glitt aus, fing sich an einem Haselstrauch, riß sich die Hand an Dornen auf. Fluchend stieg er weiter. Der Bach führte kaum noch Wasser. Einen Kilometer weiter oben erkannte er den Grund. Eine Mure war abgegangen. Geröll, Erdreich mit Bäumen, ein ganzes Stück des linken Ufers lag im Bach und staute ihn auf. – Das war der Grund, warum es so ruhig geworden war. Wenn der Stau plötzlich nachgab, riß er unten die Brücke weg. Urban steckte sich eine MC an. Er drehte sich gegen den Wind und sah plötzlich Licht. Es kam vom anderen Ufer, von hoch oben. Er verzichtete auf die Zigarette. Sein Jägerinstinkt sagte ihm: Auf der Pirsch raucht keiner. Er überquerte den Bach auf der Erdlawine und kletterte steil hinauf, durch Wald und Morast. An einer Geröllhalde kam er heraus. – Hier lag der Schnee schon fußhoch. Das Licht wurde deutlicher. Aber er hatte die Entfernung un terschätzt. Distanz noch mindestens dreihundert Meter. Uhrzeit 22.55 Uhr. Es war stockfinster. Urban trieb sich unerbittlich vorwärts. Wer konnte da oben Licht gemacht haben? Ein Mensch in einem Haus. Vielleicht ein Jagdaufseher. – Aber von einem Jagdaufseher hatte der Tankwart nicht gesprochen. Es war kurz vor Mitternacht, als die Grundmauern des Berg hauses vor Urban aufragten. Irgendwo sprudelte eine Quelle. Urban tastete sich an das Haus heran. Die Mauern waren ein 55
wenig wärmer als die Umwelt. Es schien ihm, als käme der Rauch von Kiefernzapfen aus dem Schornstein. Das Licht war eine Lampe, die hinter dem Fenster auf der Mauer stand. – Mehr konnte Urban nicht erkennen. Er klopfte an, rief mehrmals „Hallo!“ – Nichts. „Kann man reinkommen?“ Wieder keine Antwort. Also drückte er das schwere, krumme Ding von Tür auf. Im Gang war es dunkel. Urban tastete sich hinein bis zu ei nem Vorhang. Den zog er beiseite. Der Raum war nur unzureichend vom Feuer und der Petro leumlampe am Fenster erhellt. Alles wirkte massiv hier. Die Decke, der Kamin, der Tisch, der Stuhl, das Bett weiter hinten und der rohe Sessel, in dem ein Mann saß und schlief. Zumindest hatte er die Augen geschlossen. Urban sah nur wenig von seinem Profil. Nur die mächtige, erst gebogene, dann herabhängende Nase fiel ihm auf – und der kleine Brillant im rechten Ohrläppchen. 8. Den Pharao von Ägypten peinigten schwere Träume. Er träumte immer wieder von sieben mageren und sieben fet ten Kühen. Keiner seiner Gelehrten war in der Lage, den Traum zu deuten. Da erinnerte sich sein Mundschenk des Mannes namens Josef im Gefängnis. Er erzählte dem Pha rao von ihm und der König ließ den Galiläer kommen. „Ich bin es“, sagte der eckige Waldläufer in dem grob ge zimmerten Sessel. „Ich weiß.“ „Und ich habe Sie erwartet.“ „Wenn Sie der sind, den ich suche, müssen Sie mich erwar tet haben“, sagte Urban. Er stand noch an der gleichen Stelle beim Rupfenvorhang aus zusammengeflickten Säcken. „Dann sahen Sie das Licht im Fenster.“ 56
„Zuviel Freundlichkeit einem Mann gegenüber, der nichts weiter will, als Sie beseitigen“, erklärte Urban offen. Zum erstenmal kam Bewegung in den Mann. Er lachte mit hektischen Stößen seines Oberkörpers. „Sie sollen mich finden, mitnehmen oder töten.“ „Man erwartet das von mir.“ „Aber Sie tun es nicht. Ich weiß, wer Sie sind. Ich kenne Ih ren Namen und Ihren Rang. Ich weiß es, und es ist mein Kreuz, daß ich alles weiß.“ Der Alte deutete auf einen Hocker. Doch Urban blieb lieber stehen. Der Mann saß zu nahe an seinem Gewehr, das am Ka min lehnte. Und Urban wußte nicht, wie es weitergehen würde. „Die Waffe ist nicht geladen“, sagte der Mann, als könne er Gedanken lesen. „Wie darf ich Sie ansprechen, Senor?“ „Yossy, Jose, Josef, wie Sie wollen.“ Urban steckte sich eine MC an, aber sie brannte nicht, denn sie war naß. „Ich bin ein Hellseher, denkt man“, fuhr Josef der Hirte fort. „Nun, nach dem, was man in all den Jahren über Sie zusam mentrug, können Ihre besonderen Fähigkeiten, an falscher Stelle für falsche Mächte eingesetzt, zu einer großen Gefahr werden, Senor.“ „Ich bin mir selbst eine Gefahr“, sagte der Mann. „Deshalb erlegte ich mir auf, hier zu leben. Aber manchmal, wenn die Zeiten kritisch werden, dann begebe ich mich hinaus in die Welt, um die Menschen zu warnen.“ „Die Zeiten sind immer kritisch“, sagte Urban, „so kritisch wie Uran-235 in einer Atombombe. „Sie verlagern das Problem damit ins Chaos“, sagte der Al te. „Aber bleiben wir beim Thema. Mich zu töten, was Sie angeblich nicht vorhaben, ist ohnehin unnötig. Ich bin schon lange tot.“ „Offensichtlich sogar sehr“, bemerkte Urban höhnisch. 57
„Ich starb“, fuhr der Mann mit leisem Stöhnen fort, „vor ungefähr dreitausendsiebenhundert Jahren am Mittleren Nil. Mein Grab liegt in Memphis, der damaligen Hauptstadt des Reiches von König Pharao. – Ich war dort, suchte es und fand das Grab nicht. Ich fand nur die Stille. Und dann stieg ich noch einmal in dieses Grab. Für kurze Zeit, angesichts der Milliar den Jahre, seitdem die Welt existiert.“ „Und wer liegt wirklich im Grab in Memphis?“ fragte Ur ban. „Ich“, bekundete der Alte, „Meine Väter, meine Ahnen. Sie gehen zurück bis Abraham, der für sich und die Menschen den Gott Jehova erschuf.“ Das sagte manches, aber auch nichts. – Was war dieser Mann? Ein Hellseher, ein Zauberer? Urban hatte eine Frage. Damit versuchte er konkret zu we r den. „Pierre Ponard starb bei einem Autounfall vor drei Tagen.“ „Vor vier Tagen“, verbesserte ihn der Mann mit der tiefhän genden Nase. „Ich sagte es ihm voraus, aber er glaubte mir nicht. Nur Wegen einer offensichtlichen Fehldiagnose, die nicht meine Schuld war. Ich hoffte, Ponard sei ein geeignetes Sprachrohr für meine Botschaften an die Welt… aber leider ging er damit um, wie Adam und Eva im Paradies mit der Keuschheit.“ „Was“, fragte Urban, „teilten Sie ihm mit?“ Der Alte fixierte ihn mit seinen eckigen Augen. „Das, was er vor der Strategiekommission aussagen sollte.“ „Eine Warnung?“ „Fanden Sie keine Hinweise in Ponards Computer? Sie ha ben ihn doch angezapft. Es steckte im Computer. Aber man hat Sie daran gehindert, es auszuwerten. Und nun hat man den Speicher zerstört.“ „Wer sind die Leute, die es verhindern wollten?“ „Dieselben, die Ponard töteten. Es war kein Unfall, es war Mord.“ „Und wovor sollte Ponard die Strategiekommisäon war 58
nen?“ Der Alte wiegte jedes Wort ab. „Vor einem Desaster in Nahost, das nicht nur bei den Israe lis große Furcht sät. Es richtete sich gegen die Palästinenser, gegen ganz Arabien und kann zu einem Krieg führen.“ „Sehen Sie einen Krieg kommen, Jose?“ fragte Urban. „Noch nicht. Das hängt von gewissen Entwicklungen ab, von vielen anderen Dingen. Nicht zuletzt auch von Ihnen, Oberst Urban.“ Seine hellen Augen ließen Urban nicht mehr los. Dann sagte er sphinxhaft: „Wer kann schon in die Zukunft sehen.“ „Sie können es, Jose.“ „Wir wollen nicht übertreiben, mein Sohn.“ „Es war nur eine Schlußfolgerung.“ Der Alte nickte. „Ihre Schlußfolgerung ist richtig. Ich kann Ihnen viel mehr sagen, aber ich will nicht. Es gibt Dinge, mit denen muß der Mensch allein fertig werden. Ich bin nicht Gott.“ „Gibt es Gott?“ fragte Urban. „Nein“, sagte der Alte, „und ja.“ Der Alte bot Urban Brot und Wein an. Urban lehnte es ebenso ab wie den Hocker. Der Alte sagte dann: „Ich mag Sie, Sie denken gradlinig, und Ihr Denken ist ohne Arg.“ „Sie meinen im Sinne von fair.“ „Aber Sie gehen einen schweren Gang, Colonel. Man wird Sie vor Aufgaben stellen, die für einen Mann nahezu unerfüll bar sind. Ich bedauere Sie.“ „Dann helfen Sie mir doch, Don Jose.“ Der Alte erhob sich jetzt zu voller Länge und warf Aste ins Feuer. Es knisterte. Funken sprühten auf. Er war größer als Urban. So, wie man sich einen wandernden Propheten vorstellte: asketisch, fanatisch. 59
„Wenn die Not am größten“, scherzte er, „ist Jose am näch sten.“ „Welches Problem wird auf mich zukommen, Don Jose?“ „Der Kern des Problems.“ „Welches Problems?“ „Das in diesen Stunden zehntausend Meilen von hier tief in der Erde von Texas entsteht.“ „Und wie bewältige ich es?“ „Das weiß ich noch nicht. Ich sehe es nur kommen.“ „Wenn Sie es wissen“, fragte Urban, „kann ich mich wieder an Sie wenden, Don Jose Pastor?“ Der Alte zögerte, stocherte mit einem eisernen Stock im Feuer und sagte dann: „Wenn es nicht anders geht, dann schon.“ „Und wie finde ich Sie?“ Nun lächelte Jose. „Sie finden mich nicht, ich finde Sie. Denken Sie nur inten siv an Jose, den alten Mann in den spanischen Pireneos.“ Er brachte Urban zur Tür. „Sie werden jetzt gehen, mein Freund.“ „Ich, muß.“ „Sie werden nach Brüssel fahren und dort Bericht erstat ten.“ „Das habe ich vor.“ „Und Sie werden Beweise vorlegen müssen“, ergänzte der Alte. „Sie haben doch einen Fotoapparat dabei.“ Urban holte die Kamera unter dem Parker aus einer Innenta sche. Es war eine Minox mit Blitzgerät. „Machen wir Fotos“, schlug der Alte vor, „und ich habe meine Ruhe.“ Urban wollte wissen, was damit gemeint sei. Der Alte stellte sich hin. „Zuerst, Colonel, Totalaufnahme, und dann das Gesicht im Profil.“ Urban drückte zweimal ab. 60
Sie gingen hinaus. Das Schneetreiben hatte aufgehört. Der Himmel war aufgerissen. Eine kalte mondhelle Nacht. Urban schoß ein Foto vor der Tür der Berghütte. „Ich laufe jetzt, so als würde ich fliehen“, rief der Alte. „Davon die nächste Aufnahme bitte.“ Urban blitzte wieder, auch die Spuren im Schnee wunden zu erkennen sein. Dann schlurfte der Alte vor ihm den Steilhang hinunter, bis zu der Stelle, wo der Hang in eine Schlucht abfiel. In der Tiefe rauschte es wieder, denn der Stau war gefüllt, und das Wasser flöß über ihn hinweg. Wenige Schritte vor der Steilkante hielt der Alte Urban zu rück. „Die letzte Aufnahme genau dann, wenn ich stürze.“ Urban blitzte einmal, dann setzte er die Minox ab. Don Jose balancierte jetzt, die rechte Hand an einem Tan nenzweig, mit einem Bein über die Schlucht. Es sah aus, als verlöre er das Gleichgewicht und stürze in die Tiefe. Urban knipste das letzte Bild. „Genug?“ „Bin zufrieden.“ Urban steckte die Minox weg. Im selben Moment ließ Don Jose los und war von einer Sekunde zur anderen verschwunden. Wie erstarrt stand Urban da und lauschte auf den Schrei und den Aufschlag im Bachbett. Doch es kam kein Schrei und kein Aufschlag. Er lehnte sich verwirrt gegen die Tanne. Ich werde echt wahnsinnig, dachte er. Er suchte nach etwas Hartem und schlug damit gegen die Stirn, bis es schmerzte. Da wußte er, daß er nicht geträumt hatte. 9. Josef, Jakobs Sohn, deutete den Traum des Pharao. – Die sieben fetten Kühe deutete er als sieben fruchtbare 61
Jahre und die sieben mageren Kühe als Jahre der Trocken heit und des Hungers. Also ließ Pharao Kornspeicher bau en, füllte sie mit Getreide, damit sein Volk nicht Hunger leide. Die Vorbereitungen zur Testzündung der israelischen Ko balt-Jod-Atombombe in der Wüste zwischen Texas und New Mexico/USA waren abgeschlossen. Die Uhren liefen. Es waren die einzigen Uhren der Welt, die zwar im Uhrzei gersinn, aber trotzdem rückwärts liefen. Sie hatten bei X mi nus 60 Minuten begonnen zu ticken. Bald standen sie bei X minus elf Minuten, also 660 Sekunden vor der Zündzeit. Der Testleiter, ein Diplom-Ingenieur und Colonel der USPioniere, wandte sich an die zwei Israelis: „Nicht nervös werden, Gentlemen.“ „Für uns ist das eine Novität, Sir.“ „Für uns nur Routine.“ „Für mich ist es“, sagte Dr. Sternstein, „als würde ich das erste Mal zu einer Frau geführt, um mit ihr einen Sohn zu zeugen.“ „Die Bombe ist Ihr Baby.“ „Mein ein und alles“, gestand der Wissenschaftler aus Israel. „Noch einmal möchte ich so unverdorben sein, um sagen zu können, eine Atombombe sei mein ein und alles“, erwiderte der Amerikaner. Die Uhr tickte und lief. „Jetzt sind Sie also verdorben?“ fragte Dr. Sternstein. „Ja, und trotzdem voller Zweifel.“ „Aber Sie tun, was man von Ihnen verlangt.“ „Pervers genug, um zu sagen, daß jeder Schritt auf das Ge lingen zu ein Schritt in die Ewigkeit bedeutet. Und die wird nicht so sein, wie uns in der Bibel beschrieben, sondern grau sam.“ „Es geht um das Wohlergehen meines Volkes“, betonte der Israeli. „Das Wohlergehen eines Volkes hat immer das Schlechter 62
gehen irgendeines anderen bedeutet“, philosophierte der Ar my-Offizier. „Noch sechshundert Sekunden.“ Um die Spannung, die immer vor solchen Tests bis zum Ber sten anstieg, zu neutralisieren, ließ der Colonel eine Platte auflegen. Swing-Klänge ertönten. Benny Goodman mit seiner Glanznummer When the Angels sing… – Wenn die Engel singen… Makaber oder nicht, es war lauter als das Ticken dieser ve r dammten computergesteuerten Uhr. Damals, als Benny Goodman diesen Song gespielt hatte, in dem sagenhaften Konzert in der New Yorker Carnegie Hall, hatten die Andrew Sisters den Text dazu geliefert. „When the Angels sing“, summte der Colonel mit. Der zweite Israeli, der von MOSSAD, flüsterte Dr. Stern stein zu: „Will er uns verarschen?“ „Ja“, sagte der Wissenschaftler. „Aber ich bin nie besser verarscht worden.“ Der Zeiger der Uhr wanderte auf X minus 280 Sekunden. Den US-Colonel interessierten weder die Probleme Israels noch die eines kalten oder heißen Krieges. Er war verantwort lich für den präzisen Ablauf des Testes. Die Zündung würde in minus 45 Sekunden stattfinden. Er dachte an die Kabelstränge, die tief in die Erde führten und an deren Ende dieses Stück konzentrierter Naturgewalt, das mehr Energie als eine Sturmflut, mehr Energie als ein Vulkanausbruch hatte, hing. Noch 30 Sekunden. Noch 20 Sekunden. Der Benny-Goodman-Schlager war zu Ende. Der letzte Takt hatte jene Stille ausgelöst, die nur schwer zu erklären war. Nicht einmal das Atmen der Dutzend Männer im Kontrollbun ker war noch zu vernehmen. Routine durchbrach die seltsame Ruhe. Wie immer wurden die zehn letzten Sekunden von dem Offizier, der gleichzeitig 63
mit der Automatik die Zündung per Knopfdruck auszulösen hatte, angesagt Er zählte herunter: „Neun… acht… sieben…“ Sie standen an den Scherenfernrohren bei den Bunkerschlit zen Gleich würde die Erde beben, sich aufbäumen und dann kegelförmig in einem weiten Rund zusammensinken. Wie ein Mann, der, zu Tode gequält, in sich zusammenfiel. „Sechs… fünf… vier…“ Noch ein paar Herzschläge und die Arbeit von Jahren mußte den Beweis ihrer Funktionsfähigkeit führen. „Drei… zwei… eins…“ „Ignition!“ rief der Colonel. „Zündung!“ Es war vielleicht der fünfzigste Atomtest in diesem Bereich der Vereinigten Staaten. Trotzdem hielt jeder Anwesende den Atem an. Manch einer mochte ein Stoßgebet gen Himmel senden. Angenommen, die berechnete Ladung an Uran-235 stimmte nicht, oder irgendein Relais, ein Schalter, ein Thermograph, eines der Kabel im Zündsystem arbeitete nicht – die Folgen waren unvorstellbar. Nach mehreren Sekunden totaler Stille rief der Testleiter noch einmal: „Ignition!“ „Ist gezündet, Sir.“ „Verdammt! Wo bleibt die Zündung?“ „Es ist gezündet, Sir“, wiederholte der Mann im Kontroll raum gelassen. „Nachzündung!“ kam es ruhig. Erneuter Knopfdruck. Kurze Pause. Die Männer wechselten Blicke. „Nachzündung ist erfolgt!“ Das Gelände vor dem Bunker blieb unverändert, so wie die ganze Zeit vorher. Kein Beben, kein Zittern der Luft, kein sich kräuselnder Staub, kein Absacken der Erde zu einer Mulde, so groß wie ein Sportstadion. 64
Nur die Sonne gleißte herunter. Im Bunker summte die Air-conditioning. Die rote Kontrollampe vor dem Colonel zeigte an, daß das Zündsignal in die Tiefe zu der israelischen Bombe gelaufen war. Aber sie reagierte nicht. Ein Telefon schrillte. Keiner hob ab. Es wunde gar nicht wahrgenommen. – Es schrillte wieder und verstummte end lich. Der Colonel machte einen letzten Versuch. „Nachzündung auf System Delta.“ Es blieb weiterhin ruhig wie in einer Kirche, wenn nach der Messe die Gläubigen gegangen waren. Der Uhrzeiger wanderte. Einer zählte mit. „X plus sechzig Sekunden!“ Bei X plus hundertachtzig Sekunden steckte der Colonel sich eine Zigarette an und wandte sich an den israelischen Wissenschaftler. „Negativ, Dr. Sternstein.“ „Was bedeutet das?“ fragte der Zivilist mit rauher Stimme. „Fehlzündung.“ Der Wissenschaftler blickte in die Runde und sah nur tod ernste Gesichter. Manche vielleicht mit einem Anflug von Schadenfreude. Dann stieß er heraus: „Das ist unmöglich!“ „Sehen Sie doch! Hören Sie doch… nichts!“ „Warum erfolgte keine Zündung?“ „Fragen Sie Ihre Bombe, Doktor.“ „Ich verbitte mir diese…“ setzte Dr. Sternstein an und sank stöhnend auf einen der Feldstühle. Als er sich wieder gefaßt hatte, murmelte er: „Ist das schon des öfteren passiert, Sir?“ Allgemeines Kopfschütteln war die Antwort. „Nein, noch nie. Noch nie in den sechsundvierzig Jahren, in 65
denen von den USA nukleare Sprengköpfe getestet werden.“ „Ja…“ Der Israeli rang die Hände mit den Bewegungen ei nes ertrinkenden Nichtschwimmers. „Und jetzt?“ „Das ist Ihr Problem. Ich warte auf Ihre Vorschläge, Dok tor“, sagte der Colonel. „Aber zuerst muß ich meine vorge setzte Dienststelle in Washington davon unterrichten.“ Er wollte sein Telefon abheben. Der Israeli sprang auf und legte seine Hand auf die Rechte des Colonels. „Nicht bevor wir alles, aber auch das Letzte versucht haben.“ „Was denn noch?“ „Eine Notzündung.“ „Wir haben es über Kreis Alpha bis Delta probiert. Es gibt keine Notzündungsmöglichkeiten mehr. Tut mir leid, Doktor Sternstein, ich habe meine Vorschriften. Ich muß das Penta gon unterrichten.“ „Kann eine Nachzündung als Folge einer Spätzündung…?“ „Wohl kaum. Aber möglich ist alles.“ „Nein, Sie telefonieren noch nicht“, vibrierte der Wissen schaftler aus Angst vor der tödlichen Blamage Der Colonel ließ die Hand von dem roten Telefon und sagte: „Gentlemen, ich war immer dagegen, mit einem neuen, vo r her nicht konventionell getesteten Sprengkopf Tiefentests durchzuführen. Warum, das können Sie sich vorstellen. Und nun behindern Sie mich nicht weiter bei meinen dienstlichen Obliegenheiten.“ Er ging hinaus. Vom Vorraum hörte man ihn mit Washington sprechen. Er meldete den Vorfall seinem Vorgesetzten. Ein Posten hinderte Dr. Sternstein daran, das Gespräch des Colonels zu stören. Als der Kommandeur des Testgeländes wieder in den Haupt raum des Bunkers trat und den Befehl erteilte, die Alarmstufe aufzuheben, war Sternstein blaß wie das Weiß der Bunker wand. „Warum waren Sie dagegen, diesen Test durchzuführen, Co lonel?“ 66
„Weniger den Test“, sagte der Colonel, „sondern den Test in dieser Form.“ „Nun, man wird den Fehler entdecken.“ „Wie denn, bitte?“ wollte der Colonel wissen. „Sie sind Pionieroffizier. Sie haben das Loch gegraben, die Bombe eingebracht und das Loch zugeschüttet. Sie können sie wieder herausholen.“ Der Colonel hatte die Top-secret-Unterlagen zusammenge faltet in die Mappe geschoben und gab nun seinem Adjutanten und seinem Fahrer einen Wink „Gehen wir!“ Der Israeli hielt ihn zurück. „Was nun?“ „Das erörtern wir später bei der Lagebesprechung.“ „Ja, aber, zum Teufel, es muß doch…“ „… eine Lösung geben, meinen Sie“, führte der Amerikaner den Satz zu Ende. „Zum Teufel, muß es leider nicht. Es gibt keinen Weg, jemals an die Bombe heranzukommen. Wir müß ten Tausende von Tonnen Gestein und Beton wegbaggern, herausbohren, sprengen. Die Gefahr, daß die Bombe dabei doch noch zündet, ist zu groß. Finden Sie sich damit ab, daß es keinen Weg gibt, an Ihr Baby heranzukommen, um ihm das Herz abzuhorchen und zu erkennen, was ihm fehlt. Vielleicht ist das in fünfzig Jahren einmal zu machen. Heute und morgen jedenfalls nicht.“ „Mein Gott, was melde ich jetzt in Tel Aviv?“ „Die Wahrheit.“ „Die kennen wir nicht.“ „Dann eben die Tatsachen, Doktor Sternstein.“ Wieder rief der Wissenschaftler seinen Gott an und machte dabei den Eindruck eines Mannes, der nahe daran war, Selbst mord zu begehen. Der Amerikaner half ihm nicht über seine Krise hinweg. „Das ist Ihre Angelegenheit, Doktor. Ich erledige jetzt die meine. Wir sehen uns später beim Schlußgespräch. Bis dahin liegt auch eine Stellungnahme meiner übergeordneten Dienst 67
stelle vor. Good-bye, Gentlemen!“ Er verließ den Bunker. Man hörte seinen Dienstwagen wegfahren. Das verschlüsselte Ferngespräch, das Dr. Sternstein mit dem Verteidigungsminister in Tel Aviv führte, war kurz und schmerzlich. Er meldete den Fehlschlag des Bombentestes und daß es aufgrund der Sachlage nicht möglich sei, den Feh ler festzustellen. „Was vermuten Sie, Doktor?“ fragte der stellvertretende Minister, der zugleich MOSSAD-Oberst war. „Eine Fehlkon struktion?“ Das wies Dr. Sternstein weit von sich. „Ausgeschlossen!“ „Sabotage?“ „Ich habe keine andere Erklärung.“ „Aber durch wen?“ Das war der Moment, wo der Wissenschaftler hoffte, die Verantwortung, zumindest aber einen Teil davon, auf andere abwälzen zu können. „Die Sicherheitsmaßnahmen in Dimona sind Sache von MOSSAD“, äußerte er. „Mal angenommen, wir kehren in der ganzen Fabrik das Un terste zuoberst auf der Suche nach einem Saboteur, und es war doch nur eine Panne.“ „Eine Panne scheidet aus“, beharrte Dr. Sternstein. „Können Sie das beweisen?“ „Noch kann ich es nicht beweisen, deshalb müssen wir den Umkehrschluß herbeiführen auf der Suche nach einem Sabo teur.“ Nach langem Hin und Her traf der stellvertretende Verteidi gungsminister seine Entscheidung. „Wir werden hier tun, was zu tun ist. Kommen Sie auf schnellstem Weg zurück, Doktor Sternstein.“ 10. 68
In Ägypten folgten sieben magere auf sieben fette Jahre. Da König Pharao auf Rat des Josef aus Galiläa vorgesorgt hatte, gerieten er und sein Volk nicht in Abhängigkeit ande rer reicher Völker. Kein einziger Ägypter mußte sich ver schulden, um Brot zu haben, oder sich in die Sklaverei ver kaufen, um nicht zu verhungern. Jene Gruppe der NATO-Strategiekommission, die aus An gehörigen der Geheimdienste bestand, hatte sich im Haupt quartier in Brüssel versammelt und lauschte dem Bericht des BND-Agenten Robert Urban. Zur Untermauerung seiner Darlegungen zeigte Urban eine Reihe von Fotos. Kaum war das erste Epidiaskopbild auf die Leinwand gewor fen worden, fragte der stets mißtrauische Holländer: „Sie hatten sogar einen Kameramann dabei?“ „Nur die Kamera“, erklärte Urban. „Die Kamera ersetzte also den Knüppel.“ Urban ging auf den Ton des Holländers ein. Anders war Iro nie nicht auszubalancieren als wieder mit Ironie. „Ein Knüppel mit eingebauter Kamera, mein lieber van Bee ren.“ „Können wir endlich zur Sache kommen!“ drängte der briti sche Brigadier. Der Norweger erhob Einspruch. „Nein. Ich schließe mich der Frage meines holländischen Kollegen an. Auch ich möchte wissen, wie es zu solchen Fotos kommen konnte.“ Urban pokerte. – Er löste seine Mauser 7,65 vom Magnethalfter, legte sie auf den mit grünem Filz bespannten Tisch. „Was ist das?“ „Eine Pistole.“ „Na und?“ „Es ist nicht, was Sie sehen, Gentlemen.“ „Sondern?“ Urban stellte eine Gegenfrage. 69
„Wie lange kennen Sie mich, Gentlemen?“ „Nun, Sie gehören diesem feinen Club schon einige Jähr chen an, Dynamit“, sagte der Italiener von SISMI, ein zuve r lässiger Freund. „Und welche meiner Eigenschaften hat man stets als die schlechteste gerügt?“ „Ihre Bauernschläue.“ „Daß Sie von kreativer Phantasie mehr halten als von einer Generalstabskarte.“ „Daß er lieber mit Steinen wirft, als einen Schuß abzufeu ern. Es sei denn auf eine Klapperschlange“, warf der Spanier ein. Urban deutete auf seine Waffe. „Bitte überprüfen Sie diese Mauser, Gentlemen.“ „Wozu? Eine Pistole ist eine Pistole.“ „Und wenn ich Ihnen nun sage, diese Pistole ist eine Agen tenkamera mit eingebautem Infrarot-Blitz?“ Der Holländer griff nach der Waffe, wog sie in der Hand und legte sie zu Urbans Erleichterung wieder zurück. – Der Bluff war gelungen. „Ich nehme Ihnen das ab, Oberst Urban.“ Urban klemmte die Mauser wieder an den Magneten und sagte: „Noch Fragen wegen der Fotos, Gentlemen?“ „Nächstes Bild“, bat der Amerikaner. Die Bilder kamen nun in schneller Folge. Sie zeigten einen Mann, erst eine Totalaufnahme, dann das Gesicht im Profil, der Mann an der Tür einer Berghütte, draußen im Schnee, an einer Felskante, von der es senkrecht in die Tiefe ging. Zum Schluß kam ein Bild, wo er sich, halb über der Steilkante hän gend, mühsam an einem Tannenzweig festhielt. Das Licht wurde eingeschaltet. „Und Sie sind sicher, daß es der gesuchte Mann auch war?“ „Er sagte, er sei Joseph, der Hirte. Gestorben in Memphis vor dreitausendsiebenhundert Jahren. Nun sei er auferstanden von den Toten. Erbe, Nachkomme oder Inkarnation von Jo 70
seph, dem Seher, Jakobs Sohn.“ „Ziemlich fabelhafter Unsinn“, kommentierte der Belgier. „Absolut“, gab Urban ihm recht. „Nur eines verblüffte mich. Nämlich sein Wissen. Er wußte, daß ich komme, kannte mei nen Auftrag, ihn mitzunehmen oder ihn zu töten.“ „Was Sie in keiner Weise zufriedenstellend erledigten“, bemerkte der Spanier, hart und brutal wie alle Spanier, wenn es sich um finale Lösungen handelte. „Er kam mir zuvor“, erklärte Urban. „Durch Selbstmord, meinen Sie.“ „Oder durch Flucht“, bemerkte der Norweger. „Durch eine klug vorbereitete Flucht, vielleicht.“ „Die Schlucht ist“, wandte Urban ein, „an dieser Stelle meh rere hundert Meter tief.“ „Und wenn er Sie nun doch austrickste?“ „Zugegeben, es war dunkel, und er war von einer Sekunde zur anderen verschwunden. Ich hörte keinen Schrei und keinen Aufschlag in der Tiefe. Aber es gab keinen anderen Weg, als senkrecht hinab.“ „Ein Beweis ist das nicht. Oder fanden Sie seine Leiche?“ „Ich suchte den Fluß ab.“ „Keine Leiche.“ Urban nahm aus einer Obsttüte einen Gegenstand. Er legte ihn auf den Tisch. „Ein Schuh“, stellte der Grieche fest. „Ein Tennisschuh. Es fehlt nicht viel, und der große Zeh hätte sich durch das Segel tuch gebohrt. Läuft man mit so was im Gebirge herum?“ „Mit so was läuft man heutzutage zum Nordpol und durch die Sahara“, sagte einer der Anwesenden. „Und wer garantiert uns, daß es nicht ein Tennisschuh ist, der zufällig ins Bachbett geriet?“ Urban reagierte wieder mit Ironie. „Niemand“, sagte er. „Der Schuh ist noch zugebunden. Wie kam er also über den Fuß? Hat sich der Bursche etwa dematerialisiert?“ 71
Es ging hin und her. Dann bat der Belgier, der in Brüssel den Vorsitz führte, man möge doch zum Thema zurückkommen. „Was“, fragte er, „haben Sie aus diesem Monstrum heraus geholt, Urban?“ Doch erst einmal wurde Tee und Kaffee gereicht. Als Urban fortfuhr, war der Raum voll von Zigaretten-, Zigar ren- und Pfeifenqualm. „Der Mann in den spanischen Pyrenäen, den wir für den großen Wahrsager halten müssen, denn wir haben keinen bes seren, deutete an, daß zu dieser Stunde, also um Mitternacht vor zwei Tagen europäischer Sommerzeit, ein Ereignis einge treten sei oder unmittelbar vor der Tür stehe, das enorme Spannungen auslösen könne.“ „Wo?“ „Er deutete nach Nahost.“ „Israel.“ „Israel und das ganze Gebiet dort.“ „Es fängt immer mit den Palästinensern an und hört mit den Israelis auf, bemerkte der Türke bissig. „Israel“, sagte Urban abermals. Nun erhob das amerikani sche Kommissionsmitglied die Rechte und bat um Gehör. „Gentlemen“, erklärte er. „Es wird sich doch nicht geheimhal ten lassen. Zumindest nicht in unseren Kreisen. Die Zeichen für Spannungen besonderer Art sind in der Tat gesetzt wo rden, und zwar vorgestern in Texas.“ Er legte eine Pause ein, bis er sicher war, daß sich alle Au gen auf ihn richteten. Auch die seines irischen Kollegen. „Im Atombomben-Testgelände Texas-New Mexico“, fuhr der General fort und wurde sofort unterbrochen. „Das beweist doch, was wir schon immer vermuteten.“ „Was, bitte, vermuten Sie?“ „Die USA setzen ihre Bombentests munter fort.“ „Nur die unterirdischen“, schränkte der General ein. „Dachte, die Testserie sei endlich ausgelaufen.“ 72
Dem General kam es schwer von den Lippen. „Wir reden nicht von unseren eigenen Bomben, Gentle men.“ Der General brauchte nicht weiterzureden. Jeder am Tisch ahnte, welche Bombe die Amerikaner im Zuge des Waffenhilfeabkommens mit Israel erprobten. „Okay“, faßte der eher lockere Belgier zusammen. „Sie leg ten also eine israelische At ombombe in ein tiefes Loch in Texas und ließen sie hochgehen. Das müssen die USA allein verantworten. – Aber wie kommt es, daß keine der weltweiten Meßstationen Erdwellen und Erschütterungen registrierten?“ Der Amerikaner spielte mit seiner Kaffeetasse, indem er mit dem Finger um den Rand strich. Dann endlich rückte er mit der Antwort heraus. „Weil keine Explosion stattfand, Gentlemen.“ „Und warum nicht, wenn Sie es doch vorhatten?“ „Daran wird noch geknobelt. Fehlkonstruktion, Fehlzün dung, technische Panne, Sabotage, weiß der Teufel.“ „Sabotage? Wo? Bei Ihnen in Texas oder schon in Israel?“ „Das herauszufinden ist Sache des MOSSAD. Die werden schon einen Schuldigen finden.“ „Und die Bombe?“ „Ist mit der heutigen Technik nicht wieder zu erreichen.“ Jeder konnte sich vorstellen, was das bedeutete. Die Israelis hatten eine neue A-Bombe gebaut, und sie funk tionierte nicht. – Sie würden nun die halbe Welt der Sabotage beschuldigen, nur nicht sich selbst. Denn technische Mängel waren nicht mehr feststellbar. Sie würden all die alten und neuen Feinde Israels beschuldigen. Die Araber, die Palästi nenser, die PLO, die Russen, die Syrer, die Deutschen. – Nur ein Funke, und es kam vielleicht zum großen Big Bang. Dem Italiener schauderte bei dem Gedanken an mögliche Entwicklungen. „Und das deutete der Unbekannte an?“ wandte er sich an seinen deutschen Kollegen. Urban nickte. 73
„Wie konnte er davon wissen?“ „Einfache Rechnung“, erklärte der Holländer. „Wer hatte die A-Bombe, hat sie aber noch nie getestet?“ „Er sprach auch vo n einer drohenden Wirtschaftskrise“, er innerte Urban. „Das hat er in einer Wirtschaftsausgabe der Times gelesen“, spottete der Engländer. „Was prophezeite er für Holland?“ fragte der Major vom Veiligkeit-Bureau in Amsterdam. „Der Edamer bleibt weiterhin rot und rund“, gab Urban zum besten. „Muß ich da lachen?“ „Keiner zwingt Sie, van Beeren.“ Der Vorsitzende ließ nun Diskussionen zu, bat aber um Ernsthaftigkeit. Als keine neuen Erkenntnisse mehr zu erwar ten waren, beantragte er, den Bericht des BND-Agenten Ro bert Urban zur Kenntnis zu nehmen, aber nicht objektiv als wichtig zu bewerten. Er halte diese ganze Joseph-vonÄgypten-Story für faulen Zauber. „Ich ebenso“, sagte Urban und packte seine Unterlagen zu sammen. Es war zu spät, um heute noch nach München zurückzufahren. Urban sparte sich den Tausend-Kilometer-Trip für den näch sten Tag auf. Das Hotelzimmer hatte er schon reservieren lassen. Er fuhr, vom Süden Brüssels kommend, durch die Stadt zum alten Prachtbau des Grand Royal und stellte den TrommelfeuerBMW, der noch mit dem Dreck der Pyrenäen behaftet war, in die Tiefgarage. Als geborener Franke, deren Auffassung von Hygiene sich unter anderem bis in die USA übertragen hatte, als ordentli cher Mensch mithin, parkte er das Coupé mit Schaudern zwi schen den lack- und chromblitzenden Luxuskarossen. Er fand es so widerlich, als würde man einen Haufen Hunde scheiße auf einer Sachertorte servieren. 74
Dann packte er seine Reisetasche, holte aus dem Hand schuhfach noch eine blaugoldene MC-Schachtel und schlen derte um die Betonsäulen herum zum Lift. Da sah er etwas im Augenwinkel, das er weniger erwartet hatte als Jazzmusik aus einer Barockorgel. Zwischen einem Rolls-Royce mit CD-Nummer und einem sechs Meter langen Ami-Schlitten stand elegant, geduckt, weil im Fahrgestell tiefer gelegt, aggressiv wie eine Katze, ein schwarzer Mercedes, Typ 190, mit Wiener Kennzeichen. In Genf ging es los, dachte Urban, hier geht es weiter. Er schwang die Reisetasche am Henkel über die Schulter, fuhr hinauf zur Halle, trug sich an der Rezeption ein und be kam seinen Schlüssel mit der Schnapszahl 333. Am Lift reich te er dem Boy sein Gepäck, damit der Junge das Gefühl hatte, sich die zehn Francs auch verdient zu haben. Der Lift glitt hinauf. Sie gingen den Gang entlang. Der Junge sperrte bei 333 auf, trug die Tasche hinein und bekam sein Bakschisch. Urban bemerkte es sofort. Der Duft war nicht hotelmäßig, und das Klima irgendwie gestört. Er öffnete die Tür zum Schlafzimmer. Dort lag sie. Aber sie sah nicht wie in Genf aus, sondern war bis zu den Haarwurzeln erblondet. „Anders gefielst du mir besser“, stellte er fest. „Ich dachte, probier’s mal auf gesamtdeutsch.“ „Immer diese primitiven Grundansichten.“ „Die mit der Gnade der späten Geburt sind jetzt cool international. Aber deutsch bleibt wohl deutsch.“ „Hör zu, Esher Natan“, sagte Urban. „Du hast dich mossad mäßig eingeschlichen, also bist du ein MOSSAD-Weib. Ent weder wir vertragen uns, oder ich versohle dir deinen kleinen knackigen Sabre-Arsch.“ Sie wußte keine Antwort darauf. „Denk nach“, riet er ihr. Das Wort Sabre, das alle in Israel Geborenen bezeichnete, 75
war ihm gerade so eingefallen. So was von durchtrieben, dachte er und wollte erst einmal duschen. Er kleidete sich aus, stellte die Brause an, regelte die Te m peratur, stieg in die Duschtasse und seifte sich ein. Am Luftzug – die Glaswände der Duschkabine klapperten in den Führungen – nahm er wahr, daß die Tür zum Badezimmer aufgegangen war. Im Gegenlicht der Lampe sah er, wie Esher sich entkleidete und ohne Zögern zu ihm unter die Dusche trat. Sie war nackter als nackt. Außer der am Kopf hatte sie keine Behaarung. Sie nahm ihm die Seife aus der Hand und begann sich damit einzuschäumen. Sie lachte. „Alles aus erster Hand.“ Dabei kam sie ihm vor wie ein Gebrauchtwagenhändler, der eine abgeflickte Schrottkarre als Neuwagen anbot. Und nun der Hammer. – Mit der Seife als Vorwand massier te sie seinen Körper, auch die Narben seines kurzen, aber harten Kriegerlebens. Sie faßte ihm von hinten tief in die Spal te zwischen die Schenkeln, und am Ende seifte sie auch seinen Pimmel ein. Als das Ding seine natürliche Reaktion an den Tag legte und sich deutlich hervortat, schien sie zu erschrecken – oder war es ein Schrei des Entzückens? „Der Feind“, rief Urban über das Rauschen der Dusche hin weg, „klopft vorher immer erst ans Tor.“ „Ich suche nur Hilfe.“ „Bei mir findest du sie nicht.“ „Oder doch.“ „Was für eine Art Hilfe?“ „Erst mal raus hier.“ Er kannte das Verfahren. Man ging miteinander ins Bett und schwor sich Vertrauen. – Nicht mit ihm. Jede Idee hatte einen Urvater und eine Urmutter. Und ihre Idee war es, ihn auszuhorchen. Das war ihre Urmutteridee. Darauf hatte man sie gedrillt. 76
Sie öffnete die Duschkabine. Der Dampf zog ab. Er konnte sie zum erstenmal genauer sehen. Eine Agentin, gehobener Standard, Mitte Zwanzig, dunkler Teint, dunkle Augen. Ein wenig zu schlank, mit straffen Brüsten, spitz wie Dolche. Das blonde Haar hatte sie aufgesteckt. Wie sie sich auch verunstal tete, es tat ihrer Schönheit keinen Abbruch. – Und ihrem Na turtalent, einen Mann scharf zu machen, schon gar nicht. Sie hatte ein ovales Gesicht, hohe Backenknochen, ein run des Kinn. Aber auch jenen Blick, der den Gegner von hinten fertigmachte. – Das waren die Gefährlichsten. Sie ließ ihn nicht los. Sie drückte sich an ihn und wollte ihn in sich zwingen. „Stopp mal!“ sagte Urban. „Verlaß dich drauf, in dieser Sportart werde ich dich besie gen, Dynamit.“ Er zog sich zurück. „Niemand kann über einen anderen siegen.“ „Nur eine Frau über einen Mann.“ „Es gibt nur einen Sieger“, sagte er, „den Tod.“ Dann drehte er die Dusche ab. Es kam, wie es kommen mußte. Sie hatten gevögelt, als ginge es um die Endausscheidung zur Olympiateilnahme. Und dann lagen sie etwas down nebenein ander. Jeder wartete auf den anderen. Urban war es recht so. Er würde gern preisgeben, was er wußte, und für sich behalten, was er nicht wußte. Die Frage war nur, wer anfing. Taktisch klüger war es, dem anderen ein Stück Schokolade hinzuwerfen. Nahm er es an, war das schon die halbe Verfüh rung. „Dieser Typ in den Pyrenäen ist so griffig wie Nebelschwa den“, begann Urban. „Du fandest ihn also.“ „Nein, er fand mich.“ „Ist das ein Zeichen seiner Qualifikation?“ 77
„Wofür, bitte?“ „Für seine Vorhersagen, meine ich.“ „Immerhin“, nun warf Urban die Praline hin, „kündete er eu re texanische Panne an, ohne davon wissen zu können.“ Sie tat entsetzt. „Was für eine Panne soll das gewesen sein?“ „Esher Natan.“ Er seufzte gekünstelt. „Du hältst mich wohl für bescheuert. Inzwischen ist es doch Tagesgespräch unter den Geheimdiensten, daß eure Mini-Kobalt-Jod-Bombe in Texas weiter den Schlaf der Gerechten schläft.“ „Ich wurde zur Geheimhaltung vergattert“, antwortete sie. „Ich entgattere dich hiermit“, sagte er. „Was werdet ihr unternehmen, um diesen immensen Rückschlag auszubügeln?“ Er dachte, er hätte sie damit. Und er irrte sich nicht. Offenbar erleichterte es sie, darüber mit einem kompeten ten Kollegen zu reden. „In Dimona sind siebzehntausend Mann beschäftigt“ „In eurer Atombombenfabrik.“ „Es vergeht kostbare Zeit, um sie alle zu überprüfen und sie erneut zu durchleuchten.“ „Der MOSSAD hat Übung darin, schätze ich.“ „Die Bombe“, sagte Esher, „war unsere Hauptwaffe gegen einen zweiten Holocaust.“ „Aber sie hätte den Holocaust eines anderen Volkes ausge löst.“ „Eines Angreifers. Wir setzen sie nur ein, wenn wir ange griffen wenden. Das ist der Unterschied zu der Hitlerzeit. Kein Jude versuchte je, das Dritte Reich zu besiegen oder zu vernichten.“ „Man hat eben Angst vor dem Genie eurer Rasse“, wandte Urban zynisch ein. „Was hat der große Guru, der angeblich schon einmal in Memphis starb, dir noch erzählt, Dynamit?“ Urban war wie elektrisiert. Woher wußte sie, was in der Strategiekommission besprochen worden war. „Wie kommst du auf Memphis?“ 78
Sie lachte. „Wir haben überall unsere Ohren.“ Von der Strategiekommission mußte sie jemand sehr schnell informiert haben. Urban überging es. „Nichts“, sagte er, „hat er mir erzählt.“ „Was nichts?“ „Yossy, Jose oder Josef hat mir keine Sabotagegruppe, kei nen Terroristennamen, keine Gründe für das Versagen der Bombe genannt. Er warnte nur vor einer Katastrophe.“ Das schien sie auf irgendeine Weise zu beruhigen. Er spür te, wie sich die Muskelstränge ihres dicht bei ihm liegenden Körpers entspannten. Immer gab es Muskelreaktionen, die man nicht beherrschte. „Er erwähnte wirklich keine Gruppe, keine Organisation, nannte keinen Namen?“ „Ich sag’s doch.“ Schwörst du?“ „Notfalls dm heiligen Meineid.“ „Idiot.“ „Bedaure, ich kann dir nicht helfen. Mit diesem Problem müßt ihr selbst fertig werden. Aber tut uns bitte den Gefallen und zieht uns da nicht hinein.“ Sie redeten noch lange. Unwichtiges, aber auch brisantes Zeug. Das brisanteste war oft in Nebensächlichkeiten ve r packt. Diese Esher Natan war eine Klasseagentin. Er hatte es ge wußt. Ein Bett war aber auch wie ein neutraler Ort, an dem sich Agenten zu einem neutralen Gespräch trafen, trotz aller Sinnlichkeit und Wollust. Urban gewann den Eindruck, daß er noch nicht in dem Zu stand war, wie sie ihn gern hätte. Sie glaubte, er verheimliche ihr einiges. Also fing sie wieder von vorne an. – Alles aus erster Hand, bis zum Geht-nicht-mehr. – Aber hier hatte sie wohl ihre Energie überschätzt. 79
Urbans Schlaf dauerte kürzer als der ihre, denn er hatte ihn nur vorgetäuscht. Er löste sich von ihr, stand auf, kleidete sich an und warf die paar Sachen in seine Reisetasche. Good-bye, du raffinierter Darling, dachte er und wechselte das Quartier. Er fuhr noch ungefähr zweihundert Kilometer. Das war mehr als genug. – Das Referat bei der S-Kommission, der Ring kampf mit Captain Natan, die Fahrt durch die Nacht bei Regen und Kopfschmerzen, alles mehr als genug. Er gab dem Auto, was es brauchte, achtzig Liter Super und einen halben Liter Öl. Und dem Menschen Urban gab er, was des Menschen ist, zwei runde weiße Kapseln mit der Götterspeise, genannt Thomapy rin. Spät mietete er sich in einem kleinen Hotel nahe Köln ein und rief im BND-Hauptquartier in Pullach bei München an.
11. Zum Dank dafür, daß das ägyptische Volk während der Hungerjahre keine Not gelitten hatte und nicht in die Knechtschaft von Wucherern geraten war, ernannte König Pharao Josef zum Erhalter des Lebens. Verbunden damit war das Amt des Großwesirs. Im israelischen Atomforschungszentrum Dimona ging es zu, als wären die letzten Tage des jüdischen Volkes angebrochen. Alle mit der M/K-90-Bombe befaßten Angestellten und Ar beiter wurden trotz längst erfolgter Überprüfung noch einmal durchleuchtet. Ebenso alle Zulieferer. Das Verfahren leitete Oberst Eickelbaum von MOSSAD. Sein Problem bestand darin, keine noch so feine Spur zu übersehen, vorhandene aber auch nicht erkalten zu lassen. „Ich hasse das“, sagte er, „was man jüdische Hast nennt, aber wir stehen verdammt unter Druck.“ Bei den Nachforschungen über die Ursachen der Panne, nach Sabotagen also, konnte er sich auf ein bewährtes Team 80
von einem Dutzend Verhörexperten stützen. Täglich einmal trafen die Spezialisten zusammen. „Und wenn wir die Suppe noch so eindicken“, sagte Eickel baums Stellvertreter, ein Major, „es bleibt immer ein Kübel voll übrig. Bis wir an seinem Grund angekommen sind, müs sen wir tüchtig löffeln.“ „Wie viele Löffel voll sind es?“ fragte der Colonel. „Etwa zehn Prozent der hier Beschäftigten hatten irgendwie mit dem M/K-neunzig-Projekt zu tun. Rund neunhundert Per sonen.“ „Klopft jeden weich, auch wenn er nur eine winzige Schrau be einzudrehen hatte.“ „Das Dumme ist, sie wurden alle bei der Einstellung schon überprüft.“ „Das ist mitunter Jahre her.“ „Sie wurden auch routinemäßig immer wieder kontrolliert.“ „Aber nur stichprobenweise“, wandte der Colonel ein. „Da fällt leicht einer durch das Sieb.“ „In drei Jahren ist jeder mal dran.“ Der Colonel, ein Glatzkopf mit braungebranntem Schädel und römischer Nase, was ihm ein gänzlich unjüdisches Ausse hen verlieh, hob die Hände. „In drei Jahren kann aus einem Mann eine Frau werden.“ „Oder aus einem Mann ein Wolf“, sagte einer. „Drei Jahre sind im Schnitt vier Prozent eines Lebens.“ „In drei Jahren lernt ein Säugling laufen und sprechen“, fuhr der Colonel fort. „In weiteren drei Jahren lernt er Schreiben, Lesen und Rechnen. In drei Jahren erlernt er einen Beruf. Was sind schon drei Jahre. Da wird ein Saulus zum Paulus.“ Sie suchten nach Anzeichen, ob einer der Verdächtigen sei nen Standard in den letzten Jahren auffällig geändert hatte. Dadurch wurde die Gruppe der Verdächtigen schon kleiner. Die deutlichsten Veränderungen des Lebens fanden bei ei ner Handvoll Ingenieure und Wissenschaftlern statt. Es hatte nach Erkenntnissen des MOSSAD meist mit den rapide anstei 81
genden Gehältern zu tun. Während die Verhöre des Personals Tag und Nacht weiter gingen, legte der Adjutant seinem Chef eine Liste vor. Der Colonel überflog sie. Er kannte fast jeden der aufge führten Leute persönlich. Ganz oben stand der stellvertretende Projektleiter von Werk III. „Professor Iszack Schwerin. Den kenne ich seit meiner Zeit bei der Hagana.“ „Er hat noch einmal geheiratet, hat Fliegen gelernt und sich eine Cessna gekauft.“ „Warum nicht. Er ist Spitzenverdiener.“ Sie hakten ihn ab und machten weiter. „Direktor Mordecchai Solomon.“ „Er trägt sich mit Auswanderungsgedanken.“ „Vermutlich zahlt man ihm in den USA ein paar Dollar mehr. Ein tüchtiger Metallurge.“ „Er kaufte sich eine Villa an der französischen Riviera und nicht in Californien.“ Der Colonel wurde nachdenklich. „Wie teuer?“ „Fast eine Million Schweizer Franken.“ „Und die laufenden Kosten muß er auch bestreiten. Was verdient er bei uns?“ „Keine hunderttausend Dollar im Jahr.“ Der Colonel hatte schwere Zweifel. Trotzdem sagte er: „Arabisches Ölgeld, meinen Sie?“ „Wir verhörten ihn. Seine Frau hat angeblich geerbt. Von Verwandten in Italien. Viele Milliarden Lire.“ Sie überlegten, was Mordecchai Solomon hätte sabotieren können. „Seine extrem hitzefesten Legierungen.“ „Die sind bei Raketen wichtig, nicht aber bei Bombenhül len.“ „Er entwickelte auch ein Material, das mit Mineralien ve r setzt ist und die Wirkung einer nuklearen Waffe um ein Viel 82
faches verstärkt.“ „Daran arbeitet er noch. Wie ich ihn kenne, möchte er wi s sen, ob es auch funktioniert. Also betreibt er keine Sabotage.“ Sie gingen weitere Namen durch. Bei jedem gab es mehr oder weniger Verdachtspunkte. Aber zu viel sprach stets dage gen. „Jeder hat eine dunkle Stelle“, sagte Eickelbaum, „auch Leute wie Sie und ich. Angenommen, man versucht, uns was ans Zeug zu flicken, dann findet man auch etwas. Wir aber müssen es beweisen können.“ „Oder wir haben ein Geständnis vorliegen, Colonel.“ Gerade in diesem Punkt wollte der Colonel vorsichtig sein. Aus Existenzangst waren schon wirklich loyale Männer hinge richtet worden. „Namen, Namen, Namen“, jammerte der Colonel. „Alles sind gute integre Leute. Verdammt! Ich hasse diesen Job, im Bodensatz zu wühlen. – Was ist mit Dr. Sternstein?“ „Er kam gestern aus Texas zurück. Ein Bild des Jammers.“ „Er fühlt sich verantwortlich“, vermutete Eickelbaum. „Gibt es bei ihm irgendwelche verratsrelevanten Spezifika?“ „Ich kenne ihn, wie Sie Mordecchai Solomon kennen“, sagte der zweite Mann des Untersuchungsteams. „Wir haben zu sammen in Yale studiert. Er Physik und Maschinenbau, ich Jura und Psychologie. Ein stets bescheidener Mann ohne be sondere Ansprüche ans Leben. Er schöpft alle Lebensfreude aus seiner Arbeit. Sie können sich vorstellen, wie ihn dieser Zwischenfall deprimiert.“ „Ist er Deutscher?“ „Er ist in Theresienstadt geboren. Seine Mutter kam dort ums Leben.“ „Und wie kam er heraus?“ „Ich glaube, die Sowjets verkauften, als sie Polen erobert hatten, jüdische Babys an ihre Familien, soweit sie sich ermit teln ließen. Sternsteins Onkel lebte damals als Chirurg in London.“ Der Colonel hakte auch diesen Namen ab. 83
Doch dann entschied er instinktiv: „Trotzdem noch einmal überprüfen. Obwohl mein Herz blu tet. Es sind zu viele meiner engsten Freunde darunter“ Womit niemand im Untersuchungsteam gerechnet hatte, traf ein. Dr. Daniel Sternstein blieb als einziger im Netz hängen. Sie fanden heraus, daß er den größten Teil seines Gehaltes stets ins Ausland überwies. Normalerweise war dies wegen der Devisenvorschriften gar nicht möglich. Sternstein fuhr also einmal im Monat nach El-Arish. Dort tauschte er seine Schekel gegen US-Dollar oder Franken um und schickte sie auf ein Ausländerkonto in Zürich. „Wir sind ihm wegen seiner regelmäßigen Fahrten an die Küste dahintergekommen. Er nahm immer den Bus. Meistens fuhr er an einem Samstag los, und am Sonntagabend kam er zurück. Das treibt er schon seit Jahren so. Seine Kollegen hänselten ihn deshalb. Sie sagen, er habe ein Mädchen in ElArish, vielleicht sogar eine Araberin. Dem Gerücht gingen wir jedenfalls nach. Sternstein hat kein Mädchen in El-Arish, aber er traf dort einen Palästinenser, der ihm half, sein Geld umzu tauschen und außer Landes zu bringen.“ „Warum baggert er das Geld in die Schweiz?“ fragte Eickel baum. „Es ist für seine Verwandten“, behauptet er. „Sie zogen ihn auf, finanzierten sein Studium, halfen ihm, nach Israel zu ge hen. Es ist reine Dankbarkeit.“ „Höhe des Kontos?“ Der stellvertretende Teamchef legte einen Zettel vor. „Wir kamen nur heran, weil der Direktor der Bank mit einer Jüdin verheiratet ist.“ Der Colonel pfiff gedehnt und sagte, Wort für Wort beto nend: „Eine halbe Million Dollar. Da muß ein Sternstein aber lan ge Sternsteine sammeln.“ „Mehr als tausend Dollar kann er im Monat nicht zur Seite bringen.“ 84
„Geht man davon aus, daß die Habenzinsen in der Schweiz traditionell miserabel sind, dann ergibt das mindestens vier hundert Monatsraten.“ „Oder fünfunddreißig Jahre Sparsamkeit wie ein Eichhörn chen.“ „Wie alt ist Dr. Sternstein?“ „Achtundvierzig.“ „Und wie lange verdient er anständig Geld?“ „Seitdem das Werk in Dimona steht. Seit fünfzehn Jahren.“ „Das geht nicht mit normalen Dingen zu. Das wird er uns genau erklären müssen. Herbringen den Mann!“ entschied der Colonel. Sie bugsierten Dr. Sternstein in einen Raum, der von seinem Zellencharakter her schon furchteinflößend war. Sie setzten ihn gefesselt auf einen Hocker und strahlten ihn mit Halogen lampen an. Er konnte die Verhörmannschaft nicht sehen, nur die sich drehenden Spulen des Tonbandgerätes, das jedes sei ner Worte aufzeichnete. Dr. Sternstein verstrickte sich sehr bald in Widersprüche. „Sie waren bis zu dieser Stunde ein Schauspieler von hohen Graden“, höhnte der Colonel, „aber nun, scheint es, vergessen Sie Ihren Text. Am besten Sie legen die Rolle nieder und ma chen ein umfassendes Geständnis, Doktor.“ Dr. Sternstein, ein hagerer, eher kleiner Mann, obendrein kurzsichtig wie eine Fledermaus bei Sonnenschein, wies die Anschuldigung scharf zurück und behauptete mit der Bomben sabotage nichts zu tun zu haben. Sie zerbröselten aber seine Einwände Stück für Stück und setzten die Brösel wieder neu zusammen. Als er dann immer noch leugnete, setzten sie ihm eine Verogenspritze, eine Angst auslösende Droge. Dann erzählten Sie ihm von den Martern und Quälereien, die sie anwenden würden, um ihn weich zu machen. „Das sind brutale Henkermethoden.“ „Mag sein, Dr. Sternstein. Von Zärtlichkeit wird nicht die 85
Rede sein.“ „Es ist, als würden Sie von einer Salamimaschine in Schei ben zerlegt, Doktor“, fügte ein anderer hinzu. „Dann forderte ich Schmerzensgeld von der Regierung“, keuchte Sternstein, „denn meine Unschuld werde ich bewe i sen.“ „Das Schmerzensgeld ziehen wir dann von Ihrem Konto in Zürich, das wir inzwischen beschlagnahmt haben, ab.“ „Dazu hatten Sie kein Recht!“ schrie Sternstein wütend. „Sie verstießen gegen das Devisenausfuhrgesetz.“ „Das kostet vielleicht ein, zwei Jahre.“ „Und woher stammen die Beträge, die Sie in all den Jahren gar nicht verdienen konnten? Wir stellten fest, daß zwei Drit tel der Summe erst in den letzten Monaten auf Ihr Konto ein gingen.“ „Da muß eine Fehlbuchung vorliegen.“ „Der Kontoauszug fand sich in einem Versteck in Ihrer Wohnung. Warum haben Sie die Fehlbuchung nicht bei der Bank reklamiert?“ „Ich werde die Swiss-Zentralcredit wegen Bruch des Bank geheimnisses verklagen.“ „Das steht Ihnen frei“, konzedierte der Colonel großzügig. „In zwanzig Jahren, wenn Sie Ihre Strafe abgesessen haben und dann noch am Leben sind.“ So ging es Stunde um Stunde. Und irgendwann, nicht lang sam, sondern plötzlich, brach Dr. Sternstein zusammen. Er gab alles zu. Sie fragten, wie er die M/K-90 sabotiert habe. „Durch eine schadhafte Sicherung.“ „Laut Bericht funktionierten alle Systeme, als die Montage in Texas beendet war.“ „Sie arbeitete noch mehrere Stunden bis der Säurepunkt auf den Kontaktbeinen des Chips die Leiterbahnen durchfraß.“ „Und warum, Sternstein, haben Sie das bloß getan?“ fragte sie sachlich und kühl. „Weil ich dieses Land hasse.“ 86
„Es ist Ihre Heimat geworden, hat Ihnen Arbeit, Brot und Si cherheit gegeben.“ „Aber es schickt sich an, das zu tun, womit einst mein kur zes Leben fast schon beendet worden wäre. Es übt Gewalt aus. Es treibt durch seine Politik eines Tages andere Völker in den Untergang. Und ich bin der Meinung, ein Holocaust in tausend Jahren sollte genügen.“ „Also machten Sie sich an die Palästinenser heran.“ „Eine arabische Gruppe machte sich an mich heran“, erklär te Sternstein. „Wer?“ „Sie nennt sich TA, Todesschwadron Allahs, oder so ähn lich.“ „Beschreiben Sie Ihre Kontaktleute.“ Die Beschreibung hätte auf jeden zweiten Palästinenser ge paßt. „Namen!“ „Diese Leute benutzen tausend Namen.“ Sie bearbeiteten ihn, bis er so erschöpft war, daß er vom Hocker fiel. Dann ließen sie ihn schlafen. „Wir sind auf dem Wege“, sagte der Colonel. „Diese Laus werden wir noch knacken.“ Zu dem Team stieß eine Expertin von hohen Graden. Sie kam aus Brüssel und brachte Neuigkeiten mit. Eickelbaum, der durchaus weiblicher Schönheit zugetan war, musterte Captain Esher Natan nicht ohne Begehrlichkeit. „Was gibt es bei den NATO-Kanaillen?“ „Ich sprach mit der Dynamit-Oberkanaille vom KanaillenBND.“ „Mit meinem Freund Urbansohn“, sagte der Colonel. „Er ist weiblichen Reizen durchaus zugänglich.“ „Trotzdem ist er eine Kanaille.“ „Jeder im Geheimdienst ist eine Kanaille. Nichtkanaillen taugen wenig für diesen Job. Aber warum ist Dynamit eine 87
Kanaille? Hat er dir den Hintern verhauen, anstatt ihn zu küs sen?“ „Er behauptet“, sagte Esher Natan und schlug die Beine hoch übereinander, „dieser Mann, den wir Jeshwe nennen, sei tot. „Du glaubst ihm nicht?“ „Er ist eine Kanaille.“ „Aber er soll“, wandte der Colonel ein, „wie ich hörte, dem Strategieausschuß Bildmaterial vorgelegt haben.“ „Alles Fotomontagen.“ „Welche Interessen sollte er daran haben, diesen Jeshwe zu schonen?“ „Burschen wie Urban besitzen einen feinen Instinkt für Nützlichkeit. Vielleicht wird er ihn bald wieder brauchen.“ „Wozu?“ „Jeshwe deutete angeblich an, daß es in Nahost zu einer Kri se käme.“ „Wußte er auch von der M/K-90-Panne?“ „Offenbar ja.“ „Dann müßte man seiner Behauptung, daß es zu einem Krieg kommen kann, mithin Glauben schenken.“ „Könnte sein, daß Jeshwe sogar von enormen Schwierigkei ten in unserem Rüstungs- und Militärapparat sprach. Urban machte gewisse Andeutungen.“ „Im Bett?“ fragte Eickelbaum anzüglich. „Ist doch egal wo.“ „Im Bett redet man mehr als im Suff, und vor der Kirche wieder anders als nach der Kirche. Das solltest du wissen. Wie entwischte er dir?“ „Mit einem seiner miesesten Tricks. Ermüde den Gegner und überhole ihn dann mit einem Zwischenspurt.“ „Er spielte sogar die trickreiche Esher Natan aus.“ Sie lachte leise. „Es ist nicht aller Tage Abend. Das Spiel ist noch nicht zu Ende. Wir stehen vor Beginn der zweiten Halbzeit.“ Sie bat um eine Zigarette, um Kaffee und dann um einen Co 88
gnac. Als sie alles berichtet hatte, fragte Eickelbaum: „Und das Resümee?“ „Dieser Jeshwe stellt, wenn er lebt, eine echte Gefahr dar. Für Freund und Feind. Ein Mann, der aus dem Kaffeesatz vo r hersagt, der in jedermann lesen kann wie in einem Spiegel und behauptet, du bist ein Freund, du bist ein Feind, du bist ein Verräter, ist anderseits eine Hilfe. Dies besonders dann, wenn man wie wir einer unbekannten Gruppe von Terroristen und Saboteuren, gekauft mit arabischem Ölgeld, gegenübersteht. Falls es nicht gelingt, sie zu zerbrechen, dann war Texas erst der Anfang. Gibt es nicht schon Sabotage bei der Jagdbomber produktion?“ „Und bei Panzermotoren“, ergänzte Eickelbaum. „Sie hatten im Wüsteneinsatz reihenweise Lagerschäden.“ „Ich hörte, im Negev seien Radarstationen ausgefallen, we gen eines einzigen Computerchips.“ Eickelbaum mußte auch dies bestätigen. „Infolge von Säurepunkten auf Chip-Leiterbahnen.“ „Vielleicht könnte Jeshwe uns aus der Klemme helfen.“ „Er hätte Dr. Sternstein wohl durchschaut.“ „Ich habe Sternstein nie getraut“, erklärte Esher Naten. „Wir alle haben ihm getraut. Warum du nicht?“ „Nur so ein Gefühl.“ „Traust du mir?“ fragte Eickelbaum zickig. „Wie einem Vater“, sagte sie. „Väter sind meist streng, oft ungerecht, aber sie verraten einen nicht. – Oder?“ „Nur Töchter sind dazu in der Lage, ihren Vater zu verste hen.“ „Die Töchter sind auch nur Kanaillen“, sagte die Spezial agentin und drückte die Zigarette aus. „Nehmen wir uns diesen Sternstein noch einmal vor. Okay?“ Doch der Arzt hielt ihn für nicht vernehmungsfähig. „Sie hätten nichts davon“, sagte er zu Esher Natan. „Um ve r wertbare Daten zu liefern, muß er wenigstens zu dreißig Prozent funktionieren. Im Augenblick funktioniert er nur zu 89
fünfzehn Prozent.“ „Dann bringen Sie ihn auf Touren“, forderte die MOSSADAgentin. „Es geht nicht um sein Leben, sondern um unseres. Es geht um Israel.“ In der Nacht machte der Arzt vom Dienst seine Kontrollrunde. Er schaute durch den Türspion in die Zellen der Gefangenen, ob sie sich in normalem Zustand befanden. Derzeit waren es nur zwei Gefangene. Ein Heizer, der den Kessel des Kraft werks sabotiert hatte, und Dr. Sternstein. Der Arzt blieb lange am Türspion stehen. „Er rührt sich nicht“, sagte er zu dem Wächter. „Er wird schlafen, Doktor.“ „Kein Schläfer liegt minutenlang da, ohne sich zu bewegen.“ „Hauptsache, er atmet noch, Doktor.“ „Das ist es ja. Das muß ich genau wissen.“ „Schön, Sie sind der Arzt.“ „Schließen Sie auf.“ „Das darf ich nicht.“ Der Arzt deutete auf seinen Lichtbildausweis, den er mit ei nem Clip am weißen Arztmantel trug. Der Beamte las ihn, ging aber weg, um zu telefonieren. Offenbar erhielt er von der Sicherheitsabteilung grünes Licht. Er kam zurück. „Ja, Sie sind der Doktor.“ „Wer sagt das?“ „Der Captain.“ „Dann schließen Sie endlich auf, Mann!“ Die Zellentür wurde entriegelt. Der Arzt ging hinein, blieb vor Sternstein stehen und faßte ihn an Stellen an, die einem Arzt wichtig waren. Am Hals, an der Seite, wo die Schlagader pulste, an der Stirn, am Handgelenk innen. Der Arzt schien zu zögern. Er fragte den Wächter: „Was bekam er zum Abendessen?“ „Tee, Brot und aus.“ 90
Der Arzt schaute in die Teekanne. „Noch halbvoll.“ „Drei Liter Tee, Doktor.“ „Ich nehme ihn mit ins Labor.“ Der Wächter protestierte. „Ich selbst habe ihm die Kanne gebracht“, sagte er in einem Ton, als wolle man ihm etwas unterschieben. „Und wo haben Sie die Kanne gefüllt?“ „Ich faßte sie aus dem Kessel.“ „Und wo ist der Kessel?“ „In der Küche. Aus ihm trinken alle.“ „Wer macht den Tee?“ „Der Koch in der Kantine.“ „Und wenn im Tee ein Betäubungsmittel ist?“ „Wir haben alle davon getrunken.“ „Er schläft unnatürlich tief“, erklärte der Arzt. „Ich muß ein Kreislaufmittel spritzen.“ „Das hat der andere Arzt schon am Abend gemacht, Doktor.“ „Der andere Arzt ist der eine, und ich bin der andere. Es dient nur der Stabilisierung. Ein bißchen Traubenzucker, Vi t amine und so.“ Im Beisein des Wächters zog er die Spritze auf, verabreichte sie Dr. Sternstein und ging dann wieder. Dr. Sternstein schlief ruhig bis zum Morgen. Dann schlief er weiter bis zum Mittag. Als sie ihn zum Verhör holen wollten, ließ er sich nicht wecken, denn er schlief in alle Ewigkeit. – Dr. Sternstein war tot. Das merkwürdige an der Sache war, daß der Wachmann im Sicherheitstrakt sich nicht erinnern konnte, den jungen Arzt vorher jemals gesehen zu haben. Selbst unter scharfem Verhör erfuhren sie wenig Brauchbares. „Er sagte, er wäre der Kollege des anderen Doktors. Der andere sei der andere, und er sei eben dieser.“ Der Colonel und Esher Naten waren sich darüber einig, daß Dr. Sternstein von dieser mächtigen Terrorgruppe, die sich 91
anstellte, Israel zu vernichten, getötet worden war. Und daß es sich bei dem Mord um die zweite Katastrophe der Woche handelte. 12. Josef lebte, mit Ehren überhäuft, so viele Jahre in Ägypten, daß er sich als Ägypter fühlte. Er bekam die schöne Asnath, die Tochter des Hohenpriesters von Heliopolis, zur Frau. Der BND-Agent Robert Urban unterbrach seine Fahrt nach München in Bonn. Er liebte Bonn nicht sonderlich, aber das beruhte auf Gegenseitigkeit. Bonn liebte Urban auch nicht. „Warum“, fragte der Vizepräsident, mit Urban im Vorzim mer des Kanzlerministers wartend, „mag man Sie hierorts nicht? Haben Sie mal Tafelsilber mitgenommen oder einer prominenten Dame unter den Rock gefaßt?“ „Beides“, sagte Urban. „Aber der Löffel war nur verchromt, und die Dame hat sich gefreut. Daran kann es also nicht lie gen.“ „Im Grunde sind Sie doch ein netter Kerl.“ „So nett, daß es schon zum Fürchten ist.“ „Warum, zum Teufel, sind Sie dann hier Persona non grata?“ Urban wußte es, und der Vize wußte es auch. „Es ist wie vor tausend Jahren. Die Überbringer schlechter Nachrichten wurden schon damals geknöpft. Auch die Leute, die die Karre aus dem Dreck ziehen, die Bilanz wieder in Ord nung bringen, sind wenig geliebt. Zu denen gehöre ich. Bonn rief mich in Krisenzeiten. Krisen sind unbeliebt. Deshalb mag mich Bonn nicht, und ich mag Bonn nicht. Klaro?“ Kaffee wurde gebracht. Es konnte also nach dauern. Sie zogen sich in eine Sesselecke zurück. Der Vize, diesmal nicht mit ledernen Sakkoellbogen, sondern im gedeckten Zweireiher, fragte: „Und?“ „Was und?“ 92
„Und immerdar.“ Urban spulte den Faden nach rückwärts auf. „Das Referat von Pierre Ponard in Paris ging in die Hose. Autounfall. Ich hielt es für ein tragisches Ereignis. Aber dann, in seinem Haus, vor seinem Computer, kam der Überfall. Auch unbekannte Killer interessierten sich für den Computer. Später erfuhr ich, daß es wohl MOSSAD gewesen ist, der die Daten haben wollte. Ab Paris war ein Schatten hinter mir her. Es war eine hübsche MOSSAD-Dame. Sie ließ sich nicht abschütteln. Sie dachte wohl, was Urban über den großen Wahrsager herausgebracht hatte, sei nicht nur für ihn sondern für alle bestimmt.“ „MOSSAD?“ fragte der Vize. „Esher Natan.“ „Eine hochbegabte Frau. Ich kenne ihre Akte.“ „Es ging so bis Genf. Dann schlug ich einen Zacken ein und hatte sie los. – Wie es in Spanien weiterging, wissen Sie.“ „Auch wie es in Brüssel lief“, bestätigte der Vizepräsident, der im Vergleich zum Oberpräsidenten über Details stets Bescheid wußte und auch schon lange genug bei dem Haufen war. „Ich konnte unter hartem körperlichen Einsatz noch einiges erfahren“, sagte Urban. „Der Rest ist Schweigen“, begnügte der Vize sich. „Sprechen wir besser nicht über Intimverkehr“, schlug Ur ban vor, „nur über die Ergebnisse desselben. In Israel ist Feuer auf dem Dach.“ „Feuer schon im Keller, wie ich fürchte.“ „Die Texaspanne kann nur von langer Hand vorbereitet wo r den sein. Man vermutet dahinter eine mächtige, von Ar abern finanzierte Terroristengruppe. Schätze, in Dimona läuft die größte Verhörorgie seit der Flucht der Juden aus Ägypten.“ Die Miene des Vizepräsidenten verdüsterte sich. „Deshalb sind wir hier.“ „Wegen schlimmer Entwicklungen in Dimona.“ „Der offenbar schlimmsten.“ 93
Urban erinnerte sich an die Geschichte vom Biologieunte richt in einer Klosterschule: Die Lehrerin zeigte Bilder von Vögeln, von Fischen, von Kleinwild. Als sie einen der Schüler fragte, was das Tier auf dem nächsten Bild wohl bedeute, sagte der: Wahrscheinlich ist es ein Hase, aber wie ich den Laden hier kenne, kann es sich nur um unser herzallerliebstes Jesu lein handeln. „Man schiebt uns Deutschen die Schuld zu“, tippte Urban. „Stimmt’s?“ „Einmal Buhmann, immer Buhmann.“ Vor ihnen stand ein Mann im blauen Anzug, Mitte Dreißig, mit Akademikerbrille. Wohl ein Sekretär. „Der Minister läßt bitten“, sagte er dezent leise, aber noch gut hörbar. Der Minister, korrekt, ein wenig verklemmt, reichte den Be suchern die Hand und forderte linkisch zum Platznehmen auf. Er ging, weil er nicht gerade ein Charmebolzen war, gleich in medias res. „Keine Zeit, keine Zeit“, jammerte er und begann: „Den Namen Sternstein schon mal gehört?“ fragte er. Der Vize blickte Urban an. – Antworten Sie, hieß das. Urban nickte. „Ganghofers Roman Der Sternsteinhof.“ „Anzengruber“, verbesserte der Vize. „Pardon! Bei der Trivialliteratur muß ich in der Schule ge fehlt haben.“ „Bei Bauernromanen auch?“ Urban fiel noch etwas ein, und er gab es zum besten. „Achtzehnhundertfünfundachtzig“, sagte er. „Das haben Sie geraten“, sagte der Minister. Plötzlich ging es ein wenig lockerer zu. „Wenn ich ein Wort mit Mist verwenden darf“, scherzte der Minister, „allerdings Myst, mit Ypsilon, dann unterliegen die Israelis einer argen Mystifikation, einer Täuschung, einer Vorspiegelung.“ 94
„Wegen Sternstein“, vermutete Urban. „Dr. Sternstein ist, vielmehr er war, verantwortlicher Leiter des M/K-neunzig-Projekts.“ „M/K-neunzig bedeutet Mini-Kobalt. Eigentlich ist auch noch Jod dabei. Aber davon erwähnen die Israelis nichts. Jod macht diesen Sprengsatz besonders schmutzig“, erklärte der BND-Vize. „Sternstein ist, wie man dem Namen schon entnehmen kann, Deutscher. Ein willkommener Grund für Tel-Aviv, uns die Sabotage in Texas hintenherum anzulasten. Wenn wir Pech haben, kommt da etwas äußerst Unangenehmes auf uns zu.“ „Wenn schon keine gepfefferten Pressekampagnen aus Gründen der Geheimhaltung, dann gewiß eine gesalzene Re greßforderung.“ Urban verstand. „Es ist wie immer. Jeder kann einem was anhängen, sogar ohne Beweise. Seine Unschuld muß der Beschuldigte stets selbst beweisen. Was für eine irre Welt.“ „Ein Unschuldsbeweis, der hier verdammt schwer zu führen sein dürfte.“ „Nachdem Dr. Sternstein seine Auftraggeber nicht nennt, aber das Geld in Europa in Empfang genommen haben soll.“ Urban, der bezweifelte, daß Dr. Sternstein sein Schweigen auf Dauer durchhalten würde, sagte: „Der MOSSAD ist ein professionell geführter Geheim dienst. Er kann nicht nur auf die deutsche Karte setzen. Er muß auch noch andere Möglichkeiten einkalkulieren. Er darf die Palästinenser, die Syrer, die Iraker, diese hundert kleinen Alfatah-, PLO- und Hisbollah-Kommandos nicht vergessen. Deshalb wird er aus Dr. Sternstein irgendwie die Wahrheit herausholen.“ Der Minister, der offenbar mehr wußte, und der Vize, der den Minister davon unterrichtet hatte, schauten einander ve r stohlen an. „So war es bis gestern.“ „Was ist passiert?“ 95
„Als wir Sie baten, zwischen Brüssel und Bonn einen Tag Pause am Rhein einzulegen, in der letzten Nacht, als wir alle noch relativ gut schliefen, wurde Dr. Sternstein in einer Ge fängniszelle in Dimona umgebracht“, sagte der BNDVizepräsident mit belegter Stimme. Urban hätte es gern genauer gehört. „Starb er an den Folgen von Foltern, oder wurde er vorsätz lich ermordet, weil man von Seiten der Saboteure befürchtete, er könnte auspacken?“ „Wohl letzteres ist zutreffend“, schätzte der Minister. „Und woher wissen wir das? Seit wann fliegen Brieftauben so schnell?“ „Der deutsche Botschafter wurde in Tel Aviv zum Regie rungschef befohlen, um eine Protestnote entgegenzunehmen. Wie es aussieht, setzen die Israelis alles auf die Sternsteinkar te. Sie haben nur diese eine Karte, und die reizen sie aus.“ Urban nahm an, daß es jetzt zu dem Notplan kam, dessent wegen man ihn ins Amt des allerobersten BND-Chefs gerufen hatte. „Wir müssen das den Israelis ausreden“, forderte der Mini ster. „Wenn denen etwas in den Köpfen herumspukt, dann braucht man dafür nicht nur einen Gegenbeweis, sondern einen dreifa chen“, fürchtete Urban. „Stellen Sie ihn auf die Beine.“ Die Frage, wie er das bewerkstelligen sollte, konnte Urban sich sparen. Er versuchte laut zu denken. „Dazu muß man wohl hinunter ins Morgenland.“ „Dort kommen Sie auch nicht weiter als der allmächtige MOSSAD.“ „Man muß darauf bestehen, daß sie uns in die Ermittlungen einschalten, daß sie uns Akteneinsicht gewähren, wenn sie schon behaupten, wir tragen Mitschuld an der Sabotage ihrer staatlichen Sicherheit“, forderte der Minister. „Auf diesem Weg haben wir so gut wie keine Chance“, 96
wandte Urban ein. „Sehen Sie einen anderen Weg?“ „Nein, keinen.“ „Aber die Richtung.“ „Der weise, offiziell tote Mann in den Pyrenäen könnte uns helfen. Er hat den Durchblick. Zumindest könnte er uns raten, versucht dies oder jenes, versucht es da oder dort.“ „Warum sollte er das tun?“ zweifelte der Vize. „Aus diesen oder anderen Gründen“, erwiderte Urban. „Ich kenne sie im einzelnen nicht.“ Nun äußerte der Minister etwas sehr Doppelsinniges. „Sind wir uns darüber einig, Herr Präsident, Oberst Urban, daß Ihnen gar nichts anderes übrigbleibt?“ Dem stimmte Urban zu. Er wußte nur nicht, wie das gemeint war, daß nichts anderes übrigblieb als das – aber was war das andere? „Geben Sie mir ein paar Tage Zeit.“ „Hatten Sie nicht gestern erst Pause?“ wandte der Vize ein. Ich brauche Daten. Über die Panne in Texas, über Dr. Stern stein, und dann muß ich noch etwas anderes erledigen.“ Urban dachte an Kontaktaufnahme mit diesem Mann in Spa nien. „Nur eine ganz lachhafte Angelegenheit“ ergänzte Urban. 13. Asnath, die Tochter des Hohenpriesters zu Heliopolis, ge bar Josef, dem Großwesir, einen Sohn. In der Gunst des Pharao stehend, wurde Josef reich an irdischen Gütern. Er erwarb große Ländereien zwischen dem Nil und der Haupt stadt und lebte viele Jahre sehr glücklich und zufrieden. Die Suche begann. Nach München zurückgekehrt bereitete Urban seinen Flug nach Israel vor, wußte aber, daß er aus diesem Labyrinth nicht ohne Kompaß gelangen würde. Und wer eignete sich besser dazu als der Prophet aus den Pyrenäen. 97
Da er wenig davon hielt, daß seine spanischen BIS-Kollegen diesen Mann suchten, setzte er in die im Pyrenäenort Organa erscheinende Provinzzeitung Tiempo eine Anzeige. Sie war auffallend genug groß und im Text so kurz wie nur möglich: Don Jose Pastor – bitte melden! Dazu ließ Urban seine Münchner Telefonnummer abdruk ken. Man hatte ihm versichert, die Anzeige komme noch in die Ausgabe des folgenden Tages. Der Mann aus den Bergen hatte nicht den Eindruck gemacht, als höre er weder Radio, noch lese er Zeitung. Vielleicht stieß er auf Urbans Hilferuf. Aber es konnte Tage dauern, bis er sich meldete – falls er sich überhaupt meldete. Urban trug sich mit dem Gedanken, vor seinem Flug nach Israel noch einmal in die Pyrenäen zu fahren. Dort war er Jose näher. Der Alte hatte angedeutet Wenn Sie mich brauchen, dann weiß ich es und werde mich melden. Bevor Urban den Flug nach Barcelona buchte und bei der BIS-Madrid um Unterstützung bat, telefonierte er mit der Provinz Lerida, wo in einem Waldtal die Tankstelle lag. Es gelang ihm, die Nummer herauszufinden. Als er den Patron nach Stunden endlich am Apparat hatte, tat dieser zunächst einmal mürrisch wie immer. „Ich kenne Sie nicht, Senor.“ „Ich bin der Mann, der den Jeep mietete. Letzte Woche.“ „Bei mir mieten jeden Tag Jäger und Fischer Jeeps.“ „Der Mann mit dem BMW aus München.“ „Hatte das Auto ein M im Kennzeichen?“ „Richtig.“ „Dann kam es aus Madrid, Senor.“ Doch allmählich schien er sich zu erinnern. „Sind Sie etwa der Bursche, der Don Jose finden wollte?“ Urban bestätigte ihm, daß er der Bursche sei, und fragte nach dem Wetter. „Miserabel“, sagte der Tankstellenbesitzer. „Noch nie hat 98
ten wir im Sommer so einen Kälteeinbruch. Hat geschneit bis runter ins Tal. Oben soll der weiße Dreck einen Meter hoch liegen. Selbst mit dem Jeep gibt es kein Durchkommen mehr. Vielleicht mit Skiern oder Schneebrettern. Das Wild kommt schon aus den Tälern und frißt uns das Laub von den Bäumen.“ Urban fürchtete, daß es wenig Sinn hatte, seine Suche erneut aufzunehmen. „Sie hätten überhaupt gar keine Chance“, erklärte der Spa nier, „denn der Mann, den Sie suchen ist wohl auf die Reise gegangen.“ „Wie kommen Sie darauf, Patron?“ Der Spanier zögerte mit der Antwort. „Ach wissen Sie, da sieht man die Leute jahrelang nicht, und plötzlich treten sie auf merkwürdige Art in dein Leben. Erst kamen Sie, Senor, und fragten nach ihm. Dann – war es nun gestern oder vorgestern – kurz vor dem Schneesturm kam er mit seinem Jeep aus den Bergen. Er stellte ihn bei mir unter und fragte, ob er ein Taxi haben könne. Meine Taxis waren aber alle unterwegs. Also wartete er auf den Bus.“ „Taxi wohin?“ „Danach fragt man hierzulande nicht, Senor“, erfuhr Urban näheres über die Sitten in Lerida. „Vielleicht nach Barcelona zum Flugplatz?“ tippte Urban. „Eher zur Bahnstation nach Organa.“ „Hatte er Gepäck dabei?“ „Nichts als einen alten ledernen Matchsack.“ „Und wann war das genau?“ „Er nahm den Bus gestern abend. Ja, den vorletzten Bus ge stern abend.“ „Muchas gracias!“ sagte Urban. Dann rief er in Barcelona an. Er klapperte alle Liniengesell schaften ab. Aber einen Senor namens Jose Pastor, auf den Urbans Beschreibung paßte, hatten sie nicht im Computer. In der Not eines Mannes, der den roten Faden schon in der Hand hielt, ohne jedoch weiterzukommen, weil der Faden gerissen war, sprach er mit Coronel Segovia von BIS-Madrid. 99
– Aber auch Erneste konnte ihm nicht weiterhelfen. „Wie wollen Sie in Tel Aviv vorgehen?“ fragte der Vizepräsi dent. „Mit Jose Pastor wäre es wohl leicht gewesen. Je näher er am Ort eines Problems sitzt, desto deutlicher werden seine Vorhersagen. Deshalb war er auch immer dicht bei den Ereig nissen, sei es in Washington, Tokio oder London.“ „Wie es scheint, müssen Sie auf ihn verzichten.“ Urban war nicht ganz ohne Zuversicht. „Ich kenne Colonel Eickelbaum vom MOSSAD. Er führt die Untersuchung.“ „Und Sie glauben, er gewährt Ihnen Akteneinblick? Die sind doch froh, wenn sie uns den Schwarzen Peter zuspielen kön nen.“ „Der Schwarze Peter allein nützt ihm wenig. Dann gehen die Sabotagen weiter, und wir sind es am Ende gar nicht gewesen.“ „Ihre Hoffnung auf die Loyalität von Freunden möge Ihnen der Herr erhalten“, sagte der Vizepräsident. Dann war Urban nach Hause gefahren. Hinter dem Siegestor schlug er einen Haken und fuhr zwei mal um den Block, in dem eine seiner Lieblingskneipen lag. Er fand aber keine Parklücke. So beschloß er, den Drink zu Hau se zu nehmen und den BMW in die Tiefgarage zu stellen. Bei den Sommerzypressen des Vorgartens bog er ab, hielt an, steckte den Schlüssel in den automatischen Toröffner und drehte ihn um, bis die rote Lampe brannte. Das Aluminiumgatter ruckte an und rollte trotz guter Schmierung ziemlich langsam nach oben. Kaum war es eingerastet, sprang die Lampe von Rot auf Grün. Urban wollte Gas geben. Da sah er im Augenwinkel etwas durch das halboffene linke Fenster hereinstoßen. Wie eine Schlange mit dickem Kopf und spitzer Zunge. – Der Schlangenkörper war ein Unterarm, der Kopf eine Faust und die Zunge der Lauf einer Waffe. Der Lauf drückte sich gegen seine Schläfe. „Rück zur Seite, Dynamit.“ 100
Zweifellos wollte der Unbekannte ihn umlegen. Urban erkannte das an der Brutalität und Entschlossenheit der Stimme. Aber er wollte es nicht hier oben an der Straße erledigen, sondern im Keller. Revolverläufe an den Schläfen waren immer verflucht unan genehm. Wenn er auch nur eine Spur falsch reagierte, dann würde der Henker es hier oben machen. Urban rückte also ein Stück zur Seite. Der Mann mußte seinen Arm zurückziehen und den Kontakt des Laufes mit dem Ziel für kurze Zeit aufgeben, damit die Tür aufging und er zusteigen konnte. Mit der linken entriegelte Urban das Türschloß innen. Dann warf er sich, als der Kontakt der Waffe zu seiner Schläfe un terbrochen war, mit aller Kraft gegen die Tür. Er traf den unbekannten Killer an den Knien und am Unter bauch. Aber wohl nicht hart genug. Der Gegner taumelte zwar, stürzte zurück, prallte gegen die Mauer, ließ Urban aber keine Zeit zu kontern. Als Urban sein Handgelenk mit der Waffe zerschmettern wollte, wich er zur Seite aus. Urban erwischte ihn nur in der Halsecke. Die Handkante traf den Gegner zu tief, und schon war der Mann hinter ihm und stieß ihm die Waffe so ins Kreuz, daß Urban Mühe hatte durchzuatmen. „Okay, dann wird es eben hier sein.“ „Können wir nicht miteinander reden?“ machte Urban einen letzten Versuch. „Nur über deine Liquidation, Mister Dynamit“, sagte der Fremde auf englisch. „Du bist zu schlau, mein Junge, und nur tot stellst du keine Gefahr mehr für uns dar.“ „Du bist reichlich unflexibel“, keuchte Urban und versuchte es mit seinem rechten Ellbogen. Er traf den Killer im Leib. Die erste Kugel verließ schallgedämpft den Lauf und sirrte durch das Buschwerk. – Aber ein Magazin hatte mindestens sechs Kugeln. Urban fürchtete, daß eine davon treffen würde. Die zweite rasierte schon heiß seine Wange, obwohl er sich zu Boden warf. 101
Er lag auf dem Pflaster und mehr blieb ihm nicht, als drei Atemzüge Münchner Abendluft. Der Killer stand da, breitbeinig, die Waffe in beiden Händen und zielte. Während Urban auf das tödliche Plopp wartete, bewegte sich hinter dem Killer etwas, wie der Zweig eines Gebüsches im Wind. Es gab aber kein Gebüsch, und es gab auch keinen Wind. Der Zweig wurde zu einem Baumstamm. Der Baum war ein Riese von einem Kerl, und der schlug mit Urgewalt zu. – Er schlug zu, als der Killer erneut durchriß. Die Kugel spritzte in den Himmel. Der Killer war zu Boden gegangen. Doch Urban sah, wie der Killer erneut auffederte. „Vorsicht!“ schrie er. Wieder schlug der Schatten zu. Auf allen vieren kroch der Killer zur Straße hinauf und lief davon. Er rannte um sein Leben. Der Mann, der Urbans Leben gerettet hatte, trat ins Licht der BMW-Scheinwerfer, als wollte er sich in voller Länge zu erkennen geben. Er trug eine Mischung aus Jägerkleidung und Fallschirmkämpferanzug. Die Hose in Schnürstiefeln, dazu eine grüne Jacke mit Cordgürtel, im Gürtel ein Jagdmesser, und ein Wollschal in Natogrün vermummte halb sein Gesicht. Er hatte eine tief herabhängende Nase, fast eckige Augen und einen Brillanten im Ohrläppchen. „Don Jose!“ reagierte Urban baß erstaunt. „Zugegeben, ich greife ungern zu so brachialen Mitteln“, sagte der Mann aus den Pyrenäen. „Ich habe Sie gesucht, Don Jose.“ „Das weiß ich. Und nun, Oberst Urban, wollen wir gehen.“ „Wohin?“ „Zum Flugplatz, zur Direktmaschine der El-Al nach Tel Aviv.“ „Wie konnte ich vergessen“, gestand Urban, „daß Sie im stande sind, Gedanken zu lesen.“ „Kein Wort davon ist wahr“, sagte der Mann, der in Mem 102
phis schon einmal begraben worden war, lächelnd. Der Mann aus den Pyrenäen atmete, speiste, rauchte und trank wie jeder andere Mensch. Er trug sogar einen Brillanten im Ohrläppchen wie ein Wiener Zuhälter. Er nahm vom koscheren Bondimbiß alles, auch das Schoko ladendessert. Danach erbat er sich eine von Urbans MCZigaretten. „Sie glauben“, sagte er, „ich sei einer von diesen primitiven Waldläufertypen. Ranger oder Trapper, die in Erdhöhlen hau sen, von Jagd und Fischfang leben und sich Klamotten aus gekauten Tierhäuten nähen. – Es mag so aussehen, aber ich liebe den Komfort.“ „Damit ist es wohl nicht weit her in Ihrem Bergtal“, vermu tete Urban. „Das glaubt man“, erwiderte der Alte, der gar nicht soviel älter als Urban war, feixend. „Ich ließ mir auf der Spitze des höchstens Berges, der mir gehört, ein Haus errichten. Wozu sonst hätte ich mir dieses ungeheure Areal gekauft, das wie eine Mauer ist.“ „Niemand dort weiß etwas von einem Hausbau.“ „Der Herr schlug sie mit Blindheit.“ „Um da oben ein Haus zu bauen, sind eine Menge Handwer ker jahrelang beschäftigt. Sie mußten das ganze Material hinauftragen, eine mühsame Arbeit.“ Don Jose Pastor tat, als gebe er ein Geheimnis preis. „Schon mal von Hubschraubern gehört?“ „Ich fliege hin und wieder einen“, sagte Urban und erinnerte sich an die Notizen in Pierre Ponards Computer. – Vielleicht hatte der es von den Piloten. „Auch schon mal von Fertighäusern gehört?“ „Die sind meist nur halbfertig.“ „Nicht alle. In den USA gibt es eine Firma, die stellte luxu riös und perfekt ausgestattete Container her. Aus wetterfestem Edelstahl. Man kann sie zusammensetzen wie Bausteine, zu Festungen, zu modernen Schlössern, je nach Belieben. Eine 103
Reihe solcher Container ließ ich mir auf meinen Berg fliegen. So hat keiner etwas von meinem Hausbau bemerkt. Ich habe alles da oben. Ein Kraftwerk, eine Wasserbereitungsanlage für Gletscherwasser und sogar eine Squashhalle. Ab und zu lasse ich Dieselkraftstoff für den Generator und Lebensmittel an fliegen. Was sagen sie jetzt?“ „Nichts mehr. „Nur“, machte der Mann aus dem Gebirge eine Einschrän kung, „hatte ich diesmal wenig Zeit und bin deshalb knapp an Bargeld. Notfalls müssen Sie mir aushelfen oder die Kosten übernehmen.“ Urban deutete auf die Messingschließe seines Gürtels der khakifarbenen Jeans unter der Lederjacke, die er an Stelle seines normalen Outfits trug. „Meine Bank.“ „Nun, da kann sie nicht sehr groß sein.“ Urban öffnete die Schließe, zog den braunen Rindlederrie men rechts ein Stück heraus und löste das mit Klettverschluß befestigte Innenleder ab. Der Gürtel hatte eingenähte Taschen. In jeder steckte etwas Rundes. „Goldmünzen“, staunte der Alte. „Ich ahnte es.“ „Krüger Rand, jeder eine Unze. Wert um vierhundert Dollar pro Stück. Das dürfte für den Anfang reichen. Außerdem habe ich noch Bares dabei und Kredit in Jerusalem.“ Der Mann aus den Pyrenäen nahm das letzte Wort auf. „Jerusalem ist nicht unser Ziel.“ „Tel Aviv auch nicht“ „Ich dachte an Dimona.“ „In den inneren Sperrbezirk kommen wir nicht hinein.“ „Sie haben doch Freunde dort. An die ist vielleicht heranzu kommen“, sagte der Mann aus den Bergen. „Dachten Sie an Colonel Eickelbaum?“ Der Alte schloß die Augen. „Ich sehe ihn nicht so genau. Bis jetzt erscheint die Person mir verschwommen, nur schemenhaft. Ich muß näher heran, so nah wie möglich.“ 104
„Das wird man leider nicht zulassen.“ „Ja, das Risiko ist groß. Aber wir müssen es eingehen.“ „Möglicherweise überstehen wir es nicht“, deutete Urban an. „Es gibt Grenzen der Freundschaft.“ „Bedingt durch den Selbsterhaltungstrieb, meinen Sie.“ „Die machen sich nichts aus Spinnern und Messiassen wie Sie.“ „Und aus dem Wisser der Wahrheit.“ „Vor der Wahrheit hat jeder Angst.“ „Und einer hat ganz besondere Angst davor“, sagte Don Jo se. „Aber es kommt die Stunde, und ich werde es wissen.“ „Hoffentlich läßt man Ihnen dann noch Zeit, Ihr Wissen weiterzugeben.“ „An Sie, Colonel. – Einmal werden wir beide dem Tod sehr nahe sein.“ „Wie nahe?“ „Wir stehen auf der Linie zum Jenseits.“ „Überschreiten wir sie?“ „Wir werden zu dritt dort sein. Einer übertritt die Linie. Ich sehe es leider noch ungenau. „Schauen Sie besser nicht so genau hin“, bat Urban, dem die Vorhersagen auf die Nerven gingen. „Wollen wir eine Runde schlafen, bis hinter Cypern?“ „Ich wecke Sie“, sagte Don Jose. „Ich werde mich lieber dem feinen Rose-Sekt widmen.“ Entweder, dachte Urban, er hat die raffiniertesten Tricks al ler Zauberkünstler drauf, die je im Zirkus arbeiteten, oder der Bursche… „Ich bin“, sagte Don Jose, „weder ein Magier noch der raf finierteste Zauberkünstler, der je in einem Zirkus auftrat.“ Aber da schlief Urban schon tief und so fest, daß er nicht in der Lage war zu erkennen, ob es Don Joses Stimme vernom men hatte oder ob er es geträumt hatte. 14. 105
Reich, mächtig, als zweiter Mann nach dem König, rief Josef seinen Vater und seine elf Brüder nach Ägypten, um ihnen dort weite Ländereien zu schenken. – Und weiterhin machte Josef seine Weissagungen über den Verlauf der Welt. Über das kommen von Moses, König David und Jesus Christus. Es war ein glühend heißer Tag in Tel Aviv. Als sie die klimatisierte Kabine der El-Al-Boeing verließen, rösteten sie die Sonne von oben und der aufgeheizte Beton wie die Platte eines Backofens von unten. Don Jose schien davon nichts zu bemerken. „Ich bin ein britischer Tourist“, sagte er, „und möchte in der Negev-Wüste ein paar alte Ausgrabungen besichtigen. Und wer sind Sie, Oberst Urban?“ „Ein Tierarzt aus Rosenheim.“ Wie immer, dachte er. „Und das glaubt Ihnen einer?“ „So wenig wie Ihnen.“ „Erst mal abwarten.“ Wie stets war Don Jose sich seiner Sache ungeheuer sicher. Beim Zoll gab es äußerst scharfe Kontrollen. Aber diesmal waren sie so genau und penibel, daß Urban schon Verdacht schöpfte, man habe sie erkannt und unter Beobachtung. „Der Beamte“, raunte Don Jose, „möchte gerne Ihre Leica öffnen. Erkennt aber den Mechanismus nicht, und so unterläßt er es.“ „Sie Oberschlauer.“ „Bedaure, ich weiß, Ihre Leica ist nicht nur ein Fotoapparat, sondern sie enthält auch einen Minisender, eine Diamantsäge und eine kleine Nebelbombe. Aber dieses Geheimnis wird wohl nicht gebrochen werden, Oberst Dynamit.“ Sie gingen zu einem internationalen Autoverleiher, um dort ein wüstentaugliches Fährzeug zu ordern. Man verwies sie an eine Firma in Jaffa. Mit dem Taxi fahren sie von Ben Gurion hinüber. Der Vermieter hatte zwei Autos auf dem Hof stehen, einen Blazer und einen Landrover. Der Blazer war luxuriöser. Urban kannte aber auch seine Anfälligkeiten. Also endschied er sich 106
für den leicht zerknautschten Landy-Diesel. Sie warfen ihr Gepäck hinein, bekamen den Wagen aufge tankt, dazu noch Ersatzreifen und Werkzeug. Als es ans Zahlen ging, wollte der Verleiher die israelischen Scheine nicht an nehmen. „Die verlieren ja schon auf dem Weg zur Bank die Hälfte ihres Wertes“, jammerte er. „Für Devisen mache ich es euch billiger.“ „Und mit Gold?“ „Kostet das alles nur noch dreißig Prozent, Mister.“ Urban ging mit Jose’ hinaus, öffnete den Gürtel und nahm zwei Münzen aus dem Innenfutter. „Das sind achthundert Dollar“, rechnete Don Jose.“ „Kann Tage dauern“, sagte Urban, „unsere Operation.“ „Und warum nehmen Sie die Münzen nicht von vorn, in der Reihenfolge wie sie kommen?“ „Raten Sie mal“, schlug Urban vor. „Wozu? Ich ahne es.“ Der Autoverleiher nahm die Münzen entgegen und biß dar auf, um die Echtheit zu prüfen. Dann wog er sie und gab den Restbetrag zum schwarzen Wechselkurs zurück. Sie kauften noch Proviant für drei Tage und fuhren los. „Wann“, fragte Don Jose, „greifen endlich die exzellenten Verbindungen des BND zum MOSSAD?“ „Hoffentlich bald.“ Urban parkte vor dem Postamt und ging hinein, um zu tele fonieren. Er nannte der Angestellten eine Nummer, von der sie jedoch behauptete, es gäbe sie nicht in Tel Aviv. Als sie es trotzdem versuchte, bekam sie Verbindung. In der Kabine nahm Urban ab, erfuhr aber, daß Colonel Eik kelbaum nicht erreichbar sei. „Und David Morgentau?“ „Hatte eine Leistenbruchoperation.“ „Und Ezekiel Rosenblaad?“ „Er begleitet den Ministerpräsidenten in die USA.“ „Danke“, sagte Urban. „Wo kann ich Esher Natan finden?“ 107
„Wer sind Sie eigentlich, Sir?“ Da legte er lieber auf. Als Urban herauskam, saß Don Jose im Landrover und spiel te an seinem Brillanten im Ohrläppchen herum. „Hören Sie auf damit“, riet Urban, „sonst entzündet es sich.“ „Meine Galle entzündet sich“, sagte der Alte aus den Ber gen, „mein Herz und andere Innereien.“ Urban ließ an und fuhr weiter. Es gab nur einen Weg. Und der war verboten. Der Weg nach Dimona. Urban fuhr von Jaffa aus erst nach Süden. Immer am Meer entlang. Der Straßenverkehr staute sich vor Straßensperren kilometerlang. Urban hatte es satt, immer wieder dieselben Fragen gestellt zu bekommen: wohin, woher, warum wohin, warum woher? – Er bog zum Strand hin ab und fuhr dort weiter, bis in der Ferne, am Ende einer Bucht, Ashkelon mit seinen Raffinerien auf tauchte. Die Sonne malte die aluminiumfarbenen Öltanks rosarot. „Irgendwann müssen wir aber nach Osten abbiegen“, sagte Don Jose, auch ohne Karte. „In Gaza erst.“ „Noch neunzig Kilometer ungefähr.“ „Ja, die Entfernungen in Israel sind kurz. Ein kleines, hoch gefährdetes Land.“ „Es ist besser Nacht, wenn wir in Dimona aufkreuzen.“ „Deshalb hauen wir uns hier am Strand hin.“ „Ich bin zu allen Schandtaten bereit“, sagte der Mann aus den Bergen, „nur aus Camping mache ich mir wenig.“ Sie rollten abseits des Rush-hour-Verkehrs um Ashkelon herum und weiter nach Yad Mordechai. An einer Stelle, wo die Obstplantagen bis ans Meer reichten, schlugen sie ihr Nacht lager auf. Dazu brachten sie den Landrover in eine Mulde der Dünen. 108
Die Dünen waren mit Canna-Büscheln bewachsen, und der Sand war durchsetzt von Muscheln und Mollusken. Weiter oben tobte ein wilder Haufen junger Leute. Motor radtypen, Aussteiger, Hippies, alle entweder angekifft oder betrunken. Urban sammelte Treibholz und machte ein Feuer. „Könnte sein, daß ich Ihnen das Du anbieten werde, Don Jo se“, sagte er. „Was halten Sie davon?“ „Darauf habe ich gewartet.“ „Ich bringe Sie als meinen Mitarbeiter durch, wenn es ernst wird.“ „Was haben Sie vor, Oberst?“ „Dachte, Sie können Gedanken lesen, Meister.“ „Leider sind deine Gedanken noch nicht fertig, Oberst. Sie sind noch konturenlos.“ „Meinst du nicht, wir sollten erst mal eine Nacht durchpen nen, Josef?“ Sie wärmten Konserven, gutes argentinisches Corned beef, und quirlten eine Dose Bohnen in den Topf. Dazu gab es Fla denbrot, das weiche weiße mit Koriander, einen Krug Tee und später eine Monte-Christo. Sie rollten die Decken aus und schliefen neben dem herabbrennenden Feuer. Früh am Morgen wollte Urban Don Jose wecken. Sein Platz war leer. Er suchte ihn am Strand und sah ihn in der Hocke dort sitzen. Er starrte in die Dunkelheit, die noch über dem Meer lag und warf ab und zu einen Stein in die Dünung. „Jetzt ist dein Konzept fertig“, sagte er, „nicht nur was das Frühstück betrifft. Es ist ein ziemlich riskantes und gefährli ches Unterfangen.“ „Das leugne ich nicht“, sagte Urban. Für die wenigen Kilometer quer durch den Negev bis zur jor danischen Grenze brauchten sie auf der Wüstenstraße nur eine Stunde. Sie sahen das Sperrgebiet von Dimona, als die Sonne über Massada heraufkroch. Sie schien auf die Atomfabrik, auf die silbrig glänzenden 109
Reaktorkuppeln, die Schornsteine, die Kühltürme, die riesigen Hallen mit den Ultra-Zentrifugen, wo sie aus normalem Uran hochreines 235 machten. Bombensprengstoff. Urban blieb immer am Rande des Sperrgebietes. Er fuhr weit hinaus zu den Öl- und Gasfeldern, schlug einen Haken über Nord nach West und fuhr wieder Richtung Beer Sheba. Diese Runde wiederholte er dreimal. „Wo du auch suchst, Oberst“, sagte Don Jose, „du findest kein Loch. Und wenn du eines findest, dann ist es vermint.“ „Ich suche kein Loch“, sagte Urban. „Ich mache mir selbst eines.“ „Sie haben uns längst registriert.“ „Schon bei der ersten Vorbeifahrt, Jose.“ „Willst du mir nicht sagen, was du im Detail vorhast, Oberst?“ Urban hielt den Landrover an, rollte das Segeltuchdach zu rück, stieg auf den Fahrersitz und betrachtete mit dem Fern glas die Fabrikanlagen. „Darf man endlich fragen?“ vernahm er Jose. „Frag schon, Meister.“ „Warum provozierst du sie, Oberst?“ Urban rutschte wieder auf den Sitz zurück und gab eine Erklärung ab. „Hör zu, Jose. Meinen Freunden von MOSSAD ist das alles höchst unangenehm, um nicht zu sagen peinlich.“ „Daß sie sich bei dir verleugnen ließen?“ „Es sind alles MOSSAD-Leute, vom besten Geheimdienst der Welt, also Profis und Realisten.“ „Aber sie suchen Beweise.“ „Sie beobachten uns. Okay. Von mir aus. Akzeptiert. Aber nur, wenn sie die Beweise vorlegen können. Und das wird lange dauern. Ich muß sie aber schon vorher sprechen, meine Amigos.“ „Was für ein Optimismus.“ „Inwiefern?“ „Ich muß näher heran an das Problem. Am besten ist immer 110
Handauflegen.“ „Du bist hier mein Röntgengerät“, sagte Urban. „Um Kon takt aufzunehmen, muß ich sie herauskitzeln, sie aus ihrem Bau locken, etwas tun, das sie bei aller Freundschaft nicht hinnehmen können.“ „Tu es besser nicht“, riet Don Jose. „Der Zaun ist die Grenze.“ „Oben läuft Hochspannung in Isolatoren. Mindestens zehn tausend Volt.“ „Aber ich sah einen Wüstensperber, der drauf saß. Also ist der Draht ohne Strom.“ „Und du fährst einfach da hinein.“ „Ich will ja nicht bis in ihr Forschungslabor. Nur ein paar hundert Meter ins Sperrgebiet.“ Urban rollte dicht an den Zaun heran. Als er ein Schild mit Totenkopf sah, hielt er das für die geeignete Stel le. Wo Schilder auf Pfählen standen, lagen gewiß die Minen nicht so eng. Er stieg aus und setzte die Drahtschere an. Als das Loch groß genug war, zwängte er den Landrover hindurch. Kaum hundert Meter im Sperrgebiet, hörten sie das Heulen der Alarmsirenen. „Jetzt haben sie uns“, sagte Jose. „Eins zu null für Deutschland.“ Urban öffnete die Motorhaube, als hätte er eine Panne. Dann nahm er einen Schluck Bourbon, steckte sich eine MC an und wartete. Noch ehe man das geringste sehen konnte, sagte Jose: „Sie kommen.“ Abgesehen davon, daß sie keinen Finger rührten, um sich zu verteidigen, hätten sie gegen diese Übermacht auch keine Chance gehabt. Der Achtrad-Wüstenpanzer hatte eine 30-mm-Schnell feuerkanone, die Jeeps waren mit Maschinengewehren ausge rüstet und die Soldaten des Wachregiments mit MPis und 111
Handgranaten masse. Ein junger Offizier ließ sie die Hände hochnehmen. Er frag te nicht nach Namen oder Papieren. Zwischenfälle dieser Art wurden in Dimona nach besonderer Vorschrift abgehandelt. Sie bekamen lockere Fesseln und mußten in einen der Drei viertel-Tonner steigen. Nach wenigen Kilometern Fahrt ins Zentrum des Sperrgebietes brachte man sie in einen Bunker. Drinnen war es kühl. Die Zellen hatten nur Gitter. Urban und Jose konnten sich, obwohl man sie getrennt hatte, unterhalten. „Oberst Urban hat alles im Griff“, bemerkte Jose bissig. „Du weißt es, warum fragst du?“ „Und was jetzt, Superagent?“ „Tee.“ „Und dann das Verhör.“ „Nur ein kurzes. Ich bin hier der Persönlichkeit nach be kannt.“ Urban hatte sich in der Reihenfolge geirrt. Erst kam ein Sergeant. Sie mußten den Tascheninhalt vorzeigen, durften aber alles behalten. – Dann erschien ein Offizier, der alles notierte, was sie ihm auftischten. Danach gab es noch immer keinen Tee. Sie mußten noch mehrere Stunden warten. „Schmoren nennt man das“, sagte Jose. Später hörten sie mehrere Autos vorfahren. Die Bunkertür wurde geöffnet. Sie schleifte mit der Kante im Sand. Diesmal waren es mindestens vier Personen. Der Leutnant, der ihre Angaben notiert hatte, war dabei, ein glatz köpfiger höherer Offizier, ein Soldat mit Maschinenpistole und eine Frau. Der höhere Dienstgrad war Colonel Eickelbaum, und die Frau in Captainsuniform – schön, aber auch unerbittlich wie eine drohende Dolchklinge – war Esher Naten. Eickelbaum machte zunächst auf unfreundlich. „Wir können dich nur als total wahnsinnig bezeichnen, Dy namit“, sagte er. „Anders kam ich nicht an dich heran, Eickelbaum.“ „Verdammt, warum bist du hier? Was willst du von mir?“ 112
„Diese Frage kann nicht ernst gemeint sein. – Du weißt es, ich weiß es, wir alle wissen es.“ „Du störst unsere Untersuchungen“, sagte der Colonel. „Sperrgebiet ist Sperrgebiet. Ohne Permit gilt hier jeder als Spion, Terrorist, Saboteur. Auch wenn er Mister Dynamit heißt.“ „Ich versuchte dich in Tel Aviv zu erreichen. Dich, Rosen blaad, die anderen.“ „Du bist noch mächtig grün hinter den Ohren, Commander. In diesem Stadium der Untersuchung führen wir keine Bla-bla bla-Gespräche.“ Der Oberst schielte in die andere Zelle hinüber. „Und der da?“ „Mein Fahrer und Funker.“ „Ihr seid miserabel ausgerüstet diesmal.“ „Mußte alles ziemlich schnell gehen.“ Der Oberst musterte noch immer Don Jose aus den Bergen. „Seit wann nehmen Einzelkämpfer wie du so alte Knacker mit?“ „Er ist ein jüngerer Knacker als du, Eickelbaum.“ „Dann hat er sich schlecht gehalten“, höhnte der Colonel. Urban versuchte, einen Blick von Esher einzufangen. Sie aber war kalt wie Schnee und fast auch so weiß. Irgend etwas schien sie zu wittern. Urban versuchte sie abzulenken. „Holt uns endlich raus aus diesem Karnickelstall“, forderte er. „Nein.“ „Mann, ich bin da, um euch zu unterstützen.“ „Dir bleibt drin. Aus Gründen der Sicherheit“, entschied Eickelbaum, „eurer und unserer. Hier seid ihr wohlverwahrt und kommt uns nicht in die Quere. Kann dich hier nicht ge brauchen. Jetzt, wo wir uns dem Kern dieses mysteriösen Falls nähern.“ „Na schön, dann beeilt euch“, riet Urban. „Bringt den Fall rasch zu Ende. Wie war’s mit Zigaretten?“ 113
„Das sind Nichtraucherabteile.“ „Wie wär’s dann mit etwas Trinkbarem?“ „Heute ist Sabbat. Essen erst bei Sonnenuntergang.“ Die Orthodoxen bohren sich am Sabbat nicht einmal in der Nase, vermutete Urban. „Und wenn jetzt der Syrer angreift oder der Iraker?“ „Dann muß er bis morgen warten, damit wir ihn gebührend empfangen.“ Die Israelis standen nur wenige Meter entfernt. Sie standen jedoch draußen und Urban drinnen. Urban fixierte Eickelbaum, registrierte jedes Muskelzucken in Eickelbaums braunem Landsergesicht. Aber kein Muskel zuckte, keine der großen Poren veränderte ihren Durchmesser, kein Fältchen in den Augenwinkeln vertiefte sich. Kein heimliches Signal kam. – Nichts. „Schalom“, sagte Eickelbaum und ging samt seiner Beglei tung. Als die Bunkertür zuschrammte, sagte Jose: „Der meint das ernst.“ „Ernst schon, aber wie ernst?“ schränkte Urban noch voller Hoffnung ein. „Todernst?“ Wenig später äußerte Jose etwas, das Urban nicht erwartet hatte. „Danke, daß du mich hierherbrachtest, Oberst.“ „Danke wofür?“ „Ich hab’ dem Teufel ins Auge gesehen.“ „Geht’s nicht genauer, Sir?“ Erst nickte der Mann aus den Bergen mit dem eckigen Kinn, dann bedauerte er. „Noch ist es unscharf.“ „Was?“ „Das Bild des Verräters“, erklärte Jose. „Aber wahrlich, ich sage dir, einer von diesen vier Leuten, die soeben hier standen, ist derjenige, der die Verschwörergruppe anführt.“ „Du meinst diese Sabotageorganisation.“ „Ihr Kopf und ihr Haupt.“ 114
„Unmöglich. Das sind zehnmal gesiebte MOSSAD-Leute. Ich kenne sie fast alle.“ „Warten wir es ab, mein Freund.“ „Du mußt dich irren.“ „Vielleicht“, sagte Jose. „Ich habe mich schon einmal ge irrt, als ich prophezeite, die D-Mark würde aufgewertet, und sie wurde es nicht.“ Urban reichte ihm die vorletzte MC aus der Packung. Jose belächelte das goldene Mundstück. „Vornehm geht die Welt zugrunde“, sagte er. „Jetzt, auf der Linie des Todes, erst recht. Sie werden uns töten, wie sie Dr. Sternstein umlegten.“ „Unsinn, sie sind unsere Freunde.“ „Nicht alle“, sagte Jose. „Nicht alle. – Alle nicht.“
Obwohl die Sonne senkrecht auf Dimona herabsengte, war es unter den dicken Betonmauern auszuhalten. Die Temperatur kletterte nicht höher als 35 Grad. Im wandernden Lichtstrahl, der durch die vergitterten Bunkerschlitze hereinfiel, sahen sie, wie es Mittag wurde, Nachmittag und Abend. Es war fast dunkel, als wieder ein Jeep vorfuhr. Vom Jeep zum Bunker herüber hörten sie nur die Schritte einer einzelnen Person. Die Bunkertür wurde geöffnet. Ihre Unterkante schleifte wieder rauh im Sand. Im Dämmerlicht erkannte Urban Esher Natan. Sie hatte die Zellenschlüssel dabei, doch sie sperrte nicht auf. Sie wartete offenbar auf etwas. Endlich sagte Urban: „Hallo!“ „Keine Intimitäten!“ rief sie. „Streck die Hände durch das Gitter.“ Sie fesselte Urban mit Plastikschlingen, dünnen, aber nicht zerreißbaren Riemen, die an einem Ende gezackt waren, am anderen Ende eine Öse hatten. Sie zog die Fessel fest an. 115
„Jetzt der andere.“ „Wozu das?“ „Nur so kriege ich euch durch die Sperre.“ „Warum läßt du uns nicht offiziell frei? Ist doch Schwach sinn, das alles.“ „Weil man euch umlegen wird.“ „Und warum das, zum Teufel?“ „Weil ihr gefährlich seid. Der Alte da ganz besonders.“ Sie hatte Jose auf die gleiche Art gefesselt. Nun sperrte sie die Gitter auf. „Los, bewegt euch!“ „Und wem verdanken wir das?“ fragte Urban. „Dir oder Eik kelbaum?“ „Meiner unendlichen Güte“, sagte Esher Natan. „Verstand wäre besser gewesen als Güte.“ Im Gehen flüsterte Jose Urban etwas ins Ohr. „Vorsicht!“ sagte er nur. 15. Über die Zeit nach der Geburt des Messias sprach Josef, der Seher, kein Wort. Doch auf seinem Sterbebett in Mem phis soll er eine Weissagung gemacht haben: Eines Tages in ferner Zeit wird ein Mann kommen, der dort zu wissen anfängt, wo ich aufgehört habe. Captain Esher Natan fuhr sie im Jeep durch das quadratmei lengroße innere Sperrgebiet. Als sie das Haupttor erreichten, war es Nacht. Von hohen Masten strahlten Batterien weißes Halogenscheinwerferlicht herunter. Captain Esher Natan legte Papiere vor. Sie waren unterschrieben und gestempelt. Urban nahm an, daß die Papiere entweder in Ordnung, zumindest aber gut gefälscht waren. Der Posten prüfte die Marschbefehle genau und gab endlich die Ausfahrt frei. Dann aber geschah etwas, das Urban nicht verstand. Esher nahm nicht die Straße nach Beer Sheba sondern nach Süden hinein in die Negev-Wüste. 116
Urban saß rechts neben ihr, Jose hinten. Der Jeep wurde hart hergenommen. Meile für Meile. „Haben Sie das nicht auch vorhergesagt, weiser Mann?“ höhnte die Israelin. „Gesagt nicht, nur geahnt.“ Sie lachte grell und laut. Jose flüsterte Urban ins Ohr: „Versuch sie abzulenken. Ich muß dir etwas sagen.“ Ablenken – aber wie? – Er sollte also etwas machen, das Esher Naten außer Reichweite brachte. Urban kannte sich bei Jeeps aus. Aber von der Beifahrerseite her war wenig zu unternehmen, damit so ein robustes Fahrzeug seinen Dienst einstellte. Es gab nur eine Möglichkeit. Die Kabel am Scheibenwi schermotor. Sie liefen um den Rahmen herum. Dort, wo sein rechtes Knie war, verliefen sie unter dem Armaturenbrett. Urban tat, als schnüre er seinen Stiefel, tastete herum und fand etwas Kabelähnliches. Er riß mehrmals daran, zerrte es aus der Klemme und verlor es. – Wahrscheinlich lag es am Boden. Die Kabelenden waren gewiß blank. Er suchte mit der Schuhsohle, hatte sie und begann, darauf herumzutreten. Ein mal mußten die Kabelenden doch zusammenkommen. Und dann gab es einen Kurzen. Die Scheinwerfer erloschen, der Motor ruckelte, lief jedoch weiter. Auch das Licht ging wieder an. „Was war das?“ „Stinkt nach Elektrik“, sagte Urban. Sie roch es auch. „Wir sind gleich da“, sagte Esher Natan. Der Geruch wurde so penetrant, daß Esher anhielt, ausstieg und die Motorhaube öffnete. Jose beugte sich vor. „Ein Teufelsweib“, sagte er. „Mag sein.“ „Sie ist es, die wir suchen.“ „Du spinnst, Josee.“ „Sie brachte uns nur heraus, um uns umzulegen.“ 117
Weiter kam Jose nicht. Esher trat neben Urban. „Du verstehst etwas von Motoren?“ „Ein bißchen.“ „Los, hilf mir!“ Er stieg aus. „Mit den Fesseln?“ fragte er. „Mit deinem Rat“, sagte sie. Urban wußte, woran es lag. Aber er brauchte Zeit. Also sagte er: „Laß den Motor an und gib Gas, wenn ich das Zeichen ge be.“ Sie ließ an, gab je nachdem wie er signalisierte, mehr oder weniger Gas. Entschlossen brachte Urban die Fesseln an den rasenden Kühlerventilator und hoffte, die Blätter würden sie durchsäbeln. Dabei entstand ein klirrendes Geräusch. Schon war Esher Natan neben ihm. „Das dachte ich mir, du Kanaille!“ Urban versuchte, seine letzte Chance zu nutzen. Er rempelte sie an, daß sie seitwärts in den Sand taumelte. Sie kam überra schend schnell auf die Beine und richtete die Armeepistole auf Urban. „Deckung!“ schrie Urban und hechtete zur Seite. Jose, der Mann aus den Pyrenäen, warf sich hinten flach hin. Aber Esher Natan schoß und zerfetzte seine Jacke an der Schulter. Schon stand sie vor ihnen wie eine Göttin der Rache. „Nicht hier“, sagte sie, „an einem anderen Ort.“ „Warum?“ fragte Urban nur. Sie lachte nur böse. „Du bist zu intelligent für jeglichen Fanatismus, Esher.“ Statt zu lachen, zeigte sie jetzt die Zähne. „Pure Geldgier. Und ein unstillbarer Wunsch nach Rache. Sie haben meinen Vater kaputtgemacht. Er brachte mit seinem Vermögen den besten Kibbuz des Landes in Schwung. Dann, als er krank wurde, haben sie ihn gemein behandelt. Sie ließen ihn krepieren wie ein Tier. Sie holten nicht mal einen Arzt. Er 118
hat sich für seine Ideale sinnlos geopfert. Ich werde das nicht tun. Sie werden mir dafür bezahlen. Ich hole mir alles zurück. Leise und unbemerkt. Dazu gehörte, besser zu sein, um den Überblick zu bewahren.“ „Deshalb warst du also hinter mir her.“ Sie bestätigte es. „Ja, in Paris, in Genf, in Brüssel.“ „Und München“, ergänzte Urban. „Und München. – Aber jetzt erledige ich euch, die letzten Zeugen.“ „Wie Dr. Sternstein“, sagte Urban. „Erstens“, sagte Esher Natan, „war er nicht einer von uns. Er war ein MOSSAD-Mann. Ein Maulwurf in unserer Organisati on. Er wurde eingeschleust, weil man mit Sabotage rechnete. Was uns bei der Bombe trotzdem gelang. – Sternstein sollte pro forma zum Verräter werden, um unsere Rache auf sich zu ziehen. Wir mußten ihn ausschalten. – Doch das war unser Fehler. Eickelbaum ist auf dem besten Wege, uns zu enttarnen. Aber es wird ihm nicht gelingen, wenn du und dieser Super messias vorher sterben. Ihr wißt beide zuviel.“ Sie zwang sie, einzusteigen, brachte den Jeep zum Laufen und fuhr noch einige Meilen querfeldein. Dann hielt sie an. Erst schob sie ein frisches Magazin in ihre Armeepistole, dann erklärte sie: „Keine Gnade dieser Welt wird euch jetzt noch teilhaftig.“ „Und kein Mann hat Angst vor dem Sterben“, entgegnete Jo se, „der schon einmal gestorben ist.“ „Ihr seid tapfere Männer“, sagte sie. „Wohin wünscht ihr die Kugel?“ Urban saß da und schien nachzudenken. „Okay, du liebst den Reichtum“, äußerte er in vorgetäusch ter Zerknirschung, „und ich schulde dir etwas. Mein Ve r schwinden in Brüssel war nicht die feine Art des Kavaliers. – Ehe du uns dem Sand und den Skorpionen überläßt, laß uns zur Kasse kommen.“ „Eure Taschen sind leer.“ 119
„Es gibt noch meinen Gürtel.“ „Was enthält er?“ „Zehn Krüger-Rand-Münzen. Nur ein paar tausend Dollar, aber ich schenke sie dir. Wäre schade, wenn sie im Sand ve r modern.“ Er pokerte hoch, rechnete aber mit ihrer Geldgier. Urban deutete auf den Hosengürtel. Mit gefesselten Händen öffnete er die Schließe und zog den Gürtel aus den Schlaufen. „Im Innenleder.“ Sie riß es ab und sah die Münzen. „Blei vergoldet, wie?“ „Ich würde es auf die arabische Art zu prüfen versuchen“, riet er. Sie holte eine Münze nach der anderen aus den Fächern und biß darauf. Nach der Prüfung steckte sie jede Münze in ihre linke obere Kampfblusentasche. Sie prüfte die Münzen durch bis zur letzten. Sie biß auch auf die zehnte und steckte sie zu den anderen. Im nächsten Moment schrie Urban: „Deckung!“ Er warf sich aus dem Jeep, packte dabei Don Jose und zog ihn mit sich. Am Boden rollte er mit ihm, so weit es ging, weg. Die Detonation holte sie ein. Mit dem Blitz der Explosion vernahmen sie einen wilden Schrei. Dann war nur noch das lodernde Brennen von Isolier stoffen, von synthetischem Gummi und Autolack zu hören. Urban riß Don Jose weg von dem Feuerball aus Benzin und Munition, der gleich hochgehen würde. Er schleifte ihn in Deckung. Sie preßten sich in den Sand, duckten sich und war teten. „Ein Zehn-Sekunden-Zünder“, erklärte Urban. „In der letzten Münze.“ „Und zehn Gramm Super-Semtex.“ „Mußte das sein?“ „Schade, sie war ein verteufelt schönes Weib.“ 120
„Nun fährt sie“, sagte Jose, „weniger schön zur Hölle.“ Der Inhalt von Urbans Leica war als Notsender nicht mehr tauglich und die Nebelkerze nicht als Signalgeber. Alles war verschmort. Sie gingen in die Richtung, von der Jose behauptete, es sei die richtige. „Was liegt da? Berlin“, fragte Urban, „oder der Nordpol?“ Sie marschierten durch den Negev. Es war finster wie in ei nem Tunnel bei Nacht. Gegen Morgen sahen sie endlich ein Licht hoch am Himmel. Es war kein Stern, sondern der Suchscheinwerfer eines He likopters. Er sichtete sie und landete. Bewaffnete Soldaten kamen ihnen entgegen. „Wo ist sie?“ fragte der Oberst, der sie anführte. „Beim Teufel.“ „Da gehört sie auch hin.“ „Späte Erkenntnis, Colonel Eickelbaum“, bemerkte Urban bitter. „Ein alter soldatischer Grundsatz lautet: Erst muß man Be weise haben, dann kann man angreifen. Wir hatten sie fast. Das, was sie mit euch vorhatte, war der endgültige Beweis, nämlich Zeugen beseitigen, Gegner, die zu viel wissen, aus schalten.“ „Ihr Ende“, bemerkte Urban, „was für ein Preis.“ „Ein angemessener.“ „Was“, fragte Urban, „war je angemessen?“ Einen Tag später sagte Urban zu der Swissair-Stewardeß, als die ihm Champagner reichte: „Merci, das ist uns angemessen.“ Es hätte auch eine Lufthansa-Verbindung gegeben, aber Jose hatte darauf bestanden, mit den Schweizern zu fliegen. – Wuß te der Teufel, warum Aber schließlich war er mit der Swissair immer gut bedient gewesen, und in Genf war er fast zu Hause. 121
Über dem Mittelmeer schlief Jose ein. Im Anflug auf Genf erwachte er und sagte: „Muß mal aufs WC.“ „Wir sind gleich da“, erklärte Urban. „Das interessiert meine Blase nicht.“ Er verschwand, und der Brillant im Ohr blitzte wie frisch aus einer Waschmaschine. Jose kam nicht zurück. Als das Signal zum Anlegen der Gurte aufleuchtete, wandte Urban sich an einen der Stewards. „Mein Kollege ist noch im WC.“ Der Steward ging nach hinten und klopfte. Jose reagierte nicht. Der Steward klopfte noch einmal. Wieder keine Antwort. Also sperrte der Steward mit einem Nachschlüssel auf. Das WC war leer. Ebenso das andere in der Economy dass. „Das gibt es nicht“, äußerte Urban kopfschüttelnd „Wir klären das nach der Ankunft“, entschied der Steward Es war eine glatte Routinelandung. Sinkflug, Klappen, Fahr werk, aufsetzen, Umkehrschub, ausrollen, langsam hin zu den Rampen. Urban blieb bis zuletzt in der Boeing, sprach mit dem Kabi nenpersonal, dann mit dem Copiloten. „Er ist verschwunden“, hieß es. „Gibt’s das?“ „Nein, eigentlich nicht. Vielleicht ein Irrtum.“ „Er war an Bord. Prüfen Sie Ihre Passagierlisten.“ Draußen wurde schon das Schmutzwasser abgepumpt und das Gepäck ausgeladen. Die Gepäckkarren fuhren weg. Urban bestand darauf, daß sie weitersuchten. Es blieb ohne Erfolg. „Der Mann muß ein Zauberer gewesen sein“, sagte der Co pilot. „Mehr als das“, bemerkte Urban. „Vielleicht ist er längst draußen.“ 122
„Wohl kaum.“ „Wenn wir die Kriminalpolizei alarmieren, bringt das Är ger“, fürchtete der Pilot. „Und auch keine Erklärung“, fügte der Chefsteward hinzu. „Wahrscheinlich“, sagte Urban. Er verließ die Maschine und sah durch das Bulleye des Flug steigs den letzten Gepäckwagen verschwinden. Oben auf den Koffern lag ein Bündel, das wie ein großer Ledersack aussah. Urban rannte los und fand nach einigem Suchen die Gepäck halle, wo die einzelnen Koffer verteilt wurden und auf die Bänder kamen. Der Wagen mit dem Bündel obenauf war der hinterste in der Reihe. Er rollte langsam vor. Mit einemmal begann sich das Bündel zu bewegen. Es entfaltete sich wie eine japanische Papierblume im Wasser. Es bekam Anne, Beine und einen Rumpf und einen Kopf. Es war ein Mann. Er richtete sich auf, schaute sich um und sprang in einem unbemerkten Augenblick mit eleganten Satz vom Gepäckwa gen. Sofort bezog er Deckung und versuchte, aus der Gepäckhal le wegschleichen. Dabei mußte er dicht an Urbans Position vorbei. Urban hörte seine tastenden Schritte. Er tauchte auf. – Der Mann sah Urban, und Urban sah ihn. Der Mann trug einen weiten schwarzen Mantel und Schlapp hut. Das war nicht Don Jose. Er konnte Don Jose nicht sein. Die Nase war kürzer, die Augen eher rund, das Kinn weich, die Figur untersetzt Doch Urban hatte sich nicht geirrt. Im letzten Moment, löste sich das Rätsel doch noch. Als der Mann sich abwandte und fortging, sah Urban ihn für Augenblicke von der Seite. In seinem rechten Ohrläppchen steckte ein glitzernder Brillant Urban ging durch die Ankunftshalle hinaus. 123
Dort stand er im Regen, bis ein Taxifahrer ihn fragte, ob er in die Stadt wolle. Urban stieg ein. Dieser merkwürdige Fall, er war über ihn hinweggefegt wie ein böser Traum: Paris, Genf, die Pyrenäen, Brüssel, Israel, Dimona, der Negev. Und dieser irre Typ, der behauptete, schon einmal in Mem phis gestorben zu sein. – Ein echter Ausgeflippter. – Ob man je wieder von ihm hörte? Urban war es egal. Es war ihm völlig Wurscht. Er legte es ab. Jalousien runter. Fall erledigt. Es gab keine Erklärung. Nicht die geringste. Nicht jetzt, nicht in diesem Jahrtausend. Vielleicht im nächsten – oder auch nie. Er steckte sich eine MC an, nahm einen Schluck Bourbon aus der silbernen Reiseflasche und versuchte zu vergessen. Großer Radiergummi. Tipp-Ex. Am besten man zerknüllte diesen Haufen Papier und verbrannte ihn auf dem Balkon. Freudenfeuer. – Oder Trauerfeuer. Irgendwann kam man einfach soweit. „Wenn es soweit ist“, sagte Urban, „dann ist es einfach so weit.“ Der Taxifahrer drehte seinen Kopf nach hinten. „Sagten Sie was, Monsieur?“ „Bringen Sie mich in das beste Restaurant der Stadt“, bat Urban. „Dinner für zwei, Monsieur?“ „Leichenschmaus für einen“, sagte Urban. ENDE
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